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University of Illinois Urbana-Champaign
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WIENER
KLINISCHE WOCHENSCHRIFT
ORGAN OER K. K. GESELLSCHAFT DER ÄRZTE IN WIEN
BEGRÜNDET VON WEIL. HOFRAT PROF. H. v. BAMBERGER
HERAUSGEGEBEN VON
ANTON FREIH. v. EISELSBERG, ALEXANDER FRAENKEL, ERNST FUCHS, JULIUS HOCHENEGG,
ERNST LUDWIG, EDMUND v. NEUSSER, RICHARD PALTAUF, CLEMENS FREIH. v. PIRQUET, GUSTAV RIEHL
UND ANTON WEICHSELBAUM
REDIGIERT VON PROF. Dr. ALEXANDER FRAENKEL
XXIV. JAHRGANG.
WIEN UNI» LEIPZIG
WILHELM BRAUMÜLLER, K. U. K. HOF- UND UNIVERSITÄTS-BUCHHÄNDLER
1911 T
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Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
G. Braun, 0. Gniari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner. S. Exner, E. Finger. M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko. H. Meyer, J, Moeller,
K. v. Noorden. H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh, F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt, J. v. Wagner, E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Theodor Escherich, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs. Julius Hochenegg, Ernst Ludwig
Edmund v. Neusser, Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618
XXIV. Jahrg.
Wien, 5. Januar 1911
Nr. 1
INHALT:
I. Originalartikel: 1. Aus dein institute für gerichtliche Medizin
der k. k. Universität Graz. (Vorstand: Prof. Dr. Julius Kratter.)
Zur Kenntnis der photodynamischen Wirkungen fluoreszierender
Stoffe. Vorläufige Mitteilung von Prof. I)r. Hermann P f ei f f er. S. 1.
2'. Erfahrungen über Tuberkulinbehandlung. Von Priv.-Doz. Doktor
Josef Sorgo, Chefarzt und Dr. Erhard Sueß, gew. Oberarzt
der Heilanstalt Alland. S. 3.
3. Tuberkulindiag'nostikund ambulatorische Tuberkulinbehandlung.
Von Dr. M. Laub. S. 10.
4. Aus dem Ambulatorium und Krankenkrippe in Prag (Vorstand:
Prof. Dr. Raudnitz.) Die schulhygienische Bedeutung der
lordotischen Albuminurie. Von Ludwig Diesen. S. 12.
5. Aus der Abteilung für Hautkrankheiten und Syphilis der
Allgemeinen Poliklinik in Wien. Zur Kenntnis des Herpes
zoster generalisatus. Von Priv. Doz. Dr. G. Nobl. S. 14.
6. Aus dem bakteriologischen Laboratorium des Infektionsspitals
(Civico ospedale di S. M. Maddalena) in Triest. (Direktor:
Prim. Dr. A Marcovich.) Zur Verwendung der Blutplatten¬
methode und der Komplementbindungsreaktion in der Diagnose
sporadischer Cholerafälle. Von Dr. M. Gioscffi, Assistenz¬
arzt S. 16.
7. Diät und Küche in Chemie, Physik und Physiologie. Von Doktor
Wilhelm Sternberg, Berlin. S. 18.
8. Bemerkungen zur Ehrliclidebatte. Von Prof. Dr. G. Rieh], S. 20.
II. Oeffentliclie Gesundheilspflege : Eine sozialmedizinische Kon¬
greßreise. Von Priv.-Doz. Dr. Ludwig Teleky. S. 21.
III. Referate: Arbeiten aus dem Institute zur Erforschung der
Infektionskrankheiten in Bern und den wissenschaftlichen
Laboratorien des Schweizer Serum- und Impfinstituts. Von
Dr. W. Ko Ile. Studien und Fragen zur Entzündungslehre.
Von Dr. Herman Sch rid de. Nouveau traite de medecine
et de tlierapeutique. Von A. Gilbert und L. Thoinol.
Cancer. Von P. Menetrier. Deszendenz und Pathologie. Von
D. v. Hanse mann. Archivos do real instituto bacteriologico
Camara Pestana. Die ortsfremden Epithelgewebe des Menschen.
Von Dr. Hermann Schridde. Klinik und Biologie der Thymus¬
drüse mit besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehungen zu
Knochen- und Nervensystem. Von Dr. Heinrich Klose und
Prof. Dr. Heinrich Vogt. Ref. : Jo an no vies.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßbericlite.
Aus dem Institute für geiichtliche Medizin der
k. k. Universität Gi az.
^ (Vorstand: Prof. Dr. Julius Kratter.)
rl Zur Kenntnis der photodynamischen Wirkungen
fluoreszierender Stoffe. |
Vorläufige Mitteilung von Prof. Dr. Hermann Pfeiffer.
I
In Nummer 42 dieser Zeitschrift, Jahrgang 1910, habe
ich darauf hingewiesen, wie, während des durch die intra¬
peritoneale Rednjektion des Eiweiß der Vorbehandlung
ausgelösten, anaphylaktischen Shocks, der Harn der er¬
krankten Tiere eine enorme Zunahme seiner normalen und
immer sofort, nach der Gewinnung auszuwertenden Toxi¬
zität erfährt. Ich konnte zeigen, daß die Einbringung der¬
artigen Urins in- die Bauchhöhle von unvorbehandelten Meer¬
schweinchen ein Vergiftiuigsbild erzeugt, wie es dem des j
protrahierten anaphylaktischen Shocks entspricht und wie
^ er die Subkulis derselben Spezies, nicht aber die der weißen
Maus unter Bildung von Nekrosen zu zerstören vermag,
die sich von den Arthusschen Lokalreaklionen in ihrer
äußeren Erscheinung und in ihrem Verlauf nicht unter¬
scheiden lassen, während die Blutkörperchen (hei neutraler
oder schwach alkalischer Reaktion) in keiner Weise ge¬
schädigt werden. Ich konnte betonen, daß dieser Körper
in seinem biologischen und chemisch -physikalischen Ver¬
halten sich deckt mil jenem, welcher als Ausdruck eines,
durch die Hitzewirkung bedingten gesteigerten und par¬
enteralen Eiweißzerfalles im Harne, agonal auch oft im
Serum verbrühter Tiere und Menschen erscheint und
welcher die als „primären Verbrühungstod“ bezeichnete
Autotoxikose bedingt.
Es zeigte sich schon damals und hat sich weiterhin
in zahlreichen parallel gerichteten Versuchen bestätigt, daß
1. dieses Ansteigen der Toxizität hei fehlendem anaphy¬
laktischem Shock, zum Beispiel hei Reinjektion eines der
Tiere mit andersartigem, an sich unschädlichem, also inakti¬
viertem Antigen, nicht beobachtet werden könnt«*, ebenso
wie wenn man ein unvor behandeltes Tier mit an sich
unschädlichen Dosen einer, durch Erhitzen ihres giftigen
Eigenvermögens beraubten 'Serumart spritzt. 2. Daß die
Harngiftigkeit im anaphylaktischen Shock hei sonst gleichen
Verhältnissen (insbesonders gleich schwere Tiere voraus¬
gesetzt!) um so größer wird, je schwerer das V ergiftungs-
bild des harnspendenden Tieres ist. 3. Daß sie bei Rein-
jektion des Eiweißes der Vorbehandlung in ein vollständig
antianaphylaktisches Tier fehlt, bei partieller Antianaphy
laxie nach Maßgabe dieser geringer oder stärker ausge¬
sprochen ist. Mittlerweile gelang der Nachweis, daß die¬
selben Verhältnisse obwalten, wenn die Antianaphylaxie
nicht durch eine Reinjeklion des Eiweiß der Vorbehand¬
lung, sondern durch eine vorhergehende Peptoninjeklion
erzeugt wurde.
2 t©B8o
2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 1
Aehnliche Verhältnisse wurden nach der Einverlei¬
bung von normalen, artfremden Hämolysinen in unvorbehan-
delte Tiere beobachtet und auch bei ihnen das Auftreten
eines, ein identisches Vergiftungsbild auslösenden Ctiftkör-
pers im Harne wahrgenommen, während er dann im Harne
fehlte, wenn durch Zerstörung des Komplementes
(H. Pfeiffer) das toxische Eigenvermögen derartiger Seren
zerstört war. Diese Erfahrung wurde mittlerweile insoferne
noch erweitert, als auch bei der, von H. Pfeiffer und
S. Mita kürzlich beschriebenen Unterempfindlichkeit von
mit .Normalseren vergifteten Meerschweinchen gegen die
neuerliche Einbringung eines präformierten Hämolysins das
Auftreten des Giftes im Harne fehlte. Dabei war das im
Harne von mit Hämolysin vergifteten Tieren auftretende
Gift absolut, von derselben biologischen Wirkung wie jenes
im Harne anaphylaktischer Tiere, verbrühter Tiere, sowie
jenes giftigen Prinzipes, welches ich schon 1904 und 1905
hei der Verdauung von Eiweiß sowie hei der Extraktion
normaler tierischer Organe (nicht aber des Blutes und Se¬
rums) mit Alkohol erhalten konnte, ein Gift, welches mir
heute wesensgleich zu sein scheint mit dem, später von
Abelous und Bar di er beschriebenen „Urohypotensin“
und dem „Vasodilatin“ Popielskis. Es läßt sich schon
durch seine relative Thermo s tabilitä't (im Harn!), sein che¬
misch-physikalisches Verhalten, sowie durch seine heftigen
nekrotisierenden Eigenschaften hei fehlendem hämolyti¬
schen Vermögen von den einverleibten Hämolysinen unter¬
scheiden.
Weiterhin konnte mittlerweile festgestellt werden, daß
das, im Gegensatz zu dem Serumeiweiß im Pepton durch
den Verdauungsprozeß präformierte, aus ihm durch Alko¬
holextraktion gewinnbare, also auch beim Eiweißzerfall in
vitro gebildete, dem anaphylaktischen Gifte wesensgleiche
toxische Prinzip (das Vasodilatin Popielskis und seiner
Schule) gleichfalls ein harnfähiger Körper sei. Es löst das
Bild des anaphylaktischen Shocks aus und erzeugt, wie
ich zuerst festgestellt, habe, subkutan beigebracht, bei Meer¬
schweinchen Nekrosen, ohne hämolytisch zu wirken. Der
Harn derartiger, mit präformiertem Gifte, also mit Pepton
gespritzter Tiere, erwirbt, wie jener von anaphylaktischen,
hämolysinvergifteten und verbrühten, dieselben toxischen
Fähigkeiten, das heißt, er löst 1. bei unvorbehandelten
Tieren das Bild des anaphylaktischen Shocks aus, erzeugt
in großen Dosen Temperaturstürze, in kleinen Fiebersteige¬
rung (E. Friedberger), wirkt 2. auf die Subkutis der
Meerschweinchen nekrotisierend, läßt 3. die Erythrozyten
intakt und zeigt dasselbe chemisch -physikalische Verhalten
wie der Ham von Tieren, die einen akuten Eiweißzerfall
durchmachen. Daß es sich hier lediglich um die Ausschei¬
dung des im Pepton präformierten und mit ihm einver¬
leibten Giftkörpers (meines Verbrühungsgiftes, welches ich
auch bei der Verdauung von Eiweiß erhalten konnte, des
Vasodilatins Popielskis) handelt, geht aus dem identi¬
schen \ erhalten alkoholischer, im Vakuum eingedickter Aus¬
züge der Präparate von Witte-Pepton hervor, während die
Rückstände aktiver oder inaktiver Tierseren selbst nach
unvollständiger Ausfällung mit Alkohol und bei schonender
Einengung im Vakuum stets ein negatives Resultat lieferten.
Diese Tatsachen, sowie der mit S. Mita geführte,
mittlerweile von. E. Friedberger, bestätigte Nachweis des
Auftretens eines proteolytisch wirkenden Körpers im Serum
anaphylaktischer Meerschweinchen, zwangen mich damals,
für das Krankheitsbild des anaphylaktischen Shocks, sowie
für die Wirkung der normalen Hämolysine ein und dasselbe,
durch Eiweißabbau im Tierorganismus sekundär entstandene,
im Harne aber ausgeschiedene toxische Prinzip verantwort¬
lich zu machen, und beide Erkrankungszustände auch nach
diesem neuen Kriterium als Eiweißzerfallstoxikosen anzu¬
sprechen. Dasselbe gilt für Peptonvergiftung und Ver¬
brühungstod.
Es wären demnach alle diese Vergiftungsbilder hin¬
sichtlich des dabei in Aktion tretenden Giftes wesensgleich
und nur hinsichtlich seiner Entstehung verschieden und
zwar die Peptonvergiftung als rein ektogene Toxikose (Ein¬
verleibung präformierten, in vitro gebildeten Giftes), die
Hämolysinvergiftung und der anaphylaktische Shock teils
als ektogene, teils als endogene Toxikosen (im ersten Falle
Einverleibung des wirksamen Hämolysines, welches an sich
frei von präformiertem Gift, erst bei seiner Einwirkung auf
das Eiweiß des Tieres dieses abspaltet, im zweiten Falle
Einverleibung des unwirksamen artfremden Eiweiß der
Vorbehandlung, Abbau und Giftentstehung durch das im¬
munisatorisch gebildete und im Tiere disponible Antieiweiß),
der Verbrühungstod als rein endogene Toxikose (Entstehung
desselben Giftes durch den resorptiven Abbau des durch
die Hitze zerstörten Eiweiß) aufzufassen.
Es schien weiterhin wünschenswert, zu prüfen, ob
sich denn in anderen Fällen, wo Eiweißzerfall vermutet
oder vorausgesetzt werden kann, 1. die in die Erschei¬
nung tretenden Krankheitsbilder mit jenen, so außerordent¬
lich charakteristischen, eines durch parenteralen Eiwei߬
zerfall geschädigten Tieres decken, und 2. zu sehen, ob
auch dort als Indikator für den Eiweißzerfall das massen¬
hafte Erscheinen des in Rede stehenden Giftkörpers im
Harne festgestellt, werden könne, wie bei der Peptonver¬
giftung, bei der Verbrühung und beim anaphylaktischen
Shock, sowie hei der Hämolysinvergiftung.
Dabei rekurrierte ich auf die ältere, in Konsequenz
der Entdeckung von Tapp einer und Jo dl bau er über
die photodynamische Wirkung fluoreszierender Stoffe, von
mir gleichzeitig mit Sacharoff und Sachs gemachte,
später von W. Hausmann bestätigte und erweiterte Er¬
fahrung, idaß Erythrozyten in Lösungen fluoreszierender
Stoffe (Eosin, Hämatoporphyrin, Chlorophyll, tierische Galle),
suspendiert unter dem Einfluß des Lichtes sich rasch auf-
lösen, im Dunklen hingegen ungeschädigt erhalten bleiben.
Eine Mitteilung W. Hausmanns hatte weiterhin gezeigt,
daß weiße Mäuse, mit fluoreszierenden Stoffen (Hämato¬
porphyrin) gespritzt, im Lichte akut unter schweren tetani-
schen ^Erscheinungen zugrunde gehen, während sie im
Dunkeln ungeschädigt am Leben bleiben, in diffusem Tages¬
lichte hingegen chronische Erkrankungen der belichteten
Organe (Nekrosen, Haarausfall) erkennen lassen.
Es waren demnach auch bei der photodynamischen
Wirkung fluoreszierender Stoffe in vitro Zellzerfall, in vivo
schwere Schädigungen gefunden worden, die möglicher¬
weise auf einer Intoxikation mit Zerfallsprodukten der im
Lichte zugrunde gehenden Zellen und Eiweißkörper beruhen
konnten. War dies der Fall, so mußte in Konsequenz der
oben auszugsweise mitgeteilten Resultate gefordert werden,
daß 1. die mit fluoreszierenden Stoffen sensibilisierten und
belichteten Tiere a) dieselben Krankheitserscheinungen,
b) dieselben pathologisch -anatomischen Befunde erkennen
lassen wie Verbrühte, oder mit dem Harn verbrühter Tiere,
durch Hämolysine Vergiftete, bzw. anaphylaktisch Erkrankte
und 2. auch in ihrem Harn als Kriterium des gesteigerten
Eiweißzerfalles das massenhafte Auftreten desselben toxi¬
schen Prinzipes nachweisbar werden wie dort.
Diese Versuche, über die hier nur auszugsweise be¬
richtet werden kann, wurden bisher an weißen Mäusen
und Meerschweinchen im wassergekühlten Lichte einer 30
bis 40 Ampere -Bogenlampe vorgenommen und als Sensi¬
bilisatoren teils Eosin in 1-0 bis 0-5%, teils reines Hämato¬
porphyrin, welches ich der besonderen Liebenswürdigkeit
W. Hausmanns verdanke, in 10 und 0-25°/oo> schwach al¬
kalischer Kochsalzlösung subkutan verwendet. Dabei ergab
es sich zunächst in voller Bestätigung der Befunde W. Haus¬
manns, daß die Tiere im Lichte bei entsprechender Do¬
sierung von Sensibilisans und Licht im Gegensatz zu nicht
gespritzten normalen Tieren und gespritzten, im Dunkeln
gehaltenen Kontrollen, akut eingehen und bei nicht allzu
rapidem Verlaufe in jenen so außerordentlich charakte¬
ristischen, mit nichts anderem zu verwechselnden Tetanus
der Mäuseurämie geraten, wie wenn sie mit dem hoch-
I toxischen Harne verbrühter oder anaphylaktischer Tiere ge-
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
spritzt worden wären. Es zeigte sich zweitens im Mittel
punkte des ganzen Vergiftungsbildes ein Temperaturabfall,
der je nach der Dosis der schädigenden Noxe (sensibili¬
sierende .Stoffe und Länge und Stärke der Belichtung)
stärker oder schwächer, bei tödlichem Verlauf 12 und mehr
Grade unter der Aus gan g s temp er at u r betragen kann.
Daß es sich dabei nicht einfach um Kollapstempera¬
turen handelt, sondern diese schwere Störung im Wärme¬
haushalte das. erste und feinste Symptom der Schädigung
des belichteten und sensibilisierten Tieres ist, geht aus
der Tatsache hervor, daß bei subletalem Verlaufe je nach
der Größe der Schädigung verschieden groß auch die Hypo¬
thermie eintritt, so daß wir in ihr, analog wie im ana¬
phylaktischen Shock, direkt einen ziffernmäßig verwertbaren
Ausdruck für die Schwere des Krankheitsbildes haben.
Unter der Einwirkung diffusen Tageslichtes oder aber dann,
wenn im Bogenlichte belichtete Tiere die dadurch ausge-
löste akute Erkrankung überstanden haben, entstehen nach
Tagen, wie dies W. Hausmann für seine Hämatoporphyrin-
mäuse, Lochte und Rauhit schek für mit Mais gefütterte
und belichtete Tiere zeigten, an den belichteten Stellen, an
den Ohren, am Rücken, am Schwänze, tiefgreifende Ne¬
krosen oder ausgedehnter Haarausfall. Verwendet man an
Stelle der Mäuse Meerschweinchen zu diesem Versuche,
so kommt es auch bei ihnen, bei entsprechend intensiver
Schädigung (fluoreszierende Stoffe und Licht) zu einer im
Mittelpunkte des Krankheitsbildes stehenden und seine
Schwere anzeigenden, hochgradigen Hypothermie (bis 28,
27° C ante mortem) zu Pruritus cutaneus und Krämpfen. Die
Tiere zeigen die so charakteristischen Paresen der Hinter¬
beine, oft blutige Diarrhöen und Harnabgang, gesträubtes
Fell, kurz ein Krankheitsbild, wie es sich von dem pro¬
trahiert verlaufenden anaphylaktischen Shock und der Hä¬
molysinvergiftung nicht unterscheiden läßt. Ueberstehen sie
die Erkrankung, so entwickelt sich später am Orte der Licht¬
wirkung eine scharf begrenzte Nekrose, die in ihrem Aus¬
sehen und Verlauf nicht von jenen zu trennen ist, wie sie
bei der anaphylaktischen Lokalreaktion, bei der subkutanen
Einbringung von Hämolysinen, Pepton oder toxischem Harn
entstehen. AVählt man die Noxe entsprechend groß, so
gehen sie ganz akut im Lichte unter heftigen Krämpfen und
Volumen pulmonum auctum zugrunde. Bei ihnen, sowie
seltener auch bei akut zugrunde gegangenen weißen Mäusen
finden sich im Magen und Darme die vom anaphylaktischen
Shock und von der Verbrühung her so wohlbekannten hä¬
morrhagischen Erosionen, bei protrahiertem Verlaufe manch¬
mal Degeneration der inneren Organe. Untersucht man den
Harn solcher Tiere am Meerschweinchen, so besitzt er im
Gegensatz zu Tieren, welche keinen gesteigerten parente¬
ralen Eiweißzerfall durchmachten, eine enorme und gleich¬
sinnige allgemeine und lokale Toxizität, wie jener des ver¬
brühten, anaphylaktischen oder hämolysinvergifteten Tieres
und wie die, als Witte -Pepton bezeiclmeten Produkte der
fermentativen Eiweißverdauung bei fehlendem hämolyti¬
schen Vermögen.
Es gestattet demnach schon 1. das Kriterium der oben
nur ganz kurz skizzierten charakteristischen und identi-
ßchietn Krankheitserscheinungen und 2. jenes bisher hei
dem auf die verschiedensten Arten 'herbeigeführten parente¬
ralen Eiweißzerfall zu beobachtende und dafür spezifische
Ansteigen der Harntoxizität, zum mindesten die akuten
Krankheitserscheinungen, wahrscheinlicherweise aber auch
die chronischen bei der Einwirkung von Licht auf, mit
fluoreszierenden Stoffen (Eosin, liämatoporphyrin) vorbehan¬
delte Tiere (Maus und Meerschweinchen) als wesensgleich
mit dem Verbrühungstode zu bezeichnen und auch sie als
Toxikosen mit einem wirkungsgleichen Giftprodukte des Ei¬
weißzerfalles anzusehen, welches im Pepton Witte unifor¬
miert enthalten, bei der Hämolysinvergiftung und bei dem
anaphylaktischen Shock im Tiere sich bildend, auch diese
Krankheitserscheinungen bedingt.1)
3
Endlich sei noch kurz festgestellt, daß nach ausge¬
dehnten, kurz dauernden Säureverätzungen der Haut von
Meerschweinchen in tiefer Narkose, also nach einem, durch
grob chemische Einwirkungen auf die Haut bedingten Zerfall
von (Eiweiß die Meerschweinchen nicht nur unter Sym¬
ptomen erkranken und zugrundegehen, die den oben ge¬
schilderten wesensgleich sind, sondern sich auch in ihrem
Harne das, für gesteigerten Eiweißzerfall charakteristische,
toxische Prinzip auffinden läßt. Es wird nun des weiteren
festzustellen sein, oh und welche Rolle diese sekundären
Toxikosen des Eiweißzerfalles bei der Wirkung von Eiweiß
zerstörenden Giften überhaupt, von deren speziellem toxi¬
schen Eigenvermögen abgesehen, spielen.
Eine ausführliche Wiedergabe der oben nur in ihren
Resultaten wiedergegebenen Versuche, sowie eine Würdi¬
gung der über die einschlägigen Themen vorliegenden Lite¬
ratur, insbesonders die Arbeiten von W. Weichhardt und
L. Popielski, soll im Frühjahre in der Zeitschrift für
Irümunitätsforsöhung erfolgen.
Graz, 22. Dezember 1910.
Erfahrungen über Tuberkulinbehandlung.
Von Priv.-Doz. Dr. Josef Sorgo, Chefarzt und Dr. Erhard Stieß,
gew. Oberarzt der Heilanstalt Alland.
Die Zahl der Aerzte, welche Tuberkuliff bei der Be¬
handlung der Lungentuberkulose verwenden, wird von Jahr
zu Jahr größer und fast unübersehbar wird die Literatur,
welche der Streit über die Wertschätzung dieses Mittels
erzeugt hat. Die Stimmen jener, welche den Heilwert des
Tuberkulins verteidigen und ihm eine größere Zukunft in
der Behandlung der Lungentuberkulose prophezeien, sind
gegenwärtig zahlreicher und vernehmlicher als die der
wenigen Skeptiker, welche nicht die oft gepriesenen Erfolge
der Tuberkulinbehandlung, sondern nur deren Gefahren
sehen können.
Inwieweit ein erzielter Erfolg auf eine Tuberkulin¬
behandlung zurückzuführen ist oder durch andere Faktoren
bewirkt wurde, und ob im Verlaufe einer längeren Tuber¬
kulinbehandlung die Krankheit auf dem Wege der Heilung
überhaupt fortgeschritten ist, ist bei dem wechselvollen
und langwierigen Verlaute dieser Krankheit in jedem ein¬
zelnen Falle oft gar nicht, oft nur mutmaßlich und nur in den
seltensten Fällen mit voller Sicherheit zu entscheiden. Da¬
her ist es auch dem erfahrenen Praktiker, der über ein
großes Material verfügt, oft erst nach jahrelanger Erfah¬
rung möglich, aus eigenem sich ein sicheres Urteil über
den Heilwert des Tuberkulins zu bilden. Es darf unter
diesen schwierigen Verhältnissen nicht wundernehmen,
wenn die Erkenntnis über den wirklichen Wert dieser Be¬
handlungsmethode sich nur allmählich Bahn bricht und
bis heute noch sich divergierende Anschauungen gegen¬
überstehen.
In einer übergroßen Zahl von Fällan, welche sicher
die Mehrzahl der in Heilstätten aufgenommenen Kranken
ausmachen, und welche bei äußerst chronischem und gut¬
artigem Verlaufe der Krankheit auch keine schweren Stö¬
rungen des Allgemeinbefindens erkennen lassen, ist es oft
ganz unmöglich, den Einfluß der Tuberkulinbehandlung
überhaupt oder den Grad dieses Einflusses nachzuweisen.
Solche Fälle zeigen oft nach monatelanger Behandlung für
die physikalische Untersuchung einen oft gewiß nur schein¬
baren Status quo ante, und auch, wo deutliche Besserung
klinisch nachweisbar ist, ist der Einfluß- anderer konkur¬
rierender Momente, namentlich in Heilstätten nicht immer
mit. Sicherheit abzuschätzen. Nimmt man hiezu das ganz
verschieden geartete Krankenmaterial, welches verschie¬
denen Beobachtern zur Verfügung stand oder zur Behand¬
lung ausgewählt wurde, die ganz verschiedenartigen An¬
forderungen, welche die einzelnen Autoren an eine Be-
') Wie ich einer gütigen brieflichen Mitteilung W. Hausmanns
entnehme, neigt auch er, der Analogie der Krankheitsbilder wegen, zur
Ansicht, daß der Tod sensibilisierter Tiere im Lichte wesensgleich sei
mit dem Verbrühungstode und einer Toxikose entspreche.
4
WIENER KLINISCHE WÖCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
handlungsmethode stellen, welche als Heilmethode soll
gelten dürfen, die oft kritiklose Ueberschätzung, welche nicht
verfehlen kann, wieder eine entsprechende Opposition her-
vorzornfen, unsere Unfähigkeit, die Behandlung indi\ idua-
lisierend durchzuführen, so daß wir fast immer gezwungen
sind, nach einem gegebenen Schema vorzugehen, so ist die
Uneinigkeit in den Anschauungen über den Wert der luber-
kulinbehandlung wohl verständlich.
WTie schwierig es oft im einzelnen Falle sein kann,
ein . Urteil zu gewinnen, welche Konsequenz der Be¬
handlung und welche Zeitdauer oft nötig ist, um doch zu
einem guten Resultate zu kommen, möge ein Fall beweisen,
den wir seiner Seltenheit wegen anführen möchten.
Ein lVjähriges, gut genährtes Mädchen, wird mit einer
Tuberkulose der rechten Spitze und des linken Oberlappens, die
sich. langsam entwickelt hat, aufgenommen. Ueber den befallenen
Partien (der rechten Spitze und des linkein Oberlappens) besteht
Dämpfung, abgeschwächtes, aber rauhes Atmen und zahlreiche
teils trockene, teils feuchte und konsonierende Rasselgeräusche.
Viel Husten und viel Auswurf, der reichlich Tuberkelbazilien
enthält. Kein Fieber. Nach dreimonatiger Anstaltsbehandlung
ist der Befund unverändert. In den nächsten drei Monaten 31 In¬
jektionen von Alttuberkulin 0-0001 bis 0-4 mit drei leicht febrilen
Reaktionen:
.Resultat: .Die Rasselgeräusche über der rechten Spitze
geschwunden, der Befund über dem linken Überlappen unver¬
ändert. Husten und Auswurf viel geringer. Der Auswurf noch
reichlich bazillenhaltig. Niemand kann sagen, ob diese deut¬
liche Besserung unter dem Einfluß der Tuberkulinbehandlung
erfolgte, oder die Folge der weiter fortgesetzten Anstaltsbehandlung
war. ^ Wenn die Patientin in diesem Stadium nach mehrmonatiger
Anstaltsbeharidlung entlassen worden wäre, ließe sie sich als
Beweis für den Wert der Tuberkulinbehandlung gewiß, nicht ver¬
werten, obwohl die Besserung der Erscheinungen erst in den
letzten drei Monaten — während der Tuberkulinbehandlung
einsetzte; denn diese Erfahrung machten wir oft, daß auch ohne
Tuberkulinbehandlung erst nach einer mehrmonatigen Anstalts¬
behandlung die Rückbildung der Tuberkuloseveränderungen deut¬
lich wurde, wie man dann anderseits auch oft erst nach mehr¬
monatiger Tuberkulinbehandlung die Besserung ein treten sieht.
Die Tuberkulinbehandlung wurde nun aus äußeren Gründen
ausgesetzt. Die Patientin blieb noch weitere acht Monate in der
Anstalt, ohne Tuberkulinbehandlung und am Ende dieser Zeit
war der objektive Befund in jeder Hinsicht unverändert. Nun
konnte die Tuberkulinbehandlung wieder aufgenommen werden.
Im Verlaufe von vier Monaten erhielt die Patientin 29 Injek¬
tionen von 0-00001 bis 1-0 g mit einer Reaktion bis 39° nach
der zehnten Injektion.
Resultat: Rechte Spitze normale Verhältnisse. Ueber dem
früher stark gedämpften linken Oberlappen nur mehr; geringe
Schallverkürzung und abgeschwächtes Atmen, die reichlichen
konsonierenden Geräusche sind jetzt vollständig geschwunden,
ebenso der Husten und Auswurf. Seither sind fünf Jahre ver¬
strichen. Vor einem Monate stellte sich das Mädchen Wieder
vor und bietet gegenwärtig bis auf etwas schwaches Atmen über
dem linken Oberlappen normalen Befund. Husten und Auswurf
sind nicht mehr aufgetreten.
Dieser schöne Fäll von vollständiger luberkulose-
heilung ist einwandfrei und der Effekt der spezifischen Be¬
handlung gegen den der reinen Anstaltsbehandlung leicht
abzugrenzen. Dadurch, daß (durch ein äußeres Moment)
die Tuberkulinbehandlung durch acht Monate ausgeschaltet
wurde, ist der Einfluß der Tuberkulinbehandlung so deut¬
lich zu erkennen, der sonst bei der Kranken, die .sich im
ganzen 18 Monate in der Heilstätte befand, nicht sicher
nachweisbar gewesen wäre.
Trotzdem einwandfreie Fälle, solche, die nicht nur
dem behandelnden Arzte etwas sagen, sondern auch ob¬
jektive Beweiskraft haben, nach unserer Erfahrung nicht
allzu häufig sind, hat doch eine aufmerksame und verglei¬
chende Beobachtung einer großen Zahl spezifisch und nicht¬
spezifisch behandelter Fälle einen ursächlichen Zusammen¬
hang zwischen Heilerfolg und spezifischer Behandlungs¬
methode erkennen- lassen. Derart gesammelte Erfahrung
läßt sich jedoch nicht statistisch begründen, sondern eben
nur durch gut und einwandfrei beobachtete Einzelerfah¬
rungen dartun. Ein statistischer Nachweis wäre nur in
der Form zu erbringen, wie ihn Löwenstein an der Heil¬
stätte Belzig geführt hat, wo der Statistik ein einzelnes
Symptom, der Bazillengehalt des Sputums, zugrundegelegt
wurde und an einem großen Materiale nachgewiesen wurde,
daß von den mit Tuberkulin gehandelten etwa 50% der
Fälle die Tuberkelbazillen verloren haben, während in frü¬
heren Jahren ohne systematische Tuberkulinbehandlung nur
20% Verschwinden der Bazillen zeigten.
Da, wie gesagt, die Verhältnisse im Einzelfalle für die
Beurteilung so schwierig liegen, wurde hier Jahre hindurch
entsprechend dem Grundsätze gehandelt, nur solche Kranke
der Tuberkulinbehandlung zu unterziehen, bei welchen
schon eine mehr minder lange reine Heilstättenbehandlung
vorangegangen war, um den Einfluß der letzteren mit Sicher¬
heit auszuschließen. Wenn auch auf diese Weise, wegen der
für die meisten Kranken aus äußeren Gründen be¬
schränkten Dauer der Anstaltsbehandlung, viel wertvolles
Material verloren ging, so haben wir es gewiß (anderseits)
diesem Grundsätze, den auch neuerdings wieder Pel als
eine Forderung für den Nachweis einer Tuberkulinheilung
auf gestellt hat, zu verdanken, daß wir über genügend viele
Eigenbeobachtungen verfügen, welche den günstigen Ein¬
fluß des Tuberkulins auf den Krankheitsverlauf in geeig¬
neten Fällen dartun und uns berechtigen, dieser Behand¬
lungsmethode das Wort zu reden und ihr ausgedehnte An¬
wendung zu geben.
Die Entscheidung darüber, welche Methoden der Tuber-
kuliHbehandlung die zweckmäßigsten sind und welche
Fälle als zur Tuberkulinbehandlung geeignet bezeichnet
werden dürfen, sollte eigentlich wesentlich abhängen von
der Entscheidung der Frage, worin die Heilwirkung des
Tuberkulins überhaupt besteht und was für Veränderungen
im Kranken sich dabei abspielen.
Nach unseren heutigen Anschauungen erstreckt sich
die Heilwirkung des Tuberkulins nach zwei Seiten hin. l.Die
Auslösung immunisatorischer Vorgänge. 2. Die direkt ge¬
wollte Beeinflussung des Krankheitsherdes, die sogenannte
Herdreaktion.
Die Ansichten darüber sind auch heute noch sehr
verschieden. Unter dem Einflüsse der ersten Auflage der
Sahli sehen Abhandlung über Tuberkulosetherapie legte man
der Erzielung einer Giftfestigkeit des Organismus die größte
Bedeutung bei und sah darin den Hauptzweck der Tuber¬
kulosebehandlung: Audi bei der Drüsentuberkulose der
Kinder galt es nach Engel und Bauer, eine Unempfindlich¬
keit gegen hohe Tuberkulindosen zu erreichen und die ur¬
sprüngliche Empfindlichkeit gegen Tuberkulin zu überwin¬
den. Neuerdings mehren sich nun die Stimmen, welche gerade
in der Giftempfindlichkeit den stärksten Schutz gegen die
Propagation des Tuberkuloseprozesses sehen und die Erzeu¬
gung einer Herabsetzung der Tuberkulinempfindlichkeit als
eine störende Komponente in der Tuberkulinbehandlung
betrachten. Und während Sahli in der ersten Auflage
seiner Abhandlung noch die Herdreaktion als gefährlich und
ohne jeden therapeutischen Wert ansieht, legt man heute in
Konsequenz der neueren Anschauungen über die Bedeu¬
tung der Ueberempfindlichkeit für die Heilungsvorgänge
auch der Herdreaktion als einer Ueberempfindlichkeitsreak-
tion wieder erhöhte Bedeutung zu und sieht in ihr eine
wesentliche Komponente derTuberuklinheilwirkung. Die auf
Pirquets Forschungen sich auf bauenden Arbeiten über
die Verbreitung der Tuberkulose und die mit den neueren
Immunitätsreaktionen auf Tuberkulin, sowie durch das tier-
experiment gewonnenen Erfahrungen über die Immunitäts¬
vorgänge im Organismus haben zu diesen Anschauungen
über die Anwendung des Tuberkulins zu Heilzwecken .ge¬
führt. Die Untersuchungen Hamburgers an tuberkulösen
Kindern, die Tierexperimente Römers und die Theorien
Wolf f -Eisners haben dieselben im wesentlichen be¬
gründet.
Es ist nicht der Zweck dieser Arbeit, die praktische
Seite der Frage in den Hintergrund zu drängen zugunsten
theoretischer Erörterungen. Aber mit der Theorie muß sich
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
5
der Praktiker irgendwie abfinden; denn ans der Theorie
wurden Schlüsse gezogen, welche die praktische Seite der
Frage ganz wesentlich beeinflussen. Ob es ein Fehler ist,
durch allmähliches Erreichen hoher Tuberkulindosen die
Empfindlichkeit gegen Tuberkulin herabzusetzen und es
vielmehr besser wäre, durch kleine Dosen die Tuberkulin¬
empfindlichkeit zu erhalten oder eventuell zu steigern (die
sogenannte anaphylaktische Methode Escherichs), das
sind Fragen, die für den Praktiker von großer Bedeutung
sind.
Es ‘ist ein großes Verdienst der einschlägigen wissen¬
schaftlichen Forschungen, diese Frage aufgeworfen zu
haben, aber für den Praktiker, der sich entscheiden muß,
welchen Weg er gehen soll, werden bis auf weiteres wohl
die Erfahrungen am Krankenbette eine sicherere Basis für
sein Vorgehen abgeben, als theoretische Ueberlegungen.
Was sagen uns nun darüber die klinischen Erfahrun¬
gen? (Und wir können uns da nur auf unsere eigene Er¬
fahrung stützen, weil für uns natürlich die eigene Erfah¬
rung die maßgebendste ist.)
Jeder Tuberkulintherapeut ist sich heute darüber klar,
daß er mit der Tuberkulinbehandlung nur die natürlichen
Vorgänge der Tuberkuloseheilung imitieren und unter¬
stützen kann. Die Beobachtung der Verhältnisse an nicht
spezifisch behandelten Kranken läßt Schlüsse zu für das
Vorgehen bei der Tuberkulinbehandlung.
Da sehen wir nun vor allem, daß die Giftempfindlich¬
keit, das heißt die Empfindlichkeit gegen Tuberkulin, bei
verschiedenen Fällen von Lungentuberkulose sehr verschie¬
den ist und die größten Differenzen zeigen kann und es
drängt sich die Frage auf, welcher Zustand der günstigere
ist, die hohe oder die geringe Giftempfindlichkeit, denn mit
der Beantwortung dieser Frage ist. das Problem der Tuber¬
kulinbehandlung auf das innigste verknüpft.
Die Feststellung des Grades der Tuberkulinempfindlich¬
keit an unserem Krankenmateriale mit Hilfe der kutanen
und Ophthalmoreaktion und der Stich- und Fieberreaktion
nach subkutaner Impfung, hat uns gelehrt, daß. der Aus¬
fall dieser Reaktionen keinen Anhaltspunkt gibt für die
Wertung des Prozesses im günstigen oder ungünstigen Sinne,
ganz schwere Fälle natürlich ausgenommen, welche auch
klinisch den nahen Tod deutlich erkennen lassen. Nach
Wolff -Eisner z. B. hat eine negative Ophthalmoreaktion
beim Fehlen von Tuberkelbazillen eine günstige, beim Vor¬
handensein derselben eine ungünstige Bedeutung. Nicht
reagierende aber sichere Tuberkulosefälle sind nach ihm
entweder nicht aktiv oder progreß und prognostisch un¬
günstig und beide Formen gehören nach Wolf f -Eisner
nicht in Heilstätten. Unsere Erfahrungen haben uns aber
gezeigt, daß auch unter den Kranken mit positiv bazil¬
lärem Befunde die Ophthalmoreaktion fehlen kann, selbst
bei wiederholter Prüfung und dennoch die Prognose, wie
der weitere Verlauf zeigt, sich als eine durchaus günstige
darstellt. Aehnliche Erfahrungen machten wir mit den an¬
deren erwähnten Reaktionen.
So können wir z. B. Wolff -Eisner auch darin nicht
zustimmen, wenn er bei sicherer Tuberkulose, bei vor¬
handener Ophthalmoreaktion dem Fehlen der Kutanreaktion
größere Bedeutung im1 Sinne ungünstiger Prognosestellung
zuerkennt. Aus unserem1 reichen Materiale sei nur ein dies¬
bezügliches Beispiel erwähnt.
Patientin M. B., 18 Jahre alt. Vater an Tuberkulose ge¬
storben. Die Patientin ist seit einem Jahre krank und batte seither
wiederholt Hämoptoe. Der physikalische Befund ergibt beider¬
seitigen Spitzenkatarrh. Im Auswurf Tuberkelbazillen. Die Oph¬
thalmoreaktion (l : 100) ist deutlich positiv. Die kutanen Impfun¬
gen mit konzentriertem Tuberkulin sind, dreimal im Laufe von
vier Wochen vorgenommen, stets völlig negativ. Während fünf¬
monatiger 'Anstaltsbehandlung deutlicher Rückgang der katarrhali¬
schen Erscheinungen über beiden Spitzen. Keine Tuberkel¬
bazillen mehr im Auswurf. Gewichtszunahme 14-30 kg. In diesem
Jahre Wiederaufnahme durch sechs Monate. Beim Eintritt reich¬
liche katarrhalische Geräusche über dem rechten Obeirlappen.
Im Sputum Tuberkelbazillen. Bei der Entlassung nur vereinzelte
zähe Ronclii unter der rechten Klavikula, kein Auswurf, Gewichts¬
zunahme 6-5 kg.
Es ist einfach unmöglich, aus dem Fehlen oder Vor¬
handensein der Reaktionen, oder aus der Stärke derselben
einen Schluß auf die Prognose des Falles zu ziehen. Nach¬
dem unter den prognostisch günstig verlaufenden Fällen
sich sowohl solche befanden, bei welchen der Ausfall so¬
wohl der Ophthalmö-, wie der Kutan- und Fieberreaktion,
hohe Tuberkulinempfindlichkeit anzeigte, wie solche, bei
denen die Tuberkulinempfindlichkeit sich als sehr gering
oder direkt als fehlend erwies1, kann wohl auch für die
Tuberkulinbehandlung nicht ohne weiteres der Grundsatz
aufgestellt werden, daß die Erhaltung oder die Steigerung
der Tuberkulinempfindlichkeit den Ausfall der Behandlung
im wesentlichen bestimme. Wir möchten beispielsweise auf
eine klinisch gut charakterisierte Tuberkuloseform hin-
weisen. Das sind chronische Oberlappenprozesse mit zum
Teil bereits bindegewebiger Umwandlung, von jahrelangem
afebrilen Verlauf bei gut genährten Individuen (Dämpfung,
Anomalien des Atmungsgeräusches, mäßiges konsonieren-
des Rasseln). Wenn Sputum vorhanden ist, ist dasselbe
reichlich, von kavernösem Charakter und bazillenhaltig. Die
Krankheit ist scheinbar stationär. Es sind Fälle, die nach
jahrelanger Dauer mit bindegewebiger Schrumpfung enden.
Die Tuberkulinempfindlichkeit dieser Kranken ist meist eine
sehr geringe. Wir kennen Kranke, die bei probatorischer
Injektion auf 15 bis 20 mg subkutan noch nicht reagierten
und bei denen man in kürzester Zeit oft ganz reaktions¬
los bis zu 10g reinen Tuberkulins ansteigen konnte, was
bei irgend nennenswerter Tuberkulinempfindlichkeit ohne
Störung des Allgemeinbefindens und ohne üble Beeinflus¬
sung des Krankheitsprozesses nicht möglich gewesen wäre.
Auch der eingangs zitierte Fall gehört zum Teil in
diese Kategorie. Wir haben, es hier mit einer Tuberkulin¬
unempfindlichkeit als Resultat spontaner Heilungsprozesse
zu tun und was bei der spontanen Heilung als Teilerscheinung
eines prognostisch günstigen Krankheitsbildes auf tritt, das
darf wohl auch die Tuberkulinheilung zu erzielen suchen,
die ja übrigens, wie gesagt, nichts anderes tun kann, als
spontane Heilungsvorgänge zu unterstützen oder zu imi¬
tieren.
Unsere Erfahrungen decken sich diesbezüglich mit
den von Pickert und Löwenstein gemachten, die über
außerordentlich günstigen Verlauf bei hoher natürlicher Re¬
sistenz gegen subkutan injiziertes Tuberkulin berichten.
Auch erlaubt der von ihnen erbrachte Nachweis der gleichen
Tuberkulin neutralisierenden Stoffe im Serum der spontan
gegen Tuberkulin resistenten Tuberkulose, wie im Serum der
durch Tuberkulininjektionen giftfest gemachten Kranken,
die spontane und die künstlich erzeugte Tuberkulinresi-
stenz als wesensgleiche Zustände in Betracht zu ziehen.
Wenn wir anderseits bei mit Tuberkulin behan¬
delten Kranken das Verhalten der Tuberkulinempfindlich¬
keit an der Allgemeinreaktion verfolgen, so können wir
auch hier bei Verwendung desselben Behandlungsschemas
den größten Differenzen begegnen, ohne daß uns die klinische
Behandlung erlauben würde, aus diesem differenten Ver¬
halten verschiedener Kranker prognostische Schlüsse zu
ziehen.
Man beobachtet Kranke, welche recht bald bei fort¬
gesetzter Steigerung der Dosen eine zunehmende Tuber¬
kulinunempfindlichkeit erlangen, so daß es nicht schwer
hält, in relativ kurzer Zeit zu hohen Dosen anzusteigen.
Wieder bei anderen zeigt die Tuberkulinempfindlichkeit
keine Tendenz abzunehmen und ist auch bei hohen Dosen
noch deutlich vorhanden und läßt nur bei äußerster Vor¬
sicht ohne Schädigung für den Kranken größere Tuberkulin¬
dosen erreichen. Bei manchen Kranken gelingt es über¬
haupt nicht, über eine bestimmte niedere Grenzdosis reak¬
tionslos hinwegzukommen und die heute übliche vor¬
sichtige Behandlungsmethode, welche mit kleinsten
Dosen beginnend, Wochen und Monate lang bei den kleinsten
Dosen bleibt, hat bei manchen Kranken ein Stadium der
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
Ueberempfindlichkeit zur Folge, welches bei anderen
Kranken ausbleibt, oder wenigstens nicht erkennbar in Er¬
scheinung tritt.
Die bei hohen Tuberkulindosen auftretende Tuberkulin¬
unempfindlichkeit ist wiederum hinsichtlich ihrer Dauer
bei verschiedenen Patienten sehr verschieden, sie kann
schon nach Tagen wieder verschwinden oder aber Wochen
oder Jahre lang andauern.
Wir haben nicht den Eindruck empfangen können, als
würde das verschiedene Verhalten der Tuberkulinempfind¬
lichkeit im Verlaufe oder nach Beendigung der Tuberkulin¬
behandlung sich prognostisch verwerten lassen. Daß tuber¬
kulinüberempfindliche Kranke größere Vorsicht in der Do¬
sierung erheischen, das ist ja selbstverständlich, ebenso,
daß bei solchen Patienten leichter unerwünschte Reak¬
tionen oder Tuberkulinschädigungen auftreten können.
Nur bei solchen Kranken, bei welchen iin Verlaufe
der Tuberkulinbehandlung, nachdem bereits hohe Dosen
verwendet wurden, plötzlich eine große Tuberkulinempfind¬
lichkeit auftritt, so daß auch viel niederere Dosen als die
schon erreichten nicht mehr reaktionslos ertragen werden,
scheint dieses Symptom von prognostisch ungünstiger Be¬
deutung zu sein. In solchen Fällen genügt oft nicht die
Unterbrechung der Tuberkulinbehandlung, sondern die¬
se! l)o kann oft wegen der andauernden Tuberkulinempfind¬
lichkeit auch nach längerer Unterbrechung nicht wieder
weitergeführt werden. Die weitere Beobachtung dieser Fälle
läßt meist die Neigung zu rascher Progredienz erkennen.
Auch die Resultate der Tuberkulinbehandlung bei Anwen¬
dung dieser oder jener Methode, der sogenannten immuni¬
satorischen, welche hohe Dosen anstrebt und erreicht, oder
der anaphylaktisiereiiden, welche durch oftmalige Wieder¬
holung kleiner Dosen die Ueberempfindlichkeit zu erhalten
oder zu steigern bestrebt ist, sprechen in demselben Sinne,
bezüglich der prognostischen Verwertung des Grades der
Giftempfindlichkeit. Heilerfolge sind auf die eine und auf
die andere Weise erreicht worden und in der Literatur
mitgeteilt.
Man kann aus alldem nur folgern, daß der Grad der Tu¬
berkulinempfindlichkeit für die Einleitung der Tuberkulinbe-
andlung keine Indikation oder Kontraindikation abgeben
kann und daß es auf Grund der Beobachtung der Beziehungen
der Empfindlichkeitsreaktionen zum Krankheitsverlauf nicht
gerechtfertigt ist, sich prinzipiell für die eine oder die
andere Methode zu entscheiden, oder durch die Methode
der Behandlung prinzipiell eine Steigerung oder ein Er¬
löschen der Tuberkulinempfindlichkeit anstreben zu wollen
oder zu verhüten, von der Meinung ausgehend, daß der
Erfolg der Behandlung im wesentlichen von dem Grade
der Tuberkulinempfindlichkeit bestimmt werde, ebenso wie
aus unseren Erfahrungen folgt, daß sich der Einfluß der
individuell so verschiedenen Tuberkulinempfindlichkeit auf
den Heilungsvorgang nach unserem heutigen Wissen im
einzelnen Falle noch nicht abschätzen läßt, da wir so¬
wohl bei vorhandener Tuberkulinüberempfindlichkeit als bei
ziemlich hoher Giftfestigung gegen Tuberkulin die Heilungs¬
prozesse in der kranken Lunge vor sich gehen sehen.
Daher ist auch der Einfluß, den der Grad der Tuber¬
kulinempfindlichkeit auf die zweite Komponente der Tuber-
kulinwirkung ausübt, auf die sogenannte Herdreaktion im
einzelnen Falle noch dunkel. Daß den durch Tuberkulin
im Krankheitsherde und in der Umgebung desselben her¬
vorgerufenen geweblichen Reaktionen ein wesentlicher Ein¬
fluß auf den Heilungsvorgang zukommt, daß sie eine der
wichtigsten, vielleicht sogar die ausschlaggebende Seite der
Tuberkulinwirkung darstellen, läßt sich kaum1 mehr be¬
streiten. Die Reaktion tuberkulöser Herde, die der Injektion
zugänglich sind, klinische Erfahrungen, Tierexperimente
und Obduktionsbefunde, alle sprechen in demselben Sinne,
daß es unter dem Einflüsse von Tuberkulin zu entzünd¬
licher Hyperämie in der Umgebung des tuberkulösen Herdes,
zur Erweichung und Auslösung nekrotischer Herde und zur
Bindegewebsneubildung kommt. Ob aber zwischen diesen
Vorgängen und dem Grade der durch die diagnostischen
Methoden mittels Tuberkulins und der Fieberreaktion ge¬
messenen Tuberkulinempfindlichkeit ein regelmäßiger Pa¬
rallelismus besteht, das steht noch dahin und wird durch
die oben mitgeteilten klinischen Erfahrungen nicht wahr¬
scheinlich gemacht. Jedenfalls kann man Saathoff nicht
zustimmen, wenn er einen strengen Parallelismus zwischen
der Herdreaktion und der Stichreaktion annimmt; denn man
müßte sonst folgerichtig annehmen, daß ein solcher Paralle¬
lismus auch zwischen der Stichreaktion und der Tuber¬
kuloseherdreaktion in anderen Organen als der Lunge be¬
stehen müsse, was aber nachweisbar nicht der Fäll ist.
Wir haben beispielsweise bei Kehlkopftuberkulose trotz in¬
tensivster Stichreaktion noch nie eine deutliche Herdreak¬
tion beobachten können. Gegen einen solchen Parallelis¬
mus spricht auch die klinische Erfahrung, daß trotz hoch:
gradigster Stichreaktion jedes Symptom, welches auf eine
stärkere Herdreaktion in der Lunge schließen würde, voll¬
ständig fehlen kann. Weder der physikalische Befund, noch
andere von der Lunge abhängige Erscheinungen, wie das
Verhalten des Hustens und des Auswurfes, oder subjek¬
tive Brustbeschwerden deuten auf erkennbare stärkere Herd¬
reaktion hin. Man kann auch trotz stärkster Stichreaktion,
wenn keine andere Reaktion als Folge der Impfung auf¬
trat, Unbedenklich mit der Dosis steigen, was gewiß nicht
ohne üble Folgen sein würde, wenn die Stichreaktion immer
der Ausdruck der adäquaten Herdreaktion wäre.
Die Methode der Tuberkulinbehandlung, welche nun
seit fast 20 Jahren bis in die letzte Zeit fast ausschließlich
geübt wurde, ist jene, welche allmählich ansteigend, von
kleinen zu immer höheren' Dosen zu gelangen strebt und
allmähliche Gewöhnung, Giftfestigung, für hohe Dosen zu
erzielen sucht. Escherich hat diese Methode die im!-
munisato rische genannt, im Gegensatz zur anaphylaktisie-
renden, welche bei kleinen Dosen bleibend, die Ueberem¬
pfindlichkeit für Tuberkulin zu erhalten oder zu steigern
strebt. Beide Bezeichnungen sind vielleicht, soweit sie sich
auf die Methode der Behandlung, nicht auf den beab¬
sichtigten Endeffekt beziehen, vom Standpunkte der prak¬
tischen Erfahrung nicht ganz zutreffend. Zunächst ist die
im Eiuzelfalle mit der immunisatorischen Methode erreich¬
bare Dosis bei verschiedenen Patienten sehr verschieden,
von mannigfachen, in der Individualität des Kranken und
in äußeren Momenten begründeten Umständen abhängig
und daher im vorhinein nicht bestimmbar; und auch wenn
man zu sehr hohen Dosen kommt, sind nicht in jedem
Falle die Pickert-Lö w enstein sehen Antikörper im Se¬
rum der Behandelten nachweisbar. Es kann — eine sehr
gewöhnliche Erscheinung — nach sehr hohen Dosen die
Gewöhnung an diese nach kürzester Zeit, nach Tagen selbst
wieder verloren gehen und einer mehr minder großen Tuber¬
kulinempfindlichkeit Platz machen. Wie schon früher er¬
wähnt, sind diese Verhältnisse von größter individueller
Variabilität, so daß es eigentlich den klinischen Tatsachen
nicht entspricht, schlechterdings von einer immunisatori¬
schen Methode der Tuberkulinbehandlung zu sprechen, wenn
die sich abspielenden immunisatorischen Vorgänge bei ein
und derselben Methode sich individuell so verschieden ver¬
halten.
Dasselbe gilt von der Bezeichnung anaphylaktisierende
Methode. Wenn man mit einer kleinsten Dosis beginnt und
bei derselben bleibt, sagen wir z. B. 0-000001 oder 0-00001 g
Alttuberkulin, so kann man, um zwei extreme Fälle zu
erwähnen, folgendes beobachten. In dem einen Fälle tritt
nach der ersten Injektion deutliche Stichreaktion auf, welche
auch die folgenden Injektionen begleitet und dann schwächer
wird und bei späteren Injektionen derselben Dosis nicht
mehr auftritt. Oder es folgt der ersten Injektion eine febrile
Reaktion, welche auch nach der zweiten Injektion im ver¬
minderten Grade auftritt, bis endlich die Dosis reaktions¬
los vertragen wird. Also — und das ist der seltenere Fäll -
Erzeugung von Unempfindlichkeit gegen kleinste Tuber¬
kulindosen. Es kann aber auch der umgekehrte Fall ein-
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. l'Jil.
7
treten; Stich- und Fieberreaktionen, welche anfangs fehlten,
treten erst nach öfterer Wiederholung ein und derselben
kleinsten Dosis auf. Also Steigerung der Tuberkulincmi-
pfindliclikeit. Man kann mithin nicht schlechtweg von einer
anaphylaktisierenden Methode sprechen, weil der Effekt
derselben im wesentlichen von der individuellen Art zu
reagieren und nicht allein von der Methode abhängt. Um
daher nicht die Vorstellung zu erzeugen, die der klini¬
schen Erfahrung nicht kongruent ist, wird es vielleicht
besser sein, von einer Methode andauernder kleinster Dosen
und von einer Methode der allmählichen Erzielung großer
Dosen zu sprechen.
Diese letztere Methode war, wie gesagt, seit etwa
20 Jahren bis in die letzte Zeit fast ausschließlich in Hebung,
wenn sie auch in manchem Detail mannigfache Acnde-
rung erfahren hat. Dieser Methode ist es auch zu verdanken,
daß die bereits verlassene Tuberkulinbehandlung allmäh¬
lich wieder Eingang und heute einen unbestreitbaren Platz
in der Therapie der Tuberkulose errungen hat. Diese Me¬
thode ist auch heute noch die am meisten geübte und
die weitaus überwiegende Zahl von Tuberkulinheilungen
sind mit dieser Methode errungen worden. Wenn diese
Methode auch mit modernen Theorien in Konflikt geraten
kann, so hat sie doch die praktische Erfahrung auf ihrer
Seite. Damit soll nicht gesagt sein, diese Methode, die
sich praktisch bisher bewährt hat, sei der Weisheit letzter
Schluß. Aus den früheren Ausführungen muß im Gegenteil
die Folgerung gezogen werden, daß die schwache Seite
der Tuberkulinbehamllung darin liegt, daß wir nicht im¬
stande sind, genügend zu individualisieren und uns prak¬
tisch an ein Schema zu binden. Die ungeheure individuelle
Vielgestaltigkeit, welche das Krankheitsbild der Lungen¬
tuberkulose zeigt (in allen Seiten ihrer uns bekannten Er¬
scheinungen) macht es wahrscheinlich, daß für jede in
ihrem individuellen Verhalten einheitliche Gruppe von
Kranken eine ganz bestimmte, uns noch unbekannte Be¬
handlungsmethodik, die richtige und beste ist. Diese Gruppe
klinisch zu definieren und die heutige mehr schematische
Methode zu individualisieren, ist eine der wesentlichsten
Aufgaben der Tuberkulintherapeuten. Solange wir das nicht
können, sind wir an ein Schema natürlich gebunden. Und
wenn ein Schema sich als ungefährlich und in geeigneten
Fällen als nützlich und heilbringend erwiesen hat, dann
liegt eigentlich kein Grund vor, dieses praktisch bewährte
Schema durch ein anderes zu ersetzen. Wenn die heute
von manchen Autoren geübte Methode der kleinsten Dosen
ein Versuch sein soll, in dem Problem der individualisie¬
renden Behandlung einen Schritt vorwärts zu tun, dann
ist sie als ein wertvoller Fortschritt aufzufassen und wird
uns auch praktische Früchte zeitigen. In dieser Form scheint
uns die Arbeit von Es che rieh wertvoll, der in der ersten
Periode des Kindesalters mit dieser Methode bessere Besul-
tate erzielt hat als mit der Methode der Erzielung großer
Dosen. Wenn diese Methode sich aber das alleinige Bürger¬
recht erwerben und als ein neues Schema an die Stelle
des alten treten will und der alten Methode auf Grund
theoretischer Ueberlegungen vorwirft, daß es ein Fehler
sei, gegen Tuberkulin unempfindlich zu machen, dann hat
der Praktiker auf Grund seiner Erfahrung die ältere, be¬
währte Methode in Schutz zu nehmen.
•Oft ist man zu dieser Methode der kleinsten Dosen,
in kürzeren oder längeren Intervallen injiziert, einfach durch
die Eigenart des Falles gezwungen. Es ist oft nicht möglich,
mit der Dosis zu steigen und über eine niedere Grenz¬
dosis hinauszukommen, wegen der großen Tuberkuli nüber-
empfindlichkeit des Kranken. Jeder Versuch, mit der Dosis
um ein geringes zu steigen, wird mit unerwünschter All¬
gemeinreaktion beantwortet.
Uebrigens haben wir seit, dem Erscheinen der
Arbeit Escherichs diese Methode in zahlreichen Fällen
angewendet und wenden sie weiter noch in geeignet schei¬
nenden Fällen an, namentlich bei zarten, durch die Krank¬
heit heruntergekommenen Personen oder bei solchen, bei
welchen erfahrungsgemäß die Dosensteigerung entweder
häufige Reaktionen auslösl oder mit einer Störung des
Allgemeinbefindens einhergeht — oder aus wissenschaft¬
lichen Gründen, oder nur zur Bereicherung der Erfahrung
bezüglich des Effektes dieser Methode. Trotzdem können
wir jetzt noch kein abschließendes Urteil darüber fällen.
Die Schwierigkeiten der Beurteilung des Heilerfolges sind
liier natürlich ebenso groß als mit der anderen Methode
und ist es daher schlechterdings unmöglich, in einem halben
Jahre, so lange ist es her seit der Publikation E sche¬
ine hs, ein Urtjeil über, den Heilwert einer neuen Methode
der Tuberkulinbehandlung, zu gewinnen.
Unsere eigenen, hier mitgeteilten Erfahrungen, stützen
sich daher fast ausschließlich auf die Methode der lang¬
sam ansteigenden Dosen.
Die Methode als solche ist allgemein bekannt. Nur die we¬
sentlichen 'Gesichtspunkte und einige Detailproben von prak¬
tischer Wichtigkeit mögen hier besprochen werden. Daß die
Wafhl des Präparates keinen wesentlichen Faktor in der
Tuberkulinbehandlung darstellt, darüber sind die Ansichten heute
wohl übereinstimmend. Unterschiede bestehen wohl, aber sie
äußern sich nur nach der quantitativen Seite. Wenn wir die ge¬
bräuchlichsten Präparate, das Alttuberkulin, TR, die Koch sehe
Emulsion und Beraneks Tuberkulin mit Hilfe einer Ueber-
empfindlichkeitsreaktion prüfen, z. B. der Kutanreaktion, na
türlich nebeneinander an dem gleichen Patienten, dann erweist
sich das Alttuberkulin als das stärkste, TR in Bazillenemulsion
als das schwächste Präparat. Das stimmt auch sonst mit der
klinischen Erfahrung. Das TR und die Bazillenemulsion werden
von empfindlichen Kranken namentlich von fiebernden, besser
und reaktionsloser vertragen als das Alttuberkulin. Nach der
Intensität der Stichreaktiön, welche man bei Beraneks Tuber¬
kulin auftreten sieht, im Vergleich zur Stichreaktion nach kleinsten
Dosen von Alttuberkulin und Bazillenemulsion scheint das Be-
raneksche Tuberkulin das noch schwächere Präparat zu sein. Das
stimmt auch überein mit der experimentellen Prüfung verschiede¬
ner Tuberkuline durch Sigismund nach der für das Frankfurter
experimentell - therapeutische Institut ausgearbeiteten Dönitz-
schen Methode an Meerschweinchen, wonach das B ej r a n o Ir¬
sch e Tuberkulin von äußerst geringer Toxizität ist. Noch geringer
ist die Giftigkeit zweier anderer Tuberkuline, welche wir inAlland
dargestellt und in einer größeren Versuchsreihe ausprobiert haben,
ein Fischtuberkulin und ein aus einem durch Schlangenpassage
mutierten menschlichen Tuberkulosestamm, welchen wir als Tuber¬
kulin bezeichnet haben. Dieses Tuberkulin ist etwas stärker als
Fischtuberkulin und beide haben wir mit scheinbar gutem Erfolge
angewendet bei Kranken, welche die starken Tuberkuline nicht
vertragen, das ist besonders bei schwächlichen Kranken, ohne
daß wir objektiv beweisende Fälle anführen können.
Versuche mit den Emulsionspräparaten Spenglers haben
wir bald nach Beginn derselben wieder aufgegeben, nachdem bei
Verwendung der humanen und bovinen Bazillenemulsion IE und
PTE vereiternde Infiltrate an den Injektionsstellen auftraten und
wir m dem einen Präparate, PTE, virulentes Virus nachweisen
konnten.
Bei der Inzision zweier Abszesse an der Impfstelle ent¬
leerte sich dickflüssiger, weißgelber Eiter, in dem weder mikro¬
skopisch noch durch die Kultur Bakterien gefunden werden
konnten. vDurch das Tierexperiment wurde jedoch in einem dieser
Fälle das Vorhandensein von Tuberkelbazillen im Abszesse, der
sich drei Wochen nach der Injektion von 0-02 mg PTE an der
Injektionsstelle gebildet hatte, zweifellos nachgewiesen. Ein Ka¬
ninchen mit wässeriger Emulsion dieses Eiters subkutan geimpft,
ging nach 110 Tagen an allgemeiner Tuberkulose zugrunde. Daß
es sich hier um die Wirkung lebender Bazillen handelte, wurde
durch die Reinkultur von Tuberkelbazillen aus der Lunge des
Kaninchens erwiesen.
Lieber die Deutung dieses Befundes könnte ein Zweifel in
Hinsicht auf die Provenienz der virulenten Tuberkelbazillen im
Abszeßeiter bestehen. Dieselben konnten mit dem Präparate inji¬
ziert worden sein, oder von der Patientin selbst stammend, sich
in dem ursprünglich sterilen Infiltrate lokalisiert haben. Die
Resultate unserer Versuche mit PTE an Tieren lassen jedoch
die i erster e Annahme gerechtfertigt erscheinen. Drei Meer¬
schweinchen und ein Kaninchen wurden mit je 0-5 mg PTE,
das ist 0-5 cm3 der Originalflüssigkeit, injiziert. Aon diesen Tieren
blieben zwei Meerschweinchen gesund, das dritte Meerschwein¬
chen 'starb nach 6ß Tagen und das Kaninchen nach UP s Monaten
an Tuberkulose. Mit Drüsenemulsion des ersten und mit Abszeß-
8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
eiter der Impfstelle des zweiten Tieres geimpfte Meerschweinchen.
gingen an Tuberkulose zugrunde. , T, ..
Diese Befunde zeigen, daß in dem Spenglersehen I ra-
parate PTE virulente Tuberkelbazillen enthalten sind und ist
daher von der Verwendung desselben abzusehen. -
Wenn auch die Injektion lebender Tuberkelbazillen boviner
Provenienz von einzelnen Autoren für ungefährlich gehalten
wird (C. Spengler, Klemperer), so sind doch die theore
tischen Grundlagen einer solchen Medikation noch zu umstritten
und die praktischen Erfahrungen bisnun nicht so ermutigend, um
dieses gefährliche Verfahren in die allgemeine Praxis eimuhrcn
Im Sp engl ersehen humanen Tuberkclbazillenemulsions-
präparate TE konnten wir auf Nährböden und in Tierversuchen
keine lebenden Tuberkelbazillen nach weisen
Es wird sich trotzdem empfehlen, nicht mir aus linde -
tuberkelbazillen, sondern auch ans menschlichen Tuberkelbassulen
hergestellte Emulsionspräparate lieber nach der alten bekannten
Koch sehen Vorschrift der Herstellung zu verwenden.
Fs wird sich, wenn man nicht die Absicht hat, be¬
sondere schwache Tuberkuline von geringster Toxizität in
dem oder jenem Falle zu verwenden, die Wahl des Präparates
in der Praxis im großen und ganzen so ziemlich gleich
lileiben, zumal man es ja auch bei dem stärker toxischen
Präparate in der Hand bat, durch starke Verdünnungen und
kleinste Dosen die Wirkung herabzusetzen. (Nur daß 1K
und die Bazillenemulsion bei fiebernden Kranken besser
vertragen wird, scheint auch nach den hiesigen ErtalA
rangen festzustehen.) Ueber die gerühmte Temperatur her¬
absetzende Wirkung von Emulsionspräparaten soll spater
gesprochen werden. Nur darauf sei aufmerksam gemacht,
daß bald, nachdem Koch seine -Emulsionspräparate m
den Handel brachte, von Bandelier Beobachtungen mlt-
geteill wurden, daß Kehlkopfinfiltrate im Verlaufe von Emui-
sionsbehandhingen einen akuten Zerfall zeigten. Wir waren
deshalb vorsichtig in der Anwendung dieses Präparates
bei Kehlkopftuberkulose, hatten aber bei einigen wenigen
derart behandelten Kranken keine schlechten Erfahrungen.
gemacht. . ‘ , 1 ,
Bis auf weiteres wird wohl wie bisher das Antuber-
kulin die meiste Verwendung finden. Emulsionspräparate
erfordern auch eine viel größere Exaktheit in der Her¬
stellung der Verdünnungen, um1 die darin suspendierten
Bazillenleiber zu einer gleichmäßigen Verteilung zu bringen.
Mit welcher Dosis soll man nun beginnen und wonach
soll man die Anfangsdosis bestimmen? Man kann sich ent¬
weder ein gewisses Schema zur Grundlage machen und
beispielsweise in jedem) Falle mit 0 000001 oder 0-00001 g
(Vioooo oder Vioo mig) Alttuberkulin beginnen. Das wird
sieb empfehlen für den Arzt, der zum ersten Male die
Tuberkulinspritze selbständig in die Hand nimmt und noch
keine eigene Erfahrung hat. W enn man Erfahrung hat, kann
man schon versuchen, zu individualisieren und der ganze
Krankheitsverlauf, Aussehen des Kranken, Gewicht, Tem¬
peraturverhältnisse und viele nicht wiederzugebende Ein¬
zelheiten in der Physiognomie des Krankheitshildes sagen
dem erfahrenen .Praktiker gar manches. Ist es auch in
vielen Fällen notwendig, mit kleinsten Dosen zu beginnen
und nur in vorsichtigster Weise aufzusteigen, so kann man
auch in anderen Fällen mit solchen kleinsten (Dosen viel
Zeit verlieren. Eine jede Tuberkulindosis muß wirken, sonst
ist sie wertlos. Eine Dosis, die unter der Reizschwelle des
Kranken liegt, ist natürlich als solche wirkungslos und da
es bei der langen Dauer dieser Krankheit, namentlich bei
Spitals- und Heilstättenbehandlung von größter Wichtigkeit
ist, die dem Kranken zur Verfügung stehende Zeit auszu-
nützen, ist es auch nicht gleichgültig, ob man Wochen
und Monate lang mit Dosen operiert, die weit unter der
Empfindlichkeitsgrenze des Kranken liegen, oder oh man
vielleicht durch allzu langes Verweilen bei. kleinen Dosen
die Empfindlichkeit in unerwünschter Weise steigert.
Man kann den Ausfall der kutanen Reaktion dabei
zu Rate ziehen und z. B. bei sehr starker kutaner Reak¬
tion mit sehr kleinen Dosen, etwa 0-001 mg, bei schwächerer
mit 0-01 mg, bei fast oder ganz fehlender mit 0-1 mg be
ginnen. Es wurde aber schon früher darauf hingewiesen,
daß- uns der Ausfall der kutanen und .Stichreaktion keinen
Anhaltspunkt bietet für die Beurteilung der im oder um
den Tuberkuloseherd sich abspielenden reaktiven Verände¬
rungen; und die sind zweifellos das wichtigste. Es ist
daher doch zu empfehlen, sich auf den Ausfall der kutanen
Reaktion nicht zu sehr allein zu verlassen, sondern dabei
immer auch alle anderen somatischen Erscheinungen des
Kranken, auch sein Temperament und eine etwa vorhan¬
dene nervöse Reizbarkeit mit in Rechnung zu ziehen. Be¬
stimmte Normen lassen sich da selbstverständlich nicht
aufstellen, das alles ist vorläufig noch lediglich Sache der
persönlichen Erfahrung, aber wer diese Erfahrung besitzt,
der handelt im Interesse des Kranken, wenn er diese Er¬
fahrung sowohl bei der Bestimmung der Anfangsdosis, als
bei der späteren Dosierung verwertet und sich nicht immer
sklavisch an einen vorgeschriebenen Weg bindet. Löwen¬
stein empfiehlt, zunächst durch eine probatorische Im¬
pfung die Reaktionsdosis festzustellen und diese Dosis als
Anfangsdosis zu nehmen. Hier wurde dieses Verfahren
schon vor .Jahren angewendet und bei vielen Kranken ohne
Schaden und gewiß mit großer Zeitersparnis durchgeführt,
ln einigen Fällen traten jedoch effektive Tuberkulinschädi¬
gungen als Resultat dieses Vorgehens auf, von denen sich
die Patienten erst nach Monaten erholten. Wir möchten
dieses Verfahren daher doch nicht als Regel gelten lassen
und höchstens für sehr chronische, jahrelang dauernde
Phthisen gelten lassen. Es widerspricht auch dem Grund¬
sätze, stärkere Reaktionen zu vermeiden, denn wenn man
mit großen iSteigerunlgen, wie es bei der diagnostischen
Impfung üblich und notwendig ist, die Reaktionsdosis fest-
steilen will, läuft man Gefahr, eine Reaktion von nicht
gewollter Stärke zu erzeugen.
Wir haben früher schon erwähnt, daß die nach den
Impfungen auftretende Stichreaktion für den Zeitpunkt der
nächsten Injektion und die Dosierung derselben außer acht
gelassen werden kann. Das lieißt, man braucht mit der
nächsten Injektion nicht zu warten, bis eine Stiebreaktion
abgeklungen ist und man kann trotz deutlicher und auch
starker Stichreaktion anstandslos mit der Dosis steigen.
Nur in zwei Fällen gibt die .Stichreaktion einen Anhalts¬
punkt für die Dosierung: 1. Wenn bei Kranken, welche
(ans irgendeinem Grunde) mit ein und derselben kleinen
Dosis weiter geimpft werden, die anfänglich vorhandene
Stichreaktion schwindet, so ist das wohl als ein Zeichen
aufzufassen, daß eine Gewöhnung an diese Dosis (eine Gitt-
unempf indl ichkeit für 'diese Dosis) eingetreten ist. In solchen
Fällen gibt uns das Fehlen der Stichreaktion eine Indi¬
kation, mit der Dosis zu steigen. 2. In den Fällen ganz
exzessiver, über den halben Arm ausgebreiteter Stichrea
tion, die man nicht selten bei Kindern, gelegentlich auch
einmal bei Erwachsenen sieht und die wohl nicht aui
Begleitinfektionen zurückzuführen sind, da man sie eben
immer nur an denselben Kranken beobachtet. In solchen
Fällen ist es vielleicht wohl geraten, vorsichtshalber das
Abklingen der Reaktion abzuwarten und mit der Dosis
nicht zu steigen.
Neuma nn hat mit Recht darauf hingewiesen, daß den
Tuberkulinhautreaktionen neben ihrer spezifischen Kompo¬
nente auch eine nicht spezifische zugrunde liegen dürfte,
die in der individuell verschiedenen Reaktionsfähigkeit des
vasomotorischen Systems gelegen sei. Wir haben seiner¬
zeit schon an einen solchen Zusammenhang gedacht und
waren bestrebt, festzustellen, ob sich zwischen der Stärke
der Kutanreaktion und der als Dermograpliie bezeu. mieten
Erscheinung Beziehungen feststellen lassen. Wir haben
solche Beziehungen nicht finden können. Hingegen haben
wir in einer größeren Anzahl von Fällen auch mit 1 epl on-
lö sun gen, welche mit Spritzen injiziert wurden, die nie
mit Tuberkulin in Berührung gekommen waren, Stichreak-
tionen .erhalten, welche sich in ihrem Aussehen und Ver-
laufe oft in nichts von den durch Tuberkulin erzeugten
unterschieden. Sie traten meist erst nach stärkeien Kon-
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
zentrationen, 0 001 bis 0 00b g einer l°/oigen Lösung auf,
mitunter aber auch schon bei viel geringeren Konzentra¬
tionen und nur bei einer beschränkten Anzahl der biemit
geprüften Patienten. Die Reaktionen verlaufen meist rascher
als die Tuberkulinstichreaktionen, dauern aber auch mit¬
unter tagelang an und sind öfters auch von Fieberreak¬
tionen begleitet. Die fiebererzeugende Wirkung des Pep¬
tons und der Albumosen hat schon Matthe s festgestellt
und man mußte damals die Frage aufwerfen, ob die Tuber¬
kulinwirkung nicht einfach als nicht spezifische Albumosen-
reaktion aufzufassen sei. Wir wissen heute mit evidenter
Sicherheit, daß. dem nicht so ist und daß die Tuberkulinreak¬
tionen spezifischer Natur sind und selbstverständlich ist
auch die mitgeteilte Tatsache von Stichreaktionen nach In¬
jektion reiner Peptonlösungen kein Beweis gegen die Spezifi¬
tät der durch Tuberkulin am Orte der Injektion hervorgerufe-
nen Entzündung; aber wir 'werden doch mit der ^ Mög¬
lichkeit rechnen müssen, daß namentlich bei höheren Tuber¬
kulinkonzentrationen neben der spezifischen Reaktion noch
eine nichtspezifische Peptonreaktion vorhanden sein kann,
deren gegenseitiges quantitatives Verhältnis sich nicht eru¬
ieren läßt. Das beeinflußt natürlich den Wert der Slicb-
reaktion sowohl als diagnostischen, wie als therapeutischen
Behelf.
Wenn man von dem Beranekschen Tuberkulin
absieht, so werden bei den gebräuchlichen Tuberkulinen die
einzelnen Lösungen nach, dem Verdünnungsfaktor 10 her¬
gestellt, so daß jede stärkere Lösung zehnmal konzen¬
trierter ist, als die folgende schwächere. Die unvermittelt
starken Steigerungen der Dosis, welche beim Uebergang
einer Tuberkulinverdünnung zur nächst höheren eintreten,
die man übrigens im Bedarfsfälle durch Verdünnung der
betreffenden Lösungen auf die Hälfte oder das Vier¬
fache leicht mildern kann, haben Beranek veranlaßt, bei
seinem Tuberkulin den Verdünnungsfaktor 2 einzuführen
und Neumann veranlaßt, für alle Tuberkuline einen an¬
deren V.erdünnungsmodus vorzuschlagen und ein eigenes
Schema der Dosierung auf zusf eilen. Das läßt sich alles
theoretisch gut rechtfertigen, aber wenn man die praktische
Erfahrung in Betracht zieht und sieht, daß auch mit den
bisher immer nach dem Verdünnungsfaktor 10 hergestellten
Lösungen nach jahrelangem Gebrauch derselben sich alle
jene Abstufungen durchführen lassen, welche ein gefahr¬
loses Vorgehen ermöglichen, so liegt wohl keine zwin¬
gende Notwendigkeit vor, an dem einfachsten Verfahren
der Herstellung der Verdünnungen des Tuberkulins etwas
zu ändern.
lObwohl das Bestreben aller Tuberkulintherapeuten
heutzutage dahin geht, den Verlauf der luberkulinbeliand-
lung möglichst reaktionslos, das heißt mit Vermeidung aller
stärkeren Steigerungen, durchzuführen, gelingt es doch nur
in den seltensten Fällen, die Behandlung ganz ohne Fieber¬
reaktionen zu Ende zu bringen. Dieselben beeinflussen
jedoch, wenn sie nicht zu hoch sind, den Verlauf der
Krankheit erfahrungsgemäß nicht ungünstig. Man wird die¬
selben am ehesten vermeiden können, wenn man den Be¬
griff der Tuberkulinreaktion möglichst weit faßt und alle
zeitlich im Anschlüsse an die Injektionen auftretenden Aen-
derungen im Befinden des Kranken als möglicherweise
durch Tuberkulin verursacht; betrachtet und demgemäß erst
nach völligem Abklingen derselben die letzte Injektionsdosis
wiederholt oder vorsichtig steigt. Insbesonders erfordert
die Zeit der Menstruation wegen der mit ihr verbundenen
Neigung zur Fiebersteigerung und zu Lungenblutungen Vor¬
sicht. und ist es am besten, es sich zum Prinzip zu machen,
während der Dauer der Menstruation mit den Injektionen
völlig zu pausieren. Kleinere Lungenblutungen geben keine
absolute Kontraindikation gegen die Tuberkulinbehandlung,
ebensowenig Herzleiden, bei welchen jedoch, falls irgend
erhebliche muskuläre Affektionen bestehen, subjektive Be¬
schwerden von seiten des Herzens nach den Injektionen
die weitere Tuberkulinbehandlung verbieten.
Bei fiebernden f ällen verfolgten wir den Grundsatz,
zunächst durch Bettruhe und das hygienisch -diätetisch
Regime eine 'Entfieberung zu erzielen und den Kräftezustand
des Kranken zu heben und' dann erst die Tuberkulinbehand¬
lung einzuleiten. Wenn sich durch Bettruhe und das hy¬
gienisch-diätetische Regime eine Entfieberung nicht er¬
zielen läßt, dann ist ein Erfolg auch von der Tuberkulin¬
behandlung nicht zu erwarten. Wir kennen keinen einzigen
Fall, der unter diesen Umständen durch Tuberkulin ge¬
rettet worden wäre. Wenn man von diesem Grundsätze
absieht, dann kann man wohl auch fiebernde Kranke unter
der Tuberkulinbehandlung afebril werden sehen. Aber damit
ist der Beweis für die entfiebernde Wirkung des Tuber¬
kulins nicht erbracht und man schadet eher in solchen
Fällen, als ‘man nützen kann. Insbesonders sei hervor¬
gehoben, daß wir in fiebernden Fällen auch von den Emul¬
sionspräparaten keine besseren Erfolge gesehen haben und
den Temperatur herabsetzenden Einfluß derselben nicht
haben beobachten können.
Ob die Tuberkulinbehandlung ausschließlich an Pa,
lienten durchgeführt werden soll, welche sich in Heil¬
stätten oder in Krankenhäusern befinden, oder ob sie auch
bei ambulatorischen Kranken und von seiten der prak¬
tischen Aerzte ausgeführt werden soll, darüber sind die
Ansichten auch unter den Verteidigern der Tuberkulin¬
behandlung geteilt. Um nur einige der ablehnenden Stim¬
men aus jüngerer Zeit darüber anzuführen, so hält zum
Beispiel Roily die ambulatorische Behandlung nicht für
zweckmäßig, Aufrecht nur in solchen Fällen, welche vor¬
her ein halbes bis ein Jahr ohne sichtlichen Erfolg in
Heilstätten zugebracht, haben; Salt mann und Ort Hei¬
raten ebenfalls ab, Kraus ist. nicht dagegen, möchte aber
vorher über Indikation und Kontraindikation noch eine
Einigung erzielt wissen. Im ganzen hüll man die Tuberkulin¬
spritze heute noch in der Hand ties Praktikers für etwas
nicht Ungefährliches. Unser Standpunkt in dieser Frage
ist der folgende: Zunächst muß man darüber klar sein,
daß es Fälle von Lungentuberkulose gibt, die sich durch
Tuberkulin bessern oder heilen lassen. Für den Gegner
der Tuberkulinbehandlung überhaupt erledigt sich die Frage
der ambulatorischen Behandlung von selbst. Wer dieselbe
diskutiert, muß dem Tuberkulin einen Heilwert zuerkennen.
Wenn aber ein Mittel einmal als Heilmittel erkannt ist,
dann darf man seine Anwendung nicht mehr monopoli¬
sieren, sondern muß für die weiteste Verbreitung desselben
eintreten. Die Kranken, welche in den Spitälern Aufnahme
finden, sind zum größten Teile keine Objekte mehr für
eine Tuberkulihbehandlung und wie viele Heilstätten wir
in Oesterreich bisnun haben, ist bekannt, tausende und
Tausende von Kranken, die weder in Krankenhäusern, noch
in Heilstätten Aufnahme finden können, von einer Behand¬
lungsmethode ausschließen zu wollen, die man als gut und
nützlich erkannt hat, das widerspricht dem ärztlichen Em¬
pfinden und Denken. Wenn Schwierigkeiten bestehen und
sie bestehen ja tatsächlich, muß man dieselben hervor¬
heben und die Mittel und Wege angeben, wie sie sich ver¬
meiden lassen. Die erste Schwierigkeit besteht in der Aus¬
wahl der für die ambulatorische Tuberkulinbehandlung ge¬
eigneten Fälle. Wenn man alle Fiebernden und alle in
ihrem Ernährungszustände sehr stark herab gekommenen
Krannken, sehr nervöse, die mit Herzaffektionen behafteten
und mit Rücksicht auf die eigene persönliche Verantwor¬
tung, auch alle Patienten, die zu Blutungen neigen, aus¬
schließt, so wird auch der praktische Arzt bei sonst gün-
stigen Bedingungen die übrigen Fälle von Lungenlubei-
kulose, wenn er nur über die Methoden der Behandlung
genügend informiert ist, ungefährdet injizieren können.
Die nicht von dem Krankheitsbefunde des Patienten
abhängigen Bedingungen, welche zur gedeihlichen Durch¬
führung ambulatorischer Tuberkulinbehandlung absolut
nötig sind, sind die Verläßlichkeit des Kranken bezüglu t
der Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit seiner lempeiatur-
10
WIENER KLINISCHE WUCHExNSCHlUEX. 1911.
Ar. i
inessu ngen, seiner subjektiven Beobachtungen und bezüg¬
lich einer nach ^Möglichkeit hygienischen Lebensweise.
Insbesondere mtuß jeder Patient vor Beginn der Be¬
handlung wissen, daß er voraussichtlich durch Reaktionen
zu wiederholten mehrtägigen Arbeitspausen, eventuell ver¬
bunden mit Bettruhe, gezwungen sein wird. Es ist daher
nötig, daß er sich dessen versichert, daß nicht seine Stellung
oder seine materiellen Verhältnisse dadurch eine Einbuße
erleiden, welche durch ihre Folgen einen mehr nachteiligen
Einfluß auf das Befinden des Kranken üben würden, als
ihm mit der Tuberkulinbehandlung geholfen werden kann.
Geduld und Ausdauer verlangt dieselbe ebenso vom Arzte
wie vom Patienten, beide müssen darüber aufgeklärt sein,
daß die Behandlung, soll sie von dauerndem Erfolg sein,
meist Monate in Anspruch nimmt und auch dann der Effekt
derselben nicht immer ein sinnfälliger ist. Gleichwohl be¬
trachten wir das Tuberkulin als ein wertvolles Hilfsmittel
bei der Therapie der Lungentuberkulose und wir sind der
Ansicht, daß dadurch, daß sich die Aerzte mehr mit den
Methoden und den Indikationen, dieser Behandlungsweise
vertraut machen, dieselbe einer viel größeren Zahl von
Kranken zugänglich gemacht werden sollte, als es bisher
der Fall ist. Um die bei praktischen Aerzten noch viel¬
fach eingewurzelte Scheu vor einer Tuberkulinbehandlung
zu beseitigen und die Grundlage zu schaffen für jene Kennt¬
nisse und Erfahrungen, die zu einer ersprießlichen und
gefahrlosen Durchführung der Tuberkulinbehandlung na¬
türlich unerläßlich sind, wäre aber vor allem nötig, diese
Behandlungsmethode im klinischen Unterrichte aufzuneh¬
men und auch in den klinischen Lehrbüchern ihr die ge¬
bührende Beachtung zu widmen.
Tuberkulindiagnostik und ambulatorische
Tuberkulinbehandlung.*)
Von Dr. M. Laub.
Langsam, aber unaufhaltsam, bereitet sich in den
letzten Jahren ein Umschwung in der Bewertung des Tuber¬
kulins als Heilmittel der Tuberkulose vor: immer mehr ver¬
stummen die Zweifler und namentlich diejenigen, die —
oft ohne eigene Erfahrung — nur gestützt auf die angeb¬
lichen oder wirklichen Tuberkulinschäden aus den Anfängen
der Neunzigerjahre das Tuberkulin zu diskreditieren suchten.
Die reichen klinischen Erfahrungen, die mit dem Tuber¬
kulin in den verschiedenen Ländern unter den mannig¬
faltigsten Bedingungen, in den Heilstätten, in den Spitälern
und nicht zuletzt in der täglichen Praxis gesammelt wur¬
den, sowie die zahlreichen experimentellen Untersuchungen
über die Immunität bei Tuberkulose, haben unsere Er¬
kenntnis über das Wesen dieser Krankheit und über den
Wert des Tuberkulins derart erweitert, daß derzeit nicht nur
das Feld der Wirksamkeit des Tuberkulins gut abgegrenzt
werden kann, daß sogar bis zu einem gewissen Grade
mehr Einblick in die Wirkungsart des Tuberkulins gewonnen
wurde, wenngleich ihre völlig befriedigende und restlose
Erklärung noch aussteht.
Zwei Jahrzehnte sind seit der Entdeckung des Mittels
verstrichen, eine kaum übersehbare Zahl von Arbeiten ist
seither geliefert worden, unsere Kenntnisse haben sich
durch die Entwicklung der Serologie erweitert, neue Arbeits¬
und Forschungsmethoden sind seither erstanden und doch,
wenn man heute die berühmt gewordenen ,, Mitteilungen
über ein neues Heilmittel gegen Tuberkulose“ liest, ist man
voll des Bewunderns jenes Mannes, der schon 1890 in
kühler und nüchterner Voraussicht die Grenzen seines Heil¬
verfahrens abgesteckt hatte: „Der Schwerpunkt des neuen
Heilverfahrens liegt in der möglichst frühzeitigen Anwendung
.... Nur beim Anfangsstadium der Phthise kann das Mittel
seine Wirkung voll und ganz entfalten. Das neue Heilver-
*) Nach einem Vortrage, gehalten in der physikalischen Gesell¬
schaft am 23. November 1910.
fahren wird dann erst zu einem1 Segen für die leidende
Menschheit geworden sein, wenn es dahin gekommen ist,
daß möglichst alle Fälle von Tuberkulose früh¬
zeitig i n B e h a n d 1 u n g genommen werden und es
gar nicht mehr zur Ausbildung der vernachlässigten schweren
Formen kommt, welche die unerschöpfliche Quelle für immer
neue Infektionen bisher gebildet haben.“ Alle jene Autoren,
die über eine große eigene - Erfahrung in der Tuberkulin¬
behandlung verfügen, stimmen diesem Satze Kochs bei
und 'Sahli ist sogar der Ansicht, daß die nach bestimmten
Prinzipien durchgeführte Tuberkulinbehandlung durch die
Möglichkeit einer gewissermaßen prophylaktischen Heran¬
ziehung ganz initialer Falle eine sehr große Zukunft hat
und eine ähnliche segensreiche Rolle zu spielen berufen ist,
wie die Kuhpockenimpfung zur Bekämpfung der Blattern.
Es ist daher zunächst der Frühdiagnose der Lungen¬
erkrankungen die größte Aufmerksamkeit zu schenken, damit
das Principiis obsta nicht versäumt werde. Leider stößt
die physikalische Diagnose der beginnenden Lungenerkran¬
kung trotz der neuen verfeinerten Untersuchungsmethoden
von Goldscheider und Krönig oft auf große Schwierig¬
keiten, die sich noch vermehren, wenn es sich um die
Entscheidung der Frage handelt, ob die Veränderungen im
.gegebenen Falle auf einen aktiven oder bereits ab ge¬
laufenen Prozeß hinweisen. Hier setzt die biologische
Diagnostik ergänzend ein. Allerdings versagen bei Er¬
wachsenen die v. P i r q u e t sehe Kutan- und die Wolff-
Eisnersche Ophthalmoreaktion, da diese Methoden zu fein
sind, indem sie uns nur die veränderte Reaktionsfähigkeit,
die Allergie des Organismus, anzeigen. In dieser Beziehung
scheint die alte Koch sehe M etiiode der s u b k u tane n Appli¬
kation des Tuberkulins verläßlicher zu sein. Doch wie aus
den Untersuchungen speziell des Oberstabsarztes Doktor
Franz an den bosnischen Soldaten hervorgeht, kommt
auch diese Reaktion bei nichtaktiven Prozessen vor. Wenn
man sich jedoch mit geringeren Dosen, als Koch an¬
gegeben hat, begnügt, so kann man meines Erachtens eher
zum Ziele kommen. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann
auf einen aktiven Prozeß geschlossen werden, wenn schon
auf subkutane Injektionen von Hundertstel-, eventuell von
Zehntelmilligrammen allgemeine und lokale (Herd-)Reak-
tionen beobachtet werden. Auch die von Löwenstein
und Rappaport angegebene wiederholte Applikation von
kleinsten Dosen (etwa 0-2 mg) lassen beim Auftreten einer
Reaktion den Schluß auf einen aktiven Prozeß gerecht¬
fertigt erscheinen.
Auch die Bestimmung des opsonischen Index ist
zur Diagnose eines aktiven Prozesses herangezogen worden.
Bekanntlich hat Wright darauf aufmerksam gemacht, daß
bei öfterer Bestimmung des opsonischen Index dieser bei
allgemeiner Infektion verschiedenen, ganz unregelmäßigen
Schwankungen unterworfen ist, während er bei gesunden
Individuen 'nahezu konstant bleibt und nur bei lokaler
Tuberkulose sehr niedrig zu sein pflegte. In einer gemein¬
sam mit Dr. Ba edier durchgeführten Untersuchungsreihe
konnten im allgemeinen die Resultate Wrights bestätigt
werden, doch haften dieser Methode sehr viele Fehlerquellen
an, auch ist sie im Hinblick auf die Schwierigkeit der
Technik für die Praxis kaum zu verwerten.
Die Methode der Komplementbindung, die sich
bei der Serodiagnose der Lues so außerordentlich bewährt
hat, wurde ebenfalls zur Erkennung aktiver Tuberkulosen
angewandt, wenngleich komplementbindende Substanzen so¬
wohl im Serum von unbehandelten, als auch insbesondere
im Serum von mit Tuberkulin behandelten Tuberkulösen
nachgewiesen werden konnten, so kommt doch dieser Me¬
thode - wenigstens vorläufig — keine praktische Bedeutung
zu, weil einerseits nach den Untersuchungen von Cohn,
Weil und Strauß das Ergebnis bei initialen Fällen ein
negatives ist und anderseits nach Untersuchungen von
Wolff-Eisner, La u b und N o v o t n y die Reaktion bei
Seren von Nichttuberkulösen Vorkommen kann.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. l'Jli.
11
Ueberblickt man die verschiedenen biologischen .Me¬
thoden, die für die Diagnose, der beginnenden Lungen-
erkrankung [zur Verfügung stehen, so kann leider wohl
keine allein mit Sicherheit den Beginn, bzw. die Aktivität
des Prozesses erkennen lassen, sie bilden jedoch in zweifel¬
haften Fällen eine wertvolle Ergänzung der klinischen Unter¬
suchungsmethoden, denen selbstverständlich stets die erste
Stelle bei der Frühdiagnose der Lungenerkrankungen zu¬
kommen wird.
Und nun zur spezifischen Behandlung der Tuberkulose.
Fast alle Aerzte, die durch längere Zeit sich mit der Tuber¬
kulinbehandlung befaßt haben, sind in ihrem Urteile über
die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens einig. Auch Direktor
Sorgo hat in seinem Vortrage ausgeführt, daß eine An¬
zahl von Patienten sich bei der gewöhnlichen Heilstätten¬
behandlung nicht erholt hat, während die Erholung sofort
einsetzte, als mit den Tuberkulininjektionen begonnen
wurde. Auch von vielen anderen Heilstättenärzten, wie
Götsch, .Möller, Weicker u. a., liegen Berichte vor,
daß sie bei Behandlung mit Tuberkulin oft um 20% bessere
Heilresultate .erhalten haben, als bei Patienten, die bloß
Heilstättenbehandlung hatten. Solche Resultate können nicht
außer acht gelassen werden. Nach eigener, auf Beobachtung
von über hundert Fällen gegründeter Erfahrung sind
die Erfolge unter dem Einflüsse der Tuberkulinbehand¬
lung oft geradezu überraschend. Die Patienten, die
sich zumeist aus dem Kreise der Handelsangestellten,
den Mitgliedern der Greinialkrankenkasse der Wiener Kauf¬
mannschaft, rekrutieren und sich daher nicht in den gün¬
stigsten Verhältnissen befinden, zeigen auch nach dem Ur¬
teil der Kollegen, die die Kranken zur Behandlung zu¬
wiesen, Erfolge, die oft nicht bloß Besserungen, sondern
Heilungen gleichkommen. Es liegt in den Verhältnissen,,
daß die Kranken ambulatorisch behandelt werden und
dabei zumeist ihrem Berufe nachgehen. Bei diesen ambu¬
latorisch Behandelten habe ich auch nicht einmal einen
Schaden gesehen. Ich glaube, daß parallel zur Abnahme
der Gegnerschaft der Tuberkulinbehandlung überhaupt eine
Zunahme der ambulatorischen Tuberkulinbehandlung zu ge¬
wärtigen ist. Selbstverständlich müssen die Fälle nach dem
Stadium des Krankheitsprozesses ausgesucht und die In¬
telligenz und Verläßlichkeit der Patienten berücksichtigt
werden. Was den ersten Punkt anlangt, so wird der An¬
fänger aufs zweckmäßigste zunächst Patienten mit erst be¬
ginnender .Erkrankung bei womöglich fieberlosem Verlaufe
in Behandlung nehmen. Der Erfahrene wird sich nicht
scheuen, auch Fälle des zweiten oder gar des dritten Sta¬
diums in Behandlung zu nehmen, da bei zweckmäßigem und
zielbewußtem Vorgehen es eigentlich nur wenige Kontra¬
indikationen gibt. Andrerseits muß man sich auf die Selbst¬
beobachtung des Patienten bis zu einenr gewissen Grade
verlassen können, insbesondere ist es empfehlenswert, diese
auf die manchmal so geringen Reaktionserscheinungen, die
sich nicht bloß in der Erhöhung der Temperatur äußern,
sondern oft im allgemeinen Unbehagen, Kopfschmerzen usw.
zum Ausdrucke kommen, aufmerksam zu machen. Die Tem¬
peratur muß dreimal täglich gemessen werden, bei Eintritt
irgendeiner Reaktion muß der Patient einen Tag zu Hause
bleiben. Unter diesen Kautelen kann die ambulatorische
Tuberkulinbehandlung aufs wärnmste und eindringlichste
empfohlen Werden. Sie ist sogar als eine soziale Indika¬
tion für so viele anzusehen, die nicht in der Lage sind,
eine Heilstätte oder sonst einen klimatischen Kurort auf¬
zusuchen.
An dieser Stelle sei es gestattet, darauf hinzuweisen,
daß meines Erachtens den Krankenkassen eine viel
wichtigere Rolle in der Bekämpfung der Tuber¬
kulose als Volkskrankheit zufallen sollte, als dies
tatsächlich der Fall ist, da ja in ihnen das Gros der arbei¬
tenden Bevölkerung vereinigt ist, in der die Tuberkulose
die meisten Opfer fordert. Einen nicht unwichtigen Faktor
in der Bekämpfung der Tuberkulose stellt jedoch meines Er¬
achtens die system'a tisch durch geführte ambula¬
torische Tuberkulinbehandlung dar, die die im Be¬
ginne der Erkrankung Stehenden ohne Schädigung ihrer
Erwerbsfähigkeit nicht selten zur vollständigen Heilung, vor
geschrittene Fälle zum Stillstände, eventuell Riickbildm
der Erkrankung und Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeii
bringt. Ich habe in den letzten Jahren bei einer größeren
Zahl von Mitgliedern der Gremialkrankenkassa die ambula¬
torische Tuberkulinbehandlung durchgeführt. Sämtliche Be¬
handelten haben ihre Erwerbsfähigkeit zum Teil behalfen,
zum Teil sie wieder voll erlangt.
In der Regel wurden Kranke des ersten und zweiten
Stadiums (T u rban-Ger h a r d) in Behandlung genommen.
Der Verlauf gestaltete sich in der Mehrzahl der Fälle in
der Weise, daß schon nach wenigen Injektionen manche
subjektiven Symptome, wie Seitenstechen, Rückenschmer¬
zen usw., schwanden, nach kurzer Zeit wurde auch der
Husten geringer, oft veränderten sich das Aussehen und
die Beschaffenheit des Sputums, dieses verlor seinen eitrigen
Charakter und wurde mehr schleimig. Bei vielen Patienten
verlor es sich schließlich ganz.
Einige instruktive Beispiele seien hier mitgeteilt:
M. J., 26 Jahre alt (zugewiesen, von Prim. Dr. Schur).
Seit einem Jahre krank, Beginn mit Flämoptoe. Bisher klimatische
Kuren. Befund am 29. Oktober 1908 : Rechts vornei Dämpfung von
der Spitze bis zur zweiten Rippe, von da abwärts bis zur Leber¬
dämpfung kürzerer Schall, hinten Dämpfung bis zur Mitte der Ska-
pula. Links vome kürzerer Schall über dler Fossa supraclavicularis,
ebenso hinten über der Fossa supraspinata. Auskultation: Heber
der Fossa supraclavicularis dextra und unterhalb der Klavikula
bis zur zweiten Rippe bronchiales In- und Exspirium, klingende
Rasselgeräusche, weiter abwärts über der ganzen vorderen Brust¬
seite zahlreiche Rhonchi, untermischt mit feuchten Rasselgeräu¬
schen; rechts hinten oben abgeschwächtes bronchiales Atmen mit
zahlreichen Rasselgeräuschen ; sonst über der ganzen Seite feuchte
Rhonchi. Ueber der linken Spitze vorne und hinten sehr ver¬
schärftes Inspirium, abgeschwächtes Exspirium. Im Sputum zahl¬
reiche Bazillen.
Tuberkulinbehandlung durch neun Monate, in der ersten Zeit
Reaktionen bis 38-4. Befund am 3. August 1909: Aussehen
gut, kein Husten, spärlicher Auswurf am Morgen. Rechts
hinten oben Dämpfung bis zur Spina scapulae, vorne bis zur
zweiten Rippe, von da ab Schall heller, untere Lungengrenze nicht
verschiebbar. Links oben kürzerer Schall. Auskultation: Rechts
vorne oben rauhes, vesikuläres Atmen mit vereinzelten Rhonchi.
Hinten oben bronchiales Atmen, keine Rasselgeräusche. Ueber
der linken Spitze verschärftes Atmen.
0. K., 32 Jahre alt, erkrankte vor sechs Jahren an beider¬
seitiger Lungenspitzeninfiltration, die bis zur zweiten Rippe hin¬
unterreichte. Objektiver Befund (27. März 1907) : Dämpfung beider
Spitzen mit bronchialem Atmen und zahlreichen, klingenden
Rasselgeräuschen. Zahlreiche Bazillen im Sputum. Abendliche
Temperaturen bis 38-2. Zweimaliger Aufenthalt in, Meran brachte
wohl eine Gewichtszunahme, jedoch keine wesentliche objektive
Besserung, Nach einjähriger Tuberkulinbehandlung vollständiges
Verschwinden des Hustens und Auswurfes, normale Temperaturen.
Nachuntersuchung am 6. Dezember 1910: Beide Spitzen gedämpft,
sehr rauhes und verschärftes Atmen, keine Rasselgeräusche.
E. IL, 22 Jahre alt (Dr. Wehli), krank seit einem halben
Jahre, acht Wochen Meran. 6. September 1909 rechtseitige Lun-
gehspitzeninfiltration (Dämpfung mit bronchialem Atmen und zahl¬
reichen Rasselgeräuschen). Nach den ersten Injektionen Tempe-
ratu rs teiger u ngen bis 38-1, nachher fieberloser Verlauf. 19. April
1910 Behandlung abgeschlossen; Befund: Dämpfung vorhanden,
kein Rasseln, kein Husten, kein Auswurf. Pät. sieht blühend aus.
Diese drei im Auszuge mitgeteilten Fälle stellen einen Typus
zahlreicher Beobachtungen der Tuberkulinbehandlung dar, es er¬
scheint daher überflüssig, weitere im einzelnen anzuführen. Bei
einer Minderzahl von Fällen besserten sich die subjektiven Sym¬
ptome, oder sie schwanden gänzlich, während der objektive Be¬
fund keine Veränderung erkennen ließ. Bei einem Falle dritten
Stadiums (Lungen- und Kehlkopftuberkulose) konnte die Tuber-
kulinbehandlung den letalen Ausgang nicht aufhalten. Die so¬
genannten geschlossenen Tuberkulosen heilen oft unter der Luber-
kulinbehandlung in relativ kurzer Zeit klinisch fast vollständig aus.
Selbstverständlich wäre es im Hinblick auf die relativ kurze
Zeit der Beobachtungen gewagt, von einer klinischen oder ear
anatomischen Heilung zu sprechen: Aber zumindest ist die Besse¬
rung der objektiven und subjektiven Symptome ganz bedeutend
12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
und die Kranken ihrem Berufe erhalten, bzw. wiedergegeben wor¬
den. Es ist daher der Widerstand mancher Aerzte gegen die ambu¬
latorische Tuberkulinbehandlung ganz ungerechtfertigt.
Was nun die Methodik anlangt, so herrscht gerade
in der letzten Zeit eine gewisse Meinungsverschiedenheit
bezüglich der Dosierung. Die Einen bevorzugen die Injek¬
tionen kleinster Tuberkulinmengen, während andere 1 uber-
kulosethcrapeuten in Analogie der gewöhnlichen Immuni¬
sierung immer steigende Dosen von Tuberkulin, so wie es
Koch Ursprünglich angegeben hat, zur Anwendung bringen.
Wright hat als erster auf die Vakzination mit kleinsten
Dosen hingewiesen, da er hei der Kontrolle des opsonischen
Index schon auf die geringen Dosen die Beeinflussung des¬
selben, die sogenannte negative Phase eintreten sah, eine
Beobachtung, die ich in der früher erwähnten Arbeit mit
Dr. Baecher bestätigen konnte. In jüngster Zeit treten
auch zahlreiche deutsche Autoren für die Behandlung mit
kleinen Dosen ein, da durch diese die Giftempfindlichkeit
des Organismus gegen Tuberkulin erhalten bleibt, ln dieser
erblicken sie ein Zeichen der Immunität, indem sie mit,
Hamburger lannehmen, „daß ein Individuum, das auf
Tuberkulin reagiert, eine gewisse Immunität gegen neuer¬
liche Infektionen mit kleinen Mengen von Tuberkelbazillen
besitzt: die Tuberkulinreaktion wird zum Indikator einer
relativen Immunität gegen neue Tuberkuloseinfektionen“.
Escherich hat von dieser Methode, die er als anaphy-
lakltisi eilende bezeichnet, sehr gute Erfolge bei Kin¬
dern gesehen, im Gegensätze zur immunisierenden Me¬
thode, die mit immer steigenden Dosen eine Unempfindlich¬
keit des Organismus gegen Tuberkulin bewirkt. Die über¬
wiegende Zahl der Erfolge der Tuberkulinbehandlung bei
Erwachsenen, die in der Literatur niedergelegt sind, rühren
von der immunisatorischen Tuberkulinbehandlung her. Die
Anhänger dieser Methode weisen insbesondere auf die Bil¬
dung von gewissen Stoffen (Antitoxin, komplementbindende
Substanzen) hin, die unter dem Einflüsse größerer Dosen
im Blutserum entstehen, deren Bedeutung zwar noch nicht
geklärt ist, die aber vielleicht doch in irgendeiner Beziehung
zur Immunität stehen. Es scheint, daß unter Umständen
jeder dieser Wege zum Ziele führen kann. Ich bevorzuge
die immunisatorische Methode, verfüge aber auch über sehr
gute Resultate bei Befolgung der sogenannten anaphylakti-
sierenden Methode. Doch muß ich wahrheitsgemäß gestehen,
daß es für mich nicht, die Methode der Wahl war, sondern
daß ich mich ihrer, durch die zu heftigen Reaktionen bei
großen Dosen gezwungen, bedienen mußte. Man stößt näm¬
lich zuweilen auf Fälle, die höhere Dosen überhaupt nicht ver¬
tragen, auf solche sofort mit hohem Fieber, schweren All-
gemeinerscheinungen usw. reagieren. Bleibt man hier bei
niedrigen Dosen, so fühlen sich die Kranken wohl und doch
wird auch bei diesen Patienten der objektive Befund besser.
Es ist hier die kleine Dose die optimale für den betref¬
fenden Patienten. Andrerseits sehen wir in der großen
Mehrzahl der Fälle sehr viel Günstiges, wenn wir — nach
Art der gewöhnlichen Immunisierung — zu immer höheren
Dosen ansteigen.
Allerdings darf die Behandlung nicht in der Weise
erfolgen, wie dies bei von Schröder2) zur Warnung vor
dieser Methode mitgeteilten Fällen geschehen ist, die nach
Angabe des Autors von „gewissenhaften Tuberkulinthera¬
peuten in sprungweisem Vorgehen zum größten Teil bis zu
großen Dosen ohne wesentliche Reaktionen lege artis im¬
munisiert und wesentlich gebessert, zum Teil geheilt ent¬
lassen waren“. Bei deni mitgeteilten Fall II wurde jeden
zweiten bis dritten Tag Alttuberkulin bis 10 mg injiziert. Im
ganzen erhielt der Patient sechs Injektionen, also nach sechs
Injektionen 10 mg! Daß nach der letzten Injektion die
Temperatur auf 40° anstieg und die Spitze frisch ange¬
schoppt wurde, ist nur zu begreiflich. Bei Fall XV wurden
vom 22. April bis 15. Juni, also in 55 Tagen 35 Injektionen,
in steigenden Dosen verabreicht, also fast täglich eine In¬
jektion! Daß solche Methoden jede Tuberkulinbehandlung
zu diskreditieren vermögen, ist selbstverständlich.
Was die Häufigkeit der Injektionen anlangt, so in¬
jiziert die Mehrzahl der Tuberkulosetherapeuten zu Beginn
der Behandlung zwei- bis dreimal wöchentlich, um die
Injektionen hei höheren Dosen in größeren Intervallen folgen
zu lassen. Mit Rücksicht auf den durch Wright erbrachten
Nachweis, daß die nach jeder Injektion auf tretende negative
Phase erst nach fünf bis sechs Tagen der positiven weicht,
injiziere ich nur alle sechs bis acht Tage. Die dabei erzielten
Erfolge waren derart zufriedenstellend, daß diese Methode
aufs beste empfohlen werden kann.
Zum Schlüsse nur noch einige Worte über die Wahl
des Tuberkulinpräparates. Wenn es zweifellos richtig ist,
daß der Kundige mit jedem Tuberkulinpräparate in ge¬
eigneten fällen Erfolge erzielt, so scheinen nach meiner
Erfahrung wie auch nach der anderer gewisse Indikationen
für idie einzelnen Präparate sich zu ergeben. Für chro¬
nische, indurative Formen der Lungentuberkulose bewährt
sich am besten Kochs Alt tu berkul i n in immer stei¬
genden Dosen (Immunisierungsmethode), für gewisse, eher
dem Zerfalle zuneigende Eorixi verwende ich die Bazillen¬
emu 1 s i o n N e, u t u b e r k u 1 i n K o c h . Hier erscheint die
Verwendung kleiner Dosen (Escherichs anaphylaktisie-
rende Methode) von größerem Nutzen zu sein. In schweren
Fällen kann der Beginn der Behandlung mit dem Bera-
neckschen Tuberkulin, dem mildesten aller Tuberkuline,
versucht werden. Jedoch weiche ich bei der Verwendung
dieses Präparates insofern von Sahli ab, daß ich ohne
Scheu relativ rasch zu größeren Dosen, bzw. zu den höheren
Nummern der Beran eck sehen Skala ansteige, um dann
nach einer gewissen Zeit auf ein Kochsches Tuberkulin¬
präparat überzugehen.
Lange Zeit hat die Scheu vor dem Tuberkulin die
österreichischen und speziell die Wiener Aerzte im Banne
gehalten. Hoffentlich wird die Tuberkulindebatte in dieser
Gesellschaft hei manchen von Ihnen die Abneigung vor
dem Tuberkulin verscheuchen und Sie zur eigenen Arbeit
anregen, die Ihnen die Ueberzeugung bringen wird, daß
Petrus c h k i, der begeisterte Vorkämpfer des Koch sehen
Tuberkulins, Recht hat, wenn er sagt: „daß das Tuber¬
kulin in der Tat alles leistet, was von einem dia¬
gnostischen und therapeutischen Spezifikum
gegen Tuberkulose billigerweise verlangt wer¬
den kann.“
Aus dem Ambulatorium des Verein es Kinderambulatox ium
und Krankenkrippe in Prag.
(Vorstand: Prof. Dr. Raudnitz.)
Die schulhygienische Bedeutung der lordoti-
schen Albuminurie.
Von Ludwig Pieseu.
Gelegentlich der Untersuchungen Lurys1) in unserem
Ambulatorium befragten wir mehrere Schulkinder, welche
auf fünf Minuten lordotischen Stehens mit hochgradiger
Albuminurie antworteten, ob sie in der Schule eine be¬
stimmte Sitzhaltung einnehmen müssen. Namentlich waren
es die Mädchen, welche angaben, daß sie bei allen Gegen¬
ständen, wo sie zuzuhören hätten, mit über das Kreuz ver¬
schränkten Armen sitzen müßten. Wir ließen nun solche
Kinder durch fünf bis zehn Minuten in der ihnen von den
Lehrpersonen vorgeschriebenen Haltung sitzen und richtig
erschien bei den meisten von ihnen darauf Eiweiß im Harn.
Gewöhnlich nicht so viel, wie nach fünf Minuten lordotischen
Stehens.
i) Adolf Lury, Zur Lehre von der lordotischen Albuminurie
Jahrbuch für Kinderheilkunde 1910, Bd. 72, S. 705.
2) Brauers Beiträge, Bd. 14, H. 4.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
13
Bevor ich nun daran gehen durfte, einen allgemeinen
Kreuzzug gegen das sogenannte ,, Schulsitzen“ zu eröffnen,
mußte ich mich überzeugen, ob dessen zumindest nicht
gleichgültige Folge auch hei ganz kräftigen Schulkindern
auftritt. Denn unser Material, wie es Lury verwendet hat,
besteht eben aus kränklichen Kindern; der überwiegende
Teil derselben stand in Tuberkulinbehandlung. Gut gefärbte,
ganz gesunde Kinder waren überhaupt nicht darunter.
Mit Bewilligung des k. k. deutschen Bezirksschulrates
in Prag und mit freundlicher Unterstützung des Herrn Direk¬
tors Margolius nahm ich meine Untersuchungen an drei
Klassen der deutschen Knaben-Volks- und -Bürgerschule
vor. Es wäre sicher noch schlagender gewesen, die Unter¬
suchungen an einer Mädchenschule durchzuführen, aber
das Auffangen des Harns, die zahlreichen, dazu notwen¬
digen größeren Gefäße, die bei den Mädchen gesteigerte
Scham, all dies ließ mich im vorhinein davon Abstand
nehmen.
Ich ging so vor, daß sämtliche Kinder einer Klasse den
Harn in mit ihren Namen und Nummern bezeichnet© Gläser
entleerten. Alle Harne wurden sofort untersucht. Dann ließ
ich sie fünf Minuten lordotisch stehen und untersuchte
(mit Lury, Raudnitz, Winter) 10 bis 15 Minuten später;
während welcher Zeit die Kinder dem Unterrichte in ge¬
wöhnlicher Weise folgten, neuerdings alle Harne. Die Größe
der Lordose blieb dem Ermessen jedes Kindes überlassen.
Da nach Verlauf einer Stunde sehr viele Kinder noch Ei¬
weiß im Harne hatten, so wurde der zweite Versuch auf
einen anderen Tag verlegt. Wiederum mußten zuerst alle
Harne auf Eiweiß geprüft werden, dann ließ ich die Kinder
zehn Minuten mit über das Kreuz verschränkten Armen
sitzen und begann abermals nach einer Viertelstunde die
zweite Harnuntersuchung. Die Harnuntersuchungen wurden
mittels Essigsäure und Ferrozyankalium vorgenommen. War
eine Trübung auf getreten, so wurde vor allem der unver¬
setzte Harn damit verglichen und die Kochprobe angestellt,
so daß die Möglichkeit einer Verwechslung mit Uraten voll¬
kommen ausgeschlossen war. Ich habe provozierte lordo-
tische Albuminurien jeden Grades, von leichter Opaleszenz
bis hinauf zu 20%o (nach Aufrecht) angetroffen.
Am dritten Tage wurde die Körperlänge der beschuhten
Kinder an einem Militärmaß gemessen, und gleichzeitig im
Liegen die Tastbarkeit und Beweglichkeit der Nieren geprüft.
Da an diesem Tage nicht immer alle Kinder in der Schule
waren, andrerseits manche durch Pressen jede Untersuchung
der Baucheingeweide unmöglich machten, so stimmt die
Summe der gemessenen und auf Nierenbeweglichkeit ge¬
prüften nicht überein mit der Gesamtsumme der überhaupt
untersuchten Kinder der betreffenden Klasse. Um jede Sug¬
gestion bei der Nierenuntersuchung auszuschließen, wurde
diese derart eingerichtet, daß der Untersucher nicht wußte,
ob das betreffende Schulkind auf Lordose mit Albumin¬
urie geantwortet hatte. Immerhin ist die Untersuchung auf
.Nierenbeweglichkeit durch so viele Umstände beeinflußt,
daß ein sicheres Urteil eine viel größere Zeit in Anspruch
nimmt, als sie uns zur Verfügung stand. Um 49 Kinder zu
untersuchen, brauchten wir z. B. 2V2 Stunden.
Bei der dritten Bürgerschulklasse haben wir den Er¬
folg des ,,'Schulsitzens“ ausschließlich bei jenen Kindern
geprüft, (welche nach fünf Minuten lordotischen Stehens
Eiweiß entleerten. Da aber in den anderen Klassen das
„.Schulsitzen“ bis auf einen Fall auch nur bei solchen Kin¬
dern Albuminurie hervorrief, welche dieselbe nach lordo¬
tischem Stehen zeigten, so darf ich die in der betreffenden
Klasse gefundenen Zahlen ohne jeden Fehler auf die Ge¬
samtheit der untersuchten Fälle beziehen.
Ich bezeichne in den folgenden Tabellen als „posi¬
tive“ jene Kinder, welche Albuminurie nach lordotischem
Stehen oder „Schulsitzen“ zeigen, im Gegensatz zu den
„negativen“.
Ges amttabelle.
Klasse
Alter
Zahl 1 Positive nach
der 5 Minuten
Schüler : lordotischem Stehen
Positive nach
10 Minuten
Schulsitzen
III.
ßiirger-
schul-
klasse
13 bis 15
Jahre
56
26 = 46-57«,
16 = 28-67«
I.
ßiirger-
schul-
klasse
11 bis 14
Jahre
66
27 = 4O'l°/0
9 = 13' 6 7«
IV.
Volks¬
schul¬
klasse
9 bis 13
Jahre
25
8 = 327«
3 (von 24) — 12'5°/0
Das Alter der Kinder in den einzelnen Klassen spielt
keine deutliche Rolle, was folgende Tabelle zeigt.
Klasse
Alter
Negative
Positive = 70
III.
15
2
6 = 75°/0
Bürger-
1 1
13
13
7 = 35"/,,
Schul¬
klasse
15
13 = 46'/ 0
I.
14
1
0
Bürger-
13
13
13 = 50«/„
schul-
12
13
10 == 437,1
klasse
11
10
6 = 37-57«,
IV.
13
1
0
12
3
|
0
Volks-
1 1
1 = 50 7„
4 = 50", „
schul-
10
4
klasse
9
8
3 = 27-2'Vo
Dagegen sind die größeren Kinder in den einzelnen
Klassen — und es kamen in einer und derselben Klasse
unabhängig vom Aller Längenunterschiede bis 44 cm vor
— deutlich für die lordotisch© Albuminurie prädisponiert.
Nur wo in den einzelnen Längenkategorien bloß wenige
Fälle vorhanden sind, kommt dieses Gesetz nicht zum Aus¬
druck.
Klasse
Länge
Negative
Positive = °/0
171 — 177 cm
0
3 = 100°/0
III.
161 170
5
5 = 50"'«
Bürger-
151 160 »
10
10 = 50"/0
schul-
1 41 -150 »
9
6 = 407«
klasse
133-140 „
4
1 = 207„
I.
151—164 cm
3
7 = 707 0
Bürger-
141-150 »
13
13 = 50°/„
schul-
131-140 »
16
6 = 27-57«
klasse
125- 129 »
1
1 - 507«
IV.
140 —143 cm
3
0
Volks-
130—139
5
8 = 6L57«,
Schul¬
klasse
122—129
5
1 = 16-67«
Die Beweglichkeit der Nieren als Bedingung für das
Auftreten der lordotischen Albuminurie geht aus Lurys
Experimenten (unzweifelhaft hervor. Meine statistischen
Untersuchungen haben lange nicht dieselbe Beweiskraft,
obzwar auch sie für die gleiche Tatsache sprechen. Einer¬
seits war ich bei der Provozierung der Albuminurie durch
Lordose auf den guten Willen der Schüler angewiesen,
der nicht immer vorhanden war. Ich hätte sonst wahr¬
scheinlich noch mehr positive Fälle gefunden. Andrerseits
ist die manuelle. Untersuchung der Nierenbeweglichkeit trotz
großer Uebung keine vollkommen verläßliche. Es ermüden
auch der Untersucher und seine Finger, so daß vielleicht
manche Fälle von Nierenbeweglichkeit nicht erkannt worden
sind. Ich stelle wieder die Ergebnisse in einer Tabelle
zusammen :
n
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
Klasse
Nieren
tastbar bei
Davon pos. Fälle
III.
Bürger¬
schul¬
klasse
35
13 = 37"/0
14
9 = 643%
ir
Bürger¬
schul¬
klasse
48
19 = 39 6° '0
8
5 = 62-5%
IvT
Volks-
schul-
klasse
17
‘
7 = 41%
5
2 = 40%
Ich will die Ergebnisse noch in folgender Weise for¬
mulieren.
Klasse
Positive
Fälle
Davon Niere
tastbar bei
Negative
Fälle I
Davon Niere
tastbar bei
III.
Bürger¬
schul¬
klasse
22
9 = 41u/0
27
5 = 18-5%
I.
Bürger¬
schul¬
klasse
24
5 = 20-8%
32
3 = 9-4%
IV.
Volks¬
schul¬
klasse
9
2 = 22%
13
3 = 23%
Aus meinen Untersuchungen folgere ich:
1. Das „Schulsitzen“ mit auf dein Kreuz ver¬
schränkten 'Armen ist schulbehördlich zu ver¬
bieten.
2. Die Disposition zur Jordotischen Albu¬
minurie ist im selben Lebensalter um so größer,
je länger das Kind ist. Im' übrigen steigt sie mit
d e m Alte r.
3. Auch die statistischen Untersuchungen
ergeben die Abhängigkeit der lordo tischen Al¬
buminurie von der Beweglichkeit der Nieren.
Aus der Abteilung für Hautkrankheiten und Syphilis
der Allgemeinen Poliklinik in Wien.
Zur Kenntnis des Herpes zoster generalisatus.
Von Priv.-Doz. Di-. GL Nobl.
Der umgrenzten Gruppe von Zosterformen, deren ur¬
sächliche Momente in traumatischen Nervenläsionen, in
Systemerkrankungen und entzündlichen Veränderungen der
nervösen Zentralorgane und ihrer Hüllen, sowie in toxischen
und medikamentösen Einwirkungen zu erblicken sind, steht
die weitläufige Kategorie jener meist beobachteten örtlichen
Bläschenausbrüche gegenüber, für welche vorläufig kein ein¬
heitlicher afferenter Reiz geltend gemacht werden kann.
Zur ätiologischen und pathogenetischen Aufhellung dieser
bald sporadisch, bald gehäuft auftretenden spontanen Erup¬
tionen, sind des öfteren Beobachtungen herangezogen
worden, die von der ursprünglichen Begriffsbestimmung des
Prozesses, in vielfacher Hinsicht ein abweichendes Ver¬
halten auf weisen. Obwohl die Definition des Herpes zoster
sich nach wie vor auf Zustandsbilder bezieht, deren Wesen
in dem akuten Aufschießen, streng halbseitig, in den ku¬
tanen Ramifikationsbezirken des Trigeminus und der sen¬
siblen Spinalnerven lokalisierter, wohl charakterisierter,
zyklich ablaufender, kolliquativer Bläschengruppen gegeben
erscheint, so hat die vertiefte klinische Beobachtung doch
auch die morphologische und genetische Zugehörigkeit für
vereinzelte Vorkommnisse erwiesen, die den angeführten
Kriterien nur teilweise entsprechen. In dieser Hinsicht haben
die mitunter registrierten doppelseitigen Zosterausbrüche,
die auf ausgebreitete Hautfelder projizierten Bläschen¬
schübe, die in den Dermatoinen mehrere benachbarter oder
dislozierter Spinalganglien auf tretenden Herpesaggregate,
nicht nur die Symptomatologie bereichert, sondern auch
für den neurogenen Entstehungsmechanismus des Herpes
zoster allgemeinere Erklärungsmöglichkeiten geschaffen. Die
hei den gestreiften atypischen Erscheinungsformen immer
noch deutlich ausgesprochene Wechselbeziehung zwischen
der kutanen Anordnung der Bläschenausbrüche und den
durch individuelle Variation, Anastomosen- und Ansabil-
dungen vielfach variierenden peripheren Verteilungsbezirken
der Spinalnerven, tritt aber völlig in den Hintergrund bei
jenen, bisher nur vereinzelt beobachteten Ausschlägen, die
in regellosen Einstreuungen die gesamte Hautoberfläche
übersäen.
Von der charakteristischen Erscheinungsweise dieser
e x a n I h e m a t i s c h disseminierten, hämorrhagi¬
schen und gangränösen .Zosterform hat sich die Ge-
sellschafl der Aerzte an dem Patienten überzeugen können,
den ich im Höhestadium des Ausbruches am 2. Dezember
v. J. zu demonstrieren Gelegenheit fand. Die genauere
Beschreibung dieses einen gut entwickelten, rüstigen 74jäh-
rigen Mann betreffenden Falles, erscheint um so eher ge¬
rechtfertigt, als er die zum Teil mit Recht angezweifelte uni¬
verselle Zosterverbreitung in einwandfreier Weise zu er¬
härten geeignet ist und gerade Beobachtungen dieser Art
immer wieder zur Bekräftigung des infektiösen Ursprungs
der Gürtelrose herangezogen werden.
Die weitläufige Anamnese des Kranken weist keine Daten
auf, denen für die jetzige Erkrankung eine disponierende Be¬
deutung beizumessen wäre. Chronische Infektionskrankheiten sind
nicht, vorausgegangen, der Patient war nie dein Potus ergeben und
stand niemals unter der Einwirkung andauernd verabreichter
Medikamente (Arsen, Morphium, Salizyl, Quecksilber, Jod). Fünf
Tage vor der Aufnahme setzten unter leichten Fiebererscheinun¬
gen und Frösteln Abgeschlagenheit, Halsschmerzen und Glieder¬
reißen ein. Trotz Bettruhe nehmen die Beschwerden zu und
konzentrieren sich als intensive, das Atmen erschwerende
stechende Schmerzen auf die linke Rumpfhälfte, um von hier
aus auf das Bein und den Ami auszustrahlen. Der hinzu¬
getretene Ausschlag bestimmt den Kranken, am 1. Dezember die
A nstal t auf zu suchen .
Bei der Demonstration läßt sich auf ein Exanthem lun-
weisen, das in dichteren Einstreuungen über den Rücken, die
Rauch- und Lendengegend verbreitet ist und in mehr schütteren
Schüben die Brust, den Penis und die Oberschenkel einnimmt.
An allen Standorten prävalieren hanf- und schrotkorngroße, deut¬
lich prominente, von breiten, erythematösen Höfen umgebene,
derbwandige Bläschen, deren resistente, in der Mitte gedeihe
Decke, ein spärliches, molkig getrübtes, bis blauschwarz hämor¬
rhagisch verfärbtes Exsudat, durchschimmern läßt. Ali I diesen
typischen, varizellenähnlichen Effloreszenzen alternieren auf ery-
thernatösem Grunde aufsitzende, hirsekorngroße, kaum vorsprin¬
gende Knötchen, die noch keine blasige Abhebung erkennen lassen
und einzelne, zu nekrotischen, graugrünen bis schwärzlichen, fest¬
haftenden Schorfen eingetrocknete Bläschen.
Den gangränösen Charakter haben einzelne Bläschen an der
Stirnhaargrenze, am Kinn, den Genitokrnralfalten und in der
Lendengegend angenommen. Der hämorrhagisch imbibierte Blasen¬
grund ist. vorzüglich an Effloreszenzen der seitlichen Thorax¬
partien anzutreffen, während die dichter gestellten Einstreuungen
der mittleren und unteren Rückengegend, sowie die nur vereinzelt
auf die Streck- und Beugefläche der Oberschenkel vorgeschobenen,
neben den knötchenförmigen Abortivformen, hauptsächlich den
rothaloni erten, grauopaken Bläschentypen angehören. Diesen re¬
gellos^ eingestreuten Ausschlag vervollständigt ein typisch aus¬
geprägter Herpes zoster gangraenosus im Ramifikations-
bezirk des linken dritten Dorsalnerven, dessen nicht gruppierte
Bläschenschübe am Bücken die gangränöse Umwandlung, in der
Achselhöhle den sanguinolenten Inhalt und nekrotischen Cha¬
rakter, an der Innenseite des Oberarmes, neben vollentwickelten
Beständen, auf erythematösen Flächen sitzende Abortivformen
auf weisen. . .
Die regionären Lymphdrüsen der Achselhöhle mäßig lntumes-
ziert, kaum druckempfindlich, die Lymphknoten im Bereich des
dispersen Exanthems unverändert. Die inneren Organe bieten
keine wesentlichen Abweichungen von der Norm. Die palpciblen
Gefäße sind dem Alter entsprechend sklerosiert. Der Harn zeigt
Spuren von Eiweiß und Indikan. Im Sediment Kalkoxalate, ein-
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. RILL
zelne Leukozyten. Das Blutbild ergibt eine mäßige Leukozytose
und geringen Anstieg der eosinophilen Zellen (6%). Von einer
zytologischen Untersuchung der Zerebrospinalflüssigkeit wurde
Abstand genommen. Die Temperatur hält sich seit dem vollen
Ausbruch des Exanthems in normalen Grenzen. Die Sensibilitäts¬
prüfung ergibt ausschließlich an der linken oberen Rumpfhälfte
und am linken Anne eine ausgesprochene Hyperalgesie. Line
genauere Abgrenzung der hyperästhetischen und hyperalgetischen
Zonen ist bei den wechselnden Angaben des Patienten nicht durch¬
zuführen. Sensible Reizerscheinungen sind im Bereiche der exan-
thematischen Einstreuungen nicht nachzuweisen, auch sind be¬
züglich der Empßndungsqualitäten an allen übrigen Hautgebieten
der Norm entsprechende Verhältnisse festzustellen. Die Häut¬
end Sehnenreflexe sind prompt auslösbar.
Der Patient klagt, über Heftige neuralgische, als brennend
und reißend bezeichnet© Schmerzen, die er in die weitere Um¬
gebung des systemisierten Zoster verlegt und in den tieferen
Texturen zu empfinden glaubt.
In den zwei nächsten Tagen traten noch einzelne neue
Bläschen an der rechten Halsseite, am Thorax rechts und an
der linken Lendengegend hinzu, welche Nachschübe durchwegs
das typische Aussehen der von erytliematösen Höfen umgrenzten
Zosterelemente darboten. In der Folge ging die Schrumpfung
prompt vor sich, so daß nach zwei Wochen nur mehr singu¬
läre, schwarzbraune, glatte Börkchen, scharfumgrenzte, seichte
Narben und rote, schilfernde Flecke den Sitz der Aussaat an¬
zeigten. Der gleiche Rückgang war im Bereich des systemi-
sierten Zosters festzustellen, dessen tiefreichende brandige Rücken¬
herde jedoch bisher noch innig mit dem nekrotischen Papillar¬
körper verlötet sind.
Der akute Ausbrucli des aus einzelstehenden, ty¬
pischen Bläschen gebildeten Ausschlages im Bereiche des
Gesichtes, am Hals, dem Stamm und den Oberschenkeln,
im Anschluß an den dorso- brachialen Herpes zoster, ließ
keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es sich hier um
Erscheinungen eines einheitlichen Prozesses handelt. Die
strenge Zusammengehörigkeit aller Exanthemkomponenten,
ging überdies überzeugend aus der Uebereinstimmung der
verschiedenen Entwicklungsforinten, der Wiederkehr der
gleichen Evolutionsphasen und dem analogen Bau der Ef-
floreszenzen an allen Standorten hervor. Gleich der syste¬
misierten Eruption, setzt sich die- regellos über den Körper
verbreitete Aussaat hauptsächlich aus wohlcharakterisierten
schrotkorngroßen, dickwandigen, .gedeihen Bläschen zu¬
sammen, die von erythtematösten Höfen umgeben werden.
Daneben sind singuläre Erythemknötchen, gleich einzelnen
auf erytliematösen Grund erscheinenden nodulären Aggre¬
gaten im Verbreitungsgebiet des Herpes zoster, als abortive
Vorstufen anzusprechen. Des weiteren sieht man als Aus¬
druck der intensiveren, tiefdringenden Gewebsschädigung,
die in den Zosterherden vertretenen hämorrhagischen und
gangränösen Höhetypen, auch in der generalisierten
Bläscheneruption deutlichst ausgebildet und auch hier zum
Teil mit residualer Narbenbildung zum Ausgleich gelangen.
Die fdem Zoster zukommende strukturelle Eigenart ist
in allen kennzeichnenden Merkm'alen an ausgehobenen Bläs¬
chen des Stammes wiederzufinden. Der in den tiefen Rete¬
schichten ablaufende degenerative Abbau des Epithels zeigt,
die typische, von Unna hervorgehobene und neuerdings1
von Kreibich für die angioneurotische Entzündung als
pathognostisch erachtete Form der Koagulationsnekrose.
Unter der dickschaligen Abhebung ein spärliches fibrinöses
Exsudat, dem die aus ihren Verbindungen getretenen
vakuolisierten, zu vielkernigen Schollen— verschmolzenen,
abgerundeten Epithelzellen beigemengt erscheinen. An die
degenerierte Epithelschicht grenzt der leukozytär infiltrierte
Papillarkörper.
Dieser in kürzester Zeit, vor sich gehende ballonie-
rende Degenerationsvorgang ist sicherlich geeignet, die Son¬
derstellung der einkämmerigen Zosterbläschen darzutun
und bei der Bestimmung in ihrer Zugehörigkeit fraglicher
Exantheme als Direktive zu dienen. Doch ergeben sich im
histologischen Bilde anderer kolliquativer Bläschenschübe
mitunter so weitreichende Analogien in der Gerinnungs¬
form, daß es kaum ratsam erscheint, aus dem Gewebs-
verhalten allein, die Zosternatur eines Exanthem's er¬
schließen zu wollen. Das Gleiche gilt für die makroskopisch-
Wertung der diskret stehenden Körperblüten, zumal, wenn
es sich nur um spärliche, des typischen Aussehens en!-
ratende, rudimentäre Einstreuungen handelt, wie dies für
eine Reihe der in der Literatur als Exempel der Zoster¬
generalisierung ausgewiesenen Beobachtungen zutrifft. Daß
in dieser Hinsicht selbst die gründlichste Schulung mitunter
nicht vor Irrtümern zu bewahren vermag, bezeugt am besten
ein Fall von De Ami c'is, der bis heute noch in verschie¬
denen Beiträgen zur Zosterpathologie, als klassisches Bei¬
spiel der generalisierten Eruption angeführt erscheint, ob¬
wohl der Autor selbst, nach fortgesetzter Beobachtung des
Patienten, zur Ueberzeugung gelangen mußte, daß es sich
um eine Dermatitis herpetiformis bandelte (Dermatologi¬
scher Kongreß, Paris 1889k Riehl weiß sich einer Kranken
der Klinik G. Braun zu erinnern, bei welcher ein Exan¬
them anfänglich von einem Schüler Auspitz’ als univer¬
seller Zoster angesprochen wurde, während es sich um
Variola handelte (Wiener dermatologische Gesellschaft,
28. April 1909).
Nach den bisherigen Erfahrungen muß die örtliche,
systemi sierte Zostereruption als das Kardinal¬
phänomen des Erscheinungskomplexes hingestellt wer¬
den, dessen typisch entwickelte Elementarläsionen erst die
eindeutige Einschätzung der generalisierten Aussaat ermög¬
lichen. Der regionäre Zosterausbruch ist gleichsam als Pri¬
märaffekt zu betrachten, von dem die Verallgemeinerung
den Ausgang nimmt und muß der Nachweis desselben vor¬
läufig noch als unerläßliches diagnostisches Postulat, ge¬
fordert werden.
Gleich dem1 von mir demonstrierten Fälle scheinen über¬
dies die wenigen zur allgemeinen Kenntnis gelangten Beob¬
achtungen 'darauf hinzudeuten, daß hauptsächlich die schwe¬
reren Zosterkateigorien zur Disseminierung neigen. Li pp,
der wohl als erster .über ein Zosterexanthem am Stamm
und den Extremitäten berichtete (Deutsche dermatologische
Gesellschaft Prag 1889), sprach einen schweren pektoralen
Herpes als Initialläsion an. In einem Falle W asielewskis
aus der Klinik Leyden, war die Aussaat gleichfalls an
einen fieberhaft verlaufenden Zoster pectoralis gebunden
(Jena 1892). Die Beiträge von Pennetti und Pugliesi
(Rif. med. 1890, 1891) verzeichnen den doppelseitigen Zoster¬
ausbruch als Vorläufer des Ausschlags. Bei zwei, in die
Jahre 1894 und 1899 fallenden Beobachtungen Haslunds
(Festschrift Kaposi 1900) erscheinen zunächst gangrä¬
nöse örtliche Eruptionen. Die gangränöse Ausgangsform
sehen wir in den Beobachtungen von Beyer (Zoster inter-
c.ostalis; Archiv für Dermatologie 1906) und Weidenfeld
(Zoster cervicalis ; Wiener dermatologische Gesellschaft,
25. Februar 1908) wiederkehren. In letzterem Falle ist die
Disseminierung nur durch vier verkrustende hämorrhagi¬
sche Bläschen an verschiedenen Körperstellen angedeutet.
K. Ullmann referiert in der Wiener dermatologischen Ge¬
sellschaft, (11. März 1908) über die Krankengeschichte eines
von ihm im Jahre 1906 diagnostizierten Falles, bei welchem
die exanthematische Ausbreitung typischer Herpesbläschen
einen rechtseitigen gangränösen Zoster dorso -pectoralis
komplizierten. In prägnanter Weise illustriert weiterhin die
Wechselbeziehung des Flauptherdes und des Semimums,
ein von Fasal (Archiv für Dermatologie 1909) beschriebener
äußerst 'schwerer, febril verlaufender, brandiger Zoster oph¬
thalmicus, in dessen Verlauf vielfach auch die nekrotische
Umwandlung der Körperherde zu verfolgen war. In jüngster
Zeit noch demonstrierte Lip schütz eine 56jährige brau
mit bilateralem Herpes zoster frontalis, als dessen feil-
phänomene vier papulo- vesikulöse Effloreszenzen des
Stammes angesprochen wurden. Bei dieser Gelegenheit
(Wiener dermatologische Gesellschaft, 28. April 1909) wies
Ehrmann darauf hin, daß bei vier, von ihm im Laute
der Jahre registrierten Beobachtungen stets . gangränöse
Zosteren (Trigeminus lumbo-sacralis) den van zellenförmi¬
gen Exanthemschub einleiteten.
16
Nr. I
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1011.
Für die Deutung des idiopathischen Herpes zoster im
Sinne einer akuten spezifischen Infektionskrankheit ver¬
mochte die von mir verfolgte Generalisierung keine ver¬
läßlicheren Anhaltspunkte zu bieten, als welche ge¬
wöhnlich zugunsten dieser Auffassung ins Feld geführt
worden. Obwohl dieser Ausbruch von mehreren schweren
Zosterfällen, die wir in den letzten Wochen zu sehen Ge¬
legenheit hatten, zeitlich nicht allzuweit getrennt war, so
bestätigt dies nicht mehr, als das bekannte häufigere Auf¬
treten der Erkrankung in bestimmten Zeitperioden. Die
bisher ausgewiesenen Epidemien müssen um so vorsichtiger
bewertet werden, als sich dieselben meist nur auf in aus¬
gedehnteren Zeitläufen (Kaposi, 40 Fälle in vier Monaten,
1888 bis 1889; ,Sac.hs, 30 Fälle in fünf Monaten, 1901)
und noch dazu an dermatologischen Zentralstationen von
Großstädten verfolgte Beobachtungen beziehen und über¬
dies noch in die -Statistiken, der sicherlich nicht zuge¬
hörige Herpes simplex einbezogen wird (Z immer lin
1883). Die gleiche Reserve ist jenen Beobachtungen gegen¬
über geboten, welche die Uebertragung von Person zu Per¬
son und hiemit die Kontagiosität des Zosters erhärten sollen
(Erb 1882, Pud or 1900, N eis set; Sachs 1904).
Von Begleiterscheinungen infektiöser Exantheme
machten sich im demonstrierten lalle, neben deutlichen
Prodromalsymptomen und initialem Fieber, regionäre
Drüsenschwellung und Leukozytose geltend. Namentlich
die einleitende Mattigkeit, die neuralgischen Schmerzen,
sowie der präeruptive Temperaturanstieg, waren sicherlich
geeignet, einen Invasionszustand nahe zu legen. Zu einer
I ntumeszenz der Lymphdrüsen in palpatorisch nachweis¬
barer Größe, war es jedoch nur im Gebiete des systemi-
sierten Zosters gekommen und auch die Vermehrung der
neutrophilen und eosinophilen polymorphkernigen Leuko¬
zyten hielt sich in den, bei örtlichen Eruptionen beobach¬
teten Grenzen.
Was jedoch die Deutung der Generalisierung des Aus¬
schlages betrifft, so gestattet letztere, abgesehen von der
enormen Seltenheit, mit welcher sie den örtlichen Zoster
zu komplizieren pflegt, keineswegs eine Gleichstellung mit
den akuten Exanthemen. Für diese ist wohl mit Sicherheit an¬
zunehmen, daß die supponierten Krankheitserreger auf dem
Wege der Blutbahn die Peripherie erreichen und kapillare
Hautembolien die Exantheme provozieren. Der gleiche Vor¬
gang ist aber bei der längst als unhaltbar erwiesenen und
widerlegten hämatogenen Theorie L. Pfeiffers (1889),
weder für den lokalen (Kaposi, Weis, B lasch ko) noch
für den exanthemäti sehen Zoster geltend zu machen.
Nach den Ergebnissen sorgfältiger anatomischer Unter¬
suchungen v. Baerensprung, Head und Campbell,
Marburg (1902), Dej eri ne -Thomas (1907), Schwarz
(1909) — , klinischer Feststellungen — Rouget, Re-
gnaud, Paget, Thomas, Cushing, Jackson und
v. a. — und experimenteller Prüfungen — Kreibidh
kann es heute keinem Zweifel mehr unterliegen,
daß Zostereruptionen ausschließlich nur durch Ver¬
mittlung des Nervensystems Zustandekommen und die
an der Haut sich abspielenden entzündlichen und nekro-
biotischen Phänomene selbst, keinen infektiösen Ursprung
haben. Hiebei ist für den idiopathischen unkomplizierten
Zoster die Annahme keineswegs von der Hand zu weisen,
daß die auslösende Noxe der nervösen Störungen von einem
bakteriellen Virus stammt, dessen primäre, elektive Angriffs¬
punkte vorzüglich in die Spinalganglien und das Ganglion
Gasseri und möglicherweise auch in periphere Vasomo¬
torenzentren zu verlegen sind. Der engere pathoge¬
netische Zusammenhang der örtlichen systemisierten
und der allgemeinen Bläscheneruption aber wird dem
Verständnis näher geführt, wenn man die im de¬
monstrierten Falle, gleichwie in allen bisherigen, zuge¬
hörigen Beobachtungen, verfolgte Abhängigkeit der Er-
nährungs Störung im Bereiche der disseminierten
Aussaat von den intensiven Schädigungen (Ka¬
pillar- und Epithelnekrose) im Projektionsfeld
eines Spinal ganglions, in Berücksichtigung zieht. Es
erübrigt sich hiebei vollkommen zu der mehr als hypo¬
thetischen Annahme Zuflucht zu nehmen, daß gleichzeitig
verschiedene ungleich empfindliche nervöse Zentren in wech¬
selnder Intensität erregt und geschädigt werden, wenn man
den Herpes zoster als vasomotorisches Phänomen
betrachtet, das ähnlich der neurotischen Hautgangrän, auf
spätreflektorischem Wege zustande kommt. Zahlreiche
neuere Untersuchungen — Bruck (1906), Bettmann
(1907) _ haben bewiesen, daß die Frage der reflektori¬
schen Voraussetzungen für eine Reihe von Dermatosen eine
höhere Berücksichtigung rechtfertigt, als ihr seit der ein¬
seitigen Betonung der chemisch -toxischen Zusammenhänge
eingeräumt wird. Die von Eulenburg auf gestellte und
durch die experimentellen Ergebnisse Kreibichs (1905;
wesentlich geförderte Angioneurosenlehre, hat ja ursprüng¬
lich vom Herpes zoster den Ausgang genommen und gestatten
die Weitreichenden klinischen und anatomischen Analogien,
welche sich zwischen dem experimentell bei der neuro¬
tischen Hautgangrän provozierten Bilde und der spontanen
Erscheinungsform ergeben, den Zoster heute wieder als vaso-
dilatato rische Veränderung anzusprechen. Als Ausdruck der
sympathischen Reflexneurose ist die initiale entzündliche
angioneuro tische Gefäßwandschädigung in den Hautblüten zu
betrachten, die zunächst ein diktatorisches Oedem bedingt
und die Epithelneurose nach sich zieht. Die Erregung der
sympathischen Vasodilatatorenzentren wieder, wird durch
sensible Bahnen vermittelt, wobei die Erkrankung des Spinal¬
ganglions den afferenten Reiz des Reflexes bildet. Von hier
langt die Erregung aufsteigend in das Rückenmark und wird
auf sympathische Ganglien übertragen. Durch Reizung dieser
entsteht das vasomotorische Phänomen. Die Rückkehr des
Phänomens in die Reizquelle erklärt die intensiven örtlichen
Erscheinungen im Hautgebiet der zugehörigen Nerven¬
bahn, während die Generalisierung nach den Befunden
Kreibichs, [mit einer gleichzeitigen Fortleitung des abge¬
schwächten vasomotorischen Reizes längs des Rückenmarks
auf weitere sympathische Zentren, in gute Uebereinstim-
mung zu bringen wäre.
Aus dem bakteriologischen Laboratorium des Infektions¬
spitals (Civico ospedale di S. M. Maddalena) in Triest
(Direktor: Primararzt Dr. A. Marcovich.)
Zur Verwendung der Blutplattenmethode und
der Komplementbindungsreaktion in der Dia¬
gnose sporadischer Cholerafälle.
Von Dr. M. Gioseffi, Assistenzarzt.
Im Anschluß an Prof. R. K r au s’ Mitteilung x) über die
gelegentlich der im vorigen Sommer in Wien und Spandau auf¬
getretenen sporadischen Choleraerkrankungen angestellten wei¬
teren Versuche mit der Blutplattenmethode möge über das hä¬
molytische Verhalten des aus unserem sporadischen Cholera¬
falle frisch gezüchteten Vibrio berichtet werden.
Die Untersuchungen, welche ich auf Anregung meines hoch¬
geehrten Chefs, des Direktors Dr. A. Marcovich, im bakterio¬
logischen Laboratorium des Magdalenen. Infektionsspitals vor¬
zunehmen Gelegenheit hatte, wurden sowohl auf der Bildplatte
als in Blntbouillonkulturen angestellt.
Der untersuchte Vibrio stammt aus dem am 25. Oktober
von Butigliano hei Bari auf einem Dampfer abgereisten und nach
siebentägigem Zwischenaufenthalte in Venedig am 1 3. Oktober
zu Schiff nach Triest angekommenen italienischen Arbeiter G. P.
Wegen Raufhandel am 14. Oktober verhaftet, erkrankte er in der
Nacht vom 14. auf: den 15. Oktober im Polizeiarrest in Triest
und wurde am 15. Oktober in unser Isolierspital gebracht. Uebei
die Herkunft der Infektion, welche offenbar in Italien erfolgt
sein dürfte, konnte nichts Näheres in Erfahrung gebracht werden.
Sechs Mithäftlinge und fünf Wohnungsgenossen des Kranken,
ebenso 14 Personen, welche gemeinsam mit dein Kranken zu
- ■ ■ ( i ■ ; 1 I
i) R. Kraus und Fr. Müller, Zur Frage der Blutplalten-
methode, Agglutinabilität und Giftbildung frischer Choleravibrionen. Wiener
klin. Wochenschr. 1910, Nr. 44.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
17
Schiff in Triest ankamen, sind weder erkrankt, noch waren sie I
Parasiten träger.
Der Kranke wurde am 18. November geheilt und vibrionen¬
frei entlassen.
Mor ph ologi sehe, kul tur eile und biologische Charak-
t e re des gezüchteten Vibrio.
AI ittelgroßer, etwas dicker, mäßig stark gebogener, lebhaft
beweglicher Vibrio (lSstündige Agarkultur).
In Gelatineplatten bildet der Vibrio nach 18 Stunden
stark lichtbrechende Kolonien von granuliertem, leukozytenartigem
Aussehen, mit beginnender Verflüssigung nach 48 Stunden.
Auf (der Agarplatte sind im durchfallenden Lichte opales¬
zierende, irisierende, auf der D rigalskyp latte schön blau-
gefärbte Hache Kolonien zu beobachten.
Im Ag ä r s t r i ch nichts Charakteristisches ; keine Phos¬
phoreszenz.
Inf Gel at inestich beginnende Verflüssigung nach
24 Stunden, die sich später trichterförmig nach unten erweitert,
mit Bildung einer Luftblase am größten Umfange des Trichters.
ln Bouillon (auch Ragitbouillon) starke Trübung mit
Bildung eines in den ersten 12 bis 24 Stunden zarten Häutchens,
das in den folgenden Tagen immer dicker und konsistenter wird
und sich an den Wänden des Röhrchens fortsetzend, stark acl-
häriert.
Cholera rotreaktion deutlich positiv in Bouillon und
Peptonkulturen, sowie auf dem Agarbelag.
Agglutinationsfähigkeit: Der Vibrio wurde mikro¬
skopisch sofort agglutiniert bis zum Endtiter 1:2000 eines vom
Wiener serotherapeutischen Institute bezogenen Choleraimmun¬
serums, 'makroskopisch bis zur Verdünnung 1:1000 nach wenigen
Minuten im Thermostaten auf 37°, nach zehn Minuten, .a'ucjh
in 'der Verdünnung 1:2000. Das . Choleraimmunserum war einige
Tage vorher mit einem von Kral bezogenen Spandau - Stamm
erprobt und dem Titer entsprechend gefunden worden. Die inner¬
halb vier W ochen wiederholt gemachten Passagen auf amtlichem
Choleraagar veränderten das Agglutinationsverhalten gegenüber
demselben Immunserum ins of erne, als die makroskopische Agglu¬
tination zwar bis zur Verdünnung 1:1000 innerhalb drei bis sechs
Minuten, >in jenen von 1:2000 jedoch diesmal erst in einer Stunde
erfolgte, was mit dem von Ha.endel und Worthed’) fund
Kraus und Müller angegebenen Verhalten bei frischen Kulturen
übereinstimmt. Das am Ende der vierten Krankheitswoche ent¬
nommene Patientenserum beeinflußte weder den eigenen, noch
den Spandau-* Stamm, selbst in der Verdünnung 1:20 nicht.
Pfeifferscher Versuch: Von den vier der amtlichen
Anweisung gemäß infizierten, ca. 200 g schweren Meerschweinchen
wies das Exsudat der zwei ersten mit dem fünffachen (=- 0 001),
respektive dem zehnfachen (= 0-002) Multiplum des .bakterio-
ly tischen Serums2 3) versehenen Tiere nach 20 Min. spärliche, beweg¬
liche ^Vibrionen, wie bei dem dritten mit dem öOfachen Multiplum
von normalem Kaninchenserum beschickten und bei dem vierten
mit einer Viertel Oese einer lSstündigen Agarkultur infizierten
Meerschweinchen auf; nach einer Stunde war jedoch im Peri¬
tonealexsudat der zwei ersten Tiere deutliche Granulablildung
zu beobachten, neben vereinzelten plumpen, gequollenen, un¬
beweglichen Vibrionen, während im Exsudate des dritten und
in jenem des mit einer Viertel Oese infizierten Meerschweinchens
zwar spärliche, jedoch wohlerhaltene, sehr stark bewegliche, das
Gesichtsfeld durchschießende Vibrionen zu sehen waren.
Zur V i r u len z best i m m u n g wurden vier Meerschwein¬
chen, ein 250 g schweres mit Va Oese, ein 180 g wiegendes mit
1.4, ein 170 g wiegendes mit Vö und ein gleichfalls 170 g wie¬
gendes mit Vio Oese einer lSstündigen Agarkultur intraperi¬
toneal infiziert. Die mit Vr und mit Vs Oese infizierten Meer¬
schweinchen gingen, nachdem sie durch 30 Stunden stark un¬
wohl waren und sich allmählich wieder erholt hatten, am fünften,
das mit Vio Oese am siebenten Tage ein; das 250g schwere
war durch 30 Stunden matt, ohne Freßlust, überlebte jedoch
die Injektion.
Hämolyseversuche: Zur Herstellung der Blutplatten
kamen Hammel-, Pferde-, Rinder- und Menschenblut zur \ er-
wendung u. zw. im Verhältnisse von 0-50 cm3, 1 cm3 und 2 cm3
defibrinierten Blutes auf 10 cm3 amtlichen Choleraagars.
Ich schicke gleich voraus, daß mir auf Grund der wieder¬
holt angeführten Versuche die Quantität des zur Herstellung
2) Haendel und Wjjo i t h e," Arbeiten aus dem kaiserl. Gesund-
heitsamte 1910, Bd. 5; ref. in der Rivista d’igiene e sanitä publica 1910,
Nr. 15 (Torino).
3) Das Serum vom Titer 1:5000 wurde vom k. Institut für In¬
fektionskrankheiten in Berlin bezogen.
der Platte verwendeten Blutes belanglos erschienen ist, wenn nur
dessen Verteilung im Agar eine schön gleichmäßige war. Auch
bei der Verwendung der verschiedenen Blutarten waren keine
wesentlich verschiedenen Verhältnisse zu konstatieren, wenn man
von der Farbennuance bei Beginn der Auflösung absieht. Da uns
nicht daran lag, die Blutplatte zur Isolierung von Cholera
Vibrionen aus den Fäzes, als zur Identifizierung des gezüchteten
Vibrio gegenüber choleraähnlichen hämolysinbildenden Vibrionen
zu verwenden, so ist in dem beiliegenden Versuchsprotokoll als
Beginn der Hämolyse auch eine Aufhellung gemeint, die sich an
der mit der Reinkulturaufschwemmung dicht belasten Blutagar¬
platte kundgab, verstanden. Bei den isolierten, im auffallenden
Lichte grau bis schiefergrauen, undurchsichtigen, auf ihren Vi
brionencharakter mikroskopisch kontrollierten Kolonien, war auch
nach drei bis vier Tagen, als diese in den Bereich der indessen
diffus aufgetretenen Aufhellung hereingezogen wurden, ein heiler
Hof nicht zu bemerken.
Verhalten des Vibrio auf der Blutagarplatte.
Mit
.
Nach
12 Std.
24 Std.
36 Std.
GO
W
2
3 Tage 4 Tage
Hammel-
r*/s cm3
0
0
0
Beginn
Weiter-
1 »
0
0
0
. »
schreiten der. Total
blut |
[2 »
0
0
0
»
Aufhellung
P/g cm3
0
0
0
Beginn
Weiter-
l icrae- j
1 *
0
0
0
»
schreiten der: Total
DIU l
2 »
0
0
0
»
Aufhellung
.
ri/2 cm3
0
0
0
Beginn
Weiter-
Rinder-
1 »
0
0
0
»
schreiten der Total
DLUl
2 »
0
0
0
»
Aufhellung
Menschen-} ^cni 1 !!
' 1 » U
0
blut
0
0
0
0
0
0
Beginn Weiter-
» | schreiten der
» ! Aufhellung
Total
In Blutbouillonkulturen, über deren Verhalten, nachstehendes
Versuchsprotokoll Bericht erstatten soll, war gleichfalls nach
2, 12, selbst nach 24 Stunden Thermostaten auf 37° in keinem
Röhrchen eine Hämolyse zu konstatieren.
Verhalten des Vibrio in Bouillonkulturen.
Nach
Verhalten
der roten
Blutkör-
2 Std.
12 Std.
24 Std.
perchen
n. 24 Std.
in NaCl.
Hammelblut (1 cm3) o-50
0
0
0
Spur
5°/„ige Blutkörperch.- !
Aufschwemmung) J 0'10
0
0
0
Pferdeblut (1 cm1 j 0\50
0
0
0
0
5%ige Blutkörperch.-
Aufschwemmung) ) '1'
0
0
0
Rinderblut (1 cm3 \ 0 50
0
0
0
5"/0ige Blutkörperch.-.
Aufschwemmung) J O'™
0
0
0
0
Menschenblut (1 cm3 1 0'50
O"/0ige Blutkörperch. -
Aufschwemmung)
010
0
0
0
0
0
0
Auch für unseren Vibrio bestand zwischen hämolytischem
Verhalten und proteolytischem Vermögen ein gewisser Parallc-
lismus.
Dem Vorstande des pathologisch -anatomischen Institutes
unseres Ospedale civico, Dt. E. Ferrari, tier sich auf unsere
Bitte in höchst zuvorkommenderweise der Mühe unterzog, mit
unserem' Vibrio nachträglich die K o mplem e n t b i n d ungs re a k-
tion auszuführen, verdanke ich den beiliegenden diesbezüglichen
Versuchsbericht :
„Zum Komplementbindungsversuche wurden folgende Kul¬
turen herangezogen: 1. ein Stamm Vibrio Metschnikoff als Kon¬
trolle, 2. ein Stamm Vibrio Spandau aus Krals Laboratorium,
3. ein alter Cholerastamm aus dem Mailänder sero - therapeuti
sehen Institut, 4. der Stamm P. .
Das Antigen kam in Form des von Altmann (Handbuch
Kollo -Wassermann, Erg.-Bd. 2, H. 3, S. 512) angegebenen Anti
formin extraktes zur Verwendung.
Als Sera wurden benützt: 1. ein normales Kaninchenserum
zur Kontrolle, 2. ein agglutinierendes Choleraimmunserum aus
dem 'k. k. sero - therapeutischen Institut in Wien vom l iier
1:2000, 3. ein bakteriolytisches Choleraimnnmserum aus dem
k. Institut für Infektionskrankheiten in Berlin vom Titer 1:5000.
18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 1'
Alle drei Sera wurden kurz vor dem Versuche frisch in¬
aktiviert.
Die Prüfung der Extrakte ergab für alle vier gleichförmig
als 'niederste selbsthemmende Dosis 0-10. Es wurden daher zum
Versuche 0-05 und 0-025 jeden Extraktes genommen.
Was die Sera anbelangt, so zeigte das Normalserum in
den Verdünnungen 1:10 und 1:20 noch Selbsthemmung, in den
Verdünnungen 1:250 und 1:2500 für sich jedoch komplette
Lösung, das agglutinierende sowie das bakteriolytische (Serum
hemmten für sich nur in der Verdünnung 1:10.
Der eigentliche Versuch ergab sodann folgenden Befund:
insoferne ein Urteil zur Sicherstellung der Choleranatur des ge¬
züchteten Vibrio noch möglich war, als deutliche rtranulabildung
nur in den. zwei ersten Tieren zu bemerken war, während beim
dritten und vierten Meerschweinchen die Vibrionen deutlich be¬
weglich waren. Wäre der Versuch ganz negativ ausgefallen, so hätte
man sich nur auf das positive Agglutinationsphänomen stützen
können. Das Verhalten auf der Blutplatte und die Komplement-
bindungsreaktion wäre demnach für solche erste spoiadischc
Cholerafälle zur Sicherstellung der bakteriologischen Cholera¬
diagnose als wertvolle Ergänzung der biologischen (Methoden
zu begrüßen, falls noch weitere Versuche die Konstanz des
Verhaltens feststellen sollten.
Normales Kanin¬
chenserum in der
Verdünnung
Agglutinierendes
Choleraserum in der
Verdünnung
Bakteriolytisches
Choleraserum in der
Verdünnung
Meerschweinchen komplement
1:20
J3
3
^ O I
s™\
£ ^
cS
Hämolytischer Ambozeptor
1 : 2000
Versuchsergebnis mit Extrakt aus
Vibrio
Metschnikoff
Vibrio
Cbolerae Milano
Vibrio
Cbolerae Spandau
dem Stamm
Pappalepori
005
0'025
1:250
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— 05
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komplette 1
Lösung
komplette
Lösung
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Lösung
komplette
Lösung
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Lösung
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Lösung
komplette
Lösung
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Lösung
komplette
Lösung
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—
—
—
—
05
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Lösung
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Lösung
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Lösung
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Lösung
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Lösung
komplette
Lösung
—
0-2
—
—
—
—
05
05
05
Spürchen
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komplette
Lösung
Spur
Hemmg
Spüreben
Hemmg.
starke
Hemmg.
(++)
maß. stark.
Hemmg.
(~1~)
komplette
Hemmg.
(+++)
komplette
Hemmg.
(~i — 1 — 1~).
—
—
05
—
—
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komplette
Lösung
komplette
Lösung
komplette
Lösung
Spur
Hemmg.
Spürchen
Hemmg.
starke
Hemmg.
(++)
mäßig
starke
Hemmg.
_ (+)
komplette
Lösung
—
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—
—
--
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komplette
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komplette
Lösung
komplette
Lösung
komplette
Lösung
komplette
Lösung
komplette komplette
Lösung 1 Lösung
—
—
—
—
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—
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05
05
komplette
Lösung
komplette
Lösung
komplette
Hemmg.
(++ + )
komplette
Hemmg
(+++)
komplette
Hemmg.
(+++)
komplette
Hemmg.
(~f ~h~b)
i komplette
I Hemmg.
(+++)
komplette
Hemmg.
(+++)
—
—
—
—
—
—
05
—
0-5
0 5
0-5
komplette
Lösung
komplette
Lösung
mäßig
starke
Hemmg.
Spur
Hemmg.
starke
Hemmg.
mäßig
starke
Hemmg.
Spur
i Hemmg.
Spürchen
I Hemmg.
—
—
— •
—
—
0*5
05
05
0-5
komplette
Lösung
1 komplette
i Lösung
1
Spürchen
Hemmg.
komplette
Lösung
Spur
Hemmg.
Spürchen komplette
Hemmg. Lösung
komplette
Lösung
Wir entnehmen mithin aus diesem Versuchsberichte, daß
während der nicht zu den Choleravibrionen zählende Vibrio
Metschnikoff mit allen benützten Seren und in jeder Verdünnung
(außer eines Spürchens Hemmung mit dem konzentrierten Ex¬
trakte) durchwegs eine komplette Lösung ergab, unser frisch
gezüchteter Stamm P. sowohl mit dem agglutinierenden, ais auch
mit dein bakteriolytisehen Serum in der Verdünnung 1:20 das
Komplement vollständig fixierte, und auch in der Verdünnung >
1:250 noch starke, respektive mäßig starke Hemmung mit dem |
agglutinierenden und eine Spur, respektive ein Spürchen Hem- i
mung mit dem bakteriolytisehen Serum aufzuweisen hatte. Die
zwei anderen zur Komplementbindungsreaktion benützten echten |
Cholerastämme (Stamm Milano, Stamm Spandau) ergaben 'mit
dem bakteriolytisehen Serum in der Verdünnung 1:20 komplette,
in der Verdünnung 1:250 eine mäßig starke, der Spandau - Stamm
sogar in jener von 1:2500 eine Spur Hemmung. Mit dem agglu¬
tinierenden Serum war die Fixation bei diesen Stämmen weniger
stark, jedoch beim Spandau -Stamm immer noch stark genug in
der ! Verdünnung 1:20; nur der lange im Laboratorium gezüchtete
Stamm Milano hatte von allen benützten echten Cholerastämmen
das geringste Fixationsvermögen aufzuweisen.
Unser Stamm eignet sich aus den vorgebrachten Berichten,
glaube ich, ganz besonders zur Illustrierung dessen, welch wich¬
tige Ergänzung der biologischen Methode die Verwendung der
Blutplattenmethode und eventuell die Komplementbindungsreak¬
tion in der Diagnose sporadischer erster Cholerafälle mitunter
bilden kann.
Die Virulenz unseres Vibrio war nämlich eine so geringe
(was bei einem, eigentlich einer erlöschenden Epidemie in Apu¬
lien angeliörigen, durch Zufall in Triest vorgekommenen Falle
nicht wundern kann), daß aus der mikroskopischen Beobachtung
des Pfeifferschen Versuches nach Pfeiffers Ausführungen1)
4) Zit. v. Böhme im Kraus und Levaditis Handbuch der Technik
und Methodik der Immunitätsforschung, Bd. 2.
Diät und Küche in Chemie, Physik und
Physiologie. .
Von Dr. Wilhelm Sternberg, Berlin.
Indem die moderne Ernährungslehre bloß die Diät unter¬
sucht und die Küche übergeht, beschränkt sie sich auf Chemie
und Physik und vergißt, auch die Sinnesphysiologie des Ge¬
schmacks in Betracht zu ziehen. So glaubt die „exakte1 Phy¬
siologie der Ernährung die ganzen Fragen der Nahrung spielend
in Chemie und Physik auflösen zu können. Und das iiihrt zu
mannigfachen Einseitigkeiten.
Denn insofern die Diätetik lediglich die Chemie in Betracht
zieht, beschränkt sie ihrerseits sich wiederum auf Nahmngs-
stoff und Nahrungsmittel. Nahrungsmittelchemiker nennt sie
daher mit Recht den Fachmann der Spezialdisziplin. Allein der
Nahrungsmittelchemiker kann wohl über die Nahrungsmittel, wie
der Name ausdrücklich bestimmt, urteilen, aber doch nicht über
das, was wir zum Munde führen, um es uns munden zu lassen.
Denn nicht Nahrungsmittel und nicht Nahrungsstoffe sind cs,
welche die fertige Nahrung ausmachen. Bloßi die Diät ist es, worauf
sieh Nahrungsstoff und Nahrungsmittel erstrecken. Das hin¬
gegen, was wir tatsächlich in den Mund nehmen, ist etwas prin¬
zipiell anderes. Das sind die fertigen Speisen der „Garküche11
sowie die Getränke des Mundschenks und des Kellermeisters.
Wie ich1) bereits hervorgehoben habe, bestehen ja die Genuß-
mittel in Küche und Keller nicht bloß, aus dem Nahrungsmittel
des Trinkwassers oder aus dem Nahrungsstoff HsO, Aqua destil-
lata und nicht bloß aus der chemischen Verbindung Alkohol
C2II5OH. Dazu kommt, daß sich der Nahrungsmittelchemiker
nicht einmal lediglich auf die Nahrungsmittel beschränkt, sondern
*) Die Uebertreibungen der Abstinenz. Würzburg 1911, 2. Aull.,
S. 73 u. 89.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
19
seine Befugnis auch auf die Genußmittel ausdehnt. So ist die
literarische Stätte, welche bisher einzig und allein die Genu߬
mittel behandelt, die „Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs¬
und Genußmittel“, das Organ der „Freien Vereinigung Deutscher
Nahrungsmittelchemiker“. Das klassische Werk von König be¬
handelt die Chemie der menschlichen Nahrungs- und Genu߬
mittel. Es ist klar, daß. die einseitige Betrachtung der Genuß-
mittel vom chemischen Standpunkt noch fehlerhafter wird als
die einseitige chemische Betrachtung der Nahrungsmittel.
In gleicher Weise wie die reine Chemie geht die Bio¬
chemie und die physikalische Chemie vor, indem sie sich ein¬
fach auf die Diät beschränken und die Küche übergehen. iSo
kommt es, daß das wissenschaftliche Organ für die medizinischen
Untersuchungen von Spezialärzten über die Diät heutzutage die
biochemische Zeitschrift ist: „Zeitschrift für Beiträge zur chemi¬
schen Physiologie und Pathologie“, eine chemische Zeitschrift,
unter Leitung eines Fachchemikers stehend, welcher nicht einmal
Mediziner ist, sondern das „tierchemische“ Laboratorium an der
„landwirtschaftlichen“ Hochschule leitet!
Insofern dm Gesetze der physikalischen Chemie auf die
Phänomene der Ernährung in der modernen Medizin übertragen
werden, ist es bloß die Resorption der Diät, auf die ihre An¬
wendung erfolgt, aber nicht die Ernährung der Mundküche. So
enthält das klassische Handbuch „Physikalische Chemie und
Medizin“ von Koränyi und Richter ein eigenes Kapitel
über Resorption, „Die physikalische Cheimie in der Physiologie
über Resorption, der Lymphbildung und der Sekretion.“ Dabei
bleibt die Mundküche und die Mundverpflegung außerhalb aller
Betrachtungen.
Die reine Physik wird in der Ernährungslehre nur insoweit
angewandt, als der physikalische Brennwert der Diät und die
energetische Wirkung der Nahrungsstoffe in Betracht kommen. So
erörtert Ruh n er2) in dem klassischen Werk: „Die Gesetze des
Energieverbrauchs bei der Ernährung“ die spezifisch-dynamischen
Wirkungen der Nahrungsstoffe. Aber die Aufgaben der Küche, Ge¬
schmack, Schmackhaftigkeit, Appetit, Appetitlichkeit, gewiß nicht
die unwesentlichsten Faktoren der eigentlichen Ernährung, bleiben
unerwähnt.
Und doch sind es gerade physikalische Faktoren mehr
noch als die chemischen Qualitäten der Nahrung, welche- für
die Mundküche, für die Mundverpflegung und für die subjek¬
tiver Empfindungen der Nahrungsbedürfnisse eine große Rolle
spielen. Denn die Nahrungsbedürfnisse richten sich zunächst
nach dem physikalischen Aggregatzustand. Auf den Bedarf an
Nahrung von gasförmigem, von flüssigem und von festem, Ag¬
gregatzustand ist der Lufthunger, der Durst und das eigentliche
Nahrungsbedürfnis des Hungers angewiesen. Vor allem ist es
der physikalische Aggregatzustand der Nahrung, welcher außer
dem chemischen Nährwert das Hungergefühl tatsächlich beein¬
flußt. Wie ich3) bereits ausgeführt habe, ist es der feste Aggregat¬
zustand des Füllmaterials, welcher das Hungergefühl zu beein¬
flussen vermag. .
Ein gewisses Volumen der Nahrung ist ferner unerläßlich,
den Schmerz des Hungers zu mildern. Darauf beruht die Lü-
sache-, daß Vegetabilien und alle wasserabsorbierenden Nahrungs¬
mittel leichter und schneller sättigen als Fleisch oder gar Fisch¬
speisen. Hierauf ist gleichfalls die Tatsache zurückzuführen,
daß bei Magenerweiterung das Hungergefühl zugleich mit dem
Durstgefühl vermehrt ist.
Auch die physikalische Eigenschaft der Temperatur be¬
stimmt noch die Befriedigung unserer subjektiven Empfindungen
der Nahrungsbedürfnisse nach fester und nach flüssiger Nahrung.
Das Durstgefühl leitet uns nicht allein nach Flüssigkeiten, son¬
dern nach kalten Getränken. Dieselben Getränke, warm, löschen
den Durst nicht so wie die Eisgetränke. Dagegen wird der Hunger
mehr durch die warme Küche als durch kalte Küche gestillt.
Von Heißhunger kann man auch in diesem Sinne sprechen. Darauf
macht schon Aristoteles4) aufmerksam: , (1
üsiva os xal 86|>a snibu|i:a. y) psv rcstva üt) poü xac iFepjioO,
Sujia i|iu)(poö xat OypoO.
Diese längst gemachten alltäglichen Beobachtungen sind der
modernen Physiologie u'hd „exakten“ Pathologie der Ernährung bis¬
her fremd geblieben. Und doch ist ihre- Verwertung für die diäte¬
tische Therapie ebenso wichtig wie dankbar. Denn sie erleich¬
tert, wie ich5 *) hervorgehoben habe, die Durchführung von Ent¬
fettungskuren und gleichermaßen von Mastkuren wesentlü h.
2) Leipzig und Wien 1902, F. Deuticke. . Q im
3) Der Hunger. Zentralblatt für Physiologie, Bd. 23, Nr. 4, b. 110.
*) De anima. Dept Bd. 3, 414 b, 10.
i>) Nahrungsbedarf und Nahrungsbedürfnis. Zeitschr. tür pnysüt.
und diätet. Therapie, Oktober 1910.
Für die historische Entwicklung der angewandten Diätetik
ist es nun höchst bezeichnend, daß das, was die theoretischen
Wissenschaften der Ernährungslehre in der Medizin übersehen bei
ihrer Beschränkung auf die Diät, daß das die Handels Wissenschafter
der angewandten Technik doch schon längst sehr sorgfältig be¬
achten. Das ist deshalb der Fall, weil sie eben Küche und Keller
pflegen. So ist ein Bericht über den Stand der Kältetechnik
in der Brauerei auf der Tagesordnung. Der Umstand, daß die
Herstellung von untergärigem Bier niedere Temperaturen erfor¬
dert, war der Grund dafür, daßi die Brauerei die Veranlassung
zur Ausgestaltung der Kältetechnik gegeben hat. ln der Spaten-
Brauerei in München war es, wo Linde in den Jahren 187 2
bis 1876 die erste Kühlmaschine aufgestellt hat. So nahm von
der Stadt München aus, deren bedeutendste Industrie die Brauerei
ist, die Kältetechnik ihre staunen-erregende Entwicklung. Eigene
deutsche Kältevereine haben sich schon gebildet, Kältekongresse
werden abgehalten. Internationale Kältevereinigungen beraten
über die Technik und die Industrie der Kälteerzeugung. Dabei
bezieht sich aber diese Technik und diese Industrie einzig und
allein auf Küche und Keller. Sie erstreckt sich nicht etwa auf
die Diät.
Schließlich kommt noch -ein wesentlicher physikalischer
Faktor für die Mundküche in Betracht. Für die Mundverpfle¬
gung sorgt ein eigener physikalischer Sinn. Das ist der Geschmack.
Der Geschmack setzt sich nämlich aus dem physikalischen
Sinn der Tastempfindung und aus dem chemischen Sinn des
eigentlichen Geschmacks zusammen. Kein einziger Körperteil
kann in der Feinheit der Tastempfindung mit der Zunge
wetteifern. . i i ; !
Der Tastsinn ist aber der Sinn, der den größten Anteil
an der Erregung des Allgemeingefühls des Kitzels hat. So übt.
er einen gewaltigen Einfluß- auf den Appetit aus, den ich") in
seinem eigentlichen Wesen gleichfalls als Kitzelgefühl auffasse.
Mit dieser Erkenntnis erklären sich viele bisher unerklärte und
unerklärliche Fragen, wie ich7) bereits angedeutet habe. Damit
findet auch das subjektive Bedürfnis nach der physikalischen
Konsistenz der festen Nahrung seine physiologische Begründung.
Es entstehen nämlich die Fragen: Wie kommt es denn nur, daß
der Appetit des gesunden Erwachsenen nicht einmal für wenige
Tage mit flüssiger, nicht einmal mit breiiger Nahrung befriedigt
werden kann, selbst wenn diese in sonstiger physikalischer,
dynamischer, energetischer, thermischer, chemischer, physiologi¬
scher und psychologischer Hinsicht vollkommen ausreichend ist v
Warum bevorzugen wir besonders knusperige, kroquante Zuberei¬
tungen und haben Appetit besonders auf r-esche-, frische Bäckereien,
also Teile von festem Aggregatzustand-ei, die- sich nicht sogleich
im Munde auflösen? Das ist um so auffallender, als wir die
frischen Bäckereien bevorzugen, welche im Innern gerade
weich sind und deren feste Kruste einzig und allein auf die
äußere Oberfläche beschränkt bleiben darf, so daß die Technik
besondere krause harte- Teile, sogenannte „Sträußel“ zum Schluß
auf die Oberfläche der fertigen Backware fügt. Warum haben
manche Tiere, wie z. B. die Giraffen, Appetit besonders auf gewisse
äußerst spitzige Pflanzenteile, z. B. Akazienzweige, welche die
stachlige Oberfläche bieten? Warum nehmen sie diese Nahrung,
ebenso wie Esel, Pferde die Disteln, geradezu als besondere
Delikatesse mit sichtlichem Behagen auf, während der unbefan¬
gene- Zuschauer befürchten muß, daß diese scharfen und spitzigen
Teile- ihnen die Speiseröhre- aufs empfindlichste verletzen? Warum
bevorzugen manche Tiere gerade die lebende Beute zum Fressern
so daß ihnen das Zappeln im Schlund als der höchste Genuß
erscheint? Warum lockt sie dieselbe Beute, tot, bloß noch bei
größtem Hunger, während sie in der Krankheit stets verabscheut
wird? Denn im Krankheitsfall kann nur die lebende Beute den
Appetit noch reizen.
Aehnlich wirken auch auf uns mittels des sogenannten
„pikanten“ Geschmacks die „pikanten“ Vorspeisen, welche dazu
bestimmt sind, den Appetit zu erregen. „Piquer“ heißt auf der
Zunge beißen, den Gaumen kitzeln. „ Pikant nennen wii du.i
scharfen reizenden, leicht stichelnden Geschmack. Das Wort
„Sticheln“ ist eine Intensivbildung von „stechen“ und bedeutet
fortgesetztes leichtes Stechen. Die Wirkung ist nur so zu er¬
klären, daß tatsächlich -ein mechanischer leichter, aber wieder¬
holter Reiz und Kitzel im Munde ausgeübt wird.
In gleicher Weise ist der prickelnde Geschmack der
„spritzigen“, moussierenden Getränke, die angenehm erfrischend •
und Durst löschende Wirkung sowie das Bedürfnis nach dem
6) Die Küche in der modernen Heilanstalt 1909. Stuttgart, F - Enke, S. 96.
i) Der Appetit und die Appetitlosigkeit. Zeitschr. für klm. Medizin
1909, Bd. 67, S. 16. — Die Kitzelgefühle. Zentralblatt für Physiologie,
Bd. 23, Nr. 24.
20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
prickelnden Geschmack zu erklären. Dieselben Flüssigkeiten genau
ebenso kalt, aber ohne die Kohlensäure, also abgestanden,
schmecken uns nicht erquickend. Sic sind „schal , „hohl , ,,ab-
schmeckig“, „abgeschmackt“, „abgestanden“ . Sie .„erfrischen,
durchaus nicht im gleichen Maße wie die kohlensäurehaltigen.
Die Gasbläschen üben eben einen leichten mechanischen Reiz
aus und kitzeln den Gaumen, wenn sic im Munde gegen den
Gaumen mit einer gewissen Gewalt aufplatzen. Diese kitzelnde
Wirkung ist. genau dieselbe im Munde wie auf der äußeren Haut
im Bade. Daß diese physikalische Kraft, mit welcher die Flüssig¬
keit gegen das empfindende Organ gespritzt wird, für die Empfin¬
dung durchaus nicht etwa gleichgültig ist das lehrt die Erfahrung
bei der Kohäbitation. Die Empfindung der Frau ist eine voll¬
kommen andere, je nach der physikalischen Kraft, mit dei das
Sperma ins Laquear gespritzt wird, bei sonst vollkommen gleichen
physiologischen Verhältnissen und genau demselben Vorgang der¬
selben Funktion. In der gesamten Literatur scheint nur M ea¬
sing a6 * 8) hierauf hinzuweisen.
Dazu kommt dann noch der eigentliche Geschmack, der
chemische Sinn. Dieses Sinneswerkzeug findet .nach wie vor
in der Physiologie der Ernährung und allen anderen Disziplinen
der Medizin wenig Berücksichtigung. Ich9) habe darauf bereits
hingewiesen. Neuerdings wiederholt Frey nochmals längst wider¬
legte Irrtümer über eine Geschmacksqualität, die es überhaupt
gar nicht gibt. Auch die Klinik und Therapie übergeht die neuesten
Forschungen über den Geschmack. So übersehen Ad. Schmidt
und H. Lüthje10) die neuen Methoden der Geschmacksprüfung
und beharren bei den alten, längst überwundenen Arten der Ge¬
schmacksproben. In gleicher Weise übergehen Meyer und Gott¬
lieb11) den Geschmackssinn, wiewohl sie dem Auge ein eigenes
Kapitel widmen: „V. Pharmakologie des Auges.“ Das ist na¬
türlich. Denn sie beschränken sich auf die Diät und übersehen
die Ernährung, also die Mundyerpflegung und die Mundküche,
Indern sie der Verdauung einen eigenen Abschnitt ein räumen :
VI Pharmakologie der Verdauung“ und ebenso den Stoffwechsel
als selbständiges Kapitel behandeln: „XII. Pharmakologie des
Stoffwechsels“, beschränken sie sich auf die Diät. Da, wo sie
aber die Aufgaben der Küche erwähnen, die Erregung des Ap¬
petits, gelangen sie zu den irrigsten Vorstellungen vom Wesen des
Appetits.
Fragt man, wie es nur kommen mag, daß gegenüber der
Physik und Chemie die Sinnesphysiologie in der Ernährungs¬
lehre auf so auffällige Weise zurücktritt, so kann die Beant¬
wortung keine1 Schwierigkeiten bereiten. Die Faktoren dei >dnnes-
physiologie sind gegenüber denen der Physik und Chemie weit
mannigfaltiger und verwickelter. Ordnet man nach v an t Hof f )
die Hauptdisziplinen auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften
nach ansteigender Komplikation der gestellten Probleme - Ma¬
thematik, Physik, Chemie und Biologie — , so. liegt die. ein¬
fachere Abteilung auf chemischem Gebiete, die . anorganische
Chemie der Physik am nächsten, die organische Chemie jedoch
der Biologie. So wird die beregte Reihenfolge: Physik, anorga¬
nische Chemie, organische Chemie und Biologie*. Also am äußer¬
sten Ende liegt für den beregten Fall die der Biologie zugehö¬
rige Disziplin der Geschmackslehre. Die Diät gehört der Physik
und Chemie an; die Mundküche dem Gebiet der Sinnesphysio¬
logie. Die Wissenschaft der Küche ist ungleich schwieriger, ver¬
wickelter und komplizierter als die Lehre von der Diät. Diese
Disziplin ist bloß angewandte Physik und angewandte Chemie,
jene aber auch angewandte Sinnesphysiologie. Deshalb gebührt
auch der wissenschaftlichen Grundlage . der Kochkunst und zu¬
gleich der Erziehung und Ausbildung des Geschmacks ebenso
Beachtung wie den Grundlagen jeder anderen künstlerischen Bil¬
dung und der Erziehung jedes anderen Sinnes, z. B. des Farben¬
sinnes, über welche Gegenstände Alfred Licht wark13) be¬
richtet.
6) Willküi liebe Beschränkung der Kinderzahl.
#) Die Alkoholfrage im Lichte der modernen Forschung. Leipzig,
Veit & Co. 1909, S. 810.
10) Klinische Diagnostik und Propädeutik innerer Krankheiten.
Leipzig 1910, F. C. W. Vogel, S. 492.
11) Lieber die zunehmende Bedeutung der anorganischen Chemie.
Zeitschr. für anorg. Chemie, Bd. 18, H. 1.
12) H. Meyer u. R. Gottlieb, Die experimentelle Pharma¬
kologie als Grundlage der Arzneibehandlung, 1910.
13) Die Grundlagen der künstlerischen Bildung. Erziehung des
Farbensinns. Berlin 1905, 8. Aull.
Bemerkungen zur Ehrlichdebatte.
Von Prof. Dr. G. Riehl.
In der letzten Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte ist
die Diskussion über Ehrlichs Heilmittel mit einem Schlußwort
Fingers beendet worden.
Die jüngsten Aeußerungen des Vortragenden erscheinen m
vielen Punkten so wenig zutreffend, daß ich mich gezwungen
sehe, an dieser Stelle wenigstens auf jene Aussagen, welche, sich
auf meine Angaben beziehen, zu antworten, resp. sie tatsächlich
zu berichtigen.
Finger lehnt es in seinem Schlußwort ab, die von mm
im ersten Vortrag angeführten Schädigungen der Augen und Ohren
bei Arsen obenzolbehandlung zu erklären, und sagt: „ich möchte
also heute jede Deutung als unzeitgemäß ablehnen" und später :
„heute ist jede Aeußerung (Stellungnahme zu dem Mittel) un¬
bedingt verfrüht“. .
Und doch hat Fingers erster Vortrag m dem oatze kul¬
miniert, „daß das Arsenobenzol sich vorläufig zur Anwendung
in der Praxis nicht eignet“.
Dieses ablehnende Urteil hat, weil es im Widerspruch mit
den Ergebnissen der meisten früheren Beobachter steht, einiger¬
maßen überrascht, um so mehr, als die von 1 inger angel ihn ten
Fälle von Schädigung keineswegs als erwiesene Arsenwirkungen
gelten konnten. . ,
Bei der Beurteilung eines neuen Heilmittels beansprucht
di© Frage, ob es zur praktischen Verwendung empfohlen werden
kann, das Hauptinteresse; gerade gegen diesen Satz der die
Schlußfolgerung aus Fingers Erfahrungen bildet, mußte in der
Diskussion Stellung genommen werden, weil er nach dei allge¬
meinen Sachlage für Aerzte und Kranke den praktisch wichtigsten
Funkt betraf. Finger vermeidet es in seinem Schlußwort aut
diesen Ausspruch zurückzukommen und erklärt, diesmal kein
Urteil abgeben zu wollen. Dagegen wendet sich Finger kriti¬
sierend gegen verschiedene in der Diskussion gefallene A eu Me¬
ningen. . . .. . , ,
In meiner mit Dr. Kren gemeinsam publizierten ersten
vorläufigen Milteilung über unsere Erfahrungen mit Arsenobenzol
wurde auf unangenehme Nebenerscheinungen und Gefahren der
Arsenobenzollherapie mit Nachdruck hingewiesen und auch in
der Diskussion habe ich hervorgehoben, daß die Möglichkeit be¬
steht, daß in späterer Zeit noch schädliche Nebenwirkungen des
\rscnobenzols bekannt werden könnten. Ls muß liier nochmals
betont werden, daß unter den bisher publizierten Fällen kein
Todesfall und keine Erblindung als sichere Folge der Arseno¬
ben zoltherapie beobachtet worden -sind, während gerade die Lr-
bliiidungsgefahr nach den Erfahrungen der Atoxylanwendung am
meisten gefürchtet wurde und deshalb ein derartiger Fall sicher
bekannt geworden wäre. . _
Finger führt in seinem einleitenden Vortrage eine Beine
von Fällen von Augen- und Ohrenerkrankungen an, von denen
er annimmt, daß sie entweder ganz auf das Arsenobenzol zu-
rückzuführeii sind oder durch Kombinationswirkung des Arseno-
benzols mit der Lues zustande gekommen sind.
Auf eine eingehende Prüfung dieser Fälle, von welchen
kein ungünstiger Ausgang bekannt geworden ist, sowie mehrerer
aus der Literatur im Schlußworte Fingers herangezogener Falle
anderer Autoren kann ich hier verzichten, da sie durch Irofessor
Ehrlich („Nervenstörungen und Salvarsanbehandlung , Ber¬
liner klinisch. Wochenschrift Nr. 51) bereits einer kritischen Be¬
sprechung unterzogen worden sind. Ehrlich resümiert: „Die
beschriebenen, meist in Knochenkanälen eingeschlossene Ilirn-
nerven betreffenden Störungen sind nicht toxischer Natur, son¬
dern syphilitische Manifestationen. Sie rühren von vereinzelten,
hei der Sterilisation der Hauptmasse übriggebliebenen Spirochäten
her und kommen auch nach Quecksilberbehandlung vor. Die
auffallenden klinischen Symptome verdanken sie nicht llnei
Ausdehnung, sondern ihrem anatomischen Sitz. Ihrem geringen
Umfang, hzw. Spirochätengehalt entsprechend, veranlassen sie
keine Wassermann - Reaktion und sind gewöhnlich durch erneute
spezifische Behandlung prompt zu beseitigen. Es handelt sieh
also um keine konstitutionelle Rezidive, sondern um letzte Lebei-
bleibsel aus der vorhergegangenen Sterilisation. ‘
Inzwischen ist durch Igersheimer aus der Klinik Pro¬
fessor Hippels an der Hand des Tierexperimentes und klinisch
die toxikologische Wirkung des Arsenobenzols geprüft und ins¬
besondere mit den Erscheinungen der Atoxylvergiftung verglichen
worden (Münchner mediz. Wochenschrift Nr. 51). Das Ergebnis
seiner Untersuchung faßt der Autor in folgendem Satz zusammen :
Es darf nach allen unseren jetzigen Kenntnissen mit Freude kon¬
statiert werden, daß das Dioxydiamidoarsenobenzol bei uer pao-
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
21
montanen Verwendungsweise nicht nur keine Augenerkrankung
erzeugt, sondern in vielen Fällen bereits luetische Affektionen
des Auges in ausgezeichneter Weise geheilt hat. Ja, daß sogar
der erkrankte Sehnerv nach den Erfahrungen von Schanz,
Wechselmann und Seeligsohn u. a., anscheinend unbe¬
schadet mit dem Ehrlichschen Mittel behandelt werden kann.“
Wenn ich zur Beurteilung der relativen Gefährlichkeit des
Mittels den Vergleich mit der Quecksilberinjektionstherapie an¬
gestellt und mitgcteilt habe, daß Todesfälle nach Quecksilber-
injeklionen in größerer Zahl beobachtet worden sind, während
bei der Arsenobenzoltherapie noch kein tödlicher Ausgang durch
Arsenwirkung festgestellt worden ist, so ist der von mir gezogene
Schluß, daß „die Arsenobenzoltherapie sich bisher mindestens
als nicht gefährlicher erwiesen hat, als die Quecksilberinjektionen“
unzweifelhaft richtig und es ist vollständig irrelevant, ob 20.000
oder 30.GÖ0 oder weniger mit Arsenobenzol behandelte Syphilis-
fälle bekannt sind, oder auf der anderen Seite die jedenfalls über¬
triebene Anzahl von Millionen von mit Quecksilber behandelten
Fällen angenommen wird.
Die von mir zitierte Zusammenstellung von Lassere be¬
trifft ja nur Fälle einzelner Autoren, keineswegs alle überhaupt
mit Quecksilberinjektionen behandelte Kranken.
Die weitere Ansicht Fingers, daß wir die Arsenobenzol-
wirkung nur nach dem Wiener Material beurteilen sollen, könnte
ich auch dann nicht als gerechtfertigt akzeptieren, wenn Fin¬
gers Fälle als sichere Arsen Wirkungen erwiesen wären.
Finger betont weiters, daß nicht nur die Zahl der Fälle,
sondern die Dauer detr Beobachtung von Wichtigkeit, sei
und behauptet, daß an seiner Klinik seit Juni, an der uneinigen
erst seit August Arsenobenzol verwendet werde.
Diese Angabe ist unrichtig. In unserem vorläufigen ersten
Berichte sind die ersten Injektionsfälle nicht einbezogen und
statistisch verwertet worden, weil wir damals - wie allgemein
üblich — - nur kleine Dosen des Arsenobenzols verwendet hatten
und diese Resultate nicht, mit denen der späteren mit größerer
Dosis Behandelten in Vergleich bringen wollten. Immerhin zitiert
Kren in der Diskussion (Wiener klinisch. Wochenschrift, S. 1.733)
ausdrücklich zwei Fälle, die am 15. und 19. Juli injiziert worden
sind. .... .
Die erste Injektion an meiner Klinik ist am 7. Juli aus¬
geführt worden.
An welchem Tage an der Klinik Finger die erste Injek¬
tion gemacht wurde, ist mir nicht genau bekannt. Finger führt
den Juni als ersten Beobachtung smonat an, eine An¬
gabe, welche noch der Aufklärung bedarf, nachdem mir be¬
kannt ist, daß die erste Sendung von Arsenobenzol am
1. Juli von Ehrlich an die Klinik Finger abgegeben worden ist.
Finger legt dieser zeitlichen Differenz besondere Be¬
deutung bei — im Vergleich zu meinem Material — weil er
selbst erst im fünften Monate die ersten unangenehmen
Nebenerscheinungen wahrgenommen habe. Dieser Ausspruch be¬
ruht demnach nicht auf einem Lapsus calami und ist doch un¬
richtig, denn in der ersten Mitteilung gibt Finger selbst in den
Krankengeschichten genaue Auskunft über die Zeit, welche
zwischen Injektion und „Schädigung“ verflossen ist.
Diese Daten lauten für die Augenfälle: 1. Fall 2 Monate nach
der Injektion, 2. Fall 3 Monate nach der Injektion. 3. Fall
3 Monate nach der Injektion, 4. Fall 3 Monate nach der Injektion;
für die Ohrenfälle: 1. Fall 1 Tag nach der Injektion, 2. Fall
9 Wochen nach der Injektion, 3 Fall 13 Wochen nach der Injek¬
tion. Also nicht im 5. Monat frühestens, sondern in keinem Falle
später als 3 Monate nach der Injektion sind diese Wahrneh¬
mungen erfolgt. .
Ebenso ist die Angabe Fingers irrig, daß' das Material
seiner Klinik mit 80% Dauerbeobachtung an allererster Stelle
steht. Von unseren bis jetzt 171 injizierten Kranken, haben sich
nur 23 der Beobachtung entzogen, was einer Dauerbeobachtung
von 86% entspricht.
Es wäre überhaupt empfehlenswert gewesen, die Angaben
anderer Beobachter, auch wenn ihre Resultate nicht mit den
eigenen übereinstimmen, etwas weniger scharf zu beurteilen.
Die günstigen Resultate Do errs und Früh aufs, die si¬
cherlich unter Beachtung aller Kauteleh festgestellt worden sind,
namentlich die auffallend geringfügigen lokalen Reizerschei¬
nungen verdienen wohl eher unsere Anerkennung, als
den Vermerk „cum grano salis aufzunehnien“, denn sie sind
offenbar der ganz exakten Ausführung und wahrscheinlich auch
der Anwendung völlig gelöster Präparate zu verdanken. Für
letztere Annahme spricht der Umstand, daß Genn er i ch - Kiel,
S c h r e i b e r - Magdeburg. M a n.t eg a z z a u. a. Autoren, die mit
Lösung und nicht mit Emulsion gearbeitet haben, gleich gute
Resultate erzielt haben.
Die Behauptung Fingers, daß das Arsenobenzol ein so
scharfes Aetz'mittel sei, das überall, wo es hinkommt, Nekrosen
setzt, kann gleichfalls nicht als allgemein gültig bezeichnet werden.
Die Aetzwirkung eines Mittels ist ja immer eine relative und
sinkt bei steigender Verdünnung auch für heftig wirkende Prä¬
parate bis auf Null herab. Die Erfahrung zeigt uns, daß seihst
bei so konzentrierten Präparaten, wie sie bis jetzt bei der Arseno¬
benzoltherapie verwendet worden sind, weitaus nicht in allen in¬
jizierten Fällen es zur klinisch konstali abaren Ntkrose kommt.
Bei intravenöser Injektion z. B. ist niemals. Nekrose der Blut¬
gefäße beobachtet worden. Die mikroskopisch nachweisbare Ab¬
tötung kleinster Gewebsansteile kommt für den Kliniker ebenso¬
wenig in Betracht, wie ähnliche Nekrosen bei Sublimatinjektionen.
Zum Schluß hat mich Finger mit dem1 persönlichen Vorwurf
der Unwissenheit bedacht, weil ich unsere Kenntnisse über die Er¬
krankungen der Himnerven, spez. des Optikus und Akustikus im
Frühstadium der Syphilis als noch nicht genügend vorgeschritten
bezeichnet habe. Ich glaube, daß eis keinen anderen Syphilido-
logen oder Ophthalmologen geben wird, der meiner Ansicht nicht
beipflichten würde. Die meisten Lehrbücher verzeichnen nur,
wenn sie überhaupt dieses Thema berühren, daß. im Früh¬
stadium Erkrankungen der Retina und des Optikus, so wie der
Menieresche Symptomenkomplex, selten beobachtet worden
sind. Finger gibt an, daß er unter 632 Syphiliskranken seiner
Klinik nicht einen Fall derartiger Erkrankung bei Frühluetischen
gesehen habe. Andere Autoren dagegen geben eine viel größere
Frequenz dieser Syphiliserscheinungen an. So z. B. Schnabel,
der unter 40 Patienten im frühem Stadium der Syphilis bei
21 Netzhautreizung und bei 7 entzündliche Veränderungen der
Netz- oder Aderhaut oder in beiden gefunden hat.
In der von mir zitierten Arbeit Beckers, stehen un¬
mittelbar unter der Tabelle Januszkiewics aus der Klinik
Hirschbergs, die auch Finger erwähnt, die Resultate der
Untersuchungen Wilbrand und Staelins; sie fanden Neuritis
optica im Frühstadium der Syphilis in 3 Fällen 6 Wochen nach
der Infektion, in 2 Fällen 13 Wochen nach der Infektion und
je einen Fall in der 17., 18., 27., 43. und 53. Woche. Daraus
ist ersichtlich, daß die Befunde der verschiedenen Untersucher
ganz bedeutende Differenzen schon hinsichtlich der Zeit des
Auftretens und der Frequenz der frühluetischen Augenerschei¬
nungein verzeichnein. Aber auch über die Form dieser Erkran¬
kungen gehen die Ansichten noch weit auseinander, so daß
tdie meisten Autoren die Diagnose luetische Retinitis, resp._ Pa¬
pillitis usw. nur mit Reserve stellen. Ueb'er die Anatomie dieser
Frühformen, über den eigentlichen Sitz der pathologischen Ver¬
änderungen liegen kaum irgendwelche aufklärende Befunde vor.
Es ist dies sicher ein Gebiet, in dem durch systema,-
tischo Forschung noch eine weitgehende Bereicherung unserer
Kenntnisse trotz Fingers Angaben zu erwarten und zu er¬
hoffen ist. '
Die von Finger erhobenen Einwände sind demnach als
unbegründet zurüdkzuweisefo.
OEFFENTLICHE GESUNDHEITSPFLEGE.
Eine sozialmedizinische Konqreßreise.
Von Priv.-Doz. Dr. Ludwig Teleky.
Es ist heute schon so weit mit dem Ansehen, das Kon¬
gresse genießen, gekommen, daß man vielen Leuten gegenüber
sich förmlich entschuldigen muß, wenn man an einem auswärts
tagenden Kongresse teilgehommen hat. Die großen Kongresse, die
oft einige tausend Teilnehmer zählen, haben nicht wenig dazu
beigetragen, das ganze Kongreßwesen in unbegründeter Weise zu
diskreditieren. Unter der ungeheuren Zahl von Teilnehmern, die
manche Kongresse vereinigten, trat die natürlich relativ kleine
Zahl von solchen, denen es1 um. die Kongreßverhandlungen ernst
war, allzusehr zurück. Glücklicherweise blieb der größte Teil
jener „Mitglieder“ ja den wissenschaftlichen; Sitzungen ferne,
aber um so eifriger nahmen sie an allen Eß- und J rinkgelegen-
heiten teil und es kam zu beschämenden Szenen an den Büffets,
zu nicht minder beschämenden Tischreden.
Die geselligen Veranstaltungen, äußeres Gepränge und Zere¬
moniell haben überhaupt allzusehr überhand und auf manchen
Kongressen einen allzu großen Teil der verfügbaren Zeit m - n
spruch genommen. ...
Ueber diesen Mißständen beginnt man heute last zu unm
sehen, daß den Kongressen' doch nach mannigfacher Richtung hm
große Bedeutung zukommt — zunächst haben manche von ihnen
9->
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr.
auch einen keineswegs zu unterschätzenden agitatorischen Wert: |
der Berliner Kongreß zur Bekämpfung der Tuberkulose als V olks-
krankheit (1899) hat der ganzen Bewegung einen mächtigen _ An¬
stoß gegeben, die Arbeiterversicherungskongresse haben Verständ¬
nis für die Fragen, ja für die Notwendigkeit der Arbeiterveisiche-
rung in weiteren Kreisen von Fachmännern und bei den ma߬
gebendsten Personen mancher Länder erst geweckt. Bann aber ist
die Bedeutung des Sich-persönlich-kennen-lemen, der persönliche
Kontakt zwischen den Gelehrten verschiedener Länder und Na¬
tionen, wie er sich eben nur auf Kongressen einleiten kann,
keineswegs zu unterschätzen. Auch manches Detail hört man,
auf manche fremdländische Einrichtung wird man aufmerksam,
nach denen in der Literatur zu suchen und die dort entsprechend
dargestellt zu finden kaum möglich wäre. Ganz abgesehen davon,
daß man von Vorschriften und Einrichtungen einen ganz anderen
Eindruck gewinnt, wenn man nicht nur den Wortlaut des Ge¬
setzes, sondern auch jene, die an seiner Durchführung mitzu¬
arbeiten haben, kennen gelernt hat.
Aber auch die theoretische Erkenntnis des einzelnen wird
wesentlich gefördert, oft vielleicht weniger durch die öffent¬
liche Aussprache während der Kongreßverhandlungen selbs„, als
vielmehr durch die private Aussprache von auf dem gleicnen
Wissensgebiete Arbeitenden. Manche eigene Beobachtung die
einem ans irgendwelchem Grunde nicht vollkommen verläßlich
schien, gewinnt an Bedeutung, wenn man hört, daß auch andete
Aehnliches erfahren, mancher Zweifel, den man selbst an her¬
gebrachten Meinungen gehegt, wird noch verstärkt, wenn man
andere ebenso zweifeln sieht.
All dies kann nns die Lektüre, auch die der LvongLeh-
Protokolle, nicht bieten und auf all dem beruht, meiner Meinung
nach, die Bedeutung internationaler Kongresse sowohl tur den
einzelnen, als auch für die \\ issenschaft.
Die Schattenseiten des Kongreßwesens entspringen zum Teil
aus der großen Zahl Unberufener, für die ein Kongreß nur der
willkommene Anlaß zu einer Vergnügungsreise auf fremde Kosten
ist. Ihre Zahl trägt allerdings wesentlich zur Tragung der KongieU-
kosten bei, aber doch werden die Kongreßleitungen, wenn sie
den ernsten Charakter, der einer wissenschaftlichen Versammlung
zukommt, wahren wollen, nicht allzu viel Wert auf die gioue
Zahl, auf den Massenbesuch legen dürfen.
Jene Kongresse aber, die nicht werbend für eine bestimmte
Idee auftreten wollen, die nicht die Aufmerksamkeit weiter Ge¬
lehrtenkreise auf ein bestimmtes, bisher wenig bearbeitetes Ge¬
biet lenken wollen, sie werden gut daran tun, von vornherein
den Kreis ihrer Teilnehmer zu beschränken. Man wird auch
manches von dem, was, dem eigentlichen Kongreßzweck fremd,
immer mehr an Ausdehnung zugenommen hat, ciheolich ein
schränken müssen. In erster Linie denke ich da an die vielen
„Empfänge“ bei staatlichen und städtischen Würdenträgern, die
Diners und Soupers; dann aber auch an die unnützen und
lästigen Eröffnungszeremonien, mit denen ein halber Jag von
den drei bis vier Kongreßtagen verbracht wird.
Die i n t er n a t i o n a 1 e A r b e i t e r v er siche r u n s k o n f e r e n. z
in Haag-Scheveningen, 6. bis 8. September 1910.
Die gerade in ernsten Kreisen bemerkbare Abneigung gegen
Massenkongresse war es wohl, die das „Coniile permanent intei-
national des Assurances sociales“ veranlaßte, für dieses' und für
die nächsten Jahre nicht mehr große Kongresse einzuberufen,
wie solche seit 1889 alle zwei bis drei Jahre (1905 in Wien, 1908
in Rom) getagt hatten, sondern nur Konferenzen. Einer Propa¬
ganda bedarf die Idee der Arbeiterversicherung heute kaum
mehr. Auf dein Kongresse in Rom hat selbst diejenige Finge,
die zu den umstrittensten gehörte, die Frage, qb die Kranken¬
versicherung obligatorisch sein solle, insofern© ihre Lösung ge¬
funden, als diejenigen, die die Wortführer in der Bekämpfung
der Zwangsversicherung gewesen waren, sich nun als Anhänger
derselben bekannten. Mabilleiau, der Präsident des Ver¬
bandes französischer freiwilliger Kranken- und Unterstützungs¬
kassen (Federation Nationale de la Mutuality Franchise) und der
bekannte italienische Finanzminister Luzatti, der Schöpfer der
freien Hilfskassen Italiens, erklärtem sich mit Rücksicht darauf,
daß trotz aller Propaganda eine große Anzahl von der Versicherung
dringend bedürftiger Menschen für die Idee gegenseitiger Versiche¬
rung nicht gewonnen werden können, für die Notwendigkeit der
Zwangsversicherung (ohne Zwangskassen).
Was eine „Konferenz“ von einem Kongreß unterscheidet,
ist im wesentlichen der Umstand, daß nicht jeder gegen Zahlung
cies MiMicdsbeitrages teilnehmen kann. Die Sozialversicherungs-
konferenzen sollen Zusammenkünfte von Fachleuten sein, zunächst
von den Mitgliedern der in den einzelnen Ländern gebildeten
nationalen Komitees! für Sozialversicherung und von solchen
Personen, die diese Komitees zur Zulassung empfehlen; vor allem
sollen enger begrenzte Fragen der Arbeiterversicherung hier zur
Beratung kommen.
Die erste solche Konferenz war für den 6.. bis 8. September
nach dem Haag, oder eigentlich nach Scheveningen, das vom
Haag in ca. 20 Minuten mit der Trambahn zu erreichen ist,
einberufen worden. Hauptthemen waren: Der ärztliche Dienst m uer
Versicherung; Versicherung und soziale Hygiene; ferner: Beitrag
des Staates zu den Altersrenten, Versicherung oder Versorgung.
Einen nur geringen Raum nahmen die übrigen Punkte der Tages¬
ordnung: Versicherung der Angestellten und der selbständigen
Arbeiter, Witwen- und Waisenversicherung, Versicherung gegen
Arbeitslosigkeit ein. Die breiteste Erörterung fand der erste Teil
des ersten Punktes der Tagesordnung, die Frage der freien Arzt¬
wahl. Referate zu diesem Thema lagen aus allen Ländern Mittel¬
europas vor u. zw. war in Deutschland und Oesterreich die Ein¬
teilung so getroffen, daß aus beiden Ländern auch die Vertretei
der ärztlichen Organisationen als Referenten fungierten.
Ehe ich auf den Inhalt dieser Referate und der Verhand¬
lungen eingehe, möchte ich nur betonen, daß ich im folgenden
kein getreues Protokoll der Verhandlungen, keine genaue Inhalts¬
angabe der Referate geben will; wer sich für eine solche Dar¬
stellung interessiert, der sei auf die „Oesterreichische Viertel¬
jahresschrift für Gesundheitspflege“ verwiesen, die im letzten Hefte
dieses und im ersten des kommenden Jahres solche von mir ver¬
faßte ausführliche Berichte über die im folgenden besprochenen
Konferenzen und Kongresse 'bringt. Hier will ich nur ein Ge¬
samtbild über Verlauf und Inhalt dieser Veranstaltungen geben
und außerdem das aus den Referaten und Diskussionsbemerkun-
gen hervorheben, was m i r von Wichtigkeit erscheint.
Aus Deutschland referierte Dr. Kaufmann, Präsident des
Reichsversicherungsamtes, über den ärztlichen Dienst in der Unfall-
und Invalidenversicherung. Amtsgerichtsrat Hahn über den ärzt¬
lichen Dienst bei den Krankenkassen.
In einem gemeinsamen Referate vertraten Dr. Mugdan-
Rerlin und Prof. Dr. Lennhoff- Berlin die Ansichten des „Wirt¬
schaftlichen Verbandes der Aerzte Deutschlands“, des „Leipziger
Verbandes.“ Aus Oesterreich referierte Dr. F. Schnitzler-Brünn.
Direktorstellvertreter der Arbeiterunfallversicherungsanstalt für
Mähren und Schlesien und Dr. Gottlieb Pick- Aussig über den
ärztlichen Dienst in der Sozialversicherung. Während uiese^ Re¬
ferate (mit Ausnahme des ersterwähnten) vor allem die Trage
der freien Arztwahl in der Krankenversicherung behandelten,
spielt in den Berichten aus den anderen Ländern — die überhaupt
keine obligatorische Krankenversicherung haben, sondern nur
eine Haftpflicht des Unternehmers für die Betriebsunfälle der
Arbeiter, die zu einer Form der Unfallversicherung führt — die
Frage der freien Arztwahl vor allem in der Unfallversicherung
eine Rolle. So kam es, daß in der Diskussion deutsche (und öster¬
reichische) Redner und die Redner aus anderen Ländern fast
stets1 aneinander vorbei sprachen; die heftigste Debatte aber ent¬
wickelte sich zwischen den deutschen Rednern, den \ ertretern
der verschiedenen Anschauungen und griff in diese Debatte nur
selten ein Redner einer anderen Nation ein. -
Wir wollen zunächst über die Verhandlungen über freie
Arztwahl in der Krankenversicherung berichten und sei
zuerst kurz auf die vorliegenden Referate eingegangen.
Hahn -Berlin referiert in objektiver Weise über den ärzt¬
lichen Dienst in der deutschen Krankenversicherung und berück¬
sichtigt ganz besonders den gegenwärtig dem Reichstage vor¬
liegenden Entwurf einer Reichsversicherungsordnung: „Als völlig
einwandfrei muß man den Grundgedanken anerkennen : daß den
Kassen nicht ein bestimmtes System der ärztlichen Versorgung
aufgedrängt werden darf, daß vielmehr die einzelne Kasse das
ihren besonderen Verhältnissen am besten entsprechende^ be¬
stem zu wählen hat und daß die Bedingungen zwischen der Kasse
und den Aerzten nach angemessenen und billigen Grundsätzen
frei zu vereinbaren sind.“
Schnitzler-Brünn bringt in seinem ausführlichen Re-
f orate interessante Daten über die Zunahme der Zahl der Aerzte,
ihre Verteilung auf Stadt und Land und einige Angaben über
kassen, ärztliche Honorarverhältnisse. Bei Besprechung des So
znil Versicherungsentwurfes billigt er es, daß derselbe die beiden
Parteien, Kassen und Aerzte, in der Vereinbarung über die Wahl
des Arztsystems, in der Vereinbarung der beiderseitigen Rechte
und Pflichten nicht beschränkt, aber eine vermittelnde Einwirkung
der politischen Verwaltung zur Anbahnung solcher Vereinbarun¬
gen, sowie die Entscheidung von Streitfällen aus dem Vertrags-
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
23
Verhältnis, unter der sachkundigen Mitwirkung von Vertretern
der Kassen und Aerzte vorsieht.
Die beiden ärztlichen deutschen Referenten Mugdan und
Len n hoff besprechen ebenfalls sowohl die bestehenden Ver¬
hältnisse, als auch die Bestimmungen des Entwurfes; sie sehen
es als einen Fortschritt an, daß der letztere den Kassen das Recht
zu prophylaktisch - hygienischer Tätigkeit gibt und verweisen auf
das, was auf diesem Gebiete einzelne Kassen, darunter beson¬
ders die Wiener Krankenkassen, geleistet haben. Sie erörtern die
verschiedenen Kassenarztsysteme, schildern den von beiden Seiten
mit allen, auch recht bedenklichen Mitteln geführten Kampf; sie
fordern die gesetzliche obligatorische Einführung der freien Arzt¬
wahl, von der nur unter besonderen Umständen Ausnahmen
zulässig sein sollen. Wird diese obligatorische Einführung nicht
gewährt, dann bleibt ein dauernder Kriegszustand bestehen.
Auf wesentlich anderem Standpunkt steht der österreichische
Arzt Dr. Pick. Auch er schildert die Organisation des kassenärzt¬
lichen Dienstes und tritt für eine Aenderung des heute bestehen¬
den Zustandes ein. Auch er führt eine Reihe von Argumenten
zugunsten der freien Arztwahl an, die ihm als das einzig rich¬
tige System erscheint. Aber für ihn ist die freie Arztwahl nicht
conditio sine qua non. Als solche erscheint ihm, daß das ge¬
wählte System von dem guten Willen und dem gegenseitigen
Vertrauen beider vertragschließender Teile getragen und daß dem
Arzte in seinem Verhältnis zum Kassenvorstand eine standes¬
gemäße, gegen Willkür geschützte Stellung gesichert werde.
Die Debatte, der diese Referate teilweise zur Grundlage
dienten, ließ an Lebhaftigkeit nichts zu wünschen übrig. Zu
einem praktischen Ergebnisse, zur Gewinnung neuer Gesichts¬
punkte führte sie natürlich nicht. Sie bedeutet aber, nach dem
Eindruck, den die meisten Anwesenden empfingen, eine taktische
Niederlage des Leipziger Verbandes. Es zeigte sich, daß der von
ihm vertretene Standpunkt von allen Seiten Zurückweisung
findet, daß die Aerzte heute ganz isoliert stehen. Wenn einer
der Wortführer des Verbandes, indem er diese Tatsachen kon¬
statiert, sie als Beweis dafür anführt, wie recht die Gründer
des Leipziger Verbandes hatten, da sie den Aerzten rieten, sich
auf ihre eigene Kraft zu verlassen, so kann man dagegen sagen,
tlaß dieser Rat zwar gewiß gut war, daß aber diese Isolierung
das Bauen auf eigene Kraft muß ja eine solche Isolierung
weder zur Voraussetzung noch zur Folge haben - eine Folge
der Kampfesziele und der Kampfestaktik des Leipziger Verban¬
des ist.
Nicht nur, daß die Leiter der beiden großen Kassen verbände,
der Sozialdemokrat Fraeßdorf, als Leiter des Verbandes
deutscher Ortskrankenkassen und der in Arbeiterkreisen be¬
rüchtigte Führer von Arbeitgeberorganisationein, Dr. Guggen¬
heim er, im Namen des Verbandes deutscher ßetriebskranken-
kassen, sich heftig gegen die Forderung der obligatorischen freien
Arztwahl und gegen die Ausführungen der Vertreter des Leipziger
Verbandes wandten; auch alle deutschen Fachmänner, die an
diesen Fragen nicht unmittelbar beteiligten Theoretiker tier Ar¬
beiterversicherung, nahmen zwar in milderer Form, aber ebenso
entschieden Stellung gegen die Forderungen des Leipziger Ver¬
bandes.
In diesem Sinne sprach Dr. Freund, der Vorsitzende
der Lebensversicherungsanstalt Berlin (Invalidenversicherung),
Dr. G. Zacher, Direktor im kaiserlichen statistischen Amt, einer
der angesehensten Fachmänner in Fragen der Arbeitervcrsiche-
rung, der statistisches Material zur Arztfragei beibrachte, Pro¬
fessor AI a nes, Generalsekretär des Deutschen Veremes für Ver-
sic heru ngsw issenschaft, der es als einen Mißgriff bezeichnete,
daß medizinische Professorenkollegien der Universitäten in dieser
wirtschaftlichen Frage das Wort ergriffen haben. Außer den bisher
erwähnten kam eine große Zahl von Rednern aus den beiden
Lagern: Krankenkassen und Leipziger Verband, sowie Vertreter
des Reichs verband es deutscher Aerzte, einer ca. -200 Mitglieder
zählenden G egen organisation des Leipziger Verbandes (ca. 23.000
Mitglieder) zum Worte.
Von Interesse waren die Ausführungen Pollenders,
des Vorsitzenden der Ortskrankenkasse Leipzig. Er erklärt, daß
sich in der von ihm geleiteten Krankenkasse die freie Arzt¬
wahl voll bewährt habe - auch in it freier Arztwahl ist es möglich,
relativ Bestes für die Versicherten zu leisten — aber auch er
spricht sich gegen eine generelle Lösung der Arztfrage aus, ent¬
scheidend für das Arztsystem müssen die lokalen Verhältnisse
und die besonderen Verhältnisse der Kasse sein.
Dr. Pick- Aussig trat in der Debatte ebenfalls für gesetz¬
liche Gleichberechtigung der Systeme ein, notwendig sei vor allem
die Sicherung der Vertragsverhältnisse.
Ich < 'selbst bin der Ansicht — und gab dieser
auch auf der Konferenz Ausdruck — daß die Frage,
welchem Arztsystem der Vorzug zu geben sei, nur von
Fall zu Fall, je nach Maßgabe der besonderen Verhält¬
nisse der Krankenkasse und ihrer Mitglieder entschieden werden
könne. Jedes System hat seine Vorzüge und seine Schatten
seiten, jedes braucht deshalb gewisse Korrektivmittel. Benötigt
das System der freien Arztwahl eine besonders strenge Kon¬
trolle, damit Polypragmasie und allzu großes Entgegenkommen
der Aerzte gegen die Wünsche der Patienten vermieden werden,
so ist heim System fixierter Kassenärzte wieder die entgegen¬
gesetzte Gefahr da: daß die Kranken von den Aerzten nicht in ent¬
sprechend sorgfältiger Weise behandelt werden. Dieser Gefahr kann
nur dadurch und nur dann entgegengewirkt werden, wenn die
Kassenmitglieder selbst entscheidenden Einfluß auf die Kassen¬
verwaltung haben. In einer Beziehung aber ist das System
fixierter Kassenärzte der freien Arztwahl überlegen. Eine prophy¬
laktische und soziajhygienische Tätigkeit werden die Kassen und
ihre Aerzte viel leichter dann entfalten können, wenn von einer
beschränkten Anzahl von Aerzten jeder viele oder einer alle
Kranke eines Berufes oder eines Betriebes sieht und wenn so die
einzelnen Aerzte Gelegenheit haben, sich genauere Kenntnisse
der einschlägigen Verhältnisse und durch ausgedehnte Praxis
in Arbeiterkreisen überhaupt Einblick in die Lebensverhältnisse
der Arbeiterschaft zu verschaffen. Wenn dasselbe Krankenmaterial
bei freier Arztwahl sich auf viele Aerzte verteilt, wird der ein¬
zelne nicht die Gelegenheit haben, «ich derartige Kenntnisse
und Erfahrungen anzueignen und es wird so niemand imstande
sein, auf bestehende Mißstände hinzuweisen und Alittel zu ihrer
Abhilfe anzugeben.
Auch noch am Vormittag des' zweiten Tages ging die De¬
batte vor allem um die freie Arztwahl, obwohl „Versicherung
und soziale Hygiene“ auf der Tagesordnung standen. Unter¬
brochen wurde sie nur durch die Ausführungen einiger Redner
über den Unterricht in sozialer Medizin, über die wir noch
später kurz berichten werden.
Nach diesem kurzen Zwischenspiel aber ging die Debatte
über die freie Arztwahl wieder los, um dann mit einem Mißklang
zu schließen.
Gerade bei dieser letzten Auseinandersetzung trat deutlich
vor Augen, wozu Kampfmethode und Kampfmittel des Leipziger
Verbandes führen. Wenn Männer wie Lennhoff, die ja nicht auf¬
hören, die Wichtigkeit der Sozialversicherung für das Volks¬
wohl zu betonen, auf der anderen Seite in der heftigsten Weise
die Schädlichkeit der Sozialversicherung in ihrer jetzigen Gestalt
hervorheben, da ist doch — besonders, wenn von der großen
Mehrzahl der Wortführer nur immer über diese Schädlichkeiten
gesprochen wird - es schließlich nicht zu verwundern, wenn
erst einzelne und vielleicht bald die Masse der Aerzte, nur mehr
diese Schädigungen durch die Sozialversicherung sieht und an
den großen Nutzen den sie der Masse des Volkes und auch den
Aerzten selbst gebracht hat und bringt, vergißt. Es ist nur ein
kleiner Schritt von dem Worte Lennhoffs, zu dem er sich
einmal in der Hitze des Gefechtes hinreißen ließ: „Wir können
die Sozialversicherung zur Farce machen“, zu dem „wir werden
sie zur Farce machen“, das ihm seine Gegner in den Mund
gelegt und zu dem „Wenn einmal von der sozialen Fürsorge
die Fetzen fliegen und die Scherben klirren“, das ein anderer
geschrieben.
Prof. B i o n d i - Siena, einer der wenigen Nichtdeutschen die
in dieser Debatte das Wort ergriffen, führte mit Wärme aus, wie
verderblich es sei, einen Gegensatz zu schaffen zwischen den
Interessen der Aerzte und den Interessen des Volkes.
Wenn man so manche Auswüchse in diesem wirtschaftlichen
Kampfe sieht, so manche Folgeerscheinungen desselben beob¬
achtet, dann muß man sich wohl die Frage vorlegen, ob es für
einen Stand wie den A er z test and nützlich ist, wenn seinem
Angehörigen immer wieder und wieder in zahllosen Vereinen
und Zeitschriften gesagt wird, daß' sie ihre wirtschaftlichen Inter¬
essen auf das energischeste und mit dep äußersten Mitteln wahren
müssen? Ob dadurch das moralische Niveau des Standes und
sein Ansehen in der Bevölkerung nicht schwer geschädigt werden
kann? Aerzte sind eben weder Arbeiter, noch industrielle Unter¬
nehmer, noch Landwirte — so notwendig auch die wirtschaft¬
liche Organisation der Aerzte, die Vertretung der wirtschaftlichen
Interessen des Aerztestandes sind, so schneidig im gegebenen Falle
vorgegangen werden muß — ihre Wortführer im wirtschaftlichen
Kampfe sollten sich doch stets vor Äugen halten, daß un¬
gleich jenen Klassen, und Berufen — die Aerzte innerhalb der
Gesamtheit des Volkes oder Staates eine andere Rolle als nur
eine wirtschaftliche zu spielen haben.
2t
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
Daran scheint, man in Deutschland manchmal zu veigessen ,
bei uns in Oesterreich tobt — bis heute wenigstens der
Kampf noch nicht so heftig. .
Da die Frage der freien Arztwahl in der Krankenversiche¬
rung für die meisten anderen Länder nur geringe Bedeutung
hat, ist es begreiflich, daß die Angehörigen der übngen Na¬
tionen über den großen Umfang, den eine Debatte über eine last
ausschließlich deutsche Angelegenheit angenommen hatte, keines¬
wegs erfreut waren; und man kann den Wunsch, dem der or-
sitzende in seinem Schlußworte Ausdruck gab, daß dieser Gegen-
stand künftig auf einer deutschen, nicht auf einer internationalen
Konferenz behandelt werde, vollkommen begreiflich finden.
Franzosen, Belgier und Holländer, die zu diesem 1 unkte
der Tagesordnung das Wort ergriffen, sprachen last stets über
den ärztlichen Dienst in der Unfall- oder eigentlich in der Haft¬
pflichtversicherung. , •
In Frankreich, Belgien, Holland besteht nämlich keinerlei
Gesetz, das die Arbeitgeber verpflichtet, die bei ihnen beschäf¬
tigten Arbeiter bei einer bestimmten Anstalt oder auch nur ubei-
liaupt gegen Unfall zu versichern. Die Arbeiter haben bei Be¬
triebsunfällen einen rechtlichen Anspruch an den Unternehmer
auf Bezahlung eines Krankengeldes und der Arzt- und Apo¬
thekerkosten (meist nur in einem bestimmten Umfange bei vor¬
übergehender und weiter einer Rente bei dauernder, eil weiser
oder vollständiger Erwerbsunfähigkeit. Der Unternehmer kann
dies Risiko entweder selbst tragen oder sich gegen dieses Risiko
seine Arbeiter gegen Unfälle - versichern u zw. ausschließlich
bei privaten Versicherungsgesellschaften (Belgien, Frankreich),
bei privaten Gesellschaften oder einer staatlichen Anstalt '. Holland).
Welche Aerzte sollen nun die Verunfallten behandeln und
begutachten ? Das belgische Gesetz bestimmt, daß wenn der
Unternehmer auf seine Kosten einen ärztlichen Dienst einge¬
richtet hat, den Arbeitern die ihnen andernfalls zustehende freie
\rztwahl nicht zukommt. Die Industriellen haben von dieser
Bestimmung reichlich Gebrauch gemacht und soll der so ge¬
schaffene ärztliche Dienst nach dem vorliegenden Be¬
richte zur Zufriedenheit funktionieren. Aber Berichterstatter
auf der Konferenz waren der Direktor und der Chefarzt der Ver¬
sicherungskasse der Textilindustriellen und auch sie Können
nicht umhin, darauf hinzuweisen, daß von gewissen Aerztegruppen
und Arbeitervereinen die organisierte freie Arztwahl verlangt
wird und daß gesetzliche Maßregeln zur Kontrolle der ärztlichen
Behandlung bereits in Anregung gebracht wurden.
Ganz im Gegensatz zu den Bestimmungen des belgischen
Gesetzes stehen die des französischen. Dieses bestimmt ausdrück¬
lich, daß dem Verunfallten stets die Wahl seines Arztes zu¬
steht und enthält Bestimmungen, die den Arbeiter davor schützen
sollen, daß ihm von dem Unternehmer ein bestimmter Arzt,
aufgedrängt werde. Die Unternehmer haben die Kosten der ärzt¬
lichen Behandlung nach einem vom Minister aufgestellten I am
zu bezahlen. , ... ,T , ,,
lieber den ärztlichen Dienst in der französischen Unfall¬
versicherung. liegt ein Bericht von Mayen', dem Direktor einer
privaten Versicherungsgesellschaft, vor. Er beklagt sich bitter
über die Mängel des Systems, die Mängel der Kontrolle und nie
Unzweckmäßigkeit des ministeriellen Tarifs.
Um diese letztere zu mildern und die Streitigkeiten zwischen
Aerzten und Versicherungsgesellschaften zu verringern, haben
einzelne Aerzteorganisationen mit einem Verband von \ ersiche-
rungsgesellsc'haften sich über die Schaffung eines Schiedsgerichtes
geeinigt; über die Erfolge und die Tätigkeit dieser berichtet
einer ihrer Präsidenten, der Vertreter dieser Versicherungsgesell¬
schaften und eines ihrer ärztlichen Mitglieder. Auch hier aber
ebenso wie vielleicht in Belgien — geben die Berichte und Ver¬
handlungen der Konferenz kein richtigeis Bild der bestehenden
Verhältnisse und Anschauungen. Lennhoff hat in seiner Zeit¬
schrift (Halbmonatsschrift für soziale Hygiene und Medizin,
21. Juli 1910) zuerst dem Auslande eine Darstellung der liier be¬
stehenden Gegensätze, des erbitterten Kampfes, der von den Ar¬
beitern und Aerzten — oder wenigstens Gruppen derselben— -
gegen die Uebergriffe der Versicherungsgesellschaften geführt wird,
gegebe^ _ wj^ wjr hier nur kurz ausführen möchten —
nur begreiflich, daß' -- wenn maü in der Unfallversicherung die
materiellen Interessen beider Teile : des Arbeiters, der eine mög¬
lichst hohe Rente erhalten will, und der die Versicherung als
Geschäft betreibenden Aktiengesellschaft, die eine möglichst ge¬
ringe Rente zahlen will, unvermittelt aufeinanderplatzen läßt und
außerdem noch die Streitfälle auf den komplizierten Veg des
gewöhnlichen Rechtes verweist — sich daraus die unerquick¬
lichsten Kämpfe entwickeln müssen. Daß die wirtschaftlich
weit mächtigeren Versicherungsgesellschaften dabei leichter im¬
stande sind, das Recht zu ihren Gunsten zu beugen (durch Aus¬
nützung der Lücken des Gesetzes, durch wirtschaftlichen Druck
auf Arbeiter und Aerzte), liegt wohl auf der Hand. Die Leie
Arztwahlfrage ist liier eine ganz andere als m der Kranken¬
versicherung. denn es sind die Interessengegensätze zwischen
Kranken und Krankenkassenverwaltung lange nicht so großes
wie zwischen Verunfallten und Unfallversicherungsanstalt und
dann haben auch — abgesehen von einer Anzahl von Betriebs
krankenkässen — die versicherten Arbeiter ein gewichtiges Wort
in der Kassenverwaltung und bei der Anstellung der Aerzte mit¬
zusprechen, während die Verwaltungen jener privaten /eisiclu-
rüngsgesellschaften von den versicherten Arbeitern vollkommen
unabhängig, von den Aktionären und Unternehmern abhängig sind
und nur Aerzte brauchen können, die das finanzielle. Interesse
der Versicherungsgesellschaft weitgehend wahren. Bei solchem
Stande der Versicherung erscheint die freie Arztwahl notwendig,
aber auch sie kann — und das zeigt eben das französische Bei¬
spiel nicht zu befriedigender Gestaltung der Verhältnisse führen.
Eine solche kann nur erreicht werden durch Ausschluß aller auf
Gewinn berechneten Versicherungsanstalten von der obligatorischen
Arbeiterversichemng und durch Durchführung dieser Versicne-
rung durch öffentlich-rechtliche Versicherungsinstitute, aut deren
Gebarung neben den Unternehmern auch die Versicherten und
die Staatsverwaltung einen weitgehenden Einfluß haben. Dies ist
in Oesterreich bei den Arbeiter-Unfallversicherungsanstalten der
Fall. Die Einrichtung der deutschen Berufsgenossenschaften ent¬
spricht schon nicht diesen Anforderungen, doch ist wenigstens
bei den Schiedsgerichten den Versicherten und der .Staatsver¬
waltung ein gewisser Einfluß gewahrt. Ist das Versicherungs¬
wesen sö geregelt, dann scheint uns gerade in der Unfallversiche¬
rung die freie Arztwahl wenig am Platze, gerade hier ist es
von größter Wichtigkeit, daß baldmöglichst eine zweckmäßige
Behandlung durch spezialistisch geschulte Aerzte .stattfindet und
in Chirurgie und Augenheilkunde kommt es weit weniger aut
das „persönliche Vertrauen“ des Kranken zürn Arzte als aut
dessen gute Ausbildung an und über diese sich ein Urteil zu
bilden, sind die Leitungen der Versicherungsanstalten weit mehr
imstande, als die einzelnen Verunfallten.
In Deutschland ist, wie hier noch kurz erwähnt sei, den
Trägern der Unfallversicherung, den Berufsgenossenschaften, ein
weitreichender Einfluß auf die Behandlung der Unfallverletzten
gegeben worden. Die Begutachtung der Verletzten erfolgt durch
Vertrauensärzte der Berufsgenossenschaften doch muß außei
im Falle der Zuerkennung der Vollrente — das Gutachten des
behandelnden Arztes gehört werden. Daraus', daß den Versicherten
selbst auf die Verwaltung der Berufsgenossenschaften kein Li
fluß gewahrt ist (sondern nur auf die Schiedsgerichte), erklärt
s wohl zum Teil das Mißtrauen der Arbeiter gegen d.ese
(nicht auf Gewinn berechneten) Institute und ihre Anordnungen.
In Oesterreich steht den Unfallversicherungsanstalten deren Vor¬
stand zu gleichen Teilen aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern
und vom Ministerium ernannten Fachleuten besteht, derzeit Ein¬
fluß auf die Heilbehandlung überhaupt nicht zu, die Beaut-
achtung erfolgt zum großen Teile durch von der Anstalt .un¬
bestellte Aerzte. Die schweren Nachteile, die. sich aus dem Feh e
mies Einflusses der Anstalten auf die Heilbehandlung ergeben
haben, sucht der Sozialversicherungsentwurf zu beheben indem
er _. allerdings in unzureichender Weise — den Anstalten (las
Recht auf Eingreifen in das Heilverfahren gibt. Die Leitung dei
Anstalten soll künftig zu zwei Drittel aus Arbeitgebern zu einem
Drittel aus Arbeitnehmern bestehen.
Eine interessante Einrichtung gerade in bezug auf Rege¬
lung des ärztlichen Dienstes hat die holländische Gesetzgebung
betroffen und scheint sie noch weiter ausbauen zu wolle '
sehen dem haftpflichtigen Unternehmer ^d dem veranfa l en
Arbeiter steht die „Reichsversicherungshank . Sie zahlt, die Renten
aim ihre Aerzte überwachen die Behandlung, begutachten den
Grad der Erwerbsunfähigkeit. Die Unternehmer können weh bei
dieser Reichsversicherungsbank versichern, sie können sich abe
dami begnügen, ohne Versicherung ihr direkt die Ausgaben fm
Renten ln eleeteen. oäer eich bei
Gesellschaft versichern, die dann gegenüber der ^eichsversiche
rungsbank die Ersatzpflicht hat. Dem Verunfallten ^ht (lie fr^
\T7twMhl unter ienen Aerzten zu, die sich in die Liste der
Reichs versicherungsbank aufnehmen Arz\ cfoeh
nähme in diese Liste hat jeder zur Praxis berechtigte
hat die Bank das Recht, einen Arzt aus -lei Liste zu Miemhc n.
Dem Arzte steht der Rekurs an den Ministei offen. Die Be ln
gungen und Verpflichtungen sind zwischen der Organisation der
Aerzte und der Bank vereinbart worden.
II UV/l '_/ J
Das Land ist in zwölf
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Distrikte geteilt, in deren jedem ein Kontrollarzt funktioniert.
Dieser darf selbst keinerlei Praxis ausüben,; er hat die Behaiul-
lung der Verunfallten zu überwachen, ec kann Zuziehung eines
Spezralarztes oder die Ueberführung ins Spital verlangen, er gibt
die Vollmacht zur Einleitung medico -mechanischer Behandlung;
über seinen Vorschlag kann die Leitung der Bank bestimmen,
daß der Kranke sich von einem bestimmten Arzte behandeln
lasse. Auch die Begutachtung der Verunfallten obliegt dem
Konirollarzte.
Bei diesem Verfahren haben sich einzelne Mi ßs tan de er¬
go Iren ; der eine Berichterstatter, Dr. Sehre ve, der General¬
sekretär der holländischen Aerzteven inigung, wünscht Pauschal¬
bezahlung der Aerzte statt Bezahlung nach der einzelnen Visite
und Verschärfung der Kontrollmaßregeln der Bank, 'besonders
in der ersten Zeit nach dem Unfall. Der zweite Referent, van
Trooyen, Kontrollarzt der Reichsversicherungsbank, verlangt
Einschränkung der freien Arztwahl zugunsten einer Behandlung
durch spezia listisch geschulte Aerzte. Er verlangt weiter, daß. die
Kontrollürzte — um auch nach außen vollkommen unabhängig
zu erscheinen - vom Staate angestellt und direkt dem Ministerium
unterstellt werden.
Kehren wir nach dieser Abschweifung, die auf die der
Konferenz vorliegenden Berichte und einige Diskussionsredner
Bezug genommen, zu den Verhandlungen der Konferenz wieder
zurück, so hätten wir, wenn wir von dem, was nur für den
Volkswirtschaftler von Interesse, absehen, nur noch zu be¬
richten, daß eine Reihe von Referenten (Kaufmann-Berlin,
Schnitzler-Brünn u. a.) die Notwendigkeit des Unterrichtes
aus sozialer Medizin an den Universitäten betonten. [Jeher die
Art dieses Unterrichtes legte Priv.-Doz. Kaufmann- Zürich ein
Referat vor, in dem er vor allem die Notwendigkeit des Unter¬
richtes in der Begutachtung für Zwecke der Sozialversicherung
betonte. In der Diskussion legte ich gegenüber Kaufmann dar,
daß sich der Unterricht an den Universitäten nicht nur auf die
soziale Versicherungsmedizin beschränken dürfe, daß nicht nur
den Anforderungen der Praxis Rechnung zu tragen sei, sondern auch
theoretisches Studium gepflegt werden müsse. Es müsse das ganze
große Gebiet der sozialen Medizin Berücksichtigung finden und
insbesondere müßten durch Abhaltung von Seminaren - nach
der Art der an den juridischen und philosophischen Fakultäten
üblichen — den Aerzten und Studenten Gelegenheit gegeben
werden, sich die Arbeitsmethoden der sozialen Medizin anzu-
' eignen. Lennhoff und Peyser erklärten, daß. ein Unterricht,
in dem von mir geschilderten Umfange wünschenswert sei und
verweisen auf die Verdienste, die sich der Leipziger \ er band
durch die Abhaltung von Kursen auf dem Gebiete der sozialen
Medizin erworben habe.
♦
Einen der Nachmittage, in dem ein mich wenig interessieren¬
des Thema verhandelt wurde, benützten wir (meine Frau und ich)
zu einem Ausflug nach Amsterdam; Dr. Heijermans, Privat¬
dozent für Gewerbekrankheiten an der Universität, machte in liebens¬
würdigster Weise den Führer bei Besichtigung zweier Diamant
Schleifereien. Die Diamanten werden zunächst gespalten, wo¬
bei es die Kunst des Spalters ist, bei möglichst geringem Verlust
an Material die Verunreinigungen, winzige schwarze Punkte, aus
dom Steine zu entfernen und zugleich den verbleibenden reinen
Stücken eine zur Weiterverarbeitung passende Gestalt zu geben.
Den zur weiteren Verarbeitung bestimmten Stücken wird zunächst
durch Bearbeiten mit anderen Diamanten eine rundliche Gestalt ge¬
geben. Bei all diesen Arbeiten wird der Diamant in einem eigen¬
artigen Zement festgekittet. Soweit alle diese Arbeiten von Hand
gemacht werden, sind sie sehr anstrengend, führen zu starker
Entwicklung der Fingermuskulatur, besonders des Daumenballens
und zu charakteristischer Deformitäten- und Schwielenbildung an
den Fingern. Die in beschriebener Art vorbereiteten Diamanten
werden nun geschliffen : In einer kupfernen, mit einem Stiel ver¬
sehenen eichelbecherförmigen Kappe sitzt ein wie eine Eichel
geformtes Bleistück; dieses wird an einer Gasflamme etwas er¬
wärmt und in seine Spitze der winzige Diamantsplitter einge¬
drückt u. zw. in der Art, daß die zu schleifende Fläche die rich¬
tige Lage erhält; diese Eicheln nun, die an der Spitze den
Diamant tragen, werden dann in eine Vorrichtung gesteckt, durch
die sie auf eine um eine vertikale Achse rotierende gußeiserne
Platte aufgedrückt werden. Als eigentliches Schleifmittel dient
in Oel verriebener Diamantstaub (wie er bei den früheren Ar¬
beiten sich entwickelt), der auf die Scheiben aufgetragen wird.
Die Fertigkeit eines Arbeiters besteht im richtigen Einsetzen
des Diamanten in die Bleimasse, sowie im richtigen Aufsetzen
auf die Drehscheibe, wobei in Betracht zu ziehen ist, daß der
Stein nur nach einer bestimmten Richtung sich schleifen läßt.
Man hat sich bemüht, die Verwendung des Rleies überflüssig
zu machen und so das Entstehen von Bleivergiftung zu verhüten ;
es wurde eine Vorrichtung konstruiert, die den Diamanten mittels
eines Schlüssels einspannt; diese Vorrichtung ist für große Steine
in Verwendung, für kleinere scheint sie nicht geeignet.
In Amsterdam sind ca. 9000 Diamantschleifer beschäftigt,
von denen zwei Drittel Juden sind. Die Arbeiter sind sehr gut
organisiert, die Löhne betragen in den meisten Kategorien 30
bis 50 fl. wöchentlich, die Spalter verdienen 100 bis 150 fl
in der Woche.
Aber auch in dieses so hochqualifizierte Handwerk
man denke nur an die zahllosen winzigen Facetten eines Steines
dringt die Maschine. Das Spalten, und in größerem Umfange
schon das Abrunden des gespaltenen Steines, geschieht durch
Maschinen. Der erste von uns besichtigte Betrieb ist ein großes,
schön eingerichtetes, modernes Fabriksgebäude, mit hohen, hellen
Räumen, das seinen Arbeitern reichlich Licht und Luft und alle
jene Einrichtungen bietet, die große, gut eingerichtete Betriebe
überhaupt bieten können. Der zweite Betrieb, den ich ebenfalls
durch die Liebenswürdigkeit des Priv.-Doz. Heijermans zu
sehen Gelegenheit hatte, war ein Kleinbetrieb, im letzten Stockwerk
eines alten Hauses gelegen, der nur über eine unglaublich -enge
und schlechte Holztreppe zu erreichen war. Die Arbeitsräume
nicht sehr hell und recht unsauber.
*
Nach Schluß der Konferenz besichtigten die Teilnehmer
an derselben über Einladung der Rotterdamec Handelskammer
den Hafen von Rotterdam. Auf einem mittelgroßen Flußdampfer,
der uns zuerst ein Stück stromabwärts geführt hatte, um uns
den Anblick des Meeres zu bieten, ging es dann stromaufwärts
gegen Rotterdam zu. Zunächst in den noch in Entstehung be¬
griffenen „Waalhafen“. Ein ungeheures Stück Land soll da,
auf Kosten der Stadt Rotterdam in einigen Jahren in einen Hafen
umgewandelt werden; große Baggermaschinen sind in eifriger
Arbeit; dann ging es weiter stromaufwärts an einer Unzahl großer
und kleiner Schiffe vorbei in den Maashafen. Die Maschine
unseres Schiffes wurde abgestellt und wir ins Schlepptau eines
kleinen Dampfbootes genommen, vor uns fuhr ein Polizeiboot,
das für die Durchfahrt Platz schuf. — So hatten wir Gelegenheit,
das Ein- und Ausladen der Schiffe, vor allem der gewaltigen
Getreideschiffe, aus nächster Nähe zu beobachten. Auf alte und
neue Weise sahen wir solche Schiffe entleert werden. Bis vor
wenigen Jahren erfolgte das Ausladen hoch ausschließlich in der
Art, daß aus dem Schiffsraum ein dort (von Hand) mit Ge¬
treide angefüllter Korb mittels Kran heraufgewunden wurde,
auf Deck wurde das Getreide manchmal noch nach einer Zwi¬
schenstation in einem anderen Gefäße — in einen Sack gefüllt
und dieser dann am oberen Ende einer Rutsche entleert ; über
diese Rutsche läuft das Getreide — kleine Mengen in kleinen
Zwischenräumen — dann in das darunterstehende Schleppschiff,
auf dem es weiter stromaufwärts geführt wird. Auf mehreren
Schiffen sahen wir noch in dieser Art die Entleerung vor sich
gehen, auf anderen aber erfolgte die Entleerung mittels Elevator.
Ein auf einem Schiff aufmontierter Elevator wird an das Getreide¬
schiff herangefahren, der Elevator hat mehrere große Arme
(Röhren), einer von diesen wird in den Schiffsbauch versenkt,
das Getreide wird nun durch Luftverdünnung angesaugt, bis zur
Höhe des Elevators gehoben und läuft dann, durch eine andere
Röhre in kontinuierlichem dicken Strahle in den Schlepper. Daß
vor mehreren Jahren die Einführung dieser Elevatoren unter den
Hafenarbeitern die größte Aufregung hervorrief, ist wohl nur
begreiflich. Die Maschine verrichtet hier die Arbeit zahlreicher
Menschen in einem Bruchteil der Zeit, den diese früher dazu
nötig hatten.
Die schöne Art der Gastfreundschaft, die die Rotteiclamoi
Handelskammer übte, indem sie uns Gelegenheit gab, den Hafen
genauer und gründlicher zu sehen, als1 es einem einzelnen sonst
trotz aller Mühe möglich gewesen wäre, wird wohl allen Ted-
nehmem unvergeßlich bleiben. Aber auch aller jener hoiLindi-
sehen Teilnehmer an der Fahrt muß' man dankbar gedenken,
die uns unermüdlich Aufklärung über das, was wir sahen, gaben
und uns gar vieles interessante über die holländischen eigen¬
artigen Einrichtungen berichteten. Ich möchte hier besondeis
Herrn Dr. van Iierwerdens gedenken, des Kontrollarztes der
Reichsversicherungsbank in Rotterdam, dem ich die Kenntnis
mancher Details über die holländische Unfallversicherungsgosetz-
gebung und die Stellung der Kontrollärzte verdanke. Auch er¬
möglichte er mir die Besichtigung einer Rotterdamer B lei weiß -
fabrik, der einzigen in Holland, die noch nach dem allen im-
ländischen Verfahren Bleistreifen werden in irdenen lopteu
der Einwirkung von Pferdemist ausgesetzt arbeitet. Das so
t
26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. i
gewonnene Blei weiß soll sich für manche Zwecke besonders
gilt eignen. . . .. . '
Noch am Abend desselben Tages waren wir in Brussel, wo
am folgenden Tage die Sitzungen des II. internationalen Kon¬
gresses für Gewerbekrankheiten begannen.
(Schluß folgt.)
Referate.
Arbeiten aus dem Institute zur Erforschung der In¬
fektionskrankheiten in Bern und den wissenschaftlichen
Laboratorien des Schweizer Serum- und Impf Instituts.
Herausgegeben von Dr. VV. Kolie, o. Professor der Hygiene und
Rakteriologie an der Universität Bern.
5. Heft.
Jena 1910, Verlag von Gustav Fischer.
Eine sehr gründliche Arbeit von Y. Shimodaira füllt
das vorliegende Heft und hat den Zweck, exakte experimen¬
telle Beiträge zur Wirkungsweise der Bierschen Stau¬
ungstherapie zu liefern. Auszugsweise wurden die Resultate
dieser Untersuchungen bereits in der Deutschen medizinischen
Wochenschrift 1909 gebracht und nun folgen nach einer histori¬
schen Einleitung die in allen ihren Details beschriebenen Experi¬
mente, aus denen hervorgeht, daß bei der in Rede stehenden
Behandlungsmethode allem Anschein nach die Phagozytose, die
durch Opsonine und bakteriotrope Substanzen verstärkt sein kann,
eine Rolle spielt, wenn auch die beobachtete Phagozytose neben
der Erhöhung de« Gehaltes an Opsoninen und bakteriotropen
Substanzen die Heilwirkung zu erklären nicht vermöchte. Es
läßt sich aber eine auf ein Minimum reduzierte Menge von Kom¬
plementen in der Oedemflüssigkeit eines entzündeten oder mit
Infektionsträgern beladenen Teils des Kaninchenorganismus Nach¬
weisen, während die komplementbindenden Stoffe nicht in ver¬
mehrter Menge an die Oedemflüssigkeit des Stauungsgebietes ab¬
gegeben werden. In diesem erfolgt keine Bakterienvermehrung,
sondern vielmehr ein Zugrundegehen der Infektionsträger. Die
aus ihnen stammenden gelösten Stoffe werden entweder rasch re¬
sorbiert, oder im Stauungsödem völlig zerstört, auch spezifische
Immunagglutinine werden nur in geringer Menge in dieses abge¬
geben. Während nun die Oedemflüssigkeit aus dem gestauten
Gebiete eines normalen Kaninchens in vitro annähernd gleich
bakterizid wirkt wie das Blutserum desselben Tieres, zeigt die
Oedemflüssigkeit aus zuerst infizierten und dann gestauten Teilen
in vitro eine deutliche Herabsetzung des bakteriziden Vermögens
gegenüber dem Blutserum desselben Tieres und auch gegenüber
der Stauungsflüssigkeit eines normalen Kaninchens. Die Heil¬
wirkung der Stauungshyperämie kommt demnach nicht durch
Steigerung einer einzelnen entzündungswidrigen Komponente zu¬
stande, sondern durch die vereinte Aktion aller hier in Betracht
kommenden Momente, wobei die Steigerung der Wirksamkeit des
einzelnen Faktors eine quantitativ oft nur geringe und nur schwer
nachweisbare sein kann. Hierin dürfte, wie Verf. annimmt, auch
der Grund gelegen sein, daß so häufig bei anscheinend völlig
gleichen Verhältnissen und Bedingungen die therapeutische Wir¬
kung der Bierschen Stauung so ungleichmäßig ausfällt.
*
6. Heft.
Kolles einleitender Artikel: Das Institut für Hygiene
und Bakteriologie (Institut zur Erforschung der In¬
fektionskrankheiten) der Universität Bern, bringt eine
historische Darstellung der Entwicklung, sowie die ausführliche
Beschreibung des neuen Institutes, welches nicht allein dem
Unterrichte in Hygiene und Bakteriologie, sondern auch der For¬
schung auf den genannten Gebieten, wie hinsichtlich der
Infektionskrankheiten, ferner der antirabischen Behandlung von
Menschen nach der Pasteurschen Methode, sowie der diagno¬
stischen Untersuchung von Hundeköpfen auf Wut, dann der Her¬
stellung von Diphtherie-, Tetanus-, Meningokokken- und Strepto¬
kokkenserum zu therapeutischen, sowie von Typhus-, Pest- und
Choleraserum zu diagnostischen Zwecken, endlich der Bereitung
von Pest-, Cholera- und Pockenimpfstoff zu dienen hat. Außerdem
werden im Institute sämtliche bakteriologische Untersuchungen
der Kantone vorgenommen. Der mannigfachen Arbeit, welche
in dein Institute zu leisten ist, entspricht auch die räumliche
Ausdehnung desselben und erscheinen Anlage und innere Ein¬
richtung desselben, die Kollo an der Hand von Abbildungen,
bespricht, geradezu mustergültig und den modernsten Anforde¬
rungen entsprechend. Da das Institut aus einem bakteriologischen
Laboratorium der chirurgischen Klinik hervorging, war es zu¬
nächst berufen, diese zu fördern. Darum wählt auch Tavel als
Thema für diese Festnummer die Frage: Lieber den Einfluß
des bakteriologischen Institutes der Universität
Bern auf die Fortschritte der Chirurgie und zeigt,
wie regen Anteil gerade das Berner Institut an der Entwicklung
der Anti- und Asepsis genommen hat. Heller und Rot her¬
mund t berichten über die Verbreitung und Bekämpfung
der Hundswut in der Schweiz während der letzten
zehn Jahre und die Ergebnisse der Schutzimpfung
nach Berichten der Pasteurabteilung. Bei der nicht be¬
sonders hohen Zahl von Impfungen, welche in dem Institute
vorgenommen werden (154 Fälle innerhalb zehn Jahren), be¬
währte sich ganz außerordentlich die von Calmette empfoh¬
lene Konservierung des Impfmateriales in Glyzerin. Eine beson¬
dere Befriedigung gewährt den Leitern dieser Abteilung das Re¬
sultat der Impfungen, welches ihnen gestattet, den Artikel mit den
Worten zu schließen, daß sich die segensreiche Einrichtung zum
Nutzen der Schweiz und ihrer Bewohner, zür Sicherung des Ge¬
sundheitszustandes praktisch bewährt und ihre Aufgabe, die Vei
hütung des Wutausbruches bei verletzten Personen, erfüllt hat.
Von nicht geringerem Interesse ist die Beschreibung und Schil¬
derung der Tätigkeit der Lymphgewinnungsanstalt durch To¬
ni a rk in und Carriere, indem die beiden Autoren die Gelegen¬
heit ergreifen, die Entwicklung des Impfwesens in der Schweiz,
seine Erfolge und den gegenwärtigen Stand desselben zu skizzieren.
Doch dient, wie wir weiter erfahren, die Lymphegewin¬
nungsanstalt des Schweizer Serum- und Impfinsti-
tuts am Institut zur Erforschung der Infektions¬
krankheiten nicht allein praktischen Zwecken, sondern auch
der wissenschaftlichen Forschung, indem daselbst umfangreiche
Untersuchungen über das Vorhandensein von komplementbin-
denden Stoffen im Blute mit Vakzine immunisierter Tiere, ferner
über die Dauer der Immunität bei vakzinierten Kaninchen und
über die Filtrierbarkeit des Vakzinevirus angestellt wurden. Die
ersteren fielen negativ aus, negativ waren auch die Versuche,
durch wiederholte subkutane oder intravenöse Injektion selbst
großer Dosen filtrierter Vakzine Kaninchen gegen die nachträg¬
liche Vakzination refraktär zu machen. Nicht ohne stillen Neid
wird so mancher die Schilderungen von Kolle, Krumb ein und
Scliürmann über die Technik der Immunisierung
größerer Tiere und der Serumgewinnung in den La¬
boratorien des Schweizer Serum- und Impfinstituts
lesen Denn geradezu fürstlich sind die Einrichtungen der herr¬
lichen Räume, welche diesem Zwecke dienen und in denen eine
Fülle zweckdienlicher technischer Neuerungen Aufnahme gefun¬
den haben. Außer Immunsera gegen Diphtherie, Tetanus, Strepto¬
kokken, Pest, Pneumokokken, Meningitis und Dysenterie, werden
hier auch Schutzimpfstoffe gegen Typhus, Pest und Cholera, sowoh
in flüssigem Zustande, als auch trockene, nach der Methode
von Lustig-Galeotti, speziell gegen Pest und Cholera, her¬
gestellt. Es bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung, daß die
Heizungs- und Lüftungsanlage, Warmwasserversor¬
gung, Kühl raum- und Verbrennungsofen, in diesem
Musterinstitute auf der Höhe der modernen Technik stehen. Die
Ausführung der Arbeiten wurde nach Vorschlägen des Geheimen
Regierungsrates Prof. Dr. Rietschel in Berlin, der Zentral¬
heizungsfabrik Bern A.-G. übertragen und erscheinen, wie aus
den Ausführungen von A. A. Beuttef, Direktor des genannten
Unternehmens, hervorgeht, die oft sehr schwierigen und heiklen
Probleme in geradezu glänzender Weise gelöst. Berücksichtigen
wir endlich noch das diesem Hefte beigegebene Verzeichnis der
Arbeiten, welche aus dem Berner Institute zur Erforschung der
Infektionskrankheiten hervorgegangen sind, so gewinnen wir erst
ein vollkommenes Bild der Tätigkeit in den Räumen dieser muster¬
gültigen Anstalt, welche nicht allein praktischen Zwecken zu
dienen berufen ist, sondern auch mit Erfolg die Wissenscha t
zu fördern vermag.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Studien und Fragen zur Entzündungslehre.
Von Dr. Hermann Schridde, a. o. Professor an der Universität
Freiburg i. Br.
.1 e n'aÄ1910, Verlagjvon Gustav Fische r.
Durch eine Reihe von Jahren geführte hämatologische Stu¬
dien, zusammen mit den Ergebnissen eingehender histologischer
Untersuchungen des Entzündungsprozesses1 veranlassen den Ver¬
fasser, seine umfassenden, Kenntnisse und reichen Erfahrungen
auf diesen Gebieten mit Rücksicht auf das noch immer nicht voll¬
ständig gelöste Problem des Wesens der Entzündung in vor¬
liegender Monographie zu hinterlegen. Wenn sich nun auch Verf.
gezwungen sieht, auf Grund seiner eigenen Befunde sich mit den
Ansichten so mancher Forscher in Widerspruch zu setzen, so tut
er dies immer nur nach objektivster Beurteilung und Kritik des
vorliegenden Materiales und scheut sich nicht, einmal selbst ge¬
zogene Schlußfolgerungen unumwunden als nicht mehr richtig
hinzustellen, sobald ihn neue Tatsachen zu einer anderen .An¬
sicht drängen. So sehen wir Schridde, der einst Anhänger
der lokalen Eosinophilie gewesen ist, diesen Standpunkt aufgeben,
ebenso wie er beim Fötus jetzt ein perivaskuläres Vorkommen
von Lymphozyten außerhalb des eigentlichen lymphatischen Ge¬
webes leugnet, dagegen ein reichliches Vorkommen von perivasku¬
lärem myeloischen Gewebe zugibt. Bezüglich der lymphozytären
Zellanhäufung in Entzündungsherden vertritt Schridde jetzt den
Standpunkt, daß sie nur aus emigrierten Lymphozyten sich ent¬
wickle, indem diese Art von Zellen sich an Ort. und Stelle in
hohem Mäße vermehren. Es ist wohl keine Frage, daß Sehr i d d e s
besonders scharfe Beobachtungsgabe ihn in den Stand setzte,
sogar auf dem schon so vielfach bearbeiteten Gebiete der Entzün¬
dung neue Tatsachen aufzufinden, die selbst wieder zu Aenderung
der Fragestellung und damit zu erneuter Arbeit Anlaß gehen. So
bringt Scluiddes Zusammenstellung vielfache Anregung und
wenn auch einzelne von ihm dermalen vertretene Ansichten nicht
ungeteilte Aufnahme finden werden, so birgt die kleine Mono¬
graphie doch so manchen Gedanken in sich, bei dessen Verfolgung
es immer Schriddes Verdienst bleiben wird, ihn zuerst aus¬
gesprochen zu haben.
*
Nouveau traite de medecine et de therapeutique.
Public on fascicules sous la redaction de MM. A. Gilbert, Prof, ä la
Faculte de mödecine de Paris, Mddecin de l’höpital Broussai, Membre
de l’academie de medecine et L. Tlioiuot, Prof, ä la Faculte de medecine
de Paris, Mddecin de Phöpital Laönnec, Meinbre de l’acadenne de medecine.
*
Cancer.
Par P. Meuetrier, Professeur agrögö ä la Faculte de medecine, .Medecin
de l’höpital Teno.
Paris L909, Librairie J. B. Baillere & fits.
Die vorliegende Zusammenstellung unserer Kenntnisse nicht
allein über den Krebs, sondern über die bösartigen Geschwülste
überhaupt, teilt Menetrier in sechs größere Abschnitte, deren
erster einer kurzen historischen Studie, der Charakterisierung
und Definition der malignen Tumoren, gewidmet ist. Sehr inter¬
essant sind dann die Ausführungen über Morphologie und Bio¬
logie der Tumorzelle, ihrer Funktion und sekretorischen Tätig¬
keit. Die degenerativen Veränderungen der Geschwulstelemente
beschreibt Verf. als kolloide, pigmentöse, schleimige, fettige und
hyaline. Bevor Menetrier auf die Versuche der experimentellen
llebcrlragung von Tumoren eingeht, führt er den Leser in die Er¬
gebnisse der chemischen Forschung auf diesem Gebiete ein und
schildert die Resultate der Transplantation' normaler Gewebe. Bei
Beschreibung der lokalen und allgemeinen Ausbreitung maligner
Neubildungen schildert Verf. die Anfangsstadien dieser Prozesse,
den Verlauf des Wachstums der Primärgeschwulst und die Ent¬
wicklung von Metastasen. Uebergehend auf die Allgemeinwir¬
kung bösartiger Tumoren auf den Gesamtorganismus, entwirft
Menetrier ein anschauliches Bild der Veränderungen des Blutes
und des Harnes bei malignen Neoplasmen und kommt dann:
auf die Kachexie zu sprechen. Eine sehr klare Schilderung des
klinischen Bildes und der für die Diagnose der bösartigen Ge¬
schwülste in Betracht kommenden Momente bildet den Schluß
dieses zweiten, für Praktiker und Theoretiker gleich lesenswerten
Abschnittes. In dem nun folgenden speziellen Teile geht Verf. auf
die einzelnen Formen des Karzinoms und Sarkoms näher ein
27
und schließt daran die Besprechung der aus Teratomen und Em¬
bryonen sich entwickelnden bösartigen Geschwülste. Bei der
in einem eigenen Abschnitte erfolgenden Erörterung der Aetiologie
maligner Tumoren schildert Menetrier zuerst die Ergebnisse
der von verschiedenen Gesichtspunkten zusammengestellten Sta
tistiken, um dann im folgenden Abschnitte auf die parasitäre und
zelluläre Theorie der Geschwulstpathogenese kritisch einzugehen,
wobei er sich als Anhänger letzterer Richtung bekennt. Zum
Schlüsse widmet Verf. noch einen Abschnitt der Therapie, welche
heute nicht mehr so entmutigend erscheint wie ehemals. Können
wir einerseits dank den Fortschritten in der Chirurgie sicher
unter Umständen eine völlige Heilung erzielen, so setzen uns
anderseits neue Methoden in den Stand, direkt auf die Geschwulst¬
zellen zerstörend einzuwirken, ohne die gesunden Gewebe dabei
zu schädigen. Läßt sich schon aus dieser kurzen Inhaltsangabe
des Werkes von Menetrier die reiche Fülle des in demselben
aufgestapelten Stoffes erkennen, so sei noch erwähnt, daß
neben dem aus der Literatur sorgfältig gesammelten und gründ¬
lich durchgearbeiteten Material Verfasser zahlreiche eigene,
höchst wertvolle Beobachtungen in seine fließende und klare
Darstellung einflicht, wodurch der großen und mühevollen Arbeit
der Charakter einer kompilatorischen genommen und der Stempel
von Originalität aufgedrückt wird. Diese prägt sich jedoch nicht
allein im Texte, sondern auch in den reichlich beigegebenen,
musterhaft ausgeführten Abbildungen aus, die insgesamt von
Fällen stammen, die Menetrier selbst beobachtet und stu¬
diert hat.
*
Deszendenz und Pathologie.
Vergleichende biologische Studien und Gedanken.
Von 1). v. Hausemaun.
Berlin 1909, Verlag von August H i r s c h w a 1 d.
■Zum hundertsten Geburtstage Darwins veröffentlichte
v. Hansemann vorliegende Studie, welche für Kenner der
Deszendenzlehre mit mangelhaften Voi»kenntnissen in der Patho¬
logie und umgekehrt für Pathologen, die die Lehren der Deszen¬
denztheorie nicht vollkommen beherrschen, bestimmt ist. Bisher
haben sich fast nur Philosophen im engeren und weiteren Sinne
diesem Studium hingegeben, während gerade die vielleicht hiezu
Berufensten, die Pathologen, mit wenigen Ausnahmen, demselben
ferne geblieben sind. Zu diesen Ausnahmen gehören allerdings
die glänzendsten Namen deutscher Pathologen, Virchow, Zieg¬
ler und v. Bollinger; ihnen schließt sich nunmehr v. Ilanse-
mann an, der für seine an tiefem Wissen und ausgedehnter Be¬
lesenheit reichen Monographie den gleichen Titel wählt, den \ i r-
c h o w einem nur kurz gehaltenen Aufsätze über das gleiche
Thema gegeben hat.
Die Ausführungen des Verfassers beziehen sich auf die
Fragen der Präformation und Epigenese, auf die Entstehung von
Arten und Varietäten, sowie auf die damit im Zusammenhang
stehenden Bedingungen der Konstanz, auf die Bedeutung von Altru¬
ismus, Zweckmäßigkeit und Orthogenese für die belebte Welt;
ein besonderes Kapitel wird der Besprechung des Lamarckismus
gewidmet, es werden dann unsere Kenntnisse über funktionelle
Anpassungen besprochen und schließlich die Epidemien und der
physiologische Tod in den Kreis der Betrachtungen gezogen.
Namentlich sind es v. Hansemanns geistreiche Erörterungen
über Altruismus, Regeneration und Transplantation, die einen
nicht zu unterschätzenden Fortschritt bedeuten und neben einer
Anzahl anderer neuer Tatsachen neue Stützen für die Deszen¬
denztheorie abgeben. Und wenn auch Verf. zugibt, daß uns jeg¬
liche Kenntnis über das erste Entstehen des Lebens fehlt, so
müssen wir doch annehmen, daßi in früheren Zeiten nicht nur
für die Entstehung organischer, sondern auch organisierter Sub¬
stanzen geeignete Bedingungen bestanden haben. Für die phylo-
und. ontogenetische Entwicklung der Lebewesen, für ihre Aus¬
breitung und die Fixierung ihrer Formen, waren die gegenseitigen
Beziehungen der Lebewesen untereinander maßgebend, wobei das
altruistische Prinzip eine so bedeutende Rolle spielt, daß es voll¬
kommen gerechtfertigt erscheint, für alle Lebewesen neben Er-
nährungs- und Geschlechtstrieb auch den Trieb zum Altruismus
anzunehmen. Muß man nun auch zugeben, daß ein weiteres
Auftreten von Varietäten bei den Polyplastitiden durch die ^ <*i
28
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
teilung der Eigenschaften an die einzelnen Organe, beziehungs¬
weise Zellteile erschwert ist, so muß doch vom theoretischen
Standpunkte aus der Mensch nicht als die ultima ratio in der
Tierentwicklung aufgefaßt werden, obwohl als logisches l ostu a
an zu nehmen ist, daß das Leben auf der Welt nicht ins Unend¬
liche weitergehen kann.
Mit dem vorliegenden Werke ist ein neuer Beweis dafür
erbracht, daß die moderne Richtung naturwissenschaftlicher For¬
schung auch unter den Medizinern sich Bahn gebrochen nat,
nachdem die Verachtung gegen die Philosophie, wie sie anfangs
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts herrschte, geschwun¬
den ist. Erscheint nun schon aus diesem Grunde v. Hanse¬
ln an ns Monographie ganz besonders lesenswert, so gewinnt sie
durch ihren reichen Gehalt an interessanten und kritischen Beob¬
achtungen eine besondere wissenschaftliche Bedeutung, zum a
der Autor sich nicht verführen läßt, der Phantasie die Zügel
schießen zu lassen, sondern sich vielmehr darauf beschrankt,
nur jene Schlußfolgerungen zu ziehen, welche sich aus den vor¬
handenen Tatsachen ergeben.
Archivos do real institute) bacteriologico Camara Pestana.
Tome II, fascicule II. Lisbonne, Döcembre 1908.
rotatorium zwar nahe steht, sich aber von diesem doch soweit
unterscheidet, daß man ihn als eine besondere Spezies, als
Trypanosoma hylae, bezeichnen soll. Ueber die Resultate der
Wassermannschen Reaktion an dem Materiale des Institutes be¬
richtet Bettencourt. Aus seiner Zusammenstellung entnehmen
wir, daß auch dieser Autor der genannten Probe eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung beimißt, daß aber, um zu einem defi¬
nitiven Urteile zu gelangen, noch eine größere Untersuchungsreihe
an einem anderen Krankheitsmaterial, namentlich von Scharlach
und Protozoenerkrankungen, dringend erwünscht ist. Auch er
fordert, daß das Antigen zur Erzielung verläßlicher Resultate
vorerst mit dem Serum sicherer Syphilitiker geprüft sein muß.
Wenn Bettencourt auch zugibt, daß eine energische Queck¬
silberkur die Reaktion beeinflussen kann, so ist doch sicherlich
das Verschwinden der Reaktion als ein Zeichen der Heilung
der Erkrankung anzusehen. Schließlich steht Bettencourt auch
auf dem Standpunkte, daß die verschiedenen Modifikationen und
Vereinfachungen der Wassermannschen Reaktion, sich mit
den Resultaten der ursprünglich angegebenen Methode nicht ver-
gleichen lassen.
*
Die ortsfremden Epithelgewebe des Menschen.
In einer kurzen Mitteilung: Quelques notes sur l’hae-
mogreg a r i n a s p 1 en d e n s (L a b b e), veröffentlicht C. F r a n c a
den interessanten Befund von Kern und Blepharoblast bei dem
genannten Blutparasiten des Frosches. Ueber (lie zoologische
Stellung eines Trematoden in der W interschlafdrüse des Igo s
kann sich M Athias in. seiner Publikation: Description d un
ver parasite de la glande de l’hibernation du hens-
son nur insoweit äußern, daß es sich weder um das von Lm-
stow beschriebene Distomum caudatum, noch um das Distom um
pusillum Bronns handelt, zwei Parasiten, die ebenfalls beim
Igel gefunden wurden. Aus der statistischen Zusammenstellung :
Le traitement anticliphtheriq'ue ä l'ins'ti tu t royal
de bacteriologie Camara Pestana, von C . F r an Q a, geht
hervor, daß die 1907 erzielten Erfolge noch günstigere sind als
die -des vorangegangenen Jahres. Verf. tritt sehr warm für die
Methode der Intubation als Ergänzungsbehandlung der Sero¬
therapie ein und empfiehlt zur Behandlung der Nephritis bei Di¬
phtherie Tannin. Eine sehr umfangreiche Untersuchungsreihe liegt
der Arbeit von Ferreira, Horta und Paredes: Recherches
sur le Bacterium coli communis de l’intestin de
l’homme vor; die Autoren bestätigen zunächst die Befunde
von Houston und Savage, finden aber außerdem, daß der
Koiibazillus Laktose vergärt und Indol auf Kosten von Pepton
bildet. In einer zweiten Publikation : Recherche s sur le Bacte-
r ium coli de l’intestin des mami feres et des o i s e au x,
berichten die gleichen Verfasser über Untersuchungen an einem
großen Material verschiedenster Tiere, in deren Fäzes sich bei
930/0 typische Kolibazillen nachweisen ließen. Sie stimmen daher
Savage und Mac Cordey bei, welche angeben, daß die mensch¬
lichen und tierischen Bacterium coli -Stämme sich weder morpho¬
logisch, noch biologisch oder kulturell voneinander unterscheiden
lassen. Bettencourt und Borges untersuchten die Stühle
niederer Wirbeltiere und fanden bei diesen entweder ein vollstän¬
diges Fehlen oder ein nur spärliches Vorkommen von Bacterium
coli. In ihrer diesbezüglichen Mitteilung: Recherches sur le
Bacterium coli des vertebres inferieurs et des ce¬
real es, berichten die Verfasser auch über bakteriologische Unter¬
suchungen der verschiedenen Getreide- und Gemüsearten und
kommen zu dem Schlüsse, daß diese keineswegs einen regel¬
mäßigen Fundort des Bacterium coli abgeben, so daß man in
dieser Hinsicht nicht von einer Ubiquität dieses Mikroorganis¬
mus sprechen kann. Mit völlig negativem Resultat versuchten die
beiden Autoren, wie sie in einer Publikation: Peut on distin¬
gue r 1 e C o 1 i b a c i 1 1 e de l’homme de c e 1 u i des unimaux
au moven de la fixation du complement, berichten,
die Komplementbindungsmethode zur Differenzierung mensch¬
licher und tierischer Kolistämme heranzuziehen. Im Gegensätze
zu Wasielewski betont C. Franca in einem ganz kurzen
Aufsatze : Encore sur 1 e Trypanosome de H y 1 a a r b 0 r e a,
daß der im Laubfrosch gefundene Parasit dem Trypanosoma
Untersuchungen und Betrachtungen.
Von Dr. Hermann Scliridde, Priv.-Doz. für allgemeine Pathologie und
pathologische Anatomie in F reiburg 1. br.
Heft G der Sammlung anatomischer u. physiologischer Vorträge u. Aufsätze
herausgegeben von Gaupp & Nagel.
Jena 1909. Verlag von Gustav Fischer.
Eigene Erfahrungen über das Vorkommen von ortsfremdem
Epithelgewebe faßt Sehr id de. mit den vorliegenden Untersuchun¬
gen anderer Autoren monographisch zusammen und bespricht
zunächst als formale Akkomodation jene Epithelumgestaltungen,
die nur die äußere Form betreffen, während die für die Gewebe
eigentümliche, funktionelle Strukturbeschaffenheit der einzelnen
Zellen in ihren Grundzügen unverändert bleibt. Im Gegensatz
hiezu steht als Protoplasie jene pathologische Epithelverände¬
rung, die in einer über die ortsgehörige Ausdifferenzierungszone
hinausschreitenden Weiterdifferenzierung besteht, oder mit an¬
deren Worten, es bedeutet Protoplasie die Weiterbildung des orts¬
dominierenden Merkmals über die ortsgehörige Differenzierungs¬
zone hinaus. Seine frühere Definierung des Begriffes der Hetero-
nlasie ändert Scliridde auf Grund neuerer Erfahrungen dahin
ab, daß er nunmehr unter Heteroplasie jenen Vorgang versteht,
daß in bestimmten embryonalen Zellen, in denen nur noch die
bleibenden Organmerkmale enthalten sind, das ortsunterwertige
durch Prädestination zum ortsdominierenden wird und mit allen
seinen, ihm eigentümlichen Zellmerkmalen zur vollen Ausbildung
gelangt, daß somit eine Rückdifferenzierung eintntt. Aus seinen
interessanten Beobachtungen an Geschwülsten mit ortsfremden
Epithelbildungen und dem Studium der Vorgänge bei der in¬
direkten Metaplasie, wo es sich nicht um eine wirkliche Trans¬
formation einer Zelle in eine gänzlich andere handelt, sondern
wo die Umbildung auf einem Umwege erfolgt gelangt
Scliridde zur Anschauung, daß bei der Bildung von 01 ts-
fremdem Epithel im extrauterinen Leben indifferente Zellen, wenn
überhaupt, nur im geringsten Grade in Frage kommen. Mas
nun die Metaplasiefähigkeit der Epithele anlangt, so scheint
für dieselbe die Höhe ihrer Differenzierung maßgebend zu
sein indem mit der höheren strukturellen. Differenzierung die
Metaplasiefähigkeit abnimmt, während die Regenerations Iah ig-
keit von der funktionellen Wertigkeit abhängig ist. Hinsicht¬
lich der Ursachen für die Metaplasie lehnt Schridde die Vor¬
stellung von im Keime begründeten oder im embryonalen Lehen
erworbenen Anlagen ab und nimmt an, daß irgendwelche äußere
Momente es sein müssen, die in der Weise wirken, daß das
ortsdominierende zu dem ortsunterwertigen Organmerkmal wird.
Diese Frage experimentell anzugehen, erscheint Schridde m-
solange verfrüht, als uns die entsprechenden, genau bestimm¬
baren und abwägbaren Mittel zur Erfüllung der notwendigen
Voraussetzungen nicht zur Verfügung stehen.
*
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
29
Klinik und Biologie der Thymusdrüse mit besonderer
Berücksichtigung ihrer Beziehungen zu Knochen- und
Nervensystem.
Von Dr, Heinrich Klose, I. Assistenzarzt der Chirurg. Klinik, Vorstand
des Laboratoriums und der Abteilung für Experimentalchirurgie un-
Prof. Dr. Heinrich Vogt, Nervenarzt und Abteilungsvorstand am neurod
logischen Institut in Frankfurt a. M.
Tübingen 1 910, Verlag von N. Laup p.
Bei dem hohen Interesse, welches den Drüsen mit innerer
Sekretion entgegengebracht wird, erscheint es außerordentlich
zweckmäßig, daß die vorliegende gründliche Bearbeitung der
Biologie, Pathologie und Klinik der Thymusdrüse nach ihrem
Erscheinen in den Beiträgen zur Chirurgie (Bd. 69), nunmehr auch
als Monographie weiteren Kreisen zugänglich gemacht wurde.
Das Werk umfaßt drei größere Abschnitte, deren weitaus größter
eigene experimentelle Untersuchungen der beiden Autoren be¬
trifft, denen speziell bei Festlegung der Resultate über Stoff¬
wechselstörungen, bei Ueberprüfung der Blutbefunde sowie bei
der Lösung von Fragen über Erscheinungen des allgemeinen Che¬
mismus Emden, Schulz und Liesegang hilfreich zur Seite
standen. Mehr einleitend sind die beiden Abschnitte, deren erster
die Phylo-, Ontogenese und Morphologie sowie die Ergebnisse
der Experimentalforschung auf diesem Gebiete behandelt, während
der zweite die Klinik der Thymuserkrankungen zum Vorwurfe
hat und gleichzeitig eine historische Schilderung der Entwick¬
lung und des gegenwärtigen Standes unserer Kenntnisse über
die Biologie und Pathologie der Thymusdrüse wiedergibt. Da,
wie Verf. zeigen, die phylogenetische Entwicklungsreihe der
Thymus noch nicht erforscht ist, läßt sich auch nicht entschei¬
den, ob in der Thymusanlage phylogenetisch Aequivalente von
nicht mehr zur Ausbildung gelangenden Kiemensprossen zu er¬
blicken sind. Damit fällt auch die klinische Möglichkeit weg,
aus den vergleichenden Erscheinungsformen zwischen thymus-
losen und -besitzenden Tieren Schlüsse auf Funktionen zu ziehen,
die bei dem einen Tiere beobachtet werden, bei dem anderen
nicht. Ontogenetisch stellt die Thymus ein epitheliales, bran-
chiogenes Organ dar, welches Lymphozyten nicht ausschwemmt,
sondern als Nukleinträger anzieht. Die in frühen embryonalen
Entwicklungsstadien drüsenartige Anordnung des Epithels
schwindet bald, so daß bereits im dritten Embryonalmonat die
Epithelmasse aus Ansammlungen kleiner rundlicher Kerne be¬
steht. Aus Unwandlungen und Degenerationen der Epithelien
gehen die Sternzellen und die H as sal sehen Körperchen her¬
vor. Die aufsteigende biologische Phase der Thymus reicht beim
Menschen bis an das Ende des zweiten Lebensjahres, nach
dieser Zeit wächst sie nicht mehr, sondern involviert sich lang¬
sam bis zur Pübertät. Von da an persistiert als sogenannter retro¬
sternaler thymischer Fettkörper ein Rest der Drüse durch das
ganze Leben. Aus den experimentellen Untersuchungen bis zum
Jahre 1905 geht nur soviel hervor, daß Entfernung der Thymus
ein für Gesundheit und Entwicklung der Tiere völlig belang¬
loser Eingriff ^ei. Aus eigenen Untersuchungen der Verfasser
geht hervor, daß die maximalste Entwicklung der Hundethymus
in die Zeit zwischen 10. und 20. Lebenstag fällt. Als günstigsten
Zeitpunkt zur Exstirpation der Drüse empfehlen Klose und
Vogt den 10. Lebenstag. Die Folgen der Thymektomie scheiden
sich in 3 Stadien: in den ersten 4 Wochen das der Latenz, in den
folgenden 2 bis 3 Monaten das der Adiposität, an das sich ein über
3 bis 14 Monate erstreckende Stadium der Cachexia thymopriva
schließt und im Coma thymicum endet. Somit ist die Thymus im
Haushalte des Organismus von allgemeiner lebenswichtiger Be¬
deutung und hat ihre totale Entfernung zur Zeit ihres maximalen
physiologischen Wachstums den Tod zur Folge. Der Thymus tod
ist dann ein chronischer, allgemeiner Gewebstod mit Vorherr¬
schen der Adynamie. Die Thymusexstirpation erzeugt ein spezi¬
fisches, thymektogenes Knochenleiden, welches in Hypoplasie
des Skelettsystems sich äußert; die Knochen werden atrophisch
und je nach der Entwicklungsstufe biegsam oder brüchig. Die
Ursache hiezu liegt in einem Mangel an ungelöstem Kalk des
Knochensystems, wofür als Grundlage eine Säureüberladung des
Organismus anzusehen ist. Als Säure kommt die Nukleinsäure
in Betracht, mit welcher der Organismus durch Ausschaltung
ihrer Synthese nach der Thymusexstirpation allmählich ver¬
giftet. wird. Klinisch zeigen die Tiere bald nach der Operation
eine gewisse Unsicherheit in den Bewegungen, sie ermüden leicht,
später treten leichte Paresen und koordinatorische Störungen auf,
die mit einer anatomisch nachweisbaren Neuritis in Zusammen¬
hang stehen. Als wichtigste Veränderung beobachtet man eine
Erhöhung der Muskelerregbarkeit vom Nerven, wie- sie schon
von Basch- festgestellt wurde. Während diese Erscheinungen
von seiten des Nervensystems schon bald nach der Operation
einsetzen, treteln erst in späteren Stadien der Erkrankung schwere
psychische Defekte auf, die schließlich zum Bilde schwerer Ver¬
blödung, Idiotia thyreopriva, führen. Auf die Thymusexstirpation
folgt, wie schon eingangs erwähnt, ein Stadium der Vermehrung
des Körperfettes, welches bei Entwicklung der Cachexia thymo¬
priva mit einer richtigen Hyperplasie von Milz, Schilddrüse,
Pankreas, Ovarium und Hoden sich kombiniert.
Aus den Versuchen der beiden Verf. geht ferner hervor,
daß Verabreichung von Thymuspräparaten an thymopriven Tieren
eine Steigerung der Thymusausfallerscheinungen bis zur höchsten,
tödlichen Toxizität bewirkt. Für die Therapie der nervösen Stö¬
rungen, welche auf eine Säurevergiftung sich zurückführen lassen,
empfiehlt es sich, Alkali zu verabreichen und den Organismus
zu vermehrter Alkalibildung anzuregem; chirurgisch kommt da¬
gegen als einzig rationelle Therapie die Autoplastik in Betracht.
Eine eingehendere Bearbeitung der für die Therapie richtung¬
gebenden Resultate ihrer sehr interessanten Untersuchungen be¬
halten sich Verf. für eine demnächst erscheinende zweite Publi¬
kation vor. Joannovids.
Äus verschiedenen Zeitschriften.
1. Inversion eines Blasendivertikels als Kom¬
plikation der Prostatektomie. Von Priv.-Doz. Doktor
O. Ehrhardt in Königsberg i. Pr. Bei einem 76 Jahre alten
Manne bestand seit zwei Jahren infolge Prostatavergrößerung eine
Ischuria paradoxa, dauerndes Harnträufeln bei einer großen, bis
zum Nabel reichenden Blase. Da die konservativen Maßnahmen
keinen Erfolg herbeiführten, entschloß man sich, die Prostatek¬
tomie zu machen, die auch in typischer Weise suprasymphysär
in leichter Aethernarkose ausgeführt wurde. Der leicht narko¬
tisierte Pat. hustete und preßte dabei sehr stark. Als nun der
Operateur nach der Blaseninzision die Finger in die Blase ein¬
führte, um die Prostata abzutasten, fühlte er im Fundus einen
fast faustgroßen, weichen Tumor, der nahezu die ganze rechte
Blasenhälfte einnahm und breit gestielt war. Versuchte man,
die Geschwulst einzudrücken, so fühlte man ein lautes Gurren,
ähnlich wie es über darmhaltigen Hernien getastet wird. Es war
klar, daß hier ein Blasendivertikel vorlag, das bei der plötzlichen
Entleerung der überdehnten Blase- und infolge starken Pressen*
des Pat. sich invertiert hatte und jetzt als pilzförmiger Tumor
in das Blaseninnere hervorragte; in das invertierte Divertikel
wurden Darmschlingen hineingepreßt, die auch durch die Wand
des Divertikels abgetastet werden konnten. Es gelang wohl, die
Darmschlingen zurückzudrücken, jedoch gelang es nicht, das Di¬
vertikel wieder zurückzustülpen, die Resektion des Divertikels
erschien aber zu gefährlich. Es wurde also die Prostata rasch
enukleiert, die Operationswunde offen gelassen, ein Verweil¬
katheter bis in den Blasenhals eingelegt. Günstiger Verlauf, das
Divertikel verkleinerte sich, bildete aber viele Wochen lang ein
arges Hindernis für die spontane Harnentleerung, indem es sich
polypenartig vorlegte und die Urethra abschloß. Dieses Symptom
verschwand endlich auch, die Sectio alta heilte zu. Pat. konnte
vier Monate nach der Operation den Urin unbehindert halten,
der Harn war klar und eiweißfrei, das Divertikel war im zystosko-
pischen Bilde schätzungsweise noch walnußgroß. Der Fall bietet
zweifaches Interesse: einmal durch die Inversion des Divertikels
und ihre Behandlung (oder vielmehr Nichtbehandlung) und
dann durch die Indikationsstellung zur Prostatektomie trotz lang¬
bestehender Ischuria paradoxa. Das invertierte Divertikel war
eigentlich nichts anderes als eine Hernie, bei welcher die Lücko
in der Blasenwand die Bruchpforte, die Blasenmuskulatur den
Schnürring, die Außenfläche des Divertikels den Bruchsack dar¬
stellte. Es lag sogar die Gefahr einer Inkarzeration einer Darm¬
schlinge nahe, doch verkleinerte sich die sogenannte ., Bruch-
30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
pforte“ nach Reposition der Darmschlingen, so daß man ruhig
zuwarten konnte. Daß es sich später bei der Urinentleerung vor
das Orificium internum legte und ein Hindernis für die Harn¬
entleerung auf natürlichem Wege abgab, das verzögerte die Heilung
der Blasenfistel erheblich; erst mit der weiteren Verkleinerung
des Divertikels schwand diese lästige Erscheinung. Was nun die
Indikationsstellung zur Prostatektomie anbelangt, so sind zwar
hohes Alter und eine länger bestandene Ueberdehnung der Blase
zwei Kontraindikationen und tatsächlich kontrahierte sic. i m
diesem Falle die Blase beim Katheterismus nicht bis zur voll¬
ständigen Entleerung, der Rest des Harnes mußte ausgepreßt
werden; doch zeigt der Erfolg (sechs Monate post Operationen!
entleerte der Mann die Blase vollständig ohne Spur von Re¬
sidualharn), daß die mangelnde Kontraktilität der Blasenmuskula¬
tur nicht ohne weiters als Kontraindikation für die Prostatektomie
gelten sollte. Die Kontraktilität der Blasenmuskulatur ist, auch
nach jahrelanger Ueberdehnung, einer weitgehenden Regeneration
fähig. — (Deutsche medizin. Wochenschr. 1910, Nr. 49.) E. 1.
*
2. (Aus der Universitätskinderklinik in . Wien. — Vor¬
stand: Hofrat Prof. Dr. Es eher ich.) Ueber die Bedeutung
der Kalksalze für den Organismus des Kindes unter
physiologischen und pathologischen Verhältnissen.
Auf Grund klinischer Bestimmungen des Blutkalkes nach V right
von Dr. Rudolf Neurath. Bei gesunden Kindern finden sich
in den frühesten Zeiten des Säuglingsalters höhere Kalkwerte,
mit fortschreitendem Alter gehen im allgemeinen die gewonnenen
Kalkwerte zurück. Ein Vergleich nach verschiedenen Ernahrungs-
methoden ernährter Kinder läßt einen höheren Gehalt an oxalat-
fällbaren Kalksalzen im Blute von Brustkindern als bei künstlich
ernährten Kindern erkennen. Künstliche Kalkanreicberung der
Nahrung ruft selten eine prompte Steigerung des Blutkalkes
hervor, die dann auch nur ganz vorübergehend in Erscheinung
tritt; es läßt sich im Gegenteil in einer größeren Anzahl von
Fällen ein Herabgehen des Kalkgehaltes des Blutes nach Kalk¬
zufuhr konstatieren. (Das Tierexperiment zeigt bei sehr starker
Kalkanreicherung der Nahrung eine leichte Erhöhung der ge¬
wichtsanalytisch bestimmten Blutkalkmenge.) Bei Kindern mit
Tetanie findet sich eine relative Annut des Blutes an oxalat-
fällbaren Kalziumverbindungen; die Bestimmung des Blutkalkes
hei einem experimentell der Epithelkörperchen beraubten Tiere,
das titanische Symptome bot, zeigte ein gleiches Verhalten.
Den Epithelkörperchen ist also neben der entgiftenden Funktion,
die sich beim Wegfall der Organe durch das Zustandekommen
der Tetanie dokumentiert (Es eher ich) ein fördernder Einfluß
auf den Kalkstoffwechsel zuzuerkennen, der beim Ausfall dieses
regulierenden Organes herabgesetzt wird. Die Gleichsinnigkeit
des gestörten Kalkstoffwechsels beim tetaniekranken Menschen
und beim parathyreodektomierten Tiere, kann neben der _ Ähn¬
lichkeit. der klinischen Symptome als weiterer Beweis für die
- parathyreoprive Natur der Tetanie gelten. Bei sonstigen Affek¬
tionen fand sich kein konstantes oder immer gleichsinniges Ab¬
weichen der Blutkalkwerte von den Mittelwerten. Die Wriglit-
sche Methode zur klinischen Blutkalkbestimmung liefert brauch¬
bare Vergleichs werte nicht der gesamten Blutkalkmenge, sondern
nur der oxalatfällbaren Kalziumverbindungen, die wahrscheinlich
den „aktiven“ ionisierten Kalk repräsentieren. Einige gewichts¬
analytische Bluikalkbcstimmungen unter physiologischen und pa¬
thologischen Verhältnissen, wobei allerdings der Gesamtkalk
(gleich die Summe des organisch gebündelten und des aktiven
Kalkes) festgestellt wurde, haben ein Parallelgehen der gewon¬
nenen Resultate mit den Werten der klinischen Kalkbestim¬
mungen ergeben. -- (Zeitschrift für Kinderheilkunde, Bd. 1,
H. 1) K' S’
3 (Aus der Klinik und Poliklinik für Haut- und Geschlechts¬
krankheiten zu Würzburg — Vorstand: Prof. Dr. K. Zieler.)
Ueber die praktische Brauchbarkeit der Wasser¬
mann s c h e n Reaktion mit Berücksichtigung d e l
Sternschen Modifikation. Von. Dr. F. Bayer und Doktor
A. Schmitt, Assistenten der Klinik. Die beiden Verfasser teilen
die Untersuchungsergebnisse ihres Materiales mit. Dieses ent¬
hält innerhalb eines Jahres (Juni 1909 bis Juli 1910) unter
173 klinisch diagnostizierten Syphilisfällen 16 Primäraffekhv mit
positivem Ausfall der Reaktion, außer in zwei Fällen Bei 63
Fällen mit Erscheinungen der Frühperiode fiel die Reaktion mit
Ausnahme eines Falles stets eindeutig positiv aus. Von 45 Fällen
der Frühlatenz waren 11 bereits vor einer neuen Kur negativ.
Von 16 Fällen mit Erscheinungen der Spätperiode reagierten
13 positiv, 3 negativ. Unter 19 Fällen der Spätlatenz fiel die
Reaktion bei 12 negativ aus-. 5 Fälle kongenitaler Syphilis rea¬
gierten sämtlich positiv ; ebenso 4 gleichzeitig untersuchte Mütter.
Außer dem Syphilismaterial untersuchten sie 282 dermatologische
Fälle welche weder anamnestisch, noch klinisch einen Anhalts¬
punkt. für Syphilis gaben. Alle gaben, mit Ausnahme von elf
Fällen, einen negativen Ausfall der Reaktion. Von internen, chi¬
rurgischen und ophthalmologischen Erkrankungen ergaben ^die
Seren von 13 Fällen eine positive Reaktion. Von 17 klinischen
Paralysefällen reagierten 2 negativ; von 17 Tabbsfällen 3 positiv.
Ein Fall mit der Diagnose Tumor cerebelli bei negativer Reaktion
des Serums heilte rasch durch eine energische Schmierkur. Die
günstigen Resultate, die die Verfasser erhielten, schreiben sie
dem Umstande zu, daß sie sich genau an die Wassermann-
sche Vorschrift hielten und in subtilster Weise arbeiteten. \ on
allen Modifikationen, welche die Technik zu vereinfachen und
sie womöglich dem praktischen Arzte _ zugänglich zu machen
suchten, hat keine in serologischen Instituten die alte Wasser¬
mann sehe Methode zu verdrängen vermocht. Die Verfasser
haben sich auf die Nachprüfung der Sternschen Methode be¬
schränkt, deren technischer Vorteil in dem Wegfall des Vorver-
suches und in der Benutzung des eigenen Komplementes des zu
untersuchenden Serums liegt. Sie haben neben der Wasser¬
mann Sehen Methode die Stern sehe Modifikation an 800 Seren
untersucht. Es ergab sich, daß in weitaus der größten Zahl dei
Ausfall der Sternschen Modifikation mit dem der Wasser¬
mann sehen Methode übereinstimmt. Bei sicher syphilitischen
Fällen gibt sie einen größeren Prozentsatz positiver Resultate a s
die Wassermann sehe; sie kann jedoch auch bei positiver
Wassermannscher Reaktion, ja selbst bei manifester Syp r
lis negativ ausfallen. In anamnestisch, klinisch und nach der
Wassermann sehen Reaktion als syphilisfrei anzusehenden
Fällen gab sie in 8-9°/o Hemmung der Hämolyse trotz Losung
der Kontrolle. In zweifelhaften Fällen deckt sie sich oft nicht
mit den Resultaten der Was s er m an n sehen Reaktion und ist
hier auch der positive Ausfall vorsichtig aufzufassen. Die Ver¬
fasser ziehen aus ihren Untersuchungen folgende Schlüsse: 1. Die
Wassermannsche Reaktion ist ein wichtiges Unterstützungs¬
mittel zur Diagnose der Syphilis. 2. Eine frühzeitige energische
Quecksilberbehandlung bei Syphilis ergibt leichter einen Um¬
schlag der positiven Reaktion als spatere oder fehlende B
handlung. 3. Durch chronisch - intermittierende antisyphilitisc
Behandlung ist eine dauernde negative Reaktion anzustreben.
4 Eine Prognosestellung an der Hand der Wasser man n sehen
Reaktion ist bisher unmöglich. 5. Die Wassermannsche
Reaktion kann nur in gut eingerichteten Laboratorien von ge¬
schultem Personal angestellt werden, da die Sicherheit der R e¬
sultate nur durch exakte Ausführung und zeitraubende Kontroll-
versuche gewährleistet werden kann. Für den praktischen Arz
ist sie geradezu unausführbar. 6. In klinisch und serologisch mph
einwandfrei übereinstimmenden Befunden ist der Ausfal
Wassermannschen Reaktion nur mit Vorsicht zu verwerten,
zumal sie bei positivem Ausfall keine topische Diagnose steHL
sondern nur das Vorhandensein einer konstitutionellen Syphi
wahrscheinlich macht, bei negativem Ausfall das Vorhandensein
syphilitischer Infektion nicht ausschließt. 7. Die Stern sehe Modi¬
fikation kann die Wassermannsche Reaktion nicht ersetzen
da sie nur neben dieser verwendet werden darf. Ihi Weit, ist
deshalb ein auf serologische Laboratorien beschrankter und sie
ermöglicht nicht infolge ihrer scheinbaren Vereinfachung dem
praktischen Arzte die Anstellung einer ^verlässigen Seroreak¬
tion. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1910, Nr. ., t.
4. (Aus der psychiatrischen Klinik München. - Professor
K raepelin.) Blutdruckmessungen bei Kranken mit
man) s cli- de p res si v em Irresein »nd Dement.» P«
cox. Von Paul Weher. Assistenzarzt. Verf. gibt in dci voi-
Nr. I
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
liegenden Arbeit eine Reihe von Blutdruckmessungen in Tabellen.
Die in Betracht gekommenen Kranken sind in acht Gruppen geteilt.
Die drei ersten Gruppen umfassen Dementia praecox-Kranke, die
zwei folgenden Gruppen depressive Kranke, eine weitere Gruppe
betrifft manisch-depressive Stuporöse, die beiden letzten Gruppen
beziehen sich auf Manische. Die an Dementia praecox leidenden
Kranken sind im allgemeinen charakterisiert durch niedrige Puls¬
zahl/kleinen Pulsdruck und tiefe Lage des diastolischen und systo¬
lischen Druckes. Die manischen und depressiven Kranken zeigen
in höherem oder weniger hohem Grade erhöhte Pulszahlen, Stei¬
gerungen des Pulsdruckes, des diastolischen Druckes und in stai-
kerem Grade des systolischen Druckes. Nur bei einem ganz
kleinen Teile der Dementia praecox-Krankem finden sich ähnliche
Blutdruckveränderungen wie bei den manisch-depressiven.
(Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 47, H. 2.)
S.
*
5. (Aus der chemischen Abteilung des Pathologischen
Instituts der Universität Berlin.) Ueber die Verwertung des
Harnbefundes zur Karzinomdiagnose. Von Professor
E. Salkowski. In dieser dritten Mitteilung berichtet Yrerf. über
Versuche, welche Dr. Ko jo aus Tokio ausgeführt hat, um weitere
chemische Unterschiede zwischen dem Harne von Gesunden und
Krebskranken zu eruieren. Das Prinzip des von Ko jo gefun¬
denen Verfahrens besteht darin, daß man eine 100 cm3 Harn
entsprechende Quantität Harnfiltrat nach genauer Neutralisation
mit Essigsäure mit Bleiazetat ausfällt, den Niederschlag quanti¬
tativ sammelt, völlig auswäscht und den Stickstoffgehalt des¬
selben feststellt. Dieser Wert wird dann zu dem Gesamtstickstoff
in 100 ein3 Ham in Beziehung gesetzt, derart, daß man berechnet,
wieviel Prozent von dem Gesamtstickstoffgehalt er ausmacht. Blei-
subazetat fällt den Harnstoff nicht, die Phosphor- und Schwefel¬
säure des Harnes wurden früher in üblicher Weise durch alkalische
Chlorbaryumlösung (2 Vol. Barytwasser, 1 Vol. 10%ige Chlor-
baryumlösung) entfernt. Es ergab sich: Im Mittel von zehn
Untersuchungen betrug der Stickstoffgehalt des Bleisubazetatnic-
derschlages im Harne gesunder Individuen l-22% des Gesamt¬
stickstoffes, dagegen im Harn von Karzinomkranke n im Mittel
von zehn Untersuchungen 3-03°/o, im Maximum (Magenkrebs)
4-62°/o. In keinem Falle erreichte der Maximalwert beim Ge¬
sunden den in einem Falle von Kehlkopfkrebs gefundenen Minimal-
wert von 2-15°/o. Ebenso brauchbare Resultate ergab die Fällung
mit Zinkchlorid oder Zinksulfat teils direkt im Harne, teils nach
vorangängiger Entfernung der Phosphorsäure mit Chlorkalzium
und Kalziumhydrat (Kalkmilch). Die direkte Fällung ergab für
Normalham im Mittel l-75°/o, für Karzinomham im Mittel von
acht Versuchen 3-26°/o (Maximum 3-12% bei Magenkrebs, Mini¬
mum 2-53 °/o bei Kehlkopfkrebs). Aehnliche Ergebnisse lieferte
die Fällung mit Zinksulfat oder -chlorid nach Entfernung der
Phosphorsäure. Verf. möchte noch nicht behaupten, daß' diese
Proben für das Karzinom pathognomonisch seien, das müßten
weitere Untersuchungen an vielen und verschiedenen Kranken
lehren; diese leicht ausführbare Harnuntersuchung könnte unter
Umständen die Diagnose erleichtern, ja in manchen Fällen viel¬
leicht von entscheidender Bedeutung sein. Das genaue Vorgehen
sowie sonstige Einzelheiten des Verfahrens sollen an anderer
Stelle veröffentlicht werden. — (Berliner klin. Wochenschrift
1910, Nr. 50.) E. F.
*
6. Ueber das1 Frühauf stehen der Wo Clin er
rinnen. Von Prof. Dr. Th. Wyder. Obwohl Wyder keine
eigenen Erfahrungen über die Zweckmäßigkeit des Frühapf-
stehens der Wöchnerinnen, wie es jetzt moderner Brauch zu
werden scheint, besitzt, da er es vor seinem Gewissen nicht ver¬
antworten konnte, in der ihm anvertrauten Klinik einschlägige
Experimente zu machen, so erlaubt er sich doch, sein Urteil
dahingehend zu fällen, daß er das von verschiedenen Seiten
propagierte Frühaufstehen der Wöchnerinnen als eine beklagens¬
werte, weil höchstwahrscheinlich zu unvermeidbaren Miß Ver¬
ständnissen beim Publikum führende Neuerung betrachte, von
der man sicher, durch Schaden klug geworden, über kurz oder
lang wieder zurückkommen werde. Es ist zwar zuzugeben, daß
eine gesunde Wöchnerin ohne großes Risiko ein paar tage
post partum das Bett verlassen kann, vorausgesetzt, daß sie sich
bis zur kompletten Involution der Genitalien in des Wortes
richtiger Bedeutung- Schonung auferlegt. Denn nicht so sehr das
Frühaufstehen an und für sich, sondern die gegebene Verleitung,
sich im Wochenbette nicht zu schonen, ist das Bedenkliche
an der Sache. Aber in den breitesten Schichten der Bevölkerung
wird eben Frühaufstehen mit Früharbeiten identifiziert. Und
solange das Publikum von der großen Bedeutung der Schonung
im Wochenbette nicht allgemein überzeugt ist, muß man größte
Bedenken tragen, die von Küstner so warm und einleuchtend
empfohlene Wochenbettdiätetik auf den Frauenkliniken einzu
führen. Für die Privatpraxis kann man dagegen eine allgemeine
gültige Norm nicht aufstellen und da mag man individualisierend
Vorgehen und kann unter den von Küstner angegebenen Kau
teilen mit dem Frühaufstehen einen Versuch wagen. Bei unver¬
ständigen und wenig belehrbaren Wöchnerinnen überlege man
es sich aber doppelt und dreifach, ob man mit einem derartigen
modernen Ratschlag nicht mehr Schaden als Nutzen stiften
wird. — (Korrespondenzblatt für Schweizer Aerztc 1910, 40. Jahr¬
gang,' Nr. 30.) K. S.
*
7. Ehrlicli-H ata bei luetischen Augenerkran¬
kungen. Von Priv.-Doz. Dr. C. Hirsch in Prag. Erkrankungen
des Augenhintergrundes, speziell des Sehnerven, bilden noch
immer eine Kontraindikation der Anwendung des Ehrl ich sehen
Mittels. Dieser bedauerlichen Einschränkung möchte Verf. auf
Grund des eklatanten Erfolges dreier Fälle, die er detailliert mit¬
teilt, entgegentreten. Der erste Fall betrifft einen 36jährigen Mann,
der 1896 luetis'ch infiziert wurde. 1898 Tritis am rechten Auge,
1906 partielle Okulomotoriuslähmung des linken Auges. -Juli 1909
Sehstörung beider Augen, so daß. er nicht mehr lesen konnte.
22. September 1910, unmittelbar vor der Injektion, war der Visus
rechts' Fingerzäblen in IV2 m, links in 14 m. Die Gesichts feld ei
beider Augen konzentrisch verengt. An beiden Augen große,
zentrale Skotome. Am 26. September 1910 Injektion von 0-50
Ehrlich -Hata in die linke Glutäalgegend. Ophthalmoskopisch
wurde eine einfache, genuine Atrophie des Optikus diagnosti¬
ziert. Auffallend an dem Verlaufe des Falles nach der Injektion
ist zunächst die geringe Zunahme der zentralen Sehschärfe, trotz
der ganz wesentlichen Verkleinerung der zentralen Skotome. Die
merkwürdigste Erscheinung aber ist die Veränderung des zentralen
Skotoms am rechten Auge, welche Verf. als Zerfall des Skotoms
bezeichnen möchte. Dies charakterisiert die spezifische elektjve
Wirkung des neuen Heilmittels. Die Wiederkehr der Funktion
in einzelnen so kleinen Bezirken des zentralen Gesichtsfeldes
weist darauf hin, daß die dem Skotom entsprechenden Fasern nicht
in ihrer Gesamtheit degeneriert, sondern bloß in ihrer Funktions¬
fähigkeit geschädigt waren. Es scheint also, daß das Mittel kiat’t
seiner spezifischen Wirkung, die zwischen den Faserbündeln des
Optikus befindlichen syphilitischen Entzündungsprodukte zum
Schwinden gebracht hat. Als Ausdruck dieser lokalen Reaktion
möchte Verf. die merkwürdige subjektive Rotempfindung ansehen,
die der Patient fast, unmittelbar nach der Injektion im Bereiche
des Skotoms wahrnahm. In der raschen Entfaltung dieser spe¬
zifischen Wirkung liegt anscheinend die' Ueberlegenheit dieses
neuen Mittels über alle, bisherigen Behandlungsmethoden. Im
zweiten Falle handelte es sich um einen 52jährigen Mann, der
1906 luetisch infiziert wurde. September 1909 hochgradige Neu¬
ritis optica intraoeularis am rechten Auge. Ablauf in zwei Mo¬
naten mit Ausgang in Atrophie der Papille und hochgradige
Gefäßwanderkrankung aller Netzhautgefäße. Der Zustand der Ge¬
fäße änderte sich trotz äußerst energischer, antiluetischer Kuren
gar nicht. 19. September eine Injektion von >0-5 g .,606“ m
die -linke Glutäalgegend. Von da ab kontinuierliche Besserung
des' Sehvermögens bis heute, wo er Finger über 2 rn zählt. Höchst
merkwürdig war es für den Verfasser, mit dem Augenspiegel zu
verfolgen, wie parallel dieser allmählichen Besserung der Funktion
des Auges die reparatorischen Veränderungen an den Blutgefäßen
der Netzhaut langsam fortschritten und auch jetzt noch, sieben
Wochen nach der Injektion, immer noch fortschreiten. Im dntbrn
Falle handelte es sich um einen’ 34jährigen Mann, luetische In¬
fektion vor elf Jahren. Seit 3Vs Jahrein eine mäßige Erweiterung
und reflektorische Lichtstarre der linken Pupille mit sogenannmv
32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1011.
Nr. 1
myotonischer Reaktion. Sonst kein 'Zeichen von Tabes. Am
10 Oktober Injektion von 0-6 g in die linke Glutaalgegend. Ac.
Tage nach der Injektion zeigt die früher vollkommen starre Pu¬
pille eine Spur der Erweiterung, bei Prüfung in der Dunkelkammei
eine leichte, aber deutliche Verengerung. Am 27. Oktober ver¬
engt und erweitert sich die Pupille hei intensiver Beleuchtung
und nachfolgender Beschattung deutlich. Verf. erklärt die thera¬
peutischen Erfolge in diesen drei Fällen allerdings als mc ^
bedeutend; die Besserungen aber sind über Je'c
haben und sind auch die offenbare Folge der Injektion. Denn
alle drei Fälle standen Jahre hindurch in ständiger Beobach¬
tung bei ausgiebiger Anwendung der alten Behänd ungsmetboden.
Eine Täuschung ist ausgeschlossen. Der erste lall, ein schweres
Sehnervenleiden, zeigt auch in eklatanter W eise <iie Unschäd¬
lichkeit des neuen Mittels für den Optikus Auch die zweite »Kontra¬
indikation, die Gefäßerkrankungen, wird man nach ^ - ^
Revision und Einschränkung unterziehen müssen. (Mancher
mediz. Wochenschrift 1910, Nr. 49.)
*
8 Schule und Rückgratsverkrümmung. Von
Dr W Sch ult her s- Zürich. Nicht in der Fixierung bestimmter,
durch die Schule veranlaßt«* Stellungen, sondern in der durch
das Schulsitzen gegebenen Gelegenheit, hei schon vorhandener
Krümmung und bei schwachem Skelett in zusammengesunkener
Haltung stundenlang zu verharren, in der durch den Bewegungs¬
ausfall veranlaßt«* Verkümmerung des Skeletts und der Rumpf¬
muskulatur ist der üble Einfluß des Schulsitzens zu suchen. Die
Schule ist kein ursächliches, sondern nur mitwirkendes (Mo¬
ment bei der, Entwicklung von Rückgratsverkrümmungen. -
(Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg., Nr. 30. '
9 Die chronische Behandlung mit „606“, nach
Erfahrungen an 400 Fällen. Von Prof. Kromayer m
Berlin. Verf. erörtert vorerst, daß die praktische Erfahrung die
Hoffnung einer Therapia magna sterilisans Ehrlichs nicht erfüllt
habe- ihre theoretische Begründung sei zum Teil anfechtbar,
zum Teil stünden ihr wichtige Bedenken aus der Erfahrung und
aus der pathologischen Anatomie entgegen. An die Stelle der
Therapia magna sterilisans ist eine Therapia chronica zu setzen.
Im Berliner Ostkrankenhause befindliche Patienten erhielten jeden
zweiten Tag 0-2 g bis zur Gesamtdose von 1-2, so daß also,
wenn keine Zwischenfälle eintraten, die Kur in zwölf lagen be¬
endet war. In der ambulanten Praxis1 wurden täglich oder zwoi-
täglich 01 g bis zur Gesamtdose von 0-9 injiziert. Es wurde
hiebei die vom Verfasser angegebene Paraffinemulsion ange¬
wendet welche sich viele Wochen lang hält. Nachdem bereits mehr
als 350 Kranke in dieser Weise chronisch behandelt worden
sind, ohne daß irgendwelche schädliche Nebenwirkungen beob¬
achtet. wurden, darf diese Behandlungsmethode in dieser Rich¬
tung hin als einwandfrei empfohlen werden. Gelegentlich traten
schon bei der Einzeldosis von 0-2, besonders bei der intravenösen
Injektion, Allgemeinerscheinungen, wie Erbrechen, Kopfschmerzen,
Fieber (bis zu 39° und darüber) auf, daher wäre die EmzeldosiS
nicht zu steigern; doch dürfte die Gesamtdosis noch einer er¬
heblichen Steigerung fähig sein, was erst weitere Versuche lehren
sollen. Nur mit „606“, ohne Jod, resp. Quecksilber vor oder
nachher, wurden ih den* letzten Monaten 30 Kranke behandelt,
zumeist wurde alle zwei Tage 0-2 intramuskulär oder intravenös
injiziert. Das Resultat der 30 Fälle war, wie Verf. im Detail
ausführt, daß in allen Fällen sich im Durchschnitte von 2V*
Wochen das Gros der Symptome gut zurückgebildet hat, daß
aber in einigen Fällen eine Beseitigung aller syphilitischen Ver¬
änderungen, also eine vorläufige vollkommene Heilung
nicht erreicht worden ist. Ferner hat es sich gezeigt, daß
„606“ und Quecksilber sich direkt unterstützen, daß es also
angezeigt sei, beide Mittel kombiniert anzuwenden, entweder
zuerst „606“. und dann Quecksilber, oder umgekehrt; dann waren
die Resultate so günstig wie möglich, alle sichtbaren Erscheinun¬
gen der Syphilis wurden beseitigt. Von mehr als 100 Fällen, die
chronisch mit „606“ und Quecksilber behandelt wurden, konnte
keine einzige Rezidive festgestellt werden. (Deutsche
med. Wochenschr. 1910, Nr. 49.) B- B.
10 Die Giftigkeit des Holzgeistes (Methyl¬
alkohol) Von Dr. Rudolf Jak sch, k. k. Polizei- Oberbezirks¬
arzt in Wien. Bei der vielseitigen technischen Verwendung
des Holzgeistes und der Verfälschung geistiger Getränke und
der Verwendung desselben sogar in Apotheken zur Herstellung
innerer und äußerer Heilmittel (besonders m Amerika sind
Vergiftungen wenigstens im Auslande nicht so selten. Das ty¬
pische Bild der Holzgeistvergiftung ist folgendes: Nach dem
Genuß eines Gläschens methylalkoholhaltigen Likörs tritt zunächst
Kopfschmerz, Schwindel und Nausea ein; mitunter kann sich
eine Gastroenteritis mit Erbrechen und Diarrhoe entwickeln.
Diese Symptome können alsbald zurückgehen; aber nach einem
Intervalle, welcher manchmal nur wenige Stunden, zumeist aber
einen bis mehrere Tage dauert, beginnt die Sehkraft bis zur
vollständigen Blindheit abzunehmen. Charakteristisch ist nun der
weitere Verlauf. Nach einigen Tagen oder Wochen bessert sic
allmählich die Sehkraft wieder; aber diese Besserung ist nur
vorübergehend und der Endeffekt ist entweder ein bleibender
Mangel des Sehvermögens oder eine unheilbare Erblindung ( P
tikusatrophie). Diagnostisch wichtig ist, daß die Pupi en vom
Beginne an weit und reaktionslos sind. Bei größeren Dosen erfolgt
der Tod binnen wenigen Stunden oder Tagen unter Dehnen
Bewußtlosigkeit und Kollaps. Werden Dämpfe von Methylalkohol
eingeatmet, so kommt es zur Entzündung der Schleimhäute
und Atmungswege und zur Konjunktivitis; in einem Falle be¬
wirkte die Einatmung den Tod durch Lungenödem. Als letale
Dosen werden im allgemeinen Mengen von 120 bis .40 g an¬
gesehen, während Blindheit schon nach Einnahme von 8 bis
201g eintreten kann; bei Idiosynkrasie sind die gefährlichen
Dosen natürlich noch kleiner. Die Folgen der Holzgeistver¬
giftung sind also Blindheit und Tod. Unter solchen Um¬
ständen erscheint es erforderlich, daß entsprechende Maßregel
betreffs des Verkehres mit Holzgeist getroffen werden da bis
jetzt in Oesterreich der Holzgeist nicht als gesundheitsgefahr-
1 ich es chemisches Präparat, geschweige denn als Gift gilt. Als
solche Vorsichtsmaßregeln wären vorzuschlagen: 1 llolzgeist
ist als gesundheitsgefährlicher Stoff zu eiklären um < at im
Kleinverkehr nur in wohlverschlossenen Gefäßen an vertrauens¬
würdige Personen abgegeben werden; die Geiaße fame .
Aufschrift „Holzgeist; nicht innerlich einnehmen ; auch nie
äußerlich anwenden; wirkt giftig!“ zu versehen 2. Die \e
Wendung des Holzgeistes zur Bereitung von Genußmi teln, kos¬
metischen, diätetischen und arzneilichen Präparaten ist strengstens
zu verbieten. 3. Die Verwendung des Holzgeistes zu techmsch
Zwecken wäre möglichst einzuschranken; auf alle Falle ist jede
Benetzung der Hände und Einatmung der Dämpfe zu vermeiden
4 Das allgemeine Denaturierungsmittel für Spiritus erscheint
vom sanitären Standpunkt aus wegen des Gehaltes an Holz¬
geist bedenklich und sollte durch ein anderes, unschädliches
keinen Holzgeist enthaltendes Präparat ersetzt werden. -- (Dei
Amtsarzt, Zeitschrift für öffentliches Gesundheitswesen, -^ahrg.,
Nr. 1.) • V' . '
11 (Aus der Universitätsfrauenklinik zu Straßburg.) Zur
Frace’der physiologischen puerperal en B r a d y k a r-
die. Von Dr. med. A. Hamm. Assistent ^
durch vergleichende Untersuchungen bei ubei 100 ^auen
Schwangerschaft, Wochenbett und teilweise auch nach -vollen¬
detem Wochenbett zeigen, daß zwar in der Regel weder wa neu.
i Schwangerschaft, noch im Wochenbett Änderungen m de
Schlagfolge des Herzens auf treten, die außerhalb der -allgemeinen
physiologischen Schwankungsbreite gelegen sind; daß Frauen mi
ÄSL» langsamen Puls«, der bei absoluter korperhehe
und geistiger Ruhe auf 55 bis 45 Schläge sinken kann durchaus
nicht zu den Seltenheiten gehören und daß deratige Trauen n
halnJen langsamerem Herzschlag wohl das
als puerperale Bradykardie“ beschriebenen Falle ausmachen.
Aber Verf. konnte auch nachweisen, f /,“*"’inVwoche,.-
viel seltener, eine echte Verlangsamung cs n * ‘ , , T 0
hott oibt die meist nicht vor dem vierten bis sechsten -Lag.,
zu weiten sogar erst in der zweiten Woche deutlich m Ersehet-
nung tritt, und wohl erst nach Wochen und Monaten verschwmdet.
Nr. t
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
83
Man darf also weder das Vorkommen der „puerperalen Brady¬
kardie“ ganz leugnen, wie Mac Clintock, Aichel und andere
es tun wollten, noch darf man, wie Lewis ohn, als Charakter
ristikum für die „physiologische“ Wöchnerin, eine Verlangsamung
des Pulses verlangen. Verf. war bemüht, die Anschauung Lewi-
sohns, daß „infolge des geringen Blutzuflusses zum Herzen
nach der Geburt" der Puls der „physiologischen“ Wöchnerin sich
verlangsamt, mit Hilfe des „Phlebotonomeiters“ durch direkte
.Messung am Menschen unzweideutig klarzustellen. Er hatte schon
früher durch über 100 vergleichende Messungen an 15 verschie¬
denen Frauen in Schwangerschaft, Wochenbett und nach vollen¬
detem Wochenbett nachgewiesen, daß „weder in der Schwanger¬
schaft noch im Wochenbett eine gesetzmäßige Schwankung des
arteriellen Blutdruckes über oder unter die normale Durchschnitts-
höhe zu beobachten ist“. Die Messungen mit dem Phlebotonometer
zeigen nun, daß dasselbe auch für den Venendruck gilt. Verf. hat
außer 38 vergleichenden Messungen ah zehn Frauen in Schwanger¬
schaft und Wochenbett, bei zwölf Schwangeren und sieben Wöch¬
nerinnen, im ganzen 70mal, den Venendruck bestimmt; mit Aus¬
nahme der Fälle von Schwangerschaftsnephritis hat er dabei
weder abnorm hohe, noch abnorm niedere Werte feststellen
können. Wäre die Behauptung Lewisohns richtig, daß der
Blutzufluß zum rechten Vorhof nach der Geburt ein geringerer
ist, so müßte wenigstens ein vorübergehendes Sinken des Blut¬
druckes in den oberflächlichen Venen nachweisbar sein. Die Mes¬
sungen des Verfassers zeigen, daß eine derartige Druckabnahme
in der Regel nicht stattfindet. Weder während der Nachgeburts¬
periode, noch nach Ausstoßung der Plazenta, weder im Früh-, noch
im Spätwochenbett, nach dem ersten Aufstehen, konnte er ein
gesetzmäßiges Abfallen des Venendruckes feststellen. Ganz und
gar muß die Auffassung Lewisohns von der „Arhythmie des
Pulses der Wöchnerinnen“ zurückgewiesen werden. Verf. konnte
seinerzeit durch 250 sphygmographische Aufnahmen nachweisen,
daß es sich dabei um die beim gesunden Menschen allgemein
zu beobachtende „respiratorische Pulsarhythmie“ handelt. Warum
aber bei etwa einem Zehntel aller Wöchnerinnen sich eine wirk¬
liche Verlangsamung des Pulses im Wochenbett einstellt, diese
Frage läßt sich heute noch nicht mit Sicherheit beantworten. Es
dürfte die von Fehling vertretene Theorie, daß eine Verände¬
rung im Vagustonus das auslösende Moment für die puerperale
Bradykardie darstellt, auch heute noch am meisten Berechtigung
haben. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1910, Nr. 49.) G.
*
12. (Aus der Klinik für Nerven- und Geisteskrankheiten
am Institute für höhere Studien in Florenz. — Leitung: Professor
E. Tanzi.) Beiträge zur Kenntnis der pathologischen
Anatomie der Meningoenzephalitis des Menschen.
Von Dr. Ottorino Rossi, Oberarzt der Klinik, Privatdozent für
Neurologie und Psychiatrie. Verf. berichtet über die pathologische
Anatomie eines Falles von Meningoenzephalitis, den er klinisch
zu beobachten in der Lage war. Der Fall betrifft ein 14 jähriges
Mädchen; dasselbe war idiotisch, litt an epileptischen Anfällen
und starb im Status epilepticus. Die Obduktion ergab Leptomenin¬
gitis chronica des Gehirns, besonders in der Gegend der beiden
Stirnlappen. Die Konsistenz des Hirngewebes schien beim Tasten
etwas vermehrt zu sein. Rossi begnügt sich damit, in der vor¬
liegenden Arbeit die Veränderungen der einzelnen anatomischen
Bestandteile des Gehirns und der Meningen zu analysieren, wäh¬
rend er sich die Besprechung des ganzen Symptomenkomplepceis,
der Krankheit und die Beziehung des pathologisch-anatomischen
Befundes zu demselben für eine spätere Arbeit reserviert. -
(Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 47, Heft 2.)
S.
*
13. (Aus der Universitätskinderklinik der königlichen
Charite in Berlin. — Direktor: Geheimer Medizinalrat Professor
Dr. Heubner.) Beitrag zur Wesenserklärung der phy¬
siologischen Gewichtsabnahme des Neugeborenen.
Von Fritz Rott. Durch Untersuchungen mittels der refrakto-
metrischen Methode auf den Wassergehalt des Blutes bei Neu¬
geborenen konstatierte Rott, daß der Gewichtsverlust des Neu¬
geborenen nicht nur teilweise, sondern wohl in der Hauptsache
durch Wasserverlust, bedingt ist. Als Grund für die Entstehung
des Gewichtsverlustes braucht keine besondere Stoffwechselano¬
malie verantwortlich gemacht zu werden, sondern es kann hie-
für lediglich die unzulängliche Wasserzufuhr der ersten Lebens¬
tage, der initiale Hungerzustand, als ausreichend angesehen wer¬
den. Die Gewichtsabnahmen erfolgen regelmäßig, scheinen am
dritten bis vierten Tage abgeschlossen und in zeitlicher Begren¬
zung abhängig vom Beginn der Laktation zu sein. Das Repara-
tionsstadium, das ist die Zeit bis zur Wiedererlangung des Ge¬
burtsgewichtes ist verschieden lang und in erster Linie abhängig
von der Ergiebigkeit der Brustdrüse, in zweiter Linie von der
Größe des Gewichtsverlustes. In normalen Fällen ist die Repa¬
ration nach sechs bis sieben Tagen abgeschlossen. Als prak¬
tische Folgerung aus Rotts Beobachtungen ergibt sich die erst,
zu beantwortende Frage, ob es möglich ist, das neugeborene
Kind durch zeitige und ausreichende Zufuhr von Flüssigkeit vor
einem größeren Gewichtsverlust zu bewahren. Auch bleibt es
dahingestellt, ob bestimmte Eigenschaften (vielleicht osmotischer
Natur) für diese Flüssigkeit gefordert werden muß oder ob zum
Beispiel die Verbitterung saccharingesüßten Tees zur Erzielung
des gleichen Resultates genügen würde. — (Zeitschrift für Kinder¬
heilkunde, Bd. 1, H. 1.) K. S.
*
Aus englischen Zeitschriften.
14. Bemerkungen über 18 Fälle von Spinal¬
analgesie mit Strychnin und Stovain, einschlie߬
lich sechs Fälle von hoher Dorsalpunktion. Von
Lawry Mac Gavin. Die von Jonescu angegebene Methode
der Spinalanalgesie für Eingriffe am Kopfe, Halse und den oberen
Extremitäten, besteht im Zusatz von neutralem Strychninsulfat
zur Stovainlösung, wodurch die Gefahr der Respirationslähmung
bei Injektion zwischen dem ersten und zweiten Brustwirbel be¬
kämpft werden soll. Die Erfahrung lehrt, daß bis zur Schlüssel¬
beinregion Anästhesie mit Stovainlösung allein erzielt werden
kann, ohne daß die Gefahr von Respirationslähmung besteht.
Dia Angabe, daß bei hoher Dorsalpunktion durch Strychnin¬
zusatz die Gefahr der Respirationslähmung vollständig beseitigt
wird, ließ sich nicht durchaus bestätigen, da in einem derartigen
Falle die Einleitung der künstlichen Respiration notwendig wurde.
Die angewendeten Stovainmengen betrugen 0-03 bis 0-1 g, der
Zusatz 0-0005 bis 0-001 g neutralen Strychninsulfates. Wenn sich
auch in einzelnen Fällen von hoher Spinalanalgesie die Methode
als Ersatz der allgemeinen Anästhesie erwies, so waren doch im
allgemeinen die Erfolge unsicher und unvollständig, so daß die
Stovainstrychninanalgesie derzeit nicht empfohlen werden kann.
Bei der Lumbalanästhesie hat es sich gezeigt, daß der Strych¬
ninzusatz die Dauer der Analgesie eher abkürzt. Da das Stovain
keine herzdepressorische Wirkung besitzt, sondern nur Gefäß-
enveiterung mit leichter Herabsetzung des Blutdruckes bedingt,
so ist der Strychninzusatz bei tiefer Anästhesie überflüssig. Als
beste Methode ist die Anwendung der Stovain - Glykoselösung
zu empfehlen, welche hinsichtlich der Sicherheit und Raschheil
der Wirkung, sowie des Fehlens unangenehmer Nebenwirkungen,
die anderen Lösungen übertrifft. — (Brit. med. Journ., 17. Sep¬
tember 1910.) a- e-
*
15. Bemerkungen über akute Arthritis zwei¬
felhaften Ursprungs. Von H. D. Rolleston. Es gißt
Fälle, die zunächst als Gelenksrheumatismus betrachtet, auf die
Salizyltherapie nicht reagieren, die aber auch nicht mit Pyämie,
Gonorrhoe und charakteristischen Allgemeininfektionen Zusam¬
menhängen. Die Reaktion auf Salizylpräparate ist diagnostic li
mit Einschränkung zu verwerten, da es Fälle von echtem Rheu¬
matismus gibt, wo die Therapie in den ersten Tagen noch nicht,
die charakteristische Wirkung auf Fieber, Schmerzen und Ge¬
lenkserguß entfaltet, sondern erst später, anderseits energische
S alizy lb ehand lung auch hei nicht rheumatischer Arthritis eine
Wirkung zu entfalten vermag. Es gibt ferner Fälle von mul¬
tipler rheumatischer Arthritis, die auf Salizyltherapie zuiück-
gehen, wobei jedoch einzelne Gelenke unbeeinflußt bleiben und
sich daselbst allmählich fibröse Ankylose entwickelt, oder die
erste Attacke auf Salizyltherapie ganz zurückgeht, aber sich dann
Rezidiven einstellen, die auf Salizylpräparate nicht mehr rea-
Kr. J
\\ 1EJNEK KLINISCHE VYOCllLNSCiiilli' i. B)li.
nieren und zu fibröser Ankylose führen. Diese Fälle legen den
Gedanken der Entwicklung einer Sekundär.,. ' “t lehrt
Boden einer rheumatischen Synovitis, nahe. Die E fahinug lern
daStd Patienten mit septischen Zuständen der Mundhöhle to-
position für Rezidive des Gelenksrheumatismus besteht. Die
ukulen nicht rheumatischen Arthritisformen können in zwei
tilüppen geschieden werden u. zw. infektiöse Formen mit posn
tivem Mikroorganismen Befund m den eikian len .re c
toxische Formen mit negativem bakterrologischen DefuM; ta die
erste Gruppe gehören neben den durch Gonok, okken Pnemnol k
Pen Strepto. und ‘ 'Jlito
rs SÄ
in einzelnen Fällen würfen Ko baziUe^als jn
£ä52äSS^?£
Stellung des ^“^^““‘XgrSBerung der Milz und
dr “0" Ä ^SSöiÄteitrige
“ ^ DrtfkSia’und ÄÄÄ £
Fehlen von Eiterung und lleberspringen bei Entzundt g ^
Gelenk zu Gelenk gekennzeichnet — (Bnt. med. Io .,
tober 1910.)
erkrankung in den ersten 24 Stunden zu operieren. - (The Lancet,
2. Juli 1910.)
Aus französischen Zeitschriften.
a. e.
16. Ueber die zugunsten frühzeitiger Olier.ti«
fortsatzes ist sofortige Operation radiziert, |r^ahiend bei ei a
rhaliscben Erkrankung, die mit Stenose -zusamm^gt ^
häufig wiederkehrende kolikartige Schmerzen ’
LTue so unmittelbare Indikation der .Operation besteh Wenn man
rnit der Operation wartet, bis der akute Anfall vorüber ist, so
wird dadurch das Krankenlager oft (beträchtlich verengert anc
kann in dieser Zeit Perforation |mit anschheßendei *
einstellen, wodurch der Patient verschiedenen |Gefahren ausge
ist Zugunsten der Operation in den ersten -4 Stunde >P
auch der Umstand, daß, zu dieser Zeit noch erne energische, Reak¬
tion des Organismus auf die , Infektion besteht die sich u. a. a >
,ktive Hyperämie des Wurmfortsatzes äußert, wählend Adi
tül S, nicht ausgebildet sind. Sach Exstirpation .des Wurnv
fortsatzes bestehen zu dieser Zeit (die günstigsten 1 “ °
für die Heilung des Stumpfes, (wobei m der Regel die Drainag
entbehrlich ist. Zugunsten des frühzeitigen Emgnl es bPn
auch der Umstand, daß der Wurmfortsatz bei erst beginnende
und sehr milden Symptomen schon 'sehr schwere Veränderungen,
zum Beispiel Perforation, starke Elteransammlung w der U
gebung, hochgradigste Distension aufweisen kann. In zwei 1 allen
war die Distension des Wurmfortsatzes so hochgradig, daß
Beratung mit Erguß des Eiters tin die Bauchhöhle^hoh m den
nächsten Stunden hätte erfolgen müssen und nW d “
vor der Perforation rettend wirkte. Das Fehlen von Adhäsionen
gestaltet in diesen Fällen die (Exstirpation weniger schwierig,
wobei die Eröffnung vom Rektum aus am meisten zu empiehlei
ist In Fällen von virulenter (Streptokokkeninfektion ermöglicht
dt M* Operation auch den Nachweis des Infektion*,
erregers und schafft dadurch die Möglichkeit eine wirksame Vak-
• ttprame einzuleiten. Alle Faktoren sprechen in gleicher Meise
ÄÄ jeden Fall von entzündlicher Appendix-
17 Ueber End oaneurysmorrhaphie. Von f. Uarc
ner Als Endoaneurysmorrhaphie wird die Behandlung der Aneu¬
rysmen durch Naht des Sackes von innen her be.zelc^et- '
wird das neueste Prinzip der Gefäßchirurgie, namlic i u - 1
mit Wiederherstellung der Kontinuität des Gefäßes angewende ,
“ähtlrdäS frühere Prinzip in Ligatur und Unterbrechung der
Zirkulation besteht. Die Ausführung der Operation wm dadurch
ermöglicht, daß der Aneurysmasack eine lebende Membra t •
und daß die aneinandergelegten Flächen der Intima miteinander
ebenso rasch und vollständig verwachsen, wie aneinandergelegte
Peritonealflächen. Die Endoaneurysmorrhaphie ist eine mehr¬
seitige Operation, deren Stadien die provisorische Blutstillung
die Freilegung des Aneurysmasackes die Inzrsion des Sackes mt
Entleerung der Gerinnsel, die Untersuchung des Sackes u
(Ut! Verschließung der Unilateralen, die Wiederherstellung her
Kontinuität der Arterie durch Vernähung der Kommunikation
mit dein Aneurysma, eventuell die Obiiterierung des aneurys¬
matischen Teiles der Arterie durch die Naht, schließlich die Nah
des Sackes zur Obhterierung des Hohlraumes und dm Bantnaht
sind Es wurden bisher 149 Fälle, davon 131 an der unteren
Extremität sitzende Aneurysmen, mit der angegebenen i e oce
behandelt, unter den letztoperierten 64 Fällen wurde kein Tode -
fall keine Rezidive, keine sekundäre Blutung und nur ein Fall
von Gangrän beobachtet. Die Endoaneurysmorrhaphie ist hin¬
sichtlich ihrer Wirkung radikaler als die Ligatur und die Exs
pation, setzt die geringsten Verletzungen, so daß “
nahmsweise zur Gangrän kommt, beeinträchtigt m ke nei J eise
den Kollateralkreislauf, schaltet, weil der Eingriff 1,n ^
des Sackes vorgenommen wird, die Gefahr einer Venenverletzung
aus und kann in Fällen angewendet werden, wo die Exstirpation
nicht mehr durchführbar ist, auch ist die Methode eintac u
leicht ausführbar. Zur Naht wird Chromkatgut oder Katgut 00,
tventueh feine Seide, wie für Augenoperationen, verwendet
Prinzipiell ist die Operation in allen Fällen indiziert, wo die
provisorische Blutstillung durchführbar und der
tu sanglich ist. Die Wiederherstellung der Gefaßkontinuitat is
beSkfönnigen Aneurysmen, die ^ £
föimisen Aneurysmen und ausreichendem Kollateralkreisiaiu n
dizieri Die sogenannte rekonstruktive Operation ist bei ’
ELZU. mit elastischen und resistenten .Wanden
dureSrhar! wl beide Oriftzi«, in gleicl hem »■£“£““ n-
ander liegen und leicht zugänglich sind. Es ist in jedem i
wichtig Sh von Beginn der Operation vom Zustande des Kob
lateralkreislautes zu überzeugen. — (&az. des hop. 1910, ^
■y.
18 Ueber eine neue, durch multiple Slo1^
kalte Abszesse gekennzeichnete For“ de' hP° d
trichose Von de Beurmann, Gougerot Bith und
B euyer. Sporotrichosen mit Bildung multipler großer ^szess
„Wul „ine Seltenheit; in einem derartigen Falle, wo die Abs _
bis 500 g Eiter enthielten, wurde das Sporotrrchum on, eine
vom Sporotnchum Schert und Sporotrichum Beurmannr stark
difterieren.de Art gefunden. Bei der gummösen Form des Sporo-
trichum Beurmanni kommt die Umwandlung m große Abszess
to n Inem Falle, der ausführlich beschrieben wird domi¬
nierten multiple große kalte Abszesse von torpidem Verlaut im
Ser Phalange ehm PmioSis, welche
IT S anf dem Objektträger ausgebmtet. getrocknet
temperatur Kulturen erhalten, ebenso entwickelten sich
Kr. I
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1‘Jll.
o5
siten im Eiter, welcher aseptisch in Tuben aufgefangen wurde.
Weitere Untersuchungen zeigten, daß das Serum in größerer Ver¬
dünnung Agglutination gab und das Komplement besser fixierte,
als der Eiter. Es wurde ferner Intradermoreaktion mit iSporo-
trichosin und mit auf 100° erhitztem reinem oder verdünntem
Eiter erhalten. Therapeutisch bot der mitgeteilte Fall Interesse,
weil neben allgemeiner und lokaler .Todbehandlung auch lokale
Behandlung mit Arsenpräparaten angewendet wurde. Zwei wei¬
tere Fälle von Sporotrichose boten durch die Lokalisation an
der Kopfhaut, bzw. im Gesicht und Nacken Interesse. — (Bull,
et Mem. de la Soc. med. des Hop. de Paris 1910, Nr. 26.)
a. e.
*
Aus italienischen Zeitschriften.
19. Ueber Kohlensäureschnee als Ersatz des
Chloräthyls in der Lokalanästhesie. Von Guido Malan.
Der Kohlensäureschnee wurde zur Behandlung von Gefäßmälern,
Lupus erythematosus etc., sowie als Ersatz des Chloräthyls für
die Zwecke der Lokalanästhesie versucht. Man setzt an die
Kohlensäurebombe ein Metall- oder Holzrohr, welches einen
weichen Boden, z. B. aus Leder zeigt, so daß sich der bei der
Verdunstung der flüssigen Kohlensäure gebildete Kohlensäure¬
schnee ansammeln kann. Der Schnee wird in viereckige Tuben
gebracht und durch Stempeldruck auf die zu anästhesierende
Fläche appliziert. Die Anästhesie tritt nach fünf bis acht Sekun¬
den ein und ist von kurzer Dauer, so daß die Inzision schnell
ausgeführt werden muß. In 30 Fällen von Furunkel, Anthrax,
Abszeß, Phlegmonen, Inguinalbubonen, wurde für die Inzision
ausreichende Anästhesie erzielt, welche wohl flüchtig, aber tiefer
als die durch Chloräthyl hervorgerufene Anästhesie ist. Bei
Furunkeln entfaltet der Kohlensäureschnee auch! Heilwirkung,
insofern als die Ausstoßung des nekrotischen Pfropfes begünstigt
wird. Der Heilungsprozeß wird auch sonst durch den Kohlen¬
säureschnee nicht verzögert, Blasen- und Schorfbildung werden
nicht beobachtet. Die .Methode eignet sich nur für rasch aus¬
zuführende Inzisionen im entzündeten Gewebe, ist aber wegen
der- Härtung der Gewebe und der Flüchtigkeit der Wirkung
zur Anästhesie nicht entzündeter Territorien wenig geeignet.
Der Nachteil gegenüber dem Chloräthyl besteht in der schwereren
Transportabilität des Rezipienten; Vorteile sind die raschere
Wirkung, die bessere Dosierbarkeit und die größere Billigkeit,
welche die Methode besonders für die Ambulanzen größerer
Spitäler geeignet erscheinen lassen. — (Gaz. degli osped. 1910,
Nr. 105.) a. e.
*
20. Ue^er Chloroformnarkose bei Kindern. Von
Vittorio Brun. Die reine Chloroformnarkose entfaltet leichter
toxische Wirkungen wegen der erforderlichen größeren Mengen
des Narkotikums, bei Kombination mit Chloräthyl fällt das Exzi¬
tationsstadium weg und der Chloroformverbrauch wird reduziert.
In gleichem Sinne wirkt die Injektion von xk bis 1 cm3 einer
Lösung, die pro Kubikzentimeter 1 mg neutrales Atropinsulfat
+ 1 cg Morphium hydrochloricum enthält, 15 bis 20 Minuten
vor Einleitung der Narkose. Am besten bewährte sich
die Kombination der Morphium - Atropininjektion mit der Chloro¬
form - Chloräthylnarkose. Man muß eine Maske anwenden, welche
die Mischung der Chloroformdämpfe mit dem Sauerstoff der
Luft gestattet und das Chloroform tropfenweise applizieren. Es
wird dadurch ein minimaler Verbrauch, durchschnittlich sechs
Tropfen pro Minute, bewirkt, ohne daß die Tiefe der Narkose
beeinträchtigt erscheint. Im Kindesalter ist die Einschränkung
des Chloroformverbrauches von besonderer Wichtigkeit, da die
Empfindlichkeit gegen die toxische Wirkung höher ist. Unter
dem Einfluß des Chloroforms erfolgt Abnahme des Hämoglobin¬
gehaltes und der Erythrozytenzahl, sowie Leukozytose; die Schä¬
digung der Leber gibt sich durch alimentäre Lävulosurie und
Urobilinurie, die Schädigung der Niere durch transitorische Albu¬
minurie und Zylindrurie kund. Bei der Anwendung der kombi¬
nierten Morphium - Atropin - Chloroform - Chloräthylnarkose fällt
die Schädigung des Blutes weg, Leber und Niere werden nur in
geringfügiger und vorübergehender Weise affiziert. Das Allge¬
meinbefinden nach der Narkose ist günstig, Erbrechen und Ver¬
dauungsstörungen werden nicht beobachtet. Gegen den Durst
gibt man zwei bis vier Klystier© von je 100 g einer 10 "cd gen
lauwarmen Lösung von Natrium bicarbonicum innerhalb
24 Stunden. Die Spätintoxikation durch Chloroformnarkose gibt
sich durch Nekrose und fettige Degeneration der Leberzellen
kund; sie wird fast ausschließlich bei bereits erkrankter Leber
oder entsprechender hereditärer Belastung beobachtet. Die be¬
schriebene Narkose ist bei Anwendung des Chloroform „Roche“'
selbst bei schweren Eingriffen ausreichend und bewirkt voll¬
ständige Muskelerschlaffung. — (Gaz. degli osped. 1910, Nr. 118.)
a. e.
*
21. Ueber die Viskosität des Blutes, sowie das
Verhalten der eosinophilen Zellen bei Epilepsie.
Von Giuseppe Vidoni und Stefano Gatti. Die Viskosität ist
eine für Nährflüssigkeiten notwendige und vom Eiweißgehalt ab¬
hängige Eigenschaft, welche auch für die Geschwindigkeit der
Zirkulation von Bedeutung ist. Die Viskosität des Blutes ist
der Zahl und Größe der Erythrozyten, sowie dem Kohlensäure¬
gehalt des Blutes proportional. Bei Asphyxie und Kardiopathien
ist eine Zunahme, bei Anämie, nach Schilddrüsenexstirpation,
in der zweiten Hälfte der Gravidität, sowie nach Inhalation von
Sauerstoff, eine Abnahme der Viskosität des Blutes nachweisbar.
Einschlägige Untersuchungen bei Psychosen, wobei das Blut zu
einer bestimmten Zeit entnommen wurde, ergaben eine Steigerung
der Viskosität des Blutes bei Pellagra, Alkoholismus, Amentia,
demnach bei Psychosen toxischer oder infektiöser Natur; in
einer Anzahl von Fällen war nur eine episodische Steigerung
der 'Viskosität nachweisbar. In der Literatur finden sich Mit¬
teilungen über erhöhte Viskosität des Blutes beim Status epi-
lepticus, welche auf die Asphyxie zurückgeführt wird. Die bei
der Epilepsie beobachtete Eosinophilie ist toxisch bedingt; die
bisherigen Untersuchungen ergaben Hypereosinophilie in den an¬
fallsfreien Intervallen, welche Angabe durch an acht Fällen an-
gestellte Untersuchungen bestätigt wurde. Während des Anfalles
war eine Abnahme, nach dem Anfall rasche Zunahme der eo¬
sinophilen Zellen nachweisbar; die Konstanz dieses Befundes
läßt ihn zur Aufdeckung der Simulation von Epilepsie geeignet
erscheinen. ' — (Gaz. degli osped. 1910, Nr. 120.) a. e.
*
22. Ueber fünf Fälle von Schädelfraktur. Von
A. Fontana. Bezüglich der Behandlung der Schädelfrakturen
sind die Ansichten geteilt, da eine Anzahl von Chirurgen sofor¬
tiges operatives Eingreifen für indiziert hält, während andere
die Indikation für die Operation nur unter ganz bestimmten
Verhältnissen als gegeben betrachten. Der Verfasser berichtet
über fünf operativ behandelte Fälle von Schädelfraktur, darunter
vier Fälle von offener Fraktur, mit günstigem Ausgang. In Fällen
mit beträchtlicher Hämatombildung der Kopfhaut kann der Nach¬
weis der Schädelfrakturen Schwierigkeiten bieten; hier empfiehlt
es sich, durch leichte Massage das Hämatom auf eine größere
Oberfläche zu verteilen, wodurch eine verläßlichere Palpation
ermöglicht wird. In anderen Fällen weisen abnorme Beweg¬
lichkeit und Dislokation, gelegentlich auch deutliche Krepitation
auf das Bestehen der Schädelfraktur hin, ferner kann die Röntgen¬
untersuchung verwertbare Aufschlüsse geben. Die frühzeitige
Diagnose der Schädelfrakturen ist von großer Wichtigkeit, ;da
von übersehenen kleinen Läsionen tödliche Gehirnkomplikationen
ausgehen können. Es wird auf die spontane Ausheilung yon
Schädelfrakturen hingewiesen, doch sieht man in solchen Fällen
nicht selten schwere Gehirnsymptome als Spätfolgen auftreten,
so daß bei sichergestellter Schädelfraktur unmittelbar operatives
Eingreifen indiziert erscheint. Bei den komplizierten Schädel¬
frakturen stellt die Verhütung der Infektion des Gehirnes und
der Meningen die Hauptaufgabe dar. Es müssen Haare, Fremd¬
körper, Knochensplitter, nekrotische Gewebspartikel sorgfältig ent¬
fernt werden; eine vollständige Vernähung der Wunde ist zu
vermeiden. Die weiteren operativen Akte bestehen in Naht der
verletzten Meningen und Ligatur der blutenden Gefäße. T on
großer Wichtigkeit sind die Verletzungen der Gehirnsinus wegen
der Gefahr der Verblutung oder der Entwicklung schwerer Häma¬
tome; bei längs- oder schiefgerichteten Sinusverletzungen ist die
Naht, bei queren Verletzungen die Gazetamponade indiziert. Von
Wichtigkeit ist der Ersatz des nach Entfernung der Knochen-
36
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 19U.
Nr. 1
fragments zurückbleibenden Defektes der Schädelhöhle, für
welchen Zweck verschiedene Methoden, zum Beispiel Bildung
eines gestielten autoplastischen Lappens.
Knochen- und Periostlappens von der tibia, u
Knochen, Einlegung von Metall- oder Zellnloidlappen usw^ mp
gewendet wurden. Für die Regeneration ist gute Anfrischung
der Ränder, sorgfältige Fixation des TransplanUrtionsmatendes
und strenge Asepsis von Wichtigkeit. Iler Vertäte« ™w“‘ ^
zur Beförderung der Schließung des Deletes
Knochenstücke der Frakturstelle, welche wahrend der Operation
in Kochsalzlösung eingelegt und dann zur Ataull, mg der Lucke
verwendet Svnrden, - (Gaz. degli osped. 1910, Nr. 1-4.) a. e.
Aus russischen Zeitschriften.
23 (Aus dem Obuchow sehen Männerhospital zu Sankt
Petersburg.) Ueber Wirkung des akuten Alko^°^S“US
auf die Magensaftsekretion. Von W • R- btuhi,e^ ;
Während eine Anzahl von experimentellen Arbeiten bezüglich dei
w“X 1 Alkohols an Tieren - meist Pawl o w schon Hunde i
_ vorliegt (wobei erst Beförderung, dann Hemmung der Ver¬
dauungsarbeit zu konstatieren war), sind solche Untersuchungen
unter natürlichen Bedingungen bei Menschen in nur geringer Zahl
ausgeführt. Die Arbeit des Verfassers füllt nun diese Lucke aus.
Er stellte seine Untersuchungen an 126 Arbeitern unter den Bi¬
ding ungen des periodischen akuten Alkoholmißbrauches („Quarta -
Sr) hei Gell rauch von dOgradigem Schnaps an. Die HaupL
ergebnisse werden, wie folgt zusammengefaßt D^r Mißbrauch
mit 40gradigem Schnaps, sowohl akut, wie chronisch tuhi -
stark ausgeprägter Herabsetzung der
dischem Alkoholismus kommt es in 70°/o dei Falle last bis z
völligen, jedoch temporären Hemmung der Sekretion. Eintägige
Alkoholismus zeigt bei Leuten, die nicht an Alkohol gewöhn . sind
dieselben Erscheinungen, doch sind dieselben kurzer andauei _
und weniger scharf ausgeprägt. Periodischer Alkoholmißbrauch
wirkt weniger schädlich auf die Magensaftsekretion als kontinuier
Ser, selbst wenn derselbe sich in mäßigen Grenzen bewegt
Dies gilt jedoch nicht für das Bier, welches sowoh nach der
vorliegenden Literatur, als auch nach den Beobachtungen des
Verfassers die Magensaftsekretion eher ein wenig steigert Eine
safttreibende Wirkung schwacher Alkohollosungen bei manche
Magenkrankheiten (z. B. Achylie) läßt sich nicht feststellen.
— (Russkij Wratsch 1910, Nr. 46.) • L
25. (Aus dem Laboratorium des St. Maria-Magdalena-HospF
„u /u St Petersburg. - Vorstand: G. S. Kulescha.) Zur
Frage der Verbreitung der Choleravibrionen im Oi-
„anismus (nach den Obduktionsergebnissen). Von
L P Brjullowa. Bei der bakteriologischen Untersuchung von
Choleraleichen läßt sich der Choleravibrio nicht nur aus dem
Inhalt des Magendarmkanals, sondern auch aus dem M
anderen Organen züchten. Der erste fatz gebührt der Zahl und
der Häufigkeit des Vorkommens nach dem Dumulaim (62« «fund
Diese Zahl sinkt in der Richtung gegen das Kolon (62 a0 um
ap_„n den Magen (78°A>). Die Galle hält bezüglich der Häufigkeit
des Vorkommens die Mitte zwischen dem Magen und dem *'as-
da J peT) nimmt jedooh bezüglich der Reichlichtat der M-
np die erste Stelle ein. Von anderen Organen werden die Cho-
Sibten« häufigsten in der Pfortader, den, Herzen und
in der Harnblase gefunden (40 bis 38*); in dm ubngen Organen
kommen sie weitaus seltener vor (16* u,id dl“''“ , | m
dem Tode verstrichene Zeit (innerhalb 24 Stunden) hat keinen
Einfluß auf die größere oder geringere Verbrmtu^ der Vjbnene
in den Organen, sondern nur auf den Grad der Reinheit, a
CKolei aku ltu ren und dem geringeren Prozentsatz rn j erd £
bliebenen Organen. Man muß daher annehmen daß ;
vnn Choleravibrionen nicht nur auf postmortale Einwanderung
“4 S» ist, sondern auch auf vertebraler Emwandermig
derselben in den Kreislauf intra «tan, zu beziehen ist. Aut
(' 1 ltor bis nun vorliegender Daten müssen wn zu
Swusse ^langen daß dircholera zwar keine ausgesprochene
Pyämie ist, daß jedoch die Cholerav.br,onen .m Laufe L -
krankung in den Kreislauf emdnngcn und über den ganzen LM
nismus hin verschleppt werden kenn«. - (Russkij ^ «ratz
1910, Nr. 47.)1
Aus amerikanischen Zeitschriften.
24. (Aus dem Obuchow sehen Männerhospital zu Sankt
Petersburg.) Klinische Wertung der wichtig s t e n Met ho-
de n zur Mottl itätsp rüfung des Magens Von D. G. läse
son. Verf. wendete an einem großen, sorgfältig beobachtete
Krankenmaterial gleichzeitig die wichtigsten Methoden der J o i-
litäts prüfung des Magens an unter gleichzeitiger Bestimmung der
Aziditätsverhältnisse. Er gelangte zu folgenden Resultaten. Bei
Verdacht auf Hypersekretion oder Motilitätsstörung muh jeder
Magenuntersuchung nach Probefrühstück eine Sondennntersuchung
des Inhaltes bei nüchternem Magen vorausgehen. Die Motilitats-
verhältnisse des Magens bedürfen eines ebenso intensiven Stu¬
diums wie die Sekretionsverhältnisse. Salol, Jodopin und Jodo¬
form sind für das Studium der Motilität nur mit allergrößter V or¬
sicht verwertbar. Bei Benützung der Neutralrotmethode, weist dei
Moment des ersten Auftretens der Rotfärbung des Urins aut den
Zeitpunkt der ersten Eröffnung des Pylorus hin. Das Probeabend¬
essen von Boas- Strauß ist die beste und sicherste Methode,
um grobe Störungen de't Magenmotilität infolge Pylorusverengung
nachweisen zu können. Die Methode von Elsner (Bestimmung
der gesamten festen Rückstände) ist einfach, für klinische Zwecke
anwendbar und gewährt uns die Möglichkeit einen Einblick m
die Motilitätsverhältnisse des Magens zu gewinnen. Die Magen-
sondieining sieben Stunden nach der Leube- Riegel sehen
Prob emahl zeit und zwei Stunden nach dem Ewald-Boas-
schen Probefrühstück kann über den Grad der Motilitätsstörung
Aufschluß gewähren. Die Motilitätsbestimmung nach S c h 1 aop f e r
ist nicht genügend genau und bei Anwesenheit von Galle und
Blut nicht anwendbar. Die Perlenmethode von Einhorn ist
für die Praxis schwer anwendbar. — (Russkij Wratsch 1910,
Nr. 46.) L Sch-
26 Die Isolierung des Gonokokkus u n d s e i n c Di f
i' Nährbodens von der größten Bedeutung. Zu Fleischbiuhe
des Nährbodens vo ® /N iii>(),j po/o Pepton und
kommen 0-5 °/o Dmatnumphosphat UvasLLiUiL
u° Tvir Diu alkalische Reaktion entspricht so 0-6 em> Samo
SSSSK. Ä*SÄ
Immunserum waren gleichfalls , verschieden, ob-
drei genannten Organismen sind 2 (Joumal of
zwar man mitunter auch zweifelhafte Falle trutt.
Pathology and Bakteriology 1910. Bd. 15. S. 76-)
97 Die Resistenz der roten Blutkörperchen bei
„ “7 a 11Tirl Kranken gegenüber der Saponinhamo-
Gesundenund K ranken , e durch Sapo-
lyse mit einem V.erg® g Yzlösun g.' Von C. Moneil. Der
nin und hypotonische <- Wirkune des Saponins auf
Autor untersuchte dre hamolyfts ^ ^ Salzlös„„g
gewaschene rote Blutkorpercn , Hämolyse
bei 37° suspendiert erhalten ^r^c \.enC t roter Blutkörper¬
wurde bestimmt indem emo einheitliche Mg- Ende des
eben (50,000.000) zur Verwendung kam t ^
Versuches noch zurückgebliebenen 1 . . . yn-
1 Er fand, daß die Resiste^ TÄ Ä
ämie, hohem Fieber, herabgesetzt ist. t vermehrt
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
37
höhte Resistenz gegenüber hypotonischen Lösungen (042% Na( l)
zeigten, während ihre Resistenz gegenüber Saponin unverändert
blieb. Die erhöhte Resistenz bei Ikterus gegen hypotonische Lö¬
sungen ist darauf zurückzuführen, daß das Plasma etwas hyper¬
tonisch ist, die geringe Resistenz gegenüber Saponin auf die gallen¬
sauren Salze, welche sich mit den Lipoiden der Wand der roten
Blutkörperchen vereinigt haben. — (The Journal of Pathology
and Bakteriology 1910, Bd. 15, S. 56.) sz-
*
28. Der Mechanismus der anaphylaktischen Sym¬
ptome beim Kaninchen. Von M. Scott. Kaninchen können
für fremdes Serum, fremde Blutkörperchen, Milch, Bakterien oder
vegetabilische Proteine überempfindlich gemacht werden. Die dazu
erforderlichen Mengen sind größer als bei Meerschweinchen. Der
Zustand der Anaphylaxie entwickelt sich nach zehn Tagen, dauert
weitere zehn Tage und fällt dann rasch ab. Wenn das i iei den
anaphylaktischen Shock überlebt, verhält es sich durch etwa
vier Tage refraktär, -am siebenten Tage ist es wieder vollständig
überempfindlich. Die passive Uebertragung der IJeberempfmd-
lichkeit erfolgt am besten, wenn das Serum des überempfind¬
lichen Tieres und das fremde Protein gleichzeitig dem frischen
Tiere einverleibt wird. In bezug auf den Grad der Ueberempfind-
lichkeit herrschen bei Kaninchen große individuelle Verschieden¬
heiten. Dieser Grad variiert mit der Menge des Präzipitins,
welches sich in ihrem Serum gebildet hat. Die Hinfälligkeit und
die Muskellähmung während des anaphylaktischen Shocks sind
auf das starke Sinken des Blutdrucks zurückzuführen. Im Ge¬
biete der Vena portae herrscht starke Stauung infolge der
Lähmung der Arteriolen und Kapillaren. Der Atemstillstand ist
auf das beginnende Oedem der Lungen zurückzuführen. Die
Gerinnbarkeit des Blutes erweist sich als verzögert und die Fibrin-
bildung ist unvollkommen. Es besteht ferner deutliche Leukopenie.
Das Präzipitin verschwindet vollständig aus dem Sei um und
das Komplement ist stark vermindert. Die bakteriolytische und
die opsonische Kraft des Serums haben abgenommen. Die Endo-
thelien der Blutgefäße scheinen gelitten zu haben. Der Autor
führt das anaphylaktische Krankheitsbild auf die V echselwiikung
zwischen Antigen und Präzipitin zurück. Mehrere Tage nach
der Erholung ist kein Präzipitin nachweisbar; sobald es erscheint,
wird das Tier wieder überempfindlich. Die Rektaltemperatur fällt
während der Krankheit und der Harnstoffwechsel ist um etwa
25% vermindert. — (The Journal of Pathology and Bakteriology
1910, Bd. 15, S. 31.) sz-
*
29. Die Ausscheidung von Bakterien aus dem
Blute durch die Darmwand. Von F. Hess. Daß Bakterien
durch die intakte Darmwand mit dem Lymphstrome in das Blut
gelangen können, ist eine bekannte Tatsache. Das umgekehitc
Phänomen, daß Bakterien aus dem Blute in die Darmwand aus-
geschieden werden, konnte in Experimenten an Hunden gezeigt
werden. Durch Unterbindung des Pylorus und der Ausführungs¬
gänge des Pankreas und der Gallenblase wurde jede Fehler¬
quelle ausgeschlossen. Die Darmwand funktioniert daher als ex-
krotorisches Organ nicht nur bei toxischen Zuständen, zum Bei¬
spiel Urämie, sondern auch bei Bakteriämien’, z. B. bei Typhus
oder 'Sepsis. — (The Archives of internal Medicine, 15. No¬
vember 1910.) sz'
*
30. Experimentelle Lungenanthrakose. Von
L. Sayre-Mace. Durch neuere Arbeiten von Calmette und
seinen Schülern wurde die Frage der Anthrakose wieder auf¬
gerollt. Calmette behauptete nämlich, daßi die nach Inhala¬
tionen in der Lunge gefundenen Kohlepartikelchen vom Darme
aus durch die Lymphwege dahin gelangen. Nachprüfungen von
verschiedenen Seiten haben die Behauptung Calmettes nicht
bestätigt. Da Calmette die angebliche Wanderung der Kohle¬
teilchen vom Darme in die Lunge als Beweis für den enteio-
genen Ursprung der Lungentuberkulose ansieht, so hat diese frage
eine große praktische Bedeutung. Nachdem die Wanderung von
Partikelchen aus der Peritonealhöhle gegen das Darmlumen sicher-
gestellt ist, hat Autor Talk intraperitoneal injiziert, die Tiere
nach einer gewissen Zeit getötet und die Lungen auf die Anwesen¬
heit. von Talk chemisch untersucht. Das Ergebnis war, daß Talk
in den Lungen solcher Tiere nicht nachgewiesen werden konnte.
Obgleich die Versuche mit Talk für die Frage der Wanderung
von Kohlepartikelchen und von Tuberkelbazillen infolge der Ver¬
schiedenheit der Substanzen nicht absolut beweisend, sind, so
sprechen sie doch mit sehr großer Wahrscheinlichkeit dafür,
daß der Dannweg bei der Entstehung der Anthrakose keine Holle
spielt. - — (The Archives of Internal Medicine, 15. November 1910.)
sz.
*
31. Kutanprobe mit Maishxtrakt bei Pellagra-
kranken. Von D. Hirschfelder. Unter der Voraussetzung,
daß die Ansicht von Lombroso und Babes, wonach die
Pellagra ätiologisch auf eine chronische Maisvergiftung zurück¬
zuführen ist, richtig ist, durfte man bei Pellagrösen Ueberempfind-
lichkeitserscheinungen gegen Maisextrakte erwarten. Es wurde
nach der Pir quetschen Methode auf Ueberempfindlichkeit mittels
Extrakten von gutem und verdorbenem Mais und von Mais, der
Aspergillus fumigatus enthielt, geprüft. Das Resultat war aber
immer negativ. Die Analogie zwischen der Pellagra des Menschen
und dem Fagopyrismus (Buch weizen Vergiftung) bei Tieren, bei
welch letzteren es gelang, anaphylaktische Erscheinungen mit
Buchweizenextrakt zu zeigen, hätten einen positiven Ausfall dieser
Versuche erwarten lassen. Das gegenteilige Ergebnis macht es
unwahrscheinlich, daß die Pellagra auf Ueberempfindlichkeit gegen
Maisprodukte zurückzuführen ist. — (The Archives of Internal
Medicine, 15. November 1910.) sz.
*
32. U e b e r einen Fall von tödlicher Chlor natriti m-
v erg if tun g. Von H. Brooks. Bei einer Patientin, die wegen
chronischer Appendizitis operiert worden war, wurde irrtüm¬
licherweise von einer Wärterin statt physiologischer eine kon¬
zentrierte Kochsalzlösung zu Klysmen verwendet. Die Gesamt¬
menge Chlornatrium, welche hiedurch in den Körper gelangte,
betrug neun Unzen (= 255 g). Die Patientin zeigte folgende
Symptome : Starke Unruhe, Durst, reichlichen Tränenfluß und
reichliche Harnentleerungen, sehr erschwerte und beschleunigte
Respiration, schnellen und schwachen Puls, Temperatursteige-
rung bis 42-7° C (rektal), Bewußtlosigkeit, enge, auf Licht nicht
reagierende Pupillen, Konvulsionen, wenige Minuten vor dem
Tode blutige Stuhlentleerungen. Im Harne war kein Zucker und
kein Albumen. Der Tod erfolgte etwa acht Stunden nach der
Operation. Die Respiration setzte fünf Minuten früher aus als
die Herztätigkeit. Die Autopsie konnte nicht vorgenommen wer¬
den. Auf Grund dieses Falles und auf Grund von im Anschluß
daran vorgenommenen Tierexperimenten ist die Chlornatriumver¬
giftung als osmotische Störung aufzufassen. Die Chlornatiumdepots
im Organismus entziehen das Wasser in erster Linie dem Blute,
welches dadurch so eingedickt wird, daß die Ernährung dei
lebenswichtigen Organe, insbesondere des Gehirns, eine schwere
Schädigung erleidet. In den Unterleibsorganen bilden sich lokale
Oedeme aus, dagegen erleiden die Nieren keine nennenswerte
Störung. — (The Archives of Internal Medicine, 15. November
1910.) sz‘
t/ermisehte flaehfiehtefi.
Verliehen: Dr. Artur Rebula in Monfalcone das Gol¬
dene Verdienstkreuz mit der Krone.
*
Gestorben: Oberstabsarzt i. P. Dr. Emil Della Torre
Wien.
*
Verordnungen des Ministeriums des Innern vom 2i. De¬
zember ’ 1910 a) betreffend die Arzneitaxe zur öster¬
reichischen Pharmakopoe, Ed. VIII. Am 1. Januar 1911
tritt an Stelle der „Zweiten Ausgabe der Arzneitaxe zur öster¬
reichischen Pharmakopoe, Ed. VIII“ die im Verlage der k. k. Hot-
und Staatsdruckerei erschienene „Dritte Ausgabe der Arznei-
taxo zur österreichischen Pharmakopoe, Ed. VIII“ in .Krall
b) betreffend Aenderungen in der österreichischen
Pharmakopoe, Ed. VIII. Auf Grund des § 7 des Gesetzes
vom 18. Dezember 1906, werden nach Anhörung des Obere ten
Sanitätsrates folgende Aenderungen .in der österreichischen har-
mäkopöe, Ed. VIII angeordnet: Die Heilmittel Aloe, Extractum
Aloes, Bismuthum subgallicum, Bismuthum subsalicylicum und
38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCllRH T. 1911.
Nr. 1
Phenylom sali'cvlicum sowie Ltaimentom saponatocamphoratnm
com opio werden als in Apotheken frei verkäufliche Heilmittel
erklärt. Haerdtl in. p.
r~r .;j +'v , ", , *
Vom Reichsverband Oesterreichischer
Organisationen. An alle Organisationen ! Vor B“« ^
wurde eine nach § 343 St,G. angeklagter und uberluhiter Zah
techniker vom Bezirksgerichte Vien -Favoriten ^^7Bmtech-
snrochen weil der Richter annahm, alle einzelnen .^anntec
nikern im Gnadenwege ausnahmsweise verliehenen „erweiterte
Befugnisse“ als: Zahnziehen, Plombieren TISW'’ ^ “eder voi
keine ärztlichen Verrichtungen sein, da sie sonst weder v
den Ministerien noch von der Krone auch nm an emzelne haUen
verliehen werden können. Das Bezirksgericht m Gorz sprac
mehrere Zahntechniker mit der Begründung vom § 343
frei weil von einer Verurteilung eines Zahntechnikers nach
diesem, dem Kurpfuscherparagraphen, überhaupt nicht che Rec e
'sein könne, solange das Verhältnis der Zahnärzte zu len Zahn
technikern nicht gesetzlich geordnet sei. Das Dr teil des xorze
Richters bezeichnet in seinen Gründen die Zahntechniker als jene
Personen, welche bei der Zahnheilkunde den Löwenanteil von Kunst
und Arbeit leisten, es bezeichnet die Anzeigen der Aerzte gege
Zahntechniker als Brotneid usw. Dieses Urteil wurde vom Landes-
gericht in Triest bestätigt. Die geehrten Organisationen
werden auf diese Tatsachen aufmerksam gemacht und aufgef ordert
gegen diese Urteile und besonders deren Begründungen enei-
frisch Stellung zu nehmen und diesbezüglich Resolutionen zu
fassen, welche an das Ministerium des Innern und an das Justiz¬
ministerium zu leiten wären. Es soll dann die Bitte an la,
Justizministerium gerichtet werden, die Generalprokuratur aufzu¬
fordern gegen diese Urteile die Nichtigkeitsbeschwerde zur
Wahrung des Gesetzes einzubringen. Mit kollegialem Giuße
Dr. Adolf Gruß.
Cholera. Oesterreich. Die in Galizien zur IJebei-
wachung des Reiseverkehrs aus Ungarn aktivierten Grenzrevisions¬
stationen wurden mit 22. Dezember auf ge lassen, - bnga n
In der Zeit vom 4. bis 10. Dezember ist in Ungarn keine Cholera¬
erkrankung vorgekommen. Die Woche vom 11. bis 17. Dezember
brachte dagegen einen Zuwachs von 6 neuen Fallen und zwai
in dem Komitate Bäcs-Bodrog 3 und in dem schon als choleia-
frei erklärten Komitate Baranya 3. — Italien. Nach amtlicher
Mitteilungen sind in Italien in der Woche vom 8 bis 14. Dm
zember 38 Neuerkrankungen und 11 Todesfälle an Cholera siche -
gestellt worden u. zw. in den Provinzen Aquila, Caltamsetta,
Caserta Lecce Palermo, Rom, Salerno. -Rußland. In der Woche
vom 13. bis 20. November wurden in Rußland 101 Erkrankungen
und 47 Todesfälle an Cholera festgestellt. Hievon entfiel mehr
als die Hälfte, nämlich Ö0 (25) Fälle auf das Gouvernement Tarn,
bow, die übrigen Fälle verteilten sich sporadisch auf die anderen
Verwaltungsgebiete. In der Woche vom 20. Ins 26. November
ereigneten sich in ganz Rußland 79 Erkrankungen und 34 lodes-
fälle, davon in der Stadt Petersburg 2 (0). — 1 urkei. Nach
amtlichen Ausweisen haben sich seit Beginn der Cholera m
der Türkei bis Mitte Dezember in der Stadt Konstan-
tinopel 1074 (621), in den Vilajets Adrianopel lo4 (104) Salo¬
niki 40 (13), Smvrna 75 (56), Bagdad 782 (683), im Gebiete von
Zunguldak 102 (52) Choleraerkrankungen (Todesfälle) ereignet.
In Trapezunt sind seit Ausbruch der Epidemie bis Ende Novem¬
ber 686 (367), in Erzerum 602 (415), in Bassorah ‘-68 -06),
in Samsum 12 (12), in Tripolis 287 (232) Erkrankungen (Todes¬
fälle) gemeldet worden. Die Gesamtzahl der bisher im Gebiete
des ottomanischen Reiches vorgekommenen Choleraerkrankungen
kann somit auf 4082 veranschlagt werden, wovon 2761 tödlich
endeten. — Madeira. Verseucht sind gegenwärtig che Kreise
Funchal, Camara de Lobos, Ponta do Sol, Santa Cruz, Macbico,
Porto Santo.
! i - i 1 •" : ^ ’ 1 *
Der Bau des ärztlichen Erholungsheimes in Marien¬
bad wurde unter Dach gebracht und es haben die Bauarbeiter
das sogenannte Hebefest (die Bekrönung des Baues) gefeiert.
*
Literarische Anzeigen. IV. Guttmanns Medizi¬
nische Terminologie bat wieder eine neue Ausgestaltung
erfahren welche die Ausgabe einer 4. Auflage nötig machte.
Dieselbe’ ist bei Urban und Schwarzenberg, Wien, erschienen.
Preis 22 K 80 h.
. .■ Schaft “m te.. TM J«
Genossenschafts-Krankenkassen Wiens und <ler f1 ^STein™
I unter- Kranken- und Unterstützungskasse in Wien welche einen
Stand von 310.000 Mitgliedern, davon 280.000 in Wmn aufw ei»e ,
betrug im November 1910 die Zahl der Erkrankungen mit Erweibs-
SKit üi Wien 8995 (8884). Davon entfielen auf Tuber-
“igTro (35), MuS’.SM @12), Erkrankungen der Zirka-
kulationscngane 287 (292), Magen- und
(629), rheumatische Erkrankungen 803 (792), »
(Betriebsunfälle) 1766 (1909) Erkrankungen. Die Zahl der lodes
fälle betrug im November 1910 258 (253). Davon entfielen auf
Tnbeikuloi 92 (85), andere Erkrankungen der Atmimgsorgane 16
(14) der ZirknlatioLorgane 55 (37), auf Neubildungen 20 (16)
Verletzungen 3(7), auf Selbstmorde 11 (10) Todesfälle. (Di
Ziffern in d«, Klammern beziehen sich auf den November 1909.)
*
Vorläufiges Ergebnis der Sanitätsstatistik bei
der Mannschaft des k, und k Heeres im Oktober 1910.
Krankenzugang 83%«, an Hei anstalten abgegeben 47 U Todes
fälle Ü-10%0 der durchschnittlichen Koplstarke.
i QnniHifghoricht der Stadt Wien im e r-
Ans d e, m Baniuisueiioui. w ^ i-
A u s a e b . e t &() Jahres woche (vom 11. bis
w e Herten G e m e , g D ^ ehelich 5y, unehelich 234, zusammen
ÄÄWi?Ä dÄdej
Elscktypbas ° Biadern 0 Masern ,
Sr?UaaCh0 V“«! ,'ISS^'^.
büdungen 43, Wochenbettfieber 3. Genickstarre 0 Angezeigte Mek ■ mns
krankbeiten. An Rotlauf « (+10 , Woch^ettfi«^^«!). Blatte
6 .<- 1). Ruhr O (Oh Cholera 0 1(0 ,
Diphtherie und Krupp 65 (+ 10), Keuchhusten 35 (+ 6), Trachom 3 (+ ),
Influenza 2 (+ 2), Poliomyelitis 0 (- 1).
Freie Stellen.
Bei dem k. k. Landesgericht Wien gelangt die Stelle eines Ge¬
nii t dS siehe VeOHmdenlm ^ WzD
Gesuche bis längste . • „ t gcpmerlingplatz (Justizpalast),
*: ft ..»8p « h sch«
ReiseTtipendium im Betrage von 3200K zur Verleihung. Anspruch
reiche und Länder geboren und ihre deutsche Nationalität nachzuweisen
mmmmsrn
das Professorenkollegium der medizinischen Faku ltät (Wien
e.,,0 ripn obigen Daten sich ergebenden legalen l\acmveisen ne
legten Gesuche lis 15. Januar 1911 beim Dekanate der medizinischen
Fakuttät einbnngen^c^^ ßehörden in Mähren gelangt die Stelle eines
o >i.. 1 l . 7 i d i g t p n der X Rangsklasse, eventuell auch eine
Sa»! U asfistVntenstellJ mit einem Adjutum . jährlicher
?200 K zir Bese teung Bewerber haben ihre ordnungsmäßig instruierten
SeL wetehe Ss der noch „ich. im Staatsdienste
npnten insbesondere mit dem Nachweise des Alteis, der AustancngKei ,
moralischen Unbescholtenheit, körperlichen Eignung, der Sprachkennt-
!“l; trolptemfaer
herigen Verwendung zu belegen sind, bis 1 a n g s tens 15. Jan uar Uli
und zwar, insoferne sie bereits im öffentlichen Dienste
dor Vorgesetzten Behörde, sonst aber unmittelbar beim Statthaltereipr.isi
diuin ln Brünn ehizubringen. Vom k. 1, mähr. Statthaltereipräsidium. Brunn,
am 27. Dezember 1910.
Nr 1.
WIENER KLINISCHE .WOCHENSCHRIFT. 1911.
39
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien. Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in Böhmen.
Sitzung vom 15. Dezember 1910. Sitzung vom 30. November 1910.
Aerztliclier Verein in Briinn. Sitzung vom 7. und 21. November und _
5. Dezember 1910.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 15. Dezember 1910.
• H. Schlesinger demonstriert ein 13jähriges Mädchen mit
Spondylitis cervicalis mit ungewöhnlichem Rück¬
gang der Erscheinungen. Das Mädchen war vor mehr als
lVa Jahren unter den Erscheinungen, der Lähmung aller vier
Extremitäten und der Rumpfmuskulatur erkrankt, hatte Nacken¬
steifigkeit, Rustsches Symptom, Schwellung der Weichteile des
Nackens, Muskelatrophie an der Hahdmuskulatur, zum Teil mit
Entartungsreaktion, mäßige Sensibilitätsstörung an den Händen
und Füßen, Blasen- und Mastdarmlähmung, Dekubitus am Kreuz¬
bein. Die Kranke wurde in ein Gipsbett gelegt und symptomatisch
behandelt, namentlich wurde darauf geachtet, daß sich keine
Kontrakturen entwickeln, und daß sich der Dekubitus und die
bereits bestehende Zystitis rückbilden. Die Lähmung persistierte
länger als ein Jahr, darauf trat ein allmählicher Rückgang der
Lähmungserscheinungen ein, welcher zuerst an den Füßen be¬
merkbar war, dann ging allmählich auch die übrige Lähmung
zurück, so daß die Patientin jetzt ohne Unterstützung, allerdings
nur im Gipsmieder, allein und ohne Stock herumgehen, sogar
herumlaufen kann. Der außerordentlich günstige Verlauf dieses
Falles zeigt, daß man seihst in den schwersten Fällen von Spon¬
dylitis nicht die Hoffnung auf einen weitgehenden Rückgang
der Erscheinungen aufgeben darf. — Ferner stellt Schlesinger
einen dritten Fall von geheilter eitriger Pneumokokken¬
meningitis vor. Der Patient bekam Mitte Oktober Ohren¬
sausen, Kopfschmerz, Erbrechen und Fieber, er zeigte das Kernig-
s'c'he Symptom und die Untersuchung ergab Meningitis. Die Lumbal¬
punktion lieferte ein eitriges Exsudat, in welchem Pneumokokken
zu finden waren. Der Zustand des Patienten verschlechterte sich,
er wurde bewußtlos und bekam Opisthotonus. Es wurden mehrere
Spinalpunktionen vorgenommen und Pneumokokkenserum intra¬
spinal injiziert. Nach einigen Tagen stellte sich eine stetig fort¬
schreitende Besserung ein. Jetzt ist Pat. afebril und geht herum,
er zeigt aber noch das Kernigsche Symptom und eine Puls¬
frequenz über 100. Eine Punktion nach der Entfieberung ergab
einen hohen Druck der Zerebrospinalflüssigkeit bei der letzten
Punktion kam kein Liquor; es entwickelte sich eine Stauungs¬
papille, wohl infolge Verschlusses des Foramen Magendi. In der
Literatur ist die Ansicht ausgesprochen, daßi die Pneumokokken¬
meningitis immer letal verläuft; diese Anschauung muß man
einer Revision unterziehen, da Vortr. in seinen drei Fällen Hei¬
lung ein treten sah.
Fr. Tedesko zeigt das anatomische Präparat eines großen
Aortenaneurysmas, welches intra vitam einen Mediastinal¬
tumor vortäuschte. Das Präparat stammt von einer 44jährigen
Frau, welche vor sieben Wochen unter Schwellung des Gesichtes
und der oberen Extremitäten erkrankte. Der Körper war bis zur
unteren Thoraxapertur zyanotisch und ödematös und zeigte mäch¬
tige Venen erweitere ngen in der Rückenhaut. Nach rechts vom
Sternum reichte in die ersten vier Interkostalräume eine Dämpfung
hinein, in welche die Herzdämpfung ohne Intensitätsunterschied
überging. Der Spitzenstoß war nicht zu fühlen, die Herztöne
an der Spitze waren rein, im rechten zweiten Interkostalraum
war ein leises systolisches Geräusch, außerdem’ ein diastolisches
Von engeräsch zu hören. Die Komplementbindungsreaktion war
positiv. Rechterseits entwickelte sich ein Hydrothorax. Die
Röntgenuntersuchung sprach für einen Mediastinaltumor, welcher
vielleicht, von den Drüsen des Lungenhilus ausging und die obere
Hohlvene komprimierte. Der Tod erfolgte unter Suffokations-
erscheinungcn. Die Obduktion ergab eine starke Erweiterung am
Anfangsteile der Aorta, daselbst weiße Verdickungen bis zur
physiologischen Enge und weiter nach abwärts arteriosklerotische
Plaques. Nach rechts trug die Aorta ascendens ein mannsfaust¬
großes, mit der Vena cava descendens durch ein großes Loch
kommunizierendes Aneurysma, welches an der rechten Lunge
adhärent war. Die Vena cava descendens war erweitert und setzte
sich direkt in die Vena anonyma dextra fort, die Vena anonyma
sinistra war obliteriert. Das Fehlen einer Pulsation hatte haupt¬
sächlich die Diagnose eines Tumors gestützt.
Mart. Haudek bespricht den Röntgenbefund; der Hydro¬
thorax, die Bronchostenose und das Fehlen einer Pulsation haben
zur Diagnose eines Tumors geführt.
H. Schlesinger bemerkt, der Fall lehre, daß die Röntgen¬
untersuchung ein ausgezeichneter Behelf ist, daß aber auf Grund
derselben allein eine Diagnose nicht gestellt werden dürfe. Der
Fall zeigt weiter, daß ein großes Aneurysma dieselben Symptome
wie ein Tumor bieten kann.
F. Bauer beschreibt einen Fall von luetischem Media¬
stinaltumor; ein großes Gumma saß zwischen der Aorta und der
Vena cava und komprimierte letztere. Die Wass errnan nsche
Reaktion war positiv.
Fr. Tedesko weist darauf hin, daß der Fall ursprünglich
für ein Aneurysma angesehen und auch antiluetisch behandelt
wurde. '■ ii I
M. Engländer zeigt Präparate von1 Tierherzen, welche
die Stellung der Atrioventrikularklappen während
der Systole demonstrieren. Nach der bisher geltenden Ansicht
legen sich die Klappen, nachdem sie durch den Blutstrom von
der Herzwand abgehoben worde'n sind, mit den Blutstrom anein¬
ander an, wo sogar Auszackungen sich aneinander fügen und den
Verschluß verstärken sollen. Die Präparate zeigen jedoch, daß
der mediale Klappenzipfel nur wenig exkursionsfähig ist, und daß
von einem Aufstellen desselben bei der Systole in die Höhe durch
den Blutdruck nicht die Rede sein kann. Auch beim Menschen
hat der mediale Zipfel dieselbe geringe Exkursionsfähigkeit,
während diejenige des Aortenzipfels groß ist. Wenn das Blut
in die Aorta einschießt, so legt sich wahrscheinlich der Aorten¬
zipfel an den lateralen Zipfel so an, daßi ein Verschluß lläche
auf Fläche entsteht.
O. Stöerck bemerkt, daß zur Klärung des1 Klapnenver-
schlusses noch Versuche in funktioneller Hinsicht notwendig
sein werden. Das Lumen des rechten Ventrikels legt sich wie
ein-mondförmiger Schlitz um den linken Ventrikel herum, dieses
Verhältnis ist am deutlichsten bei der Systole ausgedrückt. Die
drei Klappenzipfel können nicht gleichwertig sein, sie müssen
unter verschiedenen Verhältnissen arbeiten; niemals gibt es drei
gleich große Trikuspidalklappen, es kann auch keine symmetrische
Sternfigur beim Verschlüsse derselben entstehen. Unsere Vor¬
stellung über die Suffizienz und Insuffizienz der Trikuspidal-
k läppe ist sicher nicht richtig.
S. Kreuz fuchs: Symptomatologie und Häufig¬
keit d e s intrathorazischen Kropfes. Der intrathorazische
Kropf wird in der inneren Medizin nicht nach Gebühr beachtet.
Gründe hiefür sind die Leichtfertigkeit, mit der mangels greif¬
barer Symptome eine nervöse Erkrankung angenommen wird,
und die Schwierigkeit, ohne Röntgenstrahlen die Diagnose mit
Sicherheit zu fällen. Bezüglich der radiologischen Diagnose ver¬
weist Vortr. auf die Arbeit Kienböcks und beschränkt sich
darauf, die klinischen Symptome an1 der Hand eines typischen
Beispieles zu skizzieren. Die häufigsten Symptome sind Atem¬
not, Herzklopfen und Schlingbeschwerden. Daran reihen sich
Stridor, Heiserkeit, Husten, Rötung und Gedunsenheit des Ge¬
sichtes, Zyanose der Lippen, Dämpfunlg über dem Manubrium
sterni, Venenerweiterung am Halse und an der vorderen oberen
Thoraxpartie; Ungleichheit der Radialpulse gehöre zu den sel¬
teneren Vorkommnissen. Von den in der Literatur verzeichneten
sonstigen Symptomen1 räumt Vortr. nur dem Tiefstände des Kenl-
kopfes eine größere Bedeutung ein. Bei nicht vergrößerter Hals¬
schilddrüse könne das Fehlen eines Schilddrüsenlappens oder
das Bestehen ausgesprochener Basedows'ymptome den Arzt auf
die richtige Fährte bringen. Es gebe auch symptomlose substernale
Strumen, doch seien diese nicht bedeutungslos, da die Präger
derselben durch Hinzukommen einer Noxe ganz unvermittelt
von schweren Erstickungsanfällen befallen werden können. Die
40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
substernale Struma kommt in zwei Dritteln der Fälle bei Per¬
sonen jenseits des 40. Lebensjahres zur Beobachtung, ein Drittel
der Fälle gehört relativ jugendlichem Alter an. Die intrathora¬
zische Struma ist keine seltene Erkrankung; Vortr. hat in 17 Mo¬
naten bei einem Material von 1040 internen Fällen 39mal eine
substernale Struma gesehen, darunter 13 Fälle ohne Halsstruma.
Mithin ist der Brustkropf in einer Häufigkeit von 3-7 % zur Be¬
obachtung gekommen. Es ist daher wünschenswert, künftighin der
intrathorazischen Struma eine erhöhte Aufmerksamkeit zu
schenken.
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 7. November 1910.
Prim. Dr. W. Bittner demonstriert ein fünf Wochen altes
Kind, das von ihm im Alter von fünf Tagen wegen einer großen
M eningocele sacra lis (Spina bifida sacralis) operiert
worden war. Der Sack war größer als der Kopf des Kindes, seine
Oberfläche stellenweise verfärbt, mit beginnender Nekrose. Das
Kind war sonst normal, es zeigte keinerlei Symptome eines be¬
stehenden oder beginnenden Hydrozephalus, keine Lähmung der
unteren Extremitäten oder der Blase und des Sphincter ani, mit¬
hin bestand keine Kontraindikation zur Vornahme der Operation:
die Haut, die sich eine kleine Strecke über die Geschwulst hin¬
aufzog, wurde 1 cm vom Ansatz des Tumors zirkulär inzidiert,
abpräpariert, der Sack vorsichtig allseits isoliert, wobei sich
heräusstellte, daß sich derselbe zu einem fast federkielstarken
Stiel sakralwärts verjüngte.
Die Sakralwirbel waren breit gespalten. Der Stiel der Ge¬
schwulst wurde im Grunde dieses Spaltes mittels1 einer Durch
stechungsligatur abgebunden, hierauf die1 Geschwulst distal von
der Ligatur abgetragen, der Stumpf im Sakralkanal versenkt.
Der Spalt wurde durch zwei seitliche Periostlappen überdacht;
hierauf folgte Hautnaht. Die Wunde heilte per primam. Das
Kind blieb gesund und entwickelte sich normal.
Die histologische Untersuchung der Sackwand (durch Herrn
Pr'osektor Prof. Dt. C. Sternberg) ergab den Befund einer
Men ingokele.
Der Vortragende hebt die relative Seltenheit eines für die
Operation günstigen Falles von Spina bifida hervor, da die über¬
aus größte Zahl der vom Vortragenden beobachteten Fälle Kon¬
traindikationen gegen die Operation aufwies u. zw. Lebens-
schwäche, bestehender oder beginnender Hydro z°phalus, Lähmung
der unteren Extremitäten, des Sphincter vesicae und Sphincter
ani. Nur bei ganz normalem Kinde hält der Vortragende die
Operation für indiziert. Ja, es können bestehende leichte Paresen
oben erwähnter Organe sich durch die Exstirpation des Sackes
verschlechtern, da in solchen Fällen wichtige Nervenbündel des
Rückenmarkes im Sacke endigen, die bei der Entfernung des¬
selben leicht verletzt werden können. In solchen Fällen ist nach
der Ansicht des Vortragenden die konservative Behandlung die
bessere Therapie, unter der der Vortragende manchen Spina
bifida- Sack sieb überhäuten und konsolidieren sah. Der Vor¬
tragende läßt in solchen Fällen eine schützende Pelotte tragen.
Prim. Dr. W. Bittner demonstriert einen sieben Jahre
alten Knaben, den er am 15. Juni 1910 wegen einer akuten
Perityphlitis (mit peritonealer Reizung), fünf Tage darauf
aber wegen eines Ileus infolge Abschnürung des Dünndarmes
durch einen Adhäsiohsslrang operiert hatte.
Der Knabe, der vor fünf Jahren einen Scharlach durch¬
gemacht hatte, erkrankte am 14. Juni mittags unter Bauch¬
schmerzen. Doch ging das Kind dabei noch herum, nachtmahlte,
ln der Nacht steigerten sich die Schmerzen, früh trat Fieber, Er¬
brechen auf. i '
Mittags — - demnach in den ersten 24 Stunden — wurde
die Operation vorgenommen. Sie ergab eine schwer erkrankte,
an der Spitze gangränöse, perforierte Appendix, jauchigen Eiter
in der Umgebung derselben und im Douglas. Die Appendix
wurde abgetragen, in den Douglas ein Drain eingeführt, der Eiter
entleert, die Peritoneal- und Rauchdeckenwunde verkleinert nach
Einführung eines Jodoformgazetampons in die Bauchhöhle. Nach
der Operation erholte sich das Kind sehr rasch, die vor der
Operation bestehende Spannung und Druckschmerzhaftigkeit der
Bauchdecken ging schnell zurück. Am Abend des 20. Juni trat
plötzlich eine Verschlimmerung ein. Das Kind veränderte sich,
verfiel zusehends, klagte über starke kolikartige Schmerzen im
Abdomen, der Abgang von Stuhl und Winden sistierte, der Puls
wurde klein und sehr frequent. Das Abdomen war in seinen
linken und oberen Partien aufgetrieben, man sah deutliche Darm¬
steifungen unter heftigen, kolikartigen Schmerzen auftreten, in
den abhängigen Partien der linken Bauchhälfte war durch Per¬
kussion freie Flüssigkeit nachweisbar (Bayer, Riedel!).
Nachdem trotz hoher Eingießungen sich der Zustand
zusehends verschlimmerte, entschloß sich der Vortragende zur
Laparotomie, die am 21. Juni über der linken Bauchhälfte vor¬
genommen wurde. Sie ergab Inkarzeration einer Dünn¬
darmschlinge durch einen Adhäsionsstrang, wohl
eine Folge der abgelaufenen Peritonitis. Die Wunde wurde ge¬
schlossen, bis auf den untersten Wundwinkel, durch den ein
Drain in den Douglas eingeführt wurde und heilte. auch per
primam, trotz der rechts in inguine noch bestehenden Eiterung;
das Drainrohr wurde nach einer Woche entfernt. Der Kranke
war post Operationen! pulslos und kollabiert; vor der Operation
und nachher wurde eine Kochsalztransfusion subkutan appli¬
ziert, dann tropfenweise Kochsalzlösung mittels Irrigator und
liegendem Schlauch ins1 Rektalrohr infundiert (nach Katzen¬
stein), eine Methode, die sich dem Vortragenden in ähnlichen
Fällen stets vorzüglich bewährt hat.
Nun machte die Genesung des Kindes schnelle Fortschritte,
so daß das Kind nach drei Wochen auch von seiner perityphliti-
schen Wunde vollkommen hergestellt war.
Es hat sich also in diesem Falle um einen postperitonitis'chen
Ileus gehandelt. Der Fall lehrt, daß man die Prognose solcher Fälle
mit Vorsicht stellen und auf Ueberraschungen vorbereitet sein
muß und daß nur die rasche Operation den Patienten vor dem
sicheren Untergange retten kann.
Im Anschluß an diesen Fall berichtet Bittner über seine
Operationen bei Appendizitis und die dabei gewonnenen Erfah¬
rungen über die Aetiologie, Prognose und Therapie dieses Leidens.
Bittner hat in den zehn Jahren des Bestandes der chirurgischen
Abteilung des ■ Brünner Kinderspitales 189 Fälle von Appendizitis
beobachtet, hievon wurden 42 Fälle nicht, operiert.
Von den 147 operierten Fällen starben 13 Kinder — 8-8%
und zwar durchwegs Fälle, die mit eitriger, diffuser Peritonitis
eingebracht worden waren. Acht Kinder kamen in einem hoff¬
nungslosen Zustande ins Spital. Nach Abzug dieser Fälle ergibt
sich eine Mortalität von 3-4%.
Unter den 134 genesenen Kindern waren 20 Fälle
mit diffuser, eitriger Peritonitis.
Von den 147 operierten Fällen waren Frühopera¬
tionen (in den ersten drei Tagen) 49 Fälle (10 mit eitriger
Peritonitis) mit 2 Todesfällen (4-1%).
Operationen im intermediären Stadium 82 Fälle
(23 mit eitriger Peritonitis) mit 11 Todesfällen (13-4%).
Im Intervall 16 Fälle ohne Todesfall.
Bezüglich der klinischen Einteilung, wobei der
Vortragende der Einteilung Nothnagels folgt, ergibt sich:
1. Entzündungen der Appendix allein (Intervall-
operationen eingeschlossen, demnach akute und chronische Ent¬
zündungen): 22 Fälle1 ohne Todesfall.
2. Entzündungen der Appendix und deren Um¬
gehung (mit Abszessen in der Umgebung und im Douglas Peri¬
typhlitis): 92 Fälle ohne Todesfall.
3. Appendizitis mit. Peritonitis acuta, diffusa und
sonstigen Komplikationen : 33 Fälle mit 13 Todesfällen 39-4%
(nach Abzug der 8 hoffnungslos eingebrachten Fällen 25 Fälle
mit 5 Todesfällen = 20%).
Daraus ergibt sich, daß alle Fälle, wo die Entzün¬
dung auf die Appendix allein oder deren näherle
und weitere Umgebung beschränkt war, genasen, daß
aber die Prognose sofort ernster wird, wenn diffuse, eitrige
Peritonitis oder sonstige schwere Komplikationen vorhanden sind.
Von den 49 Frühoperationen hatten 10 Kinder eine eitrige
diffuse Peritonitis = 20-4%, von den im intermediären Stadium
operierten 82 Fällen 23 Fälle = 28%, demnach um 8% mehr.
Die gefährliche Komplikation, die Peritonitis1, droht demnach
um so mehr, je länger der Fall dauert und gewiß werden viele
Fälle, die in den ersten zwei bis drei Tagen operiert, werden,
vor dieser Komplikation bewahrt. Demnach ist die früheste
Früh’operation das beste Vorgehen. Dies zeigt sich auch hei
den schon mit Peritonitis komplizierten Fällen, indem von den
10 im Anfall operierten Peritonitisfällen bloß! 2 = 20% starben,
dagegen von den jenseits des dritten Tages operierten 23 Fällen
11 starben = 47-8%.
Bezüglich des Geschlechtes zeigt sich auch hier
das Heber wiegen des männlichen mit 91 Knaben gegen¬
über von 56 Mädchen.
Bezüglich des Alters der Kinder ist. eine auffallende Steige¬
rung der Fälle mit dem Beginne des schulpflichtigen Alters
zu konstatieren, indem in den ersten fünf Jahren 15 Fälle, vom
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
41
5. bis lü. Jahre 74, vom 10. bis 15. Jahre 56 Fälle festzu-
s teilen sind.
Interessant ist ferner die steigende Zahl der Fälle im Laufe
der zehn Jahre des Bestandes des Brünner neuen Kinde rspi tales.
Auch das Sterblichkeitsverhältnis sinkt. Daraus folgt nicht etwa,
dali die Appendizitis häufiger geworden ist, was der Vortragende
negiert, daß vielmehr im Publikum und auch in den ärmeren
Schichten die Ueberzeugung immer mehr heranreift, daß die
früheste chirurgische Hilfe bei der Appendizitis die beste Behand¬
lung sei. Die Fälle kommen daher häufiger und in einem früheren,
günstigeren Stadium der Krankheit ins Krankenhaus.
Vortr. wird über seine Erfahrungen auf dem Gebiet der
Appendizitis demnächst ausführlich berichten.
Prof. Sternberg demonstriert makroskopische und mikro¬
skopische Präparate der verschiedenen Formen und Stadien der
Appendizitis, indem er hiebei der Einteilung Aschoffs folgt.
Vortr. bespricht hierauf die neueren Ergebnisse der pathologisch-
anatomischen Untersuchungen, so besonders die Frage der entero-
genen und hämatogenen Infektion, sowie die Rolle und Bedeutung
des Kotsteines.
Diskussion: Prim. M ä g er bespricht die V erwertbarkei t
einzelner klinischer Symptome (Bauchdeckenspannung, Schüttel¬
frost etc.) und tritt im allgemeinen für die chirurgische Behand¬
lung ein.
Dr. R. Th. Schwarzwald verweist auf die in neuerer
Zeit bekanngewordenen Frühsymptome der Appendizitis, deren
häufige und sorgfältige Nachprüfung erwünscht sei: Das Bl um¬
berg sehe Zeichen (Schmerzhaftigkeit nicht sowohl bei Druck
auf die Appendixgegend, als vielmehr bei Nachlassen des Druckes),
dem namentlich differentialdiagnostische Bedeutung gegenüber
rechtseitigen Adnexerkrankungen zukommen soll; das Phänomen
von Rovsing (Schmerz in der Gegend des Wurmfortsatzes
bei rückläufigem Verstreichen des Darminhaltes vom Colon des-
cendens her, wodurch dieses gegen die entzündete Darmpartie
angedrängt würde) und schließlich das von Plönies angegebene
Symptom (perkutorische Druckempfindlichkeit der Appendix¬
gegend), welches gerade bei vorhandener starker Abwehrspannung
der Bauchdecken von Wert ist und gegenüber der palpatorischen
Prüfung den Vorzug der Ungefährlichkeit besitzt.
Ferner betont Schwarzwald den Vorteil der primären
Wundnaht in Fällen von zirkumskripter Peritonitis (mit schweren
Veränderungen an der Appendix und freiem Exsudat), welche
die endgültige Genesung der Patienten schon nach zirka ein¬
wöchigem Krankenlager ermöglicht. Das Verfahren sollte wohl
in allen angängigen Fällen ängestrebt werden, wie es ja auch
an der Klinik v. Eiseisberg mit ausgezeichnetem Erfolge
geübt wird.
An derselben Klinik sah Schwarzwald auch einige ver¬
zweifelte Fälle von postappendizitischer diffuser Perforations¬
peritonitis, mit freiem fibrinös - eitrigem Exsudat und Belägen
der meteoristisch geblähten Darmschlingen, welche durch die Ope¬
ration gerettet werden konnten. In solchen Fällen wurde bei
Fowler scher Hochlagerung eine Gegeninzision in der linken
Unterbauchgegend angelegt und eine durch die ganze Zeitdauer
der Operation fortgesetzte Kochsalzspülung der Bauchhöhle, zum
Zwecke der mechanischen Reinigung von den Exsudatmassen,
beziehungsweise den Infektionserregern, durchgeführt. Die Wunden
werden nach dem Vorgänge von Rehn und Nötzel zur Wieder¬
herstellung des intraabdominellen Druckes, bis auf die Drainage-
offnungen geschlossen, hinterher wurde die permanente rektale
Kochsalzeinträufelung nach M u r p h y etabliert.
Zu einem Falle aus der Bittner sehen Kasuistik, in
welchem die Differentialdiagnose zwischen Appendizitis und
Typhus großen Schwierigkeiten begegnete, bemerkt Schwarz¬
wald, daß in derartigen Fällen die Leukozytenzählung nicht
verabsäumt werden sollte.
Dr. Schmie dl bespricht, im Anschlüsse an jene von Herrn
Prof. Sternberg demonstrierten exstirpierten Appendizes, bei
welchen die histologische Untersuchung gar keine oder fast gar
keine Veränderung aufwies, die Fälle, die wegen vermeintlicher
Appendizitis operiert werden und deren Beschwerdeanfälle nach
der Operation unverändert weiterbestehen. Er berichtet über zwei
solche Fälle, deren Behandlung er einige Monate nach der Ope¬
ration übernahm und von denen sich der eine als Nierenstein¬
kolik entpuppte, der andere als in der Ileocökalgegend lokali¬
sierte Kolitis mit Darmkoliken, die nach Einleitung des entspre¬
chenden diätetischen Regimes prompt verschwanden. Gerade die
Fälle mit negativem histologischen Befund und Weiterbestehen
der Anfälle und Beschwerden nach der Operation, sollten durch
genaueste Untersuchung und Beobachtung diagnostisch geklärt
werden, weil sie das lehrreichste Material zur schwierigen Diffe¬
rentialdiagnostik der Appendizitis liefern.
Prim. Bittner tritt aut Grund zahlreicher Beobachtungen
für den innigen Zusammenhang zwischen Angina und Appendizitis
ein und ist für seine Person geneigt, eher eine hämatogene Infek¬
tion anzunehmen. Auch er empfiehlt Kochsalzspülungen der
Bauchhöhle. Bezüglich der Appendizes ohne anatomischen Befund
meint er, daß nicht selten Knickungen oder Drehungen vor¬
liegen, die zu Koliken Veranlassung geben.
*
Sitzung vom 21. November 1910.
Prim. Mager demonstriert das Röntgenbild einer Fraktur
des Os naviculare carpi.
Dr. Heller demonstriert eine „künstliche Tanzmaus'.
Bei Tierversuchen Ehrlichs zeigte sich, daß weiße Mäuse,
denen Arsazetin subkutan injiziert worden war, nach kürzerer
oder längerer Zeit Tanzbewegungen ausführten, welche denen der
japanischen Tanzmaus glichen. Röthig konnte auf Grund seiner
mikroskopischen Untersuchungen nachweisen, daß es sich bei
den so behandelten Tieren um Degenerationen im dorsalen und
ventralen Akustikuskern, im Deitersehen Kerne und Nervus
vestibularis handle.
Vortr. hat die Versuche Röthig s im pathologisch-bakterio¬
logischen Institut der Krankenanstalt (Prof. Sternberg) wieder¬
holt, zuerst nach Vorschrift Röthigs mit lem3 auf 20g Maus,
dann aber, als alle Tiere rasch eingingen, mit wiederholten klei¬
neren Gaben, von 0-3 bis 0-5 Arsazetin. Alle Tiere zeigten anfangs
eigentümliche Orientierunsstörungen, liefen bald nach vorne, dann
wieder nur nach rückwärts und drehten sich häufiger als eine
normale Maus. Dabei führten sie mit dem Kopfe eigentümliche,
wackelnde, schnüffelnde Bewegungen aus. Auch diese Tiere gingen
zugrunde, ohne daß bei ihnen typische Tanzbewegungen beob¬
achtet worden wären. Nur eine Maus, der zweimal im Zwischen¬
raum einer Woche 0-5 Arsazetin, spjäter noch 0-3 Arsazetin
injiziert worden war, zeigt seit dem neunten läge nach der letzten
Injektion andauernd rasende Tanzbewegungen, die eine überaus
weitgehende Aehnlichkeit mit jenen einer japanischen Tanzmaus
darbieten (Demonstration). Dabei läßt sich aber nachweisen,
daß bei der „künstlichen Tanzmaus“ das Gehör erhalten ist.
Ueber die weiteren Untersuchungen, die noch im Gange sind, soll
spater berichtet werden.
Diskussion: Dr. Schönfeld berichtet über eine in
der Landesirrenanstalt in Behandlung stehende Patientin, die
ein ähnliches Krankheitsbild darbietet, wie diese Tanzmäuse. Sie
steht stundenlang in einem Winkel des Zimmers und führt dabei
rasche Tanzbewegungen aus. Sie hört und sieht. Redner erörtert
dieses Krankheitsbild an Händen der vorliegenden Literatur und
kommt zu dem Schlüsse, daß Störungen im Bereiche des \ esti-
bularapparates oder vielleicht eine Erkrankung des Kleinhirns
(Pick) vorliegen könnten.
Prim. Dr. Mager.: Ueber Wandlungen in der Ihe-
' 1 Vortr. zeigt, daß für die Beurteilung der Heilmittel heute
ihre experimentelle Prüfung und ihre Wirkung auf physiologische
Vorgänge im Organismus maßgebend sind. Er führt mehrere Bei¬
spiele hiefür an und bespricht sodann die antagonistische Wirkung
verschiedener Medikamente, ferner einzelne Arten der Therapie,
wie die Substitutionstherapie und die antiparasitäre Therapie
(Immuno-, Sero- und Chemotherapie; und im Anschluß hieran
die Wirkung der Röntgen- und Radiumstrahlen.
*
Sitzung vom 5. Dezember 1910.
Prim. Mager demonstriert: 1. Eine Dystrophia muscu¬
lorum progressiva bei einem 16jährigen Mädchen.
2. Eine Syringomyelie von humeroskapnlarem
Typus bei einem 21jährigen Manne.
3. Eine Ischias scoliotic a bei einem 45jahrigen Manne;
in diesem Falle gelangen epidurale Injektionen zur Anwendung,
der Fall soll später nochmals demonstriert werden.
Prof. Sternberg demonstriert: 1. Ein myeloides Sar¬
kom des Femurs (von einem 13jährigen Mädchen). Der Unter¬
schenkel und Fuß waren durch eine mächtige Schwellung monströs
vergrößert: Umfang des Knies 71cm, des Unterschenkels 53 cm,
des Sprunggelenkes 34 cm. Die Schwellung war wen i, j 1 '
sich schwappend an. Die anatomische Untersuchung ergab, Halt
die Schwellung lediglich durch ein enormes ( ledern der W eic n-
teile hervorgebracht war, während der Tumor am unteren Ende
des Femurs etwa faustgroß ist.
42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
2. Ein C h on dr o - 0 s fco s ark om des Femurs von einem
1 7 j ii hrigen Mädchen .
Dr. j. Fried j ung- Wien als Gast: Die Pathologie des
ein zigen Kindes.
Die Erfahrung in der Privatklientel lehrt, daß ein gewisser
Kindertypus dem Arzte besondere Schwierigkeiten bereitet: er
erkrankt oft und zeigt organisch schwer deutbare Dauersymptome,
ist oft ungebärdig und interkurrente Erkrankungen verlaufen .wirk¬
lich oder scheinbar atypisch. Es sind das die Lieblingskinder.
Der Vortragende hat sich zur Festlegung dieses Typus aus prak¬
tischen Rücksichten auf die Betrachtung einziger Kinder be¬
schränkt und 100 solche Beobachtungen gesammelt, 45 -Knaben
und 55 Mädchen, zumeist im Alter von zwei bis zehn Jahren.
Von diesen 100 einzigen Kindern waren nur 13 als gesund,
18 dagegen als ziemlich schwer, 69 als leichter neuropathisch
zu bezeichnen. Verglichen damit boten 100 Sprossen mehrkinde-
riger Familien 69 Gesunde und nur 31 neuropathische dar. Die
Neurose der einzigen Kinder zeigt Züge der Neurasthenie und
der Hysterie. Abgesehen von einer typischen Charakter entwick-
lung von mehr pädagogischem Interesse, fällt vor allem die
Aengstlic hkeit dieser Kinder auf, die quantitativ und quali¬
tativ wechselnd, bei 75 von den 87 neuropathischen Kindern
anzutreffen war. 49 von ihnen litten unter einem gestörten
Schlafe, bei acht traten typische Anfälle von Pavor noc-
turnus auf. Neben einer lästigen Launenhaftigkeit fiel
fast immer ein vorzeitig entfalteter Intellekt auf.
Für den Arzt noch bedeutsamer ist die Entlarvung gewisser
somatischer Störungen. 32 unter den 87 Neuropathen zeigten eine
auffällige Unterernährung. Sie war offenbar abhängig von
einer hartnäckigen Anorexie, die außer bei diesen 32 noch
bei 18 Kindern, also in toto bei 50 beklagt wurde. Oft vergesell¬
schaftet sie sich mit habituellem Erbrechen, das an 37
von ihnen beobachtet wurde. Auch an die Defäkation knüpfen
sich abnorme Erscheinungen — 20 Kinder litten an habitu¬
eller Obstipation, manchmal bis zur Fissurenbildung, andere
an rezidivierenden, neuropathisch scheinenden Dickdarmka¬
tarrhen, bei einzelnen wechselten diese Erscheinungen ab -
so daß. der Verdauungskanal wohl die größte Mannigfaltigkeit an
somatischen Symptomen bietet. Daneben scheint Pollakis¬
urie und Enuresis bedeutsam zu sein. Die Atmungsorgane
bieten wenig Auffallendes. 48 von den Kindern litten am Lichen
urticatus, davon 29 an starkem Juckreiz.
Von interkurrenten Krankheiten wurden im Sinne einer
Erschwerung solche wirklich verändert, welche eine nervöse Kom¬
ponente haben, besonders die Pertussis, scheinbar solche,
welche die Umgebung oder die Kranken alarmierten (hochfieber¬
hafte und schmerzhafte Erkrankungen, Blutungen).
Die Causa nocens sieht Fried jung in dem Uebermaß
von Zärtlichkeit, das sich auf das eine Kind entlädt. Die Wege
der Symptombildung müssen erst erforscht werden; vermutlich
dürften Freud sehe Mechanismen im Spiele sein.
Prophylaxe und Therapie der geschilderten Neurose ergibt
sich von selbst aus der Erkenntnis ihrer Ursachen. (Die ausführ¬
liche Publikation erfolgt anderen Ortes.)
Diskussion: Prim. Engel mann hat seine Aufzeich¬
nungen über 60 einzige Kinder durchgesehen und nicht so auf¬
fällige, krasse Veränderungen an ihnen gefunden, wenngleich
ihr Verhalten oft recht eigenartig ist. Im allgemeinen dürfte
wohl für Störungen des Nervensystems der Kinder die Heredität
in Frage kommen; neuropathische Eltern haben oft neuropathische
Kinder. Wenn man auf die Eltern der Kinder, namentlich auf
die Mutter, bzw. die Großmutter, entsprechend einwirkt, erreicht
man meist die besten Erfolge. Nach seiner Erfahrung ist die
Mehrzahl der einzigen Kinder bei normalen Eltern selbst, völlig
normal.
Priv.-Doz. Dr. Schmeichler erblickt das entscheidende
Moment für die Launenhaftigkeit einziger Kinder und für die
sich daraus ergebenden Veränderungen in ungünstigen pädago¬
gischen Einflüssen.
Dr. Löw betont die Bedeutung des Pflegepersonales.
Dr. Fried jung erkennt den Einfluß der Heredität voll-
/ständig an, betont aber daneben die von ihm vorgebrachten Mo¬
mente. Gerade der günstige Einfluß des Wechsels des Milieus,
den man oft beobachtet, beweist, daß liier extrauterine, respek¬
tive postfötale Momente maßgebend sind. Daß natürlich die
Umgebung und namentlich das Pflegepersonal von großer Wich¬
tigkeit sind, steht außer Zweifel.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte
in Böhmen.
Sitzung vom 30. November 1910.
Klein ha ns: Demonstration eines 33jühr., angeblich weib¬
lichen Hermaphroditen, der als Mädchen erzogen worden war
und erst seit dem 19. Jahre infolge des Bartwuchses als Mann
sich gelierte. Angeblich keine sexuellen Neigungen, nie Erek¬
tion des Gliedes oder Samenerguß. Seit dem 21. Jahre angeblich
regelmäßig menstruiert.
Die Untersuchung ergab: Gespaltenes Skrotum, beiderseits
mit Hoden und Nebenhoden, die sich leicht durch den Leisten¬
kanal zurückschieben lassen. Hypospadia penis-scrotalis ; kurzes
Glied mit Rinne an der Unterseite. Anus anomalus vestibularis.
Bei Untersuchung per rectum keine Spur von Uterus oder Ova¬
rien; Menstruation also unmöglich.
Der Fall ist somit als Pseudohermäphroditismus mascu-
linus zu bezeichnen.
Starkenstein: Bedeutung der Inositphosp hör¬
säure für den wachsenden Organismus.
Bereits früher hatte der Vortragende gefunden, daß die Ge¬
webe wachsender Individuen reichlichere Mengen dieser Körper
enthalten, als jene Erwachsener. Dies ließ vermuten, daß dem
Inosit heim Wachstum der Zelle eine bedeutende Rolle zukomme.
Der Vortragende konnte nunmehr feststellen, daß Inosit in der
Form der Inositphosphorsäure mit der Nahrung in den Körper
gelangt. Wachsende Individuen vermögen die Verbindung zu
spalten, die Phosphorsäure wird retiniert und verwertet, der Inosit,
der im Körper zum größten Teile unangreifbar- ist, wird erst in
den Geweben abgelagert und gelangt von hier aus allmählich
zur Ausscheidung. Dementsprechend sind sowohl in den Ge¬
weben als im Harne wachsender Individuen reichlichere Mengen
von Inosit als beim Erwachsenen und im Harne von gesunden
Säuglingen und neugeborenen Tieren keine Phosphorsäuren. Er¬
wachsene vermögen die Inositphosphorsäure nur partiell zu
spalten, ein Teil der resorbierten Substanz wird unverändert im
Harne ausgeschieden und es gelang auch die Inositphosphorsäure
als eine normalerweise im Harne Erwachsener vorkommende
Phosphorsäure nachzuweisen. Als Phosphornährsubstanz wird die
Inositphosphorsäure, die in Form ihres Ca-Mg-Salzes als Pnytin
in den Handel kommt, wohl vorwiegend für den Säugling in Be¬
tracht kommen. Dem freien Inosit kommt keine physiologische
Bedeutung zu, er ist vielfach als Abfallsprodukt des Phosphor¬
säurestoffwechsels anzusehen. Aus obigen Untersuchungen stellten
sich weiters eine Reihe analytisch wichtiger Tatsachen heraus,
die zur Ermittlung der Konstitution der Inositphosphorsäure
gewisse Anhaltspunkte boten und für die Ermittlung ähnlicher
Verbindungen und die Bestimmung organischer Phosphorsäuren
überhaupt von Bedeutung sind. (Originalarbeit erscheint in der
Biochemischen Zeitschrift.) _ Dr. Pribram.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag (len 9. Januar 1911, 7 Ulli abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz
des Herrn Dr. V. Läufer stattfindenden wissenschaftlichen Ver¬
sammlung.
Priv.-Doz. Dr. L. Freund: Kasuistisches zur Röntgendiagnostik in
Wort und Bild. ■
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch den 11. Januar 1911.
Programm:
Demonstrationen Der Sekretär.
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Dienstag deu 10. Januar 1911, im Hörsaale der
II. Univ. -Frauenklinik. Beginn: Punkt 7 Uhr abends.
Tagesordnung :
1. Schauta : Ureterbauchdeckenfistel.
2. Richter: Karzinom der Flexur und der Ovarien.
3. Schauta: Ueber Antefixationsoperationen.
H. Thaler, II. Schriftführer. Schauta, Vorsitzender.
Verein für Psychiatrie und Neurologie.
Programm der Dienstag den 10. Januar 1911, 7 Uhr abends, im
Hörsaal v. Wagner stattfindenden wissenschaftlichen Sitzung.
1. Demonstrationen: Dr. Biacli: Klinischer Fall. Dr. J. Bauer:
Körnerzellen des Kleinhirns bei Gewichtsschätzung.
2. Diskussion zum Vortrage des Priv.-Doz. Dr. W. Falta. Zum
Worte gemeldet: Dr. l’ötzl und Dr. Stransky.
3. Vortrag Dr. G. Holzknecht: Ueber Röntgenbefunde bei nervösen
Schlingbeschwerden. Dr. Marburg, Schriftführer.
Nach der Sitzung gesellige Zusammenkunft im Riedhof.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Kubasta. Verlag von Wilhelm Braumöller in Wien.
Druck von Bruno Bartelt. Wien XVIII., Theresiengasse 3.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
G. Braun, 0. Chiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger, M. Gruber, F. Hochstetter, A. Kolisko, H. Msyac j, Moeller,
K. v. Noorden. H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Theodor Escherich, Alexander Fraenkel. Ernst Fuchs. Julius Hochenegg, Ernst Ludwig,
Edmund v. Neusser. Richard Paltauf. Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/i. Wickenburggasse 13. Telephon 17.618
XXIV. Jahrg. Wien, 12. Januar 1911 Nr. 2
INHALT:
1. Originalartikel : 1. Aus der Wiener Universitäts-Kinderklinik
(Vorstand: Ilofrat Prof. Dr. Escherich). Ueber '„Fettkinder.“
(Hypophysäre und eunuchoide Adipositas im Kindesalter.) Von
Dr. Rudolf Neurath. S. 43.
2. Zur Kenntnis der Lungendistomumkrankheit. Von Doktor
Y. Tanaka, Professor an der medizinischen Hochschule zu
Osaka in Japan. S. 49.
3. Ueber die Ursachen des Flimmerskotoms und seine Behand¬
lung. Von Dr. Alexius Pichler, Augenarzt in Klagenfurt. S. 51.
4. Aus der I. chirurgischen Universitätsklinik in Wien. (Vorstand:
Prof. A Freih. v. Eiseisberg.) Zur Frage der zirkumskripten,
chronisch-adhäsiven Peritonitis. Von Dr. Wolfgang Denk,
Operateur der Klinik. S. 57.
5. Die differentielle Diagnose der Hysterie und verwandter organi¬
scher Nervenkrankheiten. Von Z. Bychowski, Oberarzt am
Krankenhaus Praga in Warschau. S. 60.
6. Bemerkungen zur Ehrlich-Debatte. Von Prof. E. Finge r. S. 65.
II. Oeflentliclie Gesuudheitspllege : Eine sozialmedizinische Kon-
greßreise. Von Priv.-Doz. Dr. Ludwig Telekv. (Schluß.) S. 66
III. Referate: Ueber Scharlach. (Der Scharlacherkrankung zweiter
Teil.) Von Primararzt Dr. Dyonis Pospischill und Dr. Fritz
Weiß. Ueber eine eigenartige familiär-hereditäre Erkrankungs¬
form (Aplasia axialis extracorticalis congenita). Von Priv.-Doz.
Dr. L. Merz ha eher. Säuglingsschutz durch Staat, Gemeinden
und Private innerhalb des deutschen Sprachgebietes. Von
Prof. Dr. B. S a 1 g e. Oxypathie. Von Prof. Dr. Wilhelm
Stöltzner. Ref. : Carl Lein er. — Die Erkrankungen des
Blinddarmanhanges (Processus vermiformis.) Die Gewächse der
Nebennieren. Von Prof. Dr. Karl Winkler Ref. H. Albrecht.
— Mikroskopie und Chemie am Krankenbett. Von Professor
Dr. H. Lenhartz. Die Zuckerkrankheit und ihre Behandlung.
Von Prof. Dr. Carl v. No orden. Ref. M. St ernberg.
IV. Aus verschiedeneu Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrichten.
Aus der Wiener Universitäts-Kinderklinik (Vorstand :
Hofrat Professor Dr. Escherich).
Ueber „ Fettkinder“.
(Hypophysäre und eunuchoide Adipositas im Kindesalter.)
Von Dr. Rudolf Neural h.
Von den ursächlichen Momenten, die beim Erwach¬
senen für die Entstehung der Fettsucht in Betracht kom- I
men, sind für die Fettleibigkeit des Kindesalters nicht alle !
als maßgebend anzuerkennen. Vor allem entfallen so ziemlich !
sämtliche, durch gewisse Lehensgewohnheiten und Beschäfti- j
gungen zu erklärenden Mißverhältnisse zwischen Nährungs- !
Aufnahme und Energieverbrauch, die beim Erwachsenen I
eine hedeutende Bolle spielen können, denn im Kindesalter 1
dürfte die Aktivität und der Kraftverbrauch durch Muskel-
Übung doch nur in engen Grenzen schwanken. Auch die
hereditäre Fettsucht kommt beim Kinde kaum in Betracht,
denn jnach v. Noorden beginnt die erbliche Fettsucht
seilen im zweiten, häufiger erst im dritten Dezennium, er¬
reicht aber erst später einen erheblichen Grad und ist es
wahrscheinlich nicht eine hereditär verminderte Zersetzungs¬
energie des Protoplasmas, also nicht eine endogene Anlage
zur Fettleibigkeit, sondern ererbte Lebensgewohnheiten, die
zur Fettaufstapelung führen. Für diese Anschauung spricht,
daß wir bei ganz jungen Kindern so gut wie nie eine
sichere Abhängigkeit der Körperfettmasse von der Fett¬
leibigkeit oder Fettarmut der Eltern zu sehen gewohnt sind.
Die Fettleibigkeit im Kfndesalter scheint in ihren reinen
Formen immer insoferne einem Mißverhältnis zwischen Ein-
nahimle und Ausgabe zuzuschreiben zu sein, als es die unver-
hällnismäßig große Einnahme, die Leberfütterung, ist, die
als kausales Moment nie fehlt. Nach Hutinel und Ti xi ei¬
lst es das Alter zwischen 7 und 10 und besonders zwi¬
schen 10 und 14 Jahren, wo sieh Fettleibigkeit im Kindes¬
alter findet. Angeborene Fettleibigkeit ist relativ noch sel¬
tener. Klinisch äußert sich die reine Fettsucht durch die
charakteristische gleichmäßige- Volumsvermehrung des Kör¬
pers, Weichheit der Formen, Verwaschensein des Knochen¬
reliefs, oft auch durch relative Blässe.
Von (diesen reinen Formen der Fettleibigkeit unter¬
scheiden sich die gewissen Typen pathologischen Fett¬
ansatzes einerseits durch die lokale Präponderanz der
Fettansammlung im Unterhautzellgewebe, andrerseits durch
die Kombination mit charakteristischen wichtigen soma¬
tischen Eigentümlichkeiten. Hieher gehören jene „Fett¬
kinder“, deren Kisc'h gedenkt, die oft femininen. Typus
zeigen, ,mit kleinen Testikeln oder Kryptorchie. Auch
A. Schüller beobachtete solche Kinder und faßt sie als
primär disgenitale Individuen auf. Wir finden die mannig¬
fachsten Bezeichnungen für solche abnorme Körperbesdiaf-
fenheit : Disgenitalismus, Infantilisme avee gigantisme, Dys¬
trophia adiposo-genitalis, Ilypothyreoidie, Eunuchoidismus
— Titel, die die vielfachen, zur Erklärung dieser Formen auf-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
gestellten Theorien erkennen lassen. Besonders die An¬
nahme einer genitalen und die einer hypophysären Aetio-
loo'ie stehen in reger Diskussion. Einige Beobachtungen, die
in den Rahmen dieser Krankheitsbilder passen möchte ich
unter der provisorischen grobklinischen Bezeichnung ,,rett-
kinder“ zur Mitteilung bringen. Klinik und pathologische
Anatomie, sowie der Vergleich mit kastrierten Tieren und
Menschen, lassen gewisse Drüsen mit innerer Sekretion an
dem Zustandekommen solcher Krankheitsbilder beteiligt er-
S dl C 1 116 ü •
Schon früher war vereinzelt auf auffallenden Fett¬
wuchs bei Hypophysiserkrankungen hingewiesen worden
(v F rankl-Hoch w a r t). Aber erst seit. Fröhlich aus der
Schule von Frankl -Hoch warts als klinische Symptome
eines Falles von Hypophysentumor neben den Tumor¬
erscheinungen rasch eintretende Fettleibigkeit und Unter¬
entwicklung der Keimdrüsen hervorhol) und als diagnostisch
verwertbar erkannte (Bartels: Dystrophia adiposo-gemtalis
oder hypophysäre Fettsucht), wurde dieser bröhl ich sehe
Typus der Hypophysenaffektion öfter beobachtet und ana¬
tomisch oder während der Operation (S c h 1 o f f e r, v. E i s e 1 s-
berg) verifiziert. Die Fettablagerungen bevorzugen die
Bauchwand und die Gesäßgegend, öfters finden sich i rocke n-
heit der Haut, verminderte Schweißsekretion, Dystrophie
der Nägel und Haare, abnorme Körpertemperatur, Blasse,
psychische Veränderungen angegeben. Außer dem hypo-
plastischen Genitale ist eine Hemmung m der Entwicklung
der sekundären Geschlechtszeichen und infantiler Habitus
die Regel. Diese hypophysäre Aetiologie wurde von Ercl-
heim angezweifelt und das Zentrum, dessen Läsion bei
Hypophysentumoren ohne und mit Akromegalie zur Adi¬
positas führt, an einer uns unbekannten Stele herllrrn-
basis vermutet, welche indirekt mitaffiziert wnd, e
Theorie, die Marburg mit Erfolg zu entkräften versucht
hat. Tierexperimente, welche die Entstehung pathologischen
Fettansatzes nach Hypophysenexstirpation erzielt haben,
liegen vor von Cushing, Biedl und As Clin er. Es kam
hiebei auch zu exzessivem Fettansatz im Innern des
Körpers.
Auf (Grund ihrer Enter suchungen an bkopzen und
kastrierten Tieren kommen Tandler und Grosz, nachdem
schon Schüller einen primären Disgemtahsmus als Er
sache der geschilderten Krankheitsbilder (Genitalhypoplasie,
Fettsucht, Infantilismus) angesprochen hatte, zur Annahme,
daß eine angeborene Unterentwicklung des Zwischengewebes
der Genitaldrüsen (Ley dig sehe Zellen des Hodens, zu einer
eunuchoiden Entwicklungsstörung des Körpers führe aus
der eine an den Kastratenhabitus ' erinnernde Korperkonti-
guration, daneben aber auch eine sekundäre Hyperplasie
der Hypophyse resultiere, welch letztere immer die Folge
einer ^ Unterentwicklung oder Unterfunktion der Gemtal-
drüsen sei (Kastration, Gravidität, Klimakterium;.
Wenn man aber weiters bedenkt, daß zu einem kon¬
stanten [Symptom der mangelnden Schilddrüsenfunktion
(Biedl), der mangelhaften endochrondalen Verknöcherung
noch eine mangelhafte Entwicklung der Geschlechtsorgane
und eine Vergrößerung und Degeneration der Hypophyse
tritt, dann haben wir in der Thyreoidea einen weiteren An¬
griffspunkt auf das sich gegenseitig fordernde oder hem
mende Abhängigkeitsverhältnis der Drusen mit innerer Sekre¬
tion. Auch von der Schilddrüse aus konnte es zu einer Hem¬
mung der Genitalentwickiung und zur Beeinflussung der
Hypophysenentwicklung kommen. Klinisch ist allerdings
nach den bisher vorliegenden Erfahrungen eine auf Hypo-
thvreoidie zurückzuführende Adipositas nur ex juvantibus
erkennbar. Was das Ivindesalter anbelangt, lenkt i lu¬
ll i er ge die Aufmerksamkeit auf Fettsucht als ein hervor¬
ragendes und unter Umständen einzig vorhandenes Zeichen
gesteigerter Schilddrüsenfunktion.
Auch im Anschlüsse an Zirbeldrüsenerkrankungen
kommt es zu vermehrtem Fettwuchs. Marburg ist ge¬
neigt diese Adipositas auf einen Hyperpineahsmus zuruck-
zuführen, während B. Fischer eine sekundäre Schädigung
der Hypophyse durch den begleitenden Hydrozephalus als
kausales Moment betrachtet. Im Vordergründe des Inter¬
esses stehen jedoch bei ätiologischer Beurteilung der „endo¬
krinen Fettsucht“ zwei Drüsenparenchyme, me Hypophyse
und die Genitaldrüsen, i . .
Die Schwierigkeit der Entscheidung, welche Druse
primär geschädigt oder in ihrer Funktion gehemmt ist, ob
die Hypophyse oder die Geschlechtsdrüse, die Trage, ob
positive Tierexperimente, welche nach Exstirpation des
Vorderlappens der Hypophyse Krankheitsbilder erzielten,
die an die Dystrophia adiposo-gemtalis erinnerten (Asch¬
ner, Cushing, Biedl), mit den pathologischen Erfah¬
rungen am Menschen identifiziert werden können, lassen
die skizzierten Probleme noch immer als ungelöst er¬
scheinen. Tandler und Grosz bringen die vorhandenen
Möglichkeiten des pathogenetischen Zusammenhanges in
folgender Reihe: , „
a) Primäre Erkrankung der Hypophyse, konsekutive
Erkrankung des Genitales, dieser koordiniert, also ebenfalls
direkt von der Hypophyse ausgehend, Fettwuchs ; — in sel¬
tenen Fällen könnte nur eine der beiden Konsequenzen
sich ausbilden, die andere ausbleiben.
b) Primäre Erkrankung der Hypophyse, konsekutive
Erkrankung des Genitales, durch die letztere bedingt Fett-
wii ch s ^ ^ .* 1
c) Primäre Erkrankung deF Keimdrüse, konsekutive
Fettsucht und hypophysäre Veränderung koordiniert. Auch
hier könnte einer der beiden konsekutiven Prozesse aus-
bleiben \ 1 1 • • — ^ ^
d) Primäre Erkrankung der Keimdrüse, konsekutive
Veränderung der Hypophyse, welche den Fettwuchs bedingt.
Biedl versucht die günstigen Operationsresultate bei
hypophysärer Fettsucht (Schloff er, v. Eiseisberg,
v. F r a nk 1 - H o c h w a r t) und erfolgreiche Hypophysenmedi¬
kation zugunsten der Annahme eines primären Hypopitui-
tarismus zu verwerten ohne jedoch die &chwieng . .
zu verkennen, die bei den vielfachen Wechselbeziehunge
der innersekretorischen Organe und bei der Seltenheit iso¬
lierter Erkrankungen einzelner Organe dieser Gruppe einei
Erkennung der primäraffizierten Drüsen mit innerer Se¬
kretion unausbleiblich sind. Führte doch die intime gegen¬
seitige Beeinflussung der endokrinen Drüsen zur Aufstellung
des Typus pluriglandulärer Syndrome.
Es überschritte den Rahmen dieser klinischen Albert,
wollte ich die derzeit schon unermeßliche Literatur über
die skizzierten Fragen lückenlos berücksichtigen Die Ar¬
beiten Von Borchardt, Tandler und Grosz, ß. Fischer
und Marburg, ganz besonders aber das jüngste, aber be¬
reits unentbehrliche Uebersichtswerk Biedls über die innere
Sekretion, wo die Literatur vollständig berücksichtigt er¬
scheint, erübrigen auch einen solchen Versuch.
In der Mehrzahl der bisher vorliegenden, für die Er¬
kenntnis der Funktion der in Betracht kommenden Drusen
verwertbaren Erfahrungen, waren es auffallende, die
gemeinen Hirntumorsymptome begleitende, dystrophische Er¬
scheinungen einerseits, lokale, auf Zentren oder Nerven¬
bahnen zu beziehende Ausfallserscheinungen andrerseits,
die auf endokranielle Drüsen hinwiesen. Für die prirnar-
disgenitalen Fälle schien deutliche Entwich ungshemmung
der Genitaldrüsen von Wichtigkeit (A. Schuller) Welches
immer die letzte pathogene Ursache der im Gefolge von
sichtbaren organischen Krankheiten (Tumoren) der endo¬
krinen Drüsen auftretenden Krankheitsbilder sein .mag, dar¬
über hat bisher weder die Anatomie, noch das Experiment
sicheren Aufschluß gebracht. f
Im folgenden sei eine kleine Reihe von ballen aut-
fallender Fettleibigkeit im Kindesalter, sogenanntei ,,
kinder“ gebracht, deren einen (Fall I) ich an der Wiener
Kinderklinik zu sehen Gelegenheit, hatte und dessen V -
wertung mir Herr Hofrat Es eher ich mit gewohnter Gute
gestattete. Die anderen Fälle entstammen meiner Abteilung
am I. öffentlichen Kinder-Krankeninstitut.
1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Fall 1. 1. St., 10 Jahre alt, aufgenommen 7. Juni 1910. Drittes
Kind, normale Geburt, Brustkind gewesen, bei der Geburt normale
Größe und Entwicklung. Mit anderthalb Jahren gehen gelernt,
mit zwei Jahren Dentition. In frühester Kindheit Masern, vor
drei Jahren Scharlach. Angeblich begann zwei Monate nach der
Scharlachinfektion (mit sieben Jahren) der früher normale Knabe
plötzlich immer dicker zu werden, wobei die Größe seither immer
dieselbe geblieben ist. Die Ernährung war immer eine normale,
er aß nicht mehr oder weniger als andere Kinder, auch jetzt
nimmt er gemischte Kost von Durchschnittsquantunx zu sich.
Das subjektive Befinden des Knaben ist ungestört. Nur ein- bis
zweimal täglich treten Kopfschmerzen im Vorderkopf auf, an¬
geblich in Begleitung von Kongestionen. Sonst ist der Bursche
nach Angabe des Vaters sehr intelligent. Bewegungsfähigkeit
ungestört. In der Familie kein Fall von Adipositas. Die übrigen
Kinder normal.
109 cm langer, mäßig muskulöser, überaus fetter- Knabe.
Recht intelligent, folgsam, still. Kopfumfang 53 cm, Bauchumfang
in Nabelhöhe 83 cm, Mitte des Oberarmes 23-5 cm, Mitte des
Oberschenkels 42 cm, Mitte des Unterschenkels 29 cm, Körper¬
gewicht 36-80 kg, Pirquet positiv. Gesicht gut gefärbt, Haut sonst
ohne Besonderheiten, nur an Ober- und Unterschenkel beider¬
seits frische Striae, Intertrigo in den Schenkelbeugen, in beiden
Achselhöhlen und in der Halsbrustfalte. Das Skelett ziemlich
kräftig, wohlgeformt. Keine Drüsenschwellung. Die Reflexe nor¬
mal, Papillen gleich weit, reagieren prompt. Augen rein, Trommel¬
felle blaß. Geringe Koryza, Lippen lebhaft rot, Zunge dünn
milchig belegt, Rachen ohne Beisonderheit. Lungenbefund normal.
Herzgrenzen infolge- des dicken Fettpolsters nicht zu bestimmen,
Töne rein, begrenzt, Herzaktion rhythmisch. Abdomen hochgradig
vorgewölbt. Stuhlgang unregelmäßig. Leber und Milz nicht nach¬
weislich vergrößert. Der Penis im Fettpolster bis auf die Glaus
verschwunden. Spärliche Behaarung de® Mons veneris. Die
Testes von dem Alter entsprechender Größe.
Augenbefund: Patient klagt über undeutliches Sehen am
Abend, ferner über Schwindel. Fundus normal, hypermetropi-
scher Astigmatismus.
23. Juni. Seit gestern Kalbschilddrüse in Saft, täglich
einmal. ■ , , ; j
25. Juni. Seit zwei Tagen zeitweise Kopfschmerz, leichte
Temperatursteigerung bis 37-4°, Puls 132.
4. Juli. Allgemeinbefinden recht gut, kein Fieber, keine
Störungen von seiten des Zirkulationsapparates.
6. Juli. Fieberfrei. Gestern heftige Kopfschmerzen, die auf
kalte Umschläge schwanden. Puls heute 140.
Patient bekommt täglich entweder Kalbschilddrüse oder
eine Thyreoidintablette (0-1). Appetit und Stuhl in Ordnung.
9. Juli. Kein Kopfschmerz. Puls 144 (Thyreoidiu ?)
14. Juli. Körpergewichtsabnahme um 400 g in der letzten
Woche. Puls noch immer frequent.
18. Juli. Temperatur 37-7 bis 37-9°. Mundhöhle rein. Rachen
leicht gerötet, kein Exanthem. An Fingern und Zehen zeigt die
Haut eine leichte Schuppung.
22. Juli. Fieberfrei. Wohlbefinden. Wegen Tachykardie und
zeitweiser Kopfschmerzen wird die Thyreoidintherapie ausgesetzt.
In den letzten Wochen Gewichtsabnahme von 1-3 kg.
4. August. Im Monat August täglich Schilddrüse vom Kalb
in Saft. Pat. hat im ganzen um 6-8 kg abgenommen, fühlt sich
wohler, ist besser beweglich, kann besser laufen.
Bauchumfang 75 cm, Oberschenkel 38V2 cm, Unterschenkel
27V2, Oberarm 22V2, Körpergewicht 30-25 kg. Striae an den
Oberschenkeln deutlich. Pulsfrequenz hoch (Thyreoidinwirkung).
Eine in den ersten Tagen des Spitalsaufenthaltes von Privat¬
dozenten Dr. A. Schüller vorgenommene Röntgenaufnahme
des Schädels ergab : Schädeldach auffällig breit, die Wanddicke
wechselnd, an den breitesten Stellen (Scheitelbein) 5 mm, an den
dünnsten Stellen (Schläfegegend und Pacchionische Gruben)
1 bis 2 mm. Die Innenfläche des Schädels ist glatt, die Nähte
sind vorhanden. Die Basis normal konfiguriert. Sella klein,
Sattellehne und Processus clinoideus anterior auffallend plump.
Es handelt sich im vorliegenden Falle um einen zehn¬
jährigen, auffallend kleinen — 109 cm gegenüber 130 cm
der Norm — und auffallend dicken Knaben, dessen Größe
dem Alter von sechs Jahren, dessen Gewicht dem eines
13 Jahre alten Kindes entspräche. Besser als die Schilde¬
rung illustriert die Abbildung (Fig. l) den enormen Fett¬
wuchs, das ballonförmige Gesicht mit dem starken Doppel¬
kinn, die mammenartigen Wülste am Thorax, das kugelig
vorspringende, durch eine tiefe Querfurche gegen die Sym¬
physengegend abgegrenzte Abdomen, die dicken, fettgepol¬
sterten Extremitäten. Das schnelle Wachstum des Fett¬
polsters wird auch durch die frischeren Slriae, Zeichen der
Dehnung der Hautdecke, deutlich. Außerdem imponiert im
Bilde die Größe des Schädels, dessen Umfang um ca. 5 cm
die Norm übertrifft.
Als zweiter- Punkt, der ein Interesse verdient, ist die
Entwicklung des Genitales zu beachten. Der Penis ist zum
größten Teil im Fettpolster der Genitalgegend geborgen, der
Mons veneris ist spärlich behaart, die Hoden Aveichen in
ihrer Form und Größe nicht von der Norm ab.
Endlich ist auch der Nervenbefund, das attackenmäßige
Auftreten von Stirn-Kopfschmerzen und von Schwindel und
als wichtiges negatives Symptom der normale Augenhinter¬
grund hervorzuheben. Zu betonen ist noch die anamnestische
Angabe, daß der plötzlich einsetzende Fettansatz bei dem
in puncto Fettsucht weder hereditär, noch familiär bela¬
steten, quantitativ und qualitativ normal ernährten Kinde
auf einen vor drei Jahren überstandenen Scharlach zeitlich
zu beziehen ist. Auf Schilddrüsendarreichung wurde ein
Zurückgehen der Adipositas erzielt (Fig. 2).
Wenn die skizzierten wichtigen Symptome des Krank¬
heitsbildes zur ätiologischen Deutung des Falles verwendet
werden 'sollen, so spricht wohl die normale Größe der
Genitaldrüsen gegen eine genitale Adipositas, gegen pri¬
mären Disgenitalismus, der direkt oder infolge indirekt ver-
anlaßter Hypophysenhypertrophie den Fettwuchs verursacht
haben könnte. Hingegen Aveisen die Vergrößerung des Schä¬
dels und die röntgenologisch nachweisbare Verdünnung
seiner Wände, die Anfälle von Kopfschmerz und Schwindel
und vielleicht auch die frühzeitige, spärliche Behaarung
der Schamgegend auf eine Funktionsstörung einer endo-
kraniellen Blutdrüse, der Hypophyse oder der Epiphyse hin.
Es ist nicht leicht, mit Sicherheit in diesem Punkte eine
Entscheidung zu treffen. Falls wir eine Zirbeldrüsenerkran-
•IG
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. iUll.
Ni. ‘2
kung in Erwägung ziehen, so stoßen wir au
eine
recht.
unvol
ständige Symptomatologie im Vergleiche zu den ms-
- -- • > • ™ - 1 . - - F rank 1-
her bekannten fällen, die
bei Marburg, v.
H ochw a r t , R ay in o n d und Claude, Pelliz z i berück¬
sichtigt sind und in denen die Tumprsymptome und sonstige
nervöse Erscheinungen stark hervortraten um m eren
Mehrzahl (Ogle, Gut zeit, 0 ester reich-Slavyk und
v. Frankl-Hoch wart), soweit sie Knaben betrafen, die
genitale Frühentwicklung hervorgehoben wird
Die Bedeutung der Adiposität bei Zirbeltumoren wür¬
digt besonders Marburg. Er faßt sie als Ausdruck des
Hvperpinealisinus auf. Wenn v. Frajikl- Hochwart den
diagnostischen Satz versucht : Wenn sich bei einem seh
jugendlichen Individuum (Knabe, neben den Allgemei
t.umorsymptomen, sowie neben den Symptomen Mer Vier-
hügelerkrankung (Augenmuskel- und Blicklabmung, Ataxie,
abnormes Längenwachstum, ungewöhnlicher Haarwuchs,
Verfettung, Schlafsucht, prämature Genital- und Sexuatenl-
wicklung, eventuell geistige Frühreife findet, hätte mail an
einen Zirbeldrüsentumör zu denken, so tritt aus dieser Reihe
von positiven Momenten am deutlichsten hervor, wie vie
unserem Falle zur Symptomatologie einer Epiphysen¬
geschwulst fehlt. Die Annahme, daß -eventuell ein solcher
Tumor dy strophische Erscheinungen veranlassen könnte, be¬
vor sein Wachstum zu einer Massenzunahme geführt hat,
diu zui' Auslösung mechanischer Tumorsymptome von no en
ist, wird durch die bisher beschriebenen Fälle mcht gestutzt.
In allen Fällen koinzidierten die dystrophischen Erschei¬
nungen mit den Tumorsymptomen oder folgten diesen nach.
Durch Schädigungen der Hypophyse lassen sich die
Fettsucht und die nervösen Erscheinungen des vorliegen¬
den Falles nicht nur erklären, Fälle der jüngeren Literatur
bieten sogar in gewissen Grenzen eine Analogie zu den
Einzelheiten unserer Beobachtung. Solche Falle haben sich
seil F röh lieh s Arbeit in der Literatur gemehrt, Allerdings
fehlen in unserem Falle im Vergleiche zu analogen oder
ähnlichen Beobachtungen von ausgesprochen hypophysärer
Fettsucht, die sicheren Tumorsymptome, es fehlen vor allem
Erscheinungen von seiten des Optikus und die interessanten
Veränderungen der , Sella turcica im Röntgenbild, die aller¬
dings nicht als obligate Konsequenzen einer Hypophysis¬
affektion zu gelten haben. Auf intrakranielle Drucksteige¬
rung sind wohl die Anfälle von Kopfschmerz und Schwindel
zu beziehen. Diese, zusammengehalten mit dem großen
Schädelumfang und mit den im Röntgenbilde deutlichen
Verdünnungen der iSchädelknochen, legen den Gedanken
an einen Hydrozephalus nahe, wobei es sich um einen
sekundären Wasserkopf, sei es als Folge eines Blut- odei
Lymphbahnen drosselnden Tumors, sei es als Folgezustand
einer diffusen Meningitis, handeln könnte. Wir hätten uns
vorzustellen, daß eine hydrozephalische Drucksteigerung m
den Ventrikel höhlen zu einer Dehnung des dritten Ventrikels,
zu einer Vorbauchung des Bodens desselben und so zu
einem Druck des Infundibulums auf die Hypophyse geführt
hätte, wodurch eine Funktionsschädigung dieses Organes
zustande gekommen wäre. Für die Möglichkeit eines sol¬
chen Mechanismus sprechen nach Kurt. Gol d stein anato¬
mische Erfahrungen von exzessiver \ orwölbung des In¬
fundibulums bei stärkerem Hydrozephalus. NachB. Fische r
sind experimentelle, chirurgische und anatomische Erfah¬
rungen dafür verwertbar, daß es Schädigungen oder Zer¬
störung des Hinterlappens und des Infundibularteiles clei
Hypophyse sind, die zur Dystrophia adiposo-genitalis führen,
während nur das typische Adenom des Vorderlappens für
die Akromegalie verantwortlich zu machen ist, eine An¬
nahme, die wohl noch nicht allgemein anerkannt ist. Die
Adipositas könnte, wie Fischer betont, auch durch Tu¬
moren von anderem Sitz hervorgerufen werden, wenn die¬
selben einen starken Hydrozephalus zur Folge haben. Bei
solchen Fällen pflegt sich der Recessus infundibuli blasen¬
förmig auszubuchten und den Trichter vorzuwölben. Dadurch
mag wohl ein erheblicher Druck nicht nur auf das Chiasma,
•sondern auch auf die Hypophyse selbst entstehen.
Was nun die Genese des supponierten Hydrozephalus
in unserem Falle anbelangt, so läßt sich ein, wenn auch
kleiner, Tumor zwar nicht mit Sicherheit ausschließen.
Fischer hebt hervor, daß man gerade bei kleinen Ge¬
hirngeschwülsten besonders schweren Hydrozephalus und
vor allem die stärkste Erweiterung gerade des dritten Yen-
trikels beobachtet, wodurch das häufige Vorkommen der
zerebralen Adipositas bei kleinen Tumoren zu erklären sei
Doch spricht der anfallweise auftretende Kopfschmerz und
besonders der Schwindel (‘her für einen stärkeren Hydro¬
zephalus, für dessen Entstehung wir in der Anamnese einen
ätiologischen Hinweis finden. Die auffallenden klinischen
Erscheinungen traten in engem Anschlüsse an einen über-
standenen 'Scharlach auf. Nun wissen wir, daß meningitische
Reizungsprozesse, die sich im klinischen Bilde als zere¬
brale Störungen von der Art des vagen „Meningismus“ ana¬
tomisch als Meningealödem, histologisch als Schwellung,
Zellinfiltration und Hämorrhagien der Pia erkennen lassen,
nach allen Infektionskrankheiten sich finden (Typhus, 1 neu-
monie, Scharlach, Keuchhusten) und ich selbst verfüge unter
anderen 'Beobachtungen von postskarlatinösen Zerebralattek-
tionen, über die ich mir demnächst zu berichten erlauben
will über einen Fäll, in welchem! sich im Anschluß an
Scharlach das vollkommene Bild einer schweren Hydro¬
zephalie mit. Kleinhirnsymptomen eingestellt hatte; anato¬
misch ergab sich Hydrozephalus nach abgelaufener Menin¬
gitis mit Verschluß des Foramen Magendi.
Der Genitalbefund weicht, wie erwähnt, bis auf che
reichliche Fettansammlung nicht von der Norm ab. Dieses
Verhalten entspricht der von Tandler und Grosz skiz¬
zierten Möglichkeit der primären Hypophysenerkrankung,
als deren Folgen Genitalatrophie und Fettwuchs als koordi¬
nierte Konsequenzen anzusprechen wären. In unserem Falle
wäre nur die Adipositas zur Entwicklung gekommen wah¬
rend die Genitalatrophie ausgeblieben ist. Auch Biedl fand,
daß unter 32 Fällen hypophysärer Fettsucht nur 12 Genital¬
atrophie zeigten und daß andrerseits im Beginne des Lei¬
dens eine genitale Involution nicht immer festzustellen ist.
Also könnte es möglicherweise in unserem Falle noch zu
einer solchen kommen. Im Gegensalz zu solchen Erlah-
r u ngen glaubt B. Fischer, daß die Genitalstörungen bei
hypophysärer Fettsucht immer viel früher auftreten, als die
Adipositas und daß schon eine leichte Schädigung des
Hinterlappens der Hypophyse zur Störung der Gemtallunk-
tion, eine schwere erst zur Adipositas führe. .
Die leichte Behaarung der Genitalgegend ist m un¬
serem Falle mit der angenommenen Hypophysenuntertunk-
tion nicht recht in Einklang zu bringen. Vielleicht handelt es
sich um eine nicht zu seltene individuelle Abnormität. End¬
lich verlangt noch die Kleinheit der Körperhöhe hervor¬
gehoben zu werden. Die Höhe von 109 Cm! entspricht unge¬
fähr dem 6. bis 7. Lebensjahre und läßt an einen Stillstand im
Höhenwachstum um die Zeit der Scharlacherkrankung
denken. Die Röntgenogramme der Verknöcherungszonen der
Extremitätenknochen zeigen nichts Abnormes. Doch ist ein
Stillstand im Wachstum als Folge von Hypophysen¬
unterfunktion bekannt (M armes c o - G o 1 d s t ei n, Kurt
Goldstein, Babonneix-Paisseau). Im Tierexpenment
fand Aschner neben den Symptomen der Dysplasia adi¬
poso-genitalis, wobei auch im Körperinnern Fettansammlung
auftrat, ein Stehenbleiben im Wachstum als Folge der Hypo-
physenexstirpation.
Die jüngere Literatur bringt einige Falle, die mannig¬
fache Analogien zu unserer Beobachtung und seiner Deutung
bringen. Marinesco und Goldstein berichten über zwei
Fälle mit Hydrozephalus und allgemeiner Adipositas. Im
ersten Falle handelt es sich um! einen lojähngen, links¬
bündigen 'Knaben, der vor zwei Jahren plötzlich unter memn-
<o tischen Symptomen und Paresen erkrankt war. Es handel e
sich um einen kleinen, sehr dicken Jungen, mit großem
Kopfe, Lähmungserscheinungen der Beine, Atrophia nervi
optici, spastisch-ataktischem Gang, Hypoplasie der Genital¬
organe, einseitiger Kryptorchie, Mangel der Behaarung am
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Genitale und den Achselhöhlen; im ganzen ein infantil-
femininer Typus. Bei der Autopsie fand sich starker Hydro¬
zephalus und zystischer Kleinhirntumor. Hypophyse und
Testikeln Waren histologisch alteriert. Im zweiten Fallef han¬
delte es sich um1 ein sechzehnjähriges Mädchen mit sehr
großem Kopf, starkem Fettpolster, besonders am Abdomen
und Hüften, enormen Brüsten, Flexionsstellung der Beine,
Reflexsteigerung, sehr geringer Intelligenz, spärlicher Be¬
haarung bei normalem äußeren Genitale. Bei der Obduktion
fand sieb starker Hydrozephalus ohne jedes Neoplasma.
Kurt Gold st ein teilt drei Fälle von Meningitis serosa
unter dem Bilde hypophysärer Erkrankung mit. Ein 18jäh-
riger Mann, der im fünften Lebensjahre ein Stehenbleiben
im Wachstum zeigte, mit 14 Jahren an Kopfschmerz litt,
seither links schlechter sah. Jetzt für sein Alter klein, sehr
reichliches Fettpolster, stark entwickelte Brüste, Fettreich¬
tum besonders des Abdomens, des Mons veneris und am
Becken, kein Haarwuchs am Körper, rudimentär entwickeltes
Genitale, großer Schädel, Pupillendifferenz, Strabismus, leb¬
hafte Sehnenreflexe, Atrophia Nervi optici. — Der zweite
Fall betrifft einen zwölfjährigen Knaben mit großem Schädel ;
vor drei Jahren öfters Erbrechen, vor zwei Jahren Sturz
vom Pferde und Zeichen einer Gehirnerschütterung. Seit¬
her Abnahme der psychischen. Tüchtigkeit, Zunahme des
Schädelumfanges, Anfälle von Schwindel, Dickenzunahme
des Gesichtes, Vermehrung des Fettansatzes, Verkleinerung
des Genitales, im ganzen ein femininer Habitus. Rechts
Stauungspapille, links blasse Papille und Abduzens1-
schwäche. Druckschmerzhaftigkeit der Wirbelsäule. Nach
Schmierkur Besserung. Röntgenologisch keine Veränderung
der Sella turcica. Wenn auch der Gedanke an einen Hirn¬
tumor nahelag, plädiert Autor doch für die Diagnose Menin¬
gitis serosa. — Im dritten Fälle handelt es sich um einen
17jährigen Jüngling, der als Kind oft Kopfschmerzen hatte,
ein sehr kleines und fettreiches Individuum von kindlichem
Charakter, mit großem Kopf, ln den letzten zwei Jahren
häufiger Kopfschmerz und Abnahme der Sehkraft, jetzt sehr
klein, sehr fettreich, Gesicht auffallend breit, infantil-femi¬
niner Habitus, geringe Behaarung, Atrophie der Hoden.
Beiderseits Atrophia nervi optici. — Für alle drei Fälle
nimmt Goldstein die Diagnose: hypophysäre Fettsucht
nach Meningitis serosa in Anspruch. Es handelt sich um
geringe (Erscheinungen von seiten der gestörten Hypophysen¬
funktion bei gleichzeitigem Bestehen von Zeichen starken
Hirndruckes. Die von Gold stein diagnostisch verwertete
lange Dauer der tSymlptome beweist allerdings nichts gegen
das eventuelle Bestehen eines Tumors (v. Frankl -Hoch¬
wart).
Ueber Adipositas universalis bei zwei Geschwistern,
einem 15jährigen Jungen, 168 Pfund Gewicht und 168 cm
Körperhöhe, Kopfumfang 58 Cm und einem 9jährigen Mäd¬
chen von 100 Pfund Gewicht, 149 cm Höhe und 56 cm
Kopfumfang, berichten K rück mann und Meyer. Es be¬
stand Optikusatrophie und konzentrische Gesichtsfeldein¬
schränkung, beim Mädchen auch Retinitis pigmentosa, der
Türkensattel war unverändert. Diagnostisch wurde ein me-
ningitischer Prozeß in Erwägung gezogen, der gleichzeitig
zu einer Druckatrophie des Sehnerven und zu atrophischen
Prozessen in der Hypophyse, etwa zu einem1 Hydrozephalus
geführt haben konnten. Der Genitalbefund wird nicht er¬
wähnt.
Endlich bringen Babonneix und Paisseau eine
Reihe von sechs Fällen infantiler Adipositas, deren einige
an unseren Fall erinnern. Es finden sich darunter auffallend
kleine Individuen, deren manche eine bedeutende Größe
des Kopfes aufweisen. In einem Falle hatte sich der ge¬
steigerte Fettansatz, wie in unserer Beobachtung, an eine
Scharlacherkrankung angeschlossen.
Schließlich sei noch eines Falles gedacht, den ich
vor wenigen Monaten in der Wiener Gesellschaft für Neuro¬
logie und Psychiatrie demonstriert habe und in welchen!
ein unter dem Bilde eines Kleinhirntumors verlaufender
Fall von Hydrozephalus, der schließlich zum Rückgang,
respektive Stillstand der Symptome gekommen war, sich
bei einem 4V2 Jahre alten Kinde mit plötzlich einsetzend* r
Vermehrung des Fettansatzes kombinierte. Ich bezog auch
in diesem Falle das Fetterwerden des Kindes auf eine
Dehnung der Infundibulargegend durch den hydrozephali-
schen Druck und auf die Druckläsion der Hypophysengegend.
Solche Beobachtungen, zusammengehalten mit dem
klinischen Bilde unseres 4 alles, lassen an eine Funktions-
hemmung der Hypophyse denken u. zw. nach B Fischers
Hypothese des nervösen Anteiles der Drüse, deren Ursache
wir in einer hydrozephaiisohen Ausweitung des Ventrikels
und speziell des dritten Ventrikels, in einem Druck nach
unten und Kompression des Hirnanhanges zu sehen hätten.
Daß es gerade der Boden des dritten Ventrikels ist, der
beim Hydrozephalus ausgeweitet wird, dafür ziliert Hold¬
ste i n die anatomischen Befunde von K u p f e r b e r g - B ä u m-
ler, Finkelnburg und Oppenheim1. Allerdings ist die
sichere Exklusion von, unter Umständen sehr langsam wach¬
senden Tumoren, nicht immer leicht, selbst wenn, wie in
unserem Falle, sonstige Druckerscheinungen von seiten der
basalen Hirnnerven fehlen. Aber gerade die Attacken von
Kopfschmerz und Schwindel, der Mangel eines Fortschreitens
im 'objektiven Befunde und die Analogie mit ähnlichen
Fällen anderer Beobachter sprechen für die Annahme eines
Hydrozephalus ohne primären Tumor.
Ich möchte noch der eklatanten Wirkung der Schild¬
drüsendarreichung auf den Rückgang der Fettsucht ge¬
denken. Wie bereits einleitend erwähnt, scheinen manche
Autoren geneigt, die Wirkung der Thyreoidinpräparate auf
die Fettleibigkeit als Kriterium1 thyreogener Adipositas gelten
zu lassen. Wenn mlan jedoch die Beeinflussung des Wachs¬
tums und der Funktion der Hypophyse durch die Steige¬
rung oder Verringerung der Schilddrüsenfunktion bedenkt,
wenn (man berücksichtigt, daß die Thyreoplasie zur Vo¬
lumsvermehrung des Hirnanhanges führt, so fügt sich eigent¬
lich die Wirkung der Schilddrüsenpräparate auf die Folgen
der geschmälerten Hypophysenfunktion ganz logisch in die
Kette des gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses beider
Drüsen.
Wir dürfen also vermuten, daß unter Umständen
infolge von Druckläsion der Hypophyse durch
einen, den dritten Ventrikel dehnenden liydro-
zephalischen Erguß ISy nip t o men b i 1 der hypo¬
physärer Adipositas zustande kommen, wobei
sich Fettansammlung, besonders am Abdomen, ad nates,
als mammenartige Wülste am Thorax, häufig bei Klein¬
bleiben des Körpers, mit Hirndrucksymptomen kombinieren.
Hiebei kann es, muß es aber — wenigstens anfänglich
nicht zur ausgesprochenen Genitalatrophie kommen.
Ich möchte nun zwei Fälle zur •Besprechung bringen,
in welchen es sich um adipose Kinder handelt, ohne daß
sichere Erscheinungen von Fünktionsschädigung der Hypo¬
physe zu finden waren.
Fall II. Das 11 jährige Mädchen K. H., ist. das zweite Kind,
das ältere ist eher mager. Mit zwei Jahren hatte es eklamp tische An¬
fälle, seit jetzt 2V2 Jahrein häufige typische epileptische Attacken,
die auch nachts kommen, mit universellen klonisch-tonischen
Zuckungen und Bewußtseinsverlust. Manchmal zeigen die An¬
fälle angeblich eine Bevorzugung der rechten Seite. Das Kind
ist intellektuell kaum zurückgeblieben uinld' soll in der Schule,
die es bis vor einem Jahr besuchte, leidlich entsprochen haben.
Wir finden (Fig. 3 und 4) ein ribenausl fettes und die Älters-
größe überragendes Mädchen, 4414 kg schwer, also um die Hälfte
schwerer, als es seinem Alter entspricht. Es ist 135 cm hoch
(130 entspräche in der Norm). Alle Körperpartien erscheinen volu¬
minöser, fetter, am größten sind die Fettdepots am Bauche, den
Flanken und am Gesäß. Das Gesicht ist Maß, etwas! gedunsen,
besonders in der Gegend der oberen Lider, der Gesichtsausdruck
.ernst. Deutlich läßt sich eine größere Unterlänge des Körpers
konstatieren. Es bestehen weiters Genua valga. In der nervösen
Sphäre findet sich eine rechtsseitige Parese des Mundfazialis und
eine leichte Deviation der vorgestreckten1 Zunge nach links.
Bei Untersuchungen knapp nach einem Anfall war eine Steige¬
rung des rechten Pätellarsebnenreflexes und des1 linken Bauch -
decken reflexes festzustellen. Weiters wäre hervorzuheben, daß
48
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
seit mehreren Monaten Achsel haare und kurze Schamhaare
sprossen. Wir sehen auch stärkere, allerdings vollständig paren-
chvmfreie Brüste. Bei Untersuchung des Genitales per 'anum
konnte Kollege Dir. Josef Botndi ein deutliches rechtes Ovarium
und einen sehr kleinen, jedoch nicht pathologisch kleinen Uterus
finden. Der Hämoglobingehalt beträgt 61°/o, Der Augenbefund
(Dr. R. Hitschmann) ergab: Visus rechts g/g, links 6/s, Hyper¬
metropic von 0-5 Dioptrien, Spiegelbefund und Gesichtsfeld beider¬
seits normal. Der Röntgenbefund des Schädels (Priv.-Doz. Doktor
Fig. 3, Fig. 4.
Schüller) lautete: Hydrozephalischer, ziemlich dünner Schädel,
ohne. Zeichen von Usur der Innenfläche. Hypophysengrube ge¬
räumig, aber nicht pathologisch vergrößert. Brompräparate hatten
keinen deutlichen Einfluß auf die Epilepsie, ihre Kombination mit
Schilddrüsenpräparaten wirkte überraschend deutlich bessernd
auf die Zahl der Anfälle, die darauf oft eine Woche lang zessierten,
während die Fettleibigkeit kaum beeinflußt wurde.
Fall III. Der 6jährige Knabe (Fig. 5), Fritz ß., hatte schon
mit drei Jahren ein Gewicht von 25 kg, in den ersten zwei Lebens¬
jahren öfters „Fraisen“. Er ist jetzt 118 cm groß: und wiegt
31-2 kg. Sein Bauchumfang beträgt 75 cm, sein 'Brustumfang
71 ein. Wir finden an dem intellektuell normal entwickelten,
monströs erscheinenden Kinde ein dickes, besonders an der un¬
teren Körperhälfte enormes Fettpolster, eine mammaartige sub¬
kutane Fettschichte am Thorax, ein Ueberwiegen der Unterlänge
gegenüber der Oberlänge, leichte Genua valga und sekundären
Plattfuß. In der nervösen Sphäre bestanden früher Absenzen,
Plötzlich einsetzendes verlorenes Hirnstarren ohne deutlichen
Bewußtseinsverlust und eine auch jetzt leicht erkennbare Parese
im rechten Mundfazialis. Als wichtiges Symptom ist die auf-
fallende Kleinheit der Testikel zu betonen. Die Hoden sind etwas
größer als eine Erbse. Von Hypophysendarreichung war kein
Erfolg zu sehen. Der Röntgenbefund des Schädels ließ keine pa¬
thologischen Verhältnisse erkennen. Auf Schilddrüsendarreichung
Schwinden der Absenzen.
Die beiden Fälle zeigen in einigen Punkten eine ge¬
wisse Aehnlichkeit, in anderen fehlt eine solche. Die reich¬
liche Fettansammlung im Unterhautgewebe mit Bevorzugung
jener Regionen, die Tandler und Grosz an der Hand
eines reichlichen Materiales als typische Lokalisationen des
eunuchoiden Fettwuchses bezeichnen, die größere Unter¬
länge des Körpers und schließlich die epileptischen Zustände
sind beiden Fällen gemeinsam. Die Beobachtungen weichen
\ oneinander ab darin, daß wir im dritten Falle eine mani¬
feste Unterentwicklung der Genitaldrüsen finden, die im
zweiten Falle nicht festzustellen ist und daß wir im Röntgen¬
befunde des dritten Falles positive pathologische Verände-
Fig. 5.
rungen vermissen, während im zweiten Falle die Dünnheit
der Schädelknochen und die geräumige Hypophysengrube,
allerdings fragliche, Folgezustände eines Hydrozephalus sein
könnten.
Die hervorgehobenen, beiden Beobachtungen gemein¬
samen somatischen Befunde sprechen mit Sicherheit für das
Vorliegen jenes dystrophischen Symptomenkomplexes, den
Tandler und Grosz zum Unterschied vom eunuchoiden
Hoch wuchs als eunuchoiden Fett wuchs bezeichnen. Dieser
dystrophischen Körperkonfiguration liegt eine Funktions¬
schädigung, eine Hypoplasie des interstitiellen Gewebes der
Genitaldrüsen zugrunde, welches als Parenchym1 mit eigener
innerer Sekretion die Entwicklung der sekundären Ge¬
schlechtscharaktere und den Ablauf der normalen Ossi¬
fikation regelt. Ein lebhaftes biologisches Interesse verdie¬
nen solche nicht gar zu seltenen (Bahonn eix-Paisseau,
Variot, Apert) Fälle von Eunuchoidismus im Kindes¬
alter schon aus dem Grunde, weil sie die evolutionäre und
funktionelle Unabhängigkeit dieses interstitiellen Gewebes
von der Entwicklung des im Kindesalter noch funktions¬
losen generativen Anteiles der Geschlechtsdrüsen beweisen.
Haben wir im dritten Falle in der manifesten Kleinheit
der Hoden und in dem Fehlen eines direkten Hinweises auf
andere Drüsen mit innerer Sekretion einen deutlichen An¬
haltspunkt für die Annahme eines „primären Disgenitalis¬
mus“, so fehlt uns ein solcher im zweiten Falle, in welchem
wir keine positiven Anhaltspunkte für eine primäre Genital¬
hypoplasie finden. Hier spricht jedoch die typische Form
der Fettleibigkeit und die anderen genannten Erscheinungen
mit einiger Wahrscheinlichkeit für dieselbe ätiologische Ur¬
sache.
Tandler und Grosz bezeichnen, wie es scheint, mit
vollem Rechte, den Eunuchoidismus als nicht zu seltene
Affektion. Dadurch, daß nach ihrer Erfahrung, abweichend
von den Resultaten experimenteller Erfahrungen, die Wech¬
selbeziehung zwischen Hypophyse und Keimdrüse insoferne
klinisch nicht nachweisbar ist, als eine Vergrößerung der
Hypophyse (wenigstens im Röntgenogramme) eunuchoider
Individuen nicht festgestellt werden kann, gewinnt das
Krankheitsbild des echten (disgenitalen) Eunuchoidismus
eine schärfere Abgrenzung gegenüber den durch Hypophy¬
senschädigung zustande gekommenen Fällen von Adipo-
silas. Auch in diesem Punkte erscheint unser zweiter Fall
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
49
nicht vollständig geklärt, denn der Befund der geräumigen
Hypophysengrube läßt immerhin an eine primäre Schädi¬
gung des Hirnanhanges denken und das Fehlen eines solchen
Befundes schließt diese nicht, aus.
Größere (Bedeutung erheischen unsere beiden Fälle mit
Bezug auf die nachweisbaren Symptome der nervösen
Sphäre. Es handelt sich in beiden Fällen um1 epileptische
Zustände, im zweiten um typische große epileptische
Attacken, mit Bewußtseinsverlust, im dritten um Absenzen
ohne motorische Reizerscheinungen. Außerdem bestanden
in beiden Fällen Halbseitenerscheinungen, die sich bei dem
Mädchen neben der Fazialisparese in Reflexdifferenzen
äußerte, indem analog den Beobachtungen Redlichs knapp
nach dem Anfall eine Steigerung der tiefen Reflexe auf der
einen, eine Steigerung des Bauchdeckenreflexes auf der än¬
deren Seite nachweisbar war, während bei dem Knaben
lediglich eine einseitige Parese des Mundfazialis bestand.
Auf die Kombination von Epilepsie mit gesteigertem
Fettwuchs wies als einer der ersten R. Stern (Ambula¬
torium v. Frankl -Hoch warts an der Noordenschen
Klinik) hin. Er erwähnt lange dauernde, epileptische Er¬
krankungen 'bei einer Gruppe von Fällen, die allerdings nicht
in ihrem weiteren Verlauf studiert werden konnten. Es waren
Fälle, die durch ihren Habitus an den adiposogenitalen
Typus bei Hypophysentumoren erinnerten (Typus Fröh¬
lich), ohne daß aber der Nachweis dieses Leidens geführt,
werden konnte und die über größere Zeiträume hin an
seltenen und dann meist serienweise auf tretenden Anfällen
litten. Es handelte sich um sechs Fälle dieser Art. Alle
waren auffallend adipose Menschen mit einem Gewicht über
100 kg oder nahe daran, mit geringer Behaarung der Achsel¬
und Schamgegend, alle steril, mit etwas gedunsenem Ge¬
sicht und trockener Haut; die männlichen Kranken mit
einer Andeutung von Gynäkomastie. Augenstörungen fehlten
ganz, ebenso irgendwelche andere Tumorsymptome. Hie
Röntgenuntersuchung der Sella turcica konnte nur an zwei
Fällen vorgenommen werden und ergab keine merklichen
Veränderungen. Diese Patienten hatten nun ganz selten,
drei bis viermal im Jahre, typische, zumeist serienweise
auftretende Anfälle. Aetiologisch schienen diese Fälle, mit
Rücksicht auf die Adipositas und das serienweise Auftreten
der Anfälle, auf eine Stoffwechselstörung unbestimmter Na¬
tur hinzuweisen. In bezug auf den Verlauf konnte man
einen lange beobachteten Fall entschieden als gutartig auf¬
fassen, in zwei ähnlichen Fällen hatte Thyreoidin ganz
günstig auf die Anfälle eingewirkt.
In jüngster Zeit finden wir bei P e ri t z einen 52jährigen
typischen 'Eunuchoiden erwähnt, der erst seit zwei bis
drei Jahren Anfälle von petit mal, in letzter Zeit schwere
epileptische Anfälle hatte. Der Patient hatte ein sehr kleines
Genitale, keine nachweisbaren Hoden, keine Behaarung.
Es fällt wohl schwer, einen pathogenetischen Zusam1-
menhang zwischen der eunuchoiden Entwicklungsstörung
und dem Auftreten epileptischer Symptome zu konstruieren.
In unseren Fällen liegt es nahe, nicht an eine genuine
Epilepsie zu denken, sondern das Bestehen halbseitiger
motorischer Ausfallerscheinungen für die Annahme organi¬
scher Affektionen des Gehirnes zu verwerten. Inwieweit
die Annahme eines identischen ätiologischen Momentes
einerseits der supponierten zerebralen Veränderungen, an¬
derseits der gestörten Entwicklung oder Funktion der Geni¬
taldrüsen (Zwischenzellen) oder des Hirnanhanges berech¬
tigt erscheinen könnte, dafür fehlen bisher Anhaltspunkte
der Klinik und der Anatomie. Die epileptischen Symptome
der Genital-, resp. der Hypophysenfunktion oder die Adipo¬
sitas der Epilepsie kausal unterzuordnen, auch hiefür haben
wir bisher keine Anhaltspunkte oder Analogien.
Bei der relativen Häufigkeit des Eunuchoidismus
(Hypopituitarismus) beanspruchen unsere Fälle insofern ein
Interesse, als es sich um Entwicklung des eunuchoiden
Habitus vor der Pubertät, also um eine Funktionsstörung
des interstitiellen Gewebes vor Funktionsbeginn des gene¬
rativen Parenchyms handelt und weiters, insofern sie durch
Kombination des Eunuchoidismus mit epileptischen Sym¬
ptomen (wahrscheinlich organischer Natur) neue ungelöste
Probleme mit Bezug auf die Pathogenese aufwerfen.
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Paris 1901, Bd. 3.
Zur Kenntnis der Lungendistomumkrankheit.
Von Dr. Y. Tanaka, Professor an der medizinischen Hochschule zu
Osaka in Japan.
I. Zur Frage über das Wesen der wurm haltigen
Höhlen i n ' d e r Lu n g e.
Revor ich meine Reobachtungen über die vorliegende
Frage mitteile, will ich zunächst die allgemeine Reschaffen-
heit der in Retraclit kommenden Höhlen kurz besprechen.
Wie bekannt, ist die Lungendistomumkrankheit, die
in Japan sehr viel herrsdht, durch die Höhlenbildung in
der Lunge mit einem wurmeierhaltigen, blutigen Auswurf
charakterisiert und kann nicht nur die Menschen, sondern
auch clie Säugetiere, insbesonders Tiger (Kerb er t), Katzen
und Hunde (Wald, Inoue und Katsurada) befallen.
Die Sektion der mit Würmern behafteten Individuen ergibt
die eigentümliche Höhlenbildung in der Lunge. Die Höhlen
von verschiedener Größe (Erbsen- bis Kleinfingerspitizen-
größe) existieren gewöhnlich im oberflächlichen Teile der
Lunge und haben in der Regel rundliche Form. In denselben
befinden sich Würmer und eine zähflüssige, blutig-schleimige
Masse, in welcher Eier, Charkot-Ley densche Kristalle
und mehr oder weniger reichliche eosinophile Leukozyten
vorhanden sind. Eine Höhle enthält in der Regel einen
Wurm, indessen gibt es auch Fälle, wo sich in einer Höhle
zwei oder drei Exemplare des Parasiten erkennen lassen.
Inoue u nd Katsurada hatten, wie früher Kerber t in
der Lunge des Tigers beobachtete, bei Katzen und Hunden
immer zwei Würmer in einer Höhle beisammen liegen ge¬
sehen. Die Wand der Höhlen besteht aus einem verhältnis¬
mäßig entwickelten Rindegewebe, das mit kleinzelliger In¬
filtration durchsetzt ist. Die Innenfläche derselben isl meist
glatt.
Nr. 2
50 WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nun entsteht die Frage, auf welche Weise die Höhlen
gebildet werden können. Hie Beantwortungen dafür sind
verschieden. Otani sah die Höhle für eine Erweiterung
der kleinen Gefäße in der Lunge an. Yamagiwa schrieb,
daß sie durch Erweichung des Lungengewebes, durch Ein¬
wirkung des Wurmes entstände. Leuc'kart leugnete die
Entstehung der Höhle aus den Bronchien und sagte, „jeden¬
falls stimmen die Angaben darin überein, daß es nicht die
Wand oder Höhle der Bronchien ist“, im Gegensatz dazu
behaupteten Katsurada und Inoue, daß die Bronchien
die Grundlage für die Entstehung der Höhle bilden. Sie
hatten eine gewisse Zahl von Lungen mit Würmern unter¬
sucht und kamen zum Resultat, daß die Höhlen häufig
mit den Bronchien kommunizieren und daß die Innenfläche
der Wand derselben mit geschichtetem Zylinderepithel oder
Plattenepithel ausgekleidet ist.
Zur Entscheidung der so noch nicht sichergestellten
Frage über das Wesen der Höhlen habe ich zwei Fälle
von Lungendistomumkrankheit, die vor wenigen Jahren,
zur Zeit meines Aufenthaltes auf der Insel Formosa, in der
dortigen medizinischen Hochschule von mir seziert wurden,
einer eingehenden Untersuchung unterworfen und folgendes
Resultat erhalten.
Fall I. Ein männlicher Hund von ziemlich abgemagertem
Zustande wurde wegen einer experimentellen pathologischen Prü¬
fung getütet. Bei der Sektion fand ich zufällig in der rechten
Lunge drei Höhlen mit lebendigen Würmern. Eine etwa erbsen¬
große, rundliche Höhle befand sich an1 einer 3 mm von der Pleura
entfernten Stelle der unteren Partie des Oberlappens. Eine zweite
Höhle von Bohnengröße lag im subpleuralen Teile der oberen'
Partie des Mittellappens. Jede Höhle war außer von zwei Würmern
mit einer rotbräunlichen schleimig-blutigen Flüssigkeit gefüllt und
mit einer dünnen, grauweißlichen bindegewebigen Membran ver¬
kapselt. Eine dritte Höhle von Kleinfingerspitzengröße befand sich
in der Nähe der zweiten. Sie war mit einer grauweißlichen, kä¬
sigen Masse (abgestorbener Wurm) gelullt und durch eine ziemlich
derbe bindegewebige Substanz begrenzt. Nach einer genaueren
Untersuchung gelang es mir, nachzuweisen, daß alle Höhlen
mit den kleinen Bronchien kommunizieren.
Die mikroskopische Untersuchung der von Wurmherden an¬
gefertigten histologischen Präparate ergab folgendes :
Die Wand der ersten und zweiten Höhle bestand aus einem
verhältnismäßig zellreichen Bindegewebe. Die Zellen hatten teils
rundliche, teils spindelförmige Gestalt. Die neugebildeten Ka¬
pillaren waren ziemlich reich. Im Bindegewebe ließen sich die
langspindelförmigen Zellen mit stäbchenförmigem Kerne überall
erkennen. Hie und da wurden auch die elastischen Fasern in
geringer Menge nachgewiesen. Außerdem konnte ich nicht selten
im Bindegewebe stellenweise kleine Schleimdrüsen finden.
Die Innenfläche der bindegewebigen Wand war mit dem
unregelmäßig angeordneten Zylinderepithel ausgekleidet. An den
Kommunikationsstellen der Höhlen mit den Bronchien wurde
ein kontinuierlicher Uebergang zwischen den teilweise in glatte
Formen umgewandelten Zylinderepithelien an der Innenfläche
der Wand und dem Epithelüberzug an der Schleimhaut der
Bronchien beobachtet.
Die Wand der dritten Höhle bestand aus einem dichten,
zellarmen fibrösen Bindegewebe und spärlichen glatte))
Muskelzellen. Die Bindegewebsfasern zeigten zum Teile hyaline
Degeneration. Die elastischen Fasern waren fast ganz verschwun¬
den. An einigen Stellen kamen die kleinen Schleimdrüsen nur
in sehr geringer Zähl vor. Die Innenfläche der Höhlenwand war
auf große Strecken mit abgeplatteten Epithelzellen ausgekleidet.
Die angegebenen histologischen Tatsachen, nämlich,
das Vorkommen der glatten Muskelzellen und der kleinen
Schleimdrüsen in der Höhlenwand und die Auskleidung
der iEpithelschicht an der Innenfläche der Wand, sowie
die direkten Beziehungen der Höhlen zu den Bronchien,
weisen mit Sicherheit darauf hin, daß die Höhlen im obigen
Falle ihre Entstehung den Erweiterungen der kleinen Bron¬
chien verdanken.
Aber ich kann nicht, auf der Behauptung bestehen,
daß die wurmhalligen Höhlen jedenfalls durch Erweiterung
der Bronchien entstehen können, denn es gibt auch Höhlen,
bei denen man einen Zusammenhang mit Bronchien und
an der Innenfläche der Wand den Epithelüberzug nicht
nachweisen kann. So hat Katsurada geschrieben, daß
er in einer verhältnismäßig großen Zahl von Wurmhöhlen
der 'menschlichen Lunge keine direkten Beziehungen zu
den Bronchien gefunden hat und daß die Höhlen entweder
durch 'Erweiterungen von Bronchien oder durch Zysten¬
bildungen des Lungengewebes verursacht werden können.
Zum Beweis für die letzte Entstehungsart der Höhlen führe
ich den folgenden Fäll an.
Fall II. Ein 37 jähriger, schlecht genährter Mann starb
am Magenkrebs. Bei der Sektion der. Brustorgane fand ich un¬
erwartet zwei Wurmherde in der rechten Lunge.
Im oberflächlichen Teile der Lungenspitze befand sich eine
erbsengroße, spaltförmige £averne, ferner ein ebensolcher Herd
in der Mitte des Oberlappens. Jede Höhle enthielt einen Wurm
und wurde durch eine ziemlich derbe bindegewebige Kapsel um¬
schlösse)). Eine Kommunikation mit den Bronchien wurde nicht
konstatiert.
Der mikroskopische Befund ist folgender:
Die Kavernenwand bestand aus einem dichten fibrösen
Bindegewebe mit spärlicher Zelleninfiltration. Nirgends konnte
man glatte Muskelzellen und kleine Schleimdrüsen linden. An
der Innenfläche der Wand fehlten ganz und gar die Epithel¬
zellen.
Der vorliegende histologische Befund stimmt offen¬
bar 'mit demjenigen vom ersten Fälle nicht überein. Die
Abwesenheit der glatten Muskelzellen und der kleinen
Schleimdrüsen in der Höhlenwand, sowie das Fehlen des
Epithelüberzugs an der Innenfläche derselben weisen darauf
hin, daß die Höhlen in diesem1 Falle ihren Ursprung nicht
in den Erweiterungen der kleinen Bronchien haben und
es sich wahrscheinlich um die durch die Erweichungen
des Lungengewebes hervorgerufenen Zystenbildungen han¬
delt. Berücksichtigt man die Möglichkeit, daß das Lungen-
distomum in verschiedenen anderen Geweben, wie Gehirn,
Hodensack, Augenlider, seröse Haut u. a., eine Erweichungs¬
zyste erzeugen kann, so liegt es nahe, anzunehmen, daß
die Wurmhöhlen in der Lunge auch durch die Gewebs-
erweichungen gebildet werden können.
II. Zur Kasuistik der parasiteneierhaltigen tu-
b erkelartigen Neubildungen im P e r i t o n e u m.
Obwohl das Lungendistomum vorzugsweise die Lunge
zu seiner Wohnung wählt, so ist. es doch nicht auf dieses
Organ beschränkt. Daß es nicht nur die Lunge, sondern
auch verschiedene Gewebe anzugreifen und pathologische
Veränderungen hervorzurufen vermag, ist von einer Reihe
von japanischen Forschern festgestellt, worden. Otani und
Katsurada fanden in einigen Fällen, die durch den Pa¬
rasit verursachten Erweichungszysten im Gehirn. Miyake
sab in einem Falle einen durch Wurm hervorgerufenen
Erweichungsherd im Augenlide, ferner Taniguchi einen
ebensolchen Herd in dem Hodensack und der Augenhöhle.
Tsuge beobachtete einen freiliegenden Wurm in der Bauch¬
höhle.
Bemerkenswert ist ein von M. Mlura gefundener Fall
von Fremdkörpertuberkulose, bedingt durch die Distomum-
eier. Er fand bei der Sektion eines an der Beriberikrankheit
gestorbenen Mannes zufäliig zahlreiche miliartuberkelartige
Neubildungen in) Omentum major. Nach der mikroskopi¬
schen Untersuchung gelang es ihm, nachzuweisen, daß sich
in diesen Knötchen die Wurmeier befänden. Wenn er aber
auch 'die Muttertiere in den Lungen und sonstigen Organen
nicht finden konnte, so war er doch der Meinung, idaß
diese Wberkelartigen Knoten durch die von irgendeiner
Stelle aus in die Saftkanäle iml Peritoneum eingeschleppten
Parasiteneier verursacht waren.
ln neuerer Zeit habe ich einen ähnlichen Fall beob¬
achtet. Da dieser Fall .mir mehr oder weniger interessant
zu sein scheint, möchte ich darüber kurz Mitteilung machen.
Es handelte sich um eine'n 47jährigen, kräftig gebauten
Mann, der infolge einer größeren Blutung in der Bauchhöhle
durch die Perforation eines sackförmigen Aneurysmas der Aorta
abdominalis plötzlich starb. Bei der Sektion bemerkte ich zu¬
fällig folgende Veränderungen an dem Peritoneum: Am Mesente¬
rium befänden sich stellenweise mehrere grauweißliche, miliare
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
51
und reiskörnergroße Knötchen. An der Mitte des Netzes befand
sich ein zystenartiger Herd von Bohnengröße-. Seine Wand be¬
stand aus einem derben, gpauweißlichen Bindegewebe, an welchem
sich die miliaren Knötchen zerstreut erkennen ließen. Der Hohl¬
raum war mit einer getrockneten, käsigen Masse ausgefüllt.
Ein ebensolcher, aber erbsengroßer Herd lag auch an der oberen
Partie des Netzes. In den sonstigen Organen wurden außer hoch¬
gradiger Anämie keine nennenswerten Veränderungen wahrge¬
nommen.
Die mikroskopischen Untersuchungen des oben erwähnten
pathologischen Materials ergaben folgendes:
1. Die tuberkelartigen Knötchen weisen alle das Bild des
fibrösen Tuberkels auf: jedes Knötchen besteht aus den spär¬
lichen spindelförmigen epithelioiden Zellen und Bindegewebs¬
fasern von größerer Zahl. Die letzteren sind zum großen Teile
in hyaline Homogensubstanz degeneriert. An den Stellen, die
der hochgradigen hyalinen Degeneration anheimfallen, kann man
gleichzeitig eine Kalkablagerung sehen. Die Umgebung jedes
Knötchens zeigt mehr oder weniger Kleinzelleninfiltration. Im
Zentrum jedes Knötchens befindet sich ein eigentümliches Wurmei.
Die Eier haben meist ovale Gestalt und eine dünne, gelbbräun¬
liche Schale, die eine deutliche Doppelkontur zeigt. Ein
Deckelchen ist an einem Ende zu bemerken. Der Inhalt ist meist
feinkörnig. Indessen ist eine gewisse Anzahl von Eiern häufig
verkalkt und schließlich ganz zerfallen und verschwunden. Uin
die Eier kommen häufig die vielkörnigen Riesenzellen zum Vor¬
schein. Eine gewisse Anzahl dieser Riesenzellen dringt in die
Eischalen ein und scheint den Inhalt zu fressen. Die Größe der
Eier beträgt durchschnittlich 0-08 mm in der Länge und 0-045 mm
in der Quere.
2. Die zystenartigen Herde. Die bindegewebige Wand der¬
selben besitzt mehrere, nebeneinander liegende submiliare Knöt¬
chen, die im histologischen Bild mit den oben erwähnten ganz
identisch sind. Ebenfalls umschließt jedes Knötchen ein Ei.
Eine gewisse Anzahl der Eier ist mit Riesenzellen ausgefüllt und
sogar verkalkt. Zwischen jedem Knötchen bildet sich Granula¬
tionsgewebe, in welchem neben Lymphozyten und Fibroblasten
auch mehr oder weniger reichliche eosinophile Leukozyten aul¬
treten. Der Inhalt im Hohlraum besteht aus einer feinkörnigen,
strukturlosen Masse, in welcher sich zahlreiche Eier zerstreut
erkennen lassen.
Auf Grund der angegebenen histologischen Befunde
habe ich das Recht, die Auffassung auszusprechen, daß
diese tuberkelartigen Neubildungen durch Lungendistomum-
eier ihervorgerufen sind, obwohl ich kein Muttertier ge¬
funden habe. Was die Entstehungsart der zystenartigen
Herde betrifft, so kann ich mit Wahrscheinlichkeit sagen,
daß die durch Wurmeier verursachten Gewebsneubildungen
durch ungenügende Ernährung zum großen Teile der Ne¬
krose anheimfielen und infolgedessen es zur Bildung der
Erweichungszysten kam und nachher der Inhalt in den¬
selben durch allmähliche Resorption des flüssigen Bestand¬
teils in eine getrocknete, käsige Masse umgewandelt wurde.
Wie traten nun die Lungendistomumeier in das Peri¬
toneum ein? Diese Frage kann ich, mich auf die Kenntnis
des Infektionsmodus des Muttertiers stützend, beantworten.
Es ist mit Recht von vielen japanischen Forschern ange¬
nommen worden, daß der Wurm im jugendlichen Zustande
mit. dem infizierten Trinkwasser zuerst in den Verdauungs¬
kanal des Menschen und Tieres Übertritt, dann die Darm¬
wand durchbohrt, in das Peritoneum übergeht und von
dort aus aufwärts durch die Gewebsspalten wandert und
schließlich in die Lungen gelangt, wo er sich für immer
seine Wohnung nimmt. Daraus geht hervor, daß der V urm
während seines Wanderns im Peritoneum dort Eier aus¬
streut und daß sich die so vom Muttertier ausgeschiedenen
Eier weiter vermittels der Lymphbahn und der Kapillaren
auf große Strecken des Bauchfells ausbreiten können. Aus
diesem Grunde nehme ich an, daß die tuberkelartigen
Knötchen in meinem Falle durch die sich auf solche Weise
im Peritoneum ausbreitenden Eier verursacht sind.
Literatur:
Inoue, Lehrbuch der inneren Medizin 1909, Tsiba, Japan. —
Kotsurada, Beitrag zur Kenntnis des Distomum Westermanni. Zieglers
Beiträge 1900, Bd. 28; Lehrbuch der allgemeinen Pathologie 1896, Okayama,
Japan. — M i u r a, Fibröse Tuberkel, verursacht durch Parasiteneier. Vir¬
chows Archiv 1889, Bd. 116. — Yamagiwa, Ueber die Lungendistomum-
krankheit in Japan. Virchows Archiv 1892, Bd. 127.
Ueber die Ursachen des Flimmerskotoms und
seine Behandlung.
Von Dr. Alexius Pichler, Augenarzt in Klagenfurt.
Die Kenntnis jener Veränderungen und Umstände, die
zur Entstehung des Flimmerskotoms führen, hat nicht nur
eine theoretische, sondern auch eine hervorragend prak
tische Bedeutung. Beim Flimmerskotom versagt die me.li
kamentöse Therapie in den meisten Fällen nahezu völlig
Das Günstigste, was wir durch Arzneien erreichen können
ist eine Abkürzung oder Linderung des nachfolgenden
Schmerzes. Nur in Vermeidung der zum Anfalle führen¬
den Schädlichkeiten und in der Hebung der Widerstands¬
fähigkeit gegen dieselben findet der Kranke dauernden
Nutzen. Voraussetzung für die erfolgreiche Behandlung
dieses hartnäckigen und oft recht quälenden Leidens ist also
die genaue Kenntnis von dessen Ursachen.
Es war mir dies um so mehr ein Ansporn zum ein¬
gehenden .[Studium1 dieser Krankheit, als ich selbst an
Flimmerskotom leide. Ueber das Ergebnis meiner Nach¬
forschungen nach den Anlässen und Ursachen dieser Seh¬
störung will ich in den folgenden Zeilen berichten.
Da aber der Symptomenkomplex, den wir unter diesem
Namen zusammenfassen, sehr wechselnd geschildert wird,
muß ich vorher kurz darlegen, was wir in diesem Auf¬
sätze darunter verstehen wollen.
Es ist eine zentral bedingte, vorübergehende, aber
meist in kürzeren oder längeren Pausen wiederkehrende
Sehstörung, die sich, wenn typisch, in folgender Weise
abzuspielen pflegt. Der Ausfall beginnt mit einem kleinen
zentralen oder parazentralen Gesichtsfeldausfall, der von den
Kranken, wenn nicht eine genaue Anleitung zur Selbst¬
beobachtung voranging, niemals als solcher erkannt, sondern
als unbehagliche, nicht näher zu beschreibende Störung im
Sehen bezeichnet wird. Diesem Ausfälle schließt sich gleich
darauf eine Behinderung des Sehens in der einen Gesichts¬
feldhälfte beider1) Augen an, die von einer ebenfalls in
gleichnamigen Gesichtsfeldhälften beider Augen gelegenen
Lichterscheinung begleitet wird. Diese wird meist als leuch
tende und in flimmernder Bewegung sich befindliche, zackige
Bogenlinie beschrieben. Dieser Bogen erweitert sich, in¬
dem er, im Zentrum beginnend, gegen die Peripherie vor¬
schreitet und das Zentrum langsam wieder freigibt (zentri¬
fugale Form), oder er beginnt an der Peripherie und
verkleinert sich, indem er dem Gesichtsfeldzentrum sich
nähert, wo er schließlich verschwindet, es ist dies die viel
seltenere zentripetale Form. So möchte ich diese beiden
F ormen, deren letztere Dianoux und J o 1 1 y lu) beschrieben
und auch ich wiederholt an mir selbst beobachtet habe, be¬
nennen.
Die eben geschilderte Erscheinung kann manchmal
auch im ganzen Gesichtsfelde oder zuerst in der einen und
gleich darauf auch in der anderen Hälfte desselben sich ab¬
spielen. Der optischen Erscheinung pflegt in den typischen
Fällen meist halbseitiger Migränekopfschmerz zu folgen, der
am häufigsten in jene Kopfhälfte verlegt wird, die der Seite
der Sehstörung entgegengesetzt ist.
Es handelt sich also erstens um einen Gesichtsfeld¬
ausfall, zweitens um einen Erregungsvorgang in Form einer
Lichterscheinung and drittens um einen Schmerzanfall.
Von diesem eben geschilderten Typus gibt es aber
mannigfache Abweichungen ; so kann in manchen Fällen
der Kopfschmerz sehr unbedeutend sein, ja ganz fehlen,
bei anderen Kranken wieder bleibt die eigentliche Flimmer¬
erscheinung rudimentär oder fehlt. Der Umstand, daß bei
einem und demselben Individuum typische und rudimentäre
Formen nebeneinander Vorkommen können, beweist die Zu-
') Nahezu ausnahmslos erzählen die Kranken anfangs, cs sei
nur ein Auge von der Erscheinung befallen; erst durch Belehrung
kommt ihnen die Erkenntnis, daß das Sehen beider Augen beeintiäch-
tigt ist.
*a) Jolly, Berliner klm. Wochenschr. 1902, Nr. 42 u. 43.
52
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
gehörigkeit. dieser unvollständigen Anfälle zum Flimmer-
skotoin.
Es wird dadurch allerdings in manchen Fällen sehr
schwer, zu entscheiden, oh eine Sehstörung als Flimmer¬
skotom aufzufassen ist oder nicht, so daß es zur Entschei¬
dung oft längerer Beobachtung bedarf. Aber auch dann
werden manche Fälle strittig bleiben. Wir müssen ja be¬
denken, daß die Schilderungen der Kranken, auf die wir
meist allein angewiesen sind, sehr unvollkommen und min¬
destens anfangs wenig brauchbar sind. Für die folgende
Betrachtung habe ich alle zweifelhaften Fälle, deren Zuge¬
hörigkeit zum Flimmerskotom nicht feststand, ausgeschaltet,
weil eine Vermehrung des Materiales durch Fälle von un¬
sicherer Zugehörigkeit den Wert der Statistik nicht erhöhen,
sondern im Gegenteil vermindern würde.
Die Kranken, auf die sich diese Aufzeichnungen beziehen,
entstammen erstens der Ambulanz der deutschen Augenklinik in
Prag (damaliger Vorstand: weil. Prof. Czermak) und zweitens
meiner gegenwärtigen Privatpraxis; einzelne Fälle sind dem
Krankenmateriale meines Bruders (Primararzt Dr. Karl Pichler)
entnommen. Ferner habe ich noch die Selbstbeobachtungen einer
größeren Anzahl von Kollegen und anderweitigen persönlichen
Bekannten, die an Flimmerskotom litten und mir ihre darüber
gemachten Aufzeichnungen zur Verfügung stellten, benützt.
Nicht alle auf diese Weise gesammelten Krankengeschichten
enthalten genaue und zuverlässige Angaben über die unser Leiden
herbeiführenden Ursachen-; ich habe daher auch hier eine Auslese
gehalten und die unvollständig erforschten Fälle von der nach¬
stehenden Betrachtung ausgeschieden. Trotzdem verbleiben noch
53 Fälle, die ich nunmehr mit Rücksicht auf diese Seite der
Krankheit besprechen will.
Ordnen wir unsere Kranken zunächst nach ihrem Berufe,
so finden wir unter ihnen :
Mittelschüler2) (Gewerbeschüler) . 7
Hochschüler . 6
Kaufleute3) . 6
Beamte . ■ . . . . 4
Aerzte . 11
Offiziere . 1
Schriftsetzer . 1
Schlosser . 1
Eisendreher . 1
Schuster . 1
Lehrerinnen . 1
Hausfrauen . 9
Näherinnen . 3
Wärterinnen . 1
Wir erkennen aus dieser Uebersicht, daß es sich hier
in der großen Mehrzahl um Leute handelt, die sich berufs¬
mäßig und anhaltend mit. ieiner Nahearbeit zu beschäf¬
tigen pflegen.
Zu bemerken ist. nämlich, daß von den Kau heulen
alle bis auf einen in der Schreibstube beschäftigt waren, daß
nahezu alle ärztlichen Kollegen als klinische Aerzte mit Schreib¬
arbeit und anderer Nahearbeit (z. B. Mikroskopie) überreichlich
zu tun hatten, daß ferner die Beamten, einen einzigen ausge¬
nommen, in der Kanzlei tätig waren, ebenso wie' der einzige
Offizier meiner Zusammenstellung. Was die Hausfrauen an¬
langt, so habe ich bei allen bis auf eine vielfache und anhaltende
Beschäftigung mit feiner, anstrengender Nahearbeit notiert. Von
den Handwerkern haben wir zweifellos die Näherinnen und den
Schriftsetzer zu den Nahearbeitern zu zählen; ob man den. an
der Maschine arbeitenden Schuster und den Eisendreher hi eher
rechnen darf, erscheint zweifelhaft.
Diesem Ueberwiegen der Nahearbeiter entspricht auch
das weitere Ergebnis meiner Nachfrage, daß von diesen
53 Kranken 39 anhaltende und anstrengende Nahe¬
arbeit. als die unmittelbare, den Anfall auslösende Ur-_
saehe angaben.
In keinem einzigen Falle konnte man aber nach den
Schilderungen der Kranken die geleistete Nahearbeit als
eine ungewöhnliche bezeichnen. Es war eben Nahearbeit,
welche beim Durchschnittsmenschen wohl E r m ii d u n g,
aber nicht Erkrankung zu erzeugen pflegt. Wir* müssen
2) Darunter eine weibliche Schülerin.
3) Darunter eine weibliche Kranke.
nun daran denken, daß vielleicht besondere, in der einzelnen
Persönlichkeit gelegene Umstände, die an sich nicht über¬
mäßige Anstrengung zu einer krankheitserregenden
U eberanstre n g;u n g gestalteten. Ein abnormer Bau des
peripheren Sehorganes, der die Entstehung guter, deut¬
licher Bilder verhindert, oder zu deren Erlangung besondere
Muskelanstrengungen nötig macht, wäre hier ins Auge zu
fassen. In der Tat wurde auf solche Ueberanstrengung,
besonders infolge von Astigmatismus (Martin4) bereits
wiederholt hingewiesen. Die Untersuchung meiner Fälle
zeigte :
Astigmatismus .
. 19
Hypermetropie (über 2 D.)
. 4
Presbyopie . ,
6
Akkomodationslähmung .
2
Akkomodationsschwäche . .
2
Insuffizienz der Konvergenz .
. 11
Unter Presbyopie habe ich nur jene Fälle eingerechnet,
hei welchen zur Zeit des Auftretens der Sehstörung eine solche
bestand oder wahrscheinlich schon bestanden hatte. Auf die
Bedeutung der Presbyopie für unser Leiden komme ich noch
später ausführlich zu sprechen. Bemerkt sei noch, daß die In¬
suffizienz der Konvergenz in vier von den elf Fällen als sehr
hochgradig bezeichnet werden mußte.
Alle diese Abweichungen von der Norm1 sind ge¬
eignet, bei anhaltender Nahearbeit Beschwerden (ak¬
kommodative oder muskuläre Asthenopie) zu er¬
zeugen, reichen aber nicht zu einer völlig befriedigenden
Erklärung der Entstehung des Flimmerskotoms hin, da die
Asthenopie, selbst hochgradige, sehr häufig ohne Flimmer-
skotom und anderseits dieses nicht selten ohne die er¬
wähnten Anomalien im Augenbau vorkommt.
Wir könnten nun allerdings die Asthenopia ner¬
vosa, das heißt, jene pathologisch gesteigerte Ermüdbar¬
keit des Sehorganes, die auf allgemeiner nervöser
Erschöpfbarkeit beruht, heranziehen. Bei Durchsicht
unserer Krankengeschichten findet man 39 Patienten, die
als Neurastheniker bezeichnet werden mußten. Aber auch
damit können wir uns noch immer nicht ganz zufrieden
gehen, denn wir finden in der Praxis nicht selten Fälle
schwerer Neurasthenie mit ausgesprochener Asthenopie, die
trotz anhaltender und anstrengender Nahearbeit kein Flim¬
merskotom bekommen. Krankhafte Ermüdbarkeit
u n d Ueberanstrengung des Sehorganes spielen
sicherlich bei der Entstehung des FT immer s ko¬
to ms eine Rolle, genügen aber allein nicht zu seiner
Erklärung.
In dieser Erkenntnis bemühte man sich schon seit
langem, in verschiedenen Allgemeinerkrankungen ein ur¬
sächliches Moment für das Fiimmerskotom und die Migräne5)
zu finden. Epilepsie, Hysterie, progressive Paralyse, Neur¬
asthenie, Tabes, Arteriosklerose und verschiedene Nerven¬
krankheiten werden hier angeführt.6) Gowers, Charcot,
Osler- Hoke und Oliver es erblicken in der Gicht eine
Grundlage unserer Krankheit. Sihle7) und andere sehen
in einer Autointoxikation, wozu auch die Gicht zu zählen
wäre, die Ursache der Anfälle. Von verschiedenen Seiten
wird auf die Beziehungen zwischen Migräne und Men¬
struation hingewiesen. Es mag dieser kurze und keines¬
wegs vollständige Hinweis genügen. Untersuche ich mein
Krankheitsmaterial nach Allgemeinerkrankungen oder nach
anderen Störungen, die zur Zeit des ersten Auftretens des
Flimmerskotoms bestanden hatten, so bekomme ich fol¬
gende Zahlen :
4) Siehe Wilbrand u. Sänger, Neurologie des Auges. 1906,
Bd. 3, Abt. 2, § 74-9.
6) Eine Berücksichtigung der Literatur ist ohne Heranziehung der
Migräne gar nicht möglich, da diese beiden Krankheiten meist gemeinsam
abgehandelt werden. Ich will später in kurzen Worten auf die Bezie¬
hungen zwischen beiden zurückkommen.
6) Siehe A n t o n e 1 1 i u. Nieser, Die Amblvopie transitoire.
Halle 1897.
7) Sihle, Zur Pathologie und Theorie der Migräne. Wiener klin.
Wochenschr. 1901. 14. Jahrg., 13. H.
Nr. 2
53
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Neurasthenie8) .
Anämie . . .
Tuberkul. pulmon.
Nephritis chron.
Diabetes mellitus
Gicht ....
Arthritis deform.
Akuter Gelenkrheumatismu
Influenza
Malaria . . .
Lues ...»
Tabes (?)
Hysterie .
Rackendiphtherie . .
Chron. Magenleiden .
Obstipation . , . .
Nasenaffektionen.
Arteriosklerose ( ?) . .
Menstruationsstörungen
Gravidität .
Peritonitis gonorrh. . .
Uebermäßiger Tabakgenuß
39 Fälle
5 »
4 »
1 »
1 »
2 »
1 »
2 »
1 *
1 »
3 »
1 »
2 »
1 »>
5 »
7 »
4 »
1 »
3 »
1 »
L »
2 »
In einer größeren Zahl von Fällen wurde Dermographie
der Hautdecken festgestellt, in manchen sogar sehr aus¬
gesprochene. Eine bestimmte Ziffer gehe ich hier nicht an,
da auf dieses Krankheitszeichen in einzelnen Fällen nicht
geachtet worden ist.
Höchst beachtenswert ist die hohe Zahl der Neurasthe¬
niker und wir können kaum zweifeln, daß dieses Leiden die
Entstehung des Flimmerskotoms sehr begünstigt. Hie Zahlen
der anderen Krankheiten sind hingegen so niedrig, daß man
mit Schlüssen sehr vorsichtig sein muß. ln der Tat zeigt mir
das -Studium meiner Krankengeschichten nahezu überall
nur einen indirekten Zusammenhang; meist ist das
Zwischenglied eine durch das Allgemeinleiden hervor¬
gerufene Neurasthenie; dies möchte ich bei zwei Fällen
von Tuberkulose, dem einen Rheumatiker,8 9) hei der Ar-
thritis deformans, der Influenza und wohl auch der Malaria
als nahezu sicher annehmen.
Bei dem einen Falle von Lungentuberkulose konnte man
allerdings vielleicht auch an einen unmittelbaren Zusammenhang,
etwa an eine innere Intoxikation,10) denken. Es handelte sich um
einen 38jährigen Arzt, der an schwerer Lungentuberkulose litt
und in den allerletzten Wochen vor seinem Tode- Anfälle von
Flimmerskotom bekam, die er bisher nie gehabt hatte. Es be¬
stand große allgemeine Schwäche und hochgradige Atemnot.
Ebenso könnte man in dem Falle mit Diabetes mellitus neben
der konsekutiven Neurasthenie auch eine direkte zerebrale .Gift¬
wirkung ins Auge fassen. Ich habe keine- Anhaltspunkte für eine
Entscheidung in diesem oder jenem (Sinne.
In zwei Fällen erzeugte das Allgemeinleiden (Diphtherie,
Lues) eine Akkomodationslähmung und bewirkte dadurch
eine Asthenopie, welche die Entstehung des bald danach ein¬
setzenden Flimmerskotoms sicher sehr gefördert hat. Wenn in
dem Falle mit der luetischen Lähmung später reflektorische
Pupillenstarre nachgewiesen und damit mit einiger Wahrschein¬
lichkeit auf eine beginnende Tabes dorsalis geschlossen werden
konnte, so berechtigt uns dies noch nicht, das Flimmerskotom'
in diesem Falle für ein tabisches Frühsymptom zu erklären.
Zwei meiner Fälle- hatten sicher Hysterie, boten aber außer¬
dem gleichzeitig eine Reihe von Momenten, die- erfahrungsgemäß
das Entstehen des Flimmerskotoms sehr begünstigen und min¬
destens der eine auch erbliche Anlage zur Augenaffektion.
Ein anderer Fall hatte neben den typischen Symptomen
des Flimmerskotoms auch schwere- Allgemeinerscheinungcn, so
Parästhesien und Anästhesien, die sich langsam über die eine
Körperhälfte ausbreiteten, Sprachstörungen, ja sogar leichte Be¬
wußtseinsstörungen. Später trat die Augenstörung in der zweiten
Gesichtsfeldhälfte auf und die Sensibi litätsstö rangen griffen dem¬
entsprechend auch auf die andere Körperhälfte- über. Es ist also
ein Fall, den Charcot in seiner Einteilung unserer Krankheit
zur „Migrain© ophthalmique associee“ rechnen würde.
Antone 11 i (spricht hier von einer „partiellen Epilepsie"
(C har cot).
8) Darunter viermal sexuelle Neurasthenie.
°) Die beiden anderen Tuberkulösen und der eine Rheumatiker
erkrankten an diesem Allgemeinleiden, nachdem sie schon lange vorher
an der Augenkrankheit gelitten hatten.
10) Retentionstoxikose (endogene Kohlensäuretoxikose), v. Jak sch,
Die Vergiftungen. 2. Au fl. Holder, Wien 1910.
Bei einem Herrn, der seit vielen Jahren an Flimmerskotom
(erbliche Anlage) litt, traten um das 55. Lebensjahr Schwindel.
Augenmuskelstörungen und heftige Kopfschmerzen auf, es besteht
sein begründeter Verdacht auf Sklerose der Gehirngefäße. Nach
meiner Ueberzeugung liegt aber hier gar kein Grund vor, auch
das Flimmerskotom, das in einer wesentlich früheren Lebens¬
periode, die sich allerdings nicht mehr genau feststellen läßt,
entstanden war und jetzt in den Hintergrund trat, auf dieses
Leiden zu beziehen.
ln einem anderen Falle-, in welchem die S-ehstöruugen erst
im fünften Lebensdezennium auftraten, die Arteriosklerose ziem¬
lich sicher schien und außerdem 26 Jahre vorher eine luetische
Infektion stattgefunden hatte, so daß die Augenaffektion wohl
auf die organische Gehirnveränderung bezogen werden muß,
boten die Sehstörungen und die begleitenden Umstände nicht
das ganz charakteristische Bild des Flimmerskotoms, so daß
ich diesen Fall von Amblyopia transitoria in diesem Aufsatze
nicht weiter berücksichtigt habe.
Unter jenen Fällen von angeblichem Flimmerskotom, die
nach Literaturberichten später in ein organisches Nervenleiden
übergingen, scheinen sich manche zu befinden, die dem Typus des
Flimmerskotoms mehr oder minder ferne stehen und vielleicht
besser nicht dazu gezählt worden wären.
In betreff der Gicht sei bemerkt, daß- in dem einen der
beiden Fälle dieselbe sicher, in dem anderen wahrscheinlich vor¬
handen ist. Im letzteren Falle, dessen Krankengeschichte ich
später ausführlich bringe, hat die Gicht kaum etwas mit der
Augenstörung zu tun, für den ersteren kann eine solche Be¬
ziehung bestehen.
In zwei Fällen traten die- Anfälle stets zur Zeit der M eases
auf, wobei hervorzuheben wäre, daß- in dem einen eine Peri¬
tonitis gonorrhoica zunächst zu Menstruationsstörungen geführt
hatte, an die sich dann das Augenleiden anschloß-. In einem
dritten Falle trat zur Zeit des Klimakteriums eine auffallende
Häufung der Anfälle auf. Der Zusammenhang zwischen Menses
und Flimmerskotom und Migräne überhaupt dürfte wohl als
sichergestellt zu betrachten sein. Bei einer anderen Patientin
waren die ersten Anfälle- während der ersten Gravidität aufge¬
treten, hatten danach vollständig aufgehört, um erst um das
45. Lebensjahr ohne ersichtliche Ursache (vielleicht Presbyopie)
sich wieder einzustellen.
Auf irgendeinen, wenn auch wahrscheinlich nur losen und
fernen Zusammenhang mit der Geschlechtssphäre weist ja auch
die Tatsache hin, daß sich unser Leiden sehr häufig in der Pu¬
bertätszeit zu entwickeln pflegt. Unter meinen Patienten erkrankte
einer im zehnten Lebensjahre, 25 im zweiten Lebensdezennium,
14 im dritten, 3 im vierten, 5 im fünften und 1 im siebenten
Lebensdezennium. Also auch hier ein Ueberwiegen der Puber¬
tätszeit.
Zur Nas-en-erkränkung übergehend, sei hervorgehoben, daß
zw-eiii meiner vier Nasenkranken, darunter ein Arzt, die Beob¬
achtung gemacht haben, daß bei ihnen das Flimme-rskotom stets
im Anschluss-© an einen akuten Schnupfen der Nase auftrete, eine
Wahrnehmung, die- sich mit anderweitigen Mitteilungen über die
Migräne deckt.
Einen ähnlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen Seh¬
störung und Stuhlverstopfung wußten zwei Kranke anzugeben,
während bei fünf anderen, an Obstipation Leidenden ein solches
Zusammenfallen nicht aufgefallen war, ohne daß man aber des¬
halb den Einfluß der Obstipation auf das Augenleiden für diese
Fälle ausschließen könnte. Die sorgfältigen und langdauernden
Beobachtungen Siegrists11) haben diese Beziehungen als sehr
wichtig klargelegt.
Interessant schien mir ferner die Mitteilung der Mutter
eines an •Flimmerskotoins leidenden Gymnasiasten (die Mutter
hat dieselbe Augenstörung), daß ihr Sohn jedesmal nach dem
Genüsse- von Käse Verdauungsstörungen und einen Anfall seines
Augenleidens bekomme; eine ähnliche Idiosynkrasie u. zw. in
bezug auf Zwiebeln, will noch ein zweiter meiner Kranken
an sich beobachtet haben. Derartige- Beobachtungen finden sich
bereits in der Literatur der Migräne.
Auf Grund dieser Zusammenstellungen
können wir in Ueber ein Stimmung mit früheren
Bearbeitern dieses Gebietes die Meinung a u s-
sprechen, daß A 1 1 g e m e i n e r k r a n k u n g e n v er s c h i e-
clener Natur imstande sind, das Entstehen des
Flimmer skotoms zu begünstigen. Zunächst darf
man allerdings nur an eine indirekte, durch Ver-
") Siegrist, Mitteil. a. d. Klin. u. med. Inst, der Schweiz. 1894.
I. Reihe, 10. H.
54
WIENER KLINISCHE
mil tlung einer Neurasthenie entstandene Beein¬
flussung denken; doch kann man die Möglichkeit einer
direkten Auslösung hei manchen Krankheiten nicht in Ab¬
rede stellen. Auch meine Krankengeschichten enthalten Be¬
lege für die wahrscheinliche ätiologische Bedeutung ein¬
zelner Krankheiten, so der Menstruationsstörungen, der
Magen- und Darmleiden, der Nasenaffektionen.
Ziehen wir bei der Aufnahme der Anamnese auch
die Familie des Kranken in den Kreis unseres Interesses,
so hören wir nicht selten, daß eines der Eltern oder Gro߬
eltern, meist der weibliche Teil, von einem ähnlichen Leiden
geplagt worden sei. 21 meiner Kranken berichteten von
Migräne oder migräneähnlichen Anfällen12) ihrer Vorfahren;
einige betonten ganz ausdrücklich, daß die Krankheit der
Mutter der ihren ganz ähnlich gewesen sei und durch die
gleichen Gelegenheitsursachen ausgelöst worden sei. Den
hohen Zahlen, die andere Autoren (so Mo e bins bei der
Migräne 90°/o) in dieser Hinsicht erreichten, komme ich
nicht nahe, aber immerhin ist auch meine Zahl für die Be¬
deutung der erblichen Anlage sehr bezeichnend.
■ Wenn man aber bedenkt, daß das Flimmerskotom auch
mit Ueberspringung der Eltern von den Großeltern auf die
Enkel übergehen kann und daß ältere Leute meist viel we¬
niger darüber zu klagen pflegen,13) müssen wir mit der
Wahrscheinlichkeit rechnen, daß eine ganze Zahl von
Kranken in gutem Glauben Heredität in Abrede stellen, trotzr
dem sie vorhanden ist. und dürfen unsere Zahl nur als
eine, sicherlich zu kleine, Minimalzahl ansehen.
Es sind ,ja alle von mir gebrachten Zahlen — die den Beruf
betreffenden ausgenommen — als M i n i m a 1 z a h 1 e n anzusehen ;
wir können nicht annehmen, daß alle Kranken wahrheitsgetreue
und offene Antworten über sexuelle Fragen, Geschlechtskrank¬
heiten, ja selbst andere Krankheiten geben werden.
Weit reichlicher fließen aus den Krankengeschichten
die Angaben über die Ereignisse und Erscheinungen, die
dem einzelnen Anfalle vorauszugehen pflegen, die ihn ein¬
leiten, auslösen. Wenn man sich einige Zeit mit den hieher-
gehörigen Angaben der Kranken beschäftigt, ihnen bei ihren
Selbstbeobachtungen mit den eigenen Erfahrungen geholfen
hat, so findet man allerdings, daß sich die große Menge
der verschiedenen Angaben leicht übersichtlich in zwei
große Gruppen ordnen läßt. Sie beziehen sich nämlich
einerseits auf den All gemein zustand und anderseits
auf das Auge selbst.
Die Berichte über den Allgemeinzustand gliedern sich
in solche über die Psyche, den Schlaf, die Ernährung
(Hungerzustand) oder das körperliche Wohlbefinden im
allgemeinen. Aufregung, Sorge, Aerger, anstrengende gei¬
stige Arbeit können Anfälle 'auslösen. Besonders oft wird
nach meiner Erfahrung Aerger als den Anfall auslösende
Ursache angeschuldigt. Der Schlaf ist für den an Flimmer¬
skotom Leidenden von sehr großer Bedeutung; unruhiger
Schlaf, Verkürzung desselben durch ungewöhnlich frühes
Aufstehen, plötzliches Erwachen, besonders, wenn es
sogleich von Arbeit gefolgt ist, sind sehr häufig der Anlaß für
einen Anfall. In bezug auf die Ernährung ist jede Un¬
regelmäßigkeit, vor allem aber große Pausen in der Nah¬
rungsaufnahme zu vermeiden.
Als Störungen des Allgemeinbefindens wären die schon
oben erwähnten Magen- oder Darmstörungen, der Schnupfen,
ja 'selbst ein Katzenjammer zu nennen. Ein Koitus löst eben¬
falls öfters (in meiner Statistik bei vier Kranken) einen
Anfall aus.
>-) Bei derartigen anamnestischen Erhebungen läßt sich reine Mi¬
gräne und Flimmerskotom mit nachfolgendem Migränekopfschmerz wohl
nur relativ selten sicher auseinanderhalten. In der Frage der hereditären
Belastung wird aber gegen die Zusammenfassung dieser so nahestehen¬
den Symptomenkomplexe überhaupt kaum ein Bedenken obwalten.
j3) Ich finde den Grund für diese Beobachtung in verschiedenen
Umständen. Erstens kann das Leiden mit den Jahren an Heftigkeit ein¬
büßen, ja sich manchmal ganz verlieren, zweitens lernen sehr viele
Kranke durch Erfahrung, die zum Anfalle führenden Gelegenheitsursachen
vermeiden und diese dadurch immer seltener zu machen; bei vielen mag
auch eine gewisse Gewöhnung und geduldige Ergebung eintreten.
WOCHENSCHRIFT. 1911.
Plötzliche, starke Abkühlung oder große Hitze sollen
nach den Erzählungen mancher Leidenden ebenfalls aus¬
lösend auf den Anfall wirken. Allerdings muß man der¬
artige Mitteilungen, ehe man sie glaubt, sehr kritisch be¬
trachten. - ...
So erwiesen sich mir einmal die „kalten hiiß-e", welche die
Ursache des Anfalles sein sollten, als das erste Symptom
desselben, der stets mit vasomotorischen Störungen in den Ex¬
tremitäten begann. Ich will aber nickt bezweifeln, daß, starke
Abkühlung des Kopfes, z. B. durch länger© Fährt in starker
Winterkälte, hei einem verwöhnten Stubenhocker, wenn sonst
die Bedingungen vorhanden sind, Abstoß zu einer Flimmerattacke
geben kann. ’ TT. ....
Noch schwieriger ist es, die Rolle der Hitze richtig ein¬
zuschätzen. Oft mag neben der Hitze die schlechte, verbrauchte
Luft eines überfüllten Versammlungsraumes oder die Blendung
durch die Mikroskopierlampe (nicht bloß deren strahlende Wärme)
schädlich wirken, ja vielleicht mit geistiger Anstrengung und
ähnlichen Umständen die Hauptrolle spielen.
Ein Schlosserlehrling von 16 Jahren klagte in der Ambu¬
lanz unserer Klinik, daß er seit einigen Wochen jeden Tag um
11 Uhr vormittags bei der Arbeit am heißen Feuer vom Flim¬
mern befallen werde. Ich untersuchte den Burschen an mehreren
aufeinanderfolgenden Vormittagen sehr eingehend. Am ersten Tage
wurde er vor die Feuerungsöffnung der Zentralheizung unserer
Klinik gebracht und dort sehr bald von der typischen Sehstörung
befallen; am nächsten Tage verblieb er in den kühlen Räumen
des Ambulatoriums und war anfallsfrei, während am dritten
Tave ein neuerlicher Aufenthalt am Ofen wieder rasch den Anfall
hervorrief. Ich hatte es aber versäumt, die Möglichkeit emer
Blendung durch die Flamme auszuschließen (da der Kranke
nicht wieder erschien, war eine Verbesserung dieses Fehlers
nicht mehr möglich), weshalb wir hieraus keine sicheren Schlüsse
ziehen dürfen; wir werden ja sofort die große Bedeutung der
Blendung für die Entstehung des Flimmerskotoms erörtern.
Um die Bedeutung der wichtigeren Schädlichkeiten
zu zeigen, so sei erwähnt, daß von meinen Kranken 14
ungenügenden oder gestörten Schlaf, 13 Aerger, 11 geistige
Arbeit, 6 körperliche Anstrengung, 9 Hunger, als die Ur¬
sache ihrer Sehstörungen ansehen.
Nun seien auch noch jene auslösenden An ässe kurz
besprochen, welche das Sehorgan unmittelbar angreifen. Da
steht die Nah ear beit an der Spitze, indem, wie schon
gesagt wurde, 39 Kranke sich über ihren üblen Einfluß
auf das Leiden beklagten. Sehr schädlich wirkt sie natürlich
dann, wenn sie unter besonders ungünstigen Umständen,
zum Beispiel bei schlechter Beleuchtung,14) geübt
wird. Frauen klagen besonders über das Schwarznähen.
Manche fürchteten besonders die Nahearbeit bei leerem
Magen, während zwei Patienten beobachteten, daß sie nach
reichlicher Mahlzeit sich jeglicher Nahearbeit, besonders
aber solcher, die mit geistiger Anstrengung verbunden ist,
enthalten müssen, wollen sie nicht sofort einen Anfall her-
vorrufen. Es ist übrigens nicht nur Nahearbeit, sondern
auch Anstrengung des Auges überhaupt, für unser Leiden
gefährlich. So wird von einzelnen Kranken, angegeben, daß
das Bemühen, eine ferne Person zu erkennen oder eine
größere, aber ferne Inschrift zu entziffern, den Anfall aus¬
löse. ... . . „
Die zweithäufigste Schädlichkeit ist nach meinen kr-
fahrungen die Blendung, das heißt der plötzliche Einfall
grellen oder verhältnismäßig grellen Lichtes ins Auge. Dieses
Ereignis pflegt bei 19 meiner Kranken den Anfall zu
Eine an einem okulistischen Kollegen gemachte Beobach¬
tung sei als charakteristisches Beispiel hiehergesetzt. Derselbe
war an einem dämmerigen Morgen bei einer bakteriologischen
Arbeit und glühte eben einen Metallgegenstand aus, als er eine
Sehstörung bemerkte. Eine sofort vorgenommene Untersuchung
ergab an beiden Augen das Vorhandensein eines absoluten Sko¬
toms, (las in Größe, Form und Lage dem Lichtbildo entsprach.
An diesen Gesichtsfeldausfall schloß sich dann die charakteri¬
stische Erscheinung des Flimmerskotoms an.
u) v. Reuß (Arch. f. Augenheilk. 1905, Bd. 53, H. 1) hat auf
Grund eigener Erfahrung die schädliche Wirkung der ungenügenden Be¬
leuchtung hervorgehoben und ich habe sie
Kranken wiederholt wahrgenommen.
an mir
und verschiedenen
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1011.
Interessant und ins Kapitel der Blendung gehörig ist
die Beobachtung, daß das Betrachten von weiß und schwarz
gestreiften oder karrierten Stoffen zu unserer Sehstörung
führen kann. Drei Patienten (darunter zwei Aerzfe) bestä¬
tigten mir diese Beobachtung, die ich auch seihst an mir
gemacht habe; hiehe-r gehört wohl auch die Erregung des
Flimmerns, wenn der dazu Disponierte an einem von der
Sonne beleuchteten Lattenzaune vorübergeht, so daß das
Auge in raschem Wechsel von Hell in Dunkel und wieder
in Hell kommt. Auch dies haben drei Kranke an sich wahr¬
genommen.
Diese letzteren Beobachtungen scheinen mir für das
Studium der Pathogenese nicht ohne Bedeutung und das
Sammeln solcher Mitteilungen daher nicht ganz wertlos
zu sein.
Ehe ich aber diesen Abschnitt schließe, will ich mit,
Hilfe einiger Krankengeschichten den Nachweis erbringen,
daß auch die Presbyopie eine wichtige Rolle in der
Entstehungsgeschichte des Flimmerskotoms spielt, worauf
ich ja schon im Beginne meiner Arbeit hinwies.
Fall I. Am 22. Oktober 1909 suchte mich ein tl jäh¬
riger Offizier auf, der seit Jahren im Kanzleidienste tätig ist.
Sein Augenleiden begann vor vier Jahren mit anfallsweisem Aus¬
fall der linken Gesichtsfeldhälfte ; die Grenzlinie des erhaltenen
Gesichtsfeldes gegen des ausgefallene ist stets eine vertikale
Gerade, die durch den Fixationspunkt geht. In der rechten, er¬
haltenen Gesichtsfeldhälfte sieht der Kranke einen feurigen Bogen,
aus sich bewegenden Funken bestehend. Der Ausfall des Ge¬
sichtsfeldes scheint ein absoluter zu sein und hat eine Dauer
von ungefähr fünf Minuten, worauf ihm ein etwa zehn Minuten
anhaltender Schmerzanfall folgt, der im Gebiete des linken Nervus
supraorbitalis sieh abspielt.
Erst nach eingehendem Befragen des Kranken stellt sich
heraus, daß als den Anfall unmittelbar hervorrufendes Moment
zunächst anstrengende, anhaltende Nahearbeit in Betracht
kommt,16) besonders wenn vormittags mit leerem Magen in der
Kanzlei gearbeitet wird; Blendung und das Vorbeigehen an einem
hellerleuchteten Lattenzaune wirken ähnlich. Die Mutter des
Patienten hatte an ähnlichen Anfällen gelitten, die, wie sich
Patient erinnert, durch fast gleiche Momente zur Auslösung
gekommen waren und von der Kranken gewöhnlich durch raschen
Genuß einer Speise bekämpft wurden. Der Patient gibt ferner
an, daß ihn in der letzten Zeit die Kanzleiarbeit sehr angestrengt
habe; er habe sich die mit dieser Nahearbeit verbundene An¬
strengung auf alle mögliche Weise zu erleichtern gesucht. Auf
ärztlichen Bat nahm er einen Urlaub zum Besuche eines Bades.
Dort verlor er die Sehstörungen vollständig (nachdem er . sich
jeglicher Nahearbeit enthalten hatte). Nach seiner Rückkehr in die
Kanzlei kehrten sie aber sofort wieder. Von den sonstigen Mit¬
teilungen des Kranken will ich nur erwähnen, daß er ein starker
Raucher ist, doch fehlen alle Zeichen einer Tabakvergiftung voll¬
ständig. Patient ist aber leicht nervös und litt in der letzten
Zeit an einer sehr hartnäckigen ischiatischen Affektion. Von dem
Kollegen, der die Behandlung dieser' -letzteren Erkrankung über¬
nommen hatte, erfuhr ich außerdem, daß an den Fußsohlen
einige anästhetische Stellen bestehen und außerdem wiederholt
leichte Gelenksschwellungen sich gezeigt hatten, die als gicht-
verdächtig bezeichnet werden mußten.
Die Untersuchung der Augen ergab vollständig normalen
Befund mit vorzüglicher Sehschärfe 0%) ; das rechte Auge zeigte
eine manifeste Hypermetropic von 0-5 Dioptrien, das linke eine
solche von 0-25 Dioptrien, der Nahepunkt war bereits auf 94 cm
hinausgerückt und Zeitungsdruck konnte erst mit +0-75 Dioptrien
bequem gelesen werden. Dieses Glas verordnet© ich zur Nahe¬
arbeit und stellte dem Kranken beim Gebrauche desselben das
Verschwinden des Flimmerskotoms in1 Aussicht. Ich ging dabei
von dem Gedanken aus, daß das Flimmerskotom bei einem
erblich disponierten und durch eine leichte Neurasthenie
etwas beeinträchtigten Manne infolge der beginnenden Pres¬
byopie zum Ausbruch gekommen sei.
Daß diese Annahme richtig war, bewies der Erfolg; denn
nach Jahresfrist erfuhr ich durch Vermittlung des Kollegen, daß
mit dem Tragen des verordn eten Glases die Augenstörungen voll¬
ständig und dauernd geschwunden sind.
In dieser Annahme kann mich weder das Vorhandensein der
vorübergehenden Gelenksschweü urigen und der dadurch gegebene
_ ' - '[ : 1
l5) Der Patient hielt die Augenstörung für die Teilerscheinung
eines nervösen Allgemeinleidens.
Verdacht auf Gicht, noch’ die Anästhesien an den Füßen, die in
Verbindung mit den ziemlich hartnäckigen ischiatischen Schmer
zen vielleicht auf den bevorstehenden Ausbruch eines ernst- m
Nervenleidens deuten könnten (Pupille i und Krtiesehnenrefh'.x
sind übrigens völlig normal), wankend machen. In diesem Falle
die Auge« Störung auf Gicht oder eine höchstens vermutete Tabes
zurückführen zu wollen, erschiene mir in keim-r Weise gerecht¬
fertigt.
Fall II. öijähriges Fräulein, Lehrerin, leidet seit , lugen; !
äii Kopfschmerzen; auch die Mutter hat an solchen gelitten. Dir
Erscheinungen des Flimmerskotoms traten erst in verge ruck; -•
Alter auf; den Zeitpunkt kann die Kranke nicht genau angele n.
doch versichert sie, daß sie bestimmt nicht vor dem 10. Lebens¬
jahre, wahrscheinlich erst einige- Jahre später, aufgetreten seien.
Die- Anfälle treten stets im Herbste, im Beginne des Schuljahres,
gehäuft auf und werden im weiteren Verlaufe des Schuljahres
wieder seltener, um in den Sommerferien nahezu ganz zu ver¬
schwinden.
Die Untersuchung der Augen ergibt:
R.A.: — 4 5 D. — cvl - 05 D. Achse 35° 10,/lü.
L. A.: -- 3 5 D. o cyl — 05 Achse 90 ' 10/12.
Die Patientin trägt für die Ferne -3-5 D. (sphär.) und
trug dieses Glas bis vor wenigen Jahren ständig, d. h. auch
für die Nähe. In ihrem Berufe als Lehrerin muß sie nämlich
von ihrem Platze aus die Schüler der ganzen Klasse überblicken
und anderseits auch häufig im Buche lesen oder schreiben. Gerade
in der Zeit, in welcher das Flimmerskotom einsetzte, trug die
Kranke noch ständig für Ferne und Nähe das gegenwärtige
Fernglas, welches das linke Auge ziemlich voll korrigiert und
am rechten nur eine schwache Kurzsichtigkeit übrig läßt. Erst
einige Jahre später merkte sie die- Unmöglichkeit, mit diesem
Glase in der Nähe zu lesen, und sie nahm, diesem Zwange
langsam weichend, immer schwächere Konkavgläser für den
Schulgehranch, so daß- sie gegenwärtig bei 1-0 D1. angelangt
ist. Als eine Hauptursa.ehe ihrer Anfälle gibt die Kranke Arbeit
am Schreibtisch an, der nach ihrer Meinung „zu hoch“ war. Tu
den letzten Jahren wurden mit dem Tragen der schwächeren Brille
die Anfälle seltener.
Es besteht eine leichte, allgemeine Nervosität, Anzeichen
eines ernsten Nervenleidens organischer Natur fehlen.
Verordnung: Pantoskopische Brille mit — 3-5 D. für die
Ferne- in der oberen Hälfte. Dadurch ist es der Patientin möglich,
durch das Glas in die Ferne- blickend, ihre Schule zu über¬
wachen und anderseits, unter dem Glase wegschauend, im
Buche- zu lesen oder zu schreiben.
Uebe-r das weitere Ergehen der Kranken habe ich nichts
mehr gehört.
Unsere Patientin hat eine ererbte Disposition zu Migräne
und litt seit Jugend gelegentlich an migräneähnlichen Schmerz¬
anfällen. (
Da sie trotz der beginnenden Alterssichtigkeit ihres Be¬
rufes wegen das Fernglas auch in der Nähe trug und so dasl Auge
überanstrengte, entwickelte sich ein typisches Flimmerskotom.
Ich glaube, daß jede andere Erklärung dieser gegenüber sein-
gesucht erscheinen müßte.
Fall III. öOjähriges Fräulein, Inhaberin und Leiterin eines
Kaufladens. Die- Patientin leidet seit Jugend an Kopfschmerzen,
bald halb-, bald doppelseitig; früher bestanden keinerlei .Augen¬
störungen. Seit zwei Jahrein presbyopische Beschwerden und
fünf oder sechs typische Anfälle von Flimmerskotom.
Die Sehprüfung ergibt:
R: T0./9. , — 0’5 D. dasselbe.
L.: 10. /12. ?, Gläser werden abgelehnt.
Reide Augen: Snellen 0’5 in 32 cm, -4- 0 75 D. Snellen O'i in 26 cm.
Das linke Auge zeigt beginnende Startrübung; im Harn
findet sich Eiweiß.
V er Ordnung: +0-75 D.
Fall IV. 48jährige Hausfrau, leidet seit Jugend an Migräne
(aber ohne Augensymptome), ihre- Mutter litt ebenfalls an Mi¬
gräne. Seit dem Herbst des vorigen Jahres begannen die Schmerz-
anfällo häufiger zu werden und sich mit typischem Flimmern
zu vergesellschaften. Nach Weihnachten wurden die Anfälle
seltener und hörten im Sommer nahezu ganz auf, um im letzten
Herbste gehäuft wiederzukehren. Die totale Hypermetropie be¬
trägt 1-0 Dioptrie, für die Nähe wird gelegentlich, aber durch
aus nicht ständig, +1-25 D. getragen. Die Patiehtin selbst weist
auf die eigentümliche Verteilung ihrer Arbeit nach den Jahres
zeite-n hin und gibt so eine ausreichende Erklärung für die Häufung
der Anfälle im Herbste. Sie beschäftigt sich im Sommer vor¬
zugsweise im Garten und pflegt erst im November sich wieder
56
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
feineren Handarbeiten zuzuwenden, die besonders vor Weih¬
nachten viel Zeit in Anspruch nehmen. Mit beginnendem Frühjahr
widmet sie wieder einen großen Teil ihrer Zeit ihrem Garten.
Auch in diesen beiden Fällen kann an dem Einflüsse der
Presbyopie nicht gezweifelt werden. Die Disposition ist. wie
bei Fall I und II. ererbt und hat schon früher Migräneanfälle
ausgelöst, die sich im späteren Alter infolge der Augenanstrengung
zum charakteristischen Flimmerskotom umwandelten.
Es mag vielleicht überraschen, daß ich der Alters¬
sichtigkeit und ihrer Beziehung zum Flimmerskotom einen
so großen Platz eingeräumt habe, da doch an der Möglich¬
keit, einer solchen Auslösung der Anfälle durch presbyo-
pische Ueberanstrengung des Sehorganes nach unseren
Kenntnissen von diesem Leiden gar nicht gezweifelt werden
kann. Ich habe dies getan, weil nach meiner Meinung
dieses Moment in den Lehrbüchern und Abhandlungen nicht
die ihm gebührende Hervorhebung gefunden hat, während
sich meist der Hinweis findet, daß das Auftreten oder die
Häufung bisher seltener Anfälle von Flimmerskotom in vor¬
gerückterem Alter den Verdacht auf ein beginnendes orga¬
nisches Nervenleiden begründe.
Es liegt mir nichts ferner, als diesen Gedanken ganz
zu verwerfen, ich rate aber dringend, gleichzeitig
an die Möglichkeit einer nicht korrigierten Pres¬
byopie z u denken und zunächst in dieser Rich¬
tung zu prüfen.
Ich will hier noch die Bemerkung einschalten, daß auch
in jenem meiner Fälle, in welchem das Flimmerskotom u. zw. in
durchaus typischer, vollentwickelter Form, sich erst im siebenten
Lebensdezennium eingestellt hat, nach nunmehr mehrjähriger
Beobachtung jedes organische Nervenleiden mit Sicherheit aus¬
geschlossen werden kann. Arthritis deformans, durch Schmerzen
bedingte Schlaflosigkeit, Neurasthenie, anhaltende und anstren¬
gende Nahearbeit, manchmal in unzureichender Beleuchtung, viel¬
leicht auch leichte kardiale Störungen sind die mir bekannten
ursächlichen Momente dieses Falles.
Da man in statistischen Zusammenstellungen meist die
Kranken auch nach dem Geschlechte zu ordnen pflegt, so will
ich schließlich noch hervorheben, daß 37 meiner Kranken männ¬
lichen, 16 weiblichen Geschlechtes waren. Ich möchte aber diesem
Zahlenverhältnis, gar keine Bedeutung beilegen, denn ich ver¬
mute, daß bei weiterer Fortsetzung meiner Statistik sich dieses
Verhältnis wesentlich ändern dürfte, u. zw. im Sinne einer Ver¬
mehrung der weiblichen Kranken. Zunächst fällt mir nämlich
auf, daß unter den dem klinischen Materiale entnommenen Kranken
das weibliche Element nur mit 10°/o vertreten ist, während unter
den Patienten der Privatpraxis der Prozentsatz aut 52 ge¬
stiegen ist.
Weiters bemerkte ich, daß weibliche Patienten auffallend
häufig nur in ganz unbestimmten, sehr allgemein gehaltenen Aus¬
drücken von Augenbeschwerden sprechen, so daß erst nach ein¬
gehendem Befragen das Bild des Flimmerskotoms sich ergab.
Aüelleicht ist. dies teilweise darin begründet, daß Frauen in ihrer
gewohnten häuslichen Umgebung von der bald vorübergehenden
Sehstörung nicht allzu sehr belästigt werden, während Männer,
wenn sie auf der Gasse, in der Kanzlei, kurzum im lebhaften
Verkehre des öffentlichen Lebens von dem Anfalle überrascht
werden, sich dadurch sehr empfindlich behindert fühlen.
Jedenfalls hat sich in der letzten Zeit, wahrscheinlich durch
die Aenderung der Kreise, aus denen sich mein Krankenmaterial
rekrutiert und durch eingehenderes Nachfragen, die Verhältnis¬
zahl der Geschlechter so wesentlich verschoben, daß ich auf
die oben angeführte Zahl gar kein Gewicht legen kann.
Fassen wir nunmehr die Erfahrungen, die sich aus
meiner kleinen Beobachtungsreihe ergeben, zusammen, so
finden wir eine weitgehende Uebereinstimmung mit jenen,
welche frühere Bearbeiter des Fliiümerskotoms uns mit¬
geteilt haben.16) Wir müssen annehmen, daß sich dieses
Leiden auf Grund einer in ihrem Wesen uns unbekannten
Disposition entwickelt, die wohl wahrscheinlich meist
ererbt sein dürfte. Diese Disposition wird durch alle jene
Umstände, die zu einer Schwächung des Nervensystems
führen können (schwächende Krankheiten, Ausschweifun¬
gen, Ueberarbeitung, Gemütsaffekte usw.), sowie durch Nei¬
gung zu vasomotorischen Störungen erhöht. In den meisten
l6) So schon v. Reuß, Kasuistische Beitr. z. Kenntn. d. Flimmer¬
skotoms. Winer med. Presse 1876, 17. Jahrg. und zahlreiche Neuere.
Fällen liegt auch eine andauernde, erhöhte Inanspruch¬
nahme des Sehorganes vor, die manchmal auf mus¬
kulärer oder akkomodativer Asthenopie beruht.
Besondere Steigerung und Häufung der erwähnten
Schädlichkeiten oder das Eintreffen anderer Noxen pflegen
dann als Gelegenheitsursachen in der disponierten
Person den einzelnen Anfall auszulösen.
Die inneren Vorgänge, die dem Anfalle vermutlich
zugrunde liegen, zu erörtern, will ich absichtlich unterlassen
und nur darauf hinweisen, daß die Pathogenese wahrschein¬
lich keine einheitliche ist; doch dürften wir kaum fehlgehen,
wenn wir die große Mehrzahl aller Fälle in eine Gruppe
zusammenfassen, die genetisch der Migräne sehr nahesteht,
ja einfach als eine bestimmte Erscheinungsform derselben,
als Augenmigräne, aufzufassen wäre. Nach Ausscheidung
der atypischen und zweifelhaften Fälle werden, wie ich
glaube, nur mehr relativ Avenige Fälle unserer Krank¬
heit außerhalb des Rahmens der Migräne verbleiben müssen.
Freilich ist damit für die Erkenntnis der Entstehung noch
wenig gewonnen, denn auch die Entwicklung der Migräne
ist nicht vollständig geklärt und vielleicht ebenfalls nicht
einheitlich.
Schließlich seien noch einige Worte der Behand¬
lung des uns interessierenden Leidens gewidmet. Der
Grundlage des Leidens, der Disposition, können wir schon
deshalb nicht. Herr werden, weil wir sie in ihrem Wesen
nicht kennen. Wohl aber können wir durch Hebung und
Kräftigung des nervösen Allgemeinzustandes dieser Dispo¬
sition entgegenarbeiten. Selbstverständlich werden wir dies
Ziel nicht durch Medikamente, sondern durch vernünftige
Regelung der Lebensweise zu erreichen suchen, ein the¬
rapeutisches Beginnen, dem der Kranke leider oft den
größten Widerstand entgegensetzt. Die Anwendung der Hy¬
drotherapie wird uns dabei oft fördern. Einen Wegweiser
für unser Handeln finden wir in den zahlreichen Abhand¬
lungen über die Migräne, deren allgemeine Therapie wir
vollständig für unser Leiden übernehmen können.
Die größte Sorgfalt haben wir den Gelegenheit.sur-
sachen des Flimmerskotoms zu widmen. Ihre Vermeidung
setzt aber ihre Kenntnis voraus. Wir seihst müssen unsere
Kranken auf die verschiedenen Möglichkeiten aufmerksam
machen. Warum sollen wir den Kranken nötigen, sich erst
durch eine größere Zahl von Anfällen quälen zu lassen,
bis er seihst die zur Prophylaxe nötige Erfahrung gesammelt,
hat? Wir können ihm durch unsere eigenen Erfahrungen
nicht 'selten den Leidensweg verkürzen und erleichtern.
Schädlichkeiten soll der Kranke wo möglich völlig meiden;
sind sie aber unvermeidlich, zum Beispiel durch den Beruf
bedingt, dann ist die Anleitung zu ihrer Bekämpfung unsere
ärztliche Aufgabe.
ln dieser Beziehung ist die Regelung der Nahe-
arbeif eine unserer häufigsten Pflichten. Möglichste Er¬
leichterung derselben, Sorge für gute, aber nicht zu grelle
Beleuchtung, häufige Einschaltung von Pausen oder Wechsel
in der Art der Nahearbeit, sind zu empfehlen.
Niemals vergesse man eine genaue Untersuchung des
Sehorganes auf Refraktion, Akkomodation und Muskelver¬
hältnisse und verordne, wenn nötig, eine entsprechende
Brille. Man glaube aber ja nicht, daß mit der Verordnung
eines Korrektionsglases alles getan sei. Ein solches ist
oft ein wichtiger, ja unentbehrlicher Heilfaktor, wird aber
allein selten helfen.
Gegen Blendung beim Aufenthalt im Freien (bei
Schnee, an größeren Wasserflächen, auf sonnenbeschie'ne-
nen Straßen usw.) wird die Verordnung eines schwach
grau gefärbten Glases zweckmäßig sein.
Natürlich wünschen die Kranken stets auch ein Mittel,
welches den Anfall beheben soll. Hier versagt unser Können
wohl immer. Ist. die Sehstörung, insbesonders das Flim¬
mern, einmal aufgetreten, dann geht sie, unbekümmert um
alle Medikamente, ihren regelmäßigen Weg. Anders ver¬
hält es sich mit dem nachfolgenden Kopfschmerz; hier
! können Nervina — dieselben, die bei der Migräne üblich
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
57
sind — abkürzend und erleichternd wirken. Abhaltung
äußerer Reize, möglichste Ruhe, horizontale Lage, Genuß
von Speise und Trank bringen oft auch ohne jedes arznei¬
liche Mittel etwas Erleichterung.
Wichtig ist ferner die genaue Regelung der Ernäh¬
rung. Hungergefühl darf nicht übersehen, anderseits aber
der Magen auch nicht überfüllt werden, besonders, wenn
gleich darauf wieder gearbeitet werden soll. Vielen Kranken
nützt die Einschaltung einer kleinen Mahlzeit zwischen Früh¬
stück und Mi tagessen. Das moderne Bestreben, das Mittag¬
essen immer mehr in den Nachmittag hinein zu verlegen,
halte ich vom ärztlichen Standpunkte aus für ganz ver¬
werflich.
Achtung auf die Darmfunktionen!
Niemals versäume man es, dem Kranken Sorge für
regelmäßigen, ruhigen Schlaf einzuschärfen. Ordentliches
Ausschlafen am Morgen ist wichtig.
An mir selbst habe ich folgende für die Behandlung
sehr wichtige Beobachtung gemacht. Meinen Anfällen pflegt
meist — aber nicht immer — eine ganz charakteristische
Prodromalerscheinung voranzugehen; sie besteht in einem
wenig auffallenden Lichtbilde, das in Form eines kleinen,
hellen Funkens langsam und genau horizontal nahe vor
meinen Augen vorbeizuschweben scheint u. zw. nur ein¬
mal. Bemerke ich diesen Funken, so pflege ich sogleich
jede Arbeit einzustellen und strebe vollständige Ruhe, ins-
besonders des Sehorganes, an. Dieses, sowie der Genuß von
etwas Speise, stellen mich meist soweit wieder her, daß
ich nach ungefähr einer Viertel- bis einer halben Stunde
die frühere Beschäftigung (allerdings mit vorsichtiger Scho¬
nung) wieder aufnehmen kann, ohne daß es zum Ausbruch
des Anfalles oder zu Kopfschmerzen kommt.
Kann ich aber diesem Mahner nicht sogleich Folge
leisten, sondern setze meine Arbeit fort, so pflegt schon
in den nächsten Minuten die typische Sehstörung sich zu
entwickeln.
Die Kenntnis dieses warnenden Krankheitszeichens
hat mir im Laufe der letzten Jahre wesentlich genützt und
mich oft vor Anfällen bewahrt ; ich bedauere es sehr, daß es
mir bis jetzt nicht gelang, auch bei anderen Kranken ein
so sicheres und so rechtzeitiges Prodromalsymptom
aufzudecken. Das anfangs dieses Aufsatzes erwähnte
zentrale Skotom stellt bereits den Beginn des Anfalles dar,
mit dessen Auftreten sich, nach meinen Erfahrungen, um
Ablauf der Sehstömng nichts mehr ändern läßt. Vage Be¬
schwerden beim Lesen, worin sich übrigens bei den meisten
Kranken auch das erwähnte Skotom verbirgt, sind kein
genügend sicheres Prodromalzeichen, weil sie bei von asthe-
nopischen und neurasthenischen Beschwerden geplagten
Kranken zu häufig sich finden.
"Es ist selbstverständlich und bedarf wohl kaum der Er¬
wähnung, daß gleichzeitig bestehende anderweitige Leiden, wie
Gicht, Tuberkulose, Hysterie, Tabes usw., ebenfalls zu behandeln
sind u. zw. auch dann, wenn man einen direkten Zusammenhang
derselben mit dem Flimmerskotom nicht als gegeben auseben
sollte.
Die Vorbedingung unseres therapeutis c h e n
Handelns muß aber, wenn wir nicht gleich von vorn¬
herein unter der Flagge des Zufalles segeln wollen, wohl¬
wollendes A n h ö r e n und Abwägen der vielfachen
Klagen und (genaues Studium jedes einzelnen
Falles sein, wozu ich insbesondere sorgfältige Prüfung
der Refraktion der Augen und ihrer Funktionen rechne.
Aus der I. chirurgischen Universitätsklinik in Wien.
(Vorstand : Prof. A. Freih. v. Eiseisberg.)
Zur Frage der zirkumskripten, chronisch¬
adhäsiven Peritonitis.
Von Dr. Wolfgang; Denk, Operateur der Klinik.
In den folgenden Zeilen soll kein neues Krankheits¬
bild aufgestellt, sondern im Gegenteil gezeigt werden, daß
eine Reihe von anatomischen Veränderungen in der Bauch¬
höhle, die jede für sich als ein typischer Krankheitsprozeß
hingestellt wurde, sich zwangslos in dem vielseitigen Gebiei
der chronisch-adhäsiven ■Peritonitis unterbringen läßt.
Nachdem Rokitansky auf diese Form der Peritonitis
hingewiesen hat, gab Virchow 1853 ein umfassendes
Bild jener Krankheit, von der er in der Einleitung des be¬
ireffenden Kapitels sagt: „Diese chronische, partielle Peri¬
tonitis halte ich für eine der wichtigsten Krankheiten und
kann sie nicht genug der Aufmerksamkeit der Aerzte em¬
pfehlen. Sie kann an allen Punkten des Bauchfelles auf
treten, zeigt sich bald nur an einem einzigen, gewöhnlich
aber an mehreren gleichzeitig und bedingt nicht bloß Ad¬
häsionen mehrerer Baucheingeweide untereinander, sondern
auch allerlei flache oder zottige Auflagerungen der Flächen.“
Virchow unterschied drei Formen: Die Perito¬
nitis chronica mesenterialis, die partielle hypo¬
chondrische Peritonitis und die peritonitis chro¬
nica omentalis. Die erste Form hat ihren Sitz an der
Wurzel des Mesenteriums, am häufigsten auf der linken
Seite des Gekröses der Flexura sigmoidea. Die partielle
hypochondrische Peritonitis findet sich an der Flexura coli
hepatic'a und lienalis, die dritte Form endlich, die Perito¬
nitis chronica omentalis ist auf das große Netz lokalisiert.
Nach Virchow 'machte noch eine Reihe von anderen
Autoren auf dieses Krankheitsbild aufmerksam, so beson¬
ders Lauenstein, Riedel, Nothnagel und in etwas
spezialisierterer Form Gersuny, Payr und v. Habere r.
Anatomisch-klinisch bestehen alle diese patho¬
logischen Prozesse in schleichenden, oft völlig symptomlos
■verlaufenden Entzündungen des Bauchfelles mit vorwiegen¬
der Tendenz zur Bildung von Adhäsionen, welche all¬
mählich -schrumpfen und oft erst dadurch sich klinisch be-
merklich machen. Denn durch diese Schrumpfungsprozesse
kommt es zu Lageveränderungen der Baucheingeweide,
Fixation benachbarter Teile untereinander, zu abnormen
Knickungen des Darmes, namentlich an der Flexura coli
lienalis und sigmoidea und zu partiellen Verengerungen
desselben. Die Symptome all dieser Veränderungen sind
'so wechselvoll und so wenig charakteristisch, daß es nur
selten gelingt, eine richtige Diagnose zu stellen, was auch
von den meisten Autoren betont wird.
Als Aetiologie dieser Krankheit sind die verschie¬
densten Momente angegeben worden. Aeußerliche Ver¬
letzungen, Erkrankungen der Bauchwand, innere, mecha¬
nische Einwirkungen von den Kanälen der Bauchhöhle aus,
zu häufige, namentlich gewaltsame Ausübung des Koitus
können nach Virchow durch Ausdehnung eines entzünd¬
lichen Reizes auf das Peritoneum1 zu Adhäsionsbildung
führen. Auch die Stagnation von Kotmassen, beson¬
ders im Dickdarm könne nach Virchows Ansicht einen
chronischen Reiz auf die Serosaflächen ausüben und ge¬
rade dadurch seien die so häufig am Cökum, an der Flexura
hepaticä, lienalis und sigmoidea zu beobachtenden Adhä¬
sionen zu erklären, da an diesen Punkten die Kotstauung
am stärksten sei. Für diese von Virchow so genial er¬
dachte Hypothese wurde später durch die exakten Unter¬
suchungen Roiths der Beweis erbracht. Als weitere Ur¬
sache der Adhäsionsbildung wird von L au en s t ei n, R i e d 1,
Nothnagel, Payr und v. Haberer das Uebergreifen eines
entzündlichen Reizes vom1 Magen, Darm, Gallenblase, Ap¬
pendix durch die verschiedensten pathologischen Prozesse
in diesen Organen auf das1 Peritoneum angegeben.
Eine wichtige ätiologische Quelle sieht außer Vir¬
chow besonders Lau enstein, Nothnagel und Ger¬
suny im weiblichen Genitale und in der Tat zeigt
sich, daß ein auffallend großer Prozentsatz Frauen
von dieser Krankheit befallen wird. Gersuny beobachtete
die nach ihm benannte Adhäsionsbildung an der Flexura
sigmoidea unter 21 Fällen 18mal bei Frauen und nur
dreimal bei Männern. Unter den zehn Fällen Lauen¬
steins finden sich neun Frauen und nur ein Mann. Bei
der Menstruation könne infolge der offenen Kommunikation
des weiblichen Genitales mit der Bauchhöhle Blut in letztere
58
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
austreten, welches durch die Dünndarmperistaltik weg¬
geschafft wird und an Stellen verminderter Peristaltik, in
der Ileocökalgegend und an der Flexura sigmoidea liegen
bleibt und organisiert wird (Gersuny).
In folgendem sollen zwei Krankengeschichten mitge¬
teilt werden, #aus denen die Entstehung der chronisch-
adhäsiven Peritonitis als eine Folge der Kotstauung recht
ersichtlich ist.
Fall I. C. G., 23jährige Magd, aufgenommen am 2o. Ok¬
tober 1910. .
Anamnese: Eltern der Patientin gesund, ein Bruder ist an
Lungentuberkulose gestorben, ein zweiter litt vor kurzei Zeit
an einer Rippenfellentzündung, die übrigen Geschwister sind
gesund. • . , . .. . , ., ,
Patientin war bisher nie krank. Seit zirka drei Jahren leidet
sie an sehr häufigen, fast jeden zweiten Tag auftretenden kolik-
artigen Schmerzen, die quer über die Mitte des Bauches hei-
überziehen. Diese Anfälle treten meist nachmittags oder abends
auf und halten mehrere Stunden an. Sonst keinerlei Beschwerden.
Der Stuhl ist stets hart, zeitweise angehalten, seit drei Viertel¬
jahren mit weißlichen Fetzen und Schleimbeimengungen versehen,
Seit sieben Monaten bedeutende Verschlechterung des Zustandes
mit vorwiegenden Magensymptomen. Zirka eine- Stunde nach
der Nahrungsaufnahme treten krampfartige Schmerzen ml Magen
auf, die- nach zirka halbstündiger Dauer zum Erbrechen führen;
dabei besteht Aufstoßen von bitterem Geschmack. Nach dem Er- |
brechen Erleichterung, doch besteht ein gewisses Unbehagen noch
weiter. Unter Milchdiät und Bettruhe besserte sich der Zustand
nach einem Monat. Vor fünf Wochen neuerlich Verschlechte¬
rung, ohne daß es diesmal zum Erbrechen kam. Infolge der In¬
toleranz der Patientin gegen Aufnahme konsistenter Nahrung
magerte sie beträchtlich ab. Weder im Erbrochenen, noch im
Stuhl soll Blut beigemengt gewesen sein.
Status praesens: Mittelgroße, zi mlich kräftige, etwas
blasse Patientin. Herz und Lungen non iah Im Harn keine
pathologischen Bestandteile. Temperatur 37, Puls 87.
Abdomen flach und weich, keine Peristaltik sichtbar, Iieo-
zökalgegend ausgesprochen druckempfindlich, ebenso eine zir¬
kumskripte Stelle rechts oberhalb des Nabels. Nirgends eine ab¬
norme Resistenz tastbar, kein Plätschern. Probefrüh stück:
Reaktion sauer, Gesamtazidität 24, freie Salzsäure- positiv, Milch¬
säure negativ. , ,
Die 'Röntgen Untersuchung des Magens für. llaudekj
ergab einen leicht längsgedehnten, mäßig quergedehnten Magen
mit ausgesprochener Motilitätsstörung. Da ein gröberer Füllungs¬
defekt oder ein penetrierendes Ulkus nicht zu sehen war, wurde
vom Röntgenologen die Diagnose auf eine Narbe oder ein florides
Ulkus am Pylorus gestellt. Die klinische Diagnose blieb in sus¬
penso, möglich Appendicitis chronica adhaesiva.
Operation: 28. Oktober 1910 (Dr. v. Habe rer). Mediane
Laparotomie zwischen Processus xiphoideus und Nabel. Der Magen
stark ptotisch, ziemlich schlaff, mäßig dilatiert. Kardia und Py-
lorusanteile stark aneinander genähert. Pylorus zart, weit, wäh¬
rend der Untersuchung sich vorübergehend spastisch kontra¬
hierend. An' der Vord-erfläch-e desselben einte glanz zarte Adhäsion,
Serosa nicht injiziert, keine Narben. Derselbe Befund auf der
Rückseite des Pylorus. Beim Emporschlagen des Magens fällt
auf, daß- die hintere Platte des großen Netzes mit dem Mesocolon
transversum nicht zusammenhängt, sondern in Formt eines spinn¬
webenähnlichen Gewebes die Hinterfläche des Magens überzieht.
|>as Colon transversum bildet in der Mitte eine bis ins kleine
Becken reichende Schlinge mit doppelflintenlaufähnlich neben¬
einander liegenden Schenkeln, die durch zarte Adhäsionen mit¬
einander verwachsen sind, in denen sich zahlreiche, weiße, strali-
lige Narben befinden. Flexura coli hepatica und lienahs voll-
kommen normal, ohne jede Adhäsionsbildung. yVgl. die Ab-
bildung.) . ' i -. 1 ‘ ' 1
Wegen der hochgradigen Ptose wird am tiefsten 1 unkt des
Magi ns eine Gastroenterostomia retroc'olica posterior angelegt.
Der Mesokolonschlitz wird nach Lösung der Narben zwischen den
Schenkeln der Kolonschlinge sehr -exakt an der Gastroenterostomie-
s teile fixiert und auf diese Weise eine Art Kolopexie hergestellt.
Schluß der Bauchwunde in drei Etagen.
Wegen der Druckschmerzhaftigkeit in der Ileocökalgegend
wird diese durch einen Lennander-Schnitt freigelegt. Ziemlich
reichlich freie Flüssigkeit in den abhängigen Partien des Ab¬
domens. Cökum nicht fixiert, Appendix 10 bis 12 cm lang, blaß,
nicht verdickt, flächenhaft durch zarte Adhäsionen an der late¬
ralen Cökumwand fixiert, in der Mitte spitzwinkelig nach abwärts
geknickt und gleichzeitig um zirka 90° torquiert. Typische Am¬
putation des Appendix, Etagennaht der Bauchdecken.
In der Rekonvaleszenz stellten sich noch vorübergehende
kolikartige Schmerzen im Bauche ein. 14 Tage nach der Opera¬
tion wurde Patientin beschwerdefrei entlassen.
Dieser Fall bietet in klinischer und anatomischer Hin¬
sicht manches Interesse. Was die Diagnose anlangt, so
mußte mit Rücksicht auf den Röntgenbefund eine Pylorus¬
stenose angenommen werden, obwohl die klinischen Sym¬
ptome nicht damit übereinstimmten, sondern eher für eine
Fig. 2.
chronische Appendizitis sprachen. Der Operations befund
aber ergab absolut keinen Anhaltspunkt weder für ein
frisches noch für ein altes oder vernarbtes Ulkus. Selbst
eine kleine Erosion am Pylorus hätte bei dem langen Be¬
stehen der Erkrankung (zirka 3/r Jahre) irgend welche
anatomische Veränderungen am Pylorus erzeugen müssen.
Es war also offenbar die Motilitätsstörung durch die Gastro-
ptose und den intermittierenden Pylorospasmus bedingt.
Besonders auffallend war die enorme Schlingenbildung
des Colon transversum. Auf die Bedeutung und die Häufig-
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
59
keil derartiger Schlingenbild ungen hat schon li. Braun
hingewiesen, sie sind im allgemeinen nicht selten und hin¬
länglich bekannt. Aber eine derartig ausgeprägte und ich
möchte fast sagen, architektonisch schöne Lageanomalie
des Colon transversum dürfte nicht allzu häufig Vorkommen.
Es scheint mir nicht unmöglich, daß das Ausbleiben der
Verwachsung des großen Netzes mit dem Mesocolon trans-
versmn, ein ebenfalls seltenes Vorkommen, diese abnorme
Lagerung verursachte, die ihrerseits wieder zu Störungen
und Erschwerung der Kotpassage und chronischer Kolitis
führte. Uie Adhäsionen wiederum, die sich zwischen den
Schenkeln der Schlinge allmählich ausgebildet hatten, sind
die Folgen des chronischen Reizes, der infolge der Kot¬
stauung und chronischen Kolitis von der Darmschleimhaut
auf die Serosa Übergriff.
Schwieriger sind die Adhäsionen um den Appendix
zu erklären. Die histologische Untersuchung ergab eine
Hyperplasie der Follikel und vereinzelte lymphoide Stroma¬
infiltrate, aber an keiner Stelle eindeutige entzündliche
Veränderungen. Ob es sich hier um eine chronisch-adhä¬
sive Appendizitis (v. Hab er« r) oder um eine angeborene
Adhäsionsbildung im Sinne Albrechts handelt, oder oh
die Adhäsionen eine Teilerscheinung der chronisch-adhä¬
siven Peritonitis infolgeHKotstauung bilden, kann ich nicht
mit Sicherheit entscheiden. Bei dem Fehlen von entzünd¬
lichen Veränderungen scheint mir jedoch die letztere An¬
nahme die wahrscheinlichste.
Fall II. M. K., 53jährigei Hilfsarbeiterin, aufgenommen
am 29. Oktober 1910.
Anamnese: Familienanamnese ohne Belang. Als Kind
Masern, Scharlach und Lungenentzündung. Bis vor einem Monat
war Patientin vollständig gesund. Dann traten Schmerzen im
Magen, Uebelkeit. und saures Aufstoßen auf, besonders nach der
Nahrungsaufnahme. Zeitweise erfolgte Erbrechen. Allmählich stei¬
gerten sich diese Beschwerden, die bald auch bei leerem Magen
auftraten. Dabei hatte Patientin oft das Gefühl, als ob sich im
Bauche etwas aufstellte. Der Appetit ließ vollständig nach, gegen
Fleisch bestand, eine direkte Abneigung. Im Erbrochenen war
nie Blut vorhanden.
Der Stuhl war bis vor einem Monat regelmäßig, seit Be¬
ginn des Leidens aber besteht eine hartnäckige Obstipation, so
daß in letzter Zeit nur auf Klysmen Stuhl zu erreichen ist. Blut,
Schleim oder Eiter wurden in den Fäzes nie beobachtet. Seit
einem Jahre allmähliche Abmagerung.
Status praesens: Kleine, grazil gebaute, magere Frau.
Herz, Lungen normal, Harn ohne pathologische Bestandteile.
Afebril, Puls 84, regelmäßig. Unterbauchgegend vorgewölbt, zeit¬
weise deutliche Peristaltik sichtbar. Cökum stark gebläht, da¬
selbst lautes Plätschern, in der Medianlinie, zeitweise etwas
links davon, ein nußgroßer, harter, nicht druckschmerzhafter
Tumor tastbar. Das Probefrühstück ergab normale Werte. Lied
Aufblähung des Kolon füllten sich Colon descendens, aseendens
und Cökum deutlich, das Colon transversum weniger gut. Der
Tumor rückte dabei nach rechts von der Mittellinie, lleklal-
hefund negativ.
Operation: 31. Oktober 1910 (Dr. v. Hab er er). Mediane
Laparotomie oberhalb und unterhalb des Nabels. In der linken
Hälfte des Colon transversum ein nußgroßer, nabelförmig oinge-
zogener, das Dannlumen maximal stenosierender, harter Knoten.
Der zuführende Kolonabschnitt, besonders das Cökum stark ge¬
bläht, der abführende Kolonabschnitt leer. Serosa ziemlich leb¬
haft injiziert. Am Colon aseendens eine Schlingenbildung mit
beinahe parallel gelagerten Schenkeln, welche durch straffe, gefä߬
reiche Adhäsionen miteinander verbunden sind. Die Flexura
hepatica spitzwinkelig geknickt, an der Leberunterfläche durch
feste, stark injizierte Verwachsungen fixiert (vgl. die Abbildung).
Nach doppelter Ligatur des Mesokolon wird die primäre Resek¬
tion des untersten Ileum. Cökum, Colon aseendens und trans¬
versum ausgeführt und die Passage durch eine laterale Ileokolo-
stomie wieder hergestellt.* 1)
Nach einem vollkommen fieberlosen, unkomplizierten Heil¬
verlauf wurde Patientin geheilt entlassen.
Die Pathogenese der Verwachsungen läßt sich in
diesem Fall leicht erklären. Durch das stark stenosierende
*) Bezüglich der Indikationsstellung und Technik der einzeiligen
Dickdarmresektion wird dieser Fall und mehrere andere, die an der
I. chirurgischen Klinik zur Operation .kamen, von v. II ab er er an
anderer Stelle ausführlich mitgetcilt werden.
Karzinom war es oberhalb desselben zu einer Kotslauung,
Dilatation und Hypertrophie des Darmes gekommen. Auch
die Schlingenbildung am Col asc. ist mit großer Wahrschein¬
lichkeit auf dieselbe Ursache zurückzuführen. Die stagnieren¬
den Kotmassen übten 'einen chronischen Reiz auf die Darm¬
schleimhaut aus, der auf die Serosa Übergriff und zur
Adhäsionsbildung führte, die naturgemäß in erster Linie
an solchen Stellen zustandekam, die der Kotpassage am
ehesten ein gewisses Hindernis bieten, nämlich an der
Flexura hepatica und der abnormen Schlingenbildung am
Colon aseendens. Daß die Adhäsionen relativ jungen Datums
waren, erkannte man aus der noch ziemlich lebhaften In¬
jektion, wie denn auch die Stenosenerscheinungen noch
nicht sehr lange bestanden.
Die in diesem zweiten Falle gefundenen Adhäsionen
hatten eine große Aehnlichkeit mit der von Payr beschrie¬
benen typischen Adhäsion an der Flexura lienalis. Auch
hier war die Flexur hoch hinaufgezogen und spitzwinkelig
geknickt, nur die Lokalisation war infolge des Sitzes der
Stenose eine andere. Aber der Prozeß, der all diesen Formen
von Adhäsionsbildung zugrunde liegt, ist sicher der gleiche,
eine schleichend verlaufende zirkumskripte Peritonitis aus
den verschiedensten oben angeführten Gründen.
Mit einigen Worten möchte ich noch auf die Gersuny-
sche Adhäsion an der Flexura sigmoidea zu sprechen
kommen. Wie schon v. Habe rer gelegentlich der Demon¬
stration eines Falles von Payr scher Adhäsion in der k. k.
Gesellschaft der Aerzte in Wien hervorgehoben hat, kommt
die von Gersuny beschriebene Strangbildung sowohl für
sich allein, aber auch kombiniert mit Payr scheu Adhä¬
sionen und Verwachsungen in der Ileocökalgegend vor.
Riedel beschreibt in seiner Arbeit über Peritonitis chro¬
nica non tuberculosa das Vorkommen von weißglänzenden
Narben und Adhäsionen im Peritoneum des Mesenteriums
und der hinteren Bauchwand, am Colon aseendens, der
Flexura lienalis, mit dem häufigsten Sitz aber am
Sigma ro man um. Es ist also wohl anzunehmen, daß
auch die Gersu ny sche Adhäsion eine Teilerscheinung der
chronisch-adhäsiven Peritonitis ist, die sich aus anatomi¬
schen und physiologischen Gründen gerade an der Flexura
sigmoidea am häufigsten ausbildet.
Damit sollen aber keineswegs die Verdienste Ger-
sunys, Payrs und v. Hab er er s geschmälert werden,
welche hauptsächlich darin bestehen, daß sie auf solche
Lokalisationen der chronischen Peritonitis hingewiesen
haben, welche sekundär zu schweren Krankheitserschei¬
nungen führen können und eine dringende Abhilfe er¬
heischen.
Ich glaube, daß es mir mit obigen Zeilen gelungen
ist, einen neuen nicht uninteressanten Beitrag dafür ge¬
liefert zu haben, daß die verschiedensten Strang- und Ad¬
häsionsbildungen in der Bauchhöhle, die auch immer einen
mehr minder charakteristischen Sitz haben, durch die ver¬
schiedensten pathologischen Prozesse hervorgerufen werden,
aber schließlich zu einem anatomisch recht einheitlichen
Bild führen können. Wenn die Richtigkeit dieses Satzes
schon aus dem kritischen Studium der einschlägigen Lite¬
ratur der letzten Jahre erhellt, so geben eben die der vor¬
liegenden Publikation zugrunde gelegten Fälle sehr schöne
Beispiele dafür. -Sie zeigen nämlich, wie verschiedenartige
Prozesse in der Kette ihrer .Symptome als Endglieder aus¬
gedehnte Adhäsionsbildungen hervorrufen ; daraus muß
der Kliniker folgern, derartige Fälle unbedingt
der Probelaparotomie zu unterziehen.
Literatur:
*) Albrecht, lieber angeborene Lageanomalien des Wurmfort¬
satzes und angeborene Disposition für Appendizitis. Wiener kiin. \\ ochen-
sehrift 1909, S. 1B59. — 2) H. Braun, Ueber den durch Lage- und
Gestaltsveränderung des Kolon bedingten vollkommenen und unvoll¬
kommenen Darmverschluß. Deutsche Zeitschr. für Chirurg. 1905, Bd. 76.
— 3) R. .Gersuny, Ueber eine typische peritoneale Adhäsion. Archiv
für klm. Chirurgie 1899, Bd. 59. — *) II. v. II ab er er, Appendizitis
chronica adhaesiva. Mitteilungen aus den Grenzgebieten 1907, Bd. 18;
Sitzungsbericht der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien vom 5. No-
60
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
vember 1909. — 5) K. Lauenstein. Verwachsungen und Netzstränge
im Leibe als Ursache andauernder, schwerer Koliken. Archiv lur klm.
Chirurg. 1893. Bd. 15. — «) Nothnagel. Spezielle Pathologie und
Therapie. Wien 1898. Bd. 17. - 7) E. Payr. Leber eine eigentümliche
Form chronischer Dickdarmstenose an der Flexura coli sinistra. Arctm
lur klin. Chirurg. 1905. Bd. 77. — «) Riedel, l'eber AdhäsiventzQndungen
in der Bauchhöhle. Archiv für klin. Chirurgie 1894. Bd._4/ ;Leber Perito¬
nitis chronica non tuberculosa. Ebenda 1898. Bd. 57: Ileus etc. Mn
teilungen aus den Grenzgebieten 1897. Bd. 2 — Znr be-
deutung der Flexura coli sinistra. Beiträge zur klin. Chirurgie 19 /. Bi . o .
— lu) Rokitansky, Handbuch der path. Anatomie, Wien. Bd. 3. —
“) Virchow, Historisches, Kritisches und Positives zur Lehre der
Lnterleibsaffektionen. Virchows Archiv 1853, Bd. 5. S. 335 ff.
Oie differentielle Diagnose der Hysterie und
verwandter organischer Nervenkrankheiten. )
Von L . Bychowski, Oberarzt am Krankenhaus Praga in Warschau.
Meine Herren! So oft die Wissenschaft noch nicht
imstande ist eine exakte Bestimmung irgendeiner Erschei¬
nung oder einer Gruppe von Erscheinungen zu geben, ist
sie gezwungen, zu verschiedenen mehr oder weniger bild¬
lichen Vergleichungen und Analogien, die doch das Wesen
der Sache keineswegs erläutern, ihre Zuflucht zu nehmen.
So haben sich auch die großen Meister des vergangenen
Jahrhunderts, deren Genie und enormer Arbeitsaufwand so
sehr unser Wissen über die Hysterie erweitert und vertieft
haben, oft solcher Analogien bedient, wo sie nicht imstande
waren, alle Symptome der Hysterie in einer einzigen Formel
zusammenzufassen, sie auf einen gemeinschaftlichen Nenner
zu bringen, auf welchen sie all die verschiedenen Sym¬
ptome hätten zurückführen können. So verglich man die
Hysterie mit einem seine Farben beständig wechselnden
Chamäleon, einer Sphinx mit geheimnisvollem und verän¬
derlichem Antlitz, einem Kaleidoskop, bei jeder Umdrehung
dessen ein neues mosaikartiges Muster entstehe und weiteres
mehr. All diese, an das Wesen der Sache gar nicht heran¬
reichenden Vergleichungen, hatten zweifellos ihre gute Seite,
indem sie die engen, prokrustischen Rahmen, in welche seit
so vielen Jahrhunderten die Lehre von der Hysterie ge¬
zwängt wurde, gesprengt haben. Anderseits aber steckte in
all diesen allgemeinen Analogien kein geringes Uebel, wofür
die Lehre von der Hysterie eine lange Zeit gebüßt hat, und
teilweise noch jetzt büßen muß. Denn, wenn das charak¬
teristische Zeichen der Hysterie in jenen verschwommenen
in der Ferne verschwindenden Grenzen bestehen sollte, so
nimmt es nicht Wunder, daß man angefangen hat, zur
Hysterie alle Fälle und Krankheitsbilder zu rechnen, welche
vorläufig in keines von den damals bekannten nosographi-
schen Bilder unterzubringen waren. Und so kam es, daß
nicht nur jede halbseitige Lähmung, welche nicht allen zur
Zeit für sogenannte organische Lähmungen gestellten Be¬
dingungen entsprach, als eine hysterische betrachtet wurde,
sondern auch alle Kopfschmerzen, alle Störungen des Ge¬
sichtes, für welche in der damaligen Pathologie keine ma¬
terielle Grundlagen zu finden waren, auf Rechnung der
Hysterie geschoben wurden. Sogar Störungen anderer Or¬
gane, soweit sie von keinen manifesten anatomischen Ver¬
änderungen begleitet waren, sind der Hysterie angerechnet
worden. So kam es schließlich dahin, daß jedes Krankheits-
symptom sein hysterisches Gegenbild hatte (hysterisches
Blut spucken, hysterische Diarrhoe, hysterische Brand¬
wunden usw.). Dies war offenbar eine sehr bequeme Art
das uns allen innewohnende Kausalitätsbedürfnis zu be¬
friedigen und manchmal befreite es geradezu von einer
eingehenden Analyse und längerer Beobachtung diagnostisch
schwierigerer Fälle. Und wenn wir uns die ältere in Be¬
tracht kommende Kasuistik, oder — was ich jedem raten
würde — unsere eigenen früheren „interessanten“ Fälle
der Hysterie im Lichte der heutigen Untersuchungsmethoden
anschauen, so merken wir mit Verwunderung, daß viele
Fälle, in welchen wir so leichten Herzens Hysterie diagno-
*) Referat, gehalten am 4. Oktober in der neurologischen Sektion
der Warschauer medizinischen' Gesellschaft.
stiziert haben, ganz anderswohin gehören. So wird immer
lebhafter das Bedürfnis nach einer genaueren Demarkations¬
linie für die Hysterie empfunden.
Wonach aber sollen wir uns richten? Kennen wir etwa
Symptome oder Gruppen von Symptomen, w eiche nur der
Hysterie eigen wären? Sind wir auf Grund der Entwick¬
lung der Lehre von der Hysterie schon zu diesem positiven
Stadium vorgedrungen, um nicht nur infolge des
Fehlens gewisser Symptome, sogenannter organischer
Leiden, sondern auch auf Grund des \ orhandenseins
gewisser nur der Hysterie eigener Symptome, diese Krank¬
heit diagnostizieren zu können? Ich will versuchen, so¬
weit es in meinen bescheidenen Kräften liegt, auf alle
diese Fragen zu antworten, obwohl ich Sie, geehrte Herren,
von vornherein darauf aufmerksam mache, daß wir auch
jetzt von einer entscheidenden Antwort weit entfernt sind.
Obgleich kein Geschlecht, kein Alter und keine Klasse
von Menschen von der Hysterie verschont wird, und wir
unter den Hysteropathischen ebenso geistig beschränkte,
wie hervorragend intelligente, ebenso gute, welche ihr
Leben für andere zu opfern bereit sind, wie grausame
Egoisten, ebenso heitere, alles von der guten Seite auf¬
fassende Optimisten, wie düstere, immer verstimmte Pes¬
simisten, ebenso empfindsame, erotische, wie kalte der
sexuellen Bedürfnisse entbehrende Naturen finden, so
können wir doch trotz dieser Mannigfaltigkeit der „Cha¬
raktere“ und der „Temperamente“ gewisse, allen Hystero¬
pathischen gemeinsame psychische Eigenschaften fest¬
stellen, welche sie bei längerer Beobachtung von anderen
Menschen unterscheiden. Die Hysteropathischen sind zu¬
nächst durch den Mangel an Proportion zwischen Reiz und
der darauffolgenden Reaktion gekennzeichnet. Die alltäg¬
liche Erfahrung lehrt, daß auch gewöhnliche Menschen )
nicht immer auf gleiche Weise auf ein und dasselbe Erlebnis
reagieren und daß liier verschiedene Umstände des Milieus,
der Zeit usw. mit in Betracht kommen. Es existiert aber
im allgemeinen immer eine gewisse Kongruenz zwischen
der Intensität des Reizes und der auf ihn folgenden Reak¬
tion. Diese Kongruenz vermissen wir bei den Hystero¬
pathischen. Nicht nur, daß die Intensität der Reaktion in
keinem Verhältnis zur Intensität des Reizes steht, sondern
wenn man so sagen darf, wird der Reiz im Ich des Hystero¬
pathischen anders gebrochen, er geht nicht die gewöhnlichen
Entwicklungsstadien durch und dauert manchmal unbegrenzt
lange. Und wenn gewöhnlich der Reiz und die Reaktion,
als Ursache und Wirkung, durch eine gerade Linie verbun¬
den sind, so nimmt sie bei den Hysteropathischen eine so
verschlungene, arabeskenarlige Form an, daß es überhaupt
schwer fällt, ihren Ausgangspunkt zu finden. Nehmen wir
an, um ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben anzuführen,
ein gewöhnlicher Mensch ritzt sich den Schlund mit. einer
Fischgräte beim Essen. Er geht in diesem Falle zum Arzt,
um den Schlund untersuchen zu lassen und die Gräte zu
entfernen, falls sie dort steckengeblieben ist. Der Neurasthe¬
niker, Hypochonder wird nicht beruhigt durch eine ein¬
malige Versicherung nur eines Arztes, daß ihm keine Gefahr
drohe. Im Gegenteil, jetzt fängt die Wanderung von einem
zum anderen Arzt an, es wird ihm beständig scheinen, es
fehle ihm etwas, man verheimliche etwas vor ihm; ihm
fängt an, die Angst vor der Möglichkeit einer unheilbaren
Krankheit zu quälen. Die Reaktion des Hysteropathischen
ist dagegen ganz verschieden. Die Tatsache, daß mit seinem
Schlund etwas Ungewöhnliches passiert ist, ruft i n seinem
Unbewußten eine ganze Reihe von verschiedenartigsten
Assoziationen hervor, welche in irgendwelchem entfernten
äußerst formellen Zusammenhang mit dem Schlund stehen,
und unter welchen sich dies oder jenes rasch fixiert und
realisiert. Und so kommt ein solcher Patient zum Arzt mit
einer fertigen Aphonie oder mit dem so charakteristischen,
hvsterischen Husten. Ein wichtiger Umstand besteht noch
darin, daß der Neurastheniker sich immer an den Ausgangs¬
punkt des ganzen Vorfalles erinnert und in seiner Er¬
zählung keine auch nicht die geringste Einzelheit übergeht,
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
61
während der Hysteropathische oft seinen gegenwärtigen
Zustand in keinen Zusammenhang mit dem auslösenden
Moment bringt, als ob er, — bewußt — die ganze Sinn¬
losigkeit der Verknüpfung einer so nichtssagenden Ursache
mit so schweren Folgen verstehen würde. Noch ein Bei¬
spiel. ln einer mir gut bekannten nervösen Familie erkrankt
jemand an einer zum Tode führenden Blinddarmentzündung.
Einige von den neuras thenisciien Verwandten, welche den
Verlauf der Krankheit beobachtet haben, werden von der
Angst um ihre eigene Gesundheit heimgesucht. Es fängt
jetzt mehrmals am Tage das Betasten des Bauches, das An¬
schauen der Zunge, das Beobachten des Stuhles, die Wan¬
derung zu den Spezialisten usw. an. Allein eine Tante des
Kranken, bei der ich verschiedene hysterische Symptome
(Krämpfe, Lähmung der Extremitäten u. a.), beobachtet
habe, bekommt, paar Tage nachdem sie den Kranken be¬
sucht hat, in der Nacht einen so heftigen Anfall, daß ein
in der Eile herbeigerufener Arzt eine akute und schwere
Blinddarmentzündung diagnostiziert, welche jedoch am
nächsten Tage unter energischer, suggestiver Einwirkung
meinerseits gänzlich verschwindet.
Man findet gleichfalls, oder besser im Zusammenhang
mit dieser Disproportion bei den Hysteropathischen eine
außerordentliche Suggest ibilität und Neigung zur Auto¬
suggestion, jedoch hauptsächlich nur in einer Richtung,
und zwar, wo es sich um eine besondere Auszeichnung des
lehs des Patienten, um sein noch stärkeres sich
Abheben von dem Boden des grauen Alltagslebens
handelt. Bekannte Autoren, wie Liebaul t und andere,
betonen die Wiederstandsfähigkeit der Hysteropathischen
gegen die Suggestion. Tatsächlich, wie viel Redekunst und
Energie wird oft erfolglos vergeudet, wenn es sich um die
Beseitigung irgend eines hysterischen Symptomes handelt.
Nicht selten sind aber anderseits die Fälle, wo ein unvor¬
sichtiges Wort, welches der Arzt oder jemand aus der Um¬
gebung des Kranken fallen ließ, oder irgend eine Notiz
in der Zeitung schon genügt haben, um eine scheinbar
schwere Störung hervorzurufen. Es kommt daher, daß
Hysteropathische gewöhnlich sich nur von solcher Sug¬
gestion beeinflussen lassen, welche sie interessanter macht
und auf sie die Aufmerksamkeit der Umgebung und des
Arztes zieht, dagegen zeigen sie sich widerspenstig solcher
Suggestion gegenüber, die ihren individuellen Wert ver¬
ringern und deren Ziel, sozusagen, in der Beseitigung
dieses oder jenes Symptoms bestehen würde. Dies er¬
klärt. auch den Umstand, aus welchem man in der be¬
kannten Sitzung der Pariser neurologischen und psych¬
iatrischen Gesellschaft, welche speziell der Besprechung der
Hysterie gewidmet war, mit Unrecht gegen Babins ki den
Einwand gezogen, daß es nicht immer dem Arzt gelinge
Symptome, welche er früher selbst ansuggeriert hatte, durch
Suggestion aufzuheben.
Und hier begegnen wir dem dritten charakteristischen
Zug der Hysterie, der Egozentrizität, welche oft mit Un¬
recht mit dem Egoismus mancher Neurastheniker identifi¬
ziert wird. Hier muß ich mich gegen die Ansicht einiger
Autoren verwahren, daß diese Egozentrizität eine be¬
wußte Taktik ist. Dies alles geschieht im Unbewußten
des Kranken. Es ist kein böser Wille, eher kein Wille
überhaupt. Zieht man in Betracht diese psychischen Merk¬
male der Hysterie, welche ich hier nur flüchtig streifen
konnte, so ist. es nicht schwer, eine Differenzialdiagnose
der Hysterie und der Neurasthenie zu stellen. Auch beim
Neurastheniker, wie wir gesehen haben, besteht eine Dis¬
proportion zwischen dem Reiz und seinen Folgen, aber
bei ihm verbleibt alles im Gebiete der Vorstellungen (Furcht
vor dem Krebs, der Schwindsucht u. a.) und es kommt nie
zur körperlichen Realisation, wie es bei der Hysterie der
Fall ist. Der Neurastheniker, erfüllt mit Angst von der
schrecklichen ihn erwartenden Krankheit, beobachtet und
analysiert sich beständig, notiert eifrig auch die geringsten
Einzelheiten, welche irgendeinen Zusammenhang mit seinem
Leiden aufweisen könnten (Notizbuch!), quält sich selbst,
seine Umgebung und seine Aerzte mi seiner Anist und
Ungewißheit. Der Hysteropathische dagegen hegt nie einen
Zweifel in betreff seines Zustandes. Er weiß, er sei ge¬
lähmt, weil er nicht gehen kann. Er hat keine Angst voi¬
der Blinddarmentzündung, er hat sie schon. Darin besteht
der geistige Kontrast zwischen der Hysterie und der Neur¬
asthenie. Es bleibt noch zu erwähnen die leichte Er
schöpfbarkeit und Ermüdbarkeit der Neurastheniker, welche
zum Krankheitsbild der reinen Hysterie nicht gehören. Im
Gegenteil, bei der letzteren fällt oft die außergewöhnliche
Ausdauer, welche sie beim Vollzug verschiedener kombi¬
nierter Akte, wie Schlucken, Gähnen, Husten und anderer
entfalten.
Indem ich jetzt zur Differentialdiagnose der Hysterie
und der sogenannten organischen Leiden des Nervensystems
übergehe, will ich mich hauptsächlich an die Störungen
seiner elementaren Funktionen und an ihren spezifischen
resp. vermeintlichen spezifischen Charakter bei der Hysterie
halten. Ich fange mit den Sensibilitätsstörungen an. Wir
erinnern uns alle, welch eine große Rolle die Sensibilitäts¬
störungen in den früheren Schilderungen der Hysterie, be¬
sonders der S alp e t r i e rischen, gespielt haben. Sie wurden
fast, bei jedem Hysteropalhischen (95°/o nach Pitres) ge¬
funden. Das charakteristische Zeichen dieser Sensibilitäts¬
störungen sollte hauptsächlich in deren topographischen Ver¬
breitung bestehen; sie unterschied sich in hervorragendem
Maße von den zur Zeit bekannten Gefühlsstörungen, welche
durch die Beschädigung anatomischer Zentren und Bahnen
bedingt waren. Die hysterischen Sensibilitätsstörangen,
sagte man damals, sind eher an gewisse Organe und ihre
Teile, als an Nerven und Bahnen gebunden. So fand man
Anästhesien, welche nur die Hand in Form eines Hand¬
schuhes, den Fuß und Unterschenkel in Form eines
Strumpfes, den Rumpf in Form einer Weste, das Gesicht
und den Kopf in Form eines Helmes u. a. m. umfaßten.
Und darin erblickte man das spezifische Merkmal der Sen¬
sibilitätsstörungen hysterischer Herkunft. Diese Ansichten
bedürfen jetzt einer Korrektur nach zwei Richtungen. Es
unterliegt vor allem keinem Zweifel, womit auch in der
oben erwähnten Diskussion in Paris fast alle mehr oder
weniger einverstanden waren, daß hysterische Sensibilitäts¬
störungen jetzt viel seltener als früher beobachtet werden.
Man muß sich aber anderseits klar machen, in welchem
Maße sich seit Charcot unser Wissen über Sensibilitäts¬
störungen bei organischen Leiden verändert hat. Zur Zeit
wo die Charcot sehe Lehre von den hysterischen Sensi¬
bilitätsstörungen ausgearbeitet wurde, waren eigentlich nur
Sensibilitätsstörungen bei der Beschädigung der peripheren
Nerven und bei der Querläsion des Rückenmarks bekannt.
Die Lehre von den Sensibilitätsstörungen, die bei einer
Beschädigung des Gehirns entstehen, wie bei Herden im
hinteren Teile der inneren Kapsel (Carrefour sensitiv) be¬
fand sich in den ersten Anfängen ihrer Entwicklung. Zur
Zeit Charcots waren entweder gar nicht oder fast gar
nicht bekannt solche Formen von Störungen organischer
Herkunft, wie: Sensibilitätsstörungen von Rindenherkunft,
Sensibilitätsstörungen radikulärer Herkunft, Sensibilitäts¬
störungen bei der Syringomyelie, welche Lälir und S öl der
am Gesicht und Rumpf beschrieben haben, Sensibilitätsstö¬
rungen schon in den ersten Stadien der Tabes dorsalis
(beschrieben von Förster und Frenkel), Veränderungen
der Empfindungen, welche bei der Läsion des unteren Teiles
des Rückenmarks entstehen (Minor, Mii Iler), weiter Unter¬
suchungen von Muskens über Sensibilitätsstörungen bei
der Epilepsie, die Lehre von Brissaud über Sensibilitäts¬
störungen metamerischen Charakters und - the late but
not. the least — die gesamte Lehre von Head über Sen-
sibilitätsstönmgen bei Erkrankungen der inneren Organe.
Nun hat sich gezeigt, daß alle diese „Typen“ von Sensibi¬
litätsstörungen, welche ehemals nur als der Hysterie eigens
gegolten haben, ihre Analogien in den Sensibilitätsstörungen
organischer Herkunft haben. Ich bin leider durch die Di¬
mensionen meines Referates verhindert, meine Behauptung
62
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
dokumentarisch zu beweisen. Ich würde aber raten, die
Zeichnungen, welche sich in den Arbeiten der oben
genannten Autoren finden, mit denjenigen Zeichnungen zu
vergleichen, welche die vom Char cot sehen Geist durch¬
drungenen Monographien von Gilles de 1 a To u rette und
Pitres enthalten, und man wird sich leicht überzeugen,
von dei auffälligen Aehnlichkeit, welche zwischen den
beiden Arten von Sensibilitätsstörungen besteht. Was die
Qualität der hysterischen Sensibilitätsstörungen betrifft, so
ist sie durch nichts besonders Charakteristisches gekenn¬
zeichnet, weil auch bei den organischen Erkrankungen
die mannigfaltigsten Empfindungsdissoziationen stattfinden
können.
.Aus alledem folgt, daß allein auf Grund der Sensibi-
litätsstöru ngen im gegebenen Moment die Hysterie von den
organischen Leiden nicht mit voller Entschiedenheit unter¬
schieden werden kann. Dagegen bei längerer Beobachtung
derselben dürften auch diese Sensibilitätsstörungen wert¬
volle diagnostische Fingerzeige ergeben. Die Sensibilitäts¬
störungen hysterischer Herkunft unterscheiden sich zwar
nicht immer — von den organischen durch ihre Unbeständig¬
keit und Veränderlichkeit. In einem gewissen Grade ge¬
schieht dies auch bei den organischen Leiden, jedoch mit
dem Unterschied, daß sich bei letzteren die Sensibilitäts¬
störungen allmählich und in einer bestimmten Richtung. ver¬
ändern, was sich am besten an den Veränderungen der Sen¬
sibilität beim Verlauf halbseitiger Lähmungen von Rinden¬
herkunft beobachten läßt; während bei der Hysterie die
Sensibilitätsstörungen plötzlich und gänzlich verschwinden
oder auf die gegenüberliegende Seite übertragen werden
können (sogenannter Transfer!) , eine Erscheinung, welche
übrigens jetzt viel seltener als früher beobachtet wird.
Die Behauptung einiger Autoren, daß organische An¬
ästhesien mehr die Kranken stören als hysterische, ent¬
spricht nicht, wie es scheint, dem wirklichen Sachverhalt.
So weit es sich nicht um ausgesprochene stereognostisclie
Störungen oder Störungen der Gelenkempfindungen handelt,
so wissen oft die von Sensibilitätsstörungen organischer
Herkunft Betroffenen nichts davon und klagen nie darüber.
Viel sicherere Anhaltspunkte bietet für die Differential¬
diagnose der Hysterie der Zustand der Reflexe. Hier haben wir
es mit Erscheinungen zu tun, welche fast ganz unabhängig
von unserem Willen sind, und es kann hier keine Rede
weder von Simulation noch Suggestion sein. Der Zustand
der Reflexe bei der Hysterie besitzt schon seine ganz be¬
trächtliche Literatur, die ich aber hier nicht anführen kann.
Die ganze Frage kann eigentlich auf zwei Punkte reduziert
werden :
1. Können bei Hysteropathischen jene Sehnen- und
Hautreflexe ausgelöst werden, welche bei normalen Men¬
schen fehlen und welche regelmäßig bei der Beschädigung
gewisser Bahnen des Nervensystems auftreten?
2. Ob bei Hysteropathischen solche Reflexe fehlen,
welche bei normalen Menschen immer vorhanden sind?
Was den ersten Punkt betrifft, so müssen zunächst einige
Worte über die* gesteigerten Sehnen- und besonders Patellar-
reflexe, über den Fußklonus bei der Hysterie gesagt werden.
B ab i ns ki versichert, daß er nie bei der Hysterie gesteigerte
Patellarreflexe beobachtet hat, was der allgemein unter
den Aerzten und in den Lehrbüchern vertretenen Ansicht
widerspricht. Es muß zugegeben werden, daß der Streit
um die Existenz gesteigerter Patellarreflexe bei der Hysterie
eher ein Wortspiel als eine wissenschaftliche Frage bildet;
denn so lange wir keine feste numerische Skala für den
Schwung des Unterschenkels besitzen, haben alle Bemer¬
kungen über normale, lebhafte, gesteigerte u. a. Reflexe
keinen Wert, weil ein Reflex, der für den einen noch als
normal gilt, vom anderen als lebhaft, gesteigert beurteilt
werden kann, et vice versa. Man merkt oft bei der Unter¬
suchung der Patellarreflexe bei nervösen Leuten, daß, noch
ehe der Hammer auf die Sehne des Knieapfels aufschlägt,
der Kranke den Unterschenkel ohne es deutlich zu wissen, ein
wenig in die Höhe hebt. Hier kommt also außer der wirk¬
lichen Reflexe noch ein willkürlicher motorischer Beitrag
mit ins Spiel, welcher den Reflexen ihren lebhaften, ge¬
steigerten Charakter verleiht. Mein persönlicher Eindruck ist
der, daß es ebenso bei der Hysterie wie bei der Neurasthenie
ziemlich oft „gesteigerte“ Beflexe gibt. Dagegen habe ich
nie bei der Hysterie einen wirklichen Fußklonus beob¬
achten können, obgleich sich in der Literatur solche ver- 1
einzelte Fälle finden. Und man kann mit noch größerer
Entschiedenheit sagen, daß das sogenannte positive Sym¬
ptom von Babinski, wie das Oppenheimsche Symptom,
welche immer bei einer Läsion der Pyramidenbahnen auf¬
treten, bei einer reinen Hysterie nicht Vorkommen, und
daß die Anwesenheit eines von ihnen ein organisches Leiden
vermuten läßt.
Auch der zweite, oben aufgestellte Punkt war und ist
noch heute Gegenstand einer lebhaften Diskussion, beson¬
ders in betreff der Frage, ob bei der Hysterie Patellarreflexe
fehlen können. Mir scheint, daß diese Frage nicht von
allen Autoren exakt formuliert wird. Denn es kommt
eigentlich gar nicht darauf an, ob es solche Hysteropathisc'he
gibt, bei welchen die Patellarreflexe fehlen. Der Schwer¬
punkt der Sache liegt darin, ob es jemanden geben kann,
der die Patellarreflexe früher besessen hätte, sie während
des Anfalles oder bei gesteigerter Intensität des hysterischen
Zustandes verloren und nach dem Anfall sie wieder zu¬
rückerlangt hätte. Nur solche genaue, während längerer
Zeit beobachtete f älle können den Beweis für die unmittelbare
Abhängigkeit des Fehlens der Reflexe von dem hysterischen
Vorgang erbringen. Einstweilen aber haben wir nur sehr we¬
nige, eigentlich gesprochen nur ein paar Fälle von Nonne,
welche diesen Anforderungen entsprechen, wo parallel den
Schwankungen in der Stärke des hysterischen Prozesses
selbst, auch Schwankungen in der Intensität der Patellar¬
reflexe, bis zu ihrem gänzlichen Fehlen auf der Höhe
des Anfalles auftreten (es waren Fälle sogenannter großer
Hysterie). Im allgemeinen aber sind Fälle solcher Art so
wenig zahlreich, daß man sich immer ins Gedächtnis den
Rat Oppenheims rufen sollte, „mit einer so außergewöhn¬
lichen Erscheinung, wie der Mangel an Sehnenreflexen bei
der Hysterie nie in der Praxis zu rechnen“. Man muß
hinzufügen, daß fälle beschrieben sind, wo bei reinen
Hysteropathischen ohne Patellarreflexe, nach einiger Zeit
Symptome -eines organischen Leidens auftraten, was ver¬
muten läßt, daß das Fehlen der Reflexe diesmal nicht von.
der Hysterie abhängig, sondern ein Vorbote des herannahen¬
den organischen Leidens war. Zu derselben Kategorie muß
jener auf Nonnes Abteilung beobachteter Fall von Hysterie
mit dem Mangel an Pateharreflexen gerechnet werden, wo
keine Symptome irgendeines organischen Leidens zu ver¬
zeichnen waren, wo jedoch das Liquorpunktat das Bild einer
Lues ergab. All dies beweist, mit welch großer Vorsicht
vom Fehlen der (Sehnenreflexe infolge der Hysterie ge¬
sprochen [werden sollte.
Noch einige Worte über die Bauchreflexe bei der
Hysterie. Wir stehen auf den Standpunkt Strümpells
und seiner Schule, daß bei gesunden Menschen Bauch¬
reflexe immer vorhanden sind, ausgenommen bei Frauen mit
großem Hängebauch und überhaupt bei Menschen mit sehr
starkem Fettpolster, auch, wie ich nachgewiesen habe, oft.
bei den Neugeborenen in den ersten Lebensmonaten. Beim
Fehlen der Reflexe, besonders auf einer Seite, empfiehlt
es sich immer nach einem organischen Leiden zu forschen.
Hauptsächlich kommt hier in Betracht die multiple Skle¬
rose, denn bei diesem1 Leiden, wie Strümpells Schule
auf Grund eines umfangreichen Materials nachgewiesen hat,
verschwinden die Bauchreflexe schon in den ersten Stadien
der Erkrankung. Ueberhaupt sind Fälle, wo man nicht
sofort entscheiden kann, ob sie zur Hysterie oder zur mul¬
tiplen Sklerose gehören, nicht sehr selten, um1 so mehr,
da man auch bei der Hysterie jenes für die Sklerose so
charakteristische Intentionszittern, den unsicheren Gang
und anderes vorfindet, ebenso wie die Sklerose unzweifel-
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
6B
haft ganz ohne Zittern verlaufen kann. Gestatten Sie mir
bei dieser Gelegenheit, Sie an einen Kranken zu erinnern,
welchen ich vor einigen Jahren in unserer Sektion demon¬
striert habe, und welcher auf den ersten Blick den Eindruck
eines an multipler Sklerose Erkrankten machte (mit. dieser
Diagnose wurde er auf meine Abteilung geschickt), wo aber
mich eine eingehende Analyse zur Diagnose der Hysterie
nötigte. Indem ich bei diesem Kranken trotz des starken
Zitterns, des spastischen Ganges und verlangsamter Sprech¬
bewegungen Hysterie diagnostiziert habe, richtete ich mich
hauptsächlich danach, daß trotz lebhafter Patellarreflexe, die
Bauchreflexe erhalten waren, und daß man den Fußklonus
und das Symptom von Babinski nicht erzielen konnte.
Ich habe mir die Sache folgendermaßen überlegt: Wenn
das Zittern und Störungen des Ganges von der multiplen
Sklerose abhängig wären, so wäre zu vermuten, daß wir
es mit einem schon weit vorgeschrittenen pathologisch-anato¬
mischen Prozeß zu tun haben und in diesem Falle müßten
wahrscheinlich die von der Erkrankung der Pyramiden¬
hahnen abhängigen Symptome, der Fußklonus und das
Symptom von Babinski, vorhanden sein. Auch würden
die Bauchreflexe fehlen. Die Anwesenheit oder das Fehlen
der Empfindungsstörungen kann keine entscheidende Be¬
deutung haben, weil einerseits die Hysterie ohne diese
verlaufen kann und anderseits auch bei der Sklerose Sen¬
sibilitätsstörungen sehr wohl Vorkommen können. Ich
wiederhole, daß, wo bedeutende Bewegungsstörungen, zu
welchen ich auch das Zittern rechne, vorhanden sind,
dort das Fehlen des Symptoms von Babinski und das
Vorhandensein der Bauchreflexe entschieden für die Hy¬
sterie spricht (die postvitale Besichtigung des oben er¬
wähnten Kranken — er ist, an einer Dysenterie gestorben —
ergab trotz einer genauen einstweilen nur makroskopischen
Untersuchung' keine Veränderungen im Nervensystem). In
zweifelhaften Fällen muß besonders auf Störungen des Seh¬
apparates geachtet werden, weil sie, wie bekannt, schon
in den ersten Stadien der multiplen Sklerose Vorkommen.
Es kommt hier offenbar nicht so sehr der Nystagmus, wie
gewisse, charakteristische Veränderungen im Gesichtsfelde
und auf dem Hintergründe in Betracht. Schließlich muß noch
daran erinnert werden, daß auch bei der multiplen Skle¬
rose nicht selten ziemlich lang dauernde Perioden einer
Sistierung des Krankheitsprozesses oder einer Besserung
eintreten. In solchen Fällen kann der Gedanke an die
Hysterie um so näher liegen und doch sich als trüglich
erweisen.
Die Bewegungsstörungen bei der Hysterie können
mannigfaltigster Art sein; von vollständigen Lähmungen
bis zu den fremdartigsten Kontrakturen und Zuckungen.
Was die Lähmüngen betrifft; so kann von ihnen ungefähr
dasselbe wie von den Anästhesien gesagt werden, das
heißt Lähmungen hysterischer Herkunft enthalten an und
für sich, ohne daß man auf ihren Verlauf und auf die
sie begleitenden Symptome Rücksicht nimmt, nichts Spezi¬
fisches. Bei der Hysterie sind auch Lähmungen der inneren
und äußeren Augenmuskeln beobachtet worden. Dies ist
ein Punkt von grundsätzlicher Bedeutung. Unter dem
Einfluß der Mo ebius sehen Lehre, daß bei der Hysterie
nur solche krankhafte Erscheinungen auftreten, welche
willkürlich hervorgerufen werden können, wurde die Möglich¬
keit hysterischer Lähmungen der Augenmuskeln geleugnet,
da ja niemand seine Pupille willkürlich erweitern und ver¬
engern kann. Doch beweist eine Sichtung der betreffen-
Kasuistik, daß während eines hysterischen Anfalles auch
die Augenmuskel ganz gelähmt sein können. Auf eine aus¬
führliche Besprechung dieser Frage muß ich hier wegen
des Platzmangels verzichten. Ich will rtur noch hinzufügen,
daß die Lähmung eines Augenmuskels manchmal durch
die Kontraktur (Spasmus) eines anderen Muskels (die so¬
genannte Pseudoptosis bei der Kontraktur des Orbicu¬
laris oculi) vorgetäuscht wird, was offenbar von der wirk¬
lichen Lähmung unterschieden werden muß. Besonders
wichtig ist der Umstand, daß während des reinen hysteri¬
schen Anfalles das Fehlen von Pupillenreaktion von Wesl-
phal, Karplus und anderen entschieden beobachtet wurde.
Die Bedeutung dieser Tatsache wird nochmals bei der Be¬
sprechung der Differentialdiagnose der Hysterie und der
Epilepsie hervorgehoben werden.
Was die Lähmungen der Extremitäten betrifft, so hat
die Charcotsche Schule gelehrt, daß das c liarakteris tische,
nur der Hysterie zukommende Merkmal darin bestehe, daß
sie sich nicht nach den anatomischen Zentren und Bahnen,
sondern dem gewöhnlichen Gebrauch der einzelnen Teile
der Extremitäten entsprechend verbreiten. So soll es bei
der Hysterie nur Lähmungen der Hand, des Fußes usw.
geben. Auch dieser Punkt hat gegenwärtig viel von seinem
differentialdiagnostischen Wert eingebüßt. Bei geringen und
oberflächlichen Bindenherden werden eben solche isolierte
nur einen Extremitätenteil oder eine Gruppe von synergi-
sc.hen Muskeln umfassende Lähmungen beobachtet. Darüber
hat übrigens schon vor langem Wernicke gesprochen und
in den letzten Zeiten sind solche Beobachtungen von
Foerster beschrieben worden. Besonders oft sieht man
solche beschränkte, isolierte Lähmungen bei den apoplek-
tischen Anfällen, nachdem die allgemeinen Symptome
geschwunden sind. In einem von meinen Fällen war nur
die Fähigkeit zum Strecken des Daumens an einer Hand,
im zweiten Falle die der dorsalen Flexion eines Fußes
aufgehoben u. a. m. Selbst Charcot ist, auf einem seiner
Dienstagvorträge, von der Behauptung, daß die hysterischen
Lähmungen immer von Anästhesien in derselben Extremität
begleitet werden, zurückgetreten. Am meisten aktuell ist
die Frage, wie halbseitige Lähmungen hysterischer Her¬
kunft von sogenannten organischen unterschieden werden
sollen, denn es gibt Fälle, wo eine endgültige Diagnose tat¬
sächlich mit enormen Schwierigkeiten verbunden ist.
Charcot hat am Anfang gelehrt, daß bei hysterischen halb¬
seitigen Lähmungen die Gesichtsmuskeln auf der gelähmten
Seite nicht betroffen werden, und die auftretende Asym¬
metrie des Gesichtes von einer Kontraktur der gegenüber¬
liegenden Gesichtsmuskulatur hervorgerufen wird. Doch am
Ende seines Lebens hat Charcot selbst Fälle beschrieben,
welche dieser Regel nicht entsprechen. Anästhesien, welche
die hysterischen halbseitigen Lähmungen immer begleiten
sollen, können auch nicht als maßgebend gelten, weil hyste¬
rische Lähmungen auch ohne Anästhesien verlaufen können,
und anderseits bilden die letzteren auch bei den organi¬
schen, halbseitigen Lähmungen — besonders in den ersten
Stadien — keine Seltenheit.
Die wertvollsten Fingerzeige gibt uns auch hier der
Zustand der Sehnen- und Hautreflexe. Der Fußklonus, po¬
sitiver Babinski, das Oppen heim’sche Symptom, das
Fehlen der Bauchreflexe auf der gelähmten Seite deuten
mit einer großen Wahrscheinlichkeit auf eine organische
Herkunft der halbseitigen Lähmung hin. Ich sage nur -„mit
großer Wahrscheinlichkeit“, weil, wie ich seinerzeit her¬
vorgehoben habe, das Symptom von Babinski bei halb¬
seitigen Lähmungen infolge oberflächlicher Rindenherde
negativ ausfallen kann. Selbstverständlich aber, wo wir es
mit einer langdauernden, vollständigen, halbseitigen Läh¬
mung zu tun haben, dort kann das Fehlen von Babinski
für die Hysterie entscheiden, besonders wenn noch eine
halbseitige Anästhesie vorhanden ist, weil organische halb¬
seitige Lähmungen solcher Art auf einen tief im Bereich
der Capsula interna liegenden Herd hinweisen würde, und
in diesem Falle wäre auch das positive Symptom von Ba¬
binski vorhanden. Seitdem Babinski das nach ihm
benannte Symptom der großen Zehe beschrieben hat, ist
noch eine ganze Reihe anderer Symptome, welche zur Diffe¬
rentialdiagnose der hysterischen und der organischen, halb¬
seitigen Lähmungen dienen sollen, beschrieben worden
(Oppenheim, Mendel, Gras set, Bychowski, R-ai-
mist, Lh er mitte u. v. a.). Es würde zu viel Zeit bean¬
spruchen, wenn ich sie hier alle anführen wollte. In typi¬
schen Fällen, wo die Diagnose leicht ist, lassen sich alle
diese differentialdiagnostischen Symptome sehr schön fest-
64
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
stellen, in den atypischen können auch sie sich als trüge¬
risch erweisen. Jedenfalls gibt das Fehlen dieser Symptome
noch kein Recht, die Hysterie auszuschließen. Wertvolle
Winke bei der Differentialdiagnose der halbseitigen Läh¬
mungen kann auch der Typus der Lähmung selbst erbringen.
Bei den sogenannten organischen halbseitigen Lähmungen
tritt gewöhnlich früher oder später das sich konstant wieder¬
holende Uebergewicht gewisser Muskelgruppen auf, infolge
dessen die obere und die untere Extremität ihr in solchen
Fällen stereotypes Aussehen annehmen: die obere Ex¬
tremität scheint verkürzt, die untere verlängert (Typus von
Wernicke und Mann). Bei der Hysterie dagegen sind
die Lähmungen ganz schlaff und wenn Kontrakturen auf-
treten — Kontrakturen kommen hei der Hysterie ja ziemlich
oft vor — so zeigen sie nie diese stereotype Verbreitung
wie bei organischen, halbseitigen Lähmungen. Dies erklärt
auch, warum die infolge einer organischen Erkrankung
Hemiparetischen immer denselben typischen Gang haben,
welcher eben mit der Verlängerung der unteren Extremität
zusammenhängt, während hei den Hemiparetischen infolge
der Hysterie der Gang sehr mannigfaltig sein kann; jeden¬
falls zeigt er keine für die organische Lähmung so charak¬
teristische Zirkumduktion der gelähmten Extremität, weil die
oben erwähnte Verlängerung der Extremität fehlt.
Eine eingehende Berücksichtigung des Zustandes der
Reflexe klärt meist das Wesen der Erkrankung auch bei
einer Lähmung der beiden Extremitäten (Paraplegia inferior)
auf. Hier ist das Symptom von Babinski von" entscheidender
Bedeutung. Wichtig ist auch in analogen Fällen der Funk-
tionszustand der Blase usw. .
Die größte Mannigfaltigkeit bietet die Hysterie im
Gebiete der Hyperkinesen, vom leichten nur einen oder ein
paar Finger betreffenden Zittern, bis zu den großen An¬
fällen und krampfhaften Posen, welche Riehe t in seinem
bekannten Buche verewigt hat. Was das Zittern im eigent¬
lichen Sinne des Wortes betrifft, so haben seineizeit
Charcot und seine Schüler Dutil und Souques eine
sehr reichhaltige Klassifikation desselben gegeben, aus
welcher folgt, daß bei der Hysterie die verschiedensten
Arten des Zitterns Vorkommen, was offenbar seinen diagno¬
stischen Wert verringert. Am öftesten jedoch hat das hyste¬
rische Zittern einen rhythmischen, stereotypen Charakter,
wodurch es sich vom Zittern bei dem Veitstänze, bei der
multiplen Sklerose bei der Parkinsonschen Krankheit
und anderen unterscheidet.
Indem wir zu den tonischen und klonischen Zuckungen
übergehen, begegnen wir zunächst der vom praktischen
Standpunkt ungemein wichtigen Frage, der Differential¬
diagnose der Hysterie und der genuinen Epilepsie. Die so¬
genannten großen hysterischen Anfälle mit. den sonder¬
barsten Posen (Contorsions et grands mouvements. Clow-
nism) stellen keine diagnostischen Schwierigkeiten dar.
Uehrigens gehören diese „Posen“ schon zur Vergangenheit
und sogar in Paris sollen sie seit 20 Jahren nicht mehr
beobachtet werden. Es kommt uns hier auf die kleinen
zuckungsartigen Anfälle mit oder ohne Bewußtseinsverlust
an, welche den beiden Krankheiten gemein sind. Es ist ver¬
hältnismäßig noch nicht lange her, daß wir in dieser Hin¬
sicht ziemlich feste diagnostische Anhaltspunkte besessen
haben. Man berichtete über die spezifisch epileptischen An¬
fälle, daß sie immer und überall Vorkommen — auf der
Straße, bei Nacht, bei vollkommener Isolierung des Kranken
— ; dagegen von den hysterischen Anfällen meinte
man, daß sie nur bei Tag und in der häuslichen Umgebung
stattfinden können. Der Epileptische, sagte man, fällt
plötzlich, wie ein Block, und verletzt sich infolgedessen
oft. Der Hysterische dagegen fällt vorsichtig, wie ein Schau¬
spieler auf: der Bühne und kommt gewöhnlich zu keinem
Schaden. Was den Anfall selbst betrifft, so hat man bis
vor kurzem vermutet, daß, im Gegensatz zur Hysterie, der
Pupillenreflex hei der Epilepsie immer fehlt und oft ein
unwillkürlicher Harnabgang und der Zungenbiß erfolgt.
Ebenso hat mian betont, daß während der epileptischen
Anfälle die Zuckungen gewöhnlich einen gleichförmigen
Charakter an sich (ragen im1 Vergleich zu jener Mannig¬
faltigkeit, die für den hysterischen Anfall charakteristisch
ist, welcher außerdem von Wein- und Lachausbrüchen oft
begleitet wird. Auch drückt manchmal das Gesicht der
Hysteriker während des Anfalls Zorn, Entzücken und
so weiter aus. Ebenso war m'an der Meinung, daß die
dem Anfall nachfolgende Periode hei der Hysterie ver¬
schieden von der hei der Epilepsie ist. Hier fühlt sich
der Kranke gebrochen, deprimiert, müde, schläfrig, dort
frisch, leicht usw. Schließlich meinte man, daß der hyste¬
rische Anfall fast immer durch das Drücken dieses oder
jenes hys’terogenen Punktes (Ovarie usw.) unterbrochen
werden kann, während hei der Epilepsie dies nicht der
Fäll sein kann. Es muß zugegeben werden, daß in der
großen Mehrzahl der Fälle diese Merkmale für eine end¬
gültige Diagnose vollkommen genügen. Doch gibt es Anfälle,
wo alle diese Kriterien einigermaßen versagen. Wie ich
schon oben erwähnt habe, gibt es erfahrene Autoren,
welche unzweifelhaft hysterische Anfälle (arc du cercle
und so weiter) beobachtet haben, während welcher die
Pupillen aufs Licht nicht reagierten (Westplial, Bins-
w anger, Kar plus, Steffen u. a.) und umgekehrt spe¬
zifische, epileptische Anfälle, wo die Pupillenreaktion er¬
halten blieb. Es sind auch hysterische Anfälle mit Ver¬
letzung der Zunge, unwillkürlichem Harnabgang, vollstän¬
diger Amnesie beschrieben worden (Nonne und andere).
Bekannt sind jetzt auch Fälle von untrüglicher Epilepsie,
wo die Anfälle gar nicht nach der typischen, klassischen
Formel verlaufen, wo statt der gewöhnlichen Zuckungen
verschiedenartigste, scheinbar sogar zweckmäßige Bewe¬
gungen auftreten (Aufknöpfen der Kleidung, sich Herum¬
treiben, Herumrennen). Uebrigens ist auch eine ganze
Reihe von Aequivalenten der epileptischen Anfälle ohne
Bewegungssymptome bekannt.
Mit einem Worte, es gibt kein Stadium im epilepti¬
schen Anfalle, das auch bei der Hysterie nicht Vorkommen
würde und umgekehrt; und jeder von uns war wohl mehr¬
mals Zeuge solcher Anfälle, über deren Wesen er zunächst
nichts Entschiedenes sagen konnte. Anfälle solcher Art
haben übrigens schon längst die Aufmerksamkeit des
Meisters von der Salpetriere auf sich gezogen und ihn
seinerzeit veranlaßt zur Aufstellung einer neuen nosogra-
phischen Form der Hysteroepilepsie. Charcot unter-
.scheidete eine Hysteroepilepsie ä crises mixtes und ä crises
distinctes. Zur letzteren Form1 rechnete er solche Fälle, wo
hysterische und epileptische Anfälle einander ablösen. Hier
kommt es nicht auf eine neue entite morbide (der Lieblings¬
ausdruck von Charcot) an, sondern es handelt sich um
eine Kombination der Hysterie mit der Epilepsie. Zur
Hysteroepilepsie ä crises mixtes rechnete Charcot Fälle
von setnverer Hysterie mit langdauernden Anfällen sui
generis, welche weder ausschließlich zur Hysterie noch zur
Epilepsie gehören, weswegen er sie in eine besondere noso-
graphische Klasse zusammenfaßte.
Auch diese Lehre von Charcot ist gegenüber ande¬
rer ins Schwanken .geraten. Indem sie sich auf ein enormes,
während langer Zeit sorgfältig gesammeltes Material der Ber¬
liner epileptischen Anstalt in Wuhlgarten berufen, leugnen
Bratz und Falkenberg die Existenz der Hysteroepi-
lepsie überhaupt. Bins w a nger scheint zwar die Hystero¬
epilepsie prinzipiell anzuerkennen, doch kommt sie nach
ihm nicht so oft vor, wie man früher vermutet hat. Für
einige Autoren sind übrigens die Grenzen zwischen der
Hysterie und der genuinen Epilepsie so verschwommen und
wenig faßbar, daß sie die beiden Krankheiten, in ihren
typischen Formen — als Endglieder derselben nosogra-
phi sehen Einheit, welche Hysteroepilepsie zu benennen
wäre, auffassen (Steffens, Apelt). Jedentalis sehen wir,
daß die Lehre von der Hysterie auch in dieser Hinsicht
noch nicht ganz geklärt ist.
Betrachtet man die ganze Entwicklung der Lehre von
der Hysterie aus der Entfernung der historischen Perspek-
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
65
tive, so kann man sich des Eindruckes nicht erwehren,
daß die Schule der Saipetriere die ganze Hysterie von
einem sozusagen streng morphologischen, rein symptoma-
tologischen Standpunkt behandelt hatte, ohne in den Prozeß
der Entstehung und Entwicklung dieser Symptome beim
gegebenen Individuum tiefer einzudringen. Von einem
solchen zu engem Standpunkt betrachten leider auch jetzt
noch viele die ganze Frage der Hysterie, was besonders
kraß in den Arbeiten von Steffens und anderer zum Vor¬
schein kommt, welche ausschließlich nur auf Grund äußerer
Merkmale die Hysterie mit der Epilepsie identifizieren. Dies
erinnert einigermaßen an das künstliche Einteilungssystem
von Lin ne in der Botanik oder an einige frühere Klassifi¬
kationen der Hautkrankheiten. Wie jede psychische Krank¬
heit — Und Hysterie ist eine Krankheit der Seele — kann
und darf sie nicht auf Grund einer oder einiger Moment¬
aufnahmen diagnostiziert werden. Mein Referat hat sich
eben die Aufgabe gestellt, zu beweisen, daß, es kein einziges
somatisches Symptom gibt, welches nur der Hysterie eigen
wäre und für sie den Wert eines pathognomonisdhen Sym¬
ptoms haben könnte. Nur aus1 der Berücksichtigung der
Allgemeingestalt der [Symptome und, was vielleicht noch
wichtiger ist, aus ihrem Entstehungsmechanismus, chrono¬
logischer Entwicklung und aus den Schwankungen, welchen
sie unterliegen, kann die Diagnose der Hysterie gefolgert
werden. Kommt man allen diesen Forderungen nach und
berücksichtigt allseitig alle derzeit zugänglichen Unter¬
suchungsmethoden, besonders die Ophthalmoskopie, Peri¬
metrie, den Zustand der Reflexe usw., dann — und das ist
meine Ueberzeugung und wahrscheinlich auch vieler von
Ihnen, meine Herren — wird die Hysterie viel seltener
in unserem kasuistischen Inventar figurieren; allein, wo sie
aber diagnostiziert werden wird, wird auch ihre Behand¬
lung eine leichtere, rationellere und erfolgreichere sein.
Bemerkungen zur Ehrlich-Debatte.
Von Prof. E. Finger.
Riehl hat in Nr. 1 der Wiener klinischen Wochenschrift
dieses Jahres unter diesem Titel einen Aufsatz veröffentlicht,
der ausschließlich eine Polemik zu meinen Ausführungen im
Vortrage und im Schlußwort: „Zur Behandlung der Syphilis
mit Arsenobenzol“ enthält. Da mir vor dem Erscheinen des¬
selben ein Einblick und die sofortige Stellungnahme nicht mög¬
lich wär' muß ich den Leser ersuchen, zum besseren Verständnis
meiner Aeußerungen sich nochmals der Mühe zu unterziehen,
die Aeußerungen Riehls durchzulesen.
Auf dem Standpunkte, daß das Arsenobenzol vorläufig zur
Verwendung in der Praxis sich nicht eignet, stehe ich auch heute
noch und glaube, das Recht zu haben, die praktischen Aerzte
vor Anwendung eines Mittels, das, was Technik, Dosierung und
Indikationen betrifft, noch absolut nicht genügend studiert ist, zu
warnen, um so mehr, als ja von mir und mehreren anderen Seiten
Mitteilungen über Nebenerscheinungen gebracht wurden und
es für den Praktiker gap z gleichgültig ist, in welcher
Weise diese Nebenerscheinungen gedeutet werden
können, wenn er in die unangenehme Lage käme, bei
seinen Patienten derartige Beobachtungen anzustellen. Es genügt
nicht, den Praktiker damit zu beruhigen, daß' die erwähnten Er¬
scheinungen und Todesfälle ja noch nicht mit Sicherheit
auf das neue Mittel zurückzuführen sind, man muß vielmehr
meiner Auffassung gemäß, dem Praktiker die Beruhigung geben
können, daß sie sicher nicht mit dem Mittel Zusammen¬
hängen, wenn man ihm das Mittel zur Anwendung, empfiehlt.
Uebrigens wird von den nach Arsenobenzol beobachteten Todes¬
fällen einer von Ehrlich selbst als direkte Folge des Mittels
angesehen.
Wenn ich vorläufig eine Deutung der von mir und anderen
beobachteten Nebenerscheinungen und es sind zu den bisher
beobachteten weitere neue hinzugekommen, die so ziemlich allo
unter denselben typischen Bildern verlaufen, ablehne, so ge¬
schieht es in dem Bestreben, einem Mittel gegenüber, das auf
der einen Seite unleugbare Vorzüge besitzt, möglichst objektiv
zu verbleiben und auch jene Nebenerscheinungen lieber vom
Standpunkt des Optimismus als des Pessimismus zu beurteilen.
Wie sehr ich bemüht war, objektiv zu bleiben, beweist, daß ich
bei dem Patienten A. K. mit Lues maligna, der vorher mit
30 Arsazetininjektioneii und 69 (nicht wie irrtümlich abgedruckt 18)
Eriesolinjektionen behandelt wurde, selbst darauf hinwies, daß
in diesem Falle die vorangegangenen Arsazetin- und Enesolinjek-
txonen eine Prädisposition für die nach Arsenobenzol aufgetretene
Optikusatrophie schaffen konnten. Riehl selbst geht einer Er¬
klärung dieser Fälle aus dem Wege und zitiert statt dessen einen
Deutungsversuch Ehrlichs, dessen geistreiche Hypo¬
thesen aber wohl jeder tatsächlichen Grundlage ent¬
behren.
Riehl zitiert bei dieser Gelegenheit einen Trugschluß
Igersheimers, dem ich deshalb begegnen möchte, weil an¬
läßlich der Ehrlich-Debatte in der Gesellschaft der Aerzte dieser
Trugschluß von mehreren Seiten gemacht wurde und zu Ver¬
wirrung Anlaß geben könnte.
Heilung eines syphilitisch erkrankten Sehnerven in einem
Falle, Schädigung eines gesunden in einem anderen, sind Erschei¬
nungen, die miteinander nicht Zusammenhängen und man darf
deshalb aus der Tatsache, daß mit Arsenobenzol Fälle von syphi¬
litischen Augenerkrankungen geheilt wurden, doch keineswegs
schließen, daß das Mittel für den Sehnerven überhaupt un¬
schädlich sein müsse. Zweifellos hängt ja hier ebenso wie
überall, die Erkrankung mit einer gewissen Disposition des be¬
treffenden Organes zusammen. Uebrigens ist Riehls An¬
führung Igersheimers durchaus nicht erschöpfend, nachdem
dieser Autor (Münchner mediz. Wochenschrift Nr. 51, S. 2674)
selbst als auffallend hervorhebt, daß bei seinen Tierversuchen
in den Bulbis reichliche Mengen von Arsen vorgefunden wurden
und dies auf eine Verankerung des Arsens im Auge zurückgeführt
werden könne, was wiederum mit der Annahme einer besonderen
Affinität des Präparates zum Bulbus erklärt wird.
Was die Häufigkeit der Nebenerscheinungen be¬
trifft, so habe ich zweifellos das Recht, zu behaupten, daß, ein
Vergleich zwischen der seit langen Jahren geübten Quecksilber-
und der kurzdauernden Arsenobenzolhehandlung nicht am Platze
ist, da bezüglich der schädlichen Wirkungen ersterer unsere Er¬
fahrungen als völlig abgeschlossen betrachtet werden können,
während bezüglich des Arsenobenzols jeder neue Tag neue Schä
digungen bringen kann. Daß ich mit meiner Schätzung, die Zahl
der bisher mit Quecksilber behandelten Syphilitischen betrage
Millionen, recht habe, wird mir jeder Kenner der Verbreitung der
Syphilis ohne weiteres zugeben.
Wenn Riehl die von mir mitgeteilten Schädigungen durch¬
aus auf das ganze behandelte Material bezogen wissen will, so
muß er zunächst sämtliche in Wien zur Beobachtung gekommenen
Fälle heranziehen, deren Zahl während der Diskussion immer
größer wurde — hat ja Riehl selbst durch Kren einen Fall
von Akustikusschädigung mitteilen lassen — und sind, auch
in der Diskussion, kaum alle in Wien beobachteten
F allem i t ge t ei lt worden. Riehl müßte auch alle in Deutsch¬
land zur Beobachtung gelangten Fälle heranziehen, deren Zahl
nach meinem Vortrage ständig größer wird.
Die Ausführungen Riehls bezüglich der Beobacht u n g s-
dauer und derZeit des Auftretens der N e b e n e r s c h e i -
n ungen beruhen auf einem Trugschluß. Meine Angaben, daß
die ersten Fälle von Nebenerscheinungen erst im fünften Monat
der Anwendung des Mittels zu unserer Kenntnis gelangten,
hatte den Zweck, hervorzuheben, daß diejenigen, welche
mit dem Mittel sich längere Zeit beschäftigen, eher in
die Lage kommen können, solche Beobachtungen zu machen,
es hat diese Zeitangabe aber gar nichts damit zu tun,
in Welchem Zeitpunkte nach der Injektion die Erscheinung beim
einzelnen Patienten auftreten kann. Diese Daten habe ich in
meinem Vortrage ja ganz besonders angegeben. Kren gibt in
seiner Mitteilung „Ueber die Syphilisbehandlung mit Ehrlichs
Heilmittel“ (diese Wochenschrift 1940, Nr. 45) wörtlich an: „Von
den 123 Fällen, welche seit 12. August mit „606“ behandelt worden
sind“ und sagt weiter in der Diskussion (ebenda Nr. 48) „Die
Untersuchungen wurden hauptsächlich an den zuerst injizierten
Patienten der Monate August und September vorgenommen. In
den Krankengeschichten zweier Fälle erwähnt er allerdings den
15. und 19. Juli. Ich fühlte mich der Aufgabe, diese Widersprüche
zu erklären, nicht gewachsen und mußte wohl der zweimal ge¬
gebenen Versicherung, im August begonnen zu haben, Glauben
schenken. Nachdem nun Riehl die den August als Beginn an¬
führenden Daten seines Assistenten richtig gestellt hat und den
66
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
7. Juli als Datum der ersten Injektion verriet — ich habe
mich nicht in Frankfurt erkundigt, wamin die erste Sen¬
dung von dort an die Klinik Riehl abging — ist ohne
weiteres zuzugeben, daß keine wesentliche zeitliche: Diffe¬
renz gegenüber dem Beginne unserer Injektionen besteht. Denn
die erste Injektion wurde von meinem Assistenten Dr. Müller
mit einem meiner Klinik gehörigen Präparate, gemeinsam mit
Dr. Stoerk, an einem Tabiker der Klinik Strümpell Ende
Juni aüsgeführt.
Wenn nun also eine wesentliche zeitliche Differenz
zwischen dem Beginn der Salvarsanbehandlung an beiden Kli¬
niken nicht besteht, so ist doch zu betonen, daß auf meiner Klinik
bis zum 12. August — vor Welchem Datum die Klinik Riehl eine
immerhin recht geringe Zahl von Injektionen ausgeführt haben
mag, so daß sie dem Assistenten nicht genügend in Erinnerung
geblieben waren — 54 einmalige und eine zweimalige Salvarsan-
injektionen ausgeführt worden waren. Dabei sind einige von
uns für andere Kliniken gemachte Injektionen nicht mitgerechnet.
Daß die Dauerbeobachtungeln der Klinik Riehl in letzter
Zeit bis auf 86°'o gestiegen sind, ist gewiß im Interesse der
Wissenschaft freudigst zu begrüßen; Kren sprach in seinem
Vortrage vom 3. November, daß er von 123 Patienten 27, das
ist 22°A>, wiedergesehen hat und in seiner Diskussionsbemerkung
zu meinem Vortrage am 26. November, daß er 89 von 140, das
:st 64°o, wieder beobachten konnte, wobei er angab, daß diese
Revision des Materiales durch meinen Vortrag bedingt worden war.
Daß mo;n Material mit 80°'o Dauerbeobachtungen an allererster
Stelle steht, war daher eine wohlmotivierte Behauptung.
Was die Frage der Nekrosen betrifft, so genügt es, auf
die Befunde von Martins aus dem S en ck e nhe r g sehen In¬
stitute in Frankfurt hinzuweisen, der Gelegenheit hatte, zwölf
Patienten, die zwei bis drei Wochen nach der Injektion mit Ar¬
sen oben zol verstorben waren, zu untersuchen, und der auf Grund
dieser Studien zu einem Ergebnis kommt, dessen erste zwei
Punkte folgendermaßen lauten (Münchner mediz. Wochenschrift
1910, S. 2769):
1. In jedem Falle von subkutaner oder intramuskulärer
Injektion des Arsenobenzols Ehrlich -Hata ,,606“, gleichgültig in
welcher Lösung, Form oder Dosis, fanden wir ausgedehnte Ne¬
krosen im Bereiche der Injektionsstelle.
2. Alle mit dem Mittel in direkte Berührung kommende
Gewebe, Bindegewebe, Fettgewebe, Muskel, Gefäße und Nerven
werden vollständig nekrotisch.
Es scheint daher mein Vermerk cum grano salis, an dem
sich Riehl stößt, vollauf berechtigt.
Den Bemerkungen Riehls über Zeit und Häufigkeit des
Auftretens von Optikuserscheinungen bei Syphilis ohne Arseno-
benzol gegenüber, möchte ich einen Satz von Wil brand und
Staelin anführen, den Becker in der von Riehl des öfteren
angeführten Arbeit erwähnt. Becker sagt, daß die genannten
Autoren darauf aufmerksam machen, „daß man sehr wohl unter¬
scheiden müsse zwischen der Häufigkeit der Syphilis als Ursache
der Augenerkrankungen und der Häufigkeit der Augenerkrankungen
im Verlauf der Syphilis, lieber diese habe der Syphilidologe, über
jene der Ophthalmologe leichter ein Urteil“.
Dieser Ansicht möchte ich insofern beipflichten, als es sich
bei dem Vergleich der Fälle nur um Schädigungen handeln darf,
auf die der Syphilidologe durch subjektive Angaben der Patienten
aufmerksam gemacht wurde und nicht um Veränderungen, die
erst durch genaue ophthalmologische Untersuchung aufzudecken
sind und sonst dem behandelnden Arzte entgangen wären.
Ueber das Vorkommen von Veränderungen letzter Art bei
Lues, auch ohne Salvarsanbehandlung. war ich, wie ich schon
in meinem Schlußworte betonte, durch die Untersuchungen Elsch-
nigs an meiner Klinik, völlig unterrichtet. Vollkommen anderer
Art sind jedoch die von’ 'mir und seither auch von anderen beob¬
achteten Symptnmoukomplexe, welche die Patienten selbst als
Krankheitssymptome an sich entdeckten, derentwegen sie meine
Klinik wieder aufsuchten, diei meist nebst dem Optikus auch an¬
dere Nerven, Fazialis, Abduzens, Vestibularis betrafen und in
dieser Art als Luesrezidive als Raritäten zu bezeichnen sind.
Rechnet doch Becker selbst die primäre Sehnervenstörung im
Frühstadium der Syphilis zu den so seltenen Formen der Lues-
rezidive : „daß es wohl erlaubt ist, einen derartigen Einzelnfall
zu veröffentlichen“. Ich kann also der Ansicht Riehls nur inso-
ferne zustimmen, als es überhaupt kein Gebiet der gesamten
Medizin gibt, in dem nicht durch systematische Forschung noch
eine weitgehende Bereicherung unserer Kenntnisse zu erhoffen
wäre und daß von diesem Satze auch die Dermatologie und
Syphilis keine Ausnahme macht.
Die von Riehl vorgebrachten Einwände gegen meine
Aeußerungen sind daher durchaus unstichhältig.
OEFFENTLICHE GESUNDHEITSPFLEGE.
Eine sozialmedizinische Kongreßreise.
Von Priv.-Doz. Dr. Ludwig Teleky.
(Schluß.)
III. Internationaler Kongreß für Gewerbekrank¬
heiten.
Brüssel, ID. bis 14. September 1910.
Der I. internationale Kongreß für Gewerbekrankheiten bat
im Juni 1906 in Mailand stattgefunden. Nach mehrjährigen Vor¬
arbeiten, um die sich vor allem Mailänder Aerzte, Senator
De. ("hristof oris, Prof. Devoto, gegenwärtig der Vorstand
der Klinik für Berufskrankheiten in Mailand und sein Assistent
Prof. Carozzi, sowie Prof. P i e r r a c in i - Florenz, verdient ge¬
macht hatten, fand dieser Kongreß unter zahlreicher Beteiligung
italienischer Aerzte statt; ans dem Ausland war kaum ein Dutzend
Vertreter erschienen. Der Kongreß, der sechs Tage dauerte, war
fleißigster wissenschaftlicher Arbeit gewidmet, vor- und nach¬
mittags wurden vierstündige Sitzungen abgehalten, mit südlicher
Lebhaftigkeit platzten die Meinungen aufeinander. Für die italie¬
nischen Aerzte waren die auf dein Kongreß empfangenen An¬
regungen in hohem Grade fruchtbringend gewesen. Eine große
Anzahl italienischer Aerzte widmet sich mit Eifer dem Studium
der Gewerbekrankheiten, 1907 fand ein nationaler Kongreß für
Gewerbekrankheiten in Palermo, 1909 ein zweiter in Florenz
statt Die einzige existierende Zeitschrift für Gewerbekrankheiten
erscheint in italienischer Sprache. A'on den italienischen Aerzten,
die sich mit besonderem Eifer und Erfolg dem Studium der
!ewerbekrankheiten gewidmet, haben, seien hier Devoto,
Carozzi- Mailand, Pierr acini- Florenz, Giglioli Florenz,
Monti -Pavia, Bi o n d i - Siena, genannt. Durch einen Umstand
wird das Aufblühen des Studiums der Gewerbekrankheiten, sowie
sozialmedizinischer Stadien überhaupt in Italien sehr gefördert;
die italienischen Aerzte stehen in ihren politischen und sozialen
Anschauungen der Arbeiterschaft viel näher, als z. B. die deutschen
Aerzte den deutschen Arbeitern.
Auf dem Mailänder Kongresse, der zur Zeit der Weltaus¬
stellung aber ganz fern von ihr tagte, wurde eine permanente
internationale Kommission zum Studium der Gewerbekrankheiten
geschaffen, ihr die Veranstaltung regelmäßig sich wiederholender
internationaler Kongresse übertragen und Brüssel als Ort des
nächsten Kongresses in Aussicht genommen.
Dieser Kongreß fand dort vom 9. bis 14. September v. J.
wieder also im Zusammenhänge mit. einer Weltausstellung, statt.
Zweifellos wird durch die Wahl solchen Ortes und solcher Zeit
für die Tagung eines Kongresses die Quantität der Kongreßteil¬
nehmer vermehrt, natürlich sind es nicht die wirklichen Inter¬
essenten, die eines solchen Lockmittels bedürfen. Auf das Arran¬
gement des einzelnen Kongresses wirkt auch die bei solchen
Anlässen übliche Massenveranstaltung von Kongressen nicht
immer günstig ein. Tagten doch in Brüssel im vergangenen
Sommer 69 Kongresse: Botaniker und Friseure, Baumwollspinner
und Vegetarianer, Alkoholhändler und Friedensfreunde, Hand¬
lungsreisende und Touristen, Psychiater und Kleingewerbetrei¬
bende usw. usw. Der Brand der Ausstellung hatte auch zur
Folge, daß das für d’e Kongresse bestimmte Gebäude zur Wieder¬
aufstellung der engbschen Ausstellung umgebaut wurde, so daß
eine glückliche Lösung der Lokalfrage nicht möglich war. Der
unermüdliche und aufopfernde Sekretär des Kongresses, Doktor
Gilbert, den schweres persönliches Unglück gerade in den
Wochen kurz, vor der Eröffnung des Kongresses traf, leistete das
Menschenmöglichste.
An dem Kongresse, der diesmal im vollsten Sinne ein
internationaler war, nahmen 609 bis 700 Personen teil, vor allem
Aerzte, dann Gewerbeinspektoren, auch einzelne Techniker. Die
meisten Regierungen, auch die österreichische, hatten Vertreter
entsendet. Auffallend gering war die Beteiligung jüngerer öster¬
reichischer Amtsärzte und Gewerbeinspektoren; vielleicht wäre
es doch zweckmäßig, wenn neben den berufenen Vertretern der
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
zuständigen Aemter, auch mehrfach jüngeren Herren Ge¬
legenheit geboten würde, mit den ausländischen Fachmännern
in Fühlung zu treten und fremde Verhältnisse aus eigener An¬
schauung kennen zu lernen
ln der Eröffnungssitzung sprachen: Hubert, der belgische
Minister für Industrie und Arbeit, De Christof or is, der Prä¬
sident der permanenten Kommission zum Studium der Gewerbe¬
krankheiten, Moeller, der Präsident des Organisationskomitees,
dann noch ein Belgier und dann nicht weniger als 13 Vertreter
fremder Staaten ; diese Zeremonien nahmen den Vormittag in
Anspruch. Nachmittags begannen die sachlichen Verhandlungen.
Zu jedem Thema der Tagesordnung, das meist in eine ganze
Reihe von miteinander nur lose zusammenhängenden Themen
zerfiel, war eine große Anzahl von Referaten eingelangt. Wie
ja auf den meisten internationalen Kongressen, erhielten zu¬
nächst die Referenten das Wort, um einen .Auszug aus ihren
Arbeiten vorzutragen. Die Verschiedenheit der unter einem
Punkt der Tagesordnung zusammengefaßten Themen, machte
diesen Vorgang noch insofern© erträglich, als es dadurch nicht
zu allzu häufigen Wiederholungen kam, führte aber anderseits
mehrmals zu einem Neben- statt Miteinanderreden. Noch stö¬
render hat sich dieser Vorgang — zahlreiche Referenten
über einen Gegenstand, von denen jeder das Wort ergreift —
auf dem internationalen Kongreß für Hygiene und Demographie
1907 geltend gemacht, wo es, wenigstens in einzelnen Sektionen,
zur ermüdenden Wiederholung derselben Ansichten durch
mehrere aufeinanderfolgende Redner kam.. Da die meisten Redner
sich an ihr Referat halten, manche auch nicht genügend geübte
Debattier sind, um im Rahmen ihrer Ausführungen, auf das
von den Vorrednern gesagte, polemisch einzugehen, so werden
bei solcher Einleitung der Diskussion, die Gegensätze, die ein¬
zelnen Streitpunkte häufig nicht scharf genug herausgearbeitet.
Unserer Meinung nach sollten die für den Kongreß bestimmten
Arbeiten schon mehrere Monate vorher allen Teilnehmern zu¬
gehen, um ihnen so ein Studium derselben zu ermöglichen;
auf dem Kongresse selbst aber sollten nur ein bis zwei General¬
referenten über alle vorliegenden Referate und Arbeiten berichten
und zwar kurz und unter scharfer Hervorhebung der Verschieden¬
heit der Ansichten, der für jede Auffassung vorgebrachten Ar¬
gumente und Tatsachen. Auf Grund solcher Generalreferate
hätte dann die Debatte geführt zu werden, in der natürlich
jeder, der ein Referat, oder besser gesagt, einen Beitrag einge-
sandt, seinen Standpunkt noch ausführlicher begründen, neuge¬
machte Beobachtungen ausführlich darlegen könnte. Durch
solche Generalreferate, wie sie z. B. auf dem ersten österreichi¬
schen Kinderschutzkongreß erstattet, oder wie sie gedruckt der
Arbeiterschutzkonferenz im Haag Vorlagen, würde das Aneinander-
vorbeireden gemindert, manches geklärt werden und außerdem
würde durch Abkürzung der Einleitung für die Diskussion selbst
mehr Zeit gewonnen, und die eine wissenschaftliche Debatte so
schwer schädigende Beschränkung der Redezeit zum Teile wenig¬
stens vermieden werden können.
,Zum zweiten Punkt der Tagesordnung, der als erster zur
Verhandlung gelangte, lagen einige Referate über die Mitwir¬
kung der Aerzte bei der Gewerbeaufsicht sowie über die
Gewerbeaufsicht überhaupt vor. Von besonderem Interesse ist ein
Referat Deardens über die Tätigkeit der englischen „Certifying
surgeons“. Diese Institution geht bis auf das1 Jahr 1844 zurück
und war ihr ursprünglicher Zweck — von dem auch ihr Name
herrührt — Zeugnisse über Alter und Tauglichkeit der zur
Fabriksarbeit verwendeten Kinder auszustellen; seit 1895 ob¬
liegt ihnen außerdem die Aufgabe, Erhebungen über die ihnen
zu meldenden Unfälle und gewerblichen Vergiftungen anzu¬
stellen; seit 1901 haben sie das Recht, die Ausstellung eines
Tauglichkeitszeugnisses an Bedingungen zu knüpfen; seit 1906
fällt ihnen auch die Aufgabe zu, an gewerblichein Vergiftungen
Leidenden, das für Erlangung einer Entschädigung nach dem Haft
pflichtgesetz notwendige Zeugnis auszustellen. Auch haben sie
die Verpflichtung, in bestimmten gesundheitsgefährlichen In¬
dustrien periodische Untersuchungen der Arbeiter vorzunehmen.
Für die Erhebungen bei Unfällen und Vergiftungen werden sie
vom Staate, für alle anderen Verrichtungen von den Beteiligten —
Arbeitern oder Unternehmern — nach einer staatlich festgesetzten
Taxe bezahlt. Das Vereinigte Königreich ist gegenwärtig in etwa
2000 Distrikte geteilt, für deren jeden vom Zentralgewerbe¬
inspektor ein Certifying surgeon ernannt wird, der allein
in seinem Distrikte zur Ausübung der obenerwähnten Funktionen
und Ausstellung der Zeugnisse berechtigt ist. Nur in zirka^ 200
Distrikten hat diese Tätigkeit einen etwas größeren Umfang,
in einer Anzahl der industriereichsten Distrikte einen so großen,
daß der Certifying surgeon keinerlei andere Eiligkeit ausübt,
in einer Anzahl anderer ist er zugleich Gesundheitsbeamtei
(Medical officer of Health). Auch zwei ärztliche Gewerbeinspek¬
toren hat England.
In Deutschland haben, nach dem Bericht Dr. med. llolz-
manns, des badischen ärztlichen Gewerbeinspektors, Bayern
und Baden Aerzte als Mitglieder der Geworbeinspektion, in
Württemberg und Elsaß-Lothringen ist ein Mitglied des Medi¬
zinalkollegiums der Gewerbeinspektion im Nebenamt zugeteilt.
Holland hat einen „ärztlichen Sachverständigen der Arbeitsinspek¬
tion“. Auch Belgien verfügt über ärztliche Gewerbeinspektoren
(1 Chefinspektor und 4 Inspektoren) sowie „medecins agrees' ,
deren Aufgabe in mancher Hinsicht der der Certifying surgeons
ähnlich. Leider lag über deren Tätigkeit dem Kongresse kein
Bericht vor, hingegen haben die ärztlichen Inspektoren Btiyse
Thiesquen und Vandermierden einen interessanten Be¬
richt über die sanitären Verhältnisse in belgischen Fabriken ver¬
öffentlicht. Auch die österreichische Gewerbeinspektion verfügt
seit kurzem über einen Arzt als „Sanitätskonsulenten“ und ist
damit ein erster zaghafter Schritt zur Heranziehung von Aerzten
zur Gewerbeinspektion auch bei uns geschehen. Leber die ge¬
werbehygienische staatliche Fürsorge in Oesterreich berichtete
in einem ausführlichen Elaborat Dr. med. A. Horst, Sanitäts-
konzipist im Ministerium für öffentliche Arbeiten.
Ueber Bedeutung und Wert von Tauglichkeitszeugnissen
und periodischen “ärztlichen Untersuchungen berichteten Hahn-
München, Gien Park -South Bolton. Gien Park berichtet
über die vom englischen Gesetz vorgeschriebene Ausstellung von
Tauglichkeitszeugnissen für jugendliche Arbeiter auf Grund seiner
Erfahrungen in der Baumwollindustrie und tritt für
Hinaufsetzung des Schutzalters und periodische Unter¬
suchung der jugendlichen Arbeiter ein. Hahn gibt einen
Ueb erblick über die in verschiedenen Ländern geltenden
Bestimmungen, tritt ebenfalls für Hinaufsetzung des Schutzaiters
jugendlicher Arbeiter und deren periodische ärztliche Ueber-
wachung ein und berichtet über das Resultat von Untersuchungen
an Bäcker- und Gärtnerlehrlingen. Die ersteren zeigten häufiger
Abnormitäten des Knochensystems, häufiger schwerere Herz- und
Lungenerkrankung, die letzteren waren schlechter genährt. Ver¬
fasser verlangt die Einführung schulärztlichen Dienstes an ge¬
werblichen Fortbildungsschulen.
Ueber die praktische Durchführung dieser von Professor
Hahn für notwendig erklärten Einrichtung berichtete Ober
sanitätsrat Dr. Kriz, Sanitätskonsulent im Ministerium für öffent¬
liche Arbeiten, in einem interessanten Referate : Einführung eines
schulärztlichen Dienstes an den gewerblichen Fortbildungsschulen
Oesterreichs. Im Jahre 1910 ist zunächst probeweise an 26 Wiener
gewerblichen Fortbildungsschulen Wiens (darunter vier Lehr¬
mädchenschulen) schulärztliche Untersuchung und hygienischer
Unterricht eingeführt worden.
Ueber die auf Krankenkassenstatistik sich stützende be¬
rufliche Morbiditäts- und Mortalitätsstatistik liegen Berichte von
Ros enfold -Wien, K au p- Berlin vor; der erstere erörtert in
interessanter und ausführlicher Weise, wie eine Krankenkassen¬
statistik beschaffen sein soll und auf welche Momente bei ihrer
Durchführung und Verwertung Rücksicht genommen werden muß.
Kaup weist auf eine Reihe wertvoller Ergebnisse derartiger
Statistiken, besonders der großen Statistik der Leipziger Orts¬
krankenkasse hin und bespricht den großen Wert derartiger
Untersuchungen für den Gewerbehygieniker und für die Allge¬
meinheit. • * 1 l.i.L-
Ueber den durch private Initiative des Unternehmers einge¬
richteten ärztlichen Dienst in Fabriken und Bergwerken, die Für¬
sorge für erkrankte Arbeiter, liegen eine große Anzahl von Re¬
feraten über die Einrichtungen in französischen und belgischen
Großbetrieben, in einzelnen anderen ausländischen Betrieben sowie
auf holländischen und englischen Eisenbahnen vor. Die letzteren
bringen manch interessantes über Tauglichkeitsprüfung, besonders
der Sehschärfe und des Farbensinnes; alle zeigen im Grunde
genommen nur, daß selbst als hervorragend angesehene der¬
artige Einrichtungen — über andere wird doch natürlich nicht,
berichtet! — selbst innerhalb ihres beschränkten Tätigkeits¬
gebietes bei weitem nicht das leisten, was durch die obliga¬
torische Krankenversicherung in Deutschland und Oesterreich
für die gesamte Arbeiterschaft geleistet wird.
Die Debatte drehte sich vor allem um die Hinaufsetzung
des Schutzalters kindlicher Arbeiter und um Wert und Notwendig¬
keit von ärztlichen Tauglichkeitsattesten, ohne daß hierüber
weiters Material beigebracht wurde. Ich selbst bin der An¬
sicht, die auch im wesentlichen von Prof. Hahn-Müncnen
vertreten wurde, daß nämlich möglichste Hinaufsetzung des
Schutzalters für Kinder und Jugendliche und deren Ausschluß
68
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
aus gesundheitsgefährlichen Betrieben wünschenswert sind; je |
besser so dafür gesorgt ist, daß im allgemeinen Kinder erst in
einem Alter, in dem sie zur Arbeit tauglich sind, zur Arbeit
herangezogen werden, um so weniger besteht ein Bedürfnis, die
Beschäftigung des einzelnen erst von Beibringung eines t'augiich-
keitszeugnisses abhängig zu machen. Dieses wäre dann nur bei
bestimmten, besonders anstrengenden oder gesundheitsschäd¬
lichen Berufen zu fordern.
Zum Punkt der Tagesordnung: Anthropologische Unteasu-
ch ungen über junge Arbeiter während ihrer Lehrzeit, lag außer
den erwähnten Untersuchungen Hahns nur noch eine kleine
Skizze von Elias- Rotterdam, über die verlangsamte Körper¬
entwicklung jugendlicher Typographen vor.
Die Tagesordnung des folgenden Tages (11. September) ent¬
hielt den ursprünglich ersten Verhandlungsgegenstand : Die Trage
der VersieherungderBerufsk rank beiten und ihre Gleich¬
stellung mit den Unfällen. Daneben sollte die Trage, ob oder
unter welchen Bedingungen einzelne Erkrankungen: Lumbago,
Hernie, ITitzschlag, Anthrax als Unfall anzusehen, erörtert werden.
Ueber die Versicherung der Berufskrankheiten lagen eine
Anzahl von Referatenf vor und wurde eine lebhafte Debatte ge¬
führt. Vor allem sei \ hier ein Bericht des englischen ärztlichen
Fabriksinspektors T. M. Legge erwähnt, der über die in der
englischen Workmens Compensation- Act 19U6 durchgeführten
Gleichstellung der Berufskrankheiten mit den Unfällen berichtet.
Durch dieses Gesetz sowie durch eine auf ihm fußende Ver¬
ordnung wurde bestimmt, daß die in eine Liste aufgenommenen
Gewerbekrankheiten, wenn sie in dem zugehörigen Berufe Vor¬
kommen, wie Unfälle zu entschädigen sind. Diese Liste wurde
nach eingehender Beratung einer besonderen Kommission fest¬
gestellt und enthält nur solche Erkrankungen, die so eng mit
der Berufstätigkeit Zusammenhängen, daß in jedem einzelnen
Talle der Beruf als Ursache angesehen werden kann ^spezifische
Gewerbekrankheiten). Als Grundlage für die Anspruchsberechti¬
gung wird ein Zeugnis des „Certifying surgeon“ angesehen, das
das tatsächliche Vorliegen einer solchen Erkrankung bestätigt.
Gegen dessen Ansicht steht der Rekum an einen anderen vom
Staatssekretär ernannten Arzt „medical referee" offen. Die Liste
umfaßt neben einer größeren Anzahl gewerblicher Vergiftungen
auch Anthrax, Chromgeschwüre, Rotz, Schornsteinfeger- und
Teerkrebs, Glasmacherstar, Telegraphistenkrampf, Gewerbe¬
ekzeme und eine Anzahl von Bergmannskrankheiten “Nystagmus,
Ankylostomiasis und einige charakteristische, wie es scheint dem
englischen Bergbau eigentümliche Entzündungen an Hand, Knie
und Elbogen). Im Jahre 1908 wurden wegen Nystagmus und
den letztgenannten chirurgischen Bergmannskrankheiten 1249 Ent¬
schädigungsansprüche gestellt, wegen sämtlicher übriger gewerb¬
licher Erkrankungen nur 348, von denen 278 auf Bleivergiftung
entfielen — diese geringe Zahl, obwohl jede länger als eine
Woche dauernde Erkrankung zu entschädigen ist.
Ich selbst trat in meinem Referate für Gleichstellung der
spezifischen Gewerbekrankheiten mit den Unfällen ein; es solle
eine Liste der gewerblichen Erkrankungen nach englischem Muster
in jedem Lande aufgestellt und diese Erkrankungen ebenso wie
Unfälle entschädigt werden. Die Schwierigkeit der Diagnosenstel¬
lung macht sich in erster Linie bei leichten und rasch vorüber¬
gehenden Fällen geltend und kommen in Ländern mit obligato¬
rischer Krankenversicherung gerade diese Fälle, da sie noch
innerhalb der ja recht langen Karenzzeit ausheilen, in Wegfall.
Für England, wo die Entschädigung vom achten Tage an beginnt,
erscheint der getroffene Ausweg (die Diagnosenstellung durch
bestimmte Aerzte) nicht unzweckmäßig.
Einen im wesentlichen ganz gleichen Standpunkt vertreten
die holländischen Referenten: Hei j er mans und K operberg.
Razo us -Paris bespricht die der französischen Kammer vor¬
liegenden Gesetzentwürfe über Entschädigung der Gewerbekrank¬
heiten; auch er tritt für rechtliche Gleichstellung der spezifischen
Gewerbekrankheiten mit den Unfällen ein. Von der Regierung ist
eine Liste dieser Gewerbekrankheiten aufzustellen; wenn der Arzt
des Arbeiters und der des Unternehmers sich über die Diagnosen¬
stellung nicht einigen können, sollen die Entscheidung die —
nach dem Wunsche des Verfassers erst zu ernennenden — ärzt¬
lichen Gewerbeinspektoren fällen.
Haben sich diese Referenten auf die „spezifischen Gewerbe¬
krankheiten“ beschränkt und sind für diese — trotz der Ver¬
schiedenheit der Verhältnisse in ihren Ländern — zu den gleichen
Forderungen gekommen, so kommt Biondi- Siena zu einer ab¬
weichenden Anschauung; er fürchtet, daß bei Aufstellung einer
Liste entschädigungspflichtiger Gewerbekrankheiten doch immer
einzelne weniger gut charakterisierte Gewerbekrankheiten keine
Berücksichtigung finden würden; bei der einzelnen Gewerbe¬
krankheit selbst, sei es fraglich, wie weit der Begriff zu fassen
und die Gefahr vorhanden, daß nur die Fälle mit besonders ekla¬
tanten und auffallenden Symptomenkomplexen zur Entschädigung
gelangen würden. Da so die Abgrenzung gegen die übrigen Krank¬
heiten etwas konventionelles und willkürliches habe, so sei
ein anderer Ausweg zu suchen; es sei die allgemeine Kranken¬
versicherung einzuführen und die Unternehmer sollten einen dem
Einfluß der Berufsschädlichkeit in jeder Industrie entsprechen¬
den Teil der Krankenkosten tragen. Ich bin der Meinung, daß
bei Bestimmung dieses Beitrages auch manch konventionelles
und willkürliches unterlaufen würde, habe aber selbst bereits dar¬
auf hingewiesen, daß der Einfluß des Berufes auf Morbidität und
Mortalität, die in Ländern mit obligatorischen Krankenversiche¬
rung eingeführten Unternehmerbeiträge rechtfertigt. Der Forde¬
rung Bi on dis nach allgemeiner obligatorischer Krankenversi¬
cherung unter Beitragsleistung der Unternehmer eben mit Rück¬
sicht auf die Einwirkung der Berufstätigkeit auf den Gesundheits¬
zustand der Arbeiter ist wohl unbedingt beizustimmen, doch wäre
eben darüber hinaus noch eine besondere Entschädigung spezi¬
fischer Gewerbekrankheiten notwendig und möglich.
Andere Referenten sind auf die Frage der Versicherung der
spezifischen Gewerbekrankheiten nicht eingegangen, haben
den Begriff Gewerbekrankheit in einem weiten Umfang gefaßt
und auf diesem fußend dann ihre Schlußfolgerungen gezogen.
Van H as s ei- Belgien nimmt, indem er die spezifischen Ge¬
werbekrankheiten mit wenigen Worten streift, eine ganz weite
und unbestimmte Definition der Gewerbekrankheiten überhaupt
als richtig an (und dies,, obwohl er in einem andern dem Kongreß
vorliegenden Referate selbst eine recht gute Definition der spezi¬
fischen Gewerbekrankheiten gibt und sich dort auf diese Definition
stützt!) und folgert weiters ganz logisch, daß man auf einer so
unbestimmten und vagen Definition kein Gesetz aufbauen könne.
Anders Dr. TI an au er- Frankfurt. Von der Tatsache aus¬
gehend, daß durch die deutsche Rechtsprechung der Begriff
„Unfall“ eine Erweiterung erfahren und die Grenze zwischen
„Unfall“ und im Betrieb erworbener Krankheit nicht immer
leicht zu ziehen, gelangt er zu der Forderung nach rechtlicher
Gleichstellung der „Gewerbekrankheiten“ mit den Unfällen, und
dies, obwohl ja sein Begriff „Gewerbekrankheit ein ganz weiter
und uferloser ist; scheidet er doch nicht einmal Gewerbekrank¬
heiten von im Beruf erworbenen Krankheiten.
Sprechen alle diese Referenten de lege ferenda, so hat
eine Reihe anderer de lege lata gesprochen und die — wie
fast allgemein zugegeben — nach dem geltenden Gesetze im¬
mögliche Einreihung der Gewerbekrankheiten unter die Unfälle
(Prof. Querton-Brüssel) dargelegt, oder (M ug d an -Berlin) auf
die Möglichkeit ihrer Einreihung hingewiesen u. zw. auf Grund
der nach meiner Ansicht unhaltbaren Anschauungen Lew ins.
In der Diskussion, die sich sehr lebhaft gestaltete und die
zwei Sitzungen ausfüllte, wurden im wesentlichen nur die in
den Referaten dargelegten Anschauungen vertreten.
Für die- besondere Entschädigung der spezifischen Gewerbe¬
krankheiten und ihre Gleichstellung mit den Unfällen sprach
sich eine große Anzahl von Rednern aus, so Prof. Hahn-München,
Prof. Devoto-Mailand, Prof. Le nnh off- Berlin, Dr. Ram¬
bo usek- Prag, der mitteilte, daß- die österreichischen Indu¬
striellen mit dieser Gleichstellung einverstanden seien. Doktor
Schwerin wrnist darauf hin, daß die deutschen Anilinfabri¬
kanten den an ßlasenkrebs Erkrankten freiwillig Entschädigungen
geben. .
Biondi verficht seinen Standpunkt und wird ciabei von
B er n a c c h i - Mailand und Gigli o 1 i - Florenz, unterstützt, auch
Razous macht nun einen der Anschauung ßiondis ents» re¬
chenden Vorschlag.
Der Verlauf der Debatte war ein solcher, daß der Vor¬
sitzende in seinem Schlußworte betonte, daß die Notwendigkeit
der Entschädigung der Berufskrankheiten allgemein aneixannt
wurde; was die Ausführung dieses Gedankens anbelangt, so stünde
das englische System (Liste spezifischer Berufskrankheiten) dem
von Biondi und Razous vertretenen (allgemeine Krankenver¬
sicherung mit besonders hoher Belastung der Unternehmei ge
sundheitsgefährlicher Betriebe) einander gegenüber.
Die Verschiedenheit der Ansichten erklärt sich — wie ich hin¬
zufügen möchte — ungezwungen aus dem verschiedenen Stande der
Gesetzgebung in den verschiedenen Ländern. Allgemein verlangt das
Rechtsgefühl eine besonders ausreichende Fürsorge für die Opfer
ihres Berufes. In Ländern ohne obligatorische Krankenversiche¬
rung erscheint das Fehlen einer jeden Fürsorge für infolge der
Berufstätigkeit Erkrankte als besonders hart. Es ist nur sehr
wünschenswert, daß in diesen Ländern der Widerstand, der
gegen Einführung einer obligatorischen Krankenversicherung be-
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
69
sieht, eben durch Hinweis auf die Gewerbekrankheiten und die
Hern f sschäd igungen überwunden werde — aus diesem Gesichts¬
punkte können wir die Anschauungen Hi on dis (und den Bei¬
tritt Razous zu diesen) vollkommen begreifen. Der Rechts¬
theorie aber — und auch dem Rechtsgefühl — widerspricht es,
daß die Gewerbekrankheiten nicht in demselben Maße ent¬
schädigt werden wie die Unfälle. Der Italiener Dev o to hat dieser
Anschauung klaren Ausdruck gegeben, indem er vorschlägt, beide
unter dem Ausdruck „Schädigungen durch Arbeit" zusammen¬
zufassen. Nach der Rechtstheorie sind eben die Gewerbekrank¬
heiten den Unfällen und nicht den anderen Krankheiten
gleichzustellen ; daß dies aber auch medizinisch -praktisch
möglich, beweist das von England gegebene Beispiel.
Den dritten Punkt der Tagesordnung bildete die Frage der
Ankylostomiasis.
Theoretisch Neues ist über dieses Thema, seitdem die Loos¬
sehe Behauptung von der Aufnahme der Ankylostomalarven durch
die Haut als eines wenigstens möglichem Aufnahmsweges allge¬
meine Anerkennung gefunden, wohl kaum mehr zu sagen. Interesse
erweckten vor allem die Angaben Prof. Bruns, daß unter 5400
Untersuchten durch das von Loos angegebene Kulturverfahren
fast 2V2mal soviel Wurmträger festgestellt werden konnten, als
durch die gewöhnliche Fäzesuntersuchung.
Was die bisherigen Resultate im Kampfe gegen die Anky¬
lostomiasis und deren gegenwärtigen Stand anbelangt, so hat
es in Oesterreich niemals eine nennenswerte Anzahl von Wurm-
kranken (79 gelangten zur Kenntnis der Behörden) gegeben; ein
Bericht über die bei uns ergriffenen Maßnahmen von Oberbezirks¬
arzt Dr. Wolff -Dux liegt vor. In England konnte nur in den
Zinnbergwerken Cornwalls eine allerdings sehr starke Verseu¬
chung festgestellt werden (Berichte Boycotts und Olivers).
In Italien (Bericht von Prof. Monti- Pavia) sind die Schwe¬
felgruben Siziliens stark verseucht, die Bergwerke Sardiniens
sind frei von Ankylostomiasis, was von Biondi auf den Salz¬
gehalt ihrer Grubenwässer zurückgeführt wird. Unter den Ziegel¬
arbeitern, den Reisarbeitern, sowie überhaupt unter der Land¬
bevölkerung vieler Gegenden ist die Ankylostomiasis sehr häufig.
Auch der Necator americanus ist aus Amerika nach Italien ein¬
geschleppt worden. Zu ihrer Bekämpfung ist bisher fast nichts
geschehen.
Was die Erfolge der Bekämpfung der Ankylostomiasis in
den anderen Ländern anbelangt, so kann nur Deutschland auf
einen fast vollen Erfolg hinweisen. Hier ist auf allen Gruben die
Zahl der Wurmbehafteten (Feststellung mittels Fäzesuntersuchung)
auf einige wenige Prozent gesunken. Recht gute Erfolge Hatte die
Bekämpfung auch im Kohlenbecken von Lüttich, trotzdem die
Bedingungen für diesen Kampf viel ungünstiger waren als in
Deutschland. Denn, wie die belgischen Autoren (Malvoz und
Delbastai Ile) selbst anführen, es fehlt — im Gegensatz
zu Deutschland — an Aufklärung der Arbeiterschaft —
über 20% sind Analphabeten — an einer Organisation, wie sie
die deutschen Versicherungseinrichtungen darbieten, an Disziplin
und an Geld. Trotzdem gibt es 1909 nur mehr eine kleine Grube
(mit ca. 300 Arbeitern), in der mehr als 20% der Arbeiter wurm-
behaftet sind, während 1902 noch fast 12.000 Arbeiter in so
stark verseuchten Gruben arbeiteten.
Mit Recht konnte Dr. B u c h h o 1 z-Berlin den Triumph feiern,
den in der Ankylostomiasisbekämpfung die Wissenschaft errungen
und konnte gerade die in Deutschland erzielten Erfolge rühmend
hervorheben.
Den vierten Punkt der Tagesordnung bildete die Hygiene
der Beleuchtung und die beruflichen Augenerkran¬
kungen. Ueber Hygiene der Beleuchtung lagen zum Teil sehr
ausführliche Referate von Broca-Paris, Gas t er- London, Ter¬
ri en- Paris und Mas a r eil i- Italien vor. Der erstgenannte kommt
in seinem sehr umfangreichen Referate zur Fixierung einer
größeren Anzahl von Forderungen; er verlangt bei diffuser Be¬
leuchtung mindestens 20 Lux bei Verrichtung gröberer, 40 bis
50 Lux bei Verrichtung feinerer Arbeit. Bei langandaueruder
Arbeit soll die Beleuchtung eine solche sein, daß die Details
auf die der Arbeiter seine Aufmerksamkeit richten muß, noch auf
1-4 m sichtbar sind.
Weiter wollen wir hier auf diese sehr interessanten Aus¬
führungen nicht eingehen, erwähnt sei nui\ daß Holland das
einzige Land ist, daß zahlenmäßig die Stärke der in Gewerbe¬
betrieben notwendigen Beleuchtung vorschreibt: 10 bis 15 Meter¬
kerzen, je nach der Art der Beschäftigung. Bemerkenswert ist
auch, daß Massarelli und Terrien übereinstimmend be¬
richten, daß die Quecksilberdampflampe — trotzdem ihr Licht so
reich an ultravioletten Strahlen — zur Zufriedenheit von Unter¬
nehmern und Arbeitern in einer größeren Anzahl von Fabriken
in Gebrauch ist — unter anderem auch 1600 solche Lampen in
der Staatsdruckerei zu Washington. Irgendwelche Schädigungen
der Augen sollen nicht vorgekommen sein.
Eine zusammenhängende Darstellung über die Berufskrank¬
heiten des Auges haben Nuel und W eek er s - Lüttich gegeben,
HankeAVien eine über die Berufskrankheiten der Hornhaut,
Gal leng a- Parma vor allem über die Einwirkung von Ueber-
anstrengung und Staub.
Ueber Nystagmus der Bergleute liegen eine Anzahl von
Arbeiten vor; Romiee und Thib ert- Lüttich führen ihn in
ihren Referaten ausschließlich auf mangelhafte Beleuchtung zu¬
rück, während Nuel -Lüttich betont, daß diese allein nicht die
Ursache des Nystagmus sein könne, und M o r e t - Charleroi neben
mangelhafter Beleuchtung auch die Ueberanstrengung durch ab¬
norme Blickrichtung als ätiologisches Moment ansieht, ln der
Diskussion betonen Roger-Houdeng, R u t ten- Lüttich, S' fas¬
sen -Lüttich den Einfluß der anormalen Haltung der Augen bei
der- Arbeit. Giglioli- Florenz berichtet über Nystagmus bei
einem Anstreicher und einem Kesselschmied, die in sehr un¬
günstiger Position und bei sehr schlechter Beleuchtung arbeiteten.
Mir scheint es, als würde die große Häufigkeit des Nystagmus
bei den Häuern, seine relative Seltenheit bei den übrigen Unter¬
tagarbeitern mit zwingender Beweiskraft für die Bedeutung der
abnormen Blickrichtung in der Aetiologie des Nystagmus sprechen.
Sind die Angaben über die Häufigkeit des Nystagmus sehr
verschieden und schwanken zwischen 5% der Belegschaft in
Westfalen (Lindemann) und 21% in Belgien (Romiee und
Thibert) — wobei es allerdings sehr darauf ankommt, wie groß
unter den untersuchten Bergleuten die Zahl der Häuer — denn von
diesen sind unter Umständen 39% nystagmisch — so gellt doch
die allgemeine Auffassung dahin, daß nur ein sehr kleiner Bruch¬
teil der Erkrankten durch sein Leiden arbeitsunfähig wird.
Eine sehr instruktive Arbeit von W. Robinson-Sunderland
bespricht die Verbreitung des Staues unter den Glasmachern spe¬
ziell unter bestimmten Gruppen der Flaschenmacher und legt auch
ausführlich dar, durch welche Eigenheiten (vor allem Beginn
am hinteren Linsenpol) sich Glasmacherstar von der Cataracta
senilis unterscheidet. Auch Berichte über Augenerkrankungen
bei Hasenhaarschneidern (Haas und Heim-Paris) und Pech-
iairbeitem (More t- Charleroi) liegen vor.
Ueber Arbeit in komprimierter Luft, dem V . Punkt der
Tagesordnung, wurde eine Anzahl ausführlicher Berichte erstattet.
Cats aras- Athen gibt eine Darstellung der ganzen Hygiene der
Druckluftarbeit; seine reichen Erfahrungen hat er an Tauchern,
den griechischen Schwammfischern, gesammelt; eine große Be¬
deutung für die Entstehung krankhafter Erscheinungen mißt er
der Ermüdung und Erschöpfung am Ende der Tauchsaison bei;
W aller- Amsterdam, berichtet über die niederländischen Vor¬
schriften, die «auf den Arbeiten von Heller, Mager und
Schrott er fußen und über seine Erfahrungen beim Bau hollän¬
discher Eisenbahnen. Als die zweimal in 24 Stunden geleistete
Vierstundenschicht durch eine einmalige Achtstundenschicht er¬
setzt wurde, hat sich die Zahl der Erkrankungen mehr als ver¬
doppelt. Lan gloi s- Paris bespricht die — nach meiner
Meinung — ungenügende französische Verordnung. Schrott er
Wien empfiehlt den Gebrauch von Sauerstoff in Prophylaxe und
Therapie. Born stein -Hamburg, der beim Bau des Elbetunnels
reiche Erfahrungen gemacht, hält die Sauerstoffeinatmung für
nützlich, besonders aber leichte körperliche Arbeit während der
Dekompression.
Dam a nt, der Taucherinspektor der englischen Kriegs¬
marine, berichtet über die guten Erfolge der stufenweisen Der
kompression. Bei dieser erfolgt die Ausschleusung nicht gleich¬
mäßig langsam, sondern man geht rasch auf die Hälfte des ur¬
sprünglichen Druckes; unter diesem bleibt dann der Arbeiter so
lange, bis man annehmen kann, daß der Sättigungsgrad seines
Körpers mit Stickstoff diesem Drucke entspricht, dann wird der
Druck wieder um die Hälfte vermindert usw. In der Debatte,
die kaum neue Gesichtspunkte oder Tatsachen brachte, wurde
die Notwendigkeit des Vorhandenseins einer Rekompressions-
schleuse bei mehr als anderthalb Atmosphären Ueberdruck und
die Notwendigkeit einer permanenten Ueberwachung durch un¬
abhängige Aerzte betont.
Eine große Anzahl von Referaten beschäftigte sich mit
den gewerblichen Vergiftungen (VI. Punkt der lages-
ordnung). Auf die zahlreichen und zum Teil sehr ausführlichen
Arbeiten hier einzugehen, ist wohl unmöglich, nur einzelnes sei
hervorgehoben.
Der englische ärztliche Fabriksinspektor I . M. Legge be¬
richtet über die Ergebnisse der Anzeigepflicht. Aus der Vertei¬
lung der Formen der Bleivergiftung auf die einzelnen Industrie-
70
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
zweige, zieht er den Schluß, daß Staub von leicht resorbier¬
baren Bleiverhind ungen zu rascher'- Erkrankung führe und mehr
Koliken und Enzephalopathien als Lähmungen erzeuge, während
Bleistaub, Bleidämpfe und langdauernde Einatmung ganz kleiner
Mengen von Bleiverbindungen viel langsamer zur Erkrankung und
zwar zu Lähmung, Arteriosklerose und Nephritis führe. Von großem
Interesse sind zwei Arbeiten, die sich mit der Frühdiagnose der
Bleivergiftung beschäftigen: Prof. Sternberg -Wien und King-
A 1 c o ck - London betonen beide die Wichtigkeit des charakteristi¬
schen Gesamtaussehens der Bleikranken, ihres Gesichtsausdruckes,
der eigenartigen Bleiblässe für die Diagnosestellung ; auch der
französische Berichterstatter M ei 11 Öre betont die Wichtigkeit
gerade dieser Momente und auch ich schloß mich in der Diskus¬
sion dieser Anschauung an.
Außerdem spricht Stern b erg über Hämatoporphyrinurie,
alimentäre Glykosurie, Ausscheidung von Blei durch Harn und
Stuhl. King-Alcock weist daraufhin, wie ernst die nervösen
Symptome, auch schon der* Kopfschmerz, genommen, werden
müssen. Bemerkenswert ist, daß alle Autoren, mit Ausnahme
von Agasse-Lafont und Heim, die ein gemeinsames Referat
erstatteten und Ruelens die basophilen Granula in ihrer diagno¬
stischen Bedeutung nicht allzu hoch anschlagen und vor allem
auf ihr häufiges Fehlen auch bei sichergestellter Bleivergiftung.
In der Diskussion berichtete B i o n d i über Versuche zur
Feststellung der Giftigkeit des Bleisulfids. Die Versuchstiere
schieden Blei im Urin aus und erkrankten an Bleivergiftung.
Ich führte, nachdem ich mich in bezug auf Diagnosenstellung
den Ausführungen Sternbergs und King-Alcock ange¬
schlossen hatte, weiter aus, daß im medizinischen Unterricht
den gewerblichen Erkrankungen mehr Bedeutung beigemessen
werden sollte. Auch exakte klinische Arbeiten wären dringend
notwendig. Die Literatur über Bleivergiftung sei leider oft un¬
verläßlich und falsche Angaben pflanzen sich durch Generationen
von Lehr- und Handbüchern fort.
Dr. Van E m b den- Holland brachte sehr interessante Ta¬
bellen über die Häufigkeit der Hämatoporphyrinurie bei ßlei-
arbeitern.
Interessantes und Neues brachten mehrere Arbeiten über
andere gewerbliche Vergiftungen.
Dr. C u r s c h m a n n, Fabriksarzt der Grepp inw erke, be¬
richtet in einer umfangreichen Arbeit über die Vergiftungen bei
der Anilinfahrikation. Wir können hier nur auf einzelne Details
hinweisen. Benzol macht neben den akuten auch chronische Er¬
krankungen ähnlich dem Morbus Werlhofii und veranlaßt bei
jugendlichen weiblichen Personen profuse Menstruationsblutungen.
Die Nitro- und Amidoderivate des Benzols spielen toxikologisch
die größte Rolle; Alkoholgenuß selbst nach Aufnahme des
Giftes, bringt oft die Vergiftungserscheinungen zum Ausbruch.
Blasentumoren und Hauterkrankungen werden bei Anilinarbeitern
relativ häufig gefunden.
Prophylaktisch wird unter anderem ein Verbot des Alkohol¬
konsums und toxikologische Prüfung der Präparate vor ihrer
fabriksmäßigen Herstellung gefordert.
Prosser White und Seilers berichten einen Fall
von gewerblicher Anilinvergiftung und ihre Versuche über die
Aufnahme von Anilin durch die Haut; im Gegensatz zu den meisten
anderen Autoren messen sie der Aufnahme durch die Haut nur
geringe Bedeutung bei.
Rambo us ek-Prag berichtet über 34 der Literatur ent¬
nommene Fälle von Benzolvergiftung und von ihm vorgenommene
Tierversuche.
Ueber chronische Schwefelkohlenstoffvergiftung berichteten
C ons tens oux und Heim -Paris; trotz erheblicher hygienischer
Verbesserungen in der von ihnen studierten Fabrik zeigten doch
57% der dort, beschäftigten Arbeiter polyneuritische, 21°/o genitale,
43°/o Gehirnerscheinungen. Heim und Haas berichten über
Amblyopie bei Schwefelkohlenstoffvergiftung. Glaister be¬
richtet über Vergiftungen mit Arsenwasserstoff : zwei Arbeiter
hatten einen Kessel zu reinigen, in dem sich Schlamm befand,
der Salzsäure und Arsensäure enthielt; da sie sich hiebei
eines verzinkten Kübels und eiserner Schaufeln bedienten, ent¬
wickelte sich Arsenwasserstoff; einer der Arbeiter starb. Der
Verfasser bespricht dann die Vergiftungen durch Ferrosilizium,
das in der Feuchtigkeit Arsenwasserstoff und Phosphorwasserstoff
abgibt; der größte Teil der Vergiftungen kam dadurch zustande,
daß aus den Laderäumen von Schiffen, die Ferrosilizium geladen
hatten, die Gase in Passagierkajüten eindrangen und die Passagiere
töteten.
Ich gab ein kurzes Resümee meiner Erhebungen über
die Quecksilbervergiftung in Oesterreich und sprach dann
einige Worte über die Notwendigkeit des Weißphosphorverbotes.
Von den Mitteilungen, die in der letzten Sitzung des Kon¬
gresses gemacht wurden, seien die Ausführungen Garozzis- Mai¬
land über die Verhältnisse in der Seidenindustrie erwähnt, ferner
desselben Autors Untersuchungen über den Inhalationsmilzbrand,
die ihn zu der Ansicht führten, daß dieser nicht durch direkte
Inhalation, sondern durch Allgemeininfektion von Trachea oder
Verdauungstrakt aus zustande komme.
Eine eigenartige gutartig verlaufende entzündliche Schwel¬
lung einzelner Finger beobachtete De Mar h aix- Antwerpen bei
mit der Erzeugung von Beinknöpfen beschäftigten Arbeitern.
T er n i -Mailand will dieselbe Erkrankung bei der Holzknopferzeu¬
gung beobachtet haben.
Zwei Arbeiten, die eigentlich zu diesem Punkte der Tages¬
ordnung gehören, aber in einen früheren eingereiht worden waren,
seien hier noch erwähnt. Dr. med. A. Peyser- Berlin sprach
über gewerbliche Erkrankungen des Gehörs. Die Taubheit der j
Kesselschmiede wird nach ihm weniger durch den auf dem
Luftleitungswege ans Ohr dringenden Lärm verursacht, als durch
die Fortpflanzung der Erschütterung durch den Boden (Kessel¬
wand) auf den Körper und damit auch auf das Gehörorgan.
Petr of -Sofia berichtet über Milzbrandinfektionen, die
durch das Tragen von Sandalen aus der ungegerbten Haut milz¬
brandgefallener Binder entstehen. Er beschreibt zwölf auf eine
solche Haut zurückzuführende Erkrankungen (sechs Karbunkeln,
fünf Pneumonien, ein Oedem).
Während der Tagung, des Kongresses selbst hatten m dem
„Aerztehaus“ an zwei Abenden vom Kongreß veranstaltete Vor¬
träge stattgefunden. Am 11. September, an dem auch ein bel¬
gischer Kongreß für Unfallheilkunde tagte, sprach Dr. Jerusa¬
lem-Wien über typische Verletzungen der Industriearbeiter. Er
zeigte mittels Skioptikon eine große Anzahl von Photo¬
grammen und Röntgenaufnahmen von solchen Verletzungen und
führte auch stets die Maschine, die die Verletzung veranlaßt, im
Bilde vor.
Am 13. September schilderte unter Vorführung zahlreicher
Bilder Prof. Devot o die Einrichtung der von ihm geleiteten
Klinik für Berufskrankheiten in Mailand, auf die wir noch später,
zu sprechen kommen werden.
Dr. H. v. Sehr öfter- Wien zeigte mit Skioptikon eine An¬
zahl mikroskopischer Präparate, Rückenmarkschnitte mit Ver¬
änderungen infolge Caissonkrankheit.
Prof. Hahn -München demonstrierte seine Apparate zur
Gasanalyse.
Eine Sitzung der permanenten internationalen Kommission
zum Studium der Gewerbekrankheiten hatte während der Tagung
des Kongresses stattgefunden und war entsprechend einer bereits
im Frühjahr 1910 von mir gegebenen Anregung beschlossen
worden, den nächsten Kongreß 1914 in Wien abzuhalten.
In der am 14. September nachmittags abgehaltenen Schlu߬
sitzung gab der Präsident Moeller einen kurzen Ueberblick über
die Arbeiten des Kongresses und deren Ergebnisse und gelangt
dabei zu folgenden Forderungen: Obligatorischer Unter¬
richt an den medizinischen Fakultäten über Patho¬
logie der Arbeit und Gew erbe krankh eiten und obli¬
gatorischer Unterricht über Gewerbehygiene an den
technischen Hochschulen. Aerztliche Ueber wa c h-
ung aller g es u n d h e i t s g e f äh r 1 i eh en Gewerbebetriebe
und ihrer Arbeiter. Aerztliche Ueberwachung kind¬
licher, jugendlicher und weiblicher Arbeiter. Anzei¬
gepflicht für die wichtigsten Gewerbekrankheiten
und Entschädigung der an ihnen Erkrankten.
Senator De Chris tof o r i s - Mailalhd teilte) als Präsident der
permanenten Kommission mit, daß der nächste Kongreß 1914 in
Wien stattfinden wird.
Obersanitätsrat v. Britto -Wien dankte den Organisatoren
des Brüsseler Kongresses und versichert die Kongreßteilnehmer
eines herzlichen Empfanges in Wien.
Ich dankte für die Wähl Wiens zum Orte des nächsten
Kongresses und legte die vorläufige Tagesordnung dieses Kon¬
gresses vor: Ermüdung, Elektrizität, Arbeit in heißer und
feuchter Luft, gewerbliche Erkrankungen des Ohres, Pneumono-
koniosep, Milzbrand, gewerbliche Vergiftungen.
*
Am 15. September fand eine Exkursion der Kongreßteilneh¬
mer nach Willebroeck und Antwerpen statt. In Willebroeck wurden
die Einrichtungen der großen Papier- und Maschinenfabrik de
Naeyer besichtigt. Wir sahen ein großes Haus, das als Krippe
und Kinderbewahranstalt für 350 Kinder der Fabriksarbeiter
dient, wir sahen eine Unzahl Wiegen mit blendend sauberen
Deckchon und Vorhängen, eine Menge kleiner Kinderstühlchen,
V
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Schulbänke, eine Küche, in der Milch und andere Speisen für
diese Kinder zubereitet, werden können, alles sehr hübsch und
sauber — aber wir sahen nirgends auch nur ein einziges Kind.
Auf die Frage nach den Kindern erhielt ich zur Antwort, sic
seien auf Ferien, einmal im Jahre müsse ja doch gründlich
gesäubert werden.
Auch durch einen Teil der großen Papierfabrik wurden
wir dann geführt u. zw. durch jenen Saal, in dem das zur
Papiererzeugung dienende Holz maschinell zerkleinert wird.
An rasch rotierende, mit Messern versehene Scheiben wird
das Holz angedrückt und so die äußerste, stark beschmutzte
Schicht entfernt; ein automatisch bewegtes, meißelartiges Instru¬
ment spaltet die größten Klötze; in gut umschlossenen Maschinen
werden die Scheite schnell zu kleinen Holzschnitzeln zerkleinert,
diese dann automatisch nach Größe sortiert. Wie diese dann
weiter durch Sulfitlauge zu Holzzellstoff, zu Papiermasse, umge-.
wandelt werden bekamen wir nicht zu sehen, hingegen dann wieder
den letzten Abschnitt der Papiererzeugung.
Am nächsten Tage begannen Besichtigungen belgischer Fa¬
briken, die — unter Führung von Gewerbeinspektoren — von der
Kongreßleitung arrangiert wurden. Ich konnte an denselben nicht
teilnehmen, denn schon lange, ehe die Kongreßleitung von ihren
diesbezüglichen Plänen Mitteilung gemacht hatte — was erst
einige Wochen vor Eröffnung des Kongresses geschehen war
hatte ich mich durch Vermittlung liebenswürdiger Freunde an
eine Anzahl großer Firmen in Holland und Rheinland- Westfalen
gewandt und um die Erlaubnis, ihre Betriebe besichtigen zu
dürfen, angesucht, um so die Zeit zwischen dem Brüsseler Kon¬
greß und der Versammlung in Lugano möglichst nutzbringend aus¬
zufüllen. Allen, die mich bei diesem meinem Bestreben in liebens¬
würdiger Weise unterstützten, denen, die mir die Erlaubnis zur
Besichtigung erwirkten, denen, die sie erteilten und denen, die
mir bei den Besichtigungen als Führer dienten, sei hier mein
herzlichster Dank ausgesprochen.
Am nächsten Tage besuchte ich in Gesellschaft zweier
deutscher Herren die große Bleihütte und Entsilberungsanstalt
in Hoboken bei Antwerpen, einen Riesenbetrieb, der ca. 1100
Arbeiter beschäftigt. Die sanitären und die technisch -hygienischen
Einrichtungen dieses Betriebes zu schildern, würde wohl zu weit
führen. Daß ein Teil der gefährlichsten Verrichtungen maschinell
geschieht, daß infolge zweckmäßiger Vorkehrungen die Hoch¬
ofengicht rauchfrei ist, daß die Ofenarbeiter täglich u. zw. während
der Arbeitsschicht, andere Gruppen von Arbeitern zweimal
wöchentlich baden müssen, daß die Arbeiter von der Fabrik Milch
und Kaffee unentgeltlich erhalten, hingegen das Schnapsverbot
aufs strengste durchgeführt wird, sei hier nur kurz erwähnt.
Der folgende Tag war der Besichtigung Brüssels und der
Weltausstellung, von der ich erst recht wenig gesehen hatte,
gewidmet. Von der letzteren, einem gewaltigen Jahrmarkt, impo¬
nierend durch das rege Leben, das ständig in ihr herrschte, die
Tausende von Menschen, die an allen halbwegs schönen Tagen
und Abenden sich auf ihrem weiten Baume versammelten, schien
mir am interessantesten die Heimarbeiterausstellung, die in
einem ein wenig abseits gelegenen Teile des Aussfcellungsplatzes
untergebracht, nicht nur Produkte der Heimarbeit mit Angabe der
darauf verwandten Arbeitszeit und des erzielten Lohnes vor¬
führte, sondern uns Typen belgischer Heimarbeiter und belgischer
Heimarbeiterverhältnisse zeigte. In einer kleinen, den tatsächlich
bestehenden derartigen Behausungen nachgebildeten Hütte, sah
man eine Hasenhäarschneiderin hei ihrer gesundheitsgefährlichen
Arbeit an den mit Quecksilberbeize imprägnierten Fellstückchen,
eine andere Hütte zeigte einen Nagelschmied, ein weiterer kleiner
Raum ehre Jutespinnerin und so wurden noch mehrere andere
Zweige belgischer Heimarbeit vorgeführt.
In diesen Tagen (15. und 16. September) fand auch der
I. internationale He im arb eiterkongr eß in Brüssel statt, der —
erst sehr spät einberufen — • nur wenig Teilnehmer zählte, dessen
Schriften aber neben Ausführungen über Fragen allgemeiner Be¬
deutung auch eine Anzahl interessanter Monographien über ver¬
schiedene Zweige belgischer Heimarbeit enthalten. Leider machten
mir die Ausflüge nach Willbroek und Hoboken die Teilnahme
an den Verhandlungen, sowie an der Exkursion, die nach einem
der Hauptsitze belgischer Heimarbeit veranstaltet wurde, un¬
möglich, doch konnte ich wenigstens an dem Besuch des „Institut
'de Sociologies teilnehmen. In diesem Institut wird alles, was
auf dem ganzen Gebiete der Sozialwissenschaften erscheint, ge¬
sammelt und sorgfältig katalogisiert. Der Gelehrte, der hieher
kommt, um zu arbeiten, findet hier alle Unterstützung, die eine
wohlgeordnete Bibliothek bieten kann, er findet, nach Sohlag-
w orten geordnet, nicht nur alle Bücher verzeichnet, die für
seine Arbeiten von Interesse sein können, sondern auch alle über
das betreffende Thema erschienenen Aufsätze und Artikel ans
Zeitschriften. Auch auf Anfragen auswärtiger Gelehrter wird be¬
reitwilligst Auskunft erteilt.
Am 19. September morgens verlief’" n wir Brüssel und fuhren
zunächst nach Maastricht, einer holländischen, nahe der belgischen
und der deutschen Grenze gelegenen Stadt, deren keramische
Fabriken ich besichtigen wollte. Am Bahnhof erwartete uns
Dt. van Eijk, ein Chemiker, der — obwohl nicht Staatsbeamter
— von der holländischen Regierung beauftragt worden war,
Untersuchungen über bleifreie Glasur anzustellen und den Fabri¬
kanten bei Versuchen mit bleifreier Glasur behilflich zu sein. : r
führte mich nicht nur in liebenswürdigster Weise in zwei grofii
Fabriken, sondern das anregende Gespräch mit dem alle Detail
fragen beherrschenden, theoretisch gebildeten und praktisch er¬
fahrenen Manne, machte diesen Tag für mich zu einem der
interessantesten der ganzen Reise.
Jede der beiden Fabriken, die ich zu sehen Gelegenheit hatte
und von denen die eine ca. 1200, die andere ca. 3500 Arbeiter
davon aber nur je zirka zwei Drittel bei der Fließen-, respek¬
tive Steingutfabrikation — beschäftigt, arbeitet zum Teile mit
bleifreier Glasur, die sie in zunehmendem Maße verwenden.
Das Auf spritzen bleihaltiger Glasur auf Fließen erfolgt maschinell
und automatisch. Auch sonst sind bei den verschiedenen staub-
oder bleigefährlichen Verrichtungen entsprechende Schutzvorrich¬
tungen angebracht. Die eine der Fabriken arbeitet mit Bleiglasur¬
massen, die da sie an 0-25% Salzsäure (Magensäure) höchstens
20,o ihres Gewichtes an Bleioxyd abgeben (Thorpesche Regel)
als weniger gefährlich anzusehen sind und darf deshalb Ar¬
beiterinnen beschäftigen, während bei dieser Bedingung nicht
entsprechenden Glasurmassen die niederländische Verordnung
Frauenarbeit untersagt. Die hei Bleiarbeit Beschäftigten müssen
alle drei Monate von einem Arzte untersucht werden. Ein glück¬
licher Zufall machte es mir möglich, bei einer solchen Unter¬
suchung anwesend zu sein. Das Untersuchungsforrnular ist recht
ausführlich. Was aber das Bedeutungsvollste an dieser Einrichtung
und wodurch sie sich auf das vorteilhafteste von allen ähn¬
lichen Einrichtungen anderer Länder unterscheidet: ein von der
Regierung angestellter und von ihr bezahlter Arzt nimmt diese
Untersuchungen vor und wird hiezu — damit vollste Unabhängig¬
keit des Arztes verbürgt ist — stets nur ein solcher Arzt an
gestellt, der im Orte keine Privatpraxis, allenfalls höch¬
stens K ons i 1 iarp raxis treibt; also ein Militärarzt, oder der
Primarius des Spitals. Ist in einem Orte ein solcher nicht
Privatpraxis treibender Arzt nicht vorhanden, dann wird der
Arzt, eines ziemlich entfernt gelegenen Ortes mit der Untersuchung
beauftragt. Schon aus dieser Vorsicht bei der Auswahl des
überwachenden Arztes mag man ersehen, wie ernst es der hollän¬
dischen Gewerbeaufsicht mit der Durchführung der Arbeiterschutz-
hestimmungen ist und ebenso trat in den Fabriken überall die
Wirkung ziel bewußter und ernst arbeitender Gewerbeaufsicht zu¬
tage. Das günstige Vorurteil, daß diejenigen Herren, die die
holländische Gewerbeaufsicht auf den internationalen Kongressen
zu vertreten pflegen, das insbesondere de Voojs durch sein
Auftreten hervorzurufen verstand, fand hier seine volle Be¬
stätigung. i
Erwähnt sei hier, daß diejenigen Erzeugnisse keramischer
Industrie, die infolge des hohen Bleigehaltes der Glasuren die
gefährlichsten und bei uns die Quelle zahlreicher Vergiftungen
sind, in Holland kaum eine- Rolle spielen. Ordinäres Ibpfergeschirr
wird nur wenig erzeugt und wo es fabriziert wird, wird dazu meist
der nur sehr wenig giftige Bleiglanz verwendet; Ofenkacheln
werden in Holland — das kaum mehr Kachelöfen kennt — fast
nicht mehr erzeugt. Sehr bedeutend hingegen ist die Erzeugung
von Steingut und von Wandfließen und geht in großen Fabriks¬
betrieben vor sich.
In endloser Fahrt, mit mehrmaligem1 Umsteigen, legten wir
die kurze Entfernung Maastricht -Duisburg zurück. In letzterer
■Stadt kamen wir um 12 Uhr nachts an', um 6 Uhr früh sollte
ich in einer Zinkhütte heim „Manöver", dem Herauslassen des
frisch gewonnenen, flüssigen Zinkes, anwesend sein. Ich hatte
mir Duisburg vorgestellt — wie man es sich eben in Vien voi
stellt. — als eine mittelgroße Stadt mit viel Industrie, daß dort
so weite Entfernungen zurückzulegen sind, das hatte ich nie Iri
erwartet — und so kam ich, trotzdem ich mich um J46 1 hr auf
den Weg machte, erst lange nach der festgesetzten Zeit bei der
Zinkhütte an, die zu den allerbest eingerichteten Deutschlands ge¬
hören ’soll und die bemüht ist, die bereits bestehenden sanitären
Einrichtungen — vor allem handelt es sich um Abzug der Metall¬
dämpfe — - immer mehr zu verbessern. Aber nicht nur an r ä i im
1 idler Ausdehnung hatte ich Duisburg, das mit den Aachbrn-
orten Ruhrort und Meiderich zu einer Stadtgemeinde vereinigt
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 2
2
ist, unterschätzt, auch die Größe der von mir zu besichtigen¬
den Industrieunternehmungen und die demnach zu ihrer Besich¬
tigung notwendigen Zeit, hatter ich zu gering veranschlagt; wo ich
einige hundert Arbeiter beschäftigt dachte, waren es einige Tausend.
Das eine Hochofenwerk, das ich sah, beschäftigt gegen
5000 Arbeiter. Wodurch es sich von den Witkowitzer Werken
vor allem unterscheidet, ist die größere Geräumigkeit der ganzen
Anlage und die weitergehende Verwendung mechanischer Kraft
zu Transportzwecken — beides Momente, die die Unfallsgefahr
herabzusetzen geeignet sind. Noch günstigere Verhältnisse nach
diesen Richtungen hin sah ich in einem zweiten Werke, das
neben 12.000 Grubenarbeitern ca. 6000 Hochofen- und Hütten¬
arbeiter beschäftigt. Hier interessierten mich besonders die Neben¬
betriebe, die Brikettfabrik, die Benzolgewinnung und vor allem
die Thomasschlackenmühle. Die Thomasschlacke, ein phosphor¬
säurereiches Nebenprodukt der Flußeisengewinnung, ist ein wert¬
volles Düngemittel, muß aber, um als solches dienen zu können,
aufs feinste vermahlen werden. Die feingemahlene, staubförmige
Thomasschlacke übt eingeatmet einen derartigen Einfluß auf die
Lunge aus, daß es häufig zur Entstehung von Lungenentzündung
bei den mit Zerkleinern und Mahlen der Thomasschlacke beschäf¬
tigten Arbeitern kommt. In dem von uns besichtigten Betriebe
findet deshalb der ganze Mahlprozeß in staubdicht ummantelten
Maschinen statt und die gemahlene Schlacke fließt durch ein
Rohr in den diesem vorgebundenen Sack, hinter dem noch als
weitere Schutzmaßregel eine Staubabsaugung angebracht ist.
Am Hittag des zweiten Tages fuhren wir von Duisburg
über Köln- Mühlheim nach Leverkusen, wohin die bekannte Firma
Fried r. Bayer & Comp, einen großen Teil ihrer Fabrikation
verlegt hat. Neben der weiträumigen Anlage des ganzen Werkes
ist hier imponierend die Fülle sozialer Fürsorgeeinrichtungen,
die das Werk geschaffen: Beamten- und Arbeiterwohnungen, eine
geradezu musterhaft eingerichtete Entbindungsanstalt, eine Haus¬
haltungsschule für Mädchen, eine Gartenbauschule, ein Gesell¬
schaftshaus für Arbeiter und eines für Beamte, Bibliotheken,
ärztliche Ordination in der Fabrik, Fürsorge für Lungenkranke
und vieles andere mehr. Ein Beamter ist ausschließlich mit der
Leitung dieses ganzen Fürsorgewesens betraut und ihm steht
seit neuester Zeit ein ..Sozialsekretär“ und eine „Sozialsekretärin“
zur Seite.
Am folgenden Page besichtigte ich noch zwei Blei hü t ten,
die eine an einem der schönsten Punkte des Rheintales gelegen,
die andere in unmittelbarster Nähe von Bad Ems. Diese letzt¬
erwähnte Hütte wird von Ing. R. Müller, dem Verfasser eines
ausgezeichneten, von der internationalen Vereinigung für gesetz¬
lichen Arbeiterschutz preisgekrönten Werkes über die Bekämpfung
der Bleigefahr in Bleihütten geleitet. Es ist ihm hier mit relativ
geringen und einfachen Mitteln gelungen, den Gesundheitszustand
der Arbeiter zu einem befriedigenden zu gestalten.
Am nächsten Abend kamen wir in Lugano an, wo am
folgenden Morgen die Vorbereitungen für den Delegiertentag der
internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz be¬
ginnen sollten.
*
D e r D elegiert e n t a g der internationalen V ereinigung
für gesetzlichen Arbeiterschutz. Lugano, 26. bis
28. September 1910.
Die Delegiertentage dieser Gesellschaft, die gegenwärtig
14 Landessektionen (u. zw. Deutschland, Oesterreich, Belgien,
Dänemark, Spanien, Frankreich, Holland, England, Italien, Ungarn,
Schweden, Norwegen, Schweiz, Amerika) zählt, treten alle zwei
•Tahre auf Schweizer Boden zusammen. Außer den Delegierten
der einzelnen Sektionen sind Regierungsvertreter aus den ge-'
nannten Ländern, außerdem noch Vertreter einzelner deutscher
Bundesstaaten, ein Vertreter des heiligen Stuhles und einer Luxem¬
burgs anwesend. Es ist eine Versammlung wirklicher Fachleute,
die hier, ca. 200 an der Zahl, Zusammenkommen, um über Fragen
praktischen Arbeiterschutzes zu beraten. War ursprünglich Haupt¬
zweck der Vereinigung internationale Vereinbarungen über Ar¬
beiterschutzgesetze vorzubereiten und für sie Propaganda zu
machen — die internationalen Vereinbarungen über das Verbot
gewerblicher Nachtarbeit der Frauen und über das Weißphosphor¬
verbot sind zum größten Teile ihr Werk - so ist die Vereinigung
jetzt über diesen ihren ursprünglichen Zweck hinausgewachsen
und berät heute auch über solche Arbeiterschutzimaßnahmen,
die zu ihrer Durchführung keiner internationalen Verträge be¬
dürfen. Sie will darauf hinweisen, wo ein Eingreifen der Gesetz¬
gebung oder der Behörden besonders wichtig ist und will an¬
geben, welche Mittel zur Behebung bestehender Mißstände not¬
wendig und praktisch durchführbar sind. Das von der Vereinigung
geschaffene, unter Leitung von Prof. Stephan Bauer stehende
„Internationale Arbeitsamt“ in Basel sammelt alles aut den gesetz¬
lichen Arbeiterschutz bezügliche Material und iührt die umfang¬
reichen, für jede Tagung notwendigen Vorarbeiten aus. Jede Lan¬
dessektion legt dem Delegiertentage Berichte und Untersuchungen
zu den auf der Tagesordnung stehenden oder sonst wichtigen
Fragen des Arbeiterschutzes vor. Die österreichische Sektion (Ge¬
sellschaft für Arbeiterschutz) legte heuer vor: Arbeiten über die
Regelung der Heimarbeit (Dr. Else C ronbach, Piof. Di exel .
Lohnwucher (Kienböck), über die Aktion der österreichischen
Regierung zur Bekämpfung der Bleigefahr (Ministerialsekretär
Dr. jur. Ehrenfeld), über Quecksilber (Teleky).
Der Schwerpunkt der Verhandlungen ruht nicht in den
Plenarsitzungen, sondern in den Beratungen der Kommissionen,
die für die einzelnen Hauptthemen gebildet werden und in die
jede Landessektion ihre entsprechenden Fachleute entsendet: Die
gewerbehygienische Kommission hatte diesmal eine reiche lages-
ordnung zu erledigen; es galt, die Grundzüge zur Regelung der
hygienischen Verhältnisse in einer Reihe von gesundheitsgefähr¬
lichen Industrien, über die schon in früheren Zusammenkünften
beraten würden war, nun endgültig auszuarbeiten und außer¬
dem die Beratungen über eine Liste der gewerblichen Gifte weiter¬
zuführen. Auf der Versammlung von Luzern waren Subkommis¬
sionen eingesetzt worden, die sich mit den einzelnen Themen be¬
schäftigen und Entwürfe für solche Grundzüge ausarbeiten sollten.
Diese Subkommissionen traten zwei Tage vor Beginn der Dele¬
giertenversammlung zusammen und ihrer Vorarbeit ist es zu
danken, daß die Kommission dann Grundzüge für die Regelung
der hygienischen Verhältnisse in keramischen Betrieben, in Drucke¬
rei- und Schriftgießereibetrieben und Grundzüge betreffend Lais-
sonarbeit, beschließen konnte. Diese Grundzüge, die dann mit einei
kleinen Aenderung von der Plenarversammlung angenommen
wurden, sollen im Wege einer Petition den Staatsregierungen als
Grundzüge für zu erlassende Verordnungen empfohlen werden.
And ere Kommissionen hatten über die Fragen der Kindei -
arbeit, der Nachtarbeit der Jugendlichen, des Maximalarbeitstages,
der Heimarbeit zu beraten.
Auf den Inhalt dieser Beschlüsse hier weiter einzugehen,
ist wohl nicht, am Platze, erwähnt sei hier nur noch, daß die
Delegiertenversammlung in Erneuerung ihres Beschlusses von
1906* es für notwendig erklärte, daß durch die Gesetzgebung den
zuständigen Behörden das Recht gegeben werde, für Verrichtungen
und Berufe mit besonderer Gesundheitsgefährdung die tägliche'
Arbeitszeit festzusetzen.
Da es sich bei diesen Beratungen fast stets um Detailiragen
handelt, so können nur wirkliche Fachleute hier mit Erfolg
mitsprechen und in der Tat finden sich bei diesen Delegierten¬
tagen Fachleute nicht nur aus allen Ländern sondern auch aus
den verschiedensten Berufen und aus allen Parteilagern zusam¬
men : Universitätsprofessoren, höchste und hohe Staatsbeamte,
die Vorstände der arbeitsstatistischen Aernter der verschiedenen
Länder, die Chefgewerbeinspektoren und Gewerbeinspektoren, Ge¬
werbehygieniker, Privatgelehrte und Parlamentarier aller Partei¬
richtungen. 1 ' . ri
Dieses Zusammenarbeiten theoretisch und praktisch erlali-
rener Männer, von denen jeder gerade auf seinem Gebiete mit¬
arbeitet, verbürgt nicht nur wertvolle Ergebnisse, sondern es
macht auch die Beratungen selbst für jeden interessant und lehr¬
reich.
* i
Nach Schluß der Versammlung (28. September) gönnten
wir uns einige Tage Ruhe ; auf der Heimreise besuchten wir die
erste Klinik für Berufskrankheiten, die „Clinica del La-
voro“ in Mailand. Diese Klinik, eines der Institute für ärztliche
Fortbildung in Mailand, ist von der Stadt Mailand über Beschluß
vom 20. November 1902 errichtet worden. Die Eröffnung der
Klinik erfolgte am 20. März 1910.
Es ist ein schönes, ganz modern gebautes Krankenhaus mit
hellen luftigen Krankensälen, die Platz für 90 Kranke bieten
und mit schönen Ambnlanzräumen. Ungemein reichlich ist
es mit Laboratorien ansgestattet, es besitzt gut eingerichtete
Laboratorien für chemische Untersuchungen, für physikalisch-che¬
mische und physikalisch -klinische Untersuchungen und ein ge¬
radezu prachtvoll eingerichtetes Röntgenlaboratorium, große Bi¬
bliotheksräume, einen Seziersaal und einen Hörsaal. Die Klinik
soll nicht nur Kranke heilen sie soll nicht nur praktischen Zwecken
dienen von diesen sei noch die periodische Ueberwachung von
Arbeitern .in gesundheitsgefährlichen Betrieben erwähnt sondern
sie soll auch die Ursachen der Berufskrankheiten und überhaupt
die gesamte „Pathologie der Arbeit“ studieren, unsere Erkenntnis
Nr 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
73
auf diesen Gebieten vertiefen und diese Kenntnisse durch Ertei¬
lung von Unterricht an junge Aerzte verbreiten. Allen diesen
Studien und Forschungen — und wie viel ist hier noch zu er¬
forschen! — dienen die großen und schön eingerichteten Labo¬
ratorien, dient der große Stab von Aerzteri (zehn Aerzte), an
deren Spitze Prof. Devoto, der geistige Schöpfer dieser Klinik,
ihr Direktor und Leiter, steht. Prof. Devoto und sein bewährter
Assistent, Prof. Carozzi, führten uns voll berechtigten Stolzes
durch alle Räume des weitläufigen Hauses.
In der Klinik hat auch die „Permanente internationale Kom¬
mission zum Studium der Gewerbekrankheiten“ ihren Sitz, Ca¬
rozzi ist ihr Schriftführer. Mit ihm, Prof. Devoto und Senator
De Christ of oris besprach ich noch manches über die Aus¬
gestaltung des 111. internationalen Kongresses für Gewerbekrank-
h 0iten, der im Herbst 1914 in Wien stattfinden soll.
Dann ging es heimwärts.
Heferate.
Ueber Scharlach.
(Der Scharlacherkrankung zweiter Teil.)
Yd Primararzt Dr. Dionys Pospischill und Dr. Fritz Weiß.
Berlin 1911, S. Karge r.
Erstaunlich ist das große Material, das den Autoren zur
Verfügung stand; zirka. 3000 Fälle, sind in einem Zeitraum von
drei Jahren zur Beobachtung gekommen, als deren Resultat eine
Summe interessanter Tatsachen iti fesselnder Weise dargestellt
wird. Das Thema behandelt nicht die initialen scharlach-
erscheinungen, sondern jenen Komplex, der nach einem sym-
ptomenfreien Intervall gewöhnlich anfangs der dritten Woche
oder auch später sieh einstellt, dessen Mittelpunkt recht häufig
die Nephritis bildet, um die sich eine Reihe anderer Erschei
nungen zu gruppieren pflegt. Die Gleichartigkeit der Symptome
bis auf die Nephritis — mit jenen des primären Scharlachs,
bestehend in Fieber, Drüsenschwellung, Nephritis, Rachenerkran¬
kung und Herzerscheinungen, bestimmen die Autoren von einem
„zweiten Kranksein“ bei Scharlach zu sprechen. Das klinische
Bild kann durch Hinzutreten eines neuerlichen Exanthems noch
vervollständigt werden^Nicht immer ist mit dieser ersten Attacke
das zweite Kranksein erschöpft; nach einem Intervalle kommt
es neuerdings zu Anfällen, die der ersten Attacke völlig gleichen
können, oder auch nur aus einzelnen Symptomen — zum Gruppen¬
bild des zweiten Krankseins gehörig — bestehen können. Die
Temperaturkurve — - Intervall, Anfall — läßt sich am besten mit
jener der Febris recurrens vergleichen, das* klinische Bild er¬
innert an die Serumkrankheit. Das zweite Kranksein ist nicht
als Folgekrankheit des Scharlachs, nicht als Streptokokkenwirkung
anzusehen, sondern als Effekt dels noch virulenten Scharlach¬
erregers aufzufassen. Es liegt im Wesen der Infektion, ob ein
„zweites Kranksein“ sich einstellt oder ausbleibt und nicht in
unserer Macht, dasselbe zu verhüten oder herbeizuführen.
Die einzelnen Symptome des „zweiten Krankseins“ werden
von den Autoren in eingehendster Weise besprochen. Wir hören,
daß mit dem nephritischen zweiten Kranksein bisweilen Lung-en-
crsehein ungen, Pneumonie1, Pleuritis oder auch pyämische Pro¬
zesse, eitrige Perikarditis, Gelenkseiterungen usw. sich kombi¬
nieren können. Die Nephritis leitet sich mitunter mit abdomi¬
nellen, an Appendizitis erinnernden Schmerzen ein (Pseudoappen¬
dizitis scarlatinosa). Mit Ausnahme von septikopyämischen Endo¬
kardveränderungen, die immer letal .enden, soll es während des
Scharlachs zu keinen anderen anatomischen Veränderungen am
Endokard kommen, so daß nach der Ansicht von Pospischill
und Weiß dem Scharlach in der Aetiologie der Vitien. keine
Rolle zuzuschreiben ist. Therapeutisch leugnen die Autoren auf
Grund ihrer großen Erfahrung jede Berechtigung einer strengen
Milchdiät, durch die der Ausbruch einer eventuellen Nephritis
nicht verhindert werden kann.
Auch der Serumtherapie gegenüber verhalten sie sich völlig
ablehnend. Ihre Maßnahmen sind streng konservativ; einen wirk¬
lichen therapeutischen Erfolg sahen sie nur hei der l ramie
durch Digitalis, Schwitzbäder und Venäsektio'n, Seihst hei den
eventuellen eitrigen Metastasen, insbesondere bei der Mastoiditis
raten sie von jedem chirurgischen Eingreifen ab. Die Mortalität
stieg nicht höher als 5-5%.
Abgesehen von der Schilderung ries zweiten Krankseins
enthält die Broschüre noch manch Wissenswertes über Heimkehr
fälle, Herz- und Gelenkerscheinungen, über Befunde des nicht
nephritischen Scharlachharns, über portale- Drüsenschwellungen
hei mit Ikterus einhergehenden schweren Sclia rlacherkranku ngen
und anderes mehr.
Alles in allem enthält die lesenswerte Abhandlung eine
Fülle interessanter Tatsachen, die lediglich das Result t eim r
exakten klinischen Beobachtung genannt werden können.
*
Ueber eine eigenartige familiär-hereditäre Erkrankungs¬
form (Aplasia axialis extracorticalis congenita).
Von Priv.-Doz. Dr. L. Merzbaclier.
Berlin 1910, Jul. Springer.
Die klinischen Erscheinungen der hier monographisch ab¬
gehandelten familiär-hereditären Erkrankung setzen in den ersten
Lebensmonaten ein, zeigen eine rasche Progression bis zum
sechsten Lebensjahr, dann eine langsamere Entwicklung. In
ihrer vollen Entwicklung ist die Krankheit klinisch charakterisiert
durch : Nystagmus horizontalis, Bradylalie, Erschwerung in der
Verbreitung motorischer Impulse (Störung der Sukzession und
Koordination der Bewegungen, Ataxie, Intentionstremor, Mitbewe¬
gungen, maskenhaften Gesichtsausdruck), Paresen der Rücken-,
Becken- und Bauchmuskulatur, Lähmungen und spastische Kon¬
trakturen der unteren Extremitäten, Steigerung der Patellarreflexe.
Bialbinski, Fehlen der Bauchdeckeinreflexe. Dazu kommen als
häufige Begleiterscheinungen trophische Störungen der Knochen,
vasomotorische Störungen im Gebiete der unteren Extremitäten,
Abnahme der geistigen Fähigkeiten. Die Kranken können ein
hohes Alter erreichen und sterben an einer interkurrenten Er¬
krankung. Die neun Fälle, die Verf. beschreibt, gehören alle
einer Familie an u. zw. — wie er konstatieren konnte — der¬
selben Familie, der die im Jahre 1885 (Arch, für Psych., Bd. X\ I)
von Pelizaeus beschriebenen Fälle derselben Erkrankung ent¬
stammen. Es ist eben ein, exquisit hereditär-familiäres Leiden,
das sich bereits in der vierten Generation ausgebreitet hat. Die
Vererbung erfolgt nach einem bestimmten Schema, das bisher
keine Ausnahme zugelassen hat. Gesund bleibende Mütter über¬
tragen die Krankheit auf ihre Kinder, u. zw. vorwiegend auf die
Söhne; von den 14 Kranken sind nur zwei weiblichen Geschlechts.
Verf. hatte nur Gelegenheit einen Fall pathologisch-anato¬
misch zu untersuchen und auch von diesem nur Gehirn lund
Medulla oblangäta. Er fand ein in allen Dimensionen verklei¬
nertes Gehirn von äußerlich normaler Beschaffenheit, namentlich
Kleinhirn, Poris' und Medulla oblangata stark verkleinert, Balken
und Fomix verkümmert. Die Verkleinerung der Hemisphären
ist auf hochgradige Atrophie- der weißen Substanz allein zurück¬
zuführen. Histologisch fanden sich schwere Veränderungen der
Markscheiden und Achsenzylinder, in denen Verf. den Ausdruck
einer Mißbildung der betreffenden Teile sieht und die er deshalb
nach ihrer charakteristischen Erscheinungsform als Aplasia
axialis extracorticalis congenita bezeichnet.
*
Säuglingsschutz durch Staat, Gemeinden und Private
innerhalb des deutschen Sprachgebietes.
Von Dr. A. Würtz.
Stuttgart 1910, Ferd. E n k e.
Eine eingehende1 kritische Besprechung aller im Deutschen
Reiche bereits bestehenden oder wenigstens vorbereiteten Ma߬
nahmen und Institutionen, deren Endzweck die Bekämpfung der
Säuglingssterblichkeit sein soll. Die wichtigsten in Betracht kom¬
menden Faktoren, die vom Verf. in treffender Weise erörtert
worden sind: eifrigste Propaganda des Selbststillens, Wohnungs¬
hygiene, Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, weiters ma¬
terielle Unterstützung Gravider in den letzten Schwangerschalts-
wochen, Aufnahme in Entbindungs- und Wöchnerinnenheimo,
Stillprämien, Milch- und Stillkassen usw. Damit ist aber Ji s
soziale, volkswirtschaftlich so wichtige Frage keineswegs er¬
schöpft; der Säuglingsfürsorge muß die Fürsorge für das altere
I Kind folgen. Staat, Gemeinde • und private Vereine sollen in
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
allen ihren dasselbe Ziel verfolgenden Bestrebungen gemeinsam
vorgeben, dann wird nicht nur die Sterblichkeit der Säuglinge
bedeutend zurückgehen, sondern auch der beste Weg zur Heran¬
bildung einer gesunden Generation gefunden sein.
*
Einführung in die moderne Kinderheilkunde.
Ein Lehrbuch für Studierende und Aerzte.
Von Prof. Dr. T5. Snlge.
Zweite, vermehrte Auflage.
Berlin 1910, Jul. Springer.
Schon das Erscheinen der zweiten Auflage dieses Lehr¬
buches kurz nach der ersten beweist, daß- es im allgemeinen
seinen Zweck erfüllt und einem tatsächlich vorhandenen Be¬
dürfnis nach einer kompendiös gefaßten Einführung in die- mo¬
derne Kinderheilkunde nachgekommen ist.
Besonders hervorhebenswert erscheint die klare und über¬
sichtliche Fassung der wichtigsten Tatsachen der Säuglings¬
physiologie, denen sich eine leicht verständliche und doch recht
kurz gefaßte Darstellung der Säuglingspathologie und -Therapie
anschließt. Im Kapitel der Verdauungs- und Ernährungsstörungen
des Säuglings erscheinen die neuesten Forschungsergebnisse, die
sich an die Namen Czerny- Ke 11er, Fink eiste in und andere
knüpfen, verwertet. Von Mängeln, die dem Ref. bei der Durchsicht
ins Auge fielen, seien heryorgehoben : die Nichterwähnung der
doch heute schon recht ermutigende Erfolge auf weisenden Serum¬
therapie der Meningitis cerebrospinalis, die Abhandlung der
M ü 1 her- B a r 1 o w sehen Krankheit im Kapitel Rachitis, sowie
die des Myxödems unter den Erkrankungen des Nervensystems,
wozu nach Ansicht des Ref. doch keinerlei Berechtigung vorliegt.
Im übrigen wird zweifellos auch die vorliegende zweite
Auflage dieses Lehrbuches unter Aerzten und Studenten ver¬
diente Verbreitung finden.
*
Oxypathie.
Von Prof. Dr, Wilhelm Stöltzner.
Berlin 1911, S. Karger.
In der ganzen Abhandlung wiederholt sich gewissermaßen
ein Leitmotiv, die chronische Säureintoxikation als Ursache einer
großen Reihe von pathologischen Zuständen, deren Aetioloaie
bisher recht unklar war. Was als Arthritismus, Lithämie, exsuda¬
tive Diathe-se beschrieben wurden, will Stoeltzner als „Oxy¬
pathie“ zusammenfassen.
Das Wesen der „Oxypathie“ beruht in einer alimentär
oder konstitutionell bedingten Insuffizienz der Fähigkeit, unver¬
brennbare Säuren unter so weitgehender Schonung des Bestandes
an fixen Alkalien aus dem Körper auszuscheiden, daß eine ge¬
sundheitliche -Schädigung nicht zustande kommt.
In allen Lebensaltern kann die Oxypathie entweder die
direkte Ursache für gewisse Krankheitsbilder und Anomalien
abgeben oder wenigstens die Disposition für dieselben schaffen.
Schon im frühen Säuglingsalter kann sie — künstliche Nahrung
vorausgesetzt' — die Ursache des Nichtgedeihens sein. Die Kuh
milch ist im Gegensatz zur Frauenmilch gleichzeitig reich an
Kalk und Phosphorsäure und an Fett. Durch Zusammentreffen
des phosphorsäuren Kalkes mit dem Fett kann eine Schädlich¬
keit entstehen. Das eine Spaltungsprodukt des Fettes, das Gly¬
zerin, kann sich mit phosphorsäurem Kalk nicht so umsetzen,
daß ein schädliches Produkt entsteht. Die durch die Fettspal¬
tung freiwerdende Fettsäure dagegen kann den bis dahin an Phos¬
phorsäure gebundenen Kalk an sich reißen und dadurch Phosphor-
saure, also eine unverbrennbare Säure, freimachen. Durch Bin¬
dung des Kalkes an die an sich verbrennbare also unschädliche
Fettsäure und Ausscheidung der entstandenen Kalkseife, bleibt
der Kalk der Resorption entzogen, während die unverbrennbare
Phosphorsäure nunmehr resorbiert wird und die pathogene
Säurewirkung entfalten kann. Das mangelhafte Gedeihen, das sich
als Folge der Ernährung mit Kuhmilch bei so vielen Säuglingen
einstellt, bezeichnet Stoeltzner als oxypathische Atrophie.
Das Problem der künstlichen Säuglingsemährung soll darauf
beruhen, der Kuhmilch ihre oxypathogenen Eigenschaften zu
nehmen; dies geschieht am besten und einfachsten durch Zusatz
von Natriumzitrat zur Kuhmilch (4 g auf 1 1 Kuhmilch).
Auch die Allgemeinerscheinungen der Rachitis (Blässe der
Haut, Schwitzen usw.), das bronchitische Asthma, der Lichen
urticatus, das periodische Erbrechen u. a. haben ihre eigentliche
Ursache in der chronischen Phosphorsäurevergiftung. Für das
Ekzem, die Skrofulöse schafft die Oxypathie nur den geeigneten
Boden. Der einheitlichen Auffassung aller dieser Zustände ent¬
spricht auch eine einheitliche Therapie Stoeltzners.
Zitronensaures Natron und vegetarische Diät, wirken am
besten der Oxypathie entgegen. Carl Deiner.
*
Die Erkrankungen des Blinddarmanhanges (Processus
vermiformis.)
Mit 10 Tafeln und 22 Abbildungen im Text.
*
Die Gewächse der Nebennieren.
Von Prof. Dr. med. Karl Winkler, Privatdozent, I. Assistent am patbol.
Institut der Universität Breslau.
Mit 26 Abbildungen auf 4 Tafeln.
Jena 1909/10, Verlag von Gustav Fische r.
Beide Bücher sind von der Verlagsbuchhandlung in jeder
Hinsicht sehr gut ausgestattet. Inhaltlich enthalten sie kaum
neue Tatsachen oder neue Gesichtspunkte. Der Referent will
sich daher gar nicht auf eine- Kritik von Einzelheiten cinlassen,
sondern hält es für das Beste, nur die wichtigsten Sätze aus
Einleitung und Vorwort und zusammenfassend die Inhaltsangabe
zu referieren:
In der ersten Schrift (334 Seiten) hat der Verfasser den
Versuch gemacht, die Erkrankungen des Blinddarmes ,,im Zu¬
sammenhänge“ auf Grund des Breslauer Materiales zu schildern.
Er beschäftigt sich außer mit den gewöhnlichen entzündlichen
Veränderungen und ihren Folgen, insbesondere mit der Tuber¬
kulose, den periappendizitischen Abszessen, den Beziehungen
des Wurmfortsatzes zum Bauchfell, den Beckenorganen, sowie
auch den Blut- und Lymphgefäßen und am Schlüsse der Arbeit
mit den Gewächsen. „In meiner Arbeit war ich bemüht, die
krankhaften Veränderungen stets im engsten Anschluß an die
anatomischen Präparate und die mikroskopischen Bilder zu
schildern.“ Doch sind die insbesondere auf den Tafeln beige¬
gebenen Abbildungen zum Teil weder instruktiv noch über¬
haupt verständlich.
In der zweiten Arbeit (197 Seiten) hat der Verfasser eben¬
falls „den Versuch gemacht, die Gewächse der Nebennieren
im Zusammenhang zu schildern“ ; u. zw. in -erster Linie diejenigen
Neubildungen, die als sogenannte Hypernephrome nicht nur be¬
züglich ihres anatomischen Baues großes Interesse erweckt, son¬
dern zugleich .auch -eine hohe klinische Bedeutung erlangt
haben. Es standen ihm dazu die innerhalb der letzten zehn
Jahre im Breslauer Institute zur Beobachtung gekommenen Ge¬
schwülste zur Verfügung u. zw. 27 1 Fälle von „suprarenalen“
Neoplasmen. Der Verfasser teilt die Formen in „autochtbonc
und „aberrierte“ Nebennierengewächse ein und stellt sich damit
in die Reihe jener, welche alle di-ese Geschwülste von Neben¬
nieren und nicht vom Nierengewebe ableiten. Er ist der Mei¬
nung, daß ihr biologisches Verhalten, ihre Verbreitung im Or¬
ganismus, die Wege und Formen ihrer Metastasierung genügen,
um ihnen eine besondere Stelle in der Aetiologie einzuräumen.
Doch ist es von Interesse, daß er vier Fälle beobachten
konnte, wo die Erscheinungen der Geschwulstbildung unmittel¬
bar nach einem Trauma auftraten, so daß an einen Zusammen¬
hang dieser Dinge gedacht werden muß. Zum Schlüsse wird
auch auf die Beziehungen der Nebennierengeschwülste zum
Morbus Addisoni kurz eingegangen. TI. Al brecht.
*
Mikroskopie und Chemie am Krankenbett.
Von Prof. Dr. H. Lenliartz.
Sechste Auflage.
Klein 8°, 417 Seiten.
Berlin 1910, Julius Springer.
Nach dem Tode des Autors ist die neue Auflage seines be¬
liebten Lehrbuches erschienen. Das Titelbild gibt die Züge des
Verewigten wieder. Das Buch hat alle Vorzüge der früheren Auf¬
lagen, Handlichkeit, leicht faßliche Ausdrucksweise, ausführliche
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
75
Darstellung der in den klinischen Laboratorien üblichen Tech¬
niken mit Ausscheidung der eigentlichen rein chemischen Arbeit,
sorgfältige Erörterung der diagnostischen Bedeutung der Befunde,
zahlreiche und gute Abbildungen. Besonders eingehend ist die
Mikroskopie der nativen Sekrete und Exkrete .bearbeitet, ein
Lntersuchungsverfahren, das heute leider vielfach zugunsten der
umständlicheren und nicht selten weniger ergebnisreichen Unter¬
suchung des konservierten und gefärbten Objektes vernachlässigt
wird. Nur wenige neuere Untersuchungsmethoden fehlen (Anti¬
trypsin, Essigsäurefällung in Punktionsflüssigkeiten; die Wasser¬
mann sehe Reaktion wird als nicht in den Rahmen des Buches
gehörig, auf S. 396 nur erwähnt, aber nicht beschrieben). Im
ganzen genommen, wird auch die neue Auflage dem Studie¬
renden, dem Spitalsarzte und dem Praktiker, der sich mit mikro¬
skopischen und chemischen Untersuchungen beschäftigen kann,
ein treuer Ratgeber und Führer sein.
*
Die Zuckerkrankheit und ihre Behandlung.
Von Prof. Dr. Carl v. Noorden.
Fünfte, vermehrte und veränderte Auflage.
8°, 449 Seiten.
Berlin 1910, A. Hirsch w aid.
Die neue Auflage des vortrefflichen Buches ist in mehreren
Abschnitten ein neues Werk geworden. So ist insbesonders die
Theorie des Diabetes vollständig neu bearbeitet u. zw. zum
Teile auf den Arbeiten aus der Klinik des Verfassers neu be¬
gründet, die Physiologie und Pathologie des Zuckerhaushaltes
umgearbeitet. Das wichtige Kapitel über die Behandlung des
Diabetes umfaßt jetzt 144 Seiten, während es in der ersten
Auflage 67 Seiten zählte. Ganz besonders eingehend ist die
diätetische Behandlung erörtert und hier zeigt sich auf jeder
Seite die überragende praktische Erfahrung des Verfassers. Die
Nahrungsmitteltabellen sind sehr erweitert. Es ist unnötig, zu
sagen, daß die Eigenschaften der früheren Auflagen, die übersicht¬
liche Anordnung des Stoffes und die musterhaft klare Daistellung
auch in vorliegender Bearbeitung erhalten sind. V ei immei
das Buch zur Hand nimmt, ob selbständiger Forscher oder prak¬
tischer Arzt, wird es mit Vergnügen lesen mul reiche Belehrung
daraus schöpfen. kl. S t er n b e r g.
Aus verschiedenen Zeitschriften.
33. Fortschritte in der gynäkologischen Praxis.
Von Prof. Dt. Hammerschlag in Berlin. Neue Gesichtspunkte
in technischer und medikamentöser Beziehung in der sogenannten
kleinen Gynäkologie, die häufig in der Hand des praktischen
Arztes liegt, sollen hervorgehoben werden. Um seine Hände
möglichst frei zu halten von infektiösen Keimen und um sich
vor einer spezifischen Fingerinfektion zu bewahren, gehe dei
Praktiker so vor, daß er prinzipiell jede g y n ä k o 1 o g i s e h e
Exploration nur mit der mit einem Gummihandschuh be¬
kleideten Hand unternimmt oder wenigstens einen Gummischutz
anwendet, der die explorierenden Zeige- und Mittelfinger be¬
deckt und mit einer kleinen Manschette sich vor den Ramm
legt. Die Feinheit des Tastgefühls wird bei einiger Uebung fast
gar nicht verringert. In der Behandlung der Katar i he
spielten früher die Spülungen der verschiedenen Art eine große
Rolle; sie wurden, ebenso wie die Behandlung mit Auswischen
und Austupfen der Vaginalwand mit Wattepinseln (in adstringie¬
rende oder desinfizierende Lösungen getaucht) als wenig oder
'erst nach langdauernder Behandlung erfolgreich erkannt. Die
von Landau empfohlene Hefebehandlung des Fluors hat sich,
wenn auch ihre theoretische Begründung sich nicht bestätigte,
als wirkungsvoll bewährt; die Hefe wirkt in hohem Grade bak¬
terizid, sie wird daher bei infektiösen Vaginülkatarrhen mit Vor¬
teil angewandt. Es gibt da zahlreiche Präparate, die sterile Dauer¬
hefe, das Zymin. das Rheol u. a„ die Xerase, neuerdings von
Abraham empfohlen, in Pulverform unld in Kapseln. Xerase
besteht aus Hefe, Bolus, Zucker und Nährsalzen, Verf. kann die
günstigen Erfahrungen Abrahams durchaus bestätigen. Nach
Reinigung und Austrocknung der Vagina werden 2 bis o g i cs
Pulvers eingeblasen, resp. wird eine Kapsel vor die Portio gelegt
und mit einem Wattetampon fixiert; nach 24 bis 48 Stunden wird
der Tampon entfernt, darnach Spülung und eventuell Wien
holung der Behandlung. In vielen Fällen von vaginalem Pluoi
genügt die Einbringung eines indifferenten Pulvers (Lenicet, eine
pulverisierte essigsaure Tonerde, oder pulverisierte Bolus a Iba,
oder pulverisierter Gips), welche Pulver mit. einem Pulverbläser
(von Nassauer angegeben) oder mit einem Wattepinsel im
Milchglasspekulum in die Vagina eingebracht werden. Vor Appli¬
kation des Pulvers soll die Vaginalwand vom vorhandenen Sckr
befreit weiden. In ähnlicher Weise wirkt übrigens die wieder¬
holte Einbringung von Jodoform- oder Vioformgaze. Ein Nachteil
dieser Methode ist, daß nach etwas längerdauemder Anwen¬
dung ein gewisser Reizzustand mit kleinen Blutungen resultiert.
In frischen Fällen von Gonorrhoe (Erkrankung der Urethra,
eventuell des Introitus) verordne man nur Bettruhe und geeignete
Diät; in subakuten oder chronischen Fällen vermeide man Spü¬
lungen, bringe vielmehr die Urethral-Gonorrhoe durch mehr¬
faches Einlegen von Protargol- oder Isuralstäbchen zur Heilung,
während man gleichzeitig eine Pulverbehandlung der Vagina
(neben oberwähnten Mitteln noch Isoform, von Asch warm em¬
pfohlen) einleitet. Hat die Gonorrhoe die Zervixschleimhaut er¬
reicht, so lege man öfters Aetzstäbchen ein (aus Protargol oder
Zink und Alaun ana p., im Simon sehen Spekulum alle fünf
bis acht Tage einzuführen); ist die Gonorrhoe über den inneren
Muttermund hinaus und hat sie das Corpus uteri ergriffen, so
behandle man nicht mehr lokal, um das Uebergreifen auf Tuben
und Bauchfell zu vermeiden, sondern allgemein, etwa mit Hei߬
luft, Badekuren usw. Entzündliche Vorgängern d er U m-
gebung des Uterus werden in jüngster Zeit, in der Weise
behandelt, daß man Arzneimittel mit Vasogen mischt, da dann
die Resorption in vollkommener Weise vor sich geht,. Das Va¬
sogen soll vor der Applikation erwärmt werden (kleine Termo-
phore), da es nur so zur Imprägnierung der Wattetampons ver¬
wendet werden kann. Bei chronischen Entzündungen der Um¬
gebung des Uterus, insbesondere der Parametrien, kommt viel¬
fach die Massagebehandlung (manuelle, besser instrumenteile, elek¬
trische Vibrationsmassage) mit Nutzen zur Verwendung. Für
die Behandlung chronischer Adnexerkrankungen und älterer ent¬
zündlicher Exsudate in der Umgebung des Uterus empfiehlt Ver¬
fasser neben dein älteren Methoden (Bettruhe, Diät, Prießnitz-
umschläge,. Bäder, Ichthyol), die neueren Verfahren in Form
von Heißluftbehandlung (Heißluftkasten oder elektrischen Licht¬
bogen), die Moor- u,nd Fangoumschläge, die Belastung durch
einen mit Schrot gefüllte^ Beutel, eventuell Einführung eines
mit Quecksilber gefüllten Kolpeurynters in die Scheide, wenn
das Exsudat tief unten sitzt. Bezüglich der Einführung eines
Laminaria s ti ft es zur Erweiterung der Zervix empfiehlt Ver¬
fasser nach dem Vorschläge von Stolz stets zwei Stifte neben¬
einander einzuführen, da sie leichter als ein einzelner, staik ge¬
quollener Stift zu entfernen sind, zumal, wenn man sie noch dreht.
Das Vaginalende des Stiftes gestalte man scheibenförmig, damit
er nicht, in Iden Uterus hineinschlüpfe. Verf. verwendet gern der
Länge nach völlig durchbohrte Stifte, die fest und. sicher mit
einem starken Seidenfaden armiert sind. Zum Schlüsse bespricht
Verf. die Behandlung der Zustände, die sich durch Störungen
der Menstruation geltend machen. Ein großer Teil der Men¬
struationsstörungen beruht nicht auf Endometritis, eine verstärkte
Blutung z. B. ist vielfach der Ausdruck einer allgemeinen Er¬
krankung, bei welcher Veränderungen der Ovarialfunktion, Sto¬
rungen des Stoffwechsels, der Blutbeschaffenheit und Blutver¬
teilung im Körper in Betracht kommen. In solchen Fällen leglo
man die Diät, die körperliche Bewegung, empfehle Luft- oder
Sonnenbäder, reiche Nährpräparate, lasse eine rationelle hvdro-
pathisebe Behandlung oder Badekur durchmachen. Hat eine Frau,
sonst normal menstruiert, gelegentlich eine längere Periodenblu¬
tung, so versuche man Salipyrin (drei- bis viermal täglich 0-50 g i
oder’ wende ein Styptikum an (sehr zu empfehlen auf Grund
eigener Erfahrungen das Secacomin, fünf Tropfen drei- bis viermal
täglich oder Styptizintabletten ä 0-05 viermal täglich). Bei dys-
menorrhoischen Beschwerden erforsche man nach Möglichkeit
die Ursache (nicht selten Tuberkulose, Tuberkulinreaktion.i und
beseitige sie; kann man keine Ursache eruieren oder handelt
es sich um eine Virgo, so mache man einen Versuch mil dei
76
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
Kokainisierung der Nase (drei bis vier Tropfen einer 10°, eigen
Lösung auf die Schwellkörper und die Schleimhaut des Septums
zu pinseln), da es in einer Anzahl von Fällen damit tatsächlich
gelingt, die lästigen Symptome zu beseitigen oder wenigstens zu
verringern. - — (Deutsche mediz. Wochenschrift 1910, Nr. 50.)
E. F.
* »
34. Die Stellung der Hydrotherapie in der Be¬
handlung akuter Infektionskrankheiten. \ on Doktor
Alois Strasser, Privatdozent an der Universität in Wien. Die
durchaus empirische, aber in ihrer weiteren Entwicklung nach¬
träglich wissenschaftlich festgesetzte Hydrotherapie wird so¬
lange ihren Platz in der Therapie der infektionskrankheitein
behaupten, als nicht für jede dieser Krankheiten das erwünschte
spezifische Heilmittel gefunden sein wird. Aber auch dann noch
wird für ihre Anwendung genügend Raum übrig bleiben, da ein
Kampf gegen die Infektion, ob er nun durch den angegriffenen
Organismus allein durchgekämpft oder durch künstlich einge¬
führte Antitoxine unterstützt wird, immer Schädigungen des
Kampfplatzes zurückläßt, für deren Reparatur die hydrothera¬
peutischen Prozeduren stets werden herbeigezogen werden
müssen. — (Jahreskurse füc ärztliche Fortbildung 1910, 11. 8.)
K. S.
*
35. (Aus dem Marien-Hospital auf dem Venusberg in Bonn.)
Seltene Verengerungen des Kehlkopfes. Von Prof. Doktor
11. Graff. Verf. beschreibt zwei merkwürdige Fälle von Kehlkopf¬
stenosen. Die Ursache im ersten Falle ist bisher nirgends erwähnt.
Ein GOjähriger .Mann klagte seit zwei Jahren über zunehmende
Atembeschwerden, die durch hinzutretende Katarrhe der Luft¬
wege außerordentlich heftig wurden. Er wurde von verschiedenen
Seiten, auch von Spezialisten, ohne Besserung behandelt. Endlich
wurde er zum Verfasser zu einem eventuellen operativen Eingriff
geschickt. Der Einblick in den Kehlkopf war schwierig, doch
wurden keine krankhaften Veränderungen im Kehlkopfinnern sicht¬
bar. Bei Inspektion des Hachens zeigte sich ein rundlicher Tumor,
der sich von der hinteren Rachenwand abhob und vor den Kehl¬
kopfeingang legte; dadurch wurde der Kehlkopf nach vorne um¬
gekippt. Die Halswirbelsäule war deutlich lordotisch. Bei der
Röntgendurchleuchtung zeigte sich eine starke Biegung der Wirbel¬
säule, aber keine Anhaltspunkte für eine Neubildung. Verf. hielt
aber doch einen Knochentumor der Wirbelsäule für möglich und
entschloß sich zu einem Probeeinschnitt. Er ging vom vorderen
Rande des Sternokleidomastoideus direkt auf die Wirbelsäule los,
legte die Vorwölbung frei und löste die hintere Rachenwand in
einer Ausdehnung von 10 cm Länge ab. Die Vorwölbung war glatt,
gehörte direkt der Wirbelsäule an. Verf. meißelte in der Höhe
des vierten bis sechsten Halswirbels eine cm dicke Knochen¬
schicht von der vorderen Wand der Wirbelsäule ab. Das abge¬
meißelte Stück erwies sich mikroskopisch als normaler Knochen.
Die Vorwölbung war jetzt viel geringer. Verf. war von der
Operation nicht befriedigt. Der Erfolg war aber ein überraschend
guter. Am dritten Tage nach der Operation konnte Patient besser
atmen und schlucken und am zehnten Tage verließ er das
Spital. Verf. hat zwei Monate nach der Operation noch einmal
untersucht; die Beschwerden waren dauernd verschwunden. Der
Einblick in den Kehlkopf war vollkommen frei. Es handelt sich
in diesem Falle um eine kolossal starke Lordose der Halswirbel¬
säule. deren höchste Konvexität den fünften oder sechsten Hals¬
wirbel betrafen, die sich vor den Kehlkopfeingang vorgelegt und
so die Atem- und Schluckbeschwerden verursacht hatten. Noch
interessanter ist die zweite Krankengeschichte. Die Diagnose wurde
hier so spät gestellt, weil die Anamnese vollkommen versagte.
Ein 25jähriger junger Mann erwachte im Februar 190S eines
Morgens nach einem Tanzvergnügen mit Halsschmerzen und
Schluckbeschwerden, die ärztlicherseits auf eine Angina und
Laryngitis zurückgeführt wurden. Auf entsprechende Behandlung
keine Besserung. Die Beschwerden wurden stärker. Ein Spezialist
konstatierte eine entzündliche Schwellung des ganzen Ivehlkopf-
innem und behandelte ihn unter der Diagnose Larynxtuberkulose.
Nach sechs Wochen war die Dyspnoe so stark, daß tracheoto-
miert werden mußte. Wiederholte Dekanulementversuche mußten
wegen intensiver Dyspnoe aufgegeben werden und nach mehreren
Monaten wurde Pat. mit der Kanüle als unheilbar aus dem
Krankenhause entlassen. Die Diagnose war zweifelhaft geworden,
man hatte auch inzwischen eine antiluetische Therapie eingeleitet,
aber ohne Erfolg. Sieben Monate nach seiner Erkrankung kam
Patient ins Bonner Krankenhaus. Verf. konstatierte eine chronische
Entzündung im Kehlkopfinnern. Epiglottis ödematös und verdeckte
den Einblick in den Kehlkopf. Als eine mehrmonatige Bougier-
bchandlung absolut keinen Erfolg hatte, entschloß sich Verfasser
zu einer Laryngofissur. An der hinteren Wand des Larynx fand
sich eine 5 cm lange Narbe, die exstirpiert wurde. Es wurde eine
Dupuissche Kanüle eingelegt, die aber wegen unstillbaren Husten¬
reizes schon nach einer Stunde entfernt werden mußte. Es wurde
eine erneute Dilatationsbehandlung von der Tracheotomiewunde
aus mit Thostschen Bolzen versucht. Kein Resultat. Nun ließ
Verf. eine Röntgenaufnahme machen. Da zeigte sich auf der
Röntgenplatte in der Höhe des fünften Halswirbels ein großer
Fremdkörper in Form einer Olive. Es wurde versucht, den
Fremdkörper zu entfernen durch einen Schnitt am hinteren Rande
des Musculus sternocleidomastoideus. Die vordere W and der
Wirbelsäule wurde freigelegt, der Fremdkörper aber nicht ge¬
funden. Nach einigen Tagen ging Verf. wieder mit dem Finger
in die Wunde, konnte aber erst nach langem Herumsuchen den
Fremdkörper finden und extrahieren. Es war ein markstückgroßer
Metalldeckel einer Mineralwasserflasche. Jetzt erst entsann sich
Pat., daß er auf dem Tanzfeste Mineralwasser getrunken und daß
er das Gefühl hatte, als sei' ihm etwas im Halse stecken geblieben.
Der Verlauf war noch recht kompliziert. Verf. machte noch ver¬
schiedene operative Versuche, die Stenose zu beheben. Erst eine
Knochenplastik nach Mangold hatte Erfolg. Patient kann jetzt
laufen und bergsteigen. Es besteht nur noch eine kleine Fistel.
Nach 21üjährigen Bemühungen ist es gelungen, den Patienten von
seiner Kanüle zu befreien. Die späte Diagnose ist nach Verfasser
nur dadurch zu erklären, daß die Anamnese versagt hat. Sonst
wäre zweifellos schon früher eine Röntgenaufnahme gemacht
worden. Eine Seltenheit ist in diesem Falle, daß dieser Fremd¬
körper die Trachealwand durchwandert, auf der Wirbelsäule liegen¬
bleibt, ohne die Speiseröhre zu verletzen. — {Münchener medi¬
zinische Wochenschrift 1910, Nr. 50.) G.
*
36. (Aus der psychiatrisch-neurologischen Klinik [Professor
Siemerling] und der dermatologischen Klinik in Kiel [Pro¬
fessor Klingmülle rj. Die Wassermann sehe Reaktion
in der Psychiatrie und Neurologie mit besonderer
Berücksichtigung der Paralyse, Tabes und Lues
cerebri, bzw. cerebrospinalis. Von Dr. Wassermeyer
und Dr. Bering. Die beiden Verfasser fanden in manchen Fällen
von progressiver Paralyse die Wassermann sehe Reaktion im
Blut und noch viel häufiger im Liquor (rund 50uo) negativ. Da¬
durch sinkt der diagnostische Wert dieser Reaktion bei pro¬
gressiver Paralyse. Viel zuverlässiger ist die chemische und
mikroskopische Untersuchung der Spinalflüssigkeit. Das Haupt¬
gewicht bei der Diagnostellung ist auf das klinische Bild
zu legen. Der Hauptwert der Wasser man n sehen Reaktion
liegt in der Klärung der Aetiologie der Paralyse und der Tabes,
dem Beweis des Zusammenhanges dieser Erkrankungen mit der
Lues, ferner in ihrer therapeutischen Bedeutung. Die dauernd
negative Seroreaktion schützt vor Paralyse (nicht aber vor
Tabes 0 und man kann bei einem Luetiker die positive Reak¬
tion machen und erhalten. Bei allen mit Lues nicht zusammen¬
hängenden Erkrankungen des Zentralnervensystems fanden die
Verfasser negative Reaktion. — (Archiv für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten, Bd. 47, H. 2.) S.
*
37. Pathologie und Therapie der Lungenentzün¬
dung. Von Prof. C. Hirsch in Göttingen. In einem klinischen
Vortrage besprach Hirsch vorerst eingehend die Pathogenese
und das Wesen der akuten Pneumonie, er erörterte den \ erlauf
und die Diagnose der Krankheit und gab sodann die Grundlinien
für ihre Behandlung. Eine kausale Therapie, wie bei Malaria,
Diphtherie, Lues, gibt es noch nicht, da wir noch weit entfernt
sind von einer sicher wirkenden Serumtherapie. In einer großen
Zahl der Fälle heilt die Pneumonie „von selbst“ und der Kranke
bedarf keines therapeutischen Eingriffes. Das Fieber ist eine
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
77
natürliche Reaktion des Organismus gegen den Infekt; wenn
keine Hyperpyrexie besteht, so ist die Darreichung von Anti-
febrilien zwecklos, ja in größeren Dosen geradezu schädlich.
Eindringlich zu warnen ist von der Anwendung forcierter Schwitz¬
kuren bei der Pneumonie (z. B. durch Darreichung von Aspirin),
man riskiert dadurch lediglich einen Kollaps. Ein Aderlaß ist
heute nur bei Herzschwäche mit ersichtlicher Ueberladung des
rechten Ventrikels (Zyanose) in ganz vereinzelten Fällen ange¬
zeigt. Man lasse 200 bis 300 cm3 Blut aus der Armvene ab.
Die brüske Wärmeentziehung durch kühle Bäder von 15 bis
20° C ist nicht nötig, ja in vielen Fällen schädlich; der Orga¬
nismus mit einer Bluttemperatur von 39 bis 40° wird viel scho¬
nender in einem Bade von 32 bis 25ü abgekühlt (v. Ziemssen).
Der Vortr. badet ganz ausnahmsweise — wie beim Typhus
nur bei bei einem Falle mit exzessiv hohem Fieber und 'schweren
Erscheinungen von seiten des Zentralnervensystems (aber ohne
meningitische Symptome und ohne Herzschwäche!), nach dem
Bade Kampfer und Wein. Eine gewöhnliche Pneumonie bedarf
keiner Bäderbehandlung, welche unbedingt kontraindiziert ist
bei schlechtem Puls, bei Säuferpneumonien und bei ausgedehntem
Affekt (Dreilappenpneumonien). Gibt man schon Bäder, so beginne
man mit 32 bis 30 °C und kühle langsam auf 28 bis 27° ab,
bei höchstens 15 Minuten Dauer. Besser sind zumeist öfters
erneute laue oder kühle Einpackungen und Abwaschungen
(25 bis 28°), das feuchte Tuch soll mit einer Flaneldecke bedeckt
werden. Auch kühle, spirituöse Abwaschungen (Zusatz von Ros-
raarinspiritus, Franzbranntwein zum Wasser) wirken oft wohl¬
tuend. Die von Ortner empfohlenen heißen Bäder (bis 44° C !)
bedeuten nach Otfried Müllers exakten Untersuchungen eine
direkte Herzanstrengung, Verf. hat sie niemals angewendet. Bei
Bronchopneumonien der Kinder ist den Heubner sehen heißen
Senfeinpackungen das Wort zu reden. Bei schwerer atypischer
Pneumonie macht Verf. gerne von Chinin Gebrauch, das er in
kleinen fraktionierten Dosen (0-2 g drei- bis fünfmal in 24 Stunden)
gibt. Zunächst ist eine leicht verdauliche, nahrhafte Diät zu ver¬
ordnen: kräftige Suppen, Milch, Eier, Breie, Fleischbrühen mit.
Reis, Gries, gekochtes Obst. Die Hauptsache bei der Behand¬
lung der Pneumonie ist die sorgfältige Ueberwachung d e s
Kreislaufes. Kranken mit einem nicht intakten Herzen (Herz¬
fehler, Arteriosklerotiker, Fettleibige, Kyphoskoliotiker, Potatoren)
gebe man von Anfang an 'Digitalis (dreimal täglich 1 cm3 Digalen
oder Digipurum zwei- bis dreimal eine Tablette oder Pulver von
Fol. Digitalis 0-1, zwei- bis dreimal täglich, bis 1 bis 2 g Digi¬
talissubstanz, bzw. ihre Aequivalente verbraucht sind). Bedarf
man einer schnellen, momentanen Wirkung, dann injiziere man
Digalen intramuskulär (3 bis 5 bis 10 cm3 pro die), wobei man
genau auf das Eintreten von Vergiftungssymptomen (sehr starke
Pulsverlangsamung, Erbrechen) ,achte. Strophantin intravenös
% cm3, nur einmal in 24 Stunden, kurz vorher sollen nicht schon
größere Digitalismengen gegeben worden sein. Bei Kollapsgefahr:
Kampfer in großen Dosen (ein- bis zweistündlich eine Spritze)
oder Coffein, natrio -benzoic, subkutan, zwei-, drei- bis viermal
täglich je 0-1 bis 0-15 g, oder auch starken schwarzen Kaffee.
Boi akut einsetzender Herzschwäche Adrenalin in Dosen von
1 bis 12 Pravazspritzen pro die intramuskulär oder ein- bis
fünfmal 0-5 cm3 der l%oigen Lösung intravenös. Bei Leuten,
die an Alkohol gewöhnt sind, gebe man guten Wein oder die
Mixtura Stokesii ; bukettreiche Weine regen den Kreislauf ent¬
schieden an, die Zufuhr großer Alkoholmengen (Schnaps usw.)
ist schädlich. Bei zähem Schleim und schlechtem Aus husten
wirkt die Mixtura solvens dadurch lösend, daß das Chlorammo¬
nium durch Bildung von Ammoniumkarbonat auf der Bronchial¬
schleimhaut . das Muzin verflüssigt und die Ziliarbewegung an¬
regt. Aehnlich wirken auch die Karbonate der Alkalien und Emser
Wasser (Hans Meyer). Ipekakuanha (Inf. rad. o 0-5 ad 150;
davon zwei- bis dreimal täglich, eventuell öfter einen Eßlöffel)
wirkt sekretionsvermehrend und die Peristaltik der Brohchial-
muskulatur verstärkend. Man sorge für feuchte Luft im Kranken¬
zimmer durch Aufstellen eines Dampfsprays, gebe bei quälendem
Husten und Seitenstechen Kodein oder Dionin, bei heftigen
Pleuraschmerzen eine Morphiuminjektion, resp. versuche Eis¬
blase oder Prießnitzumschlag, hei Delirium tremens das Ve¬
ronal (0-3 bis 0-5 bis 1-0) oder Morphin usw., ja nicht Chloral-
hydrat, wegen seiner blutdrucksenkenden Wirkung. Bei verzö¬
gerter Krisis, Andauern einer massiven Dämpfung, blassem Aus¬
sehen des Kranken denke man an die Möglichkeit eines Em¬
pyems und mache rechtzeitig eine Probepunktion. Die pneumo
nische Dyspnoe wird durch Sauerstoffinhalationen günstig be¬
einflußt, die Og-Zufuhr geschehe lange, bzw. häufig, doch nicht
mittels Maske, man lasse vielmehr den aus dem Schlauch ent¬
weichenden Sauerstoff vor dem Gesichte vorbeiströmen. Nach
völliger Entfieberung bleiben die Kranken noch 2 bis 21 Wochen
im Bette, ältere Leute kommen früher auf den Sessel; systema¬
tische Atemübungen, speziell Liegen auf der gesunden Seite, sind
zu empfehlen. Man hüte sich vor allem vor einer kritiklosen
Polypragmasie am Krankenbette, sie kann noch gefährlicher
werden als ein öder Nihilismus. — (Deutsche mediz. Wochenschrift
1910, Nr. 50.) E. F.
*
38. Zykloform — ein neues Wünda.nästhetikum.
Von Dr. Max Strauß, Spezialarzt für Chirurgie in Nürnberg.
Verf. hat das Zykloform auf seine Verwendbarkeit für die Wund¬
behandlung geprüft. Das Präparat ist ein weißes kristallinisches
Pulver und stellt den Isobutylester der p- Amidobenzoesäure dar,
der in Wasser wenig, in Alkohol, Aether, Benzol leicht löslich
ist. Diese Schwerlöslichkeit, des Mittels in Wasser bedingt die
relative Ungiftigkeit desselben. Das Anästhesierungs vermögen der
Verbindung ist ein sehr großes. Die gesättigte wässerige Lösung
macht nach zwei Minuten die Hornhaut des Kaninchenauges
unempfindlich. Die 0-011 Edge Lösung bedingt noch Vnästhesie,
so daß die anästhesierende Kraft des Präparates dem des Kokains
gleichzustellen ist. Das Zykloform hat auch desinfizierende Eigen¬
schaften, die sich bei Versuchen mit Bacillus pyocyaneus und
Staphylococcus aureus, sowie bei Zusatz zu Harn- und Albu-
mosenlösungen ergaben, die im Brutschrank dauernd klar blieben,
während Kontrollflüssigkeiten in Fäulnis übergingen. Das Mittel
wird in Salben- und Pulverform angewendet. Verf. gebrauchte das
Präparat zunächst als Streupulver für kleine frische Wunden, die
durch Tamponade offen gehalten werden mußten. Dabei wurde
eine Anästhesie erst nach relativ langer Zeit erzielt, so daß diese
Anwendungsweise nicht ganz allen Ansprüchen genügte. Der
Verbandwechsel gestaltete sich jedoch schmerzloser. Bei schmerz¬
haften Brandwunden ließ, sich durch 5%ige Salbe eine vollkom¬
mene Anästhesie erzielen. Die relative Ungiftigkeit des Zykloforms
erlaubte die Verwendung auch bei ausgedehnten Verbrennungen.
Ebenso günstig wirkte die 5°/oige Salbe bei schmerzhaften Rha¬
gaden der Zwischenzehenhaut, bei stark juckenden und bren¬
nenden, intertriginösen Ekzemen, die mit großen Schmerzen ein¬
hergingen. Sehr prompt war die Anästhesie bei entzündeten
Hämorrhoiden, wo die Salbe mit Adrenalin in Zäpfchenform ver¬
abreicht wurde. Ebenso wurden schmerzhafte Ulcera cruris sehr
günstig beeinflußt. Besonders gut wirkte die Salbe bei einem
sehr ausgedehnten Hautkarzinom, das von der Vulva ausging, nach
beiden Inguinalfalten fortgewuchert war und intensive brennende
Schmerzen verursachte, die trotz Morphium erst bei reichlichem
Gebrauch der Salbe wichen. Dieser Fall bewies gleichzeitig die
Ungiftigkeit der Salbe, die monatelang in großen Mengen ver¬
wendet wurde. Ueber die Verwendung des Zykloforms als Schleim-
hautanästhetikum fehlt dem Verfasser jede Erfahrung. Zur sub¬
kutanen Verwendung kann es wegen seiner Schwerlöslichkeit
überhaupt nicht kommen. 5°A>ige Salben lassen sich einfach her-
steilen durch Auflösen der Substanz in amerikanischem Vaselin
bei gelinder Wärme (40 bis 50° C). 10°/oige Salben müssen so
zubereitet werden, daß die Substanz zunächst im doppelten Quan¬
tum Olivenöl bei gelinder Wärme gelöst und die Lösung dann in
daä gehörige Quantum Vaselin verrührt wird. Der Preis des
Mittels entspricht ungefähr dem des Anästhesins. Verf. betont
zum Schlüsse, daß das Zykloform vor allem als 5- oder 10’oige
Salbe verwendet, ein durchaus unschädliches, reizloses, die Hei¬
lung nicht verzögerndes Wundanästhetikum darstellt, das ins¬
besondere bei schmerzhaften \\ unden, bei Brandwunden, Ulcus
cruris und bei oberflächlichen Karzinomen eine vorzügliche V« ir-
kung entfaltet. — (Münchener medizinische Wochenschrift 1910,
Nr. 50.) G>
*
78
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
39. Mitteilung aus der Praxis. Von Dr. med. Haase.
Am Resten bewährt sich hoch bei schweren Trigeminusneuralgien
Migränin (Höchst). Bedingung ist allerdings, daß das Mittel in
Pulverform auf leerem Magen in der Dosis von l-l g genommen
wird, worauf man sich einige Zeit ruhig zu verhalten hat (vor
allem nicht lesen!). Bei ganz schweren Neuralgien wird /eine
bedeutend schnellere und sichere Wirkung noch erzielt, wenn
beim Abklingen der Neuralgie noch 1-0 g Trigemin gegeben wird.
Irgendwelche unangenehme Nebenwirkungen hat II aase nie be¬
obachtet. - (Fortschritte der Medizin 1910, 28. Jahrg., Nr. 40.)
K. S.
*
40. Feber seltene Formen, von traumatischen
und 1 n tox i k ationsp'sychosen, insbesondere über
aphasische, agnostisehe und apraktische Störungen
bei denselben, zugleich ein Beitrag zur Pathologie
des Gedächtnisses. Von A. Westphal (Bonn). Verf. ist in
der vorliegenden umfangreichen Arbeit bemüht zu zeigen, daß es
bestimmte Formen von traumatischen und Intoxikationspsychosen
gibt, in denen aphasische, agnostisehe und apraktische Erschei¬
nungen in dem Krankheitsbild eine wesentliche Rolle spielen.
Die angeführten Erscheinungen charakterisieren in diesen Fällen
das Krankheitsbild zum Unterschied von anderen Fällen, die
sich auf der gleichen ätiologischen Grundlage entwickeln. Trotz
der Uebereinstimmung der angeführten Symptome variiert das
Krankheitsbild durch dio Unterschiede der quantitativen und
qualitativen Ausbildung eben dieser Symptome. So kommt es
zu verschiedenartigen Krankheitsbildern. Verf. versucht, die¬
selben auf allgemeine psychische Störungen, zumal auf solche
des Gedächtnisses zurückzuführen und zu zeigen, daß die von
ihm geschilderten Symptom enkomplexe nicht als Herderkran¬
kungen aufzufassen sind. Feinere histologische Veränderungen
sind zu vermuten, aber nicht nachzuweisen. Psychische Erkran¬
kungen, in bezug auf Symptomatologie und Verlauf einander
nahestehend und doch ätiologisch auf so verschiedenartigen
Schädlichkeiten beruhend, wie Kopftraumata und Intoxikationen
sind merkwürdig. Das hervorstechendste gemeinsame Symptom
der mitgeteilten Fälle liegt in den amnestischen Störungen. Ihre
Erwägung von einheitlichen Gesichtspunkten aus • stößt auf
Schwierigkeiten. Mit den hysterischen Gedächtnisstörungen auf
traumatischer Grundlage sind sie nicht ohneweiters zu identifi¬
zieren. Gemeinsam ist beiden Arten von Amnesien ihre Ent¬
stehung im Anschluß an Bewußtseinstrübungen oder an Zu¬
stände von Bewußtlosigkeit. Verf. hält sich für berechtigt, unter
den traumatischen und Intoxikationspsychosen „amnestische
Formen“ abzugrenzen. — (Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten, Bd. 47, H. 1 und 2.) S.
*
41. Indikationen zur künstlichen Unterbrechung
der Schwangerschaft. Von Prof. Dr.' Hammerschlag in
Berlin. Bevor der Arzt sich zu einer künstlichen Unterbrechung
der Schwangerschaft entschließt, muß er auf das allerpeinlichste
und sorgfältigste die Indikationen prüfen und feststellen. Ver
fasser erörtert eingehend, wann sie im allgemeinen geboten er¬
scheint, ohne auf rein geburtshilfliche Gründe oder Raritäten
Rücksicht zu nehmen. Er bespricht die Hyperemesis gravi¬
darum und ihre Behandlung: Bettruhe, Aenderung der Diät,
zum Beispiel häufigere Darreichung flüssiger Kost, Verordnung
von Brom oder Aspirin, in schwereren Fällen Entfernung der
Kranken aus ihrer gewohnten Umgebung (Anstaltsbehandlung)
und so weiter. Die meisten Fälle heilen in dieser Weise. Ist
es nicht der Fall, so gebe man das Wasser in Form von Rektal¬
instillationen oder Dauereinläufen und verabfolge Nährkly stiere,
wonach man bald zur Ernährung per os zurückkehren kann.
Nur die allerseltensten Fälle erweisen sich gegen diese Behand¬
lung refraktär. Es kommt zu Temperatursteigerungen, der Puls
zeigt eine steigende Frequenz und Verschlechterung der Qualität,
trotz der Flüssigkeitszufuhr sinkt die Quantität des Urins, es
tritt Albumen auf, Veränderungen der Psyche werden beobachtet,
Ist damit der Anfang des sehr bedrohlichen I nt oxat i o n s sta¬
diums konstatiert, dann ist die strikte Indikation zur sofortigen
Unterbrechung der Schwangerschaft gegeben. Unter 49 Fällen
von Hyperemesis, die er in Königsberg beobachtet, wurde 17mal
der Zustand durch allgemeine Behandlung geheilt, nur 2mal
mußte die Schwangerschaft künstlich unterbrochen werden; eine
Kranke starb trotzdem, da sie zu spät eingebracht wurde. Herz¬
fehler mit Kompensationsstörungen sollen während der
Schwangerschaft sorgfältig behandelt werden. Gelingt es jedoch
nicht, die Störungen zu beseitigen, nehmen die Erscheinungen
(Dyspnoe, Pulsarhythmie, Oedeme) zu, so ist die Unterbrechung
der Schwangerschaft indiziert. Am besten tut man dies in den
ersten Monaten der Gravidität, da die später vorgenommenen
Unterbrechungen schon mit den Gefahren der Geburt belastet sind.
Unter Umständen ist es zweckmäßig, eine die Frau sterilisierende
Operation der Unterbrechung folgen zu lassen. Besonders gefahr¬
voll sind immer die Erkrankungen des Herzmuskels. Unter
40 Patientinnen mit einem Herzfehler der Königsberger Klinik
war lSmal der Herzfehler kompensiert, 22mal waren Kompen¬
sationsstörungen vorhanden, 6mal mußte die Schwangerschaft
unterbrochen werden, 3mal trat der Exitus ein. Die Kombination
von Schwangerschaft und Lungentuberkulose ist als außer¬
ordentlich ungünstiges Ereignis anzusehen, geradezu unheilvoll
ist die Larynx tuberkulöse in der Schwangerschaft. Zeigt
ilie stetige Beobachtung, daß die physikalischen Symptome zu¬
nehmen, dabei Abnahme des Körpergewichtes, erstmaliger posi¬
tiver Bazillenbefund, Einsetzen einer Hämoptoe oder Pleuritis
und so weiter die Progredienz des tuberkulösen Prozesses be¬
weisen, so muß man die Unterbrechung der Schwangerschaft in
Erwägung ziehen. Eine positive Tuberkulin- und eine negative
Ophthalmoreaktion sind im Sinne der ungünstigen Prognose zu
verwerten, wiewohl die Resultate dieser Hilfsmittel nicht immer
einwandfrei sind. Nur bei Kranken ersten und zweiten Grades
ist mit Aussicht auf Erfolg einzuschreiten, die Fälle dritten
Grades im Sinne Turbans sind aussichtslos, da muß vielmehr
auf das Leben des Kindes Rücksicht genommen werden. Be¬
findet sich die Schwangerschaft in der ersten Hälfte, so kann
von der Unterbrechung in geeigneten Fällen Gebrauch gemacht
werden. Uebersteht die Frau die künstliche Unterbrechung der
Schwangerschaft, so erwäge man die Frage der Sterilisierung
der Frau. Bei Larynxtuberkulose unterbreche man unbedingt
die Gravidität, falls es sich nicht schon um einen Lungemstatus
dritten Grades handelt. Bei 60 Schwangeren mit meist schon
vorgeschrittener Tuberkulose aus der Königsberger Klinik wurde
23mal die Schwangerschaft unterbrochen, 16 Kranke kamen mehr
oder weniger kurze Zeit p. p. ad exitum, von diesen hatten 13
eine Larynxtuberkulose. Bei der Schwager schaftsnephritis
regle man die Diät und halte Schädlichkeiten ferne. Stellen
sich hydropische Ergüsse in den serösein Höhlen ein, dauernde
Kopfschmerzen, Erbrechen, Appetitlosigkeit und Unterernährung,
kommt es zu zerebralen Schädigungen mit häufig rein funktio¬
neilen Erkrankungen der Sehfunktion, so muß eine energische,
gegen die Nephritis gerichtete Therapie (Bettruhe, Milchdiät,
Schwitzkur durch Bäder, Packungen) eingeleitet werden. Tritt
keine Besserung ein, zeigt sich vielmehr Retinitis albuminurica,
so ist die Unterbrechung der Schwangerschaft meist als künst¬
liche Frühgeburt indiziert. Bei chronischer Nephritis, die
schon früher bestand, sich während der Gravidität verschlech¬
terte, ist die frühzeitige künstliche Schwangerschaftsunterbrechung
indiziert, dagegen gibt eine in der Gravidität auftretende akute
Nephritis keine Indikation ab. Eine Pyelitis gibt nur beim
Versagen der üblichen Therapie und beim Auftreten von bedroh¬
lichen Symptomen (dauernden Schüttelfrösten und Kräfteverfall)
die Indikation ab, die Schwangerschaft zu unterbrechen. Unter
112 Schwangeren mit Nephritis wurde lOmal die Schwangerschaft
unterbrochen, 7mal wegen chronischer Nephritis, dabei zwei
Todesfälle (Apoplexie und Schrumpfniere). Unter 17 Fällen von
Pyelitis wurde einmal die Gravidität unterbrochen. Die nicht
häufige Komplikation von Schwangerschaft und Diabetes ist
als ernste zu bezeichnen. Man versuche stets, unter geeigneter
Diät, die Gravidität zu Ende zu führen. Die Anzahl der Kalorien
ist dabei zu vermehren. Schreitet der Diabetes vor, nimmt die
Zuckerausscheidung zu, treten Azeton, Azetessigsäure, Albumen
und Oxybuttersäure im Ham auf, dann ist die Unterbrechung der
Schwangerschaft indiziert. Unter drei vom Verf. beobachteten
Fällen kam es einmal trotz Unterbrechung zum Coma diabeticum
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. l'Jli.
und Exitus. Die während der Gravidität akut einsetzende
Chorea mit äußerst heftiger Muskelunruhe kann zur schweren
Intoxikation und völliger Erschöpfung führen. Diuretika, Lia-
phoretika eventuell Nervi na führen manchmal Besserung herbei,
wo nicht, so unterbreche man die Gravidität, am besten in den
ersten Monaten. Der praktische Arzt tut gut, schon aus juristi¬
schen Gründen, die Entscheidung im Konsilium mit einem
Internisten und Gynäkologen zu treffen. — (Berliner klinische
Wochenschrift 1910, Nr. 49.) E. F.
*
42. Das Vioform in der Chirurgischen! Praxis.
Von Prof. Dr. E. Tav'al-Bern. Thellung in Winterthur hat
e(inen Fall veröffentlicht, welchen er als Yioformintoxikation
aufgefaßt hat. Obwohl Tavel (die Ueberzeugung hatte, daß es
sich nicht um eine solche, sondern um eine postoperative Psy¬
chose gehandelt hat, so stellte er doch eine Rundfrage an alle
schweizerischen Aerzte über ihre persönlichen Erfahrungen über
das Vioform. Die Sammelforschuüg ergab, daß Vioform sehr
viel verwendet wird. Trotzdem wurden nie Schwerere Intoxika¬
tionserscheinungen beobachtet und wurde überhaupt über das
Vioform) nichts Ungünstiges berichtet, vielmehr wird berichtet,
daß Vioform eine gute antituberkulöse Wirkung hat. Die Ansicht
Tavels, daß es sich bei Thelling nicht um eine Yiofomr-
intoxikation gehandelt hat, wird durch dieses Ergebnis der Rund¬
frage gestützt. — (Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte,
40. Jahrg., Nr. 28.) K. S.
*
43. Ueber primäre epitheliale Geschwülste des
Gehirnes. Zugleich Untersuchungen und Betrach¬
tungen über das Ependymepithel. Von Dr. Karl Hort-
Prosektor am Augusta- Viktoria - Krankenhaus in Schöneberg-Ber¬
lin). Das Studium der rein primären epithelialen Geschwülste
des Gehirns eignet sich sehr gut zur Klärung einer Reihe von auf
das Ependymepithel der Ventrikel Bezug habenden Fragen, so
die nach der Gleichwertigkeit oder Verschiedenheit des Ependym-
epithels an den einzelnen Wandabschnitten der Ventrikel und
der Plexus chorioidei, ferner die Frage nach der epithelialen
Selbständigkeit der Ependymepithelien oder ihrer Fähigkeit, den
Charakter als Deckzellen zu verlieren, dann die" Frage nach
der Beziehung der Ependymepithelien zu epithelialen und gliösen
Neubildungen, eine Frage, deren Beantwortung geeignet ist, im
allgemeinen die Frage der Geschwulstbildung im Gehirne zu
beleuchten. Zu all diesen Fragen nimmt der Verfasser in seiner
Arbeit Stellung. Bezüglich der Resultate seiner Untersuchungen,
gewonnen aus eigenen Beobachtungen und teilweise auch ge¬
schöpft aus der Literatur, muß. auf das Original verwiesen werden.
(Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 47, 11. 2.)
S.
*
44. Ueber den Tu b er kelbaz ill engehalt ver¬
kalkter Her d e. Von Priv.- Doz. Dr. Karl W e g e 1 i n, erstem
Assistenten am pathologischen Institut in Bern. Bisher wurde
angenommen, daß in den verkalkten Herden, wenigstens in den
härteren, die Tuberkelbazillen abgestorben und völlig zugrunde
gegangen seien. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß dies
keineswegs für alle Fälle zutrifft. Die Infektiosität bloß ver¬
käster Herde mit partieller Verkalkung haben schon v. Baum¬
garten, Kurlow und Lubarsch nachgewiesen. Weber, Ra-
bi no witsch und E. Schmitz in jüngster Zeit haben aber
auch an verkalkten und verkreideten Herden öfters mikroskopisch
Tuberkel bazillen nachweisen können und noch öfter im Tier¬
versuche die Infektiosität aller Herde, besonders der verklei¬
deten, weniger der verkalkten. In den meisten Fällen aber fielen
die Resultate positiv aus, wenn die verkalkten und verkrei¬
deten Herde nicht von (Menschen, sondern von, Rindern stammten
oder von Schweinen, so daß Schjmitz den Schluß zog, daß
„dem Verkalkungsvorgange beim Menschen eine heilsamere Wir¬
kung zukommt als beim Rinde und Schweine“. Wegelin unter¬
nahm es, das neueste Verfahren zum Nachweise von Tuberkel¬
bazillen, das Antiformin bei der Untersuchung verkalkter Herde
anzuwenden und vermochte in einer relativ großen Zahl von
verkalktem Herden und in den meisten verkreideten Herden
Tuberkelbazillen nachzuweisen. Es ist also so gut wie sicher,
daß verkalkte Herde mit vorausgegangenen tuberkulös u
z essen in Verbindung gebracht werden dürfen, wobei aber ;
mferkt werden muß, daß hiebei nur verkalkte Herde in d n
Lungen oder Lymphdrüsen zu verstehen sind, denn bei Kalk¬
herden in anderen Organen bleibt die tuberkulöse Natur ,iu
vielen Fällen fraglich. Schlmitz ist der Meinung, daß ver¬
kalkte Herde für den Träger immer noch gefährlich sind, da
durch verschiedene Momente die Tuberkel bazillen wieder mo¬
bilisiert werden könnten. Wegelin schätzt diese Gefahr nicht
s!o hoch ein, da es sich zumeist nur um eine geringe Anzahl
von Bazillen (die Zahl, resp. Menge der Bazillen spielt ja b im
Zustandekommen einer Infektion auch eine Rolle) handelt, deren
Virulenz zudem manchmal auch noch eine Abschwächung er¬
fahren haben dürfte. Tatsächlich dürfte also wohl in den meisten
Fällen die Verkalkung als klinisch günstiger Ausgang eines tuber¬
kulösen Prozesses auch fernerhin betrachtet werden können,
wenngleich vom biologischen Standpunkte nicht von einer völligen
Heilung gesprochen werden kann, ■ (Korrespondenzblatt für
Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg., Nr. 29.) K. S.
*
45. (Aus der: chirurgischen Abteilung zu Heidelberg. Di¬
rektor : Prof. Dr. M. W i 1 m s.) Die k 1 i n i s c h e Bed e u t u n g des
sogenannten Pagetschen Brustkrebses (Krebsekzem
der Brust). Von Priv.-Doz. Dr. Georg Hirschei. Paget hat
bekanntlich die Beobachtung gemacht, daß es gewisse chro¬
nische Formen von Ekzem der weiblichen Brustwarze und des
Warzenhofeis gab, die jeder Therapie trotzten und schließlich in
Karzinom ausarteten, das sich in gar nichts von dem gewöhnlichen
Mammakarzinom unterschied. Er huldigte der Ansicht, daß das
chronische Ekzem den Reiz zu dem sich später entwickelnden
Karzinom abgab. Auch die späteren Autoren) betrachteten den
Pagetschen Brustkrebs geradezu als typisches Beispiel für das.
Entstehen eines Karzinoms aus primär umgewandeltem Epithel.
Diese Ansicht hat sich als falsch erwiesen. Durch die Untersuchun¬
gen des Verfassers u nd anderer (Jacobaeus, Ri b b e r t, Sw h a m-
b ach er u. a.) wurde nachgewiesen, daß das Ekzem erst sekundär
auf dem Boden eines Karzinoms entstanden ist, das1 vom Drüsen¬
epithel der Milchgänge seinen Ausgangspunkt nimmt. Die Kar
zinomzellen wandern nach oben, dringen in die Epidermis* ein
und verändern dieselbe derartig, daß« klinisch das Bild eines
Ekzems entsteht. Man weiß also heutzutage, daß das Karzinom
bereits vorhanden ist und daß das Ekzem als eine sekundäre
Folgeerscheinung desselben aufzufassen ist. Die Therapie ist daher
möglichst rasche und gründliche chirurgische Entfernung der
erkrankten Mamma. Wichtig ist also das frühzeitige Stellen der
richtigen Diagnose. Yerf. berichtet über zwei vor kurzem beob¬
achtete und operierte Fälle. Der eine bei einer 60jährigen Frau
vom Lande, die vor 2Va Jahren heben der rechten Brustwarze
einen kleinen Hautausschlag bemerkte. Der erst spät hinzu¬
gezogene Arzt schickte die Patientin sofort auf die Klinik. Hier
wurde die Amputation der Mamma mit Achselhöhlenausräumung
vorgenommen. Die mikroskopische Untersuchung ergab einen typi¬
schen Paget-Krebs. Im zweiten Falle bemerkte eine 52jährige Frau
vor etwa 14 Monaten zwei rote Pustelchen oberhalb der rechten
Brustwarze. Hier wurde erst mehrfache Salbenbehandlung ver¬
ordnet. Bei fortschreitendem Leiden wurde ein Dermatologe kon¬
sultiert, der sofortige Operation anriet. Bei der Untersuchung
zeigte sich das typische Bild eines Paget-Krebsies der rechten
Brust. Direkt unter den erkrankten Hautpartien konnte man einen
kleinhühnereigroßen, harten Tumor abtasten, der mit der Mamilla
zusammenzuhängen schien, ln der rechten Achselhöhle barte
Drüsen. Das Karzinom machte einen prognostisch ungünstigen
Eindruck. Bald nach der Operation an der Haut multiple Rezi¬
dive; Röntgenbestrahlungen. Auch hier das typische mikrosko¬
pische Bild. Die Anfänge des Karzinoms sind in der Mamilla
zu suchen. Man sieht die Karzinomzellen in den teilweise er¬
weiterten Milchgängen emporwuchern, teils der Haut der Mamilla
sich nähern. Letztere brechen dann in die Epidermis ein und
zwar zunächst in das Stratum Malpighi, das sie- oft, in Reihen
angeordnet, durchsetzen und weiter nach oben gegen die Horn¬
schicht der Haut. Unter dieser Schicht sieht man neben den
Krebszellen eine ausgedehnte kleinzellige Infiltration. Schließlich
wird auch diese Hornschicht durchdrungen, abgehoben und zer-
80
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2
stört und ein klinisch ekzemartiges Bild hervoi'gebracht. Die
Mamilla bildet den Mittelpunkt dieses Zerstörungsprozesses. Sie
sinkt später ein und ist nicht mehr zu erkennen. Unterdessen
breitet sich das Krebsekzem strahlenförmig im Warzenhofe aus
und bildet eine teils borkige, teils nässende, der Epidermis be¬
raubte Fläche. Auch in der Tiefe hat sich das Karzinom ausge¬
dehnt, vergrößert und Tauben- bis Hühnereigröße erreicht. Auch
Drüsenmetastasen sind jetzt schon nachweisbar. Hier in diesen
beiden Fällen verstrich Ins zu diesem Stadium einmal ein Zeit¬
raum von 14 Monaten, das andere Mal von über zwei Jahren.
Beim ersten Falle des Verfassers datierte das Leiden ein Jahr
zurück. Die Krankheit schreitet also verhältnismäßig langsam vor¬
wärts. Bis jetzt sind über hundert Fälle in der Literatur bekannt.
Verf. möchte durch Veröffentlichung seiner beiden Fälle darauf
hinweisen, jedes chronische Ekzem der Brustwarze und des'
Warzenhofes mit möglichster Sorgfalt zu behandeln und zu beob¬
achten und bei unsicherer Diagnose eine Probeexzision auszu¬
führen in der Erkenntnis, daß in der Mamma eventuell schon ein
kleines Karzinom besteht, das sekundär das Ekzem verursacht
und das bei frühzeitiger Exstirpation eine Dauerheilung erwarten
läßt. In den beiden mitgeteilten Fällen wurde der bösartige Cha¬
rakter erst spät erkannt. Nach Verf. dürfte die Bezeichnung „Krebs¬
ekzem der Brust“ für diese Art Mammakarzinom1 zutreffender
erscheinen, als „Pag et scher Brustkrebs“, zumal auch Paget der
Ansicht war, daß das Karzinom auf dem Boden des Ekzems ent¬
steht, während in Wirklichkeit das Karzinom als primär zu be¬
trachten ist. — (Münchener medizinische Wochenschrift 1910,
Nr. 50.) G.
*
46. Zur Diagnose der Anämie. Von Dr. Rh einer (f)
in St. Gallen. Bleiches Aussehen und Nonnengeräusche ge¬
nügen nicht für die Diagnose Anämie, da beides auch bei nor¬
malem Hämoglobingehalt Vorkommen kann. Es ist daher ge¬
radezu notwendig, daß auch der praktische Arzt die Ilämo-
globinbestimmung vornimmt, zumal dieselbe mit dem Gower-
S ah li sehen Instrument ausgeführt, eine rasche und bequeme
Untersuchungsmethode darstellt. Es zeigt sich insbesondere, daß
bei fast sämtlichen grazilen, oberflächlich als blutarm imponie¬
renden Menschen mit nervösen Klagen das Blut nicht an Hämo¬
globin verarmt ist. Eisentherapie ist natürlich in solchen Fällen
nicht nur nutzlos, sondern sogar schädigend, dagegen erzielen
möglichste Ausschaltung der die Nerven schädigenden Faktoren
in Verbindung mit seelischer Behandlung usw. gute Resultate.
Wirkliche Anämie und Nervosität sind nicht häufig kombiniert.
Bei ausgesprochener Anämie findet sich regelmäßig sogar im
Gegensätze zu den scheinbar blutarmen Nervösen ein stabiler,
mehr oder weniger ausgesprochener Torpor in der motorischen
und sensoriellen Sphäre, der Inur bei besonders heftigen phy¬
sischen oder psychischen Reizen zu strohfeuerartigen Explo¬
sionen führt. Jedenfalls besteht kein notgedrungener und häu¬
figer Zusammenhang zwischen Anämie und- Nervosität, wie es
so vielfach angenommen wird. Allerdings so „höchst selten“ wie
Dubois annimmt, dürfte die Kombination auch nicht sein.
Warum Sollen denn Nervöse [nicht auch anämisch sein können und
umgekehrt? Man kann doch nicht gut annehmen, daß Anämie
einen gewissen schützenden Einfluß gegen die sonst so enorm
verbreitete Nervosität ausüben kann und warum sollte ein ner¬
vöser Mensch bei komplikatorischer Erkrankung an Anämie seine
Nervosität plötzlich verlieren? Die vielfache Erfahrung aber,
daß nach dem Verschwinden der Anämie die Nervosität oft
unverändert oder selbst in verstärktem Maße weiterspielt, dürfte
wohl zugunsten obiger Annahme sprechen, daß der Zusammen¬
hang von Anämie und Nervosität kein häufiger und notgedrun-
gencr ist. — (Fortschritte (der Medizin, 28. Jahrg., Nr. 39.)
K. S.
*
47. Ist die Landkartenzunge erblich? Von Sanitäts¬
rat Dr. W. Lublinsky in Berlin. Man bezeichnet mit dem
Namen Landkartenzunge eine eigentümliche, flüchtige und ver¬
änderliche Affeklion, die meist aus mehreren runden oder ovalen
Flecken besteht, welche zunächst in ihrem ganzen Umfange, im
weiterem Verlaufe nur teilweise von einem grauweißen bis grau¬
gelblichen, ein wenig erhabenen, scharfen Rande umgeben sind.
Diese Flecken sind nicht entzündet und zeigen eine deutliche
Anschwellung der Papillae fungiformes, während die Papillae
filiformes nicht mehr zu erkennen sind. Die Flecken gehen von
der Zungenoberfläche auf die Ränder und die Spitze über, sie
durchschneiden einander, fließen ineinander über, daher die eigen¬
tümliche Zeichnung, welche zur Bezeichnung der Landkarten¬
zunge geführt hat. Sie verschwindein ziemlich rasch, so daß
die Zunge normal aussieht, kehren wieder, zeigen stets denselben
Charakter. In ungefähr der Hälfte kombinieren sie sich mit der
sogenannten Faltenzunge, bei welcher die Zunge Furchen zeigt,
die vom Zungengrunde bis zu den Rändern reichen, die Zunge
in Lappen zerlegen, bei geringen Reizen schon leichtes Brennen
und Speichelfluß hervorrufen. Auch die Faltenzunge hat nichts
mit der Syphilis zu tun. Die Landkartenzunge (mit und ohne
Faltenzunge) besteht zumeist schon seit der Kindheit. Ueber ihre
Ursache ist nichts Sicheres bekannt, die verschiedenen Autoren
haben die hereditäre Lues, die Tuberkulose, intestinale Stö¬
rungen usw. als Ursache beschuldigt. Verf. sah mehr als 50 Fälle,
deren einzelne er viele Jahre lang beobachtete. Immer kehrten
wieder Heredität und Familiarität, es gab Fälle, wo Gro߬
mutter, Mutter und Kind das Symptom zeigten, in einem Falle
zeigte sogar schon der Urgroßvater diese Veränderung der Zunge.
Verf. glaubt mit Benard, daß es sich hiebei um eine angeborene
Schwäche des Schleimhautepithels der Zunge handle. Eine eigent¬
liche Therapie gibt es nicht, man wende keine ätzenden
oder adstringierenden Mittel an, spüle höchstens mit leichten
alkalischen Wässern, mit dünnen Wasserstoffhyperoxydlösungen,
besonders nach den Mahlzeiten und schränke den Alkohol- und
Tabakgenuß bei Erwachsenen ein. Eine reizende Behandlung
könnte zur Bildung von tiefen und zahlreichen Spalten Veran¬
lassung geben. — (Deutsche medizinische Wochenschrift 1910,
Nr. 50.) E. F.
*
48. Die Behandlung der Prostatahypertrophie.
V on Priv.- Doz. Dr. Georg Axhause n- Berlin. Die Behandlung
der Prostatahypertrophie ist verschieden, je nach den Erschei¬
nungsformen der Erkrankung, resp. je nach den Etappen in der
Entwicklung des Leidens. Man hat diesbezüglich zu unterscheiden :
1. ein prämonitorisches Stadium, 2. die inkomplette Retention
ohne wesentliche Distension, 3. die inkomplette Retention mit
Distension, 4. die komplette Retention, 5. die komplizierte Pro¬
statahypertrophie, kompliziert durch Infektion der Harnwege und
durch Blutungen. Die Beschwerden im prämonitorischen Sta¬
dium sind einer sachgemäßen Therapie durchaus zugänglich und
gleichzeitig dient diese Therapie prophylaktisch gegen die wei¬
tere Entwicklung der Erkrankung. Sie besteht in einer Rege¬
lung der Lebensführung und in diätetisch -physikalischen Ma߬
nahmen, welche auch den Patienten anzuraten ist, die sich
schon im zweiten und dritten Stadium befinden, wo dann der
Katheterismus den therapeutischen Hauptfaktor darstellt (zwei-
bis dreimal täglich), wodurch der Patient öfters wieder in das
zweite oder gar erste Stadium zurückgebracht werden kann.
Als Hilfsmaßnahmen kommen hydriatische und andere in Be¬
tracht, welche auf Beseitigung der Kongestion der Prostata hin¬
zielen. Bei der geringsten Trübung des Urins wird nach jedem.
Katheterisieren eine Blasenspülung vorgenommen, entweder mit
Borlösung oder Solut. hydrargyr. oxycyanat. 1:5000. Gleich¬
zeitig wird Salol oder ähnliches intern gegeben. Stellt sich spon¬
tane Miktion nach dem Katheterismus, z. B. bei akuter Retention,
nicht wieder her, so müß man einen Dauerkatheter c inlegen.
Gelingt der Katheterismus in keiner Weise, so bleibt nur die
Blasenpunktion übrig, die aber nicht ganz ungefährlich ist, wenn
die Blase nicht ad maximum gefüllt ist, da dann das Peritoneum
leicht verletzt wird. Die Punktion ist kaum jemals zu wieder¬
holen, da nach den Beobachtungen Axhausens in allen Fällen
am nächstem Tage der Katheterismus möglich ist. S*oi sehr
der Katheterismus in vielen Fällen von Prostatahyper¬
trophie' ein vorzüglich wirkendes Palliativ- und bei der
akuten Retention ein glänzendes Hilfsmittel darstellt, so
kommen doch Eälle vor, wo die Besserung nicht eintreten will
oder nur kurze Zeit anhält oder wo dauernde, respektive immer
wiederkehrende Blutungen die Folge sind; in diesen Fällen muß
operativ Hilfe geschaffen werden. Als Operation der Wahl gilt
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
heute nur die Prostatektomie. Nur wo sie verweigert wird, kommt
die Anlegung einer Blasenfistel, die Zystotomie, in Frage. Für
die Prostatektomie dürfte das suprapubische Verfahren das nor¬
male sein. Was die akute Zystitis oder Pyelitis anbelangt;,
welche während der Katheterbehandlung einsetzen kann, so wird
sie nach den allgemeinen Grundsätzen behandelt. Hier stehen
ebenfalls physikalisch -diätetische Behandlungsmethoden obenan,
insbesonders heiße Sitzbäder und schottische Duschen. Zystitis
und Pyelitis bilden keine Kontraindikation für operative Eint
griffe. Anders steht es bei den schweren Infektionen der Harn¬
wege, bei vorgeschrittenen oder verschleppten Fällen. In diesen
Fällen ist der Dauerkatheterismus mit mehrmaligen Blasen¬
waschungen am Tage vorzuziehen und daneben Allgemeinbehand¬
lung einzuleiten, wodurch die Patienten manchmal doch noch
für die Operation vorbereitet werden können. Allenfalls kann die
Vornahme der kleinen Operation der Vasektomie nach He 1 Le¬
ri ch große Vorteile bringen. Verharren jedoch trotz zweck¬
mäßiger Behandlung die Patienten in ihrem chronischen urä¬
misch-pyämischen Zustand, so ist die radikale Operation über¬
haupt nicht mehr am Platze. Nur die Zystotomie vermag noch
einen erträglichen Zustand zu schaffen. — (Fortschritte der
Medizin 1910, 28. Jahrg., Nr. 38 und 39.) K. S.
*
Aus russischen Zeitschriften.
49. (Aus der therapeutischen Hospitalklinik der Tomsker
Universität. — Vorstand: Prof. N. N. Alexandro witsch-Dot-
schewskij.) Zur Frage der Phagozytose bei Blut¬
armut. (Vorläufige Mitteilung.) Von J. A. Kalatschnikow.
Bei Chlorose und bei Anämie nach Blutverlusten sinkt die Phago¬
zytose stark. Zwei Kaninchen haben bei ungefähr gleichen Be¬
dingungen und ungefähr gleicher Blutzusammensetzung gleiche
phagozytäre Energie, sowohl bei Verwendung des eigenen Blut¬
serums, als auch bei wechselseitigem Austausch. Wird einem
Kaninchen Blut entnommen, so sinkt seine phagozytäre Energie
im Vergleiche zum Kontrolltiere. Das Serum des (infolge Blut¬
entnahme anämischen) Kaninchens ist imstande, die phagozytäre
Energie der Leukozyten des Kontrolltieres bedeutend zu steigern,
so daß dieselben nicht nur energischer phagozytieren, als die
des anämischen Kaninchens, sondern auch energischer, als sie
es früher — unter dem Einflüsse des eigenen Serums — getan
hatten. Das Blutserum des normalen Kaninchens beeinflußt die
Phagozytose des anämischen weder in positivem noch in nega¬
tivem Sinne. Das (durch Erhitzen auf 56 bis 56-5° durch 30 Mi¬
nuten) inaktivierte Serum des anämischen Kaninchens vermindert
die phagozytäre Kraft, sowohl der eigenen Leukozyten, als auch
derjenigen des Kontrolltieres. Wird jedoch hiezu natives Serum
des anämischen Kaninchens zugefügt, so tritt wieder die Erhöhung
der phagozytären Kraft ein. Die thermolabile Substanz des Serums
wirkt hauptsächlich auf die Leukozyten selbst, dabei hängt der
Grad der Phagozytose davon ab, ob die Leukozyten injröherem
oder geringerem Maße von der erregenden Substanz beeinflußt
werden. Wir sehen daher, daß bei Blutarmut die phagozytäre
Kraft der Leukozyten sinkt, die Fähigkeit des Serums, Phagozytose
zu erregen, dagegen steigt. — (Russkij Wratsch 1910, Nr. 30.)
J. Sch.
*
50. (Aus dem physiologischen Laboratorium von Professor
S. P. Pawlow an der milit.-med. Akad. in Peter's bürg.) lieber
die Kernprobe von Prof. Schmidt. Von N. N. v. Westen-
rijk. Die Kernprobe Schmidts hält in der Form, wie sie vom
Verfasser vorgeschlagen worden ist, einer strengen wissenschaft¬
lichen Kritik nicht stand. Es hat keinen besonderen Wert, die
Muskelstückchen mikroskopisch auf das Vorhandensein von
Muskelkernen zu untersuchen, es genügt vielmehr die makro¬
skopische Inspektion des Tüllsäckcheninhaltes nach Beendigung
der Probe. Die Unveränderlichkeit der Größe des Fleischwürfel-
chens (i. e. die Abwesenheit von Myolyse) bei Achylie des Magens
oder bei Neutralisation des normalein, bzw. an saurem Katarrh
erkrankten Magens spricht mit einiger Wahrscheinlichkeit für eine
Erkrankung der Bauchspeicheldrüse. Der Darmsaft hat ähnliche
Wirkungen bezüglich des Fleischwürfelchens wie der Magen¬
saft.. (Russkij Wratsch 1910, Nr. 21.) .1. Sch.
*
51. (Aus der therapeutischen Hospitalklinik des Professors
K. E. W ag n er der Universität in Kiew.) Z u rFrage d er B a u c h-
massage bei Herzkrankheiten. Von .1. B. Studzinski.
Auf Grund sorgfältiger klinischer Beobachtungen und unter Be¬
rücksichtigung der einschlägigen Literatur './ ’langt Verf. zu fol¬
genden Ergebnissen. Die Bauchmassage ist 1 i allen Herzkrank¬
heitenanwendbar. Gefäß Verdickungen sind m-V als Gegenanzeige
der Bauchmassage anzusehen. Die Bauchmassage übt im all
gemeinen einen günstigen Einfluß auf das Subjekt ive Vilgemeie
befinden der Patienten aus, beseitigt recht oft verschiedene un¬
angenehme subjektive Empfindungen, wie Atemnot, Herzklopfen,
Schmerzen in der Herzgegend usw. Auch bei Fällen mit gestörter
Kompensation scheint die Bauchmassage günstig zu wirken. Der
Gefäßtonus hat die Tendenz, unter dem Einflüsse der Massage
eher zu sinken als zu steigert, so daß nach dieser Richtung
die Bauchmassage an die Wirkung von kohlensauren Bädern
erinnert. — (Russkij Wratsch 1910, Nr. 44.) J. Sch.
*
52. (Aus der physiotherapeutischen Abteilung des klinischen
Instituts des Großfürstin Helena Pawlowna.) Zur Frage der
Temperaturkrisen bei Tabikern. Von W. A. Stange und
S. A. Brust ein. Die Verfasser beschreiben einen Fall, bei dem
es sich um die seltene Form von tabischen Krisen — „Temperatur-
krisen“ — handelte. Diese Krisen waren durch periodische Tem¬
peratursteigerungen charakterisiert. Als auslösende Ursache mußte
ein Trauma angenommen werden. Daneben bestand eine Anzahl
anderer tabischer Symptome. — (Russkij Wratsch 1910, Nr. 21.)
J. Sch.
*
Aus amerikanischen Zeitschriften.
53. Die Diagnose und Behandlung der Gelenks¬
entzündungen gastrointestinalen Ursprungs. Von
W. Marshall. Im Anschluß an Typhus und Dysenterie werden
nicht selten Gelenksaffektionen beobachtet, die mit der Grund¬
krankheit verschwinden. Aber auch sonst beobachtet man Ge¬
lenkserkrankungen, die ätiologisch auf den Magen - Darmkanal
zurückzuführen sind. Die giftigen Abbauprodukte des Eiweiß,
deren Bildung durch eine reichliche Bakterienflora gefördert wird,
Stauung des 'Darminhaltes, abnorme Durchlässigkeit der Darm¬
wand für die Fäulnisprodukte und eine gewisse Empfindlichkeit
der Gelenke kommen für die Entstehung der arthritischen Affek¬
tionen gastrointestinalen Ursprungs in Betracht. Die Entwicklung
der Fäulnisbakterien kann durch Darreichung von Milchsäure¬
bazillen enthaltenden Substanzen gehemmt werden. Durch Ver¬
minderung des Eiweißgehaltes der Nahrung wird der Bildung der
Fäulnisprodukte desselben vorgebeugt. Spülungen des Dickdarms
und Regelung des Stuhles beseitigen die Kotstauung. In einem
Falle verschwand durch regelmäßige Darmspülungen neben der
Arthritis auch eine sie begleitende Psoriasis. Bei allen Gelenks¬
störungen, deren Ursprung okkult ist und welche der gewöhn¬
lichen Therapie Widerstand leisten, soll man an die Möglich¬
keit eines gastrointestinalen Ursprunges denken. — (The Journal
of the Arner. Med. Association, 26. November 1910.) sz.
*
54. Die Wirkung des Alkohols auf Psychoneu-
rosen. Von A. Gordon. Pathologische, klinische und experi¬
mentelle Daten beweisen mit fast mathematischer Sicherheit, daß
die Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Körper eine
verhängnisvolle ist. Die Beobachtungen, über welche der Ver¬
fasser berichtet, illustrieren die Tatsache, daß- Individuen, die mit
Psychoneurosen behaftet sind, ein besonders günstiges Feld für
die schädliche Wirkung des Alkohols ders teilen. Schon geringe
Mengen alkoholischer Getränke haben auf psychasthenische, hypo¬
chondrische und hysterische Personen eine schlechte \1 irkung.
Da schon das moderne Leben mit seinen nervenaufreibenden
Schädlichkeiten die Zahl der Psychoneurotiker außerordentlich
anwachsen läßt, so muß alles, was ihre Zahl noch vermehren und
ihre Beschwerden steigern kann, vermieden werden. Alkohol
befördert die Entstehung von Geisteskrankheiten auf psychoneu-
rotischer Grundlage, was Verf. an einer Reihe von einschlägigen
Beobachtungen darlegt. Da schlechte Gewohnheiten von Indivi¬
duen mit neuropathischer oder degenerative!' Anlage rasch an-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, 1911.
Nr. 2
82
genommen werden, so muß sich die Prophylaxe selbst auf die
.medizinale Verordnung von Alkohol erstrecken. — (Monthly Cy-
klopaedia and Med. Bulletin, November 1910.) sz.
*
55. lieber, ei nen v,a r i olaähn liehen Hautaus1 schlag
bei einer Mumie aus der 20. Dynastie (1200 — 1100 vor
Christi). Von A. Ruffer und R. Ferguson. Auf der Haut
einer ägyptischen Mumie wurde eine den Blattern ähnliche
Eruption gefunden. Die histologische Untersuchung ergab ein
bullöses Exanthem innerhalb der Epidermis mit zahlreichen Bak¬
terien in der Haut. — (Journal of Pathology and Bakteriolgy
.1910, Bd. 15, S. 1.) sz. '
*
5Ö. Beobachtungen über die Veränderungen,
w eiche im Blute und i m K n o c h e n m a r k e d u r c h Hä m o r-
rhagien und Blutzerstörungen h ervorg eiruf en wer¬
den. Von J. Price. Der Autor gibt eine Beschreibung und
Klassifikation der Knochenmarkzellen. Er leitet sowohl die Ery¬
thro- wie die Leukoblasten von einer primitiven lymphoiden Zelle
ab, die durch Knospung aus dein Riesenzellen entsteht. Von in
10 °/o igem neutralem Glyzerin emulgiertem frischen Knochenmark
kann man Ausstriche an fertigen. Diese zeigen, nach Jenner
gefärbt, viele Details, die man an Schnitten nicht beobachten
kann. Kaninchen wurde Blut entzogen. ,Sie wurden nach ver¬
schiedenen Zeiträumen getötet und ihr Knochenmark untersucht.
Auf diese Weise kann main die ErythroMastenreaktion des Knochen¬
markes sehr gut zur Anschauung bringen. In demselben Maße,
wie die kernhaltigen Zellen des Knochenmarkes sich vermehren,
vermehren sich auch die lymphoiden Zellen, von denen sie ab¬
stammen. — (Journal of Pathology and Bakteriology 1910,
Bd. 15, S. 4.) sz.
*
57. Die O x yd a s ereakti o n in myeloiden Ge¬
weben. Von S. Dünn. Die Indophenolsynthese aus a - Naphthol
und Dimethylparaphenylendiamin wird durch eosinophile und
neutrophile Leukozyten und weniger rasch durch große hyaline
Leukozyten und durch die Myelozyten im Knochenmark und im
Blute des Leukämikers hervorgerufen. Mastzellen geben die Re¬
aktion langsamer als manche Myeloblasten (nicht gekörnte Myelo¬
zyten). Die Reaktion wird nicht gegeben von Lymphozyten oder
roten Blutkörperchen, noch von den normalen Gewebselementon
außer dem Epithel der Parotis und der Tränendrüse. Die Oxydase
in den myeloiden Zellen wird nicht zerstört durch den Paraffinie¬
rungsprozeß. Schnitte werden am besten in Wasserglas aufbe¬
wahrt. Die Oxydase wird bald zerstört durch Salz- und Oxal¬
säure, durch Sublimat, Pikrinsäure und Phenol, aber nicht durch
Formalin, Blausäure, Osmiumsäure, Resorzin usw. Die Reaktion
ist von großer Wichtigkeit zur Veranschaulichung der Verteilung
des myeloiden Gewebes. (Journal of Pathology and Bakterio¬
logy 1910, Bd'. 15, S. 20.) ' sz.
Vermisehfce Naehriehten.
Ernannt: Br. Dustin zum a. o. Professor der Histologie
in Brüssel.
*
Verliehen: Priv.-Doz. Dr. Ludwig Sc'hmeic h 1 er, Augen¬
arzt in Brünn, der Titel eines a. ,o. Professors. — Den Privat¬
dozenten Dr. K. Baisch und Dr. R. Hacker in München der
Titel und Rang eines Professors. - Dem Privatdozenteni für
Frauenheilkunde in Breslau Dr. W. Hannes der Professortitel.
Dein Röntgenologen Dr. Go.cht in Halle der Profess ortitel.
Den Privatdozenten Dr. E. Schlesinger (Kinderheilkunde),
Dr. H. Fuchs (Anatomie); Dr. G i Idem e i s ter (Physiologie)
in Straßburg der Charakter als Professor.
*
Habilitiert: Dr. Erich Baumgartner und Dr. Eduard
U r ban ts c h i ts ch für Zahnbeilkunde in Graz. — Dr. Eugen
Joseph für Chirurgie in Berlin. — Dr. B rodmann für Ner¬
venkrankheiten in Tübingen. In Padua: Dr. Carletti und
Dr. Sic card i für interne Pathologie, 0. Dedin für Kinder¬
heilkunde. — In Palermo: Dr. Barba und Dr. Salvatore
für interim Pathologie, Dr. Sulli für gerichtliche Medizin.
*
ln Mödling bei Wien, seit seinem vor mehreren Jahren er¬
folgten Uebertritt in den Ruhestand sein ständiger Wohnsitz,
wo er in beschaulicher Zurückgezogenheit den Rest seines Lebens
zu verbringen gedachte, ist Hofrat Prof. Dr. Johann Csokor,
nach langer und schwerer Krankheit, am 7. d. M. gestorben.
Während seiner Aktivität versah er an der Wiener tierärztlichen
Hochschule das Lehramt für pathologische Anatomie und tradierte
gleichzeitig an der Universität Tierseuchenlehre. Er war wissen¬
schaftlich immer darauf bedacht, in seinem Fache den verglei¬
chend anatomischen Standpunkt und die vielfachen Beziehungen
der Menschen- und Tierpathologie möglichst festzuhalten, gewiß
zum Nutzen beider Disziplinen. In diesem Bestreben hat er auch
durch häufige Vorträge und Demonstrationen in der Gesellschaft
der Aerzte stets anregend und belehrend gewirkt und sich den
Dank der Aerzteschaft verdient. Auch sonst hat Csokor durch
seine stets kollegiale Bereitwilligkeit und die Freundlichkeit seines^
Wesens die Sympathien weiter Kreise genossten und sich ein dau¬
erndes, liebe- und ehrenvolles Andenken über das Grab hinaus
gesichert.
Programm
der am
Freitag den 13. Januar 1911« um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Dr. Sigm. Exner stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
I. Administrative Sitzung:
Dr. Armin Cziner : Rechenschaftsbericht über 1910 und Vor¬
anschlag 1911.
II. Wissenschaftliche Sitzung:
1. Prof. A. Pilez : Zur Prognose und Therapie der progressiven
Paralyse.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Hofrat Weichselbanm,
Prof. Härtner, Hecht und Kollier, Clairinont und llaudek, S. Federn.
Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale der Klinik
Escherich I)onner«taa: den 12. Januar 1911, um 7 Uhr abends, statt.
(Vorsitz: Dr. Julius Drey.)
1. Demonstrationen.
2. Dr. A. v. Iteuss : Ueber Eiweißmilch. Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 16. Januar 1911, 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz
des Herrn Dr. E. Jalioda stattfindenden wissenschaftlichen Ver¬
sammlung.
Prim. Priv.-Doz. Dr. II. Schur: Hyperaziditätsschmerzen und Ulcus
ventriculi.
Ophthalmologische Gesellschaft in Wien.
Programm der am Wontag’, den 16. Januar 1911, 7 Uhr abeuds, im
Ilörsaale der Klinik Fuchs staufindenden Sitzung.
1. Salzmann: a) Streptotrichie des Tränenröhrchens; b) Ueber
Tuberkulose der Chorioidea unter dem Bilde des Tumors.
2. Marburg: Zur subkortikalen Blicklähmung.
3. Sachs : Zur Untersuchung der hemianopischen Pupillenreaktion.
4. Krämer : Ergänzung zur letzten Demonstration.
Dr. Richard Krämer, dz. Schriftführer.
Einladung
zu der Donnerstag, den 19. Januar 1911, um 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale der Witwen- und Waisen-Sozietät des Wiener Mediz. Doktoren¬
kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, stattfindenden
General Versammlung
des Unterstützungsvereines für Witwen und Waisen jener Mitglieder des
Wiener Mediz. Doktoren-Kollegiums, welche in die Witwen- und Waisen-
Sozietät nicht einverleibt waren. (Viszänik-Vivenot- Verein).
Das statutenmäßige Konzert des „Wiener Aerzteorchesters“
(Dirigent Priv.-Doz. Jagie) findet am Dienstag den 17. d. M.,
um V28 Uhr abends, im großen Saale der Wiener „Urania" statt.
Zur Aufführung gelangen: Cherubini, „Anacreion“-Ouvertürc ;
Mozart, Violonkonzert, D-Dur (Frl. Kennedy); Gadei, Nach¬
klänge von „Ossian“ ; Dr. Hermann Marschik, „Fürchf dich
nicht“ (Gesang Frl. Holeczek, Dirigent der Komponist); Michael
Haydn, Symphonie in C-Dur. — Der Reingewinn dieses Kon¬
zertes ist für arme Rigorosanten, bestimmt. Kartenverkauf hei
Rose, [., Kärntnerring 11.
Verantwortlicher Redakteur: Karl Kubasta. Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Bruno Bartelt, Wien XVIIU, Theresiengasse 3.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
G. Braun, 0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger, M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko, H. Meyer, J. Moeller,
K. v. Noorden. H. Obersteiner, A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta, J. Tandler. G. Toldt, J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Theodor Escherich, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs, Julius Hochenegg, Ernst Ludwig,
Edmund v. Neusser, Richard Paltauf. Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert you Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13. Telephon 17.618
XXIV. Jahrg.
Wien, 19. Januar 1911
Nr. 3
INHALT:
1. Onginalartikel : 1. Aus der II. Abteilung für Haut- und Ge¬
schlechtskrankheiten des allgein. Krankenhauses. Erfahrungen
über die Behandlung der Syphilis mit Arsenobenzol. Von
Prof. Dr. S. Ehrmann. S. 83.
2. Aus dem Röntgenlaboratorium des Wiener Allgein. Kranken¬
hauses. (Leiter: Priv.-Doz. Dr. Holzknecht.) Röntgenologische
Studien zur Resorption von Quecksilber- und Arsenobenzol-
injektionen. Von Priv.-Doz. Dr. Karl Ul 1 mann und Assistent
Dr. Martin Haudek. S. 85.
3. Untersuchungen über die praktische Bedeutung der Meiostagmin-
reaktion von Ascoli bei malignen Geschwülsten des Verdauungs-
traktus und vergleichende Untersuchungen über die Meiostagmin-
reaktion und die heterolytisehe Blutkörperchenreaktion. Von
Prof. Dr. med. Keil in g, Dresden. S. 90.
4. Die Behandlung des ulcus cruris varicosum mittels Pflaster¬
strumpfbandes. Von K, B ü d i n g e r. S. 93.
5. Eine ökonomische Modifikation des elektrolytischen Epilations¬
verfahrens. Von Priv.-Doz. Dr. St. Weiden fei d. S. 94.
6. Aus der Kinderklinik des städt. Krankenhauses Frankfurt a. M.
(Direktor Dr. v. Mettenheimer.) Zur Untersuchung des Liquor
cerebrospinalis nach Mayerhofer. Von Dr. G. S i m o n, Assistenz¬
arzt. S. 94.
IF. Referate: Internal Secretions from a physiological and thera¬
peutical standpoint. Von Isaak Ott. Phases of Evolution and
Heredity. Von Berry Hart. La fonction du sommeil, physiologie,
Psychologie, pathologie. Von Albert Salmon. Naturwissenschaft
und Gehirn. Von Prof. J. P. Pawlow. Handbuch der bio¬
chemischen Arbeitsmethoden. Von E. Abderhalden. Ref. :
Durig. — Handbuch der vergleichenden Physiologie. Von
H. Winter stein Lieber Lokalisation der Hirnfunktionen.
Von C. v. Monakow. Fortschritte der naturwissenschaftlichen
Forschung. Von Prof. Dr. E. Abderhalden. Gedanken zur
allgemeinen Energetik der Organismen. Von C. Lüde ritz.
Die Entwicklung des menschlichen Geistes. Ein Vortrag von
M. Verworn. Geschlechtstrieb und echt sekundäre Geschlechts¬
charaktere als Folge der innersekretorischen Funktion der Keim¬
drüsen Von E. Steinach. Die Gesundheitskontrolle durch
den Organsinn. Von Dr. A. Brosch. Lehrbuch der Physiologie
des tierischen Organismus im speziellen des Menschen. Von
Prof. Dr. J. Bernstein. Die Fermente und ihre Wirkungen.
Von Prof. Carl Oppenheimer. Der elektrochemische Betrieb
der Organismen und die Salzlösung als Elektrolyt. Von
G. Hirth. Das System der Biologie in Forschung und Lehre.
Von Dr. phil. S. Tschulock. Ref.: Durig.— Ergebnisse der
Chirurgie und Orthopädie. Von Erwin Payr und Hermann
Küttner. Ref.: Alex. Fraenkel.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Aus der II. Abteilung für Haut- und Geschlechtskrank¬
heiten des allgem. Krankenhauses.
Erfahrungen über die Behandlung der Syphilis
mit Arsenobenzol*).
Von Prof. Dr. S. Ehrmann.
Meine Herren! Gestalten Sie mir, über die auf meiner
Abteilung im Allgemeinen Krankenhause und in der Privat¬
praxis gemachten Erfahrungen! über die Behandlung mit
dem Ehrl ich sehen Mittel zu berichten und daran einige
Bemerkungen allgemeiner Natur zu knüpfen.
Zunächst bemerke ich1, daß ich weniger auf die große
Zahl a.usgegangen bin, als vielmehr darauf, daß die Fälle
gut gewählt und sehr genau beobachtet werden. Der am¬
bulatorischen Behandlung kann ich derzeit nicht das Wort
reden. Unsere Beobachtungszeit beträgt jetzt fünf Monate
und die Zahl der behandelten Fälle 80. (Seit der Debatte in
der Gesellschaft der Aerzte sind noch 45 Fälle hinzuge-
ireten.) Ich will in der Betrachtung mit den Inilialsklerosen
beginnen. Eine Reihe der Initialaffekte zeigte, wie wir schon
auf der Naturforscherversammlung in Königsberg berich¬
teten, rasche Reinigung und Ueberhäutung, sowie baldige
*) Diskussionsbemerkungen zum Vortrag Prof. Fingers in der
Gesellschaft der Aerzte. 6. Dezember 1910.
Erweichung, andere blieben längere Zeit resistent. Ausge¬
dehnte initiale Indurativödeme mit Phimose und Paraphi¬
mose gingen auf die erste Injektion nicht vollstän. oder
erst in einiger Zeit, dann aber vollständig zurück, ozn be¬
merkt. werden muß, daß jede lokale Behandlung unterblieb.
Die Drüsen zeigen wohl im allgemeinen geringe Ten¬
denz zur Rückbildung, einige Fälle von erweichten Lympli-
drüsen resorbierten sich ohne Inzision rasch und vollstän¬
dig, wie wir es sonst, nur bei lokaler Quecksilber- und Tod
hehandlung beobachten. Auch eine Reihe einfach indurierter
Drüsen involvierte sich ganz gut.
Auf den Ausbruch des sekundären Exanthems wirkte,
die Arsenobenzolinjektion in einer Reihe von Fällen retar¬
dierend, d. h. hinaussdhiebend, von anderen aber können
wir mit Sicherheit sagen, daß. Syphilide, die noch nicht
deutlich in Erscheinung getreten waren, durch die Injektion
in wenigen Stunden zu Gesicht gebracht wurden, ln drei
Fällen von Präventivinjektion, vier bis fünf Wochen post
infec'tionem, sind noch vier Monate später keine Allgemein¬
erscheinungen aufgetreten und die Was? r mann sehe Re¬
aktion blieb negativ. In einigen K okheitsfällen dieser Art
war das Exanthem wohl in der Froruptionszeit nicht er¬
schienen, wir konnten aber etwas sehr Merkwürdiges sehen:
dienadhkommenden Syphilide nahmen eine n Charak ter
an, der nicht der Froruptionszeit, so nd orn einem
84
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
li u r stellenweise entwickelten S p ä t r e z i d i v ent¬
sprach, welche erfahrungsgemäß erst nach dem sechsten
Monate auf tritt; es waren dies regionär gruppierte anulläre
makulöse Syphilide. Es war mithin eine wesentliche
Beeinflussung des Syphilisprozesses im Sinne einer
Umstimmung des Organismus gegenüber dem syphi¬
litischen Virus wahrnehmbar.
In der sekundären Periode selbst war der Einfluß auf
die makulösen Syphilide, die doch eine günstige Form der
Lues darstellen, bezüglich der endgültigen Rückbildung am
geringsten. Dagegen war das Arsenobenzol auf das maligne
ulzeröse Syphilid der Haut und der Schleimhäute äußerst
wirksam, namentlich bei Individuen, die zugleich manifeste
Tuberkulose hatten. In einem Falle, wo ein tuberkulöses
Geschwür der Rachenschleimhaut lange Zeit bestanden
hatte und wo zugleich hereditäre latente Lues durch deutlich
positive Wassermann sehe Reaktion bei beiden Eltern
und dem 22 Jahre alten Patienten nachgewiesen wurde, ist
auch das durch etwa ein Jahr bestehende tuberkulöse Ge¬
schwür (mit positivem Tuberkelnachweis) geschwunden.
In allen Kombinationsfällen von Lues und Tuberkulose
konnten wir ein rasches Schwinden der spezifischen Er¬
scheinungen, eine Steigerung des allgemeinen Wohlbefin¬
dens und wesentliche Gewichtszunahme feststellen. Die so
rasch um sich greifenden ulzerösen, malignen Syphilis¬
formen der Mundschleimhaut kamen überraschend schnell
zur Ueberhäutung.
Die papulösen Syphilide wurden in einer Reibe von
Fällen rasch und schön zur Resorption gebracht, während
in einer anderen Reste zurückblieben, die erst durch eine
zweite Injektion oder durch nachfolgende Quecksilberbe¬
handlung ziun Schwinden gebracht wurden. In einer ge¬
ringen Zahl solcher Fälle war die Beeinflussung derartiger
Syphilide ganz gering.
Auffallend günstig war der Einfluß auf kleinpapulöse,
krustöse und pustulöse Syphilide, die so häufig bei Tuber¬
kulösen beobachtet wurden, am günstigsten vielleicht auf
das tuberöse Spätsyphilid und auf das gruppierte serpi-
ginöse tertiäre Syphilid.
Eine Reihe von tieferen Weichteilgummen und eine
beiderseitige Sarcöcele syphilitica zeigte in einigen Tagen
sehr rasche Verkleinerung bis etwa auf ein Drittel, die
weitere Resorption erfolgte sehr langsam.
Periostanschwellungen wurden rasch schmerzlos, akute
involvierten sich vollständig.
Die schuppenden Formen der Flachhand und Fu߬
sohlen verhielten sich ziemlich refraktär, doch verfügen
wir im Gegensatz hiezu auch über Beobachtungen über stark
ausgebildete psoriasiforme Syphilide der Flachhand und
Fußsohle, die sich restlos und schnell zurückbildeten.
Ehe ich über die Vor- und Nachteile des Arsenobenzols
spreche, möchte ich noch die sehr auffällige, von mir schon
in einem Artikel der medizinischen Wochenschrift im Sep¬
tember v. J. besprochene Frage der Jarisch-Herx-
heim ersehen Reaktion erörtern. Man beobachtet sie in
Form einer oft unter Fieber auftretenden gesteigerten Rö¬
tung und quaddelartigen Schwellung der makulösen Sy¬
philide und als einen ebensolchen Hof um papulöse Formen,
oder als ein Anschwellen der tuburösen, tertiären. Was
die quaddelförmige Rötung betrifft, so kann man sie oft
ganz spontan, am häufigsten jedoch bei Beginn einer in¬
tensiven Quecksilberkur, besonders häufig bei löslichen
Quecksilbersalzen und am allerhäufigsten bei Arsenobenzol-
injektionen, wie mein Assistent Dr. König stein beob¬
achten. Darüber habe ich schon im September berichtet.
Auch im Verlaufe einer Quecksilberkur in den verschie¬
densten Zeiten derselben an großmakulösen konfluierenden
Syphiliden, selbst in Form der Urticaria porzellana.
Die Reaktion tritt auch an verschiedenen Stellen nach¬
einander auf, ich bezeichnete sie als wandernden Herx-
heimer. Die verschiedenen Attacken können immer wieder
von Fieber eingeleitet werden, ebenso wie die mit Beginn
einer Therapie einsetzende H erxheimersche Reaktion.
Diese beobachtete ich auch bei einer Phlebitis syphilitica
der Vena saphena, so daß der Venenstrang einige Sekunden
nach der Injektion an Dicke zunahm, dabei aber weniger
scharf abgegrenzt erschien; zugleich beobachtete man an
zwei kleineren Venenästen, an denen früher nichts be¬
sonderes zu bemerken War, 1 bis 2 cm lange Verdickungen,
die zugleich mit dem Ablauf der Reaktion an dem Haupt¬
ast sich vollständig resorbierten.
Diesem Vorgänge ähnlich war die Anschwellung des
Periosts über den Maleoien einer Frau, die erst sechs
Stunden nach einer Injektion erschien und am dritten Tage
nach der Injektion schwand. Die betreffende Patientin hatte
ein großmakulöses Syphilid breite Kondylome am Genitale
und Anus, Papeln der Mundschleimhaut, dies alles invol¬
vierte sich im Laufe von acht Tagen, vier Wochen später
trat eine leichte Rezidive nur am Genitale auf. Das auf¬
fallende Schwinden der Schleimpapeln in der erodierten
Form ist eine gewöhnliche Erscheinung bei der Ehrlicli-
H ata -Injektion. Die sogenannten organisierten Papeln
von Lang leisten der Rückbildung bedeutenden Wider¬
stand.
Aus dem ganzen ergibt sich, daß. die zellreichen, na¬
mentlich die an Riesenzellen reichen Syphilome sich am
raschesten und vollständigsten nach der Ehrli ch-Hata-
Injektion involvieren.
Was die toxischen Wirkungen betrifft, die von an¬
deren Beobachtern mitgeteilt wurden und die auch wir
beobachtet haben, möchte ich vor allem auf die rasch vor¬
übergehenden toxischen Erytheme hinweisen, von denen wir
einen Fall gesehen haben. Für Erklärung der toxischen
Wirkung überhaupt, möchte ich folgenden Fall anführen:
S. Br., 34 Jahre alt, in Ungarn wohnhaft, akquirierte im
Juni 1910 Lues, bekam Injektion; sechs Wochen .später Schwindel
und Kopfschmerzen. Am 4. Oktober stellte er sich Kollegen Gom-
p erz und mir vor. An diesem Tage teilte er mit, daß er morgens
ein Gefülil habe, als wäre er rechts lahm geworden. Er hatte
einen solchen Schwindel, daß er sich kaum aufrecht erhalten
konnte. Im linken Ohr, das seit 18 Tagen schwerhörig ist, em¬
pfindet Patient seitdem heftiges Sausen, dabei fürchterliche Kopf¬
schmerzen. Der von Prof. Dr. Gomperz erhobene Befund ist
folgender: Trommelfell r. normal, 1. hyper ämisch, Uhr r. 35cm
(normal 120 cm), 1. 3 cm, Weber unbestimmt, 1. Rinne + (aQ
ai 30 Sekunden Verkürzung, untere Tongrenze: e. Beim Schauen
nach der Seite, sowohl nach r. als auch nach 1. Nystagmus
horizontal! s, nach links mit rotatorischen Komplementen. Beim
Blick geradeaus kein Nystagmus. Bei elektrischer Reizung tritt
bei drei Milliampere kein Nystagmus auf.
Wasser m a n n ergibt geringe Komplementablenkung. Bei
Untersuchung der Haut fand sich in der linken Lenden¬
gegend eine mit fast guldenstüokgroßer Oeffnung
nach außen p e r f o r i e r t e H a u t g a n g r ä n. Die Ränder waren
weit unterminiert, bei Druck entleerte sich Eiter. Der Patient
bekam zunächst Jod intern.
Unmittelbar nach Mein Ausdrücken des Eiters war der
Kopfschmerz, das Schwächegefühl und der Schwindel geringer.
Dieses wiederholte sich zweimal, so daß ich mich ent¬
schloß, die ganze gangränöse Partie zu exstirpieren. Im
Aetherrausch konnte ich eine über hühnereigroße, ziem¬
lich leicht ausschälbare graue Masse aus dem subkutanen
Gewebe ansschälen; die Wände des Hohlraumes zeigten bereits
Granulation. Darauf besserten sich die Zustände auffällig, der
Kopfschmerz und der Schwindel waren tags nachher, zum
großen Teil geschwunden und am 6. Oktober hörte Patient rechts
auf 90 cm, links auf 6 cm. Der1 Kranke befand sich wohler und
ließ sich nicht mehr in Wien halten. Am 24. November be¬
richtet er, daß er auf meine Empfehlung die Schmierkur macht.
Die Kopfschmerzen, die Patienten hier quälten, dauerten etwa
noch 14 Tage und verschwanden dann gänzlich. Das Gehör am
linken Ohr hat von Tag zu Tag so zugenommen, daß er darauf
beinahe so gut zu hören glaubt, wie am rechten, dagegen haben
die subjektiven Geräusche nicht aufgehört, sie sind nur in ihrer
Intensität schwächer. Auch an Schwindel leidet er noch hie und
da, aber bezieht diesen auf die täglich konsumierten acht bis
zehn Zigarren, von denen er nicht lassen kann.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
85
Das Resümee Prof. Gomperz’ lautet also: Es bestand eine
A ff ek lion des' Akustikus, some beiden Teile betreffend, sowohl
den Kochlearis als auch den Vestibularis, dessen Reizsymptome
eine Woche später auftraten als die Schädigung des Nervus
cochlearis. Diese Akustikusaffektion ist zirka vier Monate nach
der Erkrankung mit Lues1 und zwei Monate nach der ,,606“-ln-
jektion aufgetreten. Oh es sich dabei um eine rein luetische oder
Arsenaffektion handelt, läßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen.
Prof. Gomperz möchte sich nach dem Verlauf und dem Effekt
der antiluetischen Therapie der Ansicht hinneigen, daß es sich
um eine rein luetische Affektion handle, wobei auch \busus
tabaci mit einwirkte.
Zum Schlüsse möchte ich noch erwähnen, daß in
5-69 g der von mir aus dem subkutanen Gewebe exstirpierten
gangränösen Masse 0-0032 Arsen (Inst. Urban und He li¬
man n) nach gewiesen wurde. Die Masse in einem Partikel
auf Tiere übertragen, erwies sich als steril. Ich schließe
daran die Vermutung, dab im gangränösen Gewebe
eine Umsetzung des im übrigen nicht toxischen Mittels
stattgefunden hatte. Vielleicht sind auch bei einzelnen von
anderer Seite beobachteten Intoxikationserscheinungen ähn¬
liche Umstände maßgebend, ln dieser Annahme werden
wir durch den Umstand bestärkt, daß in sehr vielen Fällen
Infiltrate nach der Injektion Zurückbleiben, in welchen
wahrscheinlich zersetzliche Arsenverbindungen zurückge-
halten werden. Es ist mir auch aufgefallen, daß bei Re¬
zidive, welche wir' sowohl bei unseren Patienten, wie auch
bei anderen sahen, Infiltrate bestanden. Gangrän haben
wir bei unseren Fällen nicht gesehen.
Die Affektionen des Gehörorganes, welche gewöhnlich
als toxische aufgefaßt werden, haben wir bereits im August
1910 bei einem1 “Patienten beobachtet, der das Herxh ei mor¬
sche Phänomen in deutlicher Weise zeigte und ich habe
schon damals diese Erscheinung sofort, mit diesem Phä¬
nomenin Verbindung gebracht. Ich habe auch schon früher
zuletzt in zwei Fällen des verflossenen Jahres, Schwerhörig¬
keit mit Ohrensausen beobachtet, wo nur Quecksilber-
behandlung eingeleitet war. Diese Erscheinungen sind nach
längerer Zeit, beiläufig nach 1 bis 1 V2 Jahren, bei weiterer
konsequenter intermittierender Quecksilberbehandlung ge¬
schwunden. Besonders einer dieser Fälle ist insofeme inter¬
essant, als er nach einer Schmierkur eine vollständige Oku¬
lomotoriuslähmung bekam, die nach zwei Hydrargyrum sali-
cylicum-Injektionen von je Vs cm3 einer 10°/oigen Emulsion
in wenigen Tagen schwand. Es hatten vorher und nachher
wiederholt Periostitiden des Schädels bestanden, so daß
ich geneigt bin, auch die Okulomotoriuslähmung auf solche
zu beziehen. Ein tagelang dauernder Schwindel ging hei
demselben Patienten auf Jothionbehändlung zurück" und
kehrte nicht wieder nach neuerlicher Injektion von Hydrar¬
gyrum salic'ylicum.
Wenn wir die Möglichkeiten erwägen, wodurch die
Schädigung des Hömerven im1 ganzen oder in einem seiner
Teile besteht, so möchte ich mich der Ansicht zuneigen, daß
eine Anzahl dieser Fälle als eine Teilerscheinung der
Herxheim ersehen Reaktion aufzufassen ist, und viel¬
leicht mit rasch einsetzenden Periostanschwelhmgon zu¬
sammenhängt, daß ein Teil luetischer Natur ist und bei
Quecksilberbehandlung ebenso vorkommt, wie hei Arseno-
benzol, bei letzterem vielleicht häufiger, wenn es in von
Infiltrat oder von gangränösem Gewebe eingeschlossenen
Depots eine chemische Umsetzung erfährt. In beiden Fällen
ist es höchstwahrscheinlich, daß eine bereits vorausge¬
gangene Schädigung des Nerven ein Punctum minoris re-
sistentiae bildet.
Bei unserem1 oben ausführlicher erwähnten Kranken
ist. die prädisponierende Schädigung wohl in einem ganz
außergewöhnlichen Mißbrauch von Tabak gelegen und hei
der nachträglichen Schädigung konkurrierten wohl beide
Hauptschädigungen, nämlich die Syphilis und die toxische
Eigenschaft des im .gangränösen Gewebe zersetzten Arseno-
benzols. Dies wird im besonderen dadurch erhärtet, daß
nach der Exstirpation der gangränösen Masse sich die Er¬
scheinungen auffallend rasch besserten, jedoch nicht, völlig
zurückgingen, daß aber ein wesentlicher Rückgang nach¬
träglich durch die Quecksilberschmierkur erreicht wurde.
Ueber die Technik hat schon mein Assistent Doktor
Koni gstein berichtet.
Wenn ich den Eindruck wiedergeben soll, welchen die
bisherigen Erfahrungen in mir hervorgerufen haben, von
einem definitiven Urteil kann ja noch nicht die Rede sein,
so muß ich sagen, daß wir hei der malignen Lues, bei welcher
absolute Intoleranz gegen Quecksilber besteht, im Ehrlich-
scheu Präparat ein Mittel besitzen, welches die Erschei¬
nungen schnell zurückbildet und dabei den Allgemein¬
zustand nicht nur nicht schädigt, sondern hebt. Wir haben
in ihm ein Mittel, welches in den meisten Fällen die Syphi-
lome der sekundären und tertiären Stadien rasch zur Re¬
sorption bringt; wir wollen einstweilen unentschieden lassen,
ob in Fällen unvollständiger Wirkung oder in Rezidivfällen
eine zweite Injektion oder nachträgliche Quecksilberbehand¬
lung angezeigt ist. Wir wollen auch noch kein Urteil über
die Abortivbehandlung mit ,,606“ im primären Stadium und
über die definitive Heilung, nach Schwund der Erscheinungen
fällen. Wir können aber sagen, daß wir an dem Arseno-
benzol ein Mittel haben, mit welchem man in verzweifelten
Fällen, in denen das Quecksilber im Stiche läßt, ganz über¬
raschende Erfolge erzielt und daß wir ferner in ihm ein
Mittel besitzen, welches wir nicht wiederum missen möchten,
ganz unabhängig von der Erwägung, oh es allein oder in
Kombination mit Quecksilber wird verwendet werden
müssen. Dies wird eine der Aufgaben der künftigen thera¬
peutischen Forschungen sein, so wie eine Verbesserung
der Applikationsform) in der Richtung, daß das Mittel
rascher, vollständiger und ohne chemische Umsetzung re¬
sorbiert wird.
Nachtrag. Bisher haben wir 40 intravenöse Injek¬
tionen ausgeführt, sie wurden von den Kranken vortrefflich
vertragen; außer vorübergehendem Fieber bis 39° in einem
Teil der Fälle, Erbrechen in einem1 einzigen Falle, waren
keine unangenehmen Erscheinungen zu beobachten.
Aus dem Röntgenlaboratorium des Wiener Allgem.
Krankenhauses.
(Leiter: Priv.-Doz. Dr. Holzknecht.)
Röntgenologische Studien zur Resorption von
Quecksilber- und Arsenobenzolinjektionen.*)
Von Priv.-Doz. Dr. Karl Ullmaim und Assistent Dr. Martin Handel«.
Die Resorptionsvorgänge gewisser in den Körper inji¬
zierter Heilstoffe wurden bisher zumeist auf chemischem
und auf anantomisch- histologischem Wege studiert. Bei
ersterer Methode wurde, um den Umsatz festzustellen, die
Quantität der aus dem1 Körper ausgesohiedenen Original¬
substanzen oder deren Derivate bestimmt und daraus ein
Schluß auf die Menge der noch im Organismus befindlichen
Substanzen gezogen.
Das zweite Verfahren konnte auf lebenden Menschen
wohl nur ausnahmsweise angewendet werden. Gerade bei
Quecksilber- und Arseninjektionen aber gaben die
sonst auftretenden chronischen Infiltrate und Nekrosen hie¬
zu Anlaß und Gelegenheit.
Die genannten schwermetallischen Körper in gewissen
nicht wasserlöslichen Verbindungen eignen sich nun durch
ihr hohes spezifisches Gewicht in ausgezeichneter Weise
auch zum röntgenologischen Nachweise' u. zw. sowohl un¬
mittelbar nach der Injektion, als auch noch zu einer Zeit,,
zu der nur mehr ein kleiner Teil der eingebrachten Substanz
an der Injektionsstelle selbst vorhanden ist.
Der radiologische Nachweis von metallischen Fremd¬
körpern gelingt bekanntlich sehr leicht, selbst, dort, wo sich
die letzteren auf Knochen projizieren oder in diesen selbst.
*) Nach der am 2. Dezember in der Diskussion zu Prof. Fingers
Vortrag »Die Behandlung rder Syphilis mit. Arsenobenzol« gehaltenen
Demonstrationen und Bemerkungen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 3
zu liegen kommen. So sind Jodoformplomben, Projektile,.
Metallsplitter auf der Röntgenplatte sehr gut sichtbar. Das
Quecksilber, mit welchem wir etwa vor einem Jahre un¬
sere Versuche aufnahmen, eignet sich hiezu durch sein
besonders hohes spezifisches und Atomgewicht (199),
welches fast an das des in der Magenradiologie so erfolg¬
reich verwendeten ’Wismuts (A. G. 206) heranreicht, beson¬
ders gut für den genannten Zweck. Die in der Syphilo-
therapie derzeit meist gebräuchlichen, schwerlöslichen
Quecksilberpräpärate, Kalomel, graues Oel und Hydrargyrum
salicylicum geben einen sehr dichten Schatten auf der
Rönlgenplatte.
Mit letzterem' Präparate hat L. Freund schon 1907
Untersuchungen über die Resorption der Normalinjektions¬
dosis von 0-1 g unternommen und gelangte hiebei zu fol¬
genden Ergebnissen: Die Resorption vollzog sich in to to in
neun bis zehn Tagen u. zw. in den ersten vier Tagen
schneller als in den letzten. In der Umgebung des Haupt-
schal' rs sah er bald (nach ein bis drei Tagen) kleine
punkii rmige Schatten auftreten, die er als abtranspoitierte
Oueck dberpartikelchen deutete, doch glaubte er außerdem
an eine chemische .Umwandlung in eine für Röntgenstrahlen
durchlässige Form im Depot, da ihm die Menge der abge¬
lösten Partikelchen zur Erklärung des Verschwindens der
Präparate nicht genügend erschien.
Nach Abschluß unserer Untersuchungen vor dem Phy¬
siologenkongreß und noch in völliger Unkenntnis von dieser
Arbeit L. Freunds1), wurden wir von ihm selbst auf die¬
selbe aufmerksam gemacht. Unsere Untersuchungen gingen
allerdings von anderen Gesichtspunkten aus, da wir die
Möglichkeil des radiologischen Nachweises von Quecksilber
im Körper, selbst in kleinen Mengen, als selbstverständlich
voraussetzten und uns lediglich damit beschäftigen wollten,
die schon nach der klinischen Erfahrung wahrscheinlichen
Differenzen der Resorptionsgeschwindigkeiten an verschie¬
denen Stellen, bzw. in verschiedenen Geweben, zu studieren
und radiologisch zu verfolgen.
Bei der Zusammenfassung unserer Arbeiten und dem
Studium einschlägiger Literatur, sind wir noch auf eine
weitere, denselben Gegenstand betreffende Studie Professor
Wel anders2) in Stockholm gestoßen, der mit dem be¬
kannten Radiologen Gösta Forssell schon inr November j
1908, ebenfalls offenbar in Unkenntnis der Freundschen
Untersuchungen,' verschiedene Quecksilberpräparate subku¬
tan injizierte und deren Resorption auf radiologischem Wege
zu studieren sich bemühte. W eland er verwendete sub¬
kutane Injektionen von Oleum mercurioli, Kalomel, Hydrar¬
gyrum aceto-thymolicum, Hydrargyrum salicylicum und
konnte dabei die Beobac'hiung machen, 'daß die Resorption
der injizierten Präparate sich bei dem Salizylquecksilber
schon innerhalb längstens zehn bis elf Tagen, bei allen
übrigen Präparaten erst nach 23 Tagen und auch da nur
zum Teile, vollzogen hatte. Auf einen Unterschied zwischen
Muskel- und subkutanem Zellgewebe nimmt auch Wel an¬
der keinen Bezug; wie lange es aber bis zum völligen
Verschwinden gedauert hat, darüber fehlen die Angaben.
Das Ziel unserer Untersuchungen war dahin
gerichtet, die Schnelligkeit der Resorption von
subkutanen Injektionen mit derjenigen von in¬
tramuskulär gesetzten der gleichen Quantität
und fies gleichen Präparates zu vergleichen. Wir
verwendeten hiebei die drei früher genannten Quecksilber¬
präparate in den üblichen Volldosen von 0 05 bis 010 g.
Jeder Patient wurde bald nach der Injektion und dann in
entsprechenden Intervallen neuerlich untersucht, bis völliges
Verschwinden oder doch eine nennenswerte Verminderung
des Depots konstatiert werden konnte.
Da bei der Durchleuchtung der Schatten leicht, über¬
sehen werden konnte, wurde nur von der Röntgenographie
Gebrauch gemacht. Der Patient wurde derart gelegt, daß
') Wienei klin. Woehenschr. 1907, S. 251.
2) Archiv für Derm, und Syphilis 1909, ßd. 96, S. 163.
die injizierte Körperregion (subkutan: Rücken, intramusku¬
lär: Gesäß oder Oberschenkelregion) auf die Platte zu liegen
kam. In Zeiträumen von zwei Zehntel- bis einer Sekunde
wurde im Atemstillstande die Aufnahme gemacht, wobei
ein Verstärkungsschirm (Gehlerfolie) verwendet wurde,
welcher die Expositionszeit um mindestens das fünffache
verkürzen ließ und so gestattete, bei ein und demselben Pa¬
tienten an der gleichen Hautregion mehrere Aufnahmen
hintereinander zu machen, ohne eine Röntgenschädigung
zu riskieren. Doppelplatten mußten nicht genommen wer¬
den, da die erhaltenen Bilder so charakteristisch und ein-'
deutig waren, daß Verwechslungen der Quecksilberschatten
mit Plattenfehlern nicht leicht unterlaufen konnten.
Die Depotphotographien hatten verschiedenes Aus¬
sehen. Bald ergäben sich klobige, kleinherdige Schatten,
bald solche von größerer Ausdehnung, entweder kreisrund
mit dichteren Punkten oder langgestreckt und gefiedert. Diese
ungleichmäßige Konfiguration und Struktur der Schatten,
die auch Freund erhalten hatte, führte dieser auf mehr¬
fache Umstände zurück, so auf den Druck der Einspritzung,
die Schwere, die Muskel Tätigkeit, die Beschaffenheit des
Gewebes (die Spaltrichtung), die Beschaffenheit des Präpa¬
rates, die Feinheit der Emulsion.
Unsere Untersuchungen, die sich durch mehrere Mo¬
nate erstreckten, wurden an einem großen Patientenmaterial
(über 60) und an Kaninchen, denen wir Dosen von 0 005 g
(V20 der Volldosis) bis 0 02 g injizierten, ausgeführt.
Lieber die Resultate derselben haben wir am Physio¬
logenkongreß vorigen Jahres berichtet; sie seien hier kurz
wiedergegeben :
1. Die Resorption der genannten Präparate
und Dosen erfolgt in weit längeren Zeiträumen,
als man dies bisher angenommen hat.
2. Die subkutanen Injektionen werden im
Durchschnitt etwa dreimal so langsanj resor¬
biert wie die intramuskulären.
3. Die verschiedenen Präparate werden ver¬
schieden schnell resorbiert u. zw. weitaus am
s c h n o 1 1 s I e n Q u e c k s i 1 b ers al i z y 1 at, dan n K a 1 o m e 1,
am langsamsten graues Oel.
4. M i I d e m al 1 m ä h 1 i c h e n S c h wi n d e n d es R ö n t-
gensc hat tens /des Quecksilberdepots ist. ein
gleichzeitiges Auftreten von kleinen körnchen¬
artigen S c h a 1 1 e n i n d e r U m g e b u n g des ers t e n auf
dem Bilde nicht wahrzunehmen. Wir konnten also
diesen Teil der Befunde Freunds nicht bestätigen und
müssen der Ansicht zuneigen, daß die Umwandlung
in für Röntgenlic'ht durchlässige Substanz im
Depot selbst erfolgt.
Das unter 1. angeführte Ergebnis ist von großer prak-
I i scher Bedeutung. Es zeigt neuerlich, was auch schon
die Untersuchungen der exzidierten oder abgestoßenen Ne¬
krosen gelehrt hat, daß die Resorption der injizierten Queck¬
silberpräparate nicht in dem raschen Tempo und ir 1er Voll¬
kommenheit erfolgt, wie cs sich der dermatologische Thera¬
peut. meist vorstellt. Gerade der vermeintliche Haupt vorteil
der Injektionstherapie gegenüber der Inunktionstherapie, die
exakte Dosierungsmöglichkeit erscheint namentlich für die
subkutanen Injektionen in Frage gestellt. Es wird wohl
ein Depot gesetzt, das allmählich zur Resorption gelangen
und nachhaltige Wirkung erzielen soll ; wenn jedoch die
Resorption eine allzu protrahierte ist, wenn zur Zeit, da der
Arzt in der Meinung, das erste Depot sei bereits aufge¬
braucht, die Injektionen wiederholt, während doch noch grö¬
ßere Mengen von Quecksilber vorhanden sind, wenn wir zum
Beispiel bei mehreren Patienten das gleichzeitige Vorhan¬
densein von vier oder gar fünf subkutanen, in Abständen
von je einer Woche gesetzten Quecksilberdepots nachweisen
konnten, dann erscheint ein solcher Befund wohl für
manchen geradezu als Ueberraschung. Die Exaktheit
d e r Dosierung b e z i eh I sich also nu r a ul die Größe
der Injektionsdosis, nicht aber auf die Größe
der zur Resorption g e 1 a n g e n d e n Teile derselben,
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
87
also gerade darauf nicht, worauf es bei der Therapie in
erster Linie ankomm!. Der Eintrit t unliebsamer toxi-
Fig. 1.
Zwei zarte streifige Röntgenschatten als Residuen von 606 in nativer
saurer Oelemulsion, je 0 2, 10 Wochen alt, Oberschenkelmuskulatur.
Fig. 3-
Ein langer bandförmiger Streifen einer 7 Wochen alten Oelemulsion mit
03 von 606 Hyp. subkutan, als Tumor fühlbar.
Fig. 5.
zeigt den intramuskulären nekrotischen tnjektionsherd nach 0\1 natur¬
saurer Lösung, stark konzentriert, 2 Monate nach der Injektion.
scher Ueberschreitungen der Maximaldosen wird
nun vollkom'men begreiflich, wenn man bedenkt,
daß aus einer großen Zahl von Depots später
noch gleichzeiti g Quecksilber resorbiert wird.
Das Ehrlidhsche Verfahren hat die Injektion»-
t.herapie noch mehr in den Vordergrund gestellt. Die intra-
Fig. 2.
Ein dichter bandförmiger Röntgenschatten als Residuum einer 7 Wochen
vorher gemachten sauren Emulsion von ca. 0 4 606 Hyp. im Glutäus.
Fig. 4.
Schatten des Arsenobenzolrestes von Hyp. 0’5 in neutraler Suspension,
3 Monate 10 Tage alt, in einem dorsalen Hautinfiltrate.
Fig. 6.
zeigt durch die Schambeinknochen durch zarte Streifchen intramuskulär
injizierter grauer Oelinjektionen, 3 und 4 Wochen alt, 0'07 in Metall.
venösen Injektionen werden nur selten ausgeführt, die sub¬
kutanen und intramuskulären wohl bei weitem häufiger. Wir
88
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 3
haben bei den Versuchen, Arsenobenzolinjektionen im
menschlichen Körper zu photographieren, zunächst keinen
Erfolg gehabt, wofür uns das Atomgewicht 74 des Arseno-
benzols keine genügende Erklärung geben konnte, da das¬
selbe, wenn auch viel niedriger als das Quecksilber, doch
immer noch höher ist als das des Kalziums, welches dem
Knochen sein hohes Absorptionsvermögen für Röntgen-
licht. gibt.
Nach der Einführung von Oel- und Paraffinemul¬
sionen zur Applikation des Ehrl ich sehen Mittels hatten wir
die Genugtuung, einwandfreie Bilder auch der Arsenobenzol¬
injektionen zu erhalten. Die Größe der Dosen betrug 0-3
bis 0-4 g. Sowohl bei den intramuskulären als bei den
subkutanen Injektionen erhielten wir sehr deutliche, homo¬
gen dichte, bandförmige Schatten, welche vielleicht noch
prägnanter auf der Röntgenplatte hervortreten (Fig. 1, 2,
3, 4, 5), als die der Quecksilberpräparate (Fig. 6, 7, 8).
Auch über diese Tatsache berichteten wir am Physio¬
logenkongreß, ohne indessen damals, wegen der Kürze un¬
serer Untersuchungen, Angaben über die jeweilige Resorp¬
tionszeit, unter den verschiedenen Bedingungen der Injek¬
tion, machen zu können. Gerade aber die Erforschung
dieser mußte bei dem neuen Mittel von besonderem Inter¬
esse sein, denn man stellte sich wohl allgemein vor, daß
mit der so energischen, symptomatischen Wirkung des Prä¬
parates ,,606“ eher eine schnellere Aufsaugung des Depots
einhergehe, als bei den bekannten Quecksilbermitteln. Mit
dieser Annahme stimmten jedoch zu unserer Ueberraschung
die Ergebnisse unserer Untersuchungen gleich anfangs ab¬
solut nicht überein.
Wir hatten schon im September y. J., in der Erwar¬
tung, bald Veränderungen des bezeichneten Schattens zu
sehen, die ersten zur Untersuchung kommenden Patienten
täglich photographiert, da aber solche Veränderungen nicht
auftraten und die Wiederholungen infolgedessen sehr zahl¬
reiche wurden, kamen wir, um nicht trotz Verwendung
des Verstärkungsschirmes und der Momenttechnik, den Pa¬
tienten eine Röntgenverbrennung zuzufügen, dazu, die
Wiederholung nur nach mehrtägigen Zwischenräumen vor¬
zunehmen. Im Verlaufe unserer weiteren Beob¬
achtungen ergab sich n u n f ast ausn ahm sl o s meh r-
wöchige bis mehrmonatige Verweildauer der ge¬
setzten Arsendepots bei der (sauren) Emulsion.
Die Resorptionszeiten für das native emulgierte
Arsenobe nzoldi c h 1 or h y d ra t übertr offen also
vielfach noch die der vorgenannten Quecksilber¬
präparate, denn bei diesen hatten wir im Muskel zumeist
nach zwei bis drei Wochen, in der Subkutis mindestens
nach ebensovielen Monaten, meist aber auch weit früher
das Verschwinden der Schatten konstatieren können; Fälle,
in denen subkutane Depots noch nach vier bis fünf Mo¬
naten nachweisbar waren, gehörten zur größten Seltenheit
und dürften wohl auf Lagerung der Depots im Fettgewebe
zurückzuführen sein. (Fig. 7 und 8.)
Auch die Tierversuche mit Injektionen von 0-05 bis
0-2 g subkutan oder intramuskulär, die übrigens von den
Kaninchen in bezug auf allgemein toxische Symptome gut
vertragen wurden, örtlich jedoch Nekrosen, wie beim Men¬
schen herbeiführten, bestätigten unsere früheren Beobach¬
lungen. Bei einem der Tiere z. B. hatten sich bis zum Ende
des zweiten Monates nach der subkutanen Injektion von
0-1 Hyp. nur geringe Veränderungen des intensiven Schat¬
tens ergeben. Das anatomische Präparat des getöteten
Tieres, welches anderwärts genauer beschrieben werden
wird und wie die übrigen Präparate auch histologischer
Untersuchung unterzogen wurde, zeigte große Mengen von
rotbraunen teils kristallinischen, teils körnigen Massen, die,
umgeben von nekrotischem Gewebe, jedoch ohne eigent¬
liche Eiterung nur in braunen Zerfallsmassen und in grau¬
weißen Schwielen eingebettet, die Röntgenschatten bil¬
deten. Stellenweise waren diese Körnchen mit dem
Detritus innig vermischt. So bestätigen diese Befunde,
welche bei mehreren Tieren in verschiedensten Modifika¬
tionen vorgefunden wurden, auch die zahlreich erhobenen
klinischen Befunde von Hautnekrosen mit Einschluß von
restlichem Arsenobenzol insbesondere die letzthin erho¬
benen und ausführlich beschriebenen Leichenbefunde von
Marlins in Frankfurt a. M.3)
Da von mehreren Seiten Zweifel darüber ausge¬
sprochen wurden, ob die beschriebenen Schatten auf un¬
seren Röntgenbildern tatsächlich von metallischen Bestand¬
teilen des injizierten Mittels und nicht etwa von schwieligen
Entzündungsprodukten, Nekrosefetzen, dem Infiltrationswall
oder von anderem herrührten, sei hier nachdrücklich hervor¬
gehoben, daß eine derartige Verwechslung mit vollster
Sicherheit auszuschließen ist. Wer von den physikalischen
Prinzipien, auf denen das Röntgenverfahren beruht, das
ist von der durchaus verschiedenen Röntgenlicht-Durch-
lässigkeit spezifisch schwerer Körper gegenüber den nor¬
malen oder pathologischen Haut- oder Muskelgeweben nur
einigermaßen Kenntnis hat, wird an einer guten Röntgen¬
platte die Schattenintensitäten einerseits von lufteriullten,
Fig. 7.
Fig. 7 zeigt z. B. solche Reste feiner Hg-Körnchen in 4 Gruppen subkutan
in der Rückengegend injizierter Depots bei Patienten Z. u. zw. 13, 14,
15 bez. 17 Woeben post injectionem von je 007 Hg-Metall in Form von
grauem Oel 20 %•
Fig. 8. I
Fig. 8 zeigt 3 Hg-Depots, 2 bis 2'/2 Monate, .alt, bei l’Patienten S. nach .
subkutaner Injektion von 20'70igen Oleum cinereum in Dosen von 007. 1
weichteildichten, selbst kalkdichten (z. B. Knochen, Nieren- 1
steine) und anderseits schwermetallischen Körpern ohne fl
weiteres voneinander differenzieren können. Die Queck- J
silber- und Arsenobenzolschatten auf unseren Bildern über- ,
treffen an Dichte bei weitem die der Knochensubstanz und .
selbst dort, wo sie sich auf die letzteren projizieren, sind
sie noch ganz deutlich zu erkennen.
Weichteildichte Körper kann man sehr gut gegenüber
gasförmigen oder kalkdichten Nachbarorganen differenzie¬
ren. Differenzen zwischen weichteildichten Körpern von
verschiedener Gewebsart lassen sich am Röntgenbilde nur
ä) Münchener med. Wochenschr, 1910, Nr. 61.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
89
ausnahmsweise erheben. So läßt sich bei Aufnahmen mil
weichen Röhren ganz gut Fettgewebe von Muskeln und
Sehnen unterscheiden ; man kann ausnahmsweise selbst
Hautvenen als zarte Bänder bei sehr weichen Extremitäten-
Au [nahmen erkennen und man kann schließlich die ödema-
löse oder entzündliche Infiltration von Weichteilen durch
die Verwischung der früher genannten Differenzen, eventuell
auch nach der Knochenstruktur, namentlich auf gelungenen
Vergleichsaufnahmen erkennen, doch kann und darf man
wohl niemals einen Weichteilschatten mit dem Schatten
eines metallischen Körpers verwechseln.
Wir haben es also in unseren Fällen mit der eindeu¬
tigen Wiedergabe von Depots metallischer Substanzen im
Körper zu tun, wobei es röntgenologisch wohl weder bei
Quecksilberverbindungen noch bei Arsenobenzol (Salvarsan)
zu unterscheiden ist, ob das injizierte Präparat seine ur¬
sprüngliche chemische Zusammensetzung behalten oder ver¬
ändert hat.
Auch in jenen wenigen Fällen, bei denen wir uns
mangels entsprechender Wirkung zu Reinjektionen mit „606“
veranlaßt gefühlt hatten, konnten wir von da ab verfolgen,
daß beide selbst um viele Wochen zeitlich voneinander
verschieden gemachte Injektionsdepots noch lange, ja
einzelne bis zu drei Monaten und noch darüber, im
Gewebe wenig verändert nachweisbar waren und auch
dort, wo eine lokale Anschwellung durch die Mus¬
kulatur oder die darüber liegende Haut nicht palpierbar
und kaum mehr druckempfindlich war. So fand man bei
einem 20jährigen jungen Manne (A.N.), der Ende September
0-5 „606“ in die Muskulatur des Oberschenkels und etwa
fünf Wochen später in den Glutaeus maximus erhalten hatte,
beide Arsenobenzoldepots noch bei der letzten Aufnahme
am 12. Dezember in deutlichen Streifen ausgeprägt vor,
wenngleich sich gegenüber den früherliegenden Photogra¬
phien, insbesondere in der Muskulatur des Oberschenkels
eine beträchtlich schwächere Schattenbildung konstatieren
ließ. Patient befand sich dabei vollkommen wohl, hatte ein
kaum palp ables unerhebliches Infiltrat und auch niemals
besonders starke Schmerzen gehabt. (Fig. 1 und 2.)
ln einem anderen Fälle (Fr. P.) ließ sich das Depot als
schmaler Streifen (Fig. 3) weit über sechs Wochen im sub¬
kutanen Zellgewebe des Rückens und fast fünf Wochen in
dem Glutäalmuskel radiologisch nachweisen. Auch dieser
Patient hatte kaum jemals erhebliche Schmerzen und keine
starke Infiltratbildung an den Injektionsstellen darge¬
boten. Die Depotbildung der nativen (sauren) Emul¬
sion erwies sich demnach als eine durch min¬
destens zwei aber auch drei Monate und noch
weit darüber währende u. zw. ganz unabhängig
von dem Vorhandensein starker manifester In¬
filtrationen oder gar Nekrosen. Wir heben hervor,
(laß diese Tatsache von uns bereits vor mehreren Monaten
testgelegt und bekanntgegeben, offenbar nicht genügend be¬
rücksichtigt wurde, da man bei mangelnder Wirkung, Ver¬
sagen oder Rezidiven doch immer noch in den letzten Mona¬
ten geneigt war, die Injektion in plena dosi in Emulsionsform
oder auch in neutraler Suspension nach Wechselmann-
jBlaschko eines zweites, ja ein drittes Mal zu wiederholen.
|N ei ss er, Wechselmann u. a. empfahlen Reinjektionen
bei mangelnder Wirkung der früheren. Daß nun auch die
neutrale Suspension, insbesondere subkutan injiziert, zu
denselben ungemein langdauernden Depotbildungen Veran¬
lassung gibt, zeigten ja schon die zahlreichen und sich immer
mehrenden klinisch erhobenen Befunde von schmerzhaften
Infiltraten und Nekrosen viele Monate nach der Injektion.
Allerdings gelang es uns nicht immer in solchen Fällen gleich
nach der Injektion der neutralen Suspension auch bei vorhan¬
dener Infiltratbildung, die Anwesenheit des Präparates durch
^c'hattenbildung und die Verzögerung der Resorption fest¬
zustellen, indes im1 Verlaufe des Monates November und
Dezember ist uns auch dies zuerst an Tieren später an
Menschen wiederholt in deutlicher und schlagender Weise
gelungen. So zeigt Fig. 4 einen derartigen dichten, scharf
umschriebenen Schatten drei Monate und zehn Tage nach
Injektion einer ganz neutralen Suspension in der Dosis
von 0-5 g Hy. ,
Die Ergebnisse unserer röntgenologischen Untersu¬
chungen standen demnach in voller Uebereinslimmung zu
dem, was die Klinik sowie die bisherigen pathologisch-anato¬
mischen Befunde (O r t h, M a r t i u s, A 1 b r e c h t, unsere eige¬
nen) über die lokale Wirkung des Ehrlichschen Mittels
berichteten. Fast allerorts wurde das Auftreten von Infil¬
traten und Nekrosen nach den emulgierten oder suspendierten
Injektionen konstatiert. In den Injektionsherden wurde,
wenn sie sich abgestoßen hatten oder exzidiert worden
waren, nicht selten noch ein Teil des injizierten Arseno-
benzols gefunden, das also seine kurative Wirkung offenbar
nicht entfaltet hatte. Die histologischen Untersuchungen er¬
gaben nahezu übereinstimmend lokale Nekrosen mit schmalem
Infiltrationswall und Gefäßthrombosen. Aber auch uner¬
wünschte Allgemeinwirkungen auf hochempfindliche Or¬
gane wie das Auge und Ohr, wurden, ja wie bekannt, beob¬
achtet. Finger berichtete erst kürzlich über Störungen
des Hör- und Sehnerven, bezüglich deren er zum mindesten
Verdacht hegt, daß sie die Folge einer spezifisch toxischen
Wirkung des Arsens seien. Es liegen auch vereinzelte ähn¬
liche Beobachtungen von anderen Autoren vor, was bei der
kurzen Zeit, während der das Mittel bisher in Verwendung
steht, unbedingt zur Vorsicht und objektiver Ueberprüfung
der Resorptions- und Wirkungsweise des Mittels mahnen
muß. Besonders interessant sind die in allerjüngster Zeit
erschienenen Mitteilungen von Martius- Frankfurt, dessen
anatomisch -histologische Beobachtungen sich mit un¬
seren und denen der meisten Autoren decken, in¬
sofern dieselben darin gipfeln, daß hauptsächlich
bei subkutaner Injektion in neutraler Suspension oder
nach den konzentrierten sauren Emulsionen schwere Ne¬
krosen auftreten. Auch er fand in diese neingeschlos¬
sen Teile der injizierten Substanz von „606“
und glaubt, schließen zu können, daß durch die
eingreifenden U m Wandlungen des Gewebes nicht
nur die kurative Wirkung des Depots verhindert
werde, sondern eine Umwandlung des Mittels
in der Weise stattfinde, daß Arsenderivate ent¬
stünden, die auf irgend eine Weise in die Zirku¬
lation gelangt eine toxische Wirkung entfalten
k ö n nten.
Man könnte nach unseren Beobachtungen vielleicht
glauben, daß es ausschließlich die Injektionsmethode mittels
nativer Emulsion ist, welche die Verzögerung der Aufsau¬
gung des Depots verschuldet. Dieser Schluß wäre jedoch ein
F ehlschluß, denn einerseits stimmen die klinischen, patho¬
logisch-anatomischen Beobachtungen hi emit nicht überein,
andrerseits dürfen wir aus negativ röntgenologischen Beob¬
achtungen keinerlei bestimmte Folgerungen ziehen.
Wir konnten übrigens in der letzten Zeit auch bei
Ehrlichschen Injektionen, die nicht in Emulsionsform ein¬
gebracht worden waren, metallische Schatten erhalten, so bei
einem Patienten, der drei Monate und zehn Tage vor der
Röntgenuntersuchung an einer Abteilung des Wiener All¬
gemeinen Krankenhauses eine Ehr lieh sehe Injektion von
„606“ 0-5 in neutraler Suspension subkutan unter die
Rückenhaut erhalten hatte. Der Schatten entsprach seiner
Lage nach der Stelle eines mächtigen Hautinfiltrates.
Auch saure Lösungen, die wir in konzentrierter
form einem Kaninchen injizierten, ließen sich radio¬
logisch feststellen. Eine der Ursachen, daß unsere ersten
Versuche zum Nachweis von Lösungen mißlangen, mochte
vielleicht darin liegen, daß die zur Lösung oder Aufschwem¬
mung verwendeten Flüssigkeitsquantitäten von 20 bis 30 cm3
relativ sehr große waren, also eine unverhältnismäßige Di-
luierung des Mittels herbeiführten. Bei Oelemulsionen
werden bekanntlich gewöhnlich nur 4 bis 5 g injiziert.
Nach diesen Beobachtungen sind also unsere Ergeb¬
nisse bezüglich der Resorptionszeiten von Arsenobenzol
wohl für sämtliche subkutane und intramuskuläre Applika-
90
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 3
tionsformeu zu verallgemeinern, mit Ausnahme der di-
1 ui er len schwachsauren Solutionen in kleinen Dosen, bei
denen wir keine Röntgensdhalten sahen und wofür die
überaus rasche und vollständige Resorption ohne später
folgende Infiltratbildung spricht (siehe auch die Diskussions¬
bemerkungen U 11 mahn s zu diesem Vortrage).
Wollten wir es versuchen, praktische Schlüsse aus
unseren Befunden zu ziehen, so würden wir zunächst dazu
gelangen, daß das Injektionsverfahren mit schwerlöslichen
Substanzen in der Syphilidologie überhaupt einer Revision
zu unterziehen sei, da die genaue Dosierung nach den ge¬
machten Erfahrungen wohl ernstlich in Frage gestellt er-
scheint. Für die hiezu nötigen Studien verdient das Röntgen-
verfahren in erster Linie herangezogen zu werden, da eine
Reihe von Fragen, insbesondere auch die der sogenannten
Remanenz mittels desselben der Lösung zugeführt werden
könnte. Gerade hierüber sowie über das Verhältnis der
Arsenausscheidungen (Urin, Kot), sowie auch dei Arsen¬
speicherung in den Organen wird von dem einen von uns
in nächster Zeit an anderem Orte ausführlich berichtet
werden.
Im besonderen scheint es, als ob das ein¬
malige Injizieren größerer Quantitäten in oben
bezei ebneten Formen — und als solche muß auch
Salvarsan 0-67g angesehen werden — sich nicht
e m p f e 1 1 1 e n dürfte, da offenbar von der injizier¬
ten Dosis nur ein kleiner Teil zur raschen Re¬
sorption und kurativen iW i r k u n g gelang t, z u i
symptomatischen Wirkung wohl auch genügt,
während größere Mengen im Körper unver¬
braucht Zurückbleiben oder gar schädigend
wirken könnten. Will man an der intramusku¬
lären oder gar subkutanen Injektionsmethode
von 606 festhalten, so dürfte sich die Applika¬
tion mehrerer kleiner Dosen gleichzeitig oder
in zeitlichen Intervallen am ehesten em¬
pfehlen. Hiedurch wird die Gefahr leichter
vermieden, daß große Depots geschaffen werden,
von denen eine unbeabsichtigte Wir k u n g frühe r
oder später aus gehen könnte.
Untersuchungen über die praktische Bedeutung
der Meiostagminreaktion von Ascoli bei malignen
Geschwülsten des Verdauungstraktus und ver¬
gleichende Untersuchungen über die Meiostag¬
minreaktion und die heterolytische Blutkör¬
perchenreaktion.*)
Von Prof. Dr. med. G. Kelliug, Dresden.
Die Ascoli sehe Meiostagminreaktion1 *) wird bekanntlich
mit dem alkoholisch-ätherischen Extrakt aus malignen Geschwül¬
sten des Menschen angestellt. Bei der Herstellung des Extraktes
müssen gewisse Bedingungen innegehalten werden (vgl. de Ago¬
stini, Medizinische Klinik 1910, Nr. 29, S. 1143). Wir selbst
benutzten dazu primäre Karzinome des Magens, welche direkt
nach der Resektion frisch verarbeitet wurden. Die zerkleinerte
Geschwulst wird erst in Alkohol mehrfach extrahiert, wobei
die Temperatur nicht über 50° gehen darf. Dann wird der Tumor
fein pulverisiert und dann mit Aether bei etwa 30° mehrfach ex¬
trahiert. Der Alkoholextrakt wird später bei 48° bis zur Trockne
eingeengt und dann der Aetherextrakt zugegeben. Der Aether
wird nun verjagt und der trockene Rückstand in wasserfreiem
Aether gelöst und der letzte Rückstand möglichst Konzentrier t
gemacht. Der Aetherextrakt darf nicht geschüttelt werden. Wir
haben den Aetherextrakt in wasserdicht verschlossenen, dun¬
keln Glasflaschen bei kühler Zimmertemperatur aufbewahrt. Die
vorgeschriebenen Bedingungen sind von meinem Mitarbeiter,
*\ War zum Vortrag auf der Naturforscherversammluug in Königs¬
berg angemeldet, konnte aber aus äußeren Gründen nicht gehalten
i) Die Literatur ist angegeben bei Michel i und Cottreti, Wiener
klin. Wochenschr. 1910, Nr. 44/1556.
Herrn Dr. Paul Illing genau innegehalten worden. Enrige
\utoren welche sich mit der Meiostagminreaktion beschäftigt
haben, schreiben, daß die Herstellung des Extraktes schwierig
sei und daß meist unrichtiges Vorgehen an dem Mißlingen der
Reaktion Schuld sei. Wir können nicht sagen, daß irgendwelche
besondere Schwierigkeiten bei der Herstellung des Extraktes
vorhanden sind. Die Sache ist etwas langwierig, aber sie bietet
nichts, was nicht jeder gewissenhafte Arbeiter leisten konnte.
Schwieriger scheint es dagegen zu sein, immer gut geeignete tu- i
moren zu finden. Von vier Magonkarzmomen, welche wir be¬
nutzten, gaben drei gleichmäßig gute Ausschläge. Der vierte I
Tumor hingegen schien weniger geeignet zu sein.-) Für die vor- -
liegende Tabelle habe ich die Extrakte aus zwei Tumoren benutzt. I
Der eine Extrakt geht bis Nr. 117, der zweite Extrakt von Nr. 118 J
an. Der erste Extrakt wurde in einer Verdünnung von 1 : 1360 ver- i
wendet u zw. berechnet auf den Trockenrückstand des Aetnci- ^
extraktes; der zweite Extrakt in einer Verdünnung von l:2o00 m
gleicher Weise berechnet. So große Ausschlage wie von Ascoli
(fünf bis sechs und mehr Tropfen) konnten bei uns niemals .
erzielt werden. Der größte Ausschlag, betrug drei Tropfen, \iel- I
leicht ist für die Größe des Ausschlags von Einfluß, ob cue he- .
treffenden Patienten nüchtern untersucht werden, oder nach Mahl- 1
Zeiten, oder gar, wenn sie Medikamente eingenommen haben.
Patient Nr 15 mit Rektumkarzinom ergab sechs Tropfen Aus- |
schlag ; ich forschte aus, was er zu sich genommen habe; er j
gab an, gegen die Vorschrift Pankreatin genommen zu haßen. I
Patient wurde, nachdem er acht Tage das Pankreatin weggelassen
hatte, nochmals wieder bestellt und dann betrug der Ausschlag
nur noch drei Tropfen mit demselben Karzmomextrakt. Für die
in der Tabelle angegebenen Untersuchungen muß noch bemerkt«
werden (laß wir die Patienten meist nüchtern untersucht haben ;
nur solchen Patienten, welche ambulant kamen, wurde ein kleines I
Frühstück gestattet, bestehend aus ein bis zwei lassen dünnen I
Tees mit etwas Zucker und einer trockenen bemmel. In bezug
auf die Technik der Reaktion haben wir uns nach Ascoli ge- •
richtet. Der Tumorextrakt wurde mit der Pipette m der notwen-
digen Menge entnommen, in ein Reagenzglas getan, dann der»
Aether im Wasserbad verjagt; schließlich wurde mit physiologi- I
scher Kochsalzlösung die notwendige Verdünnung hergestellt.
Das Blutserum wurde 1:20 mit physiologischer Kochsalzlösung
verdünnt. Zu 9 cm3 des verdünnten Blutserums wurde 1 cm .
der verdünnten ätherfreien Antigenemulsion zugesetzt; bei der
Kontrollprobe statt dessen 1 cm3 physiologischer Kochsalzlosung. I
Dann kamen beide Proben bei 37-5° auf - zwei Stunden m clenl
Brutofen. Darauf wurde die Tropfenzahl mit dein t rau oe sehen
Stalagmometer bestimmt und es wurde dann berechnet, wie- 1
viel Tropfen und Tropfenteile die Probe mit der Emulsion Zu¬
nahme zeigte, gegenüber der Probe mit dem verdünnten Blut- j
serum allein. In meiner Tabelle habe ich die Troptenzunalinie J
ausgerechnet. Ist z. ß. in der Tabelle angegeben: L 1-6, so heiß«
dhs daß die Tropfenzunahme 1-6 Tropfein ausmacht, welchen
Betrag nämlich die Probe mit der Antigenemulsion mehr zeigt,
als die Probe des allein mit der Kochsalzlösung verdünnten Blut¬
serums. Da man bestimmen kann, wieviel Teilstriche des- Sta- 1
lagmometers auf einen Tropfen kommen, so lassen sich die Rennte I
leicht berechnen, und die Tabelle wird dadurch sehr viel uoe - I
sichtlicher. Man erkennt aus der Tabelle, daß, wir unsere Emul¬
sionen so eingestellt haben, daß normale Blutsera etwa einem.;
halben Tropfen Ausschlag zeigen; dann geben manche kachek-1
tische Kranke schon Ausschläge von einem Tropfen und etwas
mehr Die angegebenen Untersuchungstage sind voneinander durch
Absätze getrennt; die Fälle desselben Untersuchungstages sind,
gleichzeitig mit demselben Reaktionsmatenal untersucht worden.!
Wenn man nun die Meiostagminprobe zur Diagnose j
mit heranziehen will, so darf man den Maßstab ja nie i
za fein anlegen. Man würde dann zwar viel mehr positive
Resultate bekommen, dafür aber auch eine ganze Anzahl
Fehler Ich habe bei dieser Einstellung ungefähr die Grenze,
von der die Probe diagnostisch zu gebrauchen ist,
hei iVjj Tropfen festgestellt, da ergab sich, daß von 451
malignen Geschwülsten 21, also 47%, solche Ausschlägej
o-eben. Die Tabelle enthält außerdem noch 85 andere Falle,
von denen eine sehr große Anzahl Tuberkulosen, chro¬
nische Ulzera mit Anämie, Kachexie, Gallensteine, chro¬
nische Darmkatarrhe usw., kurz eine Anzahl Krankheiten^
betreffen, die klinisch häufig als karzinomatös verdächtig
i) Neuerdings haben wir noch einen fünften Extrakt aus Leber¬
metastasen eines Magenkarzinoms verwendet Dieser war in Verdunnun0
1:1000 geeignet, gab aber auch nicht über 3 lropfen Ausschlafe.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
91
erscheinen, die sich aber dann im weiteren Verlauf als nicht
mit malignen Geschwülsten behaftet herausstellten. Bei
diesen 85 Fällen hatten wir nur drei positive Reaktionen.
Das Resultat, zeigt, daß die Reaktion, auf diese
Weise ausgeführt, im hohen Grade sp-ezifisöli i s I .
Sie ergibt ungefähr in der Hälfte der Fälle von
Krebsen deutlich positive Reaktionen und die
Gefahr, eine Fehldiagnose zu machen, ist sehr
gering. Die Fehlerquelle beträgt nur 3-5 °/o. Von
Fällen, wo das Karzinom nicht palpabel war und sich erst
später diagnostizieren ließ, enthält unsere Tabelle sechs,
von denen drei positiv waren. Die Reaktion ist also
auch für die Frühdiagnose mit verwendbar. Die
As coli sehe Reaktion ist ferner theoretisch sehr inter¬
essant. Sie stellt jedenfalls eine neue Reaktion dar, die
nach unseren Erfahrungen weder mit der Präzipitinbildung,
noch mit der Komplementbindung, noch mit der anaphy¬
laktischen Reaktion parallel geht. Infolgedessen haben wir
uns veranlaßt gesehen, uns noch weiter mit der Meiostag-
minreakfion zu beschäftigen, indem wir aus sehr verschie¬
denen Geweben unter verschiedenen Umständen Extrakte
hergestellt und an Krebsfällen geprüft haben. Auch hier
zeigte sich eine hohe Spezifizität des Karzinomgewebes.
Die Resultate sollen in einer zweiten Abhandlung später
veröffentlicht werden, da unsere Arbeiten noch nicht ganz
abgeschlossen sind.
*
Gleichzeitig mit der Meiostagminreaktion habe ich in
einer Anzahl von Fällen die hämolytische Reaktion an¬
gestellt u. zw. nach dem von mir angegebenen Verfahren
mit Hühnerblutkörperchen. Die Kautelen, welche ich inne¬
gehalten habe, sind von mir in der Wiener klinischen
Wochenschrift 1909, Nr. 38, erörtert worden. Das Blut
wurde den Patienten meist in nüchternem Zustande ent¬
zogen, oder es wurde ihnen höchstens ein kleines Probe¬
frühstück (eine Tasse dünnen Tee mit Zucker und ein
wenig trockene Semmel) gestattet. Blut von narkotisierten
Patienten, wie es bei Operationen gewonnen wird, wurde
nicht verwendet; solches Blut zu verwenden ist unzweck¬
mäßig. Außerdem darf man zu diesem Zwecke nicht Blut
von Patienten verwenden, welche Urämie haben, oder im
Koma liegen, oder an fieberhaften Infektionskrankheiten
leiden. Die Patienten dürfen auch nicht seit mindestens
24 Stunden Medikamente genommen haben, auch keine
Seifenwasser- oder Oelklystiere usw. bekommen haben.
Außer den alten Reaktionen, die ich mit Ha und II b be¬
zeichnet, habe, habe ich noch eine neue Reaktion (III) a,n-
gewendet, welche noch manchmal Ausschläge gab, wenn
die beiden anderein versagten. Probe II a (vergleiche
Wiener klinische Wochenschrift 1909, Nr. 38 und Langen-
becks Archiv, Bd. 80) bedeutet: 0-1 Patientenserum auf 1 cm3
5%iger Hühnerblutkörperchenaufschwemmung in 0-85°/oiger
Kochsalzlösung in den Brutofen bei 37° so lange gestellt,
bis die Kontrollen mit dem normalen Menschenserum sich
eben deutlich gerötet haben. II b bedeutet: 01 Menschen¬
serum und 1 cm3 5°/oiger Hühnerblutkörperchenaufschwem¬
mung, erst eine Stunde bei 15° im Wasserbad gehalten,
dann die Blutkörperchen mit 0-85°/oiger Kochsalzlösung
rasch zweimial hintereinander gewaschen und sofort ab¬
zentrifugiert. Das Sediment wird mit physiologischer Koch¬
salzlösung auf 1 Cm3 gebracht und 01 Hühnerserum hin¬
zugegeben. Die Blutproben kommen jetzt alle halben Stunden
umgeschüttelt so lange in den Brutofen bei 37°, bis die
Proben mit den normalen Sera sich eben gerötet haben.
Das dauert bei den verschiedenen Proben II a, II b und III
eineinhalb bis drei Stunden, je nach der Löslichkeit der
Blutkörperchen. Dann werden sie abzentrifugiert und
der Hämoglobininhalt austitriert, wie ich das früher
angegeben habe (vgl. Langenbecks Archiv, Bd. 80). Innige
Kollegen haben an mich geschrieben, warum ich die Probe
II b verwende und welche Bedeutung sie im Verhältnis
zur Probe TT a hat. Der Effekt der Probe II a hängt nicht
nur vom Immunkörper, sondern auch von einem be¬
stimmten Ferment ab. Die Probe kann positiv ausfallen,
ohne daß der Immunkörper vermehrt zu sein braucht. Hin¬
gegen hängt ein deutlicher Ausfall der Probe II b von der
Vermehrung des Immunkörpers ab, weil derselbe in der
Kälte eher gebunden wird als das Ferment. Letzteres wird
durch Auswaschen beseitigt und als passendes neues Fer¬
ment Hühnerserum hinzugesetzt u. zw. zu allen Proben
dieselbe Fermentmenge.
Ich habe mehrfach in der Literatur - zuletzt in dem Buche
von Leuchs und Wassermann „Hämolysine, Zy toi y. sine und
Präzipitine", S. 65 — gelesen, daß es sich bei meiner Reaktion
wahrscheinlich nicht um einen Antikörper, sondern „um einen
einfachen, thermolabilen, von den Geschwulstzellen gebildeten
Stoff handle“. Dieser Schluß, gründet sich auf einen einzigen
Versuch, den Wideroe angestellt hat, indem er nämlich bei
einem Krebsserum, welches nur Probe II a gab, durch Kälte¬
trennung versuchte, ob sich ein spezifischer Immunkörper an
Hühnerblutkörperchen binden ließe. Dieser Versuch liel negativ
aus. TSr hätte aber leicht eine ganze Anzahl Krebskranker finden
können, bei denen der Versuch positiv ausgefallen wäre; es sind
dies nämlich diejenigen Krebsfälle, bei denen auch die Probe If b
deutlich positiv ausfällt. Man kann nämlich diese Probe auch
so ausführen, daß man sie, anstatt eine Stunde bei 15°, zwei
bis drei Stunden bei 0° hält, dann die Erythrozyten abzentri¬
fugiert. und auswäscht, und nun kann man sowohl mit Hühner¬
ais auch mit Menschenserum komplettieren. Bei einem ent¬
sprechenden Karzinomserum erzielt man so einen deutlichen
Ausschlag, den normale Sera und Sera bei anderen Krankheiten
nicht zeigen. Es gibt also eine ganze Anzahl von Karzinomfällen,
bei denen das Plämolysinkomplex (im Sinne Ehrlichs) zu¬
sammengesetzt ist. Darauf habe ich schon in meiner Antwort
an v. Düngern hingewiesen (Zeitschrift für Krebsforschung,
Bd. 6) und auch in meiner Arbeit in der Wiener klinischen Wochen¬
schrift 1909, Nr. 38. Der Schluß von Leuchs und Wasser¬
mann, daß sie keine Ursache hätten, sich mit meinen Versuchen
näher zu befassen, da durch Wideroe der Nachweis erbracht
sei, daß es sich bei meinem Hämolysin nicht um einen kom¬
plexen Körper handle, ist nicht richtig. Auch der andere Schluß,
daß der Stoff, welcher sich im Patientenserum findet, wahr¬
scheinlich von den Geschwulstzellen abgesondert sei, läßt sien
für eine Anzahl Krebskranker . widerlegen. Nämlich 1. wenn die
Geschwulst entfernt ist, läßt sich der hämolytische Stoff noch
einige Zeit (zwei bis drei Wochen) nachweisen. 2. Die Ge¬
schwulst kann wachsen, und die hämolytische Reaktion, welche
anfangs vorhanden ist, kann bei Kachek tischen unter Umstanden
verschwinden. Das wäre aber unmöglich, wenn es sich allein um
einen Stoff handelte, welcher von den Geschwulstzellen abge¬
sondert wird. 3. Es besteht kein Zusammenhang zwischen der
Größe des Tumors und der Stärke der Reaktion.
Die neue Probe III mit Hühnerblutkörperchen wird
folgendermaßen ansgeführt : Das Menschenserum wird
eine halbe Stunde bei 55° inaktiviert Zu 1 cm3 5%iger
Hühnerblutkörperchenaufschwemmung in 0-85%iger Koch¬
salzlösung bringt man 0-5 inaktiviertes Patientenserum. Die
Proben werden eine Stunde bei 37° stehen gelassen und
dann rasch zweimal mit physiologischer Kochsalzlösung aus¬
gewaschen und abzentrifugiert. Das Sediment wird mit phy¬
siologischer Kochsalzlösung wieder aufgefülll auf 1-5 cm
und umgeschüttelt und dann werden 0-05 cm3 aktives nor¬
males Menschenserum hinzugefügt, natürlich zu jeder Probe
einer Versudhsserie das gleiche Serum ; die Proben kommen
so lange in den Brutofen, bis sich die Kontrollproben mit
dem1 inaktivierten, normalen Menschenserum deutlich röten,
dann werden sie durchgeschüttelt, abzentrifugiert und aus¬
titriert. Die Werte, welche man mit dieser Probe erhält,
sind in der Tabelle unter III angegeben; so bedeutet zum
Beispiel 60, daß 60% des gesunden Hämoglobins der Probe
gelöst worden sind.
Leuchs und Wassermann sagen in ihrem Buche, daß
die Bestimmung der Isolysin-e nach Crile für den Krebs etwas
größere praktische Bedeutung zu haben scheine, als die Hete¬
rolyse. Derselben Ansicht sind offenbar verschiedene Autoren
gewesen, denn die Isolysinprobe ist vielfach nachgeprüft worden.
Wir sind jedoch hei unseren Untersuchungen wieder von ihr
abgekommen. Sie gibt weniger positive Resultate und hat mehr
Fehlerquellen, als die heterolytischen Proben. Ich hatte das
schon in einer früheren Arbeit (Wiener klinische Wochenscniut.
1909, Nr. 38) gesagt, und unsere weiteren Untersuchungen haben
92
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 3
es bestätigt, so daß wir diese Proben überhaupt nicht mehr
ausführen, da es uns nicht gelungen ist, den Isolysinproben eine
brauchbare Form zu geben.
Die Resultate, die wir mit den heterolytisohen Proben
Ha, Ilb und III auf Hühnerblutkörperchen im Vergleich
mit der As coli sehen Meiostagminreaktion gehabt haben,
waren, kurz zusammengefaßt, folgende: Von 45 malignen
Geschwülsten obiger Tabelle gaben die Meio¬
stagminreaktion 21, die h e ter o ly ti s chen Proben
30. Von den Testierenden 15 gaben noch 2 bei Wiederholung
des Versuches zu anderer Zeit eine positive heterolytische
Reaktion, also im ganzen 32. Von den 30, die schon
bei der ersten Prüfung positive heterolytische
Reaktionen zeigten, gaben 15 keine deutliche
Meiostagminreaktion nach Ascoli, woraus her¬
vorgeht, daß die heterolytischen Proben trotz
der Ascolischen Meiostagminreaktion ihre Exi¬
stenzberechtigung besitzen. Hingegen ergänzte
wieder die Ascolische Reaktion die heterolyti¬
schen Reaktionen zum Teil, denn von den 15 ma¬
lignen Geschwülsten, die keine heteroly tische
Reaktion gaben, zeigten 6 eine deutliche Meio¬
stagminreaktion nach Ascoli. Beide Reaktionen
gleichzeitig zeigten von 45 malignen Geschwül¬
sten 17. Irgendeine von den drei h e t e r o 1 y t i s Ch e n
Reaktionen oder die Ascolische Reaktion gaben
von diesen 45 malignen Fällen 36 (ein 37. Fall zeigte
erst beide negativ und dann beide positiv — Fall 17).
Keine von beiden Reaktionen aber fand sich nur
bei 8, so daß von sämtlichen malignen Geschwül¬
sten 80% mit irgendeiner der Reaktionen schon
bei der ersten Untersuchung deutliche Aus¬
schläge gaben. Dabei sind die Fehler im ganzen nicht
sehr groß. Zieht man die Fälle von fieberhaften Eiterungen
ab, worauf ich schon früher hingewiesen habe (das spielt
aber für die Diagnose keine große Rolle, da die Differential¬
diagnose meist nicht so gestellt, wird, ob es sich um Kar¬
zinom oder fieberhafte Krankheiten handelt, sondern um
Karzinom oder eine chronische fieberlose Erkrankung),
so haben wir auf 82 Fälle von anderen Krank¬
heiten der Tabelle nur drei Fehldiagnosen auf
die heterolytischen Reaktionen; das ergibt für
jede, die Ascolische und die heterolytischen
Reaktionen, 3 Fehler und für beide zusammen
6 Fehler = 7-5%, bei etwa 80% positiven Resul¬
taten. Hingegen waren beide Reaktionen positiv
bei über ein Drittel der malignen Geschwülste;
bei 85 anderen Fällen aber nur in einem' Fälle.
Hier betrug also der Fehler nur 1-2%. Das Resul¬
tat zeigt, daß man beide Reaktionen zur Dia¬
gnose eines nicht palpablen Karzinoms mit Er¬
folg heranziehen kann.
Obwohl die Blutserumdiagnose des Karzinoms unver¬
kennbare Fortschritte gemacht hat, so finden sich doch
immer noch wenig Mitarbeiter. Das liegt, wohl daran, daß
viele Aerzte sich die Sache zu schwierig vorstellen und
daß sie außerdem zu viel von den Reaktionen verlangen.
Letztere sollen absolut spezifisch sein, was wir bei
biochemischen Reaktionen nur sehr selten finden und sie
sollen möglichst 100% Ausbeute geben, was bei bioche¬
mischen Reaktionen überhaupt nicht vorkommt.- Ich glaube,
es ‘werden praktisch die besten Resultate erzielt, wenn
verschiedenartige Reaktionen zusammengenommen werden,
wie ich dies zum Beispiel in dieser Arbeit mit zwei Reak¬
tionen versucht habe und in einer früheren Arbeit (Wiener
klinische Wochenschrift 1909, Nr. 38) mit der Heterolyse
und der Komplementbindung durchgeführt habe. Solche
Versuche sind noch mehrfacher Erweiterung fähig; man.
denke nur an die Reaktionen von Brieger, von Freund
und Kamin er, von Grafe und Rohm er usw. Die eine
Reaktion vermag unter Umständen die andere zu ergänzen
und, wenn beide Reaktionen positiv ausf allen, stützen sich
die Resultate gegenseitig.
g
Ha |
Ilb
III
Name
E §
ÖL). rH
1
—
Diagnose
Ge¬
und
Diagnose :
SS
Hämolytische
durch
schlecht
Alter
C/2 05
O C>
Reaktion
mit ! *
Operation
w
e
3 ^
— i
Hühnerblut
la F. I
4. D„
32
Choledochusstein, Ikt.
0-4
10
_
io !
2 F. !l
1. P.,
44
Anämie, Macies
0-75
5
—
0
3a M. 1
3.E.,
55
Carcin. ventr. (nicht
palpabel)
1-2
60
—
5
Operation
4 F. 1
7. K.,
45
Ulcus callos., Gallen¬
steine, Macies
0-8
5 !
—
10
Operation
5 F. L
\. H.,
64
Carcin. hepatis
11
60
—
100
6 M. G.E.,
30
Ulcus ventr., Macies
06
20
— ■
40
7 M. E. R.,
58
Carcin. cardiae
2 0
75
—
10 1
8 F. E.J.,
50
Gallenst., Pankreatitis
0-45
30
—
io !
9 F. H.K.,
18
Ulkus, Anämie
0-8
30
—
30 I
10 M. 1
L S.,
70
Carcin. ventr., Diab.
16
20
—
30
11 M. i
dH.,
50
Carcin. coli
2 5
20 ;
—
30
12 M. J. E.,
44
Neurasthenie
0-5
10
—
10
13 F. 1
H. A„
31
Gastritis chron.
0-6 1
15
—
30
14a F. |M. R.,
53
Drüsensarkom
15
100
—
100
Operation
15 M. .
E. L.,
63
Carcin. recti
2 3
50
— 1
20 |
16 F. .
A. H.,
22
Ulcus ventr.
035
10
—
20 i
17a F. '
E. Sch.,
56
Carcin. hepatis
05
40
—
20 i
Operation
18a M.
E.B.,
66
Carcin. pylori
15
80
—
20
Operation
19 M.
B. G„
49
Gallensteine
00
20
—
20 !
20a M.
A. St.,
42
Ulcus callos. ventr.
04
20
—
20
Operation
21 F.
G. K.,
25
Anämie
02
40
—
40
22 M.
A.R.,
60
Carcin. ventr. (nicht
palpabel)
20
100
100
Operation
23 M.
P.M.,
27
Lungentuberkulose,
Kachexie
1-3
30
—
10
tNS
L. Sch.
,49
Chron. Gastritis, Myo¬
ma uteri
03
10
—
10
25 M.
O.B.,
40
Carcin. oesoph.
06
95
—
20
26 F.
F. L.,
30
Neurasthenie
025
30
—
10
3b
14 T. nach 3a (nicht
reseziert)
06
20
—
10
27 M.
F. R.,
50
Lues-, Arteriosklerose |
03
30
—
15 j
28a F.
A. Z.,
32
Carcin.ventr. (Gastro¬
1
enterostomie)
(nicht palpabel)
01
100
—
40
Operation
29 M.
E. M.,
57
Gastritis chron., Rheu¬
matismus
0-2
10
—
15
30 F.
!m. h.,
42
Lungentuberkulose
01
10
—
15
31 M.
G. Sch.
, 50
Chron. Gastritis, Mac.
1-3
10
—
15
20b
10 T. nach 20a
04
30
—
25
32 M.
G. M.,
77
Magen- und Leber-
karzin.
10
30
—
15
33 M.
F. A.,
56
Carcin.ventr. (Gastro¬
enterostomie)
075
5
—
40
; Operation
34 F.
A.G.,
35
Anämie
025
10
—
10
35 F.
E. St.,
27
Großer typhlit. Abszeß
1-0
60
—
'
10
Operation
36 M.
A. K.,
60
Lungentuberkulose
10
10
10
37 F.
H. Sch.
, , 3o
Darmadhäsionen
04
10
—
15
Operation
38 F.
H. H.
62
Gastritis chron., Mac.
15
20
—
5
39 M.
B. B.,
56 Carcin. coli (nicht
palpabel)
2 0
100
—
25
Operation
40 F.
E. R.,
33
Ulcus ventr., Macies
08
20
—
5
41 M.
W. M.,
64
Carcin. renis
0-2
50
—
5
42a M.
A. R.,
66
. Carcin. cardiae
11
60
—
100
43 a M.
E. K.,
61
Carcin. oesophagi
11
100
—
100
17b
30 T. nach 17a
2 5
65
—
75
44 M.
E. G.,
31
. Ulkus, Anämie
03
5
—
5
45 M.
G. Sch
•i 4C
i Carcin. coeci
15
65
_
10
Operation
46 M.
R. G.,
56
i Ulcus ventr.
05
10
10
47 F.
F. W.,
6C
• Carcin. ventr.
10
10
—
95
48 M.
K. E.,
54
- Carcin. pylori
10
, 25
—
30
49 M.
M. M.,
27
' Colitis chron.
0-75
» 10
—
15
50 F.
E. G„
4C
i Ulcus carc. ventr.fnuß-
groß, nicht palpabel)
11
I 30
—
20
Operation
14b
37T. nach 14a
1-3
100
—
70
51 F.
J. K.,
5E
> Oesophago-Spasmus
01
15
_
30
52 M.
H. 6.,
66
) Carcin. ventr. u. he¬
patis, Kachexie
2 6
25
—
20
■ 53 M.
W. 1).,
3t
. Appendic. chron.
03
10
—
30
54 F.
E. U.,
3C
) Drüsentuberkulose,
Macies
0-9
' 10
—
15
55 M.
P. R.,
4f
> Colitis chron.
10
20
—
15
43b
21. T. nach 43a
04
65
30
56 M.
G. L.,
5t
3 Chron. Colitis, Macies
04E
) 30
—
15
57 F.
B. H,
2(
3 Drüsentuberkulose,
. - :
Macies
05
20
—
1 15
58 M.
E. H.,
5t
1 Carcin. recti
1-3
20
15
1
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
93
Name
und
Alter
I
g
Ifa
Hb j
III
Diagnose
durch
Operation
Ge¬
schlecht
Diagnose
§3.2
O O)
Hämolytische
Reaktion mit
Hühnerblut
59 M.
C.Z.. 59
Ulcus ventr. chron.
045
5
0
3
60 M.
E. N.. 62
Carcin. oesophagi
P2
35
15
60
61a M.
L. R.. 60
Carcin. oesophagi
15
35
15
15
42 b
24 T. nach 42a
175
80
60
55
62 F.
N. R., 42
Ulcus ventr.
04
5
0
3
63 M.
V. Sp.. 34
Ulcus callos. ventr.
1 0
15
15
20
Operation
61a M.
A. F., 53
Lues u. Carcin. reel
2 0
100
100
70
Operation
65 M.
E. II.. 48
Ulcus ventr. chron.
0-75
25
10
60
66 M.
L. W.. 58
Starke Kachexie unbe-
kannter Ursache
2 0
25
10
20
67 M.
H. V., 42
Lungentuberkulose,
chron. Gastritis
055
25
15
20
68 F.
F, W., 40
Ulcus ventr., Anämie
06
25
10
20
69 M.
F. W., 50
Carcin. coeci, Diabet.
10
70
40
20
70 F.
M.W.. 17
Appendic. chron.
06
30
20
20
71 F.*
L. G., 53
D arm tub erk u lose
06
30
20
20
72 F.
L. R, 18
Ulcus ventr., Anämie
045
30
20
20
73 M.
F. G., 25
Neurasthenie
035
5
10
20
641)
10 T. nach 64a
30
90
90
100
lb
57 T. nach la (kein
Ikterus)
08
10
10
20
74 M.
L. R, 42
Darmtuberkulose
06
15
10
20
75 F.
F. P., 33
Ulcus ventr.
05
15
10
20
76 F.
F. M., 60
Macies, Diabetes
0-75
10
5
20
77 M.
H. G., 40
Gastritis chron.
0-6
10
5
20
78a F.
A. R, 61
Carcin. coli
18
90
60
70
Operation
79 M.
W.R., 55
Neurasthenie
0-4
25
20
20
SO M.
R. 11.. 55
Carcin. ventr.
1'2
25
20
20
81 M.
M. P„ 25
Narbenstenose des
Pylorus, Macies
07
30
30
20
Operation
61b
19 T. nach 61a
1-3
30
20
55
82 M.
G. S., 36
Carcin. oesophagi
16
90
60
0
83a M.
G. K.. 43
Carcin. ventr. (nicht
palpabel)
1-5
25
15
5
Operation
84a M.
A. R.. 18
Narbenstenose des
Oesophagus
0-7
10
15
5
85 F.
F. N.. 42
Ulcus pvlori
0-4
5
5
5
86 M.
0. R. 53
Ulcus ventr.
10
25
25
40
87 M.
H. S., 34
Atonia ventr., Anämie
02
0
5
5
88 M.
II. J.. 50
Schwere Sepsis
10
70
15
50
89 M.
P. M., 59
Carcin. ventr.
2 2
15
5
30
90 M.
W. II., 20
Icterus catarrh.
03
10
10
10
91 M.
F. N.. 43
Choledochusstein, Ikter.
04
5
5
0
Operation
92 M.
A.W., 35
Drüsensarkom
1-8
90
30
50
Operation
18b
68 T. n. d. Resektion
09
5
5
0
93 M.
H. K., 19
Anämie
0-4
0
5
10
94 F.
C. V.. 34
Darmtuberkulose
0-5
5
10
10
28b
59 T. nach 28a
01
100
50
90
95 M.
0. P., 53
Ulcus ventr., Macies
0’7
35
30
30
96 M.
M. F.. 62
Carcin. hepatis und
ventr.
16
100
5
70
97 M.
M. G., 44
Appendic. chron., Dia-
1 • -
betes
04
35
5
15
98 M.
H. L„ 55
Carcin. oesophagi
0-4
25
5
10
99 M.
0. Sch., 53
Arteriosklerose, Mac.
0-65
5
5
10
100 M.
II. W.. 10
Anämie, Neurasth.
05
5
5
10
101 M.
R. E.. 29
Colitis chron.
055
20
5
10
84b
14 T. nach 84a
09
5
5
10
83b
14 T. nach 83a (nicht
reseziert)
1 35
30
20
20
17 Tage nach 78a (nicht
78b
reseziert)
17
50
90
100
102 M.
L. 11, 39
Alte Lues, Macies
0-7
5
5
10
103 M.
E. Sch.. 52
Gallensteine
05
20
0
10
101 M.
E. S., 45
Carcin. ventr.
1-5
60
10
60
105 F.
H. M., 39
Lungentuberkulose
0-6
20
0
15
106 M.
R L. 37
Fieberhafte Lungen-
tuberkulöse
0-65
30
20
60
107 M.
F. F.. 26
Carcin. recti
U25
60
25
80
LOS M.
G. E.. 37
Gastritis chron.
055
15
5
! 25
109 M.
R. M., 54
Gastritis chron., Macies
0-4
20
10
20
110 F.
J. G.. 39
Lungentuberkulose,
Kachexie
0-85
0
10
20
Ill F.
J. J.. 17
Darmadhäsion.
Appendizitis
0-4
15
20
25
Operation
112 M.
11. Sch., 47
Carcin. ventr.
11
90
20
| 20
113 M.
R. W., 23
Typhlitischer Abszeß
0-8
20
30
20
114 F.
R G„ 60
Neurasthenie, Anämie
0-6
20
I 30
15
-
115 F.
L.E., 69
Gastritis chron.
0-9
10
10
I 20
g
a -
Ha
Ilb
III
Diagnose
durch
Operation
Ge¬
schlecht
IN ctlllC"
und
Alter
Diagnose
to o
CS —
.2 £
CD tH
Hämolytische
Reaktion mit
Hühnerblut
116 F.
E. K.,
60
Darmkrisen bei Tabes
0-6
10
10
30
117 F.
W.N.,
54
Myocarditis, Macies
065
0
10
20
118 F.
M. K.,
28
Carcin. recti
IT
80
70
70
119 M.
E. R..
29
Carcin. ventr.
IT
35
30
20
120 F.
M. L.,
25
Ulcus ventr.
055
10
5
10
121 M.
M. G.,
52
Carcin. renis
2 5
80
60
75
122 M.
H. W„
40
Ulcus callos. ventr.
15
45
0
15
öpaiei
123 M.
E. B..
56
Carcin. cardiae
T3
50
40
0
124 M.
E. S„
56
Carcin. recti
17
50
20
0
125 M.
R.R.,
40
Ulcus ventr.
05
10
10
10
126 M.
11. W.,
61
Carcin. ventr.
10
10
10
5
127 M.
K. D.,
36
Darmtuberkuiose
04
30
5
5
128 F.
A.R.,
36
Ulcus callos. ventr.
05
20
10
20
Operation
129 M.
H. R,
50
Hämorrhoiden
06
10
10
5
130 M.
K. R.,
42
Gastritis chron.
04
30
20
5
Zum Schlüsse danke ich noch Herrn Dr. Paul Illing,
der die Reaktionen ausgeführt hat, für seine Mitarbeit und
Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Ellenberger, in dessen In¬
stitut die Untersuchungen angestellt worden sind, für seine
Erlaubnis.
Die Behandlung des ulcus cruris varicosum
mittels Pflasterstrumpfbandes.
Von K. Büdinger.
Die rationelle Therapie des Ulcus cruris varicosum
beruht auf der Erkenntnis, daß es hauptsächlich darauf
ankommt, die Rückstauung des Blutes in die ihres Klappen¬
apparates verlustig gewordenen Venen zu verhindern.
Diesem Zwecke dienen die verschiedenen komprimierenden
Verbände, deren ausgebildetster Typus durch Unnas Heft¬
pflasterverband dargestellt wird. Allen Verbänden dieser
Art ist [gemeinsam, daß sie nahezu den ganzen Unter¬
schenkel zirkulär umfassen, entweder mit oder ohne Aus¬
sparung der Geschwürsfläche. Sie haben sich in sehr vielen
Fällen trefflich bewährt, jedoch hängen ihnen gewisse Nach¬
teile an, welche es mit sich bringen, daß sie zwar von zahl¬
reichen Spezialisten als Methode der Wahl gehandhabt, vom
Gros der Praktiker aber kaum verwendet werden. Die Haupt¬
schwierigkeit — speziell auch für den Zinkleim verband
liegt darin, daß zur Erlernung der Technik immerhin einige
Uebung und Interesse gehört und daß sich Fehler in der
Anlegung recht unangenehm bemerkbar machen können.
Es ist nun die Frage, ob es denn überhaupt not¬
wendig ist, die ganzen Venenkomplexe zu komprimieren,
wenn nicht anderes damit erzielt werden soll, als ihre
Anfüllung mit Blut zu verhindern.
Auf diese Frage gibt die moderne chirurgische
Therapie der Varizen, resp. des Ulcus varicosum des Unter¬
schenkels eine unzweideutige Antwort. Die Erfolge der
Unterbindung der Vena saphena magna, bzw. die Exstir¬
pation dieses Gefäßes (welche von mir, Avie von den meisten
Chirurgen bevorzugt wird) lehren, daß die Unterbrechung
der rückläufigen Blutzufuhr proximal vom Gebiete der ek-
tatischen Venen ausreicht, um dieselben in annähernd nor¬
malem Füllungszustand zu erhalten, so lange nicht auf
(collateral em Wege eine neue Möglichkeit der Rückstauung
entsteht. Wenn die ßaplienaresektion unter strenger In¬
dikation gemacht wird, nämlich, wenn die Saphena magna
als einziger, starker Gefäßstrang unter der Haut des Ober¬
schenkels fühlbar und das Gebiet der Saphena parva nicht
ektasiert ist, darf man nach ihrer Entfernung auf prompte
Heilung der Ulzera rechnen, solange sie keine übermäßige
Größe haben. Dabei ist es nicht einmal notwendig, durch
Liegenlassen des Patienten ein Plus bezüglich der Regu-
gulierung der Zirkulation hinzuzufügen, die Heilung geht
94
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 3
ebenso schnell vor sich, wenn der Operierte vom ersten
Tage an herumlgehit.
Das Ulkus kann aber auch dann nach demselben
Prinzip — das heißt durch Unterbrechung der venösen
Rückstauung proximlal von der Geschwürsfläche — ope¬
rativ zur Heilung gebracht werden, wenn nicht nur die
Saphena magna allein, sondern der gesamte subkutane
Venenapparat insuffizient ist. Für solche Fälle hat man den
einfachen oder mehrfachen Zirkelschnitt oder den Spiral¬
schnitt gemacht, um derart rund um! den Schenkel herum
alle erweiterten Venenfreilegen und unterbinden zu können.
Von diesen Operationen bin ich aus Gründen, welche nicht
hieher gehören, wieder abigekohnmen, aber es unterliegt
keinem Zweifel, daß sie imstande sind, ihren Zweck zu
erfüllen, zur Beseitigung der Varizenbeschwerden und des
Ulchs cruris zu führen.
Der Gedanke, das Prinzip der Venenunterbindung in
einer unblutigen Behandlungsart zum Ausdruck zu bringen,
liegt nahe. Es wurden auch schon mancherlei Methoden
vorgeschlagen, welche eine isolierte Kompression der Sa¬
phena magna bezwecken; sie sind aber zu kompliziert und
in ihrem Erfolg zweifelhaft.
Dagegen läßt sich die zirkuläre Kompression sämt¬
licher ektatischer Hautvenen proximal von Ulkus sehr
leicht durchführen. Ich übe dieselbe mittels des „Pflaster¬
strumpfbandes“ in folgender Weise aus:
Nach Ausstreichen des Blutes aus den ektatischen
Venen vom Fuß bis zum Knie wird am elevierten JBein
unterhalb der Kniebeuge eine zirka 10 dm1 breite Kaliko¬
binde mit mäßigem Zug in zwei- bis vierfacher Tour zir¬
kulär glatt angelegt. Darüber wird ein zirka 4 dm breiter
Pflasterstreifen in drei bis vier Touren zirkulär derart ge¬
führt, daß sich die Streifen nicht vollkommen decken, son¬
dern zusammen ein zirka 6 c'm breites Band bilden.
Die unterlegte Kalikobinde hat. den Zweck, die Be¬
rührung des Pflasters mit der Haut zu verhindern und
dadurch die Gefahr eines Ekzems und auch die Gefahr des
Einschneidens einer Kante des steifen Pflasters auszu-
Ischalten; ferner soll sie die Abnahme des Verbandes er¬
leichtern und die bekannten Unannehmlichkeiten der
Pflasterablösung ersparen.
Sie muß daher beiderseits um Fingerbreite über den
Rand des Pfla.sterverba.ndes vorragen. Dieser selbst besteht
aus irgend einem', auf starker Unterlage angebrachten
Pflaster, Kautschukheftpflaster, Ueukoplast o.dgl.; die Binde
wird energisch angezogen, so daß eben noch keine Stauung
zustande kommt, die oberflächlichen Venen aber sicher
komprimiert sind. Die Stärke der Umschnürung ist natür¬
lich das Punktum saliens der Behandlungsart und es bedarf
einer gewissen Uebung, um den richtigen Grad zu finden.
Man beachte dabei, daß die Binde ohne Stauung so fest
anliegt, daß man darunter auch mit. einem dünnen Gegen¬
stand nicht mehr hindurchkommt. Um diese Festigkeit zu
erzielen, genügt eine einfache Tour nicht, es müssen drei
bis vier Touren verwendet, werden; dieselben sollen deshalb
in einer ganz flachen Spirale, nicht vollkommen zirkulär,
angelegt sein, weil sie sich sonst an der Kniekehlenseite
in kurzer Zeit strickartig zusammenschieben und trotz der
Unterlage einschneiden.
Im Verlauf von etwa zehn Tagen wird der Verband
lockerer, so daß er seinen Zweck nicht m'ehr erfüllt. Es
rührt dies daher, daß die komprimierten Weichteile an
Volurhen verlieren und wohl auch die Elastizität des Pflaster¬
streifens nachläßt. Man kommt dann mit einem Scherenblatt
unter der . Kalikobinde hindurch und kann den Verband
behufs Entfernung bequem durchschneiden. Er wird als¬
bald von neuem angelegt und etwa, jede Woche erneuert.,
das heißt so oft er wieder locker geworden ist.
Einmal hat eine alte Frau, deren Haut besonders
empfindlich war, trotz sorgfältiger Unterlegung mittels der
Kalikobinde einen kleinen Dekubitus durch den Rand des
Pflasters bekommen. In diesem Falle wurde dann der Ver¬
band oberhalb des Knies angelegt und hat denselben guten
Erfolg erzielt, (wie der sonst verwendete unterhalb des
Knies. Letzterer ist aber vorzuziehen, weil er bequemer
anzulegen ist und beim Gehen nicht geniert.
Die Patienten verspüren meist gleich nach dem An¬
legen des Verbandes eine merkliche Erleichterung, weil
eben die Spannung durch die pralle Venenfüllung aufhört.
Das Geschwür, welches nebenher lokal mit indifferenten
Mitteln behandelt wird, pflegt sich schnell zu reinigen und
zu verkleinern. Die Zeitdauer des ganzen Heilungsprozesses
hängt natürlich von den speziellen Verhältnissen ab, sie
ist ungefähr dieselbe, wie nach der operativen Behandlung;
mit dieser kann die Strumpfbandmethode bezüglich des
unmittelbaren Erfolges in Konkurrenz treten, während der
Dauererfolg selbstverständlich ausbleibt. Dafür ist das
Pflasterstrumpfband in sehr vielen Fällen anwendbar, in
welchen die Operation aus anatomischen oder individuellen
Gründen unterbleiben muß.
Es gibt keine Behandlung des Beingeschwüres, welche
für alle Fälle passend wäre, auch die hier mitgeteilte ist hei
weitem keine Panadee, aber sie bringt, in sehr vielen Fällen
eklatante Erfolge, ist technisch äußerst einfach und macht
— was gerade bei der Behandlung des Ulchs cruris oft
in die Wagschale fällt — sehr geringe Kosten.
Eine ökonomische Modifikation des elektro¬
lytischen Epilationsverfahrens.
Vom Priv.-Doz. Dr. St. Weidenfeld.
Bekanntlich setzt sich die Epilation aus drei Akten : Ein¬
führung der Nadel, Einwirkung des elektrischen Stromes und
Extraktion des Haares zusammen, von denen die Durchleitung
des Stromes die längste Zeit in Anspruch nimmt; da diese Mani¬
pulation mit jedem einzelnen Haare einzeln gemacht werden
muß, kommt die große Gesamtdauer wesentlich auf Rechnung der
Stromdurchleitu ng .
Daher war es naheliegend, ein Verfahren zu suchen, welches
die Einwirkung des elektrischen Stromes auf viele Haare gleich¬
zeitig möglich macht, wodurch der Akt der Stromdurchleitung
nur einmal für viele Haare in Rechnung kommt..
Zu diesem Zwecke verfahre ich in folgender Weise: Ein
Areal der zu epilierenden Haut wird umgrenzt und in jeden
Follikel dieser Haut eine feine Nadel eingeführt. Man kann auf
diese Weise leicht im Laufe einer Viertelstunde 150 Nadeln ein¬
führen. Um all diese Nadeln mit dem elektrischen Strome zu
verbinden, habe ich einen Becher konstruiert, dessen Boden
mit, dein elektrischen Strome leitend verbunden ist. In den Becher
wird eine Kochsalzlösung geschlittet und sämtliche Nadeln durch
entsprechende Neigung des Kopfes in die Flüssigkeit getaucht. Der .
Strom wird so in ähnlicher Weise geschlossen wie beim alten
Verfahren. Die Dauer der Einwirkung schwankt in verschie¬
denen Fällen von 4—7—10 Minuten, je nach der Dicke der
Haare, wobei man durch Verschiebung des Rheostaten auf zwei
bis drei, selbst sieben Milliampere, den Strom einstellen kann.
Nach der angegebenen Zeit, findet man, um jedes Haar ©ine ,
anämische Zone, öfters quaddelartig erhoben und einen feinen .
weißen Schaum an der Follikelmündung. Die Haare lassen sich
dann mit Leichtigkeit mittels der Pinzette extrahieren.
Auf diese Art gelingt es, in einer Stunde 150 bis .300
Haare zu entfernen, je nach dem Sitz© und der Zartheit der
Haare und der Geschicklichkeit des Operierenden. Ich füge noch
hinzu, daß das Verfahren in der Regel fast schmerzlos ist, da die
Dosierung des elektrischen Stromes dabei sehr leicht ist.
lieber den genauen Verlauf und die Erfolge der Methodik
verweise ich auf eine demnächst erscheinende weitere Mitteilung.
Aus der Kinderklinik des städt. Krankenhauses Frank¬
furt a M. (Direktor Dr. v. Mettenheimer.)
Zur Untersuchung des Liquor cerebrospinalis
nach Mayerhofer.
Von Dr. G. Simon, Assistenzarzt.
Im Mai 1910' hat Mayerhofer eine neue Methode an¬
gegeben zur Differenzierung von Lumbalflüssigkeiten.
Ich habe am Material unserer Klinik eine Nachprüfung
dieser Angaben vorgenommen und die Bestimmung nach Mayer-
Nr.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
95
hofer an 74 Lumbalflüssigkeiten bei den verschiedensten Er¬
krankungen ausgeführt. Leider kann ich seine Resultate nicht
in allem bestätigen, was um so mehr zu bedauern ist, als uns bis¬
her immer noch eine schnelle, einfache Methode fehlt, um inner¬
halb kurzer Zeit Fälle von tuberkulöser Meningitis von Pneumonien
mit schwereren meningi tischen Symptomen zu unterscheiden.
Betreffs Ausführung der Methode möchte ich betonen, daß
ich mich genau an die Vorschriften Mayerhofers gehalten habe,
nur habe ich es vorgezogen, wegen des, wenn auch in kleinen
Grenzen schwankenden Reduktionswertes der Vio-Permanganat-
lösung einer jeden Titrierung eine Kontrollbestimmung voraus¬
gehen zu lassen, auf die die sogleich folgende Titrierung der
Lumbalflüssigkeit ausgerechnet wurde. Meist entsprachen 10'2 bis
10'3 cm3 Permanganatlösung 10 ein3 der ‘flo-Oxalsäure.
Betrachten wir zuerst die Werte bei Patienten mit normalem
Liquor, die aus rein experimentellen Gründen lumbalpunktiert
wurden und bei denen entweder durch Autopsie oder baldige
völlige Genesung eine Meningitis ausgeschlossen werden konnte.
Ich bemerke hierzu, daß Mayer hofer die Grenze zwischen
Transsudat und Exsudat bei 2'0 bis 2'3 zieht.
1. M. L., 3 Jahre, Paracoli-Enteritis.
12. Juli 1910, 2 9.
Sektion am 26. Juli ergibt Gehirn und Meningen frei.
II. P. W., 8 Jahre. Anämie, Hydrocephalus chronicus, Wassermann
negativ.
20. Juli 1910. 37. Flüssigkeit klar, steril, Albuinen negativ,
Saccharum Spur. Keine meningitischen Symptome.
28. November 1910. 1-8 I. Fraktion, 19 II. Fraktion, 2 0 111. Fraktion.
Albuinen negativ, Saccharum negativ.
Am 30. November gesund entlassen.
III. M. B., 5 Monate. Lues congenita, Dyspepsie, Wassermann positiv.
20. September 1910. 3T II. Fraktion, 2-8 IV. Fraktion. Albuinen
Spur, Saccharum negativ. Steril. Klare Flüssigkeit. Lymphozyten im
Sediment nicht vermehrt.
Sektion am 21. September ergab Meningen und Gehirn völlig frei.
IV. G. N. 3 Jahre. Enteritis, mäßiger Meningismus, Pirquet negativ-
4-. Oktober 1910. 2-7 I. Fraktion, 2 5 II. Fraktion. Klare Flüssig¬
keit, Druck 190 mm, Albumen negativ, Saccharum negativ.
Am 19. Oktober geheilt entlassen.
V. G. R. 12 Jahre. Angina.
3. August 1910. 2 3. Klar, steril, Albumen negativ, Saccharum
negativ.
Nach 12 Tagen geheilt entlassen.
VI. H. H. 3 Monate. Idiotie.
21. September 1910. 2 0 I. Fraktion, 1:5 III. Fraktion. Albumen,
Saccharum, steril.
VII. K. M. 10 Jahre. Hysterie.
30. September 1910. 19 I. Fraktion, 21 III. Fraktion. Klare
Flüssigkeit, Albumen negativ, Saccharum negativ, Druck IGO mm.
In einem Teil der Fälle erhielt ich, wie ersichtlich, ganz
normale Werte, in mehreren anderen jedoch Zahlen, die ganz
den von Mayerhofer bei Meningitis tuberculosa erhaltenen ent¬
sprechen. (z. B. Fall IV.)
Normale Zahlen erhielt ich endlich noch in einem Fall,
den ich besonders hervorheben möchte.
VIII. Ph. L. 9 Monate. Bronchialdrüsentuberkulose, exspiratorisches
Keuchen, geringe Nackensteifigkeit, Verdacht auf Meningitis. Pirquet
positiv.
26. Mai 1910. 185. Normaler Druck, klar, Albumen negativ,
Saccharum negativ, Kein Fibrinnetz, keine Tuberkelbazillen in Sediment.
2. September 1910. P65. Gleicher Befund.
Hat sich weiter gut entwickelt, keine Nackensteifigkeit mehr, Lungen¬
prozeß nahezu ausgeheilt. Wird am 31. Oktober 1910 geheilt entlassen.
Wie verhalten sich nun die Reduktionswerte bei Meningitis
tuberculosa? Mayer hofer betont hierbei, abgesehen von der Höhe
des Wertes, noch das regelmäßige Absinken bei den einzelnen
Fraktionen derselben Punktion und erklärt dies mit dem höheren
Gehalt der ersten Portion an zelligen Elementen.
IX. J. .1. 3 Jahre. 53. In der Lumbalflüssigkeit wurden Tuberkel¬
bazillen nachgewiesen. Sektion ergibt Meningitis tuberculosa.
X. N. H. 4 Jahre. Meningitis, Tuberkulose.
25. Juli 1910. 265 I. Fraktion, 225 IV. Fraktion. Albumen
Spur, Saccharum negativ. Im Fibrinnetz Tuberkelbazillen positiv.
26. Juli 1910. 38 II. Fraktion, 38 III. Fraktion. Albumen
Spur, Saccharum negativ. Im Fibrinnetz Tuberkelbazillen positiv.
28. Juli 1910. 3T5 I. Fraktion, 3 0 III. Fraktion, 3 0 V. Fraktion.
Albumen Spur, Saccharum negativ. Im Fibrinnetz Tuberkelbazillen positiv.
Sektion ergibt tuberkulöse Meningitis.
XI. M. M. 7 Wochen. Diagnose: Pneumonia caseosa, Meningitis
tuberculosa.
14. September 1910. 2'6 I. Fraktion, 2T III. Fraktion, 2T
V. Fraktion. Albumen Spur, Saccharum negativ, Tuberkelbazillen im
Fibrinnetz nachgewiesen.
16. September 1910. 2T I. Fraktion, 1'9 III. Fraktion. Albumen
Spur, Saccharum negativ, Tuberkelbazillen im Fibrinnetz nachgewiesen,
17. September 1910. 4T I. Fraktion, 3 4 III. Fraktion. Albumen Spur,
Saccharum negativ, Tuberkelbazillen im Fibrinnetz nachgewiesen.
Sektion bestätigt die klinische Diagnose.
XII. E. H. 5 Jahre. Seit 8 Tagen erkrankt, vor 3 Tagen Erbrechen,
Opisthotonus, Kernig positiv.
24. September 1910. 3'2 I. Fraktion. 31 IV. Fraktion. Albumen
negativ, Saccharum negativ. Im Fibrinnetz reichlich Lymphozyten und
Tuberkelbazillen.
Sept.
1910.
1-75
1-6
1-7
II. Fraktion,
III. Fraktion,
V. Fraktion.
Albumen negativ, Sacch.
negativ. Im Füwinnetz reich¬
lich Lymphozyten u. Tuber-
kelbazillen.
Sept.
1910.
40
37
I. Fraktion,
III. Fraktion.
Albuinen negativ, Sacch.
negativ. Im Fibrinnetz reich¬
lich Lymphozyten u. Tuber¬
kelbazillen.
Sept. 1910.
41
3-4
I. Fraktion,
III. Fraktion.
Albumen negativ, Sacch.
negativ. Im Fibrinnetz Lym¬
phozyten, sehr reichlich
Tuberkelbazillen.
Sektion verweigert.
Man beachte hier die auffallend niedrigen Zahlen der
zweiten Punktion.
XIII. R. K. Seit 14 Tagen erkrankt, seit heute Nackensteifigkeit
und Pulsus irregular., Kernig positiv.
14. November 1910. 2 7 II. Fraktion, 2 9 IV. Fraktion. Albumen
Spur, Saccharum negativ. Im Fibrinnetz Tuberkelbazillen gefunden.
15. November 1910. 295 I. Fraktion, 26 II. Fraktion, 25
III. Fraktion. Albuinen Spur, Saccharum negativ. Im Fibrinnetz Tuberkel¬
bazillen gefunden.
17. November 1910. 2'9 I. Fraktion, 30 III. Fraktion, 30
IV. Fraktion. Albumen Spür, Saccharum negativ. Im Fibrinnetz Tuberkel¬
bazillen gefunden.
19. November 1910. 30 I. Fraktion, 30 II. Fraktion. 30
IV. Fraktion. Albumen, Spur, Saccharum negativ. Im Fibrinnetz
Tuberkelbazillen gefunden.
23. November 1910. 2'85 l. Fraktion, 30 II. Fraktion, 33
IV. Fraktion. Albumen, Trübung, Saccharum negativ, Moritz negativ.
Im Fibrinnetz Tuberkelbazillen gefunden.
Sektion: Meningitis tuberculosa.
XIV. G. O. 7 Jahre. Familie völlig frei von Tuberkulose. Kind war
erkrankt mit Erbrechen und Nackensteifigkeit, Pirqüet negativ.
7. Dezember 1910. 265 1. Fraktion, 255 II. Fraktion, 2 34
III. Fraktion, 245 IV. Fraktion, am nächsten Tag im Fibrinnetz ganz
spärliche Tuberkelbazillen nachgewiesen. Albumen Spur, Saccharum negativ
Hier konnte die Reduktionsbestimmung keinen sicheren
Ausschlag geben, da ich ähnliche nur wenig über die Norm an¬
steigende Werte auch des öfteren bei normalem Liquor gefunden hatte,
zumal man nach der Anamnese eine Tuberkulose nicht annehmen
konnte. Erst die Untersuchung des Fibrinnetzes am nächsten Tag
ergab den Nachweis von Tuberkelbazillen.
10. Dezember 1910. Die nächste Punktion ergab im Gegensatz zu
der Behauptung May er ho fers deutlich ansteigende Werte.
265 I. Fraktion, 2 95 II. Fraktion, 3T5 III. Fraktion. Auch hier
am nächsten Tag reichlich Tuberkelbazillen im Netz. Albumen positiv,
Saccharum negativ.
Betrachten wir die angeführten Resultate bei Fällen von
tuberkulöser Meningitis, so ergeben sich bei 18 Lumbalflüssigkeiten
mit 45 einzelnen Untersuchungen fast stets üb er normale
Werte, die meist zwischen 2'6 und 41 liegen. In einzelnen
Portionen waren die Zahlen jedoch normal, bzw. unter 2'0;
diese auffallenden niedrigen Werte habe ich stets einer noch¬
maligen Kontrolle unterzogen. Aber auch das von May er hofer
als besonders charakteristisch angegebene Sinken der Zahlen
in den einzelnen Portionen konnte bei 17 Reihenbestimmungen
nur neunmal gefunden werden, vielmehr konnte ich in einer
Reihe von Fällen, ein deutliches Ansteigen des Wertes beobachten.
Ich möchte hier kurz einfügen, daß es mir im Gegensatz
zu Fischer, der in 25 Punktionen nur einmal Tuberkelbazillen
fand, in allen Fällen gelang, im nach 24 Stunden abgesetzten
Fibrinnetz Tuberkelbazillen unter Beobachtung aller Kautelen
nachzuweisen. Einzelne Punktate habe ich mit der von Moritz
angegebenen Essigsäureprobe, die vor kurzem wiederum von
Popper und Zack warm empfohlen wurde, untersucht und in
zwei Fällen von Meningitis tuberculosa negativen Ausfall erhalten.
Die Resultate bei eitriger Meningitis will ich hier nur kurz
streifen, da uns in diesen Fällen die einfache mikroskopische
Untersuchung der Lumbalflüssigkeit oder ihres Zentrifugates
meist leicht und schnell zu einer sicheren Diagnose kommen
läßt. Es wurden im ganzen 23 einzelne Punktate von 4 Fällen
epidemischer, 3 Pneumokokken- und 1 Influenzameningitis in
44 Portionen untersucht und stets waren die Zahlen mehr oder
weniger weit über der Normalzahl.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 3
9<i
Mit besonderem Interesse machte ich die Untersuchung bei
Fällen von Pneumonie, sowohl kruppöser, als auch (einzelnei)
Bronchopneumonien. . ,. p.,Ion
Es kam mir darauf an, festzustellen, ob in diesen lallen,
die alle mehr oder weniger meningeale Reizsymptome zeigten
und zum Teil auch schwer tuberkulös belastet waren, die Luniba -
flüssigkeit normale Werte und Ansteigen der einzelnen Fraktionen
aufwies. Ich möchte hier bemerken, daß wir fast stets, ähnlich
wie Quincke, stark erhöhte Druckwerte, wohl infolge Hyperämie
der Meningen, beobachten konnten, die oft die bei tuberkulösen
Meningitiden weit übertrafen. Ich werde weiter unten noch au
einige besonders interessante Fälle eingehen.
Nicht unterlassen möchte ich noch darauf hinzuweisen, daß
ich stets bei diesen Fällen eine wesentliche Besserung des
Allgemeinbefindens nach dem Ablassen von 10 bis 30 cm Liquoi
feststellen konnte, so daß ich den bei einiger Vorsicht so gut wie
gefahrlosen Eingriff in allen Fällen von Pneumonie mit schweren
meningealen Symptomen nur empfehlen kann.
XV H S 5 Monate. Bronchopneumonie, Starker Opisthotonus.
11.’ April 1910. 2 05 1. Fraktion, 2 55 IV. Fraktion. Klare, sterile
Flüssigkeit, Sediment spärliche Lymphozyten.
Nach 1 Tagen abgefiebert. Später geheilt entlassen. Wesentliche
Besserung des Allgemeinbefindens nach der Punktion.
XVI H. K , 7 Jahre. Kruppöse Pneumonie, Erbrechen, Nacken¬
steifigkeit, Benommenheit. T,i u i *■
14. Mai 1910. 2 55 I. Fraktion, 2T5 III. Iraktion.
Am nächsten Tage kritische Entfieberung, nach zehn 1 agen gehei
entlassen. »
XVII. H. Pr. D/4 Jahre. Bronchopneumonie, Erbrechen, Nacken¬
steifigkeit. „„ _ ...
4. Juni 1910. 2-3 I. Fraktion, 235 III. Iraktion.
Nach acht Tagen geheilt entlassen.
Will. II. H. 2 Jahre. Tetanie, Meningismus, Bronchopneumonie.
9. September 1910. 2 8 I. Fraktion, 2 6 II. Fraktion. Klare Massig¬
keit, steril, keine Tuberkelbazillen, Albuinen, Saccharum.
10. September 1910. 21 1. Fraktion, 2;2 II. Fraktion, 2 6
III. Fraktion. Klare Flüssigkeit, steril, keine 1 uberkelbazillen, Albumen,
Sal i h arum. Qu ^ n geptember ergab Bronchopneumonie, Meningen
XIX. M. Fr. 10 Jahre. Schwer tuberkulös belastet, Habitus phthisicusr
Erbrechen und Verstimmtheit seit einer bis zwei Wochen, hochgi adige^
Opisthotonus. Kernig stark positiv. Geringe Erscheinungen über de
linken Lunge. Rechte Pupille größer als linke. Lichtreaktion links prompt
rechts verlangsamt. Augenhintergrund beiderseits normal, Ohren Iren
1 ll(lue^P°^ember 1Q10 Druck 190 mm Albumen, Saccharum schwach
positiv. 28 I. Fraktion, 2'7 II. Fraktion, 2 7 III. Fraktion. Klar, am
nächsten Tage keine Fibrinnetzbildung, steril.
19. November 1910. Im Bereich des ganzen linken Oberlappens
lautes Bronchialatmen und feinblasige Rasselgeräusche.
20. November 1910. Auch über dem rechten Oberlappen Bronchiai-
atmen und Knisterrasseln. Allgemeinbefinden wesentlich gebessert. Nacken¬
steifigkeit nicht mehr vorhanden. Pupillenreaktion normal, Kernig negativ.
24 November 1910. Druck 150 mm. 23 I. Iraktion, 2'4
II. Fraktion, 25 III. Fraktion. Klare Flüssigkeit, Albumen negativ,
Saccharum schwach positiv, steril, keine Netzbildung.
Patient ist cntfiebert. Nach zehn Tagen geheilt entlassen. Diagnose:
Oberlappenpneumonie mit starken meningealen Reizerscheinungen.
Es handelte sich um einen Fall der anamnestisch, sowohl
wie bei dem objektiven Befund das typische Bild einer tuber¬
kulösen Meningitis zeigte. Gerade hier aber, wo uns die Unter¬
suchung zur schnellen Orientierung hätte dienen können, gerade
hier ließ sie uns im Stich. Die mangelnde Fibrinnetzbildung ließ
bereits am nächsten Tage Zweifel an der Richtigkeit der mit
Wahrscheinlichkeit gestellten Diagnose auf Meningitis tuberculosa
auftauchen, die durch den weiteren Verlauf bestätigt wuiden.
In der Mehrzahl der Untersuchungen bei Pneumonie konnte
ich Werte finden, die übernormal waren, oder hart an der Grenze
des Normalwertes standen. In drei Fällen fielen die Werte,
ähnlich wie es Mayerhofer als charakteristisch füi tuberkulöse
Meningitis angegeben ; dreimal stiegen sie deutlich an und zwei¬
mal blieben sie ganz oder annähernd gleich. Also auch hier wie
bei der tuberkulösen Meningitis war kein absolut typisches \ er¬
halten zu erkennen.
Mein Urteil über die M ay er h o f er sehe Probe mochte ich
auf Grund meiner Beobachtungen dahin zusammenfassen, daß sie
nicht die von dem Autor angegebenen Vorzüge besitzt. Im Gegen¬
teil kann sie, wie im Fall XIX, zu erheblichen Irugschlüssen Ver¬
anlassung geben. . ,
Als beste und sicherste Methode zur Feststellung der tuber¬
kulösen Meningitis bleibt immer noch die Bildung des Fibrin¬
netzes und der bei genügender Technik wohl stets gelingende
Nachweis von Tuberkelbazillen in ihm.
Literatur.
Mayerhofer, Wiener klin. Wochenschr. 1910, Nr. 18, S. 651.
— Pieper, Münchener med. Wochenschr. 1910, Nr. 1. — Fischer,
Münchener med. Wochenschr. 1910, S. 1061. - P o p p e r und Z ac k,
Wiener klin. Wochenschr. 1910, Nr. 21. Quincke, Deutsche
Zeitschr. für Nervenheilkunde Bd. 36 und 40.
Heferate.
Internal Secretions from a physiological and thera¬
peutical standpoint.
Von Isaak Ott.
Easton P a.,. E. Vogel.
Der Autor gibt in Form von Vorlesungen eine Uebersicht
über einige Organ© mit innerer Sekretion. Es werden die Ana¬
tomie, die Physiologie der Organe, die Wirkung des Organaus¬
falles, ' der Organextrakte und der Organpräparate an der Hand der
Literatur erörtert und auch die Resultate eigener Kontrollver-
s uche des Verfassers zur Sprache gebracht und durch wieder¬
gegebene Kurven belegt. Ohne Stellung zu nehmen, werden auch
sich widersprechende Angaben aus der Literatur angeführt. Ein
Hauptabschnitt behandelt die Parathyreoidea, ein weiterer die
Hypophyse. Das Schlußkapitel gibt eine Darstellung der Wechsel¬
beziehungen der Organe mit innerer Sekretion untereinander.
Auch die Pathologie und die Organotherapie werden ausführlich
erörtert.
*
Phases of Evolution and Heredity.
Von Berry Hart.
London, Rebman Limited.
Der Verfasser behandelt in zwangloser Form die verschie¬
denen Lehren von der Evolution und Vererbung. Ohne ins Detail
einzugehen, werden die Anschauungen Darwins teilweise klar¬
gelegt, den Anschauungen Weismanns gegenübergestellt und
die Schwächen der verschiedenen Theorien erörtert. Es folgt
eine ausführliche Darstellung der Forschungsergebnisse Men¬
dels, dessen Lehre und Persönlichkeit der Autor in einer bio-
graphischen Skizze groß© Anerkennung zollt. Nun piäzisieit der
Verfasser seine Auffassung der Men del sehen Theorie und be¬
schreibt, wie er deren Ergebnisse mit den Weis mann sehen
Anschauungen in Einklang bringt. Es werden auch die Ei- i
gebnisse der Biometrie erörtert und die Sem on sehen Theo-
rien gestreift. Im Anschluss© daran wird die Entwicklung der
Lehre von den Variationen und Mutationen besprochen und deren
Verhältnis zur \\ ahrscheinlichkeitsrechnung präzisiert, schlie߬
lich eine Darstellung gegeben, wie Verfasser sich das Zustande¬
kommen der Vererbung erklärt. Nun folgen einige Kapitel, deren
Inhalt, mehr in feuilletonistischem Tone gehalten, Fragen berührt,
die im Zusammenhang mit den anfangs erörterten Lehren stehen.
So werden die Vererbung von Krankheiten und Krankheitsdisposi¬
tion behandelt, die Vererbungsfragen besprochen, die sich bei
Beobachtung des Bienenstaates aufdrängen. Erörterungen über
di© Evolutionisten und ihre Gegner, über den Wettkampf der
beiden Geschlechter und die Frauenfrage, über die Evolution
in den religiösen Anschauungen und endlich in einem wenig
verständlichen Zusammenhang der Wert guter Selbstbiographien
beschließen die Schrift.
*
La fonction du sommeil, physiologie, Psychologie,
pathologie.
Von Albert Salmon.
Paris 1910, Vi got fr er es.
Verf. bespricht in bezug auf das Problem des Schlafes zuerst
die Rolle, die der Schlaf im Leben der Pflanzen spielt und dessen
Aehnlichkeit mit dem Schlafe der Tiere, dann die Verbreitung
des Schlafes bei den Tieren und dessen allgemein© biologische
Bedeutung. Im Anschlüsse werden die Phänomene des Schlafes
geschildert und die. in demselben auftretenden physiologischen
Veränderungen. Auch die Psychologie des Schlafes, des Traumes
wird erörtert und zu einer eingehenden Schilderung der mit
dem Schlaf verwandten Zustände, Hypnose, hysterische und epi¬
leptische Lethargie, elektrischer Schlaf, Koma, Narkose usw.,
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
übergegangen. Dabei kommt Verfasser zu dem Schlüsse, daß
man den Schlaf als eine positive vegetative Funktion und nicht
nur als einen psychischen passiven Zustand ansehen mußt. Schlaf
und vegetative Funktionen einerseits, Wachen und Prädominieren
der psychischen Funktionen andrerseits stehen einander gegenüber.
Nun wird der Schlaf mit den verschiedensten sekretorischen
Tätigkeiten in den Organismen in Parallele gestellt und nachdem
eine Darstellung der Veränderung in den Ganglienzellen der Tiere
während des Schlafes gegeben ist, werden die sich in den
Ganglienzellen im Schlafe abspielenden Veränderungen als Aus
druck einer Sekretion der Zellen gedeutet. Verf. ist der Mei
nung, daß der Schlaf also durch eine innere Sekretion innerhalb
der Nervenzellen, die durch das Funktionieren anderer Organe
beeinflußt wird, zustande kommen soll.
*
Naturwissenschaft und Gehirn.
Vortrag gehalten in der allgemeinen Versammlung des NIL Kongresses
russischer Naturforscher und Aerzte in Moskau.
19 Seiten.
Von Prof. J. P. Pawlow. Deutsch von Volberth.
Wiesbaden 1910, Bergmann.
Das Wesen ist der Reflex, dessen wichtigste Grundlage
sind die Analysatoren. Der Analysator ist ein komplizierter
Nervenmechanismus, welcher mit dem äußeren rezipierenden
Apparat beginnt und im Gehirn endigt u. zw. bald in dessen
niedrigsten, bald in dessen höchsten Abschnitten, .letter peri¬
phere Apparat stellt einen Transformator der gegebenen äußeren
Energie in dem Nervenprozeß vor. Daraus leiten sich die wei¬
teren Probleme ab, die sich hauptsächlich auf die Untersuchung
des „Analysators“ zu erstrecken haben.
*
Handbuch der biochemischen Arbeitsmethoden.
Von E. Abderhalden.
4 Bd., 1527 Seiten.
Berlin 1910, Urban und Schwarzenberg.
Dieser Band umfaßt die allgemeinen chemischen Methoden,
bearbeitet von Friedmann und Kempf, das Oxydieren, Re¬
duzieren, Azetylieren, Halogen isieren und Dehalogenisieren, Sul¬
fonierern, Nitrieren, Amidieren, Diazotieren, Alkylieren, Acylieren,
Äzetalisieren und Esterisieren. Gewaltig ist der Stoff und gewaltig
die Arbeit, die geleistet wurde. Es ist selbstverständlich,
daß auch dieser Band in keinem biochemischen oder organisch-
chemischen Laboratorium fehlen darf. Die Verfasser, wie der
Herausgeber und die Verleger haben sich durch die monumen¬
tale Leistung unzweifelhaft den aufrichtigsten Dank aller Fach¬
männer gesichert. Der Wert dieses einzig dastehenden Werkes
bedarf daher wohl nicht, dels besonderen Lobes.
*
Handbuch der vergleichenden Physiologie.
Herausgegeben von H. Wintersteiu.
Lieferung 7, 8, 9 und 10.
Jena 1910, Fischer.
Jede neue Lieferung des Winter stein sehen Handbuches
ist eine helle Freude für den Leser und Ref. kann das beson¬
ders günstige Urteil, das er anläßlich des Berichtes über die ersten
Lieferungen des Werkes ausgesprochen hat, nur neuerlich wieder¬
holen und das Handbuch aufs allerwärmste für die Anschaffung
empfehlen. In Lieferung 7 und 9 setzt Biedermann seinen
Abschnitt über Aufnahme, Verarbeitung und Assimilation der
Nahrung fort; er liefert darin eine ganze Ueberfülle von Tat¬
sachen in geradezu bewunderungswürdig schöner, echt biologi¬
scher Darstellung; dabei ist der Riesenstoff, dem eine an Tausend
grenzende Zahl von Literaturangaben beigefügt ist, in ungemein
übersichtlicher, klarer Form gruppiert, wozu nicht bloß: die
Gliederung der Kapitel, sondern auch die ausgiebige Verwertung
verschiedenen Druckes- besonders beiträgt. Uneingeschränktes Lob
verdient aber der Autor, wie der Verlag, auch für die Aus¬
stattung des Abschnittes mit Hunderten mustergültig klarer Ab¬
bildungen. Jedem Biologen und Naturforscher dürfte es ein wahres
Vergnügen bereiten, die Wunderwelt der mannigfaltigsten Uebems-
erscheinungen in der Tierwelt, die doch immer wieder auf ein¬
heitlichen Grundziigen aufgebaut ist, in so vollendeter Form
dargestellt zu sehen.
Lieferung 8 'beginnt, mit dem Kapitel „Wärmehaushalt“, das
von J igerstedt bearbeitet ist; die Konstatierung dieser Tat¬
sache. genügt wohl an und für sich, schon die Güte der Be¬
arbeitung des Stoffes zu kennzeichnen. Der Richtung der meisten
vorliegenden Untersuchungen entsprechend, steht in diesem Ab¬
schnitte das Verhalten des Menschen und der höheren Tiere im
Vordergründe der Darstellung. Die Produktion von Elektrizität
ist von Garten behandelt. Bef. glaubt, an diesem Kapitel ganz
besonders die mustergültige Knappheit und Klarheit hervorhebm
zu sollen. Das ungeheure Material ist vollkommen ausreichend
auf 120 Seiten bearbeitet, der ganze Abschnitt ist durchaus modern
gehalten, nichts Wichtiges ist ausgeblieben und eine Scheidung
zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem getroffen, die den
Meister kennzeichnet, der den ganzen Stoff vollständig über¬
sieht. In überaus glücklicher Weise ist der Verfasser gerade hier,
wo die Gefahr besonders nahe lag, in Detailzeichnung zu geraten,
in der Darstellung kurz, präzise, klar und dabei doch vollständig
geblieben. Der letzte Teil der 10. Lieferung enthält noch den
Beginn des Abschnittes „Produktion von Licht“, der in einer
späteren Lieferung fortgesetzt werden soll. Die Art der Darstellung
und die Behandlung des Inhaltes schließt sich eng an jene
von Biedermann an. Es ist begreiflicherweise unmöglich,
auf Einzelnheiten im Inhalte der vorliegenden Lieferungen einzu¬
gehen, die Ausführungen des Referenten sollen aber ein orien¬
tierendes Bild liefern, das dazu beitragen möge, daß das vor¬
zügliche W in I. erste i nsehe Handbuch eine weiteste Verbrei¬
tung finde.
*
Ueber Lokalisation der Hirnfunktionen.
84 Seiten.
Von C. v. Monakow.
Wiesbaden 1910, Bergmann.
Es ist der Vortrag, welchen Monakow auf der Natur¬
forscherversammlung in Königsberg gehalten hat. Die klare und
geistvolle Art der Darstellung in Monakows Schriften ist zu
bekannt, als daß es nötig wäre, sie: in diesem Vortrage neuerlich
zu betonen. In wenigen Strichen wird die Entwicklung der
phylogenetisch älteren und jüngeren Anlage des Zentralnerven¬
systems gezeichnet und dargestellt, wie das ältere und neuere'
Funktionssystem im Zentralnervensystem nebeneinander sich aus¬
baut und zu zweckdienlichster Wirkung gelangt. Insbesondere am
Beispiel der optischen Bahnen und Zentren wird die Verlagerung
dargetan, die die Sehzentren durch das Steigen der Anforderungen
an das sich höher entwickelnde Lebewesen erfahren mußten. Im
weiteren erstreckt sich die Diskussion auf die Bedeutung der
Ausfallserscheinungen und die Frage nach den Schlüssen, die
aus der Rückbildung temporärer Himsymptome gezogen werden
dürfen; hiebei erörtert Monakow insbesondere die Bedeutung
vorübergehender Shock- und Hemmungswirkungen und nament¬
lich die Bedeutung der Diaschisis — der Spaltung der Funktion—
im Hinblick auf die Erforschung von Lokalisationen. Nicht uner¬
wähnt soll auch das besonders schöne und klare, angeheftete
Schema des Zentralnervensystems bleiben, das sich für den
Unterricht vorzüglich eignet.
*
Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung.
Herausgegeben von Prof. Dr. E. Abderhalden.
I. und II. Bd.
Berlin 1910, Urban und Schwarzenberg.
Es ist eine ganz ausgezeichnete Idee, zu der Herausgeber
wie Verleger nur aufs wärmste beglückwünscht werden können,
der dieses neue Werk sein Entstehen verdankt. Staunend müssen
wir dabei der unerreichten und einzig dastehenden Schaffens¬
kraft Abderhaldens gedenken, der auch dieses Unternehmen
zu seiner ganzen sonstigen Arbeitsbürde noch auf sich geladen
hat und dabei in mustergültiger Weise für einen außerordent¬
lich interessanten, gediegenen Inhalt aus den mannigfaltigsten
naturwissenschaftlichen Gebieten Sorge trägt. Die „Fortschritte“
beabsichtigen, jedem naturwissenschaftlich Gebildeten verständ¬
liche Aufsätze zu liefern, die zur Einführung in die neuesten
Errungenschaften der einschlägigen Gebiete dienen sollen. Es
muß auf das dankbarste begrüßt werden, daß es dadurch auch
98
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
einem Femestehenden ermöglicht wird, Einblick in die inter¬
essantesten Probleme neuester Forschung zu gewinnen, ln diesem
Sinne können die von den berufensten Fachmännern geschno¬
benen Kapitel geradezu als Erhol ungslektüre bezeichnet werden.
Ref. konnte, bislang in den beiden Bänden erst blättern und
möchte sich die eigentliche Lektüre auf die Ferien a s
wilkommenen Genuß versparen, nichtsdestoweniger glaubt
er aber, auf Grund des Einblickes in einzelne Ab¬
schnitte, bereits heute schon die Aufmerksamkeit auf das
Erscheinen der „Fortschritte“ lenken zu sollen und diese zu¬
gleich aufs wärmste zu empfehlen. Der erste Band enthalt
die Farbenphotographie, von Mi et he, in dem die theoretischen
und praktischen Grundlagen der verschiedenen Verfahren und
deren geschichtlicher Werdegang erörtert werden. Ref. hatte
gerade in bezug auf die Herstellung, auf Mängel und auf Neue¬
rungen beim Dreifarbenverfahren etwas weiteres Eingehen für
erwünscht gehalten. Es folgt ein Aufsatz über schlagwetter¬
sichere Sprengstoffe (Brunswig), in dem die Theorie der Pro¬
zesse, die photographische Beobachtung der Flammenbildung bei
der Explosion verschiedener Sprengstoffe und die experimentelle
Forschung auf diesem Gebiete besonders interessieren dürfte.
A. Bach in Genf liefert einen Aufsatz über langsame Ver¬
brennung und Oxydationsfermente, der im Hinblick auf die Oxy¬
dationsvorgänge im Tier- und Pflanzenkörper, wie au 0 0
Synthese und Kohlensäureassimilation besonderes Interesse be¬
ansprucht und eingehenden Studiums bedai f.
Methoden und neuere Ergebnisse der Schweremess ungen
von Niethammer führt, djis folgende Kapitel vor, m dem wir
über die Genauigkeit der Resultate und über die Tatsache unter¬
richtet werden, daß an räumlich recht wenig entfernten Orten merk¬
würdige Unterschiede in bezug auf die Gravitation beobachtet
werden, die z. B. den Schluß auf Massendefekte und deren Vertei¬
lung gestatten. Im Zusammenhänge mit geologischen Kartenskizzen
führt der Verfasser in überaus anschaulicher Weise, auch dem
Laien verständlich, unter anderrn die Defekte im Gebiete der
einzelnen Gegenden der Alpen vor.
Der bekannte Erfinder der Fernphotographie — Korn •
hat einen hochinteressanten Aufsatz über die Entwicklung der
Bildtelegraphie geliefert, ihm folgt ein nicht minder fesselnc ei
Abschnitt von P. Guthnick, der uns in die Spektrographie und
in die Ergebnisse der spektrographischen Untersuchungen ein führt.
Zahlreiche Abbildungen dienen der Erläuterung. Fast mochte Re¬
ferent sagen, man steht starr vor Bewunderung und Staunen
Über die beispiellosen Erfolge der Sonnenphotographie und -For¬
schung und kann sich der Freude über einen derartigen Triumph
menschlichen Scharfsinnes nicht erwehren. An weiteren Kapi¬
teln enthält dieser Band den Aufsatz von W. Pa 11 ad in über
Fermentarbeit in Pflanzen, sowie jenen von Engl er über die
Entstehung des Erdöls. Der Preis für den Band mit 10 Mark ist
bei dem Umfange (300 S.) und der Gediegenheit des Inhaltes
gewiß außerordentlich nieder bemessen.
Band II umfaßt die Abhandlung von Sem on über, die Ver¬
erbung erworbener Eigenschaften, aus der hervorgeht, daß die
so lange Zeit strittige Frage im Sinne eines Bestehens der Ver¬
erbung erworbener Eigenschaften entschieden ist. Ungemein wert
voll ist in der Zusammenstellung die kritische Sichtung der vor¬
liegenden Tatsachen und der für und gegen vorgebrachten Be¬
weise. Es dürfte kaum in einer der vielen einschlägigen Publi¬
kationen der Stoff auch nur in annähernd so übersichtlicher
und klar gedachter Form behandelt worden sein, wie in der
vorliegenden. Ein reichhaltiges Literaturverzeichnis ist dem Ka¬
pitel angeschlossen. E. Stromer (München) behandelt auf
32 Seiten neue Forschungen über fossile, lungenatmende Meeres¬
bewohner. Ueber den gegenwärtigen Stand der Vulkanforschung
berichtet K. Sapper, über Ionen und Elektronen Mie in Greils¬
wald. Die aktuelle Frage der Nutzbarmachung des Luftstickstoffes
hat in C. Frenzei (Brünn) ihren Bearbeiter gefunden, der in
einem umfangreichen, 80 Seiten starken Abschnitt die wirtschaft¬
liche Bedeutung der Fragen über die Methode der Stickstoff¬
gewinnung aus der Luft behandelt. An der Hand von klaren Ab¬
bildungen werden wir in die Technik der Ueberführung des Stick¬
stoffes in Verbindungen im Flammenbogen eingeführt. Auch der
Theorie des Prozesses ist für den Liebhaber hinreichend Raum
zugewiesen. Es folgt hierauf ein sehr lesenswerter Abschnitt
über Kropf und Kretinismus von E. Birc'her und endlich das
Kapitel über Muskelatrophien von Bing. Aus Raummangel kann
in dem ohnehin etwas weit, gedehnten Rahmen des Referates
auf letzteren Abschnitt nicht näher eingegangen werden, so ver¬
lockend dies wäre, das Gesagte dürfte aber hinreichen, die Ge¬
diegenheit und Mannigfaltigkeit des Inhaltes der beiden, bisher
■erschienenen Bände hinreichend zu kennzeichnen und das ruck¬
haltslose Lob, wie die warmen Empfehlungen, die Ref. den
beiden Bänden mit auf den Weg gibt, zu stützen.
Zum Schlüsse möchte Ref. aber nochmals den Heraus¬
geber, wie den Verleger zur neuen Schöpfung Wärmsten« beglück¬
wünschen.
Gedanken zur allgemeinen Energetik der Organismen.
Von C. Lüderitz.
Berlin 19 10, Hirschwal d.
Die Schlußsätze charakterisieren den Inhalt der Schrift am
besten: „Wir gelangen somit zu folgendem Resultat: Die von den
lebenden Menschenhirnen, speziell die von den nervösen Ele¬
menten de . selben erfüllten Räume zeichnen sich von allen anderen
uns bekannten Räumen dadurch aus, daß sie im Verhältnis zu den,
durch dir Dichtheit des Gefüges hier vorhandenen Widerständen,
also im Verhältnis zur relativen Energiearmut der Umgebung, ein
Maximum von Energie absorbieren. Hier sind die Stätten höchsten
Gleichgewichtes. Dies also wäre, auf einen einfachen Ausdruck
gebracht, das physiologische- Korrelat zu dem unentwirrbar kom¬
plizierten Bau des Gehirns, mit dem verglichen der Bau des
Sternenhimmels ein sehr einfacher ist. Und hiedurch nimmt dci
Mens h eine zentrale Stellung im Weltall ein.“
Die Entwicklung des menschlichen Geistes.
Ein Vortrag von M.
Verworn.
52 Seiten.
Jena 1910, G. Fischer.
Die Rede Verworn s' klingt in den Versuch aus, die Etappen
der Entwicklung des menschlichen Geistes zu entwerfen. V er-
worn teilt in ein Zeitalter' des sinnlich impressionistischen
Geistes (eölithische Kultur), ein Zeitalter des naiv praktischen
Geistes (archäolithische und paläolithische Kultur) und das
Zeitalter des theoretisierenden Geistes ein, das1, bis zur Gegenwart
reicht. Die neuere Entwicklung des Geisteslebens wird zergliedert
in die Stufe des dogmatisch - spekulativen Denkens und jene
des kritisch- experimentellen Denkens. Die interessanten, sich
daran anschließenden Ausführungen, wie die Grundlagen, die
Verworn zu der Aufstellung dieser Etappen führten, können
leider im Rahmen des Referates nicht wiedergegeben werden.
Geschlechtstrieb und echt sekundäre Geschlechtscharak¬
tere als Folge der innersekretorischen Funktion der
Keimdrüsen.
Von E. Steinach.
18 Seiten.
Wien 1910, Deu ticke.
Verf. beschreibt interessante Versuche an Fröschen und
Ratten, durch die bewiesen wird, daß die Entwicklung der
Männlichkeit und die Auslösung des Umklammerungsreflexes vbei
Fröschen) auf Grund der Wegschaffung von Hemmungen durch
die chemische Wirkung des inneren Hodensekretes (ausi dem
Zwischengewebe stammend) herbeigeführt wird.
.
Die Gesundheitskontrolle durch den Organsinn.
Für Gebildete verständlich dargestellt von Dr. A. Brosch.
40 Seiten.
Wien 1910, Deuticke.
Unangenehme Daseinserscheinungen, wie sie besonders
häufig um das vierzigste Lebensjahr auftreten, sind vielfach
durch Drucksteigerungen in der Bauchhöhle herbeigeführt. Ver¬
fasserempfiehlt zur Beseitigung solcher Störungen die Anwendung
des von ihm angegebenen subaqualen Innenbades.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
9 9
Lehrbuch der Physiologie des tierischen Organismus
im speziellen des Menschen.
Von Prof. Dr. J. Kernst ein*
Dritte Auflage.
Stuttgart 1910, Enke.
Als eine der wenigen Säulen aus1 großer physiologischer
Vergangenheit ragt die Person Bernsteins noch immer kern¬
gesund empor. Die Rüstigkeit und Frische des Geistes spiegelt
sich auch in der Neuauflage des Lehrbuches wider, der
man unverkennbar ansieht, daß dessen Verfasser an der
Wiege der großen Schöpfungen der Physiologie gestanden hat.
Das Buch ist darum besonders wertvoll, weil es! vieles ent¬
hält, was man in dear neueren Lehrbüchern nicht mehr findet.
Vorzügliche Abbildungen, sonst selten oder gar nicht abgebil¬
deter Versuchsanordnungen und Apparate bilden eine sehr er¬
wünschte Ausstattung.
*
Die Fermente und ihre Wirkungen.
Von Prof. Karl Oppenheimer.
Dritte Auflage nebst einem Sonderkapitel: Physikalische Chemie der
Fermente und Fermentwirknngeu.
Von Prof. II. Herzog.
Allgemeiner Teil.
282 Seiten, Bibliographie und Namensregister. 110 Seiten.
Leipzig 1910, Vogel.
Ref. hat schon beim Erscheinen des speziellen Teiles die
Bedeutung der „Fermente von Oppenheimer“ hervorgehoben
und kann bei Besprechung des neuerlich erschienenen Teiles nur
nochmals auf die Güte und den Reichtum des Inhaltes, wie auf
die vorzügliche und klare Behandlung der Materie hinweisen
und das Buch, das in seiner Art als Standardwerk in keinem'
physiologischen oder biochemischen Laboratorium fehlen darf,
aufs wärmste empfehlen.
*
Der elektrochemische Betrieb der Organismen und die
Salzlösung als Elektrolyt.
Eine Programmschrift für Naturforscher und Aerzte.
Von Georg Hirlli, Verfasser von Kunstphysiologie, Lokalisations¬
psychologie, Das plastische Sehen, Energetische Epigenesis, Merksysteme
und plastische Spiegelungen, Eutropie und Keimsysteme, Die Mutter¬
brust etc.
M ü nchen 1910, Hirt h.
Der Titel sagt eigentlich genug. Wir lesen aber in dem
bekannt guten Witzblatt „Die Jugend“, Nr. 46 vom Jahre 1910,
einen Auszug aus der Schrift von Hirth, den der Verfasser mit
den Worten schließt, er glaube, daß die Leser der „Jugend“ ein
Recht darauf besitzen, von dem Inhalt der Broschüre Kenntnis
zu erlangen. Der Verfasser erklärt auch, daß er allen Wißbegie¬
rigen das Heft gerne umsonst zukommen lassen wolle. Diesem
Ansporn scheinen auch zahlreiche Interessenten nachgekommen
zu sein, da bereits eine dritte Auflage der Broschüre vorliegt.
Ref. kann es auf alle Fälle nur als: zweckmäßig bezeichnen,
daß die Ideen des Verfassers in der „Jugend“ einem weiteren
Leserkreis zugänglich gemacht wurden, doch hat der Inhalt durch
die auszugsweise Wiedergabe hiebei leider viel an Heiterkeit
eingebüßt; darum einige Proben. „Der Zeugungsakt ist nicht nur
beim Menschen, sondern auch schon bei höheren Tieren ein
elektrisches Briilantfeuerwerk. Die zentrifugalen Erregungen der
Partes, die Ejaculatio seminis, die Erscheinungen des Orgas¬
mus, die Eigenbewegungen der Spermatozoen und ihr Eindringen
in das Ei — dieser ganze große Komplex von revolutionären
Vorgängen und Entladungen muß im letzten Grunde elektrischer
Natur sein. Das fühlt sich sozusagen schon durch Selbstbeob¬
achtung makroskopisch.“ „Auch Erinnerungen und Phantasien
aller unserer Sinne und Triebe kann ich mir nur als allerletzte
Glanzleistungen einer durch Tausende von Generationen orga¬
nisch-chemisch gezüchteten Elektrizität vorstellen. Hier im Rah¬
men einer vorwiegend energetischen Epigenesis können wir uns
das Spermatozoon und den Kern des Eies aus allen Organen
und elektrischen Feldern der beiden Eltern innerviert denken,
ohne daß präformatorische Einschachtelungen stattfänden. Eine
Einwirkung, die vielleicht weniger in stofflichen Veränderungen
der Keime sich äußert — obschon auch diese nicht ganz aus¬
geschlossen sind Sehr nett sind die Ausführungen übel
den Alkohol, so wie folgendes Beispiel: „Die Kardinalfrage, um
die es sich hier handelt, betrifft das Prinzip der Elektrizität, nicht
aber die Art und Geschwindigkeit des Stromes. Wenn dieser
im tierischen oder menschlichen Körper nur ca. 30 bis 40 m
in der Sekunde zurücklegt, so liegt darin kein. Grund, an seiner
elektrischen Natur zu zweifeln. Auf ein bißchen Geschwindigkeit,
mehr oder weniger kommt es dabei nicht an Bloße \ erlang-
samungen des Stromes gehen uns nicht das Recht, seine elektrische
Natur in Abrede zu stellen. Verlangsamungen begegnen wir
massenhaft auch in der Elektrotechnik, z. B. bei der Beleuchtung
mit Glühlampen, wo wir den Eintritt, noch mehr das Ybkliugen
des Stromes (!) makroskopisch beobachten können. Eine gewisse
Verlangsamung ist aber geradezu biologisches Erfordernis und
hängt mit dein natürlichen Bedingungen der Auffassung und Auf¬
merksamkeit, der Vorstellung und Erinnerung, der Assoziation
und des Denkens, ja des Bewußtwerdens zusammen.
*
Das System der Biologie in Forschung und Lehre.
Eine historisch-kritische Studie von Dr. phil. S. Tschnlok.
Jena 1910, G. Fischer.
Verf. will, wie er im Vorwort sagt, eine Kritik der gebräuch¬
lichen biologischen Begriffe geben und nicht neue Versuche an¬
führen oder Theorien aufstellen. Hiebei handelte es sich ihm
um die historische Genese des Begriffes in der Biologie und die
Wandlung, die der Inhalt der Begriffe im Laufe der Zeiten erfahren
hat. Die vorliegende Arbeit soll nur ein Vorläufer einer wei¬
teren Kritik über die Theorien der Biologie und der Logik der
Deszendenztheorie sein. Verf. will vorerst zeigen, wie Aufgabe
und System der Botanik und Zoologie in verschiedenen Zeiten
aufgefaßt wurden, dann sollen die Probleme kritisch beleuchtet
werden und die Möglichkeit ihrer Lösung erörtert werden und
endlich soll an den gegenwärtig gang und gäben Auffassungen ent¬
schieden werden, ob sie von der richtigen Auffassung abweichen
und ob ihr Zustandekommen auf Abwege hinweist, die auf Grund
traditioneller Vorurteile eingeschlagen wurden. Es ist also eine
gewaltige Arbeit und ein gewaltiges Richteramt, das der Ver¬
fasser sich zugesprochen hat, das dann, wenn es klaglos gut
und rein objektiv ausgeübt werden soll, so daß es nicht auf
Widerspruch stößt, wohl eine Kenntnis auf dem Gebiete bio¬
logischer Forschung voraussetzt, die sicherlich die Grenzen der
Leistungsfähigkeit eines menschlichen Gehirns erreicht oder wohl
wahrscheinlich überschreitet. V ie schon die Inhaltsübersicht er¬
gibt, neigt sich die Betrachtungsweise des Verfassers fast aus¬
schließlich der Botanik zu, wodurch die Grenzen allerdings be¬
reits wesentlich enger gezogen werden. Auf dem ihm ferne-
lietgenden Gebieten möchte Ref. in der Sache keinerlei Urteil
abgeben, was jedoch die Behandlung der tierischen Biologie be¬
trifft, glaubt Ref. trotz der recht lesenswerten Ausführungen des
Verfassers, daß nicht das System, Klassifizieren, Einteilen, die
Nomenklatur — die ja oft Geschmacksachei sein mag — oder die
Gliederung des Stoffes den Fortschritt bedeuten. Die alten Sprich¬
wörter : Quod verum semper simplex, und : Die Natur läßt sich
keinen Zwang antun, bewahrheiten sich ja doch immer wieder.
Sowie ein biologisches Problem richtig geklärt ist, wird es fast
immer einfach. Nomenklatur und Einteilung geben sich dann
aus sich selbst; darum liegt wohl der Hauptvorteil der möglichst
genauen und folgerichtigen Abgrenzung der Begriffe mehr auf dem
didaktischen Boden und auf philosophischer Seite, als auf dem
Boden, von dem aus die Grundlagen für die experimentelle For¬
schung gegeben werden. Für diese hat die freie Phantasie oft
scheinbar in Widerspruch mit der geltenden Lehre und Einteilung
— die ja doch vielfach nur eine zeitweilig geltende sein
kann — - mehr geleistet und neuere Bahnen gezeigt, als das
Weiterforschen im Rahmen vorgezeichneter, momentan gültiger
Systeme. Es soll dadurch an der Wichtigkeit und Notwendigkeit
der klaren Definition von Begriffen und an der Schulung des
Biologen in logischem Denken gewiß nicht gerüttelt werden, ja
Ref. möchte das Buch auch dem Tierbiologen als Schulung
im logischen Denken empfehlen, unter rückhaltsloser Anei Nen¬
nung der Geistesarbeit des Verfassers. Der Definition des \ 1
fassers z. R. für die Physiologie alb Gesichtspunkt der biologi-
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sehen Forschung vermag sich Ref. aber nicht anzuschließen.
Physiologie ist nach dem Verfasser die Betrachtung vom „Ge¬
sichtspunkte der Veränderungen im Zustande der Lebewesen
aus. Dieser Stoff ist nach dem Verfasser nur in zwei Haupt¬
teile zu gliedern : „in Stoffwechsel und in Energiewechsel . V ii
werden wohl nicht fehlgehen, wenn wir den ersten Teil der
Definition als zu weit, den letzteren als zu eng für die I hysio-
logie auffassen, sowie an das Ineinandergreifen desl btoff- und
Energiewechsels denken, während wir damit allein doch eine
Zuteilung von sinnesphysiologischen Vorgängen, z. B. entopti-
schen Erscheinungen u. a. m„ nur sehr gezwungen ausführen
können. Ref. glaubt auch kaum, daß die Definition, daß die
Histologie eine „biotaktische“ Disziplin ist, sich allzu schnell
Bahn brechen wird, auch dürfte der Satz, daß eine experimen-
telle Histogenese kaum . angebahnt ist und daß wir heute das
Verhältnis der Form der Zelle zu ihrer Funktion ausschließlich
in einem teleologischen Zusammenhang darstellen, nicht ganz
unwidersprochen bleiben. Im übrigen gesteht Ref. sein gerne
bescheiden zu, daß er an gar mancher Stelle dem Gedanken-
gange des Verfassers anscheinend nicht zu folgen vermochte,
es möge unentschieden bleiben, ob dies auf eine Schwei fällig¬
st im Denken des Referenten oder auf mangelnde Lust und
Liebe zur Vertiefung in den Inhalt des Buches zurückzuführen
ist, das sich auf 409 Seiten eigentlich nur in der kritischen
Besprechung von Einteilungsprinzipien, Nomenklaturen und Be¬
zeichnungen ergeht. Dung.
Ergebnisse der Chirurgie und Orthopädie.
Herausgegeben von Erwin Payr, Greifswald und Hermann Küttner,
Breslau.
1. Band.
Mit 148 Textabbildungen und 4 Tafeln.
Berlin 1910, Julius Springer.
Die Herausgeber faßten, nach ihren eigenen Worten, den
Plan, auch in der Chirurgie „Kristallisationszentren“ zu schaffen,
deren Zweck darin bestehen soll, dem Leser mit besonderer
Berücksichtigung des Praktikers möglichst rasch und kurz ein
klares Bild von dem gegenwärtigen Stande der betreffenden
Frage auf Grund der neueren, möglichst vollständig gebrachten
und kritisch verarbeiteten Literatur zu verschaffen. Eine Reihe
der berufensten Mitarbeiter wurde dem nützlichen und will¬
kommenen Unternehmen gesichert. Schon der Inhalt des ersten
Bandes wird gewiß den Bedürfnissen und den Interessen eines
großen Leserkreises gerecht, durch abgerundete Bearbeitung einer
Anzahl von Themen von allgemeiner theoretischer und praktischer
Bedeutung; SO' das Referat von Stich über Gefäß- und Oigan-
transplantati onen , Bardenheu ers instruktive Uebersicht übei
die Behandlung von Frakturen, die kritische Zusammenfassung
des gegenwärtigen Standes des Druckdifferenzverfahrens aus
Sauerbruchs gerade auf diesem Gebiete so zuständiger Feder.
Martin Kürschners Bearbeitung der operativen Behandlung
der Brüche des Nabels, der Linea alba und der postoperativen
seitlichen Bauchbrüche fördert besonders durch die sehr in¬
struktiven und zahlreichen Abbildungen das Verständnis der
Technik der so mannigfaltigen, einschlägigen operativen
Methoden. Im ganzen enthält der erste Band zwölf Uebersichts-
referate aus den verschiedensten Gebieten des Faches und es
darf wohl jetzt schon gesagt werden, daß mit diesen „Ergeb¬
nissen“ die richtige literarische Form gefunden wurde, um die
Aerzte über die Entwicklung der modernen Chirurgie jeweilig
im laufenden zu erhalten. Alex. Fraenkel.
(keine sonstigen schweren Organveränderungen aufwiesen), hatten
alle Lipämie. 21 Fälle sind im Koma zugrunde gegangen unc
(X I 1 t? Jul UcUlllC. u x. x - -
von diesen 21 haben 16 Lipämie gehabt, o Komatose hatten
Aus versehiedenen Zeitschriften.
keine Lipämie, dagegen sämtlich schwere ° ^Veränderungen
(akute Osteomyelitis, schwere Gangrän, tuberkulöse Menmgdi»,
Basedow, resp. perniziöse Anämie), welche die eigentliche lodes-
Ursache darstellten. Das Coma diabeticum scheint also in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle mit Lipämie einherzugehen,
Die Lipämie kann auch zurückgehen, wenn die Azidosis infolge
der Behandlung schwindet, sie tritt wieder auf, wenn die Azidose
wieder erscheint. Um Lipämie zu- diagnostizieren, genügt anch
das Blut eines Schröpfkopfes, Neißer hat sie sogar an wenigen
Blutstropfen erkannt, die er in Kapillaren auffing und ste en
ließ. Im Augenspiegel sieht man das milchweiße Aussehen der
Netzhautgefäße und die schokoladebraune Verfärbung der ia
pill© ein charakteristisches Bild für die Lipämie. Eine Rei e von
Berufschemikern hat seit 1906 solches Blut untersucht, sie haben
dabei konstatiert, daß bei diabetischer Lipämie das Blut nu
wenig reines Fett enthält, daß der größte Teil des Aethen
extraktes vielmehr aus Cholesterin und Lezithin besteh , daß
es sich also um eine Lipoidämie handle. Verf. gibt eine
tabellarische Zusammenstellung der Normalwerte und dei bei
schwerer diabetischer Lipämie gefundenen Zahlen für reines
Fett, Cholesterin und Lezithin und erörtert eingehend an der
Hand der aufgestellten Theorien die Ursache dieses hohen Inpoid-
gehaltes im Blute der diabetischen Azidotiker. Er zeigt, daß
das Cholesterin und Lezithin nicht dem Unterhautfett entstamme;
es bestehe auch keine verminderte Fettzersetzung infolge Fehlens
eines fettzersetzenden Fermentes im Blute (ein solches; Fermen
existiert überhaupt nicht); endlich stammen dm im Blute krei¬
senden Lipoide nicht von einer Verarmung der inneren Organe
(speziell des Gehirns) an Lipoiden, was alles behauptet wurde.
Die Lipoide kreisen vielmehr deswegen in vermehrter Menge
im Blute, weil beim schweren Diabetes ein vermehrter ZelL-
abbau und Wiederaufbau stattfindet. Beim Zellabbau gelangen
die Lipoide ins Blut, aus welchem sie für den Wiederaufbau ent¬
nommen werden D i e d i a b e t i s c h e L i p ä m i e b e d e u t e t e i n e
Mobilisierung der Zellipoide zum Aufbau neuer
Z ellen. Infolgedessen sind trotz langer Hyperlipoidamie dim
Organe am Ende nicht lipoidarm gefunden worden. Ein schwerer
Diabetiker kann nur so lange sein Leben fristen, als er seiner
gesteigerten Zellzersetzung einen vermehrten Zellaufbau gegen¬
überstellen kann. Die Praxis stützt diese Theorie. Verkleinerung
der Eiweißzufuhr durch Hunger und Gemüsetage wirkt höchst
wohltätig auf schwere Diabetiker ein. Rubner hat uns gelehit,
daß Eiweißzufuhr die Eiweißspaltung anregt, geben wir also dem
Diabetiker weniger Eiweiß, so vermindern wir den Abbau und
Wiederaufbau der Zellsubstanz, d. h. wir dämpfen den inneren
Kampf, dessen Spuren wir in der Lipämie erkannt haben. -
(Deutsche medizinische Wochenschrift 1910, Nr. 51.) E.F.
58. Ueber diabetische Lipämie. Von Professor Doktor
G. Klemperer in Berlin. Unter diabetischer Lipämie verstehen
wir, daß das Blut des Diabetikers von milchiger Beschaffen¬
heit erscheint und ein milchig-trübes Serum abstehen läßt. Ver¬
fasser hat in den letzten IVa Jahren im ganzen 92 Diabetiker
zu Ader gelassen. Unter diesen Diabetikern waren 42 der leichten
Form, ohne Azidosis, und bei diesen ist niemals Lipämie zu sehen
gewesen. Unter den 50 Patienten mit Azidosis haben 39 Lipämie
gehabt, die schweren Azidotiker, welche nur an Diabetes litten
59. Die Pylorusstenose im Säuglingsalter (an¬
geborener Pyloro spaslnus). Von Dr. E. Wieland-Basel.
Habituelles Erbrechen ohne Gallenbeimengung, Stuhlmangel und
Hyperkinase, diese Symptomentrias, läßt auf ein Passagehindernis
schließen, das am Uebergang des Magens in das Duodenum,
oberhalb der Einmündungsstelle des Ductus choledochus gelegen
sein muß. Hiezu kommt ein viertes, freilich nicht ganz kon¬
stantes und bestenfalls nur von kundigster Hand einwandfrei
zu erhebendes KardinalsyhTptom der Pylorusstenose, nämlich
der manuelle Nachweis einer rundlichen, zirka kleinfingerkuppen¬
großen verschieblichen Geschwulst rechts vom Nabel, der ver¬
dickte und in bezug lauf seine Lage und Konsistenz öfteren
Schwankungen unterworfene Pylorus. Bei der Sektion präsentiert
sich die Pylorusgegend als ein derbes, 2 bis 4 cm langes,
zapfenartiges Gebilde von 1-5 bis 2 cm Dicke, mit feiner, zen¬
traler Oeffnung und scharfer Begrenzung nach beiden Seiten.
Auf dem Durchschnitt zeigt sich die Längs- und Ringmuskulatur
beträchtlich verdickt und von derben Bindegewebssträngen
durchzogen, während die Schleimhaut des Lumens, welches bald
nur für feinste Sonden, bald noch für dünne Katheter oder gar
Pinzetten durchgängig ist, in hohe Längsfalten gelegt ist. Ein ab¬
soluter Verschluß wurde bisher nie beobachtet. Die in vivo..
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sowie bei künstlicher Flüssigkeitsanfüllung des ausgeschnittenen
Magens regelmäßig zu konstatierende, absolute Undurchlässig¬
keit der stenosierten Partie wird allgemein auf Fältelung der
Schleimhaut im Innern der starren verdickten Pyloruswandung
bezogen. Der übrige Magen ist in der Regel nicht diktiert, da¬
gegen die Muskulatur abnorm stark entwickelt und infolgedessen
das! ganze Organ auffallend derb, was von einigen als Kom¬
pensationsvorgang, von anderen als eine, der Pylorushypertrophic
koordinierte gleichartige Hypertrophie der übrigen Magenmusku¬
latur aufgefaßt wird. Dieses charakteristische Krankheitsbild ist
keineswegs so selten, wie immer noch vielfach angenommen wird.
Vielleicht hängt dies'- zum Teile zusammen mit der verschie¬
denen Beurteilung der Affektion von den verschiedenen Beob¬
achtern in den' verschiedenen Ländern. So nehmen fast alle
Franzosen einen funktionellen, vorübergehenden Krampfzustand
der Magenmuskulatur an, da sich bisher die wenigsten Autoren
in Frankreich von einer organischen Grundlage zu überzeugen
vermochten, während dies in Deutschland und England wohl
der Fall ist, wenn noch diesbezüglich wieder zweierlei Auf¬
fassungen herrschen (Mißbildung einerseits, primärer funktio¬
neller Spasinus des Pylorus und konsekutiver Arbeitshypertro¬
phie der Pylorusmuskulatur anderseits). Die Behandlung dieser
Krankheit kann eine interne oder chirurgische sein. Natürlich
wird man mit der letzteren ziemlich zurückhaltend sein, da
eine sichere Entscheidung, ob bloßer Spasmus oder eine echte
Hypertrophie vorliegt, welch letztere allein Gegenstand eines Ein¬
griffes sein darf, am Lebenden oft gar nicht zu treffen ist
und zudem die Erfolge nicht so günstige sind wie bei interner
Behandlung. Die Aufgaben dieser lassen sich in folgenden drei
Sätzen zusammenfassen: 1. Beseitigung des Erbrechens; 2. Ge¬
wöhnung des Magens an kleinste, ganz allmählich steigende Nah¬
rungsmengen bis zur Erreichung der für die Gewichtszunahme
nötigen Kalorienmenge; 3. reichliche Wasserzufuhr und lokale,
krampfstillende Maßnahmen. In vielen Fällen gelingt es so,
die Kinder am Leben zu erhalten und sie speziell über das am
meisten- gefährdete Alter (erstes Lebenstrimester) hinüberzu¬
bringen. Nach diesem Termin pflegt sich ein zum Teil spon¬
taner Umschwung in der Schwere des Krankheitsbildes einzu¬
stellen, der wahrscheinlich mit der physiologischen Abnahme
der gesteigerten Reflexerregbarkeit zusammenhängt und der die
diätetische Behandlung auf das wirksamste unterstützt. — (Korre¬
spondenzblatt für Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg., Nr. 27.)
K. S.
*
60. (Aus der Akademie für praktische Medizin in Köln. -
Innere Klinik: Prof. Dr. Matth es.) Ueber Wirkung und
Dosierung des Adrenalins bei subkutaner Injektion.
- Von Dr. med. Kirch heim, Sekundararzt. Verf. plädiert sehr
warm für die Adrenalintherapie bei Herzschwäche im Verlaufe
der verschiedenen Infektionskrankheiten, da letztere nach den
Untersuchungen von Kauert und Liebermeister die eigent¬
liche Domäne dieser Therapie u. zw. in subkutaner Form sind.
Verf. konstatiert nach seinen Erfahrungen, daß das Adrenalin
bei subkutaner Anwendung ein gänzlich ungefährliches Mittel
ist, im Gegensätze zur intravenösen Anwendung und daß es in
sehr großen Dosen gegeben werden kann. Lieber m e i s tjetr
und Kauert schlagen 1 bis 6 mg Adrenalin subkutan pro die
vor, Kraus 6 mg und mehr in Einzeldosen von 0-5 bis 1 mg,
Eckert drei- bis viermal täglich 2 bis 3 mg, d. .h. maximal
12 mg Adrenalin, welche Dosis er bei diphtheriekranken Kin¬
dern gegeben' hat. Aus' einer Zahl von über 70 Beobachtungen
teilt Verf. acht ausgesucht schwere Fälle mit, bei denen1 die
übliche Therapie erschöpft war. Einige Kranke waren direkt
sterbend. Hier wurde das Adrenalin in Einzeldosen von 0-5 bis
1 mg stündlich bis zweistündlich gegeben, bei allerschwerstem
Kollaps wurden 2 Ibis 3 mg auf einmal injiziert. Es waren Fälle
von Pneumonie und schwerster Scharlachinfektion. Daran
schließen sich drei Fälle von Scharlach und Typhus abdomi¬
nalis zur Illustration, daß man bei dieser Therapie über die
genannten Dosen beträchtlich hinausgehen kann. Was die verab¬
reichte Gesamtmenge des Adrenalins anlangt, ist Verf. häufig auf
60 bis 80 mg, oft auch über 100 mg gekommen. Er hat sich
nicht gescheut, gelegentlich 300 bis 400 mg anzuwenden und
zwar mit Erfolg. Diese hohen Dosen wurden auch gegeben bei
einer Reihe schwerster Scharlachfälle mit Angina necroticans, die
unter dem Bilde der schwersten Sepsis verliefen und natürlich
nicht am Leben erhalten werden konnten. Aber auch bei diesen
aussichtslosen Erkrankungen ließ die Herzwirkung des Mittels
niemals im Stich. Nebenerscheinungen unerwünschter Art, wie
sie andere Autoreh bei der intravenösen Adrenalintherapie beob¬
achteten, sind hier nicht gesehen worden. Verf. möchte dies
dem Umstande zuschreiben, daß bei subkutaner Anwendung des
Mittels plötzliche und bedeutende Blutdrucksteigerungen nicht
Zustandekommen. Auch Glykosurie wurde nicht beobachtet, wäh¬
rend Eckert bei seinen mit Adrenalin behandelten Diphtherie-
kranken sie fast regelmäßig konstatiert hat. Verf. hat bei den letal
endigenden schweren Scharlachfällen auch den Zustand der Aorta
und anderer großer Gefäße untersucht; es fanden sich weder
makro- noch mikroskopisch Veränderungen, die der experimentell
beim Tiere erzeugten Arteriosklerose entsprochen hätten. Die
Erfahrungen des Verfassers in der subkutanen Behandlung der
Infektionskrankheiten mit Adrenalin gehen kurz dahin, daß man
bei Kollapszuständen, wenn die üblichen Exzitantien versagt
haben, Adrenalin bis zur Wirkung geben soll, ohne bei kleinen,
hiebt genügenden Gaben stehen zu bleiben, daß man diese
Therapie nötigenfalls tagelang fortsetzen soll. Adrenalin ist sub¬
kutan zu geben wie Kampfer. Verf. fühlt sich aber auch nach
seinen ausgedehnten Erfahrungen berechtigt, das Adrenalin pro¬
phylaktisch anzuwenden. Auf die Wichtigkeit dieses Verfahrens
weist Kauert mit vollem Rechte hin. Verf. hat oft am Kranken¬
bett den Eindruck gehabt, daß er mit einigen frühzeitigen Adre-
nalinjgaben einen drohenden Kollaps verhütet hat, was mit der
bisher üblichen Therapie nicht gelungen wäre. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1910. Nr. 51.) G.
*
61. (Aus dem Ludwigspital „Charlottenhilfe“ zu Stuttgart.
— Professor Dr. Hofmeister.) Ueber künstliche Blut¬
leere der unteren Körperhälfte nach Momburg. Von
Dr. W. Burk. Von drei mit Momburg scher Blutleere ope¬
rierten Fällen ging einer unter den Erscheinungen schwerer Peri¬
tonitis zugrunde. Die Sektion zeigte an mehreren Dünndarm¬
schlingen Suffusionen von so charakteristischem Aussehen, daß
man sie nur als Strangulationswirkung des umschnürenden Schlau¬
ches1 ansprecheü konnte. Das Cökum an einer 2 cm breiten,
4 Cm langen Stelle gangränös, in seinen übrigen Anteilen das Bild
der Nekrose in verschiedenen Stadien zeigend. Diese Wirkung
des Schlauches war verschuldet durch die bedeutende Mager¬
keit und Herabgekommenheit der Patientin. Verf. normiert als
Kontraindikationen gegen das Momburg sehe Verfahren: 1. Hö¬
heres1 Alter, Arteriosklerose, Herzerkrankunigen jeder Art. 2. Zu
großer Fettreichtum, wobei vollkommene Abschnürung bis zum
Verschwinden des Femora lispulses nicht zu erzielen, daher Ver¬
blutungsgefahr vorhanden ist. 3. Uebergroße Magerkeit oder Vor¬
handensein von Darmaffektionen, wegen der Gefahr schwerer
Darmschädigungein, durch direkte oder indirekte Druckwirkung
des abschnürenden Schlauches. — (Beiträge zur klinischen Chi¬
rurgie, Bd. 68.) ab-
* (
62. Zur Frage der Beziehung zwischen Status
lymphatic us, bzw. thymolymphaticus und Morbus
Addis on i. Von Dr. Felix v. Wer dt, I. Assistent am patho¬
logisch-anatomischen Institut der Universität Basel (Direktor:
Prof. E. Hedinger). Eine 32jährige Frau litt an typischem
Addison mit «deutlich brauner Pigmentierung von Haut und
Schleimhäuten, Myasthenie usw. Die IO3/* Stunden post mortem
vorgenommene Autopsie ergab als Hauptbefund eine völlige Ver¬
käsung beider Nebennieren, eine chronische Tuberkulose des
'reichten Eileiters, vereinzelte miliare Tuberkel in der Leber,
außerdem einen ausgesprochenen Statue lymphaticus
mit Vergrößerung der meisten Lymphdrüsen, der Zungenbalg¬
drüsen, Gaumentonsillen, der Solitärfollikel und Pey er sehen
Haufen im Darm. Am Herzen fand sich Dilatation des linken
Ventrikels1 und braune Atrophie. Sonst fanden sich keinerlei
bemerkenswerte Organveränderungen. Die mikroskopische Unter¬
suchung ergab eine typische Tuberkulose beider Nebennieren
mit ausgedehnter Verkäsung. Die Marksubstanz war völlig zer-
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stört, die Rinde bis auf ganz vereinzelte, unbedeutende Reste. Der
Sympathikusgrenzstrang, sowie der Plexus solaris wurden an
einigen Stellen auf chromaffine. Zellen durchmustert, doch konnten
nur ganz vereinzelte kleine braune Zellen nachgewiesen werden,
welche am ehesten, aber nicht ganz sicher, chromaffinen Zellen
entsprachen. Gruppen von chromaffinen Zellen fanden sich nir¬
gends. Es liegt also hier wieder eine deutliche Hypoplasie
des chromaffinen Systems vor. Die Thymus wies etwas
breite Markstränge auf, war aber schon stark von Fettgewebe
durchwachsen. Die Läppchen waren ziemlich klein, weit aus¬
einanderliegend. Der Fall stützt die Ansichten von Wiesel,
Bartel, Hedinger u. a. in., betreffend die Kombination von
Morbus Addisoni mit. Status lymphaticus, resp. thymolvmpha-
ticus und mit Hypoplasie des chromaffinen Systems. Verf. teilt
noch mit, daß. während der Drucklegung dieser Arbeit im Basler
Institut ein weiterer, ganz analoger Fall von Morbus Addisoni,
kombiniert mit Status lymphaticus, zur Sektion gekommen sei.
— (Berliner klinische Wochenschrift 1 910, Nr. 52.) E. F.
*
63. (Aus der Akademie für praktische Medizin in Köln.
I. chirurgische Abteilung: Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Barden¬
heuer.) Ein Fall von Knochenregeneration nach einer
einmaligen Injektion von Ehrlich-Hata 606. Von Assi¬
stenzarzt Dr. T her s tap pen. Verf. schildert einen Fall von
ziemlich weit vorgeschrittener kariöser Knochenlues, bei dem
nach der Applikation des Ehr lieh sehen Mittels in kurzer Zeit
eine ganz erstaunliche Knochenregeneration eintrat, deren Ver¬
lauf durch Röntgenbilder verfolgt werden konnte. Ein junger
Mann hat seit vier Jahren eine Wunde am rechten Fußballen, die
ihm bisher keine Schmerzen verursachte. Seit 14 Tagen An¬
schwellung und Geschwürsbildung an mehreren Zehen des linken
Fußes. Die Besichtigung ergibt an der linken großen Zehe zwei
schmierig belegte, scharf begrenzte Hautgeschwüre mit wallartigen
Rändern. Ein gleichbeschaffenes Geschwür an der zweiten rechten
Zehe. Außerdem ein tiefes, kraterförmiges Geschwür in der Mitte
des rechten Fußballens. Das Röntgenbild zeigt eine ausgedehnte
Knochenkaries an beiden Füßen. Wassermann sehe Reaktion
positiv. Am 11. September 1910 wurden 0-5 g von ,,606" jeder-
seits in die Glutäalgegend eingespritzt. Am fünften Tage haben
sich die Geschwüre gereinigt, die Geschwürsränder sind bedeutend
abgeflacht. Zwischen der ersten und zweiten linken Zehe eine
Oeffnung ; eine eingeführte Sonde führt zum zweiten Mitteltußr
knochen in eine geräumige Abszeßhöhle. Spaltung des Abzesses,
Entleerung des Eiters. Am 24. September sind die Geschwüre
bis auf eine erbsengroße Stelle verheilt. Schwellung der linken
großen Zehe fast verschwunden. Allgemeinbefinden gut, Wasser¬
mann negativ. Am 29. September ist der Abszeßi verheilt. Der
Gang ist gut und sicher. Am 5. Oktober Röntgenaufnahme beider
Füße, die von Interesse ist. Man sieht an der großen Zehe des
linken Fußes eine auffallende Knochenregeneration beider Pha¬
langen. Es ist eine knöcherne Vereinigung beider Phalangen ein¬
getreten. Auch am Köpfchen des zweiten Metatarsus links hat
eine Knochenneubildung stattgefunden. Vergleicht man dagegen
die Röntgenbilder des rechten Fußes vor und nach der Einsprit¬
zung, so erkennt man ein Fortschreiten des kariösen Prozesses
sowohl an dem zweiten Metatarsus, als an der ersten Phalanx
der dazugehörigen Zehe. Auch die Periostwucherungen haben
an beiden Knochen zugenommen. Nach Verfasser jedenfalls ein
auffälliger Befund. Auf der einen Seite eine Knochenneubildung
bei einer schon ziemlich weit vorgeschrittenen Knochenkaries,
dazu Ausheilung der umfangreichen Weichteilzerstörungen in
einem ungewöhnlich kurzen Zeiträume. Um so merkwürdiger ist
das Fortschreiten der Knochenzerstörung am rechten Fuß. Wenn
man also das gute Heilresultat am linken Fuße der Einwirkung
des Präparates „606“ zuschreiben will, so lehrt in diesem Falle
der Befund des rechten Fußes, daß, trotzdem die W as ser¬
in a n n sehe Reaktion nach der Einspritzung zweimal negativ
war, an einer anderen Körperstelle der luetische Prozeß weiter
fortschreiten kann, daß man also vorsichtig sein muß, will man
von der Heilung eines lokalen luetischen Prozesses1 Rückschlüsse
ziehen auf den Rückgang der luetischen Allgemeininfektion. —
(Münchener medizinische Wochenschrift 1910, Nr. 5t.) G.
*
64. (Aus der chirurgischen Klinik zu Tübingen. — Direktor
Prof. v. Bruns.) Die Taxisrupturen des eingeklemmten
Bruchdarms. Von Dr. F. Sänger. Unter 165 in den letzten
31/2 Jahren auf der v. Bruns sehen Klinik operierten inkarze-
rierten Hernien finden sich fünf durch Taxis v e r u r s a c h te
Darmrupturen; sämtliche Fälle betrafen Frauen, viermal han¬
delte es sich um Sehenkelhemien, einmal um inkarzerierte
Leistenhernie neben freiem Schenkelbruch. Verf. hält jedoch
das sich hier ergebende Prozentverhältnis (3%) für viel zu
niedrig gegenüber dem wirklichen. Die Sichtung des eigenen wie
des aus der Literatur zusammengestellten Materials1 ergibt nun,
daß zwischen der Dauer der Einklemmung und der Wahrschein¬
lichkeit einer Taxisverletzung kein unbedingter Zusammenhang
besteht, da auch schon eine 5, ja selbst 2Va Stunden nach erfolgter
Inkarzeration erfolgte Taxis zu Ruptur geführt hatte, so daß man
annehmen muß, daß auch ein vollständig gesunder Bruch¬
darm durch Repositionsversuche zum Rupturieren
g e b r a c h t w e r d e n k a n n . Besonders groß; ist diese Gefa hr
bei Schenkelhernien wegen deren praller Füllung, Fixation und
oberflächlicher Lage. Die meiste Neigung zur Ruptur zeigen
die Kuppe und die Mesenterialansatzstelle des Bruchdarm. es
Berstungsruptur), in dritter Linie die Stelle der Schniirfurche
(Rißruptur). In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zieht sich
ungünstigerweise - der rupturierte Darm in die Bauchhöhle
zurück; ist er an der Bruchpforte oder’ im Bruchsack fixiert, so
schützt dieses Verhalten vor der allgemeinen Peritonitis. Meist
ist das Ileum befallen. Unter den subjektiven Symptomen ist
das wichtigste das Fehlen der Erleichterung nach der
Reposition, ja eher noch eine Steigerung der Strangu¬
lationserscheinungen, unter den objektiven das Persistieren eines
als Bruch anzusprechenden, irreponiblen, druckempfindlichen .tu¬
mors, dem jedoch die pralle Spannung fehlt. Der weitere V er¬
lauf richtet sich zunächst danach, ob der Bruchsack gegen die
Bauchhöhle zu abgeschlossen ist oder nicht; im letzteren Falle
werden die Erscheinungen der Perforationsperitonitis rapid auf-
treten, im ersteren längere Zeit auf sich warten lassen. Diagno¬
stische Schwierigkeiten ergeben sich, wenn eine Bruchgeschwulst
fehlt und der Bruchsack leer ist, dagegen wird die Unterschei¬
dung der en bloe-Reposition meist leicht gelingen. Die Pro¬
gnose ist bei sich selbst überlassenen Rupturen absolut letal,
die Heilungsziffer der Operierten beträgt 45°/o. — ^Beiträge zur
klinischen Chirurgie, Bd. 68.) ab-
*
65. Ueber die Wirkung der schwefeligen Säure
auf das überlebende War mb lii t er herz. Von Regierungs¬
rat Dr. med. E. Rost, Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamtes
und Dr. Fritz Jürss, früherem wissenschaftlichen Mitarbeiter im
Kaiserlichen Gesundheitsamte Die im pharmakologischen Labo¬
ratorium im Kaiserlichen Gesundheitsamte ausgeführten verglei¬
chenden Untersuchungen über die organisch gebundenen schwefe¬
ligen Säuren (formaldehyd-, azetaldehyd-, glukose-, azeton¬
schwefligsaures Natrium) und das neutrale schwefligsaure Natrium
haben bei Einspritzung dieser Stoffe in die Blutbahn ergeben, daß
die Salze sowohl der freien, als auch der gebundenen schwefeligen
Säure auf Herz und Gefäße ein in allen wesentlichen Punkten
gleiches, im übrigen nur quantitativ verschiedenes Wirkungsbild
entfalten. An der Einwirkung auf Herz- und Gefäßsystem konnten
drei Stadien unterschieden werden, ein Stadium der Blutdruck¬
senkung, ein Stadium der Verlangsamung und des diastolischen
Charakters der Pulse bei niedrig stehendem Blutdruck und ein
Stadium der Arhythmie bei fast ungeschwächter Herzkraft, das in
Lähmung des Herzmuskels und Stillstand in Diastole ausklingt.
Durch geeignete Versuchsgestaltung hatte sich nachweisen lassen,
daß die anfängliche Wirkung der schwefligen Säure, Blutdruck¬
senkung und Aenderung der Pulsfrequenz, ohne Beteiligung des |
Herzens, allein durch die Beeinflussung der Gefäße und des
Gefäßnervenzentrums entsteht und daß sie erst bei fortschreitender
Vergiftung auf das Herz, auf die automatischen Apparate und
schließlich auf den Herzmuskel selbst übergreift. Rost und Jürss
untersuchten nun den Einfluß der schwefligen Säure auf das vom
Gefäßnervenzentrum und von den übrigen Kreislauforganen los-
! gelöste, isolierte und künstlich gespeiste Warmblüterherz. Auch
I hier war Abnahme des Tonus und Schlagverlangsamung als Gif t-
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Wirkung auf das Herz wahrzunehmen. Die Wirkung ist aber sehr
flüchtig und bei Ersatz der Giftlösung durch die Ring ersehe
Flüssigkeit erholt sich das Herz rasch wieder. Erst bei Steigerung
der Dosis, d. h. durch große Mengen der Verbindungen der schwef¬
ligen Säure und hohe Konzentration ihrer Lösungen ei lischt in¬
folge Herzmuskellähmung die Herztätigkeit. Aus der raschen Rück¬
kehr des Tonus, der Kontraktionsgröße und der Zahl der Herz¬
schläge zum anfänglichen Zustand kann auf die schnelle und
fast vollständige chemische Umwandlung der schwefligsauren
Salze in das Sulfat beim Strömen durch die Gefäße des Herzens
geschlossen und der Oxydationsverlauf aus der Herzkurve ab¬
gelesen werden. Die Eigenart der Verbindungen der schwefligen
Säure in freier und ■gebundener Form, hei Berührung mit Geweben
und Flüssigkeiten des Organismus rasch in das pharmakologisch
fast indifferente Oxydationsprodukt überzugehen, hat sich also
auch bei diesen Versuchen am isolierten Kaninchenherzen über¬
zeugend dartun lassen. — (Arbeiten aus dem Kaiserlichen Ge¬
sundheitsamte 1910, Bd. 34, H. 4.) K. S.
*
66. Lepra und Karzinom. Von Dr. Munch Süc-
gaard in Norheimsund, Norwegen. In einem Aufsatz „The Study
of the Etiology of Cancer based on Clinical Statistics“ in Annals
of Surgery, Juni 1910, schrieb der amerikanische Arzt Dr. Isaac
Lewin: Kein einziger Fall von Karzinom ist unter den Leprösen
gefunden worden, obgleich eine besondere Untersuchung des Ver¬
hältnisses stattgefunden hat. Dies kann aber vielleicht von dem
Umstande herrühren, daß die Leprösen in U. S. zum über¬
wiegenden Teil zu nicht kaukasischen Rassen gehören. Verfasser
hat es unternommen, die bezüglichen Verhältnisse irr Norwegen
zu studieren und bringt aus den Statistiken der letzten De¬
zennien von fünf Spitälern 2269 Todesfälle zusammen, von wel¬
chen nur 19 — 0-84 °/o Krebsfälle betrafen. Nun stirbt frerlrch
ein großer Teil der Leprösen schon im jugendlichen Alter, noch
ehe er das krebsreife Alter erreicht hat. Schaltet man also aus den
Tabellen die Todesfälle unter 40 Jahren aus, so ergeben sich her
1204 Personen, welche älter als 40 Jahre waren, 17 Todesfälle
an Krebs == 1-4%. In Norwegen ergibt die Krebsmortalität sonst
folgende Zahlen: Im Jahre 1865 3-5% ; im Jahre 1880 5-1%, im
Jahre 1897 7-5°/o und im Jahre 1906 8-5°/o von den ärztbch ge¬
meldeten Todesfällen. Im gleichen Zeitraum (1857—1905) sind
außerhalb der Spitäler 3469 Lepröse gestorben, durchwegs
chronische, wenig ansteckungsfähige Fälle. Hier fehlt eine offi¬
zielle Statistik, Umfragen ergeben aber, daß Lepra und Krebs
selten zusammen Vorkommen. Ein ausgezeichneter Kenner doi
Verhältnisse, Dr. Armauer Hansen; der viele Hunderte Lepröse
gesehen und untersucht hat, schrieb dem Verfasser: „Ich kann
mich nicht erinnern, daß ich jemals bei den außerhalb der
Hospitäler verpflegten Leprösen Krebs beobachtet habe. Doktoi
Nielsen sagt: „Ich kenne keinen sicheren Fall von Krebs
bei Leprösen.“ Verf. schließt recht vorsichtig, es sei möglich,
ja sogar sehr wahrscheinlich, daß seine obigen Zahlen für
eine herabgesetzte Empfänglichkeit der Leprösen für Krebs spre¬
chen. — (Berliner klinische Wochenschrift 1910, Nr. 51.)
E. F.
67. (Aus dem städtischen Siechenhaus zu Frankfurt am
Main. — Direktor: Prof. Dr. Knoblauch.) Ueb er klinische
Erfahrungen mit einem neuen Schlafmittel dem
Adalin. Von Dr. med. P. Schaefer. Verf. berichtet über das
Adalin, ein neues Schlafmittel. Es stellt eine Verbindung des
Harnstoffes mit einer Azetylgruppe dar, in der die Wasserstoff¬
atome durch zwei Aethylgruppen und ein Bromatom ersetzt
sind; es ist also Diäthylbromazetylhartxstoff. Das Adalm ist
am leichtesten in Chloroform, Methylalkohol, Aether und Alcohol
absolutus, viel schwerer in Wasser löslich. Als Medikament kommt
es in Form einer weißen, fast vollständig geruch- und geschmack¬
losen, außerordentlich fein pulverisierten Masse in Gebrauch.
Das Einnehmen des Mittels hat bei den Patienten keine Schwierig¬
keiten gemacht; es wurde meist in Substanz auf die Zunge ge¬
nommen und mit einem Schluck Wasser hinuntergespült. A ui
selten war die Anwendung von Oblaten 'nötig. Auftreten von
Brechreiz, Aufstoßen, Magenschmerzen, Uebelkeit od. dgl. ist
bei keinem der Kranken beobachtet worden. Die Wirkung des
Mittels äußert sich in einem nach 30 bis 60 Minuten auftretenden,
mehrere Stunden anhaltenden, ruhigen, gleichmäßigen Schlaf.
Puls und Atemfrequenz sind während des Schlafes herabgesetzt.
Der Puls bleibt aber ruhig, gleichmäßig, voll und kräftig; die
Atemzüge sind tief und ruhig. Der Blutdruck deutlich herab¬
gesetzt. Nach dem Aufwachen wurde nie über Kopfschmerzen
oder unangenehme Sensationen geklagt. Brechreiz, Schwindel und
andere Symptome einer Intoxikation sah Verf. auch bei den, größten
Dosen nicht. Die Ausscheidung des Mittelst erfolgt im Urin. Was
nun die Dosierung des Mittels anlangt, so hat die kleinste Dosis
von 0-25 g in keinem der Fälle des Verfassers genügt. Einfache
Fälle von Neurasthenie mit Schlaflosigkeit standen ihm nicht
zur Verfügung. Für alle stärkere|n Fälle von Asomnie ist die
typische Dosis 0-5 g; dabei ist es empfehlenswert, je 0-25 g
am Abenid und in den ersten Nachtstunden zu geben. Als Seda¬
tivum ist bei einmaliger Verordnung 0-75 bis 1-0 zu geben, ln
Fällen von fortgesetzter motorischer Unruhe, bei häufig auf¬
tretenden paranoischem Erregungszuständen hat Verf. dreimal
durch tägliche Gaben von zweimal 0-5 g Adalin eine Beruhigung
erzielt, die mit dreimal 0-5 g Trional und verschiedenen anderen
Mitteln nicht zu erreichen war. Es ist ganz besonders zu be¬
achten, daß man mit der Dosis allmählich sinken muß; man
gibt dann nach 14 Tagen je zweimal 0-4, nach weiteren acht
Tagen je zweimal 0-3 oder 0-25 g. Auch dabei hat \ erfasser
keine Intoxikationserscheinungen gesehen. Die größte Dosis
wandte Verf. in denjenigen Fällen an, wo die Schlaflosigkeit
durch erhebliche meningeale oder neuritische Reizerscheinungen
bedingt war. In einem Falle von Tabes mit außerordentlich hef¬
tigen Gürtelschmerzen führte anfangs nur zweimal 1-0 g (je 1-0 g
abends und nachts) Schlaf herbei. Am folgenden läge hatte dei
Kranke eine ziemlich bedeutende, fast den ganzen Tag anhal¬
tende Schläfrigkeit und schon für die zweite Nacht reichte er
mit 1-0 g aus. Bei dieser Dosis blieb Pat. acht Tage lang, jetzt
bekommt er jeden Abend 0-75 g und reicht damit vollkommen
aus. Intoxikationserscheinungen fehlten auch hier vollständig.
Auch bei starken Schmerzen konnte Verf. mit 1-0 oder höheren
Dosen Schlaf erzielen. Aber in solchen Fällen ist auch heute
noch das Morphium das einzige Medikament, das sicher Schlaf
herbeiführt. — (Münchener medizinische Wochenschrift 1910,
Nr. 51.) G-
*
68. Die medikamentöse Behandlung der Impo-
tentia coeundi. Von Dr. Erhard Lustweck, Landmann¬
schaftsarzt in Selenie Toksowo. Unter den vielen zui medika¬
mentösen Behandlung im Gebrauch befindliehen Präparaten, die
die Impotentia coeundi bekämpfen sollen, bewährte sich dem \ er¬
fasser in seiner Praxis das Muirazithin (die bekannte Kombina¬
tion von Lignum muirae und Ovolezithin) ganz besonders, so
daß er von der Wirksamkeit des Präparates vollkommen über¬
zeugt ist. Mißerfolge verzeichnete er nur dort, wo die Krankheit
auf anatomischer Basis beruhte. Verordnet wurden dreimal täglich
drei Pillen, worauf in längstens drei bis vier Wochen, manchmal
schon auch früher, normale Erektionen eintraten und bei Flauen
die Anaphrodisie und Apathie verschwanden. Verf. empfiehlt
wärmlstens, in geeigneten Fällen das Muirazithin zu versuchen.
— (Fortschritte der Medizin 1910, 28. Jahrg., Nr. 41.) K.S.
*
69. Zur Theorie der Halluzinationen. Von Professor
Dr. Anton H ever och in Prag. In einer überaus interessanten
und eingehenden Arbeit entwickelt H ever och seine Gedanken
über das Wesen und die Entstehung der Halluzinationen. Letztere
definiert er als „krankhaft auftretende Wahrnehmungen oder
Sinnesempfindungen, welchen das Individuum volle Realität bei¬
mißt, trotzdem keine entsprechende physiologische Erregung bei
ihnen vorhanden ist“. Man muß Wahrnehmung und Vorstellung
ganz voneinander getrennt halten; jeder dieser beiden psychischen
Vorgänge hat seinen eigenen psychologischen Charakter. Mährern
in der normalen Psyche die Assoziation oder Reproduktion von
der Wahrnehmung oder Vorstellung nur zur Vorstellung geht,
findet bei psychopathologischen Zuständen die Assoziation, m
dieser und noch in einer zweiten Reihenfolge statt: von der V ahi-
nehmung oder Vorstellung zur Wahrnehmung. Bei normalen
Menschen spielen sich alle psychischen Vorgänge in dem Bewußt-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1011.
Nr. ,8
UM
sein ab, daß sie zur eigenem Persönlichkeit gehören, sie besitzen
den lebcharakter. Bei den Halluzinationen geht die Assozia¬
tion von der Idee zur Wahrnehmung und dieser Assoziation fehlt
der lchchai akter. Die Halluzinationen sind für den Patienten
reell, objektiv, wahr, weil eine Wahrnehmung in der Hegel für
das Subjekt von der Ueberzeugung der Realität des betreffenden
Gegenstandes begleitet ist. Der Vorgang der Halluzinationen ent¬
wickelt sich in der Psyche selbst (transkortikal). Die Halluzina¬
tionen auf Erregung oder Hyperästhesie der Sinneszentren zurück¬
zuführen, ist durchaus falsch. — (Archiv für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten, Bd. 47, H. 2.) S.
*
70. (Aus dem Kaiserin Auguste -Viktoria -Haus zu Char¬
lottenburg. — Direktor: Prof. Dr. Keller.) Beiträge zur Phy¬
siologie des neugeborenen Kindes. I. Mitteilung: Ueber
den Nah rungs bedarf frühgeborener Kinder. Von
W. Birk. Nach Czerny-Keller sind die Autoren darüber
einig, daß Frühgeborene mehr Nahrung haben müssen. Cm wie¬
viel ihr Nahrungsbedarf größer ist, das ist allerdings bisher
nicht festgestellt, ebensowenig, bis zu welchem Zeitpunkte diese
erhöhte Nahrungszufuhr notwendig ist. Birk gelangt nach seinen
zahlreichen systematischen Untersuchungen zu einem anderen
Urteil und konstatiert, daß der Nahrungsbedarf frühgeborener
Kinder bei geeigneter Nahrung (Frauenmilch, allenfalls auch
Buttermilch) keineswegs höhere Werte erreicht als die des nor¬
malen Kindes. Denn die Nahrungsmengen, die eine Frühgeburt
an der Brust trinkt, entsprechen nicht dem durchschnittlichen
Bedarf, sondern bilden das Maximum der Nahrungsmenge. Es
findet in der Regel eine Ueberernährung statt. Der tatsächliche
Bedarf liegt viel t|iefer. Man kann ihn nur bestimmen, wenn
die Brust einer Mutter so wenig ergiebig ist, daß dem Kinde
nur sehr knappe Nahrungsmengen zur Verfügung stehen, oder
wenn man das Kind mit dosierten Mengen Frauenmilch aus der
Flasche ernährt oder schließlich, wenn man es künstlich ernährt.
In jedem dieser Fälle zeigt es sich, daß Mengen von etwa 100
bis 110 Kalorien ausreichend sind, um ein physiologisches Ge¬
deihen des Kindes zu garantieren. Der Wert von 100 bis 110 Ka¬
lorien ist als Durchschnittswert aufzufassen, der innerhalb ge¬
wisser, aber nicht sehr weiter Grenzen schwankt. — (Monatsschrift
für Kinderheilkunde 1910, Bd. 9, Nr. 5 und 6.) K. S.
*
71. Ueber das chronische Duodenalgeschwür.
Von Dr. E. Melchior, Assistent an der Breslauer chirurgischen
Klinik des Prof. H. Küttner. Das chronische Duodenalgeschwür
ist eine ausgesprochene Erkrankung des männlichen Geschlechts,
sitzt meist im obersten Abschnitt des Duodenums, dicht unter
dem Pylorus und kommt durch die peptische Einwirkung des
sauren Magensaftes zustande, wenn besondere lokale Vorbedin¬
gungen vorhanden sind. Die Geschwüre sind ferner vorzugsweise
an der Vorderwand gelegen, sie kommen auch multipel vor, öfter
mit Geschwüren im Magen vergesellschaftet. Mayo unterscheidet
indurierte und nichtindurierte (rein muköse) Ulzera, letztere sind
ungleich seltener. Man hat Duodenalgeschwüre beobachtet nach
Bauchoperationen (durch thrombotische oder embolische Prozesse
in der Darmwand angeregt), zumal nach größeren Eingriffen am
Netze (v. Eiseisberg)) man hat sie (zuweilen erst bei der
Sektion) angetroffen nach Amputationen, besonders bei folgender
Infektion (septische Geschwüre nach Billroth), auch gelegentlich
ohne Operation bei septischen Prozessen, Verbrennungen usw. ;
diese Geschwürsformen haben aber nichts zu tun mit den chroni¬
schen Duodenalgeschwüren, die nicht auf einer derartigen Aetio-
logie beruhen. Wir müssen uns einstweilen mit der Annahme
begnügen, daß ihnen eine gewisse, nicht näher bekannte Dis¬
position oder Diathese zugrunde liegt, welche einhergeht mit einer
Herabsetzung der vitalen Resistenz der Duodenalwand gegenüber
der peptischen Einwirkung des Magensaftes. Es scheint — zumal
nach den von den englischen und amerikanischen Chirurgen ge¬
machten Erfahrungen — daß das Symptomenbild : später
Schmerz nach der Nahrungsaufnahme („Hungerschmerz“, nicht
vor anderthalb Stunden, öfters drei bis vier Stunden danach,
häufige Milderung des Schmerzes durch erneute Nahrungsauf¬
nahme) be i fehlendem E r brechen, bei N ach weis okkulter
Blutungen und vor allem, wenn die Anamnese eine gewisse
Periodizität ergibt (monatelanges Freisein infolge spontaner
Heilungsvorgänge, dann neuerliche Schmerzanfälle) bei gut er¬
haltenem Appetit, soweit keine Komplikation vorliegt, ausreicht,
um die Diagnose auf chronisches Ulcus duodeni zu stellen. Fehl¬
diagnosen (Geschwür im Magen, Affektion der Gallenblase) wurden
beobachtet. Es ist kein harmloses Leiden, vielmehr drohen
schwere innere Blutungen und Perforationsperitonitis, erstere in
einem Drittel der Fälle, leztere in 50% der Fälle, nicht selten
entstehen subphrenische Abszesse, Duodenalfistel usw. Die Pro¬
gnose ist also eine ernste, zum mindesten ist das Leiden gefähr¬
licher als das Magengeschwür; auch bei zweckentsprechender
interner Behandlung erlebt die Hälfte der Patienten spätere Rezi¬
diven oder es stellen sich Stenosen ein, weshalb die chirur¬
gische Therapie hier an erste Stelle gesetzt werden sollte.
Verf. bespricht die einzelnen, hiefür vorgeschlagenen oder geübten
Operationsmethoden und hält für den besten Weg den, das
Duodenum durch eine Gastroenterostomie auszuschalten. Ist der
Pylorus schon verengt, dann sind die Bedingungen für eine radikale
Heilung gegeben, wo nicht, führe man diese künstlich herbei
(nach Moynihan), indem man das Ulkus durch Uebemähung
einfaltet und so eine Verengerung des Pylorus hervorruft. An der
Breslauer Klinik wurden vier Fälle mittels Gastroenterostomie
behandelt und geheilt, zwei Fälle stammen noch von Garre.
Verf. berichtet eingehend über diese vier Fälle, deren günstiger
Verlauf mit den Erfahrungen englischer und amerikanischer Chi¬
rurgen, dann von Barth -Danzig, Zum B u sch- London, überein¬
stimme. Die Methode leistet auch Ausgezeichnetes zur Behand¬
lung von Blutungen, nur bei ganz foudroyanten Blutungen unter¬
lasse man jeden operativen Eingriff. In jedem Falle sollte die
Operation empfohlen werden, wenn es sich um starke, dauernd
rezidivierende Beschwerden handelt; strenge indiziert ist sie
natürlich bei Stenosenbildung. Man vergesse schließlich nicht,
daß über jeden Patienten mit Ulcus duodeni — wenn das Leiden
im Einzelfalle auch noch so hannlos aussehen mag — das
Damoklesschwert in Gestalt einer Perforationsperitonitis oder
schweren Blutung schwebt. Es muß ja nicht dazu kommen,
man sieht es aber den Fällen niemals von vornherein an, wie
sie verlaufen werden. Die Operation bewahrt sie aber mit
menschenmöglicher Wahrscheinlichkeit dauernd von derartigen
Zufällen. — (Berliner klinische Wochenschrift 1910, Nr. 51.)
E. F.
*
72. Ueber eine neue Senkgrubenentleerungs¬
anlage „System Stoinschegg“. Von Dr. Adolf Horst,
k. k. Sanitätskonzipist im Ministerium für öffentliche Arbeiten.
In kleinen Landgemeinden ist man des Kostenpunktes wegen
angewiesen, auf die Beseitigung der Abfallstoffe mittels Senk¬
gruben- oder Tonnensystems, oder bei besonderer Wasserarmut
mittels des Trockenklosettsystems. Natürlich stehen alle diese
Systeme in hygienischer Beziehung der Kanalisation nach und
der Betrieb ist durch die Notwendigkeit der periodischen Reini¬
gung verteuert. Für solche Fälle empfiehlt Horst das „System
Stoinschegg“, welches im wesentlichen darin besteht, daß die
Ueberfallwässer der Senkgrube an Ort und Stelle nach dem
biologischen Verfahren gereinigt werden, indem eine anaerobe
Filteranlage, die in eine der Faulkammern eingebaut ist, die Ex¬
kremente zersetzt, welche dann im Oxydationsfilter des Kanales
rein filtriert werden, um als unschädliche Flüssigkeit selbst in
kleine, wasserarme Wasserläufe eingeleitet zu werden, ohne daß
eine Verunreinigung des Flußlaufes gewärtigt werden müßte.
Die Reinigung der Anlage und Erneuerung der Filtermassen
braucht im allerungünstigsten Falle höchstens . einmal im Jahre,
gewöhnlich nur alle zwei bis drei Jahre, vorgenommen zu
werden, am besten in der kalten Jahreszeit. — (Der Amtsarzt,
Zeitschrift für öffentliches Gesundheitswesen, 1910, 2. Jahrg.,
Nr. 4.) K. S,
*
73. Ein Beitrag zum Krankheitsbild der Chorea
chronica progressiva. Von Dr. R. F r o t s c h e r, Oberarzt
an der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster. Wenn der
Verfasser einleitend bemerkt, daß bezüglich der Aetiologie und
pathologischen Anatomie der Hunting to n sehen Chorea noch
Meinungsverschiedenheiten herrschen, so werden letztere auch
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
IU5
durch seine Arbeit leider nicht geklärt. Kr bringt drei Fälle von
Chorea chronica progressiva, den ersten zwar mit Obduktions¬
befund, doch ohne mikroskopische Untersuchung des Zentral¬
nervensystems. ln den beiden anderen Fällen dauert das Leiden
seit fünf, resp. zwölf Jahren, noch an. Zwei der Fälle betreffen
Mitglieder einer Choreafamilie. Im übrigen bringt Verf. nur Zitate
aus der Literatur, die sich besonders auf Aetiologie, pathologische
Anatomie und Therapie der H unting to n schein Chorea beziehen.
— (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 47, II. 2.)
S,
*
74. (Aus dem Krankenhausei der Diakonissenanstalt Neu-
münster-Zürich.) Ueber gefährliche intrauterine Blu¬
tungen bei Uterusm y o m e n. V on Dr . F riedric h B r u n ner,
Chefarzt der chirurgischen Abteilung. Das Leben bedrohende
intraperitoneale Blutungen bei Myomen scheinen äußerst selten
zu sein; denn obwohl sie schon Rokitansky bekannt waren,
so findet man in der Gesamtliteratur nur 13 mehr weniger genau
beschriebene Fälle und einige wenige kurze Angaben bei Spen¬
cer, Schar lieb, Ämarnn und D öderlein. Es mag io des
sein, daß die Beobachtungen von solchen Fällen sich mehren
werden, wenn die Praktiker auf das Vorkommen solcher Blu¬
tungen aufmerksam gemacht werden. Brunner beschreibt in¬
folgedessen seinen Fall, den er erlebte, (ausführlich, zumal es
der erste Fall überhaupt ist, wo die Diagnose intra vitam, aller¬
dings nicht sofort, aber doch noch rechtzeitig, gemacht wurde
und die Patientin durch die Operation gerettet werden konnte.
Die Symptome der intraperitonealen Myomblutung sind natürlich
dieselben, wie bei anderen plötzlichen Blutungen ins Peritoneum,
speziell wie bei Beratung einer Tubenschwangerschaft: plötz¬
licher, heftiger Schmerz im Abdomen, rasch auftretende Anämie,
beschleunigter, kleiner werdender Puls usw. Differentialdiagno¬
stisch kommt dann in Betracht, ob diese Symptome bei ledigen
Personen oder bei Frauen jenseits des Klimakteriums oder bei
Frauen, von denen man von früheren Untersuchungen her weiß,
daß sie mit einem Fibroid behaftet sind, aufgetreten sind. Bei
jüngeren Frauen muß auch das Verhalten der Menstruation be¬
achtet werden, da bei diesen Fällen sonst Verwechslung mit ge¬
platzter Tubarschwangerschaft vorkommt. Die intraabdominellen
Blutungen bei Uterusmyomen stammen in der Regel aus einer
an der Oberfläche geplatzten Vene, seltener Arterie und Vene.
Die Blutung entsteht aber nicht immer gerade durch Platzen der
Gefäße, etwa wie bei den Krampfadern am L nterschenkel, son¬
dern durch ein außerhalb des Tumors liegendes Moment, die
Venen werden durchscheuert oder durchrissen, indem sie sich
bei Bewegungen an der Umgebung reiben (daher Sitz der Ver¬
letzung meist an einer Insulten besonders ausgesetzten Stelle,
wie auf der Kuppe der Geschwulst). Die Prognose ist selbst¬
verständlich sehr ernst, wenn auch nicht immer der Tod sofort
eintritt. Möglicherweise kommen auch leichtere Blutungen ins
Peritoneum bei Myomen vor. Jedenfalls darf man aber im ge¬
gebenen Falle nicht, auf diesen glücklichen Ausgang rechnen,
sondern muß sich vergegenwärtigen, daß ohne rasche chirurgische
Hilfe der Tod an Verblutung wohl die Regel ist, während recht¬
zeitige Operation (Myom-, resp. Uterusexstirpation per laparoto-
miam) große Aussicht auf Rettung des Lebens der Patientin gibt.
— (Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg.,
Nr, 30.) K- S.
*
75. (Aus der medizinischen Poliklinik der Universität
München. — Vorstand: Prof. R. May.) Das Absinken der
Kern- (speziell der Magen-) Temperatur bei äußer¬
licher Kälteapplikation. Von Dr. M. Riehl. Daß Wärme
wie Kälte bei Applikation auf die Bauchhaut in die Tiefe des
Magens zu dringen vermögen, ist erwiesen. V einiger bekannt ist
dagegen, wie weit die Temperatur im Mageninnern durch der¬
artige Prozeduren erhöht oder erniedrigt werden kann. Zur
exakten Konstatierung der Kältewirkung im Körperinnern müßte
man eigentlich ein Minimum thermometer verwenden. Die Her¬
stellung eines solchen ist. aber technisch unmöglich. Eine noch
empfindlichere Methode wäre die Benützung einer elektrischen
Temperaturmessungseinrichtung mit Widerstandsthermometer. Ein
solcher Apparat wäre zu kostspielig. Verf. begnügte sich daher,
ein ca.. 9-5 cm langes und 0-5 cm breites Maximalthermometer
zu benützen, das am unteren Ende eine Quecksilberkugel von
0-7 ein Durchmesser trägt. Die Skala reicht von 32-0 bis 40-0:'C
und ist mit Zehntelgraden versehen. Das Thenn oineter wurde
vor den Untersuchungen in das Auge eines unten offenen Magen-
schlauehes, der dem Thermometer fest angepaßt war, in der
Weise eingeschoben, daß .die Quecksilberkugel uißerhalb des
Schlauches frei lag. Verf. ist sich darüber klar, daß diese Me¬
thode der Messung nicht ohne Mängel ist. Die Magentemporat m
wurde vor wie während der Untersuchungen festgestellt und
zwar so, daß das auf 32° C eingestellte Maximalthermometer
innerhalb einer Zeitdauer von 10 bis 25 Sekunden bis auf die
Magenwand eingeführt und nach Ablauf von zehn Minuten inner¬
halb drei bis vier Sekunden aus dem Magen wieder entnommen
wurde. Irgendwelche Gefahr war bei vorsichtiger Art des Ver¬
fahrens ausgeschlossen. Gleichzeitig mit der Magentemperatur
wurde immer die Rektaltemperatur festgestellt. Das Ergebnis
der Untersuchungen des Verfassers ist kurz folgendes : Das nie¬
derste Temperaturminimum betrug im Magen 35-7n C, im Rek¬
tum 36-7° C. Es sank also die Kerntemperatur im Magen bis
zu 1-8° C, im Rektum bis1 zu 1-1° C. Es ist aber sehr wahr¬
scheinlich, daß mit einem Minimumthermometer noch tiefere
Kerntemperaturein verzeichnet worden wären. Dabei ist es nicht
gleichgültig, ob das Thermometer bei Kontrolle der Kältewirkung
der hinteren oder der vorderen Wand des Magens anliegt. Die
Frage, ob die konstatierte Kältewirkung in therapeutischer Hin¬
sicht, z. B. bei einer Magenblutung, eine nennenswerte ist, be¬
antwortet. Verf. dahin, daß zweifellos die Abnahme der Kern¬
temperatur um 2° C eine ziemlich beträchtliche ist. Es ist dem¬
gemäß anzunehmen, daß die Blutgerinnung teils durch die im
Kältebezirk vorhandene Oligämie1, teils durch die reflektorische
Kältewirkung auf die Vasokonstriktoren rascher eintritt. — (Mün¬
chener medizinische Wochenschrift 1910, Nr. 52.) G.
*
70. (Aus der psychiatrischen Klinik zu Königsberg i. Pr.
Direktor: Prof. Dr. E. Meyer.) Beiträge zur Unter¬
suchung des Liquor cerebrospinalis mit besonderer
Berücksichtigung der zelligen Elemente. Von Doktor
Ludwig Andernach, Assistenzarzt der Klinik. Aus den von
Andernach mitgeteilten Fällen ergibt sich zunächst die Tat¬
sache, daß Lymphozytose u. zw. in der Regel sehr reichliche,
bei Paralyse auch schon im Beginn der Erkrankung so gut wie
konstant vorkommt. Hingegen fand Andernach in Fällen von
Neurasthenie mit Lues in der Anamnese und in anderen Fällen
von Erkrankung, welche bei der Abgrenzung gegen Paralyse oft
Schwierigkeiten machen, Lymphozytose so gut wie nie, die von
N on ne seinerzeit angegebene Eiweißreaktion des Liquor (N on ne,
Phase I) war immer negativ, was also in differentialdiagnostischer
Beziehung von großer Bedeutung ist. In derselben Weise läßt
sich die Differentialdiagnose zwischen progressiver Paralyse und
Alcoholismus chronicus und zwischen Pseudotabesi alcoholica
und Tabes sicherstellen, mit einem Worte, die Kombination von
Phase I und Lymphozytose ist bis zu einem gewissen Grade
für die syphilogenen Erkrankungen des Nervensystems charakte¬
ristisch. Das Studium der histologischen Beschaffenheit der
Zellen des Liquors ergab kein in differentialdiagnostischer Be¬
ziehung verwertbares Resultat. Verf. neigt zu der Ansicht, daß
die Zellen hämatogenen Ursprunges seien, denn man findet im
Liquor alle die Zellelemente wieder, die wir auch im Blutbilde
zu sehen gewöhnt sind. — (Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten, Bd. 47, H. 2.) S.
< * [
77. Die Behandlung der Balggeschwülste mittels
Elektrolyse. Von Dr. M. Horowitz in Wien. Es gibt Fälle,
bei welchen die Exzision eines Atheroms nicht zulässig ist oder
nicht gestattet wird. Für solche Fälle schlägt Horowitz ein
von ihm 15mal mit gutem Erfolge geübtes Verfahren vor; es
ist dies die elektrolytische Behandlung der kleinen Geschwülste.
Eine feine, sehr spitze, gut polierte Elektrode von Platin, Platin¬
iridium oder von Stahl wird mit dem negativen Pol der ßatteiic
verbunden, eine breite, gut durchfeuchtete Plattenelektrode' mit
dem positiven Pol, die Nadel sodann eingestochen, die Platten¬
elektrode auf eine beliebige indifferente Stelle gelegt und nun
10G
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. B
erst der galvanische Strom (Galvanometer, drei bis vier Milliam¬
pere) eingeleitet. In einer Sitzung, die 15 bis 20 Minuten dauert,
können durch Wechsel der Einstichstelle zehn Stiche gemacht
werden, man kann aber auch den negativen Pol mit drei bis fünf
Nadeln verbinden und durch passende Anordnung im Nadelhalter
fixieren, um gleichzeitig fünf Stiche zu machen. Bei sehr em¬
pfindlichen Personen benützt man vor dem Einstechen Chlor¬
äthyl, im allgemeinen ist der Schmerz ein geringer. Der Erfolg
war stets ein guter, die Geschwülste schwanden radikal, der kos¬
metische Effekt war ein tadelloser. Selbst da, wo es sich um
taubeneigroße, entzündete und mit der Haut verlötete Balg¬
geschwülste handelte, hat die Elektrolyse nicht versagt. In gleicher¬
weise wurden auch zwei Fälle von entzündeten Schleimbeuteln
in der Gegend des Ellbogengelenkes, ein Mastdarmpolyp (Anästhe¬
sierung des ganzen Terrains) erfolgreich behandelt. — (Medizi¬
nische Klinik 1910, Nr. 49.) E. F.
*
78. (Aus der Provinzialheilanstalt Grafenberg. — Direktor:
Geh. Sanitätsrat Dr. Peaetti.) Ueber Entwicklungsstö¬
rungon des Gehirns bei juveniler Paralyse und ihre
Bedeutung für die G ein ese dieser Kr an k hei t. Von Doktor
Artur Trap et. Derselbe Verfasser hat schon einmal über das¬
selbe Thema geschrieben und nun berichtet, er neuerdings über
sechs Fälle von juveniler Paralyse. Diesen Fällen sind Ent¬
wicklungsstörungen des Gehirns gemeinsam, meist nur des Klein¬
hirns (zwei- auch drei Kerne in den Purkinjeschen Zellen,
Teilungsvorgänge in diesen Zellen, Verlagerungen derselben), in
einem Falle bot auch das Großhirn Entwicklungsstörungen. Viel¬
leicht weisen diese Entwicklungsstörungen darauf hin, daß. die
hereditäre Lues durch ihre entwicklungshemmende Wirkung auf
das Organ für die später sich entwickelnde Paralyse einen gün¬
stigen Boden schafft. — (Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten, Bd. 47, H. 3.) S.
*
Aus französischen Zeitschriften.
79. Ueber das Schaf als Verbreiter des Malta¬
fiebers. Von Darbois und Vergnes. Ein besonders aktiver
Maltafieberherd besteht im südlichen Frankreich, von wo aus
die Erkrankung sich nach verschiedenen Richtungen ausbreitet,
ln einem Distrikt, wo sich zahlreiche Schafherden befinden,
wurde Uebertragung der Erkrankung auf Schäfer und Melker
beobachtet. Die Einimpfung des Maltafieberkokkus auf Schafe
ruft ein Krankheitsbild hervor, welches durch Hinken, Mattig¬
keit und häufigen Abortus gekennzeichnet ist. Harn und Milch
der erkrankten Tiere enthalten den spezifischen Mikroorganismus,
während derselbe im Speichel nicht nachweisbar ist. ln einer
500 Schafe umfassenden Herde gab sich die Epidemie durch ge¬
häuftes Auftreten von Fehlgeburten kund und es erkrankten
später die mit dem Melken der Mutterschafe beschäftigten Per¬
sonen, wobei die Infektion auf subkutanem Wege durch Be¬
rührung der meist wunden Hände der Melker mit der infizierten
Milch, bzw. Harn der Tiere zustande kam. Die ersten zwei Er¬
krankungen, welche Potatoren betrafen, nahmen letalen Aus¬
gang und wurden als schwere Grippe diagnostiziert; im weiterem
Verlauf erkrankten noch mehrere Melker, sowie zwei bei der
Reparatur des Schafstalles beschäftigte Arbeiter. Die Symptome
bestanden in Dyspepsie., Erbrechen, Obstipation, Fieber von dis¬
kontinuierlichem Verlauf, welches sich gegen Antipyretika re¬
fraktär verhielt, heftigen Gelenksschmerzen, Rachialgie, reich¬
lichem Schweiß, hochgradiger Abgeschlagenheit ; in zwei Fällen
entwickelte sich schmerzlose Orchitis. Während der Rekonvales¬
zenz erfolgte Abschuppung der Haut der Hände und Füße, sowie
Haarausfall. In allen Fällen erfolgten mehrere Rückfälle und
es bestand durch mehrere Monate hochgradigste Asthenie. Bei
allen darauf untersuchten Fällen wirkte das Serum auf Micro¬
coccus melitensis agglutinierend. Unter 429 untersuchten Schafen
gaben 49 positive Agglutinationsreaktion. Di© Epidemie ging be¬
stimmt von den Schafen aus, da sich keine! Ziege in der Gegend
befand und die Serumreaktion aller anderen Haustiere negativ
ausfiel. Bei den Melkern ist die Infektion wahrscheinlich sub¬
kutan erfolgt, doch besteht auch die Möglichkeit einer Infektion
des Intestinaltraktes durch Einfühnem von Speisen mit verun¬
reinigten Händen. Die Infektion der mit der Reparatur des Schaf¬
stalles beschäftigten Arbeiter dürfte durch Einatmung infizierten
Staubes oder subkutan von den Händen aus erfolgt sein. —
(Journ. de. Prat. 1910, Nr. 46.) a. e.
*
80. Ozäna und Atemgymnastik. Von Marcel Nation
Die Ozäna, welche sich gegenüber der gebräuchlichen Therapie
oft sehr resistent verhält, wird in ihrer essentiellen Form durch
Atemgymnastik sehr günstig beeinflußt, wie aus einer vom
Verfasser mitgeteilten Beobachtung hervorgeht. Diese Beobach¬
tung bezieht sich auf einen achtjährigen Knaben, welcher im
ersten Lebensjahre eine Dysenterie durchgemacht hatte, welche
auf die weitere Entwicklung einen ungünstigen Einfluß, aus¬
übte; es stellten sich mannigfache Verdauungsstörungen und
in deren Gefolge häufige Zustände von Autointoxikationen ein,
welche zu Störungen in verschiedenen Organen Anlaß gaben.
Auch die Ozäna stellt keine autonome Erkrankung dar, sondern
eine lokale Manifestation der von früher her bestehenden Störung
des Allgemeinzustandes. Daraus lassen sich auch Folgerungen
für die Therapie ableiten. In frischen Fällen kann man die Ozäna
durch die Behandlung des Grundleidens zum Schwinden bringen,
wie dies bei einem vierjährigen Kinde, der Fall war, wo die
Behandlung bestehender gastro-intestinaler Störungen auch die
Ozäna beseitigte. Es kommen auch Fälle vor, wo die Ozäna
scheinbar spontan verschwindet, nachdem sie den verschiedensten
Behandlungsmethoden hartnäckigen Widerstand entgegengesetzt
hat. Dieses Verschwinden ist auf beträchtliche Veränderungen
dos Allgemein zustandes zurückzuführen. Man sieht die Ozäna.
im Anschluß, an schwere Erkrankungen plötzlich verschwinden,
aber auch bei günstiger Modifikation des Allgemeinzustandcs,
z. B. bei Ausheilung von Anämie und Chlorose, sieht man die
Ozäna zurückgehen. In Fällen, wo die Ozäna schon seit langer
Zeit besteht, lassen sich durch Atemgymnastik noch hervorragende
Erfolge erzielen, welche sich durch den günstigen Einfluß auf
Nervensystem, Kreislauf und Blutbildung erklären lassen.
(Gaz. des hop 1910, Nr. 128.) . a. e.
*
81. Ueber Arsen ob.enzol (Präparat Ehrlich-Hata
606) bei der Behandlung der Syphilis. Von A. Bayet
(Brüssel). Das Arsenobenzol wurde in 10%iger Natronlauge auf:
gelöst und die Lösung mit einigen Tropfen Eisessig neutralisiert;
die Quantität der Injektion soll 4 bi'si 5 cm3 nicht übersteigen.
Die mittlere Dosis betrug für Frauen 0-5 g, für Männer 0-6 g,
bei sehr robusten Männern wurden auch Dosen von 0-7 bis 0-8 g
angewendet. Es scheint, daß., je frischer die Syphilis, um so
größer die erforderliche Dosis ist. Die für Kinder geeignete
Dosis beträgt 0-007 bis 0-008 g pro Kilogramm Körpergewicht.
Die- Injektion wurde subkutan zwischen Schulterblatt und Wirbel¬
säule vorgenommen. Eine mäßige Lokalreaktion Stellt sich am
zweiten oder dritten Tag nach der Injektion ein, in einigen
Fällen wurde Gangrän, bzw. zentrale aseptische Erweichung an
der Injektionsstelle, beobachtet. Als allgemeine Reaktionserschei-
nungen wurden vereinzelt Hautexanthem und Fieber, in einem
Falle anschließend an das Hautexanthem ein an subakuten Ge¬
lenksrheumatismus erinnerndes Bild beobachtet. In der Mehr¬
zahl der Fälle wurde Besserung des Allgemeinzustandes und
Zunahme des Körpergewichtes verzeichnet. Im ganzen wurden
100 Fälle von Syphilis der verschiedensten Stadien der Be¬
handlung unterzogen. Im Primärstadium wurde rasche Rück¬
bildung der Sklerose öfter beobachtet, dagegen verhielten sich
die begleitenden Lymphdrüsenschwellungen resistent. Unter elf
behandelten Fällen fanden sich drei, wo die Roseola trotz des
Ablaufes des entsprechenden Zeitraumes noch nicht aufgetreten
ist. Von den Sekundärerscheinungen gehen Roseola, papulöse
Exantheme, lichenoide Syphilide, Schleimhautpapeln und Kondy¬
lome rasch zurück, während di© allgemeine Drüsenschwellung
nur wenig beeinflußt wird. Am entschiedensten werden die Ge¬
schwüre und Gummen der tertiären Periode beeinflußt und zwar
auch dort, wo Jod und Quecksilber versagt haben; beträchtlich
waren -die Erfolge bei den tertiär-syphilitischen Erkrankungen
der Zunge, unter anderm bei Glossitis interstitialis mit akuten
Nachschüben. In einem Falle von hereditärer Syphilis mit ter¬
tiären Läsionen war der Erfolg gleichfalls beträchtlich. Bei Tabes
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
107
und Paralyse bleiben die definitiven Symptome unbeeinflußt, am
ehesten ist ein Erfolg bei den lanzinieremden Schmerzen und
den Augenmuskellähmungen bei Tabes zu erwarten. Die
Was s erm an n sehe Reaktion wird durch die Arseoobonzol-
behandlung um so deutlicher beeinflußt, je älter die Syphilis
ist. Rezidive wurden bisher in drei Fällen beobachtet. Das
Arsenobenzol stellt ein mächtiges Agens gegenüber der Spiro¬
chäte "und den syphilitischen Läsionen dar, welches Quecksilber
und Jod an Raschheit der Wirkung übertrifft und sich in Fällen,
wo diese beiden Mittel versagen, noch wirksam erweist. In ein¬
zelnen Fällen primärer, sekundärer und tertiärer Syphilis hat
das Mittel versagt, auch vermag es nicht immer den Eintritt
von Rezidiven zu verhüten. Die Frage nach der Dauerheilung
läßt sich noch nicht beantworten. Das rasche Verschwinden
der Spirochäten aus den Primäraffdkten und Papeln ist hiefür
nicht beweisend, die geringe Beeinflussung der Lymph-
drüsensch well u rigen , sowie der Seroreaktion in frischeren Fällen,
sowie das Vorkommen von Rezidiven spricht vorläufig eher gegen
eine Dauerwirkung. — (Joum. med. de Bruxelles 1910, Nr. 41.)
Aus englischen Zeitschriften.
82. Ueber drei prognostisch ungünstige Sym¬
ptome bei Eklampsie. Von William Fletcher Shaw. Gegen¬
wärtig wird fast allgemein die toxämische Natur der Eklampsie
anerkannt, wenn auch über Ursprung und Wesen des Toxins
noch Unklarheit herrscht. Die klinische Beobachtung lehrt, daß
drei Symptome bei Eklampsie eine prognostisch ungünstige Be¬
deutung besitzen, nämlich geringer Eiweißgehalt des Harns, hohe
Temperatur und Einsetzen der Erscheinungen post partum. Unter
46 Eklampsiefällen zeigten 21 einen Eiweißgehalt unter l°/o, 18
einen Eiweißgehalt, über l°/o, während bei den anderen Fällen
der Eiweißgehalt nicht bestimmt worden war; die Mortalität betrug
bei den Fällen mit geringerem Eiweißgehalt 61-9%, bei den
Fällen mit höherem Eiweißgehalt 16-6%. Unter den 46 Eklam¬
psiefällen zeigten 26 eine Temperatur von über 38°, während bei
den 17 übrigen Fällen die Temperatur unter 38° blieb ; die Mor¬
talität der Fälle der ersten Gruppe betrug 5 7 - 7 °/o , die der zweiten
Gruppe 5-1%. Bei Ausschaltung solcher Fälle, die dem Grenz¬
wert entsprachen oder Komplikation zeigten, weisen die Morta-
litätsziffem der beiden Gruppen eine noch größere Differenz auf.
Bei der Mehrzahl der letalen Fälle stieg die Temperatur bis
zum Exitus an, welches Verhalten eine ganz besonders ungün¬
stige prognostische Bedeutung hat. Ganz besonders ungünstig ist
die Prognose bei Kombination von niederem Eiweißgehalt und
hoher Temperatur, wo die Mortalität 100% beträgt, während bei
einem Eiweißgehalt über 1% und einer Temperatur unter 38°
die Mortalität = 0 war. Ueber die Mortalität der Fälle, wo
die Anfälle erst nach Beginn des Geburtsaktes einsetzen, gehen
die Angaben der Autoren weit auseinander. Unter den 46 Fällen
fanden sich acht bei denen die Konvulsionen zu dem genannten
Zeitpunkt eintraten, wobei nur in einem Falle Genesung erfolgte.
— (Brit. meid. Joum., 29 Oktober 1910.) a. e.
*
83. Ueber Radiumbehandlung bei Augenkrank¬
heiten. Von Arnold Lawson und J. Mackenzie Davidson.
Das Radium hat sich sowohl bei äußeren Erkrankungen des
Auges, als auch bei Lidaffektioneh vielfach bewährt. Die Appli¬
kation erfolgte nach vorhergehender Kokainisierung, danach wurde
das in verschlossenem Glasröhrchen, welches nur die Beta- und
Gammastrahlen passieren ließ, befindliche Radium direkt auf
die erkrankte Region appliziert. Es wurden bei Anwendung des
Radiums niemals unangenehme Nebenwirkungen beobachtet, na¬
mentlich wurde niemals eine Steigerung der Entzündung oder Ver¬
schlimmerung der Erscheinungen und nur in einem Falle vor¬
übergehende Schmerzhaftigkeit beobachtet. Die Applikationsdauer
betrug durchschnittlich fünf Minuten, die Dosis richtete sich
nach der Schwere der Affektion und war bei oberflächlichen um¬
schriebenen Läsionen geringer, als bei virulenten oder Progres¬
sionstendenz zeigenden Krankheitsprozessen. Eine Dosis von
20 mg Radium erwies sich für die Behandlung äußerer Augen¬
affektionen durchwegs als ausreichend. Die Zahl der Sitzungen
und die Intervalle richteten sich nach der Schwere des Krank¬
heitsprozesses ; so wurden z. B. bei Hypopyon die. Applika¬
tionen in 'kurzen Intervallen wiederholt, während in leichten Fällen
manchmal eine Sitzung zur Erzielung des Heilerfolges genügte.
Bei Anwendung größerer Dosen wurde ein Intervall von min¬
destens einer Woche eingehalten, wenn nicht der Krankheits-
verlauf eine raschere Wiederholung der Applikation erforderlich
machte. Unmittelbar nach der Applikation des Radiums sind
keine besonderen Erscheinungen zu konstatieren, nach einigen
Stunden wurden in einer Anzahl von Fällen Schmerzen, die nur
selten von größerer Intensität und Dauer waren, angegeben; in
einem Falle kam es zu subjektiven Lichterscheinungen. In der
Regel stellt sich bald eine deutliche Besserung der subjektiven
Beschwerden bei den auf die Behandlung reagierenden Fällen ein;
die Narben nach Radiumbehandlung sind, wie sich dies zum
Beispiel bei Frühjahrkatarrh zeigt, glatt, zart und blaß. Zur
Behandlung kamen Hornhaütgeschwüre, nichtulzerative Entzün¬
dungen der Hornhaut und Sklera, Lidaffektionen und Ilornhaut-
narben. Trachom wurde, weil durch Röntgenstrahlen heilbar,
nicht der Radiumbehandlung unterzogen, doch ist auch mit Rück¬
sicht auf die Heilwirkung bei Frühjahrkatarrh eine günstige
Radiumwirkung zu erwarten. Unter 17 Fällen von Hornhaut¬
geschwür zeigten 16 rasche Vernarbung, darunter manche Ge¬
schwüre schon nach ein- bis zweimaliger Applikation von 5 mg
Radium. Auch bei akuter interstitieller Keratitis, sowie in je einem
Falle von Episkleritis, Keratitis profunda und rezidivierendem
entzündlichen Pterygium waren günstige Erfolge zu verzeichnen.
Unter den Bindehauterkrankungen wurde bei Frühjahrskatarrh
eine geradezu spezifische Wirkung des Radiums beobachtet, bei
Hornhauttrübungen läßt die wiederholte Applikation größerer
Dosen Erfolge erwarten. — (Brit. med. Joum. 12. November
1910.) a. e.
*
84. Ueber die Anwendung des farad is eben Stro-
m e s zur Behandlung der persistierenden Aphonie
nach Laryngitis; Mitteilung von zwei Fällen. Von
Francis Hernaman-Johnson. Die erste Beobachtung bezieht
sich auf eine nach Erkältung aufgetreitene, seit zwölf Jahren
bestehende, mit verschiedenen Mitteln erfolglos behandelte
Aphonie, welche schon nach zweiwöchiger Anwendung leichter
faradischer Ströme sich deutlich besserte und nach sechswöchiger
Behandlung wesentlich gebessert, wenn auch nicht vollständig ge¬
heilt erschien. Im zweiten Falle, wo die Aphonie im Anschluß
an Laryngitis' sich entwickelt hatte, aber auch Vergrößerung
der Tonsillen und adenoide Vegetationen bestanden, war der
Erfolg der Faradisation zunächst wenig ausgesprochen ; es wurden
die Wucherungen entfernt und die Nasenatmung wieder hergestellt,
worauf die anschließende Faradisation eine wesentliche Bes¬
serung der Stimme bewirkte. Bei der Behandlung der Aphonie
wird gewöhnlich nur das Verhalten der Schleimhaut berücksichtigt,
während für die Stimmbildung der Zustand der Kehlkopfmuskeln
und der Nerven von größerer Wichtigkeit ist. Bei chronischem
Katarrh werden die Muskeln sekundär in Mitleidenschaft gezogen
und es verfallen wahrscheinlich auch die motorischen Nerven¬
endigungen einer entzündlichen Degeneration. Oft gehen die
Schleimhautveränderungen wesentlich zurück, während die Lä¬
sion der Nerven und Muskeln bestehen bleibt. Unter diesen Ver¬
hältnissen ist die Anwendung der Faradisation indiziert; da man
nicht die einzelnen Muskeln faradisieren kann, so müssen leichte
Ströme angewendet werden, um keine starke Kontraktion der
gesunden Muskeln zu erzeugen. Bei genügend langer Anwendung
übt die milde Faradisation eine elektive Wirkung auf die er¬
krankten Muskeln und fördert die Wiederherstellung des Tonus.
Bei nachweisbarer starker Veränderung der Schleimhaut ist die
gebräuchliche Lokalbehandlung indiziert, doch stellt auch in
diesen Fällen die Faradisation ein wertvolles Unterstützungsmittel
dar. Von Wichtigkeit für den Erfolg ist die entsprechende Be¬
handlung gleichzeitig bestehender Affektionen, des Nasenrachen¬
raumes. Ein Objekt der faradischeln Behandlung, bilden nur die
auf Erkältung und Ueberanstrengung zuriiekführbaren Aphonien.
— (The Landet, 5. November 1910.) a-
108
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 3
\/ermisehte r4aehriehten.
Ernannt: Der mit dem Titel eines außerordentlichen
Universitätsprofessors1 bekleidete Privatdozent Dr. Lothar von
Frankl-Ho chwart und der Priv.-Doz. Dr. Karl Land stein er
zu außerordentliche!! Professoren an der Universität in Wien
u. zw. ersterer für Neuropathologie, letzterer für pathologische
Anatomie. — Der Privatdozent für Haut- und Geschlechtskrank¬
heiten Dr. Bodo Spiet hoff und der Privatdozent für Psychiatrie
Dr. W. Strohmayer zu außerordentlichen Professoren in Jena.
— Priv.-Doz. Dr. Reinmöller zum a. o. Professor der Zahn¬
heilkunde in Rostock. — Dr. Dobromyslow zum Professor
der operativen Medizin in Kiew. — Dr. De j er ine zum Pro¬
fessor für Neurologie in Paris. — Dr. Dionisi zum ordentlichen
Professor der pathologischen Anatomie in Palermo.
*
Verliehen: Den Privatdozenten an der Universität in
Wien, Primararzt Dr. Rudolf Frank, Dr. Alois Strass e r, Doktor
Hans Koschier, Primararzt Dr. Gustav Singer, Dr. Josef
Adolf Hirse hl, Dr. Ludwig Braun, Stabsarzt Dr. Karl Biehl.
Primararzt Dr. Wilhelm Latz ko, Adjunkten am serotherapeu-
schen Institute in Wien Dr. Ernst Pick, Dr. Emil Rai mann und
Dr. Julius Schottländer der Titel eines außerordentlichen üni-
versitätsprofessors.
*
Habilitiert: In Breslau: Dr. Lothar Dreyer für Chi¬
rurgie, Dr. W. Oettinger für Hygiene. — Dr. De Lange für
mikroskopische Anatomie des Nervensystems in Amsterdam.
*
40 jähriges Doktorjubiläum. Einer der ältesten Bade¬
ärzte Karlsbads, Herr kais. Rat MUDr. Hans PT es ebner, be¬
ging am 14. d. M. sein lOjähriges Doktorjubiläum. Er ließ sich
1875 als Badearzt in Karlsbad nieder, leitete hier durch 17 Jahre
das Allgemeine Krankenhaus und bekleidete durch 23 Jahre
die Stelle eines Stadtphysikus.
*
Dem Institute für Krebsforschung in Heidelberg ist von
Dr. phil. K. Beit in Hamburg ein Legat von 100.000 Mark ver¬
macht worden. Außerdem sind vom 1. November 1909 bis eben¬
dahin 1910 10.000 Mark Zuwendungen an das Institut erfolgt.
*
Vom Reichsverband österreichischer Aerzte-
Organisationen erhalten wir folgenden Aufruf an die Aerzte-
schaft Oesterreichs zur Veröffentlichung:
Den Mitmenschen die verlorene Gesundheit und damit die Lehens¬
und Schaffensfreude wieder zu gewinnen, ihre Schmerzen zu lindern,
ihnen Trost in Leiden zu spenden, ist eine Aufgabe des ärztlichen
Berufes. . .
Den Mitmenschen zu raten, sie zu lehren, wie sie sich ihre Ge¬
sundheit bewahren können, Krankheiten von ihnen abzuwehren, ist die
hehrste Bestimmung des ärztlichen Berufes, deren Erfüllung ihn weit
über alle anderen Berufe emporhebt.
In seinem Walten in der Gesundheitspflege erklimmt der Arzt den
Gipfel des Altruismus und der Humanität.
In dieser Betätigung wehrt der Arzt von seinen Mitmenschen ab,
was ihm selbst Gewinn bringt. Krankheiten ! Er gleicht darin dem
Manne, der den Ast absägt, auf dem er sich niedergelassen hat. Im Voll¬
bewußtsein, sich zu schädigen, ist er selbstlos bestrebt, den anderen
zu nützen. Und doch ist es gerade dieses selbstlose, aufopferungsfreudige,
uneigennützigste Bestreben des Arztes, welches so oft unverstanden
bleibt, und verkannt wird.
Gar mancher Arzt, insbesondere mancher Landarzt, mußte schon
seine Seligkeit darin finden, Verfolgung zu leiden um der Ge¬
sundheitspflege willen.
Dr. Richard Franz in Riedau ist dem Unverstände und der
Bosheit jener erlegen, für deren gesundheitliches Wohl er bedacht war.
Die Anzeige eines Typhusfalles, zu welcher er bei Straf¬
fälligkeit verpflichtet war, der er sich nur mit schwerer Belastung
seines Gewissens hätte entziehen können, diese Typhüsanzeige entfesselte
den Haß und die Verfolgungswut der sich durch diese Anzeige geschädigt
erachteten Gemeinde- und Heimatsgenossen.
Die Behörden vermochten Dr. Fran z gegen die maßlosen Ver¬
folgungen und Umtriebe nicht zu schützen.
So mußte er seine und der Seinen Existenz gefährdet sehen.
Er sah den Augenblick kommen, wo er mit ihnen den Wanderstab er¬
greifen und aus seinem Geburts- und Heimatsort von seinen eigenen
Mitbürgern verdrängt und preisgegeben in die Fremde werde ziehen
müssen.
Diesen endlosen Aufregungen und Kränkungen, diesen schweren
Sorgen war sein krankes Herz nicht gewachsen. Am 6. Jänner 1911,
vormittags 9 Uhr, ist Dr. Franz an einem Herzschlage gestorben.
Er hinlerläßt eine tiefgebeugte Witwe, die selbst mittellos, für den
mit ihr hinterbliebenen 20 Monate alten Sohn nicht zu sorgen ver¬
mag, eine greise Mutter, die mit ihrer kleinen Oberleutnantswitwen¬
pension selbst kaum ein dürftiges Auskommen findet.
Das Präsidium des Reichsverbandes österreichischer Aerzteorgani-
sationen hat nach genauer Untersuchung und Erwägung aller Umstände
beschlossen, die Aerzteschaft 0 e s t e r r e i c h s und A e r z t e-
freunde aufzufordern, nach dem Muster, wie für die nach Dr. J a-
neczek hinterbliebenen Waisen gesorgt wurde, auch die Sorge für den
nach Dr. Franz hinterbliebenen Sohn zu übernehmen.
Das Präsidium bittet daher an die Anschrift des Vizepräsidenten
und Kassiers vom Reichsverbande, Herrn Dr. Ludwig Skorschebän
(Wien VIII., Kochgasse 16) Beiträge einzusenden, damit diese ihrer Be¬
stimmung zugeführt werden.
Die eingelaufenen Spenden werden in den medizinischen Zeitungen
fortlaufend bestätigt werden.
Wir sind überzeugt, daß wir in dem tieftraurigen Falle Franz
mit unserem Aufrufe an alle Aerzte und Aerztefreunde keine Fehlbitte tun.
Dr. Adolf G r u ß,
Pi äsident.
Dr. R. Koralewski, Dr. L. Skorschebän,
Vizepräsident. Vizepräsident und Kassier.
Wien, am 13. Jänner 1911.
*
Cholera. Italien.. Nach amtlichen Mitteilungen sind in
Italien in der Woche vom 22. bis 28. Dezember 24 Neuerkran¬
kungen und 19 Todesfälle in Cholera vorgekommen, u. zw. in den
Provinzen Caserta, Lecce, Palermo und Salerno. — Türkei.
Aus Büjük Tschekmedsche, Brussa, Konia, Demotika und den
Dardanellen werden vereinzelte Cholerafälle gemeldet, die fast
immer durch Soldaten oder Rekruten eingeschleppt wurden. Auch
unter der Garnison von Sinope sind neuerdings Erkrankungen
vorgekommen. In Adrianopel wurde die Cholera für erloschen
erklärt, dagegen scheint sie sich in Monastir etabliert zu haben.
Dort sind im .Tu den viertel zwischen dem 20. und 25. Dezember
drei Cholerafälle: vorgekommen. Auch in Mekka hat die Seuche
seit Ende Dezember Eingang gefunden und bis 2. Jänner zu
14 Erkrankungsfällen geführt.
Pest. Rußland. Im Gebiete des russischen Reiches haben
sich seit dem neuerlichen Auftauchen der Pest bis Mitte No¬
vember 59 (55) Pesterkrankungen (Todesfälle) ereignet u. zw. im
Gouvernement Astrachan, im Transbaikalgebiete 28 (25). In Baturn
wurde am 10. Dezember bei einem grusinischen Knaben Pest
konstatiert. — Türkei. Mitte Dezember wurden in Sinope zwei
Fälle, in Djeddah eine Erkrankung an Pest, gemeldet. — China.
In der Mandschurei sind seit 13. Oktober bis Mitte November
468 (466) Chinesen und 11 (10) Russen an Pest erkrankt, be¬
ziehungsweise gestorben, u. zw. in den Stationen der Ostchine-
sischen Bahn Mandschuria, Tschalantun, Charbin, Buchedu,
Chajlar, Fudjadjan, Tnrtschicha und in den Gruben von Tscha-
lajnor.
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Ge me in de gebiet. 52. Jahreswoche (vom 25. bis
31. Dezember 1910). Lebend geboren, ehelich 584, unehelich 213, zusammen
797. Tot geboren, ehelich 58, unehelich 38, zusammen 96. Gesamtzahl der
Todesfälle 684 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
16-7 Todesfälle) an Bauchtypbus 1, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 11,
Scharlach 2, Keuchhusten 3, Diphtherie und Krupp 1, Influenza 1.
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 5. Lungentuberkulose 113, bösartige Neu¬
bildungen 48, Wochenbettfieber 2, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 39 (+3), Wochenbettfieber 4 .(— 2), Blattern 0
(0), Varizellen 70 (— 4), Masern 143 (— 2), Scharlach 53 (— 8).
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 4 (+ 4), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0).
Diphtherie und Krupp 62 (+ 13), Keuchhusten 20 (— 12), Trachom 0 (+ 4),
Influenza 1 (— 0), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Bei dem k. k. Landesgericht Wien gelangt die Stelle
eines Gerichtspsvchiaters für Zivil- und Strafsachen zui Be¬
setzung. Die mit dieser Stelle verbundenen Bezüge werden im Wege
eines besonderen Uebereinkommens festgestellt. Bewerber haben ilne mit
dem Nachweise ihrer wissenschaftlichen Befähigung und bisherigen Verwen¬
dung belegten Gesuche bis längstens 20. Jänner 1911 bei dem liasi-
dium des k. k. Eandesgerichtes Wien in Z.-R.-S., I., Schmerlingplatz
(Justizpalast), zu überreichen, welches zu weiteren mündlichen Auskünften
bereit ist. .
Gemeindearztesstelle für das Stadtgebiet 1 reistaclt
(Oberösterreich). Entlohnung jährlich 1200 K. Bewerber deutscher Natio¬
nalität, welche ihr Doktordiplom an einer österreichischen Universität
erlangt haben und bereits mehrjährige Praxis nach weisen können, wollen
ihre Gesuche bis 1. F e b r u a r 1911 bei der Stadtgemeinde Freistadt.
einbringen. .
Mehrere Sanitätsassistentenstellen im Sanitätsdienste
der politischen Verwaltung Niederösterreichs zu besetzen. Gesuche mit
Nachweisungen über Alter, Heimatszuständigkeit, absolvierte Mittel- und
Hochschulstudien, wenigstens einjährige Spitalspraxis, mit Erfolg be¬
standene 'Physikatsprüfung, physische Eignung für den Staatsdienst und
allfällige Militäreigenschaft sind beim k. k. niederösterreichischen Statt-
haltereipräsidiüm in Wien bis 28. Jänner 1911 einzubringen.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
109
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll (1er k. k. Gesellschaft (1er Aerzte in Wien. | Verein für Psychiatrie mid Neurologie iu Wien. Sitzung vom 13. Be¬
sitzung vom 13. Januar 1911. zember 1910.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 13. Januar 1911.
Vorsitzender: Hofrat S. Exner.
Schriftführer : Hofrat Richard Paltauf.
A. Administrative Sitzung.
Der Präsident erinnert, daß. die Gesellschaft seit ihrer letzten
Versammlung den Tod eines ihrer hervorragenden Mitglieder
zu beklagen hat, die des Herrn Hofrates Cs okor. Die Gesell¬
schaft verliert an ihm ein Mitglied, welches durch Jahre eifrig
bestrebt war, uns mit interessanten Befunden und Beobachtungen
in der pathologischen Anatomie und der Parasitologie der Tier¬
medizin bekannt zu machen. Wir verlieren an ihm aber nicht
nür den hervorragenden Vertreter dieser Disziplinen an der tier¬
ärztlichen Hochschule, sondern auch einen wissenschaftlichen
Freund, einen bewährten Fachmann, der manchen von uns auf
dem Gebiete seiner Lieblingsforschung, der tierischen Parasito¬
logie. zuverlässigen Rat und Auskunft gegeben hat. Hofrat Cs okor
hat bis in die letzten Jahre für seine Wissenschaft noch Reisen
an die Küsten des mittelländischen Meeres unternommen und
bis in die letzten Monate sich wissenschaftlich beschäftigt. Wir
werden dem verschiedenen Kollegen stets eine dankbare Erinne¬
rung bewahren. Ich sehe, daß sich die Kollegen bereits von den
Sitzen erhoben haben, ich danke Ihnen für den Ausdruck Ihres
Beileids.
Vermögens Verwalter Dt. Cziner trägt den Rechnungs¬
abschluß für das Jahr 1910 vor und legt das Präliminare pro
1911 vor. Dem Rechnungsabschlüsse, der von den Revisoren,
Prof. Föderl, Dr. Teleky sen. und Dr. Aug. Schwarz richtig
befunden worden ist, wurde das Absolutorium erteilt; dem Präli¬
minare wurde zugestimmt. Der Präsident spricht sowohl dein
Herrn Vermögensverwalter, als den Herren Revisoren im Namen
der k. k. Gesellschaft den Dank für ihre Mühewaltung aus.
(Beifall.)
B. Wissenschaftliche Sitzung.
Hofrat v. Eiseisberg demonstriert einen geheilten Fall von
komplizierter Fraktur des linken Oberschenkels mit
Kompression der Arteria poplitea durch das distale Fragment.
Wegen Gangrängefahr wurde bei demselben sofort nach Ein¬
lieferung in die Unfallstation die Nagelextension nach S te in¬
mann durch die Femurkondylen ausgeführt, wodurch unmittelbar
nach Einsetzen des Zuges der Puls in der Arteria dorsalis pedis
tastbar und die Gangrängefahr beseitigt wurde. Dr. Ehrlich
wird diesen Fall ausführlich mitteilen.
Dr. Oskar Hirsch: Meine Herren! Ich erlaube mir, über
drei weiter p Fälle von Hypophysentumoren, welche
ich nach der von mir angegebenen Methode operiert
habe, zu berichten und zwei derselben zu demonstrieren.
Die erste der demonstrierten Patientinnen ist
57 Jahre alt, litt seit 7 Jahren an Schwindelanfällen und seit 4 Jahren
an Sehstörungen (Abnahme der Sehschärfe und Einschränkung
des Gesichtsfeldes), woraus1 Herr Priv.-Doz. Dr. Sachs schon
frühzeitig die Diagnose auf Hypophysistumor stellte. Diese Dia¬
gnose wurde durch das von Priv.-Doz. Dr. Schüller autgenom-
mene Röntgenbild, welches eine starke Erweiterung der Sella turcica
zeigte, bestätigt. Da die Sehstörungen bis zum Oktober 1910
so weit vorgeschritten waren, daß Patientin am rechten Auge
nur noch Finger erkannte, am linken 6/i« Sehschärfe hatte, em¬
pfahl ihr Herr Hofrat v. Wagner die Operation.
Nach zwei kleinen Vor Operationen nahm ich am 16. No¬
vember 1910 die Hypophysenoperation in Lokalanästhesie vor.
Nach submuköser Resektion des Septums, nach Eröffnung beider
Keilbeinhöhlen und nach Aufmeißelung des Hypophysenwulstes
kam der von der Dura bedeckte Hypophysentumor zum .Vor¬
schein. Als ich die Dura inzidierte, stürzte sofort eine
blutig tingierte. an der Oberfläche glitzernde Flüs¬
sigkeit hervor. Die Menge dürfte zirka, zwei Eßlöffel betragen
haben. Nach Abfluß der Flüssigkeit blieb nur eine zarte, von
I der Dura gebildete Hülle zurück. Von Tumorgewebe war nichts
j zu sehen • es dürfte zumindest der intrasellare Teil des Hypo¬
physentumors durch regressive Veränderungen vollständig ge¬
ständig geschwunden sein. Ich exzidierte daher bloß den Zysten¬
sack in Ausdehnung der Operationsöffnung ; zu einem weiteren
Eingriff war kein Anlaß.
Der Verlauf war, von unbedeutenden Temperatursteigerungen
in den ersten Tagen abgesehen, fieberlos ; die Patientin verließ
nach einer Woche die Heilanstalt.
Schon während des Aufenthaltes daselbst besserte sich die
Sehkraft so weit, daß die Patientin, welche früher nur einsilbige
Worte lesen konnte, fließend las und auch gut schrieb.
Die letzte Augenuntersuchung vom 9. Januar 1911 ergab, daß
die Sehschärfe des linken Auges von 6/is (vor der Operation)
auf 6/i2 gestiegen ist; das rechte 'Auge, welches vor der Operation
Finger auf einen Meter Entfernung erkannte, zählt jetzt auf
zwei Meter Entfernung.
Die mikroskopische Untersuchung (Dr. Erd heim) des ex-
zidierten Gewebsstückes ergab, daß nur Duragewebe vorliege;
von Tumortgewebe war nichts vorhanden. Die Flüssigkeit enthielt
Cholestearink rist alle.
Ich möchte noch einzelne interessante Beobachtungen der
Patientin anführen, daß :
1. der Hals schlanker wurde,
2. die Fettwülste in den Hypogastrien geschwunden sind,
3. die Haare, welche früher struppig waren, jetzt weich
wurden,
4. der Haarausfall sistierte, und
5 Verdickungen einzelner Fingergelenke schwinden.
Die zweite Patientin ist 29 Jahre alt, leidet an Akyo-
megalie, die sich in einer Vergrößerung der Nase und der Hände
äußert. Diesei Veränderungen waren jedoch nicht die Veran¬
lassung zur Operation, sondern Kopfschmerzen, welche so heftig
waren, daß Pat. nicht, schlafen konnte, während der Nächte auf
und ab gehen mußte, bis sie gegen früh vor Erschöpfung auf
einige Stunden einschlief. Herr Priv.-Doz. Pineies stellte fest,
daß die Beschwerden auf eine Akromegalie zurückzuführen seien
und veranlaßte die Patientin, sich röntgenologisch untersuchen
zu lassen. Die von Herrn Priv.-Doz. Schüller gemachte Röntgen¬
aufnahme ergab mäßige Ausweitung der Sattelgrube und be¬
stätigte die Diagnose. Die Augenuntersuchung (Herr Priv.-Doz.
Meller) stellte eine Einschränkung des Gesichtsfeldes, insbe-
sonders für rot, fest. Auch Herr Hofrat v. Wagner schloß sich
der Diagnose einer Akromegalie an und stimmte der Vornahme
eines operativen Eingriffes zu. Ich führte die Hypophyseiioperation
vor zirka sieben Wochen aus und entfernte einen etwa haselnuß-
großen Teil des Tumors. Dieser war breiig-weich, es gelang
mir daher, nur ein kleines Gewebsstück aufzufangen und zu kon¬
servieren. Die Heilung verlief ohne Fieber und die Patientin
verließ nach zehn Tagen die Heilanstalt.
Die Kopfschmerzen haben sich bedeutend gebessert, die
Patientin erfreut sich wieder eines normalen Schlafes und ist
wieder berufsfähig.
Lieber die Beeinflussung der akromegalischen Symptome
durch die Operation ist zu berichten, daß die Umgebung der
Patientin eine deutliche Besserung der Physiognomie beobachtet
hat. Nach meiner Beobachtung ist wohl die Nase etwas kleiner
worden, doch sind die Aenderungen des Gesichtes usw. keine
auffallenden. Dagegen wurde der Hals schlanker. Die Patientin
nimmt in letzter Zeit stark zu.
Das exzidierte Gewebsstück erwies sich bei der mikro¬
skopischen Untersuchung (Dr. Erdheim) als Adenom.
Der dritte Fall, über den ich mir hier zu berichten erlaube,
starb am achten Tage nach der Operation. So sehr vielleicht
mancher geneigt wäre, wegen des kurzen Zeitraumes zwischen
Operation und Exitus einen ursächlichen Zusammenhang zwi¬
schen beiden Tatsachen zu konstruieren, so wenig würde diese
Annahme der Wirklichkeit entsprechen. Deshalb will ich gleich
vor weg nehmen, daß der Patient während der Rekonvaleszenz
einer Lobulärpneumonie (Diplokokken) erlag.
110
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr.
Es handelte sich um einen 36jährigen Patienten vom Typus
adiposo- genitalis, dessein Krankheit im Jahre 1903 begann. Der
Patient litt an Schläfrigkeit, Fettsucht und hauptsächlich an
Sehstörungen, welche in letzter Zeit, so hochgradig waren, daß
Patient auf beiden Augen Finger nur noch auf zirka zwei Meter
erkannte und auf der Straße geführt werden mußte. Wegen
der Sehstörungen (bitemporale Hemianopie und Optikusatrophie
mit progredienter Abnahme des Visus) wurde dem Patienten
vom Herrn Prof. v. Frankl- Hochwart die Operation em¬
pfohlen. Der Patient selbst entschied sich für die endonasale
Methode.
Am 11. Dezember 1910 nahm ich die Hypophysenoperation
in Lokalanästhesie vor. Sie ging ziemlich leicht vonstatten und
ich konnte einen zirka kleinwalnußgroßen Teil des sehr blut¬
reichen Tumors entfernen. Tn den ersten Tagen nach der Opeia-
tion fühlte sich der Patient vollkommen wohl, am vierten Tage
klagte er über leichte Schlueksehmerzem, die in einer Schwel¬
lung der Seitenstränge ihren Grund hatten, am fünften Tage trat
Bronchitis auf, aber das Allgemeinbefinden blieb bis zum sechsten
Tage ungestört und auch die Temperatur erreichte während der
ganzen Zeit nur zweimal 37-8°.
Der Patient konnte während dieser Zeit im Zimmer herum¬
gehen, fühlte sich insbesondere am sechsten Tage ganz wohl,
als plötzlich innerhalb weniger Stunden die Temperatur auf
39-5° emporschnellte, der Patient soporös wurde und innerhalb
36 Stunden verschied.
Die Sektion, die Herr Dr. Erdheim vorzunehmen die
Güte hatte, und für deren sorgfältige Durchführung ihm auch
an dieser Stelle der beste Dank abgestattet sei, ergab beider¬
seitige Lobulär p n e u m o n i e und linkseitig ganz frische
Pleuritis. Das Herz war außerordentlich schlaff und
zerreißlich, infolge hochgradiger parenchymatöser
Degeneration. Es ist somit der Tod durch Heiz
schwäche infolge der fieberhaften Erkrankung cinge-
treten. Meningitis oder sonstige Eiterung war nicht vorhanden.
Dagegen fand sich ein Hypophysentumor von ganz ungewöhn¬
licher Größe, der vorwiegend interkraniell entwickelt und bereits1
in den Sinus cavernosus hineingewachsen war und der nach
keiner der bisherigen Methoden hätte radikal operiert werden
können. (Demonstration des Präparates.)
Die mikroskopische Untersuchung des durch die Operation
gewonnenen Tumorgewebes wurde im Institut des Herrn Hof¬
rates Obersteiner durchgeführt und ergab, daß es sich um
Plattenepithelkarzinom handle.
Die Komplikation der Pneumonie ist eine ganz zufällige
und nicht in eine Reihe zu stellen mit einer Aspirationspneumonie,
wie sie bei der Schl off er sehen Methode -Vorkommen kann
und auch bereits einmal vorkam. Denn weder während der
Operation, noch nachher erfolgte eine Blutung gegen den Rachen.
Eine solche Blutung ist auch hei einer richtig durchgeführten
submukösen Hypophysenoperation nicht recht möglich. ^
Es muß daher konstatiert werden, daß der infauste Ausgang
in diesem Falle weder der Operation im allgemeinen, noch der
angewendeten Methode im besonderen zur Last fällt.
IcV"hTb’e somit bis zum heutigen Tage sieben Hypophysen¬
tumoren operiert, davon sechs mit Erfolg, der siebente . starb in.
der Rekonvaleszenz an einer interkerrierenden Krankheit. Leber
die ersten drei Fälle referierte ich im Archiv für Laryngologie
(Bil. 24), die restlichen drei sind die heute besprochenen.
Diskussion: Prof. v. Frankl-Hochwart: Meine Herren!
Da Sie nun den ungewöhnlich großen, von Herrn Kollegen Doktor
Hirsch demonstrierten Tumor gesehen haben, wird es Sie
vielleicht auch interessieren, einen Blick auf das Gehirn zu werfen,
dessen Beschreibung ich aus dem von Herrn Dr. Erdheim
verfaßten Obduktion sprofokolle entnehme. ,.Bei Besichtigung der
II irn basis sieht man eine große median gelegene tiefe Grube,
welche vorne bis nahe an den Bulbus olfactories reicht, seitlich
von den zur Seite gedrängten Schläfelappen begrenzt wird, hinten
vom komprimierten Pons. Am Boden dieser Grube erblickt man
durch den fehlenden Boden des dritten Ventrikels in den letz¬
teren hinein, wobei die intakte Mässa intermedia frei, zutage liegt;
der linke Großhirnstiel ist total abgeplattet und seine Konsistenz
stark herabgesetzt. Die Impression an der medialen Fläche des
linken Schläfenlappens ist bei weitem tiefer als die des rechten;
die H irn suhstanz ist daselbst erweicht. Auch der Pons ist, vor¬
wiegend auf der linken Seite, erweicht. Auf dem Grunde der
Vertiefung sieht man ferner die beiderseits stark auf die Seite
gedrängte laterale Wand des dritten Ventrikels rot erweicht,“
Da heute die Frage der Hypophysisoperation gar nicht zu
den seltenen gehört, wäre es a priori immer wichtig, die Größe
des Tumors abschätzen zu können. Bis zu einem gewissen Grade
gibt die radiologische Untersuchung Aufschluß: Aus der Zerstöiung
der Sella kann man oft schließen, daß der Tumor nicht klein
sein kann ; wieweit seine intrazerebrale Verbreitung reicht, kann
man nicht daraus folgern. Da müßten die übrigen Symptome heran¬
gezogen werden. In unserem Falle fanden wir nebst den Hypopn,ysen-
symptomen (Verfettung, gleichgültige Stimmung, Impotenz, Blässe,
Schlafsucht, subnormale Temperaturen) nur noch die Optikussym¬
ptome (Atrophie, bitemporale Hemianopsie) ; wir hörten noch
von einer transitorischen Augenmuskelparese sonst zeigten
sich keine weiteren Herdsymptome; Kopfschmerz war kaum an¬
gedeutet. Uebrigens fand ich ein ähnliches Mißverhältnis zwischen
Tumorgröße und Herdsymptome'n in manchen Fällen der Lite¬
ratur nachgewiesen. Man erklärt sich diese Erscheinung durch
das langsame Wachstum vieler Hypophysentumoren: wir können
in unserem Fälle zirka siebenjährigen Bestand supponieren.
Die Größe des Tumors, sowie die Kompressionserscheinungen
trugen wahrscheinlich viel dazu bei, die Resistenz des Patienten
gegenüber der Pneumonie herahzusetzen. Ein direkter Einfluß
der Oneration auf den Exitus ist wohl nicht anzunchmen.
Wenn man die durch den Leichenbefund aufgehellte Sach¬
lage betrachtet, so muß man wohl klar sein, daß der Fall weder
bei der Anwendung der Methode von Sc’hloffer, noch nach
der von Hirsch wesentliche Chancen geboten hätte. Das be¬
deutet natürlich keine Kritik an den genannten Methoden. Meine
drei, nach der Methode von Schloffer von Herrn Hofrat.
v. Eiseisberg operierten Fälle befinden sich dauernd gut.
Von den Erfolgen der Methode Hirsch haben Sie sich heute
wieder überzeugt. Ich konnte im letzten Falle der Operation
assistieren und konnte konstatieren, daß sie schmerzlos verlief
und dem Patienten nur wenig Beschwerden verursachte.
Priv.-Doz. Dr. Artur Schüller: Das Röntgenbild des
Schädels giht bezüglich der Größe von Hypophysentumo¬
ren nicht bloß in jenen Fällen Aufschluß, wo der Tumor noch
innerhalb des Türk einsatteis liegt, sondern auch dann, wenn der
Tumor gegen das Gehirn zu gewuchert ist.: hiebei finden sich
nämlich die für Hirndrucksteigerung charakteristischen IJsuren
der Schädelinnenfläche' außer der völligen Destruktion des Keil-
beinkürpers. - Was die In dikati ons Stellung zur Opera¬
tion von Hypophysentumoren betrifft, so kommt außer den oku¬
lären Symptomen und dem Kopfschmerz auch die Gefahr der
Schädigung des Herzens durch die Gifte des Hvpophysentumors
in Betracht, Die Beobachtung, daß hei längerer Dauer von Hypo-
phvysentumoren die1 inneren Organe schwere Veränderungen auf-
weisen, drängt zu einer frühzeitigen Inangriffnahme der Hypo¬
physenoperation.
v. Eiseisberg erkennt die Verdienste des Dr. Hirsch
um die Ausbildung der endonasalen Operationsmethode, sowie
deren günstige Resultate vollkommen an, bei neckt aber, daß vom
Standpunkte des Chirurgen aus ein Todesfall, der innerhalb1 drei
Wochen nach der Operation eintritt auf jeden Fall als mit dem
Eingriff im Zusammenhänge zu betrachten ist. Der von Doktor
Hirsch zuletzt erwähnte Fall mit letalem Ausgange wurde ihm
seinerzeit von Prof, v . Frankl-Hochwart vorgestellt. E r
machte den Patienten auf die Gefahren der Operation nach
Schloffer aufmerksam, worauf sich der Kranke für die endo-
nasale Methode entschied.
Für das Zustandekommen der Pneumonie in diesem ^ Falle
dürften ähnliche Momente in Betracht kommen, wie sie A.Frän-
kel für die von den Nebenhöhlen der Nase ausgehenden Spät¬
infektionen (Diplokokken) hei Schädelbasisfrakturen be¬
schrieben hat.
Dr. Oskar Scheuer: Demonstration eines Falles von Trüh-
reife und Hypertrichosis hei Hermaphroditismus
und Wachstumsstörung.
Ich erlaube mir. einen Fall zu demonstrieren, den ich
in Herrn Priv.-Doz. Kienböcks Röntgeninstitut einer genauen
Untersuchung unterzogen habe. Es handelt sich um ein Indi¬
viduum, welches derzeit in Wien als „achtjähriges Mädchen
mit Männerbart“ öffentlich zur Schau gestellt wird.
In gewisser Beziehung ist. eine derartige Bezeichnung des
Individuums gerechtfertigt, dieselbe bedarf aber bedeutender
Korrekturen.
Es' ist ein 120 cm langes, kräftiges, mit starker Musku¬
latur versehenes Individuum. Der Kopfumfang beträgt 5 UV cm.
Das Benehmen entspricht, etwa dem achten Lebensjahre, viel¬
leicht sogar einem noch jüngeren Kinde u. zw. weiblichen Ge¬
schlechtes. Es ist ein ziemlich langes blondes Kopfhaar vor¬
handen und im Gesicht ein starker schwarzer Backen b a r t.
und ein leichter Schnurrbart, wie er etwa einem 18jährigen Bur¬
schen zukommen würde. Er besteht seit, dem dritten Lebensjahr.
Der Kehlkopf ist groß, die Stimme männlich. Es ist ein blei-
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
11
Wndos Gebiß vorhanden mit Durchbruch der zweiten Mahlzahne.
Die Schilddrüse ist vorhanden.
Die Haut des Rumpfes und der Extremitäten, zeigt eine aus¬
gesprochene Hypertrichosis.
Der Oberkörper hat männlichen Habitus, es fehlt jede Spui
von Mammen. Die Schamhaare sind sehr dicht, und ihre. Fort¬
setzung reicht am Bauche nach oben bis über den Nabel hinaus.
Die Schamgegend selbst sieht auf den; ersten Hink weib¬
Die nähere Untersuchung des Genitales ergibt aber den
überraschenden Befund eines Hermaphroditismus; es sind
(rioße und kleine Labien, eine weite , Scheide und ein kleiner
Uterus vorhanden. Selbst in tiefer Narkose weder Ovarien noch
Hoden tastbar (keine Menstruation). Statt einer Klitoris ist ein
hypospadi scher, sonst gut geformter Penis vorhanden, der
in seiner Größe etwa dem eines vierjährigen Knaben entspricht,
er ist einer gewissen Erektion fähig (Prof. Hal ban).
Die Körperlänge von 120 cm entspricht dem Alter des In¬
dividuums. Es ist aber keineswegs ein proportionierter \\ uchs,
vielmehr durch unrichtige Proportionen der einzelnen Teile eine
ausgesprochene Wachstumsstörung vorhanden. Der Kopf ist
zu groß, die untere Rumpf hälfte im Verhältnis zur oberen zu
klein, daher der Nabel sehr tief gelegen, die Arme und Beine
viel zu kurz. Diese Verhältnisse, sowie der ganze Eindruck ues
Körperbaues entspricht einer Chondrodystrop h l e, also ein em
chondrodystrophischen Zwergwuchs; nur ist, die gesamte Korpci-
länge heute, im achten Lebensjahre, noch nicht zurückgeblieben,
vielmehr sind nur die Extremitäten kürzer als es dem Alter
entspricht, der Rumpf ist sogar länger. Es ist also kein typi¬
scher Fall von Chondrodystrophie.
Von Wichtigkeit ist der radiologischei Befund am
Skelett, den Herr Priv.-Doz. Kienböc'k erhoben hat.
Die Sella turcica ist klein. Das Skelett des Rumpfes und
der Extremitäten ist zu plump, die Schenkelhälse sind sehr kurz,
die Knochenformen sind nicht die für Chondrodystrophie typi
sehen Der Ossifikationszustand der Hand entspricht dem
IG Lebensjahre, die Epiphysenfugen an den Handknochen
sind geschlossen, an den Vorderarmknochen noch offen aber
schmal. Die Darmbeinkämme tragen bereits Knochenleisten. I
Reifezustand des Skelettes und der Bartwuchs entsprechen also
derselben Entwicklungsstufe. , ,
Wir können Voraussagen, daß das Individuum höchst.
noch wenige Zentimeter wachsen und sich daher zu einem
Zwerge herausbilden wird.
Der Fall stellt eine große Seltenheit dar; es sind bekam -
lieh in der Literatur bereits Fälle von frühzeitiger Gescnleehts-
reife niedergelegt, aber eine derartige Kombination von Storungen
habe ich nicht gefunden. Auch der Fall von Lesser aus dem
Jahre 1900 ist nicht vollkommen analog. . •
Bekanntlich denkt man heute daran, daß die Aetiolo c
dieser Erkrankungen in einer Störung der Glandula pinea s
liegen könne und wir werden diesbezüglich noch weitere Studien
bei unserem Falle .anstellen. .
Diskussion ; Prof. P as c h k i s : Ich habe das Individuum schon
früher gesehen und es bei einer flüchtigen Besichtigung R
und des Oberkörpers sofort für einen männlichen Zwerg „
halten. Dadurch entfällt auch eine Klassifikation der Behaaiung,
welche weder Heterochronre, noch Heterogenie, noch Iletcio
topic im Sinne Bartels ist. Die Behaarung ist durchwegs
von männlichem Typus. Die Barthanre sind,, obgleich Kr°^enteil&
Spitzenhaare, grob, hart und straff. Was das Erschemen de,
Bartes nach einer angeblichen Erkrankung betrifft, >o khk 1
bei den in der Literatur ver zeichneten Fallen von nach Geinla
erkrankungen aufgetretener weiblicher HyPertr^h°^ * S|C^ ‘
gaben darüber, ob diese nicht schon vorher bestanden habt.
Priv-Doz Dr. L. Teleky stellt drei Arbeiterinnen einer
Glühlampenfabrik vor. Alle drei Arbeiterinnen zeigen eine mehr
oder weniger weit vorgeschrittene Atrophie der Interossei ue
linken Hand. Bei den zwei schwer Erkrankten begann das Leiden
mit Parüsthesien an der Ulnarseite des Vorderarmes und du
Hand, bei einer von diesen ist auch die Atrophie des Museuhu
fteX°1D?edieänaEre£nimgen zugrunde liegende Neuritis nervi
ulnaris ist durch direkten Druck auf den Nerven ^o,*eruto
worden. Die am leichtesten Erkrankte stutzt die Hand mit JL
Gegend des Os piriforme an die Kante eines Brettes, wodmd
ein Druck auf den Ramus' profundus nem ulnans j *
wird, die zwei schwer Erkrankten, die auch deutliche L uc ei
nungen von Mitbeteiligung des Ulnans am Unterarm dm
arbeiten dauernd mit auf dem Tisch aufgestutzten Ellbogen des
Unken Amms wobei ein Druck auf den Nerven im Sulcus ulnans
des Epikondylus des Oberarmes ausgeübt wird. Bei einer dieser
Patientinnen ist der Ulnaris dort deutlich verdickt und sehr
druckempfindlich.
Diese letzterwähnte Arbeiterin ist bereits nach litagiger
Arbeit erkrankt. Bei zwei der Patientinnen ist wahrscheinlich
die Gravidität als prädisponierendes Moment anzusehen.
Diskussion; Prof. Dr. Maximilian Sternberg hat eimai
ganz gleichartigen Fall, ein löjähriges Mädchen betreifend, eben
in seiner Spitalsabteilung. Dasselbe hat in einer anderen GLili-
lafnpenfabrik als die von Dr. Teleky vorgestellten Patientinnen
gearbeitet. Nach der Angabe dieser Kranken, leiden noch zahl
reiche andere Arbeiterinnen aus ihrem Betriebe an einer solchen
Veränderung der linken Hand. Es handelt sich demnach in der
Tat um eine typische Berufskrankheit bei der Giün-
lamp enf ab rikatioji.
Prof. J. Tandler: Ueber Aufforderung des Herrn Kollegen
Teleky möchte ich in Kürze einen Fall von weitgehender Atro¬
phie aller jener Muskeln demonstrieren, welche vom Ramus
profundus Nervi ulnaris versorgt werden. Da solche Talle irn
präparierten Zustande nicht häufig sind, wird das hier herum¬
gereichte Präparat eines gewissen Interesses nicht entbehren.
Man sieht an ihm die totale Atrophie sämtlicher Musculi in¬
terossei, des Musculus adductor pollicis und der Hypotnenar-
muskulatur, sowie des ulnarein Lumbnkalis, wahrend der. Mus-
culus carpi ulnaris, als vom Stamme des Nervus ulnaris mner-
vlert vollkommen normal ist. In dem hier präparierten Taue
saß unmittelbar oberhalb des Handgelenkes ein mächtiges Neurom
am Nervus ulnaris. . , r. .
Bezüglich der Verletzbarkeit der Nerven an der Beuge¬
seite des Handgelenkes möchte ich kurz folgende, praktisch nicht
unwichtige Bemerkung machen: Bei Volarflexion der Hand ruckt
der Medianus in die Tiefe, während der Nervus ulnans an der
Radialseite der Sehne des erschlafften Musculus flexor carpi
ulnaris leicht zugänglich wird. Bei starker Dorsal tlexion ver¬
schwindet der Nervus ulnaris, natürlich mit der gleichnamigen
Arterie, unter der gespannten Sehne des Musculus llexor carpi
ulnaris, während der Nervus medianus an der ulnaren bene der
vorspringenden Sehne des Musculus palmans longus direkt unter
die Haut zu liegen kommt. Es genügt m dieser Stellung
der Hand eine Verletzung der Haut, um Läsion ries Nervus
medianus herbei zuführen. Mir selbst sind zwei Talle bekannt, m
welchen eine bei dieser Handstellung erworbene-, anscheinend
nur die Haut durchsetzende Schnittwunde Lähmung des Nervus
medianus zur Folge hatte. Einer dieser beiden Talle wurde
seinerzeit vorn Kollegen Hirse hl demonstnert.
Priv-Doz. Dr. Max Herz: demonstriert einen Mann, der es
erlernt hat, eine Reihe von Bewegungen auszuführen, die sonst
der Willkür entzogen sind. Er kontrahiert isoliert den Musculus
biceps triceps, das Platysma myoides, den Musculus rectus ab¬
dominis in toto und seine einzelnen Abschnitte, den Musculus
obliciuus extemus usw. ..
^ Er scheint sein Herz willkürlich verlagern zu können, so
'daß sich die Herzdämpfung nach rechts, links oder unten ver¬
schiebt, wahrscheinlich durch verschiedene Kontraktionen c
Zwerchf^ ^ kann er verlangsamen und sein Herz sogar einige
Sekunden Stillstehen lassen. ,
Die Pupille kann einseitig nach Belieben erweitert ode
verengt werden. Schließlich gelingt es dem Betreffenden aui
V«££en eil*' Cutis ansenna an seinem Arme sowie eine
Rötung und Schwellung einer bestimmten Hautstelle hervorzu-
rufen. dieser phän0menen ist der Umstand interessant,
daß sie unter Zuhilfenahme einer Autosuggestion erstehen Die
Gänsehaut stellt sich ein, wenn das Individuum .ich embilde ,
in einem ungeheizten Raume zu frieren; zum Zustande-kommet
der HaSrötung und Schwellung ist die Vorstellung eines chirur¬
gischen Eingriffes an der betreffenden Stelle notwendig und das
Herz schlägt langsamer, wehn es Pat. gelingt, sich einzureden,
68 ^ R-of ' Vzeißl : M . H. ! Ich erlaube mir die Abbildungen eines
Pat zu zeigen die angeferligt wurden, bevor und nachdem er mit
nnrl Tod behandelt weil die Lueserscheinungen Schlag aut bc a„u
n t f schon im Februar 1906 entstanden Gummen, die reich-
uÄÄsiLÄ die Extremitäten verteilt waren, trotz
fortgesetzter , antiluetischer Behandlung kam cs uac t d
zn einer kolossalen Verdickung der Nasenhant, Je. Ober und
112
WIENER' KLINISCH!'. WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 3
Unterlippe sowie der Zunge, so daß letztere im Munde kaum
Platz hatte. Die Zunge zeigte vier tiefe Furchen, zwischen
welchen die weißgrau gefärbte Zungenoberfläche in Wül¬
sten emporragte. Es handelte sich also um eine Eues diffusa
hypertrophica oder wie man sie früher nannte, um Leontiasis
syphilitica. Da sich der Zustand trotz energischer Behandlung
mit löslichen und unlöslichen Quecksilberpräparaten, Jod und
Decoctum Zittmanni nicht besserte, die Entstellung vielmehr
immer ärger wurde, injizierte ich dem Kranken am 25. Juli
1910 0-5 g ,,606“ in monazider Lösung intramuskulär. Sehen
wenige Tage nach der Injektion begannen sich die geschilderten
Erscheinungen zurückzubilden und nach zirka drei Wochen ist
das Aeußere des Kranken, wie die Photographie mit geschlossenem
Munde zeigt, ein vollständig normales geworden. Nur die Zunge,
die auch fast zur Norm zurückgekehrt ist, zeigt noch eine tiefe
Furche in der Mitte und vereinzelte epitheliale Trübungen.
Ich habe bisher 167 Patienten mit Salvarsan behandelt.
Bei einem derselben trat, einige Tage bevor ein Rezidiv an
der Haut in Erscheinung kam, Ohrenklingen auf, das aber unter
einer eingeleiteten Quecksilberkur gleichzeitig mit dein Rezidiv-
exanthem schwand. Erwähnen will ich noch, daß in der Lite¬
ratur nicht nur die von Prof. Riehl schon erwähnten Queck¬
silberschädigungen von Lasserre enthalten sind, sondern daß
auch Bartsch 42 Todesfälle, davon 34 durch Injektion meist
unlöslicher Quecksilberpräparate und 8 durch Einreibungen ver-
anlaßte, mitteilt. Die Dosen waren normal. Schwarz berichtet
gleichfalls über einen Todesfall nach einer Injektion mit 0-05 sali-
zylsaurem Quecksilber im Württembergschen Korrespondenzblatt
(1909). Auch Nekrosen wurden vielfach sowohl nach löslichen,
als nach unlöslichen Quecksilberpräparaten beobachtet. In der
französischen Literatur — ich werde in späterer Zeit eine aus¬
führliche Zusammenstellung derselben liefern -- finden sich zahl¬
reiche Mitteilungen aus der Zeit vor dem Salvarsan über Op¬
tikus- und Akustikuserkrankungen, sowie Erkrankungen anderer
Nerven, nur durch Syphilis bedingt. Gustave Lagneau be¬
richtet im Jahre 1860 in seinem Buche: Syphilis du system
nerveaux, über 14 leichtere und schwerere Fälle von Ohren
erkrankungen bei Syphilis, Mauri ao im ersten Band, S. 642,
im Jahre 1883 über Labyrintherkrankungen infolge von Syphilis
und im Jahre 1890 im zweifeln Bande, S. 1038 — 1071, über
Nervensyphilis überhaupt. Wenn ich auch gerne zugebe, daß
Millionen und Millionen Menschen mit Quecksilber behandelt
wurden, darf man doch nicht vergessen, welche schweren Schädi¬
gungen im 15., 16., 17. und 18. Jahrhundert durch Merkur
veranlaßt wurden und vergessen sind wohl die Klagen U 1 1-
richs von Hutten über das, was er1 unter der Merkurbehand-
lung litt nicht. Aber selbst zu Anfang dels 19. Jahrhunderts hatte
der Mißbrauch mit Quecksilber noch kein Ende gefunden und
daher, namentlich in Wien, zur Absurdität des Antimerkurialis¬
mus geführt. Es ist das große Verdienst Siegmund s, die
Schmierkur in rationelle Bahnen geleitet zu haben. Es ist gewiß
Unrecht, irgendein Präparat auf einmal in den Himmel zu heben,
aber ebenso Unrecht ist es, nach einer kurzen Behandlungsdauer
von kaum sieben Monaten über dasselbe schon allgemein gül¬
tige Schlußfolgerungen zu ziehen. Bei gewissenhafter vollständiger
klinischer Untersuchung und Anwendung monazider Lösungen
wird sicher keine Schädigung der Patienten statthaben. Uebrigens
hat Wechsel mann 2400 Patienten mit seiner Emulsion be¬
handelt und bei den letzten 600 Behandelten keine Nekrosen ge¬
sehen. Doerr hat 272, ich selbst 165 mit monaziden Lösungen
intramuskulär behandelt und bei diesen 437 Fällen kam es weder
zu Nekrosen noch zu irgendeiner anderen Schädigung. Drei Fälle,
die Mitte Juli, bzw. Anfang August und 30. September bei
alleinigem Bestand des Primäraffektes mit monaziden Lösungen von
,,606“ von mir behandelt wurden, bieten bis heute unter konstanter
Beobachtung keinerlei Allgemeinerscheinungen. Beim dritten Pa¬
tienten, der im September, bevor er injiziert wurde, eine Frau
mit Syphilis infiziert hatte, ergab die Blutuntersuchung durch
Dr. E. Epstein am 30. Dezember 1910 negativen Wasser¬
mann. Diese drei Fälle lassen uns hoffen, daß, die Möglich¬
keit einer Dauerheilung nicht ausgeschlossen ist.
Dr. H. Fasal: stellt aus der Charite eine 62jährige Frau
vor; bei welcher vor 4V2 Jahren eine Amputatio mammae nebst
Ausräumung der Lymphdrüsen der linken Achselhöhle vorge¬
nommen wurde. Zwei Jahre später trat mäßige Anschwellung
des linken Armes auf, die längere Zeit konstant blieb und erst
in der letzten Zeit stark zunahm. Seit fünf bis sechs Wochen
bemerkt Pat. das Auftreten zahlreicher Flecken und Knötchen
am Stamm und am linken Arm. Der ganze linke Arm erscheint
von der Achselhöhle an bis zu den wulstig aufgetriebenen Hand¬
gelenken und Fingern außerordentlich vergrößert. Die Vergröße¬
rung bezieht sich, wie das Röntgenbild zeigt, nur auf die Weich¬
teile. An Stelle der linken Mamma befindet sich eine Narbe,
die sich bis in die Achselhöhle hineinzieht und an der Innen¬
seiten des Oberarmes unter der Achselhöhle tief cingezogen endet.
Sowohl am Sternal- wie am oberen Teil der Narbe sehen wir
zahlreiche, flache, braunrote linsenförmige und größere Infil¬
trate. Außerdem sehen wir aber eine ganze Aussaat von ver¬
schiedenartigsten Karzinommetastasen der Haut in Form kleinster
hirsekorn- bis stecknadelkopfgroßer Knötchen, die teils im Niveau
der Haut liegen, teils über dasselbe prominieren, nach oben an
Größe zunehmen und über die Klavikula hinausreichen. Die
Form der Knötchen ist sehr mannigfaltig. Sie sind teils isoliert,
papulös, teils plan, wachsglänzend, teils subkutan liegend von
unveränderter Haut überzogen.
Ebenso sehen wir am linken Oberarm zahlreiche derbe,
braunrote, scharf begrenzte Knötchen, welche in gesunder Haut
teils isoliert liegen, teils zu serpiginöson Formen angereiht er¬
scheinen. Das histologische Bild — das Präparat ist mikrosko¬
pisch eingestellt — eines exzidierten Knotens zeigt die karzino-
matöse Infiltration in den Getwebs spalten der Haut. Dabei ist
die Struktur der Haut nicht verändert, da die epitheloiden Zellen
und Zellstränge die vorhandenen Gewebsspalten und Lymph-
bahnen benützen, im Gegensatz zu den anderen Karzinomen der
Haut, bei denen die eindringenden Epithelien sich neue Wege
bahnen. Die Abgrenzung der Epidermis erfolgt scharf durch die
vollständig erhaltene Basalzellenschicht. Sowohl im Bereich des
Stratum papillare wie auch des Stratum reticulare finden sich
epitheloide Zellen, welche stellenweise zu Strängen unge¬
ordnet sind.
Während gewöhnlich die lokalen Hautmetastasen bei Brust¬
krebs nur die das primäre Karzinom überziehende Haut mit
Knötchen und flachen linsenförmigen Verdickungen durchsetzen,
sehen wir hier, wie in kurzer Zeit die Hautmetastasen in exanthem¬
artiger Ausbreitung auftreten.
Ueber ähnliche Fälle erschien vor einem Jahre eine Arbeit aus
der Klinik Riehl von Eitner. und Reitmann. Herr Professor
Riehl stellte hier einen Fall vor mit Wäschen- und knötchen¬
artigen Bildungen. Gewöhnlich sind die primären Tumoren schon
sehr vorgeschritten, wenn es zur Metastasenbildung kommt. Es
kann aber wie Velpeau hervorhebt, die Entwicklung des
Primärtumors unter so unscheinbaren Symptomen einhergehen,
daß erst die Hautmetastasen in Form einzelner isolierter Knötchen
die Aufmerksamkeit auf das Vorhandensein eines primären Kar¬
zinoms lenken können. Da es nicht häufig vorkommt, daß kar-
zinomatöse Hautmetastasen in dieser Mannigfaltigkeit und Aus¬
dehnung isoliert zu sehen sind, erlaube ich mir diesen Fall
hier vorzustellen.
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Leopold Freund: Bei einem
Fälle, welcher dem demonstrierten sehr interessanten Falle des
Herrn Kollegen Fasal ähnlich war, ergab mir die Röntgenunter¬
suchung der geschwollenen oberen Extremität hochgradigste
Ytrophie aller Knochen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich er¬
wähnen, daß sich durch die Röntgenuntersuchung bei Patientinnen
mit Mammakarzinom, welche über rheumatoide Schmerzen
klagen, oft schon frühzeitig atrophische Stellen in den Knochen
(ich sah solche wiederholt in den Vorderarmknochen, in Wirbeln
und im Kreuzbein) nachweisen lassen, wo sonst keine Anzeichen
der Metastasierung des Tumors vorhanden sind. Es sollte des¬
halb in Fällen, wo über solche rheumatoide Schmerzen ge¬
klagt wird, eine Röntgenuntersuchung der betreffenden Knochen
nicht unterlassen werden, weil im Falle des Nachweises von
derartigen Kn ochenmetastasier urigen, die Amputation der Mamma
besser zu unterbleiben hätte.
Dr. Finsterer (aG.): M. H. ! Vor 2V2 Monaten stellte ich hier
einen zwölfjährigen Knaben mit einer Luxation der rechten
Beckenhälfte aus der Unfallstation der Klinik Höchen egg vor.
Heute kann ich den Pat. als vollkommen geheilt neuerlich demon¬
strieren. Obwohl bereits vier Wochen seit der Verletzung ver¬
gangen waren, gelang es dennoch, durch einen bis über den
Darmbeinkamm hinaufgreifenden Extensionsverband und Kontra¬
extension kreuzförmig über Brust und Rücken die verrenkte
Beckenhälfte vollkommen herabzuziehen. Da eine veraltete Ver¬
letzung vorlag, mithin eine feste Verheilung unwahrscheinlich
war, wurde nach drei Wochen die Symphyse durch eine Alu¬
minium-Bronzed rahtnaht genäht, hierauf ein Beckengurt mit seit¬
lichen Zügen angelegt, damit auch die Articulatio sacroiliaca
möglichst genähert werde. Vorsichshalber wurde dann Patient
neuerlich sechs Wochen im Bette gelassen, um jede Belastung
des Beckens zu vermeiden.
Die Verletzung ist vollkommen geheilt u. zw. sowohl in
anatomischer Hinsicht -- das Röntgenbild zeigt nur ein Höher-
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
113
stehen des Schambeines um einige Millimeter — als auch funk- |
tionell, da Hat. wieder vollkommen normal und ohne die geringsten
Schmerzen gehen kann.
Unter den wenigen Fällen von totaler Becken Verschiebung
einer Seite, die geheilt, wurden, finden sich nur je eine Mit¬
teilung von Hallo well und Grimbach, wo eine vollkommene
Heilung erzielt worden war; beide Fälle kamen aber unmittelbar
nach der Verletzung in Behandlung, während in unserem Falle
bereits mehr als vier Wochen seit dem Trauma verstrichen waren.
Daß derartige Verletzungen auch ohne besondere Behandlung
schließlich ausheilen können, allerdings mit einer Verkürzung
wie eine schlecht geheilte Ober- oder Unterschenkel Irak tu r,
zeigen je einen Fall von Kolisko und Sternberg, wo der
Befund gelegentlich der Sektion zufällig erhoben worden war.
Prof. v. Fürth und Priv.-Doz. C. Schwarz: lieber Hem¬
mung der A d renalin-Gl y k ö-sur i e durch Pankroas-
präparate. (Erscheint ausführlich.)
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 13. Dezember 1910.
Vorsitzender:
Schriftführer :
Hof rat Oberstein e r .
Eaimann.
Zu neuen Mitgliedern werden gewählt: Prof. 1. Dimmer,
Regimentsarzt Milan Bcchtali, Regimentsarzt Otto Glaser,
Dr. Julius Bauer, Dr. Hans E pp in g er, Dr. Siegfried Gellis,
Dr. Robert Löwy, Dr. August Redlich, Dr. Zdislaw Reich.
D e m o ns t r a t i o nie n :
a) Dr. Egon Fries: Ä. B., 46 Jahre, Lichtdrucker, wurde im
Jahre 1910 im Juli-August von der Polizei der psychiatrischen
Klinik (Hofrat v. Wagner- Ja ur egg) wegen eines postepilep¬
tischen Dämmerzustandes eingeliefert. Er selbst und seine 1 rau
konnten zur Anamnese folgende Daten geben :
Pat. war bis vor sechs Jahren vollkommen gesund. Da¬
mals traten Anfälle von Jackson-Typus auf. Sie begannen nnt
Ameisenlaufen im rechten Beine, worauf sich klonisch-tonische
Krämpfe in den rechten Extremitäten und im rechten Fazialis-
gebiet ohne Bewußtseinsverlust einstellten. Von diesem lypus
traten innerhalb sechs Monaten zwei Anfälle auf, dann trat eine
Aenderung im Typus ein. Die -Krämpfe begannen im linken Fuß,
stiegen links aufwärts und wenn die Sensation die Herzgegem
erreichte, trat Bewußtlosigkeit ein und die Krämpfe wurden all¬
gemein. Seit nun vier Jahren treten die Anfälle aus dem bchlate
heraus auf und gehen mit allgemeinen Krämpfen und Bewußtlosig¬
keit einher. Slie wiederholten sich zirka dreimal im Monat.
In letzter Zeit sind die Anfälle häufig von mehr weniger lang
dauernden Verwirrtheitszuständen gefolgt, welche, wie schon
eingangs erwähnt wurde, bereits zweimal seine Einlieferung in
die psychiatrische Klinik notwendig machten. Anfangs Oktober
dieses Jahres hatte Patient zwei Anfälle, die er folgendermaßen
beschreibt. Sie wurden eingeleitet, von einer eigentümlichen Sen¬
sation im Unterkiefer, er konnte nicht sprechen oder brachte ein
falsches Wort heraus. Dann drehte sich der Kopf nach rechts,
während es den Mund nach links verzog, worauf Bewußtlosigkeit
eintrat Während der Bewußtlosigkeit sollen dann Zuckungen
in der linken Hand aufgetreten sein, während die rechte Seite
vollkommen ruhig blieb. Einmal soll der Anfall auch im Halse
begonnen haben und Pat. will durch vier Stunden außerstande
gewesen sein, zu sprechen. Am 8. November hatte L at. eimii
Anfall ohne Krämpfe, in dem er zwar Zusammensturz e, jedoch
nicht vollkommen bewußtlos war. In den letzten Monaten tragen
auch, zirka einmal die Woche, rudimentäre Anfalle ein, in denen
Pat für eine halbe Minute starken Schwindel fühlte und em
Nebel vor Iden Augen hatte. Vor drei Jahren wurde ein Bandwurm
abgetrieben. — Die Frau hat viermal abortiert. — Lues geleugnet.
Die körperliche Untersuchung ergibt : Großer, kräftiger Mann.
Schädel nichts Abnormes. Innere Organe und Nierenbefund not¬
mal. Ophthalmoskopischer Befund normal. Serumreaktion nach
Wassermann negativ. Mäßige Fazialisparese- rechts. I n-
nerven sonst frei. Geringe Differenz der motorischen Kiatt dei
Hände zuungunsten der rechten Seite (Dynamometer).
Die Reflexe der oberen Extremitäten zeigen keine Diü^rcnz.
Hatellarsehnenreflex rechts lebhafter als links. Achillessehnen-
reflex links eine Spur lebhafter als rechts Kein Fußphanomem
Kremaster-, Fußsohlenstreich und Bauchhautreflex rechts wemgei
lebhaft als links. Kein Babinski. Nadelstiche werden am rechten
Fuße etwas stumpfer empfunden.
Ueber den ganzen Körper verstreut, (rechte Bauchbelt®’ ,an
Rücken, an der Hinterseite des Oberarmes, m der Haut der 1 nken
Wade usw.), unmittelbar unter der Haut, zum Teil über bohnen¬
große beinharte Knötchen. Probexzision: Zystizerkus. Das Auf¬
treten von Epilepsie im höheren Alter muß an und für sich schon
Veranlassung geben, an andere Ursachen, als es die gewöhnlichen
sind., zu denken. Kommt Hoch dazu, daß die Anfälle Jacksontypus
zeigen, so ist die Annahme einer symptomatischen Epilepsie sehr
naheliegend, ln unserem Kalle zeigen die Anfälle einen Wechsel
des Typus. Zuerst wies ihre Form auf einen Herd in der linken,
der spätere Verlauf auf eine Erkrankung der rechten Hemisphäre
bin. Multiple Ge webstumorein sind nicht häufig, es sei denn,
daß es gerade Gummen sind. Die lange Dauer aber und die
negative Blutserumreaktion, wenn die letztere auch nicht als
ein absolutes Kriterium gegen Lues anzusehen ist, sprechen gegen
eine solche Annahme. Dagegen finden wir in der Haut zahl¬
reiche kleine Geschwülste und wir konnten uns durch Exstir¬
pation und Inspektion eines solchen Knötchens überzeugen, daß
es sich um Zystizerken handelt, womit die Wahrscheinlichkeit,
daß die multiplen Herde im Gehirn dieselbe Natur haben, sehr
groß wird. Lumbalpunktion und Hirnpunktion konnten uns even¬
tuell vollkommene Klarheit verschaffen und wir erinnern hier,
daßi eis Pfeif fei- in einem Falle gelungen ist, mit beiden Me¬
thoden Partikelchen eines Zystizerkus zutage zn fördern und
die Lokalisation des Herdes für die spätere Operation zu sichern.
Wir glauben in unserem Falle; von einem solchen Eingriff absehen
zu können, da wir eine Operation nicht für indiziert hielten.
Unser Patient hat sicher multiple Herde, denn ein Wandern dei
Zystizerken, wie es ja Mr den Wechsel der Herderscheinungen
angenommen wurde, kommt wohl nicht in Betracht. Es scheint
nun, daß die eine Blase in der linken Hemisphäre zur Ruhe ge¬
kommen ist (Verkalkung konnten wir durch Röntgenographie nicht
nac h weisen) und in den letzten Monaten war die Intensität und
die Häufigkeit der Anfälle nicht so bedrohlich, daßi man un¬
bedingt zu einem Eingreifen gedrängt wurde, wenn auch die
psyyi hischen Störungen im letzten Jahre eine Verschlimmerung
bedeuten. Es bleibt auch sehr die Frage, oh die Exstirpation
eines Herdes die epileptischen Anfälle beeinflußt, die Falle von
Pfeiffer und Fischer lassen dies jedenfalls nicht hoffen.
b) Dr. Fries und Dr. 0. Pötzl: Ein Fall von reiner
tlexie. (Erscheint ausführlich.) ' .
c) Dr. C. Econom o (Klinik v. Wagner) demonstriert das
Jehim eines Falles von Akustikus tumor, dessen klinisches
Wmptoinenbild die Diagnose dadurch erschwert hatte, daß neben
inkseiliger Taubheit und Unerregbarkeit des Vestibularapparates
md linkseitiger leichter Parese der übrigen Hirnnerven sich
uich noch eine linkseitige Parese der oberen Extremitäten
md unteren Extremitäten mit leichter Reflexsteigerung und Ba¬
nnski vorfand, sowie eine linkseitige Hypästhesie für lem-
mratnr- und Schmerzreize. Trotzdem wurde die Diagnose lmk-
ktiger Akustikustumor gestellt und der Fall zur Operation uber-
v lesen. Bei derselben wurde tatsächlich ein walnußgroßer links¬
seitiger Akustikustumor (Fibroin) gefunden und entfernt; doch
starb die Patientin einige Stunden nach dem Eingriff. Die Unter¬
teilung nach March! von Präparaten aus verschiedenen Hohen
('Vierhügel, Pons, Oblongata, Rückenmark) ergab bloß, eine iliLMse
Verteilung von Degenerationsschollen entsprechend der allgemei¬
nen leichten Schädigung durch dein vom Tumor ausgeub ten Druck
über den ganzen Querschnitt, doch keinerlei Strangdegeneration
und keinerlei ausgesprochene stärkere Schädigung der rechten
oder linken Seite. Es können infolgedessen die Symptome von
seiten der linken oberen Extremitäten und unteren Extremitäten,
sowie die linkseitige Sensibilitätsstörung nicht etwa in einem
nicht aufgefundenen Herde ihre Ursache haben, sondern es
müssen trotz der Gleichseitigkeit auch diese Symptome als un¬
mittelbare Folge des vom Tumor ausgeübten Druckes angesehen
werden. Am nächstliegenden ware es, die Parese durch e
Schädigung der gleichzeitigen Klemhirnhemisphare -u
klärten doch bliebe dadurch die gleichseitige Sensi-
b i 1 i tä ts 8 tö r u n g unerklärt. Infolgedessen erschein die j Deu-
tung am plausibelsten, die Oppenheim bei emem dentibchen
Falle von Akustikustumor mit gleichseitiger Extremitatenpaiese
gegeben hat, daß nämlich manchmal infolge der Kompre® ision d
vom Tumor verdrängten Brückenpartien die gegen die harte Fels
beinpyramide gepreßte Gegenseite mehr geschad g
Seite auf die der Tumor unmittelbar selbst druckt. Auen eine
ischämische Wirkung auf die Gefäße der Geg^ite konnte Mese
Erscheinung erklären, ebenso wie man into ge u (" erfährt an
Krümmung, die die Ponsgegend beim Akustikustumor
die Möglichkeit einer Ueberdehnung der Nervenfasern der ,
vorgewölbten Gegenseite denken kann. G MichgulRg für welche
Deutung man sich entscheidet, dieser Fall zeigt ge a
dem Oppenheim sehen, daß bei Akustikustumoren ment so
114
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 3
selten auch eine gleichseitige Extremitätenparese Vorkommen kann, |
ja daß sogar dieselbe, wie in unserem Falle, das erste vom Pa¬
tienten selbst beobachtete Symptom bilden kann.
Prof. Hermann Schlesinger berichtet im Anschlüsse an
die Demonstration über zwei Fälle von operierten Akustikus-
t um or en. Im ersten hatte der positive Ausfall der Wasser¬
mann sehen Reaktion und der Rückgang mehrerer Symptome
unter antiluetischer Behandlung an eine syphilitische Erkrankung
m der Gegend des Kleinhirnbrückenwinkels denken lassen. Erst als
neuerliche Progression eintrat und Erblindung drohte, wurde
operiert (Hofrat Eiseisberg). Leider erlag der Kranke schon
dem ersten Eingriffe. Bei der Autopsie wurde ein großer, gut ab¬
gegrenzter Tumor des Akustikus gefunden; keine Zeichen einer
Hirnlues. Dieser Fall mahnt im Vereine mit anderen Erfahrungen
und der eben mitgeteilten Beobachtung Economos zur Vorsicht,
wenn bei sonst gut fundierter Diagnose eines Akustikustumors die
Frage einer Lues aufgerollt wird.
Der zweite Fall bestätigt die Angabe Economos, daß in
Wien im Krankenhause seltener typische Fälle von Akustikus1-
tumoren beobachtet werden. Das junge Mädchen hatte schon drei
Jahre lang Erscheinungen u. zw. von seiten des Gehörs. Zur
Zeit der Spitalsaufnahme bestand linkseitige Taubheit, doppel¬
seitige Stauungspapille, Areflexie der linken Kornea. Späterhin
gesellte sich noch eine bilaterale homonyme Hemianopsie hinzu,
welche erst durch die Operation ihre Erklärung fand. Sonst fehlten
alle Symptome, namentlich zerebellare, vollständig. Die Ope¬
ration (Priv.-Doz. Clairmont — Klinik v. Eis eis borg) zeigte
schon beim ersten Akte ein derartiges Vorquellen des Okzipital¬
lappens, daß dadurch die Hemianopsie erklärt schien. Der Tumor
ging vom linken Akustikus aus, war derb und gut abgegrenzt und
hatte sich in die Felselnbeinpyramide geradezu eingegraben. Er
war weit über haselnußgroß. Die Patientin verließ das Kranken¬
haus geheilt, jedoch war die Optikusatrophie weiter fortge¬
schritten.
d) Priv.-Doz. Dr. Bäräny demonstriert das Gehirn eines in
der Klinik v. Wagner verstorbenen 57jährigen Patienten, bei
welchem die von Bäräny auf Grund der Untersuchung des
Vestibularapparates gestellte Diagnose Tumor cerebelii (vermis
sinistri) durch die Obduktion bestätigt wurde. Zur Zeit der
Stellung der Diagnose, am 1. September 1910, war der sonstige
neurologische Befund negativ, es war keine Stauungspapille vor¬
handen, jedoch bestanden psychische Störungen. Die Ohrunter¬
suchung ergab: Trommelfell beiderseits normal. Gehör für akzen¬
tuierte Flüstersprache rechts 2 m, links lm, Rinne positiv,
Knochenleitung etwas verkürzt, hohe und tiefe Töne (C, c*) eben¬
falls verkürzt, also Befund einer Läsion des schallperzipie-
renden Apparates derzeit mäßigen Grades. Die Untersuchung des
Vestibularapparates ergab: kein spontaner Nystagmus. Anschei¬
nend etwas Einschränkung des Blickes nach aufwärts. Fallen
nach hinten und links bei allen Kopfstellungen. Kein Vorbeizeigen
befm Zeigeversuch. Kein Nystagmus bei raschen Kopfbewegungen.
Ausspülung rechts kalt, ergibt starken typischen Nystagmus, kein
subjektiver Schwindel, keine Uebelkeiten. Fällen typisch nach
rechts, bei entsprechender Aenderung der Kopfstellung nach vorne
und rückwärts. Zeigt typisch während der Dauer der Reaktion
mit beiden Händen vorbei. Ausspülung links, kalt, ergibt starken
typischen Nystagmus, typisches Vorbeizeigen beider oberen Extre¬
mitäten, fällt jedoch bei allen Kopfstellungen nach links und
hinten. Ein Fallen nach vorn nicht zu erzielen, selbst wenn man
versucht, ihn nach vorne zu ziehen.
Aus dem Ausbleiben der Fallreaktion beim Ausspritzen des
linken Ohres schloß ich, daß die linken Vestibularisfasern, die
zur Rinde des Wurmes derselben und der Gegenseite ziehen, unter¬
brochen sind. Ich konnte nicht an eine Zerstörung der Rinde
des Wurmes denken, weil sonst auch von der anderen Seite
her kein Fallen nach vorwärts hätte erzielt werden dürfen. Tat¬
sächlich hat die allerdings erst drei Monate später vorgenommene
Obduktion nach einem langen Krankheitsverlaufe, der wieder¬
holt Bedenken an der Richtigkeit der ursprünglich gestellten
Diagnose hervorrief, meine zuerst gestellte Diagnose bestätigt.
Der Obduktionsbefund (Dr. Erdheim) lautet: Ueber walnußr
große, glattwandige Zyste im Oberwurm, etwas mehr nach links
sich erstreckend Blutungen in die Zystenwand und bräunliche
Verfärbung des serösen, klaren Zysteninhalts. Der Tumor ist
nach oben von den Windungen des Oberwurms überzogen, der
Zystenboden wird durch das Dach des vierten Ventrikels gebildet.
Eine Kommunikation der Zyste mit dem vierten Ventrikel besteht
Vpti.i wörtlicher Redakteur: Karl Kn basta
nicht. Mäßige Erweiterung beider Seitenventrikel. Geringgradige
Abplattung der Windungen beider Großhirnhemisphären. Somati¬
scher Befund belanglos. Eine genauere Würdigung des Falles
auf Grund des histologischen Befundes ist beabsichtigt.
e) Vortrag Priv.-Doz. Dr. W. Falta: Uebter U eberf u nk-
tion und Konstitution. (Erscheint ausführlich.)
Programm
der am
Freitag den 20. Januar 1911, um 7 Utir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Ferd. Hochstetten stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Prof. A. Pilcz : Zur Prognose und Therapie der progressiven
Paralyse.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Hofrat Weichselbaum,
Prof. Gärtner, Dr. Hecht und Köhler, Clairmont und Haudek,
S. Federn.
Bergmeister, Paltauf.
Um die'reclitzeitige Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer noch am Sitzungsabend zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Strümpell Donnerstag
den 1!). Januar 1911, um 7 Uhr abends, statt.
(Vorsitz: Prof. Dr. Schlesinger.)
Programm:
1. Demonstrationen (angemeldet: Dr. Förster, Dr. Liclitenstern,
Dr. Goldschmied).
2. Dr. G. Schwarz: Krankenverstellung zum Reich eschen
Röntgenbefund bei tiefgreifendem Ulcus ventriculi.
3. Dr. Marlin Haudek: Zur Frage der Antiperistaltik. (Vorläufige
Mitteilung). Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 28. Januar 1911, 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz
des Herrn Hofrates Prof. Cliiari stattfindenden wissenschaftlichen
Versammlung.
Prof. Dr. G. Singer: Diagnose und Theraphie der Erkrankungen
des unteren Darmabschnittes.
Gesellschaft für physikalische Medizin.
Programm der am Mittwoch den 25. Jänner 1911, um 7 Uhr abends, im
Hörsaale der Klinik Noorden, unter dem Vorsitze von Priv.-Doz. Dr. Max
Herz stattfindenden Sitzung.
1. Schluß der D i s k u s s i o n zu den Vorträgen über die Diagnose
und Therapie der Tuberkulose.
2. Kurze administrative Sitzung (Bericht über die wissenschaftliche
Tätigkeit und den Kassastand, Neuwahlen).
Kollegen als Gäste willkommen.
Dr. Max Kahane, I. Sekretär. Priv.-Doz. Dr. Max Herz, Präsident.
Einladung
zu der Donnerstag den 19. Januar 1911, um 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale der Witwen- und Waisen-Sozietät des Wiener Mediz. Doktoren¬
kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, stattfindenden
General Versammlung
des Unterstützungsvereines für Witwen und Waisen jener Mitglieder des
Wiener Mediz. Doktoren-Kollegiums, welche in die Witwen- und Waisen-
Sozietät nicht einverleibt waren. (Viszänik-Vivenot-Verein).
Verlag von Wilhelm Braumttller in Wien
Druck von Bruno Rartelt. Wien XV HL. Theresien nasse 3.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
G. Braun, 0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner. S. Exner. E. Finger, M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko, H. Meyer, J, Moeller,
K. v. Noorden. H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt. J. v. Wagner. E Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Theodor Escherich. Alexander Fraenkel. Ernst Fuchs. Julius Hochenegg. Ernst Ludwig
Edmund v. Neusser, Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumöller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuohhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618
XXIV. Jahrg.
Wien, 26. Januar 1911
Nr. 4
INH
1. Originalartikel : 1. Ueber die Hemmung der Adrenalingiykosurie
durch Pankreaspräparate. Von Otto v. Fürth und Carl
Schwarz. S. 115.
2. Ueber die Entstehung des melanotischen Hautpigments. Von
Prof. Dr. K reib ich, Prag. S. 117.
3. Aus Professor Wullsteins chirurgischer und orthopädischer
Privatkiinik, Halle a. S. Genickstarre und Heilserum. Von
Dr. Emil Schepelmann. Assistenzarzt der Klinik. S. 118.
4. Aus der Unfallstation der I. chirurgischen Klinik. (Vorstand:
Prof. Freih. v. Eiseisberg.) Nagelextension aus dringlicher
Indikation. Von Dr. Hans Ehrlich, Assistenten der Klinik.
S. 132.
II. Referate : Ueber die Natur und die Herkunft des Trachom¬
erregers und die bei seiner Entstehung zu beobachtende Er¬
scheinungen des Gonokokkus Neisser. Von H. Herzog. Mikro-
skopiske Undersogelser over Bugspyt kirtelens normale og
Ueber die Hemmung der Adrenalingiykosurie
durch Pankreaspräparate.*)
Von Otto v. Fürth und Carl Schwarz.
Die Lehre von den B e z i e h ungen der B a n c'h-
speicheldrüse zu ml Kohl eh y dratstof f wechse 1 ge¬
hört heute sicherlich zu den bestfundierten Besitztümern
der physiologischen Chemie. Es gibt, aber noch ein anderes
Organ, dessen innersekretorische Tätigkeit mit dem Kohle-
hydratstoff Wechsel in unmittelbare Beziehung gebracht wird.
Es ist dies die Nebenniere. Seitdem Blum in Frankfurt
vor etwa zehn Jahren die Beobachtung gemacht hat, daß
die Injektion des blutdrucksteigernden Bestandteiles der
Nebenniere imstande ist, eine Glykosurie auszulösen, hat
diese Erscheinung immer und immer wieder das Interesse
sowohl der Kliniker, als auch der Physiologen in Anspruch
genommen. Heute steht namentlich die Frage im Vorder¬
gründe des Interesses, oh die innere Sekretion der
Nebenniere (also der Uebergang des Adrenalins oder
Suprarenins in den allgemeinen Kreislauf) mit der Mobili¬
sierung der Kohlehydrate, also mit dem Uebergange
von Glykogen in Zucker unter normalen physiologischen
Bedingungen in unmittelbarer Beziehung stehe.
Die Annahme, daß die innere Sekretion eines Organes,
des Pankreas, die Kohlehydratmobilisierung hemmt, die¬
jenige eines anderen Organes, der Nebenniere, dagegen
*) Vortrag, gehalten in der k. k. Gesellschaft der Aerzte am
13. Januar 1911.
L T:
patologiske Anatomi hoorunder forholdene ved en del Tilfaelde
af Sukkersyge. Von K. A. Heiberg. Das Virulenzproblem
der pathogenen Bakterien. Von Edv. Laurent. Atlas und
Grundriß der Bakteriologie und Lehrbuch der speziellen bak¬
teriologischen Diagnostik. Von K. B. Lehmann und
R. 0. Neumann. Zur Frage über den Erreger der echten und
Schutzpocken. Von M. Rabinowitsch. Kompendium der
praktischen Bakterienkunde. Von E. Küster und A. Geisse.
Praktikum der Bakteriologie und Protozoologie. Von k iß kalt
und Hart mann. Ref. : A. Ghon.
III. Aus verschiedeueu Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
die Kohlehydratmobilisierung fördert, mußte naturgemäß zu •
der Vorstellung hinleiten, daß zwischen Pankreas und
Nebenniere ein physiologischer Antagonismus be¬
stehe und hat es nicht an Versuchen gefehlt, den direkten
Beweis für einen solchen zu erbringen.
Diese Versuch e schienen zu einem: greifbaren Resultate
geführt zu haben, als Zuelzer1) aus Berlin am Internisten¬
kongresse des Jahres 1907 durch die Mitteilung Aufsehen
erregte, daß es gelinge, durch Injektion von Pankreaspräpa¬
raten die Adrenalingiykosurie zu hemmen. Die Glykosurie,
welche die natürliche Folge einer Adrenalininjektion zu sein
pflegt, bleibe aus, wenn man dem Tiere vorher etwas Pan¬
kreassubstanz injiziert, habe
Die Wahrnehmung Zuelzers wurde von zahlreichen
Beobachtern bestätigt, so von Biedl und Offer,2) Fru-
goni,3) Makaroff,4) Gautredet,5 *) Forschbach0) und
namentlich auch von Glaessner und Pick.7) An der Er¬
scheinung als» solcher ist also sicherlich nicht zu zweifeln.
Die Letztgenannten haben auch festgestellt, daß die Adre-
nalinglykosurie ebenso wie durch Pankreasextrakt, auch
J) Zuelzer, Verhandlungen des Kongresses für innere Medizin
1907, S. 258. Berliner klin. Wochenschr. 1907, S. 474.
2) Biedl und Offer, Wiener klin. Wochenschr. 1907, S. 1530.
3) Frugoni, Berliner klin. Wochenschr. 1908, Nr. 35, S. 1606:
Archiv ital. de Biol. 1908, Bd. 4, S. 209.
4) Makaroff, La Presse medicale, 8. Juli 1908, S. 434.
6) Gau tr eiet, C. R. Soc. de Biol. 1908, Bd. 68, S. 173 u. 174.
8) Forschbach, Deutsche med. Wochenschr. 1909, Bd. 35, S. 2053.
7) Glaessner und Pick, Zeitschr. für exper. Pathologie und
Therapie 1909, Bd. 6, S. 313.
116
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
du r cli subkutane Injektion von Pankreassaft gehemmt wer¬
den könne.
Der Vorstellung folgend, daß das innere Sekret des
Pankreas, welches den Kohlehydratstoffwechsel so mächtig
beeinflußt, in die aus den Unterleibsorganen abströmende
Lymphe übergehen könne, haben Biedl und Offer die
Lymphe des Duc'tus Ihoracicus geprüft und gelang
es ihnen tatsächlich durch Injektion entsprechend großer
Dosen derselben, die Adrenalinglykosurie herabzusetzen
oder auch ganz zu verhindern.
Zuelzer* * 8) bemühte sich nun weiterhin, seine Beob¬
achtung der Therapie des menschlichen Diabetes
dienstbar zu machen. Dieses Bemühen wurde durch die
hochgradige Giftigkeit von Pankreaspräparaten, die wohl in
erster Linie durch ihren Trypsingehalt bedingt ist, sehr
erschwert. Zuelzer glaubte aber doch, durch ein Ver¬
fahren, das er geheim hält, seine Pankreashormone (also
den wirksamen Bestandteil des Pankreassekretes) so weit
entgiftet zu haben, daß er den Versuch wagte, dasselbe Dia¬
betikern intravenös zu injizieren. Er teilt nun mit, daß es
ihm so gelungen sei, in einer Reihe von Diabetesfällen die
Ausscheidung des Zuckers, resp. der Azetonkörper vorüber¬
gehend zu unterdrücken. Es muß jedoch dazu bemerkt
werden, daß die intravenösen Injektionen von „Pan¬
kreashormon“ oft von Schüttelfrost, mehrtägigem Fieber
und schlechtem Befinden gefolgt waren.
Die Zu elz ersehen Versuche sind auch von Eppin-
ger, Falt a und Ru ding er9) bei ihren Untersuchungen
über die Wechselwirkung der Drüsen mit innerer Sekre¬
tion herangezogen worden, um die Auffassung zu stützen,
daß zwischen Pankreas und chromaffinem System eine
wechselseitige Hemmungswirkung bestehe. Sie deuten
die Zu elz ersehen Versuche in der Art, daß der durch
die Adrenalininjektion im Uebermaße mobilisierte Zucker
deswegen nicht mit dem Harne ausgeschieden werde, weil
die gleichzeitige künstliche Ueberschwemmung des Körpers
mit Pankreasprodukten eine abnorm intensive Zuckerver¬
brennung zur Folge habe.
Alle in dieser und ähnlicher Richtung aus den Zuel¬
zer sehen Versuchen gezogenen Schlußfolgerungen, eben¬
so wie die Versuche einer therapeutischen Anwendung des
Pankreashormons basieren selbstveiständlicherweise auf der
Vorstellung, daß wir es bei der Aufhebung der Adrenalin¬
glykosurie durch Injektion von Pankreaspräparaten mit einer
spezifischen Organwirkung zu tun haben, die mit
der normalen physiologischen Funktion des Pankreas un¬
mittelbar zusammenhängt.
Zweifel, welche gerade in bezug auf diesen wesent¬
lichen Punkt in uns rege geworden sind, haben uns nun
dazu geführt, der Frage nachzugehen, ob wir es hier den
wirklich mit einer ganz spezifischen Organwirkung
des Pankreas zu itun haben.
Gelegentlich einer früheren Untersuchung hatten wir
uns mit dem Einflüsse infraperitonealer Injektionen von
Trypsin und Pankreasgewebe auf den Eiweißzerfall beschäf¬
tigt. Wir hatten dabei vielfach Gelegenheit gehabt, uns
davon zu überzeugen, daß derartige Injektionen im hohen
Grade toxisch wirken, vor allem aber einen sehr heftigen
perionealen Reiz ausüben. Es lag nun ziemlich nahe,
daß wir uns die Frage vorlegten, ob denn nicht etwa auch
ein peritonealer Reiz als solcher eine Hemmung der' Adre¬
nalinglykosurie herbeiführen könne.
Wir gingen nun zunächst derart vor, daß wir die
allgemein -toxische Wirkung der Pankreasinjektionen durch
immunisatorische Vorbehandlung der Tiere mit steigenden
Trypsindosen nach Achalmes Vorgang abschwächten. Je¬
doch auch nach einer solchen Vorbehandlung gelang es
stets, die Adrenalinglykosurie glatt zu hemmen, wenn wir
e) Zuelzer, Zeitschr. für exper. Pathologie und Therapie 1809,
Bd. 5, S. 306. — Zuelzer, Dohrn und Marx er, Deutsche med.
Wochenschrift 1908, Nr. 32, S. 1380.
9) Epp in ge r, Falt a und Ru dinger, Zeitschr. für klin. Medizin
1908, Bd. 66, S. 27.
dem Tiere 5 bis 10 g lein zerkleinerten, sterilen Pankreas¬
gewebes intraperitoneal injiziert hatten. Soweit vermochten
wir also die Zu elz ersehen Befunde durchaus zu bestätigen.
Da wir aber die intraperitoneale Injektion von Pan¬
kreasgewebe meist von exsudativen und adhäsiven Entzün¬
dungen, oft verbunden mit Fettgewebsnekrose, gefolgt sahen,
ersetzten wir dieselbe durch intraperitoneale Injektionen
von Terpentinöl oder Aleuronat, um so eine peritoni-
tische Reizung durchaus unspezifischer Natur zu erzielen. Es
gelang so bei den meisten, wenn auch nicht bei allen Ver¬
suchen, die Adrenalinglykosurie ebenso prompt zu
hemmen, wie durch eine P a n k r e a s i n j e k ti o n.
Als wir nun über die Ursache dieser Hemmungswir¬
kung Klarheit zu erlangen suchten, wurden wir durch eine
wichtige Untersuchung, welche Leo Po llak10) kürzlich im
hiesigen pharmakologischen Institut© ausgeführt hatte, auf
den richtigen Weg gelenkt. Aus derselben geht hervor,,
daß der Eintritt und das Ausbleiben einer Adrenalinglykos¬
urie in hohem Grade von der Intensität der gleichzeitig be¬
stehenden Diurese abhängt. Eine mäßige Erhöhung des
Blutzuckerniveaus durch die Adrenalinwirkung führt nicht
unter allen Umständen zu einer Glykosurie, sondern nur
dann, wenn gleichzeitig eine kräftige Diurese besteht.
Wir erwarteten nun zunächst, daß bei der peritonealen
Reizung eine durch einen Krampf der Nierengefäße
bedingte Diuresenhemmung ausgelöst werde; um so mehr,
als Roy und Bradford Kontraktionen der Niere nach Rei¬
zung des zentralen Ischiadikus- und Vagusstumpfes beob¬
achtet hatten. Doch war dies nicht der Fall. Selbst heftige
peritoneale Reize brachten eine Salzdiurese nicht zur Ab¬
nahme und auch die normale Harnsekretion eines nicht,
narkotisierten, in einem1 Pawlow sehen Gestelle fixierten
Blasenfistelhundes nahm nach einer intraperitonealen Ter¬
pentininjektion nicht wesentlich ab.
Die Sachlage klärte sich erst auf, als wir uns nicht
damit begnügten, die Menge der Harnflüssigkeit zu
messen, sondern auch ihren Stickstoff- und Chlorid-
g e h a 1 1 bestimmten.
Nunmehr zeigte sich als Folge einer intraperitonealen
Injektion von Terpentinöl oder Pankreassubstanz ein sehr
greifbarer Effekt : Während die Menge des ausgeschiedenen
HarnWassers in wenig auffallender Weise oder auch
gar nicht vermindert sein mußte, sank die Menge des Harn¬
stickstoffes und in noch höherem Maße die Menge des
Kochsalzes im Harne jäh ab, meist auf einen Bruchteil
des normalen Wertes, der durch entsprechend angeordnete
Kontrollversuche ermittelt worden war.
Wir glauben, in diesen Beobachtungen den Schlüssel
zum Verständnis der Tatsache in Händen zu halten, wieso
ein peritonealer Reiz (er möge nun durch die Injektion von
Pankreasgewebe, von Terpentin, Aleuronat a. dgl. bedingt
sein) eine Hemmung der Adrenalinglykosurie hervorzurufen
vermag. Die Niere, welche infolge desselben in bezug auf die
Kochsalzausscheidung insuffizient wird, versagt eben auch
in bezug auf den an sich weniger harnfähigen Zucker.
Die Niere wird daher auf eine Erhöhung des Blutzuciker-
niveaus, die unter normalen Verhältnissen zur Glykosurie
führen würde, nicht mit einer solchen reagieren, vielmehr
den Zucker im Blute zurückhalten, bis er schließlich der
Verbrennung in den Geweben anheimgefallen ist. Daß aber
eine solche Blutzuckererhöhung beim Zuelzerschen
Versuche wirklich stattfindet, daß also das Adrenalin trotz
der Ueberschwemmung des Körpers mit Pankreasprodukten
in normaler Weise zu einer Zuckermobilisierung führt, haben
wir durch Blutzuckeranalysen festgestellt.
Es sei bei dieser Gelegenheit auf die den Klinikern
wohlbekannte Tatsache hingewiesen, daß Schädigungen
der Nierentätigkeit, wie sie insbesondere im Verlaufe
von Nierenerkrankungen auftreten, die Zuckerausscheidung
bei Diabetikern herabzusetzen vermögen.11)
10) L. Pollak, Archiv f. exper. Pathologie 1909, Bd. 61, S 149
n) Vgl. v. Noorden, Handbuch der Pathologie des Stoffwechsels
1907, Bd. 2, S. 67.
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
117
Unsere Versuche haben uns also zu der Schlußfolge¬
rung geführt, daß die Hemmung der Adrenalinglykosurie in¬
folge einer intraperitonealen Injektion von Pankreasgewebe
durch den peritonealen Reiz bedingt ist, welcher die
Nierentätigkeit schädigt. Wir können so die Erscheinung in
ungezwungener Weise erklären, ohne zu der Annahme eines
geheimnisvollen Antagonismus zwischen den „Hormonen“
des Pankreas und der Nebenniere greifen zu müssen.
Diese Erklärung gilt zunächst für jene Versuche, bei
denen das Pankreas intraperitoneal verabreicht worden
ist, nicht aber ohneweiters für jene Versuche, bei denen es
auf subkutanem^, bzw. intravenösem Wege beige¬
bracht wurde.
Bei objektiver Betrachtung der Sachlage wird mlan
sich aber folgendes zu vergegenwärtigen haben:
Aus zahlreichen Literaturangaben geht hervor, daß
Schädlichkeiten der verschiedensten Art befähigt
sind, die Adrenalinglykosurie zu hemmen; so Fieber, Nieren¬
schädigungen und Diuresenhemmung, ferner (wie aus den
Untersuchungen von Biedl und Offer, sowie Glaessner
und Pick u. a. hervorgeht) Injektion von Witte-Pepton,
Hirudin und anderer Lymphagogis usw.
Daß aber auch die subkutane Applikation von Pan¬
kreasgewebe, Pankreassaft oder Trypsin eine Schädlichkeit
sehr ausgesprochener Art ist, unterliegt keinem Zweifel.
Achalme sah z. B. bei Meerschweinchen nach subkutaner
Injektion von Pankreatinlösungen ausgedehnte Nekrosen auf-
treten und v. Bergmann sah Hunde, denen er, ohne im¬
munisatorische Vorbehandlung, ein ganzes Pankreas eines
anderen Hundes implantiert hatte, stets innerhalb zwanzig
Stunden zugrunde gehen. Man spricht daher mit Recht von
einer Toxizität, welche das Pankreas von anderen Or¬
ganen unterscheidet und die es seinem! Trypsingehalte ver¬
dankt.
Also auch bei -subkutaner und intravenöser Appli¬
kationsweise von Pankreaspräparaten könnte die Hemmung
der Adrenalinglykosurie sehr wohl durch derartige Schäd¬
lichkeiten, die mit „Hormonen“ nicht das geringste zu tun
haben, erklärt werden. Jedenfalls würde es eingehender
und sorgfältiger Untersuchungen bedürfen, um den Einfluß
derartiger Fehlerquellen auszuschließen.
Vorderhand aber, solange derartige Untersuchungen
nicht vorliegen, können wir Beobachtungen über die Hem¬
mung der Adrenalinglykosurie durch Pankreaspräparate
nicht als vollen Beweis für einen Antagonismus zwischen
den „Hormonen“ des Pankreas und der Nebenniere gelten
lassen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, betonen wir, daß
uns nichts ferner liegt., als den mächtigen und zweifellosen
Einfluß des lebenden Pankreas auf den Kohlehydratstoff¬
wechsel in Diskussion ziehen zu wollen. Es handelt sich
vielmehr um die Frage, ob es bereits ganz oder teilweise
gelungen sei, das wirksame Agens, 'welches diese mäch¬
tige und geheimnisvolle Wirkung auf die Zuckerverbrennung
im Organismus übt, das „Pankreas -Hormon“ auf prä-
paratorischem Wege extra corpus zu bereiten. In dieser Hin¬
sicht vermögen wir uns allerdings gewichtigen Zweifeln nicht
zu verschließen; — vor allem- aber, was die praktische Seite
der Frage betrifft, halten wir die Versuche, den menschlichen
Diabetes durch intravenöse Injektion von sogenanntem Pan¬
kreashormon therapeutisch beeinflussen zu wollen, für phy¬
siologisch ungerechtfertigt und — angesichts ihrer Gefähr¬
lichkeit — für unstatthaft.
Schließlich möchten wir darauf hinweisen, daß man
fortan bei jeder den Kohlehydratstoffwechsel betreffenden
‘ Untersuchung mit dem Umstande zu rechnen haben wird,
daß Schädlichkeiten und Eingriffe, welche die Ausscheidung
des Harnwassers nicht einmal merklich beeinflussen müssen,
dennoch eine Schädigung der Nierenfunktion im
Sinne einer Hemmung der Zuckerausscheidung her-
beiftihren können. Wie leicht eine solche Sekretions hem¬
mung grobe Täuschungen hinsichtlich der Vorgänge des
Kohlehydratstoffwechsels veranlassen kann, hegt auf der
Hand.
Ueber die Entstehung des meianotischen
Hautpigments,
Von Prof. Dr. Kreibicli, Prag.
Studien über das Vorkommen lipoider Substanzen bei
Hauterkrankungen führten zu einem Befund, über den im
folgenden vorläufig berichtet werden soll, während die brei¬
tere Darstellung des Gegenstandes einem Fachblatte Vor¬
behalten bleiben (muß.
Untersuchungsmaterial waren die Vegetationen eines
Pemphigus vegetans, bei welchem sich nach Salvarsan
eine rasch auftretende (Arsenmelanose entwickelte. Die Unter¬
suchung wurde an Gefrierschnitten von unfixiertem oder in
Förmol fixiertem Gewebe vorgenommen.
Im Sinne Meirowskys finden sich im Epithel zwei
Arten von Pigment, das Pigment der Chromatophoren
und das der Melanoblasten. Ersteres hegt in einge¬
wanderten Kutiszelle-n, ist durch größere runde Körner,
durch intensivere Eigenfarbe, durch seine große Affinität zu
Silbernitrat und zu blauen Anilinfarben gut charakterisiert.
Von größerer Bedeutung für die Frage ist folgender Befund :
Zwischen den Basalzellen finden sich weitverzweigte
Zellen, die ihre Ausläufer in das Rete und weit unter die
Basalzellen erstrecken. Sie sind leicht als Melanoblasten
zu erkennen. Ausschließlich diese Zellen enthalten in ihrem
Zelleib deutliche Kristalle, die wir der Einfachheit halber als
Lipoidkristalle bezeichnen, da sie Affinität zu Sudan III
zeigen und sich damit gelbrot färben. Ihre Größe geht oft
über die des Tuberkelbazillus hinaus und ihr Kristallcha¬
rakter Lommt am besten in dem vollständig unbehandelten
Gefrierschnitt zum Vorschein, wobei es gleichgültig ist, ob
das Gewebe in Formol fixiert ist oder nicht. Die sich viel¬
fach überkreuzenden Nadeln lagern sich im Zelleib um
den großen Kern, steigen in Längsreihen oder Querstellung
in die Fortsätze hinauf, liegen daselbst schon vielfach neben
Kristallen, die eine dünklere Eigenfarbe zeigen, oder neben
kürzeren, immer noch kristallinischen Gebilden, die an¬
scheinend schon Pigment sind. Ob die- Enden der Fortsätze
auch kömehenförmiges Pigment enthalten, oder ob diese
Körnchen ebenfalls Kristalle sind, deren Kristallcharakter
wegen der Kleinheit der Gebilde nicht mehr zu erkennen
ist, muß einstweilen dahingestellt bleiben. Legt man die Ge¬
frierschnitte bei Tageslicht auf kurze Zeit in eine 5°/oige
Argentum nitrieüm- Lösung, so zeigen die Kristalle eine
vom1 Zelleib geigen die Förtsatzenden zu sich steigernde
Affinität zu Silber und färben sich bei Erhaltung des kri-
stalloiden Charakters braun bis dunkelschwarz. Umgekehrt
verhält sich die Affinität zu Sudan, sie nimmt gegen die
Fortsätze ab und gegen den Kern hin zu. Dazwischen
liegen Kristalle, die einen aus Sudan und Eigenfarbe ge¬
mischten Färbenton zeigen. Je jünger der Melanoblast (an
schwach pigmentierten Stellen) ist, desto mehr mit Sudan
gefärbte Kristalle, an dünkler pigmentierten Stellen mehr
silberimprägnierte Kristalle, schließlich Pigmentzellen, deren
Pigment durchaus silberimprägniert ist. Dazwischen aber
imirner noch Zellen, die eine Doppelfärbun-g in der Art anneh¬
men, daß im Zelleib mit Sudan gefärbte Kristalle, in den Fort¬
sätzen silberimprägnierte Stäbchen und dazwischen beide
nebeneinander liegen. Es gelang, solche schöne Präparate
nach kurzer Alkoholanwendung auch in Balsam zu fixieren,
wobei allerdings, wie überhaupt auch schon durch lange
Sudanfärbung (alkoholische Lösung), die Kristallform leidet,
hingegen der Unterschied zwischen rotem Zelleib und
schwarzen Ausläufern deutlich in Erscheinung tritt.
Daß das Oberhautpigment in Form von Kristallen auf-
treten kami, deutet auch Meirowsky an, nur kann er
sich wegen der Kleinheit des Objektes nicht mit Bestimmt¬
heit darüber äußern, woran wohl das verschiedene Unter-
118
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 4
suchungsobjekt, hier akute Arsenmelanose, dort Pigmenta¬
tion nach Finsenbestrahlung, Schuld trug.
Die oben geschilderten Einlagerungen landen sich
nur in den Mel an oblas ten, in schwach pigmentierten
Hautpartien sind letztere erst in größeren Zwischenräumen
zwischen den Basalzellen zu treffen, an pigmentierten Stellen
rücken sie dicht aneinander, scheinen Netze zu bilden
und geben Pigment an die anderen Basal- und Retezellen
ab. Die Beschränkung der kristalloiden Einlagerungen auf
die Melanoblasten trat noch deutlicher hervor bei Gefrier¬
schnitten eines unbehandelten Falles von spitzen Kon¬
dylomen, woraus mit größter Wahrscheinlichkeit hervor¬
geht, daß der Vorgang sich überall dort wird konstatieren
lassen, wo Melanoblasten in gesteigerter Tätigkeit zu beob¬
achten sind.
Die beschriebenen Einlagerungen in den Melanoblasten
sind nicht zu verwechseln mit Lipoidsubstanzen, die sich
mit Sudan in den höheren Epidermislagen dann nachweisen
lassen, wenn die Epidermis über entzündeter Ivutis unter
besonderen Ernährungsbedingungen steht, wie unter Partien,
wo sich Parakeratose findet, in der Nähe der Follikel oder in
Kankroiden. In ersteren Fällen sahen wir tropfenförmige rote
Körnchen um den Kern, bei letzteren größere schollige und in
älteren Formalinschnitten eines Kankroids auch kristalli¬
nische Lipoidmassen in der Nähe des Kernes. In obigen
beiden Fällen waren diese Körnchen oder tropfenartigen.
Lipoideinlagerungen, dort, wo sie vorhanden waren, immer
von den basal gelegenen Melanoblasten durch mehrere Lagen
lipoidfreier Retezellen getrennt. Aus diesem Befunde geht
aber hervor, daß zu Pigmentstudien nicht aus dem Zu¬
sammenhang gerissene Zellen über entzündeter Unterlage
herangezogen werden können, wie dies Prowazek ge¬
tan, der nach Aufstrichpräparaten von „Konjunktivazellen“
einer Keratitis parenchymatosa mit Giemsa-Färbung das
Pigment auf den Kern zurückführt.
Unser oben wiedergegebener Befund läßt wohl mit
der für die Mikroskopie gegebenen Sicherheit den Schluß
zu, daß in den Melanoblasten b’ei gesteigerter
Funktion eine Lipoide Substanz auftritt, die iin
engster Beziehung zur Pigmentbildung stellt. Ob
die Substanz schon im Körper kristallinisch vorhanden ist,
oder erst durch Abkühlung kristallisiert, bleibt einstweilen da¬
hingestellt. Ist obiger Schluß richtig, d a n n i s t d a s M e 1 a ni n
den fetthaltigen Pigmenten zuzurechnen, wie dies
bereits von Lübars Ch für die „Abnützungspigmente“ in
Leber, Niere, Nebenniere, Herzmuskulatur, von Ober-
s feiner und später von Rosin für das Ganglienpigment,
von Oberndorfer für das Pigment der Samenbläsdhen
und von Rößle für das Pigment der Hodenzwischenzellen
naohgewiesen ist.
Unser Befund erinnert am meisten an eine Beobach¬
tung .von H. Joseph, der am Amphioxus vom Juni in den
Epidermiszellen große Kristalloide fand, während Amphioxus
vom Februar neben wenigen Kristallen vorwiegend Körn¬
chen aufwies. Vielleicht verbirgt sich hinter diesem Befund
ein von der Jahreszeit abhängiger PigmJentvorgang.
Der oben in den Melanoblasten gefundene Lipoidkörper
fließt in alkalischer Sudanlösung zu Tropfen zusammen,
löst sich, soweit er Sudanreaktion gibt, in starkem. Alkohol.
Letztere Tatsache erklärt, warum er bisher am Zelloidin- und
Paraffinschnitt nicht gesehen wurde.
Prag, den 17. Januar 1911.
Aus Professor Wullsteins chirurgischer und ortho¬
pädischer Privatklinik, Halle a. S.
Genickstarre und Heilserum.
Von Dr. Emil Schepehnann, Assistenzarzt der Klinik.
Wenn ich trotz der in den letzten Jahren so gewaltig
angewaohsenen Genickstaireliteratur einen einzigen Fall vor
die Oeffentlichkeit bringe, so geschieht es einmal wegen
seines Auftretens in Mitteldeutschland, an einer Stelle, die
sonst seit den letzten Epidemien von der im Volke so
gefürchteten Krankheit verschont blieb,1) anderseits aber
wegen der geradezu frappanten Beeinflussung durch Anti¬
meningokokkenserum ; da dessen therapeutischer Wert
jedoch nur durch eine große Zahl von Veröffentlichungen
sichergestellt (werden kann, so müssen auch vereinzelte
Fälle — wer in Mitteldeutschland wird auch wohl größere
Erfahrungen machen können - — publiziert werden.
Es handelt sich nun hier um eine 26jährige Patientin F. K.
aus München, welche am 8. Juli 1910 zur Sommerfrische in ihre
- — angeblich etwas feuchte — Villa in Oberhof (Thüringen)
übergesiedelt war. Früher sei sie nie ernstlich krank gewesen,
speziell in letzter Zeit, habe sie keine Infektionskrankheiten oder
Halsentzündungen durchgemacht. Am 22. Juli 1910 erwachte sie
morgens mit einer gewissen Steifheit des Nackens, wie wenn sie
sich erkältet hätte, doch verschwand im Laufe des Tages diese
Bewegungsbehinderung wieder. Nachmittags, auf einer Spazier¬
fahrt, wurde sie aus vollem Wohlsein heraus von Kopfschmerzen,
Uehelsein, dann Schüttelfrost und Erbrechen befallen. Auf eigene
Initiative nahm sie zweimal 1 g Pyramidon, worauf Kollaps
und Abfall der vorher fieberhaft erhöhten Temperatur auf 35-6°
eintrat. Abends wurde sie somnolent, dann vollständig bewußt¬
los bis zum Morgen des 25. Juli 1910. An diesem Tage kehrte
das Bewußtsein so weit zurück, daß sie auf Anruf reagierte und
richtige Auskunft gab. In diesem Zustande ward sie am Abend
des 25. Juli hier in unserer Klinik eingeliefert, wo folgender
Befund erhoben wurde:
Die 26jährige Patientin ist eine mittelgroße Frau in gutem
Ernährungs- und Kräftezustand. Das Gesicht ist fieberhaft ge¬
rötet, Lippen und Zunge sind trocken, letztere stark belegt.
Die Atmung ist — entsprechend der Temperatur von 39-5° —
etwas beschleunigt, während der Puls, "der in seiner Irerruenz
oft wechselt, durchschnittlich nur 68 Schläge pro Minute hat;
er ist mäßig gefüllt und gespannt und setzt hin und wieder aus.
Der Brustkorb ist gut gebaut; die Herzdämpfungen zeigen keine
Besonderheit; der Spitzenstoß ist nicht, fühlbar, die föne sind
etwas unrein. Lungengrenzen, Klopfschall, Atemgeräusch sind
normal, ebenso Bauchdecken und Bauchorgane; speziell die Milz
ist weder palpatorisch noch perkutorisch nachweisbar vergrößert.
Der Urin ist klar, enthält weder Zucker, noch Eiweiß, noch
Diäzokörper, noch mikroskopische Formelemente; die Chloride
sind nicht vermindert.
Die Patientin liegt ganz apathisch, mit etwas nach hinten
gebeugtem Kopfe, da, zuweilen unruhig sich hin- und herwerfend
und über äußerst heftige Kopfschmerzen klagend; auf Anruf erhält
man richtige Antworten. Die Sprache klingt nasal, der Mund
wird offen gehalten. Uvula, Rachen, Nasenmuscheln sind eine
Spur gerötet. Die Pupillen sind — scheinbar vom Morphium
— sehr eng, so daß der Augenhintergrund erst nach Atropini-
sieren untersucht werden kann; hier sowohl, wie an den Trommel¬
fellen Bietet sich jedoch normaler Befund. Die- Augäpfel können
nach allen Seiten — ohne Nystagmus — bewegt, die Lider
gesenkt und gehoben werden, doch besteht beiderseits eine
leichte Schwäche des Levator palpebrae. Das Gesicht ist sym¬
metrisch innerviert, die Zunge wird gerade u. zw. — ebenso
wie die Hände — ohne Zittern vorgestreckt. Arme und Beine
zeigen keine Störungen der Motilität, keine Ataxie, doch ist
die Streckung der Unterschenkel bei gebeugtem Oberschenkel
nur unter heftigen Schmerzen möglich (Kernigsches Symptom);
alle Muskeln, besonders die der Beine, sind mäßig rigide. Der
linke Nervus occipitalis ist auf Druck sehr empfindlich,. in ge¬
ringerem Grade auch der linke erste und zweite rrigeminusast.
Bauchdecken-, Knie- und Achillessehnen-, sowie Fuß-sohle-nreflexe
sind erloschen; hin und wieder läßt sich an den Füßen das
B ab ins ki sehe- Phänomen auslösen.
26. Juli : Nach einer unruhigen Nacht klagt Patientin heute
über unerträgliche Kopfschmerzen, beiderseits findet sich deut¬
licher Babinski, sonst Status idem. Im Rachenabstrich werden
im hiesigen kgl. hygienischen Institut von Herrn Dr. Hans Käthe,
der auch alle späteren bakteriologischen Untersuchungen aus¬
führte und die Proben am Krankenbette persönlich entnahm,
Pneumokokken fast in Reinkultur, daneben einige Gram-negative
Diplokokken gefunden.
27. Juli : Obwohl das subjektive Befinden gestern Abend
besser gewesen war, klagt Frau K. heute morgen wieder über
heftigste Kopfschmerzen; die Nackenstarre ist deutlicher. Um
5 Uhr nachmittags wird -eine Lumbalpunktion in horizontaler
Seitenlage ausgeführt; es entleeren sich 70 cm3, unter 210 mm
') 1864 waren auch Hannover und Thüringen befallen gewesen
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Druck stehender, deutlich getrübter Liquor cerebrospinalis, etwa
von der Farbe dünnen Seifenwassers. N_ach längerem Stehen
setzt sich ein Fibringerinnsel ab; sowohl hierin, als in dem
Zentrifugat der Flüssigkeit, deren Eiweißgehalt l%o nach Esbach
beträgt, finden sich polynukleäre Leukozyten, im frischen Prä¬
parat keine Bakterien, wohl aber in der Kultur einige Granr-
uegative intrazelluläre Diplokokken. Gegen Schluß der Punktion
treten die heftigsten, einige Stunden anhaltenden Kopfschmerzen
auf, denen allerdings später subjektive Erleichterung folgt. Uei
Puls betrug unmittelbar vor der Punktion 76, die Temperatur
38-7° ; zehn Minuten nach der Punktion 56, resp. 39-0°.
28. Juli: ln der zweiten Hälfte der vergangenen Nacht
wieder furchtbare Kopfschmerzen, die erst gegen Mittag weichen ;
jetzt aber ist Pat. vollständig klar und interessiert sich für die
Vorgänge in ihrer Umgebung. Die Sprache ist weniger stark
basal, der Rachen zeigt keine Besonderheit mehr. Der Ba-
binskische Reflex ist rechts verschwunden, die Nackenstarre
gering ; Trigeminus und Okzipitalis sind kaum noch druck¬
empfindlich. Der vorher gänzlich mangelnde Appetit wird besser,
als heute zum erstenmal durch mehrere Einläufe Stuhl erzielt
ist. Sonst bleibt der Befund unverändert.
30. Juli: Auf die gestrige Besserung folgt heute ein ent¬
schiedener Rückschlag; der linke Okzipitalis ist wieder sehr
empfindlich, der Kopfschmerz hochgradig, die Nackenstarre deut¬
licher; hin und wieder unterlaufen einige ruhige Stunden. Das¬
selbe Bild zeigt sich am 31. Juli.
1. August : Da seit gestern Abend kaum erträgliche Kopf¬
schmerzen bestehen, wird heute morgen die Lumbalpunktion
wiederholt und in horizontaler Seitenlage 55 cm3, unter 120 mm
Druck stehenden, etwas weniger . getrübten Liquors von VV/oo
Eiweißgehalt, aus dem sich nach einigen Stunden wieder ein
Fibringerinnsel absetzt, entleert. Mikroskopisch finden sich im
Zentrifugat eine ziemliche Menge2) polynukleäre Leukozyten und
typische intrazelluläre, Gram-negative W ei c h selb au m sehe Me¬
ningokokken, die in Bouillon gut wachsen. Die Punktion bringt
keine wesentliche Besserung mit sich, und trotz Morphiumeinsprit¬
zung dauern die Kopfschmerzen während der Nacht in heftigster
Weise an.
2. August: Patientin ist heute sehr apathisch, klagt über
Schmerzen im Kopf und im Kreuz. Die erst vor der Erkran¬
kung stattgehabten Menses treten wieder auf. Abends erfolgt
Temperaturabfall und im Anschlüsse hieran Besserung der
Schmerzen.
-3. August: Das subjektive Befinden ist etwas besser als
gestern, die Nackenstarre geringer; dagegen ist das Kernig sehe
Symptom noch deutlich vorhanden.
Dea‘ bisherige Verlauf der Krankheit war also ein sehr
wechselvoller gewesen : bald größere Prostration, Apathie, Som¬
nolenz, dann wieder kurzdauerndes Wohlbefinden, das aber von
der Therapie fast unabhängig war; nach der ersten Lumbalpunk¬
tion trat zwar ein 48stündiger Temperaturabfall ein, bei der
zweiten fehlte er. Subjektiv fühlte sich Pat. am wohlsten nach
1-5 bis 2 cg Morphium subkutan. Außerdem wurden die ver¬
schiedensten Medikamente angewandt, welche bald mehr, bald
weniger Erleichterung verschafften, sämtlich aber übertroffen
wurden durch die Wirkung von Eisblasen auf Scheitel und Nacken,
ohne welche Patientin^ überhaupt nicht auskommen konnte.
Weniger angenehm wurde die Leiter sehe Kühlkappe für den
Kopf und der Chap man sehe Schlauch für die Wirbelsäule
eimpfunden. Einen günstigen Einfluß auf das subjektive Be¬
finden hatte die Darreichung von 1-0 Pastae Guaranae (einer
schokoladeähnlichen Masse aus dem gepulverten koffeinhaltigen
schwarzen Samen der brasilianischen Paullinia sorbilis) ; sonst
wurden noch angewendet: Blutegel am Warzenfortsatz, Salo-
phen-Phenacetin, Codein, Dionin, Pyramidon, Chinin, Veronal.
Der Stuhlgang wurde vom 1. August ab durch tägliche Glyzerin¬
einläufe erzielt. Die Temperatur hatte sich vorwiegend zwischen
38 und 39-7° bewegt, die Pulsfrequenz zwischen 60 und 80.
Ein totaler Umschwung im Krankheitsbild trat in
dem Moment ein, als 35cm3 Jochmannschen Anti¬
meningokokkenserums (E. Merck) Tntralumbal ap¬
pliziert wurden. Zu diesem Zwecke ward die Patientin
(am 3. August 1910) in horizontale Sieitenlage gebracht, der
Rücken desinfiziert, Knie und Kopf einander genähert und nun
die Nadel des Bier sehen Besteckes zwischen dem dritten und
vierten Lendenwirbeldornfortsatz — nach vorherigem Auf-
2) Koplik (1908) weist darauf hin, daß bei der ersten Punk¬
tion oft normale Flüssigkeit entleert wird; man solle aber an einen
solchen Befund keinerlei klinische Folgerungen knüpfen, da oft erst
die Wiederholung der Punktion einen kokkenreichen Liquor zu Ge¬
sicht bringt.
119
spritzen von Chloräthyl — median eing «stochen. Es entleerten
sich nur geringe Mengen leicht getrübten Liquor cerebrospinalis,
in dem gleichfalls Weichselbau msclm intrazelluläre Gram-
negative Diplokokken3) mikroskopisch und kulturell aufgefunden
wurden. Mit geeigneter größerer Spritze, die durch einen 4 cm
langen Gummischlach mit der Kanüle zu verbinden war, wurden
nun die 35cm3 des auf Körpertemperatur eruäiml-m Antimeningo¬
kokkenserums eingespritzt, doch ließen sich die letzten Kubik¬
zentimeter nur unter Anwendung stärkeren Druckes injizieren
Gegen Schluß der Punktion traten mäßige Kopfschmerzen am,
die sich noch steigerten, als Patientin für zwölf Stunden in
Beckenhochlagerung gebracht wurde; während dieser Zeit klagte
die Kranke auch über starke Kreuzschmerzen und Atembe¬
schwerden. Die Beckenhochlagerung ward angewendet, um das
Zufließen des Serums, dessen spezifisches Gewicht ( 1 -03) nach
Gutter mann höher ist als das der Spinalflüssigkeit (0-999),
zum Gehirn zu begünstigen. Nach dein Ergebnis der Leichen¬
versuche Jochmanns, in denen Methylenblaulösung wenige
Stunden nach der Injektion in den Lumbalsack des Rückenmarks
am Olfaktorius erschien, kann man mit einer Verteilung des Se¬
rums über das ganze Zentralnervensystem rechnen.
4. August. In den Morgenstunden ist Frau K., die noch
an sehr starken Kopfschmerzen leidet, apathisch; im Urin, der
sich bisher bei täglicher Untersuchung als normal erwies, finden
sich Spuren Eiweiß, keine Formelemente. Aber schon abends
ist das Eiweiß verschwunden und die Temperatur abgefallen;
die Kranke fühlt sich sehr wohl, hat nur noch wenig Kopf¬
schmerzen, interessiert sich lebhaft für die Umgebung und hebt
auch zum ersten Male den Kopf auf, der "sonst immer unbe¬
weglich in den Kissen ruhte; ja, die nächste Nacht verbringt
sie zum ersten Male ohne Medikamente und ist auch am anderen
Morgen (5. August) — von unbedeutenden dumpfen Kopfschmerzen
abgesehen — munter. Der Kopf ist völlig frei beweglich, Ider
Trigeminus gar nicht, der Okzipitalis etwas empfindlich. Die
Pupillen sind fast mittelweit, reagieren ein wenig; die' Ptosis
ist noch vorhanden. Beide unteren Bauchdeckenreflexe sind
deutlich; während beim Beklopfen der Kniesehnen die Reak¬
tion gestern nur an den Sehnen selbst zu erkennen war, wird
jetzt auch schon der Fuß etwas gehoben; die Fußsohlenreflexe
sind beiderseits normal. Den ganzen Tag über transpirierte Pa¬
tientin stark.
6. August bis 8. August. Im allgemeinen völliges Wohl¬
befinden; hin und wieder vorübergehender Kopfschmerz, der
durch 1-0 Pasta Guarana oder 0-01 Morphium beseitigt wird.
Appetit sehr gut; nie mehr Nackensteifigkeit.
9. August. In vergangener Nacht bricht eine überaus heftig
juckende Urtikaria (Serumexanthem) aus; der ganze Körper ist
übersät mit großen, erhabenen, blassen Quaddeln; Abwaschungen
mit Essigwasser, Bepüdern mit Mentholpulver bringen keine ge¬
nügende Linderung, so daß zur Morphiumspritze gegriffen werden
muß. Gegen Mittag wird der Puls klein, fast unfühlbar, sehr
frequent und macht Injektion von Digalen und Kampfer sowie
Darreichung von Sekt nötig, worauf aber die normale Herztätig¬
keit bald wieder hergestellt ist. Abends verschwinden die Quad¬
deln; es treten nun Kopfschmerzen sowie Neuralgie beider Okzi¬
pitales und des rechten Supraorbitalis ein.
10. August. Vergangene Nacht und heute Morgen völliges
Wohlbefinden, das gegen 10 Uhr von neuem durch eine ausge¬
dehnte, quälende Urtikaria unterbrochen wird; Augenlider und
Lippen sind geschwollen : Puls 120 bis 130. Schon nachmittags
blaßt das Exanthem unter Zurücktreten aller Beschwerden ab.
11. August. Im Laufe des Vormittags tritt wieder eine
allgemeine, aber jetzt weite Hautstrecken freilassende i rtikaria
auf, die nachmittags abklingt.
12. August. Vorige Nacht erscheint nach anfänglichen ge¬
ringen Kopfschmerzen zum letzten Male eine weniger stark
jnckemle Urtikaria, die morgens schon völlig verschwunden ist.
Pat. fühlt sich aber wohl und hat großes Schlafbedürfnis. Seit
9. August hat die Temperatur 37-2° nicht überschritten.
Der Puls ist trotz täglicher Darreichung von 30 Tropfen
Digalen noch beschleunigt; die Herztöne sind rein, die Däm¬
pfungen nicht verbreitet. Die Austrittspunkte der Nerven sind nicht
mehr druckempfindlich, der Nacken nicht steil. Das Kernig sehe
Symptom sowie die Ptosis des rechten Auges sind noch ango
deutet; im übrigen ist der neurologische Befund ganz normal.
3) Eine Weiterzüchtung der Reinkulturen auf festem Nährboden ge¬
lang nicht, wie ja bei Meningokokken -- nach Traut mann und
Fromme (1908) — überhaupt eine recht geringe Resisten/. (Unkultmer-
barkeit) öfters mit einer großen Widerstandskraft gegenüber Aufbewahrung
in der Kälte wechselt.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 4
120
speziell die Pupillen sind mittelweit und reagieren prompt. Vom
13. August ab ist Frau K. völlig beschwerdefrei und klagt nur
hin und wieder einmal über geringes Eingenommeinsein des
Kopfes. Digalen wird fortgelassen. Am 14. August verschwinden
Ptosis und Kern ig sches Symptom, am 16. August kann Pa¬
tientin zum ersten Male kurze Zeit außer Bett sein und, am
18. August völlig geheilt entlassen werden. Weder in ihrem
Nasenrachenraum noch in dem des Mannes und der Schwäger in,
von der sie anfangs gepflegt wurde, lassen sich Meningokokken
auffinden.
Um nochmals kurz zusammenzufassen, handelt
es sich um eine 26jährige, bis dahin gesunde, klüf¬
tige Frau, die am 22. Juli 1910 nach vorübergehender
Form einer quälenden Urtikaria, die am eisten
Tage sogar mit einer mehrstündigen, mit Digalen
und Kampfer leicht zu beeinflussenden Herz-
s c h w ä c h e e i n h e rg i n g. A m 15. Tage nach dei I ujektion,
also am 28. Krank heitstage, konnte Pat. geheilt und
beschwerdefrei entlassen werden. Wesentliche
Krankheitserscheinungen waren aber schon 24 Stun¬
den nach der Injektion (das heißt am 14. Krapkheits<
! tage) nicht mehr nachweisbar. Am spatesten von
allen Symptomen verschwand das Kernigsche Phä¬
nomen (elf Tage nach der Injektion).
Im Anschluß an diesen Fall, der in ganz auffallender
Weise durch das Serum beeinflußt wurde, möchte ich die
1910
Monatstag
Juli
22 | 23 24
25
26 27 28
29 30 ! 31
August
1 I 2 | 3
4
5 6
7 ! 8 9
10 11 1 12
13 1 14 1 15 1 16 1 17 | 18
Kvankheitstag
I 1 2 3
1 l 1
4
6 1 6 7
8 1 9
10
11
12 13
14
15 ; 16
17 | 18 19
20 j 21 | 22
23 j 24 1 26 | 26 1 27 | 28
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Nackensteifigkeit ganz akut unter Kopfschmerzen,
Schüttelfrost, Uebelsein, Erbrechen, schließilieh
Somnolenz an Meningitis cerebrospinalis epide¬
mica erkrankte; sowohl im Nasenrachenraum als
auch zweimal im L u m b a 1 p u n k t a t wurden typische
Meningokokken von authentischer Seite nachgewie¬
sen. Von den Symptomen der Genickstarre fanden
sich bei der am 25. Juli 1910 erfolgten Aufnahme
in unsere Klinik: quälender Kopfschmerz, Kreuz¬
schmerz, Somnolenz, Nackensteifigkeit, Fieber, ver¬
langsamter Puls, Rötung der Nasenmuscheln und
des Rachens, Neuralgie des Trigeminus und Okzipi-
talis, Ptosis, Muskelrigidität, Kernigsches Symptom,
Fehlen der Haut- und Sehnenreflexe, Babinskiseher
Zehenreflex. Die Zerebrospinalflüssigkeit stand
unter 210mm Druck, enthielt 3/4 bis l°/oo Eiweiß, war
trübe und setzte nach längerem Stehen ein Fibrin¬
gerinnsel ab.
Die anfängl ich antipyretische und aqtineuralgi-
g if che Behandlung hatte keinen Erfolg; nur große
und oft wiederholte subkutane Morphiumdüsen
konnten die unerträglichen Kopfschmerzen lindern.
Auch zweimalige Lumbalpunktion blieb ohne we¬
sentlichen Einfluß auf den Krankheits verlauf, der
erst eine entscheidende Wendung erfuhr, als am
3. August, dem 13. Krankheitstage, 35 ein3 Jochmann-
sches Antimeningokokkenserum intralumbal inji¬
ziert wurden. Es folgte nochmals ein etwa halb¬
tägiger (wohl wegen der Einspritzung unter Druck),
mit starken Kopfschmerzen einhergehender Fieber¬
anstieg, dann aber fiel die Temperatur innerhalb
24 Stunden kritisch und unter Schweiß auf 36-9° her¬
unter (5. August) und hielt sich vom 10. August ab
dauernd unter 37°, nachdem vorher nur noch einige
Zacken bis 37-7° aufgetreten waren. Als einzige
N e b e n w i r k u n g des S e r u ms fand sich eine me h r-
stündige Albuminurie am 4. August (dem 'tage
nach der Injektion) und ein vom 9. bis 11. August
in täglichen, stets harmloser werdenden Rezidi¬
ven erscheinendes heftiges Serumexanthem in
Erfolge der spezifischen Therapie etwas eingehender schil¬
dern, vorher jedoch einen kurzen Rückblick auf die Patho¬
logie und die eigenartige Verbreitungsweise dieser
gefürchteten Krankheit werfen
Die Genickstarre, die erst durch die letzten großen
deutschen Epidemien von 1904/05 bei Aerzten und Laien,
größere Beachtung fand, ist immerhin schon seit mehr denn
100 Jahren bald hier, bald da in Europa herdweise auf¬
geflackert. Die große Furcht, die sich bei ihrem Ausbruch
allenthalben der Bevölkerung bemächtigt, ist viel weniger
der allgemeinen Morbidität, als der Schwere der einzelnen
Erkrankungen zuzuschreiben, die nur von wenigen glück¬
lich überstanden wird; die Genickstarre ist in dieser Be¬
ziehung gerade das Gegenteil der Influenza, welche gleich
in verheerender Weise über ein ganzes Volk hereinbricht,,
von der sich aber die große Mehrzahl der Befallenen in
kürzester Zeit zu völliger Gesundheit wieder erholt, während
Nachkrankheiten oder gar Todesfälle in Anbetracht der
großen Morbiditätsziffer doch nicht allzu häufig sind. Auch
hinsichtlich der Art der Ausbreitung steht die Genickstarre
der Influenza gegenüber; diese schreitet von Ort zu Ort,
gewissermaßen per cöntinuitatem weiter vor, jene sprung¬
haft, regellos, nicht nur innerhalb eines Landes in bezug
auf die Ortschaften, sondern auch regellos innerhalb eines
ganzen Erdteiles. ...
Die erste verbürgte Genickstarreepidemie wird 180o
aus Genf berichtet und schon im nächsten Jahre aus Massa¬
chusetts; hier in Nordamerika gelangt sie in den folgen¬
den Dezennien zu allgemeiner Verbreitung, während sie
in Europa nur vereinzelte Herde an den verschiedensten
Punkten bildet. 1837 bis 1842 und 1846 herrschte sie in
Frankreich, in dessen Süden beginnend und hauptsächlich
die Küstenstriche befallend ; 1839 bis 1845 in Italien, 1839
bis 1847 in Algier, wohin sie durch französische Soldaten
verschleppt war, 1844 in Gibraltar, 1845 bis 1848 in Däne¬
mark, wo sie als hjernfeber bezeichnet wurde. Von nun
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
1-21
an beginnt eine weite Ausbreitung über ganz Europa: 1854
bis 1861 ist. Schweden - Norwegen betroffen, 1860/61
Holland, 1861/62 Portugal. Erst 1863 bis 1865 erscheint
sie zum ersten Male in Deutschland u. zw. anfangs in den
östlichen preußischen Provinzen, später in Mittel- und Süd¬
deutschland, von wo sie auf Oesterreich- Ungarn und Rus¬
sisch-Polen übergreift. 1842 wird Nordamerika ziemlich
stark von der Volksseuche befallen, die hier seitdem! ge¬
radezu einheimisch ist und während des Sezessionskrieges
eine besondere Akme erreicht. Nach 1866 kommen in
Deutschland nur ganz vereinzelte f älle zur Beobachtung,
während die Genickstarre 1867/68 in Rumänien, in der
Krim und 1868/69 in Griechenland einen größeren Um¬
fang gewinnt. Kleinere und eng begrenzte Epidemien werden
1866/67 aus Pola und Triest gemeldet, 1869 bis 1872 aus
Kleinasien und Palästina, 1870/71 aus Bern, 1873 bis 1876
aus Mittel- und Unteritalien, 1875/76, 1879/80, aus Dront-
heim, 1882 aus Cherbourg (nur Marinehospital), 1885/86
aus Helsingfors, Finnland und Kopenhagen; in letzterer
Stadt trat sie in wachsender Stärke nochmals 1891 und
1898 auf. 1898 herrschte in Trifail (Steiermark) eine Epi¬
demie mit ca. 200 Erkrankungen, in der von Albrecht
und Ghon (1901) die ätiologischen Untersuchungen W eich-
s elb au ms nachgeprüft und bestätigt wurden.
Von 1876 an zog sich die Krankheit ein Dezennium
hindurch auf enge Grenzen zurück, so daß sie kaum noch
irgendwo den Charakter einer Volksseuche hatte. In den
Tropen, in Australien, in Japan, soll die epidemische
Meningitis nach Angaben Hirschs (1886), Heubners
(1897) usw. unbekannt sein, doch liegen neuere gegen¬
teilige Berichte vor. So beobachtete Newdill (1906) in
den heißesten Monaten Juni bis August 1905 in Nubien
eine Epidemie von 22 Fällen, von denen 13 starben, ln
den gleichen Monaten des nächsten Jahres brach die Seuche
von neuem aus. Castell a ni sah 1905 zwei Singhalesen
an Genickstarre erkranken und bestätigte die Diagnose durch
den Befund von Weich sei bäum sehen intrazellulären
Diplokokken. Ueber eine kleine bakteriologisch gesicherte
Genickstarreepidemie in Batavia berichtet de Haan (1909).
Nach Jaffe (1907) starben in den nördlichen Bezirken
von Togo, wo die Seuche mit Beginn der Nordwinde Ende
Januar oder im Februar auf tritt, 1906/07 zahlreiche Ein¬
geborene an Genickstarre u. zw. 1906 im Bezirk Sansanne-
Mangu 500, 1907 in Sokode 200 bis 300 Menschen. An
der Goldküste erlagen 1905 bis 1908 nach A. E. Horn
(1909) Tausende von Menschen der Seuche, die immer
zur Zeit der Harmattanwinde in der trockenen Zeit auf-
tritt, in der die Neger leicht an katarrhalischen Affektionen
leiden.
In Deutschland trifft man die Genickstarre in den
letzten Jahrzehnten fast nur in Schlesien und im1 Rhein¬
lande an. In Scjhiesien herrschte sie zum ersten Male
während der großen Epidemie der Sechzigerjahre, 1879 in
Reichenbach, 1886 im Industriebezirk von Kattowitz,
Beruhen, Königshütte, Gleiwitz, Zabrze (356 Fälle); 1896 im
Kreise Pleß, von , wo sie sich bis 1898 auch über die Kreise
Kattowitz, Beuthen, Tamowitz erstreckte. Wiederum: nach
mehrjähriger Pause häufen sich 1904 die Fälle in Königs¬
hütte, 1905 in den Kreisen Beuthen, Kattowitz, Zabrze,
Pleß, Tarnowitz ; aber auch die übrigen Kreise Schlesiens
hatten mehr oder minder unter der Genickstarre zu leiden;
in der ganzen preußischen Monarchie kamen 1905 3764
fälle zur Anmeldung; hievon entfallen 3317 auf die Provinz
Schlesien (u. zw. 3149 auf den Regierungsbezirk Oppeln).
1906 sank die Morbiditätsziffer in Preußen auf 2029 Er¬
krankungen mit 1275 Todesfällen ab u. zw. werden im Re¬
gierungsbezirk Oppeln 811 Erkrankungen (mit 504 Todes¬
fällen) gemeldet, im Regierungsbezirk Breslau 176 Erkran¬
kungen (gegen 146 im Vorjahre), während sich in demselben
Jahre in Posen (Stadt- und Landkreis) nur kleinere Epide¬
mien finden, Um diese Zeit brach aber — eingeschleppt
durch '.österreichisch -ungarische Bergarbeiter aus Ober¬
schlesien — im rheinisch- westfälischen Industriebezirk die
Seuche aus u. zw. befiel sie in erster Linie die Gruben¬
arbeiter. Im Regierungsbezirk Düsseldorf wurden im ganzen
320 Erkrankungen mit 225 Todesfällen ermittelt, im Re¬
gierungsbezirk Arnsberg 223 Erkrankungen mit 139 Todes¬
fällen. 1907 stieg die Zahl aller Genickstarreerkrankungen
auf 2591, wovon mehr als die Hälfte auf den rheinisch-
westfälischen Indus triebezirh entfällt (1059 Westfalen, 692
Rheinprovinz) ; auch hier wurden vorzugsweise die Familien
der Grubenarbeiter betroffen, während jetzt in Schlesien
mehr die Landbevölkerung heimgesucht war. Im Regie¬
rungsbezirk Oppeln wurden 294 Erkrankungen, im Regie¬
rungsbezirk Posen 116 Erkrankungen gemeldet. Sonst kamen
in Deutschland nur ganz vereinzelte kleine Herde zur Beob¬
achtung; so in Langenbielau (Schlesien), Altona, Elmshorn,
Lüneburg.
Die Eigentümlichkeit der Krankheit, an ganz verschie¬
denen Orten gleichzeitig aufzutreten und sich dann sprung¬
haft, nicht strichförmig oder radiär zu verbreiten, wird
unter anderem besonders auch von Hirsch (1886) hervor¬
gehoben. An einem bestimmten Platze pflegt sie dann wäh¬
rend mehrerer .lahre oder Jahrzehnte haften zu bleiben,
ja sich hier wieder auf ganz bestimmte Volksklassen zu
beschränken (Bergarbeiter, Kasernen, Arbeitshäuser, Waisen¬
anstalten usw.).
Interessant ist die Zerebrospinalmeningitis auch hin¬
sichtlich der zeitlichen Verteilung, indem sie vorwiegend
eine Frühjahrserkrankung darstellt, die in den Winter¬
monaten beginnt, im Sommer abfallt und im Herbst fast
gänzlich erlischt. Diese Tatsache ist schon den ältesten
Autoren aufgefallen und hat viele dazu bestimmt, die Ge¬
nickstarre als eine Erkältungskrankheit anzusehen. Eine
Zeitlang beschuldigte man auch die Bodenverhältnisse, da
die Seuche vorwiegend feuchte und sumpfige Gegenden
heimzusuchen schien ; nach den Erfahrungen der späteren
Epidemien konnte jedoch diese Hypothese nicht aufrecht
erhalten werden. Die Genickstarre befällt (wie schon
Schönlein, 1841 erwähnt), der die Seüche „Hydrocephalus
acutus“ bezeichnet, hauptsächlich das Kindesalter, doch
sind die Erwachsenen keinerwegs immun, was aus
den in manchen Epidemien besonders deutlich hervortreten¬
den, zuweilen sogar alleinigen Erkrankungen von Soldaten
— bei denen wohl das enge Zusammenwohnen eine große
Rolle spielt — ersichtlich. Wie beim Militär, sind auch bei
der Bergwerksbevölkerung unhygienische Wohnungs- und
Arbeiterverhältnisse als ätiologische Momente zu berück¬
sichtigen. Wenn dem Geschlecht überhaupt ein großer Ein¬
fluß zugesprochen werden soll, so beruht das wohl nur
auf der für Männer infolge beruflicher Schädlichkeiten er¬
höhten Infektionsgefahr.4) Die Mortalitätsziffer schwankt in
den verschiedenen Epidemien außerordentlich (zwischen
20 und 80%), oft, auch schon in den einzelnen Epide¬
mien selbst, indem (sie zu Anfang viel höher ist als gegen
Schluß der Seuche. Kinder und Greise sind weniger resi¬
stent als Erwachsene in mittleren Lebensjahren. Hirsch
(1886) berechnete aus 15.632 Kranken eine Mortalität von
37%, doch sind in den neueren Epidemien viel höhere
Zahlen erreicht: 1905 in Oberschlesien 67%, im Stadt¬
kreis Posen 64-5%, im Regierungsbezirk Breslau 60-29%,
in Duisburg und Rulmort 73-2%. Noch höhere Zahlen werden
aus Nordamerika (73-5%), aus Belfast (85-2%), aus Leith
(74-7%) berichtet.
Hinsichtlich der Frage nach der Aetiologie wird
heute allgemein angenommen, daß die Zerebrospinalmenin-
.gitis durch Infektion mit dem 1887 von Weichselbauni
entdeckten Diplococcus intracelluläris meningitidis entsteht ;
nur eine Zeitlang herrschte ein Streit darüber, ob der
Kokkus stets Gram -negativ sei, wie Weich sei bäum be¬
tonte, oder — nach Jägers Angaben — bald Gram -negativ,
bald Gram -positiv.5) Die Eintrittspforte bildet der Nasen-
4) Balduz zi (1907) fand sogar das männliche Geschlecht in
76’27rt/o, das weibliche nur in 23'73% der Fälle beteiligt.
5) Knäuth (1909) steht der ätiologischen Bedeutung der Diplo¬
kokken überhaupt noch skeptisch gegenüber und hält die Genickstarre
122
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 4
rachenraum, von wo aus die Kokken nach Ansicht dei
einen Autoren per conlinuitatem, nach Ansicht der anderen
auf dem Bhitwege zu den Meningen gelangen. Die Ueber-
tragung geschieht weniger durch die ans Bett gefesselten
Kranken, als durch gesunde Kokkenträger u. zw. durch
Versprühen der Bakterien beim Sprechen, Husten, Niesen
und so weiter, nicht aber durch V erstäuben, da sie gegen
Eintrocknung und direktes Sonnenlicht außerordentlich em¬
pfindlich sind.
lieber die praktische Bedeutung der Infektionsgefahr
sind die Meinungen noch sehr geteilt, ßordoni- üff re¬
duz zi (1907) zum Beispiel äußern sich dahin, daß wegen
der geringen Widerstandsfähigkeit der Bakterien die An¬
steckung nur direkt und vermittels des feuchten Nasen- oder
Rachensekretes erfolgen kann, also tatsächlich nur innerhalb
sehr bescheidener Grenzen zustande kommt, weshalb be¬
sondere Isolierungsmaßregeln zum Schutze der Gesunden
nicht erforderlich sind. Tritt doch auch die Lungenentzün¬
dung oft epidemieartig auf (ersichtlich aus seiner Statistik
von Mailand), ohne daß irgend jemand daran denken würde,
vom einer epidemischen Pneumonie zu reden.
In gleicher Weise ist P lüg ge (1908) der Ansicht, daß
der Kranke selbst bei der Ausbreitung der Seuche in den
Hintergrund tritt; in erster Linie seien vielmehr die „Kokken¬
träger“ beteiligt, welche teils gar keine Erscheinungen
bieten, teils mit einer leichten Pharyngitis behaftet sind und
noch drei Wochen im Rachen Kokken nachweisen lassen.
Nach Bruns (1908) sind 95°/o der Familienangehörigen
der Genickstarrekranken Kokkenträger, weshalb Flatten
und Kirchner Untersuchung der mit Kranken m Berüh¬
rung gekommenen Personen fordern, eventuell sogar Iso¬
lierung, falls sich Diplokokken bei ihnen finden. Aber auch
für (die Kranken selbst verlangen diese beiden Autoren
strenge Absonderung und laufende Desinfektion der Um¬
gebung.6)
Nach der Uebertragung erzeugen die Kokken bei der
Mehrzahl der Infizierten nur eine leichte, als Schnupfen
oder Rachenkatarrh gedeutete Erkrankung; die. Infektion
der Meningen findet vielleicht nur bei besonders Dispo¬
nierten oder aus noch anderen, unbekannten Gründen statt.
Es vergeht dann vom Momente der Infektion bis zum Auf¬
treten der ersten Erscheinungen ein Inkubationsstadium von
durchschnittlich zwei bis vier Tagen; die Prodrome währen
nur sehr kurze Zeit, alterhöchstens ein bis zwei Tage und
bestehen in Kopfschmerzen, Mattigkeit, Verstimmung,
leichtem Frösteln. Oft aber bricht die Krankheit wie ein
Blitz aus heiterem Himmel unter Schüttelfrost, hohem l ieber,
für keine spezifische Krankheit, sondern tür eine J eilerscheinung dei
sonst, als Lungen-, Rippenfellentzündungen, Influenza, Tonsillitis, Ge-
lenksrheumatismus zutage tretenden spezifischen Winterinfektionen der
Kasernen. . „ . . . .
a) Mor v a v beobachtete 1905 eine Meningitisepidemie unter
Pferden, die jedesmal einen akuten Nasenkatarrh hatten; direkte An¬
steckung von Tier zu Tier war nicht festzustellen, auch verliefen Leber-
tragungsversuebe an Hunden und Katzen resultatlos. Nach Kol e-
Hetsch (1908) kommt jedoch die typische epidemische Zerebrospinal-
meningitis spontan ausschließlich beim Menschen vor; ja die meisten
Versuchstiere' sind auch für die experimentelle Infektion mit Meningo¬
kokken, die direkt vom kranken Menschen gezüchtet sind, fast völlig
• refraktär; allenfalls lassen sich noch junge Meerschweinchen durch Ein¬
führung von Kult urm engen in die Pleura- oder Peritonealhöhle tödlich
infizieren, doch machen sich auch hier starke Schwankungen in der
Virulenz der Kulturen und der Empfänglichkeit der einzelnen Tiere be¬
merkbar. Es ,1'ehLt bis jetzt noch an Methoden, die Infektion so zu ge¬
stalten, daß sie bei jedem Meerschweinchen von bestimmter Körpergröße
und bei einer bdstimmten Dosis der Kulturmasse tödlich endet. Die Ver¬
suche einiger Forscher, Ziegen und Allen vom Rückenmarksack her
tödlich und mit -einer, ,der menschlichen Genickstarre ähnlichen Erkran¬
kung zii infizieren, bedürfen noch der Nachprüfung. Dagegen ist durch
Ruppel und Diehl festgestellt (ihre Resultate wurden allerdings von
anderen Autoren nicht bestätigt), daß die _ langdauernde Züchtung der
Meningokokken auf Bouillon, der natives I ierblut zugesetzt ist, zui Li¬
hgting der Virulenz für Mäuse führt,, indem die Kokken gegen Tierblut
gewissermaßen immunisiert, »fest« geworden sind und sich jetzt nicht
nur in der Bauchhöhle, sondern auch in den inneren Organen ver¬
mehren. Aber selbst diese für Mäuse virulent gemachten Kulturen ver¬
lieren oft rasch wieder ihre Virulenz und sterben in den Tierkadavern
schnell ab.
Kopf- und Kreuzsehmerzen, Erbrechen und den hervor¬
stechendsten Symptomen, der Genicksteifheit, über die Per¬
son herein. Ein Stadium der Reizung und der Lähmung
wie bei der tuberkulösen Meningitis, ist selten 2u differen¬
zieren, dagegen hat die Einteilung Hirschs (188b) viele
Freunde gefunden; er unterscheidet:
1. Die f oud roy ante oder apoplektif orme F or in,
welche besonders zu Beginn einer Epidemie beobachtet
wird und bei der die Betreffenden mitten im Wohlbefinden
von rapid sich steigernden Kopfschmerzen befaLen werden,
denen dann Konvulsionen, Erbrechen, Genickstarre, Be¬
wußtlosigkeit, Kollaps, kleiner 'Puls und schließlich nach .1
(i bis 36 Stunden der Tod folgen.
2. Die abortive Form, charakterisiert durch mehr
oder minder ausgeprägte Genickstarre, Nackenschmerzen,
Kopfschmerzen; nach neueren Forschungen findet sich m
der Mehrzahl der Fälle eine Meningokokkenangina ; die
Kranken sind oft nur wenige Tage, auch wohl^gar nicht,
bettlägerig. , , , j
3. Als gewöhnliche Form die akute und subakute
Form. Hier ist der Kopfschmerz ein konstantes und hervor¬
stechendes Symptom, welches die Kranken in furchtbarer j
Weise peinigt und die Morphiuminjektionen unentbehrlich
macht. Ferner findet sich Schwindel, Erbrechen, besonders •
beim Aufrichten der Kranken als Zeichen der V agusioizung,
Abflachung oder Eingezogensein des Abdomens durch Kon¬
traktion der Därme; bei Paralyse der letzteren — so m
schweren Fällen - findet sich umgekehrt aui getriebener
Leib; Koprostase, selten Diarrhoe; Nackensteifigkeit, ) «;
Nackenschmerzen u. zw. ist besonders die Beugung des«
Kinnes auf die Brust behindert; der Kopf ist weit nach v
hinten in die Kissen gebohrt, beim Anheben desselben kann
man den ganzen Rumpf mit auf richten. Wie die zerebrale
Meningitis den Kopfschmerz, so bedingt die spinale den
Rückenschmerz längs der ganzen Wirbelsäule, besonders
im Kreuz und macht oft jede Bewegung unmöglich. Die
Dornfortsätze sind auf Druck sehr empfindlich; längs der
Extremitätennerven finden sich ausstrahlende, oft blitz-^
artige Schmerzen, ferner auch Schmerzen im Epigastrium. '
Leichter Druck auf die Muskeln und peripheren Weichtet le
ist gleichfalls sehr schmerzhaft (Hyperalgesie, Myalgie);
selbst gegen Licht, Schall usw. sind die Kranken hyper- ;
ästhetisch. Nicht nur die Nacken-, auch die Rumpf- und ■,
Gesichtsmuskeln sind spastisch kontrahiert; hieher genört]
unter anderen das Kernig sehe Symptom, das heißt, das
Auftreten einer Flexionskontraktur der Kniegelenke bei Beu¬
gung der Oberschenkel gegen den Rumpf. Zu diesen mehr j
oder [weniger konstanten Zeichen kommen noch Schlaf-
losigkeit, Aufregung oder Depression, Verlust der Sprache,
Krampferscheinungen, die sich bis zu allgemeinen epileptl-j
formen Konvulsionen steigern können, Nystagmus; ferner
— besonders in später Periode der Krankheit •— Läh-|
mttngen, wie Pupillenerweiterung, Strabismus, Pto is, Fazi¬
alislähmung (selten Hemiplegie, Paraplegie, Monoplegie),
Verlust oder Steigerung der Reflexe, Babinski, Glieder-
zi Ilern, Anosmie, Ageusie, unregelmäßige oder Chey ne-'
Stokes sehe Atmung, Schwerhörigkeit, Taubheit. Auch nach)
Abfall des Fiebers, wenn eine objektive und subjektive
Besserung in dem Befinden schon die Genesung erhoffen
läßt, kann eine weitere Komplikation in Gestalt des Hydro¬
zephalus hinzutreten, auf den schon in der Fieberperiode
7) Nach Busse (1910) entsteht die Nackenstarre nicht reflektorisch,
durch Reizung der sensiblen Nerven der Häute im Bereich dei- hinteren
Schädelgrube und des oberen Halsmarkes, sondern in Analogie zu der
Defense musculaire bei zirkumskripter Peritonitis oder zu der charakte¬
ristischen Stellung der Gliedmaßen bei Gelenksentzündungen, wo sich das
Glied immer so einstellt, daß die Gelenkskapsel so weit als möglich ent¬
spannt. ist. Auch bei der Meningitis cerebrospinalis epidemica steht der
Liquor unter einem erheblich gesteigerten Druck und füllt den Duralsack
abnorm an: die Genickstarrekranken nehmen nun — nach Busse
eine Stellung ein, die diesen erhöhten intraduralen Druck herabsetzt,-
sie beugen daher den Kopf und die Wirbelbelsäule nach hinten über
und fixieren diese Lage krampfhaft, genau wie das Bein hei der
Koxitis durch tetanische Muskelkontraktion in typischer Stellung lest-
gehalten wird.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
123
gewisse Symptome hindeuteten. Es kommen aber Genick¬
starrefälle zur Beobachtung, ohne solche prämonitorische
Zeichen, Fälle, bei denen bereits eine vollkommene Heilung
eingetreten ist und die Kranken in blühender Gesundheit,
nachdem sie die schwere Infektion überstanden hatten, das
Krankenhaus verlassen, dann aber nach Monaten mil den
ersten Symptomen des chronischen Hydrozephalus er¬
kranken.
Während des Fieberstadiums beobachtet man zuweilen
Konjunktivitis, Chorioiditis, Panophthalmie, Neuritis, Amau¬
rose, Kieferhöhlenerkrankungen und • Luftröhrenkatarrhe.
Herzerkrankungen (Peri-, Myo- und Endokarditis) sind
selten. Die Hals- und Nackendrüsen sind oft geschwollen.
Auf der Haut trifft man als wichtiges differentialdiagnosti¬
sches Symptom den Herpes, meist an Lippen und Nase;
nach Einhorn (1907) ist es charakteristisch, daß die Erup¬
tion schubweise auftritt, derart, daß neben eingetrockneten
noch frische Bläschen stehen, während bei anderen akuten
Infektionskrankheiten die Herpeseruption mit einem Male
auftritt und damit dann abgeschlossen erscheint. Auffallend
ist ferner die ungewöhnliche Mächtigkeit, die langsame
Heilung und die atypische Lokalisation an den Ohrmuscheln,
den Augenlidern ; m einem Fälle beobachtete Einhorn den
Herpes sogar am Daumen. Curt ins (1905) sah einige Male
Petechien der Brust- und Bauchhaut, sowie ein masern-
ähnliches Exanthem; bei Kindern wird eine lebhafte Haut¬
rötung lei.cht Anlaß zu Verwechslung mit Scharlach oder
Erysipel geben. Selten sind Urtikaria, Oedeme im Gesicht
und am Handrücken, Gelenkaffektionen, Thrombosen beob¬
achtet. Der Harn wird reichlich sezerniert und enthält zu¬
weilen Zucker (Laiguel-Lavastine, 1909), Eiweiß und
Diazokörper. Die Milz ist aber gewöhnlich sehr klein, nur
in 16% der Fälle vergrößert, im Gegensatz zum üblichen
Milztumor bei Streptokokken- und Pneumokokkenmeningitis
(Charlotte Müller, 1908). Gegenüber der tuberkulösen
Form pflegt der Puls frequent, manchmal irregulär zu sein;
hochansteigende Pulszahl läßt auf Vaguslähmung sch'ießen
und ist ein schlechtes Zeichen. Das Fieber ist meist un¬
regelmäßig remittierend, oft von längeren fieberfreien Inter¬
vallen unterbrochen, während deren man den Patienten
irrtümlicherweise schon gerettet glaubt.
Als 'bleibende Folgen der Krankheit finden sich am
häufigsten Blindheit oder Verlust des Hörvermögens, welch
letzteres bei Kindern Taubstummheit bedingt; ferner pri¬
märer Verlust der Sprache, Geistesschwäche, chronischer
Kopfschmerz, Lähmungen, Rückfälle sind außerordentlich
selten beobachtet worden, so z. B. einer von A. Monte-
fusco (1907) und mehrere von Flexner (1908); H i 1 s u m
und Monchy (1903) sahen einige Male Rezidive, welche
günstiger und schneller verliefen als die eigentliche Krank¬
heit.
Bei Sektionen Genickstarrekranker ergibt sich als
Sitz der Entzündung und Eiterbildung ausschließlich die
Pia; äußerst selten zeigt die Dura einen leichten Belag;
am stärksten ist die Eiteransammlung auf den Stirn- und.
Scheitellappen, wo sie als „grüne Haube“ imponiert und
an der Hirnbasis, am Chiasma, am Infundibulum, während
die Fossa Sylvii (im Gegensatz zur tuberkulösen Form) so
gut wie gar nicht beteiligt ist. Die Hirnventrikel enthalten
meist etwas trübe, purulente Flüssigkeit, namentlich bei
längerem Bestehen der Affektion. Im letzteren Falle trifft
man auch starken Hydrozephalus mit Atrophie und Oedem
des Hirns, Trübung und Verdickung der weichen Hirnhäute.
Am Rückenmark ist besonders die Pia. der Dorsalseite be¬
fallen, wo die Dura fibrinösen Relag zeigt. Bei foudroyanten,
in wenigen Stunden tödlichen Fällen, ist der Obduktions¬
befund vielfach negativ.
Zur Sicherung der Diagnose Genickstarre isl von
allergrößter Bedeutung das Ergebnis der Quincke sehen
Lumbalpunktion, besonders zur Trennung der tuberkulösen
von den eitrigen Formen, indem sich bei ersteren über¬
wiegend Lymphozyten in der Spinalflüssigkeit finden, bei
letzteren polynukleäre Leukozyten. Die Bildung eines Fi¬
brinhäutchens im Punktat soll mehr auf Pneumokokken
infektion hindeuten, das Fehlen eines solchen auf Meningo
kokkeninfektion. Entscheidend bei der l ntcrsuchung des
Punktats ist natürlich der Befund von Gram- negativen
intrazellulären Diplokokken im frischen Präparat und be¬
sonders in der Kultur (Aszitesbouillon, Aszitesagar, Blut¬
agar); Rachenabstriche dagegen führen seifen zu einwand
freiem Resultat. Der Grad der Trübung der Lumbalflüssig
keit ist nicht immer beweisend für den Grad der Eiterung:
zur Begründung weist. Busse (1910) auf den Unterschied
hin, der zwischen Zerebrospinalflüssigkeit und eigentlichem
Exsudat besteht; ers teres . braucht nur leicht, getrübt zu
sein, während dicker, rahmiger Eiter in den Maschen der
Pia liegt. Diagnostisch brauchbar könnte auch die Bestim¬
mung des Agglutinationstiters sein , wenn deren Aus¬
führung nicht so häufig an dein Mangel geeigneter Meningo¬
kokkenkulturen scheitern würde; auch tritt die Agglutination
nicht gleich im Anfang der Erkrankung auf. Vorläufig rein
theoretischen Wert haben die Untersuchungen Böhmes
(1908) über Opsonine: Auf einen Meni ngokokkenstamm,
der frisch aus Lumbalflüssigkeit eines Genickstarrekranken
gezüchtet war, wirkte inaktives normales Menschenserum
nur sehr schwach ein; demgegenüber zeigte das aktive
und inaktive Serum des Kranken selbst eine sehr verstärkte
opsonische Wirkung, die im Verlauf der Krankheit zunahm
(vielleicht infolge der therapeutischen Semmeinsprilzungen)
und daneben agglutinierende Kraft. Das zu den Einspritzun¬
gen verwendete Serum wirkte allerdings weder für sich
noch mit verdünntem Menschenserum vermischt, opsonisch.
Die Behandlung war früher eine rein symptoma¬
tische und befaßte sich vorwiegend mit der Bekämpfung
der Schmerzen; einen wahrhaft entscheidenden Einfluß auf
den Krankheitsverlauf jedoch hat man bei kritischer Prü¬
fung wohl weder von externen noch internen Mitteln ge¬
sehen. Vorübergehend günstig wirken antifebrile und anti¬
phlogistische Maßnahmen: Aderlaß bei starker Kongestion
des Gesichtes; lokale Blutentziehungen, mit Schröpfköpfen
oder Blutegeln an den Schläfen, den Warzenfortsätzen, dem
Nacken, längs der Wirbelsäule (bei Kopf- und Rücken¬
schmerzen, Somnolenz und Hirndrucksymptomen). Sehr an¬
genehm empfinden die Kranken lokale Kälte in Form von
Eisbeuteln auf Stirn und Nacken, Chapman schein Wirbel¬
säulenschlauch, Leiterschen Kühlröhren in Kappenform für
den Kopf. Von Einreibungen mit grauer Salbe, Crede-
scher Salbe, Kollargol (Hecht. 1905 8), Sehrwald 1905,
täglich 7-5 g, Voisiu 1909, Leick 19091 sieht man kaum
einen Vorteil; auch lassen die Antipyretika, wie Phen
azetin, Salophen, Pyramiden, Aspirin, Antipyrin, Migränin,
Salipyrin, Chinin usw., oft jede Wirkung auf den Kopf¬
schmerz vermissen (wie z. B. in meinem Falle). Mit der¬
selben Aussicht kann man Pasta Guarana, Kalium nitricum,
Formaldehyd (Curtius 1905, Leick 1909) Limonaden
versuchen. Nach Arnold (1908) läßt sich durch Verab¬
reichung von Salzsäure in einer Reihe von Fällen das
im Gefolge der Meningitis (besonders in protrahierten
Fällen) auftretende Erbrechen, welches jede Nahrungsauf¬
nahme aufs äußerste erschwert oder vereitelt, sowie in
leichteren Fällen die Appetitlosigkeit der Kranken erfolg¬
reich bekämpfen. Durch epidermal ischp Anwendung von
Guajakol will Arnold mehrmals in wenigen Tagen Rück¬
gang des Fiebers und der meningilischen Krankheitserschei¬
nungen und binnen kurzer Zeit definitive Heilung erzielt
haben (?).
Bei den oft unerträglichen Kopfschmerzen sind Nar¬
kotika meist unentbehrlich; doch reicht man mit interner
Ordination von Kodein, Dionin, Heroin, Opium, Sulfonal,
Trional, Amylenhydrat, Chloral, Veronal, Atropin usw.
kaum aus, sondern wird bald zur Morphiumspritze fl bis
2 cg) greifen müssen. Bei Kollaps und Koma werden Exzi-
tantien, wie Kampfer, Aether, Moschus, Sekt, Kaffee, Di-
galen, kalte Uebergießungen an gewendet. Zu Anfang der
8) Hecht spritzte Kollargol auch intravenös erfolgreich ein.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Krankheit, zumal wenn sie mit Obstipation einhergeht, em¬
pfiehlt sich Ableitung auf den Darm1 mit salinisclien oder
vegetabilischen [Mitteln, eventuell auch mit Kalomel
(Leyden).
Ueber den Nutzen der Bäder sind die Ansichten ge¬
teilt; die einen wollen Vorteil gesehen haben, andere leugnen
sie, z. B. Bloch (1905); wenn überhaupt, so kommen nur
heiße Bäder in Betracht, wie sie von Westenhöffer
(1906), Voisin (1909, mehrmals täglich, 39 bis 40 wann),
Cur tiu s (1905, warme Bäder mit nachfolgenden Ein¬
packungen), Dornblüth (1905), Hecht (1905), Quen-
stedt (1908) empfohlen werden; kalte Bäder dagegen
hierin stimmen alle Autoren überein — können nur schäd¬
lich wirken. Aus theoretischen Erwägungen heraus werden
von verschiedenen Seiten Diuretika und tägliche Kochsalz-
klystiere (Grawitz, 1905) oder Kochsalzinfusionen
(Hecht, 1905) angeraten. Ruhe mann (1905) tritt für Jod¬
natrium (2-5/1500, dreimal täglich xk Eßlöffel) ein, das
sein Jod in statu nascendi rasch abgeben und allen an¬
deren Jodpräparaten überlegen sein soll. Mit 10 g habe er
einen 13jährigen, schon mehrere Wochen erfolglos behan¬
delten Knaben geheilt. Auch Bloch (1905) will günstige
Erfahrungen mit Jodnatrium gemacht haben. Ebenso opti¬
mistisch ist Foucaud (1908) in der Beurteilung der Wir¬
kung künstlicher Abszesse nach Rochier, die er durch
Einspritzen von Terpentingeist erzeugte. Stursberg (1908)
rühmt den günstigen Einfluß der Bi ersehen Stauung; Ver¬
suche an Hunden hatten ihiml nämlich gezeigt, daß beim
Umlegen einer Stauungsbinde um den Hals der Druck so¬
gleich steil ansteigt, vor allem infolge starker Ausdehnung
der venösen Gefäße der Schädelhöhle, weniger infolge ver¬
mehrter Abscheidung von Liquor. Bei Hirnhautentzündun¬
gen wird durch venöse Stauung ein noch stärkerer und
länger [dauernder Druckanstieg eintreten ; es darf datier
die Stauung nur in geringem Grade und erst dann iaus-
gefülirt werden, wenn durch Lumbalpunktion der Druck
ausreichend erniedrigt ist. Vor ihm wendete schon Vor¬
schütz (1907) die Stauung an; sie vermindere die Kopf¬
schmerzen, verhüte Komplikationen und bekämpfe die Ent¬
zündung, indem Stauung und regelmäßige Punktionen im
Lumbalsacke eine Strömung hervorrufen, durch welche die
Eritzün dun gsk ei m e aus den Nischen und Falten fortge-
schwerrimt werden.
Ausgehend von dem Gedanken, daß die Eintrittspforte
der Infektion der Nasenrachenraum ist, bläst Hecht (1905)
ein Gemisch von Sozojodolnatrium und Acidum boricum ana,
Es Che rieh (1906) Pyozyanase in den Epipharynx; letz¬
terer wies experimentell nach, daß durch Behandlung mit
Pyozyanase die Zahl der Meningokokken im Nasenschleim
so vermindert werden kann, daß sie in den nach der Ein¬
blasung vorgenominenen Impfungen nicht mehr gefunden
werden. Hiedurch schützt män nicht nur den Infizierten
vor der Meningitis, sondern auch die Umgebung des Kranken
vor Ansteckung und verhütet die Verbreitung der Seuche
durch Zwischenträger. Ganz ähnliche Erfahrungen will
Huber (1908) gesammelt haben; eine vorbeugende Verab¬
reichung soll jedoch keinen Erfolg versprechen. Wasser¬
mann und Leuchs (1908) verreiben eingelrocknetes Anti¬
meningokokkenserum zu gleichen Teilen mit Milchzucker
und bringen es dann mittels Pulverbläser in die Gegend
der Rachentonsille. Seibert (1907) empfiehlt, sowohl beim
Patienten selbst, um weitere Absorption und Expektoration
von Kokken zu verhindern, als auch direkt prophylaktisch,
hei der Umgebung des Kranken Behandlung des Nasen¬
rachenraumes mit einer Lösung von Resorzin in heißem
Alkohol 1:1. Die Applikation geschieht mit einem Watte-
träger, dessen abgebogenes Ende lang genug ist, um das
RaChendach zu erreichen; die Behandlung muß alle 48
Stunden wiederholt werden und ist auch von kleinen Kin¬
dern zu ertragen; der Magen soll dabei leer sein. Den
gleichen Zweck — besonders im Inkubations- und Prodro¬
malstadium — verfolgt Dornblüth (1905) mit der opera¬
tiven Entfernung der als Bakterienherd fungierenden Rachen¬
mandel; Curtius (1905) sah jedoch in acht so operierten
Fällen keine Wirkung.
Mit Interesse muß man die Versuche von Hiß und
Zinsser (1908) verfolgen; sie hatten schon früher fest-
gestellt., daß Leukozytenextrakte, die sie durch Aleuronat-
injektionen in die Pleura von Kaninchen gewannen, be¬
sonders bei intraperitonealer Einspritzung eine ausgespro¬
chene Heilwirkung auf mit Staphylo-, Strepto-, Pneurno-,
Meningokokken und Typhusbazillen infizierte Kaninchen aus¬
übten. Auch beim1 Zusammenbringen von Leukozyten- und
Bakterienextrakten in vitro konnten sie das Auftreten von
Niederschlägen beobachten. Auf Grund der günstigen Er¬
gebnisse der Reagenzglas- und Tierversuche wandten sie
Leukozytenextrakte auch heim Menschen an u. zw. führten
bei 22 Genickstarrefällen mehrfache Injektionen von 5 bis
20c'm3 Extrakt aus mit dem Erfolg, daß 63-6% geheilt
wurden; aber , auch bei den letal endenden Fällen zeigte
sich ein günstiger Einfluß der Extrakte durch den län¬
geren Verlauf. (Bei acht Fällen von Pneumonie sank nach'
jeder Einspritzung stets dm Temperatur ab.)
Unter allen nicht spezifischen Mitteln scheint die Lum¬
balpunktion aber bei weitem die erste Stelle zur Be¬
kämpfung der Genickstarre einzunehmen; sie wirkt sym¬
ptomatisch durch Entlastung des Zentralnervensystems vom.
Druck, gibt dadurch dem Kranken Erleichterung seiner
Schmerzen und fördert somit vorübergehend die Nahrungs¬
aufnahme. Es ist jedoch unerläßlich, sie möglichst oft zu
wiederholen. In gewisser Weise wirkt sie auch kausal,
indem sie einen Teil der Kokken mit fortschwemmt; prak¬
tisch koihmt das aber bei der Uebersäung der Häute mit
Keimen kaum in Frage. Bei meiner Patientin ließ sich im
Anschluß an die Punktionen weder objektiv noch subjek¬
tiv eine wesentliche Aenderung des Zustandes erkennen.
Rad mann (1905) sah an seinem großen oberschlesischen
Material keinen Erfolg von planmäßigen Spinalpunktionen,
Stursberg (1908) seihst nicht, bei ein- bis zweimal täg¬
lich ausgeführter Punktion; auch Kr o eher (1906) und
Schultz (1907) können nur negative Resultate mitteilen
und Göppert erklärt auf Grund seiner reichen Erfahrung
in der oberschlesischen Epidemie, daß es (bis damals) keine
Behandlung der Genickstarre gebe, welche imstande sei,
die Mortalität in wesentlicher Weise zu beeinflussen. Etwas
mehr versprechen sich Broer (1906), Westenhöffer
(1906), Huber (1908), v. Bökay (1907) vom Lumbalstich;
nach letzterem Autor können zwar nur wenige Prozent
gerettet werden, doch sind heilende Wirkungen unverkenn¬
bar; der Hirndruck wird verringert, die Krankheitserreger
und Toxine werden entfernt. In schweren Fällen ist bei er¬
neuter K ran kh eits versöhl i m'm e r u ng der Einstich in kurzen
Fristen von 1 — 2 — 3 Tagen zu wiederholen, doch sollen
bei Kindern nicht mehr als 30 cm3 abgelassen werden.
Tritt nur wenig und besonders dickflüssiger eitriger Liquor
aus, so sind weitere planmäßige Einstiche aussichtslos. Die
begleitende Anwendung der Bi ersehen Stauung beruht nach
v. Bökay auf unrichtigen Annahmen und habe an den
Erfolgen keinen Anteil. Koch (1907) hält die Spinalpunktion
für ein gutes Mittel zur Verminderung starker Drucksym¬
ptome; leider sei der Einfluß der Punktion nicht von langer
Dauer, so daß man alle ein bis zwei Tage den Eingriff
wiederholen müsse. Ob aber nur subjektive Besserung oder
auch eine objektive erreicht wird, ist fraglich; jedenfalls
darf man, solange nicht bewiesen ist, daß durch die plan¬
mäßige Spinalpunktion die Mortalitätsziffer herabgedrückt
wird, derselben keinen besonderen therapeutischen Wert
beilegen. Diesen Anschauungen Kochs stehen gegenüber
die günstigen Resultate, welche von Grawitz (1905), Dorn¬
blüth (1905), Hecht (1905), Hilsum und Monchy
(1903), Curtius (1905), Cohn (1908), Voisin (1909) und
zahlreichen anderen publiziert werden. Kopliks (1908)
spinalpunktierte Kranken wiesen eine Mortalität von 38°/o
auf; Kob (1905) beobachtete nach jeder Punktion einen
Temperaturabfall, Bloch (1905) einen schnellen Rückgang
der bedrohlichen Zustände. Die Empfehlung v. Drigal-
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
skis (1905), die Lumbalpunktionsnadel als Dauerkanüle, in
C redesehe Silbergaze mündend und durch ein entspre¬
chendes Ringpolster gegen Druck geschützt, liegen zu lassen,
ist wohl aus leicht verständlichen Gründen nicht in die
Praxis umzusetzen. Lenhartz (1905) kommt auf Grund
der Erfahrungen an 45 Kranken zu der Ueberzeugung, daß
häufige Anwendung der ganz ungefährlichen Lumbalpunk¬
tionen einen günstigen Einfluß auf den Krankheitsverlauf
sowohl im akuten (Stadium, als auch während der Ent¬
wicklung des Hydrozephalus habe. Dem ist allerdings gegen¬
über zu halten, daß bei Hydrozephalus die Kommunikationen
zwischen Him- und Rückgratshöhlen oft erschwert oder
aufgehoben sind, so daß der Liquor Cerebri aus dem1 Lumbal¬
stichkanal nicht abfließt. Westenhöf f er (1906) schlug
daher vor, zur Vermeidung des Hydrozephalus von einer
Trepanationsstelle 1 Cml oberhalb des Ansatzes des Pro¬
cessus zygomlaticus an das Schläfenbein durch Einstoßen
eines Troikarts das Unter- und Hinterhorn zu drainieren und
eventuell nach Eröffnung der Ventrikel von der Okzipital -
region aus eine Durchspülung zu bewerkstelligen; über die
Ausführbarkeit dieser Methode überzeugte er sich an Leichen.
W. Schultz (1907) punktierte in der Tat mit dem Neis-
s er sehen Bohrapparat. an der von Kocher angegebenen
Stelle des Schädels und sah danach Aufhellung des Be¬
wußtseins, Hebung des Appetits, Besserung von Krämpfen,
Schlaflosigkeit und Erbrechen, konnte jedoch den Exitus
nicht aufhalten. Auch Radmann (1907) empfiehlt die Tam¬
ponade der Seitenventrikel bei sekundärem: Hydrozephalus,
hält allerdings die Gefahr einer Infektion für sehr groß.
Um bei einer Lumbalpunktion nicht nur physikalisch
durch Druckentlastung und Keimlverminderung zu wirken,
sondern gleichzeitig den Krankheitsherd chemisch zu beein¬
flussen, wurde z. B. von Es Che rieh (1906) Pyozyanase,
-allerdings ohne sicheren Erfolg, injiziert; Curtius (1905)
versuchte — ebenfalls resultatlos — Durchspülungen des
Rückenmlarkskanales mit l°/oiger Lysollösung; mit letzterer
will nämlich Franc a (1905) bei der portugiesischen Ge¬
nickstarreepidemie günstige Erfahrungen gemacht haben, in¬
dem er täglich 25 bis 50 cm3 jener Lösung intralumbal
einspritzte, bis sich die Lumbalflüssigkeit steril zeigte. Bei
dickem Eiter wird vor Einspritzung des Lysols mit physio¬
logischer Kochsalzlösung durchgewaschen. Von 58 so bei-
handelten Fällen starben nur 17 (gegen 36 von 56 anders
behandelten). Leic'k (1909) sah von den verschiedentlich
gerühmten Injektionen von 1 bis 2 Cm3 2 Urigen Kollargols
in den Rückenmarkskanal keine Besserung.
*
Eine ganz neue A era begann für die Genickstarrebe¬
hand lung mit der Herstell ung des Antim en-ingokokke h-
serurns. Jochmann (1906'' hatte in der schlesischen Epi¬
demie 1904/05 durch zahlreiche Beobachtungen die Erfah¬
rung bestätigt gefunden, daß nur der W eich sei bau mische
Meningokokkus ätiologisch in Betracht kommen kann und
bemühte sich nun, mit diesem ein Immunserum herzu¬
stellen. Durch systematische Virulenzprüfungen an etwa
30 Stämmen gewann er eine Anzahl Stämme, von denen
1 Oese (3 mg), bei Mäusen intraperitoneal injiziert, nach
12 bis 24 Stunden den Tod herbeiführte. Von diesen Kokken
nun legte er Massenkulturen auf Aszitesagar an und spritzte
Pferden, Hammeln, Ziegen anfangs subkutan, später intra¬
venös, mit 1 Oese beginnend, bei 60° abgetötete Kulturen
ein; alle acht Tage wurde die Dosis verdoppelt und so bis
drei Kolleschalen vorgeschritten. Nach mehreren Monaten
wurde die gleiche Behandlung mit lebenden Kulturen aus¬
geführt, wobei der Agglutinationstiter eines Pferdes schlie߬
lich auf 1:1500, eines Hammels auf 1:500 stieg. Solche
hoch agglutinierenden Sera gestatten übrigens eine sichere
Unterscheidung echter Stämme von unechten; sie erweisen
ferner die Artdifferenz des Jäger sehen Gram -positiven
Diplokokkus und des Weich sei bau mischen Gram -nega¬
tiven.
Während mm bei Pneumokokkenseris die Immunkörper
oft so spezifisch sind, daß sie nur gegen den zur Tmmuni-
125
sierung verwendeten Stamm Schutzwirkung entfalten, ist
das von Joc'hrbann angegebene (jetzt von E. Merck,
Darmstadt fabrizierte) Serum polyvalent. \ ersuche an Meer¬
schweinchen und Mäusen zeigten, daß prophylaktische oder
gleichzeitige subkutane, resp. intraperitoneale Seruminjek¬
tion vor der zwei- bis sechsfach tödlichen Dosis schützt.
Die Virulenz der (Stämme muß immer wieder von neuem
geprüft werden, da oft plötzlich ein starker oder völliger
Virulenzabfall eintritt, der den Stamm zur Immunisierung
unbrauchbar mlaöht.
Fragt man nun, worauf die Sohutzwirkung des Anti¬
meningokokkenserums beruht, so ergeben die Versuche
Joc'hmanns, daß eine wesentliche Virulenzabschwä-
c'hung der Kokken durch das Serum nicht bedingt wird.
Meningokokkenstämme, welche 24 Stunden der Einwirkung
des Serum's ausgesetzt waren und nachher weiter gezüchtet
wurden, führten stets noch in derselben Dosis wie vor
der Serumeinwirkung den Tod der Versuchstiere herbei ;
auch die antitoxische Wirkung ist gering, die Dosis
letalis 'minima einer bei 56° abgetöteten Kultur ist nur
zwei- bis dreimal größer als die einer lebenden Kultur.
Mehrere Experimente zeigten jedoch, daß im Serum passiv
immunisierter Meerschweinchen bakterizide Kräfte
kreisen, die ihre Wirkung unabhängig von den mit bak-
teriotropen Substanzen beladenen Leukozyten ent¬
falten können. Durch subkutanes Einspritzen von 2 cm3
. steriler, 2 Uriger nukleinsaurer Natronlösung läßt sich
beim Meerschweinchen eine ganz enorme Leukozytose er¬
zeugen, welche die tödliche Dosis um das Dreifache er¬
höhen kann; leider ist bei genickstarrekranken Menschen
diese Leukozytose gering und nur von kurzer Dauer, so
daß ein Heilerfolg damit nicht zu erzielen ist. Im Gegen¬
satz zu Jochmann spricht 0. Orth (1908) dem Serum
jegliche bakterizide Kraft ab; denn wenn auch bei fort¬
währenden Punktionen und Seruminjektionen die Bakterien
aus dem Punktat verschwinden, so sind sie post mortem
doch in den Gewebskapseln der Durabasis nachweis¬
bar; auch wäre es unverständlich, daß sich noch in der
siebenten Woche der Rekonvaleszenz aus der Lumbalflüs¬
sigkeit Meningokokken züchten lassen. Gerade der Umstand,
daß in diesen Fällen trotz der Anwesenheit der Krank¬
heitserreger dieselben keine verderbliche Wirkung mehr
hervorriefen, spricht nach Orth wohl für. die Annahme einer
paralysierenden Kraft des Serums. Mit ihr gelingt es,
künstlich den Bakterien eine größere Menge der Abwehr¬
stoffe entgegenzuwerfen, so daß sie ihrerseits nicht, schnell
genug die nötigen Abfallstoffe produzieren können, um jene
ersteren aufzuheben.
Das Kolle-Wassermlannsche (oder Berliner) Se¬
rum1 wird in folgender Weise hergestellt (Wassermann
und Leuchs, 1908): Ein Pferd wird subkutan zuerst mit
abgetöteten, dann mit lebenden Kulturen behandelt, ein an¬
deres in gleicher Weise, aber intravenös; ein drittes Pferd
erhält erst subkutan, dann intravenös gelöste toxische Sub¬
stanzen der Meningokokken, die dadurch gewonnen werden,
daß frische Meningokokkenkulturen bei Zimmertemperatur
mit destilliertem Wasser (5 cm3 auf eine K olle sehe Schale)
acht (Stunden lang geschüttelt und daun bis zur vollstän¬
digen Klärung zentrifugiert werden. Zu den verschiedenen
Immunisierungsarten werden je mehrere Pferde genommen,
die mil verschiedenen u. zw. biologisch möglichst diffe¬
renten Meningokokkenkulturen vorbehandelt sind. Die Sera
aller nach den drei verschiedenen Methoden immunisierten
Pferde werden alsdann gemischt, so daß ein multipartiales
Serum entsteht, das seiner Herstellungsweise nach nicht
nur ein antiinfektiöses, sondern auch ein anti toxisches ist.
Zur Immunisierung der Pferde werden nur solche Giff-
lösungen verwendet, welche in einer Dosis von 0-1 ein:’
ein Meerschweinchen von 150 g Gewicht innerhalb 12 bis
24 Stunden töten.
Fl ex xi er stellte 1907 erfolgreiche Versuche an, Ein¬
spritzungen von Meningokokkenkulturen bei Meerschwein¬
chen und Affen durch Behandlung mit Antiserum von Ziegen,
126
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 4
Kaninchen und großen Affen unschädlich zu machen. Da¬
mals warnte er noch davor, Injektionen von artfremden
Seren in den Rückenmarkskanal eines Menschen vorzu¬
nehmen, ehe nicht ihre physiologische Wirkung an Affen
erprobt sei. Er glaubte ferner, daß die Gefahr einer Seruml-
intoxikation bei Anwendung von Affenserum beim Menschen
geringer wäre als bei Anwendung von Seren niederer Tiere.
Im folgenden Jahre (1908) berichtet er zusammen mit Job-
ling über weitere Experimente und auch schon über Er¬
folge an Menschen. Er erhält sein Serum durch abwech¬
selndes subkutanes Einspritzen von lebenden Kulturen und
Kulturautolysaten in Zwischenräumen von sieben Tagen
und zwar werden Gemische verschiedener Kulturen ver¬
wendet.
Außer den obengenannten Seren gibt es noch ein
Ruppelsches, ßorrough-Welcome, Dopter, Ber¬
ner, Wiener Serum und andere mehr.
Von großer Bedeutung für die Therapie ist natürlich
zwecks richtiger Dosierung die Wertbestimmung des Se¬
rums, wie sie z. B. so exakt für das Diphtherieheilserum
ausgeführt wird. Hier besteht aber für das Genickstarre-
heilserum noch eine große Lücke. Es wäre nämlich das
Naheliegendste,' das Tierexperiment zu benutzen, wie .es
z. B. Kraus (Wien) schon vor Jahren vorschlug. Nun ist
aber der Schutzversuch an der Maus nur möglich, wenn
man frische, virulente Kulturen besitzt, was nicht immer der
Fall ist ; auch aus anderen Gründen gelingt die Austi¬
trierung des Serums nach Art des Pfeifferschen \ er-
suches nicht ; letzterer wird zudem von neueren Autoren
nicht für maßgebend für den Heilerfolg ihrer Seren am
Menschen .angesehen, da fast ausschließlich ein einziger
der in diesem Serum vorhandenen Antikörper, nämlich der
bakteriolytische Ambozeptor, zur Geltung kommt. Ottos
Ansicht, wie er sie in der „staatlichen Prüfung der Heil¬
sera“ ausspricht, daß von vornherein gegen alle Serum1
prüfungen in vitro Bedenken beständen, da nur im! Tier¬
versuch alle Faktoren, welche die Bakterien bekämpfen
und vernichten, in Aktion treten und gleichzeitig zur Wir¬
kung gelangen, ist nach NeufeTd (1910) unzutreffend,
nach diesem Forscher treten auch im Tierkörper je nach
der Versuchsanordnung die verschiedenen Antikörper in
ganz verschiedenem Maße in Wirkung, weil eben auch
die infektiöse und toxische Wirkung der Mikroorganismen
sich je nach der Tierart, dem Applikationsmodus eventuell
in ganz verschiedener Weise äußert u. zw. stets ganz
anders als bei der menschlichen Erkrankung, die wir mit
unserem Serum bekämpfen wollen. Es gibt also auch der
Tierversuch keineswegs ohne weiteres einen sicheren Ma߬
stab für die Auswertung eines Serums. Wenn man von
der einfachen Antitoxinprüfung, wo der Tierkörper in der
Hauptsache nur als Indikator für das Vorhandensein freien
Toxins dient, absieht, so werden wir den im Tierversuch
erhaltenen Wert nur dann als unmittelbaren Maßslab für
die therapeutische Wirkung beim Menschen ansehen dürfen,
wenn entweder heim Versuchstier dasselbe Krankheitsbild
wie beim Menschen ^erzeugt werden kann, oder wenn so¬
wohl beim Menschen wie beim Versuchstier für die Heil-,
bzw. Schulzwirkung eines Serums ein und derselbe Anti¬
körper ausschließlich oder doch ganz überwiegend in Be¬
tracht kommt (Neufeld, 1910).
Schon 1908 benutzten Wassermann und Leuchs
die Bordet-Gengo u sehe Komplementablenkungsmethode
nach der Modifikation von Wassermann-Bruck. Als
Endtiter diente diejenige geringste Menge Serum be¬
ziehungsweise Extrakt, welche noch völlige Hemmung der
Hämolyse ergibt. Nun bietet die Komplementbindung zwar
einen Anhaltspunkt, beweist jedoch keineswegs den Gehalt
an heilenden Faktoren. Zivei verschiedene Sera können
gleichen Heilwert und doch verschiedene ablenkende Kraft
haben; letztere ist z'. B. im Merck sehen Serum gering
bei hoher Agglutinationskraft, während die Sera des Ber¬
liner und Berner Instituts für Infektionskrankheiten an¬
nähernd gleich hohe Agglutinationswerte und gleich hohen
Gehalt an komplementverankernden Stoffen haben. Nach
Kraus und Bächers (1909) Ansicht gelingt übrigens die
Komplementbindung nicht mit jedem Meningokokkenstamm.
Flexner und Job ling (1908) beklagen gleichfalls
die geringe Verläßlichkeit ihrer Methoden: Bestimmung des
Titers nach dem Komplementbindungsvermögen und nach
der Schutzwirkung gegenüber Kulturautolysaten beim Meer¬
schweinchen. Kraus und Doerr (1908) lehnen sogar die
K o 1 1 e - W asser m a n n sehe Methode als Prüfungsart für
kurative Sera, völlig ab; auch lebende Meningokokken, Agglu-
tinine, Ambozeptoren sollen sich nicht als Maßstab der
Serumwirkung eignen; hingegen könne man aus Meningo¬
kokken giftige Substanzen gewinnen, welche antigen wirken
und als Testobjekte Verwendung finden dürfen. Krunr
bein und Diehls (1908) Untersuchungen über che Wert¬
bestimmung ergaben durch Experimente mit Extrakten und
Bakterienemulsionen, die von neun verschiedenen Meningo-
kokkenstämmen gewonnen waren, daß die Emulsionen in 1
bezug auf die Ausprüfung der einfach tödlichen Dosis viel
konstantere Resultate liefern als die Extrakte. Die mit diesen
Giften in der vier- bis achtfach tödlichen Dosis angestellten
Serumprüfungen von Höchster, Merckschem und Berner
Serum lieferten schwankende und ungleichmäßige Resul¬
tate, so daß die Auswertung des Meningokokkenserums
durch den Tierversuch, bzw. der Neutralisationskraft toxi¬
scher Substanzen als praktisch nicht brauchbar bezeichnet
werden muß. Der giftneutralisierende Wert geht eben nicht
parallel dem Gehalt an Agglutininen und komplementbinden-
den Stoffen, ja selbst letztere sind in dem Serum einander
nicht proportional. So erhält man denn auch nach Krum-
bein und Diehls Ansicht bis jetzt die besten Resultate
bei der Wertbestimmung des Meningokokkenbeilserums mit
der von Kolle-Wassermann in Ermangelung einer an¬
deren Tos (basis vorgeschlagenen Methode der Komplement- ,
Verankerung. Diese zeigt jedoch, wie erwähnt, nicht ohne
weiteres den Gehalt an bakteriolytischen Schutzstoffen an,
wie sie durch den Pfeifferschen Versuch festgestellt
werden; Unbeständigkeit in der Wärme, geringe Haltbar¬
keit der ablenkenden Stoffe sowie ihr Fehlen in dem in
Höchst an gefertigten agglutinierenden und nach Ruppe 1
schützenden und heilenden Serum sollen darauf hinweisen,
daß diese' ablenkenden Stoffe keine echten Ambozeptoren,
sondern spezifische Körper sind. . ’
Nun ist neuerdings durch die von Neufeld (1910)-
ausgearbeitete Methode des Nachweises der Bakterien--
tropine zusammen mit dem Nachweis der giftneu fralisie- -
renden Eigenschaften des Meningokokkenserums eine Basis
geschaffen, auf welcher man zu einer allgemein anerkannten
Wertbestimmung des Serums gelangen dürfte (Kraus und
Bäche r, 1909). Auch Jobling äußert sich dahingehend,
daß von allen Antikörpern, die man bei der Prüfung des
Genickstarreserums herangezogen hat, bisher nur die Tro¬
pine die beiden Bedingungen erfüllen, die man wohl als
unerläßlich (bezeichnen darf: Sie sind erstens nach all¬
gemeiner Ansicht an der Heilwirkung des Serums hervor-
. ragend beteiligt und sie sind zweitens quantitativ meßbar.
Die Untersuchung auf Tropine ist nicht durch die Bestim¬
mung des Agglutinins oder der Bordetschen Antikörper zu
ersetzen, da diese Körper ganz unabhängig voneinander
auftreten (s. oben); allerdings ist bei lange fortgesetzter
Immunisierung und Verwendung großer Dosen Antigens
mit Wahrscheinlichkeit darauf zu rechnen, daß sich schlie߬
lich alle Antikörper und somit auch die Tropine und Anti¬
toxine reichlich im Serum anhäufen; daraus erklärt sich
auch, daß von verschiedenen Stellen, die ihre Seren von
ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus bewerten, ähnliche
therapeutische Erfolge berichtet werden.
Indes fordert Neufeld (1910) selbst, die Wertbestim-
mung nicht ausschließlich nach den Tropinen vorzunehmen.
Sie sind eben nicht die einzigen Heilfaktoren des Serums,
sondern es müssen auch die Antitoxine dazu gezählt werden,
ferner muß mit der Möglichkeit des Vorhandenseins noch
anderer Heilkomponenten gerechnet werden, die uns in
I
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
127
ihrer Wirksamkeit bis jetzt nicht näher bekannt sind. Man
erhöht daher die Wahrscheinlichkeit, auch die übrigen thera¬
peutisch wirksamen Stoffe in dem Serum anzutreffen, wenn
man auf weitere Mengen anderer Antikörper untersucht;
als solche müssen, solange eine brauchbare Methode des
quantitativen Antitoxinnachweises fehlt, die komplement-
bindenden Antikörper dienen.
Was die Haltbarkeit des 'Serums betrifft, so soll nach
Angabe einiger Autoren die Wertigkeit flüssiger karboli-
sierter Sera verhältnismäßig rasch heruntergehen, nicht in
Uebereinstimmung mit der Abnahme der Agglutinationskraft ;
im trocknen Serum gehe das Absinken langsamer vor sich.
Es dürfte daher kein Meningokokkenheilserum angewendet
werden, das älter als drei Monate ist. Da schon mehrstündige
Erhitzung auf 60° die ablenkenden Stoffe erheblich schädigt,
wird geraten, das bei den Verankerungsversuchen störende
Komplement des Serums nicht durch dessen Erwärmung,
sondern durch Lagerung (für acht Tage) zu entfernen. Da¬
gegen seien sowohl die Ambozeptoren des Cholera- und
Typhusserums als auch des *Meningokokkenextraktes recht
haltbar. Obige Annahme über die geringe Haltbarkeit des
Genickstarreserums wird bestritten von Neufeld, Händel,
Dächer, welche im Verlaufe eines Jahres keine Abschwä¬
chung des Titers nachweisen konnten.
Bevor ich jetzt nach Erörterung der Grundlagen auf
die Erfolge der spezifischen Serumtherapie ein¬
gehe, möchte ich vorweg einen im weiteren Sinne in dies
Gebiet, fallenden Versuch B a 1 d u z z i s (1907) kurz erwähnen.
Balduzzi knüpfte an die Arbeiten Centannis und
Bruschettinis über die Vielwertigkeit der Seren
an, welche zweierlei Eigenschaften besitzen sollen, die
von zweierlei Fermenten ausgehen. Die einen, die allge¬
meinen Eigenschaften, wirken besonders kraft des in allen
normalen Seren enthaltenden Komplements auf viele In¬
fektionen ein, die anderen dagegen sind den besonderen von
der Natur gegebenen Eigentümlichkeiten, den Immunisie¬
rungsvornahmen und ganz besonders dem Zwischenkörper
oder Fixationskörper zuzuschreiben. Balduzzi hatte nicht
die Absicht, eine spezifische Serumtherapie vorzunehmen,
sondern die allgemeine Wirksamkeit des Serums auszunützen
zwecks Reizung des Organismus zur Produktion neuer, in
ihm enthaltener Verteidigungsmittel ; es erkläre sich so auch
die absolute Wirkungslosigkeit bei den fulminanten Fällen,
bei denen dem Organismus nicht die Zeit gelassen werde,
die reizende Wirkung des Serums zu fühlen und die Schutz¬
stoffe auszuarbeiten. Zum Schluß regt Balduzzi die
Frage an, ob es beim Fehlen eines spezifischen Serums nicht
zweckmäßig sei, die Widerstandsfähigkeit des Organismus
mit heterogenem Serum za heben. Seine bisherigen Er¬
folge in der Behandlung von Genickstarre mit Diphtherie¬
serum und Streptokokkenserum ermuntern allerdings nicht
in diesem Sinne. Lemoine und Gaehlinger (1909)
nahmen diese Versuche wieder auf und behandelten einen
30jährigen Genickstarrekranken mit mehrmaliger intradu¬
raler Einverleibung von insgesamt 90 cm3 Diphtherjeserum.
Das Allgemeinbefinden besserte sich, die Kokken nahmen
im Liquor ab. Am achten Tage trat, unter Temperaturanstieg
(ohne daß Kokken gefunden wurden) eine Anaphylaxie auf,
die eine Fortsetzung der Versuche vereitelte.
Eine originelle spezifische Therapie leitete Radmann
(1907) in der Weise ein, daß er zwei Patienten ihre eigene,
steril aufgegangene Lumbalfliissigkeit (8 cm3) unter die Haut
spritzte, worauf die Krankheit ohne örtliche Reaktion ab¬
heilte; Huber (1908) verwendete aus ähnlicher Ueberlegung
bei zwei Kindern den Lumbalsaft Genesender und sah nach
wiederholter subkutaner Einspritzung ebenfalls eine gün¬
stige Wirkung.
Die ersten Versuche mit dem Jochmann-Mer ck-
schen Serum am Menschen wurden im Stadtkrankenhause
Ratibor mit 30 Patienten (meist Kindern). vorgenommen
(Schöne, 1906). Anfangs erhielten sie in einem zeitlichen
Abstand von zwei und mehr Tagen das Serum in Mengen
von 10 bis 40 cm3 subkutan oder intramuskulär eingespritzt,
später bekamen sie die gleiche Menge, meist mit öfterer
Wiederholung, in sitzender Stellung in den Wirbelkanal
injiziert, teils mit, teils ohne vorheriges Ablassen von Spinal-
flüssigkeit. Die Erfahrung lehrte ihn jedoch, daß Injektionen
ohne vorheriges Ablassen von Liquor nicht unbedenklich
sind. Das Punktat war selten klar, meist trübe und setzte
nach kurzem Stehen 'fast immer leichte Fibrinflocken ab;
es en! hielt mikroskopisch Leukozyten und Diplokokken. Von
Nebenwirkungen wurde nur in drei Fällen kurzdauernde
Albuminurie mit höchstens V2°/oo Eiweiß, in vier Fällen
Urtikaria und Gliederschmerzen beobachtet. Zwecklos ist
nach SLchöne die Serunianwendung im Stadium hydro-
cephalicum, sonst aber soll man es auch bei längerer Krank¬
heitsdauer noch versuchen u. zw. immer in möglichst großen
Dosen, da besonders seine ersten Fälle das Versagen klei¬
nerer Mengen bewiesen. Von außerordentlicher Bedeutung
ist sodann die int ra lumbale Injektion, die zuerst von
E. Levy in Essen (1908) mit ganz besonderem Nachdruck
betont wurde. Von Schönes 30 Kranken reagierten 21
überhaupt günstig auf das Serum u. zw. 13 unbedingt mit
sofortiger Genesung, 6 mit sofortiger Genesung auf größere
oder intralumbale Injektionen, 2 mit vorübergehender
Fieberfreiheit. Von 5 Kranken, welche nicht reagierten, be¬
fanden sich 3 im Stadium hydrocephalicum, 1 erhielt nur
zweimal 20 cm3 subkutan in einem Abstande von sieben
Tagen und 1 war ein foudroyant verlaufender Fall. Von den
66 im Jahre 1906 im Stadtkrankenhause zu Ratibor aufge¬
nommenen Genickstarrekranken betrug die Mortalität bei
den mit. Serum behandelten 27%, bei den nicht behan¬
delten 53%.
1907 veröffentlichte Kovaricek einen mit Jo ch¬
in an nschem [Serum behandelten Fall (22jähriger Dra¬
goner) von epidemischer Genickstarre, dem am siebenten
Tage nach Ablassen von 25 cm3 trüber Zerebrospinalflüssig¬
keit von 5°/oo Eiweißgehalt 20 Cm3 Serum intraspinal in¬
jiziert wurden; es trat entschieden Besserung der subjek¬
tiven und objektiven Symptome, aber keine Entfieberung
ein, so daß nadh weiteren sieben Tagen die Dosis wieder¬
holt wurde ; in dem vorher abgelassenen 26 cm3 klarer ge¬
wordenen Liquor cerebrospinalis fanden sich nur wenige
Kokken und geringe Mengen Eiweiß. Als auch jetzt trotz
subjektiver Erleichterung keine Entfieberung eintrat, wurden
sechs Tage später (also am 20. Krankheitstage) nochmals
10 cm3 intraspinal appliziert, worauf innerhalb einer Woche
Entfieberung und bald völlige Heilung erfolgte.
Quenstedt, (1908) wendete in 18 Fällen (davon 12
unter 15 Jahren) Jo c hm an n sch es und Wassermann-
sches Serum systematisch an und sali stets Besserung der
subjektiven Symptome. Eine rasche Heilung im Anschluß
an die Seruminjektionen trat, jedoch bloß in der Minderzahl
der B älle ein, während vier Patienten starben.
Jehle (1909) injizierte mehrmals 10 bis 20 cm3 Joch¬
mann sehen oder Wiener Serums intralumbal, nachdem
vorher einige Tropfen Liquor cerebrospinalis abgelassen
waren. Die Mortalität der so Behandelten betrug 45%, die
der Unbehandelten 80%. Auch O. Mayer (1909) und
R. V o i s i n (1909) sprechen sich günstig über die intra¬
durale Einverleibung des Jo chm a nn,- Merck sehen Se¬
mins aus, ebenso Arnold (1908), der letzteres vorwie¬
gend lumbal und das Ruppelsche subkutan benützte. Er
spritzte nämlich seinen vier Kranken (einem unter 15 Jahren)
in zweitägigen Zwischenräumen zweimal intralumbal mit.
20 Cm3 Jochmannschem und — abgesehen von dem kri
tisch zur Heilung kommenden dritten Falle — vor oder
nachher noch in kurzen Abständen subkutan mit Ruppel-
schem iSerum. In allen Fällen trat mehr oder weniger
rasche Heilung nach zwei- bis siebenfacher Serumanwen¬
dung ein. Arnold führt die Differenzen im Urteil ver¬
schiedener Autoren über die Serumbehandlung auf die Art
und Weise der Einführung des Serums in den Organismus,
sowie auf die Dosierung desselben zurück. Indes wendet
er selbst viel zu geringe Mengen an. Stephanie W eiß-
Edler (1908) spritzte 21 Kinder mit Wiener Serum,
128
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr.. 4
zwei )mil. Jochmannscliem und beobachtete eine für
Kinder auffallend geringe Mortalität von 39%. Negative
Resultate erzielte Raczynski (1907) mit dem Jochmann-
schen Serum, das er in neun lallen intraspinal nach vor¬
herigem Ablassen von 25 cm3 Liquor cerebrospinalis, einige
Male in mehrfacher Wiederholung, applizierte ; die Einzel¬
dosis betrug 10 bis 20 cm3. Sechs Fälle 00% endeten
letal und Raczynski konnte einen wesentlichen Einfluß
weder auf den Gesamtverlauf, noch auf die einzelnen Krank-
heitserscheinungen (Fieber, Nackenstarre) feststellen, auch
nicht eine Herabsetzung des Gehaltes der Zerebrospinal¬
flüssigkeit an Meningokokken; nun ist dem aber gegenüber¬
zuhalten, daß Raczynski zum Teil ganz akut verlaufende
Fälle behandelte, welche nur bei raschester Injektion einer
Beeinflussung noch zugänglich sind, außerdem drei Kinder
von fünf bis acht Monaten, die sich ja 1 nfektionskrank-
beiten gegenüber ganz besonders widerstandsunfähig er¬
weisen.
Das K oll e - Was serml'ann sehe Serum ist neben dem
Jochmannschen das älteste der Antimeningokokkenseren.
Wassermann 'selbst teilt 1907 die Berichte über 57 Kranke
mit, die mit seinem Serum behandelt waren urtd über
welche genaue Krankengeschichten Vorlagen.
Es starben von diesen Patienten 27 : - 47-3%. L eher¬
einstimmend wurde von den Autoren angegeben, daß das
Serum sowohl bei subkutaner, wie intravenöser, wie bei
der allen anderen vorzuziehenden intralumbalen Anwen¬
dung selbst bei länger fortgesetztem und täglichem Gebrauch
von je 10 ein3 unschädlich sei. Auch Wassermann em¬
pfiehlt, um die Drucksteigerung im Rückenmarkskanale zu
vermeiden, etwas mehr Liquor abzulassen als Serum ein¬
gespritzt [werden soll. Für Kinder in den ersten beiden
Lebensjahren müssen jedesmal 10 cm’ injiziert werden.
H. Schmidt (1907) spritzte bei einem ziemlich schwer
verlaufenden Fälle von bakteriologisch einwandfrei fest-
gestellter Genickstarre am Tage nach einer Lumbalpunktion,
bei der 40 cm3 Liquor cerebrospinalis abgelassen wurden,
10 Cm3 Koll e- W as s er man nsches Serum ein; nach
einer anfänglichen Besserung verschlimmerte sich das
Leiden ,am dritten Tage, aber schon nach einer zweiten
Injektion setzte unter kritischem Fieberabfall und starkem
Schweiße die Rekonvaleszenz ein. — Die Erfolge Ce saris
(1907) erscheinen auf den ersten Blick wenig ermutigend,
starben doch drei von seinen fünf behandelten Patienten.
Die Erklärung ergibt stich jedoch leicht, wie er selbst ge¬
steht, aus den viel zu geringen Dosen und der zu spät
einsetzenden Therapie. Immerhin beobachtete er in allen
Fällen ein deutliches Sinken der Temperatur nach jeder
Injektion und eine beständige Abnahme der Keime im Exsu¬
dat, so daß er persönlich den günstigsten Eindruck von
der Serumwirkung hatte. — Ueber reiche Erfahrung verfügt
Kr oh ne (1908), der auf Grund seines umfangreichen Ma¬
terials zu dem Resultat kommt, daß das Genickstarreheil-
seruni unter bestimmten Voraussetzungen wohl imstande
sei, den Krankheitsprozeß der allen anderen Behandlungs¬
methoden trotzenden epidemischen Genickstarre wirksam
aufzuhalten, bzw. zur Heilung zu bringen. Während die
Gesamtmortalität der im Regierungsbezirk Düsseldorf ge¬
meldeten, nicht mit Heilserum behandelten Erkrankungen
66% betrug, starben von den Injizierten nur 47-6%, ja
von den in den ersten drei bis vier Krankheitstagen Ge¬
spritzten 33V3%- Wichtig ist. nach K roh ne die möglichst
frühzeitige und eventuell öfters wiederholte Anwendung
großer Dosen; der intralumbalen Methode gibt er vor der
subkutanen entschieden den Vorzug, während hingegen
Többen (1907) ebenso wie Watt (1908) beide für gleich¬
wertig halten, sicher im Gegensatz zu der heute allgemein
gültigen Anschauung. Ist es doch leicht verständlich, daß
das Serum hei lokaler Applikation am Zentralnervensystem
infolge der Konzentrierung besser wirken muß als in der
starken Verdünnung nach subkutaner Einspritzung; nach
Klapp kommt auch noch die schnellere Resorption in
Betracht, die er an der stärkeren toxischen Wirkung intra¬
spinal injizierter Giftlösungen demonstrieren konnte.
Többen verlor von 57 nur mit Punktion behandelten
Kranken 56-7%, von 29 mit Koll e-Wass er mann schein
Serum behandelten 34-5%. Sehr wertvoll für die Dosierung
sowohl wie für die Wahl der Applikationsstelle sind die
verschiedenen Berichte Levys (1908) über seine Lifajr-
rungen mit dem Kolle-\\ assermann sehen Serum in
Essen. Von 14 nicht behandelten Fällen starben 11 —
78-57%, von 23 Serumfällen 5= 21-47%; 16 Fälle, bei
denen frühzeitig mit intralumbaler Einverleibung großer
Dosen begonnen wurde, wiesen eine Mortalität von nur
6-25% auf, bei 5 subkutan Behandelten war ein Erfolg
nicht zu erkennen. Die Behandlungsdauer kürzte sich von
33-28 Tagen der Unbehandelten auf 14-9 Tage der Serum-
fälle ab. Eine Reihe von Patienten entfieberten sofort nach
der Injektion und genasen alsbald; bei anderen blieb das
Fieber bestehen, während die subjektiven Symptome schwan¬
den; wieder andere ließen den Einfluß dei t50i umtherapie
erst’ spät zutage treten. Da die Erfolge zum Teil auch von
der Art und Weise der Applikation des Serums abhängen,
so rät Levy zu folgender Behandlung: Als erste Dosis
bei Kindern über ein Jahr und hei Erwachsenen in leichten
Fällen sollen 20 cm3, bei Erwachsenen mit schweren Sym¬
ptomen 30 cin° intralumbal injiziert werden, frill eine Besse¬
rung des Fiebers oder anderer Symptome ein, so warte man,
bis die Besserung nicht mehr fortschreitet oder sich gar
eine Verschlechterung bemerkbar macht; dann wird die¬
selbe Dosis nochmals intralumbal eingespritzt. Zeigt sich
jetzt, innerhalb 24 Stunden keine Besserung, so ist die
Einspritzung großer Dosen, eventuell 40 cm3, in den nächsten
Tagen täglich zu wiederholen. Je früher die Serumtherapie
einsetzt, um so eher ist ein Erfolg zu erhoffen.
Zu den gleichen Resultaten gelangen Charlotte Müller
(1908 mit 14 Fällen), Ko tschenreut.her (1909) und
Leick (1909), doch sind die gewählten Dosen — 20 cm3,
selten 30 Cm3 — meines Erachtens noch recht niedrig.
Immerhin sinkt die Mortalität von 67-7% der 62 unbehan¬
delten Kranken auf 32-4 % der 34 Serumfälle (elfmal letaler
Ausgang) ; ja nach Abzug von fünf moribund eingelieferten
Patienten bleibt eine Mortalität von nur 20-7%. Die Heilung
der Gespritzten war meist eine vollkommene, nur wenige
behielten Schwerhörigkeit, Paresen, Intelligerrzdefekte usw.
F ür große intralumbale Dosen bis zu 40 cm3 pro Tag, nach
vorherigem Ablassen von Liquor, plädiert Nieter (1909),
der es auch noch einige Tage nach eingetretener Besserung
eingespritzt wissen will. Treupel (1909) behandelte zwei
Fälle von Genickstarre mit Lumbalpunktion und subku¬
taner und intralumbaler Einspritzung von Ruppelschem
Serum (Höchst) und sah nach jeder Injektion Temperat.ur-
abfall und Schweiß. Beide Patienten, von denen der eine
125 Cm3 in fünf Rationen, der andere 145 cm3 in sechs
Rationen erhielt, kamen zur vollständigen Heilung. Nach
Huber (1908) hingegen kann man mit großen Dosen des
Ru p pel sehen Serums zwar die Infektion brechen, nicht
aber Genesung erzwingen.
Gegenüber jenen augenfällig günstigen Resultaten
stehen auch eine Reihe negativer. Lange (1909) erklärt
den Widerspruch zwischen seinen und Levys Ergebnissen
der Behandlung mit Berliner Serum aus der Verschieden¬
heit des Genius epidemicus. Matth es (1908) verwendete
Höchster, Mercksches und Berliner Serum, anfangs subkutan,
später ausschließlich subdural u. zw. Dosen von 10 — 30 bis
40 Cm3. Er will jedoch weder an den objektiven noch den sub¬
jektiven Symptomen eine nützliche Wirkung gesehen haben.
Gleiches berichten auch Hochhaus (1908), Cohn (1908,
80 Fälle in Posen), Radmann (1907, ohne es allerdings
genügend zu begründen) und Schultz (1907), der 1906/07
in Posen 64 Genickstarrekranke behandelte u. zw. 23 mit
Kolle - Wasser m a n n schein Serum ; von letzteren starben
53-7%, von den 41 nicht Gespritzten 56-5%. Wenn man
aber liest, daß er nur 5 cm3 bei Kindern und 10 cm3 bei
Erwachsenen, noch dazu subkutan und im Einzelfalle höch¬
stens viermal verwendet, so sind die Mißerfolge durchaus
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
verständlich, ja, Erfolge würden geradezu wunderbar er¬
scheinen. v. Wyß i(l908) konnte bei seinen 20 ballen
kein endgültiges Urteil über die Serumbehandlung gewinnen.
Bei der allgemeinen Verbreitung der Zercbrospinal-
meningitis in Amerika nimmt es nicht wunder, daß ge¬
rade hier sehr große Erfahrungen über Serumwirkung ge¬
sammelt werden; man benutzt dort fast ausschließlich das
von F lexner und Jobling hergestellte, kurzweg als b 1 e \-
nerseruml bezeidhnete Serum. Die Erfolge sind hier durch¬
schnittlich bessere als in Deutschland, sei es, daß größere
Dosen verwendet wurden, sei es, daß das Serum der Art
seiner Herstellung gemäß besser wirkt, oder sei es endlich,
daß es in Amerika leichter ist, verschiedene frische viru¬
lente Stämme als Antigene zu erhalten.
Anfang 1908 veröffentlichte Flexner die Resultate
über die ersten 27, mit seinem Serum behandelten Fälle.
Es starben 13 = 27-6%, nach Abrechnung von vier mori¬
bund eingelieferten Fällen 201%. Von 18 in den ersten drei
Krankheitstagen Behandelten starben 2 = 11-1%. Dem gegen¬
über stellt eine Mortalität von 70-4% unter 230 Fällen einer
Epidemie, die nicht injiziert waren; einzelne kleinere Epide¬
mien wiesen höhere Zahlen auf. In einer Reihe von Fällen
hatte die -Serumeinspritzung eine unmittelbare Besserung
zur Folge und auch bei vereinzelten später auftretenden.
Rezidiven zeigte sich der gleiche prompte Erfolg. Die In¬
jektionen wurden fast ausschließlich intralumbal vorgenom¬
men, auf Grund der Ueberlegung, daß der Stoffaustausch
zwischen Blut und Spinalflüssigkeit sehr träge verläuft und
daher auch die Schutzstoffe nur schwer an die Krankheits¬
herde gelangen ; auch hat die subkutane Darreichung weniger
eine antibakterielle als antitoxische Wirkung (Staden,
Knox, Cushing, 1909). Mikroskopisch zeigte sich eine
Abnahme der extrazellulär liegenden Kokken, Steigerung
der Phagozytose, Degenerationsprozesse an den Diplokokken,
schwere Färbbarkeit und Kultivierbarkei t derselben, Ab¬
nahme der Leukozyten und des Eitergehaltes, Aufhellung
des Liquor cerebrospinalis; Vergiftungserscheinungen durch
Endotoxin wurden nicht beobachtet. Noch im selben Jahre
konnte Flexner mit einer Beobachtungsreihe von 393 inji¬
zierten Fällen aufwarten; hievon genasen 270 - 69% und
zwar endeten 209 Fälle lytisch, 61 Fälle kritisch. Die Krank¬
heitsdauer betrug durchschnittlich elf Tage. 1909 waren
Berichte älter 712 mit seinem Serum behandelte Fälle ein¬
gelaufen, deren Gesamtmortalität 31-4% betrug; sie war
am höchsten bei Kindern in den ersten Lebensjahren
(42-3%), hoch auch bei Leuten über 20 Jahre (39-4%),
am geringsten bei Kindern zwischen fünf und zehn Jahren
(15-9%). Wurde innerhalb der ersten drei Tage gespritzt,
so betrug die Mortalität nur 25-3%, während sie nach dem
siebenten Tage auf 42-1% stieg. Daß aber noch in einem1
späteren Krankheitsstadium Heilung möglich ist, geht zum
Beispiel aus einer Mitteilung Mo eile rs (1908.) über einen
elfjährigen Knaben hervor, der schon 24 Tage unter
unsicherer Diagnose (Gelenkrheumatismus oder Malaria)
behandelt war. Als dann im Lumbalpunktat Grain -negative
Weichselbaum sehe Diplokokken gefunden wurden,
konnte durch zwei intraspinale Injektionen des Flexner-
serums ein prompter Erfolg erzielt werden.
Robb stellte 1908 275 Fälle von Genickstarre zu¬
sammen, die in den Krankenhäusern von Belfast auf ver¬
schiedene Weise, unter anderem1 auch mit subkutanen
Injektionen von Kölle- Wassermann, Ruppel, Bor-
rough and Welcome- Serum behandelt worden waren
und eine Mortalität von 72-3% aufwiesen. Von weiteren
Fällen, in denen die intraspinale Injektion von Flexner-
serum angewendet wurde, starben nur 8 = 26-6% zu einer
Zeit, wo in Belfast die Mortalität der nicht spezifisch Be¬
handelten 85-2% betrug. Robb rät daher dringend zur
intraspinalen Therapie u. zw. soll man bei schweren
Fällen drei Tage lang täglich eine Injektion von 30 cm3
des auf Körpertemperatur erwärmten Serums machen (Ro b b
spritzte einmal bei ein und demselben Patienten insgesamt
210 cm3 ein); bei weniger schweren Fällen warte man
m
zweckmäßig zwei Tage oder länger mit der zweiten Injek¬
tion; in einigen Fällen genügte schon eine einzige Injektion,
um dauernde Heilung zu erzielen. Zu ähnlichen Ergeb¬
nissen, bzw. des Modus der Behandlung, gelangt Dünn
(1908), der an vier aufeinander! olgenden Tagen injiziert.
Anfangs hatte er nur soviel Flexner serum eingespritzt,
als Liquor cerebrospinalis ablief, später jedoch verwendete
er stets, unbekümmert um den ausfließenden Liquor, 30 cm3
und konnte auf diese Weise von seinen. 40 Boston er Fähen
29 vollkommen heilen, zweien noch das Leben retten, wenn¬
gleich der eine das Sehvermögen, der andere Hör- und
Sehvermögen dabei einbüßte. Die Sterblichkeit betrug also
22-5% (gegen 70 bis 80% in früheren Jahren). Dasselbe
Resultat, 22-2% Heilungen, erzielt Churchill (1908) bei
Behandlung von. neun Genickstiarrefällen mit Flexner-
serurn in Chicago, von denen zwei starben (darunter ein
Moribunder). 1909 verfügte Churchill schon über eine
Reihe von 29 Serumfällen und hatte sich zur Regel ge¬
macht., vier Tage lang hintereinander je 30 cm3 zu injizieren
und diese Dosen zu wiederholen, sobald nach einer Pause
von zwei bis drei Tagen eine Heilung nicht eingetreten
war. Rosewarne (1909) heilte ein Kind mit vier intra-
duralen t Injektionen von Flexn erserum1. Miller und
Barker (1908) verloren von vier Serumfällen einen und
zwar infolge Serummangels; in derselben Epidemie starben
ihnen jedoch von zwölf Unbehandelten elf.
Die schon von Dünn anfangs beobachtete, später aber
mit Recht verlassene Regel, nur soviel Serum einzuspritzen
als Liquor abfließt, höchstens jedoch 30 cm3, behält Sla-
d e n (1908) in Baltimore dauernd bei. Von 21 so behan¬
delten Kranken starben ihm 3 (14%), welche aber von
vornherein in hoffnungslosem Zustande waren. Hin und
wieder genügt eine einzige Einspritzung zur Heilung, in
anderen Fällen sind zwei bis sieben nötig, die an aufein¬
anderfolgenden Tagen appliziert, werden sollen, so lange,
bis die akuten Symptome verschwunden sind. Mit dem
kritischen oder lytischen Abfall des Fiebers bessern sich
auch die subjektiven Beschwerden. An dem1 so häufigen
Fehler, oft wiederholte kleine Dosen zu verwenden, leidet
auch La cid (1908), welcher anfangs nur fünf bis zehn, später
wenigstens 15 bis 30 cm3 intralumbal einspritzt uncT
zwar täglich, ja manchmal zweimal täglich, so lange,
bis die akuten Symptome schwinden und die Spinalflüssig¬
keit klar wird. Von 15 unbehandelten Fällen starben 12
= 80%, von 31 Serumfällen 11 = 35-5%. Hierunter waren
jedoch 20 sehr schwere Kranke mit Koma oder Bewußt¬
losigkeit und vier Moribunde; ein Fall dauerte schon vier
Monate, ein anderer 39 Tage (chronischer Hydrozephalus) ;
nach Abrechnung dieser letzten sechs von vornherein aus¬
sichtslosen Fälle bleibt eine Mortalität von 5 = 20%. Bis
auf drei Kranke gelangten alle zur restlosen Ausheilung
und zwar elf kritisch, neun lytisch. Die Krankheitsdauer
wurde um so mehr abgekürzt, je früher L-add spritzte.
Die Prognose der sporadischen Fälle soll nach Koplik
(1908) trotz der gleichen Symptome wesentlich günstiger
sein; verlor er doch in den Jahren 1899 bis 1903 von
21 sporadischen - mit Lumbalpunktion behandelten Fallen
— nur 38% (und 13% von den Kranken über zwei Jahre),
während die Mortalität in den beiden Epidemie jahren
1904/05 53%, re-sp. 48% betrug, oder nach Abrechnung
der Kinder unter zwei Jahren 34, resp. 31%. Daß aber
doch für die Erfolge der Serumtherapie nicht etwa der
Genius epidemicus verantwortlich zu machen ist, sondern
die tatsächliche Heilkraft des Antimeningokokkenserums, er¬
hellt daraus, daß von 13 sporadischen von Koplik mit
Flexnerserum behandelten Fällen nur zwei starben
(15%), sieben aber restlos geheilt wurden.
Ueber günstige Erfolge mit anderen Seris liegen mir
Publikationen vor von -Silvay und Terriern (1909), 15 cm 3
intralumbal, Laiguel-Lavastine und Bauffe (1909),
Vetter und Dobre (1909), Currie und MaCgregor
(1908), welch letztere von 1906 bis 1908 330 Fälle aus
Glasgow sammelten, die mit deutschem oder englischem
130
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. ijj
Serum behandelt waren; die Injektionen geschahen aber
teils subkutan, teils intravenös, teils intradural und e-
gaben somit, kein einheitliches Bild'; auch war
die Dosie¬
rung sehr niedrig bemessen, da die Maximaldosis nur 2ocm
betrag, ln einem der Fälle wurden 21 Injektionen aus-
aeführt. Orth (1908) behandelte zwei Kranke mit an tangs
subkutanen, später intralumbalen Injektionen von je 2cm
Aronsonschem Serum und beobachtete jedesmal en -
peraturabfall und Besserung des Allgemeinbefindens, ln
Frankreich wird vielfach mit dem Copter-Serum gear-,
beitet, mit dem z. B. Menetrier und Mali et (1909) einen
elfmonatigen Säugling vom vierten Krankheitstage ab ac
mal intralumbal spritzten und darauf Heilung erzielten.
Salebert (1909) behandelte vier Soldaten mit Dopt ei-
Serum; alle vier genasen, während von 14 anderen n-
behandelten 10 starben. .
Zum Schlüsse noch eine Bemerkung über die Be¬
handlung des meningitischen Hydrozephalus; wahrend
Schöne (1906) und zahlreiche andere Autoren hier die
spezifische Therapie für zwecklos halten, ist 1. 0. von
Staden, Knox und Cushing ein Fall veröffentlicht, wo
sie beim Punktieren der Seitenventrikel eines Genickstarre^
kranken W eich sei b a tim sehe Meningokokken fanden und
nach
nun
IVUIi > V Cir 11 O W W W — ~ w • 1-
durch lokale Applikation des Serums Heilung erzielten.
finden nämlich in den Seitenventrikeln
Die Krankheitserreger - - 0
oft lange Zeit einen Schlupfwinkel, zu dem das Serum
nicht in der Konzentration gelangen kann, wie sie nach
Flexner zur Entfaltung seiner bakteriziden Eigenschaften
erforderlich ist. Haben die Kokken nun ers! einen entzund-
so kann mangels hinred -
Mitteilungen von Dünn (1908), Hochhaus (1908),
iVllLLcllUUg'-.u * \ | j i i
.lebte (1909) in leicht zu behebendem Kollaps; Hochhaus
(1908) erwähnt ferner Kopfschmierzen, Schöne (19 '6) Albu-
minurie, K,.vafi6ek (1907) Taehykardie, Arnold (1908)
vorübergehende Lähmung der Blase und des Mastdarmes Er¬
schwerung des Urinierens, Leick (1909) Harnretention;
am meisten werden juckende, oft rezidivierende, manchmal
erst nach 6- 10 16 Tagen ausbrechende, hin und wieder
fieberhafte Serumexantheme beobachtet; sie boten das Aus¬
sehen von Urtikaria, Roseola, Masern, Scharlach oder der¬
gleichen (Leick 1909, Treupel 1909 Schone 1906.
Albuminurie wurde dreimal von Schöne (1906) beobachtet,
sie begann wenige Stunden nach der Injektion und ver¬
schwand wieder im Laufe des Tages. Levy (1908) sah in
wenigen Fällen nach der Seraminjektion Erbrechen, Exan¬
theme, Gelenkschmerzen, auch einmal Schüttelfrost; m
zwei Fällen stellten sich 18, resp. 23 Tage nach der ersten
Serumeinspritzung leichte Bewußtseinsstörungen ein, wahr¬
scheinlich (nach Levy) auf Grund einer als Reaktion aut
das Serum erfolgten ödematösen Durch trankung der äuße¬
ren Schichten des Gehirns und Rückenmarks infolge von
Ueberempfindlichkeit im Sinne von Pirquet und Schick
(1905) Flexner und Job ling (1908) achteten stets auf
das Eintreten von anaphylaktischen Erscheinungen, da ihnen
aus Tierversuchen die besonders heftigen Wirkungen wieder¬
holter intraduraler Serumeinspritzung bekannt waren. Aber
trotz der oft mehrfachen. Seruminjektionen waren nur in
einem Fälle Erscheinungen zu beobachten, welche als ana¬
phylaktische gedeutet werden mußten. Ich selbst sah bei
liehen Hydrozephalus veranlaßt, —
ehender Kommunikation mit dem Subduralraume des
Rückenmarkes das liier applizierte Serum nicht in die Seiteu-
ventrikel gelangen, so daß dann die Ventnkelpunktion und
Injektion die einzige rationelle Theraxüe darstellt.
Trotz vereinzelter pessimistischer Anschauungen übei
die Bedeutung der Serumtherapie bei Genickstarre, herrscht
bei den meisten Autoren aller Kulturländer eine völlige
Uebereinstimmung darin, daß bei zweckmäßiger Anwendung
des Antimeningokokkenserums eine günstige Wirkung aut
den Verlauf der Seuche zu erzielen ist. Es fragt sich nur,
ob dieser Nutzen nicht auf Kosten anderer Schädigungen
der Gesundheit erreicht wird, oder ob, selbst wenn eine
Beeinflussung des Krankheitsprozesses ausbleiben sollte,
wenigstens schädliche Nebenwirkungen des Serums aus¬
geschlossen sind und der oberste Grundsatz dei Theiapie .
Nil nocere, gewahrt bleibt. Ich erinnere da zum Beispiel
an die Gefahren der Verwendung verschiedener Arsenprä¬
parate, die erst mit großem Enthusiasmus aufgenommen
wurden, bis eine Reihe von medizinalen Vergiftungen das
erste Feuer der Begeisterung dämpfte; an die hin und wieder
beobachteten schweren Intoxikationen mit Extraction filicis
mails usw. Aber aus der ganzen Literatur sind mir keine
so schwerwiegenden Folgen der Serumeinspritzung bekannt
geworden, daß sie Anlaß zu Besorgnis oder zur Einschrän¬
kung der Indikationsstellung geben könnten. Ja, nach Kolle-
Hetscli (Lehrbuch der experimentellen Bakteriologie, 1908)
sind auch bei der lege artis ausgeführten Serumbehandlung
anderer Infektionskrankheiten, die doch nun schon seit
1894 in großem Umfange am Menschen erprobt ist, me
Unglücksfälle beobachtet worden. Deshalb nimmt Sladen
(1908) schon bei bloßem Verdacht auf Zerebrospinalmenin-
gitis intralumbale Seruminjektionen vor, von denen er auch
dann keine üblen Folgen sah, wenn sich später heraus¬
stellte', daß es sich nicht um' Genickstarre, sondern um
irgendeine andere Krankheit handelte. Currie und Mac¬
gregor (1908) machten bei einem Patienten im ganzen
21 Injektionen (größte Einzeldosis 25 cm3, also ca. 300
bis 400 ein3) ; Laiguel-Lavastine und Bauffe (1909)
spritzten ohne anaphylaktische Erscheinungen einem
Kranken 480 cm3 Serum ein, Robb (1908) 210 cm , Treu¬
pel 145c-m3; auch Charlotte Müller (1908), sowie E. Ce-
sari (1907) wollen nie unangenehme Nebenwirkungen ge¬
sehen haben; wo solche jedoch Vorkommen, bestehen sie
meiner
Patientin am Tage nach der intralumbalen Injektion
von 35 ein3 Merckschem Serum eine zwölf Stunden an¬
haltende Albuminurie und am siebenten Tage eine vier läge
währende, schubweise aüftretende Urtikaria; letztere wurejg,
im Anfang von einer mehrstündigen, durch Analeptika bald
zu beseitigenden Herzschwäche begleitet.
Bei Tieren ist es ja schon längst bekannt, daß intra¬
venöse Einverleibung artfremden Blutes schwere Krank-
VC1IUÖC JJlUVCilv.iwu^t, - .. n
heitserscheinn ngen und bei Verwendung größerer Mengen
den Tod durch Thrombosen, Embolien und Hamorrhagien
herbeiführen kann ; auch bei den früher am Menschen häufig
zu therapeutischen Zwecken vorgenommenen Lammblut¬
transfusionen waren von den Aerzten mehrfach unan¬
genehme Zufälle beobachtet worden. Es handelte sich hier
aber um Mengen, wie sie bei der Serumtherapie nie und
nimmer erreicht werden. Worauf diese Serumkrankheit be¬
ruht, ist noch unsicher ; jedenfalls führt artfremdes Eiweiß
zur Bildung' von Präzipitinen. Auf eine zweite Injektion
des gleichen Serums reagieren dieselben Individuen nach
wesentlich kürzerer Inkubationszeit und mit stärkerer Anti¬
körperbildung, aber auch mit schwereren Allgememerschei-
nungen (Arthus’ spezifische Anaphylaxie, 1903).
Während nun bei den Erstinjizierten die Symptome der
Serumkrankheit zwischen dem achten und zwölften Tage
auszubrechen pflegt, ohne Rücksicht auf die Dosierung,
tritt sie bei Reinjizierten in Form von Oedemen und Exan¬
themen oft nur wenige Stunden nach der Serumeinspritzung
und dann in stürmischer Weise auf. Diese sofortige und
verstärkte Reaktion findet sich nach v. Pirquet vor allem:
dann, wenn die Reinjektion drei bis aüht Wochen nach!
der Einspritzung großer Dosen von Serum erfolgt. Wird
die zweite Serumeinverleibung nach einem längeren Inter¬
vall vorgenommen, so stellt sich die Serumkrankheil
zwischen dem fünften und siebenten Tage als beschleunigte
Reaktion ein. Eine Seramüberempfindliöhkeit höchsten
Grades erzielt man bei Tieren durch kombinierte Anwen
dung von Serum und loxin; beim typischen Verlauf dieses
von Otto (1907) beschriebenen Phänomens stellt sich bale
nach der Seraminjektion eine schwere Prostration ein, de
rasch Dyspnoe, Kollaps und Tod innerhalb einer halber
bis einer Stunde unter Krampferscheinungen folgen. Auel
beim Menschen kann sich eine Ueberempfindlichkeit gegei
die Serumtherapie zeigen, wenn Toxine im Blute kreisen
sie ist wohl zu unterscheiden von der Serumidiosynkrasn
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
131
erstmals Injizierter und von der spezifischen Anaphylaxie
Reinjizierter. Für die Praxis ergibt sich hieraus, die
Serumtherapie nicht zu lange fortzusetzen und stets auf
anaphylaktische Erscheinungen zu achten, um bei ihrem
ersten Auftreten sofort aussetzen zu können; einmalige
große Dosen werden besser ertragen als mehrmalige kleine.
„Trotzdem wir noch über kein wirksames Mittel zur Ver¬
hütung der Serumkrankheit verfügen“, schreibt Kolle-
Hetsch (1908), „wird sich doch kein Therapeut heut¬
zutage durch die geschilderten Nebenwirkungen des Se¬
rums veranlaßt sehen, die heilsamen Wirkungen der Serum¬
therapie unausgenützt zu lassen, denn schwere Krankheits¬
erscheinungen sind selbst bei sehr großen Serumdosen nur
.sehr selten und ungünstig verlaufene Fälle, die mit Sicher¬
heit auf die Seruminjektion zurückzuführen wären, sind,
wie' gesagt, noch nicht bekannt geworden. Die Seruni-
krankheit ist eine vorübergehende, off allerdings unange¬
nehme Reaktion des Körpers, welche indes bleibende Organ¬
schädigungen nie hinterläßt.“
Fasse ich nochmals alles das kurz zusammen, was
sich aus der .Beobachtung meines Falles und besonders
der Durchsicht der Literatur über die Genickstarre ergibt,
so hat. jedwede medikamentöse und hydropathische Be¬
handlung der Genickstarre lediglich symptomatischen Werl ;
nicht ohne günstigen Einfluß erweist sich manchmal die
wiederholte Lumbal- oder Ventrikel punktion. Die einzig
ratio n eile Heilmethode indes ist heute die spe¬
zifische Serumtherapie, wie sic in Deutschland be¬
sonders mit dem Berliner, H ö c'h s t er und D a r ms t.ä d t e r
Serum vorgenommen wird. Ihr Erfolg wird von wenigen ge¬
leugnet, von den meisten uneingeschränk! anerkannt; sinkt
doch die Mortalität auf 2/3 bis xk der jeweiligen Sterblich¬
keitsziffer der Epidemie herab und ist der Krankheitsverlauf
ein weit rascherer und milderer. Während hin und wieder
eine einzige Injektion zur dauernden Restitutio ad integrum
führt (wie z. B. bei meiner Patientin), verlangen andere
Fälle öftere Wiederholung. Je früher injiziert wird, um so
günstiger ist die Prognose, aber es sind selbst in weil vor¬
geschrittenen (Stadien noch günstige Wirkungen mit der
Serumtherapie zu erzielen, gewesen. Die zur Verwendung
gekommenen Dosen waren sehr oft viel zu klein und liegt,
hierin mit ein Hauptgrund für die Mißerfolge mancher
Autoren. Mit 20 bis 25 dm2, wie Currie und Mac g res
gor, mit 15 cm3 wie Silvay und Terriern oder gar mit
5 bis 10dm3 wie La.dd und Schultz ist natürlich kein
Resultat, zu erwarten. Die Erfahrung lehrte, daß für Erwach¬
sene ein bis mehrmals 40 dm3 Serum inlralumbal (respek¬
tive bei Hydrocephalus intracraniell) appliziert werden
müssen; subkutan und intravenös sind die Resultate we¬
sentlich schlechter. Ein weiterer Grund für Mißerfolge er¬
gibt sich hin und wieder aus dem’ Fehlen geeigneter Me¬
ningokokkenstämme zur Herstellung hochwertiger polyva¬
lenter Immunsera und ferner aus dem Mangel einer ex¬
akten Methode zur Bestimmung des therapeutischen Titers
des Serums.
Unglückliche Ausgänge der Genickstarre sind als f olge
der Serumfherapie ebensowenig wie bei anderen Infektions¬
krankheiten beobachtet; die zuweilen auftretenden anaphy¬
laktischen Erscheinungen, wie Kopfschmerz, Herzschwäche,
Albuminurie, Exantheme, Blasen- und Mastdarmstörungen,
Fieber, Gelenkschmerzen, Oedeme gehen bald vorüber, ohne
die geringsten dauernden Schädigungen zu hinterlassen.
Nicht nur zur Erzielung eines raschen Erfolges,
auch mit R ü c k s i c h t a u f d i e S e r 1 1 m k r a n k h e i I is t
die sofortige Anwendu n g ein er großen Dosis vo r¬
teilhafter als vieler kleinerer. Sch altet man die
■ fehlerhaften, der Neuh'eit der Methode zur Last
zu legenden therapeutischen Versuche verschie¬
dener Autoren aus und betrachtet man nur die
allein richtig behandelten Fälle, welche früh¬
zeitig große Dosen S e ru m1 i n tralumbal erhalt e n,
dann 'muß man mit E. Neufeld (1910) das Anji-
meni n g o ko k k ens e r u m mit Recht neben dem Di-
p hlherieser u m als das erfolgreichste aller Seren
ü b e r h au p t ans eh e n.
Literat ur.
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Aus der Unfallstation der I. chirurgischen Klinik.
(Vorstand: Prof. Freih. v. Eiseisberg.)
Nagelextension aus dringlicher Indikation.
Von Dr. Haus Ehrlich, Assistenten der Klinik.
Wenn wir auch Co di villa als den Begründer der
Vageiextension anerkennen, so ist, es doch zweifellos ein
bleibendes Verdienst von Steinmann, die von ihm erst
1907 wieder als neu beschriebene Methode in die deutsche
( hinirgie ein, geführt und zu einem integrierenden Hilfs¬
mil toi für die moderne Frakturbehandlung ausgebildet zu
haben.
A on Co di villa zuerst zur Korrektur von traumati¬
schen Deformitäten der unteren Extremität in der Form der
Fersen t lagelung angewendet, fand das Verfahren unter den
italienischen Chirurgen rasch Ausbreitung, wobei an der
Methode der Fersennagelung auch bei Frakturen des Ober¬
schenkels im allgemeinen festgehalten wurde (Anzoletti,
Rossi), während deutsche Chirurgen (Wilrns, Becker,
Anschütz), welche nach dem Vorgang von St ein mann
die Methode nachprüften, vorwiegend das der Fraktur zu¬
nächst liegende periphere Fragment zum Angriffspunkte
wählten.
\ on untergeordneter Bedeutung erscheinen gegenwärtig
nach den Berichten aus der Literatur geringfügige technische'
Varianten in der Form des Nagels (Wilms verwendet zum
Beispiel elliptische Nägel, deren quere Durchschnittsachse
zur Zugsrichtung senkrecht steht), ferner in der Art der
Applikation, ob zwei seitliche Nägel eingeschlagen werden
oder ein durchgehender Nagel mit dem Drillbohrer oder dem
elektrischen Motor durchgebohrt wird; sind doch Locke¬
rungen des Nagels als Folge der nekrotisierenden Wirkung ö
des drückenden Fremdkörpers bei länger dauernder Einwir¬
kung in den meisten Fällen beobachtet worden. Es dürfte
die Häufigkeit dieses Vorkommens wohl am ehesten inner¬
halb der f cstigkeitsgrenzen des jeweils durchnagelten Kno¬
chens und der Höhe der zur Extension verwendeten Ge¬
wichte variieren. Immerhin sind Verbesserungen der Technik
mir zu begrüßen. Der gegen den durchgehenden Nagel er¬
hobene Einwand, daß bei seiner Entfernung ein nicht ver¬
läßlich sterilisierbarer Teil durch den Wundkanal gezogen
wird, wird hinfällig durch Berichte über zahlreiche, nach
diesem Verfahren behandelte Fälle, bei welchen eine nach¬
trägliche Infektion ausgeblieben ist, andrerseits zeigen Unter¬
suchungen von Schwarz, der in sechs untersuchten Fällen
die Nagelfistel regelmäßig mit Strepto- oder Staphylokokken
infiziert fand, daß wir wohl mit der Schutzwirkung des das
Nagelbetl umgebenden Granulationsgewebes rechnen
können, wenn der Bobrungskanal im Bereiche des gesunden,
nicht von Hämatom umspülten Knochens angelegt wird,
daß es daher (weniger von Bedeutung ist, ob der Nagel
aus einem Stücke besteht oder bei der Entfernung nach
beiden Richtungen hin auseinandernehmbar ist.
Wenn Schwarz unter 18 scheinbar ohne irgendeine
Auswahl mit Nägelextension behandelten Oberschenkel*
lu ilchen einmal einen Lodosfail an Sepsis,1) in einem zweiten
falle Durchbruch des Nagels in die1 Epiphysenfuge zu ver¬
zeichnen hat, so beweist das nichts gegen die Methode, doch
würden wir die Indikation nicht so weit stellen. Diese Miß-
) Subkutane suprakondyläre Spirallraktur des Oberschenkels bei
einem erwachsenen Mann, Nagelung am 2. Tage quer durch beide
Kommen nahe an der Frakturstelle. Infektion des Hämatoms. Tod an
Sepsis vier Wochen nach der Nagelung.
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
13:
erfolge lehren, daß die Nagelung außerhalb des Hämatoms
im normalen Knochen vorzunehmen ist. und bei jagend liehen
Individuen wohl am besten unterbleiben sollte.
Trotz der verschiedenen gegenwärtig gebräuchlichen
Modifikationen wird bei allen Autoren die technische Ein¬
fachheit und außerordentliche Leistungsfähigkeit des Ver¬
fahrens hervorgehoben, indem bei relativ geringen Gewicht en
die Dislocätio ad longiludineui so rasch behoben werden
kann, wie dies bei keiner anderen Extensionsmethode der
Fall ist, ja sogar Ueberkorrektur beobachtet worden ist
(Wilms). Doch wäre es gerade im Hinblick auf die Un-
gefährliclikeit der Heftpflasterextension sehr erwünscht, die
Indikation zur Anwendung der Nagelextension schärfer zu
präzisieren als dies bisher bei der Mehrzahl der Autoren
geschehen ist. Bei dem reichlichen Frakturenmaterial der
Unfallstation der ersten chirurgischen Klinik hätten wir
vielfach Gelegenheit, die Nagelextension zu erproben. Doch
sehen wir uns in allen Fällen, in welchen die Heftpflaster¬
extension voraussichtlich zum Ziele führt, dazu nicht ver¬
anlaßt.
Unsere Indikationsstellung deckt sich in dieser Rich¬
tung bisher im allgemeinen mit der von Anschütz, der
in der Nagelextension nur eine wertvolle Ergänzung der
anderen Extensionsmethoden sieht und sie in Verwendung
zieht, in Fällen, die mit der Heftpflasterextension kein zu¬
friedenstellendes Resultat geben, bei komplizierten Frak¬
turen, ferner bei veralteten Frakturen mit starker Schrum¬
pfung der Muskulatur, bei interkurrenten Erkrankungen und
schließlich zur Verlängerung verkürzter Extremitäten nach
treppenförmiger Osteotomie.
Einen besonderen Wert gewinnt die Methode durch die
Beobachtungen von Anschütz, Hirschberg u. a., daß
man mit der Anlegung des Nagels nicht leicht zu spät
kommt, indem gerade in Fällen, hei welchen andere Ver¬
fahren bereits versagt haben, noch brauchbare Resultate zu
erreichen sind.
Bei komplizierten Frakturen ist es gewiß außerordent¬
lich verlockend, die Nagelextension anzuwenden, weil die
Weichteilwunden einer Behandlung zugänglich bleiben. Doch
wird auch hier die Indikation wesentlich eingeschränkt durch
die guten Resultate, die in neuerer Zeit gerade bei kom¬
plizierten Frakturen mit dem Z upping ersehen Apparat
(Wilms) erzielt worden sind.
Bei unkomplizierten Frakturen hatten wir bisher keine
Gelegenheit, die Nagelextension anzuwenden, da wir zum
Beispiel unter 21 Oberschenkelfrakturen des letzten Jahres
nur in einem Fälle eine bedeutendere Verkürzung (-1 cm)
zu verzeichnen haben, weil wegen Heftpflasterekzems der
Extensionsverband frühzeitig entfernt werden mußte und
gerade dieser Patient die Zustimmung zu jedem operativen
Eingriff verweigerte.
Wohl aber gibt es Fälle, bei welchen wegen störender
Druckwirkung der Fragmente auf die Weichteile eine rasche
Korrektur dringend erwünscht ist. In diesen Fällen wird
man, bevor man sich zu einem anderen operativen Eingriffe
entschließt, in erster Linie zur Nagelextension seine Zu¬
flucht nehmen. Zu dieser letzteren Indikation möge der in
folgendem zu beschreibende Fäll einen Beitrag liefern.
Am 11. November 1910 wurde der 37jährige Ziegeldecker
L. M., in schwer betrunkenem Zustand in die Unfallstation ein¬
geliefert. Er war eine halbe Stunde vor Einlieferung durch den
Dachstuhl eines Hauses durchgebrochen und hatte beim Sturz
aus 6 in Höhe den Oberschenkel gebrochen.
Status praesens: Schwere Trunkenheit, Rißguetsch-
w unde der Stirne, keine Symptome einer zerebralen Läsion,
innere Organe normal.
Nach Abnahme der provisorischen Schiene werden die
stark durchbluteten Kleidungsstücke entfernt. Der linke Ober¬
schenkel hochgradig deformiert, 3 cm kürzer als1 der rechte, an
der vorderen lateralen Seite ragt handbreit oberhalb des Knie¬
gelenkes von Periost entblößt das periphere Ende eines oberen
Femurfragmentes, 2 cm lang, durch die Haut hervor. Heftige Blu¬
tung aus der Hautwunde, an dem vorragenden Knochen kleben
zahlreiche abgerissene Haare. Muskulatur des linken Ober¬
schenkels krampfhaft gespannt, Hat. hat keine Schmerzen und be¬
wegt die gebrochene Extremität, wobei dm pathologische Stellung
noch vermehrt wird. Unterschenkel stark einwärts' rotiert, wird
aktiv nicht bewegt. Keine Sensi bi 1 i tätsstöm ngen daselbst.
Im Gegensatz zur gut gefärbten rechten Extremität ist der
linke Unterschenkel blaß, fühlt sich deutlich kühler an und ist
weder in der Poplitea-'noöh in der Tibialis posterior
und Dorsalis pedis der Puls zu tasten. Tn der Fossa
poplitea kein nennenswertes Hämatom.
Die Haut, der Umgebung der Wunde wird rasiert, mit
Jodbenzin gereinigt und mit Jodtinktur gepinselt. Das hervorragende
Knochenfragment wird durch Abwischen mit einem, sterilen Tupfer
von den angeklebten Haaren befreit, von einer Desinfektion der
Wende selbst wird vollkommen abgesehen und ein Verband mit
steriler Gaze angelegt.
Das sofort in zwei Ebenen aufgenommene llöntgenbild
zeigt einen mehrfachen suprakondylären Splitterbruch des Ober¬
schenkels mit Dislokation des oberen Fragmentes- nach vorn außen.
Die Kondylen außerdem durch eine sagittate bis1 ins Kniegelenk
reichende Bruchlinie voneinander getrennt und in der Sagittal-
ebene 'gegeneinander gedreht, so daß- nebst mehrfachen Knochen¬
splittern das gabelförmig geteilte untere Femurdrittel nach rück¬
wärts in die Kniekehle hinein ragt.
Da die Versuche durch Zug an dem gebeugten Unterschenkel
die pathologische Stellung und Zirkulationsstörung zu beseitigen,
an dem ganz abnormen Muskel widerstand scheiterten, wurde der
Patient narkotisiert, die Haut des Kniegelenkes nochmals mit
Jodbenzin und Jodtinktur desinfiziert und die Nagelextension am
Kondylus fenmris angelegt.
Stiebinzision mit dem Skalpell bis auf den Knochen dicht
oberhalb des lateralen Kondylus in der Mitte der Distanz zwischen
Bizeps- und Quadrizepssehne (mit sorgfältiger Vermeidung einer
Verletzung des oberen Kieg-elenkrez-essus l). Nun wird mit einem
suitzen Nagel die Kortikalis des Knochens durchschlagen, der
Nägel entfernt und der in dem Stilleschen Drillbohrer montierte
25 cm lange, 4 nun dicke Knocheinnagel in streng frontaler Rich¬
tung durch den Knochen gebohrt, bis durch die durchgedrungene
Spitze des Nagels die gegenüberliegende Haut vorgewölbt er¬
scheint. An dieser Stelle abermals Stichinzision, der Drillbohrer
wird abmontiert und der Navel mit dem Hammer durchgeschlagen
bis die Enden auf beiden Seiten des Knochens gleichweit her¬
vorragen. Dicht an der Haut werden die beiden Nagelenden mit
fsoform-gaze- umwickelt und letztere wird mittels' zweier kreis¬
runder im Zentrum durchbohrter Schusterspanplättchen, die
beiderseits über den Nagel geschoben werden, durch einen sterilen
Verband gegen die Wunden angedrückt.
Der Patient wird nun ins1 Bett gebracht, die Extremität
im Hüft- und Kniegelenk leicht gebeugt auf ein doppelt geneigtes
Kissen 'gelagert, die beiden Enden des Nagels werden mit Schutz¬
kappen versehen, an welchen mittels dünner Messingdrähte je
5 kg Zuggewicht zur Wirkung gelangen.
Sofort nach Anlegung der Extension stellt sich hei dem
noch narkotisierten Pat. die Korrektur der pathologischen Stel¬
lung ein, die Verkürzung ist. vollkommen beseitigt und der Puls
in den Arterien des Fußes deutlich zu tasten.
Vom weiteren Verlauf ist hervorzuh-eben, daß die Tem¬
peratur niemals mehr als 37-5° erreichte, trotz der großen Un¬
ruhe des Patienten, der in einem Anfalle von Delirium einem
der beiden Extensionsdrähte ablöste, wodurch vorübergehend
eine starke seitliche Dislokation zustande kam.
Im Verlauf von 14 Tagen wurde der Längszug auf je 2 kg
vermindert, außerdem ein seitlicher Zug nach Bardenheucr
zur Hebung des unteren Fragmentes hinzugefügt.
Die abnorme Unruhe' des Patienten dürfte wohl auch dazu
beigetragein haben, daß am 20. Tage der Nagel am lateralen Kon¬
dylus durchzu schneiden begann und entfernt werden mußte.
Die ursprüngliche Weichteil wunde war bis dahin voll¬
kommen geheilt, die Nagelfisteln sezernierten sehr wenig, so
daß nun, als sich ohne Extension wieder eine Verkürzung von
1 ein einstellte, ein Extensions verband nach Bardenheuer an¬
gelegt werden konnte, der die Fragmente dauernd in eine gute
Stellung brachte. _ .
Der Extensionsverband wurde-, als die Fragmente in
federnder Fixation standen, durch eine einseitige Gipshose mit
Gehbügel -ersetzt.
In der neunten Woche- nach der Verletzung wurde cier Gips-
verbaud abgenommen, die Fraktur ist fest konsolidiert.-) Die
noch bestehende Versteifung des Kniegelenkes ist. auf den teilweise
2) Der Patient wurde am 13. Januar in der k. k. Gesellschafl dm
Aerzte von Prof. v. Eiseisberg demonstriert.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 4
134
intraartikularen Verlauf der Bruchlinien zurückzuführen und
dürfte bei mechanischer Nachbehandlung noch verbesserungs¬
fähig sein.
Zusammenfassend, hatten wir es in diesem Falle mit
einer komplizierten, gesplitterten, suprakondylären Ober¬
schenkelfraktur zu tun, bei welcher vermutlich infolge der
gabeligen Teilung des peripheren Fragmentes und der außer¬
ordentlich starken Dislokation gegen die Kniekehle eine Kom¬
pression der Arteria poplitea zustande gekommen war.
Die Diagnose, daß keine Zerreißung des Gefäßes,
sondern nur Kompression vorlag, konnte nahezu mit Sicher¬
heit aus dem Fehlen eines stärkeren Hämatoms in der
Kniekehle gestellt werden. In ersterem Falle hätte auch die
Blutung aus der ausgedehnten Weichteilwunde wohl eine
stärkere sein müssen.
Mit der Diagnose war nun auch die Therapie gegeben,
die Arterie so rasch als möglich aus ihrer Bedrängnis zu
befreien, weniger wegen der momentanen Gefahr einer Gan¬
grän, da ja bekanntlich eine bis zu sechs Stunden fort¬
geführte Unterbrechung der Zirkulation einzelner Extremi¬
täten bei jüngeren Individuen schadlos vertragen werden
kann, als vielmehr unter der Befürchtung, daß der tief
alkoholisierte und schwer zu beruhigende Patient bei seinen
unkoordinierten Bewegungen, die er unablässig auch mit
dem gebrochenen Bein ausführte, noch nachträglich die
Arterie an den vorspringenden Knochenzacken verletzen
könnte.
Das Extensionsverfahren nach Bardenheuer kam
hier kaum in Betracht* weil die Anlegung des Verbandes'
wegen der großen Weich teilwunde auf Schwierigkeiten ge¬
stoßen wäre, und andrerseits die Wirkung nicht genug rasch
zur Geltung gekommen wäre. Wissen wir doch aus der viel¬
fachen Erfahrung, daß es wertlos ist, früher als am dritten
Tage den Erfolg eines frisch angelegten Heftpflasterexten¬
sionsverbandes am Röntgenbild kontrollieren zu wollen, da
das Maximum der Wirkung gewöhnlich erst nach Ablauf
von 48 Stunden erzielt wird.
Die Anlegung eines zirkulären Gipsverbandes, so wenig
derselbe auch bei Behandlung der Oberschenkelfraktur
gegenwärtig in Gebrauch ist, wäre ausnahmsweise gerade
in unserem Falle diskutabel. Wenn Aussicht bestanden
hätte, Fragmente mit annähernd quer verlaufender Bruch¬
linie durch Reposition in Narkose so aneinander zu bringen,
daß durch Verzackung der Bruchflächen ein stabiles System
zu erhoffen gewesen wäre und dem nachträglichen Gips¬
verband nur die Aufgabe zugefallen wäre, die Fragmente
in korrigierter Stellung ruhig zu stellen, in dem Faile wäre
gegen die Anwendung des Gipsverbandes nur der Einwand
zu erheben, daß die Wiederkehr einer eben behobenen Zir¬
kulationsstörung im zirkulären Verband durch nachträgliche
Hämatombildung begünstigt werden könnte.
Das Röntgenbild belehrte uns eines anderen. Bei
dem ausgedehnten Splitterbruch war an die Erzielung
einer Stabilität durch Reposition in Narkose nicht zu denken.
Es wäre gewiß gelungen, bei vollkommen erschlaffter Mus¬
kulatur durch Zug am gebeugten Unterschenkel die Längs¬
verschiebung bis zur Behebung der Zirkulationsstörung aus¬
zugleichen. Der wiederkehrende Müskeltonus hätte aber
ebenso rasch die alte Dislokation herzustellen versucht,
indem das untere Fragment durch den Zug des Triceps surae
abermals seine Drehung nach hinten erfahren hätte und
so wäre die Arterie zwischen Gipsverband und den Zacken
des unteren Fragmentes um so sicherer komprimiert worden.
Es mußte demnach ein Verfahren eingeschlagen
werden, das den Muskelzug rasch und dauernd bekämpft,
bei welchem jeder Druck in der Fossa poplitea ausgeschaltet
ist und das [war in diesem Falle, wohl allein die Nagel¬
extension, die, wie der Erfolg lehrte, auch tatsächlich zum
Ziele geführt hat.
Nach Kenntnis des von Schwarz mitgeteilten Todes¬
falles muß man wohl nachträglich sagen, daß die Nage¬
lung durch die beiden Femurkondylen hei Bestehen einer
T-förmigen, bis ins Kniegelenk reichenden Fraktur als ge¬
wagt zu bezeichnen ist, doch rechtfertigt die Gefährdung
der Arteria poplitea in unserem Fälle auch außergewöhn¬
liche Mittel. Immerhin zeigt der schließlich gute Ausgang,
daß von dem im Knochen selbst gelegenen Teil des Boh¬
rungskanals nicht leicht eine Infektion zur Ausbreitung
kommt, weil wenigstens in den ersten kritischen Tagen
der Nagel wohl noch steril ist und dicht im Knochen steckt,
sonst wäre das Kniegelenksempyem gewiß nicht ausge¬
blieben. Gefährlicher scheinen wohl die Fälle zu sein, bei
welchen an der Außenfläche des Knochens das Hämatom bis
an den Nagel heranreicht und durch die Nagelfisteln mit der
äußeren Haut in Kommunikation gesetzt wird, weil immer
längere Zeit vergehen müßte, bis durch Organisation eines
ausgedehnteren Hämatoms die von der Hautwunde ein-
wandernden Bakterien dauernd von der Frakturstelle fern¬
gehalten sind. In Zukunft wird man der Ausbreitung des
Hämatoms besondere Beobachtung schenken müssen, um,
wenn die Nagelung überhaupt indiziert ist, den Ort der¬
selben danach zu bestimmen und eventuell auch bei Frak¬
turen des Oberschenkels den Fersennagel anzulegen.
Resümierend können wir auf Grund des mit¬
geteilten Falles die Nagelextension bei stren¬
ger Indikationsstellung durchaus empfehlen.
Wir sehen darin die Methode, die zwar nicht be¬
rufen ist, die Heftpflasterextension zu verdrän¬
gen, wohl aber zu ergänzen. Es dürfte sich auch
fernerhin die Kombination von Nagel extension
mit seitlichen Heftpflasterzügen nach Barden¬
heuer ganz besonders bewähren.
Die bereits von Anschütz festgelegten Indi¬
kationen wären noch dahin zu erweitern, daß in
dringlichen Fällen von Kompression wichtiger
Gefäße oder Nerven durch dislozierte Fragmente
der Extremitätenknochen die Nagelextension
jedem anderen operativen Eingriff vorangehen
soll.
Literatur:
Anschütz, Ueber die Frakturbehandlung mit Nagelextension.
Münchener med. Wochenschr. 1909, Nr. 33; Demonstration zur Ver¬
längerung verkürzter Extremitäten. Verhandlungen der deutschen Gesell¬
schaft lür Chirurgie. Berlin, 4. Sitzungstag, 2. April 1910. — Anzoletti,
Zur Codivi Haschen Methode der Nagelextension am Knochen. Zentral¬
blatt für Chirurgie 1909, Nr. 28. — Becker, Ein zerlegbarer Bohrer
zur Extension am Knochen. Zentralblatt für Chirurgie 1909, Nr. 36;
Extension am quer durchbohrten Knochen. Zentralblatt für Chirurgie
1908, Nr. 48. — Codiviila, Sulla corregione delle deformitä da frattura
del femore. Bull, delle scienze med. die Bologna 1903, Serie 8, Bd. 3. —
Hirschberg, Die Codivillasche Nagelextension ein zweckmäßiges Be¬
handlungsverfahren bei Knochenbrüchen. Münchener med. Wochenschr.
1910, Nr. 1. — Schwarz, Zur Nagelextensionsbehandlung der Ober¬
schenkelbrüche. Med. Klinik 1909, S. 885. ' — Steinmann, Eine neue
Extensionsmethode in der Frakturbehandlung. Zentrallblatt für Chirurgie
1907, Nr. 32; Eine neue Extensionsmethode in der Frakturbehandiung.
Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1908, Nr. 1; Zur Extension mit
perforierendem Nagel. Zentralblatt für Chirurgie 1909, S. 519; Fortschritte
der Nagelextension. Schweizerische Rundschau für Medizin 1909, April;
Diskussion zu An schütz, Verhandlungen der deutschen Gesellschaft
für Chirurgie. Berlin, i. Sitzungstag, 2. April 1900. — Wilms, Extension
am quer durchnagelten Knochen. Zentralblatt für Chirurgie 1909, Nr. 3;
Ueberkorrektur bei Nagelextension. Deutsche Zeitschr. für Chirurgie,
Bd. 92, Nr. 32; Moderne Behandlung der Diaphysenbrüche der unteren
Extremitäten. Med. Klinik 1910, S. 1395. '
Hefsrate.
Ueber die Natur und die Herkunft des Trachomerregers
und die bei seiner Entstehung zu beobachtende Er¬
scheinung der Mutierung des Gonokokkus Neisser.
Von H. Herzog.
Mit zwei lithographischen Tafeln.
Berlin u. Wien 1910, Urban u. Schwarzenberg.
Auf Grund seiner Untersuchungen, die a.uf der Augen¬
klinik in Budapest ausgeführt wurden, kommt Herzog zu dem
Schlüsse, daß die als Trachomkörper (Chlamydozoen) bezeich-
neten Gebilde nur besonders modifizierte Wachstumsformen des
Gonokokkus (Neisser) darstellen. Die Beweise für diese An-
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
135
nähme wären nach Herzog zunächst die Tatsache, daß in
den Kulturen des Gonokokkus mit Hilfe der Färbung nach G i e m s a
Formen nachgewiesen werden könnten, die sich in Form, Größe,
Lagerung und Färbung genau so wie die Elemente der Trachom-
körper verhielten und daß die ursprünglich nur für Protozoen
als charakteristisch angesehenen sogenannten Hantelformen auch
bei den Involutionsformen des Gonokokkus vorkämen ; daß ferner
in einem Falle einwandfreier gonorrhoischer Konjunktivitis dem
Trachomkörper gleiche Einschlüsse (Mikrogonokokken nennt sie
Herzog), die ursprünglich vollständig fehlten, auftraten und
die Gonokokken vollends verdrängten; und daß umgekehrt in
einem frischen Trachomfalle neben den Trachomkörperein¬
schlüssen noch Zelleneinschlüsse nachweisbar waren, die sich
zwar der Größe nach wie Mikrogonokokken verhielten, in Form,
Lagerung und Färbeverhalten aber den typischen Gonokokken
gli e hen (Ueberg an g s f o raren ) .
Diese Involutionsformen des Gonokokkus entstehen nach
Herzog aus Jugendfurmen dieses Kokkus, extrazellulär und
ihre Einwanderung und Anhäufung in den Epithelzellen stellt
einen sekundären Prozeß dar; die Möglichkeit einer intra epi¬
thelialen Entstehung kann aber nicht ausgeschlossen werden.
Der Mangel der Fähigkeit bei den Leukozyten, Chromatinsub¬
stanzen von der Art des Plastins abzuscheiden und die Ver¬
dauung der in die Leukozyten aufgenommenen Mikrokokken durch
proteolytische Fermente, erklärte das Fehlen dieser Einschlüsse
in den Leukozyten.
Das Trachom entstehe nach Herzog durch Uebertragung
des normalen Gonokokkus, wenn seine baldige und vollständige
Eliminierung von der Schleimhaut verhindert oder verzögert
werde, ebenso durch Uebertragung des in seiner Virulenz abge¬
schwächten Gonokokkus, weil dann die für die Eliminierung
notwendige entzündliche Reaktion unterbleibt, sowie durch Ueber¬
tragung der modifizierten und dem intraepithelialen Zellpara¬
sitismus angepaßten Wachstumsform des Gonokokkus, die der
Verfasser als Mikrogonokokken bezeichnet hat.
Für die Erklärung der ausschließlich lokalen Pathogenität
des Mikrogonokokkus genüge es, anzunehmen, daß sich die Wirk¬
samkeit dieses abgeschwächten und an spezielle Verhältnisse
angepaßten Keimes , mit seiner Tätigkeit in der Konjunktiva er¬
schöpfe.
Die Tatsache, daß die eigenartige Wachtunisform des Gono¬
kokkus auch in der Urethra und Vagina angetroffen werden
könne (Einschlußblennorrhoe der Autoren), beweise, daß die Mu¬
tierung beim Gonokokkus eine ihm regelmäßig zukonrmende
Eigenschaft sei.
*
Mikroskopiske Undersogelser over Bugspyt kirtelens
normale og patologiske Anatomi hooruuder forholdene
ved en del Tilfaelde af Sukkersyge.
Von K. A. Heiberg.
Kobenhavn 1910, A. Fr. Host u. Son.
Die Monographie, die in dänischer Sprache abgefaßt und
200 Seiten stark ist, behandelt ausführlich die normale und
pathologische Anatomie des Pankreas. Die Ergebnisse der Unter¬
suchungen von Heiberg über die pathologische Anatomie des Dia¬
betes mellitus bei 35 Fällen dieser Erkrankung sind dem Werke
auszugsweise in deutscher Sprache angeschlossen. Daraus sei
folgendes angeführt ;
Abgesehen von qualitativen Veränderungen der Langer-
hans sehen Inseln, konnte Vexf. auch in den Fällen von Dia¬
betes, die nach Ansicht der meisten Autoren kein Inselleiden
vermuten ließen, konstant eine viel geringere Anzahl von Inseln
als unter normalen Verhältnissen nachweisen. Dazu bediente
sic h Heiberg einer besonderen Zähltechnik mit 75facher Ver¬
größerung, die er als wichtig betrachtet. Durchschnittlich fand
er so in der Kauda des Pankreas, die für diese Untersuchungen
den geeignetsten Teil darstellt, bei normalen Menschen ungefähr
130 Inseln pro 50 mm2, bei Diabetikern des genannten lypus
dagegen nur 30 bis 40.
Die pathologisch-anatomische Diagnose auf Diabetes mellitus
läßt, sich nach Verf. mit dieser Methode, die den Insel defekt
mit Sicherheit feststellen läßt, bei der mikroskopischen Unter¬
suchung des Pankreas so auch dort stellen, wo man früher den
pankreatischen Ursprung nicht erkannte.
Den Schlüssel zum Verständnisse für die Entstehung der
Inselverminderung gab ein Fall eines in drei Monaten tödlich
verlaufenen Diabetes; während sich makroskopisch keine Ver¬
änderungen des Pankreas nachweisen ließen, fand sich mikro¬
skopisch folgendes: die Anzahl der L an g erh an s sehen Inseln
war gering, einige davon waren normal, andere von einem ein¬
kernigen Zelleninfiltrat umgeben, das auch längs der Gefäße in
die Inseln hineingriff; außerdem fanden sich Gebilde, teils ne¬
krotisch, teils in nekrotischer Umwandlung, die sich noch mit
Sicherheit als Inselgewebe deuten ließen. Dort, wo Rundzellen¬
infiltration vorhanden war, sahen die Inseln gewöhnlich noch
gut erhalten aus; wo sie Nekrose zeigten, war Rundzellen¬
infiltration nicht nachweisbar. Im lienalen Teile variierte die
Zahl der Inseln von 17 bis 37 pro 50 mm2. Nur wenige der
zerstörten Inseln hinterließen ein erkennbares Residuum in Form
einer bindegewebigen Verdickung, doch ist diese Veränderung nach
Verf. später nicht mehr imstande, die Form der Inseln zu be¬
halten, so daß diese Stellen dann vom Rindegewebe in den Inter-
stitien nicht mehr unterschieden werden können.
Verf. glaubt, daß dieser Fall wahrscheinlich das Anfang¬
stadium in der Entstehung des Inseldefektes darstelle.
Verf. bekennt sich damit als Anhänger der Inseltheorie für
den Diabetes und schließt sich damit der Auffassung an, die
A. Weichselbaum auf Grund eingehendster Untersuchung von
183 Fällen dieser Erkrankung vertritt.
*
Das Virulenzproblem der pathogenen Bakterien.
Epidemiologische und klinische Studien von der Diphtherie ausgehend.
Aron Edv. Laurent.
Mit 7 Kurven im Text und 7 Tafeln.
Jena 1910, Verlag von G. Fischer.
Die Untersuchungen, deren Resultate Verf. in dem umfang¬
reichen Ruche von 850 Seiten mitteilt, wurden durch Beobach¬
tungen veranlaßt, die der Autor in der Diphtherieepidemie in
Danderyd-Djursholm (Umgebung Stockholms) 1898 bis 1900
machen konnte.
Diese Epidemie, die im ersten Abschnitt eingehend erörtert
wird, zeichnete sich durch auffallenden Parallelismus der gleich¬
zeitigen Krankheitsfälle aus und durch einen ausgeprägten Formen¬
wechsel in den verschiedenen Perioden; die erste dieser Perioden
war durch das Auftreten von schwerem Krupp und Rhinitis cha¬
rakterisiert, die zweite durch den Mangel dieser Erscheinungen
und durch das Vorherrschen von Anginen, die dritte wieder
durch Knipp und Rhinitis und die vierte Periode, die Nach¬
epidemie, durch schleichendes Hervortreten, atypischen Verlauf
und großen Formenreichtum der Fälle mit reichlichem Bazillen¬
befund in der Umgebung der Kranken.
Zur Erklärung dieser Erscheinungen nimmt Verf. an, daß
eine Epidemie als Organismus zu betrachten sei, der entsteht,
wächst, altert und stirbt, also den Gesetzen des Lebens folgt und
entsprechenden Veränderungen unterliegt.
Weitergeführt wurden diese Beobachtungen an dem großen
Diphtheriemateriale des Epidemiekrankenhauses in Stockholm
(über 10.000 Fälle); dabei hat ex zur Grundlage seiner Beob¬
achtungen die Fieberkurven benützt, die verschiedene Typen
zeigten und wobei gewisse dieser Typen regelmäßig miteinander
abwechseln, so da.ß beim Maximum des einen der andere sein
Minimum erreicht und umgekehrt. Darnach unterschied Verfasser
drei verschiedene Arten von Diphtherieformen: die erste be-
zeichnete er als Grundform und war dadurch charakterisiert,
daß sie immer zahlreich vorkam und keinen Wechsel zeigte;
die zweite bezeiehnete er als Flutform und entsprach dem Steigen
und der Ausbreitung der Epidemie; und die dritte, die er Ebbe¬
form nannte, fiel mit der Abnahme der Epidemie zusammen.
Das dritte Kapitel ist der Virulenz der Diphtheriebazillen
gewidmet unter eingehender Berücksichtigung der Literatur. Aus
der Tatsache, daß die Virulenz der Bazillen eine variable sei, daß
Diphtheriebazillen auch an den Schleimhäuten gesunder Indi¬
viduen Vorkommen, daß ihre Lehensbedingungen eine Vermehrung
außerhalb des Organismus eigentlich ausschließen, daß im Blute
130
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 4
gesunder Personen, die nie an Diphtherie gelitten haben, Schutz¬
körper gegen diese Krankheit vorhanden seien, daß sie sich bei
den meisten akuten und chronischen krankhaften Veränderungen
der Schleimhäute der oberen Luftwege finden, daß pseudomem¬
branöse und andere Formen von Diphtherie ineinander über¬
gehen und daß die Diphtherieepidemien gewisse Eigentümlich¬
keiten zeigen, die kaum anders als durch Virulenzverschieden-
heiten dös Erregers erklärt werden können, nimmt Verf. an,
daß die Diphtherie aus1 einer Virulenzsteigerung der avirulenten
oder schwachvirulenten Diphtheriebazillenformen, die normal auf
den menschlichen Schleimhäuten vegetieren, entstehe.
Im vierten Kapitel bespricht Verf. die Frage der Sporen¬
bildung der Diphtheriebazillen und die verschiedenen Krankheits¬
symptome der Diphtherie, die durch Bazillengenerationen ihre
Erklärung finden, wobei Verf. zum Schlüsse' kommt, daß die
Diphtheriebazillen in ungefähr einer Woche eine typische Ent¬
wicklung durchlaufen, die durch Bildung von Sporen, an welche
die Kontagiosität in erster Linie gebunden ist, abgeschlossen
wird.
Im fünften Kapitel wird zunächst die Frage der Immunität
und Kontagiosität der Diphtherie besprochen, sodann die ver¬
schiedenen Formen der Erkrankung, die im Zusammenhänge mit
dem V irulenzwechsel der Bazillengenerationen stehen und in¬
einander übergehen: die Grundformen in die Flutformen und
diese in die Ebbeformen. Die Ursache dafür liegt nach Verfasser
in dem Virulenzgesetz, das alle diese Phänome beherrscht und
für die Diphtherie so formuliert wird, daß' die täglichen Schwan¬
kungen der Virulenz des Diphtheriebazillus, der die niedrigste
organische Einheit bei der Diphtherie darstelle, in sukzessiv ver¬
größerter Skala aufs neue wiederholt werden und so bestimmend
wirken für das Auftreten der Krankheit in einzelnen Fällen oder
Gruppen von Fällen, in Epidemien oder Epidemieserien niederer
oder höherer Ordnung.
Dieses Gesetz kann auch allgemein formuliert werden und
lautet dann so, daß jeder Organismus aus anderen Organismen
bestehe und selbst ein Teil von 'höheren Organismen sei, die alle
den Gesetzen des Lebens unterliegen und entsprechenden Ver¬
änderungen unterworfen sind, was Verf. im sechsten Kapitel für
die anderen pathogenen Bakterien zu zeigen versucht.
Das siebente Kapitel endlich bringt eine Zusammenfassung
der Resultate und auf diese will Verf. eine moderne epidemiolo¬
gische Wissenschaft aufgebaut wissen mit neuen Definitionen,
Arbeitsmethoden. Zeitbestimmungen für die Epidemien und der
Möglichkeit epidemiologischer Prognose. Und Aufgabe der Hy¬
giene muß es sein, die Lebensbedingungen der pathogenen Bak¬
terien ungünstiger zu gestalten, die des Menschen dagegen zu er¬
höhen, so daß die Gleichgewichtslage zugunsten des Menschen
verrückt wird.
Das Buch ist sicher interessant, nur zu breit angelegt, dürfte
aber kaum in allen Punkten Zustimmung erfahren.
*
Atlas und Grundriß der Bakteriologie und Lehrbuch
der speziellen bakteriologischen Diagnostik.
Von K. B. Lehmann und R. 0. Neumann.
I. Teil:
Atlas.
Fünfte, umgearbeitete und vermehrte Auflage.
Preis kompl. 20 Mk.
München 1910, Verlag von .1. F. Lehmann.
Der im Jahre 1907 erschienenen vierten Auflage des be¬
kannten Lehrbuches aus den medizinischen Handatlanten von
Lehmann ist 1910 die fünfte gefolgt, die im vorliegenden ersten
Teile (Atlas) gegenüber der letzten Auflage, keine Aenderung er¬
fahren hat.
Die rasche Folge der Auflagen dieses Werkes zeugt von! der
Wichtigkeit, die es erlangt hat; seine Vorzüge sind auch hier
schon mehrmals besprochen worden. Das Bestreben der Autoren,
ihr Werk zu einem möglichst vollkommenen zu machen, ist
immer und überall anerkannt worden; gerade deshalb wäre es
■erwünscht, daß die kleinen Mängel, die ihm noch anhaften,
ausgemerzt würden. So wirkt es beispielsweise störend, das
auch im Atlas eingehaltene System der Einteilung dadurch durch¬
brochen zu sehen, daß der Micrococcus meningitidis iutracellu-
laris Weich seih aubi noch immer unter der Gattung Strepto¬
kokkus zu finden ist und nicht dort, wohin er seiner Stellung
nach gehört. Das gleiche gilt für das Bacterium dysenteriae. Da
Lehmanns Handatlanten in erster Linie für den Mediziner
bestimmt sind, erscheint auch die Forderung keine unbeschei¬
dene, gewissen wichtigen menschenpathogenen Bakterien mehr
Platz in einer folgenden Auflage einzuräumen, als1 es bisher ge¬
schehen ist. Dies gilt vor allem für die Gruppe der Paratyphus-
und Dysenteriebakterien, bei denen die neuen, heute allgemein
anerkannten differentialdiagnostischen Merkmale auch bei den
Abbildungen berücksichtigt werden könnten. Aehnliches wäre
. auch für die Gruppe des Gonokokkus und seiner Verwandten
(Meningokokkus und Micrococcus catarrhalis) erwünscht. Abbil¬
dungen des Bacterium scleromatis fehlen vollständig. Der Dank,
den die Autoren und der Verleger durch Berücksichtigung dieser
Wünsche erfahren würden, wäre ein allgemeiner.
*
Zur Frage über den Erreger der echten und Schutz¬
pocken.
Von 1»I. Babinowitsch.
Mit 6 Tafeln.
Wiesbaden 1910, Verlag von J. F. Bergmann.
Dem Verf. gelang es in einer Reihe von Poekenfällen, die er
bei der Epidemie in Kiew im fWi'nter 1909 und im Frühjahre 1910
zu untersuchen: Gelegenheit hatte, sowohl aus dem Pustelinhalte
und Venen blute der Kranken, als auch aus dem Herzblute und den
Organen der Leichen mikroskopisch und kulturell einen Angehö¬
rigen der Gattung Streptokokkus nachzuweisen, den er als einen
„Strepto-Diplokokkns“ bezeichnet und der bei jungen Ratten, Ka¬
ninchen und weißen Mäusen nach kutaner Einverleibung angeblich
Pusteln erzeuge, die den Pockenpusteln des Menschen mehr
oder weniger ähnlich sein sollen. Den gleichen Kokkus konnte
Verf. auch aus den untersuchten Kuhpockenlymphen züchten.
Verf., der seine Untersuchungen selber noch nicht für ganz
abgeschlossen bezeichnet, glaubt, daß dieser „eigenartige Parasit“
in irgend einer engen Beziehung zu den echten und Schutzpocken
stehen müsse.
Die Wichtigkeit der Frage erfordert einwandfreiere Beweise
als die vom Verf. gebrachten.
*
Kompendium der praktischen Bakterienkunde. '
Für Studierende der Medizin und praktische Aerzte.
Von E. Küster und A. Geisse.
Mit 26 Abbildungen und 18 farbigen Tafeln.
S t r a ß b u r g i. E. u. Leipzig 1911, Verlag von J. Singer.
Ein handliches, klar geschriebenes Büchlein, das für den
Mediziner bestimmt ist, um ihm in' knapper Form die notwen¬
digsten und zugleich praktisch wichtigsten Kenntnisse in der
Bakteriologie und Protistenkunde zu verschaffen. Diesen Zweck
erfüllt das Kompendium, nur wäre es richtiger gewesen, wenn das
für die Differentialdiagnose der meisten unserer pathogenen Bak¬
terien mit Recht als wichtig hervorgehobene Verhalten zur Me¬
thode von Gram auch hei den Abbildungen berücksichtigt und
wenn gerade von den praktisch wichtigen Bakterien (Meningo¬
kokken, Diphtberiebazillen, Anthraxbazillen usw.) nicht Abbil¬
dungen von Reinkulturen, sondern solche von Ausstrichpräpa¬
raten aus ihren pathologischen Produkten gebracht worden wären.
Warum den pathogenen Kokken als Anhang der Bacillus pyo-
cyaneus und die Kapselbazillengruppe — diese noch dazu so
stiefmütterlich behandelt — abgeschlossen werden, ist unver¬
ständlich. Sicher wertvoll wäre ©s, in der Gruppe des Gono¬
kokkus und seiner Verwandten das Verhalten zu den differential-
diagnostisch wichtigen Zuckerarten hervorzuheben. Einer Kor¬
rektur bedarf die Angabe über das Verhalten1 des Bacillus oede-
maiis maligni zur Färbungsmethode1 von Grami und überflüssig
ist für den Mediziner die Besprechung des Erregers der Hühner-
eholera. j: , ! j j • : ‘ ■
Gegen den Standpunkt, die Serologie nur zu berücksich¬
tigen, insoweit sie praktisch Bedeutung hat, ist nichts einzu-
wenden, die Reaktion von Wassermann aber müßte wegen
ihrer Bedeutung für die Luesdiagnose hei der Besprechung der
Spirochaete pallida kurze Erwähnung findein.
*
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
137
Praktikum der Bakteriologie und Protozoologie.
Von Kißkalt und Hartmann.
Zweite, erweiterte Auflage.
Zweiter Teil:
Protozoologie.
Von M. Hartmann.
Mit 76, teils mehrfarbigen Abbildungen im Text.
Jena 1910, Verlag von G. Fisch e r.
Das Praktikum der Bakteriologie und Protozoologie von
Kißkalt, und Hartlmahn hat in seiner zweiten erweiterten
Auflage dadurch eine Aenderung erfahren, daß beide Teile ge¬
trennt herausgegeben wurden. Der erste Teil der neuen Auf¬
lage ist in dieser Zeitschrift schon1 besprochen worden. Der
vorliegende zweite Teil, der ein Kapitel über allgemeine Technik
der Protozoenuntersuchung neu aufgenommen und in den übrigen
Kapiteln Ergänzungen und Verbesserungen erfahren hat, ist in
allgemeine, technische und spezielle Abschnitte eingeteilt, in
denen pathogene und nichtpathogene Vertreter der Ordnungen
Amoebina, Myxosporidia, Sarcosporidia, Flagellata, Koccidia,
Gregarinida und Oiliata behandelt werden. Die Darstellung ist
übersichtlich und klar, die Abbildungen, die bedeutend vermehrt
wurden, sind durchaus gut. Den speziellen Abschnitten sind in
der neuen Auflage auch Literaturangaben zugefügt.
A. Ghort.
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
■85. Lieber den Darmwandbruch. Von Professor Doktor
Riedel in Jena. In einem klinischen Vortrage besprach Verfasser
diese partielle Darmeinklemmung, die viel häufiger beobachtet
wird, als' man bisher annahm. Auf experimentellem Wege läßt
sich der Vorgang der Einklemmung nicht nachahmen, ein so
scharfer Beobachter, wie Roser, wollte daher den Darmwand¬
bruch nicht anerkennen; daß er aber existiert, daß also ein
Teil einer ganz intakten Darmschlinge eingeklemmt werden kann,
das hat Verf. zum ersten Male mit voller Sicherheit bewiesen.
Hundertfache Beobachtungen an Menschen haben es seither be¬
stätigt. Eine solche Einklemmung kommt da zustande, wo die
Bruchpforte eng ist; den geringsten Durchmesser pflegen die
Pforten von Kruralbrüchen zu habein, deshalb wird der Darm¬
wandbruch dort am häufigsten beobachtet; dann folgt die Ein¬
klemmung im Leistenkanale (meist im Bruchsackhalse), noch
seltener die am Foramen obturatorium oder im1 Nabel. Als letzte
Ursache der Einklemmung müssen wir in allen Fällen Anstren¬
gungen der Bauch prefese (Hustenstoß, Pressen etc.) annehmen.
Bald ist nur ein Drittel der Zirkumferenz des Darmes eingeklemmt,
häufiger sind es zwei Drittel, oft genug läuft aber auch die! Schnür-
furche hart am Mesenterialrande entlang, was Verf. durch drei
schematische Zeichnungen versinnlicht. Gewöhnlich ist der genau
dem Mesenterialansatze gegenüberliegende1 Darmabschnitt einge¬
klemmt, gelegentlich ist es die vordere oder hintere Wand des
Darmes (He ums, seltener des Jejunums oder Dickdarms). Der
Verfasser bespricht sodann die klinischen Erscheinungen (zumeist
Erbrechen, fehlender Stuhlgang und Mangel an Winden, deutlich
sichtbare peristaltische Bewegungen), welche die Diagnose ermög¬
lichen, welche aber hei Schenkel- und Leistenbruch Schwierig¬
keiten macht, wetan nur wenig Darm eingeklemmt und der Patient
sehr indifferent gegen Schmerzen ist. Ist der Bruch versteckt,
zum Beispiel bei der Hernia obturatoria oder bei einem ins Cavum
peritonei dislozierten Bruchsackhalse, so kann sich die Diagnose
schon schwierig gestalten. Zum Glück sind solche Fälle selten.
In Vielen Fällen fehlt leider die richtige Behandlung, auch ver¬
schieben die Kranken öfters die Operation, weil die Erscheinungen
leicht sind, Stuhl und Winde noch abgehen. Von des Verfassers
63 Fällen mit Darmwandbrüchen sind nicht weniger als 24 ‘ 39°<> '
gestorben, während er hei Totaleinklemmung von Därmen, respek¬
tive Netz nur 15°/o Verlust hatte (letzte Serie). Jeder Repositions¬
versuch ist kontraindiziert; der Bruch muß möglichst frühzeitig
operativ angegriffen werden. Ein pfropfartig in den Bruchsack
hineinragender, geschwollener, fest durch den Bruchsackhals mn-
schnürter Darmabschnitt, sagt der Verfasser, kann überhaupt gar
nicht so reponiert werden, wie eine in toto eingeklemmt '■ Darm-
si hlinge. Der leichte Repositionsversue-h wird stets ohne Erfolg
bleiben, brüske Manipulationen werden zur Sprengung des
Darmes führen. Unter den oberwähnh u 24 Todesfällen sind
zwei Kranke derartigen brüsken Bcpositi- msversuchen. erlegen,
welche von dein behandelnden Aerzten zwei Stunden, respektive
fünf Tage nach der Einklemmung gemacht wurden. Solche Vor¬
kommnisse sind wahrscheinlich noch häufiger, der \ rzt muß
also beherzigen, daß die Reposition so außerordentlich gefährlich
ist. Tritt Gangrän ein und erfolgt die Perforation des gangränösen
Darmabschnittes nach außen, so kann der Kranke nach einem
späteren Eingriff genesen ; man warte aber diesen Vorgang nicht
ab, da die Majorität solcher Fälle an Peritonitis usw. zugrunde
geht. In frischen Fällen macht man die Operation und da erlebt
man es' öfters, daß der Darin nach Spaltung des Bruchsackhalses
sofort in die Bauchhöhle zurückrutscht. Das ist dann bedeutungs¬
los, nicht aber in; verschleppten Fällen, wenn die Schnürfurche
schon gangränös ist. Da muß man vor Spaltung des Bruchsack¬
halses unbedingt den vorliegenden eingeklemmten Darmabschnitt
mit der Schieberpinzette fassen', damit er nicht in die Tiefe sinkt.
Ist vollends der ganze eingeklemmte Darmteil brandig, so schneide
man den' Bruchsack auf, warte die Bildung der Kotfistel- ab und
und beseitige diese später. — (Deutsche medizin. Wochenschrift
1910, Nr. 52.) E. F.
*
86. Das bakterizide Prinzip. Von Hans Much.
Während man bei den rein durch Giftabsonderung krankmachen¬
den Bakterien den Bekämpfungsplan vor allem gegen die Gifte
zu richten hat (Toxin - Antitoxin hei Diphtherie, Tetanus und
wahrscheinlich auch bei Dysenterie), so liegen die Verhältnisse
bei einer zweiten Gruppe von Bakterien, die durch giftige Be¬
standteile krankmachend wirken (Endotoxine) anders. Hier muß
man sich vor allem -gegen die. Bakterien seihst wenden, ihre
Lebensfähigkeit vernichten, um eine Vermehrung des gifttragen-
den Agens zu vermleiden. Gleichzeitig muß man aber auch
das1 Augenmerk auf die Unschädlichmachung der Endotoxine
richten, die ja durch den Zerfall der getöteten Bakterien gerade¬
zu erst frei gemacht Werden, soweit sie nicht ohnehin schon
irrt Körper kreisen. Die Bekämpfung dieser zweiten Gruppe von
Bakterien gestaltet sich bedeutend schwieriger. Insbesondere ist
die Darstellung von Substanzen gegen Endotoxine in für die
Praxis irgendwie brauchbarer Weise noch nicht gelöst. Offenbar
liegen die Verhältnisse keineswegs so einfach wie beim anti¬
toxischen Schutz- und Heilprinzipe und ist die Wirkung des
bakteriziden Schutz- und Heilprinzipes von den verschiedensten
Faktoren abhängig und seine Wirkung tritt nur innerhalb be¬
stimmter Grenzen auf. Außerhalb dieser Grenzen tritt überhaupt
keine Wirkung auf oder sie schlägt gar ins Gegenteil um, indem
z. B. durch zu schnelle Auflösung einer großen Menge von In¬
fektionsmaterial durch die im immunisierten Organismus vor¬
handenen spezifischen abtötenden, auflösenden Kräfte der Körper
plötzlich mit Giften überschwemmt wird. In einem solchen Falle
ist der immunisierte Körper schlechter daran als der nicht im¬
munisierte. Jedenfalls ist aller auf bakteriziden Kräften beruhen¬
der Schutz immer ein ‘zweischneidiges' Schwert. Trotzdem mm
das bakterizide Prinzip in seiner Wirkungsweise und Wirksam¬
keit von dem antitoxischen sehr verschieden ist, so kann es als'
Schutzprinzip auf aktivem und passivem Wege angewendet wer¬
den und bewährt sich beim Tiere trotz seiner Zweischneidigkeit
recht gut und wenigstens zum Teil nicht schlecht beim Menschen,
soweit es sich um aktiv erworbenes Schutzprinzip handelt. Als
Heilmittel hat sich jedoch das bakterizide Prinzip wenigstens
beim! Menschen als absolut unzulänglich erwiesen; gleichwohl
sind bereits Erfolge im Tierversuche, betreffend die Heilung
durch bakterizide Sera, also auf passivem' Wege, erzielt worden.
(Fortschritte der Medizin, 28. Jahrg., Nr. 40.) K. S.
*
87. Salvarsan hei 80 Syphilisfällen. Von Dr. Carlo
Ravasini in Triest. Verf. hat alle 80 Fälle nach Wechsel
mann behandelt, während er jetzt, nur die Methode von Kro
may er anwendet. In zehn Fällen handelte es1 sich um Initial¬
sklerosen, in1 sechs Fällen um sekundäre Syphilis; alle waren
früher nie behandelt worden. Das1 UlduS durum heilte in einem
Falle nach 48 Stunden, in den anderen drei bis1 eli Tage nach
der Injektion. Die Condylomata lata und die makulösen Syphilide
13b
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 4
schwanden nach zwei bis fünf Tagen und in einem Falle waren
schon nach 24 Stunden heftige periostale Schmerzen verschwun¬
den. Die papulösen Syphilide heilten erst 12 bis 15 Tage nach
der Injektion. Ein interessanter Fall von phagedänischem, hartem
Schanker mit ulzeröser maligner Syphilis, heilte mit ungewöhn¬
licher Schnelligkeit, so daß acht Tage nach der Einspritzung
der harte Schanker und die Geschwüre ganz vernarbt waren.
In 35 Fällen handelte es sich um schon vorher behandelte
Patienten mit sekundärer Lues. Auch hier schwanden die Oön-
dylomata lata, die Syphilide der Haut, die schmerzhaften Perio¬
stitiden in sehr kurzer Zeit. In drei Fällen schwand sofort der
Kopfschmerz, in einem eine hartnäckige linkseitige Trigeminus¬
neuralgie. Sechs Fälle von Plaques der Mundschleimhaut, welche
durch Kalomelinjektionen unberührt blieben, heilten glänzend
in acht bis zehn Tagen. Hartnäckig waren vier Fälle von Psoriasis
palmaris. Interessant war ein Fall von Arthralgie des linken
Fußgelenks bei einer 26jährigen Frau, welche drei Jahre vorher
luetisch infiziert worden war und die Quecksilbereinspritzungen
schlecht vertrug, wegen heftiger Stomatitis. Sie lag bereits vier
Wochen- im Bette. Verf. injizierte 0-45 Salvarsan; vier Tage
später Heilung. Bei einem Patienten mit Laryngitis luetica ver¬
sagte die Behandlung. Wahre Wunder berichtet Verf. bei der
tertiären Lues, von welcher er neun Fälle behandelte. Alle heilten
in drei bis sechs Tagen. In vier Fällen von parasyphilitischen
Affektionen konnte keine Besserung erzielt werden. 16mäl wurde
Salvarsan bei Luetikern angewendet, die zwar keine Phäno¬
mene, jedoch positive Was s ermann sehe Reaktion zeigten;
darunter bei zwei schwangeren Frauen. Einen dieser Fälle be¬
spricht Verf. wegen des besonderen klinischen Interesses ge¬
nauer. Ein 38jäliriger Mann hatte vor fünf Jahren Syphilis;
Behandlung drei Jahre lang. Seit 2V2 Jahren keinen Tag fieber-
los. Er wurde von verschiedenen Seiten wegen Lungenspitzen¬
katarrh, Herzfehler, Rheumatismus behandelt. Wassermann po¬
sitiv. Am 21. August 11)10 0-5 Salvarsan. Sieben Tage nach
» der Injektion Arsenexanthem, Temperatur 39-6. Am fünften Tage
sank die Temperatur auf 36-8 und stieg nie mehr an. Der
Patient nahm um 8 kg zu. Wassermann am 26. Oktober noch
positiv. Verf. hat bis jetzt drei Rezidiven beobachtet. Die In¬
jektion wurde, abgesehen von den lokalen Beschwerden, immer
sehr gut vertragen. Drei Patienten mit Herzaffektion und ein
Tuberkulöser hatten keine üblen Nachwirkungen. Verf. hat auch
eine Frau, die im achteln Monat gravid war und acht Früh¬
geburten gehabt hatte, mit 0-45 Salvarsan, behandelt, trotzdem
schon Augenläsionen bestanden. Nach zehn Wochen Besserung
der Augenstörungen. Die gebrauchten Dosen waren: 3-15, 0-4,
0-5, 0-6, 0-7, 0-8. In der größten Mehrzahl der Fälle bildeten
sich Infiltrate; in drei Fällen abszedierten sie. Verf. bat den
Eindruck, daß das Präparat das mächtigste Antisyphilitikum ist,
das derzeit existiert. - (Münchener mediz. Wochenschrift 1910,
Nr. 52.) q.
*
88. Die Bahnen des “ Ges i cli ts au sdr u ck es. Von
Prof. Dr. Kirchhof f, Direktor der Provinzial-Irrenanstalt bei
Schleswig. Verf. reproduziert in der vorliegenden Abhandlung
einen Abschnitt aus einer größeren Arbeit über den Gesichtsaus¬
druck beim Gesunden und Kranken und über seine Bahnen. Er
vertritt die Berechtigung, einheitliche Bahnen für den Gesichts¬
ausdruck aus Gehirn, Rückenmark und Nervensystem auszulösen,
wie dies tier Fall ist für eine einheitliche Sprachbahn. Selbst¬
verständlich konnte diese Studie nicht dazu führen, mit Sicher¬
heit eine mimische Bahn als etwas besonders Abgegrenztes fest¬
zustellen. Die hypothetische mimische Bahn wird in der Be¬
trachtung des Verfassers in die zwei Strecken einer zentri¬
petalem und einer zentrifugalen Leitung zerlegt, welche durch die
Bulbuskerne, Stammganglien und Hirnrinde hin und zurück ver¬
laufen. Als typischer Vertreter der zentripetalen Beeinflussungen
des Gesichtsausdruckes wird die Trigeminusbahn, angeführt, wäh¬
rend als typische zentrifugale Leitungen die Fazialisbahnen an¬
gesehen werden, obwohl hier auch andere Leitungen, wie vor allem
die Okulomotoriusbahn den Gesichtsausdruck vermitteln. Die Be¬
ziehungen des letzteren zu anderen Augenmuskelnerven wurden
beiseite gelassen, um die ganze Sache nicht allzu sehr zu ver¬
wickeln. Verf. prüft dann noch seine Anschauungen an der
Hand der pathologischen Anatomie und unterzieht schließlich,
von der Rinde ausgehend, die zentrifugalen Bahnen einer Betrach¬
tung. Vieles in der sehr interessanten Arbeit ist und bleibt
Hypothese, manches ist willkürlich ausgelegt, manches Neben¬
gebiet auch wohl absichtlich vernachlässigt. Dennoch muß cin-
geräumt werden, daß in der Arbeit einige neue Gesichtspunkte
zur Erkenntnis des Gesichtsausdruckes enthalten sind, die viel¬
leicht zu weiteren Studien anregen. — (Archiv für Psychiatrie
und Nervenkrankheiten, Bd. 47, H. 3.) S.
*
89. Eine einfache Methode zur Herstellung von
Emulsionen des D i oxy d i am i d 0 ars enob en z ols. (Ehr¬
lich). Von Dr. S. Jessner in Königsberg i. Pr. In einem
kleinen sterilen Mörser wird die betreffende Hatamenge fein
verrieben, dann die vierfache Menge einer sterilen, gesättigten
(zirka 8%igen) Lösung von Natron bicarbonicum übergossen.
Die Mischung braust unter Kohlensäureentwicklung auf und wird
bei fernerem sorgsamen Reiben zu einer feinsten Emulsion, die
neutral oder spurweise alkalisch ist. Sodann füllt man noch
sterile physiologische Kochsalzlösung in der fünffachen Menge
des Heilmittels auf und hat eine fertige 10°/oige Emulsion. Bevor
man sie in die Spritze aufzieht, verreibt man die Mischung noch
einmal. Die Formel würde demnach zu lauten haben: Arseno-
benzol (Ehrlich) 1-0, tere exactissime cum Solut. Natr. bicarb,
satur. steril. 4-0, ut fiat emulsio; dein adde: Solut, Natr. chlorat.
physiol, steril. 5-0. Wenn man diese Formel als Magistralformel
dem Apotheker in die Hand gibt, dann verschreibt der Arzt ein¬
fach : Rp. Emulsio Arsenobenzol (Ehrlich) form, magistr. 0-6: 6-0,
recenter para; iS. Zur Injektion. Der Verf. rät dringlich, von
dieser außerordentlich einfachen Herstellungsweise nicht abzu¬
weichen, nicht etwa Natr. biearb. -Lösung und Kochsalzlösung
gleichzeitig zuzusetzen, die Emulsion wird dann nicht so fein.
Die Schmerzhaftigkeit während und nach der Injektion (auch
am vierten bis fünften Tage) ist keine große, zumal wenn der
Pat. im Bette bleibt. Ausnahmsweise treten stärkere Schmerzen,
derbere Infiltrationen usw. auf. Die Wirkung ist die bekannt gute.
Ehrlich sprach die Befürchtung aus, diese Emulsion könnte
toxischer wirken, da sie eine ganz kleine Spur weniger hell¬
gelb ist als die nach Wechselmann verarbeitete. Aber diese
Befürchtung hat sich bei der Anwendung am Krankenbett als
grundlos erwiesen, ln einem mit Watte verschlossenen Reagenz¬
glas hält sich diese Emulsion viele Tage lang tadellos. — (Me¬
dizinische Klinik 1910, Nr. 49.) E. F.
*
90. Festrede, 'gehalten am 19. Oktober 1910 zur
1.00jährigen Jubiläumsfeier der Gesellschaft der
Aerzte des Kantons Zürich. Vom Präsidenten der Gesell¬
schaft Dr. C. Hauser in Stäfa. Ein Gang durch die Geschichte
der von Dr. Joh. Heinrich Rahn am 7. Mai 1810 begründeten
Gesellschaft der Aerzte des Kantons Zürich zeigt bemerkenswerter¬
weise, daß nicht diejenigen Perioden der Gesellschaft die höchste
Blüte gebracht haben, wo sie ausschließlich mit rein medizini¬
schen Fragen sich beschäftigte, sondern jene, wo sie sich, von
Einseitigkeit fernhaltend, mit der Wissenschaft und den Anforde¬
rungen der Zeit befaßte. Die Geschichte der Gesellschaft fordert
die Züricher Aerzte geradezu auf, auch heute und fernerhin
alle Fragen, die den Aerztestand angehen, in den Kreis ihrer
Verhandlungen zu ziehen. Und so gibt denn Hauser der
Zürcher Aerztegesellschaft zum Antritt des zweiten Jahrhunderts
folgende Wünsche auf den Lebensweg: Sie möge stets die Wissen¬
schaft bochhalten und stets ihre Aufgabe darin erblicken, ihren
Mitgliedern alles das zu bieten, was sie befähigen kann, auf der
Höhe ihrer Aufgabe- zu bleiben. Sie möge die Kollegialität unter
ihren- Mitgliedern fördern ; der Arzt soll in seinem Kollegen
nicht den Konkurrenten, sondern den Mitarbeiter in seinem
schönen Berufe erblicken. Sie möge die Interessen des A erz te¬
stend es überall wahren, wo immer es nötig ist und für ihre
Mitglieder einen Halt bilden in den äußeren Schwierigkeiten des
Berufes. Vor allem aber möge sie die Interessen der leidenden
Menschheit bochhalten ; jedes einzelne Mitglied möge seine ganze
Kraft daran setzen, für die Verhütung der Krankheiten, die Hilfe¬
leistung bei Kranken und Unglücklichen, Hebung der Volks¬
wohlfahrt, Aufklärung und Belehrung des Volkes zu wirken.
Nr. 4
189
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Diese schönen, aber schweren Aufgaben zu lösen durch ein
treues Zusammenarbeiten des ganzen Standes, dies zu ermög¬
lichen, ist der Zweck der Gesellschaft der Aerzte des Kantons
Zürich. Sollten nicht auch andere Gesellschaften von ’ Aerzten
den gleichen Zweck verfolgen? — (Korrespondenzblatt für
Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg., Nr. 30.) K. S.
*
91. G eber eine Flexnerdy se-nterie-epidiem ie in
einem Spitale, bei welcher die Uebertragung der
Keime von der Spitalsküche mitt eis der E ßgesch ir in¬
ert' o lg te. Von Dr. phil. et mod. Bruno Bussow, Assistent
am hygienischen Institut in Graz. Zwei kleine Geschwister im
Alter von vier und sieben Jahren wurden in die Isolierabteilung
eines Grazer Krankenhauses wegen Dysenterieverdacht einge¬
liefert. Wegen der Jugend der Patienten wurde die Mutter mit
aufgenommen. Da nach den klinischem Befunden berechtigter
Verdacht auf Dysenterie vorlag, wurde der Stuhl des erster
krankten Kindes ins hygienische Institut behufs bakteriologi¬
scher Untersuchung eingeschickt. Es wurde das Bacterium dysen-
teriae FJexner isoliert. Dieselben Bazillen wurden auch im
Stuhle des zweiten Kindes nachgewiesen. Nun wurde auch der
Stuhl der Mutter untersucht mit dem interessanten Ergebnis, daß
in demselben enorme Mengen von Flexner sehen Dysenterie¬
bazillen gefunden wurden. Nach 14tägigem Spitalsaul enthalt
wurden die Stühle aller drei Patienten neuerdings untersucht
und da der Befund ein negativer war und auch klinisch keine
Krankheitssymptome mehr bestanden, wurden die Patienten einige
Tage darauf gesund aus der Spitalsbehandlung entlassen. Zwölf
Tage später erkrankten plötzlich 2 Patienten der Männerabteilung
und eine Frau unter den ausgesprochensten Symptomen der Dysen¬
terie. Es war dies um so auffallender, als sämtliche Patienten
sich bereits seit mehreren Wochen wegen anderer Leiden im
Spitale befanden und sowohl untereinander als auch mit der
Außenwelt nicht verkehrten. In allen Stühlen wurde Bacterium
dysenteriae Flexner nachgewiesen. Verf. bemerkt noch, daß- die
Männer- und Frauenabteilungen vollkommen voneinander getrennt
sind, ihr eigenes Wartepersonale besitzen, so daß eine direkte
Kontaktinfektion mit Sicherheit ausgeschlossen werden konnte.
Durch die eingeleite-ten Nachforschungen stellte sich heraus, daß
eine Spitalköchin vor 14 Tagen an heftigen Diarrhöen gelitten,
jetzt sich aber wieder wohl fühle. Diese Köchin und die Wär¬
terin, welche kurz vorher die Dysenteriekranken gepflegt hatte,
wurden isoliert und ihre Stühle zur Untersuchung ins hygieni¬
sche Institut gesandt. Aus dem Stuhle der Spitalsköchin -wurde
das Bacterium dysenteriae Flexner isoliert, der Stuhl der V äl¬
terin lieferte ein negatives Resultat. Die weiteren Nachforschungen
ergaben nun, daß die betreffende Köchin, die sonst nur Mehl¬
speisen für die zweite Klasse bereitete, zu jener Zeit ausnahms¬
weise für die später an Dysenterie erkrankten Patienten, welchen
eine leichtere Kost verordnet worden war, gekocht hatte-, deren
Eügeschirre in die Hand nehmen und füllen mußte. Ueberdies
war sie auch mit dem Geschirre der Isolierabteilung in Be¬
rührung gestanden. Es kam also hier im unmittelbaren An¬
schlüsse an von außen eirige-brachte Dysenteriefälle zu einer
Hausepidemie, deren einzige erkennbare Kontaktmöglichkeit durch
die Eßgeschirre in die- Küche, und von hier aus wieder durch
Eßgeschirre in die einzelnen sonst vollkommen voneinander ge¬
trennten Abteilungen führt. Diese Kette der Kontakte- wird ge¬
schlossen durch jene Köchin, welche mit dem Eß-geschirr der
Isoli-erabteilung in Berührung kam, sich wahrscheinlich an diesem
infizierte und ebenfalls auf dem Wege der Eßgeschirre- die In¬
fektion weiterverbreitete. Für die Richtigkeit dieser Annahme
spricht, daß zu jener Zeit in Graz keine Dysenterieepidelmie
herrschte-, demnach -eine andere Infektionsquelle für die Erkran¬
kung der Köchin kaum anzunehmen ist, ferner daß mit der
Isolierung dieser erkrankten Köchin auch die Hausepidemie im
Spitale mit einem Schlage erloschen war, und keine neuen Fälle
im Verlaufe mehrerer Monate zur Beobachtung gekommen sind.
Aus diesem Grunde erscheint dem Verf. die Forderung nach
einer eigenen, nur für das Isolierhaus dienenden Küche für
alle größeren Spitäler eine nur zu berechtigte zu sein. (Mün¬
chener mediz. Wochenschrift 1910, Nr. 52.) ß.
*
92. Neue klinische und anatom o-kli irische Stu¬
dien über Hirngeschwülste und Abszesse. Von Pro¬
fessor G. Mingäzzini in Rom. Verf. hatte in den letzten vier
Jahren Gelegenheit, einige zwanzig Fälle von Hirntumoren und
-abszessen zu studieren und bis auf einen Fall bis zum Tode
zu verfolgen. Diese Fälle finden nun ausführliche Beschreibung
und nach jeder Krankengeschichte- sind epikritische Erwägungen
angeschloss-en. Der Zweck der Arbeit ist, zu zeigen, wie schwierig
die Frage der genauen Lokalisierung einer Neubildung im Gehirne
ist; und doch ist diese Frage von solcher Wichtigkeit! ln mehreren
der Fälle Mingazzinis hatte der chirurgische Eingriff ein nega¬
tives Resultat, weil die Trepanationsstelle mit dem Sitze der
Geschwulst nicht vollkommen korrespondierte. Unter den 49 be¬
schriebenen Tumoren finden sich acht Schläfenlappentumoren,
was -den Verfasser in die Lage setzte, der Symptomatologie der
Schläfenlappentumoren näher zu treten. — - (Archiv für Psy¬
chiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 47, H. 3.) S.
*
93. Ueber die Wirkung intravaskulärer Injek¬
tionen frischen, defibrinierten Blutes und ihre Be¬
ziehungen zur Frage- der Transfusion. Von Dr. J. Mol¬
dovan, k. u. k. Regimentsarzt. Mehrere Tierversuche, welche
der Verfasser im Bakteriologischen Laboratorium des k. u. k.
Militärsanitätskomitees in Wien (Vorstand: Privatdozent Regi¬
mentsarzt Dr. R. Doerr) anstellte, führten zu folgenden Ergeb¬
nissen : Die intravenöse Injektion frischen, defibrinierten Blutes
vermag bei Tieren derselben oder einer anderen Art sofortigen
Tod unter anaphylaxieähnlichen Erscheinungen (hochgradigste
Dyspnoe, heftige Krämpfe usw.) hervorzurufen. Die- Todesursache
ist eine intrakardiale, i-esp. intravaskuläre Blutgerinnung. Vor¬
behandlung mit Hirudin wirkt antagonistisch. Dieselbe Wirkung
wie frisches defibriniertes Blut haben unter bestimmten Ver¬
hältnissen frisches Serum oder serumfreie, frische Erythrozyten.
Die gerinnungserregende Wirkung ist labil und verschwindet nach
etwa einer halben Stunde. Die Transfusion defibrinierten, homo¬
logen Blutes ist, zu kurze Zeit nach der Blutentnahme ausgeführt,
als ein gefährlicher Eingriff zu bezeichnen. — (Deutsche medi¬
zinische Wochenschrift 1910, Nr. 52.) E. F.
*
94. (Aus dem Waisenhaus und Kinderasyl der Stadt Berlin.
Oberarzt: Prof. Dr. Finkeis t-ein.) Zur Frage des Koch-
saLzf ieb-ers beim Säugling. Von Dr. H. Nothmann, Mün¬
chen. Die zuerst von F inkeis tein und L. F. Meyer gemachte
Angabe, daß orale Zufuhr von Kochsalz beim Säugling Fieber
hervorruft, ist seither von allen Autoren bestätigt worden, die sich
mit der notwendigen Gründlichkeit und Objektivität mit dem
Gegenstände befaßt haben, wie Schloß, Rietschel, Koppe,
Schloßmann u. a. Meinungsverschiedenheiten bestehen nur be¬
treffs der Häufigkeit und Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinung.
Offenbar sind in diesen Meinungsverschiedenheiten Unterschiede
in der Methodik und des Materiales schultragend. Nothmann
unternahm es infolgedessen abermals, Studien darüber anzustellen,
unter welchen Bedingungen das Salzfieber eigentlich auftritt.
Hiebei fand er, da,ß die- Kochsalzreaktion an seinem Unter¬
suchungsmaterial bei -einer Gabe von 3 g auf 100 g Wasser sich
nicht auf die ersten drei Lebensmonate beschränkt, sondern dar¬
über hinaus vorkommt, bis zum Ende des ersten Lebensjahres
und darüber, allerdings in fallender Häufigkeit. Zu den Sym¬
ptomen der Kochsalzreaktion gehört nicht allein die am meisten
beachtete Temperaturerhöhung (selten Temperaturerniedrigung),
sondern auch eine Aenderung der Darmfunktion und bei tetani-
sehen Kindern auch eine- Beeinflussung des Nervensystems.
Sichergestellt ist der Einfluß- des Alters, des Zustandes des’ Darm¬
kanales und des Nervensystems auf das- Zustandekommen der
Reaktion. Außerdem bedingen sicherlich noch andere unbekannte
individuelle Faktoren die Reaktionsfähigkeit. Die Art dei Li-
nährung, die Schnelligkeit der Resorption sind in ihrer Mitwii-
kung bei der Erzeugung des Salzfiebers nicht aufgeklärt. Jedenfalls
ist die Kochsalzreaktion nicht zu allen Zeiten unveränderlich,
sondern schwankt nach dem Zustande des Kindes zur Zeit dei
Prüfung, dah-er auch die Unterschiede in den Reaktionsstati-
stik-e-n. — (Zeitschrift für Kinderheilkunde 1910, Bd. 1, H. 1.)
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. i
140
9ö. (Aus dev medizinischen Klinik zu Leipzig.) -Beitrag
zur Klinik der durch den Bazillus Friedländer er¬
zeugten Sepsis. Von Fr. Roily. Verl, berichtet über die
in der Leipziger medizinischen Klinik in der letzten Zeit vor¬
gekommenen Fälle von Allgemeininfektion durch den Fried-
Lind ersehen Bazillus. Die meisten bis jetzt veröffentlichten
Lalle gehen von pneumonischen Herden aus. Es sind 18 Fälle.
Sieben in der Literatur beschriebene Fälle von Friedländersepsis
sind kryptogenetischen Ursprungs. Fünf Fälle gingen von Erkran¬
kungen der Leber und Gallenwege aus. Zwei Fälle von Erkran¬
kungen des Urogenitalsystems. Den Fällen von W eichsclbaum
und Brunner ging eine Otitis media voraus. Im lebenden Blute
ist der Friedländerbazillus im ganzen nur in zwölf von den ge¬
nannten Fällen nachgewiesen worden. Bei den übrigen Fällen
hat erst die Sektion den Nachweis erbracht. Von den vier
detailliert mitgeteilten Fällen des Verfassers sind drei zweifel¬
los Fälle von Friedländersepsis, da die Blutuntersuchung während
des Lebens positiv war. Da aber auch im vierten Falle im
Schleim des Uterus und in den erkrankten Lungenpartien. reichlich
Friedländerbazillen nachgewiesen wurden, so nimmt Verf. auch
in diesem Falle eine Allgemeininfektion mit dem Bacterium Fried¬
länder an. Als Ausgangspunkt der Sepsis im ersten Falle ist der
Uterus zu betrachten, indem die Patientin am 26. Februar 1910
einen fieberhaften Abort mit starkem Blutverluste durchmachte',
am 1. März fieberfrei war, sich aber von da ab nicht mehr
wohl fühlte, bis am 23. März Ikterus auftrat, wahrscheinlich
durch Verschleppung der Friedländerbazillen aus dem Uterus
oder den Parametrien. Als Ausgangspunkt der Allgemeininfektion
im zweiten Falle kommt ein Ulkus in der Damm- und Kreuz¬
beingegend in Betracht, in dessen Eiter vorwiegend Friedländer¬
bazillein gefunden wurden. Hervorzuheben ist noch, daß in diesem
Falle auch eine rezente Endokarditis der Mitralklappe durch die
Friedländerbazillein hervorgerufen wurde. Dies ist um so sicherer,
als das Herz hei der Krankenhausaufnahme völlig normal be¬
funden wurde. Da auch im ersten Falle eine Endokarditis mi-
tralis bestand, so nimmt Verf. an, daß der Friedländerbazillus
für sich allein eine Endokarditis mitralis erzeugen kann. Damit
befindet sich Verf. im Gegensätze zu Weltmann. Zu betonen
ist noch, daß die Friedländersepsis im ersten Falle in Heilung
überging, was insofern sehr wichtig ist, als alle bis jetzt in der
Literatur beschriebenen Fälle von sicherer Friedländersepsisi mit
dem Tode geendigt haben. Als Ausgangspunkt der Sepsis im
dritten Falle ist die Otitis media anzusehen, welche zu einer
eitrigen Meningitis und zu einer Allgemeininfektion führte. Im
vierten Falle gelangten die Friedländerhazillen offenbar vom
puerperalen Uterus aus in den Organismus, führten zu para- und
pcrimetritischen Entzündungen und gleichzeitig zu einer Infil¬
tration des rechten Unterlappens der Lunge. Die Unterscheidung
von anderen Sepsisfällen ist selbstredend nur auf bakteriologi¬
schem Wege möglich. Wie bei den anderen septischen Erkran¬
kungen treten auch hier Metastasen in der Leber, in den Nieren
und Hirnhäuten, in Gelenken, im Ohr auf. Auch eine hämor/-
rhagische Form scheint vorzukommen (Etienne, Banti, von
Düngern). Zur Stellung der Diagnose am Krankenbette bleibt
also nichts anderes übrig, als eine größere Menge Blutes1 den
Patienten steril aus einer Körpervene zu entnehmen und dasselbe
zu untersuchen. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 1.)
G.
*
96. (Aus der lrrenabteiluug des Bürgerhospitales Stutt¬
gart. — San. -Rat Dr. Fauser.) Zur Frage des induzierten
Irreseins, nebst einem kasuistischen Beitrag von S. Leibo-
witz, Assistenzarzt. Nach einer historischen Einleitung bringt
Verfasser in seiner Dissertationsschrift einen Fall von induziertem
Irresein, beobachtet au der Irrenabteilung des Stuttgarter Bürger-
hospitales. Verf. kommt zu dem Schlüsse, daß die Uebertragung
eines psychotischen Symptomcnkomplexes von einer Person auf
eine andere nur hei angeborener oder erworbener Prädisposition
des sekundär Erkrankten und unter begünstigenden Bedingungen
(enges Zusammenleben, Seelen harmonie usw.) möglich ist, wobei
zu bemerken ist, daß die Prädisposition durch den Primär'-
erkrankten selbst geschaffen werden kann. Bei echtem, indu¬
ziertem Irresein erfolgt eine Transplantation der Wahnideen, -deren
Korrekturmöglichkeit von dem Intelligenzgrade des sekundär Er¬
krankten und von äußeren Bedingungen (besonders rechtzeitige
Trennung) abhängt. Leidet, der primär Erkrankte an Dementia
praecox paranoides, so werden gewisse Symptome, wie Marii-
riertheit, Stereotypien, höchstens temporär übertragen, häufiger
entsteht beim sekundär Erkrankten das Bild der Paranoia chro¬
nica. — (Archiv für Psychiatrie und Neurologie, ßd. 47, H. 3.)
S,
*
97. (Aus der experimental - biologischen.' Abteilung des
kgl. Patholog. Instituts der Universität Berlin.) Ueber Heilungs¬
versuche bei einem Rattens a r k o m. Von Prof. Doktor
F. Blumenthal. Unter. Hinweis auf eigene und fremde Ver¬
suche, bei welchen durch Impfung von Tieren, resp. von Men¬
schen mit deren eigenen oder gleichartigen Geschwulstmassen
einige Erfolge erzielt wurden, berichtet Verf. über zahlreiche
neuere Versuche, welche er an Ratten mit einem Spindeizellen¬
sarkom von großer Virulenz und Uebertr a gungsfäh i gkei t anstellte.
Ein solcher Tumor geht hei Ratten fast ausnahmslos auf, wächst
in drei bis vier Wochen zur Größe eines Hühner- bis Gänse-
eins heran, perforiert schließlich die Haut, wird nekrotisch, so
daß die Ratten sterben. Er zeigt wenig Neigung zur Metastasen¬
bildung. Da Ratten mit einem hühnerei- bis gänseeigroßen Sarkom
noch wochenlang leben können, schienen sie zu Heilversuchen
geeignet zu sein, zumal spontaner Rückgang bei dieser Größe
der Tumoren nicht beobachtet wurde. Er ging dabei in folgender
Weise vor: Die frisch entnommene Tumormasse wurde mit
einer Schere zerschnitten und dann in einem Mörser mit Leitungs-
wasser, das mit Chloroform gesättigt war, so gut wie es ging,
zerrieben. Es wurden immer nur kleine Mengen Chloroform¬
wasser genommen und mit dem Tumor verrieben, so lange, bis
sie mit Tumormasse gesättigt erschienen, und dann in ein Gefäß
gegossen; im ganzen wurde so der Tumor mit seinem drei-
bis fünffachen Volumen Chloroformwasser zerrieben und schlie߬
lich die Flüssigkeit mit der Tumormasse in ein Glasgefäßi ge¬
bracht, auf je 100 cm3 Flüssigkeit noch zehn Tropfen Chloro¬
form zugesetzt, die Flasche mit einem Glasstöpsel verstopft und
mit der Hand kräftig geschüttelt; dann wurde das ganze in
einen Brutschrank von. 39° C gestellt, täglich ein- bis zweimal
kräftig geschüttelt und so drei Tage lang dort stehen gelassen.
Durch die auf diese Weise im Brutschrank vor sich gehende
Autolyse des Tumors wird die Ue bertragungsfähigkei t
mit absoluter Sicherheit aufgehoben. Das Autolysat
(die von dem Rückstand abgegossene Flüssigkeit) ist trüb und
enthält Flocken, welche miteingespritzt werden. Aus seinen 14,
kurz mitgeteilten Versuchen geht hervor: 1. Das dreitägige Auto¬
lysat eines Spindelzellemsarköms der Ratte besitzt nicht die Fähig¬
keit, Tumoren zu erzeugen. 2. Dieses Autolysat ist imstande,
durch eine einzige Einspritzung gleichartige Tumoren von der
Größe eines Tauben- bis Hühnereies zum Rückgang zu bringen.
8 bis 14 Tage nach der Einspritzung ist der Tumor auf ein
Drittel seines früheren Volumens oder noch stärker zurück¬
gegangen. Der weitere Rückgang erfolgt dann meistens langsamer.
Harte Tumoren scheinen widerstandsfähiger als weiche zu sein.
(In einzelnen Fällen schwand der Tumor ganz, in anderen Fällen
war aber keine Veränderung desselben zu konstatieren.) 3. Ein
erneutes Wachstum eines einmal zurückgegangenen Tumors ist
bisher nicht beobachtet worden. 4. Die Autolysata verloren
bereits nach achttägigem Stehen auf Eis an Wirksamkeit, nach
drei Wochen war ihre Wirksamkeit völlig erloschen. Die Unter¬
suchungen werden fortgesetzt, über die histologischen Befunde
soll später berichtet werden. Da wiederholte Einspritzungen
auch leicht anaphylaktisch© Erscheinungen mit Eingehen der
Versuchstiere erzeugen können, so legt Verf. großen Wert dar¬
auf, daß er schon durch eine einzige Einspritzung autolysierter
Tumoren erhebliche Rückgänge der Geschwülste erzeugen konnte.
Er ist schließlich bemüht, die Methodik noch zu verbessern.
— (Mediz. Klinik 1910, Nr. 50.) E. F.
*
98. Der Blutdruck im Kindesalter. Von Doktor
Walter Kaupe, Spezialarzt für Kinderkrankheiten in Bonn. Die
Bestimmung des Blutdruckes im Kindesalter ist ein praktisches
Hilfsmiltel (sowohl in der Sprechstunde als im Krankenhaus)
Kr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
zur Differentialdiagnose der Nephritis und der orthotischen Albu¬
minurie, da nach Lang st ein in keinem Falle or Lliostatischer
Albuminurie der Blutdruck erhöht ist. Welcher Blutdruck ist
aber iin Kindesalter als erhöht und anderseits als normal an¬
zusehen? Diesbezüglich stellte nun Kaupe an 144 Kindern
über drei Jahren Untersuchungen an. Von den Untersuchungen
jüngerer Kinder mußte er absehen, da wegen Unruhe derselben
die Beobachtungen nicht exakt angestellt werden konnten. Die
Kinder waren gesund, jedenfalls litten sie nicht an den Blut¬
druck verändernden' Krankheiten. Zunächst zeigte sich bei den
Bestimmungen des Blutdruckes, daß bei aufgeregten Kindern
der erhaltene Wert den bei anderen Kindern üblichen oft ganz
erheblich übertrifft, was bei der Diagnose natürlich in Rechnung
zu setzen ist. Ja, einzelne Kinder mußten förmlich erst an die
Untersuchung gewöhnt werden, da der Blutdruck zunächst um
20 bis 30 mm höher gefunden wurde als nachher, wenn die
Aufregung sich gelegt hatte. Im großen und ganzen schwankten
die Durchschnittswerte zwischen 80 und 100 mm, wobei zu be¬
merken ist, daß der Blutdruck nach dein siebenten bis achten
Jahre allmählich zu steigen scheint. Merkwürdigerweise zeigen
aber zwölfjährige Mädchen wieder einen auffallend niedrigen
Blutdruck. Sonst konnte eine nennenswerte Differenz zwischen
beiden Geschlechtern nicht gefunden werden. Die Blutdruck¬
messungen wurden mit dem Riva- Rocci- Apparat nach der
Methode von Strasburger vorgenommen. — (Monatsschrift
für Kinderheilkunde 1910, Bd. 9, H. 5 und 6.) K. S.
*
99. (Aus der Pflegeanstalt Rheinau. — Direktor: Dr. Ris.)
Zur Kasuistik der juvenilen Form der amaurotischen
Idiotie, mit h i st op at.h ol og i s ehern Befund. Von Doktor
J. Rogalski, Assistenzarzt. Ein in keinerlei Weise belastetes
Mädchen bleibt vom siebenten Lebensjahre ab ohne sichtlichen
Grand geistig zurück. Ungefähr vor dem zehnten Lebensjahre
beginnt, die Sehschärfe abzunehmen, es wird Atrophia nervi
optici konstatiert und eine eigentümliche Makulaaffektion mit Pig¬
menteinwanderung in die Retina. Gegen das 13. Jahr Störung an
Sprache und Gang, ein Jahr später epileptische Krämpfe, dann
Nystagmus. Allmähliche Zunahme der angeführten Symptome, bis
die Kranke blind, blöde, spastisch gelähmt, stumm geworden
ist. Allmählich zunehmender Marasmus, Exitus im Alter von
26 Jahren. Makroskopisch läßt sich aus dem Zustande des Ge¬
hirns das klinische Bild nicht erklären. Die mikroskopische
Untersuchung hingegen läßt einen elektiven Schwellungsprozeß
der Ganglienzellen der Rinde aller Gehirnlappen und. aller
Schichten erkennen, wodurch festgestellt ist, im Zusammenhang
mit den klinischen Symptomen und Verlauf der Krankheit, daß
bei dem Falle -diei juvenile Form der amaurotischen Idiotie vor¬
lag. — (Archiv für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 47, 14. 3.)
S.
*
100. Die operative und spezifische Behandlung
der Nieren- und Blasentuberkulose. Von Prof. Doktor
Hermann Kümmel in Ilamburg-Eppendorf. Der Verf. bespricht
eingehend die Pathologie, Diagnose und den Verlauf dieser Er¬
krankungen und bekennt sich in therapeutischer Hinsicht als
ein Anhänger der aktiven chirurgischen Therapie bei der Nieren¬
tuberkulose. An der ersten chirurgischen Abteilung des Allge¬
meinen Krankenhauses Hamburg-Eppendorf wurden 125 Opera¬
tionen wegen tuberkulöser Erkrankung der Nieren ausgeführt,
davon wegen Erkrankung beider Nieren 7 Nephrotomien, bei
einer Patientin eine doppelseitige Nephrotomie. Nephrektomien
wurden bei Erkrankung der einen Seite 118 vorgenommen und
zwar vor Einführung der neuen Untersuchungsmethoden 12 mit
3 Todesfällen (Peritonitis, Embolie, angeborener Defekt einer
Niere), nach Anwendung des Ureterenkatheterismus und der
Funktionsprüfungen 106 mit 4 operativen Todesfällen (2 Pneu¬
monie, Sepsis, Myokarditis, Miliartuberkulose). Innerhalb der
ersten 16 Monate starben 18, von den überlebenden 84 sind in
den folgenden zwei bis vier Jahren 9 gestorben, nach 10 und
13 Jahren je einer, nach unbekannter Zeit 3, Nachrichten fehlen
von 4. Die übrigen leben und erfreuen sich eines guten,
resp. sehr guten Befundes. Bei 3 Patientinnen trat Gravi¬
dität und Partus ein, 3 sind noch in Behandlung. Erste Nephrek¬
tomie wegen Nierentuberkulose 1888, Patientin lebte vollkommen
gesund noch vor wenigen Jahren, spätere Nachrichten fehlen.
Verf. bespricht sodann unter Zugrundelegung eigener und fremder
Beobachtungen die Frage, ob die spontane Heilung der Nieren-
tuberkulose möglich und einwandfrei beobachtet sei und zeigt,
daß eine solche Ausheilung stets mit einer schv. eren Zerstörung
des ganzen Organs, welche meint dem Verla: :i<- desselben gleich¬
kam, einherging. Es entstanden pyonephritische Säcke, in denen
wohl bei der Mischinfektion die Tuberkelbazillen durch die am
deren Bakterien vernichtet wurden, es blieb aber jedenfalls in
allen Fällen ein krankes Organ, welches mehrfach die Blase
infizierte, den Organismus als solchen schädigte und erst nach
der Entfernung die Patienten definitiv gesunden ließ. Diese Fälle
lehren uns auch, daß ein tuberkelfreier Urin nicht immer auf
eine Gesundheit beider Nieren schließen läßt, es kann
auch der eine Ureter verschlossen und hinter dieser
Striktur eine schwer veränderte tuberkulöse oder jedenfalls
pyonephritische Niere verborgen sein. Die subjektiv und objektiv
zu konstatierende Besserung kann recht trügerisch sein, mithin
die Spontanheilung, falls eine solche eintritt, langsam und un¬
vollkommen vor sich gehen und oft mit der gleichzeitigen In¬
fektion der Blase verbunden sein. Anderseits wird durch eine
rechtzeitige Beseitigung des erkrankten Organs eine raschere,
Heilung herbeigeführt als durch das unsichere Warten auf eine-
scheinbare und trügerische Spontanheilung. Verf. bespricht sodann
die medizinische Behandlung der Nierent.uberkulose, weist auf
die ungünstige Statistik Dr. Blums aus der v. Pritschen AU
teilung hin und berichtet eingehend über die Tuberkulintherapie
der Nrerentuberkulose. Bei- Kindern scheinen die Resultate (L eod-
h am -Green, Karo) recht gute zu sein, doch dürfe man nicht
vergessen, daß die Nierentuberkulose im Kindesalter im allge¬
meinen relativ leicht verlaufe und selten schwere Erscheinungen
mache. Es gibt schon eine Menge Fälle, bei welchen Tuberkulin
genügend lange sachgemäß injiziert wurde und die später nephrek-
tomiert und anatomisch genau untersucht werden konnten
(Kr a einer, Wildholz). Verf. selbst hat derartige Nieren
viermal untersucht und zeigt, daß in drei Fällen von einer
Heilung keine Rede war. Ueberhaupt ist der objektive wissen¬
schaftliche Nachweis einer wirklichen Heilung der Nierentuber¬
kulose durch die Tuberkulinbehandlung in keinem Falle erbracht.
Den vorübergehenden Besserungen, fast stets zu Beginn der Be¬
handlung, folgten meist wesentliche Verschlimmerungen, bei der
späteren Nephrektomie sah man keine Anzeichen einer beginnen¬
den oder der an einzelnen Stellen schon abgeschlossenen Hei¬
lung, stets handelte es sich um schwerkranke, tuberkulöse Nieren.
Manche, später, aber nicht rechtzeitig operierte Kranke gingen
allmählich unter großen Beschwerden zugrunde. Tritt also nicht
rasch ein deutlich wahrnehmbarer Fortschritt der anfänglichen
trügerischen Besserung nach Tuberkulininjektionen ein, so ent¬
ferne man das kranke Organ; je früher es geschieht, um so gün¬
stiger sind die operativen Resultate, um so zahlreicher auch die
definitiven Dauerheilungen. — (Die Therapie der Gegenwart, De¬
zember 1910.) E. F.
*
101. (Aus der Kinderpöliklinik des Barmherzigenspitales
in Budapest.) Ein Beitrag znr Theorie des Salzfiebers.
Von Priv.-Doz. Dr. P. Heim und Dr. K. John. Nach zahl¬
reichen Untersuchungen ist zurzeit unwiderleglich dargetan, daß
Natriumsalze in ihrer enteralen oder parenteralen Anwendung
pyrogen wirken können. Der pyrogene Effekt ist allerdings ver¬
schieden, je nachdem die Salze dem Organismus oral oder sub¬
kutan zugeführt werden, da im ersteren Falle bei normalen
jungen Säuglingen meist 3 g Chlornatrium in 100 Teilen Wasser
zur Erzeugung von Fieber benötigt werden, während eine deut¬
liche Fieberreaktion schon bei subkutaner Einverleibung von
20cm3 einer l%igen Lösung erfolgen kann. Heim und John
versuchten experimentell das Wesen und die Ursache des Salz¬
fiebers zu klären. Sie fanden, daß das Salzfieber wahrschein¬
lich als eine Wärmestauung aufzufassen ist, welche durch eine
vorübergehende Insuffizienz der Hautoberflächen- Wasserverdam-
pfung bedingt ist. Bestätigung findet diese Annahme in den
Versuchen von Schloß. Gleichzeitig oral eingeführtes Wasser
wirkt zweifellos wieder temperaturerniedrigend. Wenn aber dem
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
14a»
Körper nicht genügende Mengen exogenen Wassers zur Ver¬
fügung stehen und er dazu gezwungen wird, sein eigenes Oxy¬
dationswasser zurückzubehalten und damit eine Herabsetzung
der Perspiratio zustandekommt, so bewirkt der hydropigene Ein¬
fluß des Natriums dann, auch indirekt eine Wärmestauung. Dem
Kochsalz antagonistisch wirkt Ca CE, welches eine Zunahme der
Perspiratio, Abnahme des Körpergewichtes und Hypothermie zur
folge hat. Vergleichsweise sei daran erinnert, daß während
des Fiebers bei der kruppösen Pneumonie im Harne sehr wenig
Kochsalz ausgeschieden wird. Als Vorbote der Krisis erscheint
aber- das Kochsalz wieder im Urin und bald darauf tritt unter
Schweißausbruch Entfieberung ein. — (Monatsschrift für Kinder¬
heilkunde 1910, Bd. 9, Nr. 5 und 6.) K. S.
*
102. Nervenstörungen und Salvarsan beh and lung.
\on Prof. Paul Ehrlich. Die Frage nach den neurotoxischen
Eigenschaften des Mittels steht im Vordergründe des Interesses.
Verf. stellt fest, daß im Falle Fingers, in welchem ein vorher
gesundes Auge nach einer Injektion von Salvarsan von beginnender
Sehnervenatrophie befallen wurde (der einzige Fall unter 25.000
bis 30.000 bisher behandelten), der Kranke früher Arsenkuren
durchmachte und es ist mehr als wahrscheinlich, daß diese eine
Ueberempfindlichkeit des Auges hervorgerufen haben. Die an der
Klinik Ur bants ch its ch nach Behandlung mit „606“ beob¬
achteten Fälle von plötzlich aufgetretenen transitorischen Störun¬
gen des Nervus vestibularis sind nur als Analogon der Herx-
heim er sehen Reaktion anzusehen, es handelt sich also nicht
um eine toxische Schädigung der Nerven (Dr. Beck in der Medi¬
zinischen Klinik 1910, Nr. 50). Bei den früher von Wechsol-
mann und Buschke und neuerdings besonders von Finger
und Rille beschriebenen Erkrankungen des Nervensystems nach
Injektion von „606“ (Akustikus und Fazialis, seltener die Retina)
zeigtees sich, daß im allgemeinen — mit Ausnahme der Fing er¬
sehen Fälle die Nachbehandlung mit Quecksilber Heilung her¬
beigeführt hat. Da die Heilung solcher Fälle sogar mit wieder¬
holter Injektion von Salvarsan erzielt wurde, was unmöglich wäre,
wenn es sich um eine durch das Mittel hervorgerufene toxische
Einwirkung handeln würde, da ferner in vielen Fällen von spon¬
taner syphilitischer Akustikuserkrankung „606“ in frischen Fällen
sehr schnelle Heilerfolge auslöste, da endlich dieselbe Erscheinung
bei früher Syphilis nach Anwendung von Quecksilberpräparaten
vorgekommen ist (Benario hat in einem kleinen Teil der ein¬
geschickten Krankengeschichten allein acht derartige Fälle nach
Quecksilberbehandlung eruiert), so handelt es sich gewiß nicht
um eine neurotoxische Wirkung des Mittels. Verf. führt dies weiter
aus und schließt mit folgenden Worten: Die beschriebenen, meist
in Knochenkanälen eingeschlossenen Himnerven betreffenden Stö¬
rungen sind nicht toxischer Natur, sondern syphilitische
Manifestationen. Sie rühren von vereinzelten, bei der Steri¬
lisation der Hauptmasse übrig gebliebenen Spirochäten her und
kommen auch nach Quecksilberbehandlung vor. Die auffallenden
klinischen Symptome verdanken sie nicht ihrer Ausdehnung, son¬
dern ihrem anatomischen Sitze. Ihrem geringen Umfange, be¬
ziehungsweise Spirochätengehalt entsprechend, veranlassen sie
keine V assermann-Reaktion und sind gewöhnlich durch erneute
spezifische Behandlung prompt zu beseitigen. Es handelt sich
also um keine konstitutionelle Rezidive, sondern um letzte Ueber-
bleibsel aus der vorhergegangenen Sterilisation. — (Berliner
klinische Wochenschrift 1910, Nr. 51.) E. F.
*
103. Ueber ein Abführ- und die Darmperistaltik
regulierendes Mittel. Von Dr. Szereszewski, Warschau.
Die gebräuchlichsten Abführmittel, deren es im Ueberfluß gibt,
haben vielfach Uebelstände oder unangenehme Nebenwirkungen,
wie schmerzhafte Reizung des Darmes, Koliken, zu heftige Wir¬
kung mit Tenesmus, nachfolgende Obstipation (Rizinusöl), Ge¬
wöhnung mit Nötigung zu Steigerung der Dosis, unangenehmer
Geschmack usw. Nach den Erfahrungen Sieresze wslkis ist
das Aperitol (= Phenolphthalein + Isovaleriansäure, Abführmittel
~b Sedativum) so gut wie frei von irgendwelchen Nebenwirkungen.
Gewöhnlich acht bis zehn Stunden nach der Einnahme tritt
weicher Stuhl ohne Schmerzen und Drängen ein. Die mittlere
Dosis beträgt bei Kindern ein bis zwei Bonbons, bei Erwachsenen
zwei bis vier Tabletten zu 0-2 und hat gewöhnlich nur ein-
Itis zweimaligen Stuhlgang zur Folge. Eine Gewöhnung an das
Mittel, welche etwa zur permanenten Steigerung der Dosis hätte
nötigen können, wurde auch bei chronischer Obstipation nicht
beobachtet. Die Aperitolbönbons werden von den Kindern sehr
gerne eingenommen. Geradezu unersetzbar erwies sich das Mittel
dem Verfasser bei der Behandlung von Hämorrhoiden, Fissura
ani, chronischer Kolitis und den Tenesmen bei Dysenterie.
(Fortschritte der Medizin 1910. 28. Ja.hrg., Nr. 43.) K. S.
*
Aus französischen Zeitschriften.
104. Ueber Herpes zoster mit multipler Lokalisa¬
tion und Immunisierung bei Herpes zoster. Von
H. Gougerot und H. Salin. Der Herpes zoster ist eine durch
Lokalisation innerhalb eines bestimmten Nervengebietes gekenn¬
zeichnete Infektionskrankheit, doch sprechen die zur Zeit des
Prodromalstadiums und der Eruption bestehenden Allgemein¬
symptome für eine Allgemeininfektion. Multiple Lokalisation
des Herpes zoste# ist selten, die generalisierte Form der Er¬
krankung kommt nur ganz ausnahmsweise vor. Gelegentlich findet
inan neben einer typischen Eruption Gruppen kleiner Bläschen
auch an anderen Körperstellen. Die strenge Lokalisation der
Bläschen eruption legt den Gedanken einer fortschreitenden Auto¬
immunisierung nahe. Es gibt Fälle, wo die multiplen Lokalisa¬
tionen des Herpes zoster in einem Schube auftreten; in den
von den Verfassern mitgeteilten Fällen erfolgten die verschiedenen
Lokalisationen in mehrtägigen Intervallen, wobei es auffiel, daß
die folgenden Schübe von geringerer Intensität waren. So ent¬
wickelte sich in einem Falle unter schweren Allgemeinsymptomen
ein Herpes zoster im Gebiete der dritten rechten Lumbalwurzel,
welcher den typischen Verlauf mit ausgeprägter Bläschenbildung
zeigte. Mehrere Tage später erfolgte eine Eruption an beiden
Vorderarmen, dem Gebiete der achten Zervikal- und ersten Dorsal¬
wurzel entsprechend. Bemerkenswert war das Fehlen von All¬
gemeinerscheinungen, die kurze Dauer der Eruption und die nur
stellenweise Entwicklung von Bläschen. Die Abheilung dieser
Eruption erfolgte zu einer Zeit, wo die zuerst aufgetretene Erup¬
tion sich in voller Entwicklung befand. Der Unterschied in der
Intensität zwischen der ersten und den späteren Eruptionen spricht
entschieden für die Annahme einer Autoimmunisierung. Der Um¬
stand, daß der Zoster meist auf ein Nervengebiet beschränkt
bleibt, spricht für rasche und vollständige Immunisierung, wie
sie in analoger Weise bei der Kuhpockenimpfung beobachtet
wird. Bei unvollständiger Immunisierung kann noch an anderer
Stelle eine Eruption stattfinden, welche jedoch in der Regel
von geringerer Intensität ist u. zw. um so schwächer, je größer
der seit der ersten Eruption verflossene Zeitraum ist. Aehnliche
Verhältnisse werden bei der Kuhpockenimpfung beobachtet, wo
neue Impfungen nur in den ersten Tagen haften, am zehnten
Tage nach der ersten Impfung die Inokulation nicht mehr gelingt.
W enn bei Zoster sich die Infektion in den ersten drei Tagen des
präeruptiven Stadiums oder am ersten Tage der Eruption aus-
b reitet, so erfolgt multiple Lokalisation, erfolgt die Ausbreitung
am dritten Tage der Eruption oder später, so sind die wei¬
teren Eruptionen abgeschwächt, bei noch späterer Diffusion erfolgt
keine weitere Eruption, weil inzwischen alle Nervenwurzeln im¬
munisiert. sind. Für die Ausbreitung der Immunität von der pri¬
mären Eruptionsstelle aus spricht der Umstand, daß die spä¬
teren Eruptionen meist in größerer Distanz vom primären Herde
auftreten. — (Gaz. des höp. 1910, Nr. 131.) a. e.
*
105. Ueber die Injektionen von Gomenolöl zur
Behandlung der äußeren Tuberkulose. Von Roederer
und Tribes. Die modifizierenden Injektionen, durch welche ein
tuberkulöser Abszeß in einen heißen aseptischen Abszeß umge¬
wandelt wird, sind hinsichtlich ihrer Wirksamkeit allgemein an¬
erkannt. Von den bisher angewendeten Substanzen sind einzelne,
wie z. B. das Naphthol, stark toxisch, andere, wie das Thymol,
in ihrer V irkung unsicher oder wie das Trypsin und das Natrium
nucleinicum, noch wenig erprobt. In einer Anzahl von Fällen
haben die Verfasser das Gomenol, welches aus einer Myrtazee,
einer Varietät der Melaleuca viridiflora gewonnen wird, ange-
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
wendet. Das Gomenol steht hinsichtlich seiner antiseptischen
Wirkung dem Thymol, dem Jod und der Salizylsäure gleich, ist
aber frei von toxischer Wirkung. Das Gomenol wurde bei nicht
vereiterten, sowie bei geschlossenen und offenen vereiterten Tuber¬
kulosen angewendet. Zur ersten Gruppe gehören Fälle von Lymph
driisenschwellung, Ostitis und Osteoarthritis, wo 1 bis 2 cm3
des 5 bis 10°/'oigen Gomenolöls injiziert wurden; die Erfolge
waren im allgemeinen günstig. Bei geschlossenen vereiterten
Tuberkulosen wurden 1 bis 2 cm3 des 5 bis 10°/oigen, seltener
des 20°/oigen Gomelnolöls injiziert, nachdem der Eiter durch
Punktion entleert worden war. In der der Injektion folgenden
Zeit füllte sich unter Temperatursteigerung und lokaler Rötung
die Höhle wieder an, es wurde wieder punktiert und injiziert.
Der Eiter zeigte veränderte Beschaffenheit, statt serös und mit
Krümmein gemischt, wurde er grau, dann bräunlich. Zur Heilung
kleinerer Herde genügten zwei bis drei, zur Heilung größerer
Muskelherde in der Regel fünf bis sechs Punktionen und Injek¬
tionen. In einigen Fällen zeigte der Eiter blutige Beschaffenheit,
welche auf die häufigen Punktionen zurückgeführt werden konnte.
In einzelnen Fällen wandelte sich trotz der Behandlung der ge¬
schlossene Herd in einen offenen um, doch war dies bei gesunder
Beschaffenheit der Haut nur einmal der Fall. Es ist jedoch die
nach Anwendung modifizierender Injektionen auftretende Fistel¬
bildung weniger schwerwiegend, als die spontane Fistelbildung
und es kommt fast immer zu rascher Schließung der Fisteln.
Bei offener Tuberkulose wurden größere Mengen 50%igen Go
menolöls injiziert und dann ein Okklusivverband angelegt. Bei
Wirbelsäulen- und Gelenkstuberkulose mit Fistelbildung wurde
Besserung erzielt. Das Gomenol besitzt vor den anderen modi¬
fizierenden Mitteln den Vorzug, daß es sowohl im Beginn der
Erkrankung zur Erweichung fester Herde, als auch bei vor¬
geschrittener Erkrankung zur Austrocknung und fibrösen Umwand¬
lung der Eiterherde angewendet werden kann, nur geringe lokale
und allgemeine Reaktionserscheinungen hervorruft und frei von
toxischen Nebenwirkungen ist. — (Journ. de Prat. 1910, Nr. 41.)
’ . ; i ! ' ' | la. e.
*
106. Ueber allgemeine Kalkablagerung und deren
interstitielle und subkutane Form. Von .1. Lhermitte.
Wenn die Zeitigen Elemente die Fähigkeit verlieren, die Kalksalze
zu assimilieren und mit dein Eiweiß zu verbinden, so erfolgt
Kalkablagerung innerhalb der Gewebe. Eine besondere Disposition
für Kalkablagerung zeigen die aus dem Mesoderm stammenden
Gewebe, in zweiter Linie die Abkömmlinge des neuralen Ekto¬
derms. Eine besondere Form stellt die generalisierte! Kalkablage-
nmg im subkutanen und intramuskulären Gewebe dar. Die Affek¬
tion entwickelt sich zunächst, manchmal im1 Anschluß an ein
Trauma, an einer Stelle z. B. entsprechend einem Schleimbeutel,
im weiteren Verlauf finden Ablagerungen an verschiedenen
Stellen des1 subkutanen Gewebes statt, über welchen die Haut
keine Veränderung zeigt; in einzelnen Fällen war eine symme-
trische Verteilung der sekundären Ablagerungen nachweisbar.
Als weitere Symptome werden Atrophie und Kontraktion ver¬
schiedener Muskeln, sowie trophische und vasomotorische Stö¬
rungen der Haut beobachtet. Im weiteren Verlauf, der sich über
Jahre erstrecken kann, stellen sich Abmagerung, Schmerzen,
Dekubitus, Diarrhöen, Albuminurie, Temperatursteigerung ein und
es erfolgt der Exitus durch Kachexie oder Infektion. Es kommt
auch eine durch Kalkablagerung in Sehnen, Faszien, Perimy¬
sium und interstitielles Muskelgewebe gekennzeichnete Form der
generalisierten Kalzinose vor, welche zu hochgradiger Rigidität
der betroffenein Muskeln führt und nicht selten mit dem Bilde
der Sklerodermie entsprechenden Hautveränderungen einhergeht.
Einzelne Fälle können erweichen und nach außen durchbrechen,
wobei sich der Inhalt aus Kalkphosphat und Kalkkarbonat zu¬
sammengesetzt erweist. Die Untersuchung der Kalkablagerun¬
gen hat das Vorwiegen des Kalkphosphats ergeben, die Hülle ist
arm an Kalksalzen; manchmal wurden auch Kalksulfat und Spuren
von Magnesia, dagegen niemals Harnsäure in den Ablagerungen
nachgewiesen. In einem Falle von Verkalkung, der sich nahezu
auf die gesamte Muskulatur erstreckte, wurde hochgradige Kalk¬
verarmung der Knochen nachgewiesen. In der Aetiologie werden
Trauma und vorangegangener Rheumatismus als die wichtigsten
143
Ursachen angeführt; die Erkrankung betrifft beide Geschlecht er
gleichmäßig und wird am häufigsten zwischen dem 8. und 20.
Lebensjahr beobachtet. In einem Falle von generalisierter Ver¬
kalkung, wobei in den die Verkalkungsherde durchziehenden Ge¬
fäßen Läsionen nachweisbar waren, schien die Erkrankung mit
Syphilis in Zusammenhang zu stehen und wurde' durch die spe¬
zifische Behandlung günstig beeinflußt. Die Annahme, daß die
subkutane generalisierte Kalzinose eine parasitäre Aetiologie li-n
erscheint nicht genügend begründet, wenn auch ein Berich: über
gelungene Uebertragung der Erkrankung auf ein Meerschweinchen
vorliegt. Das beschriebene Vorkommen von Riesenzellen in den
Krankheitsherden weist nicht auf eine Aehnlichkeit mit tuber¬
kulöse hin, da Riesenzellen auch in uratischen Ablagerungen
beobachtet werden. Vieles spricht für die Verwandtschaft der
generalisierten Kalzinose mit Sklerodermie, welche auf Grund
neuerer Forschungen mit Läsionen, bzw. Funktionsstörungen der
Blutdrüsen in Zusammenhang gebracht wird. — (Sem. med. 1910,
Nr. 47.) ia. e.
*
Aus amerikanischen Zeitschriften.
107. Tuberkulose und Menstruation. V on D. M a c h t.
Neben dem normalen Verlauf der Menstruation bis zur physio¬
logischen Altersgrenze kommen bei Tuberkulösen Abweichungen
im Menstruationstypus vor: Menorrhagie und Amenorrhoe, die
erstere der letzteren häufig vorangehend, ln einigen Fällen ist
die Dysmennorrhoe rein tuberkulösen Ursprungs und wird durch
Tuberkulininjektionen gebessert. Die Aenderungen im Menstru¬
ationstypus sind von diagnostischem und prognostischem Werte.
Der Einfluß der Menstruation auf den tuberkulösen Prozeß äußert
sich in der Verschlechterung aller Symptome und im Deut¬
licherwerden der physikalischen Zeichen der Erkrankung. Die
Wirkung der Ovulation kann andauern, auch nachdem die Men¬
struation vorüber ist. Periodische Schwankungen der Tempe¬
ratur kommen etwa in 50% aller Fälle vor. Der Temperatur¬
anstieg kann prä-, inter- und postmenstruell sein. Periodische
Hämoptoen und andere Hämorrhagien kommen bei tuberkulösen
Frauen häufiger vor als allgemein angenommen wird. Diese Blu¬
tungen können zugleich mit oder an, Stelle der menstruellen
Blutung auftreten. Wahre vikariierende Menstruation kommt vor,
ist aber außerordentlich selten, so daß vikariierende Flämoptoen in
den meisten Fällen Verdacht auf eine tuberkulöse Erkrankung er¬
regen. Tuberkulin darf während der Menstruation nicht angewedet
werden. Dem schlechten Einfluß der Menstruation auf den tuber¬
kulösen Prozeß kann durch die entsprechende Therapie, in erster
Linie Ruhe, begegnet werden. (The American Journal of the
Medical Sciences, Dezember 1910.) sz.
*
108. Der klinischeWert d e r C a m m i d g e - R e a k t i o n.
Von L. Kinney. Eine lömonatige Erfahrung hat den Verfasser
davon überzeugt, daßi der Cam midge- Reaktion C. nur ein be¬
schränkter Wert zukomme. Eine negative Reaktion zeigt nicht
an, daß das Pankreas normal ist. Negative Reaktionen wurden
erhalten bei akuter und chronischer Pankreatitis, bei Karzinomen
und Zysten des Pankreas. Ein positiver Ausfall der Reaktion ist
nicht pathognomonisch für eine Pankreasinfektion, da die Reak¬
tion in manchen Fällen positiv war, wo selbst bei direkter Pal¬
pation sich kein Anhaltspunkt für eine Erkrankung des Pan¬
kreas bot. Wenn jedoch die Krankengeschichte, die physikalische
Untersuchung und die Untersuchung der Fäzes auf eine Pankreas¬
läsion 1Ä weisen, so ist eine positive Cam midge- Reaktion C.
geeignet, die Diagnose zu vervollständigen. Auf die negative
Reaktion ist daher wenig Verlaß und eine positive Reaktion
kann nur als Bestätigung von anderen Anzeichen verwendet wer¬
den. — (The American Journal of the Medical Sciences’, Dezember
1910.) sz.
*
109. Die Verwendung der Sojabohne als Nahrungs¬
mittel bei Diabetes. Von J. Friedenwald und J. R u h r ä h.
Die Sojabohne, eine seit den ältesten Zeiten in China und Japan
sehr beliebte Legumin ose, zeichnet sich durch hohen Eiwei߬
gehalt und durch fast vollständiges Fehlen der Stärke aus. V egen
der letzteren Eigenschaft eignet sich die Sojabohne, die in den
verschiedensten Formen zubereitet werden kann, als Nahrungs
144
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
mittel besonders bei Diabetes. Die Autoren berichten über acht
Fälle vor Diabetes, welche zunächst bei uneingeschränkter, dann
bei der üblichen Lliabeteskost gehalten wurden. Der unter der
Diabeteskost erzielte Rückgang der Zuckerausscheidung im Harne
machte noch größere Fortschritte, als die Sojabohne der Diät
hinzugefügt wurde. Bei den Schwierigkeiten, die sich der ratio¬
nellen' Ernährung der Diabetiker auf die Dauer entgegenstellen,
stellt die Sojabohne, eine wertvolle Ergänzung der Diabeteskost
dar. Siei kann schmackhaft und auf die mannigfachste Art zube¬
reitet werden und vermindert prozentuell und absolut die Zucker¬
ausscheidung im Harne. - — (The American Journal of the Medical
Sciences, Dezember 1910.) sz.
\/ermisehte Naehriehten.
Ernannt: Dr. Jos. Koch, Abteilungsleiter am Institut
lür Iufektionskrankheiten in Berlin zum Professor. — Doktor
H. Kionka, Vorstand des pharmakologischen Institutes in Jena
zum Honorarprofessor. Dr. 0. Codi villa zum außerordent¬
lichen Professor der Orthopädie in Bologna.
*
Habilitiert: Dr. Ladislaus Mazurkiewicz für Phar¬
makognosie in Lemberg. Dr. Friedrich Walter für Anatomie
in Rostock.
*
Oestorben: Prof. Dr. Friedrich Mosler, ehemaliger Vor¬
stand der medizinischen Klinik in Greifswald. — Prof. Dr.. Nagel,
Direktor des physiologischen Institutes in Rostock. - Doktor
Lustache, vorm. Professor der Geburtshilfe zu Lille.
*
In der Sitzung des nie der österreichischen Landes¬
sanität s rates vom 9. Januar 1911 wurden folgende Gutachten
erstattet : 1. Leber ein neues Heilverfahren in einer zu errichten¬
den Anstalt in V ien. 2. Lieber die Erweiterung der Einrich¬
tungen des Bades in Vöslau. 3. Lieber die Beherbergung und
Pflege operierter Augenkranker in einer Arzteswohnung.
*
Am 19. Dezember 1910 fand im Ministerium des Innern eine
Sitzung d es Kuratori u m s d es F o n d s; zur T u be rk *u-
1 o seb ek ä in p f u n:g statt, in welcher statutengemäß über die
Verwendung der Erträgnisse des für Zwecke der Tuberkulose¬
bekämpfung gebildeten Fonds beschlossen wurde. Das für Wid¬
mungen verfügbare Erträgnis dieses Fonds im Jahre 1910 belief
sich auf 86.631 K 71 h. Von diesem Betrage wurden zunächst
d^ie aut das Jahr 1910 entfallenden Quoten der auf Grund der
Kuratoriumsbeschlüsse vom 29. Februar 1908 und vom 17. De¬
zember 1909 für 15, bzw. 6 Jahre zugesicherten Subventionen
im Gesamtbeträge von 54.000 K bestritten, u. zw. die Subven¬
tionen von je 7000 K der Vereine „Viribus, unitis“ in Wien, „Heil¬
anstalt Al land" in Wien und des Vereines1 zur Bekämpfung der
Tuberkulose in Steiermark, ferner von je 5000 K des deutschen
und des: böhmischen Landesbilfveceines1 für Lungenkranke in
Böhmen, von je 4500 K der Landeshilfsvereine für Lungenkranke
in Krain und in Schlesien, weiter von je 6000 K des Landes, -
Vereines: zur Bekämpfung der Tuberkulose in Mähren und des Ver¬
eines zur Bekämpfung der Tuberkulose in Lemberg und endlich
von 2000 K des Vereines „LupusheiMätte“ in Wien. Von dem
erübrigendeln Betrage wurden folgende einmalige Subventionen
bewilligt: dem Bezirksausschüsse in Beheschau als Oberverwal¬
tung des Allgemeinen Krankenhauses daselbst und dem Vereine1
„Heilanstalt Alland“ in Wien je 4000 K, dem’ Vereine zur unent¬
geltlichen Verpflegung Brustleidender auf dem Lande in Wien
1000 K und den Vereinen ..Viribus unitis“, Hilfsverein für Lungen¬
kranke in’ den österreichischen Königreichen und Ländern in
V ien, „LiUpirsheilstätte“ in Wien, dem deutschen und dem böhmi¬
schen Landeshilfsvereine für Lungenkranke in Prag, dem Ver-
'•ine zur Bekämpfung der Tuberkulose in Steiermark, den Landes¬
hilfsvereinen für Lungenkranke in Krain und Oesterreichisch-
Schlesien, dem Landesvereine zur Bekämpfung der Tuberkulose,
in Mähren und dem Vereine zur Bekämpfung der Tuberkulose in
Lemberg je. 2000 K. Außerdem wurden in! einer früheren Sitzung
des Kuratoriums vom 27. April 1910 nachstehende einmalige
Subventionen bewilligt: Dem Zweigvereine Aus'sig des deutschen
Landeshilfsvereines für Lunsenkranke in Böhmen und dem Ver¬
eine „Sociatä degli amici dell’ iufanzia“ in Triest je 2000 K und
dem Vereine „Bratnia Pomoc“ in Zakopane 1000 K.
*
Der seinerzeit ausgeschriebene K öni g U m bert-Preis
wurde Prof. W. Schultheß in Zürich für seine Arbeit: „Die
Pathologie und Therapie der Rückgratsverkrümmungen“, ver¬
liehen.
*
Cholera. Rußland. In der Woche vom 4. bis 11. De¬
zember 1910 wurden im Gebiete des Russischen Reiches 33 Neu¬
erkrankungen und 17 Todesfälle an Cholera gemeldet. — Ma¬
deira. Bis zum 25. Dezember sind amtlichen Nachrichten zu¬
folge auf Madeira 1153 Erkrankung«- und 335 Todesfälle an
( holera konstatiert worden, von denen 462 Erkrankungen und
126 Todesfälle auf die Hauptstadt Funchal, 691 Erkrankungen
und 209 Sterbefälle auf die Landgemeinden der Insel entfallen.
Türkei. Nach offiziellen Nachrichten beträgt die Zahl der
seit Ausbruch der Cholera, das heißt seit 13. September v. J.
bis Anfang Januar in Konstantinopel vorgekom menen .Cholera¬
erkrankungen 1309, wovon 785 einen tödlichen Ausgang hatten.
Gegenwärtig scheint sich die Seuche ihrem Ende zuzuneigen. Da
sowohl in Mekka als auch in der Quarantänestation El -Tor zahl¬
reiche Cholerafälle sich ereignet haben und in Djeddah über¬
dies ein Pestfall konstatiert worden ist, hat der Sanitätskonseil
die Pole rin age als cholera- und pestverseucht erklärt. In El -Tor
wurden unter heimkehrenden Pilgern auf zwei türkischen und
einem russischen Schiffe sechs Erkrankungen an Cholera sicher¬
gestellt.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 1. Jahreswoche (vom 1. bis
7. Dezember 1911). Lebend geboren, ehelich 518, unehelich 219, zusammen
737. Tot. geboren, ehelich 42, unehelich 25, zusammen 67. Gesamtzahl der
Todesfälle 715 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17 5 Todesfälle) an Bauchtyphus 2, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 5,
Scharlach 5, Keuchhusten 2, Diphtherie und Krupp 5, Influenza l.
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 1. Lungentuberkulose 100, bösartige Neu¬
bildungen 60, Wochenbettfieber 2, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 25 (— 14), Wochenbettfieber 2 (— 2) Blattern 0
(0), Varizellen 86 (-f 16), Masern 135 (— 8), Scharlach 73 (+ 20)
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 2 (— 2), Ruhr 1 (+1), Cholera 0 (0)
Diphtherie und Krupp 63 (+• 1), Keuchhusten 37 (+ 17), Trachom 2 (+ 2),
Influenza 0 ( — 1), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Distriktsarztesstelle für die Gemeinden Reichenfels und
St. Peter mit dem Wohnsitze in Reichenfels (Kärnten). Mit derselben ist
eine Jahresremuneration von je 600 K aus dem Landesfonds und von
den Gemeinden, sowie ein Wohnungsbeitrag von 200 K von den letzteren
verbunden, ierner für Armenbehandlung, Totenbeschau, Durchführung der
öffentlichen Impfung und sonstige Dienstreisen der Bezug , der normierten
Gebühren. Die gegenseitige Kündigungsfrist beträgt zwei Monate. Der
Distriktsarzt hat die Verpflichtung, eine Hausapotheke zu führen. Bewerber
um diese Stelle wollen ihre vorschriftsmäßig, d. i. auch mit einem ärzt¬
lichen Gesundheitszeugnisse belegten und gestempelten Gesuche direkt
oder im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde bis längstens 20. Februar 1911
bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft Wolfsberg einreichen.
Eingesendet.
Verein Aerztliches Erholungsheim Marienbad.
Aufforderung zum Beitritt. — - M i t g 1 ied s bei trag 5 K. —
Anmeldungen beim Präsidium.
Der Aerei n hat die Aufgabe, kur- oder erholungsbedürftigen
Kollegen freie Unterkunft im eigenen Hause und andere Er¬
leichterungein zu schaffen.
Benefiz ien:
1. Freie Wohnung monatsweise während des ganzen Jahres.
2. Freie Beistellung der Bäder und der Heil- und Kur¬
behelfe während der Kurzeit.
3. Befreiung von der Kur- und Musiktaxe während der
Kurzeit.
4. Freier Eintritt zu den Lesesälen, zu den Veranstaltungen
des Kurklubs, Ermäßigungen in den Restaurationen u. m. a.
während der Kurzeit.
Anmeldungen um Freiplätze direkt oder durch die Ver¬
mittlung eines Marienbader Kollegen an den Vorstand werden
schon während des Winters erbeten.
B r ie f a d r es se : Vorstand des ärztlichen Erholungsheims
in Marienbad.
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
145
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 20. Januar 1911.
Wiener dermatologische Gesellschaft. Sitzung vom 23. November 1910
Verein der Aerzte in Oherösterreich. Sitzung vom 1. Dezember 1910.
Aerztliclier Verein in Briinn. Sitzung vom 19. Dezember 1910.
Verein deutscher Aerzte in Prag. Sitzung vom 16. Dezember 1910.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzupg vom 20. Januar 1911.
Vorsitzender: Prof. Dr. M. Großmann.
Schriftführer: Dr. R. Bergmeister.
Der Vorsitzende macht Mitteilung von der Erkrankung des
Herrn Prof. Dr. Ferdinand Hochs fett er. der infolgedessen
verhindert ist, den Vorsitz zu führen.
Ferner wird folgende Zuschrift des „Oesterr. Ingenieur- und
Architektenvereines“ mitgeteilt :
Die Fachgruppe für Chemie des österreichischen ingenieur-
und Architektenvereines erlaubt sich hiemit die Mitglieder des V eiv-
eines „Gesellschaft der Aerzte in Wien“ höfliehst zu dem Freitag
den 27. Januar, um 7 Uhr abends, im großen Saale des elektro¬
technischen Instititutes *) . stattfindenden Vortrage von Professor
Dr. Emil Abderhalden aus Berlin: „Die Bedeutung der Ver¬
dauung für den Zellstoffwechsel im Lichte neuerer Forschungen
auf dem Gebiete der physiologischen Chemie“, einzuladen.
Priv.-Doz. Dr. R. Kienböck: D emonstration eines
Falles von unvollständiger Luxation des Atlas mit
A b b r u c h d er Dens epistrophei.
Luxation des Atlas mit oder ohne Abbruch des Zahnfort-
satzes des zweiten Halswirbels sind seltene Verletzungen. Seit
Gurlt und Sonnenburg weiß man, daß keine Lähmungen
eintreten müssen und die Individuen den Unfall noch kürzere
oder längere Zeit überleben können. Selbst Fälle von dauernder
Heilung wurden bekannt, ich habe davon etwa ein halbes Dutzend
beschrieben gefunden.
’Em hiehergehöriger Fall wurde vor kurzem von Wein¬
länder in der Wiener klinischen Wochenschrift beschrieben;
sieben Wochein nach dem Unfall trat aber Exitus an Pneumonie
ein. Verhältnismäßig häufig sind die Fälle, wro- sich der Patient
durch Tage, Wochen oder Monate in gutem Zustand und frei von
Lähmungen befand, worauf durch eine unvorsichtige Bewegung
plötzlich der Tod eintrat. Eine Beobachtung, die durch den ob¬
jektiven Befund und günstigen Verlauf unserem Falle sehr ähnlich
ist und ebenfalls durch radiologische Untersuchung eine genaue
Diagnose erfuhr, wurde von Wittek 1906 publiziert.
Der Patient, den ich hier demonstriere, ist ein 35jähriger,
sonst gesunder und kräftiger Mann; er erlitt am 4. Oktober
1910 einen Unfall (Sturz auf einem Spaziergang nach Sonnen¬
untergang), blieb bewußtlos liegen und wurde erst nach 21 Stun¬
den in eineim Zustande gefunden, an den er sich selbst nicht
erinnert. Er war nicht gelähmt und konnte sprechen, zeigte aber
Symptome von Gehirnerschütterung. Er wurde im Spital nur an
einer Kopfwunde behandelt. Nach 18 Tagen stand er auf und
konnte herumgehen, der Nacken war steif und schmerzhaft. Pa¬
tient hat nie einen Stützapparat getragen.
Wie Sie sehen, befindet sich der Mann wohl und kann den
Kopf nach allen Seitein ziemlich gut bewegen, doch fällt eine
steife Kopfhaltung mit leichter Vorwärtsbeugung und eine eigen¬
tümliche Konfiguration des Nackens auf. Die Gegend des Dorn¬
fortsatzes des Epistropheus ist etwas prominent, im Bachen
springt der Atlas stärker als normal vor, die linke Zungenhälfte
ist etwas atrophisch, die Patellarreflexe sind gesteigert, andere
Störungen bestehen nicht. Die Röntgenaufnahmen lehren,
daß der Atlas über dem Epistropheus nach vorne laxiert und
zugleich gedreht ist: im linken Seitengelenk zwischen Atlas und
Epistropheus hat nur eine geringe Verschiebung statlgefunden.
auf der rechten Seite aber hat die Massa lateralis des Atlas die
Gelenksfläche des Epistropheus verlassen und ist nach vorne
abgewichen; der Zahnfortsatz ist vom Körper des zweiten Hals¬
wirbels abgebrochen, er sieht mit seiner Spitze nicht rein nach
aufwärts, sondern auch nach vorne. Eine knöcherne .Verheilung
ist nicht eingetreten. Es ist also eine unvollständige L u x a-
tion des Kopfes im uhteren Kopfgelenk vorhanden und
zwar eine Kombination von Beugung sL und Rotations¬
luxation des' Atlas.
Es ist günstig, daß die- Luxation nur im rechten Seiteu-
gelenk erfolgt ist; hier ist wohl eine Verhakung eingetreten.
Ferner ist günstig, daß der Zahnfortsalz abgebrochen und räch',
das Ligamentum Iransversum gerissen ist. Auch die Verbinden,
des Zahnfortsatzes und des Atlas mit dem Okziput sind offenbar
intakt. So ist das Rückenmark unverletzt geblieben: die
Zungenatrophie beruht wohl auf Kompression der Wurzel des
Hypoglossus. Patient fühlt sich sicher und will den ihm von
Prof. Büdinger vorgeschriebenen Stützapparat nicht verwenden.
Prof. Dr. Otto Bergmeister stellt einen Fall von Knoten¬
syphilid der L i d h au t vor.
Die Patientin, 32 Jahre alt, kam vor drei Tagen in die
Ambulanz meiner Abteilung im Rudolfspital mit der Angabe, daß
sich vor fünf Wochen die Anfänge der heutigen Erkrankung in
der Umgebung defe rechten Auges gezeigt hätten.
Wir finden in der Gegend des rechten inneren Augenwinkels
an der Seitenwand der Nasenwurzel eine längsovale zirka 2 cm
lange, 1-5 cm breite, flache, braunrot-kupferfarbige, mit glän¬
zender, gefelderter Epidermis bedeckte, scharf begrenzte, mit der
Haut verschiebbare Geschwulst. Der Rand fühlt sich derb, das
Zentrum weicher an. Gegen das obere Lid ist die Geschwulst
durch eine weiße, lineare Narbe, offenbar älteren Datums, abge-
grenzt. Jenseits dieser Narbe setzt sich die braunrote Verfärbung
auf die mediale Hälfte des oberen Lides fort und sind hier kleine
harte knötchenförmige Infiltrate in der Lidhaut zu tasten. Aus¬
fall der Zilien ist nicht vorhanden.
Unterhalb der inneren Kommissur ist die Haut der Lid¬
wangenfurche ödematös geschwellt. Durch die ödemaföse Schwel¬
lung hindurch tastet man einen kirschkerngroßen harten, nient
verschiebbaren, am Periost des Orbitalrandes festsitzenden
Knoten, der sich nicht komprimieren läßt. Aus dem Iränensack
läßt sich durch Druck keinerlei Sekret entleeren. Das Auge
selbst war bis gestern reizfrei und zeigte normale Verhältnisse,
normalen Visus, negativen Spiegelbefund ; gestern war leichte
Ziliarinjektion, im oberen Umfang der' Kornea sowie eine kleine,
dunkelbläulich durchscheinende Hervorwölbung im1 äußeren
oberen Quadrantein der Sklera hart am Limbus zu konstatieren.
Aus diesem Befunde kann mit Sicherheit die Diagnose
auf ein Knotensyphilid (Tuberculum syphiliticum) der Lid¬
häut, Gumma periostale am unteren Orbitalrand und
S eler it is gummosa in der vorderen Ziliargegend gestellt
werden.
Sollte noch irgend ein Zweifel bestehen, so wird derselbe
durch den weiteren Hautbefund, den ich nach den Angaben des1
Herrn Prim. v. Zumbusch, der den Fall zu untersuchen die
Güte hatte, in kurzein Schlagworten zitiere, beseitigt. Patientin
gibt nämlich auf weiteres Befragen an, daß im Mai 1910 zuerst
ähnliche Knoten an der Haut am Halse- aufgetreten seien. Die
Möglichkeit, einer Infektion datiert sie auf vier Jahre zurück,
jedoch will sie nichts davon bemerkt haben und sollen die ersten
Erscheinungen, wie gesagt, erst im Mai vergangenen Jahres auf-
ge treten sein.
Es findet sich linkerseits am Nacken über dem Kukullans-
rande ein ähnlicher, kronengroßer, braunroter Herd, im Zentrum
eingesunken, heller; der scharfe wallartige Rand von derber
Konsisten'z.
Ober dem linken Sternoklavikulargelenke tastet man in
der Haut drei linsensroße harte Knötchen.
An der linken Mamma findet sich oberhalb der Mamilia
eine handtellergroße, seroiginös begrenzte Fläche,, deren Ränder
zart rosa gefärbt, abschilfernd, leicht erhaben sind.
Der so umschlossene Held ist in1 seinem peripheren Anteil
gelblich gefärbt, wenig verändert: inr Zentrum sitzt ein zwanzig-
h ellergroßer, braunroter flacher Knoten, von mehreren bis heller
großen, braun pigmentierten, im Zentrum atrophischen, am Rand
wallartig infiltrierten Herden umgeben.
Die ganze zentrale Partie schuppt oberflächlich ab.
Innen unten von der linken Mamma, halb auf derselben,
halb auf der Brustwand, ein ovaler, 7 ein langer, 5 cm breiter
braunroter flacher Knoten, in dessen Zentrum sich eine von
Gefäßien durch%og*e[rie helloro atrophische Einsenkung hör., [.
Am Rücken schein wir zu beiden Seiten der Wirbelsäule
je einen hellergroßen, braunen Herd; über dem rechten I ro-
chanter einen fünfkronengroßen und vier Querfinger hoher einen
*) IV., Gußhausstraße 25.
146
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 4
kleineren zwanzighellergroßen Herd. Alle diese Herde sind am
Rande infiltriert, im Zentrum narbig eingesunken. Ein ganz ana¬
loger Herd jindet sich noch an der linken Wade unterhalb der
Kniebeuge,
Die allgemeine Dni seinschwel lung ist sehr gering; die Zunge
laicht geschwollen, die Papillen vergrößert; am linken Rande
derselben zahlreiche kreisförmige Erosionen.
An den großen Labien am Genitale finden sich zahlreiche,
größtenteils erodierte Papeln.
Wassermann positiv.
Syphilitische Erkrankungen der Lidhaut sind im ganzen
selten. A\ ir finden in der Literatur allerdings eine ganze Anzahl
von Initialsklerosen verzeichnet. Hieran reihen sich die Beob¬
achtungen von makulösen und papulösein Syphiliden sowie von
geSchwürig zerfallenden Papeln der Lidhaut, endlich als Typus
der tertiären Syphilis das gummöse Syphilid. Die Literatur ist
nicht arm an Fällen von ulzerativen, auf tertiärer Syphilis be¬
ruhenden Prozessen der Lidhaut, an Fällen von ulzerierenden
gummösen Geschwülsten, sowie von rupiaartigen Geschwüren.
Viel seltener scheinen die Fälle von tuberösem Syphilid
(Tubercula cutanea) der Lider zu 80111', welche bei monatelangem
Verlaufe ohne eigentlichen Zerfall unter oberflächlicher Abschup¬
pung zur Resorption gelangen mit Hinterlassung einer weißlichen
atrophischen Narbe. Hieher dürfte der vorgestellt© Fall gehören,
der auch durch die Lokalisation des Knotens in der Seitenwand
des Nasenrückens auffällig erscheint.
Ganz dieselbe Lokalisation hatte ich in einem Falle ge¬
sehen, der vom Jahre 1905 bis 1907 viermal an meiner Abteilung
in Behandlung stand. Das Bild ist in beiden Fällen so sehr
ähnlich, daß ich beim Anblick diesels Falles sofort an den früheren
erinnert, die Diagnose1 stellen konnte. In dem erwähnten Falle
handelte es sich um eine 63jährige Frau mit beiderseitiger Irido¬
cyclitis specifica, bei der bei ihrer ersten Aufnahme im März
1905 seitlich links an der Nasenwurzel ein zwanzighellergroßer,
glänzender, braunrötlicher Knoten der Haut mit derbem Rande und
weicherem Zentrum konstatiert wurde, der laut Anamnese schon
U4 Jahre bestand und trotz während der ganzen Zeit mit allen
Mitteln fortgesetzter antiluetischer Behandlung erst ein Jahr
später ohne Flzeration mit Hinterlassung eines atrophischen pig¬
mentierten Fleckes- zum Verschwinden kam'. Der Verlauf des
Falles war ein sein' schwerer, insoferne der linke Bulbus degene-
rativ atrophisch zugrunge ging und mittels Enukleation entfernt
werden mußte, während am rechten Auge durch die Extrak¬
tion einer Cataracta accrcta complicata ein leidliches Sehver¬
mögen, wenn auch mit allseitig konzentrisch eingeengtem1 Ge¬
sichtsfelde, erzielt wurde. Einen anatomischen Grund für diese
auffallende Lokalisation des. Tuberculum cutaneum in der dünnen,
dem Knochen fast unmittelbar aufliegenden Haut des Nasen¬
rückens, wüßte, ich nicht anzugeben.
Zum Schlüsse betone ich noch einmal, daß die Patientin
bisher in keiner Weise vorbehandelt ist. Sie fühlte sich erst
durch das Auftreten des Augenleidens und da erst nach fünf-
weich igem Zögern Bemüßigt, ärztliche Hilfe in Anspruch_zu
nehmen’.
Ein rasches Eingreifen scheint umsomehr angezeigt, als1 einer¬
seits noch ein normales Sehvermögen vorhanden, anderseits' aber
der Bulbus in Form einer Scleritis gummosa bereits mit ergriffen
und die Gefahr der Ausbreitung des Prozesses auf die tieferen Ge¬
bilde des, Auffels, zunächst auf Iris und Ziliarkörper nicht aus¬
geschlossen ist.
Ich gedenke den Fall der Salvarsänbehandlung zuzuführen
und werde mir erlauben, hei Gelegenheit über den Erfolg derselben
in diesem Falle Bericht zu erstatten'.
Prof. Dr. M. Benedikt: Ich stelle Ihnen hier einen Fall
vor, der für mich nach mehr als halbhundertjähriger Erfahrung
ein Unikum, jedenfalls ein Rarissimmn ist, nämlich eine apo-
plektiseh auftretende unkomplizierte Tabes, die auf
die Beine beschränkt ist und nicht einmal ein Gürtelgefühl zeigt.
Ebenso fehlen prodromale Schmerzen und überhaupt sind wenig
Schmerzen vorhanden.
Der 37jährige Damenschneider S. M.. der im hohen Grade
durch fortwährendes Stehen. Beugen und Knien überanstrengt
war, betrat am 3. August 19Ö9 des Morgens das Atelier mit
dem Gefühle vollständiger Gesundheit. Am Vormittage, während
einer Probe kniend, fiel er um und seitdem ist hochgradiger
Rombergseber Schwindel vorhanden. Er wurde sofort in ein
Berliner Krankenhaus gebracht, in dem er mit kohlensauren
Rädern behandelt und dann nach Oehnbausen geschickt wurde.
Die Krankheit wurde unter dieser Behandlung immer schlimmer.
Als ich den Kranken am 7. d. AT. untersuchte, waren alle
charakteristischen Symptome der Tabes vorhanden, nämlich,
hochgradiger Romberg, schleudernder Gang, beide Pupillen hei
greller Beleuchtung träg reagierend, die linke weiter als die rechte,
Patella rreflexe aufgehoben.
Auf cfie Details der Sensibilitätsstörungen, die sich stärker
am ganzen rechten Beine und am Unterschenkel und Fuße des
linken Beines zeigten, einzugehen, erspare ich mir und ich be¬
merke nur, daß das Gefühl der passiven Bewegungen besonders
rechts gelitten hat.
Der Fall interessiert mich nicht bloß wegen der Seltenheit
des apoplektiformen Auftretens, wobei freilich vom Standpunkte
der Denkmethodik die Frage aufgeworfen werden muß, ob nicht
schon vor dem „Anfalle“ bereits Symptome vorhanden waren, die
ich als „theoretische“ bezeichne, weil sie dem Kranken nicht
zu Bewußtsein kommen, nämlich das Fehlen der Patellarreflexe
und veränderte. Pupillonreaktion. Dies Verschwinden des Patellar-
reflexes hei der sofortigen Untersuchung kann durch den Anfall
bedingt sein; eine sofort konstatierte veränderte Pupillenreaktion
müßte als Prodromalsymptom gedeutet werden.
Mich interessiert der Fall auch von der therapeutischen
Seite. Die Behandlung, "die er erfahren hat, war jedenfalls un¬
zweckmäßig und ich vermute, daß der Kranke durch eine rich¬
tige Behandlung hätte geheilt werden können. Wenn ich auch
keinen so ausgesprochenen apoplektiformen Fall gesehen habe,
so sind mir doch im Verlaufe meiner langjährigen Erfahrung
akut einsetzende und rasch fortschreitende Fälle vorgekommen
und bei diesen hat eine bestimmte Therapie nach meiner Er¬
fahrung, bleibende Heilung gebracht. Die erste therapeutische
Bedingung ist absolute Bettruhe. Diese ist oft schwer durchzu¬
setzen, wenn die Kranken noch gehfähig sind und ich müßte meine
ganze Beredsamkeit aufwenden und die schrecklichsten Zukunfts¬
bilder ausmalen, um die Kranken gefügig zu machen. Eine zweite
souveräne Maßregel ist lange Anwendung von Kühlschläuchen
am Rücken, mindestens acht. Stunden per Tag. Weiters appli¬
zierte ich gewöhnlich blutige Schröpfköpfe an der Seite der Wirbel¬
säule, und als ein Hauptagens ist der innerliche Gebrauch von
Secale cornu tum anzusehen. Ich gehe gewöhnlich 3-0 in
15 Dosen für fünf Tage.
. Innerlich pflege ich dann nach dem Sekalo Nitras argen ti
anzuwenden. Von diesem von Wunderlich seinerzeit so warm
empfohlenen adstringierenden Mittel habe ich eigentlich nur einen
eklatanten Erfolg außer in einem von Du che k behandelten
akuten Falle gesehen1.
Die soeben geschilderte Therapie: Ruhe, Kälteapplikation,
Schröpftöpfe und Secale cornutum bewähren sich auch bei Nach¬
schüben spinaler Affektionen, z. B. Paraparesis, Tabes, indem
wenigstens ein teilweiser Rückgang der Verschlimmerung rasch
erzielt wird. Vieles spricht dagegen, daß in diesem Falle eine
Blutung in den Hintersträngen stattgefunden habe, vielmehr ist die
Annahme begründet, daß es sich um eine funktionelle Kongestion
in denselben gehandelt habe und daß diese Hyperämie den Verlauf
der R ok i t an s ky sehen sogenannten „Hyperämie mit Binde¬
gewebswucherung“ genommen hat.
Ich will hier bemerken, daß der Kranke durch Halbbäder,
Galvanisation und Hebungen etwas gebessert war, als ich ihn
zuerst sah und daß durch den Gebrauch von Secale cornutum
eine weitere auffallende Besserung seines schweren Zustandes
cincetreten ist. Ich behalte mir weitere therapeutische Ver¬
suche vor.
Der Arortragende erinnert hei dieser Gelegenheit wieder an
das plötzliche Einsetzen der Erscheinungen hei einer anderen
Krankheit, die wir gewöhnlich als eine chronisch fortschreitende
beobachten. In einem Fälle trat, innerhalb 24 Stunden eine schwere
Kynhnse der un tcpin Hälfte der Wirbelsäule auf, die sichals durch
Pares U der Rückenmuskelu bedingt zeigte. Außerdem zeigte der
früher Gesunde alle Erscheinungen der. progressiven MuskeJ-
atrophie. deren Diagnose auch an ex zi dienten Muskelstücken
histologisch erwiesen wurde. Der Kranke wurde durch Gal¬
vanisation geheilt.
Dr. Maximilian Hirsch: Meine Herren! In der Frakturen
behänd hing stehen die Extensionsverb ä n d e gegenwärtig im
Vordergrund des Interesses. Für die untere Extremität sind
sie auch bereits ziemlich allgemein eingeführt und wir haben auch
gewisse Fortschritte gemacht. Der B arden heu ersehe Exten¬
sionsverband leistet Vorzügliches; für gewisse Fälle bewährt
sich die Nag el ex t en si o n nach C odi villa- Stein m ann
sehr gut; Hofrat v. Eiseisberg hat in der letzten Sitzung einen
derartigen instruktiven Fall vorgestellt ;. endlich wären die Zup
pinger sehen Verbände zu erwähnen, über die ja noch zu
sprechen sein wird. Anders verhält es sich mit den Extensionä-
verbänden an der oberen Extremität, die noch auf gewisse
Schwierigkeiten stoßen. Deswegen möchte ich mir erlauben au?
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
147
der Abteilung des Herrn Prof. Schnitzler einen Verband zu
demonstrieren, der sich uns seit IVa Jahren bei allen Frak¬
turen am Humerus bestens bewährt hat, der sehr einfach und
unkompliziert ist, es ist dies der portative Ex tensions¬
verband nach B orchgr evink.
Das Wesentliche ist eine Holzschiene, die unten mit einer
Rolle, oben mit einem breiten Metallbügel ausgestattet ist; sie
ist. mit Hilfe eines Spenglers sehr leicht zu improvisieren. Ori¬
ginell ist die Art ihrer Befestigung : Der Bügel wird am Armloch
der Weste angenäht. An dieser Schiene wird die Extension fol¬
gendermaßen angebracht: Am Oberarm wird ein gewöhnlicher
Heftpflasterextensionsverbänd angelegt; von diesem geht eine
Schnur ab, läuft über die Rolle, dann an der Rückseite der Schiene
wieder in die Höhe und geht in ein fingerdickes Drainrohr über,
das am oberen Ende der Schiene befestigt wird. Spannt man
nun den Schienenschlauch an, so beginnt der Längszug, aber die
Schiene sucht zunächst nach oben zu entweichen; deswegen
muß noch eine Kontraextension angebracht werden und zwar
mit Hilfe eines Perinealschlauches: ein Gummischlauch wird
durch den Schritt des Patienten geführt, und vorn und hinten
an der Weste befestigt; jetzt ist die Extension wirksam.
Dieser Verband ist viel einfacher, als es die Beschreibung
vielleicht vermuten läßt, er wirkt ausgezeichnet und belästigt
den Patienten gar nicht. Er hat noch den unschätzbaren
Vorteil, daß die Schulter frei bleibt und somit sofort passive
Bewegungen der Schulter und Massage des Musculus deltoides
möglich sind, was ja bei diesen Brüchen ungemein wichtig ist.
Dadurch unterscheidet er sich vorteilhaft vor änderen Ex ten¬
sionsverbänden, z. B. von der Gussenb a urschen und Bar de fl¬
it «urschen Schiene, die überdies viel komplizierter sind. Am
nächsten kommt ihm noch der Extensionsverband mit dem
11 am i 1 1 o n sehen Baumelgewicht, der aber den Nachteil hat,
im Liegen nicht verwendbar zu sein. Auch Prof. Frank hat
einen portativen Extensionsverband mit Gummizug angegeben ;
dieser erfordert aber einen Gipsring um die Schulter, so daß
der Indikation der Deltoidesmassage nicht entsprochen werden
kann.
Wir können aus allen diesen Gründen den B o r c h g r e v i n k-
schen Verband, der von seinem Erfinder vor zirka drei Jahren
publiziert worden ist, bestens empfehlen.
Diskussion: Dr. 0. v. Frisch teilt mit, daß an der Klinik
v. Eiseisberg schon seit mehreren Jahren ein Extensions-
appärat für Oberarmbrüche in Verwendung steht, der sich spe¬
ziell für Quer- und Schrägfrakturen sehr bewährt hat.
Das Prinzip desselben besteht darin, daß' am Arm zwei
Heftpflasterschlingen in entgegengesetzter Richtung angeklebf,
werden, in deren über der Schulter, bzw. unter dem Ellbogen be¬
findlichen Umschlagstellen die Haken zweier Zahnstangen ein
■ greifen. Letztere laufen an der Außenseite des Armes, parallel
mit demselben und sind an einer Hohlschiene befestigt, welche
mit einer einfachen Binde am Arm fixiert wird. Mit Hilfe eines
Schlüssels können diese Zahnstangen distrahiert und damit die
Extension beliebig dosiert werden. Der Verband ging hervor aus
verschiedenen Verbesse rungs- und Vereinfachungsversuchen an
einer 1901 von Sultan an der Königsberger Klinik konstruierten
Vorrichtung zur ambulanten Extensionsbehandlung der Ober
armbrüche.
Prof. Dr. A. Pilcz hält seinen angekündigten Vortrag: „Zur
Prognose und Therapie der progressiven Paralyse.“
(Erscheint ausführlich.^
Wiener dermatologische Gesellschaft.
Sitzung vom 23. November 1910.
V orsitzende : Riehl, N o b 1.
Schriftführer: Kren.
I)ohi (Tokio) demonstriert die Moulage eines Falles von
echter Impetigo contagiosa (Tilbury Fox). An Wangen,
Stirne und Kinn verstreut finden sich in gesunder Haut oder von
einem leicht rosa gefärbten Hof umgeben Bläschen mit meist
klarem oder nur wenig getrübtem Inhalt. Daneben bestehen ero¬
dierte Flächen mit Membranfetzen am Rande oder mit dünnen
Krusten bedeckt, die nie die Grenze der erodierten Fläche über¬
schreiten. Diese- akute Blaseneruption im Kindesalter findet sich
fast ausschließlich im Sommer und klingt durchschnittlich in
acht Tagen bis drei Wochen ab.
Zum Vergleiche demonstriert Do hi die Abbildung eines
Falles der in Japan seltenen, in Europa häufigeren Form von
Impetigo, welche mit der Bildung dicker, wachsgelber Krusten
einhergeht und die fälschlich mit der Impetigo Tilbury Fox
identifiziert wird. Die beiden Formen unterscheiden sich schon
durch ihren bakteriologischen Befund, insofern Do hi nachweisen
konnte, daß sich bei der echten Impetigo contagiosa (Tilbury F'oxy
stets Staphylococcus pyogenes albus, hei der Impetigo conta
giosa vulgaris stets Streptokokkus findet. Durch die Vermengung
beider Formen sind auch die nicht eindeutigen ätiologischen Be¬
funde von Matzenauer und Lewandowsky zu erklären.
Fasal stellt aus der Abteilung No bl eine TOjälmge Pa¬
tientin vor, deren Affektion wegen des eigenartigen und
ganz besonders hartnäckigen Verlaufes interessiert. Die
Patientin leidet seit April dieses Jahres an Bläschen hi id utig
an den Fingern, die sich bald vermehrte und das Bild eines
akuten nässenden Flkzems zeigte. Rötung, Schwellung, Nässen
veranlaßten Pat. im Mai Spitalspflege aufzusuchen. Die ent¬
zündlichen Prozesse waren damals stärker ausgeprägt wie jetzt..
Die Finger geschwollen, besonders stark die kolbig aufgetriebenen
Endglieder, die eitrige Nagelbettentzündung zeigten. An den Fin¬
gern der rechten Hand sind alle Nägel bis auf den des Ring¬
fingers abgestoßen, an der linken Hand die Nägel des Dau¬
mens, Zeige- und kleinen Fängers. An den Unterarmen zeigten
sich zeitweise leichte Ekzemherde, der Stamm war stets frei
von Ekzem.
Therapeutisch wurde von der antiphlogistischen Therapie
angefangen alles versucht. Alle möglichen Salben, Trockenbehand
lung, Arg. nitr., Coaltar usw. kamen zur Anwendung. Es zeigte
sich keine Neigung zur Heilung.
Das Auffallende an diesem Falle ist, daß gar keine Tendenz
zur Epithelisierung vorliegt; es bildet sich immer nur ein dünnes
Häutchen, welches stecknadelkopfgroße Eiterherde einschließt,
während die eigentliche Verhornung ausbleibt. Beide Daumen
sind überstreckt, dorsalwärts gebogen und ebenso wie der Zeige¬
finger und der Mittelfinger der rechten Hand ankylosiert. Interne
Untersuchung, Nerven-, Blut-, Ham-, Röntgenuntersuchungen er¬
gaben negatives Resultat.
Riehl: Ich glaube, die Patientin vor einiger Zeit ge¬
sehen zu haben und habe die Erkrankung als Dermatitis, durch
irgendeine äußere Ursache hervorgerufen, aufgefaßt. Es gibt chro¬
nische Dermati tiden, die teils dem Ekzem, teils der Psoriasis
ähnlich sind und gegebenenfalls nicht mit einem bestimmten
Namen belegt werden können. Solche Formen pflegen gegen
Ekzem- und Psoriasisbehandlung sich äußerst hartnäexig zu ver¬
halten.
Kren erinnert sich eines ähnlichen Falles, in dem auch
nur die Endphalangen erkrankt waren und gleich starke Ex¬
sudation zeigten. Sämtliche Finger waren kolbig aui’getriebeu:
Die Erkrankung fand sich bei einer Gravida und konnte damals
nicht diagnostiziert werden. Nach dem Partus ist die ..Affektion
spontan abgeklungen. Bei der nächsten Gravidität die gleiche
Erkrankung. Damals bestanden neben der Firiger.erkrankung einige
typische Plaques von Psoriasis am Stamm, welche wohl auch
einen Rückschluß auf die Affektion der Finger gestatten -dürften,
obwohl sie mit sehr starker Exsudation einhergegangen ist.
Ehrmann kennt Fälle von Psoriasis, die teils aus- be¬
kannten Ursachen (Dermatitis), teils aus unbekannten ekzematös
werden (Dermatitis, Erythroderma exfoliativa secundaria Broeq),
andrerseits typische Ekzeme der Nagelglieder, die: zur Abstoßung
der Nägel führen. Hier ist außerdem ein nummuläres, folliku¬
läres Ekzem am Vorderarme, deshalb kann sich Ehrmann
der Diagnose Psoriasis nicht anschließen.
Sc her her hat an der Klinik Finger in den letzten Jahren
zwei Fälle gesehen, die dem vorgestellten recht nahe stehen; bei
den Fällen fanden sich ganz ähnliche Veränderungen an den
Fingern und wurde die Diagnose Psoriasis vulgaris duich typi¬
sche Herde dieser Erkrankung am Stamme gestützt. Beide Fäll '
betrafen Frauen; der eine Fall ist der auch von Kren erwähnte.
No bl bemerkt, daß die Eigenart des1 Falles in der ununtei-
brochenen Exfoliation, subepithelialen Eiterbildung und Krusten-
auflagerung gelegen ist. Es fehlt eine Tendenz zu solider Epi¬
thelproliferation. Diese vermag auch durch keratoplastische Mittel
aus der Abteilung No bl einen Lupus
Neben frischeren, typischen ErSchei-
den
nicht angeregt werden.
S p r i n z e 1 s stellt
erythematodes vor.
innigen am Nasenrücken
Ohrmuscheln finden sich ..... ...
einer zarten, narbig-atrophischen Haut bedeckte Herde, das
sultat einer spontanen Ausheilung. •
Leiner stellt aus dem Karolinen-Kinderspitale ein J ü
nate altes Mädchen vor* hei dem es durch Ulzeralion1
und angrenzenden Partien, sowie
an den seitlichen Wangenpartien
von
Re
Mo-
zur
Spontanheilung, eines Angioms im Gesichte und durch
lenseiben Vorgang zu einem Defekt des knorpeligen Nasensep mm
;ekommen ist.
Ar. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, lull.
Bei der Geburt zeigte das Kind ein zirka handtellergroßes
Angiom, das sich von der Schläfe bis über die Mitte der Wange
erstreckte und ein zweites, das das Filtrum. der Oberlippe aus¬
füllte und sich von hier auf die Schleimhaut des knorpeligen
Nasenseptums und über das Lippenrot in einem schmalen Streifen
auf die Schleimhaut der Oberlippe fortsetzte. Nach der Angabe
der Mutter soll in der zweiten Lebenswoche ohne eine beson¬
dere Ursache an beiden Angiomen gleichzeitig ein gesch wütiger
Zerfall begonnen haben. Lein er sah das Kind gegen Ende
des ersten Monats zum erstenmal und konnte damals ein schmierig
belegtes Geschwür am Schläfenrande des Waingenangioms und
einen kleinen Substanzverlust am Nasenseptum am Ansätze der
Oberlippe konstatieren. Seit dieser Zeit steht das Kind ständig
in ärztlicher Beobachtung. Im Laufe von über einem halben
Jahre ergriff die Ulzeration das ganze Wangenangiom und führte
andrerseits zu einer völligen Destruktion des knorpeligen Sen-
tums. An Stelle des früher bestandenen Angioms ist heute an, der
rechten Gesichtshälfte eine weißglänzende, strahlige, straff an¬
liegende Narbe zu sehen, an deren Rand nur einzelne Gefä߬
verzweigungen und knötchenförmige Angiome an die frühere
Affektion erinnern. An der Nase ist ein recht entstellender Defekt
des knorpeligen Septums zürückgeblieben.
Riehl fragt, ob bei diesem Falle nicht doch eine Be¬
handlung von andrerer Seite eingeleitet worden ist. Die ausge¬
dehnte Narbe läßt Röntgen- oder Radiumbehandlung vermuten.
Riehl ersucht auch den Vortragenden Genaueres über die Natur
des Ulzerationsprozesseisi mitzuteilen.
No bl hat in einer Reihe von, Fällen die Verödung zirkum¬
skripter Hämangiome des frühen Kindesalters durch Vakzination
angestrebt. Die hiebei erfolgte Destruktion hat jedoch nur bei
oberflächlich sitzenden Malen eine Involution der ektatischen
Gefäße zu bewirken vermocht.
Leinen Die Ulzeration stellte sich nicht als Folge einer
therapeutischen Maßnahme, sondern spontan ohne irgendeine be¬
sondere Ursache ein. Mit der Ulzeration dürfte eine Obliteration
der' Gefäße Hand in Hand gegangen sein, da es niemals zu irgend¬
einer Blutung aus dem Angiom kam. Durch Vakzination auf
Angiome kann man mitunter dieselben zur Verödung bringen, doch
möchte L einer im allgemeinen davon abraten, einmal, weil
es bisweilen von da aus zu Entzündungsprozessen und Infek¬
tionen (Phlegmone, Erysipel) gekommen ist und dann, weil hie¬
durch das eine oder andere Mal durch Eindringen von Lymphe
in die Gefäße des Angioms eine generalisierte Vakzine provoziert
werden kann.
No bl demonstriert einen Fall von Lymphogranulo¬
matosis cutis. Die bisher nur einmal von S. Grosiz beob¬
achtete Hauterkrankung betrifft einen 21jährigen Hochschüler,
der sich bis zu Beginn dieses Jahres der besten Gesundheit er¬
freute. Anfangs Januar entwickelten sich in der rechten Supra-
klavikulargrube rasch wachsende Lymphknoten, denen sich als¬
bald weitere an der seitlichen Halsgegend hinzugesellten. Die Ge¬
schwülste waren bis Ende März zu einem zusammenhängenden
zweifaustgroßen, scheinbar einheitlichen Tumor gediehen. Um
diesie Zeit begannen auch die gleichseitigen Achseldrüsen rasch
an Umfang zuzunehmen. Die Drüsengeschwülste wurden im Laufe
des Monats April in Krakau exstirpiert. Bis Mitte Mai hatte der
gleiche Wucherungsprozeß von den linksseitigen Hals-, Unter¬
kiefer- und Supraklavikulardrüsen Besitz ergriffen. Die hier
situierten, teilweise miteinander konfluierenden apfelgroßen Tu¬
moren gingen während einer siebenwöchigen Jodkur und nach
35 Arseninjektionen größtenteils zurück. Schon nach wenigen
ochen war aber ein neuerliches mächtiges Anschwellen der
Drüsenpakete mit einer gleichzeitigen, diffusen Rötung und ödema-
tösen Schwellung der linken Gesichtshälfte zu verzeichnen. Da
überdies auch in der linken Achselhöhle ein über apfelgroßer
Drüsen tumor zur Entwicklung gelangte, wurde neuerlich eine Jod-
und Arsenbehandlung eingeleitet, ohne jedoch von Erfolg begleitet
zu sein. Eine hinzugetretene linksseitige Pleuritis führte den Pa¬
tienten einer Wiener Krankenanstalt zu, in welcher er zwei Mo¬
nate behandelt wurde. Während des Spitalsaufenthaltes trat eine
diffuse ödematöse Schwellung der linken Thoraxhälfte auf und
begannen die linkseitigen Leistendrüsen eine mächtige, knollige
Auftreibung zu erfahren. Nach dem Rückgänge der mit Rötung
und Brennen verbundenen diffusen Hautveränderung, bemerkte
Patient zuerst das Auftreten einzelner, sich bald vermehrender
Knötchen am Stamme.
In der rechten Präaurikulargegend, am Hals, Nacken, Achsel¬
höhle links und in der linken Leistengegend, wölben sich walnuß-
bis apfelgroße, derbe, von normalem Integument überkleidete
Drüsengeschwülste vor. An der linken Thoraxhälfte sitzen in
disperser Einstreuung linsen- bis haselnußgroße, deutlich pro¬
minente, blauviolette, derbe, in die tiefe Kutistextur eingelassene
Knoten. Eine ähnlich beschaffene, mehr abgeflachte, braunrote,
kronenstückgroße, kutane Knotenbildung ist an der rechten Thorax-
hälfto unterhalb der axillaren Operationsnarbe wahrzunehmen.
Ueberdics sind durch das subkutane Zellgewebe mehrere, leicht
verschiebliche, bis nußgroße Tumoren durchzutasten. Die wieder¬
holte Blutuntersuchung ergab das Bild der absoluten und relativen
Leukozytose. Eingestellte Schnitte eines exzidierten Haut¬
knotens zeigen eine diffuse und herdförmige Infiltratdurchsetzung
des Koriums bis an das Unterhautfettgewebe. Die Infiltrate sind
aus Lymphozyten, Plasmazellen, Mastzellen, großen, polymorph¬
kernigen Elementen, Riesenzellen mit mittelständigen Kernen und
1 ibroblasten zusammengesetzt. Das Zwischengewebe bestreiten
die unveränderten, kollagenen Faserzüge des Standortes. Die
diffusen Infiltrate der oberen Hautschichten schließen sich den
glandulären Anhängen an. Die Erkrankung deis Drüsenapparates
entspricht der von 0. Sternberg beschriebenen, unter dem
Bilde der Pseudoleukämie verlaufenden malignen Granulom¬
bildung, welche er in einem Teil der Fälle zur Tuberkulose
in ätiologische und pathogenetische Beziehung bringt. Die Struktur
der Hautknoten zeigt eine weitreichende Uebereinstimmung mit
jenen Hautläsionen, welche Grosz zum erstenmal im Verlaufe
der S tern berg sehen Krankheit beobachtet und als Lympho¬
granulomatosis cutis der G r a n u 1 o m a t o s i s' t ex t u s 1 y m-
P h a t i c i an die Seite gestellt hat.
Oppenheim demonstriert einen 61jährigen Patienten mit
einem typischen krebsscherenähnlichen Sp on tanke 1 o id über
dem Sternum. Mit 28 Jahren trat es zum erstenmal auf, wurde
dem 35jährigen Manne exzidiert und danach entwickelte sich
das vorliegende Krankheitsbild. Die Haut über den Keloiden ist
verschieblich, mit Haaren und Komedonen besetzt, der zentrale,
über dem Sternum liegende Teil nicht hypertrophisch. Andere
Verletzungen des Mannes zeigen keine Keloidbildungen. Man kann
annehmen, wie Schram ek bei zwei Fällen meint, daß es sich
hiebei um nävusähnliche Bildungen handelt, wogegen auch der
späte Beginn nicht spricht.
Neugeb au er demonstriert aus dem Ambulatorium Oppen¬
heim einen Patienten mit hochgradiger Hyperkeratosis und
Schwielenbildung an den Plantae pedis, sowie an bestimmten
Stellen der rechten Hand. Der Patient ist Anstreicher und bei
Berücksichtigung der Beschäftigung und der näheren Anamnese er¬
gibt sich, daß Patient gerade an den Stellen Verdickungen auf¬
weist, wo er — an der Hand — den Pinsel hält und wo durch
die Körperlast die Haut einem besonderen Drucke ausgesetzt
ist, an den Fußsohlen. Zudem kommt auch das andauernde
Stehen und das Gehen auf und mit der Leiter. Vom Jahre 18‘J2
bis 1895 bestand llyperidrosis pedum, dann hörte diese auf und
der gegenwärtige Zustand bildete sich aus.
Br and weiner demonstriert: 1. Einen Mann mit einem
p a p u 1 ö s e n Erstlingsexanthem, das dad urch merkw ürdig
ist, daß die überwiegende Zahl der papulösen Effloreszenzen
im Areale von großen Pityriasis versicolor- Plaques
steht. Wohl kommen auch auf der von Pityriasis versicolor freien
Haut Papeln vor, doch sind sie viel spärlicher als innerhalb der
erwähnten Plaques, die in überflachhandgroßer Ausdehnung in
den Axillen, am Bauche und Rücken situiert sind.
2. Einen Mann mit ausgebreiteter Roseola syphilitica.
Infektion Februar 1910, erstes Exanthem und Beginn der Frik¬
tionskur April 1910. Einen Monat nach dieser (32 Einreibungen)
Rezidiv und Behandlung mit zwölf halben Hydrargyrum salicyli-
cum - Injektionen. Mitte August wegen abermaligen Rezidives
0-5 g Arsen oben zol. Mitte Oktober 1910 Serumreaktion negativ
und nun — einen Monat später — abermals ein Rezidiv. Diese
Rezidivroseola imitiert ein Erstlingsexanthem, von Gruppenbil¬
dung der Effloreszenzen ist nichts wahrzunehmen. Einige Flecke
sind orbikuliert, sie bilden kleine, vollkommen geschlossene Ringe.
Daß das kutane Rezidiv einem Erstlingssyphilid so ähnlich ist,
ist leicht begreiflich, weil die Syphilis weder durch Quecksilber,
noch durch Arsen ■wesentlich beeinflußt wurde.
Riehl kann sich der Ansicht, daß das vorliegende makulöse
Exanthem einer primären luetischen Roseola gleiche, nicht an¬
schließen. Bei der äußerst dichten Anordnung des Exanthems
läßt sich über die Gruppierung kein bestimmtes Urteil fällen;
dagegen sind deutlich einzelne armuläre Effloreszenzen nach¬
zuweisen.
Müller: Ich möchte auf die negative Serumreaktion im
Falle Brand wein er s aufmerksam machen, die sicherlich kein
Zufall ist. Wir sahen vielmehr in den vereinzelten Fällen sekun¬
därer Lues mit negativem Wassermann immer einen etwas schwe¬
reren Verlauf durch maligne Form der Einzeleffloreszenzen oder
häufiges Rezidivieren, so daß vielleicht beide Erscheinungen :
Nr. .4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
149
negative Wassermann-Reaktion und schwere Form der Lues, aut
dieselbe Ursache, Mangel der Antikörperbildung, zurückzuführen
sein könnten. 1
Brandw einer bemerkt gegenüber Riehl, daß die Orbi
kuberung der Einzeleffloreszenz nicht für die Rezidivroseola als
charakteristisch angesehen werden kann, weil man dieses Phä¬
nomen, die Ringbildung, auch häufig bei den Elementen eines
hmge bestehenden Erstlingsexanthems beobachten kann.
Lipschiitz demonstriert aus der Abteilung des Primarius
Rusch (Wiedener Krankenhaus):
1. Eine 33jährige Frau mit einem Sy ring oz y s taden om.
Am Halse findet man Stecknadelkopf- bis kleinerbsengroße, leicht
vorspringende, blaßgelbliche oder gelbrötliche, mäßig derbe Knöt¬
chen, die teils einzeln, teils in kleinen Gruppen angeordnet sind
und über das Niveau der normalen Umgehung deutlich vorspringen.
Am Stamme, namentlich auf den Seitenteilen des Thorax, über
den Mammae und in der Regio epigastrica sieht man ähnliche
Effloreszenzen, jedoch von gelbbrauner Farbe und nach Art
eines Exanthems zerstreut angeordnet. Die histologische Unter¬
suchung zweier Effloreszenzen ergibt einen für Syringozystadenom
vollkommen typischen Befund.
2. Eine ältere Patientin mit größtenteils abgeheilten EHlores-
zenzen eines papulo-nekrotischen Tuberkulids auf der
Streckseite der Extremitäten und am Abdomen (in der Sclinür-
furche). ln der rechten Schultergegend findet man ferner einen
über handtellergroßen Herd, der aus drei Anteilen sich z sammen-
setzt, im Niveau der Haut liegt und einen gelbbräunlichen Farben¬
ton aufweist. Bei genauer Betrachtung läßt sich feststellen, daß
der Herd aus streifenförmigen Flecken zusammengesetzt ist, die
miteinander Zusammenhängen und ein verschwommenes Netz¬
werk bilden. Die Infiltration ist sehr gering, auf Druck blassen die
Streifen ab, es bleibt jedoch eine gelbliche Farbennuance ber
stehen. 'Teleangiektasien sind nicht nachweisbar. Die Affektion
besteht seit drei Monaten. Wir möchten mit Reserve diese
Erkrankung auf dieselbe Noxe, die für das Tuberkulid verantwort¬
lich zu machen ist, beziehen und annehmen, daß es sich um
eine entsprechend dem tiefen Gefäßnetz lokalisierte, mit geringer
Infiltration einhergehende Hautveränderung handelt. Bemerkens¬
wert ist auch die sehr häufig gerade auf der Streckseite der
oberen Extremitäten nachweisbare Cutis marmorata, sowie ferner
die Tatsache, daß eine rechtseitige Arthritis crepitans vor¬
liegt.
3. Einen bereits vor vier Wochen demonstrierten Fall von
Lupus vulgaris auf beiden Seiteinteilen des Halses, der vor
einigen Jahren der Lues gegenüber einige differentialdiagno¬
stische Schwierigkeiten bereitete.
Ehrmähn Schließt sich auch heute der Diagnose Lupus an,
die er ursprünglich vor drei Jahren gestellt. Nur mit Rücksicht
auf den drei Monate lang positiven Wassermann, dessen Be¬
deutung damals noch nicht richtig eingeschätzt wurde,, bekam
Pat. Quecksilber, auch mit Rücksicht auf den scharf annulären
Rand um das oberflächliche Infiltrat.
Jungmann: Fälle, in denen die Differentialdiagnose zwi¬
schen Lues und Lupus schwer fällt, sind ja nicht selten. Was
den vorliegenden Fall anlangt, sprechen meines Erachtens alle
Symptome für Lupus, so sehr, daß auch durch einen, positiven
Ausfall der Wassermannschen Probe die Diagnose nicht
schwankend würde.
Riehl: Ich habe den Fall schon bei der letzten Demon¬
stration ganz bestimmt als Lupus vulgaris bezeichnen müssen.
Die früher gehegte Anschauung, daß Tuberkulose und Syphilis,
Tuberkulose und Karzinom nebeneinander nicht Vorkommen, hat
sich als irrig erwiesen. Wir haben nicht selten Gelegenheit, Im¬
pose an Syphilis erkrankt zu sehen, so daß die Erscheinungen
beider Erkrankungen an der Haut sich vorfinden können. Der
Lupus syphiliticüs der Alten war 'nur eine Verlegenheitsdiagnose.
¥. Einen Patienten mit Rezidive nach einer Injek¬
tion mit dem Ehrli chschen Präparat, etwa vier Wochen
nach der Behandlung, unter dein eigentümlichen Bilde eines
Erythema multi forme und nodosum auf der Streckseite
der oberen und unteren Extremitäten.
Schindler stellt ein 17jähriges Mädchen mit einem durch
R ad i umbes trah lungern geheilten Brandnar b e n k e 1 o i d
vor. Pat. erlitt durch eine Spiritusexplosion vor 2xk Jahren Brand¬
wunden am rechten Oberarm, die späterhin zur Bildung von
großen Narbe nkeloiden führten. Drei Röntgenbestrahlungen
konnten nur eine geringe Abflachung eines kleinen Bezirkes her-
vorrufen, während die Hauptmasse der Keloide unbeeinflußt blieb.
Status praesens vor der Behandlung im Oktober 1908:
Am rechten Oberarm ein über handtellergroßes, äußerst derbes,
hartes Keloid, von bräunlichroter Farbe, auf Druck sehr schmerz¬
haft, das Hautniveau bis IV2 cm überragend. Kleinere, gleich be¬
schaffene Keloide an der volaren Fläche des rechten Vorder¬
armes, sowie über dem rechten Daumenballen.
Therapie: Bestrahlung sämtlicher Keloide mit einer Ge¬
samtbestrahlungszeit von einer Stunde pro Flächeneinheit, unter
Verwendung nahezu aller ß- und T-Strahlen. Letzte Bestrahlung
am 10. Juli 1909.
Jetzt IV* Jahre nach der letzten Bestrahlung, ergibt sich
folgender Status praesens:
Alle Keloide vollständig geschwunden, an deren Stelle die
Haut wohl narbig, aber völlig weich, elastisch, in Falten abhebbar.
In der Narbe einige leichte Pigmentationen, sowie an einigen
Stellen Teleangiektasien. Letztere lassen sich durch Elektrolyse
recht gut beseitigen. Aber auch ohne diese ist der kosmetische
Effekt ein sehr befriedigender.
Mucha demonstriert aus der Klinik Finger: 1. Einen
Patienten mit einem makulo-papulösen Exanthiem und einem wohl-
ausgebildeten Primär affe kt am Zuingenrücken. Geber den
Infektionsmodus konnte nichts Genaues eruiert werden.
2. Einen Patienten mit zwei handtellergroßen Ulzerationspro-
zessen an der Innenfläche des linken Oberschenkels. Der leicht
infiltrierte Rand zeigt sehr ausgesprochene Unterminierung, die
Inguinalgegend, sowie die umgebende Bauchhaut sind durch eine
oberflächliche Narbe ersetzt. Die Affektion besteht seit mehr
als zwei Jahren. Pat. wurde unter anderen auswärts mit zwei
Injektionen von Arsenobenzol behandelt. Es handelt sich
bei dem Patienten um ein serpiginöses Ulcus molle. Die
Autoinokulation am Arme des Patienten zeigte typische Haftung ;
außerdem konnten durch Dr. Stein Ducreysche Bazillen in
Reinkultur gezüchtet werden (Deckglaspräparate und Kulturen
werden dem onstr iert) .
Riehl: Der vorgestellte Fall ist sehr bemerkenswert, weil
eine derartige Ausbreitung eines Ulcus serpiginosum jetzt kaum
zur Beobachtung gelangt, während vor Jahrzehnten solche gan¬
gränös gewordene Geschwürsprozesse von großer Ausdehnung
häufiger vorkamen und an unserer Klinik die Wasserbetten bevöl¬
kerten.
Scher ber beobachtete vor mehreren Jahren auf der Klinik
Finger ein solches Ulcus molle serpens bei einem Mäd¬
chen, das vom linken großen Labium ausging und in Fingerbreite
(trotz der Behandlung) um den Oberschenkel bis in die Mitte
der linken Nates ging, um hier spontan zu enden.
Lip schütz erwähnt einen Fall von Ulcus molle serpigi¬
nosum, von einem schankerösen Bubo ausgehend, den er vor drei
Jahren auf der Abteilung Ehr mann zu beobachten Gelegenheit
hatte. Mikroskopisch wurden D ucreysche Bazillen nachgewiesen,
Kulturen nicht angelegt. Das Ulcus molle serpiginosum zeichnet
sich durch außerordentlich chronischen Verlauf aus, wird in der
Regel verkannt und für Lues gehalten. Die Bedeutung des von
Mucha demonstrierten Falles liegt im einwandfrei erbrachten
mikroskopischen und kulturellen Nachweis des Er¬
regers.
Ullmann: Ich habe von etwa neun bis zehn Jahren ein
extragenitales Ulcus venereum am Daumen in der Gesellschaft
der Aerzte vorgestellt und den Nachweis der Diagnose auch da¬
mals nicht nur durch den mikroskopischen Nachweis, sondern
auch durch Ueber Impfung auf die Haut des Trägers sichergestellt,
die in ihrem typischen Ablaufe einem kulturellen Nachweis in vitro
wohl gleichkommt.
Bezüglich der Therapie dieser Affektionen vermisse ich
die Wärmebehandlung, für welche W elan der und ich sich seit
vielen Jahren bemüht haben. Bei tiefgreifenden älteren Ulzera-
tionen muß natürlich der Zugang zu den sinuösen Gängen und
Nischen chirurgisch hergestellt werden.
Mucha macht Ullmann darauf aufmerksam, daß: sich
der Patient erst seit. 1. November auf der Klinik befindet und über¬
haupt noch picht behandelt "wurde, sowie daß die „606“-Injektionen
— wie ja gesagt wurde andernorts (Sarajewo) vorgenommen
wurden.
Riehl demonstriert einen Fall von Keratoma palmare
hereditär ium und ein Mädchen mit einer auf die Hand- und
Fußflächen, Streckseite der Ellenbeuge und Knie ausgebreifceten
Keratose. (Wird ausführlich mitgeteilt werden.)
Brandw einer stellt die Frage, warum Riehl die eben
genannten Formen von Ichthyosis mit atypischer Lokalisation
(Handflächen, Beugeseiten der Gelenke usw.) nicht den Nä\is
zuzählt.
Riehl bemerkt, daß zwar die Ichthyosis vulgaris eine an¬
geborene Mißbildung der Haut darstelle, man aber iiir solche
Fälle den Namen „Nävus“ nicht zu benützen pflege.
150
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 4
Oppenheim: Ich habe vor zwei Jahren einen strich-
förmigen, hyperkeratotischen Nävus der Flachhände hier vor¬
gestellt, der wohl als U ebergang zu dem Falle Riehls aufgefaßt
werden kann. Ueher zwei Finger zog vom Nagel bis zur Hand ein
5 mm breiter hyperkeratotischer Streifen, der sich in der Raima
manus zu einem größeren Streifen vereinigte, der bis zum Hand¬
gelenke zog. Wäre die Affektion diffus gewesen, so hätte sie als
diffuses Keratoma hereditarium imponieren können.
Riehl: Auch beim Keratoma palmare hereditarium kommt
manchmal eine nicht diffus die ganze Fläche der Vola und Planta
einnehmende Ausbreitung der Erkrankung vor. Man sieht nicht
selten, namentlich an den Fingern, streifenförmige Abgrenzung,
wie ja auch manchmal die Keratose auch an die Streckseite
teilweise überzugreifen pflegt. Auch der eben demonstrierte Fall
zeigt solche Streifenform des Keratöms an den Fingern.
Ul 1 mann: Die Entscheidung, ob angeborener Nävus,
Ichthyosis, Keratoma plantare hereditarium, ist bei den
plantaren Hyperkeratomen oft schwierig. So auch — wie
noch erinnerlich in dem von Rusch vorgestellten
lalle familiärer Hyperkeratoso mit anderen, nävusartigen Sym¬
ptomen, zum Teil vasomotorischer, funktioneller Natur, Neigung
zu Erythemen usw. Ich habe wiederholt schon palmare Ilyper-
keratosen gesehen, deren familiäres Vorkommen mir auffiel, die
aber als hartnäckige hyperkeratotische Ekzeme der Flachhand
aufgefaßt worden waren, im letzten Jahre z. R. bei zwei älteren
Herren, wo die Affektion bei beiden seit deren 30. oder 35. Lebens¬
jahre aufgetreten war. Diese meist als Ekzeme aufgefaßten Affek¬
tionen trotzten jeder, auch kaustischen Behandlung und hatten
entschiedenen Nävuscharakter. Es liegt die Frage vor: Gibt
es so spät auf tretende systematisierte Hautaffektionen mit Nävus¬
charakter und was hält Prof. Riehl nach seiner Erfahrung
davon ? t ; , '
Riehl: Bekanntlich finden wir unter den fötal angelegten
Mißbildungen und den hereditären Erkrankungen der Haut sehr
häufig, daß dieselben nicht sofort bei der Geburt in Erscheinung
treten, sondern erst Wochen, ja Monate und Jahre später. Die
Ichthyosis vulgaris z. B. wird meist erst im zweiten Lebensjahre
bemerkt, der Naevus Pringle entsteht um die Pubertätszeit herum.
In späteren Lebensaltern auftretende Keratosen dürften wohl in
die Kategorie sekundärer Keratosen, die auf entzündlicher Grund¬
lage beruhen, gehören (Tylosis, Arsenkeratose usw.).
Sachs hatte Gelegenheit, einen Fall aus der Breslauer
Dermatol ogi sehen Klinik im Institut Hof rat Pal tauf histologisch
zu untersuchen. Bei einem achtjährigen Mädchen fanden sich außer
einer mäßigen Ichthyosis simplex des ganzen Körpers, in der
rechten Achselhöhle ein xanthomähnlicher Nävus, an den Fin¬
gern und Zehen verruköse Naevi lineares. Es lassen sich wohl
unschwer die Ichthyosis und die histologisch differenten Nävi
unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt eines Bildungsfehlers als
Nävi auffassen.
Riehl: Bei Bildungsanomalien der Haut scheint es nicht
auffallend, daß dieselbe in verschiedenen Formen bei einem
Individuum auftritt, z. B. bei Ichthyosis ein gewöhnlicher oder
ein Gefäßnävus. Auch bei der Reck 1 ingh au sen sehen Erkran¬
kung sind ja gleichfalls oft verschiedene Entwicklungsstörungen
beschrieben (Pigmentationen, Fibrome usw., manchmal mit Mißr
bildungen am Skelette kombiniert).
Reitmann stellt einen Fall von Urticaria pigmen¬
tosa vor.
Kerl demonstriert aus der Klinik Riehl einen Fall von
Lepra. Der Pat. stammt aus Palästina. Die Erkrankung begann vor
sechs Jahren. Das Gesicht des Patienten erscheint stark elephan-
tiastisch, insbesondere sind die Lippen und Ohrläppchen, Helix
und Antihelix aufgetrieben. Die Nase an ihrer Wurzel verbreitert,
ylie Nasenspitze ist knopfartig gewulstet. Die Farbe der Gesichts¬
haut ist düster braunrot, die Oberfläche infolge stecknadelkopf- bis
erbsengroßer Infiltrate, die sich über das Niveau vorwölben, grob¬
höckerig. In der Kutis und Subkutis tastet man bis haselnußgroße
Knoten, die zum Teil zu plattenartigen Infiltraten verschmelzen.
Die Braunfärbung der Haut ist über diesen Infiltraten intensiver.
Augenbrauen, Wimpern und Schnurrbarthaare fehlen fast voll¬
ständig. ; , j j ! j | ; ; |
Am Halse, sowie auf den Achseln beiderseits und den
Streckseiten der Extremitäten knotige Infiltrate, die im Zentrum
bisweilen grubige Vertiefung zeigen; die Knoten über den Hand¬
gelenken sind teilweise exulzeriert. Vola manus ist frei von Ver¬
änderung. Im geringen Grade an den Armen, vorwiegend aber
am Stamme, sieht man zahlreiche, düster braunrote und auch
weiße, fleckige Herde, die sich scharf abgrenzen und ein land¬
kartenartiges Aussehen bieten. Die braunen Flecke zeigen stellen¬
weise leichte Schuppung.
Allgemeine Drüsenschwellung.
In der Mundschleimhaut, sowie im Kehlkopfe, wie der
Befund der Klinik Chiari ergibt, zahlreiche Infiltrate. Aus dem
Befund der Nervenklmik ist hervorzuheben, daß die Nervenstämme
nicht druckempfindlich sind, die taktyle Sensibilität am Dorsum
manus et pedis für feine Berührung aufgehoben. Im Gebiete des
Schultergürtels und der Oberarme wird warm als kalt empfunden,
ebenso besteht in diesem Gebiete Hypalgeisier
Bazillenbefund im Nasensekret und Speichel positiv, im
Harn und Stuhl, sowie im Blut (Pat. fiebert nicht) negativ.
Wasser mannsche Reaktion positiv.
Kren demonstriert aus der Klinik Riehl einen 45jährigen
Patienten, der vor zwei Jahren unter leichtem Jucken mit Rötung
der Haut erkrankt ist. Der Patient befindet sich ein halbes Jahr
in der Klinik und zeigt während seines ganzen Spitalsaufenthaltes
dasselbe monotone Bild, das man jetzt an ihm sieht. Das Inte¬
gument ist universell blaurot verfärbt, mit leicht brauner Pigmen¬
tierung und verdickt. Dabei besteht deutliche Lichenifikation
und fettige Abschuppung. Die Schuppen haben Linsengröße;
Hände und Füße weisen, besonders an der palmaren und plantaren
Seite, vielfach Rhagadisierung auf. Die Nägel zeigen Ernährungs¬
störungen. Außerdem bestehen disseminierte, zirka hellergroße,
kreisrunde Flecke kompletter Depigmentation, an denen die rosarot
entzündete Haut von der allgemein blau-braunroten deutlich ab¬
sticht. Ueber dem Sternum konfluieren diese depigmentierten
Flecke zu einem größeren Herde. Alle tastbaren Drüsen sind
indolent geschwollen und inguinal und krural bis zu Nußgröße,
intumesziert. j ( i “9
Als Sekundärerscheinungen sind zeitweise auftretende Pu¬
steln und auch tiefsitzende, oft breite, wenig schmerzhafte Infil¬
trate aufzufassen, die sich allmählich entwickeln, niemals akut
entzündliche Symptome zeigen, aber doch unter einfacher Per¬
foration oder auch unter vielfacher, einem Karbunkel ähnlich,
abszeclieren und wieder zur Ausheilung gelangen.
Die interne Untersuchung ergibt Leber- und Milzschwellung,
der Urin weist öfters Spuren von reduzierenden Substanzen in
geringer Menge auf. Die Blutuntersuchung ergibt: Erythrozyten
4,500.000, Leukozyten 12.600, u. zw. polynukleäre 68°/o, Lympho¬
zyten 16%, Uebergangsformen 11%, Eosinophile 4% und Mast¬
zellen 1%.
Kren stellt den Fall zur Diagnose vor.
Aehnliche Fälle sind an der Klinik schon einige zur Beob¬
achtung gekommen. Das Bild ist. stets gleich monoton. Auch die
fleckige Depigmentation war in den meisten Fällen vorhanden.
Einige Fälle konnten längere Zeit beobachtet werden. Eine Pa¬
tientin ist unter den Symptomen dieses Krankheitsbildes, schließr
lich auftretenden Diarrhöen und Schwächezuständen ad exitum
gekommen. | •(
Dohi hat während seiner zwölfjährigen Tätigkeit an der
Klinik in Tokio zwölf derartige Fälle gesehen und war zunächst
auch nicht in der Lage, eine bestimmte Diagnose zu stellen,
glaubt aber jetzt, diese Fälle in die Gruppe der Pityriasis rubra
Hebrae einreihen zu müssen, wenn auch die im weiteren Ver¬
laufe auftretende Atrophie nicht immer sehr deutlich ausgespro¬
chen ist und sich eine Tuberkulose der Drüsen nicht nachvveisen
läßt, ln den im Verlaufe der Erkrankung auftretenden Abszessen
fanden sich stets nur Staphylokokken.
Kren demonstriert weiters aus der Klinik Riehl einige Fälle
von Syphilis, behandelt mit Arsenobenzol. Sehr gute Erfolge
mit enorm rascher Heilung zeigten ein ulzeröses, serpiginöses
Syphilid, ein hämorrhagisch-ulzeröses, disseminiertes Syphilid und
ein seit Jahren bestehendes ulzeröses Syphilid, während auch
zwei Fälle kompletten Versagens der Therapie demonstriert wer¬
den. Ein Fall betrifft eine jugendliche Patientin mit psoriasi¬
formem Syphilid, die jetzt auf Quecksilber prompt reagiert: ein
zweiter Fall, ein Knochengumma am linken Supraorbitalrand,
zeigte ebenfalls keinen Heileffekt.
Verein der Aerzte in Oberösterreich.
Sitzung vom 1. Dezem her 1910.
Prim. Dr. D oberer stellt einen 74jährigen Mann vor, bei
welchem er am 28. Okt. d. J . wegen schwerer Neuralgie aller drei
Aeste des Nervus trigeminus die Totalexstirpation des Gan¬
glion Gassed auf dem temporal -sphenoidalen Wege mit Trennung
des Jochbogens vorgenommen hatte. Der Vortragende hebt die
Vorzüge dieser Methode gegenüber der hohen temporalen hervor.
Namentlich ist jegliche Entstellung vermieden, die tiefe und
beschränkte Eröffnung des Schädels erleichtert die Vermeidung
eines zu starken Druckes auf das Gehirn beim Aufheben desselben
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
151
durch den Spatel, vereinfacht die Ligatur der Arteria meningea
media und kürzt den Weg zum Ganglion ab.
Im vorliegenden Falle gelang die Exstirpation des Ganglions,
das auffallend atrophisch aussah, mit Vermeidung jeglicher Blu¬
tung aus dem Schädelinnern. Das bei der Eröffnung des Schädels
heransgenommene und einstweilen in Kochsalzlösung aufbewahrto
Knochenstück wurde wieder eingesetzt und heilte per primam
ein. Der alte Mann überstand die 58 Minuten dauernde Operation
gut und ist von seinem qualvollen Leiden völlig befreit. Nur
traten 14 Tage nach der Operation starke Kopfschmerzen auf,
die ungefähr zehn Tage anhielten und unter Verabreichung von
Phenazetin verschwanden. Der Vortragende glaubt diese Kopf¬
schmerzen auf die Kallusbildung zurückführen zu können.
Weiters stellt Prim. Dr. D oberer einen 60jährigen Mann
vor, bei dem wegen Py 1 or u s k arz in'om die Resektion nach
Kocher vorgenommen worden war. Erst nach beendigter Re¬
sektion wurde am hinteren unteren Rande der Leber ein walnu߬
großer, mit einem Krebsnabel versehener mietastatischer Knoten
entdeckt. Da sich der Kranke trotzdem' sehr erholte, mit Appetit
und ohne Beschwerden essen kann und an Körpergewicht zunahm,
gibt, der Vortragende auf Grund dieses Falles der Meinung Aus¬
druck, daß es bei beweglichen und der Resektion noch zugäng¬
lichen Pyloruskarzinomen selbst bei Metastasenbildung besser
ist, die Resektion vorzunehmen, statt, sich mit der Gastroentero¬
stomie zu begnügen, wenn es sich während der Operation zeigt,
daß der Kranke die länger dauernde Resektion noch auszuhalten
imstande ist, weil der Kranke viel besser daran ist, wenn er
für seine restliche Lebenszeit vom Tumor befreit ist und einen
gut funktionierenden Magen besitzt und sein späteres Zugrunde¬
gehen an den Krebsmetastasen und Krebskachexie entschieden
weniger qualvoll ist.
Unter den im Anschluß daran vorgeizeigten Präparaten findet
sich auch ein Jahre lang bestandenes Ulcus pylori, welches
mit dem Pankreas verwachsen war und bei dessen Resektion
einzelne Pankreasläppchen abgetrennt werden mußten. Es wurde
deshalb ein Tampon auf das Pankreas gelegt, und tatsächlich
wurde ein© Zeitlang nach der Operation durch den Tampon Pan¬
kreassekret ausgeschieden. Der Vortragende meint, daß in diesem
Falle ohne Tamponade der Kranke nicht davongekommen wäre.
Diskussion: Prim. Dr. Spechtenhauser, Dr. v. Bo-
nelli.
Prim. Dr. E. Lindner stellt einen Kranken vor mit fol¬
genden Symptomen : Lähmungserscheinungen im Gebiete des
fünften, siebenten und achten Himnerven links; gekreuzt: ge¬
ringer inten tioneller Tremor am Anne, leichter Kraftausfall mit
Hyperreflexie und Babinski am Bein, totale sensible Lähmung,
okulopupilläre und Schweißsekretionsstörungen. Der Vortragende
bespricht Lokalisation und mögliche Anthologie und hebt mit Rück¬
sicht auf die kontralateralen Störungen sympathischer Bahnen die
Unvereinbarkeit mit der Annahme, daß die zentralen okulo¬
pupillären Bahnen schon oberhalb des Pons ihre Kreuzung er¬
fahren (Hoffmann, Marburg) hervor. (Erscheint in extenso
an dieser Stelle).
Dr. G. Stiefle r demonstriert an! einer 42jährigen Fabriks¬
arbeiterin eine degenerative Lähmung der linken Schulter- Arm¬
muskeln (Kukullaris, Supra- und Infraspinatus, Serratus1 anticus
major, Pektorales, Teretes, Subskapularis, Deltoideus, Trizeps,
Bizeps) mit schwerer Atrophie, Fehlen des Skapulohumeral-
und Trizepssehnenreflexes, mit Erloschensein, bzw. qualitativer
und quantitativer Veränderung der elektrischen Erregbarkeit in
den befallenen Muskeln. Die linke Schulter ist nach vorne über¬
gesunken. Der Supinator longus funktioniert gut, leichte Parese
der Strecker von Hand und Finger. Gleichseitige dissozierte Ge¬
fühlslähmung u. zw. schwere Hypästheisie bis Anästhesie für
Schmerz und Temperaturen in einem scharf abgrenzbaren Gebiete,
das den ganzen Oberarm, die Thoraxhälfte von der segmentären
Zone in der Höhe der sechsten Dorsalwurzel nach aufwärts zu
betrifft und über Hals und Nackein kapitalwärts bis zu einer Linie
reicht, die vom Kinn schräg übelr die Wange zum oberen Ohr-
musohelansatz und von da bis zum Scheitel zieht; dorsal am1
Kopfe und Nacken bildet, wie an Hals, Brust und Rücken die
Mittellinie die Grenze. Der Tastsinn weist, auch bei Prüfung mit
feinem Haarpinsel, keine. . erkennbaren Störungen auf. Motilität
und Sensibilität der unteren Gliedmaßen sind frei,, ebenso Blase
und Mastdarm.
Vortr. bespricht die Differentialdiagnose (u. a. Plexuslähmung
und Hysterie, Poliomyelitis anterior chronica — Oppenheim,
Rossoli mo: — , intramedullärer Tumor) und kommt zur Diagnose
eines h um er o s kap u 1 a r eh Tylpus von Syringomyelie,
wofür auch der Befund vorhandener kongenitaler Entwicklungs¬
störungen (Kyphose, zentrale Trübung der rechten Linse) sprechen
würde. Bemerkenswert zur Diagnose der Syringomyelie im vor¬
liegenden Falle ist die „segmentale“ Begrenzung der Scnsibilitäts-
störung am Thorax, während das analgetische Gebiet am linken
Arme (ausschließliches Befallensein des Oberarmes bei Freibleiben
des1 Unterarmes und der Hand) die „geometrische“ Abgrenzung
illustriert, ferner das Uebtergreifen der Sensibilitätsstörung auf
das Gesicht (Scheitel-, Ohr-, Kinnlinie, v. Sölder). Zu erwähnen
ist auch die relativ rasche Entwicklung (binnen mehrerer Monate),
angeblich im Anschlüsse an ein, geringes Trauma (Anstoßen des
linken Ellbogens bei der Arbeit).
Diskussion: Lindner pflichtet der diagnostischen Auf¬
fassung bei und betont unter Bezug auf das hiesige Krankenbaus¬
material die Häufigkeit der Syringomyelie gegenüber der Tabes.
Prof. Schm it bespricht kurz die Breuss che Hämatom¬
mole und demonstriert zwei Präparate, welche für die David-
sohnsche- Ansicht zu sprechen scheinen, nach der sich solche
Molen auf Grundlage eines primären Hydramniom des Eies ent¬
wickeln.
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 19. Dezember 1910.
Prim. Dr. Mägen demonstriert ein 22jähriges Dienstmädchen,
bei dem die Diagnose auf Tumor des dritten und vierten
Brustwirbels mit Kompression des' Rückenmarkes gestellt
wurde. Nach operativer Entfernung der erkrankten Wirbelteile
(Prim. Bakes) weist Pat. gegenwärtig eine wesentliche Besse¬
rung auf, indem sich alle Erscheinungen von seiten des Rücken¬
markes langsam rückbilden.
Prof. Dr. Sternberg: Demonstration zur Kasuistik
der Fremdkörper im Respirations- und Verdauungs¬
trakt.
a) Pflaumenkern im rechten Haupt bronchus bei
einem 7jährigen Mädchen.
b) Knoc h en stück i m r e c h t e n H a u p t b r onchus an
der Abgangstelle des Astes für den Mittellappen. Der Fall betraf
eine 74jährige Frau ; es bestand eine putride Bronchitis mit
Erweiterung der Bronchien im rechten Mittel- und Unterlappen
und umschriebenen gangränösen Herden. An der Stelle, an welcher
das Knochenstück (offenbar ein Teil des Sternums eines Huhnes)
lag, fand sich ein Dekubitalgeschwür. Das Knochenstück war
(in Anbetracht des Lungenbefundes) jedenfalls schon einige Zeit
vorher aspiriert worden. Anamnese war nicht erhältlich.
c) 4 cm langes, dreieckiges Glasstück in einem mit
Jauche gefüllten Kavum neben dem Oesophagus; dieser
war perforiert. Es bestand eine eitrige Mediastinitis und ein aus¬
gebreitetes Hautemphysem. Der Fall betraf einen 46jährigen
slowakischen Bauer, der moribund ins Spital eingeliefert wurde.
Das Glasstück scheint einer grüner Wein- oder Schnapsflasche
anzugehören.
d) 3 etm langes Knochen stück (Rippe eines Huhnes),
das im Oesophagus quer verspreizt war, denselben an zwei
Stellen perforiert hatte und in den Herzbeutel einge-
drung-en war. Es bestand ein Pyopneumoperikard. Der Ana¬
mnese zufolge hatte, die 37jährige Frau fünf Wochen vor ihrem
Tode ein Knochenstück geschluckt; es sei ihr in der Speiseröhre
stecken geblieben und von einem Arzt mit der Sonde hinunter-
g ©stoßen worden.
©) Verstopfung des Rachens und Kehlkopfei n-
ganges durch einen mächtigen Bissen „Kuttelfleck“.
Der 52jährige Mann war in einer Schnapsboutique plötzlich ge¬
storben (sanitätspolizeiliche Sektion).
f) Nadelstück in ebneim Bruchsack. Zufälliger Be¬
fund bei einer Herniotomie an einem 57jährigen Mann; über
die Provenienz der Nadel war nichts zu erfahren; wahrscheinlich
dürfte sie wohl aus dem Darme ausgewandert sein.
g) Großer Gallenstein, der einen Verschluß des Tlcums
bei einem 43jährigen Mann bewirkt hatte.
Diskussion: Stadtpbvsikus Dr. Kok all: Gegen Ende
April vorigen Jahres wurde ich am Abend zu einer Patientin
gerufen, welche angab, während des Essens von Lammbraten
bei stärkerem Lachen das Gefühl empfunden zu haben, sie hätte
dabei etwas aspiriert. Die auffallend große, kräftige, 50jährige
Frau bot bei der Untersuchung keine Zeichen eines Fremd¬
körpers der Luftwege, keine Dyspnoe, keine Geräusche; Perkus¬
sionsschall beiderseits hell, normale Atemgeräusche, Stimm-
fremitus beiderseits gleich. Es bestand nur gelegentlicher Husten
und ein subjektives Gefühl des Fremdkörpers. Bei zuwartender
Behandlung schwanden in den nächsten Tagen diese Erschei¬
nungen1. Bei einem Aufenthalt© in Wien konsultierte die Frau nach
152
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 4
Angabe anfangs Mai einen Kliniker, welcher gleichfalls nichts
nachweisen konnte; auch eine Röntgenuntersuchung fiel negativ
aus. Die Frau befand sich die ganze Zeit über wohl. Ende Mai
ließ mich die Patientin wieder rufen und erzählte, daß, während
sie im Garten, am Bauche liegend, einer Lektüre oblag, sich
plötzlich starker Hustenreiz einstellte und eine größere Menge
eitrigen Schleimes ausgeworfen wurde, den ich noch vorfand.
In diesem Auswurf fand sich zum allgemeinen Erstaunen tatsäch¬
lich ein usurierter Schwanzwirbel eines Lammes von 11 mm Breite
und 13 mm Höhe, den Pat. somit einen Monat lang ohne Beschwer¬
den in einem Bronchus trug. Daß die physikalische Untersuchung
negativ ausfiel, erkläre ich mir durch die Annahme, es sei dieser
Wirbel so in dem Bronchus gesteckt, daß der Wirbelkanal des¬
selben die Luftpassage ermöglichte. Der negative Befund der
Röntgenaufnahme ist nur durch das Uebereinanderfallen. einer
Rippe oder der Wirbelsäule mit dem Fremdkörper bei der Durch¬
leuchtung erklärlich. Im übrigen war und blieb die Frau seit dieser
Zeit vollkommen gesund.
Dr. J.-Löw erwähnt einen Fall von Gallens teinileus, den
er vor Jahren im Rudolfspital in Wien beobachtet hat. Die
Diagnose wurde in diesem Falle durch das Fehlen des Meteorismus
bei bestehendem Koterbrechen und durch anamnestische Daten
(Gallensteinkolik) ermöglicht. Der Mangel eines Meteorismus er¬
klärt sich in solchen Fällen dadurch, daß das Hindernis öfter
in den oberen Darmabschnitten sitzt.
Verein deutscher Aerzte in Prag.
Sitzung vom 16. Dezember 1910.
Dr. Zörkendorfer (Marienbad): Ueber das Verhalten
von Albuminurie und Zylindrurie während des Kur¬
gebrauches.
An der Hand eines1 umfangreichen Materiales berichtet Vor¬
tragender über die Häufigkeit der Albuminurien und Zylindrurien
unter dem Marienbader Kurpublikum. Von allen im städtischen,
hygienischen und balneologischeh Institut in Marienbad zur Unter¬
suchung einlaufenden Harnen, waren 62-2 % Albuminurien, Zylin-
drurien und kombinierte Fälle. Davon enthielten 40-4% Eiweiß und
Zylinder, 15-8% Eiweiß ohne Zylinder und 6% Zylinder ohne
Eiweiß.
Zur Beurteilung wurden nur die altbewährten sicheren Ei¬
weißreaktionen herangezogen. Fälle mit undeutlicher oder Mini¬
malreaktion sind nicht unter die Albuminurien aufgenommen.
Die überwiegende Mehrzahl betrifft Patienten mit Stoffwechsel¬
erkrankungen (Fettsucht, Gicht, Diabetes) und Gefäßerkrankungen
(Arteriosklerose). Hinsichtlich der Formen der Nephritis steht Vor¬
tragender auf dem Standpunkte der einheitlichen Auffassung im
Sinne v. Strümpell s'.
Die Zahl der wiederholt untersuchten’ Fälle betrug 546, davon
480 reine Fälle und 66 mit Blut oder Eiter kombinierte (Nephro¬
lithiasis, Pyelonephritis). Von den reinen Fällen schwand die Al¬
buminurie in 30% vollständig, in 51-2% wurde sie verringert,
in 11-5% blieb sie gleich und in 7-3% trat eine Vennehrung ein.
Die Zahl der günstigen Fälle betrug somit bei den reinen Fällen
81%, bei den mit Blut und Fiter kombinierten 77%.
Prof. Dr. Fr. Pick: Ueber neuerte Untersuchungs¬
methoden der oberem Luftwege.
Die ursprünglich angegebene Autoskopie ist seither, nament¬
lich von Killian in Freiburg und seinen Schülern (Br fin¬
ning u. a.) weiter ausgebäut worden, so daß sie eine direkte
Besichtigung der gröberen Aeste des Bronchialbaumes gestattet.
Er erörtert die Indikationen dieser bron choskopischen Methode,
die namentlich auf dem Gebiete der Fremdkörper schon sehr große
Erfolge aufzuweisen hat. Weiters bespricht er das nach dem Prin¬
cipe der Blasenendoskopie gebaute Pharyngoskop von Hays und
Flatau, welches in vielen Fällen einen ausgezeichneten Ein¬
blick in den Kehlkopf gewährt und das für manche Patienten
so lästige Vorziehen der Zunge vermeidet, ferner das Laryngo-
Stereoskop von Hege n er, welches binokulares Sehen des laryngo-
skopischen Bildes gestattet und dadurch ein körperliches1 Sehen
ermöglicht. Endlich als ein, auch für den Praktiker ohne elek¬
trische Beleuchtung verwendbaren Fortschritt, den anastigma¬
tischen Vorgrößerungsspiegel von Briinning, der das Kehl¬
kopfbild heller und auf das Doppelte vergrößert liefert.
0. W.
Programm
der am
Freitag: den 37. Januar 1911, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Regierungsrat Dr. H. Adler stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Hofrat Prof. Weichselbaum : Ueber Veränderungen des Pankreas
bei Diabetes mellitus.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Prof. Härtner, Dr. Hecht
und Köliler, Clairmout und llandek, S. Federn, Max llerz, Julius
Neumann und Ed. Hermann.
13 e r g m e i s t e r, P a 1 1 a u f.
Um die rechtzeitige Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer noch am SitzunKsabend zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der pädiatrischeu Sektion findet im Hörsaale der
Klinik Escherich Donnerstag den 26. Januar 1911, um 7 Uhr
abends, statt.
(Vorsitz: Priv.-Doz. Dr. L. Jelile.)
Programm:
1. Demonstrationen.
2. Dr. E. Mayerhofer: Chemische Teilerscheinungen des Säug¬
lingsharnes und ihre klinische Bedeutung.
3. Dr. M. Jerusalem: Die Sonnenlichtbehandlung der chirurgischen
Tuberkulose in Leysin.
Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 80. Januar 1911, 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz
des Herrn Prim. Priv.-Doz. Lotheisen stattfindenden wissenschaftlichen
Versammlung.
Prof. Dr. .1. Schnitzler: Aus dem Kapitel der Darmstenosen.
Oesterreicbische otologische Gesellschaft.
Programm der Montag den 30. Januar 1911, 6 Uhr abends, im Hörsaal
der Klinik Urbantscliitsch stattfindenden wissenschaftlichen Sitzung.
Demonstrationen. Angemeldet die Herren Hondy, Häräny, Ruttin,
E. Urbantscliitsch, Frey, Heck, Froeschels, Gotscher.
Bondy, Schriftführer.
Oesterreichische Gesellschaft für Gesundheitspflege.
Wien I X/2, Kinderspitalgasse 15 (Hygienisches Institut).
Dienstag, den 81. Januar 1911, um 7 Uhr abends, Vollversammlung
im Hörsaale des k. k. hygienischen Universitäts-Institutes, IX., Kinder¬
spitalgasse 15.
Tagesordnung:
1. Mitteilungen des Vorsitzenden.
2. Vortrag des Herrn Hofrates Univ.-Prof. Dr. Richard Paltauf:
Zur Pathologie der Wut (mit Demonstrationen).
Gäste sind willkommen.
Der Präsident: Prof. Dr. A. Schattenfroh.
Großes Konzert
zum Besten der Hinterbliebenen des Dr. Richard Franz in
Riedau.
Das „Wiener Aerzteorchester“ veranstaltet zum Besten
der Hinterbliebenen des1 in so tragischer Weise aus dem Leben
geschiedenen Gemeindearztes Dr. Richard Franz in Riedau
Sonntag, den 5. Februar d. J., um 8 Uhr abends, im großen
Musikvereinssaale ein Konzert, zu welchem in Anbetracht des
ganz ungewöhnlichen wohltätigen Zweckes Frau Kammersängerin
Selma, Kurz-Halba n, Frau Opemsängerin Elizza-Kopetzky,
F rau Hof opernsängerin Jenny P o 1 d n e r - G r 0 ß, Frau Lotte E g e r t-
Kusmitsch, Frau Mimi Rethi-Michner, Frl. Krüger, Herr
Kammervirtuose Alfred Grünfeld und Kammersänger Herr
Richard Mayr ihre Mitwirkung zugesagt haben. Aus den Kreisen
der Gattinnen der Kliniker und Professoren hat sich ein Damen¬
komitee gebildet, welches; seine Dienste mit Rücksicht auf die
Veranlassung des Konzertes zur Verfügung stellt. Der Karten¬
verkauf beginnt am 27. d. M. bei der k. k. Gesellschaft der
Musikfreunde und in der k. k. Gesellschaft der Aerzte.
Verantwortlicher Redakteur: Karl Knbasta. Verlas von Wilhelm Braumttller in Wien
Druck von Bruno Bartelt. Wien Will., Tfieresiensas^e 3
Wiener klinische Wochenscliri
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
*
G. Braun, 0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S. Exner. E. Finger, M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko. H. Meyer, J, Moeller,
K. v. Noorden. H. Obersteiner, A. Politzer, A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler, G. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Theodor Escherich, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs. Julius Hochenegg, Ernst Ludwig
Edmund v. Neusser, Richard Paltauf. Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618
XXIV. Jahrg. Wien, 2. Februar 1911 Nr. 5
INHALT:
1. Originalartikel : 1. Ueber die Veränderungen des Pankreas bei
Diabetes melitus. Von A. Weichselbaum. S. 153.
2. Aus dem städt. hygienischen und balneologischen Institut in
Marienbad. Ueber das Verhalten von Albuminurie und Zylin-
drurie während des Kurgebrauches. Von Dr. Karl Z ör ken¬
do rf er, Stadtphysikus und Vorstand des Instituts. S. 159.
3. Ein dem „Beinphänomen“ der echten Tetanie in seinem klini¬
schen Aussehen gleichendes, vielleicht richtiger als „Pseudo-
Beinphänomen“ zu bezeichnendes Symptom in einem Falle von
Pseudotetania hysterica. Von Dr. W. Buettner, Riga. S. 162.
4. Aus der serodiagnostischen Untersuchungsstation der Klinik
für Geschlechts- und Hautkrankheiten in Wien. (Vorstand:
Prof. E. Finger.) Vergleichende Globulinmessungen an luetischen
Seris. Von Dr. R. Müller, Assistenten der Klinik und
W. H. Hough, Washington. S. 167.
5. Aus dem Rudolfinerhause in Wien (Döbling). (Vorstand: Ileg.-
Rat Dr. R. Gersuny.) Zur Frage der Epithelmetaplasie. Von
weil. Dr. Alfred Hermann, gewesenen Assistenten. S. 168.
II. Oeffentliclie Gresuinllieilspflege: Das Krankenhaus Lilienfeld.
Ein Beitrag zur Frage der Regelung des Krankenhauswesens
auf dem flachen Lande. Von Dr.Franz Schönbauer, Direktor
des k. k. Wilhelminenspitales. S. 169.
III. Sammelreferat : Tuberkulose. Von Dr. M. Weisz.
IV. Referate : Chirurgie und Orthopädie im Kindesalter. Von
Prof. Dr. F. Lange, München und Priv.-Doz. Dr. Hans
Spitzy, Graz. Precis du traitement des fractures. Par le
Dr. Just Lucas-Championniere. Ref. : 0. v. Frisch.
V. Aus verscliicdeueu Zeitschriften.
VI. Vermischte Nachrichten.
VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßbericlite.
Ueber die Veränderungen des Pankreas bei
Diabetes melitus.*)
Von A. Weich selbauiu.
Seitdem man den Diabetes melitus kennt, hat man
sich bemüht, die Entstehungsart seiner Symptome, nament¬
lich der Glykosurie, zu erforschen. Ich will Sie aber, meine
Herren, nicht, etwa mit der Darstellung der verschiedenen
im Laufe der Zeit aufgestellten Hypothesen ermüden, son¬
dern begnüge mich hier, nur soviel ans der Geschichte des
Diabetes herauszugreifen, als zum Verständnis meines Vor¬
tragsthemas notwendig ist. Wenn ich hiebei nur wenige
Autoren namentlich anführe, so wollen Sie dies mit Rück¬
sicht. auf die Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit
entschuldigen.
Nachdem man die Ursache der Glykosurie einmal in
diesem, einmal in jenem Organ gesucht hatte, war es llou-
chardat, welcher im' Jahre 1845 als erster auf Grund
von Obduktionsbefunden die Ansicht aussprach, daß dein
Diabetes eine Erkrankung des Pankreas zugrunde liege.
Freilich waren ihm auch Fälle von Diabetes bekannt, in
denen das Pankreas normäl erschien; aber zur Erklärung
dieser Fälle behalf er sich mit der Annahme (einer funk¬
tionellen Störung des Pankreas. Zur Bekräftigung seiner
Ansicht versuchte er auch bei Tieren das Pankreas izu
exstirpieren, aber die Tiere gingen an Peritonitis zugrunde..
*) Vortrag, gehalten in der k. k. Gesellschaft der Aerzte am
27. Januar 1911.
Die Ansicht B o u c h a r d at s erhielt eine weitere Stütze
durch die von Lapierre über Anregung von L an cere au x
vorgenommene Zusammenstellung der bisherigen Obduk¬
tionsbefunde bei Diabetes. Er konnte nämlich aus der Lite¬
ratur 65 Fälle von Diabetes mit Veränderungen des .Pan¬
kreas, die stets in einer Atrophie des Organs bestanden,
zusammenstellen, meinte aber, daß die von Lancereaüx
als Diabete miaigre bezeichnete Form auch ohne Verände¬
rung des Pankreas entstehen könne.
Die von Bou Chard at aufgestellte Ansicht, daß der
Diabetes auf einen Ausfall der äußeren Sekretion des Pan¬
kreas zurübkzuführen sei, wurde wieder erschüttert, durch
Tierversuche französischer Autoren, welche nach Unterbin¬
dung des Ausführungsganges oder der Ausführungsgänge
des Pankreas einen völligen Schwund des Parenchyms beob¬
achteten, ohne daß aber Glykosurie aufge treten war.
Eine sehr bedeutungsvolle Wendung in der Diabetes¬
lehre trat ein, als v. Mering und Minkowski i uv Jahre
1889 die Versuche der Exstirpation des Pankreas bei Tieren
wieder aufrfahmen u. zw. mit Erfolg, indem hiebei regelmäßig
ein schwerer Diabetes entstand. Da später von Minkowski
sowie von Hedon und von Thiroloix gezeigt, werden
konnte, daß kein Diabetes auftritt, wenn man bei der Exstir¬
pation des Pankreas ein Stück vom letzteren zurückbehält
und unter die Bauchhaut verpflanzt, so war hi emit ein neuer
Beweis dafür geliefert worden, daß die Entstehung des Dia¬
betes nicht, mit dem Wegfalle der äußeren Sekretion des
Pankreas Zusammenhängen könne; es lag deshalb nahe,
an eine innere Sekretion des Pankreas zu denken und, wie
151
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
es Lepine ausspradh, den Ausfall dieser für die Entstehung
des Diabetes verantwortlich zu machen.
Im Jahre 1893 stellte Lag ues se die Behauptung auf,
daß die sogenannten L an gerli ans sehen Inseln, welche
man zwar schon seit mehr als 20 Jahren kannte, über
deren Funktion aber die verschiedensten Ansichten geäußert
worden waren, besondere Organe darstellen und daß sie
wahrscheinlich ein inneres Sekret liefern.
Zwei Jahre darauf ging Schäfer noch weiter, indem
er den Langerhansschen Inseln nicht nur eine innere
Sekretion zuerkannte, sondern diese sogar mit dem Zucker¬
stoffwechsel in Verbindung brachte und meinte, daß man
den Pankreasdiabetes leicht erklären könnte, wenn man an
Stelle des Drüsenparenohyms, welchem bisher sowohl eine
äußere als innere Sekretion zugeschrieben worden war, die
Inseln setzen würde. Allerdings lagen dieser Hypothese
noch keine Untersuchungen derj Inseln bei Diabetes zugrunde.
Inzwischen — u. zw. schon iiri Jahre 1894 — war eine
größere pathologisch - anatomische Arbeit über Diabetes von
v. Hanse mann erschienen, deren Ergebnis darin gipfelt,
daß bei Diabetes am! häufigsten eine einfache Atrophie des
Drüsenparenchyms gefunden werde, die aber einen spe¬
zifischen Charakter besitzt und von ihm! als Granularatrophie
des Pankreas bezeichnet wurde. Nach ihm! besteht die we¬
sentliche Funktion des Pankreas in bezug auf das Verhältnis
zum Zuckerstoffwechsel nicht in einer äußeren, sondern
in einer inneren Sekretion und diese ist es, welche nach
seiner Ansicht bei der Granularatrophie des Pankreas, also
bei einer Atrophie des Drüsenparenchyms, alteriert wird,
v. Hansemann legte also bei der Erklärung des Diabetes
den Akzent auf die Veränderung des Drüsenparenchyms
und zwar in dem! Sinne, daß hiedurch die innere Sekretion
des letzteren gestört werde.
Einige Jahre vor ihm (1891) hatten aber Lemoine
und L anno is nicht in einer Veränderung des Drüsenparen¬
chyms das Wesen des Diabetes erblickt, sondern in einer
Veränderung der Blut- und Lymphgefäße des Pankreas, näm¬
lich in einer Sklerose derselben, da hiedurch die Resorption
des vom Drüsenparenchym gelieferten inneren Sekretes er¬
schwert, und so eine Störung des Zuckerstoffwechsels ver¬
ursacht, werde. Die Frage jedoch, ob auch Veränderungen
der Inseln hei Diabetes eine Rolle spielen, haben weder diese
Autoren, noch v. Hansemann in Betracht gezogen.
Eine Wandlung in dieser Beziehung trat aber dann
ein, als Di am are im Jahre 1899 noch bestimmter als es
Schäfer getan hatte, den Satz formulierte, daß die Inseln
durch ihre innere Sekretion einen maßgebenden Einfluß
auf den Zuckerstoffwechsel ausüben. Es entstand jetzt nach
und nach eine sehr reiche Literatur über die Frage, ob die
Inseln bei der Entstehung des Diabetes eine wichtige Rolle
spielen oder nicht.
Ich selbst hatte schon im Jahre 1901 in einer gemein¬
schaftlich mit Dr. S tan gl ausgeführten Arbeit berichtet,
daß wir in 18 von uns untersuchten Fällen von Diabetes
auffällige Veränderungen in den Inseln gefunden hatten
und in einer ein Jahr später erschienenen Arbeit, welche
sich auf die Untersuchung von weiteren 15 Fällen von Dia¬
betes bezog, beitonten wir, daß die Inseln es waren, in
denen wir konstant bedeutende Veränderungen fanden, Ver¬
änderungen, welche in Fällen ohne Diabetes vermißt wur¬
den, während das Drüsenparenchym bei Diabetes keine oder
doch keine bedeutenden Veränderungen erkennen ließ.
Nichtsdestoweniger drückten wir uns in den Schlu߬
folgerungen reserviert aus und meinten, daß zur sicheren
Entscheidung der früher erwähnten Frage noch weitere
Untersuchungen notwendig" seien. Aus diesem Grunde setzte
ich in den folgenden Jahren meine Untersuchungen fort
und zwar, wie ich noch später auseinandersetzen werde,
nach verschiedenen Richtungen.
Inzwischen war von anderen Seiten eine Reihe von
Arbeiten erschienen, auf welche ich hier nicht näher ein-
gelien kann und deshalb auf meine ausführliche, in den
Sitzungsberichten der Kaiserlichen Akademie der Wissen¬
schaften in Wien erschienene Abhandlung1) verweise, in
welcher auch die entsprechenden Literaturangaben enthalten
sind. Hier will ich nur die Schlußfolgerungen anführen,
welche in den verschiedenen Arbeiten enthalten sind, wobei
ich letztere in drei Kategorien bringen kann. Die erste Kate¬
gorie umfaßt jene Arbeiten, in. welchen die Autoren zum
Schlüsse kommen, daß die Veränderungen der Inseln das
entscheidende Moment bei der Entstehung des Diabetes dar¬
stellen; wir können diese Ansicht kurzweg als die Insel¬
theorie bezeichnen, ln die zweite Kategorie gehören
jene Arbeiten, deren Verfasser einen gerade entgegen--
i gesetzten Standpunkt einnehmen, indem sie den Inseln jede
Bedeutung für den Diabetes absprechen und das Wesen des
? letzteren in Veränderungen des Drüsenparenchyms suchen,
li während man zur dritten Kategorie jene Abhandlungen
J! rechnen kann, deren Autoren in gewissem Sinne eine ver-
; mittelnde Stellung zwischen den beiden eben erwähnten
j Ansichten einnehmen, indem sie sowohl den Veränderungen
| des Drüsenparenchyms, als jenen der Inseln einen wichtigen
Einfluß auf die Entstehung des Diabetes zuschreiben, frei?
[ lieh wieder mit dem Unterschied, daß die einen Autoren
jj den größeren Einfluß dem Drüsenparenchym, die anderen
den Inseln beimessen.
Was nun die Vertreter der beiden letztgenannten An¬
sichten betrifft, welche nämlich den Inseln keine ausschlag¬
gebende Bedeutung für die Entstehung des Diabetes zu¬
schreiben wollen, so begründen sie ihre Ansicht mit dem
Hinweise, daß es erstens Fälle von Diabetes gebe, in welchen
keine Veränderungen der Inseln zu finden seien, daß ferner
auch bei Nichtdiabetikern mitunter Veränderungen der
Inseln beobachtet werden und endlich, daß die In¬
seln überhaupt keine konstanten unveränderlichen Ge¬
bilde seien, indem sie sich fortwährend in Drüsen¬
parenchym umwandeln, oder aus diesem hervorgehen.
Dem zuletzt angeführten Argumente schien eine besondere
Bedeutung zuzukommen, weil leicht einzusehen ist, daß
Organe, welche in fortwährender Umbildung begriffen sind,
unmöglich einen maßgebenden Einfluß auf die Entstehung
des Diabetes ausüben können.
Die Aufgabe, welche ich mir bei meinen weiteren Unter¬
suchungen stellte, mußte also nicht bloß darin bestehen, in
einer recht großen Zahl von Diabetesfällen das Pankreas
einer genauen mikroskopischen Untersuchung zu unter¬
ziehen, sondern auch die Behauptung, daß die Inseln keine
konstanten, anatomisch selbständigen Gebilde seien, auf ihre
Richtigkeit zu prüfen.
Zu diesem Behuf e- studierte ich in Gemeinschaft mit
Dr. Kyrie die Entwicklung der Inseln des menschlichen
Pankreas in der Embryonalperiode und ihr weiteres Ver¬
halten sowohl vor als nach der Geburt, wobei wir einerseits
in Uebereinstlmhiung mit früheren Autoren, wie Küster,
Pear Ce, 0. Stoerk, Kar.akäscheff konstatieren konnten,
daß die Inseln aus derselben Anlage wie das Drüsenparen¬
chym, nämlich aus den primären Drüsengängen, entstehen,
9 lieber die Veränderungen des Pankreas bei Diabetes rnelitus
Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien
mathem.- naturwissenschaftlichen Klasse, Bd. 119, Abt. 3, März 1910
In dieser Abhandlung konnte ich die erst nach dem Abschlüsse meiner
Untersuchungen in dieser Wochenschrift 1909, Nr. 43, erschienene Arbeit
von v. II a 1 ä s z nicht mehr berücksichtigen, weshalb ich hier an¬
führen .will, daß der genannte Autor in 29 Diabetesfällen achtmal 95 bis
90"/0 der Inseln normal, sechsmal 60 bis 90"/0 der Inseln und siebenmal
30 bis 40% der Inseln verändert und in den übrigen Fällen mit Aus¬
nahme von 2 die Zahl der Inseln stark reduziert fand. Größtenteils war
nur eine ganz geringe Atrophie einzelner Inseln und nur in 4 Fällen
eine hochgradige und ausgedehnte Atrophie der Inseln vorhanden. In
6 Fällen bestand auch Kolloid- und Hyalindegeneration der Inseln;
außerdem fanden sich häufig kombinierte Veränderungen : Atrophie und
kolloide Degeneration, kolloide Degeneration und Sklerose, Atrophie und
Sklerose. Da, wie v. Haläsz behauptet, in einer Anzahl von Diabetes¬
fällen im Pankreas keine Veränderungen zu linden sind, so folgert er,
daß diese Fälle — es sind speziell die sogenannten »leichten Diabetes¬
fälle« — absolut kein Pankreasdiabetes sind. Unter 40 Diabetikern über
40 Jahren fand er elfmal Veränderungen der Blutgefäß Wandungen und
er sucht auch in einem Teile dieser Fälle die eigentliche Ursache des
Diabetes in einer Arteriosklerose.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
155
anderseits aber feststellten, daß die Inseln nach ihrer Ent¬
wicklung weder in der fötalen, noch postfötalen Periode
sich in Drüsenparenchym umwand ein und daß die Inseln
auch niemals aus Drüsenparenchym entstehen.
Ferner untersuchte über meine Veranlassung Doktor
Kyrie hei Tieren die Regeneration des Drüsenparenchyms
und der Inseln des Pankreas, wobei er fand, daß die Inseln
teils aus sich selbst, teils aus den Ausführungsgängen (des
Pankreas sich regenerieren, während ich für das mensch¬
liche Pankreas den Nachweis erbringen konnte, daß die
Inseln, wenn ein Untergang derselben erfolgt, sich ebenfalls
aus den Ausführungsgangen, niemals aber aus dem Drüsen¬
parenchym sich regenerieren. Hiemit war die früher er¬
wähnte Behauptung der Gegner der Inseltheorie, daß die
Inseln inkonstante, variable Gebilde seien, widerlegt und
zugleich ein Hauptargument gegen die Inseltheorie beseitigt.
Was nun meine Untersuchungen des menschlichen Pan¬
kreas bei Diabetes betrifft, so hielt .ich es mit Rücksicht dar¬
auf, daß sehr differente Befunde von verschiedenen Seiten
Vorlagen und daß dieselben nur auf eine relativ «geringe
Zahl von Untersuchungen basierten,2) für geboten, ein recht
großes Material zu verwenden und auch eine recht große
Zahl von Kontrolluntersuchungen vorzunehmen. Die Zahl
der von mir in eingehender Weise untersuchten Diabetes¬
fälle' beträgt, 183, während die Zahl der Kontrollunter¬
suchungen eine noch größere ist.
Wenn ich nun zur Darstellung meiner Befunde bei
Diabetes übergehe, so will ich zunächst bemerken, daß
das Pankreas bei der makroskopischen Betrachtung in
einer Anzahl von Fällen keine Abweichung von der Norm
darbot ; in anderen Fällen bestand aber eine mitunter recht
bedeutende Atrophie bei gleichzeitiger starker Abnahme des
Gewichtes oder eine mehr minder auffällige Fettinfiltration
des Organs.
Bei der mikroskopischen Untersuchung des Pan¬
kreas fanden sich aber konstant Veränderungen u. zw. Ver¬
änderungen der L an ge rh ans sehen Inseln, die, wie ,ich
schon jetzt betonen will, solche waren, daß sie die Fünk-
tion der Inseln entweder vollständig aufhoben oder doch
bedeutend herabsetzen mußten.
Was nun diese Veränderungen im! besonderen betrifft,
so ist unter ihnen als häufigste Line Verminderung der
Zahl der Inseln hervorzuheben, die in sehr vielen Fällen
ohne weiteres zu erkennen Avar, da man sehr oft eine große
Zahl von Pankreasläppchen diirch mustern mußte, bis man
auf eine Insel stieß. In 53 Fällen hatte ich auch Zählungen
der Inseln vo rgeno mimen, wobei im Vergleich mit den von
Heiberg festgestellten Mittelzählen der Inseln des! normalen
Pankreas meist viel geringere Werte gefunden wurden. Aus
einer erst kürzlich erschienenen Arbeit Hei bergs ist zu
entnehmen, daß auch dieser Autor bei Diabetes eine recht
bedeutende Verminderung der Inselzahl feststellen konnte.
Selbstverständlich ist die Zählung allein nicht maßgebend,
da es nicht nur auf die Zahl, sondern auch auf die- Größe
und auf sonstige Veränderungen der Inseln ankommt. Des¬
halb ließ ich durch einen meiner «Schüler, nämlich durch
Herrn Dr. Neumann, sowohl bei Diabetikern, als bei Nicht-
diabetikem Größenbestimmungen u. zw. volumetrische Mes¬
sungen der Inseln und des Drüsenparenchyms ausführen,
die freilich sehr mühsam und zeitraubend sind und daher
nur in einer geringen Zahl \ron Fällen vorgenomhien werden
konnten ; sie zeigten aber, daß in den untersuchten Fällen
von Diabetes die Inseln in stärkerem; Maße an Volumen ein¬
gebüßt hatten, als das Drüsenparenchym.
Am wichtigsten und \ron entscheidender Bedeutung
sind aber die übrigen von mir u. zw. konstant beobachteten
Veränderungen der Inseln; es sind folgende:
Erstens die von mir als hydropisChe Degenera¬
tion bezeidhnete Veränderung der Inseln. Sie besteht darin,
2) Erst kurz vor dem Abschlüsse meiner Untersuchungen erschien
eine auf ein größeres Material sich stützende Arbeit, nämlich von Russel
L. Cecil, Proceed, of the New York Pathol. Soc. Dezember 1908 und
Januar 1909.
daß das Protoplasma der Inselepithelien seine normale Struk¬
tur verliert und durchsichtig wird, wobei aber längere Zeit
hindurch ganz charakteristische, durch Fosin sich braun¬
rot färbende Körnchen im Protoplasma sichtbar bleiben.
Weiterhin können einzelne oder viele Fpitheiien durch Ver¬
flüssigung ganz zugrunde1 gehen, während in den anderen
Inselzellen das Protoplasma sich verschmälert und die Kerne
immer kleiner werden. In diesem. Fälle kann man beispiels¬
weise auf Inseln stoßen, die nicht nur viel kleiner gewor¬
den sind, sondern deren Epithelien wie Lymphozyten aus-
sehen. Bei anderen Inseln beobachtet man zu Beginn ihrer
Verkleinerung eine kleinzellige Infiltration des peri- und
intrainsularen Bindegewebes und später eine mehr minder
bedeutende Verbreiterung des letzteren, während die Insel-,
zellbalken verschiedene Grade von Verschmälerung zeigen.
Die hydropisdhe Degeneration führt also zur Atrophie oder
zuni vollständigen Untergänge der Inseln.
In einer Anzahl von Fällen konnte ich in den von mir
untersuchten Schnitten nur atrophische, aber keine hydro-
pisch degenerierten Inseln auffinden; ich glaube zwar, daß
audh in diesen Fällen die Atrophie die Folge einer hydro-
pischen Degeneration war, nur daß letztere entweder schon
überall in Atrophie übergegangen oder zufällig in den von
mir untersuchten [Schnitten nicht mehr zu sehen war. Je¬
doch will ich die Annahme, daß in diesen Fällen die Atro¬
phie unabhängig von einer hydropischen Degeneration auf¬
getreten war, nicht ganz von der Hand weisen, obwohl
sie mir ziemlich unwahrscheinlich vorkommt. Die hydro¬
pisdhe Degeneration mit der sich anschließenden Atrophie
der Inseln, konnte ich in meinem Diabetes material sehr
häufig beobachten, nämlich in 53% der Fälle. Bemerkens¬
wert ist ferner die Tatsache, daß die genannte Veränderung
in fast 79% der Fälle, also fast ausschließlich, bei jünge¬
ren Leuten, nämlich bei Personen zwischen 4 ‘,4 und 40
Jahren vorkam und fast niemals von Sklerose- der Arterien
des Pankreas begleitet Avar. Von anderen Autoren ist die
eben beschriebene Veränderung bisher gar nicht oder nur
andeutungsweise erwähnt worden, was, wenigstens teil¬
weise, darin seinen Grund haben dürfte, daß die hydro¬
pisdhe Degeneration der Inselepithelien bei nicht geeigneter
Fixierung der Präparate infolge zu starker Schrumpfung
des Protoplasmas schwer oder gar nicht mehr zu er¬
kennen ist.
Eine zweite Veränderung der Inseln ist die Skle¬
rose oder die chronische peri- und intrainsulare
Entzündung derselben. Man sieht hiebei die Inseln von
einer verschieden breiten Bindegewebsschicht eingeschlossen
und überdies das die Inselgefäße begleitende BindegeAvebe
mehr weniger stark verbreitert, wodurch die Inselzellbalken
auseinandergedrängt werden oder die Inseln den Eindruck
erwecken, als würden sie in mehrere Stücke zersprengt
worden sein. Infolge der Verbreiterung des peri- und intra¬
insularen Bindegewebes erfahren die Inselzellbalken eine
mehr minder starke, Verschmälerung und Atrophie und
schließlich können die Inselepithelien vollständig zugrunde
gehen. Die eben beschriebene Veränderung war in den
von mir untersuchten Fällen stets von einer chronischen
interstitiellen (inter- und intralobulären) Entzündung des
Pankreas und häufig noch von Fettinfiltration des letzteren
begleitet ; sie Avar offenbar dadurch entstanden, daß eine
zuerst aufgetretene chronische interstitielle Entzündung des
Pankreas, mit oder ohne Lipomatose desselben, die häufig
im Zentrum der Läppchen am stärksten entwickelt war,
auf die daselbst befindlichen Inseln allmählich übergegriffen
hatte.
Bezüglich der Häufigkeit dieser Veränderung muß
ich bemerken, - daß sie nicht viel geringer ist als die der
hydropischen Degeneration; sie betraf nämlich in meinem
Material Ca. 43% der untersuchten Fälle. Als eine Aveitere
bemerkenswerte Tatsache ist anzuführen, daß die Inselskle¬
rose im Gegensatz zur hydropischen Degeneration zumeist
bei Personen über 50 Jahren vorgefunden wurde und daß
sie ferner fast immer von einer Sklerose der Arterien des
156
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. l'Jll.
Nr. 5
Pankreas begleitet war, so daß die Annahme eines ursäch¬
lichen Zusammenhanges zwischen beiden Prozessen berech¬
tigt erscheint u. zw. in dem Sinne, daß die Arteriosklerose
direkt oder indirekt eine chronische interstitielle Entzün¬
dung des Pankreas verursachte, welche sich dann auch
auf die Inseln fortsetzte. Nur in wenigen Fällen war die
der Inselsklerose vorausgegangene interstitielle Bindegewebis-
wucherung anderer Ursache, indem sie nämlich in zwei
Fällen an eine Verstopfung des Ductus pancreaticus durch
ein Konkrement und in drei Fällen an ein Karzinom des
Pankreas sich anschloß.
Eine dritte Veränderung der Inseln ist die hyaline
Degeneration derselben. Sie besteht darin, daß das die
Inselgefäße begleitende Bindegewebe zu einer homogenen
Masse aufquillt, wodurch die Inselepithelien mehr und mehr
komprimiert werden und endlich ganz zugrunde gehen, so
daß an Stelle der Insel ein homogenes Gewebe zurückbleibt,
welches weiterhin noch schrumpfen und selbst verkalken
kann.
Die beschriebene Veränderung wurde weniger häufig
als die hydropische Degeneration und die Sklerose der
Inseln gefunden, nämlich in etwa. 28% der von mir unter¬
suchten Fälle. Sie war fast immer von Sklerose der Ar¬
terien des Pankreas begleitet, weshalb man annehmen kann,
daß zwischen beiden ebenfalls ein Kausalnexus bestehen
dürfte. Neben der hyalinen Degeneration wurde sehr oft
noch eine aus einer chronischen interstitiellen Pankreatitis
hervorgegangene Inselsklerose gefunden, also eine Verän¬
derung, die, wie wir früher hervorgehoben haben, auch
mit einer Arteriosklerose des Pankreas Zusammenhängen
dürfte. Schließlich ist noch zu bemerken, daß die hyaline
Degeneration ähnlich der Inselsklerose am häufigsten bei
Personen über 50 Jahren angetroffen wurde.
Von sonstigen Veränderungen der Inseln ist noch das
Vorkommen von Blutungen in den Inseln anzuführen,
welche aber nicht sehr häufig und nur in wenigen Inseln
beobachtet wurden. Da sie überdies auch bei Nichtdia¬
betikern gefunden werden können, namentlich bei venöser
Stauung in den Unterleibsorganen, so kommt, ihnen wohl
kein entscheidender Einfluß auf die Entstehung des Dia¬
betes zu.
Von Wichtigkeit ist dagegen die Tatsache, daß ich
in den von mir untersuchten Fällen ziemlich oft eine Re¬
generation von Inseln konstatieren konnte, die am! häu¬
figsten im Kopfe des Pankreas und bei der hydropischen
Degeneration der Inseln, also beim Diabetes jugendlicher
Personen anzutreffen war. Sie ging wie sonst stets von den
kleinen Ausführungsgängen aus und lieferte mitunter recht
viele neue Inseln, von denen aber mehr oder minder zahl¬
reiche auffallend klein blieben, nur aus einem oder we¬
nigen, kurzen, einreihigen Zellbalken bestanden, somit als
rudimentäre Inseln bezeichnet werden müssen.
Auch eine auffällige Größenzunahme, also eine Hyper¬
trophie der Inseln, konnte ich in einigen Fällen beob¬
achten u. zw. gewöhnlich in Fällen von Inselsklerose.
Wie steht, es nun mit dem Drüsenparenchym in
meinen Diabetesfällen ? In dieser Beziehung ist zu be¬
merken, daß ich zwar sehr häufig eine Atrophie der Drüsen¬
läppchen und ihrer Epilhelien wahrnehmen konnte, aber
durchaus nicht in allen Fällen. Die höchsten Grade von
Atrophie des Drüsenparenchyms bestanden in den Fällen
von Verschluß des Ductus pancreaticus durch ein Konkre¬
ment und in den Fällen von Karzinom des Pankreas, wäh¬
rend in einer Anzahl von Diabetesfällen mit hydropischer
Inseldegeneration eine Atrophie oder überhaupt eine Ver¬
änderung des Drüsenparenchyms ganz oder fast ganz ver¬
mißt wurde; es kann daher etwaigen Veränderungen des
Drüsenparenchyms keine maßgebende Bedeutung für die
Entstehung des Diabetes zugeschrieben werden.
Was noch das Verhalten der anderen Organe in den
von mir untersuchten Diaheteisfällen betrifft, so will ich
nur kurz anführen, daß zwar häufig eine Erkrankung dieses
oder jenes Organes, wie Arteriosklerose, Lungentuberkulose,
Lobulärpneumonie, Leberzirrhose, chronische Gehirnaffek¬
tionen, Nephritis (zweimal auch Akromegalie) angetroffen
wurden, aber diese Erkrankungen waren entweder nur in
einzelnen Fällen oder doch nur in einer beschränkten Zahl
von Fällen vorhanden, so daß ihnen schon deshalb, abge¬
sehen von anderen Gründen, keine maßgebende Dolle bei
der Entstehung des Diabetes zukommen kann.
Wenn ich nun die Befunde in den von mir unter¬
suchten 183 Fällen von Diabetes überblicke, so kann ich
zunächst konstatieren, daß in allen diesen Fällen bei der
mikroskopischen Untersuchung auffällige Veränderungen in
den Lange rhans sehen Inseln des Pankreas nachgewiesen
wurden u. zw. solche, welche nicht nur die Funktion der
Inseln mehr weniger herabsetzen, sondern schließlich auch
den Untergang der Inseln herbeiführen mußten.
Allerdings war in einer Anzahl von Fällen eine Re¬
generation oder Hypertrophie von Inseln zu beobachten,
worin wir einen kompensatorischen Vorgang erblicken
können: aber dieser Vorgang war schließlich unzureichend,
weil er nur eine beschränkte Ausdehnung erlangte und
weil bei der Regeneration großenteils nur rudimentäre,
also keine vollwertigen Inseln gebildet wurden.
Da nun bedeutende Veränderungen des Pankreas kon¬
stant nur in den Inseln anzutreffen waren, nicht aber im
Drüsenparenchym und da ferner die Krankheitsprozesse in
den anderen Organen teils wegen, ihrer Qualität, teils wegen
ihrer kurzen Dauer unmöglich eine ausschlaggebende Rolle
bei der Entstehung des Diabetes spielen können, so bleibt
nur der Schluß übrig, d a ß die anatomische Ursache
des Diabetes in den früher beschriebenen Ver¬
änderungen der Langerliansschen Inseln zu
suchen ist..
Dieser Schluß steht auch im Einklang mit dem kli¬
nischen Befunde in den von mir untersuchten Fällen, in¬
dem bei den leichteren Formen des Diabetes geringere Ver¬
änderungen, bei den schwereren Formen bedeutende Ver¬
änderungen in den Inseln nachgewiesen werden konnten.
Eine weitere Uebereinsfimmung besteht noch darin, daß
in einer Reihe von Fällen, in welcher ein hoher Zucker¬
gehalt des Harns während des1 Krankheitsverlaufes ein-
oder mehreremal sich stark verringert, hatte oder ganz ge¬
schwunden war, bei der Untersuchung des Pankreas eine
Regeneration oder Hypertrophie von Inseln konstatiert Aver-
den konnte, so daß anzunehmen war, daß diese- Vorgänge
in einem bestimmten Zeitpunkte des Krankheitsverlaufes
die Schädigung der anderen Inseln teilweise oder ganz zu
kompensieren vermochten.
Den früher ausgesprochenen Schluß konnte ich auch
auf sehr zahlreichen Kontrolluntersuchungen des1 Pankreas
bei den verschiedensten, akuten und chronischen Krank¬
heilen ohne Diabetes stützen, da es sich nämlich hiebei
zeigte, daß bei keiner dieser Krankheiten solche Inselver¬
änderungen aufzufinden waren, welche ich als Ursache des
Diabetes bezeichn ete. Besonders hervorheben will ich hier
meine Untersuchungen bei chronischer Tuberkulose,
deren Zahl 73 beträgt, weil Reit mann in zwei Fällen von
Lungentuberkulose eine hyaline Degeneration der Inseln ge¬
funden hatte, obwohl „keine auf einen Diabetes mellitus
hinweisenden Symptome vorhanden waren“. Das häufige
Vorkommen der hyalinen Degeneration der Inseln bei Dia¬
betes will er dadurch erklären, daß bei dieser Krankheit
die Empfänglichkeit des Organismus für Infektionen bedeu¬
tend gesteigert, ist und sich als eine recht häufige Kompli¬
kation derselben Tuberkulose und Furunkulose finden, beides
Prozesse, die oft zur Ablagerung abnormer Produkte in den
Geweben, zur Amyloidose führen; es liege daher die Mög¬
lichkeit vor, daß die Veränderungen der Inseln bei Diabetes
zum! großen Teile auf die gleiche Ursache zuriiekzn-
führen seien.
Dieser etwas unklar ausgedrückten Annahme Reit¬
manns, daß nämlich die hyaline Degeneration bei Diabetes
durch Amyloidbildung bedingt wäre, kann ich durchaus
nicht zustimmen, da die hyaline und die amyloide Degene-
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
157
ration der Inseln niciht nur durch ihre mikrochemischen
Reaktionen, sondern auch durch die Art. ihrer Ausbreitung
und die Folgezustände voneinander wesentlich verschieden
sind. Bei einer ganz flüchtigen Untersuchung könnte viel¬
leicht eine amyloide Degeneration der Inseln mit einer hy¬
alinen Degeneration verwechselt werden, nicht aber bei ge¬
nauer Untersuchung. In den von mir speziell auf die amy-
loide und hyaline Degeneration der Inseln untersuchten
73 Fällen von chronischer Tuberkulose konnte ich sechs¬
mal eine amyloide Degeneration einzelner oder mehrerer
Blutgefäße in einer Anzahl von Inseln uachweisen, aber
sie ließ sich ohne weiteres und mit Sicherheit von der
hyalinen Degeneration unterscheiden. Nur in einem: ein¬
zigen Falle fand ich in wenigen Inseln eine unzweifelhafte
hyaline Degeneration, aber anderseits viele neugebildete und
gut entwickelte Inseln; von Diabetes war in der Kranken¬
geschichte nicht die Rede gewesen.
Was nun die verschiedenen Einwendungen gegen die
Richtigkeit der sogenannten Tnseltheorie betrifft, so habe
ich einen wichtig erscheinenden Einwand, nämlich die an¬
gebliche anatomische Unselbständigkeit der Inseln, bereits
widerlegt. Ein weiterer Einwand der Gegner der Inseltheorie
besteht in der Behauptung, daß es Fälle von Diabetes
gebe, in welchen keine Inselveränderungen gefunden wer¬
den können. Diesem Einwande kann ich das Resultat meiner
Untersuchungen von 183 Diabetesfällen entgegenstellen, in¬
dem in jedem dieser Fälle Inselveränderungen in einem
Grade und in einer Ausdehnung nachzuweisen waren, daß
man die Gesamtleistung der noch vorhandenen Inseln als
eine bedeutend herabgesetzte bezeichnen mußte. Weiter sind
noch die Beobachtungen zahlreicher anderer Autoren in
Betracht zu ziehen, die ebenfalls bei Diabetes bestimmte
Inselveränderungen nachwiesen, nämlich Sklerose oder hya¬
line Degeneration oder wenigstens eine Verminderung der
Zahl der Inseln. Freilich konnten trotz der zuletzt ange¬
führten Beobachtungen die Gegner der Inseltheorie noch
immer auf eine Anzahl von Diabetesfällen hinweisen, in
denen von den Autoren selbst bei genauer Untersuchung
keine Inselveränderungen aufgefunden wurden. Von diesen
betrafen aber viele das jugendliche Alter, also eine Alters¬
stufe, welche, wie ich früher angeführt hatte, von der hy-
dropischen Degeneration der Inseln bevorzugt wird, einer
Veränderung, die bei einer nicht sehr eingehenden Unter¬
suchung oder bei schlechter Konservierung der Präparate
leicht übersehen werden kann.*
Hiezu kommt noch eine Erscheinung hei Diabetes,
nämlich die ungleiche Verteilung der Inselveränderungen
im Gesamtorgane. So begegnete es mir öfters, daß ich bei
der Untersuchung der ersten Schnittserien keine Abnormi¬
täten in den Inseln finden konnte; wenn ich aber dann
aus ganz anderen Stellen desselben Pankreas neue Schnitte
untersuchte, fand ich zu meiner Ueberraschung unzweifel¬
hafte Inselveränderungen. Man muß also mit seinem Urteil
solange zurückhalten, bis man von verschiedenen Stellen
des Pankreas eine größere Zahl von Schnitten genau unter¬
sucht hat.
Weiters wird von den Gegnern der Inseltheorie ein¬
gewendet, daß man bei Nichtdiabetikern gelegentlich ähn¬
liche Inselveränderungen finden kann wie hei Diabetikern.
Dieser Einwand bezieht sich vorwiegend auf die hyaline
Degeneration, weil diese tatsächlich von mehreren Unter¬
suchern in Fällen ohne Diabetes beobachtet wurde. Auch
ich fand, wie früher erwähnt, in einem Falle, in welchem
die klinische Diagnose nur auf chronische Tuberkulose ge¬
stellt worden war, in einzelnen Inseln eine unzweifelhafte
hyaline Degeneration, aber anderseits viele neugebildete In¬
seln. In einem zweiten Falle, in welchem ein Karzinom des
Oesophagus, eine Insuffizienz der Valvula mitralis und eine
atrophische Leberzirrhose vorhanden waren, fand ich auch
in einigen Inseln eine geringgradige, hyaline Degeneration,
dagegen andere Inseln hypertrophisch; in diesem Fälle war
aber der Harn gar nicht auf Zucker untersucht worden.
Uebrigens ist die einfache Angabe in einer Kranken¬
geschichte, daß eine einmalige Harnuntersuchung auf Zucker
ein negatives Resultat ergab, noch kein sicherer Beweis für
das Nichtvorhandensein eines Diabetes ; denn abgesehen von
der Möglichkeit einer ungenauen Harnuntersuchung wissen
wir, daß bei Diabetes gegen das Lebensende zu der Zucker
ganz schwinden kann. Als Beleg hiefür kann ich einen
Fall aus meinem Untersuchungsmaterial anführen, in dem
auch auf Grund einer kurz vor dem Tode ausgeführten
Harnuntersuchung mit negativem Resultate kein Diabetes
diagnostiziert worden war; als ich aber bei der mikrosko¬
pischen Untersuchung des Pankreas eine hyaline Degenera¬
tion der Inseln fand und hierauf Erkundigungen bei den
Angehörigen des verstorbenen Mannes einholte, so erfuhr
ich, daß bei demselben Polyurie, Polydipsie und Polyphagie
bestanden hatten. Ob ähnliche Verhältnisse auch in den ver¬
einzelten, in der Literatur angeführten Fällen, in welchen
eine hyaline Degeneration der Inseln gefunden wurde, aber
kein Diabetes vorhanden gewesen sein soll, obgewaltet
haben, kann ich natürlich nicht entscheiden. Ich muß jedoch,
abgesehen davon, daß bei flüchtiger Untersuchung oder bei
schlechter Konservierung des Pankreas auch Täuschungen
Vorkommen können, noch auf die Tatsache hinweisen, daß
das Pankreas eine sehr große Zahl von Inseln besitzt und
daher eine etwaige Schädigung derselben erst einen gewissen
Grad und eine gewisse Ausdehnung erreicht haben muß,
bis es zu einem manifesten Diabetes kommt, da auch das
Tierexperiment zeigt, daß nach partieller Exstirpation des
Pankreas, auch wenn nur ein Fünftel der Drüse zuriick-
bleibt, kein Diabetes zu entstehen braucht. Hiezu kommt
noch der Umstand, daß nach Schädigung der Inseln eine
Regeneration derselben oder eine Hypertrophie der nicht
geschädigten Inseln sich einstellen und dadurch die Wirkung
der Inselläsion ausgeglichen werden kann. Es müssen daher
diese Momente in jedem Einzelfalle bei Beurteilung des
Einflusses von etwaigen Inselveränderungen auf die Ent¬
stehung des Diabetes berücksichtigt werden, was nicht bloß
für die hyaline Degeneration, sondern auch für die anderen,
früher angeführten Veränderungen der Inseln gilt.
Ein weiterer Einwand gegen die Inseltheorie besteht
in der Behauptung, daß man hei Diabetikern mitunter keine
Verminderung oder Verkleinerung, sondern im Gegenteil eine
Vermehrung oder Vergrößerung der Inseln antrifft. Es ist
nun allerdings richtig, daß letztere Erscheinung öfters beob¬
achtet werden kann, aber maßgebend hiebei ist der Grad
und die Ausdehnung dieser Erscheinung. Ich habe in meinen
Diabetesfällen eine Neubildung von Inseln, mitunter sogar
von recht zahlreichen, ziemlich oft beobachtet, aber in
diesem Vorgänge geradezu einen wichtigen Beweis für die
Bedeutung der Inselveränderungen bei der Entstehung des
Diabetes erblickt, da die Regeneration nur eine Folge des
Unterganges von Inseln sein kann. Wenn aber, wie ich in
meinen Diabetesfällen sehen konnte, die Regeneration hinter
dem Untergänge zurückbleibt oder wenn sie nicht eine ge¬
nügende Zahl von vollwertigen Inseln liefert, so spricht ein
solcher Befund nicht gegen, sondern vielmehr für die Be-
deutunng der Inseln bei der Entstehung des Diabetes. Aehn-
lic'hes gilt für die Hypertrophie der Inseln; in meinen Fällen
habe ich sie nicht sehr häufig und vor allem nicht in hohem
Grade und in großer Ausdehnung gesehen. Dagegen konnte
ich bei meinen Konirolluntersuchungen des Pankreas von
Nichtdiabetikern in jenen Fällen, in welchen auch ein Unter¬
gang von Inseln stattgefunden hatte, nicht bloß eine Neu¬
bildung oder Vergrößerung von Inseln beobachten, son¬
dern die neugebildeten Inseln waren sehr zahlreich und
nicht rudimentär und die hypertrophischen Inseln hatten
oft eine sehr bedeutende Größe erreicht.
Es muß übrigens noch betont werden, daß es beim
Diabetes nicht so sehr auf das Vorhandensein spezifischer
Inselveränderungen ankommt, sondern Diabetes entsteht
dann, wenn die Inselveränderungen, gleichgültig, welcher
Art sie sind, einen gewissen Grad und Umfang erreicht
haben; es ist also, wie auch Saltykow richtig bemerkt,
nicht das Quale, sondern das Quantum der Inselverände-
158
Nr, 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
rangen maßgebend; wird aber deren Wirkung durch Neu¬
bildung oder Hypertrophie der Inseln kompensiert, so bleibt
der Diabetes aus, bzw. er kommt zur Heilung.
Ein d eil der Gegner der Inseltheorie will übrigens
eine Mitbeteiligung etwaiger Inselveränderungen an dem Zu¬
standekommen des Diabetes nicht in Abrede stellen, aber
den Löwenanteil hiebei den Veränderungen des Drüsen-
parenchyms zuweisen. Diese Ansicht wird jedoch durch
meine Untersuchungen bei Diabetikern und Nichtdiabetikern
widerlegt. Bei Diabetes konnte ich zwar sehr häutig eine
Atrophie des Drüsenparenchyms nachweisen, aber durch¬
aus nicht in allen Fällen; während ferner in einer Anzahl
von hallen ohne Atrophie oder sonstige Veränderungen des
Drüsenparenchyms gerade eine schwere Form von Diabetes
vorhanden war (bei hochgradigen Inselveränderungen), be¬
standen in den f ällen von starker Atrophie des Drüsenparen¬
chyms, wenn die Inseln keine bedeutenden Veränderungen
aufwiesen, nur leichtere Formen von Diabetes.
Mindestens ebenso überzeugend ist das Resultat meiner
Untersuchungen bei Nichtdiabetikern. Sie betrafen Fälle,
in denen eine hoch- und hüclistgradige Atrophie des Drüsen¬
parenchyms bestand, während die Inseln gar nicht verändert
waren oder eine etwaige Schädigung derselben durch Neu¬
bildung oder Hypertropnie von Inseln kompensiert worden
war. Darunter befinden sich Fälle, in welchen das Gewicht
des Pankreas infolge einer einfachen, aber höchstgradigen
Atrophie des Drüsenparenchyms bei chronischer Tuberkulose
auf dö-32 g und sogar auf 2D g gesunken war, ferner Fälle,
in welchen das Drüsenparenchym infolge eines Skirrhus des
Pankreaskopfes teils durch das Karzinom, teils durch Binde¬
gewebe fast ganz ersetzt und das Gewicht des Pankreas
bis auf 20 g gesunken war; in diesen Fällen war der Harn
wiederholt auf Zucker untersucht worden, aber stets mit
negativem Erfolge. Wenn also bei dem Zustandekommen
des Diabetes Veränderungen des Drüsenparenchyms die
Hauptrolle spielen würden, so hätte es in den eben mit¬
geteilten f ällen unbedingt zum Diabetes kommen müssen.
Nach der Art der in meinen Diabetesfällen Vorgefun¬
denen Veränderungen kann man folgende drei Formen des
menschlichen Diabetes unterscheiden :
Die erste Form ist jene, welche durch die hydro-
pische Degeneration oder durch die infolge der letzteren
entstandene Atrophie der Inseln charakterisiert ist. Bei ihr
kommt zwar auch eine meist ungleichmäßige Atrophie des
Drüsenparenchyms vor, aber nicht in allen Fällen. Diese
Form von Diabetes bevorzugt das jugendliche Alter und geht
niemals mit- Sklerose der Arterien des Pankreas einher.
Bei ihr kommen die klinisch schweren und schwersten Fälle
von Diabetes vor, was durch die sehr schweren Verände¬
rungen der Inseln und den oft sehr ausgedehnten Untergang
derselben bedingt ist. Offenbar gehören zu dieser Form
der sogenannLe Diabete maigre und jene in der Literatur
verzeichnten Diabetesfälle, in denen trotz der Schwere
der Krankheit die mikroskopische Untersuchung des Pan¬
kreas überhaupt oder wenigstens der Inseln ein negatives
Resultat ergab, was aber darin seine Aufklärung findet,
daß die hydropische Degeneration aus den schon früher an¬
geführten Gründen übersehen wurde. Wahrscheinlich ge¬
hört liieher auch der „reine“ Diabetes Naunyns, da dieser
vorwiegend bei jüngeren Individuen beobachtet wird, also
bei Personen, bei denen sich die durch hydropische Degene¬
ration der Inseln charakterisierte Form des Diabetes zu
finden pflegt. Bei dieser Form kommen zwar ziemlich häufig
Inselregenerationen vor, aber die neuen Inseln bleiben sehr
oft rudimentär oder verfallen von neuem der hydropisc'hen
Degeneration.
Bezüglich der Ursache der hydropischen Degenera¬
tion läßt sich vorläufig keine bestimmte Angabe machen.
Möglicherweise spielen hier hereditäre Momente, angeborene
Schwäche oder Bildungsfehler der Langerliansschen In¬
seln eine Rolle, so daß diese schon bei Einwirkung relativ
geringfügiger Noxen der Degeneration verfallen.
Die zweite Form des Diabetes ist durch eine von
einer chronischen interstitiellen Pankreatitis ab¬
hängige Sklerose und Atrophie der Inseln charakteri¬
siert. Das Drüsenparenchym zeigt hiebei eine dem Grade
der interstitiellen Bindegewebs- und Fettgewebswucherung
entsprechende, mitunter sehr bedeutende Atrophie.
Diese Form des Diabetes bevorzugt das höhere Alter
(über 50 Jahre) und ist sehr häufig mit Sklerose der Arte¬
rien des Pankreas verbunden, die wieder nicht selten Teil¬
erscheinung einer allgemeinen Arteriosklerose ist; nebst der
chronischen interstitiellen Pankreatitis ist sehr oft noch eine
mehr minder starke Fettinfiltration des interstitiellen Binde¬
gewebes, eine Lipoma tose des Pankreas vorhanden,
welche bei höheren Graden überhaupt das Gesamtbild be¬
herrscht und dann gewöhnlich mit Adipositas universalis
kombiniert ist. In klinischer Beziehung entsprechen der
zweiten Form des Diabetes meist leichte Diabetesfälle, in
welchen die Zuckermenge im Harn gering ist und der Krank¬
heitsverlauf ein sehr protrahierter sein kann. Hieher ge¬
hört der sogenannte Diabete gras.
Wegen der so häufigen Kombination dieser Form von
Diabetes mit Arteriosklerose, wobei letztere nicht als Folge
lies Diabetes anzusehen ist, muß man mit G . H o p p e - S e y 1 e r
annehmen, daß die Arterienerkrankung bei der Entstehung
der Veränderungen im Pankreas eine wesentliche Rolle
spielt, sei es, daß sie zuerst zu einer partiellen Atrophie des
Parenchyms führt, worauf eine Wucherung des interstitiellen
Bindegewebes, eine chronische interstitielle Pankreatitis
folgt, die weiterhin auf die Inseln übergreift, oder daß
zuerst eine Bindegewebswucherung entsteht, oder daß beide
Veränderungen ziemlich gleichzeitig sich einstellen. Da in
den Fällen von starker Lipomatose des Pankreas fast immer
eine allgemeine Fettsucht vorhanden war, wird erstere wohl
als Teilerscheinung der letzteren anzusehen sein. Hieher
können jene f älle von Diabetes gerechnet werden, welche
Kisch unter der Bezeichnung „lipogener Diabetes“ zu-
sammenfaßt, und als deren Ursache er entweder die eigent¬
liche Mastfettleibigkeit oder die konstitutionelle Fettsucht
ansieht.
In einigen Fällen von Inselsklerose bei chronischer
interstitieller Pankreatitis bestand unter , meinen Diabetes¬
fällen noch ein Verschluß des Ausführungsganges durch
einen Stein oder ein Karzinom des Pankreas; in diesen
Fällen wird daher die Steinbildung, bzw. das Karzinom, die
interstitielle Entzündung und weiterhin die Inselsklerose
und den Diabetes veranlaßt haben. Schließlich werden noch
andere Momente, wie chronischer Katarrh der Ausführungs¬
gänge des Pankreas, chronischer Alkoholismus, Leber¬
zirrhose (oder beide zusammen), Herzfehler, zu einer chro¬
nischen interstitiellen Pankreatitis und deren Folgezuständen
führen können.
Bei der zweiten Form von Diabetes wird auch Regene¬
ration von Inseln oder Hypertrophie derselben beobachtet,
und wenn diese einen gewissen Grad erreichen, so kann es
zur Besserung des Leidens, zum Stillstände oder selbst
zur Ausheilung des Diabetes kommen. Hiemit soll aber nicht
behauptet werden, daß die letztgenannten Vorgänge stets
oder ausschließlich auf Rechnung von Regeneration und
Hypertrophie der Inseln zu setzen sind; immerhin würden
sie darin eine ungezwungene Erklärung finden.
Da die die zweite Form des Diabetes so häufig be¬
gleitende Arteriosklerose keinen Stillstand zu machen
braucht, so ist es auch leicht erklärlich, wenn die Besse¬
rung im Verlaufe dieser Form von Diabetes nur eine zeit¬
weilige ist; der weitere Verlauf der Krankheit wird davon
abhängen, ob die fortschreitenden Inselveränderungen durch
fortschreitende Regeneration und Hypertrophie kompensiert
werden oder nicht.
Bei dieser Form des Diabetes können zwar auch im
Drüsenparenchym Regenerationsvorgänge beobachtet wer¬
den, aber sie dürften keinen Einfluß auf den Verlauf der
Krankheit ausüben.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
159
Als dritte Form des Diabetes ist jene zu bezeich¬
nen welche durch hyalin e Degeneration der Inseln charak
terisiert ist. Auch sie bevorzugt das höhere Lebensalter
and ist sehr häufig mit Sklerose der Arterien des Pankreas
vergesellschaftet. Sie kommt selten rein vor, sondern ist
-abr häufig mit der zweiten Form des Diabetes kombiniert,
könnte daher auch als Unterart der letzteren bezeichnet
werden und dies um so mehr, als unter meinen Diabetes-
ällen der hyalinen Degeneration einige Male eine Sklerose
ler Inseln voranging.
Für ihre geringe Selbständigkeit spricht noch die Tat¬
sache, daß ich die hyaline Degeneration der Inseln auch
mehrmals neben der hydropischen Degeneration beobachtete,
wobei die letztere die dominierende Inselveränderung war.
Die der dritten Form entsprechenden Diabetesfälle
zeigen gewöhnlich einen etwas schlimmeren Charakter als
jene der zweiten Form; doch kommen auch bei ihr Regene¬
tion und Hypertrophie der Inseln vor.
Daß die Entstehung der hyalinen Degeneration der
Inseln in irgendeiner Abhängigkeit von der Sklerose der
Yrterien des Pankreas stehen dürfte, geht wohl aus der
Tatsache hervor, daß die beiden Prozesse so häufig neben¬
einander Vorkommen.
Unklar bleibt es nur, in welcher Weise die Arterio-
sklersoe die Entstehung der hyalinen Degeneration beein¬
flußt; da ich in einigen Fällen beobachtete, daßi der hyalinen
Degeneration eine Sklerose der Inseln vorausging, so wäre
es nicht unmöglich, daß die Arteriosklerose zuerst eine, wenn
mich geringe, Wucherung des Bindegewebes innerhalb der
Inseln bewirkt und daß dieses dann erst, hyalin degeneriert.
Jedenfalls läßt sich behaupten, daß die Arteriosklerose
sowohl bei der zweiten, wie bei der dritten Form des Dia¬
betes eine wesentliche Rolle spielen dürfte, was ja auch
mit den klinischen Erfahrungen bei Diabetes übereinstimmt,
weshalb alle jene Noxen, die man als Ursachen der Arterio¬
sklerose beschuldigt, auch bei der Aetiologie des Diabetes
in Betracht kommen werden. Daß zu diesen auch der chro¬
nische Alkoholismus gehört, wird wohl ziemlich allgemein
zugegeben; derselbe spielt aber auch noch in der Rich¬
tung eine ätiologische Rolle, daß er nicht nur Leberzirrhose,
sondern auch eine chronische' interstitielle Pankreatitis her
vorrufen kann, von welcher aber früher gezeigt wurde, daß
sie weiterhin zur Sklerose der Inseln zu führen vermag.
Aus dem städt. hygienischen und balneolocjischen
Institut in Marienbad.
üeber das Verhalten von Albuminurie und
Zylindrurie während des Kurgebrauches.*)
vTon Dr. Karl Zörkendörfer, Stadtphysikus und Vorstand des Instituts.
Als ich vor acht Jahren in Marienbad mein Institut
eröffnete und neben meinen amtlichen Arbeiten bald eine
größere Anzahl diagnostischer Untersuchungen von den Kol¬
legen zu, gewiesen erhielt, war ich erstaunt über die zahl¬
reichen Fälle von Albuminurie und Zylindrurie, die unter
dem einlaufenden Material vorhanden waren.
Ich muß gestehen, daß ich damals ebensosehr wie
viele Kollegen, die mir ihr Material zur Untersuchung zu¬
gewiesen hatten, noch in dem Banne der Vorstellung be¬
fangen war, bei diesem Befunde einer schweren Störung
gegenüber zu stehen, und daß diese Befunde so manchem
der Aerzte gar nicht gelegen waren, sondern im Gegenteil
die Besorgnis erregten, ihr Patient passe gar nicht, nach
Marienbad. Die weitere Beobachtung widerlegte die Be¬
denken in kurzer Zeit, die Befunde nahmen zu und sam¬
melten sich mit der Zeit zu einer stattlichen Reihe an.
Ich glaube, daß es nicht angezeigt wäre, diese Be¬
obachtungen unbearbeitet liegen zu lassen, und daß selten
ein so eigenartiges statistisches Material zur Verfügung steht.
*) Nach einem im Zentralverein deutscher Aerzte in Böhmen zu
Prag gehaltenen Vortrage.
Bei klinischen Patienten überwiegen zu sehr die akuten und
die schweren Fälle, auch ändert1 Berufsklassen, in Sana¬
torien und Privatpraxis dürfte sich nicht so häufig ein so
reichhaltiges und ziemlich einheitliches Material ansammeln
und in großstädtischen Laboratorien endlich fehlt wohl
meist die innigere Fühlungsnahme mit den behandelnden
Aerzten.
Freilich finden sich unter der großen Zahl meiner
Fälle nur verhältnismäßig wenige mit wiederholten Unter¬
suchungen, besonders in den ersten Jahren sind solche
wiederholte Untersuchungen noch recht spärlich.
Bei Zuckerharnen ist es ja üblich, mehrfach Unter¬
suchungen ausführen zu lassen, denn dabei rechnet man
mit vollständigem oder wenigstens teilweisem Schwinden
dieser pathologischen Erscheinung. Bei Eiweißharnen da¬
gegen dachte man eigentlich gar nicht daran, daß während
des kurzen Zeitraumes eines Kurgebrauches chronische Al¬
buminurie sichtlich besser werden würde ; dies mag wohl der
Grund sein, weshalb ich aus der ersten Zeit über so wenig
Vergleichsanalysen verfüge.
Hie und da waren aber doch welche verlangt worden
und es stellte sich dabei heraus, daß die Albuminurie meist
wesentlich gebessert oder zum Schwinden gebracht wurde.
Als im Laufe der Zeit die Beobachtungen in dieser Rich¬
tung sich mehrten, stellte sich auch das Bedürfnis nach
Kontrollanalysen ein; diesen ist es zu danken, daß ich
doch eine ganz bemerkenswerte Zahl von wiederholten
Untersuchungen beim gleichen Patienten vorlegen kann.
Ich halte es für meine Pflicht, nicht nur die ziffer¬
mäßigen Resultate anzugeben, sondern auch über die Me¬
thoden zu berichten, durch welche ich dazu gelangt bin,
denn auf diese kommt es doch bei Bewertung zahlenmäßiger
Angaben sehr an.
Naturgemäß liegen bei diesen chronischen Fällen von
Patienten, die sich verhältnismäßig wohl fühlen, meist nur
geringe Eiweißmengen vor, die nur durch empfindliche Re¬
aktionen zu bestimmen sind.
Für die qualitative Prüfung verwendete ich in allen
Fällen mindestens zwei Proben, nämlich die Probe mit Ferro-
zyankalium und mit Sulfosalizylsäure. Als dritte schließt
sich an diese noch die zur quantitativen Bestimmung
verwendete Salpetersäureschichtprobe, die Hell ersehe
Probe, an.
Die Sulfosalizylprobe ist von diesen die empfindlichste.
Sie gibt in vielen Fällen noch eine schwache Trübung oder
Opaleszenz, wo die Ferrozyankaliumprobe keine Reaktion
mehr gibt. Ich will jedoch nicht so weit gehen, diese Re¬
aktion noch als positiven Eiweißbefund anzugeben, son¬
dern die entsprechenden Fälle ganz objektiv als solche mit
schwacher Sulfosalizylsäurereaktion bezeichnen. Auffallend
ist jedenfalls, wie häufig gleichzeitig mit dieser Reaktion
noch Zylinder zu finden sind. Als sichere Eiweißfälle gebe
ich nur solche an, bei welchen auch die Probe mit Ferro-
zyankalium positiv ausfiel. Zur quantitativen Bestimmung
verwendete ich ausschließlich die Methode nach Roberts-
Stolnikow-B randberg.
Die genaueste Eiweißbestimmung wäre freilich die
gewichtsanalytische. Es ist aber klar, daß diese zu klini¬
schen und diagnostischen Zwecken nirgends verwendet wird
und angewendet werden kann, da sie zu zeitraubend ist,
außerdem in vielen Fällen nicht die dazu erforderliche Ilarn-
menge zur Verfügung steht.
Nach dem übereinstimmenden Urteil aller Lehr- und .
Handbücher der Untersuchungsmethoden kommen für dia¬
gnostische Zwecke nur zwei Methoden in Betracht, nämlich
die Salpetersäureprobe, die als Hel ler sehe Probe für qua¬
litative Untersuchungen allgemein bekannt ist und durch
Roberts (1876), Stolnikow (1877) und Brandberg
(1881) für quantitative Bestimmungen verwendet wurde,
ferner die Esbach sehe Methode.
Letztere Methode wird allgemein so scharf kritisiert,
daß sie als wirklich quantitative Methode kaum angesprochen
160
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
werden kann; v. Jak sch1) z. B. gedenkt ihrer nur, ,,da
ihre Ausführung ungemein einfach ist und da sie dem
Arzte eine allerdings nur ganz annäherungsweise
Schätzung der Eiweißmenge gestattet“.
Huppert2! (Neubauer und Vogel) bezeichnet das
Verfahren als „durchaus nicht brauchbar; es läßt nur grobe
Schätzungen zu, die kaum genauer ausfallen, als die Schät¬
zung der Eiweißmenge nach der Höhe des hei der Kochprobe
entstehenden Niederschlages“. Abgesehen von diesen Feinem
ist für die Mehrzahl unserer Fälle die Esbachsche Me¬
thode schon deshalb nicht brauchbar, weil der Eiweißgehalt
derselben meist unter l°/oo liegt.
Die übrigen in neuerer Zeit aufgetretenen ähnlichen
Methoden mittels anderer Fällungsmittel sind naturgemäß
ebensowenig der folgenden vorzuziehen.
Allgemein wird jedoch die Methode nach Roberts-
Stolnikow-Brandberg als zu klinischen und diagno¬
stischen Zwecken brauchbar empfohlen und anerkannt.
Allerdings reicht sie nicht an die Exaktheit einer gewichts¬
analytischen Bestimmung heran und läßt der subjektiven
Beurteilung einen gewissen Spielraum.
Der Geübtere wird das Auftreten des Ringes etwas
früher beobachten als der weniger Geübte und deshalb
etwas höhere Werte erzielen. Ihr Prinzip beruht bekanntlich
darauf, daß der Eiweißring der Salpetersäureprobe hei einem
Eiweißgehalte von 0-033 ,/0o in drei Minuten eintritt. Tritt
innerhalb dieser Zeit bei einem Harn, in dem qualitativ
Eiweiß nachgewiesen wurde, der Eiweißring nicht auf, so
sind in dem Harn Spuren unter 0-033 /0o enthalten. Tritt
der Eiweißring früher auf, so ist der Harn in systemati¬
scher Weise so weit zu verdünnen, bis eine Verdünnung
den Ring in drei Minuten erscheinen läßt. Diese Verdünnung
enthält 0-033 /oo Eiweiß. Naturgemäß werden die Fehler
hei stärkerer Verdünnung durch Multiplikation größer; hei
einem Eiweißgehalte von 0-03 bis 10 /00 dagegen ist kaum
ein wesentlicher Fehler möglich.
Bevor ich auf die Gegenüberstellung der im Laufe
des Kuraufenthaltes wiederholt analysierten Fälle schreite,
will ich eine kurze Uebersicht über die Häufigkeit der Al¬
buminurie und Zylindrurie unter den Marienhader Kur¬
gästen überhaupt geben. Es ist zu diesem Zwecke nicht
nötig, meine Gesamtanalysen herauszuheben, ich gebe die
Uebersicht nur von den letzten zwei Tausenden.
Ich muß dazu bemerken, daß die überwiegende Mehr-
zalil der Fälle von solchen Aerzten zugewiesen ist, die keine
Auswahl treffen, sondern von jedem ihrer Patienten den
Harn untersuchen lassen. Ein geringerer Teil allerdings
ist bereits als verdächtig ausgewählt, doch kann man nicht
sagen, daß bei meinen Beobachtungsreihen nur gesiebtes
Material vorliege.
In der folgenden Tabelle habe ich eine Uebersicht,
über diese Fälle in Prozenten dargestllt.
Tabelle I.
Eiweißgehalt
mit
Zylindern
ohne
Zylinder
Zusammen
lu/no und darüber
2 31%
0-436"/ n
2-75%
Unter l"/00 his U033 „0
22-97,
5-23%
284%
Spuren unter 0033yoo
15-2%
10 2 /„
25-4%
Summe der sicheren
Eiweißfälle
4-04%
15-8’/ 0
56-2 %
Fälle mit undeutlicher
Eiweißreaktion
3-66%
0-26'70 mit vermehrten
Leukozyten
1'58% ohne patholog.
Formeiemente
Fälle ohne Eiweiß
2-35%
35-97,
Gesamtsumme
46-47 ,
Aus dieser Tabelle isl zu ersehen, daß die Zahl der
sicheren Albuminurien 56-2% aller Fälle beträgt, wovon
*) v. Jak sch, Klinische Diagnostik. Berlin— Wien, Urban
Schwarzenberg.
■3) Neubauer und Vogel, Analyse des Harns. Bearbeitet
Huppert. Wiesbaden, Kreidei.
und
von
Nr. 5
j 40-4 °/o gleichzeitig Zylinder hatten, 15-8 °/o keine Zylinder;
hiezu kommen noch 3-66% Zylindrurien mit undeutlicher
| und 2-35% Zylindrurien ohne Eiweißreaktion, so daß die
i Summe der Zylindrurien 46-4%, die der Albuminurien und
: Zylindrurien 62-2% aller Fälle beträgt. Selbstverständlich
j werden nur absolut sichere Zylinder als solche tingegeben;
Zylindroide und zweifelhafte Gebilde sind gänzlich aus¬
geschlossen.
Die Zahl der Fälle, wo eine undeutliche, nur mit den
empfindlichsten Reagenzien nachweisbare Eiweißreaktion
ohne den Befund von Zylindern zu konstatieren war, ist so
gering, daß sie das Gesamtresultat nicht beeinflußt. Sie
bleibt unter 2%. Schon wegen dieser geringen Zahl ist die
Frage, ob diese Fälle einzubeziehen wären, bedeutungslos.
Ich habe sie in meinen Analysen auch niemals als positiv
angegeben.
Die wichtige Frage, wie diese Albuminurien aufzu¬
fassen sind, ist freilich nicht leicht zu beantworten. Ein
gehend mich heute damit zu befassen, erlaubt schon die
Zeit, die meinem Vorträge naturgemäß bemessen ist, nicht.
Ich will deshalb nur ganz kurz die verschiedenen
Möglichkeiten berühren.
Der Begriff von Nephritis hat sich in den letzten Jahren
wesentlich verschoben. Verschiedene Autoren, z. B. Strütn
pell, Blumenthal,3) sprechen wiederholt nur von „so¬
genannten“ Nierenentzündungen. Diese Einschränkung be¬
ruht nicht nur auf einer präziseren Auffassung der Begriffe
„Entzündung“, sondern noch vielmehr darauf, daß man
immer mehr die Albuminurie nicht so sehr als das Haupt-
symptom des gefürchteten Morbus Brightii auffaßt, sondern
daß gerade bei den Nierenerkrankungen die funktionellen
Störungen im Sinne der „Insuffizienz“, der Verringerung
der Leistungsfähigkeit in der Ausscheidung der normalen
Harnbestandteile, immer mehr in den Vordergrund der Er¬
kenntnis treten. Daß hiebei manchmal übers Ziel geschossen
wird und die Bedeutung der Albuminurie in den letzten
Jahren von manchen Autoren unterschätzt wird, ist eine
Erscheinung, die auch sonst hei dem Auftauchen neuer An¬
sichten regelmäßig auftritt. In der ärztlichen Praxis hat sich
die Unterschätzung allerdings kaum noch geltend gemacht.
Der richtige Weg wird wohl auch hier, wie gewöhnlich, in
der Mitte liegen.
Die Frage der physiologischen Albuminurien ist wohl
endgültig abgeschlossen und dahin erledigt, daß normaler¬
weise ausschließlich nicht fällbare Eiweißkörper, Nukleo¬
albumin, auf treten.
Auch das häufige Vorkommen von Zylindern spricht
gegen allzu gleichgültige Beurteilung.
Ich will hier gleich einfügen, daß hyaline Zylinder bei
meinen Beobachtungen äußerst selten vorkamen, sondern
gewöhnlich granulierte und Epithelzylinder, darunter auch
recht häufig die dunklen granulierten, die ja bekanntlich
als Zeichen einer schwereren Nephritis angesehen werden.
Auch Blumenthal hält noch in den letzten Jahren
die Epithelzylinder für Zeichen der akuten Nephritis und
der schweren Formen der chronischen, sogenannten paren¬
chymatösen Nephritis. Dagegen steht v. Jaksch schon in
den älteren Auflagen seiner Diagnostik auf dem jetzigen
Standpunkte und sagt u. a. : „Niemals ist man, wie dies
in früheren Zeiten so häufig geschah, berechtigt, aus der
Albuminurie allein eine renale Affektion oder gar eine Ne¬
phritis zu erschließen.“
Der moderne naturwissenschaftliche Standpunkt, der
sich immer mehr von dem Schematisieren und Klassifizieren
emanzipiert und überall in erster Linie das Werden, die
Uebergänge, sieht, kommt schon hierin zum Ausdrucke,
noch schärfer hat ihn v. Strümpell u. a. in der deutschen
Klinik ausgesprochen. Er betont, daß ätiologische Gesichts¬
punkte für die Einteilung der Nephritis nicht anwendbar
sind, pathologisch-anatomische besser; daß aber fast
eine kontinuierliche Reihe aller möglichen Ver-
3) Die deutsche Klinik am Eingänge des XX. Jahrhunderts, ßd. 4.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
161
jänd eru ngen zu beobachten ist, in der es eine
scharfe Trennung einzelner Arten und For m e n
gar n i c h t g i b t.
„Gleichbleibender pathologischer Faktor ist aber stets
die chemisch-toxische Schädigung des Nierengewebes und
zwar, wie als fundamentale Tatsache hervorgehoben werden
muß, neben der Schädigung der Gefäßwände vor allem die
Schädigung des spezifischen Nierengewebes, des Nioren-
epithels.“
v. Strümpell betont weiter die Einheitlichkeit dos
Vorganges, die sich entweder in mehr gleichzei'ig diffuser
Erkrankung äußert (große rote, weiße, bunte Niere, sekun¬
däre Schrumpfniere) oder weniger intensiv, fortdauernd
■[ironisch einwirkend (primäre oder genuine Schrumpfniere).
Er sagt: „Daher hat die Unterscheidung der chronischen
Nephritis in eine parenchymatöse und interstitielle Form
keinen Sinn. Daher sind alle „Formen“ und „Arten“ der
chronischen Nephritis nur Typen, nur der Ausdruck für
gewisse, besonders häufig vorkommende und ausgeprägte
pathologische Zustände der Niere, die aber keine beson-
leren Krankheiten darstellen und durch zahllose TJeber-
xänge miteinander verbunden sind. Diese Einheitlichkeit
md meiner Ueberzeugung nach allein den Tatsachen erd¬
sprechende Auffassung der verschiedenen Nephrit isformen
querst klar ausgesprochen und in eingehendster Weise be¬
gründet zu haben, ist das große Verdienst C. Weigerts.“
Ich habe diese Aeußerungen v. Strümpells deshalb
ausführlicher erwähnt und zum Teil wörtlich zitiert, weil
sie uns den Weg weisen, wie die beobachteten Albuminurien
ind Zylindrurien aufzufassen sind und die Frage, ob sie
Fälle von Nephritis seien oder nicht, auf natürliche und
ingezwungene Weise beantworten lassen. Sie führen uns
mc'h dazu, mit den in neuerer Zeit wiederholt aufgestellten
Typen leichterer Nierenerkrankungen, von denen ich noch
sprechen will, Einklang herzustellen. Bevor ich auf diese
ungehe, will ich nur darauf hinweisen, daß erst im ver¬
flossenen Jahre Ribbert4 *) mehr vom pathologisch-anato-
nischen Standpunkte aus streng kritisch die entzündlichen
md degenerativen Erscheinungen trennt und zu folgendem
Schlüsse kommt: „Eine Entzündung (Exsudation, Binde-
Gewebswucherung) verläuft nur in den Interstitien ; das
ktrenchym dagegen degeneriert. Eine parenchymatöse Ent¬
bindung gibt es daher nicht. Für die Symptome der Nieren-
n’krankungen sind ausschließlich die degenerativen Ver-
inderangen maßgebend; die entzündlichen Prozesse da¬
gegen, die im Intersfitium verlaufen, haben mit den klini¬
schen Erscheinungen direkt gar nichts zu tun.“
Es kommt also auch hier die einheitliche Auffassung
zur Geltung. Bei dieser Auffassung haben wir keine Ursache,
n unseren Fällen eine Differentialdiagnose zwischen harm-
osen Albuminurien im Sinne v. Noordens0) oder Ne-
»hrilis chronica levis oder superficialis im Sinne Fürbrin-
;ers6) einerseits und eigentlicher Nephritis im a'ten Sinne
mdrerseits in der scharfen Weise zu stellen, daß wir uns
n jedem einzelnen Fälle für das eine oder das andere zu
mtsc’heiden hätten, sondern werden wohl das richtige treffen,
die diese Formen als graduelle Verschiedenheiten aufzu¬
fassen u. zw. in der Mehrzahl der Fälle als leichtere
mrmen.
In ihrer Aetiologie sind sie gewiß nicht gleichartig.
Soviel ich von dem klinischen Befunde Kenntnis habe, finden
dch unter den wiederholt untersuchten Fällen, die ich in
ler Folge allein besprechen will, höchstens zwei oder drei
»rthotisc'he oder lordotische Albuminurien (im Sinne J eh 1 es
mdR. Fisch ls), ferner einige wenige, die sich an eine akute
Scharlachnephritis anschlossen. Die meisten sind wohl als
Vlbuminurien auf Grundlage von Stoffwechselerkrankungen
Fettsucht, worauf hinsichtlich der Marienbader Verhältnisse
Kisch7) hingewiesen hat, Gicht, Diabetes) oder des Gefäß-
4) Ribbert, Deutsche med. Wochenschr. 1909, Nr. 46.
6) v. Noorden, Wiener med. Wochenschr. 1907, Nr. 42.
6) Fürbringer, Deutsche med. Wochensch. 1909, Nr. 47.
7) Kisch, Entfettungskuren, Berlin 1901.
systems (Arteriosklerose) aufzufassen; eine scharfe Grenze
zwischen diesen Gruppen läßt sich nicht ziehen, in vielen
Fällen kommen mehrere dieser Noxen kombiniert vor. Albu¬
minurie und Zylindrurie bei Obslipation im Sinne von
Kohle r,8) E b s t ei n,9) W a s s e r t h a 1 ,10) Rou b i t s ch e k n)
ist auch häufig genug vorhanden. Ich kann mich naturgemäß
auf die Besprechung des klinischen Teils nicht eingehend
einlassen, um so weniger, als einige der Kollegen, deren
Praxis das .Material entstammt, sich bereit erklärt haben,
ihre Fälle in diesem Sinne zu bearbeiten.
Aus der Harnanalyse habe ich keine Anhaltspunkte
für einen Parallelismus mit anderen Harnbestandteilen ge
fanden. Von vornherein lag ja der Gedanke nahe, daß bei
chronisch Obslipierten die Resorplion der vermehrten toxi¬
schen Produkte der Darmfäulnis und deren Ausscheidung
durch die Nieren die Albuminurie bedingen könne, so daß
mit dem Abklingen der Albuminurie auch eine Verminderung
des Harnindikans zu beobachten wäre. Im großen und
ganzen kann ich jedoch keine Gesetzmäßigkeit in meinen
Befunden bemerken. Allerdings muß ich betonen, daß der
Tndikangehalt nur nach dem Ausfall der .Taff eschen Probe
millels Chlorkalk geschätzt wurde, so daß der subjektiven
Beurteilung ein großer Spielraum gelassen wurde; ich hoffe
in Zukunft, nachdem ich einmal veranlaßt bin, darauf zu
achten, weiteres Material mit genaueren Ind ikanbestimmungs-
methoden beobachten zu können.
Auch zwischen Eiweißgehalt und Säuregrad, entspre¬
chend den Beobachtungen v. Hösslins,12) kann ich keine
auffallende Uebereinstimmung finden. Vielleicht ge’ingt es
den klinischen Beobachtungen der Kollegen, geeignete Fälle
herauszugreifen, bei welchen ein Parallelismus in diesem
Sinne stattfindet. (
Ich möchte nur darauf hingewiesen haben, daß das
vorliegende Material gewiß in der überwiegenden Mehrzahl
nicht zu den trostlosen Nephritisfällen gehört, ich halte es
aber durchaus nicht für augezeigt, diese Albuminurien als
gleichgültig aufzufassen, sie sind gewiß ein typisches Zei¬
chen der Schädigungen, welche unser modernes Leben mit
sich bringt und in ihrer Häufigkeit ganz auffallend. Auch
die kleinen, quantitativ nicht bestimmbaren Eiweißmengen
sind in ihrer Mehrheit mit Zylindrurie verbunden und ich
verfüge unter diesen auch über einzelne Fälle, wobei im
Laufe der Jahre der Eiweißgehalt höher wurde.
Die folgenden Tabellen geben uns die Uebersieht über
den Verlauf bei wiederholt beobachteten Fällen. Ich habe
die Zylindrurie bei Albuminurie hier nicht in Betracht ge¬
zogen, weil die Uebersichtlichkeit sonst verloren gehen
würde und habe nur die Albuminurie berücksichtigt, weil
diese sich ziffernmäßig ausdrücken läßt. Zylindrurien zeigen
Tabelle II.
Reine Fälle.
Eiweißgehalt
Zahl
davon
ist der Eiweiß
gehalt
der
Fälle
ge¬
schwun¬
den
verrin -
gert
gleich
ge¬
blieben
ver¬
mehrt
l°/,0 und darüber
1 co
25
4
5
unter lfl/00 bis 0'033°/on
290
55
191
23
21
Spuren
127
80
15
25
7
Summe d. sicheren Albuminurien
451
135
231
52
33
°/0 aller Fälle
300 51 2
8P2"/„
11 5 73
188
Mit undeutlicher Eiweißreaktion
24
17 |
1
6
Gesamtsumme
475
152
231
53
39
% aller Fälle
320 48-6
80-6
11-2 82
194
8) Kob ler, Wiener klin. Wochenschr. 1898, Nr. 20. — Wiener
klin. Rundschau 1910, Nr. 15.
9) Ebstein, Die chron. Stuhlverstopfung in Theorie und Piaxis.
Stuttgart 1901. — Berliner klin Wochenschr. 1909, Nr. 41.
10) Wasserthal, Berliner klin. Wochenschr. 1909, Nr. 16.
u) Roubitschek, Berliner klin. Wochenschr. 1910, Nr. IS
12) v. Hösslin, Münchener med. Wochenschr. 1909, Nr. 33
162
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 5
einen ähnlichen Rückgang. In der nächsten Tabelle habe
ich die Zahl der reinen Albuminurien angegeben. Die Fälle
mit Blut, Eiter oder beiden zusammen sind ausgeschaltet
und in der dritten Tabelle angeführt.
Wie in der allgemeinen Uebersieht beziehe ich mich
auch hier nur auf die sicheren Albuminurien, also jene,
welche mit den altbewährten Methoden positive Reaktion
gaben. Bei diesen schwand das Eiweiß vollständig in 30°/o
der Fälle, verminderte sich in 51 -2%, blieb gleich in 11-5%
und stieg in 7-3% an.
Zusammen betrug die Zahl vollständigen und teil¬
weisen Rückganges 81-2 °/o , die der gleichbleibenden und
erhöhten Albuminurien 18-8 °/o.
Falls wir die Zahl der Zylindrurien mit undeutlicher
Eiweißreaktion noch einbeziehen, wie ich es im unteren
Teile der. Tabelle 2 dargestellt habe, so ändert sich das
Verhältnis, wenn wir die Prozente nur in ganzen Zahlen
ausdrücken, überhaupt nicht
Tabelle III.
Albuminurien mit Beimengung von Blut oder Eiter.
Eiweißgehalt
Zahl
davon ist der Eiweißgehalt
der
Fälle
ge-
sehwun
den
verrin¬
gert
gleich¬
ge¬
blieben
ver¬
mehrt
l%n rmd darüber
24
—
21
—
3
unter ln/00 bis 0 033° '0ü
37
6
20
2
9
Spuren
5
4
_
1
—
Summe d. sicheren Albuminurien
66
10
41
3
12
°/0 aller Fälle
151 62-2
773
4-5 18-2
22-7
In dieser Tabelle sind eigentlich Fälle verzeichnet,
die außerhalb des Rahmens meiner heutigen Betrachtung
stehen, ich will sie aber trotzdem anhangsweise mit an¬
führen. Die Mehrzahl davon sind Fälle von Nephrolithiasis
und Pyelonephritis; reine Blasenerkrankungen sind nur in
der Minderheit darunter Auch bei dieser Gruppe sind die
Verhältniszahlen ähnlich, wie bei der vorigen, es beträgt
die Zahl der Besserungen 77-3%, die der nicht gebesserten
22-7 o/o.
Ein dem „Beinphänomen“ der echten Tetanie
in seinem klinischen Aussehen gleichendes
vielleicht richtiger als „Pseudo-Beinphänomen“
zu bezeichnendes Symptom in einem Falle von
Pseudotetania hysterica.*)
You Dr. W. Buettner, Riga;
In der Wiener klinischen Wochenschrift 1910, Nr. 9,
wird von Hermann Schlesinger als „ein bisher unbe¬
kanntes Symptom bei Tetanie“ das „Beinphänomen“ be¬
schrieben. Im Neurologischen Zentralblatte 1910, Nr. 12,
bringt derselbe Autor seine weiteren Erfahrungen über
dieses Phänomen. Wie Autor im Nachtrage dieser Arbeit
mitteilt, hat E. H. Pool das Phänomen schon im Jahre
1907 beobachtet; allerdings sei in seiner Arbeit, die Schle¬
singer früher unbekannt, gewesen sei, nicht ersichtlich,
daß der Autor gewußt hätte, ein neues Phänomen bei Te¬
tanie gesehen zu haben.
Aus der Arbeit Schlesingers im Neurologischen
Zentralblatte 1910, Nr. 12, zitiere ich folgendes: „Beugt man
in anfallsfreier Zeit das gestreckte Bein im Hüftgelenk stark
ab, so stellt sich nach einigen Minuten, oft schon nach
mehreren Sekunden, unter heftigen Schmerzen ein Streck¬
krampf im Kniegelenk und ein tonischer Krampf im Sprung¬
gelenk ein. Der Krampf bleibt in der Regel auf die unter¬
suchte Extremität beschränkt und pflegt nachzulassen, wenn
0 “*) Nach einer Demonstration am 29. September a. St. 1910 in der
Gesellschaft prakt. Aerzte zu Riga.
die Beugung im Hüftgelenk aufhört. Das „Beinphänomen“
kann auch durch das Aufsetzen bei gestreckten Beinen oder
Abbeugen des Oberkörpers im Stehen bei gestreckten Beinen
im Verlaufe weniger Minuten provoziert werden. Das „Bein¬
phänomen“ ist insofern dem Trousseau sehen analog, als
es wie dieses in der anfallsfreien Zeit ermöglicht, Extre¬
mitätenkrämpfe hervorzurufen, welche mit den spontanen
übereinstimmen.“ Ferner: „Unter den 19 Fällen war das
Beinphänomen 18mal nachweisbar. Es ist demnach das
Beinphänomen eines der konstanteren, daher auch wich¬
tigen Symptome der Tetanie.“ Im Nachtrage dieser Arbeit
berichtet Schlesinger, daß das Phänomen noch einige
Male gesehen wurde, daß aber auch die Zahl der Fälle
sich vermehrt habe, in welchen das Phänomen fehlte. Ferner:
„In einem Falle ging der Krampf vom untersuchten auf das
andere, ruhende Bein über.“
Die Krampfstellung des Fußes sei keineswegs stets
die gleiche gewesen. Bald sei maximale Supination vor¬
handen gewesen, bald bestehe Pronation und Adduktion.
Die Zehen seien bald gespreizt und gestreckt oder gespreizt
und gebeugt. Mitunter sei die Plantarflexion des Fußes
stark ausgesprochen. „Sein (des Beinphänomens) Vorkom¬
men geht in der Regel parallel dem Vorhandensein des
Trousseauschen Phänomens an den oberen, bisweilen
auch dessen Analogon an den unteren Extremitäten. Der
Parallelismus ist nicht immer vorhanden.“
„Bisher haben wir das Beinphänomen bei keinem an¬
deren Leiden gefunden, es ist also für Tetanie pathogno-
monisc'h, wie das Trousseausche Phänomen.“ Entgegen
der noch zu erwähnenden Ansicht Alexanders über die
völlige Identität des Trouss eausclien Phänomens an den
Beinen und des Beinphänomens, betont Schlesinger, daß
der Umstand, daß er mehrfach Fälle gesehen, in welchen
das Trousseausche Phänomen an den Beinen nicht aus¬
lösbar war, während das Beinphänomen leicht erzielt werden
konnte, gegen die völlige Identität beider Symptome spricht.
Aus der ersten Arbeit Schlesingers über das Beinphä-
nomen in der Wiener klinischen Wochenschrift 1910, Nr. 9,
wäre dann noch folgendes über dasselbe wiederzugeben:
Dem tonischen Krampfe des Phänomens gingen Parästhe-
sien voran. Ferner geht aus einer Stelle die Ansicht des
Autors hervor, daß der Ischiadikus bei Anstellung des Ex¬
perimentes mechanisch gereizt würde. Ferner sagt Autor
in dieser seiner ersten Arbeit, daß, da die Pulse an den
Arterien der Beine während der Krämpfe fühlbar geblieben
seien, eine Anämisierung der Extremitäten nicht gut die
Ursache sein konnte. In seiner zweiten Arbeit aber sieht
Schlesinger in dem Phänomen einen Reflexvorgang, der
durch die exquisite Uebererregbarkeit des Nervensystems
und durch die relative Anämie des Beines bei der Abbie¬
gung im Hüftgelenke in hohem Grade begünstigt werde.
W. Alexander publiziert in der Deutschen Medi¬
zinischen Wochenschrift 1910, Nr. 22 (also noch vor der
zweiten Publikation Schlesingers) zwei Fälle von Te¬
tanie, welche gleichfalls das Beinphänomen, zwar in ein¬
zelnen Punkten abweichend, im wesentlichen aber in der
von Schlesinger beschriebenen Weise zeigten. In seinen
Fällen konnte er aber auch — im Gegensatz zu den Fällen
aus der ersten Schlesinger sehen Arbeit — durch Druck
auf den Ischiadikus eine dem Krampfe beim Beinphänomen
gleichende Krampfstellung auslösen. Umschnürung des
Beines in der Mitte des Oberschenkels oder auf der Höhe
der Wade oder Druck auf die Arteria femoralis bis zum
Verschwinden der Fußpulse rief erst nach längerer Zeit
einen nur rudimentären Krampf hervor, was im Hinblick
auf die Stärke des Phänomens bei Druck auf den Ischiadi¬
kus eine Uebereinstimmung mit anderweitigen experimen¬
tellen Ergebnissen zeige, indem Kashi da nur durch sehr
langdauernde Reizungen des Gefäßes im Tierversuche ähn¬
liche Wirkungen, welche er auf Reizungen der Gefäßnerven
zurückführe, wie durch kurze Reizungen der Nerven her¬
vorzurufen vermocht hätte Druck auf den Nervus facialis,
ulnaris, radialis, peroneus, tibialis löste keinen Krampf
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
163
aus. Tn dem einen der Fälle ließen sich durch starke, pas¬
sive Elevation des Armes nach zwei bis drei Minuten teta-
nische Krämpfe in der betreffenden Extremität auslösen,
wobei der Radialpuls deutlich fühlbar blieb. Nach Ansicht
Alexanders dürfte dieses Phänomen, dessen Entstehung
durch Zerrung des Plexus brachialis bei seinem Verlaufe
über den Humeruskopf zu erklären sei, dem Beinphäno¬
men vollkommen entsprechen. Uebrigens finde ich im Lehr¬
buche von Eichhorst (sechste Auflage 1907), im dritten
Bande, auf Seite 708, angegeben, Czerny hätte bei Erhe¬
bung des Armes einen Anfall zum Vorschein kommen ge¬
sehen, was möglicherweise der oben angeführten Beobach¬
tung Alexanders entsprechen könnte. Dann hat auch
Pool schon 1907 (zitiert nach H. Schlesinger: Neurologi¬
sches Zentralblatt 1910, Nr. 12, S. 628) Krämpfe in den
Armen bei Elevation derselben beobachtet.
Entgegen der Ansicht Schlesingers sieht Alexan¬
der in keiner Beziehung einen Unterschied zwischen dem
Trouss eauschen Phänomen an den Beinen und dem Bein¬
phänomen und stellt sie völlig auf eine Stufe.
Was nun das eigentliche Wesen des Beinphänomens
anlangt, so möchte ich mich der Ansicht Alexanders
über die völlige Identität mit dem Trous s eauschen Phäno¬
men an den Beinen anschließen. Rufen wir doch auch
das Trous seau sehe Phänomen auf verschiedene Art her¬
vor: Man umschnürt den Oberarm oder man übt einen
Druck in den Sulcus bicipitalis aus oder man ruft die Krampf¬
stellung im Arme in seltenen Fällen sogar durch Druck auf
eine beliebige Stelle des Körpers aus und wir sehen doch
im Wesen aller dieser auf verschiedene Art provozierten
Krämpfe ein und dasselbe, wenn auch im gegebenen Falle
vielleicht der eine Versuch positiv, der andere aber nega¬
tiv ausfällt. Ebenso spricht man vom Trous seau sehen
Phänomen an den Beinen, einerlei, oh dasselbe durch Druck
auf den Ischiadikus oder durch lange dauernden Druck auf
die Arteria femoralis ausgelöst, wurde. Wenn heim Bein¬
phänomen der Ischiadikus — doch wohl durch Dehnung —
mechanisch gereizt wird — welche Ansicht auch Schle¬
singer hat (cf. oben) — so macht es in bezug auf das
Wesen der Erscheinungen doch keinen Unterschied aus,
oh der mechanische Reiz, der den Ischiadikus betraf, das
eine Mal durch eine Dehnung (beim Beinphänomen), das
andere Mal durch einen Druck (beim Trousse au sehen Phä¬
nomen an den unteren Extremitäten) appliziert wurde. Tn
der Methode dagegen, die tonische Krampfstellung in der
unteren Extremität hervorzu rufen, sind die beiden Phäno¬
mene selbstverständlich ganz verschieden und erst die
Schle singersche Methode scheint es zu ermöglichen, die
tonische Krampfstellung auch an den unteren Extremitäten
häufiger und namentlich leichter zu erzielen. Es ist leichter,
das Bein im Hüftgelenk zu beugen, als minutenlang auf den
Ischiadikus kräftig zu drücken. Die bisherige Methode, den
Krampf durch Druck auf den Ischiadikus oder auf die
Femoralis auszulösen, scheint selten geübt und namentlich
selten positiven Ausfall gezeigt zu haben — vielleicht weil
manchmal der etwas unbequeme Versuch zu früh abge¬
brochen worden sein mag. Auf diesen Umstand ist es wohl
zurückzuführen, daß man in der Literatur von dem an den
unteren Extremitäten sich zeigenden Trouss eau schen
Phänomen so wenig findet. So findet man über diesen
Gegenstand in der Monographie über ,,Die Tetanie der Er¬
wachsenen“ 1907, von v. Fr an kl -Hoch wart nur fol¬
genden Satz auf Seite 66 : „Am besten gelingt dies (das Her¬
vorrufen von Krämpfen durch Druck auf irgendeine Körper¬
stelle) immer im Sulcüs bicipitalis, hie und da auch durch
Kompression in der Gegend der Arteria cruralis usw.“ —
Demgegenüber scheint die tonische Krampfstellung an den
unteren Extremitäten durch Anwendung der Schlesinger-
schen Methode leichter ausgelöst zu werden. Von diesem
Gesichtspunkte aus erscheint es gerechtfertigt, dem Schle¬
singer sehen „Beinphänomen“ soweit Selbständigkeit ein¬
zuräumen, daß man von ihm als von einem besonderen
Symptome gegenüber dem an den unteren Extremitäten
sich zeigenden Trous seauschen Phänomen sprechen darf.
Ob das Beinphänomen im gegebenen Falle vorhanden
ist oder nicht, wird wohl von dem Grade der Krampf¬
bereitschaft der unteren Extremitäten abhängen: Wo Spon¬
tankrämpfe der Beine vorliegen, wird man auch eins Bein¬
phänomen erwarten dürfen, wo Spontankrärm'fe der unieren
Extremitäten fehlen, wird positives Beinphänomen immer¬
hin auf einen krampfbereiten Zustand der Deine hinweisen,
bei negativem Beinphänomen hingegen wird man im Augen¬
blick auch keine Spontankrämpfe der unteren Extremitäten
zu gewärtigen haben. Da nun die Spöntankrämnfe an den
Armen häufiger sind, als an den Beinen, so wird man auch
im allgemeinen positives Beinphänomen nicht ganz so
häufig finden, wie positives Trous s e au -Phänomen an den
Armen, obschon es, wie Schlesinger gezeigt hat, auch
sehr häufig ist. W enn Schlesinger das Beinphänomen auch
bei Individuen nachgewiesen hat, welche nie spontane
Krämpfe an den unteren Extremitäten hatten, so wird man
für solche Fälle trotz fehlender Spontankrämpfe immerhin
einen gewissen Grad von Krampfbereitschaft der Beine
anzunehmen haben.
Auch in Fällen latenter Tetanie mit positivem
Trousseau-Phänomen an den Armen wird man einen Aus¬
bruch von Spontankrämpfen immerhin eher erwarten dürfen,
als beim „tetanoiden Symptomenkomplex“ (v. Frankl-
Id och wart), bei welchem' das Trouss eau sehe Phänomen
fehlt.
Doch nicht nur betreffs der Extremitäten läßt sich bei
fehlenden Spontankrämpfen durch positives Trousseau-
sches Phänomen, resp. Beinphänomen auf eine gewisse
Krampfbereitschaft schließen, sondern Adelleicht auch in
seltenen Fällen betreffs der Glottis bei fehlenden spontanen
Laryngospasmen durch auf gleich zu beschreibende Weise
provozierten Laryngospasmus. In einem Tetaniefalle ohne
spontane Laryngospasmen glaubte ich auf eine gewisse
Krampfbereitschaft der Glottis schließen zu dürfen aus fol¬
gendem Vorkommnis, welches ich als ein dem Trous seau¬
schen Phänomen analoges Symptom auffasse (der Fall und
dieses Symptom sind von mir näher beschrieben in der
Wiener klinischen Wochenschrift 1910, Nr. 80) : Auf der
Höhe der Tetanie (natürlich nicht während eines Anfalles)
trat nach glatter, leichter Einführung des Magenschlauches
(Pat. wurde der Magen nicht zum1 ersten Male gespült und
er hatte von der Spülung an sich keine Beschwerden)
und nach eine Minute währendem, ungestörtem Liegen des¬
selben im Rachen und Oesophagus (zwecks Spülung) ein
Laryngospasmus auf, welcher nach Entfernung des
Schlauches in einigen Sekunden mit einer pfeifenden Inspi¬
ration aufhörte. Hier hätte es möglicherweise, wenn die
manifesten Erscheinungen der Tetanie länger angehalten
hätten, zu spontanen Laryngospasmen kommen können.
Es sei mir hier eine kurze Abschwenkung gestattet.
Wenn man — wie üblich — sagt, daß beim Trous seau¬
schen Phänomen durch die entsprechenden Handgriffe in
anfallsfreien Zeiten ein Anfall ausgelöst würde, so sei man
sich dessen bewußt, daß es kein eigentlicher voller Anfall
ist, welcher hiebei ausgelöst wird. Es wird durch diese
Handgriffe gewöhnlich nur eine dem Anfalle entsprechende
Krampfstellung u. zw. gewöhnlich nur auf der Seite, an
welcher der Handgriff vorgenommen wird, erzielt, welche
sehr bald nach Unterbrechung des Versuches schwindet,
während der spontane Anfall symmetrisch auf beiden Seiten
aufzutreten und, einmal aufgetreten, längere Zeit hindurch
zu bestehen pflegt. Unsere Handgriffe vermögen eben nicht
die Rolle einer Gelegenheitsursache zum Zustandekommen
eines Anfalles zu spielen, gleichwie auch andere äußere
Eingriffe gewöhnlich nicht einen regelrechten Anfall auszu¬
lösen vermögen. Deshalb ist. es auch verständlich, daß nur
j selten Fälle beobachtet worden sind, bei denen Arbeit der
Körpermuskulatur, wie Turnen (Chvostek sen., zitiert nach
v. Frankl-Hochwart: Die Tetanie der Erwachsenen 1907,
Seite 51) und Kraftübungen eines Athleten (Revillo t, zitiert
164
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
nach v. Frankl- Hoch wart: Die Tetanie der Erwach¬
senen 1907, Seite 52), als Gelegenheitsursache einen Anfall
ausgelöst hat. In diesen Fällen handelt es sich zudem nicht
nur um äußere Einwirkungen auf Muskeln, Nerven und Ge¬
fäße, sondern die forcierte Muskelarbeit schuf auch ver¬
änderte chemische Bedingungen usw. Solche den Krampf
auch nur auslösende Momente sind noch unbekannte endo¬
gene Faktoren — ganz zu schweigen von den eigentlichen
ursächlichen krampfbedingenden Momenten. Allerdings be¬
richtet H. C-ur sch mann, bei einigen Fällen die Auslösung
echter Tetanieanfälle durch Wärmeapplikation gesehen zu
haben (H. Cur schm a nn, Deutsche Zeitschrift für Nerven¬
heilkunde 1910, Bei, 39, Seite 49 und 50).
Nach der Abschwenkung kehre ich zum Thema zurück.
Schlesinger hat das Beinphänomen bisher bei keinem
anderen Leiden als bei der ^Tetanie gefunden und hält es
für pathognomonisch für Tetanie, wie das Trousseausche
Phänomen. Folgender Fall nun betrifft einen 49jährigen
Mann, welcher, an einer Pseudotetania hysterica leidend,
das klinische Bild des Schlesinger sehen Beinphänomens
mit allerdings einigen Abweichungen zeigt. Die Kranken¬
geschichte bringe ich der besseren Uebersicht halber zu¬
sammenfassend ohne Angabe des Datums für die einzelnen
Befunde, welche bis auf nicht bedeutende Schwankungen
in bezug auf die Hautsensibilitätsbefunde in allen wesent¬
lichen Punkten an den verschiedenen Tagen der Beobach¬
tungszeit vom 7. September a. St. bis gegen Ende November
1910 (demonstriert wurde Pat. am 29. September a. St. 1910
in der Gesellschaft praktischer Aerzte zu Riga) sich als
annähernd übereinstimmend erwiesen.
Pat. begann vor 14 Jahren als Maler tätig zu sein und will
vor acht Jahren an Leibschmerzen, gelitten haben, welche als
Bleikoliken angesehen worden wären, seit welcher Zeit er dann nur
sehr seifen Malerarbeit ausgeführt hat. Lues nicht, zugegeben.
Kein Alkoholabusus. Kein Tabakmißbrauch. Er ist ziemlich
kräftig gebaut, sein Thorax ist weder paralytisch, noch faßförmig,
sondern gut gebaut, sein Ernährungszustand ist leidlich, die Ge¬
sichtsfarbe ist grau, die Schleimhäute sind ein wenig, doch
nicht, bedeutend blaß. Die Muskulatur ist ganz gut entwickelt
uiid auch das Fettpolster ist in mittlerer Menge vorhanden.
Keine Drüsenschwellungen. Eine Glandula thyreoidea kann nicht
mit Sicherheit durchgefühlt werden. Es1 sind keine sicheren
Zeichen von Bleivergiftung vorhanden: Kein Bleisaum. Seit Jahren
schon keine ausgesprochenen Koliken mehr. Keine Muskelatro-
phien und keine Lähmungen, speziell keine Radialislähmung.
Schmerzen, u. zw. anscheinend ziemlich konstante Schmerzen,
kommen seit vier bis fünf Jahren in einigen Gelenken vor, am
meisten in den Knien, sodann auch im rechten Ellbogengelenke,
wobei keine Veränderungen der Gelenke nachweisbar sind. Ob
diese Schmerzen hysterischer oder rheumatischer Natur sind
oder aber durch Blei bewirkt werden, ist zwar nicht sicher zu
entscheiden, doch erscheint namentlich auch im Hinblick auf
die Abwesenheit anderer Bleisymptome die hysterische Natur
der Gelenksschmerzen nicht als unwahrscheinlich (doch könnte
es sich auch um rheumatische Schmerzen handeln). — Harn
klar, sauer, von normaler Farbe, mit dem spez. Gew. 1015, enthält
kein Eiweiß, keinen Zucker und Indikan in mäßigen Mengen
(aus 10 cm3 Ham wurden 20 cm3 einer der S trau ßi sehen
Teströhre entsprechenden Indigolösung gewonnen). — Von Magen¬
symptomen sollen epigastrische Schmerzen nach dem Essen' Vor¬
kommen, die aber anscheinend nicht von besonderer Intensität
sind und jedenfalls nicht an Bleikoliken und gleichfalls nicht an
krisenartige Zustände denken lassen. Der Magen scheint nor¬
male Größe zu haben (untere Grenze nach Aufblähung mit Brause¬
pulver zwei Quelrfinger über dem Nabel) und in der Gegend des¬
selben zeigt sich kein Plätschern. E wald -B o a s sches Probe¬
frühstück zeigt A =- 70, Reaktion auf freie Salzsäure stark
positiv. Mit dem Semmelbrei gemengter Schleim vielleicht eine
Spur vermehrt. Sekret nicht zu reichlich. Kein Blut. Kein auf¬
fallender Geruch. Auf nüchternen Magen exprimiert Pät. einmal
10 cm3 nüchternen, salzsäurehaltigen Magensekretes; eine ge¬
ringe Menge Spülwasser, die mehrfach in den Magen hinein-
und aus. demselben wieder hinausgebracht wird, zeigt aber schon
negative Reaktion auf freie Salzsäure. Ein zweitesmal expri¬
miert Pat. 5 cm3 nüchternen, salzsäurehaltigen Sekretes und das
Spülwasser zeigt negative Salzsäurereaktion ; ein drittesmal end¬
lich exprimiert Pat. nichts und der Magen enthält tatsächlich kein
nüchternes, salzsäurehaltiges Sekret, denn das mehrfach hin und
her geflossene Waschwässer zeigt neutrale Reaktion. Keinmal
fanden sich Speisereste im Spülwasser oder im Exprimierten.
Zwei Stunden nach E w al d - B o a s schein Probefrühstück erweist
sich der Magen als völlig leer, das Waschwasser zeigt keine Salz¬
säurereaktion und enthält einigen wenigen Schleim.
Der Stuhl ist etwas trocken, graubraun, große Skybala,
ohne Schleim, ohne Blut, mikroskopisch ohne Besonderheiten
speziell keine Eier.
Also bezüglich des Magen-Darmes liegt objektiv als nicht
einmal fraglose Anomalie eine leichte Hyperchlorhydrie und ganz
geringe Schleimvermehrung vor; die sehr geringen Mengen nüch¬
ternen Sekretes sind auch als nur sehr wenig von der Norm ab¬
weichender Befund aufzufassen; eine regelrechte Hypersekretion
liegt jedenfalls nicht vor. Eine Motilitätsstörung wenigstens irgend
erheblicheren Grades liegt nicht vor. — Von seiten der Lungen
und des Herzens keine auffallenden Besonderheiten, auch sub¬
jektiv nicht. Puls ca. 70, regelmäßig. Weder an der Arteria
temporalis, noch an der Arteria brachialis und radialis aus¬
gesprochene Schlängelung oder Rigidität zu fühlen.
Nervensystem: An seinen jetzt ihn hauptsächlich peini¬
genden Krämpfen ist Patient vor ungefähr drei bis vier Jahren
erkrankt, so zwar, daß die Krampfanfälle fast nur in der Nacht
auftraten, aber lange nicht in jeder Nacht. Erst seit einem
halben Jahre häufen sie sich derart, daß sie in den letzten
Monaten in jeder Nacht ungefähr zweimal auftreten. Da sich
die Krämpfe am Tage kaum zeigen, so habe ich keine Ge¬
legenheit gehabt, einen Spontankrampf zu beobachten. Die aus¬
gesprochen schmerzhaften Krämpfe betreffen entweder die1 Arme
oder die Beine u. zw. nach den Angaben des Patienten fast
immer symmetrisch beide Arme oder beide Beine, nicht dagegen
beide oberen und beide unteren Extremitäten zusammen.
Lin Arm allein oder ein Bein allein soll kaum betroffen werden.
Die Beschaffenheit der Krämpfe ist nach der Beschreibung
des Patienten derartig, daß immer Parästhesien in den betroffenen
Extremitäten vorangehen, sodann die Extremitäten sich in tonische
Krampfstellung begeben u. zw. in ebendieselbe Stellung, in die
sie bei Patienten bei den Trousseau sehen Handgriffen und
bei dein S ch 1 es i n g ersehen Handgriffe an den Beinen geraten.
Dieser tonische Krampf, welcher vielleicht an die zehn Minuten
Dauer haben soll und nie von Bewußtseinsstörungen oder all¬
gemeinen Krämpfen begleitet sein oder in solche übergehen soll,
wird gewöhnlich durch Bewegungsversuche der betroffenen Glieder
zu beheben gesucht. In den letzten Monaten sind die Krämpfe
in den unteren Extremitäten häufiger als die Anfälle in den Armen.
Aueh^ unabhängig von diesen Krampfanfällen traten und treten
nie Krämpfe anderer Art auf, wohl aber soll gelegentlich, viel¬
leicht im Monate einmal, eine Art Dämmerzustand auftreten.
Es ist nämlich mehrfach passiert, daß er bei der Absicht, nach
Hause zu gehen, plötzlich bemerkt hat, wie er sich gar nicht auf
dem Wege nach Hause, sondern irgendwo in einer abseits ge¬
legenen Straße befunden hat, worauf er wieder völlig klar wurde.
Auffälliges scheint er in dieser Zeit der Bewußtseinstrübung
nicht verübt zu haben, wenigstens ist ihm von Bekannten nie
darauf Bezügliches mitgeteilt worden. Sonst merkt man seiner
Psyche nicht sofort die Hysterie an, nach und nach indessen
erkennt man in manchem ein abnormes Verhalten der Psyche.
Die Intelligenz des Patienten hat nicht gelitten. Pat. klagt noch
über gelegentlichen Schwindel, 'mäßig starken Kopfschmerz,
Schwächegefühl und unruhigen Schlaf. Dann gibt Pat. an, ge¬
legentlich eine Art Schüttelfrost zu haben. Die Temperaturen
scheinen immer normal zu sein. Bei den Untersuchungen ist kein
Tremor zu bemerken, weder beim Spreizen, der Finger, noch beim
Uinausstrecken der Zunge usw., nur bei Applikation eines etwas
stärkeren faradischen Stromes trat einigemal eine Art Schüttel¬
krampf fast des ganzen Körpers — etwa wie beim Schüttelfrost
ein ; richtige klonische Krämpfe sind dagegen weder hiebei,
noch sonst zur Beobachtung gelangt. Keine Muskelatrophien ; über¬
haupt keine auffallenden trophischen Störungen. Keine dauernden
Kontrakturen. Keine Muskelrigidität oder Spasmen, weder bei
aktiven, noch bei passiven Bewegungen. Keine Myotonie. Keine
Lähmungen und auch keine Paresen irgendwelcher Muskeln. Er
geht aber trotzdem, als ob die Beine schwach wären, angeblich,
weil die Knie- besonders beim Gehen schmerzen. Schmerzen,
die nach der Beschreibung lanzinierende sein könnten, liegen
anscheinend weder in den Beinen, noch in den Armen vor;
ebensowenig kommt ein Gürtelgefühl vor. Parästhesien scheinen
ausschließlich als Vorläufer der Krämpfe vorzukommen. Bracht-
R h o m b e rg sches Symptom ist manchmal kaum angedeutet,
manchmal deutlich positiv. Ataxie der Arme nicht vorhanden.
Der Knie-Hacken-Versuch gelingt leidlich, wie auch die Beine
kleine Kreise leidlich in die Luft zu zeichnen vermögen. Keine
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
165
Nr. 5
Miktionsbeschwerden. Geschlechtliche Potenz noch vorhanden, i
doch gering. Die Papillen sind gleich weit, immer recht eng,
reagieren aber auf Lichteinfall. Die Patellarreflexe sind lebhaft,
die Achillessehnenreflexe schwach, Fußklonus kommt nicht zu-
Stande. Babinski negativ. Rachenreflex stark vorhanden. Kon-
junktival- und Kornealreflexe vorhanden. Die Sensibilitätsprüfling
der Haut ergibt betreffs des Tastsinnes nicht immer gleiche
Resultate: Leichte Berührung mit dem Finger wird an den meisten
Stellen der Beine nicht empfunden, jedoch finden sich auch insel-
förmige Partien an den Beinen, welche leichte Berührung em¬
pfinden. Am übrigen Körper finden sich nur inselförmige Partien,
welche eine leichte Berührung des Fingers nicht empfinden.
Dieser Befund ist, wie gesagt, kein ganz konstanter. Stärkere
Berührung, resp. leichter Druck mit dem Finger, wird fast überall
empfunden. Die Schmerzempfindung der Haut betreffend findet
sich Analgesie fast, über den ganzen Körper verbreitet, nur an
einigen Stellen wird die Nadelspitze als spitz empfunden und
zwar in der Interskapulargegend, in der rechten Inguinalgegend,
am Halse, links am Kopfe und an den meisten Fingerbeeren.
Auch dieser Befund ist nicht völlig konstant. Der Temperatursinn
isf gleichfalls, ziemlich entsprechend den analgetischen Partien,
so gut. wie aufgehoben. Sowohl bei Berührung mit heißen,
als auch mit kalten Reagenzgläschen wird höchstens die
Berührung als solche angegeben, der Temperaturunterschied aber
nicht empfunden. Bei Anwendung eines etwas stärkeren fara-
dischen Stromes — wie bereits angegeben — , aber auch hei
Schließung eines noch mäßig starken konstanten Stromes stellten
sich gelegentlich eine Art Schüttelkrämpfe ein, das Faradisieren
mit schwachem Strome wurde gelegentlich nicht empfunden. Der
Gelenk- und Muskelsinn scheint nicht sehr wesentlich gestört zu
sein. An den unteren Extremitäten ist indessen auch darin eine
Störung nachzuweisen, indem die bei geschlossenen Augen dem
einen Beine passiv gegebene Stellung von dein anderen Beine
nur ungenau nachgeahmt wird. Von sensoriellen Anästhesien
findet sich eine beiderseitige starke konzentrische Gesichtsfeld -
einengung, wobei der Augenhintergrund sich als normal erwies
(Doktor Th. Schwartz). Die Geschmacksempfindungen sind
wenigstens nicht grob gestört. Von seiten des Gehörs scheinen
auch keine groben Abweichungen vorzuliegen. Druck auf die
Hoden erweist sich als nicht besonders empfindlich. Auch fehlt
eine Hyperästhesie der Wirbelsäule. Es werden überhaupt keine
hysterogenein Zonen gefunden, von welchen aus etwa ein Krampf
in den Armen oder in den Beinen hervorgerufen werden könnte,
wenn man hieher nicht etwa die Handgriffe zur Auslösung
des Pseudo-Trousseau-Phän omens und des Pseudo-Beinphänomens,
von denen später die Rede sein wird, rechnen will.
Die bereits mehrfach erwähnten Krampfanfälle verlangen
eine Prüfung auf Tetaniesymptome: Bei Druck in den Sulcus
bicipitalis oder bei Umschnürung des Oberarms stellen sich an
dem jeweilig vorgenommenen Arm zunächst nach vielleicht einer
Viertelminute Parästhesien ein und nach Verlauf einer halben
Minute bis drei Minutein ausgesprochen schmerzhafter to¬
nischer Krampf, welcher dem Spontankrampfe entsprechen
soll und der nach Aufhören der Kompression nicht so¬
fort, sondern erst inach einer halben oder nach einigen
Minuten weicht. Betroffen ist immer der Extensor brachii
(Triceps), welcher sich während des Krampfes bretthart anfühlt,
ein großer Teil der Muskeln am Vorderarme, welche sich ringsum
hart anfühlen und die Fingerbeuger. Oft sind auch von der Skapula
entspringende, zum Oberarme ziehende Muskeln hart kontrahiert.
Der ganze gestreckte Arm ist dann gewöhnlich um vielleicht
20° vom Körper abgezogen, manchmal wird er auf der Höhe des
Krampfes etwas nach hinten zu gezogen. Immer aber be¬
finden sich Oberarm, Vorderarm und Hand bis zu den Meta-
karpo-Phalangealgelenken in einer Achse, also der Vorderarm
ist gestreckt und die Hand nur so weit gestreckt, daß noch keine
Dorsalflexion vorliegt. Dabei können auch mit großer Kraft¬
anstrengung diese Stellungen passiv ebensowenig wie aktiv ge¬
ändert. werden. Die Finger sind bis auf den Daumen, welcher
sich anders verhält, in den Metakarpo-Phalangealgelenken, ebenso
wie in den ersten Interphalangealgelenken ad maximum gebeugt,
in den zweiten Interphalangealgelenken dagegen nur mäßig ge¬
beugt. Dabei sind also die vier in Rede stehenden Finger -
so weit es geht — . gegen die Hohlhand geschlagen und zwar
so fest, daß sie bei Anwendung großer Kraft ebensowenig ab¬
gehoben werden können, wie der Daumen, welcher gegen die
erste Phalanx des Zeigefingers oder gegen dessen erstes Inter-
phalangealgelenk hin gleichfalls so fest daraufgeschlagen ist,
daß er absolut nicht abgehoben werden kann. Der Daumen ist
dabei im Metakarpo-Phalangealgelenk leicht flektiert, im lnter-
phaTarigeälgelenke gestreckt. Auch durch starke passive Elevation
! des Armes, so daß der Humerus dem Ohre fest anlag — wie
W. Alexander es bei seinem Kranken machte (Deutsche medi¬
zinische Wochenschrift 1910, Nr. 22) wobei der Radialpuls
deutlich fühlbar blieb, trat in vielleicht zw i Minuten in dem
betreffenden Arme tonischer Krampf derselben Art auf, welcher
Krampf nach Herablassen des Armes auch erst in vielleicht
einer Minute schwand. Einmal unter häufigen Versuchen passierte
es bei diesem Experimente, daß auch der andere Arm und beide
Beine -- wenn auch in nur ganz rudimentärer Form - ent¬
krampften und daß auf der Seite des emporgehobenen rechten
Armes auch, tonischer Krampf des Sternokleidomastoideus äui'iivi,
so daß eine Torticollis spastica daraus resultierte, welche viel
leicht eine halbe Minute nach Herablassen des Armes verging.
Dieses Mitkrampfen anderer Muskelgruppen passierte aber bei
Anwendung des Tr o u sseau sehen Handgriffes am Arme und
des ihm ähnlichen Handgriffes der passiven Elevation des Armes
nach W. Alexander nur ein einziges Mal unter häufigen Ver¬
suchen. Also fast immer wurde nur die Extremität vom Krampfe
befallen, an welcher der Handgriff vorgenommen wurde.
Das Beinphänomen: Beim Abbeugen des im Kniegelenke
gestreckten (des rechten ebensowohl wie des linken) Beines des
liegenden Patienten im Hüftgelenke um etwa 70° traten nach
vielleicht einer halben Minute Parästhesien und nach vielleicht
einer Minute sehr schmerzhafter tonischer Krampf auf, welcher
den Spontankrämpfen entsprechen soll. Das Bein ist dabei im Knie¬
gelenke gestreckt und der Unterschenkel kann weder aktiv noch
passiv gebeugt werden, der Fuß ist nur gelegentlich in leichter Su-
pinationsstellimg, gewöhnlich ist er weder in Supinations-, noch
in Pronationsstellung und er ist anfangs weder dorsal-, noch
plantarflektiert, anscheinend weil einerseits durch mäßig starken
Krampf des Gastroknemius die gespannte Achillessehne den Fuß
zu strecken, resp. plantarflektieren versucht, andrerseits die kon¬
trahierten Zehenextensoren, abgesehen von ihrer speziellen Wir¬
kung auf die Zehen seihst, gleichzeitig den ganzen Fuß, in Dorsal¬
flexion zu bringen suchen, so daß sich diese antagonistischen
Kräfte in ihrem Effekte auf die Stellung des Fußes auiheben;
nach einigen Sekunden indessen nimmt gewöhnlich der Krampf
der Zehenextensoren zu und ihre Wirkung überwiegt diejenige
des nur mäßig kontrahierten Gastroknemius, woraus dann eine
leichte Dorsalflexion des Fußes resultiert. Die Zehen selbst sind
dabei von vornherein ausgesprochen dorsalflektiert, allerdings
zu Beginn des Krampfes weniger, nach einigen Sekunden stärker
ausgesprochen. Entsprechend den geschilderten Verhältnissen
fühlt man während des Krampfes eine brettharte Konsistenz an
dem Extensor cruris quadriceps, ferner einen mäßigen Kontrak¬
tionszustand in der Gegend der Adduktoren des Oberschenkels
und eine deutliche Zunahme des Tonus der Muskeln des Unter¬
schenkels ; endlich sieht man während des Krampfes die stark
gespannten Sehnen des Extensor digitorum communis longus und
des Extensor hallucis longus am Fußrücken sehr deutlich vor-
springen. Nachdem der Krampf einmal eingesetzt hat, kann der
Fuß auch mit großem Kraftaufwande passiv weder dorsalfiektiert,
noch plantarflektiert werden; ebensowenig kann Pat. das aktiv
tun. Die Zehen können zwar passiv in die normale Lage zurück-
gebogen werden, schnellen dann aber, wenn man sie wieder
losläßt, sofort in ihre Krampfstellung zurück. Beendigt man nun
nach eingetretenem Krampfe den Handgriff, indem man das Bein
auf das Lager zurücklegt, so hört der Krampf nicht gleich, son¬
dern erst nach vielleicht einer halben Minute Ins einigen Mi¬
nuten auf. Pat. versucht dadurch, daß er aufsteht und Be¬
wegungen vorzunehmen versucht, den Krampf abzukürzen.
Dieses Phänomen stellt sich gleichfalls beim Aufsitzen aut
dem Lager mit gestreckten Beinen nach einer halben bis zwei
Minuten ein — - nun selbstverständlich in beiden Beinen. Beugte
Patient den "Oberkörper im Stehen bei gestreckten Beinen ab,
so trat das Phänomen nach ungefähr zwei Minuten in beiden
Beinen ein. Der Beinkrampf wird auch durch Druck auf den
Nervus ischiadicus (zwischen Trochanter major und Tuberositas
ossis ischii) in vielleicht einer Minute ausgelöst. Auch Druck auf
den Nervus tibialis (in der Kniekehle) löst den Krampf aus.
ebenso wie auch Druck auf den Nervus peroneus in ein bis
zwei Minuten. Auch Druck auf die Arteria femoralis ruft einen
allerdings nur rudimentären Krampf hervor; hier dauert es außer¬
dem länger, nämlich drei Minuten, bis zum Eintritt des Krampfes.
Trotzdem nun der Krampf hiebei nur rudimentär ist. so springt
er plötzlich auch auf das andere Bein, dessen Arteria femoralis
keinen Druck erlitten hatte. - - in ganz rudimentärer Form -
über. Umschnürung des Oberschenkels mit einem Gummischlauch
ruft den Krampf gleichfalls — allerdings erst nach ungefähr
zwei Minuten — hervor. Druck dagegen auf etwaige hysterogene
Zonen, auf die Wirbelsäule oder neben die Wirbelsäule, oder
166
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
Drücken der Hoden, oder Kneifen von H au tf alten, oder sugge¬
stive Maßnahmen, wie etwa Druck nicht auf den Ischiadikus
selbst, sondern an falscher Stelle neben dem Nerven, vermögen den
Krampf nicht auszulösen. Auch arbeitet Pat. sich nicht auf
das Phänomen ein. Fast immer wurde nur das betreffende Bein
vom Krampfe (he lallen, an dem der Handgriff vorgenommen wurde.
Sehr selten aber kam es dazu, daß beim Handgriffe an dem
einen Beine nicht nur dieses, sondern auch1 das andere — dann
immer schwächer — mitkrampftei, SO' z. B., wie schon erwähnt,
bei Druck auf die eine Arteria femoralis. Daß beim Handgriffe am
Bein etwa ein oder beide Arme mitgekrampft hätten, habe ich
nicht beobachtet. Die Beine zeigten ebensowenig wie die Arme
während des Krampfstadiums erkennbare vasomotorische Stö¬
rungen und die Arteria dorsalis pedis, deren Puls beim Patienten
immer nur schwach zu fühlen ist, fühlt man auch während
des Krampfanfalles — - selbstverständlich auch! nur schwach —
pulsieren.
Eine mechanische Uebererregbarkeit der Nerven läßt sich
nicht nachweisen, speziell fehlt das Fazialisphänomen. Auch eine
elektrische Uebererregbarkeit der Nerven fehlt. Am 10. Sep¬
tember z. B. trat bei der Untersuchung mit dem galvanischen
Strome KSZ am Ulnar is1 dexter bjeli 2 MA., am Ulnaris sinister
gleichfalls bei 2 MA. auf. Am 21. September reagierte der Ul¬
naris dexter auf die Kathodenschließung mit einer Zuckung bei
2-5 MA., der Ulnaris sinister bei 3 MA., der Peroneus dexter
bei 3-5 MA. und der P. sinistelr bei 3-5 MA. Dir. Th. Schwartz).
— Am 25. September trat die erste KSZ am Ulnaris dexter bei
2 MA., am Ulnaris sinister bei 2-5 MA. auf, während eine Kon¬
trolle desselben Apparates mit denselben Elektroden bei einem
normalen Individuum mir die erste KSZ an beiden Ulnares bei
1-5 bis 2 MA. ergab. (Während aller dieser Untersuchungen
kam es allnächtlich zu Krämpfen.)
Sowohl das zweifellose Yorliegen einer Hysterie in
diesem Falle, als auch besonders das Fehlen einer mechani¬
schen und elektrischen Uebererregbarkeit der Nerven zeigen,
daß es sich um eine Pseudo tetania hysterica handelt und es ist
der Fall interessant darin, daß er das klinische Bild des
Beinphänomens mit allerdings einigen Abweichungen zeigt.
Das Phänomen in meinem Falle dürfte jedoch, da es sich
um eine Pseudotetanie handelt, nach Analogie der Be¬
zeichnung „Pseudo -Trousseau -Phänomen“, richtiger als
„Pseudo-Beinphänomen“ bezeichnet werden, trotzdem es in
unserem Fälle in klinischer Hinsicht — vom Wesen des
Phänomens ist nicht die Rede — nur Abweichungen von
mehr untergeordneter Bedeutung gegenüber dem bei den
Söhle sing ersehen und Al exander sehen Fällen echter
Tetanie beschriebenen Beinphänomen zeigt. Ausgelöst wird
das „Pseudo-Beinphänomen“ in meinem Falle durch die¬
selben Handgriffe, wie das Beinphänomen in den Sc'hle-
sing er sehen und Al exander sehen Fällen echter Tetanie
und zwar lösen in meinem Falle das Phänomen folgende
Handgriffe aus: Die Sc hie sing ersehen Handgriffe, näm¬
lich Abbeugen des im Kniegelenk gestreckten Beines des
liegenden Patienten im Hüftgelenke (in meinem Fälle schon
eine Beugung um 70°), Aufsitzen auf dem Lager bei ge¬
streckten Beinen und Beugen des Oberkörpers im Stehen
bei gestreckten Beinen; ferner Druck auf den Nervus ischiadi-
cus, aufdenNervus tibialis und auf den Nervus peroneus, Um¬
schnürung des Oberschenkels und auch Druck auf die Ar¬
teria femoralis. Bei Druck auf die Femoralis vergehen aller¬
dings drei Minuten bis zum Eintritt des bloß rudimentären
Krampfes, während die anderen genannten Handgriffe den
Krampf viel schneller und vollkommener hervorrufen.
Ein ähnliches Verhalten konnte W. Alexander bei
seinem Patienten mit echter Tetanie konstatieren. Alexan¬
der sieht darin eine Uebereinstimmung mit den experi¬
mentellen Ergebnissen Kashi das,1) welcher durch sehr
lange dauernde Reizungen der Gefäße im Tierversuch (an
einem entkropften Hunde) ähnliche Wirkungen, die er auf
Reizung der Gefäßnerven zurückfuhrt, hervorzurufen ver¬
mochte, wie sie v. Frankl -Hoch w art.2) und Kashi da
durch kurze Reizungen der Nerven hervorbringen konnten.
1 ) Zit. nach v. Fr an kl- Hoch wart, Die Tetanie der Erwach¬
senen, 1907, S. 68.
2) Zit. nach v. Fr an kl- Hoch wart, Die Tetanie der Erwach¬
senen, 1907, S. 68.
Obschon nun in meinem Fälle eine Pseudotetanie und keine
echte Tetanie vorliegt, so liegt es doch nahe, auch zur
Erklärung für das geschilderte Verhalten in meinem Falle
an die erwähnten experimentellen Ergebnisse v. Frankl-
Hoch warts und Kashi das zu denken.
Daß in meinem Falle auch Druck auf den Nervus
peroneus und tibialis die Krampfstellung auslöst, gibt dem
klinischen Bilde des „Pseudo-Beinphänom(ens“ im Vergleiche
zu dem des echten Beinphänomens und des TrouSseau-
schen Phänomens an den Beinen nichts Fremdartiges. Ist
doch Auslösung einer Kontraktur des Fußes bei Kompression
des Peroneus auch bei der echten Tetanie von Müller3)
beobachtet worden; ferner berichtete Schön born4) über
einen Tetaniefall, hei welchem durch Kompression des Pero¬
neus Krämpfe auslösbar waren. Daß bei der echten Tetanie
allerdings Druck auf den Tibialis gleichfalls einen Krampf
ausgelöst hätte, ist mir nicht bekannt, doch macht der
diesbezügliche positive Befund in meinem Falle sicher kein
prinzipiell unterscheidendes Merkmal aus.
Hervorzuheben ist, daß, es nicht gelang, das Phänomen
durch Suggestion auszulösen. Ein intensiver und langdau¬
ernder Druck z. B., welcher nicht den Ischiadikus selbst
traf, sondern eine Stelle neben ihm, löste keinen Krampf
aus. Ferner übte sich Pat. auch nicht auf das Phänomen
sozusagen ein, es blieb bei allen diesen Versuchen immer
gleich in bezug auf die Stärke und den Zeitpunkt des Auf¬
tretens. i
Es wurde auch nicht ausgelöst von hysterogenen
Zonen im engerefn Sinne des Wortes aus — • denn im wei¬
teren Sinne des' Wortes sind wohl alle genannten Punkte
in meinem Falle, deren Reizung das Phänomen hervor¬
brachte, hysterogene Zonen — , weder Flodencpietschung,
noch Druck auf die Wirbelsäule, noch Quetschung von
Hautfalten, noch ähnliches vermochte den Krampf auszu¬
lösen. Immer lösten fast nur diejenigen Flandgriffe den
Krampf aus, welche ihn auch bei der echten Tetanie aus¬
zulösen vermögen. Von gewissen hiehergehörigen Unter¬
schieden gegenüber dem echteh Beinphänomen, wird später
die Rede sein.
Parästhesien gingen auch in meinem Fälle hei Aus¬
lösung des Phänomens dem Krampfe voran; auch in un¬
serem Falle tritt der Krampf nicht sofort, sondern erst
nach Verlauf einer halben Minute oder später auf und
schmerzhaft sind die Krämpfe auch in meinem Falle; alles
das ebenso, wie beim echten Beinphänomen. Die durch
den Schl esing ersehen Handgriff provozierte Krainpf-
stellung entspricht in unserem Fälle dem spontan anftre-
tenden Krampfe ebenso wie das hei dem echten Beinphä¬
nomen in den Schlesinger sehen Beobachtungen der
Fall ist.
Was nun den Effekt der Handgriffe anlangt, so liegt
in meinem Fälle ebenso eine Streckung des Unterschenkels
vor, wie in den Sohle singer sehen und A lex and er¬
sehen Fällen echter Tetanie, die Füßstellung und die
Stellung der Zehen aber ist nach Schlesinger auch bei
der echten Tetanie keineswegs stets die gleiche. Es läßt
sich somit von der Füßstellung und der Stellung der Zehen
in meinem Falle nicht behaupten, daß, sie eine wesentliche
Abweichung gegenüber dem Verhalten heim echten Bein¬
phänomen Idarstellen.
Ein Unterschied im klinischen Aussehen gegenüber
dem echten Beinphänomen muß aber wohl darin gesehen
werden, daß der durch die Handgriffe provozierte Krampf
in meinem Falle nicht sofort nach Unterbrechung des Hand¬
griffes, sondern erst nach V2 bis 2 Minuten aufhörte; jedoch
dürfte solches Verhalten gelegentlich auch einmal bei der
echten Tetanie Vorkommen können.
Ferner dürfte auch das in meinem Falle bei Aus¬
übung der Handgriffe aber nur selten zur Beobachtung
3) Zit. nach v. Frankl-IIoch tvart, Die Tetanie der Erwach¬
senen, 1907, 'S. 67.
4) Schönborn, Deutsche Zeitschr. für Nervenheilkunde 1910,
Bd. 40, S. 331 u. 332.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
1 67
gelangte Ueberspringen des Krampfes auch auf das andere
Bein bei dem Beinphänomen der echten Tetanie eine Selten-
leit darstellen. Schlesinger sah dieses Vorkommnis beim
'chten Beinphänomen einmal. Ein Vorkommnis allerdings,
las sich bei meinem Falle ein einziges Mal ereignete, daß
ähnlich bei der passiven Elevation des einen Armes nach
V 1 e xa nd e r 'nicht nur der andere Arm, sondern auch
»eide Beine wenn auch nur ganz rudimentär — mil-
crampften, dürfte sich bei der echten Tetanie, wenn über-
laupt, so wohl nur sehr selten ereignen. Ein Mitkrampfen
ler Anne wurde in meinem Falle durch die an den Beinen
orgenommenen Handgriffe niemals erzielt. Es zeigt sich
iucIi hierin für unseren Fall, abgesehen davon, daß die
feine während der Beobachtungszeit häufiger vom Spon-
ankrampfe befallen wurden, als die oberen Extremitäten,
ine größere Krampfbereil schaff der unteren Extremitäten
gegenüber derjenigen der Arme.
Wenn also auch das Pseudo-Beinphänomen in meinem
'alle in klinischer Hinsicht dem echten Beinphänomen außer-
irdentlich ähnlich ist, so läßt sich das natürlich noch nicht
»bne weiteres vom- Wesen der Erscheinung sagen. (Sehr
abfallend allerdings ist es, daß — wie man eigentlich er-
varten sollte — sich in meinem Falle keine eigentlichen
lysterogenen Zonen finden, von denen aus die Auslösung
les Phänomens gelingt und daß auch suggestive Maßnahmen
ii dieser Hinsicht fehlschlagen.
Betreffend das Pseudo -Trousseau - Phänomen an den
innen in meinem Falle kann ich mich kürzer fassen. Aus
ler Krankengeschichte ersiehi man, daß die Stellungen der
ringer, der Hand, des Vorderarmes und des Oberarmes
•on den gewöhnlichen Stellungen beim echten Trousseau-
ichen Phänomen immerhin nicht ganz unerheblich ab-
veichen; am meisten fällt der Streckkrampf im Ellenbogen-
Gelenk auf. Ferner fällt als ein von dem gewöhnlichen
/erhalten des echten Trousseau sehen Phänomens ab-
veichendes Verhalten des Pseudo -Trousseau -Phänomens in
neinem Falle auf, daß. der experimentell hervorgerufene
frampf nicht gleich nach Unterbrechung des Handgriffes
mfhört, sondern erst nach V2 bis 2 Minuten.
Im übrigen zeigte das Pseudo-Trousseau-Phänomen in
neinem Falle das gleiche klinische Verhalten, wie das echte
Mousse ausche Phänomen. Ausgelöst wurde es in der-
. eiben Weise, wie man das Trousseau sehe Phänomen
ler echten Tetanie auslöst, durch Umschnürung des Ober¬
armes und durch Druck in den Sulcus bicipitalis. Ferner
Gelang die Auslösung des Phänomens auch durch passive
rievation des Armes nach Alexander. Die Auslösung
les Phänomens durch suggestive Einflüsse oder durch Druck
mf hysterogene Zonen gelang ebensowenig, wie die Aus-
ösung des Pseudo-Beinphänomens durch ähnliche Maßnah-
nen. Auch arbeitete sichPat. nicht auf das Pseudo-Trousseau-
Phänomen ein. Sehr selten krampfte bei Anstellung des
landgriff es der andere Arm mit. Der sehr schmerzhafte
vrampf trat nicht sofort, sondern erst nach einer halben
Jinute oder später nach Beginn des Handgriffes auf und
Entspricht dann in seiner Stellung derjenigen des Spontan-
:rampfes im Anne.
Was speziell hervorgehoben werden muß, so gingen,
vie bei dem echten Trousseau sehen Phänomen, dem
experimentell hervorgerufenen Krampfe Parästliesien vor-
in — im Gegensatz zum gewöhnlichen Verhalten des Pseudo-
i rousseau - Phänomens.
Alles in allem zeigte das Pseudobeinphänomen un¬
seres Falles mit dem echten Beinphänomen einerseits, das
Pseudo-Trousseau-Phänomen unseres Falles mit dem echten
I rous se au sehen Phänomen anderseits in ihrem klinischen
Vussehen sich soviel Uebereinstimmend.es, daß ohne Berück¬
sichtigung der anderen Symptome eine Entscheidung dar-
iber, ob es sich um die echten oder um die Pseudo-Phäno-
nene handelt, wohl kaum möglich gewesen wäre, oder daß
uan sogar vielleicht eher an die Phänomene der echten
Tetanie gedacht hätte.
Das Fehlen der mechanischen und namentlich der
elektrischen tE eberregbarkeit und die Anwesenheit einer
Hysterie zeigen die Zugehörigkeit unseres F'alles zur „Pseu-
dotetania hysterica“. Demgegenüber kommen auch —
meiner Meinung nach das Verhalten der Magenfunk¬
tionen und die ehemalige Arbeit mit bleihaltigem Materiale
nicht als ätiologische Faktoren in Betracl
daß die Glandula thyreoidea nicht deutlich du
wird, darf nicht auf einen Mangel an funktionstüchtigem
Schilddrüsen- oder gar Epithelkörperchen - Gewebe ge¬
schlossen werden.
Aus der serodiagnostischen Untersuchungsstation der
Klinik für Geschlechts- und Hautkrankheiten in Wien.
(Vorstand : Prof. E. Finger.)
Vergleichende Globulinmessungen an luetischen
Seris.
Von Dr. R. Müller, Assistenten der Klinik und W. H. Hough,
Washington.
Seit festgestellt wurde,1) daß mit der Globulinfraktion
aus Luetikerseris die bei der W assermannschen Reaktion
wirksamen ,, Luesreagine“ ausfallen, war es vor alleni
Winternitz,2) der sich eingehend mit dem Studium der
Globuline im Serum Luetischer befaßte. Zu seinen Stu¬
dien benützte er anfangs Wägungs-, später Refraktions¬
methoden und konnte finden, daß durchschnittlich bei Lue¬
tikern höhere Fibrinogen- und Globulinwerte resultieren als
bei .nichtluetischen Menschen.
Auch wir beschäftigen uns seit längerer Zeit mit Unter¬
suchungen der Globulinwerte bei Luetikern. Da wir gleich
anfangs der Ueberzeugung waren, daß zur Beantwortung
liieher gehöriger Fragen nur ein an umfangreichem Material
gewonnenes Urteil Wert haben kann, trachteten wir von
vornherein nach einer möglichst einfachen Unlersuchungs-
technik.
Die Fragen, die wir uns vorl egten, waren vor allem
folgende :
1. Findet bei Lues eine Vermehrung des Gesamtglobu¬
lins statt?
2. Welche Globulinfraktion ist hauptsächlich quanti¬
tativ verändert?
3. In welchem Verhältnisse stehen quantitativ me߬
bare Globulinveränderungen zur Wassermann sehen Re¬
aktion ?
Die durch verschiedene Sättigung mit Ammoniumsulfat
ausgefällten Globulinmengen bestimmten wir nach Zentri¬
fugieren durch Messung.3) Wir sind uns bewußt, daß bei
dieser Versuchstechnik manche Fehlerquellen nicht auszu¬
schalten sind. Im1 Laufe der Untersuchungen jedoch haben
wir gelernt, diese technischen Fehlermöglichst einzuschräh-
ken. Auf die umständliche Iteindarstellung der Globuline
glaubten wir verzichten zu können, da es uns vor allem!
darauf ankam, die nach unserer Methode b e s t i m m-
t en Globulinwerte der Luetikerseren mi t den bei
gleichzeitig untersuchten nichtluetischen Seren
gefundenen Werten zu vergleichen.
Methode der Untersuchung.
Einerseits wurden mehrere Kubikzentimeter Blut aus der
Armvene des Patienten mittels Punktion entnommen. Zur Unter¬
suchung gelangten nur1 Patienten der Finger sehen Klinik und
zwar Luetiker des Sekundärstadiums, hur! ausnahmsweise Tertiär-
luetische. Ausgewählt wurden nur solche Patienten, bei denen
die Wassermann sehe Reaktion komplett positiv war und die
seit längerer Zeit keine spezifische Behandlung mitgemacht hatten.
Anderseits wurden zur Vergleichsuntersuchung Patienten der
Klinik au sige wählt, die anamnestisch und klinisch frei von Lues
waren und negative Wasser mann sehe Reaktion zeigten. Es
handelte sich meist um Patienten mit Urethritis, Ulcus molle
Balanitis, Bubonen, Hautaffektionen verschiedener Art. Beson-
B Landsteiner und Müller, Wiener klin. Wochenschr. 1908.
2) Archiv für Dermatologie 1910.
3) Nach dem Prinzip der Non ne sehen Probe.
168
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
deines Gewicht, legten wir speziell in letzter Zeit darauf, ..daß die
zu untersuchenden Seren alle gleich alt und gleichartig
konserviert vvare'n. Jeder Versuch bestand aus gleich¬
zeitige r .Prüfung einiger luetischer und nichtluetischer Seren.
Zwei Stunden nach der Entnahme wurden die . Blutproben bis
zur völligen Klarheit des Serums zentrifugiert. Mit jedem Serum
stellten wir zwei Proben an. Zwei Teile Serum wurden mit einem
Teile ’konzentrierter wässeriger Arnmoniunnsulfatlösung zur
Fällung des Euglobulins in einer Eprouvette vermischt, ln eine
zweite Eprouvette kamen gleiche Teile Serum und Ammonium¬
sulfatlösung zur Fällung des Gesamtglobulins. . Die Proben wurden
nun durch 16 Stunden bei Zimmertemperatur belassen und einige
Male- kräftig geschüttelt. Von der ersten Eprouvette gaben wir
3 cm3, von der zweiten 2 cm3 in eigens angefertigte graduierte
Röhrchen.
Diese Röhrchen waren völlig gleichartige, konisch zulau¬
fende Eprouvetten mit 5 cm3 Inhalt. Die obere Apertur war
15 mm, das geschlossene Ende zeigte ungefähr 4 mm im Durch¬
messer. Der unterste Kubikzentimeter war außerdem . durch
Anzahl
der Teil-
Fall
Wassermann
striche auf 10 cm3
Ver-
Serum berechnet von
such
Nr.
Gesamt¬
globulin
Prot. -Nr.
Ausfall
Eu¬
globulin
1
12001
N
18-3
64
I
2
12002
++
L
50
92
3
1200
N
34
80
4
11999
d~F
L
45
72
II
5
12077
—
N
23-5
80
6
12078
++
L
55
110
7
12079
+H-
L
55
122
8
12133
—
N
35
80
III
9
12134
++
L
45
120
10
12135
-H-
L
34
84
11
12152
— -
N
225
56
12
12160
N
33
68
13
12162
_
N
48
86
IV
14
12163
H— F
L
65
110
15
12161
+ d-
L
65
90
16
12165
++ '
L
58
96
17
12166
N
32
76
18
12644
—
N
38
L20
V
19
12645
++
L
40
93
20
12646
+4-
L
44
98
21
12883
—
N
45
82
22
12884
- .
N
41
85
VI
23
12885
—
N
35
95
24
12886
~b“b
L
52
104
25
12887
++
L
38
58
26
12937
H — b
L
50
90
VII
27
12938
N
38
89
28
12939
-i — p
L
42
99
VIII
29
13026
++.
. L
33
147
30
13027
N
23
103 |
IX
31
13132
— -
N
25
56
32
13133
++
L
45
58
33
13212
++
L
31
80
X
34
13213
N
20
80
35
13214
. —
N
27
100
36
13215
++
L
30
86
37
13300
++
L (III)
23
72
XI
38
13301
4~F
L
35
80
39
13302
N
33
94
40
13303
—
N
13
86
41
13387
-T-
N
28
118
XII
42
13385
—
N
19
104
43
13386
+ +
L
30
92
44
13388
-H-
L
25
86
45
13475
N
22
72
46
13476
N
25
104
XIII
47
13477
++
L
43
120
48
13478
N
42
94
49
13479
H — b
L
47
104
50
13480
N
32
84
XIV
51
13547
—
N
20
68
52
13548
-Fd-
L
46
78
53
13615
—
N
20
76
j XV
54
13597
~b
N
23
76
55
13617
++
L
42
94
56
13616
++
L
38
96
XVI
57
13680
—
N
20
80
58
13679
++
L
26
86
20 Teilstriche in je 0-05 cm3 eingeteilt. Die völlig gleich¬
mäßige Ausführung der Röhrchen, ist eine Grund
bed i n g u ng für das Gelingen der Versuche.
Nach ändert halbstündigem Zentrifugieren wurde die
Anzahl der Teilstriche, bis zu denen das Globulin ausge
füll! war, abgelesen und auf 10 cm3 Serum mngereelmel.
Im ganzen untersuchten wir 158 Fälle. Doch haben
wir nur die Resultate der letzten 58 Fälle, da nur
diese hei völlig gleichartiger Technik erhalten
wurden, in der Tabelle zusammengestellt.
Davon waren 29 Fälle Lues des Sekundärstadiums (Lj
und 29 mchtlueiische Seren (N). Im Durchschnitt er¬
gaben danach Syphilisseren (auf 10 cm3 berechnet)
42-5 Teile E u g 1 o b u 1 i n, die K o n t r o 1 1 s e r e n 28-8 Teile.
G e s a in t gl o h u 1 i n zeigten Luesseren durchschnitt¬
lich 94 und die Kon troll seren 84-7.
Es ist also die Differenz der Gesamtglobulinwerte
kleiner als die der Euglobulinwerte. Wenn man nun auch
annehmen will, daß in einer anderen großen Versuchsreihe
die Durchschnittswerte sich nicht völlig gleich verhalten
werden, so können Wir doch jedenfalls behaupten, daß die
durchschnittliche Vermehrung des Globulin¬
gehaltes der Luetikers er en auf ihrem höheren
Euglobulingehalt beruh t,3)
Betrachten wir die einzelnen Versuche, so fällt uns
vor allem auf, daß wir in den einen manchmal sowohl
für die Luetiker als für die Normalen höhere Zahlen
finden als in anderen. Erklärung für diese Tatsache konnten
wir bisher nicht finden (Diät?). Wenn wir uns jedoch damit
begnügen, in jedem einzelnen Versuche die Globulihwerte
der Luetiker mit denen der Nichtluetiker zu vergleichen,
so 'sehen wir in fast jedem einzelnen Versuch bei den Lue-
tikerseren höhere Zahlen als bei den Nichtluetischen. Aber
auch hier kommen Ausnahmen vor. In dieser Beziehung
ist speziell der Fall 25 (L) auffallend, der einen geringeren
Euglobulinwerl zeigt, als gleichzeitig untersuchte Normal-
seren. Dieser Fall ha t ' auch eine auffallend geringe Ge¬
samtglobulinmenge, so daß der prozentuelle Anteil des Eu¬
globulins gegenüber den gleichzeitig untersuchten Normal¬
seris ein immerhin großer war. Es scheint also, daß in
diesem Falle die B e d i n g u ligen zu r A u s f ä 1 1 u n g mit
A m m o n i u m s u 1 f a t ü b e r h a u p t schlechte w' area, da¬
bei bestand doch eine relative Euglobulin Vermehrung. An¬
ders verhielt es sich in einem nichtluetischen Serum (48).
Hier zeigte ein nichtluetischer Fall eine hohe Euglobulinzahi
und auch der prozentuelle Anteil des Euglobulins am Ge¬
samt globulin war ein hoher. Es handelt sich um einen über¬
faustgroßen Bubo der Inguinaldrüsen, der dem Durchbruch
nahe war (Wassermann-Reaktion negativ!). Dieser Fall
zeigte schon, daß die Vermehrung des Euglobu-
links nicht in direkten Zusammenhang mit der
Wassermannschen Reaktion zu bringen und auch
nicht diagnostisch verwertbar ist. Es wäre aber
immerhin möglich, daß man mit der Euglobulinbesdmmung
einen Gradmesser für den Einfluß der eingeleiteten Behand¬
lung auf den luetischen Prozeß gewinnt-:
Das Studium der Frage, wie die verschiedenen spe¬
zifischen Kuren auf die Globulinwerte der Seren von Lueti¬
kern einwirken, beschäftigt uns derzeit.
Aus dem Rudolfinerhause in Wien (Döblir.g).
(Vorstand: Reg. -Rat Dr. R. Gersuny.)
Zur Frage der Epithelmetaplasie.* *)
Von weil. Dr. Alfred Hermann, gewesenen Assistenten.
Die Frage, ob eine echte Epithelmetaplasie, d. h. der Ueber-
gang einer Epithelart in eine andere, scharf differenzierte, vor-
3) Diese Tatsache konnten wir schon in den ersten 100 Fällen
konstatieren, die wir jedoch wegen verschiedener technischer Unzuläng¬
lichkeit in unsere Tabelle nicht aufnahmen.
*) Nachtrag zu der in Nr. 48, Jahrgang 1903 dieser Wochenschrift
erschienenen Arbeit »Zur chirurgischen Behandlung guta1 tiger Magen¬
stenosen« von demselben Verfasser. Aus dem Nachlasse des in jungen
Jahren verstorbenen Autors veröffentlicht von Dr. Richard Leo Grün¬
feld,
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
169
kommt, ist noch nicht vollkommen entschieden und von vielem
Uitoren überhaupt bestritten.
Pas Präparat, das ich zu untersuchen Gelegenheit hatte,
,ii‘lel meiner Ansicht nach einen wichtigen Beitrag zur Klärung
lieser Frage und außerdem insofern einiges Interesse, als sich
lie .Metaplasie an einem Organe, nämlich dem Magen, fand, wo
nciner Kenntnis nach etwas A ehn liebes überhaupt bisher nicht
, (■•obachtet wurde.
Das Präparat stammt von einer 86jährigen Krau, bei welcher
in Mai 1900 im Rudolfinerhause wegen rezidivierender, zwei
acher Narbenstenose bei totaler Magenschrumpfung eine par-
ielle Mageinresektion ausgeführt worden war. Patientin hatte
chon seit, sieben Jahren an Stenosenerscheinungen gelitten und
ich bereits einem operativen Eingriff unterzogen, wobei zwei
iarbige Stellen die eine unmittelbar oberhalb des Pylorus,
ie andere ca. 5 cm zentral' davon durch die Gastroplastik
ach Hei necke - Mikulicz erweitert worden waren. Da sich
ne Beschwerden nach kurzem Wohlbefinden wieder eingestellt
latten, wurde hei der neuerlichen Operation die ganze, die beiden
Jenoseii umfassende Magenpartie zirkulär reseziert und derOuer-
chnitt des zurückgebliebenen Anteiles mit. dem Duodenum ver-
inigt. Die schon bei der ersten Operation vorhandene totale Yor-
leinerung des Magens hatte seither noch etwas zugenommen.
Patientin hatte anamnestisch noch angegeben, wenige Mo
,ate vor dem Beginne ihrer Erkrankung eine geringe Menge kou-
entrierter Essigessenz ohne irgendwelche unmittelbar folgende
Erscheinungen genossen zu haben. Blutiges Erbrechen oder Ab-
ang von Blut durch den' Stuhl hatte sie niemals bemerkt.
Das resezierte Magenstück, welches ungefähr der peripheren
lälfte des ganzen Magens entspricht, stellt ein nahezu -rechteckiges
Uiiek dar, dessen Seiten, an der Innenfläche gemessen, ca. 7 cm
in der Längsrichtung des Magens und 6 cm in querer Richtung
■et ragen. Die Magenwand ist auffallend hypertrophisch, stellen¬
reise bis IV2 cm dick. An dem zentralen Ende des Präparates
indet sich eine überhaselmißgroße Vorwölbung der Magenwaml
reiche in ihrem Inneren ein enges, von der Magenhöhle voll-
tändig abgeschlossenes Lumen trägt, das durch Verwachsung der
Länder eines Ulkus entstanden sein dürfte. Pn mittelbar oberhalb
les Pylorus findet sich eines und. nur durch eine schmale Schleim
lautbrürke von diesem getrennt, ein zweites, bereits in Vernarbung
egrifi'cnes, seichtes Geschwür. Beide nehmen fast die ganze Breite
ler hinteren Magenwand ein und greifen über die kleine Kur-
atur auf die vordere Wand über. Die Blinder beider Geschwüre
iinl nicht verdickt und etwas Überhänge 11 d. Das Präparat wurde
n Müllcr-Formol fixiert, in aufsteigendem Alkohol uachgehärtet.
ind behufs histologischer Untersuchung durch parallel der Liings-
chse geführte Schnitte in mehrere Streifen zerlegt. Die ein-
. einen Segmente wurden in Zelloidin eingebettet und die Schnitte
onacli mit Flä malaün-Eosin und nach Yan Gieson gefärbt.
Histologischer Befund: Im Bereiche der Sub'stanz-
erluste fehlt die Schleimhaut vollständig. Die Basis der Ge-
■chwüre ist durch zellarmes Bindegewebe gebildet, in welchem
feilen weise stark erweiterte Gefäße liegen. Die Schleimhaut,
reiche als kaum 2 cm breite Brücke zwischen' den beiden Ge-
chwüren erhalten ist, zeigt beide Arten der Magendrüse in atro-
diischem Zustand; 'die Grenzen zwischen Mukosa und Sub-
nukosa vollständig verwischt.
Entsprechend dem Pylorus findet man die Innenfläche des
Jagens auf einer ca. 3 mm langen Strecke von einem ziemlich
lohen Plattenepithel bedeckt, dessen oberste Schichte etwas ge-
Jähle Zellen zeigt, deren Protoplasma verminderte Färbbarkeit
:eigt. Das Plattenepithel flacht sich gegen den üherhängemlen
fesch würsrand allmählich ab, um in der Nähe desselben voll-
Jändig zu verschwinden; distalwärts setzt sich das Plattenepithcl
nil scharfer Grenze gegen die Duodena, lschleimhaut ab. Die
schleimhautschichte, welche sich an dieser Stelle scharf gegen
lie Submukosa absetzt, zeigt Papillenbildung von verschiedener
löhe.
Die Verdickung der Magenwand ist hauptsächlich durch
•ine mächtige Hypertrophie der Muskularis bedingt, welche im
Bereiche des Pylorus eine Stärke von 6 mm erreicht; die Hyper-
rophie betrifft gleichmäßig die Ring-, wie die Längsfaserschichte,
m Bereiche der Geschwüre zeigt die Muskelschichte einzelne
leide kleinzelliger Infiltration.
Die Serosa ohne besonderen Befund.
Nach diesem Bilde scheint es sich in dem vorliegenden Falle
nn cine Umwandlung von zylindrischem Epithel in echtes Platten-
uithel. also um eine wahre Epithelmetaplasie zu handeln.
Die Annahme eines Ueberwucherns des Oesophag usepi thels auf
lie Magenschleimhaut erscheint wohl bei der entfernten Lago
ler Plattenepithelinsel und bei dein Fehlen jedes Zusammen¬
hanges mit dem Schleimhautepithel der Speiseröhre ausge¬
schlossen.
Fine Erklärung für das Zustandekommen der Epithelmeta¬
plasie in der Magenschleimhaut bietet uns insofern die Entwich
hingsgeschichte, als wir in einem gewissen Stadium der Ent
wicklung eine einheitliche Epithelauskleidung im ganzen Darm Hakt
finden, welche sich erst später zu geschichtetem Pflasterepilhel
im Oesophagus und zu einfachem Zylindorepilhol im ganzen
übrigen Darmtrakt differenziert.
- Ich muß daher trotz der fehlenden Verhornung das gefun,,--n.
Plattenepithel für ein vollständig echtes halten, da ja auch das
Epithel des Oesophagus und das der übrigen mit Pflastei enithcl
ausgekleideten Schleimhäute normalerweise keine Neigung zur
Verhornung zeigt, ohne daß jemand ■ deshalb den ITaltenepith d
charakter desselben anzweifeln würde. Daß übrigens auch zwi
sehen dem geschichteten Plattenepithel der Schleimhaut' und dem
verhornenden Epithel der äußeren Haut kein strenger Unter¬
schied besteht, beweist wohl zur Genüge das gelegentliche Auf¬
treten von Verhornung in jenen unter gewissen pathologischen
Verhältnissen.
Welche Umstände übrigens in dem beschriebenen Falle
die Epithelumbildung veranlaßt haben, oh vielleicht die er¬
höhten Insulte, denen gerade diese Stelle, zumal infolge ihrer
Verengerung, durch längere Zeit ausgesetzt war, Schuld tragen,
muß bis auf weiteres noch Hypothese bleiben. Dagegen halte
ich ein anderes Moment, das sich auch in dem vorliegenden Falle
fand, für die Charakteristik des geschichteten Plattenepithels
für wichtig, nämlich die Papillenbildung der Tunica propria.
Die Metaplasie des Magenepithels ist jedenfalls, auch nach den
darüber in der Literatur vorliegenden Notizen, äußerst selten,
ebenso gehören die wahrscheinlich auf Grundlage von Metapla¬
sien entstandenen Phittenepithelkarzinome des Magens zu den
Raritäten. Es wird Sache weiterer Beobachtungen sein, meinen
Befund an der Hand ähnliche) Fälle zu kontrollieren.
OEFFENTLICHE GESUNDHEITSPFLEGE.
Das Krankenhaus Lilienfeld.
Ein Beitrag zur Frage der Regelung des Krankenhauswesens
auf dem flachen Lande.
Von Dr. Franz Seliönlniuer, Direktor des k. k. Wilhelmineuspitales.
In jüngster Zeit habein maßgebende Stellen die Absicht
geäußert, nebst einer durchgreifenden Regelung des Wiener
Spitalswesens auch die Anstaltsverhältnisse am flachen Lande
einheitlich zu gestalten. Die nachfolgende Schilderung des Werde¬
ganges und der Ausgestaltung eines kleinen Krankenhauses am
Lande wurde in der Absicht geschrieben, um zu zeigen, wie
schwer es bisher war, an mit Glücksgütern nicht sonderlich
gesegneten Orten Krankenhäuser zu schaffen, obwohl gerade
an solchen Orten naturgemäß das Bedürfnis' danach ein beson¬
ders dringendes ist. Es muß daher jede Neuordnung, die die
Fürsorge für das Krankenhaus wesen den einzelnen Gemeinden
abnehmc-n und einer größeren Allgemeinheit (Staat oder Land,
eventuell auch Bezirk) übertragen will, begrüßt werden.
Das Krankenhaus Lilienfeld kann darauf himveisen, daß
es als Erstes in Niederösterreich diesem Gedanken seine Ent¬
stehung verdankt.
Die offenkundige Lnzulängiichkeit der bestehenden Not¬
spitäler. 'bzw. der gänzliche Mangel solcher im Bezirke bil¬
deten riür die k. k. Bezirkshauptmannschaft Lilienfeld schon in
den Jahren 1897 bis 1899 dein Ausgangspunkt für Studien, auf
welche Art am zweckmäßigsten und vorteilhaftesten diesen Uebel-
s fänden. bzw. Mängeln gründlich abgeholfen werden könnte.
Während einer Typhusepidemie in den Jahren 1897 bis 1899
wurden mit den damals bestandenen, ganz unzulänglichen Not¬
spitälern die schlechtesten Erfahrungen gemacht. Die soge¬
nannten Notspitäler waren vielfach an den Flußläufen und Bächen
oberhalb der Ortschaften gelegen, im schlechtesten Bauzustande,
entbehrten der primitivsten Einrichtungen für Pflege und War¬
tung der Patientein. Sic bildeten daher beim Belag erwiesener¬
maßen mehrfach geradezu den Ausgangspunkt weiterer Erkran¬
kungen und wurden von den Patienten derart gefürchtet, daß es
fast unmöglich wurde, sie zu belegen. Die Behörde gewann daher
die Ueberzeugung, daß es entschieden besser sei, die vorhandenen
Notspitäler gänzlich aufzulassen und dieselben durch ein von
mehreren Gemeinden gemeinsam zu errichtendes, größeres, den
'modernen Anforderungen entsprechendes Krankenhaus zu er¬
setzen.- Die Lösung dieser Frage war um so dringlicher, als hei
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
häufigerem Auftreten auch anderer Infektionskrankheiten die Iso¬
lierung der Kranken auf bedeutende Schwierigkeiten stieß und
die teilweise Unmöglichkeit einer solchen Isolierung zu weiteren
Erkrankungen Anlaß gab. Der Umstand, daß die nächstgelegenen
Krankenhäuser Mariazell und St. Pölten achtzig Kilometer von¬
einander entfernt sind, wurde zu einem schwerwiegenden schon
dadurch, daß es1 sich Unter den gegebenen Verhältnissen gar nicht
empfahl, Kranke in diese Nachbarspitäler zu weisen, weil deren
häufige Ueberfüllung die Aufnahme von Kranken recht zweifel¬
haft machte. Im weiteren wirkten noch andere Momente be¬
stimmend für die vorerwähnte Richtung zur Regelung der Spitals¬
frage und es mag wohl genügen, wenn auf die vielfach schlechten
und beschränkten Wohnungsverhältnisse, welche die isolierungs-
mäßnahmen außerordentlich behinderten, ferner auf die Schwie¬
rigkeit des Krankentransportes, weiters auf die zahlreichen Un¬
fälle in den Fabriken und der Forstwirtschaft, welch beide be¬
triebe hohe ’Verletzungsprozente zu verzeichnen haben, endlich
auf den großen Fremdendurchzug während der Wallfahrtszeit
hingewiesbn wird. Die Anerkennung aller dieser von der Behörde
zutage beförderten Momente und das gleiche Streben eine gründ¬
liche Lösung der schwebenden Frage zu gewinnen, führte nach
mehrjährigen mühevollen Verhandlungen, ursprünglich die Ge¬
meinden Lilienfeld, Traisen. Türnitz, Eschenau und St. Veit an
der Gölsen zusammen1. Die Delegierten dieser Gemeinden wid¬
meten sich den erforderlichen Vorstudien; hiebei wurde von vorn¬
herein das Prinzip der Zusammentretung mehrerer Gemeinden
als das einzig Richtige für eine gemeinsame Aktion der Spitalsr
Errichtung anerkannt. Als Grundsatz für die1 Vereinigung wurden
zwei Bedingungen gestellt :
1. Enthebung der beteiligten Gemeinden von der Verpflich¬
tung Notspitäler zu erbauen und zu erhalten;
2. Verleihung des Oeffentlichkeitsrechtes an die zu errich¬
tende Anstalt.
Ersterer Bedingung wurde durch den Statthaltereierlaß vom
23. April 1900, Z. 23.323 im Sinne des Reichssanitätsgesetzes
und der Durchführungsverordnung vom Jahre 1884 entsprochen.
Das Oeffentlichkeitsrecht wurde der Anstalt bald nach der
Eröffnung des Betriebes verliehen.
Die weiteren Studien galten der Wahl des Platzes, der
Durchführungsart der baulichen Anlage in bezug auf Ausdehnung
nebst Einrichtung und den damit verbundenen Kostenaufwand,
wie endlich den zu schaffenden Berechnungsgrundlagen für die
aus Projekten verschiedener Größe zu erwartenden Betriebsein¬
nahmen und Ausgaben. Für 'die Art und Weise, wie die Aufteilung
der ursprünglich projektierten Bausumme von 100.000 Kronen
zu Lasten der einzelnen Gemeinden erfolgte, war maßgebend:
Die Berücksichtigung der räumlichen Entfernung der ein¬
zelnen Gemeinden vom Spitalssitze, die Zusammensetzung der
Bevölkerung, wobei den Gemeinden mit vorwiegend industriellen
Betrieben eine höhere Quote zufiel, die Steuerkraft usw. Der
Schlüssel, welcher sonach zustande kam, trug allen besonderen
Verhältnissen der einzelnen Gemeinden Rechnung.
Als Bauplatz wurde dem Baukomitee vom Stifte Lilien¬
feld unentgeltlich ein vom Orte zirka D/a km entferntes und süd¬
wärts von diesem gelegenes Grundstück zur Verfügung gestellt.
Dasselbe eignete sich in vorzüglicher Weise für die Anlage eines
Krankenhauses. Der Platz ist vollkommen trocken, da er ein
16 in über der Talsohle gelegenes Plateau bildet, er befindet sich
in vollkommen windgeschützter und staubfreier Lage, ist weit
entfernt von jedem durch Rauch und Lärm belästigenden, Fabriks¬
betriebe. Der Krankentransport gestaltet sich durch die unmittel-
bnre Nähe der Eisenbahnhaltestelle Stangental sehr günstig, ander¬
seits ist die vollkommen isolierte Lage der Anstalt und die Ent¬
fernung von geschlossenen Orten in Hinsicht auf den Infektions¬
pavillon sehr günstig. Nach Abschluß der Verhandlungen konnte
im August 1902 der Bau in Angriff genommen werden. Im
Rahmen der früher erwähnten Bausumme von 100.000 K wurden
die Pläne entworfen und der Bau begonnen. Größte Sparsamkeit
in bezug auf Bau und Einrichtung mußte zum Grundsatz werden,
sollte mit dieser Summe das Auslangen gefunden werden. Dies'
liatte zur Folge, daß bei der Projektverfassung auf die Forderungen
der modernen Krankenhaushygiene nur in bescheidenstem Maße
Rücksicht genommen werden konnte. Die Hochherzigkeit zahl¬
reicher Spender, die unermüdliche Tätigkeit eines Damenkomitees,
welches die gesamte Kücheneinrichtung und Krankenwäsche so¬
wie zahlreiche Krankenpflegeartikel beschaffte, setzten das Bau¬
komitee während des Baues in die Lage, nachträglich noch
eine Reihe spitalhygienischer Forderungen zu erfüllen und
dadurch das Krankenhaus in den Rahmen moderner Kranken¬
anstalten einzufügen. Es konnte anstatt einer Brunnenanlage
das Krankenhaus an die bereits bestehende Gemeindewasser¬
leitung angeschlossen werden, die zu diesem Zwecke um zirka
1 km verlängert werden mußte. Es konnte ferner die ganze An¬
stalt. mit einer zentralen Warm Wasserleitung versehen werden
Anstatt der ursprünglich projektierten Holzfußböden wurden in
sämtlichen Krankenzimmern Korkstein-Linoleumfußböden gelegt,
die sich bisher ausgezeichnet bewährten und wohl als die hy¬
gienisch besten. Fußböden erklärt werden müssen. Sie sind fuß-
warm, schalldämpfend, fugenlos und sehr leicht zu reinigen,
ln früherer Zeit wurde es häufig als Uebelstand erklärt, daß das
Linoleum sich hebt und Blasen macht, die als Staubreservoirs
und Bakterienbrutstätten galten. Diesem Uebelstande wurde bei
unserer Anstalt durch einen Kitt, welcher Korkstein und Linoleum
zu einer festen Masse, verbindet, vorgebeugt. Sämtliche übrigen
Räume erhielten Terrazzoböden. Durch die zufließenden Privat-
mittel konnte auch die Einrichtung verbessert werden und wurden
Eisen- statt Holzbetten eingeführt. Die Wände der Krankenräume
sind bis zü 2 m Höhe mit Emaillack gestrichen1, Operations¬
zimmer und Nebelnräume, ferner die Badezimmer, sowie die
Isolierräume sind durchwegs mit Emaillack gestrichen. Tn den
Krankenzimmern wurde der Emaillack deshalb nur bis zu 2 m
Höhe angebracht, weil erfahrungsgemäß die Mauerventilation im
Kranketahausbetriebe nicht entbehrt werden kann. Das1 Kranken¬
haus hat ein eigenes Kanalnetz, welches in die Traisen mündet.
Dabei werden die Abwässer des Infektionspavillons1 durch eine
Desinfektionsgrube mit einer Rührvorrichtung geleitet. Das Haupt¬
gebäude enthält ein Tiefparterre, Parterre und ersten Stock’.
Im Tiefparterre befinden sich Küche, Geschirrkammer,
Keller nebst Vorkeller und Eiskellerraum, Waschküche, Raum
für Schmut/wäsche, Dienstboten- und Dienerwohnung, Holz- und
Kohlenlager.
Im Parterre Schwesternwohnung, ärztliches Dienstzimmer,
ein Krankenzimmer für sechs Personen, zwei Krankenzimmer für
je drei, ein Krankenzimmer für zwei und ein Krankenzimmer für
eine Person.
Im ersten Stock befindet sich das Operationszimmer mit
Narkose- und SterilisationJsraum, ferner zwei Krankenzimmer für
je sechs Personen und zwei Krankenzimmer für je drei Kranke;
sämtliche Krankenzimmer sind durch breite gutbelichtete Korridore
zugänglich, welche vom Stiegenhaus durch Glaswände abge¬
schlossen sind und daher von den Rekonvaleszenten als Tag¬
raum benützt werden können. In der Mitte der rückwärtigen
Front befindet sich das Stiegenhaus und rechts und links von
demselben in jeder Etage die nötige Zahl von Teeküchen, Bade¬
zimmern und Klosetts.
Hinsichtlich de« Opera tionszimmers wäre noch zu bemerken,
daß alle Kanten und Ecken abgerundet sind. Die Heizung des
Ofens erfolgt von einem Nebenraum, der Ofen seihst ist voll¬
kommen. glatt und mit schiefem Dache versehen, so daß jede
Staubansammlung vermieden wird. Außer dem Ofen befindet
sich im Operationszimmer kein fixer Gegenstand. Selbst die
elektrischen Lampen hängen auf einem transportablen eisernen
Gestelle.
Unter dem ^Dachboden ist eine im gotischen Stil gehaltene
kleine Kapelle eingebaut, ein Teil des Dachbodens dient als Ma¬
gazin für die Kleider der Kranken.
Der Infektibtnspavillon enthielt ursprünglich in einem Hoch¬
parterre ein Krankenzimmer für zwei Betten und zwei Zimmer
mit. je einem Bett, ein Badezimmer, Wärterinnenzimmer, Klosett,
Vorraum, er besitzt zwei separierte Eingänge, so daß er im Bedarfs¬
fälle jederzeit in zwei vollkommen' voneinander getrennte Ab¬
teilungen zerlegt werden kann. Im Tiefparterre1 ist eine1 Wagen¬
remise für zwei Sanitätswägen und eine zweikammerigei Des¬
infektionsanlage untergebracht. Die Beheizung des ganzen
Krankenhauses erfolgt durch Wienerberger- Ziegel Öfen , die ent¬
sprechend der Größe der Zimmer dimensioniert sind. Die künst¬
liche Beleuchtung der Anstalt erfolgt ausschließlich durch elek¬
trisches Licht.
Da das Grundstück, welches für den Bau zur Verfügung ge¬
stellt wurde, 1 ha und 32 a betrug, blieb nach Ausführung des
Baues1 noch ein umfangreicher Platz für eine Gartenanlage, ln
derselben befindet sich auch ein kleiner Nadelwald, welcher
heim Bau erhalten werden konnte und daher im Sommer während
der heißen Tageszeiten für die Rekonvaleszenten willkommene,
kühle Ruhepunkte bildet.
Die erhöhte Lage der ganzen Anlage gewährt von allen
Punkten liebliche Aussicht, ein Umstand der für die psychische
Behandlung nicht hoch genug angeschlagen werden kann.
Im Anstaltsgarten wurde durch den Zweig verein Lilien¬
feld de's Roten Kreuzes im Jahre 1907 für Freiluftbehandlung der
hiezti geeigneten Kranken ein großes Zell mit den notwendigen
Betten aufgestelll. Diese Einrichtung wird, solange die Jahreszeit
N r. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
171
es erlaubt, in ausgiebigem Maße benützt und stellt einen will¬
kommenen Ersatz für die fehlenden auch beim kleinen Kranken¬
haus notwendigen Terrassen und Liegehallen dar. Der Kranken¬
transport. erfolgt durch zwei Sanitätswagen modernster Type,
welche gleichfalls vom Zweigverein des Roten Kreuzes beigestellt
wurden. Der eine dient für den Transport gewöhnlicher Kranker,
während der zweite für den Infektionskrankentransport einge¬
richtet ist und nur dafür benützt wird. Die Beistellung der Be¬
spannung erfolgt durch einen nur wenige Minuten vom Kranken¬
haus©' entfernten Fuhrwerksbesitzer, so daß schon wenige Mi¬
nuten nach Einlangen der telephonischen Berufung der Wagen
zur Abfahrt bereit steht; auf diese Weise erscheint der Kranken¬
transport gut geregelt und funktioniert auch klaglos.
Wie bereits erwähnt, haben die Gemeinden Lilienfeld,
Traisen, Türnitz, St. Veit und Eschenau mit ihrer Beitragsleistung
von lOü.OOO K in erster Linie die Realisierung des Krankenhaus¬
projektes ermöglicht. Zu diesen gesellten sich nun weitere Ger
meinden des politischen Bezirkes, welche durch ihre Vertre¬
tungen erklärten, an dem Besitzrecht der Anstaltsgebäudei und
Grundstücke nicht partizipieren zu wollen, sich dagegen ver¬
pflichteten, jährliche Subventionen in dem Zeiträume von vier¬
undfünfzig Jahren, welcher für die Amortisierung des von
den Stammgemeinden aufgenommenen Schuldkapitales notwendig
ist. dem Betriebsfonds zur Disposition zu stellen. Demgemäß
wurde diesen Gemeinden das gleiche Recht der Aufnahme Infelc-
tionskranker wie den Verbandsgemeinden, insolange im Infek¬
tionspavillon Platz vorhanden ist, bzw. bei Epidemien durch Auf¬
stellung von Baracken Platz geschaffen werden kann, durch den
Krankenhausverband gewährleistet. Es waren dies die Gemeinden:
St. Aegyd, Anna-berg, Hohenberg und Klein-Zell. Der; Kranken¬
hausverband hat diesen Gemeinden statutengemäß! das Recht
eingeräumt, je einen Delegierten in das Kuratorium zti entsenden,
welchem jedoch nur beratende Stimme zukommt.
Das rechtliche Verhältnis der Gemeinden zum Kranken¬
haus regeln die §§ 1 bis 4 des Statutes, welches mit Statthalterei¬
erlaß vom 5. Dezember 1906, Z. VI-1783 genehmigt wurde. Die
Paragraphen lauten:
" ' § 1. Das Krankenhaus in Lilienfeld wurde aus dem von
den Gemeinden Eschenau, Lilienfeld, St. Veit, Traisen und Tür¬
nitz, welche zu diesem Zwecke zu einem Krankenhausverbandei
sich vereinigt haben, aufgebrachten Betrage von 100.000 K, von
denen 50.000 K als Stammkapital gewidmet wurden und aus
freiwilligen Spenden errichtet und führt den Namen: „Allge¬
meines öffentliches Krankenhaus Lilienfeld.“
§ 2. Dieses allgemeine öffentliche Krankenhaus ist auch
bestimmt, den obgenannten Gemeinden als Notkranken- rmd
Isolierlokal im Sinne des Reichssanitätsgesetzes und der Statt¬
haltereiverordn unig vom 4. Februar 1884, Z. 57.144 zu dienen
und dürfen daher die in den Verbandsgemeinden bestehenden
Not- und Isolierspitäler auf die Dauer1 des Spitalsbestandes auf¬
gelassen werden. Gemeinden, welche nicht dem Kranken haus-
verbande angehören, können sich die Aufnahme Infektionsmankei
auf Grund eines freien Uebereinkommens mit dem Krankenhaus-
verbande sichern. Dieses Uebereinkommen bedarf der Genehmi¬
gung der politischen Bezirksbehörde und dient sodann auch für
die betreffenden Gemeinden das Krankenhaus1 als Not- und Iso¬
lierspital. _ ... ,
§ 3. Die genannten Gemeinden übernehmen die . Verpflich¬
tung 'zur Instandhaltung des Krankenhauses mit den in § 4 er¬
wähnten Mitteln und zur genauen Erfüllung der für Kranken¬
anstalten bestehenden sanitätspolizeilichen und hygienischen Vor¬
schriften. ■ 1
§ 4. Der Aufwand der allgemeinen und besonderen Verpriegs-
auslagen sowie der mit dem Bestand der Krankenanstalt Ver¬
bundenen Auslagen überhaupt, wird, : 1. Aus den Verpflegsge-
hühren; 2. aus den Subventionsbeiträgen jener Gemeinden, mit
welchen ein Vertragsverhältnis besteht auf die Dauer desselben ;
3. aus eventuellen weiteren Widmungen und falls diese sub 1, 2, 3
genannten Einnahmen nicht ausreichen; 4. aus den Mitteln der
sub § 1 genannten Gemeinden im perzentuellen Verhältnisse
des geleisteten Baubeitrages bestritten.
Die Gesamtbaukosten inklusive des Wertes aller Natural- und
Geldspenden betrugen 150.800 K. Somit pro Bett viertausend¬
fünf Undsiebsig (4075) Kronen. Die Spenden betrugen 26.000 K,
davon 11.000 K aus Industriekreiseln. Für einen Kenner der lo¬
kalen Verhältnisse des Bezirkes mag es auffallend erscheinen,
daß bei der zahlreichen Industrie die Krankenhausaktion von
diesen am Krankenhausbelage zunächst interessierten Kreisen
keine* ausgiebigere materielle Förderung erfahren hat. Dieser
Einwand wurde vielfach gemacht. Von seiten der Vertreter der
Industrie wurde aber die teilweise indifferente oder ablehnende
Haltung damit begründet, daß die Industrie von der sozialen Für¬
sorge ohnehin bei der Kranken und Unfallversicherung stark in
Mitleidenschaft gezogen sei, daß ferner lie Fabriksbetriebe als
große Steuerträger bei der Beitragsleistui • der Gemeinden haupt¬
sächlich in Frage kommen, ferner daß di- Lösung der Kranken¬
hausfrage aus prinzipiellen Gründen den ü;: entliehen Faktoren
überlassen bleiben müsse. Endlich haben die Industriellen, welche
Betriebskrankenkassen hatten, angeblich auf Grund ihrer dies¬
bezüglichen Erfahrungen, vielfach eingewendet, daß kleine Land¬
spitäler häufig nur eine1 Zufluchtstätte arbeitsscheuer Va mbunden
seien.
Ueber die Betriebsergehnisse der erstem drei Beiriobsjah; «
äußert sich der dem Kuratorium erstattete ärztliche Bericht wie
folgt :
„Der chirurgischen Behandlung wurden 468, der medizi¬
nischen 647 Patienten unterzogen.“ Eine eingehende Besprechung
der einzelnen Krankheitsformen behalte ich mir für den ange¬
kündigten Trienniumsbericht vor. Heute sollen nur die häufigsten
und wichtigsten angeführt werden. Es wurden unter anderen bis
1. Januar 1906 behandelt:
170 Verletzungen;
69 Zellgewebsentzündungen ;
17 Blinddarm- und Bauchfellentzündimgeh ;
18 Hernien (Brüche) ;
25 Neubildungen ;
46 Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane ;
76 Rheumatismen;
55 Bronchialkatarrhe;
16 Typhus1;
37 Diphtherie;
44 Tuberkulose;
30 Lu ngenentzü nd ungern ;
38 Herzkrankheiten1.
Bis zum heutigen Tagei, das ist 3. Dezember 1906 wurden
294 Operationen ausgeführt. Hierunter befinden sich:
47 Leisten-, Schenkel-, Nabel- und Bauchwandbrüche;
24 Blinddarm- und Bauchfellentzündungen ;
25 Neubildungen (hieivon fünf durch Laparotomie [Bauab¬
schnitt]) ;
15 Amputationen;
45 wegen Lymphgefäß-, Lymphdrüseneiterungen, Abszesse
u nd Zell g ewebsentz ün d ungen ;
40 wegen Verletzung der Weichteile und Knochen;
25 wegen Verrenkungen und Knochenbrüchen ;
2 Luftröhrenschnitte;
1 Trepanation (Eröffnung des Warzenfortsatzes) ;
16 Operationen bei Frauenkrankheiten ohne Eröffnung der
Bauchhöhle.
Von den operativ behandelten Kranken starben :
1 Ein Mahn nach der Operation eines eingeklemmten
Leistenbruches am vierten Tage an hinzugetretener Lungenent-
ziindumlg. > . „ , !., . ' ... ,
2. Ein Knabe an Hirnhautentzündung infolge eitriger Mittel¬
ohrentzündung, der erst, nach 14tägiger Krankheitsdauer m
Snitalsbehandluhg kam. Die sofort vorgehounrtene Oeffnung des
Warzenfortsatzes konnte die bereits bestehende Hirnhautentzün¬
dung nicht mehr beeinflussen.
3. Ein Knabe und 'zwei Mädchen, welche mit ditiusei
eitriger Bauchfellentzündung zur Behandlung kamen. Die üb¬
rigen wurden geheilt entlassen.
Mit den angeführten Zahlen glauben wir den Beweis er¬
brächt zu haben, daß die ärztliche Tätigkeit bisher eine recht
umfangreiche war und daß die in der Anstalt erzielten Erfolge
nicht hinter denen anderer Krankenhäusler1 Zurückbleiben. Jeden¬
falls aber dürfen wir für uns das Verdin st in Anspruch nehmen,
daß wir ans der Anstalt keine bloße Verpflegerrast oder ein
Heim der Arbeitsscheuen gemacht haben. Vielleicht dürfte damit
die Anstalt sich auch das Wohlwollen und die Forderung jener
achtbaren Kreise, erwerben, die wegen solcher Befürchtungen c ei
Gründung sich wid ersetzten.
Der Isolierpavillon hat dein bisherigen Bedürfnissen im
allgemeinein entsprochen. Es wurden daselbst im Iahre_ 1903
12 Kranke mit 139 Vemtlegstagen ; im Jahre- 1904 24 Kranke
mit 489 Vcrpflagstngch ; im Jahre 1905 52 Kranke mit 940 \er-
pflegstagen behandelt. Es waren Somit während der ganzen Zeit
durchschnittlich zwei Infektionskranke pro Tag daselbst unter-,
gebracht, darunter 16 Typhus, 37 Diphtherie, 4 Masern, 11. Rot¬
lauf. Wie im Verwaltungsberirhte mitgeteilt wurde, betrug m
der Berichtszeit der durchschnittliche Belag der Anstalt 45 Kranke,
,1. i. täglich 21°-* TVhorbrlag. Dazu komm! noch, daß häufig auf-
nahmesuchendr Patienten wegen absoluten Platzmangels aog'm . *
172
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
sen werden mußten. So sehr diese übermäßige Inanspruchnahme
des Krankenhauses im Interesse der finanziellen Gebarung ge¬
legen ist und beweist, daß mit der Gründung desselben einem
wirklichen Bedürfnisse entsprochen wurde, so kann der für
den klaglosen Krankenhausbetrieb verantwortliche Leiter die¬
selbe doch nicht begrüßen, und wird es Aufgabe der nächsten
/.eit sein, Mittel und Wege zu finden, um den Anforderungen
genügende Krankenunterkunftsräume zu schaffen. Ich hoffe, daß
die im Zuge befindlichen Verhandlungen bald zum Ziele führen
werden.
Die unbedingt notwendige Ausgestaltung und Vergrößerung
des Krankenhauses muß hauptsächlich von folgenden Gesichts¬
punkten ausgehen:
1. Ist eine den gesteigerten Anforderungen und der damit
verbundenen Vermehrung des Pflegepereonales entsprechende
Wohnung zu schaffen, wodurch die derzeitige Wohnung für
Krankenzwecke verfügbar würde.
2. Die Waschküche ist aus dein Hauptgebäude zu verlegen
und der freiwerdende Raum als Röntgenzimmer einzurichten.
Die bei der Errichtung des Hauses zur Verfügung stehen¬
den bescheidenen Baumittel bedingten zwar die Benützung des
Tiefparterres für die Wirtschaftsräume, die Waschküche schädigt
aber die Luftreinheit im Hause in auffallender und recht empfind¬
licher Weise. Die Notwendigkeit der Einrichtung eines Röntgen¬
zimmers ergibt sich wohl am besten daraus, daß in, dem relativ
kurzen Zeitraum 170 Verletzungen aufgenommen wurden.
3. Ein Arbeitszimmer der Aerzte für mikroskopische und
chemische Untersuchungen ist dringend notwendig.
4. Die Tuberkulösen und die an Krebs Leidenden sollen
nicht im Hauptgebäude untergebracht sein.
Diesen Forderungen kann einerseits durch Vergrößerung
des Infektionspavillons oder Amgliederung eines zweiten Ge¬
bäudes an denselben und durch Errichtung eines kleinen Wirt¬
schaftsgebäudes entsprochen worden. Im Wirtschaftsgebäude
wären Schwestemw ohnungen , Waschküche und ärztliches Arbeits¬
zimmer unterzubringen, im zweiten Isoliergebäude Tuberkulose-
und Krebsleidende, die bei fehlender Isolierung einerseits für •
andere Kranke eine gewisse Gefahr bilden, anderseits durch
ihre Ausdünstungen auch überaus belästigen. Durch die frei¬
werdende Pflcgerinnenwohnung, sowie die Isolierung der Ivrebs-
und Tuberkulosekranken würde im Hauptgebäude ausreichend
Raum geschaffen und dadurch dem bestehenden Platzmangel in
einwandfreier Weise abgeholfen.
Durch die Angliederung eines zweiten Isoliergebäudes _ an
das bestehende würde der Betrieb sich wesentlich rationeller
gestalten, da die vorhandenen Fflegeschwestern in umfang¬
reicherer Weise beschäftigt werden könnten und die Kosten des
einzelnen Kränken sich reduzieren würden. Gegenwärtig kommt
der einzelne Kranke im Isoliergebäude pro Tag auf vier bis
fünf Kronen, so daß sich ein tägliches Defizit von zwei bis drei
Kronen ergibt, welches aus dem Betriebe des Hauptgebäudes
gedeckt werden muß.
Hierin finden die Herren bestätigt, was ich vor Jahren immer
wieder betont und in den dem Gründungskomitee vorgelegten
Berechnungen zum Ausdruck gebracht habe, daß der Betrieb
eines kleinen Isolierepitales bedeutende Kosten verursacht, -die
nur durch Angliederung an ein öffentliches Krankenhaus aus¬
geglichen werden können.
Möge der berechtigte und dringende Wunsch nach Aus¬
gestaltung des Krankenhauses bald Erfüllung finden.“ -
Der im Schlußsatz des ärztlichen Berichtes ausgesprochene
Wunsch nach Erweiterung der Anstalt konnte vorerst seine Er¬
füllung mangels der nötigen finanziellen Mittel nicht finden. Erst
im Jahre 1908 konnte durch den mit einer Summe von 25.000 K
erfolgten Beitritt der Gemeinde Hainfeld und da der Erweiterungs¬
fonds und das Werfabschreibungskonto bereits ca. 12.000 K er¬
reicht hatten, an die Verwirklichung gedacht werden. Außerdem
wurden mit den vier noch nicht dem Krankenhausverbande an-
gehörigen Gemeinden Ka.rmberg. R am sau, Rohrbach und Mitter¬
bach Verhandlungen eingeleitet, die, wie der Verwaltungsbericht
pro 1909 konstatiert, zu dem Ziele führten, daß ah 1910 alle Ge¬
meinden des politischen Bezirkes dem Krankenhausverbande an¬
geboren. Aus den nunmehr zur Verfügung stehenden Mitteln wurde
die im vorerwähnten ärztlichen Berichte von 1903 gewünschte
Erweiterung des Spitales (Vergrößerung dos Infektionspavillons
und Hau eines Wirtschaftsgebäudes, mit Schwestemwohnung,
Wäscherei, Laboratorium und Leichcnkammer) durch geführt und
bereits der Benützung übergeben. Der Bau eines zweiten Infek¬
tionspavillons anstatt der Vergrößerung des bestehenden mußte,
so sehr derselbe aus sachlichen Gründen wünschenswert ge¬
wesen wäre, mit Rücksicht auf die wesentlich höheren Bau- und
Betriebskosten unterbleiben.
Es bedurfte somit einer mehr als zehnjährigen Arbeit,
um eine Aktion zum befriedigenden Abschluß zu bringen, deren
Notwendigkeit und Nützlichkeit von allem Anfang an von den
berufenen Faktoren anerkannt, deren Durchführung aber mangels
vorhandener Mittel und beim Fehlen gesetzlicher Handhaben zur
raschen Beschaffung derselben,, erst nach langen, mühevollen
Verhandlungen möglich wurde. Es ist daher zweifelsohne, wie
ja eingangs erwähnt wurde, wärmstens zu begrüßen, wenn die
Krankenhausfürsopge auf dem flachen Lande- in der Weise ge¬
regelt wird, daßi den einzelnen Gemeinden die Last der Errichtung
und Erhaltung eines Spitales abgenommen und der Allgemein¬
heit übertragen wird. Die Vorteile dieser Neuregelung werden
den Gemeinden und den Kranken, deren Wohl hei Errichtung der
Krankenhäuser ja in erster Linie in Frage kommt, gleichermaßen
zugute kommen. Die soziale Fürsorge wird nach der Neurege¬
lung einen gewaltigen Schritt vorwärts gemacht haben.
Sammelreferat.
Tuberkulose.
Von Dr. M. YYeisz.
Der auf allen Linien, aufgenommene Kampf gegen die Tuber¬
kulose hat zwar diese. Krankheit noch nicht mit Stumpf und
Stiel ausgerottet, daß er aber nicht vergeblich geführt wird,
zeigen die Statistiken, welche ein allgemeines Herabgehen der
Tuherkulosesterblichkeit konstatieren lassen. Aber nicht bloß die
starke Verminderung der Mortalitätsziffern gibt ein deutliches
Bild von der Wirksamkeit dieses Kampfes, auch in den Erkran-
kungsziffern an Tuberkulose kann man den innigen Zusammen¬
hang zwischen hygienischen und sozialen Vorkehrungen und
dem Gesundheitszustände der Menschen- deutlich erkennen. Wie
B. Fraenkel1) feststellt, ist die Verhältniszahl der Erkrankungen
an Tuberkulose vom Jahre 1875 bis zum Jahre T909 in Berlin
von 31-90 auf 15-59%o, also auf die Hälfte, gesunken. In seinem
letzlen Vortrage in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin
ging Roh. Koch2) auf die Ursache dieser Erscheinung näher
ein. Es kommen für ihre Erklärung mehrere Umstände in Be¬
tracht: Die größere Vorsicht im Verkehr mit Tuberkulösen nach
der Entdeckung der Tuberkelbazillen, die hygienisch - diätetische
Behandlung der Lungentuberkulose, vor allem aber die Unter¬
bringung der Schwertuberkulösen in eigenen Krankenhäusern
oder Asylen. Der Kampf gegen die Tuberkulose müsse insbe¬
sondere in der Richtung weiter ausgebaut werden, daß Tuber¬
kuloseheime in immer größerer Zahl geschaffen werden. Weiter¬
hin kommt die Besserung der Wohnungsverhältnisse in Betracht,
da erfahrungsgemäß dort die größte Sterblichkeit an Tuberkulose
herrscht, wo die Schlafräume den hygienischen Anforderungen
am wenigsten entsprechen. Dieser Faktor fällt bei der Morbidität,
und Mortalität an Tuberkulose viel mehr ins Gewicht, als Armut
und die Nachteile des städtischen Lebens. Die Verfolgung der
Sterhlichkeitskurve gibt die besten Anhaltspunkte, ob die ge¬
troffenen Maßnahmen hinreichen oder nicht. Als in New York
die Sterhlichkeitskurve anfing, flacher zu werden, war dies für
die Stadtverwaltung die Veranlassung, die Zahl der Betten für
Schwindsüchtige von 2500 auf 5000 zu erhöhen. Die geringste
bisher verzeichnete Sterblichkeit zeigt Osterode im Bezirke
All enstein mit 7-2 auf 10.000. Das Bestreben müsse darauf
gerichtet sein, die Schwindsuchtmortalität noch weiter herab¬
zusetzen und schließlich ein Niveau zu erreichen, welches wo¬
möglich noch tiefer liegt, als das niedrigste zur Zeit bestehende.
Je deutlicher man -mit Hilfe der neueren diagnostischen
Untersuchungsmethoden erkannt hat, daß der überwiegend größte
Teil der erwachsenen Menschen als tuberkuloseinfiziert anzuseheu
ist, um so mehr drängt sich das Bedürfnis nach einer Erklärung
der Tatsache auf, daß immer nur ein Teil der Menschen an
Schwindsucht erkrankt und stirbt, während der größte Teil von
dieser Krankheit frei bleibt. Die Frage ist auf das innigste mit
der noch immer ungelösten Dispositionsfrage verknüpft. Freund
und seine Schule machen bekanntlich die Stenose der oberen
Brustapertur in erster Linie für die Etablierung der Tuberkulose
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
17S
in den Lungenspitzen verantwortlich. Diese Abweichung von der
Norm leistet infolge der daselbst herrschenden schlechten Zirku¬
lationsverhältnisse der Ansiedlung und Vermehrung der Tuberkel
bazillen Vorschub. Hart,3) welcher die Freundsehen Befunde
durch zahlreiche Nachprüfungen bestätigt hat, sieht in der Ste¬
nose der oberen Brustapertur die wichtigste Ursache der Schwind
suchtentstehung. Dieser disponierende Faktor trete zur Zeit der
Körperreife besonders in Wirksamkeit. Seine Ausbildung zu vor
hindern oder wenigstens zu beeinflussen, sei eine wichtige Bedin¬
gung für die erfolgreiche Schwindsuchtbekänipfung. Ebenso wie
Hart verlangt auch Hausemann,4) daßi der Stenose der oberen
Brastapertur bei der Therapie und noch mehr bei der Prophy¬
laxe der Lungenphthise größere Aufmerksamkeit geschenkt werde.
Hansemann glaubt, daß es bei frühzeitiger Behandlung gar
nicht eines chirurgischen Eingriffes bedarf, damit sich an der
obersten Rippe ein Gelenk bilde, sondern daß dieses sich spontan
bei systematischer, orthopädischer Stärkung der an. den ersten
Rippen ansetzenden Muskelbündel herausbilden könnte. Ganz be¬
sonders wäre eine solche Therapie als Prophylaktikum bei Kindern
aus phthisischen Familien zu empfehlen, bei denen die Stenose
der oberen Brustape-rtur auf hereditärer Basis zustande komme.
Wenn eine orthopädische Behandlung solcher Kinder im 12. oder
13. Lebensjahr in diesem Sinne begonnen und bis ins 20. oder
21. Lebensjahr fortgesetzt würde, so könnte das Auftreten typi¬
scher Phthise bis zu einem gewissen, Grade vermieden werden.
Römer5) ist geneigt, als Ursache der sogenannten ,, erblichen
Belastung" eine schwere tuberkulöse Infektion in der Kindheit
anzusehen, gibt aber zu, daß. neben der Schwere der Kindheits¬
infektion noch additioneile Momente zur Entstehung der Lungen¬
schwindsucht beitragen, zum Beispiel besondere Krankheiten,
in erster Linie Masern, ferner die eigenartigen Bedingungen der
Eni wicklungsjahre und die Lokalisation der Infektion. Daß aber
trotz der vorhandenen tuberkulösen Infektion bei der Mehrzahl
der Menschen diese Momente keine Schwindsucht auslösen, lasse
die Art der Kindheitinfektion besonders beachten.
Die Tatsache, daß der größte Teil der Menschen am Ende
des Kindesalters schon mit Tuberkulose infiziert ist, ergibt sich
aus einer so großen Anzahl daraufhin angestellter statistischer
Untersuchungen, welche an verschiedenen Orten und hei ver¬
schiedenem Bevölkerungsschichten angestellt wurden, daß daran
heute nicht mehr gezweifelt werden kann. Im Liebte dieser
Tatsache gewinnen experimentelle Untersuchungen von Börner
und Joseph6) an Meerschweinchen, welche ergaben, daß eine
tuberkulöse Infektion eine beträchtliche Immunität gegen Rein¬
fektion verleiht, besonders an Bedeutung. Aus diesen mit quanii-
tativer Kontrolle der zur Infektion und Reinfektion verwendeten
Tuberkelbazillenmengen angestellten Untersuchungen ist deutlich
zu sehen, wie weit bei verschiedenen Tierspezies der (lurch die
einmalige Tuberkuloseinfektion erzielte Schutz reicht, das heißt,
welche Menge von hei einer Reinfektion einverleibten Tuherkel-
hazillen noch unschädlich gemacht werden kann. Diese Quan¬
titäten sind gegenüber denen, die einem noch ganz gesunden, noch
„jungfräulichen“ Organismus ohne' Schaden einverleibt werden
dürfen, so groß, daß der durch eine leichte tuberkulöse Infektion
verliehene Tuberkuloseschutz als eine sichere epidemiologische
Tatsache angesehen werden muß, welche beim Schutze des Men¬
schengeschlechtes gegen die Tuberkulose die größte Rolle spielt.
Dieser natürlichen Infektion, welcher kaum ein Mensch entgeht,
komme eine ähnliche prophylaktische Bedeutung zu, wie etwa
der künstlichen Blatternimpfung gegen die schwere Blatternerkran-
kung. Die Erfahrung, daß Menschen aus Gegenden, in denen Tuber¬
kulose nicht endemisch ist, wenn sie tuberkulös werden, besonders
schwer erkranken, wie es z. B. von den Negern, die sich in
Städten ansiedeln, bekannt ist, illustriert diese Verhältnisse auf
das Deutlichste. Nach Römer7) ist die dem Erwachsenen gegen¬
über so schwere tuberkulöse Infektion des Säuglings nicht auf
eine besondere physiologische Disposition zurückzuführen, son¬
dern darauf, daß ein mit Tuhexkclbazillen noch nicht in Berührung
gekommener Organismus sich unverhältnismäßig hinfälliger der
Tulxrkelbazillenwirkung gegenüber erweist wie einer, der eine
solche Infektion schon einmal erfolgreich überstanden hat. Zur
Klärung dieser Frage an Schafsäuglingen angestellte Experimente
haben keine Prädisposition des Säuglings zur tuberkulösen Er¬
krankung ergeben, auch nicht bei Tieren, die bereits in der
dritten Generation tuberkulös waren.
Der durch eine leichte Infektion in der Kindheit verliehene
Tuberkuloseschätz ist aber kein absoluter Da eine immerhin
nicht ganz kleine Zahl von Menschen schwindsüchtig wird, so
muß diese Immunität zu einer gewissen Zeit des Lebens durch¬
brochen werden. Sowie man nun bei Tieren, denen Immunität
gegen Tuberkulose experimentell beigebracht wurde, durch Rein¬
fektion mit entsprechenden Tuberkelbazillenmengen eine chro¬
nische Lungentuberkulose erzeugen kann, so entsteht nach R ri¬
mers Ansicht auch beim Menschen durch Reinfektion, sei cs
von außen oder von innen, die chronische Lungentuberkulose.
Diese ist das Resultat der Wechselwirkung zwischen einer
schweren Reinfektion und der Tuberkulinimmunität. Römei
neigt der Anschauung zu, daß es hauptsächlich Reinfektionen
von innen sind, sogenannte „metastasierende Autoinfektion“,
welche die chronische Lungentuberkulose des Menschen erzeugen.
Römers auf bakteriologischem Wege gewonnenen Ergeb¬
nisse decken sich somit mit der von Behring schon früher aus¬
gesprochenen Ansicht, daß die Lungenschwindsucht „das Ende
vom Liede sei. welches dem Kinde schon in der Wiege ge¬
sungen wird“. Die für die Prophylaxe der Tuberkulose weiterhin
von ihm gezogenen Schlüsse gipfeln darin, daß vor allem das
Kind vor einer Infektion zu schützen sei, was am sichersten durch
seine Entfernung aus dem tuberkulösen Milieu öder durch Unter¬
bringung der als Infektionsquelle zu betrachtenden Schwertuber¬
kulösen in eigenen Heimen oder Asylen, geschieht. Nur dadurch
lassen sich schwere Kindheitsinfektionen, welche die Grundlage
für die spätere Schwindsucht abgeben, vermeiden. Für eine
leichte Infektion sorgt das Leben schon von selbst, so daß eine
gewisse Immunität dem Menschen auch so zuteil wird.
Es ist nicht uninteressant, die1 Römerschen Ergebnisse mit
klinischen Beobachtungen zu vergleichen, welche von Po Hak-*),
herrühren. Nach Römer kann es keinem Zweifel unterliegen,
daß auch beim menschlichen, Säugling Infektionen Vorkommen,
die sich erst später durch Tuberkülinempfindlichkeif verraten.
Pollak kommt nun gleichfalls zum Schlüsse, daß die Prognose
der Säuglingstuberkulose in bezug auf das Ueberstehen des ersten
Lebensjahres weitaus besser ist, .als man bisher annahm. Die
Prognose hängt im wesentlichen von der Schwere der Infektion
ah. Als wesentlichste Stütze für die Annahme einer „erblichen
Belastung“ galt immer der tuberkulöse Habitus, den man schon
zu einer Zeit fand, wo eine Lungentuberkulose noch nicht nach¬
weisbar war. Der tuberkulöse Habitus stigmatisierte die Schwind¬
suchtskandidaten schon sozusagen a priori. Dieser Einwand ließe
sich auch Römer gegenüber machen. Nun konstatiert Pollak.
claßi die tuberkulösen Säuglinge, wenn sie das erste Lebensjahr
überstellen, einer allgemeinen Störung anheimfallen und daß
sich bei ihnen die Zeichen des tuberkulösen Habitus ausbilden :
Blässe, Magerkeit, schlaffe Muskulatur, auffallend lange Wimpern
und Behaarung zwischen den Schulterblättern und an den
Schläfen. Der tuberkulöse Habitus wäre somit der Habitus eines
im ersten Lebensjahre mit Tuberkulose infizierten Kindes. Ganz
ähnlich wie Römer die Tuberkulose des Erwachsenen als Rezi¬
dive einer Kindheitsinfektion ansieht, sieht Pollak- die tuber¬
kulösen Manifestationen älterer Kinder als Zeichen einer in den
ersten Lebensjahren stattgefundenen Infektion an.
Tuberkuloseinfektion ist nicht identisch mit Tuberkulose¬
krank; heit. Alle diagnostischen Tuberkulinimpfungen, die ku¬
tane,, die intrakutane, die K och sehe Impfung, die Stich- und
aller W ahrscheinlichkeit, nach auch die Ophthalmoreaktion, sagen
nur über die einmal stattgehabte Infektion etwas aus. Ihr positiver
Ausfall im Kindesalter ist nur darum so wertvoll, weil hier
die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, daß eine primäre Infektion
mit der ihr zukommenden schlechteren Prognose vorliegt. Prak¬
tische Bedeutung für dear Erwachsenen könnten alle diese Reak¬
tionen erst haben, wenn es gelänge, mit ihrer Hilfe die Tuber¬
kulosekrankheit festzustellen. Ellermann und Eiland
sen9) haben durch abgestufte Kutanimpfungen den Grad der
Tuberkulinempfindlichkeit festzustellen gesucht und ziehen aus
dem von ihnen aufgestellten sogenannten „Tuberkulin fiter" -dia¬
gnostische und prognostische Schlüsse. Der Tuberkulintiter ist
174
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
der reziproke \\ ert der schwächsten Tu berk u 1 ink onz ei l trati on ,
auf welche noch eine deutliche kutane Reaktion erfolgt. Reagiert
zum Beispiel der Patient nur auf konzentriertes = 100% Alt¬
tuberkulin, auf eine Verdünnung desselben aber nicht, so ist der
Tuberkulintiter 100 : 100 — 1, reagiert er zum Beispiel noch
auf 0-5% Alttuberkulin, so ist der Titer 100:0-5 = 200. Die
Verdünnungsreihe, mit welcher die Kutanimpfungen vorgenommen
wurden, umfaßt 0-1, 0-2, 0-5, 1, 2, 5, 10, 25, 50 und 100%
Tuberkulin. Ellermann und Er land sen vermuten, daß eine
positive Reaktion auf 1% Tuberkulin, wo also der Titer 100
beträgt, eine aktive Tuberkulose anzeigt. Nachprüfungen, welche
Mi rau er10) mit dieser Methode vorgenommen hat, sprechen
für die Richtigkeit der Anschauung von Ellermann und Er-
1 and sen. Die geeignete Konzentration für den Nachweis der
aktiven Tuberkulose dürfte nach Mi r au er zwischen 0-5 und
1 liegen. Der Tuberkulintiter der klinisch nicht Tuberkulösen
und der vorgeschrittenen Fälle (28 und 30) war am niedrigsten;
bei den letzteren deshalb, weil mit dem Fortschreiten der Krank¬
heit die Tuberkulinempfindlichkeit erfahrungsgemäß abnimmt.
Doppelt so groß (71) war der Titer bei den suspekten Fällen,
während bei sicher nachgewiesener Tuberkulose der Titer etwa
siebenmal so groß war (214) als bei den klinisch nicht Tuber¬
kulösen. Ein niedriger Tuberkulintiter bei sicherer Tuberkulose
berechtige zu schlechter Prognose. Die Verwertung seiner Befunde
für- die allgemeine Praxis will Mi rau er jedoch von weiteren
Nachprüfungen abhängig machen.
Dagegen kam Lossen11) bei der Prüfung von 600 Fällen
mittels abgestufter Tuberkulinkonzentrationen von reinem bis zu
l%igem Tuberkulin zu dem Resultate, daß auch die Anwendung
verschiedener Tuberkulinkonzentrationen kein Hilfsmittel zur spe¬
zifischen Diaghose der aktiven Lungentuberkulose darstelle und
daß auch die Ophthalmoreaktion in etwa ein Drittel der Falle
von klinisch aktiver Tuberkulose' versage, während sie bei etwa
ein Sechstel der klinisch Tuberkulosefreien positiv ausfalle.
Ueber die Anwendung des Tuberkulins in der ambulanten
Praxis berichtet Weddy-Poenicke.12) Er spricht sich für
seine Verwendung an ambulanten Patienten aus. Am geeignetsten
für die Tuberkulinbehandlung sleien Fälle mit. latenter Tuberkulose,
bei denen das Tuberkulin prophylaktisch wirksam ist. Aber auch
bei schon manifester, sogar fieberhafter Tuberkulose leiste das
Tuberkulin sehr wertvolle Dienste. Die Forderung von Götsch,
nur afebrile Fälle mit Tuberkulin zu behandeln, sei nicht gerecht¬
fertigt. Das Tuberkulin wirke durch Erzeugung einer Hyperämie
am Orte der Erkrankung und durch Anregung der natürlichen
Heilkräfte des Organismus. Diesen im Kampfe gegen die Tuberkel¬
bazillen zu unterstützen, müsse unsere Aufgabe sein, nachdem
wir die Bazillen selbst nicht direkt zu vernichten imstande sind.
Literatur:
’) Neue Statistik zum Kampfe gegen die Tuberkulose, Berliner
klin. Wochenschr. 1910, S. 1958. — 2j Epidemiologie der Tuberkulose.
Zeitschr. für Hyg. 1910, Bd. 67, S. 1. — 3) Kindheitinfektion und Schwind¬
suchtsproblem vom Standpunkte der pathologisch-anatomischen Forschung
und der Prophylaxe der tuberkulösen Lungenschwindsucht. Tuberculosis
1910, Bd. 9. S. 385. — 4) Ueber typische und atypische Lungenphthise.
Berliner klin. Wochenschr. 1911, S. 1. — 6) Tuberkuloseimmunität,
Phthisiogenese und praktische Schwindsuchtbekämpl'ung. Beiträge zur
Klinik der Tuberkulose 1910, Bd. 17, S. 377. — 6) Kasuistisches über
experimentelle Meerschweinchentuberkulose. Beiträge zur Klinik der
Tuberkulose 1910, Bd. 17, S. 357. — 7) Experimentelle Tuberkulose¬
infektion des Säuglings. Beiträge zur Klinik der Tuberkulose 1910, Bd. 17,
S. 345. — 8) Ueber Säuglingstuberkulose; das Kind im tuberkulösen
Milieu. Wiener med. Wochenschr. 1910, S. 1115. - — 9) Ueber quantitative
Ausführung der kutanen Tuberkulinreaktion und über die klinische Be¬
deutung des Tuberkulintiters. Deutsche med. Wochenschr. 1909, Nr. 10.
10) Ueber die kutane Tuberkulinreaktion, insbesonders die Ergebnisse
von Impfungen mit abgestuften Tuberkulinkonzentrationen. Zeitschr. für
Tuberkulose 1910, Bd. 18, S. 51. — ") Ueber die Verwertbarkeit der
kutanen und konjunktivalen Tuberkulinreaktion zur Diagnose der Lungen¬
tuberkulose mit besonderer Berücksichtigung der Verwendung ver¬
schiedener Tuberkulinkonzentrationen. Beiträge zur Klinik der Tuber¬
kulose 1910, Bd. 17, S. 247. — ,s) Ueber Tuberkulosediagnostik, Therapie
und Prophylaxe in der ambulanten Praxis. Zeitschr. für Tuberkulose
1910, Bd. 16, S. 422.
{Referate.
Handbuch <Ur Kinderheilkunde, V. Bd,
(erster Ergänzungsband)
Chirurgie und Orthopädie im Kindesalter.-
Von Prof. Dr. F. I, amre, München und Priv.-Doz. Dr. Hans Spitzy, Graz
Mit 21 Tafeln und 221 Textfiguren.
Leipzig 1910, Verlag von F. C. W. Vogel.
Der außerordentlich große Stoff, welcher dem Werke zu¬
grunde' liegt, ist meisterhaft bewältigt durch das Prinzip alles
Unwesentliche fortzulassen und jene Krankheitserscheinungen und
Behandlungsmethoden, welche beim Erwachsenen die gleichen
sind wie beim Kinde, nur kursorisch und in großem Zügen zu
besprechen. Abgesehen von den Mißbildungen und rein ortho¬
pädischen Gebrechen, welche ja fast ausschließlich das Kindes¬
alter betreffen, finden sich auch auf rein chirurgischem Geld et
genug Krankheiten und Krankbeitsformem, welche nicht nur in
ihrer Art und in ihrem Verlaufe, auch bezüglich der Behandlung
von der allgemeinen Therapie wesentlich verschieden und als
•für das Kindesalter spezifisch zu bezeichnen sind. Davon lesen
wir in den Hauptabschnitten über Infektionskrankheiten, Ver¬
letzungen und Geschwülsten.
Schon in den ersten einleitenden Kapiteln erfahren wir",
wie sich 'der kindliche Organismus anders gegenüber der Narkose
und operativem Eingriffeil verhält, als der erwachsene und die
Betonung dieses Unterschiedes zieht sich wie ein roter Faden
durch das ganze Buch. Speziell bei der Besprechung der Frak¬
turen, welche wie die meisten Abschnitte von Spitzy bearbeitet
sind und trotz ihrer relativ knappen Abfassung für jedem Chi¬
rurgen lehrreich sein wird, bringt uns die Erfahrung des Kinder-
chirurgen wertvolle Beiträge. Aber auch die Kapitel über chirur¬
gische Tuberkulose und deren Behandlung zeugen von gründlicher
Kenntnis und kritischer Beobachtung dieses Leidems1.
Was das Buch besonders wertvoll erscheinen läßt, ist der
frische Tom und flotte Stil, in welchem1 es geschrieben ist.
Gleich, wie in den Krankenzimmern der Kinderspitälcr
stets eine frischere Luft weht und wenn auch nicht eine fröh¬
liche Stimmung, so doch stets mehr Leben und Freundlichkeit
zu finden ist, als in den trübseligen, schmerzlichstillen Kranken¬
sälen der Erwachsenen, so ist auch das vorliegende Handbuch
mit einer gewissein Freudigkeit geschrieben, wie sie bei, Be¬
handlung anderer Themen der allgemeinen Pathologie nirgends
zu beobachten ist. Das allein würde allerdings! den Wert des
Buches noch nicht ausmachen. Aber man findet wohl nicht leicht
ein zweites Handbuch, welches derart übersichtlich und treffend
in jedem Kapitel das Wesentliche hervorhebt, mit kurzen bün¬
digen Sätzen in charaktervoller Ausdrucksweise dem Leser meist
aus rein praktischer Erfahrung heraus das Wahre und Richtige
darlegt und verständlich macht, mit lobenswerter Gründlichkeit
häufig geübte Fehler der Aerzte hervorhebt. Gerade das aus
großer Erfahrung von einer gesunden Logik diktierte: „warum
so und nicht so“, macht das Buch reichhaltig und lebendig. Es
ist nicht allein zur Orientierung, sondern auch zum ernsten
Studium der chirurgischem Kränklichem im Kindesalter dem Spe¬
zialisten1 bestens zu empfehlen.
Kurz zusammenfassende, oft äußerst originelle und treffende
Schlagworte' als Randbemerkung erleichtern dem Leser die lleber-
sicht. Die große Fülle gelungener, meist ans Spitzy s Abtei¬
lung stammender Photographien, Tafeln und Farbendrucke sind
mit Sorgfalt ausgewählt und erhöhen noch die Lebendigkeit des
Textes.
Den erstklassigen Reproduktionen steht die übrige Aus1
stattung des Werkes nicht nach.
*
Precis du traitement des fractures.
Par le Massage et la Mobilisation.
Par le Dr. Just Lucas-Chaiiipionniere.
Paris 1910, G. Steinheil.
Der Autor bringt hier nichts wesentlich Neues, faßt viel¬
mehr zusammen, was er in einer größeren Reihe von Publika¬
tionen bereits wiederholt veröffentlicht hat : Seine Lehre der
I Frakturbehandlung. Unstreitig gebührt dein Verf. das Verdienst,
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
175
seinerzeit mit Nachdruck darauf hingewiesen zu haben, daß die
fixierenden Verbände, insbesondere bei Gelenksfrakturen nicht
selten großen Schaden anrichten, eine dauernde Funktionsstörung
verschulden können, daß hingegen die frühzeitige Mobilisierung
ohne jeden Verband oft weit bessere Heilungsresultate zeitigt
als die kunstvollste Fixation nach gut reponierter Stellung der
Fragmente. Seine Schriften wurden allgemein bekannt und gei-
würdigt. Wenn es1 auch nicht dieseln allein zuzuschreiben ist,
so hat Verf. doch wesentlich beigetragen am erfolgreichen Kampf
gegen den Gipsverband und heutzutage ist es wohl Allgemeingut
aller Chirurgen, einen fixierenden Verband nur auf strikte In¬
dikation hin anzulegen und die Freiheit der Bewegung, wo sie
eine günstige Fragmentstellung nicht stört, zu erhalten; ja Ver¬
fasser geht noch einen bedeutenden Schritt weiter und nimmt
gerne eine fehlerhafte Fragmentstellung in Kauf, wenn nur die
Funktion erhalten bleibt, bzvt. wieder hergestellt wird. Er weist
mit Recht darauf hin, daß durch Massage und Mobilisation die
Kallusbildung nicht gehindert, ja sogar angeregt wird, die Re¬
sorption des Hämatomte beschleunigt, Verklebungen und Verwach¬
sungen in Gelenken und Sehnenscheiden verhindert werden usw.
Daß der Autor dabei zu weit geht, indem er mit seiner verband-
losen Frakturbehandlung (auch an der unteren Extremität) eine
fehlerhafte F ragmentstel lung vollbewußt mißachtet, geht aus Ueber-
legungeri hervor, deren Richtigkeit gewiß anzuzweifeln ist. Ver¬
fasser hält die bei Abbreviation der Fragmente bestehende Ver¬
kürzung der Muskeln für günstig, die bei Reposition notwendige
Dehnung derselben für schädlich, er will die Heilung der Knochen¬
brüche mehr der Natur überlassen und bringt eine Reihe von
Beispielen, welche die dabei vollkommen wiederhergestellte Funk¬
tion illustrieren sollen.
Besonderen Wert legt der Autor auf eine ganz spezielle
Anwendung, Variation und Nuancierung der Massage1 und Mobi¬
lisierung.
Im zweiten speziellen Teil bespricht er systematisch seine
Methode, betont hier viel nebensächliches, was jedem beschäf¬
tigten Chirurgen aus seiner eigenen Praxis geläufig ist. Man kann
sich bei der Lektüre des1 Werkes des Eindruckes nicht erwehren,
daß Verf. die einschlägige Literatur nicht gerne beachtet, daher
verfällt er in den Fehler, vieles1 als sein eigen und anderwärts
unbekannt zu wähnen, was längst allgemein geübt wird. Mit
seinem Losungswort: die Funktion, nicht die Heilung in ana¬
tomisch richtiger Stellung ist anzu streben, ist der Autor in
diesem Sinne entschieden zu einseitig.
0. v. Frisch.
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
110. Ueber intravenöse und subkutane Ernährung
mit Traubenzucker. Von Prof. Dr. W. Kausch, Direktor
des: Auguste Viktoria-Krankenhauses in Berlin-Schöneberg. Kranke,
namentlich Operierte1, die auf natürlichem Wege oder per anum1
gar nicht oder nicht ausreichend ernährt werden können, werden
in der Weise künstlich erhalten, daß man ihnen intravenös oder
subkutan Traubenzucker einverleibt. Bezügliche Versuche an
mehr als 40 Menschen, über welche schon der Assistent Doktor
Bereu des an anderer Stelle berichtete, haben zu folgenden
Erfahrungen geführt: Jeder Mensch verträgt ohne Schaden sub¬
kutane Traubenzuckerinfusionen bis zu 5%; stärkere Lösun¬
gen schmerzeh. Verf. empfiehlt, mit 2°/oiger Lösung zu beginnen
und die Konzentration allmählich zu steigern. Das einmalige
Flüssikgeitsquantum beträgt gewöhnlich 1000 cm3. Intravenöse
Infusionen von 1000 cm3 5- bis 7°/oigem Traubenzucker werden
ausgezeichnet vertragen. Zucker wird nach einmaliger Infusion
nicht ausgeschiedein, wohl aber häufiger, wenn die Infusion täg¬
lich wiederholt wird. Fast regelmäßig erfolgt die Ausscheidung,
wenn 8%ige und mehr, bis 10°/oige Zuckerlösung angewendet
wird; stärkere Lösung als 10°/oige hat Verf. nie gegeben. Die
Zuckerausfuhr ist meist gering, 2 bis 3% der eingegebenen Menge,
höchstens 10°/'o. Unangenehme oder gar schädliche Nebenwir¬
kungen wurden nicht beobachtet. Bei den intravenösen
Zuckerinfusionen beginne man mit 1000 Cmj3 einer 5%igen Lösung,
steigere allmählich die Konzentration, wenn nötig, auch das
einmalige Flüssigkeitsquantum. Der Traubenzucker wird in phy¬
siologischer (0-9%) Kochsalzlösung aufgelöst, filtriert und aul-
gekocht. Bei den intravenösen Infusionen werden bei Bedarf
vier bis1 acht Tropfen Adrenalin (1: i ';•'!()■ beigemischt. Die sub¬
kutane Infusion ist schmerzhafter als > einfache Kochsalzinfu¬
sion, bei der intravenösen Eingießung k ei man einmalig bis
2000 cm3 benützen, weshalb Verf. letzter vorzieht und hiezu
die Venen in der Ellenbeuge und sonst an Vrme, ferner dasi
ganze Saphenagebiet benützt. Bei kleinen Kindern, oder wo es
nicht gestattet wird, werden also subkutane Infusione:: gemach i .
Sehr wichtig ist eine jüngste Erfahrung am Krankenbette: Je
schwerer die sonstige momentane Ernährung des Individum :
darniederliegt und je elender sein Ernährungszustand überhaupt
ist, um so mehr Zucker wird vertragen'; esl gilt dies sowohl für
die Konzentration, wie! für das Gesamtquantum. Sö bekam eine
Frau mit schwerer Sepsis1 puerperalis und peritonealen Erschei¬
nungen, Erbrechen, Durchfällen usw., sechs Tage laug hinter¬
einander bis zu 2000 cm3 pro Tag und bis zu 9°/oiger Lösung,
auch zweimal täglich. Davon wurden nur 0-2 bis 3-0 g Zucker
wieder ausgeschieden1. Die Frau wurde gerettet. Ein Mann (Kar¬
zinom) bekam außer täglichen Nährklismen (drei bis vier zu
je 250 cm3) im ganzen 16 Traubenzuckerinfusionen mit 958 g
ZucfceF; zehn Infusionen wurden innerhalb elf Tagen ohne
Schaden verabfolgt. Nach einer Infusion von 100 g Zucker schied
er im Urin 0-9 g Zucker aus. Der infundierte Zucker wird im
Körper verbrannt, die eiweißsparende Wirkung der Zuckerinfu¬
sionen soll durch Stoffwechselversuche, die im Gang© sind, er¬
härtet werden. Verf. regt an, die Traubenzuckerernährung auch
sobst zu versuchen, z. B. bei schwerem Erbrechen Hysterischer,
bei der Hypelremesis- gravidarum, bei schwerem! Magen- und
Darmkatarrh, in erster Linie! denkt er an die Cholera, bei welcher
die Kranken eher an der Austrocknung der Gewebe und Eindickung
des Blutes zugrunde geben. Bei der Cholera könnten also intra¬
venöse Zuckerinfusionen mehr nützen als: die üblichen Kochsalz
infusionen. Verf. bittet die Aerzte, die mit ‘Cholerakranken zu tun
haben, es: mit seiner Methode der künstlichen Ernährung zu ver¬
suchen. Sie schadet bestimmt, nicht und kann nur nützen.
(Deutsche medizinische Wochenschrift 1911, Nr. t.) E. F.
*
111. (Aus dem städtischen Kinderhort zu Breslau. - Lei¬
tender Arzt : Dr. Walter F r e und.) U eb er den Energiebedarf
künstlich genährter junger Säuglinge. Von Dr. Martin
Calvary. Die tägliche Erfahrung lehrt, daß sich für den Nah-
rungsbedarf des künstlich genährten Säuglings keine Nonnen
aufstellen lassen. Dennoch ist man bemüht, aus größeren Beob¬
achtungsreihen einen Mittelwert für den Nahrungsbedarf des se-
sunden, gleichmäßig gedeihenden Kindes zu berechnen. So hat
Heubner für die künstliche Ernährung im ersten Halbjahre
©inen Energiequotienten (— Verhältnis der Nahrungsmenge in
Kalorien ausgedrückt zu 1 kg Körpergewicht) von 120 (gegen
100 beim Brüstkinde) als erforderlich aufgestellt, wenn das Kind
regelmäßig Zunehmen soll. Budin hat weit geringere Werte als
notwendig befunden. Calvarys Untersuchungen stimmen in den
Ergebnissen mit Budin überein, indem seine vier jungen, künst¬
lich genährten Säuglinge bei einer Energiezufuhr von etwa 55 bis
82 Kalorien pro Kilogramm Körpergewicht einen befriedigenden
Anwuchs zeigten. Es scheint also, daß der von Heubner tür den
künstlich genährten Säugling geforderte Energiequotient zu hoch
angesetzt ist. — (Zeitschrift für Kinderheilkunde 1910, Bd. 1,
H. 1.) K. S.
*
112. (Aus der königlichen medizinischen Universitätsklinik
zu Halle a, d. S. — Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Adolf
Schmidt.) Zur Chlorof ormsauerstof fnarkose. Von
Ad. Schmidt und Dr. O. David. Wegen der Möglichkeit einer
schädlichen Wirkung des reinen Sauerstoffes bei der Chloroform-
sauerstoffnarkose, auf die Ziegner seinerzeit hin wies, haben
die beiden Verfasser seit längerer Zeit Versuche über diesen Gegen¬
stand angestellt, aus welchen unzweifelhaft hervorgeht, daß hoch
prozentige Sauerstoffgemische Entzündungen in den Lungen her-
vorrufen können. Sie erzeugten bei Mäusen nur dadurch, dal.
sie die Tiere längere Zleit. in 90 bis 94%igen Sauerstoff ent
haltender Luft hielten1, Veränderungen in den Lungen, die patho
logisch - anatomisch das Bild der kruppösen Pneumonie darboten.
176
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
Die entzündlichen Veränderungen entsprachen der Stärke und
Länge der Sauerstoffzufuhr. Die gleichen Affektionen konnten
sie auch bei Meerschweinchen hervorrufen. Selbst bei einem
Sauerstoffgehalt der Atemluft von 40 bis 60°<> sahen sie. wenn
auch erst nach 70 Stunden, derartige Veränderungen entstehen.
Setzten sie die Tiere mehrere Tage lang täglich nur einige Stunden
dem Sauerstoff aus, so fanden sie nach der Tötung die Zeichen
einer Bronchitis. Es liegt demnach die Annahme nahe, daß
der Sauerstoff eine gewisse Reizwirkung auf das Alveolar- und
Bronchialepithel ausübl. Bereits Bort fiel es auf, daß kompri¬
mierte Luft erst bei 15 bis 20 Atmosphären tödlich wirkt,
während in reinem Sauerstoff schon bei drei bis vier Atmo¬
sphären das tierische Leben erlischt. Auch Lorrain-Smith hat
später durch Drucksteigerung des Sauerstoffes ähnliche Lungen¬
veränderungen wie die Verfasser erzeugt und mit Recht auf
die Einwirkung des Sauerstoffes bezogen. Aber auch er schaltete
die Druckkomponente nicht völlig aus, so daß bei seinen Ver¬
suchen der Einfluß des Sauerstoffes nicht rein zur Geltung kommt.
Diese Druckwirkung haben die Verfasser bei ihren Versuchen
ganz vermieden, indem sie die Tiere in Kästen hielten, deren
Luft bei normalem Barometerdruck den gewünschten Sauerstoff¬
partialdruck enthielten. Gleichzeitig war durch eine entsprechende
Ventilationsvorrichtung dafür gesorgt, daß die sich ansammelnden
schädlichen Bestandteile entfernt und das verbrauchte Gas auto¬
matisch ersetzt wurde. Nur durch eine solche einwandfreie Ver¬
suchsanordnung ist es möglich, den reinen Einfluß, bestimmter
Gasarten zu erforschen. Auch zum Studium der Chloroform-
sauerstoffnarkose kann man nur auf diese Weise zum Ziele
kommen. Die primitive Versuchsanordnung Ziegners scheint
den Verfassern zur Erklärung der in Frage kommenden Einflüsse
ungeeignet. - Es läßt sich dabei nicht erkennen, welches Chloro-
formgasgemisch das Kaninchen wirklich einatmet. Die Verfasser
haben sich bei dieser Technik durch Gasanalysen überzeugt, daß
die Gasmischung an verschiedenen Stellen der Glocke stark
differiert. Der große Verbrauch von Chloroform, bei Zubereitung
von Sauerstoff und komprimierter Luft, den Ziegner fand, erklärt
sich dadurch, daß der durch den Trichter entweichende Gasstrom
eine große Menge Chloroform mit sich reißt. Mit diesen Aus¬
führungen wollen die Verfasser das Augenmerk auf eine Eigen¬
schaft des Sauerstoffes lenken, die bei der Narkose bisher nicht
genügend berücksichtigt wird und vielleicht geeignet ist, ein
neues ätiologisches Moment für die postnarkotischen Schädigungen
beizubringen. Es besteht nach Ansicht der Verfasster eine gewisse
Analogie mit den Caissonkrankheiten, bei denen ebenfalls der
Einfluß, des veränderten Sauerstoffpartialdruckes nicht genügend
berücksichtigt wurde. - (Münchener mediz. Wochenschrift 1911,
Nr 1.) G.
*
113. Jugendfürsorge im Staate New York. Bericht
über eine Studienreise im Frühjahr 1910. Von Prof. Dr. Ra ecke,
Privatdozent und Oberarzt der psychiatrischen und Nervenklinik
in Kiel. - Geh. Bat Siemerling. Vorf. hat die Einrich¬
tungen für Jugendfürsorge im Staate New York besichtigt und
berichtet nunmehr über das Gesehene. Dabei gesteht er selbst,
daß seine Darstellung der Jugendfürsorge im Staate New York
keineswegs auf Vollständigkeit Anspruch erheben könne. Des¬
wegen verzichtet er auch auf eine Zusammenfassung seiner Er¬
fahrungen und berichtet nur über seine persönlichen, vom Stand¬
punkte des Psychiaters gewonnenen Eindrücke. Jedenfalls geht
aus dem Berichte hervor, daß in diesem Staate Behörden und
Private mit bewundernswerter Opferwilligkeit und mit großem
Eifer die Fürsorge für verwahrloste und kriminelle Kinder in
Angriff genommen haben. Nachahmenswert erscheinen die indi¬
viduelle Behandlung durch Bildung kleiner, familienartiger
Gruppen und Schaffung verschiedenartiger Abteilungen, endlich
die Gewährleistung eines ständigen ärztlichen Einflusses. - (Ar¬
chiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 47, H. 3.) S.
*
114. U eb e r d i e e n t z ü n dungs w i d r i g e W i r k u n g lös¬
licher ii e u t r a 1 e r K a 1 k s a 1 z e. V on Prof. Dr. H . L e o, Direktor
des Pharmakologischen Instituts der Universität in Bonn. Es
wird auf die Entdeckung der entzündungswidrigen Wirkung lös¬
licher neutraler Kalksalze durch die DDr. Richard Chiari und
Hans Janus chke und auf deren Publikation in der Wiener
klinischen Wochenschrift 1910, Nr. 12, hingewiesen. Weiteres
hat der Leiter des Wiener pharmakologischen Instituts, H. H.
Meyer, woselbst die Versuche ausgeführt wurden, in der Mün¬
chener medizinischen Wochenschrift 1910. Nr. 44, veröffentlicht.
Es wurde von den genannten Forschern festgestellt, daß sub¬
kutane Injektion von Chlorkalzium oder Calcium lacticum -
das Auftreten von Pleuraergüssen, resp. eines entzündlichen
Oedems der Konjunktive des Kaninchenauges verhindert, wenn
das Salz vor Einwirkung des Reizmittels (beim Auge Senföl¬
instillation) appliziert wird, weiters, daß auch bei einem nicht
mit Kalksalz vorbehandeltein Tiere die durch Senföleinträufelung
in den Konjunktivalsack erzeugte maximale Chemosis dur’ch nach¬
trägliche subkutane oder intravenöse Applikation der er¬
wähnten Kalksalze wieder rückgängig gemacht werden kann, daß
also die Kalksalze auch kurativ wirken. H. H. Meyer und
seine Schüler glaubten, daß durch die Kalkanreicherung die Durch¬
lässigkeit der Gefäßwände vermindert werde. Es wird auch über
die Heilerfolge A. E. Wrights durch Verabfolgung von Kalk¬
salzen bei verschiedenen Hautaffektionen berichtet, schließlich
über einige -Versuche des Verfassers an verschiedenen Tieren.
Im großen und ganzen werden die Ergebnisse der DDr. Chiari
und Jan us chke vollauf bestätigt. Leo versuchte auch, Tieren
die löslichen Kalksalze innerlich einzuverleiben, ln einigen
Fällen genügte schon eine einmalige Eingießung von 100 cm3 einer
2uoigen CaCL- Lösung in den Magen eines Kaninchens, um die
künstlich erzeugte Konjunktivitis in etwa sechs Tagen zum Rück¬
gang zu bringen. In der Regel wurden die Eingießungen an
mehreren Tagen wiederholt. Um ausgiebige, resorptive, entzün¬
dungswidrige Wirkung beim Menschen zu erlangen, würde es
sich empfehlen, die Chlorkalziumlösung auf leeren Magen ein-
zunehmen. Verl', hat an sich selbst und anderen erprobt, daß
100 cm3 einer 1- bis 2%igen CaCL-Lösung ohne Beschwerden bei
leerem Magen eingenommen werden können. Gegen den salzigen
Geschmack füge man Syr. r. idaei zu. Eingießungen ins Rek¬
tum zeigten keinen Effekt. Auch die Einträufelung' einer Chlor¬
kalziumlösung auf die schon entzündete Konjunktiva erwies sich
als überraschend günstig, was wiederholte Tierversuche lehrten.
Da irgendwelche ungünstige Wirkungen bei Instillation einer
2-5°/oigien Lösung von CaCL am Kaninchen nicht zu beobachten
waren, hält Verf. die Anwendung dieses Mittels atfeh bei den ver¬
schiedenartigen entzündlichen Erkrankungen des menschlichen
Urges für indiziert. Es könnte auch bei änderten Schleimhäuten
versucht werden, z. B. bei entzündlichen Erkrankungen der Mund¬
schleimhaut, der- Tonsillen (Diphtherie) und des Rachens, ent¬
weder in Form von Mundwasser oder zur Pinselung. Bei Rhinitis
als Spülwasser, bei entzündlichen Larynxerkrankungen zur In¬
halation. Hier benützt man ja schon lange das Kalkwasser
mit anscheinend gutem Erfolge, das neutrale, leicht lösliche und
ungleich stabilere Kalziumchlorid dürfte aber viel wirksamer
sein. Verf. schlägt vor, hieftir Lösungen von bis zu 5°,» CaCL
anzuwenden, da er sich von deren Unschädlichkeit überzeugt hat.
Eine weitere Verwendung könnten 1- bis 20/oige Lösungen bei Be¬
handlung von Entzündungen der Magen- oder Darmschleimhaut
(Gastritis oder Ulcus ventriculi), des Nierenbeckens, der Harn¬
blase, Urethra (Gonorrhoe;), ferner bei Erkrankungen der Vagina
oder Uterusschleimhaut finden. Schädliche Nebenwirkungen der
Kalksalze bei der internen Applikation hat Verfasser nie beob¬
achtet; ob sie auf die Dauer aber nicht etwa Veränderungen
der Arterienwandungen hervorrufen, das müssen erst weitere Ver¬
suche lehren. (Deutsche mediz. Wochenschrift 1911. Nr. 1.)
E. F.
*
115. (Aus dem pharmakologischen Institute in Zürich.)
B e m e r k u n g e n ii b e r das Wesen u n d B e d e u t u n g d e r D i a-
stole. Aon M. Cloetta. Wenn man die Literatur über die
Beurteilung der Herztätigkeit in physiologischer und pathologischer
Hinsicht durchgeht, so ist man immer wieder überrascht von der
Tatsache, daß die Bewertung der systolischen Tätigkeit des
Herzens bei weitem im Vordergründe steht. Man gewinnt den Ein¬
druck, daß die diastolische Phase lediglich als notwendige Voraus¬
setzung für die Systole in mechanischer Hinsicht angesehen
wird, d. h. daß die Aufgabe der diastolischen Phase lediglich
Nr. 5
WIENEU KLINISCHE W 0 CHEN SC HHIFT. 1911.
177
darin bestehe, das Herz oder die Herzkammern in der Weise
mit Blut zu füllen, daß eine kräftige systolische Welle in die
Aorta geschleudert werden könne. Die Bedeutung der Diastole
ist aber gewiß noch eine andere: Während der Systole zieht
sieb die Muskulatur zusammen, wobei auch die Gefäße des Herz-
fleisches komprimiert und teilweise entleert werden, tm Moment
der Diastole ist die günstige Phase für die Ernährung des Herz-
nnu dcels gegeben; in diesem Augenblicke strömt eine mächtige
Blutwelle durch die erweiterten Kapillargefäß? derselben. Glück¬
licherweise verfügt das Herz ii bei1 ein so ungewöhnlich reiches
Kapillarsystem, daß die relativ kurze Zeit des kontinuierlichen
Fließens in den Koronargefäßen genügt, um dem Herzen die
nötige Nahrungsmenge und Sauerstoff zuzuführen und diese Re¬
stitution der Energie des Herzmuskels ist, muskel-physiologisch
betrachtet, die eigentliche Aufgabe der Diastole. Die Diastole ist
der assimilatorische Vorgang, auf dessen Schultern der dissi-
milatorische der Systole ruht. Leider hat es sich als unmög¬
lich herausgestellt, die Diastole zu therapeutischen Zwecken
direkt zu beeinflussen u. zw. deshalb, weil die Diastole kein
aktiver Herzvorgang ist. Daraus folgt jedoch nicht, daß es über
haupt unmöglich wäre, einen Einfluß auf sie auszuüben. In der
Tat wirken unsere Herzmittel (Digitalis) auch auf die Diastole
in günstiger Hinsicht. Ist doch die Digitalis nicht nur ein Er
regungsmittel für die systolische Zusammenziehung, sondern auch
für den pulsverlangsamenden Vagus. Pulsverlangsamung be¬
deutet aber gleichzeitig Verlängerung der restaurierenden dia¬
stolischen Phase! Von diesem Gesichtspunkte aus wird es nun
auch verständlich, warum Morphin und noch besser Opium unter
Umständen die Digitalis ersetzen können. Bei außergewöhnlichem
unnötigen Energieverbrauch setzt Opium nämlich durch seine
lähmende, hemmende Wirkung die unnötige Kraftvergeudung
herab und wirkt so begünstigend auf die wirklich wesentliche,
d. h. koordinierte Herztätigkeit ein. - (Korrespondenzblatt fiii
Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg., Nr. 30. ' K. S.
*
116. (Aus der medizinischen Klinik am Hospital zum Hei¬
ligen Geist in Frankfurt a. M. — Direktor: Prof. Dr. Treupel.)
Heber die Reaktion des Harnes bei Paralyse mit
Liquor Bellostii. Von P. Bei sei e, Medizinalpraktikant an
der Klinik. Butenko hat mit einer Lösung von Merkuronitrat
in den. Hamen von Paralytikern eine Reaktion gefunden, die
er bei dieser Erkrankung für typisch hält, da er sie bei allen
anderen, auch luetischen Affektionen, nicht fand. Die Reaktion
besteht, darin, daß man in einem Reagenzglas einige Kubikzenti¬
meter des betreffenden Urins kocht, dann ohne Rücksicht auf
eine etwa entstandene Trübung 10 bis 15 Tropfen des Reagens
zugibt und noch zwei- bis dreimal aufkocht, unter Vermeidung des
Herausschleuderns der stark stoßenden Flüssigkeit. Dann läßt
man absetzen. Der Niederschlag ist dann in allen Urinen weiß.
respektive weißgelblich,- in den Hamen der Paralytiker aber
grau bis grauschwarz und die darüber stehende Flüssigkeitssäule
graugelb gefärbt. Am besten beurteilt man die Probe, nachdem'
sie schon ziemlich erkaltet ist, wobei sich oft über einem weißen
Bodensatz ein grauer Ring zeigt, der ebenfalls einen positiven
Ausfall anzeigt. Das Reagens besteht aus einer Lösung von Mer¬
kuronitrat in Wasser mit geringem Zusatz von Salpetersäure
und ist als Liquor Bellostii oder Aqua Capucinica bekannt. Es
wurde früher als mildes Aetzmittel und Antisyphiliticum ge¬
braucht. Die Lösung ist klar, reagiert sauer und muß licht¬
geschützt aufbewahrt werden. Diese Probe hat \erf. bei über
100 Kranken und Gesunden angestellt. Unter den Kranken waren
27 Fälle von Paralysis progressiva, klinisch einwandfrei fest-
gestellt in verschiedenen Stadien, 6 Fälle von Tabes dorsalis,
20 Fälle von Lues verschiedener Organe. Auf Grund dieser
Untersuchungen kann Verf. die Angaben Butenkos bezüglich
des positiven Ausfalles der Reaktion bei der progressiven Para¬
lyse und ihre Spezifität für diese Erkrankung bestätigen. Bei
25 von 27 Fällen zeigte sich ein positives Ergebnis. Butenko
gibt, eine Reihe von Nahrungsmitteln und Medikamenten an, welche
die Probe störend beeinflussen. Verf. hat sich durchaus nicht
strenge danach gehalten und dennoch einwandfreie Resultate
erhalten. Zu beachten ist nur, daß der zu untersuchende Urin
sauer ist, da ein durch Ammoniak alkalischer Urin (bei Zystitis;
schon in der Kälte einen schwarzen Niederschlag von Queck
silberamid gibt. Bei Medikamenten hat Verf nur bei Darreichung
von Jod, Sulfonal und Trional eine störende Beeinflussung der
Reaktion gesehen. Trat im Verlaufe der Paralyse eine Remission
im klinischen Sinne ein, oder war bereits vollständige Verblödung
eingetreten, so wurde auch die Reaktion zweifelhaft oder ganz
negativ. Die Frage, was für Stoffe den positiven Ausfall der
Reaktion bewirken, beantwortet Verf. dahin, daß es sich um
keine Toxine, sondern wahrscheinlich um Zerstörungsprodukte
der nukleinreichen Gehirnzellen, um Xanthinbasen, handeln
könnte. Verf. zieht nun aus seinen Beobachtungen, gleich Bu¬
tenko, den Schluß, daß der Reaktion in der Tat eine diagno¬
stische Bedeutung für Paralyse zukommen dürfte. Ob sie für
eine Frühdiagnose in Betracht kommt, wagt er noch nicht zu
entscheiden. Wäre dies der Fall, so könnte die Reaktion gute
Dienste leisten bei Erkennung jener zweifelhaften Fälle, die Alt
als „Wetterleuchten der Paralyse“ bezeichnet hat. — (Münchener
mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 1.) G.
*
117. Beitrag zur pathologischen Anatomie hoch¬
gradiger Mvosis und Pupillenstarre. Von Dr. Elmi-
ger, zweiter Arzt in St. Urban (Kanton Luzern). Fall von De
mentia paranoides, kompliziert mit Tabes dörsalis. In der Kranken¬
geschichte findet sich eine fast zwei Jahrzehnte dauernde hoch¬
gradige Mvosis mit Pupillenstarre. In der Anamnese Lues, mehr¬
fache Erkältungen. Als Ursache der Mvosis und möglicherweise
auch der Pupillenstarre spricht Verf. eine enorme zellige Infil¬
tration des Endoneuriums des Nervus oculomotorius an und
den dadurch bewirkten konstanten Reiz auf die pupillenveren¬
gernden Fasern des Okulomotorius. (Archiv für Psychiatrie
und Nervenkrankheiten, Bd. 47, H. 2.) 8.
*
118. Zur Behandlung der Basedowschen Krank¬
heit. Von Prof. Dr. Wilhelm Epstein in Göttingen. In seiner
Monographie über chronische Stuhlverstopfung usw. vom Jahre
1901 hat Verf. schon auf das Nebeneinandervorkommen von
chronischer Koprostase und Basedowscher Krankheit besonders
aufmerksam gemacht und berichtet, daß er in einer Reihe von
Fällen mit der Beseitigung der Koprostase die Symptome des
Basedow nicht nur sich erheblich bessern, sondern auch gänz¬
lich verschwinden gesehen habe. Er glaubt natürlich nicht, daß
man den Basedow unter allen Umständen in dieser Weise kurie-
ren könne, er erwarte bloß, daß, wenn der sogenannte Thyre-
oidismus, auch der des Morbus Basedowi, durch gewisse Darm¬
gifte entstehen könne, wofür Tierexperimente zu sprechen scheinen,
man durch Unschädlichmachen der Darmgifte und durch Be¬
seitigung der chronischen Koprostase die enterogene Giftbildung
ausschalten, also die Ursache des Leidens beseitigen werde. Bei
der Basedowschen Krankheit kommen auch anfallsweise auf¬
tretende stärkere Diarrhöen mit Obstipation vor, welche auf¬
hören, wenn man große Oelklysmen anwendet. Verf. teilt vier
Beobachtungen von Morbus Basedowi mit, welche in dieser M eise
erfolgreich behandelt wurden und fährt sodann fort: Diese Beob¬
achtungen beweisen, daß bei Individuen, welche gleichzeitig an
Koprostase und an der Basedowschen Krankheit — an
der vollentwickelten Form — litten, bei einer zweckentsprechen¬
den Behandlung der Koprostase, insbesonders mittels des Ge¬
brauches fortgesetzter großer Oelklysmen, von beiden Krank¬
heiten geheilt wurden. Im ersten Falle war die Heilung eine
dauernde, da sie nach mehr als anderthalb Jahrzehnten in durch¬
aus1 einwandfreier Weise fortbestand. In welchen Fällen von
Basedow diese Behandlung nützt, das vermag Verf. nicht zu
sagen. Kontraindiziert wäre sie allenfalls in Fällen, in welchen
die Strumen rapid wachsen, daher eine operative Behandlung
Platz greifen müßte. Ist ein solcher Grund nicht vorhanden, so
läßt sich gegen den durch die Koprostasebehandlung bewirkten
Aufschub der Strumaoperation wohl nicht viel einwenden.
(Therapeutische Monatshefte, Dezember 1910.) E. 1.
*
119. Ueber die Behandlung des Typhus mit Py¬
ramid on. Von Jakob. In der Klinik von Prof. Moritz in
Straßburg wurden in den letzten drei Jahren die Typhusfälle
systematisch mit Pyramidon behandelt. Die Mortalität betrug
178
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
hiebei nur 10°/o, während sie bei der auch in Straßburg früher
durch zehn Jahre üblichen Bäderbehandlung nicht unter 13 -9 d'o
herabging, obwohl die letztere im Spitale bei gut geschultem
Personale gut durchführbar war. ln der Privatpraxis und bei
Epidemien, wo die Bäderbehandlung ohnehin große Schwierig¬
keiten bereitet, wird es sich also doppelt empfehlen, die Pyra-
midonbehandlung an ihre Stelle treten zu lassen. Die Behandlung
wird in folgender Weise durchgeführt : Wenn nicht rasches Ein¬
greifen geboten ist, wird der neuaufgenommene Kranke durch
einen bis mehrere Tage therapeutisch nicht beeinflußt, um von
der Schwere der Erkrankung ein möglichst klares Bild zu be¬
kommen. Treten dann hohe Temperaturen, Kopfschmerzen, Som¬
nolenz, Delirien auf, so wird zweistündlich 0-1 Pyramidon ge¬
reicht, ab 6 Uhr früh bis 12 Uhr nachts (= lOmal 0-1; Pyra¬
miden 2-0, Syr. spl. 20-0, Aqu. d. ad 200-0). Mit diesen
Dosen gelingt es meist, die Temperatur auf mäßiger Höhe zu
erhalten und das Allgemeinbefinden wird sehr günstig beein¬
flußt: Somnolenz, Unruhe, Kopfs chmerzien verschwinden in
kurzer Zeit, manche Kranke fühlen sich beschwerdefrei. Die
Kranken liegen ruhig, schlafen viel, nehmen ohne Schwierigkeit
Nahrung und sind leicht rein zu erhalten. Das Prinzip ist also,
nicht möglichst tiefe Fieberremissionen zu erzielen, sondern die
mit hohem Fieber einhergehende toxische Wirkung der Infektion
hintanzuhalten. Sinkt die Temperatur endlich zur Norm, so wird
Pyramidon probeweise einen Tag ausgesetzt, um eventuell wieder
aufgenommen, zu werden. Schädliche oder subjektiv unange¬
nehme Wirkung der Pyramidonbehandlung hat Jakob nie beob¬
achtet, insbesondere fehlte jede ungünstige Wirkung auf den
Kreislauf. Bei eintretenden Blutungen wurde Pyramidon nicht
ausgesetzt (ausgenommen bei sehr starken Blutungen mit Kollaps),
da gerade da die Beseitigung der motorischen Unruhe wert¬
voll ist. Lungenkomplikationen wurden mit Prießnitzumschlägen
bekämpft. Im übrigen wurde noch mit Ganz- und Teilwaschungen
eine sorgfältige Hautpflege durchgeführt. Die Pyramidonbehand-
nmg wurde in den meisten Fällen, durch 10 bis 20 Tage durch¬
geführt, in einer geringeren Anzahl von Fällen erhielten die
Patienten das Mittel durch 21 bis 35, ja in einem Falle durch
41 Tagei 1 - — (Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1910,
40. Jahrg., Nr. 29.) K. S.
*
120. Vom Gastro spasmus. Von Prof. Dr. Waldvogel
in Güttingen. Verf. bedauert zunächst, daß man derzeit dem Gastro¬
spasmus der alten Kliniker so skeptisch gegenübersteht, nach
seinen Erfahrungen mit Unrecht und zum Nachteile der Kranken.
Er bemüht sich demgegenüber zu zeigen, daß der Gastrospasmus
eine recht häufige Erkrankung des Magens ist, daßi die Sekretions¬
verhältnisse bei vielen dieser Kranken wechselnd und von gerin¬
gerer Bedeutung sind, daß man therapeutisch bei richtiger Wür¬
digung der Motilitätsstörungen in spastischem Sinne sehr gute
Resultate erzielen kann und daß der Annahme eines Gastro¬
spasmus gerade nach dein neuesten Ergebnissen der normalen und
pathologischen Physiologie des Magens nichts im Wege steht. Ver¬
fasser nimmt einen Gastrospasmus an, wenn bei den bekannten
Beschwerden des Druckes, der Völle, des Schmerzes1, des Auf¬
stoßens und negativem palpatorischen Befund am Magen nach
Einverleibung von 4 g Na. bicarb, und 4 g Acid, tartaric, in je
100 cm3 Wasser die mittelstarke Fingerfingerperkussion, von der
Mamilla abwärts schräg zum Nabel am liegenden Patienten aus¬
geführt, ergibt, daß die untere Grenze zwei bis drei querfingerbreit
oder höher oberhalb desi Nabels bleibt. Man muß dabei deutlich
fühlen und sehen, daß das Gas den Magen vorwölbt und nicht
entwichen ist durch den Pylorus. Die Ursachen für eine solche
Pylorusinsuffizienz : Hysterie, maligner Tumor, Verwachsungen
lassen sich meist mit genügender Sicherheit ausschließen. Es
fragt sich nun, ob jede in solchem Umfange nachgewiesene Ver¬
kleinerung auf einen Gastrospasmus zurückgeführt werden darf.
Verwachsungen könnten den Magen an seiner Ausdehnung hin¬
dern; auch die Umwandlung der Magenwandung in s'kirrhöses
Krebsgewebe kann den Magen klein machen; aber diese' Ver¬
wechslung wird wegen der Zeichen des Karzinoms selten Vor¬
kommen. Am sicherstem schien dem Verf. bei der Aufblähung
der Gastrospasmus erwiesen, wenn bei völligem Verschluß, des
Magens der ganze Kohlensäureschaum explosionsartig erbrochen
wurde. Als wichtiges diagnostisches Moment kommt noch das
ätiologische hinzu ; denn man findet den Spasmus ventrikuli in
Krankheitszuständen, bei denen Spasmen zum Krankheitsbild ge¬
hören. Hier ist in, erster Linie zu nennen die Bleivergiftung, bei
der der Gastrospasmus ein früh eintretendes Symptom, ist. Ferner
bei Nikotinabusus, bei Arteriosklerose der Bauchorgane, in einem
Falle auch bei Urämie. Am häufigsten jedoch findet sich der
Gastrospasmus bei Neurasthenie, äußerst selten bei Hysterie. Auch
als Symptom einer spastischen Koprostase kann ein Magen'spasmus
vorhanden sein. Was die sekretorischen Verhältnisse beim Gastro¬
spasmus anlangt, so kam Verf. zur Ueberzeugung, daß dabei die
Werte für freie Salzsäure im allgemeinen an der oberen Grenze
und darüber liegen, daß aber Hyperazidität nicht etwa ein kon¬
stantes Begleitsymptom des Gastrospasmus ist. Zum Schlüsse
betont Verf. nochmals1, daß der Gastrospasmus eine sehr häufige,
wenn nicht die häufigste Erkrankung des Magens ist, viel häufiger
als das so oft zu Unrecht angenommene Ulcus ventriculi. Was
die Therapie betrifft, so ist hier Atropin in; Pillen zu 0-0005
zweimal täglich das gegebene Mittel. Bleibt bei der nächsten
Magenaufblähung die untere Magengrenze noch ziendich weit
über dem Nabel, so gibt Verf. dreimal eine Atropinpille oder
legt Opiumtinktur dreimal täglich drei bis fünf Tropfen hinzu.
Die Schmerzen werden durch heiße Kompressen beseitigt. Die
Erregungssymptome der Neurasthenie werden durch laue Bäder
35 bis 37" C günstig beeinflußt. Auch bei den arteriosklerotischen
Formen hatte Verf. mit Atropin und Jod günstige Resultate. —
(Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 2.) G.
*
121. (Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Uni¬
versität Breslau. — Geh. Rat Bonhoeffer.) Klinischer und
anatomischer Beitrag zur Kenntnis der spinalen
progressiven Muskelatrophie. Von Dr. Vik. Als kon¬
stanter Befund bei der progressiven spinalen Muskelatrophie wird
Atrophie der Vorderhornzellen bis zu völligem Ausfall derselben
in den betreffenden Abschnitten des Rückenmarkes angegeben.
Verf. beschreibt einen Fall, in welchem die anatomische Unter¬
suchung zwar gleichfalls den Schwund der motorischen Vorder¬
hornzellen konstatieren ließ,, aber die Hauptrolle spielt zweifellos
die Meningitis, die zu einer primären Schädigung der austretenden
Vorderwurzeln führte. Der Schwund der motorischen Vorder¬
hornzellen war sekundär. Es ist also jedenfalls sicher, daß
Meningitis mit spezieller Beteiligung der vorderen Wurzeln je
nach der Lokalisation die verschiedenen Formen der progressiven
spinalen Muskelatrophie, unter Umständen den Typus Aran-
Duchenne hervorrufen kann. Welche Rolle in der Aetiologie
der Lues zukommt, steht noch nicht fest. — (Archiv für Psychiatrie
und Nervenkrankheiten, ßd. 47, H. 3.) S.
*
122. lieber ein postmortales Ausikultationsphä-
nomen beim Menschen. Von Prof. H. E. Hering in Prag.
An der Herzspitze einer eben verstorbenen Kranken (keine Atmung
keine Herztätigkeit) hörte Verf. wohl keine Herztöne, bzw. llerz-
geräusche (es handelte sich um eine Herzkranke), wohl aber
ein kontinuierliches leises Rauschen. Auch über dem
unteren Ende des Sternums war das Rauschen ganz deutlich
zu hören, aber nicht an anderen Stellen, z. ß. an der Stirn.
Seine zwei Assistenten Dr. Rihl und Dr. Eibegger hörten es
ebenfalls. Nach etwa zwei Minuten verschwand es. Dr. Eibegger
hat dieses Rauschen noch bei einem zweiten Todesfälle gehört
und zwar eine halbe Minute lang. Verf. bespricht die Ursache
dieses Geräusches und hält es für das Wahrscheinlichste, daß
es sich um ein Gefäßgeräusch handle. Trifft dies zu, dann
wäre hiemit auch für dein Menschen der beim Tiere schon lang
erbrachte, aber wenig bekannte Beweis geliefert, daß das Blut
noch einige Zeit fortfährt, sich von den Arterien nach den Venen
zu entleeren, nachdem das Herz zum Stillstand gekommen ist.
Sehr vieles spricht dafür, wie Verf. ausführt, daß ein solches
Strömen des Blutes auch dasi besagte Geräusch erzeugen kann.
Es ist wahrscheinlich auch intra vitam vorhanden, doch stören
am Herzen zu sehr die Herztöne; an anderen Körperstellen, zum
Beispiel am Handrücken, wenn das Stethoskop auf dem zweiten
und dritten Metakarpusknochen aufruht und die Arterie nicht
komprimiert wird, kann man unter Umständen ein analoges Ge-
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
179
rausch hören. Es ist wahrscheinlich, daß das postmortale Ge¬
räusch in maximum; nicht länger als ein bis zwei Minuten vor¬
handen sein wird, man wird es nicht oder nur für kurze Zeit
post mortem hören, wenn die Herztätigkeit sehr langsam; er¬
lahmt. Das Geräusch könnte schließlich unter gewissen Um¬
ständen, so in gerichtlich-medizinischer Hinsicht, von größerer
Bedeutung sein. — (Deutsche medizinische Wochenschrift 1.911,
Nr. 1.) E. F.
*
123. Ein Beitrag zur Behandlung <1 er Erektio¬
nen beim Kind e. Von Niem an. Erektionen können wohl
Folgen onanistischer Manipulationen sein, werden aber ebenfalls
ausgelöst durch lokale, an den Genitalien und deren Umgebung
sich geltend machende Reize, welche sekundär dann zur Mastur¬
bation Veranlassung geben. In solchen Fällen findet sich häufig
eine Verklebung der Eichel (mit dem Vorhautblatte an der hin¬
teren Seite. Dieselbe kann nur nachgewiesen werden, wenn
man die Vorhaut sio weit zurückzuziehen versucht, daß der
Sulcus coronarius frei wird. Im Sulcus coronarius findet sich eine
größere Menge Smegma angesammelt. Die Entfernung des letz¬
teren und die Lösung der Verklebung hat zur Folge, daß, die
Erektionen nach und nach seltener werden und dann aufhören.
— (Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg.,
Nr. 29.) K. S.
*
124. Zur Kenntnis der Meningitis carcinomatosa.
Von Priv.-Doz. Dr. Max Lissauer, I. Assistent am Pathologi¬
schen Institut der Universität in Königsberg i. Pr. (Direktor: Pro¬
fessor Dr. Henke). Bei einer 47jährigen Frau wurde an der
Klinik Lichtheim die Diagnose auf Hirntumor, wahrscheinlich
in der hinteren Schädelgrube gestellt. Sie hatte beiderseits
Stauungspapille, eine motorische Lähmung der Extremitäten,
rechts schwerer als links, keine Reflexe, tiefes! Koma, Augen¬
muskellähmungen usw. Die Sektion ergab im Gökum ein Kar¬
zinom mit Metastasen in benachbarten Lymphdrüsen. Die Dura
war glatt, nirgends adhärent. Die, Pia überall glatt und glänzend,
nur an einzelnen, etwa bohnengroßen Stellen war siei über dem
Kleinhirn und über der Konvexität ganz leicht milchig getrübt.
Hirn und Rückenmark ohne pathologischen Befund. Erst die
mikroskopische Untersuchung gab Aufklärung über die im Vorder¬
grund des klinischen Bildeis gestandenen Symptome. Da.s Cökum-
karzinom war ein typischer Schleim krebs, ebenso die Me¬
tastasen in den Lymphdrüsen. Die Pia mater war ganz diffus
infiltriert mit Krebszellen; sie waren groß, lagen in Strängen und
Haufen zusammen, bildeten an manchen Stellen Drüsen; sie waren
ferner stark schleimig degeneriert. Verf. berichtet über die ein¬
schlägige Literatur und findet in seinem Falle zunächst das Inter¬
essante, daß, die klinischen 'Symptome eines Hirntumorsi be¬
standen, daß der makroskopische Befund eigentlich negativ war
(solche Befunde finden sich bei allen möglichen Erkrankungen,
wie Nierenerkrankungen, Alkoholismus und im Alter), daß, erst
die mikroskopische Untersuchung den Sachverhalt aufklärte. Da
die krebs igeln Infiltrationen der Pia stark schleimig degeneriert
waren, waren sie makroskopisch mit ihrem glasigen, transparenten
Aussehen von einer normalen spiegelnden Pia nicht zu unter¬
scheiden. Man hat nun vielfach die zerebralen Symptome von
Karzinomkranken (Benommenheit, Apathie, Delirium, Bewußt¬
losigkeit, Psychosen, Lähmungen usw.) beim Mangel einer anato¬
mischen Erklärung auf eine toxische Wirkung des; Krebses be¬
zogen, Oppenheim hat auch über einen Fall berichtet, bei
welchem auch der mikroskopische Hirnbefund ein ganz nega¬
tiver war; trotzdem lehrt der Fall, daß man in solchen Fällen
auch an eine Meningitis carcinomatosa denken müsse und daß man
in jedem Falle sodann bei der Sektion eine genaue mikroskopi¬
sche Untersuchung des Gehirns vornehmen solle. — (Deutsche
mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 1.) E. F.
*
Aus englischen Zeitschriften.
125. Ueber dein, Einfluß von Chinin und Morphi upr
auf die Phago zytose. Von H. Lyon Smith. Die Untersuchun¬
gen bezweckten die Nachprüfung der Angabe, daß das Chinin
ebenso wie der Alkohol in großen Mengen die Phagozytose hemmt,
und daher bei septischen Infektionen kontra indiziert ist. Es wurde
der opsonische Index einerseits bei Zn - tz von Kochsalzlösung,
anderseits bei Zusatz einer Lösung von Chinin und Morphium
bestimmt. Es wurde das leicht wasserlösliche saure Chininum
hydrochloricum benützt und auf je 0-6 g des Chininsalzes 0-008 g
Morphium hydrochloricum zugesetzt. Es wurde berechnet, daß
bei Darreichung von 0-6 g Chininsalz die Konzentration im Blute
1:7500 beträgt und der Einfluß einer Lösung dieser Konzeniratio::
auf verschiedene pathogene Mikroorganismen Strepto-, Staphylo
und Pneumokokken, Koli-, Influenza-, Pseudodiphthcric- und l’u-
herkelbazillen untersucht, zum Vergleich auch Lösungen von
höherer und geringerer Konzentration herangezogen. Es wurden
gleiche Mengen von gewaschenen menschlichen Blutkörperchen,
Blutserum, frischer Emulsion von Kolibazillen und einer Chinin¬
lösung 1 : 7500 mit Morphiumzusatz gemischt und durch 15 Mi¬
nuten in verschlossenen Röhrchen bei 37° gehalten. Eine zweite
Probe wurde mit einer Chininlösung 1 : 30.000, eine dritte Probe
mit 0-85%iger Kochsalzlösung hergestellt, während die vierte
Probe nur aus einem Gemisch von Blutkörperchen Blutserum
und Kolibazillenemulsion bestand. Es wurde die Phagozytose
gegenüber Kolibazillen durch Zusatz von Chinin und Morphium
bei Anwendung der Chininlösung 1:7500 um 04%, bei Anwendung
der Lösung 1:30.000 um 23% gesteigert. Auch bei den Versuchen
mit anderen Krankheitserregern wurde meist die Phagozytose
unter anderem bei Pneumokokken um 80%, bei Streptokokken
in einer Probe um 90% gesteigert. Die Versuche zeigen, daß
die Phagozytose bei Anwendung von Chinin -Morphiumlösung
bestimmter Konzentration nicht inhibiert, sondern gesteigert wird.
Bei Anwendung stark konzentrierter Chininlösungen, zum Beispiel
1:2500, wird die Phagozytose, manchmal selbst um 50%, herab¬
gesetzt. Die Behauptung, daß Chinin bei Infektionen kontraindi¬
ziert ist, scheint auf Versuche mit zu stark konzentrierten Chinin¬
lösungen zurückzugehen. Bei Tuberkelbazillen und Staphylo¬
kokken wurde auch bei Anwendung der sonst die Phagozytose
erhöhenden Chininlösung eine Abnahme der Phagozytose beob¬
achtet, was auf eine opsoninartige Wirkung des Chinins und
Morphiums hinweist. Im Initialstadium bakterieller Infektionen,
wie Appendizitis, akute Kolitis, Puerperalinfektion, Phlegmone,
Erysipel und Influenza, scheint eine Darreichung von Chinin
in einer Dosis von 0-01 g pro Kilogramm Körpergewicht durch
Anregung der Phagozytose den Organismus im Kampfe gegen die
Krankheitserreger zu unterstützen. — (The Lancet, 5. November
1910.) a. e.
*
126. Bemerkungen über einige mit aus unbe¬
kannten Mikroorganismen her gestellter Vakzine be¬
handelte Fälle. Von E. C. Bousfield. Die Bedeutung der
Vakzinetherapie besteht darin, daß ihre Durchführung die Fest¬
stellung des Krankheitserregers notwendig macht, doch gibt es
auch Fälle, wo eine bestimmte Vakzine in der Voraussetzung
einer Mischinfektion, z. B. mit Staphylokokken, angewendet wird
oder die Bestimmung des Krankheitserregers überhaupt nicht
möglich ist. In einem Falle von Pleuritis nach Masern wurde
aus dem Sputum ein unregelmäßig gestalteter Kokkus, der ver¬
schiedene Größe zeigte, gezüchtet und eine Vakzinei hergestellt,
welche für zwei Dosen ausreichte. Die ersten zwei Dosen be¬
wirkten eine Herabsetzung der Temperatur, welche jedoch nur
vorübergehend war, so daß noch weitere Vakzine durch Züchtung
des Krankheitserregers aus dem Sputum hergestellt werden
mußte; nach fünf Injektionen trat Genesung ein. In einem Falle
von maligner Endokarditis mit Phlebitis wurde aus dem Blute
ein Mikroorganismus gezüchtet, der anscheinend zu den Staphy¬
lokokken gehörte, aber nur auf Blutagar wuchs. Die aus diesem
Mikroorganismus hergestellte Vakzine führte eine Heilung der
Endokarditis herbei. In einem Fälle von Puerperalinfektion wurden
aus einem Abstrich der Uterusschleimhaut Kolibazillen gezüchtet
und zur Bereitung einer Vakzine verwendet, von der drei Dosen
Heilung herbeiführten. In einem zweiten Falle von Puerperal¬
infektion wurde aus dem Blute der Bacillus mesentericus, aus
dem Uterus ein weißer Staphylokokkus gezüchtet; die aus letz¬
terem bereitete Vakzine zeigte nur eine vorübergehende Müh¬
samkeit. Erst aus dem dritten Uterusabstrich wurde neben den
Staphylokokken ein als Bacillus fugax benannter diphtheroider
180
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
Bazillus gezüchtet, aus welchem eine Vakzine bereitet wurde,
nach deren zweimaliger Anwendung die Schüttelfröste dauernd
verschwanden. Bei einer 83jährigen Patientin mit Cholezystitis
bei Cholelithiasis wurde in der Voraussetzung einer Koli infek¬
tiös eine aus fremden Kolibazillen hergestellte Vakzine mit sehr
günstigem Erfolg angewendet. Zur Herstellung von Blutkulturen
sind, von Anthraxfällen abgesehen, die aus der Fingerbeere oder
dem Ohrläppchen erhaltenen Blutmenge n nicht ausreichend. Für
die Wirksamkeit der Vakzine ist Anlegung der Kultur aus dem
frisch entnommenen Blute von wesentlicher Bedeutung. - (The
Lancet, 5. November 1910.) a. e.
*
127, Bemerkungen über Spät, in toxi kati on mit
Chloroform. Von E. D. Telford. Unter den verschiedenen
postmortalen Befunden bei der Spätintoxikation durch Chloro¬
form steht die Fettleber in erster Reihe. Die Leber ist vergrößert,
von glänzend gelber Farbe und zeigt hochgradige fettige De¬
generation der Pärcnchymzellen. Die ausgedehnten Verände¬
rungen haben zu der Annahme geführt, daß in diesen Fällen
die Leber schon vor der Anwendung des Chloroforms erkrankt
war, doch ist einerseits das Bestehen schwerer Leberveränderun-
geu ohne klinische Symptome nicht wahrscheinlich, anderseits
erstrecken sich die pathologischen Veränderungen, nur auf das
Parenchym, so daß. eine Entwicklung in den drei bis vier Tagen
bis zum Exitus durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt. In
einem vom \ erf. beobachteten Falle, wo eine Gastroenterostomie
ausgeführt wurde, ergab die Inspektion der Leber ein -vollständig
normales Verhalten des Organs; etwa 38 Stunden nach der
Operation stellte sich unstillbares Erbrechen, welches im wei¬
teren Verlauf kaffeesatzartige Beschaffenheit annahm, . Pulsbe¬
schleunigung und Delirium, sowie Azetongeruch des Atems ein,
der. Exitus erfolgte im Koma. Bei der Obduktion fand sich fettige
Degeneration der Leber und der Nieren. Die Beobachtung ist
von besonderer Bedeutung, weil das normale Verhalten der Leber
vor der Narkose direkt festgestellt wurde. Man hat die Spät¬
intoxikation mit Chloroform als akute Azidosis aufgefaßt und
das Erbrechen mit dem zyklischen Erbrechen, welches hei Kin¬
dern als Ausdruck akuter Säureintoxikation beobachtet wird,
verglichen. Trotz mancher Analogien bestehen wesentliche Diffe¬
renzen, da hei der Spätintoxikation mit Chloroform das Er¬
brechen kontinuierlich ist und fast immer Exitus erfolgt, wäh¬
rend die Prognose des zyklischen Erbrechens günstiger ist und
die fettige Degeneration der ■ Leber auch in letal verlaufenen
Fällen nicht immer sich vorfindet. Bei rekurrierendem Erbrechen
werden Attacken durch Gemütsbewegungen hervorgerufen ; in
einem vom Verfasser beobachteten Falle trat bei einem 5 V jähri¬
gen Knaben im Anschluß an eine in Aethernarkose vorgenom¬
mene Radikaloperation einer Hernie ein derartiger Anfall mit
Azetonurie und vorübergehendem Koma auf. Die Spätintoxika-
tiou durch Chloroform wird besonders bei Operationen wegen
septischer Peritonealinfektion lokaler oder allgemeiner Form beob¬
achtet. Es gibt z. B. Fälle von Appeindixabszeß-, wo der Patient
sich nach der Operation wohlbefindet; etwa 36 Stunden später
stellt sich Erbrechen-, welches schließlich kaffeesatzartige Be¬
schaffenheit annimmt, Pulsbeschleunigung, Azetongeruch des
Atems, eventuell Temperatursteigerung ein nnd der Exitus er¬
folgt im Koma. Im Harne findet sich Azeton und Azetessig-
säure; die Autopsie zeigt fettige Degeneration der Leber, häufig
auch der Nieren und des Myokards. Diese Erfahrungen weisen
darauf hin, das Chloroform als Narkosemittel soweit als mög¬
lich durch den unschädlicheren Aether, unter Einleitung der
Narkose, durch Chloräthyl zu ersetzen. — (The Lancet, 29. Ok¬
tober 1910.) i. e.
*
Aus russischen Zeitschriften.
128. (Aus der therapeutischen Hospitalsklinik des Professors
W. N. Sirotin in der St. Petersburger militärmedizinischen
Akademie.) Zur D i a g n o s e d er beginnend e n A o r t e n s k 1 -e--
rose. Von N. G. Kukowerow. Bei vielen Leuten, hei denen die
gewöhnliche klinische Untersuchung an der Auskultationsstelle
der Aorta zwei Töne erkennen läßt, welche sich durch gar nichts
von der Norm unterscheiden, hört, man, wenn man den Patienten
| die Hände auf den Kopf legen läßt, anstatt des ersten Tones ein
systolisches Geräusch von hauchendem oder schabendem Cha¬
rakter, welches manchmal besser als an der Aorta an einer be¬
grenzten Stelle des Brustbeins hörbar ist. Die Bedingungen, die
am meisten zur Entwicklung dieses Symptoms Anlaß geben, sind
die gleichen wie diejenigen, welche' die Entstehung von Arterio¬
sklerose begünstigen. Hiebei ist zu bemerken, daß hei Leuten,
welche fortgesetzt Diätfehler begingen, reichliche Fleischnaiiruim
genossen, Nikotiaabusus und nerven a n sp ann ende Beschäfti¬
gung trieben, das oben erwähnte Geräusch häufiger und in jün¬
gerem Alter zu hören war. Das Geräusch entsteht im Anfangs¬
teile der Aorta und wahrscheinlich hauptsächlich aus dem Grunde,
weil das Hinaufhebein der Arme besondere Bedingungen für die
Entstehung unregelmäßiger Schwingungen der pathologisch ver¬
änderten Aortemvand schafft. Die- diagnostische Bedeutung enl-
spricht derjenigen des Vorhandenseins eines systolischen Ge¬
räusches an der Aorta hei der gewöhnlichen Auskultationsmethode,
jedoch findet sich das genannte Symptom in manchen Fällen viel
früher u. zw. zu einer Zeit, wo keinerlei Anhaltspunkte für eine
beginnende Aortenerkrankung bestehen. Das beschriebene Ge¬
räusch hat auch eine gewisse prognostische Bedeutung; sein
Verschwinden hei gleichzeitiger Besserung des Allgemeinbefin¬
dens kann als gutes Zeichen angesehen werden und als Hinweis
darauf, daß die Aorta die Fähigkeit besitzt, verloren gegangene
physikalische Eigenschaften wieder zu restitutieren. Das beschrie¬
bene Geräusch muß streng und genau von einer Reihe- ähnlicher
Geräusche unterschieden werden, welche ebenfalls in derselben
Gegend bei Hochheben der Arme entstehen können, aber eine
andere Entstehungs Ursache und Bedeutung haben. Hiezu gehören
zum Beispiel die Iierz-, Lungengeräusche, Venengeräusche, gewisse
speziell von der Subklavia ausgehende Geräusche, gewisse peri¬
kardiale Geräusche usw. In Anbetracht des Entdeckers des oben
beschriebenen, für die Frühdiagnose der Aortensklerose überaus
wichtigen Symptoms, schlägt der Verfasser vor, dasselbe als
„Siro finnisches Symptom“ zu bezeichnen. - (Russkij Wratsch
1910, Nr. 51.) J. Sch.
*
129. (Aus dem Laboratorium der therapeutischen Hospitals¬
klinik des Prof. W. N. Sirotin in der St. Petersburger militär-
medizinischen Akademie.) Zur Frage der Bedeutung des
Pankreas für den Nukleinstoffwechsel. Von N. J. Polu-
hojärinow. A erf. gelangt auf Grund seiner Versuche unter Be¬
rücksichtigung der Literatur zu folgenden Ergebnissen. Bei ge¬
sunden Hunden verstärkt das nukleinsaure Natrium die Diurese
und in der Mehrzahl der Fälle- auch die Ausscheidung «les Ge¬
samtstickstoffs, ohne auf die Ausscheidung1 der Körper der Harn¬
säurereihe einen besonderen Einfluß zu haben. Vielleicht handelt
es sich um eine erhöhte Allantoina usscheidung. Die Menge der
Purinkörper im Harne von Hunden, denen das Pankreas exstir-
piert wurde, ist bedeutend erhöht, was wahrscheinlich mit dem
erhöhten Zerfall der Gewehsnukleine zusammenhängt, als Aus¬
druck der fortschreitenden Abmagerung der Tiere. Die Einfüh¬
rung von Nukleinen bei pankreasberaubten Hunden hatte Erhöhung
der Purinkörperausscheidung zur Folge, die Harnmenge blieb un¬
verändert, der Gesamtstickstoff sank. Die Bauchspeicheldrüse spielt
nach obigen Ergebnissen keine Hauptrolle im Purinstoffwechsel.
— (Russkij Wratsch 1910, Nr. 51.) .1. Sch.
*
130. Auto serotherapie der sero-fibrinösen Pleu¬
ritiden. Von N. Th. Tschigajew (St. Petersburg). Die Auto-
s-erotherapie besteht bekanntlich darin, daß 1 bis 2 cm3 des
mittels Punktion gewonnenen Exsudates dem Patienten subkutan
injiziert werden. Verf. gelangt nun auf Grund eigener Beobach¬
tungen und der einschlägigen Literatur zu folgenden Schlußfolge¬
rungen. Die Einspritzungen sind völlig unschädlich und verur¬
sachen keine Reizerscheinungen, weder allgemeinen, noch loka¬
len Charakters. Temperatursteigerungen treten nach der Injek¬
tion nicht immer auf und entsprechen nur einigen Zehntelgraden
und dauern nicht lange. Bei tuberkulösen Individuen hat die In¬
jektion keinerlei Einfluß auf den tuberkulösen Lungenprozeß,
trotzdem das pleuritische Exsudat zurückgeht. Bei den meisten
Fällen mit serofibrinösem Pleuraexsudat beginnt die Aufsaugung
des letzteren bald nach der subkutanen Injektion. Die Heilung der
I
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
181
serofibrinösen Pleuritis tritt im Verlaufe von zwei bis drei
Wochen, in seltenen Fällen auch innerhalb einer Woche ein.
Die Heilung schreitet um so schneller vorwärts, je früher man
die Pleuraflüssigkeit injiziert hat; doch ist die Injektion auch
bei chronischen Formen manchmal von Erfolg begleitet. Fast kon¬
stant ist die Besserung des subjektiven Befindens nach der In¬
jektion. Ein günstiges Zeichen und gleichzeitig ein Merkmal für die
Aufsaugung des Exsudates ist die Diurese. Die Gewichtsabnahme
geht parallel mit der Aufsaugung des Exsudates und der Steige¬
rung der Diurese, die Gewichtszunahme geht der Besserung par
allel. Man darf die Serotherapie nicht als spezifische Methode
gegenüber allen Pleuritiden ansehen, doch muß anerkannt werden,
daß sie unter den übrigen Mitteln einen bedeutsamen Platz ein-
nimmt, sowohl bezüglich Wirksamkeit, als auch Gefahrlosigkeit.
— (Russkij Wratsch 1910, Nr. 51, Sirotinin-Nummer.) J. Sch.
\Zermisehte {Maehriehten.
Ernannt: Dr. Christian Bruhn zum Professor der Zahn¬
heilkunde in Dresden., — Dr. Baiardi zum ordentlichen Pro¬
fessor der Augenheilkunde in Genua. — Dl'. Donaggio zum
ordentlichen Professor für Nerven- und Geisteskrankheiten in
Messina.
*
Habilitiert: Dr. Aladar Elfer für innere Diagnostik in
Klausenburg. — Dr. Adam Bauereisen in Marburg für Geburts¬
hilfe und Frauenkrankheiten in Kiel.
*
Am 21. Januar d. J. hielten das Fachkomitee für Heil¬
quellen weisen des Obersten Sanitätsrates sowie das
Fachkomitee für Volksernährung Sitzungen ab. Im erst¬
genannten Fachkomitee wurden Gutachten über folgende Gegen¬
stände erstattet: 1. Annoncierung einer Mineralquelle (Referent:
Hofrat Hueppe); 2. Bezeichnung und Vertrieb einer Mineral¬
quelle als Radiumquelle (Referent: Prof. Mauthner); 3. Gesuch
um Abänderung des Verordnungsentwurfes betreffend Mineral¬
quellen und den Verkehr mit Mineralwässern und Quellprodukten
(Referent: Hofrat Ludwig); 4. Therapeutische Verwendung von
Radiumemanationen zur Inhalation (Referent: Sanitätskonsulent
Kfiz); 5. Errichtung eines Instituts für Radiuminhalation (Re¬
ferent: Derselbe). Das Fachkomitee für Volksernährung
hat folgende Gutachten beraten: 1. Verwendung des Methyl¬
alkohols zu Genußzwecken (Referent: Hofrat Hueppe); 2. Eig¬
nung eines Kohlenpräparates zur Was'serreinigung (Referent
Prof. Mauthner).
*
Wir erhalten folgende Zuschrift: „Einem längst empfun¬
denen Bedürfnis entsprechend, trat kürzlich ein Komitee zu¬
sammen, welches sich die Gründung einer „Oesterreichischen
Gesellschaft für Zahnpflege in den Schulen“ zur Aufgabe gestellt
hat. In Deutschland, England, Frankreich und den anderen Kultur¬
staaten bestehen bereits seit längerer Zeit, schulzahn ärztliche
Einrichtungen und es ist mit Freude zu begrüßen, daß nun
auch in Oesterreich der Schulzahnpflege Aufmerksamkeit zu¬
gewendet wird. Dem Komitee der in Gründung begriffenen Gesell¬
schaft gehören u. a. an: Ministerialrat im Ministerium des Innern
Dr. v. H ab er ler als- Präsident, Ministerialrat im Unterrichts¬
ministerium Dr. Heinz, Regierungsrat Prof. Dr. Sch eff vom
Wiener zahnärtlichen Institut, Regierungsrat Privatdozent Doktor
Burg er st ein, die Dozenten für Zahnheilkunde Dr. Weiser
und Dr. Fleisch mann, Stadtrat Reichsratsabgeordneter T o-
m o 1 a, Reichsrätsabgeordneter Seitz, Hof- und Gerichtsadvo¬
kat Dr. Viktor Rosenfeld, die Zahnärzte Dr. Karolyi und
Di’. Wolf (letzterer als Schriftführer). Die Statuten der Gesell¬
schaft, welche dem Ministerium des Innern bereits vorliegen,
sehen Zweigvereine in allen Kronländcrn vor, die in steter Fühlung
mit der Wiener Zentrale eine rege Agitation für Zahnpflege in
den Schulen entfalten sollen; außerdem räumen sie den Staats-,
Landes- und Gemeindebehörden Mandate in den Ausschüssen
ein. In Anbetracht des hohen volkshygienischen Zweckes, den
die Gesellschaft verfolgt, ist zu hoffen, daß der Gedanke in
den weitesten Kreisen Anklang und tatkräftigste Unterstützung
finde.“
*
Der X. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für
orthopädische Chirurgie wird, wie üblich, am Dienstag
der Osterwoche, 18. April 1911 , dem Tage vor der Zusammenkunft
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Berlin im Langen
beckhause, Ziegelstraße 10/11, stattfinden. Die Eröffnung des
Kongresses wird vormittags 9 Uhr erfolgen. Vorträge und Mit¬
teilungen sind möglichst bald bei H. Ilo eftmann, Königsberg in
Preußen, anzumelden.
Der 40. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie findet vom 19. bis 22. April 1911 in Berlin im
Langen beckhause statt. Vorsitzender ist Herr I,. Reim- Frank¬
furt a. M. Die Eröffnung des Kongresses erfolgt am Mittwoch
den 19. April, vormittags 10 Uhr, im Langenbeckhause mit
einer Feier, dem Andenken an den 100. Geburtstag v. Lange n-
becks gewidmet. Als Hauptthemata sind zur Besprechung vor¬
gesehen: Ueber freie Transplantationen (Herr Lexer); die Des¬
infektion der Hände und des Operationsfeldes (Herr Küttuer);
Morbus Basedowi (Herr Kocher); Coecum mobile (Herr Wilms).
Weiterhin sind Vorträge angemeldet über intravenöse Narkose,
über Ulcus duodeni, über die Behandlung der Varizen.
*
Ueber die Auslagen der Staatsverwaltung für die
medizinischen Fakultäten nach dem Staats vor an¬
schlage für das Jahr 1911 veröffentlicht das- Oesterreichische
Sanitätswesen folgende Daten : Das ordentliche Erfordernis für
die sieben medizinischen Fakultäten für das Jahr 1911 ist mit
6.000.167 K präliminiert, wovon für Wien 2,154.983 K, Graz
623.993 K, Innsbruck 453.233 K, Prag (deutsch) 781.045 K, Prag
(böhmisch) 745.143 K, Lemberg 479.000 K, Krakau 762.370 K aus-
gesetzt sind. Das Gesamterfordernis ist demnach um den Betrag
von 370.688 K höher als das des Vorjahres. Das beträchtlichere
Mehrerfordernis bei der Fakultät Graz ist hauptsächlich auf die
Inanspruchnahme des Betrages von 130.000 K als Konkurrenz¬
beitrag für die Unterbringung der Kliniken im neuen .Kranken¬
hause, das Mehrerfordernis für die Fakultät Krakau auf das ver¬
mehrte Betriebskostenerfordernis von 80.000 K für die neuerbaute
psychiatrisch-neurologische Klinik zurückzuführen. (Die medi¬
zinischen Fakultäten weisen folgende systemisierten Stellen auf:
Ordentliche
Außerordentliche
Assistenten
86
Adjunkten,
Präparaioren,
Wien . . . .
Professoren
. 25
Professoren
14
Mechaniker,
Zahntechniker
6
Graz . . . .
. 14
4
37
1
Innsbruck . . .
. 15
4
31
2
Prag (deutsch) .
. 15
12
44
3
Prag (böhmisch)
. 16
13
41
3
Lemberg
. 14
3
34
—
Krakau . . . .
. 15
8
38
1
Zusammen
. 114
58
311
16
Der Aufwand für Gehalte, Aktivitätszulagen, ferner Dienstes-, Er-
gänzungs- und Personalzulagen beläuft sich auf 1,518.187 K. Für
Stiftungen, Stipendien, Remunerationen und Aushilfen ist ein
Gesamterfordernis von 823.370 K eingestellt. Von dieser Summe
entfallen auf honorierte Lehraufträge 51.390 K, auf Remunera¬
tionen für Assistenten 664.882 K, Demonstratorstipendien 83.450 K
und auf sonstige Remunerationen 23.648 K. Für die Unterbringung
von Kliniken und für Mietzinse ist ein Aufwand von 1,016.192 K,
für die Dotierung von Kliniken und Instituten unter der Rubrik
„Unterrichtserfordernisse“ ein solcher von 2,003.332 K, endlich
für Gebäudeerhaltungskosten, Steuern und Abgaben, Regieaus¬
lagen und Reisekosten ein Betrag von 219.283 K vorgesehen. Das
Gesamterfordernis für diese Gruppe von Auslagen beträgt dem¬
nach 4,072.177 K und ist um 354.290 K höher als das des Vor¬
jahres. — Die im außerordentlichen Erfordernis für
Riegie- und Unterrichtsbedürfnisse, sowie zur Ergänzung der
wissenschaftlichen Ausstattung angesprochenen Beträge verteilen
sich auf die einzelnen medizinischen Fakultäten folgendermaßen:
Wien 31.630 K, Graz 42.800 K, Innsbruck 6300 K, Prag (deutsch)
25.385 K, Prag (böhmisch) 20.474 K, Lemberg 9000 K, Krakau
36.900 K. Die Gesamtziffer dieser Beträge beläuft sich auf
172.489 K.
*
Am 24. Januar ist die psychiatrische Station und Nervcn-
klinik, dessen Vorstand Hofrat Prof. v. Wagner ist, aus dem
Allgemeinen Krankenhause in die neuadaptierten Räumlichkeiten
der ehemaligen Landesirrenanstalt in der Lazarettgasse über¬
siedelt.
*
Literarische Anzeigen: Von dem Werke: Ge¬
schlecht und Gesellschaft von Havelock Ellis, ins
Deutsche übertragen von Dr. H. Kuralla ist im Verlage von
I C. Kabitzsch in Würzburg der zweite Teil erschienen. Die
I Kapitel dieses Bandes beziehen sich auf Prostitution, Bekämpfung
182
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
der Geschlechtskrankheiten, Ehe und Ehescheidung, Liebeskunst
und Wissenschaft der Fortpflanzung (Augenik).
*
G es undheits Verhältnisse der Wiener Arbeiter¬
schaft im Dezember 1910. Bei dem Verbände der Genossen¬
schafts-Krankenkassen Wiens und der Allgemeinen Arbeiter-
Kranken- und Unterstützungskasse in Wien, welche einen Stand
von 0 10. 000 Mitgliedern, davon 280.000 in Wien aufweisen, be¬
trug im Dezember 1910 die Zahl der Krankmeldungen mit Er¬
werbsunfähigkeit in Wien 10.482 (9092). Davon entfielen auf
Tuberkulose der Atmungsorgane 922 (800), andere Er¬
krankungen der Atmungsorgane 1699 (1346), Anginen
446 (450), Lungenentzündungen 42 (42), Influenzen 993
(331), Erkrankungen der Zirkulationsorgane 279 (271).
Magen- und Darmerkrankungen 599 (626), rheumati¬
sche Erkrankungen 822 0801 ), auf Verletzungen (Betriebs¬
unfälle) 1561 (1638) Erkrankungen. Die Zahl der Todesfälle
betrug im Dezember 1910 279 (274). Davon entfielen auf Tuber¬
kulose 102 (ill), andere Erkrankungen der Atmungs¬
organe 20 (20), der Zirkulationsorgane 50 (39), auf Neu¬
bildungen 23 (ll), Verletzungen 9 (5), auf Selbstmorde 7 (10)
Todesfälle. Für das ganze Jahr 1910 (1909) betrug die Zahl der
Erkrankungen mit Erwerbsunfähigkeit 112.084 (115.529), von
welchen auf das erste Quartal 30.682 (34.257), auf das zweite
27.246 (28.289), auf das dritte 26.228 (26.289) und auf das vierte
27.928 (26.090) Krankmeldungen entfielen. Auf die wichtigsten
Krankheitsgruppen verteilt sich die Zahl der Krankmeldungen
nachstehend: Tuberkulose der Atmungsorgane 10.469 (11.031),
andere Erkrankungen der Atmungsorgane 14.680 (16.024), rheuma¬
tische Erkrankungen 9612 (10.802), Magen- und Darmerkran-
kungem 8199 (8703) und Verletzungen (Betriebsunfälle 21.563
(20.257). Die Zahl der Todesfälle betrug 3050 (3382) u. zw. im
ersten Quartal 766 (944), im zweiten 820 (909), im drittem! 719
(795), und im vierten 745 (734). Von der Gesamtzahl der Todes¬
fälle entfielen auf Tuberkulose der Atmungsorgane 1197 (lolO),
auf Erkrankungen der Zirkulationsorgane 546 (420) und auf Ver¬
letzungen 76 (108). (Die Ziffern in den Klammern beziehen sich
auf das Jahr 1909.)
*
Cholera. Oesterreich. Die sanitären Revisionsstationen
in Nowosielitza, Brody und Podwoloczyska wurden aufgelassen.
- Italien. Laut amtlichen Nachrichten sind in Italien in der
Zeit vom 29. Dezember bis 10. Januar 1911 28 Neuerkrankungen
und 17 Todesfelle an Cholera vowekommen, u. zw. in den TJro-
vinzen Caserta und Lecce. Rußland. In der Woche vom
11. bis 17. Dezember 1910 ereigneten sich im Russischen Reiche
13 Neuerkrankungen und 9 Todesfälle an Cholera, in der Woche
vom 18. bis 24. Dezember 21 Neuerkrankungen an Cholera, von
denen 5 letal endeten. Die letzteren verteilten sich auf die Gouver¬
nements Orenburg (14, davon 5 Sterbefälle), Pödolin '4) und
Jekaterinoslaw (3). — Türkei. In Saloniki wurden Ende De¬
zember 2 neue Cholerafälle konstatiert. In Arabien greift die
Seuche, begünstigt durch die Pilgerfahrten, rasch um sich. So
wurden in Mekka bis 7. Januar 33, in Medina 8 Choleraerkran¬
kungen sichergestellt, auch in Djeddah und Yambo sind Cholera¬
fälle vorgekommen. In der Quarantänestation El Tor wurden
auf Pilgerschiffen am 7. Januar 3 weitere Erkrankungen kon¬
statiert. — Pest. Rußland. Nachdem in Odessa im Laufe
des Dezember kein Pestfall mehr zur Anzeige gekommen war,
wurde am 8. Januar eine neue Pesterkrankung konstatiert. Die
erkrankte Person wurde in das bereits1 geschlossen gewesene
Pestspital abgegeben. Auch in Baku ist ein bakteriologisch be¬
stätigter Pestfall aufgetreten. In der Kirgisensteppe des Gouver¬
nements Astrachan sind von Mitte November bis 5. Dezember
42 (39) Pestfällo (Todesfälle) vorgekommen ; bis1 13. Dezember
sind weitere 13 Neuerkrankungen, davon 4 tödlich, zugewachsen.
Nach den Meldungen der verschiedenen Agenturen ist die Pest
sowohl in Peking, als auch in Charbin, hier in bedeutendem Um¬
fang ajufgetreten. Das Stadtgebiet von Charbin ist von dem
pestverseuchten Fudsjadan durch einen Polizeikordon abgesperrt
worden. Am 24. Januar standen 1252 Personen wegen Pestverdacht
in Beobachtung. — Aegypten. In der Zeit vom 23. bis 31. De¬
zember ereigneten sich in Alexandrien 1 (l), in den Provinzen
Assiout 6 (3), Galioubieh 1 (0), Menoufieh 11 (0) Pestfälle
(Todesfälle). Während des Jahres 1910 betrug die Gesamtzahl aller
Erkrankungen an Pest 1238 (davon 615 tödlich), während im
Jahre 1909 nur 513 Pestfälle konstatiert worden waren.
*
Druckfelilerbe'richtigung. In der Arbeit von Kelling
in Nr. 3 muß es auf Seite 91, Zeile 12 von unten rechts, anstatt
gesunden Hämoglobins, gesamten Hämoglobins heißen.
Wiener Aerzte Orchester. Alle Sitzplätze für das
Wohltätigkeitskonzert zugunsten der Hinterbliebenen des Doktor
Richard Franz waren binnen zwei Stunden nach der Kassen¬
eröffnung vergriffen. Stehplätze sind bei der Konzertkasse,
Wien L, Canovagasse, erhältlich.
Freie Stellen.
In Rudolfinerhause in Wien XIX. (chirurgisches Spital) ist
die Stelle eines Sekundararztes vom 15. Februar 1911 an zu besetzen.
Diese Stelle ist mit freier Station und einem Gehalte von 200 K monat¬
lich verbunden. Bewerber wollen sich bis längstens 14. Februar 1911,
Vormittag zwischen 9 und 12 Uhr im Rudolfinerhause, XIX., Billroth-
straße 78, vorstellen.
Distriktsarztesstelle in Schwarzbach, Bezirk Oberplan
(Böhmen). Zu diesem Distrikte gehören 28 Ortschaften, darunter der
Markt Unterwuldau mit einer Bevölkerung von ca. 4000 Seelen. Die
fixen Bezüge bestehen in einem vom Bezirksausschüsse zu leistenden
Jahresgehalte von 800 K und Reisepauschale von 350 K; ferner für Be¬
handlung der Fürst Schwarzenbergschen kurberechtigten Personen in den
Meiereien der Sektion Schwarzbach in jährlich 200 K bar, 10 Raummeter
weiches Holz und 20 Raummeter Brenntorf; weiters für Behandlung der
Mitglieder der fürstlichen Betriebskrankenkasse der Brauerei Schwarz¬
bach jährlich 100 K. Hinsichtlich des Honorars für die Behandlung der
Bergbaubruderladenmitglieder des fürstlichen Graphitwerkes ist mit der
Bergdirektion in Schwarzbach ein Abkommen zu treffen. Der Distrikts¬
arzt, welcher der alleinige Arzt im Distrikte ist, hat eine Hausapotheke
zu führen und steht demselben eine ausgedehnte Privatpraxis nicht nur
im eigenen, sondern auch im unbesetzten Nebendistrikte Kirchschlag zu
Gebote, welche bei der Wohlhabenheit der Bevölkerung eine lohnende
ist. Der Sitz des Distriktsarztes ist in Schwarzbach an der Budweis-
Kalnauer Bahn und stellt die Gemeinde eine schöne Wohnung im neuen
Gemeindehause zu mäßigem Preise zur Verfügung. Die Besetzung erfolgt
auf ein Jahr provisorisch, nach dessen Ablauf die Bezirksvertretung über
die definitive Besetzung entscheidet. Die vorschriftsmäßig instruierten Ge¬
suche sind bis Ende M ä r z 1. J. beim Bezirksausschüsse Oberplan zu
überreichen.
Distriktsarztesstelle in für den Sanitätsdistrikt Unter-
Lukavitz, politischer Bezirk Pfestitz in Böhmen, mit dem Wohnsitze
des Arztes in Unter-Lukavitz. Der Sanitätsdistrikt umfaßt 18 Ortsgemeinden
im Flächenmaße von 9370 km2 mit 6378 Einwohnern böhmischer
Nationalität. Jahresgehalt 800 K nebst einem Reisepauschale von 40 K
per 10 km2. Die Stelle wird für ein Jahr provisorisch besetzt. Die Ge¬
suchsteller haben ihre im Sinne des § 5 des Gesetzes vom 28. Februar
1888, Ij.-G.-B1. Nr. 9. instruierten Gesuche bis 15. Februar 1911 im
Einreichungsprotokolle des Bezirksausschusses in Pfestitz einzubringen.
Distriktsarztesstelle in Rudolfs wert (Krain) mit
dem Jahresgehalte von 1200 K, einer Aktivitätszulage von 200 K und
zwei Dienstalterszulagen (Quinquennien) zu 100 K. Der zum Distrikts-
arzte Ernannte erhält gleichzeitig die Stelle des Primararztes im Kranken¬
hause der Barmherzigen Brüder in Kandia gegen eine besondere, vom
Konvente einvernehmlich mit dem Landesausschusse festzusetzende Ent¬
lohnung. Bewerber um diese Stelle haben ihre Gesuche bis 3. Februar 1911
an den Landesausschuß in Laibach unter Beischluß der Dokumente über
das Alter, die Berechtigung zur Ausübung der ärztlichen Praxis, die
österreichische Staatsbürgerschaft, physische Eignung, Moralität, bisherige
Verwendung und Kenntnis der slowenischen und deutschen Sprache ein¬
zusenden. Vorzug haben Kompetenten, die sich mit einer längeren
chirurgischen Praxis ausweisen können.
Vom ersten Semester des Studienjahres 1911/12 angefangen, ist
ein Dr. Heinrich H e r z f e 1 d e r sches Fakultätsstipendium von jährlich
240 K, diesmal für einen Studierenden der Medizin israelitischen Glaubens
auf die Dauer der Studienzeit zu verleihen. Bewerber um dieses Sti¬
pendium haben ihre mit dem Geburts- und Impfscheine, dem Mittel¬
losigkeitszeugnisse, ferner mit den Studienzeugnissen der beiden letzten
Semester, bzw. mit den Frequentationszeugnissen belegten Gesuche,
welche nur dann der gesetzlichen Stempelpflicht nicht unterliegen, wenn
sic mit einem legalen Armutszeugnisse beldgt sind, bis 31. März 1911,
miltags 12 Uhr, beim Wiener medizinischen Doktorenkollegium, I., Roten-
turmsfraße 19, zu überreichen. Die Bewerber haben übrigens außer den
erwähnten Zeugnissen sich noch mit der Bestätigung ihres Vorgesetzten
Dekanates des 'Professorenkollegiums über ihre Würdigkeit zur Erlangung
eines Stipendiums auszuweisen. Alle nicht ordnungsmäßig belegten, oder
nach dem 31. März 1911 einlangenden Gesuche können nicht berück¬
sichtigt werden. Vom Wiener medizinischen Doktorenkollegium.
Aus dem Erträgnisse der Dr. Wilhelm- und A 1 i d a - Stiftung
ist vom Jahre 1911 an ein Stiftplatz von jährlichen 880 K zu verleihen.
Zum Genüsse dieser Stiftung, welche auf Lebensdauer verliehen wird
und welche jeden Perzipienten verpflichtet, alljährlich zwei Messen für
das Seelenheil der Stifter lesen zu lassen, sind nur alte, gebrechliche,
ohne ihr Verschulden hilfsbedürftig gewordene Mitglieder des Wiener
medizinischen Doktorenkollegiums berufen, in erster Linie solche, die
Kinder haben, in zweiter Linie hei sonst gleichen Eigenschaften homöo¬
pathische Aerzte. Bewerber um diesen Stiftplatz haben ihre mit dem
Altersnachweise und dem Nachweise ihrer Hilfsbedürftigkeit belegten
Gesuche bis längstens 31. März 1911 beim Wiener medizinischen
Doktorenkollegium, I., Rotenturmstraße 19, zu überreichen. Vom Wiener
medizinischen Doktorenkollegium.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
183
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INH
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 27. Januar 1911.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 12. Januar 1911.
ALT:
Wiener dermatologische Gesellschaft. Sitzung vom 7. Dezember 1910.
Verein fiir Psychiatrie und Neurologie in Wien. Sitzung vom
10. Januar 1911.
Wissenschaftliche Gesellschaft deuischcr Aerzte in Böhmen.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 27. Januar 1911.
Vorsitzender: Reg.- Rat Prim. Dr. Adler.
Schriftführer: Priv.-Doz. Dr. A. Fuchs.
Mitteilungen des Vorsitzenden: Herr Hof rat Prof. Pal tauf
ladet die Mitglieder der k. k. Gesellschaft der Aerzte zu seinem
am 31. Januar im Hörsaal des hygienischen Institutes statt¬
findenden Vortrage ein („Zur Pathologie der Wut“).
Der Vorsitzende macht ferner Mitteilung von dem am
5. Februar zugunsten der Hinterbliebenen des Dr. Franz in
Riedau stattfindenden Wohltätigkeitskonzert.
Als Gast Dr. Tecklenburg aus Bad Kis singen.
Dr. Maximilian Hirsch : Meine Herren ! Ich möchte mir er¬
lauben, Ihre Aufmerksamkeit auf das Krankheitsbild zu lenken,
welches dieser Patient aus der Abteilung des Herrn Professor
Schnitzler bietet: Es ist ein 16jähriger Bursche, der vor vier
Monaten mit Schmerzen unterhalb des linken Kniegelenkes er¬
krankte. Irgend ein erheblicheres Trauma ist nicht vorausge¬
gangen, doch war Pat. eifriger Fußballspieler. Wir finden das
Kniegelenk vollkommen frei. Unterhalb desselben und zwar
genau der Tuberositas tibiae entsprechend eine deutliche
Schwellung u. zw. eine knöcherne Prominenz, die ziemlich
druckschmerzhaft ist. Die Haut darüber ist unverändert.
Beim Gehen hinkt Pat. etwas.
Wenn man diese Fälle nicht kennt, kann man leicht in dia¬
gnostische Verlegenheit kommen. Nun hat aber Schlatter und
fast gleichzeitig Ossgood im Jahre 1903 dieses typische Krank¬
heitsbild beschrieben, das darin besteht, daß bei 14 bis 16jährigen
Knaben meist ohne nachweisbares Trauma, sehr häufig bei Fu߬
ballspielern, eine schmerzhafte Anschwellung der Tu¬
berositas tibiae auftritt. Wir haben es also hier mit einem
typischen Falle von Sch latter scher Krankheit zu tun.
Was liegt nun diesem typischen Krankheitsbild zugrunde?
Schlatter und mit ihm eine Reihe von Autoren fassen die
Krankheit als unvollständige Rißfraktur der Tubero¬
sitas tib iae auf, indem sie sich auf ihre Röntgenbilder berufen,
die ja zum Teil frakturartig aussehen. Nun sind die Bilder aber
wenig beweisend, weil das Röntgenbild der Tuberositas in diesem
Lebensalter schon normaliter sehr mannigfaltig sein kann. Es
hängt das mit der Entwicklung der Tuberositas zusammen. Diese
entwickelt sich nämlich aus dem zungenförmigen Fortsatz, den
die obere Epiphyse vor der Diaphyse nach abwärts sendet.
Dieser Fortsatz ist zunächst rein knorpelig; gerade zwischen
dem 14. und 16. Lebensjahr beginnt die Ossifikation in ihm
und zwar gewöhnlich aus zwei Kernen, einem unteren oder Tu-
berositaskern und einem oberen oder Fortsatzkern ; die Kerne
wachsen einander entgegen und verschmelzen. Bleibt die Ver¬
schmelzung einmal aus, oder tritt ein dritter Kern auf — was
alles im Bereiche der Norm liegt — , so kann dies im Röntgenr
bild eine Fraktur der Tuberositas vortäusehen. Die Röntgenbilder
sind also nur mit Vorsicht verwertbar.
Ich werde mir nun erlauben das Röntgenbild unseres Falles
zu demonstrieren. Sie sehen im Bereiche der Tuberositas ver¬
schiedene Unregelmäßigkeiten, die auf dem ersten Blick eine
Fraktur vortäusehen können; doch handelt es sich nicht um
Frakturlinien, sondern Knorpelfugen, die die Knochenkerne
trennen. Pathologisch sind ian dieser Tuberositas die un¬
scharfen Formen der Konturen und das Verschwöm¬
me n s e i n, zum Teil auch Aufgehelltsern der S t r u k t u r der
• Tuberositas.
Unser Röntgenbild entspricht also keiner Fraktur, sondern
einer rarefiz ierenden Ostitis, hzw. Osteochondritis.
TTnd dies ist die Auffassung, die eine andere Reihe von Autoren,
besonders Winslow, Kienböck usw. von der Schlatterschen
Krankheit hat.
Nach unserem Falle werden wir uns also dieser Auffassung
daß es sich bei der Schlatterschen Krankheit nicht um eine
Fraktur, sondern um einen ostitischen oder osteochondritischen
Prozeß handelt, anschließen, daß also nur eine Apophysitis
tibiae ad ol es centium (Alsberg) vorliegt.
Dr. Gottwald Schwarz demonstriert ans einer größeren Ver¬
suchsreihe über die Reizqualität der X-Strahlen ein be¬
strahltes Exemplar von Cereus (Cactaceae). Diese Pflanzen
wachsen, kalt gezogen, nur äußerst langsam — geradezu un-
merklich.
Während der Monate September — Dezember wurde das Ob¬
jekt in mehrtägigen Intervallen mit mittleren Dosen Röntgenlichtes
beschickt u. zw. derart, daß nur die eine Hälfte den Strahlen
ausgesetzt, die andere aber durch eine Metallplatte abgedeckt war.
Die Pflanze wurde kühl gehalten und zeigte während der
ganzen Zeit keinerlei Veränderungen.
Nunmehr wurde die Bestrahlung sistiert und der Cereus
unter gleichzeitiger Wasserzufuhr in die Wärme gebracht.
Unter solchen Umständen wird ein 'Wach stums reiz auf
die Pflanze ausgeübt und sie beginnt kräftig zu wachsen.
Es zeigte sich nun, daß die bestrahlte, äußerlich gar nicht
veränderte Hälfte nicht imstande war, auf diesen Wachstums*
reiz zu reagieren, so daß nur die unbestrahlte Hälfte größer
wurde und neuen hellgrünen Gewebsansatz zeigte.
Versuche über die wachstumshemmende Wirkung der
X-Strahlen an Pflanzenkeimen, also im Wachstum begriffenen
Gebilden sind von mir und anderen schon vor längerer Zeit mit
positivem Resultate ausgeführt worden. An wachsenden Tieren
von Perthes und Förster ling.
Die Frage, die dem vorliegenden Experimente zugrunde lag,
war: „Wie verhalten sich nichtwachsende Zell komplexe,
die bestrahlt worden sind und auf die dann nachträglich
ein Wachstumsreiz einwirkt.
Diese Frage muß in diesem Falle dahin beantwortet werden,
daß die X*Strahlen die Zelle, ohne sie zu destruieren, derart
beeinflussen, daß sie einem nachträglich auf sie einwir¬
kenden Wachstumsreiz nicht Folge leisten kann.
Ich habe mir erlaubt, dieses asymmetrisch gewordene Exem¬
plar und insbesondere die Versuchsbedingungen hier zu demon¬
strieren, weil ein gewisses Analogon zu jenen Vorgängen be¬
steht, die man sich bei der prophylaktischen Bestrahlung von
operierten Mammakarzinomen wohl als wirksam vorstellen mag.
Auch da handelt es sich um lange Zeit nicht wachsende,
zurückgebliebene Geschwulstkeime, die im Falle der Rezidive
durch einen uns unbekannten Wachstumsreiz zu neuer Prolife¬
ration angeregt werden. Es dürfte nicht gewagt sein, anzu¬
nehmen, 'daß die chronische Vorbestrahlung solcher Zellkom¬
plexe mit ausgiebigen Quanten von Röntgenlicht, ihre Re¬
aktionsfähigkeit auf den Wachstumsreiz aufheben oder mindern
kann.
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. L. Freund: Die angeführte
Wachstumshemmung ist nur die eine Seite der Wirkungsweise
der Röntgenstrahlen auf Pflanzen. Wie Maldiney und Th dri¬
ven in, Lop ri ore und Guilleminot nachwiesen, ist ein
schädigender Einfluß auf die Keimung und das Wachstum wohl
nach sehr intensiven Bestrahlungen bemerkbar; kleine Dosen
üben jedoch eine beschleunigende Wirkung aus.
Dr. A. v. Khautz jun.: 1. Darm strangulation und
zerebrale Reizerscheinungen nach Appendizitis.
Dieses 7jährige Mädchen, das ich mir vorzustellen erlaube,
wurde Ende Oktober v. J. wegen einer seit sechs Tagen bestehen¬
den Appendizitis an die chirurgische Abteilung des St. Josef-
Kinderspitales gebracht. Es fand sich ein gut hühnereigroßer
D'Ouglasabszeß, der vom Mastdarm aus inzidiert wurde. Die lo¬
kalen und allgemeinen Erscheinungen gingen daraufhin bald zu¬
rück, das Kind erholte sich, als vier Wochen nach der Auf¬
nahme ein- bis zweimal täglich Erbrechen auftrat, ohne daß
am Abdomen des Kindeis. etwas Auffallendes zu bemerken war;
Stuhlgang täglich, meist auf Klysmen. Das einzige Symptom,, das
einigermaßen auf die naheliegende Annahme einer Adhäsions-
Stenose hindeutete, waren die zeitweilig hörbaren metallisch-
klingenden Darmgeräusche. So ging es fünf Tage fort, ohne daß
sich ;am Krankheitsbilde etwas Wesentliches geändert hatte.
Das Erbrochene war meist wässerig-schleimig oder enthielt frisch-
gen ossene Speisen, nie Darminhalt. Am sechsten Tage ändeite
sich plötzlich das ganze Bild, das Kind wurde apathisch, reagierte
nicht mehr auf Fragen, schrie auf, oder lag somnolent dahin, es
184
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
(raten Zähneknirschen und tonische Krämpfe in den linken Extre¬
mitäten auf. Bei der abends vorgenommenen Lumbalpunktion
wurden unter hohem Drucke fast zwei Eprouvetten voll klarer
Spinalflüssigkeit entleert, worauf die Reizerscheinungen langsam
schwanden. Trotzdem an diesem Tage vermehrte Dünndarmperi¬
stallik schon deutlich zu sehen war, ließ ich mich durch die
ausgesprochen zerebralen Erscheinungen bestimmen, bis zum
nächsten Morgen zuzuwarten. Als am folgenden Tage das Sen-
sorium wieder vollkommen frei war, führte ich die mediane
Laparotomie aus, welche außer zahlreichen Verwachsungen von
Netz und Därmen untereinander in der Gegend des Promontorium
eine Einschnürung des oberen Ileu ms bis auf 'Bleistiftdicke zeigte;
die zuführende Darmschlinge mächtig gebläht. Bedingt war diese
Strangulation durch einen kaum 2 cm langen, 2 mm dicken spul¬
runden Strang, der sich als ein langgezogener und am Mesenterium
der Dünn darmschlinge angewachsener Appendix epiploicus der
Flexura sigmoidea erwies. Nach Entfernung -des Stranges stellte
sich die Darmpassage sofort wieder her. Bei der Lösung von
weiteren Verwachsungen auf der Suche nach dem Processus
vermiformis wurde in der Tiefe des Douglas’ ein haselnußgroßer
.Abszeß eröffnet, der die Tamponade des Douglas' notwendig
machte. Die Wundheilung erfolgte ohne Besonderheiten.
Der Fall ist einigermaßen von Interesse durch das früh¬
zeitige Auftreten von Dannstrangulation, fünf Wochen nach Be¬
ginn einer Appendizitis, ferner durch die Komplikation mit zere¬
bralen Erscheinungen, die ich als Ausdruck sterkoraler Intoxi¬
kation auffassen möchte.
2. 7, jähriger Knabe, der vor zwei Jahren wegen hoch¬
gradiger rachitischer Genua Val g a, wie man sie re¬
lativ selten sieht, an unserer Abteilung operiert wurde. Es wurde
in zwei Sitzungen die keilförmige Osteotomie am oberen Tibia-
ende und die lineare Osteotomie in der Mitte des Femurs ausge¬
führt. Die Abbildungen zeigen das Aussehen vor und nach der
Operation.
Priv.-Doz. Dr. M. Oppenheim: Der Fall, den ich mir zu
demonstrieren erlaube, zeigt die seltene Koinzidenz eines1 fri¬
schen luetischen Exanthems mit einer vollständi¬
gen Fazialislähmung.
Der 36jährige Patient infizierte sich im November 1909
und bekam anfangs Dezember ein Ulcus durum. Vor drei Wochen
(rat unter heftigen Proruptionserscheinungen ein reichliches ma-
ku 1 o-p apu 1 o-pu s tu lös es Syphilid auf.. Vor acht Tagen begannen
neuerliche heftige Kopfschmerzen, die hauptsächlich im rechten
Hinterhaupt lokalisiert waren und daraufhin trat neben einem
Nachschub von Syphiliseffloreszenzen eine Lähmung des rechten
Fäzialis ein.
Der Kranke zeigt heute ein reichliches polymorphes Exan-
Ihem am Stamme und an den Extremitäten und dabei eine voll¬
ständige Paralyse des rechten Fazialis, die sich in einem Ver¬
strichensein der Falten der rechten Gesichtshälfte und in der
Unmöglichkeit jeglicher Muskelaktion dieser Seite äußert. Der
Akustikus ist nicht beteiligt. Da man in letzter Zeit den peri¬
pheren Lähmungen der Nerven bei frischer Syphilis mehr Auf¬
merksamkeit. schenkt, mit Rücksicht auf die Ehrlich-TIata-
Tnjektionen, so wollte ich den Fall demonstrieren und will auch
an ihm den Effekt von Salvarsan erproben. Fazialislähmung
im Erühstarlinm der Syphilis, speziell zwei Monate post infec-
tipnem. gehört zu den großen Seltenheiten.
Hofrat A. Weichselbaum: lieber die Veränderungen
des Pankreas hei Diabetes1 melitus. (Siehe unter den
Originalien in dieser Nummer.)
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 12. Januar 1911.
Th. Es eher ich zeigt ein Kind, bei welchem er Impe¬
tigo und Follikulilis mit Perhydrol behandelt hat
Das Kind hat. eine Pneumonie durchgemacht, hei welcher feucht-
warme Umschläge am Thorax aufgelegt wurden. An dieser Stelle
traten paeh Abheilung der Pneumonie mächtige Impetigoblasen
und Follikulitiden auf. Die Behandlung wurde folgendermaßen
durchgeführt: Die kranken Stellen wurden mit Seifenspiritus
gewaschen, die kleinen Furunkel mittels krummer Schere ge¬
öffnet, mittels watteumwickelter, in Perhydrol eingetauchter
Stäbchen wurden die eröffne ten Follikel ausgebohrt, dann kam
das Kind in ein warmes Snblimatbad und hierauf wurden einige
Male 3°<>ige Perhydrolumschläge aufgelegt. Der Erfolg dieser
Behandlung war überraschend, das Kind ist binnen drei Tagen fast
geheilt und eine Fortsetzung der Eiterung ist nicht mehr zu
bemerken.
O. Schey bemerkt, daß das Perhydrol bei venerischen
Erkrankungen, speziell bei Ulcus venereum gute Erfolge aufweist.
In der Kinderpraxis wurde es bisher noch nicht angewendet.
A. v. Reuß: lieber Eiweißmilch. Vortr. berichtet
über die Erfolge der Eiweißmilchtherapie nach Finkeistein
und Meyer an. der Wiener Kinderklinik. Der Wert dieser Therapie
liegt' darin, daß. sie in jenen Fällen von schwerer Dekomposition
eine Zufuhr der im Hinblick auf den Allgemeinzustand dringendst
indizierten Kohlehydrate erlaubt, wo der Darm gegen letztere
eine gesteigerte Empfindlichkeit zeigt und die gebräuchlichen
kohlehyd ratreichen Nahrungsgemische zu Darmreizungssympto¬
men führen. Wenn es gelingt, durch die Eiweißmilchtherapie
.auch nur einzelne dieser verzweifelten Fälle zu retten, ist damit
ihr dauernder Wert erwiesen. Sie leistet hier mehr als andere
künstliche Nahrungsgemische. Beim Atrophiker mit relativ tole¬
rantem Darm ist die Eiweißmilch entbehrlich und die altbewährte
I herapie vorzuziehen. Während bei jenen Enteritiden, welche
mit Gärungsvorgängen im Darm einhergehen, die Eiweißmilcli
\ orzügliches leistet, Scheint sie dort, wo Gärungsvorgänge ätio¬
logisch keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen, be¬
sonders bei schweren Dickdarmaffektionen, kontraindiziert zu
sein. In schweren Fällen von Dekomposition mit empfindlichem
Darm erzielt man durch Zufütterunlg kleiner Mengen Frauenmilch
zu einer einfachen Kaseinfettaufschwemmung oft sehr gute Er:
folge bezüglich des Allgemeinzustandes und der Darmerschei¬
nungen. Auch bei schweren Dyspepsien der Brustkinder gibt
die Zufütterung von Ka sein fettaufschwemmun gen in der Mehr¬
zahl der Fälle sehr gute Resultate. Allerdings gibt es auch hier
Ausnahmen.
T. Zatelli bemerkt, daß auf der Säuglingsabteilung von
Prim. Foltanek im Wilhelmin enspital ebenfalls mehrere Fälle
mit Eiweißmilch behandelt wurden. Meist war ein vorübergehen¬
der günstiger Erfolg zu verzeichnen, in anderen Fällen blieb
dieser Erfolg ganz aus, die Kinder verweigerten die Aufnahme
der Eiweißmilch oder sie mußte wegen Erbrechens oder wegen
Verschlechterung des Stuhles ausgesetzt werden. In zwei Fällen
traten auch blutige Stühle auf. '
S. Weiß hat Eiweißmilch in zwei Fällen verwendet, beide
Male mit gutem Erfolg.
AA . Knöp f elmacher hat die Eiweißmilch durch mehrere
Monate an gewendet, kann jedoch kein definitives Urteil über ihren
Wert aligeben. In einem Teil der Fälle trat keine Besserung auf,
hei einigen dekomponierten Kindern trat rasch eine Erhöhung
des Körpergewichtes auf. Bei der Darstellung der Alilch wurden
die Eiweißgerinnsel mit der Magermilch erst kurz vor dem Ver¬
brauche gemischt.
Th. Esch er ich weist darauf hin, daß' die Anwendung der.
Eiweißmilch von der Voraussetzung ansgeht, daß abnorme Ver¬
gärung des Zuckers in der Milch die Ursache der Verdauungs¬
störungen. vor allem des künstlich genährten Säuglings, dar¬
stellt. Diese Tatsache hat Redner schon vor Jahren vertreten
und darauf hingewiesen, daß man den Zucker in solchen Fällen
ans der Säuglingsnahrung ausschalten müsse. Finkeistein
hat sich dieser Ansicht jetzt abgeschlossen und eine praktische
Methode für die Durchführung dieser Forderung ausgearbeitet.
A. v. Reuß bemerkt, daß in' der Mehrzahl diejenigen Fälle
welche hei richtig gestellter Indikation durch die Eiweißmilöh
nicht gebessert werden, auch von anderen Nährmitteln keine
Besserung erfahren. AVichtig ist hei der Darstellung der Eiwei߬
milch, daß die Kasein flocken sehr fein sind, man muß des¬
wegen auch heim Anwärmen der Milch sehr vorsichtig Vorgehen.
Die Eiweißmileh kann auch sterilisiert werden.
Wiener dermatologische Gesellschaft.
Sitzung vom 7. Dezember 1910.
Vorsitzender : Frühauf. . ;
Schriftführer : Kren.
Lip schütz demonstriert aus der Abteilung Rusch eine
Patientin die am 9. August wegen ausgedehnter Lues maligna
ulcerosa mit 0-6 des Ehrl ich schein Präparates nach Wech¬
selmann behandelt wurde. Am 31. August konnte Pat. mit
vollkommen geschlossenen Herden entlassen werden. Was den Fall
besonders bemerkenswert macht, ist die außerordentlich gün¬
stige. Beeinflussung mächtiger periostaler Ver¬
dickungen.
Kroph demonstriert aus der T. Abteilung des Garnisons¬
spitals Nr. 1 (Oberstabsarzt Dr. Frühauf) einige mit Ehrlich-
H a t a 600 b e handelte Fäll e.
Nr. 5
185
WIENER KLINISCHE
Fall 1. Sicherheitswachmann T., 27 Jahre alt, kam am
1. Oktober 1903 mit einer zirka drei Wochen alten Sklerose.
Am 14. Okt. Beginn der Quecksilberpräventivkur. Am. 5. Dez. die
erste Quecksilberkur beendet. Am 23. Dezember, .also iS Lage
darauf, Auftreten einer Rupia syphilitica, die trotz sofort enr-
geleiteter Enesolkur, Sublimatbäder, Decoctum Zittmanni und
Sai'saparilla sich peripher ausbreitete und die flaut der Stirne,
des 1 borax, der oberen sowie der unteren Extremitäten mit hand¬
tellergroßen Geschwüren bedeckte.
Am 30. Mai d. L 0-3 Ehrlich intramuskulär. Am 16. Juni
Epithelisierung sämtlicher Geschwüre. Am 2. Juli, also am
32. läge post injectionem, eine leichte Rötung der epitlielisierten
Geschwüre, am 9. Juli Auftreten von rupienförmigen Ulzerationen
an den bereits abgeheilten Stellen. Patient erhält am 9. juii eine
zweite E h r 1 i c h - Injektion von 0-4, darauf prompter Rückgang
sämtlicher Erscheinungen.
Fall 11. Zugsführer K., 27 Jahre alt. Januar 1910 Scle¬
rosis necrotica in cute penis. Scleradenitis inguinalis. Queck¬
silber - Präventivbehandlung, in den Monaten Januar- Februar 1(1
Quecksilber - Salizylin jektionen ; Mai -Juni ohne Rezidiverschei¬
nungen, nur auf Grund des positiven Wassermann 20 Queck¬
silber-Salizylinjektionen. Nach den großen Manövern wächst
Patient mit Geschwüren zwischen den Zehen, angeblich infolge
llyperhidrosis zu. Die Wasser mann sehe Komplementreaktion
ergab ein stark positives Resultat, darauf am 29. September 1. J.
0-7 Ehrlich intramuskulär. Am 30. September Geschwüre ge¬
reinigt, 2. Oktober geheilt.
Fall Ill. Kadettenschüler B., 18 Jahre alt, akquiriert Juli
1910 ein Geschwür am Gliede, wird am 4. Oktober mit Sclerosis
permagna cicatrisata ad cutem penis, mit organisierten und stark
nässenden Papeln am Hodensacke und Tonsillen, sowie einem
primären kleinmaku losem Exanthem der Abteilung übergeben.
Wassermann 5. Oktober positiv. Am 7. Oktober. — 0-7 Ehr¬
lich intramuskulär. Am fünften Tage nach der Injektion völlige
Involution der Papeln, am elften Tage verläßt Patient diensttauglich
das Spital. Am 46. Tage nach der Injektion keine Symptome
von Lues ; Wasser m a n n sehe Reaktion negativ.
Fall IV. Pionier S., 21 Jahre alt. Infektiöser Koitus an¬
fangs September 1910. Sclerosis erosa in lamina interna prae-
putii: Maculae lenticulares in cute thoracis et tergi; Papulae
crustosae ad partem capillatam capitis; Bubo iam fluctuans in
inguine sin. W as s ermann 28. Oktober stark positiv. Am 28. Ok¬
tober 0-7 Ehrlich intramuskulär. Am 5. November das makulo¬
papulöse Exanthem zurückgegangen. Der bei der Aufnahme fluk¬
tuierende Bubo ohne jedweden operativen Eingriff am 11. Tage
nach der Injektion resorbiert. Patient verläßt am 14. Tage post
injeetionem diensttauglich das Spital.
Fall V. Armeediener V., 58 Jahre alt, Vater von zwei
gesunden Töchtern. Vor vier Jahren Auftreten einer Geschwulst
an der Haut des Rückens, die er durch drei Jahre, trotzdem sie
aufgebrochen ist, aus Furcht von einer Operation unbehandelt
ließ. Aehnlicho Geschwüre traten am Halse und den oberen Ex¬
tremitäten auf. Februar d. J. entschließt er sich endlich die Am¬
bulanz der ersten Abteilung aufzusuchen, wo die klinische Dia¬
gnose Ulcera gummosa gestellt wird, die am 5. Februar aus¬
geführte W as ser m annsche Blutuntersuchung bestätigt dies
und die in den Monaten Februar-März applizierten 12 Enesol-
und 10 Quecksilber-Salizylinjektionen bringen die Ulzerationen
zur Heilung. Am 24. November d. J. stellt sich Patient neuer¬
dings mit Ulzerationen und periostitischen Gummen vor, am
selben Tage wird Wassermann, der ein stark positives Re¬
sultat ergibt, ausgeführt und 0-6 Ehrlich intramuskulär appli¬
ziert. Deutlicher Rückgang der Tophi am Schädel, langsame
Granulation der Geschwüre an den Armen.
Fall VI. Apparatmann K., 23 Jahre alt. Dieser akquirierte
die Sklerose September 1908. Spirochaeta pallida bei der Auf¬
nahme am 3. November 1908 positiv. In der Zeit vom 4. No¬
vember 1908 bis 16. April 1910 machte er eine Präventivkur,
bestehend in sechs Quecksilberkuren durch. Am 9. Juni 1910
erhielt er 0-3 Ehrlich. Die Injektion wurde anstandlos ver¬
tragen. Patient war keine Stunde bettlägerig, er versah die ganze
Zeit hindurch seinen ziemlich anstrengenden Dienst. Der am
19. Oktober, also vier Monate nach der Injektion ausgeführte
W a s s e r m a n n negativ.
Balban demonstriert aus dem Ambulatorium des Privat¬
dozenten Oppenheim:
1. Einen 34jährigen Mann, der mit exu lz er i e r ten Papeln
am Penis, Roseola und Rupia am Rücken in Behandlung
kam; er erhielt am 26. November 0-6 Ehrlich-Hata, in Aethyi-
alkohol und Wasser gelöst. Während die Papeln am Penis und
die Roseola rasch schwanden, involvieren sich die Rupiafurmen
WOCHENSCHRIFT. 19 1L
nur langsam und sind noch heute sichtbar. Auffällig war die starke
Herxheim ersehe Reaktion um diese Effloreszenzen.
2. Einen 27jährigen Mann, der fünf Wochen vor seiner Auf¬
nahme eine Sklerose akquirierte. Patient erhielt 0-3 Ehrlich-
Hata nach B 1 a s c h k o, intraskapulär. Am 2. Dezember war
die Sklerose verheilt. Am 7. Dezember, also in der achten Krank¬
heitswoche, erschien Pat. mit einem makulo-papulösen Exanthem
an der Beugeiseite der Arme und einer Roseola am Rücken.
3. Einen 34jährigen Mann, der mit einer suspekte u E r o-
sion am Frenulum am 18. August zur Behandlung kam. Spiro¬
chäten positiv. Pat. erhielt am 19. August 0-5 Ehrlich-Hata
nach Wassermann intraglutäal. Ulkus am 1. September ver¬
heilt. Was ser man am 22. September negativ. Am 14. No
vernber erschien (Pat. finit einem hellergroßen, derb infil¬
trierten, erodierten Infiltrat an der rechten Seife des
Präputiums; jeder sexuelle Verkehr in der Zwischenzeit wird ne¬
giert. Wassermann negativ.' Spirochätenbefund po¬
sitiv. Pat. erhielt am 30. November 0-6 Ehrlich-Hata, nach
Blaschko, intraskapulär. Die Erosionen fast völlig verheilt,
das Infiltrat geringer.
Sachs demonstriert einen 19 Jahre alten Patienten, der
Mitte Juli d. J. das Ambulatorium mit einer Sklerose und
Exanthema maculosum (urtikariellen Charakter) aufgesucht hat.
Nach den ersten Quecksilber-Salizylinjektionen schwand das ma¬
kulöse Exanthem, die Sklerose begann sich, unter gleichzeitiger
lokaler Behandlung mit grauem Pflaster, zu involvieren. Nach
der 13. halben Quecksilber-SaJizylinjektion traten im Gesichte,
insbesondere am Nacken, den Armen, Kniekehle hellrote papu¬
löse Plaques mit reichlicher Schuppung auf. Nach der 20. halben
Quecksil ber-Sal izy 1 in j ek tion haben sich die psoriasiformen Plaques
noch mehr ausgebreitet. Nach 14tägiger Pause bekam Patient
neuerdings fünf halbe Quecksilber-Salizylinjektionen, ohne jeden
therapeutischen Effekt auf die während der Quecksilberkur neu
aufgetretenen Herde.
Die am 23. November d. J. vorgenommene Wasser¬
mann-Reaktion fiel fast komplett positiv aus. Am
30. November d. J. erhielt Pat. eine subkutane Injektion von
Ehrlich-Hata 0-5 in neutraler Lösung intraskapulär. Heute
nach acht Tagen sind alle psoriasiformen Herde vollständig in¬
volviert und mit intensiv, fast sepiabraunen Pigmentierungen
abgeheilt.
Mucha (Klinik Prof. Finger) demonstriert eine Reihe von
mit Arsen obenzol behandelten Fällen.
Fall I.' Pat. U. wurde am 31. Oktober 1910 mit Sklerose
und pustulösem sowie papulonekrotischem Exanthem, positivem
Wassermann und hohem Fieber, das bis1 4ÖU erreichte, auf¬
genommen. Am 10. November 0-5 Arsenobenzol (in saurer Lö¬
sung).. In drei Tagen war Pat. entfiebert, bis zum heutigen Tage
sind sämtliche Effloreszenzen fast vollständig involviert.
Fall II. Pat. P. Ende September mit Sklerose und Ex¬
anthem aufgenommen, mit sechs Hydrargyrum salicylicum-lnjek-
tionen behandelt, nach der fünften Injektion beginnt sich ein
papulo-nekrotisches Exanthem zu entwickeln, der Pat. ist somit
refraktär gegen Quecksilber. Am 14. November 0-6 Arsenobenzol
in Paraffinemulsion. Die Erscheinungen haben sich bis auf
Reste zurückgebildet.
Fall III. Pat. T. Infektion vor 20 Jahren. Ende Oktober
apoplektischer Insult. Wassermann positiv. 5. Dezember
0-4 Arsenobenzol intravenös. Die Bewegungsmöglichkeit der
rechten Seite hat sich bedeutend gebessert. Was weitere acht
bisher intravenös behandelte Fälle anlangt, so wurde die In¬
fusion von allen Pat. gut vertragen. In einem Falle stellte sich
zwei Stunden nach der Infusion Erbrechen und Fieber bis 39u,
in einem Schüttelfrost und Fieber bis 40u und in einem Fieber
bis 38-6° ein, die übrigen fünf Fälle verliefen vollständig reak¬
tionslos.
Fall IV. Pat. Pr. wurde im Juli d. J. auf der Klinik
v. AVagnor, wo* er wegen sehr heftiger Kopfschmerzen, hervor¬
gerufen durch multiple Osteoperiostitiden der Schädelknochen
aufgenommen worden war, mit 0-4 Arsenobenzol behandelt. Am
21.- September wird Pat. wegen eines schweren Rezidivs — mul¬
tiple Osteoperiostitiden der Schädelknochen sowie des Ober¬
kiefers — aufgenommen, am 21. Oktober 0-6 Arsenobenzol, nach
wenigen Stunden Schwinden der Kopfschmerzen, die Erschei¬
nungen sind bis heute sehr wesentlich zurückgegangen und Patient
ist bisher rezidivfrei. Ein großes Stück des Oberkiefers ist n Ero¬
tisch geworden und wurde vor wenigen Tagen entfernt.
Fall V. Pat. Z. Aufgenommen mit zirka sechs Wochen
alter Sklerose. Wassermann in Spuren positiv, erhielt am
28. Oktober 0-5 Arsenobenzol in Paraffinemulsion. 15. November
Komplement positiv, beginnendes Exanthem, am 2. Dezember
186
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
neuerlich 0-5 Arsenobenzol in saurer Lösung, Reste des Exanthems
sind noch sichtbar.
Fall VI. Fat. Gr. erhält wegen sechs bis sieben Wochen
alter Lues — Sklerose und Skleradenitis — bei positivem Wasser¬
mann 0-45 Arsenobenzol in neutraler Emulsion und wird nach
vier \\ ochen, ohne daß ein Exanthem aufgetreten wäre, entlassen.
An der Injektionsstelle am Rücken ist ein derbes, nicht schmerz¬
haftes Infiltrat mit beginnender zentraler Nekrose tastbar. Am
25. Oktober wird der Fat. wegen eines psoriasiformen Rezidiv-
exanthems, sowie zirka kronengroßer Nekrose an der Injektions-
slelle neuerlich aufgenommen und am 2. November mit 0-6 Ar¬
senobenzol in Paraffinemulsion neuerlich behandelt. Das Ex¬
anthem zeigte deutliche H er xh ei m ersehe Reaktion, hat sich
etwas abgeflacht; doch bis zum heutigen Tage noch nicht involviert.
U r p a n i. Bei fünf mit Primäraffekt (Spirochäten -j-, W asser¬
mann -f-) auf der dermatologischen Abteilung des Garnisous-
spitales Nr. 2 präventiv in der vierten Woche mit Ehrlich 606
(0-45 bis 0-60 neutrale wässerige Aufschwemmung subkutan in
die Rückenhaut) behandelten Patienten trat in der achten Woche,
also vier Wochen nach der Injektion, ein dem vorgestellten Fall
ähnliches psoriasiformes Exanthem mit ausschließlicher Loka¬
lisation an den Streckseiten der Arme und an den Schultern auf.
Wassermann in allen Fällen bei Ausbruch desi Exanthems
negativ.
Ehrmann verweist auf die Fälle, wo eine Psoriasis und
Lues oft in einer Plaque vereinigt sind, daraus würde sich viel¬
leicht die Hartnäckigkeit dieser Fälle erklären, denn bei Psoriasis
hat sich ,,606“ in einem daraufhin geprüften Fälle seiner Ab¬
teilung als unwirksam erwiesen.
Mucha glaubt, daß Psoriasis vulgaris mit Rücksicht auf
den klinischen Befund, sowie auf Grund des Umstandes, daß auf
die Injektion von Arsenobenzol an allen Effloreszenzen deutliche
Herxheimersche Reaktion aufgetreten war, ausgeschlossen
werden könne.
Fall VII. Pat. J. Infektion vor fünf Jahren. Ende August
in Warschau mit Arsenobenzol behandelt, wird wegen eines exul-
zerierten Gummas am Introitus nasi aufgenommen und am 8. No¬
vember mit 0-6 Arsenobenzol in Paraffinemulsion behandelt. Das
Gumma epilhelisierte zum größten Teile-, zeigt aber gegenwärtig
bereits wieder Progredienz und neuerlichen Zerfall.
Fall VIII. Pat. F. wird mit ausgedehnten exulzerierten
Gummen am Unterschenkel aufgenommen, die Infektion liegt, fünf
Jahre zurück. Am 8. Oktober 0-7 Arsenobenzol in Päraffinemul-
sion, es tritt Besserung ein, nach etwa drei Wochen beginnen
teils am Rande, teils an bereits epithelisierten Stellen neue Gum¬
men aufzubrechen, weshalb Pat. am 8. November nochmals
0-6 Arsenobenzol in saurer Lösung erhält, der Erfolg ist der:
gleiche, bei d!em Pat. beginnen sich jetzt wiederum neue Infil¬
trate und Ulzerationsprozesse zu entwickeln, so daß er einer
Quecksilberjodkur unterzogen werden wird.
Fall IX. Pat. M., mit zwei Jahre alter maligner Lues, vorher
wiederholt mit vorübergehendem Erfolge mit Quecksilber und
Jod behandelt, erhielt zwei Arsenobenzolinjektionen (26. August
0-45 bis 26. September 0-5) beide Male mit komplettem und
nur ganz vorübergehendem Erfolge, so daß er jetzt neuerdings eine
Quecksilberkur durchführen muß.
Müller stellt aus Fingers Klinik vor:
1. Ein sechsmonatiges Kind, das vor zwei Monaten mit
schwerem krustösen Exanthem, das hauptsächlich Gesicht und
Extremitäten ergriffen hatte, auf die Klinik aufgenommen wurde.
Es bestanden auch sehr zahlreiche diphtheritische papulöse
Effloreszenzen .auf Mund und Nasenschleimhaut. Die Hoffnung
das Kind zu erhalten, war gering. Ehrlich 0-03 subkutan vor
zwei Monaten. Prompte Wirkung in kürzester Zeit.
2. Vier Schwestern, Kinder derselben Eltern, die dem Alter
nach nur je um etwa ein Jahr’ differieren. Vor vier Monaten
Aufnahme auf die Klinik mit völlig gleichartigen Erscheinungen
von Lues : Diphtheritische Papeln an Tonsillen und Genita|e,
Rhinitis. Es handelte sich um extragenitale Infektion durch eine
ältere Schwester vor zirka lk Jahr. Zwei der Mädchen erhielten
Arsenobenzol (0-24 und 0-36), die zwei anderen Einreibungskur.
Die beiden mit Ehrlich behandelten Mädchen hatten recht heftige
Schmerzen, waren aber in der kürzester Zeit frei von Erschei¬
nungen. Die Quecksilberbehandelten mußten zwei Wochen länger
in Behandlung bleiben. Heute zeigen alle vier Patientinnen völlig
gleichartige Rezidiverscheinungen, diphtheritische Papeln an den
Tonsillen. Das zwei Monate nach der Injektion negativ reagie¬
rende Serum zeigt wieder komplett positive W assermannsche
Reaktion.
3. Eine 19jährige kräftige Patientin, bei der eine vor vier
Monaten wegen Sklerose und makulösem Exanthem ausgeführte
,,606“-Injektion (045 Wechsel mann intraglutäal) den über
kronengroßen Primäraffekt und das Exanthem ungemein rasch
zum Schwund brachte. Auffallend war das hohe Fieber nach der
Injektion (über 40°), das aber nach kurzer Zeit schwand. Deut¬
licher Herxheim er.
Zwei Monate nach der Injektion kam Patientin mit Ükulo-
motoriuslähmung rechts, Fazialisparese rmd beiderseitiger Neu¬
ritis optica wieder. Zweite Injektion mit 0-45 (Wechselmann),
keine Aenderung. Nach drei Wochen intensive Quecksilberbehand¬
lung. Patientin hat bisher 25 fünfgrammige Einreibungen mit
Ung. einer., 6 Sublimat-, drei Quecksilber-Salizylinjektionen er¬
halten. Daneben Jodnatrium. Die Okulomotoriuslähmung hat sich
nur wenig gebessert. Neuritis optica ungebessert. Auf einem
Auge beginnende Atrophie. Bemerkenswert erscheint, daß die
acht Tage vor den Nervenerscheinungen noch negative Serum¬
reaktion am Tage Hör Aufnahme positiv war. Das spräche für
Luesrezidiv. Anderseits ist die erfolglose spezifische Behandlung
sehr auffallend.
Groß: Der Schluß, den der Vorredner produziert hat, po¬
sitive Serumreaktion, also luetische Affektion, ist unzutreffend.
Ebenso ist die Schlußfolgerung, daß aus der negativen Wasser¬
mann-Reaktion auf die nicht luetische Natur irgendeiner Afi'ek-
tion des Trägers geschlossen werden könne, in dieser Verallge¬
meinerung nicht zulässig. Wir sehen einerseits klinisch unbe-
zweifelbare luetische Symptome (Rezidivexantheme, Periostitis
und so weiter) bei negativem Wassermann, anderseits kann
ein Patient mit luetischen Antezedentien und positiver Serum¬
reaktion eine nicht luetische Augen- oder Ohrenerkrankung, einen
Tumor u. dgl. aufweisen.
Der Fehlschluß ist in den Debatten der letzten Zeit so
häufig zutage getreten, di aß es notwendig erscheint, gegen ihn
Stellung zu nehmen..
Ehrmann verweist, im gleichen Sinne darauf, daß bei chro¬
nischen Ulzerationsprozessen, die klinisch als Skrofulotuberkulosen
zu diagnostizieren sind, oft die Wassermann-Reaktion deutlich
positiv ist, weil die Kranken früher Lues akquiriert hatten. Der
weitere Verlauf dieser Fälle bestätigte uns in einer ganzen Reihe
von Fällen, daß eine von der Lues unabhängige Tuberkulose vorlag.
Riehl: Während die klinischen Erscheinungen der Syphilis
überaus genau studiert und gekannt sind, sind wir über die
Lokalisation der Erkrankung in den Sinnesorganen noch keines¬
wegs genügend orientiert. Dies hat ja in bezug auf den Nervus
acusticus Prof. Urbantschitsch jüngst ausführlich erörtert.
Beim Nervus opticus sind Veränderungen in den späteren Stadien
der Erkrankung seit langem bekannt, über die Häufigkeit, mit
welcher aber dieser Nerv in der Frühperiode affiziert ist, bet¬
sitzen wir nur geringe Erfahrung. Diesbezüglich möchte ich auf
eine im Jahre 1907 erschienene Arbeit Ferdinand Beckers hin-
weisen, in der erwähnt wird, daß bei 200 Syphiliskranken der
Frühperiode 6°/o mit Neuritis optica behaftet, gefunden worden
sind. In einer Statistik wird auch über die Zeit des Auftretens)
dieser Neuritis optica genauere Auskunft gegeben. Es werden
darin Fälle erwähnt, die wenige Wochen nach der Infektion be¬
obachtet worden sind. Da diese Neuritiden meist nur vorüber¬
gehende Erscheinungen darstellen, selten nur zur Erblindung
führen, so dürften sie manchmal der klinischen Beobachtung ent¬
gehen. Diese Beobachtungen verdienen auch in bezug auf die
Beurteilung des Arsenobenzols Interesse.
Müller: Ich glaube nicht gesagt zu haben, daß der positiv
gewordene Wassermann mit Sicherheit für die Auffassung
des Falles als Luesrezidiv spräche. Ich glaube wohl, daß es heute
Ihnen schon genügend bekannt sein dürfte, daß eine Organdiagnose
bei der Was s er m a nn- Reaktion nicht gestellt werden kann. Es
könnte natürlich neben einem zu der Zeit gerade positiv gewor¬
denen Wassermann pine Neuritis aus anderer Ursache be¬
stehen.
Königstein demonstriert einen Fall von über den ganzen
Körper ausgebreiteter ulzeröser Lues, der zuerst im August d. J.
im Wiedenerspital mit 0-8 injiziert wurde. Nach zehn Tagen
Heilung der Ulzerationen, nach einem Monat Rezidiv. Abermalige
Arsenobenzolinjektion 0-6 mit sehr raschem Erfolg. Nach drei
Wochen Auftreten einer Periostitis, die auf lokale und allgemeine
Quecksilberbehandlung schwindet.
Ferner demonstriert König stein aus der Reihe der von
ihm intravenös injizierten Patienten sechs Fälle.
Er weist rfarauf hin, daß die Injektionen auch bei schwäch¬
lichen Individuen gut vertragen werden, vollkommen schmerzlos
sind und nur in einzelnen Fällen Fiebei’steigerungen von einigen
Stunden hervorrufen. Im Gefolge dieser Injektion tritt sowohl
lokale wie allgemeine Herxheimersche Reaktion auf.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
187
Die intravenösen Injektionen werden entweder mit Kaloinel-
oder intramuskulären Arsenobenzolinjektionen kombiniert.
Bemerkenswert ist ein Fall, bei welchem eine schmerzhafte
l eriostitis schon wenige Stunden nach der Injektion keine Be
schwerden mehr verursachte.
Volk weist darauf hin, daß nach seinen Erfahrungen die
Art der Einverleibung des Arsenobenzols, ob Oel-, resp. Paraffin
emulsion oder neutrale Suspension nach Wechsel mann, keinen
eklatanten Unterschied in bezug auf Zahl und Zeit des Auftretens
von Rezidiven zeitigt. Die radiologischen Untersuchungen von
Ilaudek und Ullmann beweisen, was wir schon auf chemischem
Wege von der W echs el man n sehen Injektion wissen, daß die
Arsenobenzoldepots durch Wochen und Monate liegen bleiben.
Sachs: Bei einem 32jährigen Manne, der 0-5 Arseno-
benzol intraskapular in neutraler Lösung subkutan injiziert er¬
hielt, trat 24 Stunden nach der Injektion eine ziemlich beträcht¬
liche Sch well ung der ganzen Penishaut ein, die bis heute
trotz antiphlogistischer Behandlung nicht zur Rückbildung ge¬
kommen ist. Im Sulcus coronarius waren vier Sklerosen. Diese
Schwellung der Penishaut ist wohl als II er x h ei m ersehe Re¬
aktion in weiteren Sinne aufzufassen.
Kren berichtet über einen Fall, der wegen Papeln an der
Glans am 27. Oktober mit 0-5 injiziert, am 9. November eine öde-
matöse Schwellung des ganzen Penis erlitt. Ob diese Schwel¬
lung die Folge einer Thrombose war, oder ob eine andere Ursache
für die Schwellung maßgebend war, konnte nicht ermittelt werden.
Groß betont, daß er in einer Anzahl von luetischen Peri¬
ostitiden die prompte schmerzstillende Wirkung der Arseno-
benzolinjektion beobachten konnte, daß aber die Röntgenunter¬
suchung solcher Fälle erwiesen habe, daß vor und längere Zeit
nach der Applikation des Mittels die lokalen Veränderungen
ziemlich unverändert geblieben seien.
Er wirft die Frage auf, ob die Anwesenden ähnliche Beob¬
achtungen gemacht haben.
Frühauf hat sieben Fälle von Periostitis luetica behandelt.
In allen Fällen sind die Schmerzen sofort, die objektiven Sym¬
ptome nach 10 bis 14 Tagen geschwunden; der Röntgenbefund
war negativ. Ein Fall wurde monatelang als Rheumatismus be¬
handelt, liegend auf die Abteilung gebracht und verließ nach drei
Wochen geheilt das Spital.
Kren hat bei Behandlung von Ostitis und Periostitis luetica
die Erfahrung gemacht, daß die Schmerzen prompt schwinden,
oftmals schon nach Stunden. Die objektiven Symptome gehen
bei dem am Periost lokalisierten Prozeß in zirka 14 Tagen oder
später zurück. Knochenprozesse, die mit Konsumption und Appo¬
sition einhergehen, wurden durch die Ehrlich sehe Behandlung
ebensowenig wie durch Quecksilber tangiert, für die Quecksilber¬
behandlung ist das röntgenologisch schon lange bekannt.
Nobl: Von der prompten schmerzstillenden und resorp
tiven Wirkung der Injektion konnten wir uns stets überzeugen,
wenn irritative Auftreibungen (Klavikula, Schädel, Sternum) re¬
zente Exantheme begleiteten. Organisierte Verdichtungen der Bein¬
haut aber, wie uns solche namentlich in Form diffuser Auftrei¬
bungen der Tibia unterkamen, zeigten keinerlei Beeinflussung der
ossifizierten Massen. ... -
Königstein: Die Schmerzen bei Periostitiden schwinden
immer sehr rasch nach der Injektion, der objektive Befund
(Röntgenaufnahme) ändert sich bei den ossifizierenden Formen
nicht. Man beobachtet hingegen auch das Auftreten von frischen
Periostitiden bald nach der Injektion. Diese Erscheinung ist zur
H er xhei mer sehen Reaktion zu rechnen und schwindet schnell
wieder.
(Schluß folgt.)
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 10. Januar 1911.
Vorsitzender: Hofrat Obersteiner.
Schriftführer: Priv.-Doz. Dr. Marburg.
Priv.-Doz. Dr. A. Fuchs: Fall von Hermaphroditis¬
mus verus (bereits von Prof. Tandler in der k. k. Gesellschaft
der Aerzte demonstriert).
Priv.-Doz. Dr. E. Stransky stellt aus der v. Wagner-
scheu Klinik einen vor mehreren Tagen dahin aufgenommenen
Alkoholiker vor, bei dem die Statusaufnahme folgendes ergab :
Vor mehreren Jahren nach einem Trauma Schwerh örigkeit
rechterseits (nach dem in extenso mitgeteilten Befund der
Ohrenklinik beiderseits, doch rechts bedeutend stärker als linkst,
Ohrensausen; mehrere Monate da nach Auftreten von Pseudo¬
halluzinationen (Gedankenecho), ausschließlich
rechtseitig lokalisiert (Pat. erzählt hierüber vor der Ver¬
sammlung selbst) ; Auftreten der Erscheinung mehrmals im Jahre,
Dauer jeweils einige Tage; Abhängigkeit von Alkoholgenuß negiert;
anfangs war sich Pat. seiner Schilderung nach über die Pro¬
venienz der Stimmen — er hört deren verschiedene — im
Zweifel, doch ist er seit langem von deren Irrealität überzeugt,
wie er erklärt; Wahnbildungen nicht zu eruieren; Affektmitteliagc.
Vortr. möchte, da ohnehin Publikation des Falles erfolgen wird,
hier nicht in theoretische Erörterungen dieses prinzipiell wich¬
tigen Falles eingehen und nur kurz darauf hinweison, daß er für
die Möglichkeit des Zustandekommens von Sinnestäuschungen
auf Grund sensorischer Reizerscheinungen (Redlich und Kauf
mann), die auch Vortr. akzeptiert hat, spricht.
Priv.-Doz. Dr. Artur Schüller berichtet über Untersuchun¬
gen, welche er gemeinsam mit Prof. Alexander vor einigen
Jahren an einer größeren Zahl von Kranken mit Gehörshalluzina¬
tionen unternommen hat. Eine Gruppe chronisch Halluzinie¬
render wies eine charakteristische Feinhörigkeit auf: Sie hörten
das Ausklingen von Stimmgabeln länger als Ohrgesunde ohne
Halluzinationen.
Priv.-Doz. Dr. Stransky will auf Schüllers interessante
Darlegungen jetzt nicht näher eingehen, da er sich für heute
nur auf die Demonstration beschränken wollte, meint aber, es sei
wohl wahrscheinlich, daß Halluzination durch verschiedene Mecha¬
nismen provoziert, resp. gebahnt werden könnten.
Priv.-Doz. Dr. Bäräny demonstriert einen von ihm kon
str liierten einfachen Apparat zur exakten Beobachtung und Mes¬
sung der Zeigebewegungen. Im Laufe der Untersuchungen Bä
ränys hat es sich herausgestellt, daß es nicht genügt, die Be¬
wegungen im Schulter- und Hüftgelenk allein zu prüfen. Man
muß auch die Bewegungen im Ellbogen- und Handgelenk einerseits,
im Knie- und Fußgelenk anderseits, prüfen. Ferner darf man sich
nicht mit der Prüfung der Bewegungen bei einer bestimmten
Stellung der oberen Extremität begnügen (z. B. Handrücken nach
aufwärts), man muß' auch die Stellung „Handfläche nach auf¬
wärts“ untersuchen, da sich häufig nur bei einer der beiden
Stellungen etwas Abnormes findet. Bäräny demonstriert die
Methodik aller dieser Versuche. Aus den bisherigen Erfahrungen
ergibt sich Bäräny der zwingende Schluß, daß die Lokali¬
sation im Kleinhirn nach Extremitäten, innerhalb dieses Ge¬
bietes nach Gelenken und hier wiederum nach Positionen und
Richtungen geordnet ist. Nur eine große Zahl genauer Sektions¬
und Operationsbefunde bei vorher exakt untersuchten Fällen,
kann die Lokalisation im Detail ermitteln.
Bäräny demonstriert ferner eine Patientin, die seit Kindheit
an Athetose und Spasmus mobilis in allen vier Extremitäten
leidet. Bäräny hat bei dieser Patientin die Zeigebewegungen
genau untersucht und bespricht die in den beiden oberen Extre¬
mitäten gefundenen komplizierten Störungen. Am meisten ist
die rechte obere Extremität von der Affektion ergriffen. Bis vor
einer vor zirka einem halben Jahre ausgeführten Fürs for¬
schen Operation (Priv.-Doz. Ranzi), bestanden fortwährende lang¬
same Bewegungen der Finger der rechten Hand, das Handgelenk
war beständig gebeugt und konnte nur wenig bewegt werden.
Faßte die Patientin einen Gegenstand an, so mußte sie nachher
gewaltsam die Handöffnung vornehmen. Auch im rechten Ell¬
bogengelenk waren starke Spasmen vorhanden. Das rechte
Schultergelenk war dagegen stets frei gewesen. Nach der Operation
(es wurden die vierte, fünfte und siebente hintere Wurzel durch¬
schnitten) hat sich nach Angabe der' Patientin der Zustand
entschieden gebessert. Das Ellbogengelenk ist frei von Spasmus.
Die Bewegungen des dritten, vierten und fünften Fingers haben
aufgehört, nur der zweite und erste Finger sind noch steif und
bewegen sich. Schließt sie jetzt die Hand, so kann sie sie spontan
wieder öffnen. Auch die Ausführung des Zeigeversuches, die vor
der Operation fast unmöglich war, gelingt jetzt meist recht gut,
anstandslos im Ellbogengelenk, unter Benutzung des dritten
Fingers aber auch im Handgelenk.
Die linke obere Extremität ist fast frei von Athetose, es
bestehen nur geringe Spasmen einzelner Finger und im Hand¬
gelenk. Was nun die Prüfung der Zeigebewegungen betrifft, so
ergibt sich : Spontanes Zeigen : Die rechte obere Extremität zeigt
in allen Gelenken spontan richtig. Die linke obere Extremität
zeigt bei der Stellung „Handrücken nach aufwärts“ in allen drei
Gelenken nach links vorbei. Dreht man aber die Vola nach
aufwärts, so zeigt, auch die linke obere Extremität richtig
Die Reaktionen nach dem Drehen sind folgende : Rechtes
Schultergelenk ergibt nach dem Drehen nach rechts und limes
bei aufrechter Kopfstellung kräftige typische Reaktionen, also
beim Nystagmus nach rechts Vorbeizeigen nach links und um¬
gekehrt. Rechtes Ellbogengelenk und rechtes Handgelenk ergibt
keinerlei Reaktionen nach dem Drehen. Linkes Schultergelenk,
188
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 5
Ellbogengclenk und Handgelenk ergeben bei der Handstellung
„Handrücken nach aufwärts, nach Rechtsdrehung keinerlei Re¬
aktionen, dagegen deutliche Reaktion nach Linksdrehung. Bei
der Stellung Y ola nach aufwärts ist dagegen in allen drei Ge¬
lenken typische Reaktion vorhanden.
Das Y orbeizeigen nach links bei Handrücken nach auf¬
wärts ist mit Sicherheit als Ausfallserscheinung aufzufassen.
Ich bin auf Grund meiner zahlreichen Befunde überhaupt der
Meinung, daß jedes1 konstante Vorbeizeigen oder konstante
1’ allen in bestimmter Richtung auf dem Ausfall der vestibulären
Reaktion in der Gegenrichtung beruht. Was die Lokalisation
des Prozesses im vorgestellten Falle betrifft, so möchte ich
mich mangels bisheriger Obduktionsbefunde sehr reserviert
halten. Eines aber glaube ich sicher sagen zu können: Der Aus¬
fall der Reaktionen im rechten Ellbogen- und Handgelenk kann
nicht durch eine Erkrankung in der Rinde des Zerebellums be¬
dingt sein, denn sonst müßte ja ein enorm großes Gebiet zerstört
sein. Offenbar sind Fasern von der Zerebellarrinde zum Rücken¬
mark oder vielleicht vom Großhirn zum Kleinhirn in ihrem Ver¬
lauf als zusammengeordnetes Bündel betroffen. Die isolierte
Störung der linken oberen Extremität könnte dagegen wohl auf
einen zerebralen Herd der linken Hemisphäre bezogen werden.
Dr. M. Schacherl: ich erlaube mir ihnen gemeinsam'
mit Herrn Priv.-Doz. Fuchs folgenden Fall zu demonstrieren:
Ein 49jähriger Schneider wurde uns von der Klinik Riehl,
wo er mit Impetigo in Behandlung stand, zur Untersuchung in
die Ambulanz geschickt.
Das Krankheitsbild erwies sich gleich bei der ersten Unter¬
suchung so eigentümlich, daß wir Pat. behufs genauerer Beob¬
achtung aufnehmen mußten.
Er hat eine ziemlich belanglose Vorgeschichte, aus der ich
nur hervorheben möchte, daß seine nunmehr 75jährige Mutter
eine ähnliche Gangstörung aufweisen soll, wie wir sie an un¬
serem Pat. noch zu demonstrieren haben werden. Leider ist
die Mutter des Kranken aber nicht auffindbar.
Der Kranke gibt an, im Jahre 1902 bemerkt zu haben, daß
das linke Bein schwächer wurde als das rechte und allmählich
auch die linke obere Extremität und daß beide zu zittern an¬
fingen. Gleichzeitig entwickelte sich die Gangstörung, die noch
jetzt vorhanden ist. Er lag wegen derselben wiederholt in ver¬
schiedenen Spitälern und bemerkte auch wiederholt Besserungen
seines Zustandes. Ganz gesund oder auch nur so weit, daß er
ohne Zuhilfenahme des Stockes hätte gehen können, will er bis
jetzt seit damals nicht gewesen sein.
Aus dem Status praesens muß das folgende hervorgehoben
werden: Es besteht eine Spur Nystagmus beim extremen Blick
nach links, noch weniger beim Schauen nach rechts. Der Fundus
ist normal. Die Reaktion der etwas entrundeten Pupillen ist eine
etwas unausgiebige, ist aber deutlich vorhanden. Die motorische
Kraft der linken oberen Extremität und linken unteren Extremität
ist etwas herabgesetzt, wozu ich gleich bemerken will, daß die
linke untere Extremität um IVa cm gegenüber der rechten ab¬
gemagert erscheint. Sonst sind keine zerebralen oder spinalen
Lähmungserscheinungen nachweisbar.
Das schwer zu beurteilende sind die Koordinationsstörungen.
An der linken oberen Extremität besteht kein eigentlicher Inten¬
tionstremor, sondern es tritt erst nach der Erreichung des Zieles
ein eigentümlicher Tremor der ganzen Hand ein, der sich bis¬
weilen dem ganzen Körper mitgeteilt hat. Rechts findet sich
das kaum angedeutet.
Noch sonderbarer ist das Verhalten der unteren Extremität.
Hier tritt dieses Verhalten noch viel prägnanter hervor, indem
das Schütteln nur links besteht und rechts überhaupt nicht
auftritt.
Bei intendierten Bewegungen tritt eine eigentümliche Zitter¬
störung auf, welche an Paralysis agitans erinnert.
Der Gang ist breitbeinig, unsicher, ganz eigentümlich und
wenn man die Spurweite des Ganges zu verengen strebt, treten
Erscheinungen auf, die uns wohl ohneweiters zur Diagnose
Hysterie drängen würden.
Man könnte somit geneigt sein, das ganze Krankheitsbild
als Hysterie aufzufassen, da sich sicher organische Symptome
die den Zustand erklären würden, nicht auffinden lassen; allein
die Erfahrungen, welche auf dem Gebiet der Pseudo- und diffusen
Sklerose gemacht wurden, scheinen uns hier doch sehr zur
Vorsicht zu mahnen.
Abgesehen davon, daß bei Pät. sonst von Hysterie nichts
zu finden ist, erscheint der jahrelange Verlauf, ferner insbesondere
die Volumsabnahme der linken unteren Extremität zumindest
außerordentlich auffallend. Schließlich hat er, obwohl er Lues
absolut in Abrede stellt, doch einen mittelstark positiven Wasser¬
mann.
Es wäre denkbar, daß es sich hier um eine disseminierte,
vielleicht diffuse luetische Erkrankung handelt, mit zahlreichen
funktionellen Symptomen, eine interessante Analogie zu den
Erfahrungen bei der multiplen Sklerose.
Schließlich möchte ich noch auf eine Impetigo hinweisen,
die vielleicht ebenso als kutane, neurotrophische Störung auf’
zufassen wäre, wie die bei der Pseudosklerose wiederholt be¬
schriebenen Akneeruptionen und der Dekubitus.
Ferner erlaube ich mir noch eine 28jährige Pat. zu de¬
monstrieren, die früher gesund, im Mai vergangenen Jahres ein
Schädeltrauma durch Sturz von der „Elektrischen“ erlitten haben
soll. Sie kam am 10. Juni v. J. mit einer linkseitigen, peri¬
pheren VlI-Lähmung in die Ambulanz der Klinik. Die Lähmung
heilte mit dem Ausgang in Kontraktur. Weihnachten 1910 er¬
krankte Pat. mit der rechtseitigen VII -Lähmung, die Sie jetzt
an ihr sehen. Es besteht Uebererregbarkeit vom Nerv aus, gal¬
vanische Lebererregbarkeit vom Muskel mit Prävalieren der
Anodenzuckung. Interessant ist der Bewegungseffekt beim
Schließen der Augenlider. Da Pat. einen positiven Wassermann
hat, handelt es sich vielleicht bei dieser Fazialislähmung ä bascule
um einen basalen luetischen Prozeß.
Assistent Dr. J Bauer: Ueber die Schwereempf in-
d ung.
Bei der Abschätzung gehobener Gewichte spielen drei Fak¬
toren eine Rolle: die Beurteilung der Intensität des zum Heben
des Gewichtes erforderlichen Innervationsimpulses, die Beurtei¬
lung des Effektes dieses Invervationsimpulses, also die Beurtei¬
lung der Hubgeschwindigkeit und Hubhöhe und schließlich eine
peripher ausgelöste spezifische Empfindung des Spannrings- und
Dehnungszustandes der Sehnen und Muskeln sowie Druckempfin¬
dungen der Haut und der tiefen Teile, also eine eigentliche
Sch w er eemp f in dung .
In die Pathologie der ersterwähnten Komponente der Ge¬
wichtsschätzung gehören f älle mit Störungen der motorischen
Kraft. Da zur Erreichung des gleichen Effektes beim Heben
von Gewichten auf der paretischen Seite ein stärkerer Innerva¬
tionspuls erforderlich ist als auf der gesunden, werden Gewichte
auf der paretischen Seite relativ überschätzt. Bei Unvermögen,
den Effekt des zum Heben abgegebenen Innervationspulses, die
Hubgeschwindigkeit und Hubhöhe zu beurteilen, also bei Stö¬
rungen der Lage- und Bewegungsempfindung, werden Gewichte
auf der erkrankten Seite unterschätzt. Um speziell die dritte Kom¬
ponente, die Schwereempfindung möglichst isoliert untersuchen
zu können, bedient sich Bauer der von ihm so genannten „pas¬
siven Schätzung“, wobei der Untersuchende die Arme des
Untersuchten über dem Handgelenk erfaßt und erhebt, während
der Untersuchte bei Vermeidung aktiver Innervationen die an
seinen Händen hängenden Gewichte schätzt. Auf Grund seiner
Untersuchungsergebnisse schließt Bauer, daß Störungen der
Schwereempfindung nicht immer mit Störungen der übrigen Em-
pfindungsqualitäten der tiefen Sensibilität verbunden sein müssen
und führt den Fall Lotmars an, der bei einer alten Kleinhirn¬
apoplexie auf der kranken Seite eine Herabsetzung der Schwere¬
empfindung ohne Störung aller übrigen Empfindungsqualitäten
nachweisen konnte. Es gibt eine Dissoziationsform der
Bathyanästhesie, bei der die S c h w e r e e in p f i u d u n g
allein intakt und eine, bei der sie allein geschä¬
digt sein k ann.
Normale Rechtshänder überschätzen im allgemeinen er¬
hobene Gewichte links, Linkshänder rechts. Die hiefür bisher
angenommene Erklärung, daß die Differenz in der Kraftleistung
beider Seiten dieses Verhalten bedinge, erweist sich als unzu¬
reichend, da Bauer von 100 untersuchten normalen Personen
13 fand, welche auf der motorisch stärkeren Seite überschätzten.
Ueberdies wird der gleiche Schätzungsfehler zumeist auch bei
passiver Schätzung gemacht, während in sechs - Fällen konstant
bei passiver Schätzung auf jener Seite überschätzt wurde, welche
bei aktiver Schätzung unterschätzte. Man muß annehmen, daß
die Schwereempfindlichkeit, die Feinheit des Perzeptionsapparates
in Sehnen und Yluskeln bei Rechtshändern links, bei Linkshändern
rechts schärfer ist. Diese Annahme erklärt alle Versuchsergeb¬
nisse. Die höhere Schärfe der Schwereempfindung der rechten
Seite und damit Uebersch ätzen von Gewichten auf dieser Seite
bei passiver Schätzung gehört zu den Merkmalen der latenten
Linkshändigkeit. Die Annahme der verschiedenen Feinheit der
Schwereempfindung beider Seiten steht im Einklang mit der
insbesondere von Biervliet festgestellten Differenz in der
Schärfe der taktilen Empfindlichkeit^ der Seh- und Hörschärfe
beider Seiten. Befremdend ist nur, daß die bezüglich aller üb-
Nr. b
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1011.
189
lägen Qualitäten bevorzugte Seite, beim Rechtshänder die rechte, !
beim Linkshänder die linke, die geringere Schwereempfindlicli-
keit haben würde. Die Koinzidenz dieser von Bauer angenom¬
menen. Sonderstellung der Schwereempfindung und der von
Lotmar angenommenen, ihr allein zukommenden Beziehung
zur homolateralen Kleinhirnhälfte ist zu verlockend, als- daß man
nicht einen inneren Zusammenhang vermuten dürfte, vielleicht
der Art, daß beim Rechtshänder nicht allein die linke Gro߬
hirnhemisphäre, sondern auch die linke Kleinhirnhemisphäre
besser entwickelt wäre.
Priv.-Doz. Dr. G. H o 1 z k ne c h t : Ei n häufig e r c h a r a k
teristischer Befund bei neurotischen Dysphagien
(Oesopbagusatonie).
Fast die Hälfte der1 Fälle, welche wegen Schlingbeschwerdm
zur Untersnchung kommen, haben ein früher fast unbekanntes
Krankheitsbild gezeigt: die Rosenhe im sehe Oesophagus-
atonic. Statt in fingerlanger, geschlossener Säule den Oeso¬
phagus in zirka sieben Sekunden zu passieren, verteilt sich eine
Portion geschluckter breiiger Ingesten mittels! einiger Schluckakte
im ganzen, Oesophagus, bleibt dann verschieden lange, oft viertel¬
stundenlang, liegen oder wird mittels vieler, einander folgender
Schluckakte langsam, man möchte sagen mühsam in den Magen
befördert. Läßt sich der normale Schluckakt bei breiigen Speisen
mit dem Ausstreichen einer weichen Wurst vergleichen, die man
erst mit dem Messerrücken vollständig durchquetscht, um sie
dann mit einem Strich zu entleeren, so gleicht die Ingestenbetör¬
rung bei der Oejsophagusatonie dem wiederholten schwachen
Hinstreichen über die ganze Länge der Wurst. Redner gibt hier
die Erwägungen und Befunde wieder, welche Dr. Ol blert und
ihn (Holzknecht und G Ib-ert-Mariehbad : Die Atouie des
Oesophagus. Zeitschrift für klinische Medizin, 71. ßd., FI. 1
und 2) zu der Annahme geführt haben, daß- die Ursache dieser
Schluckstörung ein atonischer Zustand der Muskulatur ist. Sub¬
jektiv häufig symptomlos, besteht der Zustand meist das ganze
Lehen hindurch und wird zeitweise von verschiedenen neuro¬
tisch gefärbten subjektiven Symptomen überhäuft, welche durch
Hyperästhesie als einfache Schlingschwierigkeit, Krampfgefühle
in Hals und Brest, Würg- und Erstickungsanfälle sich darstellen,
um in einzelnen Fällen (ohne sonstige Ursachen als etwa beglei¬
tende Atoni-en der übrigen Hohlorgane) zu nicht unbedenklichen
Inanitionszuständen zu führen. Die Neurasthenie, Hysterie
und besonders häufig die Zyklothymie sind es, die hei vor¬
handener atonischer Disposition, wie sie insbesondere der
Still er sehe Habitus darbietet, zu den oft alarmierenden und
falsche Deutungen provozierenden subjektiven Beschwerden
führen, welche häufig den Anschein des Oe-sophagospasmus, der
selten ist, hervorrufen (Pseudoösophagos'pasmus).
Ohne Röntgenuntersuchung kann der Befund von Bestell
dickbreiiger Ingesten (Pralines) in den Valleculae und den
Sinus pyriformes den Verdacht bestärken. Daß Sondierung und
Kokainisierung therapeutisch erfolglos sind, zeigt unsere Erfah¬
rung und die Genese (auslösende Psychoneurosen) weist die Af¬
fektion therapeutisch in den Bereich der Neurologie. Der Nach¬
weis muß sich des Breies von dickster Konsistenz bedienen.
Flüssigkeit passiert glatt, größere Bissen passieren besser als
Brei, obwohl sie subjektiv oft größere Beschwerden machen.
Dr. Pötzl fragt, ob dieser Befund bei den Zyklothymien
nicht Schwankungen daxgeboten hat, je nach der depressiven
und der hypomanischen Phase. Es wäre zu erwarten, daß die
Beschwerden der Kranken in der depressiven Phase allein oder
wenigstens besonders stark auftreten. Die Frage ist nun, oh
sich auch der objektive Befund im Röntgenbild phasenweise
ändert oder nicht.
Dr. Holz kriecht: Bei der Zyklothymie findet sich die
subjektive Dysphagie im depressiven Stadium, der objektive Be¬
fund der Dysphagia atonica verschwindet aber auch in den hypo-
manischen nicht. Auf qantitative Differenzen konnten wir nicht
untersuchen.
Diskussion zum Vortrage Dr. Faltas: Ueber TJeber-
funktion und Konstitution.
Dr. Pötzl: Manch© Verhältnisse, die Falta in seinem
Vortrage dargelegt hat, sind von Bedeutung für die Pathologie ge¬
wisser Psychosen, insbesondere der manisch-depressiven Psy¬
chose und der Dementia praecox. Das gilt zum Beispiel für die
Wesensverschiedenheit zwischen alimentärer Glykosuric und
Adrenalinglykosurie, die auch Ep ping er, Heß und ich hei der
Durchführung pharmakologischer Funktionsprüfungen gefunden
haben. Es ergab sich bei diesen Psychosen nicht nur kein strikter
Parallelismus zwischen Adrenalinglykosurie und niederer Assi-
milationsgrenze für Dextrose, sondern zum Teil sogar ein ge¬
wisser Gegensatz.
So zeigte sich in einigen Fällen von zirkulärer Psychose, die
wir durch verschiedene Phasen verfolgen konnten, in der depres¬
siven Phase ein Tiefstand der Assimilationsgrenze für Trauben¬
zucker, während im Adrenalinvorsuch eine glykosurische Re¬
aktion fehlte. Im Intervall und in der manischen Phase stieg
die Grenze für die Zuckerassimilation erheblich an und nun erst
stellte- sich Adrenalinglykosurie ein.
Diese Befunde sind bereits veröffentlicht. Ich komme hier
nur so weit auf sie zurück, als sie das Faltasche Thema, Ueber-
iunktion und Konstitution berühren.
Wie auch Falta hervorgehoben hat, ist die niedere Assi:
milationsgrenze für Traubenzucker wohl auf eine leichte In¬
suffizienz der Pankreasfunktion zurückzuführen. Das gilt auch
für den erwähnten Spezialfall. Es läßt sich also in Fällen von
manisch-depressiver Psychose zuweilen ein Schwanken der Funk¬
tionsbreite des Pankreas erschließen; diesie erreicht in den de¬
pressiven Phasen ein Minimum, steigt aber im; Intervall und in
den Zeiten der Manie- zu einer höheren Leistungsfähigkeit an.
Mit diesem Sinken und Steigen der Pankreasfunktion zu¬
gleich ist ein Sinken und Steigen in dem Grade der medikamen¬
tösen Erregbarkeit des Vagussystems zu konstatieren; es besteht
also ein gleichsinniges Schwanken des Tonus in jenem vegeta¬
tiven Nervensysteme, das der inneren Sekretion des Pankreas
koordiniert ist.
Wir haben seinerzeit betont, daß unsere Versuche allein keine
Entscheidung darüber bringen können, ob der Anstoß zu diesen
Veränderungen in der vegetativen Sphäre direkt unter dem Ein¬
flüsse- des Zentralnervensystems oder durch Aende-rungen in der
chemischen Koordination und in den Funktionen des hormono-
poetischen Apparates erfolgt.
Jedenfalls könnte dieser Vorgang durch bestimmte Aende-
rungen der chemischen Koordination begünstigt und erleichtert
werden, vor allem, den Befunden Eppingers, Faltas, Ru¬
di ng-ers entsprechend, durch einen Hyperthyreoidismus. Der
durch ihn bewirkte herabstimmende Einflußi auf die Pankreas¬
funktion würde aus vorläufig noch unbekanntem Gründen gerade
in den depressiven Phasen besonders stark zum Ausdrucke
kommen, während im Intervall und in der Manie andere Folgen
des Hyperthyreoidismus überwiegen würden, so die Labilität des
Vasomotorentonus; das Krankheitsbild würde ähnlich hin- und
herschwanken, wie zuweilen beim Morbus Basedowi : zwischen
starker Erregung Und abnorm geringer Erregbarkeit, - Erschöpfung
— des1 Vagussystems.
So läßt es sich vielleicht verstehen, daß. gerade bei der
manisch-depressiven P'sVchose Morbus1 Basedowi und Formes
freistes dieser Erkrankung auffallend häufig sind, während vice
versa die Psychosen bei Morbus Basedowi sehr oft mansch-depres¬
sive Bilder zeigen (Hirse hl u. a..). Ob! es heute schon statthaft
ist, diese Beobachtungen zu generalisieren und eine Funktions¬
störung der Schilddrüse als einen Hauptfaktor in der Aetiologie
der manisch-depressiven Psychosen anzusehen, läßt sich wohl
noch nicht entscheiden ; e-s gibt zu viele Fälle-, die die objektiven
Kriterien dös Hyperthyreoidismus vermissen lassen oder wenig¬
stens nicht deutlich genug zeigen. Vor kurzem hat S-transky,
vom S e r n sehen Begriff des Basedowoids ausgehend, versucht,
die Aetiologie der manisch-depressiven Psycho-se in ein Zusammen¬
wirken von Dysthyreoidismus mit -einem Locus minoris resistentiae
bestimmter Art aufzulösen. Auch diesen Erklärungsversuch trifft
das' "eben Gesagte-.
Mag aber auch der Anteil des Hyperthyreoidismus an der
Aetiologie der manisch-depressivein Psychose- noch unbestimmt
bleiben müssen, so ist doch gerade aus der Art der vegetativen
Veränderungen die Gleichrichtung und die Parallelwirkung
zwischen manisch-depressiver Psychose und Hyperthyreoidismus
leicht zu verstehen. Es ergibt sich von selbst, daß der Hyper¬
thyreoidismus ein Faktor ist, de-r die Auslösung dieser Psychose
zu fördern vermag.
Anders bei der Dementia praecox. Aus den Psychosen, die
zur Dementia praecox-Gruppe gerechnet werden, sollen an dieser
Stelle nur die akuten Phasen der Katatonie herausgegriffen werden,
da es sich hier um Erkrankungen handelt, deren Auftreten und
Abklingen man häufig in ähnlicher Weise beobachten und ver¬
folgen kann, wie die einzelnen Phasen vieler zirkulärer Psychosen.
Wir fanden nun bei diesen fast ausnahmslos- folgendes
Gesamtbild: Starke Vagusübererregbarkeit. hohe Toleranz für
Kohlehydrate (Assimilation von 200-0 bis 300-0 Dextrose), dabei
Adrenalinglykosurie, oft in exzessiven Graden (Ausscheidung von
12-0 bis' 15-0 Dextrose im Adrenalinversuch); endlich die. schon
von v. Wag her und seinen Schülern nachgewiesenen Störungen
des1 intermediären Stoffwechsels, die Azetonurie und D-iazeturie.
Dieses Ensemble erinnert an Verhältnisse hei der Säurevergil-
190
WIENER KEIN ISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
lung und beim Coma diabeticum ein Vergleich, den u. a. schon
Kau ff mann gezogen hat. Eine weitere Aehnlichkeit mit dem
Coma diabeticum liegt vielleicht darin, daß, wie wir* in einzelnen
I allen fertstellen konnten, zuweilen die Assimilationsgrenze für
Dextrose mit der Besserung der Psychose zu niedrigeren Werten
absinkt, daß also zuweilen während der akuten Psychose eine
erhöhte Toleranz für Kohlehydrate besteht.
Bei dem Zusammentreffen aller dieser Störungen ist also
die Funkti on sbreite des Pankreas nicht nur nicht verringert,
sondern zuweilen sogar erhöht. Fragen wir uns, auf Basis welcher
Anomalie der chemischen Koordination dieses Ensemble ceteris
paribus am leichtesten ausgelöst werden kann, welche Verände¬
rung im hormonopoelischen Apparat esi am1 besten begünstigen, so
kommen wir abermals auf die Thyreoidie, aber im Sinne des
Hypothyreoidismus.
1 atsächlich ist die Konstitution der Dementia praecox von
vielen Seiten und aus vielfältigen Gründen gerade mit dem Hypo¬
thyreoidismus in Beziehung gebracht worden; vereinzelte Fälle
von Dementia praecox erinnern auch wirklich an den Habitus
der Myxödem atösen. Jedenfalls läßt sich1, wenn auch mit Reserve-,
behaupten, daß zwischen Hypothyreoidismus und Dementia
praecox ähnliche Beziehungen im Sinne der Gleichrichtung und
Förderung bestehen, wie zwischen manisch-depressiver Psychose
und Hyperthyreoidisinus.
Bekannt ist das gegensätzliche Verhalten der Konstitu¬
tionen dieser beulen Psychosengruppen, das vor allem in der
Heredität zum Ausdruck kommt. Ein Zusammentreffen der beiden
Psychosengruppein in derselben Familie ist eine seltene Aus¬
nahme; in der überwiegenden Zahl der Fälle schließt die eine
die andere aus.
Es scheint also, daß der gleiche Gegensatz, den die beiden
Konstitutionen im hereditären Verhalten zeigen, auch in ihren
Beziehungen zur chemischen Koordination sich wiederfindet.
Priv.-Doz. E. S t r a n s k y bemerkt gegenüb er d en Ausführungen
Pö t z 1 s, mit dem (H y p e r thyreoidisrnus komme man, hier nicht allein
aus, in den Depressionszuständen ist das Bild oft eher ein hypo-
thyreoidistisches, myxödemähnliches (Redner erinnert auch an
Tomaschnys interessante Beobachtung); also die Annahme
einer Dysthyreoidisation sei vorzuziehen. Straus ky möchte auch
hei aller eigenen Anerkennung für die Disparatbeit der manisch-
depressiven und der Präkoxanlage, schon mit Rücksicht auf die
Ergebnisse von Herze-, auch jene von Pile z, nicht gerade von
einer Gegensätzlichkeit beider sprechen; fast eher könnte man
solche Gegensätzlichkeit im Rahmen der allgemeinen Degene--
ration zwischen paranoischer und manisch-d-etpressiver Anlage,
wenn auch gleichfalls nur mit Beschränkungen, annehmen. Redner
hat in1 einem kürzlich erschienenen Aufsatz, den Pötzl ja zitiert
hat, seinen Gedanken hierüber Ausdruck gegeben, möchte daher
ob der Kürze der Zeit hier nicht nochmals1 das nämliche wieder¬
holen, resp. noch weitere Details hinzufügen, zumal es demnächst
noch aii anderer Stelle erfolgen wird. (Nachschrift: Eben¬
darum habe ich auch auf ein1© Replik gegenüber Kollegen Pötzl
verzichtet, dessen weiteren Ausführungen — siehe unten — meines
Erachtens manches Bedenken entgegenzuhalten wäre; auch habe
ich aus B-erzes an gezogenen Arbeiten nicht das herausgelesen,
was Kollege Pötzl daraus entnimmt. Stransky.)
D-r. Pötzl: Die Befunde Berzes lassen sich meiner An¬
sicht nach keineswegs als Argument gegen die von mir1 vorge¬
brachten. Anschauungen verwerten; sie scheinen mir im Gegen¬
teil nur eine Stützte für sie zu enthalten, da sie in schlagender
Weise die Einheitlichkeit der vererbbaren Konstitution bei De¬
mentia praecox beweisen. Paranoia und Dementia praecox sind
meiner Ansicht nach keineswegs Gegensätze; sie kommen auch
nicht selten zusammen in den gleichen Familien vor. Der Begriff
der Dementia praecox wird vielleicht mit der Zeit gleichbedeutend
w-erden mit dem Begriff jener identischen konstitutionellen Basis,
auf der sich verschiedene, w-enin auch in vielen wichtigen Zügen
der Symptome und des Verlaufes ähnliche Psychosen entwickeln
können, so vor allem Hebephrenie, Katatonie und Paranoia.
Priv.-Doz. Dr. Falt a : Herr Kolleg-el Pötzl hat die Ansicht
ausgesprochen, daß man depressive Zustände hei Morbus Ba-
sedowi schwer auf Hyperthyreoidismus, sondern vielmehr nur
auf Dysthyreoidismus zurückführen könne. Ich möchte- nur einen
Fall erwähnen, der vor kurzem auf der Klinik v. N o or d en zur
Beobachtung kam. Ein zirka öOjähriger Pat. zeigte mit dem
Auftreten biased owischer Symptome auch psychische Depression
und Selbstmordideen. Alle Erscheinungen klangen rasch ab.
Nach Darreichung von Schilddrüsentahletten stellten sich bereits
am dritten Tage wieder Selbstmordideen ein. Ich möchte daher
annehmen, daß der Hyperthyreoidismus sowohl manische wie
Nr. 5
depressive Zustände aus lösen kann, je nachdem das Zentral¬
nervensystem für den einen oder den anderen Zustand eine Dispo¬
sition besitzt.
_
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte
in Böhmen.
Sitzung vom 20. Januar 1911.
Kreil) ich: lieber die Entstehung des melano-
t i s C h e n H a u t p i g m e n t e s. (Siehe Wiener klinische Wochen¬
schrift 1911, Nr. 4. S. 117.)
Kr ei hieb: Demonstration je eines Falles vom Pemphi¬
gus vegetans und Pemphigus foliaceus.
R. Salus: Demonstration eines' Falles von Erythema
exsudativa m multifor m e d e- r H a u t u n d d e r K o n j u n k-
t i v a.
H. V i e-n er: Lieber die Art der Funktion der Epi- '
th eikör perch-eiü.
Der Vortragende beschäftigt sich mit der Frage, ob die Epi¬
thelkörperchen eine sekretorische oder entgiftende Funktion
haben. Für erste-re- besteht kein Anhaltspunkt, für letztere spricht
die Tatsache, daß man durch Injektion von Serum tetaniekranker
Tiere hei normalen Tetanieerscheinungen -erzeugen kann. Dem
\ oi tragenden gelang es nun, ein Antigen gegen das Tetaniegift
zu erzeugen, welches die Tetanie zu heilen imstande! war. D-a er
dasselbe in seltenen Fällen auch bei normalen Tieren nach*
weisen konnte, so sieht er in dieser Tatsache die Erklärung,
warum manche Tiere trotz totaler Parathyreoidektomie nicht an
Tetanie- -erkranken und warum auch die Injektion von Tetanieserum
nicht hei allen Tielre-n Tetanie erzeugt.
Wenn .auch durch diese gefundenen Tatsachen die Ent-
giftungstheorie nicht bewiesen ist, erscheint sie doch wesentlich
gestützt * H. Pribram -Prag.
Programm
der am
Freitag: <len 3. Fefiruar 1911, um 7 IJlir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Dr. S. F.xiier stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Priv.-Doz. Dr. 0. Kaliler und Prof. Dr. 0. Stoerk : Broncho-
stenose bei Vorhofvergrößerung. (Demonstration.)
2. Prof. Dr. It. Kraus und Dr. M. v. Draff: Ueber die Einwirkung
des Plazentarserums auf menschliche Karzinomzellen.
3. Prof. Dr. Härtner : Die Messung der Luftdurchgängigkeit der -
Nase.
4-. Dr. Hecht und Dr. Köhler: Untersuchungen über Asepsis (mit
Demonstration).
Vorträge haben angemeldet die Herren: Clairmont und Haudek,
S. Federn, Max llerz, Julius Neumann, Ed. Hermann und L. Wiek.
Bergmeister, P a 1 1 a u f.
Um die reclitzeitijje Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer nocli am Sitzung-sabend zu übergeben.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 6. Februar 1911, 7 Uhr abends, im J
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz
des Herrn Hofrat Prof. Ohersteiuer stattfindenden wissenschaftlichen
Versammlung.
Dr. Siegfr. Weiß: Stillung, ihre Technik und Indikationen.
Gesellschaft für physikalische Medizin.
Programm der am Mittwoch den 8. Februar 1911, um 7 Uhr abends, im
Hörsaale der Klinik Noorden, unter dem Vorsitze von Priv.-Doz. Dr. Max
Herz stattfindenden Sitzung.
1. Demonstrationen.
2. Dr. Alois Fischer: lieber ein neues hochaktives Radium¬
emanationspräparat (mit Demonstrationen).
3. Priv.-Doz. Dr. Ant. Hum: Ueber Kombination physikalischer
Behandlungsmethoden.
Kollegen als Gäste willkommen.
Dr. Max Kahane, I. Sekretär. Priv.-Doz. Dr. Max Herz, Präsident.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch den 8. Februar 1911.
Programm:
1. Administrative Sitzung.
2. Wissenschaftliche Sitzung (Demonstrationen).
Der Sekretär.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Knbasta. Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien
Druck von Bruno Bartelt, Wien XVIII., Theresiengasse 3.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
G. Braun, 0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. finger, M, Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko, H. Meyer. J, Moeller,
K. v. Noorden, H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Theodor Escherich, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs, Julius Hochenegg, Ernst Ludwig
Edmund v. Neusser, Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuohhändler, VIII/i. Wickenburggasse 13. Telephon 17.618
XXIV. Jahrg. Wien, 9. Februar 1911 Nr. 6
INHALT:
f. Originalartikp] : 1. Aus dem staatl. -serotherapeutischen In¬
stitute in Wien (Vorstand: Hofrat Prof. Paltauf) und der
geburtshilfl. - gynäkol. Klinik in Wien (Vorstand: Prof. Wert-
heiin). lieber die Wirkungen des Plazentarserums und des
Serums Gravider auf menschliche Karzinomzellen. Von Professor
R. Kraus und E. v. Dr. Graff. S. 191.
2. Aus der chirurgischen Abteilung des Obuchow-Krankenhauses
für Frauen zu Petersburg. (Oberarzt I. Grekow.) Zur Frage der
Wechselbeziehungen zwischen entzündlichen Erkrankungen des
Processus vermiformis und der Tuba Fallopii mit besonderer
Berücksichtigung der Perforation des Wurmfortsatzes in die
Tube. Von I. 1. Grekow. S 194.
3. Ueber Körperproportionen der Kretinen. Von Oberbezirksarzt
Dr. Arnold F.linker in Czernowitz. S. 196.
4. Aus dem pathol. -anatom. Institut in Wien. (Vorstand: Hofrat
Weichselbaum.) Beitrag zur Kenntnis der Streptothrix-Er-
krankungen des Menschen. Von Georg Gjorgjewic, derzeit
Assistent an der dermatologischen Kiinik in Innsbruck. S. 198.
5. Quarantänestudien. Von Dr. Emil Wiener. S. 201.
II. Diskussion: Aus der Kinderabteilung des k. k. Kaiser Franz
Joseph-Spitales in Wien. (Vorstand: Primarius Priv.-Doz. Doktor
Paul Moser.) Kritische Bemerkungen zur Arbeit von G. Simon
über meine Methode der Permanganattitration des Liquor
cerebrospinalis. Von Dr. phil. et med. Ernst Mayerhofer. S. 205.
III. Referate: Innere Sekretion. Ihre psychologischen Grundlagen
und ihre Bedeutung für die Pathologie. Von Prof. Dr. Artur
Biedl. Ref.: Wiesel. — Die Blutdrucksteigerung vom ätio¬
logischen und therapeutischen. Standpunkt. Von Dr. Karl Hase-
broek. Ref.: H. Winterberg. — Handbuch der Geschlechts¬
krankheiten. Von Prof. Dr. E. Finger, Prof. Dr. J. Jadassohn,
Prof. Dr. S. Ehr mann, Priv.-Doz Dr. S Groß. Ref.: Merk
(Innsbruck). — Praktische Ergebnisse aus dem Gebiete der
Haut- und Geschlechtskrankheiten. Von A. Jesionek. Ikono-
graphia Dermatologica. Die Wassermannsche Reaktion njit be¬
sonderer Berücksichtigung ihrer klinischen Verwertbarkeit.
Von Priv.-Doz. Dr. Harald Boas. Hereditäre Syphilis, deren
Prophylaxe und Therapie. Von Prof. Alfred Fournier. Ref.:
Nobl. — Bei den Eskimos in Westgrönland. Von Dr. Rudolf
Trebitsch. — Ref.: Rudolf Pöch.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Nekrologe: Johannn Csokor. Von Hartl. - Willibald Nagel.
Von D u r i g.
VI. Vermischte Nachrichten.
VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte
Aus dem staatl.-serotherapeut. Institute in Wien (Vor¬
stand: Hofrat *Paltauf) und der geburtshilfl. -gynäkol.
Klinik in Wien (Vorstand : Prof. Wertheim).
Ueber die Wirkungen des Plazentarserums
und des Serums Gravider auf menschliche
Karzinomzelien.
Von Prof. R. Kraus und Dr E. v. Graff.
Salomon und Saxl1! konnten zeigen, daß im Harne
krebskranker Menschen die Oxyproteinausscheidung gestei¬
gert ist. Bei gesunden Individuen oder bei andersartigen
Krankheiten wurde dieser Befund nicht erhoben. Nor im
Harne der Graviden ließ sich in gleicher Weise, wie bei
Krebskranken die Vermehr ung der Üxyproteinsäure nach-
weisen.
Einen weiteren Parallelismus im Stoffwechsel gravider
und krebskranker Menschen haben dann Falk und Hesky2)
aufgedeckt. Falk, Salomon und S a x 1 3) haben im Harne i n
Fällen von Karzinom eine auffallende Vermehrung der Poly¬
peptide feststellen können. Falk und Hesky haben den
gleichen Befund auch bei Graviden ermittelt (Vermehrung
der Aminosäuren und des Peptidstickstoffes.) (Interessant
ist die Beobachtung, daß erst in den späteren Monaten der
Gravidität diese Aenderung des Stoffwechsels konstatier¬
bar ist.)
Dieser Parallel ismus im Stoffwechsel der Graviden und
Karzinomkranken ließ den Gedanken zu, ob nicht vielleicht
das Serum Gravider den Karzinomreaktionen gegenüber
(Meiostagminreaktion von As coli und Zellreaktion von
Freund und Kamin er, Neuberg) sich gleich verhält,
wie das Serum Karzinomatöser.
In dieser Untersuchungsreihe sollte zunächst der Par¬
allelismus des Serums Gravider und Krebskranker in ihrem
Verhalten zu Karzinomzellen geprüft werden. Die diagno¬
stische Verwertbarkeit dieser Reaktion haben wir zunächst
gar nicht berücksichtigt.
E. Freund und G. K amine r haben gezeigt, daß das
Serum gesunder und kranker Menschen (z. B. Tuberkulose,
Nephritis, Pneumonie, Lues), die Fähigkeit besitzt, Kar¬
zinomzellen in vitro zu lösen. Sie konnten feststellen, daß
nach 24 Stunden (37°) die Zahl der Zellen im Vergleich
mit derjenigen am Vortage, beträchtlich abgenommen hat.
Im Gegensatz dazu vermochte das Karzinomserum die
Zellen nicht aufzulösen, die Zahl der Zellen nach 24 Stunden
(37°) war gleich geblieben.
Zunächst haben wir das Serum von Graviden und
vom Nabelschnurblut in ihrer Wirkung auf Karzinomzelien
untersucht und gelangten zu Resultaten, die besonderesinter¬
esse beanspruchen.
192
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
1. Versuch.
20 Tropfen Serum -)- 2 Tropfen Z e 1 1 e m u Is ion (Ca. mammae)
Serum
Zahl der Zellen
Abnahme um
0/
Io
sofort
n. 24 Std.
bei 37°
Hirntumor (1) ....
18'8
40
14-8 = 78-7
Schädelbasisfraktur (2)
148
22
12-6 = 85 T
Tuberculosis manus (3) .
16T
5-5
10-6 = 65-8
Amputation (4) . . . .
20-7
8-8
11-9 — 574
Nabelschnurblut (91
151
14-7
04 = 26
» (10) . .
17T
15-7
1-4 = 8 2
* (11) • •
121
10-8
1-3 = 10-7
* (12) . .
171
137
34 = 198
* (13) . .
137
127
1-0 = 72
Kochsalzkontrolle . . .
21-2
110
102 = 47-6
2. Versuch.
20 Tropfen Serum 4" 2 Tropfen Zellemulsion (Leber¬
metastase).
Zahl der Zellen
Serum
sofort
n. 24 Std.
bei 37"
Abnahme um
0/
Io
Nabelschnurblut (32) . .
295
24-7
4-8 =
163
» (33) . .
243
24-1
0-2 =
08
» (34) . .
27-2
27-7
(Zun.
0-5)
» (36) L .
295
244
5-1 =
172
Kochsalzkontrolle . . .
187
151
3-6 -
192
3. Versuch.
20 Tropfen Serum
1 Tropfen Zellemulsion (Leber¬
metastase).
Serum
Zahl der Zellen
Abnahme um
o /
Io
sofort
n. 24 Std.
bei 37°
Nabelschnurblut (61) . .
185
208
Zun. 17
» (62) . .
36 3
325
3-8 == 10-4
» (63) . .
34-3
313
30 = 87
Kochsalzkontrolle . . .
302
22'8
74 = 24-5
4. Versuch.
20 Tropfen Serum -f- 1 Tropfen Zellemulsion (Leber¬
metastase).
Serum
Zahl der Zellen
Abnahme um
«/
Io
sofort
n. 24 Std.
bei 37«
Empyem (58) ....
283
10’0
18-3 = 646
Nabelschnurblut (53) .
313
290
2-3 = 73
» (54) . .
221
180
4T = 18-5
» (55) . .
24-4
22’0
2-4 = 98
(57) . .
23-8
30T
Zun. 7 7
Kochsalzkontrolle . . .
396
290
106 = 26-7
5. Versuch.
20 Tropfen Serum -)- 2 Tropfen Zellemulsion (Leber¬
metastase).
Zahl der Zellen
Abnahme um
7o
Serum
sofort
n. 24 Std.
bei 37°
Normale Frau (74) . .
250
8-0
17 = 68
» » (75) . .
21-7
115
102 = 47-0
Gravid im 6. Monat (67)
20-5
50
155 = 756
»7. » (66)
2P3
71
14-2 = 666
»7. » (68)
262
12-2
140 = 53-3
» 8. » (69)
29T
132
15-9 = 54-6
» » 8. » (64)
230
16-5
65 = 28-2
» 8. * (71)
234
32 2
11-2 = 478
» »9. » (65)
212
87
125 = 58-9
» » 9. » (70)
26-2
17-7
8-5 = 324
» 10. » (72)
206
17-0
36 = 174
» » 10. » (73)
17T
168
0-3 = 1-7
Nabelschnurblut (76) . .
180
178
0-2 = 11
* (77) . .
203
192
1-1 = 5-4
Kochsalzkontrolle . . .
30-1
200
101 = 335
G. Versuch.
20 Tropfen Serum -j- 2 Tropfen Zellemulsion (Leber¬
metastase).
Serum
Zahl der Zellen
Abnahme um
%
sofort
n. 24 Std.
bei 37°
Normale Frau (86) . .
20T
8T
120 = 597
Gravid im 7. — 8. Monat (79)
22 0
10-2
11-8 = 53-6
» » 10. » (80)
23T
138
93 = 40-2
» » 10. » (78)
221
13-5
8-6 = 389
» » 10. » (96)
24-7
127
20 = 8
Nabelschnurblut (89) . .
300
18-8
11-2 = 373
Säugling (92) .
38-5
14-3
24-2 = 628
hiezu Nabelschnurbl.
180— 178
(93) .
30-4
5
127
17-7 = 58'2
hiezu Nabelschnurbl.
300—18-8
» (94) .
238
120
11-8 = 495
» (95) .
31-0
17-8
13-2 = 42-5
» (30) .
297
58
239 = 80-4
hiezu Nabelschnurbl.
13-7—12-7
Kochsalzkontrolle . . .
29T
224
6-7 = 230
1
Di© hier eben angeführten Versuche wurden mit Karzi-
nomzellen ausgeführt (Care, mammae, Care, metast. hepat.), die
genau nach der Vorschrift von Freund und Kaminer her-
gestellt waren. Zu frischem Serum wurden so viele Tropfen der
Zellemulsion zugesetzt, daß in einem großen Quadranten der
Thomas sehen Kammer ungefähr 20 Zellen gezählt werden
konnten. Es wurden sechs Quadrate gewöhnlich durchgezählt.
Die Eprouvetten wurden 24 'Stunden bei 37° stehen gelassen
und wieder gezählt.
Es zeigt sich zunächst, daß konform den Angaben von
Freund und Kaminer, Serum gesunder Menschen und
auch Kranker, KarzinomJzellen in vitro derart beeinflußt,
daß innerhalb von 24 Stunden die Zahl derselben stark ab¬
genommen hat. Es wurde diese Tatsache nicht nur mit den
hier angeführten Seris, sondern auch noch mit Seris, die
hier nicht speziell verzeichnet werden, ermittelt. Die größte
Abnahme zwischen der Zahl der Zellen, sofort nach dem;
Zusatz des Serums und 24 Stunden nachher, betrug 85-1 °/o
der Anfangszahl, die geringste Abnahme betrug 47°/o.
Wie bereits erwähnt wurde, haben wir weiter unser
Augenmerk auf das Serum der Säuglinge, der Graviden
und Nabelschnurserums gerichtet.
Es ergab sich, daß ganz ähnlich, wie das Serum der
gesunden Menschen, sich auch das Serum der gra¬
viden Frauen (bis zum zehnten Lunarmonat) ver¬
bal t. Inden ersten nenn Monaten der Schwangerschaft
hat das Serum der Graviden Karzinomzellen
ebenso gelöst wie Serum gesunder Menschen. Ein
besonderer Unterschied zwischen der Wirksamkeit des Se¬
rums der ersten Monate gegenüber demjenigen der späteren
Monate, ist bisher nicht feststellbar gewesen. Die Abnahme
betrug maximal = 75-6 °/o, minimal 47-8%, also Zahlen,
die, wie aus den Versuchsprotokollen ersichtlich ist, mit
Serum der Gesunden für gewöhnlich erzielt wurden. (Nur
in einem Fälle hat das Serum [im achten Monat.] eine Ab¬
nahme nur um 28-2 °/o und im Serum [im! 9. Monat] 'uml32-2°/o!
zur Folge gehabt.) Auffallend ist demgegenüber, daß die
Abnahme mit dem Serum der Graviden im zehnten
Monat 40-2°/o, 38-9°/o, 17-4%, 8%, l-7% beträgt. So ge¬
ringe Abnahmen der Karzinomizellen, wie sie mit dem Se
rum der Graviden im zehnten Monat nachgewiesen werden,
sahen wir mit dem Serum der Graviden vom ersten bis
neunten Monat nur zweimal (28-2°/o, 32-4°/o). Allerdings
sehen wir, daß die Wirksamkeit des Serums der Graviden
im zehnten Monat gegenüber den Karzinomzellen eine un¬
gleiche ist, indem im Serum eine Abnahme um 40-2%, an¬
dere dagegen nur um 17-4°/o und weniger (8°/o, l-7°/o) be¬
wirken können.
Wenn auch ein abweichendes Verhalten des Serums
der Graviden im zehnten Monat sicher gegenüber demjenigen
aus dem ersten bis neunten Monate feststellbar ist, kann
Nr. 0
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
193
von einer Konstanz dieser Eigenschaft doch nicht die
Rede sein.
Die Untersuchung des Nabelschnurblutserums*)
ergab demgegenüber ein ganz auffallendes Resultat. Das Se¬
rum, gewonnen aus dem Nabelschnurblut, hat konstant
das Verhalten gezeigt, wie es Freund und Kami
ü.er für da's Serum der Karzinom atösen ange¬
geben haben. Das Nabelschnurblutserum war nicht
imstande Karzinomzellen zu lösen, so daß die
Zahl der Zellen in 24- Stunden fast gleich ge¬
blieben ist. Im ersten Versuch sehen wir durch normale
Sera Abnahme der Karzinomizellen um 85-1 °/o, 78-7! %’,
65-89/0, 57-4°/o, dagegen hat Nabelschnurserum nur Ab¬
nahmen um 19-8%, 10-7 °/o, 8-2°/o, 7-2%, 2-6% bedingt.
Die Differenz zwischen der geringsten Abnahme durch nor¬
males Serum (57-4%) und der größten, durch Nabelschnur¬
serum (l9-8°/o), beträgt demnach 37-6. Im vierten Versuch
beträgt die Abnahme durch normales Serum 6‘4-6°/o, durch
Nabelschnurserum 18-5%, 9-8%, 7-3 °/o. Im fünften Ver¬
such ist die Abnahme durch normales Serum 68°/o, 47°/o,
durch Nabelschnurserum 5-4°/o, 1-1 °/o. Berücksichtigt man
noch dazu die Resultate des zweiten und dritten Versuches,
so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß dem Nabel¬
schnurserum im Gegensatz zum Serum normaler
Menschen und auch Graviden bis zum zehnten
Monat, die Eigenschaft fehlt, menschliche Kar¬
zinomzellen zu lösen. Dieses Serum zeigt kon¬
stant, die Eigenschaften des Karzinomserums.**)
Nachdem wir gefunden haben, daß das Serum der
Graviden im zehnten Monat ebenfalls ein abweichendes Ver¬
halten zeigt, insoferne es, sowie Karzinom -Nabelschnur¬
serum eine Abnahme der Karzinomzellen nicht bedingt, so
ist wahrscheinlich, daß der Verlust der lösenden oder das
Auftreten der hemmenden Eigenschaften des Blutserums
der Graviden erst ante partum zustande kommen dürfte.
Der Nachweis, daß das beschriebene Verhalten im zehnten
Monat nicht konstant ist und daß auch die hemmende
Eigenschaft wohl nachweisbar ist, aber nicht in dem Maße
wie es beim Nabelschnurserum, zu finden ist, spricht mit
großer Wahrscheinlichkeit dafür, daßi die Ursache für diese
Aenderung der Eigenschaft des Serums in der Plazenta zu
suchen sein dürfte. Weitere Versuche in dieser Richtung
sollen auch dieser Frage nähertreten.
Es war noch nachzusehen, wie sich das Serum der
Neugeborenen verhält. Wie aus dem sechsten Versuch her¬
vorgeht, vermag das Serum der Neugeborenen***)
K a r z i n o m z e 1 1 e n zu lösen, so wie das nor m a 1 e
oder das der Graviden. Das hiezu gehörige untersuchte
Nabelschnursemm zeigt wiederum das beschriebene
konstante Verhalten, also keine Abnahme der Kar¬
zinomzellen.
Auch diese Tatsache kann nur so verstanden werden,
daß die dem Plazentarserum zukommende Eigenschaft in die
Plazenta selbst zu verlegen sein dürfte.
Zusammenfassung.
-
-
i von 8 nicht graviden
Frauen .
von 14 schwangeren
Frauen .
| von 19 Nabelschnurblut¬
seris .
I von 5 Säuglingen . . .
Ausgesprochene Zell¬
verminderung
mehr als 50%
17
6
j Keine oder
nur unbedeu¬
tende Zellver-
bis zu 50 °/0 j minderung
3
18
*) Es wurde Blut aus dem mütterlichen Anteil der Nabelschnur
entnommen.
**) Ob die hemmende Eigenschaft des Nabelschnurblutserums auf
eine schützende Substanz wie sie für das Karzinomserum von Freund
und K a miner angenommen wurde, zurückzuführen sein dürfte, haben
wir bisher nicht untersucht.
***) 5 Tage alte Säuglinge.
Tiersera. 7. Versuch.
20 Tropfen Serum -}- 1 Tropfen Zeilemulsion (Leber¬
metastase).
Serum
Zahl der Zellen
r,s
Abnahme um
°/
Io
Ratte (I) .
24-8
190
58 = 233
Ziege (6) . . . .
24'8
275
keine Venninderun
Ziege (46) .
29-6
295
0-1 = 0*3
Kaninchen (I) ....
325
63
26 2 = 80
Kaninchen (II) ....
20-0
5*6
14-4 = 72
Tiersera. 8. Versuch.
20 Tropfen Serum 4- 2 Tropfen Zellemulsion (Ca. mammae).
Serum
Zahl der Zellen
„ , in. 24 Std.
sofort i bei 37°
Abnahme um
01
Io
Hammel .
19-2
18-4
0-8 = 41
Ratte .
121
11-5
0-6 = 49
Ziege .
. i 22- !
180
41 = 1-8
Meerschweinchen . .
25-0
8-4
16-6 = 664
Kaninchen . . . .
. I 14-8
2-8
120 = 824
Zum Schlüsse seien noch Versuche angeführt, die das
Verhalten der Tiers era gegenüber mens ch li c hen K ar-
zinomizellen in Betracht ziehen. (Vers. 7 und 8.)
Die Resultate lehren, daß, es Tierarten gibt, wie
R atte, Ziege, Hammel, derenSeru m nicht imstande
ist, menschliche Karzinomzellen zu lösen und
anderseits Tierarten, deren Serum ebenso stark
menschliche Karzinomzellen löst, wie normales
menschliches Serum. Diese Befunde sollen nur Er¬
wähnung finden, da sie Gegenstand besonderer Bearbei¬
tung, die uns Vorbehalten bleiben soll, bilden werden.
Zu bemerken wäre noch, daß die Ausführung der
Zellreaktion auf besondere Schwierigkeiten stößt, die der
praktischen Durchführbarkeit sicher im Wege stehen dürften.
Das Zellmaterial ist an und für sich schwer zu beschaffen.
Viele Tumoren sind außerdem unbrauchbar, sei es, daß man
keine isolierten Zellen gewinnt, sei es, daß die Zeilen von
normalem Menschenserum nicht aufgelöst werden.
Wir haben deswegen mit v. ZubrzyCki nach an¬
derem Zellmaterial gesucht, welches imstande wäre, Kar¬
zinomzellen zu ersetzen.
Tierische Zellen (Leber) von Kaninchen, Meerschwein¬
chen, Pferd, erwiesen sich als unbrauchbar, da sie vom
normalen Menschenserum nicht gelöst werden. Dagegen ge¬
lang es uns in Versuchen mit Ranzi, in Karzinomzellen
des Mäusekarzinoms ein Material zu finden, welches, wie
die weiteren Versuche zeigen sollen, das menschliche Zell-
material ersetzen könnten.
Zusammenfassend können wir auf Grund der vor¬
liegenden Untersuchungen die Tatsache feststellen, daß das
menschliche Nabelblutserum menschliche Karzi¬
nomzellen nicht zu lösen imstande ist. Dieses
Serum verhält sich demnach konstant so, wie
Karzinomserum (Freund und Kaminer, Neifberg).
Konform den Angaben von Freund und Kaminer und
Neuberg, löst Serum Gesunder und nicht an Karzinom
Erkrankter, konstant Karzinomzellen (Mensch und Maus).
Gleiches Verhalten zeigt auch das Serum der Graviden (bis
zum 10. [Monat). Das Serum der Graviden1 im 10. Monat weicht
insoferne ab, als es nicht imstande ist, so stark Karzinom¬
zellen zu lösen, wie das der Graviden der vorherigen Monate
und häufig sogar die hemmenden Eigenschaften aufweist, die
dem Nabelschnurseram, resp. Karzinomserum eigen sind.
Nachdem wir gefunden haben, daß Nabelschnurserum kon¬
stant sich wie Karzinomserum verhält, Serum der Graviden
im 10. Monat nur inkonstant dieses Verhalten auf¬
weist, so dürften wir wohl dazu gelangen, die Ursache
des konstanten Verhaltens des Nabelschnurserums in die
194
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Plazenta zu verlegen. Die Plazenta, bzw. das wachsende
Ei, dürfte demnach, sowie Tumoren (Karzinom) im Orga¬
nismus Veränderungen bedingen, welche entweder
zum Schwund der karzinoly tischen Eigenschaften
des menschlichen Serums oder zur Bildung der
h e m m enden S u b s t a n z e n f ü h r e n. Berücksichtigt man
noch, daß das Serum der Neugeborenen karzinolytische
Eähigkeit besitzt, so wird diese Annahme noch wahrschein¬
licher gemacht. Dazu kommt noch, wie eingangs erwähnt
wurde, daß Stoffwechsel Untersuchungen von Salomon und
Saxl (Vermehrung der Oxypro teinsäuren im Harn), sowie
Falk und Heski (Vermehrung der Polypeptide im Harn)
ein Parallelismus zwischen den Befunden im Harne bei
Graviden und Tumorkranken nachgewiesen haben.
Es würde sich demnach der- von uns erho¬
bene Befund an diese Befunde anreihen lassen
und die Ueberei ns timmung der Eigenschaften
des Nab elschnurserums ^mi t Karzinomserum
durch gewisse gemeinschaftliche Prozesse im
Chemismus des Stoffwechsels eine physiologi¬
sche Erklärung finden.
Literatur :
Salomon und Saxl, Beiträge zur Karzinomforschung 1910.
Verlag von Urban und Schwarzenberg. — Falk, Salomon und Saxl,
Med. Klinik 1910. — Falk und H e s k y, Zeitschr. für klin. Medizin,
Bd. 71. — Freund und Ka miner, Wiener klin. Wochenschr., XXIII,
Nr. 34; Biochemische Zeitschr., Bd. 26, H. 3 u. 4. — Neuberg,
Biochemische Zeitschr., Bd. 26. H. 3 u. 4.
Aus der chirurgischen Abteilung des Obuchow-Kranken-
hauses für Frauen zu Petersburg. (Oberarzt I. Grekow.)
Zur Frage der Wechselbeziehungen zwischen
entzündlichen Erkrankungen des Processus
vermiformis und der Tuba Fallopii mit be¬
sonderer Berücksichtigung der Perforation des
Wurmfortsatzes in die Tube.
Von I. I. Grekow.
Die Wechselbeziehungen zwischen den Appendizitiden
und den Salpingitiden bildeten in den letzten Jahren den
Gegenstand vieler Arbeiten, die sowohl die Möglichkeit
einer gleichzeitigen Erkrankung der Tube und des Wurm¬
fortsatzes als auch die Möglichkeit des Ueberganges der
Infektion von dem einen dieser Organe auf das andere in
ausreichendem Maße nachgewiesen haben. Die Ausbrei¬
lungswege der Infeklion sind augenscheinlich verschieden.
Ich glaube aber, daß die Ausbreitung der Infektion am
häufigsten unmittelbar infolge der Berührung der genannten
Organe stattfindet.
Da ich über ein großes Material u. zw. weibliches Ma¬
terial, verfüge, hatte ich bereits vielfach Gelegenheit, mich
zu überzeugen, daß der Wurmfortsatz und die rechtsseitigen
Adnexe nicht selten in allernächster Nachbarschaft liegen,
so daß eine entzündliche Erkrankung des einen dieser
Organe fast unvermeidlich, mag es durch die Vermittlung
des Bauchfelles oder durch diejenige von Verwachsungen
bedingt sein, auch das andere Organ in Mitleidenschaft
ziehen muß. Die Differentialdiagnose ist in diesen Fällen
außerordentlich schwierig, und nicht selten ist es fast un¬
möglich, auf die krage, welches Organ das primär erkrankte
ist, zu antworten. Es ist sehr schwer, Irrtümern nach der
einen oder nach der anderen Seite aus dem Wege zu gehen.
Ich könnte viele einschlägige Fälle milteilen, will mich aber
nur auf folgende beschränken, die ich in der Chirurgischen
Gesellschaft zur Demonstration gebracht habe.
A. R., 36 Jahre alt, wurde am 20. März 1909 in diei gynä¬
kologische, dann am 1. Mai nach einer Konsultation mit dem
inzwischen verstorbenen W. A. Was ten in die chirurgische
Abteilung au [genommen. Die Patientin klagte über eine Geschwulst
im Abdomen und über hartnäckige Verstopfungen, die bisweilen
dem Charakter von absoluter Undurchgängigkeit des Darmes an-
luehinefu. Fm Albdomeu konnte man eine zweifaustgroße Ge-
Nr. 6
schwulst nach weisem, die einen Raum einnahm, der von außen
durch die rechte Crista ilei, links durch die Linea alba, unten
durch das Ligamentum Poupartii begrenzt war, nach oben Inn
zwei Querfingerbreiten über den Nabel hinausging. Die Haupt¬
masse der Geschwulst lag der Mittellinie nahe und war mit der
vorderen Rauchwand verlötet. Bei der Untersuchung per vagi-
inam stellte man fest, daß die Geschwulst mit dem rechten
Gebärmutterwinkel in Verbindung stand und teilweise das rechte
Gewölbe ausfüllte:. Die Geschwulst war bretthart und fast
schmerzlos. Es bestand geringer, nicht eitriger Weißfluß. Die
Patientin hat vor drei Monaten zum siebenten Male geboren
und sich seitdem unwohl gefühlt. Bis zur letzten Zeit hat sie
ihrem Kinde die Brust gereicht. Der Ernährungszustand der
Patientin war befriedigend. Von seiten der inneren Organe konnte
nichts Abnormes nachgewiesen werden.
4. Mai 1909: Operation. Schräger Hautschnitt, zirka drei
Querfingerbreiten oberhalb und parallel dem rechten Ligamen¬
tum Poupartii nebst Durchschneidung der unteren Insertion des
rechten Musculus rectus abdominis. Letzterer wurde aus seiner
Scheide bis zur Höhe des Nabel* herausgeschält und nach oben
zurückgeschlagen, worauf die Grenzen der Geschwulst, die mit
der Aponeurose der beiden Musculi obliqui und de* Musculus
rectus abdominis eng verwachsen war, deutlicher zu palpieren
waren. Auf der Höhe des Nabels gelang es an der Stelle der
Verwachsung: der Geschwulst mit dein Peritoneum, die freie
Bauchhöhle zu eröffnen. Nach Resektion des festgewachsenen
Omentums wurde unter Leitung des Fingers das ganze offizielle
Gebiet der Bauchwand in der Ausdehnung eines Handtellers ex-
zidiert, worauf es gelang, die Geschwulst teilweise nach außen
vorzuziehen und sich in ihren Verwachsungen zu orientieren.
Die Mesenterialdrüsen im Winkel zwischen dem Cökum und
Ileum waren stark vergrößert und hart. Die Geschwulst um¬
faßte das Cökum, den Wurmfortsatz, die rechten Adnexe und
ging auf den rechten Gebärmutterwinke] über. Mit der Ge¬
schwulst war dasi Ende des Ileums und die Flexura sigmoidea
verwachsen. Nach Resektion der ganzen affizierten Partie des
Mesenti Hums war ich gezwungen, das Colon ascendens bis zur
Flexura hepatica und ein ziemlich großes Stück (zirka 50 cm)
dos teils nicht affizierten Ileums zu exzidieren.
Der Versuch, den Gebärmutterwinkel zu exzidieren, mi߬
lang (die Nähte haben . durchgeschnitten) und infolgedessen war
ich gezwungen, den Uterus supravaginal zu amputieren, wobei
ich nur die linkseitigen Adnexe zurückgelassen habe, die sich
als normal erwiesen hatten. Das Sigma romanum ohne Kon-
tinuitätstrenming abzulösen, gelang gleichfalls nicht und infolge¬
dessen mußte ich eine keilförmige Resektion desselben mit nach¬
folgender Zw ei etagennah t in querer Richtung vornehmen. Die
Enden des Ileums und des Colon ascendens wurden dicht ver¬
näht, hierauf das fleum mittels Murphy sehen Knopfes mit dem
Sigma romanum unterhalb der Nahtlinie des letzteren vereinigt
(laterale Ueo-Romanostomie). Das Colon trans'versum, das Colon
descendens und ein großer Teil der Flexura war somit ausge¬
schaltet. Die Entfernung der Geschwulst von der hinteren Wand
der Bauchhöhle bot keine Schwierigkeiten mehr dar. Der um¬
fangreiche Defekt der Bauchdecken wurde teilweise durch das
Omentum gedeckt. Der durchschnittene Musculus- rectus wurde
reponiert und sorgfältig angenäht, die Wunde teilweise geschlos¬
sen, meistenteils aber tamponiert. Die Patientin hat die drei¬
stündige, in Aethernarkose ausgeführte Operation gut überstanden.
Der genähte Teil der Wunde heilte per primam, desgleichen der
Musculus rectus. Der Murphy sehe Knopf wurde am 15. Tage
aus dein Rektum extrahiert. Die Patientin hat eine vorüber¬
gehende katarrhalische Pneumonie (höchste' Temperatur 38°) über*!
standen, genas aber sonst ohne besondere Komplikationen. Nach
zwei Monaten wurde sie- mit einer kleinen, oberflächlichen und in
Heilung begriffenen Wunde entlassen.
Das Präparat der Geschwulst erscheint auf dem Quer¬
schnitt als sehr feste, einförmige Masse, in der Merkmale der
dieselbe bildenden Teile des Blinddarmes, des Wurmfortsatzes,
des Ovariums, der Tube und der Mus'kelaponeurosen nicht mehr
zu erkennen sind. Die Geschwulst geht ohne jegliche Grenze
in die Gebärmutter, in den Blinddarm und in die Bauchwand
über. Im .Zentrum der Geschwulst fand man einen taubenei¬
großen Abszeß mit dichtem, übelriechendem Eiter (Pyosalpinx
oder Empyem des Processus vermicularis ?). Die mikroskopische
Untersuchung (F. F. Syssoew) ergab neben kleinzelliger In¬
filtration Fibromyom mit sarkomatöser Degeneration. Den Aus¬
gangspunkt der Erkrankung festzustellen, war unmöglich.
In diagnostischer Hinsicht ist dieser Fäll ein exqui¬
sites Beispiel derjenigen Schwierigkeiten, auf die wir bei
der Diagnose von Geschwülsten und Infiltraten in der rechten
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
195
Fossa iliaca nicht selten stoßen. Unsere mutmaßliche Dia¬
gnose war Aktinqmykose des Blinddarmes. Die nähere Be¬
sichtigung der Geschwulst während der Operation veran¬
lagte uns aber, diese Mutmaßung fallen zu lassen, statt
dessen an eine Neubildung zu denken und so radikal vor-
/.U'gehen, wie es sich für die Patientin als rettend erwiesen
hat. Gegenwärtig, d. h. ein Jahr nach der Operation, erfreut
sich die Patientin einer blühenden Gesundheit, die Darm¬
funktion ist vollständig normal. Anzeichen eines Rezidivs
fehlen vollständig und das interessanteste und für mich, offen
gestanden, nicht ganz verständlich, ist das Fehlen jeglicher
Andeutungen einer Eventration an der Stelle der Resektion
der Bauchwand: man sieht eine feste, eingezogene Narbe
und keine Spur von Vorstülpung. Die in Aussicht genom¬
mene Plastik nach Spischarny erübrigt sich vorläufig
von selbst. Augenscheinlich ist der von mir angewendete
Eingriff, nämlich die temporäre Resektion der un¬
teren Hälfte des Musc'ulus rectus, der obendrein
aus seiner Scheide vollständig herausgeschält wurde, durch¬
aus zweckmäßig und beweist, daß der untere Teil des Mus-
culus rectus mit Nerven versehen ist, deren Eintrittsstelle
sich höher befindet: bei der Löslösung des Muskels habe
ich bemerkbare Nervenäste nicht zu (lurchschneiden gehabt.
Die umfangreiche Resektion des Darmes samt der
Gebärmutter und der Bauohwand ist für solche Fälle meines
Erachtens die einzige zweckmäßige Operation, selbst wenn
eine sarkomatöse Degeneration der Geschwulst, die ihre
Entstehung einem entzündlichen Prozesse verdankt, nicht
vorhanden ist. Die Darmresekiion im Gesunden ist eine we¬
niger gefährliche Operation als beispielsweise die Loslösung
einer Pyosalpinx bei so inniger Verwachsung derselben mit
dem Darm, geschweige denn eine einfache Eröffnung der¬
selben, welche vor Rezidiven nicht schützt und die Bildung
von umfangreichen Verwachsungen zur Folge hat.
In einem ähnlichen Falle wurde bei der 40jährigeu Pa¬
tientin A. B. in der rechten Hälfte des Abdomens eine harte,
höckerige, faustgroße Geschwulst beobachtet, die mit dem Uterus
augenscheinlich in keinem Zusammenhänge stand, und die ich
als vom Wurmfortsätze ausgehend gedeutet habe. Bei der Opera¬
tion fand man eine Pyosalpinx, die mit dem Omentum und mit
einer Ileumschlinge fest verlötet war. Beim Versuch, den Darm
abzulösen, zeigte sich Eiter mit Beimischung von Fäzes.. In¬
folgedessen resezierte ich die Ileumschlinge (25 cm), zog die
Geschwulst nach außen und entfernte sie ohne besondere Mühe.
Der Darm wurde mittels Seidennähten vernäht, die Wunde fest
geschlossen und nach 22 Tagen konnte die Patientin als voll¬
ständig gesund entlassein werden.
Dieser Fäll, der ein Beispiel der schwierigen Diffe¬
rentialdiagnose zwischen Salpingitiden und Appendizitiden
ist, bestätigt meines Erachteins die von mir im Vorstehen¬
den ausgesprochene Meinung, daß das radikalere Vorgehen
bei entzündlichen Geschwülsten in der rechten Fossa iliaca
für viele Fälle sehr vorteilhaft, bisweilen sogar die einzige
zweckmäßige Intervention ist.
Nun möchte ich zur Frage der Wechselbeziehungen
zwischen dem Wurmfortsatz und der Tube hei entzündlichem
Zustand derselben zurückkehren.
Eine besondere Annäherung der Adnexe an den Blind¬
darm und an den Wurmfortsatz findet, während des Wachs¬
tums der schwangeren Gebärmutter statt, namentlich wenn
es sich um lange in das kleine Becken hinunferhängende
Wurmfortsätze handelt, desgleichen bei der Formierung und
Schrumpfung der Bauchfellverwachsungen, die durch ab-
klingencle Appendizitis oder Salpingitis erzeugt worden sind.
Unter solchen Umständen kann jedes nachfolgende Sym¬
ptom oder jede Exazerbation des entzündlichen Prozesses
im Wurmfortsatz oder in der Tube das benachbarte Organ,
welches früher gesund und an der Erkrankung nur passiv
(Verwachsungen) beteiligt war, in Mitleidenschaft ziehen.
In der Sitzung der Chirurgischen Gesellschaft vom 19. Sep¬
tember 1907 habe ich aus Anlaß einer Mitteilung von Pro¬
fessor W. A. Op pel das Präparat eines Wurmfortsatzes
demonstriert, dessen Spitze durch einen streichholzdünnen,
kurzen Strang mit der Spitze der zystenartig aufgetriebenen
Tube verbunden war, deren abdominale Oeffnung ver¬
wachsen war. Dieser Fall hätte bei eventueller Perforation
des Wurmfortsatzes in der Gegend seiner Spitze leicht zur
Bildung einer Fistel zwischen dem Wurmfortsatz und der
Tube führen können, wie dies in dem in der Sitzung von
Prof. W. A. Oppel demonstrierten Fall auch tatsächlich
vor sich gegangen war. Knapp ein Jahr nach der erwähnten
Sitzung hatte ich Gelegenheit eine Patientin zu beobachten,
bei der der Wurmfortsatz in die Tube durch Hit' abdominale
Oeffnung derselben perforiert war und infolge der Verwach¬
sung der uterinen Oeffnung derselben eine Pyosalpinx her¬
vorgerufen hat.
0. M., 19 Jahre alt, wurde wegen einer eitrigen Fistel,
die nach einer Perityphlitisoperation zurückgeblieben war, nach
Petersburg gebracht und in das Petersburger gynäkologische In¬
stitut aufgenommen. Nach der stattgehabten Konsultation wurde
mir die Patientin von Prof. N. N. Phänomen ow und W. A.
Stolypinski behufs Operation überwiesen. Die Patientin hat
im Dezember 1907 und anfangs Februar 1908 zwei Appendi¬
zitisfälle Überstunden. Am 15. Februar wurde sie zuhause ope¬
riert, wobei übelriechender Eiter in großer Quantität entleert
wurde. Seitdem ist eine Fistel zurückgeblieben, die nicht ver¬
heilte und aus der Eiter in großen Mengen abging. Die Patientin
hat ununterbrochen gefiebert und ist in höchstem Grade abge¬
magert. Von seiten der Geschlechtssphäre wurden besondere
Erscheinungen nicht wahrgenommen (virgo intaeta), nur blieben
seit der Operation die Menses aus.
Die Besichtigung ergab in der rechten Regio iliaca, im
Zentrum der langen, von der Lumbalgegend fast bis zur Sym¬
physe schräg verlaufenden Narbe eine Fistel, aus der sich cha¬
rakteristischer Eiter in. reichlicher Quantität entleerte und die
augenscheinlich in Form eines, geschlängelten Ganges sich in das
kleine Becken vertiefte.
Bei Druck auf das Abdomen oberhalb des linken Liga¬
mentum Poupartii, wo sich ein ziemlich großes Infiltrat befand,
nahm die Eiterabsonderung aus der Fistel zu. Die gynäkologische
Untersuchung (mit einem Finger) ergab" hoch im vorderen Ge¬
wölbe und -rechts von der Gebärmutter eine Verhärtung. Aus-
scbeiduhg aus der Vagina konnte! nicht währgenommen werden.
Der katarrhalische Harn enthielt l°/no Eiweiß (Amyloid der
Niere?). Die Patientin fieberte (38 bis 39°); des Abends1 Schüttel¬
fröste. Von seiteh der Organe der Brusthöhle waren sichtbare
Abweichungen von der Norm nicht vorhanden. Da die Erwei¬
terung der Fistel und der Versuch, den Abfluß mittels Bier¬
scher Schröpfköpfe und Drainage zu heben, kein Resultat er¬
gaben, wurde beschlossen, zur Operation zu schreiten.
28. August 1908: Medianle Laparotomie. Das Infiltrat auf
der linken Seite erwies sich als retroperitoneale Eiteiransamm-
lung, die mit der äußeren Fistel kommunizierte. Die Blinddarm-
g egend war durch verlötete Dünndarmschlingen begrenzt. Nach¬
dem ich die Fistel der alten Narbe entlang nach beiden Seiten
hin Verlängert hatte, konnte ich mich überzeugen, daß es außer¬
ordentlich schwierig war, sich in bezug auf die anatomischen
Wechselbeziehungen der Organe zu orientieren. Infolgedessen
verlängerte ich die Inzision von der Fistel in der Richtung
nach unten bis zur Vereinigung mit dem unteren Ende der
medianen Inzision, spaltete die Muskeln und das Peritoneum,
schlug den auf diese Weise erhaltenen breiten dreieckigen Lappen
der Bauchwand nach oben zurück und sali, daß die Fistel so¬
gleich auswärts vom Cökum in den retroperitonealen Raum
führt und zwischen dem Utetus und der Harnblase zur linken
Fossa iliaca Verläuft.
Der Fistelgang wurde weit eröffnet, wobei eine umfang¬
reiche Höhle mit. einer großen Eitermeng© fostgestellt wurde,
zu 'deren Tamponade vier lange und dicke Tampons erforderlich
waren. Hiebei ging durch den in die Harnblase ei nge führten
Katheter bluthaltiger Harn ab.
Nachdem ich hierauf die zu einem Knäuel miteinander
.verlöteten Da.rmschlingen freigemacht hatte, entdeckte ich einen
6 'bits 7 dm langen Fortsatz,- der durch seine laterale Oberfläche,
in der Höhe seiner Basis, mit einem Hohlorgan eng verwachsen
war. welches durch seine Form und Größe an eine Dünndarm
schlinge erinnerte. An der Verwachsungsstelle erwies sich der
Fortsatz als in der Hälft© seiner Zirkümferenz perforiert. Nach¬
dem ich die soeben erwähnte Darmschlinge herausgeschält hatte,
überzeugte ich mich, daß sie unmittelbar in den rechten Ge¬
bärmutter w in kel übergeht, während an der Verwachsungsstelle
mit dem Fortsatze Ueherreste der Fimbrien vorhanden sind:
es ergab sich somit., daß wir es mit der stark aufgetriebenen
196
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
und vergrößerten rechten Tuba Fallopii zu tun hatten, die mit
ihrem freien Ende mit dem Fortsatze verlötet war.
Bei der Freilegung riß der Fortsatz in zwei Hälften, wo¬
bei sich aus der Tube eine große Menge übelriechenden charak¬
teristischen Eiterte entleerte. Der Wurmfortsatz und die Tube
wurden amputiert, das zystenförmig degenerierte Ovarium durch
Inzision entleert und in den D ouglas sehen Raum Tampons
eingeführt. Die mediane Wunde und der untere Teil der late¬
ralen Wunde wurden hermetisch vernäht, der übrige größere
Teil der lateralen Inzision wurde offen belassen.
In den ersten 24 Stunden zeigte der Harn Beimischungen
von Blut, auch war die Temperatur erhöht, dann kehrte alles
wieder zur Norm zurück und die Patientin begann sich rasch
zu erholen.
Bei der Besichtigung des Präparates der Tube ergab es
sich, daß die Wandungen derselben sehr verdickt und hyper-
trophiert waren, daß deren Länge zirka 12, die größte Zirkum-
ferenz ca. 9 cm beträgt. Sie enthielt Eiter und einen erbsengroßen
Kotstein. Die Uterusöffnung der Tube war augenscheinlich obli-
teriert, so daß eine Kommunikation mit der Uterushöhle nicht
bestand (Saktosalpinx). Die umfangreiche Wunde verheilte nach
und nach gegen Ende Dezember 1908. Ausscheidungen aus., der
Vagina waren bei der Patientin nicht vorhanden. Das Eiweiß
im Harn verschwand. Im November stellte sich bei der Pa¬
tientin Menstruation ein u. zw. zum erstenmal seit Februar.
Seitdem kam dieselbe regelmäßig. Die Darmfunktion wurde
wieder normal.
Am 1. Januar 1909 resezierte ich die Narbe der lateralen
Inzision, spaltete die Verwachsungen zwischen den Darm¬
schlingen, wobei sich aus dem kleinen Becken zwei Gläser voll
vollständig klarer seröser Flüssigkeit entleerten. Die Wunde wurde
schichtweise (mittels Dreietagennaht vernäht und heilte per
primarn. Aus der medianen Wunde gingen hingegen einige tiefe
Nähte ab. Die Patientin erholte sich rasch, nahm an Körper¬
gewicht zu und reiste im Februar in die Heimat zurück. Gegen¬
wärtig ist sie gleichfalls vollständig gesund.
Augenscheinlich war die retroperitoneale Fistel bei
der Patientin künstlichen Ursprungs. Von. Interesse ist die
Ausbreitung des Eiters dem retroperitonealen Bindegewebe
entlang zwischen dem Uterus und der Harnblase bis zur
linken Fossa iliaca : typische Parametritis appendikulären
Ursprungs. Diese Fistel bloßzulegen, zu verfolgen und gut
zu drainieren war nur bei der Bildung des oben beschrie¬
benen Lappens, bei der eigenartigen temporären Be Sek¬
tion der Bauch wand möglich. Der Wurmfortsatz war
mit dem abdominalen Ende der Tube verwachsen und
durch dieses Ende gelangte in das Lumen der letzteren im
Augenblick der Perforation des Wurmfortsatzes der oben
erwähnte Kotstein.
Vor der Operation die Pyosalpinx zu diagnostizieren
war nicht möglich, da die gynäkologische Untersuchung
eine unvollständige bleiben mußte, indem das Hymen störte,
während die Gebärmutter infolge der Verwachsung des Ori-
ficium uterinum der Tube wirklich normal war. Dadurch
erklärt sich das Fehlen von weißem Flu ßi während der ganzen
Krankheit, sowie das Fehlen von blutigem oder anderem
Sekret aus der Gebärmutter nach der Entfernung der Tube.
Meine Beobachtung ist bereits die dritte. W. A. Op pel
berichtet, von seinem eigenen Falle abgesehen, über eine
analoge Beobachtung von Routier, über welche uns auch
Sprengel, der diesen Fall desselben Autors erwähnt,
keine näheren Angaben macht. Im vorigen Jahre hat Jala-
guier seinen Fäll veröffentlicht : bei der 19jährigen Pa¬
tientin traten während der Periode drei Anfälle von Peri¬
typhlitis ein, die jedesmal am Ende der Periode mit Ent¬
leerung eines Abszesses, der in der rechten Fossa iliaca
vorhanden war, durch den Uterus endete, was einiger¬
maßen die Möglichkeit gewährte, eine richtige Diagnose vor
der Operation zu stellen.
Jalaguier glaubte, daß er es mit einer Pyosalpinx
zu tun habe, die sich an Appendizitis angeschlossen hatte,
glaubte aber nicht an die Möglichkeit einer direkten Kom¬
munikation zwischen Tube und Wurmfortsatz, die er bei der
Operation fand. Es muß hervorgehoben werden, daß der
Fall von J a 1 agu i e r ein exklusiver ist. Man muß annehmen,
daß die Kommunikation zwischen Tube und Uterus unter
solchen Umständen am häufigsten verwächst und daß dann
keine Anhaltspunkte für die Stellung einer richtigen Dia¬
gnose Zurückbleiben, die ich persönlich für fast unmöglich
halte.
Auf eine Erscheinung muß noch aufmerksam gemacht
werden, nämlich auf eine Störung der Menstruation
bei Virgines intac'tae während des Appendizitis¬
anfalles.
Die Störungen weisen mit absoluter Sicherheit auf die
Beteiligung der Adnexa hin, u. zw. in Form von Verwach¬
sungen derselben mit. dem Wurmfortsatz, wovon ich mich
bei Operationen ä froid zu überzeugen mehrmals Gelegen¬
heit. hatte.
Fälle, wie der oben beschriebene sind' zu selten und
gehören noch in den Bereich der Kuriositäten. Ihre Zahl
wächst aber bereits und es ist möglich, daß sie in Wirk¬
lichkeit häufiger Vorkommen als es scheinen will (eingehende
Literaturstudien habe ich nicht vorgenommen). Jedenfalls
sind solche Beobachtungen von großer prinzipieller Be¬
deutung, da sie jeden Zweifel an der Möglichkeit eines
Ueberganges der Erkrankung des Wurmfortsatzes auf die
Tube ausschließen, eines Ueberganges, der in weniger stark
ausgeprägten Formen so häufig vorkommt.
•Literatur :
Jalaguier, Fistule tubo-appendiculaire. Bulletins et mdmoires
de la societe de Chirurgie, Sitzung vom 10. März 1910, S. 351. --
W. A. von 0 p p e 1. Zur Kasuistik der Wechselbeziehungen zwischen
Salpingitis und Appendizitis. Sonderabdruck aus dem Journal für Geburts¬
hilfe und Gynäkologie 1908, vgl. auch Protokolle der chirurgischen
Gesellschaft i907/08, Chirurgisches Archiv 1909, H. 4, S. 4 (russisch). —
Sprengel, Appendizitis. Deutsche Chirurgie, Lieferung 46 d.
lieber Körperproportionen der Kretinen.
Von Oberbezirksarzt Dr. Arnold Flinker in Czernowit.z.
Schon die älteren Kretinenforscher haben auf das Ge¬
meinschaftliche in der äußeren Erscheinung der Kretinen
hingewiesen. Niepce hat hervorgehoben, daß es schwer
ist, bloß nach der Physiognomie der Kretinen das Geschlecht
zu beurteilen und Virdhow hat. dem hinzugefügt, daß es
noch schwerer ist, einzelne kretinische Individuen des¬
selben Geschlechtes und Alters untereinander zu unter¬
scheiden. „Man möchte glauben“, sagt Virchow, „daß
alle diese Individuen sehr nahe miteinander verwandt seien,
daß sie einer Familie oder wenigstens einem Stamme an¬
geboren.“
Fragen wir nun, woraus sich das Gemeinschaftliche
in der Erscheinung der Kretinen zusammensetzt, so er¬
gibt 'sich, daß es außer dem Zwergwuchs, dem Myxödem
und der eigentlichen Physiognomie — Entartung der Schild¬
drüse und geschlechtliche Entwicklung kömmen hier nicht,
in Betracht. — insbesondere die Disharmonie in den Körper-
proportionen ist, welche diesen Menschen den Stempel des
Kretinismus aufdrückt. Während man die erstgenannten
Symptome eingehend erörtert hat, ist meines Wissens über
die Körperproporlionen der Kretinen außer einzelnen An¬
deutungen in der Literatur nichts zu finden. Scholz hat
wohl eine große Zahl von Körpermessungen vorgenommen
und sich hiebei nicht bloß auf die Körperlänge beschränkt,
sondern auch die einzelnen Körperteile gemessen, die Körper¬
proportionen jedoch nur wenig in den Bereich seiner Er¬
örterung einbezogen.
Um über die Körperproportionen Aufschluß zu er¬
langen, kann man in der Weise vorgehen, daß man an
zahlreichen Kretinen Körpermessungen vornimmt und
deren Ergebnisse dann mit den bezüglichen Maßen des
Normalmenschen (Kanon) vergleicht. Solche Messungen
sind jedoch nur in Krankenanstalten durchführbar, während
sie sonst auf große Schwierigkeiten stoßen. Als ich meine
Studien über Kretinismus begann, war ich bemüht, vor
allem genaue Körpermessungen vorzunehmen. Das ging
nun verhältnismäßig leicht von statten bei der Messung der
Körpergröße. Auch die Aufnahme der Schädeldimensionen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
197
mittels Taster- und Schiebezirkels machte gar keine
Schwierigkeiten, dagegen mußte ich von der Messung der
einzelnen Körperteile schon im Hinblick auf das Milieu, in
dem sich die Kranken befanden, bald Abstand nehmen und
begnügte mich damit, an einzelnen typischen Kretinenge-
stalten genauere Messungen vorzunehmen, deren Ergebnis
ich dann mit den Durchschnittszahlen der gesunden Men¬
schen aus der Umgebung in Relation brachte.
Um die Körperproportionen der Kretinen in recht
sinnfälliger Weise zur Darstellung zu bringen, ließ ich einen
Kretin und einen Normalmenschen so photographieren, daß
ihre Bilder die gleiche Größe hatten. Es wurde dies in
der Weise bewerkstelligt, daß die Distanz zwischen dem
photographischen Apparate und dem Objekte entsprechend
geändert wurde. So war es möglich die Leibesforni des Kre¬
tinen und des Normalmenschen im Gleichmaß der
Körperhöhe miteinander zu vergleichen. Es ist, dies
eine Methode, wie sie von Quetelet, Langer u. a. an¬
gewendet wurde, um die Wandlungen der Gestalt, in den
einzelnen Wachstumsperioden zur Anschauung zu bringen,
eine Methode, die mir aber auch für meinen Zweck sehr
geeignet schien und die, wie ich glaube, bei Beobachtung
der gebotenen Umsicht für die Beurteilung der Körper¬
proportionen eine ebenso verläßliche Grundlage gibt, als
die faktische Messung der einzelnen Körperteile.
Wird 'nach dem Vorgänge Quetelets die Gesamthöhe
des Körpers gleich 1000 angenommen, so lassen sich die
Proportionen ziffermäßig angeben, indem bei einem jeden
Körperabschnitte gesagt werden kann, mit wieviel Tausend¬
teilen sich derselbe an der Gesamthöhe beteiligt.
Fig. l.
Kretin und Normalmensch gleichen Alters.
In Fig. 1 ist ein 24jäbriger Kretin, 127 cm hoch und
daneben ein gleichaltriger Normalmensch, 177-8 cm hoch,
abgebildet.
Figur 2 (stellt die Leibesform dieser Gestalten i m
Gleichmaß der Körperhöhe dar. Wenn wir dais Ver¬
hältnis der Höhe des Oberkörpers (Scheitel — Symphyse) zu
der des Unterkörpers (Symphyse — Sohle) eruieren wollen,
so müssen wir uns gegenwärtig halten, daß beim Manne
die Halbierungslinie der Körperhöhe unter den Symphysen¬
rand zu liegen kommt., daß daher der männliche Unter¬
körper (das ist. die Beinlänge) etwas länger ist als der
Oberkörper. Dieses Verhältnis ist. beim Kretin zugunsten
der Rumpf- und Kopflänge bedeutend verschoben. Während
also die Teilungslinie beim Normalmenschen etwas unter
den Symphysenrand fällt, liegt dieselbe beim Kretin weit,
über der Symphyse und erreicht fast die Nabelhöhe. Der
Oberkörper des Kretins ist daher bedeutend größer als
der Unterkörper desselben, der Kretin also auffallend
kurzbeinig. Es entfallen von der . tuzen Körperhöhe
548 Tausendteile auf den Oberkörper, 452 Tausendteile auf
den Unterkörper. Es findet sich hier dieselbe Disharmonie
zwischen Ober- und Unterkörper, wie bei der Exostosis
cärtilaginea multiplex, bei der es infolge Erkrankung der
Knorpelfugen zu einer Hemmung des Längenwachstums
der unteren Gliedmaßen kommt.
Kretin (1) und Normalmensch (2) im Gleichmaß der Körperhöhe dargestellt.
Was die Ausdehnung des Kopfes betrifft, so lehrt
schon ein Blick auf die Zeichnung, daß der Kopf des Kre¬
tins im Verhältnis zum Gesamtkörper übermäßig groß
erscheint, ein Umstand, der uns sofort an das kindliche
Alter erinnert, zumal der mit dem geringsten Maße wach¬
sende Kopf beim normal sich entwickelnden Menschen mit
zunehmendem Wachstum in seinen Dimensionen immer¬
mehr hinter dem Körpermaße Zurückbleiben mußi. In un¬
serem Falle kommen auf den Kopf des Kretins 188
Tausendteile des ganzen Körpermaßes, das ist um 51 Teile
mehr als beim Normalmenschen. Während also die Kopf¬
höhe bei diesem 7-3mal in der Körperhöhe enthalten ist,
setzt sich das Körpermaß, des Kretins aus 5 (genauer 5-2)
Kopflängen zusammen. Bemerkenswert ist auch die Kürze
des Halses.
Das Verhältnis des Rumpfes zur Gesamtlänge nähert
sich dem des Normalmenschen, übertrifft vielleicht das¬
selbe um ein geringes. Es entfallen nach unserer Zeich¬
nung 361 Tausendteile auf den Rumpf des Kretins und
347 auf den des Normalmenschen.
Ich bin mir wohl bewußt, daß bei den großen indivi¬
duellen Schwankungen, welche die Kretinen in bezug auf
ihre Körpergröße darbieten, die Inkongruenz in den Propor¬
tionen des Kretins und des Normalmenschen ziffermäßig
nicht immer übereinstimmt, sondern Schwankungen unter¬
worfen ist. Wenn wir aber aus der Vielheit der Kretinen-
gestalten die charakteristische Gestalt, fixieren, so werden
zweifellos die gedachten Proportionen immer in typi¬
scher Weise wiederkehren.
Als Hauptresultat unserer Betrachtung
der Körperproportionen der Kretinen ergibt
sich, daß die Kretinengestalt im Gegensätze zur
Gestalt des erwachsenen Normalmenschen aus¬
gezeichnet ist durch relativ übermäßige Größe
des Kopfes, kurzen Hals, verhältnismäßig län¬
geren Rumpf und sehr kurze Beine. Es sind das
■dieselben Verhältnisse, wie wir sie beim kind¬
lichen Alter antreffen. Die Eigentümlichkeit
in den Körperproportionen der Kretinen. deutet
demnach auf ein Stehenbleiben auf einer nie-
198
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
drigeren Entwicklungsstufe hin und stimmt so
mit dem Ergebnisse der pathologischen
Anatomie überein, welche die Skelettverände¬
rung bei Kretinismus auf eine in der Kindheit
eingetretene Hemmung des Wachstums zurück¬
führ f .
Literatur:
Literatur über Kretinismus in Ewald, Die Erkrankungen der
Schilddrüse, Myxödem und Kretinismus. Wien und Leipzig 1909; ferner
in Scholz, Klinische upd anatomische Untersuchungen über den
Kretinismus. Berlin 1906. — Quetelet, Anthropom4trie ou mesure des
differentes facultds de l'homme. Bruxelles 1870. — Langer, Anatomie
der äußeren Formen des menschlichen Körpers. Wien 1884. — Ranke,
Der Mensch. Leipzig und Wien 1894.
Aus dem pathol. -anatom. Institut in Wien.
(Vorstand: Hofrat Weichselbaum.)
Beitrag zur Kenntnis der Streptothrix-
Erkrankungen des Menschen.
Von Georg G.jorgjevic, derzeit Assistent an der dermatologischen Klinik
in Innsbruck.
Die Befunde in der Literatur über Streptothrix und ihre
nahen Verwandten, insoferne diese als Kr a n k h e i ts e r reger für
den Menschen in Betracht kommen, sind im allgemeinen nicht
zahlreich und unterscheiden sich voneinander durch nicht un¬
wesentliche Abweichungen.
Soweit mir die Literatur zur Verfügung stand, kann ich
sagen, daß ich nur in 30 Fällen Mitteilungen über Streptothrix
und verwandte pathogene Pilzarten auffand, wobei jedesmal in
mehr oder weniger ausführlicher Weise das morphologische Ver¬
halten der Pilze, ihre kulturellen und färberischen Eigenschaften
gekennzeichnet wurden, zugleich auch in den, meisten Fällen das
Verhalten gegenüber dem menschlichen Organismus hinsichtlich
des Grades der Pathogenität für denselben erwähnt wurde1. Doch
divergieren, wie erwähnt, die Berichte der einzelnen Autoren,
zum Teil recht wesentlich. Es erscheint daher vorläufig sicherlich
nicht überflüssig, jeden weiteren zur Beobachtung gelangenden
Fall mitzuteilen, weil ja doch nur aus einer großen Zahl über¬
einstimmender genauer bakteriologischer Befunde eine einheit¬
liche Auffassung über den die Streptothricheen betreffenden
Fragenkomplex zu erhoffen ist. Im nachfolgenden soll über vier
Fälle berichtet werden, die im Laufe der letzten Zeit im Sek-
tionsmaterial des Wiener pathologisch-anatomischen Institutes
zur Beobachtung kamen.
Fall I. Leiche einer 53jährigen Frau (26. Februar 1907).
Obduzent: Ass. Dr. ,T. Erd heim. Die Sektion ergab:
„Multiple Sklerose des Zentralnervensystems, namentlich
des Rückenmarkes. Dekubitus am Kreuzbein und an den Tro-
chanteren : metastatische Abszesse beider Nieren nebst arterio¬
sklerotischen Veränderungen derselben. Eiterige Zystitis. Oedem
der unteren Extremitäten. Thrombose der linken Vena, iiiaca com¬
munis und Embolie des linken Astes der Arteria pulmonalisl.
Chronisches Emphysem der Lungen; eitrige Bronchitis und
Atelektasen. Tuberkulöse Schwielen beider Lungen oberlappen.
Partielle Anwachsung der Milz an das Diaphragma. Multiple
Adhäsionen des inneren Genitales.“
Fall II. Leiche eines 37jährigen Mannes; Lepra (Klinik
Prof. Riehl). Bei der Obduktion (15. März 1907, Prof. Weich sel-
baum) fanden sich ausgedehnte lepröse Veränderungen der Haut,
ferner solche der Schleimhaut der Mund- und der Nasenhöhle
und des Larynx. Bei der Beschreibung der Brustorgane heißt
es im Obduktionsbefund: „Beide Lungen zeigen chronisches
Emphysem. Nahe dem Hilus der rechten Lunge findet sich
ein zirka walnußgroßer rötlichgrauer, von kleinen Abszessen
durchsetzter Herd.“
Sämtliche mit dem leprösen Materiale geimpfe Nährböden
blieben steril.
Fall III. Leiche eines 40jährigen Mannes; Abscessus ce¬
rebri (Klinik Prof. Urb an t sch its ch). Obduzent: Ass. Doktor
J. Erd heim. Die Sektion ergab:
Resektion der Pyramide bei Otitis media suppurativa (vor
neun Tagen), Eröffnung der Dura und eines kleinhaselnußgroßen
Eiterherdes in der rechten Klemhirnhemisphäre und Drainage
vom Ohr aus mittels eines Gummischlauches. Zwei Inzisionen
der rechten Halsseite bei Phlegmone derselben; vom Opera¬
tionsgebiete ausgehend findet sich der Sinus sigmoideus und
transversus einerseits und die Vena jugularis anderseits von
einem vollständig erweichten Thrombus erfüllt und anschließend
an die eitrig-erweichten Thrombusanteile ist der Sinus trans-
ve-rsalis bis zum confluens und andrerseits die Vena jugularis
bis zum Bulbus von einem frischen, an der Wand nicht haften¬
den und nicht vereiterten Thrombus eingenommen. Eitrige basale
Leptomeningitis.
Akutes Lungenödem, fettige Degeneration des Herzens, der
Leber und der Nieren. Hydronephrose linkerseits.
Fall IV. Leiche einer 38jährigen Frau; Meningitis cere¬
brospinalis (Abteilung Prof. Pal). Obduzent: Ass. Dr. .1. Erd¬
heim. Die Sektion ergab:
Alter Absceß (die bakteriologische Untersuchung des Ab¬
szesses ergab Streptothrix) im rechten Schläfenlappen mit Durch¬
bruch in den Ventrikel, Pyozephalus. Anlötung des Schläfe:
lappens an die Dura und eitrige basale Leptomeningitis.
Akutes Lungenödem, lobulärpneumonische Herde in beiden
Unterlappen, parenchymatöse Degeneration des Herzens, der
Leber und Nieren, geringe Mengen freien Blutes im Douglas,
stellenweise Pigmentierung des Serosaüberzuges am1 Fundus
uteri (Abortus vor acht Wochen). Endometrium und Para¬
metrium frei. Thrombose im unteren Teile der linken Vena sper-
matica. Bullöses Oedem der Schleimhaut an der hinteren Wand
der Highmors-Höhle.
Im ersten Falle fanden sich in Gr am Präparaten von den
Nierenabszessen, im zweiten in denjenigen von den Lungen¬
abszessen lange, gewundene, Gram -positive Fäden, die echte
Verzweigung zeigten.
Ebenso fanden sich solche Gr am -positive Fäden im dritten
Falle im Gehirnabszeß wie auch im vierten Falle im Eiter von
der Meningitis.
Da alle vier Pilzarten durchaus übereinstimmende kul¬
turelle, morphologische und biologische Eigenschaften zeigten,
können wir über alle vier gemeinsam berichten.
Um die gefundene Pilzart zu studieren, wurden auf ver¬
schiedenen Nährböden Kulturen angelegt und entsprechende Tier¬
versuche angestell t.
Das Wachstum unserer Pilzart (Streptothrix) erfolgte aerob
Und anaerob und zeigte auf einzelnen Nährböden fogende cha¬
rakteristische Eigenschaften :
Auf Glyzerin- Agar beobachtet man schon nach 24 Stun¬
den kleine, zarte, weiße, runde Kolonien, die im Laufe der
nächsten 24 Stunden größer und üppiger werden, dann matt aus-'
sehen, und schließlich einen dicken, unregelmäßig begrenzten
Rasen mit stark gefalteter und gerunzelter Oberfläche bilden.
Unter dem_ Mikroskope sind die kleinen Kolonien sternförmig,
zeigen an der Peripherie zarte, verflochtene Ausläufer, wodurch
die Kolonien teils moosähnlich, teils distelförmig ausseben. Ge¬
wöhnlich schon in der zweiten Woche. — jedoch abhängig von
den Verhältnissen, unter denen gezüchtet wurde — schlägt die
weiße Farbe in eine rötliche um und wird schließlich orangegelb
oder ziegelrot. Bei absolutem Lichtabschlusse bleibt die Färbung¬
aus, tritt aber wieder auf, wenn die Kulturen ins Licht ge¬
stellt werden. Mitunter erlangen die Kulturen ein charakteristi¬
sches kraterförmiges Aussehen. Die älteren Kulturen sind be¬
sonders üppig und erlangen durch ihr Wachstum in die Höhe
eine stark gerunzelte oder feinkörnige, manchmal korallenartige
Oberfläche. Man beobachtet auch oft um die rötliche oder
orangefarbene Kultur einen flachen Saum mit lappigen Rändern,
der verschieden gefärbt ist, aber niemals die dunkle Farbe des
übrigen Rasens erlangt. Die Kolonien sitzen fest dem Nähr¬
boden auf, so daß man in den ersten Tagen, ohne den Nährboden
zu beschädigen, nur wenig oder kaum etwas abstreifen kann;
die älteren Kulturen werden schmieriger und dann leicht ab¬
streifbar. War reichlich Kondenswasser vorhanden, so zeigte
dieses einen flaumigen oder flockigen Satz und ein1 zartes Häut¬
chen. Am schnellsten wachsen die Kulturen bei Bruttemperatur,
doch konnte man auch bei Zimmertemperatur’ schon nach kurzer
Zeit Wachstum erkennen.
Agar zeigt dasselbe Wachstum wie Glyzerinagar, nur ist
es etwas langsamer und nicht so üppig.
Gelatin e-Stichkultureü zeigen entsprechend dem Stiche
kleine, kugelige, flaumige Kolonien, die zum Teil die Größe eines
Hirsekornes erreichen und in charakteristischer Weise stets streng
voneinander isoliert bleiben. An der Oberfläche kommt es um
•die Einstichöffnung zur Entwicklung eines flächenhaften, sich
in den Nährboden einsenkenden Rasens von grauweißlicher Färb :,
der später gelbrötlich werden kann und mehr oder weniger
üppig, oft auch stark gefaltet oder gerunzelt wird und sich dann
leicht abheben läßt. Gelatine wird niemals verflüssigt.
Bouillon zeigt schon nach wenigen Tagen an der Ober¬
fläche kleine, punktförmige, weißliche Kolonien, die dann zu
einer Haut konfluiaren, die bei älteren Kulturen dick und stark
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
199
gerunzelt wird. Mit zunehmendem Alter der Kulturen entwickelt
sich auch ein Bodensatz, der an Dichte zunimmt und zum Teil
aus hautschuppenartigen Massen besteht. Im übrigen bleibt die
Fleischbrühe klar.
Peptonwasser zeigt ähnliches Wachstum wie Bouillon,
nur ist es dürftiger. Der Bodensatz ist auch reichlich und be¬
steht teils aus körnerartigen, teils aus schuppenartigen Massen.
Indol Reaktion negativ.
Milch. Nach drei bis vier Tagen entwickeln sich an der
Oberfläche kleine, weiße, scheibenartige Kolonien, die bald kon-
fluieren, eine gelbliche Farbe zeigen und in älteren Kulturen zu
einer derben runzeligen Haut mit orangegelber Färbung werden,
welche an den Wänden festhaftet; nur in viele Monate alten
Kulturen dickt sich die Milch gallerartig ein, zeigt aber unter
der Haut noch eine schmale Schichte heller dünner Flüssig¬
keit. Die Reaktion der Milch in den jungen Kulturen ist schwach
sauer.
Auf der Kartoffel entsteht zunächst ein flacher, weißer,
trockener, kreide- oder gipsartiger Rasen, der an den Rändern
gekörnt aussieht und gebuchtet ist. In älteren Kulturen wird der
Rasen rötlich oder rötlichgelb, in noch älteren fast rot und
deutlich gekörnt. Das Kondenswasser der Kartoffelkulturen trübt
sich, wird gelblichgrau, zeigt reichlich flockigen Satz und dickt
sich in älteren Kulturen zu einer gallertartigen Masse ein.
In Zuckeragar entwickeln sich auf der Oberfläche zu¬
nächst kleine, weiße Kolonien, die bald zu einem gefalteten oder
gerunzelten, gelblichen oder gelblichroten Rasen konfluieren, der
den Wänden fest anhaftet und manchmal ein mehr schmieriges
Aussehen hat. Stichkulturen in Zuckeragar zeigen in dem oberen
Teil des Stiches wolkenartige, isolierte, grauweiße Kolonien. In
Sichüttelkulturen hingegen bleibt in den tieferen Partien des
Nährbodens das Wachstum aus.
Die meisten beschriebenen Kulturen haben entweder einen
leicht säuerlichen oder aber moderigen Geruch.
Die Ergebnisse der Tierexperimente, welche an Kaninchen,
Meerschweinchen und Mäusen ausgeführt wurden, zeigen, daß
unsere vier Stämme pathogen für Kaninchen und Meerschweinchen
sind, dagegen nicht pathogen für Mäuse. Bei Kaninchen wurden
intravenöse, intraperitoneale und subkutane Injektionen gemacht
und zwar Kaninchen und Meerschweinchen je 1 cm3 einer dichten
Glyzerinagarkulturaufschwemmung in Peptonwasser einverleibt.
Diese Tiere gingen, mit. Ausnahme eines subkutan injizierten Meer¬
schweinchens, längstens innerhalb zwei Monaten zugrunde.
Es wurde von allen Stämmen je ein Kaninchen intravenös
in die Ohrvene injiziert. Alle Kaninchen gingen am fünften Tage
zugrunde. In allen Fällen ergab die Sektion ein gleiches Re¬
sultat. Es fand sich keine Flüssigkeit, resp. nur wenig klare
Flüssigkeit in der freien Bauchhöhle. Die Brusthöhlen waren
frei, dagegen fanden sich in den meisten Organen, sowohl auf der
freien Oberfläche, wie auch auf der Schnittfläche, sehr reichlich
miliare, bis stecknadelkopfgroße, gelbweiße Knötchen.
Die intraperitoneal injizierten Kaninchen und Meerschwein¬
chen, von denen das letzte Meerschweinchen, dasjenige mit der
längsten Lebensdauer, schon nach drei Wochen starb, zeigten
entsprechend der Applikationsstelle, die stärksten Verände¬
rungen in der Bauchhöhle; die Veränderungen waren bei den
einzelnen Tieren ganz übereinstimmende ohne wesentliche Va¬
rianten. In allen Fällen enthielt die Bauchhöhle eine klare Flüssig¬
keit, welche sich steril erwies. In einzelnen Fällen fand sich,
entsprechend der Injektionsstelle, ein kleiner, im Unterhautzell¬
gewebe liegender Abszeß, aus dein beim Einschneiden ein dicker,
gelber Eiter hervorquoll. Die Darmschlingen, zum Teil stark
gebläht, zum Teil mit Kotmassen gefüllt, zeigten in ihrer Serosa
eine Unzahl von bis über stecknadelkopfgroßen, ja bis linsen¬
großen Knötchen, aus welchen sich beim Einschneiden ein gelblich¬
weißer dicker Eiter entleerte. Einzelne Darmschlingen sind durch
gelbe käsige Massen untereinander wie auch mit den angren¬
zenden Organen: Leber und Milz, verlötet. Die Serosa parietalis
trägt die gleiche Knötchenaussaat, wie die viszeralis. Leber und
Milz zeigen wie an ihrer freien Oberfläche, so auch an der Schnitt¬
fläche verschieden große, gelblich gefärbte Knötchen. Das gleiche
Verhalten zeigten die Nieren und in den meisten Fällen auch
Herzmuskel und Lungen.
Bei den subkutan injizierten Tieren bemerkte man ent¬
sprechend der Injektionsstelle einen verschieden großen Abszeß,
der sich in einzelnen Fällen nach Außen öffnete und einen dicken
gelben Eiter entleerte. Die Sektion ergab in einigen Fällen, bis
auf den Injektionsabszeß und bis auf die leicht geschwollenen
regionären Drüsen, einen negativen Befund ; in anderen fanden
sich dagegen mehrfach kleine gelbe Knötchen, entweder nur in
der Leber und Milz, oder wieder eine geradezu miliare Aussaat
von Knötchen in Leber, Milz und Lungen.
In allen Fällen wurde, der Inhalt der Abszesse der Injek¬
tionsstelle wie auch der der Knötchen mikroskopisch untersucht
ubd ergab immer das gleiche Resultat: Neben Eiterkörperchen
Gram-positive Fäden mit echter Verzweigung. Es wurden auch
bei allen Tiere|n von der Substanz: der Knötchen Kulturen an¬
gelegt und es zeigte sich, daß. alle Kulturen, wie untereinander
so auch mit den Ausgangskulturen vollständig übereinstimm Len.
Das verimpfte Material des einen Falles (multiple Sklerose)
stammt, wie erwähnt, aus Abszessen der Niere. Der Abszcß-
inhalt bestand, wie der histologische Befund dieser Niere zeigte,
aus zahlreichen, polynukleären Leukozyten, daneben auch schon
vielfach aus Elementen mit deutlichem Kernzerfall; die umge¬
benden Nierenkanälchen werden durch die Abszesse im Bogen
zur Seite gedrängt. Im Bereiche der letzteren fanden sich noch
Malpighi sehe Körperchen und Reste von Nierenkanälchen,
letztere in Form kernloser Epithelverbände, erste re mehrfach
mit polynukleären Rundzellen infiltriert. In Gram-Weigert-Präpa-
raten erscheint das ganze Gebiet übersät mit Gram-positiven
Fäden, die jedoch in den Randpartien der Abszesse viel zahl¬
reicher sind und in büscbel- oder gruppenförmigen Vereinigungen
erscheinen.
In den anderen Fällen wurde nur die bakteriologische Unter¬
suchung des Eiters vorgenommen, welche das schon eingangs
erwähnte Resultat ergab.
Die histologische Untersuchung der Organe von den ge¬
impften Versuchstieren ergab folgende Befunde:
Das Lungenparenchym erscheint zum Teil lufthaltig.
Die Abszesse nehmen Abschnitte ein, welche, nach Art der Aus¬
breitung lobulär-pneumonischer Herde, sich über ganze Gruppen
benachbarter Alveolen erstrecken. Innerhalb solcher Abschnitte
eitrigen Exsudates finden sich oft schärfer umschriebene Stellen
mit rundlicher Konturierung, innerhalb welcher die Elemente
des eitrigen Exsudates, die 'zumeist Kernfragmente sind, be¬
sonders dichtgedrängt erscheinen; es handelt sich hiebei, wie
insbesondere die Präparate mit Elastikafärbung lehren, um eitrige
Thromben in Blutgefäßen. Gelegentlich finden sich auch mehr
vereinzelte eosinophile Zellen im Exsudatbereiche. Intakte rnono-
und polynukleäre Leukozyten sind selten zu sehen, da das Exsudat
zumeist aus Kernfragmenten besteht. Die Eiterherde lassen vielfach
auch Durchbrüche in die Bronchien, sowie in Venen 'erkennen; in
letzteren kommt es dann zum Bilde der Thrombophlebitis. Gelegent¬
lich finden sich auch eifrige Thromben in den Arterien, wobei nach
dein Kaliber der lumenfüllenden Massen anzunehmen ist, daß
hier nicht ein unmittelbares Produkt der intravenösen Kultur¬
injektion vorliegt; vielmehr werden wohl die auch in der Arterien¬
wand gelegentlich konstatierbaren Durchbrüche wiederum als
solche von außen nach innen zu deuten sein. Gelegentlich ge¬
winnt man den Eindruck, daß sich die Thrombenmassen über
die feineren Verzweigungen rückläufig in die größeren Ae. sie
ausgedehnt haben, wobei es naheliegt, an eine Thromben¬
bildung nach verschließender Embolie der Kapillaren und Prä-
kapillaren zu denken. In den größeren Arterien können die
Thromben dann als Parietalthromben erscheinen, gelegentlich kann
auch die Oberfläche dieser Parietalthromben noch von . einem
Endothelrest überzogen werden. Es wurden auch Riesenzellen
im Bereiche der Eiterungsherde beobachtet.
Bei mikroskopischer Durchmusterung von Schnitten der
Leber, welche bei der makroskopischen Betrachtung die früher
erwähnten Knötcheneinsprengungen aufgewiesen hatte, sieht man
zunächst das Leberparenchym selbst nicht wesentlich verändert;
die Leberzellen zeigen durchwegs normale Frotoplasmaverhält-
nisse mit gut fingiertem Kern ohne Zeichen von Degeneration.
Auffallend ist die immer wieder konstatierbare starke Füllung
der Gefäße. Regellos ins Lebergewebe eingesprengt findet man,
in einem Falle ziemlich spärlich, im1 anderen reichlich, Anhäu¬
fungen von rundzeiligen Elementen, die zum Teil recht kleine,
zum Teil größere Areale des Lebergewebes einnehmen. Sie ent¬
halten, wie die Betrachtung mit stärkerer Vergrößerung zeigt,
nur mehr vereinzelte mononukleäre Leukozyten, vorwiegend Ele¬
mente mit Kernzerfall und auch freie Kernfragmente. Vereinzelt
kommen dazwischen auch Zellen mit eosinophiler Granulierung
zur Ansicht. Häufig zeigt sich in einer schmalen Zone des um¬
grenzenden Parenchyms Unfärbbarkeit der Leberzellkerne.
Erwähnt sei noch, daß vielfach Leukozytemansammlungen
längs der Gefäße zu sehen sind. Einzelne größere Abszesse des
Leberparenchyms zeigen die Merkmale des langen Bestandes
durch Ausbildung einer bindegewebigen Kapsel (von wechselnder
Dicke im Einzelfalle). Solche Befunde waren stets bei Tieren,
die längere Zeit nach der Injektion gelebt hatten, anzutreffen.
200
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
In den Leberherden kommen mehrfach Riesenzellen vor ; ge¬
legentlich ließen die Formen der letzteren, insbesondere auch
das Aussehen und die Lagerung ihrer Kerne an eine genetische
Beziehung zu Gallengangsprossen denken.
Die Abszesse der Milz stimmen in ihrem Aussehen mit
denen der Leber und Lungen überein. Die Nieren zeigen einen
auffälligen Grad von Blutfüllung in Uehereinstimmung mit
dem betreffenden Befund der übrigen Organe. Im Markbereich
zeigt sich, abgesehen von der Hyperämie nichts Auffälliges. In
der Rinde finden sich zahlreiche kleine Abszesse vom Aussehen
der in den anderen Organen beschriebenen. Stellenweise läßt
sich eine Beziehung der Lokalisation der Eiterung zu den Mal¬
pighi schon Körperchen dadurch feststellen, daß größere oder
kleinere Anteile der letzteren im Bereiche der dichtgedrängten
Eiterzellen noch erkennbar sind. Ich hatte aber nicht Gelegen¬
heit, Stellen mit den einwandfreien Bildern des emboli sehen. Ver¬
schlusses einzelner Glomerufusschlingen zu sehen, ln Graiu-
Weigert -Präparaten finden sich Pilzfäden sowohl im Lumen der
Glomerulusschlingen wie auch im Bowmanschen Raum.
In der Darm wand finden sich Abszeßchon der Mukosa
und Submukosa, ohne Beteiligung der Muskularis.
Die Abszeßehen der Herzmuskulatur bieten nichts Auf¬
fälliges.
Was den Nachweis von Pilzfäden mittels Gram-Weigertscher-
Färbung betrifft, so fanden sich dieselben sehr zahlreich in den
geschilderten Eiterherden ; ich konnte öfters kleine Gefäße ver¬
schiedener Organe, wie insbesondere zum Teil noch erhaltene
Gefäßschlingen der Glomeruli mit Pilzmassen erfüllt sehen.
Zusammenfassend können wir sagen, daß die einzelnen
Organe, entsprechend dem makroskopischen Knötchenbefund,
mikroskopisch immer wieder das Bild der geschilderten Eiter¬
herde in übereinstimmender Weise erkennen lassen. Erwähnens¬
wert scheint der Befund der Riesenzellen, den wir mehrfach
erheben konnten. Es handelt sich dabei höchstwahrscheinlich
nicht um eine spezifische Bildung. In der Lunge fanden sich
zwar Bilder, welche entsprechend der räumlichen Beziehung
zwischen Riesenzelle und embolischen Massen an eine Deutung
der ersteren als eine Fremdkörperriesenzelle hätte denken lassen,
nachdem aber analoge Riesenzellenbildung in der Leber solche
benachbarte Embolien vermissen ließen, möchte ich die Deutung
der Riesenzellen vorläufig noch in suspenso lassen. Sie zeigten
ein einheitliches Aussehen, zum Teil zentral, zum Teil peripher
gelagerte Kerne mit homogenem, blaßrot gefärbtem Protoplasma.
In älteren, durch Bindegewebszüge abgekapselten Eiterherden
kamen sie überhaupt nicht zur Ansicht; meistens fanden sie sich
in den Herden, die noch keinen sehr weitgehenden Kernzerfall
und Kemschwund zeigten. Pilzfäden wurden in den Riesenzellen
nicht beobachtet.
Was das morphologische und biologische Verhalten an¬
belangt, zeigt unsere Pilzart folgende Eigenschaften:
Wie in gefärbten. Präparaten so auch im hängenden Tropfen
erkennt man echte Verzweigungen; der Stamm der Fäden hat
die gleiche Dicke wie die abgehenden Zweige, welche an den
Enden die Andeutung einer leichten kolbigen Anschwellung
zeigen können. In jungen Kulturen sind die Fäden sehr lang, ge¬
bogen . und gewunden und färben sich gleichmäßig, in älteren
Kulturen zerfallen sie in Kurzstäbchen und längsovale kokken-
artige Gebilde, wobei sie auch ungleichmäßig gefärbt, wie segmen¬
tiert, aussehen können. Solche Veränderungen der Fäden fanden
wir fast bei allen Arten der Kultivierung. Auf festen Nährböden
scheinen sie sich vielleicht etwas schneller und stärker einzu¬
stellen als in flüssigen ; nur in Gelatine-Stichkulturen konnte man
lange, verzweigte Fäden auch nach langer Zeit noch finden; der
Luftzutritt scheint beschleunigend auf die Segmentierung der
Fäden zu wirken. Sporenbildungen haben wir nicht gesehen;
man sieht zwar kleine, ovale, kokkenartige Gebilde, die auch
freiliegend Vorkommen, doch nehmen dieselben keinerlei Sporen¬
färbung an. Beweglichkeit konnte man weder bei der Faden- noch
bei der Kurzstäbchenform beobachten.
Bezüglich der Säurefestigkeit ist folgendes auszusagen:
Mit Karbolfuchsin und nachträglich mit Säure behandelt be¬
halten sie die Färbung; dagegen werden sie, nach der Ziehl-
Neel s en sehen und der We i ch s elbaumschen (Karbolfuchsin¬
alkohol-Methylenblau) Methode behandelt, entfärbt; sie erwiesen
sich demnach als säurefest, aber nicht als alkoholfest.
Es wäre nun vielleicht noch zu überlegen, welche Stellung
die hier besprochenen Pilze in der Reihe der bis zur Zeit her
kannten, für den Menschen pathogenen Streptothrixarten ein¬
nehmen. Was die kulturellen Eigenschaften anlangt, so unter¬
scheidet sich unsere Pilzart (Streptothrix) von den meisten bis
jetzt bekannten durch das fakultativ anaerobe Wachstum. Die
meiste Uehereinstimmung zeigt sich mit den von H. Eppinger,
Aoyama und Miyamoto, A. Horst, Mac Collum und J. A.
Sc ha bad beschriebenen Stämmen. Ihre wesentlichsten Unter¬
schiede (gegenüber der „Cladothrix asteroides“ von II. Ep¬
pinger beruhen darauf, daß letzterer Form das Tiefenwachstum
in festen Nährböden mangelt. (Eppinger konstatierte aller¬
dings auch Scheinverzweigungen, Beweglichkeit, wie auch den
Mangel der Säurefestigkeit; nach Angaben der späteren Unter¬
sucher haben aber diese Merkmale der Epping ersehen Dar¬
stellung eine Richtigstellung im gegensätzlichen Sinne erfahren.)
In Uehereinstimmung mit Eppingers Befunden stehen die -
mehligen bezüglich des Aussehens der Kulturen auf den ver¬
schiedenen Nährböden, so besonders der Sternform der einzelnen
Kolonien, ferner bezüglich der Pathogenität für Kaninchen und
Meerschweinchen, wie auch bezüglich der hei Tieren hervor-
gerufenen Krankheitserscheinungen. Die von A o y a m a und M i y a-
moto beschriebene Pilzart unterscheidet sich von der unsrigen
durch das in den meisten Fällen fehlende anaerobe Wachstum und
durch das Fehlen der Pathogenität für Kaninchen wie durch das
morphologische Verhalten, — die S tarn infäden erscheinen dicker als
die Zweige. Die meisten Uehereinstimmungen zeigt unsere Strepto¬
thrix mit der von A. Horst (in einem Falle von Streptothrix-
pyämie) beschriebenen. Bei dem Anlegen von Zucker- Agar-
Schüttelkulturen erhielten auch wir ein negatives Resultat; jedoch
beobachteten wir ein stark in der Tiefe entwickeltes Wachstum
in Zucker-Agar-Stich- und in Gelatine-Stichkulturen ; im Gelatine-
Stich beobachtete auch Horst ein leichtes Tiefenwachstum,
jedoch nur im oberen Teile. Für Kaninchen erwies sich Horsts
Pilzart wenig pathogen. Der hauptsächlichste Unterschied be¬
steht in der von Horst beobachteten Eigenbewegung der Pilz¬
fäden.
Mit den von Mac Collum beschriebenen Kulturen stimmen
die unsrigen bis auf dein erwähnten Unterschied bezüglich des
Tiefenwachstums überein, doch konnten wir in Kaiiinchenuieren-
Abszessen, die länger als eine Woche nach der Injektion gelebt
hatten, nicht die von Mac Collum beschriebenen länglichen,
drusenartigen Bildungen sehen.
Die Angabe von Schab ad, daß seine Pilzart mit dem zu¬
nehmenden Alter rascher wächst, . stimmt durchaus mit unserer
Beobachtung.
Das charakteristische 0 her f läcbemv aehs t u m auf Zucker-Agar
von Eppinger mit einer ,, Reliefkarte dichter Gebirgszüge“ ver¬
glichen, wie auch das Wachstum auf Kartoffel, von demselben
Autor mit einer „verzuckerten Mandel“ verglichen, können wir,
ebenso wie S c h ab ad, bestätigen.
In bezug auf Säurefestigkeit erwiesen sich die kokken¬
artigen Formen bei Schah ad viel säurefester als die Fäden,
sie blieben sogar bei stärkerer Entfärbung, den Sporen analog,
rot gefärbt, unterschieden sich jedoch von denselben dadurch,
daß sie am Ende der Fäden zu treffen waren, die Sporen da¬
gegen meistens getrennt von den Fäden lagen. Diesen Befund
konnte auch ich einige Male erheben, jedoch nicht konstant und
nicht gleichmäßig, manchmal waren nur in einzelnen unter vielen
Gesichtsfeldern einige kokkenartige Formen rot gefärbt, die meisten
übrigen blau.
Anaerobes Wachstum finden wir bei der von M. P. N e-
schezadim enk'o beschriebenen Streptothrixart. Die leichten
Anschwellungen an den Enden wie die Entfärbung nach Ziehl-
Neelsen hat seine Streptothrixart neben anderen Eigenschaften
gemeinsam mit der von mir beobachteten, jedoch ist die seinige
streng anaerob und wächst nur bei 36 bis 37°. Im Gegensätze
zu dem Verhalten der von mir gefundenen Pilzart wächst sie
nicht auf Kartoffel und Gelatine und zeigt überhaupt eine ge¬
ringe Lebensdauer. Seine Tierversuche blieben resultatlos.
In dem Falle von 1. van Long hem scheint die Pilzart
auch bei Anwendung verschiedenartiger Nährböden an eine be¬
stimmte Temperatur gebunden zu sein, was bei meinen Stämmen
nicht der Fall ist. So wächst Long hems Stamm auf Agar und
in Bouillon bei 37°. jedoch nicht bei 22° usw.
Außer den bisher erwähnten Fällen fand ich in der Lite¬
ratur noch Berichte über einzelne für den Menschen pathogene
Streptothricheen mit starken Abweichungen von den Charakteren
meiner Pilzart; es liegen Berichte über Streptothricheen vor, die
aus der Luft oder aus erkrankten Organen von Tieren gezüchtet
wurden; auch unter diesen fanden sich einige, die Uebeneiin-
stimmungen mit den für den Menschen pathogenen zeigten. So
hat sich beispielsweise die Streptothrix caprae von Silber¬
schmidt, aus der Lunge einer an Tuberkulose erkrankten Ziege
gezüchtet, mit meiner Streptothrix die meisten kulturellen und
morphologischen Eigenschaften gemeinsam.
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
201
QuarantänestucTen.
Von Dr. Emil Wiener.
Die Bestrebungen einzelner Länder, unseren Kontinent
gegen den Einbruch verheerender Epidemien zu schützen, datieren
um einige Jahrzehnte zurück, als besonders seit Eröffnung des
Suezkanals immer wieder teils durch Pilgerzüge aus dem liedjaz,
teils aus Indien und dem näheren Orient eingeschleppte Cholera, -
und l’estfälle (das gelbe Fieber kommt wohl kaum in Betracht)
zu einer größeren Ausbreitung dieser Krankheiten führten. Doch
erst im Jahre 1881 Unterzeichnete der Khedive von Aegypten
ein Dekret, wonach unter Beistimmung der europäischen Gro߬
mächte ein internationales Sanitätskonseil für Aegypten geschaffen
wurde, welches nach kurzer Zeit als ungenügend erkannt, im
Jahre 1893 modifiziert und auch alsbald in Kraft gesetzt wurde.
Immer wieder neu auftauchende Schwierigkeiten von seiten
der einzelnen Großmächte, deren nicht immer gleiche Handels¬
und maritime Interessen, führten zu neuerlichen Konferenzen
in Paris und Venedig, bis deren Ergebnis in einem im Jahre
1904 erschienenen Reglement festgesetzt wurde, welches, aller¬
dings mit Ergänzungen, Nachträgen und Interpretationen, heute
in Kraft steht.
I.
Die Ueberwachung der Durchführung des Reglements ist
drei internationalen Sanitätskonseils anvertraut, deren Sitz in
Alexandrien, Konstantinopel und Teheran ist und von jeder Gro߬
macht mit je einem Delegierten beschickt werden. Dem Präsidenten
derselben sind weitestgehende Vollmachten eingeräumt, die Mit¬
glieder sind zumeist Aerzte, nur ausnahmsweise Berufskonsuln.
Der immer mehr sich entwickelnde Handel mit dem fernen Osten
und Indien brachte es mit sich, daß allmählich die auch territorial
für die Durchführung von Maßnahmen günstig gelegenen Beob¬
achtungsstationen um den Suezkanal die weitaus größte Bedeutung
gewannen, zumal denselben auch die Kontrolle der Pilgerzüge
nach Mekka zukam, auf deren genaue Beobachtung ebenfalls
großes Gewicht gelegt wird.
So entstanden immer mehr Beobachtungsstationen, welche
eine Vermehrung der Angestellten herbeiführten.
Nach Kapitel II der ägyptischen Ministerialverordnung vom
19. Juni 1893, Art. 10, ist der Marine- und Quarantäne-Polizei-
sanitätsdienst längs der ägyptischen Küste und dem Roten Meere
den Direktoren der Sanitätsämter, Sanitäts- und Quarantäne-
stationen, den Chefs der Sanitätsagentien und Sanitätsposten,
bzw. deren Untergebenen an vertraut, für welchen sie auch nach
Artikel 11 die Verantwortung zu tragen haben. Die Direktoren
der Sanitätsämter sind bezüglich ihrer Agenden in zwei Klassen
geteilt; die erste umfaßt die Stellen in Alexandrien, Port Said,
Sluez und die Mosesquellen, Tor; die zweite diejenigen von
Damiette, Sonakim und Kosseir. In El - Asiche befindet sich die
einzige bestehende Sanitätsagentie. Die Sanitätsposten unter¬
stehen der Sanitätsdirektion ihres Bezirkes, es gibt solche in
Port-Ncuf, Aboukir, Brullos, Rosettei, Kantara, Ismailia, die
ersteren vier Alexandrien, die letzteren zwei Suez unterstehend.
Es steht dem Sanitätskonseil in Alexandrien frei, neue derartige
Posten zu schaffen. Nach Artikel 21 unterstehen die angestellten
Aerzte dem Direktor ihres Sanitätsamtes und sind sie allein
befugt, zu entscheiden, ob den in Quarantäne befindlichen Per¬
sonen die Aufhebung derselben bewilligt werden kann.
II.
Das allgemeine Reglement des Quarantäne- und Seesanitäts¬
dienstes teilt — dem Sinne nach — die zu treffenden Ma߬
nahmen in zwei Gruppen : 1. Nach der Provenienz des in Betracht
kommenden Untersuchungsmaterials u. zw. : a) Beförderungs¬
mittel, b) beförderte Passagiere, c1) Waren; in einem Anhänge
sind auch veterinärpolizeiliche Maßnahmen bei Transport von
Tieren vorgesehen. 2. Nach der Art der Krankheiten.
Jedes an der ägyptischen Küste anlaufende Schiff muß sich
den in dem Reglement festgesetzten Vorschriften unterwerfen
und wird zu diesem Zweck ein Fragebogen vorgelegt, welcher
von dem Kapitän des Schiffes eidesstattlich beantwortet werden
muß. Diese Fragen haben wohl ausschließlich den Zweck, der
Verheimlichung, bzw. Hinterziehung eines etwa an einer epide¬
mischen Krankheit erkrankten Passagiers vorzubeugen, sind dem¬
nach ausschließlich polizeilicher Natur. Ist nach glaubwürdiger
Aussage des Kapitäns kein verdächtiger Fall vorhanden, so wird
nach Artikel 7 sofort das freie Geleite erteilt. In den fällen,
welche eine gründlichere Untersuchung erfordern, wird die gelbe
Flagge solange gehißt, bis die erforderlichen Aufklärungen von
»eiten des Schiffsarztes oder Kapitäns gegeben sind; dann erst
können die Passagiere — - in epidemiefreien Zeilen sofort, in
Zeiten von Epidemien nach den jeweilig angeordneten Maßnahmen
— das Schiff verlassen. Die sanitäre Beschaffenheit des Schiffes
hat sodann in dem Gesundheitspatent des Schiffes zum Ausdruck
zu kommen und ist dieses Sanitätspatent der Seesanitätsbehörde
eines jeden noch anzulaufenden Hafens vorzulegen.
Das freie Geleite wird nach Artikel 15 aufgehoben: I. Für
Schiffe ohne Sanitätspatent. 2. Für Schiffe mit unregelmäßigem
Sanitätspatent. In beiden Fällen wird eine strenge Untersuchung
vorgenommen, deren Protokolle der Zentraladministration des
Sanitätskonseils vorgelegt wird. Ist hiebei nichts Verdächtiges
vorgefunden worden, so wird das Patent erteilt; im anderen Falle
treten sofort die gesetzlichen Quarantänevorschriften in Kraft,
worauf ein neues Sanitätspatent erteilt wird.
Das Patent kann demnach nach Artikel 16 das Schiff als
rein oder infiziert erklären; der letztere Fall ist. gegeben,
wenn eine epidemische Krankheit (gelbes Fieber, Cholera oder
Pest) in dem Lande herrscht, aus welchem das Schiff kommt.
Ebenso ist das etwaige Vorhandensein einer dieser Krankheiten
in einem ägyptischen Hafen — nach Artikel 18 — in diesem
Patent vorzumerken. Zu Zeiten von Epidemien — nach Artikel 13
— wird auch der hygienische und sanitäre Zustand der ab¬
gehenden Schiffe eingehend untersucht.
Nach Artikel 20 ist die Quarantänebehörde ge¬
halten, wirksame Maßnahmen zu treffen, um die Ein¬
schiffung solcher Personen, welche Symptome von
Pest oder Cholera zeigen, hintanzuhalten. Die dies¬
bezüglichen prophylaktischen Maßnahmen sind : a) wenn der
Hafen infiziert ist: ärztliche Visite und Desinfektion
aller Passagiere und der gesamten Mannschaft;
b) wenn eine Epidemie außerhalb des Abfahrtshafens besteht:
1. ärztlich eVisiteund Desinfektion jener Passagiere
erster und zweiter Klasse, welche aus infizierten
Orten kommen; 2. ärztliche Visite und Desinfektion
aller Passagiere dritter Klasse ohne Unterschied.
Dieser Unterschied in der Behandlung der Passagiere erster
und zweiter Klasse und jenen dritter Klasse ist überall aufrecht
erhalten. So kann nach Artikel 21 die Untersuchung der Passa¬
giere erster und zweiter Klasse in Alexandrien und Port Said an
Bord des Schiffes nach Ausschiffung der Passagiere dritter Klasse
erfolgen.
Eine Reihe von sanitären Maßnahmen sind während der
Ueberfahrt auszuführen; so haben die ägyptischen Schiffe wäh¬
rend der Ueberfahrt, falls diese länger als 48 Stunden dauert,
einen diplomierten Arzt mitzuführen, welcher eine Autorisation
vom Minister des Innern über Vorschlag des Sanitätskonseils!
haben muß. Dieser Arzt hat alle hygienischen Maßnahmen an
Bord vorzukehren, vorkommendeh Falles gegen die Einschiffung
schädlicher Substanzen zu protestieren, die infektiös Erkrankten
zu isolieren und für die Desinfektion der in Betracht kommen¬
den Schiffsteile Sorge zu tragen. Auch hat der Arzt die Fragen
der Sanitätskommission nach Häfen, welche das Schiff berührt,
rzu beantworten, auf Verlangen auch ein Protokoll über sanitär
wichtige Vorkommnisse vorzulegen. Ist das Schiff als unverdächtig
erkannt worden, so hat die Anerkennung sofort zu erfolgen.
Im anderen Falle wird das Schiff auf einen dazu bestimmten
Ankerplatz verwiesen und unter Aufsicht einer Anzahl von Sani¬
tätsaufsehern gestellt. Zeigen sich während der Isolierung neue
oder verdächtige Fälle von Cholera oder Pest, so beginnt der
Termin der Isolierung von neuem für jene Gruppe von Personen,
welche mit den Verdächtigen in Berührung waren.
Ein in Quarantäne befindliches Schiff kann nach Artikel 36
den Hafen verlassen, doch wird in diesem Falle im Patente
die Zeit angegeben, welche es in Quarantäne hätte bleiben müssen.
Ebenso kann ein infiziertes Paketboot, falls dessen Aufenthalt
eine Gefahr für die anderen in Quarantäne befindlichen Schiffe
bilden würde, aufgefordert werden, seine Fahrt fortzusetzen. Ganz
spezielle strenge Maßnahmen werden bezüglich der
Karawanen und Pilgerschiffe getroffen und hat die
Quarantänebehörde auch im übrigen das Recht, im Falle einer
Gefahr jene Maßregeln sofort vorzuschreiben, welche erforderlich
sind und hievon nachträglich dem Sanitätskonseil Meldung zu
erstatten. Vom Aufenthalt in Quarantänestationen sind Kinder
unter acht Jahren und Minderbemittelte, welche auf Kosten der
Regierung reisen, befreit.
III.
Nach Artikel 5 der Allgemeinen Bestimmungen wird für
infiziert ein Schiff erklärt, welches einen Cholera- oder Pest¬
fall an Bord hat oder solche in den letzten sieben ragen \ oi
Ankunft des Schiffes aufwies. Für verdächtig wird ein Schitl
202
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 19Ü.
Nr. 6
erklärt, welches bei seiner Abfahrt aus dem letzten Hafen einen
Infektionsfall an Bord hatte, aber keinen in den letzten sieben
Hagen. Für nicht infiziert wird ein Schiff erklärt, falls
sich durch fünf Tage kein neuer Pest- oder Cholera fall ereignet
hat oder dieser Termin nach Isolierung, Tod oder Genesung
des letzten Infektionsfalles verlaufen sind. Die Quarantänebehörde
hat Sorge zu tragen für Anwesenheit eines Arztes und von
Desinfektionsmitteln auf diesen Schiffen, bei Pestfällen auch
für die Ratten Vertilgung. Will jedoch ein Schiff sich den vor¬
geschriebenen Sicherheitsmaßregeln nicht unterziehen, so kann
es den Hafen verlassen. Wenn ein Schiff nun Passagiere, deren
Gepäck und Poststücke ausschifl't, ohne das Land berührt zu
haben, wird es so betrachtet, als ob es den Hafen nicht berührt
hätte. Unter gewissen' Umständen kann die einfache ärztliche
Visite angeordnet werden, falls das Schiff aus einem infizierten
Hafen kommt und sich kein verdächtiger Fall an Bord ereignet
hat; seihst die unreine Wäsche der Passagiere wird in diesem
Falle nur auf spezielle Weisung der Sanitätsbehörde desinfiziert;
ebenso wird die einfache ärztliche Visite in einem infiziertem
Hafen angeordnet, falls nicht das verdächtige Schiff dort seine
gesamte Ladung abgibt.
Ganz besondere Ausnahmsbestimmungen be¬
stehen: 1. Bezüglich der Kriegsschiffe, falls dieselben
durch ein Zertifikat des Schill'sarztes oder des Kommandanten
eidesstattlich nach weisen, daß sich a) während der lieber fahrt
und während der Einschiffung kein Fall von Best oder Cholera
ereignete, b) eine eingehende ärztliche Visite zwölf Stunden
vor Anlaufen eines ägyptischen Hafens ergab, daß das Schiff
seuchenfrei sei. Haben diese Schiffe in den letzten fünf Tagen
keinen Hafen berührt, so erhalten sie sofort freies Geleite. 1st
dieser Zeitraum jedoch noch nicht verstrichen, so können sie
immerhin den Suezkanal ohne ärztliche Visite passieren, vor¬
ausgesetzt, daß sie das entsprechende Zertifikat von der Quaran¬
tänebehörde vorweisen.
Dagegen sind die Quarantänebestimmungen für die ein¬
geborene Schiffsmannschaft der vom fernen Osten kommenden
Dampfer ganz besonders streng. Diese dürfen selbst ganz
unverdächtige Schiffe nicht ohne vorherige ärztliche Visite und
Desinfizierung verlassen.
Nach Artikel 22 dieser Vorschriften werden keine Land¬
quarantänen errichtet. Personen, welche Symptome von Cho¬
lera oder Pest zeigen, können jedoch an den Grenzen zurück¬
gehalten werden ; unter Umständen, wenn die Ausübung der
sanitären Maßregeln auf Schwierigkeiten stößt, kann sogar die
Grenze oder ein Teil derselben für Reisende und Waren
gesperrt werden. Dies gilt offenbar für außergewöhnliche
Fälle, da in den anderen Fällen nach Artikel 24 nie die ärztliche
Visite stattzufinden hat. Diejenigen Personen, welche den Hafen
verlassen, haben ihren Wohnort anzugeben, und werden
durch fünf Tage überwacht; ergibt sich auf der Reise im
Eisenbahnwaggon ein Infektionsfall bei diesen Reisenden, so ist
für dessen Isolierung und Desinfektion Sorge zu tragen.
IV.
Nach den fTioleraquarantiinevorscliriften werden allgemein
fünf Tage als Inkubationszeit angenommen und die Maßnahmen
auf G rund dieser Annahme getroffen. Demnach wird ein Schiff als
seuchenfrei erklärt, wenn es aus einem seuchenfreien Hafen
kommend, in den letzten fünf Tagen keinen verdächtigen Fall
an Bord aufwies. War jedoch der eine der berührten Häfen
cholerainfiziert, ohne daß sich auf dem Schiffe während der
Ueberfahrt ein Fall ereignet hätte, so ist die Quarantäne durch
fünf Tage zu halten, wobei die Dauer der Ueberfahrt einge¬
rechnet wird.
Für seuchenfreie unverdächtige Schiffe kann immerhin vor¬
geschrieben werden: Aerztliche Visite, Desinfektion der unreinen
Wäsche der Passagiere, welche nach Ansicht des betreffenden
Sanitätsamtes als infiziert zu gelten haben, Entfernung des Kiel¬
wassers nach Desinfektion desselben, endlich Desinfektion der
Aborte, Beschaffung einwandfreien Trinkwassers.
Als verdächtig wird ein Schiff betrachtet, auf welchem
zur Zeit der Abfahrt ein Cholerafall konstatiert wurde, aber
kein neuer in den letzten sieben Tagen.
Solche Schiffe sind unterworfen: der ärztlichen Visite, der
Desinfizierung der Wäsche und eventuell anderer Gegenstände
der Passagiere, ferner jener Teile des Schiffes, welche vom Sani¬
tätsamt als verseucht erklärt werden, endlich der Entleerung
des Kielwassers nach vorheriger Desinfektion desselben. Es kann
die Entleerung menschlicher Fäkalien in das Hafenwasser ohne
vorherige Desinfektion untersagt werden. Die Passagiere und
Mannschaft kann einer Beobachtung nicht über fünf Tage unter¬
worfen werden.
Verdächtige Schiffe dürfen, falls ein Arzt und ein
Desinfektionsapparat an Bord ist und das Entsprechende veran¬
läßt wurde, den Kanal von Suez in Quarantäne passieren, falls
die Desinfektion irgendwo durchgeführt wurde, Postschiffe
und Paket boote, welche Passagiere befördern, welche einen
Arzt, aber keinen Desinfektionsapparat mitführen, dürfen unter
denselben Bedingungen den Kanal passieren. Selbst dann, wenn
der letztere Fäll gegeben ist und ein Cholerafall sich vor
sieben Tagen vor Eintreffen des Schiffes ereignete, die vorge-
schriehenen Maßnahmen in Suez, Port- Said oder Alexandrien,
durchgeführt wurden, kann das freie Geleite erteilt werden. Auch
bei Frachtdampfern kann der gleiche Vorgang unter gleichen
Bedingungen eingeschlagen werden, seihst wenn kein Arzt an
Bord ist. |
Als verseucht wird ein Schiff betrachtet, auf welchem
ein oder mehrere Cholerafälle innerhalb der letzten sieben Tage
konstatiert wird. Hier wird folgender Vorgang eingeschlagen:
1. ärztliche Visite, 2. sofortige Ausschiffung und Isolierung der
Kranken, 3. Ausschiffung aller übrigen Personen und Beobachtung
derselben bis zu fünf Tagen, 4. Desinfektion der Wäsche und
jener Objekte, welche die Sanitätsbehörde als infiziert erachtet,
6. das Kielwasser wird nach Desinfektion entleert. Verseuchte
Schiffe werden, je nachdem sie ohne Arzt und Desinfektion oder
mit solchen versehen sind, verschieden behandelt. Die ersteren
haben verschiedene Erleichterungen, während bei den letzteren
die Desinfektion, Isolierung der Kranken und Beobachtung der
Gesunden streng durchgeführt wird (Artikel 13). Ebenso kann
jedem infizierten Dampfer die Passage- des Kanals in Quarantäne
gestattet werden, wenn die Desinfektion stattgefunden hat, die
Kranken und Verdächtigen ausgeschifft sind. Die Kranken werden
dann isoliert und behandelt und erst dann entlassen (Artikel 15,
16, 17, 10), wtenn der Arzt jede Gefahr als ausgeschlossen
erklärt. ’ ‘ ! i i ! ill
Ganz ähnlich sind die Vorschriften bei Ausbruch von Pest¬
epidemien, bzw Konstatierung eines oder mehrerer Erkran¬
kungsfälle an Bord eines Schiffes; nur daß in diesem Falle sich
die Beobachtungs- und Quarantänedauer auf sieben bis zehn Tage
erstreckt und nebst allen anderen auch hei Cholerafäilen vorge-
schriebenen D-esinfektionsmaßnahmen auch die Vertilgung der
Ratten verlangt wird. Es 'sei hier bemerkt, daßi derzeit gewöhnlich
die Vertilgung durch Kohlensäure bewirkt wird, wobei es aller¬
dings vorkommt, daß- einzelne Tiere diese Prozedur, selbst wenn
sie noch so sorgfältig gemacht wird, überleben.
Ein eigenes Reglement bestimmt die Transite, sei es
der Schiffe durch den Kanal von Suez, sei es solche zu Land
in Eis-e-nbahnzügen. Die- letzteren werden durch ein eigenes Sa¬
nitätsorgan überwacht, welches im Bedarfsfälle derartige Fälle
auswaggoniert und dem Quarantänespital übergibt, den betreffen¬
den Wagen ausschaltet und desinfizieren läßt.
Die Vorschrift, bezüglich der Frachten, des Gepäckes der
Reisenden und der Poststücke, geht mit Recht von dem Grund¬
sätze aus, daß dieselben als Zwischenträger der Cholera und
Pest nur insoferne in Frage kommen können, als dieselben irgend¬
wie- mit Infektionsmaterial in Berührung gekommen sind; demnach
wird die Desinfizierung nur doit durchgeführt, wo es die Sanitäts¬
behörde für geboten erachtet. Immerhin kann die Desinfektion
gewisser Gegenstände, ganz unabhängig davon, ob sie als in¬
fiziert betrachtet werden können oder nicht, durchgeführt werden.
Hiezu, gehören: unreine Wäsche, Kleidungstücke, Fetzen. Waren,
welche nachweislich vor Ausbruch einer Epidemie aus dem be¬
treffenden Ort abgesendet wurden, unterliegen keiner D-esinfek-j
tion. Havarierte Waren auf Pestschiffen, welche mit Batten in
Berührung waren, können auf zwei Wochen ins Depot gelegt
werden, wobei angenommen wird, daß die Lebensdauer der Pest¬
bazillen diese Zeit nicht überschreitet.
V.
Im Sinne- der Des infektions Vorschrift darf die Des¬
infektion nur unter tunlichster Schonung der zu desinfizierenden
Objekte statt finden. Diese werden von Fall zu Fall, von der
Sanitätsbehörde bestimmt. Abgesehen hievon müssen jederzeit
auf Verlangen desinfiziert werden: Leibwäsche, getragene Kleider,
komprimierte Abfälle von Kleidungs- und Wäschestücken, welche
als Waren transportiert werden. Drucksachen unterliegen keiner
Desinfektion.
Die obenerwähnten Objekte, Bettzeug und ähnliches, sind
mittels Wasserdampf unter Druck derart zu desinfizieren, daß
ein Maximal- oder Signalthermometer eine Temperatur von 110°
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
208
im Inneren dieser Objekte anzeigt; es wird empfohlen, diese
Temperatur dann durch 20 Minuten einwirken zu lassen.
Als Desinfektionsflüssigkeiten kommen in Betracht, eine
Sublimatlösung von l%o, welche durch Anilin gefärbt ist; 5°/oige
reine Karbolsäure; 20°/oige Kalkmilch; eine Mischung von roher
Karbolsäure 5 Teile, Kaliseife 5 Teile, warmes Wasser 100 Teile,
diese Lösung möglichst warm anzuwenden; endlich heiße 10 bis
20°>ige Sodalösung.
Die Desinfektionsobjekte werden durch fünf Minuten in
die Sublimatlösung getaucht, im Sterilisationsofen neuerlich des¬
infiziert und .dann in Säcke gebracht, welche vorher in L°/00
Sublimatlösung getaucht waren. Gegenstände, welche durch den
Dampf beschädigt werden könnten, wie Leder, Holzwaren, Samt,
Pelzwaren, werden mit Sublimatlösung gebürstet. Die Karbolsäure
wird dort angewandt, wo weder Dampf noch Sublimat ohne Schä¬
digung der Gegenstände gebraucht werden können, z. B. bei
.Metallen, Instrumenten. Die Kalkmilch kommt speziell in Be¬
tracht bei Desinfektion von Dejekten. Die Karbolseifenlösung wird
angewandt bei Desinfektion von Lokalen. Die Kalkmilch kommt
ferner in Anwendung bei den Kielwässern, nach einer eigenen
V'oi'schrift, welche die Quantität der zu desinfizierenden Flüssig¬
keit in Betracht zieht. Die Kabinen Choleraverdächtiger oder
Kranker, werden mit einem Spray aus einer Sublimatlösung,
welcher 10%iger Alkohol zugesetzt ist, derart behandelt, daß
auf allen Gegenständen eine dünne Flüssigkeitsschicht zu sehen ist.
Die Pariser Konferenz im Jahre 1905 hat diese Vorschriften
noch ergänzt; nach dieser sind alle gebrauchten Kleider und
ähnliches, zu verbrennen. Statt des Dampfes unter Druck, ist
strömender Dampf anzuwenden. Bei Gegenständen, welche in
Desinfektionslösungen getaucht werden können, kommen in Be¬
tracht, eine Sublimatlösung l%o, Phenolsäure 3%ig, Lysol und
Cresyl 3°/oig, Formol 1% der käuflichen 40%igen Lösung, unter¬
chlorigsaures Natrium oder Kalium l°oig. Alle diese Lösungen
müssen entsprechend lange einwirken.
Bezüglich der Vernichtung der Ratten wird empfohlen, ein
Gemisch von schwefliger und unterschwefliger Säure; ein Ge¬
misch von Kohlenoxyd und Kohlensäure; endlich Kohlensäure.
Di(> Vernichtung der Ratten ist zu konstatieren.
Mit ganz besonderen Desinfektionsanlagen ist das unter
der Leitung des umsichtigen Direktors Dr. Batko stehende Sa-
nitätsamt, in Suez ausgestattet. Diese Anlagen gehören wohl
zu den größten der Welt, mit Hinblick auf die Pilgerzüge aus
und nach dem Hedjaz und der Einbruchspforte aus Indien.
Die Züge führen bis zur Desinfektionsanstalt, welche auch
einen eigenen Molo besitzt. Vier große horizontale Desinfek¬
toren sind durch eine Wand geschoben derart, daß auf der einen
Seite die zu desinfizierende Kleidung hineingeschoben und auf
der anderen Seite nach stattgehabter Prozedur herausgenommen
wird. Auf der einem Seite, der den ganzen Mittelraum einnehmen¬
den Anlage, ist die Untersuchungsstelle für Männer, auf der
anderen die für die Frauen. Die letzteren werden von zwei
Aerztinnen, denen ein sehr geschultes weibliches Sanitätspersonal
beisteht, untersucht. Nach vollständiger Entkleidung wird nun
jede einzelne Person gründlich untersucht, geduscht, mit einem
von ddr Sanitätsverwaltung beigestellten reinen Hemd versehen,
dann erst in einen großen Raum geführt, wo dann die Trocknung
der desinfizierten Kleidungsstücke und Wäsche erwartet wird.
Ich habe einen Zug von 1400 Pilgern derart in 14 Stunden
desinfizieren gesehen.
Hie letzten Forschungen auf dem Gebiet der Schiffsdesinfek-
fion sind allerdings noch nicht in Betracht gezogen. Die neueren
Arbeiten von Flügge,1) Schyening,2) Erhard Glaser,3)
welche die Formol-, F orm an-, Autandesinfektion als die über¬
legenste bei der Desinfektion von bewohnten Räumen, erscheinen
lassen, sind noch nicht ausreichend gewürdigt.
Die Sanitätsstation von Suez, welcher auch die einige
Kilometer weitliegende Station an den Mosesquellen untersteht,
bildet den Gegenstand besonderer Fürsorge des internationalen
Sanitütskonseils und ist dieselbe auch mit der größten Zahl von
Verzten sieben bis acht — dotiert. Die Isolierungs- und Des¬
infektionsstation an den Mosesquellen allein, hat drei Desinfek¬
tionsapparate und je ein Isolierspital für Cholera und Pest, jedes
zn zwölf Betten, welche voneinander isoliert sind; außerdem
Huschen, Bäder, im Bedarfsfälle noch eine Anzahl Baracken,
■in Trink Wasserreservoir.
Die sanitäre Wichtigkeit von Suez liegt wie bereits bemerkt,
ui dem Umstande, daß sowohl alle aus Indien, dem Lande der
endemischen Cholera und Pest und aus China kommenden Schiffe,
') Zeitschr. für Hygiene und Infektionskrankheiten, Bd. 35.
2) Zentralblatt für Bakteriologie, Rd. 50.
*) Das österr. Sanitätswesen 1908. R. 392.
als auch alle nach Mekka gehenden und von dort zurückkehrenden
Pilgerkarawanen diesen Ort berühren müssen und einer sanitären
Kontrolle nicht entgehen können.
Die hygienisch gewiß zu rechtfertigende Aufsicht, welche den
Karawanen zuteil wird, erfolgt sowohl wegen der bei ihnen herr¬
schenden Unreinlichkeit, als auch Gleichgültigkeit gegen irgend¬
welche hygienische Vorkehrungen. Als Pilgerschiff wird nur ein
solches betrachtet, welches außer seinen anderen Passagieren
mehr als einein Pilger pro 100 Dampfertonneu an Bord hat.
Jeder Pilger muß im Zwischendeck wenigstens 1-5 nr Raum haben
und ist für Unterbringung und Isolierung Infektionserkrankter
Sorge zu tragen. Ist das Pilgerschiff nicht rein, gut gelüftet, mit
gutem Trinkwasser versorgt, mit Wasserdestillations- und Des¬
infektionsapparat versehen, so erhält es nicht die Erlaubnis!
zur Abfahrt. Ein Arzt und wenn über 1000 Pilger, ein zweiter
Arzt, hat mitzufahren und sich täglich von der Einhaltung der
hygienischen Vorschriften, der Desinfektion der Aborte, vom
tadellosen Zustand des Trinkwassers zu überzeugen. Für Cholera¬
oder Pestkranke oder -verdächtige sind Krankenwärter bestellt,
welche, falls sie in Aktion treten, ebenso zu isolieren sind, wie
die Erkrankten. Langt das Schiff in unverdächtigem Zustand
in El-Tor, der Beobachtungsstation für Mekka an, so erhält es
nach Desinfizierung der Pilger und deren Habseligkeiten in ähn¬
licher Weise, wie in Suez, freies Geleite. Ist ein Verdächtiger,
bzw. Cholera- oder Pestkranker an Bord, so wird er ausge¬
schifft und ins Isolierspital gebracht, die anderen in kleinen
Gruppen isoliert, das Schiff — wenigstens teilweise, nach Ver¬
fügung der Sanitätspersonen — desinfiziert und alles durch
sieben Tage in Beobachtung belassen; diese Zeitdauer kann
aber auch verringert werden.
Die ruckkehrenden Pilger unterliegen ebenfalls einer Beob¬
achtung und Desinfektion, eventuell Isolierung, falls ein Ver¬
dächtiger- oder Erkrankungsfall vorgekommen ist, einer sieben¬
tägigen Beobachtung.
*
In einem Anhänge sind die Quarantänevorschriften bezüglich
der Tiere, verfaßt von dem ausgezeichneten Kenner der Veterinär¬
verhältnisse in den Tropen Dr. Littlewood, enthalten. Nach
denselben werden größere Tiere: Esel, Pferde, Kamele, falls sie
unverdächtiger Herkunft sind, einer tierärztlichen Visite, kleinere
Tiere, wie Hammel, Schafe, unter allen Umständen auch einer
24stündigein Beobachtung unterzogen. Verdächtige oder infizierte
große Tiere müssen in der Quarantäne geschlachtet werden.
Dies gilt insbesondere von großen Tieren, welche an infektiöser
Pleuro-Pneumonie, Milzbrand erkrankt oder mit so erkrankten
Tieren in Berührung waren. Tiere, welche aus einem Lande
kommen, in welchem Maul- und Klauenseuche herrscht, werden,
falls sich keine Erkrankung unter ihnen zeigt, nach sieben¬
tägiger Beobachtung freigegeben. Unter gleichen Umständen
müssen, Schafe und Hammel, an deren Ausgangsort Schafblattern
herrschten, 14 Tage, Tiere, welche aus rotzverseuchten Ländern
kommen, bis zur Konstatierung dels1 Resultates der Malleinimpfung,
endlich Schweine aus1 Gegenden, wo Schweinerotlauf oder infek¬
tiöse oder Pneumoenteritis herrscht, durch 48 Stunden beobachtet
werden. Wird unter den Beobachteten ein Erkrankungsfall kon¬
statiert, SO' ist das Tier zu schlachten, das Fleisch kann aber
unter Umständen freigegeben werden, ebenso dasjenige der Tiere,
welche mit den Infizierten in Berührung kamen. Nach jeder
Beobachtungsfrist sind die Quarantänestationen zu desinfizieren.
Häute von Tieren stammend, welche wegen einer der erwähnten
Krankheiten geschlachtet wurden, werden erst freigegeben, nach¬
dem sie gegerbt sind, solche aus infizierten Ländern überhaupt
nicht zugelassen.
VI.
Aus diesen Reglements ergibt sich, daß die sanitäre Ueber-
wachung das Material in zwei Gruppen teilt und die Maßnahmen
trifft, in Ansehung: 1. nach der Provenienz des in Betracht kom¬
menden Untersuchungsmaterials : a) Beförderungsmittel, b) be¬
förderte Passagiere, c) Waren. 2. Nach der Art der Krankheiten.
Ad a.) kommen wohl nur Schiffe in Betracht, da nach
Art. 22 der Allgemeinen Bestimmungen des Quarantäneregulativs
Landquarantänen nicht errichtet werden. Die Schiffe werden
in drei Kategorien geteilt: in Paket- und Passagier-, in Fracht-
und in Kriegsschiffe. Die Paketboote, welche die Post mitführen,
sowie die Passagierdampfer, soweit sie nicht Pilgerschiffe sind,
haben gewisse Erleichterungen in der Untersuchung, sowohl wie
in der Beobachtung. Im Falle einer verdächtigen oder ausge¬
sprochen infektiösen Erkrankung, ist zwar das entsprechende
vorzukehren, doch steht es bei der Sanitätsbehörde nur einzelne
Teile des Schiffes als verseucht zu erklären. Warendampfer er-
204
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
fahren insoferne eine Erleichterung, als deren Mannschaft das J
Betreten des Landes von ihrem Kapitän untersagt werden kann.
Die Ausschiffung der Waren aber, in Fällen von Pest verdacht,
kann verboten werden, um das Mitschleppen pestkranker Ratten
ans Land zu verhindern.
Die größlen Erleichterungen werden Kriegsschiffen einge¬
räumt, bei welchen die eidesstattliche Aussage des Arztes genügt,
um freies Geleite zu erlangen.
Ad b) Bezüglich der Passagiere wird in den ägyptischen
Häfen ein strenger Unterschied zwischen solchen der ersten
und zweiten und jenen der dritten Klasse gemacht. Zunächst
werden alle Passagiere gezählt - eine einfache polizeiliche Ma߬
regel — und hiebei jene der ersten und zweiten Klasse mehr
oder weniger flüchtig angesehen; die Art der Untersuchung ist ganz
dem Ermessen des Hafenarztes überlassen. Es bestehen zwar
diesbezüglich Vorschriften, doch selbst diese räumen — mit
Recht — dem Arzt eine weitgehende Freiheit in der Art der
Untersuchung ein. Ist eine größere Anzahl von Passagieren
dritter Klasse vorhanden, so ist der Vorgang in den verschiedenen
Stationen, nach Anzahl, Provenienz und Reiseziel, verschieden.
Am strengsten ist die Untersuchung bei Pilgern. Der Begriff
Pilger, ist aber nach dem Quarantäne-regulativ dehnbar. Erreicht
die Anzahl der Pilger nicht die Zahl von 1 pro 100 Brutto¬
schiffstonnen, so gelten diese nicht als Pilger, selbst wenn sie
von Hedjaz kommen oder dorthin gehen; ebensowenig gelten
jemals die Passagiere erster und zweiter Klasse als Pilger,
sondern nur jene der dritten Klasse. Diese Differenzierung
ist wohl vom hygienischen, keineswegs aber vom
epidemischen Standpunkt zu rechtfertigen. Die Pas¬
sagiere dritter Klasse werden in Port Said, bzw. Suez ausge¬
schifft, sofern sie aus Pilgerstätte-n kommen oder dorthin reisen,
in der oben erwähnten Weise gereinigt, ihre Effekten desinfiziert
und ihnen dann erst die Weiterfahrt gestattet. So sehr nun
diese Maßregel als hygienisch wünschenswert aufzu¬
fassen ist, da sie doch der Reinlichkeit Rechnung
trägt, so gering ist ihr epidemiologischer Effekt. Die U eber¬
trag ungsmöglichkeit einer Epidemie durch d i e Haut¬
decken oder durch Effekte n , bildet g e w i ß- n u r eine n
ganz geringen Bruchteil der übrigen Infektions¬
gelegen h ei ten, ganz abgesehen davon, daß die Ausschal¬
tung dieser Infektionsgelegenheit nur für wenige Tage,
wenn nicht Stunden sich erg ©stellt ist.
Das Individuum selbst zu desinfizieren, ist aber
unmöglich. In dem vorstehenden Regulativ wird als
Basis der Beobachtungsdauer verdächtiger oder infizierter Fälle
die Zeit von fünf bis sieben Tagen angenommen, von
der Ä n s i c h t au sg ehen d, daß- d i e Inkub ati ons d a uer de r
Cholera, bzw. Pest, diesen Zeitraum umfasse. Nach
der einwandfrei von vielen Seiten bestätigten Erkenntnis von
den gesunden Bazillenträgern läßt sich diese A h-
nahm-e nicht mehr aufrechthalten. Wir können, falls
ein ans einem Choleraherd Zugereister fünf. Tage
nach d © m Verlas s en des Ortes erkrankt, nicht m i 't
Bestimmtheit behaupten, daß die Inkubationsfrist
nur fünf Tage betragen könne, da die Infektion früher
oder später von einem gesunden Bazillenträger er¬
folgt sein konnte, ja der Erkrankte selbst die Infek¬
tionserreger ohne klinische Symptome kürzere oder
längere Zeit be herbergt haben konnte und diese erst
durch günstige Umstände in ihrem Wirt virulent
wurden.
Ars diesem Grunde ist auch die sogenannte „Ueb-erwachung“
der Passagiere der ersten und zweiten Klasse illusorisch. Die
aus den ägyptischen Häfen ins Land Reisenden haben ihre
Adressen abzugeben und werden an ihrem Reiseziel natürlich
unauffällig überwacht. Eine Konstatierung ob sie etwa ge¬
sunde Bazillenträger sind, erfolgt nicht und kann
a uch derzeit n i c h t erfolg e n. Trotzdem ist diese Möglichkeit
sehr naheliegend und diese gesunden Bazillenträger
sind zweifellos in vielen Fällen die Verbreiter v o n
Epidemien, insbesondere der Cholera. Daß dies bezüg¬
lich aller Passagiere ohne Unterschied der Klasse gilt, muß wohl
nicht erst erörtert werden. Bei allen Vorsichtsmaßregeln, selbst
bei der größten Gewissenhaftigkeit der ohne Ausnahme sehr tüch¬
tigen und verläßlichen Hafen- und Quarantäneärzte, wird daher
Verbreitung von Epidemien unter den Negern durch
gesunde Bazillenträger durch die bestehenden Ma߬
nahmen nicht zu verhüten sein. Nur nebstbei sei bemerkt,
daß Kinder unter acht Jahren aus humanitären Rücksichten von
dein Aufenthalt in Isolierspitälern befreit sind, was ebenfalls
in sanitätspolizeilicher Hinsicht bedenklich ist.
2. Nach Artikel 3 und 4 der allgemeinen sanitätspolizei¬
lichen Bestimmungen des Quarantänereglements kommen in Be¬
tracht bezüglich Abwehrmaßregeln Cholera, Pest und Gelbes
Fieber. Nur noch Typhus und Blattern können ausnahmsweise
und in beschränktem Maße zu Vorkehrungen Anlaß geben. Der
übrigen Infektionskrankheiten, der akuten Exantheme, ist über¬
haupt keine Erwähnung getan, da die Ohnmacht der Prohibitiv-
maßregeln diesen gegenüber zu offenkundig ist, um auch nur
versucht zu werden.
Aber selbst von den, den Vorschriften unterliegenden Krank¬
heiten, kommt zunächst das Gelbe Fieber kaum in Be¬
tracht. Schon der Umstand, daß Schiffe- von dem Heimats¬
orte desselben bis zum nächsten europäischen Hafen wenigstens
zwölf Tage brauchen, eine Zeitdauer, welche die Inkubationszeit
wahrscheinlich übersteigt, läßt die Isolierung des Schiffes und
der Kranken als leicht durchführbar erscheinen, falls sich auf
der Ueberfahrt ein Krankheitsfall ereignen sollte. Aber auch
die Rolle, welche ein gesunder Bazillenträger allenfalls bezüglich
der Uebertragung spielen kann, ist bei dem Infektionsmodus des
Gelben Fiebers nicht von Bedeutung.
Weit ernster liegen die Dinge bezüglich der Pest. Allein
auch bei dieser Krankheit ist die Gefahr einer Einschleppung
nach Europa, bzw. das Entstehen einer größeren Epidemie, keines¬
wegs so groß, wie allgemein geglaubt wird. Die Tatsache, daß
Europäer weit widerstandsfähiger gegen Pest sind als Eingeborene,
ist allen Pestärzten Indiens bekannt. Die Motivierung, daß- Einge¬
borene in Indien wegen ihrer hygienisch beispiellos schlechten Le¬
bensverhältnisse,. Mangel an Licht, Luft und Nahrung, einen besser
vorbereiteten Boden für die Pestepidemie bilden, trifft gewiß
zu, bietet aber keine ausreichende Erklärung, warum Europäer
nur selten und auch dann nur zumeist leicht von der Pest er¬
griffen werden. Es gibt Fälle, in welchen Europäer mit leichtem
Fieber und Drüsenschwellungen ihren Geschäften nachgehen und
den Arzt erst bei stärkerem Unwohlsein oder wenn die Drüsen
vereitern, aufsuchen. In Aegypten nehmen diese Erkrankungen
bei Europäern höchst selten tödlichen Ausgang, was zweifellos
nur als eine rassenmäßig größere Widerstandskraft zu deuten
ist. Den besten Beweis für diese Tatsachen bietet der Verlauf
der Pestepidemie in Odessa, wenn man von einer solchen sprechen
kann. Mit Ausnahme der wenigen Fälle von Lungenpest, welche
- auch bei Europäern fast immer tödlich verläuft, erkrankten
im Verlaufe mehrerer Monate in Odessa wenig über hundert
Personen an Pest, so daß eigentlich von einer Epidemie kaum
gesprochen werden kann und jedenfalls, ohne daß- besondere
sanitäre Maßnahmen in Anwendung gekommen wären, eine W eiter¬
verbreitung auf andere Orte nicht erfolgt ist. Auch dürften ge¬
sunde Bazillenträger bei der Verbreitung der Pest nach der Natur
der Sache kaum eine Rolle spielen.
Die- A b w e h rm aßae-g e 1 n gegen Cholera sind demnach
diejenigen, welche die größte Aufmerksamkeit erfordern. W ie
erwähnt, ist in dem bestehenden Reglement den gesunden Ba¬
zillenträgern keine Rechnung getragen. Die Untersuchung
der Schiffspassagiere kann, eklatante Fälle mit manifesten Sym¬
ptomen ausgenommen, eine Aufklärung hierüber nicht verschaffen.
Di© Art der Untersuchung der Passagiere von seiten der
Hafenamtsärzte ist denn auch eine sehr verschiedene. Das Qua¬
ranta nereglc-m ent hat der individuellen Auffassung des Unter¬
suchenden -eine weise Dehnbarkeit und freien Spielraum ge¬
lassen, da die ergänzenden Verordnungen ganz allgemein gefaßt
sind. Bei aller Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit der Hafenärzte
liefert schon die Art der Untersuchung das Geständnis- der Un¬
möglichkeit, sofort zu einer Erkenntnis zu gelangen.
Das genaue Zählen der Passagiere ist eine bedeutungslose
polizeiliche Maßregel, welche obendrein der eidesstattlichen Er¬
klärung d-e-s Kapitäns ein beleidigendes Mißtrauen entgegensetzt.
Sodann die Visitierung: In einem kleinen Hafen einer Mittel-
me-erinscl untersuchte der Hafenarzt die Passagiere einesi aus
Syrien kommenden Dampfers, im Herbste vorigen Jahres, auf
Pest, indem er- jedem den Puls fühlte und nach Drüsen forschte.
Tn Brindisi hielt sich der Hafenarzt an dem Artikel 7 des
Gholerareglements, wonach Dejektionen zu desinfizieren sind,
bevor sie in das Hafenwasser geleitet werden, dürfen und ließ,
obwohl Brindisi seit W^ochen choleraverseucht, an
diesem Tage mehrere neue Cholerafälle hatte, _ die
Schiffsähorte desinfizieren und keinen Passagier des mit reinem
Patent eingelaufcnen Schiffes früher ans Land steigen, ln dem
indischen pest- und choleraverseuchten Hafen Karachi wurden
alle Schiffsinsassen, nachdem das Schiff dort 2Va Tage gelegen war,
auf Pest untersucht. In Colombo erhalten alle von dem ver¬
seuchten Hafeai von Karachi kommenden Passagiere erster und
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
205
zweiter Klasse einen Erlaubnisschein zum Verlassen des Schiffe-,
Weiterreisönde Passagiere dritter Klasse dürfen nicht aussteigen.
VII.
Es fragt sich nun, ob es im Bereiche der Möglichkeit liegt,
die Untersuchung derart auszugestalten, daß sie dem eigentlichen
Zwecke derselben, die Träger der Krankheitskeimei so rasch zu
erkennen, daß sie rechtzeitig isoliert und unschädlich gemacht
werden, entspräche. Die derzeitigen Quarantänevorschriften für
Schiffe können nur als eine sanitätspolizeiliche Maßregel be¬
trachtet werden, welche in epidemiologischer Richtung wenig
leistet und in vielen Fällen ungeeignet ist, den Ausbruch, bzw. die
Verbreitung einer Epidemie, zu verhindern. Anderseits sind
Quarantänevorschriften zu Lande, wie im Regle¬
ment festgelegt wird, nicht dur chz uf ü hren. Wollte
man dies auch nur in der jetzt bestehenden Weise ver¬
suchen und die E isenb a h'n gr en z s t a t i o n e n mit Qua¬
rantäne Vorkehrungen ausrüsten und in Betrieb
setzen, so würde dies einerseits eine Stockung im Verkehr hor-
vorrufen, anderseits derartige Geldmittel erfordern, daß die auf¬
gewendeten Geld- und Zeitopfer zu den erreichbaren Vorteilen
in keinem Verhältnisse stünden, immer vorausgesetzt, daß nicht
anderweitige unüberwindbare Schwierigkeiten die Durchführung
dieser Maßregeln überhaupt unmöglich machen.
Die ärztliche Untersuchung, wie sie derzeit ge¬
übt wird, ist schon aus Mangel au Zeit ungeteig-net,
ersprießliches zu leisten.
Soll bezüglich der Cholera die Möglichkeit gegeben werden,
Bazillenträger zu eruieren, so muß Zeit und Untersuchung, s.:
gelegenheit vorhanden sein. Es muß soviel Zeit gewonnen werden,
die Stühle der zu Untersuchenden bakteriologisch zu prüfen. U m
di.es zu bewerkstelligen, ohne daßi irgend jemand
einen Zeitverlust erleidet und die Quarantänestati-
onon in unmögliche und unhaltbare Situationen ge¬
bracht werden, wären die Unter s’- uc hu ngs static neu
auf die Schiffe zu verlegen. In Zeiten von Epide¬
mien oder der Gefahr des Einbruches einer solchen,
hätte ein bakteriologisch geschulter Amtsarzt, mit
einem entsprechenden kl e i n e n b akter io- logischen L a-
boratorium - — welches ohne besonderen Aufwand
an Geldmitteln in der auf jedem Dampfer vorhau-
denen Apotheke eingerich te t werde n könnte -- je des
Schiff vom europäischen Ausfahrtshafen bis zum
| ersten ägyptischen Landungspunkt und auf den von
! Indien und China kommenden Dampfern von Aden
bis Suez zu begleiten. Auf dem Wege könnte, selbst
bei einer ganz beträchtlichen Passagier zahl, die
Konstatierung der Bazillenträger in leichtester
Weise durch eine zweimalige bakteriologische
l nters -uc hung des Stuhles jedes auf dem Schifft.'
Befindlichen vorgenommen werden, selbstverständ¬
lich auch in dem Falle, als sie keine Erkrankungis
Symptome zeigen. Du dem ägyptischen Hafen wäre
I das Ergebnis der Untersuchung unter voller Ver¬
antwortung des untersuchenden Arztes der Sani¬
tät sbebrörde zur Kenntnis zu bringen; jede andere
Untersuchung könnte dann entfallen.
Der gleiche Vorgang wäre auf Pilgerschiffen einziihalfen,
wobei die Assanierung der Pilgerzüge, wie sie in Suez, El -Tor
und so weiter geübt wird, aus hygienischen Gründen beibehallen
werden könnte.
Im Falle des Auftretens der Cholera in den Häfen des
Schwarzen Meeres müßten die Aerzte von diesen Häfen bis
Konstantinopel und von dort wieder bis zum Anlaufen des
erste» österreichischen, b'zw. ungarischen Hafens die Untersuchun¬
gen vornehmen, wobei es sich empfehlen würde, den ohnehin
gelingen Passagierdienst im Schwarzen Meer auf wenige Dampfer
zu beschränken.
Wäre dieser Vorgang durchführbar, so könnte man auch
die sa n i 1 ät spoli zeiliche Ueberwachung der Landwege ins Urge
fassen, ln diesem Falle kämen allerdings nicht die jewei¬
ligen Landesgrenzen in Betracht, sondern jene weit aus¬
einanderliegenden, daher leichter zu kontrollierenden Orte, weiche
dir auf dem Landwege aus dem asiatischen Südosten kommenden
Reisenden unbedingt passieren müssen. Erfahrungsgemäß ent¬
wickeln sich in Europa Choleraepidemien nur zeitweise im
Wege der Einschleppung aus Asien oder Aegypten. Ist einmal
Rußland verseucht, so wäre es ein vergebliches Bemühen, durch
Absperrung der Landesgrenzen den Einbruch der Epidemie von
dort in die Nachbarländer verhüten zu. wollen. Verhütet muß
vielmehr werden der Einbruch nach Rußland.
In Betracht kämen hier zunächst die zwei größten Häfen
am Kaspischen Meer, das heißt die entsprechenden Häfen an
der Südostseite des Kaspischen Sees, Baku und Astrachan. Die
l 'eherfahrt mit Dampfern von dort dauert ein bis zwei Tage
und wären die für Passagierdampfer auf dem Mittelmeer ange¬
gebenen Maßnahmen durchzuführen, ferner Haidar Pascha auf
der kleinasiatischen Seite des Bosporus.
Sodann die europäische Grenzstation der Sibirischen Bahn
und einige Häfen am kleinasiatischen, bzw. kaukasischen Ufer
des Schwarzen Meeres. Hier könnte die Schaffung einer sanitäts-
- polizeilichen Kontrolle zu Lande in der Weise versucht werden,
daß zu Zeiten von Epidemien, bzw. der Gefahr der
Einschleppung einer solchen, ein mit bakteriolo¬
gischem Rüstzeug versehener A r z t 12 b i s 24 S t u n d en
vor der europäischen Grenze bis zu dieser den Zug
begleitet und die Dejekte der Passagiere untersucht. Die
Bazillenträger könnten in leichtester Weise unschädlich gemacht
werden; auf diese Weise wären sogar die Maßregeln auf dem
Schwarzen Meere selbst einzuschränken, vorausgesetzt, daß' die
aus den Häfen abgehenden Reisenden sich zwölf Stunden vor
ihrer Abfahrt der bakteriologischen Untersuchung unterziehen.
Würde kein Passagier auf diesen Dampfern' aufgenommen werden,
bzw. auf dem Landwege von der russisch - asiatischen Grenze
weiterbefördert werden, welcher sich nicht mittels amtlichen
Zertifikates von der stattgehabten und negativ ausgefallenen Unter¬
suchung a us weisen könnte, so wäre vielleicht in Hinkunft
der Einbruch der Cholera von dieser Seite unmöglich gemacht.
Daß bezüglich der Pest und des Gelben Fiebers ähnliche strenge
Maßregeln nicht notwendig erscheinen, wurde schon ausgeführt.
Dezember 1910.
Diskussion.
Aus der Kinderabteilung des k. k. Kaiser FranzMoseph-
Spitales in Wien.
(Vorstand: Primarius Priv.-Doz. Dr. Paul Moser.)
Kritische Bemerkungen zur Arbeit von G Simon
über meine Methode der Permanganattitration
des Liquor cerebrospinalis.
' Von Dr. phil. et med. Ernst Mayerliofer.
Im dritten Heftei dieser Zeitschrift berichtet G. S i m o n
über seine Resultate mit der Permanganattitration des Liquor
cerebrospinalis. Er erhob mit dieser Methode Befunde, die nach
seiner Ansicht mit meinen Befunden nicht übereinstimmen
sollen
Vor allem möchte ich dein absoluten Wert der allerdings nicht
zahlreichen Simon schein Untersuchungen hervorheben, indem
seine Zahlenwerte im allgemeinen mit den meinen überein-
stimmen. Auch die Ausnahmsbefunde Simons stimmen im all¬
gemeinen mit meinen, inzwischen wesentlich erweiterten Erfah¬
rungen überein. Im speziellen jedoch sind die Schlußfolgerungen,
die Simon namentlich aus steinen Ausnahnilsbefunden zieht,
dadurch so falsch geworden, daß er den klinischen Verlauf seiner
Fälle so wenig berücksichtigt hat. Auch muß besonders
betont werden, daß es der Nachun tersuoher unter¬
lassen hat, meine Bemerkungen zu den von mir
seinerzeit veröffentlichten Befunden genau zu be¬
achten. Ich werde daher am besten die von Simon gemachten
Fehler an der Hand seiner einzelnen Fälle besprechen.
Fall I. (Drei Jahre alt, Parakoli-Enteritis) betrifft ein
jüngeres Kind, noch dazu mit Enteritis; ich habe doch aus¬
drücklich hervorgehoben, daß hei akuten Enteritiden abnorm
hohe und abnorm schwankende Werte resultieren. Ausi meiner
damals noch nicht großen Kasuistik erhellt, daß bei Teediät
oder Besserung des Darmzustandes der Reduktionswert sinkt;
gerade dieser Fall hätte dem Nachuntersucher durch eine zweite
Punktion Gelegenheit gegeben, seine erste irrtümliche Meinung
zu korrigieren. Statt der „aus rein e xper i men teil en (! ) Grün¬
den“ vorgenöm menen Lumbalpunktionen, wie sie Simon ein
gesteht, wäretn.1 wohl auch noch in anderen seiner Fälle diffe-
rentiaidiagnostische oder therapeutische Punktionen am
Platze gewesen.
Ich habe mir seinerzeit ausdrücklich gerade dieses Gebiet
für eigene Forschungen reserviert. Daher wäre es am Platze
geweseh, auf meine ausführliche Publikation zu warten, die
korrekterweise einer „vorläufigen Mitteilung“ folgen muß. Uebri-
206
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 6
gens hätte es der Uebereifer des Nachuntersuchers doch zulassen
sollen, in unklaren Fällen den Rat des Autors1 dieser Methode
sich einzuholen.
Fall II (Hydrocephalus chronicus, keine Enteritis) ergibt
zuerst einen hohen Wert, nach vier Monaten aber das typische,
von mir festgestellte normale Verhalten; daraus kann man er¬
kennen, daß dieser Fäll anfänglich noch einen Liquor mit wahr¬
scheinlich entzündlichem Charakter darbot, welche Entzündung
nach vier Monaten eben abgeklungen ist. Ein ähnliches Ver¬
halten bietet auch eine abheilende Meningitis epidemica, eine ab¬
klingende Poliomyelitis und überhaupt jeder Genesungszustand
von meningealeU Entzündungen oder Reizungen. Aus der äußerst
mangelhaften Krankengeschichte dieses Falles ist aber nicht ein¬
mal ersichtlich, ob es sich um einen chronischen Hydrozephalus
jüngeren Datums oder um einen schon länger andauernden Zu¬
stand mit akuter Exazerbation gehandelt hat.
Fall III betrifft einein fünfmonatigen, hereditär-luetischen
Säugling, noch dazu mit „Dyspepsie“. Ich vermisse nähere klini¬
sche Angaben über den Zustand des Magendarmtraktus und be¬
sonders über die Art der Ernährung. Ich betonte doch, wie wichtig
der Zuckergehalt der gereichten Nahrung werden kann! Ver¬
änderungen des Liquor bei Lues sind ja bekannt. Meine Methode
weist geradezu die Richtung für neue Untersuchungen. Dies1 hätte
bei diesem Falle berücksichtigt werden sollen.
Fall IV betrifft wieder ein junges Kind mit Enteritis; ich
vermisse eine zweite Punktion, welche gerade hier imstande ist,
anzugeben, wie sich der Liquor dem Normalen nähert, wenn die
Enteritis ausheilt. >
Fall \ . Ein Grenzfall (2-3); ich vermisse die weiteren
Fraktionen und eine zweite entscheidende Punktion. Uebeirdies
ist dieser Fall klinisch überhaupt nicht beschrieben ; vor allem
vermisse ich aber Angaben über den Zustand des Gehörorganes
(Otitis ?).
Fall VI betrifft einen Säugling; wieder vermisse ich kli¬
nische Angaben über den Verdauungszustand und über die Art
der Ernährung.
Fall VII würde ich als normalen kennzeichnen, ohne
entzündliche Merkmale des Liquor.
Bei Fall XIV übersah der Nachuntersucher meine
ausdrückliche Bemerkung: „Bei den meisten Fällen liegen
die Verhältnisse des Reduktionsindex so schematisch, wie sie eben
mitgeteilt wurden (nämlich fallende Tendenz des Reduktionsindex
während einer einzigen Punktion). Bei Anwesenheit von Soli-
tärtuberkeln in der Nähe der Hirnkammern, ferner bei starkem,
salzigem Exsudat an der Basis oder bei einer ausgedehnten
Eiterkappe an der Konvexität kann man bei lange dauern¬
der Punktion s c h 1 i e ß 1 i c h wieder ein pathologisches
Ansteigen des Index beobachten.“ Auch diestes' Thema
habe ich mir reserviert, um an der Hand größeren Materials
eigene Befunde zu bringen. Auch sägte ich, daß man zwischen
zwei Punktionen einige Zeit warten muß, wenn man die Sedi-
mentierung usw. wieder sich darstellen will.
Betreffs der von Simon gebrachten Fälle von Menin¬
gismus im Gefolge von Pneumonie muß ich betonen, daß wieder¬
holte Punktionen gerade in diesen Fällen die abklingende Hirn-
hautreizung an der Hand dels fallenden Index anzeigen, aus
welchem Verhalten' eine tuberkulöse Meningitis
sicher ausgeschlossen1 werden kann. Ich habe ja seiner¬
zeit an zwei Enteritisfällen, ferner an den mit Serum' behandelten
Meningitisfällen diese Art. der Beschreibung des Liquor cerebro¬
spinalis angedeutet.
Wie bei sinngemäßer Anwendung die von mir angegebene
Methode, gleichzeitig heuristischen Wert und differentialdiagno¬
stische Bedeutung gewinnen kann, soll in einer größeren, dem¬
nächst erscheinenden Arbeit dargelegt werden, welche! gemein¬
sam mit Dr. Budolf Neubauer ausgeführt worden ist. Da wir
auch jetzt noch perhorreszierfen aus „rein experimentellen“ (wie
Simon) Gründen zu punktieren, so sind wir naturgemäß durch
diese ärztliche Rücksichtnahme auf die Patienten mehr vom1 Ma¬
terial abhängig. Daher ist auch der vorläufigen Mitteilung noch
nicht die größere Sammelarbeit gefolgt.
Ich kann vor allem der Simonschen Mitteilung den Vor¬
wurf nicht ersparen, daß sie gerade die klinischen Details so
mangelhaft bringt. Ebenso läßt die logische Verwertung
der durch den Index ausgedrückten Befunde sehr
zu wünschen übrig, denn Simon hat gerade in einem
seiner Fälle (XIX) selbst zugegeben, wie wenig er das eigen¬
tümliche Verhalten eines erhöhten Index ohne merklichen Aus¬
druck der Sedimeutierung und noch dazu mit der Tendenz der
Rückkehr zum normalen Verhalten zu deuten in der Lage war.
Die Fälle, die Simon bringt, sind nach meiner Erfahrung
Ausnahmefälle, die bei entsprechender Ueberlegung ganz gut
gedeutet werden können, so daß die von Simon gerügten Fehler
wohl nicht an der Methode, sondern nur arh Beobachter liegen
können. Den diagnostischen Wert meiner Methode setzte ich: selbst
gleich den einer „quantitativen Eiweißbestimmung“.
Daher muß ich gegeln Simons Behauptung, daß die
Mayer ho ferschei Probe nicht die von ihrem Autor angegebenen
Vorzüge besitze, polemisieren; denn der Nachuntersucher fand
es nicht einmal der Mühe wert, meine Beobachtungen für die
Prognosenstellung bei der Serumtherapie der epidemischen Menin¬
gitis zu revidieren. Da er noch überdies von der Anwendbar¬
keit meiner Methode für andere Körperflüssigkeiten keine Er¬
fahrungen bringt, so muß ich Simons Urteil über die „Mayer¬
hof er sehe Probe“ als ein vorschnell gesprochenes verwerfen.
Referate.
Innere Sekretion. Ihre physiologischen Grundlagen und
ihre Bedeutung für die Pathologie.
Von Prof. Dr. Artur Iliedl.
Mit einem Vorwort von Hofrat Prof. Dr. R. Palt auf.
XI und 538 Seiten.
Berlin und Wien 1910, Urban und Schwarzenberg.
Wer nur einigermaßen in die ungeheuren Schwierigkeiten
eingeweiht ist, die das Studium der Drüsen mit innerer Sekretion
nach wie vor bereitet, muß das Buch Biedls als ungemein
kühne Tat bewundern. In einer Lehre, die alle Zweige allgei¬
mein naturwissenschaftlicher und speziell medizinischer For¬
schung beherrscht, muß es selbstverständlich jahrelanger Arbeit
bedürfen, um völlig in das so vielfach dunkle Gebiet einzudringen.
Dies trifft für den Autor zu, der in souveräner Weise über seinem
Thema stand und der einer der wenigen ist, die es heute wagen
durften, ein derartiges Buch zu schreiben. Dazu kommt, daß
Biedl nicht nur die ganze Entwicklung der Lehre der inneren
Sekretion, die gerade hier in Wien in bedeutender Weise aus-
gebaut wurde, aus eigener Anschauung verfolgen konnte, son¬
dern auch durch eine große Reihe von Arbeiten, die sich mit
den schwierigsten Kapiteln befaßten, aktiv ah der Lösung ver¬
schiedener Probleme beteiligte.
Verf. hat seine Aufgabe, dem heutigen; Stande der Wissen-"
schaft entsprechend, in ausgezeichneter Weise gelöst; vielleicht
wird manches von! 'dem, was wir heute in der Lehre von der
inneren Sekretion als bereits feststehend betrachten, späterer
Kritik nicht standhalten können, vielleicht sogar belächelt werden:
den heutigen Stand der Lehre zum erstenmal in erschöpfender
Weise dargestellt zu haben, bleibt Biedls unbestreitbares1 Ver¬
dienst. Dieses Buch war ein Bedürfnis, nicht nur für den wissen¬
schaftlich Arbeitenden, sondern auch für den Praktiker und den
Studenten, der sich über die Grundzüge der Lehre orientieren!
will. Dabei läßt Biedl nirgends die Kritik vermissen, die ge¬
rade in diesem Kapitel der Pathologie von großer Bedeutung ist;
andrerseits offenbart er freimütig alle Lücken und Widersprüche.
Ins' Detail einzugehen, ist leider an dieser Stelle nicht möglich;
sicher wird manches auf Widerspruch stoßein, was; aber der
Forschung nur nützlich sein kann.
Was das Buch noch besonders wertvoll macht, ist das
Literaturverzeichnis, das, 125 Druckseiten umfassend, wohl als
erschöpfend angesehen werden kann. Alles in allem muß man
durchaus dem Satze aus Palt aufs Vorrede beistimmen: „Möchte
der Autor für die große Mühe und Arbeit nicht nur Anerken¬
nung in einer günstigen Aufnahme des Werkes finden, son¬
dern auch jene Genugtuung des Forschers erfahren, daß der¬
selbe in seiner kritischen Behandlung des Gegenstandes auf
die weitere Forschung richtunggebenden Einfluß nehme!“
Wiesel.
*
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
207
Die ßlutdrucksteigerung vom ätiologischen und thera¬
peutischen Standpunkt.
Als Preisaufgabe der Hufelandischen Gesellschaft zu Berlin mit dem
Alvarengapreis gekrönt.
Von Dr. Karl Ilasebroek.
3 Textüguren. 151 Seiten.
Wiesbaden 1910, J. F. Bergmann.
Die Ausschreibung des in dem vorliegenden Werkchen be¬
handelten Themas von seiten der Hufelandischen Gesellschaft für den
Alvarengapreis ist, wie der Autor vorvvortlich sehr richtig betont,
der lebendige Ausdruck des hohen, diesem Gegenstände gegenwärtig
entgegengebrach len kliuiscjien Interesses.
Bei der Bearbeitung des Gegenstandes geht Ilasehroek
von dem Standpunkt aus, daß die Gefäße und Kapillaren sich durch
rhythmische, diastolisch-systolische Eigenbewegungen aktiv an der
Blutbewegung beteiligen. Als auslösender Reiz kommt dabei die vom
Zentrum her anlangende Pulswelle in Betracht, eine Annahme, die
mit den bekannten Versuchen von Hamei leicht in Einklang ge¬
bracht werden kann, durch die festgestellt wurde, daß durch pulsa-
torisch schwankende Zufuhr eine bis zum Vierfachen der bei gleichem,
aber stationärem Druck erreichten Durchblutungsmenge erzielt werden
kann. Die lebende Gefäßwand reagiert nach der von Hasebroek
entwickelten Vorstellung auf den ihr adäquaten pulsatorischen Reiz
dadurch, daß sie sich aktiv der P u 1 s w e 1 1 o öffnet und
auf die vorbeioilende Welle ebenfalls aktiv nach¬
drückt. Eine solche Gefäßperistaltik ist an den Rückengefiißen
herzloser Tiere (Raupen, Würmer) tatsächlich direkt zu beobachten.
Aus dem anatomischen Befunde, daß das elastische Gewebe mit dem
Kaliber der Gefäße gleichsinnig abnimmt, während sich die Gefäß-
rauskulalur gerade entgegengesetzt verhält, ist zu folgern, daß die
muskuläre Selbständigkeit der Gefäße peripher, bzw. organ-
wärts zunimmt. Nur durch die von Bier nachgewiesene Attraktion
der Kapillaren für arterielles Blut und dadurch, daß das Blut durch
die Gefäßbewegung diastolisch milangesaugt und systolisch weiter¬
getrieben wird, also durch Aspiration mit gleichzeitigem
W e i t e r b e t r i e b, könne die Beobachtung von G r ii t z n e r erklärt
werden, daß unter Umständen der Venendruck selbst höher sein
kann, als der arterielle, sowie die von Volkmann und II ü r t h 1 e
gefundene Tatsache, daß im systolischen Maximaldruck der größeren
Gefäße bedeutende, von der Entfernung vom Herzen unabhängige
Verschiedenheiten herrschen können.
Durch diese ihre aspiratorisch-pressorische Gefäßarbeit ver¬
schaffen sich die Organe nach dem Grade ihrer jeweiligen Tätigkeit
innerhalb gewisser Grenzen die zu ihrer Funktion nötige Blutmenge.
Erst wenn auch die Mehrarbeit der Organgefäße zur Deckung des
Blutbedarfes nicht ausreicht, treten die großen Gefäße und endlich
das Herz für dieselben ein. Während aber die Gefäßarbeit der
peripheren Organe den allgemeinen Blutdruck eher herabsetzt, voll¬
zieht sich die vom Herzen oder den großen Gefäßen aufgebrachte
Mehrleistung unter Blutdrucksteigerung. Es stellen also die den
einzelnen Organen zugehörigen Gefäßprovinzen gleichsam Neben¬
herzen dar.
Eine besondere Inanspruchnahme einzelner Organe unter phy¬
siologischen (Training) oder pathologischen Verhältnissen führt des¬
halb zunächst zu einer auch anatomisch nachweisbaren Hyper¬
trophie der Arterienmuskulatur. Je peripherer sich dieselbe findet,
um so ausgesprochener wird ihr depressorischer Effekt auf den
allgemeinen Blutdruck sein. Erst bei Insuffizienz der Organgefä߬
arbeit tritt Hypertrophie der Muskulatur der großen Gefäße und des
Herzens mit pressorischer Tendenz für den allgemeinen Druck ein.
Deshalb kann auch eine muskelschwache Beschaffenheit der Gefäße
sowie angeborene Weite des Arteriensystems die Ursache von Herz¬
hypertrophie sein.
Dieses Spiel der hier in nuce wiedergegebenen Mechanik des
Kreislaufsystems, die im Sinne einer funktionellen Anpassung aus
Gründen der Selbslerhaltung teleologisch erfaßt wird, findet in ein¬
zelnen Kapiteln eine detaillierte Ausführung, von denen Kapitel V
über die vorübergehende physiologische, Kapitel VI über die dauerden
pathologische Blutdrucksteigerung nach Muskelarbeit, bzw. nach
Ueberanstrengung, Kapitel VIII Uber die Blutdrucksteigerung bei
Schrumpfniere, Kapitel IX bei Luxuskonsumption und Kapitel XIII
bei Arteriosklerose besonders zu erwähnen sind.
Der Blutdrucksteigerung, die durch erhöhte physiologische
Leistungen, infolge korrelativer Mehrarbeit des Herzens zustande
kommt, wird als einer Abwehräußerung des Organismus jene als
eigentlicher Krankheitsaffekt zu bezeichnende Form der Blutdruck-
steigerung prinzipiell entgegengestelll, die durch primär gesteigerte
Reizzustände am Zentralnervensystem (Neurasthenie, vasomotorische
Krisen) hervorgerufen wird.
Hieraus ergeben sich nun die von dem Verfasser aufgestellten
Lberapeu tischen Grundsätze. In den Fällen, in welchen der Blut¬
drucksteigerung noch die Bedeutung einer Abwehrreaktion innewohnt,
soll nach Möglichkeit die primäre Ursache beeinflußt (Festhalten
spezifischer Schädlichkeiten und Schonung, bzw. Uebung) und die
Funktionstüchtigkeit der einzelnen' Organe wiederhergestellt werden.
Nur wenn die pathologische Blutdrucksteigerung bereits in sich selbst
Gefahren birgt, ist eine symptomatische Therapie durch druck¬
senkende Maßnahmen inklusive der pharmakodynamisch wirkenden
Mittel am Platze.
Unter den speziellen therapeutischen Verfahren wird dann im
einzelnen der Sinn und die Bedeutung der Mechanothorapie, der
Terrain- (Oertel) und Atmungsgymnastik, der Hydrotherapie und
ihrer Anwendungsformen (kalte, warme, C02-, Moorbäder etc.), sowie
endlich die medikamentöse Behandlung (Digitalis, Adrenalin etc.)
einschließlich der Diät und Ruhekuren in vielfach origineller und
lehrreicher Weise behandelt. H. Winterberg.
*
Handbuch der Geschlechtskrankheiten.
Herausgegeben von Prof. Dr. E. Finger, Prof. Dr. J. Jadassohn,
Prof. Dr. S. Ehrmann, Priv.-Doz. Dr. S. Groß.
1. Lieferung.
Wien u. Leipzig 1910, Verlag von Alfred Holder.
Die erste Lieferung eines viel verheißenden Handbuches
der Geschlechtskrankheiten liegt vor uns. Nach Art des im gleichen
Verlage erschienenen Mracek sehen Handbuches der Hautkrank¬
heiten, nur in wesentlich rascherem Tempo, soll es einzelne
Abschnitte, von der Hand einer Reihe namhafter Forscher und
Lehrer bearbeitet, zu einem einzigen großen Ganzen zusammen-
schlicßen.
Den Anfang macht J. K. Proks ch - Wien : Geschichte der
Geschlechtskrankheiten.
Es 'ist — im allgemeinen gesprochen — eine verführerische
Aufgabe, das Ringen des menschlichen Geistes nach Klarheit zu¬
sammenhängend darzustellen. Ohne zu einem Hymnus auf die
weise Gegenwart zu werden, die es „so herrlich weit gebracht“,
muß eine Satire vergangener Zeiten aus keinem Worte zu spüren
sein, denn nur dann ist die Geschichte wahrhaft eine Lehrerin,
wenn sie uns fühlen, läßt, daß auch . unsere Tage dereinst als
regungslose Vergangenheit starren werden. Dadurch soll unser
Argwohn gegen herrschende Argumentationen, anscheinend uner¬
schütterliche Dogmen, unbestreitbare Autoritäten geweckt werden.
Es soll eine Bilanz gezogen sein zwischen blind waltender, „des
rechten Weges immer bewußter“ Empirie und zwischen dem Drange
des Menschen, den Grund und das Wesen der Erscheinungen
auf selbst gewollter, planmäßig angelegter Bahn zu finden. Es
soll zu erkennen sein, wie weit es einer Sonderdisziplin genützt
oder geschadet hat, den Zusammenhang mit anderen medizini¬
schen oder gar allgemein naturhistorischen Anschauungen 'zu
pflegen oder zu lockern, denn gerade in den letzten Lustren
haben ein Zoolog, ein Chemiker, ein Neuropsychiater, ein Serolog
dem Kaleidoskop, in welchem wir die Venerologie zu sehen ge¬
wohnt waren, einen bedeutenden Ruck gegeben und fast mit
Mühe suchen wir nach den Elementen der früheren Bilder. Wie
oft erschien uns als Schule, was sich nachträglich als Zunft
herausstellte und wer wollte skizzieren, in welchen Regionen
wir uns auch nur in nächster Zukunft befinden wefden.
Fehlen einer geschichtlichen Darstellung solche oder ähn¬
liche Züge, dann wird sie nur zu leicht eine einfache Chronik.
Proksch versucht zunächst in einem Abschnitte, „Prä¬
historische Zeit“, die Herkunft der Geschlechtskrankheiten auf¬
zudecken und meint, es sei „nicht unmöglich, daß schon in einer
sehr frühen Periode der Schöpfungszeit*) zuerst vielleicht amorphe
Keime und dann geformte Erreger der Geschlechtskrankheiten
*) Wie ist dieser testamentarische Ausdruck zu verstehen? (Ret.)
208
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
ihre Wirte lange vor dem Menschen gefunden haben“. Von den
Tieren sei das Leiden durch Perversitäten auf den Menschen
übergegangen. Allerdings läßt, uns der Autor im Unklaren, auf
welche 'historische Tatsache das Vorhandensein dieser „amorphen
Keime“ zurückzuführen sei. Tief bewegt uns die — allzuknappe
— Schilderung, mit welch zäher und unablässiger Mühe seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts die Forschung der Frage nachge¬
gangen ist, ob die Syphilis, ob die Geschlechtskrankheiten über¬
haupt auf Tiere zu übertragen seien und es ist fast wie eine
mystische Erfüllung, daß es unseren Tagen vorbehaltein blieb,
hier gleichsam im Fluge Gewißheit zu verschaffen. Endlich läßt
es der Autor unentschieden, ob aus fossilen Knochen auf ein
prähistorisches Alter der Syphilis geschlossen werden könne.
Der weitaus größte Abschnitt seiner Darstellung „Histo¬
rische Zeit“ ist — das hebt der Autor freimütig selbst hervor
— vielleicht nicht ganz zum Danke aller Leser, in Kapitel
zerfallen, die er indes dem Plane des Handbuches anpassen
zu müssen glaubte und die das Nac.'hschlagen um vieles erleichtern
sollten. Letzterem Zwecke hätte allenfalls auch ein gruppiertes
Literaturverzeichnis entsprechen können, dessen Fehlen der Ver¬
fasser selbst bei dem Ihm karg zugemessenen Raume beklagt
(wo blieb die Möglichkeit kleinen Druckes?), abgesehen davon,
daß den vorhandenen weiteren Beiträgen nach zu schließen
die einzelnen Autoren doch wieder historische Reminiszenzen in
breiteren oder engeren Grenzen pflegen. Er hat mithin gegeben
und genommen : sein Wille sei gelobt!
Kleinere Absätze behandeln dem entsprechend „Balanitis“,
„Condylomata acuminata“, „Molluscum contagiosum“, „Herpes
genitalis“, „Phimose“, „Paraphimose“ ; also gewissermaßen die
uneigentlichen Geschlechtskrankheiten.
Auch die Geschichte der eigentlichen Geschlechtskrank¬
heiten: Gonorrhoe, Ulcus venerum simplex, oder wie es in
dem Buche genannt, ist, Ulcus rnolle und Syphilis, ist in
einzelne Blätter zerpflückt, die in der Tat den Einblick in die
einzelnen Teile der Lehre ganz wesentlich erleichtert. So finden
wir unter dem Kapitel „Gonorrhoe“ die einzelnen Etappen, die
ihre Lehre bis zu Neisser durchmachte, recht klar gegliedert.
Die „Urethroskopie“, „Periurethritis“, „Paraurethritis“, „Zystitis.
Pyelitis und Nephritis“, „Prostatitis“ — kurz alle die reichen De¬
tails finden ihre bezüglichen geschichtlichen Skizzen, ln der
Rubrik „Gonorrhoe des Weibes“ hätte der eminenten Bedeutung
Noeggeraths ein Wort mehr leicht gewidmet werden können.
Die Bedeutung Wert heims, die Tatsache der Züchtungsmöglich¬
keit der Gonokokken, der experimentellen Uebertragung des ge¬
züchteten Virus auf menschliche Urethralschleimhaut sind von
Proksch, wahrscheinlich wegen der zu geringen Patina, gar
nicht erwähnt.
Das Ulcus venereum simplex und der Einfluß, seiner Lehre
auf die bis in die allerjüngste Zeit reichende Dualitätslehre, die
Kultur der Du crey sehen Bazillen, ihre experimentelle Ueber¬
tragung, schätze ich als wichtige Geschehnisse höher ein, als es
in der Darstellung Proksch’ zur Ausführung gekommen ist.
Seiten und Seitenfolgen sind erfüllt mit Bemerkungen über
die Sonderkapitelehen : Nomenklatur, Alter der Syphilis, ihr epi¬
demisches Auftreten. Die Seite, die sich mit der Aetiologie
befaßt, zählt Schau dinn nicht auf, geschweige denn Erich
Hof f mann, lein Mangel, den ich gar nicht zu begreifen imstande
bin, (der aber in einer gewissen Konsequenz auch bei anderen
Rubriken auftritt. Nun folgen in schier nicht enden wollender
Reihe die Absätze: „Allgemeine Pathologie“, „Initialaffekt“, „Lo¬
kalisation des Initialaffektes“, „Proruptionsstadium der Syphilis“
und so ähnlich weiter : brutto 58 Stücke, unter denen zudem
das einer Entwicklung unserer allgemein- pathologisch -anatomi¬
schen Kenntnisse fehlt.
Das sind Eigenheiten der Darstellung, welche ebenso zum
Nachschlagen anderer Bücher, etwa der famosen Ausarbeitung
B Turniers anregen, wie dies der Autor von seinen eigenen
Werken wünscht.
Fast hätte ich zu erwähnen vergessen, daß' Proksch auch
über die geographische Ausbreitung der Syphilis Bemerkungen
macht.
Die Lieferung enthält ferner den Anfang einer Abhandlung
Scherbers über Balanitis, Condylomata acuminata, Molluscum
contagiosum, Herpes genitalis. Eine Besprechung der schon von
den ersten Worten an fesselnden Arbeit behalte ich mir vor,
wenn sie mir vollständig zur Berichterstattung vorliegen wird.
*
Zweite Lieferung.
G. Scher her: Balanitis, Condyloma accuminatum, Mol¬
luscum contagiosum, Herpes genitalis.
1. Balanitis. Nach einer historischen Einleitung, in der
recht anschaulich dargetan ist, wie man die Balanitis allmählich
als Krankheit sui generis erkannte, wie sich unter den Formen
derselben die Balanitis diabetica als Sonderform herauslösen
ließ, welch starken Einfluß die ätiologische Forschung auf das
Verständnis der Pathologie ausübte, wird die Anatomie des Vor¬
hautsackes besprochen, soweit sie auf die Verhältnisse der Bala¬
nitis Bezug hat. Das Kapitel „Bakteriologie“ des normalen Vor-
hautsackes basiert fast durchwegs auf eigenen Untersuchungen
des Autors. Besonderen Wert haben die Angaben über die Karbol¬
fuchsin-Färbbarkeit der Smegmab a z i 1 lein, denn bei zystischem
Sediment, das differentialdiagnostisch auf Tuberkelbazillen zu
untersuchen ist, spielt ja die genaue Entscheidung eine große
Rolle. Aehnlichc, we!nn auch geringere praktische Bedeutung
hat die- Unterscheidung von Bazillen der Diphtherie - Pseudo-
d i htheriegr uppe.
Nun folgt die Klinik der einzelnen Balanitisformen. Unter
ihnen nimmt die erschöpfende Besprechung der Balanitis erosiva
et gangraenosa einen breiten Raum ein. Ihr folgt die Gruppe
der diathetischen Balanitiden, vor allem der Balanitis diabetica.
Das1 reichhaltige Kapitel derjenigen Entzündungen des Vorhaut¬
sackes, die als Teilerscheinung von exanthematischen Allgemein¬
erkrankungen des Organismus auf treten, ist in markanten Zügen
besprochen. Die Balanitis bei Gonorrhoe erhielt ein kleines
Sonderka.pitel, wogegen die letzte Form, die vulgäre Balanitis,
recht ausgiebig bedacht ist. Die allen diesen Formen eigens
zukommende Bakteriologie ist gesondert geschildert; besonders
ausführlich in bezug auf die Balanitis erosiva et gangraenosa,.
Hier fesseln die Mitteilungen über die Kultivierungsmöglichkeit
der vibrioförmigen Mikroorganismen und der Spirochätenformen
vielleicht am meisten. Vorzügliche Abbildungen mikroskopischer
Präparate illustrieren die pathologisch-anatomischen Veränderun¬
gen und die Vibrionen, sowie Spirochäten bei der Balanitis
erosiva, bzw. gangraenosa. Das Kapitel „Therapie“ endlich enthält
recht, beherzigenswerte Winke für den praktischen Arzt.
2. Das Condyloma accuminatum. Warum wurde von all
den zahlreichen Synonymen, die zur Bezeichnung dieser Krank¬
heit dienen, wohl gerade dieser uralte Ausdruck Tür ein 'so neues,
grundlegendes Werk gewählt? Der Name „Papilloma“ (venereum)
zum Beispiel wäre weit mehr zu bevorzugen, denn er sondert
scharf und klar das Gebilde in seiner .Eigenart und gestattet Ver¬
zicht auf das sonst unentbehrliche Beiwort. Die geschichtliche
Skizze, welche Sch er her dem Artikel vorausschickt, weiß, genug
zu erzählen, wie lange inan die Spitzwarzen der Syphilis zuge¬
rechnet hatte; und für das extragenitale Papillom (z. B. des be¬
haarten Kopfes), dessen Klinik noch lange nicht abgeschlossen ist,
würde der Name kaum gebrauchbar sein. — Auch in diesem
Abschnitte weiß der Autor durch seine Mitteilungen über bakterio¬
logisch-histologische Untersuchungen, namentlich, so weit sie das
Eindringen von Spirochäten in das Bindegewebe betreffen, zu
interessieren. Der Anteil, den das Experiment zur Klärung der
Aetiologie des Papilloms genommen hat, ist in der geschicht¬
lichen Skizze aufgenommen.
3. Das Molluscüm contagiosum. Das Problem, dasi der Er¬
forschung dieses Gebildes gegeben, ist, hat seine tiefe Bedeutung
in der benignen Wucherung des Epithels. Von hier bis zur
malignen Wucherung, bis zum Krebsproblem, scheint dem hoff¬
nungsfreudigen Forscher der Schritt möglich, ja aussichtsreich.
Deshalb verfolgt man die Schritte, welche die Klarlegung der
Pathologie dieses Leidens zur Aufgabe haben, mit einer ge¬
wissen Lebhaftigkeit. Diesem Standpunkte ist auch in dem Ar¬
tikel genügend Rechnung getragen.
4. Herpes genitalis. Sc herb1 er hat die wenig verlockende
Aufgabe, den Herpes genitalis als Spezielles Sonderkapitel, heraus¬
genommen aus dem großen Abschnitte „Herpes“, abhandeln zu
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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Nr 6
müssen, in der einzig möglichem Weise gelöst, daß er den größten
Nachdruck auf die Klinik, Differentialdiagnose und Histologie
legte. In diesem Rahmen ist das Bild sehr eingehend geschildert
und es ist auf die vielem Nuancen, mit denen der Zustand ein¬
hergehen kann, gebührend Rücksicht genommen. Selbst dir;
Aetiologie ist diesem Bilde genau angepaßt, obschon die wohl
hauptsächlich mit entzündlicher, mehr oder weniger ausgebreiteter
Zerstörung der Neuronen niederer Ordnung verbundene Krank¬
heit und die sie begleitenden Phänomene eine ziemlich allge¬
meine Anwendung auf die ganze große Krankheitsgruppe er¬
möglichen.
S . E h r m a n n : Phim ose, Paraph imose.
1. Phimose. Die Empfindlichkeit des Hymens, die Schmerzen
bei seiner Verletzung lassen sich ganz gut alsl natürlicher Schulz
vor allzu früher Defloration auslegen. Aehnlich dürfte auch
die von der Natur lange Zeit vorgesehene Deckung der Glans
durch das Präputium vor allzu früher Bloßlegung derselben heim
Kioitus 'behüten. Es führen die embryonalen Verhältnisse in
einem gewissen Grade zu mehr oder minder stark ausgebildeter
natürlicher Phimose-, weshalb del- Autor der Besprechung der
kongenitalen Form eine kurze entwicklungsgeschichtliche Skizze
vorausschickt. Er teilt den Zustand mit Vidal in eine atro¬
phische und hypertrophische Form.
Die erworbene Phimose wird als mechanische, entzündliche,
vorübergehend entzündliche oder kombinierte Phimose geschil¬
dert. Jedenfalls spielt die Verteilung und der Verlauf der Lymph-
bahnen im Präputium — namentlich gegen das Frenulum zu —
beim Zustandekommen der Phimose, aber auch der Paraphimose
eine große Rolle und man wäre dem Autor, einem Meister in
der Lymphgefäßinjektionstechnik, für die Klarlegung dieser Ver¬
hältnisse gewiß sehr dankbar gewesen. Im Kapitel „Therapie“
werden die verschiedenen Operationsmethoden ausführlich er¬
läutert.
2. Auch der Abschnitt „Die- Paraphimose“ zeigt von der
Vorliebe und dem Geschick des Autors für anatomische und
theoretische Erörterungen. Er unterscheidet eine Phimosis ex¬
terna und interna, schildert das klinische Bild, die Aetiologie und
die vielen therapeutischen Maßnahmen, welche gegen den Zu¬
stand jeweilig indiziert sind.
Merk (Innsbruck).
*
Praktische Ergebnisse aus dem Gebiete der Haut- und
Geschlechtskrankheiten.
Herausgegeben von A. Jesionek.
Erster Jahrgang.
Wiesbaden 1910, J. F. Bergmann.
Im Gegensatz zu den Dermatologischen Jahresbericditen,
welche in Form objektiv gehaltener Referate die fachliche Orien¬
tierung gewähren, beabsichtigt das Unternehmen Jesioneks, in
kritischen Einzeldarstellungen jene Fragen der Dermatopathologie-
abzuhandeln, welche an der Hand der neueren Forschungsergebnisse
zu einem Wandel der Anschauungen geführt haben oder aber eine
vertiefte wissenschaftliche Betrachtung gestatten. Den Eifer und die
Schaffenslust, mit welcher der Herausgeber sowie manche seiner
Mitarbeiter an diese interessante, auch tür den Praktiker nutz¬
bringende Arbeit herantreten, beleuchtet in vorteilhafter Weise der
erste Jahrgang. So spiegelt sich in dem Beitrage Meirowskys,
der die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Röntgen-
und Radiumtherapie behandelt, der Ernst und die schöpferische
Gründlichkeit des Autors wieder, die alle seine Leistungen kenn¬
zeichnen. Die gleiche exakte Vertiefung ist der Studie über das
Ekzem zu entnehmen, welche Riecke dieser in steter Fluktuation
befindlichen Frage widmet und hiebei nicht weniger als 1297
literarische Beiträge des letzten Dezenniums verwertet. Inwieweit
die neueren Ergebnisse der Immunitätslehre mit den zahlreichen
Beiträgen über die toxischen Exantheme in Einklang zu bringen
sind und in welchen Grenzen die Beziehungen der Hautkrankheiten
zu Affektionen anderer Organe abgeleitet werden dürfen, beleuchtet
v. Z u mbusc h, mit der entsprechenden objektiven Einschätzung patho¬
genetischer Vorgänge. Das schwierige Gebiet der lymphatischen Haut¬
erkrankungen hat Bettmann mühelos beherrschen können, zumal
ihm die monographische Bearbeitung der zugehörigen Prozesse durch
Pal tauf in vielfacher Hinsicht leitend zur Seite stand. Hauck
und Jesionek würdigen die aktuelle Bedeutung der Arsenik¬
therapie, bzw. der biologischen Syphilisdiagnose, mit vorzüglicher
Betonung der theoretischen Thesen. Die in Aussicht genommene
Stellungnahme der Referenten ist in Hühners Darstellung der
Blennorrhoe zu vermissen, um so gewissenhafter scheint sich
Lins er an dieses Programm gehalten zu haben. Hierfür spricht
die ablehnende Kritik der Wright sehen Opsonintheorie und der
aus jener abgeleiteten Vakzinetherapie, gleichwie die negative Be¬
wertung anderer allgemein therapeutischer Vorschläge.
*
Ikonographia Dermatologica.
Atlas seltener, neuer und diagnostisch unklarer Hautkrankheiten.
Fase. V.
Wien 1910, Urban u. Schwarzenberg.
‘Die zur Diskussion gestellten Beiträge des fünften Heftes
leitet eine bemerkenswerte Beobachtung de Beurmanns -ein.
Diese betrifft einen Fall von Orient beule, der im Gegensatz
zur oft beobachteten solitären Erscheinung, das multiple simul¬
tane Auftreten der Granulome veranschaulicht. In dem Eiter
der W ucher un-gen konnte die Leishmania tropica (Ilelco-
soma trop. Wright) nachgewi-esen werden. Die Kultur der
Protozoen und ihre Impfung wurden nicht versucht. Buschke
und W. Fischer definieren ein Krankheitsbild als Kerato¬
dermia maculosa disseminata symmetrica palmaris
et 'plantar is. Eine intradermale Verhornungsanomalie mit Ten¬
denz zu zentraler Abflachung und Dellenbildung, inmitten voll¬
kommen normaler Haut. Den in ihrer Aetiologie und Pathogenese
noch strittigen blennorrhoischen Exanthemen möchte Chauf-
fard eine weitere Beobachtung von Keratosis blenn'or-
rhagica anreihen. Die fast ausschließlich am inneren Fuß-
rand-e und am Fußrücken lokalisierten Keratosen bringt Chauf-
f a r d 'mit den blennorrhoischen Gelenksmetastasen und der Gono-
kokkenpyämie in ursächliche Beziehung. Die dem Beobachter
gelungene experimentelle Hervorrufung ähnlicher Produkte mit
dem Geschähe der Wucherungen am Träger, spricht noch nicht
für die mikrobielle Natur der Keratosen. Für die Variation der
isolierten, hyperkeratotischen Knötchenbildung des Lichen
ruber iac umin atus bringt R. Müller ein instruktives Beispiel
bei. Zwei Fälle des papulo - nekrotischen Tuberkulids, von
0. Urban und F. Werth er in lebenswahren Abbildungen vor¬
geführt, -zeigen die heute bereits allgemein geläufige Erscheinungs¬
weise dieser Type. Der Einordnung in, einer der bekannteren
Klassen der Dermatosen erhebliche Schwierigkeiten entgegen¬
stellen dürfte die als Atrophia cutis reticularis cum
pigmentation«, dystrophia unguium et leukoplakia
oris angesprochene Beobachtung Zinssers, deren Merkmale in
der Moulage nur teilweise festgehalten sind.
*
Die Wassermannsche Reaktion mit besonderer Berück¬
sichtigung ihrer klinischen Verwertbarkeit.
Von Priv.-Doz. Dr. Harald Hoas, I. Assistent am Rudolf Berghs-Hospital
für venerische Krankheiten in Kopenhagen.
Berlin 1911, Verlag von S. Karge r.
Die aus dem Statens -Seruminstitut zu Kopenhagen her¬
vorgegangenen serologischen Prüfungen des Verfassers verdienen
um so mehr eine allgemeine Würdigung, als die technische Zu¬
verlässigkeit derselben in den Dienst des klinischen Bedürfnisses
gestellt, die Grenzen und Leistungsfähigkeit der biochemischen
Methode in lehrreicher Weise beleuchten. Für den Praktiker wird
es von besonderem Interesse sein, die diagnostischen, therapeu¬
tischen und prognostischen Direktiven ins Auge zu fassen, die
Boas aus mehreren Tausenden Untersuchungen ableiten konnte,
zumal die klar formulierten Schlußfolgerungen in weitesten
Grenzen mitden Anschauungen W as s er mann s Übereinstimmen.
So sieht Boas die positive Reaktion unter allen Umständen als
ein Zeichen noch bestehender Syphilis an. Das Ausbleiben der
Reaktion hat von Indurationen abgesehen, nur dann eine entschei¬
dende diagnostische Bedeutung, wenn es sich um Fälle handelt,
wo die Patientin früher nicht behandelt worden waren, dagegen
keine, wo die Differentialdiagnose- zwischen Rezidive und früher
behandelten spezifischen Erscheinungen einerseits und einem
nicht syphilitischen Leiden anderseits schwankt. Die- Reaktion
wird (so gut wie in allen Fällen von einer antiluetischen Ihe-rapie
beeinflußt.. Dem negativen Ausfall in den Latenzperioden ist in
210
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 5
prognostischer und therapeutischer Beziehung keine Bedeutung
beizumessen. Bei angeborener Syphilis spricht das Ausbleiben
der Reaktion bei der Geburt, nicht gegen Lues, desgleichen weist
der positive Ausfall nicht mit Sicherheit auf die spezifische Er¬
krankung des Neugeborenen hin, indem reagierende Stoffe von
der Mutter durch die Plazenta auf das Kind übergehen können.
Scheinbar 'gesunde Mütter heredosyphilitischer Säuglinge rea¬
gieren positiv. Instruktive Hinweise auf die Verwertung der
Reaktion in der forensischen Medizin, bei Erteilung des Ehe-
konsenses, bei der Ammenwahl, bei Untersuchung von Prosti¬
tuierten, ergänzen den reichen, durchwegs aus persönlicher Er¬
fahrung geschöpften Inhalt der Monographie.
*
Hereditäre Syphilis, deren Prophylaxe und Therapie.
Von Prof. Alfred Fournier.
Uebersetzt von Dr. Edgar Neumann, Wien.
Dresden 1910, Verlag von Theodor Stein köpf f.
Die in vier Sätzen formulierte Anklage Alfred Fourniers
gegen die ärztliche Indolenz in der Bekämpfung der hereditären
Syphilis bezeugt neuerdings, welch unerschöpflicher Wissens¬
schatz und immer noch der weiteren praktischen Verwertung
zugängliches dokumentarisches Beweismaterial in den Proto¬
kollen des Nestors der französischen Dermatologen enthalten
ist. Das Verkennen der Stigmata des Erbübels, gleichwie die
Unterlassung der Fötalbehandlung und die unzureichende Heran¬
ziehung der chronisch intermittierenden, merkuriellen Therapie,
werden an zahlreichen Familiengeschichten illustriert, die bestens
geeignet erscheinen, einen warnenden Einblick in das Verheerungs¬
werk der Syphilis, selbst in der zweiten Generation, zu gewähren.
So manche der in Fourniers früheren Studien ausgewiesenen
direkten und indirekten Merkmale der Erbsyphilis sind gerade
durch die neuere serologische Diagnostik in ihrer Zugehörigkeit
eindeutig aufgedeckt worden. Des Altmeisters einmütig bewunderte
plastische Darstellungskunst hat in der Uebersetzung nichts von
ihrer Eigenart eingebüßt. Nobl.
*
Bei den Eskimos in Westgrönland.
(Ethnologischer Anhang von Dr. Michael Haberl an dt.)
Von Dr. Rudolf Trebitsch.
62 Abb., 1 Karte, 8°.
162 Seiten.
Berlin 1910, Dietrich Reimer.
Das Buch tritt in der anspruchslosen Form der Beschrei¬
bung einer Sommerreise in das von Fremden wenig bereiste
Grönland auf, bringt aber eine Fülle wissenschaftlich wertvoller
und neuer Beobachtungen, die hauptsächlich auf ethnographischem
und anthropologischem Gebiete liegen. Die Gelegenheit, Auf¬
nahmen für das Phonogrammarchiv der Kais. Akademie der
Wissenschaften zu machen, benutzte der Verfasser zur Samm¬
lung von Eskimoliedern und Texten, die zahlreichen, dem k. k.
Hofmuseum mitgebrachten Ethnologika sind in einem: beson¬
deren Abschnitte von Prof. Ilaberl an dt bearbeitet. Den Anthro¬
pologen interessiert besonders die Schilderung der Eskimos und
ihrer Lebensweise, wegen der hochgradigen Anpassungsfähig¬
keit der Menschen an eine ihm ganz feindliche Natur. Eine
Reihe von Beobachtungen über Mongolenflecke bei Eskimos bringt
der Verfasser an anderem Orte (Archiv f. Anthrop., Bd. VI). Die
durchaus lebendige Schilderung und eine Melnge gelungener Photo¬
graphien verdienen rühmend hervorgehoben zu werden.
Rudolf Pö'ch.
Aas versehiedenen Zeitschriften.
131. Beiträge zur Kenntnis der Serumkrankheit.
Von Prof. Johann v. Bökay in Budapest. In zwei Fällen, welche
Verfasser ausführlich beschreibt, wurden zwei aus verschiedenen
Familien stammende, an Diphtherie leidende Kinder (Mädchen
im Alter von sechs, resp. acht Jahren) in derselben Stunde
mit 10 cm3 Pferdeserum von gleicher Provenienz und — dem
Datum der Signatur nach — von der gleichen Füllung und dem¬
selben Tiere stammend, geimpft und einige Minuten nach der
Injektion erschienen bereits die Symptome der Serumkrankheit,
unter denen besonders die intensive und ziemlich ausgedehnte
Urtikaria prävalierte. Beide Kinder waren zum erstenmal mit
einem Serum geimpft worden, daher man von Anaphylaxie nicht
sprechen könne. Sonst geht dieser Serumkrankheit stets eine
acht- bis zehntägige Inkubationszeit voraus. Im Budapester Ste-
phanie-Kinderspitale w urden im Jahre 1908 in 10°/o der Fälle
Serumexanthem beobachtet, im Jahre 1909 dagegen trat das
Serumexanthem ungewöhnlich oft auf, von 184 mit Serum be¬
handelten Diphtheriekranken wurden 43 von Exanthem befallen,
d. h. also 48"». Die zwei oberwähnten Fälle fallen auch in
das Jahr 1909. Im Monate Januar stieg sogar das Exanthem
nach Heilseruminjektionen auf 50% (11 von 23 Fällen), in allen
Fällen war es intensiv und anhaltend. Alles Serum, das in diesem
Monate zur Behandlung verwendet wurde, war mit dem gleichen
Füllungsdatum versehen und war von einem und demselben
Pferde gewonnen worden. Das Serum war ferner am 1. No¬
vember 1908 gefüllt worden, hatte also vor seiner Benützung nur
zwei Monate lang gelagert, während Bujwid darauf Wert legt,
daß solches Serum stets einige Monate lang lageflte, ehe es ver¬
wendet wird. Vett'f. hält es aber für wahrscheinlich, daß die Er¬
klärung dafür, daß in dem fraglichen Zeitraum so auffallend oft
und so intensives Exanthem beobachtet wurde und in zwei
Fällen sogar sich die Inkubationszeit der Serumkrankheit auf
Minuten reduzierte, in den individuellen Eigentümlich¬
keiten jenes Tieres zu suchen sei, von dem das von dem
Verfasser angewandte Serum gewonnen wurde. - (Deutsche
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 1.) E. F.
*
132. (Aus dem Karolinen-Kinderspitale in Wien. Diri¬
gierender Pr i i nararzt Priv.-Doz. Dr. K n ö p f e 1 m a c h er.) De b c r
Hämagglutininreaktion bei ;Ser umkrankheit. Von
Dr. Felix Bauer, Assistent des Spitales. Von einer charakteristi¬
schen Reaktion für die Serumkramkheit des Menschen fordert
man, daß sie in allen ausgesprochenen Fällen deutlich auftritt.
Sie muß auch weniger intensiv nach jeder Seruminjektion ohne
folgende Serumkrankhtut nachweisbar sein. Die Präzipitinreaktion
entspricht nicht diesen Forderungen. Lemaire fand sie nur in
der Hälfte seiner Fälle von Serumkrankheit. Die Komplement-
ablenkungsreaktion ist noch nicht geprüft worden. Verfasser be¬
richtet nun über einen neuen Befund, welcher für die menschliche
Serumkrankheit charakteristisch ist: über das Auftreten voll
Hämaigglutininen. Darunter versteht man Körper des Serums,
welche isolierte fremdartige rote Blutkörperchen in vitro zu¬
sammenhallen. Nach bisheriger Anschauung war die Entstehung
der Hämagglutinine an vorherige Injektion entsprechender roter
Blutkörperchen gebunden. Im Gegensatz dazu hat Verfasser fest-
gestellt, daß. bei Menschen jeder Injektion des üblichen von Blut¬
körperchen freien Diphtherieserums Bildung von Hämagglutinincn
regelmäßig folgt. Die Technik der Reaktion ist sehr einfach. Sie
unterscheidet sich von derjenigen der Grub'er-VV i dal sehen Re¬
aktion nur dadurch, daß anstatt der Typhusbazillen durch Zentri¬
fugieren vom Serum befreites und dreimal mit physiologischer
Kochsalzlösung in der Zentrifuge gewaschenes Pferdeblut ver¬
wendet wird. Die nötigen Verdünnungen werden nach der Tropf¬
methode hergestellt, die bei horizontaler Haltung der verwendeten
Tropfkapillare genügend gleichmäßige Resultate gibt. Bei Unter¬
suchung des Serums von Kindern, die niemals mit Pferdeserum
behandelt worden waren, zeigte sich, daß. das Normalserum in
geringer, nicht ganz konstanter Menge, doch im allgemeinen nie¬
mals bei Verdünnung 1:50, normalerweise Hämagglutinine gegen
Pferdeblut enthält. Nur in einem einzigen nicht geklärten Falle
fand sich ein hoher Wert: komplette Hämagglutination bis zur
Verdünnung 1 : 100, den man sonst nur hei ausgesprochener Serum¬
krankheit findet. Es war ein achtmonatlicher Säugling mit mon-
goloider Idiotie und Tetanie. Eine Seruminjektion war nicht ge¬
macht worden. Was nun das Verhalten der Hämagglutination
nach Seruminjektion anlangt, ergibt sich aus einer Tabelle mit
21 untersuchten Fällen, daß. die Steigerung des geringen normalen
Hämagglutiningehaltes nach der ersten Seruminjektion ungefähr
am sechsten Tage beginnt und ihr Maximum analog der Präzipi¬
tinbildung am zwölften Tage erreicht. Als Maßstab für die Serum¬
krankheit gelteln die drei Stufen : kein Serumexanthem, lokales:
Serumexanthem, universelles Serumexanthem. Verf. fand, daß
jeder kompletten Agglutination bei Verdünnung 1:200 stets ein
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
211
universelles Serumexanthem entsprach. Bei den Versuchen, ob
eine längere Zeit vorausgegangene Reaktion späterhin durch die
Reaktion nachweisbar ist, war der Nachweis nur in der Mehrzahl
der Fälle möglich. Einen Schluß auf Seruminjektion vor längerer
Zeit kann man jedenfalls1 nur aus dem positiven Ausfall der Re¬
aktion ziehen. Nach zweiter Serum Injektion ist der Verlauf der
Hämagglutininbildung ein anderer. Die Vermehrung beginnt bereits
am dritten Tage und erreicht früher eine beträchtliche Röhe. In
jedem Falle, kam es zur Bildung hoher Agglutininwerte. Verf. hält
als Ergebnis seiner Versuche die Spezifität der Reaktion für ge¬
sichert. Weiters schlägt er vor, die Reaktion zur Lösung der Frage
zu verwenden, ob eine Krankheit auf Anaphylaxie zurückzuführen
ist. Dies gilt vor allem1 für die Urtikaria. Vorher muß. man aber
wissen, ob die Hämagglutininbildung auch noch durch anderes
als Serumeiweiß ausgelöst werden kann. Versuche am Kaninchen
haben ergeben, daß auch durch Injektion von Hühnereiweiß und
menschlicher Milch Bildung von Hämagglutininein für Hühner-,
bzw. Menschenblutkörperchen ausgelöst werden kann. Verfasser
nimmt daher an, daß. auch beim! Menschen diese Reaktion durch
andere Eiweißüberempfindlichbeit bewirkt wird. — (Münchener
mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 2.) G.
*
133. Die Doppelhändigkeit in Schule und Leben.
Von Dr. Eduard Quirsfeld, k. k. Oberbezirksarzt in Eger
(Böhmen). Man mag die Ursache der Rechtshändigkeit erklären
wie immer, Tatsache ist, daß die Menschen schon seit den
ältesten Zeiten rechtshändig waren und Erziehung und Gewohn¬
heit machten seither das Ihrige, um diese Einhändigkeit aufrecht
zu erhalten. Es besteht indes gar kein Grund, so starr an dem
Althergebrachten zu halten. Denn es gibt keine Lebenslage!,
in welcher Doppelhändigkeit für uns nachteilig wäre, dagegen
gibt es im Leben zahllose Beispiele dafür, daß oft der Besitz
von nur einer geschickten Hand störend, betrübend, ja ver¬
hängnisvoll empfunden wird; Doppelhändigkeit wäre wohl in
solchen Fällen eine kräftige Unfallversicherung ! Doppelhändig¬
keit ist aber auch in Verbindung mit größerer geistiger Leistungs¬
fähigkeit. Behaupten doch feine Beobachter unter den Lehrern,
daß doppelhändige Schüler größere Munterkeit, Aufgewecktheit,
Urteilsfähigkeit besitzen gegenüber den gleichaltrigen Einhändern
und übertreffen nicht die doppelhändigen Japaner sogar unsere
zivilisierten Völkerschaften an Geist, Willenskraft und Hand¬
kunstfertigkeit? Und das läßt sich auch ganz gut verstehen:
denn, wenn bei uns Rechtshändern das Sprachzentrum tatsächlich
nur in der linken Gehirnhemisphäre liegt, wenn also diese Ge¬
hirnhälfte die eigentliche Quelle unserer geistigen Kräfte ist,
so haben wir sie allein durch unsere einseitige Erziehung (zur
Quelle aller unserer Leistungen gemacht. Wenn wir diese Ein¬
seitigkeit durch Erziehung zur Doppelhändigkeit wettmachen,
so arbeiten wir dann mit dem ganzen, nicht mehr mit einem
halben Gehirn und muß uns dann nicht ceteris paribus die
doppelte geistige Kraft zur Verfügung stehen? Welche Perspek¬
tiven eröffnen sich da nicht dem Staate, der Gesellschaft, wären
alle Menschen Doppelhänder ! Bernhard, Gaßmann und
Broca haben es schon als eine Pflicht erklärt, die gesunden
Kinder auch die linke Hand gebrauchen zu lehren. Sache der
Pädagogen aber ist es, unterstützt von Aerzten, die Erziehung
zur Doppelhändigkeit in den Schulen einzuführen. Quirsfeld
hält diese Erziehung zum mindesten für ebenso wichtig für die
heranreifenden Geschlechter als die Schularztinstitution! Denn
es ist nicht weniger wichtig, die1 Jugend zur Vielseitigkeit, zur
Unabhängigkeit, von Zufall und Unglück heranzubilden, als ein
an Geist und Körper gesundes Geschlecht erziehen zu helfen.
Die Pflege der Doppelhändigkeit wird sich als die wertvollste
Neuerung in der Erziehungskunst unseres Jahrhunderts erweisen ;
sie wird dem Menschen eine derart . überragende Höhe geistiger
und physischer Ueberlegenheit wiedergeben, die unter dem herr¬
schenden einseitigen Regime unerreicht bleiben wird. — (Der
Amtsarzt, Zeitschrift für öffentliches Gesundheitswesen 1910,
2. Jahrg.', Nr. 9.) K. S.
*
134. Der Beweg iingsmecli an ianäus des Auges, er¬
läutert an der Augenmuskellähmung ohne Sekun¬
därkontraktur und der Lähmung der Sei ten wen der
bei erhaltener Konvergenz. Von Dr. Carl Kunn, Privat¬
dozent in Wien. Kunn hat eine große Zahl von Augenmuskel-
lähmungen beobachtet, bei welchen trotz teilweiser oder völliger
Lähmung eines Seitenwenders keine Abweichung des Auges nach
der Seite des Antagonisten beim Blick geradeaus1 erfolgt war,
das lahme Auge vielmehr mit seinem Hornhautscheitel in der
Lidspaltenmitte symmetrisch zu seinem Partner stand. Diese merk¬
würdige Erscheinung, von der er früher geglaubt hatte, daß
sie nur bei angeborenen Beweglichkeitsdefekten dös Auges ver¬
kommen könne und die, wie sich jetzt zeigt, gar nicht so selten
bei erworbenen Lähmungen anzutreffen ist, dient zur Erklä¬
rung des ganzen Bewegungsmechanismus der Augen. Man muß
sich nach Kunn vorstellen, daß bei Lähmung eines Seiten¬
wenders dör Bulbus trachtet, seine primäre Ruhelage ein/.u-
nlehmen, geradeso wie bei der Skelettmuskulatur die Lähmung
eines Muskels zur Folge hat, daß das von ihm1 versorgte Gelenk
eine Mittelstellung einnimmt, um: die möglichste Entspannung
sämtlicher Muskeln, welche die Bewegungen des1 betreffenden
Gelenkes beherrschen, herbeizuführen. Ausl analogen Gründen
wird das Auge jene Stellung einzunehmen trachten, bei welcher
alle Muskeln möglichst eintspannt. sind. Diese Stellung fällt, aber
nicht immer mit jener zusammen, bei welcher der Hornhaut-
scheitel in der Lidspaltenmitte steht.. Der Punkt, in welchen
sich der Hornhautscheitel bei völliger Entspannung aller Muskeln
stellt, heißt der Indifferenzpunkt. Fällt er seitlich von der Lid¬
spaltenmitte, dann haben wir bei Lähmung1 eines Seitenwenders
das Bild der sogenannten Sekundärkontraktur vor uns1, die also
in1 Wahrheit überhaupt nicht existiert. Fällt er aber zufällig mit
der Lidspaltenmittel zusammen, dann entsteht die sogenannte
Lähmuüjg ohne Sekundärkontraktur. Diese Erklärung genügt auch,
um die Seitenwenderlähmung bei erhaltener Konvergenz ohne
Zuhilfenahme der Erkrankung eigener Zentren zu erklären. Liegt
der Indifferenzpunkt beiderseits in der Lidspaltenmitte und erfolgt
eine beiderseitige Lähmung des Rectus! lateralis, dann werden
die Augen symmetrisch orientiert mit ihren Hornhautscheiteln in
den Lidspaltenmitten stehen bleiben, die Beweglichkeit nach
rechts uhd links wird aufgehoben, die Konvergenz aber völlig
normal sein können. Das gleiche, was für den Mechanismus
der Seitenwender gilt, gilt aber auch für die Hebung und Senkung.
Damit ist bewiesen!, daß die Theorie Schnabels, welche be¬
hauptet, daß jeder Seitenwender das1 Auge aus einem Lidwinkel
in den anderen führe und daß die Stellung in der Lidspalten¬
mitte das Resultat der zweckmäßigen1 Kontraktion sämtlicher
exterioreln Muskeln sein müs’se, unhaltbar ist. Es gilt, vielmehr
die Annahme von Zuckerkandl und Erben, die nach Ana¬
logie mit den übrigen Skelettmuskeln behauptet haben, daß jeder
Seitenwender das Auge nach seiner Seite und wieder zurück
in! die Lidspaltenmittel führe, mit der Einschränkung, daß eben,
wie Kunns Fälle neuerdings beweisen, die Ruhestellung nicht
immer mit der Lidspaltenmitte zusammen fällt. Jeder Seitenwender
ist. autonom und führt das Auge ausi der primären Ruhelage, bei
welcher der Hornhautscheitel im Indifferenzpunkt steht, in
äußerste Rechts-, resp. Linkswendung. Die Mittelstellung des
Auges ist nur dann das Produkt einer Muskelaktion, wenn der'
Indifferenzpunkt nicht in der Lidspaltenmitte liegt. Sonst sind
bei Mittelstellung sämtliche Muskeln ad maximum entspannt und
bei Lähmung eines Seitenwenders in einem solchen Falle keine
Abweichung des Auges im Sinne des Antagonisten konstatierbar.
Somit ist durch rein klinische Beobachtung und die daraus'
gezogenein Schlüsse die Lösung des physiologischen Problems,
welches der Bewegungsmechanismus der Augen darstellt und das
bisher völlig kontrovers war, möglich. Ungefähr 30 interessante
Krankengeschichten mit eingehenden Epikrisen illustrieren die
Ansichten des Autors! auf das wirksamste. Bezüglich der viel¬
fachen wichtigen Bemerkungen, welche Details und benachbarte
Gebiete betreffen, sei auf das Original verwiesen. — (Separat¬
abdruck aus Beiträge zur Augenheilkunde 1910, H. 76.) Pi.
*
135. (Aus den Anstalten für Epileptische zu Bethel bei
Bielefeld.) Ueber Megalenzephalie. Von Oberarzt Dr. Vol-
lan d. Verf. beschreibt, einen Fall Von Megalenzephalie. Der Fall ist
klinisch und anatomisch genau mitgeteilt. Interessant ist an dem
Fall die Kombination der Megalenzephalie mit. persistierender
212
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
Thymus, abnormen Bau der Schilddrüse, Angiom an der linken
Hand und linksseitiger Inguinalhernie. Verf. ist geneigt, alle diese
Faktoren auf gemeinsamer Basis beruhend anzusehen, als Stü-’
rungen in der betreffenden Körperanlage und -entwicklung. — -
Das Gehirn war 1874 g schwer, symmetrisch gebaut, die ein¬
zelnen Teile gleichmäßig vergrößert, die Windungen breit und
plump, die Seitenventrikel eng, die Hydrozephalusflüssigkeit spär¬
lich. Das Rückenmark war etwas voluminöser als sonst. Aus
dem histologischen Befunde sei die über die ganze Hirnrinde
ausgebreitete Chaslinsche Gliose besonders hervorgehoben. -
Der Kranke war mit großem Kopfe geboren worden. Seit dem
14. Lebensjahre hatte er an Epilepsie gelitten, war verblödet
und, 21 Jahre alt, an Pneumonie gestorben. — (Archiv für Psy¬
chiatrie und Neurologie, Bd. 47, H. 3.) S.
*
136 . U‘ e b e r F i e b e r bei malig n e n Ni e r e n- u n d N e-
bennier engeschwülsten. Von Prof. Dr. .1. Israel in
Berlin. Niehl nur bei Magen-, Darm- und Uteruskrebsen, auch
bei malignen Nieren- und Nebennieren tumoren wird Fieber beob¬
achtet, was zu wenig bekannt ist. Selbstverständlich handelt es
sich um Fälle, die von keinen Komplikationen, z. B. pyelo-
nephr bischer Infektion oder sekundärer Erkrankung der serösen
Häute begleitet sind, um Fälle also, bei welchen die Temperatur-
Steigerung ein Symptom der Neubildung ist. Man muß es
aber deshalb wisöe'n, weil sonst auch diagnostische Fehlschlüsse
unterlaufen, daß z. B. ein linkseitiger Nierentumor mit intermittie¬
rendem Fieber auf Grund dieses Fiebers1 für eine Malariamilz
gehalten wurde, daß man einen Nierentumor übersah, das Fieber
auf eine nicht nachweisbare Lungen- oder Bronchialtuberkulose
bezog und den Kranken in ein Lungensanatorium schickte. Der
Verfasser hat den Fall später operiert. Die Sache ist also prak¬
tisch wichtig, ist aber trotzdem nur von wenigen Autoren bisher
gewürdigt worden. Verl, hat seit 1895 schon 18 mal unter 146
operierten Fällen einen fieberhaften Verlauf bei Nieren- und
Nebennierentumoren ohne fiebererzeugende Komplikationen beob¬
achtet, zwölf Fälle wurden operiert. Das1 Fieber ist entweder
ein initiales, es setzt zugleich mit den ersten Tumorsymptomen
ein, oder es stellt selbst die erste und für lange Zeit einzige
Krankheitsäußerung dar, bevor eine Geschwulstentwicklung zu
erkennen ist. Das Fieber kann auch ein interkurrierendes, regel¬
los im Kranlvheitsyerlaufe eintretendes;, oder ein finales sein.
Der Typus dieses! Fiebers isl, der des remittierenden oder inter¬
mittierenden, oder der eines Rückfallfiebers (die hohe- Tempe¬
ratur setzt alle fünf bis sieben Tage mit Schüttelfrösten ein), oder
die Fieberanfälle stehen in zeitlicher Beziehung zu Hämatu¬
rien, sie . gehen diesen voran oder folgen der Hämaturie,
In fünf von sieben Fällen schwand das Fieber vollständig
nach der Operation, die unvollständige Operation (zwei Fälle)
war auf das Fieber ohne- Einfluß; diese Erfahrung beweist mit
Sicherheit die Abhängigkeit, des Fiebers von der Neubildung.
Zu demselben Schlüsse führt ebenso- das Erscheinen von Fieber
mit dem Auftreten von Metastasen oder einer plötzlich er¬
wachenden Wachstumsenergie zurückgebliebener, bis dahin la¬
tenter Geschwulstkeime. Bezüglich der fiebererzeugenden Noxe
führt Verf. aus, daß, wenn die Malignität einer Neubildung darin
besteht, daß sie schrankenlos wuchert und die normalen Ge¬
webe zerstört, dann das Fieber bei bösartigen Tumoren von
Stoffen ab hängen müsse, welche von den schnell wuchernden
G-eischwulslzelletn erzeugt werden, oder von solchen, die durch
die- Zerstörung der normalen Zellen -entstehen. Verhält sich das
so, dann ließe sich -erwarten, daß bei ungewöhnlich großer Wachs¬
tumsenergie ein begleitendes Fieber häufiger gefunden wird.
Die Beobachtungen des Verfassers haben gezeigt, daß das tat¬
sächlich der Fäll ist. Ueber die Ursache dieses Fiebers wissen
wir also nur soviel sicher, daß es ein Produkt der Malignität
ist, unabhängig von sekundären Veränderungen, wie den nekro-
biotischen Prozessen der regressiven Metamorphose oder den
Zerfallsprozessein durch Einwirkung von Mikroorganismen. Zum
Schlüsse -erörtert Verf. die wichtige Frage-, ob man; aus einem
fieberhaften Verlauf der malignen Tumoren prognostische
Schlüsse auf den Erfolg einer Exstirpation ziehen dürfe. Die
Erfahrungen, des Verfassers gehen dahin, daß die unmittelbaren
Operationsresultate bei den Fiebernden ungünstiger als bei den
Fieber losein sind. Hinsichtlich der Dauerresultate dürfe man wohl
vermuten, daß Fieber eher tun ungünstiges Zeichen ist, da rapides
Wachstum, metastatische Dissemination oder Ausbreitung des
Tumors über die Grenzen der Niere hinaus nicht selten unter
den Fieberndem zu finden ist. Immerhin gibt es aber auch Fälle,
welche trotz Fiebers keinen prognostisch ungünstigeren Eindruck
machen als viele afebrile, indem sie weder Propagation, noch
Verbreitung auf Drüsen, noch Metastasen usw. erkennen ließen.
Es folgern endlich kurze Auszüge- aus 14 Krankengeschichten.
(Deutsche medizin. Wochenschrift 1911, Nr. 2.) E. F.
*
137. Oleum Caryophylli bei Lungentuberkulose.
Von Landis und Hartz. Landis und Hartz verordnen*
Ol. Caryophill. Syr. Sen-eg. ana 7-1, Bxtr. Glycirrhiz. 42-0,
Aq. d. ad 710 (?): S. dreimal täglich ein Teelöffel nach den
Mahlzeiten. Sie fanden, daß in zahlreichen Fällen der quälende
Husten sich vermindert, die Menge des Auswurfs abnimmt,
weniger klumpig wird und 'sich in seiner Beschaffenheit {mehr
dem natürlichen Speichel nähert, — (Korrespondenzblatt für
Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg. Nr. 29.) K. S.
*
138. (Aus der chirurgischem Universitätsklinik zu Königs¬
berg i. Pr. - Direktor: Prof. Dr. E. Payr.) Erfolgreiche- di
rekte Herzmassage bei-Narkos-ensch-eintod. Von Doktor
A. T. J uras z, Volontärassistent. In dem mitg-e-teilten Falle, bei
einer 50jährigen Patientin mit einem Pyloruskarzinom1, sehen wir,
daß- ein scheinbar toter Herzmuskel durch die subdiaphragmatische
direkte Herzmassage im Verein mit künstlicher Atmung nach etwa
acht Minuten vom Einsetzen der Synkope an zum' Lebten wieder
geweckt wurde und trotz fortgesetzter Narkose- und weiterem ope¬
rativem Eingreifen keine fernere Störung in seiner Funktion auf¬
wies. Nach Verfasser ein glänzender Beweis für die Berechtigung
und den Wert dieser Methode. Bemerkenswert ist in diesem Falle,
daß die einsetzende Herztätigkeit anfangs wieder erlosch, indem
die schwachen spontanen Kontraktionen die weitere Unterstützung
durch Kunsthilfe zunächst noch nicht entbehren konnten. Ver¬
fasser zitiert aus der Literatur bisher 64 Fälle, in denen die- direkte
Herzmassage angewendet wurde. Die Gesamtzahl der Dauerhei¬
lungen stellt sich auf 13 Fälle = 23-3% ; davon auf die subdia¬
phragmatische. Methode 11, die thorakale 2, während hei der
transdiaphragmatischen noch 'kein einziger Fall durchgekommen
ist. Die Erfahrung lehrt auch, daß je eher die direkte Herzmassage
nach Einsetzen der Synkope eingeleitet wird, um so größere
Aussicht auf einen dauernden Erfolg besteht. Cackovic hält
wegen des schweren Eingriffes die Laparotomie erst dann für be¬
rechtigt, wenn alle- anderen üblichen Mittel zur Wiederbelebung
fünf Minuten lang versagt haben. Verf. ist der Ansicht, daß- man
ohne weiteres, wenn die Bauchhöhle bei der Operation bereits
eröffnet ist, die subdiaphragmatische Herzmassage anwenden soll.
Unter allen Umständen glaubt er, daß nicht über fünf Minuten
gewartet werden soll. Fast ebenso wichtig wie die mechanische
Reizung des Herzens ist die Zufuhr von Sauerstoff für den kohlen-
säureschwangeren Organismus, um der drohenden Vergiftung vor¬
zubeugen. Das Meitzer sehe Insufflationsverfahren mit Hilfe
einer Sauerstoffbombe- mit dem Roth- D-r äg e rschen Ventil dürfte
hiezu am geeignetsten sein. Das Vorgehen bei einem plötzlichen
Narkosentode ist nach Verf. kurz zusammengefaßt folgendes : Man
soll beim Versagen der üblichen äußeren Herzreizmittel nach
spätestens fünf Minuten den Rauch in der Mittellinie des 'Epi¬
gastriums eröffnen, das Herz, durch das Zwerchfell hindurch
zwischen Daumen und die beiden folgenden Finger zu fassen
suchen' und dasselbe- in langsamen, rhythmischen Kontraktionen
zusammenpressen. Gleichzeitig ist die künstliche Atmung, be¬
ziehungsweise direkte Sauerstoffinsufflation zu bewerkstelligen
unter gleichzeitiger Darreichung von subkutanen Herzexzitantien.
Die Massage und künstliche- Atmung sind kurze Zeit über die
ersten spontanen Flerzkontraktionen und Atemzüge hinaus fortzu¬
setzen. Um keine Zeit mit der äußeren Desinfektion zu verlieren,
empfiehlt Verf. die Grossichsche .Todtinkturdesinfektion, wie
sie in der Payrsc.hen Klinik üblich ist, für die einzuführende
Hand einen sterilen Gummihandschuh. Sollte man das Zwerch¬
fell stark gespannt vorfinden, dann müßte man den transdiaphrag¬
matischen Weg wählen, wobei ganz besondere Sorgfalt zur Scho-
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
2!3
nung der Pleura anzuwenden ist. — (Münchener mediz. Wochen¬
schrift 1911, Nr. 2.) G.
♦
139. (Aus dem Allgemeinen Krankenhause Hamburg-Eppen¬
dorf. — Abteilung: Oberarzt Dr. Nonne). Zur Frage der
traumatischen Paralyse. Von Dr. Friedrich Wo hl will,
Assistenzarzt. Gibt es eine rein traumatische Paralyse, das heißt
eine Paralyse, deren einzige Ursache eine Kopfverletzung ist?
Die serologische Untersuchung hat diese Frage im verneinenden
Sinne zum Abschluß gebracht. Nun aber steht eine andere Frage
im Vordergründe: Kann eine Kopfverletzung die Paralyse aus-
lösen? An der Hand von 63 auserlesenen Fällen ist der Verfasser
dieser Frage näher getreten. Es waren Fälle sicherer Paralyse
und ein Zusammenhang zwischen Trauma und Paralyse war in
allen Fällen anzunehmen. Aber weder in bezug auf den Beginn,
noch in bezug auf den Verlauf oder auf die Symptome ließ sich ein
Einfluß der Kopfverletzung auf die Paralyse erweisen und trotz
intensiven Sucheins nach einem solchen Einfluß konnte derselbe
nicht gefunden werden. Daß Verschlimmerungen einer schon
bestehenden Paralyse durch Schädeltraumen Vorkommen können,
ist sicher, aber mit der Annahme einer Auslösung der; Paralyse
durch das Trauma muß man sehr zurückhaltend sein, eine Sache,
die von forensischer Bedeutung ist. — (Archiv für Psychiatrie
und Nervenkrankheiten, Bd. 47, H. 3.) S-
*
140. Der Plattfuß. Von Dr. Muskat- Berlin, Spezial-
arzt für orthopädische Chirurgie. Nach Muskat sind die Sym¬
ptome des Plattfußes außerordentlich variabel; die von Hue t er
als typisch beizeichneten Druckpunkte können völlig fehlen,
während dafür Druckschmerzen an anderen Stellen nachweisbar
sind und die Schmerzen vom. Fuß über das ganze Bein bis
zum Knie und Hüftgelenk, ja bis zum Rücken ausstrahlen können.
Die Diagnose ist nicht ohne weiteres zu stellen und wird auf
ganz falsche Wege geleitet, wenn zur Empfindung schneller Er¬
müdbarkeit das Gefühl der Unlust zu jeder körperlichen Tätigkeit,
ein Nachlassen der Spannkraft, eine gewisse Trägheit sich gesellt.
Neurastheniker solcher Art sind es aber durch ihren L’Iattfuß
geworden und ihre neurasthenischen Erscheinungen verschwinden,
sobald der dabei vorhandene Plattfuß durch geeignete .Ma߬
nahmen beseitigt ist. Bei dem noch so überaus dunklen und
ungeklärten Wesen der Neurasthenie und ihrer noch mein um¬
strittenen Behandlung wird es nach Muskat von großem Werte
sein, in jedem Falle von Neurasthenie an die Möglichkeit eines
ursächlichen Plattfußes zu denken. — (Fortschritte der Medizin
1910, 28. Jahrg., Nr. 42.) N- S.
*
141. Austritt einer epigas tri sichen Hernie durch
eine Lücke im Schwertfortsatz. Von Dr. K. Fritsch,
Assistent der chirurgischen Klinik in Breslau (Prof. Küttner).
Ein 54 Jahre alter Mann litt seit einem halben Jahre an zeitweise,
besonders nach dem Essen auftretenden Schmerzen in der Magen¬
gegend, erbrach auch einige Male. Etwas oberhalb des unteien
Endes des Processus xiphoides sieht und fühlt man unter der
unveränderten Haut eine flache Geschwulst, von weicher Kon¬
sistenz und Größe etwa einer halben Walnuß. Eine ebensolche
Geschwulst etwa 5 cm unterhalb, genau in der Mittellinie. Die
obere Her vor Wölbung tritt bei Hustenstößen und beim Pressen
besonders stark hervor, läßt sich in horizontaler Läge fast gänzlich
zurückdrücken, wobei man im unteren Ende des Schwertfortsatzes
eine Delle fühlt. Die untere epigastrische Hernie läßt sich nicht
reponieren und tritt auch beim Husten nicht hervor. Diagnose :
Zwei epigastrische Hernien, von denen die obere durch ein
im Processus xiphoides befindliches Loch hervorgetreten ist.
Die Operation bestätigt die Diagnose, die zwei Hernien sind durch
ein präperitoneales Lipom bedingt, wohl reichlich hühnereigroß,
das sich überall hervordrängte.' Bei der Entfernung des unteren
Anteiles wurde ein Teil des Peritoneums, an dem das Lipom fest
verwachsen war, mitentfernt. Das Loch im Schwertfortsatz wurde
durch eine Muskelplatte aus dem Rectus! abdominis gedeckt und
so verschlossen. Glatter Verlauf, Heilung. Verf. erklärt entwick¬
lungsgeschichtlich das Entstehen eines solchen Foramens im
Schwertfortsatz und zeigt, daß es sich hier um eine Hemmungs¬
mißbildung gehandelt habe. Solche als Hemmungsmißbildung auf¬
zufassende Lücken können wohl auch weiter distal in den Fas¬
zien der Linea alba Vorkommen und werden dann die Austritts¬
pforten einer epigastrischen Hernie bilden. Faßt man die media¬
nen, präperitonealen Lipome als fissurale Tumoren auf, so be¬
kommt die Aetiologie der epigastrischen Hernien einen entwick¬
lungsgeschichtlichen Hintergrund, zumal wenn dieses Zusammen¬
treffen von epigastrischen Hernien und einer Lücke im Schwert¬
fortsatz häufiger beobachtet werden würde. — (Berliner klinische
Wochenschrift 1911, Nr. 1.) E. F
*
142. Ueber Formaldehyddesinfektion. Von Professor
Dr. G. Kabrhel -Prag. In; die Wirkung der Formaldehyddesinfek¬
tion; greifen verschiedene veränderliche Faktoren, die in der prak¬
tischen Ausführung nicht so leicht zu beherrschen sind, ein. Der
schwierigste Punkt bei praktischer Ausführung der Formaldehyd¬
desinfektion besteht in der Erhaltung der Gaskonzentration und
der erforderlichen Luftfeuchtigkeit, infolgedessen die Sicherheit
der Desinfektionswirkung sich bedeutend verändern kann. Jeden¬
falls ist, die Wirksamkeit der Formaljdehyddesinfektion unter allen
Umständen nicht vollständig beherrschbar und es ist nötig,
gegen das schablonenmäßige bequeme Desinfizieren mit Formal¬
dehyd um so mehr aufzutreten, als in einzelnen Fällen das gleiche
Resultat, wenn nicht gar ein noch verläßlicheres, sich sehr wohl
auch auf anderem Wege und das mit einem bedeutend geringeren
Kostenaufwande (in der Landpraxis von Bedeutung) erzielen
läßt. Kabrhel verweist hiebei auf das U ebertünchen der Wände
mit Kalk, Abwaschen der Fußböden und Gebrauchsgegenstände
mit 'wirksamen Desinfeklionsflüssigkeiten. Besonders bei der Des¬
infektion von Schulen, aber auch Privatwohnungen, wird im ge¬
gebenen Falle zu erwägen sein, ob nicht auf die teuere und
doch nicht unter allen Umständen verläßliche Formaldehyddes¬
infektion besser verzichtet werden kann zugunsten älterer, billi¬
gerer Methoden, die unter gegebenen konkreten Verhältnissen
ebenso sichere Wirkung ergeben. : — (Der Amtsarzt, Zeitschrift
für öffentliches Gesundheitswesen 1910, 2. Jahrg., Nr. 8.)
K. S.
*
143. (Aus der k. k. dermatologischein Universitätsklinik
für Hautkrankheiten. — Vorstand: Prof. Dr. C. Kreibich.)
U e b e r t r a g u n g v o n Antipyri n ü b e r ein pfindlichkei I
auf Meerschweinchen. Von Dr. E. Klausner. Der Ver¬
fasser berichtet über einen Fall, bei welchem es in mehreren
Versuchsreihen gelang, die Ueberempfindlichkeit gegen Antipy-
rin in einwandfreier Weise auf das Tier zu übertragen. Ein
29 Jahre alter Gendarmeriepostenführer gab an, daß er seil
Kindheit auf kleinste Mengen von Antipyrin stets mit dem
gleichen Bilde der Erscheinungen antworte. Dasselbe war bei
seinem jetzigen Spitalsaufenthalte der Fall. Interessant ist, daß
die Ueberempfindlichkeit nicht für die anderen Mittel der Anti-
pyrihgruppe bestand, so daß Pyramidon anstandslos vertragen
wurde, während sich sonst gewöhnlich die Ueberempfindlichkeit
auf die ganze Pyräzolon gruppe erstreckt. Zu den Versuchen
wurden 350 g schwere Meerschweinchen verwendet, die nor¬
malerweise bei subkutaner Injektion von 0-3 Antipyrin niemals
schwere Vergiftungserscheinungen aufwiesen. Es wurden dem
Patienten zu verschiedenen Zeiten größere Mengen Blutes ent¬
nommen und mit dem Serum Versuche so angestellt, daß in
einer Versuchsreihe drei Tiere mit je 5 cnr5 frischem Serum
subkutan injiziert wurden, ein viertes Tier bekam 5 cnr' von
einem normalen Menschen, ein fünftes Tier diente als Kont roll-
tier. Nach 24 Stunden bekam eines der drei ersten Tiere, dann
das vierte und fünfte Tier je 0-3 Antipyrin subkutan. Das erste
Tier bekam zuerst schwere klonisch -tonische* Krämpfe und starb
nach wenigen Stunden, während die Konfrontiere sich normal
verhielten. Das zweite Tier verendete nach mehreren Stunden,
die beiden Tiere, das vierte und fünfte, vertrugen die Reinjek-
tion von Antipyrin ohne jede Störung. Nach acht Tagen wurde
das dritte Tier des ersten Versuches mit zwei neuen Kontroll-
tieren mit 0-3 Antipyrin behandelt; die Ueberempfindlichkeit war
beim dritten Tiere äußerst hochgradig ausgesprochen, es erholte
sich aber nach zwölf Stunden langsam wieder. Die Konfrontiere
verhielten sich normal. Der Symptomtenkomplex war also in
214
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
allen Fällen ( I er gleiche und Verf. konnte in zwei weiteren
\ ersuchsreihein denselben in der gleichen Weise hervorrufen. Ja,
(>s gelang auch die Antipyrinüberempfindlichkeit der betreffenden
Patienten von einem Tiere auf ein zweites zu übertragen. Hiemit
ist vom Verfasser, wie von Bruck, der Beweis erbracht worden,
daß Ueberemp f ind 1 i clikoi t gegen Arzneimittel im Sinne’ echter
Anaphylaxie auf das Tier übertragen werden kann. — (Mün¬
chener meldiz. Wochenschrift 1911, Nr. 3.) G.
*
144. Einfluß von Schwangerschaft, Geburt und
Wochenbett auf den Verlauf einer vorher schon be¬
stehenden chronischen Psychose, sowie das eigene
V orhalten dieser Generationsvorgänge. Von Medizinal-
rat Prof. Dr. F. Nücke in Hubertusburg. In zwölf Fällen, welche
Verf. mitteilt, hatten Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett
auf den Verlauf eine]" bestehenden chronischen Psychose keinen
nachweisbaren Einfluß, Entbindung und Wochenbett gingen nor¬
mal vor sich. Die Mutter kümmerte sich meistens um das
Neugeborene nicht. Verf. bespricht weiters noch kurz die Rolle
der Generationspsychosen in der Aetiologie der Psychosen. Er
warnt vor Uebertreibungen in dieser Sache, obgleich zuweilen
ein Zusammenhang zwischen Generationspsychosen und Psy¬
chosen vorhanden ist. Auch die Frage der künstlichen Frühgeburt
bei schwangeren Geisteskranken streift der Verfasser. Er em¬
pfiehlt, die Einleitung des Abortus nur in Ausnahmsfällen. Wo
ein sicherer Zusammenhang zwischen Gravidität und Psychose
besieht, wäre zur Verhütung weiterer Erkrankung der Frau die
doppelseitige Exzision der Eileiter zu empfehlen, um künftige
Schwangerschaft und eventuelle Vererbung zu verhüten. Bei
chronischen degenerativen Psychosen wäre die Sterilisation be¬
sonders in Erwägung zu ziehen. Bei entsprechender Aufsicht ist
gegen das Stillen des Kindes durch die geisteskranke Mutter
nichts einzuwenden. - (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie
und psychisch -gerichtliche Medizin, Bd. 68, H. 1.) S.
*
145. Tetanus mit letalem Ausgang infolge von
Fruchtabtreibung. Von Dr. Julius Kraus, k. k. Polizei¬
bezirksarzt in Wien. Die Fruchtabtreibung wurde bewirkt durch
wiederholtes Einlegen einer Wurzel von Malva communis in
die Scheide (Verletzungen des Genitaltraktes waren bei der
Sektion nicht nachweisbar). Etwa zehn Tage nach der Frucht¬
abtreibung traten die ersten Erscheinungen von Tetanus auf.
Bei der Wohnungsrevision der Fruchtabtreiberin fand man meh¬
rere ganze Pflanzen, deren Wurzeln weich, biegsam und stark
mit Erde verunreinigt waren. Mäuse, welche mit einer Auf¬
schwemmung aus den erdigen Anhängen der Wurzeln infiziert
wurden, gingen an Tetanus zugrunde. Es ist also zweifelllos.
daß die Frau durch den Eingriff mit Tetanuskeimen infiziert
worden ist. — (Der Amtsarzt, Zeitschrift für öffentliches Ge¬
sundheitswesen 1910, 2. Jahtg., Nr. 7.) K. S.
*
146. (Aus der akademischen Klinik für Kinderheilkunde
in Düsseldorf. — Direktor: Prof. Dr. Schloß mann.) Ueber
eine Reaktion des Urins von Brustkindern. Von
St. Engel und L. Turn au. Zur Unterscheidung der Urine von
Brust- und Flaschenkindern kann man sich des folgenden Ver¬
fahrens bedienen : Zu etwa 5 cm3 Urin werden ohne Ansäuern
15 bis 20 Tropfen (zirka 1 cm3) einer 2%igen Silbernitratlösung
hinzugefügt. Man läßt, nun zirka 10 Minuten ruhig stehen. Tritt
eine schnelle Schwarzfärbung des Niederschlages ein, so hat man
es mit einem sicheren Brustkindurin zu tun. Will man sich noch
schneller orientieren, so koche man nach Zusatz, des Reagens1
auf. Bleibt der Niederschlag weiß oder nur schwach gefärbt,
so kommt der Urin1 sicher von keinem1 Brustkind. Wird die Ver¬
färbung einigermaßen intensiv, so muß man das ganze, um zu
einer Entscheidung zu kommen, bei Zimmertemperatur wieder¬
holen. Man kann also mit dieser einfachen Probe sofort den Urin
eines Brustkindes von dem eines Kuhmilchkindes unterscheiden.
Eine Erklärung wird nicht gegeben. — (Berliner klinische Wochen¬
schrift 1911, Nr. 1.) E. F.
*
147. (Aus der Klinik für Geisteis- und Nervenkrankheiten
zu Halle a. d. S. - Direktor: Geb. Rat Prof. Dr. Anton.) Zur
Prognose <1 er Puerperalpsychosen. Von Dr. Ph. Jolly,
ehern. Assistenten der Klinik. Unter Puerperalpsychosen, in wei¬
terem Sinne versteht, man nach Verf. die in der Schwangerschaft,
im Wochenbett und während des Stillens auftretenden Geistes¬
störungen u. zw. rechnet man als Wochenbett die ersten sechs
Wochen nach der Geburt. Unter den Fällen des Verfassers war
mindestens ein Zeitraum von zehn Jahren seit der Erkrankung
verflossen, was sich für die Frage der weiteren Prognose als
genügend erwies. Von den 79 Fällen waren 9 in der Schwanger¬
schaft, 55 im Wochenbett und 15 während der Laktation geistig
erkrankt. Boi den Schwangerschaftspsychosen übte die Geburt
entweder gar keinen, oder eher einen ungünstigen Einfluß auf
die Psychose aus. Auch operative Einigriffe haben nur einen
ungünstigem Einfluß. Eine völlige Heilung für immer trat in 36
von den 79 Fällen ein, was 46% entspricht. Rechnet man dazu
die Heilungen mit geringem Defekt und diejenigen, bei denen
die Wiedererkrankung geheilt wurde, so’ bekommt man 47 Fälle
: 59°, o. Die Ansicht von Schmidt, daß die Wocheinbett-
psychosen am günstigsten seien und am ungünstigsten die Lak¬
tationspsychosen, konnte Verf. nur teilweise bestätigen, indem
allerdings die Wochenbettpsychosen am besten verliefen (von
55 wurden 29 = 53°/o für immer geheilt), aber bei den Lak-
Lationspsychosen war dies Verhältnis mit 15 : 5 ungefähr gleich
schlecht wie bei den Graviditätspsychosen (9 : 2). Dauernd in
An'staltspflege blieben 11 ; mit den 6 ungeheilt, nach Hause Ent¬
lassenen sind es 17 = 22%, die als ungeheilt zu bezeichnen
sind. Durch den Tod endete die Erkrankung innerhalb des ersten
Jahres in zehn Fällen, u. zw. waren hierunter drei Fälle von
Lungentuberkulose. Die übrigen starben an den Folgen der Er¬
schöpfung, respektive septischen Erkrankungen. Außerdem kamen
drei Fälle von Suizidium vor. Schmidt fand die Prognose
dieselbe bei den Fällen mit und ohne erbliche Belastung. Der
Verfasser konnte dies: bestätigen. Während Hoppe und Holm
jüngeres Alter der Erkrankten' als günstig ansehen, fand der Ver¬
fasser in bezug auf das Alter bei den Geheilten gegenüber den
Ungeheilten nichts Besonderes. Unter den ungünstig verlaufenen
Fallen sind verhältnismäßig wenig Primiparae, dagegen auf¬
fallend viel Drittgebärende. Es mag dies auf Zufall beruhen.
In über ein Viertel der Wochenbettpsychosen hatte Infektion
Vorgelegen ; sie spielte also immer noch eine bedeutende Rolle.
Die beobachtete Dauer der Wochenbettpsychosen, bei denen
eine genitale Infektion, vorlag, war durchschnittlich 20 Wochen,
gegenüber 28 Wochen bei den 'ohne Infektion. Die Art des Be¬
ginns der Psychose, ob akut, subakut odeir chronisch, erwies
sich als islehr wesentlich für die Prognose, indem unter den
Fällen mit günstigem Ausgang fast sechsmal so oft akuter Beginn
wie chronischer Beginn vorkam, dagegen bei den ungünstig ver¬
laufenen Fällen dieses Verhältnis ungefähr 1 : 1 war. Bei den
mehrfach Erkrankten trat Wiedererkrankung durchschnittlich nach
drei Jahrein acht Monaten auf, die Zwischenräume waren also
nicht unbeträchtlich. Es leben jetzt noch 39 Frauen geheilt oder
mit geringem Defekt. Von diesen sind bei 30 die jetzigen men¬
struellen Verhältnisse bekannt u. zw. haben 20 die gefährliche
Zeit, des Eintritts der Menopause überstanden, nur eine Zirkuläre
war dabei erkrankt. Außer den im ersten Jahre gestorbenen
10 Fällen sind bis jetzt 19 gestorben, davon nur 5 als geistig
gesund. Die übrigen 14 sind teilweise zu Hause, teils in Anstalten
gestorben. Die meisten Frauen haben nach Ueberstehen der
Psychose noch geboren u. zw. von den 59 zur Entlassung ge¬
kommenen 45 = 76%. Bei sechs Frauen hievon ist wieder
eine puerperale Erkrankung aufgetreten. Man muß also nach
Verf. nicht, immer von weiteren Schwangerschaften unter sonst
günstigen Umständen abraten. Was die Art der Psychosen an-
lanigt, trat Amentia hauptsächlich im Wochenbett, seltener in
der Stillperiode auf, nur einmal in der Schwangerschaft, Manie
kam in der Schwangerschaft, überhaupt nicht vor. Melancholie
dauerte am längsten, durchschnittlich 36 Wochen. Zum Schlüsse
betont Verf. noch, daß ein Teil derartiger Psychosen überhaupt
nicht in klinische Behandlung kommt. Es sind hauptsächlich
Geistesstörungen, von manischem oder melancholischem und tran¬
sitorischem Charakter, die oft zu Hause behalten werden, wenn
sie die Umgebung nicht zu sehr stören und die meist günstig
ausgehen. Außerdem gehören hieher die kurz dauernden psvchi-
Kr. Ü
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
<215
scheu Störungen, di« sich an den Geburtsakt anschließen ; mit ,
Beendigung der Geburt enden auch meist die geistigen Störungen.
Sie bieten forensisch Interesse. — (Münchener mediz. Wochen¬
schrift 1911, Nr. 3.) G.
*
148. (Aus dem Laboratorium, der psychiatrischem Klinik
in Bonn. — Direktor: Prof. Dr. A. Westpha'l.) Zum Ver¬
halten der Neurofibrillen unter pathologischen Be¬
dingungen. Von Dr. ni-ed. Heinrich Bickel, 11. Assistenten
am pathologischen Institut in Bonn. Mit der seinerzeit von Biel-
schowsky angegebenen Silberimprägnation der Neurofibrillen
sind letztere ohne Rücksicht auf die Markscheide, also auch dann,
wenn diese fehlt, darstellbar. B i el s c h o w s k y s Methode ge¬
winnt eine besondere Bedeutung in ihrer Anwendung auf dir:
pathologisch veränderte Nervems ubstanz, wo die Weigert sehe
Methode oft ungenügenden Aufschluß über die Beschaffenheit der
leitendem Elemente bietet. Verl teilt in der vorliegenden Arbeit
drei Fälle mit, in welchen unter zahlreichen, mit der Methode
Biels chowskys angestellten Untersuchungen letztere ein¬
wandfreie Resultate lieferte: Eine frische Apoplexie im Ok¬
zipitallappen, einen fünf Monate alten apoplektischen Herd und
einen Solitärtuberkel im Pons. In allen drei Fällen zeigt sich
die Degeneration zuerst an den Ganglienzellen u. zw. an den
Zellfortsätzen. Unter den Neurofibrillen außerhalb der Zellen
sind diejenigen am widerstandsfähigsten, welche am dünnsten,
d. h. am weitesten von ihrer Zelle entfernt sind. — (Archiv für
Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 47, H. 3.) S.
*
149. U e b e r D i g i talisatum Bürg ei r . V on D r . R . W o r-
nick-e in Minzleben (Harz). Die tief intramuskuläre Injektion
von Digalen macht bekanntlich an der Injektionsstelle (Glutäen)
Schmerzen, der Kranke muß gerade auf der schmerzhaften Stelle
liegen. Dagegen läßt sich das Digitalislatum Bürger in sterilen
Ampullen - am besten än der Außenseite des oberen Drittels
der Oberschenkel -- ohne nennenswerte Schmerzen subkutan
injizieren. Die Wirkung ist eine schnelle, anderseits eine an¬
dauernde und gleichmäßige. Verf. hat bei 14 genau beobachteten
Fällen nichts von Abszeß oder Infiltratbildung gesehen, wenn
die Injektion aseptisch vorgenonämjeh wurde. — (Med. Klinik 1911,
Nr. 2.) E. F.
*
150. Ueber die A btötung pathogener Keime durch
Bestrahlung der Milch mit ultraviolettem Licht. Von
Priv.-Doz. Dr. Seiffert, Leiter der Milchhygienischen Unter-
suchungsanstalt der Stadt Leipzig. Nach den Untersuchungen
Lobecks bewirken die ultravioletten Strahlen eine Abtötung
der Bakterien in der belichteten Milch. Durch die Belichtung
wird auch die Entwicklung der Milchsäurebakterien gehemmt,
(diese werden nicht abgetötet, da sie nicht so empfindlich gegen
Licht sind wie die mens eben- und tierpathogenen Keime, welche
im Körper leben und daher gewöhnt sind, vor Licht geschützt
zu sein), so daß die Haltbarkeit der Milch verlängert wird. Eine
verändernde oder nachteilige Wirkung der Strahlen auf (las in
der Milch enthaltene Fett konnte nicht nachgewiesen werden.
Seiffert hat unter Benützung bakterientötender ultravioletter
Strahlen durch Quecksilberdampflampen in Verbindung mit Uviol-
und reinem Quarzglas als Lichtquelle die desinfizierende Kraft
des Lichtes zu einem hygienisch-technischen Milchbehandlungs¬
verfahren ausgebildet und nennt die so gewonnene Milch „Uviol-
milch“. Er verwendete dieselbe auf der Säuglingsabteilung mit
vortrefflichem Erfolge. Haltbarkeit, Wohlgeschmack, Bekömmlich¬
keit der ungekochten Uviolmilch wurde durchaus als einwandfrei
erkannt. Seiffert meint, daß die Ostertagsche Tuberkulose¬
bekämpfung beim Rinde vielleicht auch durch Lichtdesinfektion
der Magermilch, soweit sie zu Aufzuchtzwecken verwendet wird,
ergänzt werden könnte. — (Fortschritte der Medizin 1910,
28. Jahrg., Nr. 29.) K. S.
*
Aus englischen Zeitschriften.
151. Ueber chronische! Bronchitis und Emphysem
als Folge der akuten Pneumonie. Von Samuel West.
Es ist verständlich, daß eine so schwere Erkrankung, wie die
Pneumonie, ernste Ernährungsstörungen der Lunge hervorruft,
unter deren Folgen Bronchitis und Emphysem in erster Reihe
stellen. Bei gleichzeitigem Vorhandensein von Bronchitis und
Pneumonie kommt es darauf an, ob die Bronchitis schon vor der
Pneumonie vorhanden war oder sich auch zur Pneumonie hin¬
zugesellte. Das Auftreten von diffuser Bronchitis im Verlauf
der Pneumonie ist von schwerwiegender Bedeutung, weil es
auf ein Versagen der Lunge hinweist un,d die Prognose, sehr
ungünstig erscheinen läßt. In schweren Fällen von Pneumonie
erstrecken sich die pathologischen Veränderungen nicht bloß auf
die infiltrierten Partien, sondern auf das ganze Organ. Diese
allgemeinen Störungen verursachen nach Ablauf der Pneumonie
für längere Zeit eine Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit der
Lungen, welche sich durch Auftreten von Bronchitis auf gering¬
fügige Anlässe äußert. Nur durch rechtzeitige Erkennung und
Behandlung kann die Entwicklung einer chronischen Bronchitis
verhütet s werden. Vikariierendes Emphysem ist während des
akuten Stadiums der Pneumonie ein häufiges Vorkommnis,
jedoch nur von passagerem Charakter. Nicht selten entwickelt
sich -echtes Lungenemphysem im Anschluß an Pneumonie, was
sich daraus -erklärt, daß die während der P'neumonie aufgetre¬
tenen Ernährungsstörungen atrophisch© Veränderungen einleiten,
welche zu dem für das Emphysem charakteristischen Schwund
der Alveolarwände führen. Die Möglichkeit der Entwicklung von
chronischer Bronchitis und Emphysem nach Pneumonie läßt die
Forderung begründet erscheinen, jeden Pneumonie-rekonvales¬
zenten mindestens ein Jahr lang hinsichtlich des Verhaltens
der Lungen sorgfältig zu überwachen. — (The Lancet, L2. No¬
vember 1910.) ^ a. e.
*
152. Ueber die Behandlung der Lungenschwind¬
sucht mit intravenösen Injektionen von Chinosol
und Form aid eh yd. Von John Mac Elroy. Der Verfasser
berichtet über drei Fälle von Lungenschwindsucht, welche mit
intravenösen Injektionen einer Lösung von Chinosol, welches
als stark wirkendes Antiseptikum bekannt ist und Formaldehyd
in sterilisiertem, destilliertem Wasser, unter Anwendung des Ma¬
guire sehen Apparates behandelt wurden. Es wurde zunächst
eine Lösung, welche Chinosol 1:2000 und Formaldehyd 1:4000
enthielt, in die Vena mediana basilica oder cephalica injiziert;
die Injektionen wurden täglich appliziert, wobei die Konzentration
der Lösung sukzessiv© gesteigert wurde und als Maximum
Chinosol 1:500 und Formaldehyd 1:1000 zur Anwendung kam.
Die Frage, ob das Chinosol und Formaldehyd bei intravenöser
Injektion einen direkten zerstörenden Einfluß- auf den Tuberkel¬
bazillus ausüben oder eine reaktive Entzündung in der Umgebung
der tuberkulösen Herde hervorrufen, läßt sich noch nicht mit
Sicherheit beantworten, doch spricht der Umstand, daß- in dem
einen behandelten Falle sämtliche, bei den zwei anderen Fällen
zahlreiche Tuberkelbazillen den granulären Typus zeigten, für
eine direkte Einwirkung auf die Bazillen. Bei der Heilstätten-
b-ehandlung der Tuberkulose ist hinsichtlich des Verhaltens der
Bazillen ein gleicher Erfolg, wie bei der mitgeteilten Behandlungs¬
methode nicht zu verzeichnen. Es wird dadurch der Wert der
Heilstättenb-ehandlung beeinträchtigt, wenn der aus der Behand¬
lung entlassene Patient virulente Tuberkelbazillen ausscheidet.
— (The Lancet, 12. November 1910.) a. e.
*
153. Ueber Transplantation der Schilddrüse und
die chirurgische Behandlung des Morbus Basedowi.
Von Erntest W. Hey Groves Und Cecil Jo 11. So lange als die
Ursache des Morbus Basedowi, bzw. des- Myxödems in einem
U-eb-erschußi, bzw. Mangel der Schilddrüsensekretion erblickt
wurde, erschien das Problem der Behandlung relativ einfach.
Neuere Untersuchungen haben komplizierte Verhältnisse ergeben,
da nicht nur die- Nebenschilddrüsen zu berücksichtigen sind,
sondern auch die Möglichkeit einer qualitativen Veränderung
der Schilddrüsensekretion und die Bedeutung der inneren Sekre¬
tion anderer Organe, ln einem schweren Fälle von Morbus Ba¬
sedowi muß nicht nur die Schilddrüsensekretion reduziert, son¬
dern auch die Toxizität d-e!r Schilddrüse bekämpft und normales
Schilddrüsenprodukt zugeführt werden. Bei Myxödem und Kre¬
tinismus wurde der Versuch gemacht, die interne Darreichung
der Schilddrüse durch Transplantation der Sc'hilddrüse-ngeweb-e zu
ersetzen. Die Mitteilung der Verfasser bezieht sich auf einen
216
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
Fall von Morbus Basedowi, bei welchem das gleiche Verfahren
angewendet wurde. Zunächst wurde die partielle Thyreoidek-
tomie ausgeführt und es trat Besserung ein, die jedoeh nur so
lang anhielt, als die Wunde sezernierte. Bemerkenswert war das
Auftreten von Tetanie trotz anscheinender Erhaltung der Epithel¬
körperchen und das Verschwinden der Tetanie nach interner
Darreichung von Schilddrüse. Wegen der .Fortdauer von Dyspnoe
und Tachykardie- wurde ein 2X1X1 cm großes Stück von einer
adenomatösen Schilddrüse eines anderen Patienten mit zwei zu¬
gehörigen Epithelkörperchen unter Novokainanästhesie in die
linke Halsseite unterhalb des Kopfnickers eingepflanzt. Es stellte
sich fast unmittelbar darauf eine rein funktionelle Tetanie ein,
welche durch Hypnose- geheilt wurde. Es -erfolgte im weiteren
Anschluß- an die Transplantation beträchtliche Besserung der
Symptome- und Wiederkehr der Menstruation mit koinzidierender
Schwellung der transplantierten Gewebe. lieber Transplantation
der Schilddrüse bei Tieren liegen zahlreiche Versuche vor; eine
wesentliche Bedingung ist die Verwendung eines nicht zu großen
Stückes von Schilddrüsengewebe der gleichen Tierart. Für das
weitere Schicksal des transplantierten Gewebes ist die Neubil¬
dung von Gefäßen in der Peripherie zur Ernährung von Bedeu¬
tung. Ueber Schilddrüsentransplantation beim Menschen liegt
eine Anzahl von Mitteilungen vor; man verwendet Gewebe von
gesunden Schilddrüsen oder wo dies nicht zn beschaffen ist, von
lokalen Adenomen ; Transplantation von tierischem Schilddrüsen-
ge-web-e ist völlig erfolglos. Das Gewebe muß- in frischem und
gut vaskularisierten Zustand verwendet werden. Die Einpflan¬
zung erfolgte in die- Milz, in die- Markhöhle des Schienbeins oder
in das subkutane- Gewebe. In neuester Zeit ist die- wiederholte sub¬
kutane Transplantation kleiner Stückchen Schilddrüsengewebe
als besonders geeignete Methode -empfohlen worden. Tierversuche
lehren, daß die Transplantation bei thyreoidektomierten Tieren
leichter gelingt und daß- -eine- zentrale Nekrose des eingepflanzten
Stückes1 erfolgt. Die neuen großen Fortschritte der Gefäßnaht
haben zunächst bei Tieren die Möglichkeit der Transplantation
eines ganzen Schilddrüsenlappens gezeigt. Ein abschließendes
Urteil über die- Erfolge der Schilddrüsentransplantation beim
Menschen läßt sich noch nicht geben, doch sind anter anderem
bei Myxödem und Kretinismus -ermunternde Resultate -e-rzielt
und die Möglichkeit der Haftung des transplantierten Schilddrüsen-
g-ewebes erwiesen worden. — (The Brit. med. Joum., 24. De¬
zember 1910.) a. ©.
*
Aus italienischen Zeitschriften.
154. Ueber -die |antitryp ti s ch e- Wirkung, den
B r e c h u n g s i n d e x und di e- Rivaltasche Reaktion des
Blutserums bei malignen Tumoren. Von Arnaldo Vec-
chi. Die Untersuchungen erstreckten sich auf 86 Fälle, darunter
50 Fälle von malignen Tumoren und 36 Fälle von gutartigen
chirurgischen Erkrankungen. Bei malignen Tumoren ist häufig
und zwar bei 78-9% der Karzinome und 91-6% der Sarkome
eine Steigerung der antitryptischen Wirkung des Blutes nachzu¬
weisen, welche bei gutartigen und beginnenden Tumoren häufig
noch fehlt und, wenn auch nicht konstant, bei Tumoren mit
Metastasenbildung und Kachexie am stärksten ausgeprägt ist.
Eine Steigerung der antitryptischen Kraft des Blutes Kommt auch
bei von malignen Tumoren freien Individuen u. zw. bei 27-7%
der Fälle vor. Der Eiweißgehalt des Blutserums ist bei malignen
Tumoren im Anfangsstadium, so lange der Ernährungszustand
noch nicht beeinflußt ist, normal und zeigt dann fortschreitende
Abnahme entsprechend der Entwicklung der Kachexie, wenn
sich nicht Phänomene hinzugesellen, welche eine Vermehrung
der Konzentration des Blutes bedingen. Eine Beziehung zwischen
antitryptischer Wirkung und dem Albumingehalt des Blutes bei
malignen Tumoren ließ sich nicht nachweisen. Zur Bestimmung
des Albumingehaltes des Blutserums wurde das Immersionsrefrak¬
tometer verwendet, während zur Globulinbestimmung die Ri¬
valtasche Methode herangezogen war, welche auf der Eigenschaft
der Globuline beruht, durch -eine sehr stark verdünnte Lösung
von Essigsäure gefällt zu werden. Bei malignen Tumoren ergibt
die Rival t a sehe Reaktion eine Erhöhung des Globulingehaltes,
die mit der Entwicklung des Tumors, der Metastasenbildung und
der Kachexie parallel geht; ein strenger Parallelismus zwischen
antitryptischer Wirkung und Globulingehalt des Blutes konnte
nicht nach gewiesen werden. Der Nachweis der erhöhten anti¬
tryptischen Kraft des Blutes hat an sich für die Karzinomdia¬
gnose keine Bedeutung, dagegen spricht eine normale oder herab¬
gesetzte antitryp tische Wirkung eher gegen Karzinom, wenn die
differentialdiagnostisch in Betracht kommende Erkrankung sich
nicht im Initialstadium befindet, da bei initialen malignen Tu¬
moren die Steigerung der antitryptischen Kraft bei 42-8°/o der
Fälle fehlt. Die Reaktion ist zur Differentialdiagnose bei mit
vorgeschrittener Ernährungsstörung einhergehenden Erkrankun¬
gen nicht verwertbar, weil hier im allgemeinen die antitryptische
Kraft des Blutserums eine Steigerung aufweist. — (Rif. med.
1910, Nr. 42 und 43.) a. -e.
*
155. Ein Beitrag zur Kenntnis des Schilddrüsen¬
karzinoms. Von Giovanni Morone. Beim Schilddrüsenkarzi¬
nom kommen Fiebererscheinungen, meist dem kontinuierlich¬
remittierenden, manchmal dem rein intermittierenden, selten dem
irregulären Typus zugehörig, vor. Diese Fiebererscheinungen
können zu einer Zeit auftreten, wo weder die- Kachexie deutlich
vorhanden, noch Bildung von Metastasen erfolgt ist. Das Fieber,
welches wahrscheinlich auf der Resorption spezifischer patho¬
logischer Sekretionsprodukte der Schilddrüse beruht, kann zur
Vortäuschung eines Entzündungsprozesses der Schilddrüse bei¬
tragen. Es gibt, namentlich bei jugendlichen Individuen Schild-
drüsenkarzinome von sehr raschem Verlauf, welche- die bös¬
artigsten Sarkomformen, selbst das Bild einer Strumitis, be¬
ziehungsweise Thyreoiditis, durch den akuten Charakter Vor¬
täuschen können. Diese Karzinome, deren Prognose absolut in¬
faust ist, lassen sich histologisch nicht von den anderen Neu¬
bildungen epithelialen Charakters unterscheiden. Mit Rücksicht
auf den Umstand, daß sich das Schilddrüsenkarzinom in 80 bis
90% der Fälle auf Basis einer Struma entwickelt, besitzt die
Strumektomie einen hohen prophylaktischen Wert hinsichtlich
der Verhütung der Karzinomentwicklung. D-as Schilddrüsenkar¬
zinom kann relativ lange Zeit ohne diagnostisch verwertbare
Symptome verlaufen; jedenfalls ist -ein Verdacht in Fällen ge¬
rechtfertigt, wo 'bei Erwachsenen, besonders bei Frauen, im
Beginn des Klimakteriums rasches Wachstum eines bestehenden
Kropfes sich einstellt. Wenn bei der Operation der Verdacht
einer Neubildung weitere Begründung gewinnt, so ist eine aus¬
giebige Exstirpation der Struma erforderlich. Beim Schilddrüsen¬
karzinom findet man wechselnde histologische Bilder, zum
Beispiel Uebe-rgang von Adenokarzinom in Medullärkarzinom,
wodurch die verschiedenen Entwicklungsstufen der Neubildung
repräsentiert werden. In manchen Fällen zeigen die epithelialen
Schilddrüs-entumor-en morphologisch das1 Bild endothelialer oder
perithelialer Tumoren, so daß- nur eine vollständige histologische
Untersuchung Aufklärung über den Ausgangspunkt der Neubildung
zu geben vermag. — ■ (Rif. med. 1910, Nr. 45.) a. e.
*
156. Ueber die Wirkulng des protrahierten Kof¬
feingebrauches auf die Nieren. Von Andrea Tomaselli.
Das Koffein findet in der Therapie wegen seiner die Herztätigkeit
anregenden Wirkung Verwendung, doch hat es- sich gezeigt, daß
sich seine Wirkung auch auf andere Organe erstreckt. Die Er¬
höhung der Diurese wurde einerseits auf die kardiokinetisebe,
anderseits auf die sich auf die Niere erstreckende Wirkung zu¬
rückgeführt; in letzterem Falle wäre die Frage zu entscheiden,
ob die Wirkung sich auf das vasomotorische Zentrum der Niere
oder direkt auf die Epithelien der gewundenen Hamkanäle er¬
streckt. Eine Anzahl von Untersuchern nimmt eine direkte Ein¬
wirkung auf die- Nierenepithelien an, woraus sich die Forderung
ergeben wird, bei bestehenden Nierenläsionen Vorsicht hinsicht¬
lich der Koffeindarreichung zu beobachten. Die Versuche des
Verfassers beschäftigen sich mit der Frage, ob die länger fort¬
gesetzte Anwendung kleiner oder mittlerer Koffeindosen eine
schädliche Wirkung auf die Niere- ausübt und welcher Art diese
Wirkung ist. Als Versuchstiere wurden Kaninchen benützt, welchen
täglich 0-005 bis 0-01 g Coffeinum benzoicum pro Kilogramm
Körpergewicht subkutan injiziert wurden. Es zeigte sich, daß
die tägliche Zufuhr von Coffeinum benzoicum in mittleren Dosen
nach 30 bis 40 Tagen leichte Veränderungen an den Nieren,
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
217
speziell trübe Schwellung der gewundenen Harnkanälchen her-
vorzurufen beginnt. Die durch zwei Monate fortgesetzte Dar¬
reichung von 0-005 g Coffeinum benzoicum pro Kilogramm Körper
gewicht ruft nebeln der Degeneration der Epithelien der gewun¬
denen Harnkanälchen Läsionen der Gefäße und des interstitiellen
Gewebes hervor. Diese Läsionen treten zu einer Zeit auf, wo
im Harne noch keine pathologischen Veränderungen nachweisbar
sind. Aus den angeführten Gründen ist der lange fortgesetzte
Gebrauch selbst kleiner Koffeindosen zu widerraten. (Rif.
med. 1910, Nr. 45.) a. e.
Nekrologe.
Johann Csokor
Am 7. Januar 1911 ist in seiner Wohnung in Mödling,
Hofrat Prof. Dr. Johann Csokor nach langem, schwerem Leiden
verschieden.
Hofrat Csokor war im Jahre 1849 in Wien geboren; er
besuchte das Gymnasium in Karlowitz in Kroatien, absolvierte
die medizinischen Studien an der Wiener Universität und wurde
daselbst 1873 zum Doktor promoviert. Nach weiterem zweijährigen.
Studium an dem damaligen k. u. k. Militär-Tierarzneiinstitute in
Wien erlangte er im Jahre 1875 auch das tierarzneiliche Diplom
und trat als Assistent in den Lehrkörper der Anstalt ein. 1881
erfolgte seine Ernennung zum Professor für pathologische Ana¬
tomie, gerichtliche Tiermedizin und Fleischbeschau.
Gleichzeitig war Hofrat Csokor als Dozent für Tier¬
seuchenlehre auch an der Wiener Universität tätig, wurde daselbst
im Jahre 1895 zum a. o. Professor ernannt und erhielt im Jahre
1910 den Titel eines o. Universitätsprofessors.
Hofrat Csokors Tätigkeit als Forscher war eine sehr
fruchtbare und vielseitige ; denn neben mehreren vergleichenden
Abhandlungen über Themata der normalen Histologie, sowie
kleineren Beiträgen zur histologischen Technik stammten aus
seiner Feder zahlreiche Publikationen, welche das Ergebnis seiner
Forschungen über die Aetiologie und pathologische Anatomie
verschiedener Tierseuchen, wie Rotz, Tuberkulose, Aktinomykose,
Botryomykose, Lyssa, Geflügelpocken usw. und anderer patho¬
logischer Prozesse darstellen.
Mit besonderer Vorliebe und großem Erfolge betrieb er das
Studium der tierischen Parasiten der Haustiere ; von ihm wurden
mehrere tierische Schmarotzer unserer Haustiere neu entdeckt
und beschrieben. Durch seine Untersuchungen trug er weiters
zur Erweiterung unserer Kenntnisse über die morphologischen
Verhältnisse und zur Klärung der Wirkung auf den Wirts¬
organismus mancher anderer bereits bekannter tierischer Para¬
siten bei. Er schrieb ferner ein Lehrbuch der gerichtlichen
Tiermedizin, das in zwei Auflagen erschien.
Als Lehrer war Hofrat Csokor sehr beliebt, denn sein
Vortrag war klar, formvollendet und spannend durch den warmen
Ton seiner Sprechweise ; seine künstlerische Begabung zum
Zeichnen, welche es ihm häufig ermöglichte, mit einigen Strichen
ein anschauliches Bild des Besprochenen an die Tafel zu werfen,
trug nicht unwesentlich dazu bei, das Interesse seiner Schüler
für den behandelten Gegenstand zu wecken und zu erhalten.
Sein gerader und ehrlicher Charakter, sowie sein konziliantes
Wesen verschafften ihm die Wertschätzung aller, die ihn näher
kennen zu lernen Gelegenheit hatten.
Ehre seinem Andenken! A. Hartl.
Willibald Nagel f.
Am 14. Januar ist Willibald Nagel in Rostock von langem
qualvollen Leiden erlöst worden. Erst 40 Jahre alt, wurde
er von einem tückischen Schicksal hinweggerafft. Kaum hatte
Nagel das ersehnte Ziel erreicht und die Leitung einer eigenen
Lehrkanzel übernommen, als! ihn auch schon das Zeichen der
schweren Erkrankung zur Einstellung seiner Lehrtätigkeit zwangen.
Eben sah er noch die Vollendung seiner letzten großen Lebens¬
arbeit, den Abschluß des fünfbändigen Handbuches der Physio¬
logie, das nun wie ein Denkstein vor uns liegt, den er
sich noch selbst gesetzt hat. Aber auch die zahlreichen
wohl fast an Hundert — Abhandlungen, die Nagels Feder
entstammen, sichern ihm einen bleibenden Namen in der Ge¬
schichte, der Physiologie, insbesonders auf dem Gebiete der
Sinnesphysiologie. Als Sohn des Thüringer Ophthalmologen und
durch eine Anomalie der Farbensinnes, wurde Nagel speziell
auf den Weg der physiologischen Optik gewiesen. Seine Be¬
ziehungen. zu v. Kries in Freiburg, dessen Assistent und später
auch Schwiegersohn er wurde, trugen besonders dazu bei, daß
Nagels Ausbildung auf dem Gebiete der Farbenlehre eine aus
gezeichnete geworden ist. Seine Abhandlungen befassen sich
dementsprechend auch meist mit Fragestellungen über die Unter¬
scheidung der verschiedenen Formen von Farbenblindheil und über
die Erkennung von Farbenblindheit überhaupt, wodurch er auch
den Klinikern nähergetreten ist. Nur in seinen ersten beiden,
von ihm noch als Zweiundzwanzigjährigen abgefaßten Beobach
tungen hat er muskelphysiologische Probleme in Angriff ge¬
nommen und später bei Bohr an einer Untersuchung über
die Bindung und Absorption der Kohlensäure im Blute ge¬
arbeitet. Eine Untersuchung mit Roß über den Jodgehalt der
Schilddrüse kennzeichnet, abermals, daß er in wirklicher Freude
und seinem eigentlichen Denken nach nur für die Sinnesphysiologie
lebte, an deren Ausbau er konsequent weiterarbeitete. Wir finden
nichts in seinen Arbeiten, was auf das Bestreben deutet, aus
möglichst vielen Gebieten irgend etwas zu publizieren ; als ty¬
pischer deutscher Gelehrter suchte er sich sein Arbeitsgebiet,
mit dem sein. Name dadurch auch dauernd verbunden bleiben
wird, „Nagel, der Sinnesphysiologe“. Die Herausgabe der Zeit¬
schrift für Physiologie der Sinnesorgane hat wohl zugleich mit
der Redaktion des Handbuches, das seinen Namen trägt, am
meisten dazu beigetragen, daß der junge Rostocker Physiologe in
aller Welt gekannt war. Alle die mit ihm persönlich in Be¬
rührung kamen, werden noch besonders gerne des* leb¬
haften, anregenden und ungemein gewinnenden Wesens, das
Nagel an den Tag legte, gedenken, wie sich des schönen, blonden,
jugendfrohen Menschen erinnern, der so traurig und so früh
enden mußte.
Von den vielen Arbeiten Nagels seien nur einige erwähnt,
die seine Arbeitsrichtung kennzeichnen mögfen. Auf dem Gebiete
des Geschmacksinnes liegen Untersuchungen über Riechen,
Schmecken und über den Nachgeschmack; die Akustik verdankt
ihm Veröffentlichungen über die Verwendung des1 Mittelohres
für empfindliche Flammen, ferner finden wir Studien über die
Mechanik des Niesens und solche über die Fistelstimme. Apparate
für ophthalmologische Untersuchungen wurden von ihm ange¬
geben, so ein Adaptometer und ein Anomaloskop, vor allem aber
sind es seine Untersuchungen über Störungen des Farbensinnes,
über Adaptation und Blendung, über die Wirkung des Santonins
auf den Farbensinn, über entoptische und elektrische Erschei¬
nungen am Auge, über die Wirkung von Röntgenstrahlen auf
das Auge, über das Seihen niederer Tiere, alles' Untersuchungen,
die ihn als einen der Hauptvertreter der physiologischen Optik
kennzeichnen.
Nagel war am 19. Juni 1870 in Tübingen geboren und
promovierte im Jahre 1891 zum Dr. rer." natur. und 1893 zum
Dr. med. Zwei Jahre später war er schon in Freibürg habilitiert.
Im Jahre 1902 übernahm er als Extraordinarius die Leitung der
sinnesphysiologischen Abteilung am Institute des Geheimrates
Engel mann in Berlin und Ende des Jahres 1908 übersiedelte
er an die Lehrkanzel in Rostock, die durch den frühzeitigen
Tod Langend orffs freigeworden war. Nach einem Jahre mußte
der früher blühend gesunde und lebensfreudige Forscher bereits
seine Lehrtätigkeit einstellen und nun, kaum ein weiteres1 Jahr
später, deckt ihn schon die Eide. Nur die Erinnerung an seine
sympathische Persönlichkeit und die überdauernden bchöpfungen
seines Geistes sind uns geblieben. Durig.
\/ermisehte flashriehten.
Ernannt; Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Institutes
für Infektionskrankheiten in Berlin Dr. Geoig Michaelis zum
Professor.
*
Habilitiert; Dr. Malndri für innere1 Medizin in Ca¬
gliari. — Dr. Eduard Streißler für Chirurgie in Graz.
*
Der Beschluß der medizinischen Fakultät in Wien, die
von Priv.-Doz. Dr. Hermann Ul brich an der deutschen Uni¬
versität in Prag erworbene Venia legendi für Augenheilkunde
für die medizinische Fakultät der Universität in Wien als gültig
anzuerkennen, wurde vom Unterrichtsminister bestätigt.
*
Gestorben; Assistenzarzt Dr. Emst Blumenthal in
Breslau ah einer Scharlachinfektion.
218
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
Deutscher Balneologeiikongreß. Für den 32. Balneo-
lugenkongreß, welcher vom 2. bis 6. März unter dem Vorsitz
des Geh. Med. -Rates Prot. Br i eg er in Berlin tagen wird, sind die
\ orbereitungem beendet. Es sind 45 Vorträge angemeldet u. n. von
dm Professoren Bickel- Berlin, Brieg er- Berlin, Brauer- Ham¬
burg, Dove- Göttingen, Franken häu s er- Berlin, Goldschei-
d e r - Berlin, Kisch- Marienbad, Levy- D o r n - Berlin, L. M i-
chaelis - Berlin, Päßler - Dresden, Schulz - Greifswald,
Strauß -Berlin, Zuntz- Berlin, Hofrat Det ermann -St. Blasien,
l’riv.-Doz. Schade- Kiel, Oberstabsarzt Cornelias- Berlin,
( Iberstabsarzt Jacoby- Charlottenburg, Oberstabsarzt F u er s t en-
b erg- Berlin, DDr. H a h n - Nauheim, Hirsch- Hermsdorf, I m m e 1-
mann- Berlin, Karo -Berlin, Kr one -Sooden, L a ch in ann-Lan-
deck, L an ds be rg - Landeck, Ledermann- Berlin, Lenne-
Neuenahr, S c hm in c ke- Elster, Schürmayer- Berlin, Selig-
Franzensbad, Senator-Berlin, Sieb eit- Flinsberg, Wolff-
E is ner - Berlin und andere. Ganz besonderes Interesse dürften
die Referate über das Radium in Anspruch nehmen u. zw. wird
Prof. Marekwald - Berlin über das Radium vom physikalisch¬
chemischen Standpunkt und Prof. Kionka- Jena über das Ra¬
dium vom biologischen Standpunkt aus referieren. Die Sitzungen,
welche im Poliklinischen Institut, Ziegelstraße 18/19, stattfinden,
sind öffentlich und werden bei denselben Aerztc als. Gäste gern
gesehen. Alle den Balneologcnkongreß betreffenden Anfragen sind
zu richten an den Generalsekretär Geheimrat De. Brock in
Berlin NW., Thomasiusstraße 24.
*
Wie im vergangen on Jahre, werden auch heuer an der
medizinischen Fakultät in Wien ärztliche Fortbildungs¬
kurse abgehalten, deren tabellarisch angelegte Uebersicht im
Verlage von Urban und Schwarzenberg, Berlin- Wien 1911, er¬
schienen ist und gratis1 abgegeben wird. Die Kurse werden meist
nach Bedarf, monatlich oder zweimal im Semester, abgehalten.
Nähere Angaben sind durch die „Auskunftsstelle für die
medizinischen Kurse“, Wien IX., Allgemeines. Krankenhaus,
1. Hof, Direktionsgebäude, 1. Stock, Tür 14, zu erfahren.
*
Am 12. Februar findet in Charkow die feierliche Er¬
öffnung eines Medizinischen Institutes für Frauen der
Medizinischen Gesellschaft zu Charkow statt. Das Institut zählt
bereits 977 Hörerinnen.
*
Literarische Anzeigen. Anatomischer Atlas.
Unter Mitwirkung von Prof. Df. Alois Dalla Rosa, herausgegeben
von Hofrat Prof. Dr. Carl Toldt. Verlag von Urban und Schwar¬
zenberg, Wien. Die vorliegende 7. Auflage des geschätzten Werkes
hat unter anderm dadurch eine sehr wesentliche Bereicherung er¬
fahren, daß eine Reihe vorzüglich gelungener und reproduzierter
Rönfgenbilder, welche von Priv.-Doz. Dr. Robert Kienböck be¬
sorgt worden sind Aufnahme gefunden haben.
Zeitschrift für Kranken- und Humanitäts¬
anstalten, herausgegeben und redigiert von Gustav . K ii r n e r,
Wirtschaftsverwalter der Landesirrenanstalt und des Landes¬
krankenhauses in Troppau, Fachleute aus dem Stande der An-
staltsärzte und Verwaltungsbeamten, wie auch Techniker und
Juristen haben dem Blatte ihre Mitarbeit zugesichert. Die erste
Nummer hat folgenden Inhalt: Die historische, Entwicklung der
Kranken- und Humanitätsanstalten. — Der Krankenhausbau in
technisch-hygienischer und wirtschaftlicher Beziehung, von Archi¬
tekt Max Setz in V ien. — Heber die Anlage und Einrichtung
von Bädern in Kranken- und Humanitätsanstalten, von Doktor
Josef Kowarschik in Wien. — Maßnahmen gegen Feuers¬
gefahr in Kranken- und Humanitätsanstalten. — Ferner Mitteilun¬
gen über Neubau, Erweiterungen und Eröffnung von Kranken-
und Humanitätsanstalten, Gesetze, Verordnungen und Erlässe,
dann Vorträge, Besprechung von Fachschriften, Personalnach¬
richten usw. — Probenummern versendet über Wunsch der Ver¬
lag in Troppau, Schloßring Nr. 7. Die Zeitschrift erscheint monat¬
lich zweimal und kostet 20 K jährlich.
*
t hol era. Schweiz. Mit Bundesratsbeschluß vom 10. Ja¬
nuar 1911 wurde Rußland und Ungarn für cholerafrei erklärt.
Als choleraverseucht sind gegenwärtig noch zu betrachten die
italienischen Provinzen Caserta und Rom (mit Ausnahme der
Stadt, Rom) und die Stadt Palermo, sowie die Stadt Konstan¬
tinopel. ; — Italien. Laut amtlichen Nachrichten sind in
Italien in der Zeit vom 11. bis 18. Januar 1911 in Italien 13 (5)
( holeraerkrankungen (Todesäfälle) vorgekommen, und zwar in der
Provinz Lecce. Bulgarien. In der 34 km nordwestlich von
Philippopel entfernt gelegenen Stadt Tatar-Pazardjik ist laut Mit¬
teilung vom 10. Januar eine jüdische Familie an Cholera erkrankt.
Mann und Frau sind der Krankheit, die bakteriologisch sicher¬
gestellt wurde, erlegen. Die beiden Kinder befinden sich in iso¬
lierter Pflege. — Türkei. Die Zahl der seit Beginn der Epidemie
bis Ende 1910 konstatierten Cholerafälle beträgt in Konstanti¬
nopel 1291 (705 tödlich), in Smyrna 92 (69), in Saloniki 52 (27)
im Vilajet Bagdad 814 (718), in Rodosto 154 (104), in Trapezuni
746 (394), in Tripolis 320 (236). In Arabien macht die Cholera
rapide Fortschritte. Aus Mekka wurden bis 10. Januar 47 (31),
bis 19. Januar schon 94 (9l) Erkrankungsfälle (Todesfälle) ge
meldet, ln der Hafenstadt Yambo sind seit Ausbruch der Cholera
24 (21), in Djeddah 24 (23), in El Tor 26 Fälle vorgekonunen.
In der letztgenannten Station standen mit 16. Januar 79 cholera¬
kranke Pilger, davon 49 ägyptische, in Quarantäne. — Madeira.
Im Bezirke von Funchal sind bis 31. Dezember ‘495 Erkrankungen
und 140 Jodesfälle, vom 1. bis 12. Januar 217 Erkrankungen und
70 Todesfälle an Cholera vorgekommen. Die Gesamtzahl der auf
Madeira bisher konstatierten Cholerafälle beträgt 1646, von denen
525 tödlich endeten. Gegenwärtig ist die Epidemie in starker
Abnahme' begriffen.
Pest. Aegyptein. In der Woche vom 31. Dezember 1910
bis 5. Januar 1911 ereigneten sich in Aegypten in den Provinzen
Assiout 17 (8), Behera 2 (0), Melnöufjeh 3 (0), in der Woche vom
6. bis 12. Januar in Alexandrien 1 (0), in den Provinzen Assiout
6 (1), Memoufieh 2 (l), in der Woche vom 13. bis 19. Januar
•in den Provinzen Melnoufieh 1 (1 ), Assiout il (6), Behera 1 (l),-
Keineh 4 ,(3) Pestfälle (Todesfälle). — Arabien. Die vorjährige
Peßtepideimie in Djeddah, die am 8. Januar 1910 ihren Anfang
nahm und bis 4. Mai 1910 anhielt, hat 98 Todesopfer gefordert.
Im Jahre 1909 betrug die Zahl der an Pest gestorbenen Personen
178, im Jahre 1908 80. Gegenwärtig hat die Pest bereits wieder
in Djeddah ihren Einzug gehalten und zu zwei Todesfällen ge¬
führt. Es scheint also auch für 1911 eine Pestepidemie hier
bevorzustehen. — China. In Charbin an der ostchinesischen
Bahn, sowie in dein Nachbarorte Füdjadjin gewinnt die Pest eine
immer größere Verbreitung. Seit Beginn der Pestepidemie sind in
der Mandschurei bis zuin 20. Januar 831 Chinesen und 25 Euro¬
päer erkrankt, 821 Chinesen, und 24 Europäer gestorben, ln der
eisten Hälfte Januar wurden mehrere Pestfälle in Peking, Shau-
haikuan, Tschifu und Tientsin konstatiert, die fast ausnahmslos
tödlich verliefen. Zeitungsnachrichten zufolge greift die Seuche
in der Mandschurei und delm nördlichen China, insbesondere
in der Provinz Tschili, immer mehr um sich.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 3. Jahreswoche (vom 15. bis
21. Januar 1911). Lebend geboren, ehelich 543, unehelich 240, zusammen
783. Tot geboren, ehelich 45, unehelich 30, zusammen 75. Gesamtzahl der
Todesfälle 848 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
2L7 Todesfälle) an ßauchtypbus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 7,
Scharlach 1, Keuchhusten 3, Diphtherie und Krupp 10, Influenza 1,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 2, Lungentuberkulose 145, bösartige Neu¬
bildungen 48, Wochenbettfieber 4, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 42 (4 10), Wochenbettfieber 1 (— 3), Blattern 0
(0), Varizellen 61 (— 37), Masern 105 (— 32), Scharlach 72 (-- 3),
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 3 (— 3), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0),
Diphtherie und Krupp 35 (— 44), Keuchhusten 47 (4-6), Trachom 3 (—3),
Influenza 0 (0), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Der Posten eines Professors d e r k. k. S t a a t s h e b-
a m men-Lehranstalt in Czernowitz ist wieder zu besetzen.
Die Dienstesobliegenheiten dieses Professors sind durch das im Landesgeselz-
und Verordnungsblatte für das Herzogtum Bukowina Stück X^XIV,
Xr. 31, vom Jahre 1901 verlautharte Statut für die obgenannte Anstalt,
lerner _durch die Verordnung des Ministers für Kultus und Unterricht
\ om 27. Januar 1898, R.-G.-Bl. Nr. 35, endlich durch die Kundmachung
der Bukowinaer Landesregierung vom 6. Februar 1899, Landesgesetz-
und Verordnungsblatt für das Herzogtum Bukowina Stück VII, Nr. 7,
geregelt. Der jeweilige Professor der k. k. Staatshebamrnen-Lehranstalt
steht in der \ II. Rangsklasse der Staatsbeamten und bezieht, nebst der
systemmäßigen Aktivitätszulage, einen Gehalt von 3600 K jährlich,
welcher sich nach dem 5. und 10. Jahre um je 800 K, nach dem
15. und 20. Jahre um je 600 K erhöht. (R.-G.-Bl. Nr. 55, Seite 348,
ex 190/.) Bewerber um diesen Posten haben die volle fachliche Eignung
zur Erteilung des Unterrichtes und zur Leitung der gedachten Anstalt,
sowie die Kenntnis der deutschen, ruthenischen und rumänischen
Sprache nachzuweisen, da in den drei Landessprachen der Unterricht
an der Anstalt vide t? 9 des obbezogenen Statutes — zu erteilen ist.
Die Bewerber haben ihre ordnungsmäßig instruierten Gesuche, welche
mit dem Nachweise des Alters, der Zuständigkeit, der Sprachkenntnisse,
der fachlichen Ausbildung und unter Anschluß des Diploms eines Doktors
der Medizin zu belegen sind, bis längstens 28. Februar 1911, und
zwcii, wenn sie bereits im öffentlichen Dienste stehen, im Wege ihrer
voi gesetzten Behörde, sonst aber unmittelbar beim Präsidium* der
k. k. Landesregierung in Czernowitz einzubringen.
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
219
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 3. Februar 1911.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 19. Januar 1911.
Wiener dermatologische Gesellschaft. Sitzung vom 7. Dezember 1910.
Verein der Aerzte in Steiermark.
Verein deutscher Aerzte in Prag. Sitzung vom 13 Januar 1911.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 3. Februar 1911.
Vorsitzender: Hofrat Prof. v. Eiseisberg.
Schriftführer: Hofrat Richard Paltauf.
Der Vorsitzende teilt mit, daß Frau Hofrat Os er zur Er¬
innerung an ihren verewigten Herrn Gemahl, Hofrat Os er,
der k. k. Gesellschaft den Betrag von 10.000 K zur Errichtung
einer Stiftung für unterstützungsbedürftige Mitglieder oder
ihrer Witwen und Waisen gewidmet hat. Der Vorsitzende spricht
einstweilen im Namen der Gesellschaft unter lebhaftem Beifall
der Mitglieder der hochherzigen Spenderin den Dank aus.
Herr Dr. Harald Gjessing hat anläßlich der letzthin
stattgefundenen Diskussion über ambulatorische Extensionsver¬
bände die Schrift des Herrn Dr. Borchgrevink in Christiania
über dieses Thema als Geschenk übermittelt.
Der Vorsitzende macht endlich Mitteilung von dem ge¬
planten Unternehmen, einen Gesamtkatalog der in Wiener
Bibliotheken (Anstalten, Instituten, Vereinen usw.) vorhan¬
denen periodischen Zeitschriften aus! dem naturwissen¬
schaftlichen und medizinischen Gebiete herauszugeben ; trotzdem
nur die Gestehungskosten in Anspruch kommen, so ist das
Unternehmen doch kostspielig und ist zu seinem Zustandekommen
die Sicherung der Abnahme einer gewissen Anzahl von Exem¬
plaren notwendig. Der Subskriptionspreis beträgt nur 25 K ;
es wäre sehr wünschenswert wenn Mitglieder der k. k. Gesell¬
schaft dieses, allen wissenschaftlichen Arbeitern Wiens auf dem
naturwissenschaftlich - medizinischen Gebiete zugute kommende
Unternehmen unterstützen würden. Die Bibliothek der Gesell¬
schaft hat selbstverständlich ihre Unterstützung zugesagt.
Herr Dr. Benedikt, Badearzt, als Gas’t.
Prim. Dr. Lotheissen demonstriert einen 50jährigen Mann,
den er wegen zahlreicher Fremdkörper im Magen ope¬
rieren mußte. Der Patient war wegen Delirium tremens einige
Monate in der Landesirrenanstalt am Steinhof interniert und
wünschte, wieder nach Hause zu kommen. Als ihm dies nicht
gewährt wurde, beschloß er, ein Suizidium zu begehen. Er nahm
einige Löffel, brach sie entzwei und schluckte die Stiele hin¬
unter. Er zeigte darauf keine Beschwerden, wurde nach etwa
vier Wochen entlassen und hat dann noch über zwei Monate
lang als Taglöhner schwere Erdarbeiten verrichtet. Erst
als eine Hämoptoe auftrat und der Gewerkarzt feststellte, daß
die Lunge gesund wäre, das Blut aus dem Magen stammen
müsse, gestand er sein Tentamen ein und wurde auf die chirur¬
gische Abteilung des Vortragenden gebracht.
Bei Rückenlage waren die Fremdkörper nicht zu tasten, die
Röntgendurchleuchtung zeigte aber1 einen starken Schatten, fast
senkrecht neben der Wirbelsäule in Nabelhöhe. Beim Stehen sank
dieser Schatten tiefer, bis unter den Darmbeinkamm und stellte
sich quer: Nun waren die Fremdkörper auch deutlich zu tasten.
Bei der Laparotomie zeigte sich der Pylorus weit offen,
die Magenwand sehr stark verdickt, die Muskularis hypertrophisch.
Durch eine kleine Oeffnung wurden die 14 Löffelstiele ex¬
trahiert. Die Mukosa war, so weit man. sehen konnte, stark
hyperämisch, im Zustande chronischen Katarrhs, doch sah man
keinen Substanzverlust, kein Dekubitusgeschwür. Die Heilung
erfolgte glatt.
Die Löffelstiele waren alle mit dem glatten Ende voraus
gelagert, weil der Patient sie in dieser Weise geschluckt hatte.
Darum ist auch offenbar eine Verletzung am Pylorus aCisge-
blieben.
Bei einem anderen Patienten, der vor einem Jahre
behandelt wurde, lag die Sache anders. Der 33jährige Mann
wurde mit den Erscheinungen der Perforationsperi¬
tonitis eingeliefert. In einem Anfall von T r ü bs i n n h a, tte
er 42 Nägel ges.eh Juckt. Bei der Laparotomie fand man
einen im Pylorus eingekeilten Nagel, dessen Spitze bereits die
Serosa durchbohrt hatte. Er wurde extrahiert. Die anderen Nägel
hatten diese Stelle schon passiert und lagen im Duodenum an
einer schwer zugänglichen Stelle. Mil Rücksicht auf den un¬
günstigen Allgemeinzustand wurde von einer operativen Ent
terming abgesehen, sie gingen auch alle per viam naturalem ab.
Der Patient hatte schon einen Monat zuvor zehn Draht¬
stifte geschluckt, deinen er zwar den Kopf abgezwickt hatte,
doch war das Ende stumpf geblieben, die Nägel gingen glatt per
anum ab.
Es ist nicht unmöglich, daß er damals hörte, daß wir nach
den Untersuchungen Exners wissen, daß in solchen Fällen
die stumpfe Seite vorausgeht und so die Gefahr stark vermindert
ist. Darum hat er das zweitemal das zweite Ende schart zugeteilt,
sein Suizidium wäre ja auch ohne chirurgische Intervention ge¬
glückt. Er wurde geheilt entlassen, war aber jetzt nicht er¬
reichbar.
Priv.-Doz. Dr. O. Kahler und Prof. Dr. O. Stoerk:
B ronch o s ten ose bei Vorhofsvergrößerung. (Erscheint
ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Prof. Dr. Kraus und Dr. E. v. Graft : Hebe r die Einwir¬
kung des Plazentarserums auf menschliche Karzi¬
nom zellen. (Siehe unter den Originalien dieser Wochenschrift.')
Diskussion: Dr. O. Frankl: Die hohe praktische Bedeutung,
die der Freund- Kamin ersehen Reaktion zukommt, veranlaßte
mich sofort nach Erscheinen der ersten Publikation, das Verfahren
nachzuprüfen. Die Art de:s Karzinommateriales, welches mir
an der Klinik Hofrat Schauta zur Verfügung stand, ließ mich
jedoch bald die Versuche abbrechen, da ich zur Herstellung von
brauchbaren Aufschwemmungen keine geeigneten Tumoren er¬
langen konnte. Ohne auf die Wertung der Reaktion mit mensch¬
lichem Karzinom Schlüsse ziehen zu wollen, prüfte ich das Ver¬
halten von Serum gesunder und karzinomatöser Mäuse zu Mäuse-
karzinomaufschwemmungen. Ich machte drei Versuchsserien, wo¬
bei stets zehn gesunde und zehn karzinomatöse Mäuse für einen
Versuch entblutet wurden. Hiebei ergab sich die Tatsache, daß
Seren gesunder Mäuse keinen Unterschied gegenüber den Seren
karzinomatöser Mäuse zeigten. Es* wird dies erklärlich durch
die Angabe des Herrn Vortragenden, daß gewisse Tiere sich so
verhalten, wie der Mensch, andere* entgegengesetzt. Irgendwelche
I Schlüsse auf den Wert der Fr eund- Kaminersehen Reaktion
hei menschlichem Karzinom lassen sich aus diesen an Mäusen
erhobenen Befunden nicht, ziehen. Ich habe sie erwähnt, weil
sie vielleicht einiges Licht auf die Verschiedenheit des mensch¬
lichen und Mäusekarzinoms werfen.
Hofrat Höchen egg: Durch die soeben gehörten inter¬
essanten Befunde an Blutserum bei Graviden wird vielleicht
auch eine meiner Beobachtungen, die ich anläßlich einer De¬
monstration hier in der Gesellschaft erwähnte, geklärt.
Es handelte sich um eine 31jährige Frau, die ich mit fol¬
gender Anamnese zur Behandlung und Operation übernahm :
Pat. hatte damals vor drei Monätetn entbunden. Schon
während der letzten Zeit der Gravidität und im Wochenbette
bestanden Stuhlbeschwerden, als deren Ursache ein zirkuläres
Karzinom am oberen Anteile des Rektums konstatiert wurde.
Ich vollführte am 19. Februar 1896 die Resektion und zirku¬
läre Darum ah t und erzielte vollständige Heilung und Kontinenz.
Die Frau fühlte sich wohl, nahm 18 kg1 an Gewicht zu und blieb
bis Ende 1902, also fast siebein Jahre, vollständig gesund und
arbeitsfähig. Damals wurde sie: nach siebenjähriger Pause wieder
gravid (Juli 1902), abortierte aber im Dezember nach einer
stärkerein Anstrengung. Heftige Anfälle von Koliken und Er¬
brechen, deren erster kurz vor dem Abortus im Dezember auf¬
getreten war und die seither in quälender Intensität angehalten
haben, veranlaßte im Februar 1903 meine abermalige Beiziehung.
Ich konstatierte ein faustgroßes Karzinom des Colon ascendens
und exstirpierte am 19. Februar 1903 das ganze aufsteigende
Colon. Nach reaktionslosem Wundverlauf erfolgte abermalige
Heilung mit einer Gewichtszunahme von 20 kg. Auch nach dieser
Operation blich die Frau vier Jahre gesund, erkrankte im Januar
1907 zum drittenmal an Karzinom1, diesmal an einem Blasen¬
karzinom und erlag nach einer von einem anderen Chirurgen
v o rgeh om’meneh Operation.
Vor dieser letzten Erkrankung waren Zeichen des begin
nernlen Wechsels eingetreten,
220
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
5
Ich habe schon an änderet Stelle (siehe Wiener klinische
Wochenschrift 1904, Nr. 20) begründet, warum ich bei den ersten
Erkrankungen dieser Patientin an eine zweimalige selbständige
Erkrankung an Karzinom und nicht an Rezidive oder Metastase
denken mußte und hervorgehoben, daß ich der Gravidität einen
Einfluß für die Entstehung beimaß. Seither wurde aus meiner
Klinik durch Lorenz eine weitere Anzahl von Karzinomerkran¬
kungen des Rektums bei graviden Frauen publiziert (Wiener
klinische Wochenschrift 190Ö, Nr. 22). Die von Dr. v. Graff heute
besprochenen Blutserumbefunde bei Graviden würden meiner
damaligen Erklärung eine Stütze geben, besonders wenn man
wie ich aüninünt, daß die Freund sehe Reaktion nicht eine
Folge des Karzinoms, sondern der der Karzinomentstehung
vorausgehenden bestehenden K or z ino m disp ositi on sei.
L. Arzt: Meine Herren ! Es mag vielleicht nicht uninter¬
essant sein, wenn ich mir erlaube, im Anschlüsse an die Mit¬
teilung des Herrn Professors R. Kraus und Dr. v. Graff, die ja
mit dem von Freund angegebenen Verhalten des1 Serums Ivarzi-
nomatöser und Nichtkarzinomkranker gegenüber Karzinomextrakt
einen innigen Zusammenhang hat, über Versuche zu berichten,
die ich an der 11. chirurgischen Klinik des Hofrates Hochen-
egg und mit dem von Heirrn Prof. 11. 'Albrecht zur Verfügung
gestellten Material angestellt habe.
Alle Versuche erstreckten sich auf die von Freund an-
gcgebelne Trübung sreakti on bei Seren Karzinomatöser —
die wenigen ZellzählungsVersuche möchte ich übergehen — über
die ja Herr Vorstand Freund seinerzeit auch an dieser Stelle
Mitteilung gemacht hat.
Das von mir im Laufe mehrerer Monate untersuchte Ma¬
terial beläuft sich auf 53 S er eh.
Von denselben betrafen 29 Karzinome, 3 Sarkome,
eines stammte von einer Patientin mit einer M i seli¬
ge s c h w ulst im Sinne Wilms am Schädel und 20 S eren
wurden als Kon troll seren verwendet und von relativ ge¬
sunden Individuen, das heißt von sicher nichtkarzinomatösen,
gewonnen.
Bei sämtlichen 29 Seren, die von Karzinomatösen stamm¬
ten, konnte ich eine positive Reaktion erhalten, dann rea¬
gierte auch positiv das Serum der Patientin mit der M i seli¬
ges oh wulst. Eine ganz geringe Trübung erhielt ich auch
mit dem Serum deis1 einen Sarkoms, ein Rundzellensarkom des
Unterkiefers.
Die positiven Reaktionen bei Karzinomatösen verteilen sich
auf folgende Gruppen: drei Mammakarzinome, zwei Karzinome
des Uterus, vier Karzinome des Rektums, fünf Karzinome des
Gesichtes und der Lippe, ein Oesophaguskarzinom, neun Magen¬
karzinome, drei Blasehkarzinome, ein Prostatakarzinom und ein
Hypernephroma malignum mit Durchbruch der Geschwulst in
die Veha cava inferior.
Negativ mit Karzinomextrakt reagierten zwei Sar¬
komseren und die 20 Kon trollseren von den verschieden¬
sten Individuen stammend. Hervorheben möchte ich nur, daß
sich unter den Patienten mit Rektumkarzinomen eine alte kachek-
tische Frau befand, bei der das Karzinom ungefähr acht
Wochen vor der Untersuchung des Serums1 exstir-
piert worden war.
Auch ein. zweiter Fall mag nicht uninteressant sein, der
in der Gruppe der Magenkarzinome angeführt wurde,
und der einen Patienten betraf, bei dem wegen eines1 narbigen
Ulkus mit auf Karzinom unverdächtigetni histologischen Befund
vor drei Jahren eine Gastroenterostomie gemacht wurde. Als
der Patient nun im heurigen Winter die Klinik aufsuchte, war
kein Tumor zu tasten und die Diagnose war schwankend. Da die
Freund sehe Trübungsreaktion positiv ausfiel, wurde die Dia¬
gnose auf Karzinom gestellt, welche durch die Operation be¬
stätigt wurde. I (
Weiters möchte ich betonen, daß in allen Fällen auch eine
histologische Untersuchung der exstirpierten Geweb's-
stücke vorgenommen wurde, so daß durch die mikroskopische
Untersuchung der makroskopische Befund und das serologische
Untersuchungsergebnis verifiziert wurde.
Sämtliche Seren wurden entweder durch Venäpunktion oder
bei der Operation gewonnen, nur zwei Seren stammten von
Leichen. j
Ein Urteil über d ie Verwertbarkeit der Trübungs-
roaktiom im endgültigen Sinne heute zu fällen, würde ich bei
der relativen Kleinheit des von mir untersuchten Materials' für
übereilt erachten.
Insbesondere haftet ja meinen Seren noch eine Lücke an,
daß nämlich die Seren, welche unter den Normalseren erwähnt
wurden, fast gar keine eigentlichen, schwer kranken Individuen
mit den verschiedensten Prozessen, wie Typhus, Tuberkulose,
Inf ek ti onsk rank hei ten , u m f a s!son .
Nur ehr Serum stammte von einer schweren Urämie, das
negativ reagierte.
Die Extrakte selbst wurden mir von seiten des Herrn
Vorstandes Freund in liebenswürdigster Weise zur Verfügung
gestellt, der ebenso, wie seine Mitarbeiterin Frau Dr. Kaminer,
mii- jederzeit bei den sich ergebenden Schwierigkeiten bereit¬
willigst behilflich war.
Fragen der Technik, insbesondere aber manche sich
ergebende Fehlerquellen und unangenehme Zwischenfälle, glaube
ich nicht näher erörtern zu sollen, da ja Herr Vorstand Freund
selbst darüber berichten wird.
Prof. R. Kraus: Zu dein Ausführungen dels! Herrn Kollegen
F ran kl wäre zu bemerken, daß seine Beobachtungen mit unseren
Beobachtungen nicht im Widerspruche stehen und auch nichts
gegen die Verwertbarkeit der Zellreaktion beweisen.
Wir haben hier erwähnt, daß gewisse Tierseren imstande
sind, menschliche Karzinomzellen zu lösen, andere wieder nicht.
Es wäre daher möglich, daß Seirum normaler Mäuse,- so wie
wir dies für Rattenserum gefunden haben, auch die Karzinom¬
zellen der Mäusekarzinome unbeeinflußt las'sen kann. Es wäre
dann nicht auffallend, wenn Serum der Tumormäuse keine Diffe¬
renz gegenüber normalem Serum aufweist.
Weiters wäre aber noch hervorzuheben, daß man prinzi¬
piell die experimentell erzeugten Tumoren, wie dies Hofrat Palt-
auf hier bereits hervorgehoben hat, mit menschlichen Tumoren
nicht in Parallele ziehen kann. Es werden auch die Stoffwechsel¬
veränderungen andere sein als beim Menschen. Es könnte daher
auch die Zellreaktion mit Serum von Tumortieren anders aus-
f allen als mit Serum von menschlichem Karzinom. \
Dr. Ernst Freund: Bezüglich der Beobachtungen; von
Prof. Kraus und Dr. Graff kann ich nicht viel Tatsächliches
beibringen, da wir, nachdem die Autoren uns in freundlicher
Weise von ihrem Befunde in Kenntnis gesetzt hatten, nur drei
Fälle von Plazentarblut untersucht haben, von denen zwei eben¬
falls Karzinomzellen nicht zerstört haben.
Dieser Befund könnte den Eindruck erregen, als ob damit
die Annahme der spezifischen Eigenschaft des Karzinomserums
zunichte gemacht wäret
Dein ist aber nicht so, wir haben als spezifisch für Kar¬
zinomserum nicht nur die Eigenschaft hervorgehoben, daß zu-
gesetzte Karzinomzellen nicht zerstört werden, sondern auch,
daß dem Karzinomserum eine Schutzwirkung für Karzinomzellen
intiewobnt, d. h. daß man Zellen durch Zufügung von Karzinom¬
serum vor der Zerstörung durch Normalserum: schützen kann und
daß man durch denselben Eiweißbestandteil des Serums, der
diesen Schutz ausübt, dem Euglobulin, auch spezifische Trü¬
bungen mit Karzinomextrakt e'rhält.
Wir haben nun bei dein Plazentarblut nachgesehen, ob
eine Schutzwirkung für Karzinomzellen und eine Trübungsreaktion
vorhanden ist.
Es war weder eine Schutz Wirkung für Karzinomzellen, noch
eine Trübungsreäktion nachweisbar.
Das Plazehtarserum unterscheidet sich also zwar in sehr
interessanter Weise vom Normalserum1, weil es Karzinomzellen
nicht zerstört, aber es gleicht nicht ganz dem Karzinomserum,
weil es eine Schutzwirkung für Karzinomzellen nicht zu ent¬
falten1 vermag.
Was nun die Trübungsreaktionein betrifft, über deren
erfreuliche Resultate Herr Dr. Arzt aus der Klinik Hochen-
e gg berichtet hat, so muß ich dem vollkommen beipflidhten, claß
noch manche Schwierigkeiten bei Anstellung dieser Reaktion be¬
stellen. Es ist leider bisnun notwendig, jeden Karzinomextrakl
bei jeder Prüfung mit einem sicheren Normalserum daraufhin
zu prüfen, ob der Extrakt verwendbar ist. Es ist dies in der
Labilität der wirksamen' Substanz begründet, die nur bei ge¬
wissen Fällen sieb längere Zeit erhielt, bei anderen über Tag
zugrunde geben kann. Weder Reaktionsänderung, noch Sterili¬
tät hatten hierauf Einfluß. Interessant ist, daß das - Verschwinden
der wirksamen Substanz meistens mit Trübung der Flüssigkeit
einhergeht und daß in solchen Flüssigkeiten dann die Nuklein¬
säurefällung nicht mehr zu findein ist, welche bei wirksamen!
Extrakten Träger der Wirkung ist.
Wir hoffen nun, darin einen Fortschritt gemacht zu haben,
daß der Extrakt durch Kochen auch aus' Tumorein zu gewinnen
ist, die in Alkohol aufgehoben sind. (Trübe Filtrate können durch
Bildung eines Kalkpbosphatniederscblages geklärt werden.)
Bis in die letzte Zeit, aber haben wir immer nur mit frischem
Leichenmaterial gearbeitet und da war es nicht leicht, izur rechten
Zeit, immer guten Karzinomextrakt, Karzinom- und Nonnalscrum
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
221
zur Verfügung zu haben. Dazu kommt, daß wir in nahezu zehn I
Monaten nur zirka TO Karzinome, also vier pro Monat, er¬
halten haben; von diesen erwiesen stidh 28 verwendbar, ein Ver¬
hältnis, das nicht auffallend erscheinen mag, wenn man be¬
denkt, daß der Zerfall dos Karzinomknotens zum pathologischen
Charakteristikum der Karzinommetastasen gehört, während zur
Darstellung der wirksamen Substanz, wio schon ursprünglich
publiziert, gerade nicht degeneriertes Karzinomgewebe sich
eignet.
Von Seren kamen in dieser Zeit 117 Seren, u. zw. 54 von
Karzinomfällen, und 63 anderer Erkrankungen, zur Untersuchung.
Unter diesem hatten wir zwei Fehldiagnosen.
Ein Fall betraf eine schwere Tuberkulose, die den Seruin-
befund eines Karzinoms bot, der andere Fall war leine sogar weit¬
gehende Karzinomerkrankung, bei der wir den Karzinombefund
nicht konstatieren konnten. In beiden Fällen wurde nicht nur
aufmerksam, sondern auch mehrfach untersucht, so daß ein
bloßer Irrtum ausgeschlossen erscheint. Für den Fall von Kar¬
zinom könnte man als Aufklärungs'möglichkeit darauf verweisen,
daß in diesem Falle hohes Fieber bestand und geradeso, wie bei
hohem Fieber Karzinomgewebe zerfällt, auch die wirksamen
Substanzen des Serums zerstört worden sein konnten.
Bezüglich des Falles von Tuberkulose kann nur darauf
hingewiesen werden, daß er nicht dazu Veranlassung geben kann,
den Befund auf Fälle von Tuberkulose überhaupt auszudehnen,
weil wir eine1 Reihe schwerer Tuberkulosefälle untersuchten, die
einen nicht karzinomatöseh Befund gaben.
Von weiteren Resultaten wäre zu erwähnen, daß die Trü¬
bungsreaktion auch bei Karzinomen geringer Größe sich findet
und daß verschiedene Karzinomseren sehr weitgehende1 Diffe¬
renzen im Gehalt an wirksamer Substanz zeigen. Mit einem! Ex¬
trakt kanii man in verschiedenen Karzinomseren ganz auffallend
verschiedene Trübungen erhalten.
Auch seröse Flüssigkeiten geben die Serumreaktionen, doch
fehlt, uns noch genügendes Material, um von einer diagnosti¬
schen Verwendung sprechen zu können.
Von Sarkomen sind fünf Seren zur Untersuchung gelangt,
die mit Sarkomextrakt Trübungein ergaben, während sie mit Kar¬
zinomextrakt keine Trübungen ergaben. Diese Sarkomfälle boten
uns auch erwünschte Gelegenheit, ein wenig der chemischen
Zusamrnenset.unzg d er spezifischen Trübungen dadurch näher¬
zutreten, daß. Gelegenheit war, beide Niederschläge in einzelnen
Reaktionen zu vergleichen.
Wir haben zu diesem Zwecke die Trübungsreaktionen im
großen angestellt, einerseits Karzinomextrakt mit seröser Flüssig¬
keit von einein Karzinomfall und andrerseits Sarkomextrakt mit
seröser Flüssigkeit von einem Sarkomfall vermischt, die Nieder¬
schläge zentrifugiert und so lange mit 0-6°'oiger Kochsalzlösung
gewaschen, bis die überstehende Flüssigkeit keine Molisch- Reak¬
tion gab, aber kohlehydratfrei war.
Die Niederschläge wurden dann in geringer Menge ganz ver¬
dünnter Lauge gelöst und nach Feststellung des Stickstoffgehaltes
so verdünnt, daß beide Lösungen gleichen Stickstoffgehalt hatten.
Trotzdem zeigte die Lösung des Karzinomniederschlages
reichliche MolisclvReäktion, reichliche Reduktion von Fehling¬
scher Lösung und nach Enteiweißung deutliche Phenylglükosäzon-
probe, hatte aber1 reichlich Kohlehydrat, resp. Zucker, während
die Lösung des Sarkomniederschlages nur Spuren, von Molisch
und gar keinen Zucker aufwies.
Andrerseits zeigte sieh wieder bei der Biuret- , Schwefel-,
Adamkiewicz- und Liebermann-Reaktion reichlicher Ausfall in der
Lösung des Sarkomniederschlages, geringe Spuren in der Lösung
des Karzinomniederschlages1, so daß der Sarkomniederschlag als
wesentlich reicher an Eiweißabbauprodukten erscheint.
Diese auffallenden Verschiedenheiten können nicht ledig¬
lich auf die Verschieidehheit der Zusammensetzung der serösen
Flüssigkeiten bezogen werden, denn diese Flüssigkeiten waren
sowohl bezüglich des Eiweißgehaltes, wie bezüglich der Moliseh¬
reaktion gleich; außerdem sind ja die entstandenen Niederschläge
so reichlich gewäscheln worden, daß die Molisch-Reaktion im
letzten Waschwasser verschwunden war. Wir müssen somit eine
selektive Anziehung der erwähnten Substanzen, resp. Gruppen
an den Niederschlag annehmen.
Es wird unsere nächste Aufgabe sein, nachzusehen, ob auch
im Organismus in analoger Weise die Selektion von Substanzen
an das Karzinom stattfindet.
Dr. v. Graff (Schlußwort): Auf die Ausführungen des
(Herrn Vorstandes Dr. Freund möchte ich erwidern, daß
unsere Untersuchungen die Verwendbarkeit der Zellreaktion
Freunds zu diagnostischen Zwecken in keiner Weise beein¬
flussen. Wie schon eingangs erwähnt, sollte bloß das Verhalten
der Nabelsehnurseren und des Serums schwangerer Frauen gegen¬
über Karzinomzelletn mitgeteilt werden. Was1 die Triibungs-
roaktion betrifft, die wir nicht in den Rahmen; unserer heutigen
Mitteilung einbezogen haben, so trage ich noch nach, daß die¬
selbe auch uns einen negativen Ausfall ergab.
Endlich erwähne ich noch, daß bei einer Frau, bei der vor drei
Wochen eine Totalexstirpation wegen Utcruskarzinoms gemacht
worden war, das Serum Karzinomzellen nicht auflöste.
Prof. Gärtner: Die Messung der Luftdu rehgängig
keit der Nase. (Erscheint ausführlich in der nächsten Nummer
dieser Wochenschrift.)
Diskussion: Dr. 0. Benesi: Im Anschluß an den Vortrag
des Herrn Prof. Gärtner erlaube ich mir, einige Worte über die
bisherigen praktischen Erfahrungen, die wir mit dem Apparat
gemacht haben, anzuschließen. Ich hatte Gelegenheit, an der Ab¬
teilung meines Chefs, des1 Herrn Prof. Alexander, eine Reihe
von' zirka 100 Fällen zu untersuchen. Es ergab 'sich als niedrigste
Zahl für die Durchgängigkeit der Nase 8 Sekunden für Erwachsene
und 7 Sekunden für Kinder; Von diesen Minimalzahlen aufwärts
habe ich verschiedene Zahlen als Zeichen einer größeren oder
geringeren Stenosierung der Nase bis zur absoluten Undurch¬
gängigkeit gefunden. Ich muß sagen, daß der Apparat in allen
Fällen mit absoluter Sicherheit über die Durcligängigkeitsverhält-
nisse in der Nase Aufschluß gegeben hat; d. h. in Fällen, bei
denen der Apparat die normalen Zahlen 7 bis 8 Sekunden an¬
zeigte, hat die rhinoskopische Untersuchung auch normale ana¬
tomische Verhältnisse gezeigt und in den Fällen, wo auch nur
eine geringgradige Verzögerung in der Durchflußzeit registriert
wurde, zeigten sich auch bei der rhinoskopischen Untersuchung
wenn auch nur geringfügige anatomische Veränderungen, wie
z. B. eine kleine Crista oder kleine Schwellungen der Schleim¬
haut. Besonders eklatant konnte ich mich von der exakten Regi¬
strierung des Apparates durch folgenden Versuch überzeugen : Eine
1.8jährige Patientin zeigte bei der Untersuchung mit dem Rhino-
meter eine beiderseitige Verzögerung von 24 Sekunden; rhino¬
skopische Untersuchung ergab diffuse Schwellung der unteren
Muscheln infolge Rhinitis acuta. Es wurde mit Adrenalin die
Schleimhaut eingepinselt und gleich darauf abermals mit dem
Rhinometer geprüft: die Durchflußzeit betrug jetzt nur noch
beiderseits 10 Sekunden, als Zeichen der freieren Passage in
der Nase.
Es stehen noch Unterfüchungen über Fälle vor und nach
feiner Nas'etn operation aus. Ue!ber 'diese werde ich seinerzeit
mir ausführlicher zu berichtein. erlauben.
Priv.-Doz. Dr. Fein: Die Erfindung des Gärtner sehen
Apparates hat jedenfalls eine Lücke in der Reihe der Meßvorrich¬
tungen ausgefüllt, welche die Durchgängigkeit der Nase ermitteln
sollen. Er dürfte sich jedoch nur für Messungen zu physiologi¬
schen Zwecken eignen. Für die klinischen Bedürfnisse ist er kaum
verwendbar. Vor allein endlich lassen sich absolute Werte
für das Volumen des Naseninnern überhaupt nicht ermitteln.
Es darf in dieser Hinsicht die Nase nicht mit der Urethra oder
mit dem Oesophagus verglichen werden, denn das Kaliber der
Nase wechselt von’ Sekunde zu Sekunde. In die Naäe ist ein
Schwellkörper eingelagert, der sein Volumen infolge der Ein¬
wirkung mannigfacher Reize thermischer, mechanischer und che¬
mischer Art ununterbrochen verändert. .Ta. auch psychische Ein¬
flüsse üben eine große Wirkung auf die Veränderung seines \ o-
lu men's aus, so daß das Kaliber der Nase bei ein und derselben
Person in diesem Augenblick weit und im nächsten Augenblick
wieder viel enger ist, ohne daß wir sägen können, welches der
normale Zustand genannt werden kann. Ferner legen wir Rhino-
1 offen in bezug auf die! Indikation für unser therapeutisches Vor¬
gehen' überhaupt kein großes Gewicht auf die absolute Mes¬
sung der Weite der Nasenpassage. Viel wichtiger sind für uns die
Angaben des Kränkeln, denn es gibt oft Patienten, welche ver¬
hältnismäßig weite Nasen haben und trotzdem über Behinderung
der Nasenatmung klagein. und von diesem Hindernis befreit sein
wollen, während wieder andere, deren Nasenatmung objektiv wirk¬
lich stark beengt erscheint, niemals Luftmangel empfinden.
Solchen Kranken würde es1 wenig helfen, wenn! wir ihjnen Segen -
über auf absolute Maßzahlen hinweisen würden. Endlich scheint
mir die Konstruktion des Apparateisl nur für jene Fälle geeignel
zu sein, in denen das Atmungshindemis in der Nase selbst seinen
Sitz hat, nicht, aber für jene zahlreichen Fälle, in welchen das
(Hindernis hinter der Nase, im Nasenrachen, sich befindet die
hier gehörein z. B. die große Anzahl von Kindern, weh ne an
adenoiden Vegetationen leiden, bei welchen die ( hoanen von
hinten her verlegt sind.
Dr. Frösch eis: Zu den. interessanten Ausführungen des
Herrn Prof. Gär ln er erlaube ich mir eine Anfrage. Der Herr
222
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
Vortragende hat nämlich davon gesprochen, daß der Verschluß
des Gaumensegels gelöst werde. Wir haben aber bis jetzt geglaubt,
daß ein solcher Verschluß nur beim Schlucken und Intonieren
zustande komme oder willkürlich bei Leuten, die vorgeübt haben.
Aul dieser Voraussetzung beruht ja auch das Hart mann sehe
Verfahren zur Bestimmung der Kraft des Gaumensegels. Dabei
werden beide Nasenlöcher mit je einer Olive armiert, von denen
die eine mit einem Blasebalg, die andere mit einem Manometer
verbunden ist. Läßt man nun den zu Untersuchenden einen Laut
sprechen und preßt gleichzeitig Luft aus dem Blasebalg in die
Nase, so wird die Manometersäule steigen, da die Luft nur zum
anderen Nasenloch entweichen kann. Erst wenn die Kraft des
Blasebalges die des Gaumensegels überwindet, so sinkt dieses
nach unten, die Luft entweicht in den Mund und das Manometer
fällt. Der jeweilig höchste Punkt der Manometersäule ist ein
Maß für die Kraft des Gaumetasegels. Da aber Herr Professor
Gärtner schon so reiche und gute Erfahrungen mit seinem
Apparat gemacht hat, hoffe ich, daß derselbe zur Klärung der
Funktion des Gaumensegels, speziell bei den verschiedenen For¬
men des Näselns, beitragen wird.
Prof. Gärtner (Schlußwort): Daß die Messung mit dem
Rhinometer über Anomalien im anatomischen Bau und in der
Innervation des Gaumensegels Aufschluß geben könnte, glaube
auch ich. In der ausführlichen Publikation, die demnächst in
der Wiener klinischen Wochenschrift erscheinen wird, habe ich
diesem Gedanken Ausdruck gegeben.
Gegenüber Herrn Kollegen Fein bemerke ich, daß es für die
Funktion der Nase als Teil des: Atmungsweges nicht entscheidend
ist, wie weit eine bestimmte enge Stelle ist, sondern daß es nur,
und ausschließlich auf die Summe der Widerstände, die die
Luft in der Nase vorfindet, ankommt und diese Summe kann
nur mit diesem oder einem ähnlichen Apparat gemessen werden.
Für Herrn Dr. Fein sind die subjektiven Klagen des
Kranken das Entscheidendste, wenn es sich um Vornahme oder
Unterlassung eines Eingriffes zur Erweiterung der Na.se han¬
delt. Demgegenüber möchte ich die Ansicht vertreten, daß es
zwecklos sein muß, eine tatsächlich genügend weite Nase noch
weiter zu machein. Ob eine Nase aber1 wirklich weit genug ist,
Vermag wohl die bloße Inspektion nicht immer sicher zu ent¬
scheiden. Diesem Mangel soll eben das Rhinometer abhelfen.
Zusatz bei der Niederschrift, aus’ Versehen1 nicht ge¬
sprochen: Adenoide Vegetationen beengen den Luftstrom bei
der Messung, wie hei der Atmung. Ihre Anwesenheit wird also
durch das Rhinometer aufgedeckt.
Dr. Podzahradsky demonstriert das von Löwenthal in
Braunschweig konstruierte ,.Radiumemanatorium“, einen Appa¬
rat zur Behandlung durch Einatmung von Radiumemanation.
Meine Herren! Auf der Hissehen Klinik in Berlin wurden
seit einem Jahre einfache Versuche mit diesem Apparatei vor¬
genommen, die bisher ein vorzügliches Resultat ergeben haben,
das Emataatorium beruht auf dem Prinzipei der vollständigen
Ausnutzung der Radiumemanation, die mittels, Inhalation durch
mehrere Stunden auf den menschlichen Organismus einwirken soll.
Iri einem vollkommen luftdicht abgeschlossenen Raume wird
durch einen kontinuierlichen Sauerstoffstrom Radiumemanation
aus Emataatoren entwickelt, die auf einer Scheibe kreisförmig
ungeordnet sind.
Die Menge der Radiumemanation, mit der der Raum be¬
schickt wird, beträgt 200 bis 400 Volt, oder zwei bis vier Mache-
einheiten pro Liter Luft des Behandlungsraumes'. Wir wissen
nun, daß beinahe die ganze eingeatmete Radiumemanation mit
den nächsten Atemzügen den Organismus wieder verläßt, so daß
die Atmosphäre dels EmänatoriUms ständig mit Emanation ge¬
sättigt ist und die ausgeatmete Emanation immer wieder zur
Geltung kommt. Die Patienten verbleiben daher zwei bis drei
Stunden in einer Atmosphäre von konstanter Emanationsmenge;
während dieser ganzen Sitzung stellt sich dann der Emanations¬
gehalt des Körpetas mit dem der umgebenden Luft in ein kon-
s tan i tes Gleichgewicht .
Das Emanatorium ist mit einer Sauerstoffbombe verbunden,
aus welcher ein steter Strom von Sauerstoff, dessen Stärke sich
nach den zu behandelnden Personen richtet, zu den einzelnen
Emanatoren geleitet wird. Diese Emanatoren, deren Anzahl 14
beträgt, sind Metallzylinder, die im Innern Glasröhren mit einer
radioaktiven Flüssigkeit von gewisser Stärke enthalten. Die Ema¬
natoren sind auf einer drehbaren Scheibe so angebracht, daß
bei einer täglich zweimaligen Benützung jeder1 Emanator erst,
nach einer siebentägigen Pause wieder in Betrieb kommt, in
welcher Zeit der Emanationsgehalt wieder zur verlangten Stärke
gelangt ist.
Unterhalb der Emanatoreta befindet sich ein Motor, welcher
die ausströmende Emanation im Raxune gleichmäßig verteilt und
die Luft durch den sogenannten Luftreinigungsturm des Appa¬
rates saugt. Im Innern dieses Turmes befinden sich sechs über¬
einander angebrachte Drahtsiebe, die mit gelöschtem Kalk ge¬
füllt sind. Durch das D a r übe rstrei cheta der durch den Ventilator
aufgesaugten Luft wird die Kohlensäure derselben absorbiert.
Auf diese Weise wird der verbrauchte Sauerstoff konstant
ersetzt und die ausgeatmete Kohlensäure absorbiert. Unser R.a-
diumemanatorium ist erst seit kurzem in Betrieb, doch konnten
wir dennoch schon Heilungen und bedeutende Besserungen in
vjielen Fallen konstatieren. Hauptsächlich sind es Fälle von
Gicht, chronischem Rheumatismus, Neuralgien, die Schmerzen bei
Tabes dolorosa, die günstig durch die Inhalationsbehandlung
mit Emanation 'beeinflußt werden.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung v om 19. J anuar 1911.
Frau Dr. Lieh ten stern stellt aus! der Abteilung Schle¬
singer einen 27jährigen Mann vor, bei welchem unter Arsen¬
medikation ein Lymphosarkom' der oberen Brust-
g egend rasch zurückgeig an gen ist. Vor einem halben
Jahre bekam Patient Husten und Atemnot, sowie profuse
Schweiße, in einem Monate nahm das Körpergewicht bedeutend
ab und bald darauf traten in der oberen Brustapertur und in der
unteren Halsgegend derbe Drüsen auf, über dem oberen Teil des
Sternums war Dämpfung vorhanden. Zu beiden Seiten der Mittel¬
linie bildete sieb am Abdomen ein Kollateralkreislauf aus, in
welchem jetzt der Strom von oben nach unten geht.. Der Blut-
befutad ergab 2,600.000 rote. Blutkörperchen. Unter Arsenmedi¬
kation gingen die Drüsen auffallend schnell zurück; wenn sie
ausgesetzt wurde, traten neue Drüsen auf. Pät. zeigt eine bräun¬
liche Verfärbung in der oberen Thoraxpartie, die Ursache der¬
selben ist nicht bekannt.
H. Schlesinger beimerkt, daß der Rückgang von Drüsen-
schwellungen bei Lymphosarkom bisweilen erst nach mehr¬
monatiger Behandlung mit Arsen erfolgt. Einer der ersten Fälle,
bei welchem ein solcher rapider Rückgang der Tumoren beob¬
achtet wurde, wurde von Kundrat obduziert, hiebei fand sich
akuteste Verfettung der neugebildeten Massen. Vortragender hat,
mehrere derartige Fälle mit raschem Rückgang beobachtet, doch
handelt es sich dabei nur um ein passageres Kleinerwerden der
Tumoren, nicht um Heilung.
H. Schlesinger demonstriert einen Fall von Nabel¬
metastasen bei Magenkarzinom. Vortragender bebt her¬
vor, daß man dem Nachweise einer Geschwulstmletastase im
Nabel große Aufmerksamkeit zu wenden sollte, da solche Tu¬
moren leicht übersehen werden, obgleich sie^erhebliche dia_-
gnostische Bedeutung besitzen. Nach den Erfahrungen des Vor¬
tragenden kommen den beiden etwas häufigeren, wenn auch
immerhin noch seiteinen Typen der metastatischen Erkrankung
der Bauchdeckeln bemerkenswerte klinische Eigentümlichkeiten
zu. Dein Tmpfmetastaseta nach Ptanktion karzinomatöser Peri¬
tonitis ist das mitunter erstaunlich rasche Wachstum von Neo¬
plasmen im Stichkanal eigentümlich. Die Nabelmetastasen haben
folgende wichtige klinische Besonderheiten: 1. Sie sind bis¬
weilen das allererste Symptom, welches1 auf die Gegenwart eines
malignen Tumors im Körper1 hinweist, 2. Es! gelangt hie und da
eine Nabelmetastase bei Individuen zur Entwicklung, bei wel¬
chen man infolge ihrer Korpulenz an alles' eher denken würde
als a'n Karzinom. Vortragender hat bereits viermal bei fett¬
leibigen älteren Personen Nabolmetastasten als Frühsymptom einer
neoplastischen Erkrankung der Abdominalgebilde gefunden. Am
häufigsten bat sieb bei Nabelmetastasen als primärer Tumor
ein Magenkarzinom gefunden. Die vorgestellte 62jährige Frau
hat seit cinetai Jahre die Symptome eines Magenkarzinoms auf
dem Roden eines Ulcus ventriculi. Seit vier Monaten bemerkte
sic eine Verhärtung am Nabel, derselbe ist vorgewölbt und
knopfartig vorsp ringend. Die Haut ist daselbst gerötet und nicht,
faltbar, die Oberfläche des sehr harten1, nicht, druckempfind¬
lichen, scharf begrenzten und nicht exulzerierten Tumors is!
uneben. Dieses Verhalten ist typisch. In einem zweiten, auf
der Abteilung des Vortragenden in Beobachtung stehenden Falle
saß die Metastase zuerst paraumbilikal und infiltrierte erst, nach
längerem Bestände den Nabel in typischer Weise. Auch in diesem
Falle war der primäre Tumor ein Magenkarzinom.
E. Stoerk stellt aus der III. medizinischen Klinik einen
1 1 jä hri gen Knaben mit isolierter B e x t r o k a r d i e und H e m i-
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
223
plegie vor. Pat. fiel vor einigen Wochen auf die Knie und
die Hände auf, seitdem ist die linke Körperseite paretisch. Perio¬
disch auftretender Kopfschmerz in der rechten Stirngegend und
zerebrales Erbrechen sprechen für einen Prozeß im rechten
Stirnhirn oder in den rechten Zentralwindungen. Vielleicht han¬
delt es sich um einen Solitärtuberkel in Anbetracht der Infil¬
tration der linken Lungenspitze. Das Herz ist nach rechts ver¬
lagert, ohne daß es gedreht wäre, die anderen Organe zeigen nor¬
malen Situs, nur* die linke Zwerchfellshälfte steht aus einem
unbekannten Grunde höher als die rechte. Vortr. schlägt vor,
für derartig© Fälle die Benennung Dextrokardie zu benützen.
G. Schwarz weist darauf hin, daß bei Kindern das Herz
mehr median gestellt ist als bei Erwachsenen. Es könnte sich
um ein sogenanntes Cor pendulum handeln.
Bauer bemerkt, daß sich die Linkslagerung des Herzens
erst durch den aufrechten Gang entwickelt. Es wäre interessant,
nachzuforschen, ob solche Individuen mit abnorm gelagerten
Herzen auch sonstige Minderwertigkeiten an sich tragen.
K. Kreuz fuchs meint, daß es sich um ein extrem
median gelagertes Herz handelt.
G. Holz kn echt betont, daß das Cor pendulum kleiner
ist als das normale Herz und sich mit der Spitze in dem
Mittelschatten des Röntgenbildesi befindet. Hier ist aber das
Herz wohl ausgebildet und nach rechts verlagert.
M. Weinberger bemerkt, daß reine Dextrokardie ohne
Gefäßveränderungen äußerst selten ist.
M. Haudek mahnt, die Röntgenbefunde nicht zu über¬
schätzen, da der Herzschatten durch eine schiefe Stellung des
Körpers falsch orientiert werden kann.
E. Stoerk erwähnt, daß Pat. ausgeprägt lymphatisch ist,
die Scapulae sind am medialen Rande nicht konvex, sondern
stellenweise konkav und verlaufen parallel zur Wirbelsäule, die
Crista scapulae steht ungefähr senkrecht auf der Medianlinie
ues Körpers.
H. Schlesinger fragt, ob hereditäre Lues vorliegt, weil
eine solche Formation der Skapula oft bei hereditärer Lues
Vorkommen soll.
E. Stoerk erwidert, daß Lues nicht nachweisbar ist.
R. Bäräny stellt einen jungen Mann nach Operation eines
Kleinhirnabszesses vor. Der Abszeß war nach Mittelohr¬
eiterung entstanden, es kam zur Sinusthrombose, nach Aus¬
räumung des Sinus wurde Patient schläfrig und klagte über
Kopfschmerz, der Zeigeversuch war positiv. Es wurde ein Klein-
hlrnabszeiß diagnostiziert und operiert. Zuerst verschlimmerten
sich die Erscheinungen, es) stellten sich schwere Schwindelanfälle
und bei jeder Bewegung des Kopfes starker Nystagmus ein.
Die Erscheinungen gingen zurück, dann kehrte die Zeigereaktion
wieder, welche früher ausgeblieben war. Vor 14 Tagen war
der Zeigeversuch, vom Handgelenke ausgeführt, negativ, jetzt, ist
er positiv geworden. — Vortr. berichtet über einen Fall von
Gliom der inneren Kapsel, welcher auf der Abteilung
Ko vacs beobachtet wurde. Eine 44jährige Frau bekam eine
rechtseitige Hemiparese, das Gehör war normal, beim Anstellen
des Rombergschen Versuches fiel sie nach rückwärts. Außer¬
dem hatte sie vertikalen; Nystagmus nach aufwärts, welcher für
eine zentrale Erkrankung spricht, beim Drehen hatte sie einen
hochgradigen Nystagmus und die Tendenz, nach rückwäits zu
fallen. Die Diagnose wurde auf eine Erkrankung im Bereiche
der inneren Kapsel gestellt. Die Obduktion ergab ein Gliom
der inneren Kapsel mit Hydrocephalus internus, welchei das
Kleinhirn komprimierte. — Schließlich zeigte Vortr. das ana¬
tomische Präparat eines Falles von Zystizerkus des IV. Ven¬
trikels, welcher zum Verschlüsse das Foramen Magendi und zu
einem enormen Hydrocephalus internus geführt hatte. Der 35jäh-
rige Mann hatte Schwindel und Erbrechen, auf beiden Seiten
fanden sich Residuen einer alten Mittelohreiterung. Vertikaler
Nystagmus nach aufwärts! sprach für den zentralen Ursprung
desselben, die Zeigereaktion fiel am linken Arm aus. Es wurde
ein Abszeß in der linken Kleinhirnhemisphäre vermutet. Plötz¬
lich verschwanden alle krankhaften Symptome, nach kuizer Zeit
kehrten sie wieder zurück, dann kam es wieder zur Bessern ng.
Bei der Radikaloperation wurde in der hinteren Schädelgrube:
kein Eiter gefunden; nach vorübergehender Besserung traten
wieder hochgradige Kopfschmerzen und geringe Ataxie auf.
Pat. starb plötzlich: die Obduktion ergab einen Zystizerkus' des
IV. Ventrikels. Der Fall beweist, daß ein Ausfall der zerebralen
Symptome nicht nur durch Zerstörung des Kleinhirns, sondern
auch durch Druck auf dasselbe entstehen kann.
H. Schlesinger hat außer diesem Fall von Zystizerkus
im vergangenen Jahre noch einen zweiten beobachtet. In letz
terein Falle sprachen die Symptome für einen Tumor in der
Gegend des Kleinhirnbrückenwinkels ; es wurde die Operation
vorgenommen, doch erlag Pat. derselben. Die Autopsie ergab einen
großen Zystizerkus im IV. Ventrikel, eine Ausbauchung des letz¬
teren in der Gegend des Kleinhirnbrückenwinkels hatte offenbar
die Erscheinungen des Kleinhirnbrückenwinkeltumors hervor¬
gerufen. In dem vom Vortragenden besprochenen Falle ergab die
Spinalpunktion keinen Aufschluß, das Blut zeigte keine Ver¬
änderung.
Förster zeigt ein bei der Obduktion gewonnenes Präparat
von Kcjmpres sionsmyelitis infolge: einer Karzinom¬
metastase in den Wirbeln. Eine 49jährige Frau mit mäßiger
Struma bekam gürtelförmige Schmerzen, und Parästhesien, zwi¬
schen den Scapulae war ein Tumor bemerkbar, ferner zeigten sich
Veränderungen und Defekte an einigen Rippen. Nach einer hef¬
tigen Bewegung stellte sich Paraplegie infolge Kompression des
Rückenmarkes in der Höhe des sechsten Dorsalsegmentes ein.
Es handelte sich um eine Karzinommetastase von der Struma
aus, weitere Metastasen fanden sich bei der Obduktion in einigen
Rippen und im Unterlappen der Lungen.
Goldschmied zeigt aus der Abteilung Schlesinger
das anatomische Präparat eines Falles von karzino matöser
Magenkolonfistel. Pat. litt an Magenbeschwerden, geringer
Stagnation des Mageninhaltes, hochgradiger Lienterie, fäkulen-
tem Erbrechen und diarrhoischen Stühlen; in der Oberbauch¬
gegend war ein Tumor zu tasten. Die Röntgenuntersuchung ergab
einen Tumor in der Pylorusgegend, ferner eine Kommunikation
zwischen dem Magen und dem Querkolon. Die' Obduktion ergab
ein zerfallenes Magenkarzinom, welches die Wand des Kolons
arrodiert hatte.
E. Stoerk macht in einer vorläufigen Mitteilung auf den
Zusammenhang zwischen Ulcus; ventriculi und Sta¬
tus lymphatic us aufmerksam. Er hat seit, fünf Vierteljahren
keinen Fall von Magengeschwür bei einem Manne ohne Status
lymphaticus gefunden und ersucht die Kollegen, ihm einen etwa
beobachteten Fall von Magengeschwür ohne Status lymphaticus
beim Manne zur Beobachtung zuzuweisen.
Wiener dermatologische Gesellschaft.
Sitzung vom 7. Dezember 1910.
Vorsitzender: Frühauf.
Schriftführer : Kren.
(Schluß.)
L i p s c h ü t. z berichtet über' einen Symptomenkomplex, der
bei drei mit ,,606“ behandelten Fällen zur Beobachtung gelangte
und im Sinne eines U © b e r e m p f i n d 1 i c h k e i t s p h ä u o mens
gedeutet werden kann. Bei drei Patientinnen, die wegen Lues ma¬
culosa mit 0-45, bzw. 0-6 des E h r 1 i c h sehen Präparates nach
Wechsel mann oder in Oelsuspension behandelt wurden, kam
es am zehnten Tage nach der Injektion zum Auftreten eines
schweren Allgemeinzustandes, bestehend in Fieber bis 40’ und
40-6° C, starker Mattigkeit und Auftreten eines roseolaartigen
Erythems, zum Teil an Stelle der früheren Roseola, zum Teil
von -dieser unabhängig. In wenigen Tagen trat vollkommene Ent¬
fieberung ein, das Exanthem schwand und es stellte sich voll¬
kommene Genesung ein. Hervorgehoben sei noch, daß in allen
drei Fällen die Injektion sehr gut vertragen wurde, und uaß bis
zum zehnten Tage vollkommenes Wohlbefinden zu notieren war.
Bezüglich der Deutung des beschriebenen Symptomenkom-
plexes sei bemerkt, daß wir nicht auf das Auftreten des einen
oder des anderen Symptoms Gewicht legen, da sowohl Iiöbm-
steigerungen als auch Herxheimersche Reaktion oder Ubsti-
patio-n usw. bei der Arsenobenzolbehandlung bereits von zahl¬
reicher! Autoren Erwähnung gefunden haben; wir sehen das Eigen¬
tümliche des Vorganges in dem kombinierten Auftreten dei
Erscheinungen nach Verstreichen eines Intervalls, das, wie es
scheint, zehn Tage beträgt. Die Annahme, daß es sich um Uerrer-
empfind lichkeitser scheinung en handelt, ist nach clem
Gesagten nicht von der Hand zu weisen und dürfte m der von
Bruck und Klausner bereits nachgewiesenen Ueberemplmd-
lichkeit gegenüber Arzneisubstanzen (Quecksilber, Jodoform, auch
Tuberkulin) Analogien finden. Diese Frage wird vielleicht aut
tierexperimentellem Weg (Uebertragung der passiven Anaphylaxie.)
l lösen sein. . .... . , , .
Kren hat spätere Temperatursteigerung öfters beobachten
innen. Sie treten aber nicht immer nach zirka zehn Lagen aut,
indem zu ganz verschiedenen Zeiten. Man kann sie nac i ■>.
10 und 14/Tagen
Schüttelfrost ein.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIET. PJ11.
Nr. (5
224
Gleichzeitig mit diesem Phänomen schwellen auch hei frisch
sekundären Fällen alle Drüsen an und schmerzen. Nach Abklingen
der Temperatur treten auch die Drüsen wieder zurück.
Die Deutung dieser Symptome als Ueberempfindlichkeits-
phänomen ist keineswegs schon gesichert.
1 rpani. Dem eben mitgeteilten Fall ähnliche Fälle wurden
in letzter Zeit von verschiedenen Seiten beschrieben. Auch unter
meinen 140 mit Arsenobenzol behandelten Patienten konnte ich
bei einem kräftigen, sonst vollkommen gesunden Soldaten, welcher
wegen eines makulo-papulösen Exanthems eine Injektion von
0-56 Arsenobenzol in neutraler, wässeriger Aufschwemmung sub¬
kutan in die Rückenhaut erhalten hatte, ein konformes Krank¬
heitsbild beobachten.
Es drängt sich daher die Vermutung auf, daß es sich hier
um der Anaphylaxie verwandte Vorgänge, oder aber um ein,ei
toxisch wirkende Aenderung des Arsenobenzolsi im Depot handelt.
Gr oß gibt der Anschauung Ausdruck, daß die Beobachtungen
von Lipschütz sich durch verlangsamte Resorption zwanglos
erklären. Ueberempfindlichkeitsreaktionen bei Substanzen ohne
Eiweißcharakter werden mit Recht bezweifelt.
Sprinzels hat an der Abteilung No- bl ebenfalls drei Fälle
beobachtet, wo erst längere Zeit nach der Injektion (ca. 10 Tage)
ein toxisches Erythem auftrat. Die Anschauung von Lipschütz.
daß eis sich um ein anaphylaktisches Phänomen handle, scheint
ihm ganz plausible!.
Ehrmann weist, darauf hin, daß die Herxheim er sehe
Reaktion durchaus nicht immer auf therapeutische Eingriffe zu
beziehen ist, daß sie ganz spontan auftritt, daß Besnier bereits
ein Erythema syphiliticum beschrieben hat und daß, J arisch
bei Einpinselung von breiten Kondylomen mit Terpentin diese
Erscheinung gesehen hat.
Königstein: Wir schenken der Herxheimerschen Re¬
aktion seit. Jahren unsere Aufmerksamkeit. Wir beobachteten sie
bei allen Stadien der Lues1 zu Beginn, aber auch im Verlaufe der
Behandlung. Dieselbe tritt häufiger nach löslichen, als nach un¬
löslichen Quecksilberpräparaten auf. Am häufigsten nach Asurol,
dann höherprozentigeh Sublimatinjektionen. Unter den unlös¬
lichen Präparaten steht Salizyl an erster Stelle. Selten ist diese
Reaktion nach Kalomel, am seltensten nach grauem Oel.
Groß erinnert daran, daß Ehrlich in jenen Fällen, welche
eine Herxheim er sehe Reaktion zeigten, annahm, daß die Ar-
senobenzolinjekt.ion die Spirochäten nicht abgetötet habe, daß
die Dosis eine ungenügende gewesen sei. Damit hat sich Ehr¬
lich bewußt oder unbewußt auf den Standpunkt Thalmanns
gestellt, der die Herxheim er sehe Reaktion durch die frei¬
werdenden Endotoxine der Spirochaete pallida erklärt wissen
wollte.
Verein der Aerzte in Steiermark.
7. Monatsversammlung am 27. Mai 1910.
Assistent Dr. Emil Mayr hält einen Vortrag über funktionelle
Leberdiagnostik. Nach kurz zusammengefaßter Uebersicht über
die wichtigsten Aufgaben der Leber in bezug auf ihre innere
und äußere Sekretion, bespricht der Vortragende das Ergebnis
seiner Untersuchungen an 26 Kranken, betreffend die alimentäre
Lävulosurie und die Urobilinausscheidung. Es kamen Fälle von
Phosphorvergiftung, Septikopyämie, Pneumonie-Rekonvaleszenten,
Stauungsleber, akutem Choledochusverschluß, Lävulosezirrhose
und Karzinom zur Beobachtung. Seine Schlußfolgerungen faßt
der Vortragende folgendermaßen zusammen :
1. Eine vorhandene Urobilinurie im Zusammenhang mit
übrigen auf die Leber zu beziehenden Krankheitserscheinungen
macht eine Lebererkrankung wahrscheinlich. Insbesondere kann
das Bestehen einer solchen in Fällen, wo die Stuhluntersuchung
unmöglich ist, einen Verschluß der Gallenwege ausschließen.
Vielleicht wird aus der Stärke der Urobilinurie die Dauer einer
Phosphorvergiftung zu erschließen sein.
2. Eine bestehende alimentäre Lävulosurie deutet immer
auf eine Erkrankung des Leberparenchyms und kann in zweifel¬
haften Fällen bei genau eingehaltener Versuchsanordnung die
Entscheidung treffen. In Fällen von Karzinomen läßt sie jedoch
im Stich. In Fällen von Phosphorvergiftung wird man vielleicht
aus der Größe der Lävuloseausscheidung prognostische Schlüsse
ziehen können.
Priv.-Doz. Dr. Mathes demonstriert eine Pat., an der
wegen Prolaps eine Beckenbodenplastik gemacht worden war.
Die Patientin hatte vor einem Jahre das städtische Kranken¬
haus wegen eines großen Vorfalles aufgesucht. Die Scheide war
damals vollständig invertiert, ihre und der Portio Oberfläche
mit mehreren Dekubitalgeschwürgtf bedeckt ; das ganze bildete
einen Tumor von über Mannsfaustgröße, der sich durch Druck
nicht verkleinern ließ, weil das ganze Becken von harten
knolligen Tumormassen angefüllt war, in denen es nicht gelang'
den Uterus oder andere Teile des Genitals zu differenzieren.
Aus der Anamnese des Falles im Vereine mit dem objektiven
Befunde, wurde die Diagnose gestellt, daß sich, während der
Vorfall schon bestand, ein akut entzündlicher Prozeß abgespielt
habe und durch Bildung von umfänglichen, verwachsenen Tu¬
moren den früher reponibeln Prolaps irreponibel gemacht habe.
Es wurden zunächst Uterus und Adnexe von einem Bauchschnitt
aus entfernt. Nach der ersten Operation verließ die Patientin
relativ geheilt das Krankenhaus und kam, nachdem sie sich ge¬
nügend erholt und gekräf tigt hatte, zur Vornahme eines weiteren
Eingriffes zurück. Die Inversion der Scheide war genau so groß
wie früher, nur barg die umgestülpte Scheide nicht mehr den
Uterus und seine Adnexe, sondern Blase, Mastdarm und Dünn¬
darmschlingen. Da die Verhältnisse für eine plastische Operation
in konservativem Sinne sehr ungünstig lagen, beschloß der Vor¬
tragende, den muskulären Beckenboden nach H a 1 b a n und
Tandler aus der Masse der beiden Musculi glutaei neu her¬
zustellen. Das primäre Resultat der Operation konnte als ein
sehr befriedigendes bezeichnet werden.
An der Diskussion beteiligt sich Priv.-Doz. Dr. Stolz.
Priv.-Doz. Dr. Pol land demonstriert das Autochrombild
einer ungefähr 63jährigen Frau, bei der vor ungefähr sechs Wochen
am Rücken ein rasch wachsender Knoten entstand, der von
einem Arzte exstirpiert wurde. Bald darauf bildeten sich in der
Umgebung und später am ganzen Oberkörper und im Gesichte
zahlreiche schrotkorn- bis haselnußgroße Knoten, stark vorspringend,
von blauer Farbe und derber Konsistenz. Das Allgemeinbefinden
verschlechterte sich zusehends, es trat Erbrechen, Husten,
Durchfall auf, stets war allen Entleerungen Blut beigemischt.
Die mikroskopische Untersuchung einiger exzidierter Knötchen
bestätigte die Diagnose : Melanosarkom. Die Obduktion zeigte
fast alle Organe mehr oder weniger dicht mit Sarkomknötchen
durchsetzt.
Primarius Dr. Adolf Payer demonstriert eine Neuerung
am Leistenbruchbande, deren Erfinder Herr Oberstabsarzt i. R.
Dr. Karl Sch ae fl er ist. Die Neuerung besteht darin, daß die
Pelotte durch vollständige Trennung derart in zwei Abschnitte
geteilt ist, daß sich die deutlich ausgeprägte Spalte innig an den
horizontalen Schambeinast anschmiegen muß. Der obere, größere
Teil lastet mit breiter Basis auf der Bruchpforte, der untere
Teil umgreift nahe an der Symphyse das P o u p a r t sehe Band
in der Art, daß er den Bruchsackhals zum Verschlüsse bringt;
außerdem ist der untere Teil so groß gemacht, daß er die Furche
zwischen Extensoren und Adduktoren der Breite nach ganz
erfüllt. Da aber gerade diese Stellen bei den Schenkelbewegungen
einer steten Unruhe ausgesetzt sind, ist die Verbindung der
beiden Abschnitte etwas beweglich gelassen, so daß geringe
seitliche Verschiebungen gegeneinander gestattet sind. Der Er¬
finder hat das Bruchband durch längere Zeit am eigenen
Skrotalbruch ausprobiert und konnte mit demselben selbst
schwere Arbeit verrichten, ohne irgend welche Beschwerden zu
empfinden.
8. Monatsversammlung am 10. Juni 1910.
Prof. Holl hält einen Nachruf für den verstorbenen Pro¬
fessor der Anatomie in Wien, Hofrat Dr. Emil Zuckerkand 1.
Prim. Dr. Her tie hält einen Vortrag über „Erfolge mit der
Ausschaltung der Achillessehne nach N i c o 1 a d o n i bei schwerem
Plattfuß ". Von dem Gedanken ausgehend, daß durch Ausschaltung
des Triceps surae, des Antagonisten der kurzen Fußmuskulatur,
diese ein solches Uebergewicht bekommt, daß sie einen trans¬
formierenden Einfluß auf den Proc. post. calc. auszuüben ver¬
mag und dadurch das Fußgewölbe erhöht, hat Nicoladoni
im Jahre 1902 zum ersten Male in einem Falle von sehr schwerem
linksseitigen Plattfuß die Durchschneidung der Achillessehne
durch offene Tenotomie vorgenommen und versenkte den nach
oben umgeschlagenen zentralen Sehnenzipfel in einen queren
Schlitz der Suralfaszie, wo er mit ein paar Nähten fixiert
wurde. Die Operation hatte einen vollen Erfolg aufzuweisen.
Der Vortragende hat seit dem Jahre 1908 die Operation im
städtischen Krankenhause siebenmal ausgeführt und sind sämt¬
liche Pat. von ihren Plattfußschmerzen dauernd geheilt und
berufsfähig. Die Vorteile dieses Operationsverfahrens sind kurz
zusammengefaßt folgende :
1. Die Ausschaltung der Achillessehne ist die einfachste
aller blutigen Plattfußoperationen.
2. Sie erlöst die Patienten in kürzester Zeit von ihren
Schmerzen und macht sie wieder berufsfähig.
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
225
3. Sie führt zur anatomischen Wiederherstellung des Fu߬
gewölbes.
4. Schwere Störungen des Ganges durch die Operation
sind nur vorübergehend und mehr ein ästhetischer als praktischer
Nachteil.
5. Die Achillessehne bildet sich nach längerer Zeit wieder
und meist tritt auch wieder die volle Funktion der Waden¬
muskulatur ein.
An der Diskussion beteiligt sich Priv.-Doz. Dr. W i 1 1 e k.
Dr. Hermann Trunk (Hörgas) hält einen Vortrag über einige
neuere Methoden der Anreicherung und Färbung der Tuberkel¬
bazillen mit besonderer Berücksichtigung der M uch sehen
Granula und ihre Darstellung durch prolongierte Gramfärbung.
Assistent Dr. S t r e i ß 1 e r stellt einen Patienten vor, der durch
wiederholte Lumbalpunktion von einer Streptokokkenmeningitis
nach einer Schädelbasisfraktur geheilt worden war. Die Punktion
wurde fünfmal vorgenommen und jedesmal gleichzeitig Elektrargol
(ein Originalröhrchen zu 5 cm3) von Clin, intravenös und
Aronsonsches Antistreptokokkenserum (ein Fläschchen zu
50 cm3 = 1000 A.-E.) subkutan gegeben. Der Vortragende be¬
spricht im Anschluß an diesen Fall die operative Therapie der
Meningitis, mit besonderer Berücksichtigung der Technik der
Lumbalpunktion, sowie die Aussicht auf Erfolg bei den ver¬
schiedenen Formen von Meningitis. An der Diskussion beteiligt
sich Dr. E. M a y r.
9. Monatsversammlung am 24. Juni 1910.
Prof. Klemensiewicz hält B. Koch einen Nachruf.
Priv.-Doz. Dr. Stolz demonstriert einen Fall von Zwillings¬
schwangerschaft mit uteriner und tubarer Entwicklung der
Früchte und wiederholte tubare Gravidität. Der erste Fall betraf
eine 30 Jahre alte Frau, bei der die Diagnose auf Gravidität
von fünf oder sechs Wochen gestellt wurde und wegen drohenden
Ausbruchs einer Psychose der künstliche Abort eingeleitet wurde.
Sieben Tage nach dem Eingriff konnte die Patientin aufstehen,
der Uterus war noch etwas größer und es bestand ein unbe¬
deutender rötlicher Ausfluß. Einige Tage später traten zeitweise
kolikartige Schmerzen in der rechten Seite auf, die bei Bettruhe
wieder verschwanden. 21 Tage nach Vornahme des vorerwähnten
Eingriffes verspürte die Frau plötzlich auf der Straße einen
heftigen Schmerz in der rechten Seite, so daß sie fast ohnmächtig
wurde und mit Mühe einen Wagen erreichte. Die vom Vor¬
tragenden kurz darauf vargenommene Untersuchung führte zur
Diagnose Haematocele retrouterina, intraperitoneale Blutung. Die
Patientin wurde sofort in ein Sanatorium gebracht und unter
Lumbalanalgesie laparotomiert. Nach Eröffnung des Cavum
peritonei, Entfernung von flüssigem Blut und massenhaften Blut-
koagulis, hernach stumpfer Lösung des in der Gegend des Fundus
uteri haftenden Netzes und einzelner Darmschlingen, Ent¬
wicklung des in den Douglas geschlagenen, über daumendicken
Tubentumors, Abbinden und Entfernen desselben. Ovarium dieser
Seite intakt, am linksseitigen zwei anscheinend gleich große
Corpora lutea. Das gewonnene Präparat stellt ein über daumen¬
dickes, tubares Fruchtkapselhämatom mit äußerem Fruchtkapsel¬
aufbruch dar. Die Rekonvaleszenz war normal. Der zweite Fall
betraf eine 24 Jahre alte Nullipara, die im Jahre 1908 wegen
rechtsseitiger Tubargravidität operiert wurde und im Februar 1910
wegen linksseitiger Tubargravidität zur Laparotomie kam. Dem
Vortragenden fiel bei der zweiten Operation die infantile Form
des uterinen Anteils des linken Eileiters auf. Da dieselbe immer
wieder unter den Ursachen der rezidivierenden Eileiterschwanger¬
schaften erwähnt wird, scheint es ihm zweckmäßig in solchen
Fällen zur Vermeidung eines Rezidives bei der Operation der
Tubargravidität beide Eileiter zu entfernen.
An der Diskussion beteiligte sich Dr. Adolf Payer, der
über einen Fall von gleichzeitig bestandener extra- und intra¬
uteriner Gravidität aus seiner Praxis berichtet.
Prof. v. Hacker stellt einen 13jährigen Knaben vor,
welchen er wegen einer Fraktur des Schädels mit Impression
am 27. April 1910 operierte.
Der Knabe war am 24. April durch das Anschlägen einer
schweren Schaukel an der rechten Schläfe verletzt worden und
war bis zu seinem Transport in das Krankenhaus bewußtlos.
Bei der Untersuchung war der Patient bei vollem Bewußtsein,
jedoch apathisch. Etwa zwei Querfinger nach hinten vom äußeren
Augenhöhlenrand und ebenso weit ober dem Proc. zygomaticus
eine 1 cm lange, nach abwärts konvexe Rißwunde, aus der einige
Tropfen blutigseröser Flüssigkeit austraten. Nach hinten und
nach oben von dieser Wunde ist eine etwa drei Querlinger
breite und zwei Finger hohe Impression am Schädeldach nach¬
weisbar. Da außer einem allmählichen Zurückgehen des Pulses
bis auf 58 in der Minute, vom Assistenten der neurologischen
Klinik Dr. Phleps noch einige weitere Symptome beobachtet
wurden, die auf eine Läsion der zweiten oder dritten rechten
Hirnwindung hinwiesen, wurde das Debridement vorgenommen
und hiebei ein etwa kronenstückgroßes, dünnes Blutkoagulum,
von einem verletzten Piagefäß stammend, etwa in der Gegend
der zweiten oder dritten Hirnwindung entfernt. Es erfolgt Heilung
per primam. Der Knabe wurde am 16. Mai geheilt entlassen.
Der Vortragende bespricht noch weiters die Indikation zu
Operation bei derartigen Schädelfraktionen, sowie die Technik
der Operation. An der Diskussion beteiligt sich Assisten
Dr. Phleps.
10. Monatsversammlung am 7. Oktober 1910
Assistent Dr. Di Gasp er o und Assistent Dr. Streißler
demonstrieren einen Fall von operativ geheiltem Gehirntumor.
In der Diskussion über diesen Fall erwähnt Priv.-Doz .
Dr. Her tie die Vorteile der zweizeitigen Operation, da die
plötzliche Druckentlastung bei einzeitiger Operation sich für das
Gehirn oft als schädlich erweist. Bei Verwendung von Tonogen
beobachtete Redner zweimal lokale Anämie des Gewebes und
einmal Hautgangrän. Suprarenin verbürgt bei gleichartiger
Intensität der Wirkung bessere Erfolge.
Prof. Holl hält einen Vortrag über das Reizleitungssystem
(atrioventrikuläre Verbindungsbündel) am menschlichen und tieri¬
schen Herzen und demonstriert diesbezügliche Präparate.
Priv.-Doz. Dr. P o 1 1 a n d spricht über 60, mit dem neuen
Syphilisheilmittel „Ehrlich 606“ an der dermatologischen Klinik
behandelte Fälle. Während es bei der ursprünglich geübten
Methode der Injektion (Einspritzung einer Lösung des Präparats
ins Gesäß) häufig zu störenden Nebenerscheinungen und Fieber,
Pulssteigerung, tagelang andauernden heftigen Schmerzen kam,
sind dieselben bei Befolgung der Injektionstechnik von Wechsel¬
mann (subkutane Einverleibung einer feinen Aufschwemmung
des Pulvers von neutraler Reaktion) meist fast schmerzlos und
ohne sonstigen Störungen. Der Heilerfolg bei den bisher be¬
handelten Fällen ist im ganzen als sehr prompt und vielfach
staunenswert zu bezeichnen, wenn auch die Wirkung nicht immer
gleichmäßig ist. Besonders frische Fälle geben die besten Er¬
folge, doch auch bei veralteten Fällen mit geschwürigen Zerfalls¬
prozessen erfolgte die Vernarbung oft mit einer bisher unbekannten
Raschheit. Bei einem jahrelang wegen hereditärer Geschwürs¬
prozesse in Behandlung der Klinik stehendem Manne verschwanden
alle Geschwüre nach einer einzigen Injektion von 0'4 g in kür¬
zester Zeit. Leider scheint für die sogenannten parasyphilitischen
Rückenmarks- und Gehirnkrankheiten auch von dem neuen Mittel
nicht- allzuviel zu hoffen. Die verabfolgte Menge schwankte
zwischen 01 bis 10 g. In der Regel wurde nur eine Injektion
gemacht. Ernste Zufälle wurden bisher nie beobachtet, obwohl
auch einmal ein Kind im Alter von 21 Monaten behandelt
wurde.
Priv.-Doz. Dr. Hesse berichtete über seine Erfolge mit
dem Ehrlichschen Heilmittel bei Behandlung luetischer Augen¬
krankheiten. Die Raschheit der Einwirkung ist gerade bei Er¬
krankungen der Augen von besonderem Vorteil, da oft ein Tag
über das Schicksal eines Auges entscheidet. Schmerzen traten
in elf Fällen nur einmal nach der Injektion auf, weil die Neutra¬
lisierung der Emulsion keine genaue war. Leichte Pulsbeschleu¬
nigung und Temperatursteigerungen wurden zuweilen beobachtet.
In sechs Fällen von Iridocyclitis luetica war schon am Tage nach
der Injektion ein deutliches Nachlassen der entzündlichen Er¬
scheinungen festzustellen, das Kammerwasser hellte sich rasch
auf, das Sehvermögen besserte sich und die Patienten konnten
nach durchschnittlich zehn Tagen geheilt entlassen werden. Vor¬
handene luetische Papeln in der Iris vergrößerten sich nach der
Injektion, gingen aber am dritten Tage rasch zurück. Der Erfolg
bei einem Fall von Skleritis war gleichfalls gut. Drei Fälle von
Keratitis parenchymatosa wiesen Nachlaß der Reizerscheinungen
mit Aufhellung von Hornhaut und Kammerwasser auf, doch war
wegen der Kürze der Zeit ein abschließendes Urteil nicht möglich.
Ein 74jähriger Mann mit Chorioretinitis luetica und Folgen von
Iridozyklitis wurde wegen schwerer Arteriosklerose nur auf eigene
Verantwortung injiziert. Nach zehn Tagen wurde eine Besserung
der Sehschärfe konstatiert. Ein Fall von Iridozyklitis zeigte aber
nach kurzer Zeit wesentliche Verschlechterung des Sehvermögens
und schwere Neuroretinitis mit Trübungen der Netzhaut und
frischen chorioiditischen Herden. Wahrscheinlich war hier die
Wirkung des Mittels unvollkommen.
Priv.-Doz. Dr. P o s s e k berichtet ebenfalls über Behandlung
von Augenkrankheiten luetischen Ursprungs mit Ehrlich „606 .
Es handelte sich um sechs Fälle von Iritis, resp. Iridocyclitis
226
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 6
luetica, drei Fälle von Keratitis parenchymatosa und einen Fall
von Scleritis profunda. Bei zwei Fällen von Keratitis paren¬
chymatosa war der Erfolg negativ. Schädliche Beeinflussung war
nie zu konstatieren. Gelingt es durch rechtzeitige Behandlung
bei Keratitis, die Erkrankung auf das eine Auge zu beschränken,
so wäre dieser Erfolg bereits zu begrüßen, leider wurde in einem
falle diese Beschränkung nicht erzielt.
Abteilung für Neuro-Pathologie.
Sitzung am 3. Juni 1910.
Prof. Hartmann hält einen Vortrag über eine eigenartige
Störung der zerebralen Bewegungsinnervation.
Sitzung vom 17. Juni 1910.
Direktor Sterz bespricht den Entwurf des Gesetzes be-
t re ff end die Fürsorge für Geisteskranke und den Entwurf eines
Entmündigungsgesetzes. Der Vortragende führte in eingehender
Darstellung aller Einzelheiten und an der Hand von Beispielen
aus seiner reichen Erfahrung überzeugend aus, daß diese beiden
in einem ärztefeindlichen Sinne verfaßten Gesetze in ihrer gegen¬
wärtigen Form vom theoretischen wie vom praktischen Stand¬
punkt aus als unannehmbar zu bezeichnen sind. An der Dis¬
kussion beteiligten sich Dr. v. Scarp ate tti und Professor
Hartma n n.
Verein deutscher Aerzte in Prag.
Sitzung vom 13. Januar 1911.
Priv.-Doz. Dr. Alfred Kraus demonstriert a) ein löjäh-
riges Mädchen mit Granulosis rubra nasi. Die, Erkrankung
besteht seit vier Jahren, nach Angabe der Mutter in der wär¬
meren Jahreszeit in stärkerer Intensität. Innerhalb einer auf¬
fallenden Rötung der häutigen Nase finden sich zahlreiche, leb¬
haft rote Knötchen, die auf Druck vollständig verschwinden.
An den betroffenen Partien besteht gleichzeitig eine kontinuier¬
liche Rötung. Hyperhydrose. Differentialdiagnostisch ist Lupus
vulgaris und erythematodes, Acne vulgaris und rosacea auszu¬
schließen. Anatomisch handelt es sich um entzündliche Infiltrate
an den Endteilen der Schweißdrüsenausführungsgänge. Der sezer-
nierende Teil der Drüsen ist normal. Die Aetiologie der Er¬
krankung ist bis heute noch nicht geklärt. Gegen therapeutische
Maßnahmen erweist sie sich vollständig refraktär. Sehr bemer-
kenswer t ist, daß das1 Leiden fast ausnahmslos Kinder im jugend¬
lichen Alter betrifft, sowie auch, daß es gelegentlich bei meh¬
reren Familienmitgliedern zur Beobachtung kommt.
b) Einen zweijährigen Knaben mit einer fast über die
ganze Körperhaut ausgedehnten Blasenaffektion. Besonders die
Haut des Stammes weist zahlreiche orbikuläre und girierte Blasen¬
gruppen auf, deren Zentram von starken, honiggelben, serös
imbibierten Krusten eingenommen ist, während an den Rändern
noch deutliche Blasenabhebung besteht. Esi handelt sich um
eine Impetigo contagiosa circinata corporis, eine
typische Erkrankung des jugendlichen Kindesalters. Die Lokalisa¬
tion der Impetigo contagiosa, an der Haut des Stammes ist relativ
selten. Das häufigere Auftreten derselben gerade im Kindesalter
läßt darauf schließen, daß die Infektion um so leichter er¬
folgt, je juveniler die Haut ist. Das Symptom der Blasenbildung,
die Neigung zu Nachschüben und die Lokalisation am Körper
kann leicht zur Diagnose Pemphigus Veranlassung geben. Die¬
selbe Erkrankung kann an der Kinderhaut zu umfangreichen
Blasenabhebungen und damit zum Bilde des Pemphigus neo¬
natorum führen.
Dr. Rudolf Kuh: Die Chondrodysphasie im Rönt¬
genbilde.
"Vortragender stellt einen aus jüdischer Familie stammen¬
den, 20 Jahre alten Mann vor, der an Chondrodysphasie leidet,
die klinisch leicht zu diagnostizieren ist, durch die Lokalisa¬
tion und Multiplizität der knochenartigen Geschwülste, durch
die Konfiguration der Gelenksenden, ferner durch die Verkrüm¬
mung und Verkürzung der Knochen. Es ist das unbestrittene
Verdienst von Kienböck, eine bis ins Detail ausgearbeitete
Charakterisierung des radiologisch anatomischen Befundes uns
geliefert zu haben, der nur dieser Krankheitsform zukommt-
Die Exostosen sind an bestimmte Punkte lokalisiert; an den
Regionen des größten Knochenwachstums, so an der unteren
Epiphyse des Oberarmes, sind die größten Exostosen und auch
in der Meinzahl vorhanden. Die Verteilung der Exostosen findet
an beiden Körperhälften symmetrisch statt. Die Verkrümmungen
der Knochen entstehen durch ungleichmäßiges Wachstum des
Knochens im Querschnitt oder durch Zurückbleiben des Nach¬
barknochens im Wachstum. Die schwere Störung in der Proli¬
feration des Knochens zeigt sich auch in der Störung des Längen¬
wachs! ums. Charakteristisch für die Krankheit ist die ganz
kolossale Auftreibung des Diaphysenendes, die Kienböck mit
der Spina ventosa vergleicht. Diese Auftreibung reicht von der
ältesten Exostose, die sich gegen die Knochenmitte zu etabliert
bis zur terminalen Gelenksfläche. Letztere ist vollkommen intakt’
zeigt * eine glatte Oberfläche und normale Konfiguration. Diu
Kortikalis der Auftreibung ist sehr verdünnt, die Spongiosa weit¬
maschig. Ganz symmetrisch sieht man an beiden Körperhälften
in diesen Auftreibungen quer verlaufende, parallele Streifen,
die als Spongiosaverdichtungen zu deuten sind, und Hemmun¬
gen des Knochen Wachstums zu verschiedenen Zeitpunkten dar¬
stellen. Der Teil des Knochens, der von der ältesten Exostose
bis zur Knochen mitte sich erstreckt, ist ganz normal. Kien¬
böck nennt die Krankheit „Chondrodysphasie mit multiplen
kartilaginären Exostosen“, um zu zeigen, daß das Hauptsymptom
der Krankheit in schweren Proliferationsstörungen des Knochens
während des Wachstums zu suchen ist und daß die Exostosen
ein Nebensymptom bedeuten. Dr. 0. Wiener.
Programm
der am
Freitag den xo. Februar 1911, um 7 IJlir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. M. Groß in aim stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Priv.-Doz. v. Haberer : Zur primären Dickdarmresektion.
(Demonstration.)
2. Priv.-Doz. Dr. Emil Schwarz: Ueber die Beziehung der eosino¬
philen Zellen zu Sekretionsvorgängen. (Mitteilung.)
3. Dr. 0. Schwarz : Ueber die Einwirkung des Adrenalins auf
einzellige Organismen. (Mitteilung.)
4. Dr. Hecht und Dr. Kollier: Untersuchungen über Asepsis (mit
Demonstration).
Vorträge haben angemeldet die Herren: Clairmont und Haudek,
S. Federn, Max Herz, Julius Neumann und Ed. Hermann, L. Wiek,
Hans Salzer und Robert Breuer.
Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Noorden Donnerstag
den 9. Februar 1911, um 7 Uhr abends, statt.
(Vorsitz: Prof. Dr. v. Noordeu.)
1. Demonstrationen (angemeldet): Dr. ff. Schwarz: Krankenvor¬
stellung zum Reicheschen Röntgenbefund bei tiefgreifendem Ulcus ventriculi.
2. Dr. Mart. Haudek : Zur Frage der Antiperistaltik. (Vorläufige
Mitteilung.)
3. Dr. Porges in Gemeinschaft mit Dr. LeimdöriVr und Doktor
Marcuvici : Zusammenhang der Blutalkaleszenz mit der Atmung.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 13. Febrnar 1911, 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des
Herrn Dr. V. Läufer stattfindenden wissenschaftlichen Versammlung.
Prof. Dr. H. Schlesinger : Der Einfluß des höheren Alters auf
das klinische Bild einiger Erkrankungen.
Verein für Psychiatrie und Neurologie.
Programm des Dienstag den 14. Februar 1911, 7 Uhr abends, im
Hörsaal v. Wagner stattfindenden Vortragsabends.
1. Priv.-Doz. Dr. Karl Kunn, Der Bewegungsmechanismus der
Augen. 2. Primarius Dr. Josef Herze, Zur Psychologie und Pathologie der
Affekte. R a i m a n n, Schriftführer.
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung lUensta? den 14. Februar 1911, im Hörsaale der
II. Univ.-Frauenklinik. Beginn: Punkt 7 Uhr abends.
1. Schauta : Struma ovarii.
2. ( ristofoletii: Einseitiges Fehlen des Ovariums und der Tube.
3. Liliotzky : Demonstration von Präparaten.
4. R. Hofstätt.er (a. G.): Ein selbsthaltender Scheidenspatel.
5. Mandl: a) Appendixkarzinom; h) Eine seltene Form von Myom¬
bildung des Uterus.
6. Vortrag: Viktor Klein (a. G.): Die puerperale und
postoperative Thrombose und Embolie.
V. Kroph, II. Schriftführer. Wertlieim, Vorsitzender.
Verein der Aerzte des I. Bezirkes.
Licblbildervorlrasr des Dr. Samuely am 13. Februar, 7 Uhr
abends, im Hotel de France über die zweite Wiener Hochquellenleitung.
Gäste willkommen.
Verantwortlicher Redakteur: Karl Knbasta.
Druck von Bruno Bartelt, Wien XVIII., Theresien Kasse 3
Verlag von Wilhelm Braumiüler in Wien
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
3. Braun, 0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger, M. Gruber, F. Hochstetter, A. Kolisko, H. Meyer. J, Moeller,
K. v. Noorden. H. Ooersteiner, A, Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt, J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
\nton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs. Julius Hochenegg, Ernst Ludwig
x Edmund v. Neusser, Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Äerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
/erlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuohhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618
XXIV. Jahrg. Wien, 16. Februar 1911 Nr. 7
Hofrat Prof. Dr. Gustav v. Braun.
Nachruf von Prof. Peters, Wien.
Nun ist auch der zweite Stern des Doppelgestirns, das seinerzeit am gynäkologischen Himmel Wiens
glänzte, erloschen. Der ältere Bruder, der geniale Carl v. Braun, wurde schon vor vielen Jahren in seiner
besten Schaffenskraft dahingerafft, nun ist auch Gustav v. Braun im hohen Alter von 82 Jahren von
uns gegangen. Seit mehr als einem Dezennium im Ruhestände, war er jedoch bis knapp vor seinem Tode
immer tätig, geistig frisch und rüstig. Bis in die letzten Jahre nahm er regelmäßig an den Sitzungen der
geburtshilflich-gynäkologischen Gesellschaft, deren Ehrenpräsident er seit seinem 70. Geburtstage war, teil und
griff auch zeitweise noch, basierend auf seine große Erfahrung, in die Diskussion praktischer Fragen ein. Fast
alles lesend, was in Fachschriften neues erschien, verfolgte er mit regem Interesse den imposanten Ausbau
unseres Faches.
Es sei mir gestattet, von dem, was ich seinerzeit gelegentlich seines 70. Geburtstages in der „Monats-
schtift für Geburtshilfe und Gynäkologie“ zur Charakteristik dieses durch seltene Eigenschaften hervor¬
ragenden Mannes gesagt habe, einiges hier zu wiederholen.
Gustav v. Braun bot eines jener seltenen Beispiele, bei denen sich edelste Charaktereigenschaften,
treueste Pflichterfüllung als Lehrer und Arzt mit einem stets sich betätigenden Drange nach Erweiterung der
Kenntnisse verbinden. Als Lehrer ein väterlicher Freund seiner Schüler, als Arzt durchdrungen von der
höchsten Humanität, stets bereit, zu helfen bei arm und reich, als Forscher immer daran, neues zu schaffen
und neue Errungenschaften anderer zum Wohle seiner Pflegebefohlenen auszunützen.
Er war zu Zistersdorf in Niederösterreich im Jahre 1829 geboren, studierte in Prag und Wien und
wurde 1858 in Wien zum Dr. med. und Magister der Geburtshilfe promoviert. Nach einer kurzer Tätigkeit
auf der chirurgischen Klinik des Prof. Schuh wurde er Assistent an der geburtshilflichen Klinik des
Prof. Klein, nachdem sein Bruder Carl, der diese Stelle innegehabt hatte, nach Trient berufen worden war.
Schon im Jahre 1856 zum Privatdozenten und in seinem 30. Lebensjahre zum Extraordinarius ernannt,
supplierte er nach dem Tode Kleins die Klinik und übernahm 1862 die Lehrkanzel für Geburtshilfe an
der Josefs-Akademie.
Nachdem diese 1873 aufgelöst worden war, wurde die Hebammenschule von der II. geburtshilflich¬
gynäkologischen Klinik, der damals Spaeth Vorstand, abgetrennt und Gustav Braun zum ordentlichen
Professor und Vorstand der Hebammenklinik ernannt. An dieser wirkte er segensreich bis zu seinem
71. Lebensjahre. Nach seinem Rücktritt vom Lehramte entfaltete er noch durch viele Jahre eine eifrige
Tätigkeit als Mitglied des Obersten Sanitätsrates.
Durch seine Eigenschaft als Hausarzt der Herzoge von Coburg war er mit den allerhöchsten Kreisen
in steter Fühlung und Berührung, und seine Klientel rekrutierte sich aus den hohen und höchsten Schichten.
Dies hinderte ihn aber nicht, als echter humaner Arzt sein segensreiches Wirken in allen Kreisen, auch den
ärmsten und niedersten, in rührend gewissenhafter Weise zu betätigen. Wie oft hatte Schreiber dieser Zeilen
seinerzeit, als er noch unter Gustav v. Braun an der Klinik wirkte, Gelegenheit, seine Engelsgüte und
Milde zu bewundern, wenn er ihm auch in die Hütten der Armen folgte.
Gustav v. Braun war aber nicht nur das Prototyp eines guten und edlen Menschen, er war auch von einer
seltenen Arbeitskraft, und es war staunenswert, was er alles an einemTage erledigen konnte, ohne zu ermüden. Ganz
228
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
besonders schätzen lernten die, die mit ihm in steter Be¬
rührung waren, seine strenge Rechtlichkeit und Pflichter¬
füllung, sein hohes Wissen und seine schlichte Bescheiden¬
heit. Es war ihm ein Greuel, wenn er in seiner diskreten}
Tätigkeit als Frauenarzt ein oder das andere Mal öffentlich
genannt wurde.
Seine Vorträge waren klar und dem Bildungsgrade
des Auditoriums angepaßt. Bekanntermaßen ist es eine
Kunst, populär -wissenschaftlich vorzutragen und gehört da¬
zu nicht nur pädagogische Veranlagung, sondern auch volle
Beherrschung' des Faches, um stets die für den Schuldrill
richtigsten und besten Worte zu finden und nicht in ge¬
lehrtes Tradieren zu verfallen. Die Hebammenlehrer haben
;ja ein viel minderwertigeres, nicht vorgebildetes Schüler¬
material, in das sie nun auf einmal ohne nötige Vorberei¬
tung Geburtshilfe, Anatomisches, Physiologisches, Aseptik
und so weiter, eindrillen sollen. Dazu stehen ihnen in Oester¬
reich knappe sechs Monate zur Verfügung. Braun und
seine Schüler unterzogen sich stets mit Freude dieser
schwierigen Aufgabe. Die Gefahr, die auch hier ebenso wie
an anderen Schulen minderer Kategorie besteht, daß die
Schule selbst den nicht auf der Höhe der Wissenschaft
schreitenden Lehrer zum drillenden Schullehrer herabzieht,
war bei Braun infolge seiner hohen wissenschaftlichen
Position ausgeschlossen.
Die Ausgestaltung der ganzen Hebammenfrage in
Oesterreich und die Tatsache, daß die Hebammenschaft
.Niederösterreichs sich erfreulicherweise qualitativ so we¬
sentlich gebessert, hat, sind ihm zu verdanken. Dabei hatte
wohl selten ein klinischer Vorstand mit solchen Schwierig¬
keiten zu kämpfen wie er. Die Klinik, in der vorantisep¬
tischen Zeit geschaffen, in den elendesten Lokalitäten des
an und für sich modernen Ansprüchen nicht genügenden
Gebärhauses untergebracht, wurde durch ihn allmählich um¬
gestaltet und langsam saniert. Und bald konnten sich die
Erfolge derselben würdig an die der moderner eingerichteten
Kliniken anreihen. Welchen Kampf ihn dies gekostet, ist
nicht allgemein bekannt; ungebeugt durch manche Mißer¬
folge, durch die traurige Tatsache der sich in früheren Zeiten
mitunter wiederholenden Puerperalepidemien, hat er im
steten Hader mit den oft widerstrebenden Behörden doch
schließlich durch hartnäckige Verfolgung seines Zieles seine
Erfolge erreicht. Leider war es ihm nicht mehr vergönnt,
an einer hygienisch besser bedachten Anstalt zu wirken
und er mußte seine Tätigkeit noch in der sanitär minder¬
wertigen Klinik beschließen.
Für die Assistenten der Klinik waren diese vielen ad¬
ministrativen Schwierigkeiten eine schwere Mehrbelastung
im Dienste, da mangels von Hilfsärzten (die Klinik wurde
von den Zöglingen des Operationsinstitutes nicht in der¬
selben Weise frequentiert, wie die beiden Aerztekliniken)
alles auf den Schultern des Chefs und der zwei Assistenten
ruhte.
Wie alle durch eigene Tüchtigkeit, und Gunst der Mäch¬
tigen emporgestiegenen großen Männer, hatte auch er seine
Gegner und es war ihm leider nicht vergönnt, sein stets
angestrebtes Ziel, auf der Aerzteklinik zu lehren
und zu wirken, zu erreichen. Die bitteren Enttäu¬
schungen, die er in dieser Hinsicht durchmachen mußte,
trug er als ganzer Mann, ohne zu murren und nie hörte
man eine Klage oder eine Kritik seiner Widersacher aus
seinem Munde. Es lag in seinem offenen Wesen, in seinem
alles Unedle verabscheuenden Charakter, daß er ein Feind
jeder Intrigue war.
Außer seinem klinischen und Lehrberufe und außer
der kolossalen Privatpraxis entwickelte Braun aber auch
eine reiche wissenschaftliche Tätigkeit. Seine Werke und
Publikationen sind sehr zahlreich und mögen am Schlüsse
angefügt werden. Aber auch aus seiner Klinik ging von
der Hand seiner Söhüler eine große Menge von tüchtigen
Arbeiten hervor und unterstützte Braun jedes wissenschaft¬
liche Streben mit Rat und Tat. Jeder Anregung, die von
seiten seiner Schüler ausging, lieh er ein geneigtes Ohr und
Nr. 7
förderte sie, wenn er sie approbiert hatte. Seine Schüler
denen er ein strenger, aber gerechter Vorgesetzter war und
von denen er ebenso gewissenhafte Pflichterfüllung forderte,
als er sich selbst, leistete, hingen an ihm mit Liebe und
Verehrung. Wen er selbst als würdig erkannt hatte, dem
war er auch zeitlebens ein treuer Freund und Berater
und gar mancher seiner Schüler hat viel gutes von ihm
erfahren. Viele von i linen stammen aus der Zeit, da Gustav
v. Braun an der Josef- Akademie tätig war; viele lauschten
als Gäste der Klinik seinen Worten, denn diese war ein
gesuchter Aufenthaltsort von ausländischen weiblichen Dok¬
toren. Von seinen unmittelbaren Schülern weilen so manche
nicht mehr uniter den Lebenden, so Franz Riedl, der ehe¬
malige Leibarzt, am spanischen Hofe, Anton Bauer, ehe¬
maliger Leibarzt, der Herzogin Clothilde, Dr. Otto v. Weiß,
ehemaliger Vorstand der gynäkologischen Abteilung in Sara¬
jevo, Ritter v. Ferro, der als Bezirksarzt starb.
An der Bahre Brauns trauern als seine ehemaligen
Assistenten Generalstabsarzt Dr. Josef Uriel und Kratsch-
mer, Karl Bromei ßl, Prof. Welponer in Triest, Pro¬
fessor Pawlik in Prag, Prof. Fel sen reich, Prof. Breus,
Priv.-Doz. Fürth, Dr. Hofgraeff, Dr. Koffer, Professor
Richard v. Braun-Fernwald, Dr. Hink, Dr. Hübel und
der Schreiber dieser Zeilen.
So ist denn mit Gustav v. Braun eine von den alten
Leuchten der Wiener Schule dahingegangen und nur wer
unmittelbar mit ihm arbeitete und ihn näher kennen lernte,
kann diesen Verlust ganz ermessen. Er war nicht nur eine
Zierde unseres Faches und förderte es in mancher Weise
— ich erinnere nur an seine tätige Mitarbeit in der Kaiser¬
schnittfrage — sondern er war auch einer der edelsten
Charaktere, einer der besten Menschen. Alle, die ihn kannten,
werden ihm ein treues, dankbares Angedenken bewahren.
Von den zahlreichen Schriften Brauns sind besonders zu
nennen: Kompendium der operativen Geburtshilfe. 1860. — Kompendium
der Geburtshilfe. Wien 1864, Braumüller. 2. Aufl. 1871. — Kom¬
pendium der Frauenkrankheiten. Wien 1863, Braumüller. 2. Aufl.
1870. — Kompendium der Kinderheilkunde. Wien 1862, Braumüller.
2. Auflage 1870. — Lehrbuch der Geburtshilfe für Hebammen. Wien 1888 und
1894, Braumüller. — Ueber einen Fall von Agnathus. Zeitschr. der Ge¬
sellschaft der Aerzte 1863. — Ueber spontane Amputationen des Fötus
und ihre Beziehungen zu den amniotischen Bändern. Ibd. 1854. — Ueber
Graviditas extrauterina. Ibd. 1855. — lieber Anwendung von Serres lines
bei Rupturen. 1856. — Ueber Technik der künstlichen Frühgeburt. Habili¬
tationsschrift. --- Intrauterine Fraktur des Humerus und 1856 des Femur.
Tbd. 1857. Die Erregung der künstlichen Frühgeburt mit Kohlensäure
nach Scanzonis Methode. Abt. Zeitschr. f. Heilkunde 1856. — Die
Kohlensäure zur Einleitung der Frühgeburt. Wiener med. Wochenscbr
1857. — Lendenwirbelbogeneinschaltung (Spondyloparembole) als neue
Ursache einer angeborenen Beckenmißstaltung mit dreiwinkliger asym¬
metrischer Hutform. Wiener med. Wochenschr. 1857. — Fachreferat über
die Leistungen der Gynäkologie. Med. Jahrb. 1861. — Ueber das tech¬
nische Verfahren bei vernachlässigten Querlagen und über Dekapitations-
instrumente. Wiener med. Wochenschr. 1861. — Ueber Hydatidendegene-
ration der Chorionzotten als Ursache des Abortus. Wiener med. Halle
1862. — Neuer Beitrag zur Lehre der Dekapitation mit C. Brauns
Haken. Med. Wochenschr. 1862. — Erfahrungen über seltene, nicht ver¬
schiebbare Beckentumoren und deren Einfluß auf die Geburt. Med.
Wochenschr. 1863. — Ueber Transfusion bei Anämischen. Ibd. — Ueber
Neuralgie des Uterus. Med. Halle 1863. — Ueber Entzündung der Bar-
tholonischen Drüse und ihres Ausführungsganges. Ibd. 1864. — Beitrag
zur Lehre der Dekapitation mit Schlüsselhaken. Med. Wochenschr. 1864.
— Ueber Verwendung von Hebelpessarien bei Behandlung der Lageverände¬
rungen des nicht geschwängerten Uterus. 1864. — Kompendium der Geburts¬
hilfe. Ital. Uebers., Med. Wochenschr. 1864, von Dr. G. Castiti, Mailand 1864.
Die Amputation der Klitoris und Nymphen, ein Beitrag zur Behandlung
des Pruritus. Med. Wochenschr. 1865. — Ein weiterer Beitrag zur Hei¬
lung der Masturbation durch Amputation der Klitoris und der kleinen
Nymphen. Ibd. 1866 Zur differentiellen Diagnostik der Haematocelo
extrauterina. Ibd. 1866. Zur Dekapitation mit dem Schlüsselhaken.
Ibd. 1866. Zur Behandlung der Neigungen und Beugungen des Uterus.
Med. Wochenschr. 1867. — Ueber die Anwendung säurefreier Eisen-
chloridlösungen in der Gynäkologie. 1867. — Zur Behandlung der Uterus-
fibroide. Ibd. 1868. — Övariotomie. Wiener med. Wochenschr. 1869. —
Zur Behandlung der Dysmenorrhoe und Sterilität. Wiener med. Wochen¬
schrift 1869. — Ueber Anwendung der schwefelsauren Salze und
schwefeliger Säure bei den Erkrankungen der Wöchnerinnen. Wiener
med. Wochenschr. 1869. — Prof. Dr. Giovanni P o 1 1 i s Präparate in
ihrer Wirkung bei Erkrankungen der Wöchnerinnen. Med. Wochenschr.
1872. — Ueber Ilaematocele anteuterin. Med. Wochenschr. 1872. — -
Ueber Schwangerschaft und Geburt bei unversehrtem Hymen. Ibd. 1876.
— Ueber Amputation des Uterus und der Ovarien als Ergänzung des
Kaiserschnittes (Porro). Wiener med. Wochenschr. 1879. — lieber
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
229
Tarniers Forceps. Med. Wochenschr. 1880. — Beitrag zur Heilung
Irischer Blasengebärmutter-Scheidenfisteln. Wiener med. Wochenschr.
1881. Beitrag zur operativen Behandlung der Genitalgeschwülste der
Frauen. Wiener med. Wochenschr. 1882. — Tod bedingt durch Ein¬
dringen von Luft in die Venen des Uterus. Wiener med. Wochenschr.
1889- — D*e Enterostenosen in ihrer Beziehung zur Gravidität und Ge¬
burt. Ibd. 1884. — Ueber den Gebrauch eines bei Exstirpation eines Fi¬
broms der vorderen Vaginalwand gebrauchten Spekulum. Ibd. 1884. —
Die Verwendung des Sublimats bei. Irrigationen in der Geburtshilfe. Ibd.
1886. Beitrag zum Kaiserschnitt nach konservativer Methode. Ibd.
1 888. — Ein weiterer Fall von Kaiserschnitt nach konservativer Me¬
thode. Ibd. 1888. — Ueber einen dritten und vierten Fall von Kaiser¬
schnitt nach konservativer Methode. Ibd. 1888. — Ueber das kypho-
tische Becken. Ibd. 1888. — Ueber habituelle Inversio uteri in der Nach¬
geburtsperiode. Wiener med. Wochenschr. 1889. — Schräge Verschie¬
bung des Beckens infolge von veralteter Luxation des rechten Ober¬
schenkels. Wiener med. Wochenschr. 1888. Hämatokolpus infolge von
angeborener Hymenalatresie. Wiener med. Wochenschr. 1889. — Zur
Laparotomie bei Uterusrupturen. Wiener klin. Wochenschr. 1889. —
Ueber die sanitären Verhältnisse der III. geburtshilflichen Klinik. Wiener
klin. Wochenschr. 1890. — Beitrag zur Therapie der Graviditas tubo-
abdominalis. Wiener klin. Wochenschr. 1891.
(Aus der serologischen Abteilung des hygienischen In¬
stitutes der deutschen Universität in Prag.)
Ueber extrazelluläre Leukozytenwirkung
(Aphagozidie).
Von E. Weil.
Als nach der Entdeckung der Alexine auch in den
Leukozyten keimfeindliche Stoffe gefunden wurden, galt die
Herkunft ersterer aus den weißen Blutkörperchen als ge¬
sichert. Nur über die Art und Weise, wie sich die Leukozyten
ihrer Stoffe entledigen, bestanden Meinungsdifferenzen. Sowohl
die Annahme, daß die Leukozyten die Alexine sezernieren,
wie daß diese erst beim Zerfall der Leukozyten frei werden,
wurde diskutiert und durch Experimente zu stützen versucht.
Wir können heute mit Bestimmtheit sagen, daß die bakterien¬
tötende Kraft des Blutserums, die auf die komplexen Bak-
teriolysine zurückzuführen ist, von den Leukozyten unab¬
hängig ist, daß Serum- und Leukozytenbakterizidie als zwei
verschiedene keimfeindliche Systeme im Organismus wirksam
sind. Nur insofern besteht zwischen Serum und Leukozyten
ein Zusammenhang, als gegenüber manchen Mikroorganismen
Serumstoffe die Leukozytenbakterizidie in hohem Maße unter¬
stützen. Die meisten Forscher sind wohl darüber einig, daß auch
die lebenden Leukozyten im Tierkörper die Bakterizidie mit
den Stoffen vollführen, welche zuerst in einwandfreiester Form
von Sc hatten froh dargestellt worden, und es ist eine
ganz natürliche Annahme,, daß die lebenden Leukozyten in¬
folge ihrer Freßtätigkeit befähigt sind, die Bakterien mit
den in ihrem Inneren befindlichen bakteriziden Stoffen in
Kontakt zu bringen.
Durch die Arbeiten unseres Institutes wurde aber ge¬
zeigt, daß auch Bakterien, welche der Phagozytose nicht
unterliegen, von den Leukozyten abgetötet werden, so der
gekapselte Milzbrandbazillus. Es müssen also in diesem
Falle die wirksamen Stoffe von den Leukozyten abgegeben
worden sein. Daß lebende Leukozyten dies wirklich vermögen,
ist insbesondere durch die Versuche von R. Schneider
erwiesen worden, welcher in dem 5°/0igen Serum ein
Medium fand, das die Leukozyten zur Abgabe ihrer bakteri¬
ziden Stoffe reizt. Daß aber bei der Abgabe der keimfeind,
liehen Substanzen noch andere Momente eine Rolle spielen¬
wurde vom Verfasser nachgewiesen, u. zw. zunächst beim
Schweinerotlaufbazillus.
Es konnte gezeigt werden, daß unter Bedingungen, wo
die Phagozytose und spontane Abgabe bakterizider Stoffe
nicht stattfindet, doch Bakterizidie von seiten der Leukozyten
besteht, die nur auf die Art erklärt werden konnte, daß die
Schweinerotlaufbazillen den Leukozyten ihre keimfeindlichen
Stoffe entziehen. Auch für die Bakterizidie des tierischen
Milzbrandbazillus durch Meerschweinchenleukozyten wurde
dieselbe Erscheinung konstatiert. Wir haben diese Form der
Leukozytenbakterizidie als Aphagozidie bezeichnet, weil
sie unter Bedingungen erfolgt, welche die Phagozytose aus¬
schließen. Wir haben jedoch in diese Bezeichnung die Tat¬
sache mit inbegriffen, daß die Leukozyten nicht spontan
ihre Stoffe abgeben oder sezernieren, sondern unter dem
Reize, den die sie umgebenden Bakterien auf sie ausüben.
Das Reizmoment haben wir in der Avidität der Bakterien
zu den Leukozytenstoffen gesehen, vermöge welcher sie im¬
stande sind, den weißen Blutkörperchen ihre Stoffe zu ent¬
reißen. Die Avidität ließ sich durch Bindungsversuche
leicht nachweisen. Unsere Resultate wurden mit Hilfe des
bakteriziden Plattenversuches gewonnen und da diese
Methode eine ziemlich umständliche ist, ging unser Restreben
dahin, einen einfacheren Weg ausfindig zu machen und dabei
kam uns ein Zufall zu Hilfe. Bei der intraperitonealen Injek¬
tion von Meerschweinchen mit zwei aus der Luft gezüchteten
Kokken konnte folgendes beobachtet werden. In großer Menge
in die Bauchhöhle eingespritzt, blieben sie daselbst durch
einige Stunden, ohne zu- oder abzunehmen, nachweisbar
und erst nach vier bis fünf Stunden begann eine ganz auf¬
fällige Degeneration, welche mit dem Erscheinen der Leuko¬
zyten in der Bauchhöhle zusammenfiel. Diese Degeneration
kam extrazellulär zustande, eine nennenswerte Phagozytose
war nicht vorhanden. Da bereits im Plattenversuch festgestellt
war, daß das Blutserum gegenüber dem einen Kokkus eine
schwache, gegenüber dem anderen aber gar keine Bakterizidie
zeigte, die Leukozyten aber gegenüber beiden ungemein stark
wirksam waren, so lag der Gedanke nahe, daß die im Tier¬
körper beobachtete Degeneration, obzwar sie in den freien
Säften stattfand, doch in irgendeiner Weise von den Leuko¬
zyten abhängig ist. Reagenzglasversuche mußten die Ent¬
scheidung bringen, welcher Anteil den Leukozyten für diesen
extrazellulären Degenerationsprozeß zukommt. Die Versuchs¬
anordnung war zunächst derart, daß Meerschweinchenleuko¬
zyten in aktivem, inaktivem Serum und Kochsalzlösung auf¬
geschwemmt und ihre Einwirkung auf die Kokken, welche
als Kontrolle in denselben Flüssigkeiten ohne Leukozyten
suspendiert waren, untersucht wurde. Die Leukozyten wurden
durch interperitoneale Rouilloninjektion (20 cm3) gewonnen
und pro Röhrchen in der Dosis von R05 bis 01 g ange¬
wendet. Die Menge der Leukozyten aus der Rauchhöhle be¬
trägt gewöhnlich (der zentrifugierte Bodensatz gewogen)
1 bis l’5g. Die Aufschwemmungsflüssigkeit wurde in der
Menge von 0'5 cm3 angewendet und die Einsaat derart vor¬
genommen, daß eine üppig bewachsene, 18 Stunden alte
Agarkultur mit 15 cm3 NaCl abgespült und ein Tropfen von
dieser dicken Emulsion zu jedem Röhrchen gegeben wurde.
Die beiden Kokkenstämme führen die Rezeichnung »F« und
»J« und bilden auf Agar einen feuchten, dicken, gelb¬
grünen Belag. Wir teilen zunächst die Versuche mit Stamm
»F« mit.
In allen Flüssigkeiten, denen Leukozyten zugesetzt sind,
treten folgende Erscheinungen auf. Die frisch zugesetzten
Kokken zeigen in aktivem und inaktivem Serum Leukozyten¬
aufschwemmungen ein geblähtes Aussehen, welches auf eine
den Kokkenleib umschließende Hülle zurückzuführen ist.
In der Kochsalzlösung nimmt diese Hülle den Farbstoff
nicht an und deshalb erscheinen darin die Kokken kleiner,
kompakter und dunkler gefärbt. Die Degenerationserscheinungen
machen sich zunächst am Kokkenleibe bemerkbar, der kleiner
wird und wie angefressen aussieht ; dadurch erscheint die
Hülle deutlicher und man sieht in den Serumleukozytenproben
Hülsen mit kleinen Stippchen in ihrem Innern. Mit dem
fortschreitenden Prozeß werden dann die Stippchen schlecht
färbbar, verschwinden schließlich vollständig, so daß nur
leere Hülsen übrig bleiben. Schließlich verschwinden auch
diese. In den Kochsalzaufschwemmungen, wo sich die Hüllen
nicht färben, treten erst die Stippchen auf, die schließlich
schwach färbbar werden und dann verschwinden.
Die verschiedenen Grade des Degenerationsprozesses
lassen sich demnach durch folgende Bezeichnungen, die wir
der Kürze halber auch in den Tabellen angeführt haben,
benennen: Hüllen mit Stippchen, Hüllen, schließlich 0
Dies gilt für die Präparate, wo Serum als Aufschwemmungs-
230
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr.
i
flüssigkeit dient ; für die in Kochsalzlösung tritt die Degene¬
ration als Süppchen, schlecht färbbare Stippchen und
schließlich 0 in Erscheinung. Als Farbflüssigkeit wurde Karbol¬
methylenblau benutzt ; es ist bei den Serumpräparaten darauf
zu achten, daß der Untergrund gefärbt wird, da sonst die
Hüllen nicht sichtbar werden und sich dann diese Präparate
wie die in Kochsalzlösung verhalten.
Die eben geschilderten Formen treten, wie erwähnt,
nur bei Anwesenheit von Leukozyten auf, während in in¬
aktiviertem, eine halbe Stunde auf 62° erhitztem Serum und
Kochsalzlösung Veränderungen an den Bakterien nicht wahr¬
zunehmen sind. In aktivem Serum merkt man ausnahmsweise
nach längerer Zeit geringgradige Degeneration. Worauf diese
selten auftreLende Erscheinung zurückzuführen ist, werden
Wir weiter unten ausführen. Dabei finden die geschilderten
Veränderungen, worauf wir ganz besonders hinweisen möchten,
außerhalb der Leukozyten statt, Phagozytose spielt
also hiebei keine Rolle. Es muß sich also um eine
Abgabe der wirksamen Stoffe an die Aufschwemmungsflüssig¬
keit handeln. Diese könnte nun zunächst als vitale Sekretion
von seiten der Leukozyten aufgefaßt werden.
In der Tat geben auch die lebenden Leukozyten nach
zweistündigem Aufenthalt bei 37° ihre Stoffe in sehr wirksamer
Form ab, ja selbst bei 15 Minuten langem Kontakt bei
Zimmertemperatur sind die Abgüsse in geringem Grade wirksam.
Es läßt sich jedoch sehr leicht nach weisen, daß die Lebens¬
tätigkeit der Leukozyten dabei keine Rolle spielt, denn auch
die mehrfach eingefrorenen Leukozyten liefern nicht nur mehr¬
mals hintereinander wirkungsvolle Extrakte, sondern sind auch
stets nach mehrfachen Extraktionen noch selbst wirksam. Daraus
ist der Schluß zu ziehen, daß hier nur die Löslichkeit der
Leukozytenstoffe in den verschiedenen Aufschwemmungs¬
flüssigkeiten in Betracht kommt, die Leukozyten spielen dabei
nur eine passive Rolle, eine aktive Beteiligung, etwa in Form
einer vitalen Sekretion, anzunehmen, liegt kein Grund vor.
Die Wirksamkeit der von den Leukozyten befreiten Exsudat¬
flüssigkeit, die stets vorhanden ist, rührt davon her, daß
die Leukozytenstoffe hierin in Lösung gegangen sind. Die
Einwirkung dieser Substanzen auf den hier be¬
schriebenen Stamm F ist eine so starke, daß nach
mehreren Stunden eine trübe Bakteriensuspension,
die den Leukozytenstoffen zugesetzt ist, klar
wird, ein bakterioly tisch er Effekt, der wohl in der
Stärke bisher nur von chemischen Agentien be¬
obachtet sein dürfte. Bei dieser hochgradigen Wirkung
muß es eigentlich wundernehmen, daß das Blutserum nur
ausnahmsweise nennenswerte Degenerationserscheinungen her¬
vorruft, da doch der vielseitigen Annahme gemäß bei der
Serumgewinnung stets Leukozytenstoffe in Lösung gehen sollen;
in den Fällen aber, in welchen das aktive Blutserum einige
Wirkung ausübt, ist diese aller Wahrscheinlichkeit nach den
Leukozytenstoffen zuzuschreiben. Das beste Lösungsmittel für
diese leukozytären Substanzen ist die Kochsalzlösung, denn
darin tritt das restlose Verschwinden der Kokken am raschesten
ein. Die Intensität, mit der die Leukozyten diese Bakterien
vernichten, ist auch der Grund, weshalb es nicht leicht
gelingt, sie in der Abgabe ihrer keimfeindlichen Stoffe zu
erschöpfen. Deshalb scheitert auch der Nachweis der aphago-
ziden Wirkung, deren Vorhandensein man nur dann erkennen
kann, wenn die Leukozyten nicht spontan ihre Stoffe an die
sie umgebende Flüssigkeit abgeben, sondern ihre Abgabe an
die Anwesenheit von Bakterien geknüpft ist. Es erscheint uns
demnach nicht unzweckmäßig, auch jene Form der Leuko-
zytenbakterizidie, welche in den Säften vor sich geht, bei der
man aber die spontane Abgabe der wirksamen Stoffe nicht
ausschließen kann, als Aphagozidie im weiteren Sinne zu be¬
zeichnen. Diese wird hauptsächlich gegen jene Bakterien in
Kraft treten, welche der Leukozytenbakteridie in besonders
starkem Maße unterliegen. Die Huhnleukozyten dürften auf
diese Weise die gekapselten Milzbrandbazillen abtöten.
Was die Versuche mit dem Stamme I betrifft, so stimmt
dieser Kokkus zunächst mit dem Stamme F darin überein,
daß auch hier die Phagozytose fehlt und die Degeneration
außerhalb der Leukozyten in Erscheinung tritt. Dieselbe ist
zwar ebenfalls sehr stark, jedoch nicht in dem intensiven Maße
ausgesprochen, wie bei F. Die morphologischen Veränderungen
erweisen sich dadurch etwas different, daß hier die Sonderun»
zwischen Hülle und Leib nicht so scharf markiert ist, so daß
hier mehr ein allgemeines Abblassen erfolgt; in der Leuko¬
zytenkochsalzaufschwemmung sind die Degenerationsformen viel
kleiner und denen bei Stamm F sehr ähnlich; wie dort, so
ist auch hier die Degeneration am stärksten in der Kochsalz-
aufschwemmung der Leukozyten.
Im Serum treten hier nie Degenerationsformen auf und,
was uns sehr interessant und wichtig erscheint, auch in der
von den Leukozyten befreiten Exsudatflüssigkeit nicht. Dies ist
ein sicherer Beweis dafür, daß die lebenden Leukozyten,
die doch im Exsudat in großer Menge aufgeschwemmt sind,
und zwar unter natürlichen Bedingungen, die wirksamen Stoffe
in nachweisbarer Menge nicht abgeben. Da aber die Kokken
trotzdem außerhalb der Zellen zugrunde gehen, so muß die
Abgabe der wirksamen Stoffe durch sie bedingt sein. Wir
haben also hier die Aphagozidie im engeren Sinne vor uns.
Dieselbe tritt auch darin zutage, daß die Leukozyten durch
bloßen Aufenthalt bei 37° keine im wesentlichen Maße wirk¬
samen Extrakte liefern, was ebenfalls beweist, daß die
spontane Abgabe der bakteriziden Stoffe für die Wirkung der
lebenden Leukozyten keine Rolle spielt. Nur die Gefrier¬
extrakte erweisen sich, allerdings auch nicht konstant, wirk¬
sam. Die bakteriziden Stoffe der Leukozyten werden also
hier in wesentlicher Menge nur dann abgegeben, wenn die
Bakterien den hiezu nötigen Reiz auf sie ausüben. Es scheint
uns jedoch diesbezüglich nicht eine prinzipielle Differenz
gegenüber dem Stamm F zu bestehen, sondern der Grund
für das verschiedene Verhalten darin zu liegen, daß bei
der stärkeren Wirksamkeit auf den Stamm F hier die
spontan in Lösung gegangenen Stoffe schon in Aktion treten,
während sie gegen den Stamm I infolge zu geringer Kon¬
zentration versagen. Erst durch die Anwesenheit der Bakterien
gel't die zur sichtbaren Wirkung nötige Menge in Lösung,
und deshalb tritt auch hier die Aphagozidie im engeren
Sinne in Kraft.
Die hier mitgeteilten Versuche gestatten auch, einige
Fragen allgemeiner Natur zu diskutieren. Wir verfügen hier
über zwei Bakterienstämme, gegen welche das Serum sehr
schwach oder gar nicht wirksam ist, die Phagozytose aber
vollkommen fehlt. Wer also in der Bakterizidie des Blutserums
die Ursache der Widerstandsfähigkeit sieht, oder wer die
Phagozytose für den hervorragendsten Schutz des Organismus
hält, würde hier Bakterien von großer Virulenz erwarten.
In W irklichkeit sind aber beide Keime völlig apathogen.
Daraus geht auch hervor, wie unrichtig die durch einige
Arbeiten der letzten Zeit bedingten Anschauungen sind, daß
die Phagozytosenresistenz den Mikroorganismen unter allen
Umständen zur Infektion verhilft. Wir sehen, daß die mangelnde
Phagozytose ganz bedeutungslos sein kann, indem trotz der¬
selben die Leukozyten sich in hohem Maße als bakterien¬
feindlich erweisen. Wenn die Leukozyten bakterizide Stoffe
besitzen, so können dieselben auch ohne Phagozytose wirk¬
sam sein. Es muß nur zu einer Abgabe derselben kommen.
Dabei braucht es sich jedoch nicht um eine Sekretion, um
eine vitale Eigenschaft der Leukozyten zu handeln, dieselben
können sich dabei vollkommen passiv verhalten; es kommt
dabei nur die Löslichkeit der Leukozytenstoffe in den ver¬
schiedenen Flüssigkeiten (Serum, Kochsalzlösung) in Betracht.
(Aphagozidie im weiteren Sinne.) Das beste Lösungsmittel für
die Leukozytenstoffe scheinen die Bakterien selbst zu sein,
denn sie entlocken den weißen Blutkörperchen ihre bakteri¬
ziden Stoffe auch unter Bedingungen, unter welchen die
gewöhnlichen Lösungsmittel versagen. (Aphagozidie im engeren
Sinne.)
Um nicht weitläufig zu werden und um Wiederholungen
zu vermeiden, geben wir in den beifolgenden Tabellen ein
Resümee zahlreicher Versuche übersichtlich zusammengestellt
wieder :
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
231
Tabelle I.
Stamm F
Stamm I
Nach 2 Stunden
Nach 4 Stunden
Nach 3 Stunden
Nach 5 Stunden
1
.
Leukozyten im aktiven Serum
Meist leere Hüllen,
in wenigen noch
Stippchen sichtbar
Nur noch einzelne
schlecht färbare
Hüllen
Kokken zum großen
Teil schlecht gefärbt
Nur Schatten
r
2
Leukozyten im Serum auf 62° erhitzt
Teils leere Hüllen,
teils Hüllen mit
Stippchen
wie 1
Die Hälfte degene¬
riert, die Hälfte gut
erhalten
Nur Schatten
3
Leukozyten im NaCl
Meist schlecht ge¬
färbte Stippchen.
wenige gut gefärbt
Nichts mehr zu
sehen
Alle Kokken de¬
generiert
Nichts mehr zu sehen
[ 4
Gefrierextrakt mit aktivem Serum nicht zentrifugiert
wie 1
Ziemlich zahlreiche
schlecht gefärbte
Hüllen
wie l
Nur Schatten
L Jl .
Dasselbe mit Serum auf 62° erhitzt
wie 2
wie 4
wie 2
Nur Schatten
6
Dasselbe mit NaCl
wie 3
0*)
wie 3
0
7
Zentrifugierter Rückstand des Gefrierextraktes
(Leukozytentrümmer) im aktiven Serum
wie 1
wie i
Die Hälfte Schalten,
die andere gut er¬
halten
Nur Schalten
8
Dasselbe in Serum auf 62' erhitzt
wie 2
wie 4
wie 7
wie 7
9
Dasselbe in NaCl
wie 3
0
Nur degenerierte
Formen
0
10
Abguß des Gefrierextraktes mit aktivem Serum
Teils leere Hüllen,
teils Hüllen mit
Stippchen
Meist leere Hüllen,
in einzelnen feinste
Stippchen
Geringe Degene¬
ration
Mäßige
Degeneration
'S *-•
11
Dasselbe mit Serum auf 62° erhitzt
Meist Hüllen mit
Stippchen
wie 10
Geringe Degene¬
ration
Mäßige
1 legeneration
03 t/3
12
Dasselbe mit NaCl
Nur schlecht ge¬
färbte Stippchen
feinste schlecht ge¬
färbte Stippchen
Deutliche Degene¬
ration
Mäßige
Degeneration
13
Zentrifugierte Exsudatlliissigkeit
Meist Hüllen mit
Stippchen
Nur spärliche
schlecht farbbare
Hüllen
Keine Degeneration
Keine Degeneration
14
Dasselbe auf 62° erhitzt
*
wie 13 doch noch
gut erhaltene Kokken
Meist Hüllen mit
Stippchen
Keine Degeneration
Keine Degeneration
15
Aktives Serum
Kokken erscheinen
gebläht durch die
Hüllen, keine De¬
generation
Meist gut erhaltene
Kokken, einzelne
Hüllen mit
Stippchen**)
Keine Degeneration
Keine Degeneration
16
Serum auf 62" erhitzt
wie 15
Keine Degeneration
Keine Degeneration
Keine Degeneration
17
Na CI
Keine Degeneration
Keine Degeneration
Keine Degeneration
Keine Degeneration
*) 0 bedeutet, daß alle Bakterien verschwunden sind. — **) Ausnahmsweise findet man Sern, meist von alten Tieren stammend, die im
aktiven Zustande stärkere Degenerationserscheinungen an den Kokken aufweisen.
Tabelle 11.
Stamm F
Stamm I
2 Stunden
4 Stunden
3 Stunden
5 Stunden
Abguß der Serum-Leukozytenaufschwemmung
nach 2 ständigem Aufenthalt bei 37"
Meist Hüllen, zum Teil Nur schwach gefärbte
mit Stippchen Hüllen
Ganz geringe
Degeneration
. j
Geringe Degeneration
Dasselbe mit Serum auf 62° erhitzt
Nur Hüllen mit
Stippchen
Nur schwach gefärbte
Hüllen, zum Teil mit
Stippchen
Ganz geringe
Degeneration
Geringe Degeneration
Dasselbe mit NaCl
Nur schlecht gefärbte
Stippchen
Nichts zu sehen
Starke Degeneration
Starke Degeneration,
doch noch zahlreiche
Kokken
Rückstand im Serum, aktiv, Serum 62" und NaCl
wie 1, 2, 3 in Tabelle J
Erster Abguß des Gefrierextraktes mit aktivem
Serum
wie 10 in Tabelle 1
wie 10 in Tabelle I
Geringgradige
Degeneration
Fast nur Schatten
Zweiter Abguß desselben Extraktes, abermals
eingefroren
Ebenso
Ebenso
Geringe Degeneration
Fast nur Schatten
Dritter Abguß
Ebenso
Ebenso
Geringe Degeneration
Ungefähr 1 4 gut er¬
haltene Kokken
Rückstand, dreimal extrahiert in aktivem Serum
wie 7 in Tabelle I
Nur spärliche, schlecht
gefärbte Hüllen
Die Hälfte degeneriert
Nur Schatten
Erster Abguß mit Serum auf 62" erhitzl
Meist leere Hüllen, teils
mit Stippchen
Zahlreiche, schlecht
gefärbte Hüllen
Nicht untersucht
Zweiter Abguß desselben
Meist Hüllen mit
Stippchen
Zahlreiche, schlecht
gefärbte Hüllen
Dritter Abguß desselben
Nur Hüllen mit
Stippchen
Zahlreiche, schlecht
gefärbte Hüllen
Rückstand im Serum auf 62° erhitzl
Meist leere Hüllen
Ebenso
Erster Abguß mit NaCl
Nur spärliche, schlechl
gefärbte Stippchen
0
Fast alle degeneriert
Alles degeneriert
Zweiter Abguß mit NaCl
Ebenso
0
Die Hälfte degeneriert
Alles degeneriert
Dritter Abguß mit NaCl
Ebenso
0
Geringe Degeneration
Alles degeneriert
Rückständen NaCl
Ebenso
0
Alles degeneriert
Nichts mehi- zu sehen
Aktives Serum
Serum auf 62° erhitzt
wie 15, 16, 17 in Tabelle 1
1 NaCl
232
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 7
Aus der I. chirurgischen Universitätsklinik in Wien.
(Vorstand: Prof. Dr. A, Freiherr von Eiseisberg.)
Zur Behandlung chronischer Eiterungen mit
Wismutpaste nach Beck.
Von Dr. Hans Hermann Schmid, Operateur der Klinik.
Die Behandlung chronischer Fisteln und Abszeßhöhlen
gehört zu den schwierigsten und undankbarsten Aufgaben
der Chirurgie; dieselbe stellt oft ganz enorme Anforderun¬
gen an die Geduld von Arzt und Patienten. Dazu kommt,:
daß solche unangenehme und „uninteressante“ Fälle oft,
namentlich in großen Betrieben, weniger aufmerksam be¬
handeltwerden als andere, welche mehr Aussicht auf Heilung
haben. Wenn man bedenkt, welche Crux für Arzt und
Patienten chronische Eiteraugen sind, wie diese armen
Kranken monate-, jahre-, selbst, jahrzehntelang von einem
Spital zum anderen wandern, oft unzählige Male erfolglos
operiert werden, wie ihnen jede Lebensfreude, jede
Schaffenskraft genommen ist, wie sie, sozial aufs schwerste
geschädigt, als arbeitsunfähig sich selbst und der öffent¬
lichen Wohltätigkeit zur Last fallen, bis ein langes Siech-
lum ihrem elenden Dasein ein Ende macht, dann muß man
für jedes neue Mittel dankbar sein, welches das Los dieser
bedauernswerten Menschen zu erleichtern geeignet ist.
Emil G. Bec'k hat die Einspritzung von Wismutpaste
bei chronischen Eiterungen in den letzten Jahren wiederholt
empfohlen,1) nachdem sein Bruder Carl Beck zum ersten
Male im März 1906 eine solche bei einem Psoasabszeß aus¬
geführt hatte.2) Diese Methode, welche seitdem in der Hand
der drei Brüder Beck zum Teil glänzende Resultate er¬
zielte,3) wurde namentlich von amerikanischen und engli¬
schen Autoren mit Begeisterung äufgenommen,4) während
sie in der deutschen Literatur nicht die ihr gebührende Be¬
achtung fand. Neben einzelnen Autoren, welche auf Grund
einiger weniger Fälle die Methode absprechend beurteilen,
wird sie von anderen nur mit aller Reserve empfohlen, wobei
') E. G. B e c k, Diagnose, chirurgische Behandlung und Verhütung
von Fistelgängen und Abszeßhöhlen. Beitr. zur klin. Chir. 1909, Bd. 62,
S. 101; Der diagnostische Wert und die therapeutische Wirkung der
Wismutpaste bei chronischen Eiterungen. Münch, med. Wochenschr. 1910,
S. 1735; Bismuth paste in chronic suppurations. St. Louis 1910. Mosby
Company.
2) E. G. B e c k, A new method of diagnosis and treatment of
fistulous tracts, sinuses and abscess cavities. Journ. Amer. Med. Assoc.
1908, I, S. 868.
3) E. G. B e c k, s. '); Jos. C. Bee k, Bismuth paste in the treatment
of suppuration of the ear, nose and throat. Journ. Amer. Med. Assoc.
1909, I, S. 117; Carl Beck, Chronic osteomyelitis, its diagnosis and
treatment. Surg. gyn. and obst., Februar 1910.
4) Ridlon and Blanchard, A new method of treating old
sinuses. Journ. orthoped. surg., Sept. 1908. Further Observations upon
the bismuth paste treatment of tuberculous sinuses. Journ. orthoped. surg.,
Januar 1909; Ochsn er, Michigan State medical society, Aug. 1908.
Treatment of listulae of old empyema. Ann. of surg. 1909. S. 151;
Robitschek, Becks bismuth paste treatment of sinuses. North¬
western Lancet, Febr. 1909; Baer, Some results of the injection ol
Becks bismuth paste in the treatment of tuberculous sinuses. John
Hopkins Hospital Bulletin 1909, S. 318: Stern, Bismuth injection for
the treatment of old sinuses. Cleveland med. journ.. Apr. 1909; Bogar-
d u s. Tuberculosis of os sacrum treated with bismuth paste. Journ. Amer.
med. ass. 1910. I, S. 701; Ely, Result of the use of bismuth paste in
tuberculous sinuses. Amer. journ. of surg., Jan. 1910: Aranow, Bis¬
muth paste treatment of chronic sinuses. Amer. journ. of surg. 1910,
S. 306; Hines, Lancet Clinic, Sept. 1908: Cuthbert son, Intestinal
fistula closed by the use of bismuth paste. Illinois med. journ. 1909,
S. 348; Shober, Treatment of chronic tuberculous sinuses by Becks
bismuth vaselin paste injections. Ann. of surg. 1910, S. 716; Don, The
value of bismuth injections into cavities for diagnosis and treatment..
Edinbourgh med. journ. 1909, I, S. 134; Pennington, Bismuth paste
in the treatment of rectal fistula. Lancet Clinic, Dez. 1908; Girou. La
päte bismuthee de Beck. Gaz. des hop. 1910, Nr. 63; Heitz, Boyer
et Morens. Des injections do pa te bismuthee en Chirurgie urinaire. Ann.
des mal. des org. gen.-urin., Juni 1910; Neman off. Russki Wratsch
1909, S. 1568, ref. im Zentralbl. f. Chir. 190', S. 362; Vidakovich,
Beiträge zur Behandlung chronischer Pleuraempyeme nach Beck. Or-
vosi Hetilap. 1908, ref. im Zentralbl. I. Chir. 1908. R. 1487; Dollinger.
Behandlung tuberkulöser Fisteln nach dem Beck sehen Verfahren.
Orvosi Hetilap 1908, ref. im Zentralbl. f. Chir. 1908, S. 1310.
namentlich die Gefahr der Wismutvergiftung überschätzt
zu werden scheint.5)
Da die Reck sehe Methode der Wismutbehandlung in
manchen Fällen von chronischen Eiterungen vollständige
Heilung, in den meisten aber weitgehende Besserung erzielt,
manchmal sogar überhaupt erst eine richtige Diagnose, die
Grundlage richtiger Behandlung, zu stellen erlaubt, erschein!
es gerechtfertigt, über die Erfahrungen zu berichten, welche
im letzten Halbjahre an der I. chirurgischen Klinik in Wien
mit der Beckschen. Wismutpaste gemacht wurden, nachdem
Prof. v. Eiseisberg die Methode in Chicago bei seiner
Amerikareise aus eigener Anschauung kennen gelernt hatte.
Zur Verwendung kam eine 33°/oige Wismutpaste
(Formel I von Beck): Rp. Bismuthi subnitr. 330, Vaselim
albi 67-0. Dieselbe wird in Glaskolben im Wasserbade er¬
wärmt und dadurch flüssig gemacht, gleichzeitig sterilisiert ;
'sie wird mittels eines Gummidrains in eine 25 cm3 haltende
Glasspritze mit nicht zu engem Ansatz angesaugt, nachdem
Spritze und Drainrohr von den vom Kochen her anhaften
den Wassertropfen möglichst befreit wurden und in halb-
flüssigem Zustande direkt in die Fistel eingespritzt, über
deren Verlauf man sich vorher schonend durch die Sonde
etwas orientiert hat.. Die Menge, welche auf einmal inji¬
ziert, wurde, betrug bis zu 100 g. Die Einspritzung erfolgt
langsam unter leichtem Drucke (genau nach der Vorschrift
von Beck), bis ein gewisser Widerstand fühlbar wird oder
Wismutpaste neben der Spritze hervorquillt, eventuell sich
aus einer anderen Fistel entleert.
Die Einspritzungen wurden in ca. 30 Fällen vorge
nommen ; es soll aber nur über die ersten 15 beridhtet,
werden, welche länger als zwei Monate beobachtet werden
konnten. Die Patienten standen im Alter von 6 bis 57
Jahren. Die Fälle verteilen sich folgendermaßen auf die
einzelnen Erkrankungen und ergaben folgende Heilresul
täte :
Zahl der
Zahl der
Wesentlich
Wenig
Spondylitis tbc. . .
Fälle
Injektionen
Geheilt
gebessert
gebessert
7
13
1
3
3
Caries costae . . .
2
2
-
—
2
Caries oss. zygom. .
1
2
—
1*)
—
Tbc. Weich teilabszeß
2
2
_ -
2*1
_
Osteomyelitis femoris
Fistel nach Verschluß
1
8
1
-- 4
eines Anus sacralis
1
1
1
—
_
Lungenabszeß . . .
1
1
1
—
— -j
15
29
4
6
5
Außerdem wurden gerade in der letzten Zeit nodh
eine ganze Reihe von Fällen der Wismutpastenbehandlung
unterworfen, über welche wegen der Kürze der Beobach¬
tungsdauer ein definitives Urteil noch nicht, abgegeben wer¬
den kann. Es sind dies Fälle von Osteomyelitis an Femur
und Tibia, von Knie- und Sprunggelenksfungus, mehrere
fälle von Analfisteln und von Rippenkaries; auch in allen
diesen Fällen trat eine rasche Besserung auf. Es muß aber
erwähnt werden, daß die Patienten mit Gelenksfungus bei
der Injektion über heftige Schmerzen klagten, welche übri¬
gens schon nach kurzer Zeit schwanden. Eine günstige
5) Rosenh ach, Zur Wisnmtbehandlung nach Beck. Berk klin.
Wochenschr. 1909, S. 298; S Lei mann, Zur Behandlung von Fistel- j
gangen mit Beckschen Salbeninjektionen. Münch, med. Wochenschr.
1908, S. 2537 ; Zollinger, Beiträge zur Frage der Wismutpasten¬
behandlung tuberkulöser Fisteln nach Beck. Schweizer Rundschau I'.
Med. 1910, Nr. 20. ref. im Zentralbl. f. Chir. 1910, S. 911; Sag, Heber
den Heihvert der Wismutpasta in otochirurgischen Fällen. Pester nied.-
chir. Presse 1909, S. 190; Elbe, Zur Fistelbehandlung mit Einspritzungen
von Wismutpaste nach E. G. B e c k. Deutsche med. Wochenschr. 1910.
Nr. 13: Brandes, Erfahrungen zur Behandlung von Fisteln mit
Beck scher Wismutsalbe, Med. Klinik 1910, S. 1258: Eggenberger.
Wismutvergiftung durch Injektionsbehandlung nach Beck. Zentralbl.
f. Chir. 1908, S. 1309 und 1537; Schümm und Lorey, Beitrag zur
Frage der Giftwirkung von Bismuthum subnitricum usw. Fortschr. a. d. Geh.
d. Röntgenstrahlen 1910, Bd. 15. S. 150; Reich, Ueber Vergiftung durch
Beck sehe Wismutpastenbehandlung. Beitr. zur klin. Chir. 1909 Bd. 65,
S. 184; M a t s u o k a, Wismutvergiftung nach Injektion. Deutsche Zeitschr.
f. Chir. 1909, Bd. 102, S. 508.
®) Bei dem Falle von Caries oss zygom. und bei einem tbc. Weiöh-
teilabszeß wurde nach wesentlicher lokaler Besserung ein Sequester ent¬
fernt, resp. der Abszeß in toto exstirpiert.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
283
Nr. 7
Beeinflussung im Sinne einer verminderten Sekretion konnte
auch in diesen Fällen beobachtet, werden. Nierenfisteln,
Kotfisteln und andere Fisteln nach Laparotomien, für welche
Beck das Verfahren ebenfalls empfiehlt, kamen nicht zur
Behandlung.
In der Regel ist der Verlauf nach der Injektion der
folgende: Zunächst durch ein bis zwei Tage stärkere Sekre¬
tion von Eiter, gemischt mit Wismutpartikelchen; dann
rasche Abnahme der Menge des Sekretes, welches gleich¬
zeitig dünnflüssig, mehr serös wird. Wenn Schmerzen be¬
stehen, so lassen dieselben meist rasch nach der Injektion,
nach. Die Injektion selbst wurde außer in den erwähnten
Fällen von Gelenkstuberkulose und in einem Falle, bei
welchem der Ansatz der Spritze wahrscheinlich direkt auf
einen Interkostalnerven drückte, von dem Patienten nie¬
mals schmerzhaft empfunden. Besonders günstig wird ein
Ekzem in allen Fällen, bei denen ein solches in der Um¬
gebung der Fistel vorhanden ist, durch die Injektion beein¬
flußt; schon wenige Tage nach derselben pflegt die vorher
schwer veränderte Haut fast ganz zur Norm zurückzukehren.
Wo die Sekretion unvermindert weiter bestand, wurde nach
8 bis 14 Tagen eine neue Injektion vorgenommen.
Die diagnostische Bedeutung der Methode,
welche von allen Autoren rückhaltlos anerkannt wird, lernten
auch wir besonders schätzen. So halte in einem Fälle von
Spondylitis die Diagnose lange Zeit Caries costae gelautet,
weil sich die Fistelöffnung weit seitlich in der Lendengegend
unterhalb der zwölften Rippe befand, ohne daß die Wirbel¬
säule eine Deformität zeigte oder druckempfindlich war;
im Röntgenbilde sieht man deutlich, daß das Wismut gegen
den zehnten Brustwirbel hinzieht. Besonders lehrreiche
Bilder geben die Fisteln und Abszesse in der Gegend des
Mastdarmes und des Steißbeins. So konnte in einem Falle,
wo wegen angeblicher "Karies des Kreuz- und Steißbeins
mehrere erfolglose Operationen vorgenommen worden
waren, festgestellt Werden, daß es sich um einen subkutanen
Weichteilabszeß unter der Steißheinspitze handelte; derselbe
könnte in loto entfernt und die Patientin, welche seil 15
Jahren krank war, geheilt werden. Ebenso ergab das Rönt¬
genbild in einem Falle von Caries oss. zygom., daß der
Prozeß ganz lokalisiert war: daraufhin wurde der erkrankte
Knochen exkochleiert, ein kleiner Sequester entfernt und
die Patientin wesentlich gebessert, nachdem schon vorher
das Ekzem in der Umgebung der Fistel, welches die ganz*'
Wange ergriffen hatte, abgeheilt war; die Behandlung ist
derzeit noch nicht abgeschlossen. In einem Falle von Osteo¬
myelitis femoris hatte die Diagnose früher Caries femoris
Fig. 1.
et ossis ilei gelautet, wegen der drei Fisteln, welche an
den entsprechenden Stellen seit zirka einem Jahre bestan¬
den. Das Röntgenbild (Fig. l) zeigte, daß es sich um einen
Krankheitsherd am oberen Femurende handelte, hauptsäch¬
lich entsprechend dem Trochanter major und minor, ohne
Sequesterbildung, mit ausgehender Unterminierung der
Weichteile bis unter die Mitte des Oberschenkels; durch
acht Injektionen gelang es nicht nur, die Fisteln zum Ver¬
schlüsse zu bringen, sondern auch die Patientin, welche
früher nur mit Mühe und unter großen Schmerzen am Stock
hinken konnte, vollständig schmerzfrei und gänzlich ar¬
beitsfähig zu machen.
U eberblicken wir unsere Resultate, so läßt sich sagen,
daß der Wismutpastenbehandlung vor allem eine sehr große
diagnostische Bedeutung zukommt, wie dies von Beck stets
hervorgehoben und auch von allen anderen Autoren be¬
stätigt wurde. So sagt Baer mit Recht: „Wenn die Methode
auch gar keine therapeutische Wirksamkeit besäße,; soi sichert
ihr schon das Licht, das sie auf Art und Ausdehnung tder
erforderlichen Operationen wirft, ihren vollen Wert.“
Aber auch die therapeutischen Erfolge ermu¬
tigen zu weiteren Versuchen. Wenn wir auch nicht so gün¬
stige Resultate erzielen konnten, wie 'die Brüder Bec k selbst,
so konnten wir uns doch von der ausgezeichneten sym¬
ptomatischen Wirksamkeit des Mittels in allen Fällen über¬
zeugen (Schwinden der Schmerzen, Nachlassen der Sekre¬
tion, Erholung der Haut vom Ekzem). In manchen Fällen
konnte aber auch eine vollständige Heilung oder weitgehende
Besserung erzielt werden, in welch letzteren Fällen eine
minimale Sekretion (Verbandwechsel einmal wöchentlich ge¬
nügend) das einzige Krankhedtssymptom von seiten der
Fistel darstellt. Am wenigsten günstig wurden Fälle von
tuberkulösen Fisteln beeinflußt, bei denen der primäre
Krankheitsherd sich in einem floriden Stadium befand. Wo
es sich aber um Eiterung nach einem ausgeheilten primären
Prozeß handelte (wobei anzunehmen ist, daß der Eiter haupt¬
sächlich von dem die Fistel auskleidenden Granulations¬
gewebe produziert wird), oder wo cs sich um eine nicht
spezifische Erkrankung handelte (Osteomyelitis, Lungenab¬
szeß), da wären die Erfolge überraschend. Wenn es auch
in diesen Fällen verfrüht wäre, von einer dauernden Hei¬
lung zu sprechen, so ist doch auch der temporäre' Verschluß
der lästigen Fistel von nicht zu unterschätzendem Vorteile
für den Patienten.
Eine direkt ungünstige Beeinflussung des Krankheits¬
verlaufes konnte in keinem einzigen Falle nachgewiesen
werden. Wir erlebten keine Embolie. Ebensowenig wurden
Wismutvergiftungen beobachtet, obwohl genau auf die ent¬
sprechenden Symptome (Salivation, Stomatitis, Gastroente¬
ritis, nervöse Erscheinungen) geachtet wurde. Dabei muß
allerdings betont werden, daß auf einmal nie größere Dosen
als 100 Cm3 injiziert wurden, meist nur 25 bis 50 cm ’. Bei
längerer Behandlung scheint auch eine kumulative. Wirkung
nicht wahrscheinlich zu sein, da das Wismut, soweit es
nicht wieder durch die Fistel herausfließt, der Resorption
anheimfällt. So waren in einem. Fälle von Spondylitis, bei
welchem in einem Intervalle von acht Tagen 30 und 35 cm3
injiziert worden waren (Fig. 2), nach drei Monaten nur
minimale, punktförmige Spuren von Wismut im Röntgen¬
bilde nachweisbar. Zur Verhütung von Wismutvergiftungen
sei auf ein kleines Detail in der Technik hingewiesen,
welches in den Publikationen nirgends erwähnt ist : Man ver¬
meide es, mit der Sonde oder mit der Spritze die Granu¬
lationen zu verletzen oder unter zu starkem Drucke zu
injizieren, dann wird man kein Wismut in die Gewebsspalten
.pressen. Es ist wahrscheinlich, daß die Resorption von der
gut mit Granulationen ausgekleideten Abszeßhöhle, respek¬
tive von dem Fistelgange aus eine viel langsamere ist, als
wenn die Paste direkt in das Gewebe kommt, wie es bei
Verletzung der Granulationen der Fall sein könnte. Deshalb
empfiehlt es sich auch, eine Spritze mit nicht zu dünnem
Ansätze zu nehmen. Daß bei solchem Vorgehen auch am
sichersten Embolien zu vermeiden sind, versteht sich von
selbst.
234
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911-.
Es wurde in letzter Zeit von Brandes empfohlen,
statt des Bismuthum subnitric'um lieber das Bismuthum
carbonicum zu verwenden, wegen der geringeren Gif ligkeil
des letzteren.1) Eigene Erfahrungen darüber stehen uns
nicht zu Gebote. Zu diagnostischen Zwecken genügt jeden¬
falls auch das Bismuthum carbonicum. Die therapeutische
M irksamkeit der Wismutpaste ist aber uacii den Unter¬
suchungen von ßaer und von Don dadurch zu erklären,
daß in der Körperwärme eine Hydrolyse der Verbindung
eintritt und salpetrige Säure frei wird, welch letztere das
eigentlich kurative Agens darstellen soll. Wenn es sich
wirklich so verhält, so müßte das Bismuthum carbonicum
weniger wirksam sein.
Zur Orientierung über Details in der Behandlung und
über eine größere Kasuistik sei die Monographie von Beck,
welche auch ausgezeichnete Abbildungen - enthält, wärm-
stens empfohlen. Einen Auszug aus derselben bildet Becks
Artikel in der Münchener medizinischen Wochenschrift (1. c).
Zusammenfassung: 1. Die Wismutpastenin¬
jektion. nach Beck ist eine für Arzt und Patienten,
angenehme, so gut wie schmerzlose, nach unse¬
ren Erfahrungen u n g e f ä h r 1 i eh e B eh an d 1 u n g s-
methode bei chronischen Fisteln und Abszeß-,
höhlen.
2. Dieselbe ist ein ausgezeichnetes, diagno¬
stisches Hilfsmittel zu r Orientierung über Grö ße,
Verlauf und Ursprungsort der Fisteln und Ab¬
szesse, ist somit hei der lndikatio ns Stellung für
einen chirurgischen Eingriff zur Verhütung un¬
vollständiger und darum zweckloser Operatio¬
nen von großem Werte,
3. Das Mittel besitz I eine ausgezeichnete
symptomatische Wirksamkeit (Nachlassen von
Schmerzen, Sekretion und Ekzem); in manchen
I’ alle n k o m m t es zur v o 1 1 s t ä n d i g e n H e i 1 u n g.
Unmittelbar nach Abschluß dieser Arbeit erschien ein Auf¬
satz von Brandes: Feber Behandlung von Fisteln mit Beck¬
scher Wismutsalbe, in der deutschen Zeitschrift für Chirurgie
(1911, Bd. 108, S. 221). Erfreulicherweise kann auch Brandes
über vorwiegend günstige Resultate berichten. Gegenüber der
von ihm geübten Technik (fraktionierte Auffüllung der Fisteln
durch eingeführte Katheter von der Tiefe her) ist nur einzuwenden,
daß dadurch die Gefahr der Verletzung von Granulationen ver¬
größert wird, abgesehen davon, daß man bei den meisten, viel¬
fach gebuchteten und verschlungenen Fistelgängen doch nicht
ganz auf den Grund und in alle Sackgassen derselben kommen
kann. Für Abszeßhöhlen am Thorax mit breiter Mündung (nach
Empyem- und Lungenabszeßoperationen) ist die Technik von
Brandes sicher sehr zweckmäßig.
Aus der dermatologischen Universitätsklinik in Krakau.
Zur therapeutischen Bedeutung des Arseno-
benzols (606).
\ on Prof. Dr. 11 . Reiss, Direktor der Klinik und Dr. F. Krzysztalowicz,
a. ö. Professor der Dermatologie.
Der Behandlung mit dem Ehrlich sehen Präparat
wurden in der hiesigen dermatologischen Klinik bis zum
heutigen Tage im ganzen ca 74 Patienten unterzogen. Wenn
irgend durchführbar, wurden die betreffenden Kranken bis
cur vollkommenen Symptomenlosigkeit in cler Klinik zurück¬
gehalten ; da sich dies leider nicht in jedem Falle durch¬
setzen ließ, versuchten wir, sie erst dann zu entlassen,
wenn die sichtbaren klinischen Symptome bereits abgeklun-
geu und der Heilungsprozeß sichtlich als beendet betrachtet
werden konnte. Außerdem trachteten wir durch späteres
Wiederbestellen der Patienten uns von den weiteren Fort¬
schritten in der Genesung, respektive von eventuellen Rück¬
fällen der Krankheit zu überzeugen. Die der Behandlung
unterzogenen Kranken wurden mit der peinlichsten Ge-
7) Nach den experimentellen Untersuchungen von Meyer und
Steinfeld (Arch f exp. Path. u. Pharm., Bd. 20, S. 40) führte Bism
carbon., in frische Wunden gebracht, in 20— 30 Stunden zum Tode unter
den Symptomen der Wismutvergiftung, was bei den Kontrollversuchen
mit Bism. subnitr. nicht der Fall war.
Nr. 7
nauigkeit untersucht und alle während der ganzen Behand-
lungsdauer bemerkten Symptome in präziser Weise proto¬
kolliert.
Die für intramuskuläre Injektionen bestimmten Lösungen
wurden immer mehr weniger in derselben Weise vorbereitet.
Die zur Injektion bereitete Arsenobenzoldosis wurde in einem
Mörser mit 1 cm3 Aethvlalkohol, unter Zugabe von 10 bis
20 Tropfen einer n/10-Natronlauge und 3 biis 4 cm3 einer sterilen
physiologischen Kochsalzlösung verrieben. Die so gewonnene
klare Lösung wurde in der gesamten Menge von 4 bis 5 cm3
mittels einer R ec ord sehen Spritze in die obere Glutäalgegend
eingespritzt.
Für die intravenösen Injektionen wurde die Lösung in einer
ähnlichen Weise vorbereitet, nur war die Menge der verbrauchten
Natronlauge etwas größer; man goß dieselbe in eine groß»1,
frisch sterilisierte, mit physiologischer Kochsalzlösung voligefüllte
Flasche, die für intravenöse Injektionen bestimmt war. Außer¬
dem wurden von uns auch hie und da vollkommen neutrale
Lösungen verwendet, wir lernten aber bald die Vorteile der
alkalischen Lösungen kennen und haben von nun an immer
Natronlauge zugegeben. Wir haben auch anfangs, besonders bei
kleineren Dosen, neutrale Lösungen unter Zugabe von Lauge i
und Essigsäure verfertigt, indem wir uns des Phenolphthaleins
als Indikator bedienten, gaben aber dieses Verfahren vollkommen
auf, da wir die Ueherzeugung gewannen, daß eine einfach in
Kochsalzlösung unter iZugabe von Natronlauge' vorbereitete
Flüssigkeit am besten vertragen wird und wir nie nach derselben
etwa größere Schmerzen konstatieren konnten.
Die intramuskulären Injektionen wurden immer in dieselbe
Gegend appliziert. Diese Gegend wählten wir etwa 3 cm über j
dem Mittelpunkte der Linie, welche den Trochanter major mit
dem Tuber ossis ischii verbindet und wir halten dieses Terri¬
torium für die Injektionsstelle im topographischen Sinne als das
meist geeignete. Unmittelbar nach der Injektion wurde die Stelle |
mit der Uohlhand massiert, wobei zugleich passive Bewegungen
im Bereiche des Hüftgelenkes eingeleitet wurden. Hienach wurde i
über der Injektionsstelle ein Dunstumschlag aus essigsaurer Ton¬
erde appliziert und ein Verband (Spica coxae) angelegt. Der
Dunstumschlag verblieb gewöhnlich die ersten drei Tage an der
Injektionsstelle,, indem er alle paar Stunden gewechselt wurde.
Einige Tage nach der Injektion nahm Patient ein warmes
Bad, nach welchem oft eine Linderung der Schmerzen notiert
wurde.
Die intravenösen Injektionen wurden nach der üblichen
Methode in eine der Medianaäste appliziert. Es ist wohl über¬
flüssig, alle Schwierigkeiten der bezüglichen Technik bei intra¬
venösen Injektionen aufzuzählen, die der allgemeinen Verbrei¬
tung der sonst so verlockenden Methode gewiiß im Wege stehen.
Es ist eine Methode, die wohl nur in einer Klinik oder einem
Sanatorium zur Anwendung gelangen kann, die aber auch dann
Mt. verschiedenen Hindernissen zu kämpfen hat, die oft in
anatomischen \ erhältnissen ihren Grund haben. Das in vielen
Fällen unentbehrliche Präparieren der zarten und dünnen Venen¬
stämme gestaltet schon an und für sich die Methode zu einer
lang wierigen und oft ziemlich ermüdenden. Die Zukunft wird uns
erst lehren, inwiefern diese Injektionen, denen doch immer intra¬
muskuläre Depotinjektionen folgen müssen, den usuellen Glutäal-
ieinspritzungen überlegen sind und ob dieselben auch wirk¬
lich in der I herapie der Zukunft eine so hervorragende Rolle
spielen werden.
Die hei einem und demselben Patienten ange, wen¬
dete Arsen obenxoldose oszillierte zwischen 0-3 bis 1-30;
die höchste einmalige Dosis betrug 0-8, die niedrigste 0-3. Da
jedoch bei vielen Patienten die intramuskulären Injektionen zwei-
bis dreimal wiederholt wurden, betrug die höchste während
der ganzen Behandlungsdauer summarisch verbrauchte Menge
1 -30. Nur in einem einzigen Falle primärer Sklerose injizierte
man zweimal je 0-7, also bekam der Patient im ganzen 1-10
des Präparates u. zw. im Verlauf von acht Wochen.
Bei intravenösen Injektionen wurden nur kleinere Dosen
mul zwar ä 0-4 bis 0-6 verabreicht, wonach weitere Dosen
a 0-5 bis 0-(> als Depotinjektionem folgten, so daß, die Gesamt¬
dosis 0-9 DO- TT betrug. In einem Falle machte man zwei
intravenöse Injektionen ä 0-4 u. zw. mit einer Unterbrechung
von 48 Stunden.
In der Mehrzahl der behandelten Fälle (in 50 Fällen auf 75)
wurde nur einmal u. zw. intramuskulär, injiziert; in elf Fällen
folgte nach der ersten Injektion eine zweite (beide intramuskulär)
in zwei Fällen bekamen die Kranken drei Injektionen (ebenfalls1
alle intramuskulär) und in einem Fälle folgte zwei intramusku¬
lären Injektionen (0-5 4-0-5) noch eine dritte intravenöse (0-3).
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
235
Nr. 7
la neun Fällen, wurde zuerst eine intravenöse Injektion vorge
nommen, worauf in zwei Tagen komplementäre Depotinjektionen
folgten.
Der Zeitraum zwischen zwei intramuskulären Injektionen
war immer ziemlich weit bemessen; hei kleinen Dosen (0-3 bis
0-4) folgte die zweite neun bis zehn Tage nach der ersten,
die dritte aber erst nach Verlauf von drei bis vier Wochen. Wenn
die erste Injektion mehr als etwa 0-5 betrug, wartete man mit
der folgenden immer einige (drei bis fünf) Wochen, ln einem
Falle betrug die Unterbrechung zwischen der ersten und zweiten
Injektion sogar acht Wochen; es handelte sich eben um einen
Kranken, der acht Wochen nach der ersten Injektion die Klinik
aufsuchte und bei dem man ein frisch aufgebrochenes Infiltrat
an Stelle der früher abgeheilten Sklerose konstatieren konnte
und im ausgepreßten Serum reichliche Spirochäten vorgefunden
bat. Einem Kranken mit Lues mialigna, welcher bereits mit
zwei intramuskulären Injektionen (ü-5 + 0-5) behandelt wurde,
applizierte man noch eine dritte Dosis intravenös (0-3) und
zwar', nachdem bereits zwei Wochen nach der zweiten Injektion
verflossen, waren.
Unser Material bildeten hauptsächlich Kranke mit sekun¬
dären Symptomen verschiedener Art (darunter die Mehrzahl
frischer, bisher nicht behandelter Fälle) ; ein kleiner Feil betraf
Fälle tertiärer Syphilis mit mehr oder weniger malignem Ver¬
laufe, außerdem behandelten wir Fälle primärer Geschwüre mit
oder auch ohne Schwellung benachbarter Lymphdrüsen, so daß
die Wirkung des Mittels in allen Perioden der Krankheit zur
Beobachtung gelangte. Zur Behandlung gelangten auch Fälle
primärer Syphilis mit noch negativer Wassermannscher Re¬
aktion, denen aus wohlverständlichen Gründen ein ganz be¬
sonderes Interesse entgegengebracht wurde.
Die lokalen Beschwerden, die bei der Injektion des Prä¬
parates aufzutreten pflegten, waren manchmal bereits sofort vor¬
handen, manchmal traten sie erst etwas später u. zw. nach ein
bis zwei Stunden auf. Die Kranken klagten teils über . einen
starken Druck oder über intensive Schmerzen von meist neuralgi¬
schem Charakter, die in das Kreuz- und Ischiadikusgebiet aus¬
strahlten. Die Größe der Schmerzempfindung schien oft von
dem allgemeinen Zustand des Nervensystems, oder aber auch
von anderen konstitutionellen Momenten abzuhängen. Bei
manchen Kranken traten die Beschwerden ziemlich spät auf,
so z. B. erst am zweiten oder auch am dritten Tage nach der
Injektion, waren aber auch dann heftig und langdauernd. Die
lokalen Beschwerden hielten manchmal nur kurze Zeit an, manch¬
mal erstreckten sie sich auf viele Tage oder auch Wochen, wobei
in den letzteren Fällen der Schmerz mehr lokalisiert erschien
und mehr die Injektionsgegend betraf und die üblichen Ausstrah¬
lungsbahnen vermissen ließ. Gewöhnlich entstand nach einigen
Stunden oder Tagen eine mehr oder minder zunehmende schmerz¬
hafte Schwellung um die Einstichstelle herum, welche das
Liegen, Gehen und Sitzen in großem Maße behinderte. Die
entzündlichen Tumoren waren in einigen Fällen ziemlich hoch¬
gradig; die Haut erschien darüber auch etwas gerötet und fühlte
sich wärmer an, zu einem Abszesse kam es aber in unseren
Fällen nie.
Nur in ganz wenigen Fällen war die Injektionskur von ganz
geringen oder gar keinen Sensationen in der Glutäalgegend be¬
gleitet, so daß die betreffenden Patienten nach der Injektion
ohne jegliche Beschwerden herumgehen konnten. Merkwürdiger¬
weise waren es gerade jene Patienten, bei denen auch die
Temperatur den gewöhnlichen Höhepunkt nicht, erreichte und
nicht über 38° gestiegen ist. Bei zwei jüngeren Patienten verlief
lie ganze Kur ohne eine Spur von Schmerzen, obwohl das
injizierte Flüssigkeitsquantum, wie auch die Alkaleszenz der be¬
treffenden Lösungen von den bei anderen Patienten verwendeten
ganz und gar nicht verschieden waren.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die Menge der
injizierten Flüssigkeit und die Alkaleszenz der gebrauchten Lö¬
sung als diejenigen Momente zu betrachten sind, die in dem
Hervorrufen der lokalen Beschwerden als die wichtigsten ge¬
nannt zu werden verdienen. Eine ganze Reihe von einschlä¬
gigen Fällen hat diese Observation im vollsten Maße bestätigt.
Man kann im allgemeinen bestätigen, daß alle Injektionen ganz
gut vertragen wurden.
Das wichtigste und zugleich das meist stabile Symptom,
welches nach den Ehr lieh sehen Injektionen aufzutreten
pflegt, bildet das Fieber, welches jedoch nicht von langer
Dauer ist und meist nicht über sechs bis acht Tage anhälf.
Sehr oft erreicht die Fieberkurve an demselben Tage nach
der Injektion nur 37°, während die Maximaltemperatur ersL
am dritten oder vierten Tage mit 38° notiert wird. In vielen
Fällen protokollierten wir schon am Tage der Injektion 38°
oder auch etwas mehr, das maximale Ansteigen des Fiebers
fiel jedoch erst, gewöhnlich auf den dritten oder vierten Tag
nach der Injektion. Obwohl im Verhalten der Temperatur
sehr viele individuelle Varietäten zu verzeichnen waren,
so läßt sich doch im allgemeinen behaupten, daß Tempe¬
raturschwankungen bis 39° und darüber u. zw. nach intra¬
muskulären Injektionen, jedenfalls zu Seltenheiten gehörten.
Am fünften oder sechsten Tage war in der Mehrzahl der
Fälle bereits völlige Apyrexie zu konstatieren; in einigen
Fällen jedoch dauerte der febrile Zustand (37 bis 38°) 10 oder
14 Tage. Die Ursache dieses langdauernden Fiebers nach
den Injektionen war gewiß nicht immer klar, wir konnten
jedoch wahrnehmen, daß ein kausaler Nexus zwischen mas¬
sigen, der Resorption nicht vollkommen fähigen Infiltraten
in der Glutäalmuskulatur nicht zu verleugnen war. Wir
sehen uns berechtigt, anzunehmen, daß in der
der Injektion folgenden lokalen Reizung des Ge¬
webes, der Beschädigung dessel ben und der lang¬
same n, a b e r z u g 1 e i c1 h p ermanentenltesorplionder
Zerfallsprodukte in vielen Fällen eine gewiß ge¬
nügende Erklärung prolongierter Temperatur¬
schwa n kungen gegeben ist.
Die Temperaturschwankungen nach einer zweiten In¬
jektion gleichen mehr weniger denen nach der ersteren —
zuweilen war das Fieber auch etwas höher, obwohl
von kürzerer Dauer. Hohes Fieber nach den Injektionen
wurde bei Patienten mit Lues maligna notiert, jedoch nur
nach der ersten Injektion. Dieses hohe Fieber findet aber
in diesen Fällen auch in der allgemeinen Kachexie des Orga¬
nismus seine Erklärung ; die viel niedrigere Fieberkurve
nach der zweiten Injektion sprach bereits für eine Hebung
des allgemeinen Stoffwechselzustandes, die der ersten In¬
jektion zu verdanken war.
Ein viel höheres Fieber notierte man nach intravenösen
Injektionen, obwohl es in der Regel nur von kurzer Dauer
war. Die Temperalurkurve ging in diesen Fällen immer
steil in die Höhe und erreichte gewöhnlich schon in einer
Stunde nach der Injektion 40° oder auch darüber. Oft trat
aber schon nach einigen Stunden eine völlige Apyrexie ein,
oder aber stieg die Temperatur wenigstens um einen Grad
herunter. Am nächsten Tage blieben die Patienten meistens
fieberlos, oder sie fieberten ein wenig, aber nie über 38°.
Ein länger dauerndes Fieber, welches hie und da zu ver¬
zeichnen war, konnte man gewiß nicht mit einer nach¬
haltigen Wirkung des Mittels erklären, wohl aber vielleicht
auch mit eventuellen periphlebitischen Infiltraten, welche
oft bei der schwierigen Technik der intravenösen Injek¬
tionen kaum zu vermeiden sind.
Die Temperatursteigerungen nach denjenigen intramus¬
kulären Injektionen, welche zwei Tage nach den intravenö¬
sen als Depotinjektionen folgten, waren auch nicht besonders
hoch und erreichten nie die Höhe, die nach vorherigen
intramuskulären Injektionen zu verzeichnen war.
Es verdient gewiß mit Nachdruck betont zu werden,
daß unserer Beobachtung nach die Höhe der Tempera¬
tur s t e i g e r u n g e n von der Größe der einverleibten
Arsenobenzoldosen vollkommen unabhängig
war. So stieg oft die Temperatur nach 0-4 des Präparates
auf 38° und darüber, während nach größeren Dosen (zum
Beispiel 0-7) eine ganz geringe Temperatursteigerung auf¬
getreten ist, die auch nur von sehr kurzer Dauer war.
Die ersten Kranken wurden durchgehends mit 0-3 bis 0-4
behandelt. Nach erneuter Anweisung von Ehrlich stiegen wir
später mit der Dose bis 0-6 und 0-8, doch sind wir nicht der
Ansicht, daß der therapeutische Erfolg mit der Höhe der Dosis
in jedem Falle in Einklang zu bringen wäre. So sahen wir
hie und da. nach 0-4 einen viel rascheren Erfolg ceteris paribus
als nach 0-7 u. zw. nach derselben Methode der Applikation
des Mittels; in gleicher Weise bemerkte man nach kleineren
Dosen eine viel heftigere Reaktion als nach größeren, obwohl
die betreffenden konstitutionellen Momente ungefähr als ganz
gleich zu bezeichnen waren. Im allgemeinen war nach intia-
286
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
venösen Injektionen ein etwas prompterer therapeutischer Erfolg
zu verzeichnen, als nach den intramuskulären. Dieselben flatten
gewöhnlich eine heftige allgemeine Reaktion im Gefolge, jedoch
waren außer den üblichen Symptomen, wie hohes Fieber, IJebel-
keit, Brechreiz, Erbrechen, Äbgeschlagenheit und Schwindel, keine
anderweitigen Erscheinungen zu notieren. Reble Wirkungen auf
das Herz oder dein Verdau rings traktus, oder auch erhebliche Stö¬
rungen des Allgemeinbefindens, wurden, außer in einem einzigen
Falle, von dem noch die) Rede sein wird, nicht beobachtet, eben¬
sowenig Eiweiß- oder Zuckerausscheidung im Urin.
Als eine der fast stabilen Erscheinungen, die nach
allen Injektionen zu verzeichnen war, ist die Herxhei-
m er sehe Reaktion zu nennen. In einer Anzahl von Fällen
trat eine stärkere Rötung des Exanthems bereits nach 8 bis
20 Stunden, meist aber eist am folgenden Tage nach der
Injektion auf. Diese Erscheinung, die hie und da auch nur
in einem roten Halo rings um die Effloreszenzen bestand,
dauerte mehrere Stunden oder auch zwei bis drei Tage. Es
ist im allgemeinen zn verzeichnen, daß die Reaktion nach
intravenösen Injektionen viel eher aufgetreten ist als nach
intramuskulären, was ja in der plötzlichen Ueberflutung der
Gewebe mit Arsenobenzol eine genügende Erklärung finden
würde. Die Reaktion dauerte aber nach intravenösen In¬
jektionen nicht lange, sie schwand yielmehr ebensoschnell,
als sie gekommen ist und war schon gänzlich abgeklungepa,
als die nachfolgende intramuskuläre Depotinjektion, das heißt
am dritten Tage, zur Einverleibung gelangte. In zwei Fällen
war die Rötung bereits nach 18 Stunden vollkommen ver¬
schwunden. Nach intramuskulären Injektionen dauerte die
Rötung immer länger, bisweilen auch drei bis vier Tage;
dieselbe erschien häufiger nach makulösen, als
nach papulösen Exanthemen, häufiger nach Einspritz¬
ung von alkalischen als neutralen Lösungen. Ob die Höhe
der angewandten Dosis einen deutlichen Einfluß auf die
Intensität der Reaktion, oder auf das prompte Erscheinen
derselben, eventuell auf die Dauer dieser Erscheinung einen
Einfluß auszuüben vermag, möchten wir vorläufig dahin¬
gestellt sein lassen, da wir eine sehr prompte Reaktion so¬
wohl nach geringen, als auch nach hohen Dosen zu Gesicht
bekamen. Das eine möchten wir aber als charakteristisch
bezeichnen: die nach kleineren Dosen auf treten¬
den Reaktionen hielten immer länger an, als die
sehr prompt und intensiv zutage tretenden Rö¬
tungen, welche nach Einverleibung hoher Dosen
des Mittels entstanden sind. Dies könnte wohl mit
der Annahme, daß die kleineren Dosen nur irritierend
wirken, ohne das Virus zu zerstören, im allgemeinen stimmen.
Nur in einzelnen Fällen war durchaus keine Re¬
aktion im Bereiche der syphilitischen Efflores¬
zenzen zu verzeichnen, dies geschah aber nicht
immer nach größeren Dosen. Den Mangel der Reak¬
tion notierte man sowohl in ganz frischen Fällen, als auch
bei Rezidiven, sowohl bei früher behandelten, als vollkom¬
men unbehandelten Fällen In diesen Fällen sah man ge¬
wöhnlich, daß das Exanthem auf einmal abzublassen be¬
ginnt, um in sehr kurzer Frist zu verschwinden.
Die \\ irkunjg des Arsenobenzols auf das syphilitische
Infiltrat ist im allgemeinen als eine sehr eklatante zu be¬
zeichnen. So verloren die Sklerosen kurze Zeit nach der
Injektion ihre Derbheit, das infiltrierte Gewebe wurde mehr
sukkulent und die braunrote Farbe der Infiltrate ging in eine
gelbrote über. Waren die Sklerosen, was am häufigsten vor¬
kommt, ulzeriert, so überhäuteten sie sich äußerst rasch,
bei gleichzeitiger Reinigung des Geschwürsgrundes. Eine
mäßige Induration ließt sich aber noch längere Zeit, in vielen
Fällen auch ein bis zwei Wochen lang, konstatieren.
Seichte, pergamentartige Sklerosen, wie sie bei Frauen an
den kleinen Labien vorzukommen pflegen, verloren ihr In¬
filtrat. oft binnen wenigen Tagen. In einem Falle war nach
einer derartigen Sklerose drei Tage nach der Injektion be¬
reits keine Spur vorhanden, nur eine seichte Grube wies
auf den abgelaufenen Prozeß hin.
Die infolge des Primäraffektes angeschwollenen und
derben Inguinaldrüsen erschienen sehr oft schon nach zwei
Nr 7
bis drei Tagen verkleinert und weicher; diese auffallend
prompte Wirkung auf die Drüsen ließ sich viermal auf
zwölf Sklerosenfälle in präziser W^eise konstatieren. In einem
Falle sind zwei große, derbe Drüsen nach 24 Stunden weich
geworden; in der Mehrheit der Fälle aber mußte man längere
Zeit abwarten, bis derselbe Effekt eingetreten ist, ja, wir
haben auch Fälle beobachtet, wo die Drüsen wochenlang
unverändert blieben.
Eine sehr effektvolle und vorteilhafte Wirkung des
Ehr lieh sehen Mittels im zweiten Inkubationsstadium ver¬
dient hier ausdrücklich betont zu werden. Es handelt sich
um eine Albuminurie ganz geringen Grades, die bekanntlich
von Zeit zu Zeit im zweiten Inkubationsstadium, bei sonst
ganz gesunden Individuen konstatier bar ist und welche gewiß
nicht gerade so selten vorkommt, als man allgemein anzu¬
nehmen pflegt. Diese Albuminurie, welche oft knapp vor
der Eruption erscheint und zweifelsohne in der allgemeinen
Durchseuchung des Organismus ihre Erklärung findet,
konnten wir bei einigen unserer klinischen Patienten in
diesem Stadium konstatieren. Sowohl die Salpetersäure-
wie auch die Ferrozyankalium- Essigsäureprobe ergaben ge¬
ringe Mengen Eiweiß. Di ese Al buminuri e vers ch wand j
nach einer Arsenobenzolinjektion in eklatante¬
ster Weise. Bei einer Patientin (Sclerosis initialis ad ure-
thram, Lymphadenitis inguinalis ambilater) konnte nach
24 Stunden post injedtionem bereits kein Eiweiß mehr kon¬
statiert werden; bei einer zweiten Patientin mit papulösem
Exanthem trat dieselbe Wirkung (Eiweiß V2%) nach zirka
einer Woche zutage.
Die Wirkung des Arsenobenzols auf sekundäre Exan¬
theme war in der Mehrzahl der von uns beobachteten
Kranken eine frappant schnelle. So schwanden makulöse
Formen (sowohl frische als Rezidiven) durchschnittlich in
fünf bis zwölf Tagen; das Abblassen des Exanthems sah
man oft bereits am nächsten Tage nach der Injektion. An¬
derseits hatte man auch mit mehr refraktären makulösen
Exanthemen zu tun, bei denen das Verschwinden derselben
über zwei Wochen auf sich warten ließ. Im allgemeinen
ließ sich bei den papulösen Syphiliden oft ein viel ekla¬
tanterer therapeutischer Effekt, wahrnehmen, als bei maku¬
lösen. So sahen wir in einem Fhlle von universellem lenti¬
kulärem Syphilid nach 0-7 Arsenobenzol (intramuskuläre
Injektion) bereits am nächsten Tage eine ganz bedeutende
Abflachung aller Papeln und nach weiteren sechs Tagen
blieben an vielen Stellen bloß Pigmentfleoke als Residuen des
früheren Exanthems zurück. Bei makulo -papulöse»
Misohformen konnte man, besonders in ganz
frischen Fällen, sehr oft zuerst und vor allem
die Aplanierung der papulösen Elemente und
erst, später das Abblassen der oberflächlichen t
makulösen Infiltrate wahrnehmen. In einem der
letztbehandelten Fälle notierte man bei der Morgenvisite
viele gar nicht über das Hautniveau überragende Pigment-
tlecke neben dem noch ganz deutlich wahrnehmbaren ma¬
kulösen Exanthem, welches erst im Abblassen begriffen war.
Aber nicht in allen Fällen war die resorbierende Wir¬
kung des Präparates auf syphilitsche Papeln so bedeutend.
W ir haben Fälle behandelt, bei denen papulöse Infiltrate
(ganz besonders luxurierende> Papeln am Genitale) trotz
ziemlich hoher Dosis und auch nach zweimaliger Injek¬
tion des Mittels refraktär blieben und in schwielige, keloid-
artige Tumoren übergingen.
Bei einigen Kranken zeigten rezidivierende Kondy¬
lome noch zehn Tage post injectionem keine Tendenz zur
Aplanierung, obwohl ihre Ueberhäutung etwas früher er¬
folgte. Kondylomatöse Wucherungen der Mundschleimhaut
heilten oft binnen einigen Tagen, ja wir sahen oft üppige
Wucherungen im Pharynx und auf den Tonsillen bereits
am dritten Tage vollkommen gereinigt und aplaniert; ober¬
flächliche, mehr erosive Schleimhautpapeln gingen oft am
nächsten Tage in Heilung über. Die Wirkung war aber in
vielen Fällen nicht, von langer Dauer; so notierte man bei
einem Patienten, bei welchem sehr üppige konfluierende
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
237
Kondylome am Gaumen sehr rasch nach der Injektion (0-6
Arsenobenzol verheilten, ein Rezidiv kondylomatöser
Form bereits nach zwölf Tagen u. zw. in derselben Gegend
und in derselben Extensität. Im allgemeinen erwies sich
die Wirkung des Mittels auf Schleimhautläsionen äußerst
günstig und prompt.
Lichenoide Exantheme (zwei Fälle), die ja bekanntlich
auch durch Quecksilberbehandlung schwer zu beeinflussen
sind, involvierten sich sehr rasch, das heißt etwa eine
Woche nach der Injektion; ein papulo- pustuloses und kru-
stöses Exanthem im Gesichte ließ bereits nach zehn Tagen
pigmentierte Flecke und seichte oberflächliche Narben zu¬
rück. Papulae capillitii verschwanden überhaupt nicht so
schnell; da dieselben aber fast immer auf einem seborrhoi¬
schen Boden anzutreffen sind und da in diesen Fällen
von jeder Lokalbehandlung Abstand genommen wurde, wird
uns die in diesen Fällen langsame Resorption gewiß nicht
befremden.
Außer den dem Initialaffekte am nächsten stehenden
Lymphdrüsen, verdienen auch allgemeine Drüsenschwellun¬
gen eine Erwähnung. Die Wirkung des Arsenobenzols hat
sich auch in dieser Richtung als äußerst günstig erwiesen.
Die derben Z ervikald r üsen, auf die ganz beson¬
ders in jedem Falle geachtet wurde, ließen oft
in wenigen Tagen eine bemerkbare Absöhwel-
lung und Erweichung wahr nehmen. Diese Wirkung
des Arsenobenzols wurde sowohl nach intramuskulären
als auch nach intravenösen Injektionen protokolliert. Nur
in einer geringen Anzahl von Fällen war eine Wirkung
des Präparates auf die Drüsen nicht zu konstatieren. |So
sahen wir Fälle, in denen das Exanthem spurlos verschwand,
die Drüsen aber und ganz besonders die dem Primär¬
geschwür am nächsten stehenden fast vollkommen unbe¬
einflußt geblieben sind. Hauptsächlich handelte es sich hier
aber um Fälle, wo Mischinfektionen im Spiele waren. Wir
haben auch bemerkt, daß, wenn die Drüsen nicht
gleich in den ersten Tagen auf die Injektion rea¬
gierten, auch in einer späteren P eriode eine nach¬
haltige Wirkung in dieser Richtung nicht mehr
zu erwarten war.
Auf Periostitiden der Spätperiode hat sich die Wirkung
des Arsenobenzols als nicht besonders positiv erwiesen.
Bei einem Patienten mit periostalen Schwellungen im Be¬
reiche beider Tibiae, welche mit intensiven osteoskopen
Schmerzen einhergingen, wartete man mehrere Wochen auf
eine Besserung, die erst eintrat, als der betreffende Patient
eine zweite Injektion (0-7) nach einer zweiwöchigen Pause
erhalten hat. Allerdings wurde dabei keine lokale Behand¬
lung eingeleitet.
Von den zehn Rezidivefällen, die wir seit September bis
Januar protokolliert haben, traten neuerliche Erscheinungen der
Syphilis bei vier Patienten in einem Monate nach der Injektion,
in einem Falle nach sechs Wochen, bei zwei nach zwei Monaten
und bei drei nach drei Monaten auf. in drei Fällen erschienen
Symptome einer rezidivierenden Syphilis nach zwei Injektionen
und zwar in vier Wochen nach der zweiten Injektion.
Bei vier Patienten, welche mit einer Rezidive (die Klinik
aufsuchten, handelte es sich nur um lokale Erscheinungen und
zwar' um kondylomatöse Infiltrate auf der Mundschleimhaut,
oder um hassende Papeln am Genitale. Bei einem Patienten,
der wegen einer heftigen Periostitis tibiae mit 0-6 behandelt
wurde, bildete sich, vier Wochen nach der Injektion ein gum¬
möses Geschwür auf der hinteren Rachenwand, welches erst
nach einer zweiten Injektion u. zw. nach zwei Wochen, in
Heilung überging. Bei einem anderen Kranken, der wegen aus¬
gebreiteten gummösen Geschwüren am harten Gaumen, in der
Nase und im Pharynx drei Injektionen (u. zw. 0-3 — 0-4 — 0-6)
erhielt, trat nach der zweiten Injektion ein äußerst rascher
Zerfall des Gewebes u. zw. in der nächsten Nachbarschaft der
alten, bereits im Vernarben begriffenen Geschwüre. Dieser neue
Zerfall heilte erst nach der dritten Injektion, wonach der Patient
mit negativer W as serm ann scher Reaktion entlassen wurde.
Einer ganz besonderen Erwähnung bedarf der Fall eines
Weibes, das mit einer primären Sklerose an der Brustwarze
und einem makulo - papulösen Exanthem in der Klinik Aufnahme
fand und dem wir am 28. September 0-5 Arsenobenzol intra¬
muskulär injizierten. Alle Erscheinungen schwanden sehr bald,
denn am 10. Oktober notierte man bereits nur Pigrnentfleeke
an Stelle der papulösen Effloreszenzen, sowie auch eine last
vollkommene Abschwellung der Lymphdrüsen in der linken Axilla.
Wir behielten aber die Patientin behufs einer längeren Obser¬
vation in der Klinik und haben die Wassermann sehe Re¬
aktion; alle zehn Tage vorgenommen. Dieselbe blieb stets ne-
gativ (u. zw. am 8. Oktober und 15. Oktober), wonach die
Patientin am 25. Oktober entlassen wurde. Sie meldete sich
neuerdings am 28. Dezember, und die Was sie rm1 ann sehe Re¬
aktion blieb auch damals negativ. Gleichzeitig klag te die
Patientin über Kopfschmerzen und Uebelkeiten und wurde vor¬
läufig dieser Symptome wegen in die interne Abteilung auf-
genommen. Bald aber transferierte man die Kranke in die der¬
matologische Klinik, weil man bei ihr auf meningeale Erschei¬
nungen u. zw. auf luetischer Basis, Verdacht schöpfte. Inzwischen
wurden die meningealen Symptome immer intensiver, die Kopf¬
schmerzen wurden unerträglich und die Reaktion nach W a s s e r-
mann-D ungern fiel positiv aus. Am nächsten Tage stellte
sich eine Parese des linken Nervus facialis ein und an dem¬
selben Tage injizierte map der Kranken 0-6 Arsenobenzol (intra¬
muskulär). Seit, dem Tage konnte m,an eine fortschreitende Besse¬
rung konstatieren, das heißt, die Kopfschmerzen ließen nach,
sogar der Appetit stellte sich ein, aber die Kranke fühlte sich
sehr schwach und klagte über Mattigkeit und Schwindel. Zehn
Tage nach der Injektion verordnete man Quecksilbereinreibungen
ä 4-0 Unguent, hydrargyri resorb. pro die. Die Patientin ver¬
bleibt in der Klinik behufs weiterer Beobachtung.
Nur in einem einzigen Falle sahen wir zwei Monate nach
der Injektion ein makulöses Exanthem, welches universell auf¬
getreten ist und alle Merkmale einer rezenten Eruption darbet.
Dieses rezidivierende Syphilid verschwand fünf Tage nach der
zweiten Injektion, die Reaktion nach Was serm ann- Dung ern
blieb aber positiv wie zuvor.
Bei einem Patienten, der mit einem Primärgeschwür in
sulco retroglandulari und positivem Wassermann in die Klinik
aufgenommen wurde, verheilte das Geschwür am siebenten läse
nach einer Injektion (0-70), eine seichte Narbe hinterlassend.
Die inguinalen Drüsein verkleinerten sich wesentlich, so daß
nur eine Drüse rechts etwas geschwollen geblieben ist. Der
Patient verließ die Klinik mit negativer Blutreaktion. In vier
Wochen gelangte der Patient wieder zur Aufnahme mit einem,
kleinen, aufbrechenden Geschwür u. zw. an derselben Stelle,
an der das1 erste Geschwür vor einem Monat vorhanden war.
Es handelte sich also um ein Ulcus redux ohne neuerliche Be¬
teiligung der benachbarten Drüsen. Zu einem Exanthem ist es
bei dem Patienten bisnun nicht gekommen.
Ein erwähnenswerter Fall betrifft eine gravide Frau, der
im sechsten Schwangerschaftsmonate eine Injektion von 0-4
Arsenobenzol wegen eines makulo - papulösen Syphilids gemacht
wurde. Die Patientin wurde nach einigen Wochen symptomlos
entlassen. Nun wurde die Kranke im achten Monate ihrer
Schwangerschaft wiederum aufgenommen u. zw. mit einer Laryn¬
gitis comdylomatosa und einigen rezidivierenden Papeln an den
Genitalien. An der Haut keine Spur von einem Exanthem. Jetzt
injizierte man der Patientin mit Rücksicht auf ihren Zustand
bloß 0-3 Arsenobenzol u. zw. intramuskulär. Am nächsten
Morgen sah man ein universelles großmakulöses Sy¬
philid am Thorax in Begleitung einer intensiven
Her xh ei mer schon Reaktion. Dieser Fall scheint nur die
Annahme zu bestätigen, daß eine kleine Dosis auf das vom
Organismus beherbergte Virus irritierend wirken und zum Auf¬
lodern einer neuen Eruption anregen kann. Dasselbe
wurde übrigens in bezug auf kleine Quecksilberdosen bereits von
W e Tan de r hervorgehoben.
Am eklatantesten erschien die Wirkung des, Arsenobenzols
auf Eruptionen der Spätperiode, ganz besonders aber der ma¬
lignem Syphilis. Tertiäre Geschwüre reinigten sich bereits nach
einigen Tagein und verheilten im Verlauf von etwa zwei Wochen,
obwohl sie lokal nur mit ganz indifferenten Mitteln behandelt
wurden. Tiefe Geschwüre im Bereiche des Gaumens und der
hinteren Rachenwand bei maligner Lues und bei Kranken, bei
denen die Quecksilberkur ohne jeden Erfolg eingeleitet wurde,
begannen sich gleich nach der Injektion (in zwei Fällen nach
zwei Tagen) zu reinigen und heilten im Verlauf weniger W ochen.
Es muß betont werden, daß auch in diesen Fällen hie und da
ein neuerlicher Zerfall des Gewebes beobachtet wurde und in
einzelnen Fällen eine neuerliche Injektion appliziert weiden
mußte, aber der endgültige Erfolg muß immer ein günstiger
gen annt werden .
•238
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. ?
Unter den zehn Fällen tertiärer, respektive maligner Lues,
die seit September in der hiesigen Klinik mit Arsenobenzol
behandelt wurden, verdient ein Fall einer besonderen Erwähnung
hinsichtlich der äußerst günstigen, ja geradezu frappanten W ir¬
kung des Mittels auf torpide, vormals jeder Therapie trotzende,
gummöse endolaryngeale Geschwüre und perichondrale Infiltrate.
Bei der im äußersten Grade abgemagerten, kachektischen und
anämischen Patientin wurden wegen einer seit Jahren in einem-
fort rezidivierenden gummösen Laryngitis schon mehrmals Queck¬
silberkuren durchgeführt, in den letzten zwei Jahren aber ohne
jeden Erfolg. Sowohl die Heiserkeit als auch die Atembeschwer¬
den nahmen immer zu, ja, der Zustand verschlechterte sich noch
nach .Todbehandlung, der die Kranke letztens in der laryngologi-
schen Klinik unterworfen war. Das laryngoskopische Bild zeigte
torpide gummöse Vegetationen und Geschwüre im Bereiche der
Epiglottis und an den Stimmbändern, sowie tiefe und indolente
Geschwüre in den tieferen Partien des Larynx. Die erste Injek¬
tion (0-3) brachte bereits1 nach fünf Tagen eine wesentliche Besse¬
rung und das laryngoskopische Bild erlaubte schon damals, eine
Reinigung der Geschwürränder und Abschwellung der infiltrierten
Schleimhautpartien wabrzunehmen. Zehn Tage nach der ersten
Injektion wurde der Patientin eine zweite mit 0-4 intraglutäal
appliziert und seit der Zeit konnte man bereits tagtäglich eine
zwar langsame, aber stetige und wesentliche Besserung aller Sym¬
ptome konstatieren. Nicht nur die Dyspnoe und die Schling¬
beschwerden nahmen ab, sondern auch der allgemeine Zustand der
Patientin besserte sich in frappanter Weise. Zwanzig Tage nach
der zweiten Injektion konnte man im laryngoskopischen Bilde
nur noch schwielige Residuen alter Infiltrate wahrnehmen, dabei
aber alle Geschwüre vollkommen verheilt sehen. Pät. erhielt noch
eine dritte Injektion derselben Dosis u. zw. zwanzig Tage nach
der zweitein, wonach aber das Bild im „Larynx unverändert blieb.
Pat. wurde, gut aussehend, mit einem ganz geringen Belag der
Stimme als geheilt entlassen.
Es verdient mit Nachdruck betont zu werden, daß das
Arsenobenzol bei k a c'hek tischen Kranken eine sehr
günstige Wirkung auf den Allgemeinzustand,
also offenbar auf den allgemeinen Stoff wec'bsel
des Organismus auszuüben vermag. Dies ließ sich
bei fast sämtlichen Fällen maligner Lues in nicht geringem
Grade konstatieren. Daß dieser, übrigens gut bekannten
Wirkung vieler Arsen Verbindungen, beim therapeutischen
Erfolge hinsichtlich der durch Syphilis herworgerufenen Ver¬
änderungen und lokalen Prozesse, eine große Rolle zu¬
kommt, braucht nicht näher erläutert zu werden.
Von den syphilitischen, bzw. parasyphilitischen Er¬
krankungen des zentralen Nervensystems behandelte man
im ganzen einige Fälle von Paralysis progressiva im An¬
fangsstadium und einen Fall einer syphilitischen Pseudo¬
tabes. Im letzteren Walle trat nach zwei Injektionen eine
ganz wesentliche Besserung (gemeinsame Observation mit
der neuro - psychiatrischen Klinik) und der Patient befindet
sich noch immer in unserer weiteren Behandlung; hei De¬
mentia paralytica trat bei einem Arzte nach zwei Injek¬
tionen auch eine bedeutende Besserung aller Symptome
ein, so daß der Patient aus der hiesigen psychiatrischen
Abteilung als gebessert entlassen wurde. Ob es sich in
diesem Fälle wirklich um eine so günstige Wirkung des
Präparates, oder aber nur um eine von der Therapie ganz
unabhängige Remission im Verlauf der Krankheit handelt,
wagen wir nicht zu entscheiden.
Während unserer ganzen Beobachtungsdauer hatten
wir auf über 70 mit Arsenobenzol behandelte Fälle nur
einen einzigen Fall von schwerer Intoxikation zu notieren
und da derselbe einer ganz besonderen Erwähnung ver¬
dient, wollen wir den betreffenden Kranich ei ts verlauf in
extenso zitieren :
T. S., Kaufmann, 2(1 Jahre alt, wurde mit einer bereits
überhäuteten Sklerose an der unteren, dein! Skrotum anliegenden
Hautfläche des Penis in die Klinik aufgenommen. Die Reaktion
nach Wassermann-Düngern positiv. Außer den geschwol¬
lenen Inguinaldrüsen keine sonstigen luetischen Erscheinungen
zu konstatieren. Im Harne kein Eiweiß, wohl aber 0-5°/o Zucker.
Am 18. November intramuskuläre Injektion von 0-5 (Id)
(in 1 cm3 Aethylalkohol -f- 4 cm3 n/10- Natronlauge + 10 cm3
physiologischer Kochsalzlösung). An demselben Abend stieg die
Temperatur bis 38-6 und der Kranke klagte über Schmerzen in
der GlutäaJgegend über 24 Stunden. Der nächste lag verlief
gänzlich fieberlos (abends 37), die Schmerzen ließen auch fast
vollkommen nach. Der allgemeine Zustand gut, in der Glutäal-
gegeud ein mäßiges Infiltrat nachweisbar, welches nur beim
Betasten schmerzt.
1 m H a rn keine Spur von Zuck e r.
20. November: Temperatur früh und abends 37-9, sonst
Status idem. Allgemeinzustand gut.
21. November: Temperatur 37-1 bis 37-8. Puls 90.
22. November: Temperatur 37-1 bis 37-8. Der Allgemein¬
zustand unverändert, der Schlaf jedoch gestört. Das Infiltrat
wird größer und reicht von der Kreuzbeingegend bis zum Tro¬
chanter major; die Schmerzhaftigkeit desselben viel intensiver.
23. November: Temperatur 36-9 bis 37-3.
24. November: Temperatur 37 bis 37-5. Status idem.
25. November: Temperatur 37-2 bis 37-5. Patient hat sehr
wenig Durst, wird apathisch und schläft sehr unruhig.
26. November: Temperatur morgens 37-3, abends 38-5. Pa¬
tient klagt zum erstenmal über Uebelkeiten und große Schmerzen
in der Injektionsgegend. In der Nacht Nausea und mehrmaliges
Erbrechen; Temperatur 401, Sensorium benommen; Patient er¬
kennt seme Umgebung nicht.
27. November: Debelkeit und Erbrechen dauern fort; Pa¬
tient verträgt keine Nahrung; abends Somnolenz. Gegen 6 Uhr
. abends verabreichte man dem Patienten Rizinusöl, ln der Nacht
einige Entleerungen. Morphium 0-015. Patient schläft nachher
mehrere Stunden; nach Mitternacht mehrmaliges Erbrechen. Tem¬
peratur morgens 37-1, nachmittags 40-1, abends 39-1. Puls gut
gespannt, 110.
28. November: Patient erwacht mit mehrmaligem Er
brechen; das Sensorium benommen. Nachmittags erreicht das
Fieber 40-3. Patient wurde in die medizinische Klinik trans¬
feriert. Allgemeiner Zustand sehr schlecht. Kopfschmerzen und
Uebelkeiten dauern fort. Sensorium leicht benommen. Tempera¬
tur 2 Ehr früh 39 (Puls 106), 4 Uhr 38-8 (Puls 96), 6 Uhr 38-9
(Puls 96). Nachmittags erreicht das Fieber 40-3. Der Kranke
ist fortwährend unruhig, hat mehr Durst, erbricht aber jeden
Schluck Wasser oder Limonade1. Stuhl regelmäßig.
29. November: Temperatur schwankt zwischen 39-3 und
40. Patient erscheint sehr geschwächt und apathisch. Zunge be¬
legt. In den inneren Organen lassen sich keine Veränderungen
nachw eisen; Leberrand tastbar, fast alle der Untersuchung zu¬
gänglichen Nervenstämme der linken Seite beim leisesten Drucke
äußerst schmerzhaft. Patient verspürt Ameisenlaufen an den
Extremitäten, ganz besonders an den Füßen. Seit gestern be¬
kommt Pat. Kampferinjektionen früh und abends, innerlich Diu-
retin ä 0-5. Hypodermoklyse in der Menge von 500 cm,3 Kochsalz¬
lösung und eine ausgiebige Magenausspülung mit Zusatz von
Magnesia usta.
Die Blutuntersuchung ergab 95°/o Hämoglobin und auf 6200
Leukozyten 10°/o eosinophile Zellen mit 7"/o neutrophilen Myelo¬
zyten. Im Harn weder Eiweiß, noch Zucker. Im Magen
keine Spur von Arsen.
30. November: Temperatur nachmittags bis 39-2. Uebel-
keit und Erbrechen nachgelassen. Magenausspülung, abends En-
teroklyse. Im Harne, Eiweiß in Spuren und 0-25 °/o Zucker.
1. Dezember: Temperatur morgens 38-6, abends 39-3. —
Status1 idem.
2. Dezember: Zunge feucht, etwas belegt, die Druckempfind¬
lichkeit der Nervenstämme hat etwas nachgelassen. Morgens ein
Bad (27°), abends Enteroklyse. Im Harn ist kein Arsen
nachweisbar, Eiweiß in Spuren, kein Zucker. Tem¬
peratur morgens 38-6, abends 39.
3. Dezember: Temperatur bis 38-9. Der Allgemeinzustand
zeigt eine wesentliche Besserung.
4. Dezember: Temperatur 37-6 bis 37-8. Spuren von Eiweiß.
Die linke Lumbalgegend sehr schmerzhaft. Sonst keine neuen
Erscheinungen.
5. Dezember: Temperatur 37-9 (Puls 90).
6. Dezember: Temperatur 37-8 (Puls 90).
7. Dezember: Temperatur 37-1 bis 36-8.
8. Dezember: Patient zum erstenmal fieberlos, klagt -über
Schmerzen an der Injektionsstelle, wo sich ein massiges Infil¬
trat nach weisen läßt, welches aber nicht mehr so hart erscheint
wie zuvor. Keine Fluktuation, man gewinnt aber den Eindruck,
als ob der zentrale Teil des Infiltrates einer Re¬
traktion anheimgefallen ist und daß deshalb die
Haut in dieser Richtung hineingewölbt erscheint.
9. Dezember: Patient wurde auf eigenes Verlangen entlassen.
Die Blutreaktion nach Wassermann- Düngern ne¬
gativ.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
239
8. Januar: Patient suchte die Klinik auf und klagte über
keine Schmerzen mehr. Aussehen normal.
Wenn wir uns die Frage stellen, welche Umstände
in diesem einzigen Falle diese so hochgradige Intoxikation
Hervorrufen konnten, müssen wir jene Momente in Betracht
ziehen, welche auf eine Divergenz von der allgemeinen
Norm in diesem Falle hindeuten würden. Es könnte scheinen,
daß die etwas größere Flüssigkeitsmenge (15 cm3), die in
diesem Falle injiziert wurde, eine gewisse Rolle spielen
konnte ; man injizierte aber anfangs bei vielen Patienten
viel mehr verdünnte Lösungen (sogar 30 cm3), ohne daß
man nach diesen Injektionen toxische Symptome jemals
wahrgenommen hätte. Die ganz geringe Menge von Zucker
im Urin dürfte gewiß auch nicht als Ursache der schweren
Intoxikation angenommen werden, da derselbe alsogleich
nach der Injektion vermißt Wurde und erst etwa zwölf
Tage später, aber auch in einer viel geringeren Menge und
zwar bei einem ziemlich hohen spezifischen Gewichte des
Urins auftrat, um nachher wiederum gänzlich zu verschwin¬
den. Mit diesem etwas rätselhaften Verhalten des Zucker¬
gehaltes wäre also die Intoxikation in unserem Falle schwer
in Einklang zu bringen.
Indem wir von einer Wirkung seitens der oben zi¬
tierten Momente absehen, bleibt noch die Annahme zu über¬
legen, oh die Ursache der Vergiftungssymptome, also das
hohe und permanente Fieber, gastrische Erscheinungen und
der komatöse Zustand nicht in einer Zufuhr giftiger Sub¬
stanzen, eventuell Zersetzungsprodukte, zu suchen sei, die
erst viel später zur Resorption .gelangten. Das unmittel¬
bar nach der Injektion notierte Fieber, sowie auch die
äußeret prompte therapeutische Wirkung des Präparates auf
das primäre Geschwür lassen mit aller Wahrscheinlichkeit
vermuten, daß größere Mengen des Arsenobenzols gleich
in den ersten drei Tagen resorbiert werden mußten. Die
toxischen Erscheinungen traten aber erst am zehnten Tage
nach der Injektion auf, also erst dann, als höchstwahr¬
scheinlich nur mehr ein sehr geringer Teil des injizierten
Depots im Muskel zurückgeblieben ist. Man könnte also
kaum die Möglichkeit einer Intoxikation in einer rapiden
Resorption dieser Depotreste u. zw. am zehnten Tage nach
der Injektion erblicken, wohl aber in der Resorption einer
zersetzten Arsenobenzolmenge (Paraaminophenvlarsen-
oxyd ?) oder aber in der Resorption von Zerfallsprodukten,
des Gewebes, das unter der Wirkung des Arsenobenzols
einer Nekrose anheimfallen konnte. Es wurde bereits her¬
vorgehoben, daß das viele Tage nach der Injektion anhal¬
tende Fieber in der Mehrzahl der Fälle (wo nämlich auch
lokale Veränderungen darauf hindeuten) in der Resorption
der Zerfallsprodukte der Gewebe eine genügende Erklärung
finden könnte. Tn unserem Ealle hielten die lokalen Sym-
tome um die Injektionsstelle sehr lange an; die Schmerzen
waren während der ganzen Krankheitsdauer sehr intensiv
und obwohl man von einer Fluktuation sensu stricto nicht
sprechen konnte, so war doch ein zentrales Erweichen in
der Glutäalmuskulatur mit einer nachträglichen Retraktion
vielfach nachweisbar, was bereits hervorgehoben wurde.
Es ließe sich aber wohl die Annahme akzeptieren, daß
in unserem Falle eine nachträgliche Resorption der Detritus¬
massen (vielleicht gemeinschaftlich mit etwaigen Zer¬
setzungsprodukten der Arsenobenzolreste) die Ursache dieser
schweren Intoxikation bilden könnte. Wir finden in der
einschlägigen Literatur viele Fälle, bei denen es zu Ab¬
szessen oder auch zur Nekrose nach Arsenobenzolinjektionen
gekommen ist; die Mehrzahl dieser Fälle wurde chirurgisch
angegangen. Tn unserem Falle konnten eben diese gewiß
giftigen Detritusmassen nicht eliminiert werden und konnten
zweifellos diese schwere Intoxikation hervorgerufen haben.
Um ein genaues Kriterium in der Wirkung des an¬
gewendeten Mittels zu gewinnen, wurde in sämtlichen Fällen
und zwar in Intervallen von 10 bis 15 Tagen, das Ver¬
halten der W as sermänn sehen Reaktion geprüft, so daß
in dieser Hinsicht eine äußerst sorgfältige Kontrolle ge¬
führt wurde. '
Das Verhalten der Wasser mann sehen Reaktion in
Fällen primärer Geschwüre gestaltete sich nach den In¬
jektionen von Arsenobenzol äußerst variabel. In einem Fälle
einer sehr früh konstatierten Sklerose' blieb die negative
Reaktion auch nach 0-4 des Präparates noch nach zwei
Monaten negativ. In einem anderen Falle wurde die anfangs
negative Reaktion am sechsten Tage nach der Injektion
(0-60) zu einer stark positiven. In anderen Fällen trat die
Verwandlung der positiven Reaktion in acht bis zehn Tagen
nach der Injektion in eine negative ein; diese Wirkung
blieb aber meistens von kurzer Dauer, denn eine
neuerliche Untersuchung nach 10 bis 14 Tagen wies wieder¬
um ein positives Verhalten der Reaktion u. zw. in vielen
Fällen auf. Bei einem Kranken schlug die anfangs positive
Reaktion nach einer kleinen Dosis (0-4) in eine negative
über, verblieb negativ einige Wodhen lang, bis der Patient
mit einem neuen universellen Exanthem u. zw. drei Monate
nach der ersten Injektion, wiederum die Klinik aufsuchte.
In der Sekundärperiode der Krankheit verblieb die
nach der Injektion errungene negative Reaktion in zwei
Fällen einige Wochen lang negativ. In anderen Fällen (elf
an der Zahl), bei denen die Reaktion positiv ausgefallen
ist, schlug dieselbe in 10 bis 20 Tagen in eine negative
über. Tn einigen von diesen Fällen verblieb diese negative
Reaktion mehrere Wochen lang unverändert, in den an¬
deren war dieselbe nur von sehr kurzer Dauer. Gar nicht
selten ließ sich eine Umwandlung der positiven Reaktion
nach der Injektion gar nicht konstatieren, sie verblieb viel¬
mehr positiv auch nach Wochen, das heißt bis zur defini¬
tiven Entlassung des Patienten aus der Klinik. Tn einer
ganzen Reihe von Fällen schützte eine perma¬
nente negative R e a k t i o n (die Probe wurd e alle zehn
Tage vorgenommen) nicht vor Rezidiven, mit denen
die Kranken die Klinik von neuem aufgesucht
haben.
Ein besonderer Einfluß höherer Dosen auf das Ver¬
halten der Wassermann sehen Reaktion konnte in keinem
Fälle wahrgenommen werden; ebensowenig können wir
dies von den doppelten, das heißt nacheinander folgenden
(einer intravenösen und einer intramuskulären) Injektionen
behaupten. Das V erhalten der Reaktion schien viel¬
mehr von der I n f ek ti o n s p e r i o d e abzuhängen und
mit diesem Umstande wäre auch die Perseveration der po¬
sitiven Reaktion in diesen Fällen in Einklang zu bringen,
die einige Zeit nachher wegen mehr oder minder ausge¬
breiteten Rezidiveformen in der Klinik Aufnahme fanden.
Bei Lues maligna notierte man vorwiegend eine nega¬
tive Reaktion, welche auch nach der Injektion negativ ge¬
blieben ist, sogar auch dann, wenn neuerlicher Zer¬
fall konstatiert werden konnte. Tn einem Fälle ter¬
tiärer Syphilis schlug die anfangs positive Reaktion bereits
zehn Tage nach der Injektion in eine negative über, aber
bereits nach Verlauf von weiteren zwölf Tagen fiel dieselbe
wiederum positiv aus. In einer anderen Reihe von Fällen
blieb eine Umwandlung der positiven Reaktion nach einer
Injektion vollkommen aus — dasselbe Verhalten
konnten wir in allen Fällen par a syphilitisch er
Erkrankungen und zwar ohne Ausnahme, kon¬
statieren.
In Fällen primärer Sklerosen und vieler kondyloma-
töser Wucherungen wurden Spirochäten im ausgepreßten
Serum untersucht. Es verdient ausdrücklich betont zu
werden, daß sehr bald nach der Injektion keine Spi¬
rochäten im untersuchten Serum zu finden waren. Be¬
reits in 24 Stunden nach der Injektion verringerte sich
die Zahl der im Sklerosenserum Vorgefundenen Spirochäten
ganz bedeutend und am dritten oder spätestens vierten Tage
waren bereits keine mehr aufzufinden. Dabei muß bemerk!
werden, daß von einer lokalen Therapie der Primäraffekte
gänzlich abgesehen wurde. In allen Effloreszenzen sekun¬
därer Natur verschwanden die Spirochäten gleichzeitig mit
der Reinigung der erodierten Oberfläche, was bereits ge¬
wöhnlich am dritten Tage wahrgenommen wurde. Nur in
210
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 7
einem einzigen Fälle waren die Spirochäten noch einige
Wochen nach der Injektion zu konstatieren, was bereits
oben erwähnt wurde. Trotz dieses prompten Verschwindens
der Spirochäten im Sekrete, fand man sie reichlich bei
denselben Patienten nach Wochen, sobald dieselben mit
eine]' Rezidive die Klinik wieder aufsuchten.
\ on nicht syphilitischen Erkrankungen gelangten
einige Dermatosen zur Behandlung, darunter ein hämorrha¬
gisches idiopathisches Pigmentsarkom Kaposis (Acrosar-
coma. haemorrhagic um), ein universeller Lichen planus Wil-
soni und eine rezidivierende universelle Psoriasis. Der be¬
deutendste Erfolg war bei dem Akrosarkom zu verzeichnen,
wo bei einem über 65 Jahre alten Patienten bereits in einer
Woche nach der Injektion von 0-3 Arsenobenzol eine be¬
deutende Involution der neoplasmatischen Tumoren zu be¬
merken war. Trotz des hohen Alters des Patienten wurde
die Injektion ohne Nebenwirkungen vertragen und wir in¬
jizierten de(m Patienten nach fünf Wochen nochmals 0-3 ohne
aber nach dieser Injektion einen besonderen Einfluß auf
den Krankheitsprozeß beobachtet zu haben.
Beim Lichen planus wurde nach 04 eine allgemeine
Involution der Knötchen, wie auch der konfluierten Infil¬
trate bemerkbar ; die betreffende Patientin soll auch weiter¬
hin mit Arsenobenzol behandelt werden. Den geringsten
Erfolg sah man bei der universellen Psoriasis, was übrigens
mit, der Beobachtung anderer Autoren in Einklang zu
bringen ist.
Es verdient noch erwähnt zu werden, daß gravide
trauen die Injektionen des Ehrlich sehen Präparates sogar
in den letzten Monaten der Schwangerschaft sehr gut ver¬
tragen haben, daß also eine ohne Komplikationen ver¬
laufende Gravidität durchaus keine Kontraindikation der
Arsenobenzolbehaüdlung bildet. Wir haben einer Patientin
sogar zweimal das Präparat injiziert u. zw. einmal im
sechsten Schwangerschaftsmönate und da nach sechs
Wochen neuerdings Papeln am Genitale aufgetreten sind,
das zweitemäl gegen Ende des achten Monats, ohne daß
diese zweite Injektion auf den weiteren Verlauf der Gra¬
vidität irgendeinen nachteiligen Einfluß ausgeübt hätte.
Es muß betont Werden, daß Injektionen des Ar-
senobenzols bei nicht syphilitischen Erkrankun¬
gen im allgemeinen dieselbe Reaktion (beson¬
ders, was die Temperatur anbelangt) im Organis¬
mus hervorrief, Avie bei Syphilis. Das Fieber er¬
reichte auch in diesen Fällen oft 38-5 und dauerte auch
gewöhnlich mehrere Tage. Bei Psoriasis bemerkte man auch
eine deutliche Rötung an den Randpartien der Efflores-
zenzen.
Wenn wir alle unsere Beobachtungen zusammenfassen,
so gelangen wir zu der festen Ueberzeugung, daß wir
im Arsenobenzol ein mächtiges Mittel zur Bekämpfung der
syphilitischen Erscheinungen u. zw. in allen Stadien der
Krankheit gewonnen haben. Wir besitzen im Arsenobenzol
Aror allem ein Antisyphilitikum, dessen therapeutische Be¬
deutung, was die Promptheit der Wirkung an be¬
langt, nicht nur dem Quecksilber gleichkommt, sondern in
der Mehrzahl der Fälle demselben überlegen ist. Diese rasche
Wirkung gibt dem Mittel einen eigenen Stempel und es
sind gerade die Fälle der malignen Lues, bei der dieses
schnelle Tempo der Wirkung als besonders wohl¬
tätig a u f g e f a ß t w erde n rn u ßi.
ZAveitens verdient das Arsenobenzol schon deshalb
den Namen eines Anüsyphilitikums ersten Ranges, weil es
gerade in diesen Fällen seine eminente Wirkung entfaltet,
avo das Quecksilber entweder gänzlich versagt,
oder sogar schädlich wirkt, indem es den weiteren
Zerfall luetischer Infiltrate fördert. Hier gehören jene Fälle,
in denen Avir bisüun die einzige Zuflucht in Vegetabilien
suchten und zu deren Bekämpfung wir heutzutage im Ar-
senohenzol ein mächtiges Agens geAvonnen haben. Das Ar¬
senobenzol bleibt übrigens eine Errungenschaft für alle
Fälle, avo die Anwendung des Quecksilbers aus verschie¬
denen Gründen kontraindiziert erscheint.
Daß das Arsenobenzol nach einmaliger oder aber auch
nach mehrmaliger Injektion den Organismus von dem Virus
nicht zu befreien vermag und daß diese Behandlung vor
Rezidiven nicht schützt, ja, dieselben oft nicht lange auf
sich warten lassen — soll nicht in Abrede gestellt Averden.
Da aber die neue Behandlungsmethode, bzw. die Dosierung
des Mittels bis heute noch auf rein empirischem Wege
Avandelt, läßt sich hinsichtlich einer Dauerwirkung des Ehr¬
lich sehen Präparates gegenwärtig durchaus kein absolutes
Urteil fällen. So wird man auch die Wirkung des Arseno-
benzols mit der des Quecksilbers in diesem Sinne (das heißt
mit Bezug auf Dauerwirkung) kaum vergleichen können,
weil man doch nicht Aveiß, Avelches Aequivalent von Dioxy-
diamidoarsenobenzol einer gewissen Behandlungsdauer mit
Quecksilbersalzen entspricht Alle bisherigen Publikationen
und Beobachtungen betreffen Fälle nach zwei- bis dreima¬
liger Injektion und einer kurzen Observationsfrist; die Zu¬
kunft wird zeigen, welche Resultate eine zyklische Injek¬
tionskur mit Arsenobenzol zeitigen Avird, oder aber auch,
Avas aus den Fällen geworden, deren ganze Behandlung aus
einer einzigen, resp. zAvei Injektionen bestand.
Wenn es sich auch zeigen sollte, daß das Arsenobenzol
allein die Lues zu heilen nicht imstande sein wird, daß
dem Quecksilber eine mehr nachhaltige Wirkung irinewolint,
oder auch, daß das Ideal einer Syphilisbehandlung in einem
Traitement mixte, also in einer Quecksilber — Arsenobenzol-
kur zu suchen ist, so bleibt es ein großes Verdienst des
Forschers, dem Arzte ein Mittel in die Hand gegeben zu
haben, Avelches seine Wirkung da entfaltet, wo mit anderen
Mitteln oft nichts erreicht Werden konnte.
Zur Applikationsweise des Salvarsans.
Von Di-. J. II all li, prakt. Arzt in Wien.
Keine der bisherigen verschiedenen intramuskulären und
subkutanen Applikationsmethodein des Salvarsans ist zur allge¬
meinen Geltung gelangt, keine derselben hat allgemein befriedigt,
die Verbreitung .aller dieser Methoden ist in Abnahme begriffen,
während die Anweindxmg der intravenösen Injektion der schwach
alkalischem Natronsalzlösung des Salvarsans immer mehr An¬
klang findet.
In viel rascherem Tempo würde sich aber diese Veränderung
in praxi vollziehen, wenn der A 1 lg emcinp rak t i k er an die Ausfüh¬
rung der intravenösein Injektion mehr gewöhnt wäre und ihm
diese Sache nicht zu verantwortlich und technisch umständlich
erschiene.
So aber, da, er sich zur Ausführung der intravenösen Appli¬
kation sehr häufig nicht entschließen kann, zu den bisherigen intra¬
muskulären und subkutanen Methoden aber nicht das volle Ver¬
trauen besitzt., sieht, er sich genötigt, die intravenöse Injektion
durch den Spezialisten ausführen zu lassen oder von der Salv-
arsantherapie vorläufig abzusehen, wodurch in beiden Fällen
die allgemeine Verbreitung und Erforschung dieser hochinter¬
essanten und aussichtsreichen neuen Therapie trotz Freigabe
des Mittels außerordentlich verzögert wird.
Ganz anders Aviirde sich die Sache verhalten, wenn wir
über eine ohne ungewohnten Apparat leicht und rasch: her¬
stellbare, gut verträgliche und wirksame Lösung verfügen würden,
welche zu subkutaner Applikation geeignet wäre und das s’cheint
mir tatsächlich hei der bisher nur zu intravenöser Injektion ge¬
bräuchlichen Lösung im Vergleiche zu deren intravenösen In¬
jektion der Vorzug der milderen, nicht so stürmischen, gleichwohl
aber sicheren und genügend raschen Wirkung zu erwarten.
Sie ist bei demselben Gehalt an Salvarsan und Natron¬
lauge 7V2mal dünner, als die alkalische partielle Lösung Alts
zur Intramuskulärinjektion.1) Darum ist bei ihrer subkutanen
Anwendung keine' wesentliche lokale Reizung und Störung nach
Art der viel konzentrierteren Altschen Applikation zu erwarten
und die hei fehlerhafter Ausführung der intravenösen Injektion
durch Eindringen der Lösung in das paravenöse' Gewebe auf-
*) Intraven. I n j e k t io n s 1 Ö s u n g nach Anweisung der Höchster
Farbwerke (Deutsche med. Wochenschr. 1910, Nr. 49) enthält 0'3 Salv.
+ Natr. chlorat. L35 b 0 654 g 15°/0 NaOH (= 0'098 g NaOH sicc.) +
Aq. dest. ad 150; Alts alkal. partielle Lösung zur Intra-
muskulärinjektion (Berliner klin. Wochenschr. 1910, Nr. 49) ent¬
hält 0-3 Salv. 4- 2T cm3 4% NaOH (= 0-56 cm3 15"/« NaOH = 0 655 g
15% NaOH = 0-098 g NaOH sicc.) 4- Aq. dest. ad 20.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
241
tretende schmerzhafte Infiltration ist wohl auf die zur Sub¬
kutaninjektion größerer Mengen ungeeignete Oertlichkcit und nicht
auf die reizende, kaustische Beschaffenheit der Lösung zurück¬
zuführen.
Außer der leichteren Ausführbarkeit ist von der Subkulan¬
injektion der gegenwärtig nur zur intravenösen Applikation ge-
briuchlRhetn Lösung im Vergleiche zu deren intravenösen In¬
jektion der Vorzug der milderen, nicht so stürmischen, gleich¬
wohl aber sicheren und genügend raschen Wirkung zu erwarten.
Hingegen scheint diese stark verdünnte Lösung aus dem
Grunde zur Intramuskulärinjektion ungeeignet, weil genügende
Salvarsan mengen nur mit zu großen Flüslsigkeitsm engen beizu¬
bringen wären.
Die Verwendung derselben Lösung für intravenöse und sub¬
kutane Injektion hätte den Vorteil, daß die therapeutischen Wir¬
kungen leichter vergleich- und übersehbar wären, als bei der stö¬
renden Verschiedenheit der Zubereitung des Medikamentes, wie
cs bisher üblich war.
Auch die Bereitung der Lösung scheint mit einem kleineren
und einfachen, überall vorhandenen Apparat möglich, zum Unter¬
schiede von dein bisher üblichen Methoden. Man gibt zu 300 cm1
Aqu. dest. 2-7 g Natr. chlor, puriss., sodann 23 gtt. NaOH 45%,
kocht auf und füllt eine 300 cm3 fassende ausgekochte Flasche
mit Glasstöpsel zur Hälfte mit obiger Lösung, fügt dann 0-6
Salvarsan hinzu, schließt die Flasche mit dem: Glasstöpsel und
schüttelt kräftig bis zur klaren Lösung des Salvarsans, gießt
schließlich den Rest der alkalischen Kochsalzlösung zu. Dies
kann auch vom Apotheker besorgt werden, während der Arzt
seine Instrumente auskocht. Die Vorschrift für den Apotheker
würde lauten : Rp. Natr. chlor, puriss. 2-7, solv. ijn Aqu. deist. 300,
adde NaOH 15% gtt. XXIII, coq., da dimid. (parteiml hujus solut. in
vitr. cum epistom. vitr. c’oct., adde Salvarsan! 0-6, agita ad solut.,
adde alteram parteim solutionis natr. chlorat. alkal., claude vitrum
optime, obduc vitrum papyro higro, expeid. statim !
Die dem Salvarsan von dein Höchster Farbwerken beige¬
gebene Vorschrift zur Bereitung der intravenösen Injektionslösung
enthält, nebenbei erwähnt, nicht ganz richtige, weil nach oben
abgerundete1, Angaben bezüglich der zuzufügenden Kubikzentimeter
NaOH 15%, es soll heißen 0-6 Salvarsan benötigen 1-117 (nicht 1- 14),
0-5 Salvarsan 0-93 (nicht 0-95), 0-4 Salvarsan 0-74 (nicht 0-76),
0-3 Salvarsan 0-558 (nicht 0-57), 0-2 Salvarsan 0-372 (nicht
0-38) cm3 NaOH 15%, was aber die Richtigkeit der angegebenen
Tropfenzahl nicht tangiert, da 0-01 bis 0-05 cm3 als 1 gtt. ge¬
rechnet wurden.
Herr Geheimrat Prof. Ehrlich, dem Verfasser das Manu¬
skript vorstehender Ausführungen vor Veranlassung deren Publi¬
kation vorgelegt hat, hatte: die Güte, wofür Verfasser an dieser
Stelle ergebenst dankt, sich mit Brief voml 6. d. M. in folgendem
Sinne hiezu zu äußern: Was Ihre mir mit Ihrem Briefe vorn
14. Januar 1. J. mitgeteilte Idee bezüglich der Applikationsweise
des Salvarsans betrifft, so hat Lenz mann in der Medizinischen
Klinik Nr. 6 über seine Erfahrungen auf gleichem Gebiete: berichtet
und auch von anderer Seite, Dr. Lischke in Dresden, ist mir
inzwischen derselbe Vorschlag zugegangen. Dagegen die Lösung
per Klysma zu geheim kann ich nur dringend abraten, schon aus
dem Grande, weil hier eine genaue Dosierung des zu resorbie¬
renden Präparates vollkommen unmöglich ist. Wegen der Kor-
rekttrr-der Höchster Zahlen wollte ich bemerken, daß dieselben
auf meine Veranlassung prinzipiell nach oben abgerundet worden
sind, weil ein wenig Mehr nur vorteilhaft sein kann.
Vergleichende Berechnung des Oesophago-
gramms mit dem Elektrokardiogramm.
Von Priv.-Doz. Primararzt Dr. W. Jauowski in Warschau.
In meiner Arbeit über die Oesophagokardiographie,2)
in welcher ich die entsprechende Literatur anführte, sprach
ich die Meinung aus, die Vorhofskoni rak lion (AS) äußere
sich auf dem Oesophaguskardiogramm durch einen Abfall.
Diese Meinung stützte ich auf verschiedene Daten, die ich
hier nicht wiederhole, weil sie in der oben erwähnten Arbeit
zu finden sind. Es fehlte mir nur ein Vergleich der ösophago-
graphischen mit der elektrokardiögrap bischen Kurve, da ich
keinen Elektrokardiographien zur Verfügung habe.
Das liebenswürdige Entgegenkommen des Ivo! I . Eppin-
ger an der Klinik v. Noorden ermöglichte es mir während
meines kurzen Aufenthaltes in Wien im Mai 1910, eine
gleichzeitige ösophagographische und eleklrokardiographi-
sche Aufnahme zu bekommen. Obwohl ich dabei über
hundert gut ausgesprochene ösophagokardiographische und
Fig. l.
Fig. 2.
Fig. 3.
242
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 7
elektrokardiographisc'he Wellen bekommen habe, deren Stu¬
dium meine frühere Meinung bestätigte, wartete ich mit
der Veröffentlichung dieser Tatsache, bis mir Möglichkeit
geboten sein würde, diese Untersuchungen bei vielen
Kranken zu wiederholen. Da dies aber, wie ich glaube,
nicht bald der Fall sein wird, so will ich hier in aller Kürze
das Resultat dieser mit Koll Eppinger ausgeführten Auf¬
nahme mitteilen.
Ein Teil der entsprechenden Aufnahmen ist auf Fig. 1
bis 3 zu ersehen. Zwecks richtiger Erklärung dieser Kurven
müssen vorerst die Cybulski sehen1) Untersuchungsresul¬
tate der Elektrokardiogramme in Betracht gezogen werden.
Dieser Verfasser behauptet nämlich, daß weder die
Zacke P noch die Zacke R den Schwankungen der Aktions¬
ströme des Herzmuskels entsprechen. Sollte dies der Fall
sein, so müßte die Dauer der Zacken P und R mit den¬
jenigen der entsprechenden Phasen der Herzkontraktionen
zeitlich übereinstimmen. Letzteres ist aber durchaus nicht
der Fall, da die Dauer der Zacken der Elektrokardiogramme
und zwar speziell der Zacke R kürzer ist, als die Dauer
der Kontraktion der entsprechenden Herzteile. Außerdem
hat Cybulski durch gleichzeitige Aufnahme von Elektro¬
kardiogrammen und von Myograrmnen unmittelbar vom Vor¬
hofe und von der Herzkammer der Frösche ganz unzwei¬
deutig bewiesen, daß die Zacken' P und'R dem Anfänge der
Vorhofs-, resp. Kammerkontraktion bedeutend und zwar
0-10 bis 0-12 Sekunden vorausgehen. Jedenfalls geht aus
der Feststellung dieser Tatsache unzweifelhaft hervor, daß
das AS am Oesophagokardiogramm rechts vom Anfänge
der Zacke P zu bezeichnen ist. Aus meinen an 66 Wellen,
ausgeführten Berechnungen geht hervor, daß die Dauer der
P- Zacke 0-08 bis 013 Sekunden, meistens (in 47 Wellen)
010 bis 011 Sekunden beträgt. Die1 gleichzeitige Berech¬
nung der Entfernung des Anfanges der P- Zacke am Elektro¬
kardiogramm vom Anfänge der nach Fredericq und Min¬
kowski gedeuteten AS-Zacken an der Oesophagealkurve
hat eine Zeitdifferenz von 0 08 bis 0-13 Sekunden, meistens
in 49 Wellen 0-10 bis 011 Sekunden.
Es geht daraus hervor, daß bei dieser Bezeichnung des
Anfanges der AS-Welle, diese genau dort ihren Beginn hat,
wo die negative Stromschwankung P endigt und das Elektro¬
kardiogramm seinen horizontalen Lauf beginnt.
Dieser Befund stimmt seinerseits mit den von Cybul¬
ski an Fröschen erhaltenen Resultaten überein. Der Ge¬
nauigkeit wegen 'behalte- ich mir folgendes vor : Ich bestimmte
den Fehler in der Zeit, welcher durch die Mar ey sehe Trom¬
mel im Vergleich mit den Elektrokardiogrammaufnahmen
eingeführl wurde. Er betrug 0-03 Sekunden, das heißt die
M a l e \ sehe Trommel notierte die entsprechende Schwan¬
kung um 0 03 Sekunden später, als das Elektrokardiogramm.
Daraus folgt, daß der Beginn der AS-Welle nicht um 0-10
bis 0-1 15 Sekunden redhts vom Beginn der P- Zacke zu be¬
zeichnen ist, sondern nur um 0-07 bis 0-085 rechts von der¬
selben. Aber auch nach dieser Korrektion fällt dieser Punkt
auf jene Stelle der Zacke, von welcher ihr Abfall beginnt.
Ich behaupte also meiner früheren Arbeit gemäß, daßi das
AS mit einem Abfall beginnt. Sollte man mit dem in dieser
I läge ganz besonders verdienten Rautenberg zugeben,
daß dieser Punkt mit einem Anstieg beginnt, so müßte der
Vergleich mit Elektrokardiogrammen aufweisen, der Beginn
des AS gehe um etwa 0-20 Sekunden dem Beginne der
der P-Zacke voraus, was den Resultaten der Cybulski-
sclien Untersuchungen widersprechen würde.
Literatur:
9 N. Cybulski, Ueber die Beziehung zwischen den Aktions-
stromen und dem tätigen Zustand der Muskeln. Extrait du bulletin de
lAcademie des Sciences de Cracovie, März 1910, S. 173—178. _
2) W. Janowski, Das Oesophagokardiogramm. Zeitschr. für klin
Medizin 1910, Bd. 70. H. 3 u. 4.
Referate.
Vorlesungen über Harnkrankheiten.
Für Aerzte und Studierende.
Von C. Posner.
355 Seiten.
B e r 1 i n 191 1, A. H i r s c h w aid.
Ein vortreffliches Buch! Der Verfasser wendet sich mit
demselben nicht so sehr an seine speziellen Fachkollegen, als
vielmehr an die praktischen Aerzte, denen er einen U eberblick
über den gegenwärtigen Stand der Urologie, deren wissenschaft¬
liche Grandlagen und die wesentlichsten diagnostischen und
therapeutischen Methoden geben will. In seinem Vorworte hebt er
mit Recht hervor, daß der praktische- Arzt, wenn er auch nicht
imstande ist, in den einzelnen Fächern sich eine vollkommene
spezialistische Durchbildung zu erwerben, doch bestrebt sein
soll, die Ausdehnung und Vertiefung eines jeden Gebietes zum
Wöhle- seiner Kranken genau kennen zu lernen. Dem Verfasser
ist es gelungen, seiner Aufgabe in hervorragend glücklicher Weise
gerecht zu werden.
Das W-erk zerfällt in einen allgemeinen und einen spe¬
ziellen Teil. Nach einigen kurzen, anatomisch-physiologischen
Vorbemerkungen bespricht der Verfasser die allgemeine Äetio-
lo-gie- (Bildungsanomalien, 'trauma, Infektion und Intoxikation),
die- allgemeine Diagnostik (Krankenexamen ; Inspektion, Palpation'
Perkussion; Untersuchung der Sekrete und des Urins; Sondie¬
rung, Katheterismus, Urethroskopie und Zystoskopie, sowie die
funktionelle Diagnostik), endlich die allgemeine, interne und chi¬
rurgische Therapie. In diesen Kapiteln bringt der Verfasser ein
groß-e-s Material in gedrängter Form und präziser Fassung so
vollkommen beherrscht, wie es eben nur von einem erfahrenen
Praktiker, der auch über die- erforderliche gründliche lheoretisc.be
Bildung verfügt, zu erwarten ist.
Im speziellen Teil behandelt der erste Abschnitt die ent¬
zündlichen Prozesse. Verhältnismäßig ausführlich ist die akute
und chronisch© Urethritis mit ihren Komplikationen und Folge¬
zuständen erörtert, gewiß nicht zum Schaden des Buches, denn
diese Krankheitsgruppe gehört ja zu den allerhäufigsten und
es wird heute- noch viel durch schablonenmäßiges, nicht selten
auch unzweckmäßiges Behandeln auf diesem Gebiete gesündigt.
Line- rationelle- Therapie der chronischen Urethritis aber
und ihrer Komplikationen, insbesondere der so oft zu
wenig oder auch gar nicht beobachteten Prostatitis gehört
zu den dankbarsten Aufgaben eines versierten Fachmannes. Zy¬
stitis, Pyelitis und Nephritis werden in knapper Form, aber doch
erschöpfend und in außerordentlich instruktiver Weise abge¬
handelt. Der Abschnitt über Tuberkulose entwickelt in anschau¬
licher Weise unsere heutigen Kenntnisse über Entstehung und
Verbreitung dieses Prozesses im Harn- und Genitaltrakt. Sehr
verdienstlich ist eis, daß der Verfasser die früheren unzurei¬
chenden Vorstellungen vom Krankheitshilde der Tuberkulose der
Harnorgane erwähnt und den praktischen Arzt auf die Früh¬
stadieu der Nierentuberkulose aufmerksam macht. Sehr eingehend
wird sodann die Aetiologi-e-, Symptomatologie- und Therapie der
Steinbildung in Blase und Niere erörtert. Auch in diesem Ka¬
pitel findet der praktische Arzt manch dankenswerten Wink. In
de-m Abschnitte über die Geschwülste (Harnröhre, Penis, Hoden,
Prostata, Blase-, Nieren) verdient besonders das Kapitel über
Prostatahypertrophie h-e-r vorgeh oben zu werden, welches in vor¬
züglicher Weise die verschiedenen Stadien des Krankheitsver¬
laufes und der Prinzipien der modernen Therapie dieses- Leidens
auseinandersetzt. Die Abschnitte über nervöse Blasenstörungen
und die Störungen der Geschlechtsfunktionen des Mannes bilden
den Schluß des Werkes. Auch in diesen Abschnitten wird das
Wesentliche-, für den praktischen Arzt Wichtige in übersichtlicher
und prägnanter Form besprochen.
Posners Vorlesungen über Harnkrankheiten zeichnen
sich durchaus durch die- klare und gefällige Form der Diktion
aus und jeder Leser, auch jener, dem der Gegenstand nicht
gerade geläufig ist, wird sich an der leicht faßlichen und eleganten
Darstellungsweise, in welcher ihm viel Anregung und reiche Be¬
lehrung geboten wird, erfreuen. Daß auch der Fachmann das
WIENEU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. ?
Büchlein mit Interesse zur Hand nehmen wird, unterliegt bei
der allgemein anerkannten Autorität des Verfassers keinem
Zweifel. A. v. Frisch.
*
Lehrbuch der Urologie.
Von Dr. Alfred Rothschild.
522 Seiten mit 162 teils farbigen Abbildungen und einer farbigen Tafel.
Leipzig 191t, Werner Klink bar dt.
Ein neues Lehrbuch der Urologie wäre eigentlich kein Be¬
dürfnis; wir besitzen in deutscher Sprache erstklassige Werke
dieses Inhalts: Caspers und Posners Lehrbücher, v. Frischs
und Zuckerkandis Handbuch der Urologie.
Wenn wir trotzdem das vorliegende Werk mit großer Freude
begrüßen und der großen Arbeit des Verfassers die aufrich¬
tigste Anerkennung zollen, so liegt der Grund einmal darin,
daß dieses Lehrbuch der Urologie gewissermaßen unter dem post¬
humen Patronate Max Nitz es erscheint, aus dessen Feder wir
leider keine zusamrnenfassende Darstellung der urologischen Dis¬
ziplin besitzen, dessen Schüler Rothschild nunmehr in diesem
Werke die Anschauungen Nitz es nach Möglichkeit wiedergibt.
Und die Art, wie der Verfasser diese Aufgabe löst, beweist,
daß seine „Lehrjahre bei Nitze“ und die seit 15 Jahren ge¬
übte urologische Tätigkeit ihn zu einem vortrefflichen Vertreter
seines Faches gemacht haben.
Es sei ganz besonders hervorgehoben, daß nicht nur der
chirurgisch -urologische Teil volles Lob verdient, sondern daß
auch die. Kapitel aus den Grenzgebieten der Urologie, der inne¬
ren Medizin (Nephritis usw.), der Neurologie (Symptomatologie
der nervösen Störungen der männlichen Geschlechtsorgane) in
vollendeter Weise dargestellt sind.
Die Ausstattung des Werkes ist tadellos, namentlich die
Abbildungen ausgezeichnet gelungen.
*
Die durch Gonokokken verursachten Krankheiten des
Mannes.
Von Dr. S. Baumgarten in Budapest.
384 Seiten mit 88 Abbildungen im Texte.
Wien und Leipzig 1910, in Kommission bei Alfred Holder.
Entsprechend den Erfahrungen eines alten Praktikers, der,
wie er einleitend bemerkt, durch 21 Jahre die Wandlungen tier
Gonorrhoepathologie und -therapie mitgemacht hat, wird in dem
vorliegenden Buche der männliche Harnröhrentripper ausführ¬
lich und verständlich besprochen. Wenn wir uns auch nicht
in allen Punkten mit den Auseinandersetzungen des Verfassers
einverstanden erkären können, so ist doch der Fleiß und in
einigen Kapiteln die kritische Beurteilung verschiedener diagno¬
stischer und therapeutischer Methoden anzuerkennen.
Als einen Mangel müssen wir es bezeichnen, daß Autor
sehr wichtige Arbeiten, zum Teil auch der Wiener Schule, nicht
kennt. Er beklagt es unter anderem (S. 270), daß die patholo¬
gische Anatomie und Histologie der chronischen Prostatitis nicht
genugsam bekannt ist, denn „nur in wenigen Fällen chronischer
Prostatitis wurden bisher pathologisch - anatomische Unter¬
suchungen gemacht“. Ich möchte den Autor unter anderem auf
v. Frischs ausführliche und mit zahlreichen Illustrationen ver¬
sehene Arbeit im Handbuch der Urologie verweisen.
Einen der größten Fortschritte in der Diagnostik der ure¬
thralen Erkrankungen, die G olds c h m i d t sehe Irrigationsure-
throskopie scheint der Verfasser noch nicht kennen gelernt zu
haben. Er erwähnt sie mit keinem Worte.
Auch die Operationsindikationen und -methoden der akuten
eitrigen Prostatitis verdienten eine eingehendere Würdigung.
V. Blum
*
Die neueren Strahlen.
Von Priv.-Doz. H. Grein ach er.
Stuttgart 1909, Ferd. Enke.
Das Buch (Kleinquart, 130 Seiten mit 06 Textabbildungen)
behandelt in leicht faßlichen Einzeldarstellungen die Physik dec
Radium-, Kathoden-, Kanal-, Anoden- und Röntgenstrahlen. Zum
Schlüsse werden auch die gebräuchlichsten Röntgeninstrumenta¬
rien, Röhren- und Hilfsapparate beschrieben, vor allem die aus
243
den Veifa- Werken stammenden, doch mehr anhangsweise.
Die physikalischen Abschnitte sind das Wesentlichste am Buche
und können als sehr gelungen gerühmt werden. Die Ausstattung
ist vorzüglich,
*
Die Standentwicklung.
Von Hans Schmidt.
Halle a. S. 1910, W. Knapp.
*
Die Spiegelreflexkamera.
Von Anton Mayer.
Halle a. S. 1910, W. Knapp.
Die beiden Büchlein stellen das 69. und 71. Heft der be¬
kannten Enzyklopädie der Photographie dar. Das erstere schil¬
dert die verschiedenen Arten der Standentwicklung ausführlich,
das letztere bespricht Wesen und Konstruktion der Spiegelreflex¬
kamera und gibt Ratschläge für die Auswahl und praktische Ver¬
wendung, sowie eine tabellarische Uebersicht und Liste der Pa¬
tente und Gebrauchsmuster. Zahlreiche Textfiguren sind ein¬
gefügt.
*
Elektrizität und Licht in der Medizin.
Jena 1909, G. Fischer.
Das Buch (Kleinoktav, 216 Seiten) ist herausgegeben vom
Zentralkomitee für das ärztliche Bildungswesen in Preußen, in
dessen Aufträge redigiert von Prof. R. Kuttner und enthält
acht Vorträge.
Nr. 1. Die bisherigen Methoden der Elektrotherapie und
ihre praktische Anwendung. Von Prof. M. Bernhardt.
Nr. 2. Radioaktive Stoffe, mit besonderer Berücksichtigung
der Bedeutung für die Heilkunde. Von Prof. W. Marckwald.
Nr. 3. Das Licht als Heilmittel. Von Prof. E. Lesser.
Nr. 4. Die Anwendung hochgespannter Ströme und des
Elektromagnetismus in der Therapie. Von Prof. H. Boruttau.
Nr. 5. Technik der Röntgenologie in der Praxis. Von Pro¬
fessor M. Levy-Dorn.
Nr. 6. Ueber den gegenwärtigen Stand der Röntgendiagnostik
bei inneren Erkrankungen. Von Prof. E. Grün mach.
Nr. 7. Das Röntgenverfahren in der Chirurgie. Von Pro¬
fessor H. Albers- Schönberg.
Nr. 8. Elektrochemie und ihre Beziehungen zur Medizin.
Von Prof. G. Bredig.
Alle diese Vorträge behandeln große Gebiete in wenigen
Worten, sind also nur dazu bestimmt, Ae-rzte, die sich damit
noch nicht beschäftigt haben, oberflächlich zu orientieren und
zum Studium anzuregen. Die Auswahl von Vortragenden mit
bekannten Namen gewährleistet, daß: auch die allerneuesten Fort¬
schritte berücksichtigt werden. 38 Abbildungen im Texte tragen
zum Verständnis schwieriger Begriffe und komplizierter Apparate
bei. Albers- Schönberg bringt die Photographien eines Haut¬
sarkoms, vor und nach der Röntgenbehandlung, die Ulzerationen
heilten außerordentlich schnell ab, so daß Patient nach Voll¬
endung der Kur als anscheinend geheilt entlassen werden konnte.
An der Stelle der früheren Geschwüre hatten sich glatte weiße
Narben gebildet. Die wallartigen Ränder der ehemaligen Ulzera¬
tionen waren noch durch besonders tiefe Pigmentierung gekenn¬
zeichnet. Auch unterhalb der Haut gelegene Knoten waren voll¬
ständig zum Schwund gebracht. Später trat, allerdings ein Re¬
zidiv in Form eines kleinen Knotens auf, der neuerdings in Be¬
handlung genommen werden mußte.
* _ i :
Leitfaden der’ Röntgenphysik.
Von Dr. R. Fürstenan.
S t u 1 1 g a r t 1910, F erd. Enk e.
Der Leitfaden behandelt auf 90 Oktavseiten mit 61 Abbil¬
dungen im Texte in sechs Vorträgen die physikalischen Grundlagen
der Röntgenapparate. Die Kapitel betreffen : den elektrischen
Strom und seine Eigenschaften, die Erzeugung und Fortleitung
elektrischer Ströme, die Schalttafel, die Indikationserscheinungen,
die Stromunterbrechung und die elektrischen Erscheinungen im
Vakuum. Es ist ein sehr gutes Buch und verschont den ärzt¬
lichen Lesfer mit physikalischen Einzelheiten, die er nicht vor-
244
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 7
stehen und nicht brauchen kann. Die Klischees sind zum großen
Teile von der Firma Reiniger, Geb her t und Schall bei¬
gestellt. Die Ausstattung ist sehr gut.
*
Die Technik der Röntgenapparate.
Von Dr. R. Fürstenau.
Hannover, M. Jänecke.
Das Heft stellt den 138. Band der ,, Bibliothek der gesamten
Technik1' dar. Es ist 170 Kleinoktavseiten stark und enthält
84 Abbildungen. Die Ausstattung ist eine einfache. Fon Für¬
stenau werden in übersichtlicher und klarer Weise die am
meisten gebräuchlichen Instrumentarien, Röntgenröhren, Me߬
apparate und Hilfsinstrumente besprochen. Das Kapitel über
Röntgenröhren scheint besonders gut gelungen, auch die Er¬
zeugung der Röhren wird geschildert. Auf dein Titelblatt fehlt
die Jahreszahl des Erscheinens: 1910. Das Heft kostet bloß
3 M. 60 Pf.
*
Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen.
Herausgegeben von Prof. Albers-Schönberg.
Band 15.
Hamburg 1910, L. Graefe & Si Ilern.
Der 15. Band zeichnet sich durch besondere Reichhaltigkeit
aus, er enthält 386 Seiten und 35 wertvolle Bromsilbergelatine-
tafeln. Von den Originalarbeiten seien genannt:
Otten: Röntgendiagnose der Lungengeschwül¬
ste. Ott en behandelt an der Hand eigener Fälle: 1. Die vom
Lungenhilus ausgehenden Karzinome, 2. die Oberlappenkarzinome,
3. Karzinome mehrerer Lappen, 4. die Unterlappenkarzinomie,
5. diffuse Bronchialkarzinome, 6. Lungensarkome, 7. metastatische
Lungengeschwülste. Differentialdiagnostisch kommen in Betracht:
a) Erkrankungen des Mediastinums: Drüsengeschwülste, primäre
Mediastinaltumonen, Erkrankungen der W irbelsäule, Aortenaneu¬
rysmen, Erkrankungen der Schilddrüse, der Speiseröhre; b) Er¬
krankungen der Lunge und Pleura: Tuberkulose, kruppöse Pneu¬
monie, Lungengangrän und -abszeß, Empyem und Schwarte. Der
Wert der Röntgenuntersuchung ist hier ein außerordentlicher:
durch radiologische Laien würden allerdings zumeist Fehldia¬
gnosen gestellt werden.
Putti: Angeborene Deformitäten der Wirbel¬
säule. Ausführliche Arbeit mit zahlreichen Fällen.
Kienböck: Radio-ulnare Synostose. Ueberblick
über die spärlichen (33) Fälle der Literatur und Beschreibung
von drei neuen Beobachtungen. Zweierlei Formen dieser an¬
geborenen Anomalie der Ellbogengegend sind zu unterscheiden;
klinisch werden die Fälle meist verkannt.
Chilaiditti: Zur Diagnostik angeborener Lun¬
genmißbildungen. Angeborene Agenesie, bzw. Atelektase der
linken Lunge bei einem zehnjährigen Knaben mit Verlagerung
des Herzens nach links oben.
Rieder: Fall von Kombination von chronischer
Osteomyelitis der Finger mit Lupus pernio. Sehr ähn¬
lich einem von Mracek und Referenten vor Jahren beschrie¬
benen Falle.
Kienböck: U e b e r Osteochondritis an der Tube¬
rositas tibiae bei 13- bis 15jährigen Kindern und die soge¬
nannte 0 s g o o d - S c h 1 a 1 1 er sehe Erkrankung. Anführung von
sieben Fällen, von denen der eine sich als Tuberkulose erwiest
Kienböck: Ein Fall von Abbruch der Tuberosi¬
tas tibiae samt Teil des Kondylus bei einem 15jährigen Jungen;
gute Heilung.
Kienböck: Ein Fall von Fragilitas ossium uni¬
versalis. Es handelt sich um einen sonst gesunden, 59jährigen
Mann, der — meist ohne bedeutenden Anlaß — vom 15. Lebens¬
jahre an eine Reihe von Knochenfrakturen erlitt, etwa eineinhalb
Dutzend. Manche Knochen brachen wiederholt, so die Olekranon
etwa dreimal, die linke Tibia zweimal, der linke Humerus drei¬
mal. Es waren vor allem die langen Röhrenknochen betroffen,
die Wirbelsäule, die Klaviken, die Rippen intakt. Der Röntgen¬
befund entspricht einer allgemeinen Osteomalazie eigen¬
tümlicher Art, ohne Knochenschmerzen und ohne Verbiegung
von Knochen, einer Osteopsathyrose. Die Kallusbildung geht nach
dem Röntgenbefund abnorm langsam vor sich. Der Mann ist
im allgemeinen nicht deformiert und besitzt kräftige Muskulatur.
Schümm und Lorey bringen einen Beitrag zur Frage
der Giftwirkung von Bismuth um subnitricum und an¬
deren in der Röntgendiagnostik angewandten Wismutpräparaten;
Methämoglobinämie in wechselnder Stärke tritt bei innerlicher
Anwendung hoher Dosen von Bismuthum subnitricum keineswegs
so selten auf, wie man bisher angenommen hat, sogar nach äußer¬
licher Anwendung von Wismutverbindungen können Schädigungen
eintreten; es sind stets Nitritvergiftungen. Aber wir sind — trotz
der Behauptu ngen L e w ins — berechtigt, Bismuthum car¬
bonic um oder oxy chloratum für die radiologischen Unter¬
suchungen des Verdauungstraktes zu verwenden; Schümm und
Lorey halten die heute übliche Verwendung dieser Präparate für
vollkommen u n s c hä d 1 i ch .
Preiser: Eine typische und zur Spontanfraktur
führende Ostitis des Os naviculare carpi. Er faßt die
bei einer Reihe von Fällen im Röntgenbild sichtbaren Frakturen
des Schiffbeines als Spontanfrakturen auf, während das Trauma
zunächst nur eine Ernährungsstörung des Knochens1 erzeugt habe
und zwar durch Abreißen einer Arteria nutricia. In einem Falle
sah er bereits zwei Tage nach einem Sturz im Navikulare einige
linsengroße Aufhellungsherde, die am neunten Tage sich zu
einer fast das ganze Navikulare quer durchsetzenden bandför¬
migen Aufhellung vereinigt hatten, die aber später schnell wieder
verschwand; hier hatte sich anscheinend die Blutversorgung
wieder hergestellt. Allerdings dürfte es sich manchmal um primäre
Fissuren gehandelt haben.
II i r s c h macht auf die Symptome der Frakturd e s K a h n-
b e ins aufmerksam und unterscheidet zwei Formen, die extra-
und die intrakapsuläre Fraktur.
Markovic bringt Fälle von radiologisch nachgewiesenen
Verletzungen der Schädelbasis.
H a en i s c h beschreibt Fälle von Periarthritis hu m e r o-
scapularis mit Kalkeinlagerung in die Schleimbeutel.
Peter i und Singer teilen einen Fall von Myositis
ossificans progressiva bei einem vierjährigen Knaben mit.
Holz k ne cht hat an dem Sabouraud sehen Radiometer
eine wichtige Verbesserung angebracht; während man bisher nur
eine Dose ablesen konnte : die Maximaldose entsprechend einer
starken Braunfärbung des Reagens, sind nunmehr Zwischenstufen
entsprechend geringeren Lichtmengen konstruiert.
*
Lexikon der Grenzen des Normalen und der Anfänge
des Pathologischen im Röntgenbilde.
Von Dr. Alban Köhler.
Hamburg 1910, L. Graefe & Sillem.
Das Buch hat die Absicht, uns, wenn wir vor Röntgen¬
befunden stehen, von denen wir wegen gewisser Details nicht
wissen, ob sie normal oder pathologisch seien, an die Hand zu
gehen. In dieser unangenehmen Lage befinden wir uns nämlich
oft. Dem Wiesbadener Forscher ist die Erfüllung seiner Auf¬
gabe ausgezeichnet gelungen. Namentlich mit Knochenbildem
beschäftigt er sich und geht das ganze Skelett gewissenhaft durch.
Man kann sagen, ihm sei nichts entgangen. Wo er spezielle Ar¬
beiten aus der Literatur kennt, die sich ausführlich mit einem
Punkte befassen, weist Köhler in der Anmerkung darauf hin.
Er hat die Literatur bis auf die allerletzten Monate berücksichtigt.
Zum Schlüsse wird — wenn auch kürzer — noch der Thorax
und das Abdomen behandelt. Wo Zeichnungen nötig sind, da
finden wir solche, 73 an Zahl. Da Köhler die typischen pa¬
thologischen Veränderungen, die durch ihren geringen Grad der
Deutung Schwierigkeiten bereiten, diagnostisch erörtert, so stellt
das Buch eigentlich eine radiologische Diagnostik vor.
Das Werk ist so gut gelungen, daß es in kurzer Zeit die aller¬
größte Verbreitung finden wird.
*
Verhandlungen der Deutschen Röntgengesellschaft.
Band 6.
Hamburg 1910, L. Graefe & Sillem.
Der Band enthält das Verzeichnis der Mitglieder und dann
der Teilnehmer am Kongreß, ferner die Satzungen der Gesell¬
schaft, den Bericht über die Eröffnungs- und Geschäftssitzungen,
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1011
245
die Wissenschaftlichen Sitzungen und den Katalog der Bibliothek
der Gesellschaft.
Unter den 52 Vorträgen seien genannt:
Schmidt: Fälle von Sarkom, mit Röntgenstrahlen günstig
behandelt.
Albers-Schönberg: Die Röntgentherapie in der Gynä¬
kologie. Referat.
Gauß: Ueber Tiefenbestrahlungen in der Geburtshilfe und
Gynäkologie.
Reifferscheid: Histologische Studien über die Beein¬
flussung menschlicher und tierischer Ovarien durch Röntgen¬
strahlen.
Schwarz: Die praktische Durchführung der Desensibili¬
sierung.
Levy -Dorn: Zur Frage der Idiosynkrasie gegen Röntgen¬
strab len.
Walter: Ueber den Schutz des Untersuchers gegen sekun¬
däre Röntgenstrahlen.
PI age mann: Wiederholte Röntgenaufnahmen des Beckens
bei Kindern mit Hüftluxation beeinträchtigen nicht das Wachstum.
Dohan und Selka: Zur Röntgentherapie des chronischen
Gelenksrheumatismus.
Olbert und Holzknecht: Oesophagusatonie, Pseudoöso¬
phagismus.
Loose: Moment-, Schnell- und Zeitaufnahmen vom Stand¬
punkte des Praktikers.
Kienböck und Eisler: Verlagerung der Brusteingeweide
bei Kniehang (mit herabhängendem Kopfe).
Kienböck: Ueber die Atmung im B rau e r- Drä g e r schon
Ueberdruckapparat für Lungen Operationen.
Holzknecht: Ueber Regulierung der Röhre während dos
Betriebes.
Gocht: Ueber präzise Röntgenaufnahmen von korrespon¬
dierenden Körperteilen mit einer Belichtung.
Robin so hn: Präzisionseinstellung.
Lorey: Röntgendiagnose der Rachitis.
Alexander: Ueber Lungentuberkulose.
Haudek: Ueber Ulzerationen am der Pars media ries
Magens.
Am Ende befindet sich die Schlußrede des Vorsitzenden
der Gesellschaft (H o 1 z k n e c h t), worin mit Recht auf die große
Zahl wertvoller Vorträge und Demonstrationen und auf die be¬
deutende Zahl der Mitglieder und Teilnehmer (490) hingewiesen
wird.
*
Archiv für physikalische Medizin und medizinische
Technik.
Herausgegeben von Prof. Kraft und Dr. Wiesuer.
Leipzig, OttoNemnich.
Der fünfte Band 1909 bis 1910 enthält die folgenden Ori¬
ginalarbeiten :
Leduc: Der elektrische Schlaf. Led uc bespricht die
Technik desselben, die Erscheinungen am Tier, die Wiederbele¬
bung, die Versuche am Menschen.
F ranze: Ueber Herstellung der Kohlensäurebäder.
Dessauer: Zwei neue Röntgenapparatsysteme. 1. Ein
neuer Funkeninduktor und Quecksilberunterbrecher ohne Gegen¬
strom im sekundären Stromkreis, wodurch die Leistungen der
sogenannten Idealapparate erreicht werden sollen. 2. Blitzapparat
mit Aufnahmen in ca. Vioo - Sekunde.
Kienböck: Die Bursa subacromialis und snbdeltoidea und
ihre Erkrankungen im Röntgenbilde. Es sind die Kalkablage¬
rungen in den Schleimbeuteln sichtbar und somit ist die Er¬
krankung, auch Periarthritis humero - scapularis (Duplay) ge¬
nannt, oft mit Sicherheit zu diagnostizieren. Es wird ein Dutzend
von Fällen beschrieben und mit einer Bildertafel illustriert.
Geigel: Elektron, Anschauungen über das.
Kraft: Ueber das Wesen der Stoff Wirkungen. Quantitative
Unterschiede.
Dessauer: Erdschlußfreiheit und reine Galvanisation beim
Universalapparat.
Wies n er: Kasuistische Beiträge zur Röntgentherapie tiefer
gelegener Krankheitsprozesse.
Steffens: Witterungswechsel und Rheumatismus. Zugleich
ein Beitrag zur Erklärung der Wirkung radioaktiver Bäder:
Herz: Vom Herzen das zu wenig Platz hat.
Rosen thal: Angaben, durch welche Technik man Schärfe,
und Kontrast in Röntgenbildern erreicht.
Erfurth: Elektromat, ein verbessertes Vierzellenbad.
Wette rer: Die Röntgenbehandlung der tiefliegenden Tu¬
moren. Ausführliches Referat mit besonderer Betonung der Wich¬
tigkeit postoperativer Bestrahlungen.
Gara: Ueber Diathermie bei Gelenkserkrankungen.
*
Zentralblatt für Röntgenstrahlen, Radium und ver¬
wandte Gebiete.
llerausgegeben von A. E. Stein, Pli. Bockenlieimer und G. v. Berg¬
mann.
Wiesbaden, J. F. Bergmann.
Die bisherigen deutschen Zeitschriften für Radiologie, vor
allem die Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, das
Archiv für physikalische Medizin und medizinische Technik,
die Zeitschrift für Elektrologie und Röntgenkunde, bringen aus¬
führliche und reichhaltige Besprechungen der erscheinenden Lite¬
ratur, doch nur in zweiter Linie. Das neue Zentralblatt hat um¬
gekehrt den Hauptzweck der möglichst vollständigen Referier ung
der internationalen Fachliteratur und nimmt nur nebenbei kurze
Originalarbeiten auf. Die Ausstattung ist sehr gut und der erste,
zwölf Hefte umfassende Band ist auch mit zwölf zu den Ori-
ginalarbeiten gehörigen Tafeln, zumeist Autotypietafeln, ge¬
schmückt. Der Preis des Bandes beträgt 15 M. Das Hauptgebiet
ist die radiologische Diagnostik und Therapie, es werden aber
auch besprochen die Radiumtherapie, Fulguration, Finsentherapie,
Uviolbehandlung und Arsonvalisation. Außer den medizinischen
werden auch die wichtigsten physikalischen, chemischen und
technischen Arbeiten besprochen. Die Zahl der Referenten ist
eine große, die österreichische Literatur ist Herrn Dr. F. Eisler
anvertraut.
Unter den Originalarbeiten seien genannt :
Bardenheuer und Graeßiner: Ueber die Bedeutung der
Röntgenstrahlen für die Frakturbehandlung. Es wird auf die
Arbeiten Grasheys hingewiesen und die Wichtigkeit der Er¬
kennung von Spontanfrakturen betont; die Untersuchungstechnik
wird ausführlich erörtert.
Kienböck: Ueber traumatische Epiphysenlösung und
Wachstumshemmung. Es handelt sich um den Folgezustand nach
einer im sechsten Lebensjahre erlittenen traumatischen Ablösung
bei einem 14jährigen Knaben. Der Patient verschwieg zunächst
den im sechsten Jahre vorgekommenen Unfall und erzählte nur
von einem vor drei Monaten erlittenen Sturz und so wurde der
Röntgenbefund zuerst irrtümlich als Einkeilungsfraktur an der
Epiphysengrenze aufgefaßt. Derartige Irrtümer in der Begutach¬
tung von Unfällen können leicht passieren.
Reich mann: Ueber Hypophysentumoren im Röntgenbilde.
Die Sella turcica fand sich auf der Platte erweitert, ihre Wan¬
dungen zum Teil destruiert. Die Operation bestätigte die Dia¬
gnose einer Neubildung.
Rieder: Kavernen bei Anfangstuberkulose der Lungen.
Solche zeigen sich nicht selten auf den Bildern und die Ansicht,
daß Kavernen stets ein Attribut vorgeschrittener Tuberkulose
seien, kann nicht mehr aufrecht erhalten werden.
Reiter: Einfluß der Radiumemanation auf die Phago¬
zytose. Es findet in vitro meist eine Anregung statt, i
Daran schließen sich technische Mitteilungen von Holz¬
knecht: Eine neue Skala, zum S a b o u rau d sehen Radiometer
und ein Distanzmesser für den Hautabstand von Röntgenröhren.
zur Verth: Knochenveränderungen hei Lues hereditaria.
Typische Fälle mit guten Abbildungen von Röntgenbildern.
Ludewig: Abhängigkeit der Unterbrechungszahl des Weh¬
neltunterbrechers von dem Härtegrad der Röntgenröhre. Je weicher
diese, desto schneller die Unterbrechungen, ceteris paribus.
Kl in gel fuß. erstattet einen Bericht über Vergleichsmessun¬
gen der Sabouraud sehen Reaktionsdose mit „absoluten" elek¬
trischen Einheiten. Kienböck.
246
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 7
Aus v/ersehiedenen Zeitschriften.
157. Die J 1 h e nop h thal inpr o b e als Reagens auf
okkulte Blutungen des Magendarmkanals. Von Pro¬
fessor Dr. J. Boas in Berlin. Auf Grund ausgedehnter Erfah¬
rung wird die Phenophthalinprobe als ein Reagens empfohlen,
das sich als wertvolle Ergänzung der Woberschen Probe außer¬
ordentlich bewährt hat. Das Reagens, das eigentlich 1903 schon
von Erich Meyer angegeben wurde, hat folgende Zu-
sammiensetzung : l g 1 belnophthalin unjd 25 g Kal. hydr. fus.
werden in 100 g V asser gelöst und 10 g Zinkpulver hinzugegeben.
Die anfänglich rote Mischung wird unter beständigem Umrühren
oder Schütteln so lange bei kleiner Flamme gekocht, bis voll¬
ständige Entfärbung eingetreten ist. Dann wird heiß filtriert.
Zum Zwecke der' besseren Haltbarkeit tut man gut, der Lösung
etwas überschüssiges Zinkpulver hinzuzusetzen. Die Probe wird
nun so an gestellt, daß man den festen Kot mit Wasser bis zur
Dünnflüssigkeit verreibt, etwas Eisessig zufügt, verrührt, Aether
hinzufügt, langsam im Reagenzglas hin- und herbewegt, den
Aether in ein reines Reagenzglas abgießt, zum Aether 20 Tropfen
des obigen Phenophthalinreagens zugibt, leicht schüttelt und
schließlich drei bis vier 1 ropfen Wasserstoffsuperoxyd zu¬
setzt. Bei Anwesenheit von Blutfarbstoff wird hiebei das Pheno-
phthalin zu Phenophthalein oxydiert und, da es sich in alkali¬
scher Lösung befindet, je nach dem stärkeren oder schwäche¬
ren Blutgehalt mehr oder weniger rosa bis intensiv rosarot
gefärbt. Bei starkem Blutgehalt bleibt die Rotfärbung längere
Zeit bestehen, bei schwächerem blaßt sie bereits nach einigen
Minuten ab. Da das ‘Reagens sich bei der Berührung mit dem
Sauerstoff der Luft leicht oxydiert, so ist es zweckmäßig, bevor
man es zu dem Aetherextrakt zufügt, einige Tropfen ablaufen
zu lassen. Bei hohem Blutgehalt. der Fäzes ist der Zusatz von
H202 überflüssig. Der Hauptvorzug des Phenophthalinreagens
liegt in der Haltbarkeit der im übrigen wohlbekannten und
leicht herstellbaren Substanz, sowie in der sehr distinkten Fär¬
bung des Reagens und die Möglichkeit, schwache und starke
Blutanwesenheit leicht zu unterscheiden. Zur ersten vorläufigen
Orientierung über Blutan- und -abwesenheit ist neben dem Phe¬
nophthalinreagens die Weber sehe Guajakprobe, gerade wegen
ihrer nicht übergroßen Empfindlichkeit, von entschiedenem
Nutzen. — (Deutsche medizin. Wochenschrift 1911, Nr. 2.) E. F.
*
158. Zur Frage, der Ausbildung von Desinfek¬
toren. Von Jr. B. Vacek, k. k. Bezirksarzt in GroßrMeseritsch
(Mähren). Da kaum abzusehen ist, daß der Staat für die Er¬
richtung von Desinfektorenschulen aufkommen wird, so gibt Ver¬
fasser folgende Anregung : Es liegt im eigenen Interesse der
sanitären Betätigung der Vereine vom Roten Kreuze in Friedens¬
zeiten und im Kriegsfälle, nicht nur über Wartepersonen für die
Krankenpflege, sondern auch über desinfektionskundiges Warte¬
personal zu verfügen. Die Krankenpflegevereine vom Roten
Kreuze mögen also ihre Tätigkeit durch Gründung von Desinfek¬
torenschulen erweitern, wie solche im Auslande bereits erprobt
sind. Diese Schulen wären an die anderen Schulen des .Roten
Kreuzes anzuschließen. Hiedurch wäre am ehesten für desinfek¬
tionskundiges Personal vorgesorgt. Eine baldige Aktivierung dieser
Schulen wäre bei der guten Organisation der Gesellschaft vom
Roten Kreuze im ganzen Reiche wohl möglich, zumal die nötigen
Mittel zur Verfügung wären. — (Der Amtsarzt, Zeitschrift für
öffentliches Gesundheitswesen, 2. Jahrg., Nr. 5.) K. S.
*
159. (Aus dem physiologisch -chemischen Institut und der
Frauenklinik der Universität Straßburg i. E.) Wirksame Sub¬
stanzen im Uterus. und Ovarium. Von Prfvatdozent Doktor
G. Schick eie. Um die spezifischen Beziehungen von Uterus
und Ovarium zur Blutgerinnung festzustellen, verwendete Ver¬
fasser zu seinen Untersuchungen Preßsäfte, welche nach Zer¬
kleinern der Organe, durch Auspressen derselben unter hohem
Druck gewonnen wurden. Nach den Arbeiten von Conradi
haben Preßsäfte von Organen gerinnungsbeschleunigende Wir¬
kung. Im ersten Versuche wurden je 2 cm3 Plasma (von der
Gans), physiologische Kochsalzlösung und Uteruspreßsaft ver¬
mischt. Nach sechsmal 24 Stunden war noch keine Gerinnung
I eingetreten, während im Kon troll versuch die Gerinnung nach
einer Minute erfolgt war. Weitere Versuche bestätigten, daß der
Uteruspreßsaft eine deutliche gerinnungshemmende Wirkung be¬
sitzt. Zur Kontrolle wurden nun Preßsäfte anderer Organe (Ge¬
hirn, Leber, Nieren, Muskel, Plazenta, Ovarien) untersucht. Nur
der Preßsaft von Ovarien hob die Blutgerinnung auf. Später
arbeitete Verf. mit Plasma und Pferdeblutserum als Kontrolle und
fügte dieser Mischung die jeweilige Menge von Uterus- und
Ovariumpreßsait hinzu, ln übereinstimmender Weise zeigten
zahlreiche Versuche, daß die untersuchten Preßsäfte auf Stunden
oder Tage hinaus die Gerinnung hemmen. Dies gilt besonders
für jene Uteri, die wegen Myomblutungen oder sogenannten un¬
stillbaren Blutungen bei normalem anatomischen Befund exstir-
piert worden sind. Um nun zu sehen, ob diese gerinnungs¬
hemmende Wirkung für diese Organe spezifisch ist, wurden mit
Preßsäften von Schilddrüse, Thymus, Nebenniere und Hoden
Versuche angestellt, genau wie mit Uterus und Ovarien. Es
trat nur eine Verzögerung der Gerinnung um Minuten oder wenige
Stunden ein, besonders bei Thymus und Schilddrüse. Ein Ver¬
gleich mit Uterus und Ovarium ist aber nicht möglich. Die
Wirkung des Ovariums ist überhaupt stärker als jene des Uterus;
besonders intensiv ist die Wirkung des Corpus luteum - Pre-ß-
saftes. Merkwürdigerweise hat jedoch die Follikelflüssigkeit keine
hemmende Wirkung. Auch der Inhalt von Follikelzysten mensch¬
licher Ovarien verhielt sich in derselben Weise. Diese intensive
gerinnungshemmende Eigenschaft ist auf Ovarium, Corpus lu¬
teum, Tube und Uterus beschränkt und findet sich nicht im
Körperblute. Nun untersuchte Verf., ob diese Organe eine be¬
sondere Wirkung auf den Blutdruck ausüben. Injiziert man einem
Hunde oder Kaninchen einige Kubikzentimeter von Uterus- oder
Ovariumpreßsait, so tritt eine geringe Blutdrucksenkung ein. Später
arbeitete Verf. mit konzentrierten Preßsäften; 1 cm3 genügte schon,
um eine minutenlang dauernde Blutdrucksenkung hervorzurufen.
In manchen Versuchen zeigte sich, daß diese blutdruckerniedri¬
gende Substanz gleichzeitig eine starke toxische Wirkung ent¬
falten kann; manchmal trat schon durch 3 cm3 von Uterus- und
Ovariumpreßsait nach wenigen Minuten der Tod ein. Die intra¬
venöse Injektion dieser Substanzen beeinflußt nur in großen
Dosen Puls und Atmung. Zur Konstatierung der spezifischen
Wirkung der genannten Substanzen wurden die Extrakte anderer
Drüsen mit innerer Sekretion intravenös injiziert. Nebenniere
erhöht bekanntlich den Blutdruck, ist aber stets von einer Blut¬
drucksenkung gefolgt. Schilddrüse, Thymus1 und Hoden bewirken
nur eine geringe Blutdruckerniedrigung. In weiteren Versuchen
zeigte sich eine gewisse antagonistische Wirkung von Uterus,
Ovarium, Corpus luteum einerseits und Nebenniere anderseits;
ferner eine kumulierende für Thymus, Schilddrüse einerseits,
Uterus, Ovarium, Corpus luteum anderseits. Aus den weiteren
Beobachtungen ergab sich, daß die Blutdrucksenkung als1 Folge
einer peripheren Gefäßerweiterung aufgefaßt werden kann. Die
charakteristische Wirkung der von Ovarium, Corpus luteum und
Uterus gewonnenen Preßsäfte und Extrakte besteht also nach
den Versuchen des Verfassers: 1. in einer Blutgerinnungshem¬
mung in vitro; 2. bei intravenöser Injektion in einer intensiven
Blutdrucksenkung infolge Gefäßerweiterung, oft mit deutlicher
Verzögerung der Gerinnbarkeit des Körperblutes; 3. in dem Auf¬
treten von Zuckungen und zuweilen starken Krämpfen mit teil¬
weiser Benommenheit; bei intensiver Wirkung tritt eine Ver¬
langsamung der Atmung und des Pulseis ein, der manchmal
schon nach geringen Dosen in kurzer Zeit der Tod folgen kann;
4. viele Tiere haben außer den erwähnten Zuckungen auch
Kontraktionen des Darmes, Kot- und Harnentleerung. Diese Ver¬
suche könnten nach Verf. auf manche unaufgeklärte physiolo¬
gische und pathologische Zustände ein neues Licht werfen: auf
den Vorgang der Menstruation (verzögerte Gerinnung des Men-
strualblutes ; Blutdruckveränderung während der Menstruation);
auf Ausfallserscheinungen nach Kastration, auf Uterusblutungen
ohne anatomische Grundlage und andere Vorgänge. — (Mün¬
chener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 3.) G.
*
1G0. Zur Kasuistik plötzlicher Todesfälle bei
Kindern. Von Dr. Rudolf Jahn, städtischer Oberbezirksarzt
in Wien. Die neunjährige Tochter eines Kaufmannes, sonst immer
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
247
gesund, erkrankt eines Tages auf der Straße plötzlich mit Un¬
wohlsein und Kopfschmerz, erbricht dann und wird bewußtlos.
Ein Arzt konstatiert rechtseitige Körperlähmung. Das Kind er¬
wacht nicht mehr aus dem soporösen Zustand, sondern stirbt am
zweiten Tage. Die Obduktion ergibt: Gehirnblutung infolge einer
Geschwulst (Haemorrhag. cerebr. ex gliom. haemisph. sin.). Bei
Bag in sky findet sich ein ähnlicher Fall. Bei plötzlichen Todes¬
fällen der Kinder mit halbseitigen Lähmungserscheinungcn wird
man also immer an Hirntumoren denken müssen, auch wenn
keine anderen Krankheitserscheinungen vorausgegangen sind.
(Der Amtsarzt, Zeitschrift für öffentliches Gesundheitswesen
1910, 2. Jahrg., Nr. 6.) K. S.
★
161. (Aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte in Berlin.)
Syphilitische Allgemeinerkrankungen bei Kanin¬
chen. Von Prof. Dr. Uhlenhuth und Dr. Mulzer. Zahlreiche
neuere Tierversuche haben zu dem Ergebnis geführt, daß man
bei Kaninchen in einwandfreier Weise experimentell eine Gene¬
ralisierung des syphilitischen Virus erzeugen könne. Besonders
junge Kaninchen scheinen zu derartigen Versuchen geeignet, die
mit virulentem Material nach der von den Verfassern angegebenen
und empfohlenen intrakardialen Methode injiziert (mittels einer
feinen Kanüle wird das Herz punktiert und langsam 1cm3 ,, Hoden¬
emulsion“ injiziert), häufig allgemein syphilitisch erkranken. Das
Krankheitsbild ist hiebei äußerst charakteristisch, insbesondere
das Auftreten von eigenartigen N ä s e n- und S c h w a n z t u rn o r e n,
die histologisch menschlichen Gummiknoten gleichen. Auch in
den übrigen Krankheitserscheinungen gleicht diese Allgemein¬
syphilis der jungen Kaninchen der menschlichen Lues, insbe¬
sondere der Lues hereditaria, für die ja ebenfalls, wie bei diesen
Kaninchen, starke Abmagerung, sowie das Auftreten von Paro¬
nychien, Koryza und papulo - ulzerösen Syphiliden charakteri¬
stisch ist. In allen diesen Krankheitsprodukten konnten die Er¬
reger der Syphilis nachgewiesen werden. Ferner ist es den
Verfassern gelungen, lebende Spirochaete pallidae bei experi¬
menteller Syphilis im kreisenden Blute nachzuweisen, es
scheint aber, als ob sie hier nur zu gewissen Zeiten aufgefunden
werden können. Alle diese Befunde bedeuten einen großen Fort¬
schritt der experimentellen Syphilisforschung, da man erst jetzt
die am Tierexperiment gewonnenen Ergebnisse viel eher auf
die menschliche Syphilis übertragen wird können. Ferner soll
durch Fortimpfung im Kaninchen, besonders in der Blutbahn,
die Virulenz der Spirochäten maximal gesteigert werden. Viel¬
leicht gelingt eis, die Spirochaete pallida noch mehr als bisher
zu einem Blutparasiten zu machen und septikämisch - syphili¬
tische Krankheitsprozesse zu erzeugen. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1910, Nr. 2.) E. F.
*
162. Ueber Injektionsnarkose mit Pantopon-
Skopolamin. Von Prof. M. v. Brunn. Bei den einfachen
Skopolamin-Pantoponinjektionen war für eine hinreichende An¬
ästhesie in der Regel noch eine Beigabe von Inhalationsnarkotikum
notwendig. Wurde jedoch die Verkleinerung des Kreislaufes den
gleichen Dosen hinzugefugt, so schliefen die Patienten zunächst
erheblich rascher ein und blieben dann häufig für die ganze Dauer
selbst sehr eingreifender und langdauernder Operationen in einem
derartigen Schlafzustand, daß trotz erhaltener Reflexe, trotz der
Möglichkeit, die Patienten jederzeit zu erwecken, die Operation
schmerzlos ausgeführt werden konnte. Manchmal mußte aller¬
dings1 auch etwas Aether gegeben werden. Die Patienten erhalten
von 1-1 cm3 Lösung von 0-05 Pantopon und 0-001 Skopolamin
nach vorheriger Stauung der Beine, eventuell noch eines Armes,
eine halbe bis drei Viertelstunden vor der Operation eine einmalige
Injektion von sechs bis acht Teilstrichen der Pravazspritze, also
0-06 bis 0-04 Pantopon und 0-0006 bis 0-0008 Skopolamin. Tn
den 125 Fällen konnten bisher schädliche Neben- oder Nach¬
wirkungen nicht, beobachtet werden. — (Zentralblatt für Chirurgie
1911, Nr. 3.) E. V.
*
163. Fort schritt© der Tub erk ul i nb ehan dlung. Von
A. Moeller. Nach einer allgemeinen ITebersicht, über die spe¬
zifischen Behandlungsmethoden der Tuberkulose gehl Moeller
näher auf die Tuberkulinbehandlung ein. Die Resultate, welche
mit der letzteren zu erzielen sind, dürften von keiner anderen Be¬
handlungsmethode erreicht werden. Die Tuberkulosebekämpfung
würde ganz andere Erfolge zu verzeichnen haben, wenn die
praktischen Aerzte die Tuberkulinbehandlung beherrschen und
anwenden würden. Die Wirksamkeit der Koch schon Methode
steht gegenwärtig über jeden Zweifel fest. Die Mehrzahl der Tuber¬
kulingegner urteilt, ohne eigene Versuche mit dem Mittel ange¬
stellt zu haben. Das Beweismaterial, welches sie gegen die Tuber¬
kulinbehandlung erbringen, ist meist ein recht geringes, seitdem
die Virchow sehe Lehre von der angeblichen „Mobilisierung
der Tuberkelbazillen im Körper des mit Tuberkulin behandelten
Kranken“ keine Anhänger mehr hat. Moeller hat niemals eine
schädliche Nachwirkung oder einen Nachteil für die Gesundheit
hei den Tuberkulininjektionen beobachten können. Er hält auf
Grund seiner Erfahrungen — mehr als 50.000 Tuberkulin¬
injektionen — das Tuberkulin für ein außerordentlich wertvolles
Mittel, welches mit dem hygienisch- diätetisch - hydriatischen
Heilverfahren kombiniert, die besten Resultate erzielen läßt. Aber
gerade der Umstand, daß das Tuberkulin auch bei Kranken
mit Vorteil angewendet werden kann, welche sich dem hygienisch¬
diätetisch- hydriatischen Verfahren aus irgendeinem Grunde nicht
unterziehen können oder hei diesem Verfahren nicht den ge¬
wünschten Erfolg erzielt haben, stempelt das Tuberkulin zu einem
hervorragenden Mittel in der Tuberkulosebekämpfung. Die früh¬
zeitige Erkennung der Tuberkulose mittels der diagnostischen
Impfungen und ihre frühzeitige Behandlung liegt im vitalen Inter¬
esse des Patienten. Du hei vielen derselben eine außerordentliche
Abneigung gegen das „Impfen“ besteht, so hat Moeller den
Versuch unternommen, das Tuberkulin stomachal zu verabreichen.
Dies geschieht in Form der sogenannten „Tuberoidkapseln“, welche
aus 0-0002 cm3 Tuberkelbazillenemulsion, 0-0001 Thimothein (ein
aus Thimotbeebazi Ilern hergestelltes Tuberkulin von schwacher
Wirksamkeit) und 0-01 g Calc, formic, bestehen. Zu Beginn der
Kur wird jeden zweiten Tag, später täglich eine Kapsel
genommen. Die Gelodurathülle dieser Kapseln verhindert die
Einwirkung des Magensaftes auf das Präparat, so daß dasselbe
erst im Dünndärme zur Resorption gelangt. Die charakteristische
allgemeine und lokale Reaktion, welche sich bei stomachaler
Darreichung des Mittels ebenso wie bei subkutaner Applikation
des Tuberkulins erzielen läßt, beweist die spezifische Wirksam¬
keit des Präparates. Moeller sah damit in einer großen Zahl
von Fällen günstige Resultate. Neuerdings verordnet er die Kap¬
seln auch neben der Injektionskur zur Unterstützung der letz¬
teren. — (Berliner Klinik 1911, H. 271.) sz.
*
164. Das Aneurysma der Arteria hepatica. Eine
klinische Studie von Denis G. Zesar. Das Aneurysma der Arteria
hepatica zählt zu den seltenen Leiden. Es sind kaum 50 Beob¬
achtungen in der Literatur niedergelegt, obwohl es schon bald
vor 100 Jahren zum ersten Male von Kerandren beobachtet
wurde. Das Aneurysma der Hepatika scheint vorzugsweise jün¬
gere Männer zu befallen u. zw. schon vom 15. .fahre ab, während
Frauen seltener daran erkranken und das erst vom 25. .fahre
ah. Als Ursache für die Entstehung kommen Arteriosklerose
und syphilitische Arteriitis wohl nur in untergeordneter Weise
in Betracht; traumatische Entstehung ist schon gar nicht be¬
wiesen, indes zwischen Aneurysma und überstandener Infektions¬
krankheit besteht nach den vorliegenden kasuistischen Mitteilungen
sicherlich ein Zusammenhang. Wahrscheinlich rufen die gleichen
Keime, welche hei verschiedenen Infektionskrankheiten in ver¬
schiedenen anderen Körperteilen sich lokalisieren und da patho¬
gen wirken, in der Arteria hepatica eine Endarteriitis hervor,
die ihrerseits wieder den Anlaß gibt zur nachträglichen Aneu¬
rysmabildung. Nach den bisherigen Erfahrungen kommen am
häufigsten Pneumonie und Typhus, außerdem dann Osteo¬
myelitis, Tuberkulose, Pleuritis, Malaria, Dysenterie, Gelenksrheu¬
matismus, Abszeß' und Phlegmone in Betracht. Der Sitz des
Aneurysmas an der Arteria hepatica ist kein typischer, immerhin
sitzt es am häufigsten am Stamme oder am rechten Aste dieser
Arterie, regelmäßig kurz vor oder hinter einer Teilungsstelle.
Selten sind intrahepatische Aneurysmen. Die Symptomatologie
des Aneurysmas der Hepatika ist keine charakteristische, ja es
kann sogar jegliches auf ein Aneurysma hindeutendes Symptom
248
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
fehlen. Am konstantesten sind heftige Schmerzen zu finden im
rechten Hypochondrium, Epigastrium, aber auch in der Gegend
des linken Rippenbogens (Reflexschmerz) u. zw. weisen sie in
ihren Schwankungen den Typus der Gallensteinkolikschmerzen
auf. Nicht selten tritt Ikterus auf infolge Kompression der 'Gallen¬
wege, mit denen das Aneurysma Verwachsungen eingeht, wie
auch sonst mit den benachbarten Organen. Der Ikterus kann
ein dauernder oder vorübergehender oder aber- auch rezidivie¬
render sein (nach Birkhardt und Schumann bei Blutung
aus dem Aneurysma in die- größeren Gallenwege und Verlegung
derselben durch Gerinnselbildung). Von diagnostischer Wichtig¬
keit sind eventuell auftretende Blutungen in den Digestions1-
apparat, wobei das Blut je nachdem per rectum oder auch per
os entleert wird. Direkte Perforationen in den Darmkanal sind
wohl selten, aber dann, weil profuse Hämorrhagien die Folge
sind, sehr gefährlich. Vorübergehende Leber- oder Ga.llenblasen-
sch wellungen infolge Blutung in die Gallenwege sind wieder¬
holt beobachtet worden. Temperatursteigerungen sind selten,
aber dann erreichen sie Höhen 'von 40 bis 41° (infektiöses Fieber?).
Der Nachweis eines Tumors fiele diagnostisch sehr ins Gewicht,
begreiflicherweise ist er aber nur selten möglich und der Nach¬
weis der Pulsation eines eventuell derben, elastischen oder fluk¬
tuierenden Tumors ist noch so gut wie niemals gelungen. Eher
findet sich pulssystolisches Blasen über dem Tumor. Schwan¬
kungen in der Wandspannung wäretn differentialdiagnostisch wohl
zu beachten ; bei Perforation kann der Tumor eventuell ganz
verschwinden. In der Mehrzahl der Fälle wird die Diagnose eines
Aneurysmas der Arteria hepatica nur eine Wahrscheinlichkeits-
diagnos'e bleiben, da sich insbesonderS der Cholelithiasis1 und
dem Ulcus duodeni gegenüber differentialdiagnostische Schwierig¬
keiten ergeben. Der Verlauf der Erkrankung ist progressiv, immer¬
hin aber Schwankungen unterworfen und weist durchschnittlich
eine Dauer von 4V2 bis 5 Monaten auf. Die Prognose ist durch¬
wegs schlecht, wenn auch zwei Spontanheilungen in der Ka¬
suistik verzeichnet sind. Chirurgische Intervention vermag wohl
das Leiden zu bekämpfen, wenn die Diagnose frühzeitig gestellt
werden kann. Eventuell ist zu diesem Zwecke die Probelapa¬
rotomie zu machen, an welche gleich die Radikaloperation an¬
geschlossen werden kann. Diese kann nur die Unterbindung
der Arteria. hepatica sein, wobei es von den Verwachsungen ab-
bängen wird, ob das Aneurysma gleichzeitig exstirpiert werden
kann. Die experimentelle Forschung hat wohl ergeben, daß die
Leber die plötzliche Absperrung des arteriellen Blutes in der
Regel nicht verträgt, sondern der Nekrose verfällt, falls keine
anderweitigeil akzessorische Gefäße vorhanden sind, ln patho¬
logischen Fällen scheint es aber der Fall zu sein, daß die Er¬
nährung der Leber größtenteils durch Kollateralbahnen besorgt
wird, denn in der Tat ging einer von zwei durch Unterbindung
der Hepatikä behandelten Aneurysmafällen in definitive Heilung
über. Der Versuch der Radikaloperation erscheint aber auch
sonst gerechtfertigt, da von 46 in der Literatur niedergelegten
Fällen nicht weniger als1 43 an den Folgen des Aneurysmas der
Arteria hepatica verhältnismäßig rasch zugrunde gingen. — (Fort¬
schritte der Medizin 1910, 28. Jahrg., Nr. 42, 43, 44.) K. S.
*
165. (Aus der chirurgischein Universitätsklinik zu Königs¬
berg. — Direktor: Prof. Dr. Lexer.) Ueber die Behandlung
dos typischen Radiusbruches. Von Dr. Walter Krantz.
Njacbdem der Verfasser die verschiedenen Methoden der
Behandlung der Radiusfrakturein historisch und kritisch gewürdigt
hat, empfiehlt er auf Gru'nd der an der 'Klinik Lexer in 300 Fällen
gewonnenen Erfahrungen die von L exer angegebene Behandlung
mittels1 Flanellbindeneinwicklung. Sie vermeidet seiner Ansicht
nach die Nachteile der Schienenbehandlung und der Behandlung
ohne feststellenden Verband, vereint aber ihre Vorteile. Vor
allem ist eine genaue Reposition der Fragmente erforderlich, die
gewöhnlich ohne Narkose, höchstens bei sehr empfindlichen Pa¬
tienten in leichtem A etherrausch geschieht. Durch Flexion, Pro-
nation und ulnare Abduktion der Haut, die mit einem1 plötzt
licbein, kräftigen Ruck unter gleichzeitigem Ziehen am Daumen
und Gegenzug am Oberarm ausgeführt werden, kann die Re¬
position leicht ausgeführt werden. Die einmal gewonnene Stel¬
lung wird durch Einwicklung mit einer einfachen Flanellbinde
für die ganze Zeit der Nachbehandlung erhalten. Die Umwicklung
wird vom Verfasser folgendermaßen geschildert: „Man beginnt
über dem Epicondylus externus, führt die Binde von hier über
den Handrücken und über den zweiten Mittelhandknochen (dessen
Köpfchen bei mageren Händen etwas mit Watte gepolstert wird)
hinweg; von da wird über die Vola und die ulnare Kante der
Hand wiederum das Dorsum erreicht, sodann läuft die Binde
vom radialen Rande des zweiten Metakarpus über die Vola
zurück, gelangt oberhalb der Handgelenkgegend zur Streckseite
des Vorderarmes, um1 die sie in zwei Schlangentouren bis zum
Epicondylus externus herumgeht.“ Diese Tour wird zwei- bis
dreimal wiederholt. Eine entsprechend gebogene Päppschiene wird
mit einer Organtinbinde darüber befestigt. Bei empfindlichen
Leuten bleibt der Verband zwei bis drei Tage 'liegen, sonst wird
er jedeh Tag abgenonunen und der Arm täglich massiert und ge¬
badet. Die vom Verfasser vorgenomniene Nachuntersuchung des
klinischen Materiales, die in 110 Fällen möglich war, hat fast
in allen Fällen vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit
ergeben. Weiters rühmt Verfasser diesem1 Verfahren rasche Hei¬
lung und Billigkeit nach; als Nachteil wird heirVorgehoben, daß
die Patienten manchmal in den ersten Tagen Beschwerden haben
und täglich behandelt werden müssen. — (Deutsche Zeitschrift
für Chirurgie, Bd. 106, H.. 1 bis 3.) se.
*
166. Die Al lgemejinnar k o s e. Von P. Sick -Leipzig.
Nach seinen Erfahrungen an 700 wohlbeobachteten Allgemein¬
narkosen empfiehlt Sick die Misch- und Kombinationsnarkose
wärmstens, da die Komponenten, deren Einzeldosen weit unter
der gefährlichen toxischen Grenze bleiben, sich gegenseitig unter¬
stützen und verstärken und so, an verschiedenen Stellen an¬
fassend, doch eine volle, ja beste Narkose geben. Er empfiehlt
für die klinische Praxis folgendes Schema,, welches im Einzel¬
falle variiert werden kann: Die Vorbereitungsnarkose führt Sick
in der Regel durch Skopolamin - Morphium herbei; bei erregten
Patienten gibt er noch am Abend vorher Va bis 1 g Veronal,
welche Dosis am Morgen vor der ersten Skopolamingabe wieder¬
holt werden kann. Die erste Einspritzung von Skopolamin allein
erfolgt lVi Stunden vor der Operation. Ein Mann erhält in der
Regel eine Spritze des VWoo MerckscheU und Böhringerschen
Präparates (= Va mg Skopolamin), eine Frau die Hälfte einer
Spritze (= V* mg) ; Kinder werden nicht injiziert. Je nachdem
sich im verdunkeltein Narkosezimmer nach einer halben Stunde
deutliche Schläfrigkeit zeigt, oder nicht, wird nach drei Viertel¬
stunden vor der Operation eine halbe bis ganze Pr avaz spritze
gegeben und 0-01 Morphium hydrochloricum hinzugefügt (bei
Gewöhnung an Morphium bis 0-02 aber nicht darüber). Jetzt
kann auch schon ohne Quälerei eine eventuelle Magenspülung
ausgeführt werden. Nur in seltenen Fällen besteht kurz vor
der Operation noch keine genügend starke Somnolenz; da kann
man 'noch unbedenklich eine halbe bisi ganze Spritze Skopo¬
lamin oder eine halbe Spritze Atropin - Morphium hinzufügen
und eventuell noch eine weitere halbe Stunde mit der Operation
warten. Atropin -Morphium (0-02 Morphium, 0-0008 Atropinum
sulfuricum ad 1-0; davon eine halbe bis ganze Spritze) ver¬
wendet Sick auch als Vorbereitungsnarkose in eiligen Fällen
(Ileus) u. zw. mit gutem Erfolge. Die eigentliche Narkose be¬
ginnt man am besten mit dem Braun sehen Mischnarkoseapparat
oder Roth-Dräger, um, erforderlichenfalls bei Andeutung
einer Exzitation zum Narkosebeginn noch einige Züge Chloro¬
form beizumischen. Zu allermeist kommt man mit Aether allein
aus1, auch mit Witzei scher Tropfmethode auf Esmarchmaske.
Der Verbrauch von Aether beträgt meist nur ein Drittel der Menge,
welche bei Aethernarkose früher nötig war, also 50 bis 80 cm3,
während vom Chloroform gar 'nur höchstens 5 cm3 gebraucht
werden, wenn überhaupt. Der Patient bleibt an der Schwelle
der tiefein Narkose und wacht doch nicht zur Unzeit, auf; jede
IJebcr d os ierung des Chloroforms ist vermieden, ebenso wie j-'de
Reizung des Bronchialbaumes durch Aetherüberschwennnung, wo¬
bei auch noch die sekretionshemmende Wirkung des Skopo¬
lamins oder Atropins eine günstige Rolle spielt. Erbrechen tritt
während der Narkose gar nicht, später nur in den seltensten
Fällen auf. Die Patienten schlafen noch nach der Operation ruhig
einige Stunden, wachen meist dann mit voller Amnesie auf und
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
249
können gleich ohne wesentliche Schmerzen mit Atemübungen
oder Flüssigkeitsaufnahmein beginnen. Irgendwelche Spätwirkun¬
gen auf innere Organe, wie sie für Chloroform und \ either
allein bekannt und gefürchtet sind, wurden bisher nie beobachtet.
- (Fortschritte der Medizin 1910, 28. Jahrg., Nr. 43, 44.) K. S.
*
167. Zur Kasuistik des lvarzirioms des Zervix-
stumpfes nach der Chrobakschen Myontoperatiun.
Von I>r. F. Weisse. Bei einer 45jährigen Frau wurde wegen
multipler Myome des Uterus per laparotomiam die supravaginal»;
Imputation des Uterus vorgenommen. Nach vollen fünf Jahren
kam die Patientin mit einem Karzinom der Portio wieder. Exstir¬
pation des Zervixstumpfes mit Ausräumung der Parametrien und
Drüsen auf abdominalem Wege. — (Zentralblatt für Gynäkologie
1910, Nr. 67.) E. V.
*
168. (Aus der Universitätsfraueinklinik zu Straßburg.) Zur
Methode und Indikationserweiterung1 des zervikalen
Kaiserschnittes. Von Dr. G. A. Wal eher, früherem Vo¬
lontärarzt der Klinik. Die extraperitoneale Methode des Kaiser¬
schnittes hat mit der Zeit an Wert verloren, besonders nachdem
sich gezeigt hatte), daß der zervikale tranteperitoneale Schnitt
technisch einfacher ist und keine schlechteren Resultate gibt als
der extraperitoneale. Die Technik der Operation, wie sie1 an der
Straßburger Klinik geübt wird, ist folgende: Unter mäßiger Becken¬
hochlagerung nach entleerter Blase und nach Injektion von 2 cm3
Sekakornin Längsschnitt dutch die mit .Todtinkturanstrich ver¬
sehenen Bauchdecken in der Linea alba, zwei bis drei Finger breit
unterhalb des Nabels beginnend, in einer Ausdehnung von zirka
15 cm Länge. In derselben Ausdehnung Spaltung des, Peritoneums.
Hierauf über die höchste Stelle des unteren Uterinsegmentes oder,
wenn dieser Punkt unterhalb der Umschlagfalte des' Peritoneums
zu liegen kommt, Querschnitt durchs Peritoneum in der Umschlag-
falte in der Länge von 10 bis 15 cm. Abhebung des Peritoneums
nach unten, eventuelles Abschieben der Blase nach; oben, bis
der obere und untere Wundwinkel ganz vom Peritoneum visce¬
rale bedeckt werden kann. Längsinzision durchs untere Uterin¬
segment. Entwicklung des Kopfes. Nabt der Muskularis mit
Katgutknopfnähten von beiden Wundwinkeln aus bis auf einen
6 cm langen Schlitz. Expression der Plazenta. Schluß der Zervix-
wunde. Weitere Deckung durch oberflächliche, fortlaufende oder
Knopfnähte mit Katgut. In den Ecken des viszeralen Peritoneal¬
schlitzes je zwei Katgutknopfnähte, in der Mitte fortlaufende Naht.
Derselbe Vorgang beim Peritoneum parietale. Etagenknopfnähte
mit Katgut durch Faszie und Unteihautzellgewebe, mit Silk¬
worm durch die Haut.. Sandsack. Nochmals Sekakornin. Die Vor¬
teile des Verfahrens sind nach Verfasser folgende: Der Längs¬
schnitt bietet gegenüber dem Querschnitt eine größere; Uebersicht-
lichkeit. In der Tiefe ist mehr Platz, daher auch größere Sicher¬
heit vor ungewollten. Zerreißungen. Die Möglichkeit, das vom
Uterus abgelöste Peritoneum exakt in den oberen Bauchdecken¬
wundwinkel zu ziehen, schützt vor Ueherfließen des Uterusinhaltes
in die Bauchhöhle. Die Blasenverletzung wird durch den queren
Schnitt durchs viszerale Peritoneum mit größter Wahrscheinlich¬
keit ausgeschaltet. Als' Nachteil könnte der ungenügende Abschluß
der Bauchhöhle eingewendet. werden. Von einem Vernähen oder
Zusanunenklemmen der beiden Peritonealblätter, wie es TI o f-
meier und Veit üben, ist bisher wegen Schnelligkeit 'der Opera¬
tion abgesehen worden. Peritonitis oder peritonitische Symptome
wurden bisher nicht beobachtet. Unter den 15 bisher operierten
Fällen befanden sich neun reine, sechs zweifelhafte, resp. unreine
Fälle. Operiert wurde womöglich zur Zeit, als die Blase bei
möglichst erweitertem Muttermund noch stand. Die Hauptindi¬
kation zum Eingriff bildeten die verschiedenen Formen des engen
Beckens. Was die Resultate anlangt, sind von 15 Müttern eine,
von 16 Kindern zwei gestorben. In der ersten Hälfte der Fälle
verlief das Wochenbett nur einmal ohne Temperatursteigerung,
in der zweitein Hälfte fünfmal ohne Steigerung, in zwei Fällen
mäßiges Fieber. Die Tubensterilisation, die nur beim transperi-
tomealen Verfahren ohne weitere Umstände gemacht werden kann,
wurde in vier reinen, völlig fieberfrei verlaufenen Fällen ange¬
schlossen. Aus den weiteren Mitteilungen des Verfassers gehl
hervor, daß an der Straßburger Frauenklinik die Indikations'
grenzen des Kaiserschnittes zur Behandlung der Geburten beim
engen Becken viel weiter gesteckt wurden als früher, daß aber
trotzdem, je nach der Lage des einzelnen Falles, die verschiedenen
geburtshilflichen Operationen als indiziert erachtet werden. Jeden¬
falls hat die Hebosteotomie an dem Kaiserschnitt viel Boden ver¬
loren. Sie bat nicht das gehalten, was sie anfangs zu ver¬
sprechen schied, und ist mit Fug und Recht aus der Mode ge¬
kommen. Verfasser resümiert: Mit dem zervikalen transperito¬
nealen Kaiserschnitt hat die Klinik zufriedenstellende Erfahrungen
gemacht. In den allermeisten Fällen ersetzt er mit Vorteil den
klassischen Kaiserschnitt. Das Gebiet der Hebosteotomie, der
hohen Zange und der Perforation am lebenden Kinde schränkt
er weiter ein. Aber man wird auf diese Operationen in unreinen
Fällen nicht vollkommen verzichten können. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 4.) G.
*
169. Glyzerin alte Blasenlaxans. Von Dr. Otto
Franck. Verf. empfiehlt in Fällen p osto p erativ1 er B 1 asenl ähm ungon
die Injektion von 15 bis 20 g Glyzerin durch die Urethra in die
Blase. 10g pflegejn wieder abzufließen, so daß null 5 bis 10 g in die
Blase gelangen. Das genügte stets, um in spätestens 20 Minuten
eine spontane Entleerung1 mit weiterem dauernden Erfolg herbei¬
zuführen. Auch bei mechanischen und neurogenen Lähmungen
konnten vorübergehend spontane Entleerungen herbeigeführt wer¬
den', wobei das Glyzerin gleichsam als1 flüssiger Katheter wirkte
und selbst Strikteren und Verhaltungen durch Prostatahypertro¬
phie zeigten noch augenscheinlichen, wenn auch nur momen¬
tanen Erfolg. — (Zentralblatt für Chirurgie 1911, Nr. 2.) E. V.
*
170. Zwei Todesfälle .infolge Kohlenoxydgas¬
vergiftung durch Kohl ebb ü ge lei sen. Von Dr. Emil Ko-
minik, k. k. Polizeiassistenzarzt in Wien. Durch den bei der
Verwendung von Holzkohlenhügeleisen sich entwickelnden Kohlen¬
dunst kommen leichte Vergiftungssymptome häufig vor. Denn Kopf¬
schmerzen und Ueblichkeiten, die hei mit Kohleneisen plättenden
Personen häufig auftreten, sind gewiß; als solche anzusehen.
Todesfälle jedoch infolge zufälliger Vergiftung durch den Dunst
eines Holzkohlenbügeleisens sind gewiß, selten. In beiden Fällen,
über die Kodninik berichtet, hatten die Dienstmädchen das
Bügeleisen aus der Küche, wo sie zuletzt gearbeitet hatten, ,in
den Schlafraum mitgehommen und sichi schlafen gelegt. Beide
wurden den anderen Morgen tot mit Symptomen der Kohlen¬
oxydgasvergiftung aufgefunden, welche durch die Obduktion be¬
stätigt wurde, ln den Bügeleisen fand sich Asche und Reste un-
verbrannter, erkalteter Flolzkohle. Die Entstehung der Kohlen¬
oxydvergiftung etwa durch einen Ofen oder Leuchtgas war un¬
möglich, da beides im Schlafraume nicht vorhanden war. —
(Der Amtsarzt, Zeitschrift für öffentliches Gesundheitswesen
1910, 2. Jahrg., Nr. 6.) K. S.
*
171. Ueber die Abwendung von Aderlaß und Koch¬
salzinfusion bei Mer Behandlung von Hautkrank¬
heiten. Von Priv.-Doz. Dr. Karl Bruck, Oberarzt der könig¬
lichen dermatologischen Universitätsklinik in Breslau (Professor
N ei ss er). Vo’n der Annahme ausgehend, daß eine große Zahl
von Hautkrankheiten und inshesonderte der Pruritus und ge¬
wisse Formen der Urtikaria durch ihrem Wesen nach Preist
unbekannte, sub akute: oder chronische Vergiftungen
erzeugt werden, hat Verf. ein Verfahren therapeutisch anzu¬
wenden versucht, das schon lange hei der Behandlung akuter
Intoxikationen in Gebrauch ist und hiebei zuweilen lebens¬
rettende Dienste geleistet hat: den Aderlaß und die darauf fol¬
gende Infusion physiologischer Kochsalzlösung, die
,, Organismusauswaschung“ nach Sahli. Der Verfasset' berührt
die gesteigerten Diurese, die desinfizierende Wirkung von Koch¬
salzinfusionen und hebt als günstige Wirkungen der letzteren
die gesteigerte Diurese, die desinfizierende Wirkung von Koch¬
salzlösung, die hiedurch erzielte Verdünnung etwaiger im Blute
kreisender Giftstoffe hervor. Für dermatologische Fälle gäbe
es für den Aderlaß und die nachfolgende Infusion nur eine ein¬
zige Kontraindikation : hochgradige Arteriosklerose, doch
wurde die Prozedur auch bereits bei alten Leuten mit mäßiger
250
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 7
Arteriosklerose oline irgendwelche Zwischenfälle vorgenommen.
Der Venäpunktion folgte stets entweder die slubkutane oder die
intravenöse Infusion. Das letzterwähnte Verfahren ist entschie¬
den das bequemste, für den Patienten angenehme, offenbar in
seinen Resultaten das sogar überlegenere. Der Verfasser beschreibt
genau die Technik des Verfahrens (Entnahme von 250 cm3 Blut,
bei kräftigen Personen mehr, sofortige intravenöse Infusion von
höchstens 500 cm3 einer 0-85%igen sterilen Kochsalzlösung von
40" Temperatur oder subkutane Einspritzung von 1000 bis
1500 cm3, Wiederholung der ganzen Prozedur in mehreren
Fällen). Es folgen acht Krankengeschichten (vier Fälle von Pru¬
ritus universalis1 und senilis, ,je ein Fall von Urticaria papulosa
und Erythema exsudativum multiform« und zwei Fälle von Der¬
matitis herpetiformis Dü bring). In allein diesen Fällen hat
die Organismusauswaschung einen, wie Verf. glaubt, unver¬
kennbar günstigen Einfluß geübt. Eine lediglich sugges¬
tive Beeinflussung eines so quälenden Leidens wie des Pruritus
senilis ist wohl nicht anzunehmen, sie dürfte auch nicht längere
Zeit anhalten. Für die tatsächliche Wirkung des Verfahrens!
sprechen überdies die Resultate bei Erythema exsudativum mul-
tiforme und Dermatitis herpetiformis : rasche Resimission der Er¬
scheinungen, insbesonders der sonst recht renitenten Schleim¬
hautsymptome bei Erythema exsudativum multiforme. Bei Pso¬
riasis vulgaris und einem Falle von universellem Ekzem hat
der Verfasser auch nicht den geringsten Einfluß einer auch
wiederholten Organismusauswaschung gesehen. Bei einem
zweiten, zurzeit noch in Beobachtung stehenden universellen
Ekzem scheint jedoch eine wesentliche Besserung einzutreten.
Schädigungen und unangenehme Zwischenfälle, sind nie beob¬
achtet worden, häufig folgten Temperatursteigerungen bis zu
89-5°. Was die Art der Wirkung von Aderlaß und Kochsalz¬
infusion betrifft, so scheint nicht so sehr die etwas gesteigerte Diu¬
rese, vielmehr wohl die direkte Einwirkung auf das Blut, der
Reiz, den der Blutverlust einerseits und das Salzwasser anderseits
ruf die bämatopoetischen Organe ausüben, das wichtigste zu sein.
Die bisherigeln Resultate sollen zur Nachprüfung anregen, da
der Aderlaß und die Kochsalzinfusion nicht nur für die Be¬
handlung der oben angeführten, sondern auch anderer Haut¬
krankheiten, bei denen man eine Mitwirkung von Giften
vermutet, eine Rolle spielen können. Denn wenn selbst durch
die Organismusauswaschung eine radikale Beseitigung der Krank¬
heitsursache nicht zu erzielen wäre, würde sie als unterstützendes
und wenigstens zeitweilig besserndes Moment für eine ganze
Reihe von Dermatosen in Betracht kommen, bei denen unser
sonstiges therapeutisches Arsenal nur ein sehr bescheidenes ist.
(Berliner klinische Wochenschrift 1911, Nr. 3.) E. F.
*
172. Zur Frage der Venenunterbindung bei eitri¬
ger Pfortaderthrombose nach Appendizitis. Von Pro¬
fessor Sprengel. Im Anschluß an eine Appendektomie mit
Perforation und Peritonitis trat eine Pylephlebitis auf. Am
vierten Tage nach ihrem Auftreten Relaparotomie, Ligatur in
mehreren Bündeln des Mesenteriums, des unteren Dünndarm¬
endes und des abgehobenen, im unteren Ileocökalwinkel liegen¬
den Peritoneums mit den hinter ihm liegenden Gefäßen. Die
Schüttelfröste wiederholen sich post Operationen! zwar nur mehr
dreimal, doch erliegt Pat. drei Wochen nach der zweiten Opera¬
tion einer Sepsis. Die Autopsie ergab eine Thrombophlebitis der
Vena meseraica superior und inferior, Pylephlebitis1, in der Leber
massenhaft Abszesse. Sprengel macht auf die Schwere dieser
von Wilms angegebenen Operation aufmerksam, wenn das Kolon
mit dem unteren Dünndarmende nicht gut beweglich ist, das
0 olon ascendens kein gut ausgebildetes Mesenterium besitzt
und reichliche subseröse Fettansammlung besteht, da es dann
oft sehr unsicher, ja fast unmöglich ist, die zum Kolon tretenden
Gefäße aufzusuchen und zu unterbinden. — (Zentralblatt für
Chirurgie 1911, Nr. 2.) E. V.
*
173. (Aus der chirurgischen Abteilung des städtischen
Krankenhauses in Graz.) Erfolge mit Ausschaltung der
Achillessehne bei schwerem Plattfuß nach Nicola-
doni. Von Primararzt Dr. Josef Hertle. Der Durchschneidung
der Achillessehne und Ausschaltung der Funktion des Musculus
triceps surae lag die Idee zugrunde, durch Ausschalten des Anta¬
gonisten der kurzen Fußmuskulatur ein Uebergewicht zu ver¬
schaffen, welches geeignet wäre, durch Transformation des Kno¬
chens das Fußgewölbe wieder herzustellen. Tatsächlich hat die
Nachuntersuchung einiger von Nicolad oni untersuchten Fälle
ergeben, daß im Laufe der Zeit sich ein schönes' Fußgewölbe ent¬
wickelt hat. Verf. hat auch sieben Fälle nach dieser Methode
operiert und hat sehr gute Resultate erzielt. Besonders auffal¬
lend war, daß die Patienten, die durch ihren Plattfuß berufs¬
unfähig geworden sind, drei bis sechs Wochen nach der Opera¬
tion ihren Beruf wieder aufnehmen konnten. Interessant ist, daß
in keinem Falle eine dauernde Schädigung des Ganges eingetreten
ist und daß die Patienten sogar die Fähigkeit, sich auf die Fu߬
spitze zu stellen, wieder erlangten. Es1 hatte sich mit der Zeit trotz
der Ausschaltung, einel neue Sehne gebildet, aber die temporäre
Ausschaltung hatte schon genügt, um die Funktion der kurzen
Fußmuskeln wieder herzustellen und das Skelett um zu formen.
Dementsprechend hat sich in keinem Falle die Notwendigkeit
ergeben, die ursprünglich in Aussicht gestellte Zusammennähung
der durchschnittenen Sehne auszuführen. Die Vorteile der Opera¬
tion liegen in der großen Einfachheit, der kurzen Behandlungs¬
dauer und dem Wegfall jeder Nachbehandlung. Das meiste an
Nachbehandlung leisten die Patienten selbst dadurch, daß sie
früh zu gehen anfangen. Aber auch auf die Plattfußschmerzen
hat die Operation einen sehr günstigen Einfluß, offenbar durch
die nach der Durchschneidung der Sehne eintretende Dorsal¬
verschiebung des Ivalkaneus und Talus, wodurch eine Entlastung
an Stelle des früheren stärksten Druckes ein tritt. — (Langen-
beeks Archiv, Bd. 93, H. 3.) se.
*
174. (Aus der I. medizinischen Klinik der kgl. Charite zu
Berlin. Direktor: Geh. Med. -Rat Hi s'.) Zur Frage der
regionär verschiedenen Empfindlichkeit gegen Jod
Von P. Fleisch mann, Assistent der Klinik. Krehl hat in i
der Münchener medizinischen Wochenschrift (1910, Nr. 47) vor
der kritiklosen Anwendung des Jod gewarnt und gezeigt, daß
selbst kleine Dosen unter Umständen mehr oder weniger schwere
Schädigungen hervorrufen können. Es handelt sich hiebei um
die Erscheinungen des sogenannten konstitutionellen Jodismus. I
Krehl hat neuerdings die Anschauung Rilliets, daß Jod bei
Kropfträgern, selbst in allerkleinsten Dosen, zu Jodismus (Thy-
reoidismus) führen kann, bestätigt. Zum Beweise der Berechti¬
gung dieser Anschauung veröffentlicht Verf. eine kleine Zu¬
sammenstellung über die Jodempfindlichkeit in Berlin, als einer
von Schilddrüsenerkrankungen endemischer Natur freien Gegend,
zum Gegensätze von Basel und Bern, wo Schilddrüsenerkrankun¬
gen endemisch sind. Als Basis der klinischen Prüfung wurde
angenommen das häufig erste Zeichen des Thyreoidismus, eine
mehr oder minder häufige Pulsbeschleunigung, welche schon
ganz kurze Zeit nach Beginn der Medikation auftritt. Es han¬
delt sich in diesen Fällen überwiegend um Tabes; dorsalis oder
Dementia paralytica, Apoplexien, vereinzelte Fälle von Sklerose
der Herzgefäße, außerdem um zahlreiche Fälle von Affektionen j
der Luftwege (akute und chronische Bronchitis, Emphysem). Die
tabellarische Zusammenstellung zeigt zunächst die erhöhte Jod¬
empfindlichkeit in Basel und Bern, wo in 68% und 23% der
Fälle Pulsbeschleunigung nach Jodzufuhr eintrat, während in
Berlin eine solche nur bei 3-7% vorhanden war. Als wichtiges
Resultat geht weiter aus der Tabelle hervor, daß in Basel nur
16%, in Bern nur 17% der Patienten, die nach Jod Pulsbeschleuni¬
gung bekamen, eine vergrößerte Schilddrüse hatten, während
zahlreiche andere Patienten trotz Schilddrüsenvergrößerung nicht
mit Pulssteigerung reagierten. Jedenfalls ergibt die Statistik des
Verfassers konform mit der Anschauung Krehls, daß die Em¬
pfindlichkeit. gegen Jod in Kropfgegenden nicht an. das ' Vorhanden¬
sein einer fühl- oder sichtbar vergrößerten Schilddrüse gebunden
ist, sondern auch bei scheinbar normaler Schilddrüse vorhanden
ist. — (Münchener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 4.)
1 G.
175. Die Verunreinigung der öffentlichen Ge¬
wässer, ihre biologische Untersuchung und Un¬
schädlichmachung. Von Dr. Oskar Ilaeimpel, Assistent
251
Nr. 7 WIENER KLINISCHE
der k. k. landwirtschaftlich -chemischen Versuchsstation in Wien.
Infolge Verdichtung der Bevölkerung, der Zunahme ihrer lle-
dürfnisse bei steigender Kultur und des Aufblühens industrieller
Tätigkeit, werden unsere Gewässer über Gebühr verunreinigt, zum
Schaden der Hygiene, Landwirtschaft, Fischzucht und wieder
der Industrie selbst. Die Diagnose der Verunreinigung wird heute
nicht vom Chemiker, sondern vom Biologen gestellt. Festerer
kommt, wenn er eine akute Verunreinigung feststellen soll, fast
immer zu spät an Ort und Stelle, meist zu einer Zeit, Kvo
schon wieder längst reines Wasser zu Tal läuft und der Nach¬
weis von irgendeinem Gifte in Fischkadavern ist so gut wie
unmöglich. Der Biologe aber ist in seiner Untersuchung unab¬
hängig von dem Zeitpunkte der Verunreinigung der Gewässer,
es ist ihm möglich, nach Wochen und Monaten eine Vergiftung
zu konstatieren, denn er untersucht die Tier- und Pflanzenwelt
der Gewässer und findet deren Leichen als untrügliche Wahr¬
zeichen eines gewaltsamen Todes am Tatorte liegend. Hofer
sagt.: Die Sünden der Fabriken, die unsere Gewässer verunrei¬
nigen, sind mit einer dem Biologen verständlichen Schrift so fest
verzeichnet, daß ihre Spuren noch nach Monaten entziffert werden
können. Die schwersten Verunreinigungen der Gewässer stammen
nicht, wie man glauben könnte, von chemischen Fabriken, denn
deren Abwässer können mit wenigen Ausnahmen wieder auf che¬
mischem Wege in einen derartigen Zustand überfuhrt werden,
daß sie keine größeren Schäden anrichten, wenn sie nur ,in
einen größeren Flußlauf eingeleitet sind. Die Abwässer der land¬
wirtschaftlichen Gewerbe und der Städte sind es hingegen, welche
der Reinig'ungstechnik die größte Mühe und Sorge machen. Hier
versagen nämlich die chemischen lteinigungsmethoden vollkom¬
men und wieder ist es die Biologie, die hier aushilft. Zur Zeit
bestehen drei biologische Verfahren: 1. das Rieselverfalnem, 2. die
biologische Reinigung auf Tropf- und Füllkörpern, 3. die natür¬
liche Selbstreinigung in Teichen, wobei die hauptsächlich tätigen
Kräfte, die an der Zersetzung der Schutzstoffe arbeiten, von
niederen und höheren Organismen dargestellt werden. Ein
sicherer Erfolg des Rieselverfahrens ist aber nur da zu erhoffen,
wo geeigneter Boden in genügender Ausdehnung vorhanden ist,
andernfalls ist der Erfolg ein negativer, das Rieselfeld wird über¬
lastet und versagt vollständig. Wo zur Durchführung des Riesel¬
verfahrens die räumlichen und geologischen Voraussetzungen
fehlen, bedient man sich der biologischen Reinigung -mittels
Füll- oder Tropfkörper, welche nichts anderes sind, als ein
Schlackenkörper (Kies, Koks, Schlacken), der ein künstliches
Filter bildet. Dieses Filter passieren die Abwässer, nachdem
sie in Faulkammern eine Vorreinigung durchgemacht haben.
Auch hier sind es vornehmlich Lebensprozesse (Mikroorganis¬
men, aber auch Insektenlarven, Regenwürmer usw.), welche die
Reinigung bewirken u. zw. mit solchem Erfolge, daß die Ab-
wässer klar, geruchlos und nicht mehr fäulnisfähig sind. Die bio¬
logischen Körper stehen in englischen und auch deutschen Städten
in Verwendung, der Betrieb scheint aber für Großstädte zu
teuer zu kommen. Neuestens ist eine billige Reinigung von orga¬
nischen Abwässern in den Vordergrund getreten und das ist die
letztgenannte Methode der natürlichen Reinigung in Teichen.
Es hat sich als irrtümlich herausgestellt, wenn man glaubt,
daß die selbstreinigende Kraft der stark fließenden Gewässer eine
größere ist als die der langsam fließenden oder gar der stehenden
warmen Gewässer. Gerade das Gegenteil ist richtig, den höchsten
Frad von Selbstreinigungsfähigkeit erreicht der sich am meisten
erwärmende Karpfenteich. Und das ist eigentlich ganz natürlich,
weil die biologische Reinigung wieder durch die gesamte niedere
Fauna und Flora bewirkt wird. Man hat berechnet, daß das
stehende Grundwasser pro 1 m2 Grundfläche unter allen Um¬
ständen das fließende an selbstreinigender Kraft weit übertriff 1.
Ein Hektar Karpfenteich vermag lOmal mehr an organischer
Substanz zu zersetzen als ein Hektar Flußstrecke und 10- bis
lömal mehr als ein gleich großes Rieselfeld. Fischteiche zur
Reseitigung von Abwässern sollten also daher in viel größerem
Umfange, als es bisher geschehen ist (Dorfteiche) in der Praxis
m Verwendung kommen. Bringen sie doch, abgesehen davon,
daß sie oft mit den geringsten Mitteln herzustellen sind, durch
die Erzeugung von Fischfleisch noch positive .Werte hervor!
End diese Werte können unter Umständen die Anlagekosten
WOCHENSCHRIFT. 1911.
um das Vielfache wieder einbringen. Die Art und Weise der
Anlage solcher Karpfenteiche ist eine sehr einfache. Nach' Kolk¬
witz verwendet man zweckmäßig etwa drei hintereinander ge¬
schaltete1, nicht zu kleine I eiche, in denen das W asser (C t vv a
24 Stunden lang verweilt. Den ersten Teich betrachtet man
nur als Sedimentierbassin. Von dem größten Teile der Schwebe¬
stoffe befreit, gelangt das Wasser dann in den zweiten Teich,
wo es Gelegenheit hat, weitere Fortschritte in der Selbstreinigung
zu machen. Der dritte Teich taugt schon zur Fischzucht und
kann man sein W asser ohne jede bemerkbare Verunreinigung
in ein fließendes Gewässer (Vertäuter) abfließen lassen. Derartige
Anlagen sind in Bayern und Preußen bereits praktisch erprobt
und Professor Hofer in München geht jetzt mit dem Plane
um, sogar die Abwässer einer Stadt wie München auf biologi¬
schem Wege durch Karpfenteiche zu beseitigen. — Wäre es
am Ende nicht auch für Wien zweckmäßig, die Abwässer zur
Karpfenzucht zu verwenden, statt riesige Werte ungenützt in
die Donau fließen zu lassen? Und das in so teuren Zeiten! Die
Sache wäre sicherlich nicht bloß vom hygienischen Standpunkt
aus wert, ernstlich in Erwägung gezogen zu werden. Referent.
Der Amtsarzt, Zeitschrift für öffentliche Gesundheitspflege
1910, 2. Jahrg., Nr.’ 7 und 8.) K. S.
*
176. Verwendung gesundheitsschädlicher Stoffe
in der Margarinefabrikation. Von W. P. Dunbar, Direktor
des städtischen hygienischen Instituts in Hamburg. Die in letzter
Zeit vorgekommenen Massenerkrankungen nach Genuß von Mar¬
garine haben Verl’, veranlaßt, in seinem Institute eingehende
Untersuchungen über die zur Herstellung der Margarine ver¬
wandten Stoffe anzustellen. Ist doch die Margarine heutzutage
schon als eines der wichtigsten Volksnahrungsmittel anzusehen.
Die Jahresproduktion im Deutschen Reiche wird auf 100.000,000 kg
im Werte von etwa 100,000.000 Mark geschätzt; es gibt Fabriken,
von denen jede einzelne pro Tag mehr als 100.000 Pfund Mar¬
garine erzeugt, also bei Annahme von 30 g pro Person genug,
um mehr als eine Million zu versorgen. Welches Unheil kann
da angerichtet werden, wenn ein solcher Margarinefabrikant
einen gesundheitsschädlichen Stoff zur Herstellung benützt! Der
Verfasser beischreibt die 1 abrikationsweise der Margarine, den
allmählichen Ersatz der ursprünglich verwendeten tierischen Fette
(Rindertalg) durch pflanzliche Oele-, so durch ßaumwolT
samenöl (Cottonöl) und Erdnußöl (Oleum Arachidis), später durch
Mais-, Sonnenblumen- und Mohnöl, durch Kokosfett usw. Ein¬
zelne Margarinen führten Phantasienamen, z. B. „Butteröl“, das
Cotton-, bzw. Rüböl sein soll. Solche Phantasienamen sollten,
wie es in der Schweiz schon der Fäll ist, auch im Deutschen
Reiche verboten werden. Im weiteren bespricht Verf. die Zu¬
sätze bei der Margarinefabrikation (Eigelb u. a.), die Konser¬
vierungsmittel, welch letztere in Deutschland zumeist verböten
sind. Eine Fabrik, deren Erzeugnis solche Massenerkrankungen
hervorrief, wandte ein pflanzliches Fett an, das bisher noch
nicht zur Beobachtung gekommen war. Die Fabriksleitung er¬
klärte, sie habe zur Fabrikation der Margarine das sogenannte
„Kardamone!“, zuweilen auch Mowraöl, benutzt. Das „Karda-
inonöl“ erwies sich, an Hunden verfüttert, als gesundheitsschäd¬
lich, die Tiere erbrachen, sie wurden krank. Ebenso ging es
bei der Verf ütterung der sogenannten Mowrabutter. Langwierige
Untersuchungen führten zu dem Resultate, daß es sich bei dem
„Kardamonöl“ um ein aus dem Samen von Hydrokarpus her-
gestelltes Produkt handle, daß es also ein „Marattiöl“ war, be¬
ziehungsweise nach Lewko witsch ein Hydrokarpusöl. Zwei
Gramm des Marattifetts (in England Marattioil) wurde an Hunde
verfüttert, es bewirkte innerhalb derselben Zeit Erbrechen, wie
dieselbe Quantität des „Kardamonöls“. Die gesundheitsschädliche
Margarine besteht zu mehr als 50°/o aus Marattifett. 3 g dieser
Margarine, an Hunden verfüttert, bewirkten schon Erbrechen,
es ist begreiflich, daß auch ein Mensch, der einige Scheiben
Brot, mit solcher Margarine bestrichen, im Tage ißt, in gleicher
Weise erkranken wird. Von den 30 zu diesen Experimenten
benutzten Hunden sind auch 5 gestorben. Versuche an Menschen
wurden nicht angestellt. Dieselben Hunde, welche auf Maratti-
margarine regelmäßig erbrachen, blieben ebenso regelmäßig an
den Tagen gesund, wo anderweitige Proben an sie verfüttert
252
WIENER KLINISCHE
wurden. Vorgänge, wie der beschriebene, sollten dazu verwertet
werden, auf etwa bestehende Lücken in der Gesetz!-
gebung aufmerksam zu machen. Die notwendigen Schutzma߬
nahmen sollen anderseits' die Maiigarinefabrikation nicht unnötig
in ihrer Existenz gefährden. Heutzutage kann jedermann ohne
irgendwelchen Nachweis für seine Eignung und Befähigung eine
Margarinefabrik oder irgendwelche andere Nahrungsmittelindu¬
strie eröffnen. Es ist zu erwarten, daß die Margarinefabrikanten
selbst den Anlaß' der Maskenvergiftungen benützen werden, um
das allgemeine Vertrauen in ihre Fabrikation wieder herzustellen.
Aehnliches hat man auf anderen Gebieten gesehen. Esl muß aber
prophylaktisch etwas geschehen, jda ja ein solcher Fabrikant
einen noch giftigeren Stoff als das erwähnte Marattifett benützen
und damit, riesigen Schaden anrichten könnte. Das gilt nicht
nur für die Margarine-, sondefrn auch für das ganze Gebiet
der Nahrungsmittelindustrie. — (Deutsche medizin. Wochen¬
schrift 1911, Nr. 2.) E. F.
*
177. Beitrag zur Kenntnis des epileptischen
I r res e i n s. V on Priv.- Doz. Dr. Otto H e.n rieh s en, zweiter
Arzt an der psychiatrischen Klinik in Basel. Verf. führt in seiner
Arbeit den Nachweis, daß das epileptische Irresein in einer großen
Anzahl von Fällen nicht typisch verlaufe. Volle Sicherheit für
die Diagnose auf epileptisches Irresein bietet nur der Nachweis
von Krampfanfällen oder diesen gleichwertig zu erachtenden Er¬
scheinungen. Ohne letztere, mehr rein aus dem psychischen
Bilde, dürften nur typisch anfallsweise auftretende transitorische
Bewußtseinsstörungen mit nachfolgender totaler oder partieller
Amnesie und Neigung zur Gewalttätigkeit als epileptisches
Irresein zu diagnostizieren sein. Das epileptische Irresein
ist sehr vielgestaltig, es kann alle überhaupt bei Geisteskranken
vorkommenden Zustandsbilder aufweisen; deswegen ist auch der
Beweis der Kombination von Epilepsie mit einer funktionellen
Psychose — theoretisch ist eine solche Kombination wohl denk¬
bar — in praxi schwer zu erbringen. — (Allgemeine Zeitschrift
für Psychiatrie und psychisch -gerichtliche Medizin, Bd. 68, H. 1.)
S.
*
178. (Aus dem pharmakologischen Institut der Universität
Freiburg i. R.) Pharmakologische Untersuchungen über
die Mischnarkose. Von Priv.-Doz. Dr. phil. et med. Hermann
Fühner. Bei Verwendung mehrerer Narkotika zur Herbeiführung
der Narkose ist die Frage wichtig, wie sich dieselben quantitativ
in ihrer Wirkung beeinflussen. Summiert sich ihre Wirkung
einfach oder können sich dieselben gegenseitig in ihrer Wirkung
verstärken. Mit anderen Worten, läßt sich nur ein partieller oder
ein additiver oder ein potenzierter Synergismus der Narkotika¬
kombination feststellen. Verf. hat in der „Biologischen Anstalt lauf
Helgoland“ Tierversuche angestellt an kleinen Exemplaren eines
marinen Fisches, CyclopteruS' lUmpus (Seehase, Lumpfisch). In
diesen Versuchen prüfte er zunächst indifferente Narkotika und
bestimmte ihre narkotischen Grenzkonzentrationen in Lösung in
Seewasser erst allein für jedes Narkotikum, dann in Mischung.
Die gebrauchten Verbindungen waren Chloralhydrat-Aether, Chlo-
ralhydrat-Alkohol, Paraldehyd-Aether, Paraldehyd-Alkohol, Phenol-
Aether, Phenol-Alkohol. Bei diesen Versuchen zeigte sich, daß
sie sich in ihrer Wirkung auf das1 Zentralnervensystem gegenseitig
nur addieren, nicht potenzieren. Auch für die Chloroform-Aether-
mischung dürfte dies gelten. Wird bei Versuchen arn Warmblüter
mit diesen Narkotizis Verstärkung der Wirkung beobachtet, So
ist dieselbe auf Veränderung der Resorptionsverhältnisse, nicht auf
Verstärkung im Zentralnervensystem zurückzuführen. Verfasser
versuchte festzustellen, ob bei Kombination von basischen mit
indifferenten Narkotizis eine verstärkte Wirkung zu erkennen ist.
Es bewirkte aber weder Morphin noch Skopolamin, allein oder
miteinander gemischt, Narkose, und bei Verwendung des einen
oder anderen, mit Urelhanlösung gemischt, wurde die narkotische
Wirkung des letzteren in keiner Weise verstärkt. Verf. hatte bei
seinen früheren Versuchen über Hämolyse schon gefunden, daß
eine gesättigte klare Lösung von Aether in Wasser sich mit einer
ebensolchen Chloroformlösung nicht klar mischt, daß eine Trü¬
bung entsteht und sich Tropfen von Aether-Chloroform aus der
Flüssigkeit abscheiden. Die beiden Narkotika Aether1 und Chloro-
W0CHENSCHR1FT. 1911. Nr. 7
form verdrängen sich demnach gegenseitig aus ihren wässerigen
Lösungen und diese Beobachtung könnte das Verständnis für eine
verstärkte Wirkung der Narkotikakombination erschließen. Mit
der Löslichkeits Verminderung dieser Narkotika in Wasser ver¬
schiebt sich nämlich ihr Teilungskoeffizient zwischen Wasser
und Fetten (Lipoiden) zugunsten der letzteren. Der Teilungs¬
koeffizient zwischen Wasser und Oel wird bei der Mischung zu-
nelimen und damit die narkotische Kraft. Denn je höher der
Teilungskoeffizient, desto intensiver ist die narkotische Wirkung
der betreffenden Substanz. Die Versuche des Verfassers ergaben,
daß die Erhöhung des Teilungskoeffizienten für indifferente Nar¬
kotika beim Zustandekommen, der Narkose des Zentralnerven¬
systems keine nennenswerte Rolle spielt. Dies gilt aber nicht
für die Narkose durch Kombination von indifferenten Narkotizis
mit dem Morphin. Letzteres ist als Base in Aether oder Benzol
fast unlöslich ; etwas besser löst es sich in Chloroform oder Oel
und auch in den Gehirnlipoiden. Dieser geringen Löslichkeit :
entspricht ein niedriger Teilungskoeffizient des Morphins zwischen
diesem und Wagser. Die Löslichkeit der Morphinbase m Wässer ;
bestimmte Verf. zu 0-022 % ; in Chloroform zu 0-068°/o. Daraus
berechnet sich ein Teilungskoeffizient von etwa 3. Verfasser fand
nun, daß der Teilungskoeffizient des Morphins zwischen Chloro- !
form und Wasser durch Zusatz indifferenter Narkotika außer¬
ordentlich verschoben werden kann. So zum Beispiel bei
Gegenwart von 5°/o Amylenhydrat in den Lösungen von 3
auf 5, von 5% Unethan auf etwa 10 und von 5% Äethylalkohol
auf etwa 22. Diese Beobachtungen können allerdings nicht ohne
weiteres auf den Tierkörper übertragen werden. Sie zeigen aber,
daß bei der Morphinbase schon durch relativ geringe Mengen
indifferenter Narkotika sehr bedeutende Verschiebungen der Lös¬
lichkeit zugunsten von Flüssigkeiten, welche man als Analoga
der Gehirnlipoide ansieht, eintreten können, und sie geben die
Möglichkeit einer zwanglosen Erklärung für eine verstärkte Wir¬
kung des Morphins im Zentralnervensystem'. Verfasser faßt daher
die tatsächlich vorhandene verstärkte zentrale Wirkung der Kom¬
bination von Morphin mit gewissen indifferenten Narkotizis auf
als bedingt durch eine Löslichkeitserhöhung des Morphins in
den Lipoiden deis Zentralnervensystems durch die indifferenten
Narkotika, eine einfache physikalisch-chemische Erklärung, die
dem Verfasser plausibler erscheint, als das Zurückgreifen auf
„Zellrezeptoren“ und deren besondere Fähigkeiten. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 4.) G.
*
179. (Aus der Chirurg. Abteilung des Stadt. Obuchow
krankenhauses für Männer in St. Petersburg. — Chefarzt: Pro¬
fessor Dr. Zeidler.) Ueber operative Behandlung der
Stichverletzungen des Zwerchfells. Von Dr. M. Ma-
gul a. Verf. berichtet über die stattliche Anzahl von 65 Stich¬
verletzungen des Zwerchfelles, von welchen 67 operativ behan¬
delt wurden. Nach seinen Erfahrungen entstehen die meisten
Zwerchfellverletzungen auf pleuralem Wege u. zw. ist eine Ver¬
letzung des Zwerchfelles noch möglich bei recht hohem Sitze
der äußeren Wunde (im vierten Interkostalraumi). Es zeigte sich
ferner, daß die Stichverletzungen des Zwerchfelles in einer
größeren Anzahl von Fällen mit Verletzungen der Brust- un«I
Bauchorgane vergesellschaftet sind, als man bisher angenommen
hat, nämlich in 59°/o der Fälle. Leider kann die Verletzung des
Zwerchfelles nur in den seltensten Fällen ohne Operation sicher
konstatiert werden u. zw. nur durch Vorfall von' Netz aus der
Thoraxwunde. Die anderen früher angegebenen Symptome haben
sich nicht als sicher erwiesen, es gibt kein typisches Bild der
Diaphragmaverletzung. Da nun anderseits hei Diaphragma, Ver¬
letzungen die Gefahr der Entstehung einer Hernia diaphragmatica
oder eine Mitverletzung lebenswichtiger Organe der Brust-, oder
Bauchhöhle besteht, hält Verf. die zuwartende Behandlung nicht
für angezeigt. Es hat sich daher auf der Abteilung Prof. Zeidlers •
immer mehr der Grundsatz festgesetzt, jede nicht über zwölf
Stunden alte Stichverletzung des Thorax und Abdomens zu er¬
weitern und sich zu überzeugen, ob keine lebenswichtigen Or¬
gane verletzt sind. Bei allen Fällen von Zwerchfellverletzungen
wurde der pleurale Weg eingeschlagen ; nach Erweiterung der
Wunde und Resektion von Rippen wurde die Zwerchfellwunde
erweitert und auch die Rauchorgane besichtigt. Gewöhnlich konnte
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
253
das Zwerchfell genäht werden; wenn aber ein intraabdominelles
Organ tamponiert werden mußte, so geschah das durch das
Zwerchfell nach vorheriger Vemähung der Zwerchfellwunde mit
der Pleura costalis nach Frey. Auf diese Weise wurde die. Ent¬
stehung einer Zwerchfellhernie unmöglich gemacht und die In¬
fektion der Pleurahöhle vermieden. Die Mortalität betrug bei
den nicht komplizierten ZwerchfelLverletzungen 16-6%, bei den
mit Verletzungen lebenswichtiger Organe komplizierten Fällen
war die Mortalität eine recht hohe, 63-9°/o. - — (Langenbecks
Archiv, Bd. 3, H. 3.) ^ se,
*
180. (Aus der Universitäts-Kinderklinik Leipzig. — Direktor:
Geheimrat Prof. Dr. 0. Soltmann.) Säuglingssterblich¬
keit und Außentemperatur im Winter. Von Dr. Hans
Risel. Verf. konnte keinerlei Beziehungen nachweisen zwischen
Säuglingssterblichkeit und selbst strengster Kälte, obwohl man
vielleicht eine solche hätte erwarten, können, nachdem neuer¬
dings auch wieder der Zusammenhang zwischen sommerlichem
Temperaturanstieg und dem Anschwellen der Säuglingssterblich¬
keit Anerkennung gefunden hat. Abkühlung scheint eben selten
eine akute, den Tod des Säuglings herbeiführende Schädigung
darzustellen, zumal für den älteren Säugling. Die an kranken
Kindern beobachteten subnormalen Temperaturen dürften dem¬
entsprechend auch nicht so sehr durch rein äußere Abkühlung
bedingt sein, als vielmehr durch den Krankheitsprozeß selbst
und durch den Zustand des Kindes. — (Zeitschrift für Kinder¬
heilkunde 1910, Bd. 1, H. 1.) K. S.
*
Aus französischen Zeitschriften.
181. Ueber Kinderlähmung mit meningitischen
Symptomen im Initialstadium; die meningitischen
Formen der Heine-Medinschen Krankheit. Von Arnold
Netter. Das Vorkommen von meningitischen Symptomen bei
Kinderlähmung ist schon mehrfach beschrieben worden. In jedem
Fälle besteht eine Reaktion der Meningen im histologischen
Sinne, welche sich im Vorhandensein von zeitigen Elementen
in der Zerebrospinalflüssigkeit in den ersten Tagen, sowie durch
Infiltration der Pia mater und ihrer Fortsätze mit mononukleären
Zellen, namentlich im lumbalen Anteil, kundgibt. Diese entzünd¬
lichen Reaktionen können klinisch latent verlaufen oder durch
Schmerzen sich kundgeben, welche spontan oder auf Druck auf-
treten. Die mitgeteilten Beobachtungen beziehen sich nur auf
solche Fälle, wo typische Meningitissymptome, wie Kopfschmerzen,
Nackenstarre, schmerzhafte Steifigkeit der Wirbelsäule, Kernig-
sches Zeichen usw. auftraten und die Diagnose einer Zerebro-
spinalmeningitis nahelag. Die Beobachtungen umfassen zwei
Gruppen, je nachdem die Motilitätsstörungen bedeutend und lang¬
dauernd, oder von geringer Intensität und kurzer Dauer waren.
Es scheint, daßi die meningitischen Formen der Kinderlähmung
innerhalb bestimmter Epidemien mit besonderer Häufigkeit auf-
treten. Die Lumbalpunktion ergibt eine klare, lymphozytenhaltige
Zerebrospinalflüssigkeit, wie sie auch bei echter Meningitis in
einzelnen Fällen vorkommt, so daß die Differentialdiagnose auf
zytologischer Grundlage nicht mit Sicherheit gestellt werden
kann. Das Bestehen einer Epidemie von Kinderlähmung, das
Auftreten im Sommer und Herbst, wo die Meningitis selten ist,
vermag einen Fingerzeig für die Diagnose zu geben. Die Fälle
mit kurzdauernder und wenig ausgesprochener Lähmung lassen
das Vorkommen einer Form der Kinderlähmung von rein menin-
gitischem Typus als wahrscheinlich erscheinen. Das beschrie¬
bene Krankheitsbild basiert auf der Beobachtung von 23 ein¬
schlägigen Fällen. — (Bull, et Mem. de la Soc. med. des hop.
de Paris 1910, Nr. 30.) , a. e.
*
182. Ein neuer anatomisch-klinischer Svmpto-
menkomplex: diö Dem'entia paraplegica bei chroni¬
scher kortikaler Enzephalitis. Von G. Deny und J.L her¬
mitte. Der durch Herabsetzung der psychischen' Funktion und
Paraplegie gekennzeichnete Sy m p tome n k o mp 1 e x ist namentlich
dem Kindes- und Greisenalter eigentümlich. Die Dementia para¬
plegica des Greisenalters, welche größere Polymorphie des1 Sym-
ptomenbildes, sowie Variationen der Intensität und Lokalisation
des pathologisch - anatomischen Prozesses aufweist, ist noch wenig
erforscht. Besonders selten ist das Vorkommen des Symptomen-
komplexes im mittleren Lebensalter; in diese Kategorie gehört
die eine 48jährige 1 rau betreffende Beobachtung, welche die
Verfasser mitteiilen. Zunächst stellten sich bei der Patientin,
welche keine Anhaltspunkte für Syphilis darbot, Kopfschmerzen,
leichte Sehstörungen, Hypochondrie und zunehmende Gedächtnis¬
schwäche ein, zu welcher sich schließlich eine vollständige Läh¬
mung der unteren Extremitäten hinzugesellte. Die Untersuchung
ergab außerdem allgemeine Abmagerang, Fehlen von Sensibilitäts-
störungen und gesteigerte Reflexe an den oberen und unteren
Extremitäten; der Exitus erfolgte durch Kollaps im Anschluß
an Pneumonie. Hirnsyphilis, progressive Paralyse, Hirntumor,
Polyneuritis alcoholica konnten mit großer Wahrscheinlichkeit
diagnostisch ausgeschlossen werden, die meiste Aehnlichkeit zeigte
das Krankheitsbild mit der senilen Dementia paraplegica lakunären
Ursprunges. Die Autopsie ergab die Unrichtigkeit dieser Dia¬
gnose, da keine Desintegration der Pyramidenbahn in ihrem Ver¬
lauf durch das Großhirn nachgewiesen werden konnte. Die Unter¬
suchung ergab als Grundlage der Erkrankung tiefgreifende Ver¬
änderungen in den Rindenzellen im Gebiete dos Stirn-, Schläfer
und Hinterhauptlappens. Während die diffusen Veränderungen
der Hirnrinde die Demenz erklären, konnte als Grundlage der
Paraplegie der unteren Extremitäten im Gebiete der Parazentral¬
lappen eine Erkrankung der tieferen Schicht der grauen Substanz
an der Grenze gegen die weiße Substanz nachgewiesen werden.
Neben der Degeneration der Rindenzellen bestand ausgedehnte
Proliferation der Neuroglia, während die Wucherung der Ele¬
mente der adventitiellen perivaskulären Scheide weniger aus¬
gesprochen war. Diel Zerstörung der Rindenelemente hatte se-
kundär eine Degeneration der zugehörigen Fasern der Pyramiden¬
bahn zur Folge, während das Kleinhirn und die zugehörigen
Bahnen, die vorderen Wurzeln und die peripheren Nerven keine
Veränderungen zeigten. Die Ursache der Erkrankung ist mit großer
Wahrscheinlichkeit in einer Autointoxikation zu suchen, deren
Grundlage die bei der Autopsie nachgewiesene hochgradige Leber¬
zirrhose darstellte. Die Beobachtung lehrt, daß im mittleren
Lebensalter eine Demenz mit progressiver Paraplegie vorkommt,
welche klinisch Aehnlichkeit mit der senilen paraplegischen De¬
menz lakunären Ursprunges darbietet und deren anatomische
Grundlage eine chronische Enzephalitis bildet, welche sich von
den Stimlappen zu den Parazentrallappen erstreckt. — (Sem. med.
1910, Nr. 50.) a. ©.
*
Aus italienischen Zeitschriften.
183. Ueber die ther apeutische W irkung der Magen-
und Darmausspülung mit Protargol. Von A. Cantani.
Das Argentum nitricum findet trotz seiner therapeutischen Eigen¬
schaften wegen der Gefahr einer Reizwirkung in der Behandlung
von Magen- und Darmkrankheiten gegenwärtig kaum Anwendung.
Als1 Ersatz des Argentum nitricum verwendete der Verfasser
eine Silbereiweißverbindung, das Protargol, welches in der Go¬
norrhoebehandlung und in der Augenheilkunde wegen seiner
Reizlosigkeit ausgedehnte Anwendung gefunden hat. Das Pro-
targol wurde bei verschiedenen Erkrankungen des Gastrointestinal¬
traktes in Form von Magen- und Darmausspülungen verwendet.
In der Regel- reicht eine 2%o- Lösung aus, doch kann nach Bedarf
die Konzentration auch auf das Doppelte, ohne Schaden erhöht
werden. Zur Herstellung der wässerigen Lösung werden dem Pro¬
targol einige Tropfen Glyzerin zugesetzt und die Lösung im
Wasserbad bis auf 30° C erwärmt. Bei der Magenausspülung
wurde der Magen zunächst mit einem Liter reinen Wassers ge¬
reinigt, dann ein Liter der l°/oo Protargollösung in den Magen
gebracht, darin durch fünf bis zehn Minuten belassen und mit
einigen Litern lauen Wassers nachgespült. Bei der Eingießung
der Protrargollösung in den Darm ist die vorhergehende Reini-
güng mit Wasser nicht notwendig. In Fällen von Gastrektasie
mit Pylorusstenose wurden Milchsäuregärang, Pyrosis und Er¬
brechen günstig beeinflußt; auch bei chronischem Magenkatarrh
mit. reichlicher Schleimsekretion, bei Gastrosukkorrhoe und in
einem Falle von Magengeschwür, wurde befriedigender Erfolg er¬
zielt. Noch günstiger waren die Erfolge bei Darmerkrankungen.
Bei Dysenterie und Pseudodysenterie wurden durch 2 bis 6%o
Protargolenteroklysmen zu Beginn der Erkrankung schon nach
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 7
254
wenigen Tagen Heilung erzielt. Bei Enterokolitis mucomembra,-
nosa, bei chronischer Enteritis mit hartnäckiger Diarrhoe, bei
Darminfektionen, wie z. B. Abdominaltyphus und Cholera nostra,
war der Erfolg bemerkenswert, so daß auch im Initialstadium
der Cholera ein Versuch mit Protargolklysmen gerechtfertigt
wäre. Besonders bemerkenswert war die Wirkung der Protargol-
enteroklyse bei tuberkulösen Diarrhöen. Bei Gastroenteritis des
Kindesalters wurden Klysmen von 250 bis 300 cm3 einer 2%o
Protargollösung mit sehr befriedigendem Erfolg angewendet.
(Gaz. degli osped. 1910, Nr. 138.) a. ©.
*
184. Der Einfluß des Diphtherietoxins auf die
Lipolyse. Von A. Barlocco. Das Diphtherietoxin hat an und
für sich keine lytische Wirkung auf neutrales oder mit Natrium¬
karbonat neutralisiertes Del, dagegen spaltet es die Fette, wenn
ihre Lösung schon begonnen hat. Auf das lipolytische Vermögen
tierischer Organe übt das Diphtherietoxin konstant eine Ver¬
stärkung aus oder reaktiviert dasselbe. — (Annali del ’ Istituto
Maragliano, 1910, H. 4.) sz.
*
185. lieber Lung engewehe als Antigen. Von E. Cal-
ca terra. Von dem Gedanken ausgehend, ob der Einschmelzung
des Lungengewebes bei der Tuberkulose und Pneumonie irgendein
Einfluß auf diesen Krankheitsprozeß zukommt, hat Autor Kanin¬
chen mit vom Blute befreitem, zerriebenem Lungengewebe be¬
handelt. Die Versuche ergaben, daß sich durch Vorbehandlung
von Kaninchen mit Lungengewebe kein spezifisches, gegen
Lungengewebe gerichtetes Lysin erzeugen läßt. Das
negative Ergebnis dieser Versuche ist um so bemerkenswerter,
als es verschiedenen Autoren gelang, mit Nerven-, Leber- und
Nierengewebe spezifische Lysine zu erzeugen. Aus dem negativen
Ausfall dieser Versuche ergibt sich, daß nicht alle Gewebsarten
sich in bezug auf die Fähigkeit, spezifische Lysine zu erzeugen,
gleich verhalten und daß dem Lungengewebe in dieser Richtung
eine besondere Stellung einzuräumen ist. (Annali del' Istituto
Maragliano, 1910, EI. 4.) sz.
*
186. (Aus der medizinischen Klinik der Universität in
Genua. — Direktor: Prof. Maragliano.) Studien über die
tuberkulösen Exsudate des Menschen in ihrer Be¬
ziehung zur Immunität. Von Sp. Livierato und E. Cros-
sonini. Die Experimente, welche mit Exsudaten von tuber¬
kulöser Pleuritis, Peritonitis und Polyserositis, sowie Exsudaten
nichttuberkulöser Provenienz in vitro und an Meerschweinchen
angestellt wurden, ergaben folgendes: 1. Daß die tuberkulösen
Exsudate eine ausgesprochene prophylaktische und Schutzwirkung
gegen die akute Tuberkulinvergiftung der Tiere entfalten. 2. Daß
einige derselben eine deutlich positive Agglutinationsreaktion bei
zehnfacher Verdünnung gaben. 3. Daß die Reaktion, welche auf
der Gegenwart von spezifischen Präzipitinen beruht, selten er¬
halten wurde; nur zweimal in 20 Fällen. 4. Daß die Gegenwart
spezifischer Sensibilisatoren in den untersuchten Fällen nicht
häufig war; 5mal positive Komplementablenkungsreaktion unter
20 Exsudaten. 5. Daß die bezüglich des opsonischen Index er¬
haltenen Ergebnisse keinerlei Schlüsse zulassen. Zwischen der
antitoxischen Wirkung des Serums, die sich in der leben sverlän-
gernden oder lebenserhaltenden Wirkung auch nur einer In¬
jektion bei tuberkulösen oder mit Tuberkulin vergifteten Kaninchen
äußerte und dem Agglutinations-, Präzipitations-, Komplement¬
ablenkungsvermögen und dem opsonischen Index ergaben sich
keine Beziehungen. Die Tatsache, daß auch nur eine Injektion
des Serums eine deutliche Wirkung entfaltet, spricht dafür, diese
Wirkung eher als primär antitoxisch anzusehen, als sie erst
auf durch die Injektion ausgelöste reaktive Vorgänge im Organis¬
mus zurückzuführen. — (Gazzetta degli ospedali e delle cli-
niche, 8. Januar 1911.) sz.
*
Aus amerikanischen Zeitschriften.
187. Die Behandlung der Eklampsie und ein Ver¬
gleich der Gefahren der Chloroform- und Aethernar¬
kose bei dieser Krankheit. Von E. Crag in und E. Mull.
Für die Behandlung der Eklampsie werden folgende fünf Leit¬
punkte aufgestellt: 1. Die Stoffwechselprodukte, deren Ausschei¬
dung notwendig ist, müssen vermindert werden. 2. Die Aus¬
scheidung dieser Stoffwechselprodukte muß begünstigt werden.
3. Ein hoher Blutdruck muß herabgesetzt werden. 4. Wenn die
Toxämie der Kranken nach dem Harnbefunde, dein Blutdruck und
dem Allgemeinzustande beurteilt, sich nicht deutlich bessert oder
wenn ein eklamptischer Anfall auftritt, so muß der Uterus ent¬
leert werden. 5. lene Behandlungsmethoden müssen vermieden
werden, welche die Widerstandskraft der Kranken herabsetzen
oder irgendeines ihrer Organe ernstlich gefährden. Was den ersten
Punkt betrifft, so ist die Verabreichung von rotem Fleisch bei
allen Formen der Toxämie der Schwangerschaft und des Puer¬
periums zu vermeiden. Um die giftigen Eiweißstoffwechselprodukte
aus dem Körper zu eliminieren, muß ihre Ausscheidung durch
den Harn (reichlicher Wassergenuß), den Darmtrakt (Laxativa
und Kolonspülungen) und die Haut (hydriatische Prozeduren)
gefördert worden. Zur Herabsetzung des Blutdruckes ist die
Verord n ung v on V e r a t. r u m v i r i d e, Nitroglyzerin oder
C h 1 o r a 1 h y d r a t (per Klysma) nützlich. Diese Medikamente
sind dem Aderlässe vorzuziehen. Ergibt sich trotzdem die Not¬
wendigkeit, die Schwangerschaft zu unterbrechen, so kommt als
hiebei zu verwendendes Narkotikum nur Aether in Betracht, da
Chloroform an und für sich ähnliche toxische Zustände erzeugen
kann, wie man sie bei der Eklampsie antrifft. V ersuche mit Chloro¬
formnarkose bei Hunden haben ergeben, daß ähnlich wie bei
der Eklampsie auch bei protrahierter Chloroformnar¬
kose schwere Leberdegeneration ein treten kann. Aether
bewirkt dagegen keine solchen Veränderungen in der Leber
der Versuchstiere. Als Anästhetikum der W ahl muß da¬
her Aether angesehen werden. Unter 20 Fällen von Eklam¬
psie, welche mit Aethernarkose operiert wurden, war bloß
ein Todesfall, d. i. 5% Mortalität, während unter 20 Fällen,
bei Welchen Chloroform zur Narkose benützt wurde, fünf Todes¬
fälle, d. i. 25% Mortalität, waren. Diei durchschnittliche Mortalität
bei der Eklampsie betrug — aus einer Zahl von 20.000 Fällen be¬
rechnet. — 28%. Die mit Aethernarkose operierten Eklampsiefälle
waren in bezug auf die Prognose durchaus nicht leichter als
die sonst beobachteten. — (The Journal of the American Medical
Association, 7. Januar 1911.) sz.
*
188. Die Aetiologie der Eklampsie. Von E. Davis
und C. Foulkrode. Die Eklampsie ist eine besondere Krank¬
heit mit verschiedenen Manifestationen und einem eigenartigen
pathologischen Bilde. Es besteht eine Beziehung zwischen der
Tatsache, daß ein geänderter Stickstoff-Stoffwechsel — Vermeh¬
rung des sogenannten , pindeterminierten“ Stickstoffes (hauptsäch¬
lich den Proteinsäuren angehörend) auf Kosten des Harnstoffes
und Zunahme des Ammoniaks — vorhanden ist und der Tatsache,
daß die Leber das am meisten bei der Eklampsie a ff i zierte
Organ darstellt. Die Verfolgung der progressiven Stickstoff-Stoff-
wechselstörung kann den Zeitpunkt anzeigen, wann die Leber¬
veränderungen soweit fortgeschritten sind, daß eine Besserung
nicht mehr möglich ist. Als die plausibelste Theorie zur Erklärung
der Eklampsie kann jene angesehen werden, welche die Ursache
dieser Krankheit in der mangelhaften oder gestörten Wirkung
eines plazentaren Fermentes sieht. Irgendein vorher schon be¬
standener pathologischer Zustand des Organismus kann die Ent¬
stehung der Eklampsie begünstigen, indem er die plazentare Funk¬
tion stört. — - (The Journal of the American Medical Association,
7. Januar 1911.) sz.
*
189. Die Vorbeugung der Kindersterblichkeit.
Von G. Koehler und C. Drake. Die allgemeine Milchversorgunü
durch «len Markt muß in der Richtung verbessert werden, daß
diejenigen, die bei der Ernährung der Säuglinge und Kinder
auf diese Quelle angewiesen sind, nicht unnötigerweise die Ge¬
fühlen einer Infektion mit in den Kauf nehmen müssen. Alle
Milch, welche nicht in Uebereinstimmung mit strengen sanitären
Anforderungen gewonnen wird, soll unter städtischer Kon
trolle pasteurisiert werden. Die Kinder sollen in der heißen
Jahreszeit mit reinem Wasser versorgt werden. Bei vielen Kin¬
dern wird, wenn sie schreien, nicht daran gedacht, daß sie aus
Durst schreien. Diesen kann man mit gutem Wasser stillen. Die
Luft, das erste Erfordernis für die Kinder bei der Geburt, soll
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
rein sein. Die kurative Wirkung reiner Luft bei Lungenkrank-
heiten, Marasmus, englischer Krankheit, Sommerdiarrhoen, ihre
besänftigende Wirkung auf schreiende und unruhige Kinder wurde
in der letzten Zeit immer klarer erkannt. Wenn die frische
Luft auf das kranke Kind wohltätig wirkt, so muß die« ebenso
auch für das gesunde Kind der Fall sein. — (The Journal of
the American Medical Association, 7. Januar 1911.) sz.
*
190. Die Anwendung von Vakzinen beim Typhus.
Von J. Anders. Impfungen mit abgetöteten Typhusbazillen
wurden seit dein Jahre 1909 von verschiedenen Autoren zur Be¬
handlung des Typhus angewendet. Die Resultate erlauben noch
keine sichere Stellungnahme, so daß weitere diesbezügliche Unter¬
suchungen notwendig erscheinen. Der Autor hat selbst in acht
Fällen von Typhus Injektionen der Vakzine vorgenommen und
hatte den Eindruck, daß der Einfluß derselben in manchen Fällen
ein günstiger war. Blutuntersuchungen, welche vor und nach
der Impfung angestellt wurden, ergaben keine Vermehrung der
polynukleären Leukozyten im Gefolge der Impfung. Nach dem
gegenwärtigen Stande der diesbezüglichen Kenntnisse, midi der
Vakzination ein Wert zugeschrieben werden: 1. als Mittel zur
Prophylaxe des Typhus, 2. in der Rekonvaleszenz, um Rückfall
zu verhüten, 3. zur Behandlung lokaler, vom Typhusbazillus
erregter Affektionen in der Rekonvaleszenz, zum Beispiel von
Knocheneiterungen, 4. zur Entfernung der Typhusbazillen aus
dem Kote und dem Harne der sogenannten Bazillenträger. (The
Journal of the American Medical Association, 10. Dezember 1910.)
sz1.
*
191. Die physiologische Wirkung, der Gebrauch
und Mißbrau c'h des A Ikohols bei den zirkulator is c hen
Störungen der akuten Infektionskrankheiten. Von
J. Miller. Bei den zirkulatorischen Störungen der akuten In¬
fektionskrankheiten tritt eine Verschlechterung der Get'äßregula-
tion mehr hervor als Störungen von seiten des Herzens. Thera¬
peutische Maßnahmen müssen daher auf die Verhinderung oder
Besserung dieser vasomotorischen Störungen gerichtet sein. Alko¬
hol in kleineren Dosen wirkt beim Menschen und bei den kleineren
Tieren häufig als ein kardiovaskuläres Stimulans. Größere Mengen
von Alkohol wirken bei Individuen, die nicht an seinen Gebrauch
gewöhnt sind, stets depress or isch auf das kardiovaskuläre System,
indem die vasomotorischen Zentren gelähmt werden. Die Grenze
zwischen der stimulierend und der depressorisch wirkenden Menge
Alkohols ist variabel. Die Variabilität in der Wirkungsweise macht
den Alkohol zu einem unerwünschten Therapeutikum. (The
Journal of the American Medical Association, 10. Dezember 1910.)
sz.
Nekrolog.
Dr. Sigmund Lustgarten.
Am 22. Januar d. J. verschied in New York der bekannte
Dermatologe Dr. Sigmund Lu sf gar ten. Er war in Wien am
19. Dezember 1857 geboren, besuchte daselbst das Gymnasium
und die Universität und promovierte im Jahre 1881.
Nach vollendeten Studien diente er einige. Zeit au ver¬
schiedenen Abteilungen des Wiener Allgemeinen Krankenhauses,
war ein Jahr Assistent am chemischen Laboratorium des Hofrates
Prof. Ludwig und wurde dann nach einer größeren Studienreise
im Auslande Assistent an der Klinik Prof. Kaposi und habili¬
tierte sich einige Zeit darauf als Privatdozient für Hautkrank¬
heiten und Syphilis. Er publizierte eine Reihe interessan Un¬
wissenschaftlicher Arbeiten, die ihn unter seinen Fachkollogen
im Inlande und Auslande bekannt’ machten. Es erging an ihn
ein Ruf als Professor an die medizinische Akademie an Konstante
impel, den er aber, nachdem er sich am Ort und Stell»1 über die
näheren Verhältnisse informiert hatte, nicht annahm.
Im Jahre 1889 übersiedelte Dr. Lustgarten aus persön¬
lichen Gründen nach New York, woselbst es ihm durch seine be¬
sondere fachliche Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit, und durch
seine persönliche Liebenswürdigkeit in kurzer Zeit gelang, sich
einen wohlbegründeten Ruf als Dermatologe und eine angesehene
Stellung und Praxis zu erwerben. Obgleich Dr. Lustgarten
amerikanischer Staatsbürger wurde und eine Amerikanerin hei¬
ratete, mit welcher er in glücklichster Ehe lebte, blieb er doch
m seinem Herzen ein treuer Oesterreicher und seiner immer
geliebten Vaterstadt so zugetan, daß er fast jedes zweite Jahr
den größten Teil seines Urlaubes in Wien mit Studiengenossen
verbrachte und in New York jedem Oesterreicher, »1er sich an
ihn wendete und es waren deren nicht wenige nicht nur
mit seinem Rate, sondern auch mit freigebiger Unterstützung
an die Hand ging. Vor einigen Jahren wurde 'er durch das Ritter¬
kreuz des österreichischen Franz - Josephs - Ordens ausgezeichnet.
Schon seit längerer Zeit zeigten sieh hei Dr. Lustgarten
Spuren eines Lungenleidens, gegen welches er noch im letzten
Sommer in den österreichischen Alpen — leider vergebens
Linderung suchte.
Dr. Lustgarten, hinterläßt sowohl in Amerika, als auch
in Oesterreich einen großen Kreis trauernder Freunde.
•I. Ros an es.
\/ermisehte Maehriehten.
Ernannt. Der Adjunkt des k. k. Allgemeinen Kranken¬
hauses in. Wien, Dr. Alfred Jungmann, zum Primararzt zweiter
Klasse ad personam. Prof. Dr. Julius Schwalbe, Redakteur
der Deutschen med. Wochenschrift zum Geheimen Sanitätsrat.
Dr. Friedrich Klein zum außerordentlichen Professor der Phy¬
siologie»- in Kiel. Dr. Lodatö zum ordentlichen Professor der
Augenheilkunde in Palermo.
*
Verliehen: Dem Gefangenhausarzte in Mährisch- Ostrau,
Pr. Josef Häla, der Titel eines kaiserlichen Rates. Der
Titel und Charakter eines Generalstabsarztes: den Oberstabsärzten,
Doktoren: Johann Po hi sek. Julius Palkovics, Wilhelm Zeis
borg ^r, Wilhelm Heltiner. Dem Privatdozenten an der
deutschen technischen Hochschule in Brünn, Primararzt Doktor
Theodor Spietschka, der Titel eines außerordentlichen Pro¬
fessors.
*
Habilitiert: Dr. H. Rhese für Oto-, Rhino- und La-
ryngologfe in Königsberg. Dr. Pulvirenti für Geburtshilfe
und Frauenheilkunde in Rom. Dr. Cipolla für Dermatologie
und Syphiligraphie in Neapel. - Dr. Pietri für Chirurgie in
Sassari.
*
Gestorben: Prof. Dr. Richard Stern, Direktor der medi¬
zinischen Poliklinik in Breslau.
*
Der Kaiser hat das Allerhöchste Protektorat über die Oester-
reichische Gesellschaft zur Erforschung und Be¬
kämpfung der Krebskrankheit übernommen. Aus diesem
Anlasse versammelte sich der Vorstand der Gesellschaft zu einer
Sitzung. Vorsitzender Hofrat v. Eiseisberg machte hievon
Mitteilung und entwickelte sodann das1 Programm: und die
nächsten Ziele der Gesellschaft. Der Vorstand beschloß dann,
die Ziele und Zwecke der Gesellschaft auch in einer großen
Festversammlung zu propagieren, die am 5. März im Fest¬
saale der Universität' stattfinden wird.
*
Die mathematisch - naturwissenschaftliche Klasse der Kaiser¬
lichen Akademie der Wissenschaften hat für medizinische
Forschungen folgende Subventionen bewilligt: Professor
Dr. H. Pfeiffer in Graz zur Fortsetzung seiner Studien über
die Eiweißanaphylaxio 2000 K, Prof. Dr. R. Kraus und Doktor
E. Ranz i- Wien zur Fortsetzung ihrer Arbeiten über Immunität
und Diagnostik bei malignen Tumoren 1000 K.
*
Am 11., 12. und 13. September 1911 findet in Wien der
III. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Urolo¬
gie statt. Als Hauptthemein kommen zur Besprechung: 1. Dauer
erfolge hei Nephrektomie wegen Tuberkulose. Referenten: Is¬
rael-Berlin. Wildbolz-Zürich. 2. Bedeutung der urethrosko-
pischen Methoden für die Klinik. Referenten: Oberländer-
Dresden, Wp s s i d l o - Berlin. Anmeldungen zur Diskussion über
diese Referate, wie freier Vorträge und Demonstrationen werden
bis spätestens 1. Juni 1911 an die Geschäftsstelle (Wien IX.
Maria -Theresienstraße 3) erbeten. Das endgültige Programm wird
im Monate Juli bekanntgegeben.
*
Literarische Anzeigen. Von dem rühmliohst be¬
kannten Arztphilosophen Berfhold Korn, dessen bisher er¬
schienene Werke: Das Wesen des menschlichen Seelen-
256
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1811.
Nr. 7
und Geisteslebens, Das Problem des Lebens, Das Er¬
kenn tn i sp r ob le m und seine kritische Lösung, Die
psych is che Krankenbehandlung, über den Kreis der Philo¬
sophen vom Fach und Mediziner hinaus allgemeinste Beachtung
und Verbreitung gefunden haben, ist nun im Verlage von A. Hirsch¬
wald, Berlin, ein weiteres Werk: Weltanschauungen und
Welterkenntnis, erschienen. Unter Wahrung des Zusammen¬
hanges zwischen Philosophie und Naturwissenschaften verfolgt
Verfasser im vorliegenden Werke das Ziel, zu zeigen, daß jede
Weltanschauung für sich einseitig und unvollständig bleibt, daß
nur die synthetische Vereinigung und gegenseitige Abwägung der
verschiedenen Anschauungsweisen von einem überragenden Ge¬
sichtspunkte aus eine befriedigende Welterkenntnis zu liefern
vermag. ' '
Zum 60. Geburtstage des Hamburger Dermatologen Pro¬
fessor G. G. Unna wurde von dessen Freunden und Schülern
eine Sammlung von dermatologischen Arbeiten im Verlage von
\roß, Hamburg, herausgegeben, welche den 20. und 21. Band der
„Dermatologische Studiein.“ bilden.
Dt. Kurt Witthauer: Leitfaden f ü r Krankenpflege
im Krankenhaus und in der Familie, ist jetzt nach drei
Jahren bei Mar hold, Halle a. S., in vierter Auflage er¬
schienen.
Von Fischers Therapeutischen Taschenbüchern ist das
zuerst ausgegebene Therapeuti s c h e T aschenbuch für d i e
Kinderpraxis,' von Prof. Salge, in fünfter Auflage in
Fischers medizinischer Buchhandlung, H. Kornfeld, Berlin,
erschienen. Das Buch hat nahezu jedes Jahr eine Auflage erlebt,
ein Beweis für dessen Beliebtheit. — Ein neuer Band desselben
Unternehmens ist das Therapeutische Taschenbuch der
Ohrenkrankheiten, von Oberstabsarzt Dr. Barth in Berlin.
Preis 4 M. Auch das letztgenannte Taschenbuch gibt einen
Ueberblick über die in den bekanntesten deutschen otologis’cben
Lehrbüchern enthaltene Therapie.
*
Cholera. Italien. Amtlichen Mitteilungen zufolge sind
in Italien in der Woche vom 19. bis 125. Januar 4 neue Cholera¬
erkrankungen (kein Todesfall) konstatiert worden u. zw. in der
Provinz Lecce: Lizzano 1, Monteparano 1, Taranto 2. — Ru߬
land. In der Woche vom 25. bis 31. Dezember 1910 sind im
Russischen Reiche nur 7 Neuerkrankungen und 2 Todesfälle
an. Cholera gemeldet worden. woMoh 1 (l) auf das Gouvernement
St. Petersburg, 6 (l) auf das Gouvernement Jekaterinoslaw ent¬
fallen. — Türkei. In der Stadt Bagdad sind seit 7. Dezember
keine Cholerafälle vorgekommen; im Vilajet Bagdad dagegen
wurden für die Woche vom 16. bis 23. Dezember 29 neue
Erkrankungen und 33 Sterbefälle verzeichnet, von denen 27 (31)
auf den Wallfahrtsort Kerbela entfielen. In Konstantinopel und
Tripolis ist die Choleraepidemie erloschen.
Pest. B r i t i s ch - In d i en. Im Hindostan ereigneten sich
in der Zeit vom 13. November bis 3. Dezember 1910 u. zw. in
der ersten Woche 7932 (6106), in der zweiten Woche 19291 (7143),
in der dritten Woche 10.263 (8020) Pesterkrankungen (Todes¬
fälle). - China. Nachrichten vom 9. Februar. Die Deutsch¬
asiatische Bank macht bekannt, daß nach einer bei ihr einge¬
troffenen Depesche bei ihren Abteilungen in Tientsin und Pe¬
king alles wohl ist und daß die Fremdenniederlassungen in
Tientsin und das Gesandtschaftsviertel in Peking pestfrei sind.
In den Chinesenvierteln beider Städte seien allerdings Pestfälle
vorgekommen, doch sei die chinesische Regierung bemüht, durch
weitgehende Vorsichtsmaßregeln ein weiteres Umsichgreifen der
Seuche zu verhindern. Für die Europäer bestehe zurzeit keinerlei
Gefahr. Die Schau tung - Bergbau -Gesellschaft erhielt die Draht¬
nachricht aus Tsingtau, daß sich die an der Schantungbahu
vorgekommenen Pestfälle auf zwei Stellen in etwa 180 und 370 km
Entfernung von Tsingtau beschränken. Gegenüber anders lauten¬
den Zeitungsmeldungen wird mitgeteilt, daß der Güterverkehr
sowie die* Beförderung der Reisenden erster Klasse auf der
Schantungbalin keine Einschränkung erfahren haben. Ghar-
b i n. Am 8. Februar sind 30 Chinesen und ein Europäer an Pest ge¬
storben. - Tokio. Nach dem Berichte des russischen Konsuls
in Dairen ist dort die Pest erloschen. Wie verlautet, ist in Wi-
Dschu unter den Koreanern die Pest ausgebrochen .
*
In Nr. 6 dieser Wochenschrift hat es in dem Aufsätze
„Quarantänestudien“, von Dr. Emil \\ ioner, auf S. 203, Zeile 17
von unten, zu heißen: Flügge,1) Schum bürg,2) er hard
Glaser3) und die entsprechenden Fußnoten:
>) Zeitschr. für Hyg. und Infektionskrankheiten.
2) Zeitsehr. für Hyg. 1903, Bd. 45, S; 136_
8) Das österr. Sanitätswesen, 11. Juli 1907.
*
Der seit 1885 in Badgastein ordinierende Badearzt Dr. Anton
Wassing hat sich nunmehr für den Winter in Meran zur Aus¬
übung kurärztlicher Praxis niedergelassen.
*
Vorläufiges Ergebnis der Sanitätsstatistik b © i
der Mannschaft des k. u. k. Heeres im November 1910.
Krankenzugang 84, an Heilanstalten abgegeben 37, Todesfälle
0-19°/oo der durchschnittlichen Kopfstärke. . -■
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 4. .Tahreswoche (vom 22. bis
28. Januar 1911). Lebend geboren, ehelich 499, unehelich 202, zusammen
701. Tot geboren, ehelich 64, unehelich 25, zusammen 89. Gesamtzahl der
Todesfälle 812 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
208 Todesfälle) an Bauchtyphus 1, Flecktyphus 0. Blattern 0, Masern 3,
Scharlach 3, Keuchhusten 2, Diphtherie und Krupp 5, Influenza 1,
Cholera 0. Ruhr 0, Rotlauf 4, Lungentuberkulose 134, bösartige Neu¬
bildungen 52, Wochenbettfieber 4. Genickstarre 0. Anaezeigle Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 30 (- 12), Wochenbettfieber 3 (+ 2), Rlattern 0
(0), Varizellen 67 (-f- 6), Masern 92 (— 13), Scharlach 74 (+ 2),
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 2 (— 1), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0),
Diphtherie und Krupp 62 (-j- 27), Keuchhusten 23 (-(- 14), Trachom 2 ( 1),
Influenza 5 (-Q 5), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt Steinitz im
: politischen Bezirke Gava (Mähren). Der Distrikt umfaßt 80'09 km2 mit 10
i Gemeinden und 8167 Einwohnern. Der Sitz des Arztes ist in Steinitz. Die
j Umgangssprache ist böhmisch. Die jährlichen Emolumente betragen:
j an Gehalt 1400 K, an Fahrhauschale 1007 K, zusammen 2407 K. Der
i Distriktsarzt ist verpflichtet, eine Hausapotheke zu halten. Die nach dem
§ 1 l'des Landesgesetzes vom 27. Dezember 1909, Z. 98, instruierten
: Gesuche sind bis 1. März 1911 an" den Obmann Anton Novak. Bürger¬
meister in Steinitz. einzusenden.
des Mannes. Von Dr. S. Baumgarten Ref.: V. Blum. — Die
neueren Strahlen. Von Priv.-Doz. H. Greinacher. Die Stand¬
entwicklung. Von Hans Schmidt. Die Spiegelreflexkamera
Von Anton Mayer. Elektrizität und Licht in der Medizin
Leitfaden der Röntgenphysik Von Dr. R. Fürstenau. Die
Technik der Röntgenapparate. Von Dr. R. Fürstenau. Fort¬
schritte auf dem Gebiete der Röntgen strahlen. Von Professor
Albers-Schönberg. Lexikon der Grenzen des Normalen und
der Anfänge des Pathologischen im Röntgenbilde Von Doktor
Alban Köhler. Verhandlungen der Deutschen Röntgengesell¬
schaft. Archiv für physikalische Medizin und medizinische
Technik. Von Prof. Kraft und Dr. Wiesner. Zentralblatt für
Röntgenstrahlen, Radium und verwandte Gebiete. Von
A. F. Stein, Ph. Rockenheimer und G. v. Bergmann,
Ref. : Kienböck.
INH
Hofrat Prof. Dr. Gustav v. Braun. Nachruf von Prof. Peters,
Wien. S. 227.
1. Originalartikel: 1. Aus der serologischen Abteilung des hygieni¬
schen Institutes der deutschen Universität in Prag, lieber
extrazelluläre Leukozytenwirkung (Aphagozidie). Von E. W e i 1.
S. 229.
2. Aus der 1. chirurgischen Universitätsklinik in Wien. (Vorstand:
Prof. Dr. A. Freiherr von Eiseisberg.) Zur Behandlung chro¬
nischer Eiterungen mit Wismutpaste nach Beck. Von Dr. Hans
Hermann Schmid, Operateur der Klinik. S. 232.
3. Aus der dermatologischen Universitätsklinik in Krakau. Zur
therapeutischen Bedeutung des Arsenobenzols (606). VonProfessor
Dr. W. Reiss, Direktor der Klinik und Dr. F. Krysztalo w i c z,
a. o. Professor der Dermatologie. S. 234.
4. Zur Applikationsweise des Salvarsans. Von Dr. J. Hali n,
prakt. Arzt in Wien. S. 240.
5. Vergleichende Berechnung des Oesophagogramms mit dem
Elektrokardiogramm. Von Priv.-Doz. Primararzt Doktor
W. Janowski in Warschau. S. 241.
II. Referate: Vorlesungen über Harnkrankheiten. Von C. Posner.
Ref.: A. v. Frisch. Lehrbuch der Urologie. Von Dr. Alfred
Rothschil d. Die durch Gonokokken verursachten Krankheiten
1 1 i . Aus verschiedeueu Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrichten.
IV. Nekrolog: Dr. Sigmund Lustgarten. Von J. Rosanes.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1011.
267
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte iu Wien.
Sitzung vom 10. Februar 1911.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 26. Januar 1911.
Verein der Aerzte in Oberösterreich. Sitzung vom 5. Januar 1911.
Verein der Aerzte in .Steiermark.
Aerztlicher Verein in Brünn. Sitzung vom 9. u. 23. Januar 1911.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 10. Februar 1911.
Vorsitzender : Prof. Dr. Ferd. Hochstetter.
Schriftführer: Dr. J. Erdheim.
Der Vorsitzende Prof. Dr. Ferdinand Hochstetter teilt
mit, daß das langjährige Mitglied Hofrat Prof. Dr. Gustav von
Braun im 82. Lebensjahre am 8. Februar1 d. J. gestorben ist.
Ferner ist das korrespondierende Mitglied Dr. Sigmund
Lustgarten in New York (ehemaliger Dozent an der Wiener
Universität) am 22. Januar d. J. gestorben.
Die Versammelten erheben sich zum Zeichen der Trauer
von ihren Sitzen.
. Priv.-Doz. Dr. H. v. Haberer berichtet über 19 primäre
Dick dar mr ©Sektionen mit drei Todesfällen. Nach Bespre¬
chung der einfachen Technik und Demonstration einer Reihe
von Präparaten kommt Redner zu dem Schlüsse, daß die besseren
Resultate der primären Dickdarmresektion nicht auf die An¬
wendung bestimmter Methoden oder komplizierter Instrumentarien
zurückzuführem sind, sondern auf die Verbesserung der Technik
der Abdominalchirurgie überhaupt und auf die Zunahme der
Erfahrung. (Erscheint ausführlich im Archiv für klinische Chi¬
rurgie.)
Dr. Hofbauer : Gestatten Sie die Demonstration eines Falles
aus der Klinik v. Noorden, delr geeignet scheint, die thera¬
peutischen Beziehungen zwischen Adrenalin und
Asthma bronchiale klarzustellcn, was mit Rücksicht auf
mehrere Publikationen der jüngsten Zeit nicht unnötig scheint.
Die Patientin Th. R., 33 Jahre alt, stammt von einem chro¬
nischen Huster, machte selbst schon als Kind häufig Schnupfen
und Halsschmerzen mit, wobei jedoch niemals Atemnot auftrat.
Mit 22 Jahren litt sie an Rachendiphtheritis, derentwegen sie eine
Seruminjektion erhielt. Im Jahre darauf drei Wochen lang
starker Schnupfen; damals wurde zum erstenmal wegen des
Nasenleidens in der Ambulanz Prof. Chiari die Nase unter¬
sucht und Nasenpolypen konstatiert, die sie jedoch nicht ent¬
fernen ließ. August 1907 bekam Patientin nach Erkältung und
starkem Schnupfen andauernde Kopfschmerzen. In der Ambulanz
Prof. Chiari wurden damals abermals die Polypen konstatiert
und als wahrscheinliche Ursache Nebenhöhleneiterung vermutet.
Dortselbst wurden mehrfach Polypen und Stücke von Muscheln
aus der Nase elntfemt. Nach einer solchen Operation bekam Pa¬
tientin im Nachhausegeben den ersten Anfall von Atemnot; der¬
selbe dauerte eine Viertelstunde lang und kam seither an jedem
Tage wieder, dauerte oft drei bis vier Stunden. Zur Atemnot
gesellte sich bald trockener Husten und der Anfall hörte erst auf,
sobald der Husten lockerer wurde. Damals behandelte sich Pa¬
tientin selbst mit Asthmazigaretten. Nach mehreren operativen
Eingriffen in der Nase ging es der Patientin besser, die Anfälle
traten seltener auf. Doch hat auch in der anfallsfreien Zeit die
Patientin starke Atemnot und Rasseln auf der Brust. In der
letzten Zeit vor ihrer ersten Aufnahme auf die Klinik v. N o o r-
den (26. Mai 1909) wurden die Anfälle sehr schwer. Patientin
hat kolossale Atemnot, so daß sie! vom: Atemholen müde wird.
Schon damals zeigte sich nelblst hochgradiger Orthopnoe und.
ziemlich starker Zyanose an Wangen und Lippen, starker Husten¬
reiz, mühevolle Atmung und Expektoration von spärlichem glas-
hellen zähen Sekret. Die Lungengrenzen waren stark nach ab¬
wärts genickt, das Herz fast völlig überlagert. Die respiratorische
Verschieblichkeit der Lungengrenzen nachweisbar, aber ge¬
ling. Ueber beiden Lungen langgezogenes Exspirium, verbunden
mit Giemen und Pfeifen. An den unteren Partien vereinzeltes
und feuchtes, nicht, konsonierendes Rasseln. Der Spitzenstoß nicht
tastbar, die Dämpfung nach rechts bis über die1 Mitte des Ster¬
nums reichend, der untere Teil des Brustbeins leicht pulsierend,
lieber allen Ostien leise dumpfe Töne. Im Urin keine abnormen
Bestandteile; im Blute deutlich Eosinophilie.
Pat. bekommt Narkotika, dann Atropin. Sie verläßt am
31. August die Klinik, batte seither immer wieder Antiille und
wurde, da sich bei ihr eine prompte Kupierung des Anfalles
durch 1 cm3 lVooigem Adrenalin gezeigt hatte, seither mit großen
Mengen von Adrenalin subkutan (im Anfalle gegeben) behandelt.
Anläßlich eines Spitalsaufenthaltes auf der Abteilung Professor
Sternberg im Wiedener Krankenhause wurden im Verlaufe von
sechs Wochen beinahe 60 Injektionen von Adrenalin gegeben,
in der Menge von 0-25 bis 1-0 cm3. ' Sie selbst nämlich verlangte
bei jedem der immer häutiger aultretenden Anfälle eine solche
Injektion. Oft hatte sie in einer Nacht zwei Anfälle und bekam
dementsprechend zweimal eine Injektion von Adrenalin. Manch¬
mal waren die Anfälle so schwer, daß sie\sogar 1-5 ein3 Adrenalin
bekam.
Jedesmal wurde durch die AdreUalininjektio n
der Anfall sofort kupiert. Von einer Dauerwirkung
hingegen war absolut nicht d i ö R e d e, was am besten
die Beo b ach tu ng zeigt, daß s i e of tmal s in einer Nach t
einen zweiten Anfall bekam, trotzdem1 der erste mit
Adrenal ininj ektiom behandelt worden war.
Im Frühjahr letzten Jahres abermals auf die Klinik v. N oo r-
den aufgenommen, bekam sie anfänglich ebenfalls Adrenalin im
Anfall. Später begann ich behufs Erzielung eines Dauererfolges
die Behandlung mittels Ausatmungstherapie.
Dieselbe! erwies sich auch in diesem so schweren. Falle
als von Erfolg begleitet. Pat. konnte mit langsam gesteigerten
Äusatmungsübungen bei rein nasaler Atmung und Vermeidung
jeder forcierten Ein- und Ausatmung so weit gebracht werden,
daß sie anfänglich die noch auftretenden Anfälle ohneweiters
im Beginne durch Atemgymnastik, kupieren konnte und jetzt seit
Oktober vorigen Jahres völlig anfallsfrei geblieben ist. Sie macht
der Sicherheit halber zu Hausp ihre Atemübungen fort und
betont selbst, daß sie trotz mehrfacher durchgemachter Schnu¬
pfen und Bronchialkatarrhe auch nicht einen Anfall durchmachte.
Diese Beobachtung scheint nicht sO sehr deshalb von Be¬
deutung, weil die Atemtherapie hier zuiri Erfolge führte, son¬
dern um endgültig festzustellen: Dem Adrenalin wohnt zwar
die von v. Jagic mitgeteilte Wirkung (Berliner klin. Wochen¬
schrift 1909, Nr. 13) völlig inne, den Anfall zu kupieren, wie er
in seiner Mitteilung aus der Klinik v. Noorden an der Hand
mehrerer Krankengeschichten zeigen konnte; von einer Dauer¬
wirkung des1 Adrenalins hingegen kann nicht die Rede sein.
v. Jagic hattet in seiner damaligen Publikation ausdrück¬
lich hervorgehoben, daß das Adrenalin lediglich den Anfall selbst
kupiert.
Nun sind seither einzelne Stimmen laut geworden, welche
unter Berufung auf v. Jagic’ Publikation eis’ versuchen, für die
von! ihnen propagierte Inhalations behänd lung mit Sauerstoff und
einer Beimengung von Adrenalin Propaganda zu machen. Diese
Publikationen versuchen, den Anschein zu erwecken, als ob
ein Dauererfolg mit Adrenalin zu erzielen sei und berufen sich da
auf die Publikation von v. Jagic, der schon die heilende Wir¬
kung dös Adrenalins beim Asthma bronchiale klinisch festgestellt
habe.
Zur Unterdrückung dieser Meinung, als besitze das Adre¬
nalin eine Dauerwirkung auf den asthmatischen Prozeß, habe
ich die Patientin vorgestellt.
Wenn bei ihr Trotz dieser exorbitant großen Menge von Adre¬
nalin kein Dauererfolg zu erzielen Avar, ja sogar in derselben Nacht
nach einer AdreUalininjoktion noch ein zweiter Anfall sich eta¬
blieren! konnte und andrerseits • Ansatmungstherapie einen Dauer¬
erfolg' erzielte, kann wohl von einer Dauerwirkung des Adrenalins
auf dein asthmatischen Prozeß keine Rede sein.
Diskussion: Dr. R. Türkei verfügt über einige Beobach¬
tungen, bei denen einmalige Administration von Adrenalin dau¬
ernde Beseitigung des Bronchialasthmas gebracht, hat.
Dr. S. Federn: Ich habe im Laufe des1 letzten Jahres
eine kleine Anzahl Asthmafälle beobachtet und bei allen durch
die Messung des Blutdruckes eine Insuffizienz des Herzens kon
statiert; nun wissen wir, daß Adrenalin ein vorzügliches, rasch
wirkendes Tonikum dets Herzens ist, und es ist daher erklärlich,
daß in solchen Fällen das Adrenalin einen Asthmaanfall kupieren,
vielleicht zuweilen das Asthma heilen kann.
De. Hofbauer (Schlußwort): Daß durch Adrenalin ein-
I zelne Fälle von Asthma bronchiale auch geheilt werden können,
258
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 7
wollte ich ja niemals bezweifeln. Gibt es doch auch andere Ein¬
griffe, z. B. Operationen an der Nase, nach welchen in einzelnen
Fällen das Asthma dauernd geheilt bleibt. Worauf es mir hier
ankam, war darauf aufmerksam zu machen, daß Dauerwirkung
von Adrenalininjektionen nicht ohne weiters zu erwarten steht,
und zeigte ich diesen Fall schon deshalb', weil bei ihm schon
wenige Stunden nach der Adrenalininjektion ein neuerlicher An¬
fall immer wieder auftrat.
Insbesondere aber deshalb, weil nach schon vor längerer
Zeit veröffentlichten Untersuchungen (Erb jun., Sturli u. a.)
die Applikation von Adrenalin Degeneration der Arterienwan¬
dungen, ähnlich einer Arteriosklerose hervorruft, wird es sich
wohl empfehlen, eher die völlig unschuldige Atemtherapie ein¬
zuleiten, als eine solche nicht ungefährliche Medikation.
Dr. Türkei: Alle Fälle hatten, Eosinophilie in Blut und
Sputum, Cur schmann sehe Spiralen und C h a r c o t- L e y d e ri¬
sche Kristalle.
Dr. H. Heyrovsky berichtet aus der II. chirurgischen Klinik
Hofrat Hoc hell egg über zwei Fälle, nach denen nach einer
Gas troen l ero.am as to in o s e seltene Komplikationen aufge¬
treten sind. I
Beim ersten Fall wurde kn Jahre 1899 auf der Klinik Hofrät
Albert wegein eines Ulcus callosum des Pylorus eine Gastro-
enteranastomosis retrocolica posterior mit einem Murphy-Knopf
ausgeführt.
Der Patient erholte sich nach der Operation und fühlte sich
bis zum Jahre 1909 wohl. Im August 1909 traten neuerdings1
Magen beschwerden auf, welche sich im Februar 1910 derart
steigerten, daß der Patient eine zweite Operation wünschte.
Der hochgradig abgemagerte Mann hot die Erscheinungen
einer Stenosei des Magens und des Dünndarmes. Bei der Operation,
welche wegen der Inanilionsgefahr vorgenommen werden mußte,
fanden sich derart komplizierte Verhältnisse, daß eine Orientierung
unmöglich war. Die seinerzeit angelegte Anastomose konnte wegen
Adhäsionen nicht besichtigt werden; in der rechten Bauchseite
fand sich eine scheinbar vollständig ausgeschaltete, enorm er¬
weiterte Dünndarmschlinge vor. Diese Schlinge wurde in die
Bauchwunde eingenäht; außerdem wurde eine Anastomose
zwischen Ileum und Kolon wegen Adhäsionen ausgeführt.
Der Patient starb drei Stunden nach der Operation a,n
Herzschwäche.
Bei der Obduktion fanden sich nun folgende Verhältnisse:
Der zuführende Schenkel der zur Gastroenteranastomose benützten
Jejunum schlinge war an der Anastonrosestelle vollständig a l>-
geschnürt und endete blind. Der abführende Schenkel der Ana¬
stomose war an seiner Mündung im Magen stark verengt und
kommunizierte durch eine Fistel mit dem Colon trans'v ersinn.
Der Pylorus war narbig verengt und bloß für eine dünne
Sonde durchgängig.
Am tiefsten Punkte des enorm dilatierten Duodenums hat
sich offenbar infolge Ulzeration eine spontane, sehr enge Ana¬
stomose mit einer Dünndarmschlinge gebildet.
Im Duodenum fanden sich zahlreiche runde erbsengroße
Sfeine, die ganz außergewöhnlich zusammengesetzt sind. Sie
enthalten nach der chemischen Uiitersücbungl, welche der Assistent
des pathologisch-chemischen Institutes (Höf rat Ludwig) Doktor
E. Zdarek vorgenominein hat: Bilirubin. Cholesterin, gailen-
saur-e Salze, höheix* Fettsäuren und eine Spur weiße Asche
(Kalzium).
In den Gallenwegen fanden sich keine Konkremente.
Die Abtrennung des züführenden Schenkels der Anasto¬
mose ist offenbar in folgender Weise zustande gekommen :
In der zuführenden Schlinge kam es an der Anastomose-
s teile durch Abknickung oder Ulzeration (Ulcus peptic um) und
Narbenbildung zur Stauung; die dadurch schwer gewordene
Schlinge hat sich im Laufe der Zoil gesenkt und allmählich voll¬
ständig abgetrennt. Die Fistel zwischen der abführenden Schlinge
und dem Colon transVersum ist infolge eines Ulcus pepticum
jejuni ents tändeln.
Der Fall zeigt, wie wichtig es ist, die hintere Gastroentero-
anastomose möglichst nahe der Plica duodeno jejuna lis anzulegen.
An der zweitem chirurgischen Klinik wird prinzipiell die
erste Jejunumschlinge an der Plica du öden i jejunalis zur Ana¬
stomose verwendet. Diese Methode wurde zuerst von Hoc heu¬
egg angegeben und bereits im Jahre 1897 von seinem Vssi-
s ten ten P o r g e s publiziert.
Vier Jahre später hat Petersen dieselbe .Methode ver¬
öffentlicht.
Der zweite Fall betrifft einen 54jährigen Mann, hei dem
wegen eines Karzinoms des Pylorus eine Resektion nach Bill-
roth-II vorgienommen wurde.
In den ersten zwei Tagen nach der Operation trat wieder¬
holtes Erbrechen auf. Später konnte der Kranke nur kleine
Mengen flüssiger Nahrung zu sich nehmen, da bei größerer- Nah¬
rungsaufnahme ein Druck in der Magengegend auftrat. Der Pa¬
tient starb 16 Tage mach der Operation an iver jauchend er Lobulär¬
pneumonie.
Bei der Obduktion wurde feistgestellt, daß die Verschlußnaht
des Magens in Form eines Bürzels in den Magen hinein ragte
und die Anastomose obturierte. (Das Präparat wird demonstriert.;
Diskussion: Dr. M. Haudek: Anschließend an die Schilde¬
rung der Schwierigkeiten, welche dem Operateur bei der Relaparo-
tomie gast roe n terostomi erter Patienten hinsichtlich1 der Orientie¬
rung in der Abdominalhöhle erwachsen können, möchte ich kurz er¬
wähnen inwieweit das Röntgenverfahren hiebei dem Chirurgen
behilflich sein kann. Im Laufe des letzten Jahres konnte ich
unter mehreren der zahlreichen Untersuchungen von am Magen
operiertem Patienten, die ich am Holzknechtseben Röntgen-
labors lori um vornahm, Komplikation nach Gastroenterostomie, wie
sie Herr Di. Heyrovsky hier angeführt hat diagnostizieren.
In moh re rem Fällen ergaben sich Anhaltspunkte für LHinnda mi¬
sten ose. in einem Falle für Ulcus pepticum jejuni an der Ab-
gangsstelle des letzteren vom Magen; in einem Falle aus
der Abteilung des Herrn Prof. Schlesinger konnte eine
spontane Gastrokolostomie aufgedcckt. in einem anderen Falle,
bei dem klinische Verdachtsmomente, die für eine solche sprachen,
bestanden ans der Klinik Hachenegg eine derartige
F istel ausgeschlosse n werden. Schließlich sei auf zahlreiche Fälle
verwiesen, in denen mangelhafte Funktion, bzw. Verschluß der
Gastroenterostomie nachgewiesen werden konnte.
Priv.-Doz. Dr. M. Oppenheim demonstriert den vor vier¬
zehn Tagen in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte
bereits vorgestelltei i Fall von f r i sc h e m, m a k u 1 o - p a p u 1 o-
pu stillosem, syphilitischem Exanthem und kom-
p 1 e Her r e c h 1 s e i t i g e r F a z i a 1 i s p a r a 1 y.s e nach B e h a n d-
lung m it S a 1 v arsan.
Vor 13 Tagen bekam der Patient 0-6 Salvarsan. Daraufhin
zeigte sich in den nächsten Tagen ein Abblassen des Exanthems
und ein Rückgang der Fazialislähmung. Heute ist das Exanthem
bis auf vereinzelte Pigmentierungen völlig geschwunden und die
Fazialislähmung fast vollständig geheilt. Während
vor 14 Tagen Patten l keinerlei Bewegung mit der rechten Ge-
sichtshälfte ausführen konnte, alle Falten verstrichen waren, kann
Patient alle Bewegungen rechts ebensogut wie links vollziehen.
Dieser prompte Erfolg der Ehrlich-Hata-Behandlung beweist
erstens, d a ß d i e F a z i a lislähm u n g durch die Syphilis
bedingt war. sei es durch eine komprimierende Periostitis
im Canalis Falloppiae, sei es durch eine direkte spezifische Neu¬
ritis, und zweitens, daß man hei peripheren luetischen
m o t o r i s <• h e n N e r v en e rk r a n k unge n u n bed e hk 1 i c h
,,606“ a n w e u den k a n n.
Dr. Emil Schwarz: Eosinophilie und Sekretion.
Die Tatsache, daß die eosinophilen Zellen im normalen
Gewebe an typischen Orten extravaskulär Vorkommen, bietet einen
Anhaltspunkt für ihre funktionelle Bedeutung. Am reichlichsten
findet man sie stets im Darme und Magen, um die Drüsenschläuche.
Nachdem im Magen keine Diapedese derselben an die Sehleun-
hautohei fläche stattfindet. bildet ihr Vorkommen einen Beweis
für einen engen Zusammenhang zwischen Drüsen und Eosino¬
philen. Da die Anhäufung der Zellen sich durch Funktion und
Drüsenreizung beeinflussen läßt, ist an einen Kausalnexus • zwi¬
schen Sekretion und Eosinophilie zu denken. Die pathologischen
Hypersekretionen bei Asthma, Colica miuoosa usw. mit der be¬
gleitenden lokalen, allgemeinen Eosinophilie sind ein weiterer Be¬
leg. Von dem Standpunkte aus erklärt sich auch. das Auftreten der
Eosinophilen gerade in den Anfangsstadien der Entzündungen
von Schleimhäuten und serösen .Membranen, für deren Endothel
ja ebenfalls sekretorische Tätigkeit angenommen werden muß:
Im Anfänge funktionclh Reizung mit Hypersekretion und Eosino¬
philie. dann Exsudation mit Zurückdrängung der Eosinophilen.
Dieselbt Argumentation läßt sich auch auf die eosinophilen bul¬
lösen Dermatosen ausdehnen. Alle diese Zellterritorien haben
autonome Innervation, was im Zusammenhänge mit den Unter¬
suchungen N e u ss er s, Faltas, Eppingers u. ä. über die
Beeinflussung der Eosinophilen durch autonomfördernde Mittel
aut eine enge funktionelle Verknüpfung der Eosinophilen inii
den autonom innervierten Epi- und Endothelien führt. Diese
besteht wahrscheinlich in einer Aktivierung der
Drüsenzellen durch ein in den Eosinophilen ent¬
haltenes Hormon (odn Krinin im Sinne von Bnyliss und
Starling).
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
259
Dr. 0. Schwarz: lieber die Einwirkung des Ydre-
nalins auf einzellige Organismen. (Mitteilung.) Erscheint
ausführlich.
Diskussion: Prof. Sigmund Frankel: Die Untersuchungen
vom Kollegen 0. Schwarz erscheinen von großer Wichtigkeit
für die Frage der normalen Zuckerbildung in der Leber aus
Glykogen, sowie bei der Adrenalinglykosurie. Es ist in seinen
Versuchen für einen einzelligen Organismus! das gezeigt worden,
was wir für den vielzelligen Organismus und für das Organ des
Zuckerstoffwechsels, die Leber, bisher nur vermuten, aber nicht
erweisen konnten. Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Leber
während des normalen Lebens aus ihrem Glykogenvorrat, stets
nur so viel Zucker durch Diastasienmg bildet., daß in der Norm
die Blulzuckermenge auf konstanter Höhe erhalten wird; nachdem
Tode aber tritt sehr bald eine völlige Verzuckerung des Glykogens
ein. Da nun die Leber sowohl 'Glykogen, als1, auch Diastase enthält,
war es eigentlich nicht einzusehen, warum nicht immer das
ganze Glykogen von der Diastase angegriffen wird. Schon, Claude
Bernard hat, vermutet, daß Glykogen und Diastase in der Zelle
nicht beisammen sind, so daß Enzym und Substrat getrennt sind
und nur unter bestimmten Umständen aufeinander wirken können.
Man könnte sich auch einer anderen Vorstellung, hingeben, wenn
man weiß, daß die Fermente in unwirksamen Formen vorhanden
sein können, denn die Fermente können sowohl aus ihren un¬
wirksamen Vorstufen in die wirksamen, als auch aus den wirk¬
samen in die unwirksamen verwandelt werden, entweder durch
Kofermente oder durch Aktivatoren, die einmal anwesend, das
andremal abwesend sind. In den Schwarz sehen Versuchen
ist es aber höchstwahrscheinlich gemacht, daß die Scheidewände,
welcher Art auch immer, zwischen; Enzym und Substrat, für eine
von, den beiden, Substanzen durchlässig werden. Die Bildung von
Kohlensäure aus Kasein und Alanin erklärt sich nach den Ver¬
suchen von Felix Ehrlich durch die Vergärung von Eiwei߬
körpern und Aminosäuren durch die! Hefezellen ohneweiters,
da die Hefezellen aus dem Alanin sowohl Brenztraubensäure,
als auch vielleicht Glyzerose, die beide gärbar sind, abspalten.
Der Vortrag der Herren Dr. Hecht und Dr. Köhler: Unte t-
suchungen über Avsepsis (mit Demonstrationen), wird auf
die nächste Sitzung verschoben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 26. Januar 1911.
K. Hochsinger demonstriert zwei Fälle, in welchen er
Säuglingssyphilis mit Salvarsan behandelt hat. Es
wurden dabei 15 mg pro Kilogramm Körpergewicht injiziert und
es wurden nur kräftige Säuglinge dieser Behandlung unterzogen.
Das eine Kind war neun Wochen alt und wog 5050 g, hatte ein
universelles groß-papulöses Exanthem, Pemphigus und ein diffuses
Infdtrat an den Fußsohlen. Innerhalb acht Tagen nach intra-
glutäaler Injektion einer Paraffinsuspension von 0 08 Salvarsan
waren alle Hauterscheinungen abgeheilt und das Kind nahm an
Körpergewicht zu. In der siebenten Woche erschien ein Rezidiv
im Gesicht und an den Fußsohlen, an der Injektionsstelle ist ein
zystisches Gebilde im Unterhautzellgewebe zu tasten. Das zweite,
sieben Wochen alte Kind wog 4100 g und war exanthemfrei. Es
hatte aber leichte Koryza, mächtige Auftreibungen beider Ell¬
bogengelenke mit Epiphysenlösung und an den Grundphalangen
der zweiten und vierten Finger eine Schwellung. Es wurden
0'07 g Salvarsan injiziert und binnen 14 Tagen waren die Epi¬
physen geheilt. Die Wassermann sehe Reaktion ist noch
positiv. Beide Fälle werden reinjiziert werden.
Th. Escherich bestätigt die ausgezeichnete Wirkung des
Salvarsans bei der Säuglingssyphilis, besonders hervorragend ist
die Wirkung auf die Par ot sehe Lähmung und auf das Allge¬
meinbefinden. Auch unter seinen Fällen traten gewöhnlich Re¬
zidive auf u. zw. im Gesicht in Form eines urtikariaähnlichen
Exanthems, welches nach Reinjektion sehr rasch verschwand.
Die Wassermann sehe Reaktion ist manchmal gerade nach
der Salvarsaninjektion sehr intensiv.
A. Goldreich zeigt drei Kinder mit Symptomen
der hereditären Lues. Die Kinder haben eine abnorm
breite und hohe Stirne, die Kubitaldrüsen sind mittelmäßig ge¬
schwollen, die Lippen zeigen Narben, die Kinder leiden an Kopf¬
schmerzen, besonders bei Nacht, sowie Appetitlosigkeit und sind
blutarm. Auf antiluetische Behandlung ist eine Besserung einge¬
treten. Die Wassermannsche Reaktion ist in zwei Fällen
positiv, in einem negativ, ein Kind zeigt eine neuropathische
Anlage. Vortr. macht darauf aufmerksam, daß die erwähnten
Allgemeinsymptome zu einer unrichtigen Behandlung Anlaß geben
können.
K. H o c h s i n g e r betont, daß sehr große Kubitaldrüsen
gewöhnlich nicht für Lues, sondern für einen Prozeß entzünd¬
licher Natur im Wurzelgebiet der Drüsen sprechen.
R. P o 1 1 a k hat tastbare Kubitaldrüsen bei Säuglingen
ohne Anhaltspunkt für kongenitale Lues gefunden. Nicht selten
sind solche Drüsen bei tuberkulösen Säuglingen zu finden.
F.Bauer teilt mit, daß er nach stark positiver Pirquetscher
Reaktion in einem Fall eine Anschwellung vorher nicht ver¬
größerter Kubitaldrüsen des geimpften Armes gefunden hat.
J. Fried jung stellt ein neunjähriges Mädchen mit einem
enzephali tischen luetischen Prozeß vor. Das Kind
zeigt die für hereditäre Lues charakteristische Stirnbildung,
Narben an den Lippen, spastische Paraparese der unteren Ex¬
tremitäten, die Pupillen sind reaktionslos und nicht rund, die
rechte ist weiter als die linke, die unteren Extremitäten sind
abnorm lang. Die Wassermannsche Reaktion ist bei dem
Kinde und dessen Eltern positiv. Pat. leidet an anfallsweisen
Kopfschmerzen mit Erbrechen. Es wird angegeben, daß letztere
sowie die Pupillenstarre bei Individuen Vorkommen, welche später
an progressiver Paralyse erkranken.
Frl. Barolin demonstriert die Verwendung des
Milchdippers zur Herstellung von Magermilch.
In der Therapie der Ernährungsstörungen im Säuglingsalter
spielen fettarme Milchmischungen eine große Rolle. Die Be¬
schaffung von einwandfreier Magermilch ist jedocli nicht immer
möglich. Escherich hat in Amerika ein einfaches und leicht
auszuführendes Verfahren zur Gewinnung fettarmer Milch ge¬
sehen. Man läßt bei demselben Milch in einem hohen Gefäße
eine gewisse Zeit im Eiskasten stehen und bringt sie dadurch
zur Aufrahmung. Zur Entfernung der obersten fettreichen
Schichten der Milch benützt man den Dipper. Dieser ist ein
schmales zylindrisches Blechgefäß, das unten eine Spitze und
oben einen Stiel hat. Es wird langsam so weit in die Milch
eingetaucht, daß sie eben über seinen oberen Rand einfließen
kann ; auf diese Weise sammeln sich die obersten fettreichen
Schichten im Dipper an. Der zurückbleibende Rest der Milch
ist demgemäß fettarm. Der Fettreichtum dieses Milchrestes steht
mit der Vollkommenheit der Aufrahmung im Zusammenhang, die
wieder von der Zeit des Stehens, der Temperatur und der Milch¬
säurebildung und von der abgeschöpften Menge abhängig ist. Die
Entrahmung mittels des Dippers ergibt nach einem Stehen der
Milch durch 5 bis 7. Stunden eine Verminderung des Fettgehaltes
um bis 1%.
Th. Escherich weist darauf hin, daß die Notwendigkeit
der Verwendung fettarmer Milch vorliegt, wenn eine Intoleranz
gegen Fett besteht, so daß nur 20 bis 30 g Fett pro Tag ver¬
tragen werden.
F. Bauer zeigt ein Mädchen mit Polyneuritis und
Gelenksrheumatismus. Das Kind erkrankte mit Kopf¬
schmerzen und Gliederschmerzen, es bekam darauf Gelenks¬
schwellungen, Fazialisparese und Lähmung des linkeu Peroneus.
Die vierte und fünfte Zehe sind unempfindlich, die dritte über¬
empfindlich, die Extremitätennerven sind druckempfindlich, die
Patellar- und Achillessehnenreflexe fehlen. Das Kind ist hoch¬
gradig abgemagert, die Extremitäten- und Lumbalmuskulatur ist
schlaff, der gelähmte Fazialis zeigt Entartungsreaktion. Es könnte
sich auch um Gelenksergüsse bei Polyneuritis handeln, wahr¬
scheinlicher ist jedoch die Annahme einer Polyneuritis bei echtem
Gelenksrheumatismus.
E. Mayerhofer: Chemische Teilerscheinungen
des Säuglingsharns und ihre klinische Bedeu¬
tung. Der Harn des gesunden Brustkindes ist nach den Angaben
der Literatur hauptsächlich durch negative Merkmale charakteri¬
siert (geringes spezifisches Gewicht, lichte Farbe, geringere Menge
organischer und anorganischer Stoffe als beim gesunden Er¬
wachsenen). Von speziellen Reaktionen und Bestimmungen
wurden studiert: 1. Das Verhalten des anorganischen Phosphors,
die Goldschmidt sehe Glykuronsäurereaktion, das qualitative
Verhalten des Nitratstickstoffes, die Permanganattitration des
Harnes und die Reaktion mit konzentrierter Schwefelsäure
(Udranszky-Wiechowski). Durch Kombination mit noch
anderen Reaktionen wurde auf diese Weise eine detaillierte Harn¬
beschreibung erhalten, welche den Grundgedanken hervortreten
ließ, daß der Harn des gesunden Brustkindes eher dem Wasser
gleicht als der komplizierten Lösung und Pseudolösung, welche
das Nierensekret des gesunden Erwachsenen darstellt. Durch
Studien am gesunden und eben erkrankenden Brustkinde wurden
folgende Harntypen gewonnen: 1. Gesundes Brustkind: Harn
phosphatfrei oder phosphatarm, Reduktion9index gegen Perman-
"'260
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 7
ganat klein, «-Naphtholreaktion negativ, Diphenylaminreaktion ne¬
gativ (keine Glykuronsäure, kein Hydratstickstoff), mit konzen¬
trierter Schwefelsäure kein oder fast kein Ring. 2. Krankes
Brustkind : Harn phosphatreich, Reduktionsindex hoch, «-Naphthoh
und Diphenylaminreaktion positiv, meist sogar sehr stark positiv.
Mit konzentrierter Schwefelsäure bräunliche Ringbildung (organi¬
sche Substanzen), darüber ein rosa- bis violettroter oder nur
zwiebelroter Saum (Gegenwart von Harnsäure oder Allantoin).
3. Hungerndes krankes Brustkind: a) Hungerharn bei leichten
Ernährungsstörungen, schon nach 24 Stunden Saccharinteediät;
Phosphatfreiheit oder -armut, niedriger Index, Nitrate negativ,
Glykuronsäure meist noch positiv, kann aber auch negativ sein ;
Prognose im allgemeinen günstig, b) Hungerharn bei schweren
Ernährungsstörungen, nach 24 Stunden Saccharinteediät : Phos-
phatreichtuin, hoher Index gegen Permanganat, Glykuronsäure
entweder stark positiv oder in den schwersten Fällen gänzlich
mangelnd oder eine purpurne Reaktion, Nitrate meist stark
positiv ; Prognose im allgemeinen ernster. 4. Hungerndes ge¬
sundes Brustkind (bei unzureichender Amme) : Der Harn weist
dieselben Merkmale wie beim gesunden zunehmenden Brustkind
auf; das Stehen oder die Abnahme des Gewichtes sind nur auf
Hunger zu beziehen, Erhöhung der Trinkmengen bewirkt Ge¬
wichterhöhung, ohne den Harnbefund zu verändern. Abgesehen
von dem theoretischen Interesse, welches eine solche Harnunter¬
suchung bietet, gewährt sie auch noch für die Praxis Anhalts¬
punkte für die Erhöhung oder Beschränkung der Trinkmenge
sowie auch Gesichtspunkte für die Prognose eines Krankeitsfalles.
5. Genesendes Brustkind: Je nach dem Fortschreiten der Genesung
findet man sehr wechselnde Befunde. Im allgemeinen stellt sich
relativ am raschesten der Phosphatstoffwechsel her, der Index
schwankt am meisten, oft sogar von Tageszeit zu Tageszeit je
nach der Resorption der gerade getrunkenen Nahrung. Der Nitrat¬
stickstoff ist oft noch lange in Spuren nachweisbar, häufig sind
am längsten die gepaarten Glykuronsäuren vermehrt ; nach
schweren Darmstörungen zeigen sie oft noch monatelang die ver¬
mehrte Darmfäulnis an, während die klinische Rekonvaleszenz
schon längst beendet ist. Eine Sonderstellung nimmt jedoch der
Harn der Neugeborenen und der gesunden, künstlich genährten
Kinder ein. Die mitgeteilte Harnbeschreibung ermöglicht es,
Regelmäßigkeiten, nicht Gesetze, aufzudecken, gibt Anhaltspunkte
für die Beurteilung des Gesundheitszustandes von Brustkindern
und liefert außerdem noch Symptome, welche in vielen Fällen
mit der klinischen Beobachtung zusammen geeignet sind, die
Grenze zwischen den Begriffen „gesundes Brustkind“ und „Dys¬
pepsie“ genau abzustecken.
Verein der Aerzte in Oberösterreich.
Sitzung vom 5. Januar 1911.
Prim. Dr. F u c h s i g - Schärding berichtet über einen Fall
von intrauteriner Ar s'envergif tung.
Eine 22jährige Bauerntochter wurde in schwer krankem
Zustande ins Spital gebracht. Puls 130, Temp. 38-5 ; anämisch.
Anamnese ergab, daß vor drei Tagen eine stärkerei Blutung aus
der Scheide auftrat, der häufiges Erbrechen, Leibschmerzen folgten.
Dabei wurde von der Patientin und den Angehörigen behauptet,
daß Menses immer regelmäßig waren. Die Blutung sei die Folge
eines Sturzes von einer steilen Stiege, wobei ihr ein Holzstab
in die Scheidei gedrungen sei, gewesen.
Die Untersuchung ergab verschwollene, teilweise mit Krusten
bedeckte große und kleine Labien, Scheide weit (vor zwei Jahren
ein Partus), Schleimhaut an der Portio und dem oberen Teile
eigentümlich grauweiß verfärbt, einzelne Blutaustritte und Ex-
koriationen. Von weiterer intrauteriner Exploration wurde ab¬
gesehen. In den Mammis kein Kollostrum. Zwölf Stunden später
Exitus. Wegen widersprechender Ansichten wurde Verdacht auf
kriminelle Fruchtabtreibung geschöpft und die gerichtliche Ob¬
duktion beantragt. Bei dieser fand sich ein weicher, vergrößerter
Uterus, im prävesikulärein Zellager Oedem ohne Eiterung. Nach
Herausnahme des Uterus samt Scheide wurden beide aufge¬
schnitten, in der Scheide fand sich das oben beschriebene Bild
und im Uterus neben spärlichen Plazentaresten über dem Ori-
ficium internum ein Stück einer weißen, kristallinischen Substanz,
deren chemische Untersuchung ergab1, daß es sich um Arsenik
(AS2O3) handle. Stärkere Endometritis fehlte. Die parenchyma¬
tösen Organe boten das Bild akuter Degeneration. Es ist wohl
außer Zweifel, daß die Kranke infolge der Arsenvergiftung abor¬
tierte und starb. Zweifelhaft ist nur, wie und von wem aber
Arsenik in die Uterushöhle eingeführt wurde. Die Intervention
eines lokalkundigen Dritten ist nicht von der Hand zu weisen.
Die gerichtlichen Erhebungen haben aber bisher keinen Erfolg
gehabt. Herr Prof. Haberda, dem ich den Fall zur Begut
achtung vorlegte, erklärte, daß ein analoger Fall in der Lite¬
ratur nicht bekannt sei. Es wären wohl solche Vergiftungen
von der Scheide aus bekannt, nicht aber solche nach Einführung
des Giftes in den Uterus.
In der Diskussion macht Sekundarzt Dr. Ertl (Frauen¬
klinik Linz, Prof. Dr. Schmit) Mitteilung über einen Kasus,
wobei es sich möglicherweise auch um einen kriminellen Eingriff
durch eine Hebamme gehandelt haben konnte. In die Frauen¬
klinik Linz wurde vor zirka einem Jahre eine Frau eingebracht
mit der Angabe, daß die Hebamme bei Steißlage die Extraktion
bei Abortus im sechsten Lunarmonat versucht habe, ohne jedoch
Maßnahme beenden zu können. Es handelte sich um einen
Prolaps der Scheide, Muttermund vollständig geschlossen, keiner¬
lei Anzeichen für stattgehabte Wehentätigkeit vorhanden und
dabei zeigte sich das hintere Scheidengewölbe perforiert bis
in die freie Bauchhöhle. Es bestand eine ca. 5 cm lange Ri߬
wunde, welche nur sehr wenig blutete. In den Wundspalt wurde
Jodoformgaze eingeführt und dieselbe in den nächsten Tagen
sukzessive elntfernt. Diese Verletzung dürfte entweder so ent¬
standen sein, daß, der Douglas durch ein Instrument perforiert
wurde, als versucht wordeln war, in den Muttermund einzugehen,
oder es besteht die Annahme zu Recht, daß (das, hintere Scheiden¬
gewölbe durch sehr rohes Vorgehen der Hebamme bei der Unter¬
suchung, eventuell durch Zug an dem Prolaps, eingerissen ist.
Die Gravidität im sechsten Lunartnonat blieb unbeschadet be¬
stehen und wurde die Frau nach fieberfreiem Verlauf entlassen.
Es wird auch auf das sonderbare Verhalten solcher Ge¬
bärender und Wöchnerinnen, welche Fruchtabtreibung ausgeführt
haben, aufmerksam gemacht, daß dieselben selbst vor dem un¬
mittelbar bevorstehenden Tode, auch wenn ihnen die handgreif¬
lichen Zeichen eklatant geübter Frachtabtreibung vorgehalten wer¬
den, mit keinem Worte eine bejahende Aussage machten, son¬
dern bis zum letzten Atemzuge rundweg ableugneten, wie dies
in der Anstalt bei Phosphorvergiftungen mehrfach beobachtet
wurde. Es könnte solchen traurigen Fällen unter Umständen
vielleicht doch früher Hilfe gebracht werden, wenn sie nicht
fürchten müßten, im Falle eines Geständnisses straffällig zu
werden.
Dr. Riedl berichtet über die Ergebnisse, welche auf der
chirurgischen Abteilung des Linzer Allgemeinen Krankenhauses
mit der Nagel ex tension bei Frakturen erzielt worden sind.
Das Verfahren, welches durch St ein mann in Bern
1907 zur Einführung kam, aber schon von Cor di villa 1903
im Prinzip angegeben worden ist, besteht bekanntlich darin,
daß distal von der Knochenbrachstelle entweder seitlich je ein
Nagel eingeschlagen, oder ein einziger Nagel quer durchgebohrt
wird, an welchem dann Gewichtszüge zur Extension angebracht
werden.
Die Nagelextension wird hauptsächlich nur an der unteren
Extremität gemacht, ist aber auch schon an der oberen Ex¬
tremität versucht worden, an der hiesigen Abteilung nur am
Bein und stets mit dem durchgehenden Nagel.
Als Anwendungsgebiet der Nagelextension, welche kein
Normalverfahren, sondern nur eine Ergänzung der Barden¬
heuersehen Methode darstellt, kommen in Betracht:
1 . veraltete unkomplizierte Frakturen mit Pseudarthrosen-
bdldung ;
„ 2. komplizierte Frakturen; '
3. subkutane frische, mit starker Splitterung, schweren Blut¬
ergüssen oder Hautveränderungen.
Mit Hilfe der Nagelextension gelingt es einerseits, selbst
hochgradige Verkürzungen bei bestehenden Pseudarthrosen zum
Schwinden und zur knöchernen Vereinigung zu bringen, ander¬
seits können damit komplizierte Frakturen in bequemster Weise
offen behandelt werden, ohne die Gefahr einer zurückbleiben¬
den Verkürzung.
Der Nagel bleibt entweder bis zur definitiven Knochenheilung
liegen, oder nur solange, bis die Verkürzung behoben ist, dann
Gipsverband.
Vortr. berichtet sodanh über 15 Fälle, welche in den
letzten IV2 Jahren auf der chirurgischen Abteilung des Linzer
Allgemeinen Krankenhauses mit der Nagel ex tension behandelt
worden sind.
Von den 15 Frakturen waren betroffen: einmal der Schenkel¬
hals, fünfmal der Oberschenkel, neunmal der Unterschenkel.
Der Nagel wurde gebohrt: viermal durch die Oberschenkel¬
epiphyse, viermal durch die Tibia, siebenmal durch das Fersen¬
bein.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
261
Der Erfolg war im allgemeinen ein recht befriedigender, so
daß das Verfahren auch weiterhin bei allen einschlägigen l’älien
geübt werden wird.
Der Vortragende demonstriert eine Kranke mit gelungener
Xagelextonsion, sowie den in Verwendung kommenden Apparat
an einem Gipsmodell, ferner mehrere Röntgenogramme von Frak¬
turen vor und nach der Behandlung.
Verein der Aerzte in Steiermark.
11. Monats Versammlung am 21. 0 k t o b e r 1910.
Assistent Dr. Ri nt eien stellt Fälle von Störung des
Reizleitungssystems des Herzens vor.
12. Monatsversammlung am 4. November 1910.
Priv.-Doz. Polland demonstriert einen Fall von angio-
neurotischer Dermatitis. Die 16jährige Patientin bekommt seit
6 Wochen nässende Flechten, die in Nachschüben von einigen
Tagen auftraten, im Gesicht begannen und allmählich bis zu den
Füßen abstiegen. Diese Stellen reichen bis an die Papillarschicht,
bedecken sich dann mit Krusten und heilen schließlich nach etwa
14 Tagen. Sie treten stets symetrisch auf, beginnen als Urti¬
karia, bilden kleine herpetische Bläschen und sondern schließlich
mäßig reichliche, viszide, stark lichtbrechende Flüssigkeit ab. An¬
fälle von Tachykardie und Basedowartige Symptome wurden
gleichzeitig beobachtet. Die Patientin ist anämisch, leidet an
Migräne, zeitweise an Harndrang, Menstruationsstörungen, sowie
an Andeutungen von Somnabulismus, von Hysterie keine Spur.
Die Flecken treten auch unter Verband auf, ein Artefakt ist aus¬
geschlossen. Weitere Beobachtungen dieser Kranken sind vorge¬
sehen. Der Redner erörtert auch die Aetiologie, Prognose und
Therapie dieser Krankheit.
Priv.-Doz. Her tie demonstriert das Operationszystoskop
von N i t z e und berichtet über ein damit entferntes Blasen-
papillom bei einer 55jährigen Frau, welche seit zwei Jahren an
zeitweise auftretenden Blutharnen litt. Oberhalb der linken Ureter¬
mündung sah man durch das Zystoskop eine haselnußgroße
zottige Geschwulst, welche mittels Schlinge gefaßt und abgeglüht
werden konnte. Redner unterzieht die intravesikale Methode der
Entfernung gutartiger Blasengeschwülste und derjenigen der
Sectio alta einer kritischen Beobachtung.
Priv.-Doz. Petry demonstriert einige seltene radiologische
Befunde.
Assistent Ascher bespricht die Operation eines dieser Fälle.
13. Monatsversammlung am 11. November 1910.
Assistent Kerl demonstriert einen Fall von sekundärem
Lungenhilustumor bei einem 36jährigen Mann. Der geistig be¬
schränkte Patient hatte eine Struma und eine vergrößerte Leber.
Vor dem Röntgenschirm zeigte sich ein Schatten in der rechten
Lunge. Am Lungenhilus ragte der Schatten mit nach außen kon¬
vexer Grenze in das helle Lungenfeld mit langer spitzer Zacke,
von einzelnen kleinen Schatten umlagert. Redner bespricht die
bisher seltenen Fälle von Lungentumor, welche durch das
Röntgenbild erkannt wurden.
Priv.-Doz. Hesse stellt einen Fall von Tuberkulose des
Ziliarkörpers vor. Es handelt sich um ein hereditär belastetes
Mädchen von 17 Jahren mit tuberkulösen Lungenprozessen,
welches seit einigen Monaten eine langsame Verschlechterung
des Sehvermögens auf dem rechten Auge bemerkt. Seit 3 Wochen
beginnt am äußeren unteren Hornhautrand eine Geschwulst zu
wachsen. Diese ist erbsengroß, höckerig, von derber Konsistenz
und die Bindehaut über der Geschwulst unverschieblich und in¬
jiziert. Angrenzend in der Hornhaut ein wandständiger flacher
Substanzverlust. Unter dem Zentrum der Hornhaut finden sich
zwei große Präzipitate. In der Tiefe des Auges sieht man bei
seitlicher Beleuchtung außen unten in der Gegend der äußerlich
sichtbaren Geschwulst einen gelbrötlichen Knoten, welcher sich
diffus in der Tiefe des Auges verliert. Von einer Enukleation
muß in diesem Falle abgesehen werden, da noch andere tuber¬
kulöse Herde bestehen. Es besteht die Absicht, eine Tuberkulin¬
behandlung einzuleiten, obzwar der Vortragende bisher nur wenig
gute Erfolge mit dieser Behandlung sah.
An der Diskussion beteiligte sich Priv.-Doz. P o s s e k.
Prof. Pfeiffer hält einen Vortrag über interne Anwendung
von Tuberkelbazillenpräparaten. Auf Grund von künstlichen
Verdauungsversuchen stellt der Redner fest, daß die Wirkung
per os gegebenen Tuberkulins unsicher ist, die interne Tuber¬
kulintherapie wird auch zu schematisch geübt. Die internen An¬
fangsdosen sind gegenüber den subkutanen Dosen hoch, doch
wird keine proportionelle Steigerung vorgenommen. Wegen des
Wechselns der Resorptions- und Verdauungsbedingungen wäre
auch die Anwendung großer Dosen nicht zu empfehlen, weil un¬
erwartetheftige, schädliche Wirkungen möglich wären. Aus diesem
Grunde wird bei relativ kleinen Dosen stehen geblieben, damit
geht aber auch die Wahrscheinlichkeit verloren, wirksame Mengen
des Mittels anzuwenden.
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 9. Januar 1911.
Prim. Magier demonstriert: 1. Den Patienten, der mit
Ischias scoliotica vor einiger Zeit vorgestellt wurde, jetzt
durch epidurale Injektionen von Schleich scher Lösung als
geheilt.
2. Einen 58jährigen Kranken mit einem die Rippen usu-
rier enden und die rechte Brustwand bis zu Faustgroße vorwol-
benden Aneurysma der Aorta. Wasser m a n n sehe Reak¬
tion positiv.
3. Eine 57jährige Frau, die ein vom linken Arcus palato¬
glossus ausgehendes Fibroma pendulum zeigt, das im Oeso¬
phagus verschluckt getragen wird und durch Würgebewegungen
bis vor die Mundöffnung gebracht werden kann.
4. Einen 21jährigen Patienten mit einer Purpura hae-
morrhagica, der an der Schleimhaut des1 harten Gaumens und
an der hinteren Rachenwand rötlichblaue, bucklige Vorwölbungen
zeigt. f
5. Ein lljähriges Mädchen mit einem Sarkom des
Nasenrachenraumes.
Bezirksarzt Dr. J. Mend 1 : Zur Frage der Schul anämie
und deren Prophylaxe.
Nach einer eingehenden Besprechung der Literatur schil¬
dert der Vortragende das morphologische Verhalten des Blutes
von 50 Schulkindern, die aus zwei Schulen, einer modernen
und einer veralteten, ausgewählt worden waren. Die untersuchten
Kinder zeigten keine Komplikationen, wie: Diabetes melitus,
chronische, parenchymatöse Nephritis, profuse Diai’rhöen, chro¬
nische Gastroenteritiden, Phthisis pulmonum, Lues hereditaria,
Malaria, maligne Tumoren, Helminthiasis, Status lymphaticus,
Erkrankungen der Haut. Die absoluten Werte für die Erythrozyten,
Leukozyten, sowie der Hämoglobingehalt winden in der üblichen
Weise bestimmt und Trockenpräparate (nach Aldehoff) an¬
gefertigt. Einige der Fälle wurden bezüglich der Verteilung der
Leukozyten besprochen; die ausführliche Publikation der Fälle
wird erfolgen.
Die Veränderungen, welche das Verhalten der Erythrozyten
und Leukozyten, sowie des Hämoglobingehaltes und der Färbe¬
kraft des Blutes betreffen, sind weniger quantitativer als qualita¬
tiver Natur, es besteht weder eine erhebliche Oligochromämie,
noch Oligozythämie, noch ein Unterschied in bezug auf die
Geschlechter. Die absolute Zahl der Erythrozyten ist in der Hälfte
der Fälle mäßig herabgesetzt; als Kompensation ausgiebige, klein¬
zellige Poikilozytose und erhöhter Färbeindex des Blutes. In
fünf Fällen positiver Norm oblaste nbefund ; niemals1 Megaloblasten
oder Megalozyten. Die Anämie der Schulkinder ist im eigent¬
lichen Sinne keine Anämie, sondern eine Pseudoanämie mit teil¬
weise bekannter, teilweise unbekannter, daher nicht entfernbarer
Ursache. Das Blut der Schulkinder hat nur anämisierende Eigen¬
schaften angenommen. Nicht nur Kinder aus dem Proletariat,
sondern auch besser gestellte zeigen diese Eigenschaften.
Die polynukleären neutrophilen Zellen sind in 76% der
Fälle, in einem bis auf 20% ihres Normalwertes gesunken. Eine
konstante Vermehrung ungefähr in 50% der Gesamtfälle zeigen
die eosinophilen Elemente, einmal bis 25%. Substanzen der
Schulluft, die einen anämisierenden Einfluß auf das Blut der
Kinder haben, zeigen positiv chemotaktische Wirkungen auf die
azidophilen Zellen, wie überhaupt nach der Literatur zu schlie¬
ßen!, der kindliche Organismus auf ihn treffende Schädlichkeiten
mit einer Eosinophilie zu reagieren scheint: Toxische Eosino¬
philie.
Die Lymphozyten sind in 72% der Fälle mehr weniger
vermehrt.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 7
962
Nicht konstante Vermehrungen zeigen auch die großen mono-
nukleären Zellen und die Uebergangsformen. Von pathologischen
Zellelementen wurden 6mal .Myelozyten gefunden. Der positive
Myelozytenbefund spricht für eine Reizung des Rückenmarkes
durch die Schulluft auf dem Wege der Blutbahn.
Diskussion: Prof. Sternberg pflichtet der Auffassung
des Vortragenden darin bei, daß nach diesen Befunden keine
Anämie vorliegt. In der Poikilozytose kann aber Redner keine
Kompensation erblicken; das Auftreten von Normobiasten würde
für eine gesteigerte Blutregeneration sprechen. Inwiefern das
Blut. , , anämis ierende“ Eigenschaften angenommen haben soll,
kann Redner nicht erkennen. Unter den Befunden an den farb¬
losen Blutzellen dürfte wohl der Fall mit 25°/o eosinophiler Zellen
auszuscheiden sein- hier dürfte wohl irgendeine besondere Ur¬
sache für die Eosinophilie Vorgelegen haben. Im allgemeinen
scheint Vortragender eine längere Persistenz des kindlichen Blut¬
bildes vorgefunden zu haben. Daß Substanzen der Schulluft eine
Eosinophilie hervorrufen oder durch Reizung des Rückenmarkes
eine Myelozytemausschwemmung bewirken, erscheint dem Redner-
äußerst unwahrscheinlich und durch nichts bewiesen. — Den
Ausdruck Pseudoanaemia scolaris für den vom Vortragenden
geschilderten Symptomenkomplex möchte Redner lieber nicht
in die Nomenklatur eingeführt wissen.
Prim. Mager fragt den Vortragenden über das Verhalten
des lymphatischen Gewebes bei den von ihm untersuchten Kin¬
dern und spricht auf Grund der letzten Arbeit Neussers die
Vermutung aus, daß ein eventueller Status thymicodymphaticus
bei der Beurteilung der Erscheinungen, die die Kinder zeigten,
mit in Erwägung gezogen weiden müsse.
Stadtphysikus Dr. Koka 11 weist darauf hin, daß die Kinder
sich viel zu kurz in der Schule aufhalten, als daß hieraus die
Blässe erklärt werden könnte. Die Kinder der ersten Klasse haben
wöchentlich 19 Schulstunden, später steigt die Ziffer auf 32.
Dazu kommen noch die Sonn- und Feiertage und die reichlich
bemessen en Ferien. Redner meint, daß die Verhältnisse, unter-
weichen die Kinder zu Hause leben, viel mehr ihre Blässe Amr¬
ursachen als die Schule. Dies geht auch daraus hervor, daß
etwa ein Fünftel aller blutarmen Kinder auf die erste Schul¬
klasse entfällt; wäret die Schule schuld ander Bleichsucht, müßte
däs Verhältnis umgekehrt sein. Redner warnt vor Worten, wie
„Schulanämie“, um nicht den Gegnern der modernen Volks¬
schule neue Waffen in die Hand zu geben.
Dr. J. Löw (Grado) meint, daß eine) abnorme Verteilung des
Blutes im Körper Ursache' der Blässe der Schulkinder sein kann ;
dafür würde sprechen, daß die Kinder sich in kürzester Frist
(zAvei bis drei Tage nach Schulschluß) vollständig erholen.
Dr. Landesmann macht für die Blässe der Schulkinder
die Aenderung ihrer Lebensweise verantwortlich : das' frühe Auf¬
stehen, unregelmäßige Mahlzeiten, unruhiger, mangelhafter Schlaf
und so weiter ; nicht die Schule, sondern psychische, nervöse Ein¬
flüsse verursachein die Blässe der Schulkinder.
Stadtphysikus Dr. Koka 11 demonstriert einen pyramiden¬
förmigen Stein von 20 mm Höhe und 16X12 mm Basis, den
er frei einem Patienten mit akuter Harnverhaltung seinerzeit
durch Urethrotomie aus der Harnröhre entfernt hat. Der Stein
hat einen Uratkern und Phosphatmantel : nach Ansicht des Vor¬
tragenden dürfte er sich im Blasenhals gebildet haben.
Sitzung vom 23. Januar 1911.
Dr. Latz er: Demonstration der Resultate ortho¬
dontischer Behandlung Erwachsener.
Die orthodontische Behandlung Erwachsener ist Aveitaus
seltener durchzuführen als bei Kindern, weil erstere sich selten
entschließen, die notwendigen Apparate im Munde längere Zeit
zu Ragen. Um so mehr Interesse dürfen daher die demonstrierten
Modelle in Anspruch nehmen, welche zeigen, daß auch im Alter
über dreißig Jahre Okklusionsanomalien korrigiert werden
können. Der erste Fall betrifft einen abnormen Vor biß des Unter¬
kiefers. Im Verlaufe von fünf Wochen sind normale Bißverhält¬
nisse hergestellt worden. Im zweiten Falle wurde ein impaktierter
Eckzahn im rechten Oberkiefer nach Entfernung des persistie¬
renden Milcheckzahns hervopgeholt. Die Behandlung nahm über ein
Jahr in Anspruch. Trotzdem ist es indiziert, die Behandlung solcher
Fälle durchzuführen, da derartig verlagerte Zähne häufig Anlaß zu
Neuralgien werden. Der nächste Fall zeigt die Korrektur eines
Diastems der Schneidezähne im Ober- und Unterkiefer. Der eigent¬
lichen Behandlung war die Exzision des hypertrophierten Lippen¬
bändchens im Oberkiefer vorausgegangen. Schließlich zeigt Vor¬
tragender den Erfolg einer symmetrischen Extraktion der ersten
Molaren im Ober- und Unterkiefer wegen Engstand der Zähne.
Hie Extraktionen erfolgten nach vollendetem Durchbruch der
zweiten Molaren, die tatsächlich an die Stelle der geschaffenen
Lücken traten; übrigens blieb genügend Platz für ein tadelloses
Nebeneinanderstehen der übrigen Zähne. Vortragender will mit
seiner Demonstration das Augenmerk der Kollegen auf solche
Bißanomalien lenken, die trotz vorgeschrittenen Alters zu einem
Heilerfolg führen können.
Prim. Mager: Mikroprojektion von Rückenmarks¬
schnitten bei multipler Sklerose und akuter Mye¬
litis. Die Durchsicht der Präparate zeigt, daß die multiple
Sklerose der Ausgang myelitischer Prozesse sein dürfte.
Prof. Sternberg. Mikroprojektion verschiedener
klinisch wichtiger Formen des Sarkoms.
Programm
der am
Freitag den 17. Februar 1911, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. Ferd. Hoclistetter stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. Hecht und Dr. Köhler: Untersuchungen über Asepsis.
(Demonstration).
Vorträge haben angemeldet die Herren: Clairmont und Haudek,
S. Federn, Max Herz, Julius Neumann und Ed. Hermann, L. Wirk,
Hans Salzer und Robert Breuer.
Bergmeister, P a 1 1 a u f.
Um die rechtzeitige Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen ,
dem Schriftführer noch am SitzuiiKsabeuct zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale der
Klinik Escherich Donnerstag den 16. Februar 1911, um 7 IJhr
abends, statt.
(Vorsitz: Dr. Julius Drey.)
Programm:
1. Demonstrationen.
2. Dr. M. Jerusalem: Zur Sonnenlichtbehandlung der chirurgi¬
schen Tuberkulose.
Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 20. Februar 1911, 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des
Herrn Dr. E. Jalioda stattfindenden wissenschaftlichen Versammlung.
Priv.-Doz. Dr. A. Foges: Die Beziehungen zwischen Flexur- und
Genitalerkrankungen.
Gesellschaft für physikalische Medizin.
Programm der am Mittwoch den 22. Februar 1911, um 7 Uhr abends, im j
Hörsaale der Klinik Noorden, unter dem Vorsitze von Priv.-Doz. Doktor '
A. Hum stattfindenden Sitzung.
1. Demonstrationen.
2. Priv.-Doz. Dr. Holzknecht: a) Ueber ein neues Radiometer j
(mit Demonstrationen); b) Bursitis subacromialis et subdeltoidea, eine j
Avichtige neue Indikation der physikalischen Methoden.
3. Dr. Blum : Die Röntgenbehandlung der Prostatahypertrophie.
Kollegen als Gäste Avillkommen.
Dr. Max Kahane, I. Sekretär. Priv.-Doz. Dr. Max Herz. Präsident.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Kubasta. Verlag von Wilhelm Branmüller in Wien-
Druck von Bruno Bartelt. Wien XVIII., Theresiengasse 8
Wiener klinische Wochenschri
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner. S. Exner. E. Finger. M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko. H. Meyer. J, Moeller K. v. Noorden.
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. Q. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs, Julius Hochenegg, Ernst Ludwig Edmund v. Neusser
Richard Paltauf. Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k- Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618
XXIV. Jahrg.
Wien, 23. Februar 1911
Nr. 8
i heodor Escherich f.
Nachruf von Priv.-Doz. Dr. Franz Hamburger.
Am 15. Februar starb Escherich einen raschen Tod. Eine Apoplexie hat seinem tätigen, arheits- und
erfolgreichen Leben ein jähes Ende bereitet. Sein Tod hat allenthalben aufrichtige Teilnahme, tiefe Trauer
erregt. War er doch ein Mann, beseelt von ehrlichem Streben, ausgezeichnet durch selbstlose Arbeit, erfüllt
von echtem Idealismus. Sein Tod ist ein unersetzlicher Verlust für die Wissenschaft, für die Kinderheilkunde
ganz besonders. Unersetzlich ist sein Verlust, weil eine solche Kombination von glänzender Organisations¬
fähigkeit, von erfolgreichem Forscherdrang, von heller Schaffensfreude, von strenger Gewissenhaftigkeit selten
in einem Manne vereint gefunden wird. Er war einer der seltenen Männer, die der Sache an sich, also dem
Guten um des Gaten willen dienten. Das ist nicht Phrase, das ist Wahrheit. Escherichs Erfolge sind begründet
in seiner Haupteigenschaft: seiner unbeugsamen Energie, seinem Drang zum Fortschritt. Man kann wohl
sagen, sein ganzes Leben schien geleitet von einer unwiderstehlichen Propulsionskraft. Sie führte ihn, sie
zwang ihn vorwärts, sie brachte ihm viele Erfolge, sie ließ ihn alle Widerwärtigkeiten — und deren gab’s
genug — spielend überwinden.
Escherich wurde am 29. November 1857 in Ansbach in Franken geboren. Er enstammte einer an¬
gesehenen Arztesfamilie. Nach Absolvierung seiner medizinischen Studien in Würzburg und Slraßhurg war
er zuerst Assistent von Gerhart, dessen Schüler zu sein, er sich mit SLolz rühmte.
Nachdem er ein Jahr bei Widerhofer am St. Anna-Kinderspital hier in Wien als Volontärarzt tätig
gewesen war, wurde er Assistent an der Münchener Universitätskinderklinik, wo er seine ersten großen, ihn
schnell bekanntmachenden Arbeiten ausführte und sich habilitierte. In verhältnismäßig jungen Jahren wurde
er nach Graz als Extraordinarius auf die Lehrkanzel für Kinderheilkunde berufen und bald entwickelte sich
daselbst ein reges wissenschaftliches Leben; die in pädiatrischen Kreisen so angesehene Grazer Schule wurde
gegründet. Nach wenigen Jahren schon wurde Escherich Ordinarius. Einen Ruf nach Leipzig schlug er aus.
Im Jahre 1902 wurde er an die Stelle v. Widerhofers hierher nach Wien berufen, wo er in den kurzen
neun Jahren, die dun noch zu wirken vergönnt waren, nahezu Unglaubliches leistete.
Die hervorragendsten Vorzüge Escherichs lagen zweifellos in seiner wissenschaftlichen und seiner
organisatorischen Begabung. Aber auch als Lehrer leistete er Bedeutendes und sein großes, heißes Interesse an
wahrer Volksgesundheit führte eben durch seine forscherische und gleichzeitig organisatorische Begabung zu den
großen Erfolgen des Dahingegangenen.
Die wissenschaftliche Bedeutung Escherichs ist eine außerordentliche. Die Anzahl der von ihm publi¬
zierten Arbeiten beträgt fast zweihundert! Die Vielseitigkeit in diesen seinen Arbeiten ist wirklich staunenswert.
Es gibt kein Gebiet in der Kinderheilkunde, auf dem er nicht forscherisch erfolgreich tätig gewesen wäre. In
der ganzen wissenschaftlichen Welt bekannt ist seine klassische Arbeit über die Darmbakterien des Säuglings.
Diese Arbeit ist im wahren Sinne des Wortes grundlegend und richtunggebend für viele andere Arbeiten auf
diesem wichtigen Gebiet. Bei dieser hervorragenden systematischen bakteriologischen Arbeit entdeckte Escherich
das Bacterium coli commune, das bekanntlich die wichtigste Rolle unter allen normalen Darmbakterien spielt.
Diese erste größere Arbeit von Escherich hatte nicht nur für die damalige Zeit eine große Bedeutung, sondern
ist heute noch ein Standardwerk, das niemand entbehren kann, der sich mit der Frage der Darmbakterien
eingehender beschäftigt.
Seine grundlegenden bakteriologischen Arbeiten waren aber auch weiterhin außerordentlich
fruchtbringend. Sie gaben Anstoß zu zahlreichen Arbeiten auf dem Gebiete der Fäzesbakteriologie, das nicht
allein in Deutschland, sondern ganz besonders auch in Frankreich, durch Jahre hindurch aufs eifrigste
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. .1911,
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Nr. 8
bearbeitet und durchforscht wurde. Besonders das Bac-
lerium coli commune (Escherich) war lange Zeit Gegenstand
zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen. So wurde
Escherichs Ruf in der medizinischen Wissenschaft be¬
gründet und vergrößert. Seine bakteriologischen Arbeiten
gaben aber auch weiterhin Anstoß zu wichtigen klinischen
Untersuchungen und führten zur Entdeckung auch praktisch
bedeutungsvoller Kinderkrankheiten. So ist die Entdeckung
der Kolizystitis ausschließlich Escherichs Verdienst. Diese
Erkrankung isl im Kindesalter gar nicht so selten, macht
oft recht schwere Krankheitserscheinungen und ist daher
diagnostisch sehr wichtig. Ferner entdeckte Escherich
die Streptokokken enteritis der Säuglinge. Abgesehen von
Publikationen über weitere, minder wichtige, weil seltenere
Erkrankungen, wie die Pyozyaneusinfektionen, die „blaue
Bazillose“, sind besonders seine Arbeiten über die Kolitis
im Kindesalter zu erwähnen.
Daß Escherich in seiner Grazer Zeit eine ganze
Reihe von jungen Aerzten mit bakteriologischen Studien
beschäftigte, kann bei seiner Anlage, anzuregen und anzu¬
eifern, neue Probleme aufzustellen, nicht wundernehmen.
Von den bakteriologischen Veröffentlichungen dieser Zeit
sind besonders jene von Ad. Schmid und von Moro
hervorzuheben.
Wer aber glaubt, daß Escherich nur einseitig bakte¬
riologisch zu arbeiten imstande war, der irrt. Escherich
war ein guter klinischer Beobachter. Am besten zeigt sich
das darin, daß er neue Krankheitsbilder zu erfassen und
zu gestalten vermochte. Gleich nach der Uebernahme der
Grazer Lehrkanzel erkannte Escherich die Bedeutung der
Beobachtungen Loos’, der entdeckt hatte, daß Säuglinge
mit dem so häufigen, den alten Aerzten längst bekannten
Symptom des Laryngospasmus auch Fazialisphänomen zei¬
gen. Loos hatte daraus geschlossen, daß es sich in solchen
Fällen um echte Tetanie handeln könnte. Loos beschrieb
auch seine Untersuchungen ausführlich. Escherich be¬
arbeitete nun die von Loos angeschnittene Frage in treff¬
licher, man kann wohl sagen klassischer Weise. Damit
stellte E sc'herich zugleich die große Häufigkeit der Tetanie
im Säuglingsalter fest. E sc'herich stellte damals auch
zusammen mit v. W agner- Jauregg die ersten galvani¬
schen Untersuchungen an Säuglingen an, die überhaupt ge¬
macht worden sind. Seit dieser Zeit — es sind nun mehr
als 20 Jahre — wurde unter Escherichs Leitung die
Forschung über Tetanie nie mehr aufgegeben. Noch in
den letzten Jahren schrieb er eine ausgezeichnete er¬
schöpfende Monographie über die Kindertetanie für das
N o t hna g e 1 s c h e Handbuch und veranlaßte die schöne
Arbeit Yanas es über die Epithelkörperchenbefunde bei
Tetanie. Jedenfalls sind Escherichs Studien über die Kin-
dertetanie als eine seiner bedeutendsten klinischen Leistun¬
gen anzusehen.
Von den klinischen Arbeilen sind ferner ganz beson¬
ders die Untersuchungen über Diphtherie zu erwähnen, die
er in einer sehr interessanten Monographie zusammenfaßte,
betitelt „Diphtherie, Krupp und Serumtherapie nach Be¬
obachtungen in der Universitätskinderklinik in Graz“ (1895,
Wien). Sehr interessant waren auch seine experimentellen
Arbeiten über Diphtherie. Allgemein bekannt ist seine mit
Klemensiewicz publizierte Arbeit über einen Schutz¬
körper im Bhd der von Diphtherie geheilten Menschen. In
dieser Arbeit wurde zum ersten Male der Beweis erbracht,
daß sich bei der Spontanheilung der Diphtherie auch bei
Kindern echte Antitoxine entwickeln. Ein besonderes Inter¬
esse beansprucht die schöne experimentelle Studie über
Diphtherieimmunisierung, in welcher Arbeit nachgewiesen
wurde, daß eine passive Immunisierung durch orale oder
rektale Serumeinverleibung unmöglich sei, daß vielmehr
dazu unbedingt parenterale Injektion notwendig ist.
Mit zu den schönsten und bedeutendsten Arbeiten
Escherichs gehören aber seine Untersuchungen auf dem
Gebiet der Säuglingsernährung. Da sind es drei vonein¬
ander zu unterscheidende Richtungen, in denen sich seine
wissenschaftlichen Bestrebungen bewegten. Die bakterio¬
logische, die chemische Richtung und endlich seine prin¬
zipiell wichtige volumetrische Methode, welche heute Ge¬
meingut aller Aerzte ist, ohne daß es den meisten bekannt
wäre, daß Es edier ich der Urheber dieser Methode ist.
E'scherich beitonte vielleicht wohl als der Erste, wie
nötig es sei, bei der künstlichen Ernährung ganz besonders
darauf zu achtem, daß das 24 s Rindige Nahrangsvolumen
gewisse Werte nicht allzusehr übersteige. Er gewann damals
durch Wägungen von normal gedeihenden Brustkindern vor
und nach dem Trinken die normalen Trinkmengen und schuf
so Standardzahlen, die als Richtschnur für die Nahrungs¬
mengen künstlich ernährter Kinder gelten können.
Auch die chemischen Untersuchungen Escherichs
über die Milchgerinnung sowie über die Milchverdauung
im Magen sind Beispiele musterhafter exakter Forscher¬
arbeil. Seine besondere bakteriologische Erfahrung und Be¬
gabung brachte es mit sich, daß Escherich in dieser Rich¬
tung ganz besonders forscherisch tätig war. Ich erwähne
da seine Arbeiten über „Die desinfizierenden Behandlungs¬
methoden der Magendarmkrankheiten des Säuglingsalters“,
„Zur Frage der Milchsterilisierung“ etc.
Es ist auffallend, daß Escherich neben seiner aus¬
gesprochen naturforscherischen Begabung auch noch eine
bedeutende „technische Ader“ hatte. Das zeigte sich in
der Konstruktion verschiedener Apparate sowie in seinen
therapeutischen Bestrebungen. Von den von ihm erson¬
nenen Apparaten will ich nur seine Modifikation des Sox-
hletschen Milchsterilisierungsapparates sowie einen Appa¬
rat zu Magenspülungen bei Säuglingen anführen. Ferner
seine große Brutkammer auf der von ihm ins Leben geru¬
fenen Säuglingsabteilung in Graz ; das war die erste „chambre
couveuse“ in Oesterreich. Dann eine Dampfkammer zur Be¬
handlung der Larynxdiphtherie. Seine technische Begabung
zeigte sich aber in hervorragendster Weise bei seinen thera¬
peutischen Bestrebungen. Man denke nur an den sinnreichen
„Soorschnuller“. Ferner an seine Paraffinbehandlung der
Nabelhernie. Aus den allerletzten Lebenslagen des Dahin¬
geschiedenen stammt eine neue, scheinbar sehr wirkungs¬
volle Behandlungsmethode der Säuglingsfurunkulose, die
übrigens an der Poliklinik schon einmal mit sehr gutem
Erfolg angewendet werden konnte.
Als Escherich nach Wien kam, traten in den ersten
Jahren die eigenen wissenschaftlichen Interessen mehr
in den Hintergrund. Aber trotzdem bewahrte er auch wäh- [
rend der nun folgenden Periode, in der er hauptsächlich or¬
ganisatorisch tätig war, seine große Teilnahme an allen
wissenschaftlichen Fragen und an den Arbeiten seiner
Assistenten.
Mit am hervorragendsten betätigte sich Escherich als
Organisator. Dies zeigte sich gerade während seiner Wiener
Tätigkeit am glänzendsten. Freilich hatte er schon in Graz
genug Beweise seines organisatorischen Talentes gegeben.
So wurde unter seiner Leitung eine Diphtherieabteilung und
eine Säuglingsabteilung dem dortigen Anna-Kinderspital ;
angebaut. Er hatte damals gerade mit der neuen Säuglings- :
abteilung einen glücklichen Griff getan, insoferne, als er
einen Vertrag mit dem Lande Steiermark absohloß, so (laß
die der Kinderklinik, bzw. dem Anna -Kinderspital angeglie¬
derte Säuglingsabteilung als Krankenfiliale der steiermärki¬
schen Findelanstalt auf Landeskosten erbaut und erhalten
wurde. Ebenso hat Escherich das Ammenwesen in Graz
zusammen mit Rosthorn in mustergültiger Weise geregelt,
dadurch, daß die Ammenvermittlung in der Findelanstalt
zentralisiert, wurde und keine Konzessionen für private
Ammonvermittlungsbureaus erteilt wurden.
Außerdem zeigte sich das organisatorische Talent.
Escherichs auch in Graz schon an der Einrichtung der
Krankenzimmer, besonders auch der Laboratorien, in der
Anlage des neuen Hörsaales, der zugleich in höchst prak¬
tischer Weise als Laboratorium diente. Außerdem bestand
auch schon in Graz eine von Escherich gegründete Bi¬
bliothek, die, wenn auch klein, so doch völlig den Bedürf-
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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nissen der jungen, wissensdürstigen, forschungseifrigen Assi¬
stenten genügte.
Gewiß kann man die Grazer Zeit Escherichs mehr
als Forscherperiode bezeichnen, im Gegensatz zur Wiener
Zeit, welche sich, wenigstens was Escherichs eigene
persönliche Arbeit anbelangt, mehr als die Periode der
Organisatio n dharakt eri si er t .
Als Escherich nach Wien kam, fand er recht
schwierige Verhältnisse vor. Er zog in das zwar ehrwürdige,
aber immerhin veraltete St. Anna-Kinderspital ein, in dem
zwar ein Widerhofer gewirkt hatte, das aber eben doch
den modernen hygienischen Anforderungen in keiner Weise
mehr genügte. Im St. Anna-Kinderspital war bekanntlich
die Universitätskinderklinik untergebracht. Freilich war
Escherich seinerzeit, als er von Graz nach Wien ging,
der sofortige Bau einer neuen Kinderklinik nach seinen
eigenen Plänen versprochen worden. Aber immer wieder
und wieder verzögerte sich der von dem Dahingeschiedenen
so ersehnte Bau. So nahe war Escherich nun am Ziel
seiner Wünsche und nur mehr wenige Monate trennten ihn
von der Eröffnung der neuen, von ihm bis ins feinste Detail
so wohldurchdachten Klinik. Da mußte ihn der Tod ereilen.
Welche Tragik liegt in dieser Tatsache.
Da Escherich bald nach seinem Eintreffen in Wien
erkannt hatte, daß der Neubau der Klinik noch Jahre dauern
mußte, ging er rasch entschlossen daran, das alte St. Anna-
Kinderspital zu modernisieren und den neuen Anforderungen
der Hygiene entsprechend umzuändern. Es war imponie¬
rend, zu sehen, wie E>sdheri ch, statt verdrossen und klein¬
mütig über das fortwährende Hinausziehen zu sein, sofort
den tatsächlichen Verhältnissen Rechnung trug und nun
gleich Auswege wußte für seinen unbefriedigten reichen
Schaffensdrang. Zuerst wurde einmal mit dem vom Mini¬
sterium bewilligten Geld eine Laboratoriumsanlage gebaut,
ein Laboratorium für bakteriologische, eines für chemische
Arbeiten. Ein kleines, zuerst als Privatlaboratorium für den
Chef gedachtes Zimmer, wurde bald, d. h. so bald genug
Geld da war, als Röntgenlaboratorium eingerichtet. Das
Dach des ganzen neuen Gebäudes wurde nach Escherichs
Plan flaCh gebaut unld auf ihm tummelten sich die Kinder
an schönen Tagen, um die frische Luft zu genießen. Das¬
selbe Dach wurde später zu einem prächtigen Liegeplatz für
die ganz Kleinen, nachdem einmal die neue Säuglingsabtei¬
lung eingerichtet war.
Es wurde nämlich gleichzeitig mit dem neuen Labo¬
ratorium eine neue Säuglingsabteilung im alten Haus in¬
stalliert. Mit dieser wurde eine Schule für Säuglingspfle¬
gerinnen — ein völliges Novum — gegründet. Da konnte
man so recht das glänzende Organisationsgenie Esche¬
richs bewundern, der mit geringen Mitteln, durch glück¬
liche Kombination aller nur denkbaren Möglichkeiten vieles
und großes zu schaffen vermochte. Die Pflegerinnenschule
wurde dem neuen ebenfalls von Escherich ins Leben ge¬
rufenen Verein „Säuglingsschutz“ angegliedert.
Mit der Einrichtung der Säuglingsabteilung verfolgte
Escherich forscherische, didaktische und humanitäre
Zwecke mit gleichem Eifer und gleichem Erfolg. Dabei ver¬
wendete er bei der Einrichtung der neuen Abteilung die
neuen Erfahrungen und Anschauungen auf dem Gebiete
der Spitalspflege der Säuglinge. Mit weiser Selbstbeschrän-
kung richtete er zuerst nur ein kleines Zimmer für diesen
Zweck ein, das höchstens zehn Säuglingen Platz schuf.
Escherich sagte, wenn wir über Säuglingspflege und
-ernährung praktisch lernen wollen, dann müssen wir zuerst
einmal nur gesunde und nur wenig Kinder aufnehmen.
Die gesunden Kinder verschaffte sich Escherich
einfach vom Findelhaus. Der Direktor desselben, Prima¬
rius Riether, gab in sehr zuvorkommender Weise gesunde
Findelkinder und auch eine Amme dem Säuglingsschutz
iu „Pflege“. So wurde Escherich Pflegepartei für Findel¬
kinder. In welch einfacher Weise ist das doch alles ge¬
macht worden 1
Die neue Säuglingsabteilung stellte eine in jeder Hin¬
sicht originelle Neuerung dar. Um eine Infektion unter
den Säuglingen möglichst hintanzuhalten, wurden 3 ganz
kleine Kammern, sogenannte boxes in das Zimmer einge¬
baut, die mit Glaswänden versehen waren, so daß es einer¬
seits nicht an Licht fehlte, anderseits die Pflegerin das Kind
von außen sehen und so beobachten konnte. Diese kleinen
Kammern waren nach Escherichs Plänen und mit Hilfe
des ausgezeichneten Technikers Eh mann, der es verstand,
auf alle Intentionen Escherichs einzugehen, geradezu
raffiniert eingerichtet. Jede Kammer für sich erhielt an¬
dauernd von außen frische, durch Watte filtrierte, also
völlig reine Luft zugeführt, welche an kleinen, röhrenför¬
migen Heizkörpern in beliebigem, leicht zu regulierendem
Grade erwärmt wurde. Zugleich war in jeder Kammer ein
ebenfalls regulierbarer Luftbefeuchtungsapparat aufgestellt.
Diese Kammern konnten einerseits als Couveusen für früh-
geborne und lebensschwache Kinder, anderseits als Isolier-
räume für infektiöse Kinder verwendet werden. Die
Säuglinge außerhalb der boxes waren in ebenfalls neu
erdachten Körben untergebracht. Diese neue Säuglingsab-
teilung war, wenn auch klein, so doch eine Sehenswürdig¬
keit. Dabei kümmerte sich Escherich auch hier wieder
um jede Kleinigkeit, um jeden einzelnen Einrichtungsge¬
genstand, hatte dabei aber zur selben Zeit für die Einrich¬
tung des Laboratoriums, der neuen Schutzstelle, des neuen
Flörsaales, einer kleinen Milchküche zu sorgen. Und bei
allen diesen Neuschaffungen kümmerte er sich fast um
jedes Detail, hatte jede Einzelheit im Kopf. Es war wirk¬
lich staunenswert für jeden, der die damalige tägliche Arbeit
Escherichs mitansah. Nebenbei gab’s doch noch die Grün¬
dung der pädiatrischen Gesellschaft, außerdem die klini-
nischen Vorlesungen, die Spitalsvisite, Konferenzen, Be¬
sprechungen, Konsilien etc. Dabei war Escherich immer
frisch, immer voll Energie und von Interesse für alles, was
ihn momentan auch nicht so beschäftigte.
Zugleich mit der Säuglingsabteilung wurde die schon
erwähnte Pflegerinnenschule für Säuglingspflege gegründet.
Bei ihrer Einrichtung sowohl, wie besonders bei ihrem Be¬
trieb wurde Escherich auf das wirkungsvollste von Frau
Schrutka von Rech tens tam'm unterstüzt, die mit
großer Verehrung an ihm hing und mit Einsicht und Liebe
diese Musterschule leitete und heute noch leitet. Die da¬
selbst ausgebildeten Pflegerinnen sind von Escherich in
einer straffen Organisation vereinigt und gelten heute weit¬
aus als die besten Privatpflegerinnen für Säuglinge. Die
„Escherich -Pflegerinnen“ sind in ganz Wien, ja in den
hohen Kreisen von ganz Oesterreich-Ungarn bekannt.
Und nun kommen wir zur größten und bedeutendsten
organisatorischen Tat Escherichs zur Gründung des
Vereines Säuglingsschutz. Escherich, der von jeher ge¬
rade auf Grund seiner wissenschaftlichen Forschungen das
größte Interesse für Säuglingsernährung, Säuglingspflege,
Säuglingsaufzucht, sowie für Säuglingsfürsorge hatte, ver¬
mißte, als er nach Wien kam, das am allermeisten, daß
an der Kinderklinik gerade dieser Zweig der Kinderheil¬
kunde völlig fehlte. Um nun diesem Uebelstand abzuhelfen,
ging Escherich daran, die Mittel aufzubringen, um in
großzügiger Weise eine Herabminderung der Säuglingssterb¬
lichkeit anzubahnen. Zuerst erschien eine glänzend ge¬
schriebene Broschüre: „Bitte an die Wiener Frauen: Hel¬
fet den armen kranken Säuglingen“. Wie warmherzig ist
dieser Aufruf, der in den Wiener Tagesblättern abgedruckt
wurde, geschrieben! Ich gebe nur einige Proben, diezeigen,
einerseits wie Esc'herich fesseln konnte, anderseits wie
er die Kinder liebte. Schon der Anfang : „Ihr Mütter und
Kinderfreunde von Wien! An Eure goldenen Herzen treten
wir heute heran, zu Nutz und Frommen der kleinsten unter
den Kleinen, der hilflosen Säuglinge“. Dann weiter an
anderer Stelle: „Wir haben Schulen für Köchinnen, und
für Näherinnen, für Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen
— nur die schwere Aufgabe, wie man mit Kindern in dem
wichtigsten, dem ersten Lebensjahr umgehen soll, die kann
man nirgends lernen!“
WIENER KLINISCHE .WOCHENSCHRIFT. 1011.
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26(5
Esch er ich wußte damals in kurzer Zeit das Inter¬
esse weitester Kreise für den Säuglingsschutz zu erwecken,
i nter dem Protektorat Ihrer kaiserlichen und königlichen
Hoheit der Frau Erzherzogin Isabella wurde der Verein
Säuglingsschuh gegründet. Dadurch, daß sich die hohe Pro¬
lektorin seihst in so intensiver Weise um das Wohl des
jungen Vereines annahm, wurde auch das Interesse der
vornehmen Gesellschaft Wiens an der neuen Schöpfung
E scherichs wachgerufen. Zur Präsidentin des Vereines
wurde Prinzessin C roy -Sternberg gewählt, welche am
Heben des Vereines regen Anteil nahm und durch Veran¬
staltung eines großen Ballfestes alljährlich große Geldsum¬
men zum Betrieb des wohltätigen Vereines aufbringt.
Dem neuen Verein entstand bald auf den Gründen des
St. Annen- Kinderspitals ein neues Heim, dessen Bau den
Architekten Baron Kraus und Tülg übertragen wurde.
Das kleine reizende Häuschen ist fast jedermann bekannt,
und in ihm entfaltet sich täglich ein reges Lehen. Dort wird
the Milch in Einzelportionen täglich für ungefähr 300 Kin¬
der hergerichtet und für arme Säuglinge abgegeben. Dort ist
auch zugleich eine Art Mütterberatungsstelle eingerichtet,
wo jeder Säugling wöchentlich einmal den ordinierenden
Aerzten vorgeführt werden muß. Die Säuglingsschutzstelle
ist zugleich ein Ort erfolgreicher zielbewußter Stillpropa¬
ganda, was wohl hauptsächlich Sperk, einem langjährigen
Assistenten E scherichs, zu danken ist, der darauf drang,
daß in der Schutzstelle vor allem Brustkinder berücksich¬
tigt werden, und daß Kuhmilch nicht an Kinder abgegeben
werde, die nicht\wenigstens einige Wochen gestillt wurden.
Die Mütter, die ihre Kinder seihst stillten, erhielten Milch
und Brot, eventuell eine Unterstützung. So wurde in ein¬
facher Weise praktische wirkungsvolle Stillpropaganda ge¬
macht.
Die großen Betriebskosten, die der Säuglingsschutz
erforderte, wurden einerseits durch Mitgliedsbeiträge,
andrerseits durch die Gemeinde Wien gedeckt, deren Ober¬
haupt Lueger sich lebhaft für die neue soziale Schöpfung
interessierte, was nicht nur der impulsiven Initiative E sche¬
richs, sondern auch dem Wirken des Herrn Magistratsrates
Dr. Weiser zu danken ist. Man kann wohl sagen, daß
ohne diese Unterstützung Weiser s, der sich lebhaft für
E scherichs Bestrebungen interessierte, die Bemühungen
E scherichs um eine kommunale Subvention erfolglos ge¬
blieben wären. Heute bezieht der Säuglingsschutz 35.000
Kronen jährlicher Subvention von der Gemeinde !
Die Fäden dieser ganzen großen Aktion hielt E sche¬
id eh zielbewußt in seiner Hand vereinigt. Es ist ein großes
Werk, das der Dahingeschiedene geschaffen hat, wohl das
schönste Denkmal, das er sich in Wien gesetzt hat. Ein
Werk von großer hygienischer und sozialer, ganz beson¬
ders auch von volkserzieherischer Bedeutung. Es wird doch
gerade dadurch nicht nur das Stillen gefördert, sondern es
wird auch im Volk langsam das .Verständnis für die Be¬
deutung einer vernünftigen Kuhmilchernährung, für die Be¬
deutung der ärztlichen Kontrolle der Säuglinge wachgerufen
und gehoben.
Eine der letzten organisatorischen Taten E scherichs
war die zusammen mit Schauta vollzogene Schaffung
einer klinischen Abteilung für Neugeborene, durch die den
Studenten die Möglichkeit des Unterrichtes in diesem wich¬
tigen Zweige der Medizin gegeben werden sollte. Die In¬
stallierung dieser Abteilung auf der Klinik Schautas er¬
lebte Esc he rieh gerade noch. Es war ein alter Lieblings¬
gedanke von ihm, daß dem Pädiater Gelegenheit ge¬
geben werden soll, diese wichtige Zeit der ersten Lebens¬
tage am Kinde praktisch zu studieren.
Als Es eher ich mit seiner organisatorischen Tätig¬
keit in Wien fertig war und sah, daß der Neubau der Klinik
noch immer nicht zu erwarten stand, warf er sich wieder
mit dem ihm eigenen Eifer auf die Wissenschaft, er schrieb
seine große Monographie über Kindertetanie, er beschäftigte j
sich aufs intensivste mit der Tuberkulintherapie der Kinder- j
tuberkulöse. Seine Berichte darüber sind wohl noch allen in I
frischer Erinnerung. Er stellte eine neue geistreiche These
über das Wesen der Skrofulöse auf. Er nahm regen An¬
teil an den wissenschaftlichen Arbeiten seiner Assistenten.
Ich erinnere nur an die Publikationen seiner Schüler
v. Pirquet, Schick, fehle.
Seiner Vorliebe für therapeutische Fragen entsprach
es, daß er die schönen Erfolge Mosers mit dessen Schar¬
lachserum mit großem Interesse verfolgte und überall, wo
es anging, vor allem auf Kongressen, mit Wärme für die
Wirksamkeit des Mos ersehen Scharlachserums eintrat.
Esche rieh als Lehrer. Er war Lehrer mit der ihm
eigenen Begeisterung, mit Eifer, mit Gewissenhaftigkeit. Er
war groß in der Schilderung der Pathologie der verschie¬
densten Kinderkrankheiten. Er war lebhaft im Vortrage,
immer bestrebt, den Studenten sein bestes zu gehen. Seine
Größe als Lehrer besteht vor allem aber auch darin, daß
er die Pädiatrie mit zu hohem Ansehen brachte. Das zeigte
sich äußerlich auch darin, daß er noch in Graz Ordinarius
wurde, wo doch früher immer nur Extraordinarien für dieses
Fach tätig waren.
Es eher ich war Pädiater mit Leib und Seele. Ich
meine, er war stolz auf sein Fach und versuchte immer,
wo er konnte, einerseits das Ansehen, andrerseits auch das
wissenschaftliche Niveau der Kinderärzte zu heben. Das
war ja auch die Triebfeder für die Gründung der von ihm
ins Leben gerufenen Gesellschaft für innere Medizin und
Kinderheilkunde. Wenn die Kinderärzte Wiens heute die
Möglichkeit regen Meinungsaustausches, gegenseitiger Be¬
lehrung haben, so haben sie das einzig nur Escherich
zu verdanken.
Nach allein, was hier über Escherich mitgeteilt
wurde, kann man sich denken, was für eine Kraftnatur
er war. Seine Leistungsfähigkeit war schier übermenschlich.
Seine Lust an der Arbeit unbändig. Ein seltener Pflicht¬
eifer und große Gewissenhaftigkeit ergänzten seine Fähig¬
keiten und sein Vorwärtsstreben aufs schönste. Escherich
war sicher vier Stunden täglich im Spital und die übrige
Zeit verbrachte er fast ausschließlich im Interesse der
Kinderklinik und im Dienste seiner volkshygienischen Be¬
strebungen. Der Abend war fast nur der Arbeit und dem
Studium gewidmet.
Escherich war Idealist und von ernstem, edlem
Streben erfüllt. Er war gegen jedermann zuvorkommend,
hatte immer und für jedermann Zeit. Es war oft rührend,
wie er sich geduldig, ohne Aerger, oft aus der wichtigsten
Arbeit wegholen ließ, um dann in einer nichtigen Ange¬
legenheit von irgendjemand aufgehalten zu werden. Esche¬
rich war viel zu fein und liebenswürdig in seinem ganzen
Wesen, als daß er hätte in einem solchen Falle unhöflich
werden können, für seine Assistenten hatte er immer In¬
teresse und wirkliche Teilnahme. Es war für jedermann
leicht, bei Escherich Assistent zu sein. Nur eines ver¬
langte er: ehrlichen Fleiß. Gegen sich selbst von größter
Strenge, verlangte er von seinen Assistenten nicht allzu¬
viel. Er liebte es, wenn sie eigene wissenschaftliche Wege
gingen und war immer erfreut, wenn er an ihnen wahres
Interesse an der pädiatrischen Wissenschaft entdeckte.
Eine sehr seltene und schöne Eigenschaft besaß er
noch. Er war immer geneigt, einen eventuellen Irrtum ein¬
zubekennen. Es kostete ihm nicht die geringste Ueberwin-
dung, ja mit erfreuter Ueberraschung, oft sagte er dann:
,,Ja, da haben Sie doch recht gehabt.“
Ohne U eher! reib ung kann es gesagt werden : ein Großer
ist uns in Escherich gestorben. Sein Verlust ist un¬
ersetzlich. Ein solcher Mann kommt nicht so bald wieder.
Er war' ein Mann voll von großem Idealismus. Ein Mann
der Arbeit, wie Pfaundler in seiner schönen Grabrede
sagte. Wenn wir E scherichs Beispiel folgen wollen, dann
legen wir die Hände nicht trauernd in den Schoß. Nein.
Wir trauern zwar um ihn, aber wir wollen nach seinem
Vermächtnis leben, das er uns durch sein Wirken gegeben
hat, wir wollen arbeiten für das .Wohl der kranken Kinder.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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Aus dei’ ehern. Abteilung des serotherapeutischen
Institutes in Wien. (Vorstand: Hofrat Prof. R. Paltauf).
Ueber die Wirkung des Adrenalins auf ein¬
zellige Organismen.*)
(Vorläufige Mitteilung.)
Von Dr. Oswald Schwarz.
Wenn wir den derzeitigen Stand unserer Kenntnisse
über den Mechanismus der Adrenalinwirkung zu charakteri¬
sieren versuchen, so sind es hauptsächlich zwei Probleme,
die nach wie vor einer befriedigenden Lösung harren: Lin
mal ist die Annahme, daß auch für die glykosurische Kom¬
ponente der Adrenalinwirkung der Sympathikus die Lei
lungsbahn katexochen darstellt, nicht gegen alle Einwände
sichergestellt und zweitens besitzen wir zur Kenntnis der
Quellendes im Adrenalindiabetes ausgeführten Zuckers noch
ein relativ spärliches Tatsachenmaterial.
Während nun der. experimentellen Beantwortung dieser
Fragen bei Anwendung unserer gewöhnlichen Versuchstiere
prinzipielle versuchstechnische Schwierigkeiten im Wege
stehen, hoffte ich durch Untersuchung der Adrenalinwirkung
auf einzellige Organismen günstigere Versuchsergebnisse zu
erzielen.
Ich prüfte zunächst die Wirkung des Adrenalins auf
weiße Blutkörperchen. Da die Ergebnisse dieser Ver¬
suche nicht genügend instruktiv waren, will ich sie nur
kurz erwähnen :
Bei Injektion einer glykosurisöhen Adrenalindosis wer¬
den die zirkulierenden Leukozyten des Hundes schon nach
der zweiten Injektion sehr glykogenreich gemäß der Er¬
fahrung, daß ein erhöhter Blutzuckergehalt zum Auftreten
von Glykogen in den Leukozyten führt. Bei Kaninchen und
Ratten ist dieses Resultat jedoch auch nach zahlreichen
Injektionen nicht zu erzielen, ivas seine Ursache darin hat,
daß die Blutzuckererhöhung bei diesen Tieren keine ge¬
nügend hohe ist..
Läßt man umgekehrt auf sehr glykogenreiche Exsu¬
datleukozyten Adrenalin in vitro einwirken, so verschwin¬
det das Glykogen schon nach zwei Stunden mehr minder
vollständig, während die Kontrollen ohne Adrenalinzusatz
noch nach 24 Stunden glykogenreich sind. Da aber auch
andere Substanzen, wie u. a. Morphium, Strychnin, Chinin
dieselbe Wirkung zeigen, ist dieser Glykogenschwund als
eine nicht spezifische Protoplasmawirkung der erwähnten
Substanzen aufzufassen.
Viel interessanter waren nun die Resultate, als ich
die Versuche auf einen echten, einzelligen Organismus aus¬
dehnte, nämlich Sacch. cerevisiae.
.Schon zu wiederholten Malen wurde die Hefe¬
gärung als Indikator verwendet, zur Entscheidung, ob
eine Substanz ein Nervinum oder ein Protoplasma¬
gift sensu strictori sei. So fand Zahn in einer
Dissertation aus dem pharmakologischen Institut in Er¬
langen, daß Morphin und Kurare auch in l-5°/oigen Lö¬
sungen die Gärung völlig unbeeinflußt läßt, während Strych¬
nin, Fluornatrium, Phenylhydrazin usw. sie vollständig auf¬
hoben. Tch stellte nun folgenden Versuch an : Ein Gärungs¬
kölbchen wurde mit einer bestimmten Hefemenge und einer
0-5 %i gen Traubenzuckerlösung beschickt, in ein zweites
kam außer derselben Hefe- und Traubenzuckermenge noch
soviel Adrenalin, daß der Gesamtgehalf der Lösung 1 n/no
betrug. Nach 24 Stunden zeigte nun die Kontrolle eine
Kohlensäuremenge, die einer 0-5 °/oigen Zuckerlösung ent¬
sprach, während in dem Röhrchen mit Adrenalin die
doppelt so große Kohlensäuremenge produziert worden
war. Es war dies eine sehr überraschende Tatsache und der
Analyse dieses Versuches gelten die folgenden Unter¬
suchungen.
*) Nach einem in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzle
vom 10. Februar 1911 gehaltenen Vortrage.
Die sich zunächst aufdrängende Vorstellung einer Ak¬
tivierung der Hefezymase durch Adrenalin konnte bald
zurückgewiesen werden, da ja schon die Kontrolle den
ganzen verfügbaren Zucker vergoren hatte und eine bloße
Aktivierung des Gärungsfermentes gar kein Material zu ihrer
Aeüßerung vorgefunden hätte. Da nun eine äußerst sorg¬
fältig gewaschene und abgepreßte Hefe zu diesen Versuchen
verwendet worden war, blieb nur die Annahme, daß der ver¬
gorene Zucker aus der Hefe selbst, herstammte.
Eine Entscheidung mußte folgender Versuch bringen :
Eine bestimmte Hefemenge wird mit physiologischer Koch¬
salzlösung angesetzt und zu einer zweiten gleichen Hefe¬
menge noch Adrenalin zngefügh Nach zwei Stunden war
nun in dieser letzteren Probe der ganze Schenkel des
Gärungskölbchens mit Kohlensäure gefüllt, während in der
Kontrolle selbst nach 24 Stunden keine Spur einer Gärung
nachzuweisen war. Erwähne ich noch, daß die Men ge. der ent¬
standenen Kohlensäure mit abnehmender Hefemenge gerin
ger wurde, so scheint die Annahme, daß unter dem Ein¬
fluß des Adrenalins die Hefe aus ihrer eigenen
Körper subs tanz einen gärungsfähigen Zuc'ker
b i 1 d e t, ger ech t f er ti g t.
Wie ist nun diese auffallende Tatsache zu verstehen:
Bekanntlich besitzt die Hefe die Fähigkeit der Eigengärung,
das heißt, sich selbst überlassen produziert sie auch ohne
jeden Zuckerzusatz mehr minder große Mengen von Kohlen¬
säure. Ueber das Wesen dieser Eigengärung wurde zwischen
Pasteur und Liebig eine heftige Diskussion geführt, deren
Ergebnis, in Uebereinstimmimg mit neueren Arbeiten, die
Erkenntnis war, daß die Hefe ihre recht beträchtlichen Gly¬
kogendepots allmählich in gärungsfähigen Zucker umwan¬
delt. — Hienach wären die oben erwähnten Versuche als
eine Steigerung dieses physiologischen Prozesses aufzu¬
fassen, d. h. mit anderen Worten: unter der Einwirkung
d e^ Adrenalins verzuckert die H e f e z e 1 1 e ihr Gly¬
kogen in ganz hervorragend gesteigertem Maße
— ■ genau wie die Leberzelle unserer hochorganii-
s i e r t e n V e r s u c h s t i e r e. Esstellen also diese Ver¬
suche — wenigstens in ihrer Phänomenologie
- ein Analogon zu den bekannten Erscheinun¬
gen der Adrenalinwirkung im Säugetierorganis¬
mus dar.
Es lag nun nahe, zu versuchen, ob bei der Hefe¬
zelle eine Umwandlung verschiedener Substanzen in
Zucker unter dem Einflüsse der Adrenalinvergiftung zu er¬
zielen sei.
Die Versuchsanordnung war folgende: Tu dem ersten
Gärungsröhrchen wurde eine bestimmte Hefemenge mit einer
Stärkelösung angesetzt. In dem zweiten wurde zu der¬
selben Hefe- und Stärkemenge Adrenalin zu gefügt und als
Kontrolle diente dieselbe Hefemenge mit Adrenalin. Nach
24 Stunden war folgendes Resultat abzulesen: Die erste
Probe hatte gar keine Gärungserscheinungen gezeigt. In dem
zweiten Kölbchen hatte eine mächtige Kohlensäureproduk¬
tion stattgehabt, während die Kontrolle nur geringe Kohlen¬
säuremengen enthielt, da eine entsprechend kleine Hefe¬
quantität zu dieser Versuchsreihe verwendet worden war.
Diese Versuche wurden nun in der gleichen Anord¬
nung mit einer Glykogen-, Kasein- und Alaninlösung
wiederholt, immer mit dem gleichen Resultate, indem einer
völlig fehlenden oder nur ganz minimalen Gärung in den
Kontrollen eine mächtige Kohlensäureproduktion in den
A d renalinversuchen gegenü berstand .
Die Hefe gewinnt nun tatsächlich durch die
Adr enalinvergif tu n.g die Fähigkeit, ihr slonst
vollkommen inadäquate. Substanzen zu assimi¬
lieren und zu einer gärungsfähigen Substanz
um zu lagern.
Verschiedene Hefestämme besitzen in sehr verschie¬
denem Maße die Fähigkeit, Stärke, resp. Dextrine zu ver¬
gären. Die Brauwissenschaft unterscheidet daher von diesem
Gesichtspunkte vier Hefetypen: Saaz, Frohberg, Logos und
Pombe, die sich durch einen verschiedenen Eudvergärimgs-
268
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
grad unterscheiden. Die Ursache hiefür wird nun in einem
verschiedenen Gärvermögen dieser Typen Dextrinen gegen¬
über vermutet. Da diese Eigenschaft für die praktische Aus¬
nützung einer Hefe von gewisser Bedeutung ist., wurden
verschiedene Versuche zum Heranzüchten von dextrinver¬
gärenden Hefen gemacht. Die mitgeteilten Versuche, in
denen ein Adrenalinzusatz eine sonst indolente Hefe zur
Dextrinvergärung befähigt, bieten mit eine Lösung dieses
Problems.
Die Versuche dagegen, welche die Kaseinvergä-
run g durch adrenalinvergiftete Hefen demonstrieren, stehen
in naher Beziehung zu Beobachtungen, welche F. Ehr¬
lich und in jüngster Zeit 0. Neubauer und K. F'rom-
herz über Zerlegung von Aminosäuren in Kohlensäure und
die entsprechenden Alkohole durch Hefe angestellt haben.
Es verdient jedoch mit Rücksicht auf den positiven Ausfall
unserer mit adrenalinvergifteter Hefe angestellten
Versuche Kasein zu zerlegen, die in der Literatur allgemein
vertretene Ansicht hervorgehoben zu werden, daß gewöhn¬
liche Hefe nicht imstande sei, natives Eiweiß abzubauen.
Die oben erwähnten Alaninversuche wiederum bedeuten
insoweit einen Fortschritt gegenüber den Resultaten der
genannten Autoren, da selbst so geringe, an und für sich
ganz wirkungslose, Hefemengen, wie sie in diesen Ver¬
suchen verwendet wurden, unter dem Einfluß des Adrenalins
schon in wenigen Stunden Aminosäuren zu zerlegen
befähigt waren.
Es erübrigt nun noch, den Mechanismus dieser Adre¬
nalinwirkung zu erörtern. Diese Untersuchungen haben noch
zu keinem abschließenden Resultat geführt; die Ergebnisse
meiner bisher angestellten Versuche sind folgende:
Wir müssen für die Diskussion dieser Frage folgende
zwei Versuchsreihen auseinanderhalten: einmal den Fäll,
daß die Hefe auf Adrenalinzusatz aus ihrer eigenen Körper¬
substanz Zucker produziert ; und zweitens, daß sie die Fähig¬
keit erlangt, ihr heterologe Substanzen zu assimilieren.
Mehr als in irgendeinem anderen Falle ist es für die
Hefezelle gelungen, einen großen Teil ihrer Tätigkeit in fer¬
mentative Prozesse aufzulösen ; für unsere Zwecke kommen
drei Fermente in Betracht u. zw. die Diastase, die
Tryptase und die Zymase. Die nächstliegende Erklärung
nun für die gesteigerte Umwandlung von Glykogen in Zucker,
die die Hefe unter der Einwirkung des Adrenalins zeigt,
war die Annahme einer Aktivierung der Hefediaslase. Rea¬
genzglasversuche mit einer Diastase ließen nun keinen Ein¬
fluß des Adrenalins auf die Verzuckerung einer Stärke¬
lösung erkennen. Trotz dieses negativen Resultates muß
meines Erachtens an der Vorstellung einer Erhöhung der
amylolytischen Tätigkeit der Hefezelle festgehalten werden,
da die Versuche in vitro nur eine sehr unvollkommene An¬
näherung an die vitalen Prozesse darstellen.
Komplizierter allerdings liegen die Verhältnisse in
jenen Versuchen, in denen die Hefe zur Assimilation
ihr lieterologer Substanzen veranlaßt wird. Es war zu¬
nächst zu entscheiden, ob diese Adrenalinwirkung ein
vitaler Prozeß, das heißt an die intakte, lebende Hefezelle
gebunden sei. Eine Entscheidung hierüber brachten Ver¬
suche mit einer sogenannten Azetondauerhefe. Dieses
Präparat ist durch Abtötung der Hefe durch die wasser¬
entziehende Wirkung einer kurzdauernden Azetonbehand-
lung gewonnen, wobei keine Plasmolyse i’eintritt und sämt¬
liche intrazellularen tiefefei' mente wirksam erhalten bleiben.
Es zeigte sich nun, daß die an und für sich recht lebhafte
Eigengärung dieses Präparates durch Adrenalinzusatz genau
so gesteigert wurde, wie wir es bei frischer Hefe gesehen
haben. Weiters aber vergärt diese Azetonhefe auch schon
ohne Adrenalinzusatz Ggykogen und Kasein in auffallendem
Maße. Durch diese Beobachtung werden ^meines Erachtens
auch die entsprechenden Adrenalinversuche unserem ‘Ver¬
ständnisse näher gebracht.
Die drei erwähnten Hefefermente : die Zymase, Dia¬
stase und Tryptase, sind alle drei Endoenzyme, d. h. sie
können durch die intakte lebende Zellwand nicht diffun¬
dieren, weshalb die frische Hefezelle alle nicht diffusiblen
Stoffe, wie Stärke, Glykogen und Eiweiß nicht verwerten
kann. Durch die Azetonbehandlung scheint nun in ge¬
wissem Maße die Zellwand für Diastase und Tryptase durch¬
gängig geworden zu sein. In noch viel intensiverem Maße
scheint nun das Adrenalin diese Veränderungen hervor¬
zubringen.
Soweit, meine Herren, meine Versuche, die, um es
noch einmal zusammenzufassen, folgendes ergeben hatten :
Unter dem Einflüsse der Adrenalinvergiftung
scheidet die Hefe große Zuckermengen aus, die
sich in der entwickelt en K ohlensäure manifestie¬
ren und zweitens gewinnt die Hefe die F ä h i g k e i t,
ihr sonst unerreichbare, weil nicht diffusible
Nahrungsstoffe zu assimilieren, d. h. zu gärfähi¬
gen Stoffen um zu wand ein.
Besonders betont sei auch an dieser Stelle,
daß die Wirkung des Adrenalins sic'h in den an¬
geführten Versuchen an einem einzelligen, also
nervenlosen Organismus in ganz analoger
Weise manifestiert, wie an unseren hoch orga¬
nisierten Versuchstieren.
Aus der Chirurg. Abteilung des Rothschildspitales in
Wien. (Vorstand: Prof. Dr. Otto Zuckerkandl.)
Klinik und Therapie der Steine im Becken¬
teile des Ureters.
Von Dr. Friedrich Necker und Dr. Karl ttagstatter.
Harnleitersteine galten bis vor wenigen Jahren als
eine im Vergleich zur Häufigkeit der Nierensteine seltene
Erkrankung, an deren auf höchst unsichere klinische Sym¬
ptome gestützte .Diagnose sich nur die reiche Erfahrung
einzelner Meister des Faches heranwagte. Erst die exakten
•Untersuchungsmethoden der Gegenwart erschlossen dieses
noch viel zu wenig beachtete Gebiet der urologischen Chi¬
rurgie.
Denn während Bardenheuer schon 1882 bei einer
anurischen Kranken aus dem obersten Abschnitt des Ure¬
ters ein Konkrement entfernte und so die erste extraperi¬
toneale Ureterolithotomie ausführte und später Israel lange
vor der Röntgenära in heute noch vollgültiger Klarheit die
operative Technik und Indikationsstellung besprach, brachten
erst die letzten Jahre eine Sammlung des bis dahin zer¬
streuten Materials in einer Reihe größerer Arbeiten, von
denen die Frey er s, Tenneys, Fenwicks, sowie die von
Pappo aus der Klinik Albarrans von Jean brau und
von Bloch (Israel) die wertvollsten sind.
Vorauszuschicken wäre, daß sämtliche Ureterkonkre¬
mente sekundäre sind, das heißt sich nicht an Ort und
Stelle gebildet haben, sondern Nierensteine darstellen, die
bei Passage des Ureters gehemmt, nunmehr zentripetal, wie
dies Zuckerkandl für die Nierenbeckenuretersteine nach¬
wies, durch Apposition neuer Schichten wachsen. Primäre
Ureterkonkremente sind nicht mit Sicherheit nachgewiesen,
ihre Entstehung könnte aber durch Divertikel und Klappen¬
bildung des Organes, durch in das Lumen ragende Fremd¬
körper (Seidenfaden, Joung) oder durch Entzünd ungspro-
zesse (Israel: Steinbildung aus Bakterienrasen bei Ure¬
teritis) begünstigt werden. Dem Orte ihres Wachstums ent¬
sprechend sind es mehr weniger längsovale, Bohnen- oder
Dattelkernform nachahmende Steine, deren schlankeres
Ende der Blase, das kolbigere der Niere zugekehrt ist. In
ihrer variablen Zusammensetzung unterscheiden sie sich
in nichts von Nierensteinen, noch häufiger als diese lassen
sie die spießigen kristallinischen Auflagerungen des Oxal¬
säuren Kalkes erkennen.
Als Prädilektionsstellen ihres Sitzes findet man all¬
gemein drei mit den physiologisch engeren Stellen des
Ureters identische Punkte angegeben : Zunächst eine 1 bis
1-5 clm' vom Nierenbecken entfernte Partie (Isthmus), deren
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
269
Lumen überdies häufig durch eine oder mehrere nicht ver¬
streichbare Querfalten der Schleimhaut (C o s c h w i tz, W ö 1 f-
ler, Englisch) noch weiter verengt wird. Dann jene
Kreuzungsstelle des Harnleiters mit der Arteria iliaca, an
der seine Pars abdominalis fast rechtwinklig in die Pars
pelvina umhiegt und endlich die Stelle des Eintriltes in die
Blasenwand. Für die chirurgische Klinik haben diese Hem-
mungsstellen nicht dieselbe Bedeutung; denn abgesehen
von der überwiegenden Häufigkeit der Steine im Beckenteile
des Ureters ist es klar, daß die chirurgische Therapie der
am Ursprung eingekeilten Konkremente zweckmäßig beim
Kapitel der Pyelotomie Besprechung fände. Dies war auch
das bei uns geübte Operationsverfahren in den wenigen
Fällen.
Die klinischen Symptome der hochsitzenden Ureier¬
steine lassen sich ferner in keiner Beziehung von denen
der Nierenbec'kensteine trennen, während bei den Steinen
im pelvinen Anteile eine Reihe von Erscheinungen hinzu¬
tritt, die ihre Differenzierung gestatten. Es erscheint somit
wohl gerechtfertigt, im; folgenden Steine im Beckenanteile
des Ureters gesondert zu besprechen.
Die Arbeit stützt sich auf 2(1 Einzelbeobachlungen
von Konkrementen im Beckenteile des Ureters, die mit Aus¬
nahme eines zitierten älteren Falles, alle während der
letzten vier Jahre zur Beobachtung kamen.1) Beil7Fal-
len mußte das Konkrement operativ entfernt werden und zwar
lömal durch extraperitoneale Ureterolithotomie, lmal (älterer
Fall) durch vaginale Ureterolithotomie, lmal durch digitale
Extraktion nach Dilatation der weiblichen Harnröhre (Pa¬
pillenstein). Bei zwei Fällen waren früher Steinoperationen
an der Niere ausgeführt worden; einmal an derselben, das
zweite Mal an der anderen Niere.
Bei den weiteren neun Fällen ging viermal das Kon¬
krement, nach entsprechenden therapeutischen Maßnahmen
spontan ab, einmal mußte es durch externe Urethrotomie
aus der hinteren Harnröhre, wo es sich bei seiner Abwärts¬
wanderung unverrückbar festgekeilt hatte, entfernt werden,
zwei Fälle entzogen sich der Operation, zwei Fälle stehen
weiter in Beobachtung.
Bei einem1 Patienten wurde wegen Verdacht auf Ure-
terenkonkrement die probatorische Bloßlegung des Ureters
ausgeführt. Wiederholt konnten spontan abgegangene Kon¬
kremente ihrer Form nach mit Sicherheit als Uretersteine
angesprochen werden.
Der klinische Symptomenkomplex bei Ureterkonkre¬
menten kann wie bei der Nephrolithiasis ein außerordentlich
vager sein, so daß ohne Zuziehung der später zu besprechen¬
den Un t er su ohu ngsmeth o d en wir uns meist mit. der Wahr¬
scheinlichkeitsdiagnose einer Steinerkrankung im Harntrakt
begnügen müssen.
In seltenen Fällen (Fall IX unserer Reihe) ist das aller¬
erste Symptom nicht von seiten des Steines oder Ureterver¬
schlusses, sondern von der Infektion der Harnwege abhängig
und dokumentiert sich im Auftreten von Frösten und Fieber.
Meist deuten aber bei richtiger Analyse die vorausgegan¬
genen oder bestehenden Schm'erzanfälle auf Niere und Harn¬
leiter. Typische Koliken von paroxysmalem Charakter mit
irradiierenden Schmerzen auf der Leitungsbahn Ureter—
Blase und dem' entsprechenden Nervengebiet (Hoden, Neben¬
hoden, Vagina, Oberschenkel) sind charakteristisch, doch
selten. Je tiefer der Sitz des Steines im Ureter, desto präg¬
nanter treten vesikale Symptome auf, bis sie bei intramu¬
ralem oder papillärem Sitz im Vordergrund stehen und das
Krankheitsbild allein beherrschen können. Außerordentlich
instruktiv sind in dieser Hinsicht Fälle, bei denen in zahl¬
reichen Untersuchungen das Herabwandern des Konkre¬
mentes und mit ihm der Uebergang von Nierenkoliken in
Harnleiterkoliken und rein vesikale Symptome beobachtet
werden kann.
*) Ueber die ersten 7 Fälle wurde von dem einen von uns bereits
am Salzburger Naturforschertage referiert. (Dr. Neck er, Ueber Nieren¬
steine. Verhandlungen des 81. Naturforschertages, Bd. 2, S. 136.
Fall I. 32jähriger gesunder Mann sucht das Ambulatorium
der Abteilung wegen dumpfer zeitweise, besondere nach forcierten
Bewegungen heftig sieh steigernder Schmerzen in der rechten
Nierengegend auf. Die Röntgenuntersuchung ergibt einen etwa
erbsengroßen, nicht einwandfrei darstellbaren Konkrementschatten,
in der rechten Nierengegend. Glyzerin- und Karlsbader Kur. Zeit¬
weises Wohlbefinden unterbrochen von heftigen, kolikartigen in
die Kode ausstrahlenden Schmerzen (der Stein rückt vor). Sechs
Monate später Blastenbeschw erden : Kurze Harnpausen, impetuöser
Harndrang (der Stein nähert sich im pelvinen Ureterteil der Blase'.
Röntgenuntersuchung zeigt das Konkrement in der Höhe der Syn¬
chondrosis sacroiliacal Am nächsten Tage Blasenbeschwerden
exzessiv gesteigert, Patient war in der Nacht inkontinent, Kapazität
der Blase knapp 50 cm3. Die Zystoskopie zeigt das Konkrement
in der rechten Ureterpapille festgehalten. In der darauffolgenden
Nacht setzen nach einer heftigen Attacke die Blasenbeschwerden
einige Stunden aus und mit der nächsten reichlichen Miktion
entleert der Patient spontan das erbsengroße Konkrement.
Was bei diesem Fäll besonders klassisch sich ausprägt.
- das Bestehen renaler Koliken vor dem Auftreten anderer
Symptome — wird sich meistens bei genauer Analyse der
anamnestischen Angaben erheben lassen. Seltener sind die
ersten Symptome von dem bereits im Ureter eingekeilten
Konkrement abhängig. Verschließt es das Lumen des Ureters
nicht vollkommen, bleibt der Harnabfluß ungehemmt, dann
wird es auch längere Zeit symptom- und schmerzlos ertragen,
die schädigende Stauung greift langsam vom Ureter auf die
Niere über und erst, die Infektion der Uronephrose dokumen¬
tiert sich durch Schüttelfröste und Fieber.
Komlrnt es aber, wenn auch nur zeitweise, etwa durch
Schwellung der Ureterschleimhaut oder durch Versuche, des
Ureters, in gesteigerter Peristaltik den Fremdkörper gegen
die Blase zu dislozieren, zu vollständigem Abschluß des
Lumtens, so wird dieser Vorgang durch das Auftreten von
Harnleiterkoliken miarkiert werden; ist man in der Lage,
die ausgeschiedenen Harnmengen genau zu beobachten, so
wird eine reichliche Polyurie nach Abklingen der Kolik
den gehegten Verdacht auf Ureterkonkrement festigen. Viel¬
leicht kann auch eine Angabe-, die drei unserer Patientinnen
dezidiert machten, das Aus strahlen der Schmerzen
von einem bestimmten Punkte der Unterbauch-
g eg end gegen die Lende (also ein uretero-rena-
ler Sch merz reflex) als charakteristisch angesehen
werden.
Wie unsicher jedoch in letzter Linie all diese Sym-
p'tomle sein können, das zeigen am besten Fälle, bei denen,
dem sogenannten renorenalen Beflex entsprechend, auch
beim verschließenden Ureterstein die Schmerzen in der
kontralateralen gesunden Seite empfunden werden (Schmi-
linski).
Sehr zu. beachtende diagnostische Momente kommen
bei der Harnuntersuchung in Betracht. Makroskopisch ver¬
änderte Harne, eine wenn auch noch so leichte Pyurie,
werden selbstverständlich die diagnostischen Erwägungen
sofort in richtige Bahnen lenken und zu weiteren Unter¬
suchungen veranlassen. Doch auch hei vollständig klarem1,
aseptischem Harnbild, das für gewöhnlich erst nach län¬
gerem1 Bestehen des Leidens alteriert wird, werden wieder¬
holte Sedimentuntersudhungen und Eiweißbe¬
stimmungen frisch entleerter Harnportionen oft Klar¬
heit schaffen.
Israel macht, zuerst auf den für Nephrolithiasis cha¬
rakteristischen' Nachweis mikroskopischer Hämaturien und
ihre quantitative Abhängigkeit von Körperbewegungen, so¬
wie auf den Befund entsprechend kleinster, nur bei exakter
Prüfung nachweisbarer Albuminmengen aufmerksam. Um
kleine Blutungen durch Traumen auszuschließen, darf nur
frischer Spontanharn, nicht Katheterharn, untersucht wer¬
den. Beweisend sind diese Befunde um so weniger, als
Schlesinger aus der Israel sehen Klinik differential-
diagnostisch schwierige Fälle von Perityphlitis beschrieb,
die konstant Erythrozyten im Hamsediment aufwiesen.
Doch beeinträchtigt das die große Wichtigkeit regel¬
mäßiger Sedimentstudien nicht, die uns nur veranlassen
sollen, solche Fälle auch bei unklarem klinischen Bilde
270
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
den exakten Untersuchungsmethoden zu unterwerfen. Bei
unserem Materiale wurde auf diesen Punkt, den auch Puf¬
fier und Jeanbreau als differentialdiagnostisch wichtig
hervorheben, besonders geachtet und die mikroskopische
Hämaturie niemals vermißt; oft war sie für die weiteren
diagnostischen Erwägungen ausschlaggebend.
Von den Fehldiagnosen, denen man bei Steinbildungen
im Ureter am häufigsten begegnet, steht bei rechtseitigem
Sitz des Leidens die Appendizitis im Vordergrund. Man
kann wohl sagen, daß überflüssige Appendektomien bei
Ureterkonkrementen so häufig gemacht werden, daß es ge¬
radezu als Untersuchungsregel gelten kann, jeden Fall, der
nach der Appendektomie die früheren Beschwerden nicht
verliert, einer genauen Röntgenuntersuchung zu unterziehen.
Das bisweilen ausgesprochene Ueberwiegen gastrointesti¬
naler Symptome — Obstipation und Erbrechen bei einer
Ureterkolik — erschwert die Diagnose ebenso, wie das
Auftreten von Blasenbeschwerden beim appendizitischen An¬
fall. Endlich kann ja auch Appendizitis und Ureterstein
beim selben Individuum beobachtet werden (Jerusalem-
Schnitzler).
Die palpatorische Differenzierung der erkrankten Ap¬
pendix und des Ureters ist mit Sicherheit nicht möglich,
wie auch alle, namentlich von französischen Autoren (Bazy,
Tourneue r und Halle, Past e au u. a.) ausgehenden Ver¬
suche, topographische Beziehungen zwischen so entfernten
Organen wie Ureter und vorderer Bauchwand zu schaffen,
aligelehnt werden müssen. Von weiteren Fehldiagnosen sind
in der Reihe ihrer Häufigkeit Adnexerkrankungen, Sigmoi¬
ditis, Cholezystitis, Neuralgien zu erwähnen.
Schema eindeutiger zysloskopischer Befunde bei Ureterensteinen.
Fig. 1. Ureter-Blasenstein.
Fig. 2. Intrapapillärer Stein.
Fig. 3 u. 4. Tumorartiger Ureterprolaps bei hoch- und tiefliegendem
Stein.
Die Bedeutung der Zy stoskopie für das besprochene
Krankheitsbild ist durch die Tatsache am besten gekenn¬
zeichnet, daß eine Gruppe von Befunden für sich allein,
ohne Zuziehung anderer Untersuchungsniethoden, die
Diagnosestellung ermöglichen. Diese Befunde sind im neben¬
stehenden Schema zusammengestellt (Tafel 1). Am einfach
sten liegen die Verhältnisse bei Steinen in der Ureterpapille,
von denen ein größerer oder “kleinerer Teil in das Blasen-
1 innen vorragt. Als Paradigma hiefür ist ein Fall von pilz¬
förmigen Ureter-Blasensteinen abgebildet (Fig. 2). Die Ent¬
stehung dieser Steinform ist wohl so zu deuten, daß sich
an dem spindelförmigen, mit der Spitze frei in die Blase
ragenden Ureterkonkrement ein pilzhutförmiges Blasenkon¬
krement ankristallisierl .
Fig. 5. Fig. 6. Fig. 7. Fig. 8.
Fig. 5 u. 6. Pilzförmige Urelerblasensteine (Fall 1 u. 2).
Fig. 7 u. 8. Uretersteine von Fall II u. III.
Fall II (Fig. 5) (zitiert nach Prof. Zuckerkandl)
betraf eine 55jährige Frau mit starken Blasenbeschwer¬
den. Harnleiter- oder Nierenkoliken fehlen. Die
Zystoskopie zeigte links am Ende des Interureteren wulstes
die Harnleiterpapille stärker als in der Norm erhaben, die Harn¬
leitermündung unsichtbar, die Papille von einer pilzartig aul-
sitzenden gelblichweißen Masse gekrönt, die beim Anschlägen mit
dem Schnabel des Zystoskopes sich als' steinige Bildung erwies.
Versuch nach Dilatation der Urethra mittels Hegarstiftes den
Stein digital aus seiner Nische zu heben, mißlingt, da der urete-
rale, größere Anteil festgekeilt ist. Daher Inzision auf den Stein
von der Scheide aus: Vaginale Ureterolithotomie. Heilung.
Klinisch und zystoskopisch vollkommen gleich ver¬
hielt sich Fall III (Fig. 6). Auch hier vehemente Blasensy'm-
ptome, keine Harnlciterkoliken. Hier wurde bei der 32jähri-
gen Patientin der Versuch gemacht, den Stein mit dem
Litho trib zu fassen und durch sanfte hebelnde Bewegungen
zu extrahieren. Davon mußte abgestanden werden, da höch¬
stens eine Zertrümmerung seines vesikalen Anteiles und
damit eine Erschwerung des weiteren Vorgehens die Folge
gewesen wäre. Doch gelang es nach Dilatation der Urethra,
bimanuell mit einem Finger von der Blase, einem von der
Scheide aus, den Stein aus der umklammernden Papille zu
lösen und mit einer Kornzange zu extrahieren.
Ein zweites für Ureterensteine pathognomonisdhes zy-
stoskopisches Bild beobachteten wir zum1 ersten Male bei
Fall VI (vid. Krankengeschichte), ohne es zunächst deuten
zu können. Der Befund war folgender: Die Blase bot das
Bild einer ziemlich schweren, subakuten, diffusen Zystitis.
Ihre Schleimhaut allenthalben geschwellt und gerötet, Ge-
fäßzeiclmung nur stellenweise angedeutet. Die rechte Ureter¬
papille erschien kaum verändert. Die linke Papille ist nicht
sichtbar. An ihrer Stelle ragt am Ende des Ureterwulstes
ein kegelförmiger, anscheinend solider, nicht durchschei¬
nender Tumor in die Blase, der von glatter, tiefroter Schleim¬
haut bedeckt, an seiner Kuppe eine warzenartige kleine
Erhebung trägt, im ganzen einer Mamma nicht unähnlich.
Veränderungen seines Volumens zeigte der Tumor nicht.
Interessant ist sein spontanes Verschwinden nach kurzer
Zeit. Als hei der zweiten Zystoskopie 14 Tage später au
seiner Stelle die weit klaffende, kraterförmige Ureteren-
mündung sichtbar war, wurde es klar, daß es sich nur um
eine passagere Zirkulationsstörung in der Schleimhaut des
erkrankten Ureters handeln könne. Der Sitz der Steine
war hier juxtavesikal knapp an der Blaseneintrittsstelle des
Ureters.
In einem zweiten Falle (Krankengeschichte IV) be¬
kamen wir dasselbe Bild bei einem höher sitzenden Steine
zu 'sehen. Es persistierte auch nach Entfernung des Steines.
(Fig. 3 und 4.)
Als erstei' beschrieb und deutete Israel diese Ver¬
hältnisse. Auch sonst finden wir sie mehrfach in Literatur-
angaben erwähnt, die gleichzeitig zeigen, daß die Kenntnis
dieser zystoskopischen Bilder wichtig, doch nicht sehr ver¬
breitet ist.
Eskat. entfernte einen solchen „Tumor“ nach Sectio alia
und fand ein Ureterkonkrement als Inhalt, dasselbe tat Freyer
und Pasteau. Neumann diagnostizierte und exstirpierfo einen
solchen Prolaps als Fibrom der Blase.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
271
Während aber in den zitierten Fällen der Stein von
der Blase aus als Inhalt des Prolapses wenigstens erreich¬
bar war, handelte es sielt in einem Falle Fenwicks wie hei
uns um Ureterenprolaps bei hoehsiizendem Stein. Er ex-
stirpierte 'den vermeintlichen papillomatösen Tumor nach
Sectio alta und fand erst bei einer späteren Untersuchung
den Stein.
Zu erklären sind diese „Pseudotumoren“ als echte
Prolapse der Urethralschleimhaut. Wie schon Israel her¬
vorhob, sind in solchen Fällen die Nieren meist infiziert,
der Ureter hochgradig verändert. Dasselbe war bei den
eben mitgeteilten Beobachtungen der Fall.
Andere Veränderungen an der Uretermündung sind
nicht weniger wichtig, jedoch nicht charakteristisch für die
Lokalisation des Konkrementes im Ureter. Wir linden sie
vielmehr genau so bei der Nephrolithiasis. Meist handelt
es sich um punktförmige frische und dann hochrote, oder
ältere Sugiliationen der Schleimhaut und Lazerationen der
Papille, deren Umgebung mehr gerötet ist und die alle Grade
des Oedems, von geringer Schwellung der Ureterallefzen
bis zu den stärksten vorkommenden Formen bullösen
Oedems zeigen kann. Auf diese letzteren Veränderungen
näher einzugehen, erübrigt sich, da sie in einer ausgezeich¬
neten Monographie Fenwicks detailliert beschrieben sind.
Eingeschränkt wird der Wert der Zystoskopie durch
die Tatsache, daß selbst festgekeilte und größere Ureter¬
konkremente, soferne die Harnpassage zum Teil frei ist,
keine Veränderungen an der Papille hervorzurufen brauchen.
Jean brau Imeint zwar: Die Integrität der Papille sei
ein bedeutsamer Anhaltspunkt, um Nieren-Uretersteine aus¬
zuschließen, wir fanden jedoch bei fünf Fällen u. zw. bei
Fall XI, trotz vier Uretersteinen, bei Fall XII, trotz schwe¬
rer Ureteritis und Infektion der Niere vollkommen normale
Papille. In drei Fällen, davon einer operiert, fanden wir
einen sichtbaren Ureterstein; zwei gingen spontan ab. Bei
den anderen operierten Fällen waren mehr weniger
ausgeprägte, aber nicht charakteristische Veränderungen an
der Papille zu sehen.
Der Ureterensondierung als selbständigen Unter¬
suchungsmethode zum Nachweis des Konkrementes kann
kein besonderer Wert beigemessen werden. Jedem geübten
Untersuchter ist es bekannt, wie häufig auch bei ganz nor¬
malen Ureteren die eingeführte Sonde in Falten und Klappen
der Schleimhaut arretiert werden kann, so daß selbst der
wiederholte Nachweis eines Hindernisses an derselben Stelle
nur mit großer Vorsicht zu beurteilen ist, während ander¬
seits trotz des Vorhandenseins eines freien Steines im dik¬
tierten Ureter die Sonde leicht an ihm vorbei ins 'Nieren¬
becken gleitet. Der Verwendung mit Wachs oder Paraffin
imprägnierter Bougies, an denen das Konkrement Rillen
und Abdrücke hinterlassen soll (Kelly) kommt daher nur
historisches Interesse zu. Nur im Fälle der Unmöglichkeit,
ein supponiertes Konkrement radiologisch nachzuweisen,
kämen am besten flexible, aus biegsamen Melallspiral-
schläuchen hengestellte Uretersteinsonden in Betracht,
durch die allenfalls die Berührung des Steines dem Gefühl
und Gehör übermittelt werden könnte.
So entfernte Albarran (Fall III bei Pappa) einen
haselnußgroßen, nahe der Blasenmündung sitzenden Ureter¬
stein, der röntgenologisch nicht dargestellt werden konnte,
jedoch ziemlich charakteristischen zystoskopischen Befund
bot und mit der Uretersondc als Hindernis fühlbar war.
Während die klinische Krankenuntersuchung mit Aus¬
nahme der wenigen Fälle palpabler Steine uns nur bis zur
Wahrscheinlichkeitsdiagnose einer Steinbildung in den obe¬
ren Harnwegen gelangen läßt, die Zystoskopie nur selten
beweisende Veränderungen an der Papille zeigt, die Sondie¬
rung des Ureters endlich den Nachweis eines Hindernisses
kaum je mit der zum operativen Eingriff notwendigen Sicher¬
heit führt, fällt die entscheidende Rolle der Röntgenunter¬
suchung zu. Erst seit sie ein obligater Teil der urologischen,
Krankenuntersuchung in sämtlichen steinverdächtigen
Fällen, sowie bei allen Hämaturien und Pyurien wurde,
konnte die Chirurgie der Uretersteine aus einer klinischen
Rarität zu einem wohlfundierten Kapitel werden.
Den wichtigsten Fortschritt bedeutete hiebei, von der
Vervollkommnung der Technik abgesehen, deren Besprech¬
ung als rein radiologisches Gebiet den Rahmen der Arbeit
überschreiten würde, die heute allgemein anerkannte Regel,
immer den gesamten Harntrakt, beide Nieren,
den Verlauf beider Ureteren und die Blase auf
die Platte zu bringen. Der Fall unserer Beobach¬
tung, der einzige, bei dem wegen des eindeutigen Lokal¬
befundes an der Niere von dieser Regel abgesehen wurde,
illustriert wohl am treffendsten ihre Wichtigkeit. Daß ferner
die Aufnahmstechnik an den Untersucher hohe Anforde¬
rungen stellt und im einzelnen Falle solange untersucht
werden muß, bis technisch einwandfreie, den Nieren-, Psoas-
schatten und die Details des Skelettes klar wiedergebende
Bilder erzielt werden, ist jedem Radiologen bekannt.2)
Jedoch mit der Herstellung eines technisch einwand¬
freien Bildes sind bei Ureterstein verdächtigen Fällen die
Schwierigkeiten nicht überwunden. Es beginnt jetzt erst
der wichtigste, große Aufmerksamkeit und Fachkenntnis er¬
fordernde Teil der Arbeit : Das Lesen der Platte, am besten
eine gemeinsame Arbeit des Radiologen und Urologen.
Schon früher fand man, daß auf Aufnahmen der ßecken-
gegend häufig Schattenrisse sichtbar werden, die mit keinem
Organ in bestimmte Beziehung gebracht werden konnten
und von ihrem ersten Beschreiber, Albers-Schönberg,
mit dem nichts präjudizierenden Namen ,, Beckenflecke“ be¬
zeichnet wurden. lUeber die Natur dieser Gebilde herrschte
lange Unklarheit, bis Robinsohn einen, Teil von ihnen
als Verkalkungen in den liefen Schleimbeuteln ansprach
und ihren Zusammenhang mit ischiadischen Beschwerden
klarlegte, während andere Untersucher, namentlich
E. Fränkel, Goldammer usw. durch Operation gewon¬
nene Gebilde als Phlebolithen erkannten; es sind dies jedoch
nur die häufigsten dieser irreführenden Schattenrisse.
Albers-Sc'hönberg stellte 13, Haenisch kurz
darauf 29 (!) Gruppen von verschiedenen Gebilden zu¬
sammen, die gelegentlich Schatten im Beckenbild geben,
und so Fehldiagnosen veranlassen können.
Man ging daher bald daran, die topographischen Be¬
ziehungen eines fraglichen Schattenrisses im Beckenbilde
zum Ureterverlauf, wo dies irgend möglich ist, durch Ein¬
führung einer röntgenundurchlässigen Sonde oder eines Ure-
terenkatheters mit Mandrin klarzustellen.
Fliebei können sich verschiedene Möglichkeiten er¬
geben. Häufig wird die Sonde durch ein Hindernis arre¬
tiert und die folgende Aufnahme zeigt, daß die Spitze des
Katheters den fraglichen Schattenriß berührt.
Ist jedoch der Stein im Harnleiter nicht fixiert, so
läßt er sich entweder durch die eingeführte Sonde dislo¬
zieren, oder die Sonde läßt sich neben ihm verschieben.
Der erstere Befund beweist mit Sicherheit einen im
Ureterlumen gelegenen Stein und läßt außerdem den Schluß
zu, daß der Ureter bereits dilatiert ist. Wir beob¬
achteten bei unseren Fällen, die stets wiederholt untersucht
wurden, dreimal ein spontanes Wandern des Steines.
Bei drei der operierten Fälle konnten wir die Verschieb¬
lichkeit des Schattens mit der Ureterensonde demonstrieren.
Da das Studium von Fehldiagnosen für unser Thema
von größerer Wichtigkeit ist als die reinsten Serien glück¬
lich diagnostizierter und operierter Uretersteine, lohnt es
sich wohl, auf die diesbezügliche Literatur etwas näher
einzu gehen. ,<
So teilt Voe ekler die Krankengeschichte eines 1 ljährigen
Knaben mit, dessen Anamnese von der klassischen Trias der Stein¬
symptome nur die Blutung vermissen ließ. Koliken und Stein¬
abgang waren vorhanden. Klinisch sprach alles in deutlichster
Weise für eine intermittierende Hydronephrose der linken Seite,
röntgenologisch ist jedoch auf einwandfreier Platte die linke
2) Die Röntgenaufnahmen der Fälle wurden, wo nicht anders
angegeben, im Röntgeninstitute des Spitales von Herrn Dr. Robinson
ausgeführt.
272
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Ni. 8
Seite frei, rechts sind in der Höhe des vierten Lendenwirbeln
drei rundliche Schatten in einer nach der Wirb. Isäule konvexen
Reihe sichtbar, der oberste kirschgroß, die anderen kirschkern-
groß. Bei der Operation erweist sich der Ureter frei, unmittelbar
median vom Ureter liegen drei verkalkte Drüsen.
In einem Falle Reichmanns waren links fünf, rechts vier
wie Kettensteine gelagerte Schatten sichtbar; die Aufnahme mit
Mandrin zeigte, daß die Schattenrisse nicht im Ureterlumen liegen
können. Ebenso verhielt es sich beim Patienten Balls.
Goldammer berichtet in einer Arbeit aus der Klinik
Kümmels über eine trotz exaktester urologischer und röntgeno¬
logischer Untersuchung kaum vermeidbare Fehldiagnose. 34 jäh¬
riger fiebernder Mann mit kolikartigen Schmerzen im Rücken
links. Röntgenologisch: Beide Nieren frei, entsprechend dein
untersten Teile des linken Ureters drei gerstenkorngroße (! ), perl¬
schnurartig angeordnete Schatten. „Am Körper des zweiten Len¬
denwirbels ein auf Spondylitis verdächtiger Herd.“
Rechts gelingt Ureterkatheterismus leicht, links bleibt die
Sonde jedesmal an derselben Stelle stecken. Rechts Indigo nach
15 Minuten positiv, links keine Harnsekretion.
Bei der Operation waren Niere und Ureter frei von Kon¬
krementen, im Beckenbindegewebe lagen drei, in Größe und Form
Getreidekörnchen entsprechende Gebilde, die sich histologisch als
Phlebolithen erwiesen.
Dervaux findet bei zweimaliger Röntgenaufnahme in der
Höhe der linkem Spina iliaca posterior superior einen deutlichen
Schatten, bei der Operation wird der ganze Ureter abgesucht,
aber nichts gefunden.
Bei einem Falle Prousis, lnfroitund Louys führte, wie
bei der Beobachtung Goldammers das Hindernis beim Ureter¬
katheterismus irre. Die herabgekommene Patientin litt an einem
kalten Abszeß der1 Brustwand, Schmerzen in der Unterbauch¬
gegend, häufiger Harnfrequenz und terminaler Hämaturie.
Röntgenologisch: Kleiner scharf er Schatten an der E in-
trittsstelle des Ureters in die Blase, Zystoskopisch: Linker
Ureter normal, rechter Ureter ein großes, klaffendes, von ge¬
schwellten Rändern umgebenes Loch. Die funktionelle Unter¬
suchung ergab eine gesunde linke Niere, rechts eine vorgeschrittene
Pyonephrose. In der- Absicht, den supponierten Ureterstein in einer
2. Sitzung zu entfernen, wurde zunächst die Nephrotomie ausge¬
führt. Exitus sechs Wochen später. Die Autopsie ergab einen
stark dilatierten, in periureteritischen Schwarten eingebetteten
Ureter, jedoch keinen Stein. Unter dem Röntgenschirm gelang
es, am Leichenpräparat zwei reiskomgroße Phlebolithen einer
periureteralen Vene als schattengebende Gebilde herauszupräpa¬
rieren.
In einem zweiten, bei Goldammer mitgeteilten Falle ber
rührte die Spitze der Ureterensonde bei Einführung bis zum
Hindernis genau den fraglichen Steinschatten. Bei der Operation
(Nephrektomie wegen Nephritis apostematosa) kein Stein zu
finden.
Seelig beobachtete eine 34jährige Frau mit Harnbeschwer¬
den, Schmerzen in der rechten Unterbauchgegend, Hämaturie.
Beim Ureterkatheterismus rechts auch hier deutliches- Hindernis.
Positives Röntgenbild: Ein erbsengroßer Steinschatten über der
Linea innominata. Operativer Befund : Chronische Appendizitis
mit kleinem Kotstein, dem Schattenriß- entsprechend.
Aelmliche Befunde- (Enterolithen im Appendix, Uretersteine
vortäuschend) sind von Weisflog und Fittig, Exostosen der
Darmbeine von Köhler, sogar eine Blaudsche Pille als Fehler¬
quelle von Haenisch beschrieben.
Auf Beobachtungen, die bisweilen imstande sind, den Wider¬
spruch zwischen operativem Befund und Röntgenaufnahme auf¬
zuklären, macht Bloch durch die Mitteilung zweier Fälle auf¬
merksam, bei denen kleine Steine, die lange Zeit, bis zu einem
Jahre, im Beckenteil des Ureter's festgekeilt saßen, bei der Opera¬
tion nicht gefunden werden konnten, einige Tage später "aber
spontan entleert wurden. Es läßt sich nicht entscheiden, ob die
Mobilisi-erungsversuche am Ureter, vielleicht auch eine durch
Narkose und Spinalanästhesie erzeugte Aufhebung des Ureter¬
spasmus zur Ausstoßung de-s Steines beitrug oder ob nicht zur
Zeit der Operation der Stein bereits in die Blase- gewandert war.
Jedenfalls ist aus dieser Mitteilung der wichtige Schluß zu ziehen;
möglichst kurze Zeit vor dem operativen Eingriff sich durch
Röntgenicon trolle vom Sitz des Steines zu überzeugen und un¬
mittelbar vor der Operation durch Zystoskopie- das Fehlen
des Steines in der Blase zu erweisen.
Es ist nach dem eben Angeführten unbedingt geboten,
in jedem irgend unklaren Falle die topographischen
Beziehungen zwischen dem- frag liehen Schatten¬
riß und dem Ureterverlauf durch eine Röntgen-
a u f n a h m e bei in den Ureter ein geführte r u n-
durch lässiger Sonde oder Katheter mit Mandrin
klarzustellen.
Wir beobachteten hiebei recht charakteristische Be¬
funde, die meisl zur klaren Deutung des Bildes genügen.
So sahen wir bei der ersten Röntgenaufnahme des
Falles IX (Röntigenskizze I) den Stein in der Nähe der
Linea innominata. Sein verjüngtes Ende war, wie gewöhn¬
lich, blasen wärts, das breitere renal wärts gelagert. Bei der
zweiten Aufnahme lag der Schattenriß nicht nur wesentlich
höher, in der Höhe der Querfortsätze des ersten Lendenwir¬
bels, sondern war um 180° gedreht. In einem solchen
Befund ist nicht nur der sichere Beweis erbracht, daß das
schattengebende Gebilde im Ureterlumen sich befindet, son¬
dern auch, daß der Ureter dilatiert, das heißt,
seine Peristaltik bereits geschwächt und eine
Spontanausstoßung des Konkrements nicht zu
erwarten ist.
In zwei weiteren Fällen konnte eine geringere Ver¬
schiebung des Schattenrisses nach Einführung der Sonde
verzeichnet werden, die im Falle G. mit dem Einsetzen
einer bedeutenden Pyurie einherging.
Besonders hervorzuheben wäre noch ein Röntgen¬
befund bei Fall VIII, der in einer Serie von Aufnahmen
das Herunterwandern von vier Uretersteinen (sogenannten
Kettensteinen) erkennen läßt. Durch fortgesetzte Kontrolle
dieses Falles war es möglich, die eingreifendere Bloßlegung
des Ureters im obersten und untersten Drittel zu ersparen,
die Vereinigung der vier Kettensteine im pelvinen Anteil
abzuwarten und so mit der einfachen Uterolithotomie dieses
Abschnittes auszukommen. (Röntgenskizze II, III, IV.)
Daß jedoch die Aufnahme mit Markierung des Ureters
keineswegs vor Irrtüme-rn schützt, ist klar; deutlich zeig!
dies auch die Beobachtung Goldammers und Voeck-
lers. Wenn nämlich die Spitze des Mandrinkatheters ge¬
rade den fraglichen Schattenriß berührt oder an ihm vor¬
beistreicht, können fälschlich dem Ureter anliegende Ge¬
bilde für Steine in seinem Lumen gehalten werden. Hier
schützt nur eine stereoskopische Aufnahme hei
fixiertem Objekt und verschobener Röhre, die
eine iganz genaue Lokalisation des Schattens ermöglicht.
Schwieriger ist die Entscheidung, wenn sich die Ure¬
tersonde nicht bis zum Schattenriß verschieben läßt, son¬
dern zufällig früher durch eines der besprochenen Hinder¬
nisse gehemmt wird.
ln solchen Ausnahmsfällen wird man wohl bisweilen
zu einer probatorisohen Freilegung des Ureters gezwun¬
gen sein.
Wir waren in einem einzigen Falle gezwungen, eine
explorative Freilegung des Ureters wegen Steinverdacht aus¬
zuführen, nachdem bei demselben Patienten kurze Zeit vor¬
her die Niere der anderen Seite aus demselben Grunde
Gegenstand eines operativen Eingriffes war.
Fall I. E. .1., 57jährig-er Kaufmann.
Der früher stets gesunde Patient erkrankte vor zehn Jahren
mit Schmerzen im Rücken, die gleichmäßig dumpf anhielten,
ihn nicht besonders quälten und von vielen behandelnden Aerzten
für Rheumatismus erklärt wurden. Keinerlei Symptome von
s-eiten des Urogenitaltraktes, Ausstrahlen der Schmerzen gegen die
Schulterblätter; Harn immer klar.
Vor sechs Monaten heftige- Kolik in der linken Oberbauch-
ge-gend. Der sehr intelligente Patient zeigt auf zwei Druckpunkte,
links vom Nabel und hinter dem Rippenbogen, wo die Schmerzen
beginnen und quer durch dear Bauch gegen die Blase,
in die Glans penis und den linken Oberschenkel aus¬
strahlen. Während des Anfalles, der oft zwei Tage dauert,
läßt er sehr weinig, nach demselben sehr viel Harn. Oft ist der
Anfall von Erbrechen und Magenkrämpfen begleitet. Ruhe wirkt
günstig ein, Bewegung steigert die Schmerzen. Nie Hämaturie.
Pat. weist eine gelungene, in Konstantinopel angefertigte
Röntgenkopie vor, die einen sehr dichten, auch deutlich
begrenzten Schatten im medialen Anteil der linken
Niere zeigt. Zur Operation dieses Steines kömmt Pat. nach
Wien.
Status praesens: Ohne wesentlichen Befund.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
278
Hain: 24stündige Menge 1000 cm, 1-025 sauer, Nukleo-
und Serumalbumen fehlt. Harnstoff 22%o, Chloride 14-4%o. Im
Sediment ganz vereinzelte Leukozyten und Epithelien.
Die Röntgenuntersuchungen wurden wiederholt und es fand
sich ein Schatten im medialen Anteil der Niere, an den deutlich
die eingeführte Röntgensonde heranzieht. Der Schatten ist bei
technisch vollkommenem Bilde nicht so deutlich begrenzt und dicht
wie bei der Konstantinopler Aufnahme. Dem Befunde Dr. Robin-
sohns ist beigefügt: Nach Form und Größe würde eher ein ver¬
kalkender Parenchymprozeß als ein Konkrement anzunehmen sein.
Rechts ist in der Höhe der Synchondrosis sa-
croiliaca der Schatten eines bohnengroßen dichten
Konkrementes zu sehen. Die Sonde reicht nicht bis
an diesen Schatten heran, sondern ist nur 3 bis 4cm
in den Ureter vor schiebbar und wird dann arretiert.
Am 19. Februar' wurde durch einen typischen Schnitt die
linke Niere freigelegt. Luxation der Niere vor die Wunde. Das
Nierenparenchym erscheint normal, das Nierenbecken frei. Auch
nach Spaltung der Niere kann nirgends ein Stein oder
Verkalkungsherd gefunden werden, nur reichlich ins
Becken gewuchertes Hilusfett.
Nach vollkommen normalem Wundverlauf klagt der Patient
'.läufig über Schmerzen in der rechten Kreuzbeingegend. Die aber¬
malige Röntgenuntersuchung bestätigt das Vorhandensein des Kon¬
krementschattens.
Es wird daher am 17. März der rechte Ureter durch einen
leicht konvexen Schnitt parallel dem Darmbeinkamm freigelegt.
Derselbe ist vollständig normal, zart, nicht dilatiert. Ls wird
so ziemlich die ganze Länge des Ureters abgetastet, ein Konkre¬
ment kann aber nirgends gefunden werden. Der Ureter wird daher
nicht eröffnet, sondern die Wunde durch Etagennaht vollständig
geschlossen. Normaler Wundverlauf, Entfernung der Nähte am
24. März, Wunde geheilt.
Patient wird zu- einer Heißluft- und Bäderbehandlung ent¬
lassen.
Epikrise: Der Fall wies eine Reihe klinischer Symptome
auf, die stets für Herderkrankungen der Niere charakteristisch
gelten: Ausstrahlen der Schmerzen gegen die Blase, Glans penis,
in den Oberschenkel. Der Röntgenbefund ließ einen Verkalkungs¬
herd des Parenchyms oder einen Stein der linken Nierei mit
größter Wahrscheinlichkeit annehmen. Die Sektion der Niere
bot keine Erklärung für diesen Schatten, es sei denn, daß etwa
pathologisch verändertes, reichlich im Nierenbecken gewuchertes
Fettgewebe im Röntgenbilde einen Steinschatten vor täuschen
könne, was erst zu untersuchen wäre.
Viel präziser war der hier in Betracht kommende Befund
am rechten Ureter. Seiner Form, Lage und Größe nach konnte
nur an einen Enterolithen (etwas zackiger Rand, helleres Zen¬
trum) oder an einen Ureterstein gedacht werden. Der ausschlag¬
gebende Son denversuch mißlang, da der Ureterenkatheter nicht
bis zum supponierten Konkrement vorgeschoben werden konnte.
Daher die explorative Freilegung des1 Ureters. Der Ureter erschien
vollkommen normal, zartwandig, nicht dilatiert, seine Eröffnung
unterblieb.
Sehr bemerkenswert erscheint das konstante Fehlen
von Erythrozyten im Harnsediment. Ein Beweis für die kli¬
nische Verwertbarkeit der „mikroskopischen“ Hämaturien.
Fassen wir nochmals die Fehlerquellen der Röntgen¬
untersuchung hei Steinen im Beckenteile zusammen, so
können wir Phlebolithen, E n t e r o 1 i t h e n und D r ü s e n-
verkalkungen an die erste Stelle setzen.
Wir können ferner feststellen, daß „Beckenflecke“ viel
häufiger doppelseitig und wesentlich häufiger multipel sind
als Ureterensteine, die nach Jeänbreaus Zusammenstel¬
lung in 96% einseitig, in 90% solitär auftreten. Der ty¬
pische Sitz der , Beckenflecke ist der kreissegmentförmige
Raum zwischen der Spina ossis ischii und der Symphyse.
Hier pflegen sie, wenn multipel, perlschnurartig in ziem¬
licher Entfernung voneinander in einem nach außen kon¬
vexen Bogen angeordnet zu sein, während Ureterenkonkre-
mente in diesem Abschnitte weit mehr medial liegen und
multiple Ureterenkonkremente (Keltensteine) „schließen1 .
Besondere Vorsicht wird bei der Beurteilung mul¬
tipler, kleiner, im Gegensatz zu ihrer Kleinheit scharf¬
umgrenzter Schattenrisse notwendig sein.
Sowohl Goldammers wie Voecklers Fäll war ge¬
wiß schwer zu deuten, aber unter diesem Gesichtspunkte
denn doch von der Operation auszuschließen.
Jeder irgendwie fragliche Schattenriß ist bei einge¬
führter Ureterensonde zu untersuchen, womöglich mit stereo¬
skopischer Aufnahme.
Während wir bisher sahen, daß die Röntgenplatte
uns eher zuviel zeigt, kann es in Analogie mit ähnlichen
Verhältnissen bei Nierensteinen auch Ureterkonkremente
geben, die röntgenologisch nicht darstellbar sind.
So entfernte Steward einen 125 mm langen reinen Harn¬
säurestein aus dem rechten Ureter, der röntgenologisch nicht dar¬
stellbar war. Die Diagnose stützte sich bei negativem zysloskopi-
schen Befunde vornehmlich auf die charakteristisch subjektiven
Beschwerden.
Ebenso war in einem bereits zitierten Falle A lbarra ns
der nahe der Blasenmündung sitzende haselnußgroße Ureterstein
auf der Platte nicht zu finden.
Ist mau einmal gezwungen, bei negativem Röntgen¬
befund ein Ureterkonkrement zu suchen, dann wird, wie
vor der Röntgenära, der Israelsche Schnitt, der die Ab¬
tastung des Ureters vom Nierenbecken bis zur Blase ge¬
stattet, in Anwendung kommen. Meist wird wohl eine der
Untersuchungsmethoden wenigstens ungefähr eine Lokal¬
diagnose gestatten und so ein direkteres Vorgehen auf den
supponierten Stein ermöglichen. Wir möchten besonders
darauf aufmerksam machen, daß die extraperitoneale Blo߬
legung des Ureters ein gewiß ungefährlicher und leichter
Eingriff ist. Findet man ihn dilatiert — wir haben
seine Dilatation niemals vermißt — dann muß
nach dem Steine getastet, eventuell durch Inzi¬
sion des Ureters, durch Einführung einer flexi¬
blen Sonde,, sein Lumen abgesuCht werden. Ist
der Ureter hingegen nicht dilatiert, dann liegt auch kein
Konkrement vor und die Wunde kann rasch wieder ge¬
schlossen werden.
Die Operation der Wahl bei Steinen im Beckenanteile
des Ureters ist die extraperitoneale Ur e ter olitho-
tomie. Da die Arbeit J e an braus und Alb arr ans „Chirur¬
gie operative de voies urinaires“, vorzügliche, jeden Akt der
Operation deutlich illustrierende Abbildungen bringt, er¬
übrigt sich ein genaues Eingehen auf Technik und ein¬
zelne Phasen. Wir legen den Hautschnitt ein bis zwei
Querfinger oberhalb der Spina anterior superior beginnend,
leicht bogenförmig und dem Poupartschen Bande parallel
im untersten Abschnitt in der Mittellinie bis zur Symphyse
führend an. Die Bauchmuskeln werden scharf durchtrennt,
das nunmehr freiliegende Peritoneum • wird mit breiten
Schaufelspateln medianwärts abgehoben. An dieser me¬
dianen Peritonealfläche, mit ihr durch lockeres
Zellgewebe verbunden, ist der bei Anwesen¬
heit eines Steines stets dilatierte Ureter sofort
sichtbar. Der früher genau lokalisierte Stein wird durch
Abtasten sichergestellt, auf ihn mit dem Skalpell eine ent¬
sprechende Längsinzision des Ureters gemacht, durch die
der Stein leicht entbunden wird. Naht des Ureters mit
feinsten Katgutknopfnähten in einer Schicht. Das para-
ureterale Gewebe nicht gesondert nähen (Garre). Lockere
Drainage der Nahtstelle und vollständige Naht der Muskel¬
hautwunde bis auf den drainierenden Gazestreifen be¬
schließen den einfachen Eingriff. Vor langen Drainrohren
ist wegen der Möglichkeit eines Dekubitus an der vom
Ureter gekreuzten Arteria iliaca externa (Moszkowicz:
Anna! es of Surgery 1908) besonders zu warnen. Eine Drai¬
nage des genähten Ureters mittels Katheter Nr. 12 bis 15,
wie sie Albarran empfiehlt, ist. meist überflüssig, wir
wandten sie nur einmal an.
Der schwierigste Akt ist das Aufsuchen und die Fixa¬
tion des tiefsitzenden Steines. Fünfmal unter unseren Fällen
mußte von einem Assistenten von der Vagina, resp. vom
Rektum her der unterste Ureterabschnitt ins Wundbereich
gehoben werden. Beim ersten operierten Fälle gelang es
erst bimanuell mit einer Hand von der Peritonealhöhle
aus, mit der anderen extraperitoneal den tiefsitzenden Stein
zu fassen.
Erdmann, Gibbon, Fenwick, Morris u. a. haben
so operiert, doch ist dieses Vorgehen nicht als Normal-
274
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
verfahren, sondern nur dann berechtigt, wenn der Eingriff
unter falscher Diagnose als Laparotomie begonnen und von
einem zweiten Sclhnitt aus a,ls Ureterolithotomie beendet
wird. Sonst sind wohl sämtliche Steine bis zur Eintritts¬
stelle des Ureters in die Blase durch die extraperitoneale
Freilegung des Ureters zugänglich.
Anders ist dies bei ßlasenureterensteinen oder
intramuralen Konkrementen, die entweder per ure-
t.hram bei der Frau oder nach Sectio alta und Einkerbung der
Papille zu entfernen sind, in erster Linie aber ein gutes Ver¬
suchsobjekt für die konservativen Methoden der Glyzerin¬
injektion und der Dehnung des Ureterostiums abgeben.
Wenn wir jedoch in Betracht ziehen, wie überraschend fest
solche Konkremente eingekeilt sein können und wie in den
beiden ersten hier mitgeteiiten Fällen von pilzförmigen
Steinen der Ureterpapille selbst die digitale Extrak¬
tion auf größte Schwierigkeiten stieß, werden wir die
Hoffnungen, weiche sich auf diese Methoden stützen, nicht
zu hoch werten. In jüngster Zeit mehren sich die Vor¬
schläge, papillär und intramural sitzende Konkremente
durch endovesikale operative Eingriffe zu entfernen.
Diesen kommen mehr Chancen zu. Wolff konnle in einem
der Skizze 1 ähnlichen Falle den tumorartigen Prolaps mit
dem Blasenkauter abtragen und so den Stein befreien,
Bransford- Levis benützt eine biegsame Ureterzange mit
abgerundeten Löffeln, die er selbst bei offenem Vorschieben
in den Ureter für ungefährlich hält und die ihm die Ex¬
traktion eines kleinen Konkrementes aus der Papille er¬
möglichte.
Auszüge aus den Krankengeschichten.
fall II. J. J., 35jähriger Mann, aufgenommen 2. Mai 1908.
Vor drei Jahren mit linkseitigen, oft mit Schüttelfrösten und
Fieber verbundenen Koliken erkrankt. Harn bisweilen leicht blutig.
Röntgenuntersuchung ergab damals einen bohnengroßen
Schatten im linken Nierenbecken (1905). Am 7. November 1906
Konkrement tiefer gelagert. Patient kann sich zur vorgeschlagenen
Operation nicht entschließen.
Seit Dezember 1907 häufiger, impetuöser Harndrang und
Schmerzen in der linken Unterbauchgegend, gegen den Hoden aus¬
strahlend, Kolik mit Erbrechen und Fieber. Röntgenuntersuchung
zeigt das Konkrement an der Mündungsstelle des linken Ureters.
Zy stoskopie: Beide Ureteren in stark ödematöser Um¬
gebung. Am 19. Mai: Operation (Prof. Zucker kan dl): Me¬
diane Laparotomie. Der Stein ganz in der Tiefe, knapp an der
Blase eingekeilt, tastbar, ohne Möglichkeit, ihn zu mobilisieren.
Darauf typischer Schnitt zur extraperitonealen Ureterolithotomie.
Erst bimanuell, mit einer Hand intraperitoneal, mit der zweiten
extraperitoneal, gelingt es, den Stein zu heben, auf ihn ein¬
zuschneiden und ihn zu extrahieren. Schluß beider Wunden bis
auf Gazestreifen und Drainrohr.
Normaler Wundverlauf. 22. Juni mit klarem Harn be¬
schwerdefrei entlassen.
Epikrise: Intramural sitzender Stein nach extra¬
peritonealer Ureterolithotomie kaum mobilisierbar.
Das kombinierte Verfahren bot hier günstige Chan¬
cen. Aehnliche Fälle bei Erdmann, Morris, Gibbon
und F en wi ck.
Fall III. 24jähriger Mann (Privatfall).
Vor sechs Jahren kolikartige Schmerzen in der rechten Unter-
bauchgegend. 1907 Appendektomie. Lange wegen Urethritis
und Prostatitis behandelt. Einmal deutliche Hämaturie, nachher oft
solche angedeutet.
Zy stoskopie: Vollkommen normale Blase. Ureterkathe¬
terismus, beiderseits, normaler Harn. Ein zweites Mal findet der
Ureterkatheterismus rechts nach 3 cm ein Hindernis.
Röntgenuntersuchung (Dr. v. Schmarda): Stein¬
schatten in der Höhe der Synchondrosis sacroiliaca.
Operation am 15. Juni 1908 (Prof. Zuckerkandl) :
I ypische extraperitoneale Ureterolithotomie. Auf Daumendicke
erweiterter, stark geschlängelter Ureter. Vollständige Naht.
Epikrise: Appendektomie bei Ureterstein.
Fall IV und V. (Privatfälle.) (Siehe Abbildung.) Klinisch
und operativ typische Fälle mit glatter fistelloser Heilung in 12,
resp. 15 Tagen.
Fall VI. M. R., aufgenommen 22. Juni 1909.
Vor 20 Jahren Koliken in der rechten Nierengegend, mit
Sandabgang, einmal Hämaturie. Nach Karlsbader Kur Pause bis
vor fünf Jahren. Seither fast wöchentlich Schmerzanfälle in
der Nierengegend beginnend, gegen die Blase, Penisspitze und
ins Rektum ausstrahlend.
VIII. VI. VH. IX.
Die Zahlen beziehen sich auf die mitgeteiiten operierten Fälle.
Harn: Dunkelgelb, 1-021, leicht getrübt, sauer.
Zystoskopie: Blase, Uretermündung normal.
Röntgenuntersuchung zeigt den scharf konturierteu
Schattenriß eines spitzspindeligen, zirka 1 cm langen Konkre¬
mentes im Beckenanteil des Ureters.
26. Juni: Typische Ureterolithotomie. Ureter in seiner Wand
verdickt, auf Fingerdicke erweitert. Tiefsitzender Stein, der nach
oben in das Wundbereich verschoben wird. Heilung per primam.
Epikrise: Diagnostisch einfacher Fall, jedoch
keine Symptome eines tief sitz enden Steines. Nieren¬
koliken anamnestisch eruierbar. Klarer Röntgen¬
befund. i . , ,
Fall VII. K. B., 26jährige Frau.
Plötzlicher Beginn der Erkrankung vor vier Monaten mit
heftigen, vom Unterbauch nach aufwärts gegen die
linke Lende ausstrahlenden Schmerzanfällen, Erbrechen und
hohem Fieber. Seither wöchentlich heftige Koliken, im Intervall
vollkommen beschwerdefrei. Miktionsfrequenz unwesentlich ver¬
mehrt. Palpationsbefund negativ, bis auf mäßigen Druckschmerz
in der linken Nieren- und Uretergegend.
llarn: 1-020, sauer, strohgelb, trübe.
Albumen in deutlichen Spuren.
Sediment: Leukozyten, Blutschatten, einzelne frische Ery¬
throzyten, Bacterium coli in Reinkultur.
Zystoskopie: Die linke Uretermündung springt
— tumorartig geschwellt — in der Form einer eie- |
vierten M am ill a ins Blasenlumen vor. Die Schwel¬
lung ist nicht durchscheinend, Kontraktionen der
Uretermündung und Harnausscheidung nicht zu
sehen, auch nicht nach Indigo. Rechter Ureter und Blase normal, i
Röntgenuntersuchung: An der Mündungsstelle des
linken Ureters ein in Form und Größe der Abbildung entspre¬
chender Konkrementschatten.
Operation am 9. Februar (Prof. Zuckerkandl): Der
Ureter auf Fingerdicke erweitert, in Fettgewebe gehüllt, ln seinem
Beckenanteil, etwa einen Zentimeter vor der Einmündungsstelle
in die Blase das Konkrement fühlbar, das leicht nach oben dis¬
loziert wird. Uebliche Wundversorgung, glatter Verlauf, Heilung
per primam.
Eine am 2. März vorgenommene Zystoskopie zeigt die Ver¬
änderungen der linken Uretermündung noch persistierend. Der
Harn ist leicht getrübt, enthält massenhaft Kolibazillen. Pa¬
tientin ist vollkommen beschwerdefrei. ■
E p i k r i s e : Die ersten klinisch markanten Sym¬
ptomewaren, wie im Falle VI, die der Retention und
Infektion des Harnleiters und Nierenbeckens (Zysto-
Ureter o - Pyeli t i s), deren spontanes Abklingen nach
Entfernung des Hindernisses zu erwarten ist. Auch
hier vom Ureter gegen die Niere aus s tr ah 1 ende
Schmerzen (ur etero-r enaler Reflex). Tumorartiger
Prolaps der Ureterschleimhaut bei relativ hoch¬
sitzendem S t e i n.
Fall VIII. A. E., 28jährige Frau. 3. Februar 1909 bis 15. März
1909. Operation am 16. Februar 1909.
Vor sechs Jahren Sturz von einem Sessel auf die Lenden¬
gegend, nachher durch einige Tage blutiger Urin. Seit dieser Zeit
bisweilen schmerzhafter Harndrang und Krämpfe in der Unter¬
bauchgegend. Operation einer Retroflexio uteri bleibt
ohne Einfluß auf die Beschwerden. Seit zwei Monaten gehäufte
Schmerzanfälle, die als Koliken in der rechten Unter-
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
275
bauchgegend beginnen und nach der rechten Lenden¬
gegend ausstrahlen, dabei Erbrechen. Bisweilen blutige
Flocken im Harn. Steigerung der Beschwerden nach körperlicher
Bewegung.
Status praesens verzeichnet Druckempfindlichkeit der
beiden Nierengegenden, sonst normaler Befund.
Harn: Rötlichgelb, trübe, 1-026, sauer.
Albuinen in Spuren.
Sediment: Zahlreiche, gut erhaltene Leukozyten, zahl¬
reiche frische und ausgelaugte Erythrozyten. Die klinische Dia¬
gnose lautete auf Konkrement in den oberen Hamwegen.
Röntgenuntersuchung (Dr. Robins ohn) am 5. Fe¬
bruar: In der rechten Spinagegend projizieren sich zwei Schatten,
von denen der eine sicher ein Beckenfleck ist, der andere nicht
mit Sicherheit als Konkrement angesprochen werden kann. Es
wurde daher am 7. Februar ein mit Mandrin armierter Katheter
Nr. 8 in dem rechtem Ureter eingeführt; derselbe bleibt jedoch
in einer Höhe von ca. 5 cm stecken. Ein Katheter Nr. 6 läßt
sich nach Ueberwindung eines geringen Widerstandes hoch hinauf
führen.
Die hierauf vorgenommene Röntg en o g rap h i e
zeigt den deutlich sichtbaren, bis ins Nierenbecken
geführten Mandrin und neben diesem in der Höhe
der Synchondrosis sacroiliaca den Schattenriß des
bei der ersten Aufnahme nicht, sicher erkennbaren
Konkrementes, das durch die Manipulation mit dem
Katheter um einiges gehoben und in seiner Lage ver¬
ändert wurde, so daß die früher nach a b w ä r t s gerich¬
tete Spitze nun nach aufwärts zeigt.
Operation (Prof. Zuckerkandl) am 16. Februar: Die
Freilegung des in seiner Wand ein wenig verdickten, in seinem
Lumen erweiterten Ureters erfolgt in der typischen Weise. Er wird
von der Wunde aus in seinem ganzen Verlauf bis zur Blase ab¬
getastet, jedoch läßt sich nirgends ein Konkrement palpieren.
Erst nachdem ein Assistent von der Vagina aus den Blasen¬
boden näher ins Wundbereich hebt, kann das im juxtavesikalen
Abschnitte des Ureters, knapp vor der Blase sitzende Konkrement
nach oben verschoben werden. 3 cm lange Längsinzision auf
den Stein, Extraktion des Steines, einschichtige Naht des Ure¬
ters mit feinsten Katgutknopfnähten. liebliche Versorgung der
Wunde. Nach glattem, nur durch eine Bronchitis gestörtem Ver¬
lauf wird Patientin am 12. März beschwerdefrei mit völlig klarem
Harn entlassen.
Der Fall lehrt die- Notwendigkeit wiederholter
Röntgenuntersuchungen bei unklarem Befund. Er
zeigt die größeren technischen Schwierigkeiten der
Operation bei sehr tief sitzenden und kleinen Stei-
nien. Die durch das Konkrement bedingte Uretero-
pyelitis heilt nach der Operation spontan aus. Die
S c h m e r z a n f ä 1 1 e strahlen von der Unterbauchgegend
gegen die Lende aus:.
Fall IX. St. W., 50 jähriger Buchhalter. 8. Januar 1909.
Patient war bis vor siebein Wochen vollständig gesund.
Am 25. September 1908 erkrankte er auf einer Reise plötzlich
mit Schüttelfrost, hohem Fieber, Appetitlosigkeit und starkem
Durstgefühl. Er hatte Schmerzen im ganzen Bauch, namentlich in
der linken Seite, mußte in halbstündigen Pausen urinieren, der
Harn war trübe und blutig. Nach Wien zurückgekehrt, wurde
er mit Verweilkatheter und Blasenspülungen behandelt, bis die
anfangs sehr geringe Kapazität der Blase sich bessert und Ende
Dezember eine Zystoskopie ermöglichte. Dieselbe zeigt, eine dif¬
fuse subakute Zystitis und einen bohnengroßen, in der Gegend
der nicht sichtbaren linken Ureterenmündung vorspringenden so¬
liden Tumor.
Am 8. Januar 1909 erfolgt die Aufnahme des Patienten ins
Rothschild-Spital.
Status praesens: Mittelgroßer, schwächlicher Mann.
Lungenbefund normal, Temperatur 37-9°. Zunge trocken. Abdomen
im Niveau des Thorax, Bauchdecken gespannt, Nieren palpabel,
Lendengegend beiderseits druckempfindlich, nirgends eine Resi¬
stenz nachweisbar.
Harnbefund: 1-007, diffus1 getrübt, hellgelb, sauer. Al¬
bumen positiv, im Sedimente massenhaft einzeln liegende Leuko¬
zyten. wenige Blasenepithelien und Tripelphosphatkristalle.
Ophthalmoreaktion: negativ.
Am 11. Januar wurde die Zystoskopie wiederholt. Von
einem gegen die Blase vorspringenden Tumor ist nichts zu sehen,
der linke Ureter ist von ödematös-zapfigen Exkreszenzen um¬
geben, sein Lumen weit klaffend, zeigt keine Kontraktionen. Der
rechte Ureter normal, schlitzförmig.
Da die Sondierung des linken Ureters nicht gelingt, der
Katheter nur etwa lern sich vorschieben läßt, wird ein Lu ys scher
Separator eingeführt.
H a r n b e f u n d :
R.
sauer
goldgelb, klar
6-24'Voo
8'Voo
äußerste Spuren
einige Erythrozyten und
Epithelien
nach 10 Minuten positiv
Reaktion
Farbe
Chloride
Harnstoff
Albumen
Sediment
Indigokarmin
L.
neutral
grünlichgelb, dicht getrübt
4%o
2°/
^ loo
deutlich +, über 01°/00
massenhaft Eiterzellen,
isoliert und in dichten
Pfropfen
nach 25 Minuten keine
Blaufärbung
Durch Miese Untersuchung schien der Fall aufgeklärt. -Die
Diagnose lautete:
Linkseitige Eiterniere und Ureteritis, rechte
Niere geringe toxische Albuminurie, doch normale Funktion.
Unaufgeklärt blieb nur die Ursache der hochgradigen Urete¬
ritis, da. eine tuberkulöse Pyonephrose, bei der sie beobachtet
wird, nach dem Ausfall der Ophthalmoreaktion und der Sediment¬
färbungen ausgeschlossen wurde. Aus diesem Grunde wurde noch
die Röntgenuntersuchung angeschlossen; diese ergab zwei
etwa trapezförmige Steinschattenrisse im untersten
Abschnitt des Ureters.
Operation am 16. Januar (Prof. Zuckerkandl): Großer,
bogenförmiger Hautschnitt an der Spina anterior superior begin¬
nend, dann parallel dem Ligamentum Pouparti. Schichtenweise
Durchtrennung der Bauchdecken bis ans Peritoneum. Stumpfe
Abdrängung desselben, bis die Vasa iliaca bloßliegen. Nunmehr
sieht man den fast auf D ick dar m breite erweiterten, in seiner
Wand stark verdickten Ureter, in dessen unterster Partie man die
Steine tastet.
Der Ureter wird stumpf aus seinem Bette gehoben, hierauf
zwischen zwei Pinzetten längsinzidiert, wobei sich eine große
Menge stark eitrig getrübten Harnes entleert. Hierauf werden mit¬
tels Steinzange die zwei in Form und Größe genau dem Röntgen¬
bilde entsprechende Steine entbunden. Die Ureterwunde wird
vollständig durch Naht geschlossen, ein Drainrohr und ein Gaze¬
streifen a:n die Nahtstelle.
22. Januar: Kürzung des Streifens. Reichliche Sekretion
aus1 der Wunde.
23. Januar: Nähte und Streifen entfernt.
25. Januar: Aus der Wunde entleert sich reichlich getrübter
Harn.
Bisher war die Temperatur normal, von nun ab abendliche
Temperatursteigerungen (38-5° Maximum.) bis zum 13. Februar.
In der Nacht vom 12. bis 13. mehrmals heftiges Erbrechen.
Spontane Harnmenge in dieser Zeit kaum 10 cm3. Es wird ein
stärkeres Drainrohr in die Wunde geleitet, aus dem sich im
Strahle ca. 50 cm3 Harfn entleeren, dem einige Tropfen dicken
Eiters folgen. Spontanharn in normaler Menge. Aus der be¬
stehenden Ureterenfistel wird von nun ab der gesamte Harn der
linken Niere geleitet.
Entfernte man das Drainrohr, so bekam Pat. Schmerzen
in der Uretergegend. Er wurde bei dreimal wöchentlichem Wechsel
des Drainrohres bis zum 1. Mai im Spitale belassen und dann
mit einem Harnre'zipienten und drainierter Ureterenfistel entlassen.
LTnter weiterer ambulatorischer Behandlung konnte das
Drainrohr gegen immer dünnere gewechselt werden, bis sich Ende
Juni die Fistel vollständig schloß. Der Harn klärte sich all¬
mählich; heute ist Pat. völlig beschwerdefrei. Eine am 2. No¬
vember vorgenommene Zystoskopie zeigte den an¬
fangs gesehenen tum or artigen Prolaps der Schleim¬
haut des linken Ureters noch persistierend.
E p i k r i s e : Der Fall ist in mehrfacher Hinsicht
interessant und ve1 r dient, eine e i n g e h e n d e re Besnre
chung. Der Kranke bot niemals Erscheinungen dar,
die auf eine Konkrementbildung in den Harnwegen
schließen ließen. Die Erkrankung beginnt vielmehr
plötzlich unter den Symptomen der Okklusion einer
Eiterniere. Dieser Befund, zusammengehalten mit
der eigentümlichen Form der stark abgeschliffenen,
in der divertikelartigen Aussackung des intramura¬
len Ureterenabschnittes liegenden Steine,, lassen
vielleicht die Deutung zu, daß es sich um nrimär'e
Steinbildung im Ureter mit konsekutiver Hydro-Pyo-
nephrose handeln könnte. Bei der außergewöhn¬
lichen Schädigung, die den Ureter und die Niere in
diesem Falle betraf, kann es weiter nicht wundej-
n eh men, daß eine Ureterenfistel durch lange Zeit
276
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
bestehen blieb, die sich schließlich spontan und voll¬
ständig schloß. Sehr bemerkenswert ist endlich die
beträchtliche F u n k t i on s'bes seru ng der k rank e n N i c r e
nach Entfernung des lokalen Hindernisses. Es be¬
stand die Befürchtung, daß es schließlich doch zur
Entfernung der kranken Niere werde kommen müs¬
sen; derzeit ist der Kranke vollständig beschwerde-
frei und keine Indikation z u r N ep h r ek t o m i e g e g e b e n .
X.
XI H
XIV.
Fall X. R. R., 20jährige Frau. 6. August bis 29. Septem¬
ber 1908.
Seit dem achten Lebensjahre krampfartige, von der linken
Unterbauchgegend ins Kreuz ausstrahlende Schmerzen. Nie Mik¬
tionsbeschwerden, nie Hämaturie. Im Anfalle heftiges Erbrechen
und Kopfschmerzen. Bisher als magenkrank behandelt. Vor einem
halben Jahre in Kairo unter der Diagnose Nephrolithiasis, an¬
geblich wurde nicht röntgenisiert, Bloßlegung der linken Niere.
Doch wurde kein Stein gefunden.
Seither starke Zunahme der Beschwerden, Miktionspausen
wesentlich kürzet.
Harn: 1-020, trübe, schwach sauer. Im Sediment massenhaft
Leukozyten, einzelne Erythrozyten.
Zystoskopie und Tjreterkatheterismüs: Blase und
rechte Ureterenmündung normal, linke in geröteter Umgebung.
Ureterenkatheter stößt links nach 4 cm auf ein Hindernis!. Niere
rechts normal, links starke Funktionsschädigung.
Röntgenuntersuchung: Einwandfreier Befund eines
olivengroßen und -förmigen Steines an der Stelle des Hindernisses.
6. August : Typische Operation (Prof. Zuck erk an d l) : Ureter
auf Daumendicke erweitert, Stein leicht zu tasten und zu extra¬
hieren. Heilung per -primam.
Fall XI. E. II., 34jährige Frau. 23. Oktober 1909.
Seit fünf Jahren Schmerzen in der Blasengegend, nament¬
lich bei Bewegungen. Der Harn ist trüb, keine Hämaturie, zwei¬
stündige Miktionspausen. Seit zwei Monaten heftige Schmerz¬
attacken in der linken Nierengegend, einmal Fieber und Hämaturie.
In der letzten Zeit Anfälle fast täglich, oft mit Fieber und Er¬
brechen.
Harn: 1-011, bei 1200 cm3 24stündiger Harnmenge, sauer,
goldgelb, getrübt.
Sediment: Leukozyten, Erythrozyten, Eiterpfropfe und
Blasenepithelien.
Zystoskopie: Blase und Ureterenmündung normal.
Die Nierenfunktionsprüfung ergibt:
Rechte Niere normal, links außerordentlich diluierter, in
ununterbrochener Tropfenfolge, bei Druck auf die Niere rascher
ausströmender Harn von 1-002 sp. G. ; sehr geringer Harnstoff¬
und Chloridgehalt.
Röntgenuntersuchung: Dieselbe zeigt in wiederholten
Aufnahmen an drei aufeinanderfolgenden Tagen den Deszensus
von vier gut kirschgroßen Konkrementen in das Endstück des
Ureters. (Siehe Skizze.)
Operation: Typische Ureterolithotomie. Konkremente
leicht tastbar. Ureter auf Daumendicke erweitert. Heilung
per primam.
Spezifisches Gewicht des Harnes schon am 9. November
auf 1-016. Hamstoffgehalt auf ll-5%o, Chloridgehalt auf 9-2°/oo
gestiegein.
Epikrise: II refer dilatation, Hy dronephrose.
Während nach dem ersten Röntgenbefunde drei
Steine im obersten Drittel und einer im Beckenteile
des Ureters saßen, somit eine Freilegung des ganzen
Ureters zur Entfernung der Steine notwendig ge¬
wesen ’wäre, konnte durch das Zuwarten der Deszen-
Fig. 5. Fig. 6.
Ureterenkatheter mit Mandrin.
Fig. 7. Fig. 8.
Fig. 5, 6 u. 7. Röntgenskizzen zu Fall XI. Abwärtswandern von Ketten¬
steinen. Operation bei Stellung der Steine wie in Fig. 7.
Fig. 8. Röntgenskizze zu Fall XII. a) Stellung des Steines am 28. Ok¬
tober; b) zur Zeit der Operation am 16. Dezember (günstigere Position).
sus sämtlicher Steine in den untersten Ureter¬
abschnitt festgestellt und hiedurch der operative
Eingriff wesentlich vereinfacht werden.
Fall XU. ,1. G., öOjähriger Mann.
Der Patient kam zum erstenmal im Jahre 1907 wegen ty¬
pischer renaler Koliken ohne Hämaturie und ohne Miktions-
stö rangen zur Untersuchung, die seit seinem zehnten Lebens¬
jahre bestanden und in letzter Zeit an Intensität so Zunahmen, daß
sie nur durch hochdosierte Morphiuminjektionen bekämpft werden
konnten. Als Ursache dieser Koliken wurde ein maulbeerförmiger
Oxalatstein der linken Niere röntgenologisch nachgewiesen, ln
die vorgeschlagene Operation willigte Patient erst zwei Jahre
später ein, nachdem die Intervalle zwischen den Koliken immer
kürzer wurden. Am 24. Juni 1909 wurde nach Wiederholung
des Röntgenogramms die linke Niere bloßgelegt (Prof. Zucker-
k an dl). Sie erschien etwas atrophisch, ihr Parenchymmantel
verdünnt. Das Konkrement (siehe XII a) ist in der Mitte der
Konvexität deutlich zu tasten und wird aus einer 3 cm langen
Nephrotomiewunde leicht entbunden.
Er fühlte sich nun durch fünf bis sechs Wochen vollkommen
wohl, dann stellten sich Schmerzen in der linken Unterbauch¬
gegend ein, nicht, so intensiv wie die vor der Nephrolithotomie,
sondern gleichmäßig anhaltend, nur zeitweise exazerbierend. Auch
mußte er häufiger urinieren.
Der Harn blieb dauernd klarmnd enthielt im Sedimente nur
wenige Leukozyten und Erythrozyten. Entsprechend dem Opera-
tionsbefunde wurde an eine intermittierende Hydronephrose ge¬
dacht, und in der Absicht, eine Pyelographie auszuführen, der
linke Ureter sondiert. Die Blase zeigte sich hiebei normal, beide
Ureteren punktförmig. Der Ureterkatheter läßt sich links nur etwa
2 cm hoch einführen und stößt dann auf ein Hindernis.
27. Oktober. Die nunmehr vorgenommenen Beckenaufnahmen
zeigen ein dattelkerngroßes Konkrement an der Mündungsstelle
des linken Ureters. Wenige Stunden nach der Unter¬
suchung fällt dem Patientein eine wesentliche Ab-
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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nähme seiner B e s c h av e r d e n auf, gleichzeitig merkt
er eine Trübung des bis dahin klaren Harnes. Durch
mehrere Tage entleerte er dicht getrübten, im Spitzgla.se in zen¬
timeterhoher Schichte Eiter absetzenden Harn. Die am HI. De¬
zember wiederholte Aufnahme zeigt, daß das Konkrement um
gut 3cm höher sitzt als am 27. Oktober. (Fig. 8.)
Operation am 21. Dezember (Prof. Zuckerkandl): Der
Dieter auf Daumendicke erweitert, in schwartiges Gewebe einge¬
bettet. Das Konkrement in der Höhe der Linea innominata tast¬
bar. 3 cm lange Inzision auf den Stein. Naht des Ureters in
zwei Schichten. Uebliche Wundversorgung, Heilung per nrimam.
Am G. Januar geheilt entlassen. Patient ist seither voll¬
ständig beschwerdefrei, der Harn dauernd klar.
Epikrise: Der Fall war der einzige, bei dem von
dem Grund satz, stets be i deN i eren und Ur eieren fei der
a b z u s u c he n, a b g e w i c h e n w u r d e. S o wurde d e r TJ r e t e r-
stein überseh en u n d zav ang z u ei ne m zweiten Eingriff
nach der Nephrolitotomie. Das Konkrement zeigt
bei zwei verschiedenen Aufnahmen im Intervall von
sechs Wochen eine nicht unbedeutende Lagever¬
änderung. Es ist bei der ersten Aufnahme knapp an
der Einmündungsstelle des Ureters gelegen, bei der
zweiten j u xtavesikal um etwa 3cm nach oben verscho¬
ben: das sag t, der Ureter ist dil'atiert, eine spontane
Ausstoßung des Kr onkremen tes nicht, zu erwarten.
Durch di e Vers ch iebu ng des K onk rem entes1 wi rd off en-
bar ein bestehender Verschluß des Ureters behoben,
so stellt sich eine sch were Pyu rie ein. Die Funktions¬
störung der linken Niere, deren Sc h ä d i g u n g scho n
beim ersten Eingriff verzeichnet wurde, schwindet
nach Entfernung des Hindernisses rasch (siehe Fäll IX
und XI).
Fall XIII. 39jähriger Lehrer. 14. Mai bis 2. Juni 1910.
Bis1 vor vier Jahren vollständig gesund. Damals traten kolik¬
artige gegen die Blase ausstrahlende Schmerzen in der linken
Lendengegend auf. Später heftiger Harndrang und Unterbrechung
des Strahles. Blasenuntersuchung ergibt einen Blasenstein, der
1906 in Czemowitz durch Sectio alta entfernt wurde. Die Ko¬
liken in der linken Lendengegond bestehen fort, vor vier Monaten
besonders heftige mehrtägige iSchmerzanfälle, trüber Ham mit
weißlich sandigem Bodensatz. Derzeit anhaltend Schmerzen in
der Nierengegend, oft Schluchzen und Brechreiz. Harnpausen
normal, Miktion schmerzfrei.
Status praesens: Herz, Lungen normal. Unter dem
linken Rippenbogen die Niere als mannsfaustgroßer, derbhöckiger,
ballotierender Tumor zu tasten.
Harnbefund: 1400 bis 1800 cm3, 1-015, getrübt. Albumen
über V2°/oo. Sediment: sehr zahlreiche Leukozyten, wenige Ery¬
throzyten, Bakterien.
Zystoskopie: Normale Blase mit normalen Ureteren-
mündungen.
Beim Ureterenkatheterismus bleibt der Katheter in etwa
10 cm Höhe stecken, alsbald entleert sich aus dem Katheter
trüber, jauchiger Eiter.
Röntgenuntersuchung: Dattelkernförmiger Stein-
sch atlen im Beckenteil des linken Ureters.
Operation am 21. Mai (Prof. Zuckerkandl): Typi¬
scher Schnitt zur Freilegung des linken Ureters. Dieser auf Finger¬
dicke erweitert, sofort leicht einstellbar. Das Konkrement in der
Höhe der Synchondrosis durch 2 cm langen Schnitt, aus dem
sich reichlich trüber eitriger Harn entleerte, entfernt.. Jodoform¬
streifen, komplette Schichtennaht.
Nach vollkommen normalem Wundverlauf am 2. Juni ge¬
heilt entlassen.
E p i k r i s e : Auch hier schwere Schädigung der
linken Ni ere durch den Stein. Nach den Erfahrungen
bei anderen Fällen dürfte sich diese vollständig
rii ckbil den.
B e m e r k e n s av e r t ist der vollständig normale Be¬
fund an beiden Ureterpapillen trotz schwerer Ure¬
teritis und Stein auf der linken Seite.
Fall XIV. S. Sch., 24jähriger Kommis. 10. September bis
27. September 1910.
Angeblich im dritten und neunten Lebensjahr Blut irri Harn.
Später Schmerzen in Blase und Harnröhre, bei Wagenfahrten
auch in der rechten Lende. Zuletzt auf interner Klinik auswärts
als orthostatische Albuminurie behandelt.
Harn: 1500 cm3 leicht getrübt, goldgelb.
Sediment: Ziemlich reichliche frische Erythrozyten, ein¬
zelne Leukozyten.
Albumen: Dem Blutgehalt entsprechend in Spuren.
Zystoskopie: Normale Blase. Rechter Ureter punktförmig,
linker Ureter etwas weiter, von einer Gruppe transparenter, stark
über das Niveau prominie, render Zystchen umgeben,
Röntgenuntersuchung: Deutlicher kirschgroßer Schat¬
ten links im Blasenfeld.
Operation am 13. September (Prof. Zuckerkandl): Ty¬
pische Operation. Ureter auf Dünndarmbreite erweitert. Der
Stein, dicht, oberhalb der Einmündung des Ureters in die Blase
palpabel, wird nach oben gedrängt und schlüpft leicht aus der
zirka 3 cm langen Inzisionswunde.
Vollständige Naht des Wundbettes bis auf Gazestreifen.
27. September. Geheilt entlassen.
Epikrise: Mikroskopische Hämaturie, deutliche
Veränderungen an der Uretermündung, die im Ver¬
eine mit den klinischen Symptomen die Diagnose
noch vor der Röntgenaufnahme ermöglichte. Starke
Erweiterung des Ureters.
XVI b. XVI a. XV.
Fall XV. M. F., 58jährige Frau.
Seit zwei Jahren kolikartige Schmerzen in der linken Lenden¬
gegend mit Erbrechen und Fieber. Während der Anfälle meist
trüb blutiger Harn.
Status praesens: Ziemlich gealterte Frau. Enteroptose.
Linke Niere fast in toto tastbar.
Harn: 1-014 hellgrünlichgelb, leicht getrübt. Albumen in
Spuren. Im Sediment massenhaft Leukozyten und einzelne Ery¬
throzyten.
Röntgenuntersuchung: Sehr tief, anscheinend un¬
mittelbar vor der Blase gelagertes Ureterenkonkrement.
Zystoskopie: Rechter Ureter normal, linker Ureter etwas
geschwellt, in entzündlich veränderter Umgebung.
Operation am 5. November (Prof. Zuckerkandl): Ty¬
pischer Schnitt. Das außerordentlich zarte Peritoneum reißt beim
Abheben an einer Stelle ein. Naht. Der Ureter ist wenig dilatiert,
seine Wand verdickt, mit der Umgebung stark verwachsen; er
kann nicht, ohne Eröffnung des Peritoneums isoliert werden.
Intraperitoneal tastet man den Stein, der mit großer Mühe unter
Assistenz von der Scheide aus, aus seiner intramuralen Lage¬
rung soweit nach oben disloziert Averden kann, daß er durch
den 1 cm langen Ureterschnitt entfernt wird.
Aus der Ureterwunde entleert sich reichlich trüber eitriger
Harn.
Bis 26. November besteht eine Fistel des linken Ureters,
aus der reichlich Harn sezemiert.
27. NoArember Fieber. Einlegen eines Ureterenkatheters ins
linke Nierenbecken ä demeure von der Blase aus.
2. Dezember. Fistel geschlossen. Geheilt entlassen.
Epikrise: Py onephrotisch schwer geschädigte
Niere. Die Operation war die technisch schAvierigste
der Reihe wegen des außerordentlich tiefen Sitzes
des Steines (intramural!) und der periureteritischen
Veränderungen. Nach sechs Wochen (Befund vom 11. Januar)
ist der Harn vollständig klar geworden.
Fall XVI. D. D., 23jährige Frau. 8. Juli 1909.
Will stets gesund gewesen sein. Erkrankte erst vor zwei
Jahren an Koliken in der linken Nierengegend. Vor einem Jahr
auch heftige rechtseitige Koliken. Seither stets trüber Ham.
Einmal Abgang eines erbsengroßen Sternchens.
Harn: 24stündige Menge 1800 cm3, 1-006 spezifisches
Gewicht. Chloride 3%<>, Harnstoff ölWoo, Albumen: 0-3°/o.
Sedimen t: Sehr reichlich Bacterium coli. Massenhaft Leu¬
kozyten einzeln und in I Tröpfen, amorphe Phosphate.
278
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
Zystoskopie: Vollständig normale Blase, normale Ure-
terenmündungen.
Funktionelle Untersuchung
lichtgelb, trüb
schwach alkalisch
++ 3»/00
4°/oo X
3'0%o
massenhaft Eiter, fettig
degenerierte Epithelien,
Bakterien
nach 25 Minuten keine
Reaktion
Farbe
Reaktion
Albumen
H arnstoff
Chloride
Sediment
Indigokarmin
R.
lichtgelb, leicht trübe
schwach alkalisch
3°/o„
7'5»/oo
6-6Voo
Eiterpfropfen,
Bakterienhaufen
nach 12 Minuten schwache
Reaktion
Röntgenuntersuchung ergibt im linken Nierenfeld zwei
etwa erbsengroße Konkrementschatten, rechtes Nieren- und Ureter¬
feld frei.
Diagnose: Pyonephrosis calculosa sinistra, Pyelonephritis
gravis dextra.
17. Juli. Intrakapsuläre Nephrotomie der linken, stark ge¬
schrumpften, parenchymarmen Niere. Entfernung sieben kleiner
Steinchen.
Nach Schluß der Fistel wurde Pat. mit Nierenbeckenspü¬
lungen behandelt und schmerzfrei mit leicht getrübtem, funktionell
gebessertem Harne in ihre Heimat nach Rußland entlassen.
Am 29. Oktober 1910. Wiederaufnahme.
Patientin hat sich nach ihrer Entlassung einige Monate voll¬
kommen wohl und arbeitsfähig gefühlt. Dann Auftreten heftiger
Schmerzen, die von der Blase gegen die rechte Niere
ausstrahlen. Nie Fieber.
Die Röntgenuntersuchung ergibt rechts der Verlaufs¬
richtung des Ureters entsprechend einen zirka 7 cm langen spin-
deligen schwach konturierten Konkrementschatten.
Zystoskopisch: Diffuse chronische Zystitis, rechte Ureter-
mündung leicht geschwellt. Ureterkatheterismus rechts nur auf
1 cm verschiebbar.
29. Oktober. Typische Operation (Prof. Zu eher kan <ll).
Ureter auf Dünndarmstärke erweitert. Leichte Entfernung des ab¬
gebildeten Konkrementes. Drainage des Ureters in die Blase nach
Albarran mit Ureterkatheter Nr. 8.
Dekursus: Afebriler, glatter Verlauf. Am 18. November
geheilt entlassen.
Epikrise: Der Fall ist der zweite unserer Ureter¬
steine, bei dem wir an Niere und Ureter zu operieren
gezwungen waren. Doch während bei Fall XII (Nephro-
litotomie) der Stein übersehen wurde, hatte er sich
hier in der kurzein Zeit von 14 Monaten zu der an¬
sehnlichen Größe entwickelt. Denn zur Zeit der
ersten Operation war der rechte Ureter für die Sonde
bis ins Nierenbecken passierbar, das Röntgenbild
negativ.
Es handelte sich um eine schwere progrediente
K o 1 i p y e 1 o n ep h r i t i s, deren Beginn wahrscheinlich
bis in dieKindheit zurück datiert und diev'ollko m m e n
beschwerdelos verlief. Erst die Neigung der infi¬
zierten Nieren zur sekundären Phosphatsteinbil-
durig löste d i e B es c h w e r d e n aus.
Die Drainage des operierten Ureters nach Al¬
barran bewährte sich in diesem Falle gut.
Die mi (geteilten Krankengeschichten zeigen deutlich
die große pathologische Bedeutung der Ureterkonkremente
als Abflußhindemis. In dem dünnwandigen und relativ
UiUskel sch wachen Rohr kommt es rasch zu einer Rück¬
stauung des Harnes, die sich wieder in der Dilatation des
Ureters dokumentiert. Bei keinem der operierten
Fälle haben wir diese Dilatation vermißt. Meist
war der Ureter auf Kleinfingerdicke, zweimal auf mehr
als Daum'endicke, zweimal bis zum Volumen einer mäßig
gefüllten Dickdarmschlinge erweitert. Inwieferne im ein¬
zelnen Falle durch diese Dilatation bereits das Nierenbecken
und die Niere selbst in Mitleidenschaft gezogen war, konnte,
da der Eingriff auf den untersten Ureterabschnitt sich be¬
schränkte, nicht festgestellt werden. In vier Fällen aber
war eine intensive Schädigung der Niere bereits sicher
erfolgt. So im Fälle IX, dessen erste klinische Symptome
die einer septischen Pyelonephritis waren, bei Fall XII,
der eine abundante renale Pyurie der durch den Ureterstein
zeitweise vollständig abgeschlossenen Seite aufwies, bei
Fall VII, XI und XV mit schwerer renaler Pyurie.
Wenn irgend etwas klar für die Notwendigkeit und
den prompten Effekt der Operation zu sprechen vermag,
so ist es das rasche Abklingen dieser Erscheinungen und
die Funktionsbesserung der früher verschlossenen Niere.
Bei Fall IX mußte vor und längere Zeit, nach dem Eingriff
an die Notwendigkeit einer Nephrektomie gedacht werden;
heute ist der Harn bei vollständigem subjektiven Wohl¬
befinden bemsteinklar.
Weitere pathologische Konsequenzen, wie periurete-
ritische Phlegmonen usw. konnten wir nicht beobachten.
Doch sei hier auf das seltene Leichenpräparat hingewiesen,
an dem ein Ureterstein bei primärem Karzinom des Ureters
und Hämatonephrose sich fand (Paschkis, v. Werdt).
Die gefürChteitste, wenn auch seltenste Konsequenz von
Ureterensteinen, die Anurie bei doppelseitigem1 Ureterver¬
schluß durch Stein oder als reflektorische Anurie bei nur
einseitigem Verschluß nimmt diagnostisch, röntgentech¬
nisch und operativ eine Sonderstellung ein und gelangt
hier nicht zur Besprechung.
Wenn wir die raschen, progressiven Veränderungen,
denen die Niere durch Verschluß ihres Ureters ausgesetzt
ist, berücksichtigen, müßte man ohne weiteres Israel zu¬
stimmen, der schon im Jahre 1901 im Vorhandensein eines
Uretersteines eine strikte Indikation zur Operation erblickt,
da ein solcher Zustand mit Retention oder Infektion
der Niere ende.
Eine wesentliche Einschränkung erfährt jedoch diese
strenge Indikationsstellung durch die keineswegs seltene '
Spontanausstoßung des Konkrementes. Es wäre demnach
zu untersuchen, unter welchen Bedingungen eine solche
Spontanausstoßung erwartet werden kann und wodurch wir
sie befördern können. Die Hauptarbeit wird naturgemäß
bei diesem Vorgang durch die Peristaltik des Ureters ge¬
leistet, der das Konkrement vor sich herschiebt. Sein Weiter¬
rücken wird klinisch meist durch Koliken gekennzeichnet,
der Eintritt des Konkrementes in den pelvinen Teil des
Ureters, wie die Krankengeschichten lehren, von einer
Verstärkung der vesikalen Symptome begleitet, die ihren
Höhepunkt bei der Lagerung des Konkrementes im intra-
muralen Ureterabschnitt erreichen.
Sitzt der Stein durch längere Zeit trotz er¬
folgloser Koliken an derselben Stelle, dann ist
eine spontane Ausstoßung kaum zu erwarten und höchstens
noch ein Versuch mit konservativen Eingriffen gestattet,
wie sie in sinnreicher Weise Jahr in Anwendung brachte,
der durch eine Modifikation des Nitz eschen Okklusiv-
katheters die Injektion steriler Gleitmittel in den Ureter
mit einer Dehnung seiner Wand kombinierte.
ZeigendieRöntgenuntersuchungenVerhält-
n i ss e, wie wir sie bei Fall VIII und XII an trafen, um
ihre Achse mobile, im Ureter verschiebliche
Steine, so läßt dies nur den Schluß auf eine be¬
reits erfolgte Dilatation des Ureters zu, die
naturgemäß mit einem gewissen Verlust seiner
per i staltischen . Aktionsfähigkeit einihergeht
und zu einer raschen operativen Entfernung
drängt.
Wir können somit sagen, daß nur kleine, glatt¬
wand i g e Steine bei nicht dilatierte m Ureter Aus¬
sicht auf Spontanausstoßung haben und unter
regelmäßiger Röntgenkontrolle einige Zeit kon¬
servativ zu behandeln sind.
Daß mit der Spontanausstoßung des Konkrementes
in die Blase noch nicht jede Gefahr überwunden ist, zeigt
ein Fall unserer Beobachtung, bei dem wir gezwungen
waren, ein typisches Ureterkonkrement, das sich in der
Pars membranacea urethrae einkeilte, durch externe Ure-
throtomie zu entfernen.
Wenn wir unsere 15 Fälle extraperitonealer Uretero-
lithotomie mit glatter, fistelloser Heilung, der Jeanbrau¬
schen Zusammenstellung anschließen (60 Fälle extraperi¬
tonealer Ureterolithotomie mit einem Todesfall), so ließe sich
in toto eine Mortalität von '1-35% berechnen, die am1 den t •
Nr. 8
279
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
liebsten für den großen Fortschritt urologischer Arbeit aut
einem Gebiete der Chirurgie spricht, von dem noch Schede
im Handbuch Bergmann-Mikulicz sagte: „Die Naht des
Ureters in der Tiefe ist schwierig und die prima intenRo
ohne gleichzeitige Ablenkung des Urins durch eine Nieren¬
wunde äußerst unsicher. Handelt es sich aber um nicht
aseptische Zustände der befallenen Nierenseite, so mjuß
die bloße Ureterotomie ohne gleichzeitige Spaltung der Niere
als fehlerhaft und unstatthaft bezeichnet werden.“
Literatur:*)
Barden heuer und Th eien, Zentralblatt für Chirurgie 1882,
S. 185. — _ Israel, Chirurgische Klinik der Nierenkrankheiten 1901,
Kap. 11 u. f. — Fenwick, Ureteric meatoscopy in the obscure diseases
of the Kidney 1903. — Frey er, Lancet 1903, S. 583. — Tenney,
Conclusions basees sur 134 cas de calculs uröteraux avec trois obser¬
vations. Bost. med. and surg. 1904, S. 115 und ebenda 1905, S. 060. — -
Albarran, Calculs de la portion pelvienne de Turötere. Int. med.
Kongreß in Lissabon 1906. — Papp a. De calculs de Turetbre. These
de Paris, Rousset 1907. — B 1 o c h, Ureterenoperationen. Folia urologica
1909, S. 589. — Zuckerkand 1, Zur Diagnose und Operation von
Nierensteinen. 37. Versammlung der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
in Berlin 1908; Einige seltene Konkretionen der menschlichen Harnwege.
Wiener klin. Wochenschr. 1900, S. 8 — Schmilinski, Headsche Zonen
und Allergurie hei Ureterstein. Aerztl. Verein Hamburg, 16. April 1907.
Ref. Deutsche med. Wochenschr. 1907, Nr. 40. — Schlesinger.
Differentialdiagnostik zwischen Nierenerkrankungen und Perityphlitis.
Deutsche med. Wochenschr. 1906, Nr. 44. — Tuffier, Etudes experi¬
mentales sur la Chirurgie du sein 1889. - Proust und I n f r o i t,
Phlöbolithes des veines periureteral simulant ä la radiographie Texistence
d'un calcul de l’uretere. Annal. de malad, genit.-urin. 28. Jahrg., H. 6,
S. 548. — Goldammer, Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgen-
strahlen, Bd. 12, Nr. 5, — Albers-Schönberg, Ib., Bd. 9, S. 255. —
Reichmaiwi Ib., Bd. 9, S. 254. Vö ekler, lb., Bd. 13, S. 394. —
v. Wer dt, Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und
Aerzte. 81. Versammlung in Salzburg, S. 31. — Paschkis, Primärer
Tumor des Harnleiters. Wiener klin. Wochenschr. 1910, Nr. 10.
Seelig, Annal. of Surgery. September 1908. — Frankel, Röntgen¬
fortschritte, Bd. 14, S. 2.
Die Messung der Durchgängigkeit der Nase
für den Luftstrom .**)
Von Prof. Dr. Gustav Gaertner.
Verschiedene Methoden wurden vorgeschlagen, um die
Luftdurchgängigkeit der Nase zu messen. In wirklicher Ver¬
wendung steht aber nur die von Zwaar de maker ange¬
gebene, darauf beruhend, daß man den Kranken durch die
Nase gegen einen Glas- oder Metalispiegel exspirieren läßt
und die Größe und Symmetrie der entstehenden Atemflecke
prüft. Es bedarf wohl keines Beweises, daß man auf diesem
Wege nur sehr unvollständige Nachricht über die Beschaffen¬
heit der Nase erhalten kann.
Jüngst hat Zwaardemaker selbst, die Wichtigkeit
der Angelegenheit betonend, eine neue Methode publiziert.
(Absolute Messung der Luftdurchgängigkeit der Nase. Zeit¬
schrift für Laryngologie, Bd. 1, H. 6.)
Einie 7 tarn weite Nasenolive wird mittels eines weiten
Schlauches mit einem empfindlichen Manometer, eine zweite
mit einem Aerodromometer armiert und diese Oliven in die
beiden Nasenlöcher eines Menschen eingeführt. l)i<' Ver¬
suchsperson muß so atmen, exspirieren und inspi¬
rieren, daß der Zeiger des Aerodromoineters auf
einem bestimmten Teilstrich stehen bleibt. Bas Mano¬
meter wird abgelesen und aus den Angaben der beiden
Instrumente Schlüsse auf die Durchgängigkeit der mit dem
Dromometer armierten Nase gezogen. Das Verfahren ist
einwandfrei, stellt aber große Ansprüche an die Intelli¬
genz und an die Innervation der Atmung des Unter¬
suchten. Ich fürchte, daß es aus diesem Grunde niemals
zu einer gangbaren klinischen Methode werden wird. Dies
schon aus dem Grunde nicht, weil die Mehrzahl der zu
Untersuchenden Kinder sind, die die Vorschrift Zwaar-
demakers kaum verstehen, geschweige denn befolgen
könnten.
*) Vollständiges Literaturverzeichnis bis 1909 bei Jeanbrau, Des
calculs de l’urötere. Rapport prösentö a la XIII session de I’association
francaise d’Urologie. Paris, öd. Hörissey. *
**) Vortrag, gehalten in dev k. k. Gesellschaft der Aerzte am
3. Februar.
Schon im Jahre 1895 hat B. Kays er (Die exakte
Messung der Luftdurchgängigkeit der Nase. Archiv für La¬
ryngologie und Khinologie, Bd. 3) einen nach mancher Rich¬
tung interessanten Vorschlag zur Lösung dieser Frage pu¬
bliziert. Er läßt durch den Mund mit Hilfe eines Aspi¬
rators eigener Konstruktion Luft ansaugen. Die Luft
muß die Nase passieren. Aus der Zeit, die notwendig ist,
um den Versuch zu vollenden, wird auf das Kaliber der
Nase geschlossen.- Voraussetzung des Gelingens ist, daß
während des Versuches die Atmung sistiert und daß
dabei eine weit offene Kommunikation zwischen Mund- und
Nasenhöhle besteht.
Zwaardemaker (l. et) hält die erstere Bedingung
für schwer erfüllbar und die Methode aus diesem Grunde
für schlecht. Ivayser selbst berichtet, daß die Erfüllung
der zweiten Bedingung oft Schwierigkeiten mache, indem
die. Patienten durch Heben der Zunge oder des Gaumen¬
segels die notwendige Kommunikation aufheben. Er gibt
dann die recht komplizierten Hilfsmittel an, die zur An¬
wendung kommen sollen, um die Messung möglich zu
machen.
Als Saugvorrichtung benützte Kays er anfangs eine
oder zwei Aspirationsflaschen, fand aber dabei soviel „Un¬
zuträglichkeiten“, daß er sie bald wieder aufgab und ver¬
wendete nun einen Blasebalg, dessen Saugkraft immer
gleich blieb.
Als Vergleichswiderstand benützt Kayser ein Prü¬
fungsrohr, dessen quadratische Mündung durch einen
Schieber verengt werden konnte. In vereinzelten Fällen
untersuchte er auch den Einfluß von Röhren desselben
Querschnitts und verschiedener Länge.
Die an Zahl sehr spärlichen Resultate ergeben be¬
trächtliche Unterschiede bei wiederholter Messung derselben
Nase. Bei Ozäna fand er größere, bei einer Rhinitis ge¬
ringere Werte für die Weite der Nase als beim normalen
Menschen.
Dies ist alles was über den Kayser sehen Apparat
in der Literatur von mir aufgefunden wurde. Weder in
den beiden Facharchiven, noch im Zentralblatt für Laryn¬
gologie fand ich eine weitere einschlägige Publikation. Auch
von Kayser selbst nicht. Dies spricht wohl dafür, daß
sich die Methode trotz der guten Grundidee praktisch nicht
bewährt hat.
G. Spieß (zitiert nach Zwaardemaker) hat die
Aufgabe zu lösen versucht, indem er an einem im Munde
gehaltenen Wassermanometer bei gleichmäßiger (?) Atmung
die Ausschläge abliest. Eis bedarf wohl keines Beweises, daß
man so nicht zum Ziele gelangen kann-
Ich bin, soweit es den Apparat betrifft, auf ähnlichem
Wege wie Kayser vorgegangen. Auch ich messe die Zeit,
die eine gewisse, unter einem in jedem Versuche sich gleich-
bleibenden Druck stehende Luftmenge benötigt, um die Nase
zu passieren. Während aber Kayser durch den Mund
Luft saugt, lasse ich in ein Nasenloch Luft einblasen.
Die nachfolgende Beschreibung des Apparates (Fig. 1)
und der Methode wird zeigen, inwieweit es mir gelungen ist,
eine auch klinisch brauchbare Methode zu schaffen.
Zwei zylindrische Blechgefäße sind nach Art eines
Gasometers ineinander gestülpt. Das innere, kleinere, kehrt
seinen Boden nach aufwärts, während das äußere, weitere
Gefäß den Boden unten hat. Der Querschnitt des inneren
Gefäßes ist halb so groß wie der des äußeren. In seiner
Lage wird das innere Gefäß durch ein überhängendes Dach
und drei Klemmschrauben erhalten. Der untere freie Rand
ist dann noch 5 cm vom Boden des äußeren Gefäßes eni
fernt. In das erwähnte Dach ist ein weiter Tubus einge¬
fügt, welcher die Füllung, resp. Nachfüllung des Systems
mit Wasser ermöglicht.
Knapp über dem Boden zweigt ein mit einem Halm
versehenes Abflußrohr ab. Es dient der Entleerung des
Wassers.
280
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
Ein zweiter, nahe dem unteren Boden eingefügter
Tubus ist mit ei nein rechtwinkelig nach oben gerichteten
Kniesliick versehen und dient der Verbindung mit einem
Wasserstau (iisrohr.
Fig. 1.
Der nach oben gekehrte Boden des inneren Gefäßes
trägt eine 10 mm weite, mit einem ebenso weiten Gummi¬
schlauch und einer Nasenolive armierte Tubulatur. Von
nuten her geht ebenfalls ein Tubus in das innere Gefäß.
Er setzt sich in eine Röhre fort, die bis über die Mitte des
Apparates hinaufreicht. Dieser Tubus ist mit einem Hahn
versehen und stellt, mittels eines Gummirohres, die Ver¬
bindung mit einem Blasebalg oder einer Radfahrpurnpe her.
Der Apparat wird bis zur halben Höhe des inneren
Gefäßes mit Wasser gefüllt. Bei diesem Stande, der genau
einzuhalten ist, reicht das Niveau im Wasserstandsglas bis
zur Marke ,,0“.
Nun wird der Schlauch mit einer eigenen Klemm¬
vorrichtung geschlossen und die Luftpumpe solange be¬
tätigt, bis das Wasser im Wasserstandsrohr, natürlich auch
im äußeren Gefäß, bis zur Marke ,,2“ gestiegen ist. Diese
befindet sich ganz nahe dem oberen Boden des inneren
Gefäßes.
Die eingepumpte Luit hat das Wasser aus dem inneren
Gefäß fast; ganz verdrängt. Es erfüllt nun den Zwischenraum
zwischen innerem und äußerem Gefäß. Die im inneren Zy¬
linder eingeschlossene Luft steht unter dem Drucke einer
Wassersäule, welche dem Niveauunterschiede zwischen dem
Wasserstand innen und außen entspricht. i
Wird jetzt die Klemme geöffnet, so strömt Wasser in
den inneren Zylinder und verdrängt die Luft, die durch
den Schlauch und die Olive entweicht. Das Ausströmen
der Luft geschieht unter fallendem Druck.
Die Zeit, welche das Wasser benötigt, um
von der Marke „2“ bis zur Marke „1“ (IV2 cm ober¬
halb der Marke „0“ befindlich) abzusinken, wird mit
Hilfe einer Stoppuhr gemessen. Wie leicht begreif¬
lich, hängt sie von zwei Faktoren ab. Von dem Wider¬
stand, den das aus dem Zwischenraum der Gefäße in das
innere Gefäß abiließende Wasser findet und andrerseits
von dem Widerstand, den die abfließende Luft irn Schlauch
und der Olive antriifl. Wir dürfen die Summe dieser beiden
Werte als inneren Widerstand des Apparates be¬
zeichnen. Da wir einen äußeren Widerstand, eben den
der Nase, messen wollen und da die Ausflußzeit der Summe
beider Widerstände, des inneren + äußeren proportional
ist, so ergibt sich die Notwendigkeit, den inneren Wider¬
stand möglichst klein zu machen. Nur dann wird auch eine
unbedeutende Aenderung des äußeren Widerstandes auf das
Resultat einen deutlich wahrnehmbaren Einfluß ausüben.
Die V erhältnisse sind ganz analog denen, die uns aus der
Elektrizitätslehre wohl vertraut sind. Der innere Widerstand
des Apparates entspricht dem Widerstand der Stromquelle
(Batterie oder Dynamomaschine öd; dgl.), der äußere dem
Widerstande des Stromkreises.
Von dieser Erwägung geleitet, mußte ich es sofort
als unmöglich aufgeben, als Luft-Stromquelle eine
Aspiratorflasche zu verwenden, da diese vermöge des relativ
kleinen Querschnittes der Ausflußöffnung einen großen
inneren Widerstand besitzt, ln meinem Apparat ist hin¬
gegen dem abfließenden Wasser ein sehr weiter Wreg ge-
öffnet. Der Querschnitt desselben ist so groß, wie der Quer¬
schnitt des inneren Gefäßes. Das Wasser fließt nämlich
aus dem Zwischenraum der beiden Gefäße in das innere
Gefäß. Dieser Zwischenraum ist aber, weil, wie schon er¬
wähnt, das äußere Gefäß doppelt so weit ist, als das innere,
gleich weit, wie das innere Gefäß selbst.
Der zweite Faktor, der den inneren Widerstand des
Apparates beeinflußt, ist die Länge und Weite des die
Luft abführenden Rohres. Man soll diese so weit
machen, daß der erwähnte Widerstand eine gewisse, prak¬
tisch zu ermittelnde Grenze, nicht überschreitet. Es muß
nämlich schon die Einschaltung einer normal weiten
(Nase aut den Widerstand, resp. die Abflußzeit einen deut¬
lichen und gut meßbaren Einfluß nehmen. Schläuche von
10 mm lichter Weite und 70 cm Länge entsprechen dieser
Forderung.
Noch ein dritter Faktor beeinflußt den inneren Wider¬
stand : Die Olive. Auch diese soll so weit als möglich sein.
Anfangs habe ich es versucht, eine Olive von ovalem Quer¬
schnitt zu verwenden, entsprechend der Konfiguration der
Nasenlöcher. Später aber fand ich, daß ein kreisrunder
Querschnitt vorzuziehen ist. Die Olive ist steil konisch, die
Mündung hat einen Durchmesser von 8 mm. Man kann
diese Olive auch schon bei Kindern von sieben oder acht
Jahren in der Regel leicht verwenden. Für jüngere Kinder
muß ein etwas engeres Kaliber genommen werden.
Als Vergleichswiderstand benütze ich Glas¬
röhren von gleicher Länge, 10cm, und variablem
D urchmesser. Sie werden mit Hilfe eines k u r-
zen weiten Schlauches an die Olive angefügt.
Fig. 2.
Die beifolgende Tafel (Fig. 2) zeigt nun graphisch den
Einfluß der Rohrweite auf die Ausflußzeit. Man ersieht aus
ihr, wie streng gesetzmäßig die Abflußzeit von der Rohr¬
weite abhängt.
Die Messung selbst wird in der folgenden Weise aus¬
geführt. Der Patient wird so vor den Apparat gesetzt, daß
der züführende Schlauch ziemlich gerade gestreckt, jeden*
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
281
fulls nicht geknickt ist. Mittels der Pumpe oder des 15 la.se-
balges wird das Wasser im Slamlanzeiger bis zur Marke 2
gebracht und dea'Hahn, der zur Luftquolte führt, geschlossen.
|)i(> Olive wird in das eine Nasenloch gehrachl und darauf
geachtet, daß die Mündung nicht an das Septum oder die
Muschel zu liegen kommt. Der Palienl fixiert entweder die
Olive selbst oder es besorgt dies (bei Kindern) (due drille'
Person. Patient wird angewiesen, den Mund zu öffnen
und ruhig durch den Mund zu atmen. Man lüftet,
nun die Klemme mit einer Hand und bringt gleichzeitig
mil der anderen die Stoppuhr in Gang.
Man beobachtet das Sinken des Wassers und arretiert
die Uhr, sobald das Wasser bei der Marke „1“ angelangt
ist. Die gefundene Zeit wird notiert und der Versuch am
anderen Nasenloch wiederholt.
.Während des Versuches kann man folgendes beob¬
achten. Bei normalen Verhältnissen oder solchen, die
von der Norm nicht weit abweichen, geht der Luftstrom
aus der Choane der armierten Nase in die Choane der nicht
armierten und weiter durch das zweite Nasenloch
nach außen. Es besteht Abschluß gegen die Mundhöhle
durch das Gaumensegel. Dieser Abschluß erfolgt reflek¬
torisch, wahrscheinlich durch das Eindringen des Luft¬
stromes in die Nase. Man kann sich hievon leicht über¬
zeugen. Verschließt man, während der Versuch im Gange
ist, durch Auflegen einer Fingerbeere das zweite Nasen¬
loch, so sistiert momentan der Abfluß. Aber nicht auf
die Dauer. Unter einem ganz charakteristischen, schnar¬
chenden Geräusch wird der Verschluß gegen die Mundhöhle
durchbrochen und das Wasser sinkt nun wieder, aber
nicht gleichmäßig. Seine Bewegung erfolgt stoßweise,
indem der Verschluß abwechselnd hergestellt und aufge¬
hoben wird. Jeder Durchbruch ist aber von dem erwähnten
Geräusch begleitet und man kann bei einiger Aufmerksam¬
keit an diesem Geräusch sofort erkennen, ob die Luft durch
den Mund abfließt.
Es tritt dies immer ein, wenn die eine Nase
für die Luft ganz oder fast ganz undurchgän¬
gig ist.
Der Gang des jLuftslroines ist also verschieden von dem
bei der Atmung. Während hier die beiden Nasen parallel
geschaltet sind, die Luft gleichzeitig durch beide ein- oder
ausströmt, sind dort die beiden Nasenhälften hinter¬
einander geschaltet. Der Luftstrom passiert erst die ar¬
mierte, dann die nichtarmierte Hälfte. Dies müssen wir
uns wohl vor Augen halten, wenn wir uns eine Vorstellung
darüber bilden wollen, welchen Widerstand die Nase bei
der Atmung dem Luftstrom bietet. Nehmen wir an, wir
hätten durch die Untersuchung konstatiert, daß bei gesunden
erwachsenen Menschen der Widerstand dem eines Glasrohres
von 10 Cm Länge und 6-5 mm Weite gleich gefunden wurde
(es entspricht dies den von mir und Dr. ßenesi an zahl¬
reichen Fällen erhobenen Werten), so entfällt hievon, Sym¬
metrie der beiden Nasen vorausgesetzt, auf jede Nase die
Hälfte, also 6-5 mm Weite und 5 cm Länge. Bei der Atmung
aber müßten wir uns die beiden Glasröhren nebeneinander
liegend denken.
Wenn die (leicht zu prüfende) Annahme richtig ist,
daß ein Glasrohr von 5 Cm Länge dem halben Widerstand
besitzt, wie ein gleich weites von 10 cm' Länge, dann re¬
sultiert also aus unseren Versuchen die vielleicht über¬
raschende, aber zweifellos richtige Erfahrung :
Die Nase eines gesunden erwachsenen Menschen hat
für den Luftstrom keinen größeren Widerstand als den
zweier nebeneinander liegender Glasröhren von 5 Cm Länge
und 6-5 mm Weite.
Komplizierter werden die Verhältnisse, wenn die
beiden Nasen ungleich weit sind. Man muß dabei Theorie
und Praxis auseinander halten.
*) Man kann auch die Klemme beseitigen, während man gleich¬
zeitig den Schlauch mit zwei Fingern abklemmt. Das Oeffnen des Schlauch¬
lumens läßt sich dann noch rascher und exakter bewerkstelligen als mit
der Klemme.
Wenden wir uns zunächst der Praxis zu. In allen
fällen ungleicher Durchgängigkeit der beiden
Nasen fanden wir bei Armierung der wenigem’
durchgängigen Nase höhere Wid ers landswerte
als an der weiteren. East ausnahmslos war aber bei
Verengerung der einen Nase auch die Ausflußzeit der
zweiten ein wenig erhöht. Selten mehr als um zwei Se¬
kunden. War der Widerstand der „gesunden“ Seite1 wo seat
lieh größer, als eben angegeben, dann fanden sich bei
genauerer Untersuchung auch hier irgendwelche raumbeen¬
gende Verändern ngo 1 1 .
Bei erheblicher Differenz der Nasenweite beobachtet
man ausnahmslos folgendes: die Untersuchung der
engen, aber noch durchgängigen Nase zeigt Verlängerung
der Ausflußzeit bis auf 40 Sekunden, statt, normal 6 Se¬
kunden, dabei aber gleichmäßiges Abließen der Luft.
Bei Armierung der gesunden Seite fast normale (unbedeu¬
tend erhöhte) Abflußzeiten, aber ungleichmäßiges, ruckweises
Sinken der Wassersäule und Auftreten des schon erwähn¬
ten schnarchenden Geräusches, welches uns die Insuffi¬
zienz des Gaumensegelverschlusses verrät.
Soweit unsere Erfahrungen reichen, kann man, sobald
das Geräusch und das ruckweise Abließen auftritt, erwarten,
in der nicht armierten Nase mit dem Rhinometer und mit
der klinischen Untersuchung einen Widerstand zu finden.
Am ausgeprägtesten ist dies der Fall, wenn die eine
.Nase normal, die andere total verstopft ist. Hier bleibt die
Wassersäule dauernd stehen, die Luft fließt überhaupt
nicht ab, dort Ablußzeit nur unbedeutend verlängert, das
Sinken des Wassers erfolgt aber ruckweise und unter Ent¬
wicklung des charakteristischen Geräusches. Man kann
diesen Zustand an sich sei bst leicht experimentell her-
vorrufen, indem man das eine Nasenloch verschließt. Nur
achte man bei Ausführung des Versuches darauf, daß der
Tampon durch Hinüb erd rängen der knorpligen Nasenscheide¬
wand nicht auch die andere Seite in ihrer Weite beein¬
trächtige.
Theoretisch liegen die Verhältnisse anders. Da der
Luft ström seinen Weg nacheinander durch beide Nasen-
häiften nehmen sollte, so müßte es gleichgültig sein, welche
er zuerst passiert, ob also die rechte oder die linke Seite
armiert ist. Wäre der Gaumenverschluß, der de norma bei
Vornahme der Messung immer funktioniert, auch für größere
Drucke, suffizient, dann müßte stets die gefundene Zeil
für beide Seiten gleich sein, es müßte also der absolute
Verschluß der einen Seite, auch bei Armierung der nor¬
malen anderen Seite die Ablußzeit „unendlich“ ergeben.
Man würde also durch die Messung nur erfahren, ob ein
Hindernis vorhanden und wie groß es ist, nicht aber auf
welcher Seite es sitzt, ob nur eine oder beide Seiten ver¬
engt sind. Für den Ablauf der Atmung ist es aber gewiß
nicht gleichgültig, ob eine Seite normal, vielleicht sogar
abnorm weit, die andere verengt ist, oder ob beide Seiten,
wenn auch in mäßigem Grade in ihrem Lumen beeinträch¬
tigt sind. Im ersteren Falle ist die Möglichkeit der Nasen¬
atmung gegeben, im zweiten vielleicht nicht mehr. Das
Rhinometer h{ät.te aber in beiden Fällen gleiche Zahlen
geliefert.
Es gibt theoretisch die Summe der Widerstände beider
Nasen also den Wert für Wr + W1 an. Um die beiden
Werte, deren Kenntnis mir wichtig schien, einzeln kennen
zu lernen, ersann ich eine Methode, die dies ermöglicht.* *)
Sie vermittelt uns die Kenntnis des Wertes von Wr und
*) An zwei gleiche, sehr weite Kaliapparate werden Nasenoliven
befestigt, die Apparate mit gleichen Mengen Lauge beschickt und der
Untersuchte angewiesen, nachdem man in jedes seiner Nasenlöcher eine
Olive eingeführt hat, einige Male durch den Apparat auszuatmen.
Nun wird mit Phenophthalein und Säure titriert und zwar
1. Apparat rechts, 2. Apparat links, 3. eine gleiche Portion unbenutzter
Lauge. Zur Titration genügt es die erforderliche Anzahl der Säuretropfen
zu zählen. Man fände z. B. die Zahlen 20, 30, 40. Dann entspricht die
Menge der rechts absorbierten CO„ 20, links 10 Tropfen. -Das Verhältnis
von rechts zu links ist also 2 zu 1. Da die Menge der COa der Luft¬
menge, diese aber dem Widerstand umgekehrt proportional ist, so würde
der versuch ergeben, daß die rechte Nase doppelt so weit ist. als die linke.
282
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
Wl. Dann aber ist es ein leichtes, Wr und \YI, in den von
uns gewiihllen Maßeinheiten ausgcdrüCkl, zu berechnen.
Wie schon erwähnt, ergab die Praxis andere, ein¬
fachere V erhältnisse.
Das Gaumensegel ist. nur i ns o lange suffi¬
zient, als kein einigermaßen erheblicher Druck
auf ihm lastet. Wenn die nicht armierte Nase für den
.Luftstrom frei ist, bleibt der Druck im Nasenrachenraum
sehr niedrig. An der Mündung des nichfarmierten Nasen¬
loches ist er gleich Null und von hier bis zum Gaumensegel
also bis zum Nasenrachenra um, gibt es, nach obiger Annahme,
keine bedeutenden Hindernisse zu überwinden. Es wird
also im Nasenrachenraum der Druck nur unbedeutend höher
sein als Null. Das Gaumenventil bleibt dann suffizient,
die Luft strömt durch die Nase ab.
Ist aber die nichtarmierte Seite Sitz eines Widerstan¬
des, dann besteht im Nasenrachenraum ein höherer Druck,
das Ventil wird insuffizient, die Luft strömt durch den
Mund ab und zwar ruckweise, weil das Abfließen den Druck
momentan erniedrigt. Der Verschluß ist dann wieder her¬
gestellt, der Druck steigt an und bedingt neuerdings die
Insuffizienz. Es ist ein ähnlicher Vorgang, wie beim Spiel
des ■ Neffsdhen Hammers.
Ist die armierte Nase verengt, dann wird der vom
Apparat gelieferte Druck proportional den Widerständen kon¬
sumiert und im Nasenrachenraum ist caeteris paribus ein
niedrigerer Druck, als unter normalen Verhältnissen. Bei
offener und selbst bei mäßig verengter nicht armierter Nase
bleibt der Druck an der oberen Fläche des Gaumensegels
sehr niedrig und die Luft strömt durch die Nase ab.
Ist aber die nicht armierte Nase wesentlich enger als
die armierte, dann steigt der Druck im Nasenrachenraum
und die Bedingungen für die Insuffizienz sind wieder ge¬
geben.
Allgemein ausgedrückt : Die Luft strömt (ruckweise)
durch den Mund ab, wenn die nicht armierte Nase enger
ist als die armierte.
Diese Regel wurde rein empirisch ermittelt; sie traf
in allen Fällen unserer Beobachtung zu. Es ist aber mög¬
lich, daß bei abnormem Bau oder abnormer Innervation
des Gaumensegels eine Insuffizienz auch bei offener, nicht
armierter Nase Vorkommen könnte. Vielleicht würde dieser
Umstand auf die Abnormität des Velums hinweisen und
klinisch verwertet werden können.
Vergegenwärtigen wir uns nun nochmals, was wir
mit dem Rhinometer messen.
Bei normaler Durchgängigkeit beider Nasen erfahren
wir die Summe Wr + Wl. Bei gleichmäßiger Verengerung
der Nasen ebenfalls Wr + Wl.
Bei verengter linker Nase und Armierung der
rechten Wr + Wx, wobei Wx der Widerstand ist,
den die ruckweise durch den Mund abfließende Luft
aul dem Wege vom Nasenrachenraum abwärts findet. Dieser
W iderstand ist bei Gesunden der Messung zugänglich. Nach¬
dem man in der gewohnten Weise eine Bestimmung aus¬
geführt hat, verschließt man vorsichtig und ohne das Sep-
lum zu verdrängen, das nicht armierte Nasenloch. Die Mes¬
sung wird wiederholt und ergibt ruckweises Abfließen der
Luft durch den Mund und eine Abflußzeit, die zumeist
um eine, höchstens um zwei Sekunden länger ist
als die vorher ermittelte. Wx ist also um ein Geringes größer
als der normale Widerstand einer Nasenhälfte.
Daraus ergibt sich der folgende Schluß: Wenn die
gefundene Abflußzeit bei Stenose der nicht armierten Nase
nur um eine oder zwei Sekunden länger ist als die normale,
dann ist die armierte Nase normal. Findet man aber eine
wesentlich verlängerte Abflußzeit, so ist das ganze Plus,
Dies würde nur gelten, wenn der Widerstand der Kaliapparate
vernachlässigt werden könnte. Man kann ihn aber in Rechnung ziehen,
indem man ihn, ausgedrückt im reziproken Wert: Weite einer 10 cm langen
Glasröhre, am Rhinometer bestimmt. Die Formel würde dann richtig lauten
Wr c
Wl — fmT ~ * w°kei c c'er Widerstand des Apparates ist.
abzüglich einer oder zwei Sekunden, auf Rechnung der
armierten Nase zu setzen.
Mit Berücksichtigung der vorgebrachten Einschränkun¬
gen besteht also die sehr einfache Regel: Man erhält
durch die Messung links Auskunft über den
W id erst and der linke n, d urc'h die Messung rechts
über den der rechten Nase.
Der Vollständigkeit wegen sei darauf hingewiesen, daß
bei einer Perforation der Nasenscheidewand die Messung
nicht ausführbar ist, weit der Luftstrom diesen kurzen
Weg nimmt.
Hindernisse mit Ventilwirkung wird man als solche
wohl erkennen können. Bei armierter rechter Nase nimmt,
tier Luftstrom in ihr die Richtung der natürlichen Inspira¬
tion, in der anderen Nase die Richtung der Exspiration..
Umgekehrt, wenn die linke Nase armiert ist. Würde man
bei der ersten Messung die linke Nase undurchgängig, bei
der zweiten frei finden, dann spräche dies für einen Ventil¬
verschluß der linken Nase, der die Exspiration hindert.
In praxi haben Dr. Benesi und ich einen analogen Fall
nicht gesehen.
Wiederholte Messungen an derselben gesunden Nase
gaben zuweilen Werte, die um ein Kleines, ein oder zwei
Sekunden Abflußzeit, differierten. Der wechselnde Zustand
der Schwellkörper oder die Anwesenheit kleiner Sekret-
mengen (die zuweilen durch den Luftstrom fterausbefördert
werden), machten sich geltend. Die Ansicht, daß die Weite
der Nase auch beim Gesunden sehr stark variiere,
konnte ich nicht bestätigt finden.
Ausdrücklich sei hervorgehoben, daß wir niemals einen
störenden Einfluß der Atmung wahrnehmen konnten. Na¬
mentlich bei verlängerter Abflußzeit hätte man ein mit der
Atmung synchrones Wechseln der Geschwindigkeit wahr¬
nehmen müssen, wenn es vorhanden gewesen wäre. Ge¬
ächtet haben wir darauf.
Das geschah auch dann nicht, wenn die Luft durch den
Mund abfließt, sei es, daßi die Atmung im Momente des
Luftdurchtrittes jeweilig unterbrochen wird, sei es, daß bei
weit offenem Munde die respiratorischen Druckschwankun¬
gen im Nasenrachenraum zu gering sind, um zur Geltung
zu kommen.
Ist die Ursache einer Stenose in einer Schwellung
der Corpora cavernosa der Muscheln oder in einer Schwel¬
lung der Schleimhaut gelegen, dann läßt sich dies leicht
durch Aufpinseln von Adrenalin konstatieren. Der Unter¬
schied im \\ iderstand vor und nach dem Pinseln war in
einigen einschlägigen Fällen Dr. Be ne si’s sehr bedeutend.
Sonst aber vermag die Untersuchung mit dem Rhino¬
meter die anatomische Ursache einer Stenose nicht auf¬
zudecken. Dies wird nach wie vor Gegenstand der kiinisch-
rhinologischen Methodik bleiben.
Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, daß die Beein¬
trächtigungen, die die Nasenatmung durch adenoide Vege¬
tationen findet, bei der Messung zum Ausdruck kommen.
Die Größe der Stenose f es tzu stellen, sie zu
messen, wie man eine Stenose der Urethra oder
ties Oesophagus mißt, ferner die auch dem Nicht¬
spezialisten mögliche rasche und sichere Fest¬
stellung, ob die Atmung durch die Nase frei ist
oder nicht, sind die Aufgaben, die meiner An¬
sicht nach dem Apparat zufallen werden.
In bezug auf letzteren Umstand hat. mich Prof. Robert,
als ich auf dem Physiologenkongreß den Apparat demon¬
strierte, auf eine Verwendungsart aufmerksam gemacht. In
Lungenheilstätten, meinte er, sollte jeder Paitient, ehe man
ihn einer Liegekur in kalter Luft unterwirft, mit dem Rhino¬
meter untersucht werden.
Von Interesse wäre wohl auch die systematische Unter¬
suchung von Soldaten. Sie müssen durch die Nase atmen
können, auch wenn sie rasch laufen. Die hiezu Unfähigen
würde das Rhinometer rasch und sicher herausfinden.
Die leichte Verständlichkeit und Anschaulichkeit des
Vorganges wird es vielleicht möglich machen, intelligenten
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
288
Kranken oder deren Angehörigen ad oculus zu zeigen, daß
eine Abnormität besteht, daß ein Eingriff geboten ist. Auch
der Erfolg einer gelungenen Operation wird leicht aufzu¬
zeigen sein.
Die Messungen sind sehr leicht und rasch ausführbar,
die Ansprüche an die Intelligenz der Patienten, sehr gering.
Mit einiger Geduld kommt man auch bei Kindern fast stets
ans Ziel. Wenn sie erst durch einige kurze Probeversuche
erfahren haben, daß ihnen kein Leid zugefügt wird, lassen
sie sich den Vorgang gefallen.
Nur eines noch ist zu erwägen. Kann die Messung
nicht Schaden stiften? Eine Infektion durch die Nasen-
olive wird bei Befolgung der selbstverständlichen Vor¬
sichten leicht verhindert werden. Jedem Apparat werden
zwölf Oliven beigegeben. Nach dem Gebrauch müssen sie
durch Kochen sterilisiert werden.
Bleibt noch die Möglichkeit einer Eintreibung von
Nasensekret in die Tuben. Wie schon erwähnt, ist während
der Messung der Druck im Nasenrachenraum ein minimaler
und das Gaumensegel bildet ein fein eingestelltes Sicher¬
heitsventil gegen dessen Anwachsen.
Aber selbst wenn dieses Ventil, was mir unmöglich
erscheint, versagen würde und wenn die abführende Nasen¬
hälfte total verschlossen wäre, wobei also der Druck im
Nasenrachenraum die volle Höhe des Apparatdruckes er¬
reichen würde, wäre er noch immer verschwindend klein
gegenüber dem Druck,, der beim Pölitz er- Verfahren zur
Anwendung kommt. Selbst der hohe Druck, den man durch
kräftige Kompression des Politzer-Ballons erzeugt, würde
aber bekanntlich nicht genügen, um den Tubenverschluß
zu durchbrechen, wenn nicht gleichzeitig Verschluß der
anderen Nasenhälfte und eine Schluckbewegung oder deren
Surrogate günstige Bedingungen hiefür schaffen würden.
Herrn Prof. Alexander und Herrn Dr. B e ne s i
bin ich zu großem Danke verpflichtet. Prof. Alexander
hat mir erlaubt, an seiner poliklinischen Abteilung Messun¬
gen durchzuführen, Herr Dr. Benes i aber hat mit vielem
Eifer und großem Zeitaufwand die Untersuchungen gemacht
und bei jedem der Gemessenen den klinischen Status lege
artis aufgenommen. Er wird die Ergebnisse seiner Unter-
suehunegn in einem Facharchiv publizieren.*)
Ueber die Natur der Nävuszellen.
Von Prof. Dr. Kreibicli.
Die Natur der Nävuszellen ist bis heute nicht ge¬
klärt. Unna und viele Untersucher nach ihm schließen
aus der Beschaffenheit der Zellen, aus der Lagerung der¬
selben zueinander, aus der Beziehung der Zellnester zur
Epidermis auf ihre epitheliale Abkunft. Recklinghausen,
Demieville und viele andere erblicken in diesen "Pat¬
sachen keine ausreichenden Beweise für diese Ansicht und
treten für die mesodermale Natur der Nävuszellen ein. Die
gleiche Unsicherheit, macht sich bis heute bei der Beur¬
teilung der aus den Nävuszellen hervorgehenden Ge¬
schwülste geltend.
Der Lipoidnachweis in den Melanoblasten gibt uns
eine Tatsache an die Hand, mittels welcher sich in präzi¬
serer Weise als bis jetzt die epitheliale Abstammung der
Nävuszellen erweisen läßt; zugleich bestätigen pigmentierte
zellige Nävi vollinhaltlich unsere vor kurzem geäußerte An¬
schauung über die Abkunft des melanotischen Hautpigments
aus einem Lipoidkörper. Auch an diesem Objekt (kein Kelen
bei der Exzision und bei der Herstellung der Gefrier¬
schnitte!) zeigt sich die Notwendigkeit, die pigmentieren¬
den Zellen in die mesodermalen Chromatophoren, die immer
körniges, dunkleres Pigment enthalten und in die ektoder-
malen Melanoblasten, die als Vorstufe des Pigments einen
kristallinischen oder kristalloiden Lipoidkörper aufweisen,
zu trennen; nur tritt hier der Unterschied in manchem
*) Das Rhinometer wird in Wien von Herrn Paul H a a ck, Garelli-
gasse und in Deutschland von der Firma Franz Huger sh off in
Leipzig angefertigt werden.
Nävus, wegen der Reichlichkeit, Größe und Schönheit dei
Kristalle noch deutlicher in Erscheinung und findet seine
Fortsetzung im Nävus, soweit derselbe pigmentiert ist, so
weit derselbe Melanoblasten, oder besser ausgedrückt, Zellet
mit Lipoidkristallen enthält.
ln einem dunkel pigmentierten, zelligen Nävus fander
wir die unterhalb der Epidermis gelegenen einzelnen Nävus
zellen und die nach oben gegen die Epidermis zu gele
genen Nävuszellnester dicht mit Lipoidkristallen erfüllt,
welche als relativ große Nadeln, nach Art von Kristall
drusen, schon im nativen Präparat deutlich sichtbar sind
und sich mit Sudan gelbrot färben. Daneben finden sich
in denselben Zellen alle Uebergänge zu bereits dunklei
gefärbten Kristallen, Kristalloiden und körnigem und an
scheinend auch kristallinischem Pigment. Dort, wo nur ein
oder zwei Kerne vorhanden sind, handelt es sich um ab
gesprengte Melanoblasten allein, dort, wo ganze Zellkom-
plexe von Kristallen durchsetzt und pigmentiert sind, ist
die Unterscheidung zwischen Melanoblasten und sekundär
pigmentierten Zellen schwieriger. Sie gelingt wieder besser
in tieferen Partien des Nävus, wo sich zeigen läßt, daß
nur eine oder die andere Zelle ein Melanoblast ist. Schon
in der Epidermis fällt neben zahlreichen Melanoblasten in
der Basalzellreihe höher im Rete das Vorkommen von
großen runden, mit Kristallen erfüllten Zellen auf, die als
Melanoblasten in Ruhestellung zu deuten sind, ebenso wie
einzelne Zellen in der Kulis, bei welchen sich besonders
deutlich das Hervorgehen des Pigments aus der lipoiden
Vorstufe erkennen läßt. Auch zwischen den Nävuszellen
finden sich solche Ruheformen, die von der Epidermis nach
abwärts immer weniger Pigment und zuletzt nur ausschlie߬
lich Lipoidkristalle, manchmal nur in geringer Zahl, ent¬
halten. In Wasserstoffsuperoxyd verliert das Pigment all¬
mählich an Färbe, dafür treten dann bei Sudanfärbung
die Lipoidkristalle wieder deutlich hervor. Die intensivste
Pigmentation und der reichste Gehalt an Lipoidkristallen
zeigte sich bei einem zelligen Nävus innerhalb eines chro¬
nischen universellen Ekzems ; zellige Nävi aus gesunder
Umgebung ergaben im wesentlichen dieselben Befunde, nur
öfters quantitativ geringer, weniger Melanoblasten, weniger
Pigment und Lipoid, oder in den tieferen Schichten wenig
oder kein Pigment bei vorhandenen Lipoidkristallen, woraus
hervorgehen dürfte, daß daselbst die Melanoblasten auf
ihrem lipoiden Vorstadium beharren können, ähnlich wie
man manchmal eine gleichsam abgeschlossene Pigmentation
mit nur noch wenig Lipoid konstatiert.
Bei diesen Nävi fand sich auch in der Epidermis das
lipoide Stadium der Melanoblasten vorherrschend, ähnlich
wie in einem Fälle von Pemphigus foliaceus, der auch
klinisch keine Pigmentation aufwies. Bei manchen Nä,vi
waren die Lipoidkristalle vielfach kürzer, rhombisch oder
polygonal; das Lipoid näherte sich wirklich oder nur schein¬
bar mehr der Tropfenform, wobei sich aber gerade in
solchen Zellen alle Uebergänge zum Pigment zeigen, Details,
auf welche spätere Untersuchungen eingehen sollen.
Melanoblasten sind Epithelzellen. Indem dieselben
im Bereich der Nävuszellenkomplexe auftreten, ist der
Schluß gestattet, daßi auch die Nävuszelle epithe¬
lialer Abkunft ist und daß beide Zellgattungen zu
gleicher Zeit, in die Tiefe gelangt sind. Dieser Vorgang er¬
innert. am meisten an ein pigmentiertes Ulcus rodens,
welches wir unter den Geschwülsten des Xeroderma pig¬
mentosum beschrieben haben, wo ebenfalls die epitheliale
Neubildung von mit in die Tiefe gelangten Melanoblasten
durchwachsen war. Nach obigem sind Tumoren, die aus
Nävuszellen hervorgehen, als Karzinome und nicht als Sar¬
kome aufzufassen. Ob Melanoblasten allein zur Geschwulst¬
bildung führen können, müßten spätere Untersuchungen
zeigen, aber auch diese Geschwülste müßten als epitheliale
aufgefaßt werden.
Anders wäre es mit Geschwülsten, die aus den oft.
reichlich vorhandenen Chromatophoren hervorgehen, in
welchen sich niemals eine lipoide Vorstufe nachweisen läßt.
284
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
DieseZellen sind mesodermal, aus ihnen dürften die Melano-
sarkome hervorgehen und es spricht für diese Auffassung,
daß wir, wenn auch nur in einem Falle von Melanosarkorn,
das allerdings länger in ,, Kayserling“ gelegen war, auch in
den jüngsten Zellen keine Spur von Lipoid nachweisen
konnten.
Die Technik der Knochenmarkspunktion.
Von Prof. Dr. Giovanni Ghedini.
Einige Kollegen der Wiener Kliniken, die sich für die
Knochenmarkprobepunktion1) interessieren, wandten sich mit dem
Ansuchen an mich, Ihnen näheres über die Ausführung der¬
selben mitzuteilen ; so halte ich es für angezeigt, auch, weil die
Originalarbeit schwer zugänglich sein dürfte, die Technik des1
kleinen Eingriffes, wie ich sie seinerzeit in meiner ersten Mit¬
teilung2) beschrieben habe, hier in extenso bekannt zu geben.
I n s t r u m en t a r i u m . Ich verwende folgende Instrumente :
einen kleinen Bohrer aus Stahl, von 2 oder 5 mm Durchmesser,
je nachdem ; eine (Rekord, Lieber® usw.) Spritze, mit. 'abgestumpf¬
ter, 8 cm langer Kanüle von mittelgroßer Weite flmm); eine
Pinzette mit langen, dünnen Branchen, in zwei gehöhlte Löffelchen
auslaufend, ein Skalpell, den elektrischen Apparat von Seifert.
An Stelle des letzteren kann natürlich jeder andere Elektromotor,
zum Beispiel mit Straßenstromanschluß durch Steckkontakt treten,
oder auch nur eiu Pedalbohrer, wie ihn die Zahnärzte gebrauchen.
Ausführung. Der kleine Eingriff wird in der Höhe des
oberen Schienbein d ritteis vorgenommen, das heißt, auf der vor¬
deren inneiren Fläche der proximalen Epiphyse, die leicht zugäng¬
lich ist.
Wenn es durch besondere Gründe angezeigt erscheint (zum
Beispiel man will den Zustand des Diaphysenmarkes kennen
lernen), so wird die 'Punktion im mittleren Tibiadrittel ausgeführt.
Vorerst wird nun das Operationsfeld gründlich desinfiziert,
mit Alkohol, Karbol usw. ; eventuell genügt der Grossichsche
•Todanstric.h. Dann wird, subkutan, ein Anästhetikum injiziert
("Kokain - Adrenalinmischung) und nun ein Schnitt geführt, nicht
viel mehr als 1 cm lang, welcher durch Haut, subkutanes1 Binde¬
gewebe und Periost gehen muß und direkt die Knochen ober fläche
angreifen soll. Jetzt wird die Spitze des Bohrers angesetzt;
der Bohrer muß senkrecht zur Knochenoberfläche stehen und mit
mäßigem und gl e i chblei bend ein Druck an den Knochen gedrückt
werden.
Es ist darauf zu achten, daß die Wundränder weit ausein¬
anderstehen. Benützt man, wie ich, den elektrischen /Antrieb,
so wird 'zuerst eine geringere, dann eine etwas 'größere Geschwin¬
digkeit — etwa 1000 Umdrehungen in der1 Minute — angewendet,
die dann bis zur vollendeten Perforation beibehalten wird. Dabei
sind Unterbrechungen tunlichst zu vermeiden, denn heim Wieder-
einsetzen der Bewegung ereignen sich gewöhnlich brüske Stöße,
welche oft dein Bohrer aus der früheren Richtung ablenken. Das
plötzliche Fehlen des Widerstandes zeigt, uns an, daß die Per¬
foration komplett ist.
In diesem Moment, kommt es zuweilen vor, daß der Trepan
mit der Spitze in die Pulna ©indringt. Dies 'Vorkommnis ist völlig
bedeutungslos. Gewöhnlich beträgt die für die Trepanierung an-
gewendete Zeit drei Minuten. Bevor man jetzt den Bohrer entfernt,
ist es gut, die Kanüle oder die Pinzette mähe an die Wunde her an -
znbringen, um sofort, eine der beiden in den Knochenkanal ein¬
führen zn können.
Die Kanüle wird mit Mandrin armiert eingeführt, man geht,
etwas tiefer in die Pulpa, entfernt den Mandrin, setzt die Spritze
auf und saugt au. Wenn so kein Material zu erhalten ist, so
nehme man nochmals zum Mandrin seine Zuflucht, oder man
teile der Kanüle leichte seitliche Bewegungen mit. um so kleine
Gewebsteile zu zertrümmern .
Die Pinzette wird, senkrecht zur Schienbein achse, mit halb¬
geöffneten Branchen eingeführt. Es ist gut, auch1 diese leicht nach
den Seiten zu bewegen. Dann schließt man die Branchen und
damit, zugleich den kleinen Raum1 zwischen den Löffelchen und
zieht, rasch heraus.
Das in der einen oder der anderen Weise gewonnene Ma-
lerial wird nun für die zweckmäßigen Untersuchungen vorbereitet:
entweder streicht man es auf Deckgläschen aus, oder man härtet
es in den gebräuchlichen Lösungen, oder man impft es auf Nähr¬
böden, oder man bewahrt es in sterilen Behältern auf.
Zuweilen bemerkt man eine geringfügige Blutung aus der
WnmU, pie wird jedoch durch einen Gazetampon alsbald gestillt.
P Diese Wochenschr. 1910. Nr. 51.
U Oljpjca rnedica jtaliana 1908.
Zuletzt verschließt man die Hautwunde durch eine Naht und
verbindet.
Während des ganzen Eingriffes klagt der Patient, bei An¬
wendung von Lokalanästhesie, fast nie über Schmerzen, oder
doch nur über sehr geringfügige.
Es ist überflüssig, zu betonen, daß die Instrumente voll¬
kommen steril sein müssen und daß die strengste Asepsis ge¬
wahrt werden soll.
Die A bslrichprä parate habe ich in der Hitze oder in der
Alkohol- Aethermischung, die mit der Pinzette gewonnenen Ge¬
websteilchen in den verschiedenen Alkoholen oder in anderen
Flüssigkeiten fixiert; diese zweite (Piiizette-)Methode empfiehlt
sich besonders, wenn man die feinsten Straktureigentümlich-
keiten, das Verhältnis der Elementarbestandteile zueinander usw..
kennen lernen will.
Sowohl die Abstrichpräparate als die Schnitte wurden mit
Hämalaun -Eosin, mit. Eosin, Methylenblau, mit Ehrlichs Tria¬
zid, mit Gieirisalösung, mit Pappenheimscher Lösung usw.
gefärbt.
Wien, Februar 1911.
Diskussion.
Erwiderung auf die kritischen Bemerkungen
Mayerhofers über meine Resultate bei Per¬
manganattitration des Liquor cerebrospinalis.
Von Dr. med. G. Simon.
In der in Nr. 6 dieser Wochenschrift von Mayerhofer
geübten Kritik meines Berichtes über die Permanganattitration
von Lumbalflüssigkeiten, auf deren zum Teil recht persön¬
lichen Ton zu erwidern ich keineswegs' die Absicht habe, ver¬
misse ich vor allem eine genauere AVürdigung gerade der Fälle,
auf die ich, wie mehrfach betont, das Hauptgewicht legen möchte.
(Fall IX bis XIX.)
Es interessiert mich speziell die Frage, ob die Reduktions¬
bestimmung eine geeignete Methode zur Differenzierung der Menin¬
gitis tuberculosa von den klinisch oft sehr ähnlichen Fällen von
Meningismus hei Pneumonie darstellt.
Auf Grund meiner Protokolle — ich verweise hier
auf die fast gleichlautenden Zahlenwerte in Fall XI, XII und XIV
(Meningitis tuberculosa) und Fall XV, XVI, XVIII und XIX
(Pneumonie) — behaupte ich nach wie vo,r, daß die Diffe-
rcntialdiagnose dieser Fälle einstweilen mit weit größerer Sicher-
heil, wenn auch erst nach 24 Stunden, nach dem Ausfallen
des Fibrinnelzes (und Nachweis von Tuberkelbazillen), als nach
der von Mayerhofer angegebenen Methode gestellt werden
kann.
Ueber den prognostischen Wert der Methode bei der Serum-
thiorapie der Meningitis cerebrospinalis habe ich, da mir ge¬
eignete Fälle nicht genügend zur Verfügung standen, keine Unter¬
suchungen vorgenommen, mir aber auch, wie aus den Schlu߬
worten deutlieb genug hervorgeht, keinerlei Urteil hierüber erlaubt.
Referate.
Taschenbuch der pathologischen Anatomie. — Dr. Werner
Klinkhardts Kolleghefte.
Von Prof. Dr. Edgar Gierke.
Heft 5 :
Allgemeiner Teil.
Heft 6 :
Spezieller Teil.
Leipzig 1911, Dr. W. Klinkhardt.
Die beiden vorliegenden Hefte entstammen einer Sammlung,
die nach den einleitenden Worten des Verlegers im Laufe der
Zeit, erweitert werden und möglichst alle Wissenszweige um¬
fassen soll. Das Unternehmen soll Lehrbücher nicht ersetzen,
sondern die Hefte sollen neben den Lehrbüchern gebraucht
werden, ,,es soll sozusagen der eiserne Bestand jedes Kollegs
geboten werden, das Individuelle muß haudsehriftlich hinzu¬
gesetzt. werden“. Dieser Bestimmung trägt auch die äußere Aus¬
stattung der Hefte Rechnung, indem mehr als ein Dritteil jeder
Seite unbedruekt blieb, leere Blätter in den Text eingeschaltet
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
285
und auch am Schlüsse beigeheftet wurden. Auch der Verfasser
bezeichnet das Büchlein nur als Kollegheft, das die Vorlesung
nicht überflüssig erscheinen lassen, sondern im Gegenteil das
wahre Verständnis derselben vermitteln soll. Seine Absicht war
es, „eine Befreiung vom rein Stofflichen anzubahnen und die
Grundtatsachen in möglichst übersichtlicher und knapper Weise
als Grundstock der Vorlesung dem Studenten in die Hand zu
gehen“. Demgemäß mußte der ganze Lehrstoff der pathologi¬
schen Anatomie in knapper Form, fast nur in Schlagworten, dar¬
gestellt werden. Diese Aufgabe hat der Verfasser auch zweifellos
glücklich gelöst. Soweit es der enge Rahmen des Buches möglich
machte, hat Verf. eine vortreffliche Uebersicht sowohl der all¬
gemeinen, als der speziellen pathologischen Anatomie geliefert
und in allen Kapiteln die wesentlichsten Tatsachen oder die
wichtigsten Eigenschaften der in Betracht kommenden Verände¬
rungen in aller Kürze skizziert, wobei natürlich strittige oder
derzeit noch in Diskussion stehende Fragen wegbleiben mußten.
Auch die sorgfältige Auswahl und vortreffliche Ausführung der
Abbildungen verdient alle Anerkennung.
Würden diese Kolleghefte tatsächlich nur als solche im
Sinne ihres Verfassers und des Herausgebers verwendet werden,
so könnten sie dem Studierenden vielfach von Nutzen sein, weniger
wohl zum Gebrauch während der Vorlesung, eher vielleicht als
kurzes Repetitorium. Die Erfahrung lehrt aber, daß viele Stu¬
denten ihr Wissen ausschließlich aus kleinen Kompendien oder
den berüchtigten: „Skripten“ holen und, wo solche erhältlich
sind, das Studium größerer Lehrbücher ganz unterlassen. Kurze
Repetitorien mögen nun allenfalls ausreichen, um den Studenten
für das Examen einzupauken, sie können ihm aber naturgemäß
niemals eine wirkliche Kenntnis des betreffenden Wissenszweiges
vermitteln, da sie bei der gebotenen Raumbeschränkung kaum
mehr als eine Uebersicht des Stoffes bieten können. Alle der¬
artigen Bücher, mögen sie auch so vorzüglich abgefaßt sein
wie das vorliegende Taschenbuch der pathologischen Anatomie,
verleiten nur allzu leicht den Studenten zur Oberflächlichkeit und
dieser Nachteil überwiegt nach Ansicht des Referenten bei weitem
den geringen Nutzen, den sie allenfalls bei zweckentsprechender
Anwendung haben könnten.
‘ ' *
Die Krankheiten der warmen Länder.
Ein Handbuch für Aerzte.
Von Geh, Medizinalrat Dr. TL Schenke.
Vierte, umgearbeitete und erweiterte Auflage.
Jena 1910, Gustav Fischer.
Scheubes Handbuch bedarf wohl kaum mehr einer be¬
sonderen Empfehlung, es hat sich seit langem bereits einen wohl¬
verdienten Ruf erworben. Der Tropenpathologie wird allenthalben
das größte Interesse entgegengebracht, zahlreiche Institute be¬
schäftigen sich ausschließlich mit dem Studium der Tropenkrank¬
heiten unld mehrere Zeitschriften sind demselben gewidmet. Die
Erforschung dieser Krankheiten ist sowohl von hohem theore¬
tischen Interesse, als von größter praktischer Wichtigkeit, seit
mehrere Länder ausgedehnten Kolonialbesitz in den Tropen er¬
worben haben, jährlich viele Staatsangehörige dorthin auswan-
dem und zahlreiche europäische Aerzte sich in den Tropen
niederlassen. Tatsächlich hat auch die Erkenntnis der Tropen¬
krankheiten im Laufe der letzten Jahre ungeheure Fortschritte
gemacht und es war keine leichte Arbeit für den Verfasser, in
seiner Darstellung durchwegs dem heutigen Stande der Wissen¬
schaft gerecht zu werden. Wie 'er in der Vorrede zur vorliegenden
Neuauflage hervorhebt, konnte kein Kapitel unverändert bleiben
und eine ganze Anzahl von Kapiteln mußte neu aufgenommen
werden. So ist denn auch der Umfang des Werkes im Laufe
der Jahre stattlich angewachsen, es umfaßt heute bereits mehr
als 1000 Seiten; Anordnung und Gliederung des Stoffes er¬
fuhren im wesentlichen keine Aenderung. Jedenfalls ist es dem
Autor vollständig gelungen, auch in dieser Auflage alle Fort¬
schritte der Tropenmedizin zu berücksichtigen und ein unentbehr¬
liches1 Nachschlagewerk allen jenen zu liefern, die sich für
diesen Zweig der Medizin interessieren. Von ganz besonderem
Wert dürften die umfangreichen Literaturnachweise am Schlüsse
jedes Kapitels sein, die das Auffinden der gerade auf diesem
Gebiet, so vielfach verstreuten, oft kaum erreichbaren Einzel
arbeiten, wesentlich erleichtern. Zweifellos wird daher auch die
vorliegende Auflage dieselbe Anerkennung und weite Verbreitung
finden wie ihre Vorgänger. Carl Sternberg.
*
Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen.
Bearbeitet von Charles R. Bardeen, Madison, Wis. U. S. A.; Herbert.
M. Evans, Baltimore, U. S. A.; Walter Felix, Zürich; Otto Grosser.
Prag; Franz K e i b e I, Freiburg; Frederic T. L e w i s. Boston, Mass.
U. S. A.; Warren H. Lewis, Baltimore, U. S. A.; John Playfair
Me. Mur rieh, Toronto, Canada; Franklin P. Mall. Baltimore, U. S. A:
Charles S. Minot, Boston, Mass. U. S. A.; Felix Pinkus, Berlin;
Florence R. S a b i n, Baltimore, II. S. A.; George L. Streeter, Ann
Arbor, Mich., U. S. A.; Julius Tandler, Wien; Emil Zuckerkand!.
Wien.
Herausgegeben von Franz Keihel. Professor an der Universität Freiburg
und Franklin P. Mall, Professor der Anatomie an der Johns Hopkins
University, Baltimore U. S. A.
In zwei Bänden.
Erster Band mit 423 Abbildungen.
Leipzig 1910, Verlag von S. Hirzel.
Das vorliegende Werk ist das erste Handbuch der Ent¬
wicklungsgeschichte des Menschen, das nahezu ausschließlich auf
Grund von Untersuchungen an menschlichen Embryonen geschrie¬
ben wurde, und daher von vornherein des größten Interesses sicher.
Bis vor kurzem waren — wie Keibel in der Einleitung mit
Recht, bemerkt — die Lücken in unseren Kenntnissen von der
Entwicklung des Menschen noch so groß und so zahlreich, daß
man zur vergleichenden Embryologie seine Zuflucht nehmen
mußte, um die fehlenden Studien der menschlichen Entwicklung
zu ergänzen. Daß ein solcher Vorgang nicht befriedigend
war, ja sogar die Quelle mannigfacher Irrtümer bilden
mußte, wurde immer klarer, je mehr die immer weiter
vordringende Forschung lehrte, daß die Entwicklung jeder
Tierart vom Stadium der Eizelle an von speziellen Ge¬
setzen beherrscht wird. Es bildet ein besonderes Verdienst
Keibels, die Vertiefung dieser Erkenntnis durch Herausgabe
der „Normentafeln zur Entwicklungsgeschichte der Wirbeltiere“
wesentlich gefördert zu haben, da diese ein großes, teils von
ihm selbst, teils von anderen Forschem gesammeltes Material
über die Ontogenese einer Reihe von Verte b ratens p ezies ent¬
halten. Als eine dieser Normentafeln erschien im Jahre 1908,
von Keibel und Elze bearbeitet, jene, welche den Menschen
betrifft. Damit, war eine wichtige Grundlage geschaffen, so daß
nunmehr die größere Arbeit mit berechtigter Hoffnung auf Er¬
folg in Angriff genommen werden konnte.
Zur Geschichte des Buches erfährt man aus der Einlei¬
tung, daß schon der verstorbene Leipziger Anatom Wilhelm
His mit Keibel den Plan erwogen hatte, eine ausschließlich
auf menschliche Embryonen bezugnehmende Entwicklungs¬
geschichte herauszugehen. Zirm vorliegenden Werke verband
sich Keibel mit Mall, „einem der treuesten Schüler His“; es
wurden — wie aus dem Titel ersichtlich — noch zahlreiche an¬
dere Forscher, größtenteils aus Amerika, zur Mitarbeiterschaft
herangezogen. Die Auswahl war so getroffen, daß fast sämtliche
Kapitel von Autoren bearbeitet werden konnten, die ihre besondere
Eignung hiefür bereits durch Spezialarbeiten über die Themen
jener Kapitel bewiesen hatten.
Die Einteilung des etrsten Bandes ist folgende ; Die ersten
sechs Kapitel (die Geschlechtszellen, die Befruchtung, die Fur¬
chung, jüngste menschliche Eier und Embryonen bis zur Bil¬
dung der ersten Ursegmente, die Bildung der Keimblätter und
das Gastrulationsproblem, Ueberblick über die Gesamtentwick¬
lung des Menschen und die Herausbildung seiner äußeren Körper¬
form) stammen aus der Feder von Keibel selbst. Die beiden
kurzen Kapitel über Befruchtung und Furchung sind die ein¬
zigen, in denen sich der Verf. mit dem Hinweis auf die Ver¬
hältnisse bei Tieren begnügen mußte. Die Kapitel über die jüngsten
menschlichen Eier und über die Bildung der äußeren Körperform
sind mit besonderer Gründlichkeit und genauester Sachkenntnis
gearbeitet und dürften gewiß jedem Geburtshelfer hoch will¬
kommen sein. Bezüglich des Gastrula.tionsproblems verwirft.
Keihel die von ihm seihst begründete und von O. Hertwig
in sein Handbuch aufgenommene Lehre von der Gastmlation
28fi
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
in zwei Phasen und vertritt jene Anschauung, der er zusammen
mit Hu brecht vor fünf Jahren zuerst Ausdruck gegeben hat.
Dieser zufolge würde das Stadium des Primitivstreifens lediglich
den Ausgang für die Bildung des Mesoderms und der Chorda,
die ein Produkt des äußeren und nicht des inneren Keimblattes
sei, darstellen.
Das 7. Kapitel behandelt „die Entwicklung der Eihäute und
die Plazenta; die Menstruation“. Sein Verfasser ist 0. Grosser,
der bekanntlich über denselben Gegenstand bereits ein vortreff¬
liches Lehrbuch veröffentlicht hat.
Mall hat das 8. und 9. Kapitel beigesteuert. Im ersteren
wird „die Altersbestimmung von menschlichen Embryonen und
Föten“ in erschöpfender Weise auseinandergesetzt; dasi letztere
betrifft „die Pathologie dels menschlichen Eies“. Und wenn darin
auch das Interesse des Embryologen und nicht jenes' des Geburts¬
helfers zur Geltung gelangt, so enthält es doch zahlreiche, auch
für diesen höchst wichtige Angaben.
Das 10. Kapitel (Entwicklung der Haut) schrieb Pinkus.
Auffallend ist die Einleitung seiner im übrigen sehr sorgfältigen
Abhandlung : „Die Epidermis stellt vom Beginn der Körperbil¬
dung an die äußere Hülle des Menschen dar. Sie besteht anfangs
aus einer gleichmäßig glatten zweischichtigen Lage“. Diese An¬
gabe widerspricht den Tatsachen, denn die Epidermis der Am-
niote'n ist im Gegensatz zu jener der Knochenfische oder Am¬
phibien, die sich aus einer Deckschicht und einer Sinneschicht
zusammensetzt, anfangs einschichtig. Die Sonderung in Peri¬
derm und Keimschicht ist erst die Folge höherer Differenzierung.
Das 11. Kapitel stammt von B. Bardeen und betrifft die
Entwicklung des Skelettes und des Bindegewebes. Es zerfällt
in einen allgemeinen Teil, die Histogenese der Bindegewebsgruppe
und einen speziellen, die Morphogenese des Skelettsystems. Der
erstere ist nicht glücklich abgefaßt. Denn einerseits werden hier
- scheinbar mit Rücksicht auf die notwendige knappe Form —
selbst grundlegende Arbeiten nicht erwähnt, anderseits sind
Theorien ausführlich widergegeben, die es wahrlich nicht ver¬
dienen. Charakteristisch ist der Satz, mit dem Bardeen den
Abschnitt betreffend den Bau und die Entwicklung des Knochens
eröffnet: „Der histologische Aufbau dies Knochens ist noch
strittig“. Auf diese Behauptung pas'seln die AVorte v. Ebner s', mit
welchen sich dieser gegen die Darstellung Nowikoffs vom
Bau des Knochens wendet. („Ueb'er Fasern und Waben. Eine histo¬
logische Untersuchung der Haut der Gordiiden und der Knochen¬
grundsubstanz“ in Sitzungsber. d. Kais. Akad. d. Wissenschaften,
mathem.-naturwiss. Kl. 119. Bd.) : „Eine Unklarheit (über die
Knochenstruktur) ist nur dann vorhanden, wenn man alle ge¬
äußerten Ansichten als gleichberechtigt nebeneinander stellt und
einem unbegründeten Einfall dasselbe Gewicht beilegt wie einer
methodisch durchgeführten Untersuchung.“ Vielleicht ist üb¬
rigens weniger ein Mangel an Kritik als ein Mangel in der Kenntnis
der Literatur bei der Darstellung Bardeens von Einflußi ge¬
wesen. Beiweitem am ausführlichsten gibt er die Angaben Malis
betreffend die Histogenese der Bindesubstanzen wieder.
Im Gegensatz zum allgemeinen Teil ist die Bearbeitung der
Morphogenese des Skelettsystems eine sehr sorgfältige. Sie um¬
faßt 136 Seiten und bildet die erste detaillierte Darstellung der
Entwicklung des ganzen Skelettes des Menschen.
Ebenso stellt die von H. Lewis bearbeitete Entwicklung
des Muskelsystems eine Zusammenfassung der verschiedenen Ar¬
beiten über die Entwicklung der einzelnen Muskelgruppen dar,
wie sie die embryologische Literatur in dieser Vollständigkeit
bisher nicht aufzuweisen hatte. Der Wert dieser Zusammen¬
fassungen wird noch dadurch erhöht, daß sie ein höchst per¬
sönliches Gepräge besitzen, da sowohl Bardeen wie H. Lewis
auf jenen Gebieten selbst sehr wertvolle Untersuchungen ge¬
liefert haben. Bezüglich der Histogenese der Muskulatur verdient
angemerkt zu werdein, daß sich Lewis bei Schilderung der
Entwicklung der glatten Muskelfasern auf Mac Gill stützt,
welche die zelluläre Natur derselben — unberechtigter Weise
— leugnet und sie nur als Myofibrilleinbündel betrachtet, die in
einem Syncytium zur Differenzierung gelangen.
Im letzten (13.) Kapitel beschreibt Mall die Entwicklung
von Cölom und Zwerchfell.
Schon aus dieser kurzen Inhaltsangabe ist ersichtlich,
daß das von K ei bei und Mall herausgegebene Buch
nicht nur wegen der ausschließlichen Berücksichtigung des Men¬
schen, sondern auch wegen seiner Gediegenheit wert ist, in keiner
größeren medizinischen Bibliothek zu fehlen. Für die Fach¬
genossen bildet eis ein längst gewünschtes Hilfsbuch beim Stu¬
dium und Unterricht, insbesondere auch aus dem Grunde, weil
jedes Kapitel mit einem reichen Literatur-Verzeichnis ausgestattet
ist. Und der praktische Arzt, der zwar in der Anatomie, nicht
aber in der Entwicklungsgeschichte geschult ist, wird darin die
Antwort auf so manche Frage finden, daß' auch ihm die Lektüre
des Buches nur warm empfohlen werden kann.
H. 'Rabl.
*
Die Elemente des Herzmuskels.
Von A. Dietrich.
(12. Heft der Sammlung anatomischer und physiologischer Vorträge und
Aufsätze von E. G a u p p und W. Nage 1.)
46 Seiten.
Jena 1910, G. Fischer.
Ausgehend von der Ueberzeugung, daß die Kenntnis vom
Bau und der Zusammensetzung des Herzmuskels die Grundlage aller
experimentellen Forschung und klinischer Beobachtung bilden muß,
erörtert Verf. kritisch auf Grund fremder und eigener Unter¬
suchungen und Beobachtungen 1. die Frage nach dem zellulären
Aufbau des Herzens, die mit der nach dem Wesen der sogenannten
Quer- oder Kittlinien zusammenfällt, 2. die Kernveränderungen
und 3. die spezifischen Muskelelemente. Der Verfasser konnte die
Querlinien im menschlichen Herzen ohne Ausnahme darstellen
(er empfiehlt dazu am meisten die Doppelfärbung mit Brillant-
schwarz-Safranin). Ebenso vermißte er sie bei Tieren (Kaninchen,
Hund, Schaf) niemals. Die Agone, sowie der Kontraktionszustand
des Herzens als Ganzen sind ohne Einfluß auf ihr Zustandekommen.
Ihre Form und Anordnung ist charakteristisch für jedes Herz. Im
fötalen Herzen fehlen sie, beim Neugebornen sind sie schwer dar¬
zustellen ; sehr rasch treten sie aber schon in den ersten Lebens¬
monaten auf, um bei Abschluß des physiologischen Wachstums
ihre höchste Ausbildung zu erlangen. Besonders deutlich sind sie
im atrophischen Herzen ; im hypertrophischen erscheinen sie weiter
auseinandergerückt, die großen Treppen fehlen ganz und an den
Querlinien erscheinen die hypertrophischen Fasern gleichsam etwas
eingezogen, zusammengerafft. Vergleichende Zählungen von genau
entsprechenden Stellen ergaben im gleichen Gesichtsfeld für das
normale Herz 18 bis 20, für das atrophische 21, für das hyper¬
trophische 9 bis 13. Bei fettiger Degeneration bleiben die Quer¬
linien stets fettfrei. Eine sehnige Natur der Linien lehnt Dietrich
ab ; er faßt sie als verdichtete kontraktile Substanz auf und ver¬
gleicht sie den zusammen raffenden Knoten eines grobmaschigen
Gewebes, welche die auseinanderstrebenden und in verschiedener
Richtung wirkenden Fibrillen zu gleichgesinnten Gruppen, zu
isoaxiokontraktiler Wirkung (Ren aut) vereinigen. Damit stimmt
ihre Verteilung, die dort am reichlichsten ist, wo die stärkste
Plexusbildung sich findet, in den Trabekeln und Papillarmuskeln.
Die Kerne des Herzmuskels sind de norma sehr verschieden
gestaltet — einfache Leisten- oder Plattenkerne, aufgeblähte und
stäbchenförmige Kerne — so daß aus Kernveränderungen nicht
auf degeneralive Vorgänge im Herzmuskel geschlossen werden kann.
Das Reizleitungssystem konzentriert sich an zwei Stellen : im
Winkel zwischen Koronarvenensinus und Vorhof (Sinusknoten) und
zwischen Vorhof und Ventrikel (Atrioventrikularknoten).
Verlauf und Endausbreitung dieses Systems werden genau
beschrieben. Im Zusammenhang damit werden die Pur kinjeschen
Fasern des Schafherzens besprochen. Fasern von übereinstimmendem
Bau kommen beim Menschen nicht vor ; doch zeigt jede Tierart
graduell vom Bau der P urk i nj eschen abweichende, eigentüm¬
liche Fasern und auch der Mensch besitzt im Reizleitungssystem
ein solches spezifisches Fasersystem, dessen histologischer Aufbau
genau beschrieben wird. Auch auf das Vorkommen großer Massen
von glatten Muskelfasern, in der Vorhofswand (Aschoff) und in
der Kammerwand, besonders im glatten Abschnitt der Aortenaus¬
flußbahn (Dietrich) wird hingewiesen. Auch die Beziehungen
des Reizleitungssystemes zu den Nerven wird berührt ; Verf.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1Ü1L
287
spricht aber auch die Vermutung aus, ob nicht dem reichlichen
Sarkoplasma der Reizleitungsfasern eine funktionelle Rolle bei der
Reizaufnahme zukomme. Josef Schaffer, Wien.
Aus \/ersehiedenen Zeitschriften.
192. (Aus dem Allgem. Krankenhaus© St. Georg in Ham¬
burg. — Prof. Dr. Deneke.) Ueber Entstehung und Be¬
handlung der Ischias scoliotic a. Von Dr. Erich Plate.
In den letzten Wochen bekam Verf. zufällig fast gleichzeitig
sieben Fälle von Ischias scoliotica zur Behandlung, in allen
sieben Fällen (fünf männlich und zwei weiblich) bot sich ein
völlig übereinstimmendes Bild: Neben einer Ischias fand sich
eine sogenannte heterologe Skoliose, das heißt der Oberkörper
des Kranken war nach der Seite des gesunden Beines hinüber-
geneigt. Diese Schiefhaltung der Wirbelsäule, bei allen Kranken
nicht gleich stark, bestand — wie es L. Schultheß beschreibt
— im allgemeinen in einer Abknickung der Wirbelsäule an der
sakrolumbalen Grenze und einer sich daran schließenden, flach
aufsteigenden, das auf dem Kreuzbein errichtete Lot selten er¬
reichenden skoliotischen Biegung der Wirbelsäule. Dieses Sei t-
aufwärtssteigen ist sehr charakteristisch. Mit der Abknickung nach
der Seite ist gewöhnlich eine Ausgleichung der Lordose und eine
Vorneigung des Trunkus verbunden. Diese Vorneigung äußert
sich nicht, selten in einer sakrolumbalen oder lumbalen Kyphosen¬
bildung. Der Verfasser beschreibt kurz seine sieben Fälle und
gibt hübsche Abbildungen derselben. Bei allen Kranken zeigte
es sich nun mit auffallender Uebereinstimmung, daß jede Sko¬
liose, einerlei, welchen Grades sie war und wie lange sie be¬
standen hatte, bei gewissen Körperhaltungen (Aufrichten aus der
Rückenlage, Sitzen auf einem Stuhle) sofort verschwand. Beugte
der stehende Kranke den Oberkörper vornüber, so verschwanden
völlig alle seitlichen Verbiegungen, kniete der Kranke, so blieb die
Skoliose unverändert, wenn das Hüftgelenk gestreckt war, wäh¬
rend sie sofort wieder verschwand, sobald sich der Kranke auf
seine Haken setzte. Auch wenn sich der Kranke auf den Bauch
legte, war die Wirbelsäule gerade. Legte man dem, Kranken eine
Glisson sehe Schlinge an und zog diese so weit an, daß seine
Fußspitzen nur eben noch den Boden berührten, so blieb die
Skoliose unverändert. Aus diesen und anderen Tatsachen gelangt
Verf. zu folgenden Schlußsätzen: Bei der Ischias scoliotica sind
mehr oder weniger ausschließlich nur die Wurzeln des Nerven
krank. Durch Vermittlung zahlreicher Anastomosen findet leicht
ein Uebergang auf den Plexus lumbalis statt. Dadurch entsteht
eine Neuralgie der sensiblen Muskeläste des Iliopsoas. Infolge
der Schmerzhaftigkeit sträubt sich der Iliopsoas gegen völlige
Streckung, darum wird das Hüftgelenk etwas gebeugt gehalten,
kann aber in dieser Stellung wegen der Schmerzhaftigkeit bei
Kontraktion des Iliopsoas nicht festgeistellt werden, also nicht
als Stütze dienen. Wegen der Verkürzung des Beines wird das
Becken schräg gestellt, um balancieren zu können, muß eine
skoliotische Haltung der Wirbelsäule eingenommen werden. Neben
der Ischias muß die Myalgie des Iliopsoas behandelt werden. Der
Verfasser beginnt also die Behandlung mit dem Sandbade, aus
welchem der Kranke in eine große Wanne mit heißem Wasser
gebracht wurde. In dem Bade wurde (nach Brieger) der Ischi-
adikus massiert und durch Erheben des gestreckten Beines durch
einen Wärter gedehnt. Dann wurde durch tiefe Massage von
den Bauchdecken her oder, indem die Hand am; Rücken seitlich
von den langen Rückenstreckern eindrang, der Psoas massiert
und, indem man den Kränkeln in die Bauchlage brachte, gedehnt
durch Ueberstreckung des Hüftgelenkes. Hinterher wurde durch
Grandination (Münchener med. Wochenschrift 1909, Nr. 10) nicht
nur neben der Lumbalwirbelsäule, sondern auch entlang dem
ganzen Verlauf des Ischiadikus ein starker Hautreiz gesetzt. Bei
dieser Behandlung wurde in vier Wochen längstens ein völliges
Verschwinden der Schmerzen und der Skoliose erzielt. In drei
Fällen machte Verf. daneben auch eine Injektion in den Psoas
von 15 cm3 einer Lösung von Eukain und Alypin. Der Verfasser
beschreibt, wie er dabei vorgeht, um die Lösung sicher in den
Psoas zu injizieren. Die Injektion war nicht sehr schmerzhaft
und brachte allen Kranken entschiedenen Nutzen. Nachhaltiger
wirksam schien ihm die physikalische Therapie. — (Deutsche
mediz. Wochenschrift 1910, Nr. 3.) E. F.
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193. Diei Umwandlung des S taphy 1 ococc us1 aureus
in Staphylococcus albus. Von Dr. E. Palier in NewYork.
Verf. isolierte vor mehreren Jahren im Berliner Hygienischen
Institut aus dem Magensafte eines Patienten, der an Magenkrebs
litt, den Staphyylococcus pyogenes aureus in Reinkultur und
brachte eine Probe davon auf Agar im Reagenzglas1 nach New York
mit. Es waren echte goldfarbige Staphylokokken. Nach zehn
Monaten wollte Verfasser frische Kulturen haben. Der Agar im
Reagenzglas war aber ganz ausgetrocknet und eine Reinokulierung
davon auf frische Nährböden blieb ohne Wachstum. Verf. fügte
nun den alten Kulturen im Reagenzglas etwas sterilisiertes Wasser
zu, mischte sie zusammen und machte davon Agar-Strichkulturen.
Das Wachstum war sehr üppig, es warein aber nicht mehr gold¬
farbige, sondern ganz weiße Kulturen. Dieser Umstand ist nach
Verf. nach zwei Richtungen interessant: 1. zeigt er, daß trockene,
scheinbar tote Kulturen, manchmal doch noch lebensfähig sind,
was vom hygienischen, sowie vom Laboratoriumsstandpunkte
aus wichtig ist; 2. daß die Farbe der Mikroben nicht unab¬
änderlich ist, sondern unter Umständen ganz verschwinden kann.
Es ist also eine strikte Klassifizierung der Mikroben nach ihrer
Farbe, wie es von manchen Autoren geschieht, nicht haltbar.
- (Münchener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 5.) G.
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194. U e b e r e, ine neuere Modifikation meines V e r-
fahrens zur Wegsammachung der Eustachischen
Ohrtrompete. Von Prof. Dr. A. Politzer in Wien. Die
neuere Modifikation besteht in der Anwendung der Luftdusche
während einer scharfen Inspiration. Das mit dem Ansatzstücke
des Ballons verbundene elastische Gummiröhrchen wird 1 bis
2 cm tief in die Nasenröhre eingeführt, hierauf werden beide
Nasenöffnungen durch Kompression mit Daumen und Zeigefinger
der linken Hand luftdicht geschlossen (das elastische Gummi¬
röhrchen darf dabei nicht zusammengedrückt werden), dann macht
der Kranke durch did verengte Mundspalte — ähnlich wie beim
Pfeifen - — eine scharfe Inspiration, während welcher der Arzt
durch eine kräftige Kompression des Ballons die Lufteintreibung
vornimmt. Zumeist gelingt das so geübte Verfahren, in ein¬
zelnen Fällen aber mißlingt es und da kann 'man sich noch damit
helfen, daß man dem Kranken ein kurzes Stück eines 2 bis
3 mm weiten Gummischlauches zwischen die Lippen fassen und
durch dieses während der Lufteintreibung scharf inspirieren läßt.
Bei der scharfen Inspiration tritt Verschluß der Gaumenklappe,
zugleich ein Zug des Gaumensegels nach unten ein, wodurch
der Tubenkanal erweitert und das Einströmen der Luft in die
Trommelhöhle erleichtert wird. Der Luftstrom gelangt also hier
mit geringerer Druckstärke in die Trommelhöhle als beim Ver¬
fahren mit dem Schlingakte. Es gibt Fälle von rezenten oder
chronischen Tuben -Trommelhöhlenkatarrhen, bei welchen wegen
starker Schwellung der ganz.en Tubenschleimhaut die Luftdusche
mit dem Schlingakte nicht hinreicht, den Widerstand der Ohr¬
trompete zu überwinden, weshalb man zum Katheterismus tubae
greifen muß, ohne auch durch diesen stets den gewünschten
Erfolg zu erziele|n. In solchen Fällen gelingt es häufig mit dem
neuen Verfahren, den für andere Methoden unwegsamen Tuben¬
kanal zu eröffnen und erne eklatante Hörverbesserung herbei¬
zuführen. Später gelingt dann auch die Luftdusche mit dem
Schlingakte oder der Katheterismus. Ferner wurden durch die
Luftdusche bei scharfer Inspiration die im hinteren Abschnitte
des Nasenrachenraumes und an der Tubenmündung lagernden
Schleimmassen gründlicher als bei den anderen Methoden der
Luftdusche in den unteren Rachenraum befördert. Die subjektive
Erleichterung : Abnahme der subjektiven Geräusche, Schwinden
der Eingenommenheit des Kopfes und des lästigen Druckes in den
Ohren, sind ebenso wie bei dem ursprünglichen Verfahren als
fernere Vorzüge des neueren Verfahrens hervorzuheben. Diese
Modifikation hat Verf. vielfach bei den mit Schwellung und lm-
permeabilität der Ohrtrompete einhergehenden Mittelohrkatarrhen
mit Erfolg angewendet, nur die Hörzunahme blieb in der Mehrzahl
der Fälle hinter der Wirkung der Luftdusche mit dem Schling¬
akte zurück, endlich auch bei akuten Mittelohrentzündungen,
288
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
nach dem Abklingen der mit Schmerz verbundenen Reaktionssym-
ptome, da erfahrungsgemäß in diesen Fällen kräftige Luftströme
(Luftdusche mit dem Schlingakte oder Katheterismus) kontra¬
indiziert sind. — (Die Therapie der Gegenwart, Januar 1911.)
E. F.
«
195. Selbstmordversuch mit Bromural. Fon Doktor
E. Rieger, Stadtarzt i'n Schwaigern (Württemberg). Selbstmord¬
versuche mit modernen Schlafmitteln sind nicht selten. Dem
Bromural wird im Gegensätze zu vielen anderen völlige Unschäd¬
lichkeit zugeschrieben. Schon Runck erwähnt, daß Erwach¬
sene experimenti causa 20 Tabletten = 6-0 g ohne Schaden
auf einmal genommen hätten. Ein junges Mädchen in Ru߬
land hat bei einem Selbstmordversuche 15 Tabletten Bromural
genommen und ist am nächsten Morgen ohne Beschwerden er¬
wacht. Zum Beweise der Ungiftigkeit des Bromurals berichtet
Verf. über folgenden Fall: Eine 54jährige Frau mit nervöser
Schlaflosigkeit nahm offenbar in selbstmörderischer Absicht zwölf
Stück Bromuraltabletten. Sie schlief neun Stunden gut, aber
nicht narkotisch, denn sie konnte mehrmals behufs Nahrungsauf¬
nahme durch bloßes Anrufen geweckt werden. Nach neun
Stunden erwachte die Frau beschwerdefrei und hat weder wäh¬
rend des Schlafes, noch nachher irgendwelche toxische Erschei¬
nungen gezeigt. — (Münchener medizinische Wochenschrift 1911,
Nr. 5.) G.
*
196. Die gesundheitli c h en Verhältnisse im
Pflastererberufe. Von Dr. med. W. Hanauer, Frankfurt
am Main. Bei der Besprechung der gesundheitlichen Verhältnisse
des Pflastererberuf es konstatiert Hanauer, daß die Gewerbe-
hyygiene diesen Beruf bisher stiefmütterlich behandelt habe. Die
Steinsetzer, wie auch andere Arbeiter, haben eben noch nicht
das richtige Verständnis für dein „Schutz der Gesundheit“, wenn¬
gleich ihre Führer schon die richtige Ansicht vertreten und,
trotzdem sie augenscheinlich jeder ärztlichen Untersuchung ent¬
behren, für die den Arbeitern drohenden Gesundheitsgefahren
ein scharfes Auge haben. Die Gewerkschaften könnten jeden¬
falls für ihre Arbeiter in gesundheitlicher Hinsicht viel mehr
leisten, wenn ihnen hygienisch geschulte und gewerbehygienisoh
interessierte ärztliche Berater zur Seite ständen. „Gewerkschafts¬
ärzte“ in diesem Sinne, nicht solche, deren Tätigkeit sich darauf
beschränkt., für Unfallverletzte höhere Renten herauszuschlagen,
hätten wohl eine Existenzberechtigung. — (Soziale Medizin und
Hygiene 1910, Bd. V.) K. S.
*
197. Ueber den künstlichen, nachträglich doppel¬
seitigen Pneumothorax. Von Prof. C. Forlanini, Direktor
der Medizinischen Universitätsklinik in Pavia. Verfasser berichtet
eingehend über vier Fälle, bei welchen wegen Lungentuberkulose
seine Methode der Stickstoffeinführung behufs Erzeugung eines
Pneumothorax zur Anwendung kam. Bei zwei Kranken wurde
eine erste Pneumothoraxbehandlung in der Weise durchgeführt,
daß noch die Möglichkeit übrig blieb, wenn nötig, einen zweiten
Pneumothorax zu erzeugen ; bei den beiden anderen wurde ein
solcher tatsächlich und auch erfolgreich angelegt. Im ersten
Falle war die Kranke nach einem über anderthalb Jahre unter¬
haltenen Pneumothorax nicht nur klinisch, sondern auch ana¬
tomisch als geheilt zu betrachten, die Lunge hatte sich wieder
ausgedehnt und ihre Funktion — wenn auch nicht in normalem
Maße — aufgenommen, die Pleurahöhle hat sich noch wegsam
erhalten, so daß, im Falle Patient abermals von Schwindsucht
befallen werden sollte — sei es in der einen oder der anderen
Lunge — eine Behandlung mit einem zweiten Pneumothorax
wohl tunlich wäre. Im zweiten Falle — einem’ typischen Falle
von rascher Heilung der Phthisis auf der einen Seite, mit Hem¬
mung, Rückgang und schließlich Stillstand einer Spitzenläsion
auf der anderen — ist die Heilung durch Wiederausdehnung der
Lunge und Wiederherstellung ihrer Funktion, vor allem aber
durch Erhaltung der Wegsamkeit der Pleura erfolgt.
Sollte nun bei dieser Kranken die Testierende Läsion der einen
Lunge sich in bedenklicher Weise wieder geltend machen oder
die Schwindsucht der anderen Lunge rezidivieren, so wäre es
doch immer möglich, einen zweiten Pneumothorax zu erzeugen.
Im dritten Falle wurde von Dr. Fontana in .Piacenza im dortigen
Krankenhause zuerst ein rechts-, dann ein linksseitiger Pneumo¬
thorax erzeugt. Der Fall kam später nach Pavia, von wo er mit
ganz befriedigendem Allgemeinbefinden entlassen wurde. Der
vierte Fall stand fast acht Jahre lang in Behandlung. Bilaterale
Schwindsucht. Der Pneumothorax wird erst links-, dann recht¬
seitig künstlich erzeugt. Der überaus komplizierte Fall ist noch
nicht abgeschlossen. Verf. gelangt zu nachfolgenden Schlu߬
folgerungen: 1. Der künstliche Pneumothorax vermag tatsäch¬
lich die Lungenschwindsucht zu heilen; die geheilte Lunge kann
sich — in den verschonten Partien — wieder ausdehnen, mit der
Thoraxwand neuerdings in Berührung kommen und wieder funk¬
tionsfähig werden. Dies wird um so sicherer erzielt werden und
um so erfolgreicher ausfallen, je geringer die von der Schwind¬
sucht gesetzten Läsionen sind, was ein neues Argument für
ein frühzeitiges Eingreifen abgibt. Anderseits aber berechtigt
die Möglichkeit, die Lunge noch zu retten, zu einem Eingriffe
selbst in initialen Fällen. 2. Die Narbenreste der alten Läsion
an und für sich, die Zerrungen, die ungleichmäßige Wiederaus¬
dehnung des Parenchyms und die bronchialen Deformationen,
zu denen sie Anlaß geben, liefern eine Erklärung für einen
eigentümlichen Auskultationsbefund; vor allem aber schaffen sie
in der Lunge erschwerte Funktions- und Lebensbedingungen, die
zur Vermutung berechtigen, es könne aus ihnen vielleicht eine
besondere lokale Disposition zur Rezidive erwachsen. 3. Die
Pleura kann selbst nach sehr langer Kompression sich wegsam
erhalten u. zw. im gleichen Umfange wie vor der Behandlung.
Dadurch wird eine Wiederanlegung des Pneumothorax im Falle
einer Rezidive ermöglicht. Daher ist bei bestehendem Pneumo¬
thorax das verhältnismäßig leicht vorkommende Auftreten von
Pleuritis sorgfältigst zu verhüten, da diese — wenn auch nicht
immer — die Wiederausdehnung der Lunge einschränken und
zu Verwachsungen Anlaß geben könnte. 4. Durch die Wieder¬
herstellung ihrer Funktion ist die Möglichkeit eines zweiten
Pneumothorax gegeben, auch für eine Läsion, die später in der
anderen Lunge zur Entstehung kommen sollte. Wiewohl die Mög¬
lichkeit einer erfolgreichen Behandlung mit sukzessive bilateralem
Pneumothorax selbst in Fällen von bereits bestehender beider¬
seitiger Lungenschwindsucht theoretisch für wahrscheinlich zu
halten ist, so stehen in dieser Richtung noch keine Tatsachen zur
Verfügung. Die beiden letzten Krankenbeobachtungen liefern den
Beweis dafür, daß in der wieder ausgedehnten Lunge eine Wieder¬
herstellung der Funktion in einem für das Leben hinreichenden
Maße noch möglich ist. — (Deutsche medizin. Wochenschrift
1911, Nr. 3.) E. F.
*
198. Ueber Lebens- und Krankheitsdauer bei
Geisteskranken und einige verwandte Fragen. Von
Rudolf Ganter, Wormditt in Ostpreußen. Verf. hat bei Kranken
einzelner Gruppen : Paralyse, Dementia praecox, senile Störun¬
gen, Epilepsie, Imbezillität, das Alter bei der Aufnahme und
beim Tode der Kranken, die Dauer des Anstaltsaufenthaltes, die
Krankheitsdauer vor der Aufnahme, die Jahreszeit der Auf¬
nahme und der Todesfälle notiert und diese Daten statistisch
verwertet. Ohne auf die Details seiner Resultate eingehen zu
wollen, sei aus diesen nur hervorgehoben, dajß im allgemeinen
nicht die psychischen Erkrankungen, sondern äußere Umstände
die Aufnahme in eine Anstalt herbeizuführen pflegen. Merkwürdig
ist, daß die Durchschnittsdauer des Anstaltsaufenthaltes bei den
verschiedenen Krankheitsformen bei Frauen immer mehr weniger
länger ist, als bei Männern. Ebenso ist auffallend, daß bei der
Dementia praecox die durchschnittliche Lebensdauer sogar höher
ist, als jene der gesunden Bevölkerung. Nach der Statistik des
Verfassers überwiegen in den Sommermonaten die Aufnahmen,
in den Wintermonaten die Todesfälle. — (Allgemeine Zeitschrift
für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin, Bd. 68, H. 1.)
S.
*
199. (Aus der I. medizinischen Abteilung des städtischen
Krankenhauses Nürnberg. — Prof. Dr. Müller.) Ein Fall von
multipler Gelenksentzündung nach einer probato-
rischen Tuberkulininjektion TR. von 0-5 mg. Von Assi¬
stenzarzt Dr. Diem. Verf. veröffentlicht einen eigentümlichen
289
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Fall von T u berk u 1 i n s chad ig u n g des Körpers nach einer prubato-
rischen Tuberkulininjektion . Es traten bei diesem Falle multiple
Gelenksschwellungen an den Hand- und Fingergelenken nach
einer am rechten Vorderarm gemachten Tuberkulininjektion von
0-5 mg auf. Es handelte sich um eine 32jährige Frau, die früher
Lues, Spitzenkatarrh und eine Venenentzündung durchgemacht
hatte. Ins Krankenhaus kam sie mit einer doppelseitigen Pye¬
litis, von einer Zystitis ausgehend. Schmerzen im linken Knie-
und Fuß-, sowie Sternokiavikulargelenk. Später eine akute Endo¬
karditis der Mitralklappe. Um zu eruieren, ob die Pyelitis eine
Kolipyelitis oder tuberkulösen Ursprunges sei, wurden die
Ophthalmoreaktion und später Pirquet sehe Reaktion gemacht,
ln beiden Fällen eine sehr intensive Reaktion. Nach Abheilung
beider Reaktionen wurden 0-5 mg TR. injiziert. Darauf heftiges
Fieber (39°), Anschwellung des rechten Vorderarmes, am rechten
Handgelenk, sowie in sämtlichen Fingergelenken beträchtliche
Ergüsse. Bewegungen äußerst schmerzhaft, ln der rechten Achsel¬
höhle druckempfindliche Lymphdrüsen. Am siebenten Tage nach
der Injektion war die Temperatur wieder normal. Verf. hat bei
den zahlreichen Tuberkulininjektionen im Krankenhause bisher
niemals Gelenksschwellungen peripher von der Injektionsstelle
beobachtet. Er bemüht sich, eine Erklärung dafür zu finden.
Das Tuberkulin war nicht verunreinigt, denn die bakteriologische
Untersuchung desselben ergab volle Sterilität. Auch eine In¬
fektion mit der Spritze ist ausgeschlossen. Auf Grund mehr¬
facher Erwägungen kommt ea* zur Annahme, daß es sich im
vorliegenden Falle um eine Ueberempfindlichkeit (Anaphylaxie)
gegenüber Tuberkulin handelte. Dafür sprechen auch die sehr
starke Kutan- und Ophthalmoreaktion bei der betreffenden Pa¬
tientin. Diese Ueberempfindlichkeit äußerte sich in einer inten¬
siven entzündlichen Schwellung sämtlicher Gelenke peripher von
der Injektionsstelle. Im Anschluß hieran erwähnt Verf. einen
zweiten Fall, den er im Krankenhause in Dortmund zu beob¬
achten Gelegenheit hatte. Ein junger Mann erhielt wegen einer
Lungenspitzenaffektion eine probatorische Tuberkulininjektion von
1 mg Alttuberkulin. Unmittelbar darauf erkrankte er an einer
rheumatischen Entzündung der meisten Körpergelenke, vergesell¬
schaftet mit einer Herzklappenentzündung. Verf. nimmt an, daß
es sich in diesem Falle um einen akuten tuberkulösen Gelenks¬
rheumatismus handelte, der durch die Tuberkulininjektion aus¬
gelöst wurde. Wie kann man sich nun gegen derartige unange¬
nehme Tuberkulinschädigungen schützen? Zunächst durch die
ganz unschädliche Kutanreaktion von Pirquet, die einigen Auf¬
schluß über die Empfindlichkeit des betreffenden Individuums
gegen Tuberkulin gibt. Entsteht bei dieser Impfung eine sehr
große Papel, dann ist es nötig, daß man mit tier Dosierung des
Tuberkulins zur subkutanen Injektion vorsichtig ist. Man fange
zunächst mit 0-1 mg an, dann wird man kaum so üble Folgen
erleben wie im vorliegenden Falle. — (Münchener medizinische
Wochenschrift 1911, Nr. 5.) G.
*
20Ü. (Aus der Säuglingsabteilung der medizinischen Klinik
zu Marburg. — Direktor: Prof. Dr. Brauer.) H irschsprung-
sche Krankheit unter dem Bilde unstillbaren Er¬
brechens. Von Dr. Hans Kleinschmidt. KleinschmDdt
berichtet über ein halbjähriges Kind, welches, bis dahin gesund,
an Erbrechen bald nach der Nahrungsaufnahme erkrankte. Durch
keinerlei therapeutische Maßnahmen ließ sich eine Besserung er¬
zielen. Das Kind starb ohne sonstige krankhafte Erscheinungen
darzubieten; insbesonders war der Leib niemals stärker oder
ungleichmäßig aufgetrieben, die Stuhlbeschaffenheit blieb die
gleiche (täglich einmalige Entleerung, nur hin und wieder zwei
oder drei Tage ausbleibend), Peristaltik wurde nie beobachtet,
das Erbrechen hatte keinen fäkulenten Charakter. Der Sektions¬
befund ergab indes einen echten Fall Hirschsprungscher
Krankheit mit dem typischen Merkmale der Verlängerung des
S Romanian und Dilatation und Hypertrophie der Wandungen
der Flexur. Das Erbrechen fand seine Erklärung dadurch, daß
die S Romanum - Schlinge einen großen Teil des Bauchraumes
ausfüllte und direkt dem Duodenum arflag und dasselbe drückte.
Daß die Entwicklung des bekannten klinischen Bildes der 11 ir sc li¬
sp rung sehen Krankheit in dem Falle ausgeblieben war, er¬
klärte sich daraus, daß die kompensatorisch wirkende Hyper¬
trophie der Darmwand noch ausgereicht hatte, stärkere Obsti¬
pation und hochgradigen Meteorismus zu verhindern. Es han¬
delte sich gewissermaßen also um ein Vorstadium des typischen
bymptomenkomplexes, dessen Erscheinen durch den frühzeitigen,
durch das unstillbare Erbrechen, resp. die Inanition bewirkten
Tod unmöglich gemacht wurde. — (Monatsschrift für Kinder¬
heilkunde 1910, Bd. 9, Nr. 7.) K. g
*
201. 1st die Paralyse eine moderne Krankheit?
Eine historisch-kritische Studie von Prof. Dr. Kirch ho ff, Direk¬
tor der Provinzial-Irrenanstalt bei Schleswig. Nach den Aus¬
führungen des Verfassers war Paralyse wahrscheinlich schon im
Altertum vorhanden, so daß sie keinen Anspruch darauf haben
dürfte, als eine moderne Krankheit aufgefaßt zu werden. Selbst¬
verständlich aber war sie eine unerkannte Krankheit, ja selbst
im XIX. Jahrhundert war sie noch als Krankheit sui generis
unbekannt. Historisch merkwürdig ist, daß Esmarch und
Jessen (der jüngere) schon 1857 die Frage aufwarfen, ob nicht
Syphilis die eigentliche Ursache der progressiven Paralyse sei.
Verf. bringt im Anschluß an seine historischen Ausführungen
einige Krankengeschichten aus der ersten Hälfte des XIX. Jahr¬
hunderts. Es handelte sich in diesen Fällen zumeist um pro¬
gressive Paralyse, welche unerkannt blieb, in einigen anderen
Fällen dürfte Hirnsyphilis und Tabo-Paralyse Vorgelegen sein.
Den Schluß der interessanten Arbeit bilden einige geschichtliche
Angaben über Tabes dorsalis. Das Krankheitsbild der Tabes
ist ungefähr gleichzeitig und unter ähnlichen Verhältnissen wie
das der Paralyse im vorigen Jahrhundert entwickelt worden.
(Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche
Medizin, Bd. 68, H. 1.) S.
*
202. Zur Kasuistik der Poliomyelitis epidemica
(Heine-M edinsche Krankheit). Von Prof. Adolf Baginsky,
Direktor des Kaiser- und Kaiserin-Friedrich-K inderkrank enhauses
in Berlin. Der Verfasser beschreibt Fälle früherer Beobachtung,
zeigt, wie das frühen? Krankheitsbild der Poliomyelitis1 sich jetzt
scheinbar ganz geändert hat und schildert eingehend einzelne
Typen der Erkrankung. Da erkranken drei Kinder, zwei gehen
rasch zugrunde; das erste unter heftiger Dyspnoe, ohne sonstige
Symptome (es läßt den Kopf seitlich fallen, wie die Mutter aus¬
sagt), das zweite bei Nackensteifigkeit, deutlichem Kernig sehen
Symptom, spastischen unteren Extremitäten, wozu später schlaffe
Parese deir oberen und unteren Extremitäten kommt, wieder Dys¬
pnoe und Kollaps. Das zweite Kind wurde seziert, Gehirn und
Spinalkanal völlig normal; eine mikroskopische Untersuchung
war unterlassen worden. Das dritte Kind erkrankte unter fast
denselben Erscheinungen (Fieber, Blässe, Neigung zum Schlafen,
Nackensteifigkeit, Schmerzen in den spastischen Extremitäten,
später Lähmung eine» Beines), es genas, das rechte Bein blieb
etwas paretisch. Das sind also zwei Typs, ein neuer Typ wurde
im Krankenhause beobachtet. Ein 63/r Jahre altes Kind .hat früher
Gelenksrheumatismus' gehabt und davon ein Vitium cordis
zurückbehalten. Es erkrankt damit, daß es nicht laufen kann,
verliert bald die Sprache und zeigt totale rechtseitige Lähmung.
Der untere Fazialis ist rechts gelähmt. Die Sprache bessert sich
allmählich, sie wird nach Wochen fast vollkommen wieder her¬
gestellt, die Lähmung des Beines geht auch zurück, auch der
Fazialis bessert sich, doch bleibt der Arm vollkommen gelähmt.
Eine zerebrospinale Poliomyelitisform, die hier in hemiplegischer
Form mit Beteiligung des Faziaiiskernes aufgetreten ist. Die
Krankheit kommt, also in den verschiedensten Variationen
vor, von rein abortiven Formen bis zu schweren Bulbärlähmun¬
gen. Mit dem Begriff einer „spinalen Kinderlähmung“ kommt
man aber nicht mehr aus, es sind auch1 zerebrale Läsionen und
spinale, die sich kombinieren und vielfach ineinander übergehen.
So kann man auch nicht von rein meningitiseben oder bulbären
oder spinalen Formen sprechen. Die meningitischen Formen
mischen sich mit den anderen, und die Erscheinungen gehen so
ineinander über, daß man schwer etwas Bestimmtes über die
pathologische Läsion im Einzelfalle sagen kann, selbst bei reich¬
haltigem Material. Darum werden sich auch die besonderen
Einteilungen, die neuerdings von den Autoren gemacht werden,
nicht aufrecht erhalten lassen. Der Verfasser regt schließlich zur
290
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
Veranstaltung einer Saimnelforschung an, wie sie z. U. schon
in Steiermark veranstaltet wurde. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1911, Nr. 4.) E. F.
* 4
203. (Aus der Universitätskindeirklinik in Heidelberg.
Direktor : Prof. Dr . E . Feer.) U e b e r den.Aschegehalt in den
Gehirnen Spasmophiler. Von Dr. Erich Aschenheim.
Auf Grund experimenteller und chemischer Untersuchungen bricht
sich die Ansicht mehr und mehr Bahn, daß bei der Spasmophilie
eine Stoffwechselstörung in bezug auf die Salze besteht, die
nach Rosenstern Regulatoren der Bewegungsphänomene' sind.
Mit Ausnahme von Stoeltzner finden fast alle Autoren diese
Störung in einer Verminderung der Erdalkalien, insbesondere des
Kalziums. Nach den Untersuchungen Aschen heims, welcher
sein Augenmerk auf sämtliche für die Bewegungsphänomene
wichtigen Salze, also Alkalien und Erdalkalien richtete, kommt es
bei der Spasmophilie nicht so sehr auf die absolute Menge (respek¬
tive Verminderung oder auch Vermehrung) der einen oder der
anderen an, sondern vielmehr auf ihre Relation. Das Verhältnis
der Alkalien zu den Erdalkalien, resp. ihren Salzen ist das ty¬
pische und wichtigste für Spasmophilie. Letztere wird ausgelöst
durch eine Veränderung des Gehaltes des Zentralnervensystems
an jenen Salzen, die zu einer Vergrößerung der Quotienten Alkalien
— Erdalkalien führt; also Vermehrung der Alkalien oder Vermin¬
derung der Erdalkalien, oder es findet sich beides. Was nun zu
dieser Salzstoffwechselstörung führt, das ist natürlich noch eine
ganz andere und getrennt zu behandelnde Frage. — (Monats¬
schrift für Kinderheilkunde 1910, Bd. 7, Nr. 7.) K. S.
*
204. Erfahrungen bei Behandlung mit Salvarsan.
Von Prof. Dr. Karl Kopp in München. Das Gesamtmatetrial des
Verfassers bis zum 15. Dezember umfaßt 72 Fälle, dazu ge¬
meinsam mit Dir. Ploeger poliklinisch behandelte Fälle 23,
zusammen also 95 Fälle. Darunter wurden von nichtluetischen
Erkrankungen ein Fall von Psoriasis vulgaris mit 0-6 Salvarsan
ohne jeden Erfolg, dagegen ein Lichen ruber planus universalis
mit ausgezeichnetem Erfolge behandelt. Fünf Fälle von inope¬
rablem Karzinom wurden allgemein und lokal günstig beeinflußt
und ein Fall von Sarkom zeigte nach jeder1 der zwei Salvarsan-
injektionen eine sehr starke Rückbildung und Erweichung der
Tumoren, auch Abnahme lokaler Schmerzen und Beschwerden.
Verf. faßt das Resultat seiner Beobachtungen und Eindrücke in
folgenden Leitsätzen zusammen : 1. Das Ehrlich-Hata-Präparat
Salvarsan ist ein wichtiges Hilfsmittel in der Bekämpfung der
Syphilis und ihrer Symptome. In den verschiedenen bisher ge¬
übten Applikationsmethoden ist seine Wirksamkeit gegenüber den
durch die Spirochaeta pallida Schaudinns hervorgerufenen Krank¬
heitsprozeß unverkennbar. 2. Die außerordentlich wichtige Frage,
ob es möglich ist, durch das Salvarsan den oft deletären Ver¬
lauf der syphilitischen Infektion mit einem Schlage aufzuhalten,
und die Krankheit zu kupieren, kann nach den bestehenden
Erfahrungen unmöglich als gelöst betrachtet werden. Ein solch
glänzender Erfolg ist vielleicht dann möglich, wenn ganz frische
fälle zur Behandlung kommen; in den späteren Stadien der
Erkrankung scheint es weniger wahrscheinlich, daß ein solch
günstiges Ergebnis erreicht werden kann. Es ist jedoch nicht,
ausgeschlossen, daß vielleicht mehrfach wiederholte Anwendungen
des Salvarsans oder eine Kombination mit Quecksilberbehand¬
lung mehr erreichen lassen. 3. Unter allen Umständen aber er¬
scheint es sicher, daß mit einer einzigen und einmaligen Anwen¬
dung des Mittels in kürzester Frist Erfolge erzielt werden, wie
sie bisher nur mit lange fortgesetzter Quecksilber- und Jodbehand¬
lung erreichbar waren. 4. Von allen Applikationsmethoden des
Salvarsans verdient die intravenöse Infusion unbedingt den Vor¬
zug. Die Anwendung ist, wenn auch technisch nicht ohne
Schwierigkeiten, mit einiger Uebung zu erlernen, und hat bei
Berücksichtigung der wenigen und seltenen Kontraindikationen
für den Patienten keine Gefahren. In der Minderzahl der Fälle
kommen zwar gewisse, rasch vorübergehende unangenehme Neben¬
wirkungen zur Beobachtung (Uebelkeit, Erbrechen, Fieber,
Schüttelfrost), bleibende Nachteile oder ernste Gefahren sind
bis jetzt nicht beobachtet worden. 5. Alle anderen Applikations¬
methoden, die intramuskuläre und subkutane Anwendung, die
konzentriertem Lösungen, die Aufschwemmungen nach Wech¬
selmann und M ichaelis, ganz besonders die sauren und neu¬
tralen Präparationen sind wegen der Gefahr mehr weniger aus¬
gedehnter Nekrosen lokaler, wenn auch aseptischer Art, am besten
ganz aufzugeben oder kommen doch nur dann iniFrage, wenn aus
bestimmten Gründen die intravenöse Anwendung nicht durch¬
führbar erscheint, ln solchen Fällen verdient die schwach alka¬
lische, eben noch opaleszierende Lösung nach Alt, auf ver¬
schiedene injektionsstellen in kleinen Dosen verteilt und in
stärkerer Verdünnung vorgenommen, den Vorzug. 6. Vorläufig
erscheint dem Verfasser eine Fortsetzung der Versuche in der
Richtung besonders wünschenswert, daß hauptsächlich frische
Fälle mit den möglichst hohem Dosen des Mittels, welche noch
toleriert werden, zur intravenösen Infusion herangezogen werden.
Abgesehen von den bisher erzielten praktischem Ergebnissen ist os
auch vom theoretischen Gesichtspunkte aus am ehesten möglich
und zu erwarten, daß durch den mächtigen Ictus immunisatorius
im Sinne Ehrlichs eine Abtötung der gesamten in der Blut¬
bahn des Kranken befindlichen Spirochäten mit einem Schlage
erzielt und so die Krankheit kupiert wird. Um das Endergebnis
dieser Versuche festzustellen, ist es notwendig, die in dieser
Weise ausgesuchten und behandelten Fälle durch mehrere Jahre
hindurch evident zu halten und deren Zustand durch fortgesetzte
und wiederholte klinische und serologische Prüfung zu kon¬
trollieren. Nur dadurch kann es möglich sein, die Frage der
Möglichkeit einer raschen und einigermaßen sicheren Dauerheilung
der Syphilis zu lösen. 7. Eine Kombination der neuen Behandlung
mit dem alten Methoden, insbesondere der Quecksilberbehandlung,
kann gegebenenfalls durch die Umstände sich als notwendig
im Interesse der Kranken ergeben. Für die Beurteilung des
therapeutischen Wertes der neuen Medikation können derartige |
Fälle kaum verwertet werden. Doch wird man voraussichtlich
auch an die wissenschaftliche Prüfung des Wertes einer gemischten
Behandlung herantreten müssen. 8. Vor einer ambulanten Be¬
handlung mit dem Salvarsan ist nicht genug zu warnen. Speziell
erscheint dem Verfasser auf Grund der Ausführungen Ehrlichs
über die starke Giftwirkung saurer Präparationen die Anwendung
dieser in wässeriger Lösung oder in Fettemulsionen nicht ohne
Bedenken. Die Methode der Wahl ist immer die intravenöse
Infusion und sollte diese nur in einwandfreier stationärer Pflege,
am besten in Heilanstalten, ausgeführt werden. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 5.) G. .
*
205. Hypophysenextrakt als Wehen mittel. Erste I
Mitteilung. Von J. Hofbauer. Fröhlich und v. Frankl-
Hoch wart beobachteten, daß Hypophysenextrakt, Pituitrimnu
infundibulare, besonders beigraviden öder laktierenden Kaninchen
Kontraktionen des Uterus erzeugt. Hofbauer versuchte nun,
das Pituitrin als wehenerregendes und wehenbeförderndes Mittel
anzuwenden. Bei sämtlichen sechs Fällen hatte das Pituitrin
einen frappanten Erfolg. Die ausgelöste Wehentätigkeit ist eine
reguläre, keineswegs von tetanischem Charakter. In der Aus¬
treibungsperiode gegeben, bewirkt das Präparat manchmal ge¬
radezu einen Wehensturm. — (Zentralblatt für Gynäkologie 1911,
Nr. 4.) E. V.
*
206. Die Behandlung des Lupus cavi nasi mittels
J o d n a t rium und Wasserstoffhyperoxyd nac h d e r M e-
thode von Dr. S. A. P f anne n s ti ed. Von Ove Strand¬
berg, Assistent am Finsen medicinske Lysinstitut zu Kopen¬
hagen (Klinik für Hautkrankheiten). In der Hygiea 1910, Mai und
Juni, hat Dr. S. A. Pfannen stiel, Chefarzt in Malmö, eine
neue Behandlungsmethode angegeben und vier Fälle mitgeteilt,
bei welchen durch sie die tuberkulösen Ulzerationen beseitigt
wurden. Die Kranken bekamen täglich 3 g Solut. natrii jodat., auf
sechs Eßlöffel Wasser in sechs Dosen pro die [verteilt. Gleichzeitig
erhielten sie Tampons mit 2°/oigem II2O2 eingelegt, in der Weise,
daß ein Tampon morgens eingelegt wurde, der Patient eine Flasche
mit Wasserstof fhyperoxyd nebst Pipette erhielt und mit dieser
mehrmals in einer Stunde das Wasserstoffhyperoxyd auf den
Tampon träufelte. Der Tampon muß völlig durchsetzt sein, der
Patient muß also mit der Einträufelung von H2O2 so lange fort¬
fahren, bis er jedesmal fühlt, daß die Flüssigkeit in den Rachen
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
291
läuft. Zu den Tampons wurde ausgekochte, stärkefreie Gaze
verwendet, die mit der Schleimhaut überall in Berührung kommt.
Vorher wurde die Nasemkavität mit gewöhnlichem1 Salzwasser,
später mit verdünntem Alsol (essigsaurer Tonerde), durchgespiilt.
Die gewöhnliche Handelsware von II2O2, die säurehaltig ist, er¬
wies sich als wirksamer als das i'eino, säurefreie Oxydol. In
letzter Zeit wurden die Tampons mit Oxydol Petri (3%) 100 g,
Acid, acetici 5 g durch einige Tage benetzt, welche Lösung eine
starke Reaktion und Schleimhautschwellung bedingte, sodann mit
einer schwächeren Lösung (Oxydol, l -5°/o, 100 g. Acid, acetici
50 cg) bis zur Heilung der Ulzerätionen und Schwinden der
Schwellung nebst. Infiltration. Es ist wichtig, daß die Tampons
sehr sorgfältig eingelegt werden, man tut daher gut, mehrere
kleine Tampons z. B. unter die Koncha einzulegen, damit die
Tampons überall mit der Schleimhaut in Berührung kommen.
Der Verfasser teilt sodann im Auszuge 13 Krankengeschichten
mit und führt aus, daß die Diagnose auf Lupus c.avi nasi ein¬
wandfrei sichergestellt war. Die v. Pirquet sehe Reaktion war
in allen Fällen, wo sie vorgenommen wurde, positiv, die Wasser¬
mann sehe Reaktion (in Statens Seruminstitut ausgeführt.)
in zehn Fällen negativ, -die drei restlichen Fälle waren klinisch
sichere Lupusfälle. Mehrere Kranke hatten ihr Leiden jahrelang,
viele andere Methoden hatten sich fruchtlos erwiesen. In neun
von *den 13 Fällen ist ein völliges Verschwinden, aller krankhaften
Symptome erreicht worden. In zwei Fällen von doppelseitiger
Erkrankung ist eine halbseitige Heilung und ausgesprochene Besse¬
rung der anderen Seite erzielt worden. Zwei weitere Fälle können
als fast geheilte angesehen werden, eine Kranke mußte nach drei¬
wöchentlicher Behandlung entlassen werden, die zweite sieht
noch in Behandlung. Nur in einem der 13 Fälle ist die Behand¬
lung ohne Erfolg gebliehen, vielleicht hat die Kranke die Be¬
handlung lässig betrieben. Die Dauer der Behandlung in den
geheilten Fällen betrug fünf Tage bis acht und zwölf Wochen,
sie stand nicht immer im Verhältnisse zur Ausdehnung des Pro¬
zesses, ein leichter Fall nahm zuweilen längere Zeit in Anspruch
als ein ausgebreiteter. Entfernt man die Granulation, so wird die
Behandlungsdauer abgekürzt; es ist aber nicht unbedingt not¬
wendig, es zu tun, sie schwinden auch untender Behandlung. Die
Behandlung mit Oxydol allein oder mit Jodnatrium allein (Chef¬
arzt Dr. Forchhammer) nützte absolut nichts, erst die Kom¬
bination beider Mittel (durch das zugefiigte Ozon wird freies
Tod abgespalten, das in statu nascendi stark bakterizid wirkt)
scheint den Effekt auf den Schleimhautlupus zu haben, auch an
den wegen ihrer Lage und geringen Größe der Inspektion ganz
unzugänglichen Partien. — (Berliner klinische Wochenschrift 1911,
Nr. 4.) E. F.
*
207. (Aus der medizinischen Abteilung B. des Allerheiligen-
hospitales in Breslau. - Primararzt: Prof. Dr. Ercklentz.)
Röhrenförmige Ausstoßung der Oesophagusschleim-
haut im Verlaufe einer Salzsäurevergiftung. Von Se-
kundararzt Dr. Emil Neiße r. Röhrenförmige Ausstoßung der
Oesophagusschleimhaut bei Salzsäurevergiftung wurde bisher
selten beschrieben, eher noch bei Schwefelsäureintoxikation oder
Vergiftung mit Alkalien. Im vorliegenden Falle wurde ein 30 cm
langes, röhrenförmiges, weißgraues Gebilde erbrochen, indem sich
die Oesophagusschleimhaut am neunten Tage der Vergiftung
(mit 50 cm3 Salzsäure) in toto loslöste. Der Fall endete natürlich
letal, da eine totale Striktur trotz aller operativen Eingriffe ein¬
trat. — (Fortschritte der Medizin 1910, 28. Jahrg., Nr. 44.) K.S.
*
Aus englischen Zeitschriften.
208. Leber das Fortschreiten der Infektion bei
Bhthise und die sich daraus ergebende Notwendig¬
keit der Behandlung frischer Fälle mit absoluter
Buhe. Von L. Gobbet. Die Ursache der Heilung von Infek¬
tionskrankheiten liegt in der Erlangung spezifischer Immunität.
Die Tuberkulose besitzt eine Neigung zu langsamen Verlauf und
geringere Heilungstendenz, was sich daraus erklärt, daß sie im
allgemeinen keine Immunität erzeugt, doch spricht die nicht
seltene Ausheilung frischer Erkrankungen, daßi hier ein gewisser
Grad von Immunität hervorgerufen wird. Der Tierversuch lehrt,
daß Immunität gegen Tuberkulose experimentell übertragen werden
kann, aber im allgemeinen nicht den Grad erreicht, wie bei
anderen Infektionen. Aus der Seltenheit generalisierter Tuber¬
kulose bei Lungenschwindsucht, sowie aus dem langsamen Ver¬
lauf trotz enormer Mengen von Tuberkelbazillen, läßt sich der
Schluß ziehen, daß die Tuberkulose einen gewissen Grad von
Immunität zu schaffen vermag, wovon die Möglichkeit der Hei
lung abhängt. Die Tierversuche lehren, daß für die Intensität
der Tuberkulose die Dosis der zur Infektion angewendeten Ba¬
zillen von großer Bedeutung ist und es scheint auch beim Men¬
schen die Schwere der Infektion von der Zahl der 'eingedrungenen
Bazillen abhängig zu sein. Es ist anzunehmen, daß zeitweilig
Tuberkelbazillen in den Kreislauf übergehen. Bei Lungenschwind¬
sucht bleiben Leber, Milz und Meningen in der Regel verschont,
während Darm und Mesenterialdrüsen häufig erkranken, was
sich daraus erklärt, daß in die erstgenannten Organe nur geringe
Bazillenmengen, dagegen in den Darm durch Verschlucken zahl¬
lose Bazillen gelangen. Die Bedeutung der Zahl der eindringenden
Bazillen ergibt sich aus der Tatsache, daß die bakterizide Sub¬
stanz im normalen Blut nur für eine geringe Anzahl von Ba¬
zillen ausreicht und daß die Bazillen in ihrem nekrotisierenden
Endotoxin einen Schutz gegen die Defensivkräfte des Organismus
besitzen. Das Eindringen einer geringen Bazillenanzahl führt
zu einer Steigerung der Defensivkräfte, so daß diese der wei¬
teren Vermehrung der Bazillen gewachsen sind, während dies
bei Eindringen einer großen Bazillenzahl nicht der Fall ist. Wenn
die Möglichkeit einer Zunahme der Defensivkräfte des Organismus
gegeben ist, so ist eine größere Bazillenanzahl für die Infek¬
tion eines neuen Territoriums erforderlich. Die Tatsache, daß
die Tuberkulose der Lunge gefährlicher ist, als die Tuberkulose
eines einzelnen anderen Organs, erklärt sich aus der leichteren
Ausbreitungsmöglichkeit der Tuberkuloseinfektion in den Lungen.
Ein Herd in einem Knochen oder festen Organ kann nicht leicht
die Ausbreitung der Infektion bewirken, während ein tuberkulöser
Lungenherd in den kleinen Bronchien bequeme Wege für die
Ausbreitung der Infektion findet. Die Tatsache, daß enorme Mengen
von Tuberkelbazillen fast in Reinkultur ausgehustet werden, läßt
die1 ausigebreitete Infektion verständlich erscheinen, wenn ein
solches Bazillen quantum durch einen Bronchus in ein bisher
freigebliebenes Territorium gelangt. Mit Rücksicht auf die Be¬
deutung der Atmung und des Hustens für die Ausbreitung der
Infektion, erscheint möglichste Ruhestellung des Organs, Unter¬
drückung des Hustens, Verbot lauten Sprechens usw. indiziert,
was aim besten bei Bettruhe erreicht wird. Es besteht keine
Gefahr, daß die absolute Bettruhe im Initialstadium einen un¬
günstigen Einfluß auf den Ernährungszustand ausübt. — (The
Lancet, 26. November 1910.) a. e.
4c
209. Ueber den Beweis des endemischen Ur¬
sprungs des Gelbfiebers in Westafrika. Von Hubert
W. Boyce. Die Annahme, daß die romanische Rasse für Gelb¬
fieber besonders disponiert, die schwarze Rasse dagegen immun
ist, erscheint irrig. In Wirklichkeit sind alle Rassen für Gelb¬
fieber empfänglich, wenn ihre Angehörigen aus Gegenden kom¬
men, wo kein Gelbfieber besteht, so daß eine Frage der Immunität
vorliegt. Personen, welche in einer Gegend leben, wo Gelb¬
fieber endemisch ist, machen im frühen Lebensalter einen Anfall
durch, welcher einen gewissen Grad von Immunität herbeiführt:
weitere leichte Attacken können schließlich für das reifere xAlter
vollständige Immunität produzieren. Es zeigt sich, daß alle neu
Eingewanderten, gleichgültig welcher Rasse sie angehören, für
Gelbfieber besonders empfänglich sind; das gleiche gilt für aus
Gelbfiebergegenden stammende Personen, welche sich lange Zeit
in Gegenden aufgehalten haben, wo kein Gelbfieber besteht;
während die Neger der afrikanischen Westküste relativ selten
an Gelbfieber erkranken, wurden häufige Erkrankungen bei den
Negern von Barbados beobachtet, wo das Gelbfieber längere
Zeit erloschen ist, so daß die durch Vererbung übertragene Im¬
munität schließlich verloren ging. Die geringe Morbidität und
Mortalität der Neger an der afrikanischen Westküste hinsichtlich
des Gelbfiebers beruht darauf, daß' sie bereits in der Kindheit
Attacken von Gelbfieber durchgemacht haben. Der Umstand,
daß auch an der afrikanischen Westküste geborene Europäer,
nach zurückgelegter Kindheit eine gewisse Immunität zeigen,
292
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
J
Nr. 8
spricht gegen die Annahme eines Zusammenhanges zwi¬
schen Rasse und Immunität. Der Ausbruch von Gelbfieber¬
epidemien an verschiedenen Stellen der afrikanischen Westküste
weist auf den endemischen Charakter der Erkrankung daselbst
hin. Die Infektion wird durch ein Insekt aus der Familie Stego-
myia vermittelt; dieses Insekt entnimmt die Parasiten den an
milden Formen de's Gelbfiebers erkrankten Kindern und jugend¬
lichen Individuen der Negerbevölkerung. Diese milden Formen
werden ebenso wie die in den gleichen Bevölkerungsgruppen
herrschenden Malariaerkrankungen leicht übersehen. Die Tat¬
sache, daß trotz der hohen Gelbfiebermortalität nicht alle Euro¬
päer an der afrikanischen Westküste der Erkrankung erliegen,
erklärt sich zum Teil aus den angewendeten Schutzmaßregeln,
nämlich von der Negerbevölkerung abgesonderte Wohnungen in
hygienisch eingerichteten Häusern und Gebrauch von Moskito¬
netzen. Der Beweis1, daß die sogenannten remittierenden und
billiös - remittierenden Fieber der afrikanischen Westküste mil¬
dere Anfälle von Gelbfieber darstellen, wäre dann erbracht, wenn
mit der Ausrottung der Stegomyia diese Fieberformen ebenso
verschwinden, wie dies in verschiedenen amerikanischen Gelb¬
fieberterritorien der Fall war. — (Brit. med. Journ., 3. Dezember
1910.) /a. e.
*
210. lieber dies Vorteile der Anwendung des kol¬
loidalen Quecksilbers in der Therapie. Von G. Arbour
Stephens. Der therapeutische Wert des Quecksilbers ist all¬
genuin anerkannt, doch haben die verschiedenen Methoden seiner
Anwendung, insbesondere bei Syphilis, mancherlei Nachteile,
so daß das Suchen 'nach einer Anwendungsform gerechtfertigt er¬
scheint, welche ohne Beeinträchtigung der therapeutischen Wir¬
kung von derartigen Nachteilen möglichst frei ist. Eine diesen
Ansprüchen entsprechende Anwendungsform stellt das kolloidale
Quecksilber dar. Die Kolloide sind dadurch charakterisiert, daß
sie durch tierische oder pflanzliche Membranen nicht durch¬
gehen; als reversible Kolloide bezeichnet man jene, welche nach
Eintrocknung ein in Wasser lösliches Residuum zurücklassen,
als irreversible jene, deren Residuum in Wasser unlöslich ist.
In die erste Gruppe gehören Dextrin, Gummi arabicum! und ver¬
schiedene Eiweißarten, in die zweite Gruppe die kolloiden Me¬
talle. Durch Mischung mit reversiblen Kolloiden können die
irreversiblen Kolloide reversibel gemacht werden', worauf die
Verhütung der Kaseingerinnung der Milch durch Zusatz von
Gummi arabicum; beruht. Kolloidale Lösungein der Schweri
metalle werden in der Weise bereitet, daß man durch Wasser,
in welchem sich das Metall in Form einer Suspension befindet,
einen' elektrischen Strom durchleitet, welcher so feinei Melall-
partikel erzeugt, daß sie sich im Wasser auch bei monatelangem
Stehen 'nicht absetzen und nur durch ultramikroskopische Unter¬
suchung nachweisbar sind Das kolloide Quecksilber besitzt eine
energische bakterizide Wirkung und hemmt in einer Konzentra¬
tion 1:100.000 die Entwicklung von Kolibäzillen. Die l°/oige
Lösung stellt eine grünlichbraune, transparente geruchlose Flüs¬
sigkeit von schwach metallischem Geschmack dar, welche frei
von Reiz- und Aetzwirkung, auch von stärkerer toxischer Wir¬
kung ist. Das kolloidale Quecksilber ist in lk bist V2%iger Lösung
ein sehr gutes Antiseptikum, auch erweist es' sich bei Herpes
tonsurans und Alopecia areata nach vorheriger Reinigung der
Haut mit Petroleum als wirksam. Bei Diphtherie wirkt das kolloi¬
dale Quecksilber in Sprayform fast ebenso energisch, wie die
Injektion von Heilserum, ebenso bei anderen Tonsillarexsudaten
und bei Mundhöhlensepsis. Intern leistet das kolloidale Queck¬
silber bei Gastritis gute Dienste. Besonders brauchbar ist das
kolloidale Quecksilber in Form interner Darreichung bei Syphilis;
Speichelfluß und Appetitlosigkeit wurden nicht beobachtet, nur
in einem Falle traten stärkere Diarrhöen auf; auch bei syphi¬
litischen Erkrankungen des Nervensy stems wurde eine günstige
Wirkung beobachtet. — (The Brit. med. Jourü., 17. Dezember
1910.) a . e.
*
Aus italienischen Zeitschriften.
211. Ueber die Tuberkulose des Corpus uteri mit
einem Berichte über einen solchen Fall. Von Pasquale
Romeo. Die primäre tuberkulöse Infektion des Corpus uteri ist
höchst selten. Die 'sekundäre Infektion kann des- oder aszendierend
sein. Häufiger ist die deszendierende Form, bei welcher
die Infektion auf dem Blut- oder Lymphwege oder von der Nach¬
barschaft her erfolgt. Bei der aszendierenden Form findet die
Infektion durch den Geschlechtsverkehr statt. In allen Fällen
muß eine Disposition vorhanden sein, da es sonst unerklärlich
wäre, warum soviel© Frauen, die mit an Hodentuberkulose leiden¬
den Männern verheiratet sind, nicht, erkranken. Als disponierende
Faktoren kommen in Betracht: Der Lymphatismus, die skrofulöse
Diathese, Schwangerschaft, Abortus, Wochenbett, Menopause und
alle jene Ursachen, welche zur Herabsetzung der Resistenz des
Uterusgewebe beitragen. Die radikale chirurgische Behand¬
lung ist bei den sekundären Erkrankungen des Uterus nicht an¬
gezeigt. Sie kann bei primärer Uterustuberkulose gute Resul¬
tate geben, wenn der Prozeß sich noch nicht auf das Peritoneum
oder die anderen benachbarten Organe ausgebreitet hat. In den
Fällen der primären Genitaltuberkulose, wo die Erkrankung noch
auf die Schleimhaut des Uterus beschränkt ist, kann die Aus¬
kratzung genügen, ' besonders wenn es' sich um junge und kräftige
Frauen handelt. Die auf Uterustuberkulose verdächtige Frau muß,
auch wenn andere Zeichen der Krankheit fehlen, einer Probe-
auskratzung unterworfen werden, da nur die histologische und
bakteriologische Untersuchung zur richtigen Diagnose und The¬
rapie führen kann. Da die Diagnose der Genitaltuberkulose in
der Praxis fast nie gestellt wird, scheint das-Leiden seltener vor¬
zukommen, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Der Gynäkologe
muß immer an die tuberkulöse Aetiologie eines Gebärmutterleidens
denken, wenn in der Anamnese Tuberkulose angegeben wird. Die
Prognose der Genitaltuberkulose ist um Weniges besser als die
der Lungenschwindsucht. Sie hängt im wesentlichen ab von
der möglichst frühzeitigen radikalen Behandlung, welche im opera¬
tiven Verfahren besteht. — (Gazzetta dogli ospedali e delle cli¬
niche, 22 Januar 1911.) sz.
*
212. Die Harnazidität bei de,r Tuberkulose. Von
Barabaschi. Die Prüfung des Harnes von Gesunden und von
Tuberkulösen in der von Mal m ei a c angegebenen Weise auf
seine Azidität hat keine Bestätigung der Ansicht dieses Autors er¬
geben, wonach Hyperazidität des Harnes ein Zeichen der Dis
position zur Tuberkulose sei. Dagegen schien zwischen der Hyp-
aziditüt des Harnes und der Schwäche des Organismus ein Zusam¬
menhang zu bestehen, indem gerade die Harne der Tuberkulösen
im dritten Stadium) sehr geringe Aziditätswerte hatten. -- (Gaz¬
zetta degli ospedali e delle cliniche, 26: Januar 1911.) sz.
*
213. Die Inkubationszeit bei der Malaria. Von
M. Gioseffi. Eine Malariaepidemie, die an Bord eines Schiffes
ausbrach, gab dem Autor Gelegenheit, die Inkubationsdauer in
mehreren Fällen von Malaria genau zu bestimmen. Für die leichte
Tertianainfektion ergab sich bei sechs Fällen maximal eine In¬
fektionsdauer von 22 und minimal eine von 10 Tagen, im Mittel
also von 16 Tagen. Die Zahlen des Autors nähern sich denen
von Bastian eil i und Bignamie, welche eine Inkubations¬
zeit von 16 bis 19 Tagen konstatierten und 'denen von Buchanan,
welcher in einem Falle eine leichte Tertiana nach '22, im anderen
Falle nach 15 Tagen auftreten sah. — (Gazzetta degli ospedali
e delle cliniche, 19. Januar 1911.) sz.
*
214. Ueber eine neue Methode der mechanischen
Therapie der Lungentuberkulose. Von F. Pedrazzini
und Cesare de Vecchi. Bei einem Falle von Humerusfrakttir
wurde während der Zeit, in welcher ein Tr aktions verband an der
Schulter angelegt war, eine gleichzeitig bestehende Lungentuber¬
kulose günstig beeinflußt. Diese Beobachtung legte es den, Autoren
nahe, Traktionsverbände an der Schulter zur Heilung beginnen¬
der Lungentuberkulose zu versuchen. In sieben Fällen, in welchen
diese Methode angewendet wurde, ergaben sich schon nach zwei¬
monatiger Behandlung deutliche Besserungen. Der Kranke hat
hiebei dein Oberkörper tiefer gelagert als die Füße und den
Kopf durch ein Kissen etwas gestützt, so daß die Schultern sich
an tiefster Stelle befinden und die Abdominalorgane sich gegen
das Diaphragma senken. Hierauf wird der Traktionsverband an
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
298
der erkranktem Seite wie bei einer Humerusfraktur angelegt. Die
Fixierung des Schultergürtels und der Druck der Eingeweide gegen
das Zwerchfell zwingen die Muskulatur der oberen Brustapertur zur
vermehrten Tätigkeit, wodurch Respiration und Zirkulation da¬
selbst lebhafter werden. Die verstärkte Respiration trägt
zur Erweiterung atelektatischer Bronchiolen und Alveolen und
zur Entleerung des Sekretes aus1 den erkrankten Partien bei, wäh¬
rend die lebhaftere Zirkulation die der Ansiedlung und Ver¬
mehrung der Bazillen so günstige Anämie beseitigt. Diese Be¬
handlungsmethode kann mit der üblichen Sanatoriumsbehandlung
kombiniert werden. Ihr Indikationsgebiet ist geschlossene oder
leichte offene Spitzentuberkulose. Kontraindiziert ist die Methode
bei fortgeschrittenen Fällen, bei denen die Gefahr besteht, daß
durch die verstärkte Atmung eine in der Nähe der Pleura befind¬
liche Kaverne durchbricht und einen Pyopneumothorax erzeugt.
Ein größerer Indikationsbereich als in der Therapie dürfte dieser
Behandlungsmethode in der Prophylaxe der Lungentuberkulose
zukommen, da das Verfahren geeignet ist, die zur Schwindsucht
disponierenden Momente, die Starre der oberen Brustapertur und
die Schwäche der daselbst ansetzenden Muskeln, wirksam zu
bekämpfen. — (II Tommasi, 10. Januar 1911.) sz.
*
215. Die Aenderung des Herz Volumens und des
Blutdruckes bei Herzkranken unter dem Einflüsse
des warmen Bades. Von G. Evoli. Ein warmes Bad erweist
sich bei Herzkranken, wenn eventuell vorkommende individuelle
Intoleranz im Auge behalten wird, immer als nützlich. Die Vor¬
eingenommenheit gegen warme Bäder bei Herzkranken hat
keine Berechtigung. Das warme Bad in der Dauer von zehn
Minuten bewirkt bei Herzleidenden eine Verkleinerung des llerz-
volumens, eine Steigerung des arteriellen Blutdruckes, eine Er¬
leichterung der Respiration und ein Gefühl allgemeinen Wohl¬
befindens. — (II Tommasi, 20. Januar 1911.) sz.
Vermisehte flaehriehten.
Verliehen: Dem Direktor der niederösterreichischen Lan¬
desirrenanstalt in Gugging, Dr. Theophil Bogdan, der Titel eines
Regierungsrates. — Dr. Adolf Ritter in Karlsbad das Komtur¬
kreuz zweiter Klasse des Sachsen - Emestinischen Hausordens1.
~ Dem Stadtarzte Dr. Karl Svoboda in Smichow der Titel
eines kaiserlichen Rates.
*
Habilitiert: Dr. W. Vorkastüer für Psychiatrie in
Greifswald. — Dr. Korbinian B rodmann für Psychiatrie und
Neurologie in Tübingen.
*
Gestorben: Dr. Christian Bohr, Professor der Physio¬
logie in Kopenhagen. - — Dr. A. Severi, Professor der gericht¬
lichen Medizin in Genua.
*
Am 16. Februar hat in Görz die feierliche Eröffnung der
mit einem Kostenaufwande von ca. 1,500.000 K erbauten Landes-
i rren an statt stattgefunden .
*
Vom 30. August bis 2. September d. J. wird der 111. Inter¬
nationale Laryng o-Rhin olog enkongreiß in Berlin .in den
Räumen des Herrenhauses, unter dem Präsidium des Herrn Ge¬
heimrat B. Frankel 'tagen. Mit dem Kongreß: wird eine wissen¬
schaftliche Ausstellung verbunden sein, die die Beziehung der
Phonetik zur Laryngologie und die Entwicklung der Broncho- und
Oesophagoskopie illustrieren soll. Es sind folgende Referate fest¬
gesetzt worden : 1. Die Beziehungen der experimentellen Phonetik
zur Laryngologie. Referenten: Gutzmann-Berlin, Struyken-
Bieda. 2. Bronchoskopie und Oesophagoskopie, Indikationen und
Kontraindikationen. Referenten : Killian- Freiburg, K a h 1 e r-
Wien, Chevalier Jacks on -Pittsburg. 3. Der Lymphapparat der
Nase und des Nasenrachenraumes in seiner Beziehung zum übrigen
Körper. Referenten: B r o eck ae rt-Gent, Po li- Genua, Logan
turner- Edinburg. 4. Die sogenannten fibrösen Nasenrachen¬
polypen; Ort und Art ihrer Insertion und ihre Behandlung
Referenten: Jacques -Nancy, H e 1 1 a t - Petersburg. Anmeldungen
mul Anfragen sind zu richten an den Sekretär des Kongresses,
Herrn Prof. R o sen her g -Berlin NW., Schiffbauerdamm 26.
Der siebente Kongreß der Deutschen Röntgen-
Gesellschaft wird Sonntag, den 23. April 1911, morgens
9 Uhr pünktlich, in Berlin im Langenbeckhausc eröffnet. Demselben
wird diesmal am Tage vorher, also am Sonnabend, 'den 22. April,
abends 8 Uhr, ein Demonstrationsabend vorausgehen, an dem
diejenigen Vorträge, bei welchen Diapositive projiziert werden
müssen, vorweg genommen werden sollen, um den Sonntag nach
Möglichkeit zu entlasten. Der Kongreß ist auch dieses Jahr
wiederum so gelegt worden, daß die Teilnehmer an dem Ortho¬
päden- und Chirurgenkongreß Gelegenheit haben, dem Röntgen¬
kongreß beizuwohnen. Vorträge und Demonstrationen werden
möglichst umgehend (spätestens bis zum 1. März d. .1.) an den
Schriftführer der Gesellschaft, Herrn Dr.- Immelmann, Berlin
W. 35, Lützowstraße 72, erbeten. Mit dem Kongresse wird ferner
diesmal eine Ausstellung von Projektionsdiapositiven verbunden
sein. Anläßlich des Kongresses ist. ferner die Eröffnung des
Röntgenmuseums in Aussicht genommen. Anfragen sind an
B. Walter, Vorsitzender für das Jahr 1911, Hamburg 36, Physi¬
kalisches Staatslaboratorium, zu richten.
*
Leber Veranlassung der Wiener Aerztekammer werden in
Wien vom 20. Februar bis 5. März wieder Fortbildungs¬
kurse u. zw. durch folgende Vortragende, abgehalten: Professor
W. Latzko: Pathologie und Therapie des Puerperalprozesses;
Primararzt Lihotzky: Blutungen und Entzündungen des weib¬
lichen Genitales; Prof. Herzfeld: Moderne Indikationsstellung
für geburtshilfliche Operationen; Hofrat Schauta: Ausgewählte
Kapitel aus der Geburtshilfe (Die Teilnehmer werden ersucht,
Themen, deren Besprechung gewünscht wird, bei der Anmeldung
bekanntzugeben.); Prof. Tandler: Uterustopik und Beckenboden;
Prof. Wert beim: 1. Gynäkologische Indikationen; 2. Uterus¬
karzinom (verbunden mit Demonstrationen); Prof. 6. Zucker-
_kandl: Tuberkulose der Niere und der Harnwege beim Weibe.
Die Anmeldungen sind schriftlich bis längstens 19. Februar 1911
an die Wiener Aerztekammer zu richten. Zur Einzahlung der Ein¬
schreibegebühren per 3 K und 6 K werden den Teilnehmern
Posterlagscheine zugesendet. AePzte, welche der Wiener Kammer
nicht angehören, können an den Kursen teilnehmen; dieselben
haben1 für den sechsstündigen Kurts 20 K, für den drei- und
vierstündigen Kurs 10 K direkt an den Dozierenden zu entrichten.
Auskünfte im Bureau der Wiener Aerztekammer, Wien L, Börse-
gas'se Nr. 1.
* (
Der Verein K a i s e r - F r a nz-Joseph-Ambulatori u m
veranstaltet einen am 2. Mär'z d. J. beginnenden Vortrags¬
zyklus von zwölf Vorlesungen für praktische Aerzte. Die Vor¬
lesungen finden im Hörsaale des Kaiser-Franz- Joseph- Ambu¬
latoriums (Wien VI., Sandwirtgasse 3, Mezzanin) präzise um
7 Uhr abends statt. Inskriptionsgebühr für Aeirzte und Studie¬
rende 2 K für den ganzen Zvklus.
;ry. ■ > ; • \ [ , . ■ „
Eine große Zahl deutscher Augenärzte Böhmens
und Mährens hat ihre Teilnahme an einer am1 20. März d. J.
in Prag (Deutsche Augenklinik) stattfindenden wissenschaftlichen
Versammlung zugesagt. Kollegen aller benachbarten Kronländer
Oesterreichs', welche sich an der Versammlung beteiligen wollen,
werden willkommen sein. Vorträge und Demonstrationen mögen
bis längstens 25. d. M. bei Prof. Elschni g-Prag II., Ferdinand¬
straße 10, angemeldet werden. Das Programm der Versammlung
wird rechtzeitig in dieser Wochenschrift veröffentlicht werden.
*
Prof. Jaensch (Berlin-Halensee) hat einen Preis von
1000 Mark für die Bearbeitung folgender physiologischer
Aufgabe ausgesetzt : „Es ist durch sachgemäße, wissenschaftlich
einwandfreie physiologische Versuche festzustellen, welche Grund¬
eigenschaften für die leichte und schnelle Lesbarkeit einer Welt¬
schrift in Betracht kommen und welche der zurzeit gebräuch¬
licheren Schriftformen diesen Bedingungen am meisten entspricht.“
Nähere Angaben werden später bekannt gemacht.
*
Cholera. Italien. In Italien sind in der Woche vom
26. Januar bis 1. Februar vier Neuerkrankungen an Cholera vor¬
gekommen, sämtliche in Taranto, Provinz Lecce. — Rußland.
In der Woche vom 1. bis 7. Januar 1911 ereigneten sich im
Russischen Reiche 2 Erkrankungen und 3 Todesfälle an Cho¬
lera u. zw. im Gouvernement Kasan 1 (l) und Jekaterinoslaw
1 (2). — Türkei. Seit Ausbruch der Cholera bis zum 16. Januar
ereigneten sich in Konstantinopel 1318 (793), im Wilajet Bagdad
294
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
819 (723), in Smyrna 181 (122) Choleraerkrankungen (Todesfälle).
In Smyrna ist die schon erloschene Epidemie seit Anfang Januar
von neuem aufgeflammt; die Woche vom 8. bis1 16. Januar brachte
53 (33), vom 17. bis 23. Januar 86 (51), vom 24. bis' 30. Ja¬
nuar 69 (32) Fälle, so daß in Smyrna bis Ende Januar 336 Er¬
krankungen und 205 Sterbefälle zu verzeichnen waren.
Aegypten. In Suakim starb am 26. Januar eine- Frau unter
Choleraverdacht, der durch die bakteriologische Untersuchung
bestätigt wurde. — Arabien. In Djeddali sind seit 4. Januar
18 tödlich ausgegangene Cholerafälle konstatiert worden, so daß
die Gesamtzahl der Erkrankungen seit Beginn der Epidemie be¬
reits auf 42 (41 tödlich) gestiegen ist. In Mekka beträgt die Zahl
der bis 15. Januar an Cholera erkrankten Personen 119, von denen
106 gestorben sind, in Jambo 31, in El Tor 34. In Peritn und
Hodeidah herrscht die Cholera gleichfalls epidemisch, in letzterem j
Orte ereigneten sich 13 Fälle unter türkischen Truppen.
Philippinen. In der Hauptstadt Manila ereigneten sich in
der Zeit vom 6. November bis 3. Dezember 8 (6), in den Pro¬
vinzen 60 (39) Choleraerkrankungen (Todesfälle). — Siam. In
Bangkok wurden Von Mitte Juni bis Ende November 465 Cholera¬
erkrankungen festgestellt.
Pest. Rußland. In der Kirgisensteppe, Gouvernement
Astrachan, treten neuerlich Pestfälle auf. So sind im ersten
Küstenbezirke im Lager von Bes-Kys in der Zeit vom 30. De¬
zember bis 5. Januar a, St. 4 (3), bei Sartube in der Zeit vom
4. bis 8. Januar 14 (5), im zweiten Küstenbezirke in Kossaj vom
17. bis 26. Dezember 15 (8) Pestfälle (Todesfälle) vorgekommen.
Im Kreise Kamisch-Samara ereigneten sich in Kolibaj am 16. De¬
zember 1 (0), in Aktschagil in der Zeit vom 22. Dezember bis
3. Januar 10 (9) Pesterkrankungen. In der russischen Duma
beantwortete der Finanzminister mehrere Anfragen bezüglich der
Pest in der Mandschurei. Die- Pest sei in'dor Mandschurei heimisch
und habe z. B. 1905 bis 1908 grassiert. Der erste Pestfall 191.
sei am 13. Oktober (a. St.) in Mandschuria vorgekommen; der
Regierung sei es gelungen, trotz des regen Verkehres, der Re¬
krutenaushebung und des Be-amtenwechsels die Verschleppung ins
Transbaikalgebiet zu verhindern. Dafür aber griff die Seuche- nach
Osten über und hier war der Kampf gegen diese bisher erfolglos.
Von Waren werden gegenwärtig nur die international als unge¬
fährlich -gestatteten zugelassen; alle Postsachen passieren die
ärztliche Kontrolle. Besonders werden die Tababg anfeile des¬
infiziert und abgestempelt. Eine Absperrung des verseuchtem,
äußerst schwer zu sanierenden Viertels Fudjadjan hat sich als
unmöglich erwiesen. Es ist. nicht ausgeschlossen, daß die Pest
noch außerordentlich anwächst und nach. Rußland vordringt. Ris
zum 1. Januar sind 260.000 Rubel für die Pestbekämpfung aus-
gegeben worden, monatlich werden weitere 75.000 bis 80.000
Rubel nötig sein. Hiezu kommt ein Ausfall von 25.000 bis 30.000
Rubel durch die Bahnsperre für die Chinesen. Für 1910 sind
vom Ministerium des Innern schon 400.000 Rubel beansprucht
worden. Prof. Sabolotny ergänzte diese Ausführungen durch
Schilde rung der Schwierigkeiten der Pestbekämpfung bei den
ungesunden, äußerst engen Wohnungen der Chinesen. Die Pest
sei in China endemisch und bilde- eine ständige Gefahr, der man
nur durch planmäßige Sanierung der Orte begegnen könne. —
Aegypten. In der Woche vom 20. bis 26. Januar ereigneten
sich 26 (9), in der Woche vom 27. Januar bis1 2. Februar 33 (16)
Pestfälle (Todesfälle). - China. Die Pest in der Mandschurei
hat große Dimensionen angenommen. Hauptherde der Epidemie
s iid noch immer Charbin und Fudjadjan. Tn der Enteignungs¬
zone der ©stchinosischen Bahn sind seit dem Auftreten der Ptast
am 26. Oktober bis zum 14. Januar 1043 Chinesein- und 32 Euro¬
päer erkrankt, 1020 Chinesen und 29 Europäer gestorben. Die
Seuche, die zuerst in Mandschuria, der chinesischen Grenzstation
gegen Sibirien, ausgebrochen ist, verbreitete sich rapid längs der
russischen Bahnzone weiter und ist nun über Mukden hinaus bis
Seliinmintun gelangt. Auch aus Dalny, dem Endpunkte der süd¬
mandschurischen Balm, sind schon mehrere Pestfälle gemeldet
worden. Die chinesische Regierung hat alle Wege und Straßen,
die die Große Mauer durohschneiden, gesperrt; Bahnreisende
!. Klasse müssen sich in Shanhaikuan einer fünftägigen Quaran¬
täne unterziehen, Reisenden der II. und III. Klasse werden Fahr- !
karten nur his Mukden ausgefolgt. Die mandschurischen Häfen i
Anfang und Dalny wurden für verseucht erklärt. Trotz dieser i
Maßnahmen sind in der österreichisch-ungarischen Niederlassung
in Tientsin bis 22. Jänner 5 Pesterkrankungen unter Chinesen I
vorgekommen. In Peking haben sich bisher 6 Pestfälle ereignet, j
Die Entstehung der Seuche wird auf die Verbreitung durch Jäger
zurückgeführt, die das mongolische Murmeltier (Tarbagan) jagen.
Diese chinesischen und burjatischen Jäger, welche die Tiere ab- i
bauten und mit. ihren Fellen Handel treiben, genießen auch das j
Fleisch der genannten Tiere, selbst wenn dieselben die charakte- >
ristischen Bubonen an den Achselhöhlen der Vorderbeine auf¬
weisen. Die weiten' Ausbreitung der Epidemie ist um so mehr
zu befürchten, als die Ratten in China massenhaft Vorkommen
und gewissermaßen als Hausgenossen betrachtet werden.
*
Am 14. d. M. ist in Berlin der Reichsgesundbeitsrat zu
sammen-getre-ten, um über die Maßnahmen bezüglich der Er- 1
forschung und Bekämpfung der Pest in China zu beraten. Ls
wurde mitgeteilt, daß sowohl von seiten der russischen, als der |
chinesischen Regierung der Wunsch vorliege, daß deutsche Aerzte )
in die Pestgebiete entsendet werden. Von der russischen Regie- |
rung wird Prof. .Sabolotny, von der japanischen Professor
Kitasato in das Pestgebiet abgehen.
Freie Stellen.
Distriktsar ztesstelle für die Gemeinden Metnitz und Grades
mit dem Wohnsitze in Grades (Kärnten). Mit derselben ist eine Jahres-
remnneration von 600 K aus dem Landesfonds und 800 K von den Ge- !
meinden verbunden, sowie der Bezug für Armenbehandlung, Toten¬
beschau, Durchführung der öffentlichen Impfung^ und sonstige Dienst¬
reisen normierten Gebühren. Die gegenseitige Kündigungsfrist beträgt |
zwei Monate. Der Distriktsarzt hat die Verpflichtung, eine Hausapotheke
zu führen. Bewerber um diese Stelle werden eingeladen, ihre vorschrifts- :
mäßig, d. i. auch mit einem ärztlichen Gesundheitszeugnis belegten und
gestempelten Gesuche direkt oder im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde ;
i.is längstens 4. März 1911 hei der k. k. Bezirkshauptmannschaft j
St. Veit zu überreichen beziehungsweise an dieselbe einzusenden.
Unentgeltliche Kurplätze in A b b a z i a für Kinder
von Sozietätsmitgliedern. Es kommen für das Jahr 1911 drei
unentgeltliche Kurplätze für Kinder von Sozietätsmitgliedern in dem
Kindersanatorium« des Herrn Dr. Kolomänn Szego in Abbazia zur
Besetzung. Für diese Kinder werden durch sechs Wochen bestritten: I
Wohnung, vollständige Verpflegung, ärztliche Behandlung, sämtliche Kur- I
behelfe (inkl. Bäder), Bedienung, Beheizung, die Taxe für das Aufsichts-
fräulein. Außerdem soll eventuell noch ein Beitrag zu den Reiseauslagen
bewilligt werden, wenn hiefür das Bedürfnis vorhanden wäre. Die An¬
stalt ist im Sommer und Winter geöffnet, die Kinder können daselbst
ohne Begleitperson gelassen werden. Diese Kurplätze sind bestimmt zu¬
nächst für verwaiste, sodann andere Kinder von Sozietätsmitgliedern,
welche das 7. Lebensjahr erreicht haben und der Kur dringend be- ,
dürftig sind. Zuschriften mögen gefälligst unter Beifügung eines ärztlichen -
Attestes an die Direktion der Witwen- und Walsen-Sozietät, I., Roten- ;
turmslraße 19, gerichtet werden. Einreichungstermin bis längstens 1
10. M är z 1911.
INHALT:
Theodor Escherich f. Nachruf von Priv.-Doz. Dr. Fritz
Hamburge r. S. 263.
(. Originalartikel: 1. Aus der chem. Abteilung des serothera¬
peutischen Institutes in Wien. (Vorstand: Hofrat Prof. R. Paltauf.) -
lieber die Wirkung des Adrenalins auf einzellige Organismen.
(Vorläufige Mitteilung.) Von Dr. Oswald Schwarz. S. 267.
2 Aus der chirurg. Abteilung des Rothschildspitales in Wien.
(Vorstand: Prof. Dr. Otto Zuckerkandl.) Klinik und Therapie der
Steine im Beckenteile des Ureters. Von Dr. Friedrich Necker
und Dr. Karl Gags tatter. S. 268.
3. Die Messung der Durchgängigkeit der Nase für den Luftstrom.
Von Prof. Dr. Gustav Gaertner. S. 279.
4. Ueber die Natur der Nävuszellen. Von Prof. Dr. Kreibich
S. 283.
5. Die Technik der Knochenmarkspunktion. Von Prof. Dr. Giovann
G h e d i n i. S. 284.
II. Diskussion: Erwiderung auf die kritischen Bemerkungen
Mayerhofers über meine Resultate bei Permanganattitration
des Liquor cerebrospinalis. Von Dr. med. G. Simon. S. 284.
III. Referate: Taschenbuch der pathologischen Anatomie Doktor
Werner Klinghardts Kolleghefte. Von Prof. Dr. Edgar Gierke.
Die Krankheiten der warmen Länder. Von Geh. Medizinalrat
Dr. B. Scheube. Ref. : Carl Stern her g. — Handbuch der Ent¬
wicklungsgeschichte des Menschen. Von Franz Kreibel und
Franklin P. Mall. Ref.: H. Rabl. — Die Elemente des Herz¬
muskels. Von A. Dietrich. Ref.: Josef Schaffer, Wien.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrichten.
V I. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Mr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
295
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll (1er k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 17. Februar 1911.
Verein der Aerzte in Steiermark.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in Böhmen.
Sitzung vom 3. Februar 1911.
Verein deutscher Aerzte in Prag. Sitzung vom 24. Januar 1911.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 17. Fe b r u a r 1 91 1 .
Vorsitzender: Pro! Ferd. Hochstetter.
Schriftführer : Dr. R. Bergmeister.
Der Vorsitzende Prof. Hochstetter teilt mit, dab Herr
Hofrat Dr. Th. Es eher ich am Mittwoch, den 15. Februar 1911
gestorben ist und hält demselben einen kurzen Nachruf.
Die Versammelten erheben sich zum Zeichen der Trauer
von ihren Sitzen.
Dr. Hans Heyrovsky stellt aus der zweiten chirurgischen
Klinik Hofrat H o ebene g g eine 34jährige Patientin mit seltener
Erkrankung der Speiseröhre vor.
Das Leiden der Patientin begann im 19. Lebensjahre mit
Erbrechen, welches fast nach jeder Nahrungsaufnahme, ohne be¬
sondere Anstrengung und Uebelkeit auftrat.
Später, als die Patientin das häufige Erbrechen zu unter
drücken suchte, traten Anfälle von Druck auf der Brust, Zyanose
und Atemnot auf. Nach wiederholtem Aufstoßen oder Erbrechen
hörten diese Anfälle in der Regel auf.
Die Erkrankung wurde von verschiedenen Aerzten teils als
ein Magen-, teils als ein Lungenleiden aufgefaßt und dem¬
entsprechend ohne Erfolg behandelt.
Erst auf der ersten medizinischen Abteilung des Herrn Pro¬
fessor Pal, dem wir den interessanten Fall verdanken, wurde die
Diagnose einer Erkrankung der Speiseröhre gestellt.
Die'-- radiologische Untersuchung, welche im Röntgenlabo¬
ratorium des Herrn Priv.- Doz. Holz kn e cht vorgenommen wurde,
bestätigte diese Diagnose; man fand eine hochgradige diffuse
Dilatation der Speiseröhre.
Der damalige Röntgenbefund (23. Oktober 1909) lautete: Dei
Oesophagus' ist hochgradig quer und längs gedehnt. Etwa in der
Höhe des Angulus Ludovici zeigt er deutlich auch ohne Wismut¬
füllung ein zirka drei Querfinger breites, schwappendes Flüssig¬
keitsniveau. Oberhalb des Zwerchfells bildet der Oesophagus
eine S-förmige, zwei Querfinger breite Schlinge. Eine in die
Speiseröhre eingeführte Sonde gelangt nicht in den Magen, son¬
dern nur in den oberen Anteil der Schlinge. Aus der Speiseröhre
konnten auf der Abteilung Pal in der Regel 500 cm3 einer mit
Speiseresten vermengten Flüssigkeit ausgehebert werden. Die
Flüssigkeit reagierte sauer, enthielt keine freie Salzsäure, wohl
aber Milchsäure.
Die Patientin wurde auf die zweite chirurgische Klinik
zum Zwecke einer Operation, mit der Diagnose diffuse Dilatation
des Oesophagus, Kardiospasmus, transferiert. Die Sondierung der
Kardia vom Munde aus war wegen der S-förmigen Krümmung
der Speiseröhre nicht durchführbar.
Um die Speiseröhre ruhig zu stellen und die genügende
Ernährung der Patientin zu sichern, haben wir am 22. Juni 1910
eine Magenfistel angelegt. Unsere Absicht war, später die Kardi
durch Sondierung von der Magenfistel aus zu dilatieren.
Bei dieser ersten Operation wurde auch die Kardia be¬
sichtigt und eine narbige Stenose derselben festgestellt.
Auf Grand dieses Befundes mußte die Diagnose Kardio¬
spasmus fallen und als Ursache der Passagestörung narbige Ste¬
nose angenommen werden. Die Aetiologie der narbigen Stenose
ist uns nicht bekannt; es spricht jedoch vieles dafür, daß ur¬
sprünglich ein Ulcus peptieum der Kardia mit Spasmus vor¬
handen war und erst später eine narbige Stenose in den \ order-
grund trat.
Mehrere Versuche, die Kardia von der Magenfistel aus
mit Gastroskop einzustellen und zu sondieren, mißlangen voll¬
kommen, offenbar wegen der narbigen Verziehung. Es wurde
deshalb am 24. November 1910 zur zweiten Operation geschritten.
Bei derselben habe ich die Kardia freigelegt und aus dem
Hiatus des Zwerchfells losgelöst mit der Absicht, die oberhalb
des Zwerchfells liegende Schlinge der Speiseröhre in die Bauch¬
höhle herabzuziehen und dadurch zu strecken.
Da dies, wie wir vermutet haben, nicht vollständig gelang
und die Stenose sich als hochgradig erwies, wurde die zweite
Modifikation des Operationsplanes, eine Anastomose zwischen
Oesophagus und Fundus des Magens ausgeführt.
Die Speiseröhre wurde ohne Verletzung der Pleura dia-
pluagmatica so weit vorgezogen, daß eine Anastomose unter dem
Zwerchfell angelegt werden konnte.
Der Kopf der Patientin befand sich während der Operation
im B-r euer sehen Ueberdruckapparat, da mit der Eröffnung der
Pleurahöhle gerechnet werden mußte.
Der Verlauf nach der Operation war folgender: Die Wunde
heilte per primam. Die Patientin konnte vorn zehnten Tage an
flüssige, vom 14. Tage an breiige Speisen schlucken.
Am 18. Tage trat nach dem Genüsse einer Schinkensemmel
Erbrechen auf. An demselben Tage wurde vom Herrn Privat¬
dozenten. Holzknecht die erste radiologische Untersuchung der
Speiseröhre nach der Operation vorgenommen. Die Anastomose
funktionierte an diesem Tage nicht. In der linken Pleura wurde
bei dieser Gelegenheit ein geringer Erguß radiologisch nach¬
gewiesen.
Seit diesem Zwischenfall trat niemals mehr Erbrechen auf
und die Patientin konnte alle Speisen ohne Beschwerden genießen.
Fünf Wochen nach der Operation traten unter mäßigem
Fieber Erscheinungen einer link seifigen serösfibrinösen Pleu¬
ritis .auf.
Das Exsudat wurde durch zweimalige Punktion der Pleura
entleert und die Erscheinungen der Pleuritis gingen rasch zurück.
Das Exsudat war steril. Die Patientin fühlt sich nun seit mehreren
Wochen vollkommen wohl und kann jede Nahrung ohne Be¬
schwerden schlucken.
Der radiologische Befund, welchen Herr Dr. Haudek vor
einigen Tagen aufgenommen hat, lautet:
Die Röntgenuntersuchung ergibt, daß sowohl Wismutwasser
als auch Wismutmilchspeise im untersten Teile des Oesophagus
sich anstaut, ohne daß es aber zu einer kompletten Füllung der
S-förmigen Schlinge korntat, wie es bei den früheren Unter¬
suchungen der Fall war. Im untersten Teile derselben sind viel¬
mehr nur schwache Schatten sichtbar. Die Stauung ist eine be¬
deutend geringere als bei den früheren Untersuchungen, denn
man sieht größere Quantitäten der eingebrachten flüssigen und
breiigen Ingesta in schnellem Tempo in den Magen eindringen.
Dieser wird von den Ingesten ziemlich gut entfaltet und zeigt
normale Größe, Form und Peristaltik. Früher waren nur ganz
winzige Quantitäten im Magen sichtbar.
Sechs Stunden nach der Einnahme der Ried ersehen Mahl¬
zeit ist der Magen bereits fast vollkommen leer, so daß die der¬
zeitige Passagestörung im Oesophagus keine nennenswerte Ver¬
dauungsstörung nach sich zieht. Von vier in die Speiseröhre
eingebrachten Glutoidkapseln mit Wismut, von den Dimensionen
6, 8, und 9 und 12 mm, sind nach einer Stunde die zwei
kleinen Kapseln in den Magen eingedrungen, woraus sich folgern
läßt, daß die Kommunikation zwischen Oesophagus und Magen,
die den Uebertritt der Speisen jetzt vermittelt, einen Durchmesser
von mindestens 8 mm besitzt. (Demonstration von Röntgenaut
nahmen, die teils an der Klinik, teils im Röntgenlaboratorium
des Herrn Priv.- Doz. Holzknecht angefertigt wurden.)
Ueber die Technik der Operation wird au anderer Stelle
berichtet. Die bisherigen vereinzelten Versuche, eine neue Ver¬
bindung zwischen Magen und Speiseröhre beim Menschen an¬
zulegen, wurden in der Weise ausgeführt, daß' der 1 undus des
Magens durch eine Oeffnung im Zwerchfell in die Pleurahöhle
verlagert und dortselbst mit der Speiseröhre anastomosieR wurde.
In unserem Falle wurde die Anastomose unter dein Zw et ch-
’ feil in der Bauchhöhle ausgeführt. Die Verhältnisse für diese
Art der Operation waren in unserem Falle wegen der Verlängerung
der Speiseröhre sehr günstig ; die Operation ist jedoch, w io
man sich bei den Leichen versuchen überzeugen konnte auch
bei normalen anatomischen Verhältnissen ausführbar, da sich auch
die normale Speiseröhre ziemlich leicht in die Bauchhöhle voi-
ziehen läßt. . , r, ,
Die Operation wird bei kurzen narbigen Stenosen der 1
angezeigt sein. . ,
Alle bisher beim Menschen ausgeführten Anastomosen
zwischen Speiseröhre und Magen endeten letal, hi v<>r0i.sc
296
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 8
Fall ist der erste, Lei welchem eine Anastomose zwischen der
Speiseröhre und Magen mit. Erfolg ansgeführt wurde.
Diskussion: Prof. Pal: Gestatten Sie, daß ich zur Kranken¬
geschichte des Falles, dessen Klarlegung manche Mühe bereitet
hat, einige Bemerkungen mache. Der Beginn der Beschwerden
wird von der Patientin auf das 19. Lebensjahr (1894) verlegt. Das
Erbrechen soll sich zum erstenmal im Anschluß an einen Streit
mit den Eltern eingestellt haben. In der Folge trat es fast täglich
auf und zeigten sich dabei mitunter auch blutige Streifen. Im
Jahre 1900, während der ersten Gravidität, und 1902 zum zweiten¬
mal profuse Magenblutung. Im Januar 1909 kam die Kranke
am die Abteilung wegen einer Bronchitis mit Anfällen von Atem¬
not. Zu dieser Zeit war sie zum zweitenmal gravid. Die schweren
Anfälle von Atemnot setzten nach Angabe der Patientin
mit starkem Druck in, der Magengrube ein. Es entwickelte sich
dann, wie wir sehen konnten, unter intensiver Zyanose Schwellung
der Jugularvenen und der Schilddrüse, worauf bedeutender Stridor
folgte. Nach Aufstoßen von Luft war der Zustand zu Ende.
Wir hatten ein Bild vor uns, als ob sich in akuter Weise ein
Mediastinaltumor entwickeln würde. Im Laufe der Beobachtung
konnten wir erst feststellen, daß dieser Zustand sich nur im Zu¬
sammenhang mit einer Nahrungsaufnahme einstelle und konnten
wir den Anfall jederzeit herbeiführen. Die erste Röntgenunter¬
suchung des vorher gefüllten Oesophagus ergab schon die ge¬
schilderte S-förmige Schlängelung der Speiseröhre. Der Zustand
der Kranken gestaltete sich bald derart ungünstig, daß idh zu¬
nächst die Einleitung der Frühgeburt veranlassen mußte, die dann
auf der Klinik Schauta (März 1909) ausgeführt wurde. Am
zweiten Tage wurde uns die Kranke zurückgebracht und war
bereits beideutend gebessert, doch bestanden die Anfälle weiter.
Im April 1909 habe ich die Patientin mit Herrn Dr. Gottwald
Schwarz wieder durchleuchtet; da konnten wir feststellen, daß
der Oesophagus zwar erweitert war, jedoch noch geradlinig ver¬
lief. Unter der Füllung trat erst die geschilderte Schlängelung
auf, die von Bewegungen begleitet war, die an die Bewegungs-
erscheinungen der Darmsteifung bei der Ente-rostenose erinnerten.
Auf der Höhe des Vorganges tauchte plötzlich eine! Gasblase
auf, die den Oesophagus in den obersten Partien dehnte. Mit
dein Eintritt der Gasblase wurde der Stridor laut und mit deren
Verschwinden unter Aufstoßen war der peinliche Zustand be¬
endet.
Es war sonach klar, daß die Patientin während des Schling¬
aktes Luft schluckte, indem sie bestrebt war, den Inhalt der Speise¬
röhre durchzutreiben. Dieser Vorgang führte zu den schweren
respiratorischen Störungen.
In therapeutischer Hinsicht wurde das Möglichste unter¬
nommen, ohne erheblichen Erfolg. Zuerst erwies sich Adrenalin
durch einige Tage wirksam. Nachdem das Luftschlucken fest-
gestellt war, wendete ich den Mundkeil an, von dem ich schon
einmal hier gelegentlich einer Diskussion gesprochen habe. Es
hatte dies nur zur Folge, daß die Schweren Atemstörungen ver¬
mindert wurden, doch konnte das die Patientin nicht befriedigen,
da die Schlingstörung dadurch nicht beseitigt wurde. Belladonna
und Atropin (Eumydrin) ergaben selbst in großen Dosen keine
erhebliche Besserung. Am meisten erreichten wir durch Aus¬
spülungen der Speiseröhre. Die Patientin nahm beträchtlich an
Körpergewicht zu. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln verschlimmerte
sich aber das Befinden der Kranken wieder derart, daß ich sie
schließlich dazu drängte, sich einem operativen Eingriff zu unter¬
ziehen, über desfeen Erfolg eben ausführlich berichtet wurde.
Der Fall scheint mir also auch beimerkenswert mit Rücksicht
auf die Erscheinung des Luftschluckens, ferner insbesondere
deshalb, weil er zeigt, wie eine Luftblase im Oesophagus
imstande ist, die Trachea zu komprimieren. Von laryngologischer
Seite wurde im Anfall eine Abplattung und Verdrängung der
Trachea nach rechts und vome festgestellt.
Priv.-Doz. Holz kn echt: Neben dem vorzüglichen Ope¬
rationsresultat verdient der Fäll, wie ich glaube, auch vom patho¬
logischen Standpunkte hervorragendes Interesse. Die hoch¬
gradigsten Dilatationen des1 Oesophagus, wie sie durch Narben¬
stenosen, besonders aber als idiopathische oder mit Kardiospasimus
verbundene Dilatation auftreten und seit der Röntgenuntersuchung
nicht allzu selten gefunden werden, zeigen stets eine sackartige
bis spimdelige Form; es überwiegt also die Querdehnung. So
haben sich die von mir beobachteten 12 und die zirka 50 weiteren
in der Literatur bekannt gewordenen, radiologisch untersuchten
Fälle präsentiert. Ebenso die früheren, am Sektionstisch vor-
, gefundenen. Der vorliegende Fall weist eine geringe Querdeh¬
nung, dafür aber eine zur mächtigen, S-förmigen Schlinge füh¬
rende vorwiegende Längsdehnung auf.
Daß nun der normale Oesophagus durch Narbenstenose
eine derartige Dilatation erfährt, ist, da sich in solchen Fällen
sonst, nicht einmal eine Andeutung davon zeigt, unwahrscheinlich.
Dazu kommt, daß sich in der pathologisch-anatomischen Litera¬
tur (die Stelle ist mir nicht gegenwärtig; zitiert bei Kraus)
einige wenige Fälle von idiopathischer Dilatation mit oder ohne
Kardiospasmus, aber ohne Ulkus oder Narbe finden, welche eine
ausgesprochene Schlängelung aufwiesen und da ferner die letzten
Untersuchungen über den Gegenstand (besonders F. K rau s)
dargetan haben, daß diese hochgradigen Erweiterungen wahr¬
scheinlich niemals bloß durch ein (spastisches) Hindernis an
der Kardia verursacht sind, sondern zugleich oder allein eine
primäre Schwäche der Oesophagusmuskulatur besteht, so ist es
wahrscheinlich, daß auch hier das Ulkus nicht das Primäre war.
Vielmehr ist anzunehmen, daß wir es mit einer primären, idio¬
pathischen, mit oder ohne, Kardiospasmus einhergehenden Dila¬
tation des Oesophagus u. zw. mit einem jener ganz seltenen
Fälle zu tun haben, bei denen nicht die Querdehnung, sondern
die Schlängelung im Vordergründe steht und daß erst sekundär,
durch die Stagnation, das Ulkus entstanden ist, dessen Narbe
den hohen Grad von Wegsamkeitsstörung herbeiführte, der die
so glückliche Operation no tu- endig gemacht hat.
Dr. Fritz Demmer stellt aus der II. chirurgischen Klinik
einen Fall von Wachstumsstörung mit Beziehung zur
Akromegalie vor. (Erscheint ausführlich in dieser Wochen¬
schrift.) I
Diskussion: Hof rat Hochenegg hebt die Symptome des
vorgestellten Falles noch einmal kurz hervor.
Dt. Gottwald Schwarz projiziert das Röntgenbild eines
klinisch klaren Falles von Aortensklerose. Die 70jährige
ambulante Patientin wurde im Röntgenlaboratorium der I. medi¬
zinischen Universitätsklinik (v. Noorden) durchleuchtet. Dabei
zeigten sich neben diffuser Dilatation (in schräger Durchleuch-
tungsrichtung) derartige Kalkeinlagerungen, daß einerseits span¬
genartige Spiraltouren, aus tief dunklen Ringen sich
zusammensetzend, zur Ansicht gelangten, andrerseits die Aorta
descendens in ganzer Ausdehnung als ein schwarz konturiertes,
innen heileres Rohr mit vielfachen krümmeligen Einlagerungen
erschien. { *
ßittorf und in letzter Zeit Rosier haben auf .die Möglich¬
keit., röntgenologisch Kalkplaques auch in der Aorta zu sehen,
hingewiesen; letzterer hat einen derartigen Befund auch bei der
Sektion verifizieren können.
Dias vorliegende Bild stellt aber wegen der elliptischen
und spiraligen Ringe, ferner wegen der ungewöhnlichen
Klarheit ein Unikum dar, das auch aus' dem Grunde demonstriert
wurde, um zu zeigen, bis zu welchem Detail .unter1 Umständen die
Röntgenuntersuchung der Brustorgane Aufklärung geben kann.
Dr. Viktor Hecht und Dr. Robert Köhler: „Unter¬
suchungen über Asepsis (mit Demonstration). (Erscheint
ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Verein der Aerzte in Steiermark.
14. Monatsversammlung am 25. November 1910.
Prof. v. Hacker hält einen Vortrag über Behandlung der
entzündlichen Mastdarmstrikturen, deren Entstehung entweder
auf einfache chronisch-katarrhalische Entzündung oder auf Go¬
norrhoe oder auf tertiäre Syphilis zurückgeführt wird. Der Vor¬
tragende bespricht zunächst das konservative Heilverfahren (Dila¬
tation), sowie die bei ausgedehnteren Strikturen üblichen Opera¬
tionsmethoden und stellt endlich zwei Fälle vor, von denen der
eine, eine 23jährige Frau, bei welcher eine ringförmige luetische
Striktur, etwa 6 cm über der Analöffnung begann, mittels des
Dilatationsverfahrens mit günstigem Erfolge behandelt wurde.
Die zweite Patientin litt seit vier Jahren schwer an einer luetischen
Rektumstriktur, die von unten nicht dilatierbar war und deren
Ende per vaginam nicht zu erreichen war. Bei der Laparotomie
zeigte sich, daß die Striktur bis zum Kolonwinkel hinaufreichte.
Es wurde eine laterale Kolostomie am Cökum ausgeführt. Bei
der einige Zeit später vorgenommenen Hauptoperation wurde der
Darm zwischen Colon transv. und Colon desc. durchtrennt. Nach
Durchtrennung der Lig. gastro-colic. und des Mesenteriums des
Colon transv. ließ sich das letztere genügend mobilisieren. In
Steinschnittlage wurde sodann von einem perinealen Querschnitt
zwischen Vagina und Rektum vorgedrungen und auf einer von
innen her das Peritoneum hinter dem Uterus vorstülpenden
Kornzange der Douglas eröffnet. Das zugebundene, mit Jodoform¬
gaze umhüllte Ende des Colon transv. wurde sodann durch den
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
297
Douglasschlitz und einen Längsschlitz der vorderen Rektalwand
gezogen und, da wegen der Striktur keine Schleimhautnähte vom
Rektum angelegt werden konnten, durch eine außer dem Anus
quer durchgestochene Akupunkturnadel am Zurückgleiten ver
hindert. Die ganze Operation dauerte kaum 1 3d Stunden. Die
Patientin überstand den Eingriff sehr gut. Kürzlich wurde die
(Vikalfistel verschlossen.
Die Kranke hat alle ihre Beschwerden verloren, hat guten
Appetit und meist festen, geformten Stuhl. Bei flüssigem Stuhl¬
gang besteht noch Inkontinenz, welche durch eine Sphinkter¬
plastik aus den Glutäen beseitigt werden soll. Es wurde also
liier das Verfahren der Herableitung des Colon transv. mit der
Anastomosenbildung am extraperitonealen Rektum kombiniert,
also zum ersten Male eine Colon transverso-proctostomia externa
ausgeführt.
Priv.-Doz. Dr. Petry bespricht an der Hand von Demon¬
strationen die radiologische Diagnose des Ulcus ventriculi.
Priv.-Doz. Dr. Polland demonstriert: 1. Einen typischen
Fall von Neurofibromatosis universalis (Recklinghausen) bei
einer 52jährigen Frau. 2. Ein 19jähriges Mädchen mit einer
angioneurotischen Dermatose, bestehend in symmetrisch auf¬
tretenden, in nässende Flächen übergehende Bläscheneruplionen
an Armen und Oberkörper.
An der Diskussion beteiligen sieb außer Prof. FI a r t m a n n
und Assistent Dr. Phleps noch Prof. Lorenz.
Prof. Lorenz erwähnt, daß in neuerer Zeit solche exsu¬
dative Exantheme mit Kalkarmut des Organismus in Zusammen¬
hang gebracht werden. Auch soll bei Urtikaria eine Kalktherapie
von entschiedenem Nutzen sein. Prof. Lorenz fragt, ob der
Vortragende bei dem vorliegenden Fall eine Kalktherapie ver¬
sucht hat.
15. Monatsversammlung am 9. Dezember 1910.
Primarius Dr. L u k s c h demonstriert eine operativ geheilte
Herzverletzung. Gelegentlich der sich anschließenden Diskussion
empfiehlt Assistent Dr. v. Saar bei Operationen am Herzen
die Innenfläche des Perikards gleich nach Eröffnung mit 5'Voiger
Novokainlösung zu betupfen, um durch diesen Vorgang alle
durch die späteren Manipulationen ausgelösten Reflexe von vorn¬
herein auszuschalten.
Prof. Langer fragt an, ob mit Fibrolysiir bei kardio-
mediasiinalen Verwachsungen Versuche gemacht, resp. Erfolge ■
erzielt wurden. Primarius Dr. Luk sch verneint diese Anfrage.
Assistenzarzt Dr. Canestrini berichtet über einen
seltenen, paralytischen Anfall. Es handelt sich um eine 40jährige
Frau, bei der auf der Frauenklinik, eine Kolpoperineoplastik mit
Lumbalanästhesie unter Anwendung von Tropokokain vorge¬
nommen worden war. Nach der Operation blieb die Temperatur
afebril bis zum vierten Tag, nur klagte die Patientin während¬
dessen über sehr starke Kopfschmerzen. Vier Tage nach der
Operation bekam die Frau unvermutet einen Anfall/ während¬
dessen sie das Bewußtsein verlor, Opisthotonus zeigte und eine
tonisch- klonische Kontraktur der ganzen Körpermuskulatur auf¬
wies. Später konnte der Vortragende selbst einen Anfall der
Patientin beobachten, der fünf Minuten dauerte. Die Pupillen
waren während des Anfalles lichtstarr, der Kornealreflex nicht
auslösbar, es trat starke Dispnoe auf und der Puls stieg von
100 auf 140. >
Da die weitere genaue Untersuchung eine ganze Reihe
von in Betracht zu ziehenden Krankheitsformen ausschloß, mußte
auch an die Möglichkeit eines paralytischen Anfalles gedacht
werden. Durch die Untersuchung der Lumbalflüssigkeit und dem
positiven Ausfall der Wassermann sehen Probe wurde diese
Diagnose sichergestellt.
Der Vortragende verbreitet sich weiter in ausführlicher
Weise über die Untersuchungsmethode der Lumbalflüssigkeit bei
den metaluetischen Erkrankungen.
Prof. Langer hält einen Vortrag über: Impfsyphilis und
Spirochaete pallida. An der Diskussion beteiligt sich Privatdozent
Dr. Po 1 1 a n d.
3. Sitzung der Abteilung für Neuropathologie
am 18. November 1910.
Assistent Dr. Phleps hält einen Vortrag über „bisher
wenig beachtete trophische Störungen an den Knochen . Der
Vortragende führt aus, daß außer den bekanntesten mit trophischen
Störungen am Skelettsystem einhergehenden Krankheitsformen,
der Tabes dorsalis und Syringomyelie, noch eine Reihe anderer
Erkrankungen des Nervensystems, wie Poliomyelitis, Querschnitt -
läsionen, Hemiplegien infolge von Blutungen oder Entzündungen
im Gehirn, ferner die Sklerodermie, die Raynaud sehe Krank¬
heit, die Erythromelalgie und die Akroparästhesien ähnliche
Folgeerscheinungen hervorrufen können. Außerdem kommen
Knochenatrophien auch bei rein peripheren Erkrankungen, wie
Frakturen, Distorsionen, Kontusionen der Weichteile und der
Knochen, Geschwülste und Entzündungen an Knochen oder Weich¬
teilen, Kontinuitätsverletzungen, Geschwülste und Entzündungen
der Nerven vor. Unter gleichzeitiger Demonstration von Röntgen¬
bildern bespricht Dr. Phleps ausführlich das Zustandekommen,
die klinischen Erscheinungen und die Diagnose dieses Krankheits¬
bildes. An der Diskussion beteiligen sich Priv.-Doz. Dr. Wittek,
Regimentsarzt Dr. P o 1 1 a k und Primarius Priv.-Doz. Dr. H e r 1 1 e.
4. S i t z u n g der Abteilung für Neuropathologie
am 2. Dezember 1910.
Priv.-Doz. Dr. Her tie hält ein chirurgisches Referat über
den gegenwärtigen Stand der Epilepsietherapie. Der Vortragende
beschäftigt sich zunächst mit der Einteilung der verschiedenen
Formen traumatischer Epilepsie, verweist an der Hand von Fällen
auf die mannigfachen Variationen des Krankheitsbildes und
kommt zu dem Schlüsse, daß allen traumatischen Epilepsien als
gemeinsame Ursache chronisch-entzündliche Veränderungen der
Gehirnrinde zugrunde liegen können. Zum Schlüsse bringt
Dr. Her tie noch eine ausführliche Statistik operativer Heil¬
erfolge.
Ueber Duraplastik bei J a c k s o n- Epilepsie referiert Assi¬
stent Dr. Freiherr v. Saar unter Berücksichtigung des an der
Grazer chirurgischen Klinik hiezu verwendeten Materiales und
bespricht ausführlich die Vor- und Nachteile der Alloplastik,
Humoroplastik und Heteroplastik.
Zum Schlüsse referiert Assistent Dr. di Gaspero über
den derzeitigen Stand der konservativen Therapie der Epilepsie,
wobei er besonders die günstigen Erfolge mit Epileptol an der
Grazer Nervenklinik hervorhebt.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte
in Böhmen.
Sitzung vom 3. Februar1 1911.
Herr v. Jaksch: Demonstration eines Falles von Situs
inversus viscerum.
Herr H o k e> - Prag - Framzensbad : Dem o n s tr a t i on v o n
Elektroka r d i o g r a m ln e n.
Eine Verstärkung del* P- Zacke beim Atherom findet sich
nicht konstant. Beim Irregularis perpetuus fehlt die Atrium¬
schwankung oder sie ist durch unregelmäßige Saitenschwankun¬
gen ersetzt. Verstärkung der Initialzacke findet sich bei Herz¬
hypertrophie nicht konstant, oft aber bei Nephritis (auch ohne
Hypertrophie des Herzens). Negativwerden der Finalschwankung
findet sich nur bei deutlich Herzmuskelkranken. In einem Falle
ließ das Elektrokardiogramm eine Leitungsstörung im rechten
Schenkel des Reizleitungssystems annehmen.
Herr E. H. Hering: Diskussdonsbeimerkung zum
Vorträge des Herrn Hoke. Bei der Erklärung des Elektro-
kardiogrammes ist immer noch nicht genügend auf die Art der
Ableitung und nicht entsprechend darauf geachtet worden, daß
normalerweise bei zweikammerigen Herzen jede Kammer für sich
in Erregung versetzt wird.
Bei der ersten Ableitung, die jetzt beim Menschen zumeist
benützt wird, entsteht das Kammerelektr og ram m des zweikamme¬
rigen Herzens, insbesondere die R- Zacke durch die algebraische
Summierung der Elektrogramme der beiden Kammern. Den Beweis
hiöfür liefeiin (bei der gleichen Ableitung und Herzlage) das
Elektrogramm der Kammerextrasystolen, das. Elektrogramm nach
einseitiger Durchschneidung eines Schenkels des Ueberleitungs-
bündels und die gleichzeitige Reizung beider Kammern. Die Größe
der einzelnen Kammerzacken, insbesondere' die Q-, R- und S-Zacke,
hängt bei der gleichen Ableitung ab von den Lage des Herzens
■ und von dem Umstande, wie die beiden Kammern auf dem W ege
des Ueberleitungsbündels zeitlich und örtlich ihre Erregung er¬
halten.
Daß das verschiedene Aussehen der Elektrogramme bei
einseitiger Kammererregung (sei es Extrasystole, sei es einseitige
Kammersystole bei einseitiger Schenkelerregung) nicht in der
rechten oder linken Kammer selbst gelegen ist, das war nicht
nur auf Grund der vorliegenden elektrophysiologischen Erfah¬
rungen ganz unwahrscheinlich, sondern ist, unbeabsichtigt und
unbemerkt, bei einem zu einem ganz anderen Zwecke angestellten
Versuche von Kahn schon bewiesen worden, indem er die icc de
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Ni- S
98
Kammer reizte und gleichzeitig von ihr direkt ableitete. (Siehe
Fig. 2 der Taf. Yr, Pflügers Archiv 1910, Bd. 132, S. 226).
Damit hat also speziell der verschiedene anatomische Auf¬
bau der beiden Kammern wie Rothberger und Winter¬
berg erst kürzlich meinten, nichts zu tun. Es, ist demnach bei
der Analyse des Elektrokardiogramms 1. auf die Art der Ableitung,
2. bei nicht direkter Ableitung von einem Herzabschnitt auf die
Lage des Herzens, 3. auf die zeitliche und örtliche Erregung der
einzelnen Abteilungen des Herzens zu achten.
Herr C. Fischer: Ueber die Aussichten einer the¬
rapeutischen Beeinflussung der progressiven P a r a-
ly se.
Es ist bekannt, daß die Paralyse gar nicht so selten zu
Remissionen neigt, die meist nur kurze Zeit, seltener längere
Zeit andauern. Es ist weiter bekannt, daß die meisten dieser
Remissionen nach septischen Erkrankungen der Paralytiker auf-
treten. Da nun andere Fiebererkrankungen solche Remissionen
nicht machen, so schloß Fischer daraus, daß das wirksame
Heilprinzip durch die bei septischen Erkrankungen regelmäßig
auftretende Blutleukozytose dangestellt wird. Eine solche Blut¬
leukozytose erzielte Fischer mit Nukleininjektionen. Die
ersten derartigen Versuche wurden von 1907 bis 1908 gemacht
und die Resultate in einer vorläufigen Mitteilung in der Prager
med. Wochenschrift publiziert. Es wurden 22 Fälle injiziert,
davon bekamen zwei nur wenige Monate dauernde Remissionen,
bei zwei Fällen dauerten die Remissionen dreiviertel bis zwei
Jahre, aber die weitere Verfolgung derselben zeigte, daß alle
wieder erkrankt sind, ln einer Kontrollserie unbehandelter Fälle
kam es damals zu keiner Remission. Weiter zeigte sich jetzt,
daß die durchschnittliche Lebensdauer der Nukleinfälle sich gegen
über den Kontrollfällem wesentlich verlängerte (die Lebensdauer
der Nukleinfälle betrug 15, die der Kontrollfälle sieben Monate,
vom Eintritte der Kranken an gerechnet).
F i scher berichtet jetzt über weitere Resultate mit Nuklein,
aber bei einem etwas günstigeren Materiale, nämlich bei Fällen
eines Sanatoriums, die ja im allgemeinen viel früher zur Auf¬
nahme gelangen als die Fälle einer Irrenanstalt. Hier traten unter
zehn Fällen, die mit Nuklein behandelt wurden, fünfmal Remis¬
sionen auf, in denen die Kranken geistig als vollkommen gesund
gelten konnten und von denen auch drei wieder im Beruf tätig
waren. Bei allen traten jedoch Rezidiven auf, wenn dieselben
auch bisher bei zwei Fällen sehr leicht verliefen. Bei einer Kon¬
trollserie gleichartiger zehn Fälle trat nur bei einem Falle eine
Remission auf, die dadurch besonders interessant ist", daß sie erst
nach einer länger dauernden Eiterung auftrat. Fischers Technik
bestand in Injektionen von Natrium nucleinicum (Böhringer)
in steigenden Dosen von xk bis 3 g in 10°/<>iger wässeriger
Lösung in Abständen von drei bis fünf Tagen. Fischer macht
auf ähnliche Resultate aufmerksam, die nach v. Wagners1 Ver¬
anlassung mit Tuberkulin erzielt wurden. Auch Donat erzielte
mit Nuklein günstige Resultate bei der Paralyse. Die Behandlung
ist vollkommen gefahrlos und ist bei der bisher tristen Paralyse¬
therapie immerhin als ein Fortschritt zu bezeichnen.
Herr Spät: Ein W a s s e r b e f u n d gelegentlich der
letzten Typhusepidemie.
Gelegentlich der letzten Typhusepidemie in der oberen Neu¬
stadt in Prag, welche als eine Trinkwasserepidemie anzusehen
ist, wurde der Trinkwasserbrunnen des Garnisonsspitales, das
sich in der nächsten Nähe des Infektionsherdes befindet, fort¬
gesetzt untersucht.
Die ersten Untersuchungen ergaben, daß das Wasser in
jeder Beziehung einwandfrei ist. Trotzdem beantragte tier Vor¬
tragende die Schließung des Brunnens, weil durch die Nähe des
Infektionsherdes eine spätere Verunreinigung zu befürchten war,
zumal Niveaudifferenzen und die Richtung des Grundwasser¬
stromes in diesem Sinne günstig waren. Diese Befürchtung erwies
sich als gerechtfertigt. Bei den weiteren Untersuchungen blieb
der chemische Befund gleich. Die Keimzahl zeigte eine geringe,
jedoch stets sich • steigernde Zunahme, bei der letzten Unter¬
suchung stieg die Zahl plötzlich auf etwa 3000, gleichzeitig trat
Ammoniak und salpetrige Säure in großen Mengen auf.
Es konnte demnach in diesem Falle durch fortgesetzte häutige
Untersuchungen der: Moment der Verunreinigungen festgesteillt
werden, wie bei künstlichen Infektionsversuchen mit Prodigiosus-
keimen. Die Dauer der Durchsickerung der Schmutzstoffe für einen
Streifen von ca. 130 Schritt betrug fast fünf Wochen, was mit
den bei künstlichen Infektionen erhobenen Werten ziemlich über¬
einstimmt (D it thorn und Luerssen).
Bemerkenswert ist das gleichzeitige Auftreten der gelösten
Stoffe (Ammoniak, Nitrite) und der suspendierten Stoffe (Bak¬
terien). Die Bedeutung der örtlichen Besichtigung bei der Beur¬
teilung von Wasseranlagen wird betont. Dr. Pf ihr am -Prag.
Verein deutscher Aerzte in Prag.
Sitzung vom 24. Januar 1911.
Dr. G. Eckstein demonstriert: a) Einen fünfjährigen
Knaben mit angeborenem Klumpfuß links. Vier Zehen des linken
Fußes sind daktylisch, im oberen Drittel eine bis auf den Knochen
reichende Einschnürung. Am rechten Fuße sind vier Zehen
untereinander verwachsen.
b) Ein sechsjähriges Mädchen mit Daumen, Zeigefinger und
Mittelfinger an der linken Hand; die beiden letzteren sind mit¬
einander verwachsen. Die Ulna ist vorhanden. Der linke Fuß
angeborener Equinovarus mit drei freien Zehen. Redressement.
Heilung.
Dr. G. E ck s t ei n : ,-UJ e her periartikuläre Osteo¬
tomie bei Kniegelenksankylosen.
Die periartikuläre Osteotomie findet ihre strikte Indikation
in der Entkrüppelung der durch Gonitis tuberculosa zu Krüppeln
Gewordenen, sie ermöglicht aufrechten Gang auf voller Sohle. Die
Behandlung der Gonitis tuberculosa soll im Anfänge eine konser- -
vative sein, namentlich das forcierte Redressement der Beuge*
Stellung soll wegen der damit verbundenen Gefahren vermieden
werden. Weder die Arthrektomie, noch die Resektion verhindern
die Gefahr der Propagierung des Herdes, wobei der Uebelstand
der Verkürzung und des jahrelangen Tragens von Apparaten
! besteht. Die periartikuläre Osteotomie mit Durchschn-eidung der
Kniekehlensehnen vermeidet alle diese Uebelstände. Je nach dem
! Grade der Winkelstellung wird entweder der Femur oder die Tibia
I durchmeißelt. Der Krankheitsherd muß mindestens zwei Jahre
abgeheilt sein. Beugeankylosen mit Verkürzungen im Ober- und
Unterschenkel lassen sich nach Werndorff und Schanz be¬
heben.
Schleiß ner: Adenoitis acuta, ein Beitrag zur
Lehre vom D riisen lieber. (Erscheint ausführlich in dieser
Wochenschrift.) O. Wiener.
Programm
der am
Freitag den 24. Februar 19x1, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Reg.-Rat Primarius Dr. Hans Adler statt¬
findenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Priv.-Doz. Dr. Paul Clairmont und Assistent Dr. Martin
Haudelt : Ueber den Wert der Magenradiologie für die Chirurgie.
2. Dr. S. Federn : Ueber optische Rlutdruckmessung an der Arteria
radialis und über den lokalen Rlutdruck.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Max Herz, Julius Nenmanu,
Ed. Hermann, L. Wiek, Haus Salzer und Robert Breuer.
Bergmeister, Pal tauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Neuss er Donnerstag
den 23. Februar 1911, um 7 Uhr abends, statt.
(Vorsitz: Hofrat Prof. v. Neusser.)
Programm:
1. Demonstrationen angemeldet: Dr. G. Schwarz: Krankenvor¬
stellung zum Reicheschen Röntgenbefund bei tiefgreifendem Ulcus ventri-
culi; Primär Priv.-Doz. Dr. v. Friedländer, Dr. Werndorff, Dr. Loewi,
Priv.-Doz. Dr. Kuöpfelmacber.
2. Dr. R. Neurath : Pankreatitis bei Mumps.
Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 27. Februar 1911, 7 Uhr abends, im
Sitzungssaate des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des
Herrn Hofrates Prof. Chiari stattfindenden wissenschaftlichen Ver¬
sammlung.
Prof. H. Peham: Ueber Uterusmyome und deren Behandlung.
Oesterreicbische otologische Gesellschaft.
Programm der Montag den 27. Februar 1911, 6 Ulir abends, im Hörsaal
der Klinik Urbantschitscli stattfindenden wissenschaftlichen Sitzung.
1. Demonstrationen. Angemeldet die Herren: Bondy, Räräny, Rüttln,
E. Urbantschitscli, Frey, Braun, Reck.
2. Julius Bauer und Rudolf Seidler : Vorläufige Mitteilung.
Bondy, Schriftführer.
Verantwortlicher Redakteur: Karl Kubasta. Verlag ron Wilhelm Branmülier iu Wien,
Druck von Bruno Bartolt. Wien XVIII., Theresieneasao 3.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0. eilari, F. Dimmer, V R. ' Ebner. 3. Exner £. Finger. M. Gruber. F. Hoohstetter, A. Kollsko. H. Meyer. J. Moeller K , Noorden
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schettenfroh, F. Schaute, j. Tandler. 8. Toldt. J. Wagner. E. Wertheim
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel. Ernst Fuchs. Julius Hochenegg. Ernst Ludwig Edmund Neusser.
Richard Pallauf, Gustav Riehl und Anton Weichsolbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618
XXIV. Jahrg. Wien, 2. März 1911 Nr q
INHALT:
1. Originalartikel: 1. Zur Psychologie und Pathologie der
Affektion. Von Primararzt Dr. J. Berze. S. 299.
2. Aus dem pathologischen Institut des Augusta Viktoria-Kranken¬
hauses Schöneberg-Berlin. (Prosektor: Dr. Hart.) Untersuchungen
über den Wert der Antiforminmethode für den Tuberkelbazillen¬
nachweis im Gewebe. Von C. Hart und 0. Lessin g. S. 303.
3. Aus der III. inediz. Klinik der k. k. Universität Wien. Herz¬
geräusch und Herzgröße. Von Dr. Paul Bi ach, Assistenten der
Klinik und Dr. Demetrius Chi laid iti. S. 306'
4. Aus der Universitätsklinik für Geschlechts- und Hautkrank¬
heiten. (Vorstand: Prof. Finger.) Zur Epidemiologie der Mikro¬
sporie in Wien. Von Dr. Robert Otto Stein, Assistent der
Klinik. S. 308.
5. Aus der pädiatrischen Klinik am Kaiser Franz Joseph-Kinder-
spitale in Prag. (Vorstand: Prof. Ganghofner.) Adenoiditis
acuta; ein Beitrag zur Lehre vom Drüsenfieber. Von Dr. Felix
S ch 1 e i ß n er. S. 310.
II. Diskussion: Ein Beitrag zur Frage der Funktion des quadrizeps-
lahmen Beines. Von Dr. Oskar Semeleder. S. 312.-
III. Oeffentliclie Gesundheitspflege: Zahl und Verteilung der Aerzte
in Oesterreich. Von Dr. med. Oskar Klauber in Prag. S. 3T5.
H. Referate: Medical Education in the United States and Canada.
Ref.: Neuburger. — Die medizinische Hölle in den Ver¬
einigten Staaten Nord-Amerikas. Von Dr. S. R. Klein
Ref. : Dr. S. R. Klei n. — Allergie. Von Prof. Dr. Clemens
rreih. v. Pirquet Die Lehre von der Säuglingsernährung-.
Von Prof. Dr. Artur Keller. Bakteriologische und pathologisch-
anatomische Studien bei Ernährungsstörungen der Säuglinge
besonders der chronischen unter dem Bilde der Pädatrophie
verlaufenden Formen. Von Priv.-Doz. Dr. Hans Schelble.
Formulaire pour les maladies des enfants (Ve edition). Von
Dr Albert Veillard. Kinderschutz und Säuglingsfürsorge in
Ungarn. Säuglingsfürsorge und Kiuderschutz in England und
Schottland. Von Prof. Dr. Arthur Keller. Die Hautleiden kleiner
Kinder. Ref. : C. Leiner.
V. Aus verschiedenen Zeitschriften.
VI. Vermischte Nachrichten.
VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Zur Psychologie und Pathologie der AfFektion.*)
Von Primararzt Dr. J. Herze.
I.
Auf dem Gebiete der Affektlehre ist bekanntlich fast
alles kontrovers, jedenfalls fast all das, was den Psychiater
interessiert.
Zunächst einmal wird schon die Frage: Was ist ein
(Affekt? und die mit ihr intim zusammenhängende weitere
pfage : Welches ist das Verhältnis zwischen Vor¬
stellung und Gefühl, zwischen Intellekt und
Affekt? von den einzelnen Autoren in ganz verschiedener
Weise beantwortet.
Nach Ziehen ist der Gefühlston eine Eigenschaft
ier Empfindung, ebenso wie die Qualität und die Intensität
Eigenschaften der Empfindung sind. Alles, was sonst das
Gefühlsleben ausmacht, also die Gefühlstöne der Vorstel-
Angen, die Stimmungen, die Affekte, ist in letzter Linie
uif die Gefühlstöne der Empfindung zurückzuführen.
Nach Wundt dagegen sind die Gefühle Reaktio¬
nen und zwar Reaktionen der zentralen Bewußtseins-
Tinktion, der „Apperzeption“, auf unsere Bewußtseinser-
ehnisse. Die Affekte sind aber nach Wundt „Formen des
lefühlsverlaufes, die mit Veränderungen im Verlauf und
'f *) Vortrag, gehalten am 14. Februar 1911 im Verein für Psychiatrie
ln“ Neurologie in Wien. Eine ausführliche Arbeit über beide im Vortrage
>ehandelte Themen erscheint demnächst als Monographie.
in den Verbindungen der Vorstellungen verbunden sind,
welche Veränderungen dann durch die an sie gebundenen
Gefühlsbetonungen wieder verstärkend auf den Affekt ein¬
wirken können“. Stimmungen endlich sind nach Wundt
„durch die relativ geringe Stärke der in ihnen enthaltenen
Gefühle ausgezeichnete Affekte“.
Kurz zusammengefaßt: Nach der Lehre der Assozia¬
tionspsychologie Ziehens sind die Gefühlstöne Eigen¬
schaften der Empfindungen bzw. Vorstellungen, nach
der Lehre der Apperzeptionspsychologie Wundts aber
Reaktionen unseres Bewußtseins auf die Empfindungen
bzw. Vorstellungen.
Kontrovers ist ferner die Beantwortung der Kardinal¬
frage: Wie haben wir uns das Verhältnis zwischen
den psychischen und den somatischen Erschei¬
nungen der Affekte vorzustellen?
Nach Lange liegt das Wesen der Affekte überhaupt
nur in den körperlichen, physiologischen Aeußerungen.
Nach James ist der Komplex der physischen Sym¬
ptome das Primäre, das Psychische des Affektes das Se¬
kundäre. t
Diese Lehren stehen im Gegensatz zu der weit ver¬
breiteteren Anschauung, nach der die körperlichen Aeuße-
rungen bloß Begleiterscheinungen des Psychischen der
Affekte sind.
Was sollen wir also glauben? Wie können wir da
Orientierung gewinnen ?
300
Nr.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Meines Erachtens nur dadurch, daß wir unter¬
suchen, was uns die Ontogenese des p s y ch i s öh e n
Lebens hinsichtlich der Affekterregung lehrt.
Das Gefühlsleben ist ja zweifellos geradeso
wie das Vorstellungsleben nichtetwas von vornherein
in fertiger Gestaltung Gegebenes, sondern ein
im Leben erst zur Entwicklung Gelangendes, be¬
ziehungsweise Gelangtes.
Was ist nun aber da das Erste?
Die Ontogonese ist gewiß auch auf diesem Gebiete
eine gedrängte Wiederholung der Phylogenese. Diese lehrt
uns nun, daß das, was dem Somatischen der Affekte ent¬
spricht, schon da ist, wenn von einem Psychischen im
Sinne unserer Psyche zweifellos noch gar nicht die Rede
sein kann. Schon bei Lebewesen, die den untersten Stufen
des Tierreiches angehören , sehen wir somatische
Affekte. Man muß sich nur darüber klar werden, was
man da als Affekt anzusprechen hat. Die richtige Antwort
auf diese Frage hat meines Erachtens Bleuler gegeben,
nämlich: Der Affekt ist eine verallgemeinerte
Reaktion, das heißt also eine Reaktion des ganzen Soma
auf einen Reiz, im Gegensatz zu lokalisierten Reaktionen,
also zu Reaktionen eines Teiles der Soma. Diesen Unter¬
schied kann man, wie Beul er zu zeigen sucht, schon an
den Amöben wahrnehmen. Ganz sicher wird die Unter¬
scheidung meines Erachtens allerdings erst, wenn einmal
ein Nervensystem differenziert ist.
Worin bestehen nun aber die verallgemeinerten kör¬
perlichen Reaktionen, welche die Affekte in diesem
Stadium — ich will sie kurz somatische Affekte nen¬
nen — ausmachen?
Bei den Amöben selbstverständlich in nichts anderem
als in einer Veränderung der Bewegung der Teile des
Plasmas, bei höheren Tieren aber in komplizierten Be¬
wegungsmechanismen, bzw. in auf solchen beruhenden
Veränderungen, welche sämtliche Körperorgane betreffen;
im Vordergründe stehen vasomotorische Veränderungen,
dann motorische Veränderungen im. Gebiete der Respira¬
tion, weiter kommen aber motorische Veränderungen in
allen bewegungsfähigen inneren und äußeren Organen und
sekretorische Veränderungen in Betracht. Diese Bewegungs¬
mechanismen werden genau so ausgelöst wie die Reflex¬
bewegungen; auf einen Affektreiz (z. B. Knall) erfolgt re¬
flektorisch der somatische Affekt (Schreckreflex). Ich er¬
gänze also den Satz Bleulers: Die somatischen
Affekte sind verallgemeinerte Reflexe.
Ob der Mensch nun zur Zeit seiner Geburt über dieses
rein somatische, vorpsychische Stadium der Affektentwick¬
lung schon wesentlich hinaus ist oder nicht, wissen wir
nicht und können wir nicht wissen. Sehen können wir
am Neugeborenen natürlich nur die somatischen Affekte,
und zwar sehen wir sie bereits in deutlichster Ausprägung.
Wie weit es aber mit der Bewußtseinsentwicklung hei ihm
steht, dafür fehlt uns jeder Anhaltspunkt. Man kann da nur
glauben, aber nicht wissen.
Uebrigens — gleichgültig wann: im intrauterinen
oder im extrauterinen Leben — irgendwann muß sich
das Psychische des Affektes zu entwickeln beginnen.
Was ist aber da wieder das Erste?
Es kann gar nichts anderes sein, als die Empfin¬
dung, aber nicht die einfache Sinnesempfindung - sie ist
die Grundlage des Vorstellungslebens — sondern die
Affektempfindung, das heißt also die Summenempfin¬
dung, die Totalempfindung, welche der Gesamtheit aller
das Somatische eines Affektes ausmachenden körperlichen
Veränderungen e n t sp r i ch t .
Zunächst wird die Affektempfindung nur
auftauchen zur Zeit der Affekterregung. Es wird
aber außerdem noch zweierlei erfolgen: Erstens wird ein
Erinnerungsbild der Affektempfindung Zurück¬
bleiben, geradeso wie von den Sinnesempfindungen Erinne¬
rungsbilder Zurückbleiben, zweitens wird sich eine Asso¬
ziation zwischen der S innesempf indung und der
adäquaten Affekte m p f i n d u n g ausbilden.
Damit ist aber der Grund gelegt zu einer zweiten Art
der Affekterregung, nämlich zur Erregung von der
P s y c he he r.
Wenn das Erinnerungsbild der Sinnesempfindung auf¬
taucht, wird zugleich auch das der Affektempfindung auf¬
tauchen. Dies wäre noch kein Affekt; es wäre nur das
Bild eines Affektes, ein Affektbild. Damit ein Affekt
draus wird, müssen noch die körperlichen Erscheinungen
hinzukommen; dies geschieht offenbar durch Vermittlung
der motorischen Rindenzentren der Organe, namentlich der
motorischen Rindenzentren der in Betracht kommenden
inneren Organe, insbesondere der kortikalen Herz- und
Gefäßzentren. Hinzu kommen müssen ferner die dem
Affekt eigenen psychischen \ e rändern n gen, also das
erleichterte oder erschwerte Auftauchen von Erinnerungsbil¬
dern ins Bewußtsein, der erleichterte oder erschwerte Asso-
zialionsablauf, die Vergrößerung oder Verringeiung der
Assozialionsbreile. Offenbar sind diese Vorgänge darin be- j
gründet, daß die einen integrierenden Teil des somatischen
Affektmechanismus 'ausmachenden Veränderungen der Weite j
der Hirnrindengefäße zur Geltung kommen. Das Gehirn
reagiert auf die gesteigerte oder verengerte Blutzufuhr, J
wahrscheinlich auch auf den durch die respiratorischen. |
Veränderungen herbeigeführten Sauerstoffreichtum, bezie¬
hungsweise Sauerstoffmangel usw. im Sinne der psycho¬
motorischen Veränderungen, welche den Affekten eben
zukommen.
Wir kommen somit zu der wichtigen Feststellung,
daß es nicht eine, sondern zwei Arten der Affekterre- i
gung gibt (vgl. Schema):
Psychologisches Schema der A f f e k t e r r-e g u n g.
Erklärung: a= somatischer Affektreiz, a, = Erinnerungsbild des
somatischen Affektreizes, b = somatischer Affekt (Summe der soma¬
tischen Veränderungen), b, = Affektempfindung (Summenempfindung der
somatischen Veränderungen), m = motorische Rmdenzentra der äußeren
und inneren Körperorgane, a — ß — y — S — a! = Beispiel einer Assoziations¬
bahn. Primär somatischer Affekt: a -ß —7 — 8-a, — bt — m — b. (Affektbild:
«— ß — T — S-— a,~ V)
1. Die somatische Erregung, also: Sinnesreiz —
körperlicher Affektmechanismus — Affektempfindung (das
Psychische isl „Begleiterscheinung“);
2. die psychische Erregung, also: Erinnerungsbild
des Affektreizes — Affektempfindung — körperlicher Affekt¬
mechanismus (das Somatische ist „Begleiterscheinung )•
Daß schon die Affektbilder eine große Bedeutung im
psychischen Leben haben, will ich nebenbei erwähnen.
Die Gefühlstöne unserer Empfindungen und, wie weiter zu
zeigen sein wird, unserer Vorstellungen sind wahrscheinlich
für gewöhnlich nur Affekt bilden; die körperlichen Be¬
gleiterscheinungen treten bei ihnen zumindest stark in den
Hintergrund. Die Lustaffektbilder sind die Grundlage der
Begehrung, d. h. des Dranges nach Herbeiführung des kör-
301
Nr- 9 WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191t.
perlichen Affektreizes. Die Unlustaffektbilder regen den.
Drang an, den Eintritt eines Unlustreizes zu verhüten.
Nach dieser Abschweifung kehren wir zur Betrachtung
der Affeklerregung zurück.
Wir haben gesagt : Die psychische* Erregung der Affekte
erfolgt in der Weise, daß mit dem Wachwerden des Erinne¬
rungsbildes des Affektreizes auch das Erinnerungsbild des
somatischen Affektes wach wird.
W as bewirkt den n nun aber d i e E r re gang d eis
Reiz bi 1 des? In dieser Frage liegt der Kern der
frage nach dem Verhältnis zwischen Intellekt
und Affekt.
Bas einfachste Beispiel ist folgendes : Wenn uns der
Magen vor Hunger knurrt, so taucht in uns das Erinnerungs¬
bild der Lustreize auf, welche der Nahrungsgenuß zu setzen
pflegt; und mit dem Bilde des Reizes auch das Bild des
Affektes, gegebenenfalls sogar auch körperliche Begleiter¬
scheinungen: es läuft uns bei der Erinnerung an eine uns
zusagende Speise ,,das Wasser im Munde zusammen“ u. dgl.
Es handelt sich da um eine ganz primitive sukzes¬
sive Erinnerungsassoziation: durch Nahrungsauf¬
nahme wurde schon oft das Knurren des Magens beseitigt;
daher stellt sich im Anschlüsse an des Hungergefühl auch
sofort das Affektbild der Nahrungsaufnahme ein usvv.
Die Asso'ziationsbahnen, welche den s u k-
zessiven und auch wohl die, welche den simul¬
tanen Assoziationen entsprechen, sind aber
ii herb a uptder Weg, a u f welche m d i e E r Fe g u n g d e r
(iefühlstöne und in zweiter Linie auch der psy¬
chischen Affekte erfolgt.
Durch jede assoziative Bahn erhält, wie leicht zu
ersehen ist, nicht nur das Ausgangsglied, sondern erhalten
auch alle Zwischenglieder eine Verbindung mit dem betref¬
fenden Affektreizerinnerungsbild; so erhält in der Reihe:
die Mutter nimmt die Medizinflasche zur Hand, gießt aus
derselben Medizin auf den Löffel, reicht die widerlich
schmeckende Medizin dem Kinde — jedes Zwischenglied
den Gefühlston der Unlust, das Kind wird also hinfort zum
Beispiel schon beim Anblick der Medizinflasche Unlust
empfinden u. zw. Unlust in der als Ekel charakteristischen
Färbung.
Dies ist die zweite Feststellung, auf welche ich ganz
besonderen Wert lege.
Die Lehre von den immanenten Gefühlstönen der
Empfindungen und Vorstellungen, die viele Psychiater akzep¬
tieren, ist falsch. Die Empfindung, hzw. die Vorstellung
an sich ist bar eines jeden Gefühlstones. Wir haben die
Gefühlstöne nicht als eine Eigenschaft der Empfindungen
beziehungsweise Vorstellungen zu betrachten, sondern als
des Ergebnis eines Vorganges, der durch eine in uns
erregte Empfindung oder in uns auftauchende Vorstellung
ausgelöst wird.
Es ist aber leicht einzusehen, wie man auf diesen ver-
d'ingnisvollen Irrtum verfallen konnte.
Der Gefühlston einer Empfindung oder Vorstellung
müßte, wenn immer nur die momentane Situation in Be¬
dacht käme, stets dieser Situation entsprechen, er müßte
immer aktuell sein. Dies ist aber nicht der Fall; es
kommen auch die früher erlebten Situationen in Betracht ;
und wenn unter dieser Situationen solche sind, die sich oft
wiederholen, so konnte sich ihnen entsprechend gewisser¬
maßen ein habitueller Gefühlston entwickeln. Der ha¬
bituelle Ton aber ist es, der für immanent gehalten wird.
Zwischen den habituellen und den aktuellen Gefühls-
lönen kommt es zum Kampf. Der Sieg fällt auch in diesem
Kampfe dem Stärkeren zu.
Beispiel : Die Mutter ergreift, die Medizinflasche, gießt
Medizin auf einen Löffel, verabreicht widerliche Medizin —
Ergebnis: Unlustaffekt. Trotzdem bleibt die Mutter lustbe-
lont wegen anderer Reihen, z. B. die Mutter reicht dem
Kinde die Milchflasche. Der daraus sich ergehende (habi¬
tuelle) Lustton überwiegt den (aktuellen) Unfustton.
Die Auslösung der Gefühls! öne erfolgt, wenn
die Wege einmal gebahnt sind, durch rein automati¬
schen A s s o z i a ti o ns ab 1 a u f. Dies, nebenbei, wieder ein
Grund, warum man .auf den Irrtum der immanenten Ge¬
fühlstöne verfallen ist.
Wenn aber die Wege zur Gefühlstonerregung noch
nicht gebahnt sind, müssen sie gebahnt werden. Dann ge¬
nügt die niedrige automatische Funktion nicht mehr, es
beginnen die Ansprüche an die Höchstfunktion, an
die apperzeptive Leistung.
Beispiel: Ein Schlüssel liegt auf meinem Tisch. Der
Schlüssel hat für mich zunächst keinen Gefühlswert und
bekäme auch keinen, wenn er meine Aufmerksamkeit nicht
weiter erregen würde. Aber er erregt sie eben, das heißt
meine apperzeptive Tätigkeit dreht sich um ihn. Ich unter¬
suche* ihn genauer, erkenne schließlich, daßi ich den Schlüs¬
sel vor mir habe, den ich vor längerer Zeit verloren und
vergeblich gesucht habe. Sofort, ist die Lustbetonung da.
(Oder: Ich bin zur Zeit hungrig und erkenne den Schlüssel
zur Speisevorratkammer.)
Mag in solchen Fällen schließlich auch die Erregung
auf gebahnten Wegen automatisch weitergleiten, so hat doch
das Einsetzen der Erregung ein Eingreifen des
oberen Psyc'hi sinus der Apperzeption, zur Vor¬
aussetzung.
Wir sehen also, daß die Erregung der psychischen
Affekte, hzw. das Zustandekommen der Gefühlsbetonung
der Vorstellung in einer Gruppe der Fälle nur eine suffiziente
automatisch-assoziative, in der anderen Gruppe aber auch
eine suffiziente apperzeptive Leistung zur Voraussetzung hat.
Fis ergeben sich somit aus der ontogenetischen Be¬
trachtung der Affekte folgende Konstatierungen:
1. Wir haben zwei Arten der Affekterregung zu unter¬
scheiden, geradeso wie es zwei Arten der ßewegungserre-
gung gibt, nämlich die reflektorische Erregung und die Er¬
regung vom Vorstellungsleben her; daraus ergeben sich
primär somatische Affekte einerseits, primär psychische
Affekte anderseits.
2. Die Erregung der Affekte von Vorstellungen her ge¬
schieht auf dem Wege mehr oder weniger langer Assozia¬
tionsbahnen.
3. Diese Erregung hat in gewissen Fällen nur eine
automatisch-assoziative, in anderen Fällen aber auch noch
eine apperzeptive Leistung zur Voraussetzung.
4. Die Gefühlstöne der Vorstellungen entsprechen ge¬
meinhin nicht dein vollwertigen Affekterregungen, sondern
Affekt bildern, oder doch nur ganz leichten Affekterre¬
gungen, das heißt, die somatischen Begleiterscheinungen
spielen bei ihnen eine nur geringe Rolle.
II.
Damit bin ich soweit gekommen, daß ich nunmehr
daran gehen kann, den Wert der geschilderten Betrachtungs¬
weise an einem pathologischen Fall zu zeigen u. zw. an
den schwerst verständlichen Affektstörungen, den Affekt-
st.örungen der Dementia praecox.
Es erhebt sich da zunächst die Frage: Was ist denn
die Gr und Störung der Dementia praecox? Die Ergebnisse
neuerer Untersuchungen, die von der Betrachtung anderer
Symptome der Dementia praecOx, nicht der Affektstörungen,
ausgehen und zahlreiche eigene Beobachtungen scheinen
mir alle nach derselben Richtung zu weisen. Sie besagen,
daß es sich bei der Dementiapraecox um eine Störung der
Bewußtscinsfunktion handeln müsse-, in dem Sinne, daß
jener durchschnittliche Grad des Bewußtseins sinkt, der
die psychischen Vorgänge sozusagen spontan, also ohne
daß eine besondere aktive Leistung aufgebracht werden muß,
begleitet. Es handelt sich um ein Sinken des Bewußtseins-
H02
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
tonus,1) um eine Hypotonie des Bewußtseins,2) wie
ich mich in einer demnächst erscheinenden Arbeit ausdrücke.
Die Hypotonie des Bewußtseins äußert sich zunächst
nur in einer verminderten Funktionsberei'tsc'haf t
des Bewußtseins — geradeso wie die Hypotonie der Musku¬
latur die Funktionsbereit.schaft der Muskulatur vermindert,
— sie führt dann dazu, daß zur Herstellung der Funktionsbe¬
reitschaft des Bewußtseins erst noch eine durch aktive Lei¬
stung, Apperzeption, Aufmerksamkeitsleistung, bewirkte Er¬
hebung des Bewußtseinstonus notwendig wird; sie führt in
höherem Grade zur Funktio ns Unfähigkeit, indem zu¬
nächst. auch die apperzeptive Tätigkeit nicht mehr imstande
ist, einen zureichenden Bewußtseinsgrad (Helligkeit des Be¬
wußtseins nach Kraepelins Darstellung) zu bewirken, so
daß also die höheren psychischen Funktionen geradezu un¬
möglich werden, führt endlich hei hohen Graden dazu, daß
seihst auch die niedrigere psychische Funktion, der automa¬
tische Assoziationsablauf, nicht mehr tadellos vonstatten
geht.
Solange nur die Höchstfunktion gestört ist, stehen bei
der Dementia praecox ganz andere Affektstörungen im Vor¬
dergründe, als wenn einmal auch die automatisch-assozia¬
tive Funktion geschädigt ist.
Unter den Affektstörungen des ersten Stadiums ist zu¬
nächst der bald weniger, bald mehr ausgesprochene Un¬
lustaffekt zu nennen, die Kranken erscheinen moros,
abweisend, ablehnend, dieser Unlustaffekt ist daher ganz
richtig als „Affektlage der Ablehnung“ bezeichnet worden.
Sie entsteht meines Erachtens ganz unmittelbar daraus, daß
dem Kranken die gesteigerte 1 n ansp ruchnah me unangenehm
fühlbar wird. Die Kranken suchen sich, um dem Zwange
zur Apperzeption zu entgehen, den Anregungen zur
Apperzeption nach Möglichkeit zu entziehen, sie zie¬
hen sich zurück, sondern sich ab. Sie entgehen aber
so ihrem Schicksale selbstverständlich nicht; sie bleiben
trotzdem zunächst den von. außen kommenden Reizen zur
Apperzeption .ausgesetzt. Auf sie reagieren sie dann aber
im Sinne der Affektlage der Ablehnung.
Wie ich an anderer Stelle ausführlich zu zeigen ver¬
such! habe, kann das Gefühl des Erleidens, welches
sich zugleich mit der erzwungenen (passiven) Apperzeption
einstellt, auch zur Ausbildung paranoischer Zustandsbilder
führen.
ln Fällen, in denen eine höhergradige Apperzeptions¬
störung das Gepräge der Krankheit bestimmt, tritt oft eine
eigenartige Ratlosigkeit in den Vordergrund. Sie ist
erstens darauf zurückzuführen, daß die apperzeptive Tätig¬
keit nicht mehr dazu hinreicht, die einzelnen Wahrnehmun¬
gen in das Gesamtbild der Situation richtig einzuordnen,
zweitens aber darauf, daß sich in das Bewußtsein des Kran¬
ken in solchen Stadien die mannigfaltigsten zusammenhang¬
losen pathologischen Einfälle, subditiven Ideen, Halluzina-
x) Der Bewußtseinstonus ist ein Ergebnis der als Reize wirkenden
Sinnesempfindungen, also ein Effekt der Perzeption — geradeso wie
der Muskeltonus wohl der Hauptsache nach der Effekt peripherer sen¬
sibler Reize ist.
2) Die Hypotonie kann bald leichten, bald schweren Grades sein,
sie kann einmal akut einsetzen, ein andermal sich schleichend entwickeln,
sie kann als akuter, chronischer, progressiver, remittierender, intermit¬
tierender, rezidivierender Defekt auftreten, sie kann in allen Altersstufen
zur Entwicklung kommen; wahrscheinlich kommen auch die mannig¬
faltigsten Noxen in ätiologischer Hinsicht, in Betracht. Es ergibt sich so¬
mit eine fast unübersehbare Menge von in ihrer Erscheinung oft sehr
disparaten Krankheitsbildern. Aus dieser Menge von Psychosen mit
primärer Bewußtseinsinsuffizienz im Sinne der Hypotonie eine Gruppe
als Dementia praecox herauszuheben, muß so lange als ein willkürliches
Unternehmen bezeichnet werden, so lange nicht sichere Kriterien für die
Unterscheidung dieser Gruppe von den übrigen Bewußtseinshypotonien
gegeben sind. — Sowohl meineUnter such ungen der heredi¬
tären Beziehungen der Dementia praecox (vgl. Berz e,
Die hereditären Beziehungen der Dementia praecox, Leipzig und Wien
1910), als auch meine Studien über die psychische
Gr und Störung der Dementia praecox führen zu dem Er¬
gebnisse, daß die Dementia praecox in ihrer gegen¬
wärtigen Umgrenzung nur einen Teil einer großen
Gruppe zusammengehöriger Psychosen ausmachl.
Pionen eindräugen, mit denen die geschwächte apperzeptive
Funktion tun so weniger fertig zu Werden vermag.3)
Die Angst, welche sich zur Ratlosigkeit so oft gesellt,
ist offenbar eine sekundäre. Sie stellt sich bei der patho¬
logischen Ratlosigkeit eben geradeso ein wie bei der physio¬
logischen.
Bei einer weiteren Steigerung der Grundstörung im
Verlaufe der Krankheit, bzw. hei von vorneherein schwereren
Fällen, sehen wir dann auch die Störung des automatischen
Assoziationsalllaufes immer mehr zur Geltung kommen.
Zunächst einmal erreicht der Mangel an Interesse,
welcher schon hei leichteren Fällen und in leichteren Stadien
zuweilen ziemlich deutlich hervortritt, weil ja schon der
Apperzeptionsdefekt die Unwirksamkeit vieler das Interesse
des Gesunden anregender Eindrücke nach sich zieht, jetzt
einen weit höheren Grad, weil die automatisch-assoziative
Erregung der Gefühlstöne nicht mehr oder nur mehr ganz
mangelhaft vor sich gehl. Auf den gleichen Defekt ist ein
weitgehender M angel an Spontaneität zurückzuführen ,
ohne Gefühlserregung gibt es eben weder eine willkürliche
Aufmerksamkeit, noch eine willkürliche Bewegung. Aus dein
Mangel des Interesses und der Spontaneität ergibt sich das
Bi Id der Apathie.
Im krassen Gegensätze zur Apathie stehen im Krank- 1
heilsbilde die oft außerordentlich heftigen, explosions-
a r t i g e n Affektausbrü ch e.
Sie zeigen uns, daß die Grundstörung der Dementia
praecox Iden primitiven Affektmechanismus selbst intakt läßt.
Sie erwecken sogar den Anschein einer — wenigstens tem¬
porär gesteigerten Affekterregbarkeit. Ich glaube aber,
diese Annahme ablehnen zu dürfen. Die hohe Intensität der
einmal ausgelösten Affekte erklärt sich aus dem Wegfalle
der Hemmungen, welche beim .Gesunden wieder durch
die Apperzeptionsleistung aufgebracht werden. In gleicher
Weise erklärt sich offenbar auch die oft abnorm lange Dauer
der Affektausbrüche, also nicht nur die abnorme Intensität,
sondern auch die abnorme Extensität der Affektausbrüche.
Das F ehlen der Erweiterung der Pupillen auf Sc'hmerz-
nnd Schreckreize, ferner das von Bumke4) nachgewiesene i
Fehlen der Erweiterung der Pupillen bei psychischen Leistun¬
gen, bei Anspannung der Aufmerksamkeit, scheint eher — j
aber durchaus nicht mit Sicherheit — auf eine Herabsetzung
der Reflexerregbarkeit und damit auch der reflektorischen j
Affekterregbarkeit zu weisen.
Was die Natur der Affektreize für die Affektausbrüche i
betrifft, so möchte ich besonders betonen, daß es sich in
vielen Fällen um somatische Affektreize handeln dürfte. :
Bei schwereren Fällen, bzw. in schwereren Stadien
der Krankheit sehen wir ferner eine Erscheinung hervor-
treten, die Stransky mit außerordentlicher Gründlichkeit
und Ausführlichkeit behandelt hat, die von ihm sogenannte
intrapsychische Ataxie, die Unsicherheit der intrapsychi¬
schen Koordination.
Die Kranken sind in ihren Affekten ganz unberechen¬
bar. Einmal stellt sich der Affekt ein, den wir — nach Quali¬
tät und Intensität — erwarten, ein andermal ein anderer.
Ein Kranker begrüßt z. B. das eine Mal seine Mutter in
ganz entsprechender Weise, das nächste Mal versetzt er
ihr unter ganz gleichen äußeren Umständen eine schallende
Ohrfeige.
Diese Erscheinung ist eine unmittelbare Folge der
Insuffizienz der automatischen Gefühlserregung.
Beim Gesunden tauchen neben den aktuellen, wie
wir gesehen haben, immer auch noch die habituellen Ge-
*) Solche Kranke machen oft den Eindruck er h ö h t e r Aufnierk-
samkeitsleistung: sie beschäftigen sich mit den verschiedensten Eir/.ct-
wahrnehmungen, über die der Gesunde hinweggeht. Dies spricht aber
nur für eine erhöhte Vigilität (nicht Tena/.ilät) im Sinne Ziehens,
also für eine erhöhte »Ablenkbarkeit der Ideenassoziationen durch
Zwischenreize«, begründet in einer verminderten apperzepliven
Leistungsfähigkeit.
4) Bumk e, Die Pupillenstörungen bei Geistes- und Nervenkrank¬
heiten 1904; und Münchner med. Wochenschr. 1907, Nr. 47.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
303
fühlstöne auf, und das Endergebnis ist die Resultierende
aus allen erregten Gefühlstönen.
Ganz anders aber bei einer pathologisch reduzierten
automatisch-assoziativen Funktion. Da reicht der momen¬
tane Impuls gerade noch zur Erregung 'des aktuellen Gefühls¬
tones hin. Wirkt nun der Impuls im Sinne der Erregung des
habituellen Gefühlstones, so ergibt sich der von uns er¬
wartete Gefühlston mit seinen Konsequenzen. Wirkt aber
der aktuelle Impuls im entgegengesetzten Sinne, so erfolgt
ebenso prompt eine von uns nicht erwartete Gefühlsbe¬
tonung.
Man wird vielleicht einwenden wollen: Die Gefühls¬
betonung ist bei der Dementia praecox nicht nur in dem
Sinne unsicher, daß die habituellen Gefühlstöne nicht zur
Geltung kommen, sondern auch in dem Sinne, daß der
Gefühlston der Situation nicht entspricht; es könne also
auch nicht von einem adäquaten aktuellen Gefühlston ge¬
sprochen werden.
Dieser Einwand wäre aber unrichtig ; denn wir können
ja nur über die wirklich gegebene Situation urteilen, nicht
über die Situation bzw. Vorstellungskonstellation, welche
dem Kranken gerade gegeben ist. Unberechenbare Einfälle,
Glieder aus Nebenreichen, wirken ja bei ihm störend ein,
so daß sein Bewußtseinsinhalt der Wirklichkeit durchaus
nicht entspricht. Dem tatsächlichen Bewußtseinsinhalt des
Kranken aber ist der aktuelle Affekt adäquat, nicht dem'
von uns supponierten.5)
Aus dem Wegfalle des Kampfes zwischen habituellen
und aktuellen Gefühlstönen erklärt sich auch noch eine
andere Erscheinung, die uns an Präkoxkranken auffällt, die
Unbewegtheit, die Starrheit des Gesichsausdruckes ; denn,
was das rege Mienenspiel beim Gesunden bewirkt, ist ge¬
rade der sich in ihm abspielende Kampf der Affekte, be¬
ziehungsweise Gefühlstöne untereinander. Außerdem fällt
bei unseren Kranken auch noch der rasche Wechsel der
Gefühlstöne weg, der beim Gesunden der raschen Ablösung
der gerade den Bewußtseinsinhalt ausmachenden Vorstel¬
lungen durch andere entspricht.
Bei den tiefsten Graden der Bewußtseinshypotonie end¬
lich ist auch das Ergebnis der automatischen Assoziations-
funkfion nahezu Null; es kommt daher in solchen Fällen
zu ei ner fast vollständ i gen G e m ütsverödung u nd mit
diesem weitgehenden Defekte der Emotivität stell ( sich auch
ein ebenso weitgehender Defekt der Spontaneität, der Wil¬
lenserregung, ein.6)
Aus dem pathologischen Institut des Augusta Viktoria-
Krankenhauses Schöneberg-Berlin. (Prosektor: Dr. Hart.)
Untersuchungen über den Wert der Antiformin¬
methode für den Tuberkelbazillennachweis im
Gewebe.
Von C. Hart und 0.. Lessing.
Das von Uhlenhuth und Xylander in die medi¬
zinische Unitersuchungstechnik eingeführte Antiformin hat
den Nachweis der Tuberkelbazillen in Sekreten und Exkre-
ten außerordentlich erleichtert. Die Fähigkeit des Anlifor-
mins, alle korpuskulären Elemente, also auch alle Mikro¬
organismen, mit Ausnahme der Tuberkelbazillen aufzulösen,
6) Nachtrag. In der Diskussion erklärte Stransky unter
anderem: Seiner Meinung nach könne doch nicht immer von einem
adäquaten aktuellen Ton gesprochen werden; ab und zu werde den
Kranken selbst der Widerspruch zwischen ihren Vorstellungen und Ge¬
fühlen bewußt, wie aus ihren Aeußerungen hervorgehe. Auch ich habe
ähnliche Fälle gesehen. Meines Erachtens handelt es sich da um
eine Erscheinung, die auf den Bewußtseinszerfall im Sinne, von Otto
ß r o ß zurückzuführen ist. Wenn »im Bewußtseinsorgan« gleichzeitig
mehrere Assoziationsreihen ablaufen (0. Groß), kann es sich leicht er¬
eignen, daß durch eine von diesen Reihen ein Gefühlston erregt wird,
der nun leicht verständlicher Weise mit dem Inhalte der übrigen Reihen
lucht immer stimmt, ja nur in den seltensten Fällen stimmen wird.
°) Vgl. Weygand t, Alte Dementia praecox. Zentralblatt für
Nervenheilkunde und Psychvatrie, Neue Folge, ßd 15, S. 623.
ermöglicht deren Nachweis selbst bei Vorhandensein einer
verschwindend kleinen Menge, zumal da das Antiformin
bei nicht zu langer Einwirkung die Tuberkelbazillen in ihrer
.Lebensfähigkeit nicht schädigt und ihren kulturellen wie
tierexperimentellen Nachweis gestattet. Zahlreiche Unter¬
suchungen haben die Brauchbarkeit der Uhlenhuth sehen
Antiforminmethode bestätigt und die neuerdings von Löff¬
ler und ferner von Lorenz angegebenen Modifikationen
und Verbesserungen des Verfahrens haben der bazillären
Diagnose, namentlich der Frühdiagnose der Lungentuber¬
kulose, zu erhöhter Bedeutung verholfen.
Schon Uhlenhuth hat gezeigt, daß das Antiformin
selbst resistentere Gewebe (Horn, Haare, Knorpel, Knochen,
Chitin) aufzulösen und zu homogenisieren vermag. Es lag
somit nahe, das Antiformin auch zum Nachweis der Tuber¬
kelbazillen in Geweben zu benutzen, wie es anscheinend
zuerst Seemann getan hat. Lagreze, Krüger, Merkel
haben ferner über solche Untersuchungen berichtet. Be¬
sonders die des letztgenannten Autors haben für uns großes
Interesse. Während frühere Untersucher mehrere Stunden,
ja selbst Tage bis zur völligen Auflösung der verwendeten
Gewebsstückchen, meist Lymphdrüsen, gebrauchten, gelang
Merkel eine außerordentliche Abkürzung des Verfahrens
durch Anwendung des Gefriermikrotoms. Er zerlegte die
Organstückchen auf dem Gefriermikrotom in 30 bis 40 P dicke
Schnitte, fing sie in leicht erwärmter 20% Antiforminlösung
auf, in der sie sich fast momentan auflösten, wusch mit
Wasser aus und strich das Sediment auf minutiös gerei¬
nigte Objektträger aus. Den mit Eiweißglyzerin zum festen
Haften gebrachten Ausstrich färbte er nach Ziehl, Gram
und dem von Weiß angegebenen kombinierten Verfahren.
Die Bedeutung dieser Untersuchungsmethode für die Dia¬
gnose der Tuberkulose ergibt sich aus dem Resultat, daß
sich nicht nur frische Gewebe, sondern auch in Alkohol,
Kay s er ling scher Lösung, Formol- Müller fixierte Organ-
stücke, ja selbst eingebettete Gewebsteile mittels der
Antiforminmethode noch mit größter Sicherheit auf Tuber¬
kelbazillen untersuchen lassen. Wertvoll ist diese Feststel¬
lung auch deshalb, weil man leicht den Anliformin-Razillen-
nachweis mit der histologischen Gewebsuntersuchung kom¬
binieren kann.
Schon vor Erscheinen der Merke Ischen Arbeit hatten
wir uns des Antiforminverfahrens zum Nachweis der Tuber¬
kelbazillen in frischen Geweben bedient und manches schöne
Resultat erzielt. Der Nachweis virulenter Tuberkelbazillen
in alten Kreideherden, in Granulationsgeweben makrosko¬
pisch unbestimmten Charakters, in Lymphdrüsen, gelang
uns leichter und schneller; namentlich die Untersuchung
der letzteren, selbst wenn sie makroskopisch unverändert
waren, zeiligte unerwartete Resultate und lieferte einen
positiven Bazillenbefund zuweilen in Fällen, in denen wir
einen solchen nach dem makroskopischen Befund nicht er¬
warteten. Histologische Untersuchungen dieser Organe
waren aber naturgemäß nicht gleichzeitig vorgenommen wor¬
den und so blieb denn die Frage offen, ob nicht mikrosko¬
pisch spezifisch tuberkulöse Veränderungen vorhanden ge¬
wesen waren und an sich die Diagnose ermöglicht hätten.
Die mikroskopische Untersuchung allein hat man¬
cherlei Mißliches an sich, wie ja allgemein bekannt ist.
Zunächst ist sie sehr mühsam. Gilt es doch, wenn der
'Nachweis histologisch luberkulöser Gewebsveränderung
nicht schnell gelingt, das ganze Organ in Serien- resp.
Stufensohnitten systematisch zu durchforschen, was zwar
z. B. an Lymphdrüsen noch möglich ist, aber an allen grö¬
ßeren Organen, wie z. B. an der Milz einen ganz enormen
Aufwand von Arbeit und Zeit bedeuten würde. Da. wir nun
aber längst wissen, wie auch Bartel nachgewiesen hat,
daß Tuberkelbazillen sich in Organen, namentlich Lymph-
drüson finden können, ohne spezifisch tuberkulöse Gewebs¬
veränderungen, so wäre auch der färberische Nachweis von
Tuberkelbazillen in Gewebsschnitten nötig und es bedarf
wohl kaum der Betonung, daß eine in dieser Hinsicht ab¬
solut vollständige Untersuchung eines jeden größeren Organs,
304
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
ja selbst einer Lympkdrüse, unmöglich oder aber mit unge¬
heurer Schwierigkeit verknüpft ist. Selbst in histologisch
tuberkulös verändertem Gewebe gelingt ja der Tuberkel¬
bazillennachweis nicht immer.
Die Kombination der histologischen Untersuchung mit
dem Bazillennachweis durch das Tierexperiment hat man
früher vielfach in der Weise vorgenommen, daß man einen
Teil des zu untersuchenden Organs (Lymphdrüse) oder Ge-
websstückes histologisch verarbeitete, den anderen zum
Tierexperiment benutzte. Zum Teil recht weitgehende
Schlüsse bauen sich auf diesem Verfahren auf, dem natür¬
lich der Vorwurf nicht erspart bleiben konnte, daß in dem
einen Teil sich fand, was im anderen nicht vorhanden war,
alle Schlüsse also trügerisch waren.
Unseren Untersuchungen über das Vorkommen viru¬
lenter Tuberkelbazillen in makroskopisch unveränderten Or¬
ganen kam die Mitteilung Merkels hochwillkommen. Ihre
technischen Resultate schienen uns so wertvoll, daß wir
glaubten, sie nicht nur eng begrenzten Untersuchungen,
sondern selbst den Hauptfragen des großen Tuberkulose¬
problems dienstbar machen zu können. Wir wollen darauf
nachher zurückkommen.
Für derartige groß angelegte und bedeutungsvolle Un¬
tersuchungen darf nach unserer Auffassung nun der von
Merkel geübte Bazillennachweis in Objektträgerausstri¬
chen nicht angewendet werden. Abgesehen davon, daß er
zu zeitraubend und mühsam erscheint, ist er doch wohl
nicht diffizil genug. Ganz vereinzelte Bazillen können dem
suchenden und ermüdenden Auge entgehen, große Sorgfalt
ist dauernd nötig, um Täuschungen zu vermeiden. Es sei
nur an die interessante Mitteilung Beitzkes erinnert, der
säurefeste »'(Stäbchen im zur Antiforminverdünnung be¬
nutzten Leitungswasser feststellte. So sollte denn nur das
Tierexperiment, wie noch jüngst Hart mit Nachdruck be¬
tont hat, über das Vorhandensein der Tuberkelbazillen in
den benutzten Gewebsstückchen entscheiden. Es bietet auch
hinreichende Sicherheit dafür, daß die schwer nachweis¬
bare granuläre Form des tuberkulösen Virus der Feststel¬
lung nicht entgeht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit,
nur mit frischem Material zu arbeiten.
Da inün die Verarbeitung dieses frischen Materials nach
dem Vorgänge Merkels immerhin mit einer Prozedur1 ver¬
bunden ist, die man nicht ohne weiteres als belanglos be¬
zeichnen kann, nämlich dem Gefrierverfahren auf dem
Aether- oder Kohlensäuregefriermikrotom, weiterhin das
Verlangen, eingehende histologische Untersuchungen an
Schnitten, die dein biologischen Bazillennachweis noch
dienen sollen, vorzunehmen, weitere Maßnahmen als das
Gefrieren allein nötig erscheinen ließ, so sind zunächst
Voruntersuchungen angestellt worden. Die Lebensfähigkeit
der Tuberkelbazillen gegenüber verschiedenen Maßnahmen
am Untersuchungsmaterial war zu prüfen.
Tuberkulöse Gewebsstückchen (Lymphdrüse, Lunge,
Milz) von da. V2 bis 1 cm Dicke wurden auf dem Gefrier¬
mikrotom durch Kohlensäure vereist und entweder im Gan¬
zen oder in Schnitten Meerschweinchen subkutan implan¬
tiert. Wir verfuhren dabei aseptisch (u. a. Auskochen des
Objekttisdhes und des Messers) um dem Vorwurf zu ent¬
gehen, es könnten etwa nicht dem Gefrierprozeß ausgesetzt
gewesene Tuberkelbazillen implantiert worden sein. Die
Stücke ließen wir stets steinhart werden und durch und
durch gefrieren und ließen diesen Zustand von einer halben
bis zu 20 Minuten unter wiederholter Einwirkung der
Kohlensäure bestehen. Alle mit diesen Gewebsstückchen
geimpften Meerschweinchen gingen an Tuberkulose ein,
wobei sich deutlich zeigte, daß das Manifestwerden der
Impftuberkulose und ihr Verlauf lim so langsamer sich voll¬
zog, je länger der Gefrierprozeß eingewirkt hatte. Die Tu¬
berkelbazillen bewahren also gegenüber starker Kälteein¬
wirkung ihre Virulenz recht lange, sie vertragen auch, wie
wir uns überzeugten, noch längere Gefrierzeiten als 20 Mi¬
nuten, es war das aber für unsere Untersuchungen inso¬
fern irrelevant, als 20 Minuten vollkommen genügen, einen
Block in feine Schnitte zu zerlegen. Darauf kam es uns ja
an. Weiterhin wurden dann die Gewebsstückchen vor dem
Gefrieren in 10% Formollösung getan und darin von einer
halben bis zu mehreren Stunden belassen und dann ver-
impft. Ohne nachfolgendes Gefrieren zeigten sich in diesen
Stücken nach dem Ausfall des Tierversuches die Tuberkel¬
bazillen noch nach einem Aufenthalt in Formol von einer
Stunde infektionstüchtig und behielten ihre Virulenz auch,
wenn sich dann das Gefrierverfahren anschloß. Nur in
einem Falle von einstüindigem Aufenthalt des Gewebsstüokes
in Formol mit nachfolgender Vereisung von je 10 Minuten
blieb ein geimpftes Meerschweinchen gesund. Die Formol-
behandlung hatte den Zweck, die Gewebsstückchen geeig¬
neter zur Herstellung feiner Schnitte und einer nachfolgen¬
den Färbung zu machen. Mit Sicherheit kann man damit
rechnen, daß im Gewebe liegende Tuberkelbazil¬
len durch V2stündige Formolwirkung mit nach¬
folgendem Gefrieren ihre Lebensfähigkeit nicht
verlieren und durch das Tierexperiment nach-
zu weisen sind.
Wir sind dann weiter gegangen und haben so behan¬
delte Gewebsstücke in möglichst feine Schnitte zerlegt,
diese mit Hämatoxylin gefärbt, auch mit Salzsäurealkohol
differenziert und nach Betrachtung in Glyzerineinbettung
mit 15% Antiforminlösung homogenisiert und zum Tier
experimenl verwertet.
Solche gefärbte Schnitte lösen sich unter momentanem
Schwinden der Farbe in wenigen Augenblicken. Das ge¬
waschene Zentrifugal haben wir subkutan und intraperi¬
toneal den Versuchstieren appliziert und ganz regelmäßig
eine mehr oder weniger zeitig manifest werdende, verschie¬
den schnell verlaufende Impftuberkulose entstehen sehen.
Die Einwirkung des Antiformins kommt für die Lebens¬
fähigkeil der Tuberkelbazillen selbst in stärkerer Konzen¬
tration fast gar nicht in Betracht, da nach unserer Erfahrung
noch nach 24 Stunden, nach Hüne sogar nach mehreren
Tagen Anliforminwirkung allein die Tuberkelbazillen nicht
abtötet. Natürlich empfehlen wir trotzdem ein schnelles
Arbeiten, um die kumulierende, schädigende Wirkung der
verschiedenen Maßnahmen auf die Tuberkelbazillen nach
Möglichkeit zu beschränken. Man muß immerhin, wie der
Verlauf des Tierexperimentes erkennen läßt, mit einer
Virulenzabschwächung, vielleicht auch mit dem Absterben
einzelner Bazillen rechnen und das könnte beim Vorhanden¬
sein nur spärlicher Tuberkelbazillen in den zu untersuchen¬
den Geweben, in denen sie vielleicht ohnehin wenig lebens¬
fähig liegen und sozusagen eine vita minima führen, das
Ergebnis der Untersuchung beeinträchtigen und das Urteil
fälschen. Wir dürfen daher die schädigenden Maßnahmen
gerade nur in dem Grade einwirken lassen, daß es uns
möglich ist, mit Sicherheit die Anwesenheit von Tuberkol¬
bazillen tierexperimentell nachzuweisen. Das ist nach
unseren Feststellungen auch dann möglich, wenn die
vorbehandelten Schnitte mit Hämatoxylin kurz
gefärbt und in Glyzerin mikroskopisch unter¬
sucht worden sind. Die Formolbehandlung gestattet die
Herstellung so dünner Gefrierschnitte, daß man auch feinere
Gewebsveränderungen studieren kann.
Es bedeutet das einen außerordentlichen Gewinn. Es
isl bei positivem Ausfall des Tierexperimentes ein sicheres
Urteil möglich, ob histologische Veränderungen vorhanden
waren oder nicht und man ist nicht mehr darauf angewiesen,
verschiedene Teile eines zu untersuchenden Organs (Lymph-
drüse) oder Organstückes verschieden zu behandeln und
den Einwand der Ungenauigkeit hinnehmen zu müssen.
Wir werden uns nun ein besseres Urteil darüber bilden
können, ob es latente prätuberkulöse Veränderungen, wie
beispielsweise das lymphoide Stadium Bartels gibt, ob
und in welcher Häufigkeit sich Tuberkel bazil len
in histologisch unveränderten O'rganen finden.
Die Anwendung des Uhlenhuthschen Antiformin¬
verfahrens auf die Durchsuchung der Gewebe nach Tuber-
kelbazillen gestattet eine systematische Durchforschung
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
305
ganzer Organe und Organgruppen. Im Vordergründe des
Interesses stehen die Lymphdrüsen. Sie sind so klein, daß
sic sich leicht nach der von uns angegebenen Methode ver¬
arbeiten lassen. Aber auch mit ganzen Lymphdrüsengrup-
pen ist. das der Fall, wie wir aus nichtsystematischen, son¬
dern nur auf Ausprobierung der Methode gerichteten Unter¬
suchungen entnommen haben. Wollte man Drüse für Drüse
z. B. des Mesenteriums oder des Halses präparieren ■ und
in oben angegebener Weise verarbeiten, so wäre das nicht
nur ein sehr umständliches und mühsames Beginnen, son¬
dern böte auch keineswegs Gewähr, daß der betreffende
regionäre lymphatische Apparat vollständig zur Unter¬
suchung kommt. Die Vorbehandlung mit Antiformin dagegen
gestattet leichtes Arbeiten, weil es die Eigenschaft besitzt,
vor der allmählichen Auflösung Fett und lockeres Binde¬
gewebe schnell aufzuhellen und in einen glasigen, trans¬
parenten Zustand zu versetzen, der kompaktere Gebilde
wie z. B. die Lymphdrüsen, deutlich hervortreten läßt. Bringt
man das Mesenterium in kleine Stücke geschnitten in eine
15 bis 25°/oige Antiforminlösung, deren Einwirkung man
durch den Schüttelapparat steigert, so wird das Fettgewebe
in verhältnismäßig kurzer Zeit transparent, so daß man
leicht alle Lymphdrüsen herauspräparieren und nach der
oben angegebenen Methode verarbeiten kann. Mit den Hals¬
organen, dem retroperitonealen Gewebe, der Region der
Trachealbifurkation kann man gleicherweise verfahren. Es
ist dabei durchaus angängig, die ausgeschälten Lymphdrüsen
noch zu zerschneiden und makroskopisch zu durchforschen.
Um den Wert des ganzen Verfahrens zu prüfen, haben wir
festgestellt, daß schon von Anhang an makroskopisch als
tuberkulös erkannte Lymphdrüsen (des Mesenteriums)
schließlich den biologisch positiven Schlußnachweis der
Tuberkulose lieferten. Welche hohe Bedeutung aber den
Untersuchungen innewohnt, geht beispielsweise daraus her¬
vor, daß wir in auch mikroskopisch nicht veränderten
Lymphdrüsen am Lungenhilus Tuberkelbazillen feststellen
konnten.
'Natürlich darf man nicht durch unsauberes Arbeiten
etwa das Untersuchungsmaterial tuberkulös verschmutzen.
Aseptische Vorsichtsmaßregeln erfordert in dieser Hinsicht
auch das Arbeiten an der Leiche. Wir benutzten gut aus¬
gekochte Instrumente und brachten das Untersuchungsma¬
terial direkt aus der Leiche in die Antiforminkolben, so daß
uns die Möglichkeit ausgeschlossen schien, es könnte yon
außen eine Verunreinigung mit Tuberkelbazillen stattfinden.
Auch die genauere makroskopische Inspektion, wie die Zer¬
kleinerung des Materials, nimmt man zweckmäßiger in der
Leiche selbst, als auf einem Teller vor; viel Schwierigkeit
wird man dabei nach unserer Erfahrung nicht begegnen.
Wie wir bereits erwähnt haben, scheinen uns die
vorliegenden .Untersuchungen deshalb besonders bedeutsam1,
weil sie zeigen, wie man die U h 1 e nhu th sehe Antiformin¬
methode in den Dienst einiger großer und im wesentlichen
noch ungelöster Tuberkulosefragen stellen kann. Eine syste¬
matische Durchforschung des kindlichen Organismus, so¬
weit es die Ueberlegung erfordert, mittels dieser Methode
liegt durchaus im Bereich der Möglichkeit.
Nach den Untersuchungen v. Pirquets, Hambur¬
gers und anderer Autoren, namentlich der Schloßmann-
schen Schule, müssen wir annehmen, daß die tuberkulöse
Durchseuchung der Menschheit schon während des Kindes¬
alters ihren Abschluß erlangt da die einzelnen Lebensalter
von der Geburt bis zur Pubertät in immer höherem Prozent¬
satz, schließlich bis zu 90, ja 100% eine positive Tuberkulin¬
reaktion geben. In dieser Kindheitsinfektion glauben viele
entsprechend der alten Lehre v. Behrings auch die Quelle
der tuberkulösen Lungenschwindsucht Erwachsener sehen
zu müssen. Während ein Teil der infizierten Kinder der
Wirkung des tuberkulösen Virus erliegt, übersteht ein ande¬
rer die Infektion dauernd und erwirbt sich eine relative
Immunität, während ein dritter infolge einer massiven,
wahrscheinlich von innen kommende Reinfektion in der
relativen Immunität nicht genügenden Schutz findet und
nun im reifen Alter das Opfer der tuberkulösen Lungen¬
schwindsucht wird. Besonders Römer vertritt diese An¬
schauung auf Grund ausgedehnter und, wie wir gern betonen,
wissenschaftlich exakter Tierversuche. Eine ganze Reihe
von Bedenken aber sprechen gegen die Richtigkeit dieser
Theorie. Vor allem muß betont werden, daß der Pathologe
am Sektionstisch keineswegs eine so enorme Häufigkeit
tuberkulöser Herde in Kinderleichen feststellt, als den
Ergebnissen der Tuberkulinreaktion entsprechen müßte.
Und das nicht bei der möglichst minutiösen Durchforschung
aller Organe. Wo sind die Bazillennester zu suchen, von
denen eine mlasisive Reinfektion ausgehen kann? Sehen
wir von schon makroskopisch wahrnehmbaren, spezifisch
tuberkulösen Veränderungen ab, so muß nach obiger Theorie
in einer ganz erheblichen Anzahl von Kinderleichen irgend¬
wo ein Bazillenherd vorhanden sein, der, obwohl nicht
erkennbar, doch fähig ist, plötzlich die Schutzwehr der
relativen Immunität zu durchbrechen. Das fordert jene
Theorie, wenn sie zu Recht bestehen soll. Nun weiß jeder
Pathologe, daß für gewöhnlich die Lungen im Kindesalter
nicht der primäre Siedlungsherd der Tuberkelbazillen sind,
daß vielmehr so gut wie ausschließlich der lymphatische
Apparat in Frage kommt, als regionärer Filter für den lym¬
phatischen Rachenring, für den Darmkanal, für die Lungen.
Von der Hautinfektion wollen wir, da sie schwerlich eine
sehr große Rolle spielt, absehen. Auch bei ah tuberkulöser
Lungenschwindsucht verstorbenen Erwachsenen muß dem¬
nach ein alter Infektionsherd nachzuweisen sein und trotz¬
dem läßt sich oft genug, sagen wir getrost 'in der Mehrzahl
der Fälle, außerhalb der Lungen kein tuberkulöser Herd
finden, von dem man mit einiger Sicherheit sagen könnte,
er sei die Quelle einer massiven, die Lungenschwindsucht
veranlassenden Reinfektion. Auch in diesen Fällen müßte
demnach irgendwo im Organismus ein Tuberkelbazillenherd
existieren, ohne solche spezifische Gewebsveränderungen,
die makroskopisch erkennbar sind. Nicht, einzelne Bazillen
dürfen es sein, nein viele, aus denen sich die gemutmaßte
massive Reinfektion mit Durchbrechung der relativen
Immunität erklärt. Auf den Organismus des erwachsenen
Lungenschwindsüchtigen exemplifizieren wir nur deshalb
aber, weil wir die Bedenken genügend betonen wollten, die
der Römer sehen Theorie entgegenstehen; ein geeignetes
Untersuchungsobjekt ist er nicht, da ja bei jeder vorge¬
schrittenen Lungenschwindsucht Tuberkelbazillen im Blute
kreisen und in dein Organen zur Ablagerung kommen können,
ohne zu einer lokalen spezifischen Gewebsveränderung zu
führen. '
Das Suchen nach latenten tuberkulösen Herden muß
sich auf den makroskopisch gesunden kindlichen Organismus
beschränken, es muß nach dem Ergebnis der Tuberkulin¬
reaktion um so häufiger von Erfolg gekrönt sein, je älter
das Kind ist. Dieser Durchforschung, die natürlich eine
systematische sein muß, bietet sich in der von uns ange¬
gebenen Antiforminmethode eine gute technische Hand¬
habe. Sie wird erleichtert durch die Begrenzung, die sie
dadurch erfährt, daß wir entsprechend der praktischen Be¬
deutung eine Durchforschung nur der Drüsengruppen vor¬
nehmen, die als regionäre Filter der mutmaßlichen Ein¬
trittspforten des Tuberkelbazillus in Betracht kommen.
Wir stehen damit vor einer zweiten großen Tuberku¬
losefrage, die so alt wie die Entdeckung des Tuberkelbazillus
selbst ist und doch noch heute heißumstritten und weit
entfernt von einer endgültigen Lösung ist. Bei einer syste¬
matischen Durchforschung des kindlichen lymphatischen
Apparates mittels der Antiforminmethode muß es sich
zeigen, ob der lymphatische Rachenring oder die Lungen
oder der Darm die Eintrittspforte der Tuberkelbazillen ist,
je nachdem die oberen Halslymphdrüsen, die Hilus- und
Bronchialdrüsen oder die Mesenterialdrüsen sich als tuber¬
kulös infiziert erweisen. Besondere Beachtung verdienen
auch die Tonsillen und es ist anzunehmen, daß die vor¬
liegenden histologischen Untersuchungsresultate über pri¬
märe Tonsillentuberkulose durch die Antiforminmethode
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
nicht nur bestätigt, sondern wohl auch ergänzt werden. Die
Unterkiefer- und Kieferwinkeldrüsen sind wichtig für die
Beurteilung einer tuberkulösen Schmutz- oder Schmierinfek¬
tion der Haut in der Umgebung des Mundes. Soweit das
Untersuchungsergebnis nicht ein völlig negatives ist, wird
man wahrscheinlich prozentualiter am häufigsten die Hals-
lymphdriisen, dann die mesenterialen, am seltensten die
Hilusdrüsen tuberkulös infiziert finden. Doch gründet sich
diese Erwartung auf unsere rein persönliche Anschauung,
daß die tuberkulöse Infektion der Kinder vorwiegend eine
Schmutzinfektion ist, die vom Mund, Rachen und Darm¬
kanal aus wirksam wird, während die Erwachsenen sich
in erster Linie durch Aspiration der Bazillen infizieren.
Bei ihnen müßten die Hilusdrüsen vor allem Tuberkelba¬
zillen enthalten. Viele mögen anders denken. Aber wir
brauchen ja der Untersuchung nicht, vorzugreifen und wollen
ihr Resultat abwarten. Sie wird zeigen, welche Drüsen¬
gruppen am häufigsten zuerst erkranken und somit auf
die Infektionspforte hinweisen, sie wird auch feslstellen,
wie häufig die tuberkulöselnfektion in den einzelnen Lebens-
altern überhaupt ist und welche Berechtigung die Annahme
einer massiven Reinfektion als Ursache der tuberkulösen
Lungenschwindsucht hat. Soweit es sich um bazilläre Infek¬
tion handelt! Denn das eine wollen wir doch auch hier scharf
betonen, daß der Tuberkelbazillus nur die spezifische In¬
fektion, noch lange nicht aber den Verlaut und das anato¬
mische Bild der Lungenphthise erklärt.
Die Bedeutung der Reinfektion wird sehr wesent¬
lich durch eine dritte wichtige Frage bestimmt werden, der
die angeregten Untersuchungen nahetreten müssen und
können. Wie oft und in welcher Menge liegen Tuberkel¬
bazillen im Gewebe*, ohne lokale histologische Veränderun¬
gen zu erzeugen? Gibt es beim Menschen etwa Gewebsalte-
rationen ohne spezifischen Charakter, die man als prätuber¬
kulöse bezeichnen könnte, etwa wie das sogenannte lym-
phoide Stadium, das Bartel bei Meerschweinchen fand?
Daß einzelne Tuberkelbazillen, obwohl sie für das Meer¬
schweinchen infektionstüchtig sind, im Gewebe keine spe¬
zifischen Veränderungen auszulösen brauchen, ja sogar,
daß sie ein echt saprophytisches Dasein führen können,
wissen wir. Das Vorhandensein größerer Bazillennester,
befähigt zu massiver Reinfektion des Organismus, in den¬
noch nicht verändertem Gewebe bleibt noch zu beweisen.
Von der mikroskopischen Durchmusterung der in Antifor¬
min zur Auflösung kommenden Gewebsschnitte ist daher
umfangreichster Gebrauch zu machen. Hierin liegt eine
Schwierigkeit, nicht, so sehr, weil das mühsame und zeit¬
raubende Arbeit ist, als vielmehr, weil man dem einzel¬
nen Gewebsstück, vorwiegend also wohl der einzelnen
Lymphdrüse, größere Beachtung schenken muß. Es ist
daher dieser letzten Frage besonders nachzugehen.
Nun ein Schlußwort! Manchem wird vielleicht eine
exakte systematische Durchforschung eines so umfangrei¬
chen Organsystems, wie es der lymphatische Apparat auch
in der für uns in Betracht kommenden Beschränkung dar¬
stellt, als ein recht kühnes Wagnis Vorkommen. Aber wäh¬
rend eines ganzen Jahres haben wir immer wieder Versuche
in mannigfacher Modifikation angestellt und die Methode
ausprobiert. Die Möglichkeit einer solchen Durchforschung
des Lymphdrüsensystems nicht nur, sondern auch ihr Wert
steht für uns fest. Viel Geduld und Zeit, große Sorgfalt
und leider auch viel Geld ist nötig, um die angeregten Un¬
tersuchungen systematisch durchführen zu können. Der
Verbrauch an Tiermaterial muß ein um so größerer sein, je
mehr man spezialisiert, einzelne Lymphdrüsengruppen oder
gar Drüsen herausgreift und besonders verarbeitet. Wir
sind uns auch bewußt, daßi solche Untersuchungen auf die
Dauer nicht von einem einzelnen auszuführen sind und
würden es daher freudig begrüßen, wenn große, mit reichen
Mitteln arbeitende Institute, denen auch eine Arbeitsteilung
möglich ist, diese Untersuchungen aufnehmen würden.
Wenn auch eine in verschiedenen Instituten an verschie¬
denen Drüsengruppen vorgenommene Durchforschung inso¬
fern Wert hätte, als man aus Zusammenstellung und Ver¬
gleich der prozentualen Ergebnisse Schlüsse ziehen könnte,
so bleibt doch die einzig exakte, zu sicherem Urteil be¬
rechtigende Methode die einheitliche Verarbeitung des gesam¬
ten in Betracht kommenden lymphatischen Apparates einer
beträchtlichen Anzahl kindlicher Leichen. So schwer und
umfassend das Unternehmen ist, so wertvoll dürfte das
Endresultat für das große wissenschaftliche Tuberkulose-
problem sein.
Aus der III. mediz. Klinik der k. k. Universität Wien.
Herzgeräusch und Herzgröße.
Von Dr. Paul ßiacli, Assistenten der Klinik und Dr. Demetrius
Cliilaiditi.
Die vorliegenden Untersuchungen beschäftigen sich
nur mit den Herzgeräuschen, bei deren Entstehung eine
Klappenveränderung nicht in Betracht kommt. Die Fehler¬
quellen, die sich hiebei (rotz aller Vorsicht nie vollkom¬
men vermeiden lassen, liegen ja auf der Hand, wenn man
bedenkt, wie schwierig es ist, am lebenden Menschen ge¬
gebenen Falles eine Klappenveränderung des Herzens mit
Sicherheit auszuschließen. Wir haben aus diesem Grunde
bei allen untersuchten Fällen speziell darauf hingewiesen,
wenn sich Zweifel über die vollkommene Intaktheit der
Herzklappen bei uns erhoben haben.
Schon in der Schwierigkeit, den Herzgeräuschen, die
uns in unseren Untersuchungen interessieren, einen Namen
zu geben, malt sich die große Differenz der Anschauungen
über ihren Entstehungsmodus Führen Laennec und an¬
dere die funktionellen Herzgeräusche auf einen spastischen
Zustand der Herz- und Gefäßmuskulatur zurück, so haben
0 es t reich und De la Camp die anorganischen oder
besser funktionellen Geräusche auf Veränderungen des Herz¬
muskels selbst zurückgeführt und sich damit den Auffas¬
sungen von Eichhorst, Strümpell usw. angeschlossen.
Alle diese Möglichkeiten müssen in dem Augenblick uns
hinfällig erscheinen, wenn wir auf dem Standpunkt stehen,
den jüngst auch Staehelin präzisiert hat, daß Geräusch¬
bildung nur durch strömende Flüssigkeit und Wirbelbewe¬
gung in einer solchen zustande kommen kann.
Wir finden auch kaum einen Bestandteil und eine
Eigenschaft des strömenden Blutes, die nicht schon für
die Entstehung der uns interessierenden Schallerscheinun- .
gen verantwortlich gemacht wurde.
Die gesteigerte Frottierung der roten Blutkörperchen
wird von Skoda für die Geräusche bei der Chlorose her¬
angezogen, Thayer und Mac Call um finden, daß über
der Pulmonalarterie sowohl bei ßlutentziehung (Verringe-'S
rung der strömenden Masse), als auch bei reichlicher Koch¬
salzinfusion, demnach bei erhöhter und bei erniedrigter
Spannung des Gefäßes ein Geräusch entsteht, während
Lühtje direkt eine Stenosierung der Pulmonalklappe als
Ursache für das sogenannte anämische Geräusch heran¬
zieht, dessen punctum maximum seinen Untersuchungen
zufolge stets an der Pulmonalklappe lokalisiert sei.
Größere Bedeutung als diese Theorien, die sich teils
mit den Blutelementen selbst befassen, teils wieder auf die
allen Hypothesen von dem Einfluß der Gefäßwände auf
die Geräusohbildung zurückgreifen, schien längere Zeit der
Sah Fischen Anschauung zuzukommen, daß die vermehrte
Strömungsgeschwindigkeit des Blutes es sei, die die Ent¬
stehung von Geräuschen bei den anämisch - chlorotischen Zu¬
ständen erklärt. Gegen Sahli hat sich in erster Linie
Müller ausgesprochen, der erstens die erhöhte Ausströ-
mungsgeschwindigkeit des Blutes als nicht erwiesen be¬
trachtet und zweitens Geräuschbildung in Fällen wo das
Blut sicher schneller strömt als in der Norm (Herzklopfen,
rasches Gehen, Fieber u. a.) vermißt.
Fügt man diesen Theorien noch die von Müller und
früher schon von Po tain in Betracht gezogene Möglich¬
keit, der kardiopulmonalen Genese funktioneller Herzge¬
räusche hinzu, die wohl kaum den Anspruch auf allge-
Kr. 9
WIENER KLIN ISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
307
meinere Bedeutung wird erheben können, so dürfte damit
die Mehrzahl der Anschauungen wiedergegeben sein, die
auf diesem Gebiete geäußert wurden.
Ueberblickt man die große Zahl aller dieser Theorien,
so ist eines sicher, daß es kaum denkbar erscheint, auch
nur eine von ihnen für die Erklärung aller nicht, auf Herz¬
klappenfehlern beruhender Geräusche zu akzeptieren, so
daß wir wohl am ehesten mit Sahli an einer Scheidung der
„akzidentellen“ von den „funktionellen“ Geräuschen wer¬
den festhalten müssen.
Dennoch hat in letzter Zeit. Menschen versucht, alle
nichtorganischen Herzgeräusche auf eine gemeinsame Ur¬
sache zurückzuführen. Er weist an allen jenen Fällen, wo
sich Geräuschbildung ohne nachweisbare Klappenverände¬
rung findet, perkutorisch eine Herzdilatation nach, welch
letztere die Basis für die Entstehung der Schallerscheinung
bilden soll. Es zeigt sich nämlich nicht nur, daß ohne Dila¬
tation in den zur Beobachtung herangezogenen Krank¬
heiten, wie anämischen Zuständen, Gelenksrheumatismen,
Sepsis, Nephritis usw. ein Geräusch am Herzen niemals
hörbar wird, sondern auch, daß die Stärke des 'Herzgeräu¬
sches direkt proportional der Größe der Dilatation ist. He li¬
sch en steht nicht an, diese von ihm zunächst für die Cldor-
anähiie erbrachten Befunde für alle funktionellen Herz¬
geräusche zu erweitern und demnach anämische, rheuma¬
tische, septische, nephritische Dilatationsgeräusche zu
unterscheiden.
Besteht tatsächlich eine ursächliche Beziehung zwi¬
schen Geräuschbildung und Herzvergrößerung, so müssen
diese Beziehungen noch weitaus klarer und eindeutiger er¬
scheinen, wenn man sich nicht, der Perkussion, sondern
einer Methode bedient, die wie die Orthodiagraphie uns
genauere Aufschlüsse über die Ausdehnung des Herzens zu
geben imstande ist.
Systematische orthodiagraphische Untersuchungen
über diese Frage fehlen anscheinend, wenn man von
Dietlen absieht, der systolische Geräusche bei Diphthe¬
rie beschreibt,, die gleichzeitig mit Herzdilatation auftreten,
in seiner Arbeit über Infektionskrankheiten jedoch keiner¬
lei Angaben darüber macht, ob eine konstante Beziehung
zwischen Herzgeräuschen und Veränderungen der Herzgröße
besteht.1) Wir haben, um einen genaueren Einblick in diese
Beziehungen zu ermöglichen, eine Beihe von Patienten un¬
serer Klinik und anderer Abteilungen des Allgemeinen Kran¬
kenhauses sowie der Wiener Poliklinik, bei denen meist
als Nebenbefund nichtorganische Herzgeräusche beobachtet
wurden, orthodiagraphisch mit Rücksicht auf ihre Herzgröße
durchleuchtet und festzustellen versucht, ob überhaupt Be¬
ziehungen zwischen Herzgeräusch und Herzgröße bestehen
und wenn dies tatsächlich der Fall wäre, ob dieselben als
ursächliche anzusprechen seien oder nicht.
Die Patienten wurden mit. Rücksicht auf die Differenz
der Herzgröße bei verschiedener Körperlage, die aus den
Arbeiten von Moritz, Dietlen, Gr o edel hervorgehen,
sowohl im Stehen als im Liegen durchleuchtet und zwar
mit dem Orthodiagraphen nach Levy -Dorn in der Modi¬
fikation nach Gr o edel III; auf der Poliklinik mit. Kien¬
böckscher Hängeblende im Stehen, im Liegen mit Tro-
choskop (Fadenkreuz). Um den Einfluß des wechselnden
Zwerchfellstandes wenigstens so weit als möglich zu ver¬
meiden, wurden die Durchleuchtungen stets zwischen 4 üjnd
5 .Uhr nachmittags vorgenommen. Die Mittellinie wurde
durch zwei Bleimarken am oberen Rande des Manubrium
sterni und am Schwertfortsatz bestimmt, im Liegen jedoch
der Standort der Marken immer entsprechend der Haut¬
verschiebung gewechselt. Wo die Pulsfrequenz hoch war,
mußten wir dies besonders vermerken, wenngleich sie in
keinem Falle auf unsere Fälle von großem Einfluß sein^
konnte. Es gesdhah dies mit Rücksicht auf die von Hei tier
') Giuffre bestätigt in einer mündlichen Mitteilung im Verlauf
der Diskussion über Henschens Vortrag, daß auch er röntgenologisch
die von Henschen perkutorisch gefundene Herzdilatation nach-
veisen konnte.
vertretene Angabe, daß bei Pulsbeschleunigung eine Ver¬
kleinerung des Herzens stattfände. Aufgenommon wurden
die Orthodiagramme in der üblichen Weise, in Vorhofs¬
und Ventrikeldiastole und am Ende der normalen nicht ver¬
tieften Exspirationsphase. Wir erwähnen besonders, daß
aus äußeren Gründen in wenigen Fällen nur im Stehen
oder Liegen durchleuchtet werden konnte.
[Unser Material bestand vorzugsweise aus jugendlichen
Individuen, wenn wir auch eine geringere Anzahl älterer
Leute untersuchten; deswegen hauptsächlich aus jüngeren
weil wir muskuläre und vaskuläre Veränderungen, wie sie
bei älteren Individuen für die Mechanik der Blutströmung
und Herzaktion eine Rolle spielen mögen, nach Tunlichkeit
ausschließen wollten.
Die Ergebnisse unserer Untersuchungen zeigen das
auffallende, daß sie nicht konform sind.2)
Während in einer Reihe von Fällen tatsächlich Herz¬
vergrößerungen nachweisbar sind, gibt es wiederum an¬
dere, wo die erhaltenen Werte von den normalen nicht
abweichen, wiederum andere, wo sich sogar herausstellt,
daß die Größen hinter den gewöhnlich zu beobachtenden
Zurückbleiben. Unter den untersuchten 34 Fällen konnten
in 21 tatsächlich Vergrößerungen in der orthocliagraphi-
schen Herzdimension konstatiert werden. Jedoch beziehen
sich diese Vergrößerungen nicht immer auf das Herz in
allen seinen Durchmessern, sondern wir finden es nur in
sieben Fällen in jedem Durchmesser größer als normal.
In einer Reihe anderer Patienten (acht) zeigt sich die auf¬
fällige Tatsache, daß nur die Transversal- und L^ngen-
dimension vergrößert erscheint, während die Breite ent¬
weder von dem gewöhnlichen Verhalten nicht abweicht oder
sogar kleiner ist als normal. Eine vergrößerte Breitendimen¬
sion bestand bei drei Untersuchten, Längs- oder Transver¬
salausdehnung allein waren in drei Fällen nachzuweisen.
Bei allen diesen Messungen haben wir gegebenen Falles
in Uebereinstimmung mit Dietlen auf eine eventuelle Ver¬
breiterung, überhaupt auf die Maße im Liegen, bedeuten¬
deres Gewicht .gelegt, als auf die im Stehen gewonnenen,,
eine Ansicht, die möglicherweise noch dadurch gestützt
werden kann, daß in den drei Fällen, wo das Ge¬
räusch im Liegen deutlicher wurde, die im Liegen be¬
stimmte Herzgröße teilweise die bei aufrechter Stellung
beträchtlich übertrifft.
Die Patienten, deren Gesamtherz vergrößert war, ge¬
hörten meist einem vorgeschritteneren Alter an und litten
zum Teil an perniziöser Anämie; ihr Alter bewegte sich
zwischen 40 und 60 Jahren. Andere Patienten dieser Gruppe
hatten Erscheinungen seitens des Magens, wieder andere
seitens der Gefäße, so daß. man hier kaum einheitlichere
Krankheitstypen abgrenzen dürfte, wenn man von den be¬
reits erwähnten perniziösen Anämien absieht.
Ganz anderes Verhalten zeigen die Fälle, wo sich
die Kombination eines vergrößerten Transversal- mit ver¬
größertem Längendurchmesser fand. Hier handelt es sich
meist um junge Leute, die zum großen Teil anämischen
Habitus vom Charakter der sekundären, weniger der Chlor¬
anämie zeigten. Allen diesen Fällen ist gemeinsam, daß
sich niemals eine Verbreiterung des Herzschattens fand.
Abgesehen von diesen zwei Gruppen bleibt uns in
der Zahl der partiell vergrößerten Herzen noch eine kleine
Reihe übrig, die nur in einer einzigen Dimension entweder
der transversalen oder der Längsdimension Werte zeigten,
die die Norm überschritten. Ihre Zahl, besonders im Ver¬
hältnis zur Anzahl der untersuchten Fälle, ist viel zu gering,
als daß man entscheiden könnte, ob ihnen überhaupt Be¬
deutung zukommt.
Wenn aber Hensdhen für jede akzidentelle Geräusch¬
bildung eine Herzvergrößerung als Ursache anzunehmen
geneigt ist, so zeigen unsere Untersuchungen, daß Ge¬
räusche auch bei normaler, ja sogar bei verkleinerter Herz-
2) Die ausführlichen Tabellen konnten Raummangels wegen an
dieser Stelle nicht gebracht werden, stehen jedoch gern zwecks Ein¬
sicht zur Verfügung.
308
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
große entstehen können. Eine ganze Reibe, insgesamt sieben
Fälle, sind ein Beleg dafür, daß Herzgeräusche hei normaler
Herzgröße hörbar sein können, wenn es auch schwer fallen
dürfte, für diese sieben Fälle gemeinsame Momente her¬
auszugreifen. Jedenfalls ist es bemerkenswert, daß sich
unter ihnen keine Anämie findet, ein negatives Moment, mit
welchem aber auch alles erschöpft ist, was sich über diese
Reihe, die die divergentesten Krankheiten und Lebensalter
umfaßt, sagen läßt.
iWeit einheitlicher stellen sich jene Fälle dar, wo Ver¬
kleinerung des Herz Schattens bestand. Es sind dies sechs
Patientinnen, von denen fünf an Chlorose erkrankt waren.
Wenn wir mit Sicherheit ausschließen können, daß sich
bei allen fünf keinerlei Anzeichen von Tuberkulose fand,
die uns eine eventuelle Verkleinerung im Sinne der Unter¬
suchungen von Beck erklären könnten, bleibt dies eine
auffällige Tatsache, die hier registriert sei, ohne irgend¬
welche Schlüsse daraus ziehen zu können.
Es läßt sich also nicht in Abrede stellen, daßi zwischen
Herzgröße und Herzgeräuschbildung eine Beziehung wohl
besteht, am ehesten im Sinne Die tie ns, der, wie schon
erwähnt, Herzdilatation und koinzidente systolische Ge¬
räusche bei Diphtherie beschreibt ; diese Herzvergrößerung
läßt sich jedoch nur bei einer Reihe funktioneller Herz¬
geräusche nachw, eisen, bei anderen fehlt sie. Wann sie
zum Zustandekommen eines Herzgeräusdhes notAV endig ist,
dafür ergibt unsere Zusammenstellung ebensowenig Auf¬
schluß, Avie die experimentellen Untersuchungen, die Lüdke
und Schüller jüngst an künstlich anämisierten Tieren an¬
gestellt haben. Auch sie konnten nicht konstant bei künst¬
licher Blutleere Herzdilatation finden. Was die Verbreite¬
rung des Gefäßschattens betrifft, den die beiden Autoren
bei fünf Tieren fanden und für die anatomische Basis des
Entstehens der anämisdhen Geräusche halten, die sie über
den Herzen solcher Tiere hören konnten, so genügt es,
darauf hinzuweisen, daß wir bei unseren Batienten niemals
Anzeichen einer nennenswerten oder gar auffälligen Gefä߬
dilatation finden konnten. Für die funktionellen Herzge¬
räusche des Menschen mithin dürfte diese Genese auch
kaum als einheitlich angesprochen werden können. Es
schließen sich Adelmehr die Befunde von Lüdke und
Schüller nur den zahlreichen divergenten Anschauungen
über Dilatationsbefunde bei anämischen Zuständen an und
es spricht jedenfalls in unserem Sinne gegen eine regel¬
mäßige Beziehung der Herzvergrößerung zur Herzgeräusch¬
bildung, Avenn Lüdke und Sdhüller selbst bei zwölf
Patienten in der Würzburger Klinik elfmal systolische Ge¬
räusche wahrnehmen und nur sechsmal au (optisch eine intra
vitam diagnostizierte Dilatation des Herzens kontrollieren
können, wenn Biermer zAvar Geräusche bei anämischen
Zuständen hört, aber weder vor noch nach der Obduktion
Herzverbreiterung findet, wenn Kraus in 130 Fällen von
perniziöser Anämie meistens systolische Geräusche nach-
Aveisen kann, jedoch durch Perkussion nur 62mal Ausdeh¬
nung der Herzdämpfung wahrnimmt, wenn endlich Gra-
witz sich den Befunden Biermers anschließt.
Auffällig und der Erwähnung wert bleibt audh die
Tatsache, daß die Breitendimension nur in Fällen von Ge¬
räuschbildung bei älteren Leuten vergrößert erschien. Die
Fälle, wo sich keine Herzvergrößerung fand, betrafen meist
nichtanämische ältere und jugendliche Individuen, während
chlorotisclie Geräusche zumeist im Gefolge von Herzver¬
kleinerung auftraten.
Wenn also aus unserer geringen Beobachtungsreihe
ein Schluß zu ziehen gestattet ist, so müßten wir danach :
1. die Herzdilatation als Ursache aller nicht auf Klappen¬
fehlern beruhenden Herzgeräusche ablehnen, 2. müßte für
eine Reihe nichtanämischer und für die chlorotischen Ge¬
räusche das Blutgefäßsystem mit seinen besonderen Wand-
und Strömungsverhältnissen verantwortlich gemacht werden,
da in diesen Fällen eine orthodiagraphisc'h konstatierbare
Herzvergrößerung nicht besteht,.
Literatur.
Strümpell, Lehrbuch der Pathologie und Therapie der inneren
Krankheiten. 16. Auf]., Leipzig 1907. St äh et in, Diagnostik der
Krankheiten des Zirkulationsapparates und »Lehrbuch der klinischen
Diagnostik innerer Krankheiten«, herausgegeben von Paul Krause.
Jena 1909. - Thaver-MacCallum, Americ. Journal of med.
Science, Jahrg. 1907. Lühtje, Zur physikalischen Diagnostik am
Herzen etc. Münch, med. Wochenschr. 1907, S. 495. Sahli, Lehr¬
buch der klinischen Untersuchungsmethoden. 5. Aufl., Leipzig und Wien
1909. Müller, Ueher kardiopulmonale Geräusche. Sammlung
klinischer Vorträge. Volkmann, Nr. 500 bis 501. — Po tain, zii.
nach Müller. Menschen, Verhandlungen des internationalen
medizinischen Kongresses zu Budapest 1909. 11 eitler, Ex¬
perimentelle Studien über Volumveränderungen des Herzens. Zentral¬
blatt für innere Med. 1903. Nr. 26. — M o r i t z, Methoden der Herz¬
untersuchung in Deutsche Klinik am Eingang des 20. Jahrhunderts«,
sowie zahlreiche Einzelpublikationen. — Groedel, Die Orthoröntgeno¬
graphie. München 1908. Beck, Orthodiagraphisehe Untersuchungen
über die Herzgröße bei Tuberkulösen. Deutsch. Arch. f. lclin. .Med.,
Bd. 100, 5. u. 6. H. — Dietlen. Ueher Herzdilatation bei Diphtherie.
Münch, med. Wochenschr. 1905, Nr. 15; Orthodiagraphisehe Beobach¬
tungen über Veränderungen der Herzgröße bei Infektionskrankheiten etc.
Münch, med. Wochenschr. 1908, Nr. 40. — Lüdke und Schüller,
Ueber die Wirkung experimenteller Anämien auf die Herzgröße. Deutsch.
Arch. f. klin. Med., Bd. 100, 5. u. 6. H. Biermer, zit. nach
Lüdke und Schüller. — Kraus, Deutsche med. Wochenschr.
1 905. Nr. 44. E i c b hors t, Lehrbuch der klin. Untersuchungsmethoden
innerer Krankheiten. 4. Aufl., Berlin 1896.
Aus der Universitätsklinik für Geschlechts- und Haut¬
krankheiten. (Vorstand: Prof. Finger.)
Zur Epidemiologie der Mikrosporie in Wien.
Von Dr. Robert Otto Stein, Assistent der Klinik.
Der AufAvand au Mühe und Zeit, den die erfolgreiche
Bekämpfung einer größeren Mikrosporieepidemie erfordert,
macht es uns zur Pflicht, die Aufmerksamkeit der Aerzte
auf einen Krankheitsherd zu lenken, welchen Avir im Laufe
der letzten Monate im ZAveit.en Wiener Gemeindebezirke
aufdecken konnten, um dadurch ein Umsichgreifen dieser
sehr infektiösen Haarerkrankung nach Möglichkeit zu ver-
liüten.
Sc'hramek hat erst kürzlich in dieser Wochenschrift
darüber berichtet, in AArie hohem Grade das Budget der
Stadl Paris durch die Isolierung und Behandlung der an
Mikrosporie leidenden Kinder belastet Avird und auf die
umfangreichen Maßnahmen hingewiesen, die Basel und
Berlin gegen diesen, den Häarboden des Kindes so sehr
gefährdenden Pilz ergreifen mußten. Die klassischen Schil- !
derangen, welche der hervorragende Pilzkenner Sabou-
raud, in seinen „Maladies du cüir chevelu“ über das kli¬
nische Bild dieser Erkrankung, über die Art. und Weise
der Züchtung des Erregers und über die mikroskopische
Anatomie der befallenen Haare niedergelegt hat, sind von
Schramek so ausführlich mitgeteilt worden, daß es sich
für uns erübrigt, nochmals darauf zurückzukommen. Wir
wollen uns in den folgenden Zeilen auf eine kurze Dar¬
stellung der Krankheitsfälle beschränken.
Fall I. Im Mai 1910 suchte die kleine sechsjährige Pa- >
t.ie'ntin E. F. (J.-Nr. 13.621) wegen eines seit einigen Monaten be- j
stehenden zirkumskripten Haarausfalles am Kopfe unsere Klinik
auf. Sie bot am Scheitel und am Hinterhaupte zwei zirka fiint-
kronenstückgroße kahle Herde, die von zahlreichen glänzenden
Schüppchen, gedeckt, waren, zwischen denen farblose, Avie mit
Mehl bestaubte, 3 bis 4 mm lange Haarstümpfe hervorragte«.
Die Herde waren bis auf einen schmalen, leicht entzündlich
geröteten Hof vollständig reaktionslos. Die erkrankten Haare ließen
sich, ohne daß Patientin Schmerzen äußerte, epilieren und zeigten
schon makroskopisch eine vom Bulbus bis gegen die Bruchstelle
hin reichende Scheide, Avelche mikroskopisch aus kleinen, runden
und untereinander gleich großen Sporen bestand. Sabouraud
vergleicht treffend das mikroskopische Bild eines solchen Haares
mit einem gummierten Glasstab, der in Sagokörnern
gerollt av ur de. Hatte uns schon das klinische Aussehen und der
mikroskopische Befund den Gedanken nahegelegt, es könnte sich
um eine Mikrosporie handeln, so Avurde diese Diagnose zur Gewi߬
heit, als Avir nach zirka drei Wochen die 'auf Saboura udschem
Maltoseagar aus den Haaren und Schuppen aufgegangenen Kul¬
turen zu Gesicht bekamen. Wir verglichen dieselben mit den
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
309
Reinkulturen unserer Mikrosporiestämme, die, aus Pariser und
Berner Mikrosp'oriehaaren gezüchtet, schon seit längerer Zeit
vorrätig gehalten wurden. Sie stimmten vollständig mil dem von
Sabourau d als Microsporon Audouini bezeichiieten l’ilz
überein.
Dem Grundsätze Sabourauds folgend, daß ein spo¬
radischer Mikrosporiefall bei der exquisiten Kontagiositäl
dieser Erkrankung zu den größten Seltenheiten gehört, be¬
mühten wir uns, die Infektionsquelle aufzudecken.
Die Mutter der kleinen Patientin gab an, daß das
Kind schon einige Zeit hindurch eine Spielschule im zweiten
Bezirke besuche. Wir untersuchten nun anfangs Juni 1910
sämtliche diese Spielschule besuchenden Kinder und fanden
zu unserer Ueberraschung kein einziges derselben an Mikro¬
sporie erkrankt. Auch unter den Hausgenossen des Mäd¬
chens waren keine derart erkrankten Kinder zu finden.
Unsere Patientin hatte niemals Wien verlassen, so daß ein
Zusammenhang mit auswärtigen Fällen nicht zu erweisen
war. Durch diese Tatsachen wurden wir zu der Annahme
gezwungen, daß es sich bei unserer Patientin tatsächlich um
einen sporadischen Fall handle, dessen Provenienz zu er¬
mitteln nicht geglückt war. ln den folgenden Monaten fragten
wir des öfteren in der in Rede stehenden Spielsdhule
(Nestroygasse) an, ob noch Haarerkrankungen dieser Art
vorgekommen wären, jedoch stets mit negativem Erfolge.
Wir glaubten schon, durch rechtzeitige Isolierung dieses
einen Falles eine Weiterversöhleppung im Keime erstickt
zu haben. Diese Hoffnung erwies sich jedoch als trügerisch.
Fall II. Mitte Januar 1911 kam ein 8 jähriger Knabe, K. H.,
in unsere Behandlung, der das Krankheitsbild der Mikrosporie
des behaarten Kopfes und der Haut des Halses in geradezu
klassischer Ausbildung bot. (Abbildung.)
Zerstreut über die gesamte behaarte Kopfhaut finden sich
kreisrunde, scharf begrenzte, von einem leicht erythematösiem
Hofe eingeisäumte Effloreszenzen, von denen die kleinsten zirka
linsengroß isoliert stehen, die ältesten Fünfkronenstückgröße er¬
reichen und miteinander zu polyzyklisch begrenzten Flächen kon-
fluieren ; der einzelne Herd liegt im Niveau der Haut, sieht aus
wie mit Mehl bestaubt und trägt eine Unmenge silberglänzender
Schüppchen, aus denen 4 bis 5 mm lange, farblose Haarstümpfe
emporragen. Epiliert man ein solches Haar — eine Prozedur,
die absolut schmerzlos ist — so sieht man vom Bulbus des
Haares fast bis zur Bruchstelle reichend eine weiße Hülle, welche
den Haarschaft manschettenförmig umgibt. Die Affektion macht
an der Haargrenze nicht halt, vielmehr greift sie in der Stirn-
und Hinterhauptsgegend auch auf die mit Lanugohärchen be¬
deckte Haut über. Es gibt Effloreszenzen, die zur Hälfte in der
Haut des behaarten Kopfes, zur Hälfte in unbehaartem Terrain
liegen. Die Hautherde sind zerstreut unterhalb der beiden Ohren
und zwischen den Schulterblättern; die kleinsten ungefähr linsen¬
groß, die größten erreichen den Umfang eines Zweikronenstückes.
Sie sind mitunter elliptisch geformt und dann mit ihrer längeren
Achse parallel zur Spaltrichtung der Haut gestellt. Sie liegen im
Niveau, sind fast gar nicht infiltriert, im Zentrum, leicht schup¬
pend, die Peripherie, im Vergleich zu den zentralen Partien, er¬
haben. Mitunter sieht man bei den größeren Effloreszenzen gegen
die Mitte hin eine kreisförmige Elevierung, die parallel zu ihrer
äußer on Begrenzung verläuft, so daß „Iris “-ähnliche Formationen
zustande kommen. Die Lanugohärchen der erkrankten Stellen
sind weißlich verfärbt und abgebrochen. Nirgends lassen sich
Bläschen oder Krüstchen nachw eisen; das mikroskopische Bild
der Haare entsprach Sabourauds „gummiertem, in Sago¬
körnern gerollten Gl as st ab“, die Kultur ergab nach drei
Wochen Microsporon Audouini. Wir hatten also wieder
einen Mikrosporiefall vor uns, der scheinbar mit dem ersten gar
nicht Zusammenhang. Der achtjährige Knabe besuchte eine Volks¬
schule im zweiten Bezirke (Große Sperlgasse), die ich gemein¬
sam mit Herrn Bezirksarzt Dr. B er dach inspizierte und die
glücklicherweise frei von Mikrosporie befunden wurde. Anders
jedoch verhielt es sich mit den Geschwistern des Patienten,
die tagsüber in jener ominösen Spielschule untergebracht waren,
der auch unser erster Mikrosporiefall entstammte.
Fall III. Der sechsjährige Bruder R. H. zeigt zwei charak¬
teristische Herde von Mikrosporie am behaarten Kopfe; der eine
ist links am Scheitelbein, hat die Größe eines Zehnhellerstückes,
ist leicht gerötet, schuppt ein wenig und trägt farblose, zirka
2 bis 3 mm über dem Niveau der Haut abgebrochene Haar-
stümpfe: eine zweite Effloreszenz von analoger Beschaffenheit
und Größe ist an der rechten Schläfe. Keine Hautherde.
Fal l IV. Die dreijährige Schwester J. H. hat auf der Höhe
des Scheitels einen zirka zwanzighellergroßen Herd mit allen
klinischen Merkmalen der Mikrosporie.
Eine nunmehr vorgenommene neuerliche Untersuchung
der Spielsohule hatte folgendes Resultat.
Fall V. A. L„ fünfjähriges Kind.
Neben dem rechten Ohre eine ungefähr fünfkronenstück¬
große, schütter behaart© Stelle, die schon auf Distanz durch
die intensiv weiße Schuppung auffällt. Zwischen den spärlich
stehenden, längeren Haaren finden sich zahlreiche, einige Milli¬
meter über dem Niveau der Haut abgebrochene Haarstümpfe von
grauer Farbe, welche sich mit Leichtigkeit entfernen lassen. Sie
enthalten mikroskopisch zahlreiche Sporen in Form: der für Mikro¬
sporie charakteristischen Scheide angeordnet. An der äußeren
Haut keine Herde.
Fall VI. Dessen Schwester M. L„ drei Jahre alt. Am
Hinterkopf ein zirka zweikronenstückgroßer, typischer, in seinem
Aussehen dem oben geschilderten ganz analoger Mikrosporieherd.
Fall VH. A. P„ sechs Jahre alt. Fünfkronenstückgroße, Stelle
am Scheitel, an welcher die Haare bedeutend schütterer stehen
als am übrigen Kopfe; zwischen den normal langen und normal
gefärbten Haaren finden sich zahlreiche farblose Haarstümpfe,
die fast bis zu ihrer Bruchstelle von einer weißlichen Sporen¬
scheide umschlossen sind. Der erkrankte Haarboden ist in seinem
ganzen Umfange von weißlichen Schuppen bedeckt. Ausgesprengt
in der Umgebung des geschilderten Herdes zwei linsengroße und
drei zirka zwanzighellerstückgroße, in gleicher Weise erkrankte
Flecke. Keine Hautherde.
Fall VIII. A. N„ vier Jahre alt. Zerstreut über den be¬
haarten Kopf finden sich kreisrunde, ziemlich scharf begrenzte,
mit silberglänzenden Schuppen und abgebrochenen Haarstümpfen
bedeckte Effloreszenzen von Zwanzighellerstück- bis Fünfkronen¬
stückgröße. Die Haut im Bereiche derselben zeigt keinerlei ent¬
zündliche Reaktion, keine Hautherde.
Fall IX. E. II., sechs Jahre alt. Entsprechend- der Hinter¬
hauptschuppe findet man am behaarten Kopfe eine zirka kronen-
stiickgroße, mit glänzenden Schüppchen bedeckte Stelle, die zahl¬
reiche Haarstümpfe trägt, welche nach Epilation auf dunklem
Grunde eine vom Bulbus bis fast zur Bruchstelle reichende man¬
schettenförmige Hülle erkennen lassen; ausgesprengt in die Um¬
gebung der oben beschriebenen Effloreszenz sind zwei linsengroße,
ganz analog beschaffene Fleckchen. Keine Hautherde.
Fall X. F. B„ acht Jahre alt. Pat. zeigt dein oben beschrie¬
benen ganz analoge Herde von Zwanzighellerstück- bis Handteller¬
große am Hinterkopfe und links über dem Ohre. Keine Hautherde.
Fall XI. Besonders ausgesprochen findet sich das typische
Bild der Mikrosporie des behaarten Kopfes bei dem vierjährigen
Bruder des Patienten, der einen über fünfkronenstückgroßen Herd
über dem linken Scheitelbein zeigt.
Fall XII. L.- L„ vier Jahre alt. Die behaarte Kopfhaut
des Patienten ist vollkommen intakt; im Nacken an der
Haargrenze ein zweikronenstückgroßer, im Niveau der Haut
gelegener, leicht geröteter, mäßig schuppender und scharf he-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
810
grenzte? Herd, in dessen Bereich die abgebrochenen Haare die
für Mikrosporie charakteristischen Veränderungen zeigen.
Aus den Schuppen der Hautherde und aus allen dar¬
aufhin untersuchten, erkrankten Haaren der Kinder gingen
nach zirka drei Wochen die für Sabourauds langsam
wachsendes Micro sp or on Audouini typischen
Kulturen auf. Das positive Kulturergebnis aus den Schuppen
von Effloreszenzen am Halse scheint uns deshalb nicht
uninteressant, weil Sabouraud bervorhebt, daß das ex¬
quisit menschenpathogene Mikrosporon Audouini bloß die
Kopfhaut befällt. Die von Bloch mitgeteilten 2d Fälle der
großen Baseler Epidemie und Sc'hrameks und unsere
Befunde sind ein Beweis dafür, daß Sabourauds Ansicht
nur für Paris Geltung hat. Die roten, unscharf begrenzten,
Fleckchen im Gesichte, die wir bei einigen Kindern beob¬
achten konnten und die in ihren Schuppen keine Pilzele¬
mente enthielten, dürften wohl mit der Erkrankung in keinem
direkten Zusammenhänge stehen. Denn auch Kinder ohne
jegliche Pilzaffektion weisen sie auf.
Da es bei jeder Epidemie in erster Linie darauf an¬
kommt, möglichst viele beginnende Infektionen aufzu¬
decken, möchte ich mit einigen Worten auf die Un tersuchungs¬
technik zu sprechen kommen. Der Kopf des mikrosporiever¬
dächtigen Kindes wird kurz geschoren und der Patient so
gegen das Fenster gestellt, daß das Tageslicht schief auffällt.
Nun wendet man folgenden von Sabouraud angegebenen
Kunstgriff an: Man streicht allenthalben mit dem Daumen,
an der Stimhaargrenze und an dein Schläfen beginnend,
der Richtung der Haarströme entgegen bis zur Scheitel¬
höhe hinauf. Gesunde Haare springen wie die'Eorsten
einer Bürste sofort wieder in ihre ursprüngliche
Lage zurück; kranke haben infolge der Durchwach¬
sung des Schaftes durch Pilzmyzelien ihre Elastizität ein-
gebüßt und brechen ab oder verharren in der ver¬
änderten Stellung. Auf diese Weise gelingt es oft,
Mikrosporieherde zur Ansicht zu bringen, die eine Gruppe
von einigen Härchen umfassen und Linsengröße kaum er¬
reichen.
1st einmal die Aufmerksamkeit auf einen solchen
kleinen, klinisch durch seine minimale Schuppung fast
nicht auffallenden Fleck gerichtet, dann ist es ein Leichtes,
in den verdächtigen Haaren mikroskopisch Pilzelemente
nachzuweisen.
Es gibt keine andere durch Pilze bedingte Haarkrank¬
heit, bei der die Erreger in so ungeheuren Mengen sich
finden, wie bei der Mikrosporie. Während wir in Fällen
von gewöhnlichem, durch die gemeinen Trichophytonarten
bedingten Herpes tonsurans des Kopfes gezwungen sind,
die befallenen, im Niveau der Haut abgebrochenen und
unter den Krusten verborgenen, S-förmig gekrümmten
Haarstümpfe mühsam zwischen noch gesunden Haaren her¬
auszusuchen, brauchen wir hier nur mit der Pinzette zu¬
zufassen ; ein ganzes Büschel kranker Haare folgt schmerz¬
los einem leichten Zuge.
ln krassem Gegensatz zu der enormen Menge der
Krankheitserreger steht die geringe entzündliche Reaktion
des Gewebes. Es ist überhaupt in der Pathologie der Hypho-
myzetenerkrankungen ein immer wiederkehrendes Gesetz,
daß die Zahl der nachweisbaren Pilzelemente im verkehrten
Verhältnis sieht zu ihrer Virulenz.
Pityriasis versicolor und Mikrosporie zwei rela¬
tiv harmlose und oberflächliche Hautaffektionen — zeigen
zahlreiche mikroskopisch leicht nachweisbare Sporen
und Myzelien und verursachen eine geringe Gewebsreak-
tion, die tiefen Trichophytien und die Sporotrichose erzeu¬
gen Abszesse und große Granulationsgeschwülste,
lassen aber ihre hyphogene Entstehung oft nur durch Kul¬
tivierung des Eiters erkennen.
Die außerordentliche Sporemnenge, die in den Haaren
und Schuppen der an Mikrosporie leidenden Kinder ent¬
halten ist, erklärt auch die leichte Uebertragbarkeit auf dis¬
ponierte Individuen. Empfänglich für das Microsporon Au¬
douini ist die fette, leicht schwitzende Kopfhaut der Kinder.
Dort siedelt sich der Pilz in erster Linie an und breitet
sich dann mitunter auch auf unbehaarte Körperstellen aus.
Besonders merkwürdig ist in dieser Hinsicht Fall XII,
weil der kleine Patient eine vollkommen intakte Kopfhaut
aufwies und nur im Nacken, an der Haargrenze, einen
Mikrosp o ri eh erd da r bo t .
Die Tatsache, daß die Kopfhaut des Erwachsenen gegen
den genannten Pilz refraktär ist, scheint mit den tiefgrei¬
fenden anatomischen und funktionellen Veränderungen zu¬
sammenzuhängen, welche das Hautorgan durch die innere
Sekretion der Geschlechtsdrüsen erleidet.
Die interessanten Versuche Blochs, der mikrospo¬
riekranke Mädchen mit Üvarialtabletten behandelte, sind
leider resultatlos verlaufen.
Sämtliche Kinder wurden an unsere Klinik aufgenom¬
men und werden derzeit von Herrn Priv.-Doz. Freund mit
Röntgenstrahlen epiliert. Wir hoffen, auf diese Weise un¬
sere kleinen Patienten definitiv zu heilen und die Epide¬
mie im Keime zu ersticken. Auf welche (Weise der erste
beobachtete Fall (E. F.) mit Mikrosporie infiziert wurde,
konnten wir leider nicht eruieren. Die Tendenz der in
Paris einheimischen Hyphomyzetenerkrankungen — der
Mikrosporie und der Sporotrichose — sich von Westen
nach Osten auszubreiten, ist unverkennbar und bietet ein
interessantes und unerklärbares Problem für die Klinik so¬
wohl als auch für die Epidemiologie der menschenpatho¬
genen Fadenpilze.
Aus der pädiatrischen Klinik am Kaiser Franz Joseph-
Kind er spitale in Prag. (Vorstand: Prof. Ganghofner.)
Adenoiditis acuta; ein Beitrag zur Lehre vom
Drüsenfieber.*)
Von Dr. Felix Sclileißuer.
Es sei mir gestattet, heute in rein klinischer Beleuch¬
tung auf ein Krankheitsbild hinzuweisen, das zwar wieder¬
holt schon beschrieben, jedoch wohl nicht immer richtig
gedeutet wurde; im Streite über die richtige Erklärung des
nicht immer eindeutigen und klar ausgesprochenen Befundes
hat man wohl auch zuweilen daran gezweifelt, daß die Sym¬
ptome zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefaßt wer¬
den können und so scheint langsam das Krankheitsbild, des
Drüsenfiebers in Vergessenheit zu geraten; in den meisten
Lehrbüchern findet es keinen Platz, in der Literatur wird
es kaum mehr erwähnt und die jüngere Aerztegeneralion
kennt es kaum anders, als dem Namen nach, der ihr nichts
bedeutet; so ist es vielleicht schon wegen der praktischen
Wichtigkeit der Affektion gerechtfertigt, wenn ich wieder auf
sie zurückkomme.
Unter den häufigen kurzdauernden „ephemeren“ Tem¬
peratursteigerungen, die im Kindesalter so oft auftreten, ohne
daß wir immer ihre Ursache genau anzugeben wüßten, findet
man häufig folgendes Bild : Ein Kind erkrankt plötzlich, aus
voller Gesundheit, ohne irgendwelche Vorboten, unter be¬
trächtlichem Fieber von 38-5 bis 40 °, selten darüber. Manch¬
mal ist das Kind etwas müde, zuweilen fehlt auch dies, das
Kind ist ganz munter und spielt; die Mutter weiß kein
klinisches Symptom als das Fieber anzugeben, auch das
Kind klagt kaum über irgendwelche Beschwerden. Die Unter¬
suchung der Thorax- und Abdominalorgane ergibt keinen
pathologischen Befund. Auch die Inspektion der Mund¬
schleimhaut zeigt das gewohnte Bild ; die Tonsillen sind —
besonders bei kleinen Kindern — nicht immer vergrößert.
Bei genauem Zusehen findet man häufig an dem vorderen
Gaumenbogen einen schmalen, dem freien Rande parallel
verlaufenden Streifen etwas gerötet und dunkler gefärbt.
Drückt man nun stärker auf die Zunge und läßt das Kind
würgen, so sieht man hinter dem Gaumensegel ein breites
Band von zähen, glasig- eitrigen Schleimmassen aus dem
Nasenrachenraum hervorquellen, das sich die hintere Pha-
*) Nach einem Vortrag im Verein deutscher Aerzte in Prag
27. Januar 1911.
Nr. -9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Bll
rynxwand entlang herabzieht, die in ihrer Totalität dunkel¬
rot. verfärbt und etwas geschwollen erscheint; manchmal
sieht man diese auch mit lebhaft geröteten, vorspringenden
Follikeln besetzt. Ganz charakteristisch aber und niemals
fehlend findet sich eine deutliche Schwellung jener llals-
lymphdrüsen, die entlang dem hinteren Rande des Sterno-
kleidomastoideus liegen; sie werden erbsen- bis bohnen¬
groß, selten haselnußgroß, rollen unter dem palpierenden
Finger, fühlen sich hart, festelastisch an und waren in den
Fällen, die ich beobachten konnte, niemals schmerzhaft.
Oft ist schon aim nächsten Tage das Fieber wieder geschwun¬
den, zuweilen dauert es in unregelmäßiger Weise mehrere
Tage an, ohne daß dem alarmierenden Fieberanstieg weitere
ernstliche Symptome gefolgt wären; das subjektive Befinden
des Kindes bessert sich schnell, die Agilität, Appetit und
Schlaf kehren, wenn sie überhaupt gestört waren, rasch
wieder. Die Rachenaffektion verschwindet in kurzer Zeit,
nur die Drüsenschwellung dauert noch durch einige Zeit,
an und bildet sich nur langsam in einigen Wochen zurück ;
meist bleibt eine geringe Schwellung der betroffenen Drüsen
als Residuum zurück.
Ein ähnliches Krankheitsbild hat vor mehr als
20 Jahren Pfeiffer unter dem Namen Drüsenfieber be¬
schrieben; ihm schloß sich sofort Heubner an, in den fol¬
genden Jahrein wurde in reichlicher Literatur eine Anzahl
ähnlicher, aber untereinander nicht immer gleichartiger,
Bilder beschrieben, die zwar 'die Symptomatologie der Krank¬
heit, zu erweitern schienen, sie aber mehr verwirrten, als
sie klarstellten. Was Pfeiffer als Drüsenfieber bezeichnet
wissen wollte, war eine akute, kontagiöse, mitunter in Haus¬
epidemien auftretende Infektionskrankheit, die er als spe¬
zifische Erkrankung, als morbus sui "'generis auffaßte ; sie
war, wie Heubner sich ausdrückte, nicht als lokale Drüsen¬
affektion anzusehen, sondern Ausdruck einer allgemeinen
Erkrankung. Bei den Patienten Pfeiffers fand sich viel¬
fach einleitendes Erbrechen, Schiefhaltung des Kopfes, her¬
vorgerufen durch Schmerzhaftigkeit der befallenen Drüsen,
Gliederschmerzen, Schmerzen im Unterleib, die auf eine
supponierte Mitbeteiligung und Schwellung der mesente¬
rialen Lymphdrüsen zurückgeführt wurden und schließlich
als wichtiges Symptom bei den länger dauernden Fällen
Vergrößerung der Leber und Milz. Heubner beschrieb im
Anschlüsse an die Originalmitteilung, zwei Fälle, bei denen
er im Gefolge der fieberhaften Drüsenschwellung das Auf¬
treten von Nephritis beobachtet hatte.
Die eben erwähnten ernsteren Symptome konnte ich
in meinen Fällen niemals verzeichnen; ich muß daher vor¬
läufig davon absehen, die von mir beobachtete Affektion
mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber für identisch zu er¬
klären, doch sind sicherlich in der Literatur viele Fälle,
die nur die leichteren Symptome zeigen, als Drüsenfieber
angesprochen und beschrieben worden.
Analysieren wir jenes Krankheitsbild, von dem ich
im Eingang meiner Ausführungen sprach, so kommen wir
von zwei Seiten her zu dem Schlüsse, daß es sich in der
Hauptsache um eine Erkrankung im Nasenrachenraum han¬
deln muß. Einmal zeigt uns schon die Inspektion die aus
dem Nasenrachenraum hervordrängenden Schleimmassen,
gewöhnlich sehen wir auch die Veränderung der hinteren
Rachenwand. Wir können häufig erheben, daß die Kinder
bei Nacht schnarchen, was ja meist durch Veränderungen
im Nasenrachenraum hervorgerufen wird; oft hören wir
auch, daß die Kinder mit gaumiger „toter“ Sprache sprechen,
wobei dieses „geschlossene Näseln“ durch die Verengerung
oder Versperrung des Nasenweges für die ausströmende Luft
entsteht. Sehr häufig konstatieren wir auch den bekannten
Foetor ex ore. Und in jenen Fällen, in denen man sich
entschließt, auf der Höhe der Erkrankung den Nasenrachen¬
raum digital zu untersuchen — ich gestehe, daß ich es auf
der Höhe der Erkrankung nur sehr ungern tue — wird
man kaum jemals die Vergrößerung der adenoiden Gebilde
vermissen; die Besichtigung durch die Rhinoscopia posterior
stößt, selbst wenn man sie von geübten Untersuchern vor¬
nehmen läßt, namentlich bei kleinen Kindern auf unüber¬
windliche Schwierigkeiten; vielleicht werden uns die neu
konstruierten Pharyngoskope von Hayes und Fl at au hier
ersprießliche Dienste leisten können.
Anderseits wissen wir — besonders aus den anato¬
mischen Untersuchungen von Most — daß es -die Lymph¬
gefäße der hinteren Rachenwand und die der angrenzen¬
den seitlichen und oberen Teile des Schlundkopfes sind, die
von der Mitte der hinteren Pharynxwand aus zu den Glan¬
dulae pharyngeales laterales führen, die ihrerseits durch
zahlreiche Anastomosen mit den zervikalen Drüsen in Ver¬
bindung stehen. Ebenso können wir auch schon klinisch
feststellen, daß bei Erkrankungen im Nasenrachenraum die
nuchalen Drüsen anschwellen, während bei Affektionen der
Tonsillen zunächst die am Unterkieferwinkel belogenen an-
gulären, bei Erkrankung der Zungen- und Lippenschleim¬
haut die submentalen Lymphdrüsen betroffen werden.
Wir haben danach also die Berechtigung anzunehmen,
daß die Anschwellung der Drüsen nur eine sekundäre
ist; als primäre Krankheitsursache ist, wie auch Hoch¬
singer, Trautmann und andere Autoren annehmen, die
Erkrankung des adenoiden Gewebes im Nasenrachenraum
anzusehen. Es scheint also nicht zweckmäßig, die Krank¬
heit. Drüsenfieber zu benennen, da wir ja auch sonst trachten,
nicht ein nebensächliches Symptom, sondern die Hauptsache
im Namen hervortreten zu lassen, so wird es sich auch
hier empfehlen, auf den primären Krankheitsherd hinzu¬
weisen und die Affektion etwa nach der Nomenklatur der
Franzosen als Adenoiditis acuta zu bezeichnen; Trautmann
hat den Namen Angina pharyngea vorgeschlagen; empfeh¬
lenswert wäre auch der Name Epipharyngitis ; doch wird
es wohl, um nicht noch mehr Verwirrung in die Namen¬
gebung hineinzutragen, am besten sein, an dem Namen
Adenoitis festzuhalten .
'
Ueber das Wesen der Erkrankung können wir uns
leichter eine Vorstellung machen, wenn wir daran denken,
daß ja schon normalerweise beim Neugeborenen in die
Schleimhaut des Rachendaches reichliches adenoides Ge¬
webe eingelagert ist, das gemeinsam mit den gleichartigen
Gaumentonsillen unter dem Namen „lymphatischer Rachen¬
ring“ ein einheitliches Ganzes bildet. Es ist also nicht
verwunderlich, wenn hier, unter denselben Verhältnissen
die Rachenmandel alle Krankheitserscheinungen darbietet,
wie wir sie an den Tonsillen, wo sie der Inspektion leicht
zugänglich sind, fast täglich als Anginen zu sehen Gelegen¬
heit haben. Namentlich viel Aehnlichkeit hat die Adenoiditis
mit jenen Formen, die Rudolf Fis Chi als chronisch rezidi¬
vierende, exsudative Anginen beschrieb. Denn wie diese,
wiederholt sich die Affektion bei demselben Kinde in ver¬
schiedenen, oft nur wenige Wochen betragenden Intervallen,
um in späteren Jahren meist seltener zu werden. Auch
hier ist eine zweifellose Heredität und familiäres Auftreten
zu verzeichnen ; befragt man die Eltern, so erhält man häufig
die Antwort, daß Geschwisterkinder dieselben Symptome
zeigen; dabei scheint sich die Krankheit häufiger durch
die Mutter als durch den Vater zu vererben.
Ein beträchtlicher Teil der Kinder zeigt jenen Typus,
der gewöhnlich als lymphatisch bezeichnet wird : die Kinder
sind, dick, pastös, haben ein reichliches Fettpolster, ge¬
ringen Turgor der Muskulatur und sehen dabei blaß aus.
Sehr häufig zeigen sich auch jene Symptome, die Czerny
unter dem Begriff der exsudativen Diathese zusammen¬
gefaßt wissen will; außer den schon genannten Symptomen
.findet man häufig die Lingua geographica, bei kleinen Kin¬
dern noch Milchschorf und Lichen urticatus, gelegentlich
auch als Ausdruck der Schleimhauterkrankung Neigung zu
häufigen diffusen Bronchitiden; es liegt die Vermutung nahe,
daß die Schleimhaut, des Respirationstraktes dieser Kinder
vulnerabler, gegen äußere Schädlichkeiten weniger wider¬
standsfähig ist und daß auch das häufige Auftreten der
Adenoiditis nur als Ausdruck dieser partiellen gemin
derten Widerstandsfähigkeit zu betrachten ist ; inwieweit hier
angeborene, wie weit erworbene Schädlichkeiten in krage
312
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
kommen, läßt sich dabei nicht entscheiden; einige therapeu¬
tische Erfahrungen, von denen noch die Rede sein wird,
sprechen dafür, daß die Anomalie beeinflußbar ist.
Wenn ich nun nochmals zur Klinik der Adenoiditis zu¬
rückkehre, so möchte ich bezüglich des Alters bemerken,
daß ich auch schon Kinder im ersten Lebensjahre erkranken
sah; hier sind die Störungen des Allgemeinbefindens häufig
recht stark ausgesprochen, so daß sie oft ernstliche Sorgen
erwecken. Zuweilen finden sich dabei auch schleimig -eitrige
Stühle, die von französischen Autoren (Roux und Josse-
rand, Cf ui non) direkt auf die Erkrankung bezogen wer¬
den. Im Laufe der Jahre läßt gewöhnlich die Intensität, und
die Zahl der Attacken nach: es mag das wohl darauf be¬
ruhen, daß beim Neugeborenen die Lymphgefäße relativ
weiter, das Kapillarnetz diohtmaschig und reich entwickelt
ist und mit zunehmendem Alter bedeutend enger und spär¬
licher wird ; demselben Schicksal unterliegen die Lympli-
drüsen (AI o s t). Ob auch Erwachsenei an der Affektion leiden,
darüber fehlt mir die Erfahrung, doch scheint sie nach der
rhinologischen Literatur auch in späteren Jahren noch vor¬
zukommen.
Die Diagnose zu stellen, ist, wenigstens am ersten
Tage, nicht immer leicht möglich; die Restimmtheit ergibt
sich meist erst während und durch den Verlauf. Das Fieber
läßt uns natürlich oft an den Beginn eines akuten Exan¬
thems oder an eine Erkrankung des Respirations- oder
Magendarmtraktes denken ; bei Säuglingen werden zuweilen
die Symptome eines Retropharyngealabszesses vorgetäuscht.
Auch bei längerem Andauern des Fiebers, das sich zuweilen
über mehrere Tage erstreckt, wird man oft an der Diagnose
unsicher werden; häufig wiederkehrende Attacken mit ge¬
ringen Temperatursteigerungen lassen zuweilen den Ver¬
dacht einer tuberkulösen Infektion aufkommen, der sich
aber dann als grundlos erweist. Bei öfteren Wiederholungen
der Attacken, die fast nie fehlen, ist natürlich die Diagnose
viel leichter; auch hier ist selbstredend immer eine genaue
Untersuchung des ganzen Patienten notwendig, um nicht
unangenehmen Ueberraschungen zum Opfer zu fallen. Die
Drüsenanschwellungen bei Angina und entzündlichen Pro¬
zessen des Mundes, sowie die Parotitis unterscheiden sich
schon durch ihre Lokalisation; die postskarlatinösen Lymph¬
adenitiden, die in der Literatur des Drüsenfiebers immer
wieder herangezogen werden, dürften wohl zu diagnosti¬
schen Irrtümern keinen Anlaß geben. Verwertbar für die
Diagnose ist audli die eigentümliche festelastische Konsistenz
der indolenten derben Drüsen.
Von Komplikationen der Erkrankung habe ich wenig
zu berichten; manchmal sieht man im Beginn etwas schiefe
Haltung des Kopfes, hervorgerufen durch den Druck der
Drüsen, manchmal kommt als Folge der Erkrankung des
Rachens ein Katarrh der großen Luftwege ; gewöhnlich läuft
flic Affektion glatt in wenigen Tagen ab; einmal sah ich
im Anschlüsse eine Otitis media auftreten; eine Nephritis
konstatierte ich niemals.
Ueber die Aetiologie läßt sich kaum sicheres fest¬
stellen; man kann nicht einmal Erkältung als Ursache mit
Sicherheit angeben. Zur bakteriologischen Untersuchung der
Drüsen ergab sieb niemals die Gelegenheit ; im Rachen¬
schleim fanden sich neben der vielgestaltigen Flora der
Mundhöhle gewöhnlich auch' noch Staphylokokken und
Streptokokken, deren Vorhandensein uns aber noch nicht
berechtigt, ihnen eine ätiologische Rolle anzuweisen.
Zum Schlüsse noch einige Worte über die Therapie:
Ich halte ein aktiveres Eingreifen überhaupt nicht für not¬
wendig; die Drüsenschwellung geht ganz spontan zurück.
Wer sich zu einer Behandlung veranlaßt sieht, wird mit.
Frießnitzumschlägen um den Hals nichts schaden. Gurge¬
lungen erscheinen mir ganz zwecklos, eher haben Ausspritz¬
ungen mit einem Siebansatz, der das Wasser verteilt oder
\ erordnung von Formaminttabletten einen Zweck; die rhino¬
logischen Lehrbücher empfehlen Einträufelungen von 1 bis
2%igem Mentholparaffin in die Nase, was zuweilen von
Nutzen scheint. Von einer lokalen Behandlung der adenoiden
Vegetationen während der Attacke möchte ich abraten; im
freien Intervall wird man zuweilen gezwungen sein, die
Rachenmandel exstirpieren zu lassen, gewöhnlich wird da¬
durch Zahl und Intensität der Anfälle verringert, doch kann
sich immer noch in den stets zurückbleibenden Resten des
adenoiden Gewebes Gelegenheit zur Neuinfektion darbieten.
Von der Anschauung ausgehend, daß sich die Affektion
gerade bei pastösen, „exsudativen“ Säuglingen schon vor-
findet, habe ich in diesen Fällen versucht, durch Aenderung
der Diät und Einschränkung der Nahrungsmenge die Kon¬
stitutionsanomalie zu beeinflussen; soweit man therapeu¬
tische Erfolge überhaupt mit Sicherheit beurteilen kann,
habe ich den Eindruck gewonnen, daß die Attacken viel
seltener und schwächer wiederkehrten; den Kindern wurde
täglich höchstens ein halber Liter Kuhmilch und soweit, an¬
gängig, vegetabilische Diät verabreicht; ich möchte das Ver¬
fahren zur Nachprüfung empfehlen.
Literatur.
R. Fischt, Jahrbuch für Kinderheilkunde 1900, Bd. 51, S. 326.
Heubner, Jahrbuch für Kinderheilkunde 1889, Bd. 29, S. 262. -
Hoch singer, Wiener med. Wochenschr. 1902, Bd. 52, S. 257, 316,
368. - Korsakoff, Archiv für Kinderheilkunde 1905, Bd. 41 u. 42.
■Lublinski, Zeitschr. für klin. Medizin 1902, Bd. 67, S. 170. —
A. Most, Archiv für Anatomie und Physiologie 1908. - E. Pfeiffer,
Jahrbuch für Kinderheilkunde 1889, Bd. 29, S. 257. - Roux und
Josser and, Revue mensuelle des maladies de l'enfance 1906, Bd. 21.
S. 351. — Traut mann, Jahrbuch für Kinderheilkunde 1904, Bd. 60,
S. 503. (Hier auch ausführliches Literaturverzeichnis.). — Trautmann.
Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 23.
Diskussion.
Ein Beitrag zur Frage der Funktion des
quadrizepslahmen Beines.*)
Von Dr. Oskar Semeleder.
Gelegentlich der Vorführung von Patienten mit Quadrizeps- ■
lähmung, welche trotz ausgesprochenem Genu flexuin gehen
konnten, suchte ich an einem Experimente den Nachweis zu er¬
bringen, daß das Kniegelenk am lahmen Beine sich unter ge¬
wissen Bedingungen bei Belastung anders verhält, als. wir bisher
nach den bekannten Lehren anzunehmen gewohnt sind.
Da bei der Diskussion behauptet wurde, ich hätte mich
hei meinen Ausführungen an bereits vorhandene Arbeiten, die
dieses Verhalten erschöpfend behandeln, „angeschlossen“, sehe
ich mich veranlaßt, den Nachweis zu erbringen, daß diese Be¬
hauptung eine irrig© ist.
Die bisher übliche Anschauung über das Verhalten des
Kniegelenkes bei Belastung ergab sich aus den Vorträgen Volk¬
manns in folgender Weise. Er erklärt die Entstehung des Genu
recurvatum am paralytischen Knie „dadurch, daß die Kranken
heim Gehen sich möglichst ohne den Quadriceps zu behelfen
suchen. Sie gehen genau, wie ein am Oberschenkel Amputierter,
der einen künstlichen Fuß trägt. Der Mechanismus der meisten
künstlichen- Füße für Oberschenkelamputierte ist aber ein sehr
einfacher: ln einer Hülse, die sich gegen die Hinterbacke und
dein Sitzknorren stützt, steckt der Stumpf. An der Hülse ist ein
im Knie mittels eines Scharniers beweglicher Unterschenkel mit
Fuß befestigt. Das Scharnier ist so eingerichtet, daß es das
Knie wohl zu beugen, aber nicht weiter als bis zu 180° zu
strecken gestattet. Ist die1 volle. Streckung erreicht, so greift eine
Hemmung ein, wie dies ja auch am natürlichen Knie stattfiudet.
Sie haben also eine Vorrichtung, wie etwa an jedem Taschen¬
messer.
! ni nun zu verstehen, wie der Amputierte mit diesem
einfachen Apparate geht, würGF" dieses aller Muskelkräfte bare
Kniegelenk beugt und streckt, und unter welchen Voraussetzungen
er die1 ganze Körperlast auf dem künstlichen Fuße ruhen lassen
kann, nehmen Sie ein Taschenmesser in die Hand und stützen
Sie es mit der Spitze auf den Tisch, den Rücken dos Messers von
sich abgewendet. Die Klinge entspricht dein Unterschenkel, das
Schloß dem Knie, der Griff dem Oberschenkel des künstlichen
Beines: Ihre Faust, die sich auf den Griff stützt, dein Körper
des Amputierten. Sie können jetzt, wie Sie sofort übersehen,
- - * ! { *
[tf-SjU) Erwiderung auf die Diskussionsbemerkungen des Privatdozenten
Dr. Max Reiner im Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom
18. November 1910. Wiener klin. Wochenschr., Nr. 47,
313
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
durch kleine Abänderungen der Druckrichtung die Klinge
im Schlosse sich bewegen lassen. Es kommt alles darauf an,
wie die Last, die durch den Druck Ihrer Hand repräsentiert
wird, zu dem Stifte im Schloß steht, um den sich die Klinge
bewegt. Fällt die Last hinter ihm, d. h. auf der Seite der
Schneide herunter, so klappt das Messer, wenn Sie zu stark
drücken, zu; fällt sie vor dem Stifte herab1, so öffnet es sich
und wenn es vollständig geöffnet ist, können Sie sich mit voller
(lewalt auf den Griff legen.
Ebenso der Amputierte mit seinem künstlichen Fuß. Will
er die Körperlast auf dem künstlichen Fuße ruhen lassen,
so muß die Schwerlinie stets vor dem Gelenk herunterfallen.
Versieht er dies, so knickt das Bein sofort unter ihm zusammen
und er stürzt zu Boden. Daher werde beim künstlichen Beine
das Scharnier am Knie möglichst weit nach hinten gesetzt und
absichtlich in die Stellung des Genu recurvatum eingestellt."
Nach Ansicht Volkmanns ist also, kurz gesagt, für die
Beugung oder Streckung des Knies die Druckrichtung und die
Lage des Knies zu dieser maßgebend. Beim Ruhen auf dem
kranken Beine (in welchem Falle Druckrichtung mit Schwer¬
linie Zusammenfalle}!, resp. Drucklinie mit Schwerlinie identisch
sind) müsse die Schwerlinie vor dem Knie herabziehen, wenn
es standfest sein soll. In eine weitere Erörterung der mechani¬
schen Verhältnisse und Vorgänge, etwa unter Hinweis auf mec ha¬
nische Gesetze, hat sich dabei Volkmann nicht eingelassen.
Sehen wir bei diesen Ausführungen von allem Konkreten
ab, so ist ihr Sinn folgender: Werden zwei Stäbe, welche durch
ein Scharniergelenk miteinander verbunden sind, unter Druck
gebracht, so wird sich da:s Geleink von der Drucklinie, respektive
Schwerlinie) entfernen. Wird dabei das Gelenk in seiner Be¬
wegung gehemmt, so sind die beiden Stäbe, solange der Druck
wirkt, als gegenseitig fixiert zu betrachten. Die Drucklinie, auf
die wir später noch zu sprechen kommen, ist dabei jene Linie,
welche der Druckrichtung entspricht, in der die auf das mecha¬
nische System wirkende Kraft zum Ausdrucke kommt.
Fig. L Fig. 2.
Die Art des von mir in der k. k. Gesellschalt der Aerzte
voiigeführten Experimentes ist nun aus den Figuren 1 und 2
ersichtlich. Fig. 1 stellt einen elastischen Stall dar, welcher
einzelne Krümmungen aufweist, die dem Hilft-, Knie- und Sprung-
geletnke entsprechen sollen. S bedeutet den Schwerpunkt des
menschlichen Körpers, welcher ungefähr in der Höhe des zweiten
Lendenwirbels liegt; die senkrechte Projektion des Schwerpunktes
(die Schwerlinie) geht durch das andere auf den Boden gestützte
Ende des Stabes. Belaste ich nun diesen Stab in der Richtung
der Schwerlinie, so wird das Knie im Sinne des Pfeiles
gestreckt. Genau so verhält sich dieser Stab, wenn ich an die
Stelle der Biegungen Gelenke mit elastischen Fixierungen (Federn,
Gummizügen) bringe (Fig. 2). Lege ich diesen Stab auf eine
horizontale Ebene und drücke die Enden in der Richtung der
durch die beiden Endpunkte gehenden Geraden, so wird das Knie
sich gleichfalls- strecken, obwohl die sogenannte Drucklinie, die
nun an die Stelle der Schwerlinie getreten ist, an der Beugeseite
des Kniegelenkes vorüberzieht. Das Kniegelenk entfernt sich
also nicht von der Schwerlinie, sondern nähert sich ihr. Die
Erklärung dieses der V olk mann sehen Ansicht nicht entspre¬
chendem Verhaltens ist darin zu suchen, daß die durch die Kom¬
pression oder Stauchung in Hilft- und Sprunggelenk erzeugte
elastische Spannung den \\ id erstand des Kniegelenkes überwindet
und es zur Streckung bringt. Dabei ist allerdings vorausgesetzt,
daß auch das Kniegelenk elastisch fixiert ist und dadurch hei
der Belastung das Auftreten der Spannung in Hilft- und Sprung-
gelenk ermöglicht wird. Ist diese elastische Fixation des Knie¬
gelenkes nicht vorhanden, so wird sich der Stab trotz elastischer
Fixation des Hüft- und Sprunggelenkes im Knie beugen, also
sich so verhalten, wie V olk mann es seinen Hörern am Taschen¬
messer und am Kunstheine gezeigt hat.
Denken wir uns an die Stelle des Stabes in Fig. 1 ein
halbgeöffnetes Taschenmesser, konform dem geschilderten Volk¬
mannachen Experimente, mit der Spitze auf dem Boden im
Projektionspünkte der 'Schwerlinie aufgesetzt, die Drehungsachse
der Klinge (das Scharnier) an die Stelle des Knies und das Ende
des Griffes am die Stelle des Schwerpunktes S, so entspricht
hei fixiertem Hüftgelenke der oberhalb des Knies befindliche
Teil des Stabes dem Griffe des Taschenmessers (als dem einen
Hebelarme), der unter dem Knie befindliche der Klinge des
Taschenmessers (als dein anderen Hebelarme), denn die1. Ge¬
st alt der Hebelarme ist für die in Betracht kommenden mecha¬
nischen Vorgänge gleichgültig, vorausgesetzt, daß die je einen
Hebelarm bildenden 'Teile miteinander starr verbunden sind.
Bei Belastung müßte dieses Messer und damit auch der Stab
in Fig. 1 nach V olk m ann zusammenkhfypen. Das Knie müßte
sich beugen. Der elastische Stab in Fig. 1 verhält sich
nun aber im Experimente anders: das Knie streckt sich.
Elastische Fixation des Hü I t- und Sprunggelenkes vorausgesetzt,
kann also eine Kniegelenkskontraktur (ein fixiertes Kniegelenk)
durch Belastung auch dann noch eher- gestreckt, als ge¬
beugt werden-, wenn die Drucklinie (Schwerlinie) an
der Beugeseite des Gelenkes vorbei zieht.
Für die Quadrizepslähmung hei gleichzeitigem Genu flexum
gilt dasselbe, nur müssen wir uns dabei, da das Knie gewöhn¬
lich sehr leicht im Sinne der Beugung beweglich ist, verstellen,
daß die elastische Spannung im Hüft- oder Sprunggelenke (oder
in beiden) bereits im ersten Momente der Belastung vorhanden
ist und zur Geltung gelangt, bevor noch das Knie Zeit hat, der
Wirkung des Körpergewichtes zu folgen. Bloße elastische Fixa¬
tion des Hüft- und Sprnnggelenkes genügt nur dann, wenn der
Patient imstande ist, die drohende Beugung des Kniegelenkes
(vielleicht durch die oft auch hei schwereren Lähmungen mög¬
lichen minimalen Zuckungen des Quadrizeps) solange zu ver¬
zögern, bis die notwendige elastische Spannkraft in Hüft- und
Sprunggelenk aufgetreten ist. In diesem Augenblick ist
ein Genu flexum bei Quadrizepslähmung auch dann
belast# ngsfähig, wenn das Kniegelenk mit seiner
cf u ereil Gelonksaehse vor die Drucklinie. (Schwer¬
linie) zu liegen kommt.
Laut Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom iS. No¬
vember 1910 behauptet nun Priv.-Doz. Dr. Max Reiner . in den
üiskiissionsbernerkungen, meine Ausführungen deckten sich mit
der von ihm bereits im Jahre 1904 in der Zeitschrift für ortho¬
pädische Chirurgie niedergelegten Arbeit, und ich hätte mich
seinen Ausführungen „angeschlossen“.
Ich sehe mich veranlaßt, gegen diese Zumutung
Verwahrung ein zu legen; u. zw. besonders deshalb, da die
i n d i e s e r A r b eit v o r g e b r a c h t e n B e h a u p t u n g e n s i c li
auf vollständig irrigei Annahmen stützen.
Als verfehltes Beginnen muß es vor allem bezeichnet
werden, daß der Autor zur Erklärung der statischen Verhältnisse
sich den Patienten in zwei Teile zerlegt denkt und an den
beiden Teilen getrennt seine Betrachtungen vom mechanischen
Gesichtspunkte aus vornimmt.
Der erste Absatz, in welchem Priv.Doz. Reiner uns seine
Ansichten über die mechanischen Vorgänge bei der Belastung
eines Beines mit Quadrizepslähmung eingehend' mitteilt (Zeit¬
schrift für orthopädische Chirurgie, Bd. 13, S. 463), lautet wie
folgt :
„Es ist schon einleitend hervorgelioben worden, daß die
Funktion des Beines bei Quadrizepslähmung wesentlich vom
Kontrakturzustande der übrigen Gelenke desselben Beines be¬
einflußt wird. Es bestünde beispielsweise eine Beugekontraktur
im Hüftgelenke. Ist dieselbe gering, so kann sie der Patient durch
Lordose im Lumbalsegmehte vollständig kompensieren und die
Funktion des Beines wird kaum leiden. Denn durch die Lordose
wird der Schwerpunkt des Rumpfes nach vorne verlagert. Die
Schwerlinie fällt vor dein Kniegelenke herunter, wirkt also im
Sinne der Streckung auf dasselbe, ist diese Beugekoni raktur
größer, so wird sie nicht mehr vollständig kompensiert werden
können und ein Teil derselben bleibt auch beim Gehen manifest.
314
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
Jetzt wird in dem Momente, wo das vordere Bein aus der
Schwungphase in die Stützphase tritt, die Unterstützungsfläche
vor die Schwerlinie zu stehen kommen; die Schwerkraft wirkt
jetzt im Sinne der Beugung des Kniegelenkes und die Erhaltung
des Körpergewichtes wird erschwert oder gar unmöglich ge¬
macht.“
Wie man also aus der etwas unklaren Fassung dieses Ab¬
satzes und auch aus den späteren Ausführungen ersehen kann,
denkt sich der Autor dein Patienten in zwei Teile zerlegt. Der
eine Teil besteht aus Rumpf und Oberschenkel, der andere aus
Unterschenkel und Fuß. Reiner sucht uns nun, die mecha¬
nischen Vorgänge bei der Belastung an jedem dieser Teile für
sich getrennt zu erklären. Die Behauptungen, zu welchen dabei
Reiner kommt, sind weder theoretisch, noch experimentell vom
Autor nachgewiesen. Hätte dieser nur das kleinste einfache, auf die
zu untersuchenden Verhältnisse bezugnehmende Experiment vor¬
genommen, so hätte sich ihm ergeben müssen, daß zwei Körper,
welche mit einem Gelenke verbunden sind, sich ganz anders
verhalten, als jeder Körper für sich u. zw. besonders dann, wenn
dieses Gelenk nur eine einzige Bewegung zuläßt und Hemmun¬
gen besitzt, welche im Momente der Belastung oder durch die
Belastung das Gelenk unbeweglich machen können.
Der Autor hätte finden müssen, daß durch die Lordosie-
rung der Wirbelsäule der Schwerpunkt nicht nach vorne, son¬
dern nach hinten verlagert wird. Denn wenn ich z. B. einen
geraden Stab krumm biege, so wandert sein Schwerpunkt aus
der Masse heraus, auf die Seite der Konkavität und biege ich
diesen Stab zu einem Ringe, so liegt der Schwerpunkt in seiner
Mitte. Die Lordose der Wirbelsäule bringt daher die Sclnver-
linie nicht, wie Reiner glaubt, nach vorne, sondern nach
hinten und vermindert die Standfestigkeit, die Stützkraft des
Beines im Knie. Nicht die Unmöglichkeit der Kompensierung
einer etwa bestehenden Hüftkontraktur durch Lordose verhin¬
dert die Gehfähigkeit, sondern gerade die Kompensierung bringt
das Bein infolge Rückwärtsverlagerung des Schwerpunktes in
Gefahr, seine Standfestigkeit einzubüßen. Aus demselben Grunde
wird auch bei größerer Beugekontraktur die Schwerlinie nicht
durch die „manifest bleibende Kontraktur“, sondern der Mei¬
nung des Autors entgegen gerade durch die Aufrichtung des
Oberkörpers (Lordose) ungünstig verlagert, „so daß dann die
Unterstützungsfläche (der Autor dürfte damit, das untere Ende
des Oberschenkels meinen) vor die Schwerlinie zu stehen kommt“.
Wie wir weiter unten sehen werden, befindet sich der Autor
auch mit der Beurteilung dieses Umstandes, bzvv. Vorganges im
Irrtum.
An dieser Stelle will ich nur darauf hinweisen, daß der
Autor uns dabei über die Lage der wirklichen Unterstützungs¬
fläche am Roden ebenso im unklaren läßt, wie über das ent¬
sprechend den verschiedenen Phasen der Schrittbildung veränder¬
liche Lageverhältnis zwischen Schwerlinie, Knie und dieser Unter¬
stützungsfläche.
Der nächste Absatz auf S. 464 ist dem Triceps surae
und der Funktion, welche ihm beim Stehen zukommt, gewidmet.
Diese Ausführungen stammen nicht von Reiner1, sondern sind
bereits von Henke und anderen gegeben worden und sind in
den Lehrbüchern der Physiologie ebenfalls zu finden. — Die in
den darauffolgenden Zeilen versuchte Verwertung dieser Lehren
zur Aufklärung der mechanischen Vorgänge bei Belastung eines
paralytischen Beines, die versuchte Korrektur der Lehren Volk¬
manns muß jedoch als mißlungen bezeichnet werden. Ohne
jede Berücksichtigung der in den verschiedenen Phasen der
Schrittbildung in verschiedener Richtung befindlichen Druck¬
linien. ohne uns die Lage des Schwerpunktes1 jener Masse, welche
sich oberhalb des Knies befindet, entsprechend den Phasen der
Schrittbildung genauer zu bezeichnen, kommt der Autor zu
Schlüssen, in welchen er sich berechtigt glaubt, behaupten zu
können, daß die Lehren Volk man ns unrichtig sind und daß
seine eigenen Ausführungen eine Korrektur der Volkmann-
schen Ansichten bedeuten.
Wir finden auf S. 465 die in Fig. 3 wiedergegeWen(e
Zeichnung. Reiner schreibt dazu:
„Fassen wir also nun zunächst den Fuß und Unterschen¬
kel als starres System auf, bei welchem ein Drehpunkt im
Sprunggelenke nicht, existiert, so wirkt jetzt die Körperlast nicht
mehr im Sinne der Vorwärtsdrehung des oberen Tibiaendes, son¬
dern im Sinne der Rückwärtsneigung desselben und diese Ten¬
denz bleibt solange gewahrt, als sich die Schwerlinie des Kör¬
pers noch hinter dem neuen Drehpunkte befindet. Die durch die
Spitzfußstellung veränderte Mechanik des Fußes kommt dem
Kniegelenke zugute, so daß dasselbe bei Ouadrizepslähmung jetzt
auch dann noch gestreckt erhalten bleibt, wenn die Schwerlinie
nicht mehr vor der Achse desselben vorüberzieht! Dieses
alles gilt jedoch nur so lange, als der Projektionspunkt der
Schwerlinie b hinter dem Unterstützungs- oder Drehpunkt d
sich befindet. In dem Momente, als die Schwerlinie über diesen
Punkt nach vorne wandert, tritt wieder der umgekehrte Fall
ein.’ Die Schwerkraft wirkt im Sinne der Vorwärtsneigung des
proximalen Tibiaendes, also wieder im Sinne der Beugung des
Kniegelenkes.“
Zum Verständnis der in diesen Sätzen vargebrachten Anschau¬
ungen oder vielmehr zur Darstellung der in Wirklichkeit bestehen¬
den, von diesen Ansichten abweichenden mechanischen Vorgänge,
sei es mir geistattet, in möglichster Kürze dip bei der Belastung ein¬
tretenden mechanischen Vorgänge so zu erklären, wie wir sie uns
nach den bekannten Elementarbegriffen der Mechanik im Grund-
prinzipe vors teilen müssen.
Nehmen wir uns vor allem die den Ausführungen Reiners
entnommene Fig. 3 und zeichnen uns zur Schwerlinie den
dazugehörigen Massenschwerpunkt S, so kommen wir zur Fig. 4
und finden, daß der schematisch gezeichnete Körper des Pa¬
tienten (das mechanische System) sich nicht im Gleich¬
gewichte befind e t. V om Massenschwerpunkt S abwärts, ent¬
lang der Schwerlinie Sb, wirkt die Schwerkraft. Zerlegen wir
uns diese in der gebräuchlichen Weise in ihre Komponenten,
so finden wir, daß die eine Komponente als sogenannte Druck¬
linie auf den Unterstützungspunkt d gerichtet ist (Sd), wäh¬
rend die andere Komponente durch die Linie Sf dargestellt ist,
welche im Sinne einer Drehung der ganzen Masse um den
Kipppunkt d wirkt. Soll der Körper nicht nach hinten zurück¬
fallen, so muß dieser Komponente entgegengewirkt werden. Es ge¬
schieht dies, solange der Patient auf beiden Beinen steht, durch
die Stützkraft des anderen, „hinteren“ Beines oder, sobald dieses
vom Roden abgehoben ist, durch die der Masse erteilte, sogenannte
Beschleunigung, das ist jener Kraft, welche der in Bewegung
befindlichen, resp. in Bewegung gebrachten Masse innewohnt.
Bietet das mechanische System der Komponente Sd (in der
Richtung der Drucklinie) Widerstand, so gelangt das Bein in
der nächsten Phase des Schrittes in die Stellung der Fig. 6
und dann in die der Fig. 7. — Jn Fig. 6 liegt den Schwer¬
punkt senkrecht über dem Unterstützungspunkte d ; Drucklinie
und Schwerlinie fallen daher (wie beim Stehen auf einem Beine)
zusammen, während in Fig. 7 die Schwerlinie vor die Druck¬
linie und vor das Knie wandert. Aus Fig. 5 ist ersichtlich,
Fig. 7. Fig. 6. Fig. 5.
daß die Schwerlinie auch hinter dem Knie, ja sogar hinter der
Ferse liegen, kann u. zw. am Beginne der Belastung des- kranken
Beines, ohne daß die Lage der Drucklinie zum Knie
sich ändern würde! Gehau dasselbe gilt aber auch (voraus-
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
315
gesetzt, daß der Unterstützungspunkt am Boden der gleiche bleibt)
für das von Volk mann zum Vergleiche herangezogene künstliche
Bein. Auch bei diesem ist die Schwerlinie während der verschie¬
denen Phasen des Ganges einmal vor, einmal hinter dem Knie¬
gelenke zu finden und genau so, wie von Volkmann die Druck¬
richt ung, resp. Drucklinie verantwortlich gemacht wurde, so ist
diese auch im vorliegenden Falle auf das Verhalten des Knie¬
gelenkes von entscheidendem Einflüsse.
Gehen wir nun zurück zu den Ausführungen Reiners.
Er behauptet: Ist das Sprunggelenk fixiert, so wirkt die Körper¬
last im Sinne der Streckung des Knies. Jedoch nur solange, als
die Schwerlinie des Körpers sich hinter dem Unterstützungs¬
punkte d befindet. In dem Momente, als die Schwerlinie über
diesen Punkt nach vorne geht, kommt es zu einer Beugung des
Kniegelenkes. Aus Fig. 7 ist zu ersehen, daß diese Behauptung
nicht zutrifft. Die Schwerlinie liegt weit vor dem Unterstützungs¬
punkte d, ohne daß das Knie in Gefahr kommt, einzuknicken.
Wäre die Behauptung Reiners richtig, so könnte kein Mensch
mit einer im Knie beweglichen Prothese und auch keiner mit
Quadrizepslähmung gehen !
Wenn nun Reiner, auf einer solchen Grundlage aufbauend,
im Gegensätze zu Volkmann glaubt, behaupten zu können, haß
das gelähmte Knie auch dann gestreckt erhalten bleibt, wenn die
Schwerlinie nicht mehr vor der Achse desselben vorüberzieht,
so ist dies einfach unbegreiflich. Und wären auch die bisher
zitierten Ausführungen Reiners richtig, so ist dieser Schluß
unmöglich und durch nichts auch nur plausibel gemacht. Im
Gegenteile, der Autor läßt uns vollständig im unklaren über die
Lage der Schwerlinie, er identifiziert zu wiederholten Malen
irrtümlich die senkrechte Projektion des oberen Tibiaendes (des
Knies) mit der abhanden gekommenen Schwerlinie, er spricht
nichts über die Lageveränderung des Schwerpunktes während
der einzelnen Phasen der Schrittbildung und sagt uns über¬
haupt nicht, für welche Phase seine Ausführungen gedacht sind.
Stellen wir uns die Fig. 3 aus den Ausführungen Reiners
in die Stellung der Fig. 6, also in die nächste Phase über¬
geführt, vor, so sehen wir, daß, sobald die Kräfte sich im
Gleichgewichte erhalten, also in der Ruhelage oder Mittel¬
stellung, die Drucklinie Sd und die Schwerlinie Sb zusammen¬
fallen. Diese Drucklinie oder Schwerlinie, welche in Fig. 3 durch
das Knie ging, zieht nun aber in weitem Abstande vor dem
Knie herab und das Knie muß daher nach Volkmann
standfest sein! 1
Es ist daher ersichtlich, daß die Ausführungen Reiners
weder eine Ergänzung, noch eine Richtigstellung der Volkmann-
schen Auffassung ergeben, zumal sie dem Wesen und Sinne der
Volkmann sehen Experimente in keiner Weise gerecht werden.
Nach dem Vorgebrachten darf es uns nicht wundernehmen,
wenn wir in den Ausführungen Reiners gleich darauf fol¬
gende Sätze finden: „Deshalb geht auch der Vorteil der Spitz¬
fußstellung bei Quad r i zep s p ara 1 y s e wieder verloren, wenn es
sich um höhere Grade handelt; denn . jeder höhere Grad
von Spitzfußstellung fordert eine stärkere Vorneigung der
Tibia, so daß auch darum wieder das Kniegelenk und(l)
die Schwerlinie des Körpers vor den Unterstützungspunkt
gelangen würde.“
Es braucht wohl nicht erst gesagt zu werden, daß die ver¬
mehrte Spitzfußstellung mit der Stellung der Tibia nichts zu tun
hat. Ein einziger Versuch am eigenen Körper hätte genügen
müssen, die Unrichtigkeit dieser Ausführungen nachzuweisen und
hätte die Erkenntnis bringen müssen, daß eine vermehrte Spitz¬
fußstellung gar keinen Einfluß auf die Stellung der Tibia nimmt.
Maßgebend für diese ist die Stellung des Kniegelenkes, resp. sein
Kontrakturzustand. Die angebliche Lageveränderung des Knies
hat dabei selbstverständlich keine Verlagerung der Schwerlinie
zur Folge (entgegen der Meinung des Autors).
In ähnlicher Weise verhält es sich mit den Ansichten des
Autors über die Beschleunigung und „Elongation“ des Massen¬
schwerpunktes, welche wir im allgemeinen Teile- seiner Aus¬
führungen finden.
Reiner , schildert dort den Gang eines Patienten mit doppel¬
seitiger Quadrizepslähmung und sagt: „Beim Gange des Gesunden
geht die Schwerlinie im Momente des Auftrittes des vorschwingen-
den Beines nicht nur hinter der Achse des Kniegelenkes, sondern
hinter der Fer-se vorbei, wirkt also im Sinne der Vermehrung
der Beugung; dieser muß der Quadrizeps entgegenwirken. Als
statisches Problem aufgefaßt, ist diese Stellung auch normaler¬
weise nicht denkbar! Wie deckt nun unser Patient (mit Quadri¬
zepslähmung) den Ausfall? Einfach durch vermehrte horizontale
Heschleunigung und eine vermehrte vertikale Schwerpunkts-
olongation !“ — und zwar das alles nach Ansicht Reiners nur
zu dem Zwecke, um im! Knie nicht einzuknicken!
Ueberprüfen wir diese Ausführungen und zeichnen wir uns
diese Verhältnisse konform der Fig. 5, so sehen wir, daß die
Schwei linie sehr wohl hinter Knie und Ferse vorüberziehen
kann, ohne daß das Knie Gefahr läuft, zusammenzuknicken,
denn die Drucklinie, d. i. die einzig und allein in Betracht kom¬
mende Komponente der Schwerlinie, liegt noch vor dem Knie¬
gelenke. Die Annahme des Autors, das Knie würde durch die
Einwirkung der Schwerkraft am Beginne der Belastung in Ge¬
fahr sein, zusammenzuknicken und auch beim normalen Beine
läge in diesem Falle ein „undenkbares statisches Problem“
vor, ist also auch unrichtig. Auch für den Fall, als der Patient
mit der Ferse auftritt, wäre es wohl denkbar, daß die Drucklinie
vor das Kniegelenk zu liegen kommt. Daher braucht auch der
Patient mit beiderseitiger Quadrizepslähmung zur Erhaltung der
Standfestigkeit seines Beines keine „vermehrte horizontale Be¬
schleunigung seines Schwerpunktes“ und auch keine „vermehrte
Schw-erpunktselongation“, sondern er wird froh sein müssen, wenn
er die zur Fortbewegung seines Körpers nötige Beschleunigung
mit seinen jedenfalls auch nicht normal kräftigen Trizepsmuskeln
zuwege bringt.
Mit der Beschleunigung und der physiologischen Vertikal¬
schwankung des Massenschwerpunktes hat es übrigens eine ganz
andere Bewandtnis. Diese Verhältnisse sind im allgemeinen noch
nicht genügend aufgeklärt und manches am normalen Gange des
Gesunden erscheint uns heute noch rätselhaft.
Ich will derzeit auf diese Fragen, welche von allgemeinem
Interesse sind, nicht weiter -eingeben, hoffe aber, demnächst
durch Experimente die Richtigkeit neuer Ansichten nachweisen
zu können, welche vielleicht imstande sind, zur Aufdeckung und
Erklärung dieser unaufgeklärten Vorgänge beizutragen.
Nur das eine möchte ich nochmals betonen, daß weder diese
von Reiner erwähnte „vertikale Elongation (nämlich die Ilöhen-
schwankung) des Massenschwerpunktes“, noch seine angeblich
vermehrte horizontale Beschleunigung mit der Belastungsfähigkeit
des kranken Beines etwas zu tun hat.
Auch hier können wir sehen, wie der Autor infolge Nicht¬
berücksichtigung der Gesetze von Schwerkraft und Massenwir¬
kung, durch Außerachtlassung des Unterschiedes zwischen Schwer¬
linie und Drucklinie usw. zu einer Reihe von Voraussetzungen
und Schlüssen kommt, welchen wir Anerkennung und Verwertung
versagen müssen.
Die Beh auptung des Priv.-Doz. Dr. Max Reiner im
Protokoll der Diskussion, ich hätte mich seinen, in der zitierten
Arbeit niedergelegten wissenschaftlichen Begründungen „an¬
geschlossen“, welche die Lücken und Felder der Volkma n n-
seben Lehren angeblich längst aufgedeckt hätten, weise ich
daher zurück und kann es dem Urteil der Leser überlassen,
ob die ins Protokoll gebrachte- Bemerkung : „Es wäre
wohl kein zeitgemäßes Beginnen von meiner Seite, die Wider¬
legung der Volkmann sehen Erklärung mit längst (durch die
Arbeit Reiners) bekannten Argumenten neuerdings zu unter¬
nehmen“, am Platze war o-de-r nicht.
OEFFENTLICHE GESUNDHEITSPFLEGE.
Zahl und Verteilung der Aerzte in Oesterreich.
Von Dr. med. Oskar Klauber in Prag.
Soeben gelangte der 6. Jahrgang des1 „Aerztlichen Jahrbuches
für Oesterreich“, herausgegeben von Dr. Emil Fuhrmann in
Wien, zur Ausgabe. Dasselbe gestattet uns in ähnlicher Weise
wie der „Reichsmedizinalkalender“ für Deutschland die hiesigen
numerischen Aerzteverhältnisse festzustellen und die Verände¬
rungen in letzter Zeit kritisch zu betrachten. Für das letzte
Lustrum bieteh uns die erschienenen Jahrgänge das Material;
die k. k. Statistische Zentralkommission bringt in der , ^öster¬
reichischen Statistik“ alljährlich auch eine Uebersicht der Aerzte,
welche allerdings erst vier Jahre später zur Ausgabe gelangt;
diese diente als Grundlage für die Betrachtung der früheren
Jahre. !
In den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Län¬
dern gab es Ende 1910 13.202 Aerzte, gegenüber 12.426 zu Ende
des Jahres 1905. Hiebei sind die Militärärzte mitgezählt, weil
sie nicht nur einen Teil der Gesamtbevölkerung, die Militär¬
personen, ärztlich zu versorgen haben, sondern manchenorts auch
Zivilpraxis mitversehen.
316
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
Die Zahl der Aerzte hat also in den letzten fünf Jahren
um 6y*«/o zugenommen. Nach der Statistik der Zentralkommission
gab es in Oesterreich Aerzte:
1871 .
. 7091
1890 .
. 7.484
1875 .
. 7488
1895 .
8.891
1880 .
. 7552
1900 ‘ .
. 10.558
1885 .
. 7183
1905 .
. 11.704 (12.426 n. d. Jahrbuch)
(1887) .
. (7090)
1910 .
. 13.202 (nach dem Jahrbuch)
Nach einem vorübergehenden Rückgang der Aerztezahl in
den Jahrein 1880 bis 1887 ist seit 1888 eine ständige Vermehrung
zu beobachtein, welche, in den einzelnen Jahren etwas wechselnd,
w e i t ü her d i e Z u n ahme der B e v ö 1 k e run g h i n a u s g e h t.
Während von 1890 bis 1900 die Bevölkerung Oesterreichs um
9-4% zunahm, hat sich die Zahl der Aerzte in der gleichen Zeit
um 41-1% vermehrt, 1900 bis 1910 Avied-er um 18-2%, seit dem
Jahre 1887 im ganzen um 76%.
Diese Zunahme der Aerztezahl ist naturgemäß durch die
Steigerung des Medizinstudiums bedingt. Während die
Zahl aller Universitätshörer zusammen seit 1871 ein ständiges
Wachstum zeigt, begann 1880 ein vermehrter Zudrang zum Medi¬
zinstudium, welcher bis zum Jahre 1891 immer weiter bis zu
einer beängstigenden Höhe anstieg, so daß statt 13-8% nun¬
mehr 42-1% aller Studierenden Mediziner waren. Dementspre¬
chend stieg auch die Zahl der Promotionen.
Man kann rechnen, daß alljährlich etwa 1 • 8 °/'o der vor¬
handenen Aerzte absterben ; die Bevölkerungszahl nimmt jähr¬
lich rund 1% zu. so daß also ein Zugang von 3% an Aerzten
ausreichend sehr müßte. 1885 betrug demnach der Bedarf an
Nachwuchs von Aerzten etwa 215 im Jahre. Während 1881/82
195 promovierten, 1882/83 219, stieg die Zahl in den folgenden
Jahren rasch, um 1894/95 mit 857 den Höchststand zu erreichen;
von da ab 'sank sie langsam bis zum Jahre 1904/05 (375 Promo¬
tionen). In den Jahren 1885 bis 1904 sind 12.300 Mediziner zu
Aerzten promoviert Avorden, Avas einem Jahresdurchschnitte von
615 entspricht; es war also der Bedarf schon im Jahre 1904
um mehr als 7000 überschritten worden. Trotzdem hatte die
Anzahl der praktizierenden Aerzte nur um 4500 zugenommen.
Demnach muß ein großer Teil der Promovierten die Ausübung
der ärztlichen Praxis in Oesterreich unterlassen haben und Aveiters
von den alten Aerzten, mehr als der Sterblichkeitsquote entspricht,
aus der Praxis geschieden sein. Beides sind untragbare Zeichen
für die Ueberproduktion und die Unmöglichkeit der Existenz in¬
folge einer solchen.
Seit dem Jahre 1903/04 steigt aber die Zahl der Medizin-
st.udierenden wieder an. Trotzdem sich die Zahl der Aerzte
Oesterreichs in den letzten 20 Jahren b e i n a he verdoppelt h a t
und infolgedessen die jüngeren Lebensalter im Stande überwiegen,
so daß ein regulierender Abgang erst nach Dezennien zu erwarten
ist, beginnt bereits wieder jener unvernünftige Zudrang, Avelcher
erst vor kurzem den Aerztestand materiell tief heruntergebracht
hat, ohne daß es bisher gelungen wäre, die Schädigungen wieder
zu beseitigen.
Wie erwähnt, geht die Zunahme der Aerzte jener der Be¬
völkerung weit voran. Während 1889 durchschnittlich 3242 Ein¬
wohner auf einen Arzt kamen, waren es 1900 nur mehr 2477 und
1910 sind es nur noch 2175. Auf den Flächeninhalt berechnet,
kam in Oesterreich 1887 ein Arzt auf 42-3 km2, 1900 auf 28-4 km2,
1910 auf 22-7 km2 der Bodenfläche.
Diese für das ganze Reich berechneten Zahlen unterscheiden
sich wesentlich in den einzelnen Ländern und auch der er-
Avähnte enorme Zudrang von Aerzten in den Neunzigerjahren
verteilte sich verschieden auf die einzelnen Reichsgebiete.
Wien zeigte schon 1880 auf 1890, in Avelchen Jahren die
Aerztezahl in Oesterreich etwas zurückgegangen Avar, eine starke
Vermehrung der Aerzte (um 23%). Diese steigerte sich im fol¬
genden Dezennium bis auf 66%, die- Zahl der Aerzte von 1377
im Jahre 1890 stieg auf 2280 im Jahre 1900, während die Be¬
völkerung nur um 23% zugenommen hatte. Seit dieser Zeit
hat sich die Vermehrung der Aerzte in Wien auf mäßigere Grenzen
beschränkt; von 1900 bis 1905 sind noch 310 zugetwachsen,
1905 bis 1910 nur mehr 154, im Dezennium also 20-4%, Avas
ziemlich dem Bevölkerungszuwachs entsprechen dürfte.
Der zweite Strom von neuen Aerzten ergoß sich über
Böhmen, Mähren und Schlesien; hier nahm die Aerztezahl von
1890 bis 1900 um 53% (1289) zu, in den beiden Landeshaupt¬
städten Prag und Brünn aber um 80%, bzAv. 75%, indem sich
dort die Aerztezahl um 330 vermehrte. Auch in den Sudeterr-
ländem hat 1900 bis 1910 das Zuströmen von Aerzten bedeutend
nachgelassen, übersteigt aber noch Aveit die Bevölkerungszunahme.
Nur in Prag ist die Vermehrung der Aerztezahl auch in diesem
Dezennium unverhältnismäßig hoch ; sie betrag 1900 bis 1905
37%, 1905 bis 1910 27%. _ •
Das Gleiche: Avie für Prag gilt für die übrigen größeren
Städte des Reiches; so hatte Triest 1890 bis 1900 eine Zunahme
von 44% an Aerzten, aber nur 13% der Bevölkerung; Graz 60%
(bei 23% Eimvohnerzunahme), Lemberg 70% (auf 25%), Krakau
73% (auf 22%). Im Dezennium 1900 bis 1910 hat in Lemberg
die Aerztezahl um weitere 61%, in! Triest um 29%, in Krakau
um 21 % zugenommen, in Graz jedoch etwas abgenommen.
Der Rest -des Ueberflusses der Neunzigerjahre verteilte- sich
auf die einzelnen Länder; wo noch ein Platz zur Unterkunft war,
ließen sich die neuen Aerzte nieder; infolgedessen finden Avir
die größte Zunahme dort, avo die Aerzte bisher am spärlichsten
verteilt waren, auf dem Lande in Galizien und in der Bukowina, ln
erster cm betrug 1890 bis 1900 die Zunahme an Aerzten 40% (242;
bei 10% Bevölkerungszuwachs), in der Bukowina 75% ; aber auch
in den anderen Ländern wuchs die Aerztezahl (ausgenommen in
Dalmatien). Trotzdem in Galizien und in der Bukowina nur
ein minimaler Bruchteil (etwa 2%) der Bevölkerung kranken¬
versichert ist, also ein Bedürfnis, nach Aerzten durch die Kranken¬
kassengesetzgebung nicht -erst geschaffen worden war, sehen wir
auch hier die unverhältnismäßig« Vermehrung der Aerztezahl
als Zeichen der Ueberproduktion.
Als Folge derselben kam dann im nächsten Dezennium der
Rückschlag. Ueberall auf dem Lande, avo 1890 bis- 1900 ein
auffälliger Zugang von Aerzten zu verzeichnen war, ist derselbe
bedeutend gesunken, zum Teil sogar unter die Bevölkerungs-
zunalnne (Oberösterreich, Krain, Bukowina), ein Beweis dafür,
daß 'auf dem Lande die Existenzmöglichkeit für eine weitere Zahl
von Aerzten nicht vorhanden ist.
Der neue Zufluß lenkt jetzt in die Städte- ab, Avelche noch
immer Zunahmen Aveit über die Bevölke-rungsvennehrung auf-
av eisen. Weniger als Wien sind es jetzt die Landeshauptstädte
(außer Graz), ferner die größeren Städte des Reiches, denen das
neue Aerztematerial zuströmt. Wir sehen das aus folgender Zu¬
sammenstellung :
Einwohner 1900
Aerzte 1905
Aerzte 1910
Orte bis
Städte mit
20.000 bis
100.000 Einw.
Großstädte
Wien
Zusammen
20.000 Einw.
außer AA'ien
22,308.100
1.038.300
1 ,129.300
1,675.000
26,150.700
85-3'Vo
4'0°/0
4'3°/0
6-4%
100%%
6277
1287
1970
2892
12-426
50-5%
10-4 °/0
15-8®/,
23-3%
100%
6481
1408
2267
3046
13202
49-0%
10-7 °/0
17*2%
23-l°/o
100%
Die Zahl der Aerzte auf dem Lande nimmt also zugunsten
der großein Städte ab. Diese Landflucht der Aerzte hängt mit der
Zunahme der Spezialärzte zusammen. Da in Oesterreich
die Kassenpraxis noch an den wenigsten Orten den Spezialärzten
erschlossen ist, besteht für dieselben nur dort eine Existenzmög¬
lichkeit, avo eine genügend große private Klientel ein Tätig¬
keitsgebiet -eröffnet, das ist in den größeren Städten. Deshalb
findet sich die Zunahme- nicht nur in den Universitätsstädten,
avo ja die Zahl der als Hilfsärzte- Beschäftigten in den letzten
Jahren zurückgegangen ist, sondern auch in den größeren Städten
ohne Universitäten. Mit der fortschreitenden Erschließung der
Kassenpraxis werden wir bald den Zudrang auch bei den mittleren
städten auf treten sehen.
Betrachten wir nun -den jetzigen Stand der Aerzte in
I) esterreich, Avie ihn uns das Ende 1910 abgeschlossene Jahr¬
buch -gibt.
7oVil rlor A AV7.f A
Auf einen Arzt kommen
Niederösterreich . •
Oberösterreich . . .
Salzburg .
Steiermark . . .
Kärnten .
Krain .
Triest .
Görz und Gradiska .
Istrien .
Tirol .
Vorarlberg . . . .
Böhmen . . . .
Mähren .
Schlesien .
Galizien .
Bukowina . . . .
Dalmatien . . . .
Zusammen
3839
402
146
750
165
115
225
72
182
661
69
3264
1027
264
1675
170
176
13.202
940
5-2
2110
29-8
1510
48-9
1930
29-9
2290
62-6
4570
86-6
1010
—
3490
40-5
2090
27-2
1390
40-4
2130
37-7
2090
15-9
2560
21-6
2930
19-5
4860
46-9
4800
61-4
3600
72-9
2175
22-7
Wir sehen aus obiger
Zusammenstellung sofort die Häu¬
fung der Aerzte in Niederösterreich, weil Wien mehr als ein Viertel
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
317
sämtlicher Aerzt© Oesterreichs, wenm auch nur etwa ein Drei¬
zehntel der Gesamtbevölkerung des Reiches besitzt. Eine ähnliche
Häufung von Aerzten finden wir in den Landeshaupt- und Uni¬
versitätsstädten, den Kurorten usw., so daß die oben angeführten
Verhältniszahlen keinen richtigen Einblick über die Verteilung
der Aerzte in den einzelnen Kronländem gewähren. Ich habe
daher diese Orte bei den einzelnen Ländern in Abzug gebracht
und es ergaben sich dann folgende Zahlen:
Auf dem Lande in
Zahl der Aerzte
Auf einen
Einwohner
Arzt kommen
km-
Niederösterreich
. . 740
2080
26-4
Oberösterreich
. . 273
2790
439
Salzburg ....
. . 82
2320
8U8
Steiermark . . .
. . 424
3000
529
Kärnten ....
. . 11t
3160
930
Krain .
. . 61
7930
163-2
Görz und Gradiska
. . 41
5430
7U2
Istrien .
. . 77
4360
64-4
Tirol .
. . 347
2260
76-9
Vorarlberg . . .
. . 69
2130
37-7
Böhmen ....
. . 1885
3200
27-6
Mähren ....
. . 700
3440
3U7
Schlesien ....
. . 216
3450
23-8
Galizien ....
. . 749
10.000
1048
Bukowina . . .
86
8580
121-4
Dalmatien
. . 135
4500
95 1
Auf dem Lande ist also in Galizien, in der Bukowina und
in Krain die relative Aerztezahl am geringsten, die beste Ver¬
sorgung der Bevölkerung mit Aerzten hat Niederösterreich, Vor¬
arlberg, Tirol und Salzburg. Auf die Bodenfläche berechnet, sind
in : Krain die Aerzte am weitesten zerstreut, dann folgen die Buko¬
wina und Galizien; auch in Dalmatien, Kärnten und Salzburg
haben die Aerzte weite Umkreise zu besorgen. Am dichtesten
domizilieren die Aerzte in Schlesien, Niederösterreich und
Böhmen. Die Dichte der Aerzte lauft nicht proportional der
Bevölkerungsdichte (Einwohnerzahl auf den Quadratkilometer be¬
rechnet); vielmehr sind am spärlichsten bewohnt Salzburg, dann
Tirol und Kärnten ; am dichtesten Schlesien, ferner Böhmen,
Mähren mnd Galizien.
Betrachten, wir die in der letzten Zusammenstellung in
Abzug gebrachten Orte gesondert, so können wir in den K u r-
orten die Aerztezahl nicht auf die Einwohnerzahl beziehen.
Von den größeren hatten :
1905
1910
Karlsbad .
. 150
163
Aerzte
Meran und Umgebung .
. 53
76
»
Marienbad .
57
69
»
Baden bei Wien . . .
. 46
53
»
Franzensbad ....
. 48
50
»
Bozen-Gries .
. 27
37
»
Abbazia-Lovrana . . .
32
36
»
Der größten Vermehrung an Aerzten erfreuen sich derzeit
die Südtiroler Kurorte. In allen oben angeführten Orten zusammen
hat die Aerztezahl in den letzten fünf Jahren uin 170/'o zuge¬
nommen, 'in dein Südtiroler um 41°/o.
Von den größeren Städten Oesterreichs*) können wir
Pola nicht in Berücksichtigung ziehen, weil dort die Marineärzte
(auch die eingeschifften) mitangeführt sind. Für Prag ist die
bisher übliche Berechnung deshalb unbrauchbar, weil diese Stadt
mit ihren großen Vorstädten jetzt einen zusammenhängenden
Komplex bildet, dessen Aerzte in ihren Wohnstätten ungleichmäßig
verteilt sind; rechnet man aber die sechs großen Vorstädte mit
ein, so bekommt man ein richtiges Bild.
Ende 1910 kamen in
Olmütz .
Innsbruck ....
Lemberg und Krakau
Klagenfurt . ; . .
Graz .
Prag samt Vorstädten
Troppau ....
Brünn .
Wien .
Trient .
Reichenberg, Teschen
Laibach, Marburg .
Salzburg ....
Linz, Iglau, Stanislau
Görz, Przemysl . .
Pilsen .
Czernowitz . . .
Triest .....
Budweis ....
Aussig .
auf 1 Arzt
auf 10.000 Ein¬
Einwohner
wohner Aerzte
390
26-2
485
20-6
490
20-5
510
19-9
530
190
590
17-6
620
16T
640
15-7
670
14-8
710
14-0
750
13-3
760
13-2
770
130
820
12-3
920
10-9
950
10-5
960
10-4
1010
9-9
1150
8-9
1400
7-1
*) Soweit sie bereits vorliegen, sind
zählung Ende 1910 zugrunde gelegt.
die Ergebnisse der Volks-
Auffällig ist die besonders hohe Aerztezahl in Olmütz,
wobei hervorgehoben werden muß, daß die Hilfsärzte der Landes
krankenanstalten nicht mitgezählt sind, weil sie in Neugassc
wohnen. I Innsbruck, Lemberg und Krakau sind Universitätsstädte,
in Klagenfurt erhöht die Zahl der Anstaltsärzte (Krankenhaus,
Irrenanstalt usw.) erheblich die Aerztezahl. Von den größeren
(Landeshaupt-)Städten weist nur Triest eine mäßige Zahl auf,
trotzdem hier die 19 Lloydärzte mitgezählt sind, ohne welche
obige Verhältniszahlen sich auf 1100, bzw. 9-1 ändern.
Weibliche Aerzte zählt das neueste Jahrbuch 80, das
sind 6%0. Wie schnell deren Zahl zunimmt, ersehen wir daraus
daß 1905 bloß 9, 1908 schon 34 zur Praxis gemeldet waren.
Von den derzeitigen 80 Aerztinnen praktizieren 39 in Wien,
13 in Lemberg und Umgebung, 10 in Krakau, 8 in Prag und.
Vororten, 2 in Baden bei Wien und je 1 in Klagenfurt, Triest,
Franzensbad, Karlsbad, Marienbad, Pilsen, Reichenberg, Brünn
und Kolomea.
In 80 angegebenen Landorten waren bei Abschluß des Jahr¬
buches die systemisierten Arztesstellen (Gemeinde-, Distrikts¬
arztes- uswu - Stellen) unbesetzt. Ein Teil derselben ist gewiß
nur durch Zufall (Tod, Uebersiedlung) und vorübergehend frei.
Aber 20 von diesen Stellen sind bereits in den Jahrbüchern von
1909 pind 1910 als unbesetzt ausgewiesen, ln zahlreichen anderen
Orten hat sich die Aerztezahl von zwei auf einen vermindert. Es
handelt sich zumeist um Stellen, welche zur Zeit des größten
Aerzteüberflusses neu geschaffen, damals nur einem mittellosen
jungen Arzte eine vorübergehende Zufluchtstätte bieten konnten
oder für einen nicht mehr konkurrenzfähigen alten Wundarzt
ein kleines Ausgedinge bildeten, nach deren Abgang aber wegen
der vollständig ungenügenden Erwerbsverhältnisse trotz größter
Anstrengung sich keine Bewerber mehr fanden. Auch diese Stellen
kommen 'aber wieder sofort zur Besetzung, sobald durch eine ent¬
sprechende Besoldung die Existenz eines1 Arztes gesichert wird.
Zum Teil ist also die Landflucht der Aerzte, die oben ziffer-
mäßig dargestellt ist, eine passive, durch die schlechten Existenz¬
bedingungen hervorgerufen ; inwieweit zum anderen Teile die
Zunahme der Spezialärzte in Betracht kommt, läßt sich
zahlenmäßig nicht belegen, da im Jahrbuche nur bei einem Bruch¬
teile aller Aerzte angegeben ist, ob sie ein Spezialfach betreiben
oder nicht (mangels Rücksendung der Fragebogen). Nur für Wien,
Graz und Prag sind besondere Verzeichnisse der Spezialärzte
vorhanden; die Zahl derselben betrug:
in
Wien
in
Graz
in Prag
1905
1910
1905
1910
10,0 (richtig
1J1Ü gestellt)
Innere Medizin .
62
75
6
7
35
Kehlkopf- u. Nasenkrankheiten
27
39 |
Q
9
Obrenkrankheiten ....
14
19 1
Nerven - u. Geisteskrankheiten
31
32
3
9
12
Sprachfehler .
3
3
—
—
—
Kinderkrankheiten . . . .
36
4t
5
6
25
Chirurgie .
37
42
6
10
14
Orthopädie .
17
32
5
5
9
Röntgen .
7
14
1
2
6
Frauenärzte .
58
67
10
11
36
Haut- u. Geschlechtskrankh.
46
79
3
4
30
Augenkrankheiten . . . .
23
32
5
8
9
Zusammen
361
475
52
71
200
Die Zahl der Spezialärzte hat demnach in den letzten fünf
Jahren! in Wien um 32%, in Graz um 37% zugenommen; sie
betrugl'1910 in Wien 16%, in Graz 25%, in Prag 23% der Gesamt¬
ärztezahl. Hiezu käme noch die nicht unbeträchtliche Zahl von
Zahnärzten, welche sich in den größeren Orten ebenfalls meist
nur auf ihr Fach beschränken.
Fassen wir die Ergebnisse dieser statistischen Unter¬
suchungen über die Aerzte kurz zusammen, so- zeigen sie fol¬
gendes : Di© Ueberproduktion an Aerztepersonal in den beiden
letzten Dezennien hat zu einer Ueberfüllung in den größeren
Städten und zur Verteilung von Aerzten in alle Landgebiete ge¬
führt. Von letzteren findet bereits ein Zurückfluten des Ueber-
schusses statt. Durch Ergreifen eines Spezialfaches .suchen die
einer Tätigkeit ermangelnden überzähligen Aerzte Existenzbedin¬
gungen zu finden, Ragen aber bei den gegenwärtigen Verhältnissen
nur noch weiter zur Steigerung des Ueberflusses in den grö¬
ßeren Städten bei. Das Ueberwiegen der Aerzte in jüngerem
Alter läßt noch lange auf eine Regulierung der Aerztezahl durch
Abgang warten. Trotz dieser ungünstigen Aussichten ist in den
letztein Jahren bereits wieder eine Zunahme der Medizinst.udie-
renden zu verzeichnen.
318
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
Referate.
Medical Education in the United States and Canada.*)
The Carnegie Foundation for the advancement of teaching.
New York 1910, Bulletin number four.
Der vorliegende, 346 Seiten starke Band erörtert in er¬
schöpfender Weise die medizinischen Unterrichts Verhältnisse der
Vereinigten Staaten und Kanadas. Im ersten Teile wird im1 all¬
gemeinen gezeigt, welche Anforderungen an einen zeitgemäßen
medizinischen Studienplan zu stellen sind und inwieweit die
bestehenden Einrichtungen denselben entsprechen ; der ' zweite
Teil schildert in übersichtlicher Anordnung die Zustände jeder
einzelnen der 155 amerikanischen Medizinschulen. Das Ergebnis,
welches auf den genauesten Erhebungen an Ort und Stelle beruht,
ist kein erfreuliches und im Gesamtbilde treten die Kontraste allzu
grell hervor; stehen doch so ausgezeichneten, reich dotierten An¬
stalten, wie der John Hopkins oder der Universität Michigan,
Schulen gegenüber, die nichts anderes als elend ausgerüstete,
nur dem Profit dienende Handelsuntemehmungen sind. Leider
•gilt das letztere von der Mehrzahl, denn kaum ein Fünftel der
Schulen besitzt entsprechende Zulassungsbedingungen, genügende
Laboratorien und Kliniken, richtige Leitung. Die Folgen liegen
auf der Hand. Die enorme Zahl der Schulen überflutet die
amerikanischen Länder mit Aerzten, von denen nur eine schwache
Minorität jene Bildungshöhe und praktische Fertigkeit erlangt hat,
die dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft entspricht. Von
den Bemühungen der Carnegie Foundation um die Reorganisation
des ärztlichen Unterrichtes in Amerika darf für die Zukunft das
Beste erhofft werden, nicht wenig aber von dem, was an Ver¬
besserungsplänen vorgebracht wird, sollte schon jetzt auch bei
der Verwaltung der medizinischen Lehranstalten Europas1 Be¬
herzigung finden, damit nicht einmal das alte Sprichwort zur
Anwendung käme; De te fabula narratur.
Neuburger.
*
Die medizinische Hölle in den Vereinigten Staaten
Nord-Amerikas.
Von Med. Univ. Philosophiaeque Dr. S. R. Klein, Professor der. Histologie
und Pathologie der Gehirn- und Nervenkrankheiten, Direktor des
Fordham Laboratoriums, gewesener Stabsarzt, etc. etc.
489 Palhan Avenue, Bronx, N. Y. City, U. S. N. A.
Daß di© amerikanischen medizinischen Schulen seit jener
in schlechtem Rufe standen, wußten wir schon als Mediziner
drüben, als wir noch das Pflaster der Alma mater von Wien, Buda¬
pest, Tübingen und Paris traten. Wer konnte sich eines ver¬
schmitzten Lächelns enthalten, wenn er einem amerikanischen
„Doktor“ begegnete? Man frag sich gleich, hatte „er“ das Diplom
in Ch . für 100 oder vielleicht gar für 50 Dollars gekauft? -
Nun, diese schrecklichen Zeiten sind ja glücklich vorüber, das
medizinische Studium ist ja heutzutage bereits auf eine bessere
Basis gestellt, aber in den westlichen Staaten spukt es noch
immer. New York, Philadelphia, Baltimore (Johns Hopkins) sind
gewiß entsprechend (nicht und vielleicht niemals zu gut), aber
*) Diesem von der Redaktion veranlaßten Referate sei ein weiteres
hinzugefügt, dem Blatte spontan beigestellt und in seiner originell tem¬
peramentvollen Schreibweise unverändert wiedergegeben. Alle Kenner
amerikanischer Verhältnisse sind voll Bewunderung für die nahezu auf
allen Gebieten geradezu vorbildlichen Leistungen und Fortschritte dortiger
Kultur. Oft genug wurde es unumwunden anerkannt, daß gerade die
~ fast ausschließlich durch private Initiative geschaffenen — humanitären
und namentlich auch die wissenschaftlichen Institutionen Amerikas in
der Großzügigkeit und Vollkommenheit ihrer Einrichtungen alles, was
Europa diesbezüglich aufzuweisen hat, so sehr in den Schatten stellen
und die berufensten Gelehrten haben mit dem Ausdruck lebhafter Besorg¬
nis nicht zurückgehalten, daß gegenüber der verständnisvollen Liberalität
mit der man drüben die Forscherarbeit fördert, Europa auf diesem Gebiete
mit der Zeit naturnotwendig in seiner Konkurrenzfähigkeit Einbuße er¬
leiden muß. Um so mehr bietet es Interesse, zu erfahren, wie gerade dort
sich neben in ihrer Vortrefflichkeit kaum zu übertreffenden Zuständen,
unter dem Schutze zügelloser Freiheit auch noch Auswüchse finden,
die, namentlich soweit sie das medizinische Unterrichtswesen betreffen,
kaum glaublich erscheinen. Gerade in dem Umstande aber, daß sich die
Amerikaner die nötige Objektivität und den Freimut gewahrt haben, um
diese Mißstände selbst rückhaltslos aufzudecken, liegt der beste Beweis
ihrer moralischen Kraft und dies bietet auch die sicherste Gewähr für
eine ebenso baldige als radikale Reform. Die Redaktion.
in Chicago gibt es noch heute eine Schule, wie wir dem Berichte
der Herren: Dr. Flexner und Dr. Pritchett entnehmen können
(S. 212), die sogenannte „National Medical University“, wo Lohn¬
diener, Kutscher, Bahnbedienstete, Krankenwärter usw. ohne
jede Vorbildung als Mediziner aufgenommen werden. Alles, was
sie zu tun haben, ist; die „nötigen“ 150 Dollars zu zahlen
und zahlen sie die Gelder für die „notwendigen drei Jahre“
im voraus, so wird ihnen vom „Dekan“, der zugleich der „Präsi¬
dent“ der „Fakultät und Universität“ ist, mit Handdruck ver¬
sprochen, daß sie nach „Absolvierung“ der „Kurse“ vom „In¬
stitute“ nach Wien, London und Paris auf Kosten des „Insti¬
tutes“ gesandt werden. Das Geld muß aber' „bar“ 'bezahlt werden.
Das „Institut“ besitzt drei Zimmerchen, alle schlecht beleuchtet,
Das sogenannte „anatomische“ Institut befindet sich über einer
Milchwirtschaft. Sie sollen zehn Immersionslinsen gehabt haben,
diese wurden aber, laut Aussage des „Dekans“, sämtliche von
den Studenten gestohlen. (Nettes Volk! Nicht wahr?) Eine andere
medizinische Schule in Chicago, die sogenannte „Osteopathische“,
besitzt ein chemisches Laboratorium, welches über drei Gläser und
zwei Flaschen Alkohol verfügt. Zwei Klassenzimmer, mit ein
paar Stühlen usw.
S. 257 des zitierten Werkes finden wir wieder einen netten
Report: Die sogenannte „American Medical Eclectic College“.
Die Zahl der Schüler beträgt 28, die Zahl der Professoren 28
und 3 Assistenten. Die Dispensary weist jeden Tag „einen
Kranken“, auf. Diese Schule befindet sich im Staate Missouri.
Im selben Staate (Stadt Kansas) existiert noch eine andere Schule
(S. 252), wo 59 Studenten immatrikuliert sind, die Zahl der Pro¬
fessoren ist 41, bisnun wurde Anatomie noch nicht gelehrt. In
Pathologie, Bakteriologie, Physiologie', Chemie, Histologie und
Embryologie wird von einem und demselben „Lehrer“ unter¬
richtet.
Im Staate Georgia (S. 204 — 205) finden wir ein medizini¬
sches Institut für Medizin und Chirurgie!, wo 66 Studenten und
20 Professoren nebst 14 Assistenten sind. Alles, was die Kom¬
mission daselbst fand, waren einige schmutzige Gläser in den
sogenannten Laboratorien; für „Pathologie“ konnte noch nichts
getan werden, nachdem man in Georgia bis heute noch nichts
von Pathologie gehört hat. Es ist ein Staat, wo der größte Teil
der Bevölkerung aus Negern besteht.
Eine „medizinische“ Schule San Franciscos führt den Titel:
„Lelajnd Stanford Junior University School of Medicine, on the
Cooper Medical College Foundation“. Die Schule besitzt 16 Stu¬
denten und 21 Professoren, ein Lehrer für „sämtliche Labora-
toriumarbeiten“ usw.
Aus dem Staate North Carolina (Seite 279 des Buches)
finden wir wieder einen Report. Wer „Professor werden will“
muß eine gewisse Summe zum Fundus der Schule einzahlen.
(4 S t u d en ten und 87 Professoren!) Die Schule .besteht seit
dem Jahre 1887, daselbst wurde aber noch nie eine Sektion
vorgenommen. Dictum, Factum.
In Pittsburg, Pennsylvanien (S. 297), gibt es eine Schule,
die. sogenannte „University of Pittsburgh, Medical Department“,
wo die Kommission im „pathologischen Lehrsaale“ bloß vier zer¬
brochene Stühle vorfand. In dem dem Institute einverleibten
Dispensarium ist eine Wärterin angestellt.
In Vermilion, Staat South Dakota (S. 301), istidie University
of South Dakota College of Medicine. Zahl der Studenten sieben.
Fünf Professoren und fünf Assistenten. In einer anderen Schule
werden Anatomie, Physiologie, Chemie, Histologie, Bakteriologie
in einem und demselben „Saale“ unterrichtet. Ja sogar in der
„deutschestem“ Stadt der Vereinigten Staaten: Milwaukee, gibt es
eine medizinische Schule, wo Pathologie und Bakteriologie nur
deshalb nicht unterrichtet wird, weil es den gegenüber wohnenden
katholischen Priestern nicht angenehm ist. (Unglaublich ! Nicht
wahr ?)
Unzählige Fälle werden in dem beinahe 400 Seiten zäh¬
lenden Buche erwähnt. Alles wahre Tatsachen, offizielle Reporte.
Sogar in der Stadt New York gibt es drei „medizinische“ Schulen,
welche vom Erdboden weggefegt werden sollten. Es ist auch
absurd, eben in der Stadt New York die Hölle der amerikanischen
Medizin zu vermehren. So z. B. Isagte der Präsident einer hiesigen
Schule anläßlich der Eröffnung des Schuljahres, daß die Schüler
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
319
doch je mehr a.uf dem öffentlichen „Schreimarkte“ die Schule
annoncieren sollen. Sie nehmen ja schließlich jeden auf.
ohne Unterschied der Religion, damit nur recht viel Geld ein-
fließen möge. Es waren Studenten, die aus sämtlichen Gegen¬
ständen des ersten Jahrganges durchfielen, nichtsdestoweniger
wurden diese großen Aeskulapjünger in das zweite Jahr aufge¬
nommen. Ein Student, der aus einer anderen Schule, wo er
durchfiel, übernommen wurde, brachte gefälschte Zeugnisse,
studiert aber weiter in der Universität. Die sogenannte homöo¬
pathische Schule, die schon seit 20 Jahren besteht, fängt jetzt
an, pathologische Laboratorien zu bauen und das1 wird einem
jeden Besucher von dessen Dekan mit solcher „Schärfe“ ein¬
geprägt, daß man faktisch zu glauben anfängt, daß sie wirklich
Pathologie studieren wollen. (Aber Gift nimm ich noch immer
nicht, darauf! S. R. K.) Was für Gattung Doktoren und Pro¬
fessoren in diesen Schwindelanstalten herangebildel werden
können, benötigt keines Kommentars.
Vor ein paar Wochen erschien ein Ruch, welches Doktor
Barnes by zum Verfasser hat. Dir. Barnes by ist ein
tüchtiger Arzt, hier und in Europa herangebildet. Er führt eben
entsetzliche und haarsträubende Fälle an und würden eben nicht
hervorragende Männer seinem Buche „Artikel“ geliefert haben,
so würde man die ganze „Schriftstellerei“ Dr. Barnesbys
als Reklamehascherei betrachten. Es sind aber durchgehends Be¬
weise da, Ta tsacheh , Facta loquuntur. Unter anderm wird ein
Fall erwähnt, wobei ein Patient 1000 Dollars einem sogenannten
„Operateur mit Diplom“ gezahlt hat. Die Veranlassung war eine
sogenannte! Operation wegen der1 modernen amerikanischen Krank¬
heit: Appendizitis. Der Kranke „genas“, litt aber weiter an
— Appendizitis. Darauf wurde er von einem echten Opera¬
teur u. zW. einem Wiener Arzte operiert, diesmal wurde auch
die Appendix herausgeschnitten, welches Körperstück darauf dem
„berühmten“ Operateur gezeigt wurde. Alles, was „er“ sagte,
war: „Ja, was habe ich denn 'dann operiert ?“i — Während ich als
Pathologe und Bakteriologe in einem der hiesigen staatlichen
Irrenspitäler gewirkt habe, hatte ich Gelegenheit zu sehen, wie
ein solcher amerikanischer Operateur während seiner Operation,
eben an Appendizitis, dem Patienten die Harnblase total durch-
schnitt. So einen Kerl sollte man schnurstracks auf den elek¬
trischen Stuhl setzen.
Es geht, Avie meine Wiener Kollegen aus den Blättern darüber
gut unterrichtet sind, das Land einer kleinen Revolution, auch
auf dem medizinischen Gebiete; entgegen. Denn was sollen wir
sagen, Avenn sich sogar ein in Deutschland promovierter Arzt
hier dem Schwindel ergibt, indem er öffentlich mitteilte, daß er
69 Freud -Operationen in zwei Spitälern ausgeführt hat. Es Avar
alles unwahr. Derselbe Arzt wurde aus den gesamten Spitälern
und Gesellschaften, denen er angehörte, hinausbugsiert. Mit ihm
zusammen auch ein anderer, ich glaube, ein durchgefallemcr
Wiener Student, der hier in einer Schwindelanstalt „studiert“
hatte und der dein Kollegen zU seinem Schwindel vorhin if. Nie
hatten wir in Europa, solche Fälle gesehen, gehört, nie, unter
Aerzten. (
Ja, meine Herren Kollegen, Bücher könnte man über diese
gräßlichen Sachen schreiben. Man findet kaum 10% — so kann
mit Ehrlichkeit gesagt werden — Anstand in den Instituten,
Anstand unter den Kollegen. Verleumdungen, Hiebe mit Reit¬
peitschen, Schwindel, öffentliche Fämilienskandale unter den Mit¬
gliedern der ärztlichen Zunft — tagtäglich kommen sie vor.
Ehre den Ausnahmen, Ehre den ausnahmemachenden Instituten,
wie Cornell, Johns Hopkims!, Mc. Gill, Columbia, Rush und einigen
anderen. Ja, wie ist es! denn geschrieben in der Heiligen Bibel?
Sie wissen eis ja alle: „Und ich werde die Stadt nicht zer¬
stören, wenn du mir zehn rechtschaffene Menschen zu zählen
vermagst.“ Ja, es gibt deren nur wenige.
Auch sind es nicht, alle, die alljährlich nach Wien kommen,
um dort angeblich „Kurse“ zu nehmen, denn ich kenne viele,
die sich bloß herum, herum, um die Schule herum getrieben
haben — sie bringen zAvar ein Zeugnis als „Volontärarzt“ mit,
jedoch die größte Zeit ist in Theatern, Kneipen usw. verbracht
worden. Ich kannte einen Arzt in .Iowa, der zirka sechs bis sieben
Monate in Frankfurt, Wien, Berlin, Paris1, in Begleitung seiner
Gemahlin „verstudiert“ hatte, auf meine sämtlichen Fragen jedoch
nicht die ärmlichste Antwort geben konnte. Er hat z. B. von
Weichselbaum in Wien nie gehört, auch von Kraepelin
in München nicht, Charcot — gab er mit vollem Ernste an
— im Grand Vaudeville- Theatre zu Paris gesehen zu haben,
er dachte nämlich, dieser Herr wäre heute noch Schauspieler,
v. N o o r den hatte er nie nennen gehört. Und diese Herren stellen
dann in das „offizielle“ Records-Buch hinein, daß sie in Europa
„studiert“ haben.
Und so geht diese Geschichte — ad infinitum.
Dr. S. R. Klein.
*
Allergie.
Von Prof. Dr. Clemens Freih. v. Pirquet.
Berlin 1910, Verlag von Julius Springer.
Der Verf. gibt uns hier eine Zusammenfassung seiner eigenen
grundlegenden Arbeiten über Allergie im Zusammenhang mit
den wichtigsten Ergebnissen der Arbeiten anderer Autoren auf
diesem Gebiete. Analog der Serumkrankheit werden durch die
Kenntnis der Allergie eine Reihe von Erscheinungen bei der
Vakzination, der Variola, der Tuberkuloseinfektion und der Tuber¬
kulindiagnostik unserem Verständnisse nahegebracht. Der Ver¬
fasser gibt uns in seiner lesenswerten Abhandlung nicht nur
einen raschen Ueberblick über die ganze Frage, sondern verschafft
uns namentlich einen ausgezeichneten Einblick in das Wesen
der Allergie.
*
Die Lehre von der Säuglingsernährung.
Wissenschaftlich und populär von Prof. Dr. Arthur Keller.
Ergebnisse der Säuglingsfürsorge, 6. Heft.
Leipzig und Wien 1911, Verlag von Franz Deut icke.
Eine interessante Zusammenstellung der in den verschie¬
denen Ländern, an den verschiedenen Schulen herrschenden Diffe¬
renzen der Anschauungen über Säuglingsernährung. Einigkeit
täte hier not, im Interesse des wissenschaftlichen Unterrichtes,
im Interesse der populären Belehrung. Große Mängel weisen
auch nach Ansicht des Autors die für die Aerztewelt und das
Laienpublikum bestimmten Abhandlungen über Pflege und Er¬
nährung des Säuglings auf. Von den vielen derartigen Büchern
halten nur ganz vereinzelte einer strengeren Kritik stand.
*
Bakteriologische und pathologisch-anatomische Studien
bei Ernährungsstörungen der Säuglinge, besonders der
chronischen unter dem Bilde der Pädatrophie ver¬
laufenden Formen.
Von Priv.-Doz. Dr. Hans 8cbell>le.
Leipzig 1910, Verlag von Georg T h i e m e.
Der Autor versucht es, durch eingehende bakteriologische
und histologische Studien die Aetiologie der chronischen Ernäh¬
rungsstörungen zu klären. Wenn auch bezüglich der Hauptfrage
die Arbeit nur zu negativen Resultaten führte, so enthält sie doch
nicht unwichtige bakteriologische und histologische Details.
*
Formulaire pour les maladies des enfants (Ve edition).
Von Dr. Albert Yeillard.
Paris 1911, Librairie medicate O. B er Drier.
Ein therapeutisches Vademekum mit Angabe der Haupt¬
symptome der einzelnen Erkrankungen. In der Einteilung ent¬
hält das Buch eine kurze Uebersicht. über Hygiene und Er¬
nährung des Säuglings.
*
(Ergebnisse (1er Sänglingsfiirsorge, 8. n. 9. Heft.)
Kinderschutz und Säuglingsfürsorge in Ungarn.
*
Säuglingsfürsorge und Kinderschutz in England und
Schottland.
Von Prof. Dr. Artbnr Keller.
Leipzig und Wien 1911, Fr. De u ticke.
In den vorliegenden Abhandlungen gibt der Verfasser seine
gelegentlich einer Studienreise in Ungarn und England gewon¬
nenen Eindrücke über die Säuglingsfürsorge in den genannten
Ländern wieder. Volles Lob spendet, der Verfasser der muster¬
gültigen Organisation des staatlichen Säuglingsschutzes in Ungarn.
320
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
Das Land verfügt übel- 17 Asyle in der Provinz und ein Zentral¬
asyl in Budapest. Die Asyle, die mit einem Kostenaufwand von
fünf Millionen Kronen erbaut wurden, sind mit 612 Säuglings¬
und 360 Kinderbetten ausgestattet. Abgesehen von den Asylen
besteht noch die Einrichtung von Familienkolonien, bestimmt
für die Aufnahme von Kindern von 7 bis 15 Jahren. Dem staat¬
lichen Kinderschutz zur Seite steht eine Landeskinderschutzliga
als Vertreter einer privaten Wohlfahrtspflege. Die letztere greift
überall da zu, wo der staatliche Kinderschutz noch nicht oder
nicht mehr seine Wirkung ausübt: vor der Geburt durch die
Fürsorge für Schwangere, nach Ablauf des staatlichen Kinder¬
schutzes (15. Lebensjahr) durch die Fürsorge für Jugendliche
und schließlich durch die Sorge für alle Kinder, welche von der
Norm a bw eichen.
In England und Schottland befindet sich der Säuglingsschutz
noch in den ersten Anfängen. In ganz London gibt es z. B. nur
ein einziges Hospital für kranke Säuglinge mit 60 Betten. Die
Möglichkeit zur Ernährung mit Säuglingsmilch ist nirgends ge¬
geben, auch in dem Säuglingsspital nicht. Keller bespricht
auch die Ausbildung der Kinderpflegerinnen in England. Ein
großer Nachteil der Ausbildung besteht darin, daß die Schüle¬
rinnen über Ernährung der Kinder, über Zubereitung der Nah¬
rung, Asepsis ungenügend unterrichtet werden.
*
(Sanitäfsrat Dr. Jessners dermatologische Vorträge für Praktiker,
Heft 9.)
Die Hautleiden kleiner Kinder.
Dritte, verbesserte Auflage.
W ii r z b u r g 1910, Kurt Kabitzsch.
Die Eigentümlichkeiten der Kinderhaut lassen es völlig be
rechtigt erscheinen, daß der Verfasser die Diagnose und Therapie
der Säuglings- und Kinderdermatosen in einem eigenen Vortrage
erörtert, ln kurzen Schlagworten werden die Hauptsymptome der
einzelnen Dermatosen besprochen und auch bei den therapeu¬
tischen Ratschlägen vermeidet es der Verfasser, den Leser durch
Aufzählung einer großen Zahl von Medikamenten zu ermüden,
sondern bringt nur wirklich erprobte Mittel und ihre Anwendungs¬
weise.
Einige Ausstellungen, hauptsächlich den klinischen Teil be
treffend, mögen dem Referenten gestattet sein :
1. Statt Dermatitis exfoliativa infantum soll es Dermatitis
exfoliativa ne on äto ru m (Ritter) heißen.
2. Die Säuglingsfurunkulose kann doch nicht glattweg als
endogene metastatische Infektion aufgefaßt werden.
3. Die Hauptgefahr bei der Vakzination von Ekzemkranken
liegt nicht in der eventuellen Verschlimmerung des Ekzems p. v.,
sondern in der Möglichkeit der Lympheübertragung auf das Ekzem
(Ekzema vaccinatum).
4. Die Tuberkulide sind, auch für den Praktiker zu wichtig,
als daß sie vollständig verschwiegen werden können.
C. Deiner.
Aus verschiedenen Zeitsehrifter .
216. Weitere Beobachtungen über die physiolo¬
gischen Wirkungen des Thalliums. Von Professor Doktor
A. Buschke in Berlin. Das Thallium aceticurn wird, besonders
in Frankreich, als antihidi otisches Mittel gegen die Schweiße
der .Phthisiker verabreicht. Dabei beobachtete man bei den
Kranken in einzelnen Fällen einen, ziemlich weite Partien des
Körpers begreifenden Haarausfall, daneben heftige Neuralgien,
Krämpfe, Paresen usw. Die dabei verabreichten Dosen schwankten
zwischen 0 03 bis 0-2 g, die in einem Monate verabreichte Dosis
stieg bis zu einem Gramm. Die schwei ß vertu ind erndc Wirkung,
die sich bis zur Aufhebung der Schweißsekretion steigerte, trat
nur während der Verabreichung des .Mittels ein, die Alopezie
dagegen entwickelte sich zumeist erst später, schritt eine Zeit¬
lang vor, um allmählich der Regeneration der Haare wieder Platz
zu machen. Verf. hat schon früher experimentelle Untersuchun¬
gen mit Thallium angestellt und darüber berichtet, er hat neuer¬
dings zahlreiche Tierversuche gemacht und referiert jetzt über
deren Ergebnisse. Sie sind in Kürze folgende: Mit minimalen,
kaum zu bestimmenden Dosen von Thalliumsalzen, besonders
Thallium aceticurn und carbonicum, kann man bei Mäusen, Ka¬
ninchen, Ratten und Affen — entsprechend den beim Menschen
beobachteten Nebenerscheinungen — eine Alopezie erzeugen.
Diese ist. bei Mäusen und Kaninchen fast ausschließlich auf der
Rückenfläche deis Rumpfes und Kopfes lokalisiert. Bei Batten
kann man eine fast universelle Alopezie erzeugen. Entsprechend
den beim Menschen beobachteten Fällen von Hypotrichosis con¬
genita kann man mittels Thallium auch bei Ratten eine Hypo¬
trichosis congenita erzeugen, die aber nicht stationär bleibt.
Der physiologische Angriffspunkt des Thalliums scheint Aveuig-
stens nach Untersuchungen seiner antihidrotischen Wirkung — -
nicht peripherisch, sondern zentral, also wahrscheinlich im Nerven¬
system zu liegen. Anhangsweise erwähnt Verf. noch, daß eine
Wirkung des Thalliums auf experimentelle Tiersyphilis nicht zu
beobachten Avar, wiewohl eine solche in Frankreich angeblich
bei der menschlichen Lues konstatiert worden Avar. (Deutsche
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 4.) E. F.
*
217. Weiße Pocken. Von Dr. Max Ru,dolph in Estrella
do Sul (Brasilien). Verf. berichtet über eine interessante Epi¬
demie in bestimmten Gebieten Brasiliens. Es ist ein akutes,
pustuloses Exanthem, das sich auf den ersten Blick in nichts von
einem echten Variolaexanthem unterscheidet, das den ersten
Fieberverlauf und die absolute Schutzwirkung der Pockenimpfung
mit Variola gemein hat und bisher in Südamerika, noch nicht
beobachtet wurde. Die geringe Mortalität den Pocken gegenüber
bildet den auffallendsten Unterschied. Nach einer Statistik aus
dem benachbarten Araguary starben von 2389 Personen 48, also
zirka 2%. De Körte beschreibt vom Jahre 1904 aus Südafrika
eine pockenähnliche Epidemie, die mit der brasilianischen viele
Aehnlichkeitem aufweist. Aus Kamerun beschreibt Plehn ein
akutes Exanthem, Ave'lches sich nach Form und Verteilung in
nichts von einem disseminierten Variolaexanthem unterschied.
Es gab weder Todesfälle noch Komplikationen. Diese von ihm
als „Sanagapockem“ beschriebene Erkrankung zeigte selbst in
den schwersten Fällen keine hohen Temperaturen. Es dürfte
sich also nicht um dieselbe Epidemie handeln. Die Aehnlichkeit
mit den Pocken bei der brasilianischen Epidemie liegt schon im
Inkubationsstadium. Es beträgt, zelm bis vierzehn Tage. Auch
die Initialsymptome sind dieselben: Konjunktivitis, Kopfschmer¬
zen, Bronchitis, Uebelkeit, Magen- und Gliederschmerzen. Die
Kreuzschmerzeh scheinen geringer zu sein. Das Fieber steigt
rasch bis zu 40 bis 41° an. Am dritten oder vierten Tage erfolgt
ein plötzlicher Abfall zur Norm. Nach denn kritischen Fieber¬
abfall befinden sich die meisten Patienten vollkommen wohl.
Am Ende des ersten Fiebertages tritt in den meisten Fällen Diazo-
reaktion im Harn auf, die bis übetr 'den Fieberabfall hinaus positiv
bleibt.. Verf. hält, diesen Punkt für differentialdiagnostisch wichtig
gegenüber Variola. Am drillen oder vierten Tage tritt das Exan¬
them in Form kleiner, roter, masernähnlicher Fleckchen an der
Stirn, Bauch, Brust, Rücken und Extremitäten auf. Handflächen
und Fußsohlen werden nicht verschont. Gleichzeitig bildet sich das
Exanthem auf sämtlichen Schleimhäuten, selbst der Vagina und
Urethra. In av eiteren drei Tagen vergrößern sich die Papeln, fließen
zusammen, im Zentrum bilden sich kleine wasserhelle Bläschen,
die am nächsten Tage undurchsichtig, weißgell) werden. Die Haut
sieht wie mit Kalktropfen bespritzt aus. Ein typischer Pocken¬
nabel fehlt, was nach Verf. sehr wichtig ist. Es ist dies ein
Suppurationsstadium, aber ohne neuen Fieberanstieg. Durch Ver¬
größerung und Zusammen fließen der Pusteln wird der Kranke
so entstellt,, daß man ihn kaum wieder erkennt. Es entsteht nie
jener ekelhafte Geruch, den Pockenkranke in diesem Stadium
haben. Am neunten Tage beginnt das Stadium exsiccatiönis. Am
14. oder 15. Tage fällt die Kruste der eingetrockneten Pustel
ah und man sieht eine livid e Narbe, die in einigen Monaten fast
ganz v er sch av in del. In einzelnen Fällen bleiben dauernde Narben,
aber nicht so tief als Pockennarben, welches Moment Emilio
Ribas als different ialdiagnos tische® Merkmal besonders betont,
ln einzelnen, sehr seltenen Fällen fließen die Pusteln am ganzen
Körper zusammen und dann kann, wie bei den echten Pocken,
durch eine Zerstörung der gesamten Hautdecke der Tod ein treten,
wie es Verfasser in einem Falle beobachtet hat. Hämorrhagische
Fälle kamen nicht vor. Ein Kranker starb auswärts an Glottis-
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
ödem. Einmal sah Verf. Orchitis, zweimal Ulcera corneae, dreimal
Abort, einmal beiderseitige Peronäuslähmung. Die Todesfälle be
trafen meist dekrepide Individuen, vor allem Lepröse. Säuglinge
in den erstein Monaten werden selten befallen. Eine entschieden
erhöhte Empfänglichkeit zeigte die farbige Rasse. Eine eigenartige
Rolle spielt die Schutzpockenimpfung bei dieser Krankheit. Sie
schützt, praktisch genommen, absolut. Unter den 357 Erkrankten
des Verfassers stand keine einzige Person unter dem Impfschutz.
Nur dreimal erkrankten erfolgreich Geimpfte oder Weiße. Aul-
fallend ist nun die widersprechende Tatsache, daß die Krank¬
heit nicht immunisiert. Vom sechsten Monate an nach ihrem
Ueberstehen kann die Impfung wieder positiv ausfallen. Rück-
sichtlich der Aetiologie erwähnt Verf. die große Infektiosität
gleich den echten Pocken. Verfasser resümiert: Es existiert in
Brasilien ein akutes, pustuloses Exanthem, das den Pocken emi¬
nent, ähnlich ist: im Aussehen, im Fieberverlauf des ersten Sta¬
diums, durch den Befund kleiner, runder Körperchen im Pustel¬
filtrat; 'in bezug auf den absoluten Pockenimpfschutz ihnen sogar
gleichbleibt. Es unterscheidet sich von ihnen: durch die Hervor¬
ruf ung von nur sechs Monate dauernder Immunität Vakzine gegen¬
über, .durch seine) Benignität (2 bis 2 Vs0/« Mortalität), den weiteren
Fieberverlauf, den histologischen Ort, den charakteristischen Bau
und die Na.bellosigkeit seiner Pustel und durch ihre typische
Narbe. — (Münchener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. G.)
G.
*
218. Ueber sogenannte ungefährliche Anästhe¬
sierung s verf ah reu. Von Prof. Dr. Dumont, Bern. Burk¬
hardt bezeichnet seine Methode der intravenösen Ae themarkose
beim kräftigen Erwachsenen — kombiniert mit Skopolamin-
Morphium — als die zur Zeit ungefährlichste und angenehmste
Methode der Allgemeinnarkose. Dumont warnt eindringlich
vor Anwendung der intravenösen Aethernarkose, zumal sich von
verschiedtetnen Seiten die Mitteilungen häufen, daß das Ver¬
fahren als zu gefährlich abzulehnen sei. Insbesonders wurden
trotz aller Vorsicht und trotz genauester Befolgung der von
Burkhardt gegebenen Vorschriften Thrombenbildung und
Lungenembolien beobachtet (K üttner). Sic k, C 1 a i r m o n t und
Denk können sich nicht entschließen, Versuche am Menschen
zu machen, da der Tierversuch gezeigt hat, daß Herz und Lungen
bei der intravenösen Aethernarkose nicht geschont werden. Auch
sie beobachteten Embolien und finden, daß eine exakte Do¬
sierung und sparsamer Verbrauch des Narkotikums nicht ver¬
bürgt. ist. Brüning wieder, verweist darauf, daß die Gefahr
einer hämolytischen Schädigung der Blutkörperchen so nahe liegt,
daß main bei fiebernden Patienten Hämoglobinurie erwarten
kann. Endlich berichtet Pik in über einen Todesfall, der nach
Dumont, im Widerspruche mit Pikin selbst, auf Rechnung
der Methode Burkhardts zu setzen ist. Nicht minder als vor¬
der Methode Burkhardts warnt Dumont vor der Spiual-
analgesie von Prof. Iones cu, welcher selbst seine. Methode
als nur vorteilhaft rühmt, da keine Gegenindikation bestehe und
keinerlei Nachteile sich zeigen. Die Praxis widerspricht den
Behauptungen Ionescus, ja seine Methode, der Dumont die
Eigenberechtigung überhaupt abspricht, ist gefährlicher als die
gewöhnliche Lumbalanästhesie, die ihrerseits noch immer an¬
erkanntermaßen gefährlicher ist als die Inhalationsnarkose. Nach
Dumont wäre es im übrigen besser, statt neue Ynästhesierungs-
verfahrem zu erfinden, wenn die verschiedenen schon alten be¬
kannten Methoden besser gelehrt und gelernt würden. Eine ganz
ungefährliche Narkose wird es ja nie geben, dagegen ist die
Mortalität infolge verbesserter Technik bei den Inhalations¬
narkosen schon bedeutend zurückgegangen und ist jedenfalls ge¬
ringer als bei allen neueren, sogenannten besseren Verfahren, die
man an ihre Stelle setzen wollte. Eine exakte \usbildung dar
Narkotiseure, das ist die einfachste Lösung der ganzen Narkosen
frage. Bei der allgemeinen Narkose kommt es hauptsächlich dar¬
auf an, wer narkotisiert; ein guter Narkotiseur ist fast ebensoviel
wert, wie ein guter Operateur. — (Korrespondenzbla II für
Schweizer Aetrzte 1910, 40. .Tahrg. Nr. 31, 32.) K. S.
*
219. Natr ium hyp o su 1 f u r o s u m als .1 od a l> vv a.s’c li
mittel. Von Oberarzt Dr. Fritz Snoy, zurzeit in Davos - Platz.
Um den Jodanstrich bei der Gross i c h sehen Hautdesinfektion
zu entfernen und die damit in Zusammenhang stehenden Ekzeme
zu vermeidein, empfiehlt Verl, ein altes, scheinbar vergessenes
Jodentfernungsmittel, das Natrium hyposulfurosum (Thiosulfat,
Subsulfurosum). Sowohl Jod auf der Haut als in der Wäsche wird
mit Natrium hyposulfurosum auf chemischem Wege leicht ent¬
fernt, der chemische Prozeß vollzieht sich rasch, es entstehen
Jodnatrium und Tetrathionat, die beide wasserlöslich und leicht
abwaschbar sind. Nachteile wurden weder für die Haut, noch
für die Wäsche gesehen. (Deutsche medizinische Wochenschrift
1911, Nr. 4.) - E. F.
*
220. (Aus der I. chi rurgischen Universitätsklinik in Wien.
— Vorstand: Prof. Dr. Frh. v. Eiseisberg.) Zur Frage der
Knochen zysten, zugleich ein Beitrag zur freien Kno¬
chen tr an sp Tan tati o n. Von Priv.-Doz. Dr. Hans v. Haberer.
Einen interessanten Beitrag zur Frage der Knochenplastik liefert
Verf. durch Mitteilung folgenden Falles. Es handelte sich um
eine 31jährige Frau mit Spontanfraktur infolge Knochenzyste des
Oberarmes. Es wurde fast der ganze Oberarm samt 'dem Gelenks¬
kopf reseziert. Als Ersatz diente eine Fibula, die einem wegen
Fungus genus amputierten Bein unter den strengsten aseptischen
Kautelen entnommen wurde. Das Malleolarende mit seinem
Knorpelüberzug wurde als Humeruskopf benützt, das untere Ende
wurde, zugespitzt und in den Rest des Oberarmknochens ein¬
gekeilt. lieber dem transplantierten Knochen exakte Naht der
Weichteile. Die Heilung erfolgte ganz glatt. Schon nach zehn
Tagen konnten Bewegungen mit dem Oberarm ausgeführt werden,
die Funktion besserte sich bald und tat. kann jetzt auch schwere
Arbeiten verrichten. Um das eingekeilte untere Ende der Fibula
bat sich, wie das Röntgenbild zeigt, ein fester Kallus entwickelt.
Die Transplantation lebendigen periostbekleideten Knochenmate¬
riales liefert sehr schöne Heilungsresultate, doch haften diesem
Verfahren auch manche Gefahren an, vor allein die Möglichkeit
der Uebertragung von Krankheiten. Auch im Falle des Verfassers
stammte die Fibula von einer tuberkulösen Frau, der Verfasser
bat sich aber mittels Röntgenuntersuchung früher überzeugt, daß
in dem zu transplantierenden Knochen kein tuberkulöser Herd
zu sehen ist. \ erf. hält die Gefahr der Uebertragung von Krank¬
heiten bei Beobachtung von allen Kautelen für gering, daher die
Methode für anwendbar in geeigneten Fällen. -- (Langenbecks
Archiv, Bd. 93, H. 4.) sei.
*
221. (Aus der 111. medizinischen Klinik der Universität
in Budapest. Direktor: Prof. Baron A. v. Koränyi.) Ueber
die Perkussion des Magens. Von Dr. Nikolaus Röth. Die
Bestimmung der unteren Grenze des Magens durch Orthodia¬
graphie und Schwellenwertsperkussion führt meistens zu über¬
einstimmenden Resultaten. Abweichungen kommen hauptsächlich
bei fettein, stark muskulösen Personen am aufsteigenden Teile
der Pars pylorica (Spannung des Rectus abdominis?) vor. Im
ganzen aber ist die Schwellenwertsperkussion des Magens ver¬
läßlich und wertvoll. (Zeitschrift für klinische Medizin 1910,
Bd. 71, H. 3 bis 6.) K. S.
*
222. (Aus der II. medizinischen Abteilung des Kranken¬
hauses Hamburg-Eppendorf. Oberarzt: Dr. Rumpel.) 11 a u 1-
b 1 u L u n g en, d u r c h S t a u u n g, h ervorg c r u f en a ls diagno¬
stisches Hilfsmittel beim Sch a r 1 a c h. Von Dr. C. L ee d e,
Assistenten der Abteilung. In Anbetracht der diagnostischen
Schwierigkeiten, in gewissen Fällen von Scharlach hat man stets
nach anderen Kriterien gesucht; man hat die Leukozytose, die
Eosinophilie, die Wasserm annsche Reaktion des Blutes, das
Auftreten von Azeton, von Urobilin und Urobilinogen, letzteres
als Ausdruck der beim Scharlach so oft beobachteten' Leberschädi¬
gungen, herangezogen. Im Jahre 1907 hat Hecht gewisse Haut¬
blutungen als charakteristisch für Scharlach veröffentlicht. Er hob
eine Hautfalte am Rücken oder an der Brust zwischen Zeigefinger
und Daumen und drückte einige Sekunden lang; dabei traten
petechiale Blutungen auf. Erfolgt die Blutung nur schwer, so
spricht das gegen Scharlach. Unabhängig davon hat Verfasser
auf der Scharlachäbteilung bei Venenpunktionen, die zu anderen
Zwecken vorgeuommen wurden, bemerkt, daß distal an der Stau
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 9
322
ungsbinde mit großer Regelmäßigkeit bald kleinere, bald ganz ge¬
waltige petechiale, in einigen Fällen sogar suffusionsartige Blu¬
tungen in der Haut auftraten, während dieses Phänomen bei
anderen Erkrankungen nicht aufgefallen Avar. Es wurde nun syste¬
matisch jeder Scharlachfall mittels einer um den Oberarm fest
angelegten Gummibinde gestaut, so daß die Venen deutlich hervor¬
traten, während der Puls noch gut zu fühlen Avar. Bei mehreren
hundert Scharlachkranken traten fast ausnahmslos mehr oder
weniger starke Hautblutungen auf. Bei der Kontrolle an anderen
Kranken reagierten Avohl einzelne Fälle auf Stauung mit ähnlichen
Blutunlgen, aber es zeigte sich nicht diese Konstanz. Verfasser
folgert daraus, daß der Grad der Verletzbarkeit der Hautkapillaren
individuell ungemein verschieden ist und daß der Scharlach sich
dadurch auszeichne, daß bei ihm die Widerstandsfähigkeit der
Kapillaren durch das Gift bedeutend herabgesetzt Avird. Verf. ging
nun daran, diese Herabsetzung nachzuweisen und bestimmte in
jedem Falle mit dem Apparat von Riva-Rocci den systoli¬
schen 'und diastolischen Blutdruck und füllte dann die Manschette
bis zu einem Druck, der erheblich unter dem diastolischen lag,
ließ sie dann mit abgeklemmtem Schlauch liegen und untersuchte
alle fünf Minuten auf Blutungen, die fin 5 bis 20 Minuten stets
auftraten. Bei den Fällen anderer Erkrankung gelang es nach
dieser Methode nur ausnahmsweise, ähnliche Blutungen fest¬
zustellen. Nur bei Masern erhielt Verf. 'ähnliche Werte. Wie lange
diese Neigung zu Hautblutungen nach überstandenem Scharlach
fortbesteht, konnte nicht eruiert werden, da die Patienten meist
am 42. Tage entlassen wurden. Die Mehrzahl zeigte jedoch am
42. Tage noch das Phänomen. Unter etwa 200 Scharlach fällen
täuschte die Reaktion bei einer Frau mit Lues', ohne Scharlach.
Nur in einem, klinisch sichergestellten schweren Falle Avar die
Reaktion auch bei Aviederholten Versuchen nicht zu erzielen.
Bei Masern konnte Verf. nur in elf Fällen über das Auftreten
der Stauungsblutungen Untersuchungen anstellen; sieben Kinder
zeigten 'deutlich positiven Ausfall, drei Kinder negativen. Er hatte
jedoch den Eindruck, als ob die Kapillaren bei Masern weniger
stark verändert sind als beim Scharlach. Nach diesen Versuchen
nimmt Verfasser an, daß beim Scharlach fast ohne Ausnahme
eine pathologisch gesteigerte Verletzbarkeit der Kapillaren be¬
steht. und glaubt, daß dieses Symptom diagnostisch zu verwerten
ist. Nach seinen Erfahrungen ist der negative Ausfall des Stau¬
ungsversuches als fast sicheres Kriterium gegen den Scharlach
zu verwenden, während der positive Ausfall nur zusammen mit
den übrigen Symptomen zu verwenden ist. — (Münchener medi¬
zinische Wochenschrift 1911, Nr. 6.) G.
*
223. (Aus der chirurgischen Poliklinik des Krankenhauses
der jüdischen Gemeinde in Berlin. — Leiter: Prof. Dr. F. K a-
rewski.i Ueber thyreotoxische Symptome nach Jod¬
medikation. Von Dr. Georg Wolfsohn, Chirurg in Berlin.
Auf die Gefahren der Jodmedikation ist gerade in den letzten Mo¬
naten (Krehl, Römheld u. a.), besonders nachdrücklich auf¬
merksam gemacht AArorden. Nicht nur bei Strumakranken, sondern
auch bei Menschen ohne fühlbare Schilddrüse sollte die Darreichung
des Jods keineswegs ohne strenge ärztlich e Ueber wach ung
staltfinden. Das lehren auch die Beobachtungen des Verfassers. Ein¬
mal handelte es sich um eine 42jährige Frau mit sehr großen,
auf variköser Basis beruhenden Unterschenkelgeschwüren. Da die
Ulzera auf Bestreuen mit Peruformestonpulver nach einigen Wochen
keine Heiltendenz zeigten, verordnete man ihr, Avegen Verdachtes
auf Lues, Solut. kali jodati 20 : 200, dreimal täglich einen Tee¬
löffel voll zu nehmen. Schon tags darauf zeigte die Kranke eine
deutliche, ziemlich Aveiche Vergrößerung beider Schilddrüsenlappen,
Aveder schmerzhaft, noch druckempfindlich ; weiterhin einen deut¬
lichen Tremor der Augenlider, der Zunge und der Finger; eine
Pulsbeschleunigung von 128 in der Minute bei starkem Herzklopfen
und sehr erregter Herzaklion ; schließlich eine geringe Verbreiterung
des Herzens nach links. Kein Fieber. Nach dem Aussetzen des
Jods schwinden sämtliche Erscheinungen im Laufe einer Woche.
Als sie nach drei Monaten Aviederkehrte und die Ulcera cruris noch
ziemlich unverändert Avaren, wurde sie mit Vioformpulver ver¬
bunden. Eine halbe Stunde nach Anlegung des Verbandes
verspürte Pat. ein starkes Brennen und Jucken auf der Haut des
Unterschenkels. Abends Avurde der Hals Avioder dicker und die
Haut des ganzen Körpers rötete sich. Tags darnach konstatierte
man wiederum die ungemein deutliche, schmerzlose SchAvellung
beider Schilddrüsenlappen bei normaler Temperatur, einen deut¬
lichen Tremor der Hände und ein ausgebreitetes, stark juckendes
Erythem des ganzen Körpers. Vioform (Jodchloroxychinolin) enthält
Jod. Es wurde entfernt und ein Verband mit essigsaurer Tonerde
angelegt. Pat. erschien nicht Avieder. Diese Kranke, die früher keine
Schwellung der Schilddrüse nachweisen ließ, reagierte also rasch
auf die innerliche oder äußerliche Einverleibung von Jod mit
schweren thyreotoxischen Symptomen. In biologischem Sinne muß
dieser Zustand als echte Ueberempfindlichkeit (Anaphylaxie) be¬
zeichnet Averden, Avas C. Bruck für eine Anzahl von Arznei-
ejyanthemarten durch Tierversuche strikte beAviesen hat. Eine Analogie
der erAvähnlen Symptome mit dem sogenannten Jodbasedow
(trotz des Fehlens einer Struma) ist nicht zu verkennen. Auch
einen solchen Fall hat Verf. in der Privatpraxis beobachtet. Ein
37jähriges, von Kindheit an nervöses und kropfkrankes Fräulein
erhielt vor fünf Jahren von einem Arzte Jod und Schilddrüsen-
tablelten. Seit dieser Zeit Avar ihr Zustand plötzlich wesentlich
verschlimmert, sie bekam Herzklopfen und Herzbeklemmungen,
häufig Anfälle von Zittern und Bewußtlosigkeit, Schweißausbrüche,
Heißhunger, Durchfälle und Erbrechen. Sie hat auch an Gewicht
verloren. Jetzt hatte sie eine Herzverbreiterung, Tremor, 130 Puls¬
schläge, eine über faustgroße Schilddrüse, zum Teile hinter dem
Sternum gelegen, deutlichen Stridor, doppelseitigen Exophthalmus,
G r a e fe, M o e b i u s und S t e 1 1 av a g positiv, doppelseitige Ovarie etc.
Dieser echte Jodbasedow läßt augenblicklich auch nicht die Strum-
ektomie zu. Verf. entnahm der SchAverkranken etAvas Blut und
machte nun folgenden Versuch: Er nahm drei Meerschweinchen,
injizierte dem ersten 5 cm3 Serum der Kranken, dem zweiten eben¬
falls 5 cm3 Serum eines gesunden Menschen, das dritte war ein
unbehandeltes Kontrolltier. Die drei Meerschweinchen bekamen
nach 24Stunden die gleiche Menge 10%ioen Jodoformöls subkutan
injiziert, u. zav. nach Brucks Vorschrift 0 33 g Jod pro Kilo¬
gramm Körpergewicht. Die Meerschweinchen 2 und 3 blieben
gesund, das erste aber konnte sich schon nach zAvei Minuten nicht
mehr beAvegen, bekam bald tonisch-klonische Zuckungen, atmete
sehr mühsam und slarb nach einer Stunde. Die Sektion hat an
den inneren Organen keine Veränderung ergeben. Es ist damit
der Nachweis erbracht, daß im Falle von JodbasedoAV im Organis¬
mus, resp. im Blutserum geAvisse Stoffe vorhanden sind,
welche mit Jodei Aveiß in sp ezi fisc her W eise reagieren,
so daß das Bild der biologischen Anaphylaxie zustande kommt. —
(Deutsche med. Wochenschr. 1911, Nr. 5.) E. F.
*
224. (Aus der chirurgischem Abteilung des Städtischen
Krankenhauses am Urban zu Berlin. — - Direktor: Geh. Rat Pro¬
fessor Dr. Körte.) Ueber das Schicksal von eiliger
nähten Silberdrahtnetzen zum Verschluß von Bruch¬
pforten. Von Dr. Riem. Verf. hat die Fälle, bei welchen Silber¬
drahtnetze zum Verschluß der Bruchpforten eingelegt wurden, nach
Jahren Avieder nachuntersucht, um sich über das Schicksal der
eimgewachseinem Netze zu orientieren. Die Röntgenuntersuchung,
die zu Hilfe genommen Avurde, hat die Hoffnung zerstört, als
ob die Drahtnetzei in ihrer Form und Festigkeit dauernd erhalten
blieben und die Bruchpforten verschlossen hielten. Es hat sich
herausgestellt, daß die Netze durch die Körpersäfte arrodiert und
dann durch Muskelzuig zerbrochen wurden. Von acht photo¬
graphierten Netzen Avar eines nur in Form und Struktur er¬
halten, die übrigen lagen entweder geknickt oder völlig zerbrochen,
manchmal in ein regelloses Gewirr von Drähten verwandelt, oft
abseits von der Bruchpforte. Diese Zerstörungen fanden sich
auch bei alten Frauen und Männern, die keine schwere körper¬
liche Arbeit verrichteten. Die Netze Avaren, Avie die Erfahrung
bei einer Sektion lehrte, in dickes Bindegewebe eingebettet, das
verhindert aber nicht, daß die freien Drahtenden gefährlich werden
können; da die Netze sich senken und wandern,; wäre gelegentlich
eine Anspießung größerer Gefäße (Arteria iliaca externa oder
Arteria epigastrica inferior) möglich. Ferner ist auch manchmal
Fistelbildung mit Ausstoßung von Netzteilen eingetreten. In An¬
betracht dieser Gefahren empfiehlt Verf. Drahtnetze nur in Aus¬
nahmsfällen. bei älteren, dekrepiden Personen mit atrophischen
Knochen, bei Avelchen eine Knocheneinlagerung in die Brach-
Nr. !)
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
pforte nicht möglich ist, zum Verschluß von Bruchpf orten herau-
zuziehen. — (Langeibecks Archiv, Bd. 92, H. 4.) se.
♦
225. Eine Tabakpsychose bei einem 13jährigen
Knaben. Von Prof. P. K. Pel in Amsterdam. Im allgemeinen wird
in den ärztlichen Kreisen die Schädlichkeit des Tabakmißbrauches
unterschätzt. Es ist auch gewiß kein Zufall, daß Verfasser
gerade die schwersten Nikotinintoxikationen unter den Aerzten
selbst gefunden hat. Die Art und Weise der Intoxikation ist
eine recht verschiedene. Auch hier verleugnet sich die individuelle
Reaktion nicht. Der eine bekommt Kopfschmerzen, der zweite
wird anämisch, der dritte nervös und schlaflos, der vierte zeigt
Herzstörungen (Herzklopfen, Arhythmie, Tachykardie, anginöse Be¬
schwerden, sogenannte Tabaksangina), der fünfte Störungen des
Gesichtsvermögen (Amblyopie mit konzentrischer Einschränkung
des Gesichtskreises und des Farbensinnes, besonders für rot
und grün oder ein zentrales Flimmerskotom), der sechstel bekommt
prämature Sklerose der Gefäße, namentlich der Herz- und tlirn-
gefäße und wieder ein anderer klagt über Magen-, resp. Ver¬
dauungsbeschwerden (Anorexie, Dyspepsie, kardialgische Anfälle,
Magensaftfluß usw.), um von chronischer Pharayngitis, Zungen¬
katarrh, Leukoplakie zu schweigen. In vereinzelten Fällen ent¬
wickelte sich sogar eine veritable Psychose. Da diese Fälle selten
sind, teilt Verfasser einen an seiner medizinischen Klinik bei
einem 13jährigen Knaben beobachteten Fall mit. Ein bis dahin
gesunder, gehorsamer, fleißiger und liebenswürdiger Knabe kam
als Arbeiter in eine Zigarrenfabrik, wo er den ganzen Tag weilte
und fortwährend Zigarren rauchte — 10 bis 20 Stück täglich.
Sein Appetit schwand ganz, Sein ganzer Charakter änderte sich:
er wurde ungezogen, ungehorsam, war stets schlechter Laune,
öfters mehr oder weniger absent, über Zeit, und Ort nicht genau
orientiert, ab und zu kamen Halluzinationen vor. Bald ist er
lebhaft, singt und pfeift, dann kommen wieder lang andauernde
Weinkrämpfe, während welcher er nach seiner Mutter ruft usw.
Erregung, Verstimmung und Heiterkeit wechseln in rascher Reihe.
Seine Bewegungen, auch sein Denken sind träge. Von Lues, Alko¬
holismus u. dgl. keine Spur. Er zeigt nur leichte Herzarhythmie,
keine Herzstörungen., die Patellarreflexe sind abgeschwächt, die
Wadenmuskeln sind auf Druck empfindlich, sonst nichts Ab¬
normes. Bei den Knaben handelte es sich also um eine toxische,
u. zw. um eine Tabakspsychose. Daß man in diesem Falle die
sonstigen charakteristischen Anzeichen des chronischen Nikoti-
nismus (Kopfschmerzen, zentrales Skotom, Amblyopie, Herz¬
beschwerden usw.) vermisse, sei kein Grund, die Annahme einer
Tabakpsychose zu verwerfen. Das komme auch bei anderen
Krankheiten vor, z. B. gebe es eine urämische Intoxikation ohne
Kopfschmerzen und Erbrechen, eine Pleuritis ohne Schmerzen,
eine Pneumonie ohne Auswurf und Husten, einen Basedow ohne
Augensymptome. Hysterische Frauen mit einer hysterischen
Hemiplegie klagen ferner relativ selten- über Globus- und Klavus-
gefühl, während die mit diesen Sensationen behafteten nur selten
von einer Hemiplegie befallen werden. Es ist übrigens nicht
zu verwundern, daß gerade bei diesem kleinen Jungen die psy¬
chischen Störungen in den Vordergrund traten, weil das Zentral¬
nervensystem der Kinder für Gifte außerordentlich empfindlich
zu sein pflegt. Die Prognose dürfte günstig sein, die Therapie hat
in Ruhe, guter Pflege, Verabfolgung lauwarmer Bäder, Enthaltung
von Tabak zu bestehen. Zum Schlüsse sagt Verfasser, er wolle
keineswegs den Erwachsenen den Tabakgenuß ganz und gar ver¬
bieten, er rate ihnen nur Mäßigkeit im Genüsse an; von drei
Zigarren täglich habe er nie Schaden gesehen, von individuellen
Idiosynkrasien gegen Nikotin abgesehen. — (Berliner klinische
Wochenschrift 1911, Nr. 6.) E. F.
♦
226. (Aus der kantonalen Universitätsfrauenklinik Zürich.
— Prof. Dr. Th. Wyder.) Zur Behandlung* der Post par-
tum-Blu tungen durch künstliche Blutleere der un¬
teren Körperhälfte nach Momburg. Von Dr. Alois von
Reding, Assistenzarzt. Das Verfahren nach Momburg be¬
steht in folgendem: Ein gut fingerdicker Gummischlauch wird
dem liegenden Patienten unter voller Ausnützung der Elasti¬
zität langsam in zwei bis vier Touren zwischen Beckenschaufel
und Rippenrand gelegt bis die Pulsation der Arteria femoralisi
nicht mehr fühlbar ist. Dieses Verfahren wurde in der Züricher
Frauenklinik seit Ende 1909 fast regelmäßig bei allen größeren
Nachgeburtsblutungen angewendet. In 28 von 30 Fällen wurde
der gewünschte Erfolg erzielt und konnte der Schlauch nach
10 bis 20 Minuten langsam und vorsichtig (zur Vermeidung von
gefährlichen Nebenwirkungen) gelockert werden. Die Umschnü¬
rung wurde von den Frauen größtenteils gut ertragen. Nur bei
drei Frauen war die zirkuläre Konstriktion mit sehr heftigem
Schmerzen in den unteren Extremitäten und dem Gefühl von
Beklemmung in der Herzgegend verbunden; hiebei ist aber zu
bedenken, daß bekanntermaßen ausgeblutete Frauen sehr oft über
Schmerzen in den Extremitäten klagen, also derartige Schmerz¬
attacken der jMom bürg sehen Konstriktion nicht allein zur
Last fallen dürften. Erbrechen, Atemnot, Lähmungen der unteren
Extremitäten, Schädigungen des Darmes, Durchfall, Urin- oder
Stuhlverhaltung wurde nicht beobachtet. Mißerfolg, resp. sein-
geringer Erfolg zeigte sich in zwei Fällen. In einzelnen Fällen
wurde bei schwer anämischen Frauen, seltener bei herzkranken
und dekrepiden Individuen schwerer Kollaps, auch mit tödlichem
Ausgange beobachtet. Ob derartige Zufälle dem Momburgschen
Verfahren ausschließlich zur Last zu legen sind, darüber ist
vorläufig keine Entscheidung möglich. Es ist ebenso möglich,
daß der Kollaps Folge der pathologischen Zustände war, wie,
daß es sich bei Anlegen und Abnahme des1 Schlauches um eine
Shockwirkung handelt (Vagusreizung wie beim Goltz schein
Klopfversuch), zu dessen Vermeidung es vielleicht angezeigt wäre,
bei ausgebluteten Frauen vor Anlegung des Schlauches oder
wenigstens vor Loslösen desselben steile Beckenlagerung vor¬
zunehmen, wodurch einer Stauung des Blutes in den großen Bauch¬
venen, sowie der konsekutiven Gehirn- und Herzanämie vorge¬
beugt werden könnte. Jedenfalls ist bei stark anämischen oder-
schwer herzkranken Frauen Vorsicht geboten, anderseits ergibt
sich daraus, daß bei Nachgeburtsblutungen mit dem Anlegen
des Schlauches nicht zu lange gezögert werden darf, damit nicht
erst größerer Blutverlust eintritt und also die künstliche Blut¬
leere der unteren Körperhälfte ohne Schaden leichter ertragen
werde. Im ganzen läßt sich aber sagen, daß das Momburgsche
Verfahren für gesunde, nicht sehr anämische Frauen ein ganz
irrelevanter Eingriff ist und dem praktischen Arzte bestens em¬
pfohlen werden kann, weil die Technik einfach ist und nur ge¬
ringe Uebung erfordert. Der Momburgsche Schlauch ist zwar
auch kein ideelles Mittel, vielleicht hilft er aber mit, die Zahl
der Todesfälle infolge Nachgeburtsblutung weiter herabzudrücken.
Allerdings dürfte man -es nicht zulassen, daß die Hebammen mit
ihren geringen Kenntnissen und Fähigkeiten davon Gebrauch
machen, wie sogar einige Geburtshelfer vorgeschlagen haben. -
Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg., H. 32.)
K. S.
*
Aus französischen Zeitschriften.
227. lieber die klinische Diagnose, der Amyloid¬
niere. Von P. Vandervelde. Das Bestehen einer Amyloid¬
niere kann übersehen werden, wenn die Symptome der Erkran¬
kung, auf deren Boden sich die Amyloidniere entwickelt hat,
oder von komplizierenden Erkrankungen im Krankheitsbild vor¬
herrschen. In der internen Medizin kommen hauptsächlich die
ini Anschluß- an die Lungenschwindsucht entwickelten Fälle von
Amyloidniere zur Beobachtung; Eiweiß findet sich im Harn bei
ungefähr 33% der Fälle von Lungenschwindsucht. Nach den
Erfahrungen des Verfassers, die sich auf 34 Fälle beziehen,
geht die Amyloidniere immer mit Albuminurie einher und es
ergibt sich die Frage, ob es möglich ist, die durch die Amyloid¬
niere hervorgerufene Albuminurie von den anderen Formen der
tuberkulösen Albuminurie zu unterscheiden.' Es gibt kein patho-
gnomonisches Symptom, welches die Unterscheidung der Amyloid¬
niere von den anderen bei Tuberkulösen vorkommenden Nieren¬
affektionen gestattet; die spärlichen Formelemente, die man bei
Amyloidniere im Harne findet, zeigen gegenüber Farbstoffen
das gleiche Verhalten, wie die bei anderen Nierenläsionen ge¬
fundenen Formelemente. Eine Unterscheidung läßt sich nur durch
Messung der 24stündigen Harnausscheidung, Bestimmung des
Harnstoffs, der Chloride und des Eiweißgehaltes, mikroskopische
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. Hill.
Nr. 9
324
Untersuchung des zentrifugierten Harns und die Methylenblau¬
probe gewinnen. Für Amyloidniere spricht beträchtliche Albu¬
minurie mit bedeutenden täglichen Schwankungen, eine der Menge
der eingeführten Chloride proportionale Ausscheidung, schwache
Harnstoffausscheidung, ferner regelmäßige und rapide Elimination
des eingeführten Methylenblaus. Die Wahrscheinlichkeit wird zur
Sicherheit, wenn im Harne nur spärliche Zylinder und Nieren-
epithelien gefunden werden. Im Beginn der Amyloiddegeneration
besteht gewöhnlich Polyurie, im vorgerückten Stadium wird Oli¬
gurie, selbst. Anuri e, beobachtet. Die Differentialdiagnose gegen¬
über Nierentuberkulose bietet keine Schwierigkeit, weil bei noch
geschlossenen tuberkulösen Herden die Albuminurie fehlt und
auch nach Durchbruch der Herde nicht konstant, sondern schub¬
weise au ftritt. Die bei Tuberkulösen beobachteten Formen von
Nephritis zeigen das gleiche Verhalten wie andere Nephritis¬
formen Retention der Chloride, Zylindrurie, langsame und
unregelmäßige Ausscheidung des eingeführten Methylenblaus
so daß die Unterscheidung von der Amyloidniere nicht schwer
fällt. Größere diagnostische Schwierigkeiten können entstehen,
wenn sich epitheliale Nephritis zur Amyloidniere gesellt, doch
weist das Fehlen von Blutdrucksteigerung, die Seltenheit und
Flüchtigkeit der Oedeme, sowie die nur schwache Ausprägung
urämischer Erscheinungen, auf das Vorhandensein der Amyloid¬
niere hin. — (Journ. med. de Brux. 1910, Nr. 46.) a. e.
*
228. Ueber einen Fall von Laboratoriumsinfek¬
tion mit Maltafieber und die Notwendigkeit prophy¬
laktischer Maßnahmen, sowie der Anzeigepflicht.
Von F. Widal, L e o n - K i n d b erg und C o t o n i. Das Maltafieber,
welches von seinem Ausgangspunkt auf alle Mittelmeerländer sich
ausgebreitet hat, wird u. a. auch sowohl sporadisch, als auch
in Form von kleinen Epidemien in Frankreich beobachtet. Als
hauptsächliche Infektionsquelle des Maltafiebers, welches durch
den Micrococcus melitensis hervorgerufen wird, sind die Ziegen
anzusehen, durch deren infizierte Milch die Ansteckung des
Menschen erfolgt. Aber auch durch bloßen Kontakt mit erkrankten
Ziegen, sowie durch das Blut der Tiere kann z. B. bei Schlächtern
die Infektion erfolgen. Die Verseuchung des Bodens erfolgt durch
den Harn der erkrankten Menschen und Tiere. Auch die bloße
Manipulation mit Kulturen des Micrococcus melitensis kann An¬
steckung herbeiführen; es sind bisher relativ zahlreiche Fälle
von Laboratoriumsinfektion mit Maltafieber beschrieben worden,
welchen die Verfasser eine neue Beobachtung hinzufügen. Die
Erkrankung zeigte die typischen Symptome — wellenförmigen
Temperaturverlauf, Muskelschmerzen und profuse Schweiße. Im
Blute und Harne wurde der Micrococcus melitensis nachgewiesen,
Agglutinations- und Fixationsreaktion zeigten positiven Ausfall.
Bei der Leichtigkeit der Ansteckung bei Kontakt mit lebenden
Kulturen des Micrococcus melitensis empfiehlt es sich, zur Agglu¬
tinationsreaktion mit Formal abgetötete Kulturen zu verwenden,
wodurch der Ausfall der Reaktion nicht beeinträchtigt wird. Die
wichtigste Maßnahme der allgemeinen Prophylaxe ist das Verbot
dies Genusses roher Ziegenmilch, sowie der Einführung von
Ziegen aus Malta. Eine Grundbedingung der erfolgreichen Durch¬
führung der prophylaktischen Maßnahmen ist die Einführuüg
der Anzeigepflicht bei Maltafieber. — (Bull, de l’Acad. de Med.
1910, Nr. 36.) a. e.
*
229. Ueber die Porgessche Reaktion bei Idioten
und Geisteskranken. Von Olivier und Pellet. Unter den
zahlreichen Methoden zum Nachweis spezifischer hämolytischer
und präzipitierender Substanzen im Serum von Syphilitischen
besitzt die Wasserm an n sehe Reaktion die größte Verläßlich¬
keit, ist jedoch in technischer Hinsicht kompliziert, so daß als
Ersatz verschiedene einfachere Verfahren vorgeschlagen wurden.
Die P orgessche Reaktion, welche auf der Kombination von hämo¬
lytischen und präzipitierenden Substanzen des Serums oder der
Zerebrospinalflüssigkeit mit bestimmten Lipoiden beruht, ist von
einfacher Ausführung. Es wird zu dem zentrifugierten und inak¬
tivierten Serum eine l%ige mit erwärmtem destillierten Wasser
bereitete Lösung von Natriumglykocholat zugesetzt. Das Blut
wird direkt aus der Vena mediana cephalica oder mit Hilfe eines
Schröpfkopfes gewonnen. Die Untersuchungen erstreckten sich
auf 50 Fälle; von 24 Idioten gaben 14 = 58-7 %, von 6 Para¬
lytikern 5 = 83-3% positive Reaktion, bei Dementia praecox,
Dementia ©pileptica und verschiedenen Psychosen, im ganzen
20 Fälle, wurde bei 30% positive Reaktion konstatiert. Bemerkens¬
wert ist der relativ hohe Prozentsatz der positiven Reaktionen
•bei Idiotie im Vergleich zu dem sonst festgestellten Prozentsatz
hinsichtlich der Beziehungen zwischen hereditärer Syphilis und
Idiotie, wo in keiner Statistik mehr als 20% hereditär Syphiliti¬
scher sich finden. Bezüglich der Wasser man naschen Reaktion
bei Idiotie gehen die Angaben weit auseinander. Der hohe Pro¬
zentsatz der positiven Porgesschen Reaktion bei Idiotie findet
zum Teil darin seine Erklärung, daß positiver Ausfall auch bei
Tuberkulose, Kachexie usw. beobachtet wird, welche Zustände
bei Idioten sehr häufig Vorkommen; in einer Statistik findet sich
hereditär© Belastung mit Tuberkulose bei 57-1% der untersuchten
Idioten notiert. Bezüglich des positiven Ausfalles der Reaktion
bei progressiver Paralyse geben die anderen Statistiken niedrige
Werte an ; unter den sechs untersuchten Paralytikern reagierten
5 positiv, darunter 4 mit nachweisbarer Syphilis, bei einem negativ
reagierenden Fall wurde gleichfalls anamnestisch Syphilis an¬
gegeben, doch lag die Infektion sehr weit zurück. Unter den
übrigen Fällen war ein Fall von Verworrenheit mit positiver
Rieaktion (bei einer Patientin, die vor neun Jahren Syphilis
durchgemacht hatte, bemerkenswert. Unter den untersuchten
Fällen befanden sich acht mit nachgewiesener Syphilis, von
welchen sieben positive Porgessche Reaktion gaben. — (Pr ogres
med. 1910, Nr. 48.) a. e.
*
230. Ueber die klinische Diagnose der tuberku¬
lösen Appendizitis. Von Le jars. Das Vorkommen von
Fällen, wo die Tuberkulose des Wurmfortsatzes unter der Form
der akuten oder chronischen Appendizitis auftritt, führt zur
Frage nach dem Vorhandensein von Symptomen, welche die
richtige Diagnose ermöglichen. Es sind hier jene Fälle auszu¬
scheiden, wo die tuberkulöse Appendizitis zu einer bereits vor¬
geschrittenen Ileocökaltuberkulose hinzutritt. Besondere Schwie¬
rigkeiten kann die Unterscheidung der akuten tuberkulösen Appen¬
dizitis von den anderen Formen der Appendizitis bieten. Als
einziges verwertbares Symptom ist hier die Distension des Ab¬
domens, welche auch nach Milderung und Lokalisation der
Schmerzen fortbesteht, zu verwerten. Die Erfahrungen bei der
Operation zeigen, daß die Distension des Abdomens öfter durch
Ansammlung von Aszitesflüssigkeit bedingt ist. Auch in nicht
operierten Fällen gestattet der Nachweis von Aszites nach Ablauf
der akuten Erscheinungen den Schluß auf die tuberkulöse Natur
der Erkrankung. Eine eigene Gruppe bilden die nicht seltenen
Fälle, wo die tuberkulöse Peritonitis nach latenter Entwicklung
sich unter den Erscheinungen der akuten Appendizitis äußert.
Auch hier ist die Distension des Abdomens', insbesonders, wenn
ihr Bestehen vor Auftreten des akuten Anfalls festgestellt wird,
ein wertvoller Behelf der Diagnose; auch sind die akuten Er¬
scheinungen meist flüchtig und wenig ausgeprägt, was bei der
bestehenden starken Auftreibung des Abdomens, besonders auf¬
fällig erscheint. In solchen Fällen ist ein Eingriff indiziert, weil
die Entleerung des Aszites durch eine Inzision, eventuell in
Kombination mit der Exstirpation des Wurmfortsatzes, bei der
tuberkulösen Peritonitis das rationelle Heilverfahren darstellt.
Auch die chronischen Formen der tuberkulösen Appendizitis
können diagnostische Schwierigkeiten bieten, wie auch ander¬
seits Fälle gewöhnlicher chronischer Appendizitis durch die be¬
gleitende Abmagerung und die Ausdehnung der Schwellung den
Verdacht auf Tuberkulose erwecken können. Für Tuberkulose
spricht das gleichzeitige Vorhandensein tuberkulöser Erkrankung
in anderen Organen, z. B. in der Lunge, ferner das1 Bestehen
eines ausgedehnten Tumors in der rechten Fossa iliaca, ohne
daß Fieber oder andere Reaktionsefscheinungen nachweisbar
oder anamnestisch feststellbar sind, ferner das Vorhandensein
von Aszites, wenn auch nur mäßigen Grades. Klinisch sind die
reine tuberkulöse Appendizitis, die tuberkulöse Appendizitis mit
tuberkulöser Peritonitis, die einfach entzündliche Appendizitis
im Gebiete einer tuberkulösen Peritonitis und die tuberkulöse
Peritonitis ohne eigene Läsion des Wurmfortsatzes1, auseinander¬
zuhalten. — (Sem. möd. 1910, Nr. 47.) a. e.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
325
Aus amerikanischen Zeitschriften.
231. Die Mischinfektion bei der Tuberkulose und
ihre Behandlung. \ on James K. Young. Der Autor kommt
für die chirurgische Tuberkulose, soweit an ihr außer dem Tu¬
berkelbazillus noch andere Bakterien beteiligt sind, zu folgenden
Schlüssen: 1. Bei der B a k t e r i n Behandlung (Bakterie ist die
allgemeine Bezeichnung für ihrer Provenienz nach verschiedene
aus abgetöteten Bakterien borgestellte Vakzine), soll jede Ope¬
ration, welche zur Entleerung abgeschlossener Eiterherde not¬
wendig ist, gleichzeitig ausgeführt werden. 2. Wenn möglich, soll
immer der opsonische Index zur Kontrolle der Impfungen be¬
stimmt werden. 3. Zur Herstellung des Bakterius sollen, wenn
tunlich, autogene Stämme verwendet werden. 4. Man beginne
immer mit mäßigen Dosen. 5. Die Bakterinbehandlung gibt nicht
oft befriedigende Resultate, wenn Septikämie vorhanden ist. 6. Die
Behandlung der Tuberkulose mit Tuberkulin ist von einigem
Werte. Dieser kann aber gegenwärtig noch nicht genau bestimmt
werden. — (Monthly Cyklopaedia and Medical Bulletin, Dezember
1910.) sz.
*
232. Zwei Fälle von symmetrischer Nekrose der
Nierenrinde bei puerperaler Eklampsie und Harn¬
verhaltung. Von R. Jardine und J. Teacher. Die^beiden
Fälle betrafen Eklampsie im siebenten und achten Monate der
Schwangerschaft, gefolgt von Harnverhaltung. Bei der Nekropsie
erwies sich der größere Teil der Rinde beider Nieren als nekro¬
tisch. Dichte fibrinöse Thromben wurden in den die nekrotischen
Gebiete versorgenden Arterien gefunden und die Autoren halten
diese für die zweifellose Ursache der Nekrose. Die Thrombose
wurde vielleicht durch lokalen arteriellen Spasmus eingeleitet.
(The 'Journal of Pathology and Bacteriology 1911, Bel. 15, S. 137 )
233. (Aus dem Rockefeller-Instilut in New York.) Die Ein¬
leitung von Sporulation hei zur Gruppe des Aero-
genes cap s u 1 a tu s gehörenden Bazillen. Von M. P. F i tz
gerald. Der Autor fand, daß man die Sporulation bei auf
Peptonbouillon wachsendem Bacillus aerogenes capsulatus durch
Zusatz von Arabinose, Raffinose, Inulin, Dulzit, Isodulzit, Mannit
und Amygdalin einleiten könnte, wobei die letzten beiden Zusätze
besonders günstig wirken. Keine Sporulation wurde mit Glukose,
Rohrzucker, Laktose und Maltose erzielt, welche von den Ba¬
zillen unter Säurebildung zerlegt werden. Im allgemeinen ist
Säure der Sporulation hinderlich, Alkali dagegen derselben günstig.
Eine N/50 — N/100-Alkaleszenz gibt die besten Resultate. - (The
Journal of Pathology and Bacteriology 1911, Bd. 15, S. 147.)
234. Ueber die Lymphgefäße des Rückenmarkes.
Von A. Bruce und J. W. Dawson. Man glaubt allgemein, daß
es rings um die Blutgefäße, die in die Substanz ties Rückenmarkes
eindriugen, zwei voneinander unabhängige Lymphgefäßsysteme
gibt: 1. eine Fortsetzung des subarachnoidalen Lymphraumes
im lockeren Gewebe der Adventitia in das Lymphsystem der
letzteren. 2. Ein außerhalb dieser zwischen der Adventitia und
der Membrana limitans perivascularis liegendes, bekannt als der
perivaskuläre Lymphraum von His. Dieser wurde einerseits als
zusammenhängend mit dem epispinalen Lymphraume von H i s
zwischen der Pia und dem Rückenmark, anderseits mit dem peri-
zellulären Lymphraume Obersteiners, welcher die Ganglien¬
zellen umgibt, angenommen. Die Autoren fanden, daß an Ge¬
weben, die nach der Zenker sehen Methode fixiert und sehr
vorsichtig mit Alkohol behandelt werden, kein epispinaler, peri¬
vaskulärer oder perizellulärer Lymphraum vorhanden ist. Sie
betonen, daß künstliche Injektionen zu Artefakten führen und
daß die natürlichen Verhältnisse am besten gezeigt werden können
bei der natürlichen Injektion der Lymphräume durch die granu¬
lierten Zellen, die man bei- subakuter Degeneration des Rücken¬
marks findet. In diesen Fällen sieht man keine perivaskulären
oder epispinalen Räume, sondern die Lymphräume der Adventitia
und der Pia sind angeftillt mit Phagozyten, die voll von den
Restein des degenerierten Myelins sind. Die epispinalen, perivas¬
kulären und perizellulären Lymphräume sind daher Kunstpro¬
dukte. Der einzig wirkliche Lymphkanal ist der adventiticlle,
in welchem die Lymphe zum größten Teile von innen nach außen
strömt, obgleich der umgekehrte Strom auch vorkommt, wodurch
Mikroorganismen und Toxine in das Rückenmark gelangen. -~
(The Journal of Pathology ami Bacteriology 1911, Bd. 15, S. 179.)
235. Weitere Beobachtungen über die ßichromat-
H .dm atoxylin - Methode der L ip o i d f ä r h u n g. Von
J. Smith, J. Lor rain und \\ . Mair. Die Autoren glaubten
früher, daß Mischungen von Cholestearin und Fettsäuren der
Hauptbestandteil der Gewebe sei, welche sich nach der Wei gert-
scheu Myelinmethode färben, wobei dem Cholestearin die größere
Bedeutung zugeschrieben wurde. Sie fanden nun, daß sich ein
Zerebrosid aus dem Gehirne nach dieser Methode gut färbe.
Diese Substanz ist relativ unlöslich in den gewöhnlichen Fett¬
lösungsmitteln und ist im Gehirn der Neugeborenen nur in Spuren
vorhanden. Dies erklärt, warum das Nervengewebe trotz der Be¬
handlung mit Alkohol und Aether noch eine schwache Färbung
nach Weigert zeigt und warum die Markscheide bei jungen
Individuen schwerer zu färben ist als bei Erwachsenen. - — (The
Journal of Pathology and Bacteriology 1911, Bd. 15, S. 179.)
236. Die Wassermannsche Reaktion bei mit Try¬
panosomen von Nagana infizierten Kaninchen und
der Effekt ihrer' Behandlung mit Arsenophenylgly-
zin. Von C. H. Browning und J. Mac Kenzie. Normale
Kaninchen können positive und mit Trypanosomen infizierte Ka¬
ninchen negative W asserm annsche Reaktion zeigen. Die Re¬
aktion kann nach einer Kur mit Arsenophenylglyziu, einer sehr
wirksamen Substanz, bestehen bleiben und kann auch negativ
bleiben, nachdem die Krankheit durch kleine Dosen von Arseno-
phenylglyzin in die Länge gezogen wurde. Das Serum von mit
Trypanosomen infizierten Kaninchen kann, nachdem es erhitzt
wurde, positive Wassermannsche Reaktion geben, während
es nicht erhitzt, negativ reagiert hatte. — (The Journal of Patho¬
logy and Bacteriology 1911, Bd. 15, S. 182.) sz.
*
237. Der respiratorische Gas Wechsel von Mäusen
mit transplantiertem Karzinom. Von R. A. Chisholm.
Aus einer großen Reihe von Beobachtungen schließt der Autor,
daß in der Aktivität des respiratorischen Gaswechsels und im
respiratorischein Quotienten zwischen normalen und tumortragen¬
den Mäusen kein Unterschied bestehe. Die Entfernung des Tumors
bewirkt 'keine Aenderung im Gaswechsel. In den Nieren einzelner
Karzinommäuse wurde Klossiola muris gefunden. — (The
Journal of Pathology and Bacteriology 1911, Bd. 15, S. 192.)
238. Beobachtungen über die Ausscheidung der
H arnsäurebei G i c h t u n d bei rheumatischer Arthritis.
Von) W. J. Mallory. Die Arbeit stellt eine Untersuchung dar über
die Ausscheidung der Harnsäure von Kranken mit rheumatischer
Arthritis und Gicht bei einer purinfreien Kost und nach Dar¬
reichung von Nukleinsäure und Hypoxanthin. Unter 19 Fällen
von rheumatischer Arthritis war bei 10 kein Unterschied gegen¬
über der Norm zu finden. 9 Fälle zeigten jedoch eine vermehrte
Harnsäureaus'scheidung durch längere Zeit, nach der Verabreichung
purinhaltiger Substanzen. Anfälle von subakuter Arthritis folgten
öfters darauf. In dieser Hinsicht ähnelten die Fälle der Gicht.
Sie schieden jedoch einen größeren Teil des exogenen Purinstick-
stoffes als Harnsäure aus, als es die Gichtfälle taten, die von
den Autoren und von anderen beobachtet wurden. - — (The Jour¬
nal of Pathology and Bacteriology 1911, Bd. 15, S. 207.) sz.
*
239. Die Entwicklung eines primären Sarkoms
in einer zi rrhotischen Leber. Von H. D. Rol'lesiton
und R. S. Trevor. Es handelte sich um einen großen Leber¬
tumor bei einem 46jährigen Manne mit Metastas'en in der Leber
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
320
und in dem Peritoneum. Mikroskopisch zeigte die Leber typische
multilobuläre Zirrhose. Der primäre, sehr gefäßreiche, Tumor
zeigte polymorphe, in Alveolen angeordnete Zellen, die sekun¬
dären Knötchen dagegen die Struktur eines Rundzellensarkoms.
Der Tumor wurde als Häm ängiendo thel i o m betrachtet. — (The
Journal of Pathology and Bacteriology 1911, Bd. 15, S. 247.)
sz.
*
240. Der diagnostische Wert, d'er lokalen Tuber¬
kulinreaktionen. Von Th. Sachs. Von zahlreichen Beob¬
achtern gesammelte klinische Erfahrungen, welche durch Obduk¬
tionsbefunde bestätigt, wurden, beweisen die Spezifizität der lo¬
kalen Tuberkulinreaktionen. Das allgemeine Urteil geht gegen¬
wärtig dahin, daß eine positive kutane oder konjunktivale Reaktion
die Anwesenheit eines tuberkulösen Herdes in irgendeiner Stelle
des Körpers beweist, ohne die Aktivität oder Latenz des Pro¬
zesses damit anzuzeigen. Die lokalen Tuberkulinreaktionen unter¬
scheiden 'sich je nach der zur Applikation gewählten Körperstelle.
Ein vergleichendes Studium der Resultate verschiedener Beob¬
achter ist. nur unter Berücksichtigung dieses Umstandes möglich,
lieber Wolff-E isners Meinung, daß die Konjunktivalreaktion
Aktivität 'des tuberkulösen Prozesses anzeigt, ist gegenwärtig noch
kein sicheres Urteil möglich. Die Aktivität eines tuberkulösen
Prozesses kann die Ursache für eine positive lokale Reaktion
bei Anwendung sehr kleiner Tuberkulindosen sein. Weitere Ver¬
suche mit verschiedenen Tuberkulinverdünnungen und einer ver-
vollkommneten Technik, wobei insbesonders auf die gleichartige
Resorption der applizierten Tuberkulinmenge zu achten wäre-,
könnten eine Differenzierung der aktiven von der inaktiven Tuber¬
kulose vielleicht zulassen. Tuberkuloseverdächtige Fälle, in denen
sich die Kutanreaktion rasch und stark entwickelt, reagieren im
allgemeinen auch rasch schon auf geringe Mengen subkutan ge¬
gebenen Tuberkulins. Die kutane Tuberkulinprobe hat daher rela¬
tiven Wert in Fällen, wo die- subkutane Anwendung aus irgend¬
einem Grunde kontraindiziert ist. Die entscheidende Methode
bei zweifelhaften Fällen von Tuberkulose bleibt die subkutane,
besonders 'wenn eine Herdreaktion erwünscht ist. Ein ungünstiger
Einfluß der subkutanen Methode kann durch Anwendung kleiner
Tuberkulindosen (0-0002 bis 00001 mg) vermieden werden. Pir¬
quets, Wo Iff- Eisners und Calmettes Arbeiten eröffnen
ein neues Feld für weitere klinische und Laboratoriumsunter¬
suchungen, aus denen sich eine sichere, verläßlich© Methode der
Diagnose latenter und beginnender Fälle von Tuberkulose ent¬
wickeln kann. — (The Journal of the American Medical Asso¬
ciation, 21. Januar 1911.) sz.
*
Aus russischen Zeitschriften.
241. '(Aus der therapeutischen Hospitalsklinik der Charkower
Universität. — Vorstand: Prof. K. N. Georgiewski j.) Ver¬
änderungen im Blute und im Urin nach Behandlung
mit Ehrlichs „606“. Von Dr. J. S. Mag at. Die Zahl der
Leukozyten steigt während der ersten Tage nach der Injektion.
Entsprechend der Vermehrung der roten Blutkörperchen zeigt
auch der Hämoglobingehalt eine- Steigerung. Die Zahl der Leuko¬
zyten steigt einen Tag nach der Einspritzung. Die Urinunter¬
suchung läßt die Schlußfolgerung zu, daß von seiten des sekre¬
torischen Apparates der Nieren, sowie des Nierengewebes über¬
haupt keinerlei Reizerscheinungen vorhanden sind. Einen Tag nach
der Injektion wurde bei allen Patienten ein Ansteigen der Harn¬
säurewerte beobachtet; nach einigen Tagen sanken die Harn¬
säurewerte zur Norm ab. Die Untersuchungen stützen sich auf
ein Material von sieben gut beobachteten Fällen. — (Charkowskij
medicynskij Journal, Dezemberheft. 1910.) J. Sch.
*
242. Ueber Eventratio diaphragmatica. Von G. M.
Malkow, Kiew. Die Eventratio diaphragmatica - — eine selten
beobachtete Affektion — ist in streng anatomischem' Sinne nicht
als Hernie anzusehen, da ihre Wand von drei Blättern gebildet
wird : dem Bauchfell, der Pleura und dem dazwischen liegenden
Zwerchfell. Verfasser beschreibt einen Fall von Eventratio dia¬
phragmatica bei einem 35jährigen Manne, dessen subjektive Be¬
schwerden hauptsächlich in starkem Gurren im Bauche und zeit¬
weiligem Kopfschwindel bestanden. Von den objektiven Sym¬
ptomen waren die hervorstechendsten: eine Zone tympani tischen
Schalles in der Herzgegend, welche in den tympanitischen Schall
des Abdomens überging und eine Verdrängung des Herzens nach
rechts. Dieser zunächst perkutorisch und auskultatorisch auf-
geinommene Befund wurde durch genaue Röntgenuntersuchung
sichergestellt. Verf. legte sich nun die Frage nach der Pathogenese
der Eventratio diaphragmatica vor und ging dabei von der Ver¬
mutung aus, daß die Atrophie der linken Zwerchfellshälfte --
als primäre Ursache der Eventratio diaphragmatica — vielleicht
trophoneurotischen Ursprunges sei. Eine Anzahl von Tierver¬
suchen. — - es wurde gemeinsam mit Lindemann bei Hunden der
linke Phrenikus durchschnitten und hiedurch nach einigen Mo¬
naten eine streng auf die linke Seite beschränkte Zwerchfells¬
atrophie erreicht — bestätigte die Annahme des Verfassers. —
(Russkij Wratsch 1910, Nr. 51.) J. Sch.
\Zermisehte jviaehriehten.
Ernannt: Der| außerordentliche Universitätsprofessor
Dr. Alfred Kohlt zum ordentlichen Professor der Histologie an
der deutschen Universität in Prag.
*
Habilitiert: Dr. Hans Salzer für Chirurgie in Wien.
- Dr. Josef St. Hornowski für pathologische Anatomie in
Lemberg. — Dr. Walter Fischer für innere Medizin in Göttingen.
- Dr. Friedr. H ohmeier für Chirurgie in Greifswald.
*
Gestorben: Der frühere Leiter der medizinischen Poli¬
klinik in Zürich, Prof. Dr. Friedr. Ernst. — Dr. C. van Cau-
wenberghe, Professor der Geburtshilfe und Frauenheilkunde
in Gent. — Dr. Guillery, ehemaliger Professor der gericht¬
lichen Medizin in Brüssel. — . Dr. Bohr, Professor der Physio¬
logie in Kopenhagen. — Dr. Al bin i, Professor der Physiologie
in Neapel.
*
Sonntag, den 5. März d. J., um 11 Uhr vormittags,
findet im großen Festsaale der k. k. Universität in Wien die feie r-
lfche,Sitzuing der unter dem Allerhöchsten Protektorate Seiner
Majestät des Kaisers stehenden O österreichischen Gesell¬
schaft für Erforschung und Bekämpfung der Krebs-
krankheit statt. Programm: 1. Ansprache des Präsidenten
Hofrat. Prof. Dr. Anton Frh. v. Eiseisberg. 2. Das Problem
der Krebskrankheit. Vortrag, gehalten von Prof. Dr. Alexander
Fraenkel.
*
Am 18. Februar d. J. fand je eine Sitzung des Fach¬
komitees des Obersten Sanitätsrates für A rzn ei mi ttel wesen
sowie des Fachkomitees für Wasserversorgung und Abwasser¬
reinigung statt. Das erstgenannte Fachkomitee hat folgende Gegen¬
stände beraten: 1. Ueberprüfung der Grundsätze für die Preis¬
ansätze der Arzneitaxe. (Referent Hofrat Meyer.) 2. Abgabe
von Radiumemanationspräparaten außerhalb der Apotheken. (Re¬
ferent derselbe.) 3. Erklärung eines Präparates als Heilmittel.
(Referent Prof. Möller.) — lin Fachkomitee für Wasserversor¬
gung und Abwässerreinigung wurden Gutachten über folgende
Gegenstände erstattet: 1. Errichtung einer Kläranlage für Ab¬
wässer einer Färberei. (Referent Prof. Kabrhel.) 2. Entwurf
eines Wasserrechtsgesetzes. (Referent Hofrat Ludwig.)
*
In der am 21. Februar stattgefundenen Hauptversammlung
der W i e n e r A e r z t e k a m m e r erstattete Schriftführer Doktor
Frey den Tätigkeitsbericht über die Periode 1907 bis 1910.
Es steht fest, sagt der Bericht, daß die Kammer in dieser Zeit
ihre Autorität wesentlich gesteigert und ihre Machtsphäre schritt¬
weise; aber kontinuierlich erweitert hat. Die Aerztekammer ist
heute eine Institution, ohne die die Aerzteschaft nicht mehr
gedacht werden kann, die von Hoch und Niedrig in gleicher
Weise respektiert und welcher als autonome Standesvertretung
der Aerzteschaft auch von den politischen Faktoren und den
staatlichen Behörden jene Stellung eingeräumt wird, die ihr als
der legalen ärztlichen Standesbehörde gebührt. Diese achtung¬
gebietende Stellung verdankt sie in erster Linie dem Umstande,
daß sie als Kompromißkammer die Gesamtheit der Aerzteschaft
in allen ihren politischen und wirtschaftlichen Schattierungen
vertritt. Und schon aus diesem Grunde muß das Kompromiß auch
ferner aufrechterhalten bleiben. Nebst ihrer Zusammensetzung
verdankt aber auch die Kammer ihren wachsenden Einfluß ihrer
unbeugsamen Unabhängigkeit gegen oben und unten, ihrer selbst¬
bewußten, bloß auf das Wohl des Standes und der ärztlichen
Allgemeinheit gerichteten Stellungnahme gegenüber den die ärzt-
■
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
Nr. 9
327
liehen Interessen tangierenden Fragen, endlich der stets fortschrei¬
tenden Erkenntnis der Aerzteschaft von der Wichtigkeit und Erfolg¬
sicherheit des Bestandes einer autonomen Standesbehörde als
Kristallisationspunkt sozialärztlicher Bestrebungen. Gerade das
abgelaufene I riennium war besonders reich an entscheidenden
und folgenschweren Ereignissen, die die Kammer in den Bereich
ihrer Beratungen zog. Schon im ersten Jahre ihres Bestandes
hatte sich die Kammer mit der so wichtigen Krankenkassenfrage
zu befassen. Einen breiten Raum in den Verhandlungen nahm
die Regierungsvorlage betreffend die Ausübung der Zahnersatz¬
kunde und den Betrieb der Zahntechnik ein. Gewissermaßen als
Vorläuferin jener für die Zukunft des ärztlichen Standes gerade¬
zu entscheidenden Regierungsvorlage der Sozialversicherung,
dereln Durchberatung die Standardaktion des zweiten Jahres der
Kammerperiode bildete, wäre auch die Stellungnahme der Kammer
zu dem die Interessen des Aerztestandes so sehr berührende
l'rivatbeamteh Versicherungsgesetzes zu erwähnen, die zu dem
Beschlüsse führte, daß mit Rücksicht auf das von der Mehrheit
aufgestellte 'Prinzip der freien Aerztewahl sich die Kammer gegen
die Einbeziehung der Aerzte in das Privatbeamtenversichernngs-
gesetz und für die Schaffung einer allgemeinen Pensionsversiche-
ruiigskasse Mer Aerzte Oesterreichs ausspricht. Gleichzeitig wurde
ihr als der geschäftsführenden Kammer die Vorbereitung des
Kammertages übertragen. Das gesamte Riesenmaterial wurde auf¬
gearbeitet und eine Reihe wichtiger und unaufschiebbarer Referate
durch ihre Delegierten erstattet. Ich erinnere nur unter anderem
an das Referat über die bevorstehende Errichtung einer Unfall-
und TIa ftp flieh tvcrsicherucgs - Aktiengesellschaft, deren Konstituie¬
rung dem letzten Kammerjahre Vorbehalten blieb. Im letzten
Jahre der' Kammerperiode wurde der Entwurf eines neuen Straf¬
gesetzes einer bis in die feinsten Details eingehenden Kritik
unterworfen und dem XVI. österreichischen Aerzteka.mmertage
in Brünn vorgelegt. Ein weiterer Erfolg dieser Periode ist die
Gründung des ,, Kosmos“, ferner die Ernennung von praktischen
Verzten zu Mitgliedern des Obersten Sanitätsrates anläßlich der
Neukonstil uierung dieser Körperschaft. ’Ein weiterer schöner Erfolg,
wenn auch nicht von so universeller Bedeutung, ist der hei der
Verhandlung mit dem Chefärzte der „Lucina“ durchgesetzte Ver¬
trag anläßlich der Gründung des diesem Wohlfahrtsinstitute affi¬
nierten Sanatoriums, wodurch gewissermaßen ein Paradigma bei
ler Gründung ähnlicher Institute geschaffen und die Interessen
der praktischen Aerzte statutarisch gewahrt werden. Wenn ich
noch schließlich der im Zuge1 befindlichen Verländerungsaffäre
ler Kliniken und Krankenhäuser ic der Sanierungsaktion des
Krankenhausfonds gedenke und hinzufüge. daß die Kammer nber-
mals im Einvernehmen mit. der Wirtschaftlichen Organisation
und dem medizinischen Professorenkollegium der Wiener Uni¬
versität die geplante UebeiTumpelung des ärztlichen Standes ver¬
hindert und dafür Sorge trug, daß auch in Zukunft eine ähnliche
Febergehung der Aerzteschaft in dieser Angelegenheit unmöglich
'em acht wurde, so habe ich damit den aktuellsten Teil der
etzten Kammertätigkeit gestreift.
*
Der dritte Kongreß der internationalen Gesell¬
schaft für Chirurgie wird vorn 2(1. his 30. September 1911
n Brüssel stallfinden. Folgende drei Hauptthemen werden zur
•iskussion ’gestellt: 1. Lungenchirurgie. Referenten: Garre-Bonn,
t au d i er - Lille, Girard -Genf, Len or mand- Paris, Fergu¬
son-Chicago, van Stockum- Rotterdam . Saoerbruch • Mar¬
burg 'und F r i e d r i ch - Marburg. 2. Kolitis. Referenten: Sonnen-
»urg- Berlin, Sog on d -Paris, Gibs on -New York, IVA re y
’ower- London. 3. Pankreatitis. Referenten: Michel-Nancy,
V ö r t e - Berlin, Giordano. Auskünfte erteilt, der Generalsekretär
Vof. De page, Brüssel 75, Avenue Louise.
•
Wien er medizinisches Dok tor enkol'l eg ium. Die
iir Montag, den 6. März d. J., 7 Uhr abends, anberaumte,
vissonschaftlichef Versammlung des Kollegiums1, in welcher Privat-
lozent Dr. H. Winterberg über das Elektrokardiogramm, seine
heoretische und praktische Bedeutung sprechen und Privatdozent
Ir. K. J. Rotliberger elektrokardiographische Aufnahmen de¬
monstrieren wird, findet, ausnahmsweise im Hörsaale des In¬
ti lutes für allgemeine und experimentelle Path o-
°gie (Hofrat Prof. Paltauf), IX., Kiiwletrspitalgasse 15, statt.
Verein zur Erbauung eines Aerztekurhauses in
' ranzen sbad.iDer Verein zur Erbauung eines Aerztekurhauses
11 Franzensbad eröffnet für den Monat September d. J. wieder
rim Freiplätze für kurbedürftige Kollegen und deren Gattinnen.
Dieselben umfassen folgende Benefizien : Freie Wohnung in Privat¬
hausern, unentgeltliche ärztliche Behandlung, unentgeltliche Kur-
imttel, Befreiung von Kur- und Musiktaxen, freien Eintritt in die
w'sesäle ,und zu allen kurörtlichen Veranstaltungen, ferner seitens
der Theaterdirektion ein 50°/oiger Nachlaß der Eintrittspreise.
Bewerber um einen Freiplatz mögen sich bis längstens 20. August
beim Präsidium des obgenannten Vereines melden.
*
Die. Redaktion der Zeitschrift „Die Umschau“ hat einen
Preis von 1000 M. ausgeschrieben für die beste Beantwortung
der t1 rage : \\ as kosten die schlechten R a s s e n e 1 e m en t e
den Staat und die Gesellschaft? Es sollen zunächst die
Gesamtkosten, welche die Minderwertigen (Kranke, Krüppel usw.)
in einem größeren Verwaltungsgebiete verursachen, ermittelt wer¬
den. Sodann soll, soweit das vorhandene Material dies erlaubt,
der Anteil, welchen die angeborene oder ererbte körperliche,
geistige oder sittliche Minderwertigkeit an diesen Gesamtkosten
der Kranken, Krüppel, Verbrecher, Erwerbsunfähigen usw. hat
festgestellt werden. Die Herren Prof. Dr. B ec h hold, Heraus¬
geber der Umschau, Frankfurt a. M„ Sanitätsrat Dr. A. Gott¬
stein, Charl Ottenburg, Obermedizinalrat Prof. Dr. v. Gruber,
Direktor des Hygienischen Institutes der Universität München,
haben sich bereit erklärt, das Preisrichteramt für die ein¬
gehenden Arbeiten zu übernehmen. Die Bewerbungen sind spä¬
testens bis zum 31. Dezember 1911 hei der Redaktion der
„Umschau“ einzureichen .
*
Literarische Anzeigen. Vor kurzem ist der VI. Jahr¬
gang (1911) des ärztlichen Jahrbuches' für Oester¬
reich, von Dr. E. Fuhrmann in Wien, herausgegeben bei
W. Fischer, Wien IX., Universitätsstraße 6, erschienen. Preis
8 Kronen.
Immunität, Schutzimpfung und Serumtherapie.
Von Prof. A. Di end on ne. Siebente Auflage. Verlag von
J. A. Barth in Leipzig. Preis 6 M. 80 Pf. Die Imrnunitäts-
lehre, von welcher das vorliegende Werk eine zusammenfassende
Uebersicht gibt, ist in raschestem Fortschreiten begriffen. Es
ist daher selbstverständlich, daß auch die vorliegende Auflage
gegenüber der sechsten wesentliche Veränderungen. Verbesse¬
rungen und Anfügungen aufweist.
Mit Beginn des VII. Bandes hat Dr. Fr. Keys s er, Assistent
am Institut für Infektionskrankheiten in Berlin, die Redaktion
der „F o 1 i a s e r o 1 o g i c a“ übernommen. (Verlag : Dr. W. K 1 i n k-
har dt -Leipzig.) Dem ersten Hefte gibt Geheimrat Professor
Dr. v. Wassermann ein Begleitwort mit, aus dem1 zu ent¬
nehmen ist, daß das Organ, dessen Untertitel auch entsprechend
geändert wurde, den Praktikern eine Uebersicht über die ge¬
samte Arbeitsleistung auf dem 'Gebiete der theoretischen und
klinischen Serologie geben soll. Außer Gebeimrat v. Was¬
sermann treten in das Herausgeherkollegium u. a. noch ein:
A l t, A r r h e n i u s. D ö d e r 1 e i n, P. Ehrlich, Fl^xner, G a f f k y,
Heubner, Kocher, Madsen, A. Neisser, P. Roemer. —
Die Bezugsbedingungen sind unverändert geblieben, das Organ
erscheint bandweise. Der Abonnementspreis für den Band beträgt
16 Mark. f
*
Erlaß des k. k. Ministeriums des Innern vom
17. Februar 1911, Z. 1062/S, an alle politischen Landesbehörden,
betreffend Vorkehrungsmaßregeln zur Verhütung
der Pest. Die Ausbreitung der Pest in der Mandschurei gibt
zwar keinen unmittelbaren Anlaß zu einer Beunruhigung für das
österreichische Reichsgebiet, mahnt jedoch zur Vorsicht und ge¬
bietet, die Durchführung jener allgemeinen sanitären Maßnahmen
iii Betracht zü ziehen, die anläßlich der vorjährigen Choleragefahr
neuerlich angeordnet wurden und an und für sich z'ur Hebung
der öffentlichen (res und heits Verhältnisse bestimmt sind. In dieser
Hinsicht sind vor allem die Reinhaltung der Wohnungen, der
Straßen und Plätze, die Beseitigung des Hauskehrichtes und der
Küchenabfälle im Auge zu behalten. Desgleichen ist die Ver¬
sorgung mit unbedenklichem Trink- und Nutzwasser, sowie die
einwandfreie Entfernung der Abfallstoffe aus der Umgebung
menschlicher Ansiedlungen vorzusehen, bzw. zu überwachen.
Ebenso bedarf der Lebensmittelverkehr eingehender Aufsicht. Be¬
sondere Aufmerksamkeit ist der Vertilgung von Ratten, Mäusen
und dem die Krankheit, vermittelnden Ungeziefer (Flöhe, Wanzen),
welche zweifellos bei der TTebertragung der Pest eine wichtige
Rolle spielen, zuzuwenden. In Betracht kommt vor allem die
Ausrottung der Ratten in KclleiTüumen, Kanälen und Senkgruben,
in Speichern, Lagerhäusern und gewerblichen Betrieben, Als er-
328
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
probtes Mittel werden nebst den Rattenfallen das Auslegen von
Gift (Arsenik, Phosphor, Meerzwiebelpräparate usw.), der Danysz-
srhe Rattelnbazillus und das im Handel befindliche Ratin em¬
pfohlen. Noch größeren Erfolg versprechen die Vernichtung der
Brutstätten und Schlupfwinkel, die Verwahrung, bzw. Beseitigung
alb r Abfälle' in solcher Weise, daß sie für Ratten nicht zugäng¬
lich sind, sowie der Bau moderner1 Kanalisationsanlagen mit glatten
Wänden der Rohre und Durchspülung großer Wassermengen und
hiebei die Anbringung von Gittern, welche das Eindringen der
Ratten in die Wohnungen verhindern. Da frei der Pest nach ver¬
einzelten Erkrankungen die Zahl der Fälle nur allmählich zu¬
nimmt, läßt sich die Verbreitung der Krankheit bei rechtzeitiger
Ermittlung und sofortiger Isolierung der ersten, auch bloß ver¬
dächtigen Kranken, mit Sicherheit verhindern. Die k. lc. .....
wird eingeladen, im besonderen die Bestimmungen der mit Erlaß
vom 12. November 1899, Z. 38.224, hinausgegebenen Belehrung
über die Pest und die sanitären Maßnahmen zur Verhütung und
Tilgung derselben, sowie der h. o. Erlässe vom 2. Juni und vom
15. November 1899, sowie vom 27. Juli 1902, den unterstehen¬
den Behörden und Organen zur zweckmäßigen Danachachtung
in Erinnerung zu bringen und gleichzeitig auch die genaue Ein¬
haltung der noch geltenden Ministerialverordnungen vom 24. Ja¬
nuar 1897, vom 27. Mai 1898, und vom 6. Juni 1899, betreffend
das Verbot der Ein- und Durchfuhr gewisser Waren und Gegen¬
stände aus Asien, mit Ausnahme des asiatischen Rußlands und
aus Afrika einzuschärfen.
*
Die Gesundheitsverhältnisse der Wiener Ar¬
beiterschaft im Januar 1911. Bei dem Verbände der Ge¬
nossenschaftskrankenkassen Wiens und der Allgemeinen Arbeiter-
Kranken- und U n terstü tz u ng sk assc in Wien, welche einen Stand
von 310.000 (320.000) Mitgliedern, davon 280.000 (290.000) in
Wien aufweisen, betrug im Januar 1911 die Zahl der Krank¬
meldungen mit Erwerbsunfähigkeit in Wien 15.797 (10.844). Davon
entfielen auf Tuberkulose der Atmungsorgane 1201 v 1056), andere
Erkrankungen der Atmungsorgane 3437 (1763), Anginen 068 (428),
Lungenentzündungen 62 (41), Influenzen 3004 (554), Erkrankungen
der Zirkulationsorgane 376 (383), Magen- und Darmerkrankungen
639 (739), rheumatische Erkrankungen 1006 (1020), auf Ver¬
letzungen (Betriebsunfälle) 1955 (1802) Erkrankungen. Die Zahl
der Todesfälle betrug im Jänner 1911 348 (232). Davon entfielen
auf Tuberkulose 139 (84), andere Erkrankungen der Atmungs¬
organe 24 (19), der Zirkulationsorgane 60 (35), auf Neubildungen
20 ( 1 9), Verletzungen 7 (2), auf Selbstmorde 11 (4) Todesfälle.
(Die Ziffern in den Klammern beziehen sich auf den Januar 1910.;
*
Cholera. Italien. Die italienische Regierung hat die
gegen Provenienzen aus Konstantinopel und Tripolis verfügten
sanitätspolizeilichen Maßnahmen aufgehoben. — Schw eiz. Durch
Beschluß des Bundesrates vom 1. Februar wurde die Provinz
Lecce als choleraverseucht, die Provinzen Rom und Caserta,
sowie die Stadt Palermo als cholerafrei erklärt. — Rumänien.
Die rumänische Regierung hat alle Sanitätsmaßregeln, welche
anläßlich des Auftretens der Cholera in Oesterreich - Ungarn ver¬
fügt wurden, aufgehoben. Rußland. In der Zeit vom 8. bis
14. Januar ereigneten sich in ganz Rußland nur 4 (l) Cholera,-
erkrankungen (Todesfälle) u. zw. im Gouvernement Jekaterinoslaw.
Die Gesamtzahl aller im Jahre 1910 konstatierten C holerafälle
im Russischen Reiche betrug 216.058, von denen 100.955 — 47%
tödlich endeten.
Pest. Rußland. Seit dem Auftreten der Pest in der
Kirgisensteppe des Gouvernements Astrachan, Ende Oktober,
wurden bis Anfang Januar dortselbst 148 Erkrankungen und 108
Todesfälle an Pest sichergestellt u. zw. bis Mitte November 31
(30), von Mitte November bis Mitte Dezember 55 (43), von Mitte
Dezember bis Anfang Januar 62 (35). — - China. Nach offi¬
ziellen Mitteilungen sind in der Mandschurei in der Zeit vom
11. Dezember bis 14 Januar a. St. Pesterkrankungen, bzw. Todes¬
fälle an nachstehenden Orten vorgekommen :
11. bis
24. bis
1. bis
8. bis
24. Dezemb.
31. Dezemb.
7. Jänner
14. Jänner
Charbin .
93 (93)
78 (78)
152 (152)
198 (178)
Duntsinschan . . .
7 (1)
12 (16)
4 (4)
1 (1)
Jaomyn .
- ( )
1 (1)'
- (-)
- (-)
Chendavchedsy . .
- (-)
4 (4)
5 (5)
- (-)
Aschiche ....
- (-)
2 (-)
- (-)
- H
Maver sehen . . .
- (-)
- H)
1 (1)
- (-’)
Senschache . . .
- (-)•
- (-)
3 (3)
- (-)
Kuantschenzy . . .
- (-)
- (-)
3 (3)
1 (1)
Zajtsjago ....
- (-)
- --)
2 (2)
- (-)
Die Gesamtzahl der Pesttodesfälle bis 22. Januar betrug
in Charbin und in den unmittelbar dabei noch auf dem Gebiete
der Eisenbahnzone liegenden chinesischen Ansiedlungen 624, da¬
runter 14 Europäer. In Fudjadjan ereigneten sich am 21. Januar
126, am 22. Januar 140 Todesfälle; die Gesamtsumme der bisher
dort Gestorbehen soll auf mindestens 2000 gestiegen sein, ln
Mukden starben vom 16. bis 20. Januar 134, in Dalny (Dairen)
10, an der Balm Antung - Mukden 2, an der nordchinesiscben
Eisenbahn 14, in Changchun 150, in Changtu und vier anderen
Orten '44.
*
Vorläufiges Ergebnis der Sanitätsstatistik bei
der Mannschaft des k. u. k. Heeres im D'ezem bei 1910.
Krankenzugang 70°/oo, an Heilanstalten abgegeben 31°/oo, Todes¬
fälle 0-1 2%o der durchschnittlichen Kopfstärke.
*
In Nr. 7, S. 240, dieser Wochenschrift hat es in dem Auf- |
satze „Zur Applikationsweise des Salvarsans“ von Dt. .1. Hahn
im 'vierteln Absatz, Zeile 5, statt: „gebräuchlichen Lösung im \ er- ,
gleiche zu deren intravenösen Injektion usw. zu heißen . ,,ge- j
bräuchlichen Lösung der Fall zu sein, gegen deren auch
subkutane Anwendung ich a priori kein Bedenken
zu finden vermag.“
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 5. Jahreswoche (vorn 19. Januar bis
4.
Februar 1911). Lebend geboren, ehelich 556, unehelich 298, zusammen
854. Tot geboren, ehelich 58, unehelich 30, zusammen 88. Gesamtzahl der
Todesfälle 694 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17 8 Todesfälle) an Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 8,1
Scharlach 3, Keuchhusten 2, Diphtherie und Krupp 3, Influenza Lj
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 7, Lungentuberkulose 102, bösartige Neu¬
bildungen 47, Wochenbettfieber 8, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions-
krankheiten: An Rotlauf 46 (+ 16), Wochenbettfieber 4 (-f 1), Blattern 0
(0), Varizellen 48 ( — 19), Masern 108 (-f- 11), Scharlach /6 (-f- 2).
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 8 (-f- 6), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0).
Diphtherie und Krupp 53 ( — 9), Keuchhusten 26 (-f- 3), Trachom 0 ( 2),
Influenza 3 (— 2), Poliomyelitis 0 (0).
6. Jahreswoche (vom 5. bis 11. Februar 1911). Lebend ge¬
boren, ehelich 485, unehelich 229, zusammen 714. Tot geboren, ehelich 56,
unehelich 16, zusammen 72. Gesamtzahl der Todesfälle 686 (d. i. aut
1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden 1 7 6 Todesfälle), an
Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 4, Scharlach 2, Keuch¬
husten 4, Diphtherie und Krupp 4, Influenza 1, Cholera 0, Ruhr 0, Rot-:
lauf 4, Lungentuberkulose 111, Bösartige Neubildungen 45, Wochenbett¬
fieber 1, Genickstarre 0. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlaut
45 |)i Wochenbettfieber 1 (- 3), Blattern (0), Varizellen 95 (+ 42),
Masern 119 (+ 16), Scharlach 66 (— 10), Flecktyphus 0 (0), Bauch¬
typhus 4 (—4), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie u. Krupp 43 (—10),
Keuchhusten 34 (-f- 8), Trachom 2 (-j- 2), Influenza 3 (=), Polio¬
myelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Salinen- und F o r s t a r z t e s s t e 1 1 e. Bei der k. k. Salinen¬
verwaltung in Bad Ischl (Oberösterreich) gelangt die Stelle eines
Salinen- und Forstarztes II. Kategorie zur Besetzung. Die Instruktion
sowie die sonstigen Bestimmungen über die Ausübung des ärztlichen
Dienstes bei den k. k. Salinenverwaltungen können bei diesen letzteren
sowie auch bei der k. k. Finanzdirektion in Linz eingesehen werden.
Mit der Stelle eines Salin n- und Forstarztes II. Kategorie ist der An¬
spruch auf ein Jahreshonorar von 2200 K einschließlich der Triennien-i
und Diensalferspersonalzulagen, jedoch ohne die den Zivilstaatsbeamten|
zustehende Aktivitätszulage verbunden. Außer dem vorbezeichneten;
Honorare bezieht der Salinen- und Forstarzt II. Kategorie noch ein
Fuhren-(Fahrgeld-)Pauschale jährlicher 400 K, dann Brennmaterial um
ermäßigten Preis und ein Salzdeputat nach den für die Salinenbeamten
der entsprechenden Rangsklasse geltenden Bestimmungen. Das Vertrags¬
verhältnis ist von beiden Teilen mit dreimonatlicher Frist kündbar. Be-:
werber um die ausgeschriebene Stelle, welche Doktoren der Medizin.
Chirurgie und Geburtshilfe, bzw. Doktoren der gesamten Heilkunde sein
müssen, haben ihre vorschriftsmäßig gestempelten und belegten Gesuche
bis längstens 15. März 1. J. beim Präsidium der k. k. Finanzdircktion
in Linz zu überreichen. Diesen Gesuchen muß insbesondere angeschlossen
sein: 1. Die Altersnachweisung, 2. der Nachweis über den erlangten;
Doktorgrad, 3. über die Staatsangehörigkeit und 4. über das untadelhafte
staatsbürgerliche Verhalten, 5. ein amtsärztliches Zeugnis über die phy¬
sische Eignung und 6. ein Nachweis der bisher zurückgelegten ärztlicher.
Tätigkeit. In dem Gesuche haben die Bewerber auch anzugeben, ob sk
in der Lage sind, nach Verständigung über die erfolgte Verleihung dei
Salinen- und Forstarztesstelle ihren Dienst sofort anzutreten oder burner
welcher Frist dies zuversichtlich geschehen kann. Bewerber, welche em<
besondere Ausbildung in der operativen Chirurgie und Geburtshilfe nach
zuweisen imstande sind, erhalten den Vorzug vor anderen.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1011.
329
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 24. Februar 1911.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 9. Februar 1911.
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck. Sitzung: vom
17. November 1910.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in Böhmen.
Sitzung vom 3. Februar 1911.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 24. Februar 1911.
Vorsitzender: Reg. -Rat Prim. Dr. Adler.
Schriftführer: Priv.-Doz. Dr. A. Fuchs.
Mitteilungen des Vorsitzenden:
1. Einladung der Gesellschaft für innere Medizin und Kinder¬
heilkunde zur Teilnahme an der Trauersitzung für den verstor¬
benen Präsidenten Hofrat Esche rieh im Sitzungssaale der
k. k. Gesellschaft der Aerzte am 9. März, 7 Uhr abends.
2. Danksagung der Familie des verstorbenen Hofrates Pro¬
fessor Escherich für die Teilnahme der Gesellschaft.
Dr. Artur Goldreich : Ich gestatte mir, Ihnen aus dem
l. öffentlichen Kinderkrankeninstitut (Abteilung des Privatdozenten
Dr. Hochsinger) einen drei Monate alten Säugling mit bisher
nicht behandelter hereditärer Lues zu demonstrieren. Sie sehen
ein makulopapulöseis Exanthem der Haut des ganzen Körpers,
das nach Angabe der Mutter bereits seit einem Monate besteht.
Doch nicht wegen des charakteristischen Hautausschlages habe
ich das Kind hieher gebracht, sondern wegen einer diffusen lue¬
tischen Skeletterkrankung, die wir in so ausgebreiteter und in¬
struktiver Weise nur selten zu beobachten Gelegenheit haben.
Bei Betrachtung der Finger fällt sofort eine starke Ver¬
dickung nahezu sämtlicher Grundphalangen der
Finger beider Hände auf, wodurch die Finger ein flaschen¬
förmiges Aussehen bekommen.
Auch an den Grundphalangen einzelner Zehen und zwar
besonders deutlich der zweiten und vierten Zehe des rechten
Fußes kann man schon makroskopisch eine deutliche Verdickung
der Grundphalangen konstatieren.
Es handelt sich hier um eine multiple Phalangitis luetica,
auf die in zusammenhängender und erschöpfender Weise eigent¬
lich erst Hochsinger in seinen „Studien über hereditäre Sy¬
philis“ aufmerksam gemacht hat.
Hoch singer hat bei seinem hereditär-luetischen Material
im ganzen nur 65mal die Phalangen der Finger erkrankt ge¬
sehen, darunter nur 12m a 1 die der Zehen. Die Erkrankung, er¬
streckt sich immer nur auf die Knochen, die Weichteile sind an
der Erkrankung nicht beteiligt. Histologisch handelt es sich in
diesen Fällen um eine rarefizierende Ostitis mit diffuser periostaler
Hyperostose.
In manchen Fällen — wie auch hier — sind auch die Mittel¬
hand- und Mittelfußknochen von der Erkrankung ergriffen, ohne
daß wir dies palpatori'sch nachweisen können ; erst das Rönt¬
genogramm gibt darüber Aufschluß. Auch hier ist das ganze Skelett
erkrankt, überall sieht man im Röntgenbilde (Priv.-Doz. Dr. Kien¬
böck) diffuse periostale Hyperostose und dabei Rarefizierung
der Spongiosa an den Vorderarmknochen.
Die Phalangen selbst erscheinen gebläht, stellenweise sieht
man große Absumptionen und Aufhellungen der Spongiosa, dabei
schwarze, dicke Begrenzungslinien als Ausdruck des periostalen
Kn ochenanwuchsete .
Priv.-Doz. P. Clairmont und Dr. Haudek : Die Bedeu¬
tung der Magenradiologie für die Chirurgie.
Die Vortragenden besprechen an der Hand von über hundert
Fällen der v. E i s el s b er g sehen Klinik den Wert der klini¬
schen Untersuchungsmethoden und der Röntgenuntersuchung für
die Diagnostik von Magenkrankheiten. Hiebei ging der radiologi¬
schen Untersuchung, die im Laboratorium von Dr. Holzknecht
vorgenommen wurde, der Versuch, eine möglichst exakte klinische
Diagnose 'zu stellen, stets voraus. Die radiologische Untersuchung
erwies sich als außerordentlich brauchbar für die Lokalisation eines
extraventrikulären Tumors oder Druckpunktes, für die Diagnose
einer grob anatomischen Wandläsion im Magen, einer beginnenden
oder voll entwickelten Pylorusstenose, eines Sanduhrmagens ; sie
ergab oft wichtige Anhaltspunkte für das Bestehen eines Ulkus
oder Karzinoms durch die Prüfung der Motilität oder Auskunft
über die Resezierbarkeit eines Neoplasmas. Nach wie vor sind
für die Diagnose von Magenerkrankungen sämtliche klinischen
Methoden in Anwendung zu bringen, die bestätigt, ergänzt oder
korrigiert werden durch die Befunde der radiologischen Unter¬
suchung.
Schließlich werden Diapositive von Röntgenplatten projiziert,
die als Beweis der obigen Ausführungen gelten können. (Der Vor¬
trag wird anderwärts ausführlich publiziert.)
Diskussion: Dr. Gottwald Schwarz: Ich glaube, daß
jeder Radiologe den Vortrag des Herrn Priv.-Doz. Clairmont
mit Freude begrüßen wird. Ist doch durch ihn, von ganz besonders
berufener Seite, aus einer der hervorragendsten chirurgischen
Kliniken (v. Eiseisberg) an einem großen Materiale erwiesen
worden, daß die Röntgenuntersuchung des Magendarmtraktes, an
der ein sehr vielfältiger, nicht immer unvoreingenommener Skepti¬
zismus genagt hat ich erinnere nur an den vehementen An¬
griff S tillers - einen ganz unschätzbaren diagnostischen Be¬
lnif darstellt, der die Feuerprobe der operativen Autopsie täglich
aufs neue glänzend besteht. Und gerade weil aus Clairmonts
Vortrag die enorme Bedeutung der Röntgenologie des Magens
so zwingend erkennbar wird, möchte ich doch auch besonders
derjenigen gedenken, denen wir all dies verdanken, ln erster
Linie Hermann Rieders, der uns die Wismutmethode und den
ganzen Bauplan der Magenradiologie geschaffen hat, dann Holz¬
knechts, Jonas’, Groedels, Jolasses, Reiches u. a. m.,
welche das Verfahren bis zu einem Grade ausgebaut haben, daß
wir heute vom chirurgisch-klinischen Standpunkte
zwar vieles Beachtenswerte, in röntgenologischer
Beziehung aber nichts erfahren haben, was wir nicht
schon seit Jahren als gesichertes Gut der Radio¬
logie betrachten durften.
Für besonders wertvoll und anregend halte ich diejenigen
Stellen des Clairmo nt sehen Vortrages, in denen das Verhältnis
der übrigen klinischen Methoden zur röntgenologischen erörtert
wird. Clairmont hat mit allem Nachdruck darauf hingewiesen,
wie die klinische Beobachtung der röntgenologischen vorauszu-
geheln habe, er hat aber auch gezeigt, daß bei am bulat^rischen
Verhältnissen, oft die Röntgenuntersuchung allein zu weit¬
gehenden diagnostischen Schlüssen berechtigt. Dies ist gevdß für
viele gesicherte, oft Aviederkebrende Befunde richtig, insbesondere
für die Fälle, wo die Röntgenuntersuchung ein normales Organ¬
bild 'ergibt.
Andrerseits aber möchte ich an der Hand zweier Fälle,
die ich mir im Bilde vorzuführen erlaube, auf ein Moment hin-
weisen, das mir gerade in der Frage der ambulatorischen Röntgen¬
durchleuchtung des Magens von Wichtigkeit erscheint, ich meine:
die Notwendigkeit der Wiederholung der radiologi¬
schen Untersuchung, die ich schon seit längerer Zeit (siehe
„Ein Fall von narbiger Pylorusstenose“, Wiener klin. Wochen¬
schrift 1910, Nr. 18) verfechte.
Gerade als Röntgenologe einer internen Klinik habe ich
gute Gelegenheit gehabt zu lernen, wie wichtig auch nach der
ersten Durchleuchtung noch die. nachträgliche klinische
Beobachtung und die neuerliche und mehrfache Durchleuch¬
tung werden kann.
(Projektion ivon Röntgenbildern, die bei einem und demselben
Kranken zuerst anscheinend einen hochgradig destruktiv ver¬
änderten, später und endgültig aber einen normalen Magen zeigten.
Die ausführliche Publikation der beiden Fälle erfolgt an einem
anderen Orte.)
Zusammen fassen möchte ich meine Bemerkungen dahin,
daß ich glaube : i
Die Röntgenologie, isoliert betrieben, ist bezüglich
des Mageins ungenügend. Ihre Verbindung mit der Chirurgie
ist von größtem praktischen Werte für beide. Das Optimum der
Erkenntnis aber dürfte1 erreicht werden, wenn sie noch überdies
die Erfahrungen der internen Klinik nach Kräften zu resor¬
bieren sich bemüht.
E. Schütz: Herr Dr. Clairmont hat in seinem Vor¬
trage auch das Röntgen verfahren mit den übrigen Methoden in
seinem Werke für die Magendiagnostik verglichen; er hat sich
hiebei bemüht, die Grenzen der Leistungsfähigkeit der radiologi¬
schen Magendiagnostik festzustellen. Ich betrachte dies als ein
330
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
Verdientet 'aus dem Grunde, weil seitens mancher Radiologen
das ungerechtfertigte Bestreben besteht, die Röntgenuntersuchung
als eine souveräne Methode der Magendiagnostik hinzustellen.
Wenn ich mir in dieser Beziehung einige Bemerkungen er¬
laube, so glaube ich mich hiezu berechtigt, weil ich mich schon
seit Beginn der Aera der radiologischen Magenuntersuchung mit
dieser Methode eingehend befasse und genügend1 Gelegenheit
habe, Vergleiche zwischen dieser und den anderen Methoden zu
ziehen.
Ich möchte zunächst die Frage aufwerfen, worin eigentlich
der praktische Hauptgewinn der Anwendung dieser Methode zu
suchen ist. Nach meiner Ansicht in erster Linie in der Diagnose
der chirurgischen Erkrankungen des Magens : K a r z i n o m, Ul cu s
callosum und Folgezustände des Ulkus.
Bezüglich des Magenkarzinoms ist zu sagen, daß in der
überwiegenden Zahl der Fälle, die uns zu Gesichte kommen,
die (Merkmale dieser Erkrankung so in die Augen springende sind,
daß wir das Magenkarzinom im allgemeinen, zu den am
leichtesten diagnostizierbaren Magenerkrankungen rechnen können.
Die 'Röntgenuntersuchung kommt sonach nur dort in Betracht, wo
kein Tumor palpabel ist und der Mageninhalt keine spezifischen
Eigentümlichkeiten 'darbietet. In solchen Fällen scheint der radio¬
logischen Untersuchung recht häufig der Nachweis des Tumors
zu gelingen. Es ist dies allerdings ein gewaltiger1 Fortschritt,
über delssen praktische Bedeutung wir uns jedoch nicht täuschen
dürfeh. denn auch damit ist die ersehnte Frühdiagnose nicht er¬
bracht. ' Aus den chirurgischen Statistiken geht hervor, daß solche
Fälle kein günstiges Objekt für die Radikaloperation bieten und
erst jüngst hat Finkh aus der Klinik v. Bruns in Tübingen
eine Mitteilung gemacht, aus der hervorgeht, daß die meisten
Fälle von nicht palpablem Tumor mit positivem Salzsäurehefund,
bei denen radiologisch ein Neoplasma nachzuweisen war, nicht
mehr radikal operiert werden konnten, während die Fälle von
palpablem Tumor für die Resektion am günstigsten waren. Hier
handelt hs sich eben um verschiedene anatomische Formen des
Karzinoms oder um verschiedene Lokalisation. Pylorustumoren
werden eher tastbar, erzeugen früher Beschwerden und bieten gün¬
stigere Chancen für die Resektion, während die am Korpus
sitzendein Tumoren sehr häufig Verborgen bleiben, trotzdem
sie sich durch ein rasches Wachstum und Neigung zu Metastasen
auszeichnen. Wir können also hier nur von einer relativen
Frühdiagnose. nicht von einer solchen im eigentlichen Sinne
sprechet] : von einer solchen müssen wir für das Magenkarzinom
dasselbe verlangen, wie für jede andere Erkrankung, d. h. diese
in 'ihrem frühesten Stadium zu erkennen; für das Magenkarzinom
also, dieses in den Anfängen der Tumorentwicklung zu diagnosti¬
zieren ; so Aveit hat es aber die Radiologie bisher nicht gebracht.
Der Erkennung des Magenkarzinoms im Frühstadium stellen sich
aber auch deswegen Schwierigkeiten entgegen, weil es sich in
den1 meisten Fällen durch ein Stadium der Latenz auszeichnet;
und 'Boas sagt mit Recht: Die Malignität der Intestinalkarzinome
ist nicht bloß im Neoplasma, sondern in der Latenz ihres Wachs¬
tums begründet.
Vorläufig liegt die Bedeutung der Radiologie für die Diagnose
des Magenkarzinoms darin, in zweifelhaften Fällen das Vor¬
handensein eines Tumors sicherzustellen. Wenn, wie Hau dok
annimmt, auch die Operabilität des Karzinoms auf röntgeno¬
logischem Wege festgestellt werden könnte, dann allerdings wäre
dies von größerem praktischen Werte; ich glaube, wir müssen
diesbezüglich noch abwarten.
Einen weiteren großen Fortschritt bedeutet die Möglichkeit
der radiologischen Diagnose des Ulcus1 callosum, um die sieb
im besonderen M. Haudek verdient gemacht hat; nicht nur
deshalb, Aveil die Diagnose Ulkus bis jetzt auf recht schwachen
Füßen stand, sondern auch wegen der engen Beziehungen des
Ulcus callosum zum Karzinom. Vor kurzem hat Payr berichtet,
daß in 26% der Fälle (Köttner sogar in 31%) von reseziertem
Ulcus callosum histologisch krehsiere Umwandlung nachzuweisen
war; Payr bezeichnet daher die Frühoperation des Ulcus callo¬
sum als Frühoperation des Magenkarzinomte und man kann dem¬
gemäß die Frühdiagnose des Ulcus callosum als Frühdiagnose
des Magenkarzinoms bezeichnen.
Von großem Belange ist ferner die Radiologie für die Dia¬
gnose dels Sanduhrmägens, wo sie sichere und präzisere Resultate
gibt als die änderen Methoden.
Für die übrigem Magenerkrankungen leistet die Radiologie
entweder ebensoviel als die anderen Methoden oder sie leistet
gar nichts.
Das gilt für die Größe, Lage und Formveränderungen, die
Atonie — die gewöhnlich als die eigentliche Domäne der radio-
logischen Diagnostik bezeichnet werden. Nach meinen Erfah¬
rungen liefern die übrigen Methoden für den Nachweis dieser Zu¬
stände bei entsprechender Anwendung genügend exakte Resul¬
tate. Das Gleiche gilt auch für die Diagnose der Pylorusstenose
und der motorischen Insuffizienz,, selbst bei geringeren Graden
derselben.
Dagegen nützt uns die Radiologie bei Bestimmung der sekre¬
torischen Funktion trotz der hiefür angegebenen Methoden vor¬
läufig so gut wie gar nichts. Wir erfahren durch die Radiologie
nichts über die so außerordentlich wichtige Beschaffenheit des
Mageninhaltes, seine Azidität, das mikroskopische Verhalten, seine
pathologischen Beimengungen, den Schleimgehalt usw. Dazu
kommt auch die Methode des Nachweises okkulter Blutungen, die
neuerdings höhere diagnostische Bedeutung erlangt hat.
Unid nun kommt noch das große Heer der übrigen Erkran¬
kungen riete Magens, der Neurosen, funktionellen, psychogenen und
reflektorischen Erkrankungen, die ja die weitaus1 überwiegende
Mehrzahl der Magelnerkrankungen bilden, hinzu, bei denen die
Radiologie nicht in Betracht kommt.
Damit sind auch die Grenzen der Leistungsfähigkeit, der radio-
logischen Magenuntersuchung gekennzeichnet; sie ist eine hervor¬
ragend wichtige Methode, aber keine Univertealm’ethode ; sie vermag
auch hur hie und da die übrigen Methoden zu ersetzen und! hat in
solchen Fällen allerdings gewisse Vorteile — die größere Sinn¬
fälligkeit, dein Umstand, daß ihre Anwendung verhältnismäßig
selten eine Kontraindikation bietet und keine besondere Fertig¬
keit erfordert besitzt dagegen den Nachteil, daß sie kompli¬
zierte und kostspielige Apparate und einen sehr kostspieligen Be¬
trieb erfordert, deshalb nicht Gemeingut der Aerzte werden kann,
während die übrigen Methoden Gemeingut der Aerzte Averden
können und sollen, wenn sie auch zum Teil eingehendes Studium
und große Fertigkeit erfordern. Dies gilt natürlich auch für die
so Aviohtige Sondenmetbode (deren Anwendung übrigens durchaus
nicht häufig kontraindiziert ist). Die Unbequemlichkeiten der¬
selben für den Kranken lassen sich durch gewisse Kantelen auf
ein Minimum reduzieren und die vielfach beschuldigte Scheu
der Kranken vor der Sonde ist nach meiner Ueberzeugung zum
Teil darin begründet, daß diese Methode durch ungeschickte und
unvorsichtige Handhabung und durch Anwendung komplizierter
Apparatelbei der Aspiration des Mageninhaltes an manchen Orten
in Mißkredit geraten ist.
Ich schließe also: Die Radiologie gibt in vielen Fällen für
die Magendiagnostik bessere und sicherere Anhaltspunkte als
die anderen Methoden, in anderen ist sie diesen gleichwertig und
vermag sie auch zu ersetzen; in der überwiegenden Mehrzahl
tritt sie ihnen gegenüber ganz in den Hintergrund. Aus alledem
geht hervor, daß es für den Internisten notwendig ist, sich mit
dieser Methode vertraut zu machen, für den Spezialisten ist sie
mi entbehr lieh ; anderseits müssen wir aber auch von dem Radio¬
logen, der dieses Verfahren für die Magendiagnostik verwendet,
verlangen, daß er die übrigen Methoden gründlich kennen lerne,
um zur Beurteilung des Wertes derselben und zu der Ueberzeugung
zu 'gelangen, daß das Röntgen verfahren in vielen Fällen als
eine notwendige, in anderen als eine willkommene Ergänzung
dieser 'Methoden zu betrachten sei. '
Priv.-Doz. Dr. W. Zweig: Die Radiologie des Magens
besitzt eine so außerordentliche Bedeutung, daß sie sich auch
einige Einschränkungen gefallen lassen kann, welche ich vom
Standpunkte des Internisten machen muß. Ich kenne in der ganzen
Magenpathologie keine schwierigere Differentialdiagnose als die
zaau sehen Achylia simplex und Achylia carcinomatosa beim Fehlen
eines pal'pablen Tumors. Hier läßt uns auch die Radiologie, von
der man Aufklärungen erwarten könnte, vollkommen im Stich.
Im Gegenteil ich habe vor zAvei Jahren in der Wiener klini¬
schen Rundschau Fälle publiziert, in welchen namhafte Radio¬
logen die Diagnose eines Magenkarzinoms bei bestehnder Achylie
gestellt haben und avo der weitere Verlauf1 der Fälle bewiesen
hat, daß es sich um einfache Achylien gehandelt hat. Tmvieweit
hiebei spastische Zustände bei der falschen Deutung der radio-
logischen Befunde mitgespielt haben, wie- sie uns eben Kollege
Schwarz demonstriert hat, wage ich nicht zu entscheiden.
Ferner kann ich nicht genug betonen, Avie wichtig vor allem
die exakteste klinische Untersuchung bei der Diagnosenstellung
ist. Es kommen bei der heutigen Aufklärung des Publikums zahl¬
reiche Fälle zu mir, welche den radio-logischen Befund mitbringen,
ohne daß sonst irgendeine M a gen i nh alts u n ters iichu n g vorgenom¬
men worden ist. Charakteristisch war mir folgender Fäll. Eine auf
das äußerste ahgemagerte Patientin (34 kg) mit Diastase der Rekti
und deutlicher Magenperistaltik, brachte den Röntgenbefund mit,
laut welchem der Magen noch nach 24 Stunden Reste der
Wismutspeise enthalten solle. Der Radiologe stellte die Diagnose
Pylorusstenose und überweist die Patientin dem Chirurgen zur
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
331
Vornahme einer Gastroenterostomie. Ich land nach eingehende)'
klinischer Untersuchung bloß das Bestehen einer EnLeroptose
mit Tormina ventriculi Kussmaul, ohne die geringsten Anzeichen
einer Pylorusstenose. Eine Mastkur stellte die Patientin, voll¬
kommen her und hob ihr Gewicht um 8 kg. So sehr ich daher
die Radiologie des Magens als wertvollen Untersuchungsbehelf
schätze, kann ich nicht genug eindringlich vor einer ü eber¬
schätz ung derselben warnen und die peinlichste Anwendung aller
klinischen Methoden zur Diagnosestellung nicht genug warm be¬
fürworten.
Dr. Jonas: Aut die — zum Teil längst widerlegten An¬
würfe gegen die Magenradiologie zu antworten, muß ich mir
leider versagen, da ich glaube, diesen Punkt dem Vortragenden
überlassen zu müssen. Sicherlich werden von der Verbindung
der Radiologie mit der Chirurgie beide profitieren,; daß aber
auch die interne Klinik radiologische Erfahrungen rein mit ihren
Mitteln zu verwerten vermag, möchte ich an den von Privat¬
dozenten Clairmont mit Recht betonten Druckpunkten speziell
für die Differentialdiagnose des Ulcus ventriculi be¬
weisen. Ich konnte gelegentlich einer Reihe von Durchleuchtungen
florider Magengeschwüre zeigen, daß 1. der epigastrische Druck¬
punkt zumeist außerhalb des Magenbildes zu liegen kommt, also
dem Ulkus selbst nicht, entspricht; und daß 2. der epigastrische
Druckpunkt einem tief gelegenen Organ (Ganglion coeliacum oder
hier liegenden Drüsen) angehören muß ; daß er verschwindet, wenn
man durch Heben lassen des Kopfes am liegenden Patienten die
Muskelwand (der kontrahierten Rekti zwischen die untersuchenden
Finger und die tieferen Organe bringt; 3. fand sich in einer Reihe
von Fällen ein Druckpunkt, der seine Zusammengehörigkeit mit
dem Magen dadurch bewies, daß ersieh mit ihm beim Eindrücken
des Unterbauches nach oben bewegte, ein Druckpunkt, der somit
auf .das Ulkus selbst bezogen werden durfte. Da nun dieses selbst
aber (nach Lennander) nicht druckempfindlich ist, so mußte
für diese Druckempfindlichkeit das mitergriffene Peritoneum —
eine Perigastritis — verantwortlich gemacht werden, eine Auf¬
fassung, der sich auch Rieder anschließt. Da somit der epi-
gastrische Druckpunkt allein, als auch bei Neurosen und Chole¬
lithiasis vorkommend, für die Diagnose des Ulcus ventriculi
(bei Fehlen sonstiger Symptome) nicht maßgebend sein darf
(Kelli ng), so erscheint der Nachweis eines im Bereiche des
Magens liegenden zweiten Schmerzpunktes für die Dia¬
gnose des Ulkus wichtig, welcher also erstens die Bewegung des
Magens 'nach oben beim Eindrücken des Unterbauches mitmachen
muß und vom epigastrischein Druckpunkt durch eine schmerz¬
freie Zone getrennt sein soll. Noch eine andere radiologische
Erfahrung läßt sich klinisch verwerten u. zw. für die Differen¬
tialdiagnose des Ulkus der Pars pylori ca gegenüber
Cholelithiasis. Während sich nämlich im radiologischen
Bilde — die Pars pylorica, deren kleine Kurvatur bekanntlich der
Hauptsitz der Ulzera ist, sehr wenig respiratorisch verschieblich
erweist, kommt der Xeber eine respiratorische Verschieblichkeit
von zirka zwei Querfingern zu; darauf gründet sich folgendes
Verfahren: Man bestimmt am liegenden Patienten die unterste
Grenze der druckempfindlichen Zone, drückt sodann zwei Quer¬
finger Tiefer (hier also ohne Schmerz) ein, läßt nun den Patienten
tief inspirieren und den Atem auf der Höhe des Inspiriums ein¬
hallen; tritt nun an die Stelle der früher schmerzfreien Zone
Druckempfindlichkeit, dann kann es sich (abgesehen von allge¬
meiner Druckempfindlichkeit der Leber) nur um den Gallenbiasen¬
druckpunkt handeln, weil nur die Leber, nicht aber die Pars
pylorica respiratorisch erheblich verschieblich ist. Freilich ver¬
sagt das Verfahren in jenen Fällen, wo der Magen mit der Leber
verwachsen ist (was sich radiologisch leicht feststellen läßt)
und außerdem bergen die beiden liier besprochenen Verfahren
die Fehlerquelle des stark subjektiven Zeichens der Druekempfind-
lichkeit in sich — trotzdem haben beide für manche Fälle genug
diagnostischen Wert, um versucht und empfohlen werden zu
können.
Dr. Holzknecht: Ich möchte nur zu dem letzten von
dem seitens des Herrn Priv.-Doz. Zweig angeführten Fall eine
Bemerkung machen. Derselbe soll radiologisch eine hochgradige
Motilitätsstörung gezeigt haben, bei der klinischen Untersuchung
aber keine Anhaltspunkte für ein Magenleiden geboten und bei
einem allgemeinen, diätetischen Regime zur Heilung gekommen
sein. Ich kenne den Fall nicht und kann nicht daran zweifeln,
daß Zweig ihn richtig beurteilt hat. Warum sollten auch bei
der Röntgenuntersuchung Irrtümer, die noch in ihr oder am
Untersuchen* lagen, ausgeschlossen sein. Wollte man radiologi-
scherseits die Fälle publizieren, deren klinisch gewonnene dia¬
gnostische Auffassung und therapeutische Indikation zum radio-
logischen und. den mit ihm übereinstimmenden au top tischen Be¬
fund im krassen Widerspruche standen, es wäre kein Lude und
die Fälle zu spät gestellter Operationsindikation würden be¬
sonders reichlich sein.
V as 'aber und darauf wollte ich kommen bei der Be¬
wertung auch der radiologischen Methode als Kriterium heran¬
gezogen 'wird, das darf nur selten der Verlauf, das muß auch hier
der au top tische Befund sein. Ohne den Fall Zweigs an¬
zuzweifeln, muß im allgemeinen gesagt werden, daß Pylorus¬
stenosen, die ohne Rest über Nacht unter entsprechender Diät
beschwerdefrei (kompensiert) werden, um bald wieder Dekom¬
pensationserscheinungen zu bieten und dann nochmals be¬
schwerdefrei werden, sehr häufig sind. Entscheidend kann hier
nur die Autopsie sein.
Wir haben das gleiche kürzlich bei der Antiperistaltik er¬
lebt, einem Symptom, das, soweit die autoptische Kontrolle mög¬
lich war, nur bei anatomischen Magenveränderungen vorkommt.
Auf (Grund eines Falles, der in klinischer Behandlung beschwerde-
frei wurde, wurde die Annahme vertreten, daß sie auch bei
Neurosen vorkommt. Aber auch diese semiologische Frage kann
nur auf Grund von Autopsien weiter ausgebaut werden.
Priv.-Doz. Dr. W. Zweig: Ich möchte auf die Ausführungen
des Kollegen Holzknecht nur erwidern, daß ich in meinen
Bemerkungen vielleicht nicht genügenjd betont habe, daß hei
meiner Patientin die genaueste Untersuchung des Mageninhaltes
eine Pylorusstenose mit Sicherheit hat ausschließen lassen. Der
Mageninhalt enthielt keine Reste, keine Sarzine, kurz, er war
vollkommen normal.
Dr. Clairmont (Schlußwort): Im ganzen haben sich in
deriDiskussion wenig Differenzen gegenüber unseren Ausführungen
ergehen. Wir stimmen Herrn Kollegen Schwarz in seinem
Vorschläge auch vollkommen bei, in besonderen Fällen der radio¬
logischen Untersuchung auch wieder die klinische Beobachtung
folgen zu lassen. Wir haben auch von wiederholten Röntgen¬
untersuchungen Erfolge gesehen, namentlich dort, wo es sich
um Fälle handelte, die klinisch äußerst suspekt auf anatomische
Wandveränderung waren, aber der sichere Beweis dafür auch
nicht im radiologischen Befund zu erbringen war. Ferner kann
die Warnung deis Herrn Kollegen Zweig, Magenerkrankte nicht
nür radiologisch, sondern auch klinisch zu untersuchen, als mit
unseren Ansichten vollkommen übereinstimmend bezeichnet
werden. Ich möchte nur noch auf die Bemerkungen des Herrn
Koll. Schütz zurückkommen. Er sagt: „Die Karzinomdiagnose
sei die leichteste“, ich kann dem nicht beipflichten. Die Diagnose
des Karzinoms kann sehr leicht sein, sie gelingt aber in vielen
Fällen deshalb nicht, zum Schaden der Patienten, weil die Sym¬
ptome zu wenig ausgesprochen sind. Auf der anderen Seite sagt
Herr Kollege Schütz: ,,.... das große Heer von Magenerkran¬
kungen bei Neurosen usw." Meine Herren! Ich halte das für
sehr gefährlich. Gerade für die Patieten mit perforierendem kallö-
sen Ulkus ist eis bekannt, daß sie oft in der Arnnese die An¬
gabe machen, sie seien jahrelang wegen nervöser Magenbeschwer¬
den in ärztlicher Behandlung gestanden. Ich selbst habe schon
mehrere Fälle von Magenkarzinom gesehen, bzw. operiert, die
vorher von Internisten als Magenneurose behandelt worden waren.
Diesen beiden extremen Auffassungen : Die Karzinomdiagnose
ist (die leichteste und das große Heer der nervösen Beschwerden,
möchte ich mich nicht anschließen.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 9. Februar 1911.
R. Lieh tens tern stellt einen Fall von Infektion des
Harn- und Genitalapparates mit Tuberkulose vor. Bei
dem jungen Manne wurde vor elf Jahren die rechte Epididymis
wegen Tuberkulose entfernt. Vor neun Jahren bekam er nach
forciertem Reiten Hämaturie und linkseitige Epididymitis, die
in Eiterung überging; der Abszeß wurde inzidiert und es blieb
eine Fistel zurück. Pat. unterzog sich wiederholt einer Tuber¬
kulosekur und wegen Schmerzen in der linken Niere nahm er
jahrelang Morphin. Später stellten sich Blasenbesehwerden ein,
die zwei Jahre hindurch mit Spülungen behandelt wurden. Vor zwei
Jahren bekam Pat. Fieber und schwere Anfälle von Nierenkoliken;
er kam sehr herunter, der Harn war diffus.1 trüb, die rechte
Flanke war gedämpft. Aus der linken Niere wurde normaler,
aus der rechten eitriger Harn entleert. Vor einem Monat wurde die
rechte Niere freigelegt. Sie lag in einem perinephritischen Vnszeß,
war faustgroß und tuberkulös erkrankt. Sie wurde entfernt, worauf
Heilung eintrat. Die Blase' ist frei von Tuberkulose. Die konser¬
vative Behandlung der Nierentuberkulose, bei welcher Hetol unc
Tuberkulininjektionen in Betracht kommen, ergibt keinen su heien
Erfolg, dagegen hat die Frühoperation ein gutes Resultat.
332
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. l'JIl.
Nr. 9
S. Bondy führt aus der 1. medizinischen Abteilung einen
Mann mit multipler met, astatischen“ Hautsarkomat ose
vor. Pat. bekam vor einem Jahre eine Schwellung der hinter
dein linken Ohre befindlichen Lymphdrüsen, welche sich all¬
mählich auf den Hals aus dehnte. Später traten kleine, hirsekorn-
bis erbsengroße Knötchen in der Haut des Stammes und der
oberen Extremitäten auf. Die histologische Untersuchung derselben
ergab ein Alveolarsarkom, welches dem Melanosarkom naliesteht,
aber kein Pigment, enthält. Üie Sarkomatose ging von einem
Naevus pigmentosus aus, welcher oberhalb des linken Ohres ge¬
sessen war und welchen sich der Patient abgebunden hatte.
R. Fl eck seder und Thaler demonstrieren aus der Klinik
Neu ss er eine 26jährige Frau, bei welcher ein Abortus wäh¬
rend des Ab d ominal ty p hus sich eingestellt hat. Zweiein¬
halb Monate vor der Erkrankung an Typhus waren die Menses
ausgeblieben, im Beginne des letzteren trat der Abortus ein.
Nach demselben zeigte die Temperaturkurve einen Aufstieg bis
zu 40°, auf Chinin in kleinen Dosen erfolgte Entfieberung. Die
Involution des Uterus erfolgte normal. Zwei Tage vor dem Abortus
war heftiges Nasenbluten aufgetreten. Nach der Statistik von
Cur schm arm tritt in 58% der Fälle bei Graviden während des
Typhus ein Abortus ein u. zw. am häufigsten in der zweiten
oder dritten Woche der Erkrankung, ln der Plazenta und im
Fruchtwasser waren Typhusbazillen nachweisbar. Der Uebergang
der letzteren in das Blut des Fötus scheint kurze Zeit vor dem
Abortus zu erfolgen. Trotz des positiven kulturellen Bazillennach¬
weises waren weder in der Plazenta noch in der Dezidua Verände¬
rungen zu finden. Die Ursache des Abortus ist weder auf Endo¬
metritis, noch auf eine Erkrankung des Fötus oder auf ein Ab¬
gestorbensein des letzteren vor längerer Zeit zurückzuführen. Der
Fötus ergab einen positiven Agglutininbefund; dieser ist nicht
in allen Fällen zu erheben. Der Abortus ist manchmal von starken
Blutungen begleitet.
H. Salomon hat in einem Falle bei einer Graviden einen
Abfall der länger bestehenden Fiebertemperatur nach dem Abor¬
tus beobachtet. Das Blut der Mutter war steril, im Blute des Fötus
fand sich ein Mikroorganismus, welcher dem Bazillus der Mäuse-
septikämie ähnlich war, die Organe zeigten keine septischen Er¬
scheinungen. Die Agglutinine diffundieren schwer, das zeigt sich
darin, daß die Zerebrospinalflüssigkeit bei Typhus in der Regel
nicht agglutiniert.
M. Haudek erstattet eine vorläufige Mitteilung über die
Antiperistaltik. Vortragender hat bereits früher über fünf
Fälle berichtet, welche Antiperistaltik ohne Symptome von Py¬
lorusstenose zeigten; in einem Falle fand sich ein Ulkus in der
Nähe des Pylorus. Vortragender hat damals die Ansicht ausge¬
sprochen. daß die Antiperistaltik durch organische Wandverände¬
rungen des Magens hervorgerufen wird. Die Ausführungen des
Vortragenden beziehen sich gegenwärtig auf 40 Fälle von Anti¬
peristaltik, von denen die Hälfte zur Operation kam. ln einer
Anzahl der Fälle wurde eine Pylorusstenose gefunden, in anderen
Fällen saß ein Ulkus an der kleinen Kurvatur, der Pylorus war
jedoch normal. Eine organische Stenose des Pylorus ist in solchen
Fällen auszuschließen, dagegen könnte sie funktioneller Natur sein.
Der Magen enthielt manchmal Reste von einer vor 24 Stunden
eingenommenen Mahlzeit, in anderen Fällen war nach sechs
Stunden kein Nahrungsrest im Magen mehr zu finden. In einem
Fälle lag ein infiltrierendes Karzinom des Magens bei Frei¬
bleiben des Pylorus vor. In einem anderen Falle fand sich keine
Magenerkrankung, dagegen eine Duodenalstenose, welche, wie
sich bei der Operation erwies1, durch einen an der Hinterwand
des Magens adhärierenden Strang verursacht war. Diese Fälle
geben einen neuen Beweis dafür, daß die Antiperistaltik des
Magens durch organische Wandveränderungen desselben hervor¬
gerufen wird.
S. Jonas bemerkt, daß nach dem von ihm und Holz¬
knecht angestellten Untersuchungen die Antiperistaltik nicht
auf einer chemischen Reizung beruht; sie tritt beim Tiere ein.
wenn sich im Magen ein Körper befindet, welcher zu groß ist,
um den Pylorus passieren zu können. Bei Pylorusstenose ist
der normale Mageninhalt für den engen Pylorus relativ zu groß.
Man kann die Peristaltik in solchen Fällen leicht hervorrufen,
wenn man den Patienten eine grob gekaute Nahrung (Schmken-
semmel) verzehren läßt. Die Antiperistaltik beruht daher auf
einem Mißverhältnis zwischen Mageninhalt und Pylorusweite.
G. Schwarz hat unter seinem Materiale Antiperistaltik
bei Fällen von Verengerung des Pylorus oder in der Nähe des
Pylorus beobachtet, so in einem Falle von reiner Duodenal-
stenose. Die Symptome der Antiperistaltik wechseln bei demselben
Patienten, sie können zeitweise oder sogar dauernd verschwinden.
W. Falt a hat zwei Fälle von R ei c h m an n scher Krankheit
mit kolossaler Magendilatation, starker Hypersekretion und Hyper¬
azidität beobachtet. Beide zeigten auch Tetanie und ausgespro¬
chene Antiperistaltik. Die Behandlung bestand in Verabreichung
fettreicher Kost und in Magenspülungen an jedem Abend. Nach
mehrmonatiger Behandlung wurde der Magen kleiner und die Anti¬
peristaltik verschwand. Es ist nicht auszuschließen, daß in diesen
Fällen eine Pylorusstenose vorlag, es ist aber wahrscheinlicher,
daß ein Pylorospasmus die Ursache derselben war.
S. Jonas bemerkt, daß der wechselnde Befund in der
Antiperistaltik sich durch die verschiedene Größe des Magen¬
inhaltes leicht erklären läßt.
L e i m d ö r f e r, 0. Borges und Marcovici: Zus'amm e n-
hang der B 1 u t alkales z en z mit der Atmung. Die Alka-
leszenz des Blutes im Sinne eines konstanten Niveaus ist eine
unbedingte Forderung für den normalen Ablauf der chemischen
Vorgänge im Körper. Die Regulation erfolgt auf dreierlei Weise:
Die Niere reinigt den Organismus von den sauren Produkten des
Fett- und Eiweißstoffwechsels, die Leber neutralisiert abnorme
Säuren durch Ammoniak und die Lunge scheidet die Kohlensäure
aus. Die Kohlensäure ist im Blute teils chemisch fest gebunden,
teils physikalisch locker gebunden, die letztere wird durch Atmung
abgegebeh. Das Atmungszentrum ist gegenüber dem Kohlensäure¬
gehalt des Bluteis sehr empfindlich und ist auf eine bestimmte
Kohlensäurespannung eingestellt. Unter abnormen Bedingungen
finden sich Abweichungen im Kohlensäuregehalte des Blutes,
dabei kommen in demselben abnorme Säuren vor, so z. B. bei
Stoffwechselstörungen. Je mehr von diesen abnormen Säuren im
Blute vorhanden sind, desto weniger Kohlensäure ist notwendig,
um das Atmungszentrum zu reizen. Man kann im allgemeinen
sagen, daß das Atmungszentrum auf Säuren überhaupt reagiert,
die Kohlensäure ist nur ein spezieller Reiz. Die Atmung ist eine
Regulation der Blutalkaleszenz. Vortragende haben bei verschie¬
denen Krankheiten die Kohlensäurespannung des Blutes geprüft
und aus ihr auf die Gegenwart abnormer Säuren im Blute Rück-
schlüsse gezogen. Die Reaktion des Blutes ist nach der elektro-
metrischen Methode fast, immer neutral oder schwach sauer, wäh¬
rend die Titrationsmethode, welche die Kohlensäure nicht be¬
rücksichtigt, eine alkalische Reaktion des Blutes ergibt. Die Vor¬
tragenden bedienten sich der Methode der Bestimmung der Kohlen¬
säure in einem Luftraum, der mit der Lunge in Kommunikation
steht (man läßt in einen Gummibeutel ausatmen). Starke Kohlen¬
säureschwankungen geben nur kleine Unterschiede bei der Probe,
weil die Säure schwach ist. Bei Diabetes melitus wurde Azidose
gefunden, es treten abnorme Säuren auf, welche die Säure¬
bindungsfähigkeit des Blutes herabsetzen, das Blut kann nicht
so viel Kohlensäure wie in der Norm aufnehmen 'und die Kohlen-
säurespannung wird daher herabgesetzt. Durch Einnehmen von
Natrium bicarbonicum wird die Blutalkaleszenz wieder erhöht.
Die Schwankungen der Kohlensäurespannung gehen parallel mit
der Azidose, man kann durch Bestimmung der ersteren sogar
das Herannahen eines Komas Voraussagen. Die normale Kohlen-
säurespannung des Blutes beträgt zirka 6%. Ein Patient mit Dia¬
betes melitus zeigte eine Kohlensäurespannung von 4-3%, sie
sank weiter bis auf Werte von 3%, auf Verabreichung von 25 g
doppeltkohlensauren Natriums stieg die Kohlensäurespannung an
und der Zustand des Kranken besserte sich. Die Methode er¬
fordert zirka zehn Minuten zur Ausführung, während zur Beur¬
teilung des Zustandes aus der Harnuntersuchung der Harn des
ganzen Tages gesammelt werden muß, die Untersuchung also viel
länger auf das Resultat warten läßt. Nach einer Mahlzeit steigt die
Kohlensäurespannung an. Wenn die Niere ihrer Funktion nicht
voll nach kommen kann, müssen sich die sauren Endprodukte
der Fett- und Eiweißverdauung im Blute anhäufen und die Kohlen¬
säurespannung sinkt. Auch bei Karzinom wurde eine Herab¬
setzung der Kohlensäurespannung gefunden. Die abnormen
Säuren, welche die Kohlensäurespannung des Blutes herabdrücken,
sind bei Diabetes die Oxybuttersäure und Azetessigsäure, bei Ne¬
phritis sind es saure Phosphate, bei Karzinom sind dieselben
noch nicht bekannt. Bei kardialer Dyspnoe ist die Kohlensäure¬
spannung ebenfalls herabgesetzt, die Oxydation ist unvollständig;
Milchsäure konnten die Vortragenden bei diesem Zustande nicht
nachweisen.
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck.
Sitzung vom 17. November 1910.
Priv.-Doz. Dr. v. Decastello: Ein Fall von myeloi¬
sche m C h 1 o r o m .
3jähriger Knabe, vorher stets gesund. Seit 2 Vs Monaten
zunehmende Blässe. Seit einem Monat Vortreten des rechten
Bulbus. Gegenwärtig exzessive Anämie mit Neigung zu Hautblu¬
tungen. Erythrozyten 1,189.000, ohne anämische Veränderungen,
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
333
keine kernhaltigen Riederformen. Hämoglobin 25, Leukozyten
[ S3C000, darunter 46°/o Myeloblasten und neutrophile Prämyelo-
zyten, 2°/o neutrophile Myelozyten, 30 bis 40°/o neutrophile Meta-
myelozyten und Polynukleäre, 12°/o Lymphozyten, 0-5u/o Eosino¬
phile, 0-5°, o Plasmazellein, 2-0°/o große Mononukleäre, keine Mast¬
is eilen. Unter den Myeloblasten und Prämyelozyten vielet mit
gelappten Kernen (Riederformen).
Status praesens: Protrusio bulbi rechts infolge pal-
pablen, retrobulbären Tumors. Beiderseitige Retinitis ieucaenüca.
Zahlreiche Lymphdrüsen, jedoch von geringem Volumen, am Hals
tastbar, auch axillar und inguinal. Leber und Milz deutlich ver¬
größert.
Schwellung des lymphatischen Apparates in der Mundhöhle,
keine Blutungen oder Ulzerationen daselbst.
SterUum und Oberschenkel druckempfindlich.
Im Stuhlgang kein Blut nachweisbar.
Im Harne kein Eiweiß, kein Urobilin und Urobilinogen,
Vermehrung der Harnsäure.
Im Blutserum positive W ass er mann sehe Reaktion.
Das anscheinend hereditär luetische Kind bietet somit das
vollentwickelte Bild der akuten, myeloischen Leukämie dar. Aus
lern Vorhandensein des retrobulbären Tumors ist mit größter
Wahrscheinlichkeit auf den chloromatösen Charakter der Leukämie
zu schließen.
Nachschrift: Exitus am 29. November, nach zirka drei
Monate langer Krankheit. Letzter Blutbefund am Tage des Todes:
Erythrozyten 453.000, Hämoglobin 7 bis 10°/o, Leukozyten 132.800.
Obduktionsbefund: Intensiv grasgrüne Färbung des
größten Teiles der leukämischen Infiltrate. Sternum, Rippen,
Wirbel, Darmbeine und Femur von grünlich - bräunlichem, fett¬
losem myeloischen Mark diffus erfüllt.
Diskussion: Dr. Wutscher, Dr. Pauli czek.
Dr. Robert Latzei: Abnormer Zellbefund bei Pleuritis
exsudativa.
Vortr. stellt einen Fall von Pyelitis, bedingt durch Bac¬
terium coli vor, welcher von der Patientin bis zur 200fachen
Serumverdünnung agglutiniert wird. Interessant an dem lalle
ist eine im Anschluß an die Erkrankung des Nierenbeckens auf¬
tretende Pleuritis exsudativa, die ins of erne einen ganz überraschen-
Zellbefund ergibt, als in dem Punktat massenhaft Vakuolenzellen,
zum Teil Siegelringform und reichlich eosinophile Zellen vorkom-
jmen. Die Genese der Pleuritis wird als eine toxische aufgefaßt.
Das Exsudat war steril. Tierversuche waren sowohl im Hinblick
auf Eruierung eines bakteriellen Erregers, als auch in Richtung
des künstlichen Hervorrufens gleichartiger Exsudate negativ.
Dr. Kroiß stellt eine 16jährige Patientin vor, seil drei
Vierteljahren Trägerin einer Haarnadel in der Harnblase;
nach Angabe des Mädchens sei die Nadel nachts im Bette ihr
bei einer unwillkürlichen Bewegung hineingeschlüpft ^gegenwärtig
hochgradige Zystitis. Der Vortragende demonstriert die Röntgen¬
bilder der Nadel, die mit ihrem stumpfen Ende die Vofderwand
der Blase perforiert hat und dort deutlich knapp unter der
Bauchhaut zu fühlen ist. Die Spitzen der NadeLhaben die Hinter¬
wand der Blase rechts oben vom Orifizium des rechten Ureters
durchbohrt und sind per rectum im periproktalen Gewebe zu
tasten. Im Zystoskop sieht man einen langen weißen Blasen¬
stein, aus dem die spitzen Enden der Nadel hervorragen, aber
gleich in der hinteren Blasenwand verschwinden. Demon¬
stration des zystoskopischen Bildes nach der Sitzung.
Prof. Lode zeigt eine mit Kartoffelbrei gefälschte
Butter.
Dt. Burow: Der Thermosterilisator nach Pro¬
fessor A. Bickel und Dr. H. Boeder.
Um dem Säugling eine hygienisch einwandfreie künstliche
Nahrung bieten zu können, ist es bekanntlich nicht damit genug
getan, dieselbe durch kurzes Kochen zu sterilisieren, sondern
man muß diese vorbereitete Milch um' diese handelt es sich
ja hauptsächlich — danach abkühlen und bei niederer Tem¬
peratur kühl halten. Del* Grund liegt darin, daß es nicht mögiii b
ist, alle Bakterien und deren Sporen durch Hitze abzutöten, ohne
die Hitze solange einwirken zu lassen, daß dadurch gleichzeitig
eine tiefgreifende und dem Kinde schädliche Veränderung dei
Milch bedingt wird.
Die gewöhnliche Folge der Erhitzung ist, daß in (1er er¬
hitzten Milch die Milchsäurebakterien mehr oder minder voll¬
ständig fehlen, die buttersäurebildenden und die peptonisierenden
aber vorhanden sind u. zw. in Sporenform. In der unerhitzten
Milch erlangen die Milchsäurebakteriell in dem ihnen oesondeis
zusagenden Nährboden das Uebergewicht und die von ihnen ge¬
bildete Milchsäure hemmt die Entwicklung der anderen Gruppen.
Anders in der erhitzten Milch; hier fehlen die konkurrierenden
Milchsäurebakterien und die peptonisierenden, eiweißzersetzen¬
den Bakterien können ungestört ihre Tätigkeit entfalten und tun
dies nach Flügges klassischen Untersuchungen bei Tempera¬
turen oberhalb 18° C. Dies ist aber um so gefährlicher, als dabei
die Milch längere Zeit in ihrem äußeren Aussehen nicht ver¬
ändert wird, trotzdem sie bereits Giftstoffe enthält, da diese Zer¬
setzungen zunächst weder durch Geruch noch Geschmack wahr¬
nehmbar sind. Aus diesen Gründen genügt die einfache Sterili¬
sation der Milch, auf die allein die bisher angewandten Ver¬
fahren Rücksicht nehmen, nicht, sondern die Milch muß nach
der Erhitzung abgekühlt und bei niederer Temperatur aufbewahrt
werden, damit die Entwicklung der Sporen gehemmt bleibe.
Der einfachste Weg, diese Kühlhaltung der Milch zu be¬
sorgen, wäre der Eisschrank. Die Durchführung dieser Ma߬
nahmen scheitert aber oft an zwei Punkten: entweder besitzt
die Familie keinen Eisschrank oder ein Eisschrank ist vorhanden,
aber die Familie scheut die Kosten der täglichen Eisbeschaffung,
ln der Tat sind ja auch die Anschaffungskosten eines .Eis¬
schrankes und seine Unterhaltung mit Eis nicht unerheblich, da
ja doch in unseren Gegenden fünf Monate im Jahr! der Eis¬
schrank dauernd mit Eis zu speisen ist. Ferner möchte ich noch
ganz besonders darauf hinweisen, daß auf dem Lande und dann
vor allem auch häufig auf Reisen es überhaupt unmöglich ist,
im Sommer Eis käuflich zu erhalten.
Der unzulänglichste Weg zur Kühlhaltung der Säuglings¬
nahrung ist, die Milch in ein Gefäß mit kaltem Leitungswasser
zu stellen. Diese Art der Milchkühlung wird häufig in besser¬
situierten Familien angetroffen, ganz allgemein aber in der we¬
niger bemittelten Bevölkerung. In dieser Milchkühlung ruht häufig
der Beginn der schwersten Magendarmerkrankung des Säuglings,
da sich dies benutzte Leitungswasser in den warmen lägen des
Sommers sehr schnell bereits innerhalb 30 bis 40 Minuten den
hohen Wohnung stem per aturen von 20° bis 25° C anpaßt und
bei lang dauernder Einwirkung für die Milch gefährlich werden
kann.
Diesem Notstand in der Konservierung der Kindermilch im
Hause nach Möglichkeit zu begegnen, veranlaßte Prof. A. Bickel
und Dr. H. Roe der, mit möglichst geringen Mitteln zur Kon¬
struktion des Thermosterilisators, welcher die Sterilisation und
die Kühlhaltung in einem System gestattet.
Der Thermosterilisator besteht aus einem großen Milch¬
gefäße, das sowohl als Kochgefäß für die Milchflaschen, wie auch
zur Aufnahme der sogenannten Thermobehälter, in welche die
unter der Wasserleitung abgekühlten Milchflaschen eingesetzt
werden, dient.
Der Konstruktion der Thermobehälter liegt das Prinzip eines
Gefäßes mit Vakuummantel zugrunde, welcher den Ausgleich
der Außentemperatur mit der Zimmertemperatur derart erschwert,
daß die in den Behältern eingesetzten abgekühlten Milchflaschen
ihre niedere Temperatur genügend lange Zeit, behaupten.
Die Milch oder die betreffenden Mischungen werden in die
Flaschen eingefüllt und diese in das bis zu den Seitenöffnungen
mit Wässer angefüllte Blechgefäß gesetzt und aufgekocht. Sodann
werden die Flaschen direkt unter der Wasserleitung abgekühlt, ( um
in die Thermobehälter, welche ebenfalls mit kaltem Leitungs1-
was'ser ausgespült und gefüllt sind, eingesetzt zu werden. Jeden
Thermobehälter verschließt man mit dem zugehörigen Kork und
setzt nunmehr dieselben in das mittlerweile getrocknete große
Blechgefäß ein. Die einmalige Kühlung genügt bei mittleren und
warmen Temperaturen, um die Milch in den Thermobehältern
von einem Tage zum andern, also für ca. 24 Stunden, genügend
kühl zu halten. An sehr heißen Tagen, also bei Wohnungsternpe-
raturen von 23° C an, ist es erwünscht, diejenige Milchportion,
die man die Nacht über aufheben will, nochmals nachzukühlen.
Unter besonderen Verhältnissen, zum Beispiel auf langdauernden
Reisen bei hohen Temperaturen, kann man Kältemischungen aus
Salzlösungen einführen, zum Beispiel von Salmiak, ein bis zwei
Eßlöffel zu dem Wässer in den Thermobehältern.
Dieser Thermosterilisator ist in liebenswürdiger Weise aut
meine Veranlassung, von Prof. Bickel der hiesigen Kuulei-
klinik zur Benutzung und Bewertung zur Verfügung gestellt wor¬
den und hoffe ich, über die Resultate, die damit erzielt vvoiden
sind, später wieder einmal ausführlicher berichten zu können.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte
in Böhmen.
Sitzung vom 17. Februar 1911.
Dr Löwenstein: Demonstration eines Falles von pseuilo-
eukämi scheni Tumor, der symmetrisch an beiden Augäpfeln
lufgetreten war. Der Tumor war glatt, der Sklera es an , ’
lerb, von bläulichroter Farbe, Der Bulbus war im übrigen ebenso
/
334
WIuhEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9
wie der somatische Befund normal. Die von Prof. Elschnig
v orgenommeno Abtragung der Geschwulst am linken Auge ging
last ohne Verlust von Bindehaut von statten, die blanke Sklera
hatte das Aussehen von Chagrinleder.
Die histologische Untersuchung ergab einen äußerst zell-
reichen Tumor, der fast nur aus Rundzellen mit großen, dunkel
gefärbten Kernen und sehr wenig Plasma besteht; das reti¬
kuläre Bindegewebe ist sehr spärlich. Auf Grund dieses Befundes
wurde sofort eine Blutuntersuchung eingeleitet, die eine Ver¬
mehrung der großen Lymphozyten auf 18°/o und der .großen mono¬
nukleären Leukozyten auf 12°/o ergab. Es handelte sich demnach
um eine Geschwulst von Lymphomcharakter.
Löwenstein erwähnt weiter zwei Fälle von Chlorom
der Orbita, die im Laufe der letzten zwei Jahre an der deut¬
schen Augenklinik zur Beobachtung kamen; in diesen konnte
die Diagnose schon vor der Blutuntersuchung gestellt werden,
ln der Literatur werden zwar Fälle von Lymphom der Lider und
der Uebergangslälte beschrieben, ein epibulbärer, pseudoleukämi¬
scher Tumor wurde noch nicht beschrieben.
Dr. W a 1 k o : Demonstration einer starken D e f e k L b i 1 d u n g
im Bereiche der Halswirbelsäule. Der Hals des 34jährigen
Mannes fehlt anscheinend ganz, der Kopf sitzt den Schultern direkt
an. Die untere Haargrenze reicht rückwärts bis zur Höhe des
dritten Brustwirbels. Die Beweglichkeit des Kopfes ist in be¬
schränktem Maße nur in sagittaler Richtung möglich. Die Unter¬
suchung der Wirbelsäule läßt höchstens das Vorhandensein eines
Rudimentes in der Größe eines Halswirbels zu. Auch die Röntgen¬
aufnahmen zeigen, daß unmittelbar unter dem Hinterhaupt die
Rippen abgehen. Weitere Defektbildungen finden sich am Knochen¬
system nicht. Infolge der starken Verkürzung der Wirbelsäule und
der Inaktivität durch die mangelnde Bewegung des Kopfes sind fast
alle Halsmuskeln nur sehr wenig ausgebildet. Der Kehlkopf liegt
hoch oben und hinter dem Unterkiefer, bewegt sich beim Schluck¬
akte nur wenig und ist um seine vertikale 'Achse ein wenig gedreht.
Von der Thyreoidea ist nichts zu finden. Die Genese der Defekt¬
bildung fällt in das erste Stadium der Entwicklung, in welcher die
erste segmentale Differenzierung beginnt. Ursache kann ein
innerhalb des Uterus stattgehabter Druck sein, durch ein zu eng
anliegendes Amnion oder durch eine fehlerhafte Lage der Frucht.
Es dürften in diesem Falle eventuell noch Rudimente der Hals¬
wirbelsäule vorhanden sein, die der Palpation wie der Röntgen¬
untersuchung entgehen, so daß die ganzen Halswirbel zu einer
schmalen Zone zusammengedrängt und knöchern verschmolzen
sind und ein gleiches Verhalten zeigen, wie es normalerweise
bei den Walfischem der Fall ist.
Der Fall ist bezüglich des Verhaltens des Rückenmarkes
und des Durchtrittes des Plexus brachialis durch die Wirbelsäule
interessant. Eine Verkürzung des Rückenmarkes um die fehlende
Länge der Halswirbelsäule, sowie der Raummangel dürften durch
die bestehende Brustwirbelkyphose ausgeglichen sein. Was die
anderen Drüsen mit innerer Sekretion — abgesehen von der
bereits erwähnten fehlenden Schilddrüse - betrifft, ist der Mann
impotent und zeigt beim Zuckerversuche eine mäßige alimentäre
Glykosurie.
Dr. H o k e : Demonstration eines Elektrokardiogramms
beim Situs inversus viscerum totalis. (Siehe den in
der vorigen Sitzung von v. Jak sch demonstrierten Fall.)
Alle Zacken des Elektrokardiogramms sind nach unten ge¬
lichtet, so daß dasselbe genau das Spiegelbild eines normalen
Elektrokardiogramms darstellt, wie das Herz am Röntgenschirm
das Spiegelbild des normal gelagerten Herzens darstellt.
Diese Tatsache ist schon von Waller vermutet, von Niko¬
lai an einer Reihe von Fällen bestätigt worden. Der Befund zeigt,
daß auch in der Faserrichtung des Herzens, bzw. in seinem
Erregungsablaufe rechts und links vertauscht sind.
Dr. R. Fi sc hl: Weitere Mitteilungen über mecha¬
nische Erzeugung von Albuminurie und Nephritis
bei Tieren.
Der Vortragende knüpft an seine vor mehr als Jahresfrist
an dieser Stelle gemachten Mitteilungen an und berichtet über
die Fortsetzung der Versuche. Die Durchführung derselben an
Hunden führte zu analogen Ergebnissen wie bei Kaninchen.
Die bei letzterer Tierart durchgeführte Palpation einer oder beider
Nieren ist ein schwerer Eingriff, welcher sowohl momentane wie
ziemlich lange andauernde Folgen hinterläßt, die sich in starker
Albuminurie, Ausscheidung von roten und weißen Blutkörper¬
chen, sowie von Nierenepithelien äußern und im histologischen
Nierenbilde als hochgradige Hyperämie und beginnende Jlämor-
rhagie charakterisieren.
Die von seiten des Beckenbodens und der Genitalorgane
während der Lordosierung beobachteten Reflexerscheinungen sind
für den Effekt dieser ohne Belang, da sich derselbe auch in tiefer
Aethernarkose vollkommen gleich gestaltet, mithin als rein me¬
chanisch angesprochen werden muß.
Ebenso scheint der allgemeine Blutdruck ohne Einfluß zu
sein, wie Versuche mit künstlicher Herabsetzung desselben durch
Chloralhydrat und Bestimmungen seiner Höhe in den verschie¬
denen, als wirksam erkannten Positionen zeigten, die zum Teil
mit hohem, zum Teil mit niedrigem Blutdruck einhergehen.
_ Durch wiederholte Lordosierung läßt sich in ganz gesetz¬
mäßiger Weise Nephritis hervorrufen, die entweder zum Exitus
führt oder ausheilt. Histologisch zeigt sich hämorrhagische Ent¬
zündung mit Nekrose des Harnkanälchenepithels, bei längerer
Dauer des Prozesses auch Verbreiterung der Interstitien und° Nei¬
gung zu Schrumpfung. ,
Die onkometrische Untersuchung der Nieren während der
verschiedenen, als wirksam erkannten Positionen ergab als ge¬
meinsame© Moment aller eine Stromerweiterung im Nierengebiete,
die, da arterielle Hyperämie auszuschließen war, mit Stromver¬
langsamung identifiziert werden konnte, die ja günstige Bedin¬
gungen für die Filtration des Eiweiß, und deu Austritt von renalen
Form elemeb ten, sowie für die Bildung von Zylindern schafft.
Stauung scheint dabei nur insofern mitzuspielen, als sie die In¬
tensität der Ausschläge steigert, kann jedoch nicht das wesent¬
liche Moment sein, weil auch Positionen, welche eine Stase
sicher ausschließon, gleichsinnige Resultate geben.
Die Ausführungen werden durch Demonstration mikroskopi¬
scher Präparate, Kurventafeln und der Versuchsanordnung bei
den onkometrischen Bestimmungen illustriert.
Dr. Pribram- Frag.
Programm
der am
Freitag den 3. März 1911, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Exuer stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
I. Administrative Sitzung:
1. Aufstellung der Wahlliste.
2. Wahl zweier Skrutatoren.
II. Wissenschaftliche Sitzung:
1. Dr. S. Federn: Ueber optische Blutdruckmessung an der Arteria
radialis und über den lokalen Blutdruck.
2. Priv.-Doz. Dr. M. Herz: Die psychische Aetiologie und Therapie
der frühzeitigen Arteriosklerose.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Julias Neumann und
Ed. Hermann, L. Wiek, Hans Salzer, Kobert Breuer.
Bergmeister, Paltauf.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 6. März 1911, 7 Uhr abends, aus¬
nahmsweise im Hörsaale des Institutes für allgemeine und
experimentelle Pathologie, unter Vorsitz des Herrn Primär Privat-
dozent Lotheiseu (Hofr. Paltauf), IX., Kinderspitalgasse 15, stattfindenden
wissenschaftlichen Versammlung.
1. Priv.-Doz. Dr. H. Winter!) erg : Das Elektrokardiogramm, seine
theoretische und praktische Bedeutung.
2. Priv.-Doz Dr. K. J. Itothberger: Demonstration elektro-
kardiographischer Aufnahmen.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale der
Klinik weil. Escherich Donnerstag den 2. März 1911, um 7 Uhr
abends, statt. (Vorsitz: Priv.-Doz. Dr. L. Jelile.)
Programm:
1. Demonstrationen angemeldet: Dr. Eggert und Dr. Eisler.
2. Dr. M. Jerusalem : Zur Sonnenlichtbehandlung der chirurgischen
Tuberkulose. Das Präsidium.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch den 8. März 1911.
Programm:
t. Administrative Sitzung. (Wahl eines Sekretärs.)
2. Wissenschaftliche Sitzung (Demonstrationen).
Gesellschaft für physikalische Medizin.
Programm der am Mittwoch den 8. März 1911, um 7 Uhr abends, im
Uörsaale der Klinik Noorden, unter dem Vorsitze von Priv.-Doz. Doklor
llolzkiieclit stattfindenden Sitzung.
1. Demonstrationen.
2. Ingenieur Dessauer (Aschaffenburg): Die Elektronentheorie und
ihr Einfluß auf das physikalische Weltbild.
Kollegen als Gäste willkommen.
Dr. Max Kahane, I. Sekretär. Priv.-Doz. Dr. Max Herz, Präsident.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Kubasta. Verlag von Wilhelm Rranmüller in Wien
Druck von Bruno Bartelt, Wien XVIII., Theresiengasse 3
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner. S. Exner. E. Finger. M. Gruber, F. Hochstettar, A. Kolisko, H. Meyer. J. Moeller. K. v. Noorden.
H. Obersteiner. A. Politzer, A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs. Julius Hochenegg, Ernst Ludwig Edmund v. Neusser,
Richard Paltauf. Gustav Riehl und .Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuohhändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13. Telephon 17.618
XXIV. Jahrg.
Wien, 9. März 1911
Nr. 10
INH
(. Originalartikel: 1. Aus der serologischen Abteilung des hygie¬
nischen Institutes und der psychiatrischen Klinik der deutschen
Universität in Prag. Ueber die Durchgängigkeit der Meningen
besonders bei der progressiven Paralyse. Von Dr. E. Weil
und Dr. V. Kafka. S. 335.
2. Aus dem Landeskrankenhause in Klagenfurt. Klinische Be¬
obachtungen über Muskel- und Hautfinnen. Röntgennachweis
verkalkter Zystizerken. Bemerkungen zur Bandwurm- und
Finnenstatistik. Von Dr. Karl Pichler. Vorstand der inneren
Abteilung. S. 338.
3. Aus dem städt. hygienischen und balneologischen Institut in
Marienbad. (Vorstand: Dr. Zörkendörfer.) Ueber das Verhalten
von Albuminurie und Zylindrurie beim Gebrauch von Sulfat¬
wässern. Von Dr. E. Pflanz, Marienbad. S. 345.
4. Kasuistische Beiträge zum Morbus Banti. Von Dr. Karl Ungar,
Prosektor in Hermannstadt (Ungarn). S. 348.
5. Das Problem der Krebskrankheit. Von Prof. Alex. Fraenkel.
S. 350.
11. Oeffentliclie Gesundheitspflege : Sozialärztliche Revue. Von
Dr. L. Sofer. S. 355.
: - - - -
Aus der serologischen Abteilung des hygienischen In¬
stitutes und der psychiatrischen Klinik der deutschen
Universität in Prag.
Uebör die Durchgängigkeit der Meningen be¬
sonders bei der progressiven Paralyse.
Von Dr. E. Weil und Dr. V. Kafka.
Die Untersuchungen, die uns darüber Aufschluß geben
sollen, wie im Körper vorhandene, normale oder patholo¬
gische Stoffe oder von außen eingeführte, aus dem Blut
in den Liquor übergehen, haben eigentlich nur bei den
akuten Meningitiden ein greifbares Resultat ergeben.
Hier fand sich die Permeabilität sicher erhöht und zwar
in erster Linie bei der tuberkulösen, in zweiter Linie bei
der epidemischen Meningitis. Anders bei normalen Menin¬
gen und in jenen Fällen, wo die Meningen die Zeichen
luetischer und metaluetischer Irritation oder Entzündung
bieten. Bei gesunden Häuten ist die Permeabilität eine
äußerst geringe, was sich ja schon aus der Zusammen¬
setzung des normalen Liquors gegenüber dem Blute ergibt ;
erhöht — aber nur vorübergehend — scheint sie hier nur
zu sein, wenn das Blut mit einem -Stoffe stark überladen
ist, wie z. B. bei der Urämie, heim Diabetes und im diabe¬
tischen Koma, bei schwerem Ikterus, in welchen Fällen
man Harnstoff, resp. Zucker, Azeton oder Urobilin im Li¬
quor finden soll. Doch sind diese Fälle wohl nicht mehr
L T:
III. Referate: Pathologie und Therapie der Rachenkrankheiten.
Von A. Rosenberg. The voice. Von W. H. Aikin. Ref.:Rethi.
— Die Kopulation der Netzhaut mit der Aderhaut durch
Kontaktverbindung zwischen Sinnesepithel und Pigmentepithel.
Von Dr. R. Halben. Das künstliche Auge. Von Friedrich A.
und Albert C. Müller. Die mikroskopischen Untersuchungs¬
methoden des Auges. Von Dr. S. Seligmann. Lehrbuch der
Augenheilkunde in der Form klinischer Besprechungen. Von
Prof. Paul Römer. Untersuchung der Pupille und der Iris¬
bewegungen beim Menschen. Von Dr. Karl Weiler. Lehrbuch
der Augenheilkunde. Von Dr. Theodor Axenfeld. Atlas der
äußerlich sichtbaren Erkrankungen des Auges. Von Prof. Doktor
0. Haab. Ref.: Salzmann. — Resultate und Probleme der
Badischen Krebsstatistik. Von Dr. R. Werner. Ref.: Siegfried
Rosen fei d.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. V erhandln n geu ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
den normalen beizuzählen, da hier jaider osmotische Druck
erhöht, die Durchlässigkeit der Gefäße vielleicht auch ver¬
ändert sein dürfte. Hierher wäre noch zu zählen, daß man
bei Chloroformparkose vorübergehend Chloroform im Liquor
naohweisen konnte, bei andauernd starker Bromkur auch
Brom.
Bei Luetikern, spezeill bei luetisc'hen Zerehral-
erkrankungen sind — - soweit uns die Literatur bekannt —
die Angaben sehr spärlich. Nur Brissaud und Brecy1)
konstatierten erhöhte Permeabilität der Meningen bei lue-
I tischer Meningitis. In neuester Zeit berichten Sicard und
Bloch,2) daß sich in zehn Fällen von intravenöser Arseno-
[ benziolinjeklion (leider ist über die Fälle nichts angege¬
ben) dreimal Arsen, aber nur in sehr geringer Menge, im
Liquor nadhweisen ließ u. zw. eine Stunde nach der In¬
jektion. Am nächsten Tage war es nicht mehr nachweisbar ;
niemals fanden sie es nach subkutaner oder intramuskulärer
Injektion. Es wäre aber sehr wichtig, in solchen Fällen
sicheres zu erfahren, da ja die bei Luetikern in 40°/o der
Fälle, bei zerebralen Luetikern in 80% vorkommende Zell¬
vermehrung im Liquor gegen die Intaktheit der Meningen
spricht. Doch scheinen die Erfahrungen, die wir bei Lues
!) Meningitp aigue, Guönson par le tvaitement metasyphiiitique.
Soc. med. des höpitaux. 14. Mai 1902.
2) Permeability meningee ä l'arsenobenzol. Compt. rend, de la •~<n.
de biol. 1910. Nr. 38, S. 624.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
336
c'erebri mit der Wassermann sehen Reaktion gemacht
haben, daß sie nämlich im Blute positiv sein kann, im
Liquor aber immer so viel wie negativ ist, gegen eine be¬
sondere Erhöhung der Permeabilität der Meningen bei die¬
sen Affekt ion.en zu sprechen.
Bezüglich der metaluetischen Erkrankung
Tabes und der Paralysis progressiva — - liegen uns fast nur
negative Angaben der Literatur vor.* 3)
Der eine von uns (Kafka) hat diesbezüglich einige
Versuche gemacht,4) indem einerseits Paralytikern, an¬
derseits luesfreien Dementia praecox-Fällen abgetötete
Vibrionen subkutan injiziert und der Liquor nach einiger
Zeit untersucht wurde. Weder durch Agglutination noch
durch Komplementbindung ließen sich Antistoffe in dem¬
selben nachweisen. Beweisend waren diese Versuche nicht,
da ja eine körperfremde Substanz eingeführt wurde, viel¬
leicht auch nicht in der genügenden Menge.
Die große Bedeutung, die diesem Problem in theo¬
retischer, eventuell auch in praktischer Beziehung inne¬
wohnt, ließ uns weitere Experimente anstellen, besonders
über den Durchtritt von Stoffen, die sich schon normaler¬
weise im Blute finden, u. zw. schienen uns hiefür am ge¬
eignetsten die normalen Antikörper des Blutes.
Wir wissen aus den Untersuchungen über die Anti¬
körpergehalte der vorderen Augenkammer, wo ähnliche
Verhältnisse obwalten dürften wie im Zerebrospinalraum,
daß daselbst stets die im Blute immunisierter Tiere auf¬
tretenden Antistoffe vorhanden sind, nur in quantitativ viel
geringerer Menge. Die ganz unabhängig ausgeführten Ver¬
suche von R. Salus5) und Miyashita6) haben das voll¬
kommen übereinstimmende Resultat ergeben, daß die Agglu-
1 inine und Hämolysine bei immunisierten Tieren in nur
ungefähr 1000 mal geringerer Menge in dem ersten Kammer¬
wasser auftreten als im Blutserum. Da wir, um die Durch¬
lässigkeit der Meningealgefäße der Menschen zu studieren,
nicht die künstlich erzeugten Immunstoffe, sondern die
normalerweise vorhandenen benützen wollten, so sind uns
diese Feststellungen der . quantitativen Verhältnisse von
großer Wichtigkeit. Das konstante Vorhandensein von*Ham-
melblutambozeptoren im normalen Blut war für unsere
Versuche am besten zu verwerten.
Da die Menge von 01 Cm3 Serum gewöhnlich aus¬
reicht, umi 1 cm3 einer 5°/oigen Hammelblutaufschwemmung
zu sensibilisieren, so müßte man zum Nachweis der glei¬
chen Menge Ambozeptoren 100 cm3 Zerebrospinalflüssig¬
keit. benutzen, wenn die bei der vorderen Augenkammer
konstatierten Verhältnisse auch hier Gültigkeit haben.
Es war also zu erwarten, daß in den gewöhnlich zur
Verfügung e teilenden Mengen von normalem Liquor der
Nachweis von Hammelblutambozeptoren nicht gelingen
dürfte. Um so interessanter erschien uns die Untersuchung
der Frage, wie sich pathologische Fälle diesbezüglich
verhalten.
Wiederum wissen wir, insbesondere durch die Feststel¬
lungen von ophthalmologischer Seite (lloemer, Wessely,
Leber), daß der Durchtritt von Antikörpern aus dem Blut
sehr erhöht ist, wenn die Gefäße des Ziliarkörpers ent¬
zündet sind. Bereits Salus hat in seiner Arbeit die Ver¬
mutung nusgesprochen, daß die Vorgänge in der Vorder¬
kammer mit denen im Zerebrospinalraum Aehnlichkeit haben,
und wir haben zunächst drei Fälle von akuten Meningi¬
tiden, zwei tuberkulöse mit positiven Bazillenbefund und
eine epidemische nach der Richtung hin geprüft. Wir fanden
mit der unten angegebenen Methode in allen drei Fällen
die Hammelblutambozeptoren und bei den tuberkulösen
Meningitiden sogar das Komplement nachweisbar. So wenig
überraschend uns dieser Befund war, so ist der Nach¬
:!) Bezüglich dev Literatur, siehe Kafka, Zur Frage der Permea¬
bilität der Meningen. Mediz. Klinik 1910, Nr. 2.
4) K a f k a, 1. c.
*) R. S a 1 u s, v. Graefes Arch., Bd. 75, H. 1.
6) G. Miyashita, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk., Nr. 18, Jahr¬
gang 1 910.
weis von normalen Antikörpern doch von Inter¬
esse, da wir mit dieser Methode auf einem ein¬
fachen Wege eine nichtluetische Meningitis kon¬
statieren können, eine Reaktion, welche wohl
neben den übrigen diagnostischen angewendet
zu werden verdient, (vorausgesetzt, daß metaluetische Pro¬
zesse auszuschließen sind).
Von größerem Interesse erschien uns jedoch die Unter¬
suchung chronischer Gehirnaffektionen, unter diesen
wieder jener mit Beteiligung der Meningen, insbesondere
der progressiven Paralyse. Als 'man die Wass ermannsdhe
Reaktion in der überwiegenden Mehrzahl in der Zerebro¬
spinalflüssigkeit bei Paralyse positiv fand, glaubte man,
ihr Auftreten daselbst sei durch lokale Antikörperbildung
bedingt; als man aber im Blute dieser Kranken ausnahms¬
los positive Komplementbindung nachwies, schien die An¬
nahme gerechtfertigt, daß die Antikörper aus dem Blute
in die Zerebrospinalflüssigkeit hineingelangen, zumal es
gar nicht sehr selten vorkommt, daß bei negativer Zerebro¬
spinalflüssigkeit das Blut positiv reagiert, während das um¬
gekehrte Verhältnis zu den großen Seltenheiten gehört. Dm j
letztere Anschauung setzt natürlich eine erhöhte Permea¬
bilität der Meningealgefäße für Antikörper voraus, welche I
auch vermittels der von uns oben skizzierten Viethode nach¬
weisbar sein müßte.
Wir bedienten uns folgender Technik :
Zu 10 cm3 blutfreier, nicht erhitzter Zerebrospinalfliissig- ;
keit haben wir i cm3 einer dreimal gewaschenen ganz frischen
5°Adgen Tlanunelblutaufschwemmung gegeben und eine Stunde
bei 37° belassen, nach dieser Zeit werden, die Blutkörper- i
c'hen auf einer Zentrifuge mit geringer Tourenzahl zentri¬
fugiert und die überstehende Flüssigkeit möglichst voll¬
ständig abgegossen, der Bodensatz nicht gewaschen. Der
Sätz wird in 1 cm3 Kochsalzlösung aufgeschwemmt und auf zwei ,
Röhrchen: zu je 0-5 cm3 verteilt. Nun wird zu jedem; Röhrchen
normales Meerschweinchenserum als Komplement hinzugefügt.
Dasselbe muß jedoch zu jedem Versuche austitriert werden, weil
es manchmal selbst Hammelblutkörperchen löst; es darf nur in :
jenen Dosen angewendet werden, in welchen es allein keine j
öder nur Spuren von Hämolyse aufweist; trotz der vorherigen
Titration muß die Komplementkontrolle jedem Versuche noch- '
mals beigegeben werden. In jenen Röhrchen nun, in welchen !
stärkere Lösung auftritt als in den Komplementkontrollen, haben ;
die Blutkörperchen aus der Zerebrospinalflüssigkeit Hammelblut¬
ambozeptoren gebunden. Die Hämolyse tritt entsprechend der |
W irkung der Normalhämolysine ziemlich langsam auf und ist i
erst hach einer bis zwei Ständen deutlich. Wir geben anbei einen |
Versuch wieder:
Tabelle I.
Titration der Komp 1 e m e n t e.
Hammelblut
5%
Kochsalz¬
lösung
Komplement
Resultat
0-5
03
0-2
deutliche Hämolyse
0-5
0-35
015
Spur Hämolyse
0-5
04
0T
keine Hämolyse
0-5
0-45
005
keine Hämolyse
Wir können also das Komplement für die beiden Pro¬
ben des Hauptversudhes in der Dosis von 015 und 0-1, resp.
in der Menge 0-1 und 005 anwenden. Wir haben zum'
Hauplversuch die beiden letzteren Dosen gewählt.
Wir wählten in der Tabelle III und IV die Bezeichnung
so, daß wir nur Hämolyse, wie sie in Fäll II und XI (Ta¬
belle II) ist, als H — | — b, wie sie in X ist, als ++, wie irr
VII 1 als +, wie in Fall IX als ± anfüjhrten.
Mit dieser Methode wurden die folgenden 44 Fälle7)
untersucht. Um jeder Autosuggestion zu entgehen, wurden
die entnommenen Liquors numeriert und dann ins hygie¬
nische Institut zur Vornahme der Untersuchung geschickt.
Der besseren Uebersichtlichkeit halber sind die Fälle
in zwei Tabellen (Tab. Jlt und IV) dargestellt, in der ersten
finden sich die punktierten Paralysen, in der zweiten die
7) Einige der Fälle stammen aus der Prager Landesirrenanstalt
und es sei für die Ueberlassung derselben Herrn Direktor Dr. Hel lieh,
Herrn Primarius Dr. Klucina und Herrn Dr. Urban an dieser Steile
der beste Dank ausgesprochen.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
337
Tabelle II. Hauptversuch.
Satz von 1 cm1
5 °/lP Hammelblut, welches
niit den verschiedenen
Zerebrospinalflüssigkeiten
in Kontakt war und in
1cm3 Kochsalzlösung auf-
geschwemmt wird
Kochsalz¬
lösung
Komplement
_ _ . _ _
Hämolyse nach 2 Stunden der Fälle
— -
- LJ - =
I.
Alkol.
11.
P.p.
Hem.
praec.
IV.
Dem.
sen.
'
V.
Luet.
Herd
VI.
Dem.
praec.
VII.
Lues
Hl
VIII.
I\ p.
IX.
P. p.
X.
P. p.
XL
P. p.
Kontrolle
(0 5 cm3 5°/0
Hammelblut
+ 0T und
0 05 Kom¬
plement)
0-5
0-5
0 4
0-45
01
005
0
0
kompl.
0
0
0
0
/
' 0
0
0
0
0
stark
wenig
deut¬
lich
0
stark
stark
kompl.
kompl.
0
0
Tabelle III. Paralysen.
; Nr.
|. _
Name 1 Datum
Resultat
1
Sla.
20. Januar
31.
20. Februar
++
+ 1+
2
Run.
20. Januar
31.
! w . ,
! q
o
Lis.
20. Januar
8. Februar
+
4-4-
4
He.
20. Januar
+++
5
Svo.
26. Januar
4-
6
Jun.
26. Januar
8. Februar
7
Zu. V
26. Januar
4-4-
8
Smf.
31. Januar
20. Februar
4-4-4-
+++
9
Hein. ?
3. Februar
4-
10
Kost. $
3. Februar
+
11
R.
6. Februar
12
D.
6. Februar
+
13
End.
6. Februar
4 — 1 — F
14
Ri.
8. Februar
15
Ku.
8. Februar
4-4-4-
16
Go. V
14. Februar
4-
17
And.
17. Februar
+4-4-
18
Su.
17. Februar
-P+
19
Ku.
17. Februar
“1 — 1 — b
20
Go.
17. Februar
H — 1 — P
21
Stau.
20. Februar
4-
22
Si.
20. Februar
+4-
23
Staug.
20. Februar
24
Zlenk.
11. Januar
4-4-
Tabelle IV. Nichtparalysen.
Nr.
Name
Diagnose Datum Resultat
1
Kon.
Tabes dors., Angst¬
psychose
Sektion bestätigt
8. Februar
—
2
- - -
Drb.
Epilepsie
14. Februar
• -
3
Bit.
Epilepsie
17. Februar
—
4
Vyk.
Epilepsie
17. Februar
—
Po.
Epilepsie
17. Februar
—
6
Ko.
Dementia praec.
23. Januar
—
7
Hed.
Dementia praec.
24. Januar
—
8
9
Brej.
Ilofm.
Dementia paran.
25. Januar
—
Dementia paran.
8. Februar
—
10
Stadl.
Dementia praec.
14. Februar
—
11
Ru.
Sexuel. Neurastb.
8. Februar
—
12
Dol.
Traum. Demenz.
8. Februar
—
13
Fi.
Dementia praec. .
14. Februar
—
14
Raj.
Dementia senilis
8. Februar
—
15
Hai.
luet. Herd
14. Februar
—
16
Hrn.
Dementia praec.
20. Februar
—
17
Krc.
Alkohol
20. Februar
" -
18
Hrazd.
Dementia praec.
20. Februar
—
19
20
Kön.
luet. Herd
20. Februar
Köh.
Lues III
20. Februar
Nichtparalysen. Die genauen Details über Symptome und
Verlauf der Sektionsbefunde der einzelnen Fälle soll in
einer ausführlicheren Publikation folgen.
Beide Tabellen geben in theoretischer wie in prak¬
tischer Hinsicht recht bemerkenswerte Resultate. Es ist
zum ersten Male sicher nachgewiesen worden,
daß die Permeabilität der Meningen bei der Para¬
lyse erhöht ist u. zw., wenn wir auf die obige Berech¬
nung zurückkommen, ungefähr um das Zehnfache gegen¬
über den normalen Verhältnissen; trotzdem finden sich
beim Paralytiker aber ungefähr lOOmal weniger Hämolysine
als im Blute. Der Nachweis von Komplement ist uns auf¬
fallenderweise nur einmal gelungen (Fall 13, Tab. III),
ebenfalls einmal der Nachweis vom Hammelblutagglulini-
nen im Fafll 8 (Tab. Ill) (zweimal untersucht). Diese große
quantitative Differenz zwischen Antikörpergehalt des Blutes
und der Zerebrospinalflüssigkeit im Zusammenhänge mit
den obigen Versuchen von Kafka, läßt uns vermuten, daß
es sich bei der Wassermann sehen Reaktion im Liquor
von Paralytikern doch nicht um einen bloßen Durchtritt
von Antikörpern aus dem Blute handelt, sondern auch von
Antigenen, wodurch in dem sonst von der Säftezirkula¬
tion ausgeschlossenen Liquor eine Antikörperbi^lung,
ähnlich wie in den sonstigen Säften, möglich ist.
ln praktischer Hinsicht soll, da noch zu wenig
Fälle untersucht wurden, nichts Engültiges gesagt wer¬
den. Wir sehen, daß von 24 'Paraly sefäillen 23, -— 97%
ein positives Resultat ergaben, während die
Kon trollfälle negativ ausfielen. Besonders zu er¬
wähnen ist, daß sich unter den Kontrollfällen eine
Lues 111, zwei luetische Herde und eine Tabes be¬
finden. Dieses Verhalten war so auffallend, daß der
Hygieniker wenige Stunden nach der Punktion dem
Psychiater mit Sicherheit aus den mit Zahlen versehenen
Proben die Paralysen nennen konnte. Sollte sich dies an
einem großen Materiale bewahrheiten, so hätten wir damit
ein unschätzbares diagnostisches Hilfsmittel, das dadurch
noch um so wertvoller schiene, als die Hämolysine anschei¬
nend in jedem Stadium der Krankheit deutlich nachweis¬
bar auftreten, bei vorgeschrittenen besonders somatisch dar¬
niederliegenden Fäl len nur quantitativ stärker, lieber den
einen negativen Fall werden weitere Untersuchungen ge¬
pflogen werden. Der eine Fall mit di Resultat ist eine
Li ss au ersehe Paralyse mit positivem Wassermann im
Liquor. Die Lösung der Hammelblutkörperchen war übri¬
gens auch hier stark genug, um deutlich von den Kontrollen
unterschieden zu werden.
Wir möchten jedoch nochmals mit besonderem Nach¬
druck darauf hinweisen, daß wir für unsere Feststellungen
zunächst nur ein theoretisches Interesse beanspruchen, da
nur ein großes Kontrolhnaterial über eine eventuelle dia¬
gnostische Bedeutung die Entscheidung liefern würde.
Daß die Hämolysinreaktion auch bei akuten Meningi¬
tiden positiv ist, ist einerseits für diese Erkrankungen von
praktischem Wert, würde anderseits die Paralysediagnose
meist nicht beeinträchtigen. Da aber die Liquoruntersu¬
chung an einer sehr großen Zahl von Fällen aus begreifli¬
chen^ Gründen auf Schwierigkeiten stößt, so wird es, falls
die Reaktion Interesse finden sollte, von Nachuntersuchun¬
gen abhängig sein, ob ein praktischer Vorteil aus derselben
gezogen werden kann; vielleicht wird es dann notwendig
sein, die Reaktion noch empfindlicher zu gestalten.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
338
Nr. 10
Aus dem Landeskrankenhause in Klagenfurt.
Klinische Beobachtungen über Muskel- und
Hautfinnen.
Böntgennachweis verkalkter Zystizerken.
Bemerkungen zur Bandwurm- und Finnenstalistik.
. Von Dr. Karl Pichler, Vorstand der inneren Abteilung.
Ziemlich gleichzeitig (1904) sind uns zwei zusammen¬
fassende Darstellungen über den Zystizerkus in der Mus¬
kulatur des Menschen von H. Lorenz1) und Danielsen2)
geboten worden. Letzterer hat aus der Literatur 115 Fälle
(zwei eigene aus der Tübinger chirurgischen, Klinik v. ß ru ns
eingeschlossen) gesammelt ; davon waren 82 Träger meh¬
rerer Finnen, 33 Fälle solitärer Zystizerken.
Meine eigenen Beobachtungen über Haut- und Muskel¬
finnen am Lebenden umfassen 16 Fälle (aus den Jahren
1899 bis 1910 stammend, siehe die nachstehende tabella¬
rische Zusammenstellung, in welcher die Kranken nach der
Zeit der Beobachtung angereiht erscheinen).
Eine Trennung der Haut- und Muskelfinnenfälle ist
besonders in klinischer Beziehung unmöglich; so bringt,
G. Lewin (1. c.) in seinen zwei Arbeiten vom „Zystizer¬
kus in ( ! ) der Haut“ natürlich auch Muskelfinnenfälle.
Außerdem habe ich 1896 als Assistent Prof. v. Jakschs
in Prag den später von Posselt3) ausführlich beschriebenen
Fall von multiplen Finnen zu untersuchen Gelegenheit gehabt.
Dieser Kranke wurde später (1900) von Prof. May dl -Prag
wegen Gehimzystizerkus, der zur Jackson scher Epilepsie ge¬
führt hatte, operiert. (Siehe May dl, Wiener klinische Rund¬
schau 1901, 15. Jahrg., S. 273.) May dl erwähnt eigentümlicher¬
weise nicht die Poss eit sehe Arbeit, so daß eine Doppelzählung
möglich wäre. Der Mann wurde 1904 von Prof. Wölfl er wegen
Krämpfen der anderseitigen Gliedmaßen zum zweiten Male tre
paniert; auch diesmal kein Dauererfolg. (Siehe O. Fischer,
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 1905, Bd. 18, S.97;
V. Kafka, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psy¬
chiatrie 1910, Bd. 2, S. 700.)
Ehe ich daran gehe, meine eigenen Krankenbeobach¬
tungen vom klinischen Gesichtspunkte aus zu erörtern,
schicke ich, wie die meisten Autoren, Bemerkungen über
die ätiologische, bzw. medizinisch -geographische Seite des
Krankheitsbildes voran.
Die beim Menschen gefundenen Zystizerken sind an¬
scheinend ausnahmslos Cysticerci cellulosae, das heißt, die¬
selben Finnen, wie sie beim Schweine Vorkommen; sie
stammen von der Taenia solium, dem „bewaffneten“ Band¬
wurme des Menschen, ab.
Die wenigen Fälle, in welchen beim Menschen ein Cysti¬
cercus taeniae saginatae gefunden worden sein soll (Volkers,
Arndt, Bitot und Sabrazes), werden von Peiper4) als
zweifelhaft hingestellt. (Siehe darüber noch weiter unten.)
Die Verbreitung und Häufigkeit der Zystizerkenkrank-
heit beim Menschen muß demnach Ln unmittelbarer Bezie¬
hung stehen zur Verbreitung und Häufigkeit der Taenia
solium und diese wieder zum Vorkommen, bzw. Genüsse
des Fleisches finniger Schweine.
Freilich darf man in dieser Beziehung keineswegs ein
allzu enges zeitliches und örtliches Zusammenfallen der an
Taenia solium einer-, an Zystizerkose anderseits erkrankten
Menschen und der finnigen Tiere verlangen. Denn erstens
ist die Lebensdauer der beiden Vegetationsformen (der Finne
wie des Bandwurms) eine sicher auf Jahre sich erstreckende,
also auch die Zeitdauer der Ansteckungsgefahr. Zweitens
(und dies ist gewiß ebenso wichtig) sind die menschlichen
Bandwurmträger so gut wie die finnigen Schweine „frei¬
zügig“.
') H. Lorenz, Muskelerkrankungen in Nothnagels Handbuch
1904, Bd. 11, 3. T., 2. Abt., S. 358.
2) W. Danielsen, Beiträge zur klin. Chirurgie 1904, Bd. 44,
S. 238.
:i) P o s s e 1 1, Wiener klin. Wochenschr. 1899, Bd. 12, S. 422.
4) Peiper, Tierische Parasiten. Nothnagels Handbuch 1904,
Bd. 6, 2. Aull., S.- 116.
Der Mensch als Finnenträger kommt ja für die Bandwurm-
Übertragung so wenig in Betracht, als wahrscheinlich die paar
anderen Wirtstiere, bei welchen der Cysticercus taeniae cellulosae,
außer beim Schweine, noch gefunden wurde: Reh, Schaf, Iiund,
Äffen, Ratte; freilich soll an manchen Orten die „Schweine“-
Finno beim Rehwild häufig Vorkommen.5)
Bezüglich der Ansteckung des Menschen mit Finnen
(durch Bandwurmeier, bzw. deren Onkosphären) kommt
außer der Selbstinfektion eines Bandwurmträgers oder
der Uebertragung von demselben durch direkte Be¬
rührung auf Familiengenossen, die V ersc'hleppung ent¬
wickln II gsf äh ig er Eier im Dünger auf Gemüse in Be¬
tracht. Verse6) meint, daß die relative Häufigkeit, bzw. das
weitere Vorkommen der Finnen bei Städtern (in Deutsch¬
land), wo die Taenia solium so selten geworden sei, für
die Einfuhr infizierten Gemüses vom Lande her spreche.
Virchow war ein ausgesprochener Feind der Lehre von
der Selbstinfektion; in der Arbeit seines Schülers Dressei (1. c.)
führt er an, einerseits' sei in 87 Zystizerkenfällen seines Insti¬
tutes niemals eine Tänie gefunden worden, in zwölf im gleichen
Zeitraum beobachteten Tänienfällen (offenbar waren es lautet
Taenia solium, was nicht erwähnt ist) kein einziges Mal ein
Zystizerkus.
Virchow sagt sogar,7) „es finden sich viel häufiger Tii-
chinen mit Tänien zusammen als Zystizerken“ und „es fehlt
an jedem Beweise, daß die Koinzidenz von Tänien im Darme und
Finnen in den Organen einer Leiche keine zufällige sei“.
Allerdings bestreitet Virchow für „exzeptionelle
Fälle nicht die Möglichkeit, daß ein in den Magen von rück¬
wärts hineingedrängter Tänienstock daselbst Eier und Larven
absetzen könne“.
Wichtiger ist jedenfalls die äußere Selbstan-
steckung.
Ueber - das gegenseitige Zahlenverhältnis der
Träger der beiden verbreitetsten Bandwürmer (der Taenia
solium und der Taenia saginata) lauten die Nachrichten der
letzten Jahrzehnte aus Deutschland übereinstimmend
dahin, daß die erstere an Häufigkeit bedeutend abgenommen
habe.
So sagt., um nur einige Beispiele zu erwähnen, Matthes,3)
daß in Jena nur Taenia mediocanellata (saginata) vorkomme;
C u r s c h m ann9) und B a h r d t 9) heben dasselbe für Leipzig
hervor, Renda10) (allerdings als pathologischer Anatom) für
Berlin; Lenhartz11) betont die Seltenheit der Taenia soliurr
für Hamburg, L eichtenstern für Köln (Handbuch von
Penzoldt und Stintzing 1896, Bd. 4, erste Auflage, S. 623,'.
Ueber ö s t e rr eichisch e Verhältnisse finde ich hei B ettel-
heim (1. c.„ S. 1479) die Mitteilung, daß in Wien in den Siebziger
jahren die Taenia saginata viel häufiger als die Taenia solium
vorkam; das gleiche sagt für Prag Pribram (1. c.) für die
Neunziger jahre.
Dagegen fand Monti (Archiv für Kinderheilkunde 1883,
Bd. 4, S. 198) an den kranken Kindern der Wiener allge¬
meinen Poliklinik im Alter von zwei bis zwölf Jahren
(von 1872 bis 1881), die Taenia solium viel häufiger als die Taenia
saginata : er bringt aber keine Verhältniszahlen.
Für Tirol liegt in der Pos seit sehen Arbeit (S. 427)
die Zusammenstellung vor, daß an der Innsbrucker Klinik von
1876 bis 1879 neben 20 Fällen von Taenia solium nur 3 von
Taenia saginata behandelt wurden; hingegen kamen 1893 bis
1898 nur 12 Kranke mit Taenia solium auf 66 mit Taenia
saginata.
Im Salzburger Johannesspitale wurden in den letzten
zehn Jahren, nach freundlicher Mitteilung des Kollegen Doktor
E. Adler, 78 Tänien behandelt: 62 waren Taeniae saginatae,
16 Taeniae solium. Seit 1905 gab es 32 Taeniae saginatae und
6 Taeniae solium.
D Bor chm ann, Zeitschr. für Fleisch- und Milchhygiene 1904,
Rd. 15, S. 39; Krabbe, zit. nach Hubers Bibliographie, S. 63.
6) Verse, Münchener med. Wochenschr. 1907, Bd. 54, S. 512.
7) Virchow, Berliner klin. Wochenschr. 1892, Bd. 29, S. 343
und Charitd-Annalen, 1875, Bd. 2, S. 747.
8) M a 1 1 h e s in v. Mering-Krehls Lehrbuch der inneren Medizin
1909, 6. Auf]., S. 529.
9) Zit. nach J. Ihrschberg, 1. c.
l0) Ben d a, Deutsche med. Wochenschr. 1904, Bd. 30, S. 570.
Vereinsbeilage.
u) Lenhartz im 7 Handbuche der gesamten Therapie von Pen¬
zoldt und Stintzing 1909, Bd. 2, 4. Aufl., S. 585.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
339
Zahl I
Alter ;
Geschlecht
Jahr der
Beobachtung
Angebl. Dauer
derZystizerken-
krankheit
Grund¬
krankheit
Zystizerken bei Lebzeiten
getastet
Klinische
Zeichen für
Gehirn-
zystizerken
Untersuchung
der
exzidierten
Blasen
Obduktionsbefund
Herkunft
der
Finnen
Anmerkung
1. Unterbaut¬
gewebe
2. Muskulatur
1. Muskulatur
2. Gehirn
I
67
Mann
1899
ein
Jahr
Carcin.
oesophag.
zahlreiche
viele am
Stamme und an
den Gliedmaßen
keine
Typische
Finnen; auf
Hakenkranz
wurde nicht
geachtet
—
t
un¬
bekannt
Aufschießen
neuer beob¬
achtet. Der
Fall wurde
im Vereine I
der Aorzts
Kärntens
September
1899 vorge¬
stellt, siehe
Pichler,
Oest. ärztl.
Vereins¬
zeitung 1900,
24. Jahrg.,
S. 13
II
54
Weib
1903
?
Carcin.
ventricul.
keine
nur ein walzen¬
förmiger 3 cm
langer, l/s cm
breiter Knoten
im rechten M.
cucullaris
—
Typische
Finne; auf
Hakenkranz
wurde nicht
geachtet
keine sonsti¬
gen Finnen
gefunden
nicht seziert
un¬
bekannt
III
33
Mann
1904
Catarrh.
ventricul.
acut.
Knoten in
beiden
Achselhöhlen
viele Knoten
in den Mm.
pectoral, maior.,
deltoid., cucullar.,
latissim. dorsi,
erector trunc.,
quadrat, lumbor.
—
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
—
—
V
39
1910
einer in der
rechten
Axilla; der
anderseitige
wurde 1904
heraus¬
geschnitten
neben zysti¬
schen Knoten
in beiden Mm.
pectoral, maior,
im linken M.
latissim. dorsi,
linkem quadrat.
lumbor. (im
ganzen 4) eine
größere Anzahl
kalkig. Knötchen
in den Brustmus¬
keln, im M. deltoid,
u. latissim. dorsi
1907 eine
Reihe von epi¬
leptischen An¬
fällen; weder
vorher noch
später solche
gehabt
Röntgen¬
aufnahme
(versucht)
IV
64
Mann
1904
p
Arterio-
sklei’ose
viele
zahlreiche in
den Mm. pectoral,
maior , cucullar.,
latissim. dorsi,
teres maior,
serrat. antic,
maior, deltoid.,
biceps, brach.,
glutae. maxim.,
triceps surae
Plötzlich bei
der Arbeit
zusammenge¬
stürzt, frag¬
liche Krämpfe
hiebei; her¬
nach mania-
kalisch. Durch
5 Wochen be¬
stand dieses
»transitori¬
sche Irresein«
—
—
p
71
1910
keine mehr
getastet
nur mehr
zwei zystische
bis bohnengroße
Knoten, im M.
pectoral, maior,
und im glutaeus
maxim, rechts
getastet; in den
übrigen oben er¬
wähnten Muskeln
viele kalkige, bis
stecknadelkopf¬
große Knötchen
Diesmal psy¬
chisch etwas
wunderlich
Typische
Finne (Haken¬
kranz nicht
gefunden)
Röntgen¬
aufnahme
<
57
Mann
1904
V
Pneumon.
lobar.
keine
e i n bohnen¬
großer, spindel¬
förmiger i. linken
Muscul. teres
maior, ein frag¬
licher im linken
Deltamuskel
keine
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
.
—
—
p
Die
Schwägerin,
welche in
demselben
Dorfe, nicht
im gleichen
Haushalte
lebt, er¬
blindete 1893
links an
Augenfinne
(Befund von
Dr. O. Purt
scher). |
Röntgenauf¬
nahme,
Februar 1911
VI
66
1
Mann
1906
p
Arterio¬
sklerose
keine
ein Knoten im
linken M. latissim.
dorsi., ein zweiter
im rechten M.
obliqu. abdomin.
extern.
keine
Beide sind
Finnen mit
hakentragen¬
dem Skolex
negativ
negativ
p
340
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
Zahl
Aller
Geschlecht
bl
C
O rC
Ja
If
Angehl. Dauer
der Zystizerken-
krankheit
Grund¬
krankheit
'
Zystizerken bei Lebzeiten
getastet
Klinische
Zeichen für
Gehirn-
zystizerken
Untersuchung
der
exzidierten
Blasen
Obduktionsbefund
Herkunft
der
Finnen
~n
a>
1
<
1. Unterhaut¬
gewebe
2. Muskulatur
I. Muskulatur
2. Gehirn
VII
G4
Mann
1904
*?
Em¬
physem,
pul mon.
ein haselnu߬
großer, derb¬
elastischer,
sehr ver¬
schieblicher
Knoten in der
Herzgegend;
ein zweiter
in der rechten
Skapularlinie
nur ein fraglicher
im rechten M.
teres maior,
(bei der Ob¬
duktion nicht
bestätigt)
keine
’
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
*
negativ
negativ
y
VIII
42
Mann
1906
Care in.
ventricul.
ein Knoten
unter der
Bauchhaut,
einer unter
der Wangen¬
schleimhaut
e i n bohnen-
großer Knoten im
rechten M.
latissim. dorsi
keine
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
nein
nein
Gattin an
Band¬
wurm er¬
krankt
gewesen
1
IX
76
Mann
1906
v
Arterio¬
sclerosis
nein
ein kleinbohnen¬
großer Knoten
im linken M.
biceps brachii
keine
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
—
Fleisch¬
hauer, hat
an Band¬
wurm
gelitten
X
66
Mann
1907
Pneumon.
_
spärliche
zahlreiche in
den Mm. pectoral,
maior, deltoid.,
biceps brach.; in
den Vorderarm¬
streckern, im
latissim. dorsi,
in den Mm. glut.
keine
\
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
wie bei Leb¬
zeiten, nur
auch solche
in der Tiefe
eine große
Anzahl von
Finnen in den
weichen Hirn¬
häuten, im
Marklager u.
in den Linsen¬
kernen
un¬
bekannt;
im Darm
kein Band¬
wurm
XI
69
Mann
•1908
y
Carcin.
ventricul.
keine
viele bohnen¬
große prall-
elastische
Knoten, daneben
zahlreiche
hanfkorn¬
große, kalkige
Knötchen in den
Mm cucullar.,
pectoral, maior,
deltoid., biceps
brach., brachio-
radial., serrat.
antic, maior,
latissim. dors.,
obliqu. abdomin.
extern., glut., sarl.
keine
■
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
wie bei Leb¬
zeiten, auch
solche in den
Waden¬
muskeln
mehrere
Gehirnfinnen
un¬
bekannt;
im Darm
kein Band¬
wurm
Röntgen¬
aufnahme
Demon¬
stration im
Vereine der
Aerzte
Kärntens,
siehe
Pichler,
O.-sterr.
ärztlliche
Vereins¬
zeitung 1908,
32. Jahrg.,
S. 91
XII
70
Mann
1908
■
Paralys.
agitans.
nein
ein dattelkern¬
großer Knoten im
link. Deltamuskel
keine
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
—
—
un¬
bekannt
! XIII
i
60
Mann
1908
y
Catarrh.
ventricul.
chronic.
nein
ein klein bohnen¬
großer Knoten im
rechten Delta¬
muskel, fragl.
im M. serrat.
antic, maior
keine
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
—
—
un¬
bekannt
XIV
44
Mann
1908
—
Epilepsia
sympto¬
matic.
(e cysticer-
cosi)
nein
mehrere
Knoten i. rechten
M. splenius. capit,
in beiden Mm.
cucullar., beiden
latissim. dorsi,
im biceps brach.,
serrat. antic,
maior, im quadri¬
ceps crur.
Seitl907öflers
Schwindel¬
anfälle, leichte
Trübung des
Bewußtseins
von stunden¬
langer Dauer;
echte epilepti¬
sche Krampf¬
an fälle
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
un¬
bekannt
XV
51
Mann
1910
über 10
Jahre.
Patient
hat das
Schwin¬
den der
Knoten
an Brust
und
Rücken
be¬
obachtet
Pleuritis
tuber-
culos.
nein
ein haselnu߬
großer im rechten
M. pectoral,
maior, e i n
gleicher im
M. obliqu. ab¬
dominalis extern.,
e i n kleinerer im
rechten M.
brach ioradial.
Zahlreiche
kalkige Knöt¬
chen (gersten-
korngroß) in
beiden Mm.
deltoid., pectoral,
maior, im M.
cucullar.
keine
Finne mit
hakentragen¬
dem Skolex
—
un¬
bekannt
Röntgen¬
aufnahme 1
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
341
A
etf
N
o
jv
3
a
m
<v
O
XVI. 56 Mann
bß
C
S 3
C
© <U
3 M
Q S-
. '-£3 ©
3 ££
8>N g
s t- fJ
_> © *-
<-o JS
Zystizerken bei' Lebzeiten
Grund-
krankheit
getastet
1. Unterbaut¬
gewebe
2. Muskulatur
Klinische
Zeichen für
Gehirn-
zystizerken
[Untersuchung
der
exzidierten
Blasen
1910
glaub¬
haft
min¬
destens
20 Jahre
Tbc.
pulmon.
chronic.
e i n mohn-
korngroßes
kalkiges
Knötchen
unter der
Bauchhaut
sehr viele
kalkige Knötchen
bis über roggen¬
korngroß in
beiden Mm.
pectoral, maior,
obliqu. abdomin.
extern , serrat.
antic, maior,
latissim. dorsi,
cucullar., biceps
brachii.
1890 durch
2MonateKopf-
schmerzen u
anfallsweise
Zuckungen im
Gesichte und
am Halse
rechts. 1891
Wiederkehr
der Anfälle,
auch rechter
Arm u. Bein
werden er¬
griffen. Da¬
mals ärzt¬
licherseits
typische
Jackson-
s c h e Epi¬
lepsie be¬
obachtet.
Seither an¬
geblich ge¬
sund gewesen
Obduktionsbefund
1. Muskulatur 2. Gehirn
Herkunft
der
Finnen
bß
c
M
ca
s
c
In entkalk¬
ten Muskel¬
finnen deut¬
lich Haken
nachgewiesen
außer in den
bei Lebzeiten
getasteten
Knötchen
noch gleiche,
sämtlich
kalkige im
Zwerchfelle,
in den Inter¬
kostalmus¬
keln, im
Psoas und
Quadriceps
cruris
in den
weichen Hirn¬
häuten zahl¬
reich e
kalkige Knöt¬
chen, sowie
je ein bohnen¬
großer
zystischer im
linken Seiten¬
ventrikel und
in der linken
mittleren
Schädelgrube
subduial
un¬
bekannt
Röntgen¬
aufnahme
Meine eigenen Fälle von Bandwürmern aus Kärnten (von
1897 bis 1910) sind wenig zahlreiche. Im Krankenhause habe ich
25, in der Privatpraxis 5 Fälle zur Behandlung bekommen;
von diesen 30 Fällen, welche ich sämtlich selbst auf lie Spezies
hin geprüft habe, war nur eine einzige Taenia solium (im
Jahre 1908).
Aus dem Munde von vielbeschäftigten Kollegen habe ich
indessen erfahren, daß besonders unter der ländlichen Bevöl¬
kerung das Bandwurmleidein auch in Kärnten kein seltenes ist.
Allerdings sind es, wie - ich hörte, gewiß selbst in den
Städten, nur wenige Aerzte, welche die Glieder (oder nach ge¬
lungener Abtreibung den Kopf) regelmäßig auf den Art¬
unterschied prüfen. Es bringen einerseits die Verhältnisse
der ärztlichen Praxis, besonders am Lande, anderseits die bei
beiden A r ten völlig gleiche B eh a n d 1 u n g s me t h o d e mit
sich, daß der Arzt sich häufig mit der Diagnose „Bandwurm "
bescheidet.
Durch die Unterlassung der Artbestimmung wird das i n t «.* r-
esse des Kranken erst in zweiter Linie berührt (Verdacht
einer Finnenansteckung bei Taenia solium, schwierigere Abtrei¬
bung bei Taenia saginata).
lieber „das mangelnde Interesse für Helminthen bei der
Mehrzahl der praktischen Aerzte“ klagt schon 1879 der verdiente
schwäbische Entozoenforscher J. Ch. Hub er - Memmingen.12) Zur
selben £eit spricht Bettelheim- Wien13) über die häufigen
Begriffsverwirrungen in Fragen der Darmparasiten; ein Hund
solle! iZystizerkeninfektion des Menschen bewirkt haben und
anderes mehr.
In den 30 seither verstrichenen Jahren ist zudem das
ärztliche Interesse von den Helminthen weg auf andere Para¬
siten (Bakterien, Amöben, Spirillen u. a. m.) gelenkt worden.
Erkundigung bei einer Reihe von Kärntner Kollegen über
die Art und Zahl der von ihnen beobachteten Bandwürmer, hat
mir ergeben, daß anscheinend auch in Kärnten die Tae¬
nia saginata im allgemeinen häufiger beobachtet wird; doch
hat Koll. Dt. Schaumberger in 19jähriger, sehr ausgedehnter,
ärztlicher Wirksamkeit unter der Landbevölkerung O b e r k ä r n-
tens häufiger Taenia s'olium gesehen. Kollege Dr. Folger,
seit 1900 Vorstand der Kinderabteilung des hiesigen Kranken¬
hauses, hat unter allen Fällen von Bandwurm der Kranken¬
haus- und Privatpraxis nur eine Taenia solium beobachtet.
Da aber die Literaturangaben über die Verbreitung der
Bandwurmarten in verschiedenen Städten und Ländern fast
ausschließlich auf Krankenhausberichten fußen
(freilich meist poliklinische Kranke mit eingeschlossen) oder
der Praxis eines einzelnen Arztes entstammen, so
erscheint es mir doch etwas vorschnell, daraufhin die ge-
gelungene Ausrottung der Taenia solium zu verkünden.
j Qh Huber, Aerztl. Intelligenzblatt 1879, Bd. 26, S. 289.
,v y is) Bettelheim, Sammlung klin. Vorträge von R. Volk mann
1879, Nr. 166.
Gewiß wird auch anderwärts die übergroße Mehr¬
zahl der Bandwurmkranken vom praktischen
Arzte behandelt; es erfassen also die Krankenhaussta¬
tistiken nur einen sicherlich kleinen Bruchteil sämtlicher
Tänien eines bestimmten Gebietes.
Es wäre demnach auch möglich, daß bei dem be¬
kanntlich gegen die Abtreibungsmittel hartnäckigeren
„Rinder“- Bandwurme in der Privatpraxis mehr Versager
vorkämen, welche dann die Kranken zu einem Versuche
einer Krankenhausbehandlung bewegen würden. Der leichter
zu besiegende „Schweine“- Bandwurm entginge so der Kennt¬
nis der Anstaltsärzte — und ihrer Statistik!
Eine ähnliche Meinung hat schon vor über 40 Jahren
Scheuthauer- Wiein geäußert (Wochenblatt der Gesellschaft dei
Aerzte in Wien, 31. Juli 1867, S. 275). Auch H. Vierordt
(Medizinisches Korrespondenzblatt des Württembergischen ärzt¬
lichen Landesvereines 1885, Bd. 55, S. 195) sagt ausdrücklich,
die Krankenhausstatistiken könnten aus diesem Grunde vielleicht
einen falschen Ausdruck der wirklichen Verhältnisse geben.
Eine richtige Bandwurmsammelforschung für
ein bestimmtes, nicht zu klein bemessenes Gebiet, wäre etwa
wie folgt zu organisieren:
Sämtliche Aerzte sammeln von jedem, ihnen in einem Ka¬
lenderjahre vorkommenden Tänienfalle je eine Proglottide, gehen
sie etwa in einer schwachen Formollösung je in ein kleines
signiertes Gläschen und senden nach Schluß des Zeitraumes
alle Gläschen an die Sammelstelle ab, wo die Zählung nach
den Arten erfolgt. Um Doppelzählungen möglichst zu vermei¬
den, wäre ein Verzeichnis, Name und Alter der Träger enthaltend,
au zulegen und beizufügen. So könnte unter geringster Belästi¬
gung des einzelnen Arztes eine brauchbare Statistik gewonnen
werden. Man könnte auch nach Huber (1. c., S. 86) die Glieder
auf dunklem Papier an trocknen lassen, da dies eine spätere
mikroskopische Untersuchung nach Aufweichenlassen erlaubt.
Neuestens ist von Mehner (Referat im Zentralblatte für
Bakteriologie 1910, Bd. 47, S. 798) zur Bekämpfung der Finnen¬
krankheit der eigenartige Vorschlag gemacht worden, Geldbeloh¬
nungen auszusetzen für abgelieferte menschliche Bandwürmer.
Nach dem Referate faßt Mehner zunächst die Taenia saginata
ins Auge, anscheinend wegen der schwierigeren Erkennung ihrer
Finne bei der Fleischbeschau.
Natürlich würde bei der den Laien unmöglichen Unter¬
scheidung der beiden Tänien die Untersuchungsstelle beide Arten
bekommen und so eine Statistik schaffen können. Da aber aus
naheliegendem Grunde nur für den beigebrachten Kopf eine Beloh¬
nung gebühren künntei, das Auflinden desselben im Stuhle aber dem
Laien bekanntlich schwierig fällt, so dürfte der Sammeleifer
bald erlahmen. Ich muß also diese Anregung für eine un¬
praktische erklären, besonders für Gewinnung einer Sammel¬
forschung.
842
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
Nicht getroffen würden von dieser Sammlung,
aber auch von jeder anderen, die gewiß auch hierzulande
nicht seltenen Fälle, in welchen sich die Kranken das Bandwurm-
mittel ohne ärztliche Anweisung verschaffen, ln dieser
Beziehung denke ich nicht allein an die heimischen Apotheken
und Drogerien, sondern auch an die Beschaffung vom Auslande
her; die Tagesblätter und Kalender enthalten noch immer An¬
kündigungen über unfehlbar wirkende Abtreibungsmittel gegen
Bandwurm.
Von gegen Tänien in Kärnten gebrauchten Volksheil¬
mitteln habe ich von Dr. S c h au an b er g e r- Nikelsdorf im
Drau tale, außer Knoblauchmilch noch das Terpentinöl erfahren,
bekanntlich ein altes Bandwurmmittel (schon bei Bremser als
in England empfohlen angeführt).
Ferner wird nach Mitteilung, des Mag. pharm, v. Be li¬
sch an auch hierzulande die Farnkrautwurzel von Bauern aus¬
gegraben und daraus ein wirksames Bandwunnmittel bereitet.
Man vergesse auch nicht darauf, daß besonders die Taenia
solium auch auf gewöhnliche, nicht spezifische Abführmittel bin
ausgetrieben werden kann, oder in akuten wie chronischen Krank¬
heiten „spontan“ abgeht, siehe z. B. Monti (1. c., S. 191) (Ab¬
gang einer Taenia saginata im Verlaufe einer Kapillarbronchitis)
und Hubers Bibliographie, S. 62.
So wurde auch meine einzige Kärntner Taenia solium-
Trägerin von ihrem Bandwurme samt Kopf schon bei der Vor¬
bereitungskur befreit, am dritten Hungertage nach drei Eßlöffeln
Rizinusöl.
Auch in dem merkwürdigen Falle von Laker,14) Abgang
von 59 Bandwurmköpfen (Taenia solium), bewirkte ein einfaches
Abführmittel die Abstoßung; ich erwähne den Fall hier auch
deswegen, weil die Kranke eine Kärntnerin aus der Umgebung
unserer Stadt war.
Eine a m fliehe Bandwurm sammelforsch u n g fand
für die Jahre 1868 und 1869 im Großherzogtum Sachsen-
Weimar statt.
v. Conta10) hat den Sammelbericht ausgearbeitet. Da von
93 im Verwaltungsgebiet wirkenden Aerzten 92 Berichte ein¬
sandten, einzelne freilich keine Zahlenangaben lieferten, so ist
der Belicht ein vollständiger zu nennen. Die Bevölkerungszahl
des Großherzogtums betrug damals rund 282.000.
Von Interesse erscheint, daß für einen Bezirk und zwar
das Oberland des Eisenacher Kreises, ausdrücklich die große
Seltenheit des Bandwurmes betont wird, während bei den
Schweinen von den dortigen Amtsärzten häufig Finnen gefunden
wurden. In diesen Gegenden werde aber das Schweinefleisch
nach allgemeiner Sitte stets gut gekocht genossen.
Hoher die relative Häufigkeit der Taenia solium und der sa-
ginata 'besagt die Statistik 178 Fälle der ersteren, 23 der letzteren
13 unbestimmt. Da aber außerdem 37 Fälle von Bothriozephalus
berichtet werden, wovon nur hei 2 ein Aufenthalt des Trägers in
Rußland erwähnt wird, bei 2 Reisen im Ausland, so hat v. Con ta
wohl recht, daß von einzelnen Aerzten hinsichtlich
der Diagnose der R an d w u r m s p e z i e s, d e r e n D i a g n o s e
für die nächsten Zwecke der ärztlichen Praxis min¬
destens keine hervorragende Wichtigkeit besitzt,
Irrt ürner begangen worden sind“. (Es sind ja auch in
seither über 40 Jahren aus Thüringen keine Bothriozephalusfätle
bekannt geworden.) Wenn aber schon die Bothriozephalusfälle
die Artbestimmung verdächtig erscheinen lassen, so gilt dies noch
mehr von der unzweifelhaft schwierigeren Unterscheidung der
beiden Tänienarten.
Als fehlerhaft möchte ich noch den Vorgang bezeichnen,
daß die Behörde die Rundfrage Ende 1869 für die beiden ver¬
flossenen Kalenderjahre ergehen ließ. Die Genauigkeit
hätte sicherlich gewonnen, wenn die Sammelforschung für die
zwei kommenden Jahre verfügt, bzw. angeregt worden wäre.
Wie viele Aerzte in Sachsen - Weimar (et extra!) kommen auch
heutzutage dazu, sich über alle behandelten Krankheitsformen
der reinen Privatpraxis, nicht der Kassenangehörigen, regelmäßige
Aufzeichnungen zu machen und dieselben rasch auffindbar zu
buchen !
’*) Laker, Deutsches Archiv für klm. Medizin 1885, Bd. 37, S. 491 .
'”) v. Conta, Zeitscbr für Epidemiologie und öffentliche Ge¬
sundheitspflege 1872, Neue Folge, III. Jahrg.. S. 154. Durch gütige Ver¬
mittlung des Herrn Medizinalrates Prof. Dr. Gu mp recht (Weimar)
erhielt ich Gelegenheit, die 92 Berichte einzusehen. Darin las ich unter
anderem den Rat eines Amtsphysikus, die Staatsregierung könne eine
annähernde Statistik nur durch Befragung der bekannten Bandwurm-
"Doktoren« erzielen, deren einer mehr Bandwurmkranke ans dem
Großherzogtume habe, als alle praktischen Aerzte zusammen.
Da mir keine Aveitere allgemeine Sammelforschung L6) bekannt
isl, so habe ich den Vorgang bei dieser näher besprochen, weil
klar Mängel zutage treten, welche ich in meinem oben skizzierten
Plane zu vermeiden trachtete.
Für die Schweiz, wo bekanntlich in einzelnen Gegenden
der Bothriozephalus heimisch, u. zw. stark verbreitet ist, hat
Zaeslein17) (Basel) in einer preisgekrönten Schrift eine Baud¬
wurmstatistik .ausgestellt, welche auf Mitteilungen einer ganzen
Reihe von Aerzten der verschiedensten Landesteile beruht, also
trotz ihrer vom Verfasser selbst betonten Lücken mindestens für
den Bothriozephalus auf den Namen einer Sammelstatistik
Anspruch machen darf. Neben der interessanten, aber uns hier
nicht näher berührenden Bothriozephalusverbreitung am Ufer der
vier westlichen Schweizer Seen berichtet Zaeslein auch über
die Verbreitung der beiden Tänien- Arten, doch sind gerade
diesbezüglich die Zahlen der Gewährsmänner (im ganzen
20 Aerzte) viel kleiner. Neben der sicher schwierigeren
Differentialdiagnose, als zwischen Tänia und Bothriozephalus,
mag wohl in Betracht kommen, daß damals (1881) noch nicht
alle Aerzte die Unterscheidung der beiden Tänienarten gelernt
hatten.
Eigentümlicherweise kommt nach Zaeslein in der Schweiz
die Taenia solium in vielen ländlichen Gegenden kaum vor, da
nur einheimisches Schweinefleisch genossen wird; die selbst
gezüchteten Schweine seien aber fast nie finnig, weil sie mit
gekochtem Futter ernährt werden. Es scheine in den Städten sich
die Verhältniszahl der Bandwurmarten in dem gleichen Sinne zu
verschieben, Avie auch in anderen Ländern (Zunahme' der Taenia
saginata, Abnahme der Taenia solium).
Hiefür sei entsprechend der schon von Krabbe (Kopen¬
hagen) und C. Vogt (Genf) geäußerten Meinung einerseits die
durch die T r ich i n e n 1 u r c h t seit den Sechzigerjahren veran¬
laßt© sorgfältigere Zubereitung des Schweinefleisches, ja der des¬
wegen selbst verminderte Genuß desselben verantwortlich zu
machen, andrerseits die Verordnung rohen Rindfleisches
als besonders zuträglichen Gerichtes für kranke Kinder. Zaes¬
lein macht dann noch auf die behördliche Fleischbeschau (in
der Schweiz seit zwölf Jahren bestehend) aufmerksam, Avelche
die Zahl der Taenia solium herabzudrücken geeignet sei.
Wenn H. Eich hörst in 20 Jahren (1884 bis 4904) an
der Züricher Klinik vergebens nach einer Taenia solium fahn¬
det© (Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie 1905,
6. Aufl., Bd. 2, S. 443), so besagt dies für die Verbreitung der
Taenia solium in der SchAveizer Bevölkerung schon deshalb
wenig, weil Eich hör st in diesem Zeiträume überhaupt nur
31 Randwurmträger beobachtete.
Hier möchte ich noch kur'z die Bandwurmstatistik von
L Ch. Huber18) besprechen. Dieser hat in Memmingen seit
I860 ärztliche Praxis ausgeübt und nimmt, da „die Leben s-
und Ernäh ru ngs Verhältnisse der Bewohner“ von
Stadt und Umgegend mit denen des übrigen Kreises
„ganz wesentlich übe re in stimmen“, mit Fug und Recht
an. daß im ganzen bayrischen Schwaben die gleichen Befunde
an Helminthen sein müßten. .
Während nun Hut ) er in seiner ersten Mitteilung die Selten¬
heit der Taenia solium betont und damit begründet, daß
„rohes oder nur geräuchertes Schweinefleisch in
Memmingen fast gar nie gegessen wird“, schreibt er
1885: ..Ich zählte unter den 21 Bandwürmern, welche ich in den
letzten zwei Jahren abtrieb, 13 Taeniae saginata© und
8 Taeniae solium.“ „Es kommt der Genuß fremder
Schinken immer mehr in Aufnahme.“
Es hat also im bayrischen Schwaben eine re-
1 a five Zunah m e der Taenia s o 1 i u m stattgefunden ;
doch nur vorübergehend da Herr Medizinalrat Huber
nach freundlicher schriftlicher Mitteilung (1911) seit vielen
Jahren keine Taenia solium mehr zu Gesichte bekam.
Wie vorsichtig man mit dem Schlüsse sein muß, aus
der Seltenheit der Taenia solium im Beobachtungsfelde
eines Arztes, besonders in einer großen Stadt, auf
die Seltenheit der Finnen in der Bevölkerung dieser Stadt
zu folgern, erhellt vielleicht am klarsten aus nachstehender
geschichtlichen Zusammenstellung.
lb) Vergleiche hiezu J. Ch. Huber, Bibliographie der klin. Hel¬
minthologie, S. 91, Lehmann, München 1895.
17) Th. Zaeslein, Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1881,
XI. Jahrg., S. 673.
18) J. Ch. H über (1. c.), sowie J. Ch. H u her, Bericht des natur-
historischen Vereines zu Augsburg 1885, Bd. 28. S. 85 und 1860, Bd. 13.
8. 127.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
843
In der Literatur findet sich die Angabe, in Wien sei Anfang
des 19. Jahrhunderts nur die Taenia saginata gefunden wurden
so bei Heller (1. c., S. 604): Bremser19) und Wawruch-")
sahen in Wien nur Taenia saginata.
Wörtlich sind aber die Angaben der beiden verdienten
österreichischen Helminthologen folgende: Bremser (1. c., S. 100)
schreibt: „Ich hatte bereits fünf oder sechs Köpfe dieser Würmer
aufs genaueste untersucht und konnte bei keiner Art von V er¬
größerung, bei keiner Art von Beleuchtung einen Hakenkrauz
gewahren.“ Von Rudolph i (Berlin) erhielt Bremser dann
einen hakentragenden Bandwurmkopf. Doch fügt Bremser bei,
er habe von einem Wiener Arzte (Gör gen) gleichfalls einen
bewaffneten Wurm erhalten. Es gab also doch damals' in Wien
die Taenia solium. Bremser hat zwar über 500 Menschen mit
Kettenwürmcrn (so nennt er die Tänia, den Namen Bandwurm
bewahrt er für den Bothriocephalus latus) während mehr als zehn
Jahren in Wien behandelt, aber keineswegs regelmäßig nach dem
Kopfende gesucht (1. c., S. 194); er würde doch sonst wohl öfter
einen „jungen“ Kettenwurm gefunden haben. Bremser (1. c„,
S. 101) meint nämlich, daß der Wurm im (Alter die Haken verliere,
was wohl schon Wawruch (1. c., S. 34) als Artunterschied
zweier Bandwürmer deuten will, aber bekanntlich erst Küchen¬
meister 1852 durch Beschreibung der verschiedenen Organisa¬
tion der einzelnen Glieder bewiesen hat.
Wawruch hat in seiner Wiener Klinik von 1821 bis 1840
173 Personen mit Bandwurm behandelt; er sagt: „Den seltenen
Hakenkranz am Kopfe des Tieres sah ich nie.“ i Nachdem aber lauf
Krankengeschichten sehr häufig der Kopf nicht gefunden wurde
und zu vermuten steht, daß dieser nicht jedesmal auf Vor¬
handensein des Hakenkranzes geprüft wurde, so liegt auch darin
kein gültiger Beweis.
Scheuthauer (1. c.) hat übrigens „in der Wawruch-
schen Sammlung die Taenia saginata 17mal so häufig als die
Taenia solium vorgefunden“, also nachträglich das Vor¬
kommen von Taenia solium in Wien zu jener Zeit
bewiesen.
Die Frage der Bandwurmstatistik nunmehr zusammen¬
fassend, betone ich, weil ich dies nirgends erwähnt finde,
daß ein halbwegs brauchbares Urteil über die Verbrei¬
tung der zwei Tänienarten ohne eine Sammel-
forschung zu gewinnen, u n m ö g 1 i c h i s t. Diese Samm¬
lung muß aber am Lebenden erfolgen; eine Seziersaal¬
statistik gibt über Tänien kein richtiges Bild, da (siehe oben)
hei Kranken “die Würmer spontan abgehen können, also
an der Leiche vermißt werden.
An dieser Stelle darf ich vielleicht über den Fund des d ritt¬
wichtigsten menschlichen Bandwurmes, des Bothriocephalus
latus, in Oesterreich und im besonderen in Kärnten eine Be¬
merkung bringen. Es könnte nämlich in unserem seen- und fisch¬
reichen Lande nicht wundernehmen, diesen Parasiten anzu¬
treffen, dessen Finnen in solchen Fischen gefunden wurden, die
durchwegs Bewohner unserer Gewässer sind, so Hecht, Barsch,
Quappe u. a. m.
Kollege Dr. Rudolf Pichler (Villach) hat zwar 1905 einen
Fall von Bothriocephalus latus in Kärnten beobachtet, doch, wiesen
die Spuren der Ansteckung auf den Bodensee hin. (Siehe Üester-
reichischo ärztliche Vereinszeitung 1906, 30. Jahrg., S. 82.)
Sonst ist mir von Kärntner Funden überhaupt nichts be¬
kannt geworden. Es scheint aber, als ob die österreichischen Ge¬
wässer, bzw. deren Fische, überhaupt bisher von Bothriocephalus-
trägern nicht angesteckt worden seien, da von heimischen Bo-
thriozepha lusfällen kaum Erwähnung geschieht.
Seit dem Funde Val ent as21) (dieser hat bei einer ge¬
borenen Krainerin, welche die letzten zehn Jahre ununterbrochen
in Laibach gelebt hatte — ob sie und wo vorher außerhalb
Oesterreichs gelebt, ist nicht erwähnt nach einer Bandwurm¬
kur neben einer Taenia solium [samt Kopf] lange Glieder¬
reihen nebst einzelnen Gliedern von Bothriocephalus
latus abgehen gesehen) finde ich sowohl in Hubers Biblio¬
graphie (1. c.) als in Peipers Bericht in den Ergebnissen der
allgemeinen Pathologie von Lu barsch und Ostertag, 7., lahr¬
gang, 1900 bis 1903, S. 536, als österreichischen Fall nur den
von Mader angeführt.
19) Bremser, Lebende Würmer im lebenden Menschen. Schaum¬
burg, Wien 1819.
20) Wawruch, Monographie der Bandwurmkrankheit. Gerold,
Wien 184 k
21) A. Valenla, Memorabilien 1868, Bd. 13, S. 181.
Dieser-) hat an Neussers Krankenabteilung in Wien
an einem 16 jährigen Manne neben einer Taenia solium einen
Bothriooepahlus latus abgetrieben. Der junge Mann war die ersten
14 Jahre seines Lebens stets in Wien gewesen, weilte dann durch
14 Monate m V eis, später wieder in Wien. Die Ansteckungsquelle
blieb unbekannt.
Ein in Graz 1892 beobachteter' Fall dieses Bandwurmes,
den ich selbst auf der Abteilung meines verstorbenen Lehrers
Prof. Rem bold23) gesehen habe, betraf einen jungen Mann
aus Rumänien, wo Bothriozephalus endemisch ist, und kann
die Ansteckungsquelle gewiß nicht nach Oesterreich, verlegt
werden.
Die drei Fälle von Bothriozephalus, welche Bremser in
Wien beobachtete (1. c„ S. 191) und die „sechs Fälle Wawruchs
ebenda (1. c., S. 200) betrafen sämtlich Ausländer.
Dasselbe gilt von einem in Prag von Pribram21) be¬
handelten Bothriozephalusfalle, welcher aus der Schweiz stammte
und neben sehr vielen Tänien der einzige Bothriozephalus unter
Pribram s Fällen gewesen war.
Mit Rücksicht auf das von Rolling e r (Münchener medi¬
zinische Wochenschrift 1888, 35. Jahrg., S. 516) und Hu her (1. c)
in den Siebzigerjahren festgestellte autochthone, wenn auch seltene
Vorkommen des Bothriocephalus in Südbayern und auf den
Fall von Rud. Pichler (siehe oben) habe ich die Möglichkeit
ms Auge gefaßt, daß die Ufer des Bodensees, welche noch
1881 nach Za es lein (1. c.) bothriozephalusfrei gelten konnten,
inzwischen verseucht worden seien. Dr. Lins, seit 17 Jahren
Arzt, in Dornbirn (Vorarlberg), war so freundlich, mir mit¬
zuteilen, daß er in der ganzen Zeit keinen Bothriozephalusfail
beobachtet, noch auch von Kollegen etwas darüber gehört habe.
Auch an der Innsbrucker Klinik gelten der Bodensee, wenigstens
das österreichische Ufer desselben, wie auch der Achensee, als
bothriozephalusfrei (Mitteilungen von Prof. Posselt und Assistent
Dr. Latzei).
Dr. Lins hat übrigens auch d r e i Fälle der seltenen T a e n i a
canina beobachtet.
Als Erklärungsgrund für die anscheinend so auffällige
Abnahme der Taenia solium in Deutschland (mindestens in
den Städten) wird allseitig die gesetzlich vorgeschriebene
Fleisch bes c h a u angeführt, welcher die größere Schweine-
finne nicht so leicht entgeht als die kleinere, meist spärlich
sich findende Rinderfinne.
Wie in ganz Oesterreich besteht auch in Kärnten im
Gegensatz zu den strengen Bestimmungen im Deutschen
Reiche Verpflichtung zur Fleischbeschau nur bei gewerb¬
lichen Schlachtungen und hei N o t s c h 1 a e h t u n g e n
(in Erkrankungsfällen); es entgeht also erstlich ein gewal¬
tiger Teil der Schweine jedweder Beschau. Zudem wird
hierzulande nur in der Minderzahl der Fälle die Beschau
von geprüften Tierärzten geübt, was den Werl der Amts¬
handlung in bezug auf die Bandwurmprophylaxe recht, ge¬
ring erscheinen läßt.
Die amtlichen Berichte der letzten Jahre über das Ergebnis
der Tier- und Fleischbeschau bei Schweinen in Kärnten melden
nur spärliche Fälle von Finnenerkrankung, zumeist an von aus¬
wärts, besonders aus Bosnien eingeführten Tieren.
Eine allfällige Abnahme der Taenia solium in
Kärnten müßte also in anderen Verhältnissen begründet
sein als in dem segensreichen Walten behördlicher Ma߬
nahmen.
*
Gehen wir nun über zur Frage der Häufigkeit der
Zystizerkenkrankheit des Menschen! Lieblingssitze
dieser Finne beim Menschen sind das Gehirn und seine
Häute, die Muskeln und das Unterhautgewebe,; das Auge ;
andere Organe werden selten befallen (vgl. P ei per, S. 128).
Eine zahlenmäßige Aufstellung über den menschlichen
Zystizerkus ist in zweifacher Hinsicht versucht worden :
1. durch Sektionsstatistiken, 2. durch Statistik der
Augenärzte.
22) Mader, Jahrbuch der Wiener k. k. Krankenanstalten 1892,
S. 634 und Wiener med. Blätter 1894, XVII. Jahrg., S. 76.
23) Rem bold, Mitteilungen des Vereines der Aerzte in Steier¬
mark 1892, Bd. 29, S. 80.
24) Pfibram im Handbuch der prakt. Medizin von Ebstein und
Schwalbe 1900, Bd. 2, S. 794.
VvIEjmüK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
314
Der -Mangel der ersteren, daß sie fast nur die Angehörigen
der niederen Stände umfasse, fällt für die vorliegende Frage
weniger in die Wagschale als der Umstand, daß die gerade
hier wichtige Sektion des Schädelinhaltes verhält¬
nismäßig oft nicht vor genommen wird.
Die Untersuchung des Unterhautzellgewebes und besonders
der Muskulatur ist aber bekanntlich bei den „pathologisch-anatomi¬
schen1' Sektionen durchschnittlich eine mehr oberflächliche und
stellen Seziersaalstatistiken, wenn vom Sekanten nicht besonders
auf Finnen geforscht wurde, nur Minimalzahlen von zweifel¬
haftem Werte dar (siehe R. Virchow bei Hirschberg 1. c.).
Schon Leukart (1. c., S. 280) sagt, daß die „praktischen Ana¬
tomen“, gemeint sind natürlich die „normalen“, bei ihren Muskcl-
zergliederungen die Finne weniger leicht übersehen werden als
die „pathologischen“ Anatomen.
Die Statistik der Augenärzte geht auf Albrecht v. Graefe
zurück, welcher als erster 1853 einen Zystizerkus im hinteren
Augenabschnitte mit dem Spiegel entdeckt hat. Die schwere Seh-
störung führt die Kranken (wenigstens in der Großstadt) meist
rasch zum Augenärzte; es könnte also die okulistische Statistik
die wirkliche Verbreitung in dem Organe uns lehren.
In einem Gebirgslande mit schlechten Verkehrswegen, dessen
Bauernbevölkerung oft gegen einseitige Sehstörungen vhd indo¬
lenter ist, kann allerdings die Zeit länger dauern, bis das Auge
fachärztlich besichtigt wird; auch für Böhmen betonte diesen Um¬
stand, das sorglose Säumen der Kranken, Herrenheiser.“')
Es kann die anfangs für den Kundigen noch durch eigenartige
Glaskörpertrübungen mögliche Finnendiagnose schließlich durch
Pupillarverschluß und Linsentrübung unmöglich werden und wird
man in dem wegen Sekundärglaukom oder entzündlicher Atro¬
phie entfernten Augapfel erst bei der Zergliederung die schuldigen
Parasiten entdecken können.26)
A. v. Graefe27) hat 1866 angegeben, daß er in 13
Jahren unter einer Anzahl von etwa 80.000 Angenkranken
80 und einige Male, also u n g e f ä h r unte r 1000 P a t i e n t e(n
einmal den Zystizerkus in den tieferen Gebilden des
Auges beobachtet habe, dazu noch zehnmal im vorderen
Augapfelabschnitt und 'in der Umgebung des Auges.
Dabei ist allerdings des internationalen Krankenkreises
v. Graefes nicht zu vergessen, wenn man örtliche Rückschlüsse
ziehen will.
Diese Statistik seines Lehrers hat J. Hirschberg28)
(Berlin) bis zum Jahre 1902 fortgesetzt. Er fand 1869 bis 1885
auf 60.000 Augenkranke 70 Augenzystizerken, also dieselbe
Verhältniszahl (mehr als l%o)> wie vordem v. Graefe, von
1886 bis 1894 unter 73.000 Kranken drei Fälle, davon zwei
auswärtige (Verhältniszahl etwa V25°/oo)- Von 1895 bis 1902
fand H i r s c h b e r g unter 65.000 seiner Augenkranken keinen
einzigen Fall. 1903 sah Hirschberg noch ein „Fossil“,
eine Finne, welche seit zwanzig Jahren in einem Augapfel
gesessen und diesen zur Schrumpfung gebracht hatte.
Eine gleich bedeutende Abnahme der Augenfinne wird
aus Halle, welches früher die gleich hohe Häufigkeit
(1:1000) wie Berlin aufwies, und aus Feipzig berichtet
(Hi r sch b erg, 1. c.).
Für Oesterreich finde ich in der Literatur folgende
Angaben über Augenfinnen.
Wintersteiner (1. c.) hat an der Wiener (I.) Augen¬
klinik nur zwei Zystizerkusfälle auf 60.000 Augenkranke gesehen,
betont aber deren Fund in vier enukleierten Augen. Nach W in [er¬
ste in er fand Br et tau er (Triest) nur einen Fall unter mehr
als 30.000 Kranken, Wicherk iewicz (Posen — Krakau) zwei
unter 100.000.
Lieber Böhmen berichtet Hirsch,29) daß (zwei eigene
Fälle aus der Klinik Czerm-ak eingeschlossen) im ganzen mit
20 Augenzystizerken bekannt geworden sind.
Im folgenden teile ich das Ergebnis einer Umfrage
mil, welche ich über das Vorkommen von Augenfinnen
i 1 1 den österreichischen A 1 p e n 1 ä nder n veranstaltet
habe. Den Herren, welche so freundlich waren, mir ihre
Erfahrungen zur Verfügung zu stellen, spreche ich hiemit
meinen aufrichtigen Dank aus.
Primararzt Dr. E. Bock (Laibach) hat in 23 Jahren augen-
ärztlicher Tätigkeit in Krain unter beiläufig 45.000 Kranken
nur einen Fall gesehen, unter der Netzhaut beider Augen.
Aus Steiermark berichtet Prof. Birnbacher (Graz),
daß er seit 1881 am Lebenden nur drei Augenzystizerken ge¬
funden habe, zwei subretinale, einen im Unterlide, außerdem einen
im phthisischen Augapfel einer Leiche; Gesamtzahl der Augen¬
kranken über 120.000. Prof. Dimmer hat von 1900 bis 1910 als
Vorstand der Grazer Universitäts-Augenklinik und in seiner
dortigen Privatpraxis unter über 50.000 Fällen keinen Augen-
zystizerkus gehabt.
Aus Salzburg habe ich von keinem Falle einer Augenfinne
Kenntnis erhalten.
In dem Berichte der Frau Dt. Rosa Ivers chbaumer
(Salzburg, Kerber, 1892) über die Augenheilanstalt ist für den
Zeitraum von 1883 bis 1890 unter rund 19.500 Kranken keiner
verzeichnet. Primararzt Dt. Gäm pp hat seit 1892, Augenarzt
1)t. Toldt seil zehn Jahren gleichfalls keinen Augenzystizerkus
aufgefunden.
Für Tirol liegt bei Posselt (1. c., S. 429) die Erfahrung
Prof. Dimmers vor, welcher an der Innsbrucker Klinik
-
Ort der Beobachtung
Name des Beobachters
Zahl der beobachteten
Augenzystizerken
Gesamtzahl der
untersuchten Augen -
kranken
Zeitraum
Anmerkung
Laibach
(Krain)
E. Bock
zwei subretinale bei
einem Individuum
45.000
1887-1910
Graz
A. Birnbacher
zwei subretinale,
einen im Lide
über
120.000
1881—1910
einen intraokularen
Zystiz. an der Leiche
(Steiermark)
P. Dim m e r
—
über
50.000
1900—1910
! R. Kerschbaume r
-
19.500
1883—1890 1
Salzburg
K. G a m p p
—
—
1892—1910
A. Toldt
—
über
8.000
1900—1910
Innsbruck
(Tirol)
W. C z e r m a k
ein subretinaler
7.000
1892—1895
F. Dimmer
zwei intraokulare
8.000
1895-1899
St. Bernheim er
—
über 50.000
1900—1910
Bozen
(Tirol)
G. W a c h 1 1 e r
ein subretinaler
16.000
1897 1910
kein österreichischer
Fall
Klagenfurt
(Kärnten)
O. Purtsche'r
zwei intraokulare
über
60.000
1880—1910
3#) Herrenheiser, Prager med. Wochenschr. 1889, Bd. 14,
Nr. 49 u. 51.
20) Wintersteiner in Enzyklopädie der Augenheilkund e. Vogel,
Leipzig 1902, S. 212.
27) A. v. Graefe, Archiv für Ophthalmologie 1866, Bd. 12,
2. Abt., S. 174
28) J. Hirschberg, Berliner klin. Wochenschr. 1904, Bd. 41, S. 661.
von 1895 bis 1899 unter 8000 Kranken zwei intraokuläre Finnen
sah. Unter dessen Vorgänger an der Innsbrucker Klinik, weiland
Prof. Czermak, wurde nach mündlicher Mitteilung meines
Bruders, Dr. Al. Pichler, seines damaligen Assistenten, nur
ein Fall unter etwa 7000 Kranken gefunden (1892 bis 1S96).
*") C. Hirsch, Prager med. Wochenschr. 1897, Bd. 22, S. 223.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
345
Pr°f Bern heim er hat m Innsbruck seit 1900 weder an der
Klinik (etwa 50.000 Kranke) noch in der Privatpraxis einen
val , ,Wachtler (Boze«) hat seit 1897 unter etwa
tb.OOO Augenkranken einen subretinalen Zystizerkus hei einem
ileichsitahener beobachtet, welcher in Tirol nur kurz geweilt
hatte.
Auch in der Praxis des verstorbenen Herzogs Karl
Fneodoi von Bayern, kam nach Mitteilung seines langjährwen
Assistenten, Hofrat Dr. Zenker, kein Tiroler oder Salzburger
Augenzystizerkus vor.
y Für Kai nten selbst kann ich die Erfahrung des Kollegen
Primararztes Dr. O. Pur ts eher (Klagbnfurt) mitteilen. Dieser
hat. m mehr als 30jähriger augenärztlicher Tätigkeit unter über
60.000 Augenkranken zweimal eine intraokuläre Finne gesehen,
seit dem Jahre 1893 keinen Fall mehr. Den 'zweiten Pur tsc her-
scheu hall, eine jetzt 68jährige Frau, habe ich vor kurzem
zu untersuchen Gelegenheit gehabt; ich konnte keine Haut- oder
Muskelfinnen an ihi finden; allerdings war eine Röntgenauf¬
nahme aus äußeren Gründen unmöglich.
Bei lin verfügt bezüglich der menschlichen Finne über
eine auf viele Jahrzehnte zurückreichende Sezi er s aal¬
st atistik. ,
Rudolphi (ziitert nach Lew in, 1. c., S. 621) gab 1833
mi, unter 250 Leichen vier- bis fünfmal Zystizerken gefunden zu
haben.
R. Virchow30) hat noch 1866 (mündliche Mitteilung an
A. v. Graef e, 1. c., S. 175) denselben Hundertsatz, nämlich 2,
l'estgestellt; 1875 war die Zahl ziemlich gleich hoch (13 Fälle hei
771 Obduktionen, also fast l-7°/o.
Für die zehn ’Jahre 1866 bis 1875 hat Virchow die
Finnenlunde von J. Dressei31) zusammenstellen lassen. Enter
.)300 Obduktionen dieses Zeitraumes waren 87mal Zystizerken
entdeckt worden, also in über l-6°/o der Fälle. Davon saßen die
Parasiten im Gehirne allein 66mal, im Gehirne überhaupt 72mal,
in den quei gestreiften Muskeln allein 8mal, in diesen überhaupt
17mal, im Unterhautgewebe 3mal, 2mal in der Leber, darunter
einmal solitär.
Erwähnen möchte ich noch, daß Dressei unter seinen
87 Fällen in 32 solitäre Finnen fand, u. zw. 26mal im Ge¬
hirne, 3mal in den Skelettmuskeln, zweimal im Herzen, einmal
in der Leber.
In den folgenden Jahren32) sinken in der Berliner Charite
<be Zahlen auf 0-93, 0-74, 0-84, 0-99, 0-71, 0-5% im Jahre 1881.
1882 setzt, mit 0-26 °/o ein, dann folgen (M3, 0-22, 0-57°/o im
Jahre 1885. 1898 waren 0-22, 1899 0-07°/o, weiter 015, 0-11, 0-2,
0-16°, o (1903). Allerdings sind die Verhältniszahlen keine absolut
gültigen, da Virchow (und ihm folgend Orth) ohne Rücksicht
auf die wirklich vorgenommene Gehirnsektion die Funde auf
die Gesamtzahl der Obduktionen berechnen.
, Diese beträchtliche Abnahme von L68°o (1875) auf O-TiM
,1901), also das Absinken auf ein Fünfzehntel, kann aber kaum
unbedenklich der verbesserten Fleischbeschau zugute geschrieben
werden, da diese nach Hirschberg (1. c.) erst 1883 in Kraft
trat und Virchow schon 1882 nur mehr 0.26, 1883, wo doch
der Einfluß auf die Bandwurmprophylaxei noch nicht hervor-
getreten sein konnte, auch nur 0-13°/o finnige menschliche Ge¬
hirne verzeichnet, also fast dasselbe Verhältnis, wie 28 Jahve
später.
Die starken Unterschiede, welche sich übrigens in den Ver¬
hältniswahlen ergeben, ob man die Gehirnfinnen in Beziehung
setzt zu der Zahl der Obduktionen mit Gehirnsektionen oder
mr Zahl sämtlicher, ergibt sich aus der Mitteilung Virchows
H- c., S. 342) selbst. Er ließ für einige Jahrgänge die richtige
Statistik ausrechnen. Danach war 1875 statt mit i-7°/o mit
o-45% (!) Zystizerken gesegnet, 1882 statt mit 0-26°/o mit 3-2°/o,
1889 mit. 0-35 °/o, 1890 und 1891 mit l-4°/o. Ob- die Zahlen für
die Charite auch weiterhin abgenommen haben, ist mir nicht
G'kaimt geworden.
v. Hansemann (zitiert nach Hirschberg 1. c.) hat in
Merlin. 1896 bis 1902 unter 2549 Sektionen mit Gehirnzerglm-
lorung 0-6°, o Finnenträger gefunden.
Aus Oesterreich ist mir nur eine Prager Sezier¬
saalstatistik über Zystizerken bekannt geworden, welche
Hammer33) aus H. Chiaris pathologisch -anatomischem'
i#) ln siebenjähriger Tätigkeit zu Würzburg hatte Virchow,
Tier! nach Hubers Bibliographie, S. 49, ein einziges Mal ein einzelnes
‘.xemplar einer Finne beim Menschen gefunden.
' 31 ) J. D res sei, Inaug. -Dissert., Berlin 1877.
n) Zit. nach J. Orth, Berliner klin. Wochenschr. 1904, Bd. 41, S. 794. |
i3; Hammer, Prager med. Wochenschr. 1889, Bd. 14, S. 243. j
institute veröffentlichte; diese bringe ich schon darum, weil
nach freundlicher brieflicher Mitteilung des Herrn Hofrates
Lhiari „fast immer auch die Schädelsektion aus-
gefuhrt wurde und diese nur in einzelnen Fällen (Ein¬
sprache der Familie) unterblieb“.
Unter 5323 Sektionen, welche von 1882 bis 1888 voitte-
nommen wurden, fanden sich 28mal Zystizerken vor, also in
über 0-5°/o der Leichen; davon saßen 25mal die Parasiten im
Gehirne, bzw. dessen Häuten.
Der Prager Prozentsatz von 0-5°/o für die Jahre 1882 — 1888
ist also niedriger als der Berliner derselben Zeit mit Aus¬
nahme der Berliner Zahlen für 1889 (0-35 fVo).
(Meinerseits kann ich für Kärnten keine Seziersaal¬
statistik beibringen, da die Schädeleröffnung und Zerglie¬
derung des Gehirnes meist nur bei Verdacht eines Zere¬
bralleidens ausgeführt wurde, also verhältnismäßig selten
Zudem entgingen gewiß dem nicht spezialistisch geschulten
Auge (beim Abgänge eines eigenen Proseklors werden die
Obduktionen bisher von den Abteilungsärzten selbst vor¬
genommen) so manche verkalkte Gehirnfinnen.
Aui in einem einzigen lalle erwiesen sich Gehirnfinnen
(multiple, in den Hirnhäuten gelegene) als Todesursache (1897);
vereinzelt fand ich verkalkte Zystizerken, so zweimal als Nehea-
befund m Gehirnen mit tuberkulöser Meningitis.
Es ist schon frühe T iingel und F erb er, 1862 (zitiert
nach Heller, 1. c., S. 345), aufgefallen und Oppenheim34)
fährt eine Reihe weiterer Beobachtungen an, daß der Gehirn-
zystizerkus auffällig oft bei anderen zerebralen Erkrankungen
angetroffen wird, so daß man den Eindruck gewinnt, die An¬
wesenheit der Finne prädisponiere das Gehirn zu den verschie
den, sten Leiden.
Weiters ha.be ich von den Klagenfurter städtischen Amts¬
ärzten Dr. Schmid und Dr. Teu her Berichte über Ventrikel-
zystizerken erhalten, welche Parasiten sie bei zwei sanitäts-
polizeilichen Sektionen der letzten Jahre gefunden haben.
Bei der Obduktion eines alten Mannes (Myodegensratio
cordis) — das Gehirn wurde leider nicht seziert. — fand ich
1909 in der Wand der linken Herzkammer einen solitären Zysti¬
zerkus von Bohnengröße. In den Brust- und Gliedmaßenmuskeln
fand ich keine weiteren Parasiten.
Andere Finnenfunde' in Kärnten konnte ich weder für den
Lebenden noch für Leichen in Erfahrung bringen.
(Schluß folgt.)
Aus dem städt. hygienischen und baineologischen Institut
in Marienbad, (Vorstand: Dr. Zörkendörfer.)
Ueber das Verhalten von Albuminurie und
Zylindrurie beim Gebrauch von Sulfatwässern.
Von Dr. E. Pflanz, Marienbad.
In Nummer 5 dieser Wochenschrift hat Herr Stadt-
physikus Dr. Zörkendörfer, Vorstand des städtischen
hygienisch-balneologischen Institutes in Marienbad, über
die in seiner Anstalt untersuchten Fälle von Albuminurie
und Zylindrurie berichtet und dabei festgeste 111, daß bei
einer auffallend großen Anzahl der zur Untersuchung über¬
wiesenen Harne Eiweiß und Zylinder gefunden wurden und
ferner, daß in den meisten Fällen während des Kurgebrau¬
ches eine Veränderung dieser abnormen Harnhestandteile
im günstigen Sinne konstatiert werden konnte.
Diese durch exakte Harnanalysen gewonnenen inter¬
essanten Ergebnisse finden eine Ergänzung seitens der be¬
handelnden Aerzte in einer Besprechung des sonstigen kli¬
nischen Verhaltens der betreffenden Patienten und einer
Sichtung des Materiales, in der Richtung, wie die einzelnen
Formen von Nierenaffeklionen sich diesbezüglich verhielten.
Dabei werden sich auch Anhaltspunkte dafür ergeben,
welche der hei der Kur beteiligten Faktoren und auf wel¬
chem Wege diese zu solchen Resultaten führen.
Wenn wir heutzutage auch nicht mehr die frühere
scharfe Trennung zwischen den verschiedenen Formen der
chronischen Nephritis aufrecht erhalten können, sondern
3‘) Oppenheim, Die Geschwülste des Gehirns. Nothnagels
Handbuch 1902, Bd. 9. 2. T„ 2. Auf]., S. 223.
346
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
die Einheitlichkeit der einzelnen Unterarten der Nieren¬
entzündung, sowohl was ihren toxisch-hämatogenen Ur¬
sprung betrifft, wie auch bezüglich der pathologisch-anato¬
mischen Verhältnisse und des Verlaufes annehmen müssen, )
so unterscheidet die ärztliche Praxis auch gegenwärtig mit
Vorteil verschiedene Typen als die einzelnen Stadien des
entzündlich-degenerativen Prozesses in den Nieren, bei
welchen aber allerdings fließende Uebergänge und Kombi¬
nationen die Regel sind. Unter dem Vorbehalt, damit nicht
etwa eine künstliche Abgrenzung der einzelnen Formen
zu statuieren und trotz der Schwierigkeiten, welche die
Einordnung mancher Fälle in ein starres System bietet, wur¬
den unsere Fälle in verschiedene Gruppen zusammengefaßt,
welche durch besondere, klinisch bedeutsame Symptome
charakterisiert sind und die auch, wie sich zeigen wird,
auf unsere Kur einigermaßen verschieden reagieren.
Die vom mir in den letzten Jahren behandelten Fälle
von Albuminurie und Zylindrurie, deren Harn fortlaufend
zur Untersuchung kommen konnte, betrafen 53 Personen
(39 Männer, 14 Frauen), welche während 68 Kurperioden
von durchschnittlicher vierwöchiger Dauer beobachtet
wurden. Ein Patient gebrauchte seit fünf Jahren im Sommer
die Kur, einer war viermal zur Kur, einer dreimal, sechs
Patienten je zweimal, die übrigen wurden nur während einer
Kurperiode beobachtet. Es sei hier bemerkt, daß bei Pa¬
tienten, welche die Kur öfter gebrauchten, die Harnano¬
malien immer in fast ganz gleicher Weise beeinflusst wur¬
den, weshalb in der folgenden Zusammenstellung jede Per¬
son nur einmal gerechnet wird. Die Patienten kamen ge¬
wöhnlich nach Marienbad wegen Adiposität und Beschwer¬
den, welche auf diese bezogen wurden, außerdem wegen
Gicht, Rheumatismen, Magen- und Darmstörungen, vor
allem chronischer Obstipation, einige mit leichtem Dia¬
betes und nur sechs Personen auch wegen Affektionen des
Harnapparates (darunter drei mit Konkrementen). \ on diesen
letzteren abgesehen, war bei der überwiegenden Mehrzahl
aller anderen von Anomalien seitens der Harnorgane früher
nichts bekannt geworden, die Albuminurie wurde gewöhn¬
lich erst bei uns festgestellt.
Bei der ersten Gruppe von acht Fällen (6 Männer,
2 Frauen), waren die Erscheinungen der Niereninsuffizienz
mit stärkeren Oedemen und leichten urämischen Sympto¬
men derart ausgesprochen, daß über das Vorhandensein
einer chronischen diffusen Nephritis kein Zweifel
sein konnte. Einmal hatte sich diese an einen vor Jahren
überstandenen Scharlach angeschlossen, einmal an eine
Pyelitis nach einer Laparotomie, in einem Falle war starke
Erkältung als Ursache anzusehen, in drei Fällen bei noch
jungen, sonst kräftigen Individuen wurde starkes Potato-
rium (Wein) zugegeben, einmal lag typische Gicht vor, nur
in einem Falle war kein Anlaß aufzufinden für das schlei¬
chend einsetzende Nierenleiden. Der Blutdruck war in die¬
sen Fällen stets ein mittlerer, 1 10 bis 140 mm Hg (gemessen
mit Riva-Rocci, früher palpatorisch, seit drei Jahren
auskultatorisch nach Korotkow).
Außer einem Manne mit Mitral- und Aortenstenose, der
sich in einem recht mäßigen Ernährungszustände befand,
waren die übrigen bei reichlichem Essen und Trinken und
Mangel an Bewegung ziemlich fettleibig und kamen nach
Marienbad, um an Gewicht zu verlieren. Hier wurde eine
streng nierenschonende Diät mit Kochsalzeinschränkung ein¬
gehalten und behufs „Durchspülung der Niere“ die stark
diuretisch wirkende, erdalkalische Rudolfsquelle verordnet,
bei den Fetten auch außerdem die Kohlehydrate und Fette
etwas reduziert und eine geringe Menge Sulfatwasser ge¬
trunken, wobei es zu Rückgang der Oedeme, mäßiger Herab¬
setzung des Körpergewichtes, erhöhter Leistungsfähigkeit
und besserem Befinden kam.
Der Harnbefund wurde bei diesen Fällen durch die
Kur am wenigsten günstig beeinflußt : in vier Fällen wurde
') cf. v. Strümpell, Die Pathologie, Diagnose und Behandlung
der chron. Nephritis. Deutsche Klinik, Bd. 4.
der , Eiweißgehalt zwar herabgesetzt, in drei Fällen blieb
er der gleiche und einmal wurde er vermehrt (von 04l,/oo
auf 0-2°/oo). Die Zylinder verschwanden zweimal gänzlich,
blieben in drei Fällen gleich in Zahl und Form, in drei
Fällen waren später auch epitheliale an Stelle der granu¬
lierten nachzuweisen.
Daraus möchten wir folgern, daß bei Fällen von chro¬
nischer diffuser Nephritis, welche nicht durch Druckstei¬
gerung kompensiert sind, also bei den als parenchymatös
bezeichneten Formen, unsere Kur eine ganz unsichere W ir¬
kung hat und daher nur mit Vorsicht anzuwenden wäre.
Eine zweite Gruppe von zehn Fällen (7 Männer,
3 Frauen) zeigte durchgehends solche Erscheinungen am Zir¬
kulationsapparat, daß eine Schrumpf niere evident war;
es fand sich stets ein dauernd stark erhöhter Blutdruck von
170 bis 220 mm Hg und wenn es im Laufe der Kur auch
öfter vorkam, daß der Druck um 20 bis 30 mm herabging,
so blieb er doch immer noch über 170 mm1, einer Zahl, von
der an ja fast, mit Sicherheit interstitielle Nierenverändenm-
gen angenommen werden können.
Hypertrophie des linken Ventrikels fand sich regel¬
mäßig, in drei Fällen war auch eine Hypertrophie des rech¬
ten Ventrikels deutlich nachweisbar. Mehrere Male bestand
dabei Arteriosklerose, in einigen Fällen ausgesprochene
Herzinsuffizienz mit Zyanose, Dyspnoe, Leberschwellung
und Unterschenkelödemen.
Eiweiß und Zylinder waren in diesen Fällen in mäßi¬
ger Menge vorhanden. Das Eiweiß verschwand im Laufe
der Kur bei einem F alle (0-22ü/oo) vollständig, es wurde ver¬
mindert in sieben Fällen, nur einmal blieb die geringe
Menge von 0-07°/00 die gleiche. Auch die Zylindrurie wurde
im allgemeinen günstig beeinflußt: zweimal verschwanden
die Zylinder vollkommen, in vier Fällen konnten später
nur wenige und die günstigeren Formen nachgewiesen wer¬
den, viermal blieb der Befund ziemlich der gleiche.
Das durchgehends stark erhöhte Körpergewicht wurde
durch idie Kur entsprechend herabgesetzt, und in den Fällen
mit Zirkulationsstörungen gelang es regelmäßig, diese zum
Rückgang zu bringen. Während der Kur wurde die Flüssig¬
keitsaufnahme eingeschränkt, natürlich auch das Brunnen¬
trinken auf ein Minimum herabgesetzt und dabei auf eine
sorgfältige Entgasung des Mineralwassers Gewicht gelegt,2)
um die drucksteigernde Wirkung der Kohlensäure möglichst
auszuschalten. Auch bezüglich der Bewegung wurde hier
sehr vorsichtig vorgegangen, um Ueberanstrengung des
Herzens zu vermeiden.
Von diesen zehn Fällen von Schrumpf niere sind im
letzten Jahre drei gestorben, soviel in Erfahrung gebracht
werden konnte, unter den Erscheinungen zunehmender
Herzschwäche.
Eine weitere Gruppe von 20 Fällen (14 Männer,
6 Frauen.) zeigte die Eigentümlichkeit, daß außer einer
geringgradigen Albuminurie und Zylindrurie sonst keinerlei
Zeichen für das Bestehen einer Nierenaffektion aufzufinden
waren. Bei den Patienten, welche alle dem reiferen Alter,
über 45 Jahre, angehörten, war aber stets Arterioskle¬
rose deutlich nachweisbar, teils an den peripheren Ge¬
fäßen, teils an der Aorta oder beides und so wurde die
Harnanomalie auf sklerotische Veränderung der Nierenge¬
fäße bezogen. Es handelte sich hier um die „Altersniere“,
die ja eine in mancher Beziehung eigenartige Stellung eiu-
nimmt. In unseren Fällen war es offenbar noch nicht zu
den schwereren Veränderungen der arteriosklerotischen
Schrumpfniere gekommen, woraus sich auch das recht
günstige Verhalten des Harnbefundes während der Kur
erklärt.
Der (Eiweißgehalt, in allen Fällen nur sehr gering, ver¬
schwand vollkommen in sieben Fällen, ging zurück bis
auf Spuren in neun Fällen und blieb nur dreimal unver¬
ändert. Noch günstiger wurden im allgemeinen die Form-
elemente beeinflußt,^ indem Zylinder in 13 Fällen zum
2) Pflanz, Zur Entgasung von Mineralwässern. Balneologiscbe
Zeitung 1907, Nr. 2.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Schlüsse nicht mehr nachzuweisen waren, in zwei Fällen
an Stelle von Epithelialzylindern nur sehr spärliche granu¬
lierte vorkamen und nur in vier Fällen die Zylinder in
Form und Menge unverändert blieben.
Die BlutdruckverhäJ tnisse waren hier in mancher Be¬
ziehung bemerkenswert. '
Die frühere, hauptsächlich von Hu chard, v. Basch, Ed-
gren vertretene Ansicht, daß Arteriosklerose stets mit Druck¬
erhöhung verbunden sei, wurde durch Sawada,3) Dunin4)
und andere dahin berichtigt, daß es zahlreiche Fälle von Arterio¬
sklerose mit normalem Druck gibt. Bei Arteriosklerosen, die mit
Albuminurie verlaufen, also unter Erscheinungen, die auf sklero¬
tische Veränderungen der Viszeralgefäße Hinweisen (v. Basch’
manifeste Arteriosklerose), sollte aber stets Druckerhöhung er¬
wartet werden, da es doch in erster Linie das Splanehnikusgebiet
ist, welches den Druck maßgebend beeinflußt (0. Müller,5)
Romberg6) und da durch die exakten Untersuchungen von
Hasenfeld7) und Hirsch8) festgestellt wurde, daß gerade die
Arteriosklerose dieses Gefäßgebietes zur Hypertrophie des linken
Ventrikels führt.
Von unseren 20 auf Arteriosklerose zu beziehenden
Albuminurien hatten sieben Fälle normalen Blutdruck (un¬
terhalb 140 mm Hg) und 13 Fälle eine mäßige Drucker¬
höhung (zwischen 140 bis 170 mm). Von diesen letzteren
ging in vier Fällen der Druck von übernormalen Werten
auf die Norm herab (zweimal von 170 auf 130 mm). Für
solche Fälle muß wohl angenommen werden, daß die an¬
fängliche Drucksteigerung nicht, in den anatomischen Ver¬
änderungen der Viszeralgefäße begründet war, sondern daß
dabei noch funktionelle Momente, vor allem eine Steigerung
des intraabdominellen Druckes durch Meteorismus (Ham¬
burger9), Qurin10), Stadler und Hirsch11) eine Rolle
spielen, die, wie sich auch sonst bei Hypertonien recht
oft zeigt, einer therapeutischen Beeinflussung zugänglich
sind.
Außer den drei, im vorstehenden angeführten Gruppen
umfaßt meine Kasuistik von Albuminurie und Zylindrurie
noch 15 Fälle (12 Männer, 3 Frauen), welche bezüglich
ihrer Deutung Schwierigkeiten verursachen, da für die Harn¬
anomalie in dem übrigen klinischen Befund kein rechter
Grund ersichtlich war. Es handelt sich durchaus um Per¬
sonen von mehr als 40 Jahrein, meist mit Fettleibigkeit,
daneben mehrfach mit rheumatischen Affektionen, die in
einigen Fällen als gichtische angesehen wurden, ohne daß,
wie so oft bei derartigen Angaben, sichere Anhaltspunkte
für Gicht Vorlagen. Von Arteriosklerose Avar hier nichts
nachweisbar, der Blutdruck stets normal, mit Ausnahme
\Ton zwei Fällen, bei welchen er mäßig erhöht war, während
der Kur aber auf normale Werte herabging.
Die Albuminurie war nur eine geringe und verschwand
mit Ausnahme von drei Fällen, welche zum Schlüsse noch
geringe Spuren zeigten, vollständig. Von Zylindern, anfäng¬
lich meist granulierte, öfter auch epitheliale, Avar am Ende
der Kur in keinem einzigen Falle mehr etvvas nachweisbar.
Es ergab sich also bei dieser Gruppe ein ganz beson¬
ders günstiges Resultat u. zw., wie hervorgehoben werden
muß, bei einer durchaus nicht auf Nierenschonung abzie¬
3) Sawada, Blutdruckmessungen bei Arteriosklerose. Deutsche
med. Wochenschr. 1904, Nr. 12.
4) Dunin, Der Blutdruck im Verlaufe der Arteriosklerose. Zeit¬
schrift für klin. Medizin, Bd. 54.
6) Otfried Müller, Beiträge zur Kreislaufphysiologie des Menschen,
tolkmanns Sammlung klin. Vorträge, Nr. 606/608. N.F.
6) Romberg, Die Rolle der Gefäße bei inneren Krankheiten,
lolkmanns Sammlung klin. Vorträge, Nr. 552, N.F.
7) A. Hasenfeld, Ueber die Herzhypertrophie bei Arteriosklerose.
Deutsches Archiv für klin. Medizin, Bd. 59.
8) G. Hirsch, Ueber die Beziehungen zwischen dem Herzmuskel
und der Körpermuskulatur. Deutsches Archiv für klin. Medizin, Bd. 68.
9) H. J. Hamburger, Ueber den Einfluß des intraabdominellen
Druckes auf dem allgemeinen arteriellen Blutdruck. Archiv für Physio¬
logie 1896.
10) A. Qurin, Ueber das Verhalten des normalen und patho¬
logisch gesteigerten intraabdominalen Druckes und seine Rückwirkung
auf die arterielle Blutzirkulation. Deutsches Archiv für klin. Medizin, Bd. 71.
- u) E. Stadler und G. Hirsch, Meteorismus und Kreislauf.
Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie, Bd. 15.
347
lenden Diät. Um der Indikation, welche in diesen Fällen
für eine Kur in Marienbad als fast allein maßgebend ange¬
sehen Avorden Avar, der Entfettung, gerecht zu werden,
wurden die Kohlehydrate und Fette stark reduziert, wo¬
durch naturgemäß die Fleischnahrung mehr in den Vorder¬
grund Bat.. Auch der Alkohol konnte meist nicht ganz abge¬
stellt, sondern höchstens nur eingeschränkt werden.
Der Mangel aller für ein Nierenleiden disponierenden
Momente bei einer allerdings etwas zu luxuriösen Lebens¬
weise, das gänzliche Fehlen sonstiger für Nephritis und
Arteriosklerose bezeichnender Symptome und endlich das
rasche und fast vollständige VerschAvinden von Eiweiß und
Zylindern bei der Kur ist für diese, anscheinend recht oft
Arorkommenden Fälle charakteristisch. Daß es sich dabei
doch schon um die ersten Anfänge einer echten Nephritis
oder einer Viszerialsklerose handelt, ist nicht auszuschließen.
Darin aber, daß derartige Fälle so leicht beeinflußbar sind
und, wie gelegentlich beobachtet werden konnte, inner¬
halb mehrerer Jahre kaum merkbare Verschlimmerungen
erfahren — es wurden gerade auch hier öfter Zylinder ge¬
funden, längere Zeit, bevor es zur Albuminurie kam —
zeigt sich der relativ benigne Charakter der Harnanomalie.
Es sind dies jene Formen, welche von Für bring er12)
als Nephrites chronica levis oder superficialis bezeichnet
und im Gegensatz zu den klinisch und anatomisch schwe¬
reren und tiefgreifenden Formen der Brightschen Krank¬
heit, bzw. der Schrumpfniere gestellt wurden.
Fassen wir die an unseren Fällen von Albuminurie
und Zylindrurie gemachten Erfahrungen bezüglich ihres Ver¬
haltens während der Kur zusammen, so ergeben sich ZAvi-
schen den einzelnen Gruppen von Nierenaffektionen be¬
trächtliche Differenzen. Die folgende Tabelle gibt eine
Uebersicht, Avie Eiweiß und Zylinder am Ende der Kur
gegen den Anfang sich verändert haben.13)
Albumen
Zylinder
nicht
vor¬
handen
ver¬
mindert
gleich
ge¬
blieben
ver¬
mehrt
nicht
vor¬
handen
ver¬
mindert
gleich
ge¬
blieben
ver¬
mehrt
Nephritis
parench.
—
4
3
l
2
3
3
Nephritis
interstit.
l
7
1
—
2
4
4
Arterio¬
sklerose
7
9
3
—
13
2
4
Nephritis
levis (Für-
bringer)
11
3
—
—
14
—
—
Summe .
19
23
7
1 31
6
11 3
Am wenigsten günstig wurde die Albuminurie und
Zylindrurie bei den als parenchymlatöse Nephritis zu bezeich¬
nenden Formen beeinflußt, besser bei interstitieller Nephri¬
tis, recht gut die auf Arteriosklerose zu beziehenden For¬
men und sehr günstig die im übrigen symptomlos verlaufen¬
den Albuminurien und Zylindrurien.
Fragen Avir uns nun, welche Faktoren bei unserer
Kur für diese relativ günstigen Resultate in Betracht kom¬
men, so können äußerliche Einflüsse, Avie die klimatischen
Verhältnisse, ganz außer acht gelassen werden, ebenso die
Badeanwendungen, da die verschiedenartigsten Bäder (Koh¬
lensäure-, Moor-, Kaltwasser-, Dampf-, elektrische Lichtbä¬
der) gebraucht, von (mehreren Personen aber überhaupt keine
Bäder genommen wurden. Wie schon erwähnt wurde, ver¬
lief die Harnanomalie auch in weiten Grenzen unab¬
hängig von diätetischen Maßnahmen. Es bleibt also nur
die Trinkkur u. zw. wie sich zeigen wird, in einer bestimm¬
ten Form, welcher eine solche Wirkung zuzuschreiben ist.
'() Fürbringer, Die Prognose der Albuminurie mit besonderer
Berücksichtigung der Versicherungsmedizin. Deutsche med. Wochenschr.
1909, Nr. 47.
13) Die Zahlen stimmen hier zwischen den einzelnen Rubriken
und mit den im Text angeführten nicht immer überein, weil einige
Fälle nur Eiweiß und keine Zylinder hatten oder umgekehrt.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
348
fa dieser Richtung stehen unsere Erfahrungen auch im
Einklang mit den Ergebnissen einiger neuerer Arbeiten der
Stoffwechselpatholögie und finden damit eine plausible Er¬
klärung.
Daß die Alkalien, welche wir in unseren Wässern
einführen — unsere Patienten tranken den alkalisch-sali-
nischen Kreuz- und Ferdinandsbrunnen, die meisten auch
die erdalkalische Rudolfsquelle — dabei das eigentlich
Wirksame dars’tellen, erscheint zum mindesten zweifelhaft,
v. Hoesslin14) hat mehrfach einen Zusammenhang zwi¬
schen dem Säuregrad des Harns und der Albuminurie be¬
obachtet und darauf eine Behandlungsmethode durch Alkali-
zufuhr angegeben. Wir konnten in unseren Fällen ein sol¬
ches Verhältnis von Harnazidität und Albuminurie durch¬
aus nicht konstatieren, sondern es zeigte sich, daß letztere
ganz unabhängig vom Säuregrad des Harns verlief. Direkt
gegen einen solchen Zusammenhang scheinen jene, aller¬
dings wenigen Fälle zu sprechen, bei welchen die erdalka¬
lische Rudolfsquelle allein getrunken wurde. Hier blieb
der Eiweißgehalt (04°/0q und OT5,0/oo) und auch der Ge¬
lullt. an granulierten Zylindern genau der gleiche.
Von diesen beiden Fällen abgesehen, haben aber alle
übrigen Patienten auch unsere Sulfatwässer (Kreuz- und
f ordin andsbrunnen) getrunken, sei es zur Unterstützung
der Entfettung oder wegen vorliegender Obstipation oder
ans anderen unabweislichen Gründen. Die Tatsache nun,
daß die günstigen Harnbefunde sich beim Gebrauche der
Glaubersalzquellen einstellen, lassem erkennen, daß deren
in erster Linie auf den Darm gerichtete Wirkung indirekt
auch der Niere zugute kommt.
Soweit es sich dabei um die Beseitigung einer Obsti¬
pation handelte, könnte man geneigt sein, diese Fälle als
weiteren Beleg für die von verschiedenen Seiten beschrie¬
benen Beziehungen zwischen Koprostase und Albuminurie
aufzufassen.
Ko bl' er15) beschrieb zuerst das Vorkommen von Eiweiß
und Zylindern bei Koprostase und ihr Verschwinden bei Rege¬
lung des Stuhles, Ebstein16) und andere1') fanden das gleiche,
tierexperimentelle Arbeiten darüber liegen vor von Waller¬
stein18) und Raubitschek.19)
Unter unseren 53 Albuminurikern befanden sich 22
Obstipierte, 23 mit normalen Stuhlverhältnissen und 8 mit
Diarrhöen- und es zeigte sich, daß der günstige Einfluß des
Sulfatwassers auf die Albuminurie und Zylindrurie ganz un¬
abhängig davon eintrat, ob die Stuhlentleerung vorher eine
reguläre oder in irgend einer Weise gestört gewesen war.
Auch der Gehalt an Indikan, dessen Verminderung
bei Stuhlregelung als hauptsächlichster Beweis für einenZu-
saminenhang zwischen Albuminurie und bei Verstopfung im
Darm sich abspielender, nierenschädigender Fäulnisprozesse
angesehen wurde, bewegte sich in unseren Fällen durchaus
nicht jm'mer im gleichen Sinne wie die Albuminurie, es kam
recht oft zum Rückgang oder Verschwinden von Eiweiß und
Zylindern, auch wenn das Indikan gleich geblieben war oder
sogar vermehrt gefunden wurde.
Es liegt auch sonst kein positiver Anhalt vor, in un¬
seren Fällen die günstige Beeinflussung des Harnbefundes
durch die Beseitigung einer intestinalen Autointoxikation
allein zu erklären, wenn auch nicht von der Hand zu
weisen ist, daß dieses Moment gelegentlich mit eine Rolle
gespielt haben mag. Es ist vielmehr anzunehmen, daß der
Vorgang in der Hauptsache ein anderer ist und wir kommen
auch zu einer auf alle Fälle passenden Erklärung für die
Wirkung der Glaubersalzwässer auf die Albuminurie und
Zylindrurie, wenn wir folgendes berücksichtigen:
u) v. Hoesslin, Lieber die Abhängigkeit der Albuminurie vom
Säuregehalt des Urins. -Münchener med. Wochenschr. 1909, Nr. 33.
l5) G. Kohle r, lieber Nierenerscheinungen bei Obstipation und
Darmkoliken. Wiener klin. Wochenschr. 1898, Nr. 20.
le) W. Ebstein, Die chronische Stuhlverstopfung. Stuttgart 1901.
17) Literatur bei Ko bl er. Wiener klin. Rundschau 1910, Nr. 15.
18) P. S. Wall erste in, Experimentelle Untersuchungen über
die Entstehung der Harnzytinder. Zeitschr. für klin. Medizin, Bd. 58.
lö) Raubitschek, Zur Kenntnis der Obstipations-Albuminurie,
Berliner klin. Wochenschr. 1910, Nr. 47.
v. No orden20) und Ritter fanden bei Nephritiden
zeitweise abnorm hohe Stickstoffzahlen im Kote, unabhängig
von der Nahrung, so daß anzunehmen war, daß es sich
dabei um eine vikariierende Abscheidung von gestauten
Stoffwechselschlacken handelte. Uebereinstimmende Befunde
wurden in der Folgezeit von zahlreichen Autoren erhoben.
Bei diarrhoischen Entleerungen fand v. Noorden die höch¬
sten Werte und wies nach, daß in diesen Fällen die Aus¬
fuhr .von Ammoniaksalzen eine wesentliche Rolle bei der
Vermehrung des Kotstickstoffes spielt. Rudinger21) wies
nach, daß unter dem Einflüsse von Laxantien (Decoct.
Sennao und Apentawasser) die Stickstoffausscheidung stark
ansteigt und daß das Verhältnis von N:N(NH3) sich durch¬
wegs zugunsten des letzteren ändert, worin deutlich zum
Ausdruck kommt, daß die Fähigkeit des Darmes, Eiwei߬
sehlacken auszuscheiden, steigerungsfähig sei und eben des¬
halb berufen sein kann, das erkrankte zweite Ausschei¬
dungsorgan, die Niere, zu entlasten.
Durch diese Untersuchungen ist exakt nachgewiesen,
daß der Darm durch Abführmittel zu einer besonderen, sonst
der Niere zufallenden sekretorischen Tätigkeit angeregt und
so veranlaßt werden kann, einen Teil der Nierenarbeit zu
übernehmen.
Unter den Mitteln, welche zu diesem Zweck heran¬
gezogen werden können, dürften sich die Mittelsalze be¬
sonders eignen, da ihr mäßiger längerer Gebrauch keine
üblen Folgen hat und da sie auch eine krankhaft verän¬
derte Darmschleimhaut meist günstig beeinflussen und da
mil wohl eher zu dieser vikariierenden Tätigkeit befähigen.
Es liegt nahe, anzunehmen, daß die durch „Ableitung
auf den Darm“ ermöglichte Schonung der Niere auch in
einer Herabminderung der Albuminurie und Zylindrurie
ihren Ausdruck findet. Und wenn wir im Sinne v. Noor¬
dens auch sehr vorsichtig darin sein müssen, die Inten¬
sität der Albuminurie als Maßstab für die Schwere des
Krankheitszustandes zu betrachten,22) so glauben wir in
diesem Zusammenhang und vor allem bei der in den
meisten Fällen evidenten Besserung des sonstigen klinischen
Befundes und des subjektiven Befindens, auch auf eine
wenigstens zeitweise eintretende Besserung des Nierenpro¬
zesses selbst schließen zu können.
Kasuistische Beiträge zum Morbus Banti.
Von Dr. Karl Ungar, Prosektor in Hermannstadt (Ungarn).
Das interessante Krankheitsbild, dessen Name auch heute
noch den Mangel des Verständnisses seiner Entstehung und Be¬
deutung erkennen läßt, ist in dem letzten Jahrzehnt Gegenstand
fleißigen Studiums gewesen und hat eine Fülle von Beobachtungen
geliefert, die hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft die Lösung
des Problems nach dem Wesen der Krankheit ermöglichen werden.
Und da es notwendig und nützlich sein dürfte, möglichst viele
und eingehend studierte Fälle zu sammeln, damit die Zukunft
durch Verarbeitung des angesammelten Materiales eine Klärung
der heute noch einander widersprechenden Anschauungen bringen
könne, seien im folgenden drei einschlägige Fälle beschrieben,
die in ihrer Symptomatologie und ihrem Verlauf als echte Er¬
krankungen im Sinne B antis erkannt worden sind, wenn auch
ihre Analysierung gegenüber den bisherigen Kenntnissen keine
wesentlich neuen Gesichtspunkte hinzuzufügen vermag.
Die Literatur der fraglichen Krankheit ist in der letzten
Zeit sehr angeschwollen ; ihr Studium bietet eine Fülle des In¬
teressanten und Lehrreichen und offenbart den Fortschritt, der
von den ersten Publikationen B antis und den Arbeiten von
Senator, Chiari und Umber bis zu den neuesten Veröffent¬
lichungen von A 1 b u, Edens, Thiel, Einhorn, Jaffe,
Storp, P a u 1 i c e k, Müller, M o m m u. a. getan worden ist.
Freilich scheint der Symtomenkomplex des echten Morbus
Banti, der kurz wiederholt in einer im Vordergrund des Krank¬
heitsbildes stehenden Milzschwellung besteht, zu der sich eine
eigenartige Veränderung des Blutes und eine langsam fort-
2") v. Noorden, Handbuch der Pathologie des Stoffwechsels. Bel. 1.
2|) C. Rudinger, Zur Frage der vikariierenden Tätigkeit des
Darmes bei Nephritis. Wiener klin. Wochenschr. 1908. Nr. 14.
2ä) v. No or den. !. c., S. 1015.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
schreitende bindegewebige Entartung der Leber mit ihren Folge¬
zuständen gesellt, dieser Symptomenkomplex erscheint nicht in
allen mitgeteilten Fällen klar und deutlich ausgesprochen und
man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß einerseits
auch nicht hierher gehörige Fälle unter der Flagge B a n t i s ge¬
segelt, andererseits echte Banti-Fälle andersartig gedeutet worden
sind. Ich erinnere mich, daß in früheren Jahren zahlreiche Fälle
von chronischen Milzschwellungen mit hochgradiger Anämie und
Aszites in dem Franz-Josephspitale in Hermannstadt aufgenom¬
men und als Malariakachexien gedeutet worden sind, ohne daß
ein diesbezüglicher Blutbefund oder die eingeleitete Chinin-Arsenik¬
therapie eine Bekräftigung dieser Annahme gebracht hätte und
so erscheint mir auch die Behauptung B o s k o v s k y s - Tiflis
daß die Aetiologie des Morbus Banti durch die Malaria bedingt
sei, wenig wahrscheinlich.
In dem Sammelreferate Albus in der „Deutschen medi¬
zinischen Wochenschrift“ vom Jahre 1904 wurde noch der Nach¬
weis zu führen versucht, daß der Morbus Banti gar keine
selbständige Krankheit, sondern nur eine ganz gewöhnliche
Leberzirrhose sei und daß die Ausbildung eines so beträcht¬
lichen Milztumors bei der Leberzirrhose ein Initialsymptom sei,
primär bedingt durch die supponierte infektiöse oder toxische
Noxe — Alkohol, Syphilis, Malaria — Beweis dessen die Endo-
und Thrombophlebitis der Milzvene. Indessen haben gerade die
letzten Jahre eine reiche Zahl von gutbeobachteten, in ihren
Grundzügen völlig übereinstimmenden Fällen gebracht und sind
auf Grund von klinischen, anatomischen und histologischen Unter¬
suchungen, Blut- und Stoffwechselbefunden so klare und ein¬
deutige Umrisse und Paradigmen dieser Erkrankung geschaffen
worden — ich hebe nur als Beispiel die vorzügliche Arbeit von
Paulicek aus der Innsbrucker medizinischen Klinik in der
Nummer 46 dieser Wochenschrift vom Jahre 1908 hervor — daß
wir mit Fug und Recht den Morbus Banti als eine Krankheit
sui generis auffassen müssen, zu deren völligem Verständnis eben
nur noch die Kenntnis der auslösenden Ursache oder Ursachen
fehlt. Uebrigens mangelt es auch in dieser Hinsicht nicht an
Hinweisen, die aber bis noch nur die Bedeutung von Hypothesen
haben und dürfte wohl die Anschauung die größte Wahrschein¬
lichkeit für sich haben, daß chronische Autointoxikationen vom
Darme aus dabei vorwiegend eine Rolle spielen.
Gegen die Auffassung, daß die Leberzirrhose das primäre,
die Milzvergrößerung ihre Konsequenz sei, spricht eine Reihe von
schwerwiegenden Tatsachen, von denen schon bisher bekannt
war, daß der Milztumor zeitlich zuerst da ist, bevor eine Ver¬
änderung der Leber nachweisbar ist. daß der Milztumor größer
ist, als er gemeiniglich bei der Laen ne eschen Zirrhose ge¬
funden wird, daß die interstitiellen Veränderungen der Leber ge¬
ringgradiger sind, obwohl Aszites und Kachexie schon leben¬
bedrohende Fortschritte gemacht haben und endlich, daß eine
Heilung des Morbus Banti durch die Entfernung der Milz er¬
zielt wurde, was wohl bei der echten Leberzirrhose noch nicht
beobachtet worden ist. Ich möchte zu diesen Argumenten noch
hinzufügen, daß in unseren Gegenden die Krankheit nur bei
Frauen beobachtet wurde, bei denen weder anamnestisch, noch
durch die Beobachtung der Verdacht des Alcoholismus chronicus
irgendwie gerechtfertigt gewesen wäre.
Im folgenden seien drei Fälle kurz beschrieben :
Fall I: Anna S., 54 Jahre alt, aufgenommen am 7. De¬
zember 1909. Letzte Menses vor 8 Jahren ; 5 Geburten, 3 Kinder
leben. Seit 7 bis 8 Jahren krank, anfangs mit Husten und Brust¬
beschwerden, in den letzten 4 Monaten Anschwellung des Bauches
und der Beine, starke ziehende und drückende Schmerzen
in der linken Oberbauchgegend, Potus und Lues in Abrede
gestellt.
Status praesens: Klein, grazil, mager, Haut trocken,
gelblichblaß; Schleimhäute blutleer; Temperatur 36'4 bis 37'3°C.
Puls klein, weich, regelmäßig ; Atmung dyspnoisch, Lungengrenzen
hochstehend, Herztöne rein, Abdomen aufgetrieben, fluktuierend.
Oedem der U. E. ; im Harn Spuren von Eiweiß, kein Zucker,
'•'creinzelte hyaline Zylinder.
Am 8. Dezember Punktion des Abdomens ; es werden
14 Liter trüber, gelblicher, eiweißreicher Flüssigkeit entleert. Die
"’ich anschließende Palpation läßt erkennen, daß die Leber ver¬
kleinert und härter ist und daß die ganze linke Oberbauchgegend
von einem ca. 20 cm langen, harten, glatten, beweglichen, etwas
empfindlichen Milztumor eingenommen ist, dessen Rand scharf,
glatt und hart ist.
Die jetzt erst vorgenommene Blutuntersuchung ergibt :
Hämoglobin 50% (Fleischl), Zahl der Erythrozyten 4'0 Mil¬
lionen, die der Leukozyten 2800 ; darunter
neutrophile, polymorphkernige . . 75%
Eosinophile . o%
Lymphozyten . 8%
große mononukleäre . 17%
Die Erythrozyten sind von ungleicher Gestalt und Färb¬
barkeit.
Die vorgeschrittene Kachexie ließ eine Operation nicht rat¬
sam erscheinen, indessen drängte die Patientin und wollte selbst
einen ihr vorgehaltenen üblen Ausgang lieber mit in den Kauf
nehmen, als die Verlängerung des bisherigen qualvollen Lebens
und so entschloß man sich, da auch Heilungen des Morbus
Banti im dritten Stadium berichtet worden sind, zur Splenek-
tomie.
Am 14. Dezember Laparotomie (Primarius Dr. W. Otto).
18 cm langer Schnitt in der Medianlinie; nach Entleerung von
6 bis 8 Liter Flüssigkeit wird die Leber besichtigt, die klein,
hart, braunrot, mit runzeliger, höckeriger Oberfläche an zwei Stellen
mit tiefer Einziehung und weißlicher Verdickung der Kapsel er¬
scheint. Die Milz wird ohne Mühe aus ihrer Nische herausgewälzt,
das Ligamentum gastrolienale samt den Gefäßen unterbunden ;
die Arterie klafft weit, ihre Intima ist glatt, die Vene stark ge¬
schlängelt, stellenweise erweitert, an ihrer Innenwand, besonders
an den Abgangsstellen von Seitenästen, strahlig weiß-sehnig-
glänzend. Die Milzkapsel ist nicht verdickt, frei. Gewicht der
Milz 1000 g, Länge 21 cm, Breite 12 cm, Dicke 3'5 cm; Kon¬
sistenz vermehrt, Aussehen fleischig, rotbraun, sehr blutreich ;
auf dem Durchschnitt erscheinen die Gefäßlumina erweitert, die
M a lp i g h i sehen Körperchen wenig hervortretend.
Nach Entfernung der Milz Tamponade und Drainage nach
hinten. Das Netz wird nach Talma in der Bauchwunde fixiert,
letztere durch drei Etagennähte geschlossen.
Während am Abend das Befinden der Kranken ein leidlich
gutes ist, tritt nachts plötzlich Herzschwäche ein, die trotz
aller üblichen Maßnahmen in kurzer Zeit zum Tode führt.
Aus dem Obduktionsbefund sei mit Weglassung der neben¬
sächlichen Bemerkungen folgendes hervorgehoben :
Die Lymphdrüsen des Halses, ebenso die mediastinalen
und retroperitonealen Lymphdrüsen sind etwas vergrößert, kirsch-
bis nußgroß, dunkelbraunrot, fleckig. Die rechte Lunge ist durch
harte, weiß-sehnig-glänzende Schwielen, die hinten unten noch
durch Einlagerung handbreiter, 2 bis 5 mm dicker, knochenharter
Platten verstärkt sind, an den Thorax fest fixiert. Fettige De¬
generation des Herzfleisches. Leber verkleinert, 27Xl4X3'5 cm,
Gewicht 800 g, Konsistenz matsch, Oberfläche faltig-runzelig,
stellenweise wie narbig eingezogen. Zwischen den Einziehungen
gelbbraune, vorquellende, höckerige Inseln mit deutlicher azinöser
Struktur und erweitertem Zentralgefäß. Gallenblase ohne Ab¬
normität. Därme trüb, mit leichten Fibrinniederschlägen bedeckt,
Mukosa schiefergrau gefleckt. Pankreas klein, schlaff, gelblich.
Nieren parenchymatös degeneriert. Aorta vom Ursprung bis zur
Teilung in die Iliacae glatt, Kava und Vena portae ohne Ver¬
änderung der Intyna. Knochenmark gelblich, zerfließlich ; zwischen
Uterus und Rektum eine zwei cm dicke, weiße, harte Schwiele.
Die histologische Untersuchung der Organe ergibt folgenden
Befund :
Milz. Das von der Milzkapsel eindringende sowie das die
Gefäße begleitende Bindegewebe ist bedeutend vermehrt; die
Fasern des reticulum verbreitert (v. G i e s 0 n färbung), verein¬
zelte infarktähnliche Herde, in denen neben faserigem zellreichen
Bindegewebe Reste von schwach färbbaren Lymphoidzellen und
Pigmentschollen sich vorfinden. Die Gefäßwände verdickt, das
Lumen verengt; die Follikel klein, gering an Zahl, weit aus¬
einanderliegend, die Papillarräume eng, zusammengedrängt, wenig
rote Blutkörperchen enthaltend.
Leber. In den narbig eingezogenen Partien ist das Binde¬
gewebe vermehrt, kernreich, fibrillär, zuweilen an Granulations¬
gewebe erinnernd, die Blutgefäße und Gallengänge erweitert,
Acini verkleinert, deformiert, oft nur in Inseln erhalten, oder
ganz verschwunden. Dieser Zustand steigert sich noch in den
als Schwielenbildung makroskopisch erscheinenden Stellen, wo
nur kleinzellig infiltriertes, faseriges Bindegewebe mit Rudi¬
menten von Acini und Pigmentschollen vorhanden sind. Diese
degenerierten Partien gehen ohne scharfe Grenze in anscheinend
hypertrophisches Lebergewebe über, das große Acini mit breiten
Zellbalken, erweitertem Zentralgefäß und weiten Leberkapillaren
aufweist. Um die Zentralvene werden übrigens die Leberzellen¬
balken dünner, heller und die Zellen nehmen Fett auf.
Fall II. Anna D., 50 Jahre alt. Acht normale Entbindungen,
letzte vor fünf Jahren, dabei verlor sie viel Blut ; leidet viel an
Nasenbluten. Keine Belastung nachweisbar. März 1909 mil
350
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. .1911.
Nr. 10
Fieber (?) erkrankt; seither abwechselnd Hitze- und Kältegefühl,
Magenbeschwerden, kein Alkoholismus, keine Lues.
Status praesens (9. November 1909): Temperatur 37,
Gewicht 47 kg ; klein, mager, gelblichblaß ; Drüsen nicht ver¬
größert, Lungen und Herz ohne. Befund. Abdomen aufgetrieben,
keine freie Flüssigkeit. In der Milzgegend ein von der sechsten
Rippe in der Axillaris bis zum Nabel und fast bis zur Spina
anterior superior reichender, harter, glatter, etwas empfindlicher
Tumor mit scharfem Rand. Die Leber überschreitet den Rippen¬
bogen in der Mamillarlinie, ist härter als normal, glatt, empfindlich.
Genitalien ohne Befund, Sternum und Röhrenknochen
nicht empfindlich; keine Zeichen von Rhachitis; im Harn kein
Eiweiß, kein Zucker, vereinzelte hyaline Zylinder.
Blut: Hämoglobin (Fleischl) 55°/o, rote Blutkörperchen
4,000.000, weiße Blutkörperchen 2800 ; die mononukleären relativ
vermehrt ; es besteht Anisozytose, Anisochromose, keine Ver¬
mehrung der Blutplättchen. Am 10. November wird eine Röntgen¬
bestrahlung mit mittelharter Röhre von fünf Minuten Dauer
vorgenommen. Am 12. November ist die Zahl der Leukozyten
auf 1800 gesunken.
Von Malariaparasiten im Blut keine Spur, niemals Temperatur¬
steigerung. Patientin wird über ihren Wunsch nach Hause ent¬
lassen, wo sie eine Arsenikkur durchmacht. Im März 1910 neuer¬
liche Aufnahme wegen profuser Magenblutungen; der objektive
Befund noch viel schlechter; Aszites mäßigen Grades, im Urin
Spuren von Eiweiß, Milz von gleicher Beschaffenheit, Leber
deutlich verkleinert, härter. Hämoglobin 35%, rote Blutkörperchen
3'08 Millionen, weiße 1500. Die großen Mononukleären relativ
vermehrt.
Patientin ist einer Operation abgeneigt, die ihr auch nicht
sehr warm empfohlen werden kann. Nach einem Monat Ent¬
lassung. Im Herbst 1910 stellt sie sich noch einmal vor, mit
starkem Aszites und Oedem an den U. E. ; Blutbefund :
Hämoglobin (Sahli) . . . . 35%
Erythrozyten . 2,146.000
Leukozyten . 1500
Polynukleäre . 51%
Lymphozyten . 30%
Ehrlichs Zellen . 11%
Eosinophile . 20%
Mastzellen . 0'5%
Myelozyten . 4'5%
Türcksche Reizungsformen . 1%
Die Erythrozyten zeigen starke Anisozytose, Makro- und
Mikrozyten, ausgesprochene Poikilozytose ; vereinzelte Normo-
blasten; beträchtliche Polychromasie, keine punktierten Erythro¬
zyten. lieber die weiteren Schicksale der Patientin ließ sich nichts
in Erfahrung bringen.
Fall III. Johanna U., 43 Jahre alt, aufgenommen am
9. Jänner 1911 mit enormem Aszites, Oedem der U. E. Haut
gebllichblaß, trocken. Temperatur nicht erhöht ; Herz, Lunge
ohne Befund; Urin Spuren von Eiweiß, Urobilin nicht vermehrt.
Dauer der Krankheit angeblich mehrere Jahre; kein Alkoholismus,
keine Lues, keine Malaria.
Nach Punktion der Abdomens, wobei acht Liter gelb¬
licher, trüber, stark eiweißhaltiger Flüssigkeit gewonnen werden, läßt
sich in der Milzgegend ein bis zur Nabelhöhe reichender Tumor
tasten, der hart, glatt, schmerzhaft ist und nach oben bis zur
siebenten Rippe reicht. Leber deutlich verkleinert, härter als
normal, etwas uneben. W assermann - Reaktion negativ,
Röntgendurchleuchtung der Brustorgane ergibt keine Abnormität.
Blutbefund : Hämoglobin 48%. Zahl der roten Blutkörperchen
3‘5 Millionen, Zahl der weißen Blutkörperchen 1600.
Es besteht Anisozytose, Poikilozytose und Polychromasie ;
keine Normoblasten ; keine Parasiten. Die Verhältniszahlen der
Leukozyten sind :
Polynukleäre . 60%
Lymphozyten . 20%
Eosinophile . 4%
große Mononukleäre . 16%
keine Myelozyten.
Am 1. Februar wird über eigenen Wunsch der Kranken
und weil der Aszites wieder bedeutenden Umfang angenommen
hat, eine probatorische Laparotomie vorgenommen, die Flüssig¬
keit abgelassen und das Netz in der Bauchwunde fixiert. Von
der Entfernung der Milz wird Abstand genommen, teils wegen
des dekrepiden Zustandes der Patientin, teils wegen der bis¬
herigen üblen Erfahrungen. Leider übersteht die Patientin auch
diesen kleinen Eingriff nicht; eine am zweiten Tage nach der
Operation auftretende Pneumonie führt am 5. Februar zum
Exitus letalis. Von dem Sektionsbefund teile ich mit:
Pneumonie beider Unterlappen. Fettige Degeneration des
Herzmuskels ; Aortenintima durchgehends glatt.
Leber: verkleinert, härter, höckerig, mit gelben ver¬
tieften und vorspringenden, bis haselnußgroßen mehr braunen
Erhebungen. Gallenblase normal, Pfortader frei.
Milz. 25X10X6 cm, fleischig, rotbraun, gleichmäßig hart.
Bindegewebsziige vergrößert, Gefäße weit, Blutgehalt etwas ver¬
mehrt. Milzarterie glatt, Intima der Vene uneben, wie gestrickt.
Pankreas verkleinert, induriert, Degeneration der Niere.
Därme von leichten Fibrinniederschlägen bedeckt, Schleim¬
haut des Magens dick gewulstet, mit punktförmigen Blutungen,
Schleimhaut des Dünndarmes schiefergrau.
Die histologische Untersuchung ergibt analog wie beim
Falle I an der Milz: Septa, perivaskuläres Gewebe und Fasern
des Retikulums enorm vermehrt, Malpighi sehe Körperchen
klein, vermindert, das zentrale Gefäßlumen oft ganz aufgehoben.
Intima der Gefäße oft abgestoßen, Kapillarräume erweitert, viel
Blut enthaltend. Pulpazellen ohne Besonderheit.
Leber: Das von der Leberkapsel und von dem peri¬
portalem Gewebe ausgehende Bindegewebe tritt in mächtigen
Zügen zwischen die Azini; es ist faserig und auffallend kern¬
weich, an manchen Stellen wie kleinzellig infiltriert; oft um¬
klammert das Bindegewebe eine Gruppe von Azini, die dadurch
förmlich vorquellen und zusammengepreßfc sind ; die Azini selbst
sind groß ; ihre Zellen intensiv färbbar, ebenso die Kerne, die
Gallenkapillaren verengt.
Mit Bedauern muß ich gestehen, daß Stoffwechselunter¬
suchungen nach Umber aus äußeren Gründen bei keinem der
Fälle vorgenommen werden konnten.
Wenn ich die Nutzanwendung aus der Beobachtung dieser
drei Fälle zu ziehen mir erlaube, so scheint es mir sicher, daß
1. der Morbus Banti ein selbständiges Krankheitsbild ist,
dessen primäre Ursache im Magen-Darmkanal gelegen ist, das
vorerst in einer Milzschwellung mit konsekutiver interstitieller
Entzündung der Leber mit allen ihren Folgen sich äußert und
eine charakteristische Veränderung des Blutes hervorruft.
2. Syphilis, Tuberkulose und Alkoholismus spielen in der
Aetiologie des Morbus Banti keine wesentliche Rolle.
3. Das dritte Stadium, das aszitische Stadium kann länger
dauern als ein Jahr.
4. Eine Heilung des Morbus Banti im dritten Stadium durch
Exstirpation der Milz hat wenig Wahrscheinlichkeit, da dem
Körper nur mehr geringe Abwehrkräfte gegen Infektion des
Peritoneums, der Lungen usw. zur Verfügung stehen.
Das Problem der Krebskrankheit.*)
Von Prof. Alex. Fraenkel.
Soweit die Ueberlieferung zurückreicht, seit Jahrtau¬
senden, bildet die Krebskrankheit ein ständiges Kapitel in
der Leidensgeschichte der Menschheit. Wie in unseren
Tagen, so standen seit jeher die Aerzte, so oft berufliche
Pflicht sie an das Bett eines Krebskranken rief, sinnend
vor demselben unheimlich bangen, ungelösten Rätsel.
Soweit ein erleuchteter Sinn für Naturbeobachtung
und schlichte Empirie dazu verhelfen konnten, sah schon
der Vater der wissenschaftlichen Medizin, Hippokrates, in
klaren Umrissen das Krankheitsbild in seinen verschie¬
denen Erscheinungsformen und täuschte sich nicht über
die engen 'Grenzen, die hiebei ärztlicher Kunst gezogen
waren. So wie er es schaute und so wie er darüber dachte,
so spiegelte sich die Lehre von der Krebskrankheit in den
Köpfen der Aerzte bis nahe zur Schwelle des 19. Jahrhun¬
derts. Seine und namentlich Galens humoralpathologi¬
schen Anschauungen bildeten die Grundlage für die Er¬
klärung der kausalen Genese der Krankheit. Für ihr Zutage¬
treten beschuldigte man die Zurückhaltung von Säften, ihre
schlechte Mischung, wobei vor allem die Eindickung der
schwarzen Galle, der Atra bilis, welche man aus dem
Humor melancholicus entstehen ließ, eine Hauptrolle spielte.
*) Auszugsweise vorgetragen in der am 5. März 1911 veran¬
stalteten feierlichen Sitzung der unter dem Protektorate Sr. Majestät des
Kaisers Franz Joseph I. stehenden österreichischen Gesellschaft für
Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Hieinit in logischem Zusammenhang ziehl sich wie
ein roter Faden zugleich die Lehre vom ursächlichen Ein¬
fluß von Gemütsbewegungen; Kummer und Sorgt1 sind die
im Laufe der Jahrhunderte immer wieder betonten patho¬
genetischen Momente in allen ärztlichen Betrachtungen und
Beobachtungen über die Krebskrankheit; für das weibliche
Geschlecht kamen noch hinzu die in der Sexualsphäre ge¬
legenen mannigfachen besonderen funktionellen Anhalts¬
punkte. Die kausalen Beziehungen all dieser Momente zur
Entwicklung und zum Wachstum tier Krebse, namentlich
aber auch ihr Einfluß auf die ominöse Umwandlung des
geschlossenen, „verborgenen“ Krebses in den offenen, wur¬
den mit solcher Uebereinstimmung und Bestimmtheit aus¬
einandergesetzt, als handelte es sich dabei um eine über
jeden Zweifel gesicherte wissenschaftliche Erfahrung.
Diese Doktrinen verfehlten naturgemäß auch ihren
Einfluß auf die praktisch -therapeutischen Bestrebungen
nicht. Wenn auch schon aus den ältesten Zeiten der Heil¬
kunde über die Chirurgische Behandlung, bzw. Ausrottung
dieses hartnäckigen Leidens berichtet wird — das wohl
zum Teil auch seine Benennung dem Eindruck verdankt,
daß es wie ein Krebs mit seinen Scheren am Körper fest¬
haftet — so lag doch Jahrtausende hindurch — den herr¬
schenden humoral -pathologischen Lehren gemäß — das
Schwergewicht aller Therapie und aller vermeintlich vor¬
beugenden Maßnahmen in der Bekämpfung der krankhaften
Blutmischung, der „Schärfen“, als deren sichtbare Wirkung
man eben die Krebskrankheit betrachtete.
Ein alter Galenischer Speisezettel regelte in diesem
Sinne die Diät der Krebskranken und mit glaubensstarker
Zuversicht forderten die Aerzte seine strenge Einhaltung.
Es ist gewiß bezeichnend, daß noch um die Mitte des
18. Jahrhunderts ein so hervorragender Arzt wie Laurenz
Heister es war, die Drüsenrezidive eines von ihm mit
vollendeter Meisterschaft operierten Lippenkrebses über¬
zeugungsvoll lediglich darauf zurückführte, daß sein Patient
die vorgeschriebene Diät nicht streng genug einhielt und
es unterließ, sich imi Frühjahre einer Kur zur Verbesserung
des „üblen“ Blutes zu unterziehen.
Die suggestive Macht teils überkommener, teils neu
auftretender Doktrinen, ließ eben das Bedürfnis nach einer
nüchternen kritischen Prüfung ihres wirklichen Er¬
kenntniswertes kaum aufkommen. Was man beobachtete,
wurde im schwankenden Wechsel der jeweilig herr¬
schenden Theorie angepaßt Woran es vor allem fehlte,
das waren wirklich objektive Kriterien für eine halb¬
wegs stichhältige Determinierung der Krebskrankheit als
solcher. Indem man den Einteilungsgrad für die Nomen¬
klatur und Klassifikation der Geschwülste lediglich in ge¬
wissen Merkmalen ihrer äußeren Erscheinung suchte, in
ihrer wechselnden Form, Färbe und Konsistenz, fehlte jeder
wissenschaftliche Ausgangspunkt für die Beurteilung • des
eigentlichen Wesens dieser Krankheitsbilder und es konnte
nicht ausbleiben, daß bei einer solchen Betrachtungsweise,1 jj
die nur am grob äußerlichen haftete, die mannigfachsten, f
ihrer Natur nach disparatesten pathologischen Zustände zu¬
sammengeworfen wurden und gar manches von den Aerzten
als Krebs angesehen und behandelt wurde, was mit diesem
nichts zu tun hatte. Es mußten für alle Zeiten denkwürdige
Etappen medizinischer Forschung durchlaufen werden, ehe
jene reale Grundlage und der zielsichere Weg gefunden j
wurde, um auch die Frage der Lösung des Krebsproblems
zu einer halbwegs aussichtsvollen zu gestalten.
Die Begründung der Gewebslehre durch Bichat und
die Anwendung des Mikroskops auf die Untersuchung der
Krebsgeschwülste durch Johannes Müller waren die Mark¬
steine der neuen Richtung. Diese Errungenschaften bilden
im letzten Grunde den Ausgangspunkt der modernen Krebs¬
forschung, die namentlich auf der neugewonnenen Grund¬
lage histologischer Untersuchung einen steten und syste¬
matischen Aufbau tatsächlicher Erkenntnisse aufzuweisen
hat, in jüngster Zeit noch aufs Wertvollste ergänzt durch
die aller Orten mit größtem Eifer betriebene und geförderte
experimentelle Bearbeitung des Krebsproblems.
Eines dürfen wir heute schon als hoch anzuschlagen¬
den Erfolg all der Mühe und Arbeit, die im Laufe des
letzten Jahrhunderts die glänzendsten Vertreter der Wissen¬
schaft auf die Erforschung des Krebsproblems gewendet
haben, verzeichnen: nach der Richtung der formalen Ge¬
nese erscheint das Krebsproblem so gut wie gelöst.
Der genaue Einblick in den feinsten Aufbau der Krebs¬
geschwülste, den wir der modernen Krebsforschung ver¬
danken, hat die Erkenntnis zu einer unumstößlichen ge¬
macht, daß diese Gebilde, ihrem geweblichen Charakter nach
unmittelbare Abkömmlinge des Mutterbodens, dem sie ent¬
stammen, in ihrem zeitigen Aufbau nichts Körperfremdes
und nichts Ortsfremdes aufweisen und keine akzidentellen
dem1 Organismus von außen sich ansetzende parasitäre Bil¬
dungen darstellen. Die mikroskopische Analyse der Ge¬
schwülste hat es zur Gewißheit erhoben, daß sie als Effekt
einer lokalen Gewebsproliferation zu betrachten sind. Bei
den Krebsgeschwülsten im Besonderen handelt es sich vor¬
waltend um; einen Wucherungsprozeß der von den Deck¬
zellen der Drüsen oder jener der äußeren Haut ausgeht.
Die spezielle Eigenart und das Befremdende dieses
Wachstunisvorganges liegt vor allem darin, daß uns auch
die subtilste Betrachtung des zugrunde liegenden Prozesses
— wenigstens mit den gegenwärtig zu Gebote stehenden
Mitteln — über die eigentliche und unmittelbare Ursache
dieser Proliferation keinerlei Aufschluß gibt. Alle bekannten
Anlässe für das Auftreten von Wachstumsvorgängen in den
Geweben lassen im speziellen Falle der Krebswucherung
vollständig im Stiche. Nichts, was darauf hindeuten würde,
daß der Organismus sich hiemit eines Eindringlings zu er¬
wehren hätte, nichts, was darauf schließen ließe, daß mit
diesem Wachstum (eine Regeneration, ein Ersatz für Zer¬
störtes, für verloren Gegangenes geleistet werden soll;
nichts, was annehmen ließe, daß hier eine gewebliche Ueber-
produktion sich .eingestellt hätte, als Ausdruck einer An¬
passung an leinen erschwerten funktionellen Mechanismus.
Geringfügige lokale Reaktionserscheinungen, die ge¬
rade nur seine Anfangsstadien begleiten, sind die einzige
Andeutung einer (Verteidigung des Organismus gegen diesen
zur Unzeit sich einstellenden Wachstumsvorgang. Je weiter
er fortschreitet, um1 so widerstandsloser ist ihm der Orga¬
nismus preisgegeben. (Unaufhaltsam, schrankenlos, dringen
die neu gebildeten (Gewebe in die benachbarten ein, auf
deren Kosten sie sich ausbreiten, um dann auf dem Blut-
und Lymphwege .auch in die entfernten Organe zu gelangen,
auch dort wachsend ohne Widerstand, bis sie in den äußer¬
sten Graden autonom und aggressiv nahezu vom ganzen
Organismus Besitz ergreifen.
Und diese so verheerende, mit solch unzähmbarer
Uebermactht den Körper angreifende Invasion, sie geht —
und das ist die weitere höchst befremdende Eigenart —
von einem neugebildeten Gewebe aus, dessen Elemente von
den normalen in ihrer äußeren Erscheinung kaum abwei¬
chen, die vielmehr nach ihrer ganzen Anordnung dem Typus
der Organbildung außerordentlich nahekommen, oft genug
auch ausgestattet mit den untrüglichen Zeichen einer spe¬
zifischen Funktion.
Darin liegt ja der große Widerspruch und zugleich
ein gut Teil des Rätsels, das uns das Problem der Krebs¬
krankheit darbietet, daß pathologische Wirkungen so über¬
aus schwerwiegender Art von dem Wachstum eines Ge¬
webes ausgehen, das in seiner ganzen Erscheinungsweise
dem1 normalen Gewebstypus so nahekommt.
Nahekommt, aber doch offenbar sich wesentlich von
ihm unterscheidet! Und man muß v. Hansemann ent¬
schieden Recht geben, wenn er immer wieder mit Nach¬
druck dafür eintritt, daß die Krebszelle trotz äußerlicher
Aehnlichkeit sich durchgreifend von der einfach sich rege¬
nerierenden Zelle unterscheidet, daß sie sich „anaplastisch“
verändert haben muß.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
Wer uns das sagen könnte, worin diese Wesensände¬
rung dieses unter so unschuldiger äußerer Form sich prä¬
sentierenden Gewebes gelegen sei, was für ein Reiz es
mit einem Male befähigt und antreibt, zu so exzessivem
Wachstum, dem gegenüber der Organismus alle Widerstands;
fähigkeit einbüßt, wer darüber Aufklärung brächte, durch
welche geheimnisvolle Aenderung ihres Innenlebens, die
immanente Proliferationsfähigkeit der Zelle so ins Unge¬
messene, ins Anarchische ausartet — oder wer anderseits
es ausfindig machen könnte, welche Hemmungerscheinun¬
gen des Organismus versagen, um eine solche schranken-
und ziellose Vermehrung bestimmter Zellkategorien zu er¬
möglichen — wem, in diesem oder jenem Sinne in dieses
Dunkel organischer Vorgänge hineinzuleuchten gelänge, dem
wäre der große Wurf gelungen, der hätte das Problem
der Krebskrankheit gelöst.
Der homogene Aufbau der Geschwülste, das Fehlen
von Strukturveränderungen in dem sie umgebenden Ge¬
webe, der auf einen Kampf gegen die pathologischen Ele¬
mente schließen ließe, die äußere Aehnlichkeit des Krebs¬
gewebes mit dem normalen, der Umstand, daß in manchen
Fällen die Gewebsneubildung, ehe sie den malignen Krebs¬
charakter annimmt, zunächst ein Stadium durchläuft, in
dem sie in der Form des Adenoms eine getreue Kopie der
Organbildung darstellt ; all dü se Beobachtungen haben der
Anschauung Vorschub geleistet, daß es sich hiebei gleichsam
um verspätete organoide Bildungen handle, um „Neubil¬
dungen“ in des Wortes eigentlichster Bedeutung. Es lag
demgemäß nahe, auch zur Erklärung dieser „Neubildungen“
auf das Urbild aller organischer Gestaltung, auf die Wachs¬
tumsvorgänge des embryonalen Lebens zurückzugreifen und
aus der äußeren Aehnlichkeit ihres geweblichen Aufbaues
den Schluß zu ziehen, daßi die Wachstumsvorgänge, wie
sie in der Geschwulstbildung und speziell im Karzinom zum
Ausdruck kommen, als Leistungen von Zellen embryonalen
Charakters anzusehen wären. Unter Aegide Cohnheims
hat tatsächlich seinerzeit diese Theorie viele Anhänger ge¬
funden. Dieser Lehre gemäß ginge die Geschwulstbildung
aus embryonalen Zellen hervor, welche gleichsam als erra¬
tische Ueberbleibsel überschüssigen, zum Organbau nicht
verwendeten oder verlagerten Zellmaterials aus der Keim¬
anlage übrig geblieben und in das postfötale Leben mit
hinübergenommen, nach längerer oder kürzerer Latenzzeit
im Simie ihrer immanenten Entwicklungsfähigkeiten zu
selbständigem Wachstum gelangen-
Als Stütze dieser Theorie dienen namentlich gewisse
Geschwülste der Bindesubstanzgruppe, deren histologische
Elemente dem Typus embryonaler Gewebe sehr nahestehen,
ferner die schon erwähnten Adenome und eine Reihe an¬
geborener Geschwülste, die von den unscheinbarsten Bil¬
dungen angefangen, wie etwa den angeborenen Malen und
Warzen, eine förmliche Stufenleiter darstellen bis zu jenen
hochkomplizierten angeborenen Geschwülsten, die in ihrem
geweblichen Aufbau ein Bild buntester Mannigfaltigkeit und
Anordnung, eine förmliche Musterkarte aller organischen
Strukturen aufweisen. Hiezu kommt noch, daß all diese
angeborenen, aus einer alterierten embryonalen Anlage
hervorgegangenen Gebilde in einer nicht ganz geringen
Anzahl von Fällen schon die Wachstumscharaktere bös¬
artiger Neubildungen mit auf die Welt bringen, oder sie
sehr frühzeitig erwerben.
Wenn außerdem in diesem Zusammenhänge nicht un¬
erwähnt bleiben soll, daß gerade Organe mit offenbarer
angeborener Anomalie der Bildung ein nicht zu unter¬
schätzendes Kontingent der karzinomatösen Entartung ab¬
geben, so muß wohl eingeräumt werden, daß eine gewisse
Beziehung von Störungen der Entwicklung zur Geschwulst¬
bildung und im besonderen zur Krebskrankheit durch tat¬
sächliche Beobachutng gestützt Avird.
Aber mit all diesen Feststellungen sind doch wieder
nur Beiträge zur formalen Genese der Geschwülste ge¬
geben und unerklärt bleibt noch immer das eigentlich ur¬
sächliche Verhältnis, unerklärt jene biologische Verände¬
rung des Zellcharakters, die zur schrankenlosen, aggres¬
siven Proliferation der neugebildeten Gewebe führt. Denn
eine solche liegt nicht im Charakter der embryonalen Zelle
und aus Störungen der embryonalen Entwicklung lassen sich
wohl atypische Wachstumsformen, keineswegs aber pro¬
grediente Geschwulstbildungen erklären, die in so verhee¬
render Weise in das normale Gefüge des Organismus ein¬
brechen.
Immerhin aber \\7ird man mit einer gewissen prädis¬
ponierenden Bedeutung von Störungen der embryonalen
Entwicklung für das Geschwulstwachstum1 und die Krebs¬
krankheit rechnen müssen.
Von dieser Gruppe, die alle Charaktere .angeborener
Anlage aufweist, zu trennen sind jene Geschwülste, welche
als Erwerbungen im späteren Laufe des Lebens in Erschei¬
nung treten.
Um von Bekanntem und Anerkanntem auszu gehen,
kommt nach den vorliegenden Erfahrungen für die Ent¬
stehung der Krebsgeschwülste des späteren Lebens eine
ganze Reihe von chronischen krankhaften Gewebszuständen
in Betracht, denen geradezu die Bedeutung von unmittel¬
baren Vorläufern zukommt.
Anderseits spricht aber vieles dafür, daß außer diesen
lokal disponierenden, gleichsam einleitenden und vermit¬
telnden Prozessen auch allgemein disponierenden konsti¬
tutionellen Momenten eine bestimmte pathogenetische Be¬
deutung für die erworbene Krebsbildung zugeschrieben
werden muß.
Nach ersterer Richtung wissen wir, daß Karzinome
nach verschiedenen, durch längere Zeit andauernden mecha¬
nischen Einwirkungen entstehen; wir sehen sie ferner aus
Narbengewebe sich entwickeln, wir kennen den Paraffin-,
Anilin- und Arsenkrebs; es gibt einen sog. Lokomotivführer¬
krebs an der Schienbeinhaut, die jahrelang direkter Hitze
ausgesetzt ist, wir können Röntgenkarzinome beobachten,
den Krebs auf lupöser, auf luetischer Grundlage, auf dem
Boden chronischer Eiterungsprozesse, nach Erkrankungen
durch Blasen- und Eingeweidewürmer.
Geradezu drastische Hinweise für die pathogeneti¬
sche Bedeutung lokaler chronischer Reizzustände für die
Entwicklung der Krebskrankheit bieten geAvisse mit Recht
immer wieder in diesem Zusammenhänge envähnte Beob¬
achtungen englischer Aerzte. Während nämlich in unseren
Landen der Krebs der Wangenschleimhaut bei Frauen nur
höchst ausnahmsweise vorkommt, begegnet man ihm in
Indien, wo auch die Frauen der Volkssitte gemäß Betel¬
nüsse kauen, die sie auch über Nacht im Munde behalten,
auffallend häufig. Ein weiteres hieher gehöriges Beispiel
ist der Krebs der Bauchhaut, der mit dem Brauch der
Gebirgsbewohner in Kaschmir zusammenhängt, als Kälte¬
schutz über dem Bauch primitive Wärmeapparate zu tragen.
Die bei all diesen und den früher envähnten Prozessen
in Betracht kommenden lokal wirkenden Reize sind teils
rein mechanischer, teils chemischer, thermischer, aktinischer
und infektiöser Natur. Schon die Mannigfaltigkeit dieser
verschiedenen Einflüsse läßt es nahezu ausgeschlossen er¬
scheinen, daß der Spezifizität des Reizes hiebei eine ent¬
scheidende Bedeutung zukommt. Das allen Gemeinsame
liegt vielmehr darin, daß in ihrem Gefolge lokale Gewebs¬
veränderungen auftreten, die gleichsam den Boden schaffen,
für die Ausbildung der Krebswudherung. Es handelt sich
bei all diesen Vorläufern um chronisch entzündliche Zu¬
stände, bei denen dauernd regressive und regeneratorische
Gewebsvorgänge unter abnormen lokalen, die Biologie der
Zellen jedenfalls eigenartig alterierenden Bedingungen sich
abspielen.
*
Von den allgemein disponierenden konstitutionellen
Momenten kommt nach aller Erfahrung Avohl dem Alter
eine bestimmte Rolle zu.
;Um den konstitutionellen Einfluß des alternden
Organismus auf die Krebsbildung kausal beurteilen zu
können, 'müßten Avir zunächst den Prozeß des Alterns
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
353
selbst, präziser zu objektivieren fähig sein, als dies tat¬
sächlich der Fall ist. Wir müßten vor allem was riiis
versagt ist — imstande sein, physiologische Altersgrenzen
im Ablauf des Lebens aufzustellen. Die Forschung hat sich
auch nach dieser Richtung bemüht und namentlich Mühl¬
manns Untersuchungen sind der Ausdruck höchst bedeu¬
tungsvoller Bestrebungen, für den bisher rein empirischen
und so relativen Altersbegriff exakte wissenschaftliche
Grundlagen zu schaffen. Halten wir uns an diese Befunde
Mühl man ns, so stellt sich das jeweilige Alter des Or¬
ganismus dar, als ein im einzelnen Falle wechselndes Ver¬
hältnis in den während des ganzen Ablaufes des Lebens
sich geltend machenden progressiven und regressiven Ver¬
änderungen der 'Gewebe und Organe. Das Altern würde
demnach schon mit dem Leben selbst einsetzen und
in. ausgesprochener Weise dann sich geltend machen,
wenn in den Organen die regressiven Vorgänge über die
progressiven die Oberhand gewinnen. Das Altern ist dem¬
nach gleichbedeutend mit dem Nachlaß der Wachstums¬
und Regenerationsvorgänge einer- und der Persistenz der
regressiven und Degenerationsvorgänge anderseits; ein Zu¬
stand, der nicht gleichzeitig und gleichmäßig alle Gewebs-
arten betrifft, sondern gerade an den physiologisch zu
höchststehenden sich morphologisch am allerfrühesten ma¬
nifestiert.
Für die Entwicklung der Krebsgeschwülste ist es nun
von besonderer Bedeutung, daß gerade jenem Gewebe, aus
denen sie sich auf bauen, den Deckzellen der Haut und der
Drüsen, weil sie unter allen Körpergeweben als die ober¬
flächlichsten unter den günstigsten Ernährungsverhältnissen
stehen, die Regenerations- (und Wachstumsfähigkeit am
längsten erhalten bleibt.
Das Wachstum und die Regeneration des Epithel¬
gewebes vollzieht sich demnach als der einzig noch ausge¬
sprochenprogressive Vorgang im alternden Organismus unter
ganz besonders bevorzugten Bedingungen der Ernährung, er
vollzieht sich aber gleichzeitig in mehr oder weniger auto¬
nomer Weise, weil bei der gleichzeitigen Prävalenz der
regressiven Erscheinungen in den übrigen Geweben und
Organen ein Teil der regulatorischen Einflüsse entfällt, der
durch die Wechselbeziehungen der Organe hergestellt wird.
Ob nun die Harmonie der funktionellen Korrelation
der Organe und Gewebe durch allgemeine oder lokale
Einflüsse gestört wird, jedenfalls bewirkt diese Stö¬
rung eine quantitative und qualitative Aenderung in den
Beziehungen der einzelnen Gewebsarten zueinander und
zum Stoffwechsel und darin wird gewiß die letzte Ursache
zu suchen sein für jene biologische Aenderung des Zellen¬
lebens, die der Entwicklung der Krebsgeschwülste zu¬
grunde liegt.
*
Ueberschaut man zusammenfassend, was Empirie
und Forschung in der Krebsfrage beigestellt haben, so
muß — es sei nochmals betont — doch dankend aner¬
kannt werden, daß zur Zeit eine Summe von positiven
Kenntnissen vorliegt, deren Bedeutung nicht zu unter¬
schätzen ist.
So ist — wie schon her vor gehoben — die Lehre
von der formalen Genese der Krebsgeschwülste als eine
nahezu abgeschlossene zu betrachten.
Auch über eine ganze Reihe pathogenetischer Mo¬
mente, zumal über die Bedeutung chronisch entzündlicher
Reizzustände verschiedenster Provenienz als Vorläufer
der Krebskrankheit haben uns vielfältige, den Zusammen¬
hang immer wieder bestätigende Beobachtungen aufgeklärt.
Schon diese Erfahrungen haben großen praktischen
Wert, denn sie sind wichtige Hinweise auf die Möglich¬
keit einer wenigstens teilweisen Prophylaxe auf diesem Ge¬
biete. 1
Wenn einmal die Erkenntnis in weitere Kreise ge¬
drungen sein wird, daß derlei chronisch entzündliche Zu¬
stände geeignet sind, den Boden für die Krebskrankheit vor¬
zubereiten, so wird man mit um so größerem Eifer darauf
bedacht sein, unter Eliminierung des kausal schädigenden
Momentes diesen Prozessen schon frühzeitig alle notwen¬
dige therapeutische Sorgfalt zuzuwenden. Namentlich der
Gewerbehygiene und sozialen Medizin fällt dabei ein dank¬
bares Feld der Tätigkeit zu, da nicht so selten der Krebs
als ausgesprochene Berufskrankheit a uf tritt.
Soweit es sich bei diesen präkarzinomatösen Zustän¬
den um infektiöse Prozesse handelt — und ein großer Teil
dieser Zustände gehört dieser Gruppe an — werden sie in
die allgemeine Prophylaxe, die sich gegen jede Art von
Infektion richtet, miteinbezogen sein.
So wird alles und jedes, was dazu beiträgt, die allge¬
meine Hygiene zu heben, auch der speziellen Krebspro¬
phylaxe zustatten kommen. Es verdient dies ganz beson¬
ders betont zu werden im Hinblick a.uf die oft geäußerte
Meinung, daß die heutigen Tages zu vermerkende erhöhte
Krebsmorbidität als eine indirekte Wirkung der durch die
gesteigerte sanitäre Vorsorge gewährleisteten durchschnitt¬
lichen Lebensverlängerung zu betrachten wäre. Seitdem
die Hygiene in so tatkräftiger Weise in alle Lebensverhält¬
nisse ein greife, sei eben die Zahl der Menschen, die über¬
haupt das Karzinomalter erreichen, eine größere und darauf
sei auch die erhöhte einschlägige Morbidität zurückzuführen.
Auf eine nach rationellen Gesichtspunkten aufge¬
baute Krebsstatistik kann erst die jüngste Vergangenheit
hinweisen. Der Vergleich mit der Krebsmorbidität früherer
Zeitläufte ist nicht einwandfrei, weil die älteren Statistiken
auf anderen Grundlagen beruhten, wie die heutigen. Nach
dieser Richtung verläßliches, einheitliches Material zu
sammeln, gehört ja mit zu jenen Aufgaben, die den ver¬
schiedenen Krebsgesellschaften Vorbehalten bleiben.
Jedenfalls ist es aber zwingend anzunehmen, daß
durch alle prophylaktischen Vorkehrungen, welche die
früheren Stadien im Ablaufe des Lebens vor Schädigungen
wirksam zu schützen geeignet sind, auch im alternden
Organismus der Boden für die Karzinomentiwicklung ent¬
zogen sein wird.
Das Alter hat gewiß bei der erworbenen Krebskrank¬
heit eine höchst wirksame prädisponierende Bedeutung —
es wurde ja auch an dieser Stelle versucht, sie in das rich¬
tige Licht zu stellen — aber das Wesen der Krebskrank¬
heit ist mit dem Prozeß des Alterns und mit den senilen
Veränderungen nicht erschöpft; es muß noch ein speziell
schädigendes gleichsam provokatorisches Moment hinzu¬
kommen, um im1 alternden Organismus die Entwicklung
der Krebskrankheit zu wecken, bzw. jene örtlichen, bio¬
logischen Veränderungen im Zelleben eines Gewebes her¬
vorzurufen, die zur Autonomie der Zellproliferation führen.
In der Suche nach diesem Moment liegt ja das eigent¬
lich kausale Problem der Krebskrankheit, das Endziel aller
Bestrebungen der einschlägigen Forschung.
Zur Zeit sind wir nicht in der Lage über dieses Grund¬
problem etwas auszusagen, was über den problematischen
Wert von Mutmaßungen hinausginge.
Es hat seit jeher nicht an Vertretern der Ansicht ge¬
fehlt und auch heute noch hat sie ihre Fürsprecher, daß
der Krebs den Infektionskrankheiten beizuzählen sei.
Wie weit die Aerzte in ihrem Eifer für und gegen die
Vertretung dieser Ansicht schon gegangen sind, beweisen
unter änderen die Krebsimpfungen, die zu Anfang des
vorigen Jahrhunderts Alibert und seinem Beispiele folgend
einige [seiner Schüler an sich selbst ausgeführt haben.
Das glücklicherweise negative Ergebnis dieser Experi¬
mente hat natürlich so wenig Beweiskraft., wie die bisher
vergebliche, namentlich im Verlaufe der letzten Jahrzehnte
mit geradezu leidenschaftlichem Eifer betriebene Suche nach
einem spezifischen Krebserreger.
In positivem Sinne wird zur Stütze der infektiösen
Theorie besonders auf Beobachtungen hingewiesen, die ein
zeitlich und örtlich gehäuftes Vorkommen der Krebskrank¬
heit mit fast endemischem Charakter dartun.
35 i
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
Das zeitlich und örtlich gehäufte Vorkommen einer
Erkrankung allein, ist noch kein hinreichendes Kriterium,
um sie als Infektionskrankheit zu deklarieren. Es müssen
noch sonstige kennzeichnende morphologische und semio-
tische Charaktere der betreffenden Erkrankung hinzu¬
kommen, um diesen Rückschluß als gerechtfertigt erscheinen
zu lassen. In dem Maße als die Krebserkrankungen diese
Charaktere vermissen lassen und sie gerade hiedurch ihre
besondere Eigenart im pathologischen Systeme behaupten,
wird man auch dann, wenn für ihr endemisches Vorkommen
gesicherte Anhaltspunkte vorliegen, sich daran erinnern
müssen, daß es auch außerhalb der infektiösen Agentien
noch Faktoren gibt, die für die Erklärung eines zeitlich
und örtlich gehäuften Vorkommens von Erkrankungen
heranzuziehen wären.
Es kann im humanitä,ren Interesse nicht genug davor
gewarnt werden, heute schon, wo noch alle wissenschaft¬
lichen Grundlagen hiefür fehlen, die Lehre von der in¬
fektiös - kontagiösen Natur der Krebskrankheit zu antizi¬
pieren. Wir alle haben es schon in unserer Praxis er¬
fahren müssen, wie sehr die Krebskranken unter dieser
durch nichts begründeten Annahme zu leiden haben und
wie oft die Furcht vor Ansteckung sie um den so gerecht¬
fertigten Anspruch auf Pflege selbst von seiten ihrer nächsten
Umgebung bringt.
Auf ein je kleineres Territorium das Leben einer Gruppe
von Menschen eingeengt ist, um so leichter wird sich der
Einfluß der ihnen allen gemeinsamen Existenzbedingungen
und Lebensgewohnheiten, durch die unter solchen Verhält¬
nissen noch obendrein naturgemäß gegebenen verwandt¬
schaftlichen Beziehungen gefördert, in dem psychischen
und physischen Typus der Einzelindividuen spiegeln. Es
wird sich eine gewisse Uniformität in ihrer Art auf Reize
zu reagieren ausbilden, wodurch zumal in ihrem vege¬
tativen Leben gewisse gemeinsame Züge vorherrschen,
kurz die ganze und große Bedeutung, welche den äußeren
Lebensverhältnissen auf die Körperentwicklung und die
einzelnen Organfunktionen in förderndem oder hemmendem
Sinne zukommt, wird unter solchen Umständen in Form
mehr weniger allen gemeinsam erworbenen konstitutionellen
Merkmalen zum Ausdruck gebracht sein.
Es liegen zur Zeit schon genügend Erfahrungen vor,
um in diesem Zusammenhänge den konstitutionellen Einfluß
der äußeren Lebensverhältnisse auch gegenüber der An¬
nahme, daß es sich dabei um eine etwaige Rassendispo¬
sition handle, ganz besonders zu betonen.
Die tierexperimentelle Forschung hat uns in unzwei¬
deutigster Weise darüber belehrt, wie die Empfänglichkeit
einer und derselben Tierrasse für die Impfung mit Krebs
je nach den örtlichen und sonstigen äußeren Verhältnissen
wechselt. Und aus der Menschenpathologie wissen wir nicht
minder, daß Angehörige einer gegen Krebs fast immun schei¬
nenden Menschenrasse, wenn sie ihre Heimat verlassen
und anderweitig ihr Domizil aufschlagen, mit demselben,
wenn nicht einem] höheren Prozentsatz an der Krebsmorbi¬
dität ihres neuen Wohnortes partizipieren. An der schwarzen
Bevölkerung Amerikas, sowie den dort ansässigen Chi¬
nesen im Gegensatz zu den afrikanischen Negern und den
asiatischen Chinesen, ist dies mit aller Deutlichkeit zu er¬
weisen.
Solche Erfahrungen sind in hohem Grade geeignet,
die Bedeutung äußerer Lebensverhältnisse für den Ablauf
der Lebenstätigkeiten und für die Ausbildung jener kon¬
stitutionellen Momente in das richtige Licht zu stellen,
welche die Disposition zur Erkrankung an Krebs zu erhöhen
vermögen.
Für diese Auffassung spricht gewiß auch — wie aus
den bisherigen Statistiken hervorzugehen scheint — das
in manchen Gegenden gehäufte und prävalierende Vorkom¬
men der krebsigen Erkrankung bestimmter Organe, ander¬
seits auch die Unterschiede des Geschlechtes in der Häu¬
figkeit des Karzinoms bestimmter Organe.
*
bür die Entwicklung der Krebskrankheit kommen
angeborene und erworbene Zustände in Betracht. Innere Mo¬
mente der Organisation konkurrieren mit äußeren Anlässen.
Konstitutionelle Zustände, die aus dem Ablauf der Wachs¬
tums- und Regenerations Vorgänge der Gewebe und Organe
sich ergeben, neben solchen, die dem Einflüsse der äußeren
Lebensverhältnisse auf den Ablauf der Lebenstätigkeiten
zuzuschreiben sind. Wir kennen das Nacheinander der
Erscheinungen, was wir aber nicht kennen, das ist das
eigentliche Wesen der Vorgänge und ihre gegenseitige Be¬
dingtheit.
Bekannt sind uns lediglich eine Reihe von inneren
Zuständen und äußeren Verhältnissen, welche an und für
sich, namentlich aber durch ihr Ineinanderwirken, das¬
jenige ausbilden, -was wir die Disposition nennen, das heißt
eine Reihe von Faktoren, welche wir erfahrungsgemäß für
geeignet halten, jene Wandlung in den biologischen Zustän¬
den von Zellen und Geweben herbeizuführen, welche ihr
Proliferationsvermögen zu einem schrankenlos aggressiven
umgestaltet.
Diesem zunächst empirischen Begriff der Disposition
eine objektive Grundlage zu verschaffen, ihn in seine realen
Komponenten aufzulösen, darin liegt eines der verheißungs¬
vollsten Ziele der Krebsforschung.
Es ist hocherfreulich, daß wir heute schon diesem
Ziele um einen Schritt näher gekommen sind durch die
bedeutsame Entdeckung des Wiener Chemikers, Ernst
Freund, dem der Naclrweis gelungen ist, daß das Serum
Gesunder die Krebszellen zerstört, während das Serum
Krebskranker sie nahezu vollkommen unverändert läßt.
Freund ging dabei von der immer wieder bestätigten
Erfahrung aus, daß bei der Weiterimpfung des Tierkrebses
unter sonst völlig gleichen Bedingungen immer nur einzelne
Tiere derselben Art sich als wirklich aufnahmsfähig er
wiesen.
Es kann an dieser Stelle an eine nähere Erörterung
dieses wichtigen Fundes nicht eingegangen werden. Seine
Bedeutung liegt namentlich darin, daß zum ersten Male
in einwandfreier Weise in Verfolgung des Krebsproblems
ein biochemischer Prozeß eigener Art aufgedeckt wurde,
der allem Anscheine nach in einer bestimmten kausalen
Beziehung zur Entwicklung der Krebskrankheit zu
bringen ist.
Diese und ähnliche Befunde sind deshalb von beson¬
derem Werte, weil sie an Stelle von Vorstellungen
mit nicht determiniertem Inhalte uns den unmittel¬
baren Einblick in Vorgänge ermöglichen, die ebenso
durch vorausgegangene bedingt sind, wie sie selbst die
Veranlassung von weiteren sein müssen. Indem uns so ein
Glied aus der Kette der Erscheinungen gleichsam in die
Hand gegeben wird, eröffnet sich die Aussicht in weiterer
Analyse der Vorgänge schließlich einer ganzen Reihe von
Gliedern, einer geschlossenen Ivette von Vorgängen habhaft. zu
werden, was für die naturwissenschaftliche Forschung mit
der geschlossenen Ivette der Kausalität gleichbedeutend ist.
Das sind die Wege, auf denen vielleicht das Ziel zu er¬
reichen ist, um es auch auf dem Gebiete des Krebsproblems
— nach Goethes Worten — „der Natur abzumerken, wie sie
gesetzlich zu Werke geht, um lebendiges Gebild als Muster
alles künstlichen hervorzubringen“. Mit diesen Worten hat
schon jener Uebergroße, dem die „heiligen Rätsel“ der
Natur so sehr am Herzen lagen, in seiner Weise eigentlich
das ganze Programm der biologischen Forschung gekenn¬
zeichnet. Auch das Krebsproblem hat ihr schon manche
Förderung zu verdanken; es erwartet von ihr jede weitere
Entwicklung.
Möge es der Oesterreichischen Krebsgesellschaft ver¬
gönnt sein, durch werktätiges Interesse für diese Forschungs¬
richtung kräftig beizutragen zur Lösung einer Frage,
welche so tief in unsere sozialen Verhältnisse eingreift.
Der griechische Weise könnte leicht im Gedanken an die
Krebskrankheif die Warnung ausgesprochen haben, jeman-
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, mi.
355
den vor dem Tode glücklich zu preisen. Denn ein qual¬
voller Lebensabend verdüstert auch die schönsten Erinne¬
rungen eines noch so reichen und sonnigen Daseins.
Die aller Orten ins Leben gerufenen Vereinigungen
zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit sind
der Ausdruck eines regen sozialen Solidaritätsgefühls gegen¬
über einem überall fühlbaren Notstände. Ein Zug von
zuversichtlichem Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der
modernen medizinischen Forschung geht durch die Welt
und bisher nur in nebelhafter Ferne sichtbare Ziele er¬
scheinen im Hinblick auf schon Erreichtes in absehbare
Nähe gerückt.
I Freilich! Auch ein noch so großes Aufgebot von
Mitteln und Kräften — wer wollte sich darüber täuschen ! —
verschafft noch nicht die Gewähr, ein in so tiefes Dunkel
gehülltes Problem1, wie das der kausalen Genese der Krebs¬
krankheit, zur Lösung zu bringen. Die Erkenntnis läßt sich
nicht erzwingen. Aber schon dem Aufklärungsdienste, der
eine auf dieses Ziel gerichtete, kräftig geförderte syste¬
matische Forscherarbeit zu leisten berufen ist, kann mit
froher Erwartung entgegengesehen werden. Denn jeder hie¬
bei und hiedurch gewonnene, noch so unscheinbare neue
wissenschaftliche Fund kann den Keim einer die Menschheit
beglückenden Wohltat bergen.
OEFFENTLICHE GESUNDHEITSPFLEGE.
Sozialärztliche Revue.
Von Dr. L. Sofer.
Zur gerechten Beurteilung der heimischen Verhältnisse auf
sozialärztlichem Gebiete ist es sehr heilsam, wenn wir uns über
die Vorgänge auf diesem Gebiete im Auslande unterrichten; wir
sehen dann, worin wir vor und worin wir zurück sind, was von
den ausländischen Einrichtungen für uns paßt und was nicht.
England, das in seiner politischen und industriellen Ent¬
wicklung den Kontinent bei weitem überflügelt hat, zeigt im
krassen Widerspruche damit einige Rückständigkeiten auf dem Ge¬
biete des sozialen Versicherungswesens. Die von dem jetzigen
Schatzkanzler eingeführten neuen Steuern sollen endlich die Mittel
für eine Kranken- und Invalidenversicherung liefern, die Gro߬
britannien auf diesem Gebiete auf gleiche Stufe mit den anderen
Industriestaaten bringen soll. Als die Idee der staatlichen Zwangs¬
versicherung zuerst auftauchte, gaben sowohl die Gewerkschaften,
wie auch die zahlreichen großen freiwilligen Kranken- und Unter-
stützungskassen der Regierung zu verstehen, daß irgendeine Or¬
ganisationsart, die ihnen Konkurrenz mache-, mit ihrem Wider¬
stand rechnen müsse. Die Behörden setzten sich daher mit diesen
Organisationen in Verbindung und beirieten über die Mittel, wie
sich die widerstreitenden Interessen versöhnen lassen könnten.
Die Beratungen sind noch nicht abgeschlossen; aber einige Haupt¬
punkte des Kompromisses sind bereits bekannt geworden. Die
Versicherung soll alle- arbeitenden Personen umfassen, deren Jahres¬
einkommen weniger als das einkom'mensteuerpflichtige Einkommen
(160 Pf. St., d. i. 3750 K) beträgt. Die Zahl dieser Personen
schätzt der Minister auf 13 Millionen. Die Versicherungspflicht
besteht vom 16. bis zum 70. Lebensjahre. Der Verwaltungsapparat
soll aus den bestehenden freiwilligen Unterstützungskassen
(Friendly Society) gebildet werden, so daß jede versicherungs¬
pflichtige Person Mitglied einer der schon bestehenden und von
der Regierung anerkannten Kasse werden muß. Als niedrigste
W o chenun ter s tützuhg sollen 5 Schilling, d. i. ca. 6 K, festgesetzt
U’ erden. Die Beiträge sollen zur Hälfte vom Arbeiter aufgebracht
werden; die andere Hälfte soll zu gleichen Teilen vom Staate
und dem Arbeitgeber bezahlt werden. Der Staat garantiert dieses
Minimum; die Arbeitgeber werden auch zur Beitragsleistung heran¬
gezogen. Die Eintreibung der Beträge geschieht in der Weise, daß
der Arbeitgeber die Beiträge der Arbeiter vom Lohne abzieht
und sie samt seinem Beitrag an den Staat abführt, der das Geld
der Gesellschaft überweist. Arbeiter, die schon bei einer der be¬
stehenden Kassen bis zur Höhe des Minimalsatzes versichert
sind, brauchen keine Beiträge vom Lohne zu zahlen. Der Arbeit¬
geber aber muß seinen Beitrag für sie abführen. Höhere Beiträge
mit -entsprechenden Gegenleistungen sind für die Arbeiter fakul¬
tativ. Die Gesellschaften müssen die für die staatliche Versiehe- 1
rung bestimmten Gelder getrennt von ihren sonstigen Fonds ver¬
walten und stehen in betreff der staatlichen Versicherung unter
Regierungskontrolle. Ein Zentralverwaltungsapparat, dem Ver¬
treter der Regierung, der Friendly Society und der Arbeitgeber
angehören, soll die ganze Institution überwachen.
Bei Beurteilung dieses Planes darf man in Hinblick auf
unsere Verhältnisse nicht vergessen, daß es in England eine natio¬
nale Frage (abgesehen von den Iren) nicht gibt und auch die
Klassengegensätze nicht so ausgeprägt sind, wie bei uns. Zu be¬
fürchten ist aber, daß die Einführung des Projektes in dieser Form
eine Schädigung des Standes bedeuten wird — wie bei uns.
Blicken wir jetzt nach dem Deutschen Reiche. Wenn
auf irgendeinem Gebiete, ist auf diesem Deutschland maßgebend.
Das alte Wort: Germania docet, kommt zu neuen Ehren. Man
gewinnt ein Urteil über die Entwicklung des sozialen Versiche¬
rungswesens, wenn man z. B. den Geschäftsbericht des
Reichs v ersiche-rungsamtes für das Jahr 1910 best. Da¬
nach belief sich die Zahl der im Berichtsjahre angemeldeten Un¬
fälle auf 675.905, die der erstmalig Entschädigten auf 132. 718.
Die im Jahre 1910 verausgabten Entschädigungen (Renten usw.)
betrugen 165-3 Millionen Mark gegen 161-3 Millionen im Jahre
1909, 157-1 Millionen .im Jahre 1908, 150-3 Millionen im Jahre
1907. Entschädigungen wurden 1910 gezahlt oder angewiesen
an 915.968 Verletzte, 88.071 Witwen und Witwer Getöteter,
113.660 Kinder und Enkel Getöteter und 4377 Verwandte auf¬
steigender Linie. Daneben erhielten 14.650 Frauen und Männer,
32.338 Kinder und Enkel und 244 Verwandte als Angehörige von
Verletzten, die in Heilanstalten untergebracht waren, die gesetz¬
lichen Unterstützungen, so daß im Berichtsjahre zusammen
1,169.308 Personen Bezüge zugeflossen sind. Die Entschädigungen
aus der I n v a 1 i d en v er s i ch e tu n g werden sich 1910 einschlie߬
lich des Reichszuschusses auf etwa 196 Millionen belaufen. Seit
dem Bestehen der Invalidenversicherung wurden Entschädigungen
im Betrage von 1.871,606.656 Mark bezahlt. Das Vermögen
der Versicherungsträger wird auf 1660 Millionen Mark ange-
wachsen sein. Dieses wird gegen mäßige Verzinsung zur Errich¬
tung /von Heilanstalten, Rekonvaleszentenhäusern, Tuberkulose-
anstalten, gemeinnützigen Wohnungsbauten usw. verliehen.
Eine gewisse- Rückständigkeit zeigt nur der Hinterblie¬
benen -Versicherungsfonds. Der § 15 des Zolltarifgesetzes
von 1909 bestimmte, daß, falls einige landwirtschaftliche Zölle
Mehrerträge- über den Durchschnitt bestimmter Jahre erbringen,
sie zur Erleichterung der Durchführung der Witwen- und Waisen¬
versorgung zu verwenden sind. Bis zum Inkrafttreten des Hinter¬
bliebenenversicherungsgesetzes sollen diese Mehrerträgnisse einem
Fonds zugeführt werden. Weiters sollten alle die Erträgnisse,
wenn das Gesetz bis zum 1. Jänner 1 910-in Kraft treten würde, den
Invalidemversicherungsanstalten zur Einführung einer eigenen
Hinterbliebenenversicherung zugeführt werden. Der Termin wurde
dann auf den 1. April 1911 verlegt. Seine nochmalige Abänderung
steht bevor. Es ist nämlich nur einmal (1907) ein Betrag von
etwa 42V2 Millionen Mark eingelegt worden. Sonst wurde der
Fonds nicht bereichert, weil die betreffenden Zölle eben ‘nicht die
erwarteten Mehrerträgniss-e lieferten. Man will nun bei der eben im
Zuge befindlichen Reform des Reichsversicherungsgesetzes den
§ 15 aulheben und an seine- Stelle Zuschüsse des Reiches treten
lassen, für die Zeit, wenn der vorhandene Fonds, der heute
auf ca. 50 Millionen Mark angewachsen ist, aufgebraucht ist.
Eine- weitere Aenderung, die bei uns allgemeines Interesse,
aber wohl nur vereinzelte Zustimmung finden wird, betrifft die
Frage der Zulassung von Zah ntöchnike-rn zur Kassen¬
behandlung. Nach der Regierungsvorlage sollen , .geeignete“ Zahn¬
techniker, Heildiener und Heilgehilfen zugelassen werden, wo
im Bezirke eines Versicherun-gsträgers nicht genug Zahnärzte
vorhanden sind, die zu angemessenen (sic!) Bedingungen die Be¬
handlung übernehmen. Die parlamentarische Kommission hat in
erster Lesung Zahntechniker auch ohne diese Einschränkung zu¬
lassen wollen, außer bei Mund- und Kieferkrankheiten. In zweiter
L-e-sung wurde folgende Fassung des betreffenden Paragraphen be¬
schlossen : Boi Zahnkrankheiten, mit Ausschluß von Mund- und
Kieferkrankheiten, kann die Behandlung außer durch Zahnärzte
mit Zustimmung der Versicherten auch durch Zahn¬
techniker erfolgen. Welche Anforderungen für die Zulassung als
Zahntechniker zu stellen sind, wird durch Verordnung der obersten
Verwaltungsbehörde bestimmt.. Sie kann auch bestimmen, unter
welchen Voraussetzungen auch Heildiener und Heilgehilfen ( ! )
bei Zahnkrankheiten Hilfe leisten können.
Das ist die Folge der in Deutschland bestehenden Kurier¬
freiheit; da dürfen wir uns in die- Brust werfen und sagen:
„Wir sind doch bessere Menschen.“
Man hat aber auch in Deutschland erkannt, daß diese Ver¬
hältnisse- auf die Dauer unhaltbar sind und zu den schlimmsten
Auswüchsen führen. Die- Regierung hat sich daher entschlössen.
356
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
ein Kurpfus chereig ©setz im Parlamente einzubringen. An
dem Prinzipe der Kurierfreiheit hält sie leider weiter fest; sie
will aber eine Anzeigepflicht für alle, die sich gewerbemäßig mit
der Behandlung von Krankheiten befassen, einführen. Aber auch
diese kleine Einschränkung wurde durch einen Zentrums an trag
verschlechtert, der besagte, daß als gewerbemäßig im Sinne des
Gesetzes eine Behandlung nicht anzusehen ist, wenn der dafür
entrichtete Betrag entsprechend der Erklärung des Behandelnden
ausschließlich und nachweisbar für wohltätige Zwecke Verwen¬
dung findet. Es wurde zur Begründung auf den Pfarrer Kneipp
hingewiesen. Der Antrag wurde angenommen; dagegen wurde ein
Antrag auf Verstaatlichung des Aerztestandes abgelehnt.
Das internationale Komitee für das ärztliche Fort¬
bildungswesen in Berlin beschäftigt sich jetzt erstens mit
der Organisation einer Einrichtung, die der schon bestehenden
ärztlichen Auskunftei im Kaiserin -Friedrich -Hause das Material
verschaffen soll, um den Aerzten über die Gelegenheit zur Fort¬
bildung in sämtlichen Kulturstaaten jederzeit unentgeltliche Aus¬
kunft geben zu können. Die Einrichtung soll eine ständige sein ;
deshalb werden die notwendigen Recherchen in regelmäßigen
Pausen von einem Halbjahr angestellt. Die zweite Aufgabe bildet
der Plan einer Sammelforschung auf dem Gebiete des medizini¬
schen Universitätsunterrichtes und betrifft folgende Gebiete: 1. Den
akademischen Universitätsunterricht; 2. das ärztliche Fortbildungs¬
wesen ; 3. ärztliches Lehrmittelwesen.
Dieses Jahr soll auch ein Plan verwirklicht werden, der
etwas vollkommen Neues beinhaltet, nämlich die Errichtung einer
Keuchhustenkolonie. Die preußische Medizinalbehörde will
in irgendeinem Seebade eine Kolonie für keuchhustenkranke
Kinder errichten. Diese Maßnahme hat sich als notwendig heraus¬
gestellt, da sehr viele der kranken Kinder auf ärztliche Verord¬
nung in ein Seebad geschickt, dort aber nicht aufgenommen
werden. Da der Keuchhusten die verbreitetste Kinderkrankheit
ist, der in Preußen jährlich etwa 14.000 Kinder im Alter von
einem bis zwei Jahren zum Opfer fallen, so will die Regierung
die Idee, zu der sie etwa 300.000 Mark benötigt, verwirklichen;
sie rechnet dabei auf die private Wohltätigkeit.
Die französische Regierung hat die Regierungen der
fremden Staaten eingeladen, im Mai 1911 in Paris eine Gesund¬
heitskonferenz abzuhalten. Durch das Auftreten der Cholera in
Europa und der Lungenpest in der Mandschurei ist eine neue
Beratung notwendig geworden. Der ständige Ausschuß des inter¬
nationalen Gesundheitsamtes tritt am 8. März zur Beratung des
der Konferenz vorzulegenden Materiales zusammen.
Von dem reich entwickelten sozialen Versicherungswesen
Deutschlands stechen die Verhältnisse anderer Länder sehr ab,
doch sind gerade jetzt zwei Länder, in denen noch die primi¬
tiven Grundlagen fehlen, beflissen, wenigstens den Anfang zu
machen. Aus Bulgarien werden derartige Bestrebungen ge¬
meldet: man will sogar ein eigenes1 Ministerium für öffentliche
Gesundheitspflege errichten. Dann ist in Bare elo na ein soziales
Museum eröffnet worden, das den Aushau des in Spanien gering
entwickelten Arbeiterschutzes anregen will. Das - Museum ist in
vier Sälen eines ehemaligen Fabriksgebäudes untergebracht, von
denen je einer dem Erziehungs- und Armenwesen, den Arbeiter-
und Lohnverhältnissen, der gewerblichen Hygiene, sowie der
Unfallverhütung gewidmet ist.
lRe f^.rate.
Pathologie und Therapie der Rachenkrankheiten.
Von A. Rosenberg.
Aus dec speziellen Pathologie und Therapie von weil. H. Noth nage
und fortredigiert von L. v. Frankl -Hochwart.
160 Seiten.
Wien und Leipzig 1911, Holder.
In dieser knappen Darstellung der Pathologie und Therapie
der Rachenkrankheiten nimmt der allgemeine Teil einen relativ
breiten Raum, nämlich 50 Seiten, ein u. zw*, mit Recht, einmal,
weil da, wie der Autor betont, der Zusammenhang der Spezial¬
disziplin mit der Gesamtmedizin am deutlichsten zum Ausdruck
kommt, dann, weil die genaue Kenntnis desselben das Verständnis
des speziellen Teiles sehr erleichtert und schließlich, weil lästige
Wiederholungen leichter vermieden werden. Im speziellen Teile,
der 110 Seiten umfaßt, sind einzelne besondere! wichtige Kapitel,
wie die adenoiden Vegetationen und ihre Behandlung, die akuten
und chronischen Erkrankungen der Gaumenmandeln, ausführlicher
besprochen. Es berührt angenehm, daß der Verfasser, trotz ge¬
drängter Darstellung, deren er sich befleißigt, auch einzelne noch
zur Diskussion stehende Fragen streift.
Bei der operativen Entfernung der adenoiden Wucherungen
vermeidet Rosenberg möglichst die Narkose, da man, wie
er sagt, die Operation, wenn man sie beherrscht und die Kinder
in richtiger Weise fixieren läßt, ebenso sicher und sorgfältig
auch ohne Betäubung ausführen kann. Ref. befindet sich auch
hierin mit dem Autor in vollster Uebereinstimmung. Ferner meint
er, daß eine Narkose doch immer eine gewisse Gefahr invol¬
viere; nur bei größeren, kräftigen und widerspenstigen Kindern
soll von Bromäther, einer halben Chloroformnarkose oder Aether-
rau.se h Gebrauch gemacht werden. Mit Genugtuung konstatiert
ferner Ref., daß auch der Verfasser die Enukleation der Gaumen¬
mandeln nur für gewisse Fälle reserviert wissen will. Es wird
hervorgehobeln, daß die Anwesenheit des Bacillus fusiformis und
der Spirillen allein kein stringenter Beweis für die Angina Vincenti
sei. Den Lupus deis Rachens bespricht der Autor gesondert
von der Tuberkulose wegen des sehr verschiedenen klinischen
Verlaufes und der ganz verschiedenen objektiven Erscheinungen
und subjektiven Symptome.
Das durch glänzende Ausstattung ausgezeichnete und mit
50 Abbildungen versehene Werkchen sei hiemit denn praktischen
Arzte bestens empfohlen.
*
The voice.
Von W. H. Aikin.
An introduction to practical Phonology with Diagrams.
159 Seiten.
New York, Bombay u. Calcutta 1910, Longmans, Green & Co.
Vor zehn Jahren ungefähr hat Aikin in einer Monographie,
betitelt „The voice its physiology and cultivation“, auf dem
Boden der Physiologie fußend,, versucht, den praktischen Gesangs¬
unterricht zu beeinflussen und denselben auf eine wissenschaft¬
liche Grundlage zu stellen. Auch in dem vorliegenden, mit großer
Sachkenntnis geschriebenen Buche, sehen wir dieses Prinzip ver¬
treten und breiter ausgeführt. Der Verfasser bespricht vorerst die
Elemente der Tonbildung, das Windrohr, den Kehlkopf, das Ansatz¬
rohr, ohne sich zu sehr in anatomische Details zu vertiefen, dann
den Mechanismus der Atmung, die Resonanz, die Bildung der
Vokale und Konsonanten und gibt namentlich ' Methoden und
Hebungen an, die er beim Studium der Tonbildung und Atem-
luhrung für zweckmäßig hält. Einerseits appelliert er mm in
dieser Monographie an die Gesangslehrer, wie überhaupt an alle,
deren Aufgabe es ist, Berufsredner und Sänger heranzubilden
und anderseits an die Physiologen und meint, die Phonologie
allein sei für jede Sprache besonders bearbeitet — imstande,
dem Sprach- und Gesangsunterricht eine sichere Grundlage zu
geben. Wir können hier nicht auf Einzelheiten näher eingeben
und verweisen auf das Original.
Es ist möglich, daß es dereinst gelingen wird, Gesangsunter¬
richt, von physiologischen Grundsätzen ausgehend, zu erteilen.
Vorderhand werden jedoch die Gesangslehrer hiebei das Haupt¬
gewicht noch auf ein gutes Nachahmungsvermögen und ein feines
kritisches Gehör seitens des Schülers legen müssen. Es wird
allerdings stets unser Bestreben sein, den Gesangsunterricht auf
eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen, daher ist jeder Ver¬
such hiezu freundlichst zu begrüßen, besonders, wenn dies in
so sachverständiger Weise der Fall ist, wie hier. L. R6thi.
*
Die Kopulation der Netzhaut mit der Aderhaut durch
Kontaktverbindung zwischen Sinnesepithel und Pigment¬
epithel.
Von Dr. R. Halben, Privatdozent in Greifswald.
Berlin 1910, S. Karger.
Die geläufige Vorstellung, die Netzhaut liege der Aderhaut
nur an und sie sei nur am Rande und am Sehnerven an diese
befestigt, entspricht nach Hal ban nicht der Wirklichkeit. Da¬
durch, daß die Stäbchenaußenglieder und die Pigmentfortsätze
ineinander greifen, ist eine bedeutende Vergrößerung der Ober¬
fläche gegeben, die der Verfasser auf das fiOfache des ganzen
Netzhautareales berechnet. Schon dadurch müsse eine festere
Haftung der Netzhaut an der Unterlage gegeben sein; vielleicht
Nr. 10
357
WIENER KLINISCHE
aber kämen noch andere Momente hinzu: Das ist die Kopulation
der Netzhaut mit der Aderhaut.
Es ist nur eine Konsequenz dieser Vorstellung, daß der
Autor die Hauptursache der Netzhautablösung in einer primären
Lockerung dieser Kopulation sucht. Dann erst könnten die in
den herrschenden Theorien der Netzhautablösung namhaft ge¬
machten Kräfte in Wirksamkeit treten. Soweit kann man jeden¬
falls den Ansichten des Verfassers völlig beipflichten. Die wei¬
teren Andeutungen über das Zustandekommen dieser primären
Lockerung bewegen sich ausschließlich im Gebiete der Hypothese
und es wird Aufgabe des Experimentes und der weiteren patho¬
logisch-anatomischen und klinischen Forschung sein, sie auf
ihre Zulässigkeit zu prüfen. Die Erfolge der Therapie dieses
trostlosen Leidens sind, so gut sie auch im Einzelfalle sein
mögen, noch viel zu selten, als daß man daraus Schlüsse auf
die Entstehung der Ablösung ziehen könnte.
5k
Das künstliche Auge.
Von Friedrich A. und Albert C. Müller.
Wiesbaden 1910, J. F. Bergmann.
Es ist eine zunächst für Laien, das heißt Patienten, be¬
stimmte Schrift, die das Wichtigste über die Formen und die
Anwendbarkeit künstlicher Augen bringt und ihre Handhabung
erläutert. Zahlreiche nach Photographien hergestellte Abbildun¬
gen zeigen die hervorragenden Leistungen der Firma F. Ad. Müller
Söhne, um deren Erzeugnisse und Erfindungen sich das ganze
dreht. Es soll nicht bestritten werden, daß die Verfasser in der
Tat das Beste leisten, was auf diesem Gebiete zurzeit geleistet
werden kann, aber die vorliegende Schrift ist trotz allen histo¬
rischen Aufputzes und der Abschweifungen ins Gebiet der Augen¬
heilkunde, eine gewöhnliche Geschäftsreklame.
*
Die mikroskopischen Untersuehungsmethoden des Auges.
Von Dr. S. Seligniann, Hamburg.
Zweite, gänzlich umgearbeitete und erweiterte Auflage.
Berlin 1911, S. Karger.
In den 13 Jahren, die seit dem Erscheinen der ersten Auf¬
lage dieses Buches verflossen sind, hat die mikroskopische Tech¬
nik so viele Fortschritte gemacht, daß der Umfang des Buches
beträchtlich vergrößert werden mußte. Der Verfasser hat sorg¬
fältig alle Neuerungen aufgenommen ; es seien nur beispielsweise
genannt: die Zelloidintrockenrnethode, die vitale Färbung, die
neuen Färbungen auf Fett und Glykogen, die Hel »Ische Proto¬
plasmafärbung, die Darstellung der Neurofibrillen, die Methoden
zur Färbung der elastischen Fasern der Hornhaut und viele
andere, denn es gibt kaum eine Methode, die nicht wenigstens
irgendwelche Modifikation erfahren hätte. Auch auf vergleichend-
anatomische Details ist der Verfasser vielfach eingegangen.
So stellt sich denn diese- zweite Auflage als ein auf der
Höbe der Zeit, stehendes Buch dar, das niemand entbehren kann,
der sich mit normaler oder pathologischer Anatomie des Auges
beschäftigt.
*
Lehrbuch der Augenheilkunde in der Form klinischer
Besprechungen.
Von Prof. Paul Römer, Greifswald.
Berlin und Wien 1910, Urban und Schwarzenberg.
Es war nicht anders zu erwarten, als daß aus der Hand
Römers ein Lehrbuch hervorgehen mußte, das die Augenheil¬
kunde vom Standpunkte der Bakteriologie, der Serumtherapie
und der Immunitätsforschung behandelt und die Widmung des
Buches an Ehrlich ist nur das äußere Zeichen für die Richtung,
zu der sich der Verfasser bekennt. Diese modernsten Errungen¬
schaften der Augenheilkunde in den Vordergrund gestellt zu
haben, verleiht dem Buche einen besonderen Wert; wir finden
hier zum ersten Male unter den Lehrbüchern unserer Disziplin
eine ausführliche Darstellung der Komplementbindungsreaktion
bei Lues, eine Würdigung der Serumtherapie bei Ulcus serpens
und der Tuberkulintherapie, eingehende Erörterungen der Er¬
nährung der Linse, des Flüssigkeitswechsels im Auge usw. Es
liegt freilich in der Natur der Sache, daß hiebei dem Leser sehr
viel Theoretisches und Hypothetisches vorgetragen wird und cs
WOCHENSCHRIFT. 1911.
will dem Referenten scheinen, als ob der Forscher mehr zum
Worte gekommen sei, als für den Studenten gut ist.
Der Verfasser hat die Form klinischer Vorlesungen ge
wählt und dadurch der Diktion eine Flüssigkeit verliehen, die
von der trockenen Aufzählung der Krankheilssymptome und Be¬
handlungsmethoden anderer Lehrbücher wohltuend absticht. Aber
es kommen dadurch auch eine Menge Weitschweifigkeiten hinein,
die zwar im wirklichen Vortrage nützlich oder selbst notwendig
sind, hei der Lektüre hingegen überflüssig und zwecklos er¬
scheinen und überdies den Umfang des Buches ungebührlich
erweitern. In der Tat ist das Buch Römers das gewichtigste
von allen Lehrbüchern der Augenheilkunde geworden.
Die Schilderung der einzelnen Krankheitsformen knüpft an
konkrete Fälle an; im Gange- der Untersuchung sind die wich¬
tigsten sich aufdrängenden Fragen besonders hervorgehoben, doch
hätte die Charakteristik der verschiedenen Krankheitsformen etwas
prägnanter sein können. Einige Ansätze hiezu in Form übersicht¬
licher Tabellen sind allerdings vorhanden. An Abbildungen ist
nicht gespart worden; wir finden hier wieder die alltäglichsten
Handgriffe bei der Untersuchung und Behandlung im Bilde fest-
gehalten, sowie zahlreiche Photogramme und farbige Abbildungen
äußerer Erkrankungen des Auges und seiner Anhänge. Die patho¬
logische Anatomie ist hingegen ziemlich stiefmütterlich behan¬
delt und Augenspiegelbilder fehlen gänzlich.
Wie die moderne Augenheilkunde überhaupt, hat sich der
Verfasser besonders die Pflege der Grenzgebiete angelegen sein
lassen, so ist z. B. die Diagnostik der Hirntumoren und Meningitis-
formen vom Standpunkte des Okulisten sehr ausführlich bearbeitet.
An Reichtum des Inhaltes in Hinsicht auf reine Augenverände¬
rungen kann sich aber das Buch Römers nicht mit dem von
Fuchs messen.
Denn auch der Lehrer selbst lernt durch das Lehren und
erst, durch dieses Zusammenarbeiten von Lehrer und Schüler
gewinnt ein Lehrbuch seine volle Brauchbarkeit.
*
Untersuchung der Pupille und der Irisbewegungen
beim Menschen.
Von Dr. Karl Weiler, Assistent der königl. psychiatrischen Klinik in
München.
Sonderabdruck aus Zeitschr. für die ges. Neurologie und Psychiatrie.
Berlin 1910, J. Springer.
Der von Weiler konstruierte Apparat erlaubt .zunächst
die Intensität der Beleuchtung entsprechend abzustufen; zur Mes¬
sung selbst dient ein transparentes Meßinstrument, dessen Bild
durch eine uni 45° geneigte Platte an den Ort der Pupille
projiziert wird. Die Beobachtung erfolgt durch eine Art von
Brückescher Lupe. Einrichtungen zur Erzeugung beliebiger
Konvergenz, zur Messung des zeitlichen Ablaufes der Pupillen¬
phänomene und zur Photographie vervollständigen den Apparat.
Sogar Kinematogramme der Pupillenbewegungen wurden aufge-
nomrnen.
Mit solcher Methode durchge-führte Untersuchungen ver¬
dienen jedenfalls mehr Vertrauen als die Ergebnisse früherer,
mit unvollkommener Technik gemachter Untersuchungen und wenn
Weiler nicht imstande» war, völlig neue Tatsachen aufzudecken,
so ist doch unsere Kenntnis der Pupillenphänomene durch ihn
beträchtlich vertieft und in manchen Punkten korrigiert worden.
Es ist nicht möglich, hier auf die tatsächlichen Ergebnisse
der Arbeit genauer einzugehen; nur einiges sei herausgegriffen.
Bach hatte in seine»r Pupillenlehre angegeben, daß die direkte
Lichtreaktion über die kon sensuelle überwiege. Diese, unseren
früheren Anschauungen zuwiderlaufende und daher mit berech¬
tigtem Zweifel aufgenommene Angabe stellt sich nach Weiler
als ein seltener Ausnahmsfall heraus. Den Haabschen Hirn¬
rindenreflex konnte Weiler niemals nach weisen. Sehr bemer¬
kenswert erscheint die Feststellung, wie sich der Beginn der
reflektorischen Starre gestaltet: Neben der allmählichen Abnahme
im Ausmaße und der Geschwindigkeit der Irisbewegung ist das
rasche Nachlassen des Iristonus und das Ausbleiben der „se¬
kundären Reaktion“ charakteristisch. Endlich sei noch auf die
kurzen und für diagnostische Zwecke- sehr brauchbaren Charak¬
teristiken verschiedener Erkrankungen des Zentralnervensystems
hingewiesen.
358
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
Lehrbuch der Augenheilkunde.
Von Dr. Theodor Axeufeld, Professor in Freiburg i. Br.
Zweite Auflage.
Jena 1910, G. Fischer.
Die Liste der Mitarbeiter dieses Lehrbuches weist drei
neue Namen auf: Stock, Hertel und 0 eil er. Der erste hat
die Erkrankungen der Tränenorgane, der zweite die Verletzungen
bearbeitet, während 0 eil er eine Reihe neuer ophthalmoskopi¬
scher Tafeln mit begleitendem Texte zur Verfügung gestellt hat.
Dadurch und durch die Ausführung dieser Bilder in Chromo¬
lithographie, ist eine empfindliche Schwäche der ersten Auflage
kompensiert worden. Die alten ophthalmoskopischen Bilder sind
zwar nicht ganz kassiert worden, sondern erscheinen mit Aus¬
nahme einiger ganz mißlungener als Textfiguren wieder, nicht
gerade zu ihrem Vorteile, denn der Vergleich mit den guten
OeTerschen Bildern läßt ihre Mängel nur um so deutlicher
hervortreten.
Plan und Durchführung des Werkes sind dieselben ge¬
blieben, die neuen Bearbeiter haben sich in der Anordnung und
Behandlung des Stoffes auch nicht allzuweit von ihren Vorgängern
entfernt. Auch in den übrigen Kapiteln sind keine eingreifenden
Aenderungen oder' wesentlichen Zusätze zu verzeichnen, ich darf
also wohl auf die Besprechung der ersten Auflage verweisen.’)
Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß das Papier
dieser Auflage sehr viel matter ist als das der ersten, ein, großer
Vorzug für das Lesen bei künstlicher Beleuchtung und daß die
Deutlichkeit der Abbildungen dadurch nicht gelitten hat.
*
Atlas der äußerlich sichtbaren Erkrankungen des Auges.
Von Prof. Dr. 0. Haal) in Zürich.
Vierte, vermehrte und verbesserte Auflage.
München 1910, Lehmanns Verlag.
Die. ophthalmologischen Atlanten von Ha ab bedürfen keiner
Empfehlung mehr; sie haben sich längst die ganze ophtbal-
mologische Welt erobert. Die neue, vierte Auflage-, weist aber¬
mals eine Vermehrung der Abbildungen, allerdings nur der
schwarzen auf; von diesen sei besonders eine Abbildung der
durch Risse- in der D es c em e t sehen Membran hervorgerufenen
Hornhauttrübungen erwähnt, ferner zwei Abbildungen der Hut¬
chinson sehen Zähne nach Photogrammen, Herpes zoster oph¬
thalmicus und einige andere Lid- und Orbitalaffektionen. Die far¬
bigen Tafeln haben gegen die letzte Auflage keine Vermehrung
erfahren. Ich muß indessen gestehen, daß mir die Ausführung
der farbigen Tafeln in der letzten (dritten) Auflage besser zu¬
gesagt hat, als in der vierten. Ein auffallendes Hervortreten
der blauen Töne- macht sich bei dieser störend bemerkbar.
Der Text hat manche durch den Fortschritt unserer Wissen¬
schaft bedingte Ergänzungen erfahren ; wir finden erwähnt : die
internationalen Sehproben, den Trachomerreger, die Bedeutung
der Wassermann sehen Untersuchung u. a.
So kann auch diese Auflage getrost ihren Weg in die
wissenschaftliche und studierende Welt antreten; sie wird ebenso
wie die früheren ihres Erfolges sicher sein.
Salznia n n.
*
Resultate und Probleme der Badischen Krebsstatistik.
Von Dr. ß. Werner.
29 Seiten.
Tübingen 1910, H. Laupp.
Das Büchlein ist in der Hauptsache nichts als ein kurzer
Auszug aus dem Buche des Verfassers: „Das Vorkommen des
Krebses in Baden“, dazu bestimmt, die Ergebnisse der weitläufigen
Untersuchungen Werners einem größeren Leserkreis© mund¬
gerecht zu machen. Ref. hat also diesmal nur auf die frühere
Besprechung des Buches hinzuweisen, um auch den Inhalt des
Büchleins kurz zu kennzeichnen. Siegfr. Rosenfeld.
’) Jahrgang 1909, Nr. 34, S. 1191.
Aus versehiedenen Zeitschriften.
243. Ueber die Wirkung von S a 1 v a r s a n bei Ma¬
laria. Von Prof. Jul. Iversen und Dr. M. Tuschinsky in
St. Petersburg. Den Verfassern standen 61 Fälle von Malaria zur
Verfügung, 24 Tertiana, 3 Quartana, 29 Tropika, 2 Tertiana
Tropika, 1 Quartana + Tropika, keine Plasmodien nachzuweisen
in 2 Fällen. Intravenös wurde gewöhnlich eine Dosis von 0-5,
subkutan (oder intramuskulär eine Dosis von 0-3 g injiziert..
Später wandten sie auch die kombinierte Methode an, das heißt
etwa zwei Tage nach der ersten intravenösen Einspritzung von
Salvarsan wurde noch eine intramuskuläre Injektion in alkalischer
Lösung oder eine subkutane nach Wechsel mann gemacht.
Ein Fall von schwerer toxischer Form bei einem 23jährigen
Manne kam sechs Stunden nach der Einführung von Salvarsan
(Infusion von 0-5 g) ad exitum. Anatomische Diagnose: Malaria,
akute Nephritis, Herzparalyse. Ihre Resultate fassen die Autoren
in folgenden Sätzen zusammen: Das Salvarsan, einmalig in einer
Dosis von 0-5 intravenös eingeführt, erweist eine spezifische
Wirkung auf alle Arten von Malariaparasiten. Bei der Tertiana
verschwinden die Parasiten in den meisten Fällen schon nach
12 bis 48 Stunden aus dem Blute, die Anfälle hören auf. Wie
anhaltend diese Wirkung ist, kann noch nicht gesagt werden.
Es ist ratsam, die intravenöse Einführung des Salvarsans mit
der intramuskulären zu kombinieren. Bei der Quartana ist die
Wirkung des Mittels nicht anhaltend, sogar bei einer Dosis von
0-S. Bei der tropischem Form kann bei Dosen von 0-5 und 0-8
nur -eine zeitweilige Befreiung des peripheren Blutes von den
ringförmigen Parasiten erreicht werden. Die Halbmondform ver¬
schwindet nicht, jedoch tritt zuweilen eine zeitweise Veränderung
ihrer Form und Färbung ein. In einigen Fällen von tropischer
Malaria trat nach einem zeitweiligen Sinken der Temperatur,
Verminderung oder völligem Verschwinden der Ringform, eine
deutliche Verschlimmerung des Zustandes ein, wobei im Blute
wieder massenweise Ringe und Halbmonde vorhanden waren. —
(Deutsche med. Wochenschrift 1911, Nr. 3.) E. F
*
S
244. Ueber Arterienrigidität im Kindesalter. Von
Priv.-Doz. Dr. Franz Hamburger, Abteilungsvorstand der Wiener
Poliklinik. Verf. macht seit Jahren die Beobachtung, daß schein¬
bar gesunde Kinder jenseits des siebenten Lebensjahres nicht
selten auffallend deutlich palpable Arterien haben. Die Arteria
radialis und temporalis fühlen sich oft direkt rigide , an. Normaler¬
weise soll man beim Kind und auch beim Erwachsenen nur den
Puls, also eine Bewegung, nicht aber die Arterienwand, also das
Bewegte-, palpieren können. Sowie man die Wand der Radialis
oder Temporalis palpieren kann, ist dies als etwas Abnormales
aufzufassen. Bei Kindern unter sechs Jahren sind die Arterien¬
wände- so zart, daß man sie nur selten palpieren kann. Jenseits
des Sechsteln und siebenten Lebensjahres findet man schon öfters
palpable Wände. Es zeigen sich jedoch solche Schwankungen
in der Rigidität, daß man sie nur auf 'den Tonus der Gefäßmusku¬
latur bezieheh kann. Auf diese Zustände hat man bisher nicht
geachtet. Verf. fand in der Literatur nur ähnliche Beobachtungen
bei Krehl. Doch be-ziehen sich diese nur auf jugendliche Per¬
sonen jenseits des 14. Lebensjahres. Auch Sch lay er hat darauf
hing-ewies-em und mit Fischer gezeigt, "daß es sich hiebei nicht
um sklerotische Veränderungen im Sinne der pathologischen Ana¬
tomen handelt. Eine genauere Beobachtung solcher Kinder er¬
gibt, daß -es sich meist um reizbare, erregbare Kinder handelt.
Sie- klagen über Kopfschmerz und Herzklopfen. Solche Kinder
zeigen gewöhnlich die Symptome erhöhter vasomotorischer Er¬
regbarkeit: plötzliches Erröten bei Freude, plötzliches Erblassen
bei Angst, Neigung zu kalten Händen und Füßen, zu Schweißen,
allgemeines Kältegefühl, mehr oder weniger starken Dermogra¬
phismus. Ferner findet man oft einen" Pulsus irregularis respira-
torius, d. h. Frequeote-rwerden während des Inspiriums, Lang-
samerwerden während des Exspiriums. Endlich findet man bei
solchen Kindern öfters lordotische Albuminurie, die nach An¬
sicht vieler Autoren auf einer Labilität der Vasomotoren beruht.
Verf. hebt hervor, daß dieser erhöhte Arterientonus sich oft zur
selben Zeit, einstellt, wie die nervösen Erscheinungen, nämlich
im Schulalter. Es scheint eben, daß die Schule mit den Folgen
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
359
geistiger Anstrengung und stärkerer psychischer Erregung ganz
besonders das Vasomotorensyysteni schädigt. Die Arterienrigidilät
bei chronisch Kranken hat mit den hier mitgeteilten Befunden
bei nervösen Kindern nichts zu tun. Verf. wollte mit diesen
Mitteilungen nur auf die relative Häufigkeit von Arterienrigidität
späteren Kindesalter hinweisen und den nervösen, resp. vaso¬
motorischen Charakter derselben feststellen. — (Münchener medi¬
zinische Wochenschrift 1911, Nr. 5.) G.
*
245. Motorische Schlafstörungen. Von Ernst Trüm¬
mer in Hamburg. Die von Trö miner vertretene Theorie des
Schlafes, welche besagt, daß der Schlaf eine allgemein,
waluschein lieh subkortikal (Thalamus opticus?) ausgelöste
Hemuiüng der Rindenfunktion ist, so daß während des
Schlafes n;ur zirkumskripte und verminderte Reaktionsfähig¬
keit besteht, ermöglicht eine Reihe- von Schlafstörungen nach
physiologischen ’Gesichtspunkten darzustellen, welche einer Disso¬
ziation der Rindenfunktionen entspringen. Wie die Träume lokale
Erregungen sensorischer Rindenfelder sind, so gibt es auch eine
Reihe von Schlafstörungen, welche umschriebene Erregung mo¬
torischer Rindenbezirke anzeigen. Am häufigsten ist das Schlaf¬
sprechen, welches gleichsam das Negativbild einer motorischen
Aphasie, ein Wachwerden des motorischen Komponenten von
Wortvorstell ungern ist. Nur bei gehäuftem Auftreten ist es neuro-
pathisch. 'Eher ist dies das seltenere Schlafwandeln, welches aber
trotz Aehnlichkeit mit epileptischen Dämmerzuständen kaum epi¬
leptische Grundlage hat. Der funktionelle Gegensatz des Schlaf¬
wandeins ist das gehemmte Erwachen (den sensorischen Gegensatz
zu Schlafsprecheh bilden Traumphänome), welches von Pfister
ein verzögertes psycho -motorisches Erwachen, von Trümmer
kataleptischer Halbschlaf genannt wird und ebensowenig epilep¬
tisch , «oder hysterisch zu sein braucht. Eine weitere Art von moto¬
rischen Schlafstörungen sind Zwangsbewegungen im Schlaf:
Schlaftic, Jactatio nocturna, woran nur Neuropathen u. zw. fast
nur Kinder bis zur Pubertätszeit leiden, lieber Sornato- und
Psychotherapie kommt als Heilmittel hypnotische Suggestion in
Frage, weiche den Schlaftic meist günstig beeinflußt (Nacht¬
wandeln läßt sich stets günstig durch Hypnose beeinflussen; bei
richtiger Anwendung hat hypnotische Behandlung absolut keine
Nachteile). Zu den motorischen Schlafstörungen gehören auch
verschiedene Reflexstörungen : Enuresis nocturna und Pollutionen,
welche nur außerhalb physiologischer Grenzen als pathologisch
anzusehen sind und dann sicher funktionelle Erkrankungen sind,
was durch die Heilbarkeit mittels hypnotischer Suggestion zu¬
meist erweislich ist. Die funktionelle Schwäche liegt aber weder
im Detrusor, noch im Sphinkter, sondern hat zwei Ursachen:
erstens reizbare Schwäche der sympathischen oder eventuell des
subkortikalen Miktionszentrums (vorderer Thalamuskern) und
zweitens die funktionelle Ausschaltung des Großhirnrindenein-
flusses im Schlaf (Enuresis nocturna — bei Enuresis diurna ist
die Aufmerksamkeit vollkommen nach. einer Richtung, zum Bei¬
spiel Spiel, abgelenkt). — (Fortschritte der' Medizin 1910, 28. Jahrg.,
Nr. 48.) K. S.
*
246. Erfolgreiche Behandlung von Chorea minor
mit Salvarsan. Von Hofrat Dr. Johann v. Bokay in Buda¬
pest. Bei einem achtjährigen Mädchen verschwand nach subku¬
taner Injektion von 0-20 g neutraler Arsenobenzolemulsion eine
genügend intensive, nach einjähriger Pause rezidivierende Chorea
minor — im Verlaufe von vier Wochen — ohne auch nur eine
Spur zu hinterlassen. An der Injektionsstelle entstand eine Haut¬
nekrose. Ein zweites, gleichaltriges choreatisches Mädchen bekam
Solut. Fowler i per os, bisher 178 Normaltropfen, ohne beson¬
deren Erfolg. Eine Erklärung der prompten Wirkung des Salv-
arsäns im ersten Falle wird nicht gegeben. — (Deutsche medizi¬
nische Wochenschrift 1911, Nr. 3.) F. 1.
* ('
247. (Aus der - kg 1 . Universitäts - Frauenklinik München. -
Direktor : Geh. Rat Prof. D ö der 1 e i n.) Der Pemphigus s y p h i-
liticus der Neugeborenen. Von Prof. Baisch, Oberarzt
der Klinik. Verf. berichtet über 13 Fälle von Pemphigus syphili¬
ticus auf rund 6000 Geburten. Bei einem im Dezember 1910 in
der Klinik geborenen Mädchen mit Pemphigus prüfte er das
Verhalten desselben gegenüber dem Salvarsan. Die Mutter, die
keine Zeichen von Syphilis an sich hatte, gab stark positive
W asserm an n sehe Reaktion und in den Pemphigusblasen des
Kindes fanden sich reichlich typische Spirochäten. Verf. injizierte
der Mutter noch am Abend der Geburt 0-4 g, Salvarsan in die linke
Kubitalvene. Die Mutter stillte das Kind vom vierten Tage ab.
Die Eruption der Pemphigus blasen hatte nicht zugenommen; die
bereits vorhandenen hatten sich nicht wesentlich geändert. Mit
dem siebeilten Tage traten jedoch zahlreiche neue Pemphigus¬
eruptionen auf, die eitrig waren. Es wurde daher 'am achten Tage
auch das Kind mit Salvarsan behandelt, zumal sich auch eine
schwere Rhinitis ausgebildet hatte. Es wurden 0-15 cm3 Salvarsan
in neutraler Emulsion in den rechten Glutäus injiziert. Das
Kind nahm auch in den nächsten Tagen nach der Injektion noch
an Gewicht ab. Allein der Einfluß derselben auf das Exanthem
war ein eklatanter. Die Blasen fingen schon am Tage nach der
Injektion an einzutrocknen, waren nach zwei weiteren Tagen
vollständig trocken und nirgends waren mehr Spirochäten nach¬
zuweisen. Auch die Rhinitis war am zweiten Tage vollständig
geheilt, die Nase trocken und die Atmung absolut frei. Auch der
starke Soorbelag war verschwunden. Am dritten Tage nach der
Injektion nahm das Kind auch an Gewicht zu. Am 18. Tage
zeigten sich wieder zwei neue Pemphigusblasen; die Rhinitis
rezidivierte. Die Haut an der Einstichstelle war in Linsengröße
nekrotisch geworden. Temperatur im Rektum 38-5°. Es wurde
daher am 18. Tage eine zweite Dosis von Salvarsan (0-15) in
dein anderen Glutäus injiziert. Die Wirkung war ebenso frappant
wie das erstemal. Die Pemphigusblasen; trockneten sofort ein; die
Rhinitis verschwand. Dias Körpergewicht nahm regelmäßig zu
um 40 g täglich bei ausschließlicher Ernährung an der Mutter¬
brust. Bei der Entlassung am 31. Tage nach der Geburt wog es
2560 g gegen 2450 g bei der Geburt und 2020 g bei seinem tiefsten
Stande. Die Haut war völlig rein. Alle Blasen waren mit gesunder
Epidermis überhäutet. In beiden Glutäen fühlte man noch die
derbe Infiltration. Auch zu Hause nahm es in (den nächsten Tagen
noch an Gewicht zu. Der Fall zeigt somit, daß 1. die intravenöse
Injektion der stillenden luetischen Mutter allein nicht genügt,
um Säuglinge mit schwerer Lues' zu heilen; 2. daß Kinder in der
ersten Lehenswoche das Salvarsan selbst in größerer Dosis aus¬
gezeichnet vertragen; 3. daß das Salvarsan imstande ist, selbst
bei den malignen Fällen des angeborenen Pemphigus syphiliticus,
die bisher jeder Therapie völlig trotzten und eine fast absolut
letale Prognose ergaben, rasch Heilung zu erzielen. Die I herapie
besaß bisher gegen diese schwersten Formen der kongenitalen
Lues kaum ein wirksames Mittel. Quecksilbereinreibungen sind bei
diesen mit eitrigen Pemphigusblasen übersäten Kindern unmög¬
lich. Das Sublimatbad ist ohne nennenswerte Wirkung und
die Behandlung mit Protojoduret läßt gerade beim Pemphigus fast
immer im Stiche. Ob eine Dauerheilung erzielt wurde, muß die
später vorzunehmende Wassermann sehe Reaktion ergeben.
Jedenfalls braucht man sich nach Verfasser nicht zu scheuen,
das Kind eventuell später noch einmal mit Salvarsan^ zu injizieren.
— (Münchener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 5.) G.
*
248. Beobachtungen bei exsudativer und adhä¬
siver Perikarditis. Von K. F. Wenkeb ach -Groningen. Das
Lufteinlassen nach der Punktion eines pleuritischen Exsudates
wird auf der Klinik Wenckebach seit einigen Jahren regelmäßig
angewendet, da die Vorteile der Methode große sind und sie,
soweit bekannt, keine Nachteile besitzt. Wenckebach berichtet
nun auch über einen Fall von seröser Perikarditis, welchen er
ebenfalls mit bestem Erfolge mit Lufteinlassen behandelte. Das
Verfahren ist durchaus einfach: Durch eine Hohlnadel oder ein
Troikart wird der Herzbeutel punktiert. Das Exsudat quillt aus
der Kanüle hervor und wird durch einen daran gebundenen
Gummischlauch in ein Gefäß geleitet. Den Abfluß regelt man
durch mehr oder weniger Zudrücken des Schlauches. W enn dei
Ablauf träger wird, taucht man das untere Ende des Schlauches
in die Flüssigkeit hinein. Nach Beendigung der Punktion wird
Luft eingelassen u. zw. ungefähr halb soviel Kubikzentimeter,
als Flüssigkeit abgelassen wurde. Ein Doppelflaschenapparat, imt
Sublimatlösung gefüllt und an beiden Oeffnungen durch sterdi-
sierte Watta abgeschlossen, wird in der Weise benutzt, daß man
36U
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
durch Höherstellen der gefüllten Flasche die Subliraatlösung ab-
1 ließen laßt in die zweite luftgefüllte Flasche. Ein Papi er st. reifen
mit experimentell gefundenem Kubikzentimetermaße zeigt, wie
\iel Luft aus der Hasche in den Herzbeutel hineingetrieben
wird. Hat man einmal Luft eingelassen, so gelingt es nachher
w eniger leicht, noch weiteres Exsudat abzuziehen, weil sich dieses
dann in die unteren Schlupfwinkel des Herzbeutels zurückzieht.
Eine bis in die Perikardialschwarte geführte Kokaininjektion er¬
leichtert die Punktion des Herzbeutels sehr wesentlich. Nie¬
mals kam es zu Unannehmlichkeiten für die Patienten bei der
Punktion. W enckebach empfiehlt seine Methode wärmstens
zur 'Nachahmung in ähnlichen Fällen. — Betreffend die adhäsive
Perikarditis macht W enckebach auf ein außerordentlich wich-
liges Symptom aufmerksam, welches in allen Fällen vorhanden
ist. Es handelt sich hiebei um einen abnormen, bisher der Beob¬
achtung entgangenen Atemmechanismus. Dadurch, daß die Ver¬
wachsungen die Brustwand in der Regio cordis fixieren, wird die
\ orwärtshebung der vorderen Brustwand bei der Atmung ver¬
hindert. Da dieses Symptom nur noch bei beiderseitigen starken
pleuritischen Verwachsungen vorkommt, so ist bei Anwesenheit
dieser Störung eine adhäsive Perikarditis höchst wahrscheinlich
vorhanden und ist andrerseits eine solche Krankheit bestimmt aus-
zuschließejn bei geräumiger respiratorischer Vorwärtsbewegung der
vorderem 'Brustwand. — (Zeitschrift für klinische Medizin, Bd. 71,
iHj. 3 'bis 6.) K g
*
249. Unguent. um Glycerin i. Von P. G. Unna und
P. I n n a jun. in Hamburg. Um eine gute Glyzerinsalbe zu erhalten,
möge man dem Glyzerin nicht Arnylum, Tragant und dergleichen
zusetzen, sondern Eucerinum anhydricum. Das Euzerin wird
zunächst im Mörser kräftig verrührt (schaumig) und dann in
kleinen Portionen nach und nach mit dem Glyzerin gemischt.
Man kann dem Euzerin 10°/o, 20°,«, ja 80%jlGlyzerin ohne Schwie¬
rigkeit inkorporieren und macht dabei die überraschende Erfali-
rung, daß alle diese Mischungen die Festigkeit und Konsistenz
sehr geschmeidiger Salben haben. Euzerin wird aus dem Woll¬
fett dargestellt. Die neue Glyzerinsalbe (20:80 Glyzerin) verträgt
sich mit sämtlichen Medikamenten (z. B. Jod) und besetzt einen
großem Kreis von Indikationen, auf behaarter (Pomade) wie un¬
behaarter Haut. Chirurgen, Pflegerinnen usw. mögen das neue
Unguentum Glycerini nach abgetrockneten Händen, in äußerst
geringer Menge applizieren und werden eine geschmeidige, nicht
spröde, nicht schlüpfrige Oberhaut gewinnen. — (Med. Klinik
1911, Nr. 3.) E. f
2o0. Zur Kasuistik der Koitus verletz ungen. Von
Dr. H. ßoshouw ers. 1 crf. beschreibt eine Koitusverletzung bei
einer 4 Tage verheirateten Frau. Der freie Rand des ringförmigen
Hymens war sehr fleischig und dick, in seinem ganzen Umfange
intakt. In die eigentliche Hymenalöffnung konnte mit Mühe nur
die Spitze des kleinen Fingers eingeführt werden, aber es befand
sich in der Basis des Hymens ein Riß von etwa 2Vs cm Länge,
doi sich nach links und hinten bis in das kleine Labium fort¬
setzte. Naht. Heilung. (Zentralblatt für Gynäkologie 1911
Nr. 4.) - E. V.
*
251 . Radikale 0 p e. ration en des Schenkel Bruches,
durch Faszienplastik. Von Prof. Wilms in Heidelberg.
Seit einem Jahre- bewerkstelligt Verfasser den Verschluß der
Schenkelbruchpforte mit kräftigen Faszienlappen von der Fascia
lata. Er operiert in der folgenden Weise: Inzision der Haut 1 cm
über dem Pou part sehen Band, parallel mit diesem, so daß man
m der Gegend des Leistenringes Muskel und Faszie trennt. Das
Bauchfell wird nicht eröffnet, sondern stumpf von der Hinteren
Fläche des Ligamentum Poupartii und dem Schambeinast ab¬
gelöst. Ist der Bruch sack klein, so läßt er sich in der Regel ohne
Schwierigkeit von innen her durch den Canalis cruralisi durch¬
ziehen und dann abbinden. Nun folgt die Entnahme! eines Stückes
der Fascia lata. Verl, hat, um diet Fas-zie- in doppelter Lage
zur Deckung verwerten zu können, immer ein beträchtliches Stück
von 10 bis 12 cm Länge und 5 bis 6 cm Breite genommen. Dieses
Stück, doppelt geschlagen, wird nun an der hinteren Seite des
Po up art sehen Bandes mit mehreren Nähten fixiert und hängt
Nr. 10
dann, wie ein Vorhang von innen den Canalis cruralis deckend
und die Vene auf 2 bis 3 cm überlagernd, nach abwärts. Eine
besondere Fixierung der relativ kräftigen Doppelfaszie unten am
Schambeinast ist nicht unbedingt notwendig. Schließlich folgt
der Verschluß der Bauchdecken durch doppelte Naht, erst von
Fascia transversa und Obliquus internus mit dem- Pou part sehen
Band, bzw. den gleichartigen Gebilden des unteren Schenkels
des Leistenkanals, darüber Naht der Faszie des Obliquus ex-
ternus. Bei den acht bis jetzt operierten Fällen ist jedesmal
glatte Einheilung der Faszie erfolgt und die Bruchpforte zeigt
eine auffallend kräftige Resistenz, die auf Dauererfolge hei dieser
Methode rechnen läßt. Verf. konzediert, daß bei kleinen ßruch-
pforten die bekannten Methoden zum Verschlüsse- genügen, doch
sieht, man bei arbeitenden Frauen Rezidive. In solchen Fällen
könnte des Verfassers Plastik in Anwendung kommen, deren wich¬
tigstes Prinzip (darin besteht,- daß nicht der Kruralring einfach ver¬
kleinert oder allein in seinem Lumen verschlossen wird, sondern
daß die verschließenden Faszien sich innen breit an den Ge¬
fäßen und den benachbarten Knochen anlegen. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 6.) G.
*
252. (Aus der Akademie für praktische Medizin in Köln.
Innere Abteilung: Prof. Dr. Hochhaus.) Ueber den bak¬
teriologischen Befund bei der Meningitis cerebro¬
spinalis epidemica. Von Dr. J. Lehm a eher, Assistenzarzt.
I Ueberblickt man die bakteriologischen Befunde während der drei¬
jährigen Meningitisepidemie in Köln, so findet man, daß durch¬
schnittlich in 19-49% andere Mikroorganismen als der Weichsel¬
bau in sehe Meningokokkus Erreger der Krankheit waren. Inter-
essanterweise steigerten sich die abweichenden Befunde- von Jahr
zu Jahr (1907: 11%; 1908: 14-8%; 1909: 55-5%!). Pneumo¬
kokken wurden fünfmal nachgewiesen; Influenzabazillen zwei¬
mal; Meningokokken -j- Pneumokokken zweimal; Streptokokken
~)~ Pneumokokken einmal; Pneumobazillen -(- Pneumokokken ein¬
mal; Diplobazillen Frie-dlände-r einmal; Staphylokokken einmal;
unbestimmte Erreger dreimal. Sechsmal konnten überhaupt keine
Mikroorganismen nachgewiesen werden. Für die wechselnden Be¬
funde können Technik und Untersuchungsmethoden nicht ver¬
antwortlich gemacht werden, da sie immer gleich waren. Es
verbleibt also wirklich nur die Annahme, daß die Genickstarre
ebensogut wie andere Infektionskrankheiten durch verschiedene
Erreger hervorgerufen werden kann. Weiterhin auffallend war
bei den Kölner bakteriologischen Untersuchungen, daß die Me¬
ningokokken ein sehr wechselndes und verschiedenes Färbungs¬
vermögen besaßen, wodurch ihre Feststellung sehr erschwert
war. Eine Ursache hiefür war nicht ersichtlich, zumal die Aus¬
striche in jedem Falle sofort nach der Punktion aus dem lebens¬
warmen Punktat angefertigt worden waren. — (Zeitschrift für
klinische Medizin, Bd. 71, H. 3 bis 6.) K. S.
*
253. Gholeravibrione.il i ni Donaawasser. Von
Dr. Eduard Ströszner, Assistent am bakteriologischen Institute
in Budapest. (Vorstand : Priv.-Doz. B. V as.) Einleitend hebt Verfasser
hervor, daß pathogene Bakterien überhaupt in Flußläufen keine
günstigen Bedingungen für ihre Erhaltung und Vermehrung finden,
gleichwohl haben die Erfahrungen (Rotterdam 1909) gelehrt, daß
sie speziell die Gholeravibrionen — im Flußwasser lange Zeit
lebensfähig bleiben können. Die Choleravibrionen besitzen auch, wie
Christian gezeigt hat, eine sehr große Resistenz gegen Kälte,
sie können auch im Eise ihre Lebensfähigkeit lange erhalten. In
der Donau hat Verf. zum erstenmal Gholeravibrionen nachgewiesen.
Am 15. September 1910 kam in Budapest ein Frachtschiff an, auf
welchem sich ein Cholerakranker befand. Der Kranke kam ins
8pital, in seinen Dejekten fand man Choleravibrionen, das Schiff
wurde sogleich unter Quarantäne gestellt, u. zw. in einem Neben¬
arm der Donau unterhalb der Stadt (Winterhafen). Es verankerte
sich in ungefähr 4 bis 5 m Entfernung vom Ufer. Am nächsten
Lage wurde knapp neben dem Schiffe 1 Liter Donauwasser zur
bakteriologischen Untersuchung entnommen. Es wurde in Erlen-
meyerkölbchen zu je 100 cm3 verteilt, dazu kamen 10 cm3 Pepton¬
stammlösung, wonach die Kölbchen in den Thermostaten gestellt
wurden. Am nächsten läge war in allen Kölbchen Kammhautbildung
zu beobachten, besonders typisch ausgeprägt in zwei Kölbchen.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
361
Aus diesen beiden wurden Agarplatten angelegt. Es entwickelten
sich auf diesem bis zum Abend Choleravibrionen, welche sofort zur
orientierenden und am 18. September zur eigentlichen Aggluli-
nationreaktion verwendet wurden. Sie war positiv. Das Serum agglu-
tinierle in einer Verdünnung von 1 : 20.000 schon in 20 Minuten
die Vibrionen. Auch die Indolreaktion war positiv. Der Pfeiffer sehe
Versuch fiel ebenfalls positiv aus. Nach 20 Minuten war typische
Körnchenbildung zu sehen, während in dem peritonalen Exsudate
des Kontrolltieres lebhaft bewegliche Choleravibrionen zu beobachten
waren. Kein Zweifel, daß der aus dem Donauwasser gezüchtete
Vibrio ein wirklicher Choleravibrio war. Mit anderen Beobachtern
möchte Verf. auch bei Wasseruntersuchungen der Agglutination die
ihr mit Recht gebührende entscheidende Bedeutung in der Reihe
der diagnostischen Methoden wie bisher auch in Zukunft zumessen.
Damit ist also auch die Infektiosität der Donau nunmehr durch die
bakteriologische Untersuchung bewiesen, was früher nur indirekt,
auf Grund des Auftretens und der Weiterverbreitung der Cholera
in Ungarn erschlossen wurde. Verf. glaubt, daß die Choleravibrioneri
in den Nebenarm der Donau durch angetrocknete Exkremente oder
anderes, mit Choleravibrionen infiziertes Material etc. gelangten, da
ausgedehnte Untersuchungen ergeben hatten, daß es unter den
Matrosen des Schiffes keine Bazillenträger gegeben habe. Später
derselben Stelle und noch anderwärts entnommenes Donauwasser
enthielt keine Choleravibrionen mehr; sie sind entweder im Wasser
rasch zugrunde gegangen, oder sie wurden vom Wasser weite* ge¬
tragen, oder sie sanken zu Boden, oder es gelang ihr Nachweis
nicht wegen ihrer geringen Anzahl. Selbstverständlich wurde die
Bevölkerung sofort auf diese Gefahr aufmerksam gemacht, die Donau
und ihre Nebenarme wurde streng überwacht. Da nun kein Zweifel
darüber besteht, daß in der Donau, resp. in deren Schlamm die
Choleravibrionen überwintern und bei Beginn eines regeren Schiffs¬
verkehres wieder an die Oberfläche des Wassers gelangen können
(Christian), so wäre es denkbar, daß das Frühjahr oder der
Sommer uns von hier aus einen neuen Ausbruch der Cholera
bringen könnte. Es kommen aber gerade hier so verschiedenartige
Einflüsse zur Geltung (die chemische Zusammensetzung des Wassers,
seine Temperatur, seine Selbstreinigung, die Wirkung des Sonnen¬
lichtes und der verschiedenen Wasserbakterien, Protozoen, sein Ge¬
halt an Abwässern etc.), daß es ein Zufall wäre, wenn auf diesem
Wege die Cholera wieder ausbrechen würde. Doch auch mit einem
solchen Zufall müsse man rechnen, die Behörden werden also gut
tun, die Bevölkerung rechtzeitig und bis auf weiteres vor der Be¬
nützung des Donauwassers (Donaueises), zu welchem Zwecke immer,
eindringlich zu warnen. — (Deutsche med. Wochenschr. 1911,
Nr. 5.) E. F.
*
254. '(Aus der inneren Abteilung der Krankenanstalt Altstadt
zu Magdeburg. — Oberarzt: Dr. E. Schreiber.) Typhus¬
bazillen in der Zerebrospinalflüssigkeit. Von Doktor
A. Stühmer. Am 29. November 1909 wurde ein Schiffer unter
der Diagnose „Typhusverdacht“ in benommenem Zustand in das
Krankenhaus eingeliefert. Wenig charakteristische Typhussym¬
ptome. Bauchdecken mäßig gespannt, nirgends druckempfindlich,
kein Ileocökalgurren. Keine Roseolen. Milz nicht palpabel, nicht
vergrößert. Normaler, geformter Stuhl. Deutliche Nackensteifig¬
keit. Temperatur: 39-8. Widal 1:50 positiv, 1:100 negativ, ln
den nächstein Tagen Fortdauer der meningitiseben Symptome.
Delirien. Am 2. Dezember: Lumbalpunktion. Im mikroskopischen
Präparat spärlich kurze, dicke Stäbchen, die bakteriologisch als
unzweifelhafte Typhusbazillen erkannt werden. Am nächsten Tage
Patient klarer. Jeden Tag normaler, geformter Stuhl. Im Stuhl
jedoch keine Typhusbazillen. Nach überstandener Bronchitis vom
27. Dezember an normale Temperatur. Am 24. Januar 19 LO wird
Pat. geheilt entlassen. Es handelt sich also im vorliegenden Fälle
um eine typhöse Erkrankung, die eigentlich wenige typische Er¬
scheinungen bot. Es fehlten jegliche Symptome des Magen-Darm¬
traktes. Pat. entleerte während der ganzen Zeit normalen Stuhl.
Es fehlten die Milzschwellung, die Typhuszunge, die Roseolen
und so weiter. Dagegen bestand im wesentlichen das reine Bild
einer schweren Meningitis, als deren Erreger durch die Lumbal¬
punktion der Typhusbazillus festgestellt wurde. Es ist das ein
seltener Befund einer echten „Meningitis typhosa“. Verf. konnte
in der Literatur nur acht Fälle finden, in denen intra vitam der
Nachweis von Typhusbazillen im Lumbalpunktat gelang. Der
Fall von Henry und zwei Fälle von Schulze zeigen vielfache
Analogien mit dem mitgeteilten. Auch bei diesen fiel das Fehlen
der Kardinalsymptome des Typhus auf, so daß die Diagnose
lange unklar blieb, bis auch dort durch den Nachweis des Er
regers lim Lumbalpunktat die Natur des Leidens aufgeklärt wurde,
noch bevor irgendeine andere Untersuchungsmethode (Widal,
Blutkultur) zum Ziele geführt hatte. Gerade dieser Umstand
läßt den Fall dem Verfasser für die Praxis als sehr wichtig er¬
scheinen. Denn in solchen Fällen, wo man einen Patienten in
schwer septischem Zustand mit Erscheinungen von meningealer
Reizung und Benommenheit in Behandlung bekommt, wird es sehr
schwer möglich sein, die Differentialdiagnose zwischen Typhus,
Miliartuberkulose und Sepsis zu stellen. In solchen Fällen kann
man! sich nur mit Hilf© der Lumbalpunktion vor einem Irrtum
bewahren. Denn die Prognose der Meningitis typhosa ist zweifel¬
los bedeutend günstiger, als die der tuberkulösen, worauf die
meningitischem und Lungenerscheinungen hindeuten. Von den
bekannten 'Fällen sind sechs geheilt worden. Die Lumbalpunktion
in solchen Fällen hat nach Verf. nicht nur diagnostischen, son¬
dern auch therapeutischen Wert. Denn nach der Punktion gingen
in zwei Tagen in dem mitgeteilten Falle die Erscheinungen völlig
zurück. Auch von den anderen Autoren, Silberberg, Schütze,
ist derselbe Effekt beobachtet worden. (Münchener medizinische
Wochenschrift 1911, Nr. 7.) G.
*
255. (Aus der medizinischen Klinik in Basel.) lieber einen
Fall vo n Leukanämie. Von Dr. Ernst Mag n us- Alsleben,
Assistent und Privatdozent. Die Literatur der letzten Jahre hat
eine Reihe von Krankheitsbildern kennen gelehrt, welche eine
schwere Alteration der hämatopoetischen Organe darstellen, deren
Zuteilung zu einem der beiden großen Haupttypen, Leukämie und
perniziöse Anämie, aber manchmal einige Schwierigkeiten berei¬
tete. Find doch ist die zuerst von Leube und Am eth und neuer¬
dings wieder von Masing befürwortete Statuierung einer Leuk¬
anämie, das heißt eine Kombination einer Leukämie mit einer
(hämolytischen) perniziösen Anämie größtenteils nicht akzeptiert
worden. Magnus -Alsleben hat nun abermals einen derartigen
Fall beobachtet, der unter dem Bilde einer fieberhaften Krankheit
verlaufend, die Zeichen einer Leukämie und einer perniziösen
Anämie in weitgehendster Weise in sich vereinigte, wobei es
nicht möglich war, den Fall entweder als atypische Leukämie
oder als perniziöse Anämie zu deuten. Die Sonderstellung emer
„Leukanämie“ dürfte also doch gerechtfertigt erscheinen. — (Zeit¬
schrift für klinische Medizin, Bd. 71, H. 3 bis 6.) K. S.
*
256. (Aus der chirurgischen Abteilung des Epidemiespitales
Bern. — Chefarzt: ,Dr. Steinmann.) Die Meniskus Ver¬
letzungen des Kniegelenkes. Von Karl Körber. Verfasser
referiert über 26 Fälle von Meniskusverletzungen, die größten¬
teils auf der Abteilung Dr. Steinmann behandelt wurden. Die
Operationsbefunde, die in den 19 operativ behandelten Fällen
erhoben wurden, süid geeignet, die Ansichten über die Pathologie
des Derangement interne des Knies zu modifizieren. Der häufigste
Befund war Zerreißung des Meniskus (Auffaserung, kleine Risse).
Als typische Verletzung kann die Spaltung des Meniskus in zwei
Teile durch einen Längsschnitt betrachtet werden, da diese Form
in 75% der Meniskuszerreißungen beobachtet wurde. Die beiden
Teile des Meniskus stehen vorne und hinten an der Anheftungs-
stelle noch in Verbindung miteinander, außerhalb des Gelenkes
verläuft aber der innere (gegen die Ligamenta cruciata zu ver¬
laufende) Teil gestreckt, während der äußere Teil seine normale
Anheftung besitzt. Die überwiegende Anzahl der Verletzungen
betraf, wie bei anderen Autoren, den inneren Meniskus. Die Sym¬
ptome der frischen Meniskusverletzung sind in erster Linie die¬
jenigen der Distoreio genus (Erguß, Fixation in Beugestellung);
weiters besteht Druckschmerzhaftigkeit in der Gegend des Me¬
niskus und Schmerz bei passiver Adduktion des gestreckten
Knies (bei Verletzungen des Meniscus internus); bei Läsion des
Meniscus extemus ist die passive Abduktion schmerzhaft. Die
Symptome der alten Meniskusverletzung sind denjenigen einet
Gelenksmaus ähnlich, es1 besteht aber im Gegensatz zur Gelenks
maus eine lokalisierte Druckschmerzhaftigkeit und eventuell Fühl-
362
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
barkeit des verdickten Meniskus. Nach den Erfahrungen des Ver¬
fassers ist in frischen Fällen eine konservative Behandlung mög¬
lich; durch länger dauernde Fixation des Gelenkes kann eine
Lockerung des Ansatzes sich wieder befestigen. Hingegen ist bei
der habituellen Form die operative Behandlung indiziert. Dieselbe
besteht in partieller oder totaler Exstirpation des Meniskus. Die
Resultate waren sehr gute, die Patienten wurden in kurzer Zeit
arbeitsfähig, die Einklemmungserscheinungen haben sich nicht
wiederholt. Die von manchen Autoren befürchtete Arthritis de¬
formans, die durch starke Beanspruchung des Knorpels nach Weg¬
fall des stützenden Meniskus entstehen soll, sah Verfasser in
seinen Füllen nicht, so daß er die Ansicht vertritt, daß in den¬
jenigen seltenen Fällen, wo sie beobachtet wurde, sie schon
früher bestanden und die Ursache für die Zerreißung des Meniskus
abgegeben hätte. — (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 106,
H. 1 bis 3.) se.
*
257. Ueber eine eigentümliche Pigmentierung
der inneren Organe von Küstennegern Kameruns. Von
Dr. M. Löhlein, Privatdozent in Leipzig, zurzeit Regierungs¬
arzt in Kamerun. Das Fettgewebe und das Gewebe bestimmter
innerer Organe (Nebennierenrinde, Hodenparenchym, Bauch¬
speicheldrüse usw.) erwachsener Neger verschiedener Stämme
Kameruns zeigte - wie sich Verf. bei Operationen oder Sek¬
tionen überzeugen konnte in allen Fällen eine eigentümliche
goldgelbe bis orangerote Färbung, die bei den Weißen und Hotten¬
totten, welche längere Zeit im Schutzgebiet gelebt haben, voll¬
ständig fehlte. Die pigmentierten Gewebe waren durchaus nur
solche, die Fette oder fettartige Substanzen in mehr oder weniger
großen Menge in makroskopisch sichtbarer Form enthielten (auch
inlder fettig degenerierten Intima der Aorta u. dg].). Verf. beschreibt
die Pigmentierung der einzelnen Organe, zeigt, daß es sich nicht
um eine angeborene, sondern um eine erworbene Veränderung
des Fettes, resp. der Gewebe handle (Sektion eines Dualakincles,
bei welchem die Pigmentierung fehlte) und führt sie auf den
langjährigen, fast ausschließlichen Genuß von Palmöl zurück.
Die Neger der Westküste verzehren ausnahmslos nahezu täglich
Palmöl und zeigen eine an dessen Farbe erinnernde Pigmentierung
ihres Fettgewebes und einzelner lipoidhaltiger Organbestandteile.
Die in gleichem Klima lebenden Weißen nehmen Palmöl nur
ausnahmsweise zu sich, auch die Hottentotten verzehren kein
Palmöl. Diese letzteren stellen also gewissermaßen die Kontrollen
zu dem Fütterungsversuch dar. Verf. will noch bei Affen experi¬
mentell die Richtigkeit seiner Ansicht beweisen. (Deutsche
medizin. Wochenschrift 1911, Nr. 7.) E. F.
*
258. N e r v e n ü b e r p f 1 a n z u n g von der einen Seite
auf die entgegengesetzte. Von Prof. Dario Marugliano.
Zweijähriges Kind, welches infolge einer Poliomyelitis anterior
eine fast gänzliche Lähmung der rechten unteren Extremität hatte.
Marugliano überpflanzte einen Teil des gesunden linken Kru-
ralis auf den rechten gelähmten u. zw. wurde der Zweig des
Vastus medius benützt. Der rechte Kruralis wurde 1 cm oberhalb
des Ligamentum Poupartii durchschnitten, durch einen Haut¬
tunnel der isolierte Zweig des linken Kruralis durchgezogen
und an den ganzen peripheren Stumpf des rechten Kruralis
angenäht. Etwas über fünf Monate post Operationen! kann das
Kind vollständig und ziemlich kräftig den Unterschenkel gegen
den Oberschenkel strecken. — (Zentralblatt für Chirurgie 1911,
Nr. 1.) E. V.
+
259. (Aus der 1. chirurgischen Universitätsklinik in Wien.
- Vorstand: Prof. Dr. Frh. v. Eiseisberg.) Zur Behandlung
frischer Diaphysenbrüche. Von Dr. Otto v. Frisch. Ver¬
fasser hat die Beobachtung gemacht, daß in frischen Fällen von
Radiusfrakturen nicht nur die anatomische Einstellung der Frag¬
mente leichter gelingt, als bei alten, sondern daß auch die Re¬
tention der Fragmente in diesen Fällen sehr einfach ist. Die Ur¬
sache liegt in der zunehmenden Kontraktion und Retraktion
der Muskulatur, die nach mehreren Tagen nur sehr schwer,
in den ersten Stunden der Verletzung aber sehr leicht zu über¬
winden ist. Wahrscheinlich sind auch die Rauhigkeiten der) Bruch¬
flächen, welche bei Schrägbrüchen die Retention der Fragmente
unterstützen, in älteren Fällen geringer. Die Erfolge, die Verfasser
in frischen Fällen erzielte, sind den Erfolgen der Extensions¬
behandlung gleichzustellen. Bei Vorderarmbrüchen hat sich Ver¬
fasser überzeugt, daß die Reposition und genaue Adaption der
Fragmente oft sehr schwer gelingt und hat für diese Fälle eine
Methode der Reposition ersonnen, die dem Verfahren der Ein¬
richtung bei der Daumenluxation nachgebildet ist und die, wie
aus den beigeschlossenen Röntgenbildern zu ersehen ist, sehr
schöne Resultate ergeben hat. Es empfiehlt sich daher in Fällen
von queren Frakturen mit Kataplasmen und provisorischen Schie¬
nen keine Zeit zu verlieren, sondern mit Hilfe des Röntgen¬
lichtes und der Narkose den Bruchflächenkontakt möglichst bald
nach der beschriebenen Methode wieder herzustellen, und man
wird dem Patienten die für Arzt und Kranken oft mühevolle Ex¬
tensionsbehandlung ersparen können. — (Langenbecks Archiv,
Bd. 93, H. 3.) - r se.
*
260. Subpialer, makroskopisch intramedullärer
S olitär t u berked in der Höhe des vierten und fünften
Z e r v i k a 1 s eg m e n t e s Operation — Genesu n g. Von
Dr. Otto Veraguth in Zürich, Privatdozent für Neurologie und
Dr. Hans Brun in Luzern, Spezialarzt für Chirurgie. Das We¬
sentliche aus dem Titel zu entnehmen. Verschiedene, zum Teil
noch nicht beschriebene physio - pathologische Einzelheiten, die
nicht ohne eine gewisse allgemein -neurologische Bedeutung sein
dürften, mögen im Originale, welches sich zu einem kurzen
Referat nicht eignet, nachgesehen werden. — (Korrespondenzblatt
für Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg., Nr. 33.) K. S.
*
Aus französischen Zeitschriften.
261. Ueber experimentellen pankreatischen Dia¬
betes v on 1 äng er er D au e.r. Von J. Th i r o 1 oix und P. J ac ob.
Die Mitteilung bezieht sich auf eine neue Beobachtung von ex¬
perimentellem Pankreasdiabetes nach unvollständiger Abtragung
des Pankreas mit Erhaltung des Ductus Wirsingianus und des
benachbarten Drüsengewebes. Der nach dieser Methode erzeugte
Diabetes kann eine Dauer von vier Monaten überschreiten. Zur
Vermeidung der Gangrän des Duodenum müssen die Arteriao pan-
creatico - duodenales geschont werden. Beim Pankreasdiabetes des
Menschen ist weder das Drüsengewebe vollständig zerstört, noch
die Ausführungsgänge vollständig obliteriert. Man muß daher
annehmen, daß die Unterdrückung der Funktion der anatomischen
Veränderung des Organs vorausgeht. Ein analoges Verhalten
wird experimentell durch die oben angegebene Methode der
Pankreasexstirpation erreicht. Bei der einzeitigen Totalexstirpation
des Pankreas gehen die Aufhebung der Assimilation vom Darme
aus und der Zuckerverwertung parallel, was beim Pankreas¬
diabetes des Menschen nicht in gleichem Maße der Fall ist,.
Wenn man den größten Teil des Pankreas exstirpiert und durch
Gefäßligatur eine langsame Atrophie des Pankreasrestes hervor¬
ruft, so läßt sich der Zeitpunkt deis Eintrittes der Glykosurie
nicht voraus bestimmen; wenn man jedoch den Ductus Wir¬
singianus verschont, etwa ein Achtel des Gesamtdrüsengewebes
in seiner Nachbarschaft beläßt und den Rest der Drüse unter
Schonung der Arteriae pancreatico-duodenales exstirpiert, zeigen
die Ergebnisse, wie aus den Versuchen an 15 Hunden hervorgeht,
ein gleichmäßigeres Verhalten. Die Glykosurie tritt sofort, be¬
ziehungsweise wenige Tage nach dem Eingriff auf und dauert
während der ganzen Krankheitszeit an. Die Abmagerung tritt spät
ein und vollzieht sich langsam, weil im Vergleich zur totalen
Pankreasexstirpation die Ausnützung der Eiweißkörper und Fette
weit weniger beeinträchtigt ist. Der Diabetes erstreckt sich auf
einige Monate, der Exitus erfolgt durch Marasmus. Bei der
Autopsie zeigt der verbliebene Teil des Pankreas normales Ver¬
halten des Drüsengewebes und der Gefäße, Bemerkenswert ist die
Integrität der Leber, auch die anderen Drüsen und die Duodenal-
schlcimhaut zeigen keine Veränderung. Die Versuche lehren,
daß die Ursache der Glykosurie im Drüsenparenchym des Pan¬
kreas liegt, darüber hinausgehende Schlüsse lassen sich nicht
ziehen. — (Bull, et Mein, de la Soc. med. des höp. de Paris
1910, Nr. 33.) a. e.
♦
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
262. Heber ein- neues funktionelles Zeichen der
initialen Affektionen clor Lungenspitze. Von Gnu di.
Es ist notwendig, die Lungenspitzen entweder im Zustande der
Inspiration oder der Exspiration zu perkutieren, weil sonst die
Perkussionsergebnisse beider Lungenspitzen nicht vergleichbar
sind. Bei der Inspiration nimmt in den oberen Anteilen der
Lunge, besonders in den Lungenspitzen, die Spannung mehr zu
als das Volum, so daß- der Perkussionsschall höher, aber leiser
wird; an den anderen Lungenpartien nimmt bei der Inspiration
das Volumen mehr zu, als die Spannung, so daß- der Perkussions¬
schall lauter und tiefer wird, während in der mittleren Lungen¬
region die beiden Faktoren sich ausgleichen. Diese Angaben
wurden bisher zur Bestimmung der funktionellen Kapazität der
Lungen, bzw. der Lungenspitzen, wenig verwertet. Die radio¬
graphische Untersuchung der Exkursion des Zwerchfells an der
kranken Seite, gibt an sich keine sicheren Aufschlüsse bezüglich
des Zustandes der Lunge-, da diese nur nach beträchtlichem
A erlust der Elastizität der Zwerchfellsexkursion keinen Widerstand
entgegensetzt. Die radioskopische Untersuchung der Ausdehnung
der Lungenspitzen bei der Inspiration bietet Schwierigkeiten,
da eine konsensuelle Bewegung gegen die Höhe der Klavikula
und die erste Rippe hinzutritt und auch die Volumszunahme im
sagittalen Durchmesser nicht abgeschätzt werden kann. Die ver¬
gleichende Perkussion der Lungenspitzen kann wertvolle An¬
haltspunkte geben, doch sind verschiedene Faktoren zu berück¬
sichtigen. Ein vollerer und hellerer Schall an der linken Lungen¬
spitze ist diagnostisch nicht verwertbar, während dieser Befund
an der rechten Lungenspitze von großer Bedeutung ist. Bei Tuber¬
kulose kann auch die Abmagerung der Schultergürtelmuskulatur
den Schall heller erscheinen lassen, als es dem wirklichen Ver¬
halten des Lungengewebes entspricht; außerdem kann sich ein
tiefsitzender Herd, wenn er von geblähtem Gewebe überlagert
ist, dem Nachweis durch die Auskultation und Perkussion ent¬
ziehen. V,on großer diagnostischer Bedeutung ist die Unter¬
suchung auf die regressive Modifikation, das ist auf das Höher¬
und Leiserwerden des Perkussionsschalles während der Inspi¬
ration. In jedem Falle, wo das1 Lungengewebe seine Elastizität
zum Teil verloren hat und durch Infiltration, Sklerose, chronische
Pleuritis, Bronchialdrüsenschwellung usw. zur Aufnahme des in¬
spiratorischen Luftstromes weniger geeignet ist, ist die regressive
Modifikation des Schalles während der Inspiration weniger aus¬
geprägt oder fehlt vollständig. Zur Feststellung reicht die reine
Fingerperkussion der Lungenspitzen aus. Der angegebene Befund
ist konstant und wird nicht nur bei manifesten, sondern auch
bei initialen Läsionen angetroffen, wo die anderen diagnosti¬
schen Behelfe, auch die Röntgenuntersuchung, versagen. (Journ.
med. de Brux. 1910, Nr. 49.) a. e.
*
Aus englischen Zeitschriften.
263. Ueber Fälle von primärem Karzinom des
Wurmfortsatzes. Von Alex. Mills Kennedy. Fälle von
Karzinom des Wurmfortsatzes wurden bisher als Seltenheit be¬
trachtet, doch mehrt sich hei der Gepflogenheit, die operativ
entfernten Wurmfortsätze histologisch zu untersuchen, die Zahl
der einschlägigen Beobachtungen. Der Umstand, daß die Lokalisa¬
tion dieser Neubildungen Symptome bedingt, welche die Aufmerk¬
samkeit auf den Wurmfortsatz lenken und dessen frühzeitige
Exstirpation bewirken, erklärt die anscheinende Gutartigkeit
dieser Tumoren sowie das Fehlen von Metastasen. In der Mehr¬
zahl der Fälle präsentiert sich die Neubildung als einfache
Form des Endothelioms. Die Beobachtungen des Verf. beziehen
sich auf drei Fälle von primärem Karzinom des Wurmfortsatzes,
darunter eine 23jährige Frau von blühendem Aussehen ; unter
mehr als 350 Nekropsien konnten zwei Fälle von sekundärem
Karzinom des Wurmfortsatzes, wo der primäre Tumor im Magen
saß, nachgewiesen werden, der metastatische Charakter ergab
sich auch aus der Gleichartigkeit des Baues des primären und
sekundären Tumors. Die drei Fälle von primärem Karzinom des
Wurmfortsatzes zeigen hinsichtlich der Ausgangsstelle eine Ueber-
einstimmung, die auch hinsichtlich der allgemeinen Aetiologie
der Tumoren Interesse darbietet. Im ersten Falle war der Wurm¬
fortsatz durch eine Narbe- nach Geschwür in zwei Segmente
zerlegt und es lag das Karzinom im distalen Segment. Im zweiten
363
lalle bestand vollständige narbige Verschließung des Lumens
mit Sitz des Karzinoms in der Gegend der Verschließung. Im
dritten Falle bestand vollständige Okklusion in der Nähe der
Spitze, wobei das Karzinom in' dem unterhalb der Verschließung
liegenden Teil sich vorfand. Es waren Anfälle von Appendizitis
nachweisbar, die wahrscheinlich zu Ulzeration der Schleimhaut
mit Heilung durch Vernarbung führten. Esi ist .inzunehmen,
daß durch den Vernarbungsprozeß Epithelzellen von der Schleim¬
haut abgetrennt wurden und von hier die Karzinomentwicklung
ausging. Diese Beobachtungen sprechen für die Ribbertsche
Theorie, daß Tumorbildung von einer partiellen oder vollständigen
Abtrennung von Zellen, resp. Zellgruppen vom Mutterboden,
das ist durch mechanische Isolierung zustande kommt. — (The
Lancet, 17. Dezember 1910.) a. e.
*
264. Bemerkung zur kombinierten Anwendung
von spinaler und allgemeiner Anästhesie. Von A. E.
Johnson. Die Lumbalanästhesie ist nicht frei von Gefahren,
so daß sie die Narkose nicht ganz zu ersetzen vermag, doch
gibt es bestimmte Bedingungen, z. B. Erkrankungen des Herzens
und der Lunge, Erkrankungen, die mit fettiger Degeneration der
Leber einhergehen, wie z. B. Diabetes, Rachitis, Alkoholismus,
Kachexie, ferner das zyklische Erbrechen im Kindesalter, wo
die Spinalanästhesie unbedingt den Vorzug verdient. Hinsichtlich
der wichtigen Frage der Verhütung von Shock durch die
Spinalanästhesie wird angegeben, daß bei vollständigem Cha¬
rakter der Anästhesie- die Bedingungen für das Auftreten eines
von der Peripherie ausgehenden Shocks behoben sind. Der Um¬
stand, daß Shock auch durch psychische Vorgänge, z. B. Furcht
ausgelöst werden kann, welche wie nachgewiesen wurde, auch
histologische Veränderungen in den Gehirnzellen hervorruft, leert
den Gedanken einer Kombination lokaler und allgemeiner An¬
ästhesie nahe. Durch Kombination eines leichten Grades allge¬
meiner Anästhesie und spinaler Anästhesie, werden die vitalen
Zentren in gleicher Weise vor schädlicher Einwirkung des körper¬
lichen und des psychischen Traumas geschützt. Im allgemeinen
empfiehlt e:s sich, zuerst die Spinalanästhesie- vorzunehmen und
wenn der Erfolg eingetreten ist, die Narkose einzuleiten. Bei
ängstlichen Patienten wird mit der Narkose begonnen und dann
die- Spinalanästhesie- durchgeführt. Auch bei drohendem Shock
während oder nach Operationen, erscheint die Vornahme einer
Stovaininjektion in den Wirbelkanal indiziert. In einem Falle
von Amputation der unteren Extremität wegen Gangrän bei einem
Patienten, dem das andere Bein aus gleicher Ursache früher
amputiert worden war, bewährte sich die Kombination der
Spinalanästhesie mit der Narkose vollständig. Die regionäre,
bzw. Leitungsanästhesie ist in ihrer Ausführung langwieriger
und daher zur Kombination mit der Narkose- weniger geeignet,
als die spinale Anästhesie. Bei der bloßen Spinalanästhesie er¬
geben sich aus dem Umstand, daß, der Patient bei Bewußtsein
ist, mannigfache Störungen, die auch den Gang der Operation
beeinflussen können. Die hier vorgeschlagene vorherige Injek¬
tion von Morphium, bzw. Morphium und Skopolamin ist zur
Verhütung dieser Störungen nicht so wirksam, wie eine leichte
Narkose. Bei ganz kleinen Kindern und bei mit Erbrechen, ein-
hergehenden Abdominalaffektionen wird die Allgemeinanästhesie
besser unterlassen. Zur Spinalanästhesie ist das Stovain, zur
Narkose das Chloroform im allgemeinen am besten geeignet. In
Fällen, wo Chloroform kontraindiziert ist, z. B. bei Diabetes,
empfiehlt sich die- Anwendung eines Gemisches von Stickoxyd
und Sauerstoff. — (Brit. med. Journ., 3. Dezember 1910.)
a. e.
\Zemnisehte Naehriehten
Ernannt: Dr. Bertarelli zum a. o. Professor der Hy¬
giene in Parma.
*
ii \ mnn*
H a b 1 1 1 1 1 e r t : Dr. Gottlieb Salus i
deutschen Universität in Prag. — Dr. Hubert Sattler für Augen¬
heilkunde und Dr. Marlin Kürschner für Chirurgie in Königs¬
berg. — Dr. Felix Sieglbauer für Anatomie in Leipzig.
Dr. Saccetti für chirurgische Diagnostik in Neapel.
Dettori für operative Medizin in Sassari.
364
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
Gestorben: Dr. G. Mya, Professor der Kinderheilkunde
zu Florenz.
*
Am 5. d. M. wurde im großen Festsaale der Universität
eine feierliche Sitzung der unter dem1 Protektorate des Kaisers
stehenden österreichischen Gesellschaft für Erforschung und Be¬
kämpfung der Krebskrankheit abgehalten. Dieser Veranstaltung
wohnte in Stellvertretung des Kaisers Erzherzog Leopold Sal¬
vator bei, ferner der Kurator der Akademie der Wissenschaften,
Erzherzog Rainer, Fürstin Pauline Metternich, die auch hier
mit gewohnter Tatkraft fördernd eingreift, Graf Hans Wilczek,
der allverehrte Mäzen, der Präsident der Akademie der Wissen¬
schaften, Prof. Eduard Sueß, Vertreter der Behörden von Staat,
Land und .Stadt, nahezu vollzählig der Lehrkörper der Wiener
medizinischen Fakultät, der Vertreter der ungarischen Krebs¬
gesellschaft Hofrat Prof. Dolling er, des galizischen Zweigver¬
eines Hofrat Prof. v. R yd i gier, des deutschböhmischen, Hofrat
v. Jak sch, des oberösterreichischen, Reg. -Rat A. Brenner. Die
Feier 'wurde eingeleitet durch die Begrüßung des derzeitigen Rektors
der Universität, Hofrat Dr. Bernatzik. Der Präsident der Gesell¬
schaft Hofrat Prof. Freih. v. Eiseisberg legte, nach einem histo¬
rischen Rückblick über die Krebsbekämpfung, die Ziele und Zwecke
der Gesellschaft dar, berichtete über den derzeitigen Stand ihrer
Mittel und ihrer in Aussicht genommenen Aktionen. Erzherzog
Leopold Salvator überbrachte im Namen des Kaisers die
Wünsche für ein gedeihliches Wirken der Gesellschaft, der Minister
für Kultus und Unterricht, Graf Stürgkh, begrüßte die Gesell¬
schaft im Namen der Regierung und versicherte sie des wohl¬
wollendsten Beistandes. Zum Schlüsse hielt der Schriftführer
der Gesellschaft, Prof. Alexander Fraenkel einen Vortrag „Ueber
das Problem der Krebskrankheit“. (Siehe Seite 350.)
*
Die 0 es terreichische Gesellschaft für Gesund¬
heitspflegeihält am 14. März, um 7 Uhr abends, ihre Jahres¬
versammlung im großen Hörsaale des k. k. hygienischen
Universitätsinstitutes in Wien IX., Kinderspitalgasse 15, ab.
Tagesordnung: 1. Erstattung des Rechenschaftsberichtes. 2. Be¬
richt des Revisionsausschusses. 3. Voranschlag' für das Jahr
1911. 4. Engänzungswahlen in den Gesellschaftsausschuß.
5. Festsetzung der Höhe des Jahresbeitrages der ordentlichen
Mitglieder. 6. Wahl dreier Rechnungsprüfer. 7. Vortrag des Pro¬
fessors ,Odo Bujwid aus Krakau: Ueber die Wirkung des Lichtes
auf die Bakterien, unter besonderer Berücksichtigung der ultra¬
violetten Strahlen. (Mil Demonstration eines Apparates zur
Wassersterilisation.)
*
Die Oesterreichische G e s e 1 1 s c h a, ft für Z a h n-
p flöge in den Schulen, hält Sonntag den 12. März, präzise
11 Uhr vormittags, im alten Gemeinderatssitzungssaale Wien I.,
Wipplingcrstraße 8, ihre konstituierende Versammlung ab.
*
Nach einem Beschluß der „Societä Italiana di Patologia“
aus dem Jahre 1909 wird vom 2. bis 5. Oktober 1911 in Turin
ein internationaler Kongreß für pathologische Anatomie stattfinden.
*
Cholera. Bulgarien. Die Stadt Tatar-Pazard.uk wurde
wieder cholerafrei erklärt. Madeira. Vom 1. bis 15. Januar
erkrankten im Distrikte Funchal 250 Personen an Cholera, von
denen '77 Starben; vom 15. bis 20. Januar ereigneten sich 36 (ll),
vom 21. bis 25. Januar 22 (2) Cholerafälle (Todesfälle). Die
Epidemie scheint demnach dem Erlöschen nahe zu sein.
Pest. China. In Tientsin sind nun auch in der Chi¬
nesenstadt die ersten fünf Pesterkrankungen konstatiert worden.
Die dortigen Aerzte behaupten, daß die benachbarten Dörfer
durchaus der Mandschurei zurückkehrende Kulis in hohem Grade
verseucht sind und daß zahlreiche Pesterkrankungen in Tientsin
selbst verheimlicht werden. Die Sanitätsbehörden der Tiontsiner
Chinesenstadt haben die Errichtung eines Pestspitals in Angriff
genommen, das 200 bis 300 Kranke aufnehmen könnte, außerdem
soll ein Isolierspital für über 1000 Personen errichtet werden. —
In Peking trat der erste Pestfall am 21. Januar in einem chine¬
sischen Gasthause auf und betraf einen aus Mukden zugereisten
Gast. Bei der behördlichen Erhebung erwiesen sich noch vier
andere Personen, Bedienstete der Herberge, als pestkrank. Ange¬
sichts der Gefahr einer Weiterverbreitung haben die Behörden
strenge Maßnahmen ergriffen : Pestbaracken wurden außerhalb
der Stadt errichtet, die Rattenvertilgung ist im Zuge, Desinfektions¬
und Isoliermaßnahmen wurden erlassen. Trotzdem soll die Pest,
bereits in größerem Umfange herrschen, doch liegen nähere Be¬
richte ''nicht vor. Die ganze Strecke zwischen Peking und Tientsin
ist angeblich verseucht, auch die nach Süden führende Bahnstrecke
Peking— IHankau soll nicht mehr pestfrei sein. Der Verkehr auf
der Linie Tientsin -Mukden wurde eingestellt, da dieselbe direkt
in das mandschurische Pestgebiet führt. Nach glaubwürdigen
Nachrichten liegen längs der nach Südosten führenden Strecke
der Tientsin— -Pukaubnhn massenhaft die Leichen der aus der
Mandschurei nach der Provinz Schantung zurückkehrenden Kulis.
Zahlreiche 'Europäer verlassen die Stadt. — Die Provinz Ts chili
ist an mehreren Punkten verseucht, aus Paotingfu an der Linie
Peking— iHankau wurden fünf, aus Fütsuntschiao 30 Todesfälle
gemeldet. — In der Provinz Schantung nimmt die Pest gleich¬
falls überhand. Aus dieser Provinz wandern jährlich Tausende
von Arbeitskulis nach der Mandschurei und kehren zur Zeit des
chinesischen Neujahrs in die Heimat zurück. Durch dieselben
wurde die Pest nach verschiedenen Pünkten Schantungs ver¬
schleppt und ist es zweifelhaft, ob es möglich sein wird, ihrem
Vordringen in das Yangtzetal, den am stärksten bevölkerten Teil
des chinesischen Reiches, Einhalt zu gebieten. Am ärgsten wütet
die Seuche noch immer in der Mandschurei, ln G har bin
sind bis zum 24. Januar 959 Chinesen und 28 Europäer erkrankt,
929 Chinesen und 26 Europäer gestorben, unter letzteren auch
der französische Arzt Dr. Mesny. In Mukden sind in der
Zeit vom 11. bis 19. Januar 151 Pestfälle vorigekommen, von
denen 102 tödlich ausgingen. Isolierspitäler und Beobachtungs¬
stationen wurden errichtet, leider macht sich allenthalben der
Mangel an Aerzten und geschulten Hilfskräften fühlbar. Die
meisten Erkrankungen sind Lungenpestfälle; wie rapid die Krank¬
heit wirkt, beweist die Tatsache, daß von den 151 Fällen 92
an' demselben Tage als die Meldung erfolgte, starben. Die Opfer
sind bisher ausnahmslos Chinesen, fast sämtlich der Kuliklasse
angehörig, während die zahlreichen japanischen Kulis bisher voll¬
ständig verschont geblieben sind. Die Stadt weist ferner für die
Zeit vom 27 bis 30. Januar 115 Todesfälle aus, darunter einen
europäischen Arzt Dr. Jackson. In Hs in min tu ereigneten
sich bis zum 30. Januar 30 Todesfälle, unter denen sich der
japanische Arzt Dr. Morikawä und seine Gattin befand. In
Fudjadjan wurden 1000 Leichen verbrannt, 2000 liegen noch
un beerdigt in den Straßen ; die Gesamtzahl der bisher dort Ver¬
storbenen beträgt rund 4000 bei einer Einwohnerzahl von 15.000.
In Kirin sind innerhalb vier Tagen 290 Personen an Pest
gestorben. - In Changchun grassiert die Pest sehr heftig;
in der Chinesenstadt sollen 160, im Bahngebiete 22 Menschen
der Seuche erlegen sein. Aus Dalny wurden bisher 37 Fälle
gemeldet; außer den schon früher genannten Orten sind auch
Kungchuling, Supingchich, Kaiyuan und Tiehling verseucht. Es
kann somit die ganze Mandschurei als pestverseucht angesehen
werden.
*
Auf Seite 299 der vorigen Nummer soll der Titel der Arbeit
von Primararzt Dr. J. Berze richtig lauten: Zur Pathologie
und Therapie der Affekte.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 7. Jahreswoche (vom 12. bis 18. Fe¬
bruar 1911). Lebend geboren, ehelich 586, unehelich 227, zusammen
813. Tot geboren, ehelich 60, unehelich 31, zusammen 91. Gesamtzahl der
Todesfälle 652 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
16 7 Todesfälle) an Rauchtyphus 1, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 3,
Scharlach 2, Keuchhusten 2, Diphtherie und Krupp 7, Influenza 2,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 2, Lungentuberkulose 118, bösartige Neu¬
bildungen 45, Wochenbettfieber 2, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 37 ( — 8), Wochenbettfieber 0 ( — 1), Blattern 0
(0), Varizellen 65 ( — 25), Masern 115 ( — 4), Scharlach 88 (-f- 22),
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 3 ( — 1), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0),
Diphtherie und Krupp 67 (-f- 24), Keuchhusten 36 (-)- 2), Trachom 0 (—2),
Influenza 3 (==), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt Korit-
sch a n des politischen Bezirkes Gaya (Mähren). Dieser Distrikt umfaßt
acht Gemeinden mit einem Flächeninhalte von 74'97 km2 und 6815 Ein¬
wohnern. Der Sitz des Arztes ist Koritschan. Die Bezüge des Arztes sind
folgende: An Gehalt 1400 K, mit dem Ansprüche auf fünf Quinquennal-
zulagen zu 140 K, an Fahrpauschale 488 K, zusammen 1848 K. Die im
Sinne des § 11 des Gesetzes vom 27. Dezember 1909, L.-G.-Bl. Nr. 98,
belegten Gesuche sind bis 15. April beim Obmanne des Sanitätsaus¬
schusses Alfred Thonet, Bürgermeister in Koritschan, einzubringen.
Gemeindearztesstelle in der Sanitätsgemcindegrup|ie
Eggendorf im Tale (Niederösterreich), bestehend aus den Gemeinden
Enzersdorf, Kleinstetteldorf, Weierburg, Altenmarkt und Eggendorf un
Tale mit 1952 Einwohnern gelangt mit 1. April 1. J. zur Besetzung.
Landessubvention 1000 K, Beiträge, der Gemeinden 600 K. Bewerber um
diese Stelle wollen ihre instruierten Gesuche an das Bürgermeistamt
in Eggendorf im Tale (Bezirk Oberhollabrunn) bis 15. März 1. J- cin-
rei chcn.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
365
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll (1er k. k. Gesellschaft (1er Aerzte in Wien. Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck Sitzune- vom
. Sitzung vom. 3. März 1911. 24. November 1910. ' ' *
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. - _
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 3. März 1911.
Vorsitzender : Präsident Hofrat S. Exner.
Schriftführer: Hofrat Richard Paltauf.
A. Administrative Sitzung:
Der Präsident teilt folgende Beschlüsse des Verwaltungs-
rates mit: -
Der Zentralausschuß für öffentliche Gesundheitspflege, der
bereits elf Vereine, die einzelne Zweige aus dem Gebiete der
öffentlichen Gesundheitspflege fördern, vereint, hat unsere Gesell¬
schaft zum Anschlüsse eingeladen; der Verwaltungsrat em¬
pfiehlt auch denselben. (Wird zugestimmt.)
Den vor einigen Wochen von Prof. Königstein und Ge¬
nossen gestellten Antrag auf Einsetzung einer Art Preßkomitee
(Publikation von Mitteilungen usw. aus den Sitzungen der Gesell¬
schaft in Tageszeitungen) hat der Verwaltungsrat eingehend be¬
raten, ist aber nicht in der Lage, seine Annahme zu empfehlen.
(Kein Widerspruch.)
Von den Herren Mitgliedern: Bumm, Alex. Fraenkel,
Luithle'n, Nobl und Unger wurde dem Verwaltungsrate eine
längere; ‘Eingabe übermittelt welche die Aufmerksamkeit der Gesell¬
schaft auf die so wichtige Frage der körperlichen. Erziehung
der Mittelschuljugend lenkt und eine Enunciation der Gesell¬
schaft an die große Oeffentlichkeit wünscht, da trotz der von
der obersten Unterrichtsbehörde im vergangenen Jahre vertilgten
Erweiterung der körperlichen Uebungen der Mittelschuljugend
diese Angelegenheit keine greifbaren Formen angenommen hat.
Da allem Anscheine nach im Elternhause das größte Hindernis
zu liegen scheint, so wäre eine an die große Oeffemt-
lichkeit gerichtete Enunciation, welche die Vorteile und den
zweifellos nicht nur für die körperliche, sondern auch für die
intellektuelle Entwicklung der Mittelschuljugend bedeutungsvollen
Einfluß der körperlichen Erziehung unserer Mittelschuljugend
betone und hervorhebe, wünschenswert. Der Verwaltungsrat hat
natürlich den Motiven der Eingabe, die sozusagen Gemeingut
der Aerzte sind, völlig zugestimmt, glaubt aber, die Angelegenheit
noch inehr zu fördern und vielleicht in ausgiebigerer Weise weite
Kreise und damit die breite Oeffentlichkeit für die Angelegenheit
zu interessieren, wenn die Gesellschaft den Antrag dem oben
erwähnten Zentralaussc.husse für öffentliche Gesundheitspflege zur
weiteren' Propagation übermittle. (Zustimmung.)
Von' der k. k. photographischen Gesellschaft ist ein Dank¬
schreiben für die durch einen Delegierten der Gesellschaft (Doktor
Hinterberger) zum Ausdruck gebrachte Beglückwünschung zu
ihn r 50jährigen Stiftungsfeier eingelängt.
Als SkrutatoreU für die bevorstehenden Wahlen von Mil¬
gliedern wurden vom Verwaltungsrate die Herren 0. Chiari.
Khautz v. Eulenthal rind Paschkis, zu fungieren ersucht,
zur Wahl aus dem Plenum sind, wie in den Vorjahren, die
Herreh Teleki sen. und Emil Schwa, rz vorgeschlagen. (Wird
zugestimmt.)
Hierauf legt der zweite Sekretär die Wahlliste vor; sie be¬
kifft ein Ehren-, vier korrespondierende und 28 ordentliche Mit¬
glieder. Es wird kein Einspruch erhoben.
B. Wissenschaftliche Sitzung:
Dr. Emil Fröschels : Meine Herren! Ich erlaube mir, Ihnen
heute einen Patienten vorzustellen, welcher in dieselbe Gruppe
gehört, wie der, den ich am 28. Oktober 1910 hier zu demonstrieren
die Ehre hatte. Sie sehen einen 7jährigen, körperlich gut ent¬
wickelten Knaben vor sich, welcher im Dezember v. J. in meine
Behandlung im sprachärztlichen Ambulatorium des St. Anna-
Kinderspitales trat. Er bot damals das Bild kompletter Stumm¬
heit und benahm sich der Sprache anderer gegenüber vollständig
verständnislos. Die Anamnese ergibt, daß er das dritte von vier
Kindern ist, von denen die beiden älteren normal, wenn auch
nicht besonders begabt sind, während das jüngste, ein Knabe
von vier Jahren, sich vollkommen analog verhält wie unser
Patient. Die Großmutter mütterlicherseits und die Mutter des
Patienten leiden an heftigen Migräneanfällen, die durch keine
Behandlungsart dauernd zu beseitigen sind. Die Urgroßmutter
war eine schwere Morphinistin. Ein Vetter ist Epileptiker; dieser
•stammt Von einem Vater, der Alkoholiker und Luetiker ist’ Unser
Knabe hat Pertussis, Skarlatina und Morbillcn durchgemacht. Er
hat nie die Zeichen des Myxödems geboten. Bis vor etwa zwei
Jahren bot er das klinische Bild der Taubheit, d. h. er reagierte
auf keinerlei Ton oder Geräusch. Damals wurde von seiten eines
Arztes die Diagnose auf sporadischen Kretinismus gestellt und
ihm täglich eine englische Schilddrüsentablette ä 0-3 g ver¬
ordnet. Zur gleichen Zeit, also wohl nicht durch das Medikament
beeinflußt, begann er das Wort „Mama“ zu sprechen. Seither
hat sich sein Geisteszustand gebessert. Er lernte den Gebrauch
verschiedener Gegenstände und verstand auch, wenn man durch
Deuten etwas Einfaches von ihm verlangte. Auch besserte sich
sein! Personen- und Ortsgedächtnis. Aber die von seinen Eltern
so heiß ersehnte Sprache trat nicht auf.
Zur (Zeit des Eintrittes in meine Behandlung war der Kranke
imstande, spontan einige Silben zu lallen, hatte jedoch absolut
kein Sprachverständnis. Sein Gehör war damals mit Sicherheit
nachzuweisen. Er hörte alle Töne der Urban t sch its ch sehen
Harmonika ;auf mehl als 6 m und drehte sich auf lauten Namens¬
anruf um. Von vorgehaltenen Bildern konnte er kein einziges
bezeichnen. Von zwei Bildern, welche gebräuchliche Gegenstände
zeigten, war er nicht imstande, dasjenige auszuwählen, welches
inan beim Namen nannte. Das Nachsprechen war mangelhaft,
einsilbige oder zweisilbige Worte wiederholte er, jedoch fehler¬
haft. Er verfügte nicht über alle Laute — einen Zustand, welchen
wir stammeln nennen. Im allgemeinen war er jedoch sehr auf¬
merksam und gab sich sichtlich Mühe, zu verstehen, was man
von ihm verlangte — jedoch ohne Erfolg. Im scharfen Gegensätze
dazu stand sein Verhalten, wenn man von ihm eine Arbeit for
derte. Er kannte den Wert aller gebräuchlichen Gegenstände und
hantierte damit ganz geschickt. Dadurch war die Diagnose einei
schwereren Intellektstörung, wie Idiotie oder Kretinismus, von
vornherein ausgeschlossen. Es handelte sich vielmehr um eine
isolierte' Erkrankung der Sprache. Das Kind verhält sich etwa
so, wie ein normaler, sprechender Mensch, welcher in ein Land
kommt, von dessen Sprache er kein Wort versteht.
In Anbetracht des guten Gehöjrs wurde die Diagnose an!
Hörstummheit gestellL und in weiterer Berücksichtigung seiner
Aufmerksamkeit und seines sichtlich guten Willens suchte ich
den Grund für seine Stummheit und sein fehlendes Sprachver¬
ständnis in einem angeborenen, abnorm schlechtem Namensi-
gedächtnis. Während es einem normalen Kinde von einem Jahre
genügt, wenn es hin und wieder ein Wort, hört und dabei sieht,
daß* mit diesem Worte immer derselbe Gegenstand gemeint ist,
um sich das Wort und den dazugehörigen Begriff zu merken,
genügt dies einem derartigen Patienten nicht. Er vergißt viel¬
mehr von einem Mal zum anderen den betreffenden Namen und
das dazugehörige Objekt. Er wird demnach nicht in der Lage
sein, ein Wort zu wiederholen und auch bei der nächsten Ge¬
legenheit nicht mehr wissen, was damit gemeint war.
Daraus resultiert die Behandlungsart. Man muß dem Kinde
zu jedem G egenstände so oft den Namen sagen, bis er ihn wieder¬
holen kann und darf für den Anfang nur wenige Worte im Tage
üben. Am besten benützt man dazu Bilder, immer eines auf
einem Blatte Papier. Durch diese einfache Behandlungsart ver¬
fügt ider Patient schon jetzt über einen großen Reichtum an, Worten.
Er bezeichnet die Gegenstände richtig und wählt ans einer größeren
Anzahl von Bildern dasjenige aus, welches man nennt. Er ver¬
steht jetzt auch schon einfache Sätze, indem er sich an die ihm
bekannten Worte, welche darin enthalten sind, hält. Seine Auf¬
fassungsgabe' wächst, er lernt täglich mehr und beherrscht auch
schon das kleine und große Alphabet. Ich glaube, daß das Kind
im nächsten Herbst die Schule wird besuchen können. Ohne
diese einfache Therapie wäre er nicht weitergekommen als der
elfjährige Knabe, den ich im Herbst vors teilte und der noch
fast genau so zurückgeblieben war wie unser Patient vor der
Behandlung. Dieser elfjährige Knabe hat übrigens seither eine
ganz genügende Stufe sprachlicher Entwicklung erreicht.
Es ist also bei allen stummen Kindern darauf zu achten,
wie sie sich bei Handlungen benehmen, die keinen Zusammen¬
hang mit der Sprache haben. Nur, wenn auch das ungenügend
ist, kann man intellektuelle Störungen diagnostizieren — sonst
liegt eine Sprachkrankheit vor, die relativ einfach zu heilen ist.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Kr. 10
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Was die Schilddrüsentherapie he trifft, so halte ich sie bei
meinem Patienten für nicht indiziert. Diese ist nur dann am
Platze1, wenn Zeichen von mangelhaftem Funktionieren der Schild¬
drüse vorhanden sind. Diese Zeichen aber sind vor allem soma¬
tischer Natur (Myxödem, Augenstellung usw.); der körperliche
Zustand unseres Patienten war jedoch seit jeher normal. Die
Fortschritte in geistiger Beziehung, welche 'er seit Einleiten der
Thyreoid in therapie machte, dürften wohl nicht auf diese zurück¬
zuführen sein. Sonst wäre es nicht verständlich, warum die
Sprache sich solange nicht einstellte, als nicht die einfache, das
Grundübel berücksichtigende Uebungsbehandlung eingeleitet wurde
und warum diese andrerseits so rasche Erfollge zeitigte.
Priv.-Doz. Dr. Leopold Freund demonstriert aus der Klinik
Finger:
1. Einen 15jährigen Burschen, bei dem vor fünf Jahren
zwei Herde von Lupus vulgaris (auf der linken Wange und
am linken Ellbogen) mit Rönt gen strahlen behandelt wur¬
den. ’Ich applizierte damals auf jeden Herd eine auf sechs Sitzun¬
gen verteilte Erythemdos.1. Die Affektionen heilten unter dieser
Behandlung vollständig und mit tadellosen glatten Narben aus.
Seit jener Behandlung ist keine Rezidive aufgetreten. Sie können
sich überzeugen, daß das erzielte Resultat in diesem Falle, so¬
wohl was Gründlichkeit, als auch was kosmetisches Aussehen
anlängt, den Vergleich mit den Erfolgen anderer Methoden nicht
zu scheuen hat.
Wie bei anderen mit Röntgen behandelten und geheilten
Fällen, haben wir die hier mögliche Nachkontrolle des damaligen
Befundes nur dem Umstande zu verdanken, daß sich hei dem
Kranken an anderen, damals noch gesunden Herdstellen, in letzter
Zeit wieder neue Lupusherde entwickelt haben, behufs deren
Behandlung er die Klinik wieder, aufsuchte. Diese befinden sich
an Körperstellen, welche von der damaligen Lokalisation des
Lupus weit entfernt sind: In der rechten Kniekehle und auf
der rechten Wange. Diese Herde werden nunmehr auch be¬
strahlt werden.
Das Auftreten der Nachschübe erklärt sich aus Knochen¬
narben an verschiedenen Röhrenknochen des Kranken. Solange
der tuberkulöse Knochenprozeh noch vorhanden, ist die Gefahr
neuer Aussaaten des Tuberkelbazillus in der Haut nicht erloschen.
Der Fall beweist erstens die Richtigkeit der von Finger
vertretenen Anschauung, daß auch die erfolgreichste Behandlung
lokaler lupöser Ha utaffek! innen eine bloß palliative Behandlung
bleiben kann, wenn tuberkulöse Herde im Innern des Körpers
vorhanden sind ; zweitens illustriert dieser Fall die von mancher
Seite in Abrede gestellte Tatsache, daß es gelingt, lokale lupöse
Herde mit Röntgenstrahlen radikal und mit tadellosen Narben
auszuheilen.
2. Das 15jährige Mädchen war angeblich, bevor es an
die Klinik Prof. Finger kam, wegen ihres Lupus anderwärts
fünf Jahre lang mit Röntgenstrahlen behandelt worden, ohne
daß der Prozeß zum Stillstände gekommen wäre. Bei der Auf¬
nahme am 30. Juni 1910 fehlte die häutige Nase und der knor¬
pelige Anteil des Seniums bereits vollständig, die Nasens'chleim-
haut, in den dem Defekte angrenzenden Teilen, war in 1 bis
2 mm hohe, schlappe, stark sezernierende lupöse Granulationen
innig ewändelt. Ein lupöses Geschwür in der Größe eines Heller¬
stückes erstreckte sich aus dem Naseneingang auf die rechte
Seite der Oberlippe.
ln Narkose wurden die lupösen Wucherungen mit der Kürette
abgetragen und einige Tage später, nach Entfernung von Krusten
und Borken, mittels Vaselin verbunden, die Röntgenbestrahlung
eingeleitet Die Kranke erhielt damals eine auf sechs Sitzungen
verteilte Erythemdose und Ende September desgleichen als Nach¬
behandlung.
Seit dem Sommer 1910 befindet sich das Mädchen in dem
Zustande, in welchem Sie es jetzt sehen. Alle Defekte sind voll¬
ständig und glatt überhäutet. Die kleinen, stecknadelspitzengroßen
dunklen Pünktchen an der Außenseite der Nase sind Pigment¬
anhäufungen, wie sie nach Röntgenbestrahlungen oft sichtbar
werden. Auch die kleinen Pünktchen an der unteren Zirkumferenz
der Narbe fasse ich als derartige Residuen der Röntgenbestrah¬
lung und nicht als latente Lupusherde auf. Wenigstens zeigten
sie seit fast drei Vierteljahren gar keine Tendenz zum Zerfalle
oder zur Vergrößerung.
Dieser Fall illustriert die Notwendigkeit einer zweckmäßigen
Technik der Röntgenbehandlung.
Zur Erzielung schneller und radikaler Erfolge der Röntgen¬
behandlung muß den Röntgen strahlen alles aus dem Wege ge¬
räumt werden, was ihre Wirksamkeit schwächt. Es’ ist nicht
die Aufgabe der Röntgenstrahlen, pathologische Produkte und
Wucherungen zu zerstören, sondern bloß die, jene Gewebskoni-
plexe zu beeinflussen, von denen solche Wucherungen ausgehen.
Die Zerstörung solcher pathologischer Wucherungen durch Rönt¬
genstrahlen ist umständlich, zeitraubend und erfordert große
Dosen, welche wieder die lästigen Reaktionen bedingen. Das
Schlimmste dabei ist aber, daß die pathologischen Wucherungen
als Filter, die in die Tiefe zur Basis der Affektion dringenden
Röntgenstrahlen wesentlich schwächen, so daß dort nicht mehr
die notwendige große Dosis von Röntgenlicht einwirken kann.
Dies ist bei Bestrahlung von malignen Tumoren oft direkt ver¬
hängnisvoll. Die zur Basis der Neubildung gelangende Dosis von
Röntgenlicht ist durch das Filter pathologischen Gewebes bereits
so geschwächt, daß dort in der Tiefe nicht mehr die zerstörende
Wirkung großer Dosen von Röntgenlicht, sondern die anregende
Wirkung kleiner Dosen von Röntgenstrahlen zur Geltung kommt
und wir können oft beobachten, daß nach Bestrahlungen
von karzinomatösen Tumoren der Tumor schwindet,
aber das Karzinom wächst, das heißt, sich weiter
verbreitet. Deshalb soll vor der Bestrahlung solcher patho¬
logischer Wucherungen alles, was beseitigt werden soll, auf chi¬
rurgischem, 'chemischem oder thermischem Wege entfernt werden.
Die Rönlgenstrahlen haben nicht die grobe, sondern die Fein¬
arbeit zu besorgen, das heißt, das zu zerstören, was jenen an¬
deren Methoden entgangen ist.
Den Nasen defekt bei dieser Patientin haben wir von Herrn
Dr. Karl Mennig durch eine Prothese decken lassen. Wie er¬
sichtlich, ist dies dem Künstler in geradezu idealer Weise ge¬
lungen.
Diskussion: Dr. Teleky meint, daß in dem einen Falle
eine chirurgische Behandlung, wie eine solche von Lang geübt
wird, ein kosmetisch besseres Resultat erzielt hätte.
Dr. Freund (Schlußwort) : 1 Auf die Bemerkung des Herrn
Dr. Teleky, daß, wenn die hier demonstrierte Patientin nach
den Methoden Längs behandelt worden wäre, die Ent¬
stellung nicht so bedeutend wäre, habe ich zu erwidern:
Die Anstalt, in welcher die _ Patientin ihrer Angabe nach
fünf Jahre lang behandelt worden war, bevor sie in dem
geschilderten Zustande in der Klinik Prof. Finger aufgenommen
wurde, war die Wiener Lupusheilstätte. Wäre bei der Patientin
eine operative Behandlung am Platze gewesen, dann hätte man
dort eine solche wohl vorgenommen.
Prof. Dr. Ed. Schiff stellt drei Fälle vor, bei welchen die
R a d i u m t h e r a p i e in Anwendung kam, respektive kommen wird.
1. Den ersten Fall habe ich im Jahre 1905 mit einem Epi¬
theliom der rechten Wange vorgestellt, welches mit Röntgen¬
strahlen behandelt wurde und von welchem jetzt keine Spur
mehr sichtbar ist. Die Behandlung bestand in 21 Sitzungen
und heute nach sechs Jahren kann ich den Fall als absolut
dauernd geheilt vorstellen. Wenn man dies im: Jahre 1905 auf-
genom'tnene Bild mit dein jetzigen Zustand vergleicht, so muß
man zugeben, daß die Narbe geradezu ideal ist. Vor vier
Wochen ist ein ep i t h e liom atöses Gebilde an der linken
Nas o-L alii al fa lte aufgetreten. Ich habe es mit Radium be¬
handelt; nach fünf Stunden lange dauernder Applikation des
Radiums verschwand allmählich das Epitheliom und die zurück¬
gebliebene 'Narbe ist. ebenso tadellos wie diejenige auf der Wange.
2. Die zweite Patientin, welche mir von Prof. Finger zu-
gewiesen wurde, habe ich im Jahre 1903 mit Mycosis f u n-
g o i d es voi’frestcllt. Pat. hatte über den ganzen Körper zerstreute
Tumoren, wie sie die damals aufgenommene Moulage zeigt. Ich
unterzog die Kranke damals der Röntgenbehandlung und nach
etwa 30 Sitzungen war ein vollkommener Rückgang der Ge¬
schwülste 'zu beobachten; da sich diese über den ganzen Körper
zerstreut befanden, zog sich natürlich die Behandlung sehr in
die Länge. Nach längerer Zeit wurde nun Pat. refraktär gegen¬
über Röntgenstrahlen, so daß sie hei ihr nicht mehr wirkten.
Seit etwa sechs Monaten habe ich bei dieser Kranken ebenfalls
die Radiumbehandlung eingeleitet und konnte unter derselben
einen ’prompten Rückgang der Tumoren beobachten, welcher nach
einer zwölf Stunden dauernden Applikation eintritt und nach
acht bis zehn Tagen beendet ist. An manchen Stellen sind
die Narben geradezu tadellos zu nennen, zum Beispiel an der
Brust, sie sind vollkommen glatt. Leider treten bei der Frau
fortwährend Rezidiven auf, so daß sie immer wieder von neuem
behandelt werden muß.
3. Die vorgestellte, aus der Provinz zugereiste Frau gibt an,
sieh August 1910 am Konto angeschlagen und davon eine Beule
bekommein zu haben, welche nachträglich sich zu einem Tumor
entwickelte. Dieser Tumor wurde exstirpiert. Pat. wurde nun
mit der Diagnose eines rezidivierenden Osteos'arkomls
post, ope ration om hieher gesendet. Ich habe ein Stückchen
der an der Stelle der früheren Beide gewucherten Geschwulst
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exzidiert, die Untersuchung derselben durch Herrn Professor
Dr. Stoerk ergab keinen bestimmten Anhaltspunkt für die ge¬
stellte Diagrföse. Wenn man mit der Sonde in die Geschwulst
eingeht, kommt man aut rauhen Knochen. Wenn es; sich um ein
Osteosarkom handelt oder gehandelt hat, ist die Gefahr vor¬
handen, daß es gegen das Gehirn zu wuchert. Ich werde die
Patientin experimenti causa mit Radium behandeln. Ich kann
es mir nicht versagen, bei dieser Gelegenheit meinem Bedauern
darüber Ausdruck zu geben, daß man das Radium, ein so wirk¬
sames Mittel, sich bei uns so schwer beschaffen kann, während
linan ein großes Quantum dieses Materials, für welches in Oester¬
reich die reichste Fundgrube sich Befindet, nach dem Ausland
verkauft hat.
Priy-Doz. Dr. Wilhelm Falta und Dr. Gottwald Schwarz
demonstrieren die wachstumfördernde' Wirkung der Neu-
lemgbacher Radium- E man a ti on s- Prä parate auf j u n g e
Pflanzen. (Erscheint anderwärts ausführlich.)
Dr. Gustav Bondy demonstriert einen Fall von zentraler
Neurofibromatose.
Die zwölfjährige Patientin erkrankte anfangs Dezember
vorigem Jahres unter Kopfschmerzen, Schwindelanfällen und rasch
zunehmender Schwerhörigkeit, weshalb sie Mitte Januar die
Klinik Prof. Urbantschitsch aufsuchte. Die Untersuchung er¬
gab normalen Trommelfellbefund, komplette Taubheit des rechten
Ohres, Herabsetzung der Hörschärfe am linken Ohre auf 6 in
Konversationssprache und 3 m Flüstersprache, einen spontanen
horizontalrotatorischen Nystagmus zur rechten Seite, sowie voll¬
ständige Unerregbarkeit beider Vestibularapparate, das heißt der
spontane Nystagmus ist weder durch thermische, noch durch
Drehreize zu beeinflussen. Beiderseitige Stauungspapille. Neben
diesen Erscheinungen, die zunächst auf einen rechtseitigen Aku¬
stikustumor weisen, finden sich multiple Fibrome und verein
zelte Pigmentflecke an der Haut des Rückens und der beiden
oberen Extremitäten, ferner zeigt sich die rechte Tonsille in
einen blassen, bis zur Medianlinie reichenden, zirka nußgroßen
Tumor vom ungefähren Aussehen normalen Tonsillargewebes ver¬
wandelt, der nirgends auf die Umgebung übergreift. Nasemachen¬
raum frei. Die histologische Untersuchung eines aus dem Tumor
exzidierten Stückes, die Prof. Stoerk vorzunehmen die Liebens¬
würdigkeit hatte, ergab Neurofibrom mit vermutlichem Uebergang
in Sarkom. Aus dem neurologischen Befund von Professor v o n
Frankl] -H ochwart wäre noch zu erwähnen ein gewisser
Grad von Imbezillität, Fehlen des Korneal reflexes rechts als
einziges Zeichen einer Trigeminusaffektion, die übrigen Hirn¬
nerven normal.
Es zeigt sich somit, daß der Akustikustumor in unserem
Fälle Teilerischeinung einer allgemeinen Neurofibromatose ist,
es sich also um eine zentrale Neurofibromatose, wie solche
Fälle nach dem Vorschläge von Mosse und C aval lie genannt
werden, handelt. Als besonders interessant möchte ich neben
der Seltenheit der Erkrankung — es sind im ganzen 17 Fälle
veröffentlicht' — das Vorkommen eines Neurofibroms der Tonsille
hervorheben, das ich bisher nicht beschrieben gefunden habe.
Es wäre weiters noch die Frage zu erörtern, ob wir be¬
rechtigt sind, auf Grund der Ausschaltung des linken Vestibular-
, alpparates, trotz des relativ guten Gehörs dieser Seite, auch
einen Akustikustumor der linken Seite anzunehmen. Ich glaube
diese Frage auf Grund folgender Erwägungen bejahen zu sollen.
Von den 17 bisher bekannten Fällen — ich beziehe mich hier¬
auf die Zusammenstellungen von Adrian, Funk enstein und
Keuschen — sind 15 durch Obduktion sichergestellt. In allen
diesen Fällen fanden sich die Akustizi doppelseitig betroffen,
trotzdem in drei Fällen (Sternberg, Rubritius und Spill er)
die klinischen Erscheinungen nur auf einen einseitigen Tumor
wiesen. Legt uns daher schon diese Tatsache den Gedanken
nahe, einen doppelseitigen Tumor anzunehmen, so findet der¬
selbe eine weitere Stütze in einer interessanten Angabe, die
Hens eb en in seiner kürzlich erschienenen Monographie „lieber
Geschwülste der hinteren Schädelgrube, insbesonders des Klein¬
hirnbrückenwinkels“, macht. Derselbe konnte in vier mikrosko¬
pisch genau untersuchten Fällen von Akustikustumor feststellen,
daß der Ursprung desselben am Boden des inneren Gehörganges
im oder um den unteren Endast des Vestibularis zu suchen ist.
Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, gewinnt die Tatsache,
(laß der Vestibül arap p arat auch linkerseits vollkommen aus¬
geschaltet ist, für unseren Fäll direkt die Bedeutung eines
Herdsymptomes. Ich glaube demnach nicht fehlzugehen, wenn
ich die Diagnose eines doppelseitigen Akustikustumors auf Basis
einer allgemeinen Neurofibromatose stelle.
Was die Therapie anlangt, so glaube ich, daß eine opera¬
tiver Eingriff wohl kaum in Frage kommen dürfte. Abgesehen
davon, daß die relativ geringen Beschwerden das Risiko eines
so ausgedehnten Eingriffes kaum rechtfertigen, ist im Hinblick
darauf, /daß in den meisten dieser Fälle die Akustikustumoren mit
sole mn an den Austrittstellen , anderer Hirn- und Spinalnerven
v eiigesellschaitet sind, an eine radikale Heilung ja überhaupt
nicht zu denken.
Hieraut hält Herr Dr. S. Federn seinen angekündigten
Vortrag: Leber optische Blutdruckmessung an der Ar-
teria radialis und über den lokalen Blutdruck (Er¬
scheint ausführlich.)
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 14. Februar 1911.
Vorsitzender: Hof rat Obersteiner.
Schriftführer : Raima an.
Zu Mitgliedern werden gewählt die Herren Doktoren: Maxi¬
milian K ohom, Rudolf Leid ler, Otto Wiener -Prag.
a) Pnv.-Doz. Dr. Karl Kunn: D er B eiw eg u n g s m e c h a n i s-
m u s der Augen.
Kunn 'hat eine große Zahl von Augenmuskellähmungen beob¬
achtet, bei welchen trotz teilweiser oder völliger Lähmung eines
Seitenwenders keine Abweichung des Auges nach der Seite des
Antagonisten beim Blick geradeaus erfolgt war, das lahme Auge
vielmehr mit seinem Hornhautscbeitel iu der Lidspaltemitte sym¬
metrisch zu seinem Partner stand. Diese merkwürdige Erschei¬
nung, von der er er früher geglaubt hatte, daß sie nur hei ange¬
borenen Beweglichkeitsdefekten des Auges Vorkommen könne und
die, wie sich jetzt zeigt, gar nicht so selten bei erworbenen
Lähmungen anzutreffen ist, dient zur Erklärung des ganzen Be-
wegungsmechanisnius der Augen. Man muß sich nach Kunn
vorstellen, daß hei Lähmung eines Seitenwenders der Bulbus
trachtet, seine primäre Ruhelage 'einzunehmen, geradeso wie bei
der Skelettmuskulatur die Lähmung eines Muskels zur Folge
hat, daß das von ihm versorgte Gelenk eine Mittelstellung ein¬
nimmt, um idie möglichste Entspannung sämtlicher Muskeln,
welche die Bewegungen des betreffenden Gelenkes beherrschen,
herbeizutühren. Aus analogen Gründen wird das Auge jene
Stellung einzunehmen trachten, bei welcher alle Muskeln möglichst
entspannt sind. Diese Stellung fällt aber nicht immer mit jener
zusammen, bei welcher der Hornhautscheitel in der Lidspalten¬
mitte steht. Der Punkt, in welchen sich der Hornhautscheitel bei
Entspannung aller Muskeln stellt, heißt der Indifferenzpunkt. Fällt
er seitlich von dei Lidspaltenmitte, dann haben wir bei Lähmung
eines Seitenwenders das Bild der sogenannten Sekundärkontrak¬
tur vor uns, die also in Wahrheit überhaupt nicht existiert. Fällt
er aber zufällig mit der Lidspaltenmitte zusammen, dann ent¬
steht die sogenannte Lähmung ohne Sekundärkontraktur. Diese
Erklärung genügt auch, um die Seitenwenderlähmung hei erhalte¬
ner Konvergenz ohne Zuhilfenahme der Erkrankung eigener
Zentren zu erklären. Liegt der Differenzpunkt beiderseits in
der Lidspaltenmitte und erfolgt eine beiderseitige Lähmung des
Rectus lateralis, dann werden die Augen symmetrisch orientiert
mit ihren iHornhautscheiteln in den Lidspaltenmitten stehen
bleiben, die Beweglichkeit nach rechts und links wird aufge¬
hoben, die Konvergenz aber völlig normal sein können. Das
gleiche, was für den Seidenwender gilt, gilt aber auch für die
Hebung und Senkung. Damit ist bewiesen, daß die Theorie
Schnabels, welche behauptet, daß jeder Seitenwender das
Auge aus einem Lidwinkel in den andern füihre und daß die
Stellring in der Lidspaltenmitte das Resultat der zweckmäßigen
Kontraktion sämtlicher exterioren Muskeln sein müsse, unhalt¬
bar- ist. Es gilt vielmehr die Annahme von Zuck er kan dl
und Erben, die nach Analogie mit den übrigen Skelettmuskeln
behauptet haben, daß jeder Seitenwender das Auge nach seiner
Seite und wieder zurück in die Lidspaltenmitte führe, mit der Ein¬
schränkung, daß eben, wie Ivunnis Fälle neuerdings beweisen,
die Ruhestellung nicht immer mit der Lidspaltenmitte zusammen¬
fällt. Jeder Seitenwender ist autonom und führt das Auge- aus
der primärem Ruhelage, hei welcher der Hornhautscheitel im Jn-
differenzpunkt steht, in äußerste Rechts-, resp. Linkswendung.
Die Mittelstellung des Auges ist nur dann das Produkt einer
Muskelaktion, wenn der Indifferenzpunkt nicht in der Lidspalten¬
mitte liegt. Sonst sind bei Mittelstellung sämtliche Muskeln ent¬
spannt und hei Lähmung eines Seitenwenders in einem solchen
Falle keine Abweichung des Auges im Sinne des Antagonisten
konstatierbar. Somit ist durch rein klinische Beobachtung und
die daraus gezogenen Schlüsse die Lösung des physiologischen
Problems, welches der Bewegungsmechanismus der Augen dar¬
stellt und das bisher völlig kontrovers war, möglich. 27 aus¬
führliche Krankengeschichten mit eingehenden Epikrisen illustrie¬
ren die Ansichten des Autors. Besonders hervorzuheben sind zwei
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Krankengeschichten mit Obduktionsbefunden. In beiden Fällen
hat lös sich um Ponstumoren gehandelt, die zu völliger Zerstörung
der ‘Abduzontes geführt hatten, während der Okülomotorius intakt
geblieben war. Trotzdem bestand intra vitam das Bild der Ab¬
duzenslähmung verschiedenen Grades, ohne Sekundärkon¬
traktur, bei erhaltener Konvergenz. Bezüglich der vielfachen
wichtigen Bemerkungen, welche Details und benachbarte Gebiete
betreffen, verweist Vor Ir. auf seine in den Beiträgen zur Augen¬
heilkunde, FI. 76 (Leopold Voß in Hamburg) erschienene aus¬
führliche Arbeit.
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Siegmund Erben: Die ori¬
ginellen Ausführungen vom Kollegen Kunn loben wohl die von
Zuckerk and 1 'und Erben entwickelte mechanische Auffassung
der "Ruhestellung des Auges, aber gelten lassen sie dieselbe nicht.
Auch Schnabel leugnete die Berechtigung unseres Bewegungs¬
mechanismus. Die Beobachtungen Kunns erscheinen mir viel¬
fach als Widerspruch zu unserer Lehre, wenngleich der Vortra¬
gende sie als neue Stützen bezeichnet. Zucker kan dl und
Erben glaubten zu erkennen, daß das Auge bei seiner Ruhe¬
stellung durch elastischen Zug in derselben erhalten wird, wie
es auch ohne willkürliche Muskelzusammenziehung und nur durch
elastische Kräfte von einer Seitenstellung in die Ruhelage zu¬
rückgeführt wird. Die elastischen Kräfte sind gegeben durch
den Tonus der (nicht verkürzten) Muskeln, durch die Spannung
der T en on sehen Kapsel, des Orbitalfetts, wie der Konjunktiva.
Nun sagte Kunn, „selbst wenn der Lähmungsgrad des Ant¬
agonisten ein ungleicher ist, kann das Auge in der Lidspaltenmitte
stehen, weil in dieser Stellung die Seitenwender völlig entspannt
sind“. Damit verkennt Kunn die Herrschaft der elastischen
Kräfte in der Ruhestellung. Gewiß ist keiner der Seitenwender
in der Ruhestellung aktiv verkürzt, doch haben sie in dieser
Stellung noch immer Tonus, der zu dem elastischen Zuge bei¬
trägt, womit das Auge in die Ruhestellung gezogen wird. Wenn
einer dieser Muskeln mehr gelähmt ist als der andere, so wird
der Tonus des ersteren weniger ausgiebig und die Elastizität
des anderen zieht den Augapfel zu sich; in diesem elastischen
Zuge — nicht in einer willkürlichen Kontraktion
liegt die Ursache der sogenannten „Sekundärkontraktur“. Auch
ich sah Lähmung von Seitenwendern, ohne daß das Auge in Schief¬
stellung stand ; das war immer eine unvollkommene Lähmung, bei
welcher die Parese noch keine ansehnliche Veränderung des
Tonus — also der Elastizität — hepworgerufen hatte. Bei den
weaiigen Fällen von vollkommener Lähmung, die ich sah, traf
ich stets Schieistellung; doch hat Kunn wahrscheinlich hier mehr
Erfahrung als ich. Wenn Kunn anführt, daß bei lang bestehen¬
dem Schielen mitunter die Tenotomi© keine Aenderung der ge¬
wohnten Ruhestellung erzeugte, so kann man außer seinen Fol¬
gerungen noch annehmen, daß diese Tenotomie unvollkommen
war, oder daß der jahrelang gedehnte Antagonist sklerosiert ist
und seine Elastizität verloren hat.
Ku nn nimmt an, daß die Augenmuskeln bei der Ruhestellung
„im höchsten Grade der Erschlaffung“ sind ; das scheint mir
ein Irrtum, denn jeder der Muskeln befindet sich hiebei bloß in
geringster willkürlicher Verkürzung und erreicht ein Seitenwender
zum Beispiel den höchsten Grad der Erschlaffung erst, bis
der Hornhautrand den entgegengesetzten Augenwinkel
erreicht hat; diese Erschlaffung ist keine gewöhnliche Dehnung,
sondern (durch Sherrington, dann auch von Topolanski
bewiesen) aktive Erschlaffung, die gleichzeitig mit der Kontraktion
seines Antagonisten innerviert wird.
Auch ein praktisches Interesse hat der Neurologe an der
Wirkung der Seitenwender. Letztere ermüden oft bei Neuro¬
pathien, wenn sie zu extremen Leistungen eine Minute hindurch
an gehalten 'werden ! Die Augen verlassen nach wenigen Sekunden
den Augenwinkel in langsamer Bewegung und kehren ruckweise
wieder zurück, um bald den Augenwinkel zu verlassen. Dieses Spiel
wiederholt sich. Ein anderes Phänomen der Seitenwender ist,
daß der äußerste Seitenblick, der vom Neuropathen in ruhig¬
gleichmäßiger Bewegung erreicht wird, beim Zurückführen des
Auges anfangs durch rasch oszi 1 ieren des Augenzittern unter¬
brochen wird. Das Auftreten dieser nystagmus artigen Bewegungen
erst im Momente des Verlassens der extremen Blick¬
richtung, findet sich hauptsächlich bei Neurasthenikern. Beiden
Erscheinungen werden die Kollegen schon gelegentlich begegnet
sein.
Priv.-Doz. Dr. M. Sachs.
Kunn erwidert den Herren Sachs und Erben, daß er
eingangs seines Vortrages ausdrücklich betont habe, daß er seine
Anschauungen nur skizzieren könne, da die genaue Beweisführung
mit Anführung aller Details den Rahmen eines Vortrages weit über¬
schreiten würde. Er habe nie behauptet, die Tatsache, daß die
Sekundärablenkung in gar keinem Verhältnis zu dem Grade der
Lähmung stehe, entdeckt zu haben, sondern nur darauf hinge¬
wiesen, daß sie absolut nicht berücksichtigt und gewürdigt wurde.
Unter Seitenwenderlähmung bei erhaltener Konvergenz verstehe
er ausschließlich, wie auch aus allen einschlägigen Kranken¬
geschichtein hervorgehe, die beiderseitige Abduzenslähmung und
nicht etwa konjugierte Seitenwenderlähmungen, sogenannte Blick¬
lähmungen. Daher gehören alle diesbezüglichen Einwendungen
nicht zur Sache.
b) Prim. Dr. Jos. Berze: Zur Psychologie und Patho¬
logie der Affekte. (Ausführlich in dieser Wochenschrift er¬
schienen.)
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. E. Stransky beschränkt
sich zu Berzes interessanten Ausführungen, -da der Vortragende
eine zu gewärtigende ausführliche Veröffentlichung in Aussicht
stellt, nur auf wenige Worte, indem er meint, daß ihm die intra-
psychische Ataxie etwas tiefer zu wurzeln und der zu suppo-
nierenden Primärstörung näher zu stehen scheine, als' dies aus
den Ausführungen des Vortragenden, denen er sonst in vielen
Punkten beipflichlen könne, sich ergeben würde; auch hatte
er nicht den Eindruck, als würden sich Erscheinungen intrapsychi¬
scher (Ataxie nur erst in schweren Fällen beobachten lassen; man
kann die Inkoordination der Psyche auch in leichteren wahr¬
nehmen. Stransky möchte auch nicht so weit gehen, zu sagen,
daß bei Schizophrenen der inadäquate Gefühlston aktuell eigent¬
lich nicht inadäquat sei: intelligentere Kranke dieser Art berichten
manchmal geradezu darüber, daß mindestens ihre Affektäußerun¬
gen 'oft nicht dem sie in einer gegebenen Situation okkupierenden
Bewußtseinsinhalt adäquat seien, empfinden daher ihr Gebaren
wie zwangsmäßig oder greifen zu entsprechenden Erklärungen,
wähnen sich unfrei, beeinflußt, zumal, wo auch noch Halluzinatio¬
nen entsprechender Art mit hineinspielen. Kraepelin hat auf
diese Verhältnisse näher hingewiesen; Schizophrenie bedeutet,
wie hier gegenüber einzelnen Autoren per parenthesis erwähnt
sei, noch nicht Demenz und daher ist es kein Wunder, wenn
Kranke dieser Art über psychische Innenvorgänge Bescheid
wissen, ganz so wie Manischdepressive.
Berze: Schlußwort.
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck.
Sitzung vom 24. November 1910.
Prof. Merk zeigt eine 38jährige Frauensperson (Virgo), an
welcher zunächst ein enormes ulzero -gummöses Syphilid der
linken Stirne unter Anwendung einer suhskapularen Injektion
von „606“- Schlamm und nebenbei täglichen Dosen von 2 g Jod¬
kali zu ausgiebiger, wenn auch dermalen noch nicht 'vollständiger
Schließung gekommen war. Injektion am 15. Oktober, 0-5 in
4-5 cm3 neutraler Emulsion. Bis 28. Oktober verbrauchte Jod-
kalimenge 28 g. Seither nur lokale Therapie. Das obere Augen¬
lid, das sich von der Orbita abgelöst hatte, war wieder an¬
gewachsen. Das Geschwür, das vor Behandlung gut handflächen¬
groß war, ist, namentlich seit mechanischer Loslösung von gan¬
gränösen Knochenstücken, bis auf drei, etwa je caubeneigroße
Wunden bereits verheilt. Gegen die Glabella zu besteht eine
Oeffnung in den Sinus frontalis, die wohl chirurgisch wird ge¬
schlossen werden müssen. Die Dauer der Lues und Art der
Infektion ist völlig unbekannt. (Siehe Krankenskizze Nr. 59 am
Schlüsse dieses Berichtes.)
Als zufälliger Befund zeigte sich bei derselben Kranken eme
Sclerodermia maculosa am Stamme und auch an den
Extremitäten. Pat. weiß über das Auftauchen der größtenteils
bohnengroßen Herde nichts zu berichten. Die Flecke sind weißlich-
gelb, zum Teil sukkulent, zum Teil an der Oberfläche leicht
runzelig oder leicht zum Runzeln zu bringen; offenbar Anzeichen
von beginnender Atrophie nach Sklerodermie. Exstirpation wurde
verweigert.
Ferner führte Merk eine 30jährige Frauensperson vor, an
welcher aus sepiabraunen, schwach narbigen, etwa höhnen- Ins
kronenstückgroßen Flecken an der Stirne (Corona venerea-GegendJ
und zum Teil im Haarbereiche mit Alopezie die Diagnose Ery¬
thematodes discoides in Ausheilung gemacht wurde.
Den Beweis für die Richtigkeit der Diagnose erbrachte ein m
den letzten Tagen zur Aufnahme gelangter Fall, der neben flonden
Herden ganz analogei Ausheilungsstellen darbot. (Siebe folgende
Demonstration.) , . ...
Dr. G j or gjevic: Demonstration einzelner r a i i e
von Lupus erythema to des disseminatus chronicus
und Lupus erythematodes discoides.
Eine 22jährige Patientin die immer gesund gewesen sein
soll ■ vor drei Monaten bemerkte sie im Gesichte, an der Nase
einen rötlichen Fleck, der in der letzten Zeit immer großer
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wurde, das Aussehen desselben hat sich angeblich im Verlaufe
der Zeit nicht verändert. Die Patientin wurde uns auf die Klinik
mit de* Diagnose Lupus vulgaris zur Finsenbehandlung geschickt.
Der zweitel Fall betrifft eine 22jährige, stets gesund ge¬
wesene Patientin. Seit zwei Jahren besteht bei Patientin das
jetzige Leiden im Gesichte und an den Händen, weswegen sie
auch in ärztlicher Behandlung stand und erst kürzlich am
Lande an beiden Wangen exkochleiert wurde.
Der dritte Fall betrifft eine 31jährige Patientin. Das Leiden
besteht bei der Patientin schon seit ungefähr vier Jahren; die
Erkrankung wurde von der Patientin auf eine Verkühlung zu¬
rückgeführt. Vor drei Jahren stand Patientin . durch sechs Mo-
liate auf unserer Klinik in Behandlung und ich erlaube mir einige
Rückblicke in die frühere, sehr ausführliche Krankengeschichte
zu werfen.
Wie Sie, meine Herren, sehen, handelt es sich in allen
drei Fällen um Lupus erythematodes ; Der erste Fall, zugleich
auch der leichteste, kann in die Gruppe der Erythematodes dis-
coides eingereiht werden; es ist nur eine einzige Stelle be¬
fallen, die Form einer Scheibe annehmend, im Zentrum eine
leichte Narbe erkennbar, die Peripherie deutlich livid verfärbt.
Die zwei anderen Patientinnen zeigen uns jedoch das cha¬
rakteristische Bild des Lupus erythematodes disseminatus chro¬
nicus. Es sprechen dafür die zentralen Herde, das Befallensein
der Haut des Gesichtes, des behaarten Kopfes, der Handrücken,
der Finger wie auch der Fußrücken, jedoch spärlich, der lange
Bestand.
Die 1 herapie dieser Fälle ist eine verschiedenartige.
Der erste Fall — Erythematodes discoides — ist zweifel¬
los prognostisch der günstigste; entweder werden wir die meistens
arigew endete Holländer -Chinin- Jodtherapie anwenden oder
wir werden die Patientin mit Kohlensäureschnee vereisen, von
welchem wir gerade in der allerletzten Zeit sehr gute Resultate
gesehen haben.
Die Therapie der zwei anderen Fälle wird sich hauptsäch¬
lich auf eine innere Darreichung von Chinin beschränken, mit
eventueller Pinselung einiger Herde mit Jodtinktur. Die Pro¬
gnose der beiden Fälle ist quoad sanationem eine schlechte,
während sie quoad vitam, wenn keine anderen Komplikationen
dazu kommen, keine ungünstige ist.
Ein Fall von Herpes zoster mit Psoriasis vulgaris
wird ausführlich publiziert.
Prof. Merk:: Ueber die Erfahrungen der Inns¬
brucker dermatologischen Klinik mit „606“.
Vortragender berührte zunächst die, seiner Ansicht nach,
wenig gewürdigte Tatsache, daß im allgemeinen Syphilisformen
der Haut aus der makulösen, infiltrierten und zum Teile selbst
destruktiven Gruppe therapeutischen Eingriffen gegenüber nicht
allzusehr Schwierigkeiten machen. Er verweist dabei auf Er¬
fahrungen, die er an der Krankenabteilung eines Grazer Anti-
merkurialisten machen konnte, vor allem- aber auf die mit Un¬
recht in Vergessenheit geratenen Experimente Ja risch’, der
eine terpentinhaltige Salbe nach Art der Schmierkur angewendet
hatte und dabei Syphilisfonmien, auch fern von dem Applikations¬
orte der Salbe, ausheilen sah. Aehnliches beobachtet man bei
Zittmärm-Kur, hydriatischen Prozeduren, Schwitzkuren. Allerdings
ist die größte rezidivfreie Zeit bislang nur durch Hydrargyrum
zu erzielen gewesen. Diesem kommt Jodkali am nächsten. Es
darf deshalb nicht wundernehmen, wenn im Arsen neuerdings
ein gutes Mittel gegen Syphiliserscheinungen aufgespürt worden
sei. Während aber Quecksilber und Jodkali rein empirisch zu
ihrem Rufe kamen, war es Uhlenhuths und Ehrlichs Genie
Vorbehalten, das Arsen durch wissenschaftlich mühevolle Studien
in eine Form zu Innigen, die dem Organismus ungefährlich bleibt,
die Erreger der Syphilis dagegen zu töten imstande ist. Der
Weg, der zu diesem Mittel, dem „606“, führt, ist durch Präparate,
wie Atoxyl, Arsazetin, Arsenophenylglyzin, markiert.
Ehrlichs Genialität begnügte sich ,tber nicht damit, ein
solches Mittel aufgefunden zu haben, es sollte auch durch ein¬
malige oder durch weniger Male Anwendung den Körper von den
Syphiliserregern befreien. Ob dieses Ziel erreicht sei, müsse die
weitere Untersuchung, namentlich auf Basis der intravenösen
Applikation, erweisen.
Sitzung vom 1. Dezember 1910.
Prof. Merk demonstriert in Fortsetzung seines Vortrages
in der Sitzung vom 24. November die Zubereitung des Ehrlich-
schön Mittels, seine Unlöslichkeit in neutraler, wässeriger, die
Lösung in schwach alkalischer oder schwach saurer, wässeriger
Flüssigkeit. Er hält es für unnötig, das Mittel zunächst alkalisch
zu lösen, um es dann durch Säuren zu (neutralisieren, und wendet
zu diesem Behüte, falls die Neutralisationsgrenze überschritten
w urde, me Essigsäure, sondern Salzsäure an, um statt Natrium-
aze-tat Kochsalz als Nebenprodukt zu bekommen. Anfänglich waren
aut der Klinik nur Injektionen des ungelösten Schlammes gemacht
worden. So überraschend auch die Erfolge waren, so befriedigten
dieselben doch erst, nachdem man zu der von Ehrlich selbst
gelinderten intraven Ösen Methode gegriffen hatte. Es entfallen-
hiebei die durch die Depotinjektionen bedingten Schmerzen, nach¬
folgenden Indurationen und Gangränen. Da aber mit letzterer
Methode erst am 4. November begonnen wurde, so beziehen sich
die Resultate nur auf -erster© Methode. (Im ganzen sind bis 4. De¬
zember 1910 44 intravenöse Injektionen, ohne daß ein Zwischen¬
fall unterlaufen wäre, ausgeführt.*)
Die Zahl der Kranken, auf die sich die Mitteilung der Er¬
gebnisse stützte, war auf 100 festgesetzt. (Sie ist 'bisher — 4. De¬
zember auf 110 gestiegen.) Davon sieben Rezidiven: bei Dosen
von 0-25, 0-5, 0-4, 0-45, 0-45, 0-5 und 0-6. An Tabellen war an-
schau lieh gemacht : 1. Das A 1 1 or dor I n ,j i z i orte n — Maxi-
mum 57 Jahre, Mehrzahl 20 bis 30 Jahre. Zwei Heredo-Luetiker
von 3 /'i Monaten und 10 Jahren. — 2. Di i e D au e>r der Syphilis
bis zui Injektion. Maximum 37 Jahre; Minimum 2 Vf Wochen;
g1 ö fites Kontingent etwa acht Monate-. Große Beachtung verdient
3. eine Tabelle, in welcher die Zeit zur .Darstellung kam, durch
welche — mit größeren und geringeren Zwischenräumen — die
Kranken vor und nach der Injektion in Beobachtung gestanden
waren. Vor: Fälle mit 291, 309, 532, 645, 716, 1051 und einer
mit 5342 Tagen; Mehrzahl etliche Tage. Nach: 15 Fälle sind noch
in Sicht und werden es voraussichtlich lange bleiben. Die Mehrzahl
allerdings verschwindet nach wenigen Tagen aus dem Gesichts¬
kreise. 4. An einer Tabelle wurden die serologischen Resultate
veranschaulicht :
I. Abnahme
1. ausbrechende Lues . 3
2. ausgebrochene, jüngere Lues .... 11
3. ältere Lues . 10
4. hereditäre Lues . 1 25
II. Gleichbleiben
1. ausbrechende Lues (immer fast negativ**) 1
2. ausgebrochene Lues . 12 13
III. Zunahme
1. ausbrechende Lues (trotz Behandlung**) . 8
2. ausgebrochene Lues (nach Abnahme) . 5
3. ausgebrochene Lues (trotz Behandlung,
Zu-, dann Abnahme) . 1 14
IV. In Beobachtung . 15
V. Rest . 33
Summe 100
Hiezu wird bemerkt: Die Behandlung war — namentlich
bei den Kranken mit langer Beobachtungsdauer vor der Injek¬
tion, aber auch bei solchen mit kürzerer Beobachtungsdauer —
mitunter eine gemischte u. zw. mit Merkur allein oder mit Jod¬
kali. Die Blutuntersuchung erfolgte wennmöglich1 jede Woche.
Halt man die Fälle mit ausbrechender Luesi zusammen, so
zeigten nur drei von elf Abnahme der Wassermann scheu
Reaktion. Dieses Ergebnis dürfte durch die Resultate der intra¬
venösen Methode — namentlich wenn sie wiederholt wird ---
bedeutend zugunsten der Frühbehandlungsmethode verschoben
werden. Bedenkt man, daß alter Erfahrung entsprechend, aus-
brechende- Lues nicht leicht hintangehalten werden kann, daß
ausgebrochene Lues (mit und ohne spezifische Behandlung) sym-
ptomenlos werden kann, daß latente Lues wieder manifest werden
kann, so sagt die Tabelle genau dasselbe, nur mit feinerem Titer.
Als Judikat ionsnorm kann aufgestellt werden, daß das Mittel
dort bedeutungsvolle Aussicht auf Erfolg haben wird, wo bisher
Merkur ialbehandlung oder Jodkalibehandlung angezeigt war. Probe¬
weise injizierte Tabiker im ersten Beginne des Leidens oder
Fälle mit progressiver Paralyse im allerersten Beginne blieben
unverändert. (Maximum der bisherigen postinfektioneilen Beob¬
achtungszeit vier Monate. Die- Fälle sind zumeist noch in Sicht.)
Bei der schwierigen Unterscheidung von Fällen letzterer Art
und Fällen von Lues c-erebri erfordert die Ergebnisbeurteilung
große Vorsicht-
Ais Methode der weiteren, Zeit wird vom Vor-
tragenden einzig die intravenöse Einverleibung be¬
zeichnet. Sie verhindert das Auftreten von nachträglichen
Schmerzen, Infiltraten und Gangränen. Schlamminjektionen
werden immer nur den Charakter einer Auxiliarbe-h and lung haben.
Arsenintoxikationsersch-einungen wurden nicht beobachtet, es sei
*) Bis zur Drucklegung dieses Berichtes, (27. Februar 1911) ge¬
stiegen auf über 140 Fälle.
**) Prognostisch ungünstig?
870
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 10
dnjji ein Fall von Zoster pectoralis sinister, den Vortr. demon¬
strierte (aut intravenös© Applikation). Intravenöse Injektion wurde
an fünf, vorher mit „606“- Schlamm -Injizierten nachgeholt.
Besonders beachtenswerte Verhältnisse boten:
K r a nk&nskiz z© Nr. 3. Frau, geboren am 7. September
1882. 158 cm hoch, 62-7 kg, Brust 88 cm, Arm 30 cm. Panniculus
adiposus, unter dem Schulterblatte geschätzt, 1-25 cm.
Lues seit Beginn 1910, ebensolange gravid.
Status praesens vom 7. Juli: Kleine* Schamlippen teigig
geschwellt, hart; hier und um das Genitale über dattelgroße Ero¬
sionen. Roseola am Stamme, den Extremitäten und den l’lantis.
Kindliche* Herztöne deutlich.
13. Juli 1910. 0-5 ungelöst, fast, neutral, glutäal, bdsts.
Danach durch zwei Tage gelegentlich 37-7, 37-2 Temperatur.
16. Juli. Exanthem verschwindet, genitale Erosionen über¬
häuten.
28. Juli. Mit noch deutlichen, aber überheilten und ent¬
zündungslosen Luesspuren entlassen. Kindliche Herztöne hörbar.
W ass er mannsche Reaktion am 12. Juli sehr stark, am 27. Juli
schwach positiv.
Wiederaufnahme* am 5. September 1910. Mit Leuco-
derma colli. Roseola figurata (Magno maculosa). Erosiones infil-
tratae ad et circa genitalia, (sicut scleroses). Gewicht 66-7. Kind¬
liche Herztöne hörbar.
28. September. Entlassen nach drei Injektionen a 0-1 Hy¬
drargyrum salicylicum und 20 Einreibungen ä 2 g Unguentum
cinereum pro die. Was s er mannsche Reaktion am '■>. und
27. September stark positiv, am 27. September etwas schwächer.
28. September. Kindsbewegungen werden von der Mutter
wahrgenommen. Am 29. September früh auf der Gebärklinik
Geburt eines frisch mazerierten Knabens, 47 cm lang, 2200 g
schwer.
Obduktionsbefund: Total mazerierte* Frucht mit Gas¬
bildung in den Organen, in denen jedoch keine Anzeichen von
Lues zu entdecken sind. Keine Milzschwellung. Keine Leber¬
veränderungen, keine Veränderungen an den Knochenknorpel¬
grenzen.
Krankenskizze Nr. 5. Geboren am 1. August 1884, Mann,
170 cm hoch, 63-5 kg, Brust 95 cm, Oberann 27 cm. Panniculus
adiposus 0-5.
Status praesens vom 9. Juli: Oedema indurativa prae-
putii permagnum. Sclerosis exulcerata in sulco cor. Fingerdicker
dorsaler Lymphstrang. Inguinale Adenopathie mäßig. Linke Pu¬
pille* größer. Noch keine Eruptionen. Infektion Mitte Mai 1910.
16. Juli. Mittags 0-6 glutäal bdsts. neutrale* Emulsion in
Wasser. Danach abends 39-3 Temperatur; dann Abfall.
1. August. Entlassung. Wunde im Sulcus coronarius seit
einigen Tagen geschlossen. I’räputiales Infiltrat zwar weicher,
aber immer noch hart. Dorsaler Lymphstrang federstieldick. Keine
Eruptionserscheinungen. Pupille* unverändert. Wasser m ann-
sche Reaktion am 14. und 26. Juli schwach positiv ; am 1. August
negativ. Bemerkenswert ist der scheinbare Widerspruch in dem
Vergehein der Seroreaktion und der Hartnäckigkeit der lokalen
Infektionserscheinungen. (Siehe das Gegenteil in Skizze* Nr. 59.)
Krankenskizze Nr. 16. Geboren am 7. September 1880,
Mann, 170 cm hoch, 62-5 kg, Brust 90 cm, Arm 28 cm, Panni¬
culus adiposus 3/<t cm.
Infektion am 22. April 1910. Sklerose Mitte Juni exzidiert.
Mitte- Juli spärliche Roseola.
Status praesens vom 1. August 1910: Macula ©rosa ad
gingivam. Roseola sparsa. Psoriasis palmaris bilateralis et plan¬
taris sinistra.
3. August. Mittags 0-4 Schlamminjektion, neutral, 9 cm3
in die Skapulargegend. Gleich danach starke Schmerzen, die nach
einer halben Stunde unter Eisbeutel schwanden. Maximaltempe¬
ralu r 8 Uhr abends 38, dann Abfall.
9. August. Orale Erscheinungen geschwunden. Roseola noch
in undeutlichen Spuren. Psoriasis noch deutlich diagnostizier¬
bar, aber pigmentiert, nicht mehr entzündlich.
Wassermannsche Reaktion: Am 21. Juni negativ, am
23. Juni ganz leicht positiv, am 5. Juli sehr stark positiv, am
1., 5. und 8. August schwächer, aber deutlich positiv.
16. September. Skleroseexzisionsnarbe weich. Undeutliche
Flecke an der rechten Palma. Rechte Inguinalknoten noch etwas
geschwellt. Gewicht 73 kg.
Bemerkenswert ist der Anstieg und Abstieg der Seroreak¬
tion; bis 1. August ohne spezifische Behandlung; seither Gleich¬
bleiben derselben trotz Behandlung.
Krankenskizze Nr. 18. Knabe, geboren am 30. April
1910, 59-5 cm hoch, 4-8 kg, Brust 38 cm, Arm 10 cm, Panni¬
culus adiposus ca. cm. _
Verantwortlicher Redakteur : Karl Kubasta.
Lues des Vaters seit Juli 1909. Kind bei Geburt symptom-
los. Mutter am 3. August 1910 serodiagnoslisch negativ. Exan¬
them des Kindes an diesem Tage seit wenigen Wochen.
Status praesens vom 3. August 1910: Lues magno-
maculo- papulosa, partim pustulosa trunci et extremitatum. Milz
und Leber vergrößert und hart. Icterus levis (luetisch?). Spur
Albuinen im Harn.
6. August. 0-03 in 0-7 cm3 links skapular, neutral. Tem¬
peratur fünf Stunden später 38*4, dann Abfall.
15. August. Icterus und Exanthem kaum erkennbar.
31. August. Milz noch immer größer, Leber vielleicht etwas
weicher. Beginn mit Kalomel, täglich 0 01, intern.
2. September. Bisher 21 Tage Kalomel. Aussetzen des¬
selben. Milz noch als weicher, aber kleiner Tumor fühlbar.
6. Oktober. Gewicht 6-2 kg.
Wassermannsche Reaktion; Am 3. August ausgesprochen
positiv, am 12. August sehr stark, am 16. August idem, am
2. September schwach positiv, am 27. September negativ.
Bemerkenswert ist der ausgesprochene Erfolg sowohl be¬
züglich der kutanen, als auch der viszeralen und serologischen
Symptome*.
Kranken skizze Nr. 59. Dieselbe betrifft den anfangs
des Berichtes erwähnten Fall von Sclerodermia maculosa.
Status praesens vom 14. Oktober: Ulcus lueticum per-
magnum ad frontem totalem sinistram cum Hyperostose margi-
nali et cavo frontale aperto et cum necrose ossis frontalis.
15. Oktober. 0-5 in 4-5 cm3, neutral, skapular rechts. Da¬
neben 2 g Jodkali täglich. Nach der Injektion keine Beschwerden,
keine Temperaturerhöhung.
Bis 28. Oktober 28 g Jodkali. Aussetzen.
18. November. Mit heute sind alle nekrotischen Stirnbein¬
stücke* abgestoßen. Reichliche Verkleinerung der Wunde, reich¬
liche Verschmächtigung der Knochenauftreibung am Rande.
29. November. Pat. drängt auf Entlassung.
Wassermann sehe Reaktion: Am 12. und 28. Oktober
und am 25. November immer gleich stark positiv.
Bemerkenswert im Gegensätze zur Krankenskizze 5: Gleieh-
bleiben der Seroreaktion trotz außerordentlichen Rückganges der
sichtabren Symptome. _ _ 3
Programm
der am
Freitag den io. März 1911, uni 7 Fbr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. M. Großmann stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Priv.-Doz. Dr. M. Herz : Die psychische Aetiologie und Therapie
der frühzeitigen Arteriosklerose.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Julius Neumann und
Ed. Herrmann, L. Wiek, Haus Salzer, Robert Breuer.
_ Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Saale der k. k. Gesellschaft der Aerzte in
Wien, Donnerstag den 9. März 1911, um 7 Uhr abends, statt. (Vor¬
sitz: Prof. Dr. H. Schlesinger.)
Prof. Dr. (lern. Frh. v. Pirquet (Breslau): Gedenkrede für
weil. Hofrat Froh Dr. Theodor Eschericli. _ Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 13. März 1911, 7 Uhr abends, im Sitzungs*
saale des Kollegiums L, Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Dr. V. Läufer stattfindenden
wissenschaftlichen V ersammlung.
Priv.-Doz. Dr. K. Glaessner : Neuere Gesichtspunkte der internen
Behandlung des Magengeschwürs. _ - _
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Dienstag den 14. März 1911, im Hörsaale der
II. Univ. -Frauenklinik. Beginn: Punkt 7 Uhr abends.
Vortrag: Heinrich Viktor Klein (a. G.): Die puerperale und
postoperative Thrombose und Embolie.
V. Kroph, II. Schriftführer. Wertheim, Vorsitzender. _
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Einladung zu der am 14. März 1911 im Hörsaal der Klinik Hofrat
v. Wagner (Zugang durch die Borschkegasse, alte Landesirrenanstr.lt),
abends 7 Uhr, stattfindenden Vereinsversammlung.
1. Demonstrationen: Dr. Bauer, Dr. Groß, Dr. Pötzl, Dr. Löwy-
2. Vortrag: Stabsarzt Priv.-Doz. Dr. Mattauschek : Die Eriolge
der Salvarsanbehandlung bei Nervenkrankheiten.
Nach der Sitzung gesellige Zusammenkunft im »Riedhof«.
Verlag ron Wilhelm Braumüller in Wien,
Dmrt von Brune RarteH. Wien XV1IL, Theresiengasse 3.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner. S.
H. Obersteiner. A. Politzer.
Exner, £. finger. M. Gruber, F. Hochstetter, A. Kolisko, H. Meyer.
A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt. J. v. Wagner. E.
J, Moeller,
Wertheim.
K. v.
Noorden.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel. Ernst Fuchs. Julius Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser,
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg.
Wien, 16. März 1911
Nr. II
INH
1. Originalartikel : 1. Aus der I. chirurgischen Universitätsklinik
in Wien (Vorstand: Prof. Dr. Anton Frh. v. Eiseisberg). Unter¬
suchungen über Asepsis Beitrag zur bakteriologischen Revision
aseptischer Operationen. Von Dr. Viktor Hecht und Dr. Robert
Kollier, gew. Operateur der Klinik. S. 371.
2. Aus der Heilstätte Hörgas in Steiermark. Weitere Unter¬
suchungen über die Einwirkung von Fermenten auf Tuberkulin
Von Prof. Dr. Th. Pfeiffer und Dr. H. Trunk. S. 379.
3. Aus der k. k Universitätsklinik für Ohren-, Nasen- und
Halskrankheiten in Graz. (Vorstand: Prof. Dr. J. Habermaiin )
Ueber Erkrankungen des Akustikus bei erworbener Lues. Von
Dr. Otto Mayer, gewesener Assistent der Klinik, Privatdozent
an der Universität in Prag. S. 381.
4. Uebei das Vorkommen von Erkrankungen des inneren Ohres
in frühen Stadien der Syphilis. Ein Beitrag zur Frage der
Salvarsanwirkungen. Von Priv.-Doz. Dr. Hugo Frey, Wien. S. 386.
5. Aus dem Landeskrankenhause in Klagenfurt. Klinische Be¬
obachtungen über Muskel- und Hautfinnen. Röntgennachweis
verkalkter Zystizerken. Bemerkungen zur Bandwurm- und
L T:
hinnenstatistik. Von Dr. Karl Pichler, Vorstand der inneren
Abteilung. (Schluß.) S. 338.
II. Oeffentliche Gesundheitspflege: Zur körperlichen Erziehung
der Mittelschuljugend. Von Priv.-Doz. Dr. Anton Bum. S. 394.
III. Referate: Atlas der Kristallformen der Absorbtionsbänder der
Hämochromogene. Von Walter J. Di Hing. Ref.: 0. v. Fürth.
Ueber Geschwülste der hinteren Schädelgrube, insbesondere
des Kleinhirnbrückenwinkels Von Folke Hen sehen. Ref.: Otto
Marburg. — Wesen und Behandlung der Achylia gastrica.
Von A. Schüle. Das runde Magengeschwür. Von F. Crämer.
Diätetik innerer Erkrankungen. Von Th. Brugsch. Referent:
E. Schütz.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Georg Kapsammer.
VI. Vermischte Nachrichten.
III. \ erliamllungeu ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Aus der I. chirurgischen Universitätsklinik in Wien.
(Vorstand: Prof. Dr. Anton Frh. v. Eiseisberg).
Untersuchungen über Asepsis.*)
Beitrag zur bakteriologischen Revision aseptischer Operationen.
\on Or. Viktor Hecht und Dr. Robert Köhler, gew. Operateuren
der Klinik.
Die neueste Zeit hat die Ueberzeugung immer mehr
gefestigt, daß in einer möglichst exakt ausgebilde¬
ten A s e p S i s ein großer Teil der Forts c h r i 1 1 e der
Chirurgie von heute gelegen ist.
Es erscheint daher notwendig, von Zeit zu Zeit
an chirurgischen Stationen den ganzen Komplex asep¬
tischer Maßnahmen einer wissenschaftlichen
bakteriologischenUnters u c hung revidierend zu
unterziehen, um einerseits das Gefühl der Sicherheil
m den bisher geübten Methoden der Asepsis zu stärken,
andrerseits eventuelle allzu langwierige und komplizierte
Maßnahmen der Asepsis durch wissenschaftlich begründete
einfachere Verfahren zu ersetzen. Die Beseitigung selbst
kleiner Fehler erscheint um so wichtiger, da hei den
| heutigen Fortschritten der chirurgischen Technik sich auch
die Anforderungen an dieselbe immer mehr steigern.
*) Auszugsweise vorgetragen in der Sitzung der k. k. Gesellschaft
k r Aerzte in Wien am 17. Februar 1911.
Es ist nun selbstverständlich, daß bei diesen immer¬
hin mühsamen Untersuchungen nicht immer gerade eine
Fülle neuer Tatsachen wird zutage gefördert werden können.
Aber die große Wichtigkeit der Frage der Asepsis bringt
es mit sich, daß solche Untersuchungen in praktischer Hin¬
sich gewinnbringender sein können, als die Erforschung
eines neuen Gebietes.
Die Ergebnisse der bakteriologischen Untersuchungen
über die seit mehreren Jahren an einer größeren chirur¬
gischen Station erprobte Methode der Asepsis mitznteilen,
hat somit in erster Linie für den Praktiker Bedeutung.
Seitdem man die Notwendigkeit erkannt hat, schon rein
lokal das Tätigkeitsfeld für septische und asep¬
tische Operationen zu trennen, war ein großer
Schritt nach vorwärts getan.
Seit mehr als fünf Jahren wird an unserer Klinik,
ebenso wie an anderen größeren chirurgischen Stationen,
durch Verwendung eines „aseptischen*' Operationssaales
dieser Forderung Rechnung getragen und die besseren Re¬
sultate der Wundheilung in den letzten Jahren haben die Be¬
rechtigung dieser Forderung in vollem Maße bestätigt.
Bei der Beurteilung der Resultate wurde natürlich
niemals außer acht gelassen, daßi der 'klinische Wand-
verlauf, an großem Materiale beobachtet, als das feinste
Reagens der Asepsis zu gelten hat.
Unsere Untersuchungen zerfallen in vier
Gruppen :
372
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, 1911
Nr. 11
1. In die Untersuchung des verwendeten Instru¬
menten-, Naht- und V erb and materiales, 2. des Ope¬
rateurs, 3. des Patienten und endlich 4. des Opera¬
tion sr au in es.1)
Wirkliche Asepsis im bakteriologischen Sinne
(Keimfreiheit) ist nur bei der ersten Untersuchungsgruppe,
das heißt bei dem durch Dampf oder kochendes
Wasser zu behandelnden Materiale zu erzielen.
Schwieriger gestaltet sich bekanntlich die Erzielung
von Keimverminderung, respektive Keimfreiheit an der
Haut, sowohl des Patienten wie des Operateurs. Hier kann
man selbstverständlich die Hitze in bakterientötenden Graden
nicht zur Anwendung bringen, so daß man von jeher darauf
bedacht war, sei es durch Rückkehr zu anti septischen.
Methoden, sei es durch Zwischenschaltung keim¬
freier Medien (Handschuhe, Kompressen usw., usw.),
diesem Ziele näher zu kommen oder durch Gerbung der
Haut eine Arretierung der Hautkeime herbeizuführen, um so
wenigstens die Keimabgabefähigkeit der Haut zu ver¬
mindern.
Ganz unmöglich erscheint es, die Luft des Operations¬
raumes vollkommen keimfrei zu machen; hier kann nur eine
gewisse „Hygiene und Prophylaxe der Luft“ die Zahl der
Keime einschränken.
*
1. Instrumenten-, Naht- und Verbandmaterial.
A. An der Dampf sterilisation, als der wichtigsten
Grundlage der Asepsis, hat sich, abgesehen von gewissen
technischen kleineren Verbesserungen, seit Schi mm el-
b usch nichts Wesentliches geändert und hat man auch
bisher keine Veranlassung gefunden, von diesem bewährten
Verfahren abzugehen. Nur bezüglich der Zeit der Einwirkung
des überhitzten Dampfes, bzw. des kochenden Wassers,
gehen die Ansichten noch auseinander.
Als Normalzeit für die Sterilisation des Verbandmateriales
und der bei der Operation zur Verwendung gelangenden Gaze- und
Wäschestücke gilt an unserer Klinik im allgemeinen zweistün¬
diger Aufenthalt in einem Rohrbeckschen Dampfsterili¬
sator. Da für gewöhnlich drei Viertelstunden zur Erreichung einer
Temperatur von 100° nötig sind, so ist das Material fünf Viertel¬
stunden der Einwirkung des strömenden Dampfes von der oben
erwähnten Temperatur ausgesetzt. Die relativ lange Dauer der
Sterilisation ist dadurch bedingt, daß sich bei diesem Apparat
hochgespannter Dampf mit Gasheizung nicht erzielen läßt. Die
Verpackung in flachen, durchbrochenen Blechdosen, die durch
eine Flanelleinlage abgeschlossen sind, gestattet ein freies Durch¬
strömen des Dampfes.
Zur leichteren Orientierung sind gleichartige Wäschestücke
im allgemeinen in je einer Blechdose verpackt. Für spezielle
Fälle sind einzelne Spezialverpackungen (Laparotomie, Struma,
Mamma, Ivraske usw.) in Verwendung.
Die bakteriologische Untersuchung der nach diesem
Verfahren sterilisierten Verbamdstücke ergab, wie vorauszu¬
setzen war, in allen diesen Fällen vollkommene Keim¬
freiheit; es ist dies auch selbstverständlich, da selbst die
widerstandsfähigsten Sporen, dieser Temperatur selbst kür¬
zere Zeit ausgesetzt, ihre Keimfähigkeit vollkommen verloren
haben.
Werden doch zum Beispiel Milzbrandsporen oder
Sporen des Kartoffelbazillus in vier bis zwölf Sekunden (je
nach Virulenz) im allgemeinen im strömenden Dampf schon
abgetötet (Heim).
Der Gang unserer Untersuchung gestaltete sich folgen¬
dermaßen: Die Verbandstücke wurden mit Nährbouillon
durchtränkt, diese dann steril aufgefangen und teils als
!) Für die septischen Fälle steht ein eigener Operations¬
saal in Gebrauch, der ausschließlich für diese dient, während ja im soge¬
nannten aseptischen Operationssaal doch hie und da nicht vollkommen
aseptische Operationen, allerdings unter denselben Kautelen der Asepsis,
vorgenommen werden müssen (z. ß. akute Appendizitis, Cholezystitis etc.).
Immerhin ist bei dieser Anordnung die Verbreitung septischen Materials
auf ein Minimum reduziert. -— Im Operationsraum des Hörsaals
kann bei den daselbst vorgeführten Operationen eine Scheidung nach
septischen und aseptischen Operationen nicht zur Durchführung kommen.
Das gilt auch für die hie und da in der pneumatischen Kammer vorzu¬
nehmenden Operationen.
solche, teils als Mischagar aerob und anaerob verarbeitet,
durch 24 bis 72 Stunden einer Temperatur von 37° aus¬
gesetzt.
Bei der Sicherheit des Dampf Sterilisationsverfahrens
lassen natürlich auch bereits gebrauchte Verb and-
und Wäschestücke, nach vorhergehender mechanischer
Reinigung, zehnminutigem Auskochen und chemischer Blei¬
chung in Chlorwasser, wiederholte Sterilisation und Ver¬
wendung zu. Auf diese Weise können selbst mit dem
virulentesten Material infizierte Gaze- oder Wäschestücke
wieder verwendet werden, wie auch die mehrere Male vor¬
genommene experimentelle Erprobung erwiesen hat (Ver¬
suche mit Staphylokokkeneiter, mit kotbenetzten Tupfern).
Zur Kontrolle für die exakte Durchführ ung, der
Sterilisation von seiten der damit betrauten Schwester dient
uns die von v. Mikulicz angegebene Jodstärkepapiei
method«', bei welcher in die Blechdosen ein mit 3°/oigem Stärke¬
kleister bestrichener und halbtrocken durch Jodjodkalilösung ge¬
zogener Papierstreifen als „Reagenzpapier“ für Hitzegrad und
Dauer der Einwirkung desselben dient. Das durch die erwähnten
Manipulationen schwarzblau gewordene Papier läßt das darauf
gedruckte Wort „steril“ unleserlich erscheinen und erst nach
20 Minuten langer Einwirkung strömenden Dampfes von 100°
kommt die Druckerschwärze durch Entfärbung des Papiers wieder
zum Vorschein. Erreicht die Temperatur des Dampfes weniger
als 100°, dann bedarf es mehr als einstündiger Einwirkung zur
Entfärbung des Streifens.
Die in Flügges Laboratorium angestellten Untersuchungen
zeigten, daß selbst die resistentesten Bakterien früher abgetötet
werden, als der Streifen entfärbt wird.
Im Anschlüsse an das sterilisierbare Verbandmaterial
sei auch der fixierenden Verbände .gedacht.
Gips verbände weiden, da sie nicht direkt auf die
Haut oder Wunden angelegt werden, natürlich aus nicht-
sterilisiertem Materiale angefertigt. 1 Da wir früher öfters
Pyozy aneusinf ektion unter dem Gipsverbande beob¬
achteten und dieses Bakterium neben Kartoffelpilzen
auch des öfteren in dem zu Untersuchungszwecken auf Nähr¬
böden verimpften Gipse des Handels nachweisen konnten,
setzten wir dem Wasser, in welchem die Gipsbinden durch-
tränkt wurden, etwas Sublimat (1:2000) zu.
In diesen Fällen unterblieb jede Infektion mit Pyo-
zyaneus, aber es ist zu bemerken, daß der Gips bei Subli¬
mat zusatz etwas langsamer erhärtet. i
Bei dem zu den Gipshanf schienen verwendeten
Hanf fanden sich gleichfalls Kartoffelbakterien (Mesenteri-
kusgruppe), kein Pyozyaneus.
B. Instrumentarium. Während für das textile
Material zur Erzielung der Keimfreiheit der strömende Dampf
in Betracht kommt, gelangt zur Sterilisierung fast des ge¬
samten Instrumentenmateriales das Kochen in siedendem
Wasser (mit Sodazusatz) in der Dauer von 15 Minuten zur
Anwendung.
Kürzere Kochzeiten gewähren keine abso¬
lute Sicherheit. £
Versuche mit Instrumenten, die reichlich mit Rein¬
kulturen von hoch virulenten, üppig wachsenden Staphylo¬
kokken (Staphylococcus pyogenes aureus) infiziert wur¬
den, ergaben beim Kochen in siedendem Wasser durch 15
Sekunden bis 15 Minuten bei den ersten beiden Zeiten
(1/4 bis V2 Minute) noch eine schwache Trübung der
Bouillon, während bei den länger als eine Minute ge
kochten Instrumenten die Bouillonproben gänzlich steril
blieben.
Staphylococcus pyogenes aureus auf Instrumenten.
Kochzeit
Bouillon
Mikroskopisch
15 Sekunden
ziemlich starke Trübung
)
spärliche Gram-
positive Kokken
30 Sekunden
schwächere Trübung
K
1
1 Minute
fast klar
3 Minuten
klar
steril
5 Minuten
klar
steril
10 Minuten
klar
steril
15 Minuten
klar
steril
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
373
Untersuchungen, der nicht verwendeten Instru¬
mente nach der Operation, ergaben bei kurzer Dauer der¬
selben Keimfreiheit, während sie sich hei längerer Dauer
als mit vereinzelten Duftkeimen (Sarzine, Heubazillen) in¬
fiziert erwiesen.
Es empfiehlt sich daher, die Instrumente erst kurz
vor Beginn der Operation aufzulegen; oder dieselben auf
dem Instrumententisch, mit sterilem Tuch bedeckt zu halten.
Verwendete Instrumente wiesen je nach dem
Operationsterrain verschiedene Keimarten und -zahlen auf.
Während sie sich bei Verwendung in reinem Terrain — zu
wiederholten Malen in den einzelnen Phasen von Opera¬
tionen geprüft — als keimfrei oder nur mit Luftkeimen in¬
fiziert, eiwiesen, zeigte sich bei Benützung in unreinem
Gebiete (Mundhöhle, Magen -Darmtrakt) stets die entspre¬
chende Bakterienflora an den Instrumenten.
Es ist selbstverständlich, daß auf diese Weise bei
Laparotomien mit Eröffnung des Intestinaltraktes, zum Bei¬
spiel, Phasen der Operation Vorkommen, die eine Infek¬
tion der Instrumente im Gefolge haben müssen und es
braucht nicht erwähnt zu werden, daß in diesen Fällen ein
Wechsel des Instrumentariums vorzunehmen ist, das in
der Zwischenzeit wieder ausgekocht wird. Ein neben dem
Instrumententisch stehender, mit Fußhebel zu öffnender,
kleiner, elektrisch konstant geheizter Sterilisier¬
apparat, erwies sich uns hiefür äußerst verwendbar.
Instrumente, die das Auskochen nicht vertragen, wie
Me rci er- Katheter, Zystoskope usw., werden auch bei
uns in der üblichen Weise mit Formalindämpfen (Pa¬
stillen von Schering) durch mindestens 24 Stunden bei
Zimmertemperatur sterilisiert. Bakteriologische Nach¬
prüfung erwies diesen Sterilisationsmodus als ausreichend.
(Daß glatte Metallinstrumente, die eine leichte mecha¬
nische Reinigung gestatten, die aseptischen Maßnahmen in
jeder Hinsicht erleichtern, sei als selbstverständlich nur
nebenbei angeführt.)
C. Auf die Untersuchung des Naht material es
wurde besondere Sorgfalt verwendet. Sie erfolgte durch
Uebertragen von 10 bis 15 cm langen Seiden-, respektive
Katgutfäden in Nährbouillon und Bebrüten derselben
durch 24 bis 72 Stunden. Die Proben erwiesen sich bei
wiederholter Untersuchung stets keimfrei.
Von einem Abspülen der Jodkatgutfäden vor dem
Uebertragen derselben in die Nährbouillon, glaubten wir
absehen zu können, da wir einerseits der Ansicht waren,
daß damit etwa vorhandene Keime weggeschwemmt werden
könnten, anderseits wiederum wir dem Hineingelangen einer
so geringen Quantität von Jod in eine größere Nährboden¬
menge, keine Bedeutung beilegen zu müssen glaubten (ver¬
gleiche auch Kutscher).
Die Desinfektion der Seide erfolgt in der Klinik
in der Weise, daß sie auf durchloch le Glasspulen in ein,
höchstens zwei Lagen aufgewickelt, eine halbe Stunde in
einer 2°/ooigon Lösung von Sublimat in destilliertem Wasser
gekocht und hierauf in 95°/oigem Alkohol mit einem Zusatz
von Sublimat 2-0: 10000, in vorher ausgekochten Gläsern
aufbewahrt wird.
Kat gut wird so, wie es im Handel bezogen wird,
locker auf Glasspulen gewickelt, in eine Lösung von Jodi
puri 30-0, Kal. jodat. 60-0 Aqua destillata 30000 ein¬
gelegt und ist erst nach achttägigem Liegen in dieser
Lösung bakteriologisch einwandfrei. Früher hat die Jod¬
lösung offenbar keine sicher bakterientötende
Wirkung.
(Da bei längerem Stehen dieser Lösung das Jod teil¬
weise ausfällt und die Flüssigkeit dadurch weniger wirk¬
sam wird, ist ein Wechsel derselben, spätestens nach Mo¬
natsfrist, empfehlenswert.)
Zur Lokalanästhesie wurden gewöhnlich die fertig
käuflichen Novokain-Adrenali nt! ab letten nach
Braun verwendet. Diesen Tabletten wurde von verschie¬
denen Seiten der Vorwurf der Keimhaltigkeit gemacht, ja
Resultat der Untersuchung des Nahtmaterials vor der Operation.
Bouillon
(24 Stunden
bei 37u)
Mischagar
dieser
Bouillon
Agar-Strich
Agar
(anaerob)
Seidenfäden
10 cm lang
(18 Proben)
steril
steril
steril
steril
Katgutfäden
(10 cm lang)
20 Proben
steril
steril
steril
steril
sogar in letzter Zeit, von Kutscher ein Verfahren zur Ste¬
rilisierung derselben angegeben. (Geringer Salzsäurezusatz
zum Lösungsmittel, um die Zersetzung des Adrenalins beim
Kochen zu vermeiden.)
Wiederholt angestellte Untersuchungen haben aber
vollständige Keimfreiheit derselben ergeben. Damit
stimmen auch die praktischen Ergebnisse mit den Tabletten
überein.
II. Operateur.
Während wir so für die erste Untersuchungsgruppe
einen vollkommen befriedigenden Sterilisationsmodus be¬
sitzen, gilt, dies nicht in gleicher Weise für die übrigen
Gruppen.
Die größte Aufmerksamkeit ist selbstverständlich dem
natürlichen Werkzeuge des Operateurs, der Hand, zuzu¬
wenden, da diese ja öfters unmittelbar mit dem Operations¬
gebiete in Berührung kommt. Die Frage der Hautdesinfek¬
tion steht noch immer im Mittelpunkt des Interesses. Und
obwohl darin in neuerer Zeit große Fortschritte gemacht
worden sind, so sei doch gleich vorweggenommen, daß eine
vollkommene Keimfreih|eit der Hand im allge¬
meinen nicht zu erzielen ist.
Die an unserer Klinik übliche H an dr einigen gs-
methode besteht bisher, ähnlich der von v. Mikulicz
angegebenen, in einer zweimaligen, je fünf Minuten langen
Waschung der Hände mit steriler Bürste in fließendem,
heißem Wasser, wobei zwischen erster und zweiter
Waschung eine Reinigung des Unternagelraumes, eventuell
Kürzung der Nägel, eingeschaltet wird.
Durch die energische Bearbeitung der Haut, nament¬
lich des Unternagelraumes, erfolgt eine Erweichung der
Epidermis und es ist damit die Möglichkeit gegeben, den
Nagelfalz leichter und angenehmer reinigen zu können. Darin
liegt entschieden ein Vorteil der Heiß wasserwaschung gegen¬
über der Alkoholwaschung.
Die zur Reinigung verwendeten Bürsten liegen in
einem größeren, i:n strömendem Dampf sterilisierbaren Ge¬
fäße zu etwa 50 Stück und werden mehrere Male während
der Heißwasserwaschung gewechselt, da die erstverwen¬
deten Bürsten bei wiederholter Untersuchung den größten
Keimgehalt aufwiesen und diese dann bei Verwendung nur
einer Bürste in die Haut verrieben wurden.
Eine wiederholt ausgeführte Züchtung der
Keime aus dem dem Holze zunächst gelegenen Teile der
Bürste, ergab nach dem Gebrauch stets massenhafte Kolo¬
nien von Hautkeimen.
Die Instrumente zur Nagelreinigung liegen, vorher
ausgekocht, in Karbolglyzerinlösung in sterilem Behälter.
Bouillon
Agar-Strich
Bürsten (nach Stunde in strömendem
Dampf)
steril
steril
Bürsten (Abspülflüssigkeit) nach
3 Minuten Händewaschen
reichlich Keime,
schwache Trübg.
einige
Hautkeime
Bürsten (Basalteil der Borsten)
—
zahlreiche
Hautkeime
Nagelfeilen “fvor Gebrauch)
steril
steril
Auf die Heißwasserwaschung folgt mit frischer Bürste
Abbürsten der Hände in fließendem, 95°/oigem Alko¬
hol durch ©in bis drei Minuten und Abtrocknen mit
sterilem Frottierläppchen.
371
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
Von den zahlreichen Untersuchungen sei das Ergebnis
einzelner genauer wiedergegeben :
Methode
Keimzahl pro
Fingerspitze
Mikroskopisch
Ungewaschene
Hand
Agar Druck (die
Fingerspitzen in
den Agar ein¬
gedrückt)
25 bis 30
Sarzinearten,
Gram -positive
Stäbchen mit
und ohne Sporen,
Staphylocc. alb. j
Nach 5 Minuten
Heißwasser¬
waschung
Agar Druck
ca. 20
idem
Staphyl. aureus
Nach 10 Minuten
Heiß wasser¬
wasch ung
Agar Druck
ca. 30 bis 50
idem
Nach l/a Minute
Alkoholwaschung
(95"/0)
Agar Druck
10 bis 20
Milchsäure¬
bazillenähnliche
Stäbchen, ziem¬
lich reichlich
Nach 3 Minuten
Alkoholwaschung
(95 °/0)
Agar Druck
10 bis 15
überwiegend
Gram-positive
Stäbchen
einzelne steril
0
Das Resultat von Untersuchungen, die nach einer A li¬
sp til met ho de angestellt wurden, zeigen die folgenden
zwei Tabellen.
Es wurden die Hände nach den bei uns gültigen Vor¬
schriften gewaschen, in den einzelnen Vorbereitungsstadien
mit 5 cm3 steriler Nährbouillon überschüttet und unter
waschenden Bewegungen verrieben; die von den Händen
abfließende Spülbouillon wurde sorgfältig in sterilen Petri¬
schalen auf gefangen und je 1 cm3 davon mit dem
verflüssigten Inhalt eines Agarröhrchens von 40° Tempe¬
ratur gemischt und als Mischagar gegossen.
Gezählt wurden stets zehn Gesichtsfelder mit Zeiß’
Objektiv A, Okular 4, Tubuslänge 160.
Keimzahl
Mikroskopisch
Ungewaschene Haut
281
.
Sarzinearten,
Gram-positive Stäbchen,
Staphylococcus aureus et
albus,
vereinzelte milchsäure¬
bazillenähnliche Kolonien
5 Minuten 1 Heißwasser-
10 Minuten 1 waschung
127
481
1 Minute \
-8 Minuten Alkohol(95',.)-
- waschung
3 Minuten )
230
118
50
Keimzahl
Mikroskopisch
Ungewaschene Hand
120
Sarzinearten, Gram-positive
Stäbchen mit und ohne
Sporen, vereinzelte milch-
säurebazillen hnliche
Kolonien
5 Minuten ) Heißwasser-
10 Minuten j waschung
54
6Ö0
_ 1 Minute | Alkohol-
2 Minuten waschung
3 Minuten j (9511/ 0)
100
15 bis 20
i 5 bis 10
Die nach dieser ,,A b s p ü 1 - M is c h a g a rinel h o d e“ ge¬
fundenen Resultate scheinen uns mehr der Wirklichkeit zu
entsprechen, da hei dem „Agar -Druck- Verfahren“ haupt¬
sächlich die Keimverhältnisse des Unternagelraumes zum
Ausdruck kommen, während bei der Spül m e th o d e die
Keimhaltigkeit der ganzen Hand gezeigt wird.
Die Befunde in beiden Tabellen haben das Gemein¬
same gezeigt, daß durch kurze Heifiwasserwaschulng
allein bestenfalls eine Keimverminderung, nie¬
mals Keimfreiheit der Hand zu erzielen ist. Auffallend
erscheint die starke Keim Vermehrung bei längerer
Heißwasserwaschung, die sich in unseren Versuchen
konstant zeigte. Es scheint die allzulange Bearbeitung der
Hände mit heißem Wasser und Bürste eben das Gegenteil
der beabsichtigten Wirkung zur Folge zu haben, da da¬
durch wahrscheinlich mehr Keime aus der Tiefe der Haut
aufgewühlt werden und an die Oberfläche gelangen.
Kurze (eine halbe bis eine Minute lange) Abspülung
in Alkohol wirkt ebenfalls nur keimvermindernd.
Dagegen ergibt die länger dauernde (drei bis vier
Minuten) Alkohol Waschung mit steriler Bürste in
fließendem Alkohol strahle nur bei einzelnen Ope¬
rierenden vollkommene Keimfreiheit, bei. anderen gleich¬
falls nur Keimverminderung. (Um etwa ein Drittel bis
die Hälfte der Keimzahl der ungewaschenen Hände.)
Alkohol waschung allein, ohne vorhergehende
Heißwasserwaschung, bewirkt nach drei Minuten eine ganz
bedeutende Keimverminderung. Während sich m
einem Falle an der vorher trockenen, ungewaschenen Hand
bei der Mischagarmethode, in zehn Gesichtsfeldern 726
Keime fanden, konnte man nachher bloß 90 Keime zählen.
Keimzahl
Mikroskopisch
Ungewaschen
726
( Kokken, Luftkeime,
f sporen tragende Stäbchen
3 Minuten Alkohol
90
Die Chlor - Ha ndd ^sinfek I ion, wie sie von Gibson in
New York geübt wird und im Verreiben von je einer Messer¬
spitze Calcium chloratum und Waschsoda mit warmem
Wasser und nachherigem Abspülen mit lauem Wasser be¬
steht, hat wohl den Vorteil großer Schnelligkeit und ge¬
währt auch eine keimfreie Handhautoberfläche; allein die
Hände werden dadurch angegriffen und es haftet ihnen
auch lange der üble Geruch des Chlors an (vgl. v. Eiseis¬
berg).
Auf die Untersuchung der Pathogenität der bei diesen
Versuchen gefundenen Keime konnte nicht eingegangen wer¬
den, da ja einerseits für jede einzelne Kolonie oder min¬
destens jede Keimart ein Tierversuch nötig gewesen wäre,
wobei aber im Falle einer pyogenen Wirkung beim Tiere
noch immer kein sicherer Schluß auf die Pyogenität beim
Menschen hätte gezogen werden können.
Wichtiger schien daher die klinische Beob¬
achtung der W u ndheilung.
Uebrigens gehörte die Mehrzahl der Keime, soweit sich
dies aus dem morphologischen und kulturellen
Verhalt en allein erschließen ließ, den Gruppen der sapro-
p h y t i s c h e n, bzw. der Luft eigentümlichen Keime an.
Aus der Gruppe der Sarzine fanden sich Sarcine lutea. !
citrea, alba und rosea, ferner Staphylococcus albus et au¬
reus, häufiger milchsäurebazillenähnliche, Gram-positive
lange, unbewegliche Stäbchen; fast stets fanden sich, beson¬
ders im Unternagelraume, Gram -positive, sporentragende
Stäbchen.
Die in den tieferen Hautpartien hausenden Mikroorga¬
nismen gehören hauptsächlich der Gruppe der „weißen“
Kokken, seltener den saprophytischen Streptokokken an.
Wie bakteriologische und histologische Untersuchungen, die
der eine von uns (Hecht) auf Veranlassung unseres Chefs,
Herrn Prof. v. Eiseisberg, an bei Operationen gewon¬
nenen Hautnarbenstücken vorgenommen hat, erwiesen
haben, finden sich diese Kokken auch in den tieferen
Schichten von Hautnarben eingeschlossen. Sie wurden in
diesen kulturell und in den nach Gram gefärbten Schnitt¬
präparaten leicht nachgewiesen; sie sind offenbar auch die
Ursache der sich manchmal von Hautnarben aus ent¬
wickelnde n E rysip el e .
Es ergibt sich aus den vorstehenden Untersuchungen,
daß trotz der aus den günstigen Wundverhältnissen zu ent¬
nehmenden Nichtpathogenität der gefundenen Keime, eine
absolute Sterilität der u nbekleideten Hand nicht
zuerzi elenist, somit die E inschjaltung eines, s i c here
Keimfreiheit gewährenden Mediums notwendig
erscheint.
In dieser Beziehung kommt nach genaueren Unter¬
suchungen, die Heile angestellt hat, der Zwirnhandschuh,
nach dem Vorschläge Zoege v. Manteuffels und den
Erfahrungen Döderleins, Friedrichs u. a., der Gummi¬
handschuh in Betracht.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
575
Seit mehreren Jahren steht an der Klinik der Zwirn¬
handschuh allein nicht mehr in| Verwendung, da, wie
auch unsere Versuche es bestätigen konnten, wohl der
trockene frische Handschuh Keimfreiheit gewährt, er jedoch
bei Durchfeuchtung, sei es durch den Schweiß der Hand, sei
es durch andere, von außen kommende Flüssigkeiten, wie
Blut, keimhaltig wird.
Auch Heile kommt mit seinen eingehenden Unter¬
suchungen zu demselben Resultate. Trockene Zwirnhand¬
schuhe halten den größten. Teil der Keime zurück, während
feuchte, besonders bei schwer infizierten Händen, zirka
50°/o der Keime durchlassen und somit keinen genügenden
Schutz bilden. Es soll dabei ein großer Teil im Handschuh
selbst fixiert sein, weshalb sich nach diesem Autor ein
häufiger Wechsel der Handschuhe intra operationem em¬
pfiehl). Anderseits bildet dieses Festhalten der Keime nach
Heile wieder einen gewissen Vorteil gegenüber dem Gummi¬
handschuh, der von seiner glatten Oberfläche die Keime
leicht wieder an die Wunde abgibt.
Der Gummihandschuh dagegen ist sowohl ste¬
rilisierbar, als auch absolut keimundurchlässig. Ein
Nachteil desselben liegt allerdings in der leichten Zerreib¬
lichkeit und Kostspieligkeit. Doch kann dies bei ei¬
niger achtsamer Handhabung und vorsichtiger Sterilisation,
bei der die Elastizität des Handschuhes erhalten bleibt,
leicht vermieden, respektive auf ein Minimum reduziert wer¬
den. Uebrigens scheint die Gefahr des Zerreißens quoad
größerer Keimhai tigkeit der Hand unter dem Gummihand¬
schuhe, gegenüber der unbedeckten Haut, nicht besonders
hoch einzuschätzen zu sein da wir auch bei der unter
dem Gummihandschuh stärker transpirierenden Hand
keineKeimvermehrung nachweisen konnten (vergleiche
folgende Tabelle.
Keimzahl
Mikroskopisch
Gummihand¬
schuh vor der
Operation
Agar, Druck
0
0
Nach einer
aseptischen
Operation
Agar, Druck
ca. 20 Keime
Luftkeime,
keine Kokken
Hand unter dem
Handschuh
Agar, Druck
25 — 50 Keime
Gram-positive
lange und kurze
Stäbchen, zum
Teil sporen¬
tragend
Hand vor An¬
legen des
Gummihand¬
schuhes
Agar, Druck
20—30 Keime
Gram-positive
lange und kurze
Stäbchen, zum
Teil sporen¬
tragend
Ein Versuch nach der Mischagarmethode ergab fol¬
gendes Resultat, durch das erwiesen ist, daß unter
dem Gummihandschuh, entgegen der früheren Anschauung,
trotz der Transpiration keine nennenswerte Vermehrung
der abgebbaren Keime stattfindet.
Keimzahl
Mikroskopisch
Hand nach Waschung mit
Heißwasser, 1 '/.2 Minuten
Alkohol vor Anlegung des
Gummihandschuhes
480
Gram-positive Stäbchen, teils
sporentragend, milchsäure¬
bazillenähnliche Stäbchen
Gummihandschuh vor der
Operation
0
0
Gummihandschuh nach
aseptischer Operation
20
Luftkeime
Hand nach Abziehen des
Gummihandschuhes
500
Gram-positive Stäbchen
etc. etc.
Immerhin ist die durch Läsionen der Handschuhe hin¬
durch tretende Keimzahl verschwindend gering, gegenüber
der Keimzahl der unbedeckten Hand.
Kommen, wie dies bei öfterer Verwendung kaum vermeidlich
ist, Läsionen des Handschuhes vor, so ist bei der Reparatur
desselben die größte Sorgfalt anzuwenden. (Vollkommenes Ent¬
fettein des Handschuhes mit Benzin, Verwendung tadellosen
Gummimateriales, Vermeidung von Falten- und Nischenbildung
an den Flickstellen.)
Vor der Sterilisation werden die Stulpen der Handschuhe
nach außen geschlagen, so daß an der unteren Hälfte die Innenseite
nach außen sieht und damit ein Anfassen der Handschuhe ohne
Berührung der Außenfläche ermöglicht ist.
Die Handschuhe werden locker, natürlich in trockenem
Zustande, angezogen und das genauere Anpassen mit der
nunmehr behandschuhten Hand ausgeführt. Die Stulpen wer¬
den dabei zur besseren Abdichtung über das untere Aermel-
ende des sterilen Mantels gezogen.
Vor der Sterilisation werden die Handschuhe mit vor¬
her exakt ausgeglühtem Talk innen und außen ein-
gestaubt, über einen Zwinnhandschuh gestreift, außen in
Gaze eingewickelt, um dann bei der Weiterbehandlung in
strömendem Dampf (eine halbe bis eine Stunde) nicht zu¬
sammenzukleben. Das Ausstopfen mit dem Zwirnhandschuh
ermöglicht nach Franz das Eindringen des strömenden
Dampfes.
Eine oberflächliche Infektion der Gummihandschuhe
durch keimhaltiges Material kann intra operationem durch
wiederholtes Abspülen mit Kochsalz oder Sublimat leicht
beseitigt werden.
Von der früher geübten Verwendung frisch ausge¬
kochter, nasser Handschuhe, sind wir abgekommen, da dabei
die Hände unter der hochgradigen Mazeration der Haut
sehr leiden.
Von der Verwendung des Chirosoter wurde deshalb
abgesehen, da dabei, wie die Erfahrungen gelehrt haben,
leicht Läsionen der überziehenden Decke bei Bewegungen
Vorkommen.
Das Döderleinsche Gaudanin war durch die gründ¬
lichen Untersuchungen Thalers an der Klinik Schauta
dem gewöhnlichen Waschverfahren mit. nachfolgender Jodie¬
rung nicht überlegen befunden worden.
Auch Dermagummit. ergibt keine absolute Keim¬
freiheit, sondern nur Keim Verminderung um zirka
ein Sechste] gegenüber der ungeschützten Hand.
Es wurde bei diesen Versuchen zuerst die Keimzahl
bestimmt, die in 1 cm3 der Abspülbouillon der ungewasche¬
nen Hand nach der oben angeführten Mischagarmethode
enthalten war, dann die Hände mit Dermagummit, bezie¬
hungsweise Chirosoter überzogen und nun nach Eintrock¬
nen analog eine neuerliche Keimzählung vorgenommen.
Nast-Kolb hat mit ausschließlicher Alkoholdesinfektion
der Hände und des Operationsgebietes reaktionslose Heilung einer
großen Reihe aseptischer Operationen erzielt, praktisch im wesent¬
lichen dabei den Vorschlägen von v. Bruns und Meißner
folgend. Er sagt darüber: „Zweifellos wurden schon bisher mit
den verschiedensten Desinfektionsmethoden ausgezeichnete Re¬
sultate erzielt . Wenn wir uns erinnern, wieviele kostbare
Viertelstunden des Tages wir vor dem Waschtisch zu bringen
mußten, beimüht, mit. dampfendem Wasser, Seife und scharfer
Bürste eine möglichste Keimfreiheit der Hände zu erzielen, so
wird ui an mit. Freude ein Verfahren begrüßen, das unsi in wenigen
Minuten ohne Erhitzung und körperliche Anstrengung zu ebenso
schönen Erfolgen verhilft . Wir operieren meist mit Gummi¬
handschuhen, die hier allein eine absolute Keimfreiheit ver¬
bürgen.“
Außer den Händen wird auch die übrige Aus¬
rüstung des Operateurs und der Assistenten möglichst
aseptisch gestaltet. Es stehen zu diesem Behufe bei jeder
Operation jedem einzelnen an der Operalion mitwir¬
kenden Operateur lange, durch einen Gehilfen rückwärts
zu schließende, sterilisierte Leinlenmänt el mit. bis
zum Handgelenk reichenden Aermeln zur Verfügung.
Zur Verhütung des Hineingelangens von Keimen aus
den Kopf-, respektive Barthaaren und zur Hintanhaltung
einer Infektion durch Mundkeime, werden Kopfhauben
und Mundmasken, die über Kinn 'und Nase reichen,
angelegt (v. Mikulicz). Ebenso stehen als gleichwertig, die.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
nur die Augen freilassenden, aus einem! Stück verfertigten
v. Piostlhorn schein Haubein im' Gebrauche.
Agarplatten, auf welche in einer Entfernung von 15
bis 30 cm gehustet, geniest und einige Zeit gesprochen
wurde, sind stets mit mehreren Hunderten von Mundkeimen
übersät, während hei derselben Versuchsanordnung mit
Maske die Platten steril bleiben (Flügge).
Keimzahl
Mikroskopisch
Behustet auf 50 cm Ent¬
fernung ohne Maske
Agarplatte
500
Mundspirillen, ver¬
einzelte Strepto¬
kokken
Behustet auf 50 cm Ent¬
fernung mit Maske
Agarplatte
1
j Mundkeime
> besonders (weihe)
Kokken
2 mal behustet auf
80 cm Entfernung mit
Maske
Agarplatte
1
2 mal behustet auf
30 cm Entfernung mit
Maske
Agarplatte
0
steril
Kopfstaub des
Operateurs ohne Maske
Agarplatte
25
Kokken, Stäbchen
Kopfschütteln mit
Haube
Agarplatte
o
Ergänzt wird die Toilette des aseptisch gekleideten
Operateurs noch durch Gummischuhe, die vor dem Be¬
treten des aseptischen Operationssaales angelegt werden
müssen, um das Einschleppen von Straßenstaub zu ver¬
meiden.
III. Patient.
Nicht minder wichtig als die Vorbereitung des Ope¬
rateurs ist die Vorbereitung des Patienten zur Ope¬
ration. Es ist hiebei in erster Linie die Aufmerksamkeit
auf eine sorgfältige Präparation des Operationsterrains zu
richten, die allerdings bis zu einem gewissen Grade schon
geringere Schwierigkeiten gegenüber der Hand des Opera¬
teurs darbietet.
Auch hier gelingt es durch bloße ’Heißwasserwaschung
der [Haut allein [nicht, Keinifreiheit zu erzielen, jedoch können
anderseits der Haut, des Patienten eher energisch wir¬
kende Antiseptika zugemutet werden, da es sich ja
in der Regel nur um eine einmalige Vorbereitung
handelt.
Agarplatten, die durch Abstrich oder Abdruck der Haut
mittels Tupfers, mit Hautkeimen beschickt wurden, ergaben
vor der Vorbereitung immer reichliche Kolonien von Sapro-
phyten, aber auch von Staphylokokken und Streptokokken,
über deren eventuelle Pathogenität aber aus den oben an¬
geführten Gründen im .einzelnen Falle natürlich kein Auf¬
schluß gewonnen werden konnte.
Keimzahl
|
Haut vor der Vor- 1
bereitung
Agarplatte
400
1 Sapropbyten, ver-
> einzelte Staphylo-
J und Streptokokken
Bouillon
starke
Trübung
Die bei uns übliche Technik der Vorbereitung des
Patienten gestaltete sich bisher folgendermaßen :
Warmes Reinigungsbad am Vortage der Operation
nach Rasieren des Operationsterrains und dessen Umge¬
bung. Unmittelbar vor der Operation wird durch fünf Mi¬
nuten mit Spiritus saponatus kialinus (Hebra), hie¬
rauf drei bis fünf Minuten mit Alkohol gewaschen. Den
Abschluß bildet eine kurze Spülung oder Abreibung mit
l%o Sublimatlösung.
Das so vorbereitete Terrain wird bis zum ersten Haut¬
schnitt steril bedeckt gehalten. Dem Schnitte geht un¬
mittelbar ein „.Todstrich“ in der Schnittrichtung voraus.
Diese Methode der Vorbehandlung mit .Todtinktur wird
in der Klinik bereits seit dem .fahre 1901 angewendet.
Die bakteriologischen Ergebnisse unserer gewöhn¬
lichen Patientenwaschung zeigt folgende Tabelle (Misch¬
agarmethode, Keimzahl von zehn Gesichtsfeldern ange¬
geben).
Keimzahl
Mikroskopisch
Ungewaschen
151
Saprophyten, vereinzelte
Streptokokken und
Staphylokokken
Nach 8 Minuten Seifenspiritus¬
waschung
102
Nach 5 Minuten Seifenspiritus¬
waschung
142
Nach kurzer Alkoholwaschung
('/2 Minute)
89
Nach Sublimatspülung
38
Wie aus der einen hier wiedergegebenen Versuchs¬
tabelle hervorgeht, fanden wir auch bei der Patientenvor¬
bereitung konstant nach langer Seifenspiritus-, respektive
Heißwasserwaschung nicht nur keine Keim Verminde¬
rung, sondern eher Keimlvermehrung gegenüber
der kurzdauernden und es scheinen auch hier durch
allzulanges Bearbeiten der Haut eher mehr
Keime an die Oberfläche der Haut zu gelangen. Es
empfiehlt sich (also auch hier eine mehr oberflächliche
mechanische Hautreinigung durch nur drei bis
vier Minuten.
Bei der nachfolgenden kurzen Alkoholabreib'ung
zeigt sich eine Keim Verminderung um etwa ein
Drittel, bei der Sublimatspülung um etwa zwei
Drittel der vorhergehenden Keimzahl. Folgt nun noch ein
kurzer Tod strich, so lassen sich nur mehr wenige Keime
nachweisen. Die Probe des aus dem ersten Schnitt hervor¬
quellenden Blutes wurde bei dieser Vorbereitungsmethode
in der Mehrzahl der Fälle steril gefunden, in einem ge¬
ringeren Teile ließen sich immer noch einige Keime nach¬
weisen.
Vorbereitet wird der Patient von dem lege artis ge¬
waschenen Operateur. Wäscht sich dieser nun nach dem
oben geschilderten Modus durch mindestens zwölf Minuten,
den Patienten durch acht bis zehn Minuten, so vergehen
mit der Vorbereitung, da er sich nach Waschung des Pa¬
tienten nochmals durch einige Zeit nachwaschen muß.
immerhin ca. 30 Minuten.
Abkürzen läßt sich das Verfahren wohl dadurch, daß
man sich bis zur Anlegung der Gummihandschuhe wäscht,
den Patienten mit Handschuhen vorbereitet und nachher
nach Abspülung der Hände in Alkohol nochmals die Hand¬
schuhe wechselt.
Auf diese Weise wurde an der Klinik in den letzten
.fahren verfahren u. zw. mit praktisch einwandfreien guten
Erfolgen.
Da seit längerer Zeit schon die Bestrebungen darauf
gerichtet sind, dieses viel Zeit und Assistemte nhände
erfordernde Verfahren möglichst abzukürzen (Gros¬
sich, v. Her ff, Heusner, Ahllfeld), anderseits nach An¬
gaben vieler Autoren und eigenen Erfahrungen, namentlich
die alleinige und infolgedessen intensive Todierung nicht
von jeder Haut reaktionslos ertragen wird, suchten wir
durch Anwendung eines anderen energisch wirkenden Anti¬
septikums die Haut auf kurzem Wege keimfrei zu gestalten.
Wir gingen hiebei von dem Gedanken aus, durch An¬
wendung eines, das Hautfett lösenden Mittels dem eigent¬
lichen Antiseptikum das Eindringen in die tieferen Schichten
der Haut zu erleichtern, einem Gedanken, den schon Heus¬
ner bei Angabe seines Todbenzins nähergetreten ist. Der
Effekt dieser Todbenzinwaschung ist jedoch im bakterio
logischen Sinne nicht einwandfrei. Bei selbst eine halbe
bis eine Minute langer Abreibung mit Todbenzin ergaben
sich noch immer reichliche Keime an der Hautoberfläche
(geprüft auf Agarplatten und in Bouillon).
Wir gingen nun daran, die Wirkung eines anderen
Antiseptikums, des Subli mat -Alkohol- Benz ins auf
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
377
die Keimhaltigkeit der Haut zu untersuchen. Seit längerer
Zeit schon steht in der Dermatologie l°/oige Sublimat -Alko¬
hollösung bei verschiedenen parasitären Affektionen der
Hautim Gebrauch, ohne daß wesentliche Reizerscheinungen
der Haut nach Anwendung dieses Mittels auftreten.
Wohl wirkt der dem Sublimat als Vehikel dienende
Alkohol an sich schon fettlösend, doch nur in geringem
Grade. Es kann daher zur Erzielung der Entfettung der
Haut eine Benzinabreibung vorangeschickt werden, da Su¬
blimat weder in Benzin allein, noch in Benzinalkohol zur
Lösung kommt.
Die Wirkungsweise der so gestalteten Vorbereitung
illustriert die Tabelle (die Untersuchungen wurden nach
der „Mischagarmethode“ vorgenommen). Zur Anwendung
gelangte eine V2%ige Sublimatlösung in 50% Alkohol.
Zeit in
Minuten
Agarplatte
Bouillon
Ungewaschene Haut
Zahlreiche
Kolonien
sehr starke
Trübung
Benzin-Sublimatalkohol-
waschung
v.
1
2
> steril
> steril
Blutprobe nach Benzin-
Sublimatalkoholwaschung
V 2
1
2
Exzidiertes Hautstück
nach Benzin-Sublimat-
alkoholwaschung
1/
/ 2
1
2
Es ist selbstverständlich, daß je nach Größe des Ope-
rationsrerrains die Zeitdauer der Sublimatalkohol-Abrei¬
bung verschieden sein muß, um jedem Teile desselben die
entsprechende Vorbereitung zukommen zu lassen. Es über¬
steigt dabei die verbrauchte Menge, selbst bei größerem
Gebiete, niemals 50 cm3. Gewöhnlich findet man mit viel
weniger sein Auslangen. Da übrigens der größere Teil des
Desinfiziens in dem zur Verwendung gelangenden Gaze¬
tupfer zurückbleibt, so kommt kaum eine größere Su¬
blimatmenge zur Resorption.
Die anfangs verwendete l%ige Lösung wurde wohl
von der Mehrzahl der Patienten ohne Hautreaktion ertra¬
gen; nur in zwei Fällen (unter den ersten 40) zeigte sich
Ekzem an der Skrotalhaut, die allerdings durch vorher¬
gehendes Rasieren bereits gereizt war.
Bei einem Kinde trat ein Ekzem am Arm auf, doch
handelte es sich in diesem Falle um eine Idiosynkrasie
gegen Sublimat, da gelegentlich einer Operation im Vor¬
jahre bei demselben Patienten, im Anschlüsse an eine
kurze Spülung mit der gewöhnlichen l0/o>0igen wässerigen
Sublimatlösung, nach Angabe der Mutter ein ebenso starkes
Ekzem aufgetreten war. Sonstige toxische E r s c h e i nu n-
gen des Sublimats, wie Speichelfluß, Stomatitis, Aloumi-
nurie und Zylindrurie, ließen sich in keinem Falle nach-
weisen. V
Bei einem Falle von Carcinoma oesophagi, bei dem
die Gastrostomie vorgenommen wurde und der drei läge
post operationem infolge von Marasmus und Lobulärpneu¬
monie ad exitum kam, zeigte sich bei der Sektion die
Hautmuskelwu nd e und das Peritoneum freivonje d e r
pathologischen Veränderung.
Da, wie aus dem Versuchsprotokolle hervorgeht, auch
die 1/2%ige Sublimat-Alkohollösung in gleicher Weise Keim¬
freiheit gewährt, wie die l%ige, so haben wir im An¬
schlüsse an die oben erwähnten Fälle von Hautreaktion
in der Folgezeit stets nur V2%ige Lösung verwendet, wo¬
bei auch statt des früher gebrauchten 95%igen Alkohols
jetzt 50%iger genommen wurde.
Seit Anwendung der weniger konzentrierten alkoho¬
lischen Sublimatlösung, beobachteten wir keine patholo¬
gische Hautreaktion mehr. (
Man wird hiebei, ebenso wie es für das Grossich-
Verfahren vielfach angegeben wird, gut tun, bei sich be¬
rührenden empfindlicheren Hautpartien, wie Analfalte,
Skrotum, Axilla, die Berührung je zweier so vorbereiteter
Hautstellen durch Einlegen eines Verbandstückes zwischen
dieselben hintanzuhalten.
Das Verfahren wurde zunächst an ca. 100 größeren
und kleineren (Operationen versucht, darunter Hernien,
Strumektomien, Laparotomien, Mammaamputationen usw.
Es genügt, bei kleinerem Operationsterrain eine je eine
halbe Minute lange Abreibung mit Benzin und Sublimat-
Alkohol, bei größerem Operationsfeld eine ein- bis andert-
halbminutige Abreibung mit beiden Lösungen.
Die Kürze des Verfahrens, die absolute Keirrifrei-
heit der Haut in bakteriologischem Sinne, sichert dieser
Methode der Vorbereitung entschieden den Vorzug gegen¬
über dem alten Verfahren.
Das Jodverfahren von Grossich bietet bakte¬
riologisch nicht immer einwandfreie Resultate, weshalb wir
es an der Klinik bei größeren Operationen, die besondere
Asepsis erheischen, nicht anwenden. Nur bei kleinen ambu¬
latorischen Eingriffen (Panaritien usw.), sowie bei frischen
äußeren Verletzungen wird eine Jodierung der Haut vorge¬
nommen. Wohl wird von Gros sich und einer großen Reihe
von Autoren (Bogdan, Brewitt, Federmann, Unger,
Nast-Kolb, Kratodhwil, Kausch u. v. a.) über sehr
gute Resultate der Wundheilung bei der „Grossich-Me-
thode“ berichtet, doch konnten wir uns von einer absoluten
keimvermindernden Wirkung der Jodtinktur nicht über¬
zeugen. Die Jodtinktur verdankt ihre Verwendung ihrer
ausgezeichneten gerbenden Wirkirng und wirkt
durch Festhaltung der Keime in der Haut. Dagegen hat
sich bei unserer Suhl i m at- A 1 k oh olmethode eine
absolutkeimfreie Haut Oberfläche hersteilen lassen.
Auch Kutscher hat bei seinen experimentellen Unter¬
suchungen der Jodtinkturwirkung eine wirklich sterilisierende
Wirkung derselben nicht konstatieren können. Milzbrandbazillen,
die in die rasierte Bauchhaut von Kaninchen eingerieben wurden,
wurden in ihrer Lebensfähigkeit durch Jodtinktur nicht beein¬
trächtigt. Ebenso blieben auch Staphylokokken, Pyozyaneüs
selbst bei 60 Minuten dauernder Einwirkung der flüssigen Jod¬
tinktur unbeeinflußt. Derselbe Effekt zeigt sich beim Antrocknen
von Jodtinktur auf mit Bakterien infizierten Seidenfäden. Wir
konnten zeigen, daß sich Staphylokokken noch üppig züchten
ließen, wenn man sie auch zwei Minuten lang energisch mit
Jodtinktur Verrieben hatte.
Unger hat Grossichs Jodtinkturverfahren bei 25 La¬
parotomien und 50 kleineren Operationen mit gutem Erfolge ver¬
wendet und empfiehlt es ohne vorhergehende Seifenwasser¬
waschung, besonders für dringende Fälle.
Feder mann sieht den Hauptwert der Jodmethode in der
fixierenden und gerbenden Wirkung der Jodtinktur, gegen welche
die desinfizierende Komponente derselben zurücktritt. Hiezu
kommt noch die hyperämisierende Wirkung des1 Jods mit Er¬
zeugung einer reaktiven Entzündung. Bei 110 größeren Opera¬
tionen hat Federmann nur zweimal Hautinfektionen gesehen.
Davon abgesehen fand sich auch bei Hämatomen und bei infi¬
zierten Fällen primäre Hautheilung.
Günstige Erfahrungen mit Grossichs Methode berichten
auch König, Walther, Bogdan, Pawlowsky, Kratoch-
vil u. a.
Brewitt berichtet über günstig beeinflußte 500 Fälle, dar¬
unter 153 Laparotomien. Als Nachteile machten sich leichte
Hautreizungen (Juckreiz, Brennen, Rötung) geltend, für deren
Behandlung Brewitt die Anwendung von H o u s n eüschem Jod¬
benzin empfiehlt. Bezüglich der gefalteten Skrotalhaut meint
Brewitt: „Immerhin ist das Skrotum mit seinen Runzeln und
Falten ein Ort, der zuweilen schon bei einfacher feuchter Be¬
netzung mit einem Ekzem reagiert, so daß ich diese einzige
Körperstelle, wenn möglich, von einer intensiven Jodpinselung
aüsnehmen möchte.“
Frank empfiehlt das Jodbenzin nicht in der von Heusner
angegebenen Modifikation anzuwenden (Tct. Jodi, in Benzin auf-
geschwemmt), da diese Lösung pharmakologisch unmöglich ist,
sondern Jod langsam in Benzin zu lösen und dann erst Paraffin
zu zu s etzen . ^
Knoke hat die Methode von G r o s s i c h bei 350 Opera
tionen angewendet und dabei in etwa 1 % der Fälle Jodekzem
beobachtet. Er hebt, wie früher schon König und Brewitt u. a.,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
878
hervor, claß sich Skrotum und Damm nicht für diese Haut¬
dosinfizierung eignen, wenn man nicht dafür sorgt, daß sich zwei
jodierte Hautpartien nicht dauernd berühren.
Jungengel hält die sich in Jodtinktur leicht bildende
Jodwasserstoff säure als die Ursache der unangenehmen Haut¬
reizungen. Er empfiehlt daher die Anwendung des Jods in Form
von erhitztem Joddampf. Bei Vorbereitung zur Operation er¬
folgt das Aufsprayen von Joddampf einige Stunden vor der
Operation.
Es sei übrigens bemerkt, daß das Sterilbleiben der
Nährböden bei unseren Versuchen nicht etwa durch ein
Hinein gelangen von Sublimat in den Nährboden zu erklä¬
ren wäre, da wir bei sekundärer Beschickung dieser steril
gebliebenen Nährböden, Eiterkokken auf denselben zu reich¬
lichem Angehen bringen konnten. Selbstverständlich hat
man in der Nähe von Körperöffnungen (Mund, Anus, Vagina)
und Augen ein Hineingelangen der Sublimatalkohol-Lösung
zu vermeiden. Ueber Tanmin-Alkoholwaschung (5%) nach
Zabludowsky sind noch zu wenig Erfahrungen vor¬
handen.
Während man so die Haut durch Antiseptika möglichst
keimfrei machen kann, wird durch Bedecken der wei¬
teren Umgehung des Operationsfeldes mit trocke¬
nen sterilen Tüchern eine aseptische Decke über dem Pa¬
tienten geschaffen und dadurch ein Hineinge¬
langen von- Keimen aus den nicht gereinigten Bezirken
des Körpers womöglich verhütet.. Im Operationsgebiete
seihst bleibt durch dichtes Abdecken und Anheften von
eingeschnittenen Kompressen mittels Klammern, die nach
Art von Kugelzangen gestaltet sind, nach ausgeführtem
Hautschnitte eigentlich nur das von den WundränJdern
begrenzte engere Operationsfeld unbedeckt.
Gerade in der exakten Abdeckung sehen wir
ein wichtiges Hilfsmittel für den aseptischen Ablauf
der Operationen. Dabei muß die Abdeckung so
v o 1 1 k o m m e n sein, daß womöglich kein Körperteil
des Patienten vorschaut (außer eventuell der Kopf),
so daß man auch nicht. leicht mit nicht sterilem Gebiet in
Kollision geraten kann. Fs kann allerdings Vorkommen, daß
im Verlaufe der Operation die Kompressen durch Aufnahme
von Feuchtigkeit wieder ,,k ei ml ei tend“ werden, weshalb
sie öfters während der Operationen durch trockene Tü¬
cher überdeckt werden müssen.
Bei besonderen Operationen wird auch eine spezielle
Art der Abdichtung beobachtet.
So wird hei Operationen an /Kopf und Hals dieses Ziel
durch Einwickeln der Haare mit einer in Sublimat getränkten
sterilen Binde zu erreichen gesucht, bei Halsoperationen
(Struma) wird vor dem Gesicht auf einem eigenen Gestelle
(v. Mikulicz) der Vorhang nach Kocher befestigt; außer¬
dem wird die Narkose mit sterilem Instrumentarium von
einem aseptisch vorbereiteten Narkotiseur vorgenommen.
Das Tunk ergebläse wird, um es vor öfterem schäd¬
lichen Auskochen zu bewahren, mit sterilem Tuche umhüllt
gehandhabt, zumal mit dem langstieligen Junkerschem
Ansatz eine Kollision mit dem Operationsfelde ohnehin leicht
zu vermeiden ist.
IV. L u f t d e s Operationlsraumes.
Die große Bedeutung, die man in früherer Zeit der
Infektion durch in der Luft suspendierte Keime heilegte,
wird in der letzten Zeit nicht in gleichem Maße anerkannt.
Insbesondere haben die Arbeiten Flügges und seiner
Schüler Aufklärung in dieser Frage gebracht und gezeigt,
daß sich durch geeignete Maßnahmen die Gefahren der Luft¬
infektion reduzieren lassen.
Die Art des Verbreitungsmodus von Luftkeimen ist
die in Form von Staub- oder Tröpfcheninfektion. Dem Staub,
als Träger von Keimen, ist eine geringere Bolle zuzuschrei¬
ben, da die meisten der für uns wichtigen Eitererreger durch
Austrocknen bald zugrunde gehen. Doch kann, wie v. Miku¬
licz betont, namentlich dort, wo eine Anhäufung dieser
Keime stattfindet, also in Krankenhäusern, ein Ueberleben
auch von Staphylo- und selbst Streptokokken beobachtet
Nr. li
werden und damit auch eine Uebertragung derselben durch
den Staub möglich sein. Namentlich Staphylokokken er¬
weisen sich gegen Austrocknung resistent. Wir könnten
wiederholt aus tagelang hei Zimmertemperatur getrockneten
Staphylokokken noch üppig wachsende Kolonien erhalten.
Der hierin liegenden Gefahr werden wir dadurch Vorbeugen,
daß wir die Gelegenheit zur Verstaubung derartiger Teile
in unseren Operationssälen möglichst verringern, indem wir
die aseptischen Operationsräume von den übrigen
Räumlichkeiten einer Klinik strenge trennen, die Zahl der
anwesenden Personen möglichst beschränken und
dafür Sorge tragen, daß dieselben nur unter entspre¬
chen d e n K aut e 1 e n den Operationssaal betreten.
Die diesbezüglich an der Klinik vorgenommenen Unter¬
suchungen haben nun übereinstimmend immer zahlenmäßig
den Unterschied im Keimgehalt der Luft im aseptischen
Operationssaale und im stark besuchten Hörsaale ergeben.
Je nach größerer oder geringerer Personenfrequenz, ist
der Unterschied in diesen Zahlen auch ein verschiedener.
Während sich z. U. im Hörsaale 400, in dem stark frequen¬
tierten Ambulatoriumsraume 1200 Keime in zwei Stunden
ergaben, wiesen Untersuchungen im Operationssaale nur
40 bis 60 Keime in zwei Stunden auf der Fläche einer
Agarplalte von ca. 10 cm Durchmesser auf.
Keimzahl
Mikroskopisch
Reines Zimmer
200
Sarzinearten, Gram-positive
Stäbchen mit und ohne Sporen.
Reines Zimmer
150
Reines Zimmer
220
Schimmelpilze, Micrococcus
catarrh alis
Reines Zimmer
125
Unreines Zimmer
450
Sarzinearten, Gram-positive
Stäbchen mit und ohne Sporen.
Unreines Zimmer
300
Schimmelpilze Micrococcus
catarrhalis, vereinzelte
Unreines Zimmer
500
Kolonien von Staphylococcus
aureus
Hörsaal (Vorlesung)
400
j Sarcine lutea etalba, Leptothrix-
Ambulatoriumraum
1200
Staphylococcus albus et aureus
Asept. Operationssaal
40
1 Hauptsächlich Sarzinearten,
keine Kokken
Operationssaal während
der Operation
50
Wohl ist die Keimzahl nur ein relativer Maßstab
für die Verunreinigung der Luft und für die Bewe¬
gung derselben. Es sind auch tatsächlich die meisten der
gefundene Keime Saprophyten und gewöhnliche, für die
Wundheilung unschädliche Bakterien. Doch konnten
wiederholt, besonders im Ambulatorium, Hörsaal und un¬
reinen Krankensälen, auch Strepto- und Staphylokok¬
ken nachgewiesen werden. Es ist ja auch a priori die
Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß die bei
gewissen Operationen und Verbandwechsel zur Verstaubung
und Versprayung gelangenden pathogenen Keime auch wei¬
terverbreite! werden. In dieser Hinsicht kann aber nur
ein prophylaktisches Einschränken einer überflüs¬
sigen Verbreitung der Eitererreger Abhilfe schaffen.
Zu diesem Behufe müssen Instrumente, Gerätschaften
und Boden eingeh ends nach jeder septischen Operation
gereinigt und sterilisiert werden. Nicht minder wichtig er¬
scheint auch das Auffangen von eiterdurchtränktem Ver¬
band- und Tupfermateriale in eigenen, rasch zu beseitigenden
Behältern und dgl. mehr.
Ein gleicher Unterschied, wie zwischen Hörsaal und
aseptischem Operalionssaal zeigte sich auch in den Kran¬
kenzimmern, je nachdem dort sogenannte „reine“ oder
septische, eitrige „unreine“ Fälle untergebracht sind; in
letzteren ist die Zahl der in der Luft nachweisbaren Keime
in der gleichen Zei! etwa doppelt bis dreimal so groß
(cf. Tab.).
Zur geringeren Keimhälligkeit der Luft im Oeprations-
saale trägt sicherlich auch die geringe Zahl von Zuschauern
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
379
Nr. 11
und der Umstand, daß vor dem Betreten desselben das
Anlegen eines Schutzmantels und eventuell von Ueber-
schuhen obligatorisch ist, viel bei.
Auf die Verhinderung der Verbreitung (von Mundkei-
men durch Masken wurde schon, hingewiesen.
In gleicher Weise kann auch eine allzu starke Be¬
feuchtung des Fußbodens nicht im Interesse der Asepsis
gelegen sein.
Das wesentliche aus diesen letzteren Untersuchungen
ist also, daß die Forderung nach strenger räumlicher Tren¬
nung der Operations- und Kranken säle von bak¬
teriologischen Gelsichtspunkten aus, vollkommen
berechtigt ist.
S c h 1 u ß er g eb n i s s'e.
1. Vollkommene Asepsis läßt sich bis jetzt
nur an den der direkten Desinfektion, bzw. Ste¬
rilisation z u gän glich en Me di en e r'zi el e n : Instru¬
mente, Naht- und Verbandmaterial.
2. Eine ideale Asepsis der Hand als solche
gibt es nicht; alle bisher übliche n W asch m e t ho¬
hen ergeben bestenfalls eine Kei m Verminde¬
rung, bzw. eine Verminderung der Keimabgabe,
niemals eine Keim frei heit der Hand.
3. Der sterilisierte Gummihandschuh allein
bietet zu Beginn der 0 p er ati o n einen aseptischen
Ueberzug der Hand und deren souveränes Kei m-
schutz mittel.
4. An der geschlossenen Hautoberfläche, im
Gebiete des Operationsterrains, läßt sich durch
Anwendung einer Y20/0 Ige n Sublimat-Alkohol¬
lösung vorübergehende absolute Keimfreiheit
erzielen. Jodti nktur wi rkt nicht keimtötend bei
der Hautvorbereitung, sondernd hautgerbend.
5. Ein schädlicher Einfluß der Luftinfektion
konnte im allgemeinen nicht k o ns ta t i e rt Av er d e 11.
Die Forderung einer Trennung der Operations¬
räume nach bakteriologischen Gesichtspunkten
erscheint berechtigt.
Literatur.
R 0 g d a n, Zentralbl. f. Cbir. 1910, Nr. 3. — Brewitt, Münchn.
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tralbl. f. Chir. 1898, Nr. 26. — N a s t-K o 1 b, Münch med. Wochenschr.
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Berlin 1893. Thaler, Wr. klin. Wochenschr. 1907, S. 1316.
linger, Bert klin. Wochenschr. 1910, Nr. 2 — - Zabludowsky,
Zentralbl. f. Chir. 1910.
Aus der Heilstätte Hörgas in Steiermark.
Weitere Untersuchungen über die Einwirkung
von Fermenten auf Tuberkulin.
Von Prof. Dr. Th. Pfeiffer und Dr. H. Trunk.
Bereits in mehreren aus unserer Heilstätte hervor¬
gegangenen Arbeiten1) wurde der Einfluß von Verdauungs¬
fermenten auf Tuberkulin studiert, teils um clen Wert in¬
terner Darreichung dieses (Mittels zu bemessen, teils von
der Ueberlegung geleitet, daß aus der Art des wirksamen
Fermentes vielleicht auf die Natur des Substrates, des Tu¬
berkulins, geschlossen werden könnte. Als Kennzeichen einer
fermentativen Spaltung konnte in unserem Falle natürlich
nicht das Auftreten etwaiger Abbauprodukte, sondern nur
l) Zeitschr. für Tuberkulose, Bd. 12, S. 177 und Bd. 13, S. 465:
Wiener klin. Wochenschr. 1909, Nr. 33.
eine Abänderung der biologischen Tuberkulinwirkungen in
Betracht kommen.
Wir fanden unter Zugrundelegung der Fieber- und
der Kutanreaktion, daß Tuberkulin sowohl peptisch als
Iryptisch verdaut, dagegen von Erepsin nur sehr langsam
angegriffen werde, also sich analog einer Albumose ver¬
halte. Seither hat Danielopolu2) auch den Einfluß des
Pepsins und Trypsins geprüft und an der Hand der Ophthal¬
moreaktion unsere Befunde bestätigt und Dieter len3) bei
Nachprüfung der Resultate Calmettes Tuberkulinwirkung
vom Darme aus nicht finden können.
Einmal auf diesen Gegenstand aufmerksam geworden,
entdeckten wir nachträglich, daß bereits früher (1905) Fi-
gari mit Repetto an einer schwer zugänglichen Stelle4)
Versuche veröffentlicht hat, welche auf ihn Bezug haben.
Ausgehend von der Wirkung der Hefe auf Eiterer¬
reger, ließ Figari den Einfhißi von Bierhefe, Lab und Pep¬
sin ohne Säurezusatz („Pepsina acloridrica“) auf Tuber¬
kulin in ider Weise untersuchen, daß jene Fermentmenge
ermittelt wurde welche Meerschweinchen gegen dessen
kleinste tödliche Dosis schützt. Das Ergebnis war, daß der
Hefe eine solche Wirkung nicht zukommt, wohl aber dem
Labferment und Pepsin, wenn sie vor der Injektion dem
Tuberkulin zugesetzt werden, dem Lab auch dann, wenn
es gleichzeitig mit dem Tuberkulin an einer anderen Körper¬
stelle eingespritzt wird.
Das für die Experimente verwendete Tuberkulin Mar a-
glianos jst ein Extrakt der Tuberkelbazillen mit heißem Wasser,
ergänzt durch Kulturfiltrate. Angaben über die Provenienz des
Lab- und Pepsinpräparates und über die Dauer ihrer Einwirkung
auf das Tuberkelprotein fehlen.
Die Erklärung ihrer Befunde macht den Verfassern
Schwierigkeiten. Für das Labferment, welches auch bei
Injektion an anderer Körperstelle schützend wirkt, ziehen
sie den .Vergleich der Fixierung des Tetanustoxins und
Strychnins durch das Nervensystem heran und meinen
also, daß Tuberkulin durch Lab fixiert und deshalb vom
Tierkörper nicht rasch genug absorbiert werden könne. Für
das Pepsin glauben sie die Vorstellung festhalten zu kön¬
nen, daß es die „Proteine tübercolari“ in weniger giftige
oder weniger lösliche Substanzen umwandle.
Diese Angaben Fi gar is sind trotz ihrer Auffälligkeit
bisher anscheinend nicht beachtet worden, uns aber schien
es um so wichtiger, nachzuprüfeu, ob sich die behauptete
Abschwächung der Tuberkulinwirkung durch Lab und durch
neutrales Pepsin auch mit anderen Methoden dartun lasse,
da die Anwesenheit freier H-Ionen als unerläßliche Bedin¬
gung der Pepsinverdauung gilt und die Proteolyse durch
Lab eben in Erörterung steht.
Als Reaktion auf die Wirksamkeit, des vorbehandelten
Tuberkulins (Tuberkulin Koch der Hoechster Farbwerke)
verwendeten wir wieder die damit angestellte Kutanprobe,
verglichen mit dem Ausfälle einer nebengesetzten gleichen
Probe mit lOriginaltuberkulin gleicher Konzentration.
Zur Prüfung der Labwirkung wurde Labessenz-Merck,
welche Milch im Verhältnis 1:50 in wenigen Sekunden
dicklegt, in gleichen Teilen mit Tuberkulin gemischt. Bei
der ersten Versuchsgruppe erfolgte die Mischung von
Lab und Tuberkulin unmittelbar vor der Applikation auf
die Haut, bei der zweiten blieb das Gemenge vor der Ver¬
wendung 14 Stunden, hei der dritten 48 Stunden im Brut¬
schränke stehen ; bei dieser letzteren wurde ferner zur
Verdünnung der Konirollprobe nicht NaCl-Lösung, sondern
inaktivierte Labessenz verwendet. Die Hautreaktionen fielen
in allen drei Reihen 'gleich oder fast gleich aus ; am ehesten
hätte es noch scheinen können, als sei in dem frisch be¬
reiteten. Gemisch eine Abschwächung erfolgt, doch waren
die Unterschiede so gering, daß sie wohl innerhalb der
Fehlerbreite der Methode liegen. Als wir jedoch Tuber-
2) Danielopolu, Soc. de biologie 1910, Bd. 68, S. 185 u. 896
8) Dieterlen, Tuberkulosearbeiten aus dem königl. Gesundbeits¬
amte, H. 10, Berlin 1910.
4) F i g a r i - R e p e 1 1 0, Annali delT istituto Maragliano, Bd. 1
Nr. 5, August 1905.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 11
980
kulin mit Lab durch 16 Tage digerierten, erwies es sich,
an der Kutanprobe gemessen, als nahezu unwirksam. Durch
K. Petry0) wissen wir nun, daß Lab Kasein abbaut; seit¬
her ist festgestellt worden, daß es nicht spezifisch auf
Kasein eingestellt ist, sondern allgemein auf Eiweißkörper
spaltend wirkt.6) In diesem Sinne beansprucht also der
erhobene Befund als weiterer Beweis für die proteolytische
Wirkung der Labessenz allgemeineres Interesse, wobei aller¬
dings die Möglichkeit nicht übersehen werden darf, daß
Spuren von dem Labpräparate beigemengten peptischen
Fermente bei der langen Versuchsdauer einen merkbaren
Effekt haben könnten.
Tabelle I.*)
Lab - Tuberkulin ää, 14 St u n d en Brutschrank; Kontrollen
50°/0 Tuberkulin und 50°/0 Labessenz.
Versuchs¬
nummer
1
I ^
cc
_ 1
(M
5
6
; 7
8 ; 9
1
Lab-
i Tuberkulin
++
+ ! ? + -F
-+
I
!
; 4-4-
4- -Fi ?■
| Tuberkulin
50"
4-4-
4- -F j 4-4-
_F
4-
!++
+4- ?
Labessenz
50%
' | '
*) +-f — F sehr
stark; — | — |- stark
posilh
r : +
positiv :
-t- schvvac
positiv ; fraglich; — negativ.
Tabelle II.
I. a b - T u b e r k u 1 i n ää, 48 S t u n d o n Brutschrank; Kontrolle
Tabelle IV.
Lab -Tuber kulin aa, 16 Tage Brutschrank; Kontrolle
Tuberkulin — inaktiv. Lab. ää.
Versuch s-
nuramer
27
28
29
30
31
32
33
34
aktiv. Lab-
Tuberkulin
4-
±
— -
—
y
- i
inakt. Lab-
Tuberkulin
+4-
4-
4-4-
■ 4-4-
+
4-
+4-
+
Für die Pepsinversuche verwendeten wir zunächst
das Pepsinum concentr. Lange bek (Jensen und Lau-
gebek-Petersen, Kopenhagen). 4°/oige Lösungen desselben :
in 0-8°/oiger CINa-Lösung wurden zu gleichen Teilen mit '
Tuberkulin gemischt, 48 Stunden im Brutschrank belassen.
Diese lange Versuchszeit wählten wir, um auch geringfügige
Wirkungen des (Fermentes zu deutlichem Ausschlage zu ,
bringen. Mit dem so gewonnenen Präparate, welches also ;
50% Tuberkulin enthielt, wurden Kutanproben angesetzt
und daneben Kontrollen mit halb verdünntem Tuberkulin
aus demselben Originalfläschchen angeordnet.
Wir waren nicht wenig überrascht, aus dem Aus- j
falle der Proben (Tabelle V) eine beträchtliche Abschwä¬
chung des Tuberkulins durch nicht angesäuertes Pepsin
ablesen zu müssen, die uns aus fermentchemischen Ucber-
legungen unwahrscheinlich gewesen war. Analoge Versuche
mit Pepsinum germanic. bei wechselnder Digerierungs-
dauer (Tab. VI und IX) zeigten geringere Ab Schwächung,7)
während solche mit Merck schein Pepsin (Pepsin, pur.
pulv. Ph. Austr. Ed. VII) bei nur 22-stündigem Aufenthalte
im Brutschränke, abgesehen von Differenzen, die annähernd
ebenso oft nach der einen wie nach der anderen Seite aus¬
schlugen, keinen Unterschied gegenüber der Vergleichs- j
probe wahrnehmen ließen. (Tabelle VI).
Tabelle V.
T u b e r k u 1 i n -)- 4"/„ Pepsin Langebck ää; Kontrolle: Tube r-
kulin 50'’/., (48 Stunden Brutschrank).
Vers uch s-
nu miner
1
2
3
4
5
6
7
8
Pepsin
Langebek +
Tuberkulin
4-
4-
4-
4-4-
4-
— ■ -
Tuberkulin
50%
+
4-4-
-F
4-
+4-
+
-H-
H-
Tabelle VII.
a > Tuberkulin | 8% Pepsin, germanic. (1 : 3); Konti- olle: Tuberkulin 25 % in Kochsalz-, bezw. inaktiv. Pepsin-
1 ö sung (30 Stunden Brutschr ank); h ) dasselbe, frisch gemischt.
Versu cb sn um mer
19
20
21 22
23
2i
25
26
27
28
29
30
31
32 ! 33
i
34
35
36
37
38
Pepsin germanic.
-}- Tuberkulin
4-4-
+ 4-
+
+
■
+
—
4-
+
+
+
+
+
+
+?
4-
4-
+
+4-
Tuberkulin 25%
4-4-
4-4-
-H-f-|+4~h
+ +
++
+-F+
4-
++
4-
4-4-
++
++
++
+
+ +
+ 4- +
++ +
H — F
+4-
Pepsin inaktiv. -)-
Tuberkulin 25”/.,
+4-
+
++
+
++4-
+ 4-
+-F
++
Pepsin -F Tuberkulin
irisch gemischt
-I-+
+
4-
4-
-F4-
5) P e t r y, Hofmeisters Beiträge 1906, Bd. 8, S. 339.
8) M. van Her wer den, Zeitschr. für phvsiolog. Chemie 1907
ild. 52, 'S. 184.
7) Pepsin, german, wurde doppelt konzentrierter als das dänische
verwendet und in doppelter Menge dem Tuberkulin zu gesetzt.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
381
Tabelle VIII
40 Vl b 6 \k U 1 ‘ \ + f8°/o , ,l> ° P s I11' , 8 e r m il n i c. ' (1 : 3) bei Z i m m erteraperatu ,
30 Stunden; Kontrollen: luberkulin 25 u/0 in Kochsalz-, b z w. inaktiv.
Versuchs¬
nummer
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
Pepsin german,
aktiv. -F Tuberk.
±
4*
+ +
4+
-f-f
4
4-4
4
-1-
-f
•i-
Pepsin german,
inaktiv. -(-Tuberk.
+
++
++
-f-f
+4
4
4+
+
+
+
+
Tuberkulin
25%
+
+
-ff
44-
-f
44
+4-
+
4
H-
4
Tabelle IX.
Tuberkulin -f 8% Pepsin, german, neutralis. 4L Kontrollen Tuberkulin 4- Pepsin, german
n n < -1 / T .1 1. ^ ™ I. .. 1 .. f ff \ ("I 1 1 • t i , . 1
Versuchsnummer
50
T
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
Pepsin, german, -f
Tuberkulin ää
+
0
+
' _L
—
±
+
_J_
1
+
+
: Pepsin, german, neutralis.
-f Tuberkulin äa
44-
—
-I-
4
—
-4
+ +
4
++
Tuberkulin 50°/o
H— f-f
44
-f-f
4+
+
+4-
+
+++
+4
+
+4
Tabelle X.
Vergleich von Pepsin, german, neutralis. und Pepsin Merck neutralis. 8% -f-
Tuberkulin aa; Kontrolle ÖO11^ Tuberkulin (48 Stunden).
Versuchsnummer
61
62
63
_ !_
64
65
i
o
Ci
67
68
69
Pepsin, german, neutralis.
-f- Tuberkulin
4
-f
++
-f
+
4
4-
Pepsin. Merck neutralis.
4- Tuberkulin
+ •
44
4-f
+
1
_r
-P+
+
+
+
Tuberkulin 50"/o
+
-1-4-
+
4-
±
4-
-1- 4
++
++
Um unter möglichst streng vergleichbaren Bedingungen zu
irbeiten, wurden die für die Kontrollen dienenden Tuberkulinver-
lünnungen immer ebenso lange im Blutschranke gehalten, wie
lie Fermentproben und zum Teil mit inaktivierter Fermentlösung
statt mit Kochsalzlösung hergestellt.
Die Unterschiede in der Wirksamkeit der drei Pepsin-
»räparate schienen zunächst aufgeklärt, als wir fanden,
laß das Merck sehe fast neutral ist und keine Chlorreaktion
;ibt, Pepsinum germanicum aber deutlich, Pepsinum Lan-
;ebek stark salzsauer ist.
8°/oige Lösung von Pepsin, german, entspricht einer Salz-
äurelösung von 0-22 %0, eine 4°/oige Lösung von Pepsin. Langebek
iner solchen von 2-75%o.
Wir glaubten uns nun zu dem Schlüsse berechtigt, daß
lie beobachtete Abschwächung des Tuberkulins durch nicht
mgesäuertes Pepsin auf dem HCl-Gehalt der käuflichen
^psine beruhe, also prinzipiell unseren früheren Beobach-
ungen mit Pepsin in salzsaurer Lösung gleiche und des¬
halb gleichsinnig als Proteolyse zu deuten sei.
Die daraus abgeleitete Erwartung, daß neutral i-
lertes Pepsin die Tuberkulinwirkung nicht beeinflussen
verde, bestätigte sich jedoch nicht. Vielmehr schwächten
uch solche, durch Zusatz entsprechender Mengen von
>°/oiger Sodalösung neutral gemachte Pepsinlösungen in
enauen Vergleichsversuchen Tuberkulin gleichfalls, wenn
uch weniger ab, als die des nativen Pepsin, germanic.
Tabelle IX). Pepsin Merck erwies sich, entsprechend
einer überhaupt geringeren Verdauungskraft auch hier min¬
er wirksam.
Verwendung eben hergestellter Mischungen (Tabelle
Hb) oder Aufbewahrung dieser bei Zimmertemperatur
30 Stunden, Tabelle VIII), ferner die Unwirksamkeit in-
ktivierten Pepsins; (Tabelle VI und VII), Bedingungen also,
■'eiche zwar Adsorption im Sinne Figaris gestatten, pep-
sche Spaltung aber ausschließen, lassen dagegen jegliche
eränderung der Tuberkulinreaklion vermissen. Jedenfalls
ist also ihre Abschwächung durch neutralisiertes Pepsin
doch eine katalytische.
Wir neigen der Ansicht zu, daß die Handelspepsine
eine auch bei neutraler Reaktion wirkende Protease ent¬
halten („Pseudopepsin“ G laessner), wenn nicht überhaupt
der Lehrsatz von der Notwendigkeit saurer Reaktion für die
Pepsinverdauung einer Revision bedarf. Hier, wie im Falle
des Labfermentes «wird die Wirkung wohl deshalb gerade
am Tuberkulin deutlich, weil es sich um äußerst geringe
Mengen eines Substrates handelt, dessen Abbau durch eine
sehr scharfe Meßmethode verfolgt werden kann.
Aus der k. k. Universitätsklinik für Ohren-, Nasen- und
Halskrankheiten in Graz.
(Vorstand: Prof. Dr. J. Habermann.)
Lieber Erkrankungen des Akustikus bei er¬
worbener Lues.
Von Dr. Otto Mayer, gewesener Assistent der Klinik, Privatdozent an
der Universität in Graz.
Wie bekannt, teilte Herr Professor Finger1) in der
Gesellschaft der Aerzte in Wien mit, daß an seiner Klinik
bei Fällen von Lues, die mit Arsenohenzol („Ehrlich G06“)
behandelt worden waren, eigentümliche, zum Teil beängsti¬
gende Erscheinungen beobachtet wurden, welche nach ein¬
gehender Untersuchung an der Klinik des Herrn Professor
Urhantschitsch auf Erkrankungen des Akustikus zurück¬
geführt werden mußten. Es ist nun natürlicherweise die
Frage aufgeworfen worden, oh «diese Affektion durch das
Ehrlichsche Präpärat oder oh sie durch die Lues allein
hervorgerufen wurde. Herr Professor Urbantschitsch2)
hat bereits in der Diskussion zum Vortrage des
U Prof. Finger, Die Behandlung der Syphilis mit Ehrlichs
Arsenohenzol. Wiener klin. Wochenschr. 1910, Nr. 47, S. 1667.
2) Wiener klin. Wochenschr. 1910, S. 1733.
882
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
Herrn Professor Finger darauf hingewiesen, daß nach
seinen Erfahrungen der luetische Prozeß als solcher nicht
selten vestibuläre und kochleare Störungen hervorzurufen
imstande ist. Auch Herr Professor Alexander’) berich¬
tete an derselben Stelle über seine diesbezüglichen Erfah¬
rungen. Leider ist das von Herrn Professor Alexander
beobachtete Material viel zu klein, um ein Urteil über die
Erkrankungen des Akustikus bei Lues zu gestatten.
Ich möchte mir nun erlauben, erstens auf eine Arbeit
hinzuweisen, welche an der Hand eines ungleich größeren
Materiales die Pathologie dieser Affektion behandelt, zwei¬
tens aber möchte ich durch Mitteilung eines ebenfalls be¬
deutenden Beobachtungsmateriales weitere Beitrage zur
Lösung der obgenannten schwebenden krage liefern.
Hie Arbeit, auf welche ich mich zunächst beziehen
möchte, ist betitelt: „Die luetischen Erkrankungen
des Gehör orgaln.es“ und stammt von Herrn Prof. Hab er¬
mann. Sie wurde im Jahre 1890 in der „Sammlung kli¬
nischer Vorträge aus dem Gebiete der Otologie
u n d Pharyngo-Rhinologi e“, herausgegeben von H a u ig,
veröffentlicht und wurde in derselben über ein außer¬
ordentlich reiches Material berichtet, welches zum größten
Teil aus der Klinik des Herrn Professor J arisch stammte
und auf der Grazer Ohrenklinik otologisch untersucht wor¬
den war. In dieser Arbeit nun werden sämtliche bei Lues
auftretenden Erkrankungen des Gehörorganes besprochen,
insbesondere auch ist ein Kapitel den „Erkrankungen
des Labyrinthes und des Hörnerven“ gewidmet. Da
uns speziell diese Affektion interessiert, möchte ich auf
die diesbezüglichen Mitteilungen näher eingehen.
U e b e r die Zeit des Auftretens dieser Erkran¬
kung sagt Habermann, daß sie zweimal drei Wochen
nach dem Primäraffekt, zweimal vier Wochen, zweimal
fünf, dreimal sechs, einmal sieben, zweimal acht, viermal
neun, in 14 Fällen bis zu 16 Wochen, dreimal erst fünf
bis sechs Monate und in den übrigen erst später bis zu
30 Jahren auftrat.
Im ganzen wurden 66 f älle von Erkrankungen des
Akustikus beobachtet. Von diesen war die Ohraffektion
in 34 fällen schon im sekundären Stadium der Lues
beobachtet worden. Und zwar wurden die Erscheinungen
bei 15 Fällen gleichzeitig mit Beginn der A 1 1 ge¬
rne insy mp to me konstatiert, ja bei drei Fällen soll
sogar die Erkrankung der Haut erst einige Tage
später erfolgt sein, ln anderen zehn fällen war eine be¬
stimmte Angabe darüber nicht vorhanden und nur in sechs
Fällen wurde die Erkrankung des Ohres erst bis zehn Wo¬
chen nach dem Exanthem auf der Haut beobachtet.
Aus diesen Mitteilungen geht also hervor, daß die
Akustikuserkrankung bereits in einem sehr frühen Stadium
der sekundären Lues, ja sogar am Ende des Primärstadiums
auf treten kann. W enn demnach Herr Professor Alexander
unter seinen neun f ällen nur einen einzigen fand, bei dem
die Hörstörung schon nach 13 Wochen zur Entwicklung
kam, während in den übrigen Fällen dieselben nicht früher
als im vierten, fünften und sechsten Monate auftrat, so
ist dies eben darauf zurückzuführen, daß Herr Pro¬
fessor Alexander nur ein Material von neun Fällen, Herr
Professor Habermann aber ein solches von 66 Fällen
überblickte.
Ueber die Symptome, unter welchen die Labyrinth¬
erkrankung erschien, sagt Hab ermann, daß in der Mehr¬
zahl der Fälle Ohrensausen oder -klingen bestand, gleich¬
zeitig auch starke Kopfschmerzen. In sechs Fällen fand
sich ein meist nicht hochgradiger Schwindel; einzelne
Kranke waren beim Gehen wie trunken und bei zweien
gesellte sich hiezu auch wiederholtes Erbrechen. Die Be¬
funde am Trommelfell hatten in keinem Falle etwas cha¬
rakteristisches ergeben. Die Hauptstütze für die Diagnose
bildete außer den subjektiven Symptomen das Ergebnis der
Gehörprüfung.
3) Wiener klin. Wochenschr. 1910, S. 1815.
Durch diese konnte festgestellt werden, daß die Kno¬
chenleitung für die kleine Lucaesche c-Gabel nur im Be¬
ginne normal war, bald sich aber vermindert zeigte und
bei mehrwöchiger Dauer der Ohrenkrankheit schon
hochgradig herabgesetzt war. Der Rinnesche Versuch fiel
entsprechend dem f ehlen einer Mittelohraffektion stets sehr
stark positiv aus. Die tlörschärfe für die Taschenuhr war
meist hochgradig herabgesetzt, insbesondere wurde sie in
Knochenleitung oft nicht mehr gehört und dementspre- I
chend wurden auch die hohen Töne (c4) meist verhältnis¬
mäßig schlechter gehört.
Die Prognose dieser Erkrankung ist nach Haber¬
mann nicht ungünstig. In mehreren seiner Fälle, die län¬
gere Zeit während der Durchführung der anliluetischen Kur
genau kontrolliert wurden, wurde eine wesentliche Besse- j
rung des Gehörs erzielt und hörte auch das Sausen auf,
ebenso der Schwindel. Bei einigen Fällen jedoch blieb trotz
Durchführung der antiluelischen Kur das Gehör gleich oder '
wurde sogar schlechter. Auch Besserung des einen Ohres i
bei Verschlimmerung des anderen während der Kur wurde ■
beobachtet.
Weiters berichtet Habermann über 32 Fälle, bei
welchen die Erkrankung des Labyrinthes oder des Hörnerven ;
ein bis 30 Jahre nach der Infektion aufgetreten war. Die
Symptome, unter welchen die Erkrankung des Ohres in
diesen Fällen auftrat, war nicht wesentlich verschieden
von denjenigen, bei welchen sie schon im sekundären Sla
dium beobachtet wurde, weshalb ich hier auf diese nicht
mehr näher .einzugehen brauche.
Da ich nun selbst an der Grazer Ohrenklinik
eine ganze Reihe solcher Fälle von Ohrerkrankun¬
gen bei Lues beobachtet hatte, wandte ich mich,
angeregt durch Mitteilungen über die Labyrintherkran-
k u ngen infolge „Ehrlich 606“ an Herrn Professor Ha¬
li ermann mit der Bitte, mir das während meiner Assi¬
stentenzeit an der Klinik beobachtete Material zur Bear¬
beitung zu überlassen, worauf mir Herr Professor Haber¬
mann in dankenswerter Weise sein gesamtes, seit dem
Erscheinen seiner Arbeit (1896) an der Klinik beobachtetes
Material zur Verfügung stellte, welches im ganzen 86 Fälle
umfaßt, ln diese sind aber nicht einbezogen diejenigen
Fälle, bei welchen sich eine Erkrankung des Labyrinthes i
und des Hörnerven im Verlaufe einer Tabes oder Paralyse
einstellte und ebenso nicht die Fälle von luetischer Sklerose;-
des Gehörorganes.
Von diesen 86 mir übergebenen Krankengeschichten
schied ich sofort elf aus, weil es sich in den betreffenden
Fällen um hereditäre Lues gehandelt, hatte. Weitere zehn
Fälle schied ich ebenfalls aus, weil in diesen der Zusammen¬
hang zwischen Ohrerkrankung und Lues nicht außer Zwei¬
fel stand, indem die betreffenden Patienten entweder schon
lange vorher schwerhörig waren, oder die Schwerhörigkeit
auch auf andere Ursachen hätte zurückgeführt werden
können. Es blieben daher noch 65 Fälle übrig, über welche
ich nun Berichten will.
Unter diesen 65 Fällen waren nun sechs, -bei welchen
die Ohrerkrankung zirka drei bis sechs Wochen nach dem.
Primäraffekte aufgetreten ist, in weiteren sieben Fällen nach)
sechs bis zehn Wochen, in acht Fällen nach zehn bis 16
Wochen, in fünf Fällen nach vier bis neun Monaten, in
drei Fällen nach neun bis zwölf Monaten. In 35 Fällen
lag der Primäraffekt Jahre zurück und es war in einigen
derselben eine Zeit von mehr als 20 Jahren zwischen dem
Auftreten des Primäraffektes und dem Beginne der Ohr
erkrankung vergangen.
Am meisten interessieren uns gegenwärtig wohl die¬
jenigen Falle, bei welchen der Akustikus bereits im rezenten
Stadium der Lues erkrankte. Die Zahl dieser Fälle ist, wie
man sieht, eine ganz bedeutende, denn es sind 13 Fälle,
also 20% aller beobachteten, bei welchen die Ohraffektion
zwischen der dritten und der zehnten Woche nach dem
Primäraffekt auftrat.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1011.
383
Daß die Ohrsymptome bereits vor dem Auftreten des
Hautexanthems bemerkt worden wären, ist aus den Ana¬
mnesen nicht mit Sicherheit zu entnehmen, doch habe icb
meistens die Angabe gefunden, daß die subjektiven Ge¬
räusche, die Schwerhörigkeit und der Schwindel gleich¬
zeitig mit Kopfschmerzen und Mattigkeit einhergingen, so
daß es wahrscheinlich ist, daß der Akustikus schon im
prodromalen Stadium erkrankt war.
Sehr häufig fand ich bei sekundärer Lues die Angabe,
daß die Hörstörung gleichzeitig mit einem Haut- oder
Schleimhautrezidiv sich .einstellte.
Die Symptome, unter welchen die Ohrerkrankung
auftrat, waren bei rezenter und alter Taies so ziemlich die
gleichen. In den meisten Fällen begann die Gehör¬
abnahme allmählich und es sind unter den 65 Fällen
nur zwei, wo in der Anamnese angegeben wird, daß plötz¬
lich eine bedeutende Verschlimmerung des Gehörs einge¬
treten ist. In dem einen dieser Fälle handelte es sich um
einen 44-jälirigen Mann (Protokoll Nr. 391, .1.), der
ein Jahr nach dem Primäraffekt plötzlich eine „unter
starkem Klingen und Zischen auftretende Schwerhörigkeit
bemerkte, die sich schnell verschlimmerte und samt dem
konstanten Zischen und Heuschreckenzirpen fortdauerte“.
Bei der vier Jahre später auf der Klinik vorgenommenen
Untersuchung wurde Flüsterstimimie auf 1-20 m, laute Stimme
auf 12 m gehört und die übrige Gehörprüfung ergab die
charakteristischen Kennzeichen einer nervösen Schwerhörig¬
keit. In dem zweiten Fälle handelte es sich um eine 47 - jäh¬
rige Frau (Protokoll Nr. 1508, R.), welche ungefähr
zweieinhalb Jahre nach dem Primäraffekt „plötzlich ein¬
mal bemerkt hatte, daß sie links taub sei und daß sich
Sausen im linken Ohre einstellte“. Die Gehörprüfung ergab
tatsächlich auf dem linken Ohre eine fast vollständige
Taubheit.
Falls es sich in diesen beiden Fällen wirklich um ein
plötzliches Auftreten der Hörstörung 'gehandelt haben sollte,
was nicht ganz feststeht, weil es nicht sicher ist, ob die
beiden Patienten vorher tatsächlich gut gehört hatten und
es nicht ausgeschlossen werden kann, daß sich schon vorher
eine geringe Schwerhörigkeit unbemerkt entwickelt hatte,
dann bildet dieses Verhalten eine seltene Ausnahme, denn
es ist jedenfalls die Regel, daß sich die Schwerhörigkeit
allmählich entwickelt.
Dadurch unterscheidet sich also die Ohrerkrankung
bei der erworbenjen Lues vom der bei hereditärer Lues,
denn hier tritt die Ertaubung, oder wenigstens eine be¬
deutende Abnahme der Hörschärfe fast stets innerhalb
weniger Stunden, oft über Nacht, ein.
Die Schwerhörigkeit war in vielen Fällen eine sehr
hochgradige. Besonders auffallend war stets das schlechte
Gehör für die Taschenuhr, welche häufig weder in Luft¬
leitung, noch in Knochenleitung gehört wurde. Die Herab¬
setzung des Gehörs für Flüstersprache war ebenfalls stets
sehr hochgradig, meist war die Hörweite für dieselbe nicht
größer als ein Meter. Die Gehörprüfung mit Stimmgabeln,
die in allen Fällen präzise durchgeführt wurde, ergab über¬
einstimmend in allen Fällen eine sehr starke Verkürzung
der Kopfknochenleitung bei stark positivem Rinne, ferner
eine meist ganz auffallende Verkürzung der Hördauer für
hohe Töne, von welchen stets das C der 4. Oktave zur
Prüfung verwendet wurde. Tiefe Töne wurden hingegen
meist auffallend gut gehört und Avar die untere Tongrenze
auch in Fällen hochgradiger Schwerhörigkeit normal. Nach
diesen Ergebnissen war es n i c b t z w e i f e 1 h af t, daß
die Ursache der Schwerhörigkeit im perzi pieren¬
den Apparate gelegen sein mußte und daß der Schall-
leitungsapparat normal Avar.
Eine doppelseitige komplette Taubheit Avar
nur in einem Fälle vorhanden und zAvar bei einer Lues
gummosa. Hingegen kann ich über zwei Fälle berichten,
hei welchen .auf einem Ohre eine totale Taubheit,
nu f dem anderen eine hochgradige Schwerhörig¬
keit bestand. In einem dieser Fälle (Protokoll Nr. 3200,
O.) handelte es sich um eine ungefähr ein Jahr alte Lues
und die Ohrerkrankung hatte hier ungefähr im
sechsten Monate mit fortwährendem Sausen in den
Obren, mäßiger Abnahme des Gehörs und zeitweisem
Schwindel begonnen. Nach einem Monat war der Patient
auf dem rechten Ohre total taub, auf dem anderen Ohre
hörte er die Uhr noch auf 3 cm Entfernung in Luftleitung,
jedoch nicht in Knochenleitung, Konversationssprache auf
12 m, Flüstersprache auf einen Meter. Die Hördauer der
auf dem Warzenfortsatz aufgesetzten Stimmgabel kleine
Avar bedeutend verkürzt, Rinne war dabei sehr stark posi¬
tiv, C der 4. Oktave wurde in Luftleitung bedeutend kürzere
Zeit gehört, wie normal.
W*)
R = L
U 0’03 m
Uw 0
(?) 0-03 St 12-0
0 Fl U0
5" cw 12"
— R -j- 24”
0 c
- 23" c4 — 10"
c1 — c7 H C.2 — c8
In diesem zweiten Falle handelte es sich um eine
sechs Jahre alte Lues gummosa (Protokoll Nr. 565, O.).
Der Patient gab an, daß er seit drei Jahren Schwerhörigkeit
und Ohrensausen bemerke, Avelch erstere allmählich zu¬
nehme.
Er war links vollkommen
taub, rechts hingegen hörte er
Flüsterstimme auf 1 Meter.
Die Gehörpriifung mit Stimmgabeln
ergab, daß auf dieser Seite eine typi¬
sche nervöse Schwerhörigkeit bei voll¬
kommen intaktem Schalleitungsapparat
bestand.
In länderen Fällen war die Schwerhörigkeit beiderseits
sehr hochgradig, so wurde z. B. bei einer 35-jährigen
Frau, die vor 19 Jahren Lues akquiriert hatte und
angab, erst seit einem Jahre langsam zunehmende Schwer¬
hörigkeit zu bemerken, festgestellt, daß sie laute Stimme
nur mehr auf einen Meter, Flüsterstimme links auf 3 cm,
rechts auf 10cm Entfernung hörte. Die L ucae sehe Stimm¬
gabel klein c wurde vom Warzenfortsatze nur mehr wenige
Sekunden gehört, ebenso Avar c 4 stark verkürzt.
In anderen Fällen Avar dagegen das Hörvermögen ein
relativ gutes. Unter den f ällen von frischer Lues befindet
sich eine ganze Reihe, bei welchen die Hörweite für
Flüstersprache über acht Meter betrug, ln einigen dieser
Fälle sogar 12 Meter. Diese Kranken klagten nicht über
Schwerhörigkeit, sondern nur über verschiedene subjektive
Gehörsempfindungen, doch ergab die Gehörprüfung mit
Stimmgabeln auch in diesen Fällen, daß der Kochlearis
affiziert war, indem sowohl die typische Verkürzung jder
Hördauer der Lu ca eschen Stimmgabel und ein schlechtes
Gehör für hohe Töne sich nachweisen ließen. Will man
daher in solchen Fällen den BeAveis erbringen, daß der
Kochlearis intakt ist, so genügt die Angabe, daß der Patient
Flüstersprache über sechs Meter hört, keineswegs, sondern
*) W == Weberscher Versuch. U = Uhr in Luftleitung. Uw = Uhr
am Warzenfortsatz. St = laute Stimme. Fl = Flüsterstimme. cw = kleine
Lucaesche Stimmgabel am Warzenfortsatz (normal 16”). R = Rinne¬
scher Versuch (normal 36”). c — dieselbe Stimmgabel anges hlagen und
vor das Ohr gehalten (normale Hördauer 56”). c* normaI42”. H =
Hörfeld für sämtliche Stimmgabeln in Luftleitung.
w
R + I
1 ü
CO
0 f Us
1 \ Uw
0
12-0 St 0-01 (?)
10 Fl 0
14” cw 5"
-f 26 R -
c 0
— 23 c4 0
C„ — c8 H c1 — c3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
dieser Nachweis ist nur durch eine genaue Stimmgabel¬
untersuchung zu erbringen.
Fast ausnahmslos begann die . Ohraffektion mit sub¬
jektiven Gehörsempfindungen, die verschiedenartig
geschildert wurden. Meist fand ich in den Krankengeschich¬
ten Angben über Sausen und Rauschen, namentlich
bei rezenter Lues. In den Fällen von alter Lues und dort,
wo die Ohraffektion schon Jahre lang dauerte, waren
Klagen über Singen, Sieden, Klingen, Vogelge¬
zwitscher, Grillenzirpen häufiger. Mehrfach bestan¬
den nur derartige Gehörsempfindungen, ohne Schwerhörig¬
keit. Flingegen bin ich selten auf die Angabe gestoßen,
daß bei aufgetretener und zunehmender Schwerhörigkeit
subjektive Geräusche fehlten. Dieselben wurden oft nur
zeitweilig bemerkt, oft dauerten diese aber ununterbrochen
an, manchmal waren sie sogar sehr heftig und belästigten
die Kranken sehr.
Neben diesen Gehörstörungen waren bei einer großen
Anzahl der Fälle auch Symptome von seiten des sta¬
tischen. Labyrinthes, respektive des Nervus vestibula¬
ris vorhanden. Und zwar waren unter den sechs Fällen,
bei welchen die Ohrsymptome nicht später als drei bis
sechs Wochen nach dem Primäraffekt auftraten, zwei Fälle,
ferner unter den 24 Fällen, bei welchen die Ohraffektion
später als sechs Wochen bis zu einem Jahre nach der
Infektion beobachtet wurde, befanden sich elf und unter
den 84 Fällen, bei denen die Ohraffektion ein bis 20 Jahre
nach der Infektion beobachtet wurde, befanden sich
14 Fälle, bei welchen über Schwindel geklagt wurde.
Erkrankung des Vestibularis ohne Beteiligung des
Kochlearis wurde in keinem einzigen Falle konstatiert.
Bezüglich der Prognose kann ich nichts absolut, zu¬
verlässiges berichten, weil nur von 14 der 65 Fälle ge¬
nauere Angaben über den Verlauf der Erkrankung vorliegen.
Von diesen 14 Kranken wurden nur bei dreien eine ge¬
ringere Besserung des Gehörs und in zwei Fällen eine be¬
deutende Besserung er'zielt. Doch glaube ich, daß diese
Zahlen keineswegs den tatsächlichen Verhältnissen ent¬
sprechen dürften, denn nach meiner Erfahrung wurde ge¬
rade bei den Patienten, welche im Verlaufe einer rezenten
Lues schwerhörig geworden waren, durch die eingeleitete
antiluetische Kur • eine Besserung oder Heilung erzielt.
Notizen wurden aber gerade bei denjenigen Patienten ge¬
macht, bei denen die Ohrerkrankung hartnäckig war und
auf die eingeleitete Therapie nicht zurückging und übri¬
gens (gerade diese Patienten wiederholt das Ambulatorium
der Klinik aufsuchten.
Ueber die Symptome und den Verlauf der Erkrankung
des Akustikus bei erworbener Lues möchte ich nun auf
Grund des mir zur Verfügung stehenden Materiales von
65 Fällen folgendes feststellen.
1. Die Erkrankung des Akustikus kann schon drei
Wochen nach dem Primäraffekt, also bei ungefähr sechs
Wochen alter Lues auft.reten. Am häufigsten ist sie während
ties ersten Halbjahres nach der luetischen Infektion. Doch
kann auch 25 bis 30 Jahre nach der Infektion eine Er¬
krankung des Akustikus stattfinden.
2. Die Erkrankung des Akustikus setz! in den meisten
Fällen mit subjektiven Geräuschen ein, in der Hälfte der
Fälle ist außerdem noch Schwindel vorhanden. Diese
Symptome können wahrscheinlich schon vorhanden sein
vor dem Auftreten des Exanthems und bilden dann einen
'Peil der prodromalen Erscheinungen der luetischen
Allgemeinerkrankung. In den späteren Stadien der
sekundären Lues tritt die Ohraffektion fast stets gleich¬
zeitig mit einem Rezidiv auf und sie ist dann wohl als
Teilerscheinung eines solchen aufzufassen.
3. Die Hörstörung tritt fast stets allmählich auf und
kann die verschiedensten Grade erreichen. Meist ist sie
doppelseitig und zwar entweder auf beiden Seiten gleich
oder es ist eine einseitige stärkere Schwerhörigkeit, ja sogar
Taubheit vorhanden. Selten ist eine Seite vollkommen nor¬
mal, während auf der anderen eine stärkere Schwerhörigkeit
besteht. Die Prüfung mit Stimmgabeln ergab in den unter¬
suchten Fällen stets das Vorhandensein einer Affektion des
Akustikus und war eine Affektion des Mittelohres ausge¬
schlossen.
4. In einer großen Zahl der Fälle, ungefähr der Hälfte
derselben, wurden neben den Hörstörungen auch vesti¬
buläre Symptome beobachtet, welche meistens nur
in zeitweise auftretendem leichten ' Schwindel, manch¬
mal jedoch in hochgradigen Schwindelanfällen, begleitet
von Erbrechen und in auffälligen Gleichgewichtsstörungen
bestanden. Doch ist eine isolierte Erkrankung des Vesti¬
bularis nicht beobachtet worden.
Zur Beurteilung der Frage, ob die nach Injektion
von Ehrlich 606 bei Lues aufgetretenen Affektionen des
Akustikus auf diese Behandlung zurückzuführen seien oder
nicht, ist vor allem die Tatsache von Bedeutung, daß schon
im rezenten Stadium der Lues und zwar schon sechs
Wochen nach der Infektion, Erkrankungen des Akustikus
auf treten können. Wenn man also in einigen mit
„Ehrlich 606“ behandelten Fällen solche Erkrankun¬
gen schon bei sechs Wochen alter Lues beobachtet
hat, darf mann daraus allein nicht schließen, daß
hier Folgezustände der Behandlung vorliegen müssen.
Was speziell die drei von Herrn Professor Finger mit¬
geteilten Fälle betrifft, ist nach dem Material der Grazer
Ohrenklinik von zusammen 131 Fällen von Akustikusaffek-
tionen bei erworbener Lues nichts auffallendes darin zu
sehen, daß in einem Falle die Ohrerkrankung bei sechs
Wochen alter Lues, in den beiden anderen bei etwa drei
Monate alter Lues auftrat. Auch daß die Erkrankung im
Primärstadium der Lues beobachtet wurde, ist nicht be¬
weisend, denn es sind von Herrn Professor Haber¬
mann Affektionen des Akustikus im Primärstadium der
Lues beobachtet worden. Nur ließ in diesen Fällen das
Sekundärstadium nicht lange auf sich warten, denn die
Akustikusaffektion gehörte dort zu den prodromalen Sym¬
ptomen. In den beiden von Herrn Professor Finger mit¬
geteilten Fällen 1 aber blieb die Lues im Primärstadium
stehen und die Wassermannische Reaktion, blieb an¬
dauernd negativ. Darin liegt nun, wie mir scheint, ein
ganz bedeutungsvoller Unterschied zwischen den Affek¬
tionen des Akustikus infolge von Lues und den durch j
Salvarsan hervorgerufenen.
Weiters ist es sehr auffällig, daß unter den 65 Fällen,
über die ich berichtet habe, kein einziger sich fin¬
det, bei welchem eine isolierte Vestibular er-
krankung wahr genommen worden wäre, während
dies in fünf mit Arsenobenzol behanelten Fällen konstatiert
wurde, über welche Herr Professor Urbant.sehlitsch in
der Gesellschaft der Aerzte genaue Mitteilungen machte. Ich
habe oben darauf hingewiesen, daß in der Hälfte der Fälle
des mir vorliegenden Materiales eine isolierte Kochlearis- i
affektion vorhanden war und daß nur in der anderen Hälfte |
der Fälle die Kochlearisaffektion mit einer solchen des Vesti- i
hularis einherging. Dieser Verhalten hat nichts auffälliges,
denn es ist bekannt, daß bei einer entzündlichen Schädi- ,
gung des Akustikusstammes der Ramus cochlearis zuerst
leidet, offenbar deswegen, weil er weniger widerstands¬
fähig ist als der Vestibularis. Es ist dieses Verhalten
wahrscheinlich in der Art der Faserung begründet. Haben
ja bereits die alten Anatomen den Nervus vestibularis als
Pars dura, vom Kochlearis, der Pars mollis, unterschieden.
In letzter Zeit wurde auf diese Tatsache wieder von Herrn
Professor U r b a n t s c h i ti s c h hingewiesen. Die isolierte [
Erkrankung des Vestibularis hingegen ist eine sehr seltene
Affektion, an deren Vorkommen überhaupt gezweifelt
wurde, bis in letzter Zeit zwei Fälle mitgeteilt wurden,
welche diese Erkrankung als möglich erscheinen lassen.
Der erste derartige Fäll wurde von Ruttin5) beschrie¬
ben. Es handelte sich um einen 26-jährigen, in voller Ge¬
sundheit stehenden Mann, bei welchem plötzlich hoch-
s) Zeitscbr. Rir Ohrenheilkunde, Bd. 57, S. 327.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
385
gradiger Schwindel, Gleichgewichtsstörungen und Nystag¬
mus auftraten und wo klinisch eine Unerregbarkeif des
Vest i bularapparates konstatiert wurde. Leider ist die Aefio-
logie in diesem Falle vollkommen dunkel geblieben und
da auch nur eine klinische Untersuchung vorliegt, so ist
es natürlich nicht sicher, daß es sich um eine isolierte
l’asererkrankung des Vestibularis gehandelt hat.
Der andere Fall wurde von Leid ler6) in der Oester-
reichischen otologischen Gesellschaft demonstriert. Es han¬
delte sich um eine isolierte Vesitibular erkra,nkung
nach Wurstvergiftung. Nun hat bekanntlich Ehrlich
selbst durch Injektion von Arsazetin bei weißen Mäusen
Erscheinungen hervorgerufen, die denjenigen bei Tanz-
mäusen sehr ähnlich sind und Röthig hat als anatomisches
Substrat dieser Erkrankung eine Degeneration im Vesti¬
bularis nachgewiesen. Diese Tatsache ist deshalb wichtig,
weil sie zeigt, daß der Nervus vestibularis für bestimmte
Gifte besonders empfindlich ist, für welche der Nervus
cochlearis nicht oder wenig empfindlich ist. Wenn wir
nun wissen, daß das Arsazetin und die Ptomaine des Wurst
giftes eine isolierte Vestibularerkrankung erzeugen können,
so liegt es nicht ferne, anzunehmen, daß auch die nach
E h rlic h 606 aufgetretenen isolierten Vestibularaffek I innen
auf einer Giftwirkung dieses Präparates beruhen.
Es hat bereits Herr Professor Urbantschi tsch da¬
rauf hingewiesen, daß bei dem relativ häufigen Auftreten
der sonst so selten vorkommenden isolierten Vestibularer¬
krankung, diese in den von ihm mitgeteilten, mit ,,606“ be¬
handelten Fällen, auf eine Einwirkung des Arsenobenzols
zu beziehen sein dürfte. Da unter den 65 Fällen, über
welche ich hier berichtet habe, ebenfalls kein einziger
Fall einer isolierten Vestibularerkrankung sich befindet,
so erfährt diese Ansicht eine neuerliche Stütze. Es wäre
nur noch die Möglichkeit zu erwägen, daß diese Fälle mit
Vestibularsymptomen ohne Hörstörungen nicht auf der
Ohrenklinik, sondern auf der neurologischen Klinik zur
Beobachtung gekommen sind. Darüber also müßten die
Neurologen Auskunft geben können.
Verschiedene andere Momente sprechen ebenfalls da¬
für, daß für einige der nach „Ehrlich 606“ beobachteten
Krkrankungen des Akustikus das Arsenobenzol verantwort¬
lich ist, so z. R. rdas prompte Auftreten der Affektion wenige
Stunden nach der Injektion und ferner der Umstand, daß
eine große Zahl von Fällen in einem relativ sehr kurzen
Zeiträume beobachtet worden ist. Weitere Beobachtungen
werden uns darüber aufklären, ob diese Erscheinungen
auf Zufall beruhen oder ob sie wirklich durch das Eh r¬
lich sehe Präparat. A^erur sacht sind.
Jedenfalls glaube ich durch diese Mitteilungen einen
neuerlichen Beweis erbracht zu haben, daß Affektionen des
Akustikus in allen Stadien der sekundären und tertiären
Lues Vorkommen können, andererseits aber möchte ich
larauf hingeAviesen (haben, daß die nach „Ehrlich 606“
beobachteten Affektionen des Akustikus sich in mancher
Beziehung von den auf Lues beruhenden unterscheiden.
Jeher das Vorkommen von Erkrankungen des
nneren Ohres in frühen Stadien der Syphilis.
Ein Beitrag zur Frage der Salvarsanwirkungen.
Von Priv.-Doz. Dr. Hugo Frey, Wien.
Wie noch erinnerlich, Avurde bei der im November
''urigen Jahres in der k. k. Gesellschaft der Aerzte abge-
lalteaen Diskussion über die Behandlung der Syphilis nach
■«hrlich-Hata von mehreren Rednern 'auch auf Erkran¬
kungen des inneren Ohres hingewiesen, die an einzelnen
n't- dem Mittel behandelten Patienten zur Beobachtung
;amen. Ihr Auftreten Avar immerhin auffallend genug, um
uigehend gewürdigt zu werden, und ' einzelne Redner
ußerten sich in der Richtung, daß die eigentümlichen Er
6) Sitzung vom 13. Dezember 1909.
k ran kungen dos inneren Obres, die teils den vestibulären
teils den kochlearen, teils beide Anteile dieses Organes
betrafen, als eine Schädigung aufzufassen seien, die mit
einer größeren Wahrscheinlichkeit als Folge der Salvarsan-
injektion sich ergeben hätten. So sagte Finger:1) „Hier
ist also die Annahme am nächstliegenden, daß die Erschei¬
nungen entweder ,ganz auf das Arsenobenzol zurückzuführen
oder in der bereits erwähnten Weise zu erklären sind“
(damit ist die Möglichkeit einer kombinierten Wirkung des
Arsenobenzols mit der Lues gemeint). Urbantschi tsch,2)
an dessen Klinik die von Finger erwähnten Fälle unter¬
sucht worden Avaren, äußerte sich allerdings über den
Zusammenhang zAvischen den Ohrerkrankungen und der
Salvarsaninjektion sehr reserviert, indem er meinte, daß
„zu einer eingehenden Beurteilung der Wirkungsweise von
„60b auf den Akustikus unsere Beobachtungsdauer eine
zu kurze und die Anzahl der beobachteten Fälle eine zu
kleine ist“ und daß „ein Urteil darüber erst nach weiteren,
reichlichen und langdauernden Beobachtungen ermöglicht
sein Avird“. Alexander,3) der eine Anzahl von Erkran¬
kungen des Ohres bei Luetikern untersucht hat, glaubt,
daß mit Sicherheit hervorgehe, „daß die von Professor Fin¬
ger angezogenen Fälle, soAveit es sich um Oktavuserkran¬
kungen im rezenten Stadium der Lues handelt, ätiologisch
mit dem Salvarsan in Verbindung gebracht werden müssen“.
Diesen Schluß zieht er aus folgenden Gründen:
1. „Daß die akute luetische Neuritis des Nervus octa-
vus, mag isie sich im cochlearen oder vestibulären Teile
des Nerven lokalisieren, im rezenten Stadium der Syphilis
sehr selten ist“.
2. Daß „in der Literatur“ „bisher Fälle von Labyrinth¬
syphilis beziehungsweise syphilitischer Entzündung des
Nervus octavus im rezenten Stadium der Lues fast unbe¬
kannt“ „sind“.
Allerdings teilt Alexander selbst einzelne Fälle (9)
seiner eigenen Beobachtung mit, die sich auf die Vor-Salv-
arsanzeit beziehen und in denen er ebenfalls im rezenten
Stadium der .Lues Akustikusaffektionen gefunden hatte.
Die Frage, 10b es sich bei den von Finger erwähn¬
ten Fällen um Salvarsanschäden oder um luetische Erkran¬
kungen handelt, die trotz der Salvarsantherapie als Rezi¬
diven aufgetreten seien, läßt sich natürlich derzeit mit
Sicherheit überhaupt nicht entscheiden. Die Otiatrie hat
kein diagnostisches Mittel, um eine luetische oder eine
anderweitige toxische Erkrankung des inneren Ohres aus-
oinanderzuhalten. Wir sind daher darauf angewiesen, nach¬
zusehen, ob nein 1. die betreffenden Fälle aus anderen
Gründen für Luesrezidive halten darf und 2. ob tatsächlich
analoge Fälle .ohne Salvarsantherapie nicht verzeichnet
Avorclen sind. Was den ersten Umstand betrifft, kommt
hier hauptsächlich der Ausfall der Wassermannsichen
Reaktion in Betracht; über diesen Punkt will ich mich
aber nicht äußern und ihn den Fachmännern überlassen.
Mit. dem zweiten Punkte möchte ich mich aber hier beschäf¬
tigen. Ich glaube, daß er von größerer AVichtigkeit ist,
denn, Avie eingangs gezeigt, wurde ja von mehreren Seiten
besonderer Wert darauf gelegt, daß im rezenten Stadium
der Lues und besonders in Iden ersten Wochen und Monaten
nach der Infektion Labyrinthsyphilis bzw. syphilitische
Entzündung des Nervus octavus bisher fast unbekannt
sind.
Ein Fäll von Akustikusaffektion nach Salvarsanin¬
jektion, den ich gemeinsam mit Herrn Professor v. Zeißl
beobachtete, und der sich mit größter Wahrscheinlichkeit
als ein Luesrezidiv darstellte (es Avar später noch ein Haut-
rezidiv aufgetreten)4) soAvie einige andere Fälle luetischer
Akustikuserkrankungen (die demnächst von meinem Assi-
“) Wiener klin. Wochenschr. 1910, S. 1671.
2) Wiener klin. Wochenschr. 1910, S. 1733.
3) Wiener klin. Wochenschr. 1910, S. 1815.
4) Ich habe über diesen Fall in der Ehrlich-Debatto berichte!
(Wiener klin. Wochenschr. 1910, S. 1826), er Avar der einzige unter zirka
150 von v. Zeißl mit Salvarsan behandelten Fällen, der Akustikus-
störungen
386
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
stenten Herrn Dr. I. Braun veröffentlicht werden), gaben
mir Gelegenheit, mich etwas eingehender mit der Literatur
der syphilitischen Affektionen des Ohres zu befassen. Ich
fand dabei eine große Anzahl von Mitteilungen, die den
oben zitierten Aeußerungen so sehr widersprechen und
für das Vorkommen. derartiger Erkrankungen auch schon
im Frühstadium der Lues in Fallen, die nach den üblichen
Methoden behandelt wurden, so vielfache Beweise Bei¬
bringen, daß ich glaube, sie zur Klärung der Sachlage
hier anführen zu sollen.
Vorausschicken möchte ich, daß die Zahl der in der
Literatur verzeichneten Fälle sicherlich außerordentlich
viel geringer ist, als die der tatsächlich beobachteten und
noch viel geringer als die der wirklich vorgekommenen. Die
feinere Differenzialdiagnostik zwischen den Erkrankungen
des mittleren und des inneren Ohres ist eine Errungenschaft
der letzten Jahrzehnte und wurde vollkommen ausgebaut
überhaupt erst im letzten Jahrzehnte. Auch war bis vor
kurzem die Anzahl der otriatisch genügend geschulten
Aerzte eine so kleine, daß in sehr vielen Fällen eine ein¬
wandfreie Untersuchung und Diagnose von Erkrankungen
des inneren Ohres nicht stattfinden konnte. Gewiß ist auch
in den letzten Jahrzehnten das Interesse an rein kasuisti¬
scher Betrachtung der Fälle von Syphilis kein so großes
gewesen, daß man Störungen des einen oder des anderen
Hirnnerven ohneweiters publiziert hätte, wenn sie nicht
besondere und auffallende Umstände mit sich führten.
Endlich aber ist es gar kein Zweifel, daß leichtere Grade
von Schwerhörigkeit oder nur einseitig aufgetretener Schwer¬
hörigkeit (die, wie die Otiater wissen, ja überhaupt sehr
oft übersehen wird), auch hei Luetikern, deren Interesse
vornehmlich dem Grundleiden zugewendet war, übersehen
würden. Die Beziehungen der Vestibularsymptome wie
Schwindel, Nystagmus usw. zum inneren Ohre waren
ebenfalls noch nicht so ins allgemeine Bewußtsein gedrun¬
gen, daß man sie zum Anlässe einer eingehenden Unter¬
suchung des Gehörorganes genommen hätte, darum wird
man sich nicht wundern können, daß isolierte Vestibular-
erkrankungen in der bisherigen Literatur nicht oder nur
angedeutet Vorkommen.
Bei der folgenden Uebersicht der Fälle von Affektionen
des inneren Ohres hei rezenter Lues habe ich mich auf
diejenigen beschränkt, bei welchen aus den Angaben der
Autoren genaue Aufschlüsse über die zwischen Infektion
oder Primäraffekt und Auftreten der Ohrläsion verstrichene
Zeit zu entnehmen sind. Durch die Beschränkung verringert
sich allerdings die Anzahl der Fälle, da für sehr viele
Autoren dieser Gesichtspunkt kein Interesse hot und sie
daher die Zeit gar nicht oder nur ungenau angaben. Trotz¬
dem bleiben noch genug übrig.
In den gangbaren Lehrbüchern der Ohrenheilkunde
findet man allerdings über den uns beschäftigenden Gegen¬
stand nur wenig Aufschluß, vielleicht deshalb, weil die
Frage einer näheren Betrachtung bisher nicht wert schien.
So sagt Politzer:5) „Die luetischen Labyrintherkrankun¬
gen entwickeln sich selten gleichzeitig mit der sekundären
Haut- und Halsaffektion (einmal nach meiner Beobachtung
schon im siebenten Monate nach der primären Affektion6).“
Urbantschitsch7) erwähnt die weiter unten noch
zitierten Fälle von Charazac und Bart.helemy.
Geht man aber den in der syphilidologischen und
otologischen Literatur einzeln zerstreuten Angaben nach,
so findet man eine überraschend große Anzahl hierherge¬
höriger Fälle, die ich im folgenden auszugsweise anführe.
Ich beginne mit denjenigen Autoren, die über das Thema
im Zusammenhänge sprechen und gehe dann auf die Ein¬
zelbeobachtungen über.
Gradenigo8) gibt an, daß Entzündungen des inneren
Ohres auf syphilitischer Grundlage zuweilen im Beginne
fi) Lehrbuch der Ohrenheilkunde 1908, 5. Aufl., S, 606. 1
8) Dieser Fall wird auch von Al ex an der erwähnt.
7) Lehrbuch der Ohrenheilkunde 1910, 5. Aufl., S. 474.
8) Schwarzes Handbuch der Ohrenheilkunde 1893, Bd. 2, S.423.
der sekundären Periode oder zwei bis drei Monate später
gefunden werden.
Jung:9) „Solche Hörstörungen treten beim Aus¬
bruche des ersten Exanthems auf und bestehen in Schwer¬
hörigkeit, in geringem Klingen und Sausen auf einem oder
beiden Ohren.“
Mauriac10) beschreiht Erscheinungen von seiten des
Ohres während des sekundären Stadiums, die er als Laby¬
rinthläsionen aus folgenden Gründen diagnostiziert:
1 . beträchtliche Hörstörungen,
2. subjektive Geräusche von musikalischem Cha¬
rakter,
3. Schwindel und Gleichgewichtsstörungen,
4. Schmerzen in der Ohrgegend (Schmerzen in der
Ohrgegend werden häufig von Patienten bei Erkrankungen
des inneren Ohres auch ohne Beteiligung des Mittelohres
angegeben).
5. der therapeutische Effekt bei hohen Dosen van
Jodkali.
Er führt das Zeugnis von Lad reit de La Ch ar¬
idere an, der seine Beobachtungen bestätigt und findet,
daß diese Affektionen auch kurze Zeit nach dem Primär¬
affekt Vorkommen können.
Habermanfn11) gibt an (S. 256): „Die sekundäre
Labyrinthsyphilis beginnt in den meisten Fällen unmittel¬
bar mit dem Beginne der Allgemeinerkrankung; von 34
I Fällen von Labyrinth- oder Nervenerkrankung im sekun¬
dären Stadium, die ich beobachtete, war bei 15 derselben
genau das gleichzeitige Auftreten der Labyrintherkrankun¬
gen mit den Allgemeinsymptomen beobachtet worden. In
drei Fällen soll sogar die Erkrankung der Haut erst einige
Tage später erfolgt sein, während in zehn Fällen eine be¬
stimmte Angabe darüber fehlt, nach der übrigen Krank-
heitsgeschichte aber wahrscheinlich auch in diesen ein glei¬
ches Verhalten da war. Nur in sechs Fällen wurde die
Erkrankung des Ohres erst drei bis zehn Wochen nach dem
Exanthem auf der Haut beobachtet.“ Die von ihm beob¬
achteten Symptome bestanden in subjektiven Geräuschen
und Hörstörungen, nur in sechs Fällen Schwindel, in zwei
Fällen auch Erbrechen. Die Knochenleitung war stark verj
kürzt, der Binnesche Versuch positiv. Im Detail gibt eil
an, daß bei seinen Fällen zwischen dem Primäraffekt und
dem Auftreten der Ohrsymptome folgende Zeiträume vor
strichen: In zwei Fällen drei Wochen, in zwei Fällen vier
Wochen, in zwei Fällen fünf Wochen, in drei Fällen sechs:
Wochen, in einem Falle sieben Wochen, in zwei fällen
acht Wochen, in vier Fällen neun Wochen, in 14 Fällen
bis zu 16 Wochen, 'in drei Fällen fünf bis sechs Monate,
in den übrigen Fällen verstrich eine noch längere Zeit.
Jansen12) sagt darüber: „Die Labyrinthsyphilis tritt
häufig in der sekundären Periode auf; ein halbes bis zwei
Jahre nach der Infektion, nicht selten bald nach dem Be
ginne der Allgemeinerscheinungen.“
Gerb e r : 13) „Syphilitische Labyrintherkrankungen
können aber auch allein in jedem Stadium, zu jeder Zeit
auftreten, wenn auch freilich die Spätformen am inneren
Ohre die häufigsten sind.“
Mitteilungen und klinische Beschreibungen spezieller
Fälle finden sich bei folgenden Autoren:
Barr:14) 22jähriger Mann. Zirka vier Monate nach de
Infektion mehrere Anfälle von Schwindel und Erbrechen, uh
mittelbar nach einem solchen totale Taubheit auf dem linker
Ohre mit subjektiven Geräuschen, am nächsten Tage neueriicl
Schwindel und Erbrechen und subjektive Geräusche auf den:
rechten Ohre, vorübergehend trat eine Fazialisparese: von nir
9) Beitrag zur Kenntnis der syphilitischen Erkrankungen de|
Akustikusstammes. Würzburg 1889.
10) Leyons sur les maladies veneriennes. Paris 1883, S. 642.
n) Die luetischen Erkrankungen des Gehörorganes. Jena 1896.
12) Ohrenerkrankungen bei Syphilis in Lessers Enzyklopädie de
Haut- und Geschlechtskrankheiten 1900, S. 362 ff.
ls) Die Syphilis der Nase, des Halses und des Ohres. Berlin 1910
2. Aufl., S. 103.'
u) British med. Journal 1885, S. 1192; zit. nach Rosenstein.
Nr. tt
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
387
eintägiger Dauer auf. Besserung auf antiluetische Therapie und
lÜIokarpin.
Buck:15) 26jähriger Mann, drei Monate nach der Infek¬
tion subjektive Geräusche, zwei Wochen später plötzlich starker
Schwindelanfall mit Bewußtseinsverlust, nach zwölf Stunden hoch¬
gradige Schwerhörigkeit und subjektive Geräusche links, Nausea.
Zwei Monate später fand sich noch 'beiderseitige Schwerhörigkeit
und leichte Schwindelanfälle, ein papulöses Exanthem im" Ge¬
sichte, Neuritis optica einer Seite.
Charazae:16) 28jähriger Patient, sichergestellte Infektion
bei einer Zahnextraktion. Nach zwei Monaten Schwerhörigkeit,
besonders rechts, subjektive Geräusche, Schwindel, Kopfschmerz;
normaler Trommelfellbefund, Kopfknochenleitung aufgehoben, po¬
sitiver Rinne. Auf Jodkali rasche Besserung.
Gerber13) erwähnt einen Fall von Erkrankung des inneren
Ohres zwei Monate nach der Infektion.
Heerm ann : 17) 40j übriger Arzt. Extragenitale Infektion,
nach vier Monaten stetig zunehmende Schwerhörigkeit und Sausen
lechts, Knochenleitung stark verkürzt, Rinne positiv, Weber zur
gesunden Seite. Nach Inunktionskur vollständige Heilung.
Hoffmann:18) 26jähriger Mann. 3 Vs Monate nach dem
Prinmraffekt Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen, nach zwölf
Tagen Fazialislähmung rechts, Abduzensparese, Stauungspapille,
angeblich keine Hörstörung.
Der Fall ist zweifelhaft; Rosenstein führt ihn als gleich¬
zeitige Fazialis - Akustikuserkrankung an. Vielleicht handelt es
sich nur um eine Erkrankung des Ramus vestibularis.
Jansen:* 1 2-) Fünf Monate nach der Infektion stürmische
Labyrinthsymptome mit dauernder einseitiger Ertaubung. Neu¬
ritis optica.
Jegu:19) 43jähriger Mann. Drei Monate nach dem Pri¬
märaffekt zunehmende Schwerhörigkeit bei normalem otoskopi-
schen Befunde. Geheilt nach antiluetischer Behandlung.
Pearson:20) Vier Monate nach der Infektion Exanthem,
Taubheit, subjektive Geräusche. Heilung.
Lanceraux21) erwähnt einen Fall, wo während der sekun¬
dären Symptome Schwindel und Herabsetzung des Gehöres auf¬
getreten waren und einen zweiten Fall, bei dem zwei Monate
nach dem Primäraffekt und mehrere Tage nach dem Ausbruche
des Exanthems: ,,1-e malade fut tout ä coup pris du vertige, d'etour-
dissement et d’une malaise generale“, Erscheinungen, die man
mit einiger Wahrscheinlichkeit auf eine Vestibularaffektion be¬
ziehen kann.
Jörgen Möller:22) Ein 25jähriger Mann infizierte sich im
Dezember 1909, im März 1910 erschien das Exanthem. Behandlung
mit atoxylsaurem Quecksilber. Zwei Monate später zunehmende
Schwerhörigkeit rechts, später auch links, nach weiteren R/a Mo¬
naten totale Taubheit, Schwindel und subjektive Geräusche-, Zu
dieser Zeit ergab die Untersuchung -eine vollständige Ausschaltung
beider Vestibular- und Kochlearapparate. Eine Inunktionskur und
lodkali bewirkten eine geringe Besserung des Gehöres und Rück¬
kehr der Vestibulärfunktion links, rechts blieb das Gehör erloschen
und es ergab sich eine geringe Vestibularreaktion. Eine 3V2 Mo¬
nate nach den ersten Ohrsymptomen vong-enomme-ne Injektion
mit Salvarsan bewirkte eine deutliche, wenn auch nicht aus¬
giebige Besserung.
Oedmans s on : 23) Ein bis zwei Monate nach der Infektion
loppelseitige Fazialislähmung ' und Taubheit des linken Ohres.
Teheilt nach In unktionskur.
Ostino und Santa Maria24) beschreiben einen Fall von
lechtseitiger Fazialis- und Akustik uslähnvung während des se¬
kundären Stadiums, eine genaue Zeitangabe ist leider in dem
Referate Grad enigos, das mir allein vorliegt, nicht enthalten,
loch scheint e-s sich um einen Frühfall zu handeln. Nach dem
Referate ließ die exakte Hörprüfung sehr genau die Besserung
-fahrend einer Injektionskur erkennen.
16) American Journal of Otologie, Bd. 1; zit. nach Gradenigo.
le) Revue de Laryngologie XIII, Bd. 12, S. 369; zit. nach Jensen.
17) Münchener med. Wochenschr. 1908, Bd. 2, S. 2448.
l9) Berliner klin. Wochenschr. 1901, S. 296.
19) De la Syphilis de l’oreille. Paris 1884, S. 59, Obs. 23.
2°) Zit. nach Lagneau fils, Maladies syph. du systOne nerveux, S. 376.
21 - La Syphilis. Paris 1866, S. 125 u. 127.
22) Sitzung der Dänischen oto-laryngologischen Gesellschaft vom
*• November 1910; Monatsschr. für Ohrenheilkunde 1911, Jahrg. 45.
I 1, S. 62.
23) Nord. med. Ark. 1869; zit. nach Virchow und Hirsch, Jahrb.
•869, Bd. 2, S. 562.
2‘) Giornale medico del R. Esercito Italiano. Februar 1904; zitiert
iach Zentralblatt für Ohrenheilkunde 190T, Bd. 2, S. 471.
Ros enstein25) berichtet über zwei Fälle. In dem einen
j traten vier Monate nach der Infektion Schwindel und Kopf¬
schmerzen, sowie eine Zahl anderer Hirnsymptome auf. Ein
genauer Befund ist erst von zwei Monaten später notiert, es
bestand damals eine Lähmung des linken Okulomotorius, Abdu-
z-ens und Trochlearis, Parese des linken Trigeminus, Lähmung
des linken Fazialis und Rekurrens, hochgradige Herabsetzung
der Hörweite für Flüstersprache und der Knochenleitung links.
Unter einer antilüeti sehen Behandlung bildeten sich alle Erschei¬
nungen langsam zurück, wenn auch nicht vollständig. Noch
später traten analoge Erscheinungen auch auf dem rechten Ohre
auf. Im zweiten Falle fand die Infektion im Juni 1904 statt,
nach ungefähr vier Monaten traten gleichzeitig mit einem Exan¬
them Schwerhörigkeit und Sausen, bald darauf eine Fazialis¬
lähmung rechts auf. Beiderseits verkürzte Knochenleitung und
Herabsetzung des Gehörs für Flüstersprache, bei normalem oto-
skopi sehen Befunde und freien Tuben. Besserung nach Inunk-
tionskur.
Sch wartz-e:26) erwähnt folgende zwei Fälle (S. 269):
41 jähriger Patient. Sechs Wochen nach der Infektion subjektive
Geräusche und Hörstörung beiderseits, sowie Schwindel. Uhr
vom Knochen beiderseits nicht gehört, Stimmgabel vom Knochen
kaum gehört, hochgradige Herabsetzung der Hörweite für Sprache.
Normale Trommelfelle. Bedeutende Besserung nach Inunktions-
kur. Sodann (S. 270): 23jähriger Mann. Infektion im August,
im November Exanthem, im Dezember Schwerhörigkeit, Sausen,
Schwindel, Gehstörungen. Uhr vom Knochen beiderseits nicht
gehört, Weber auf die bessere Seite,, starke Herabsetzung der
'Hörweite für Sprache hei normalem Trommelfellbefunde und
freien Tuben. Während der folgenden Zeit verschlechterte sich
das Gehör noch und besserte sich erst nach Jodkalimedikation.
Eine genaue .Durchsicht der Arbeit Schwartz! es
zeigt aber, daß er offenbar eine viel größere Anzahl hieher
gehöriger Fälle gesehen hat, nur beschreibt er sie, den.
damals noch nicht sehr ausgebildeten differenzialdiagnosti¬
schen Anschauungen entsprechend, als chronische Katarrhe,
wobei er aber bemerkt, daß die Trommelfelle keine- we¬
sentlichen Veränderungen zeigten und -die Knochenleitung
in allen Fällen ungewöhnlich früh beeinträchtigt oder auf¬
gehoben war und hervorhebt, daß die Tuben stets gut
permeabel und die Luftdusche ohne Effekt war. Von diesen
Fällen, die wir nach den gegebenen Indizien zweifellos
als Läsionen des inneren Ohres ans-ehen müssen, sagte
er, daß zwischen dem Beginne der Schwerhörigkeit und
dem Auftreten der sekundären Symptome in der Regel ein
Zeitraum von drei Monaten lag.
Sex ton:27) 48jähriger Mann. D-rei Monate nach dem Pri¬
märaffekt rechtseitige Fazialislähmung, nach weiteren drei Mo¬
naten totale Taubheit links und subjektive Geräusche; ferner
(zitiert nach Roosa, Zeitschrift für Ohrenheilkunde, Bd. 9,
S. 310): 21 jähriger Mann. Fünf Monate nach dem Primäraffekt
plötzliche Schwerhörigkeit, nach -einigen Tagen totale Taubheit.
Schwindel. Die antiluetische Behandlung erzielte nur das Wieder¬
auftreten. von Vokalgehör. (Es scheint bei diesem Falle- auch
ein Tubenkatarrh vorhanden gewesen zu sein, der aber selbst¬
verständlich die große Hörstörung nicht -erklären kann.)
K. Stein:28) Ein 45jähriger Mann zeigte acht Wochen
nach der Infektion und -eine Woche nach dem Ausbruche des
Exanthems Symptome einer Erkrankung des linken Ohres, be¬
stehend in subjektiven Geräuschen, Schwerhörigkeit und
Schwindel. Weber auf die bessere Seite, Rinne beiderseits po¬
sitiv. Knocbenleitung auf der erkrankten Seite verkürzt, Herab¬
setzung der Hörweite für Konversations- und Flüstersprache auf
der erkrankten Seite, gesteigerte Erregbarkeit des Vestibularappa-
rat-es. Die antilu-etisch-e Therapie hatte vollen Erfolg.
Roosa:29) 1. 3 7 jährig er Patient. Sechs Monate nach der
Infektion plötzliche Schwerhörigkeit und Sausen. Knochenleitung
für die Uhr rechts aufgehoben, links vermindert. Weber auf die
bessere Seite, otoskopischer Befund normal. Besserung nach spe¬
zifischer Behandlung.
26) Archiv für Ohrenheilkunde 1905, Bd. 65, S. 193.
2e) Archiv für Ohrenheilkunde, Bd. 4.
21) American Journal of Otologie, Bd. 2: ref. im Archiv für Ohren¬
heilkunde, Bd. 17, S. 234.
28) Verhandlung der Oesterreichischen otologischen Gesellschaft
vom 26. Oktober 1908. Monatsschr. für Ohrenheilkunde 1909, S. 183.
2e) Medical record 1876. Archives of Dermatology, Bd. 1 ; zitiert
nach Jung (8) und Jegu (18).
S88
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
2. 31 jähriger Patient. Kaum fünf Monate nach der Infektion
Sausen und komplette Taubheit links, hochgradige Schwerhörigkeit
rechts, zwei Wochen später Schwindel und Gehstörungen. Anti¬
luetische Behandlung besserte das Gehör auf dem rechten Ohre;
während der Behandlung konnte die interessante Erscheinung
des Falschhörens beobachtet werden.
3. 31jähriger Patient. Zirka fünf Monate nach der Infek¬
tion Hörstörung und subjektive Geräusche. Die übliche Behand¬
lung, gegen eine katarrhalische Affektion gerichtet, blieb er¬
folglos, während Quecksilberbehandlung Heilung brachte.
Her met:30) 1. 20jähriger Mann. Ungefähr im vierten Mo¬
nate nach dem Auftreten des ersten Hautexanthems Fieber, Kopf¬
schmerzen. Ertaubt plötzlich über Nacht auf beiden Seiten,
Diplopie.
2. 25 jähriges Mädchen, Fünf Monate nach dein Primäraffekt
totale Ertaubung im Laufe von zwei Tagen.
C ro u z i 1 1 a c : 31) Fünf Monate nach dem Primäraffekt
neben anderen Allgemeinerscheinungen Schwerhörigkeit, Schwin¬
del, Erbrechen, Gehstörungen. Knochenleitung nahezu null, Rinne
positiv, Weber zur besseren Seite, otoskopischer Befund normal.
Nach antiluetischer Behandlung wesentliche Besserung.
Frey tag:32) 21jähriger Patient. 8V2 Monate nach dem
ersten Exanthem an Intensität zunehmende Schwindelanfäile, so
daß der Patient das Bett nicht verlassen kann, subjektive Ge¬
räusche links, Nystagmus nach links, beim Gehen Fallen nach
rechts und starkes Schwanken. Sehr geringe Hörstörung, aber
sehr deutliche Ddplakusie. Trommelfellbefund normal, Heilung
nach antiluetischer Behndlung.
Grünberg:33) Sechs Monate nach dem Primäraffekte
Schwerhörigkeit und Sausen beiderseits. Eine spezialis tische
Untersuchung fand erst nach einem Jahre statt und ergab das
Bestehen einer kombinierten Mittelohr- und Labyrinthschwerhörig¬
keit. Der Fall wurde obduziert und zeigte Veränderungen im Sinne
eines chronischen Adhäsivprozesses in den beiden Mittelohreu,
chronische Periostitis des Promontoriums und eine Atrophie des
Cor tischen Organes, sowie des Ganglion spirale, rechts aus¬
gesprochen, links angedeutet.
Magnus Moeller:34) 1. 34jährige Frau. Fünf Monate nach
der Infektion subjektive Geräusche und Schwerhörigkeit links,
otoskopischer Befund normal, Schwindel und Gehstörungen, Weber
auf die bessere Seite, Knochenleitung verkürzt.
2. 21 jähriger Mann. Ertaubt plötzlich sechs Monate nach
der Infektion. Die otiatrische Diagnose lautete auf Labyrinth¬
läsion. Quecksilber und Pilokarpin blieben ohne unmittelbaren
Erfolg, aber nach drei Monaten verschwand die Taubheit voll¬
ständig.
Stümpke:85) 1. 2p2 Monate nach dem ersten Exanthem.
4V8 Monate nach der Infektion, plötzlich Erbrechen, Schwindel,
vier Tage später deutliche Gehstörungen, Sausen und Schwer¬
hörigkeit links, Nystagmus nach links, beim Stehen und Gehen
mit geschlossenen Augen Schwanken mit Fallrichtung nach hinten.
Aeußeres und Mittelohr normal, Flüstersprache 1 m, Weber auf
die gesunde Seite, Rinne positiv. Ungefähr drei Wochen nach
dem Einsetzen dieser Erscheinungen war die W as s er mann sehe
Reaktion negativ. Behandlung zuerst mit Inunktionskur,
dann mit Kalomelinjektionen, nach vier Wochen bedeutende
Besserung.
2. 26jährige Frau. Drei Monate nach dem Exanthem, fünf
Monate nach der Infektion, Schwerhörigkeit und subjektive Ge¬
räusche links, äußeres und Mittelohr normal, Flüstersprache links
1 m, Weber auf die gesunde Seite, Rinne positiv, kein Nystag¬
mus, Schwanken beim Stehen mit geschlossenen Augen. Geheilt
(Flüstersprache 7 m) nach Injektionskur mit Kalomel.
Wie aus dieser Zusammenstellung hervorgellt, sind
die Fälle von Erkrankungen des inneren Ohres im rezenten
Stadium der Lues durchaus nicht so selten, wie von den
eingangs erwähnten Autoren angenommen worden ist und
gewiß nicht in der Literatur ,,fast unbekannt“. Damit stimmt
auch folgende Aeußerung Rosensteins25) überein: ,,Die
syphilitischen Erkrankungen des Hörnerven sind viel häu¬
figer, als bisher angenommen wurde. Ein sehr großer
Teil der Fälle von Akustikussyphilis ist bislang unbekannt
geblieben. Dies fand einerseits seinen Grund in der ,ge>-
ringen Beachtung, die dem Hörnerven immer noch geschenkt
3U) Annales de Dermatologie 1894, S. 1352.
81) Annales de maladies de l’oreille etc. 1901, S. 143.
32) Zeitschr. für Ohrenheilkunde, Bd. 53, S. 108.
3S) Zeitschr. für Ohrenheilkunde 1910, Bd. 60, S. 260.
3‘) Archiv für Dermatologie und Syphilis 1895, Bd. 38, S. 375.
*») Dermatologische Zeitschr. 1909, Bd. 16, S. 339.
wird. Bei der bisher geübten Methode, das Ohr nur im
Falle grober Hörstörung zu untersuchen, mußte ein großer
Teil der Fälle von syphilitischen Erkrankungen des Aku-
stikus der Beobachtung um so sicherer entgehen, als die
luetische Neuritis acustica nicht nur nicht zu bedeutenderen
Beschwerden zu führen braucht, sondern sogar ohne jedes
subjektive Symptom bestehen kann.“
Dem ist nur wenig mehr hinzuzufügen. Wenn man die
einzelnen angeführten Fälle im Originale genau durchsieht,
so erkennt Inan, daß sie meistens nur publiziert wurden,
weil sie aus irgend einem Grunde dem Autor besonderes
Interesse zu bieten schienen. Eine systematische Unter¬
suchung eines großen Materiales von Syphilitikern liegt in i
der Literatur eigentlich noch nicht vor. Ihre Ergebnisse j
könnten nur dann als einwandfrei angesehen werden, wenn i
sämtliche Luesfälle einer Station einer otiatrischen Prüfung |
unterzogen würden. So lange man sich darauf beschränkt, ;
diejenigen Patienten, die spontan Angaben über Hörstö- j
rungen machen oder deren Störungen so hochgradig sind, i
daß sic ohneweiters auffällen, zu untersuchen, wird ge¬
wiß immer ein Teil der Fälle unentdeckt bleiben müssen. ;
Daß noch ein großer Teil hierher gehöriger Kasuistik in
den Einzelbeobachtungen der Dermatologen und Otiater
verborgen liegt, geht schon aus folgendem Umstande hervor: |
Anläßlich der eingangs zitierten Aeußerungen in der
Gesellschaft der Aerzte hat Benario36) die im Ehrlich-
schen Institute eingelaufenen Berichte über die mit Salv-
arsan behandelten Patienten durchgesehen. Da diese Be¬
richte meistens mit mehr oder weniger ausführlichen Krank¬
heitsgeschichten versehen waren, die sich auf die Zeit vor I
der Anwendung dieses Mittels bezogen, konnte er aus ihnen
eine größere Anzahl von Fällen entnehmen, in welchen
Störungen von seiten dös inneren Ohres vorhanden waren.
So fand er in einem Falle höchstens sieben Monate nach
der Infektion, in einem anderen Falle vier Monate, in
einem weiteren Falle vier Monate nach dem ersten Exan¬
them, dann fünf Monate nach, dem Primäraffekte, dann
1 V2 Monate nach dem 'Primäraffekte, dann ungefähr ein
halbes Jahr nach dem Primäraffekte, dann zwei bis drei j
Monate nach dem Primäraffekte Erscheinungen von Er¬
krankungen des inneren Ohres. Es sei bemerkt, daß in
allen diesen Fällen die Erscheinungen nach der Anwen¬
dung des Salvarsans geheilt oder gebessert waren, Aber
es ist kein Zweifel, daß diese Fälle niemals bekannt ge¬
worden wären, wenn sie nicht durch die Salvarsanbehand-
lung Interesse gewonnen hätten und so mag es mit einer
außerordentlich großen, Anzahl anderer Fälle gegangen sein,
die infolge Mangels eines äußeren Anlasses niemals in die
Oeffentlichkeit gelangten.
Die Frage nach der neurotropen Wirkung des Salv¬
arsans und insbesondere die Frage, ob seine Anwendung
eine besondere Gefahr für den Akustikus bedeute, ist na¬
türlich noch lange nicht gelöst. Aber der Hinweis, daß
man in der Vor-Salvarsanzeit. im rezenten Stadium der
Syphilis Läsionen des inneren Ohres nicht oder fast nicht
gekannt hätte, wird als Argument in dieser Frage wohl
nicht mehr verwendet werden können.
Aus dem Landeskrankeijhause in Klagenfurt.
Klinische Beobachtungen über Muskel- und
Hauttinnen.
Röntgennachweis verkalkter Zystizerken.
Bemerkungen zur Bandwurm- und Finnenstatistik.
Von Dr. Karl Pichler, Vorstand der inneren Abteilung.
(Schluß.)
Da mir ein Widerspruch zu bestehen schien zwischen dem
Mangel an Taenia solium in meinem Bandwurm-
materiale und dem relativ häufigen Funde von Finnen
im Vergleiche zu anderen österreichischen Beobachtern, so legte
ich mir die Frage vor, ob etwa die gefundenen Zystizerken gar
3B) Münchener med. Wochensc.hr. 1911, Nr. 1, S. 21.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
389
solche von Taenia saginata gewesen seien. Den Skolex. der
Finnen der ersten zwei Fälle habe ich leider mikroskopisch
nicht untersucht; beim Falle IV fand ich, trotzdem ich einen
wenig geschrumpften zystischen Zystizerkus zur Untersuchung
bekam, keine Haken. In den übrigen 13 Fällen konnte ich
hingegen jedesmal den typischen Hakenkranz nachweisen,
bzw. im Falle XVI an den entkalkten Knötchen deutlich typische
Haken; es ist daher der Gedanke an Finnen von Taenia sagi¬
nata für diese Fälle völlig von der Hand zu weisen.
Es wäre übrigens auch ein negativer Befund (hakenlose
Finnen) nicht beweisend gegen Taenia solium gewesen,
da schon Lew in35) Schweinefinnen ohne Hakenkranz beschrieben
hat, ebenso der alte Küchenmeister (zitiert nach Lewin).
Auch Galli Valerio36) (Lausanne) beschreibt, daß er bei
einer menschlichen Leiche neben einem typischen Xystieercus
cellulosae eine zweite Finne ohne Haken und ohne RosLollum
gefunden habe.
Die Nichtsichtbarkeit eines Hakenkranzes (im Augenspiegel)
bei einem im Glaskörper frei beweglichen Zystizerkus, dessen
vier Saugnäpfe gut sichtbar waren, bewog übrigens auch Per¬
gens,38) denselben (allerdings mit dem einschränkenden (?)
Wörtchen „wohl“) der Taenia inermis (-- saginata) zuzuschreiben.
Universitätsprofessor Th. Pint ner (Wien) war so liebens¬
würdig, mich aufmerksam zu machen, daß die sichere Diagnose,
welchem Band wurme eine hakenlose Finne angehöre, nur an
sorgfältigen Schnittserien möglich sei, indem die Kopfanlage (der
Skolex) von Taenia solium durch eine sogenannte Vorhöhl© aus¬
gezeichnet ist; näheres hierüber bei Schaaf.37)
Küchenmeister und auch Lew in hatten in ihren Fällen
noch die Möglichkeit betont, daß die Schweine den Zysti-
xerkus der Taefnia saginata neben jenen der Taenia solium
beherbergt hätten.
Dürfen wir aber überhaupt unsere Finnenfälle als
Kärtner Herkunft auffassen und ausgeben? War es viel¬
leicht bloßer Zufall, der die an verschiedenen Orten erworbe¬
nen Finnen, richtiger deren Träger, an einem Ortezusannnen-
fiihrte? Um diese Frage zu lösen, habe ich selbst alle
meine Kranken möglichst eindringlich über ihren Aufenl-
hallsort in den letzten Jahren befragt und hiebei die be¬
stimmte Angabe erhalten, daß sie (bis auf einen, Fall X,
welcher aus dem steirischen Draulale stammt) sämtlich ent¬
weder niemals oder schon seit vielen Jahren nicht mehr
die Grenzen Kärntens verlassen hatten. Demnach habe ich
das Recht, die 15 übrigen Fälle als bi er lands erwor¬
bene zu bezei ebnen.
Nicht unerwähnt möchte ich an dieser Stelle lassen,
daß die Fälle III und V meiner Beobachtungsreihe, ferner
der oben (bei den Obduktionsbefunden) erwähnte Mann mit
Gehirnzystizerken und die an Augenfinne erblindete Frau
(Schwägerin von V) aus einer und 'derselben k l einen L a n d-
gemeinde stammen, also möglicherweise, Irolz des
zeitlichen Auseinanderliegens, auf eine und dieselbe Infek¬
tionsquelle zu beziehen sind. Diesbezügliche Nachfragen
nach einem Bandwurmträger blieben vergeblich.
Pos sells (1. C.) Kranker hat angegeben, daß zwei
seiner Bekannten mit ihm gleichzeitig am selben Leiden
(Auftreten zahlreicher Hautknötchen) erkrankt seien; eine
Bestätigung durch ärztliche Untersuchung ist allerdings
meines Wissens nicht erfolgt.
Soviel ich in der Literatur ersah, ist über solche fa¬
miliäre „Massen“- Erkrankungen nichts weiter berichtet
worden.
An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, daß in keinem
meiner 16 Fälle von mir eine Tänie nachgewiesen wurde (niakro-
"nil mikroskopisch© Stuhluntersuchung !) ; anamnes lisch wurde
' hie solche im Falle IX erwähnt, in Fall VIII ihr Vorkommen
hei der Ehefrau; in den übrigen Fällen sollen weder der Finnen-
li'äger, noch dessen nächst© Umgebung je an Bandwurm ge¬
lten haben. Auch in den Fällen X und XT, welche zur Sektion
gelangten, war der Darmkanal tänienfrei, ebenso in dein (nicht
>ii die Zusammenstellung aufgenommenen) Falle der solitären Herz-
:5) Le win, Charite-Annalen 1875, Bd. 2, S. 667.
Galli Valerio, Zentralblatt für Bakteriologie 1898, Bd. 23, S. 939.
3:) II. Schaaf, Zur Kenntnis der Kopfanlage der Zystizerkon.
■»äug. -Dissert. Gießen 1905.
38j Pergens, Klin. Monatsblätler für Augenheilkunde 1896
M. 34, S. 134.
muskelfinne (siebe oben). Da ich über die Art des Bandwurmes
in den Fällen VIII und IX mir keine Aufklärung verschaffen
konnte, so liegt natürlich auch die Möglichkeit vor, daß
ein© an der Fiunenkrankheit unschuldige Taenia, saginata vor-
gelege'n hat, wie z. B. Benda (1. c.) bei seinem Falle fand.
*
Ich gehe nunmehr auf meine eigenen 16, oben zu¬
sammengestellten Krankenbeobachtungen etwas näher ein.
Sämtliche Kranken (mit Ausnahme von Fall II) stammten
vom Lande und waren in bäuerlichen Betrieben lätig
gewesen.
Nach Hirsch borg (1. c.) gehören die Finnenträger meist
nicht „den besser lebenden“ Ständen an, allerdings findet sich
auch ein Herzog (s. ('uni er, zitiert nach Stich, 1. e.) unter den
Fällen von Augenzystizerkus.
Dem Geschlecht e nach teilen sich meine 16 Fälle in
15 Männer und nur ein Weib, während das Verhältnis
zwischen den beiden Geschlechtern bei der Gesamtzahl
meiner Kranken 1-38 Männer zu 1 Weibe sich stellt. Nach den
Literaturangaben ist überhaupt (siehe Danielsen, S. 244)
ein Ueberwiegen der männlichen Finnenträger vermerkt
(2 : l) ; bei den Muskelfinnen im besonderen rechnet Da¬
nielsen das Verhältnis von 3-4:2 aus.
Diese Statistiken beziehen sich nur zum Teil auf le¬
bende Kranke, zum Teil sind es Sektionstischerfahrungen.
Das bedeutende Ueberwiegen des männlichen Geschlechtes
in meiner Beobachtungsreihe am Lebenden entspricht gewiß
nicht dem wirklichen Verhältnisse, sondern der verschie-
| denen Schwierigkeit der Diagnosenstellung bei den beiden
Geschlechtern. Ich komme darauf später noch zu sprechen.
Daß von meinen 30 Tä n i c n trägem nur 5 Männer auf
25 Weiber kamen, ist bei der kleinen Zahl .wohl ein Zufall. Uebri-
gens weisen, vom alten Peter Frank angefangen, die meisten
Bandwurmträger-Zusammenstellungen ein Ueberwiegen des weib¬
lichen Geschlechtes auf (siehe P -ei per, 1. c., S. 91).
V ie aus der Tabelle ersichtlich, hat nur ein Kranker
(Fall l) angegeben, daß er die Knötchen erst kurze Zeit
(etwa, ein Jahr) an, sich wahrgenommein habe ; in diesem einen
Falle .haben wir während der Beobachtungszeit von sieben
Wochen einige neue aufschießen gesehen, ohne daß der
Mann zu dieser Zeit über irgendwelche subjektive Beschwer¬
den geklagt, oder solche aus der früheren Zeit angegeben
hätte.
Nach Analogie der Verhältnisse bei der Muskeltrichi-
nose und in Ueßereinstimmung mit den Versuchen an Tieren
(Moslers akute Z es to den -„Tuberkulose“, siehe
Pei per, S. 130), welche bei massenhafter Zufuhr von Band-
wurmproglotliden schwer, manchmal tödlich erkranken,
sollte man für die Fälle multipler Haut- und Muskelfinnen
des Menschen Berichte über ein Krankheitsbild erwarten,
das durch „rheumatische“ Beschwerden ausgezeichnet wäre;
auch Heller39) hat diese Vermutung ausgesprochen.
In Villarets Handwörterbuch der gesamten Medizin
1899, Bd. 1, S. 423, lese ich, daß Per rin- Marseille bei
einer Frau subkutane Zystizerken unter Dermatitis
ähnlichen Erscheinungen auftreten sah.
Kahler40) sah bei einer Kranken, „der jedesmali¬
gen Knotenbildung Rötung und schmerzhafte
Schwellung der betreffenden Stelle vor-
ausge hen“.
Sonstige, in diesem Sinne eindeutige Krankenge¬
schichten konnte ich nicht auffinden. So darf ich hier wohl
die Beobachtung Oslers41) anführen, welche mir be¬
weisend klingt, obwohl über den Ausgang des Falles nichts
erwähnt ist.
Gewöhnlich führt beim Menschen das Eindringen der Larven
zu sehr wenig ausgesprochenen Symptomen. Manchmal aber sieht
man ein recht auffallendes Krankheitsbild. So wurde ein Kranker
ganz steif und hilflos in meine Klinik gebracht. Er klagte über
Starr© und Jucken in den Gliedmaßen, so daß zuerst an peri-
3!)) A. Heller in Ziemssens Handbuch 1874, Bd. 3, S. 337, wo¬
selbst auch Krankengeschichten infizierter Tiere zu finden sind.
4°) KG, h 1 e r, Wiener med. Presse 1888,' Bd. 29, S. 1009.
4l) W. Osler, Lehrbuch der internen Medizin 1909, S. 26, über¬
setzt von E. H o k e.
390
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
phere Neuritis gedacht wurde. Bei der Untersuchung wurde eine |
Anzahl schmerzhafter subkutaner Knötchen entdeckt, die sich bei i
der Exzision als Zystizerken erwiesen. Im ganzen wurden j
75 derartige subkutane Knötchen gefunden und nach der Empfind- j
liehkeit. und Steifheit der Muskeln zu schließen, waren sie wahr- I
scheinlich auch in diesen in großer Zahl vorhanden. Symptome ^
von seiten des Zentralnervensystems bestanden nicht.
Auch die histologischen Befunde (Ferber, Ordon- |
nez, Bongert, zitiert nach Lorenz, 1. c., S. 366), welche
kapilläre Hämorrhagien um die jungen Finnen beim Men¬
schen und beim Tiere nachwiesen, lassen ein solches Krank¬
heitsbild erklärlich erscheinen.
In keinem meiner Fälle gaben die Zystizerken zu ir¬
gend welchen Klagen Anlaß ; immer wurden sie vom Arzte
„entdeckt“, fast immer auch für den Träger, der von dem
Dasein der Knötchen überhaupt keine Kenntnis gehabt
hatte (siehe Tabelle).
lieber den Fall I habe ich schon oben gesprochen. Der
Kranke (XV) gab an, er habe vor zehn Jahren an Brust und Rücken
mehrere Geschwülstchen von der gleichen Größe bemerkt, wie
den im großen Brustmuskel jetzt noch tastbaren; diese seien
sämtlich im Laufe der Zeit symptomemlos verschwunden. Der
Kranke (XVI) will die kalkigen Knötchen vor wenigstens zwanzig
Jahren bereits an sich bemerkt haben; dieselben seien nie größer
gewesen (?); eine Krankengeschichte aus jener Zeit (Aufnahme
wegen Jacks on scher Epilepsie) sagt nichts über das Vorhanden¬
sein von Knoten.
Niemals fand bei meinen 16 Kranken die Abszedie¬
rung einer Finne statt, wie solches wiederholt berichtet
worden ist. Eine große Anzahl der von Chirurgen veröffent¬
lichen Fälle kam ja nur durch diese Komplikation zur
Operation und zur Diagnose.
So veranlaßte in dem ersten lebzeitig erkannten, multiplen
Zystizerkenfalle Krukenberg-Sen dlers, der Druck der Hut¬
krempe die Abszedierung eines unter der Stirnhaut gelegenen
Knotens.
Von Kare w skis 42) neun Fällen von sämtlich solitären
Muskel- (5) und Haut (Schleimhaut)finnen (4) vereiterten nicht
weniger als sechs, vier intramuskuläre, zwei subkutane. Der Eiter
dieser Abszesse ist öfters blutig gefärbt, so mehrmals in Ka-
r e w skis Fällen, übrigens auch in dem Falle von Uh de (Deutsche
Klinik 1851, S. 433).
Danielsen (1. c., S. 243) führt an, daß eis vorwiegend die
solitären Zystizerken sind, welche vereitern.
Für diese solitären Finnen hat Gursky43) die eigenartige
Hypothese aufgestellt, daß sie nicht durch Einwanderung vom
Verdauungskanal ihre Entstehung finden, sondern durch eine
solche von der Körpeir (Haut) ob erf läche aus. G-ursky
findet, daß bei der Einfuhr von Tänieneiern durch den Mund ihm
das Auftreten nur eines Zystizerkus völlig unerklärlich erscheine;
er hält das Ergebnis des einen Leucka rt sehen44) Versuches,
in welchem nach Proglottidenfütterung eines Schweines nur eine
einzige Muskelfinne gefunden werden konnte, für einen beson¬
deren Zufall. Er meint, daß von kleinen Epithelverlusten aus
Bandwurmeier in den Organismus eindringen könnten. Auch für
die Augenfinne möchte Gursky diese Eintrittspforte als möglich
aufstellen, da auch diese nach Albrecht v. Graef e45) meist solitär
auftrete. Allerdings führt Kr a ein er46) mehrere gegenteilige Fälle
an (Glaskörperzystizerken mit multiplen Haut- oder Gehirnfinnen).
Gurskys Annahme wurde weder von ihm, noch meines Wissens
auch seither von anderer Seite durch experimentelle Versuche
gestützt.
Es hat übrigens schon Stich (1. c., S. 225) die Möglich¬
keit des Eindringens von Tänien-,, Eiern“ durch Hautwunden für
die multiple Finneininvasion (solitäres Vorkommen ist ihm über¬
haupt fraglich) erörtert, übrigens ein solches Zustandekommen
für unmöglich erklärt.
Für die Anky lostomen hat bekanntlich Looss seit 1898
(siehe Zeintralblatt für Bakteriologie, 24. Bd., S. 484) — anfäng¬
lich verspottet — die Einwanderung der Larven durch die Haut¬
decken bei Tieren und beim Menschen bewiesen.
42) Karowski, Berliner klin. Wochenschr. 1887, Bd. 24, S. 571.
*'s) G ursk y, luaug. -Dissert. Greifswald 1890.
44) R. Leuckar t, Die menschlichen Parasiten 1863, Bd. 1, S. 231 .
46) A. v. Graefe, Archiv für Ophthalmologie 1866, Bd. 12,.
2. Abt., S. 176.
46) A. Kraemer. Grael'e-Saemisch' Handbuch der Angenheil¬
kunde 1899, Bd. 10, 2. Auf!., S. 100.
Wie das Einschießen der Finnen in die Muskeln
meist unbemerkt zu erfolgen scheint, so gilt dies ge¬
wiß auch für die späteren Stadien des Heranwachsens.
Die Störungen, welche z. B. Lewin47) nach fremden und
eigenen Krankengeschichten berichtet (Schmerzen und Bewegungs¬
beschränkung der befallenen Körperteile), sind bei näherem Zu¬
sehen teils von größeren Knoten, besonders aber von abszedie-
renden (wie die zwei zitierten Fälle K a r e w skis VI und IX)
ausgelöst worden, manchmal, wie die Krämpfe, mit viel größerer
Wahrscheinlichkeit, wenn nicht sicher, auf Gehirnzystizerken zu
beziehen .
Lewin springt, um die Häufigkeit der durch die Haut-
Muskel-Finnen bedingten örtlichen Störungen darzutun, mit den
Quellen recht willkürlich um.
Es sei mir gestattet, dies an einzelnen Beispielen darzutun,
nachdem Lewi n auf dem Gebiete als Autorität gilt und die
Stieb sehe Arbeit schwerer zugänglich ist ! Stichs erster Fall
(l. c., S. 178), welchen dieser durch Jahre beobachtete, an welchem
er das Heranwachsen der Knoten studiert hatte, gab an, daß ein
anderer Arzt die Zystizerken für „Gichtknoten“ erklärt habe.
Daraus folgert Lewin: „Es müssen wohl ziemlich starke
Schmerzen vorangegangen sein“. Lewin bedenkt also weder,
daß die Tophi meist schmerzlos auffahren und anwachsen, noch
daß Stich die Schmerzlosigkeit der Knoten besonders betont
In Himlys Falle (Fund massenhafter Haut-, Muskel- und
Hirnfinnen hei einer Leichenöffnung) zitiert nach Stich (1. c.,
S. 192), ergab die Nachfrage, „daß der Kranke seit einigen Jahren
ungewöhnlich schläfrig gewesen, an häufigen Wadenkrämpfen
und auch an Krampf der Finger bis zu dem’ Grade gelitten habe,
daß sie ihm steif stehen blieben“. Schon Stich deutet all dies
als von den Hirnfinnen abhängig; Lew in erklärt es für Muskel¬
schmerzen.
Am „freiesteh“ geht Lewin (S. 219) in der Wiedergabe von
Stichs zweitem Falle (1. c., S. 179) vor. Stich hatte die Frau
zwei Jahre vor ihrer tödlichen Erkrankung entbunden und hiebei
die massenhaften Muskelzystizerken gefunden. „1849 erkrankte
die Frau an Cholera und starb wenige Stunden, nachdem ich
zu ihr gerufen war; sie hatte sehr heftige Muskelkrämpfe.“ Stich
sagt, weiter: „Die Kranke hat nie an Schmerzen in den Muskeln
während des Bestehens der Zystizerken gelitten. Sie war von
großer Muskelkraft, obwohl einzelne ihrer Muskeln mehr Zysti¬
zerken als Muskelfleisch hielten.“ Lewin schreibt über diesen
Fall: Bei einer Frau Stichs mit Finnen wurde während einer
Choleraepidemie auch Cholera angenommen, weil sie Waden¬
krämpfe und diarrhoische Stühle hatte. Erst die Sektion klärte
den Irrtum auf.
Es hat übrigens schon Ferber (Virchows Archiv 1865,
Bd. 32, S. 249) eine ähnliche Umdeutung der obigen Fälle Stichs
und Himlys, wie Lewin, versucht.
Ferh ers eigener Fall XII (Archiv der Heilkunde 1862, Bd. 3,
S. 542), welcher hartnäckigen Singultus aufwies, könnte bei
der nachgewiesenen Durchsetzung des Zwerchfelles „mit zahl-
reichen Blasenwürmern“ in diesem Sinne am ehesten an¬
geführt werden; doch liegt auch hier die Ableitung aller Erschei¬
nungen, auch des plötzlichen Todes, von den reichlichen Gehirn¬
finnen, näher.
Für jeden Arzt, welcher gewohnt ist, den entblößten
Oberleib des Kranken zu besehen, wird das Wahrnehmen
der Knoten ein leichll.es sein, falls nicht das Unter¬
hautfett stärker ausgebildet ist. Dieses wird natürlich auch,
der näheren Betastung der Knötchen hinderlich sein und so
die Diagnose unter Umständen unmöglich machen. In diesem
Momente erblicke ich auch die Erklärung dafür, daß ich
mit Ausnahme eines kachoktischen Weibes (mit Magenkrebs,
Fall II) nur bei Männern Finnen entdecken konnte; von
diesen waren, wie aus der Tabelle zu ersehen, nur drei
unter 50 Jahren (Fall III, VIII, XIV); stets handelte es sich
nach den Krankengeschichten um magere Personen.
ln den Seklionsstatistikcn steht die Mehrzahl der Er¬
krankten in mittleren Lebensjahren.
Wenn ich also das Entdecken der Finnen in meinen
Fällen für ein Leichtes erklären muß, gebe ich natürlich
gerne zu, daß mir im Drange der täglichen Arbeit ein oder
auch mehrere Fälle entgangen sein werden, wenn auch das
Auge und der tastende Finger im Laufe der Jahre mit der
zunehmenden Erfahrung geübter geworden sind.
47) G. Lewi», Archiv, für Dermatologie 1894, Bd. 26. S. 217.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
391
Von meinen 16 Fällen habe ich nur in den Fällen VII (zwei
vereinzelte Hautzystizerken) und IX (solitäre Finne in einem
Musculus biceps brachii) die Knoten erst beim zweiten
Kranken haus auf enthalte bemerkt; doch werden diese
wohl älterer Herkunft gewesen sein.
Wer von schlecht untersuchten Fällen hören will, lese bei
Lew in (1. c., S. 622 und ff.) einige ^drastische Obduktionsbefunde
nach; man vergleiche auch H. Chiari (Anzeiger der Gesell¬
schaft der Aerzte in Wien 1876, S. 98), wo bei einem im Status
epilepticus verstorbenen, alten Manne an der Leiche sofort zahl¬
reiche „Protuberanzen“ der Hautoberfläche auffielen, welche beim
Einschneiden als Zystizerken sich erwiesen.
Selbstredend (können Inspektion und Palpation
uns auejh bei größter Borgfalt im besten Falle nur die Haut-
und die oberflächlich gelegenen Muskelfinnen
auffinden lassen; die im Muskelfleische tiefsitzenden ent¬
gehen der Diagnose am Lebenden; über ihre allfällige Rönt¬
gendiagnose siehe später.
Der Vorwurf, welchen 1879 ein Wiener Dermatologe, Eduard
Schiff (zitiert nach Posselt, 1. c., S. 429) seinen engeren
Fachkollegen, aber auch den österreichischen Internisten und
Chirurgen macht, solche Fälle öfters verkannt zu haben — auch
Lew in (1. c., S. 627) findet es auffällig, daß zu dem ziemlich
häufigen Funde von Muskelfinnen an der Leiche (Rokitansky
1844) Hebra unter 80.000 Kranken keinen Fall von Haut- oder
Muskelzystizerken bringen konnte — ist vielleicht dahin abzu¬
schwächen, daß in der vorantiseptischen Zeit selbst eine so
kleine Operation, wie sie eine Probeexzision darstellt, zu rein
diagnostischen Zwecken nicht gerne äusgeführt wurde, daß aber
ohne eine solche, wie wir weiter unten ausführen wollen, eine
sichere Diagnose nicht zu erlangen ist.
Auffällig ist gewiß, daß weder Jari sch,48) noch Lorenz
(1. c.) in ihrer Darstellung der Haut-, bzvv. Muskelfinne sich auf
eigene Beobachtungen beziehen, also anscheinend keine solchen
gemacht haben.
Für die Seltenheit des Fundes (ob auch des Vorkommens?)
von menschlichen Finnenträgern in Wien spricht wohl auch,
daß W. Falta49) (1908) einen Fall von Hautzystizerken mit auf
Gehirnzystizerken zu beziehenden Erscheinungen in der Wiener
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde • vor¬
gestellt hat.
Bremser (1. c., S. 242) sagt bezüglich de.s: Cysticercus
cellulosae, daß er seit zehn Jahren „im V iener All¬
gemeinen Krankenhause, wie auf dem anatomischen I heater
darauf Bestellungein gemacht, habe“, aber keine erhalten konnte.
Die Menschenfinnen seiner Sammlung verdankt er (wie den ersten
haken tragenden Bandwunnskolex, siehe oben) Rudolph i in
Berlin .
Von meinen 16 Fällen sind in 11 sicher multiple Zy¬
stizerken getastet worden ; in zwei (Fall V und XIII) war je
neben der einen, durch Exstirpation sichergestellten Finne
noch ein als Zystizerkus fragliches Muskelknötchen tastbar
gewesen; in drei Fällen (Fäll II, IX, XII) fand sich nur je
ein Muskelzy stizerkus u. zw. in den Musculis cuculla-
ris, biceps brachii und deltoideus.
Während aber in acht Fällen die Zahl der getasteten
Knoten eine sehr reichliche zu nennen war, dieselbe ein
oder mehrere Dutzend betrug, konnte ich im Falle VI mir
zwei Muskelknoten, im Fälle VII nur zwei Hautfinnen, im
Falle VIII außer einem Muskelzystizerkus noch je einen
Haut- und Schleimhautzystizerkus (Wange) auffinden.
Ueber die Verteilung der Finnen auf die ein¬
zelnen Muskeln findet sich bei Danielsen (1. c.) die
Angabe, daß nicht nur der solitäre Zystizerkus im großen
Brustmuskel auffällig oft zu finden sei (achtmal unter 33
Fällen), sondern, daß auch bei multiplem Vorkommen dieser
Muskel einen Lieblingsplatz des Schmarotzers darstelle; nach
diesem folgen die Armmuskeln, die des Rumpfes und zuletzt
die der Reine.
Schon der alte Rudolphi hat (zitiert nach Send lev,
Dissert. Halle 1843) dein Zystizerkus an der Leiche vorwiegend
in den „größeren Muskeln“ gefunden.
Bei meinen 15 Muskelfinnen trägem (Fall VII wies
nur Hautzystizerken auf) war der Musculus pectoralis major
— — - i
.Tarisch, Hautkrankheiten- in Nothnagels Handbuch 1900
Bd. 24, 1. T., S. 622.
«») Falta, Wiener med. Wochenschr. 1908. Bd. 58, S. 92 1.
siebenmal befallen, meist sehr reichlich. Ebenso fand ich
(siehe Tabelle) die Muskeln des Rumpfes öfter und auch,
wie ich hier besonders hervorheben möchte, reichlicher von
Finnen durchsetzt, als die der Arme.
An den Beinen konnte ich nur selten Knoten tasten,
was wegen der anders beschaffenen (dickeren, bzw. straf¬
feren) Haut- und Fasziembedeckung an und für sich erklär¬
lich erscheint, also für die Annahme eines selteneren Be¬
fallenseins picht ohne weiteres verwertet werden darf.
Besprechein möchte ich an dieser Stelle noch das Vor¬
kommen von Zystizerken in der Zunge. Beim Schweine
ist die Zunge nämlich ein Lieblingssitz der Finne, so
daß in der französischen Sprache der Fleichbeschauer danach
den Namen Langueyeur führt!
Nach J. Hirschberg (Berliner klinische Wochenschrift
1.892, 29. Jahrg., S. 363) erwähnt schon Aristophanes die
Untersuchungsart der Schweine auf Finnen durch Besichtigung
der vorigestreckten Zunge.
Beim Menschen hingegen ist die Zunge ein seltener
Sitz des Zystizerkus (vgl. Hubers Bibliographie, S. 59). Auf
unstatthafter Uebertragung der Verhältnisse des Schweines auf
dein finnigen Menschen beruhen einige Literaturangaben zur Dia¬
gnose der Zystizerkose des Menschen. So hat Heller (1. c.,
S. 347) bei Verdacht auf Gehirnzystizerken beim Menschen
Suchen nach Parasiten im Auge, im Unterhautzellgewebe „und
in der Zunge“ empfohlen.
Aber auch in der neueren und jüngsten Zeit finden sich
noch gleiche fehlerhafte Winke.
So sprechen Bruns50) und Si einer ling51) hei der Dia¬
gnosenstellung auf Gehirnzystizerken gleichfalls von Nachschau
„unter der Zunge“ I
Beobachtungen über das interessante Phänomen der Orts¬
veränderung der Hautfinnen (Lewin, S. 635 ff.) habe
ich nicht machen können, obwohl ich einige der Kranken wieder¬
holt. und durch längere Zeit in Beobachtung hatte.
Auf mißverstandener Auffassung der Angabe v. Graefes
(1. c., 176) über die „Sukzession“ von Gehirn- und Augenfinnen,
beruht die Darstellung G. Lew ins in den Charite- Annalen (1. c.)
und noch neuesten® die Bemerkung bei P. Fra n g en heim (Samm¬
lung klinischer Vorträge von Volk mann, 1906, Nr. 424, S. 470):
Es steht, fest, daß der Zystizerkus im Gehirn seinen Sitz wechseln
kann. Kranke, die früher an epileptiformen Krämpfen gelitten,
zeigten später einen intraokulären Zystizerkus, nachdem die Hirn-
erscheiiiunigen vollkommen geschwunden waren.
F. Marc hand (1. c., S. 187) sagt hingegen ausdrücklich:
Von Kanälen in der Hirnsubstanz, wie sie infolge der Wande¬
rung der Blasenwürmer, z. B. beim Coenurus der Schafe Vor¬
kommen, ist beim Menschen nichts bekannt. Es scheint
demnach, daß die Embryonen sich dort festsetzen, wo¬
hin sie durch den Blutstrom gelangt sind.
Bezüglich der näheren Charakterisierung der Knoten
als Zystizerken. kann in erster Linie auf Stic'hs grund¬
legende Arbeit verwiesen werden.
Stich,52) Assistent an Rombergs Poliklinik, verfügte
außer der damaligem Literatur im ganzen über acht Fälle (fünf
sichere eigene, einen wegen nicht, vorgenommener Probeexzision
fraglichen und zwei Sektionsbefunde H. Meckels). Er betont das
Vorkommen unter Id er Haut, vorwiegend unter der
F a s z i e, also in den Muskeln.
Gleich Po ss old (1. c., S. 425) spricht auch mir der Nach¬
weis von Knötchen sowohl im subkutanen Zellgewebe,
als auch in den Muskeln, sehr für Finnen, da durch die
zweifache Lokalisation mehrere in Frage kommende Geschwülste
aus'scheiden.
Die Tumoren sind ferner, wenn subkutan, meist allseitig
gut verschieblich, die Muskelfinnen (natürlich nur mit dem
Muskel) senkrecht auf die Faserrichtung.
Jeder Zystizerkus ist gesondert vom andern; es gibt
unter der Haut anscheinend keine Razemosusform wie in den
Hirnhäuten.
Die Form der Hautfinnen ist meist eine annähernd ku¬
gelige, die der Muskelfinnen eine ovale (Bohnen-, Dattelkem-
förm). Die Größe ist meist die einer Erbse bis Bohne oder
' _ ■ ,i i ■ a 1
50) L. Bruns, Eulenburgs Realenzyklopädie 1895, Bd. 8, 3. Auf¬
lage, S. 620.
51) S i e m e r 1 i n g im Lehrbuch der Greisenkrankheitenv. Schwalbe,
1909.*S. 551.
$| »*) A stich, Annalen des Charite-Krankenhauses 1854, V. Jahr¬
ganges. 154.
392
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
Haselnuß. Da ein öfteres Einwandern meist nicht stattzufinden
scheint, so sind die vorfindlichen Tumoren durchschnittlich alle
von gleicher Größe, was schon Stich besonders hervorhebt.
Fon glatter Oberfläche, sind die Knötchen prall, knorpelhart
arizufühlen. r
Der großen Mehrzahl der Fälle ist ferner gewiß die von
St ich betonte Schmerzlosigkeit eigen ; kommt es ausnahms¬
weise, besonders bei den solitären Fällen (siehe oben), zu Fnt-
zündungserscheinungen, so wird vor der Exstirpation kaum je
eine Vermutungsdiagnose auf Finnen möglich sein. Dasselbe
gilt auch hei anderer Abweichung vom gewöhnlichen Bilde (ab¬
norme Größe).
Bei Berücksichtigung aller oben ausgeführten Eigenschaften
der Knoten wird in den typischen Fällen vielfacher Haut- und
Muskelzystizerken die Diagnose kaum auf Gummen gelenkt
werden, was zum Schaden der Träger nach Lewin (]. c.) in
zahlreichen Fällen geschehen ist und den Kranken unnötigerweise
zu langwierigen antiluetischen Kuren verhalf; die Zystizerken
blieben von Jod und Quecksilber unberührt, ebenso Gehirnerschei¬
nungen, von intra zerebralen Finnen abhängig, die aber gleichfalls
für syphilitische Symptome erklärt worden waren.
In den Fällen multipler Haut-Muskelfinnen (so in
meinen Fällein I, III, IV, X, XI) ist gewiß die Wah r sch einli ch¬
ic -eit s -di agn ose- auf Zysti z-e'rken auch ohne Her aus¬
schneiden eines Knotens wohl begründet, wie diese
nach Stich schon Rom borg bei den Fällen B oilman n (S. 181),
B orchard (1. c., S. 199) gelungen ist, freilich nicht ab¬
solut sicher.
Auch Po ss eit (1. c., S. 425) hat dies schon nach der
Untersuchung eines Falles als seine feste ITeberzeugung hin-
gestellt.
Auf Fall IV, als wahrscheinlichen Zystizerkus, machte mich
der damalige Sekundararzt der Beobachtungsabteilung, Herr Doktor
Weißhaupt, aufmerksam, welcher auf meiner Abteilung kurz
vorher den Kranken, Fall III, gesehen hatte.
Bei solitärem Vorkommen eines Knotens in
einem Muskel ist mir Verwechslung öfters vorgekommen;
der herausgeschnittene Tumor erwies sich als ein derbes
Lipom oder einmal als ein Lymphknoten.
Stich (1. c., S. 231) ist letztere- Verwechslung auch bei
multiplen Knoten mehrmals begegnet.
In Karewskis (l. c.) neun Fällen solitärer Finnen
scheint in keinem Falle die Diagnose vor der Operation gestellt
worden zu sein (nach Daniels e-n, 1. c., auch sonst in keinem
Falle der Literatur). Kar-ewski betont, daß die Knoten seinen
Kranken sechsmal durch Vereiterung Beschwerden verursachen
mußten; die übrigen dre-i durch den Ritz (Mundschleimhaut, Augen¬
lid! dem Träger auffalleln mußten.
Unsere Fälle III, IV, XI, XV und XVI haben uns
aber gelehrt, daß neben derPalpation d e r z y s t i s c'h e n
Finnen der Nachweis der rückgebildeten, fibrös, be¬
ziehungsweise kalkig veränderten Zystizerken aus¬
schlaggebend für die Diagnose sein kann, besonders wenn
(Fall III und IV) vo r sechs Jahren reichliche zystische
Knoten vorhanden waren, hei der späteren Untersuchung
fast nur mehr häuf- oder gelreidekorngroße kalkige Knötchen.
Es hat übrigens schon Stich (l. c.), welcher mehrere
seiner Fälle durch Jahre zu beobachten Gelegenheit gehabt
hatte, über diese interessante Veränderung berichtet; so
wies der erste überhaupt klinisch diagnostizierte Fall Kr li¬
ke nberg-Sendlers (1843) statt 40 tastba rer Knoten nach
ein paar Jahren nur mehr drei verkalkte auf (Stidh,
1. c., S. 173).
In diesen Fällen kann auch die 11 ö n t g e n aufnahme als
hervorragender diagnostischer Behelf dienen, worauf meines
Wissens zuerst Stieda53) aus Gärres Königsberger Klinik
aufmerksam gemacht hat.
Bei der Röntgenaufnahme der Schultergegend eines 37jähri-
gen Mannes mit Oberarmbrurh fanden sich auf der Platte eine
Reihe annähernd gleich großer, zum Teil verschieden
geformter Schatten, welche an Intensität meist der Hu¬
merus - Kortikalis entsprachen; sie lagen teils frei in den Weich-
tcilen, teils fielen sie in den Knochenschatten. Einen Fehler in
- I . 4
63) Stieda, Beiträge zur klin. Chirurgie 1904, Bd. 42, S. 245,
Vergleiche hiezu die Demonstration von Sick (Hamburg), Deutsche med.
Wochenschr. 1905, XXXI. Jabrg., S. 1294, Röntgenplalte von Becken und
Oberschenkeln mit zahlreichen Zystizerken.
der Platte konnte man ausschließen, da zwei zehn Monate aus¬
einander liegende Aufnahmen denselben Befund ergeben hatten;
man wurde der Gebilde erst auf der zweiten schärferen (mit Blende
angefertigten) Platte gewahr. Daraufhin nahm Stieda die ge¬
naue Betastung der Schultergegend seines Kranken vor und
konnte die im Röntgenbilde festgestellten Gebilde palpieren; es
waren 5 bis 10 mm lange, einige Millimeter breite, wenige mehr
rundliche, klein linsdngroße, harte, unempfindliche Knötchen, von
verschieblicher Haut bedeckt; sie selbst waren teils sehr ver¬
schieblich (subkutane Lage), teils wenig verschieblich (subfaszial
gelagerte).
Die Untersuchung -eines Iierausg-eschnittenen Gebildes er¬
wies dasselbe als Zystizerkus : nach Entkalkung in Salpeter¬
säure-Alkohol (5:95) wurden Serienschnitte angefertigt und fand
Stieda vereinzelte, aber sichere Haken.
In Stiedas Fall© haben also erst die Röntgenstrahlen
die Zystizerken entdecken geholfen, auch eine Reihe tief¬
liegender überhaupt allein nachgewiesen, während uns die
Aufnahme mit X-Strahlen nur eine willkommene Bestätigung,
Erweiterung und Fixierung des Tastbefundes lieferte.
S'tieda hat darauf hingewiesen, daß nach der Art der
Schatten (Form, gleiche Größe und Anordnung) nicht an
Geschosse, noch an Venensteine, noch etwa an Reste von
eingespritzten Arzneien (Jodoform, Jodipin) zu denken war,
daß vielmehr Lagerung, Größe und Form den Gedanken
an verkalkte Finnen aufdrängte.
Hoff a (zitiert nach Stieda, S. 250) hat 1898 in Würz¬
burg Musk-eltrichihen im Röntgenbilde vorgezeigt (Sek¬
tionspräparat). Stieda gibt keine Beschreibung der Hoffaschen
Röntgenplatte. Eine Verwechslung mit den viel größeren
Finnen ist jedoch kaum denkbar, sind doch die verkalkten
Muskeltrichinellew mit bloßem Auge nur als kleinste, weiße
Pünktchen, im Fleische zu sehen.54)
Wir haben in allen fünf Fällen mit tastbaren kalkigen
Knötchen Röntgenaufnahmen gemacht, teils mit dem Appa¬
rate der Krankenanstalt, teils (in den Fällen IV, XV und XVI)
mit dem des Kollegen Dr. A. Leopold, wofür ich demselben
hiemil bestens danke. Von diesen Platten ist die des Falles III
nicht, gelungen, während die vier übrigen Aufnahmen, in
den Fällen IV, XI, XVI vom Oberarme, im Falle XV von
der Schultergegend angefertigt, die verkalkten Knötchen deut¬
lich! aufweisen.
In den Platten- der Fälle XI und XVI (Aufnahme ohne
Blende) sind die Knötchen als zahlreiche, bei Fall XVI sämt¬
lich gleichgroße, bei Fall XI verschieden große,
bohnenförmige Schatten, wie bei Stieda, teils frei in
den Weichteilen, teils auf dem Knochenschaitten
zu sehen (siehe bei stehende Photographie vom Fälle XI).
Röntgenbild eines Oberarmes des Falles XI.
Die I ’feile weisen auf die zwei, in den Humerusschaften fallenden, ver¬
kalkten Zystizerken hin; außerdem linden sich vier »freie«; in der
Originalplatte sind eine noch größere Anzahl deutlich sichtbar.
Im Falle IV, welcher auch für die Palpation nur bis
stecknadelkopfgroße Knötchen zeigte, (bei Fall XI und XVI
vs " Siehe Stäuhli, Trichinosis. Wiesbaden, Bergmann 1909.
S. 287 und M. B. Schmidt in Aschoff, Spezielle patbolog. Anatomie,
Fischer, Jena 1909, S. 217.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
393
waren sie wesentlich größer), fanden sich auf der I halte
eine Reihe kleiner, scharf begrenzter, teils kreisrunder, teils
strie'hförmiger Schatten; durch eine Doppelaufnahme, welche
beide Male einen übereinstimmenden Befund ergab, konnten
(wie bei S tie da) Plattenfehler auch von uns ausgeschlossen
werden i
Auch wir fanden durch die Rönlgenstrahlen tiefliegende
Parasiten, welche nicht zu palpierein gewesen waren.
Wir können also nach unserer Erfahrung nur em¬
pfehlen, in allen Fällen von fraglicher Fi n nein¬
krank heit des Menschen die Aufnahme der Mus¬
kulatur (vornehmlich der Oberarmschultergegend, aber
auch ties übrigen Stammes als dem Lieblingssitze der Zysti-
zerken) mit X-Strahlen zu versuchen. Ein Auffinden
von den oben beschriebenen gleichen oder ähnlichen Schat¬
ten wird besonders beim weiblichen Geschlechte oder bei
fetteren Männern die Palpation ersetzen müssen; die sichere
Entscheidung wird allerdings erst die Untersuchung eines
herausgeschnittenen „Schattenkörperchens“ ergeben.
Die Untersuchung mit Röntgenstrahlen wird es ferner
jetzt ermöglichen, allenfalls schon lebzeitig zu entscheiden,
ob nicht etwa, wie dies bereits K a r e w s k i (i. c.) und (1 u r s k y
(l. c.) ausgesprochen haben, so mancher Fall von „solitärem“
Zystizerkus der Haut oder der Muskulatur seinen Namen mit
Unrecht führe. Von meinen eigenen Kranken mit wahr¬
scheinlich solitären Finnen (Fall V, IX, XII, XIII) habe ich
leider nur den Fall V dieser kontrollierenden Röntgenauf¬
nahme unterziehen können (Februar 1911); hiebei konnte
ich keine verkalkten Zystizerken auffinden.
Ob die Rückbildung der Zystizerken auch ohne Kalk¬
einlagerung erfolgen kann, erörtert schon Stich (l. c.,
S. 172), welcher das „für das Gefühl spurlose Verschwinden“
zahlreicher früher tastbar gewesener Knoten in mehreren
Fällen sicher feststellte. Im Falle IV tastete ich gleichfalls
keine Spur mehr von den seinerzeit (sechs Jahre zuvor)
subkutan nachgewiesenen Zystizerken. Auch fiel mir in
diesem Falle auf, daß die Anzahl der mit dem Finger und auf
der Röntgenplatte festgestellten kalkigen Muskelknötchen
weit hinter der seinerzeitigen Zahl der zystischen zurück¬
blieb; im Fälle III, in welchem die Plattenaufnahme nicht
gelang, tastete ich gewiß viel weniger kalkige Knötchen als
seinerzeit Zysten.
Daß in keinem einzigen meiner Fälle eine Augenfinne
nachgewiesem wurde (auch nicht möglicherweise etwa in einem
phthisischen Augapfel verborgen), möchte ich nur kurz erwähnen.
Gehi rnzystizerken wurden in den zur Obduktion ge¬
kommenen Fällen X, XI und XVI nachgewiesen; im Falle 11
war leider die Eröffnung des Schädels unterblieben. Auf Gehirn¬
finnen zu beziehende Symptome fanden sich in den Fällen Hl
und XIV als epileptische Krämpfe, in Fall IV als ein „transi¬
torisches Irresein“, in Fäll XVI als Anfälle von Jacksons
Epilepsie. In den Fällen X und XI waren anamnestisch keine
Gehimstörungen bekannt geworden.
*
Welche Schlüsse können nun etwa aus der Zahl meiner
Kärntner Finnenträger (14 Männer, 1 Weib) auf die Ver¬
breitung der Zystizerkose bei der Kärntner Be¬
völkerung gezogen werden?
Die Gesamtzahl meiner Fälle (16 in elf Jahren) ist eine
große zu nennein; hat doch G. Lew in, welcher als Leiter der
Berliner Hautklinik über ein ungleich größeres Krankenmaterial
verfügte, in 17 Jahren (1875 bis 1892) nur 14 Fälle beobachtet.
Aus den oben bei der Diagnostik erörterten Gründen
kann beim Weibe von einer Erkennung bei Lebzeiten
seltener die Rede sein. Es besagt also bei diesem Ge¬
schlechte die Zahl der lebzeitig gefundenen Fälle überhaupt
nichts über die tatsächliche Häufigkeit. Ich trage aber auch
für das männliche Geschlecht Bedenken, eine Verhältnis¬
zahl aufzustellen.
Unter den rund 11.500 männlichen Kranken, welche
ich in 13V2 Jahren im Krankenhause zu behandeln hatte
und fast ausnahmslos selbst untersucht habe (davon gewiß
10.000 Kärntner), sind kaum bloß die 14 von mir gefundenen
mit Haut- und Muskelzyst.izerken behaftet gewesen. Zudem
ist die absolute Zahl der untersuchten Männer im Verhältnis
zur Gesamtbevölkerung eine zu geringe, um eine Verall¬
gemeinerung zu erlauben.
Es kommt aber diesbezüglich noch ein weiterer Punkt
zur Erwägung.
Bei den A ugeuf innen ist der Arzt, selbst wenn der Kranke
nicht sofort beim Eintreten der Sehstörung seine Hilfe bean¬
sprucht, in der Lage, nach der Angabe des Kranken über den
Beginn den Zeitpunkt des „Einschießens“ genau bestimmen
zu können. Bei den Haut - Muskelfinnen vermissen wir, wie oben
bemerkt, eine anamnestisclie Angabe über Funktionsstörungen
durch das Auftreten der Zystizerken meist völlig; wir sind für
die Zeitbestimmung nur auf die Angabe des Kranken angewiesen,
er habe die Knötchen zu dieser Zeit bemerkt, was möglicher¬
weise erst bei einem Abmagern erfolgen kann.
In dieser Hinsicht versagte das Gedächtnis oder richtiger
die Aufmerksamkeit meiner Kranken auf ihren Körper fast in
allen Fällen. Ich kann nur bei Fall I die Infektion mit Wahr¬
scheinlichkeit in das Jahr 1898 versetzen, für Fall XVI
vor das Jahr 1890 (Beginn der Jacksonschen Krämpfe), für
Fall XV vor das Jahr 1900.
Ich 'möchte eben überhaupt glauben, daß der Ausspruch
Stichs (1. c„ S. 229), „die Beurteilung der Häufigkeit
des Vorkommens der Zystizerken dürfen wir viel eher als
beim Kliniker beim Anatomen voraussetzen“, auch heute
noch gültig ist.
Freilich besteht für diese Leichenfunde die Schwierigkeit
der Bestimmung des Alters der Parasiten in noch größerem Maße
als für die Funde am Lebenden, vergleiche hiezu 'F. March and,
V 0 lkm aims Sammlung klinischer Vorträge 1904, Nr. 371.
Die Seltenheit des Sitzes der Finne im Sehor¬
gane55) muß davor warnen, aus dein kleinen Zahlen
ei 11 er solchen Statistik Schlüsse auf die Verbrei¬
tung des Parasiten überhaupt zu ziehen. Bezüglich
der Haut- und Muskelzystizerken mußi die gefundene Zahl
natürlich weit hinter der wirklichen Zurückbleiben und
hat daher eine Zahlenaufstellung als irreführend keine Be¬
rechtigung.
Mir genügt, darauf hinweisen zu können, daß wir
für unser Land leider die Finnenkrankheit noch
nicht zu den „aussterbenden K rankiheiten“
rechnen dürfen.
Vielleicht tragen diese Zeilen auch bei, andere Kollegen
auf erfolgreiche Suche nach dem Parasiten an der Körper¬
oberfläche ihrer Kranken zu bringen.
Zum Schlüsse ein Wort über die Therapie bei un¬
seren Finnen!
Bei Stich (1. c., S. 233 ff.) kann man lesen, was au
örtlicher lund innerlicher Anwendung von Wurm¬
mitteln gegein die Parasiten an deren Trägem versucht worden
ist; Stich selbst hält im besonderen letzteres Vorgehen, die
Eingabe per os, nicht „für verständig“. Daß, Jod und Quecksilber
die Zystizerken nicht berühren, haben wir schon oben berichtet;
über eine Fülle anderer Mittel, welche gleich unwirksam gewesen
sind, vergleiche D aniels en (1. c., S. 246).
Niemand wird auch Broca nachahmen, der nach Da¬
nielsen 375 Zysten punktiert und ausgekratzt haben soll;
Danielsen bewundert die Geduld des „Arztes“; vielleicht ver¬
dient der geduldige Kranke mehr Bewunderung !
Ich meine, daß nu r durchl G r ößei oder entzündliche
Komplikation eine Anzeige für einen operativen
Eingriff gegeben erscheint. Bei dem seltenen Sitze der
Knoten an sichtbaren, durch die Kleidung nicht gedeckten
Körperteilen spielt das kosmetische Moment keine große
Rolle. Im übrigen kann man ja den Befallenen auf die im
Laufe der Jahre möglicherweise eintretende spontane Ver¬
kleinerung tröstend hinweisen.
Bezüglich der Opelration der Gehi rnzystizerken ist
mit Bruns (l. c.) an die häufige Vi eil zahl derselben, beson¬
ders der in den Hirnhäuten sitzenden, welche durch Erregung
Jacksonseber Krämpfe eine Lokaldiagnose leichter ermög-
55) Für das Schwein liegt eine bezügliche interessante Mitteilung
von Prettner vor (zit. nach Bayer, Augenheilkunde, ßd. 5 des
Handbuches der tierärztlichen Chirurgie, S. 496). Unter 400 finnigen
Schweinen fand Prettner in Prag zweimal subretinale Zystizerken
Ob eine solche Statistik beim Schweine auch für die Gehirnfinnen be¬
steht, habe ich nicht ermitteln können.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
894
liehen, nicht zu vergessen, welcher Umstand einen Erfolg auch
nach gelungener Auffindung und Entfernung einer Blase ver¬
eiteln kann. Die zwei anscheinend einzigen, bisher operierten
Gehirnzystizerkenfälle sind der oben erwähnte Mayd I (Po sselt)-
Fi sch er -Kafka sehe, dessen Dauererfolg ausblieb und der Fall
Troje56)-v. Mikulicz; auch in diesem letzteren bestanden
sow old epileptische Kr ä in p f e, als eine rechtsei tige Hemi¬
anopsie nach der Operation weiter; nur die von dem Herde
in der linken Zentralwindung abhängigen Paresen waren ge¬
schwunden.
Es ist übrigens auch bei Gehimzystizerken an ein spon¬
tanes Schwinden der Störungen durch Involution (Verkalkung)
der Parasiten zu denken, wie dies z. B. in unserem Falle XVI
sich ereignete, vielleicht auch für den Fall IV gilt (Besserung der
Psychose).
Die verhältnismäßig oft nicht bloß im Gehirn, sondern
im ganzen Körper „solitären“ Finnen des vierten Ven¬
trikels (siehe Stern57), welche so häufig das plötzliche Ende
ihrer Träger herbeiführen, sind zwar in den letzten Jahren einige
Male bei Lebzeiten richtig vermutet worden, aber chirurgisch
doch besser ein Rührmichnichtan.
Z u s a m m enfassun g.
1. Der Widerspruch zwischen der angeblichen Sel¬
tenheit der Taenia solium und dem nicht seltenen
Weitervorkommen des Zystizerkus beim Men¬
schen könnte nur durch eine regelrechte Bandwurm-
Sammelforschung aufgeklärt werden, die nicht bloß
städtische, sondern auch ländliche Bewohner,
also ganze Länderst.re cken einbeziehen müßte. Vor¬
schlag hiezu nach Besprechung der bisherigen unzu¬
länglichen Literaturangaben. Kritik der Finnen¬
statistik beim Menschen.
2. Verfasser berichtet über 16, am Lebenden in
Kärnten gefundene Zy stizerk enf älle (Haut-Muskel¬
finnen). j [ |
3. Bezüglich der Symptome, welche Muskelfinnen
nach Ferber-Lewin liervorrufen sollen, bringt Verfasser
eine einschränkende Kritik.
4. Fs wird der Wirt des Röntgen Verfahrens für
den Nachweis verkalkter Zystizerken an mehrerejn
Fällen besprochen.
5. Das Vorkommen des Bothriozepha.lus latus in
Oesterreich ist bisher nur in drei vereinzelten Fällen nach-
gewieshn worden.
Zusatz während der Drucklegung.
fn Trient haben weder Dr. Brugnara noch Dr. Gentilini
einen Fall gesehen; dagegen hat mein Freund Dr. Pattuzzi bei einem
Arbeiter aus der Umgebung dieser Stadt eine intraokulare Finne ge¬
funden; Bestätigung der Diagnose nach Operation. Dr. Bär (seit 1904
Augenarzt in Meran) hat keinen Augenzystizerkus gehabt.
OEFFENTLICHE GESUNDHEITSPFLEGE.
Zur körperlichen Erziehung der Mittelschul¬
jugend.* *)
Von Priv.-Doz. Dr. Autou Bum.
Ueber Einladung des k. k. Ministeriums für Kultus und
Unterricht ist im Januar 1910 in diesem Ministerium eine aus
Schulmännern, Aerzten, Militärpersonen, Abgeordneten etc. be¬
stehende Enquete zusammengetreten, um die hygienisch so
außerordentlich wichtige Frage der körperlichen Erziehung
der Mittelschul jugend zu studieren und zu fördern.
Diese mehrtägige Enquete hat eine ausgiebigere und allgemeinere
Pflege dieses wichtigen Zweiges der Jugenderziehung warm be¬
fürwortet und die Wege gezeigt, aus deren Verfolgung eine
wesentliche Verbesserung der Körperkultur der Mittelschüler
resultieren würde. Hierauf hat das k. k. Ministerium für Kultus
£6) Troje, Deutsche med. Wochenschr. 1894, Bd. 20, S. 103.
67) Stern, Zeitschr. für klin. Medizin 1907, Bd. 61, S. 64.
*) Diese Ausführungen bilden Motivierung und Inhalt eines An¬
trages des Autors und der Herren Prof. A. Fraenkel, Priv.-Doz. F.
L u i t h 1 e n, Priv.-Doz. G. N o b 1. Dr. H. R i e s e r und Prof. L. Unger
an das Präsidium der k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien. Er ist
über Vorschlag des Verwaltungsrates in der administrativen Plenar¬
sitzung vom 3. März 1. J. genehmigt und dem neu begründeten »Zentral¬
ausschuß für öffentliche Gesundheitspflege« überwiesen worden, in
welchem auch die k. k. Gesellschaft der Aerzte vertreten ist.
und Unterricht in seinem Erlasse vom 9. Mai 1910 verfügt, es
möge der Kreis der körperlichen Uebungen der Mittelschuljugend
stetig erweitert werden, u. zw. unter tunlichster Förderung der
Bewegungsspiele wie der volkstümlichen Sportbewegungen in
freier Luft, zu welchem Zwecke neben den von geistiger Arbeit
auszuschließenden Unterrichtspausen zwei Nachmittage der Woche
von Unterricht und Hausaufgaben vollständig frei zu halten und
zur Ausführung der körperlichen Uebungen zu benützen seien.
Behufs materieller Förderung und Entwicklung der somatischen
Ausbildung der Jugend hat die Unterrichtsverwaltung für die
Leitung dieser Uebungen durch hiezu geeignete Mitglieder des
Lehrkörpers Remunerationen in Aussicht gestellt.
Seit Erscheinen dieses Erlasses sind mehr als acht Monate
verstrichen, ohne daß die Absichten der obersten Unterrichts¬
stelle greifbare Formen angenommen hätten. Wohl sind seitens
des Landesschulrates zahlreicher Kronländer — in Niederöster¬
reich durch Erlaß des Landesschulrates vom 8. Dezember 1910
- unter Hinweis auf den zitierten, wie auf die zum Teil bereits
jubilierten Erlässe des Ministeriums für Kultus und Unterricht
vom 15. September 1890 und vom 24. Februar 1904 die Direktionen
sämtlicher Mittelschulen angewiesen worden, den Anregungen
dieser sowie anderer einschlägiger Ministerialerlasse tatkräftig
Rechnung zu tragen ; gleichzeitig wurden Erhebungen bezüglich
der für Zwecke der körperlichen Erziehung der Mittelschüler
aufzuwendenden Zeit, der verfüglichen Räumlichkeiten und Plätze
sowie der auflaufenden Kosten veranlaßt und diesbezügliche
wertvolle Winke erteilt.
Es ist uns nicht bekannt, inwieweit alle diese Maßnahmen
geeignet waren, die beabsichtigte „tätige Mitwirkung der
Lehrerschaft“ für die Pflege der Körperkultur der Schul¬
jugend zu erzielen, eine Mitwirkung, deren Bedeutung neben der
vorbildlichen persönlichen Betätigung der Lehrer vor allem darin
zu erblicken ist, daß durch tunlichste Einschränkung des in der
Schule selbst zu erarbeitenden Lehrstoffes, Verminderung der
schriftlichen Hausarbeiten, Einhaltung der beiden Freinachmittage
sowie reichlich zu bemessender Unterrichtspausen den Schülern
die für die Ausführung der geplanten, in der erwähnten Enquete
eingehend gewürdigten und detaillierten körperlichen Uebungen
und Bewegungen nötige freie Zeit gegönnt werde.
Das größte Hindernis scheint die Durchführung der so an¬
erkennenswerten wiederholten Anregung der obersten Schul¬
behörde dort zu finden, wo dies a priori nicht zu erwarten
stand, im Elternhause der Mittelschüler. Von der in der
Bevölkerung aller Schichten leider sehr verbreiteten, so irrigen
Anschauung geleitet, daß die Lernjahre des Jünglings lediglich
dessen wissenschaftlicher Ausbildung zu dienen haben
und daß die von der Schule konzedierten Freistunden zweck¬
entsprechend zur Beschäftigung mit fremden, in der betreffenden
Schule nicht gelehrten Sprachen, Musik etc. benützt werden
sollen, verschließen sich viele Eltern der von den Aerzten stets
propagierten dringenden Notwendigkeit, neben dem Geiste auch
dem Körper durch bodenständige Turnspiele und gemäßigten,
der Jahreszeit angepaßten Sport jene gleichmäßige Ausgestaltung
und Kräftigung zu gewähren, wie sie in den Palästren und
Gymnasien der Antike zur Vollendung gebracht worden ist.
Es ist. eine ernste Pflicht des Arztes, hier aufklärend und
belehrend einzugreifen; vor allem wäre wohl der Schularzt
berufen, auf die große Bedeutung von ihm zu überwachender
regelmäßiger und geeigneter Körperübung als wesentlichen Faktor
der Jugenderziehung aller Kinder, nicht zuletzt der solcher
Körperbewegung ganz besonders bedürftigen muskelschwachen
Adoleszenten, hinzuweisen. Bei dem fast vollständigen Fehlen
der Institution der Schulärzte in Oesterreich, die derzeit lediglich
an den Lehrerbildungsanstalten und zum Teil an den gewerb¬
lichen Fortbildungsschulen bestehen, wo sie sicherlich auch in
dem hier angedeuteten Sinne wirken, fällt diese Aufgabe den.
praktischen Aerzten zu. Es würde den Einfluß der
Familienärzte auf das Publikum wesentlich erhöhen und ihre
aufklärende Mission erheblich fördern, wenn sich diese auf ein
Votum der hervorragendsten ärztlichen Korporation unseres
Vaterlandes, der k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien, zu
stützen vermöchte.
In zahlreichen einschneidenden Fragen der öffentlichen
Gesundheitspflege hat unsere Gesellschaft autoritative Beschlüsse
gefaßt und Institutionen in die Wege geleitet, die der Gesamt¬
heit zum Wohle gereichen.
Wir erachten es als im dringenden Interesse des Nach¬
wuchses der Bevölkerung und seiner Zukunft gelegen, daß die
k. k. Gesellschaft der Aerzte in einer an die große
Oeffentlichkeit gerichteten Enunziation es ausspreche,
was die Kräftigung der der Bewegung, Atmung und dem Kreisläufe
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
395
dienenden Organe auch für das Zentralnervensystem und den
Intellekt gerade dem im Stadium der Entwicklung befindlichen
Individuum bedeutet, daß sie darauf hinweise, daß der regel¬
mäßige Wechsel zwischen geistiger und körperlicher Tätigkeit
die Lust zum Studium anregt, letzteres erleichtert
und nutzbringender gestaltet, daß auch die Festigung
der erhabendsten Eigenschaften des Mannes, seines Charakters,
seines Zielbewußtseins wie seines persönlichen Mutes, nicht
zuletzt mit der Betätigung seines Körpers Hand in Hand geht
und daß der Besitz dieser Eigenschaften, der „Kalokagathia“ der
alten Griechen, für die Zukunft des Jünglings weit wichtiger isl,
als die frühzeitige, gehäufte, auf Kosten seiner Gesundheit und
zu oft auch seines Charakters in den sogenannten Freistunden
erworbene Kenntnis von Nebengegenständen, Fertigkeiten u. dgl.,
die er in einer späteren, gereifteren Lebensperiode leichter und
folgenfreier sich anzueignen vermag.
Wir bitten Präsidium und Verwaltungsrat der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte zu Wien, unseren Antrag jener Erledigung
zuzuführen, die wir anzudeuten uns erlaubt haben und von
welcher wir hoffen, daß sie dazu beitragen wird, den traurigen
Circulus vitiosus zu durchbrechen, an welchem derzeit so viele
geistig begabte, körperlich minderwertige Mittelschüler scheitern,
weil ihre Erzieher — ungeachtet der von den Schulen anderer
Länder, vor allem Großbritanniens, Skandinaviens und Deutsch¬
lands, in jüngster Zeit auch von der Wiener Universität ge¬
gebenen Vorbilder — der nötigen Einsicht für den hohen päda¬
gogischen, somatischen und ethischen Wert regelmäßiger, korrekter
möglichst unreglementierter, den individuellen Bedürfnissen an¬
gepaßter Körperbewegungen entbehren.
Referate.
*
Atlas der Kristallformen und der Absorptionsbänder der
Hämochromogene.
Eine für Physiologen, Pharmakologen und Modizinalbeamte bestimmte
Studie.
Von Walter J. Pilling'.
Mit einem Vorworte von Prof. Dr. R. Kobert.
Mit einer Textabbildung und 36 Tafeln.
Stuttgart 1910, Verlag von Ferdinand Enke.
Die vorliegende umfangreiche Monographie, deren Text in
deutscher un]d englischer Sprache abgefaßt ist, behandelt die
schwierige Frage des Hämochromogens unid seiner chemischen
Stellung. Der Autor, der insbesondere die Entstehung des Hämo-
chromogens aus Blut und aus Hämatin durch Einwirkung von
Pyridin, Piperidin und deren Derivaten, sowie durch Schwefel¬
ammonium und Hydrazinhydrat auf dem Wege der Spektro¬
skopie (unter Berücksichtigung des Ultravioletts) und der Mikro¬
photographie studiert hat, kommt zu dem Ergebnisse, daß die
Pyridin- und Piperidinhämochromogene keineswegs Verbindungen
des Oxyhämoglobins mit den betreffenden Basen sein können.
Das Hämoglobin wird vielmehr unter Bildung einer Hämalin-
verbindung oder von Hämatin selbst zersetzt und sind die zu¬
tage tretenden Kristalle als solche von wirklichem Hämochro¬
mogen anzusehen.
Von forensisch- medizinischem Interesse ist die durch die
Untersuchung bestätigte Tatsache, daß noch sehr stark verdünnte
Lösungen von Hämochromogen, welche im sichtbaren Teile des
Spektrums keine Bänder mehr zeigen, im ultravioletten Teile
des Spektrums noch ein deutliches Spektrogramm, liefern. Auch
wurde festgestellt, daß das Hämochromogen die Farbenreaktionen
des Blutfarbstoffes mit Guajakonsäure, Aloin und Benzidin nicht
mehr gibt.
Die schöne Ausführung der zahlreichen Lichtdruckrepro-
duktionen von Mikrophotogrammen und die prächtige Ausstattung
des Werkes muß rühmend hervorgehoben werden.
0. v. Fürth.
*
Ueber Geschwülste der hinteren Schädelgrube, ins¬
besondere des Kleinhirnbrückenwinkels.
Von Folke Heusclien.
Jena 1910, Fischer.
Es ist an sich eine dankenswerte Aufgabe, einmal alle
in der Literatur verstreuten Fälle von Tumoren des Kleinhirn¬
brückenwinkels gesichtet zu haben, jenes interessanten Gebietes,
das, wie der Autor ausführt, kaudal medial von der lateralen
Olivenfläche, lateral vom Zerebellum, oral medial von der Brücke,
lateral von der hinteren Felsenbeinpyramide begrenzt wird. Es
ist das Unternehmen um so aussichtsreicher, wenn 28 eigene
Beobachtungen, durch die Obduktion größtenteils verifiziert, zur
Verfügung fstehen. Freilich erscheint mir die Art der arithmetischen
Behandlung der Symptomatologie, wie sie, um das Wort Grie¬
singers zu gebrauchen, die „Pharisäer der Exaktheit“ liebten,
heute ganz und gar unangebracht. Was verschlägt’s, ob ein
Symptom 75 oder 76mal bei einer Krankheit vorkommt, wenn
man nicht erfährt, warum und unter welchen Bedingungen dies
der Fall. Diesen kleinen Vorwurf kann man dem Autor eben¬
sowenig ersparen, als den der gar zu aphoristischen Behand¬
lung jener Tumoren, die nicht dem Akustikus selbst angehören.
Im Kleinhirnbrückenwinkel finden sich neben Aneurysmen
und Hämatomen, Parasiten, infektiösen Granulationsgeschwülsten,
Abszessen als echte Geschwülste solche, die von der Felsenbein¬
pyramide, der harten oder weichen Hirnhaut, den verschiedenen
Hirnteilen (Flocke, Lateralrezessus, Plexus chorioideus) und
den Nerven ausgehen. Auf letztere, die eigentlichen Akustikus-
tumoren, wird das Hauptgewicht gelegt. Henschen leitet sie
von im Meatus auditorius extemus vorhandenen embryonalen
Bindegewebsresten her, die vorwiegend den Vestibularisstamm
umwuchern und findet in einer Reihe seiner Fälle und solchen
der Literatur das proximale Stück des Akustikusstammes frei, das
distale in einen tumorösen Zapfen verwandelt, in den Meatus
auditorius eingebettet.
Symptom atologisch findet er, daß im Durchschnitt die
Lebensdauer der Tumoren (nicht operierte) 3Vs Jahre beträgt,
jedoch auch Todesfälle schon nach einem Jahre eintraten. Von den
Allgemeinsymptomemist die Intensität des Kopfschmerzes zu wenig
berücksichtigt, wie denn überhaupt hier weniger das Vorkommen
als die geringe Intensität der Allgemeinerscheinungen hervpr-
zuhebem wäre; abgesehen nur von der Stauungspapille, die eip
Frühsymptom darstellt und gelegentlich die Tumorseite früher
trifft als die gesunde. Doch gibt es. auch seltene gegenteilige
Angaben. Interessant ist die gelegentliche Olfaktoriusbeteiliguns
(die vielleicht den Allgemeinerscheinungen zuzurechnen wäre).
Viel zu aphoristisch scheinen die Augenmuskellähmungen
behandelt, wobei es als fehlerhaft bezeichnet werden muß,
den .Nystagmus hier miteinzübeziehen. Seine Bedeutung als Vest!
bularissymptom ist außer Zweifel und seine Wichtigkeit, speziell
auch 'für die Seitendiagnose (schneller Ausschlag nach der Tumor¬
seite), allgemein geläufig. Dabei sind wir in der Lage, durch die
kalorische Prüfung die Destruktion des peripheren Vestibularis
zu erweisen. Auch die Ptosis verlangt eine Erklärung, zunächst
ob 'sie nicht nur eine sympathische, durch Medullaläsion bedingte
ist. Daß die Hirnnerven von V. bis inklusive VIII. fast immer
Ausfälle zeigen (seltener der Abduzens), wird bei der Lage der
Tumoren nicht wundemebmen. Insbesondere die Reizerscheinun-
gen des Kochlearis, die zum Teil auf Stauungslabyrinth, Hyper¬
ämie, resp. Anämie des Innenohres zurückgeführt werden, seien
betont.
Sehr auffallend ist der Umstand, daß von Vagussymptomen,
soweit sie Respiration und Zirkulation betreffen, keine Erwäh¬
nung [geschieht; gerade diese aber sind für die Indikationsstellung
heim operativen Eingriff maßgebend. Für die gelegentlich auf¬
tretenden gleichseitigen Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen
findet sich eine Erklärung wohl nur in der durch Druck erfol¬
genden Schädigung der kontralateralen Brückenpartien. Auch die
Ataxie, an welche die Reaktionsbewegung, das Fällen nach der.
Seite angeschlossen erscheint, das besser zu den Vestibularis-
läsionen hinzukäme, ist ein wenig zu kurz erledigt. Die Ba-
b inskisehen Befunde der Adiadochokinese, besonders der oberen
Extremität, wie sie Ref. wiederholt erheben konnte, erscheinen
hier diagnostisch bemerkenswert.
Ausführliche pathologische Befunde, sowie Notizen über die
Therapie beschließen das Werk. Letztere kann wohl nur eine
chirurgische sein, wenn auch die Resultate (8 Heilungen unter
42 Fällen, die v. E i s e 1 s b e rg sehen Resultate erscheinen noch
nicht, verwertet) nicht besonders ermutigende sind.
396
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. \911.
Nr. 11
Eine ganze Reihe guter Reproduktionen ergänzen die Aus¬
führungen des Autors, dessen verdienstvolles Werk gewiß dem
Neurologen und Chirurgen zur Orientierung dienen wird und das
eine Reihe beachtenswerter Anregungen und Ausblicke enthält.
Otto Marburg.
*
Wesen und Behandlung der Achylia gastrica.
Von A. Schule.
Sammlung und Abhandlungen aus dem Gebiete der Verdauungs- und
Stoffwechselkrankheiten.
Halle a. S. 1910, C. Mar ho Id.
Nach einigen einleitenden Bemerkungen über die Entwick¬
lung der Lehre von der Achylie und über die Sekretionsverhält¬
nisse des normalen Magens bespricht Verf. die Pathologie und
pathologische Anatomie dieser Erkrankungsform. Im Gegensatz
zu anderen Autoren (Knud Faber, Lange u. a.) hält er an der
Existenz einer primären Achylie (Achylia simplex im Sinne von
Martius und Einhorn) fest, die auf einer angeborenen Funk¬
tionsanomalie oder Minderwertigkeit des sezernierenden Paren¬
chyms beruht, während die sekundäre Form sich auf dem Boden
einer Neurasthenie entwickelt oder im Gefolge' schwerer Magen¬
oder Allgemeinerkrankungen auftritt. Beide Formen sind allerdings
klinisch schwer auseinanderzuhalten und auch die Unterscheidung
gegenüber Karzinom stößt häufig auf Schwierigkeiten.
Recht ausführlich entwickelt der Autor die bekannten Prin¬
zipien der Therapie dieser Erkrankung.
*
Das runde Magengeschwür.
Von F. Crämer.
München 1910, J. F. L e h m a n n.
Der Inhalt der vorliegenden Monographie unterscheidet sich
wesentlich von der in den meisten Lehrbüchern anzutreffenden
landläufigen Bearbeitung der Ulkuslehre. Dieser Unterschied be¬
steht nicht nur darin, daß alle einschlägigen Fragen eingehendst
berücksichtigt werden, sondern gibt sich auch dadurch kund, daß
der Autor den sich geltend machenden Bestrebungen, die Lehre
vom Magengeschwür — namentlich den klinischen Teil derselben
— in dogmatischer Form abzuhandeln, mit den Mitteln einer
strengen objektiven Kritik entgegentritt, und im Gegensatz zu
der hiedurch verbreiteten Irrlehre, die Schwierigkeiten, die hin¬
sichtlich vieler theoretischer und praktischer Fragen auf diesem
Gebiete bestehen, ins rechte Licht setzt.
Schon die verschiedenen klinischen Formen, mit denen
das Ulkus auftritt, zeigen, daß es unmöglich ist, ein einheitliches
Bild dieser Erkrankung zu entwerfen ; dazu kommt auch noch, daß
die klinisch statistischen Angaben meist auf einer mangelhaften
Diagnose beruhen und daher unzuverlässig sind.
Alle unsere Kenntnisse bezüglich der Genese des Ulkus
beschränken sich, wie aus den Darlegungen des Autors hervor¬
geht, darauf, daß einzig und allein die lokale Zirkulationsstörung
als entscheidendes Moment anzusehen ist, und auch die Aetiologie
ist noch in Dunkel gehüllt. „Die Diagnose ist in den meisten
Fällen eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose.“ Eine Unterscheidung
zwischen Ulcus ventriculi und duodeni zu treffen, hält er für
nahezu unmöglich und auch praktisch wertlos und verhält sich
den diesbezüglichen Ansichten englischer und amerikanischer
Autoren gegenüber ablehnend. Auch bezüglich der Diagnose der
Rezidive ist Crämer skeptisch; er glaubt, daß es sich hiebei
meist um ein latentes Zwischenstadium handle. Sichere Merkmale
der Heilung -gibt es nach seiner Ansicht nicht. Von einer spezifi¬
schen Therapie kann keine Rede sein ; das wichtigste Prinzip ist
Schonung des Organs, die allerdings auf verschiedenem Wege er¬
reicht werden kann. Von Interesse sind die Angaben über die
Therapie in verschiedenen Ländern.
Verf. schlägt die Einleitung einer Sammelforschung vor, um
diese so häufige und gefährliche Erkrankung klinisch genauer
kennen zu lernen und faßt schließlich das Ergebnis seiner Studie
in den Worten zusammen : „Die Aetiologie des Ulkus1 ist nahezu
unbekannt, die Diagnose in der Mehrzahl der Fälle zweifelhaft,
die Dauererfolge der internen und chirurgischen Behandlung ge¬
radezu beschämend.“
Dem Buche (bei dem sich der Mangel eines Inhaltsverzeich¬
nisses unangenehm fühlbar macht) ist ein großer Leserkreis zu
wünschen, nicht behufs Weiterverbreitung der skeptischen An¬
sichten des Verfassers, sondern um manche vielfach eingewurzelte
irrige Anschauungen über die Ulkuslehre zu zerstreuen, unsere
mangelhaften Kenntnisse betreffs dieser Erkrankung zum Bewußt¬
sein der Aerzte zu bringen und zu neuer (eifriger Forschung anzu¬
regen.
*
Diätetik innerer Erkrankungen.
Von Tli. Brugsch.
Berlin 1911, S. Springer.
Das vorliegende Buch, welches den Zweck verfolgt, den
Arzt praktisch mit den Aufgaben der Diätetik vertraut zu machen,
zerfällt in drei Abschnitte: Der erste befaßt sich mit den physio¬
logischen Grundlagen der Ernährungslehre; der zweite mit der
Diätetik in Erkrankungen, wobei jedem einzelnen Kapitel eine
kurze wissenschaftliche Erörterung über den physiologischen
und pathologischen Stoffwechsel- oder Verdauungsmechanismus
vorangeht. Im dritten Abschnitt „Diätetische Küche“ werden eine
Reihe küchontechn ischer Maßnahmen besprochen und im Anhänge'
die wichtigsten künstlichen Nährpräparate aufgezählt.
Das Büchlein wird nicht bloß durch seinen Inhalt, sondern
auch durch den Namen des durch seine Arbeiten auf dem Ge¬
biete der Stoffwechsellehre bekannten Autors Interesse erwecken.
E. Schütz.
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
265. lieber Anogon. Von Dr. Glaser, Assistenten der
Universitätsklinik für Syphilis und Hautkrankheiten in Straßburg
im Elsaß (Direktor: Prof. Dr. A. Wolf.) Anogon ist ein neues
Quecksilberpräparat, welches 30% Jod und ca. 60% an metalli¬
schem Quecksilber enthält. Es bildet mit Oel sehr leicht äußerst
fein verteilte Suspensionen, welche die Sterilisation von 100° C
längere Zeit aushalten, ohne sich zu zersetzen. Angewendet wurde
die Suspension von 10-25 g Anogon in 100 cm3 Oleum olivarum
zwei Teilstriche einer Pravazspritze dieser Emulsion entsprechen
1 cg metallischem Quecksilber. Injiziert wurde eine vorläufige
Mischung im Verhältnis von 1 Anogon zu 10 Oleum olivarum
(1 g Anogon enthält 0-48 g metallisches Quecksilber, also eine
Pravazspritze 0-048 g metallisches Quecksilber). Verf. teilt einige
Krankengeschichten mit, bei welchen sich die gute Wirkung dieses
Präparates am augenfälligsten erwies, doch wird auch über einen
Fall berichtet, bei welchem eine Sklerose auf dem Arme nach
sechs' Jnjektionen noch nicht völlig geheilt war. Im ganzen
wurden 52 Fälle von Lues behandelt. Nach sechs bis acht Injek¬
tionen, die jeden fünften bis achten Tag vorgenommen wurden,
schwanden die luetischen Erscheinungen durchwegs, in einzelnen
Fällen mußten noch einige Injektionen gemacht werden. Rezidive
wurden ebensoviele beobachtet wie bei anderen Quecksilberpräpa¬
raten. Zumeist vertrugen die Kranken die- Einspritzungen recht
gut, vier sehr empfindliche Patienten klagten über recht lebhafte
Schmerzen. An den Injektionsstellen entstanden zuweilen derbere
Infiltrate, welche erst langsam resorbiert wurden, sonstige nach¬
teilige Wirkungen wurden nicht beobachtet. Anogon zeigte sich
somit als ein recht gutes und sehr wirksames Präparat gegen
Lues, welches man dem Praktiker zur Anwendung warm -em¬
pfehlen kann. — (Deutsche mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 6.)
^ E. F.
*
266. (Aus der Klinik für Frauenkrankheiten und dem Ent¬
bindungsheim von Dr. A. P. S am o i 1 o w - Wladikawkas iu Ru߬
land.) Xerasei in der Gynäkologie. Von Dr. A. P. Samoi-
1 o w - Wladikawkas in Rußland. Nach den günstigen Berichten
über die Erfahrungen Dr. Otto Abrahams mit Xerase bei Be¬
handlung des weiblichen Fluors fand sich Samoilow veranlaßt,
systematisch therapeutische Versuche mit Xerase anzustellen. Die
Xerase 'stellt ein fettiges, graues, nach Hefe riechendes Pulver dar,
welches sich dem Einflüsse von Feuchtigkeit und schroffen Tem¬
peraturveränderungen gegenüber als bedeutend widerstandsfähig
erweist, zugleich aber sehr gärungsfähig ist. Ihrer chemischen
Zusammensetzung nach ist die Xerase eine Verbindung von in
spezifischer Weise hergestellter Bierhefe, Traubenzucker, Bolus
alba und physiologischer Verbindung von Nährsalzen. Die phy-
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
397
siologische Wirkung der Xerase besteht darin, daß sie, auf ka¬
tarrhalisch entzündete Schleimhaut oder sogar auf seiner Epi¬
dennis verlustig gegangenes Gewebe gebracht, außerordentlich
rasch das wässerige, schleimige oder schleimigeitrige Sekret aul¬
saugt und namentlich eine spezifische Wirkung auf blennorrhoische
und gonorrhoische Sekrete der Weiblichen Urogenitalorgane ausübt.
Sam oi lo ws Untersuchungen haben die Angaben Abrahams
nicht nur bestätigt, sondern er fand auch bakterizide Wirkung auf
andere virulente Mikroorganismen und berichtet ausführlich über
drei besonders demonstrative Fälle. Xerase wurde gewöhnlich
verwendet in Form von Gelatinekapseln (ä 3-0 Xerase), welche
nach vorausgegangener Scheidenspülung und Abtrocknung der
Scheide in diese eingelegt und mit einem Xeroformtampon fixiert
wurden (täglich einmal durch acht bis zehn Tage). Eventuell
wurden Uterus und Blase ausgespült mit Xeraselösung (5: 100 Aq.)
und Scheideninsufflationen mit pulverförmiger Xerase auch noch
angewendet. Samoilow ist ein begeisterter Anhänger der Xerase-
behaihdlung geworden und empfiehlt das Präparat wärmstens
allen Gynäkologen zur Behandlung von katarrhalischen Prozessen
gonorrhoischer und nicht gonorrhoischer Provenienz. — (Fort¬
schritte der Medizin 1910, 28. .Tahpg., Nr. 47.) K. S.
*
267. (Aus der kgl. Universitäts -Augenklinik zu München.
— Vorstand: Prof. Dr. Eversbusch.) Ueber eine schwere
Nebenwirkung des Salvarsans. Von Dr. IV. Gilbert,
Privatdozent hind I. Assistenzarzt der Klinik. Verf. weist zunächst
kurz auf die Erfolge hin, die auf der Augenklinik mit dem Salv-
arsan erzielt wurden und berichtet dann ausführlich über sehr
ernste Nebenwirkungen am dritten Tage nach der Injektion bei
einem neun Jahre alten Mädchen. Dasselbe wurde im Dezember
1910 mit einer beiderseitigen parenchymatösen Keratitis aufge¬
nommen. 'Lues wurde von den Eltern geleugnet. Am rechten Bein
eine leichte spastische Parese. Da Wassermann positiv ausfiel,
wurden am 10. Januar 1911 0-2 g Salva.rsan in die linke Glutäal-
gegend eingespritzt. Am nächsten Tage Schmerzen im linken
Bein,bis in die Ferse, außerdem ein morbillenähnliches Exanthem
am (linken Unterschenkel, das nach 24 Stunden verschwand. Keine
Temperatursteigerung. Am dritten Tage abends plötzliche Bewußt¬
losigkeit, schwere Krampfanfälle im linken Ann1 und in der linken
Gesichtsmuskulatur, Nystagmus. Die Krampfanfälle wiederholen
sich in sehr kurzen Zwischenräumen, heftiger Trismus, klonische
Krämpfe 'der Muskulatur aller Extremitäten. Während der Anfälle
der Puls klein, jagend, 160. Auf ein Chloralhydratklysma hören
endlich die Krämpfe auf. Hernach noch lautes Aufschreien, Jak¬
tation. Erst nach vier Stunden Rückkehr des Bewußtseins. Am
nächsten Tage Erbrechen, große Mattigkeit. Trommier schwach
positiv. Krämpfe wiederholen sich, etwas schwächer und von
kürzerer Dauer. Klysma von Chloralhydrat und Chloroforminhala¬
tion. Vom nächsten Tage ab Wohlbefinden. Am 17. Januar
neuerlich ein Exanthem, das von fachmännischer Seite als typi¬
sches Arzneiexanthem bezeichnet wurde. Es handelte sich also
in diesem Falle um sehr schwere epileptiforme Anfälle, die am
dritten und vierten Tage nach der Injektion auftraten und be¬
sonders am 13. Januar abends eine das Leben bedrohende In¬
tensität erreichten. Bisher hat nur Spiethoff als Frühsymptom
der Allgemeinreaktion einen epileptiformen Anfall bei einem
31 Jahre alten Manne mit Stupor und sonstigen psychischen
Störungen vier Stunden nach der Injektion beobachtet. In keinem
Falle lag Epilepsie vor. Das schon vor den Krampfanfällen auf¬
getretene flüchtige Exanthem legte den Gedanken an eine Ueber-
empfindlichkeit gegenüber dem Arsen nahe; die Zyanose, Kälte
der Haut und der kleine Puls würden nach Verf. zum Bilde der
akuten Arsenintoxikation passen. Der Beginn mit typischen kloni¬
schen Krämpfen in einer bestimmten Muskelgruppe, das fast
völlige Fehlen von Diarrhoe wäre jedoch mit dieser Annahme
schwer in Einklang zu bringen. Da ja das Ganze dem Bilde
eines epileptischen Anfalles entsprach, sieht Verf. die Ursache
in einer Einwirkung des Salvarsans auf das geschädigte Zentral¬
nervensystem. Nachträglich erfuhr Verf. von den Eltern und
dem behandelnden Arzte, daß das Kind vor drei Jahren an einer
Nervc'nkrankheit behandelt wurde. Ursprünglich wurde eine tuber¬
kulöse, später eine spezifische Meningitis angenommen. Mit Rück¬
sicht auf die Mitteilungen von Spiethoff, der seinen Fall
möglicherweise als Folge der Lösung des Präparates in Methyl¬
alkohol aufgefaßt wissen will, betont Verf. ausdrücklich, daß
er eine unmittelbar vor der Injektion hergestellte Emulsion ver¬
wandte und daß der Rest des Mittels von zwei gleich alten
Kindern ohne jede üble Nebenwirkung vertragen wurde. Diese
Beobachtung mahnt daher zu vermehrter Vorsicht bei der Ver¬
wendung des Salvarsans bei Erkrankungen des Zentralnerven¬
systems. Es ist daher, abgesehen von Erkrankungen der lebens¬
wichtigen' Zentren, auch bei Residuen nach Meningitis, wie sie
Paresen darstellen, entweder von der Injektion abzusehen oder
der Patient unter dauernde sorgfältige klinische Ueberwachung
zu steilem. — (Münchener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 7.)
G.
*
268. Die mam märe Theorie über Entstehung des
Eklampsiegiftes. Von Hugo Seilheim. Eine allseitig be¬
friedigende Erklärung, welche die aus dem puerperalen Zustande
gefolgerte Vergiftungsthese unberührt läßt, ergibt das Herleiten
der Giftproduktion oder eines Teiles derselben aus einer anderen
charakteristischem puerperalen Erscheinung. Die Veränderungen
in der Mamma, die Anbahnung der Brustdrüsenfunktion in der
Schwangerschaft, der Umschwung vom plazentaren zum mam-
mären Nahrungspenden unter der Geburt, sowie die Notwendig¬
keit einer Einübung der ungewohnten Bliustclrüsenfunktion im
Wochenbett, weisen auf ein und dieselbe Quelle des problemati¬
schen Eklampsiegiftes hin. Der eigentliche Faktor, welcher zu
einer Retention und damit zur Entfaltung schädlicher Wirksam¬
keit des unter normalen Umständen ausgeschiedenen verdäch¬
tigem Produktes Anlaß gibt, darf bei Verlegung der hypothetischen
Giftquelle in die Mammaaktion derselbe bleiben, wie bei der
Theorie von Giftproduktionen in der Plazenta. Insbesondere wird
die Rolle, welche die Nieren bei der Vergiftung aus dem puer¬
peralem Zustand heraus spielen, durch die Provenienz des Giftes
aus1 der Brustdrüse statt der Plazenta, nicht berührt. Läßt man
eine plazentare und mammäre Giftquelle nebeneinander gelten,
so wohnt der Theorie Seil hei ms mehr Lebensfähigkeit inne
als1 der plazentaren. Den ersten Anstoß zu der neuen Theorie
gab Sellheim ein Fall verzweifelter Eklampsie, in dem er wäh¬
rend einer Injektion von 1-5 g Jodkali mit 1000 cm3 0-9%iger
Kochsalzlösung eine auffallende Besserung herbeiführte, die nach
wiederholtem Injektionen in Heilung überging. In einem zweiten
sehr schwerem Eklampsiefalle schälte Sellheim beiderseits1 sub¬
kutan das Mammagewebe aus, worauf eine prompte Wandlung
zum Bessern eintrat, die in Heilung überging. — (Zentralblatt für
Gynäkologie 1910, Nr. 50.) E. V.
*
269. (Aus dem hauptstädtischen St. Stephan - Krankenhause
iri Budapest. Abteilung E. ) 1. Von dem weiteren Schicksal
einer vor 13 Jahren geheilten perniziösen Anämie.
2. Remi ssi on einer Anaemia perniciosa im Anschluß
an Tuberkulose. Von Priv.-Doz. Dr. Geza v. Dieb alia,
Primararzt. Verf. berichtet über einen Fall, der vor 15 Jahren
das Krankheitsbild der Bi ermer - E h rli ch sehen Anämie dar¬
bot und auf Salolmedikation hin ausheilte, nach zweimaligen
kleinen Blickfällen, die auf Unterbrechung der Saloldarreichung
zurückzuführem waren. Der Patient starb nach 13 Jahren an
einer anderen Krankheit und die Autopsie bestätigte, daß der
Kranke von seiner vor 13 Jahren beobachteten schweren Anämie
geheilt worden und an einer hievon vollständig unabhängigen
Erkrankung zugrunde gegangen war. Ueber einen anderen Fall
von Bi ermer -Ehr lieh scher perniziöser Anämie berichtet Dia-
balla, daß dieser während der Progredienz einer Lungentuber¬
kulose nicht nur nicht sich verschlimmerte, sondern eine fort¬
währende Besserung erfuhr, so daß in den dem Exitus voraus¬
gehenden Wochen die Zusammensetzung des Blutes ungefähr eine
solche war, wie sie sonst bei schweren Lungenleiden gefunden
wird. Wenn die Tuberkulose sich gegenüber der perniziösen An¬
ämie nicht mindestens indifferent verhalten hat (in welchem
Falle die Besserung dem Arsen oder dem Einfluß irgend¬
eines unbekannten Faktors zuzuschreiben wäre), so muß man
dann annehmen, daß die tuberkulöse Infektion auf den ^ unbe¬
kannten Erreger der perniziösen Anämie einen hemmenden Einfluß
ausgeübt hat, etwa in dem Sinne, wie es einzelne andere Inlek-
398
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
tionskrankheiten gegenüber leukämischen Prozessen zu tun
pflegen. — (Zeitschrift für klinische Medizin, Bd. 71, H. 3 bis 6.)
K. S.
*
270. (Aus der medizinischen Klinik der : Universität in Breslau.
Prof. Dt. Minkowski.) Herpes zoster und Nieren¬
kolik. Von Priv.-Doz. Dr. A. Bittorf. Es wird die Beobachtung
des Auftretens eines rechtseitigen Herpes zoster im elften Dor-
salsegme'nt bei rechtseitigen Nierenkoliken infolge intermittieren¬
der Hydronephrose bei Wander- (vielleicht auch Stein-)Niere mit¬
geteilt. Nachdem schon in den Monaten vorher des öfteren an¬
fallsweise heftige Schmerzen aufgetreten waren, die von der
rechten Lendengegend nach vorne unten ausstrahlten, wobei stets
meist mehrtägige — Anurie bestand, wurde Ende November
vorigen Jahres ein heftiger Anfall mit mehrtägiger Anurie beob¬
achtet, dem in den nächsten Tagen ein streng rechtseitiger Herpes
zoster folgte. Die kleinkopfgroße Niere war unterhalb der Leber
zu fühlen. Die Bläscheneruption entwickelte sich also während
eines langandauernden, heftigen Kolikanfalles in dem Hautgebiete,
das seit etwa einem halben Jahre immer Sitz von Schmerz im
Anfälle war. Diese Zone fällt aber mitten in das bei Nierenerkran¬
kungen von Head als typisch hyperalgetisch bezeichnete Haut¬
gebiet — zehntes bis zwölftes Brustsegment — hinein. Die
Herpeseruption entstand durch Fortleitung der Entzündung vom
Nierenbecken auf dem Wege des Sympathikus oder durch infek¬
tiöse Noxe. Letztere Annahme hält Verf. für wahrscheinlicher,
da er gerade in den letzten Monaten Herpes labiales und einige
Male Herpes zoster intercostalis zusammen mit einer influenza-
artigen Epidemie sah. Es wäre dann also der Reizzustand im
Spinalganglion nur prädisponierend und bestimmend für Ausbruch
und Lokalisation des Herpes gewesen. Verf. berichtet über ähn¬
liche Fälle von Hedinger (Herpes zoster im elften Dorsal¬
segment links bei einem Falle von chronischer Nephritis), von
Reusz (in zwei Fällen Herpes zoster mit Gichtanfällen im Zu¬
sammenhang), Hause like (Tabiker mit Magen- und Blasen¬
klisen, Herpes zoster in den von Head gefundenen hyperalgeti¬
schen Zonen) u. a. m. Verf. bespricht sodann noch einige Beob¬
achtungen, bei welchen sich bei Erkrankungen innerer Organe
(zum Beispiel Ulcus ventrieuli) in den entsprechenden hyperalgeti¬
schen Zonen eine vermehrte vasomotorische Erregbarkeit fand.
Speziell weist er auf Fälle hin, bei denen die Kenntnis dieser
Zonen von praktischer Wichtigkeit ist. Er beobachtete in den
letzten Jahren öfters Kranke, deren Hauptklagen in vorübergehen¬
den, häufig dauernden Parästhesien und Schmerzen an der
Innenseite des linken Oberarmes und vor allem der
Ulnarseite des Vorderarmes und der Hand bestanden. Herz¬
beschwerden waren entweder nur beiläufig oder gar nicht er¬
wähnt. In allen Fällen handelte es sich um ausgesprochene
Arteriosklerosen. An der Ulnarseite (bisher wenigstens) des
linken Unterarmes und der Hand fand sich ausgesprochene llyper-
algesie, einmal verbunden mit deutlicher Hyperästhesie. Auch
hier handelte es sich um hyperalgctische, reflektierte Zonen im
obersten Dorsalsegment. Diese Fälle bilden gewissermaßen das
Dauerstadium der bei stenokardischen Anfällen wohlbekannten
ausstrahlenden Schmer'zen in den linken Arm und ist deren
Kenntnis sehr wichtig. — (Deutsche medizin. Wochenschrift 1911,
Nr. 7.) E. F.
*
271. (Aus dem Laboratorium der kgl. Universitäts-Frauen¬
klinik München. — Vorstand: Geh. Rat Dr. D öder lein.) Ein
Beitrag zur E ierstock (0 ophorin) th erapie. Von Doktor
R. Einhauser, zurzeit Heil- und Pflegeanstalt Deggendorf. Ver¬
fasser teilt die Erfahrungen mit, welche das Ambulatorium der
Münchener Universitäts-Frauenklinik auf dem Gebiete der Eier¬
stocktherapie in der Zeit vom Winter 1908 bis Frühjahr 1910
gesammelt hat. Die Eierstocksubstanz wurde in Form der
Oophorintabletten 'gegeben aus der Fabrik Dr. Freund in Berlin.
Auszugsweise folgen sieben Krankengeschichten. Die tndikations-
stellung ist praktisch schwierig : vasomotorische und «auch tro-
phische Störungen des physiologischen Klimakteriums wie des
antezipierten postoperativen Klimas, gewisse Chlorosefälle
scheinen im allgemeinen eine Oophorintheräpie zu indizieren.
Die Fehlresultate in der Eierstocktherapie erklärt Verf. durch
folgende Momente: 1. Es wurde nicht überall ein gleichwertiges
Präparat verwandt ; es ist klar, daß nur ein absolut exakt, aus
ganz frischen Ovarien sofort verarbeitetes Präparat eine Heil¬
wirkung ohne schädliche Nebenwirkungen erzielen kann. Gerade
früher waren Mißerfolge mit Organpräparaten infolge der minder¬
wertigen, zum Teil schlechten, stinkenden, ja sogar giftigen Prä¬
parate nicht so selten und daher die Organtherapie in Mißkredit
gebracht worden. Nun wurden aber in den letzten Jahren Prä¬
parate von höchstem Wirküngswert und stets gleichbleibender
Zusammensetzung in die Pharmazie eingeführt, so daß eine zu¬
verlässige Heilwirkung besteht. 2. Werden — mehr als man
meinen möchte — manche „Ausfallserscheinungen“, „postopera¬
tive Beschwerden“ mit Ovarpräparaten behandelt, die tatsäch¬
lich schon vor der Operation bestanden haben. Nur kamen sie
den Patientinnen unter dem Eindruck der intensiven Schmerzen
oder der anderen Beschwerden, wie Blutungen, Ausfluß, nicht
zum Bewußtsein und so imponieren sie nun als „Ausfallserschei¬
nungen“. 3. Besteht sicher auch bei den verschiedenen Indivi¬
duen eine verschiedene Empfänglichkeit für das artfremde Sub¬
stitutionspräparat. 4. Die Substanz, die physiologischerweise durch
eine innere Funktion der Keimdrüsen dem Körper zugeführt wird,
wird sicher nicht für alle Individuen von derselben weitgehenden
Bedeutung sein; für diese Annahme ist eine Stütze: <aj Die Tat¬
sache, daß die Ausfallserscheinungen bei Individuen unter sonst
gleichen Bedingungen äußerst verschiedene Grade darbieten
können, b) Existiert sogar für typische „Ausfallserscheinungen“
noch eine andere Erklärungsmöglichkeit: Gottschalk erwähnte,
daß bei dein nach der Kastration beobachteten Ausfallserschei¬
nungen auch das plötzliche Sistieren der menstruellen Blutaus¬
scheidring als ätiologisches Moment berücksichtigt werden müsse.
Er hat junge Frauen beobachtet, denen durch unzweckmäßige in¬
trauterine Behandlung das ganze Endometrium zerstört worden
war und die dadurch plötzlich andauernd amenorrhoisch geworden
waren, bei vollkommen funktionierenden Eierstöcken. Ein Zeug¬
nis für die Funktion der Eierstöcke waren die Molimina men-
strualia und die vierwöchentlichen vikariierenden Blutungen «aus
der Nasenschleimhaut und die petechialen Blutungen in die Haut.
Dies Moment darf bei Erklärung der Ausfallserscheinungen nicht
unberücksichtigt bleiben. 5. Muß man sich vergegenwärtigen,
daß das Gros der Ausfallserscheinungen, wie fliegende Hitze,
Sch weißausbruch, Gefühl der Schwere in den Füßen, Kongestionen,
Herzklopfen, Erscheinungen sind, welche bei alteriertem Zirku¬
lationsapparat, sowie bei dem labilen Nervensystem der Frau,
das durch eine Genitaloperation irritiert ist, nicht allzu schwer
erklärlich sind. Alle diese Momente sprechen nach Verf. dafür,
daß die Oophorintheräpie bei gegebener Indikation Erfolge «auf¬
weisen muß. Die Unsicherheit in der Indikationsstellung, sowie
das Ephemere der Wirkung ist mit ein Grund, daß die Eierstock¬
therapie bei vielen Gynäkologen weniger Anklang fand. — (Mün¬
chener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 7.) G.
*
272. (Aus den medizinischen Kliniken der Charite.) Ueber
die Einwirkung des T a b a k g e n u is s e s auf die Z i r k il¬
lations Organe. Von G. F. Nicolai und R. Staehelin.
Fortgesetztes stärkeres Rauchen schädigt auch dann die Anspruchs¬
fähigkeit der Gefäße, wenn es nicht zu eigentlichen Intoxikations¬
erscheinungen kommt. Ob daneben noch eine direkte Wirkung
auf das Herz vorhanden ist, läßt -sich nicht mit Sicherheit sagen.
Die Elektrokardiogrammversuche sprechen nicht dafür, sind aber
auch kein absoluter Gegenbeweis. Jedenfalls scheint die vaso¬
motorische Wirkung im Vordergrund zu stehen. Diese scheint
die Entstehung der Arteriosklerose vielleicht zu begünstigen, an
sich erzeugt sie wohl die Arteriosklerose nicht. — (Zeitschrift
für experimentelle Pathologie und Therapie 1910, Bd. 8, H. 2.)
K. S.
*
273. Zur Kasuistik der plötzlichen Todesfälle
Während der Geburt. Sectio caesarea in mortua.
Von Dr. E. Venus. 38jährige VIpara, normale Schwangerschaft,
wird nach ganz geringer Wehentätigkeit plötzlich unwohl, Er¬
brechen, Bewußtlosigkeit, Kollaps, Exitus. Fünf bis sieben Minuten
später kam Venus zur Patientin, hörte kindliche Herztöne, so¬
fortige Sectio caesarea. Das Kind kam mit schwachem Herz-
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
399
schlag, tief asphyktisch zur Welt, konnte nicht mehr zum Schreien
gebracht werden. Die Autopsie ergab, daß es sich um einen
der seltenen Fälle äußerst foudroyant verlaufender Eklampsie
ohne Krämpfe gehandelt hat. — (Zentralblatt für Gynäkologie
1911, Nr. 2.) E. V.
*
274. Ueber die Eiweißreaktion im Sputum und
ihre praktische Bedeutung. Von . Dr. M. Gantz und
R. Hertz in Warschau. Bierm.er hat schon 1855 Sputumunter¬
suchungen angestellt und deren Resultate eingehend beschrieben.
Nach ihm hat sich eine ganze Menge von Klinikern mit dieser
Frage beschäftigt und besonders die Wichtigkeit eines Bestand¬
teiles des Sputums, des Eiweißes, dessen Anwesenheit durch
tiefere Gewebsveränderungen in der Lunge verursacht werden
soll, hervorgehoben. Die Verfasser haben nun an der inneren Air¬
teilung des Krankenhauses Kindlein Jesu in Warschau (Privat¬
dozent Dr. W. Janowski) diese Untersuchungen im Großen
ausgeführt und haben 125 Fälle, zumeist Lungentuberkulose,
daraufhin geprüft. Sie beschreiben die Untersuchungsmethodik,
analysieren ihre Resultate bei den einzelnen Krankheitsgruppen
und gelangen schließlich zu nachfolgender Zusammenfassung:
Die Eiweißreaktion ist eine sehr einfache Untersuchungsmethode
und nimmt so wenig Zeit in Anspruch, daß sie unbedingt als Hilfs¬
untersuchung am Krankenbett stets Anwendung finden sollte.
Die Eiweißreaktion ist gewissermaßen für spezifisch zu halten,
weil sie Ausdruck eines Entzündungszustandes oder Oedems in
der Lunge ist. Bei den Bronchialkatarrhen fällt die Eiweißreaktion
negativ aus. Die Lungentuberkulose sowohl in den Anfangs¬
stadien, wie auch in den vorgerückteren, gibt mehr oder weniger
deutlich auftretende positive Eiweißreaktion; eine Ausnahme
bildet vielleicht die fibröse Form der Lungentuberkulose. Bei Pneu¬
monie und bei Lungeninfarkt ist die Eiweißreaktion positiv. Das
Lungenödem, sogar in geringem Grade, gibt deutlich positive
Eiweißreaktion. Die Eiweißreaktion leistet mithin in der Praxis
häufig große Dienste. Es sei nur zum Beispiel an die häufigen
Zweifel über das Bestehen einer beginnenden Lungentuberkulose
erinnert, wenn die bakteriologische Untersuchung negativ aus¬
fällt und eine ganze Reihe von Symptomen zugunsten dieser Dia¬
gnose spricht. Der positive Ausfall der Eiweißreaktion kann
in solchen Fällen die Diagnose im erwähnten Sinne entscheiden.
Die Verfasser beschreiben ihre „sehr einfache Untersuchungs¬
methode“ des Sputums auf Eiweiß in folgender Weise: Um das
Sputum von verschiedenen anderen Bestandteilen (Muzin, Nukleo¬
albumin, Speisereste, Blut usw.), welche die Reaktion stören
könnten, zu befreien, wurde demselben eine gewisse Menge Essig¬
säure zugesetzt und dieses Gemenge nach genauer Mischung fil¬
triert. Sie nahmen das Acidum aceticum dilutum, welches zwar
300A>ig ist,, setzten aber zu 10 cm3 Sputum 10 cm3 Aqua destillata
und 2 cm3 Essigsäure zu. Das Gemenge wurde sodann mit einem
Glasstabe geschlagen; man tut gut, hiebei das Glas mit einem
Papier zu bedecken und den Glasstab durch ein Loch in dem¬
selben einzuführen. Dann Wurde filtriert. Man bekam eine
meistenteils klare, nur selten sehr opaleszierende Flüssigkeit
(Muzinspuren ?), welche farblos, mitunter aber leicht gelblich war
und deutlich sauer reagierte. Das Filtrat wurde zum Aufkochen
gebracht, wobei wenn die Reaktion nicht sauer genug war, die
Flüssigkeit sich sofort nach dem Aufkochen trübte oder sogar
einen flockigen Niederschlag ausfällte. Viel häufiger aber, bei an¬
fänglich negativem Ausfall der Eiweißreaktion, setzten die Ver¬
fasser, um die Azidität des Filtrats zu vermindern, tropfenweise
Kalilauge hinzu, wonach eine deutliche positive Reaktion in Gestalt
einer Trübung oder eines flockigen Niederschlages auftrat. Die
nach dem Aufkochen entstandenen leichten Trübungen wurden
manchmal nach Laugenzusatz zu flockigem Niederschlag. Um
Fehler zu vermeiden, wurde die Untersuchung zumeist bei federn
Kranken dreimal wiederholt, häufig noch öfter, in Intervallen von
einem Tage oder' einigen Tagen. Mitunter war zum Erzielen einer
positiven Reaktion (nach Wanner) noch das Zusetzen von
einigen Kubikzentimetern konzentrierter Kochsalzlösung notwen¬
dig. — (Berliner klinische Wochenschrift 1911, Nr. 7.) E. F.
*
275. (Aus dem Seuchenhaus in Stockholm. — Direktor: Chef¬
arzt Dr. Thure Hellström.) Ueber größere Serumdosen
bei Diphtherie. Von Priv.-Doz. Dr. Ivar Wickmann in
Stockholm. Wickmann behandelte 18 schwere, septische (toxi¬
sche, phlegmonöse) Diphtherien mit größeren Serumdosen (12.000
bis 35.000 Immunitätseinheiten) und verlor nur vier Fälle, die
vielleicht ohnehin schon verloren waren. Die Ueberlebenden
hatten durchschnittlich 15.000 bis lß. 000 Immunitätseinheiten (im
Minimum 12.000, im Maximum 35.000 Immunitätseinheiten) er¬
halten, 'die Einzeldosis betrug meist 5000 bis 7000 Immunitätsein¬
heiten, morgens wie abends. Das allgemeine Bild der so behan¬
delten Patienten kontrastierte sichtlich mit demjenigen, welches
man bei mit gewöhnlichen Dosen behandelten, dem Tode ent¬
rissenen .Diphtheriefällen zu finden gewohnt ist. Von einer
Kachexie war sehr wenig zu sehen; dagegen entgingen nur vier
Kranke Paresen und Herzstörungen (unregelmäßiger, labiler Puls,
oft mit frustranen Herzkontraktionen in fast sämtlichen Fällen).
Albuminurie trat in fast allen Fällen auf, niemals stärkere Ne¬
phritis. Von Serumnebenwirkungen war sehr wenig zu sehen,
nur in drei Fällen spärliche Urtikaria, die in einem Falle mit
Anschwellung der Handgelenke kombiniert war. Jedenfalls hat
Wickmann aus seinen Beobachtungen den Eindruck, daß größere
Serumdosen einen Teil, unter anderer Behandlung wahrschein¬
lich tödlicher Fälle, über das akute Stadium hinweg verholten
haben und daß der weitere Verlauf sich günstiger gestaltete als
es bei kleinen Dosen wahrscheinlich der Fall gewesen wäre
(Wickmann verlor vier Fälle, die mit weniger als 12.000
Immunitätseinheiten 'behandelt worden waren, obgleich keiner kli¬
nisch von vornherein ungünstiger zu sein schien, als einer der
obigen 18. Fälle). Oh durch eine noch kräftigere Serumapplika¬
tion .die nachträglichen Erscheinungen am Herzen und an den
Nerven nicht doch noch hätten vermieden werden können, wagt
Wickmann nicht zu entscheiden, Ransom glaubt aber nach
seinen experimentellen Untersuchungen schließen zu dürfen, daß
große Dosen Antitoxin, in einem frühen Stadium der Krankheit
verabreicht, auch beim Menschen günstig auf die nachfolgen¬
den Lähmungen einwirken werden. - Die Wirkung der großen
Dosen auf die schweren Formen von Diphtherie scheinen auch
von ^gewissem Interesse für die Auffassung der Aetiologie zu sein,
denn da die schweren Formen also keineswegs unempfänglich
für die Behandlung mit Diphtherieserum sind, wenn man nur
hinreichend große Dosen nimmt, so handelt es sich vielleicht
doch nicht um Mischinfektionen (gegen welche die Franzosen
neben dem Diphtherieserum noch das Marmoreksche 'Strepto¬
kokkenserum empfehlen), sondern um besonders virulente Diph¬
therien, eventuell bei besonders disponierten Personen. (Mo¬
natsschrift für Kinderheilkunde 1910, Bd. 9, Nr. 8.) K. S.
*
276. Die m ammäre Theorie über die Entstehung
des Eklampsiegiftes. Von Ed. Martin. Mit Bezug auf
die von Seil heim mitgeteilte mammäre Theorie macht. Martin
auf Bolle aufmerksam, der seinerzeit von der den Tierärzten
schon seit 1847 bekannten Tatsache ausging, daß die Gebär¬
parese der Kühe, eine der menschlichen Eklampsie recht ähn¬
liche Erkrankung, durch Einspritzungen von Jodkalium in das
Euter, recht günstig zu beeinflussen ist. Bei der Behandlung der
Gebärparese haben die Tierärzte jetzt das Jodkalium durch ein¬
fache atmosphärische Luft ersetzt. In einem verzweifelten Falle
von Eklampsie hat Martin Sauerstoff in die Brust so lange
einströmen lassen, bis über beide Brüste und Arme deutliches
Emphysem zu spüren war. Die Anfälle hörten sofort auf, der
Zustand besserte sich andauernd. Im späteren Wochenbett erlag
die Patientin einer von einer Zervixwunde ausgehenden Peri¬
tonitis. In einem zweiten Fälle war der Versuch ein vergeblicher.
— (Zentralblatt für Gynäkologie! 1911, Nr. 2.) L. 1 .
*
277. Ueber den Typus der Tuberkelbazillen im
Aus wurf der Phthisiker. Von Stabsarzt Dr. B. Müllers,
kommandiert zum Institut für Infektionskrankheiten in Berlin
(Direktor: Prof. Dr. Gaffky). In dem Sputum von 51 Lungen¬
kranken, welches von elf Patienten je dreimal, von 33 Patienten
je zweimal und von 7 je einmal auf Meerschweinchen verimplt
wurde, konnten in jedem Falle durch den Kaninchenveisuch
Tuberkelbazillen des humanen Typus festgestellt werden, ohne
daß auch nur in einem einzigen Falle kaninchenpathogene La-
400
WIENER KLIN If-. CUE WOCHENSCHRIFT. 1911.
zillea gefunden werden konnten. Mit Einschluß dieser 51 Fälle
sind bisher in der Literatur 632 aus Phthisikersputum gezüchtete
Reinkulturen beschrieben worden, die in den Jahren 1898 bis
jetzt in den verschiedensten Gegenden der Welt in einwandfreier
Weise auf ihre Zugehörigkeit zum humanen oder bovinen Typus
untersucht sind. Diese 632 Kulturen gehörten, wenn man von
einem nicht hinreichend geklärten Falle absieht, sämtlich dem
humanen Typus an. Es besteht somit die Behauptung Robert
Kochs vollkommen zu Recht, daß noch kein Fall von Phthisis
bekannt ist, in dem1 für eine längere Zeit von dem betreffenden
Menschen Perlsuchtbazillen ausgehustet, bzw. hei ihm nachge¬
wiesen wurden. -Das Fehlen von Perlsuchtbazillen im Sputum der
an Lungenschwindsucht leidenden Menschen, die den weitaus
größten Teil aller Tuberkulösen umfassen, zeigt die Richtigkeit
der Auffassung Robert Kochs, daß die Perlsucht des Rindes
für die Erkrankung des Menschen an Tuberkulose nur eine unter¬
geordnete Rolle spielt. — Aus demselben Institute für In¬
fektionskrankheiten stammt die folgende Arbeit des Stabsarztes
Dr. Rothe, betitelt: Untersuchungen über tuberkulöse
Infektion im K i n desalt e r . Es wurden kindliche Mesen¬
terial- und Bronchialdrüsen auf das Vorhandensein von Tuberkel¬
bazillen und auf die' Eruierung des Typus (Typus humanus oder
Typus bovinus) untersucht. Früher schon hat Gaffky selbst
über das Resultat seiner bezüglichen Untersuchungen an drei¬
hundert Kinderleichen berichtet, Rothe verfügte über hundert
Kinderleichen. Aus beiden Berichten eigibt sich folgendes:
Durch Verimpfung der Mesenterial- und Bronchialdrüsen von
400 Kmderleichen auf Meerschweinchen wurde in 78 Fällen
(19-50/c) eine tuberkulöse Infektion festgestellt. Davon erwiesen
sich 42mal beide Drüsengruppen, 14mal nur die Mesenterialdrüsen
und 22mal nur die Bronchialdrüsen tuberkulös infiziert. Unter
den 78 Fällen waren 75, in welchen die Infektion durch Tuberkel¬
bazillen vom Typus humanus bedingt war, während nur in drei
Fällen eine bovine Infektion nachgewiesen wurde oder doch
mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden mußte. Läßt
man zwei Fälle Gaffky s, in denen die Gewinnung einer Rein¬
kultur nicht gelungen war, als unentschieden außer Rechnung,
so verbleiben 76 tuberkulöse Fälle mit humaner und ein Fall
mit boviner Infektion. Diese Untersuchungen bestätigen
also .ebenfalls in vollem Umfange die Ansicht Robert Kochs, daß
auch für das Kindesalter die Bedeutung der Rindertuberkelbazillen
erheblich zurücktritt gegenüber der ihm von menschlichen Tu¬
berkelbazillen drohenden Gefahr. Nur für einen Fall ist sicher
erwiesen, daß die bei der Sektion des Kindes gefundenen tuber¬
kulösen Veränderungen auf einer Infektion mit Perlsuchtbazillen
beruhten. Weiters sprechen diese Untersuchungen dafür, daß
die Atmungsorgane häufiger die Eintrittspforte für die Tuberkel
bazillen auch in dem kindlichen Organismus sind. — (Deutsche
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 8.) E. F.
*
278. (Aus dem städtischen Säuglingsheim Dresden. — Ober¬
arzt Dr. Rietschel.) Ein Pall von Erythrodermia des-
quamativa (Leiner). Von Dr. E. Weide. Der Verfasseil-
berichtet über einen schwersten Fall von Erythrodermia desqua-
mativa, welcher durchaus dem von Leiner geschilderten Krank¬
heitsbilde entsprach. Trotz rechtzeitiger strengster Diätregelung
und mildester externer Behandlung der Haut, führte die Krank¬
heit unaufhaltsam zum Tode. Die Aetiologie des Falles blieb
ungeklärt. — (Monatsschrift für Kinderheilkunde 1910, Bd. 9,
Nr. 8.) K. S.
*
279. Eröffnung neuer Abfuhrwege bei Stauung
in Bauch und unteren Extremitäten. Von Prof. Lanz.
Verf. ging bei einem 44jährigen Patienten, bei dem ohne nach¬
weisbare Ursache vor fünf Jahren eine Elephantiasis des rechten
Fußes aufgetreten war, so vor, daß in dem unteren, mittleren und
oberen Teil des Femurs durch je ein Bohrloch die Markhöhle
freigelegt wurde; dann wurden aus der Fascia lata schmale
Streifen geschnitten, die in jedes dieser Bohrlöcher eingeführt
wurden, in Erwartung, daß längs dieser Faszienstreifen ein Lymph-
kollateralkreislauf zustande käme. Nach Naht der Faszie wurden
noch multiple kleine Drainageöffnungen in die Fascia lata ge¬
legt, um einer Lymphableitung in die Muskulatur Vorschub zu
Nr. 11
======
leisten. Drei Jahre nach der Operation ergab sich, daß Patient
wieder- arbeitsfähig ist, ein wesentlicher Unterschied zwischen
rechtem und linkem Oberschenkel nicht wahrgenommen werden
kann, wohl aber ist die Haut des rechten Oberschenkels etwas
fester. — (Zentralblatt für Chirurgie 1911, Nr. 1.) E. V.
*
280. Ueber Adalin, ein neues Beruhigungs- und
Einschläferungsmittel. Von Dr. Hans Hirschfeld in
Berlin. Adalin, ein Bromdiäthylazethylharnstoff, wird hauptsäch¬
lich wegen seiner vollkommenen Unschädlichkeit sowohl als
Sedativum bei nervösen Zuständen, als auch als schlafherbei¬
führendes Mittel empfohlen. Es ist in Wasser nicht löslich, wird
aber zweckmäßig in Wasser aufgeschwemmt verabreicht. Für die
sedative Wirkung (an Stelle von Brom bei Angstzuständen, großer
Erregbarkeit und Unruhe, Herzneurosen usw.) genügen dreimal
täglich 0-5 g, am besten unter Nachtrinken von kaltem Wasser,
als Hypnotikum verabreiche man 1 g, allenfalls — bei stär¬
keren Erregungszuständen — 0-5 g in den Abendstunden und
außerdem 1 g ungefähr eine Viertelstunde vor dem Schlafen¬
gehen. Der Schlaf dauert meist nur sechs Stunden lang an, es
fehlt aber jeder posthypnotische Effekt. Selten wird über Be¬
nommenheit des Kopfes am anderen Tage geklagt. Verf. hat
das neue Mittel in 43 Fällen erprobt. — (Berliner klinische
Wochenschrift 1911, Nr. 8.) E. F.
•1*
281. lieber das Ehrlichsche Heilmittel ,,606“ bei
Syphilis. Von Prof. Br. Erhard Riecke in Leipzig. Riecke
behauptet mit Sicherheit, daß irgendwelche Schädigungen, wie
sie etwa dem Atoxyl anhaften, bei dem neuen Heilmittel der
Syphilis ausgeschlossen sind! Man muß sich nur an die von
Ehrlich scharf betonten Maximen halten. „Ehrlich 606“ ist ein
spezifisches Heilmittel der Syphilis, welches noch wirksamer
ist als Quecksilber. Abzusehen von der Behandlung mit dem¬
selben wäre bei vorgeschrittenen degenerativen Prozessen des
Nervensystems, sowie bei Herzaffektionen, speziell bei chroni¬
scher Myokarditis. Ebensowenig sollte bei stark geschwächten
Individuen - - bei denen es sich nicht um syphilitische Kachexie
handelt — bei denen jeder mit etwaigen Fieberreaktionen ver¬
bundene differente Eingriff eine Lebensgefahr involviert, eine
Behandlung mit „606“ eingeleitet werden. Endlich ist prinzipiell
festzuhalten, daß ja von dem Ehrlich sehen Mittel reaktive Vor¬
gänge an dem erkrankten Organe hervorgerufen werden können.
Solche entzündliche Reaktionen um die luetischen Effloreszenzen
herum sind als Herxhe imersches Phänomen bekannt; be¬
treffen nun solche entzündliche Reaktionen spezifisch erkrankte
lebenswichtige Organe oder deren Teil, so können sich natürlich
unter solchen Umständen lebensbedrohliche Zustände entwickeln.
— (Fortschritte der Medizin 1910, 28. Jahng., Nr. 49.) K. S.
*
282. Karzinombildung im Zervixstump f. Von.
Dr. R. v. Feilenberg. Verf. teilt einen Fall mit, in dem
20 Jahre nach einer wegen Fibromyoma uteri vorgenommenen
supravaginalen Amputation des Uterus „sich im Zervixstumpfe
ein Karzinom entwickelt hat. Laparotomie, Exstirpation des
Stumpfes, Heilung, die 13 Monate post operationem noch anhielt.
— (Zentralblatt für Gynäkologie 1911, Nr. 4.) E. V.
*
283. Ein wasserlösliches Gleitmittel für Ka¬
theter usw. Von Dr. Artur Strauß in Barmen. Die folgende
Mischung, welche dauernd haltbar ist, kann sich jeder Arzt
selbst hersteilen oder in den Apotheken bereiten lassen. Die
Formel lautet: Tragacanth. 1-6, Tere cum Aqua frigid. 50-0, Gly-
cerini ad 100-0, Coque ad sterilisat., adde Hydrargyr. oxeyan. 0T.
— (Medizinische Klinik 1911, Nr. 8.) E. F.
*
284. Die spezifische Behandlung von Frambösie
mit S al v ars an. Von Prof. Dr. Richard P. Strong in Manila.
Mit Rücksicht auf die günstigen Resultate, welche mit Salvarsan
bei der Behandlung von Syphilis erzielt worden sind, lag für den
Verfasser der Gedanke nahe, das Mittel auch bei Frambösie zu
versuchen, da die Spirochäten als Ursachen beider Krankheiten
morphologisch und biologisch „einander nahe stehen. Nach D a-
ni eis, 'der die größte persönliche Erfahrung über die Behandlung
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
401
der Frambösie gesammelt hat, beeinflußt kaum ein Heilmittel
die Dauer der Krankheit; Quecksilber und Arsen sicher nicht. Die
Wirkung von Jodkali ist ungewiß. Bezüglich der Identität von
Frambösie und Syphilis stimmen die meisten Forscher darin
überein, daß beide Krankheiten ätiologisch verschieden sind. Der
Verfasser hat bis jetzt 30 Fälle von Frambösie mit Salvarsan
behandelt. Die Lösung wurde nach den Angaben Ehrlichs her¬
gestellt und die Injektionen in der üblichen Weise ausge¬
führt. Seine Schlußfolgerungen lauten: Salvarsan erscheint
als ein ideales Spezifikum gegen Frambösie. Drei oder vier
Tage nach der Injektion beginnen die Granulationen zu ver¬
schwinden und im Laufe von zehn bis zwanzig Tagen sind sie
gewöhnlich gänzlich verschwunden und eine vollkommen glatte,
pigmentierte Haut bildet sich an ihrer Stelle. Die Absorption
von Tumormassen von mehreren Zentimetern im Durchmesser
und zirka 1 mm Dicke in so kurzer Zeit ohne Einwirkung
irgendwelcher lokaler Behandlung ist auffällig und überraschend.
Bei den schweren Fällen kann man in der Tat das Verschwinden
der Erscheinungen und die Heilwirkung nur mit dem Worte
„wunderbar“ bezeichnen. Selbst in Fällen, in denen heftig granu¬
lierende Massen oder tiefe Ulzerationen vorhanden waren, heilten
diese innerhalb drei bis vier Wochen. Es dürfte kaum in der
ganzen Medizin ein frappanteres Beispiel für die spezifische Wir¬
kung eines Mittels geben, als die des Dioxydiamidoarsenobenzols
bei Frambösie. Eine leichte Rötung tritt innerhalb 24 bis 48
Stunden nach der Injektion am Rande der Läsionen auf. Das
Zentrum derselben erscheint gewöhnlich rot oder blau geschwollen.
Phagozyten wandern in dieses Gebiet und es nimmt nun eine
graue oder braune Färbung an. Die Spirochäten verschwinden
schnell und das granulöse Gewebe wird resorbiert, an seine
Stelle tritt dunkle, pigmentierte Haut, die später die normale
Hautfarbe annimmt. Schorfe werden nicht resorbiert, sondern
fallen ab. Keiner der Fälle hat einen Rückfall gezeigt, obwohl
sie alle nur eine einzige Injektion erhalten haben und bereits
bei den meisten Patienten mehr als sechs Monate verflossen
sind. Trotzdem glaubt Verf., daß in den schwersten Fällen der
Krankheit eine zweite Injektion drei Wochen nach der ersten
empfehlenswert ist. Die Dosis des Mittels für Frambösie muß auf
0-25 bis 0-3 g für Kinder und 0-5 bis 0-7 g für Erwachsene
bemessen werden. Außer vorübergehenden Temperatursteigerun-
gen wurden keine ungünstigen Symptome beobachtet. Eine lokale
Behandlung ist bei Salvarsan absolut überflüssig. Die Heilung
der Frambösie durch dieses Präparat und die günstigen Resultate,
die mit demselben Mittel bei Lues erzielt worden sind, könnten
aufs Neue für eine Identität der beiden Krankheiten sprechen.
Es erscheint aber dem Verfasser gar nicht befremdlich, daß
dies Mittel eine so deletäre Wirkung auf die beiden Organismen :
Treponema pertenue und Treponema pallidum ausübt, da die
beiden biologisch und morphologisch nahe verwandt sind. Auch
Jodkalium, für die Behandlung der Syphilis so wichtig, war bisher
das beste Heilmittel gegen Frambösie. Zum Schlüsse erklärt
der Verfasser noch, daß Salvarsan ein ebenso bedeutsames Spe¬
zifikum gegen Frambösie zu sein scheint, wie Chinin gegen
Malaria und daß damit ein viertes medizinisches Spezifikum
entdeckt wäre. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 8.)
G.
♦
285. Experimenteller Beitrag zur Aetiologie der
Rachitis. Vorläufige Mitteilung von Dr. S. Stocker jun. Ver¬
fasser implantierte einem kräftigen, 14 Tage alten Kalbe die Ova¬
rien einer gesunden Kuh, die einmal geworfen hat. Vier Wochen
post Operationen! trat Druckempfindlichkeit der Extremitäten¬
knochen, besonders in der Epiphysengegend, auf, sechs Wochen
post Operationen! hatte das Tier eine vier Tage dauernde Diarrhoe
und Appetitlosigkeit, fünf Monate nach der Operation waren die
vorderen Beine zu deutlichen X- Beinen geworden, der vorher
gerade Rücken hatte eine nach oben konkave Gestalt angenommen.
Bei der sieben Monate nach der Operation vorgen ommenen Sektion
fand man die implantierten Ovarien klein und von normaler
Struktur, die alten Ovarien von normaler Größe, die Nebennieren
waren kaum mehr zu finden. Hypophyse und Thyreoidea waren
von normaler Größe. Es handelt sich hier um den ersten gelun¬
genen Versuch von Wachstumsheminung durch Ovarienimplan¬
tation. Das klinische Bild entspricht ganz demjenigen der Ra¬
chitis. — (Zentralblatt für Gynäkologie 1910, Nr. 3.) E. V.
*
Aus italienischen Zeitschriften. '
286. Klinischer Beitrag zur allgemeinen Anästhe¬
sie mittels des Aetherr aus ches nach der Methode
von Sudeck, auch bei Operationen von längerer D au er.
Vorläufige Mitteilung von Carlo Mariani. Die Erfahrungen be¬
ziehen sich auf 220 im Aetherrausch ausgeführte Operationen;
die Resultate waren so günstig, daß der Aetherrausch, von we¬
nigen Ausnahmen abgesehen, an Stelle der Chloroformnarkose
verwendet wurde. Das Verfahren basiert auf der Beobachtung,
daß nach Anwendung von ca. 30 g Aether ein dem Alkohol¬
rausch analoger Zustand eintritt, während dessen Unempfind¬
lichkeit gegen Schmerzen besteht; wenn bei weiterer Aether-
applikation Exzitation auftritt, wird die Aetherzufuhr sistiert,
wenn sich Zeichen des Erwachens einstellen, dagegen neuerdings
10 bis 15 g Aether aufgegossen. Weitere Erfahrungen haben
gezeigt, daß nach vorheriger Injektion von 0-01 bis 0 02 g Mor¬
phium der Aetherrausch prompter eintritt und ruhiger verläuft.
Die Narkose kann mit einer gewöhnlichen mit Wachstuch über¬
zogenen Maske gemacht werden. Es wurden vom Verfasser unter
anderem 35 Laparotomien und 45 Hernienoperationen im Aether¬
rausch ausgeführt. Bedrohliche Erscheinungen traten niemals
auf; nur in drei Fällen mußten zur Vervollständigung der Nar¬
kose noch einige Tropfen Chloroform angewendet werden. Aus der
Literatur und den eigenen Erfahrungen des Verfassers geht hervor,
daß der Aetherrausch die unschädlichste Form der allgemeinen
Anästhesie darstellt und auch bei Operationen angewendet wer¬
den kann, welche lVa Stunden und darüber dauern. Beim Aether¬
rausch ist nur die Hälfte oder ein Drittel der bei der gewöhn¬
lichen Aethernarkose gebrauchten Aethermenge erforderlich,
Aspirationspneumonie kommt nur ganz ausnahmsweise vor, weil
der Patient das Mundhöhlensekret durch Schlucken beseitigen
kann. Das Erwachen aus dem Aetherrausch erfolgt rasch und
es kann der Patient schon nach sechs bis zehn Stunden Nahrung
per os nehmen. Der einzige Nachteil des Aetherrausches besteht
darin, daß besonders kräftige Personen und Trinker eine gewisse
Unruhe zeigen; diese wird durch einige Tropfen Chloroform be¬
seitigt, worauf der Aetherrausch fortgesetzt werden kann. —
(Gaz. degli osped. 1910, Nr. 137.) a. ie.
*
287. Ueber einen neuen Weg der experimentellen
Erforschung maligner Tumoren. Von Paridee Melloni.
Eine besonders augenfällige Erscheinung, namentlich bei malignen
Tumoren, ist die mächtig gesteigerte Proliferation. Wenn man
annimmt, daßi die Tumorbildung nur von einer Zelle ausgeht, so
liegt ein Vergleich mit dem stürmischen, wenn auch regulären
Proliferationsvorgang der befruchteten Eizelle nahe; es wurde
auch die Anschauung geäußert, daß die Tumoren die Folge einer
Paarung von Epithelzellen und Leukozyten, bzw. zwei Epithel¬
zellen sein könnten, welche beide die Hälfte ihrer Chromosomen
eingebüßt haben. Diese Hypothese würde an Wahrscheinlich¬
keit gewinnen, wem! man annimmt, daß eine der beiden Zellen
spezifisch befruchtende Eigenschaften besitzt. Dieser Bedingung
entsprechen die Spermatozoon, denen nicht a priori die Fähig¬
keit abgesprochen werden kann, auch außer der Eizelle auf an¬
dere Zellen befruchtend zu wirken und einen hier allerdings
atypischen und pathologischen Entwicklungsvorgang auszulösen.
Die Möglichkeit der Verschmelzung zweier Zellkerne ist nicht
nur in der Eizelle: gegeben, sondern auch in den von der Eizelle
abstammenden Gewebszellen, deren Kern gleichfalls der Träger
der Reproduktionsfähigkeit ist. Während unter normalen Verhält¬
nissen die Gewebszellen ihrer Struktur nach zur Verschmelzung
mit den Kernen anderer Zellen nicht geeignet sind, erscheinen
Zellveränderungen denkbar, welche den Kern zur Befruchtung
analog dem Kerne der Eizelle, wieder fähig machen. Zur Be¬
kräftigung der Hypothese von der Bedeutung der Spermatozoen
für die Genese der Tumoren, kann die hohe Resistenz und
Vitalität dieser Elemente herangezogen werden, ferner die große
Häufigkeit des Uteruskarzinoms bei Frauen und die Latsacue,
402
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
daß ein Uteruskarzinom bei jungfräulichen Individuen bisher
nicht beobachtet wurde. Die experimentelle Begründung der
Hypothese würde Injektion von Spermatozoen in den tierischen
Organismus auf den verschiedensten Wegen, sowie auch Ver¬
suche an Tieren, denen verschiedene Drüsen mit innerer Se¬
kretion exstirpiert wurden, erfordern. — (Gaz. ilegli osped. 1910,
Nr. 134.) ' a.. e.
*
288. Ueber die Einwirkung von Organextrakten
auf die toxische Aktion des Adrenalins. Von Alberto
Farini. Die Versuche zeigen einen Antagonismus zwischen
Adrenalin und Pankreasextrakt in dem Sinne, daß durch Pan¬
kreasextrakt die Glykosurie erzeugende Wirkung des Adrenalins
aufgehoben, dagegen dessen blutdrucksteigernde Wirkung nicht
deutlich beeinflußt wird. Es fragt sich, ob ein chemischer Ant¬
agonismus zwischen Adrenalin und Pankreasextrakt vorliegt oder
ob andere bisher unbekannte Faktoren hier von Bedeutung sind.
Es wurden Untersuchungen angestellt, oh das Pankreasextrakt mit
der Verhinderung der Adrenalinglykosurie auch die toxischen Wir¬
kungen des Adrenalins auf hebt und ob andere Extrakte aus Or¬
ganen mit innerer Sekretion in gleichem Sinne wirken, wie
Pankreasextrakt; es wurden hiebei Extrakte aus Gehirn, Leber,
Muskeln, Schilddrüse, Thymus und Nebenschilddrüsen verwendet.
Die Versuche wurden an Kaninchen angestellt, denen die ge¬
nannten Organextrakte in einer Verdünnung 1:5, die Nebenschild¬
drüsenextrakte in einer Verdünnung 1 : 10 intravenös injiziert
wurden. Als Nebennierenextrakt kam l%o Lösung von Adrenalin
Clin zur Anwendung, wovon die Injektion eines Tropfens die
letale Dosis pro Vio kg Kaninchen darstellt. Es zeigte sich, daß
Pankreasextrakt vor oder nach dem Adrenalin injiziert, bzw. 2 Tage
vor der Injektion oder unmittelbar vor der Injektion mit dein
Adrenalin gemischt, nicht die toxische, bzw. letale Wirkung des
Adrenalins aufzuheben vermag, daß ferner Pankreasextrakt für
sich keine nennenswerten toxischen Wirkungen besitzt. Die Ex¬
trakte der Nebenschilddrüse üben anscheinend eine steigernde,
die Extrakte der Schilddrüse eine im geringen Grade abschwä¬
chende Wirkung auf die Toxizität des Adrenalins aus. Die Ex¬
trakte aus Leber, Thymus, Gehirn und Muskeln zeigten das
gleiche Verhalten wie Pankreasextrakt, das heißt, sie übten keinen
Einfluß auf die toxische Wirkung des Adrenalins aus. Auch
die Arteriosklerose hervorrufende Wirkung des Adrenalins wird
durch die Extrakte anderer Organe nicht beeinflußt. Die Fähig¬
keit der Aufhebung der Glykosurie erzeugenden Adrenalinwirkung
kommt nicht nur dem Pankreasextrakt, sondern auch dem nor¬
malen Blutserum, wahrscheinlich auch dem in verschiedenen
Organen enthaltenden Cholin zu, so daß die Wirkung des Pan¬
kreasextraktes nicht auf direkten Antagonismus, sondern eher
auf unbekannte Organeinflüsse zurückzuführen ist. (Gaz. degli
osped. 1910, Nr. 135.) a. e.
*
Aus amerikanischen Zeitschriften.
289. Das Yers in-Roux-Serum bei der Behandlung
der Pest. Von A. N. S inclair. Das günstige Urteil, zu welchem
Autor im Gegensätze zu anderen bei der Anwendung des Yersin-
Roux-Serums gelangt ist, stützt sich auf die Beobachtung von
23 Pestfällen auf der Insel Hawai. Von drei Fällen ist Autor in
der Lage, die Krankengeschichten anzuführen, während die
Krankengeschichten der übrigen 20 Fälle in Verlust geraten sind.
Die drei durch Krankengeschichten belegten Fälle betrafen eine
russische Einwandererfamilie. Der 45jährige Vater, die L5- und
die 8jährige Tochter erkrankten an Pest. Alle drei erhielten In¬
jektionen des Yers in - R o ux- Serums. Der Vater und die acht¬
jährige Tochter kamen mit dem Leben davon, während die andere
Tochter (an der Krankheit starb. Aber auch in diesem Falle schien
das Serum eine Schutzwirkung zu entfalten, da sich keine typi¬
sche Lobärpneumonie entwickelte, sondern es bei der lobulären
Form, mit der die Krankheit anfing, blieb. Das Fehlen des Ueber-
ganges der lobulären in die lobäre Form der Pneumonie hat Autor
auch in anderen mit dem Serum behandelten Fällen beobachten
können, so daß er die Verhinderung dieses Ueberganges als Serum¬
wirkung aufzufassen geneigt ist. Bei Bubonenpestfällen, welche
mit dem Serum behandelt wurden, kam es, trotz vorhandener
Lungenerscheinungen fast nie zur Ausbildung einer typischen
Pestpneumonie, sondern die Fälle gingen an der durch den Pest¬
bazillus (bewirkten Toxämie zugrunde. Das Serum verhindert dem¬
nach die Infektion der Lungen auf dem Blutwege. Daß die eine
Pestkranke trotz des offenbar günstigen Einflusses der Serum¬
injektion auf den Lungenprozeß doch der Krankheit erlegen ist,
kann bei der außerordentlichen Leichtigkeit, mit der Toxine aus
der Lunge in den allgemeinen Kreislauf gelangen, nicht wunder-
nehmen. Die drei Fälle, über welche der Autor berichtet, sind
Repräsentanten der drei Gruppen, in welche nach seinen Erfah¬
rungen die mit dein Serum behandelten Pestfälle eingeteilt werden
können. Im ersten Falle hatte das Serum keinen Heilerfolg, im
zweiten war schon die zweite Injektion von Erfolg, im dritten
erwies sich schon eine Injektion als ausreichend. Jeder der
Fälle befand sich in einem anderen Stadium der Krankheit, als
das Serum angewendet wurde. Im ersten Fälle hatte die Krank¬
heit schon vier oder fünf Tage gedauert, im zweiten etwa zwei
und im dritten erst anderthalb Tage. In jedem. Falle war die
Temperatur am Morgen nach der Injektion um etwa 1-6° C ge¬
sunken. Da jeder Fall in einem anderen Stadium der Krankheit
sich befand, konnte diese Temperaturerniedrigung nicht als
Pseudokrise ausgelegt werden. Der in allen Fällen, die mit dem
Serum behandelt worden waren, beobachtete Temperaturrückgang
würde an sich schon die Anwendung eines solchen Mittels recht-
fertigen. Autor hofft, durch seihen Bericht die zur Pestbehandlung
berufenen Aerzte wenigstens zu einem Versuch mit einem Mittel
anregen zu können, welches sicher keinen Schaden, wohl aber
unberechenbaren Nutzen stiften kann. — (The Journal of the
American Medical Association, 4. Februar 1911.) sz.
*
290. Die Bedeutung der öffentlichen Erziehung
für die Krebsbekämpfung. Von Southgate Leigh. Da
fast allem Karzinomen ein Stadium vorausgeht, in welchem das
ursprünglich lokale Leiden vollständig beseitigt werden kann,
so liegt es im eminenten Interesse der Krebsbekämpfung, die
Aerzte und das Publikum auf dieses Stadium der Krankheit auf¬
merksam zu machen, damit die zur Operation geeignete Zeit
nicht versäumt werde. Zirkulare, von im Dienste der öffentlichen
Gesundheitspflege stehenden Instituten ausgehend und besonnene
Artikel in den Tageszeitungen, können im '.Sinne. des von Winter
in Deutschland inaugurierten Kampfes zweckmäßigerweise hiezu
verwendet, werden. (American Journal of Surgery, Januar 191 1.)
291. Der Verschluß großer Arterien du r c h M e t al 1-
b ä n d e r z u m N a c h weise d e r W i r k s a m k e i t des k o 1 1 a t e-
ralen Kreislaufes. Von R. Matas und C. Allen. Die
Autoren haben den Versuch unternommen, die zirkuläre Ligatur
der Gefäße in manchen Fällen durch Abklemmung mittels Alu¬
miniumbändern zu ersetzen. In Vorversuchen an Tieren haben
sie sich davon überzeugt, daß solche Metallbänder bis zu 72
Stunden die Gefäße komprimieren können, ohne ihre Wände
dauernd zu schädigen und ohne zu Thrombose Anlaß zu geben.
Das Metallband kann während der ersten drei Tage leicht wieder
entfernt werden, wenn die Gefäßkompression nicht mehr nötig
ist, während im gleichen Falle die Entfernung einer Ligatur nicht
erfolgen könnte, ohne daß an der Stelle, wo sie angelegt war,
sich ein Thrombus entwickeln würde. In Fällen, wo es die Wirk¬
samkeit des Kollateralkreislaufes zu erweisen gilt, wie zum Bei¬
spiel bei der Behandlung des Aneurysma, ist die Bandabklemmung
der Gefäße von großer Bedeutung. Die Aluminiumbänder werden
lang genug geschnitten, um als Aneurysmanadeln benützt zu
werden und zur Form eines flachen Hakens gekrümmt, der
leicht zwischen das Blutgefäß und seine Scheide ein geführt werden
kann. Nachdem das Band um die Zirkumferenz des Gefäßes
geführt worden ist, wird es leicht von den Fingern des Opera¬
teurs zusammengedrückt, bis der Puls distalwärts nicht mehr
zu fühlen ist. Der Ueberschuß an Band wird mit einer scharfen
Schere abgeschnitten. Bleibt das Band dauernd angelegt, so um¬
gibt es sich mit einer Bindegewebshülle, ohne das Gewebe zu
reizen. — (The Journal of the American Medical Association,
28. Januar 1911.) sz-
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
FOB
Georg Kapsammer.
Am 8. d. M. verstarb Dr. Georg Kapsammer. Er war
Vorstand der urologischen Abteilung des Kaiser- Franz-, I oseph-
Arnbulatoriums und der designierte Primararzt einer großen uro¬
logischen Abteilung des Jubiläumsspitales der Gemeinde Wien.
Demnächst schon sollte das neue Krankenhaus seiner Bestimmung
zugeführt werden und dort hätte sich für Kapsammer ein
Wirkungskreis eröffnet und für seine spezielle berufliche Tätigkeit
wäre ein Rahmen geschaffen worden, dessen sich kaum ein
zweiter Urologe hätte rühmen können. Das war ja die Form,
in der sein berühmtester Patient, der verstorbene Bürgermeister
Dr. Karl Lueger, ihm übers Grab hinaus seinen Dank abgestattet
hat. Es war Kapsammer nicht bestimmt, diesen Dank zu
ernten. Daß es ihm an Fähigkeiten nicht gefehlt hätte, dieses
Erbe zu verwalten, dafür hat er durch anderweitige Proben
praktischer und wissenschaftlicher Tätigkeit Beweise geliefert.
Vor allem durch sein Buch über Nierendiagnostik und Nieren¬
chirurgie. Die Leser dieser Wochenschrift wissen, mit welch
rückhaltloser Anerkennung einer der berufensten Sachverstän¬
digen, E. Küster, in ausführlicher Besprechung diese Arbeit ge¬
würdigt hat. Eine Etappe auf dem Entwicklungsgänge der funk¬
tionellen Nierendiagnostik, war dieses Werk zugleich ein Zeugnis
großen Fleißes1 und nicht gewöhnlicher Begabung. Jedenfalls ist
aus der Reihe der zeitgenössischen Urologen mit Kapsammer
einer der rührigsten ausgeschieden.
Anscheinend in jeder Hinsicht von der Gunst des Schick¬
sals getragen, ausgestattet mit allen äußeren Zeichen früh er¬
rungener Erfolge, mitten im Anstieg, hat er allem weiteren Streben,
allen Hoffnungen und Wünschen ein jäh gewaltsames Ende be¬
reitet. Es muß ein überwältigendes Maß mit elementarer Wucht
einstürmender Widerwärtigkeiten gewesen sein, um so viel Lebens¬
lust, wie sie in seinem ganzen Wesen förmlich verkörpert schien,
so plötzlich ins Gegenteil zu wandeln. Schon der Gedanke,
wie sehr er darunter gelitten haben 'mag, sichert seinem Schicksal
allgemein menschliche Teilnahme. Die Red.
Uermisehte Naehriehfcen.
Verliehen: Dem mit dem Titel und Charakter eines
irdentlichen Universitätsprofessors bekleideten a. o. Professor
ter Physiologie an der Universität in Wien, Dr. Alois Kreidl,
ler Titel eines Regierungsrates und dem a. o. Professor der
ingewandten Chemie an derselben Universität, Dr. Otto Ritter
f. Fürth, das Ritterkreuz des Franz Joseph - Ordens.
*
Habilitiert: Dr. R. Cords für Augenheilkunde in Bonn,
ln. Rum: Dr. Roses für interne Pathologie, Dr. Chidi-
• h in o für Geburthilfe und Gynäkologie, Dr. Tanturi für
• hienheilkuude, Dr. Serono für medizinische Chemie. — In
Dirin: Dr. Lam pert für Augenheilkunde, Dr. Vaccari für
toburlshilfe. - Dr. Los io in Pavia für Chirurgie. — Doktor
'accarini für externe Pathologie in Parma. — Dr. Luna
ih' Anatomie in Palermo.
*
Gestorben: Dr. Otto Drasch, ordentlicher Professor der
listologie und Entwicklungsgeschichte in Graz.
*
Am 4. März 1911 fand je eine Sitzung des Faclikomitees
los Obersten Sanitätsrates für die Bekämpfung der Ini'ek-
ionskrankheiten, sowie des Fächkomitees für Wasserversorgung
"ui Abwässerreinigung statt. Im erstgenannten Fachkomitee
vurden Gutachten erstattet: 1. Ueber mehrere Gesuche betreffend
:eschäftsmäßige Vornahme von chemisch-, bzw. mikroskopisch-
liagnostischen Untersuchungen, sowie über eine allgemeine Rege-
"ng der betreffenden Verhältnisse (Referenten: Prof. Eber¬
dalle r, Hofrat Weichselbaum und Prof. Finger). 2. Ueber
oi'packung und Postversendung bakteriologischer Untersuchungs-
'hjekte (Referent: Prof. Dr. Prausnitz). 3. Ueber Maßnahmen
ur Verhütung der Einschleppung der Pest (Referent: Hof rat
' eichselbaum). — Das Fachkomitee für Wasserversorgung
Abwasserreinigung hat Gutachten beraten : 1. Ueber eine
mnalisationsanlage (Referent: Prof. Schattenfroh). 2. Ueber
die Reinigungsanlage einer Zuckerfabrik (Referent: Professor
Mauthne r).
*
Erlaß de's k. k. Ministeriums des Innern vom
8. Februar 1911, Z. 38.953 ex 1910, an die k. k. Landes¬
regierung in Salzburg, betreffend die Anwendung der
Inhalationsbehandlung mit Radiumemanation. (Der
Erlaß wurde den übrigen politischen Landesstellen zur Kenntnis
und Damachachtung mitgeteilt.) Unter Rückschluß der Beilagen
des Berichtes vom 8. Oktober 1910, Z. 15.019, betreffend die
Errichtung eines Institutes für Radiumemanation in Bad Gastein,
wird auf Grund eines Gutachtens des k. k. Obersten Sanitätsrates
folgendes eröffnet: Gegen die Anwendung der Inhalationsbehand¬
lung mit Radiumemanation in öffentlichen und privaten Heil¬
anstalten obwaltet unter der Bedingung kein Anstand, daß dieses
Heilverfahren nur über ärztliche Anordnung und unter ständiger
persönlicher Ueberwachung eines zur Ausübung der ärztlichen
Praxis im Inlande berechtigten Arztes angewendet und vom ärzt¬
lichen Leiter der Anstalt regelmäßig der politischen Behörde
ein Jahresbericht vorgelegt wird. Die Betriebsordnung solcher
Anstalten ist vor ihrer Genehmigung durch die Landesbehörde
vom Landessanitätsrate zu begutachten. Anläßlich der lokalkom¬
missioneilen Verhandlung über derartige Gesuche wird insbeson¬
dere auf die sanitären Gefahren Rücksicht zu nehmen sein,
welche sich möglicherweise durch die während des Betriebes
eintretende Luftverechlechterung im Emanationsraume ergeben
können.
*
Aufnahme von A er z tin neu in das Wiener rnedi-
z i n i s c h e D o k t o ren k o 1 1 eg i u m. In der in der vorigen Woche
unter dem Vorsitze des Präsidenten Regierungsrat Dr. Wilhelm
Svetlin abgehaltenen Geschäftsratssitzung wurde nach dem Re¬
ferate des Herrn Dr. Josef Krips einstimmig beschlössen,
daß graduierten Aerztinnen die Aufnahme in das Wiener medi
zinische Doktorenkollegium zu gestatten sei, wodurch die lusher
den Aerztinnen verschlossenen großen Benefizien des Kollegiums
und seiner A\ ohlfahrtsinstitute denselben zugänglich geworden
sind. Das Doktorenkollegium hat durch diesen Beschluß einen
Akt der Gerechtigkeit gegen die weiblichen Kollegen vollzogen.
*
Der XVII. internat. mediz. Kongreß wird im Sommer
1912 in London tagen. Das genaue 'Datum1 wird von der Perma¬
nenten internationalen Kommission festgestellt werden, welche
kommenden 21. und 22. April in London ihre erste Sitzung
abhalten wird, unter dem Vorsitz des Herrn Dr. F. W. Pavy.
In dieser Sitzung wird ebenfalls die Liste der Sektionen des
Londoner Kongresses festgestellt werden. Alle die Einrichtung
dieser Liste betreffenden Wünsche und Anträge bittet man vor dem
1. April beim Generalsekretär der Permanenten Kommission.,
Prof. H. Burger, Vondolsträat 1, Amsterdam, oder an die
Adresse des Bureaus der Kommission: Hugo de Grootstraat 10,
im Haag, einzusenden. Auch sonstige die Organisation des Kon¬
gresses betreffenden Wünsche und Informationen werden bis
zum selben Termin und an dieselben Adressen gerne entgegen¬
genommen.
* i
Der v. Rothmundschc Untere tützungsverein für arme
Augenkranke in München wird am 1 2. (März in Bad - Krankenheil
Tölz (Oberbayem) den Grundstein legen zu einem Genesungs¬
heim für rekonvaleszente arme augenkranke Kinder, das den
Namen Prinzregent- Luitpold -Genesungsheim tragen wird .
*
( holera. Rußland. In der Woche vorn 15. bis1 21. Januar
ereigneten sich im Gouvernement Jekaterinosläw 2 Erkrankun¬
gen und 4 Todesfälle, in der Woche vom 22. bis 28. Januar im
Gouvernement Kiew 5 Erkrankungen und 3 Todesfälle, in Po-
doliem 4 Erkrankungen und 3 Todesfälle an Cholera. Somit sind
im Januar 1911 in Rußland 17 Cholerafälle, davon 14 mit töd¬
lichem Ausgaiige, festgestellt worden. — Madeira. Die Zahl
der im Laufe des Januare gemeldeten Choleraerkrankungen im
Distrikte Funchal betrug 327, die der Todesfälle 98. Im ganzen
sind seit, dem Ausbruche der Epidemie auf der Insel (Mitte. No-
vember) 1975 Personen an Cholera erkrankt, 623 gestorben.
Philippinen. Im Laufe des Jahres 1910 sind nach amtlichen
Ausweisen 6795 Personen an Cholera gestorben, davon 224 in
der Hauptstadt Manila. — Persien. Hamadan, Beseht und
Kirmainischah sind seit Dezember frei von Cholera; in Kirman
sind im Dezember 106 (51) Erkrankungen (Todesfälle) konstatiert
worden. Vereinzelte Fälle wurden Ende Dezember in Dehabad
(zwischen Kasch an und Ardestan) bei Pilgern festgestellt, die
von den heiligen Stätten auf der Strecke Kirmansehah - Hamadan
404
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
zurückgekehrt waren. — Arabien. Die Cholera nimmt in den I
Häfen und den Wallfahrtsorten Arabiens langsam, aber stetig
zu. In Mekka wurden bis1 Anfang Februar 161 (150), in Yambo
55 (42), in El Tor 42 Cholerafälle (Todesfälle) festgestellt. In
Medina sind im Laufe des Januar 558 Todesfälle gemeldet wor¬
den ; an der Hedjazbahn wurden in der Station Maan 1, im
Lazarette Tebuk 2 Cholerafälle konstatiert. In Hodeidah und
.Umgebung breitet sieb die Seuche unter Zivil und Militär immer
mehr aus.
Pest. Rußland. Von der Kommission für Maßnahmen
zur Vorbeugung und zum Kampfe gegen die Pestepidemie wurde
ein Betrag von 144.000 Rubel für Pestvorbeugungsmaßnahmen
auf den Wasserwegen des Amurbassins bestimmt. Für Rechnung
dieses Kredits müssen bis zur Eröffnung der Schiffahrt sieben
ärztliche Beobaehtüng'spunkte eingerichtet sein in Ssrjetensk,
Petrowsk, Blagowjeschtschensk, Jekaterino - Nikolsk, Chabarowsk,
Nikolajewsk und Micbailowo-Ssemenowsk, wobei in Chabarowsk,
Nikolajewsk, Blagowjeschtschensk, Micbailowo-Ssemenowsk und
Petrowsk außerdem noch Beobachtungspunkte errichtet werden
sollen. Für die sanitäre Beobachtung der Fahrzeuge mit lang¬
samer Fahrt sollen drei Kreuzer bereitstehen. Zur Verhütung der
Einschleppung der Pest durch Kirgisen auf den Fischereiplätzen
an der Kaspischen Küste werden drei ärztliche Durchlaßpunkte
in Dschambai, Korduansk und Tschaptschatsch eröffnet, wofür
die genannte Kommission 15.000 Rubel bewilligt hat. In das
Primorskigebiet werden drei Aerzte zur Verstärkung des örtlichen
medizinischen Personals allkommandiert. Die Stadt Tschifu in
China wurde als pestbedroht erklärt. In der Kirgisensteppe des
Gouvernements Astrachan sind in der Zeit vom 4. bis 21. Ja¬
nuar 29 (20), vom 21. Januar bis 1. Februar 17 (14) Neuer¬
krankungen (Todesfälle) an Pest vorgekommen ; die meisten dieser
Erkrankungen betreffen die Ortschaft Sartube. Seit dem1 Auftreten
der Pest (Ende Oktober 1910) hat dieselbe bis Anfang Februar
zu 194 Erkrankungen und 152 Todesfällen geführt. — China.
Bezüglich des Verkehres auf der mandschurischen Ostbahn gelten
gegenwärtig nachstehende Bestimmungen: Die Expreß- und Post¬
züge 'nehmen Chinesen überhaupt nicht an;idie übrigen Passagier¬
züge gehen nicht über die Grenzen -der Chinesischen Bahn hinaus
und werden vor jeder Fahrt desinfiziert. In Charbin und auf
den benachbarten Stationen, inklusive Asiho, sowie auf allen
Stationen der Linie bis Ivwantschöntsi, werden Chinesen nicht
in die dritte und vierte Klasse gelassen; die Passagiere der ersten
und zweiten Klasse dagegen müssen in besonderen Waggons
reisen und sich vorher einer ärztlichen Untersuchung und einer
Temperaturmessung unterziehen. Von Zizikar aus werden Chi¬
nesen erst nach fünftägiger Quarantäne in die Züge gelassen.
Von den anderen Stationen aus dürfen die chinesischen Arbeiter
in der Richtung nach Osten nur bis zur Station Juanpo, die
mehr als 300 Werst von der Grenze des Küstengebietes entfernt
ist und in der Richtung nach Westen nur bis zur Station
Mands'churia fahren, wo die nach dem Transbaikalgebiet reisen¬
den sich einer fünftägigen Quarantäne unterwerfen müssen.
Zwischen den Stationen Zizikar, Mulin, Kwantschöntsi werden
die von den Chinesen benützten Züge von Feldschern begleitet.
Auf 14 größeren Stationen befindet sich medizinisches Personal
sowie besondere Räumlichkeiten zur Aufnahme von pestverdäch¬
tigen Kranken ; zehn Stationen haben Desinfektionskammern. Dank
diesen Maßregeln ist im Laufe des letzten Monats kein Pestfall
in den Eisenbahnzügen vorgefallen. In der Chinesenstadt von
Tientsin ereignen sich täglich 3 bis 4 neue Pesterkrankun¬
gen, in Tschifu sind angeblich bis 8. Februar 201 Personen
an Pest gestorben, täglich sollen etwa 20 Pesttodesfälle Zu¬
wachsen Im Nachharkreise Tsimo sind 49, in der Stadt K i au¬
tsch o u 16 Todesfälle vorgekommeh1, das deutsche Schutzgebiet
dagegen ist dank der strengen Absperrungsmaßnahmen bisher
nestfrei geblieben. In Charbin wurden bisher ungefähr 4000
Todesfälle beobachtet, in allen Fällen handelte es sich um Lungen¬
pest. Im russischen Viertel ist die tägliche Zahl der Sterbefälle
von 50 auf 8 gesunken, dagegen beträgt sie in Fudjiadjian
noch immer gegen 100. In der Bahnzone von Mukden wurden
bis 5. Februar 176, außerhalb derselben 1354 Pesttodesfälle beob¬
achtet, von denen 3 Japaner, 5 Koreaner, 1 Engländer, die
übrigen Chinesen betrafen. Mit Ausnahme von 3 Weibern waren
alle Gestorbenen Männer. — Aegypten. In der Woche vom
3. bis 9 Februar ereigneten sich 39 (17, in der Woche vom
10. bis 16. Februar 22 (10) Pestfälle (Todesfälle). — Brasil iien.
Im Laufe des Jahres 1910 sind in Rio de Janeiro 38 Personen
an Rubonenpest erkrankt, 18 gestorben; am Ende des Jahres
standen noch 4 Pestkranke in Behandlung. In der Woche vom
1. bis 7. Januar 1911 ereigneten sich 4 neue Erkrankungen
und 4 Todesfälle an Pest. — Britis ch- Indien. Im Hindostan
ereigneten sich in der Zeit vom 4. bis 31. Dezember 1910
in der ersten Woche 9440 (7399), in der zweiten Woche 10.736
(8399), in der dritten Woche 11.117 (9096), in der vierten Woche
11.850 (8892) Pestfälle (Todesfälle).
*
Literarische Anzeigen. Differentialdiagnostik
derinneren Krankheiten. Von Oberstabsarzt Dr. G. Kühne¬
mann. Dritte Auflage. Verlag von J. A. Barth in Leipzig.
Preis 5 M. — Der Verfasser stellt auf je einer Tafel in über¬
sichtlichster Weise jene Krankheiten zusammen, die ein be¬
sonders hervorstechendes Symptom' gemeinsam haben, zum Bei¬
spiel Blässe der Haut, Eiter im Urin, Rückenmarkskrankheiten
mit Gangveränderungen usw. Zu diesen Tafeln gehören außerdem
ergänzende Erklärungen. Daß das Buch Anklang gefunden, dafür
spricht die Notwendigkeit der dritten Auflage nach zwei Jahren.
*
Vorläufiges Ergebnis der Sanitätsstatistik hei
der Mannschaft des k. u. k. Heeres für das Jahr 1910.
Krankenzugang 838°/oo, an Heilanstalten abgegeben 372%0, Todes¬
fälle 1 •80°/no der durchschnittlichen Kopfstärke.
*
Aus dem S an i t ä t s b e r i c h t der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 8. Jahreswoche (vom 19. bis 25. Fe¬
bruar 191 1J. Lebend geboren, ehelich 546, unehelich 223, zusammen
769. Tot geboren, ehelich 65, unehelich 34, zusammen 99. Gesamtzahl der
Todesfälle 743 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
19 0 Todesfälle) an Bauchtyphns 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 5,
Scharlach 4, Keuchhusten 5, Diphtherie und Krupp 3, Influenza 1,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 3. Lungentuberkulose 113, bösartige Neu¬
bildungen 60, Wochenbettfieber 4, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 46 (-{- 9), Wochenbettfieber 2 (+ 2), Blattern 0
(0), Varizellen 75 (4- 10), Masern 169 (+ 54), Scharlach 66 (— 22),
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 3 (=), Ruhr 0 (0). Cholera 0 (0),
Diphtherie und Krupp 61 (— 6), Keuchhusten 46 (- \ - 10), Trachom 3 (■+- 3),
Influenza 1 (— 2), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Im schlesischen Krankenhause in T r o p p a u gelangt mit Wirk¬
samkeit vom 1. Juli 1911 angefangen die Stelle eines Prosektors
zur Besetzung. Mit dieser Stelle sind als Anfangsbezüge nach der ersten
Gehaltsstufe der VIII. Rangsklasse ein .Jahresgehalt von 4000. K, eine
Aktivitätszulage von 1200 K, ferner ein Fahrpauschale von jährlich 60 K
und eine jährliche Remuneration im Betrage von 1800 K verbunden.
Die weitere Vorrückung in der VIII. und VII. Rangsklasse erfolgt nach
dem Artikel III des Gehaltsregulierungsstatutes vom 25. Oktober 1910 und
kann zufolge Artikel I des genannten Statutes nach Erreichung der
obersten Gehaltsstufe der VII. Rangsklasse auch die systemmäßige Vor¬
rückung in die erste Gehaltsstufe der VI. Rangsklasse erfolgen. Bewerber
um diese Stelle wollen ihre Gesuche bis längstens 1. April 1910 beim
schlesischen Landesausschusse in Troppau einbringen. Die näheren Aus¬
künfte über die erforderlichen Gesuchsbeilagen und die besonderen j
Dionstesobliegenheiten erteilt die Direktion des schlesischen Krankenhauses
in Troppau.
Sekundararztesstelle an der öffentlichen allgemeinen
Landeskrankenanstalt in Czernowitz mit dem Bezüge jährlicher
1800 K und dem Naturalquartiere in der Anstalt nebst Beleuchtung. Be- 1
heizung und Verpflegung nach der I. Klasse aus der Anstaltsküche. Die
Dienstzeit des Sekundararztes ist auf zwei. Jahre bestimmt und kann
vom Landesausschusse von je zwei und zwei Jahren bis zu sechs Jahren!
verlängert werden. Kompetenten um diese Stelle haben die Nachweise
beizubringen über: a) die österreichische Staatsbürgerschaft; b) über das
nicht vollendete 40. Lebensjahr: c) den Besitz des Grades eines Doktors
der gesamten Heilkunde an einer österreichischen Universität und die
bisherige praktische Verwendung; d) die Kenntnis der deutschen und
mindestens einer der Landessprachen (rumänisch oder ruthenisch). Die]
gehörig instruierten Kompetenzgesuche sind beim Bukowinaer Landes¬
ausschuß, und zwar von Bewerbern, die sich bereits in dienstlicher.
Stellung befinden, im Wege ihrer Vorgesetzten Dienstbehörde, bis zum;
20. März 1911 zu überreichen.
Zur Besetzung der erledigten Stelle des Direktors des
Prager k. k. Allgemeinen Krankenhauses, mit welcher die;
Bezüge der VI. Rangsklasse eines Staatsbeamten, der Genuß einer Natural¬
wohnung in der genannten Krankenanstalt und daher der Bezug der
halben Aktivitätszulage der VI. Rangsklasse verbunden sind, sowie zui
Besetzung der neusystemisierten Stelle ein es Direktorstellver¬
treters im Prager k. k. Allgemeinen Krankenhaus e 'mit
den Bezügen der VIII. Rangsklasse eines Staatsbeamten, wird der Kon
kurs bis zum 25. März 1911 ausgeschrieben. Die Bewerber um diese
Stellen haben ihre eigenhändig geschriebenen, an das k. k. Statthalterei-
präsidium gerichteten Gesuche, und zwar soferne sie sich bereits in eine’
amtlichen Stellung befinden, im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde, som
aber unmittelbar beim Statthaltereipräsidium in Prag in der oben fes-
gesetzten Frist einzubringen und haben dem Gesuche beizuschließen: dei
Nachweis über ihr Alter, über die Zuständigkeit, über die Kenntnis beidei
Landessprachen in Wort und Schrift, über den erlangten medizimschei
Doktorgrad und über ihre bisherige Verwendung, insbesondere überjen«
in einem öffentlichen Krankenhause oder in einer sonstigen öffentliche!
H umanitätsanstalt.
Nr. 11
405
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll (1er k. k. Gesellschaft (1er Aerzte in Wien.
Sitzung vom 10. März 1911.
Nachtrag zum offiziellen Protokoll (1er k. k. Gesellschaft der
Aerzte ln Wien. Sitzung vom 3. Februar 1911.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Wissenschaftliche Aerztcgesellschaft in Innsbruck.
Verein der Aerzte in Oherösterreich.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in Böhmen.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 10. März 1911.
Vorsitzender: Prof. Dr. M. Großmann.
Schriftführer: Dr. J. Erdheim.
Prof. Dr. M. Großmann : Unsere Gesellschaft hat in den
letzten Tagen abermals den Verlust zweier Mitglieder durch den
Tod zu beklagen. Unser korrespondierendes Mitglied Professor
Dr. Bohr in Kopenhagen ist im Verlaufe dieser Woche, der Todes¬
tag ist uns nicht genau angegeben, gestorben. Vorgestern, am
8. d. M.. ist Primarius Dr. Georg Kap s am m er ganz unerwartet
unter tragischen Umständen aus dem Leben geschieden. Wir
stehen unter dem tiefernsten Eindrücke, daß ein strebsamer, ver¬
dienstvoller Kollege, in verhältnismäßig jungen Jahren — kaum
40 Jahre alt — inmitten seiner erfolgreichen Berufstätigkeit,
urplötzlich von der Bildfläche des Lebens ' verschwunden ist.
Die Herren haben sich unaufgefordert von ihren Sitzen
erhoben, womit sie offenbar ihre Trauer und ihr Beileid zum
Ausdrucke bringen wollten.
Dr. Zollschan (als Gast) und Dr. Marschik demonstrieren
einen Fall von Rezidiv eines' malignen Tumors der
rechten Tonsille, der durch Röntgenbehandlung geheilt wurde.
Zollschan spricht über die Seltenheit derartiger Heilungen
tiefliegender maligner Tumoren. Marschik berichtet über zwei
weitere einschlägige Fälle. (Erscheint ausführlich an anderer
Stelle.)
Diskussion: Prof. Dr. Großmann: Ich will hier nur
kurz daran erinnern, daß ich vor acht Jahren die Ehre gehabt
habe, eine zirka 40jährige Patientin liier zu demonstrieren, die
wegen einer Neubildung in der linken Nasenhöhle bereits vier¬
mal vor mir operiert worden war. (Siehe Wiener klinische Wochen¬
schrift 1904, Nr. 4.) Die fünfte Operation wurde bei der Kranken
von mir ausgeführt. Die mikroskopische Untersuchung ergab, daß
es sich um Spindelzellensarkom handelte. Diese Patientin wurde
einer Röntgenbehandlung unterzogen und wenn sie auch später
an einer allgemeinen Metastase zugrunde ging, ist die örtliche
Erkrankung, im Gegensätze zum früheren Verlaufe, wo der Tumor
schon nach wenigen Wochen wieder auftauchte, bis zum Todes¬
tage der Kranken, acht Monate lang, ohne Rezidive geblieben.
Ich glaube somit einer der ersten gewesen zu sein, der die
Röntgentherapie in derlei Fällen angewendet hat.
Dr. O. v. Frisch zeigt aus 'der Klinik v. Eiselsberg einen
Fall von kallöser Periostitis beider Kalkanei, welcher durch
Operation geheilt wurde (erscheint ausführlich in dieser Wochen¬
schrift). Im Anschluß daran weist Redner darauf hin, daß in der
Technik der Röntgenphotographie durch die Momentaufnahme
ein großer Fortschritt erzielt wurde. Dadurch, daß es jetzt ge¬
lingt, ’m Bruchteil einer Sekunde Bilder des ganzen Thorax
oder Abdomen's zu erhalten, deren Deutlichkeit den Zeitaufnahmen
nicht nachstehen, setzen wir die Gefahr der Röntgen Schäden,
wesentlich herab und können von Organen, die in steter Bewegung
sind, leicht scharfe Bilder erreichen. Hierauf projiziert Redner
eine Reihe einschlägiger Röntgenogramme, welche im Röntgen -
laboratorium der Klinik v. Eiseisberg von Herrn Helm aus¬
geführt wurden.
Diskussion: Priv.-Doz. No bl bemerkt, daß in der Reihe
der veranlassenden Momente des Fersen höck er s von alters
her, wie bekannt, der Blennorrhoe ein dominierender Platz1 ein-
eeräumt wird. Dies hat vielfach dazu beigetragen, daß nament¬
lich die Franzosen bis in die jüngste Zeit die Summe der zuge¬
hörigen Veränderungen dem Sammelbegriff des ,,pied blennor-
rhagique“ unterordneten. In einer größeren Reihe von Beob¬
achtungen konnte Nobl den Ausgangspunkt der Kalkaneusauf-
treibung in der Gegend der Achillessehneninsertion, auf
entzündliche Veränderungen der Rursä achillea profunda beziehen,
wobei das Zustandsbild wiederholt blennorrhoische Sehnen¬
scheiden- und Gelenksmetastasen komplizierte. (Zeitschrift für
Heilkunde, Bd. 24.) Die spezifische Natur dieser subakuten, chro¬
nischen Bursitiden konnte indes weder auf mikroskopischem Wege
noch durch den kulturellen Gonokokkennachweis erhärtet werden.
Bei der innigen Grenzbeziehnqg dieses, an der Vorderfläche der
Eigenwand entratenden Schleimbeutels zu dem periostalen Be¬
züge des Kalkaneus, ist es nicht von der Hand zu weisen, daß
der hyperplastische Knochenansatz mitunter von ähnlichen blen-
norrhoischen Bursitiden seinen Ausgang nimmt.
Es bedarf jedoch kaum der besonderen Hervorhebung, daß
für die Pathologie des Kalkameusspomes nebst der Blennorrhoe
die verschiedensten ätiologischen Bedingungen in Frage kommen,
wofür namentlich die neueren radiographischen Feststellungen
Selka, Jaco-bsthal) lehrreiche Hinweise liefern.
0. v. Frisch (Schlußwort): An dem oben gezeigten Fall
wurde natürlich nach verschiedenen ätiologischen Momenten in-
quiriert, doch hatte der Kranke niemals eine Infektion, noch
ein Trauma erlitten und blieb mir die Ursache des Leidens
vollkommen unklar.
Priv.-Doz. Dr. Max Herz: Die psychische Aetiologie
und Therapie der frühzeitigen Arteriosklerose. (Er¬
scheint ausführlich in dieser Wochenschrift.)
*
Nachtrag zum offiziellen Protokoll der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 3. Februar 1911.
Priv.-Doz. Dr. 0. Kahler berichtet über eine 22jährige
Patientin mit linkseitiger Rekurrenslähmung, bei der die broncho-
skopische Untersuchung eine beträchtliche, durch Abflachung und
Vorwölbung der vorderen und unteren Wandzirkumferenz ent¬
standene Verengerung des linken Bronchus erkennen ließ. Aehn-
liche Befunde, nur graduell im einzelnen etwas wechselnd, konnte
Kahler in den letzten Jahren bei mehreren, auf Veranlassung
Prof. Kovacs untersuchten Mitralfehlerkranken konstatieren, so
daß er auch in diesem Falle mit größter Wahrscheinlichkeit die
Diagnose Mitralfehler mit starker Vorhofs Vergrößerung stellen
konnte. Hiermit war auch die Ursache der Rekurrenslähmung fest¬
gestellt. Die interne Untersuchung durch Prof. Kovacs bestä¬
tigte die Richtigkeit der Diagnose. Diese Befunde bestätigen
Stoerks anatomische Untersuchungen über die Veränderungen
am Bronchialbaum hei Vorhofsvergrößerung.
*
Prof. Dr. 0. Stoerk demonstriert Ausgüsse von Bronchien,
welche unter dem Einfluß der Vergrößerung des linken Vorhofs
erlittene Deformationen im Sinne der Hebung und der Ver¬
krümmung und im Sinne der Abplattung (vornd unten und rück¬
wärts oben) aufweisen.
Unter Hinweis auf das im Falle Kahl er s erwähnte Re-
kurrensphänomen bespricht Stoerk in Form einer vo rläufigen
Mitte ilu ng die Ergebnisse seiner anatomischen Untersuchungen
hei Fällein von Rekurrensschädigung unter dem Einfluß des ver¬
größerten linken Vorhofes. Diese gemeinsam mit Prof. Kovacs
während der letzten Jahre durchgeführten Untersuchungen, wobei
M return
Kovacs den klinischen Teil der Fragen studierte, ergaben einen
von den bisher diesbezüglich herrschenden Anschauungen ab¬
weichenden, durchaus einheitlichen Schädigungsmechanismus,
welchen Stoerk, ohne im Rahmen des Vorliegenden auf die
m
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
bisher formulierten Erklärungshypothesen (Ortner, Fr. Kraus,
Frischauer, Hofbauer usw.) referierend oder diskutierend
erngehen zu können, mit Rücksicht auf die Gleichartigkeit des
Bildes in der nicht unbeträchtlichen Zahl der von ihm untersuchten
Fälle als den wesentlichsten, vielleicht auch als den einzigen
tatsächlich in Betracht kommenden bezeichnen möchte.
Die Voraussetzungen für die- Rekurrensschädigung sind durch
dessen topographisches Verhalten unter normalen Umständen ge¬
geben : Der Rekurrens schlingt sich unten um den Aortenbogen nach
rückwärts gerade innerhalb jenes Areales, welches dem Bereiche
engster Berührung zwischen Aortenbogenkonkavität und linkem
Stammbronchus entspricht. Unter den pathologischen U rn-
ständen der Vergrößerung des linken Vorhofs wird
nun der linke Stammbronchus m ei h r und mehr in
die Aortenkonkavität hineingepreßt und demgemäß
gerät der Rekurrens in diesem Bereiche mehr und
mehr in die Klemme. Obige Skizze veranschaulicht diese
topographischen Verhältnisse bei Betrachtung der Gebilde von
rückwärts her.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 23. Februar 1911.
G. Schwarz berichtet über einen Fall, in welchem er
die Röntgendiagnose einesUlcusventriculi gestellt
hat. Ein 26jähriges Mädchen bekam Ohnmachtsanfälle und Magen¬
blutungen, welche nach strenger Ruhe und Milchkur verschwanden,
so daß Pat. sich nach 14 Tagen einer erfolgreichen Bandwurm¬
kur unterziehen konnte. Bald darauf traten wieder Erscheinungen
eines Magengeschwürs auf, die Röntgenuntersuchung ergab einen
pilzförmigen dunklen Vorsprung über dem Magenschatten an der
kleinen Kurvatur. Nach entsprechender interner Behandlung ver¬
schwand binnen 14 Tagen der auf ein trichterförmiges Ulkus
deutende Schatten (Nischensymptom). Vortr. weist darauf hin,
daß dieses Symptom von Reiche schon im Jahre 1909 be¬
schrieben wurde. In einem zweiten Falle beobachtete Vortr.
nach Ulkuskur einen Rückgang des Nischensymptoms. Unter
800 Untersuchungen an der I. medizinischen Klinik konnte Vortr.
das Nischensymptom nur in fünf Fällen konstatieren, von welchen
zwei Karzinome betrafen. Zur Magenfüllung wurde statt des
Wismuts das billige Baryumsulfat verwendet.
G. Holzknecht bemerkt, daß das Nischensymptom von
Jolasse schon im Jahre 1907 beschrieben, aber unrichtig ge¬
deutet wurde, da dieser glaubte, daß der Schatten durch das
Wismut hervorgerufen werde, welches auf dem Ulkus haften
bleibt. Reiche hat im Jahre 1909 das Symptom beschrieben
und dahin gedeutet, daß die Vorstülpung des Geschwürsbodens
durch den inneren Magendruck hervorgebracht werde. Erst
Haudek hat im Jahre 1910 die richtige Erklärung des Nischen¬
symptoms dadurch gegeben, daß er es als eine Eigenschaft des
penetrierenden Ulkus erkannte.
M. Haudek hat im Jahre 1909 nachgewiesen, daß das
Ulkus im Röntgenbilde dann sichtbar wird, wenn das Wismut
die Nische des Ulkus ausfüllt. Solche Fälle können auch krater¬
förmige, nicht penetrierende Geschwüre sein. Ein dunkler Fleck in der
Nähe des Magens, welcher das Nischensymptom vortäuscht,
kann auch dadurch zustande kommen, daß eine Quantität Wismut
im Jejunum zufällig in der Nähe des Magens liegt.
E. v. Neusser fragt, ob das Baryumsulfat keine schädlichen
Nachwirkungen hat. Es wäre möglich, daß es von Mesenterial¬
drüsen aufgenommen werde und beim späteren Ausscheiden
Vergiftungssymptome hervorrufen könnte.
G. Schwarz erwidert, daß sich bei wiederholten Unter¬
suchungen des Harnes kein abnormer Befund ergeben hat. Der
Name Reiches sollte mit dem von ihm entdeckten Symptom
in Verbindung genannt werden.
W. Knöpfei mach er demonstriert ein Kind mit einem
partiellen Schwund der Bauchmuskulatur. Das
Kind, welches eine angeborene Cataracta anterior hat, zeigt in
der unteren linken Bauchgegend eine kugelige, beim Perkutieren
tympanitisch klingende Vorwölbung, in deren Bereiche die Bauch¬
muskulatur mit Ausnahme des Rektus defekt ist. Diese Anomalie
ist angeboren und dürfte wahrscheinlich auf einer abgelaufenen
Rückenmarkserkrankung beruhen. Die Untersuchung der Muskulatur
in einem obduzierten Falle ergab fettige Degeneration der Muskel¬
fasern. Diese Affektion wird meist als Hernia lumbalis bezeichnet,
obwohl sie keine Hernie ist, in einzelnen Fällen hat sie jedoch
zur Entwicklung eines echten Bruches geführt.
Fr. v. Friedländer stellt eine 54jährige Frau vor,
welche er wegen Cholelithiasis und eines Pankreas¬
steines operiert hat. Pat. bekam vor einem Jahr typische
Kolikanfälle, Ikterus und Fieber, die Gallenblase war stark an¬
geschwollen. Bei der im freien Intervall vorgenommenen Ope¬
ration wurde die verdickte und mit Konkrementen gefüllte Gallen¬
blase abgetragen und der mit Steinen vollgepfropfte Choledochus
ausgeräumt, wobei nach Mobilisierung des Duodenums ein in
der Papilla Vateri sitzender Stein durch Einschnitt entfernt
wurde. Im Pankreaskopf saß ebenfalls ein Stein in einer von
Bindegewebe ausgekleideten Höhle, in deren Umgebung sich
keine Zeichen von Entzündung fanden. Durch einen von rück¬
wärts im Pankreaskopf geführten Schnitt wurde dieses Konkre¬
ment entfernt. Bald nach der Operation kam es zu einem schweren
Kollaps, während desselben und einige Stunden nach ihm wurde
keine Galle entleert. Der Pankreaskopf wurde ringsum tamponiert.
Die Gallensteine bestanden aus Cholesterin, ebenso merkwürdiger¬
weise der Pankreasstein. Da für eine Wanderung desselben aus
der Leber oder den Gallengängen keine Zeichen Vorlagen, muß
angenommen werden, daß er sich im Pankreas selbst gebildet
hat. Der Kollaps war weder von Cholämie noch von einer
stärkeren Blutung hervorgerufen, möglicherweise war er die Folge
einer zirkumskripten Pancreatitis haemorrhagica.
R. Fl eck seder frägt, ob irgendwelche klinische Er¬
scheinungen auf die Pankreasaffektion hindeuteten (Veränderungen
im Stuhl oder im Harn).
Fr. v. Fried länder erwidert, daß der Stuhl acholisch
und die Reduktionsfähigkeit des Harnes etwas vermindert war,
sonst aber normale Verhältnisse gefunden wurden, auch nach
dem Kollaps ergab die Untersuchung einen normalen Befund.
H. v. Haberer zeigt aus der I. chirurgischen Klinik eine
45jährige Frau, bei welcher mehrere Magenoperationen
wegen Ulcus ventriculi vorgenommen worden sind.
Pat. hatte schon seit dem 16. Lebensjahre Magenbeschwerden,
namentlich nach Mahlzeiten, später gesellte sich Erbrechen hinzu
und seit zehn Jahren bekam sie einige Male jährlich Hämatemesis.
Im Jahre 1905 wurde die Laparotomie vorgenommen und dabei
ein Sanduhrmagen mit einer Narbe nach Ulkus an der verengten
Stelle vorgefunden ; es wurde eine Gastroenterostomie am kar¬
dialen Magenteile vorgenommen. Das Befinden besserte sich,
dann kehrten die alten Beschwerden wieder und nach einem
Jahre mußte eine neuerliche Laparotomie vorgenommen werden.
Bei derselben wurde festgestellt, daß die Gastroenterostomie¬
öffnung und der Pylorus stark verengt waren ; es wurden Gastro-
plastik und Pyloroplastik, ferner eine Jejunoslomie ausgeführt.
Nach vier Monaten traten wieder Beschwerden auf, Pat. erbrach,
trotzdem sie keine Nahrung per os aufnahm, sie blieb aber im
Körpergleichgewicht Vor einigen Monaten bekam Pat. wiederJIämate-
inesis, der Magen war druckschmerzhaft und Pat. hochgradig ab¬
gemagert. Die Röntgenuntersuchung ergab, daß die Speisen die
Gastroenterostomieöffnung und den Pylorus nicht passierten und
daß auch durch den Pylorus wenig entleert wurde. Bei der
dritten Laparotomie fand man den sanduhrförmigen Magen mit
der vorderen Bauchwand verwachsen, der Pylorus war stenosiert
und in der Nähe desselben saß ein penetrierendes Ulkus und
ein Geschwür an der engsten Stelle des Sanduhrmagens. Es
wurden zwei Drittel des Magens und ein Teil des Duodenums
entfernt und dann eine Gastroenterostomie unter Verwendung
der früher zur Anastomose benützten Schlinge ausgeführt. An
der alten Anastomosenstelle fand sich keine Oeffnung, sondern
nur eine punktförmige Einziehung. Die Jejunostomieöffnung,
durch welche sich Pat. durch vier Jahre ernährt hatte, verschloß
sich nach Entfernung des Drains bis auf eine kleine Fistel,
welche angefrischt und verschlossen wurde.
H. Neumann: Ueber Drehempfindungen. Der
für die statische Funktion bestimmte Teil des Ohrlabyrinthes ist
der Vestibularapparat. Während die normalen Erregungen des¬
selben nicht zum Bewußtsein gelangen, sind pathologisch ge¬
steigerte Erregungen desselben von Schwindel, Gleichgewichts¬
störungen, Nystagmus, Brechreiz oder Erbrechen, Scheindrehung
der Objekte oder des eigenen Körpers begleitet. Diese pathologi¬
schen Erregungen können durch krankhafte Prozesse (Entzündung
des Labyrinthes) oder durch thermische Reize (Ausspritzen mit
Wasser über oder unter der Körpertemperatur), durch Anwendung des
galvanischen Stromes oder durch Drehung um die eigene Körper¬
achse verursacht sein. Die Unrichtigkeit der allgemein gültigen
Anschauung, daß die Empfindung während des Drehens, ebenso
diejenige nach Sistierung desselben (Nachdrehempfindung) aus¬
schließlich durch den Bogengangapparat vermittelt werden,
scheint durch die vom Vortr. demonstrierten Fälle bewiesen zu
sein. Der vorgestellte 38jährige Mann, bei welchem beide Vesti-
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
bularapparate unerregbar sind, zeigt eine prompte Drehempfindung,
während eine Drehnachempfindung vollständig fehlt. Der zweite
Fall, ein 8jähriges Mädchen mit ebenfalls unerregbaren Vestibular-
appa raten, besitzt sowohl die Drehempfindung als auch die Dreh¬
nachempfindung. Vortr. und Bondy sind durch ihre Unter¬
suchungen zu dem Resultat gelangt, daß sowohl die Dreh- als
auch die Drehnachempfindung nicht ausschließlich durch den
Bogengangapparat übermittelt werden. Ein solcher Beweis für
die Behauptung, daß beide nicht ausschließlich vom vestibulären
Nystagmus abhängen, ist. folgender: Wird ein Individuum mit
aufrechtem Kopfe nach rechts gedreht, so hat es während der
Drehung einen nach rechts gerichteten Nystagmus und eine
richtige Drehempfindung, nach Sistierung der Rechtsdrehung
einen nach links gerichteten Nystagmus und eine richtige Links-
drehnachempfindung. Wird dasselbe Individuum mit nach vorne
geneigtem Kopfe gedreht, so hat es während der Drehung einen
nach rechts gerichteten rotatorischen Nystagmus und eine richtige
Rechtsdrehempfindung, nach Sistierung der Drehung einen nach
links gerichteten rotatorischen Nystagmus und eine prompte
Linksdrehnachempfindung. Wird jedoch das Individuum mit
nach hinten geneigtem Kopfe nach rechts gedreht, so hat es
während der Drehung einen nach links gerichteten rotatorischen
Nystagmus und eine richtige Rechtsdrehernpfindung, nach dem
Sistieren der Rechtsdrehung einen nach rechts gerichteten rota¬
torischen Nystagmus mit einer prompten Linksdrehnachempfindung.
Die allgemein gültige Ansicht ist nicht imstande, weder die Dreh¬
nachempfindung, noch die Empfindung des Drehens zu erklären.
Schon der Umstand allein, daß man während des Drehens mit
nach hinten geneigtem Kopfe eine richtige Empfindung von der
Drehrichtung hat, genügt, die vom Vortr. erhobenen Zweifel zu
stützen. Bei Richtigkeit der früheren Anschauung über die Dreh¬
empfindung müßte man nämlich bei nach hinten geneigtem
Kopfe eine entgegengesetzte Nachempfindung haben als bei nach
vorne geneigtem Kopfe, also entgegengesetzt der tatsächlichen
Drehung. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Drehempfindung
dauert viel länger als die Drehung selbst und ist auch von viel
unangenehmeren Begleiterscheinungen gefolgt. Dauert bei Er¬
wachsenen die Drehung 15 bis 16 Sekunden, schwankt die Dreh¬
nachempfindung zwischen 35 bis 43 Sekunden Dauer. Kinder
zeigen im allgemeinen eine viel kürzere Dauer der Drehnach¬
empfindung, als die Drehdauer selbst betrug. Bei Leuten mit
einseitiger Labyrintherkrankung war die Dauer der Drehempfindung
bei Rotation nach der gesunden Seite kürzer als die Drehdauer,
hingegen bei Drehung nach der kranken Seite länger als die
Drehdauer, wenn die Untersuchung hei geschlossenen Augen und
die Drehung bei aufrechtem Körper vorgenommen wurde.
R. Werndorf demonstriert ein Kind, welches ein Genu
rec. urvatum bei spastischem Gang zeigt. Der spastische
Gang ist auf einen enzephalitischen Prozeß zurückzuführen. Bei
spastischem Gang ist sonst das Knie gebeugt und der Fuß in
Spitzstellung. Das Genu recurvatum ist hier darauf zurück¬
zuführen, daß nur einige Muskelgruppen stärker befallen sind
und das Kind mit der ganzen Sohle auftritt. Bei derartigen
Affektionen ist der logische Vorgang der, zuerst die Kontraktur
durch lokale Eingriffe zu beseitigen und dann erst die Frage der
Indikation zur Vornahme der Förster sehen Operation (Durch¬
schneidung der hinteren Rückenmarkswurzeln zur Behebung des
Spasmus) zu erwägen.
A. Foges stellt eine Frau vor, bei welcher wegen
chronischer Dysenterie eine Cökostomie vorge¬
nommen wurde. Pat. litt an Darmblutungen, eine Hämorrhoiden¬
operation hatte keinen Erfolg, Pat. wurde anämisch und magerte
hochgradig ab. Die^ Untersuchung mit dem Rektoskop ergab einen
ulzerösen Prozeß vom Anus bis auf eine Strecke von 30 cm
hinauf. Um diesen Darmteil auszuschalten, wurde die Cökostomie
vorgenommen, die kranke Darmpartie von oben und unten mit
Spülungen behandelt und ein Dauerdrain ins Rektum eingelegt.
Nach 11 Monaten war Pat. geheilt und die Cökalfistel wurde
geschlossen. In einem ähnlichen Falle wurde eine tuberkulöse
Erkrankung des Darmes angenommen und die im ersten Falle
angewendete Therapie nicht durchgeführt. Pat. starb und die
Obduktion ergab ebenfalls chronische Dysenterie.
R. Neurath führt einen lOjähngen Knaben vor, welcher
Pankreatitis bei Parotitis bekam. Der Knabe erkrankte
vor drei Tagen unter leichtem Fieber an Parotitis, außerdem
erbrach er und klagte über Schmerzen und Druckempfindlichkeil
in der Nabelgegend. Der Harnbefund war negativ. Es handelte
sich um eine Erkrankung der Bauchspeicheldrüse, deren Symptome
und Zusammenhang mit der Parotitis Neurath in einem Vortrage
näher ausführen wird.
407
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck.
V Sitzung vom 15. Dezember 1910.
Prof. Schl offer widmet dem Andenken seines ehemaligen
Assistenten, des kürzlich verstorbenen Professors der Chirurgie
in Lima (Peru) Dr. 1 . A. Suter einen warm empfundenen Nach¬
ruf. — Die Anwesenden erheben sich zum Zeichen der Trauer
von den Sitzen.
Dr. Kroiß berichtet: a) Ueber die Extraktion der Haarnadel
aus der Blase der in der Sitzung vom 17. November 1910 vor¬
gestellten Patientin, die nach einem vergeblichen Versuche, mit
Hilfe des Zystoskops die Extraktion zu bewerkstelligen, nach
Dilatation der Harnröhre mit dem Finger entfernt wurde; die
Trümmer der Inkrustationen wurden mittels Bigelow heraus-
gewasehejn.
Vortragender weist dabei auf die erstaunliche Toleranz der
weiblichen Urethra gegen die mechanische Dehnung hin, die
hier um so auffallender war, als die Patientin körperlich sehr
zurückgeblieben ist und dementsprechend über einen urogeni¬
talen 'Apparat von kindlichen Dimensionen verfügt.
Diskussion: Prof. Schloffen
Nachtrag: Zur Behandlung der Zystitis blieb die Pa¬
tientin bis Ende Januar an der Klinik. Einen Monat vorher wurden
zystoskopisch im Trigonum auf einem oberflächlichen Schleim¬
hautdefekt ziemlich ausgedehnte Inkrustationen gesehen und es
bestand die Absicht, diese durch einen eigenen Eingriff zu ent¬
fernen.
Eine neuerliche Zystoskopie am 30. Januar zeigte jedoch
von all dem keine Spur mehr und auf Befragen gab Patientin
an, daß des öfteren mit dem Urin kleine Steinchen abgegangen
wären; offenbar wurden diese mit der Abheilung des Schleim¬
hautdefektes frei und konnten nun per vias naturales entleert
werden.
b) Ueber einen operativ geheilten Fall von Hydronephro¬
sis congenita. (Erscheint ausführlich an anderem Orte.)
Diskussion: Prof. Ortner, Dr. Latzei, Dr. Kroiß.
c) Ueber einen Fall von Naht der Arteria poplitea.
Am 24. November 1910 wurde ein 18jähriger Arbeiter in
die Klinik gebracht, dem vor vier Stunden ein herabsausender
Baumstamm den linken Oberschenkel in der Höhe des Adduk¬
torenkanales von außen her vollkommen durchbohrt hatte und
zwar hinter dem Knochen. Beim Eingehen in die mediale, grö¬
ßere Wunde konnte man in der Tiefe deutlich den abgerundeten
proximalen Stumpf der Arteria poplitea pulsieren fühlen. Die
Pulse am Fuße fehlten, dieser und der Unterschenkel waren
leicht livid verfärbt und fühlten sich kühler an. Fuß und Zehen
konnten aber gut bewegt werden. Aus Besorgnis vor einer
Gangrän wurden nach sorgsamer Exzision aller arg mit Wald-
ei'de verunreinigten Wundflächen die Arterienstümpfe treigelegt,
angefrischt, die endständigen Thromben ausgestreift und nun
die beiden Lumina nach Anlegung dreier llalteziigel mit durch¬
greifender fortlaufender Seidennaht vereinigt; die geringe Stich¬
kanalblutung stand rasch. Der Tibialispuls kehrte aber nicht
wieder. Es trat allerdings keine Gangrän ein, aber bereits am
dritten Tage nach der Operation erlag der Kranke einer fou-
droyanten Sepsis.
Die Sektion ergab Thrombenbildung ober und unter der
Nahtstelle; die Naht hatte im übrigen bis dahin tadellos gehalten,
mitten: in einer verjauchten Wunde. 1
Vortragender erörtert kurz die Technik des angewandten
(Car eil- Stich sehen) Verfahrens und der Methoden von
M u r p h y und P a y r.
Er erklärt sich für die zirkuläre fortlaufende durchgreifende
Seidennaht mit Rücksicht auf deren Einfachheit, ausgedehnte An¬
wendungsmöglichkeit lund ihre Resultate.
Der Mißerfolg im vorliegenden Falle ist vor allem wohl
der ausgedehnten Quetschung der Gefäßwand durch das Trauma
zuzuschreiben, die allerdings bei der Operation nicht festgestellt
werden konnte; offenbar ist die Thrombose an der Nahtstelle
rasch eingetreten, da schon einige Minuten nach Vollendung
der Naht an den peripheren Abschnitten der Extremität kein
Puls gefühlt werden konnte, während vor Beginn der Naht das
Blut im Strahle aus denn proximalen Stampf schoß und aus dem
peripheren langsam hervorquoll. Die Prognose der Naht wäre
aber in diesem Falle auch sonst ungünstig gewesen, da, wie der
Verlauf envies, die Operation in einer Wunde stattfand, die
trotz ausgiebigster Ausschneidung der makroskopisch erkenn¬
baren Verunreinigungen, auf das schwerste infiziert blieb.
Da durch zahlreiche Versuche und klinische Beobachtungen
festgestellt ist, daß der Erfolg einer Arteriennaht in erster Linie
durch Infektion in Frage gestellt wird, erfährt das Anwendungs-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
1-U8
gebiet dieser Operation gerade nach der Richtung der Verletzun¬
gen, für die sie vor allem in Betracht käme, bedauerlicherweise
eine erhebliche Einschränkung und es fragt sich, ob man nicht bei
solchen schwer verunreinigten Wunden von dem Versuche einer
Wiedervereinigung der Gefäßenden von vornherein abstehen und
sich mit der eventuell notwendigen Unterbindung, selbst auf d’e
Gefahr .der Gangrän hin, begnügen sollte.
d) Ueber einen operierten Fall von Atresia i lei. (Er¬
scheint ausführlich an anderem Orte.) «■
Dr. Ratzel stellt einen Fall von Paratyphi B vor, dessen
Serum Paratyphi in 20.000facher Verdünnung agglutinierte und der
dadurch bemerkenswert erscheint, als aus dem Stuhl nebst Para-
typhibazillen auch Vibrionen gezüchtet werden können, die im
Gram-Präparat des Stuhles das Bild fast beherrschen. Der Befund
ist wichtig für die Genese der Erkrankung, da die Art der ge¬
fundenen Vibrio dem Vibrio aquatilis sehr nahe steht und auf
Trinken verdorbenen Wassers hindeutet.
Sitzung vom 19. Januar 1911.
Dr. Meus burger demonstriert: 1. Ein Brüderpaar aus
dem Gschnitztale, das einer Familie entstammt, in der in der
letzten Generation sieben Fälle von Dy strop hia musculorum
progressiva vorgekommen sind. Bei beiden Brüdern ist der
Typus der hereditär -hypertrophischen Form gut entwickelt. Die
Dystrophie ist bei beiden Kranken, sowie auch bei ihrem älteren
Bruder, der vor fünf Jahren an der Klinik in Behandlung stand,
kombiniert mit Schädelanomalien (rachitisch - hydrozephale Kra-
nien). Beide Vorgestellten sind körperlich in der Entwicklung
zurückgeblieben und ausgesprochen schwachsinnig.
2. Einen 14 Jahre alten Knaben mit faci o-humer oska-
pularem (L an d ouzy- De j er ine-) Ty p us der Muskeldystro¬
phie. Das stärkere Ergriffensein der rechten Schulter und des
rechten Oberarmes ist zweifellos auf einseitige größere Inan¬
spruchnahme der Muskulatur beim Tragen schwerer Lasten zu¬
rückzuführen.
3. Ein erwachsenes Brüderpaar mit neuraler Form der
Muskeldy strophie,(J. Hoffmann) und ausgesprochen träger
Pupillenreaktion sowohl auf Licht wie auf Konvergenz. Blasen-
Mastdarmfunktion, Augenhintergrund und Liquorbefund normal.
Beide Kranke klagen über alljährliche Verschlechterung ihres
Zustandes (Zunahme der Schwäche) bei Kälte. Infolgedessen ist
der eine Kranke jetzt nur mehr des Sommers als Kutscher be¬
rufsfähig. Das Verhalten erinnert an ähnliche gelegentliche Be¬
obachtungen bei Myotonie und findet wohl seine Erklärung in
der schlechteren Blutversorgung der Muskulatur bei niederer
Außentemperatur.
Diskussion: Prof. Fick, Prof. Mayer.
Dr. De de kind demonstriert: 1. Einen 23jährigen Patienten,
der in ausgeprägter Weise alle Symptome der hereditären
Ataxie vom Typus der Friedreich sehen Krankheit aufweist.
Der Fall ist dadurch besonders interessant, daß er auch beträcht¬
liche Störungen der taktilen Sensibilität, der Lagevorstellung und
der Pallästhesie, vor allem aber der unteren Extremitäten, zeigt.
Der Gang charakterisiert sich als spinalzerebellar - ataktischer,
die Knie- und Achillessehnenreflexe fehlen. Normaler Augenhinter¬
grund, Nystagmus, verlangsamte, monotone Sprache. Es besteht
eine erhebliche Skoliose im Brust -Lendenanteil der Wirbelsäule,
die sich auch bei einem der sonst gesunden Brüder vorfindet.
Keine Blasen -Mastdarmstörungen. Wass ermann sehe Serum¬
reaktion negativ. Pat. ist der einzig derartig Kranke in seiner
Familie.
2. Ein zehnjähriges Mädchen, das gleichfalls als einziges
in seiner Familie an hereditärer Ataxie leidet. Ganz vorzüglich
zerebellar ataktisch. Knie- und Achillessehnenreflexe fehlen. Leicht
skandierende Sprache, keine Blasen -Mastdarmstörungen. Eine
kleine Abweichung vom gewöhnlichen Friedreich - Typus ist in
einer beiderseitigen Parese der Musculi recti extend gegeben.
Wasserm an n sehe Serumreaktion negativ.
3. Kurzes Referat über eine kleine Zahl von an der Klinik
erhobenen Liquorbefunden bei Tabes und Paralyse. An dem
einem Tabiker entnommenen Liquor wird Phase I (Nonne-
Apelt) demonstriert. Bei fünf jüngst in der Klinik untersuchten
Paralytikern war stets Phase I positiv und Pleozytose nach¬
weisbar. Auch zwei Taboparalytiker zeigten deutliche Phase 1
und ausgesprochene Pleozytose. Den gleichen Befund zeigten
unter fünf Tabikern vier, während bei einem Tabiker Phase I
negativ und keine Pleozytose nachweisbar war.
Die Lymphozytenzählung wurde mit der Fuchs-Rosen¬
thal sehen Zählkammer am ungefärbten Präparat unmittelbar
nach der Punktion gemacht.
Diskussion: Prof. Ortner, Prof. Mayer, Dr. Kroiß.
Verein der Aerzte in Oberösterreich.
Sitzung vom Februar 1911.
Dr. Stiefler demonstriert an einem Falle von Little-
scher Lähmung die durch die Förster sehe Operation er¬
zielten Erfolge. Der zehnjährige' Knabe, der infolge hochgradiger
spastischer Beinlähmung weder gehen noch stehen konnte, macht
jetzt bereits in der Gehschule andauernde, schöne Fortschritte.
Stiefler berichtet dann über eine Tabes1 dorsalis,
bei tier wegen überaus quälender Schmerzen am Thorax die
Förstersche Operation vorgenommen wurde. Der Erfolg war
ein zweifelloser, leider trat neun Tage post Operationen] ganz
unerwartet Exitus ein.
Regierungsrat Prim. Dr. Brenner bespricht anschließend
die Operationstechnik der Radicotomia posterior im all
gemeinen und geht dann auf die 'beiden von ihm selbst operierten
Fälle näher ein. (Die Fälle wenden ausführlich in dieser Wochen¬
schrift publiziert werden.)
Prim. Dr. Spechtenhauser-Wels demons trier t drei Prä¬
parate von Rektumkarzinom, gewonnen durch Operation.
Die drei Präparate sind fast Repräsentanten der drei Typen
von Rektalkarzinom dem Sitze nach. Das erste saß etwa 6 cm
vom Analring entfernt, seine obere Grenze war leicht mit dem
Finger zu erreichen, der Tumor nur 'im vorderen Teile, gegen den
oberen Prostatarand zu, etwas fixiert. Operation: Perineale Ain-
putatio recti. Heilung.
Das zweite überschritt mit seinem oberen Rande die
Umschlagsfalte des Peritoneums, die obere Grenze war mit dem
Finger mit Mühe zu erreichen, der Tumor zeigte nur Spuren
von Beweglichkeit. Operation : Perineale Resectio recti mit Er¬
haltung des Analringes, durch den der Darm gezogen wurde;
wahrscheinliche Heilung (steht noch in Behandlung).
Das dritte Karzinom saß so hoch, daß gerade mit Mühe
noch der untere Rand zu tasten war, gewiiß 10 bis 17 cm; 2 bis
3 cm unterhalb fühlte man als scharfe Kante die Douglasfalte.
Ueber Größe und Beweglichkeit ließ sich nichts aussagen. Während
der Vorbereitungskur (Abführmittel) ileusartige Symptome und
Kollaps. Operation: Abdominell -perineale Methode; der Tumor
den Dann wie ein Wurstband abschnürend, kleine lokale Meta¬
stasen des Peritoneums. Indikation für die Operation: Drohender
völliger Darmverschluß. Nach abdomineller Mobilisierung peri¬
neale Resektion. Exitus am zweiten Tage an foudroyanter Peri¬
tonitis infolge Darmgangrän.
Alle drei Tumoren standen nahe der Operabilitätsgrenze,
als welche früher Beweglichkeit unjd Erreichbarkeit des oberen
Randes bezeichnet wurde, während jetzt die Fortschritte der
Technik weitere Indikation ziehen lassen.
Alle drei Patienten hatten seit etwa sechs Monaten schon
verdächtige Symptome und waren sich voll bewußt, im Enddarm
nicht in Ordnung zu sein. Das 'wäre nun das jammervolle Kapitel
der Frühdiagnose und der Frühoperation.
Die Diagnose kann nur durch Digitaluntersuchungen gestellt
werden (ich nehme den Standpunkt des Praktikers ein). Diese
sind eventuell wiederholt vorzunehmen, sobald die Symptome
eines „Mastdarmkatarrhes“ vorhanden sind. In diesem Stadium
ist es ein Fehler, nach bandartigen Stühlen zu fahnden, Obsti¬
pation zu erwarten oder gar Blutungen. Diarrhöen, besonders
solche Unit erfolglosem Stuhl zwang — das kann nicht oft und
energisch genug betont werden — sind feines der ersten Zeichen
von Mastdarmkarzinom, zu dem das subjektive Gefühl einer
merkwürdigen Völle und das Gefühl „nicht fertig zu sein“ auch
nach ausgiebigem Stuhl tritt und — worauf ich nach Gussen-
bauer besonders Gewicht lege — eine durch nichts motivierte
Störung -des guten Schlafes. Kommen dazu noch Schleimabgänge
mit Blutstreifchen und „nasse“ Flatus, welche die Leibwäsche
beschmutzen, so ist -die Sache schon mehr al's verdächtig und
schon der Mühe wert, den Kranken „Kehrt Euch“ machen zu
lassen und hoch in das Rektum hinauf zu tasten, wobei ich
bemerke, daß ich die stehende, gebeugte Stellung für die gün¬
stigste halte, nicht das Liegen oder gar die beliebte Knieellen
boigenlage, die ein bewegliches Karzinom nach (oben verschwinden
läßt. Selbstverständlich muß der Kranke pressen was er kann.
Und gesetzt, wir erkennen ein Carcinoma recti frühzeitig,
so beginnt ein Kampf mit dein Kranken, der schwerer ist, als bei
sonst einem Karzinom. „Versprechen Sie mir, daß ich nach der
glücklich überstanldenen Operation mit dem Stuhle wieder ganz in
Ordnung bin?“ Das ist die erste Frage des Patienten und heut¬
zutage fast nie mit „Ja“ zu beantworten. Man muß. die even¬
tuelle — eigentlich sichere — Inkontinenz andeuten und dann
wird auch die Operation verweigert oder hinausgeschoben, bis
schwerere Symptome das Leben unerträglich machen, aber auc
Nr il
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
409
die Inoperabilität schon da ist, bei einer Karzinomart, die nach
Operation Dauererfolge aufweist, wie sonst keine.
Können wir einst sicher Kontinenz versprechen, dann wird
es besser werden. Die Vervollkommnung der Technik hat ihre
Entwicklungslinie in dieser Richtung.
Freilich, bei tiefsitzendem Karzinom, wie das erste Präparat
zeigt, gibt es nichts als Opferung des Anus — Amputatio recti.
Die Operation ist relativ einfach und ungefährlich, man kommt
mit Weichteilschnitten aus, reseziert höchstens das Steißbein
und braucht manchmal nicht einmal das Peritoneum zu öffnen.
Schwieriger wird die Sache schon bei höherem Sitz des
Tumore (zweites Präparat). Ohne mich in Einzelheiten verlieren
zu wollen, bemerke ich, daß die Chirurgen hier schon in zwei
Lager gespalten sind. Die einen schaffen nach Kraske und
seine Nachfolger breite Zugänge durch ausgedehnte Knochen¬
resektionen und Aufklappung des Kreuzbeines, die anderen, an
der Spitze Kocher, zu welchen auch ich mich bekenne, suchen
auch hier mit Weichteilschnitt und Resektion des Os coccygis
auszureichen. Bei mehr als 40 eigenen Mastdarmkrebsoperationen
kann ich mich nur eines Versagers entsinnen ; ich fand immer
das Auskommen mit Kochers Vorschlägen. Wo überhaupt mög¬
lich, suche ich den Schließapparat zu erhalten, das heißt, ich
strebe in jedem Falle die Resektion, nicht Amputation, an. Freilich
sieht es auch bei mir mit der Funktion der Sphinkteren nicht gut
aus. Ich bin von der bisher bekannten Technik, die den natür¬
lichen Verschluß erhalten will, in keinem einzigen Falle voll
befriedigt, ob ich nun dehnte und durchzog oder sphinkterotomierte
und von hinten nähte u. dgl. Ich glaube, der Mann muß erst
kommen, der uns zeigt, wie man das wirklich gut und sicher
macht. Dias ist auch gewiß mit ein Grund, warum weitaus öfter
amputiert als reseziert wird; außerdem erleichtert man sich die
Arbeit sehr erheblich und operiert entschieden „radikaler“.
Sitzen einmal die Karzinome so hoch, wie mein drittes
Präparat zeigt, dann hat man sich vor allem zu entscheiden, ob
man den perinealsakralen, den abdominellen oder den aus beiden
kombinierten Weg einschlagen soll. Unter den Anhängern der
ersten Methode, die, wie ich gleich vorausschicke, ungleich gefahr¬
loser ist, gibt es wahre Künstler, denen kein Karzinom dafür zu
hoch sitzt. Dabei bleibt es höchst beachtenswert, daß der Erfinder
der Operation, Kraske selbst, die abdominelle Methode für
die ideale erklärt, wenngleich er mit sämtlichen Chirurgen
sagen muß, daß die enorm hohe Mortalität heute noch eine
schwere Gegenanzeige ist. Und noch merkwürdiger 1st, daß eigent¬
lich keiner unserer Meister sagen kann, worin der Grund dafür
liegt. Die Operation hat die größte Aehnlichkeit mit der Wert¬
heim sehen erweiterten Uterusexstirpation: Ein Längsschnitt
rechts und links von der Flexur bis tief hinunter in den Douglas
geführt, trennt das Peritoneum, die Arteria haemorrhoidalis su¬
perior wird aufgesucht und unterbunden, der Boden des Douglas
kreisförmig Umschnitten und nun dringt die Hand fast ohne
Widerstand und nennenswerte Blutung in das pelvine Zellgewebe
ein, entfernt mit Sicherheit jede Drüse, räumt das Cavum ischio-
rectale sauber aus und isoliert, manchmal oft lächerlich leicht,
das Rektum selbst bis hart an den Sphincter extemus, 40 bis 50 cm
Darm mobilisierend. Nun läßt sich nach oben ein vollständiger
Abschluß der Peritonealhöhle ausführen; man kann zweizeitig
operieren, man kann sofort den Tumor durch den Anus
herausinvaginieren, oder durch einen Schnitt in der Crena ani
die ganze Schlinge vorlagern, man operiert scheinbar völlig asep¬
tisch und kann großartig drainieren — lund doch so viele Todes¬
fälle im Shock oder an Peritonitis1! Es ist fast nicht zu glauben
und hat kein Analogon außer am „Wertheim“, dessen Gefahren
nun so stark herabgedrückt wurden. Auch meinen letzten Fall
verlor ich an foudroyanter Peritonitis infolge von Darmgangrän.
Diese Gangrän ist ein ebenso häufiges, als gefürchtetes Ereignis
bei jeder ausgiebigen Mobilisierung des Rektums und beschäftigt
intensiv die besten Chirurgen. Sie ist abhängig davon, ob man
die letzte große arterielle Anastomose, die noch von der Arteria
meseraica superior versorgt werden kann, bei der Ligatur der
Arteria haemorrhoidalis superior, ja des Stammes' der Arteria
meseraica inferior schont oder nicht (S u decks „kritischer
Punkt“). Man sollte glauben, die Laparotomie läßt die Gefahren
sicherer vermeiden; äuch ich meinte, weit von der gefährlichen
Stelle geblieben zu sein und trotzdem kam Gangrän, merkwürdiger¬
weise nur in der Mitte des mobilisierten Darmstückes, das Ende
war wieder ernährt.
Sitzen die Karzinome so hoch (Uebergang vom Rektum in
die Flexur), daß man einen gut "mit Peritoneum bedeckten Stumpf
erhalten kann, so ist die Operation der Wahl Resektion, sichere
Vemühung der beiden Stümpfe und Juxtappositionsanastomose.
Mein letzter derartiger Fall lebt seit vielen Jahren völlig gesund.
(Anus praeternaturalis in der Privatwohnung wegen Ileus ; einige
Wochen hernach Laparotomie, Resektion, Anastomose; nach
Heilung Naht des Anus praeternaturalis.)
Komme ich zum Schlüsse, so scheint es auch mir sicher,
daß die Zukunft der Rektumkarzinomoperationen den abdomi¬
nellen und kombinierten Methoden gehört, weil diese 1. technisch
leicht und schnell ausführbar sind, 2. radikalstes Vorgehen ge¬
statten und die Operationsmöglichkeit erweitern und 3. den
Schließ, apparat fast mit Sicherheit erhalten lassen.
Wir müssen nur noch die Gefahr der Methode verringern
lernen und sichere direkte Nahtmethoden erfinden. Die llaupt-
phasen werden sein müssen: mediane Laparotomie, Umschneidung
des Peritoneums, der Flexur, des Rektums und des Douglasbodens,
Ligatur der Hauptarterie mit Schonung der letzten Anastomosen,
stumpfes Abpräparieren des Darmes samt Drüsen und Fettgewebe
bis zum Diaphragma pelvi musculare, Abschluß der Peritoneal¬
höhle durch Naht. Invagination des Tumors durch den Anus
oder Verlagerung der ganzen Schlinge aus einer hinteren Längs¬
inzisionswunde, direkte zirkuläre Darmnaht und breite Drainage
gegen das Ende des Kreuzbeines zu.
Prim. Dr. v. Bonelli-Wels demonstriert zwei Nieren¬
präparate. (Nierentuberkulose, gewonnen durch Operation.)
Fall I stammt von einem 22 Jahre alten Manne,
F. K., der nicht hereditär belastet, bis vor einem Jahre stets
gesund war. Vor einem Jahre Inzision eines kalten Abszesses
am Rücken. Wenige Wochen später Pleuritis exsudativa links.
Bis vor drei Monaten fühlte sich Pat. dann vollkommen gesund,
als er dann bemerkte, daß er öfters urinieren müsse. Anfänglich
war das Urinieren nicht schmerzhaft, der Urin klar. Nach einem
weiteren Monat traten Strangurie und leicht getrübter Harn auf.
Blutig war der Harn nie. Nach jeder Miktion lebhaft brennender
Schmerz in der Glans. Geringe Schmerzen in der Lumbalgegend.
Auf interne Zystitistherapie geringe vorübergehende Besse¬
rung.
Anfangs Januar Spitalsaufnahme. Bis auf Spuren der über¬
standenen Pleuritis kein pathologischer Organbefund. Nur linke
Nierengegend leicht druckempfindlich. Harn trüb, V2%o Esbach;
im Sediment zahlreiche Leukozyten, spärliche rote Blutkörperchen.
Mikroskopisch und im Tierversuch Tuberkelbazillen nicht nach¬
weisbar. Reaktion sauer.
Zystoskopischer Befund: Blasenschleimhaut n ur in
der Umgebung des linken Ureterostiums verändert. Die Ureter-
mündung links kraterförmig eingezogen. Die Schleimhaut in der
Umgebung gerötet; an einer Stelle ein weißes Knötchen (Tuberkel¬
knoten?). Nach Injektion von 20 cm3 Indigokarminlösung wird
nach 8 Minuten rechts der Farbstoff in kräftigem Strahle aus¬
gestoßen. Links kaum merkbare Ausscheidungen nach 14 Minuten.
23. Januar. Nephrektomie. Heilung per primam. Die
Funktion der Niere war durch breite Verwachsungen am oberen
Pol erschwert.
Die Niere ist um das doppelte vergrößert. Im oberen Pol
zwei nuß-, resp. haselnußgroße Kavernen. Im übrigen Nieren¬
parenchym da und dort verkäste Knoten; die im unteren Pol
subkapsulär besonders zahlreich. (Mischform von käsig -kaver¬
nöser und chronisch - disseminierter Tuberkulose.)
Fall II. Nephrolithiasis einer Solitärniere; ge¬
wonnen bei der Obduktion.
Frau C. H., 35 Jahre alt, schwachsinnig, wird mit der
Diagnose Appendizitis ins Spital gebracht. Vor sechs Monaten
ähnliche Erkrankung wie gegenwärtig, mit Schmerzen und Tumor
in der rechten Bauchseite. Damalige Erkrankung heilte rasch ab.
Die Patientin erkrankte am 1. Januar unter heftigen
Schmerzen in der lleocökalgegend. Erbrechen, Stuhl- und Wind¬
verhaltung, Tumor rechts. Am 5. Januar wird der Arzt gerufen;
am 6. Januar wegen Appendizitis dem Spital überwiesen.
Die Patientin in komatösem Zustand ; eigentümliche krampf¬
hafte Stellung der Arme. Sensorium auf kurze Augenblicke
wieder frei.
Rechts kindskopfgroßer Tumor, unter die Leber reichend.
Deutliches Ballottememt renal. Zeichen von Lungenödem. Puls
klein, 120. Temperatur 36-5.
Per Katheter werden wenige Tropfen einer trüben, dick¬
lichem, braunen Flüssigkeit entleert. Zystoskopie zeigt getrübte
Schleimhaut, Ureterenmündungen werden nicht gefunden.
Injektion von Indigokarmin, 20 cm3, 4°/o. Es tritt überhaupt
keine Farbausscheidung auf. Kampfer, Venaesectio, Kochsalz-
infusion. Punktion des Tumors von der Lende aus. Es werden
zirka 250 cm3 urinöser Flüssigkeit entleert, die später stark
blutig wird. Lungenödem zunehmend. Fünf Stunden nach der
Punktion rascher Exitus.
iio
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 11
Die Obduktion ergibt: Linke Niere fehlt vollständig.
Rechte Niere kindskopfgroß. Nierenbecken bedeutend erweitert.
Au der Ureterennnindung ein fast taubeneigroßer Nierenstein,
in verschiedenen Buchten des Nierenbeckens mehrere kleinere
Steine. Ureter im oberen Drittel daumendick erweitert, mit san¬
digem Brei erfüllt. Todesursache: Urämie, Lungenödem.
Vortragender bespricht im Anschlüsse an die Demonstration
die einzelnen Methoden zur Erkennung der Nierenfunktion.
Dr. E be rst aller demonstriert das Laryngoskop nach
Ela tau und einen Kehlkopfspiegel zur V erg rüßer u ng. (Finna
Z ei ß.)
Prof. Dr. Sch mit zeigt die Originalausgabe des Buches
„Die Chur-B randenburgische Hof -Wehe -M utter" von
Justine Siegesmundin (gedruckt 1715) und liest einzelne
Stellen aus dem Werke vor, welche Zeugnis geben für die gute
Beobach tunig und reiche Erfahrung dieser seinerzeit sehr be¬
rühmten Hebamme.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte
in Böhmen.
Sitzung vom 22. Februar 1911.
Dr. Ru b es ch : Demonstration eines Präparates von einer
Darmwandeinklemmung in die seitliche Oeffnung eines
D re e sm ann sehen Glasdrains. Es handelte sich um einen
Fall von diffuser Peritonitis als Folge einer durch direkte Gewalt
entstandenen subkutanen Darmruptur. Der Kranke starb infolge
einer Pneumonie. Bei der Sektion zeigte sich, daß ein Teil der
seitlichen Wand einer Ileumschlinge in eine Oeffnung des Glas¬
drains eingestülpt war. Man kann diesen Befund mit einer
Li ttr eschen Hernie vergleichen. Um derartige Vorkommnisse
zu vermeiden, die zu Fistelbildung führen können, empfiehlt
Rubesch, die seitlichen Oeffnungen kleiner zu machen und
das Glasdrain mit einem porösen Gazestoff zu überziehen; derartig
armierte Glasdrains funktionieren gut.
Dr. MargulieS: Versuche über die Bäkterizidie
im Liquor cerebrospinalis ergaben: 1. daß der normale
menschliche Liquor keine bakterizide Wirkung besitzt, 2. daß
er nach Zusatz von Leukozyten hochgradig ^bakterizid wird, 3. daß
diese Wirkung nicht allein auf Phagozytose beruht, sondern
auf Leukozytenstoffe zurückzuführen ist, 4. daß der Liquor selbst
bei der durch Leukozytenwirkung erzeugten Bakteriolyse sich
nicht wie eine indifferente, sondern eine potentiell aktive Flüssig¬
keit verhält. Auf Grund dieser Befunde bespricht der Vortragende
weiter die Möglichkeit einer Therapie, ins besonders der akuten
Meningitis und der progressiven Paralyse. (Ausführliche Mitteilung
erscheint anderen Ortes.)
Dr. Springer: Ueber die Madelungsche Deformi¬
tät. (Ausführliche Mitteilung erscheint an anderer Stelle.)
Sitzung vom 3. März 1911.
Dr. Kahn: Abnorme Herzkammer elektrokardio-
gramm e.
Von abnormen Kammerelektrokardiogrammen sind jene Herz¬
kammerschläge begleitet, bei denen eine Kammer früher als die
andere in Tätigkeit gerät. Dabei ist es gleichgültig, ob die Ur¬
sache hiefür darin zu suchen ist, daß die Erregung künstlich
oder natürlich in der Kammer selbst 'entsteht, oder darin, daß die
Erregung auf dem natürlichen Wege kommend, bloß der einen
Kammer zufließt.
Dias wird im Tierversuch bewiesen: 1. durch künstliche
Reizung des freigelegten Hundeherzens (Kahn), 2. durch Er¬
zeugung natürlicher Kammerextrasystolen mittels Abklemmung
der Arteria pulmonalis und der Aorta '(Kahn, Roth berge r und
Winter berg), 3. durch Durchschneidung je eines Ta w ara¬
sehen. Schenkels (Eppinger und Rothberger), 4. durch Anä-
misierung des Kammerseptums (Kahn).
Es erscheint bei sorgfältiger Berücksichtigung der Ablei-
l.ungs Verhältnisse zulässig, diese Befunde am Hundeherzen be¬
züglich der Kammerextrasystolen auf den Menschen zu über¬
tragen. Eine Läsion eines der Tawaraschen Schenkel aus dem
menschlichen Elektrogramme mit Sicherheit zu erschließen, reichen
die vorliegenden experimentellen Untersuchungen vorläufig
nicht aus.
Dr. Kafka und Dr. Weil: Demonstration zur Per¬
meabilität der Meningen.
Die bisher in der Literatur niedengelegten Versuche über
die Durchgängigkeit der Meningen für körpereigene normale und
pathologische Stoffe, wie für körperfremde Substanzen ergeben,
daß dieselbe nur für Ueberjadung des Blutes mit einem Stoffe
oder bei akuten Meningitiden erhöht ist. Auch ein Versuch, Para-
Vera utwortlicher Redakteur : Karl Kubasta.
lytikern und lucisfreien Nichtparalytikern abgetötete Vibrionen
zu injizieren, ergab ein negatives Resultat. Nach Analogie der
von Salus für das Kammerwasser angestellten Versuche war
es klar, daß man bei normalen Meningen zum Nachweis dieser
Stoffe sehr große Mengen des Liquors nehmen mußte. Da aber
wieder in Analogie der Verhältnisse des ^vorderen Kamnrerwassers
bei Entzündung der transsudierenden Gefäße die Ausscheidung
eine größere ist, wurden besonders Liquores von Fällen, von akuten
Meningitiden und metaluetischen Erkrankungen, besonders Para¬
lysen, zur Untersuchung herangezogen u. zw. in erster Linie
auf den Gehalt an normalen Antikörpern. Weil konnte mittels
einer Methode, die besprochen wird, nachweisen, daß Hammel¬
bluthämolysine sich im Liquor der Paralytiker und der an akuter
Meningitis Erkrankten nachweisen lassen, in allen Kantrollfällen
dagegen nicht. Dadurch ist zum erstenmal die erhöhte Permeabili¬
tät der Meningen bei der Paralyse nachgewiesen und, wenn Nach¬
untersuchungen die Befunde bestätigen sollten, auch ein wich¬
tiges diagnostisches Hilfsmittel für die Erkennung der akuten, nicht
luetischen Meningitiden und der Paralyse geschaffen worden.
Dr. v. Zeynek: Ueber den Kalkg*ehalt der Aorta.
Erörterung der von Selig und A niese der im deutschen
medizinisch-chemischen Institute gewonnenen Aortenanalysen j
(zum Teil in der Zeitschrift für physiologische Chemie publi¬
ziert) und Hinweis darauf, daß die Kalkeinlagerungen, ebenso die
regelmäßig gefundenen Kalkseifen nur als ein sekundäres
Symptom der Arteriosklerose zu deuten sind. Damit müssen die
Bestrebungen, durch Antiskierosin und ähnliche Präparate den
Kalk zu entf ernen, für die Heilung der Arteriosklerose als verfehlte
Bestrebungen bezeichnet werden; übrigens wäre es vom physio¬
logisch-chemischen Standpunkte höchst unwahrscheinlich, den
genannten Salzgemischen überhaupt die von manchen Autoren
behaupteten Wirkungen anzuerkennen. Der Vortragende meint,
diesen Verkalkungsprozeß auf Grund der Analysen, die fortgesetzt
werden, im Sinne von Wells, Klotz und insbesondere Aschoff
als einen für den Organismus wertvollen Prozeß bezeichnen zu
müssen und appelliert an die klinische Mitarbeit, betreffend die
Beschaffung möglichst eindeutigen Untersuchungsmaterials.
Dr. Pribram- Prag.
Programm
der am
Freitag den 17. März 1911, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. F. Hochstetten statttindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1 Priv.-Doz. Dr. Jul. Neuiuaun und Dr. E. Herrmami: Biologi¬
sche Studien über die weibliche Keimdrüse.
2. Priv,-Doz. Dr. L. Wiek : Zur Pathogenese der Gicht.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Haus Salzer, Robert
Hreuer. Bergmeister, Paltauf.
Um die rechtzeitige Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkuncen
dem Schriftführer noch am Sitzuu^sabend zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der pädiatrischeu Sektion findet im Ilörsaale der
Klinik weil. Esche rieh Donnerstag den IC. März 1911, um 7 Uhr
abends, statt.
(Vorsitz: Dr. Julius Hrey.)
Programm:
Demonstrationen angemeldet: Priv.-Dr. Dr. Zappert, Dr. K. Grün-
leid, Dr. Schick, Dr. Preleitner. Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 20. März 1911, 7 Uhr abends, im Sitznngs-
saale des Kollegiums I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Hofrates Prof. Obersteiner stattfindenden
wissenschaftlichen Versammlung.
Dr. A. Neuman-Kueucker : Die Zahnchirurgie und ihre Bedeutung
für den praktischen Arzt. (Mit Demonstrationen.)
Gesellschaft für physikalische Medizin.
Programm der am Mittwoch den 22. März 1911, um 7 Uhr abends, im
Hörsaale der Klinik Noorden, unter dem Vorsitze von Priv.-Doz. Doktor
Max Herz stattfindendsn Sitzung.
1. Demonstrationen.
2. Priv.-Doz. Dr. A. Bum: Ueber Kombination physikalischer Be-
handlungsmethoden.
Kollegen als Gäste willkommen.
Dr. Max Kahane, I. Sekretär. Priv.-Doz. Dr. Max Herz, Präsident.
Verlag von Wilhelm Hranmüller in Wien
DrneV von Bruno Bartelt. Wien Will, Thoretnenarai«- ä
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
ehiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger, M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko, H. Meyer. J. Moeller, K. v. Noorden.
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt, J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
nton Freih. v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs. Julius Hochenegg. Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser.
Richard Paltauf. Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg. Wien, 23. März 1911 Nr. 12
INHALT:
1. Oritrinalartikel: 1. Aus dem pathologisch-anatomischen Institute
in Wien (Vorstand: Hofr. Prof. A. Weichselbaum) und der
Universitäts-Frauenklinik (Vorstand: Hofr. Prof. F. Schauta).
Biologische Studien über die weibliche Keimdrüse. Von
Priv.-Doz. Dr. Julius Neumann und Dr. Edmund Herrmann.
S. All.
2. Notiz zu dem vorstehenden Vortrage der Herren Neumann
und Herrmann. Von Siegmund Frankel. S. 417.
3. Aus dem pathologisch-bakteriologischen Institut in Brünn.
(Vorstand: Prof. C. Sternberg.) Zur Frage der Blutbildung in
der menschlichen Thymus. Von Dr. Joh. Löw, Grado. S. 418.
4. Aus der chirurgischen Abteilung des Rothschildspitales in Wien.
(Vorstand: Prof. Dr. Otto Zuckerkand!. Versuche einer Verein¬
fachung des Tuberkelbazillennachweises im Harn. Von Dr. Robert
Bachrach, Sekundararzt und Dr. Friedrich Necker. S. 419.
5. Aus der deutschen chirurgischen Klinik in Prag. Zur Drainage
der Bauchhöhle mit Dreesmannschen Glasdrains. Von Doktor
Rudolf Rubesch, Assistenten der Klinik. S. 421.
6. Kann die Endocarditis acuta epidemisch auftreten und herrscht
gegenwärtig eine solche Epidemie in Wien? Von Privatdozent
Dr. Max Herz. S. 423.
II. Referate : Der Haftapparat der weiblichen Genitalien Von
Von Dr. E. Mart i n . Ref.: Schauta. — ■ Beiträge zur praktischen
Chirurgie. Von Dr. Krecke. 700 diagnostisch-therapeutische
Ratschläge für die chirurgische Praxis. Von Walter M. B r ick ne r.
Ref. : Ewald. — Frequence de la tuberculose parmi la
population de Kiruna. Par Gustav Neander. Klinik der Tuber¬
kulose. Von Bandelier undRoepke. Lehrbuch der spezifischen
Diagnostik und Therapie der Tuberkulose. Von Bandelier und
Roepke. Ref.: W. Neumann.
III. Ans verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
us dem pathologisch-anatomischen Institute in Wien
Vorstand : Hofr. Prof. A. Weichselbaum) und der Univer-
täts-Frauenklinik (Voi stand: Hofr. Prof. F. Schauta).
iologische Studien über die weibliche Keim¬
drüse.*)
Von Priv.-Doz. Dr. Julius Neunianu und Dr. Edmund Herrmaun.
Meine Herren! Unsere Kenntnisse über die biologische
edeutung der Organe, namentlich der in ihrer Wirkung
is vor kurzem zum Teil noch rätselhaften oder völlig
ubekannten Drüsen mit innerer Sekretion wurden durch
euere Forschungen wesentlich gefördert und vertieft. So
issen wir nunmehr, daß im Organismus unter Vermittlung
er Hormone chemische Wechselwirkungen bestehen, welche
ir die physiologische Tätigkeit seiner Organe, ja für den
ugestörten Ablauf der Leben, sfunktionen überhaupt von
*r größten Bedeutung sind.
Dieser Fortschritt auf dem Wege biologischer Erkennt-
is und die Resultate der Immunitätsforschung, welche
as wunderbare grenzende Eigenschaften des Blutes und
!‘s Blutserums lehrte, ließen uns vor mehreren Jahren den
Jan fassen, Untersuchungen darüber änzustellen, oh die
chwangerschaft physiologischer Weise Veränderungen im
*) Vortrag, gehalten] von Priv.-Doz. Dr. J. Neumann in der
Izung der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom 17. März 1911.
Blute hervorrufe, welche sich biologisch oder biochemisch
nachw eisen ließen.
Eine überaus große Zahl älterer und neuerer Arbeiten
hatte bereits die Morphologie der Blutzellen, ihre physi¬
kalischen und chemischen Eigenschaften, sowie diejenigen
des Blutserums zum Gegenstände von Untersuchungen ge¬
macht und in neuester Zeit wurden auch die modernen
physikalischen, biologischen und experimentellen Methoden
für solche Forschungen herangezogen.
Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind außerordentlich
interessant und — wie sich noch zeigen wird — - auch für
das Verständnis unserer Untersuchungsresultate überaus
wichtig; aber man darf doch sagen, daß feie das Wesen
des eigenartig-biologischen Zustandes der Schwangerschaft
nicht völlig geklärt haben.
Bei unseren diesbezüglichen biologischen und experi¬
mentellen Untersuchungen gingen wir anfangs von der An¬
nahme aus, daß die Imprägnation des Eies durch die
Samenzelle, als eine für den mütterlichen Organismus
fremde Substanz und die darauf folgende Inkorporierung
im Blute der Graviden zur Bildung von Stoffen führen
könnte, deren Nachweis auf biologischem Wege gelingen
würde. Diese Auffassung wurde auch durch die Ansicht
gestützt, daß die Rekapitulation der phylogenetischen Ent¬
wicklung durch den Fötus ein Umstand sein könnte, der
die Bildung von Antikörpern noch begünstige.
412
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
Unsere Untersuchungen haben aber, wie wir gleich
hervorheben wollen, keinen Anhaltspunkt dafür ergeben,
daß das fötale Eiweiß, für den mütterlichen Organismus
etwa wie artfremdes Eiweiß zu betrachten sei. So finden
wir uns demgemäß zu der Mitteilung verpflichtet, daß der¬
artige Bemühungen zum Nachweise von Eiantikörpern im
schwangeren Organismus durch die Anwendung verschie¬
dener biologischer Methoden als vollständig mißlungen zu
betrachten sind und daß es uns auch nicht gelungen ist,
durch Eisubstanz eine für diese spezifische Reaktion im
Tierkörper hervorzurufen.
Besonders ließ uns also das Studium der Eiweißfcörper
auf dem angedeuteten Wege im Stiche. Trotzdem konnten
wir die Vorstellung nicht unterdrücken, daß während der
Gravidität im mütterlichen Blute Veränderungen entstünden,
welche mit der Schwangerschaft in ursächlichen Zusammen¬
hang zu bringen seien und wir gingen daher an die Unter¬
suchung anderer im Blute vorhandener und in Betracht
kommender Substanzen .
Dieses umfängliche Studium zeitigte tatsächlich Re¬
sultate, von deren Bedeutung für die allgemeine Biologie
und für die Pathologie wir durchdrungen sind und wir
haben die Ehre, Ihnen hiemit über die bisherigen Ergeb¬
nisse dieser Forschungen Bericht zu erstatten.
Gestatten Sie, daß wir vor Schilderung der Befunde
Sie zunächst mit der von uns ersonnenen Arbeitstechnik
bekannt machen. Es war von vornhinein klar, daß, sollte
es sich um klinisch anwendbare Methoden handeln, wir
mit geringen (Blutmengeii unser Auslangen finden müßten.
Und die Methoden zum Nachweis der noch genauer zu
besprechenden Substanzen, bzw. zur Veranschaulichung
ihrer relativen. Mengenverhältnisse beanspruchen auch nur
einen Kubikzentimeter Blut für je eine Probe. Blut erwies
sich als geeigneter für unsere Untersuchungen als Serum.
Das zu untersuchende Blut erhielten wir aus einer
Kubitalveme mittels Punktion, ferner post partum auch aus
dem Uterus und beim Neugeborenen aus der Nabelschnur.
Wir verdanken (das so gewonnene Material dem liebens¬
würdigen Entgegenkommen des Herrn Hofrates Schauta.
Das Blut wurde defibriniert, im Verhältnis von 1:10
mit 95°/oigem Alkohol versetzt, einige Zeit geschüttelt, der
Alkohol nach 24 Stunden klar zentrifugiert oder abfiltriert
und der Untersuchung zugeführt. Die auf solche Weise
erhaltenen klaren Alkoholextrakte wurden nunmehr mit
Wasser oder verdünntem Alkohol, mit salzsaurem Alkohol,
mit konzentrierter Salzsäure, mit konzentrierter Schwefel¬
säure, mit alkoholischer Platinchloridlösung versetzt, oder
auch azidometrisch geprüft.
Stellt man nun so eine Prüfung mit dem Alkohol¬
extrakte des Blutes einer frisch entbundenen Frau und dem
alkoholischen Blutextrakte eines neugeborenen Kindes an,
indem man diese Extrakte mit irgendeinem der vorge¬
nannten Reagentien in einem bestimmten Verhältnisse ver¬
setzt, so sieht man eine außerordentlich überraschende Er¬
scheinung.
Der Alkoholextrakt des mütterlichen Blutes nämlich
wird auf Zusatz einer geringen Menge von Wasser oder
verdünntem Alkohol, salzsaurem Alkohol, konzentrierter
Salzsäure, konzentrierter Schwefelsäure sofort stark trüb,
während er auf Zusatz einer sehr geringen Menge von
alkoholischer Platinchloridlösung klar bleibt.
Der Alkoholextrakt des kindlichen Blutes hingegen zeigt
geradezu ein konträres Verhalten, d. h. er trübt sich auf
Zusatz von alkoholischer Platinchloridlösung und bleibt bei
Zusatz aller anderen Reagentien in dem gleichen Verhält¬
nisse vollkommen klar.
In einer (zweiten Untersuchungsreihe versetzten wir
1 cm3 Blut mit je 10 cm3 konzentrierter Schwefelsäure
und Chloroform, schüttelten durch und ließen die Probe
24 Stunden istehen.
Stellt man diese letztere Reaktion gleichfalls wie
vorhin mit mütterlichem und kindlichem Blute und zwar
vollkommen gleichmäßig an, so ergibt sich schon nach
kurzer Zeit, sicher aber nach mehreren Stunden, eine Rot-
färbung des Chloroforms in der mit mütterlichem Blute
angestellten Probe, während die Chloroformschicht über
dem kindlichen Blute regelmäßig vollkommen farblos bleibt.
Sie können sich leicht davon überzeugen,
daß man auf diese Weise mit konstanter Regel¬
mäßigkeit und absoluter Sicherheitt das Blut
eines neugeborenen Kindes v o n d e m einer frisc h
Entbundenen, oder — wie wir gleich hinzufügen
wollen von dem einer Hoch'graviden, ja von
dem Blute erwachsener Menschen überhaupt zu
u n I e r s c h e i d e n i n der L a g)e ist.
Die außerordentliche Feinheit dieser auf quantitativen,
im gewählten Beispiele aber auf sehr großen Differenzen
beruhenden Reaktion gestattet es, die Prüfung auch mit
sehr kleinen Mengen Blutes, als auch Extraktes anzustellen
und die Unterschiede deutlich sichtbar zu machen. So kann
man seihst, mit zwei Tropfen Blutes, wenn man sie im
Verhältnis von 1:10 mit Alkohol extrahiert, die analogen
Differenzen veranschaulichen. ,Bei unserem gewöhnlichen
Vorgänge nahmen wir 5 cm3 des Alkoholextraktes (1:10)
zu einer Reaktion, aber auch mit geringsten Mengen des
Extraktes, etwa mit 20 Tropfen oder mit Verdünnungen
1:100 gelingt es ohneweiters, die genannten Unterschiede
zwischen mütterlichem und kindlichem Blute zur Darstellung
zu bringen.
Daß es sich hier um ganz besondere Differenzen
handeln muß, geht ferner aus der Tatsache hervor, daß
die Reaktionen auch sofort angestellt werden kann, ohne
den Alkohol 24 Stunden auf das Blut einwirken lassen zu
müssen. Man braucht bloß das Blut mit Alkohol zu über¬
gießen, einige Male durchzuschütteln .und zu filtrieren.
Auch ein solcher auf so einfache und rasche Weise ge¬
wonnener Extrakt läßt mit Sicherheit das mütterliche vom
kindlichen Blute unterscheiden.
Dieser (von uns in weit mehr als hundert
Fällen mit konstanter Regelmäßigkeit erhobene
Befund ist eine feststehende Tatsache.
Es war nun interessant, zu erforschen, ob die eben
gemauiten Eigenschaften auch am eingetrockneten Blute
nachzuweisen sind oder nicht. Wir ließen zu diesem Behufe
sowohl mütterliches als auch kindliches Blut auf Leinwand,
Glas und Papier eintrocknen, untersuchten es in verschie¬
denen Zeitabständen und konnten nun konstatieren, daß
die Differenzen zwischen mütterlichem und kindlichem
Blute auch in eingetrocknetem Zustande deutlich in Er¬
scheinung treten. W7ir schnitten z. B. aus Leinen, das mit
Blut getränkt war, einen Quadratzentimeter heraus und
konnten nach (Extraktion mit Alkohol auf das deutlichste
unterscheiden, welche Blutart vorliegt. Aber auch’ aut
fester Unterlage eingetrocknetes Blut ließ nach mehreren
Wochen durch diese Untersuchungsmethoden mit Sicherheit
mütterliches vom kindlichen Blute differenzieren.
Die Möglichkeit einer solchen Differentialdiagnose aus
Blutflecken, sowie am eingetrockneten Blute demonstriert
wohl in sehr naheliegender Weise, daß diese Reaktion auch
eine forensische Bedeutung besitzt. Wir wollen uns gerne
der Aufgabe unterziehen, die Methode unter Verhältnissen
noch weiterhin zu prüfen, die für die speziellen Zwecke
der gerichtlichen Medizin praktisch in Frage kommen.
Namentlich ist, wie Herr Prof Kol is ko uns mitzuteilen die
besondere Güte (hatte, die Frage zu entscheiden, ob das
auf verschiedene Unterlagen eingetrocknete Blut auch noch
nach mehreren Monaten die Reaktion gibt.
Die geschilderte Differenz zwischen mütterlichem und
kindlichem Blute war nun ein Problem, dessen Lösung
als ein erstrebenswertes Ziel erschien. Wir stellten zunächst
die Frage, ob diese Erscheinung etwa mit dem verschiedenen
Entwicklungsstadium des mütterlichen und kindlichen Orga-
n i smus zusamm einhängt. .
Zahlreiche einschlägige Untersuchungen des Blutes
von Menschen in den verschiedensten Altersepochen mit
Ausnahme der ersten Lebensjahre lehrten uns vor allem,
' Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
413
aß die genannten Differenzen als extreme Abweichungen
nzusehen sind, im Hinblick auf die Verhältnisse beim ge¬
linden erwachsenen Menschen, bzw. bei der Frau im
i ch t gravi den Z u s ta,nde .
Wir wollen uns jedoch hier mit den Ursachen der ab-
eichenden Blutheschaffenheit des Neugeborenen nicht
eschäftigen, denn die einzigartigen Firnähr ungsvgrhältnisse,
ater denen der fötale Organismus sich entwickelt und die
um großen Teile noch unbekannten inneren Funktionen
äiner Organe wären allzu problematische Grundlagen für
waige Erklärungsversuche. Wir beschränken uns hei
iesem Gegenstände bloß darauf, die Tatsache zu regi-
ri eren, daß — wie beim • reifen Neugeborenen — in
öllig gleicher Weise auch das Blut von Föten aus verschie-
enen Stadien der Schwangerschaft reagiert.
Was aber die geschilderten Verhältnisse der Blut-
! eschaffenheit bei eben entbundenen Frauen betrifft, sind
ir sehr wohl in der Lage, anzunehmen, daß die hei der
utter erhobenen außerordentlichen Befunde mit der
chwangerschaft in ursächlichem Zusammenhänge stehen.
Zahlreiche Prüfungen des Blutes bei Graviden in den
erscliiedenen Stadien der Schwangerschaft ergaben näm-
ch, daß die bei frisch Entbundenen erhobene Reaktion
l gleicher Intensität auch bei Gebärenden und Hochgraviden
achzuweisen ist, in den jüngeren Stadien der Schwanger¬
haft aber allmählich u. zw. im allgemeinen entsprechend
m Stadium der Schwangerschaft abnimmt und um das
ade des dritten Lunarmonates überaus niedrige Werte
reicht.
Bei dieser Sachlage war die nächste, praktisch über-
is wichtige Frage, ob der geschilderten Blutprüfung etwa
?r Wert einer spezifischen Schwangerschaftsreaktion bei-
unessen sei.
Um dies zu entscheiden, verglichen wir das Blut von
raviden aus den einzelnen Monaten der Schwangerschaft
it dem Blute von nichtgraviden und männlichen Jndivi-
Gen. Das Blut der männlichen Individuen stammt aus der
linik für Syphilidologie und Dermatologie und wir sind
efür Herrn Prof. Finger zu großem Danke verpflichtet.
Das Resultat solcher ebenfalls sehr zahlreicher Unter-
ichungen bestand in der wichtigen Feststellung, daß. die
eaktion bei Schwangeren im Vergleiche mit Männern und
chtgraviden Frauen stärker ausfällt und zwar um so.
ärker, je vorgeschrittener die Schwangerschaft ist, daß
so in der Gravidität eine bis zum Schwangerschaftsende
wohnlich progrediente Veränderung des Blutes vor sich
fit. Dabei ist hervorzuheben, daß sich diese Untersuchungs-
sultate ausschließlich auf die normale, ungestörte Gra-
dität beziehen.
Wir müssen daher den Schluß ziehen, dalf die phy-
olo gische [Schwangerschaft es ist, welche zu
esen typischen Blutveränderungen die Veranlassung gibt.
Wie sich aber die Reaktion bei gestörter Gravidität,
'ziehungsweise unter verschiedenen pathologischen Zu-
änden verhält, soll heute nicht erörtert werden und bleibt
uer speziellen Mitteilung Vorbehalten.
Eine Sonderbesprechung verdienen nur die Verhält-
sse in den ersten Monaten der Schwangerschaft, die wir
nem sehr eingehenden Studium unterzogen. Es muß näm-
h ausdrücklich betont werden, daß die Reaktion etwa
s zum Ende des dritten Lunarmonates gegenüber Nicht-
aviden in ihrer Intensität etwas herabgesetzt ist.
■ Eine übersichtliche Darstellung der angestellten
eaktionen und der bisher mitgeteilten Untersuchungsresul-
te ergibt somit, daß an den alkoholischen Blutextrakten
vei Erscheinungen festgestellt wurden:
1. Trübung durch Wasser oder die genau n-
■n Säuren;
2. Trübung durch alkoholische Platinchlo-
d 1 ö s u n g.
Diese Reaktionen konkurrieren miteinander in nnge-
ein feiner Weise und das kommt in der Menge des Reagens
ini Ausdruck. Je leichter ein Extrakt durch Wasser oder j
Säure zu trüben ist, desto schwerer trübt er sich mit alko¬
holischer Platinchloridlösung und umgekehrt.
Betrachten wir nunmehr die Untersuchungsresultate
iu den von uns aufgestellten einzelnen Gruppen, so finden
wir folgendes :
Der alkoholische Blutextrakt des Neugeborenen gibt
die allerschwächste Wasser- und Säuretrübung, hingegen
die stärkste Trübung mit alkoholischer Platinchloridlösung.
Hiedurch läßt sich dieser Extrakt von allen anderen Gruppen
unterscheiden.
Die Extrakte aller anderen Gruppen hingegen zeigen
ein konträres Verhalten ; sie trüben sich nämlich mehr
oder weniger mit Wasser und Säure und dementsprechend
gar nicht oder schwach mit alkoholischer Platinchlorid¬
lösung. Unter ihnen bilden die frisch Entbundenen, Ge-
bärenden und Hochgraviden die extremste und überaus
hervorstechende Gruppe ; bei Graviden vom Ende des dritten
Lunarmonates an und bei Graviden in den mittleren Mona¬
ten der Schwangerschaft ist die Reaktion wohl schwächer
als bei Hochgraviden, aber immer noch erhöht gegen die
Gruppe nichtgravider Frauen und erwachsener Menschen
im allgemeinen, welch letztere somit den Normalwert reprä¬
sentieren.
Endlich gibt die Gruppe der Graviden in den ersten
drei Lunarmonaten im Vergleich zu Nichtgraviden und
Erwachsenen überhaupt die schwächste Reaktion. Sie ist
aber immerhin noch bedeutend stärker als die Reaktion beim
Neugeborenen. Andererseits kann man aber aus dieser
Herabsetzung auch nicht, Frauen in den ersten Monaten der
Schwangerschaft von Nichtgraviden oder Männern mit
Sicherheit unterscheiden.
Wenn wir somit diese Reaktion von dem Standpunkte
aus prüfen, oh ihr der Wert einer diagnostischen Reaktion
zukommt, so müssen wir sagen, daß dies bis zum Ende
des dritten Lunarmonates nicht der Fall sein kann. Jedoch
vom Ende des dritten Lunarmonates an vermag man sie
in fraglichen Fällen immerhin als differential-diagnostisches
Moment heranziehen.
Bei der Prüfung der Frage, oh diese Reaktion eine
diagnostische Bedeutung für die Schwangerschaft besitze,
fanden wir, daß auch die Nichtgraviden untereinander Dif¬
ferenzen, wenn auch geringeren Grades, aufwiesen. Durch
Berücksichtigung der anamnestischen Angaben kamen wir
zu der Vermutung, daß die Menstruation mit diesen
Differenzen bei Nichtgraviden im Zusammenhang stehen
könnte. So ergab sich nunmehr die Notwendigkeit, diese
interessante Frage, welche für die Erklärung der Reaktions¬
schwankungen von größter Bedeutung sein mochte, auf
ihre Wahrheit zu prüfen.
Zu diesem Behufe unterzogen wir eine Reihe von
gesunden, geschlechtsreifen, zum Teil virginellen Individuen
einer periodischen Blutuntersuchung in Abständen von
einer Woche. Diese Untersuchungen ergaben nun tatsäch¬
lich die Erklärung für jene geringen Differenzen, welche
wir zwischen Nichtgraviden fanden, denn es zeigte sich,
daß die Intensität der Reaktion für Wasser und Säure zur
Zeit der Menstruation herabgesetzt ist und daß somit Indi¬
vidualität, (Ernährungszustand und Alter nur von unter¬
geordneter Bedeutung sind. So wie die Menstruation perio¬
disch wiederkehrt, so kann man auch parallel zu ihr einen
zyklischen Ablauf der Reaktionsschwankungen konstatieren.
Dieser zyklische Ablauf besteht, wie eben erwähnt, in einer
Abschwächung der Reaktion um die Zeit der Periode herum
und in einer Verstärkung im Menstruationsintervalle. Es
handelt sich hiebei jedoch nur um geringe Schwankungen,
die am besten festzustellen sind, wenn die Untersuchungen
an ein und derselben und zwar gesunden Person, in regel¬
mäßigen Abständen gemacht werden. Diese Resultate
stimmen sehr gut überein mit den außerordentlich schönen
Untersuchungen von Hitschmann und Adler.
Wir haben Ihnen bei einzelnen Menschengruppen und
unter ganz bestimmten Verhältnissen Reaktionen des Blutes,
414
WIE« lfi K KLINISCHE W0CHENSC11U1FT. 1911.
Nr. 12
sowie seiner alkoholischen Extrakte gezeigt, die sicherlich
den iebhalten , Wunsch nach weiterer Erklärung erwecken.
Wir stellen die Frage: Welche Substanzen wer¬
den durch die Reagentien ausgefällt und was
ist die Ursache der so überaus auffallenden Dif¬
ferenzen zwischen den iBlutextrakten?
Gestatten Sie abermals hervorzuheben, daß es sich
hier um Extrakte handelt, die mit 95°/oigem Alkohol bei
Zimmertemperatur hergestellt wurden. Wie bekannt, gehen
bei einem solchen Verfahren gewisse feltartige Substanzen
in Lösung über. Wohl wird auch eine geringe Menge albu-
minoider Substanz, vielleicht an Lipoide gebunden, gelöst.
Aber Eiweiß ist es nicht, das unsere Reaktion hervorruft,
denn die Alkoholextrakte geben die Biuretreaktion nicht.
Dafür, daß es sich hiebei nur um fettartige Substanzen
handeln könne, haben wir einen d irekten Beweis erbracht.
Wir sind nämlich auch wiederholt so vorgegangen, daß
wir den Alkoholextrakt abdampften, den Rückstand in
Aether Aufnahmen, hierauf den Aether verjagten, diesen
Rückstand in 95°/oigem Alkohol lösten und nun der Unter¬
suchung zuiührten. Auch die ,auf solche Weise hergestellten
Extrakte ergaben dieselben Resultate.
Versetzten wir also unsere Extrakte mit den schon
mehrfach genannten Reagentien und entstanden hiebei die
geschilderten Fällungen, so mußten in diesen Extrakten
wohl fettartige Substanzen enthalten sein, denn von den
benützten Reagentien ist es bekannt, daß sie mit Lipoiden
in alkoholischer Lösung Fällung ergeben, in Alkohol selbst
aber löslich sind. Dabei ergab sich ferner die Erfahrung,
daß diese Methodik, bei welcher — wie schon mehrfach
erwähnt - — bloß 1 cm3 Blut zur Verwendung kommt, in
ausgezeichneter Weise geeignet ist, geringste Differenzen
des Lipoidgehaltes in Form von Trübungen in Erscheinung
treten zu lassen.
Von der Richtigkeit dieser Beobachtung kann man
sich sofort überzeugen, wenn man alkoholische Fett- und
Lipoidlösungen von bekannter Zusammensetzung in ver¬
schiedenen Konzentrationen mit den mehrfach genannten
Reagentien versetzt. Selbst schon 20 Tropfen solcher ver¬
schieden konzentrierter Fett- und Lipoidlösungen lassen
bei Zusatz von wässerigem Alkohol oder einem der anderen
benützten Reagentien den differenten Fett- oder Lipoid¬
gehalt sichtbar machen, indem die Trübung um so früher
erscheint, je konzentrierter die Lösung war.
Auch in den alkoholischen Blutextrakten ist man in
der Lage, schon mit 20 Tropfen differente Trübungen zu
erzeugen; der Zweckmäßigkeit halber nahmen wir aber
wie schon erwähnt — (meist ein bis fünf Kubikzentimeter
des Extraktes, weil wir auf solche Weise die allerfeinsten
graduellen Differenzen zur Anschauung bringen konnten.
In Analogie mit dem vorhin angeführten Kontrollver-
suche halten wir uns zu der Schlußfolgerung berechtigt,
daß auch in den aflkoholischen Blutextrakten verschiedene
Mengen von fettartigen Substanzen enthalten sind und nach¬
gewiesen wurden. Bei der stets gleichartigen Herstellung
der Blutextrakte ist wohl auch der weitere Schluß gestattet,
daß die nachgewiesenen Differenzen der Extrakte auf den
quantitativ verschiedenen Gehalt an solchen Substanzen
des Blutes zurückzuführen sind.
Wenn wir uns dann die Frage vorlegen, welche Gruppe
von fettartigen Substanzen es sein könnte, die in den
Alkoholextrakten enthalten ist, so kommen wohl in erster
Linie in (Betracht die physiologischerweise im Blut enthal¬
tenen Körper, also die Verbindungen der Palmitin-, Stearin-
und Oleinsäure u. zw. vermutlich in Form von Choleste¬
rinestern. Von diesen Substanzen vermuten wir, daß sie zum
großen Teile es sind, welche in unseren Reaktionen mit ver¬
dünntem Alkohol und Idee angeführten Säuren die Trübungen
ergeben. Dafür, daß etwa freie Fettsäuren in größeren oder
in auffallend differenten Mengen in den Alkoholextrakten
enthalten wären, konnten wir auch durch azidometrische
Prüfungen keinen sicheren Beweis erbringen.
Da bei Extraktion mit kaltem Alkohol bekannterweise
auch andere Lipoide und besonders Phosphatide in Lösung
übergeführt werden können, so darf man vermuten, daß
auch in diesen Extrakten noch andere lipoidartige Körper
enthalten sein dürften.
Hiefür könnte als Wahrscheinlichkeitsbeweis angeführt
werden, daß mit alkoholischer Platinchloridlösung eine
Fällung erzielt wurde, welche auf einen Gehalt an Phos-
phatiden oder organischen Basen als Zersetzungsprodukte
der letzteren bezogen werden könnte. Ueber die relativen
Mengenverhältnisse dieser fraglichen Substanzen ist es
schwer, ein richtiges Urteil zu gewinnen, weil sie — mit
Ausnahme des Neugeborenen — besonders in den Extrakten
der Graviden, an Cholesterinester gebunden zu sein
scheinen und vermutlich ist es diese Bindung, welche die
Fällung der Phosphatide verhindert.
Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht auch
der Umstand, daß in den Extrakten der Hochgraviden nach
längerem Stehenbleiben eigenartige Kristalle ausfallen, die
sich auf Zusatz von konzentrierter Schwefelsäure gelb, re¬
spektive rot färben. Nach Abfiltrieren dieser Kristalle gibt
nun der Extrakt der Hochgraviden auch mit alkoholischer
Platinchloridlösung auf das Deutlichste eine Trübung. Aber
ein exakter chemischer Nachweis zur Identifizierung der
Lipoide aus 1 cm3 Blut, den wir verwendeten, ist wohl
nach dem heutigen Stande der chemischen Prüfungsmetho-
den nicht zu führen. Um aber dennoch die in den Extrakten
enthaltenen Lipoide zu klassifizieren, mußten große Mengen
Blutes von Gebärenden gesammelt werden. Ueber die im
Institute des Herrn Prof. Siegln. Fraenkel ausgeführten
Untersuchungen soll noch eingehend berichtet werden.
Positives kann man wohl aussagen in bezug auf die
chemische Natur desjenigen Körpers, der beim Versetzen des
Blutes mit je 10 cm3 'Schwefelsäure und Chloroform in einer
Farbenreaktion in Erscheinung tritt. Im Prinzip ist diese
Reaktion die wohlbekannte Probe Salkowskis auf Chole¬
sterin. Dabei färbt sich das Chloroform blutrot, dann kirsch¬
rot und purpurfarben; gießt man die Lösung in eine Schale
aus, so färbt sie sich bald blau, grün, endlich gelb. Um
diese bekannte Salko wskische Reaktion unseren Zwecken
zugänglich zu machen, stellten wir Vorversuche darüber
an, ob man aus der Verschiedenheit der Farbenreaktion
einen Rückschluß auf die Mengenverhältnisse von Chole¬
sterin ziehen könne. Diese Vorversuche lehrten nun, daß
Cholesterin in verschiedener Konzentration in Chloroform
gelöst, auf Zusatz von Schwefelsäure eine den Mengen¬
verhältnissen entsprechende, differente Farbenreaktion er¬
gibt. Bei geringen Mengen färbt sich das Chloroform licht-
gelb, bei größeren Mengen dunkelgelb und bei noch größeren
Mengen rot.
Wir konnten nunmehr erwarten, daß, wenn der
Cholesteringehalt des Blutes bei verschiedenen Indivi¬
duen different war, dies sich in verschiedenen Farben¬
nuancen erweisen würde. Das war auch tatsächlich
der Fall. Wie schon eingangs erwähnt, nahmen wir
1 cm3 defi brilliertes Blut, versetzten es mit je 10 cm’
Schwefelsäure und Chloroform, schüttelten bis zur völligen
Lösung des Blutes in der Schwefelsäure vorsichtig durch
und sahen schon nach kurzer Zeit Rotfärbung des Chloro¬
forms in verschiedener Sättigung oder das Chloroform farb¬
los bleiben.
Hieraus konnte wohl — bei völlig gleichartiger An¬
stellung der Proben mit den zu vergleichenden Blutsorten
— - ein Rückschluß gezogen werden, daß die Farbenreaktion
durch den Cholesteringehalt des Blutes bedingt und die
quantitativen Gehalt an Cholesterin oder Cholesterinverbin¬
dungen abhängig sei.
Wenn wir nun die Resultate solcher Cholesterinreak-
tionen des Blutes überblicken, so kann man kurz sagen,
daß sie mit den Ergebnissen der Wasser- und Säurereaktion
der Alkoholextrakte übereinstimmen, ja daß sie im all¬
gemeinen mit diesen Reaktionen parallel gehen. Man kann
daher als wahrscheinlich annehmen, daß die in den Alko-;
Nr. 12
WIENER KLINISCHE
holextrakten nachgewiesenen Chölesterinester es sind,
welche im wesentlichen in unseren Cholesterinreaktionen
in Erscheinung treten. (Siehe Notiz von Fraenkel in
dieser Nummer.) Auch hier ergeben sich die größten Diffe¬
renzen zwischen Mutter und Kind, dahingehend, daß das
Blut der frisch Entbundenen eine positive, gewöhnlich
starke Cholesterinreaktion gibt, während die Chloro¬
formschicht über dem Blute eines neugeborenen Kindes
sozusagen farblos bleibt. So wie bei der Lipoid¬
prüfung der Alkoholextrakte beginnt auch der eine
Anreicherung anzeigende Ausfall der Cholesterinreaktion
ungefähr um das Ende des dritten Lunarmonats, ver¬
stärkt sich im allgemeinen mit der Dauer der Gravidität
und erreicht das Maximum am Ende der Schwangerschaft,
beziehungsweise zur Zeit der Geburt. So wie bei den
Alkoholextrakten ergibt sich auch für die Cholesterinreak-
lion des Blutes eine Herabsetzung im Anfänge der Gra¬
vidität und zur Zeit der Menstruation.
Wir müssen aber betonen, daß es zu vergleichenden
Untersuchungen unbedingt erforderlich ist, die Proben voll¬
kommen gleichmäßig anzustellen. Wir würden uns auch
nicht getrauen, aus dieser ungemein heiklen Prüfung auf
Cholesterin allein einen bindenden Schluß zu ziehen, wenn
uns dazu nicht die vorhin erwähnte Erscheinung ermu¬
tigen würde, nämlich, daß die Prüfung der Alkoholextrakte
völlig analog der Cholesterinreaktion ausfällt und ferner,
daß die Prüfung der Alkoholextrakte mit den verschie¬
densten Reagentien stets das nämliche Resultat ergeben
haben.
Aus dem Ihnen soeben erstatteten Berichte ersehen
Sie, meine Herren, daß es sich i n der normal en Schwan¬
gerschaft des menschlichen Weibes um eine An¬
reicherung des Blutes mit fettarfligen Substan¬
zenhandelt, um einen Zustand also, den man als
Lipoidämie, besonders als Ch o lesterinester-
ämie zu bezeichnen hat, während das Blut des
neugeborenen Kindes eine außerordentliche Ar¬
mut an C h o 1 e s te r i n v e r b i n d u n g e n auf weist.
Im Rahmen dieses Vortrages ist es natürlich nicht
möglich, auf den weitläufigen Gegenstand der Lipämie im
allgemeinen meritorisch einzugehen. Kurz sei bloß darauf
hingewiesen, daß nach reichlicher, besonders fettreicher Nah¬
rungsaufnahme vorübergehend Lipämie konstatiert wurde.
Aus diesem Grunde nahmen wir vorsichtshalber zu unseren
Untersuchungen das Blut stets vor dem Frühstück, also im
nüchternen Zustand. Zu erwähnen ist ferner, daß Lipämie
wiederholt festgestellt wurde bei Diabetes, Arteriosklerose,
vorübergehend bei Alkoholisten, ferner bei Ahwsuchstieren
im Hunger- und Mästungszustande. In früherer Zeit sprach
man überhaupt häufiger von Lipämie, allerdings nur auf
ßrund eines milchartigen Aussehens des Blutes oder des
Serums bei Gelegenheit von Aderlässen. Und schon vor
Morgagni war es bekannt, daß eine milchige Trübung
les Serums namentlich bei schwangeren Frauen vorzu¬
kommen pflege. He ws on bezog dies auf die Resorption
von Fett, Puzos glaubte, es sei dem Blute Milch beige¬
mischt, das zur Ernährung des Fötus nach dem Uterus fließe.
Vach John Hunter1) sah molkiges Serum am häufigsten
üei Schwangeren, deren Körper durch die Gravidität zu einer
solchen Veränderung disponiert sei u. zw. aus dem Grunde,
weil der Chylus nicht vollkommen assimiliert werde. Die
ersten chemischen Untersuchungen des Blutes Schwangerer
i'ühren von A. Becquerel und A. Rodier;2) diese Au-
'oren fanden in neun Fällen von vorgeschrittener Schwanger-
schaf t unter anderem Vermehrung des phosphorhaltigen
Fettes und Beibehaltung oder Verminderung der normalen
Quantität des Cholesterins. Von Interesse ist ferner, daß
Virchow3) in dem milchigen Serum aus den letzten
’) Versuche über das Blut, die Entzündungrimd die Schußwunden,
Herausgegeben von C. B. G. Hebenstreit, Leipzig 1797, Bd. 1, S. 109.
5) Untersuchungen über die Zusammensetzung des Blutes. Er»
angen 1845, S. 29.
3) Archiv für patholog. Anatomie, Bd. 1, S. 152.
WOCHENSCHRIFT. 1911.
Schwangerschaftsmonaten ein durch Schütteln mit Aether
leicht darstellbares Fett erkannt hat. Nasse1) untersuchte
den Fettgehalt des Blutes an mehreren trächtigen Hün¬
dinnen und fand ihn im Vergleich mit dem Blute außer¬
halb der Trächtigkeit vermehrt. Zu denselben Resultaten
gelangte neuerdings auch A. Capaldi5) in bezug auf Hün¬
dinnen und Meerschweinchen. Für die letztere Tierart gibt
dieser Autor auch an, daß der Fettgehalt des Fötus zur
Zeit des Wurfes dem der Mutter gleichkomme.
Diese Mitteilungen erklären wohl zur Genüge, warum
man in früherer Zeit allgemein an die Lipämie der Schwan¬
geren glaubte; in Ineuerer Zeit aber geriet diese Vorstellung
allmählich in Vergessenheit und wohl mit Recht aus dem
Grunde, weil sie allzuwenig exakt begründet war und nur
wenige Autoren, wie zum Beispiel Olshausen, Fischer,
Bar, Hof bau er erwähnen die Lipämie der Schwangeren
als etwas Bekanntes. Ein wirklicher Nachweis der Lipämie
überhaupt wurde auch in neuerer Zeit nur recht selten er¬
bracht. Und dieserUmstand hängt wohl damit zusammen, daß
die Methoden zur Feststellung dieser Zustände bisher recht
umständliche waren, was wohl am besten daraus erhellt, daß
dazu 50 bis 200 c'm3 Blut benötigt wurden. Wir wollen
es nun dahingestellt sein lassen, ob das, was ältere und
neuere Autoren schlechtweg als Lipämie bezeichneten, in
direkte Analogie zu setzen sei mit den von uns konsta¬
tierten Veränderungen des Blutes Gravider. Zweifellos ist
die von uns nachgewiesene Lipoidämie eine konstante Be¬
gleiterscheinung der physiologischen Gravidität. Und bei
Anwendung unserer Methoden ist Ihnen nunmehr ein Ver¬
fahren an die Hand gegeben, mit welchem Sie klinische
Untersuchungen über den Lipoidgehalt des Blutes in ein¬
fachster Weise anstellen können.
Die Lipoidämie als konstantes Begleitsymptom der Gra¬
vidität und der Umstand, daß um die Zeit der Menstruation
herum der Lipoidgehalt des Blutes herabgesetzt ist, ließ
in uns die Frage aufkommen, ob denn die geschilderten
Verhältnisse des Blutes nicht etwa zur Funktion der
Keimdrüse in irgendeiner Beziehung stünden. Um diese
Frage zu entscheiden, zogen wir zuerst Frauen zur Unter¬
suchung heran, bei denen die Menstruation bereits dauernd
ansgeblieben war und daher angenommen werden konnte,
daß auch die Follikeltätigkeit des Eierstockes erloschen sei.
Die Prüfungsresultate dieser Gruppe von klimakterischen,
beziehungsweise postklimakterischen Frauen, ergab eben¬
falls starke Anreicherung des Blutes mit fettartigen Sub¬
stanzen.
Die in diesen Befunden gelegene Bestätigung der An¬
nahme, daß die Lipoidämie der Graviden mit der Funktion
der Keimdrüse in irgendeinem Zusammenhang stehen könnte,
führte uns nun selbstverständlich zur Prüfung von Kastraten
im geschlechtsreifen Alter. Es waren dies Frauen ver¬
schiedenen Lebensalters, bei denen die Eierstöcke wegen
verschiedener Erkrankungen des Genitales vollkommen ex-
stirpiert werden mußten. Die Blutuntersuchung ergab nun
ebenfalls wie bei den Klimakterischen das höchst inter¬
essante Resultat der Anreicherung für fettartige Substanzen.
Dabei ist zu bemerken, daß diese Veränderung meist schon
kurze Zeit nach der Operation zu konstatieren ist und wie
hervorgehoben zu werden verdient, im Einzelfall verschieden
lang anhält.
Wenn es somit richtig war, daß diese Beobachtungen
an operierten und klimakterischen Frauen mit dem Ausfall
der Eierstocksfunktion in ursächlichen Zusammenhang zu
bringen seien, dann mußte es uns auch unbedingt gelingen,
die Lipoidämie im Tierexperiment zu erzeugen.
Meine Herren, wir kastrierten eine Reihe von virgi-
nellen Kaninchen und Hunden und konnten konstatieren,
daß nach verschieden langer Zeit, bei jugendlichen Tieren
aber schon nach sieben Tagen Lipoidämie differenten Grades
nachweisbar war. Das Blut erwies sich im Vergleich mit
*) Archivffiir Gynäkologie, Bd. 10.
6) ArchivoMie Ost. e Gin., Bd. 11.
416
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
dem Verhalten, vor der Operation als angereichert mit Chole¬
sterin oder Cholesterinverbindungen. Dies ergab sich auch
im Vergleich mit den Kontrolltieren vom selben Wurf und
selbem Gewicht; es ist bloß hervorzuheben, daß bei solchen
vergleichenden Untersuchungen große Vorsicht am Platze
ist, weil auch das Kontrolltier Schwankungen unterworfen
ist, welche, wie beim menschlichen Weibe mit dem Stadium
der Ovarialtatigkeit, bzw. der Brunst Zusammenhängen.
Günstigere Resultate als Kaninchen ergaben die Unter¬
suchungen an Hunden. Hervorzuheben wäre noch,
daß sich die Hündin zur Zeit der Brunst so verhält,
wie das Weib zur Zeit der Menstruation. In den, Tagen
der bereits im Gang befindlichen blutigen Abscheidung und
unmittelbar nach Aufhören dieser, ist nämlich der Lipoid¬
gehalt ganz bedeutend herabgesetzt, während er sonst im
Intervall sehr hoch ist. Dies bezieht sich sowohl auf tdie
Prüfung der Alkoholextrakte, als auch auf die Cholesterin¬
reaktion. Auch während der Trächtigkeit erwiesen sich Hün¬
dinnen analog der graviden Frau als lipoidämisch.
Es war nunmehr nur noch ein Schritt zu machen,
um die Beweiskette der Richtigkeit unserer \ orstellungen
zu schließen. Wir ließen im Röntgeninstitute des Herrn
Priv.-Doz. Holzknecht mit dessen dankenswerter Bewilli¬
gung an vier virginellen Kaninchen die Ovarien dosiert be¬
strahlen und schädigten auf diese, später durch die histo¬
logische Untersuchung bestätigte Weise in hohem Maße den
Follikelapparat dieser Tiere. Schon drei Wochen nach der
Bestrahlung erwiesen sich auch diese Tiere für Cholesterin
und fettartige Substanzen des Blutes deutlich angereichert.
Wir hatten somit, sowohl durch die Kastration, als auch
die elektive Zerstörung des Follikelapparates, also auf experi¬
mentellem Wege die Lipoidämie erzeugt. Wir glauben
daher, den exakten Beweis dafür erbracht zu
haben, daß der Wegfall d;er Ovarien, bzw. der
Ausfall der Ovarialfuüktion, endlich im beson¬
deren der Ausfall der Follikeltätigkeit der Ova¬
rien zur Lipoidämie führt. Wir dürfen daher
annehmen, daß auch im Verlauf der physiologi¬
schen Gravidität des menschlichen Weibes die
Tätigk eitdes Follikelapparates6) de, rOvarienall-
m äh lieh zum Stillstand gelangt, bzw. in irgend¬
einer Weise alter i er t wird.7)
Es eröffnet sich eine Perspektive auf verschiedene
Erklärungsmöglichkeiten für das Verständnis dieser Erschei¬
nungen. Soviel ist wohl auf Grund der positiven Beobach¬
tungen gestattet, zu sagen, daß die tätige Keimdrüse offen¬
bar durch ein spezifisches Hormon das Zustandekommen
einer Lipoidämie verhindert. Jedoch, wie man sich hie¬
bei die Hormonwirkung vorzustellen hat, als eine direkte
oder indirekte, das mag — mangels an positiven Beweisen
— dahingestellt bleiben. Ebenso müssen wir unentschieden
lassen, wie man sich das Zustandekommen der Ausschaltung
des Ovariums, bzw. seines Follikelapparates, während der
Gravidität zu erklären hat, nämlich, ob diese Ausschaltung
auf direktem oder indirektem Wege erfolgt und endlich, ob
diese Aenderung des Stoffwechsels die einzige Hormon¬
wirkung der weiblichen Keimdrüse, bzw. ihres Follikelappa¬
rates darstellt. Es bleibt natürlich ebenso eine offene Frage,
ob nicht auch andere ßlutdrüsen und pathologische Pro¬
zesse den Lipoidgehalt des Blutes zu beeinflussen vermögen
und inwieweit das Ei zu den Blutveränderungen während
der Gravidität beiträgt.
Vielleicht wirft auf diese noch unklaren Verhältnisse
einiges Licht die Registrierung folgender Tatsachen:
1. Injektion einer Aufschwemmung von Corpus luteum
der Kuh (Parke, Davis & Comp.) in isotonischer Kochsalz¬
lösung setzt den Gehalt des Blutes an fettartigen Sub¬
stanzen in wenigen Stunden herab.
2. Adrenalininjektion erhöht bei kastrierten und träch¬
tigen Tieren den Gehalt des Blutes an solchen Substanzen.
B) d. h. mit Ausschluß der interstitiellen Drüse.
7) Unsere Untersuchungen an männlichen Kastraten sind noch
nicht abgeschlossen.
Bei virginellen geschlechtsreifen Kaninchen hingegen konnten
keine einheitlichen Wirkungen erzielt werden.
3. Dasselbe Resultat erhielten wir mit Injektionen
von sauerem Extrakte des drüsigen Anteiles der Hypophyse
(Parke, Davis & Comp.).
Aus diesen Untersuchungen an Versuchstieren wollen
wir keine weiteren Schlußfolgerungen über den Wirkungs¬
mechanismus der einzelnen Hormone während der Gra
vidität und nach der Kastration ziehen, können aber nicht,
umhin, darauf liinzuweisen, daß durch die Untersuchungen
von Erdheim und Stumme eine Hypophysenhypertrophm
in der Gravidität festgestellt wurde und daß G ui y esse,
weiters Stoerk und v. Haber er u. zw. bei Tieren, Hyper¬
trophie des Interrenalsystems, aber auch zugleich eine Zu
nähme der chromaffinen Zellen während der Gravidität
konstatiert haben. Analoge Veränderungen der Hypophyse
und der Nebenniere wurden auch nach Kastration mehr
fach beschrieben.
Wir müssen bei dieser Gelegenheit der sehr wich¬
tigen Untersuchung Biedls gedenken, die er mit Sic»
mund Fraenkel über die Lipoidstoffe der Nebennieren
des Schweines durchgeführt hat. Sie fanden, daß die Neben
nieren zu den lipoidreichsten Organen gehören, indem mein
als ein Drittel der gesamten Trockensubstanz Lipoid ist
Die Analyse der Lipoide ergab, daß es sich hiebei im
wesentlichen um Cholesterinester handle u. zw. um Chole
sterinpalrnitat und weiters um Karnaubasäurecholesterin
ester. Mit Rücksicht auf diesen Befund traten sie der Fragi
nahe, ob nicht etwa, die Nebennieren die Quelle der Chole
sterinester im Blute seien. Die Untersuchung des Schweine
blutes ergab aber, daß das Cholesterinkarnäubat in nach
weisbaren Mengen im Blute (nicht vorhanden war und
kommen daher zu dem Schlüsse, daß die in den 'Nebenniere!
produzierten Substanzen, nicht als zur Abfuhr ins Blut be
stimmte Sekretionsprodukte betrachtet werden können. Es
wären daher diese Untersuchungen an graviden und
kastrierten Tieren anzustellen.
Wenn wir nunmehr über die Lipoidämie, wie sie wähl
rend der physiologischen Gravidität in Erscheinung tritt
ein vollständiges Bild gewinnen wollten, war es notwendig
festzustellen, wie lange Zeit dieser Zustand nach der
Geburt anhält. Und da ergaben unsere diesbezüglichen Unter
suchungen die bemerkenswerte Tatsache, daß die Lipoidämie
schon am ersten Tage nach der Geburt in Abnahme begriffet
ist und unter normalen Verhältnissen um d(as Ende der erste)
Woche des Puerperiums fast völlig verschwindet.
Diese Tatsache steht auch im Einklang mit der ana
logen Erscheinung bei kastrierten und postklimakterische!
Frauen, denn auch hei diesen verschwindet die Lipoidämie
nach einer individuell verschieden langen Zeit, was offenbai
auf Regulierungsvorgänge im Organismus zurückzuführei
ist. Dafür spricht wohl schon die erwähnte Hypertrophie
der Hypophyse und der Nebennieren, die sich nach Ka¬
stration in analoger Weise, wie während der Gravidität
einstellt. Auffallend bleibt nur, daß die Regulierung bei;
kastrierten Frauen und Tieren in kurzer Zeit erfolgen kann
während sie bei Graviden an den Termin der Geburt ge
bunden ist. Dieser Umstand weist wohl darauf hin, dal.
im Ei ein die Regulierung der Lipoidämie hemmendes Prin
zip gelegen sein könnte.
Ueber den kausalen Zusammenhang des Verschwinden!
der Lipoidämie mit der Laktation soll demnächst berichtet
werden.
Die von Hof bau er festgestellte Tatsache, daß fett
artige Substanzen in ähnlicher Weise, wie die Wand de!
Dünndarms, auch die Chorionzotten zu passieren vermögen
wirft einiges Licht auf die Bedeutung der Lipoidspeiche
rung im Blute Gravider. Auch eine Arbeit Josef Bondh
über histologischen Fettnachweis ist von Wichtigkeit fiu
diese Frage.
Weiters ist es wichtig, zu erwähnen, daß Mehr
geschwängerte, deren Kinder bekanntlich mit der za
nehmenden Zah l der Schwa ngerschaften größer und schwere)
417
Nr. 12 WIENER KLINISCHE
werden, regelmäßig lauch stärker lipoidämisch zu sein,
pflegen, als Erstgesehwängerle.
In welchem Zusammenhänge endlich die für die Gra¬
vidität physiologische Lipoidämie zu einigen in der ,Lile-
ratur niedergelegten, überaus interessanten Forschungsresul-
laten steht, wie zu der von Bauer und Lehndorff nach¬
gewiesenen Aktivierung der Kobragifthämolyse durch das
Serum Gravider und Gebärender, ferner zu dem von Freu nil
und Kam in er und kürzlich von Kraus und v. Graft
festgestellten Verhalten gegenüber Karzinomzellen durch
das Serum Karzinomatöser, respektive Hochgravider und
endlich zu der von Joch mann, Thaler u. a. studierten
Erhöhung der antitryptischen Kraft des Serums in der Gra¬
vidität bleibt für uns eine offene Frage.
Wir wollen es aber nicht unterlassen, auch unserseits
darauf hinzuweisen, daß diese Tatsachen und das von
R. Stern geprüfte Verhalten Schwangerer und Wöchne¬
rinnen gegenüber lokalen Tuberkulinreaktionen mit der
Lipoidämie sehr wohl in ursächlichem Zusammenhänge
stehen könnte. Bauer und Lahndorff halten sich auf
Grund ihrer Untersuchungen zu der Annahme berechtigt,
daß die erhöhte Fähigkeit des Serums Gravider, die Kobra¬
gifthämolyse zu aktivieren, durch eine Vermehrung wahr¬
scheinlich lipoider Substanzen bedingt wäre und werfen
die Frage auf, ob es nicht Lezithin sei, ein Körper, der
in unseren Extrakten allerdings nicht nachgewiesen wurde.
Endlich soll noch angeführt werden, daß Kraus und
Poetzl bei verschiedenen pathologischen Prozessen Unter¬
schiede in der Empfindlichkeit der Erythrozyten gegenüber
bestimmte Lipoide angreifenden Hämolysinen nachgewiesen
haben.
Die Literatur hier erschöpfend zu behandeln, würde
aber zu weit führen. .Es muß dies für die ausführliche
Publikation Vorbehalten bleiben.
Wichtig scheint es uns nur, bei dieser Gelegenheit
noch einiger auffallender Befunde Erwähnung zu tun, die
wir in sechs Fällen von Eklampsie zu erheben Gelegenheit
hatten.
Bei der relativ geringen Zahl der untersuchten Fälle
registrieren wir bloß die folgenden Befunde.
Wir fanden :
1. Eine enorm starke Cholesterinreaktion, die um so
auffallender war, als das normale Schwangerschaftsende
noch lange nicht erreicht war.
2. Die alkoholischen Blutextrakte gaben nicht bloß
starke Wasser- und Säuretrübung, sondern meist eine relativ
starke Trübung auch mit alkoholischer Platinchloridlösung.
3. Jene Fälle, die die Eklampsie überstanden halten,
zeigten auch am Ende der ersten Woche post partum die
physiologische Abnahme der Lipoidämie noch nicht.
4. Jene zwei Fälle, in welchen Exitus eintrat, zeigten
schon während der Anfälle eine starke Herabsetzung der
Cholesterinämie.
Wir unterlassen es, aus diesen an einer relativ geringen
Anzahl von Eklampsiefällen erhobenen Befunden weitere
Schlußfolgerungen zu ziehen; halten es aber nicht für un¬
wahrscheinlich, daß diese Befunde von Wichtigkeit sind
für das Verständnis der im Organismus der Eklamp tischen
sich abspielenden Vorgänge, ja selbst für die Aufklärung
der Pathogenese der Eklampsie. So ist wohl das von der
physiologischen Gravidität abweichende Verhalten der Li¬
poide, während der eklamptischen Anfälle schwerlich eine
harmlose koordinierte Erscheinung u. zw. ebenso im Falle
erhöhter Anreicherung, als auch im Falle pathologischer
Herairsetzung.
Von großem Interesse ist es, hier zu erwähnen, daß
Hosen! al unter Biedls Leitung bei Epilepsie im prä¬
paroxysmalen Stadium eine deutliche Vermehrung und nach
dem Anfall eine Herabsetzung der antitryptischen Kraft
des Serums konstatiert hat und das Antitrypsin als eine
1 apoid - Alu miniumverbindumg auffaßt.
Wir dürfen wohl der Hoffnung Ausdruck geben, daß
die von uns beschriebenen Methoden zur klinischen Prüfung
WOCHENSCHRIFT. 1911.
der Blutlipoide und die durch unsere Studien erzielten Re¬
sultate für weitere biologische und pathologische Studien
von Interesse und Wert sein werden, um so mehr, als eine
orientierende Prüfung des Blutes an einer relativ kleinen
Anzahl von Karzinomkranken ebenfalls Vermehrung der
Lipoide gezeigt hat.
Es ist uns endlich vor Aufstellung unserer Schlu߬
thesen eine angenehme Pflicht, den Herren Hofrat Professor
Weichselba u m und Hofrat Prof. S c h au t a für das warme
Interesse und die Unterstützung ergebenst zu danken, wo¬
durch sie unsere Arbeiten so wesentlich förderten.
Die Schlußfolgerungen aber, welche wir aus unseren
Studien derzeit ziehen, lauten:
1. Die mitgeteilte Methodik i sl t zu klinischen
Untersuchungen über den Lipoidgehalt des
Blutes geeignet.
2. Der Lipoid geh alt des. Blutes unterliegt
beim ge sch lech ts reifen Weibe und bei der Hün¬
din zyklischen Schwan ku n g e n, welche in einer
Herabsetzung zur Zeit der Menstruation, be¬
ziehungsweise Brunst ihren Ausdruck finden.
3. Im Klimakterium und in der postklimak¬
terischen Menopause betstehl Lipoidämie.
4. Kastration führt sowohl beim menschli¬
chen Weibe als auch bei Hündinnen und Kanin¬
chen zur Lipoidämie.
5. Nach dosierter Röntgenbestrahlung der
0 v a r i e n entsteht beim Versuch s!t i e r (K a n i n c h e n)
L i p o i d ä m i e.
6. Die physiologische Gravidität ist von Li¬
poidämie, bzw. Cholesterin esterämie begleitet.
7. Man kann daher annehmen, daß sich in
der physiologischen Gravidität allmählich eine
Funktionsalteration, bzw. Funktionsausfall des
F o 1 1 i k e 1 a p p ar a Fes der K e i m d r ü s e ent w i c k e 1 1.
Notiz zu dem vorstehenden Vortrage der Herren
Neumann und Herrmann.
Von Sigmund Frankel.
Die von den Herren Neumann und Herrmann
im Blute Gravider beobachteten Kristalle zeigten bei der
Untersuchung folgendes Verhalten:
Selbst aus kleinen Blutmengen konnte man eine an¬
scheinend reichliche Kristallmasse erhalten u. zw. als Hauf¬
werk oder Drusen sehr langer feiner Nadeln. Die Nadeln
spitzen sich an den Enden haarfein zu, verbiegen sich ziem¬
lich leicht und gleichen dadurch täuschend auf den erstell
Blick Pflanzenfasern. Bei Druck auf das Deckglas zerbrechen
sie aber ohne glatte Bruchfläche. Die Auslöschung ist ge¬
rade, a in der Längsrichtung. Im polarisierten lachte
leuchten sie zwischen gekreuzten Nikols auf.
Die isolierten Kristalle wurden aus Azeton umkristalli¬
siert, zeigten dann die Reaktionen der Cholesterinester und
den Schmelzpunkt 77° C, welcher mit dem Schmelzpunkt
des Cholesterinpalmitinsäureesters identisch ist. Dieser Cho¬
lesterinester wurde im normalen Serum bereits von Boudet
(1833), sowie von Hürthle (1895) beobachtet. Es handelt
sich also im Blute Schwangerer um eine anscheinend phy¬
siologische Vermehrung einer auch sonst normal im Blute
vorkommenden Substanz u. zw. eines Cholesterinesters.
Die Natur der in den Mutterlaugen dieser Kristalle
vorkommenden Substanzen, welche sich durch die von Neu¬
mann und Herrmann beobachtete Platinchloridreaktion
verraten, muß erst bestimmt werden. Vielleicht handelt
es sich um ein ungesättigtes Phosphatid.
Es sind nun Versuche im Gange, nach vorhergehender
Bestimmung der Natur dieser Substanzen eine Methodik
auszuarbeiten, welche die quantitative Auswertung der
Körper gestattet, die durch die klinische Reaktion von Neu¬
mann und Herr mann als vermehrt angezeigt werden.
418
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
Aus dem pathologisch-bakteriologischen Institut in
Brünn. (Vorstand: Prof. C. Sternberg.)
Zur Frage der Blutbildung in der menschlichen
Thymus.
Von Dr. Joh. Löw, Grado.
Die Thymus wurde in Anbetracht ihres Reichtums an
Lymphozyten bis in die jüngste Zeit als Bestandteil des
lymphatischen Apparates und somit als Bildungsstätte lym¬
phatischer Elemente betrachtet. Diese Auffassung wurde
aber durch die Untersuchungen von Stöhr erschüttert,
welcher den Nachweis zu erbringen trachtete, daß die
kleinen Zellen der Thymus nicht Lymphozyten, sondern
Abkömmlinge der Epithelzellen seien. Würde mithin die
Thymus für die Bildung von Lymphozyten nicht in Betracht
kommen — die Auffassung Stöhr s wird allerdings von
manchen Seiten (Maxi mow, Nägeli u. a.) bestritten ■ —
so könnte ihr immerhin eine Bedeutung für die Bildung
myeloischer Elemente zukommen, analog wie etwa Leber
und Milz im fötalen Reben siclh an der Blutbildung betei¬
ligen. Tatsächlich liegen bereits einschlägige Mitteilungen
in der Literatur vor.
So beschreibt Schaffer in Thymen von Katzen und
Kaninchen das Auftreten kernhaltiger roter Blutkörperchen
als typisches Vorkommnis und nimmt auf Grund seiner
Befunde eine temporäre Blutbildung in der Thymus an,
welche über die Leber den Uebergang zur Blutbildung im
Knochenmark dars'tellt.
Maxi mow untersuchte die Thymen von Kaninchen¬
embryonen und fand in diesen spärliche, große Erythro-
blasten und Myelozyten. II. Fischer schließt aus seinen
Befunden an fötalen menschlichen Thymen auf starke
Leukopoese und geringe Erythropoese extravaskulär im
Bindegewebe der Septen, geringe Leukopoese und etwas
stärkere Erythropoese extravaskulär in den Retikulum¬
maschen von Mark und Rinde.
Schridde fand bei einem Kinde mit angeborener
Lymphozythämie außer in der Leber, Milz und Niere auch
in der Thymus extravaskulär Herde von neutrophilen und
eosinophilen Myelozyten und deren Stammzellen. In der
eigentlichen Thymussubstanz waren sie nicht zu sehen.
In einer zusammenfassenden Darstellung des Baues
der Thymus beschreibt er bei Thymen von Föten aus dem
7. und 8. Monate eine an die Marksubstanz sich an¬
schließende Zone, welche aus oft sehr reichlichen eosino¬
philen Myelozyten besteht. Doch sei der Befund von Blut¬
bildungsherden nur ein recht geringfügiger und entspreche
nur den Verhältnissen des gesamten perivaskulären Ge¬
webes im Embryo. Die Thymus dürfe daher nicht zu
den blutbildenden Organen gerechnet werden.
Dudgeon hat die Thymus in 16 Fällen von Status
lymphaticus untersucht. In allen fanden sich eosinophile
Zellen, darunter auch solche analog den Myelozyten.
Unsere eigenen Untersuchungen erstreckten sich auf
57 Thymen. Dieselben stammten von 8 Föten, 10 Neuge¬
borenen, 30 Kindern der ersten zehn Lebensjahre, fünf
Individuen im Alter von 11 bis 20 Jahren und vier über 20
Jahre. Den Krankheiten nach waren vier Fälle an Skarlatina,
fünf an Diphtherie, einer an Pneumonie, drei an Sepsis,
sechs an Tuberkulose, zwei an kongenitaler Lues, einer an
chronischem Ekzem, drei an Enteritis, drei an einem Vitium
cordis, einer an Hirnblutung, einer an einer inkarzerierten
Hernie, drei an Verbrennungen, einer an Phosphorver¬
giftung, einer an einer Schußverletzung, einer an Kohlen¬
oxydvergiftung, zwei an einem Status lymphaticus und
einer an Morbus Addisoni gestorben.
Die untersuchten Stücke wurden nach Pikrin-Sublimat-
konservierung und Paraffineinbettung nach der Ehrlich sehen
rriazidmethode gefärbt. Doch erhielten wir nicht in allen Fällen
völlig einwandfreie Präparate, indem namentlich die Darstellung
der neutrophilen Granula nicht immer vollständig gelang. Mög¬
licherweise war daran der Umstand schuld, daß einzelne Fälle
erst mehrere Stunden nach dem Tode seziert wurden, möglicher¬
weise war auch die Konservierung der betreffenden Stücke
nicht vollkommen tadellos. Auch in diesen Fällen waren aber die
eosinophilen Granula durchwegs gut darstellbar. Wir legen daher
der Besprechung neutrophiler Elemente nur 21 Fälle zugrunde,
während für die eosinophilen Elemente das Gesamtmaterial von
57 Fällen herangezogen werden soll.
Aus den untersuchten Fällen seien zunächst die Befunde
an drei Föten von 30 cm, 35 cm und 40 cm, sowie zwei
ausgetragenen Früchten hervorgehoben. Hier fanden wir beson¬
ders reichlich bei dem 30 cm langen Fötus namentlich polymorph¬
kernige, doch auch einkernige eosinophile, spärlicher ein- und
mehrkernige neutrophile Zellen. Diese Zellen fanden sich in
Zügen wechselnder Breite in den Bindegewebssepten zwischen
den einzelnen Läppchen. Bisweilen sind sie auch reichlich in der
Marksubstanz vorhanden, hie und da auch verstreut in der Rinde,
namentlich in der Peripherie der Läppchen. Zwischen diesen Ele¬
menten trifft man auch Zellen an, welche nach Größe und
Form, nach dem gleichmäßig dunkelorange gefärbten Protoplasma
und dem dunklen, radspeichenartigen, exzentrisch gelegenen Kerne
als Erythroblasten anzusprechen sein dürften. In den übrigen
Fällen dieser Gruppe finden wir ebenfalls ein- und mehrkeruige
eosinophile und neutrophile Elemente in der gleichen Lagerung,
doch in viel geringerer Zahl ; es gilt dies namentlich für den
40 cm langen Fötus.
Von den verwertbaren (12) Fällen im Alter bis zu 10 Jahren
waren 2 an Scharlach^ 2 an Diphtherie, 1 an Pneumonie, 1 an
Sepsis, 2 an Verbrennung, 1 an Rachitis und Status lympha¬
ticus, 1 an kongenitaler Lues, 1 an Gastroenteritis und t an
einem Vitium cordis gestorben. In allen diesen Fällen fanden
sich ein- und mehrkernige eosinophile und ein- und mehrkernige
neutrophile Zellen.
Die eosinophilen Zellen fanden sich reichlich bei je einem
Kinde im Alter von acht Tagen (Lues congenita), einem Monat
(Vitium cordis), DA Jahren (Rachitis und Status lymphaticus),
DA Jahren (Combustio), zwei Jahren (Diphtherie), vier Jahren
(Combustio), fünf Jahren (Skarlatina) und sechs Jahren (Di¬
phtherie), spärlich bei einem sechs Tage alten Kinde (Gastro- 1
enteritis), bei einem drei Monate alten Kinde (Pneumonie), bei
einem 23/4jährigen Kinde (Sepsis) und bei einem siebenjährigen
Kinde (Skarlatina). In den letzten vier Fällen handelte es sich
um Kinder von schlechtem Ernährungszustände, mit parenchym
armer Thymus, in der mikroskopisch reichlich Involutionsformen
nachweisbar waren. Neutrophile ein- und mehrkernige Zellen waren
in allen diesen Fällen vorhanden, doch in der Regel in viel ge¬
ringerer Zahl als die eosinophilen Zellen, nur bei dem fünf¬
jährigen, an Scharlach verstorbenen Kinde ist die Zahl beider
Zellformen annähernd gleich.
Endlich kommen noch vier Fälle von älteren Individuen
mit persistierender Thymus in Betracht, u. zw. ein Ißjähriges
an Phosphorvergiftung verstorbenes Mädchen, ein 26jähriger Mann,
der an einer Kohlenoxydvergiftung, ein 27jähriger Mann, der
an einer Schußverletzung und ein TOjähriger Mann, der an einer
eingeklemmten Hernie gestorben war. In den ersten drei Fällen
waren, wenngleich nur spärlich, sowohl eosinophile, als auch
neutrophile ein- und mehrkernige Leukozyten nachweisbar, wäh¬
rend in dem vierten Falle diese Elemente, bis auf ganz vereinzelte
eosinophile Zellen, fehlten. Die Lagerung der granulierten Eie- :
mente ist in allen den angeführten Fällen mehr oder weniger
die gleiche, wie wir sie bei der Thymus des 30 cm langen Fötus l
beschrieben haben. In sämtlichen übrigen 36 Fällen, in welchen i
der Nachweis der neutrophilen Zellen mißlang, konnten, wir-
schon bemerkt, sowohl ein- als auch mehrkernige eosinophile
Zellen in größerer oder geringerer Menge, oft sogar sehr reich¬
lich, nachgewiesen werden.
Wenn wir unsere Befunde zusammenfassen, so ergibt
sich, daß in allen Thymen ein- und mehrkernige eosinophile
Zellen gefunden wurden, die häufig in Reihen oder Zügen
in dem Bindegewebe der Septen lagen, aber auch oft ver¬
streut in Rinde und Mark vorkamen. Die Reichlichkeit ihres
Auftretens scheint in einem gewissen Zusammenhänge mit
dem Parenchymgehalt der Thymus zu stehen. Möglicher¬
weise bestehl insofern ein gewisser Zusammenhang auch
mit dem Alter der Individuen, als, soweit unsere spärlichen
einschlägigen Befunde ein Urteil gestatten, die eosinophilen
Zellen in der persistierenden Thymus Erwachsener in ge¬
ringerer Zahl vorhanden sind. Andererseits besteht im
Kindesalter auch innerhalb weitester Grenzen kein Zu¬
sammenhang zwischen dem Auftreten eosinophiler Zellen
und dem Alter. Einkernige neutrophile Zellen fanden wir
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
in der Mehrzahl der Fülle in sehr geringer Zähl, in einzelnen
Fällen von Infektionskrankheiten (z. U. Scharlach) waren
sie reichlicher vorhanden. Der Nachweis myeloischer Zel¬
len in der Thymus würde mithin in Analogie zu ähnlichen
Befunden in anderen Organen stehen. Solche Befunde wur¬
den z. U. in der Milz von Dominici sowohl experimentell
als auch am Menschen, namentlich hei Tuberkulose, ferner
bei Eklampsie und Variola, von Wolff bei Erysipel und
anämischen IZu ständen und von C. Sternberg und
Hirschfeld bei einer Reihe von infektiösen und nicht-
infektiösen Krankheiten .sowie vereinzelt auch unter nor¬
malen Verhältnissen erhoben; analoge Befunde liegen
auch bezüglich anderer Organe vor. Die ausführliche
Literatur über diesen Gegenstand ’sowie auch eigene Be¬
obachtungen finden sich bei R. Fischer zusammengestelll .
In allen diesen Fällen macht die Entscheidung Schwierig¬
keiten, ob es sich um in den betreffenden Organen autoch¬
thon entstandene Elemente oder aus dem Knochenmark ein¬
geschwemmte Zellen handelt.
Den gleichen Schwierigkeiten begegnen wir auch bei
dem Versuche, unsere Befunde in der Thymus zu deuten.
Gegen die Annahme, daß es sich hier um eine Blutbildung
in der Thymus handelt, beziehungsweise um ein Erhalten¬
bleiben dieser Funktion aus dem fötalen Leben (falls eine
solche tatsächlich besteht), würde folgende Ueberlegung
sprechen. Man müßte ja a priori erwarten, daßi entsprechend
der Rückbildung der Thymus diese Funktion auch allmäh¬
lich erlöschen würde. Wir finden aber, daß innerhalb der
zehn ersten Lebensjahre ein derartiges Absinken im Gehalte
der Thymus an myeloischen Elementen nicht nachweisbar
ist. Bei persistierenden Thymen scheint allerdings, wie
mit einigem Vorbehalte schon hervorgehoben wurde, ein
derartiger Unterschied vorhanden zu .sein.
Ebenso steht mit der Annahme einer Blutbildung in
der Thymus nicht im Einklänge, daß im wesentlichen nur
eosinophile Elemente in diesem Organe gefunden wurden.
Diesbezüglich stehen die Resultate unserer Untersuchungen
mit den Befunden der anderen Autoren in vollem Einklänge.
Außer in den eingangs erwähnten Arbeiten wird auf diesen
Umstand auch noch von Fortescue nach Untersuchungen
an menschlichen Thymen, und von Lewis nach Unter¬
suchungen an der Vogelthymus hingewiesen.
Kernhaltige rote Blutkörperchen fehlten vollständig,
neutrophile Myelozyten waren nur spärlich vorhanden, mit
Ausnahme mancher Fälle von. Infektionskrankheiten. Wir
wissen aber, daß bei Infektionskrankheiten des Kindesalters
Wie manchmal auch bei Erwachsenen) Myelozyten im
kreisenden Blute vorhanden sind (Engel). Es könnte daher
das Vorkommen solcher Zellen in der Thymus durch Ein¬
schwemmung aus dem Knochenmark via Blutbahn er¬
klärt werden.
ln gleicher Weise ließe sich das Auftreten reichlicher
polynukleärer eosinophiler Zellen in der Thymus durch
chemotaktische Anlockung dieser Zellen aus dem Blute
erklären.
E h r 1 i c h hat ja bereits die Anschau u ng ausgesprochen,
daß Zerfallsprodukte von Epithelzellen und epitheloiden
Zellen gewöhnlich chemotaktisch wirken und hat für die
meisten Formen der Eosinophilie „die direkte Ursache in
einem Gewebszerfall und seinen Produkten“ angenommen.
Daß nun ein lebhafter Kernzerfall im Thymusparenchym
stattfindet, ergibt sich aus den Befunden St Öhrs, der
damit das Auftreten der Leukozyten in der Thymus in Zu¬
sammenhang bringt.
Andere Erwägungen müssen wohl bezüglich des
Auftretens einkerniger eosinophiler Zellen in der Thymus
angestellt werden. Sie finden sich auch in solchen Fäl¬
len reichlich in diesem Organ, in welchem Myelozyten
,rP strömenen Blute überhaupt nicht vorhanden sind. Für
diese Zellen jst es daher wohl sehr wahrscheinlich, daß
sie mindestens ,zum Teil in der Thymus entstanden sind.
I's fragt sich jedoch, ob sie durchwegs als Myelozyten auf¬
zufassen sind. Morphologisch zeigen sie untereinander
dl 9
wesentliche Unterschiede. Während hei einem (anscheinend)
kleineren Feile derselben der Kern tatsächlich dem Myelo¬
zytenkern entspricht, finden sich viele Zellen, in welchen
der Kern klein, strukturlos, intensiv färbbar ist und voll¬
kommen dem Kerne der (kleineren und größeren). Zellen
des Thymusparenchyms entspricht.
Dieses Verhalten legt die .Vermutung nahe, die sich
ja auch ,aus anderen Erwägungen ergibt, daß wir unter
den einkernigen eosinophilen Zellen einerseits Myelozyten,
andererseits histiogene Elemente unterscheiden müssen!
die möglicherweise aus Parenchymzellen liervorgegangen
sind. Ein Teil der in der Thymus stets vorhandenen ein¬
kernigen Zellen dürfte aber als Myelozyten anzusprechen
sein. Bezüglich dieser müssen wir die Frage unentschieden
lassen, ob sie durch Ausschwemmung aus dem Knochen¬
mark dahin gelangt sind, oder lokal in der Thymus im
Sinne eines Rückschlages in die embryonale Blutbildung
entstanden sind.
Sei dem wie immer, jedenfalls zeigen diese Unter¬
suchungen, daß der Thymus im extrauterinen
Lehen keine wesentliche Bedeutung für die Blut¬
bildung zukommt.
Literatur:
Ph. St öhr, Ueber die Natur der Thymuselemente. Anat. Hefte
1906, Bd. 31. J. Sch af ter, Ueber den feineren Bau der Thymus
und deren Beziehungen zur Blutbildung. Sitzungsbericht, der k. Akademie
der Wissenschaften, mathem.-naturw. Klasse 1893, Bd. 102. _ A. M a-
x i m 6w, Ueber die Entwicklung der Blut- und Bindegewebszellen beim
Säugetierembryo. Folia haemafologica 1907. — Heinrich Fischer,
Myeloische Metaplasie und fötale. Blutbildung und deren Histogenese. Berlin
1909, J. Springer. - H. Schridde, Ueber extrasvakuläre Blutbildung.
Verhandlungen der deutschen patholog. Gesellschaft. Meran 1905; Thv-
mus in Aschoffs Lehrbuch der patholog. Anatomie 1909 — . L. S. D u d-
geon, A contribution to the pathology of the Thymus Gland.
Journ. of Physiolog. and Bacter. 1905, X. Jahrg. — C. Sternberg,
Ueber das Vorkommen von einkernigen neutrophil-granulierten Leuko¬
zyten in der Milz. Zentralblatt für allgem. Pathologie und patholog.
Anatomie 1905.
Aus der chirurgischen Abteilung des Rothschildspital es
in Wien. (Vorstand: Prof. Dr. Otto Zuckerkandl.)
Versuche einer Vereinfachung des Tuberkel¬
bazillennachweises im Harn.
Von Dr. Robert Bachraeli, Sekundararzt und Dr. Friedrich Necker.
Der Zweck der nachfolgenden Untersuchungen war,
den auf der Abteilung bisher geübten Modus des Bazillen¬
nachweises bei tuberkuloseverdächtigen Fällen unter Zu¬
ziehung der neueren Homogenisierungs- und Einengungs-
methoden möglichst einfach und sicher zu gestalten und
diese Methoden a<uf ihren Wert fiir die Klinik der Harn¬
tuberkulose zu prüfen.
Der Färbung des nativen Harnsedimentes auf Tuber¬
kelbazillen haften zwei Nachteile an, die nicht gleich
hoch einziuschätzen sind. Als erster wird wiederholt die
Möglichkeit einer folgenschweren Verwechslung von echten
Tuberkulöseerregern mit Smegmabazillen betont, als zweiter
-— und wie uns scheint wichtigerer — kommt die Schwie¬
rigkeit in Betracht, an bazillenarmen aber reichlich eiter-
haltigen Harnen, wie sie bei vorgeschrittenen tuberkulösen
Zerstörungen der Niere zu finden sind, positive Befunde
auch- bei Färbung zahlreicher Ausstrichpräparate zu er¬
zielen. Neben diagnostisch einfachen Fällen, bei denen die
Färbung des zentrifugierten Harnsedimentes sofort klaren
Aufschluß gibt, bleibt somit eine Reihe von Nierentuber¬
kulosen, bei denen der mikroskopische Bazillennachweis
trotz mühsamer Untersuchungen nicht gelingt.
Daher in letzter Linie der Tierversuch stets als das
Experimentum crucis für die Urologie gelten mußte.
Mithin wäre der Nachweis von Tuberkelbazillen im
Harne in zweifacher Art zu vervollkommnen. Einerseits
durch Anwendung von Einengungsverfahren, die dahin
zielen-,- möglichst alle in einer größeren Harnmenge ent¬
haltenen Bazillen auf wenige Präparate verteilt zur Färbung
420
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. \9ii.
Nr. 12
zu sammeln und anderseits durch eine Abkürzung des Tier¬
versuches. .
"Was die erstere Frage anlangt, unterzogen wir die
Antiforminmethode von Uhlenhut und Xylan der,1) d,as
von .Lange und Nitsche2) beschriebene Ligroinverfah¬
ren,, die Zahn sehe3) Homogenisierungsmethode und einige
der vielen Modifikationen und Kombinationen (Trunk, )
Bierotte,5) Skutezky,6) Löffler') u. a. m.), die
alle zunächst für den Bazillennachweis im Sputum aus¬
gearbeitet und nur von einzelnen Autoren nebstbei für
ihre Brauchbarkeit bei der Harnuntersuchung berücksichtigt
wurden, einer systematischen Nachprüfung.
Auf die zahlreichen Arbeiten, die sich mit der Ver¬
wendung des Uhlenhut sehen Antiforminverfahrens und
der verschiedenen Modifikationen näher beschäftigen,
wollen wir unter Hinweis auf die Publikationen von
Ellermann und Erlandsien8) und so weiter nicht
näher eingehen. Wir müssen jedoch hervorheben, daß dei
Wert der Methode für den Tuberkelbazillennachweis im
Harn a priori kein so augenfälliger ist wie beim Sputum.
Während der Antiforminzusatz zum Sputum nicht nur eine
Homogenisierung, sondern zugleich auch eine Verflüssigung
des Sekretes und demgemäß eine Verminderung des Sedi¬
mentniederschlages hervorruft, begegnen wir bei der Ver¬
arbeitung von Harnen in dieser Weise einer Schwierigkeit,
die den Vorteil der Konzentrierung des Materiales, das
„Aufschließen“ der Bazillen zum Teil wieder wett macht.
Es ist in der chemischen Beschaffenheit der Harnflüssig¬
keit begründet, daß nach Zusatz von Antiformin zwar Form¬
elemente verschwinden, anderseits aber Salzniederschläge
entstehen, die bei Sediment.ierung des Antiformin- Hand¬
gemisches meist als ungemein dichter Bodensatz resultieren,
der sich nur schwer auf den Objektträger verteilen läßt.
Der Versuch, diesen Nachteil durch Waschen des Harn¬
sedimentes vor Zusatz des Antiformins zu beheben, er¬
scheint nach unserer Erfahrung nicht empfehlenswert, weil
trotz vorsichtiger Arbeit beim Abgießen des Waschwassers
Bazillenmaterial verloren geht. Dieselbe Fehlerquelle er¬
gibt sich bei dem Versuch, die mit Eiweiß-Glyzerinlösung
auf den Objektträger angeklebten Salzniederschläge zu
lösen oder zu waschen.
Am besten sind wir mit dem von Löffler beschrie¬
benem Verfahren weggekommen.
E ö f f 1 e r empfiehlt das Auf kochen eines Antiformin-
Sputumgemisches und Ausschütteln mit Chloroform¬
alkohol. Bei diesem Vorgang konnten wir noch am ehesten
die Bildung störender Salzniederschläge vermeiden.
Die Methode gestaltet sich bei Anwendung von Harnen
folgendermaßen :
Der Harn wird, um möglichst viel Material zur Verar¬
beitung zu gewinnen, in mehreren Spitzgläsern sedi-
mentiert. 20 cm3 der gut abgesetzten Sedimente werden
in einen Jenenser Kolben mit derselben Menge 50%iger
Antiforminlösung versetzt und rasch aufgekocht. Zu je
20 cm3 dieses Gemisches werden nun 3 cm3 einer Mischung
von 10 Volumteilen Chloroform und 90 Volumteilen Alko¬
hol zugefügt, tüchtig durch geschüttelt und exakt zentrifu¬
giert. Das Chloroform füllt die Spitze des Zentrifugenröhr¬
chens ; ihm sitzt in Form einer kleinen Scheibe das zu
untersuchende bazillenhällige Material auf, das nach Ab¬
guß der Flüssigkeit in toto auf den Objektträger gebracht
mit Eiweiß-Glyzerin fixiert und gefärbt werden kann.
Zur Färbung der Präparate bedienten wir uns aus¬
schließlich der 'Weichselbaum sehen Methode, die bei
9 Uhlen h u t u. Xylander, Berliner klin. Wochenschr. 1908
Nr. 29.
2) Lange u. Nitsche, Deutsche med. Wochenschr. 1909, Nr. 33.
8) Zahn, Münchener med. Wochenschr. 1910, Nr. 16.
4) Trunk, Wiener klin. Wochenschr. 1910, Nr. 29.
6) Bierotte, Berliner klin. Wochenschr. 1910, Nr. 19.
6) Skutetzky, Wiener med. Wochenschr. 1910, Nr. 35.
7) Löffler, Deutsche med. Wochenschr. 1910, Nr. 43.
8) Ellermann u. Erlandsen, zit. nach Jörgensen. Zeitschr.
für Hyg. und Infektionskrankheiten 1910, Bd. 66.
großer Einfachheit Erwärmen mit Karbolfuchsin, und Nach¬
färbung mit konzentriertem alkoholischen Methylenblau) an
Verläßlichkeit erfahrungsgemäß den anderen gebräuchli¬
chen Färbemethoden nicht nachsteht. _
Während wir bisher nur zu einer negativen Kritik der
A nt i f o r min in etho de am Harne kamen und es uns vor
allem nicht gelang, mit diesem Verfahren oder einet seiner
Modifikationen in solchen Hamen Bazillen nachzuweisen,
bei denen die direkte native Sedimentfärbung versagt hätte,
müssen wir hervorheben, daß es doch für eine Gruppe
von Harnen wesentliche \ orteile zu besitzen scheint. Es
sind dies naturgemäß stark eitrige Harne, bei welchen die
Auflösung der großen Eitermengen den Nachweis der Bar
zillen wesentlich erleichtert. Tatsächlich gelang uns bei
einem Fall schwerer Pvurie bei vorgeschrittener Nieren-
tuberkulose — der zur Untersuchung gelangte Harn war
offebar der rein eitrige Inhalt einer Nierenkaverne — der
mikroskopische Bazillennachweis im Harnsediment nur nach
den oben geschilderten Verfahren.
Von Wichtigkeit für die Bewertung des Antiformin¬
verfahrens war die Frage, wie sich Smegmabazillen dem
Antiformin gegenüber verhalten. Den Untersuchungen Mer- i
kels,9) daß Antiformin die ganze Gruppe der säurefesten
Bazillen, Smegma sowohl wie Lepra und echte Fuberku-
loseerreger nicht an greift, steht die Behauptung
Schusters10) entgegen, der an Smegmabazillen im Sedi¬
mente und in Reinkulter arbeitete und fand, daß sie in
allen Fällen bereits von 15- und 10°/oigen Antiforminlösun¬
gen zerstört werden.
Wir verwenden nur mit dem Katheter entnommenen,
also Smegma-bazillenfreien Harn zur bakteriologischen Ver¬
arbeitung, und kamen nicht in die Lage, zu dieser Frage,
deren Bedeutung wohl überschätzt wurde, Stellung zu
nehmen. .
Dieselben oben erwähnten Nachteile der störenden
Salzniederschläge treten beim Zahnschen Verfahren noch
schärfer hervor, weswegen wir es für die Harnuntersuchung))
nicht empfehlen können.
Ebensowenig gab uns die Ligroinmethode von
Lange und Nitsche befriedigende Resultate. Nehmen
wir aber die vor der Ausschüttelung mit Ligroin notwendige
Homogenisierung statt mit Kalilauge, wie Bernhardt1)!
und Haserodt12) es zuerst taten, mit Antiformin vor, so;
erzielten wir gleich Bierotte und Skutezky gute An¬
reicherung bei relativ raschem und sauberem Arbeiten.
Mit dem Tierversuch, der prinzipeil in fast sämtli¬
chen Fällen in Form der intraperitonealen Impfung auf
Meerschweinchen zur Ausführung gelangte und von dem:
bisher nur selten bei absolut einwandfreiem mikroskopi¬
schen Befund abgesehen wurde, hatten wir stets vollkom¬
men befriedigende Resultate erzielt.
Jedoch entsprach dieses Verfahren im Durchschnitt
einer fünf- bis sechswöchigen Untersuchungsdauer und,
drängte zu einer Abkürzung. Wir nahmen daher bisher;
die Bloch sehe Impfung in die gequetschte Inguinaldrüse:
vor, die allerdings die gewünschte Abkürzung des Tier
experimentes bot, durch die histologische Verarbeitung der.
exst.irpierten Drüse in Serien zur Bazillenschnittfärbung
aber sehr mühevoll und zeitraubend wurde. Seemann,
Merkel, Hoffmann13) u. a. haben zuerst diese Anwen
dungsweise des Antiformin, die in der Tuberkuloseforschung
eine große Bedeutung erlangt hat, benützt und könnten
zum Teil nach wenigen Stunden Tuberkelbazillen aus Ge:
webstücken nachweisen. Es lag daher der Gedanke nahe,
die Eigenschaft des Antiformins, Organgewebe zu lösen
mit der Bloch sehen Impfung zu kombinieren.
Unser Verfahren gestaltete sich folgendermaßen: Sub
kutane Impfung von l1/2cm3 Harnsediment in die Ingui
») Merkel, Münchener med. Wochenschr. 1910, Nr. 13.
10) Schuster, Deutsche med. Wochenschr. 1910, Nr. 39. .
u) Bernhardt, Deutsche med. Wochenschr. 1909, Nr. 33.
,2) II a s e r o d t, Ilygien. Rundschau 1909, Nr. 12.
I3) Hoffmann, Deutsche med. Wochenschr. 1910, Nr. 28.
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
421
nalgegend der Meerschweinchen nach vorheriger Quetschung
der Lymphdrüse (Bloch). Exstirpation der Drüse samt
dem infiltrierten Fettgewebe nach zehn bis elf Tagen. Ein¬
legen des mit steriler Schere zerkleinerten Materiales in
20 cm3 15°/'oige Antiforminlösung. In fünf bis sechs Stun¬
den bei Zimmertemperatur, entsprechend rascher im Brut¬
ofen, ist das organische Gewebe vollständig gelöst. Die
leichtgetrübte Aufschwemmung wird gut zentrifugiert. Nach
Abgießen der -wasserklaren Flüssigkeit wird das geringe
Zentrifugat mittels Eiweißglyzerin auf ein bis zwei Objekt¬
träger verteilt und nach Lufttrocknung und Fixation in der
Flamme auf Bazillen (nach Weichsel bäum) gefärbt. Im
mikroskopischen Präparat finden sich neben den Tuberkel¬
bazillen ausschließlich amorphe blau gefärbte Schollen.
Nach dem geschilderten Verfahren untersuchten wir
insgesamt 37 Harne. 25mal fiel der Versuch positiv aus,
in 12 Fällen, die sich bei weiterer Beobachtung als
Eiterungen nicht tuberkulöser Natur erwiesen, negativ.
Was uns veranläßt, die Methode zu empfehlen, ist nicht
nur die durch den Wegfall der Bazillenschnittfärbung be¬
dingte Abkürzung der Untersuchungszeit, sondern in erster
Linie die ziemlich bedeutende Bazillenanreicherung, die
in fast sämtlichen untersuchten Fällen konstatiert werden
konnte. In einigen war diese so ausgeprägt, daß das Ge¬
sichtsfeld im Mikroskop geradezu mit Bazillen übersät war,
trotzdem die Drüse makroskopisch keine spezifisch tuber¬
kulösen Veränderungen darbot, und der Bazillennachweis
am Sediment gerade dieser Harne nicht der leichteste war.
■Nichtsdestoweniger impften wir nach wie vor zur
Kontrolle ein bis zwei Meerschweinchen intraperitoneal.
Die Erfahrung hat uns gelehrt, daß, wenn auch sehr
selten, bei schwach virulenten Tuberkulosen, die Meer¬
schweincheninfektion außerordentlich protrahiert verlaufen
kann ; so erzielten wir zweimal einen positiven Ausfall des
intraperitonealen Tierversuches nach 8, ja sogar erst nach
13 Wochen!
Einer dieser beiden Fälle ist in die hier verwertete
Untersuchungsreihe inbegriffen und ist der einzige, bei
dem das kombinierte Bloch-Antiforminverfahren zugunsten
der intraperitonealen Impfmethode im Stiche gelassen hat.
ln sämtlichen übrigen Fällen ergab sich eine völlige Ueber-
einstimmung der eben geschilderten Untersuchungsresultate
mit dem intaperitoneal geimpften Kontrolltier.
Indem wir zwecks systematischer Untersuchung stets
mehrere Tiere nach Bloch impften, und dieselben am
fünften, kochten, zehnten und zwölften Tage verarbeiteten,
versuchten wir festzustellen, ob sich eine wesentliche Ab¬
kürzung des Impfverfahrens durch unsere Methode erreichen
ließe. Doch erzielten wir hiebei keine eindeutigen Resul¬
tate. Zwar gelang es einige Male, schon am vierten und
sechsten Tage Bazillen in der mit Antiformin verarbeiteten
Drüse nachzuweisen, es konnte aber eine wirkliche An¬
reicherung nicht konstatiert werden, vielmehr ist die Er¬
wägung am Platze, daß bei diesen Fällen lediglich die mit
dem injizierten Material in die Drüse eingebrachten Bazillen
zur Färbung gelangten.
Noch in einer anderen Hinsicht erscheint das Anti¬
forminverfahren berufen, den Verlauf des Tierversuches
sicherer zu gestalten.
Nach allen vorliegenden Erfahrungen wird die Lebens¬
fähigkeit. des Tuberkelbazillus durch Antiformin selbst im
stärkerer Konzentration nicht geschädigt (Bernhard, Les¬
sing und Hart,14) Lier.15) Wir sind dadurch in
die Lage versetzt, Harne, welche neben Tuberkelbazillen
virulente Eitererreger enthalten, denen das intraperi¬
toneal geimpfte Meerschweinchen in Kürze erliegt, durch
Verarbeitung mit Antiformin von diesen zu befreien und
tür das Tierexperiment brauchbar zu machen. Unsere Un¬
tersuchungen in dieser Richtung sind jedoch noch nicht
") Lessing u. Hart, Wiener klin. Wochensehr. 1911, Nr. 9.
15) Lier, Med. Klinik 1910, Nr. 37.
zahlreich genug, um in dieser Frage ein abschließendes Urteil
zu gestatten.
\\ ii fassen unsere Jt-rfahrungen, die wir an etwa
40 tuberkelbazillenhälligen Harnen m vielen hundert Ein¬
zeluntersuchungen gewannen, dahin zusammen:
1. Das Antiforminverfahren nach Uhlenhut und
Xy land er bietet nur bei der Untersuchung sehr eiter-
hältiger Harne eine größere Sicherheit, als die Färbung
der nativen nicht vorbehandelten Sedimente. Am brauch¬
barsten erwies sich uns die Modifikation der Methode von
Löffler, nach ihr die Kombination des Antiformin-
Ligroins nach [Bernhardt und Haserodt.
2. Für den Tierversuch gestattet die Kombi¬
nation der Bloch sehen Impfung mit dem Antifor-
minverfahren eine wünschenswerte Verein¬
fachung und Abkürzung der Untersuchung, bei
großer Verläßlichkeit der Resultate.
3. Bei Harnen, die neben Tuberkelbazillen
virulente Eitererreger enthalten, dürfte die Vor¬
behandlung mit Antiformin das rasche Eingehen
der Versuchstiere verhüten.
Nachtrag. Bei Abschluß dieser Arbeit finden wir
einen von A- Bloch im ärztlichen Verein in Frankfurt a.M.
gehaltenen, im der Münchener Medizinischen Wochen¬
schrift vom 29. November 1910 referierten Vortrag. Bloch
empfiehlt in gleicher Weise wie wir in dieser Mitteilung
die Kombination des Antiforminverfahrens mit der von
ihm seinerzeit angegebenen Meerschweinchenimpfung.
Aus der deutschen chirurgischen Klinik in Prag.
Zur Drainage der Bauchhöhle mit Dreesmann-
schen Glasdrains.
Von Dr. Rudolf Rubescli, Assistenten der Klinik,
Durch die Arbeiten. Rohns11) wurde gezeigt, wie die Bauch¬
höhle bei Peritonitis in zweckmäßiger Weise zu drainderen ist.
Auch wir gehen nach seinem Grundsätze vor :
Drainage der tiefsten Stellen und Verschluß der Bauchhöhle
durch Naht bis an die Drainageöffnung, bzw. -Öffnungen zum
Zwecke der Wiederherstellung des intraabdominellen Druckes;
denn nur, wenn dieser sich entsprechend geltend machen kann,
kann das Exsudat der Bauchhöhle in die Drainageröhren steigen,
beziehungsweise getrieben werden.
Mit den Erfolgen sind wir sehr zufrieden, besonders aber
seit dem Gebrauche der von Drees mann angegebenen Glas¬
drains, welche eine wesentliche Verbesserung der Art der Drai¬
nage der Bauchhöhle bedeuten.
Eine in jüngster Zeit jedoch mit diesen gemachte Erfahrung
erscheint mitteilenswert.
Der Verlauf war zunächst folgender :
Anamnese: K. F., 50 Jahre alter Kutscher, wurde am
28. November 1910 zur Klinik eingebracht. Der Patient hatte
einen Stoß von der Deichsel eines Lastwagens, den er, vorne an
der Deichsel stehend, dirigieren wollte, gegen die1 rechte Bauch¬
hälfte erlitten und war von dem Deichselende an eine Wand
gedrückt worden. Nach dem Unfälle ging der Patient noch seinen
Obliegenheiten als Kutscher nach und ließ sich erst drei Stunden
nach dem Unfälle zur Klinik bringen, wo er um 8 Uhr abends
eintraf.
Status praesens: Mittelgroßer, kräftiger Mann mit ge¬
sunden Thoraxorganen. Rechts und etwas unterhalb vom Nabel
tastet man eine von oben lateral nach unten medial schräg ver¬
laufende Dehiszens der Muskulatur der vorderen Bauchdecken.
Unter der nur leicht geröteten, nicht abgeschürften Haut
ist in der Tiefe Darm zu tasten. Die Bauchdecken sind allent¬
halben weich und abgesehen von leichter Druckschmerzhaftig¬
keit am Orte der Gewalteinwirkung nirgends abnorm druck-
schmerzhaft. Temperatur normal, Zunge feucht, Puls 86, rhyt-
miseh, von guter Füllung und Spannung. Kein Aufstoßen. Be¬
wußtsein seit denn Unfälle nicht (getrübt. Im Harne kein Blut,
kein Eiweiß.
') R e h ii, Ueber die Behandlung infektiös-eitriger Prozesse im
Peritoneum. Archiv für klin. Chirurgie 1902, Bd. 67.
422
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
Mit Rücksicht auf diesen nicht gestörten Allgemein zustand
wurde von einer sofortigen Laparotomie zunächst abgesehen.
Mit folgendem Morgen (29. November) trat insofern eine
Aenderung im Befinden des Patienten ein, als die Temperatur
auf 38-5" gestiegen war und leichter Meteorismus sich eingestellt
hatte. / ,
Bei der nun sofort am Orte des Traumas (unter allgemeiner
Narkose) vorgenommenen Laparotomie fand sich das intakte Peri¬
toneum durch eine Lücke der zerrissenen iBauchdeckenmuskulatur
hindurchgetreten und frei unter der Haut liegend. Die i echte
Bauchhälfte enthielt reichliches fibrinös -eitriges Exsudat, dem
auch etwas Dünndarminhalt beigemengt war. Ebenso enthielt
das kleine Becken reichlich Eiter. ’
Eine hohe Dünndarmschlinge war vollkommen quer durch-
l issen. Die Ränder des Risses waren gequetscht. Die Dünndarm¬
schlingen, besonders die in der Umgebung der Kontinuitätstren¬
nung, °waren stark eitrig - fibrinös belegt. Das dem Darmriß ent¬
sprechende Mesenterium zeigte einen radiären Einriß von 12 cm
Länge. . . , . ,
Nachdem das Exsudat, soweit dies möglich wai, cluicn
Gazetampons entfernt war, wurden die durehrissenen Enden
durch Naht verschlossen und die blinden Enden side to side
durch E n te r oan astom ose mittels fortlaufender Naht wieder ver¬
einigt. Der Riß im Mesenterium wurde vernäht. In das kleine
Becken wurde ein Dreesm a nnsches Glasrohr, dessen Inneres
auf das sorgfältigste mit einem Jodoformstreifen austamponiert
war, eingeführt. Das obere Ende des Glasrohres winde an der
Haut fixiert. Neben das Glasrohr wurden noch zwei Gazetampons,
jedoch nicht der ganzen Länge des Rohres entsprechend,
eingeführt; der Rest der Bauchhöhle wurde mit durchgreifenden
Nähten vollständig verschlossen.
Das Glasrohr drainierte vorzüglich. Die durchfeuchteten
Jodoformstreifen des Glasrohres wurden die ersten Tage zwei¬
mal, die folgenden einmal täglich durch neue ersetzt. Hiebei wurde
darauf geachtet, worauf Dreesm a nn Gewicht legt, daß die
tamponierte Gaze das Blasrohr ganz ausfüllt. . Am
vierten Tage nach der Operation ging der Patient infolge links¬
seitiger Pneumonie zugrunde.
Der Fall kam, da es sich um einen Unfall handelte, im
gerichtlich - me? d I z i n is c hen Institute (Prof. Dr. Paul
Dittrich) zur Sektion. Mit Rücksicht auf den für den Chirurgen
wichtigen Befund wurde mir der Fall von Herrn Professor
Dr. Dittrich zur Veröffentlichung überlassen. Ich spreche auch
an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Dittrich meinen Dank aus.
Bei der am 5. Dezember 1910 vorgenommenen Sektion
fand sich in der Bauchhöhle kein freies Exsudat mehr. Die,
wie wir bei der Operation gesehen draben, ausgebreitete und hoch¬
gradige Peritonitis war somit dank der guten Funktion des
Dreesmann sehen Glasrohres beherrscht worden. Dis Naht am
Darme hatte vollständig gehalten. 130 cm oberhalb der Ueocökal-
klappe fand sich ein Teil der seitlichen Wand einer
1 1 e u m s c h 1 i n g e 2) in eine seitliche Oeffnung des Glas
drains hineingestülpt u. zav. in der Weise, daß das im
2) Das Präparat demonstriert in der wissenschaftlichen Gesellschaft
deutscher Aerzte in Prag am 22. Februar 1911.
Glasrohr befindliche Stück der Darlmwand eine kleinkirsch¬
große, kugelige Blase von blutigroter Farbe bildete. Das ein¬
getretene Darmstück hatte einen Durchmesser von 15 mm \ siehe
Abbildung).
Entsprechend der Oeffnung, durch welche die Darm w und
in das Glasrohr eingetreten war, erscheint die Darmwand fest
eingeschnürt; man kann diesen Befund sehr gut mit einer Littre-
s dien Hernie vergleichen, wobei die Bruchpforte von den Rändern
der seitlichen Oeffnung des Glasrohres gebildet wird. Der den
Rändern anliegende feil des Darmes — der Bruchring er¬
scheint. bläulichrot verfärbt. Das in das Glasrohr eingetretene
Darmwandstück befindet sich seitlich an der Darmzirkumferenz
in der Nähe des Ansatzes des Mesenteriums, so daß dieses ver¬
zogen erscheint. Der Darm ist an dieser Stelle geknickt und auf
die Hälfte seines Lumens eingeschnürt.
Das in diesem Falle zur Drainierung benützte Glasdrain
hatte eine Länge von 14 cm und einen Durchmesser von 15 mm.
Die einzelnen seitlichen Löcher hatten einen Durchmesser bis
4 mm. JH
Aehnliche Einklemmungen von Bauchiuhalt in seitliche Oeff-
ii u ngen sind schon vorgekommen. Drees mann3) erwähnt, daß
unter seinen 200 Fällen von Peritonitis, in denen er seine
Glasdrains, deren seitliche Oeffnungen 1 mm bis 3 mm Durch¬
messer hatten, zur Anwendung brachte, sich drei- bis viermal .
Netz oder Granulationen durch die Oeffnungen in das Rohr
gedrängt hatten. Die Glasdrains ließen sich aber ohne Schwierig¬
keit durch rotierende Bewegungen, im Notfälle nach galvano-
kaustischer Abtragung der Granulationen, entfernen.
Einmal ereignete es sich, ganz so wie in unserem Falle,
daß bei einer Patientin, welche wegen Peritonitis nach gangrä¬
nöser Darmhemie operiert worden war, Darmwand durch eine
Oeffnung in das Innere des Glasdrains 'sich eingestülpt hatte und
im Innern des Glasrohres knopfförmig vorsprang. Eine Repo¬
sition gelang in diesem Falle nicht. Drees mann sah sich daher
gezwungen, den knopfförmigen \orsprung abzutragen und zu
nähen.
Eine solche artefizielle „Littresche Hernie“ braucht nicht
immer frühzeitig genug bemerkt zu werden, besonders dann
nicht, wenn der Eintritt der Darmwand in der Nähe des Endes
des Glasdrains erfolgt, wie in unserem Falle.
In diesem Falle wäre es zu einer Dünndarmfistel gekom¬
men. Wenn diese auch infolge schon genügend vorhandener Ver¬
klebungen der Umgebung voraussichtlich wohl zu keiner Peri¬
tonitis geführt hätte, so wäre doch das Krankenlager wesentlich
verlängert worden.
Wie am Präparate zu sehen ist, springt der Mesentenal-
ansatz in das Darmlumen vor, bzw. ist in dieses hineingezogen,
dies hätte aber ganz gut als erste Anlage zur Ausbildung eines
kleinen Sporns dienen können. Durch diesen hätte die Fistel den
Charakter eines Anus praeternaturalis annehmen können.
Aber auch eine Naht kann bisweilen schwierig werden, wenn
die Darmschlinge in der Tiefe des Beckens fixiert ist, ja eine
an sich ganz einfache Naht kann unmöglich werden, sobald die
Serosa des Darmes schon mit Granulationen bedeckt ist.
Um derartige unangenehme Ereignisse zu vermeiden, em¬
pfiehlt Dreesmann, die Oeffnungen höchstens 1mm groß zu
wählen und darauf zu achten, das Innere der Glasdrains gut
mit Gaze zu tamponieren.
Das letztere war geschehen. Das in Verwendung gestandene
Glasdrain jedoch war eines von den im Handel käuflichen und«
hatte seitliche Oeffnungen. welche einem etwas größeren Durch¬
messer hatten, als Dreesm an n angibt, nämlich einen solchen
vom bis 4 mm.
Es läßt sich sicher sagen, daß größere derartige Oeffnungen
leichter eine Inkarzeration ermöglichen als kleinere; ganz ab<aj
von der Hand weisen läßt sich die Möglichkeit nicht, daß auch' .
in kleineren Oeffnungen gelegentlich eine Einklemmung stattfindeM
kann, besonders dann, wenn die Peritonitis mit stärkerem Mo-
teori'smus einhergehl. Die im Darme unter Druck stehenx-1
den Gase pressen die gedehnte und dadurch verdünnte l>ärm-
wand gegen die seitlichen Löcher des Glasdrains und können
so schließlich zu einer Einstülpung' führen. Dabei spielt viel-»
leicht auch die gute Saugkraft der im Glasdrain befindhetaj _
Gaze eine, wenn auch nur unterstützende Rolle. Auf Millimeter;,
genau lassen sich im übrigen die Oeffnungen nicht herstellcnj
wir müssen daher damit, rechnen, einmal etwas größere, einmal
etwas kleinere Oeffnungen in den Glasdrains zu haben. Gegen
allzukleine Oeffnungen spricht der Umstand, daß sie wenigen!
rasch drainieren, als größere.
3) ff. Dreesm an n. Die Tampondrainage in der Bauchhöhle. Med.
Klinik 1906, Nr. 23.
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
423
Es vviirde sich daher empfehlen, die Durchmesser der seit¬
lichen Ooffnunigen der Glasdrains nicht auf eine kleinliche und
nicht immer einzuhaltende Differenz von 1 mm zu beschränken,
sondern sie von vornherein mit ca. 2 bis höchstens 1 mm zu
wählen.
Dann aber wäre es notwendig, die Glasdrains vor ihrer
Einführung in die Bauchhöhle mit einer für Flüssigkeit gut durch¬
gängigen Hülle zu umgeben. Das Ei'n hüllen in eine Gaze-
longette empfiehlt sich nicht, da diese in Falten gelegt
würde und durch das leicht gerinnbare Exsudat sehr bald ver¬
klebt. wäre.
Es erscheint mir daher zweckentsprechend, über derartige
Glasdrains einen aus poröser Gaze gefertigten, gut pas¬
senden Strumpf zu ziehen, der dem Glasdrain straff an¬
liegt. Dadurch würde jede Inkarzeration oder Eindringen von
Granulationen oder Netz unmöglich werden, ohne daß durch1
die straff anliegende einfache Lage von Gaze der Eintritt von
Exsudat in das Glasrohr beeinträchtigt würde. Von der guten
Funktion derartig überzogener Glasdrains uns zu überzeugen,
hatten wir erst letzthin Gelegenheit bei einem' Falle von diffuser
Peritonitis infolge Perforation eines Ulcus ventriculi und einem
Falle von diffuser Peritonitis infolge Perforation des Wurmfort¬
satzes.
Kann die Endocarditis acuta epidemisch auf-
treten und herrscht gegenwärtig eine solche
Epidemie in Wien?
Von Priy. Doz. Dr. Max Herz.
Seit Dezember 1910 bis heute sah ich in Wien um so viel
mehr Fälle von akuter Endokarditis als in früheren Jahren, claß
mir der Gedanke näher rücken mußte, daß es sich hier vielleicht
um ein gehäuftes Auftreten infolge von allgemein herrschenden
günstigeren E n t s te Im n g s b e di rrjf un g en handle, d. h., da wir eine
zweifellose Infektionskrankheit vor uns haben, um eine Epidemie.
Angesichts der bekannten Beziehungen der Endokarditis
zum Rheumatismus wird diese Vermutung durch die abnormen
Witterungsverhiältnissie der letzten Monate gestützt.
Meine Fälle betrafen ausschließlich sehr jugendliche Indivi¬
duen im Alter von 6 bis 18 Jahren.
Bemerkenswert scheint mir die Tatsache, daß ' trotz des
jugendlichen Alters der Patienten fast durchwegs Rezidiven an
bereits veränderten Klappen Vorlagen.
Der Verlauf war überall ziemlich gleichmäßig:
Beginn mit mäßigem Fieber mit kurzen unregelmäßigen Ex¬
azerbationen, ohne Angina oder Gelenkssymptome. Erst im spä¬
teren Verlaufe wurden hie und da Schmerzen in einem oder in
beiden Fußgelenken angegeben. Einen typischen multiplen Ge¬
lenksrheumatismus konnte ich nicht beobachten.
Meist in der zweiten Woche Auftreten einer Tachykardie,
die von nun an während der ganzen Krankheitsdauer vorherrscht,
zugleich Herzklopfen, Herzschmerz, gewöhnlich in der Gegend des
Spitzenstoßes, Tachypnoe, seltener Atemnot und Zyanose. Das
meist bereits vorhandene systolische Mitralgeräusch ändert seinen
Charakter, die Akzentuation des zweiten Pulmonaltones nimmt an
Intensität zu.
Relativ günstig war im allgemeinen das Verhalten des Herz¬
muskels, insofern als bedeutendere Dilatationen selten zu konsta¬
tieren waren.
Sehr peinlich machte sieh hingegen häufig ein quälender,
trockener Husten geltend, der gerne bei Nacht auftrat, durch die
Nahrungsaufnahme leicht provoziert wurde, nicht selten von Er¬
brechen gefolgt und durch Narkotika nur schwer zu unter¬
drücken war.
Da das Materiale eines Praktikers in seiner Zusammen¬
setzung so sehr von Zufälligkeiten abhängig ist, daß es statistische
Erwägungen kaum gestattet, kann der Zweck dieser Zeilen nur
darin bestehen, die Kollegen zu einer Revision ihrer Erfahrungen
und zu Aeußr-rungen über diesen der allgemeinen Beachtung gewiß
würdigen Gegenstand zu veranlassen, besonders diejenigen Herren,
welche über Beobachtungen an dem Krankenmaterial öffentlicher
Heilanstalten verfügen, und die Kinderärzte.
Referate.
Der Haftapparat der weiblichen Genitalien.
Eine anatomische Studie von Dr. E. Martin.
I. Teil: • **.
Heckenbindegewebe. Faszien- und Muskelapparat.
Mit 16 Tafeln.
Berlin 1911i Karger.
Unter' vorstehendem Titel erscheint der erste Teil eines
groß angelegten Werkes, bestimmt zur Klärung der noch immer
und zwar jetzt mehr als früher strittigen Frage der Befestigung
der Beckeneingeweide beim Weibe und deren pathologischen Ab¬
weichungen. Trotzdem sich der vorliegende erste Teil vorwiegend
mit den Grundlagen, die einer späteren Diskussion über das
Thema, der Lageveränd er-ungen zu dienen bestimmt sind; beschäf¬
tigt, sehen wir doch schon in diesem ersten anatomischen Teile
die deutlichen Umrisse des zweiten Teiles vor uns. Bis vor
kurzer Zeit wurden die Befestigungsmittel des Uterus und der
umliegenden Beckenorgane in der Weise aufgefaßt, daß man den
Uterus durch gewisse Bänder, die als Verstärkungen oder Verdich¬
tungen des Beckenbindegewebes erkannt worden waren, sowie
durch die Elastizität des Peritoneums seine Lage behaupten ließ.
Mit dieser Auffassung hat das im Jahre 1907 erschienene Werk
von Halb an und Tandler, „Anatomie und Aetiologie der Ge¬
nitalprolapse des Weihes“, gründlich aufgeräumt. Hal ban und
Tandler billigen den sogenannten Aufhängebändern nur, einen
höchst untergeordneten Wert zu, indem sie nachzuweisen suchen,
daß der Uterus und mit ihm die übrigen Beckenorgane nicht durch
jene isehr zarten, dehnbaren, wenig widerstandsfähigen, nur fälsch¬
lich Bänder genannten Bindegewebszüge im Becken suspendiert,
sondern durch den Beckenboden gestützt und getragen und da¬
durch am Tiefertreten gehindert werden. Der wichtigste Teil des
Beckenbodens ist aber der Levator ani.
Hal ban und Tandler vertreten also die Anschauung,
daß ein Stützapparat den Uterus trage.
Eduard Martin greift nun auf Grund neuerer, sehr sorg¬
fältiger Präparationen, sowie auf Grund klinischer Beobachtungen
die alte Lehre vom Haftapparat, als der wichtigsten Maßnahme
der Natur zur Erhaltung der normalen Lage des Uterus wieder
auf und gibt ihr eine neue, moderne Gestaltung. Es unterliegt
keinem Zweifel, daß diese alte Lehre auch in dem neuen, glän¬
zenden und bestechenden Gewände Widerspruch finden wird.
Referent sieht sich nicht berufen, schon heute zu diesem
Kampfe der Geister Stellung zu nehmen. Es gilt ja doch, zunächst
abzuwarten, wie sich die Vertreter des Stützapparates zur Auf¬
fassung Martins stellen werden. So will denn der Referent,
abgesehen von einigen kritischen Bemeirkungen, sich im wesent¬
lichen darauf beschränken, das Werk E. Martins möglichst
objektiv zu referieren.
Der erste vorliegende Teil des Werkes von E. Martin, dem
in Bälde der zweite Teil folgen soll, gliedert sich in drei Ab¬
schnitte: Der erste Teil gibt die über das angezogene Thema bis-
nun vorliegenden Tatsachen und Anschauungen, besonders die
grundlegenden anatomischen Studien von Waldeyer, Holl und
Rief fei, zuletzt aber auch die von Hal ban und Tandler in
objektiver Darstellung wieder. Der zweite Teil beschäftigt sich
mit der Beschreibung der 13 dem Werke zugrunde liegenden
Präparate, unter Erläuterung ihrer Abbildungen. Der dritte Ab¬
schnitt gibt die Zusammenfassung' und die Schlußfolgerungen
aus den beiden vorstehenden Abschnitten, besondere aber des
zweiten.
Mit diesem Abschnitte, dem wichtigsten, wollen wir uns
im Folgenden beschäftigen. Doch sei es schon jetzt gesagt, daß
wir uns hier bei der Fülle der Einzelheiten nur auf Andeu¬
tungen beschränken können. So sei denn zunächst hervorgeh oben,
daß E. Martin großes Gewicht auf das Becken bindege wo he
als Haftapparat des Uterus legt. Besondere sind es die schon
von Freund erkannten Verstärkungen desselben, die nach den
beiden Seiten, nach vorne und nach hinten von der Zervix aus-
strahlenden Bindegewebsstränge, denen E. Martin in Ueberein-
stimmung mit früheren Bearbeitern dieses Thomas ‘den größten
Wert als Haftapparat des Uterus und der Blase beilegt. Er be-
k
424
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
zeichnet diesen Haftapparat als Retinaculum uteri und unter¬
scheidet an ihm drei paarige Abschnitte, die Pars anterior, die
beiderseits zur Harnblase verläuft, die Pars media gegen die
seitliche Beckenwand ziehend und die Pars posterior retinaculi
uteri, die nach dem Kreuzbein ausstrahlt. Den hauptsächlichsten
Befestigungsapparat der Blase bilden die Ligamenta pubo-
vesicalia; erst in zweiter Linie kommt die Pars anterior des
Retinaculum uteri in Betracht.
Den Verschlußapparat des Beckens beschreibt E. Martin
im allgemeinen konform der Schilderung früherer Beobachter,
doch fegt er großes Gewicht auf die Faszien, die andere als
sehr zarte, kaum isoliert darstellbare und von dem übrigen
Bindegewebe kaum trennbare Platten beschreiben. Die obere Aus¬
kleidung des Beckenbodens bildet, die Fascia pelvis ; sie bekleidet
die Musculi levator ani, coccygeus und pyriformis. Die untere
Verschlüßplatte des Beckens ist eine dreifache, die Fascia perinei
alsi Fortsetzung der allgemeinen Fascia superficialis des Bauches,
die Fäscia diaphragmatica inferior und superior. Zwischen der
Fascia perinei und der Fascia diaphragmatica inferior sind ein¬
gelagert die Musculi transversus perinei, bulbocavernosus, die
Barthol i n i 'sehe Drüse, der Bulbus vestibuli, ein Klitoris1-
schenkel und etwas Fett.. Zwischen Fascia diaphragmatica in¬
ferior und s'uperior liegt der Musculus trigoni urogenitalis. Alle drei
Faszien, sowie die Fascia pelvis, lassen an Stelle des Durch¬
trittes1 der Scheide und der Harnröhre entsprechend große 0 Öff¬
nungen frei, an denen sie mit ihren Rändern verschmelzen und
auf diese Weise einen Faszienrand bilden, von dem Martin be¬
hauptet, er werde von Vielen mit dem freien Rande des Levator
ani verwechselt. Der Referent kann sich dieser Ansicht nicht
anschließen, da nach seiner Ueberzeugung der freie Rand des
Levators viel höher oben von der Scheide aus getastet wird,
als jener Faszienbogen.
Obwohl, wie erwähnt, der vorliegende erste Teil dieses
Werkes nur die anatomischen Grundlagen bringt, beschäftigt sich
der Autor doch schon andeutungsweise mit der Aetiologie des
Genitalprolapses. Er führt an, daß die Portio auch dann an
ihrem Platze bleibt, wenn man die hintere Scheidenwand mit
einem breiten Spekulum stark nach hinten zieht, daß auch nach
totalen Dammrissen selten Prolapse entstehen. Er führt ferner
die Prolaplse’ bei Nulliparen als Stütze seiner Ansicht von der
Unwirksamkeit des Beckenbodens als Stützapparat an, da in
solchen Fällen doch der Beckenboden unversehrt sei. Doch
kommen solche Prolapse bei Nulliparen gerade nach erschöpfen¬
den Krankheiten, bei muskelschwachen anämischen Individuen
zustande, also in Fällen, in denen der Levator ani insuffizient
geworden ist. Ref. kennt auch Fälle von Prolaps bei neugeborenen
Kindern, bei denen mangelnder Tonus des Beckenbodens infolge
von Spina bifida den Prolaps beim ersten Schreien zustande
kommen ließ und zweifelt, daß das Retinakulum auch dann
seine Funktion weiter üben würde, wenn die hintere Scheiden¬
wand nicht nur vorübergehend, wie in jenem Beispiele, sondern
dauernd ausgeschaltet würde, während bei Rissen strammes
Narbengewebe einen teilweisen Ersatz bildet. Gründe genug, um
doch dem Beckenboden eine größere Bedeutung zuzuschreiben als
dies geschieht, wenn man sich den Uterus ausschließlich durch
den Haftapparat im Becken schwebend denkt. Nichtsdesto^
weniger gibt auch Martin zu, daß der Beckenboden
aü der L ag e erhal tun g der Beckenorgane mitwirkt
und bis zu einem gewissen Grade die subseröslen
Gewebszüge unterstützt. Halten wir diesen Satz fest, so
finden wir vielleicht in ihm die Brücke zur Einigung der sich
heute so schroff gegenüberstehenden Anhänger der Lehre vom
Stützapparate hier und der Lehre vom Haftapparate dort. Ich
glaube, die Natur läßt sich nicht schematisieren. Wie zumeist
dürfte auch hier die Wahrheit in der Mitte liegen. Ob dann
schließlich dem Levator ani selbst oder seiner Faszie die Haupt¬
funktion bei der Lageerhaltung zugeschrieben wird, scheint mir
nicht von so großer Bedeutung, denn Muskel und Faszie gehören
doch zusammen und unterstützen und helfen sich gegenseitig.
Niemand wird das Werk E. Martins aus der Hand legen,
ohne nachhaltige Befriedigung zu empfinden. Eine gediegene
ernste Arbeit, eines noch jungen, aber schon gediegenen ernsten
Forschers, von dem die Gynäkologie noch viel zu erwarten hat.
Nicht unterlassen können wir es, zum Schlüsse die vor¬
zügliche Ausstattung des Werkes, die wahrhaft künstlerischen
Tafeln Lohs es und die handliche Buchbinderarbeit, die als
mustergültig für ähnliche Tafelwerke zu empfehlen wäre, rühmend
hervorzuheben.
Die Verlagshandlung S. Karger hat auch mit diesem Werke,
wie schon so oft, wieder einmal Vortreffliches geleistet.
Schaut a.
*
Beiträge zur praktischen Chirurgie.
Von Dr. Krecke.
Bericht über die Jahre 1907, 1908, 1909 aus seiner chirurgischen
Privatklinik.
532 Seiten.
München 1910, Lehmanns Verlag.
Es ist eine erfreuliche Erscheinung, daß ein Chirurg den
Jahresbericht seiner Tätigkeit, wenigstens zum größten Teile,
selbst schreibt. Man merkt das aber diesem Berichte auch auf
jeder 'Seite an, denn mit solcher Wärme, solch feinem Gefühle im
Fortlassen des minder Wichtigen und Betonen des Beachtens¬
werten, schreibt nur derjenige, der das, was er beschreibt, erlebt
und empfunden hat. Dadurch kommen auch Unsicherheiten in
der Diagnosen- und Indikationsstellung, alle Unvollkommenheiten
in der Behandlung in dem der Wirklichkeit entsprechenden Aus¬
maße in höchst lehrreicher Weise zum' Ausdruck, zumal der
Autor nichl schönfärberisch auftritt, Irrtümer freimütig einge¬
steht und eine sehr nüchterne, wohltuende Kritik selbst an weit¬
verbreiteten Ansichten furchtlos übt. Gerade das alles ist es
aber, was den von Schülern erstatteten Jahresberichten fehlt
und ihnen jede persönliche Note und damit auch das Interesse
raubt. Diese jungen Kräfte, die ihre Schilderungen aus den
Krankengeschichten nehmen, erschöpfen sich in Zahlen. In diesem
Jahresberichte wird man damit nicht behelligt. Die Statistik wird
in wenig Zeilen abgetan und nicht viel mehr gesagt, als daß sich
die Zahl der in Betracht gezogenen Operationen im Laufe der
drei Jahre auf 1925 belief.
Zu bedauern ist nur ein Mangel und das ist der an Obduk¬
tionen und Nachuntersuchungen.
Der 532 Seiten starke, gut ausgestattete Band bietet dem
Chirurgen und dem allgemein medizinisch beschäftigten Arzte
eine Fülle des Wissenswerten u. zw. nicht nur in Form von
Kasuistik, sondern auch verschiedener Gedanken und Kritiken.
Er gewährt Einblick in die durch die modernsten Einflüsse ver¬
änderte Tätigkeit, Beobachtungs- und Denkweise der Chirurgen.
Durch die Zusammenstellung fast aller Gebiete chirurgischer Tätig¬
keit, wird es möglich, daß einzelne, immerhin wichtige Beob¬
achtungen — wie zum Beispiel ein Fall von diabetischer Gangrän
des Gesichtes — die, weil ihre Mitteilung an sich zu kurz wäre,
unbekannt bleiben, doch zur allgemeinen Kenntnis kommen.
Auf den ersten 102 Seiten werden allgemein chirurgische
Angelegenheiten besprochen. Zur Anästhesierung verwendet der
Verfasser vorwiegend die Morphin - Aethernarkose und hat mit
Skopolamin zwei Todesfälle gehabt, die er auf Rechnung des
Medikamentes .setzt. Er empfiehlt die Stauungsbinde um den Hals
als Mittel gegen das Erbrechen nach der Narkose. Von großem
Interesse ist der Aufsatz über das Karzinom. Der Verfasser hält
die sehr umfänglichen Operationen beginnender Karzinome für
überflüssig und hat fast den Eindruck gewonnen, als ob durch
die Fortnahme des Drüsenfilters die Organmetastasen häufiger,
die lokalen seltener würden. Immer wieder wird auf die wech¬
selnde Bösartigkeit der Krebsgeschwülste hingewiesen. Die lang¬
sam wachsenden Krebsgeschwülste der Greisinnen operiert der
Verfasser überhaupt nicht.
In besonders ausführlicher Weise sind die Kropf Operationen
(41 Seiten) von Dr. Daeschler abgehandelt. Die in den letzten
zehin Jahren operierten 217 Fälle bilden die Grundlage dieser
Ausführungen. Di© Strumektomien werden in Narkose gemacht.
Die Resektionen und halbseitigen Exstirpationen werden derart
bevorzugt, daß nur sechs Enukleationen zur Ausführung kamen.
Um die Verletzung des Rekurnens zu vermeiden, wird er immer
auspräpariert. Unter 216 Strumektomien kam es nur 14mal zur
Verletzung des Nerven. Um auch diese Ziffern herabzusetzen,
wird jetzt an der Arteria thyreoidea inferior immer ein tauben-
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
425
eigroßes Stück des Schilddrüsengewebes gelassen. Es ereigneten
sich im Verlaufe der Operationen sechs Tetanien. Auf Einpflan¬
zung von Schilddrüsengewebe in die Tibia, kam es zu leichter
Besserung. Auch die Basedowstrumen werden in Narkose ope¬
riert, aber da wird nur Aether zur Narkose verwendet. Der Ver¬
fasser hat mit dem Serum nach Möbius recht gute Erfolge erzielt.
Die tuberkulösen Empyeme wurden einige Male mit gutem
Erfolge so behandelt, daß nach der Thorakozentese Jodoformemul¬
sion eingespritzt wurde.
Die Laminektomie wegen Spondylitis und die Förster-
schei Operation werden auf Grund eigener Erfahrungen be¬
sprochen.
Der i Verfasser ist ein Freund des Frühaufstehens nach Lapa¬
rotomien und bringt das bei den am Magen Operierten besonders
nachdrücklich vor. Es wird ferner über acht Kolonkarzinome
Bericht erstattet, von denen die meisten in drei Akten operiert
wurden. Bei den Gallensteinoperationen wird noch die Ansicht
ausgesprochen, daß Konkremente nur in der Gallenblase ent¬
stehen können.
Einen breiten Raum — 64 Seiten — nimmt natürlich auch
die Darstellung der Erfahrungen mit der Appendizitis ein. Der
Verfasser ist der Ansicht, daß sich leichte und schwere Erkran¬
kungen genügend sicher unterscheiden lassen, um .jene unoperiert
zu lassen. Schwere Fälle operiert er aber ohne Rücksicht auf
die Dauer der Erkrankung. Er ist der Ansicht, daß dem appen-
dizitischen Abszesse die Operation immer folgen müsse, weil
sonst Rezidiven sicher eintreten und entfernt bei der Eröffnung
des Abszesses immer die Appendix. Seine Erfolge sprechen für
seine Anschauung, denn nur einmal hat er bei den zahlreichen
derartigen Operationen die Appendix schon vollständig zerstört
gefunden. Jeder appendizitische Anfall ist dem Autor eine Indi¬
kation für die Appendektomie im Intervall. Eine chronische Appen¬
dizitis ohne vorausgegangenes akutes Stadium wird anerkannt.
Der Schrägschnitt gilt als Regel, der pararektale wird nur bei un¬
sicherer Diagnose gemacht, oder wenn ausgiebige Tamponade
in Aussicht steht. Die Abszesse werden prinzipiell von der freien
Bauchhöhle her angegangen. Ausspülungen werden nur bei diffuser
Peritonitisi und dann mit 20 bis 30 Litern Flüssigkeit unternommen.
Bei 'umschriebenen Eiterungen wird Verschleppung der Infektions¬
stoffe befürchtet und nicht gespült. Soll aber die Operation rasch
beendet werden, wird auch bei diffuser Peritonitis nicht gespült.
Die Drainage wird nur in beschränkter Weise u. zw. mit dem
Zigarettendrain ausgeführt. Als Nahtmaterial dient nur Seide.
Feber die Enterostomie bei entzündlichem Ileus hat sich der
Verfasser noch nicht zu einem abschließenden Urteile durchge¬
rungen, hegt aber kein großes Vertrauen in das Verfahren. Die
Kochsalzinfusionen wurden durch die rektalen, tropfenförmigen
Eingießungen völlig verdrängt. Die Douglasabszess© werden vom
Mastdarme aus eröffnet.
Die Prostatahypertrophie operiert der Verfasser lieber von
der Blase aus. Die Operation der Wanderniere wird abgelehnt,
die Krankheit als eine nichtchirurgische bezeichnet. Es wird über¬
ein Hypernephrom berichtet, das zuerst Erscheinungen von Py¬
lorusstenose verursachte und deshalb zur Gastroenterostomie
führte. Diese hatte auch Erfolg, aber die richtige Diagnose wurde
erst ein halbes Jahr später gemacht, als sich die Geschwulst im
Epigastrium zeigte und dort eine Probeexzision gemacht wurde.
Man hatte bei der ersten Operation ein infiltriertes Magengeschwür
angenommen. Eine andere Beobachtung hat deshalb Interesse,
weil es nach der Operation eines Hypernephroms vier Jahre bis
zum Tode dauerte, wiewohl die Geschwulst nicht vollständig
entfernt werden konnte, da sie schon in die Venen eingebrochen
war.
Im Berichte finden sich auch nicht wenig gynäkologische
Operationen. Der Verfasser ist für die Totalexstirpation als Be¬
handlung des Prolapses sehr eingenommen. Die Schenkel hemien
operiert der Verfasser so, daß er das Poup art sehe Band an die
Fascia pectinea annäht, oder mittels einer Muskelplastik die
Bruchpforte verschließt. Die Erfolge befriedigen ihn. Nabelbrüche
wili er aber nur operieren, wenn die Frauen noch nicht 50 Jahre
alt sind.
Ueber die angeborene Hüftgelenksverrenkung wird von
Dr. Baum Bericht erstattet. Mit der Stauungsbehandlung winden
bei fungösen Gelenkserkrankungen gute Erfolge erzielt. Der Ver¬
fasser hatte die Ueberzeugung, daß es nur dieser Behandlungsart
gelingt, bewegliche Gelenke nach der Ausheilung zu erzielen.
Tuberkulin: wird in sehr geringen Dosen, die kein Fieber erzeugen,
verwendet. Kinder werden streng konservativ behandelt, selbst
Auskratzungen — weil diese erfolglos bleiben — unterlassen.
Ueber die Frakturen wird nur ein kurzer Bericht erstattet.
Es wird darauf hingewiesen, daß es Radiusfrakturen gebe, die
irreponibel sind. Die Fixation wird beim Speichenbruche nur
acht Tage lang fortgesetzt, dann eine Gipsschiene angelegt und
täglich werden Bewegungen gemacht.
Aus diesen Andeutungen möge die Reichhaltigkeit des Be¬
richtes erkannt und entnommen werden, wie lehrreich er für
den1 Chirurgen und den der Chirurgie ferner Stehenden ist.
*
700 diagnostisch-therapeutische Ratschläge für die
chirurgische Praxis.
Von Walter M. Bricluier, Eli Moschcowitz, Harold M. Hays.
Deutsche Uebersetzung nach der dritten amerikanischen Auflage von
E. Schümann.
4 Mark.
Leipzig 1910, A. Barth.
Kompendien sind anscheinend für amerikanische Lebens¬
gewohnheiten auch schon zu ausführlich und beschwerlich. Sie
werden überboten durch diese Sammlung von fast im Telegramm¬
stile gehaltenen therapeutisch - diagnostischen Ratschlägen. Sie
können wohl nur dazu dienen, durch Fahrten und Warten er¬
zwungene müßige Stunden auszufüllen. Manche erprobte Regel
wird hier in das Gedächtnis zurückgerufen, etwa abhanden ge¬
kommene Assoziationen werden wieder geweckt, vor versteckten
Gefahren wird gewarnt. Keinesfalls ist das Buch für den Ler¬
nenden verwendbar, es kann nur dazu dienen, an Vergessenes
zu erinnern.
Ein besonderes Kapitel ist der Narkose, ein anderes der
Nachbehandlung Operierter gewidmet. Durch sparsameren Druck
hätte man das nur 153 Seiten starke Büchlein noch handlicher
machen können.
Wir wollen hoffen, daß deutsche Aerzte sich immer noch
lieber von ihren Lehr- und Handbüchern als solcher Quintessenz
in Schlagwörtern belehren lassen wollen. Ewald.
*
Frequence de la tuberculose parmi la population de
Kiruna.
Par Gustav Neander.
S t o c k h o 1 m 1910, Nordiska Bokhandeln.
Eine genaue Statistik über Lungentuberkulose, suspekte
Fälle und Lymphdrüsenschwellungen bei 2000 Personen, größten¬
teils Arbeitern der Societe Luossavaara-Kiirunavaara und deren
Familien, erhoben durch direkte Untersuchung derselben. Diese
Untersuchungen verdienen deshalb Beachtung, da Kiruna, der
Wohnort, dieser Leute, in 67° 51' nördlicher Breite liegt und die
Gemeinde, erst im Jahre 1900 gegründet, im Jahre 1909 bereits
8032 Einwohner zählte. Diagramme und Tabellen geben uns
Aufschluß über die Verteilung der einzelnen Gruppen auf die
verschiedenen Altersklassen, ohne daß daraus allgemein gültige
Gesetze über Infektionswege oder andere Fragen abgeleitet würden.
*
Klinik der Tuberkulose.
Von Bandelier und Koepke.
Würzburg 1911, Kabitzscb.
Die bekannten Verfasser des außerordentlich verdienstvollen
„Lehrbuches der spezifischen Diagnostik und Therapie der Tuber¬
kulose“ versuchen es hier, ein „Handbuch der gesamten Tuber¬
kulose“ zu schreiben, 459 Seiten stark. Einzelne Kapitel darin
verdienen alles' Lob, so das über „Tuberkulösen Rheumatismus .
„Funktionelle Störungen“ bei Tuberkulose, da darin auf Grund
sorgfältiger Verwertung der neuen und neuesten Literatur weniger
allgemein bekannte Tatsachen und Fortschritte klar und bündig
dargelegt werden. Ueberhaupt ist die Heranziehung der neueren
Arbeiten auf verschiedensten Gebieten in diesem Buche mit gioJF i
Freude zu begrüßen. Freilich würde sich Ref. eine „vollständige,
abgerundete, übersichtliche klinische Darstellung aller tuberku-
426
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
lösen Organerkrankungen“ anders vorstellen. Vergleicht man zum
Beispiel, was Verfasser über akute Tuberkulosen und über die
verschiedenen Formen der Lungentuberkulose sagen mit dem,
was A. Fraenkel in seiner Speziellen Pathologie und Therapie
der Lungenkrankheiten davon bringt, so fällt dieser Vergleich
sehr zu Ungunsten des vorliegenden Buches aus. Zu dürftig,
zu trocken und vom klinischen Standpunkte aus lückenhaft. Viele
Tonnen der proteusartigen Lungentuberkulose sind nicht einmal
dem Namen nach erwähnt. Und je genauer wir spezifizieren,
desto besser werden wir hier Prognose und Therapie beherr¬
schen lernen. Von diesem Gesichtspunkte aus wäre eine Er¬
weiterung des Buches sehr erwünscht.
*
Lehrbuch der spezifischen Diagnostik und Therapie der
Tuberkulose.
Von Bandelier und Roepke.
Fünfte, erweiterte und verbesserte Auflage.
Würzburg 1911, Kabitzsch.
Schon wieder eine neue, in drei Jahren die fünfte Auflage
dieses trefflichen Buches. Und dabei wieder eine Erweiterung
und Vervollkommnung des Inhaltes auf Grund der wichtigsten
neueren Arbeiten auf diesem gegenwärtig so viel bebauten Ge¬
biete. Wenn sich die spezifische Therapie der Tuberkulose zum
Segen der kranken und leidenden Menschheit wieder allmählich
Bahn bricht, so ist das gewiß ein Hauptverdienst beider Autoren,
die mit ihrem Buche ein Standardwerk geschaffen haben.
W. Neumann.
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
292. Die Bedeutung des Pestausbruches in der
Mandschurei für Europa, insonderheit für Deutsch¬
land. Von Dt. Trautmann, Abteilungsvorsteher am staat¬
lich hygienischen Institut in Hamburg. Der Angelpunkt der epi¬
demiologischen Beobachtung der Pest ist der Umstand, daß sie
in letzter Linie eine Tierkrankheit ist, aber von unendlich viel
höherer Infektiosität und Pathogenität für den Menschen, als
sonst eine Tierkrankheit. Es geht der Pest ein großes Sterben
der Nager unter bestimmten typischen Erscheinungen voraus ;
dann flieht die Bevölkerung, verbrennt ihre Wohnstätten oder
meidet sie viele Monate lang; sind die Menschen erst ver¬
seucht, zumal mit Lungenpest, so ist die zweite schwere An¬
steckungsquelle mit allen Möglichkeiten der Uebertragung ge¬
geben. Zu uns kann die Pest kommen auf dem Landwege (sibi¬
rische Bahn), oder auf dem Seewege. Haben wir nun zu fürchten,
daß die Pestkrankheit sich bei uns etwa wie die"Cholera aus¬
breiten werde? Die Frage ist mit nein zu beantworten. Bei der
Pest sind uns „Keimträger“ bislang unbekannt geblieben. Darin
liegt ein großer Vorteil. Dauerausscheider (Lungensputum, Bubo)
sind dagegen mehrfach nachgewiesen worden. Eine Pesteinschlep¬
pung durch Dauerausscheider auf dem Wege Mer sibirischen Bahn
wäre also möglich; freilich ist die Entfernung eine rie¬
sige und der Personenverkehr auf dieser Bahn ein ge¬
ringer. Von der Cholera unterscheidet sich die Pest noch
vorteilhaft, daß eine Verschleppung durch Wasser als solches
auf weitere Strecken nicht bekannt ist. Der Pesterreger gehört zu
den empfindlicheren Krankheitskeimen, er ist sporenlos, gegen
trockene hohe Hitze und Desinfizientien sehr empfindlich, nicht
aber gegen Kälte. Da Fälle berichtet werden, daß Bekleidungs¬
stücke von Erkrankten oder Verstorbenen selbst bis .Jahresfrist
noch infektiös gewesen sind, so könnten »Sendungen von Kleidern,
Wäsche und Waren in Europa noch Schaden anrichten. Gegen
die Einschleppung auf dem Seewege ist Deutschland mit guten
Schutzwällen versehen, in gleicher Weise sind die Vorsichts- und
Abwehrmaßregeln zu Lande genügend geregelt. Dazu kommen
unsere guten sanitätspolizeilichen und hygienischen Einrichtun-
gcn, die Nager bilden bei uns keine Plage, der Hauptvermittler
der Pest in niedriger gelegenen Gebieten, die schwarze Hausratte,
ist bei uns fast ausgerottet und mit ihr fehlt der gefährliche Pulex
Cheopis. Unsere Wanderratte, Mus decumanus, trägt eine andere
Flohart, die nicht sehr geneigt scheint, auf den Menschen über-
zugehen. Pestverschleppungen nach Europa haben daher in neuerer
Zeit keinen Boden gewinnen können. Verf. bespricht sodann den
anscheinend recht geringen Schutz des Individuums nach über¬
standener Pesterkrankung, die notwendige staatliche Vorsorge nach
Bestellung von Aerzten (Kliniker, Medizinalbeamte’, Bakteriologen),
welche die Seuche aus eigener Anschauung und durch Studium
kennen gelernt haben, er erwähnt, daß die Klinik und Pathologie
der Pest noch manche dunkle Punkte enthält, daß es hier noch
Streitfragen gebe. So ist zum Beispiel die Ausscheidung der
Pestbakterien durch den Darm, besonders auch die Frage, ob
es eine primäre Darmpest gebe, noch nicht aufgeklärt, der Wert
der verschiedenen Schutz- und Heilimpfungen sollte mit zuver¬
lässigen Präparaten nochmals geprüft werden, die hygienischen
Verhältnisse und Volkseigentümlichkeiten, wie die behördlichen
Maßnahmen in den verschiedenen Pestausbruchsgebieten usw.
sollten sorgfältig studiert und aufgezeichnet werden. Wohl hat
die englisch - indische Pestkommission in den letzten Jahren die
Ergebnisse ihrer glänzenden Versuche über die Zwischenrolle
der Insekten (Flöhe) für Verbreitung der Pest von Tier zu Tier
und von Tier zu Mensch mitgeteilt, doch bleibt noch immer ein
leiser Zweifel, ob bei der Pestübertragung nicht noch weiteres irn
Spiele sei. Auffällig und nicht befriedigend erklärt ist die Frage
der sogenannten „Pesthäuser“, der Wechsel zwischen Lungenpest-
und Bubonenpestepidemie u. m. a. Also auch die Pestlehre birst,
wie jede Wissenschaft, zahlreiche alte und [neue ungelöste Fragen.
(Deutsche mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 8.) E. F.
*
293. (Aus der 1. chirurgischen Universitätsklinik in When.
Vorstand: Prof. Dr. Frh. v. Eis eis b erg.)* Ein Vorschlag
zur blutigen Einrichtung der Unterschenkel- und
Vorderarmbrüche. Von Priv.-Doz. Dr. Paul Clairmont.
Am Unterschenkel und Vorderarm kommen Frakturen vor, die
allen Repositionsmethoden trotzen und wo auch durch dauernde
Extension keine genaue Adaption der Fragmente zu erzielen ist.
Nun gehört aber zu 'einem guten funktionellen Resultat 'bei Unter*
schen kel frak turein auch ein gutes anatomisches Resultat. Man ent¬
schließt sich in solchen Fällen daher leichter zur Knochennaht.
Für diese Fälle also, die sonst mit Knochennaht behandelt werden
müßten, schlägt Verfasser einen kleinen Eingriff vor, durch den
es gelingt, die Fragmente zu reponieren. Verf. hat das Verfahren
einigemal angewendet bei Frakturen, bei welchen das untere
Fragment gegen den Interossealraum disloziert war und erzielte
damit gute Resultate. Das Verfahren besteht darin, daß man über
dem dislozierten Fragment einen kleinen Einschnitt macht und
mit einem kräftigen, einzinkigen Knochenhaken das dislozierte
Knochenfragment aus dem Interossealraum herauszieht und in die
richtige Lage bringt. Der Eingriff ist also für geeignete Fälle als
Ersatz des eingreifenderen Verfahrens, der Knochennaht, gedacht.
(Langenbecks Archiv, Bel. 93, H. 3.) se.
*
294. (Aus der Direktorialabteilung des städtischen Kranken¬
hauses Nürnberg. — Prof. Dr. Müller.) Klinische Erfah¬
rungen mit Adalin, einem neuen bromhaltigen Seda¬
tivum und Hypnotikum. Von Dr. E. Sch ei de man, fei.
Verf. hat das Adalin, ein Bromdiäthylazetylhamstoff, während
eines Zeitraumes von 8 Monaten, in der Gesamtmenge von 900g an
einem ausgedehnten Krankenmaterial der inneren Abteilung auf
seine Wirksamkeit als Sedativum und Hypnotikum geprüft. Bei
der geringen Wasserlöslichkeit empfiehlt es sich, das farblose
Pulver in Oblaten, unter Nachtrinken von warmem Tee zu geben.
Für unauffällige Darreichung kann man es wegen der Geschmack¬
losigkeit in etwas Wein oder flüssigbreiige Speisen einmischen.
Die Einzeldosis als Sedativum ist 0-25, die Tagesdosis 0-75.
Schlaf erzielt man durch eine Dosis von 0-5 bis 1-0, am besten
eine Stunde nach der Abendmahlzeit auf der Höhe der Verdauung
verabreicht. Noch bessere Wirkung sah Verf. nach fraktionierter
Darreichung von zweimal 0-5 in Zwischenräumen von einer Stunde.
In dieser Form versagte das Mittel fast nie. Die Unschädlichkeit
des Mittels erwies sich durch länger fortgesetzte Tagesgaben bis
zu 3-0 bei schweren Epileptikern. Unangenehme Nebenwirkungen
zeigten sich nicht. Auch magenempfindliche Personen vertragen
Adalin gut. Bromismus tritt bei längerem Gebrauche nicht auf;
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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eine ausgesprochene Bromakne heilte unter Adalintherapie rasch
ab. Der Schlaf ist ruhig, gleichmäßig, tritt in der Regel nach
'% bis 3U Stunden ein, erstreckt sich bei 0-5 auf zirka fünf
Stunden, bei 1-0 auf zirka acht bis neun Stunden. Verzögerungen
der Bromausscheidung ließen sich bei Adalinzufuhr nach chemi¬
schen Untersuchungen am Chloroformextrakt des Urins nicht fest¬
stellen. Das Adalin wurde mit gutem Erfolge angewendet in erster
Linie bei nervöser Schlaflosigkeit, bei Asomnie im Befolge von
Infektionskrankheiten, bei innerer Unruhe und Tremor in hyper-
thyreoiden Zuständen, bei Neurasthenikern und Hysterischen mit
gesteigerter Affekterregbarkeit. Schi- gut bewährt hat es sich
ferner bei leicht schmerzhaften Affektionen, wie Blasen- und
Nierenbeckenentzündungen und weniger intensiven Neuralgien,
während es bei stärker schmerzhaften Entzündungen der Pleura
und des Peritoneums versagte. In zwei Fällen Schwangerschafts¬
eibrechen und ganz besonders bei einem Tumor der hinteren
Schädelgrube mit ausgesprochener Vagusreizung Avar der Erfolg
ein .ganz ausgezeichneter. In letzterem Falle ließ die Atembeschleu¬
nigung, das Erbrechen, heftiger Singultus, vereint mit starker
Unruhe im Schlaf, fast ganz nach, ohne daß bis dahin diese
Reizzustände durch große Bromdosen oder Veronal irgendwie
beeinflußt ‘werden konnten. Ein weiteres Anwendungsgebiet ergab
sich bei den Herzneurosen sowohl rein funktioneller als orga¬
nischer Aetiologie. Sehr günstig wurden die verschiedenen De¬
pressions- wie Erregungszustände und Hauthyperästhesien im Be¬
folge von Aortenerkrankungen, besonders auf syphilitischer Basis,
beeinflußt, ebenso die Angina pectoris bei Koronarsklerose. Adalin
kann auf diesem Gebiete nach Verfassers Ansicht nicht nur als
Beruhigungs-, sondern auch als Heilmittel angesehen werden, da
durch die Beseitigung der Erregbarkeit und die Herbeiführung
eines erquickenden Schlafes auch die Herztätigkeit in ruhigere
Bahnen geleitet wird. Der Bromgehalt des neuen Mittels ver-
anlaßte den Verfasser auch, es in sieben Fällen von Epilepsie
anzuAvenden. Diese kleine Beobachtungszahl reicht allerdings nicht
zu einem genügenden Urteil aus. Verf. erklärt zum Schlüsse:
Adalin, eine Bromharnstoffverbindung der Fettreihe, ist indiziert
hei Zuständen, in denen man die Zufuhr von Brom mit einer
kräftigeren, beruhigenden Wirkung vereinigen und nicht, von vorn¬
herein zu den starken Schlafmitteln greifen will. Vermöge seiner
Mittelstellung zwischen der Gruppe der einfachen Sedativa und
der reinen Hypnotika ist die Bedeutung dieser neuen chemischen
Komposition um so beachtenswerter, als unser moderner Arznei¬
schatz an ähnlich mittelstark Avirkenden Präparaten nicht sehr
reich ist. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 8.) G.
*
295. Gibt es eine aszendierende Neuritis? Von
Georg Köster. Lep eile tier behauptete schon 1820 das Vor¬
kommen von aszendierender Neuritis; englische Aerzte, daun
auch Rokitansky und R. Remak vertreten entschieden die
Ansicht, daß eine Neuritis von der Peripherie aus aufwärts steigen
könne u. zw. sprungweise unter Uebergreifen auf andere Nerven-
gebiete bis hinauf zum Rückenmark, da nun aber irrtümlicher¬
weise von 'der aszendierenden Neuritis ganz verschiedene Er¬
krankungen als solche beschrieben wurden (zum Beispiel Nerven-
affektionen nach Gelenkserkrankungen, hysterische Lähmungen,
neuralgische Zustände) und zudem die Lehre von den Reflex-
lähmungen (Stanley, Gravis, Henoch, Romberg) aufkam
und ferner experimentelle Untersuchungen von Rosenbach,
Treub und Käst negativ aus fielen, so geriet die Lehre von der
aszendierenden Neuritis derart in Verruf, daß nur wenige Autoren
sie zu vertreten, wagten (Gail, v. Leyden, Erb, Seelig-
rnüller, Krehl usw.). Auch in der neuesten Zeit wird die
Existenzberechtigung dieses Leidens noch immer von zahlreichen
Autoren bezweifelt oder nur mit gewissen Einschränkungen zu¬
gegeben. Die Annahme, daß eine eitrige Infektion in den Nerven¬
scheiden aufwärts kriechen könne, wird zwar ziemlich allgemein
zugegeben, aber die Annahme einer echten aufsteigenden Ent¬
zündung des Nervenmateriales findet keine unbedingte Zustim¬
mung (Oppenheim, S trüm pell), obgleich Eulenburg, Mies,
Huismann und Curschmann Fälle beschrieben haben, avo
im Anschluß an ein peripheres Trauma nicht nur eine aul¬
steigende Neuritis, sondern auch eine Syringomyelie beobachtet
wurde. Köster berichtet nun über drei eigene Beobachtungen
von Neuritis ascendens, der infizierte Biß-, resp. Quetschwunden
zugrunde liegen. Auch in den in der Literatur niedergelegten
Fällen ist eine infizierte Verletzung einer Körperstelle das kon¬
stante ursächliche Moment für die EntAvicklung der aufsteigen¬
den Nervenentzündung gewesen. Die entstandene Neuritis unter¬
schied sich klinisch in nichts von den ätiologisch anders bedingten
Neuritiden, als nur durch die ausgesprochene Neigung auf- und
abwärts zu wandern. Das erste und auffallendste Symptom ist
der Schmerz. Die Schmerzbahn entspricht genau dem Verlaufe
des erkrankten Nerven, geht aber eventuell auch auf solche
Nerven über, die mit den ersterkrank ten in irgendeinem Zusam¬
menhänge stehen. Ein Uebenvandern der Neuritis aber von
einer Körperhälfte über die Medulla hinweg auf die andere Körper¬
hälfte wurde von Köls'ter nicht beobachtet. Nach Köster
geht es nicht an, die Existenz der aszendierenden Neuritis noch
bestreiten zu wollen. (Fortschritte der Medizin 1910, 28. Jahrg.,
Nr. 48.) K. S.
*
296. Zu meiner Methode der Hyperämicbehand-
lung der Lungentuberkulose. Von Oberstabsarzt a. D.
Dr. Eugen Jacoby in Charlottenburg. Das vom Verfasser unter
dem Namen der Autotransfusion schon in den Jahren 1897
und 1899 publizierte Verfahren besteht darin, daß einerseits der
Thorax tiefgelagert, anderseits das Becken und die unteren Ex¬
tremitäten hochgelagert werden, um so eine* bessere Verteilung
des Körperblutes nach den Lungen zu erzielen. Die Methode
wird vom Verfasser eingehend begründet. Zur besseren Ausführung
des Verfahren® ließ Verfasser einen Apparat konstruieren, der
— „Elevator“ genannt — aus graduierten, ineinander verschieb¬
baren, eisernen Röhren besteht und das Fußende eines Liege¬
stuhls emporhebt. Muttray hat das Verfahren lin seiner Lungen¬
heilstätte Moltkefels in Niederschreiberhau erprobt, au der I. medi¬
zinischen Klinik der kgl. Charite in Berlin (Professor B is) wurden
in der Zeit vom August 1908 bis Februar 1909, also sieben Monate
lang, in dieser Weise 22 Kranke des ersten und zAveitcn Turban-
Gebhardtschon Stadiums behandelt. Im Interesse der Kranken
wurden außerdem ausgenommen die Tuberkulinbehandlung
alle sonst üblichen Heilmethoden angewandt. Geht man schritt¬
weise langsam vor, so haben die Kranken so gut Avie keine Be-
schAverden. Der Nutzen zeigte sich in folgenden Erscheinungen :
Sieben Kranke gaben spontan an, daß die Atmung tiefer und
leichter würde; bei vier Kranken löste sich der Auswurf leichter,
offenbar infolge der besseren Durchtränkung der ßroiichialschleim-
haut mit Blut ; sechs Kranke verloren die vor Beginn der Tief¬
liegekur bestandenen Stiche vorne auf der Brust, in der Herzgegend
oder zAvischen den Schulterblättern schon nach einem bis zwei
Tagen, bei einer Kranken stellte sich 14 Tage nach Beginn der
Autotransfusion eine durch die Röntgenuntersuchung nachweis-
bare, auffallend ausgedehnte Lösung der Verwachsungen ein,
die bis dahin zwischen Lungenbasis und ZAverchfell bestanden
hatten und das Allgemeinbefinden besserte sich. Nützlich war
der Bettelevator, der das Fußende des Bettgestelles .Während
des Nachtschlafes eleviert, während früher starke Holzklötze unter
das Fußende des Liegestuhls geschoben wurden. Verf. berichtet
über die günstigen Resultate, welche in der Lungenheilstätte
Moltkefels (Dr. Muttray) erzielt wurden. Hier — Avie in der
Charite — wurde die Tietlagerung von den Tuberkulösen im all¬
gemeinen gut vertragen, es wurde die Expektoration und damit
die Reinigung der Lungen gefördert, die Kranken konnten besser
durchatmen, Stiche und Druck auf der Bi’ust schwanden und bei
zwei Kranken wurde auch objektiv durch dieses Hyperämie-
verfahren eine Avesentliche Besserung erzielt. Stärkere Hämoptoe,
Hämophilie und sehr vorgeschrittene Fälle eignen sich Aveniger
für diese Behandlung, dagegen dürften leichtere Hämophthisen
keine Kontraindikation gehen. Hauptsache ist, mit der Elevation
ganz langsam vorzugehen und dabei zu individualisieren.
(Deutsche medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 8.) E. F.
*
297. (Aus der Heilanstalt Hohwald hei Dresden.) Erfah¬
rungen mit Hämostogen-Löff ler. Von Oberarzt Doktor
Walther. Im Winter 1909/10 Avurden in der Heilstätte Hob-
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wald der Land es Versicherungsanstalt Königreich Sachsen syste¬
matische Nährversuche mit dem Löffler sehen Hämostogen ge¬
macht. Die damit behandelten Patienten erzielten größere Ge¬
wichtszunahmen als die übrigen Kranken, obwohl sie sonst in
nahezu jeder Beziehung einander gleichgestellt waren, sowohl was
Jahreszeit der Kur, Kostverhältnisse, Länge der Kur, Art und
Ausdehnung der Erkrankung betrifft. Der erzielte Mehransatz
dürfte also sehr wohl dem Hämostogen zugeschrieben werden
dürfen. -- (Fortschritte der Medizin 1910, 28. Jahrg., Nr. 46.)
K. S.
*
298. Ein durch Nierenentkapselung geheilter
Fall von puerperaler Eklampsie. Von Dr. J. C. Rein¬
hardt. Nach normal verlaufener Geburt trat schwere Eklampsie
ein. Decapsulation beider Nieren, die dunkelblaurot, grell, etwas
vergrößert sind. Post operationem noch vier Anfälle, dann sistieren
diese, das: Bewußtsein kommt wieder, Hammenge nimmt zu,
der Eiweißgehalt (vor der Operation 24%o) sinkt rasch, Heilung.
Verf. hält bei schweren puerperalen Eklampsiefällen mit Nieren¬
insuffizienz die Operation so frühzeitig als möglich indiziert.
— (Zentralblatt für Gynäkologie 1911, II. 3.) E. AL
*
299. Erfahrungen mit der zweizeitigen Pro¬
statektomie in Lokalanästhesie. Von Stabsarzt Dr. Paul
Kaiser, derzeit Assistent der I. chirurgischen Abteilung des All¬
gemeinen Krankenhauses Hamburg-Eppendorf (Prof. Dr. H. K ti m-
mell). Die zweizeitige Prostatektomie soll keineswegs als Normal¬
verfahren aufgestellt werden, es gibt aber Fälle, in welchen man
zu derselben seine Zuflucht wird nehmen müssen, um den Schwer¬
kranken womöglich zu reiten. Die Prostatiker stehen meist in hohem
Lebensalter, bei welchem schon die Narkose, Lumbalanästhesie etc.
genügen, um sie bei dem Eingriffe der Prostatektomie sehr zu ge¬
fährden. Geht man aber so vor, daß man zuerst eine Zystotomie
unter Schleich scher Lokalinfitration vornimmt, daß man dann
die schwer infizierte Blase bessert und die durch aufsteigende In¬
fektion und Rückslauung geschädigten Nieren entlastet, so schafft
man eine bessere allgemeine Widerstandsfähigkeit für den zweiten
Akt, für die Enukleation der Prostata, welche Operation bei
kokainisierter Blase unter der Einwirkung von Kognak und Morphium
ausgeführt werden kann, ohne daß der Kranke allzu große Schmerzen
ertragen müßte. Leistungsfähiges Nierengewebe ist Voraussetzung
der Prostatektomie. Die Sectio alta mit ihrer breiten Kommunikation
des Blasenkavums mit der Außenwelt gestattet einen unbehinderten,
auch nicht vorübergehend gestörten Harnabfluß, sodann eine viel
intensivere Behandlung der erkrankten Schleimhaut, insbesondere
auch der Divertikel, als Dauerkatheter und Blasensptilungen. Schlie߬
lich wird auch die spätere Wundinfektionsgefahr durch die präli¬
minare Zystotomie, die in wenigen Minuten ausgeführt ist, sehr
verringert, da ja der Defekt im Blasenboden erst im zweiten Akt,
also zu einer Zeit gesetzt wird, wo der Harn schon klar ge¬
worden ist und seine hohe Infektiosität verloren hat. Auch für die
endgültige Heilung wird ein besseres funktionelles Resultat er¬
zielt. Natürlich wird auch beim zweizeitigen Vorgehen mancher
urämische Prostatiker dem Eingriffe erliegen, viele andere werden
aber, wie die Erfahrung gelehrt hat, bei solchem Vorgehen eher
am Leben erhallen werden. — (Berliner klin. Wochenschr. 1911,
Nr. 8.) E. F.
*
300. (Aus der gynäkologischen Abteilung der Friedrich-
Wilhelm - Stiftung in Bonn.) Ueber Wesen und Behandlung
der Osteomalazie. Von Dt. H. Cramer. Der Verfasser
verweist zunächst auf seine vor zwei Jahren gemachten Mit¬
teilungen über die Beziehungen des Ovariums zur Osteomalazie.
Er führte damals aus, daß die Keimdrüse auf diese eigentümliche
Knochenkrankheit insofeme einen Einfluß gewinnt, als sie physio¬
logischerweise eine erhebliche Einwirkung auf das Knochenwachs¬
tum und den Knochenstoffwechsel besitzt. Es gelang ihm, den
exakten, experimentellen Nachweis zu erbringen, daß auch die
bekannte Exazerbation der osteomalazischen Symptome während
der Gravidität vom Ovarium abhängt. Er kam dann zu dem
weiteren Schlüsse, daß die Exazerbation der Osteomalazie nicht
nur während der Menses, sondern auch während der Gravidität
durch eine Steigerung der inneren Sekretion des Ovariums be¬
dingt ist. Hanau und AV ild haben nun den Nachweis gebracht,
daß bei normalen graviden und puerperalen Frauen mikroskopische
Veränderungen am Knochen sich finden, die dem Bilde der
beginnenden Osteomalazie entsprechen, daß also die Gravidität
allein schon leichte Grade der Osteomalazie bewirken könne.
Damit ist der Abhängigkeit der Osteomalazie von der Keimdrüse
eine neue starke Stütze gegeben. Nach Verf. ist man allerdings
deshalb noch nicht berechtigt, dem Ovarium eine ätiologische
Rolle für diese Knochenkrankheit zuzuerkennen. Zahlreiche kli¬
nische Erfahrungen sprechen dagegen. So führte in einzelnen
Fällen die Kastration nicht zur Heilung. Ferner sind die guten
Erfolge der Phosphortherapie ohne die Kastration allbekannt.
Bossi sah von Adrenalininjektionen gute Erfolge, auch spon¬
tane Besserungen und Heilungen sind beobachtet. Weiterhin
müssen eine Reihe anderer Gesichtspunkte mit berücksichtigt
werden. Die Osteomalazie hat einen ausgesprochen endemischen
Charakter. In bestimmten, oft eng begrenzten Bezirken, tritt sie
gehäuft auf. So ist in der Nähe von Bonn eine Osteomalazie¬
gegend, aus der von des Verfassers 21 Fällen 15 stammen,
während aus seinem größeren Patientenkreis1 des Ahr- und Sieg¬
tales nie eine Osteomalazie konstatiert wurde. Eigentümlich ist
die Tatsache, daß in der genannten Gegend nicht nur die Menschen,
sondern auch die Tiere, häufig au Knochenerweichung erkranken.
Auffallend ist, daß in dieser Osteomalaziegegend der Boden ganz
besonders kalkarm ist. Dies kann aber nicht der Grund für die
Entstehung der Osteomalazie sein, da Kalkzufuhr auf diese Er¬
krankung gar keinen Einfluß hat. Dies endemische Auftreten
hat. nach Verf. eine auffallende Aehnlichkeit mit der Verbreitung
der Struma. Das U eberwiegen des weiblichen Geschlechtes an
der Erkrankung erklärt Arerf. damit, daß dasselbe infolge der Be¬
sonderheit seiner Geschlechtstätigkeit eine viel größere Dispo¬
sition zu Störungen des Knochenwachstums und Knochenstoff-
wechisels hat. Auch hier zeigt sich eine auffallende Parallele
zu den Erkrankungen der Schilddrüse. Auch diese, Struma und
Basedow, treten beim weiblichen Geschlecht viel häufiger aut
als beim männlichen. Die klinische Diagnose der Osteomalazie
ist im Anfangsstadium oft äußerst schwierig. Charakteristisch sind
Schmerzen im Rücken, int Brustkorb, besonders bei Kompression
von den Seiten oder von vorn nach hinten ziehende Schmerzen
in den Armen und Beinen, allgemeine Schwäche, watschelnder
Gang, Behinderung und Schmerzhaftigkeit der Abduktion der
Oberschenkel. Bei Veränderungen am Knochensystem ist die Dia¬
gnose nicht mehr zweifelhaft. AVichtig ist noch die meßbare
Verringerung der Körpergröße. Der klinische Verlauf ist indi¬
viduell .sehr verschieden. Fälle mit jahrzehntelangen Beschwerden
ohne besondere Knochenv'eränderungen, dann wieder bei ein¬
zelnen Kranken ein stürmischer Verlauf, schnell einsetzende Geh¬
störungen und Knochendeformitäten. In der Therapie steht seit
Fehlings Entdeckung die Kastration im Vordergründe. Sehr
wichtig ist die restlose Entfernung der Keimdrüse. Verf. rät,
die Tube stets mit zu resezieren. Dann folgt die Serum therapie.
Die Firma Merck hat von kastrierten Schafen ein Blutserum,
das Antimalazin, hergestellt. Verf. hat es versucht, kann aber
kein definitives Erteil darüber abgeben. Frank el hat die Milch
einer kastrierten Ziege bei Osteomalazischen versucht und Besse¬
rungen erzielt. Auch Verf. hat dieselbe in einem Falle von
Osteomalazie angewendet und Besserung des Gehvermögens er¬
zielt.. Mil der Phosphortherapie wurden nicht nur Besserungen,
sondern auch Heilungen erzielt. Es ist nur schwer, den Phosphor
in sicherer Dosierung zu verabfolgen. Das Präparat „Phosphaeliit“
(Körte- Hamburg) soll den Phosphor in gleichbleibender Kon¬
zentration enthalten. Bossi hat die Adrenalininjektionen in die
Therapie 'der Osteomalazie eingeführt. Verf. hat keine eigenen Er¬
fahrungen darüber. Nach den Literaturangaben scheinen aber
keine dauerhaften Heilungen mit dieser Methode erzielt worden
zu sein. (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 8.) G.
*
301. Lungenemphysem und Volumen pulmonum
au c tum. Von Franz C. R. Eschle. Nur bei größter Ruhe
und Schonung, sowie Vermeidung aller den kompensatorischen
Vorgang beeinträchtigenden Maßnahmen gelingt es, einen größeren
Tonus . des primär gestörten Organes und damit zugleich den regu¬
lären des kompensierenden wiederherzustellen. Dies gilt nicht
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
429
Nr. 12
)loß in erster Linie für das Volumen pulmonum auctum inspi-
atorium, sondern auch noch für das Volumen pulmonum auctum
»ermanens, wo es sich schon um einen gewissen Grad von
Vtonie handelt und das eigentliche, substantielle Emphysem, die
.ungenstarre, bei der die tonischen Kräfte für die respiratorische
,'erkleinerung nicht mehr ausreichen, also bereits absolute In-
uffizienz des Betriebes eingetreten ist. Nur durch entsprechende
.eitweilige oder dauernde Einschränkung des äußeren (außer-
vesentlichen) Betriebes und durch Förderung der inneren (we-
, entliehen) Leistung kann im ersten Falle noch ein der Norm
ihnlicheriZustand, das andere Mal die leidliche Aufrechterhaltung
les Gleichgewichtes, im dritten Fälle das Fortarbeiten des irre-
larabel defekten Apparates erzielt werden. In medikamentöser
linsicht kommt für die Regulation des Tonus im Sinne der
’lorm vor allem das Opium in Betracht, nicht also als Nar-
:otikum, sondern als ein Mittel, von welchem Rosenbach nach-
;ewiesen hat, daß es in kleinen Gaben direkt für die Energetik
les wesentlichen Betriebes von größter Bedeutung ist. Als Ener-
jotonikum kommt weiters die Digitalis in Betracht und endlich
las Ergotin. Eschle kombiniert meist alle drei Mittel (Opii
>uri 0-5, Fol. Digital. 3-0, Extr. et pulv. secal. cornut. an a 5-0,
ii f. pil. Nr. C. DS. : dreimal täglich, zwei Stück mit wöchentlich
Ireitägiger Unterbrechung). Bei der Lungen starre bleibt aller-
lingSi in der Regel nichts übrig als die Bekämpfung der lang-
vierigen chronischen Katarrhe (Catarrhus siccus ist die lästigste
Komplikation). Hier erfreuen sich die Senega, das Jodkalium
ind der Liquor ammonii anisati einer durchaus berechtigten Be-
iebtheit, wobei abermals diese Mittel sehr zweckmäßig mit
Jpium oder Morphium zu kombinieren sind. Bei den dyspno-
schen Anfällen sind die gegen Asthma gebräuchlichen Mittel
'U verwenden, prophylaktisch aber eine vorsichtige Diät und
üorge für tägliche Leibesöffnung. Punkto Klimatotherapie ist zu
>eachten, daß Kranke im Stadium der guten Kompensation (Vol.
)ulm. auct. inspirat.) am besten mittlere Wärme und mittlere
iöhenlagen vertragen, während in den späteren Stadien niedrig
’elegene sonnige Orte vorgezogen werden, vorausgesetzt, daß
lie Luft nicht zu warm und zu trocken ist. — (Fortschritte
ler Medizin 1910, 28. Jahrg., Nr. 50 und 51.) K. S.
*
302. Die Einwirkung des ultravioletten Quarz¬
ampenlichtes auf den Blutdruck, mit Bemerkungen
Aber seine therapeutische Verwendung bei Allge¬
nei n er kr ankungen. Von San. -Rat Dir. Hugo Bach. Angewandt
vurde die stärkste Quarzlampe der Quarzlampengesellschaft zu
Hanau am Main für 3-5 Ampere. — 220 Volt mit über 3000 Kerzen
Lichtstärke. Die Bestrahlungen wurden — gleichzeitig an meh¬
reren Personen — in einer Entfernung von einem bis zwei Metern
von der Lichtquelle vorgenomüien, es wurde nur eine Teilbestrah¬
lung (Rücken oder Vorderseite des Rumpfes, im Liegen oder
Sitzen) vorgenommen. Die Augen und der Kopf sind zu schützen,
lie Bestrahlung darf nicht zu lange ausgedehnt werden, 5 bis
15 Minuten lang. Die Bestrahlung wurde zumeist gut vertragen.
An 19 Männern und 10 Frauen wurden 150 Beobachtungen ge¬
macht; 26 Personen waren Pfleglinge der Lungenheilstätte Ober¬
kaufungen. Der Körper war vollkommen oder nur teilweise ent¬
blößt, als Kopf- und Augenschutz kam , ein dunkles Tuch, bzw. eine
gewöhnliche dunkle Brille in Verwendung. Bei manchen Kranken
zeigte sich danach mehr weniger heftiges Jucken, ein Hauterythem,
welches nach Gebrauch einer Salbe in einigen Tagen schwand.
Die Ergebnisse der Versuche waren folgende : Der Blutdruck wurde
herabgesetzt, auch bei Teilbestrahlungen des Rumpfes, im
Durchschnitt betrug die Blutdruckemiedrigung (bei 105 von 109
Bestrahlungen konstatiert) 7-2 mm, die höchste Zahl war 17 mm,
die niedrigste (ganz vereinzelt) 1-5 mm. Diese Bestrahlungen
übten eine beruhigende und belebende Wirkung auf den Gesamt¬
organismus aus, die Diurese steigerte sich auffallend, was tage¬
lang anhielt und günstig auf den »Schlaf wirkte, wenn die Kranken
nicht durch Erythem und Hautjucken belästigt wurden. Zwei
bettlägerige Kranke mit vorgeschrittener Tuberkulose erholten sich
nach den Bestrahlungen so gut, daß sie wesentlich gebessert ent¬
lassen werden konnten. Bei drei Kranken schwanden schon nach
den ersten Bestrahlungen neurasthenische Beschwerden (herum¬
ziehende, mit Hautjucken verbundene Schmerzen, Druck auf der
Brust, Beklemmung), in z\vei weiteren Fällen, wo früher ein¬
genommener Kopf, Mattigkeit und Gefühl von Abspannung bestand,
trat bald danach Wohlbefinden ein. Bei zwei Fällen wurde durch
die Bestrahlungen ein akuter Schnupfen sehr schnell beseitigt
(vielleicht durch die Inhalation des dabei entwickelten Ozons).
Doch wurde, da in erster Linie doch nur der Einfluß auf den
Blutdruck studiert wurde, von einer systematischen Behandlung
bestimmter Krankheitserscheinungen durch diese Bestrahlungen
vorderhand abgesehen. Es zeigte sich ferner, daß die Bestrah¬
lungen mit ultraviolettem Quarzlicht trotz stärkster Lichtquelle
bei zweckmäßigen Kautelen vollkommen ungefährlich sind und
auch von schwächlichen Patienten, sowie bei niederem Blutdruck
gut vertragen werden. Kontrollversuche vor und nach einem
Zimmerluftbad ohne Quarzlichtbestrahlung ergaben, daß ein
Zimmerluftbad allein den Blutdruck nicht herabsetzt, sondern
ihn auf gleicher Höhe erhält oder steigert. Nach Bering, D ie-
sing. Quincke, Haselbach, Axmann und anderen Autoren
ist die beruhigende, erfrischende und belebende Wirkung nach
den Bestrahlungen als eine Steigerung des Stoffwech¬
sels zu bezeichnen (lokaler Reiz auf die Hautgefäße und direkte
Beeinflussung des Chemismus des Blutes und der Gewebszellen
durch Resorption dieser Strahlen). Sie ist mit den Wirkungen
eines Sonnenbades im Hochgebirge zu vergleichen, wie sie in
den Publikationen über die Kuren in Leysin beschrieben sind.
— (Deutsche medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 9.) E.F.
*
303. Vaginaler Kaiserschnitt nach Dührsen
wegen hyperakuten Lungenödems. Von J. C. Llames
Massini. 38jährige, VI. -Gravida, im achtem Lunarmonat, wird
plötzlich von einem hyperakuten Lungenödem befallen. Da sie auf
der Klinik war, wird sofort der vaginale Kaiserschnitt und Wen¬
dung, Extraktion der Frucht ausgeführt. Zwischen Ausbrach der
Krise und Beendigung der Geburt vergehen keine 20 Minuten.
Nachher erholte sich Patientin im Anschlüsse an die Qperation
rasch und konnte 23 Tage später auf dem Wege der Genesung
entlassen werden. Verf. empfiehlt die sofortige Entleerung des
Uterus, am besten durch den vaginalen Kaiserschnitt, einzu¬
leiten, wenn bei einer Schwangeren mit lebensfähigem Kinde
hyperakutes Lungenödem konstatiert ist. — (Zentralblatt für Gynä¬
kologie 1911, H. 3.) E. V.
*
304. (Aus dem Institute für allgemeine und experimentelle
Pathologie der Universität Wien.) Ueber die Beziehungen
der Herz nerven zur atrioventrikulären Automatic
(nodal rhythm). Von Dr. C. J. Rothberger, Privatdozent
und Dr. H. Winterberg, Privatdozent. Unter atrioventriku¬
lärer Automatie versteht man jene Störung der Reihenfolge der
Herzbewegung, bei welcher sich Vorhöfe und Kammern nicht wie
gewöhnlich nacheinander, sondern ungefähr gleichzeitig zusam¬
menziehen. Die wirksamen Herzreize entstehen bei der atrio¬
ventrikulären Automatie nicht mehr an dem normalen Orte (nomo-
top) än der Einmündungsstelle der oberen Hohlvene, sondern
heterotop in der Nähe der Vorhofkammergrenze u. zw. innerhalb
des Reizleitungssystems, wahrscheinlich im Ta war a sehen
Knoten. An Hunden läßt sich nachlweisen, daß der linke Akzelerans
vorwiegend dieses sekundäre Reizbildungszentram an der Vorhof-
kammengrenze'chronotrop fördernd innerviert. Reizung des linken
Akzelerans beschleunigt den Herzschlag in geringerem Maße und
erzeugt in 30°/o atrioventrikuläre Automatie, welche durch Reizung
des rechten Akzelerans (welcher vorzugsweise die primäre Reizbil¬
dungsstätte an der Hohlvenenmündung, bzw. der Keith- Fla ck-
schen Knoten chronotrop fördernd innerviert) aufgehoben, re¬
spektive verhindert werden kann. Bleibt die Automatie nach
Reizung des linken Akzelerans aus, so beruht dies darauf, daß
manchmal auch der linke Akzelerans (individuelle Variation, auch
Rasseneigentümlichkeit) eine größere zum chronotropen Erfolgs¬
organ an der Hohlvenenmündung verlaufende Fasermenge ent¬
hält; es tritt dann natürlich die Reizwirkung des rechten Akze¬
lerans auf, die erhöhte Schlagfrequenz ohne Aenderung der Schlag¬
folge der Vorhöfe und Kammern. Bisweilen gelingt es, auch bei
gemischtem Faserverlauf durch anatomische Präparation die
Zweige zu isolieren, deren Reizung atrioventrikuläre Automatie
hervorruft; in -fast allen Fällen können aber durch Abkühlung
430
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
der Hohlvenenmündung mittels Chloräthylsprays die im linken
Akzelerans dahin verlaufenden Fasern temporär ausgeschaltet
werden. Heizung des linken Akzelerans führt; unter diesen Um¬
stünden regelmäßig zur atrioventrikulären Automatic. — Sinus-
und A t rioventr ikularknoten werden aber nicht nur chronotrop
fördernd, sondern auch chronotrop hemmend innerviert, doch
sind die in den Vagis zu den Hauptreizbi.ldungsstätten verlau¬
fenden Hemmungsfasern in der Riegel so stark vermischt, daß
ihre \\ irkungen nicht isoliert werden können. Ausnahms¬
weise gelingt es aber, eine direkt chronotrop hemmende Wirkung
des Vagus auf den Atrioyentrikulafknoten nachzuweisen. — (Se¬
paratabdruck aus dem Archiv für die gesamte Physiologie, Bd. 135.)
K. S..
*
305. Argentum kali um cyan a tum als bewährtes
Mittel bei chronischer Gonorrhoe empfohlen. Von
Dr. A. Philippsoll in Hamburg. Beim chronischen Tripper
bildet der Höllenstein noch immer das souveräne Mittel. Aber er
hat seine Fehler. Daher verwendet Verfasser zur Vermeidung
derselben seit dem Jahre 1906 Argentum kalium cyanatum zu
Harnröhren- und Blasenspülungen. Dieses Doppelsalz besteht aus
weißen, wasserlöslichen Kristallen. Ein Teil des Präparates hemmt
iii 50.000 feilen Blutserum das Wachstum der Milzbrandbazillen.
Es ist in vier Teilen Wasser bei 20° löslich. Nach den Erfahrungen
des Verfassers hält sich ein Teil in fünf Teilen Wasser sehr gut
bei Zimmertemperatur, ohne auszufallen. Ueber die physiologi¬
schen Eigenschaften ist nichts bekannt. Dagegen sind die Bestand¬
teile des Präparates, AgCy und Kal. cy., wenn auch jetzt ver¬
altet, für gewisse Krankheiten früher in Gebrauch gewesen. Ver¬
fasser ging bei den ersten Versuchen außerordentlich vorsichtig
zu Werke. Er stellte sich die jeweilige Stärke der Spülflüssig¬
keit durch Zusatz von Tropfen her. Er -machte' sich in einer
Tropfflasche eine Standardlösung von 6 g Arg. kal. cyanat. in
30 g destilliertem Wasser zurecht und setzte davon einem1 Quan¬
tum von 200 cm3 Wasser einen, zwei und drei Tropfen als
Spülflüssigkeit zu. Jeder Tropfen enthielt 0-008 g wirksame- Sub¬
stanz. Da diese Lösungen anstandslos vertragen wurden, konnte
er später mit weit höheren Dosen arbeiten. Jetzt verwendet er es
m der t Stärke von 0-032 bis 0-67 oder 4 biß 80 Tropfen jener
Staminiösung auf 200 enf Wasser, ohne je -eine Spur von Ver¬
giftung erlebt zu haben. Vorsichtshalber verwendet, er es nicht
bei Prostatahypertrophie oder anderen Prozessen, bei denen eine
Retentio urinae zu befürchten ist. Auch hat Verf. Patienten das
Mittel nicht zur ' Injektion in die Hand gegeben. Um annähernd
die Grenzen der Giftigkeit zu kennen, veranläßt© Verf. Dr. Plaut
in Hamburg,' Tierexperimente vorzunehmen. Es wurden einem
Kaninchen in Ohr- und Oberschenkelvene eine halbe bis zwei
Spritzen einer Lösung von 0-03 auf 10, d. i. 0-0015 bis 0-006
pro dosi eingespritzt. Weder Thrombose, noch andere ' Schädlich¬
keiten^ traten ein. Kürzlich wurden die (Versuche mit einer Lösung
von 0-1 auf 10 fortgesetzt. Einem 'Kaninehen von 2620 g Gewicht
wurde 0-01 Arg. kal. cyanat. intravenös eingespritzt. Es' bekam
sofort, allgemeine Krämpfe, Opisthotonus, maximale Pupillen¬
erweiterung, blieb von Mittag bis zum anderen Morgen wie leblos
liegen, dann erholte es sich wieder. Auf den Menschen ange¬
wendet, würde -ein erwachsener Mensch von '70 kg Gewicht durch
eine Dosis von 0-27 Arg. kal. cyanat. in Lebensgefahr geraten.
Die Vorzüge des Mittels sind nach Verf. im einzelnen folgende :
1. Da es einen hohen Silbergehalt hat, muß es auch eine hohe
antiseptische Wirksamkeit entfalten. Nach Aufrecht hat Ar-
gohin 4-2Ao, Argen tarn in 6-3°/o, Protargol 8-3%, Largin 11-1 %,
Albangin 15%, Ic-hthargan 30%, Höllenstein 63-5% ’Silber. Diesem
am nächsten steht nun Arg. kal. cyanat. mit 54-2% Silbergehalt.
Die Trübungen des Urins, die Fäden und Flocken in demselben,
dei Morgen tropfen gehen beim Gebrauch der Spülungen mit dem
Zyansalz allmählich zurück. Fälle mit geringem Gonokokkengehalt
werden anstandslos mit schwachen Lösungen geheilt. Wählt man
zu starke Lösungen, bekommt man, wie bei jedem Antigonorrhoi-
kum,' Verschlimmerungen. 2. Da das Mittel in gewöhnlichem
Wasser löslich ist, kann man selbst, die konzentrierte Lösung
in der Tropfflasche aus gewöhnlichem Wasser; bereiten, ohne einen
Niederschlag' zu bekommen. Es ist daher sehr bequem, ange¬
wärmtes Leitungswasser aus einem Heißwasserapparat des Sprech¬
zimmers als Spülflüssigkeit verwenden zu können. 3, Schätzungs¬
weise wird das Doppeisalz wesentlich besser vertragen, falls man
gleich wirksame Höllenstein- und Zyansilberlösungen verwendet
Wohl macht sich auch hier (bei 40 bis 80 Tropfen) Brennen und
Urindrang geltend, aber lange nicht so stark wie bei Höllen¬
stein. 4. Macht das Zyandoppel'salz keine Flecke, was Patienten
und Arzt zugute kömmt. Auch das lästige Auskristallisieren
an der [Topfflasche ist bei der Zyanverbindung nicht annähernd
so stark wie heim Höllenstein. Bei der frischen Gonorrhoe erfolgte
die endgültige Heilung nicht rascher als mit dem vom Verfasser
bevorzugten Ichthargan. Verf. empfiehlt daher das’ Mittel in der
angegebenen Stärke zu weiteren Versuchen. -1- (Münchener medi¬
zinische Wochenschrift 1911, Nr. 9.) G.
*
306. Ueber die Wirkung der Radium strahlen
auf inoperable Uteruskarzinom e. Von Sanitätsrat Doktor
Arendt in Berlin. Mit der aus Joachimstal bezogenen Uranpech¬
blende stellte Verf. Heilversuche in der Weise an, daß er das von
Beimischungen befreite Pulver in Jodoformsäckchen legte oder daß
er mit dem Pulver, je nach der Größe der Höhle, Kondomfinger¬
linge füllte, diese auch mit Jodoformgaze umwickelte und in die
Krebshöhle einführte. Zum Schutz gegen das Herausfallen wurde
noch Gaze in die Vagina eingefübrt. Man kann das bei einer
Kranken benutzte Material ausglühen und nach 14 Tagen schon .in
einem anderen Falle wieder verwenden. Selbstverständlich wird man
jeden noch operablen Fall der radikalen Operation zuführen, doch
gibt es leider noch vitde Fälle, die inoperabel sind und hier ist
unser Bestreben dahin gerichtet, die drei Kardinalsymptome : Fluor,
Odor und Dolor — zu beseitigen. Verf. ging so vor, daß er mit
dem scharfen Löffel die Karzinommassen, soweit es möglich war.
exkochleierte, daß er alles karzinomverdächtige entfernte, dann die
Höhlenwand unter Weißglühhilze ausbrannte und gleich hernach
einen in 30%iger Chlorzinklösung getränkten Gazestreifen unter
den bekannten Kautelen für die Scheide einlegte. Meist nach einem
Tage, spätestens nach zwei Tagen begann er mit der Radium¬
behandlung. Die Masse wurde anfangs täglich, später nach zwei,
drei bis vier Tagen gewechselt. Der widerliche Gestank schwindet,’
ebenso rasch auch der lästige Fluor, die Kranken werden frei von
Schmerzen und sonstigen Beschwerden; sie nehmen an Gewicht
zu und verlieren die Todesahnung. Geheilt sind sie aber nicht, die
Erfolge sind derart, daß die Frauen in einzelnen Fällen (drei werden
mitgeteilt) von anderen Aerzten als geheilt angesehen wurden. Die
von der Uranpechblende ausgehende Radiumbehandlung des Uteras-
krebses ist k e i n Heilmittel, aber es ist das beste Mittel, um
die symptomatischen Beschwerden zu beseitigen oder wenigstens zu
mildern. — (Berliner klin. Wochenschr. 1911, Nr. 8.)- E. F.
*
307. (Aus dem diagnostisch-therapeutischen Institut für Herz¬
kranke in Vien.)- Ueber funktionelle Herz d i ag n o st i k .
Von Priv.-Doz. Dr. Max Herz. Der Verfasser skizziert, inwieweit
der praktische Arzt mit den altgewohnten Mitteln der Palpation,
Auskultation und Perkussion funktionelle Herzdiagnostik treiben
kann. Konstatiert der Praktiker Pulsverlangsamung, so handelt
es sich hauptsächlich um drei Möglichkeiten : entweder um habi¬
tuelle Bradykardie oder Hyperfunktion des Vagus (probatorißche
Atropininjektion) oder endlich um eine Störung in der Reiz¬
leitung (in der Herzmuskulatur (Zahl der Venenpulse am Halse um
ein mehrfaches größer als die Radialpulse). Zu belanglosen Alte¬
rationen des Pulsrhythmus, welche zu oft Arzt und Patienten be¬
sorgt machen, gehören die häufigen Intermittenzen des Pulses,
welche zumeist Extrasystolen -entsprechen, im Pulse nicht tastbar
sind, aber durch Auskultation sichergestellt werden können. Pulsus
intermittens regular is ist aber, wie die dritte oben erwähnte
Form der Bradykardie-,. Ausdruck einer Reizleitungshemmung im
Herzein. Pulsus altem, ans (nicht zu verwechseln mit Pülsüs bige-
minüs), bedeutet Störung der Kontraktilität des1 Herzmuskels'. Pulsus
celer weist entweder au! Aorteninsuffizienz oder -Erweiterung des
Aortenrohres hin oder aber ist eine rein funktionelle Alteration
des Herzmuskels, wie bei Morbus Basedow. Die Palpation der
Herzgegend wird in der Praxis’ mit. Unrecht in viel zu geringem
Umfang verwendet, obwohl zum Beispiel präsystolisches Schwirren
allein die Diagnose der Mitralstenose ermöglicht, selbst dann, wenn
hei der Auskultation die charakteristischen Geräusche fehlen
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
431
(stumme Mitralstenose). Bei Mitralstenose tastet man häufig noch
am linken unteren Sternaliande eine systolische Erschütterung
mul über der Pulmonalis einen diastolischen Anschlag. Rein-
systolisches Schwirren findet sich bei stark erregter Herztätig¬
keit (Neurasthenie, Basedow). Pulsatorisehe Bewegung der ganzen
Herzgegend sind ein Zeichen, daß. das Herz in einer räumlichen
Bedrängnis sich befindet und daß ein nennenswerter Bruchteil
seiner Arbeit auf eine außeCwesentliche Arbeit verwendet, also
vergeudet wird. Pulsationen der Interkostalräume sind hievon
strenge 'auseinanderzuhalten und beziehen sich auf Hypertrophie
des rechten Ventrikels. Beide letztgenannte Phänomene lassen
den Eintritt einer Insuffizienz des Kreislaufes befürchten. In aus¬
kultatorischer Hinsicht macht Herz auf die eigentümliche Klang¬
farbe des ersten Herztones bei nervöser Erregung aufmerksam :
der ferste kompakte Ton löst sich in eine längere geräuschähnlicbc
Klangerscheinung auf, wobei die Ohrmuschel, nicht die tastende
Hand, leise Vibrationen empfindet. Auch die Ergebnisse der Per¬
kussion sind vielfach für die funktionelle Herzdiagnostik vor-
wendbar. Doch darf man sich durch eine scheinbare Herzver¬
größerung nicht. täuschen lassen (Gravidität, gebückte Haltung bei
Zahnärzten, Zeichnern, Schreibern usw. — in diesen letzten
Fällen ist natürlich Orthopädie, nicht medikamentöse Therapie
am Platze). Die wichtigste Aufgabe der funktionellen Herzdiagno¬
stik besteht darin, eine noch nicht vorhandene, aber nahe be¬
vorstehende Insuffizienz zu erkennen. Die vorhandenen Arbeits¬
kräfte des Herzens aber zweckmäßig, zum Beispiel nach Kilo¬
grammetern zu bestimmen, geht nach Herz nicht an, da ver¬
schiedene Faktoren, wie Entwicklung der Körpermuskulatur, Ge¬
wöhnung an körperliche Arbeit, Befangenheit des Patienten im
Momente der Untersuchung, das Untersuchungsresultat trüben
müssen. Für das Verhalten des Herzens ist übrigens nicht die
absolute Größe der äußeren Arbeit maßgebend, sondern nach
Herz die psychische Anstrengung, welche dabei aufgewendet
werden muß. Die von Herz angegebene leicht ausführbare
S e 1 b s t h am m u n g s p r o b e basiert darauf : Man läßt den I ha¬
tten ten. den rechten Arm so langsam und gleichmäßig als nur mög¬
lich eine Beugung und dann eine Streckung ausführen, wobei
man den Oberarm fixiert und die Hand leitet, ohne jedoch die
Bewegung in eine passive zu verwandeln. Ein starkes Sinken
der Pulszahl nach .der 'Bewegung weist auf starke Herzmuskel¬
schädigung hin (zum Beispiel von 140 auf 80). Das Gegenteil,
eine Steigerung der Pulszahl, tritt bei nervösen Herzen ein. Elten¬
falls eine einfache funktionelle Prüfung besteht darin, daß man
den Puls des Kranken in stehender, sitzender und liegender
Körperhaltung zählt. Bei geschädigtem Herzmuskel fällt die nor¬
male Verlangsamung der Herzaktion beim Niederlegen weg oder
verwandelt sich gar ins. Gegenteil. Empfehlenswert ist ferner, zu
prüfen, wie lange der Patient seinen Atem anhalten kann. Stellt
sich schon nach Ablauf von etwa 15 Sekunden heftige Atemnot
ein, dann, muß (man an eine Stauung im kleinen Kreislauf
denken. Arteriosklerotiker allerdings' können, selbst, wenn sie
nachts von starker Dyspnoe geplagt werden und leichte Zyanose
zeigen, den Atem sogar über das normale Maß hinaus zurück¬
halten. Schließlich sei für den Praktiker noch hingewiesen auf
das Verhalten der Hanimeng'e hei Herzkranken. Während nämlich
beim gesunden Oiganismus die Harnsekretion in der Na< hl sk h
vermindert, tritt bei Herzmuskelinsuffizienz eine bedeutende Ver¬
mehrung der Harnmenge im Schlafe auf, (Fortschritte ulei
Medizin 1910, 28. Jährg., Nr. 47.) K- S-
i - • * .
Aus französischen Zeitschriften.
308. Heber die Behandlung der kongenitalen Ha¬
rn o p h i 1 i earn d d er Purpura mit Inj ek t i o n en y o n M i 1 1 c-
schem Pepton. Von P. Nobecourt und Leon fixier. Es
sind bei verschiedenen hämorrhagischen Zuständen Veränderungen
im Verhalten der Blutgerinnung nachgewiesen worden, was zur
therapeutischem Anwendung der Kalksalze, der Gelatine, des Blut-
Serums und des Witt- eschen Peptons namentlich bei kongeni¬
taler Hämophilie und Purpura Anlaß gab. Während bei der Hämo¬
philie die Verlangsamung der Blutgerinnung konstant ist, z< ig< n
die Fälle von Purpura in dieser Hinsicht kein gleichaitiges \<<
halten. , Die Kalksalze und die Gelatine haben sich bei Hämqphilie
find .Purpura, nicht als verläßlich erwiesen, bessere Erfolge wurden
mit Injektionen von Blutserum erzielt, doch versagt dieses öfter bei
kongenitaler Hämophilie, sowie auch in manchen Fällen von
Purpura und zeigt als unangenehme Nebenwirkung Auftreten aus¬
gedehnter Ekchymosen an der Injektionsstelle. Das zur Behand¬
lung 'der Hämophilie und Purpura?. empfohlene Wittesche’ Pepton
wurde von den Verfassern, in je einem Falle von kongenitaler
Hämophilie, bzw. schwerer Purpura haemorrhagica, mit günstigem
Resultate! amgewendet.' Man verwendet eine warm filtrierte und
bei 120° sterilisierte Lösung von 5 g Witte schein Pepton, 0-5 g
Kochsalz in 100 g Aqua destillata; zur Anwendung ist
nur eine vollkommen klare Lösung geeignet. Die Dosis für sub¬
kutane Injektionen beträgt 3 bis 4 cm3 bei Kindern von neun
bis 'zehn Jahren; bei Hämophilie werden drei bis vier Injektionen
in zwei- bis dreitägigen Intervallen vorgenommien, dann durch
drqi bis vier Wochen pausiert, bei Purpura werden die Injektionen
täglich oder jeden zweiten Tag vorgenomimem, wobei in der Reget
drei bis vier Injektionen, genügen. Die intrarektalen Injektionen,
10 cm3 bei Kindern, 20 cm'3 bei Erwachsenen, sind wenig wirk¬
sam. Von Nebenwirkungen wurden lokale Reaktion in Form von
Schmerzein nach Injektion größerer Dosen beobachtet, während
Dosen vom 3 bis 4 cm3 schmerzlos waren ; als Ausdruck der All¬
gemeinreaktion wurden Frösteln, Fieber, Kopfschmerzen, Ueb-
lichkeitenTind Erythem beobachtet. Der Umstand, daß die späteren
Injektionen stärkere Reaktion herVorrufem, spricht für eine sensi-
b i 1 i s i eremde i Wirku ng , doch kann nicht von Anaphylaxie gesprochen
werdejn. Das Blutserum wirkt bei Hämophilie nicht, wie angegeben
wurde, durch Zufuhr eines fehlenden Fermentes, sondern wie
Propeptön, das heißt wie fremdes Eiweiß, wodurch die Leuko¬
zyten zur Sekretion von Thrombozym und thrombopläst.iscben
Agentien angeregt werden. In noch höherem Grade wirkt das
Witte sehe Pepton, welches Propepton enthält, befördernd auf
die Blutgerinnung. Die Zurückführung der V irkung auf die An¬
regung der Thrombozymsekretion von seiten der Leukozyten
und ' Gefäßend othelien besitzt viel Wahrscheinlichkeit. Aus diesen
Tatsachen erklärt sich die Wirksamkeit der Peptoninjektion bei
Hämophilie, während die gleichfalls nachgewiesene Wirksamkeit
bei Purpura die Gerinnung des Blutes erklärbar macht. Jedenfalls
stellt das Witte sehe Pep tom ein den anderen Mitteln, zum
Beispiel -dem Serum, ap Wirksamkeit überlegenes Mittel zur
Behandlung der schweren Blutungen bei Hämophilie und Pur¬
pura dar. — (Gaz. des höp. 1911, Nr. 6.) a. e.
+
309. Ueber die menstruelle Form der Lungen¬
schwindsucht. Von Ch. Sabourin. Das menstruelle Fieber
der phthisischen Patientinnen übt, wenn, es eine gewisse Höhe
erreicht, feiinen beträchtlichen Einfluß auf den V erlauf der Lungen¬
affektion aus. In Fällen, die vor Beginn des Klimakteriums stehen,
beobachtet man, daß- die Menstrualblutung verschv indet, jedoch
die Fieberanfälle weiter auftreten und von vikariierenden Blu¬
tungen. wie Epistaxis, Hämoptoe usw. begleitet sind. In ein¬
zelnen Fällen tritt das menstruelle Fieber derart in den Vorder¬
grund, daß dadurch das ganze Krankhedtsbild beeinflußt wird
und man von einer menstruellen Form der Lungenschwindsucht
sprechein kann. In diesen Fällen beobachtet man schon längere
Zeit vor dem Eintritt der Menstruation Ansteigen der Temperatur,
welche zur Zeit des Eintrittes der Menstruation eine beträcht¬
liche Höhe erreicht und dann wieder abfällt. In Fällen dieser
Art besteht häufig eine Verkürzung des intermenstruellen Inter¬
valls, so daß relativ kurze Zeit nach dem Fieberabfall wieder
die Te'inperatur anzusteigen beginnt. Die menstruelle Form der
Lungenschwindsucht ist trotz dels schweren C harakters des Fieliei-
verlaufeis bei jüngeren Patientinnen der Heilung fähig; sie wild
bei weiblichen Individuen, Mädchen und Frauen, beobachtet, die
sonst keine Affektion des Geschlechtsapparates zeigen. Bei Ein¬
tritt der Heilung zeigt die Menstruation das gleiche Verhalten
wie vor dem Auftreten der Lungenschwindsucht, woraus her¬
vorgeht, daß die Tuberkulose eine wesentliche Ursache des ab¬
normen Verlaufes der Menstruation ist; als Hilfsursache scheinen
Läsionen des Herzens und Disposition zu Angioneurosen zu
wirken, welche die menstruelle Kongestion der erkrankten Lunge
fördern. Das menstruelle Fieber ist von großer praktischer Be¬
deutung, da es unter Umständen mehr Gefahr mit sich bring ,
als die bestehende Lungenschwindsucht. Eine wirksame lfMa4m
432
WIENER KLINISCHE
des menstruellen Fiebers bei schwindsüchtigen Frauen ist bisher
nicht bekannt, doch geht mit der Heilung der Tuberkulose auch
das menstruelle Fieber zurück. — (Joum. de Prat. 1911, Nr. 3.)
310. Ueber das Konstriktionsphänomen bei
hämorrhagischen Erkrankungen. Von C. Frugoni und
F. Giugni. Wenn man bei einem Patienten mit Hautblutungen
als Ausdruck der hämorrhagischen! Di a these um eine Gliedmaße,
z- B- um den Arm eine nicht, zu fest angezogene Binde anlegt,
so tretein im peripheren Teil der umsdhnürten Extremität Haut¬
blutungen auf, die in jeder Hinsicht den spontanen Blutungen
gleichein. Am deutlichsten zeigt sich das Phänomen im Höhe¬
stadium der Erkrankung ; wenn sich nach dein Verschwinden der
spontanen Hautblutungen durch Umschnürung noch Blutungen
hervorrufein {lassen, so ist dies ein Zeichen, daß die hämorrhagische
Diathese noch fortbesteht, so daß das Symptom von praktischer
VI ichtigkeit erscheint. Man kann bei den verschiedenen hämor-
rhagischen Erkrankungen durch verschiedene Reize mechanischer
Art Hautblutngen hervorrufen, auch beobachtet man bei normalen
Individuen schon kurze Zeit nach Anlegung einer ßi ersehen
Stauungsbinde das Auftreten punktförmiger Blutungen. Das Kon¬
striktionsphänomen wurde bei Purpura simplex und haemorrha-
gica, Poliosis rheumatica, bei den hämorrhagischen Formen
schwerer Anämien, bei Hämophilie, sowie beim Erythema nodo¬
sum beobachtet. Schädliche 1 olgen der Umschnürung wurden
nicht beobachtet, in einem Falle von Peliosis rheumatica wurde
dadurch die Milderung arthritischer Schmerzen erzielt. Als wesent¬
liche Ursache der nach der Konstriktion auftretenden Hämorrha-
gien ist die Störung des Gleichgewichtes zwischen intra- und
extravaskulärer Spannung, sowie die Ausdehnung der kleinen
Gefäße, zu betrachten. Die Untersuchung des Blutes hinsichtlich
der Farbe des Serums, der Gerinnbarkeit, der Retraktion des
Gerinnsels, der Isotonie ergab vor und nach der Ligatur das
gleiche Verhalten, so daß das Auftreten der Blutung nicht mit
einer Veränderung des Blutes Zusammenhängen kann; auch
konnten weder auto- und heterohämolytische Substanzen noch
antihämolytische Substanzen im Serum nachgewiesen werden.
Die^ latsache, daß man bei hämorrhagischer Diathese an ver¬
schiedenen Körperstellen sehr leicht Blutungen erzeugen kann,
dagegen nicht im Gesichte, spricht für die Bedeutung lokaler
Veränderungen an den Gefäßen und es wurden tatsächlich bei
den verschiedenen Formen der hämorrhagischen Diathese Lä¬
sionen der Gefäßwand nachgewiesen. Der Blutaustritt erfolgt
nicht durch größere Kontinuitätstrennungen der Gefäßwand, son¬
dern durch Diapedese. — (Sem. med. 1911, Nr. 3.) a. e.
*
Aus amerikanischen Zeitschriften.
311. (Gesammelte Arbeiten aus dem Untersuchungslabora¬
torium des Gesundheitsdepartements von New York. Heraus¬
gegeben von Direktor Dr. Park, September 1910. Band IV. Ar¬
beiten aus den Jahren 1908 bis 1909.) Das prozentuelle
Verhältnis zwisch e n d e n d e m humanen und de n d e m
bovinen Typus zuzuschreibenden Tuberkulose¬
fällen. Von W. Park und Ch. Krumwiede. Aus der Arbeit
der Autoren geht deutlich die mit zunehmendem Alter immCfr
mehr zurücktretende Bedeutung der bovinen Infektion für den
Menschen hervor. Bei 37 tuberkulösen Kindern unter 5 Jahren
konnte boviner Ursprung der Tuberkelbazillen llmal konstatiert
werden. Bei 34 Kindern zwischen 5 und 16 Jahren ömal, bei
230 Erwachsenen über 16 Jahren nur Imal. Die Art der Tuber¬
kulose betreffend war bei 235 Fällen von Lungentuberkulose kein
1 inziges Mal der bovine lypus zu finden. Dieser fand sich
bei Erwachsenen lmal bei einer Urogenitaltuberkulose, bei Kindern
zwischen 5 und 16 Jahren 4mal bei Tuberkulose der Halslvmph-
drüsen und lmal bei Bauch tuberkulöse. Die '11 Fälle der bovinen
Tuberkulose bei Kindern unter 5 Jahren waren 6mal Tuberkulose
der Halslymphdrüsen, 4mal allgemeine und lmal Bauchtuber¬
kulose. — Das Vorkommen von Tuberkelbazillen in
der Milch der Stadt New York. Von A. Heß. Virulente
Tuberkelbazillen wurden in 17 unter 107, das ist in 16% der
zur Untersuchung gelangten Proben aus der für die Stadt New
WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
York bestimmten Kannenmilch gefunden. Diese Bazillen konnten
niclil direkt durch mikroskopische Untersuchung, sondern nur
durch den Tierversuch nachgewiesen werden. Sowohl die Sahne
wie das Sediment der Milch beherbergte das Virus, so daß bei
allen derartigen Experimenten diese Teile der Milch zu den
Impfungen verwendet werden können. Der Befund von Tuberkel-
bazillen m der als „pasteurisiert“ ausgegebenen Handelsmilch
zeigt, daß die Methode der Sterilisierung, wie sie jetzt ausgeführt
wild, keinerlei Sicherheit gewährt. Da die Bezeichnung „pasteu¬
risiert“ irreführend ist, so soll nur jene Milch so bezeichnet
werden, welche genügend lange und bis zu genug hoher Tempe¬
ratur erhitzt worden ist, um sie zu einem ungefährlichen Nah¬
rungsmittel zu machen. Bei der Isolierung der Tuberkelbazillen
wurde in allen Fällen bis auf einen boviner Ursprung festgestellt
Dei eine Fall, in welchem Tuberkelbazillen humanen Ursprunges
nachgewiesen wurden, zeigt jedoch, daß die Milch auch durch
tuberkulöse Menschen infiziert werden kann und daß man auf
diese Infektionsquelle hier wieder achten muß. Eine Anzahl
von Säuglingen und kleinen Kindern, welche Tuberkelbazillen
fühlende Milch trank, wurde ein Jahr später untersucht. Sie
schienen im ganzen gesund zu sein. Vier von ihnen reagierten
jedoch auf Tuberkulin. Eines der letzteren war in schlechtem
Gesundheitszustände und litt an einer frischen 'Drüsenerkrankung
Wenn auch über 90% der Tuberkulosefälle auf den Menschen
als Infektionsquelle zurückzuführen sind, so sind wir doch nicht
berechtigt, die Gefahr der bovinen Infektion zu vernachlässigen,
da selbst bei der Annahme von nur 1% boviner Infektion die
Zahl der hiedurch verursachten Tuberkulosefälle in den Ver¬
einigten Staaten sich auf mehrere Tausend beläuft. Milch, welche
nicht von mit Tuberkulin geprüften Kühen stammt, soll pasteuri¬
siert oder aufgekocht werden. Die Kühe sollen der diagnostischen
Tuberkulinimpfung unterworfen und die reagierenden ausgeschie¬
den werden. lieber den Typus der Kulturen a|us
alten Hauttuberkeln von Fleischern. Von A. Heß. Die
zwei Fälle von Hauttuberkulose, über welche Heß berichtet,
beanspruchen darum Interesse, weil sie beweisen, daß Infek¬
tionen mit bovinen Tuberkelbazillen auch beim Erwachsenen
Vorkommen können. Die Tatsache, daß sie lokalisiert blieben,
kann nicht auf die geringe Virulenz der bovinen Tuberkel bazillen
zuruckgeführt werden, da es wohl bekannt ist, daß auch durch
den humanen Tuberkelbazillus bewirkte Hautaffektionen, wie
Lupus oder die sogenannten „Leichentuberkel“ ebensowenig zur
Ausbreitung neigen. Die beiden Fälle illustrieren jedoch sehr
gut die latsache, daß bovine Tuberkelbazillen viele Jahre im
menschlichen Gewebe leben können, ohne den humanen Typus
zu erwerben. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, sprechen
sie gegen die Umwandlung des bovinen in den humanen Typus.
— Die Verteilung der Bakterien in der Flaschen¬
milch und die Verwendung der letzteren zur Kinder¬
ernährung. Von A. Heß. In der Flaschenmilch befinden sich
die Bakterien in der größten Menge in den oberen Schichten
der Sahne und werden in den tieferen Teilen der Milch immer
weniger. Dies gilt ebenso von den Tuberkelbazillen wie von
Streptokokken und anderen Bakterien. Daher ist es besser, an¬
statt die ganze Sahne zu benützen, die obersten Teile derselben
zu entfernen. — Band V. Arbeiten aus dem Jahre 1910. Die
relative Bedeutung des Typus bovinus und huma-
nus der 1 u berk e 1 bazillen bei den verschiedenen
Formen der menschlichen Tuberkulose. Von W. Park
und ( h. Krumwiede. Die Arbeit der Autoren stellt eine Fort¬
setzung und Erweiterung ihrer im früheren Bande enthaltenen
dar. Die Autoren haben die Rolle, welche der humane und bo¬
vine Typus der Tuberkelbazillen bei der menschlichen Tuber¬
kulose spielt, zum Gegenstände weiterer Untersuchungen gemacht.
Ihre durch Kulturen und den Tierversuch kontrollierten Resul¬
tate, welche ausführlich dargelegt werden, zeigen, daß, wenn
auch (lie Lungentuberkulose fast nur dem humanen Typus zuzu¬
schreiben ist, nicht dasselbe von den anderen tuberkulösen Er¬
krankungen des Menschen gilt. Insbesondere beim Kinde ist
deutlich eine geringere Resistenz dem bovinen Tuberkelbazillus
gegenüber oder leichtere Infektionsmöglichkeit durch den¬
selben nachweisbar. Eine Gesamtübersicht der von den Autoren
untersuchten und der in der Literatur angeführten Fälle ergab: Bei
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
433
688 Fällen von Tuberkulose des Erwachsenen waren 9 bovinen
Ursprungs. Nur ein Fall von Lungentuberkulose war möglicher¬
weise auf Rinderbazilleninfektion zurückzuführen, die übrigen
Fälle boviner Infektion betrafen Abdominal-, Drüsen-, Knochcn-
und Urogenital tuberkulöse. Unter 132 tuberkulösen Kindern zwi¬
schen dem 5. und 16. Lebensjahre war 33mal die Tuberkulose
bovinen Ursprungs, davon der überwiegend größte Teil Drüsen-
und Bauchtuberkulose. Von 220 tuberkulösen Kindern unter fünf
Jahren httCh 59 an Tuberkulose bovinen Ursprungs. Diese 59
Fälle betrafen überwiegend Lymphdrüsen-, Bauch- und generali¬
sierte Tuberkulose. Viermal unter allen 1040 Fällen waren beide
Typen von Tuberkelbazillen nachweisbar. sz.
*
312. Die chirurgische Anwendung der Pikrin¬
säure. Von Albert Ehren fried. Die gesättigte wäßrige
krinsäurelösung ist unzweifelhaft allen anderen antiseptischen
Flüssigkeiten überlegen, die uns zur Behandlung oberflächlicher
Wunden und Läsionen, bei denen das Rete Malpighi der Haut
nicht ganz zerstört ist, zur Verfügung stehen. Dies ist besonders
bei Verbrennungen ersten und zweiten Grades der Fall. Die Me¬
thode ist billig und einfach in der Anwendung und bewirkt rasche
Regeneration der Haut ohne Schmerzen und ohne Reizung, 'l iefere
Läsionen können zur Heilung gebracht werden durch Bildung
einer weichen, ebenen, nicht sezernierenden Granulationsfläche,
über der rasche Ueberhäutung erfolgt oder die als gute Grund¬
lage für die Hauttransplantation nach R e v e r d i n oder Thiersch
dienen kann. Die leicht toxischen Symptome, über welche be¬
richtet wurde, wird man nie bei entsprechender Sorgfalt sehen.
— (The Journal of the American Medical Association, 11. Fe¬
bruar 1911.) sz-
*
313. E i n F a 1 1 v o n w a h r s c h e i n 1 i c h e r Anaphylaxie.
Von Engelbert Taylor. Ein Arzt hatte einen Fall von Bubonen¬
pest obduziert, ohne an diese Krankheit zu denken. Als die mikro¬
skopische Untersuchung und die Kultur der Bazillen mit Sicher¬
heit Pest als Todesursache in, diesem Falle ergab, wurden dem
Arzte 30 cm3 Yersin-Roux-Serum injiziert. Es traten keinerlei
Erscheinungen auf. Fünf Jahre später verletzte sich der Arzt und
sah sich veranlaßt, eine prophylaktische Impfung mit Antitetanus¬
serum vornehmen zu lassen. Es zeigten sich daraufhin folgende
Erscheinungen: Allgemeine Urtikaria, Tachykardie, heftige cho¬
leraartige Diarrhöen, Neuritis im Bereiche der Schulternerven,
allgemeine Muskelschwäche und Hinfälligkeit, welche erst all¬
mählich verschwanden. Der Arzt hat nie an Asthma gelitten.
Die wahrscheinlichste Auslegung des Falles ist die, daß es sich
um einen anaphylaktischen Anfall handelte, der auf eine nach
fünf Jahren erfolgte Injektion der gleichen Serumart (Pferd) auf¬
trat. — (The Journal of the American Medical Association, 11. Fe¬
bruar 1911.) _ _ sz-
t/ermisehte flaehriehten.
Ernannt: Dr. Pellyesniczky zum ordentlichen Pro¬
fessor der Anatomie in Pest.
*
Verliehen,: Dem Oberstabsarzte 1. Klasse Dr. Artur
Perlsee das Offizierskreuz des Franz - Josephs - Ordens.
*
Habilitiert: Dr. Werner Runge für Psychiatrie in Kiel.
— Dr. Alfred Gig on in Bastei für innere Medizin. — Dr. E. B i z z o-
zero für Dermatologie und Syphilis in Genua. Dr. Gaetaui
für interne Pathologie in Catania.
*
In der Sitzung des niederösterreichischen Landes¬
sanitätsrates vom 27. Februar 1911 wurden folgende Gut¬
achten erstattet: 1. Ueber Regelung der Bestimmungen über die
Beistellung von Leichen zu anatomischen Zwecken. 2. Leber
die Neubesetzung einer Landesgerichtsarztesstelle. 3. Ueber die
Statuten und die Hausordnung eines Krankenhauses in Niedei-
österreich. 4. Ueber die Errichtung einer Spitalsabteilung in einem
geplanten Zubau eines Wiener Ambulatoriums.
*
Einer vom Ministerium für Kultus und Unterricht besorgten
Statistik über den Besuch der österreichischen Univ e r-
sitäten im Wintersemester 1910/11 entnehmen wir nach¬
stehende Ziffern: An der Universität Wien betrug nach dem
Stande vom 31. Dezember 1910 die Gesamtzahl der Hörer 9736.
Der medizinischen Fakultät gehören 2410 Frequentanten an. Unter
diesen befinden sich 1996 Hörer und 96 Hörerinnen als ordent¬
liche, 308 Hörer und 5 Hörerinnen als außerordentliche, sowie 5
hospitierende Hörerinnen. — - Die Universität Innsbruck zählt
insgesamt 1288 Studierende. Die medizinische Fakultät weist
274 Hörer u. zw. 239 ordentliche, 34 außerordentliche Jlörer
und 1 Hospitantin auf. — An der Universität Graz beträgt
die Gesamtzahl der Immatrikulierten 2063. Die medizinische Fakul¬
tät wird von 412 Hörem und 9 Hörerinnen als! ordentlichen, 27
außerordentlichen Hörern und einer Hospitantin, im ganzen von
449 Studierenden besucht. — An der deutschen Universität
in Prag sind 1844 Studierende immatrikuliert. Die medizinische
Fakultät zählt 400 Frequentanten, nämlich 387 Hörer und 6 Höre¬
rinnen als ordentliche, 7 außerordentliche Hörer. — Die Prager
böhmische Universität zählt 4432 Studierende. Von den 801
Studierenden an der medizinischen Fakultät sind 752 Hörer und
29 Hörerinnen ordentliche, 19 Hörer und 1 Hörerin außer¬
ordentliche. — Die Universität in Lemberg wird von 4824
Studierenden frequentiert. Von den 429 Studierenden der medi¬
zinischen Fakultät sind 356 Hörer und 66 Hörerinnen als ordent¬
liche, 7 Hörer als außerordentliche inskribiert. — Die Universität
Krakau zählt insgesamt 3308 Frequentanten, mit 493 Hörern
und 41 Hörerinnen als ordentliche, 19 außerordentlichen Hörern
und 3 Hospitantinnen der medizinischen Fakultät. — Die Gesamt¬
zahl aller im laufenden Semester an den Universitäten Oester¬
reichs Studierenden beträgt 28.662.
*
Der Geschäftsausschuß der österreichischen Aerztekammern
hat im Sinne eines Beschlusses des letzten Aerztekammertages
ein Memorandum an die Regierung gerichtet, in welchem eine
zeitgemäße Regelung der Gebühren der gerichtsärzt¬
lichen Sachverständigen im Strafverfahren verlangt
wird.
*
Im Gemeinderatssaale des Alten Rathauses fand am 12. März
unter dem Vorsitze des Prof. Dr. Scheff die konstituierende
Generalversammlung des Vereines für Zahnpflege
in den Schulen statt. Der Vorsitzende eröffnet© die Versamm¬
lung und richtete nach einer kurzen Erläuterung des Zweckes
und der Ziele der Gesellschaft an die Anwesenden den Appell, die
Absichten des Vereines unterstützen und fördern zu wollen. ^ Der
Schriftführer des vorbereitenden Komitees Dr. Gabriel V' o 1 f
erstattete sodann dessen Bericht, dem zu entnehmen ist, daß.
schon nahezu 400 Mitglieder der Gesellschaft beigetreten sind.
*
Der Verein der in Rangsklassen eingeteilten Aerzte der
niederösterreichischen Landes - Wohltätigkeits- und Humaniläts-
aüstalten hielt am Samstag, den 11. Märizl d. J. seine konsti¬
tuierende Versammlung ab und wählte den Primararzt der Anstalt
in Gugging Dr. Anton Hockauf zum Obmanne.
*
Der Gau verband Prag der deutschen Aerzte hielt
am 5. März: 1911 steine erste Jahresversammlung ab. Aus dem
Tätigkeitsbericht sei folgendes hervorgehoben : Der Gauverband
wurde am 17. April 1910 mit 160 Mitgliedern begründet und
zählt jetzt 227, das sind 90% der Prager deutschen Aerzte;
die wenigen Fehlenden haben zumeist ihr solidarisches Vorgehen
zugesichert. Die ersten Monate seines Bestandes beschäftigte den
Gauverband die Aufstellung eines Minimaltarifs für Prag, weicher
gemeinsam mit den tschechischen Kollegen festgesetzt, dann von
der Aerztekammer genehmigt und als ortsüblicher Minimaltarif
erklärt wurde. Au 600 Aerzte Prags sind nunmehr durch die
Organisation auf die strenge Einhaltung dieses larifs verpflichtet,
aber auch für die übrigen ist ein Unterbieten desselben durch die
Standesordnung der Kammer verboten und ehrenrätlich strafbar.
Der Tarif wurde dem Publikum durch Veröffentlichung in den
Tagesblättern und durch Flugblätter bekanntgegeben. Die Regelung
der unentgeltlichen Behandlung und insbesondere jene bemittelter
Kranker in den öffentlichen unentgeltlichen Ambulatorien steht
in Beratung. Das Verhältnis der deutschen Aerzte zu den Kranken¬
kassen in Prag wurde statistisch erhoben und öfters bei Vertrags¬
abschlüssen zugunsten der Kassenärzte interveniert. Der Gau¬
verband beteiligte sich an allen Maßnahmen zur Abwehr der
Gefahr, welche durch ein Gesetzwerden der £?§ 3 und 40 des
Sozialversicherungsentwurfes in ihrer gegenwärtigen Fassung den
Aerzten droht und unterzog auch den Strafgesetzentwurf menr-
facher Besprechung, welche zum Einschreiten an maßgebender
Stelle führte. Durch Errichtung eines Inkassobureaus wurde den
Mitgliedern die Einbringung rückständiger Forderungen erleichtert
und durch die Rechtschutzabteilung soll auch in anderen recht¬
lichen Angelegenheiten, insbesondere bei der Besteuerung, bei-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
434
sLuui gewähr! werden. Die -bisherigen wirtsöhaftliehen : Standes-
vertretungeu (Praktiker, Zahnärzte, Krankenhau.särzte) werden auf¬
gelöst und im Gauvexhand zi&ntralisiert, eine Stellenvermittlung
wurde errichtet, welche alle bekannt gewordenen freien Steilen
nachweist und über die Niederlassungsmögliehkeit Erhebungen ein¬
leitet. Diese Aktionen und- zahlreiche Kleinarbeit wurden in
24 Versammlungen und Sitzungen- und durch 2193 Schriftstücke
bewältigt, mit- den anderen- -ärztlichen Vertretungen stets rege
1 ü hlung unterhalten. Der erfreuliche Erfolg der Prager Aerzte-
organisation schon im ersten Jahre des Bestandes, verspricht
auch in Zukunft vielen weiteren Nutzen zur wirtschaftlichen
Hebung des Standes. — Der Kassenbericht weist eine Einnahme
von 1615 K 95 h (a;us. Die bisherigen Vorstandsmitglieder würden
einstimmig wiedergewählt, darunter als Obmann Dr. Adolf Ban ti¬
ler, als Schriftführer Dr.- Oskar Klauber, als Kassier Privat¬
dozent Dr. Heinri c-h Hilgen reine r.
Literarische A n z e i ge n. V on der vierten Auflage der
B. e ä len z y k 1 opä d i e der gesamten Heilkunde, unter Mit¬
redaktion Prof. B rüg sch' heräusgegeben von Prof. A. Eulen¬
burg, ist im Verlage von Urban & Schwarzenberg in Wien
tier zehnte Band erschienen, welcher die Artikel Moorbäder —
Oesophag uskraukheiten enthält. Von den Monographien, welche
der Band enthält, seien u. a. nur hervorgehoben: Myokardexkran¬
kungen von Fr. Kraus, Narkose von Kionka, Nasenkrankheiten
von Br es gen, Neurasthenie von Z i-ehen, Neuritis von Remak,
Niereinchixux-gie von Suter.
Annalen der städtischen Allgemeinen Kranken¬
häuser zu München. Im Verein mit den. Aerzten dieser
Anstalten heräusgegeben von Prof. Dr. j. v. Bauer, Bd. XIV,
1906 bis 1908. Verlag von J. F. Lehmann, München 1910.
Preis 14 M. Nach einem allgemein gehaltenen Berichte über die
städtischen Krankenhäuser Münchens folgen die Mitteilungen der
beiden städtischen Krankenhäuser links und rechts der Isar, der
Filiale in Schwabing und des städtischen Sanatoriums in Har¬
laching. Den weitaus größten Teil der Annalen beanspruchen
die wissenschaftlichen Mitteilungen aus den einzelnen Abteilungen
der genannten Krankenhäuser. -*'■*
Medizinische Essays. Heräusgegeben von K. L o e-
ning, Halle a. S. 1. Band. 2. Teil. Verlag von B. Konegen,
Leipzig, Preis 7 M. — Die Medizinischen Essays stellen nach
den Worten des Herausgebers eine Sammlung kurzer Abhand¬
lungen über die neueren Fortschritte der medizinischen Wissen¬
schaft und neue Beobachtungen in der Praxis dar, welche der
Originalabteilung des ,, Reichs- Medizinalanzeigers“ entnommen
sind. —
Von Jes sn-ers Dermatologischen Vorträgen für Praktiker ist
das 22. Heft : H a. u t v e r ä n d e r u n ge n bei Erkrankungen der
Atmung sorga, ne, im Verlage C. Kabitzsch in Würzburg
erschienen. Preis 90 Pf.
*
Cholera-. Rußland. In der Woche vom 29. Januar bis
4. Februar ereigneten sich in Rußland, u. zw. im Gouvernement
Podolien 2 Choleraerkrankuiigen, von denen 1 tödlich ausging.
\ oni 5. bis 12. Februar wurden weder Erkrankungen noch Todes¬
fälle gemeldet.
Pest. Rußland. Anläßlich des Herrschens der Pest im
Gouvernement Astrachan haben die Sanitätsbehörden des an¬
grenzenden Dongebietes, sowie der in regem, Schiffs verkehre mit
Astrachan 'stehenden 'Stadt Baku strenge Maßnahmen zur Ver¬
hütung der Pesteinschleppung getroffen. Insbesondere wird auf die
Vertilgung der Ratten großes Gewicht gelegt. Seit 15. Februar
(a. St.) wurden aus der Kirgisensteppe, wo seit Herbst 1910
26 Pest her de konstatiert worden waren, keine- Pesterkrankungen
mehr gemeldet. Der letzte Pest herd war der Aul Dschaltir auf den
Ländereien der Fürstin Jusupoff, von dessen Erdwohnungen (mit
399 Einwohnern) ein Teil pestverseucht war. D-a mit Anfang
Februar die Kirgisen zu Tausenden, teilweise- mit -ihren Herden,
an, die Küste des Kaspischen Meeres ziehen, um dort den Früh-
lingsfischfang zu betreiben, wurden sechs Observationspunkte,
darunter als die wichtigsten Korduan, Dschambai und Porocho-
Avinskaja (Trechbratinskaja) Kossa -errichtet, woselbst die Kir¬
gisen ärztlich untersucht werden, bevor sie in Arbeit aufgenommeu
werden können. Die ,,Astrachanpes.t“, die in den höchst unhygie-
uischen V ohnungs- und Lebensvorhältnisscn der Kirgisen einen
günstigen Nährboden findet, ist fast ausschließlich Lungenpest
mit etwa 96% Mortalität. Eine Verschleppung der Krankheit nach
der Stadt Astrachan ist bisher nicht vorgekommen ; eine Gefahr
für Oesterreich ist daher trotz der bedeutenden Einfuhr von
Kaviar, Hausenblase und getrockneten Fischten kaum, zu befürchten.
Aegypten. In der Woche vom 17. bis 23. Februar ereigneten
sieh 19 (0), in der Woche vom 24. Februar bis 2. März, 74 (45)
Pestlälle (Todesfälle). In den ersten zwei Monaten des. laufenden
Jahres wurden in ganz Aegypten 196 Pesterkrankungen gegenüber
62 in der entsprechenden Zeitperiode des Vorjahres konstatiert.
China. Die mandschurischen Häfen, insbesondere Dalny
(Dairen), Port Arthur und Tschifu wurden als pestverseucht er¬
klärt. Gegen Provenienzen aus diesen Häfen wurden die bei Pest
üblichen sanitätspolizeilichen Maßnahmen in Kraft gesetzt. Nach
amtlichen Nachrichten betrug die Zahl der- Pestfälle in der Mand¬
schurei bis 4. Februar 9334; hievon entfielen 4190 auf Charbin,
1262 auf Hu hm, 990 auf Suihua, 823 auf Chanchun, 693 auf
Mukden, 263 auf Tsitsikar, 223 auf Pinchou, 85 auf Chailar,
65 auf Kirin, 62 auf Hsinmintun, 15 auf Tiding; die übrigen
Fälle verteilen sich auf 16 Ortschaften. Im Gebiete der südmand-
s'c-hu rischen Eisenbahn betrug die Zahl der Pesjerkrankimgen
188, in Dalny 53. In der Provinz Schantung sind bis zum 18. Fe¬
bruar 1260 Pesttodesfälle vorgekommen, davon 61 in Kiautschou,
S3 im Kreise Tsimo, 290 in Tschifu.
*
Das A\ i e n -e r Ae r z te o r c h e s.te r veranstaltet am 26. cl. M.
um V* ö Uhr 'nach mittags im Volksbildungshause, Wien V., Stöber¬
gastee 11, unter Mitwirkung der k. k. Hofopernsängerin Frau
Elizza und des Violinvirtuosen Herrn Höchste in ein Konzert
zugunsten des Wiener Volksbildungs Vereines. Das Konzert des
V iener Aerzteorchesters vom 5. Februar zugunsten der Hinter¬
bliebenen nach dem Gerne indearzto Dir. Richard Franz in
Riedau, hat nach dem Berichte des Kassiers des Wiener Aerzte¬
orchesters, Dr. F as al, ein Bruttoerträgnis von 11.478 K 84 h
und ein Reiuerträgnis von 7855 K 97 h geliefert. Das Rein-
erträgnis Avird nach einem Vorstandsbeschlusse zu einem Doktor
Franz- Fonds des Wiener Aerzteorches ters verwendet.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 9. Jahreswoche (vom 26. Februar bis
4-. März 1911). Lebend geboren, ehelich 640, unehelich 238, zusammen
878. Tot geboren, ehelich 49, unehelich 31, zusammen 80. Gesamtzahl der
Todesfälle 673 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17 2 Todesfälle) an Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 6,
Scharlach 2, Keuchhusten 4, Diphtherie und Krupp 10, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 1, Rotlauf 5, Lungentuberkulose 109, bösartige Neu¬
bildungen 50, Wochenbettfieber 2, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 52 (-j- 6), Wochenbettfieber 2 (=), Blattern 0
(0), Varizellen 108 (4- 33), Masern 136 (— 33), Scharlach 106 (+ 40),
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 5 (-|- 2), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0),
Diphtherie und Krupp 86 (+ 25), Keuchhusten 50 (-)- 4), Trachom 14 (+ 11),
nfluenza 2 (-f 1), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle in Valle, Bezirk Pola (Küsten¬
land). Fixer Bezug 2400 K, Hausapotheke. Die Gesuche, belegt mit dem
Nachweise der österreichischen Staatsbürgerschaft, der physischen Ge¬
sundheit und der Praxisberechtigung für die im Reichsrate vertretenen
Königreiche und Länder, sind im Laufe des Monats März beim Ge-
meindevorstande in Valle einzubringen. Die Umgangssprache ist italienisch.
Bei gleicher Qualifikation erhalten Istrianer Aerzte den Vorzug. Die Er¬
nennung erfolgt vorläufig provisorisch im Sinne des Landesgesetzes vom
12. August 1907, Ij.-G.-B1. Nr. 39, die Dienstinstruktion ist geregelt durch
das genannte Gesetz und die Verordnung der küstenländischen Statthalterei
vom 16. März 1909, L-G.-Bl. Nr. 15.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeindegruppe
Wolfpassing a. d. H. (politischer Bezirk Floridsdorf-Umgebung,
Niederösterreich) mit dem Wohnsitze des Arztes in Wolfpassing. Die
Sanitätsgemeindegruppe umfaßt die Gemeinden Wolfpassing, Bogenneu-
siedl-Streifing und Traunfeld mit 1867 EinAvohnern. Die von den be¬
teiligten Gemeinden zu leistenden Beiträge betragen jährlich 600 K, dazu
kommt noch die vom niederösterreichischen Landesausschuß für diese
Arztesstelle bewilligte Subvention von 800 K. Ueberdies wird dem Arzte
von der Gemeinde Wolfpassing eine freie Naturahvohnung beigestellt. Die
Haltung einer Hausapotheke ist unbedingt notAvendig. Die mit dem
Diplome, dem Tauf(Geburts)scheine, dem Nactnveis der österreichischen
Staatsbürgerschaft, dem Sittenzeugnis, einem amtsärztlichen Gesundheits-,
bzAV. Tauglichkeitszeugnis, soAvie mit den Nachweisen über die bisherige
ärztliche Tätigkeit ordnungsgemäß instruierten, an den niederösterreichi¬
schen Landesausschuß zu richtenden Gesuche sind bis längstens
31. März 1911 an das Bürgermeisteramt in Wolfpassing a. d. H. (Post
Schieinbach) zu richten, welch letzteres auch zur Erteilung von etwa ge¬
wünschten Auskünften bereit ist.
G e m eindearztesstelle in Langschlag (politischer Be¬
zirk Zwettl, Niederösterreich) für die Gemeinden Langschlag, Fraberg,
Kainrathschlag, Langschlägerwald, Mitterschlag, Siebenhöf und Stierherg
mit über 2500 EinAvohnern, Landessuhvention 1600 K, Sanitätsbeiträge
der Gemeinden 400 K; Führung einer Hausapotheke erfordeilich. Die
mit den gesetzlichen Nachweisen belegten Gesuche sind bis 31. März
1911 bei der Gemeindevorstehung in Siebenhöf (Post Langschlag) einzu¬
bringen.
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
435
!
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 17. März 1911.
Gesellschaft für innere Medizin nnd Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 2. März 1911.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 17. März 1911.
Vorsitzender : Prof. Ferd. Hochstetter.
Schriftführer: Dr. R. Bergmeister.
Hofrat Hochenegg stellt einen Patienten vor, bei welchem
er vor 14 Jahren wegen Darmverschlusses die Kolostomie aus-
geführt hat. Die Anamnese (Mastdarmblutungen, Schleimabgang)
sowie der Digitalbefund sprachen für ein Karzinom. Da dasselbe
absolut starr in das Beckenzellgewebe eingefügt war, erschien
es als inoperabel. Pat. erholte sich nach der Kolostomie voll¬
ständig und die wiederholten Nachuntersuchungen ergaben ein
allmähliches Verschwinden des Infiltrates, das zur Diagnose Kar¬
zinom Veranlassung gegeben hatte, so daß derzeit auch nicht
eine Spur von der damals nachgewiesenen Schwellung konstaticr-
bar ist. Natürlich mußte damit die Diagnose rektifiziert werden.
Den Aufschluß über diesen Fall gibt ein im Jahre 1.901
kolostomierter Patient, der ebenfalls unter dein Bilde- der Dann¬
stenose und einem Befunde wie beim Rektumkarzinom zur Ope¬
ration gekommen war, der nach der Kolostomie vollständig aus¬
heilte. Bei diesem Falle entleerte sich aus dem abführenden
Schenkel und durch den After ein großer, mit stinkendem Eiter
erfüllter Abszeß, worauf die geschilderte Besserung eintrat.
Beim dritten, im Jahre 1902 operierten Falle, verschwand
nach der Kolostomie der bei der Untersuchung als inoperables
Karzinom anzusprechende. Tumor vollkommen.
Prof. Hochenegg betont, daß diese drei Fälle, die er
unter 142 von ihm persönlich ausgeführten Kolostomien beob¬
achtet hat, die in der Literatur zerstreut vorkommenden Berichte
von jahrelanger Besserung, ja Heilung von Karzinomen durch die
Kolostomie erklären können. Hochenegg meint, daß auch in
diesen Fällen auf Grund ähnlicher Befunde die falsche Diagnose
auf Karzinom gemacht wurde, während es sich, wie in den drei
geschilderten Fällen, nur um entzündliche Strikteren gehandelt
haben dürfte.
Diskussion: Prof. Schnitzler: Hofrat Hochenegg hat
in seinen interessanten Ausführungen hervorgehoben, daß- die lange
Zeit anhaltenden Besserungen hei als Karzinom diagnostizierten
Erkrankungen sich zumeist als Fehldiagnosen herausstellten.
Mitunter können wir aber doch nach Palliativoperationen
wegen Karzinom viele Jahre andauerndes Wohlbefinden beob¬
achten. Einen derartigen Fall aus meiner Erfahrung will ich
kurz mitteilen. Im Jahre 1903 operierte ich an meiner Abteilung
im Wiedener Spital einen Mann wegen eines1 stenosierenden
Cökumtumors. Die Laparotomie zeigte ein typisches, hartes Kar¬
zinom des Cötkums, das wegen der bestehenden Fixation
nicht radikal operabel war. Ich machte daher bloß- die
Enteröanastomose zwischen Ileum und Querkolon. Der
Kranke erholte sich hierauf sehr und ich begann trotz des ein¬
deutigen Operationsbefundes an meiner Diagnose zu zweifeln, als
das gute Befinden mehr als fünf Jahre andauerte. Erst
Jahre nach der Palliativoperation ließ- sich der Patient wieder
in das Spital aufnehmen u. zw. wegen einer von der Cökalgegend
ausgehenden Kotphlegmone der Bauchdecken. Dieser Krankheit
erlag der Patient trotz ausgiebiger Inzisionen. Die vom Pro¬
sektor Dt. Zemann ausgeführte Obduktion bestätigte nun.
daß ein Karzinom des Cökuins bestand. Von einer kleinen |
Perforation des Karzinoms war die zum letalen Ende führende
Kotphlegmone ausgegangen. Das Karzinom hatte sich in den
7 Vs Jahren seit der Enteroanastomose nur sehr wenig vergrößert.
In diesem Falle bestellt wohl nach dem Operations- und Ob¬
duktionsbefund kein Zweifel, daß ein Intestinalkarzinom nach
einer Palliativ operation in ein mehrjähriges Latenzstadium ge¬
treten ist.
Prof. Hochenegg betont, daß man in dem Falle Pro¬
fessor Schnitzler den sehr interessanten Verlauf vielleicht
dadurch erklären kann, daß man annimmt, daß es1 sich bei
der ersten Operation um einen jener bekannten chronisch ent¬
zündlichen Cökaltumoren gehandelt hat, welche zunächst nach
Wiener dermatologische Gesellschaft. Sitzung vom 18. Januar 1911.
Verein der Aerzte in Oberösterreich. Sitzung vom 2. März 1911.
der Ausschaltung sich besserte, später aber karzinomatös ge¬
worden sein dürfte.
Hofrat Prof. Dr. Adam Politzer: Anatomisches und
Klinisches zu den Labyrintheiterungen.
Vortr. erinnert an einen vor sechs Jahren in dieser Gesell¬
schaft gehaltenen Vortrag, in welchem er, auf Grundlage einer
größeren Zahl anatomischer Befunde von klinisch beobachteten
Fällen, die Wichtigkeit der Labyrintheiterungen für die Ent¬
wicklung lebensgefährlicher intrakranieller Komplikationen dar¬
legte. Seit, jener Zeit hatte Vortr. in den letzten Jahren seiner
klinischen Tätigkeit Gelegenheit, eine weitere Reihe hieher-
gehöriger Fälle zu beobachten und anatomisch zu untersuchen,
welche für die Praxis neue Gesichtspunkte ergaben.
Von den infolge optischer Komplikationen letal verlaufenen,
klinisch genau beobachteten 18 Fällen dieser Serie, ergab die
anatomische Untersuchung in zehn Fällen gröbere anatomische
Veränderungen im Labyrinthe, während in acht Fällen trotz
tiefgreifender Veränderungen im Mittelöhre keine entzündlichen
Strukturveränderungen im Labyrinthe nachweisbar waren.
An den vom Vortragenden mittels des Skioptikons demon¬
strierten Labyrinthpräparaten sind folgende Veränderungen zu ver¬
zeichnen: 1. Durchbruch der beiden Labyrinthfenster und Ein¬
dringen des Eiters in die Labyrinthhöhle. 2. Fistelöffnungen an
den Bogengängen und an der inneren Trommelhöhlenwand. 3. Zer¬
störung der häutigen Gebilde des Labyrinths und des Cortischen
Organes. 4. Einschmelzung der Knochenwände der Labyrinth¬
höhle und des Modiolus der Schnecke mit Durchbruch in den
inneren Gehörgang. 5. Entzündliche Veränderung im inneren Ge¬
hörgang und eitrige Infiltration des Hörnerven. 6. Bindegewebs-
und Knochenneubildung in der Schnecke als Resultat einer älteren
abgelaufenen Entzündung im Labyrinthe.
Als optische Komplikation mit letalem Ausgange werden
angeführt: Meningitis, Extraduralabszeß, ' Kleinhirnabszeß,
Schläfenlappenabszeß und Sinusthrombose. Nach der Statistik
der Klinik Politzer wird der letale Ausgang bei den optischen
Komplikationen in der Hälfte der Fälle durch die vom Laby¬
rinthe induzierte Meningitis herbeigeführt. Vortragender weist
nach, daß diese Komplikation vorzugsweise von der Schnecke
ausgeht. Er verwirft daher die Operationsmethode, welche sich
auf die Abtragung der Bogengänge und Eröffnung des Vorhofes
beschränkt und befürwortet als wichtigstes Postulat die operative
Ausräumung der Schnecke, da nur dadurch der gefährliche Eiter¬
herd im Labyrinthe ausgeschaltet wird.
Bei tiefem Extraduralabszeß, ferner hei intrakraniellen Kom¬
plikationen ist die von Jansen-Neumann vorgeschlagene Ab¬
tragung der hinteren Pyramidenwand und die Eröffnung des1 Laby¬
rinthes von der medialen Seite angezeigt.
Bei den ohne zerebrale Komplikationen bestehenden Laby¬
rintheiterungen hingegen empfiehlt Vortr. die Abtragung der Pro-
montorialwand und die breite Eröffnung des Vorhofes und der
Schnecke und die gründliche Ausräumung derselben. Diese Me¬
thode hat den Vorteil, daß eine Verletzung des1 Fazialnerven gänz¬
lich ausgeschlossen ist.
Dr. Hans Königstein und Dr. Heß: lieber Krisen im
Laufe der Sklerodermie.
Die Patientin, welche wir uns aus der Abteilung des Pro¬
fessors Ehrmann vorzustellen erlauben, zeigt das typische Bild
einer mäßig vorgeschrittenen, diffusen Sklerodermie. Auf eine
detaillierte Schilderung des Krankheitszustandes können wir um
so eher verzichten, als die Patientin bereits vor Jahren mit der¬
selben Erkrankung auf der Klinik des Herrn Prof. Riehl ge¬
legen ist und gelegentlich' vom Prim. Kren in der Dermatologi¬
schen Gesellschaft vorgestellt wurde.
Zur Charakterisierung der Erkrankung genügt es, auf fol¬
gende, auch auf Distanz wahrnehmbare Eigentümlichkeiten hin¬
zuweisen: Das Gesicht zeigt ein maskenartiges Aussehen, die
Haut haftet straff an der Unterläge; dies tritt besonders deutlich
an der Nase hervor, deren knöchernes und knorpliges Stützgerüst
sehr prägnant vorspringt. Die Haut der Brust ist zart gefältelt,
atrophisch, die Sehnen an den Unterarmen sind deutlich verdickt.
486
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
die Hände sind blau verfärbt und die verkrümmten Finger können
nicht vollständig zur Faust geschlossen werden. Im Gesicht fallen
sehr zahlreiche, bereits Von den früheren Beobachtern festgestellte
Gefäßerw eiterungen auf. Solche Gefäßerweiterungen sind im Laufe
der Zeit auch auf der Brust, den Oberarmen und den Handflächen
zur Ausbildung gelangt.
Wir erlauben uns, die Patientin deswegen zu demonstrieren,
weil wir im Laufe der jetzt neunmonatigen Beobachtung trotz des
scheinbar stationären Zustandes der Erkrankung das Auftreten
diverser Symptornenkomplexe beobachten konnten, welche zuein¬
ander in einem auffallenden Gegensätze stehen. Die erste Sym¬
ptomen reibe ist folgendermaßen charakterisiert: Ohne immer nach¬
weisbare somatische Ursache, vielleicht zeitweilig durch psychische
Einflüsse mitbedingt, tritt plötzlich unter starkem Schmerzgefühl
eine zyanotische Verfärbung der distalen Partien der Extremitäten
auf. Dabei sind dieselben entsprechend der Ray na u d sehen Schil¬
derung kalt, schwer beweglich, gegen Berührung hypästhetisch.
Zu gleicher Zeit ist- die Haut der Patientin absolut trocken und
es1 gelingt weder durch Wärm'eapplikation, noch durch subku¬
tane Pilokarpininjektion Schweißausbruch zu erzeugen. Nach län¬
gerem Bestände weicht dieses Stadium unvermittelt einem Zu¬
stande, welcher im Gegensatz zum erstgeschilderten durch hell
rote Färbung der jetzt leichter beweglichen Finger und durch
spontanen, profusen Schweißausbruch ausgezeichnet ist. Es ver¬
dient. hervorgehoben zu werden, daß das psychische Verhalten
der Patientin in beiden Krankheitsphasen insofern© ein gegen¬
sätzliches ist, als in dem Zustande des Gefäßkrampfes ein de¬
pressiver Affekt verwaltet, während nach Lösung des Krampfes
eine mehr euphorische Stimmung Platz greift. Diese Zustände
scheinen in einem gewissen Zusammenhang mit der Menstruation
zu stehen, da häufig im prämenstruellen Stadium Gefäßkrampf,
auf der Höhe der Menstruation Gefäßerweiterung zu beobachten ist.
Diese krisenartig auftretenden, gegensätzlichen Symptomen¬
komplexe legen den Gedanken an die Einwirkung nervöser Im¬
pulse nahe. Die pharmakologische Prüfung hat diese Anschau¬
ung nicht nur bestätigt, sondern die Beteiligung eines bestimmten
nervösen Systems sehr wahrscheinlich gemacht. Im Stadium des
Gefäßkrampfes ist die Patientin gegen Pilokarpin, welches das
autonome System reizt, unempfindlich, scheidet nach Einführung
von Traubenzucker auf subkutane Adrenalininjektion erhebliche
Zuckermengen aus und führt schließlich zu dieser Zeit im Serum
eine Substanz, welche die Froschaugenpupille erweitert. Die Herz-
aktion ist erregt und die Patientin klagt über Palpitationen. Im
Stadium der Gefäßerweiterung tritt profuser Schweiß auf, mit Pilo¬
karpin. wird eine prompte Wirkung erzielt und die mydriatisebe
Substanz im Serum ist nicht mehr nachweisbar.
Wir sind daher geneigt, anzunehmen, daßi im Laufe der
Sklerodermie aus endogenen Ursachen sympathische Reizzustände
Vorkommen, die krisenhaft in ihr Gegenteil Umschlägen können.
Priv.-Doz. E pp in g er berechtigt mich zu der Mitteilung, daß
er ebenfalls bei Sklerodermie zweimal sympathikotonisebe Zu¬
stände verzeichnet habe. Herr Dr. Reines hat zweimal bei
Sklerodermie neben Zuckerausscheidung eine mydriatische Sub¬
stanz im Serum nacblgewiesen. Ohne daß wir auf' Grund dieser
Feststellungen weitergehende Schlüsse ziehen wollen, glaubten
wir doch aut diesen interessanten Symptomenkomplex das Augen¬
merk lenken zu sollen.
Prim. Dr. Jungmann : Gestatten Sie mir, aus der Heilstätte
für Lupuskranke, eine Anzahl von Radiumpatienten vorzustellen.
Zunächst bemerke ich, daß unser Radiumbesitz relativ beschei¬
den ist. Wir verfügen im ganzen über zwei Radiumträger, von
denen der eine 30 mg reines Radiumbromid enthält, der zweite
beiläufig doppelt so stark beschickt ist.
Die Träger sind in der Weise hergestellt, daß das Radium¬
pulver durch einen Firniß an eine darunter liegende Platte fixiert
und das so fixierte Radium in verdünnter Alu m i n iumkap s el ein-
geseldossen ist.
Die eine von den Kapseln hat ungefähr die Form eines
runden, dicken Bleistiftendes von 3/i cm Durchmesser, die zweite
stampiglienartige Kapsel, hat eine quadratische Fläche von IV2 cm
Seitenlange
Bei einem solchen Bau des Radiumträgers ist bereits von
vornherein eine Filtration gegeben, in dem die Alphastrahlung,
die normalerweise die Hauptpartie der Radiumstrahlung* ausmacht,
schon durch dünne Flächen absorbiert wird. Zur Wirksamkeit
gelangen nur die stärker penetrierenden Beta- und Gammastrahlen.
Wir bedienen uns auch sonst noch, um verschieden tiefe Wir¬
kungen zu erzielen, der Einlage von Filtern und geben zwischen
Metall u'nd Gewebe meist auch noch eine Papierschichte, die
den Zweck bat. die für die Therapie unerwünschte Sefcundärstra fi¬
lling zu beseitigen.
Großzügige Radiumtherapie läßt sich nur dann ausführen,
wenn ein reiches Instrumentarium von Radiumträgern verschie¬
denster Form, Größe und Intensität zur Verfügung steht. Doch
sollen die vorzuführenden Fälle, bei denen mit bescheidenen
Mitteln Erfolge erzielt wurden, darauf hinweisen, wie hervor¬
ragende Heilwirkungen mit dem Radium zu erreichen sind, so¬
bald einmal Einrichtungen zur Verwendung eines reichen Instru¬
mentariums vorhanden, sein werden.
Was die Dosierung anlangt, so ist dieselbe bei dem einmal
gegebenen Radiumträger von der Zeitdauer der Applikation ab¬
hängig und gelangt man durch die Empirie zur klinischen Er¬
fahrung und Abschätzung. Zur Technik möchte ich noch be¬
merken, daß, sofern es sich nicht um schwer zugängliche Stellen
in den Schleimhauthöhlen handelt, dieselbe eine denkbar ein¬
fache ist, doch empfehlen wir an Stelle der vielfach geübten
Methode, den Radiumkörper an die Haut anzukleben, lieber die
manuelle Technik; es kann ja der Patient meistens selber den
Radiunikörper an die zu behandelnde Stelle hinhalten, eventuell
ein anderer Patient ihm dabei helfen.
Es folgen nun zunächst einige ausgewählte Fälle von Haut¬
karzinom, Kranke, die von anderen Stationen oder Kollegen
der Heilstätte zugewiesen wurden.
1. N. N., 68jährige Private. Sie hatte ein mehr als heller-
großes, eleviertes Epitheliom an der rechten Wange, seit drei
Jahren bestanden, nur mit Salben behandelt.
Erhielt Oktober 1909 45 Minuten dauernde Radiumbestrah¬
lung, seither, das ist. seit IV2 Jahren, geheilt. (Vergleic'hsphoto-
graphie.)
2. G. Al., 46jährige Frau. Etwa mehr als hellergroßes, ele¬
viertes Epitheliom am linken Nasenflügel, angeblich drei
Vierteljahre dauernd, früher nur mit Salben behandelt. Juli 1909
Radiumapplikation, 45 Minuten dauernd. November 1909 vor¬
sichtshalber, weil die Affektion schuppte, nochmals eine halbe
Stunde Radium. Seither geheilt.
3. Sch. ,T., 60jährige Frau. Flaches, serpiginöses Haut-
karzinom, von zirka Doppelkronengröße, in der Gegend des
linken inneren Augenwinkels.
Seil 17 Jahren erkrankt., mit verschiedenen Salben vorbe- '
handelt. Im Januar 1 910' erhielt sie eine halbe Stunde dauernde
Radiumbehandlung in mehreren Partien (der Größe unserer Ra¬
diumträger entsprechend) auf das Karzinom, welches zwar aus¬
gebreiteter, aber flacher als die ersten zwei Fälle war. April 1910
nochmalige Bestrahlung. Vorsichtshalber in mehreren Abschnitten
ä 30 Minuten ; demnach fast ein Jahr seit der letzten Bestrahlung
geheilt geblieben. (Vergleichsphotographie.)
Die folgenden Fälle sind nun schwererer Natur.
4. G. AI., 58jährige Frau. Ausgebreitetes Ulcus rodens
der ganzen Nase, bis an die Nasenflügelränder reichend, an beide
innere Augenwinkel und an der linken Wange bis1 zur Jochbein¬
region sich forlsetzend.
Krankheitsdauer neun Jahre.
Vor acht Jahren war an einer chirurgischen Station, das
damals angeblich nur am linken Nasenflügel sitzende Karzinom
exstirpiert und hierauf plastisch gedeckt worden. Einige Monate
später trat Rezidive ein. AVir nahmen die Kranke zunächst in
Röntgenbehandlung und gaben ihr vom August 1908 bis Juli 1909
Röntgenbestrahlung in oft wiederholten Expositionen, die stets
die doppelte Norm Md ose überschritten.
So hervorragend die Röntgentherapie sich auf diesem Ge¬
biete meist zu bewähren pflegt, diesmal hatten wir wenig Erfolg.
Es kam immer zu neuen Nachschüben, insbesondere an den
Rand partien.
Wir leiteten August 1909 Rad iumhehandlung ein. Der ge-
samte Erkrankungsherd erhielt 60 Minuten in einzelnen Partien,
wie sie der Größe der Radiumträger entsprachen.
Seither blieb der größte Teil ausgeheilt, nur einzelne Re¬
siduen oder suspekte Punkte mußten wiederholt, nachbestrahlt
werden. So erhielt die Kranke noch im November 1909 und
Januar 1910 für einzelne Pünktchen je 30 Minuten, März 1910
15 Minuten, ferner September, November und Dezember je
60 Minuten.
Zum Schluß tatsächlich meist Vorsichtsbestrahlungen. (Ver-
gleictephotographie.)
5. P. K., 49jährige Frau.
Schweres Ulcus rodens der unteren Nasen partie,
welches’ bereits einen großen Teil beider Nasenflügel, insbesondere
rechts vom Septum, zerstört hat. Krankheitsdauer neun Jahre.
Vor zwei Jahren wurde in einem Provinzspital'e Paquelinisation
vorgenommen. Auch hier hatte die Röntgenbestrahlung, die wir
vorn September 1909 bis August 1910 in sechs Expositionen zu
8 H Vornahmen, kein befriedigendes Resultat erzielt, so daß wir
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
487
September 1910 eine Stunde lang Radium applizierten. (Dies
ist stets so gemeint: in einzelnen Abschnitten der Größe unserer
Träger entsprechend je eine Stunde.)
November 1910 nochmals 60 Minuten Vorsichtsbestrahlung.
Eine kleine Rhagade von 2 mm Länge am linken Nasenflügel,
die ich heute bei der Kranken bemerke, deren Beurteilung nicht
ganz leicht ist, wenn man nicht exzidiert, wozu sich diese
Kranken begreiflicherweise schwer entschließen, wird vorsichts¬
halber eine kurze Bestrahlung erhalten. (Vergleichsphotographie.)
Es sei nun zunächst ein Kranker eingeschoben, der im
Gegensatz zu den zwei letzten Fällen einen vollen Erfolg der
Röntgen behandlung darbietet.
6. Sch. F., lljähriiger Agent, wurde im Januar und April
1905 bei uns wegen eines kronenstückgroßen, flachen, rasenfönni-
gen Epithelioms der vorderen Zungenpartie und wegen
eines zweiten, p ap i 11 om a tosen, auf derber Basis aufsitzenden,
ebenfalls zirka kronenstückgroßen Karzinoms an der Oberlippe
links, zwei Röntgenexpositionen von je 10 H unterzogen; seither,
das ist seit sechs Jahren, geheilt geblieben.
Der nächste Fall zeigt eine glückliche Kombination des
Radium- und Röntgenverfahrens.
7. St. M., 63jähriger Pfründner, wurde uns im Februar 1910
als inoperabel von einer chirurgischen Station zugewiesen. Er
befand sich in einem desolaten Zustande. Er hatte ein mehr
als kronenstückgroßes, pilzförmig an der vorderen, seitlichen
Ansatzstelle der Zunge aufsitzendes, irn Zentrum ulzeröses,
leicht blutendes, äußerst schmerzhaftes Karzinom und einen
fast hühnereigroßen, derben Drüsen tumor in der charakteristi¬
schen Region am Halse rechts. Nahrungsaufnahme und Schlaf
minimal. Solatii causa leiteten wir die Behandlung ein uml
zwar gaben wir Radium für das Zungenkarzinom' vom Februar
1910 bis Februar 1911 in acht ein bis zweistündigen Applikationen
(die Techni k gestaltete sich begreiflicherweise in diesem Falle
äußerst schwierig) und acht Röntgenexpositionen von 6 bis
10 II unter Glasfilter für den Drüsentumor. Stetiger Fort¬
schritt im Befinden des Patienten ist zu verzeichnen. Schon
seit drei Vierteljahren absolutes Wohlbefinden. Das Zungenkarzi¬
nom scheint durch eine schmale Narbe ersetzt zu sein. Von
dem großen Drüsentumor ist noch ein derber, pflaumengroßer,
in der Tiefe fest verwachsener Rest zu tasten. Natürlich setzen wir
die Behandlung fort, doch ist schon der bisherige Erfolg bei
dem Kranken, dessen Zustand vor mehr als einem Jahre verzweifelt
erschien, sehr befriedigend.
8. B. J., 52 jähriger Geschäftsdiener.
Mächtig ausgebreiteter Lupus des ganzen Gesichtes, seit
48 Jahren bestehend. Pat. erzählt, daß er früher vielfach mit Aus¬
schaltungen, Brennungen usw., wie dies üblich war, behandelt
wurde. Seit Jahren will er jedoch seinen Lupus nicht mehr
behandeln lassen. Doch trieb ihn Oktober 1910 ein fast die
ganze linke Wange vom unteren Augenlid Ins zum Mundwinkel
reichendes, zirka handtellergroßes, infiltrierendes, pilzförmiges,
leicht blutendes Karzinom, das sich auf dem Boden des
Lupusterrains ausgebildet hatte, zu uns. Diese Affektion
bestand schon seit mehreren Monaten und war von ärztlicher
Seite mit dem Päquelin behandelt worden.
8. November 1910. Unter Chlöroformnarkose Fulguration
nach der Keati n g -Hartschen Vorschrift, in Verbindung mit
möglichst radikaler chirurgischer Entfernung. Wir kombinierten
noch mit Röntgenbestrahlung, die wir nach Abstoßung der Schorfe
in einer Dosis von 12 H applizierten. Zunächst täglich
fortschreitende Epithelisierung, bis in der dritten Woche plötz¬
lich neue, lebhafte Wucherung des Karzinoms an allen Steilen
eintrat. Daher abermals Exkochleation im Aetherrausch und im
Anschluß daran Radium zwei Stunden. Drei Wochen spätetr
nach rascher Ausheilung, zeigte sich im Zentrum fteuerdings
ein diesmal nur mehr linsengroßes, derbes Infiltrat, das wir
ebenfalls abtrugen; wir applizierten an diese zentrale Stelle
drei Stunden Radium und wiederholten Radiumapplikation in
eineinhalbstündiger Dauer noch vorsichtshalber im Februar 1911.
Seither frei. (Vergleichsphotographie.) Hoffentlich werde ich Ihnen
nach einiger Zeit den Patienten als dauernd geheilt wieder demon¬
strieren können.
Nun folgen zwei Fälle von Lupusheilung unter Radium.
9. B. N., 24jährigesl Landmädchen, eine wegen schwerem
Gesichtslupus und einer Anzahl von Lupusherden am Körper
in Behandlung befindliche Kranke, zeigte an der Hinterfläche
des linken Unterschenkels zwei etwa gleich große, 6X4 cm in
den größten Durchmessern betragende, im Zentrum vernarbte,
am Rande serpiginöse Herde von Lupus nodularis. Der
obere Herd von den beiden blieb zunächst gleichsam als Indikator
unbehandelt, der untere Herd erhielt im November 1909 -15 Minuten
Radiumapplikation längs des ganzen Randes, Juni 1910 für ein¬
zelne, noch Testierende Knötchen 90 Minuten, erscheint seither
geheilt; vorsichtshalber gaben wir ihr im Dezember 1910 noch¬
mals eine Stunde Radium. (Vergleichsphotographie.)
10. F. Th., 26 jähriges Ladenmädchen, seit 15 Jahren an
Lupus erkrankt. Zwei immens ausgedehnte, flache, serpiginöse,.
im Zentrum verheilte Krankheitsherde, einer an der Hinterfläche
des linken Unterschenkels, ein zweiter in der linken Kniekehle
und angrenzenden Partie des Oberschenkels. Die Patientin war,
wie sie angab, vielfach vorbehandelt worden. Sie erhielt in der
Heilstätte vom Mai 1906 bis April 1907 Radiumapplikation in
vier Expositionen, das erste Mal zu einer Stunde, das zweite
Mal zu drei Viertelstunden, dann noch einmal zu einer halben
Stunde und schließlich zu einer Viertelstunde. Seit April 1907
unbehandelt. Seit vier Jahren frei von Rezidive. Als1 Residuen
der Radiumbehandlung zeigen sich an einzelnen Stellen Tele¬
angiektasien und Pigmentationen.
Die beiden letzten, in ihrem Charakter wohl benigneren Fälle
zeigen, daß das Radium auch in der Lupustherapie Erfolge zeitigen
kann!
Diskussion: Prof. Paschkis stellt die Anfrage, ob Pri¬
marius Jungmann vollständig reines Radiumbromid ver¬
wendet hat.
Prim. Dr. Jungmann: Die Größe unserer Radiumträger,
sowie die Menge des enthaltenen Radiumbromids, habe ich schon
eingangs meiner Demonstration erwähnt, genauere Radioaktivi¬
tätsmessungen allerdings nicht angeführt, weil dieselben bei dem
gegenwärtigen Stande der Radiumtherapie, für die Klinik von
geringerer Bedeutung sind. Wer mit Radium arbeitet, muß die
biologische Wirksamkeit seiner Radiumträger empirisch feststellen
und gelangt so zur erforderlichen Erfahrung über die notwendige
Zeitdos ierung bei den einzelnen Krankheitsformen. Wir sind zum
Beispiel mit unserer kleinen Kapsel imstande, eine weiche Warze
zum spurlosen Schwinden innerhalb weniger Tage zu bringen,
wie ich dies an einem der gezeigten Patienten hätte demon¬
strieren können. Natürlich sind Radioaktivitätsmessungen von
hohem wissenschaftlichen Werte und könnten unter viel erprobten
konsequenten Radioaktivitätsmessungen der jeweiligen Applika¬
tionstechnik bei verschiedenen Krankheitsformen mit der Zeit
auch Aufschlüsse für die Dosierung gewonnen werden.
Doch ist mit der Radioaktivitätsanlgabe des in den Trägern
vorhandenen Radiums wenig für die tatsächlich verwendete Ra¬
diumbestrahlung gesagt. Man müßte stets angeben, wie groß die
Intensität der Bestrahlung, u. zw. in ihren einzelnen Qualitäten,
nach Alpha-, Beta- und Gammastrahlung, nach Einschiebung der
Filter ist. Schon eine dünne Papier- oder Kondomschicht ändert
ja die Verhältnisse. Vielleicht wird sich am zweckmäßigsten für
eine wissenschaftliche Methodik eine Dosimetrie nach Art der
Röntgenstrahlendosimeter heraussteilen. Vorläufig ist aber, wie
gesagt, die Empirie die Basis für unser klinisches Handeln.
Priv.-Doz. Dr. Loop. Freund ist durchaus nicht der Ansicht,
des Vortragenden, daß zur Dosierung der Radiumpräparate die
Angabe der Expositionszeiten ausreiche. Mit solchen Angaben
wird anderen Untersuchern, welche mit stärkeren oder schwä¬
cheren Präparaten als den vom Vortragenden verwendeten arbeiten,
wenig gedient sein. Vom wissenschaftlichen Standpunkte muß
im Gegenteile eine möglichst detaillierte Qualifizierung der ver¬
wendeten Präparate gefordert werden, zum mindesten deren Gehalt
an RaCL oder BaBm. wenn schon die Aktivität der vom Präparate
ausgehenden gesamten Strahlenmischung oder der einzelnen, sie
zusammensetzenden Strahlenbestandteile nicht angegeben wird.
Mit Bezug auf die demonstrierten Fälle, bei denen Radium
einen unvollständigen Effekt von Röntgen ergänzte, meint
Freund, daß mit Röntgenröhren von zweckmäßiger Qualität wohl
ähnliche Resultate zu erzielen seien wie mit Radiumstrahlen.
Bei letzteren sind das Wirksame die ß- und insbesondere die
Y- Strahlen, also Strahlungen, welche man auch in Röntgenröhren
entsprechenden Vakuum'zustandes reichlich erzeugen kann.
Prim. Dt. Jungmann: Zu der einen Bemerkung des Herrn
Privatdozenten Freund kann ich mich kurz fassen, indem ich
auf meine Erwiderung der Anfrage des Herrn Prof. Paschkis
h inweise. Natürlich fällt es mir nicht ein, die Wichtigkeit von
Intensitätsbestimmungen irgendwie in Abrede zu stellen. Daß
aber unsere empirische Methode ein wohlgeeignetes und wissen¬
schaftlich ’gut fundiertes Verfahren darstellt, dürften ja am besten
die vorgeführten Fälle gezeigt haben. Was den Vorwurf, den
Herr Priv.-Doz. Dr. Freund mir wegen zu geringer Einschätzung
des Röntgen Verfahrens macht, anlangt, so weiß ich nicht, wie ich
zu demselben gelange, ich habe ja den Wert der Röntgentherapie
gar nicht zur Diskussion gestellt und sogar einen schön geheilten
Röntgenfall unter meinen Patienten gezeigt.
438
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
Daß aus dem Umstände, daß, wie ja allgemein bekannt ist,
das Strahlengemisch des Radiums vielfach nahe Verwandtschaft
zur Röntgenbestrahlung aufweist, nicht der Schluß gezogen werden
darf, daß in allen Fällen, wo Radium hilft, auch Röntgen, -
Strahlung Erfolg haben muß, halte ich wohl für selbstverständlich.
V ir wollen uns freuen, daß wir beide Verfahren besitzen.
Prof. Riehl zeigt vier Kranke seiner Klinik, welche an
Xeroderma pigmentosum leiden und Pigmentation, Atro¬
phie, Teleangiektasien, sowie Xerosis in verschiedener Ausbildung
aufweisen. Bei allen Fällen waren und sind karzinomatöse Ge¬
schwülste vorhanden. Der älteste Fall ist ein 64 Jahre alter
Mann mit relativ geringer Ausbildung des Xeroderma, er zeigt
ein taubeneigroßes Karzinom am Handrücken.
Eei einem Falle ist der günstige Heileffekt der Kohlen sä ure-
schneebeh an d lung deutlich sichtbar. (Die Fälle werden an anderer
Stelle ausführlich beschrieben werden.)
Prof. Riehl demonstriert einen 27jährigen Rabbiner aus Pa¬
lästina mit Lepra tuberosa. Der Kranke wird mit Salvarsan
behandelt und späterhin wieder demonstriert werden.
Prim. Kren demonstriert aus der Klinik Riehl einen 25jäh-
ligen Patienten mit typischen Erscheinungen einer Syringo¬
myelie und gleichzeitig bestehenden Hautaffektionen. Letztere
bestehen einerseits in ausgesprochenem' Dermographismus und
Quaddelbildung auf feinste Nadelstiche, andrerseits in ziemlich
schweren Störungen der Haut der Hände. Hier zeigen sich neben
Atrophie der Muskeln und Knochenendphalangen ulzeröse Pro¬
zesse an den Fingerkuppen, die locheisenförmig, von schwielig
verdickter Haut umgeben, dem Malum perforans sehr ähnlich
sind. Die Nägel sind krallenförmig nach abwärts gekrümmt und
blutunterlaufen.
Außerdem besteht an der Volarseite über der Articulatio
m eta ca rp o-ph a 1 angea des dritten Fingers eine Schwielenbildung.
Eine zirka fünfkronenstückgroße gleiche Kallosität findet sich
auch über dem rechten Daumenballen ; sie ist von einer drei-
strahligen Rhagade durchzogen.
Bekanntlich sind Hautveränderungen bei Syringomyelie ein
häufiges Vorkommnis; in der Regel sind es aber Affektionen,
welche durch die herabgesetzte oder ganz aufgehobene Schmerz¬
empfindung traumatischer und zugleich infektiöser Natur sind.
Die Erscheinungen beim vorgeführten Kranken beruhen lediglich
auf trophischeu Störungen.
Dr. Maximilian Hirsch: Meine Herren! Ich möchte mir er¬
lauben, Ihnen aus der Abteilung Prof. Schnitzler eine sehr
seltene Verletzung zu demonstrieren, nämlich eine Luxation
des ITT. Metatarsus in seinen beiden Gelenken gleich¬
zeitig, sowohl hinten im Tarsomctatarsalgelenk, als auch vorne
im Metata.rsopbalaUgealgelenke. Entstanden ist diese Verletzung
durch Auffallen einer schweren Eisenplatte auf den Fuß.
Gestatten Sie mir zunächst die Röntgenbilder zu demon¬
strieren. Auf der seitlichen Aufnahme sieht man, daß die Basis
des TH. Metatarsus die Linie des Li sfr a n eschen Gelenkes ver¬
lassen hat und plantarwärts verschoben ist. Auf der dorsoplan-
taren Aufnahme sehen. Sie die vordere Luxation gut: es ist das
Köpfchen des Metatarsus medialwärts verschoben, die Basis der
Phalanx ist leer. Es ist also der TIL Metatarsus aus seinen beiden
Gelenken förmlich herausgeschlagen.
Ich 'stelle den Fall aber nicht nur wegen seiner exzeptio¬
nellen Seltenheit vor, sondern auch deswegen, weil der
klinische Befund sehr instruktiv ist. In der Planta
lasten Sie nämlich die laxierte Metatarsalbasis aufs deutlichste,
und dorsal können Sie auch die entsprechende Grube finden.
Ferner bemerken Sie, daß die dritte Zehe weiter zurück steht, wie
auf der gesunden Seite, was durch die vordere Luxation bedingt
ist. Endlich ist der Fuß von ausgesprochener Valgität, was uns
nicht wundernimmt, da ja gerade der III. Metatarsus eine Haupt¬
stütze des Fußgewölbes bildet, welche somit hier verloren ge¬
gangen ist.
Der Mechanismus der Verletzung ist so zu erklären,
daß die Eisennlatte den HI. Metatarsus, der ja die höchste Stelle
des Fußgewölbes bildet, förmlich isoliert getroffen und plantar¬
wärts hinausgedrückt hat..
I herapeutisch kommt bei dem Alter der Verletzung —
es sind neun Monate seit, der Verletzung her — nur die Resektion
der in die Planta dislozierten Metatarsalbasis in Betracht, die
den Patienten sehr belästigt.
Priv.-Doz. Dr. H. Salomon und Dr. Paul Saxl: Eine
Schwefelreaktion im Harne Krebskranker. (Erscheint
ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Salomon: Meine Herren! Das
seinerzeit von uns in die Praxis eingeführte Verfahren der Oxypro-
P'insäurobestimrmmg und seine Verwertbarkeit für die Karzinom¬
diagnose ist seitdem von uns und auf der I. med. Klinik von
Kon do an weiteren 313 Fällen geprüft worden. Es war schon
anfangs von uns hervorgehoben worden, daß manche Fälle von
Leberzirrhose, Leberabszeß usw. ebenfalls die relative Vermehrung
der Oxyprotein säure zeigen. Nach unseren .jetzigen Erfahrungen
möchten wir sagen, daß etwa 70°/o der Karzinome positiv rea¬
gieren, etwa 10% eines gerade den Leberfällen, perniziöser An¬
ämie usw. entnommenen Kontrollmaterials ebenfalls relative Oxy-
proteinsäuresteigerung darbieten. Die später von S a 1 k o w s k i und
Ko jo eingeführte Methode der Fällung mit Bleisubäzotat, gibt den
unseren korrespondierende Resultate, hat aber den Vorzug größerer
Leichtigkeit und Bequemlichkeit. Wenn auch nicht absolut aus¬
schlaggebend, haben uns sich beide Methoden in der Karzinom¬
diagnose als wichtige Hilfsmittel bewährt.
Die eben demonstrierte Schwefelmethode ist jedenfalls
äußerst, handlich. Heber ihre praktische Tragweite wollen wir uns
um so rückhaltender äußern, als ja bei der Chronizität des Krank¬
heitsprozesses oft noch nach langer Zeit Recherchen nötig sind,
um die Natur eines zweifelhaft gebliebenen Falles nachträglich zu
klären. Vir glauben aber, je mehr die Forschung davon abkommt,
in parasitären Vorgängen die Ursachen des Krebses zu suchen
und je mehr der Krebs eine Zwischenstufe einnimmt zwischen
einer Infektionskrankheit und einer, sagen wir Stoffwechselkrank¬
heit, um so bestimmter, daß der Organismus beim karzmomatösen
Organismus eine Hexenküche ganz eigener Art unterhält, deren
Abwässer noch manchen Einblick in den Betrieb bieten werden.
V ir befinden uns aber da auf einem spröden und noch
wenig beackerten Boden und sehen daher die heute vorgeführten
Tatsachen nur als einen weiteren Schritt auf dem vorgezeich¬
neten Wege an.
Dr. Weiß. (Nicht eingelangt.)
Dr. L. Arzt: Meine Herren! Durch das außerordentliche
Entgegenkommen des Herrn Kollegen Saxl hatte ich bereits
vor einigen Tagen Kenntnis von seinen Harnbefunden erlangt,
so daß es mir möglich war. die von Saxl und Salomon vor-
getragene Reaktion mit dem Material der II. chirur¬
gischen Klinik des Hofrates Hochenegg auszuführen.
Tn den mir zur Verfügung stehenden fünf Tagen konnte ich
naturgemäß nur eine beschränkte Anzahl von Harnen der Unter¬
suchung zuführen. Im ganzen wurden 50 Harne untersucht, welche,
da einige Untersuchungen bei einem und demselben Patienten
mehrmals angestellt wurden, 43 Patienten betrafen.
Ich glaube, das Material dadurch am übersichtlichsten zu ge¬
stalten, wenn ich es in vier Gruppen einteile u. zw.:
1. Harne von Patienten mit Karzinomen.
2. Harne von Patienten, die vor längerer oder kürzerer Zeit
wegen eines Karzinoms operiert wurden.
3. Kon trollfälle.
4. Fragliche P'älle.
Harne von Patienten mit Karzinomen wurden, wenn man
die doppelt untersuchten abzieht, 24 untersucht, davon gaben 14
einen deutlich positiven Befund, während 10 eine negative Re¬
aktion zeigten.
Diese 24 Karzinome zerfallen wieder:
in 4 Karzinome der Mamma, von denen 3 positiv, 1 nega¬
tiv reagierte,
in 3 Karzinome des Oesophagus mit 2 positiven und
1 negativen Reaktion,
in 7 Karzinome des Magen -Darmtraktes, davon reagierten
sechs positiv, 1 negativ, ^
in 6 Karzinome der Mundschleimhaut mit 2 positiven und
4 negativen Reaktionen,
ferner 1 Karzinom der Nase, das positiv reagierte, ein
kleines Ulpus roden s am Augenwinkel und ein Fall von Xeroderma
pigmentosum, die beide einen negativen Harnbefund gaben.
Von 8 operierten Fällen [gaben nur 2 einen positiven, da¬
gegen 6 einen negativen HaFnbefund.
Unter- diesen befand sich ein Karzinom der Mamma, das
vor zwei Jahren radikal operiert wurde, heute geheilt ist und
einen negativen Harnbefund gab.
Unter den 8 Kon trollfällen befand sich eine schwere tube¬
röse Lues, eine Struma, ein Fall von Pal tau f- S tern borg scher
tuberkulöser Pseudoleukämie usw.
Nur ein Fall aus dieser Gruppe mit klinisch sicherem nega¬
tiven Karzinombefund reagierte schwach positiv. Es war dies
ein Patient, der am Tage vor der Harnuntersuchung mit Ehr¬
lichs ,.606“' intravenös iniiziert wurde und den ich, wie einige
ändere Fälle, der Freundlichkeit des Prof. Riehl verdanke,
ein Mittel, das vielleicht aus einem Falle lassen sich natürlich
keinerlei Schlüsse ziehen - auch eine positive Reaktion im Ham
verursacht.
439
Nr. 12 WIENER KLINISCHE \\
Die in die vierte Gruppe eingereihten drei Fälle lassen in
bezug auf die Verwertbarkeit der Reaktion keinen Schluß zu,
Ja ja die klinische Diagnose derselben nicht feststeht.
Einige Fälle von sicheren Karzinomen, die einen negativen
Befund gaben, möchte ich noch erwähnen. So war die Harnunter¬
suchung bei einem Patienten mit Oesophaguskarzinom, welcher
eine Gastrostomie besaß, sich fast ausschließlich von flüssiger
Kost nährte, zweimal negativ ; das spezifische Gewicht betrug aber
auch um- 1003.
Vielleicht sind auch die Fehlresultate in der Gruppe der
Karzinome der Mundhöhle auf die gleiche Weise zu erklären,
daß nämlich die Patienten last ausschließlich nur von flüssiger
Kost sich ernähren, der Harn daher außerordentlich diluiert ist
und vielleicht infolge dessen auch die Reaktion negativ ausfällt.
Einen Patienten mit einer Geschwulst der Nasenspitze möchte
ich noch erwähnen, der zweimal zuerst vor und dann kurz nach
der Operation positiv reagierte, wenn auch das zweitemal be¬
deutend schwächer und bei dem die histologische Untersuchung
ein Plattenepithelkarzinom ergab.
Im Gegensatz zu diesem Patienten zeigte eine Patientin, bei
der wegen eines Karzinoms des Magens eine Pylorusresektion
ausgeführt wurde, auch am zweiten und dritten Tage noch einen
deutlichen Niederschlag, was wohl so erklärt werden kann, daß
die Lymphdrüsen,, welche auf Metastasen verdächtig waren,
nicht entfernt werden konnten.
Ich glaube, das Ergebnis meiner Untersuchungen wohl dahin
zusammenfassen zu können, daß wohl nicht alle Karzinome
eine Reaktion nach Salomon und Saxl im Harne geben,
daß aber auch kein, sicherer Fall — so weit ich dies nach tier
geringen Anzahl der Fälle sagen kann — eines Nichtkarzinoma-
tösen eine deutliche Reaktion im Harne gibt.
Dr. P. Saxl (Schlußwort): Gegenüber Dr. Weiß muß ich
bemerken, daß ich viele Fälle von Tuberkulose untersucht habe,
die die negative Reaktion ergaben. Herr Dr. W e i ß hat in seiner
Arbeit über die Ausscheidung des neutralen Schwefels die höchsten
Werte im Harne von Krebskranken gefunden und hat das auch
heute zugegeben. Im übrigen hat die heute vorgeführte Reaktion
mit der Neutralschwefelbestimmung nur einen indirekten Zu¬
sammenhang.
Priv.-Doz. Julius Neumann und Dr. Ed. Herrmann: Bio¬
logische St udienüberdiew eibliche Keimdrüse. (Siehe
unter den Originalien in dieser Nummer.)
Diskussion: Prof. S. Fraenkel. (Siehe unter den Origi¬
nalien dieser Nummer.)
Es wurde der Antrag auf Eröffnung der Diskussion gestellt
und angenommen. In Anbetracht der vorgerückten Stunde wurde
dieselbe für die Sitzung am 31. März d. J. verschoben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 2. März 1911.
Eisler und Eggert stellen ein drei Jahre altes Kind mit
Pneumothorax vor. Das Kind erkrankte an Pneumonie und
es entwickelte sich ein Eiterherd im rechten überlappen, welcher
durch Aushusten entleert wurde. Von da an sank die Temperatur,
es blieb eine hochgradige Kurzatmigkeit zurück, die rechte Thorax¬
hälfte nahm an Volumen zu und die Dämpfung verschwand über
■ihr. Das Mediastinum ist nach links verschoben. Die Röntgen¬
untersuchung ergab eine vollständige Aufhellung der rechten
Thoraxseite, diese nahm ein größeres Areal als normal ein, die
Lungenzeichnung fehlte vollständig, der Mittelschatten war nach
links verlagert und das Zwerchfell zeigte eine schaukelnde Be¬
wegung, indem die rechte Hälfte sich beim Inspirium hob und
die linke sich senkte. Es liegt ein Pneumothorax vor, welcher
anläßlich des1 Durchbruches des Lungenabszesses entstanden war.
Die rechte Lunge ist nicht ganz .retrahiert, da sie am Mediastinum
und am Zwerchfell angewachsen ist. Die'Pirqu et sehe Reaktion
ist negativ. Der Pneumothorax ist bedeutend zurückgegangen,
ein Pleuraexsudat ist nicht vorhanden.
L. Freund empfiehlt die Prüfung der Thoraxresistenz,
damit der radiologische Befund mit dem Perkussionsbefund stimmt.
Fräulein Bien stellt einen neunjährigen Knaben mit Pseu-
doleukämie vor. Die tastbaren Lymphdrüsen sind geschwollen,
es besteht Milztumor, Fieber fehlt, die Pir quetsche Reaktion
ist positiv. Die Blutuntersuchung ergibt: Hämoglobin 64% Fleischl,
rote Blutkörperchen 4,140.000, Leukozyten 12.100, die mono¬
nukleären Elemente, besonders die kleinen und mittleren Arten,
sind vermehrt, pathologische Formen sind nur spärlich zu finden.
Die Untersuchung einer exzidierten Lymphdrüse ergab adenoide
Drüsenhyperplasie.
i'üCllEN SCHRIFT. 1911.
J. Fried jung zeigt einen Säugling mit Naevus flam
me us in der Mittellinie des Schädels. Dieser Nävus
blaßt allmählich ab, ohne daß eine Therapie notwendig wäre.
J. Zap pert bemerkt, daß er vor einem Jahre diese Affektion
beschrieben hat.
O. Schey hat auf der Klinik Schauta diesen Befund
sehr oft erheben können. Die Prognose der Affektion ist sehr gut.
N. Swoboda weist darauf hin, daß dieser Nävus auf einer
harten Unterlage rasch verschwindet. Ungünstig ist die Prognose
hei der Lokalisation auf den Augenlidern. Wenn das Kind sich
aufregt, so werden die früher erkrankten Stellen auch im späteren
Leben rot.
J. Fried j ung, erwidert, daß er diesen Fall nur demonstriert
habe, um vor therapeutischen Eingriffen zu warnen.
H. Salzer demonstriert ein durch Operation gewonnenes
Präparat von offenem Ductus omphalomescraicus, aus
welchem auch Darminhalt ausgetreten ist. Am distalen Ende fand
sich an demselben Magenschleimhaut und eine der Schleimhaut
des Duodenums ähnliche Auskleidung.
Koch zeigt das anatomische Präparat eines Falles von
Verschluß der Bronchien durch tuberkulöse Drüsen.
Ein sechsjähriger Knabe erkrankte unter Husten, Heiserkeit, Fieber,
Kopfschmerz und heftiger Dyspnoe, es kam 'zu lautem Stridor und
Zyanose. Nach Intubation befand sich das Kind wohl, bekam aber
bald darauf Dyspnoe und Zyanose, welche durch eine neuerliche
Intubation nicht mehr behoben wurde. Die Röntgenuntersuchung
ergab, daß die rechte Zwerchfellshälfte unbeweglich und die
rechte Lunge gebläht war, mediastinal lag ein großer Drüsen¬
schatten. Es wurde die Tracheotomie ausgeführt, doch erfolgte
bald Exitus. Die Obduktion ergab Vergrößerung der Drüsen an
der Bifurkationsstelle der Trachea, durch Verkäsung der Drüsen
war die rechte Seite der Trachea iarrodiert, so daß eine Kommuni¬
kation mit dem Oesophagus gebildet wurde. An der Bifurkations¬
stelle saß in jedem Hauptbronchus ein aus verkästem Lympii-
drüsengewebe bestehender Pfropf, welcher das Lumen verstopfte.
Daneben fand sich noch Status thymico - lymphaticus.
W. Knöp felmach er hat vor zwei Jahren- einen solchen
Fall demonstriert; eine Lunge war stärker gebläht als die andere.
Pollak hat einen Fall gesehen, der in Heilung ausging.
Die Trachea war durch tuberkulöse Drüsen stenosiert. Es wurde
die tiefe Tracheotomie ausgeführt, nach einigen Tagen expek-
torierte der Patient verkäste Lymphdrüsenpartikel.
M. Jerusalem: U e be r die Sonne nlichtbehandl u n g
der chirurgischen Tuberkulose. Die Grundprinzipien der
Behandlung der chirurgischen Tuberkulose teilen sich in zwei
Arten: Bei der einen wird operatives Vorgehen, bei der anderen
ein konservatives bevorzugt. Bei Kindern ist die zweite Methode
zu empfehlen, während bei Erwachsenen häufiger die Indikation
zur Operation igestellt werden muß. Von ■.Operationen kommen bei
Kindern namentlich die palliativen Eingriffe in Betracht: Punktion
und Injektion von Jodoformglyzerin, Entfernung umschriebener
Herde. Paraartikuläre Herde indizieren die Operation, weil die
Tuberkulose ins Gelenk durchbrechen kann. Nicht nur bei der
Operation, sondern auch bei der Nachbehandlung muß peinlich
aseptisch vorgegangen werden, um eine Mischinfektion zu ver¬
hüten. Die konservative Behandlung besteht in der Fixation und
Entlastung des erkrankten Gelenkes ; Stauungsbehandlung ist bei
offenen fistulösen Prozessen von Vorteil, bei Fungus ist selten
ein wirklicher Erfolg zu beobachten. Bekannt ist die Jod- und
Schmierseifenbehandlung bei Tuberkulose. Von Röntgenbestrah¬
lung werden gute Erfolge gemeldet, Tuberkulinbehandlung ergibt
wechselnde Resultate, es wird sogar über Verschlimmerung be¬
richtet. Es wird weiter die Injektion von Wismutpasta in Fisteln
empfohlen. Allzubefriedigend sind weder die Erfolge der opera¬
tiven, noch der konservativen Behandlung. Durch Rolli er in
Leysin ist die Sonnenlichtbehandlung in Aufnahme gekommen.
Daselbst wird grundsätzlich konservative Therapie befolgt, ge¬
schlossene tuberkulöse Herde werden nicht eröffnet, nur bei
infizierten Fällen wird breit inzidiert und die V unde der Sonnen¬
lichtbestrahlung ausgesetzt. Die Kranken liegen bei Tage und
manche auch bei Nacht im Freien. Die erkrankte Stelle wird frei
vom Sonnenlicht bestrahlt. Der Effekt der Behandlung ist das
Schwinden der Schmerzen, -Steigerung des Appetits, rasche Rei¬
nigung der tuberkulösen Herde. Hervorzuheben ist, daß die Be¬
weglichkeit der Gelenke selbst bei schweren \Fungusfällen erhalten
bleibt. Die Heilfaktoren sind in Leysin die Mastkur, Sonnenlicht¬
bestrahlung und reine Luft. Die Geschwüre überhäuten sich nicht
nur am Rande, sondern auch von der Mitte her, so daß me
Zusammenziehung der Narbe sehr gering ausfällt. Die b es Rah je
Stelle wird stark pigmentiert. Vortr. hat Versuche gema< ht, m
Wien die Sonnenlichtbeslrahlung durchzuführen, was von gutem
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
440
Erfolg begleitet war. Mehrere Patienten wurden auch im Sana¬
torium Grimmenstein nach dieser Methode mit einem schönen
Resultate behandelt. An trüben Tagen wurde iBlaulichtbehandlung
durchgeführt.
L. freund bezeichnet die Trockenheit der Luft in Leysin
als einen wichtigen Faktor, welcher auch in den Dolomiten zu
finden ist.
Stern borg empfiehlt, in Seehospizen den Aufenthalt im
freien möglichst auszudehnen. Staubfreie Luft spielt bei der
ruberkulosebehandlung eine wichtige Rolle. Er hat bei seinem
Kran kenmateriale infizierte Tuberkuloseherde entfernt, geschlos¬
sene Herde mit Jodoformglyzerin und Immobilisation behandelt
und der Sonnenbelichtung .ausgesetzt, ln einigen Fällen hatten
auch Exkoch leation und Tuberkulinbehandlung Erfolg.
L. f re und macht darauf aufmerksam, daß-, oberflächlich ge¬
legene Knochenherde und Gelenkstuberkuloso mit Röntgenbestrah¬
lung sehr gute Resultate zeigen.
N. Swoboda schickt Kranke zur Sonnenlichtbehandlung
in die Dolomiten auf eine Hochfläche bei Kastelruth.
M. Jerusalem hat auch tuberkulöse Drüsen mit Sonnen¬
licht behandelt; der Erfolg war nicht so gut wie bei Knochen¬
tuberkulose, weil meist schon Mischinfektion vorlag. Die Sonnen¬
lichtbehandlung an der See wirkt nicht so günstig wie auf
Höhen, weil auf letzteren die Luft trockener ist.
Wiener dermatologische Gesellschaft.
Sitzung vom 18. Januar 1911.
Y orsi tzender : Finger.
Schriftführer: Mucha jun.
Sachs demonstriert einen 64 jährigen Mann mit einer pla¬
stischen Induration des rechten Corpus cavernosum
penis. Die haselnußgroße Induration befindet sich im mittleren
Anteile des rechten Corpus cavernosum penis, nahe der Mittel¬
linie, zeigt bei Durchleuchtung mit Röntgen keinen Schatten auf
dem Schirme. Der Knoten ist nach diesem Befunde wahrscheinlich
rein bindegewebiger Natur.
S e i d e r demonstriert :
1. Einen 28jährigen Schleifer mit Aetzg ©schwüren am
Bücken des rechten Zeigefingers. Pat. ist in einer Lichtpause¬
anstalt mit dem Wegwaschen der Kopien auf Zinnplatten mittels
Actznatron beschäftigt.
2. Einen 18 Jahre alten Spengler mit Aet z'g es chwüren
am Dorsum und an den Volae beider Hände. Pat. ist mit dein
Reinigen von Badewannen mittels roher Salzsäure beschäftigt.
3. Einen 17jährigen Patienten, der erst seit 14 Tagen in
einer Kartonnagenfabrik beschäftigt ist. Er zeigt sowohl auf dem
Dorsum, la 1 s auch der Yola beider Hände tiefgreifende, kreisrunde,
linsen- bis hellergroße, scharfrandige Geschwüre, die den oben
erwähnten Aetzgeschwüren gleichsehen.
Die Entstehung derselben ist auf die Manipulation mit
Wasserglas (kieselsaures Natrium) bei der Herstellung von
Papier- und Kartonrollen in Zusammenhang zu bringen.
Zur Behandlung der Aetzgeschwüre verwenden wir den
Perubalsam mit günstigem Erfolge, indem dieselben in kürzester
Zeit zur Vernarbung gelangen.
Nobl bemerkt, daß ihm von einer ätzenden Nebenwirkung
des Wasserglases nichts bekannt sei. Wenn dennoch solche Ne¬
krosen mit der sonst ganz indifferenten Verbindung in ursächlicher
Beziehung gebracht werden, so wäre dies nur mit dem Vor¬
handensein :von ungebundenem Natronhydrat zu erklären.
Sachs bemerkt, daß in dem dritten Fälle nur das Wasser¬
glas (k i e s e 1 s au re s Natron) als Noxe für die Entstehung
der Aetzgeschwüre anzusehen ist.
Sei der: Da das W asserglas als nicht ätzende Substanz
bekannt ist, so sind auch wir der Ansicht, daß das kieselsaure
Natron nur unter der Voraussetzung seine ätzende Wirkung ent¬
faltet, wenn an der Haut Läsionen vorhanden sind.
Nobl demonstriert eine 31jährige Fra.u mit dem eigen¬
artigen Zustandsbilde des Ski er Ödems. Im Anschluß an eine
lebiil verlaufende Influenzaattacke vor drei Wochen entwickelte
sich bei der Kranken eine eigentümliche Starre der Haut, die in
rascher Ausbreitung, an der Nackenhaargrenze beginnend, über
den Schultergürtel, die Arme, sowie den Rücken und die Brust
sich ausbreitete.
Oppenheim demonstriert einen 50jährigen Mann mit Pso¬
riasis vulgaris acuta, die besonders reichlich an Stellen
sich findet, wo der Kranke Pityriasis versicolor hat.
Die Affektion trat plötzlich unter Jucken auf — sie juckt
heute noch — und sehr bemerkenswert ist die Lokalisation in den
Herden der Pityriasis versicolor; es ist dieses Verhalten analog
dem von Brandwein er in der letzten Sitzung demonstrierten
Fall von Syphiliseruption in Herden von Pityriasis versicolor
Dies beweist, daß die reaktionslos auftretende Mi¬
kro sp o r on fu rfu r ans i eel lung doch bei in Proruption
befindlichen Exanthemen als Reiz wirkt und wir
uns den eben demonstrierten Fall als durch Psoria¬
sis und Reizung bedingt erklären können.
N e u g e baue r demonstriert eine A c n e a r t e f i c i a 1 i s bei
einem Patienten, der in einer Drahtgitterfabrik beschäftigt ist und
die Maschinen mit Oel, Petroleum schmieren muß.
L 11 mann demonstriert: 1. Lymph an goitis acuta go- -
n o r r h o i c a p e n is sin e G o n o r r h o e a.
Der 19jährige Kranke zeigt seit sechs Wochen eine eigen¬
tümliche Affektion des Penis. An dessen Unterfläohc zeigten • |
sich anfangs eine diffuse ödematöse Schwellung und düstere
Rötung. Es liegt nahe, an eine Paraurethritis im Sinne
Oedmanson, Jadassohn, Touton u. a. zu denken; doch
bestimmt mich Aussehen, Verlauf, die dicke Wandinfiltration
und die multiple Perforation hier eher eine isolierte paraure- 1
thrale Lymphgangentzündung anzunehmen, als welche ich sie
hiemit. auch vorläufig von klinischen Gesichtspunkten aus demon- :
striert haben möchte.
Nobl: Die an der Ventralfläche der Penishaut vorkom¬
menden blennorrhoisch infizierten akzessorischen Gänge gehören
sicherlich zu den großen Seltenheiten, besonders dann, wenn
sie ohne gleichzeitige Blennorrhoe der Harnröhre zur Beobach¬
tung gelangen. Daß es sich hiebei um eine blennorrhoische Lymph-
angioitis handelt, wie Vortragender meint, kann ich an der
Hand meiner Erfaß run, gen über die Histopathologie der blennor
rhoischen Lymphgefäßentzündung, die ausschließlich die extra-
parenchymatösen dorsalen Lymphbahnen betrifft, widerlegen. Das
von Ullmann vorgewiesene Präparat scheint vielmehr einer
selteneren Variante der als Urethritis externa ausgewiesenen Kate¬
gorie extraurethraler follikulärer und Ganginfektion anzu¬
gehören.
Grünfeld verweist auf einen zweiten, in dieser Gesell¬
schaft demonstrierten Fall von isolierter gonorrhoischer Erkran¬
kung eines derartigen präformierten paraurethralen Ganges, die, .4
in gleicher Lokalisation wie bei dem jetzt demonstrierten Falle,
exzidiert wurde. Heilung per secundam, im Eiter typische Gono-
kokken (!), Harnröhre jederzeit frei.
Ullmann: Trotz der Nähe des Stranges an der Raphe
bestimmen mich vorläufig die klinischen Eigenschaften und der -
Verfaul der entzündlichen Erscheinungen mit den multiplen Per¬
forationen, auch die rasche Involution des rückwärtigen Teiles
auf lokale Antiphlogose hier nicht die isolierte Infektion eines
präformierten Ganges, sondern primäre Lymphangoitis gonorrhoica
anzunehmen.
2. Die 32jährige Patientin glaubt, vor etwa 15 Jahren luetisch
infiziert worden zu sein. Vor drei Jahren hot sie gummöse
knotige Hautinfiltrationen rings mm das Kniegelenk, an einzelnen
auch fistulöse Infiltrate. Wassermann war 1908 stark positiv.
Der Rückgang der Infiltrate auf Jodtherapie, später graue Oel-,
therapie war deutlich, aber auch damals nicht vollkommen. Ein
Jahr später neuerliche Infiltrationen am selben Orte. Spezifische
Therapie aber ebenso wie Ehrlich 0-45 subkutan in Emulsionsform
erfolglos. Verdacht, auf Sporotrichosis'. Vor mehreren Monaten
erbat ich die Aufnahme der Patienten in die Hautklinik behufs
Kulturnachweis auf Sporotrichium (Beurmanni). Impfungen
Dr. Krens auf Ratten blieben zweimal negativ, ebenso Stich¬
reaktionen und auch wieder Jod und Einreibungskur, dabei traten
ausgesprochene Abmagerung von 70 auf 56 kg und Nachtschweiße *
ein. Der Befund gibt derzeit zahlreiche, teils derbe, teils weiche
zerfallende Hautknoten, stellenweise breitere subkutane Infiltrate,
auch derbe Stränge zwischen den Knoten. Es fragt sich, ob es
sich hier um eine Mischinfektion mit Lues, das ist Tuberkulose
auf dem Boden luetischer Infiltrationen oder um ein Erytheme
indure chronique scrofuleuse und um Gommes scrofuleuses handelt
oder um ein erythematonodöses altes Syphilid.
3. Das 19jährige blasse Mädchen zeigt dorsalwärts an sämt¬
lichen zweiten Interphalagealgelenken der rechten Hand eigen¬
tümliche pernionenähnliche Schwellungen, die aber durch ihre
Färbung der Haut, durch die schmerzhafte Schwellung der Gelenke
bei stärkeren Exkursionen, ferner völlig mangelndes Jucken der
Schwellungen und auch durch den Bestand seit mehreren Monaten
auf eine gewisse Spezifizität der Affektion hindeuten. Spitzen¬
katarrh, Nachtschweiße bestehen etwa ebenso lange. Es handelt
sich um jene zuerst von Hutchinson als Chilblain lupus be¬
schriebene Formen von tuberkuliden Hautinfiltrationen speziell
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
441
der Finger oder der Ohrmuscheln, die Besnier später als Lupus
pernio bezeichnet hat.
Stein, Klinik Finger, demonstriert sieben Kinder mit
Mikrosporie.
Schramek: Durch das Aufdecken dieses Mikrosporieherdes
wird jetzt auch das scheinbar sporadische Auftreten der Erkran¬
kung bei einem nicht schulpflichtigen Kinde, das im Sommer
in Behandlung der Klinik Riehl stand, erklärlich. Dasselbe
stammte aus der Leopoldstadt und dürfte doch mit den eben de¬
monstrierten Kindern in Berührung gekommen sein.
Ehrmann stellt einen 40 Jahre alten Mann mit Sarcoma
Idiopathic urn haemorrhagic um Kaposi vor, bei dem
auf dem linken Fuße die mäßige knollige und blumenkohlartige
Wucherung der Geschwulst auffällt, während sie links die be¬
kannte charakteristische Form zeigt, ebenso auf den Händen.
Ein gewiß seltenes Vorkommen sind die Knötchen auf dem Penis.
In der letzten Zeit ist Patient kacliiek lisch geworden, zeigt Darm¬
orscheinungen — wohl Metastasenbildung.
K ö n i g s t e i n demonstriert aus der Abteilung E h r m a n n :
1. Ein operiertes Karzinom des Unterschenkels. Vor vier
Wochen habe ich die kruralen und inguinalen Drüsen ausgeräumt,
die Vena saphena magna reseziert und hernach das Ulkus im
Gesunden Umschnitten und den Defekt nach Thiersch gedeckt.
Heute findet sich an der Stelle des Tumors eine solide glatte
Narbe. Ich glaube, daß in diesem, wie in ähnlichen Fällen
die Venenresektion viel zum Erfolge beiträgt.
2. Einen Mann mit multiplen Epitheliomen des Gesichtes.
Weidenfeld stellt einen noch nicht beobachteten Fall
von Hemisp orose vor. Die Erkrankung betrifft einen 50jäh-
rigen Pflasterer, der an der Nase knötchenförmige, im Zentrum
pustulöse linsengroße Effloreszenzen zeigt, die zu pfenniggroßen
Herden heranwachsen, miteinander konfluieren und sich dann
in eine frambösiforme, einer Tuberculosis cutis verrucosa oder
einem Bromoderma ähnliche Affektion umwandeln. Die Lokalisa¬
tion ist an den Seitenteilen der Nase, der Nasenspitze und be¬
steht seit einem halben Jahre. Die Züchtung ergab zuerst einen
verdächtigen Pilz, der dann von Schramek sichergestellt
wurde. Die Affektion ist in dieser Lokalisation und Form zum
erstenmal beobachtet.
Oppenheim: Der demonstrierte Fall erinnert an die zu¬
erst von Amerikanern beschriebene chronische Form der Haut-
blastomykose. Die ersten Fälle dieser Art in Europa wurden
von mir in Gemeinschaft mit Löwenbach, dann von Brand-
weiner und zuletzt noch von Finger publiziert.
Schramek demonstriert die von dem Patienten stammende
Pilzkultur, die in ihrem Aussehen vollkommen der Beschreibung
der Hemispora stellata entspricht. Dieser Pilz wurde von Veille-
min in der Natur gefunden, auf seine Pathogenität für den Men-
I schon wurde zuerst von Car ave n und Gougerot hingewiesen.
Die Zahl der bisher bekannten Fälle beträgt im ganzen drei.
Der Pilz wuchs in den geimpften Röhrchen überaus reichlich
und in Reinkultur. Gougerot in Paris hatte die freund-
lichkeit, an einem ihm übersandten Röhrchen die Diagnose zu
bestätigen. Wenn auch das Aufgehen in allen Röhrchen i u g ro ß e r
Zahl und in Reinkultur als sehr gewichtiger Beweis für die
! Anschauung, daß diese Affektion durch die Hemispora veranlaßt
wird, anzusehen ist, so sollen doch noch andere Reaktionen ( Kom¬
plementfixation, Agglutination usw.) zur Sicherung der Diagnose
herangezogen werden. Der Pilz wurde bis jetzt nur in gummösen
Erkrankungen gefunden und läge hier der erste Fall einer kutanen
Affektion vor.
Müller: Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß in
der Umgehung des erkrankten Herdes zahlreiche Komedonen
sich finden. Anläßlich anderer Untersuchungen konnte ich bei
Komedonen sehr häufig Blastomyzeteu ähnliche Bakterien, die
wohl als Saprophyten anzusprechen waren, finden. Es muß daher
bei allen ähnlichen Prozessen immer daran gedacht werden, daß
es sich um sekundäre saprophytische Vorgänge handelt.
W ei, den fei d: Genau wie bei der Blastomykose ist es
selbstverständlich, daß die gefundenen Pilze erst aus mehreren
Momenten als die eigentlichen Krankheitserreger angesehen
werden müssen, während sie unter anderen Umständen als zu¬
fällige Saprophyten bezeichnet werden können. Die große Menge,
in der sie vorhanden sind, fast als1 Reinkultur, spricht entschie¬
denst, wie Schramek hervorgehoben, für ihren ätiologischen
Charakter. Die Widal sehe Reaktion, von .vielen Seiten gefordert,
ist noch ausständig und wird noch nachgetragen werden. Im
Ausstrichpräparat fanden sich keine den Blastomyzeteu ähnliche
Formen.
Weidenfeld stellt einen Fall von Erythromelic an einem
24jährigen Burschen vor, der an den Knien und Ellbogen kinds-
handtellergroße, typische, bläulichrote, geknitterte Herde aufweist
und an seinen Oberschenkeln blaurote Verfärbung, die man sonst
auch bei ausgebreiteten. Erythromelien zu sehen gewohnt ist.
Finger demonstriert einen Patienten, dem auf der derma¬
tologischen Abteilung des Rudolf-Spitales wegen rezenter Lues
(Sklerose und Exanthem) 0-5 Salvarsan intraglutäal appliziert
wurde. Ende Juli erkrankte Pat. an heftigen, für Lues nicht
typischen Kopfschmerzen und an einer intensiven beiderseitigen
Neuritis optica. Er wurde an derselben Abteilung wieder auf¬
genommen und unter der Annahme, daß es sich um Lues handle,
merkuriell behandelt, worauf sich der Zustand etwas gebessert
haben soll. Im September stand Pat. auf einer Augenklinik,
später in häuslicher Behandlung, nahm Jod und machte neuer¬
dings 18 Einreibungen. Am 4. Januar dieses Jahres trat Patient
an meiner Klinik ein, zeigte eine zerfallende Papel an beiden
Gaumen und eine beiderseitige Neuritis optica, die beiderseits
zu nicht unwesentlicher Gesichtsfeldeinschränkung geführt hat.
Pick: Ich kann mich hier nur über das erste Rezidiv
des Patienten äußern, da die späteren nicht zu meiner Beobach¬
tung gelangten und ich halte es für durchaus ausgeschlossen,
daß die neun Wochen nach der Injektion aufgetretene Neuritis
optica durch das Mittel selbst bedingt ist. Dagegen spricht
1. das lange Intervall zwischen Injektion und Neuritis,
2. die gleichzeitig mit. der Neuritis konstatierte typische
luetische Alopezie,
3. die gleichfalls von uns damals konstatierte spezifische
Kephaleä nocturna und endlich
4. der prompte Affekt der eingeleiteten Schmierkur auf alle
diese Erscheinungen.
Für diesen Fall, welcher als der ‘einzige unter den fast 400
von uns mit Salvarsan behandelten Fällen Nervensymptome zeigte,
erscheint demnach die luetische Natur der Neuritis optica er¬
wiesen.
Frühauf berichtet über einen Fall von beginnender Atro¬
phia nervi optici, der ihm nur schriftlich aus Marburg mit¬
geteilt wurde. Nach zwei Hydrargyrum salicylic um-I n j e-ktionen
bei einem luetischen Exanthem trat Neuritis optica bilateralis
14 Tage post injectionem, acht Wochen nachher Erblindung des
einen Auges auf..
Spitzer berichtet über den Verlauf der Krankheitserschei
nungen bei der von ihm in der Gesellschaft der Aerzte vorgo-
stellten Patientin, die nach 0-4 Ehrlich 'eine Neuritis optica
dextra zeigte. Jetzt besteht Neuritis optica beiderseits, Patientin
ist stark heruntergekommen und hat konstant eine starke Pals-
beschleunigung, bis 120 in der Minute.
Uli ma nn, lieber das Vorkommen größerer und kleinerer
Ne r vens c h ä d ig u n g o n , besonders an hochempfindlichen Aerven-
apparate'n, also über die für viele noch immer fragliche Neuro-
tropie des Salvarsans besteht auch für mich kein Zweifel mehr.
Wohl aber zeigen mir die eigenen Erfahrungen, daß für solche
Zufälle doch auch ganz gut die mangelnde Technik und falschen
Applikationsweisen des Mittels und nicht die individuelle Toxi¬
zität des Präparates selbst daran Schuld 'tragen könnten. Ich habe
keine üblen Erfahrungen, seitdem ich ausschließlich intramusku¬
läre und nur ziemlich diluierte monazide Solutionen anwende,
weder allgemeine, noch lokale Störungen.
Die intravenöse Methode, abgesehen von mehreren tech¬
nischen Schwierigkeiten für die Haus- und ambulante Praxis des
Arzteis, hat wohl den großen Vorzug der Schmerzlosigkeit, aber
unzweifelhaft weit mindere Wirkungen auf den luetischen Prozeß.
Königstein: Wir haben auf der Abteilung Ehrmann
dreimal isolierte Ausschaltung des Nervus vestibularis beobachtet.
Glücklicherweise erfuhr die Affektion in allen diesen Fällen wieder
eine Rückbildung.
Finger betont, daß das Auftreten von symptomenloser
Neuritis optica in der Frühperiode der Syphilis durch syste¬
matische Spiegeluntersuchungen, die an seiner Klinik auch von
Elschnig vorgenommen wurden, als nicht gar so selten be¬
kannt ist. Dagegen seien Neuritiden mit Sehstörungen und Aus¬
gang in Nervenatrophie bei früher Lues eine extreme Seltenheit
und pflegen diese Neuritiden sowohl spontan, als auch auf anti¬
luetische Behandlung prompt zurückzugehen. Dasjenige, was aut-
falle, sei die Häufung solcher Fälle bei mit Salvarsan behan¬
delten Patienten und die Tatsache, daß diese Neuritiden wie in
zwei eigenen Fällen und im Falle Spitzer auf antiluetische
Behandlung nicht oder nur ungenügend reagieren.
Mucha (Klinik Finger) zeigt neuerdings den Patienten
mit dem psoriatiformen Rezidivexanthem, das nach Salvarsan
behandlung aufgetreten war und trotz neuerlicher Salvarsau-
injektion nicht zurückgegangen ist. Der Patient wurde mit sechs
Hydrargyrum salicylicum-Injektionen behandelt. Uas Lxamnem
442
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 12
ist bis auf Pigmentationen zurückgegangen. Dadurch sind wohl
die hei der letzten Vorstellung geäußerten Bedenken, daß es sich
um eine Psoriasis vulgaris handeln könnte, vollständig zer¬
streut. , j
Oppenheim: Diese Lokalisation der Syphilis an den
Streckseiten der Extremitäten und an der Stirne nach Ehrlich-Hata
entspricht ganz den Fällen, die von mir in den letzten vier
Jahren hier demonstriert wurden, wo während oder im unmittel¬
baren Anschlüsse an energische Quecksilberkuren Sy¬
philis er up ti one n, ähnlich dem Erythema exsudati¬
vum multiforme, sowohl in bezug auf die Form als
auch in bezug auf die Lokalisation auftraten. Ich
führte, diese auf das Zugrundegehen von Spirochäten und das
Freiwerden von Endotoxin zurück.
M ucha demonstriert einen Patienten, der wegen
eines makulopapulösen Exanthems am 29. Dezember 1910
0-4 Salvarsan intravenös erhielt, am 14. Januar 1911 wurden, da
das Exanthem unverändert Weiterbestand, neuerdings 0-4 g intra¬
venös einverleibt, heute, vier Tage nach der zweiten Infusion,
ist das Exanthem noch deutlich sichtbar und erst an einzelnen
Eifloreszenzen zeigt sich langsame Rückbildung.
Finger demonstriert einen Fall einer atypischen
Psoriasis vulgaris;
einen Lupus erythematodes acutus;
ein atypisches Erythem;
sowie ein pap ulo-nekrotisches Tuberkulid.
Kyrie demonstriert einen 34jährigen Patienten mit den
Erscheinungen des Morbus Recklinghausen, bei dem durch
Fibrol y s i n - Injektionen eine wesentliche Besserung erzielt
w urde. Im ganzen wurden bisher 34 Einspritzungen verabreicht,
die Tumoren sind zum größten Teile rückgebildet.
Verein der Aerzte in Oberösterreich.
Sitzung vom 2. März 1911.
Reg.- Rat. Prim. Dr. Br enner stellt zwei Kranke vor, welche
durch die Art der Verletzung interessant sind.
1. Einen 46jährigen Bahnarbeiter, der sich durch Fäll auf
den Rücken eine Zerreißung einer unteren Ileum?
schlinge zuzog u. zw. nicht an der Konvexität, sondern am
Mesenterialansatze saß ein 4 cm langer, querer Riß, der noch 3 cm
in das Mesenterium hineinreichte. Naht — Heilung.
2. Einen 25jährigen jungen Mann, der nach einer Revolver¬
schuß Verletzung aus der Nähe neun Schußöffnungen im
Dünndarm und zwei im dazugehörigen Mesenterium erlitt, mit
schwerer innerer Blutung. Der Transport in einer kalten Winter¬
nacht, der schwere Blutverlust und zehn Stunden seit der Ver¬
letzung, hatten den Kranken sehr geschwächt, so daß vor, während
und nach der Operation bis zu sechs Liter Kochsalzlösung teils
subkutan, teils intravenös infundiert wurden.
Resektion eines sehr langen Dünndarmstückes, da die Haupt¬
gefäße desselben durchschossen waren. Glatte Heilung, die neben
den ärztlichen Maßnahmen der Konstitution des als Turner und
Alpinisten gut trainierten jungen Mannes zu Mauken ist.
Dr. Riedl demonstriert :
1. Einen 22jährigen Schankburschen, welcher sich beim
Rodeln durch Anfahren an einen Baumstamm eine Längsfissur
der rechten Kniescheibe zugezogen hat. Der Streckapparat
war unverletzt geblieben. Vortragender hebt die Seltenheit der
Verletzung hervor und bespricht an der Hand des Plattenbildes
die etwas schwierige röntgenographische Darstellung des Bruches.
2. Ein kopfgroßes Sarkom des Dünndarmes, das
durch Obduktion von einem 20jährigen Bauernknecht gewonnen
wurde, der nach kurzem Spitalsaufenthalt unter den Erscheinungen
plötzlicher Darmperforation rasch verstorben war. Das Präparat
war mit der Blase verwachsen und bildete eine große, schalen¬
förmige Höhle, in welche der Dünndarm an einer Stelle ein¬
mündete, während er an einer anderen 'Stelle der Wandgung wieder
ausmündete. Pat. hat acht Tage vor seinem Spitalseintritt noch
gearbeitet. Bei der Aufnahme wurde ein mächtiger, das kleine
Becken erfüllender, im Bauchraum bis zu Nabelhöhe reichender
unverschieblicher Tumor nachgewiesen, der für inoperabel ge¬
halten wurde, was die Obduktion auch bestätigte.
Der Patient war vom Gemeindearzte Koos' in Randegg
(Niederösterreich) dem Allgemeinen Krankenhause in Linz über¬
wiesen worden.
Dr. Hellauer: Ueber das Ulcus cruris.
Der Vortragende bespricht die Entstehungsart, geht dann
zu den operativen Methoden der Behandlung über und wendet
sich dann den therapeutischen Maßnahmen zu, die insbesondere
für den praktischen Arzt in Betracht kommen. Vortr. empfiehlt
warm den Z i nk le im verband, der es den Erkrankten ermög¬
licht, ohne Schädigung ihrer Gesundheit dem Berufe nachzugehen.
Zur Illustrierung werden einige Krankengeschichten angeführt.
Zum Schlüsse geht Dr. Hel lau er auf die soziale Bedeutung des
Unterschenkelgeschwüres über und bringt Zahlen, die dem Buche
N o b ls entnommen sind.
Diskussion: S p e c h t e n h a u s e r warnt vor Anlegung des
Zinkleimverbandes bei nicht gereinigten Ulzera.
Brenner bestätigt die Beobachtung Hellauers, daß
im Unfallversicherungsbetriebe die Ulcera cruris merkwürdiger¬
weise nur äußerst selten als Unfallsfolgen vom Verletzten ange¬
sprochen werden.
Dr. Fröhlich berichtet über die bisherigen Erfolge der
Salvarsan -Behandlung an der internen Abteilung des All¬
gemeinen Krankenhauses.
Seit 'Dezember 1910 wurden 50 Injektionen bei 28 Fällen
gemacht u. zw. bei primärer, sekundärer und tertiärer Lues und
in vier Fällen postluetischer Erkrankungen. Hervorzuheben sind
die Heilerfolge bei Schleimhautplaques’ und bei tertiär-luetischen
Veränderungen. Als Applikationsmethode wurde ursprünglich die
intramuskuläre, dann eine kombinierte intravenöse und intra¬
muskuläre, in der letzten Zeit die wiederholte intravenöse ge¬
wählt. Von den Erscheinungen nach Injektionen von „606“ ist
ein Fall von Ikterus zu erwähnen, ziemlich intensiv, nach drei
Tagen verschwindend.
Demonstriert wurden vier Fälle mit :
1. einem langdauernden Infiltrat an der Jnjektionsstelle nach
intramuskulärer Injektion ;
2. eine Angina specifica und papulösem Exanthem nach
der ersten intravenösen Injektion;
3. tiefgreifenden Exulzerationen an der Stirne und der
Schulter, nach zweimaliger intravenöser Injektion im Abheilen
begriffen ;
4. maligner Syphilis, mit schweren, gummösen Verände¬
rungen der Knochen, nach einer Woche vollständige Konsoli¬
dierung, Zunahme des Körpergewichtes um 14 kg.
Programm
der am
Freitag eleu 24. März 19x1, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Exner stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Wahl von Vorsitzenden, Schriftführern und neuen Mitgliedern.*)**!
2. Prof. Bergmeister : Bericht über das abgelaufene Vereinsjahr.
3. Prof. Pasch kis: Bibliotheksbericht.
4. Prof. Durig: Physiologische Wirkung des Höhenklimas.
5. Verkündigung des Wahlresultates.
*) Oie Stimmzettel für die Wahl werden von V27 bis J/28 Uhr im Verwaltungs-
ratzimmer abgegeben.
**) In dieser Sitzung finden nach § 12 der Geschäftsordnung keine Demon¬
strationen statt.
_ _ Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Strümpell
Donnerstag den 23. März 1911, um 7 Uhr abends, statt.
(Vorsitz: Hofrat Prof. v. Neusser.)
Programm:
1. Demonstrationen angemeldet: Dr. Zak.
2. Dr. Mor. W**isz: Die Bedeutung des Urochromogens für die
Prognose und Therapie der Lungentuberkulose. Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 27. März 1911, 7 Uhr abends, im Sitzungs¬
saal des Kollegiums I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Dr. E. Jahoda stattfindenden wissenschaftlichen Versammlung.
Dr. Roh. Lichtenstern : Die chirurgische Therapie der Nephritis.
Ophthalmoiogische Gesellschaft in Wien.
Programm der am Montag;, den 27. März 1911, 7 Uhr abends, im
Hörsaale der Klinik Fuchs stattfindenden Sitzung.
1. L. Müller: Demonstration.
2. H. Wintersteiuer : Carcinoma corneae.
8. H. Lauber: Ueber die Farbentheorie von Edridge-Green und
I temonstration seines Farbenuntersuchungsapparates.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Programm dm- Montag den 27. März 1911, 6 Uhr abends, im Hörsaal
der Klinik Urbantschitsch staltfindenden wissenschaftlichen Sitzung.
1. Demonstrationen. Angemeldet die Herren: Bondy, Bäräny, Ruttin,
Alt, E. Uriiautschitsch, Beck.
2. Dinteufaß : Vorläufige Mitteilung.
Bondy, Schriftführer.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Kubasta. Verlag xon Wilhelm Branmüller in Wien,
Drnck von Bruno Bartelt, Wien XVIII., Theresiengasse 3.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
). ehiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner. S. Exner. E. Finger. M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko. H. Meyer. J. Moeller. K. v. Noorden.
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. 2. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
\nton Freih. v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs. Julius Hoch8negg. Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser,
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg. Wien. 30. März 1911 Nr. 13
INHALT:
1. Originalartikel: 1. Ueber Pathogenese und Prophylaxe der Pest,
Von Prof. Dr. H. Albrecht. S. 443.
2. Aus der Universitäts-Frauenklinik in Graz. (Vorstand: Professor
E. Knauer.) Nierendekapsulution bei Eklampsie. Von Doktor
Rupert Franz, Assistenten der Klinik. S. 447.
3. Aus der I. mediz. Klinik in Wien. (Vorstand: Professor Doktor
C. v. Noorden.) Eine Schwefelreaktion im Harne Krebskranker.
Von Hugo Salomon und Paul Saxl. S. 449.
4. Aus dem propädeutisch-pathologischen Institut und der chirur¬
gischen Klinik der k. Universität Turin (Vorstand: Prof. Daniele
Bajardi.) Untersuchungen über die Physiologie des Magens beim
Menschen. Von Dr. Candido Mantelli, Assistent. S. 451.
5. Aus dem staatl. serotherapeutischen Institute in Wien. (Vorstand:
Hofrat Prof. R. Paltauf) Beeinflußt Atoxyl die Bildung der
Antikörper? Von Dr. So, Tokio. S. 452.
6. Aus der k. k. dermatologischen Universitätsklinik in Graz.
(Vorstand: Prof. Dr. R. Matzenauer ) Präventivbehandlung der
Syphilis mit Salvarsan. Von Dr. R. Knaur, Assistenten der
Klinik. S. 453.
7. Zur temporären Sterilisierung der Frau Von Dr. Konstantin
Bucura, Privatdozent für Geburtshilfe und Gynäkologie in
Wien. S. 454.
II. Diskussion: Aus der Ohrenabteilung der allgemeinen Poli¬
klinik in Wien. Zur Frage der luetischen Erkrankungen des
Labyrinthes und des Hörnerven. Von Prof. Dr. G. Alexander.
S. 455.
Jeber Pathogenese und Prophylaxe der Pest.*)
Von Prof. Dr. H. Albrecht.
Das in überaus heftiger Weise erfolgte Auftreten der
’est in China um die Mitte Oktober 1910, bat in Europa
vieder neues Interesse für diese Krankheit geweckt und fast
dlerorts denkt man an jene Maßregeln, die zur Abwehr
lieses entsetzlichen Feindes der Menschheit zu treffen
vären. Wenn auch, wie ich gleich eingangs erwähnen will,
lie Gefahr einer Einschleppung in unsere Monarchie nur
‘ine äußerst minimale ist, so besteht doch ärztlicherseits
nid insbesonders für die Amtsärzte im weitesten Wortsinne
lie Verpflichtung, sich wenigstens einigermaßen über die
’athogenese und das Wesen dieser Seuche zu informieren.
Ich will daher versuchen, Sie über das wichtigste
ler Bakteriologie, der pathologischen Anatomie und Klinik,
los Infektionsmodus und der Verbreitung der Pest durch
ipizootische Erkrankungen gewisser Tierarten, sowie über
»rophvlaklisch- immunisatorische Maßnahmen zu informie¬
ren u. zw. auf Grund der Erfahrungen, die ich gemeinsam
nit Ghon und Pöch und mit unserem in so trauriger
Ü eise dahingegangenen Freunde Müller im Jahre 1897
a Bombay gesammelt habe und auf Grund der wichtigsten
■späterhin erschienenen Literatur.
*) Vortrag, gehalten für die Wiener Amtsärzte im Gemeinderat-
itzungssaale des Wiener Rathauses am 2. März 1911, mit Projektions-
lemonstrationen.
III. Referate: Geschichte der Medizin. Von Prof. Dr. Max Neu¬
burger. Ref.: Fossel. — Jahrbuch für psychopathologische
Forschungen. Von E. Bleuler und S. Freud. Ueber den Selbst¬
mord. Von Prof. Robert Gau pp. Neurasthenie. Von Privat¬
dozent Dr. Otto Veraguth. Das Problem der Willensfreiheit in
theoretischer und praktischer Beziehung. Von Dr. Richard
Beschoren. Die Psychoneurosen und ihre seelische Behandlung.
Von Prof. Paul Dubois. Die Neuralgien, ihre Diagnose durch
Algeoskopie und ihre Heilung durch bestimmte Alkohol¬
einspritzungen. Von Dr Karl Francke. Heinrich v. Kleist.
Klinischer Beitrag zur Frage der Alkoholpsychosen. Von Doktor
Wilhelm Stöcker. Die Psychanalyse. Von Dr. L. Frank.
Arbeiten aus dem neurologischen Institute (k. k. österr. inter-
akademisclies Zentralinstitut für Hirnforschung) an der Wiener
Universität. Von Prof. Dr. H. Obersteiner. Anleitung zur
Untersuchung Geisteskranker und Ausfüllung der ärztlichen
Aufnahmefragebogen deutscher, österreichischer und schweize¬
rischer staatlicher Irrenanstalten. Von Dr. Max Dost. Referent:
E. Raimann. — Howard Taylor und seine Arbeiten über das
Tabardillo (mexikanisches Fieber). Ref.: M. Weisz. — Atlas
chirurgischer Krankheitsbilder in ihrer Verwertung für Diagnose
und Therapie für praktische Aerzte und Studierende. Von Doktor
Bockenheimer. Ref: Alex. Fraenkel.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrh Uten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Im Jahre 1894 wurde gleichzeitig von, Kitas at o und
Vers i n in Hongkong der Bacillus pestis entdeckt und damit
die bis dahin ganz unklare Aetiologie dieser Krankheit ins
Klare gestellt. Zahlreiche nachfolgende Untersuchungen, ins¬
besonders die der österreichischen und deutschen Pestexpe¬
ditionen im Jahre 1897, haben eine genaue Kenntnis dieses
so pathogenen Mikroben zutage gefördert. Wir wissen heute,
daß es sich hei allen Formen (der echten Pest des Menschen
und der Tiere um ein bestimmtes Bakterium als Er¬
reger handelt, das eine Länge von etwa 1-5 b und eine
Breite von etwa 0-5 b hat. Es ist ein Stäbchen von stark
övaiärer Form, das sehr häufig als Diplobazillus auftritt. Es
ist ferner durch eine charakteristische bipolare Färbung
und das fast konstante frühzeitige Auftreten von eigen¬
tümlichen Degenerationsformen, sowohl im Menschen- und
Tierkörper, wie in der Kultur, ausgezeichnet. Es bildet
insbesonders eigentümliche kokkenähnliche Formen, die viel¬
fach als Bläschen oder Siegelringformen auftreten. Der
Pestbazillus ist also ausgesprochen pleo- oder polymorph.
Dazu kommt noch, daß er oft recht ansehnlich lange Ketten
bildet, die große Aehnlichkek mit Streptokokken zeigen. Er
ist. ein exquisiter Kapseibildner, insbesonders im Tierleib,
aber auch in Kulturen, die durch ihren visziden, schleimigen
Charakter ausgezeichnet sind. (Demonstration.)
An allen diesen Bildern wird Ihnen der ungeheure
Reichtum dieser Mikroben aufgefallen sein und Sie können
sich daher vorstellen, in welch enormer Menge dieselben
444
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
zweifellos häufig ausgeschieden, werden, worauf icli noch
später zurückkommen werde. Bekommt man nun insbe-
sonders aus menschlichem Exsudat oder Blut derartige
Bilder zu Gesichte, so ist es klar, daß dann die Diagnose
wohl nicht schwer fallen dürfte, wenn es sicli auch um
einen Erstfall handeln würde. .Nicht immer jedoch sind
die Bilder so eindeutig und charakteristisch, und dann wird
der Kulturnachweis und der Tierversuch unentbehrlich, was
natürlich mit größerem Zeitverlust verbunden ist. Ich will
nur noch kurz hervorheben, daß der Pestbazillus unter allen
Umständen Gram-negativ und unbeweglich, weil geißellos,
ist und daß er nie Sporen bildet.
Zum kulturellen Nachweis eignet sich wohl am besten
neutraler oder schwach alkalischer Agar. Zusatz von Blut¬
serum verbessert den Nährboden wenig, von Glyzerin macht
ihn eher schlechter. Auf Agar wächst der Pestbazillus noch
am schnellsten und nur dieser Nährboden kann zur
raschesten Diagnosestellung verwendet werden. Leider ist
aber sein Wachstum keineswegs besonders schnell, ins¬
besonders nicht, wenn es sich um die erste Kultur aus
Exsudat, Blut usw. handelt. Da sieht man oft noch nach
24 Stunden makroskopisch kein deutliches Wachstum, das
erst nach 3t> bis 48 Stunden gut entwickelt ist, während
Ueberimpf ungen älterer Reinkulturen viel schneller an gehen,
so daß die Kulturen schon nach 24 Stunden voll entwickelt
sind. Das kann natürlich unter Umständen eine arge Ver¬
zögerung der Diagnose bedeuten. Auf ein Temperaturopti¬
mum kommt es dabei viel weniger an. Der Pestbazillus
wächst zwischen 30 und 37° gleich gut, auch bei 25° ist
seine Entwicklung nur wenig verlangsamt. Unter 10° zeigt
er auch noch langsames Wachstum und verliert auch bei
größerer Kälte seine Lebensfähigkeit nicht. Für den Geübten
zeigt er auf Agar eine charakteristische Kolonienform mit
bläulich durchscheinenden und steil abfallenden Rändern,
ähnlich denen des Influenzabazillus. Doch kommen immer
daneben auch Kolonien vor, die denen des Streptokokkus
sehr gleichen. Nach allem kann zur vollständigen Sicher¬
stellung der Diagnose die Agarkultur nicht entbehrt werden.
Gleichwohl müßte in jedem suspekten Fälle von vornherein
der Tierversuch ausgiebigst benützt werden. Es kommen
hier vor allem zwei Tierspezies in Betracht, die für Pest
außerordentlich empfindlich sind und zum raschen Nachweis
einer Pesterkrankung beim Menschen zu verwenden sind.
Das ist die graue Ratte und ganz besonders das Meer¬
schwein. Sie sind so empfänglich, daß, nach Einverleibung
von entsprechend bazillenreichem Material der Tod schon
nach 24 bis 48 Stunden eintritt u. zw. unter Verände¬
rungen, die denen der Menschenpest vollko m men
entsprechen. Beim Meerschwein genügt einfaches Ein¬
reiben von pestbazillenhaltigem Material auf die rasierte
Haut, um typische Pest zu erzeugen, auch in Fällen, wo die
Pestbazillen mit anderen Bakterien innig vermengt und in
verschwindender Minderzahl sind, wie z. B. in den Fäzes
von Mensch und Tier. Solche Tiere zeigen dabei einen
enormen Reichtum an Pestbazillen im Blute, insbesonders
in der Milz und in den serös - hämorrhagischen oder schlei¬
migen Exsudaten an der Infektionsstelle. Aus all dem können
Sie ersehen, daß bei einem Erstfalle die bestimmte Diagnose
auf Pest unter Umständen sich verzögern kann, wenn das
mikroskopische Präparat kein klares Bild ergibt, die Kultur
sich verzögert oder der rasche Erfolg des Tierversuches
ausbleibt. Jedenfalls ist eine solche Untersuchung kompli¬
zierter und wohl auch schwieriger — alles mit Rücksicht
auf Erstfälle gesagt — als bei Cholera, wo uns eine Reihe
fast sicherer Behelfe zur Verfügung stehen, wie die Pepton¬
wasserkultur, der Dieudonnesche Nährboden und die
Agglutination. Wir können und müssen uns zwar der letz¬
teren auch zur Pestdiagnose bedienen, .wenn wir bereits
die Reinkultur besitzen, doch sind die Agglutinations werte
der Pferdeimmunsera nur sehr niedrige, wenn auch voll¬
kommen spezifische. Wenn ich nun noch hervorhebe, daß
der Pestbazillus bei mehr oder weniger vollständiger Aus¬
trocknung, insbesonders in dünner Schichte und bei inten¬
siver Einwirkung des Sonnenlichtes, rasch zugrunde geht,
daß er ferner durch die meisten Desinfizienzien rasch und
leicht zu töten ist, so habe ich Ihnen wenigstens in großen
Zügen das wichtigste aus der Bakteriologie und der bak¬
teriologischen Diagnostik des Pestbazillus vorgeführt.
Ich will Ihnen nun die so charakteristischen und
schweren Veränderungen schildern, die er im menschlichen
Körper in geradezu typischer Weise erzeugt. Die Pest ist
eine hämorrhagische Septikämie, manchmal mit pyämischem
Charakter und gleicht in Vielem dem Milzbrand. Bei keiner
an deren E r k r a n k u n g des Mens c h e n jedoch ko m m t
es in der Regel zu so enormer, rascher und gren¬
zenloser Vermehrung des lebenden Giftes im (4 o-
w e b e und i n s b e s o h d e r s im Blute und darin liegt
eine Haupterklärung für das Schreckliche im Auftreten und
im Verlaufe der Pest. Insbesonders die pathologisch -ana¬
tomischen Untersuchungen, die Ghon und ich an einem
ziemlich reichen Materiale in Bombay durchführten, haben
über die Art und Bedeutung der Bubonen Klarheit gebracht
und die primäre Pestpneumonie von der Bubonenform der
Pest scharf abgetrennt. Es sind dies also zwei in ihrer
Genese und ihrem Verlaufe recht verschiedene Formen.
Bei der ersten entsteht an irgendeiner Stelle des Körpers,
wo Lymphknoten Vorkommen, ein primärer Bubo, am häu¬
figsten in der Hals-, Achsel- oder Schenkelbeugeregion. Er
ist durch seine Größe, Schmerzhaftigkeit, durch die über¬
aus reichliche ödematös- hämorrhagische Durchtränkung
seiner Umgebung vollständig charakterisiert und was das
wichtigste ist, er deutet mit Sicherheit darauf hin, daß in
seinem Bezirke der Einbruch des Giftes von außen her er¬
folgt ist. Es ist dies ein durch zahllose Tierexperimente
bewiesenes Lokalisationsgesetz. Von diesem primären Bubo
aus erkranken nun rapid die zunächst gelegenen Lymph-
drüsengruppen in Form von kettenartigen, gelbrot gespren¬
kelten Lymphomen, die man primäre Bubonen zweiter oder
dritter Ordnung nennen kann. Es ist die Regel, daß an der
Haut kein Primäraffekt zu sehen ist. Die Verletzungen,
durch die der Pestbazillus eindringt, sind einerseits in der
Regel ganz klein, ja mikroskopisch und es ist eine Eigen¬
art des Pestbazillus, daß er sofort in Lymphgefäße ein¬
wuchert, dann höchstens eine Lymphangitis unscheinbarer
Form erzeugt und erst in den Lymphknoten sein Zerstörungs¬
werk beginnt. Es kommt hier zur hämorrhagisch- eitrigen
Lymphadenitis mächtigster Form und zu massenhaftem Ein¬
bruch des Pestbazillus in kleine und große Venen. Dafür
geben die merkwürdigen Venenwandblutungen Zeugnis, die
man immer in kleinen oder großen Venen im Bereiche des
primären Bubo findet und nun entstehen oft wie mit einem
Schlage die sekundären Bubonen, das heißt alle Lymph¬
knoten des Körpers schwellen nun oft recht mächtig und
schmerzhaft an, denn in ihnen lokalisieren sich nun mit
Vorliebe die bereits im Blute kreisenden Pestbazillen. So
kommt es zur allgemeinen Lymphadenitis, an der zum Bei¬
spiel auch die mesenterialen Lymphknoten teilnehmen
können. Dies alles kann sich innerhalb weniger Stunden
abspielen, es kann aber dazu auch einige Tage brauchen.
Aber nicht nur die peripheren Lymphknoten werden in der
geschilderten Weise getroffen, wichtiger noch ist es, daß
so häufig das lymphatische Gewebe der Halseingeweide,
insbesonders die Gaumen- oder Rachentonsillen und die
Follikel am Zungengrund sehr schwer verändert werden,
ähnlich wie bei einer ganzen Reihe anderer menschlicher
Infektionskrankheiten (Variola, Scharlach, Typhus). Sie
zeigen dann rötlichgelbe, nekrotische Beläge mit Oedem
der Umgebung und schließlich auch der Glottis, Verände¬
rungen, die sekundär zur Pestbronchitis und Pneumonie
führen und für die Verbreitung der Krankheit natürlicher¬
weise von größter Wichtigkeit sind. Sie führen aber auch
zu schweren Misch- oder Sekundärinfeklionen durch den
Streptokokkus, Diplokokkus pneumonicus oder den Staphy¬
lokokkus, welche natürlich den Tod erst recht unabwendbar
machen. Wie schon früher erwähnt, sehen wir nur äußerst
selten einen echten Primaraffekt der Haut bei der Pest,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
445
Nr. 13
aber sein' häufig ist es, daß sekundär über den primären
Bubonen oder in ihrer Umgebung Geschwüre entstehen, die
reichlich hämorrhagisches Serum und Eiter entleeren, oder
es entstehen über den Bubonen infolge des enormen Oedems
zunächst zahlreiche hämorrhagische Hautblasen, die dann
alle platzen und massenhaft Pestbazillen entleeren. Alle
diese Veränderungen sind aber, wie gesagt, als sekundäre,
das heißt als E olgezustände der mächtigen Veränderungen
im Bereiche des primären Bubo zu betrachten.
Ich will noch das Auftreten eines mächtigen Milz-
luinors mit ganz eigenartiger, dunkelrot schagrinierter Pulpa
hervorheben und auf die zahllosen kleinen und größeren
Hämorrhagien verweisen, die in der Akrne der Erkran¬
kung, wenn bereits Pestbazillen zahllos im Blute kreisen,
in der Haut, fast sämtlichen Schleimhäuten und serösen
Häuten auftreten und die oft nur flohstichgroß, in un¬
zählbarer Menge, dicht nebeneinander gedrängt auftreten.
Insbesonders charakteristisch im ganzen Magendarmtrakt.
Mikroskopisch findet man in allen diesen Blutungen mehr
weniger reichliche Pestbazillen.
Und nun gehört noch zum anatomischen Bilde
dieser schweren Pestform das Auftreten von käsig-eitrigen
Metastasen, insbesonders in der Leber, Milz und Nieren,
die ebenfalls manchmal außerordentlich reichlich er¬
scheinen.
Ganz anders liegt die Sache bei der zweiten Erschei¬
nungsform der Pest, der primären Pneumonie. Hier ent¬
steht ähnlich wie bei der gewöhnlichen kruppösen Pneu¬
monie mit einem Schlage die Pestbronchitis und in unerhört
rascher folge die Pneumonie, die einen ganzen Lappen
oder auch mehrere ergreift und als rasch konfluierende
Lobulärpneumonie aufzufassen ist. Ein primärer Bubo oder
sekundäre Lymphknotenschwellungen fehlen schon oft des¬
wegen, weil die Zeit zu ihrer Ausbildung bei dem rasch
eintretenden Tode zu gering ist.
Wir haben aber noch eine andere -Pestform in Bom¬
bay beobachtet, bei der ebenso wie bei der Pneumonie
trotz genauester Untersuchung der primäre Bubo fehlte,
bei welcher aber ganz allgemeine Lymphknotenschwellun¬
gen von der Form der sekundären Bubonen vorhanden
waren. Daraus ergibt sich, daß es besonders rapid ver¬
laufende Fälle gibt, wo ohne Bildung eines primären Bubo
sofort Septikämie mit allgemeiner Drüsenschwellung auf-
tritt. (Demonstration.)
Diesen schweren anatomischen Veränderungen ent¬
spricht auch in der Regel gleich von Anfang an ein außer¬
ordentlich schwerer klinischer Verlauf. Ebenso fabelhaft
rasch wie die Bubonen sich entwickeln, ebenso rasch steigt
die Temperatur auf 39 oder 40° C, es stellen sich Schwindel,
Kopfschmerz, Taumeln, Delirien ein, es bildet sich fast
plötzlich schwerste Konjunktivitis aus, die Sprache wird
eigentümlich lallend und in den Delirien besteht die ganz
auffallende Sucht, Bett und Krankenzimmer zu verlassen
und planlos das Weite zu suchen. Der Tod tritt regelmäßig
unter dem Bilde der Herzlähmung u. zw. oft ganz plötzlich,
ein. So sterben viele Kranke plötzlich auf der Straße und
wir erlebten es in Bombay, daß Hindus nach einem stunden¬
langen Wege zum Spitale vor oder in demselben angelangt,
plötzlich tot zusammenstürzten. Alle diese Erscheinungen
deuten darauf hin, daß das Pestgift, sei es als freies oder
den Bazillen fester anhaftendes Gift die schwerste Wirkung
aut den menschlichen Organismus ausübt, denn die Sym¬
ptome sind ja im allgemeinen die einer schwersten Intoxi¬
kation. Zum Schlüsse tritt oft, insbesonders bei Pestpneu-
mome, enorme Zyanose auf; dieselbe war zum Beispie
bei dem verstorbenen Ebener Bari sch höchstgradig ent
wickelt, so daß ich glaube, daß von der blauschwarzei
Karbe des Gesichtes und Halses der Name „schwarze
fod stammt, um so mehr, als das Blut ad filtern dunkel
venöse Farbe annimmt.
Ich will nun kurz den Modus der Infektion be in
Menschen besprechen. Es kann gar keinem Zweifel unter
liegen, daß der Mensch selbst dabei die wichtigste Rolh
spielt. Sie haben ja aus dem Gesagten und Demonstrierten
wohl gesehen, wie viele Quellen der Ausscheidung von
Pestbazillen durch den Menschen vorhanden sind und diese
genügen wohl reichlich, um bei miserablen sanitären oder
hygienischen Verhältnissen die Uebertragung der Bubonen¬
pest von Mensch zu Mensch zu erklären. Wenn man eine
Krankheit überhaupt als Schmutzkrankheit bezeichnen darf,
so gilt dies wohl in hervorragendem Grade für die Pest
Ebenso verhält es sich bei der zweiten Erscheinungsform!
der Pestpneumonie. Es ist ohne weiteres klar, daß ein
Mensch, der Pestbazillen im Rachenraum, in den obersten
Respirationswegen, in seiner Trachea, in Bronchien oder
in den Lungen trägt, durch den eine so bedeutsame Rolle
spielenden Modus der Tröpfcheninfektion seine ganze Um¬
gebung infizieren kann. So kommt es, daß die Pestpneu¬
monie sich wiederum als solche in weitester Form fort¬
pflanzen kann. Aber wie Sie gesehen haben, kann auch
ein Bubonenpestkranker mit mehr weniger schweren Lä¬
sionen seines lymphatischen Rachenringes bei seiner Um¬
gebung primäre Pestpneumonie erzeugen, denn es ist wohl
klar, daß bei derartig Kranken massenhaft Pestbazillen von
den Rachenorganen aus in feinster Tröpfchenform in die
Außenwelt gelangen können.
Welche Rolle aber spielen gewisse Nagetiere bei der
Verbreitung der Pest. Zur Beantwortung dieser Frage muß
natürlich auf die Rattenpest hingewiesen werden. Erst seit
dem Jahre 1897 hat man derselben größere Aufmerksamkeit
geschenkt und es dürfte Sie interessieren, zu erfahren, daß
als wir nach Bombay kamen, noch niemand diesen Tieren
größere Beachtung schenkte, obwohl man ein Massen¬
sterben derselben beobachtete und daß die von uns geäußerte
Meinung, daß die Raiten tatsächlich mit der Menschenpest
etwas zu tun hätten, von den Mitgliedern der übrigen in
Bombay eingetroffenen Pestkommissionen einfach nicht ge¬
glaubt wurde. Erst als wir uns als die Ersten eine größere
Anzahl in den Straßen Bombays aufgefundener toter Ratten
verschaffen konnten und wissenschaftlich einwandfrei als
lodesursache dieselbe Pest wie beim Menschen feststellen
konnten, kamen auch andere allmählich zur selben. Ansicht,
die wir als die ersten einwandfrei bewiesen hatten. Es
ist, daher vollkommen sicher, daß die Ratten spontan
dieselbe Pest bekommen wie der Mensch und daß dieselbe
auf den Menschen übertragen werden kann. Das kann wohl
sicherlich durch die Rattenflöhe, die auch auf den Menschen
gehen, geschehen, aber wohl auch dadurch, daß die Ratten
durch ihre sehr bazillenreichen Se- und Exkrete einfach
das Gift in die Nähe des Menschen tragen, insbesonders
dann, wenn es sich um schmutzige und ebenerdige Woh¬
nungen handelt. Auch auf Schiffen spielt dies wohl sicher
eine Rolle, um so mehr, als es durch zahlreiche Beobach¬
tungen feststeht, daß gerade die schwererkrankten Ratten
in einer Art von Delirium die Nähe des Menschen aufsuchen.
Wie groß die Ansteckungsgefahr durch Ratten für den
Menschen ist, läßt sich natürlich nicht mit Sicherheit sagen,
aber daß es ein Gebot der Notwendigkeit ist, bei Pest¬
gefahr nach Tunlichkeit die Ratten zu vernichten, unter¬
liegt keinem Zweifel. \\ ir sehen dies an dem Beispiele
von London, wo aus der neuesten Zeit berichtet wird, daß
angeblich unter den daselbst massenhaft vorkommenden
Ratten bereits wirklich echte Pest ausgebrochen ist, was,
wenn sich dies bewahrheiten sollte, ohne Zweifel eine emi¬
nente Gefahr bedeuten würde.
Am häufigsten infizieren sich die Ratten, insbesonders
durch Anfressen der Kadaver eingegangener Tiere, vom
Maule oder Rachen oder von Darme aus und bekommen
dann auch typische primäre Bubonen, häufig am Halse.
Diese brechen dann auf und entleeren natürlich den ba¬
zillenhalligen Eiter nach außen.
Ghon und ich konnten übrigens auch als erste so¬
wohl bei der Ratte wie beim Meerschweinchen nachweisen,
daß es bei diesen eine chronische Pestform gibt, ein Um¬
stand, der von großer epidemiologischer Bedeutung ist.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
HG
Ein zweites in der Peslfrage zweifellos eine große Rolle
spielendes Tier ist eine Murmeltierart, Arctomys babal, die
auf den Hochebenen des Himalaya und Tibet, insbesonders in
der Wüste Gobi und in der chinesischen Provinz Yunnan
vorkommt.1) Dieses Tier, Tarbagan genannt, ist nach den
Untersuchungen russischer Aerzte (schon 1895) zweifellos
der Träger einer endemischen Pest und die Quelle der
asiatischen Pest überhaupt. Das Tier kommt mit dem1
Menschen insoferne sehr häufig in Berührung, als es seines
Felles wegen sehr häufig gejagt wird und daß es, an Pest,
erkrankt, sich leicht einfangen läßt. Wenn wir nun wissen,
daß im Jahre 1896 aller Wahrscheinlichkeit nach die Pest
in das Tiefland Indiens durch Pilgerscharen aus den nörd¬
lichen Hochebenen des Himalaya eingeschleppt wurde und
daß ferner gerade in jenen Gegenden von China, welche
diesen hochgelegenen Steppen und Wüsten angrenzen, (die
Pest endemisch ist, so liegt wohl die Annahme sehr
nahe, daß diese Tierart die Quelle für die asia¬
tische Pesl überhaupt vor stellt. Freilich müßten
wir nach dem Stande unseres Wissens wohl nur annehmen,
daß von diesem Tiere aus die Bubonenpest in der Regel
auf den Menschen übertragen werden kann und die An¬
nahme, daß, weil vielleicht diese Tiere häufiger an Lungen-
pest erkranken, auch der Mensch von ihnen wieder die
Lungenpest ohne weiteres bekommen müsse, ist wissen¬
schaftlich nicht begründet.
Es ist daher keineswegs ganz klargestellt, woher es
kommt, daß allen Berichten zufolge in China gerade die
Lungenpest derartige Ausdehnung gewonnen hat. Meiner
Meinung nach können daran nur besondere Eigentümlich¬
keiten, die vielleicht in den Chinesen selbst zu suchen sind,
schuld sein. Vielleicht die Lebensweise derselben, vielleicht
auch die Art des Sprechens oder des Hustens. Die hohe
Sterblichkeit der chinesischen Pest, die 90 und mehr Prozent
beträgt, steht wohl damit in Zusammenhang, daß es sich
eben vorwiegend um Lungenpest handelt, ebenso die re¬
lativ große Häufigkeit der Erkrankungen von Europäern.
Auch die chinesische Pesl scheint wieder zu lehren, daß
für den Arzt und das Wärterpersonal gerade die Lungenpest
so sehr gefährlich ist, wie wir dies sozusagen am eigenen
Leibe erfuhren, während, wie wir selbst das ja in Bombay
erlebten, die Bubonenpest bei einiger Aufmerksamkeit und
Vorsicht, für die unmittelbare Umgebung keine besondere
Gefahr mit sich bringt.
Jedenfalls gibt es zwischen der indischen und chine¬
sischen Pest bemerkenswerte Unterschiede. Bei der ersten
fast nur Bubonenpestfälle, bei der zweiten offenbar fast nur
primäre Pneumonie mit über 90% Mortalität. In Indien
wütet die Pest seit etwa 15 Jahren und dezimiert die Be¬
völkerung. Doch scheint sie auch dort mit Lungen¬
pest begonnen zu haben und es ist daher nicht
unwahrscheinlich, daß es in China ebenso gehen
Wird, das heißt, daß die Lungenpest allmählich
in die Bubonenpest übergehen wird. Dies wäre nun
für die Bevölkerung nicht minder gräßlich. Die Todesfälle
in Indien an Pest belaufen sich bereits auf Millionen. Inner¬
halb vier W ochen, vom 16. Oktober bis 12. November
1910, ca. 24.500 Erkrankungen und 18.000 Todesfälle. Inner¬
halb dreier Wochen, vom 13. November bis 3. Dezember
27.500 Erkrankungen und 21.300 Todesfälle. Die Zeitungs¬
nachrichten über die Zahl der Erkrankungen in der Mand¬
schurei sind höchst unsicher, es sollen schon an die 50.000
sein. Jedenfalls sind in Füdjadan schon mindestens 2000
Todesfälle vorgekommen, in Charbin mehr als 600. Wie
ich privaten Mitteilungen unseres Herrn Vizekonsuls Doktor
Stumvoll in Tientsin entnehme, ist die dortige öster¬
reichische Kolonie mit 45.000 Seelen auch nicht frei ge¬
blieben, indem daselbst plötzlich hintereinander 15 töd¬
liche Lungenpestfälle bei Chinesen vorkamen, die bakterio¬
logisch sichergestellt wurden und Tausende von Mikroben
l) Sein Verbreitungsbezirk soll sich übrigens über Sibirien bis
nach Ost-Europa erstrecken.
im Blute nachweisen ließen. Durch die persönliche Inter¬
vention des Herrn Vizekonsuls wurden alle Fälle rasch
isoliert und dadurch eine weitere Verbreitung bisnun wenig¬
stens abgehalten. Der Verkehr aus dem verseuchten Norden
wurde fast vollständig eingestellt. Aus eben dieser? privaten
Mitteilungen ist aber zu entnehmen, daß die nach Europa
gelangten entsetzlichen Nachrichten über die sanitären Zu¬
stände in den chinesischen Peststädten keineswegs über¬
trieben sind, sondern vollkommen den tatsächlichen Zu¬
ständen entsprechen.
Wenn wir uns nun fragen, wie es mit der Gefahr
der Einschleppung steht, so erscheint es wohl am rich¬
tigsten, auf die seit 15 Jahren bestehende indische Epi¬
demie hinzuweisen. Zu wiederholten Malen sind von dort
aus durch Schiffe Pestfälle in die europäischen Seehäfen
eingeschleppt worden, auch nach Triest und Fiume, fast :
ist man einem solchen Anfang der Seuche Herr ge¬
worden, allerdings mit Heranziehung des ganzen modernen
Arsenals gegen einen solchen Feind. Doch zeigt uns die
Ausbreitung der Pest in Oporto, daß dies nicht immer so- I
gleich und leicht gelingt. In Oporto hatte die Pest tatsächlich 1
wenigstens eine Zeitlang eine bedrohliche Ausbreitung ge¬
wonnen, aber schließlich hat man sie auch dort nieder-
aerungen und Europa ist frei geblieben. Die große Entfer¬
nung ist also sicherlich kein absolutes Hindernis für die :
Einschleppung der Pest, wenigstens nicht auf dem See
weg. Bei der chinesischen Pest muß aber auch an den
Landweg gedacht werden, der durch Eisenbahnen abgekürzt
ist und bei dem es sich um das große Rußland mit seiner
territorial so verschiedenen Kultur handelt. Es kommt nun
darauf an, ob Rußland ein Bollwerk gegen die Seuche ist
und ein wie starkes. Wir haben jtü bereits in neuester
Zeit bedrohliche Erscheinungen in Odessa gesehen, welche
geeignet sind, uns aus einer absoluten Ruhe der Pest gegen¬
über zu bringen. Wir wissen ferner, daß sowohl nach Zis-,
wie nach Translei thanien jährlich viele russische Arbeiter
kommen, sie haben uns ja auch vergangenes Jahr die Cho¬
lera nach Ungarn und vielleicht auch nach Mähren gebracht.
Nun finden sich, wie ich glaube, gerade in den Grenzgebieten
unserer Monarchie Gegenden, wo die hygienischen und
sanitären Verhältnisse der Bevölkerung noch sehr viel zu
wünschen übrig lassen und wo auch,1 die Bevölkerung noch
nicht gerade auf einem sehr hohen Niveau der Kultur
und Zivilisation steht und es ist. sehr fraglich, mit welchen
Gefühlen dieselbe strengen sanitätspolizeilichen Maßnahmen
entgegen kommen würde.
Auf der anderen Seite jedoch steht der alte Erfahrungs¬
satz, daß die Pest sicli nur allmählich ausbreitet
und daß es immer eine gewisse Zeit braucht, bis
es zu einer echten E p i d e m i e kommt. Hat man dann
die Erstfälle rechtzeitig erkannt, so ist es gerade bei der
Pest nicht schwer, sie in ihren Anfängen zu vertilgen und
die Gefahr einer weiteren Ausbreitung zu vernichten. Wir
sind da bei der Pest viel besser daran wie bei der Cholera,
die ja dem Wasserweg, dem Flußlaufe fast immer folgt,
weil ja das Wasser selbst verseucht ist. So ging es im
Herbste bei uns mit der Cholera von Ungarn her und so
ging es noch 1892 in Hamburg, wo die Cholera explo¬
sionsartig auftrat und trotz aller Maßnahmen nicht uner¬
hebliche Dimensionen annahm. Etwas Derarliges ist, wie
die letzten 15 Jahre bewiesen haben und nach allem, was
wir sonst wissen, bei der Pest nicht zu erwarten. Ihre
Ausbreitung ist eine langsam schleichende, hat
sie sich aber einmal gleichsam im Verborgenen festgesetzt,
dann ist sie, wenigstens für die niedrigen Volksschichten,
fast ubiquitär wie ein Genius epidemicus.
Und nun noch einige Worte über Prophylaxis vom
ärztlichen Standpunkt. Ich glaube nicht besonders aus¬
führen zu sollen, daß gerade bei der Pest, wo wir die
Infektion mit nur ganz wenigen oder vereinzelten Keimen
annehmen müssen, strengste Isolierung der Kranken, Ver¬
dächtigen und mit solchen in Berührung gekommenen Per¬
sonen, sowie die peinlichste Reinlichkeit und wirksamste
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
447
Desinfektion für jedermann und unter allen Umständen un¬
bedingt vonnöten ist. Ebenso wichtig aber müßte eine er¬
folgreiche prophylaktische Immunisierung erscheinen. Aller¬
orts wird heutzutage ein Pferdeimmunserum zum Zweck«'
passiver Immunisierung gegen Pest hergestellt, welches anti-
toxische und bakterizide Kraft besitzt. Durch ein«; Reihe
von Tierversuchen am Affen ist esi insbesonders durch die
Arbeiten der deutschen Festkommission erwiesen, daß dieses
Serum allerdings eine schützende Kraft besitzt, doch ist
dieselbe leider einerseits zu gering, anderseits hält ihre
Wirkung kaum länger wie sechs bis acht Tage an und es
ist eigentlich bis jetzt nicht gelungen, ein solches mit stark
bakteriziderund antitoxischer Komponente herzustellen. Das
verringert auch den Wert des Serums in therapeuti¬
scher Beziehung, weil es nicht imstande ist, die schwere
Intoxikation zu beheben.
Ein zweites in prophylaktischer Beziehung wichtigeres
Mittel ist die sogenannte Haffkinesche Lymphe. Es han¬
delt. sich dabei im wesentlichen um durch Hitze (70°) ab¬
getötete Bouillonkulturen und die Methode ist ähnlich der
von II. Pfeiffer vorgeschlagenen zur Immunisierung gegen
Cholera und Typhus. Es läßt sich nämlich leicht nach-
weisen, daß zum Beispiel in Agarkulturen des Pestbazillus
Giftsubstanzen vorhanden sind, die einer Temperatur von
60 bis 70° Widerstand leisten und fester an die Zelleiber
gebunden sind. Durch eine solche aktive Immunisierung
mit abgetöteten Bazillen kann jedenfalls ein hoher .Schutz-
wert erreicht werden, insbesonders dann, wenn — wie
dies auch Haffkine tut — die Injektion wiederholt wird.
Da in der Regel nun die Infektion nur durch eine (ganz
geringe Anzahl von Keimen erfolgt, kann dadurch gegebenen
Falles sicherlich völlige Immunität erzielt werden, oder
vielleicht, was nicht zu unterschätzen ist, ein milderer Ver¬
lauf der Krankheit. Für alle diese Annahmen sprechen nicht
nur die Resultate der Tierversuche, sondern insbesonders
die Erfahrungen Haffkines in einem großen Gefängnis
Bombays, in dem Pest ausbrach und in der Portugiesen¬
stadt Damaun, wo Haffkine seine Methode ohne den regel¬
mäßigen Widerstand der Bevölkerung gegen Maßnahmen
ausgedehnt durchführen konnte.
Und so schließe ich denn mit dem Wunsche, daß wir
gar nicht in die Lage kommen1 mögen, all unser Rüstzeug
gegen die Pest ins Treffen führen zu müssen, daß dieses
Rüstzeug aber in voller Ordnung und Bereitschaft stehen
möge, um diesem Erbfeinde der Menschheit in entsprechen¬
der Weise begegnen zu können.
Aus der Universitäts-Frauenklinik in Graz.
(Vorstand: Prof, E. Knauer.)
Nierendekapsulution bei Eklampsie.
Von Dr. Rupert Franz, Assistenten der Klinik.
Trotz eifriger Bemühung, das Wesen der Eklampsie
zu erforschen, herrscht bis heute noch Unklarheit über
diese Krankheit. Nachdem klinische Beobachtung und pa¬
thologisch-anatomische Untersuchung nicht zum Ziele
führten, wurden in den letzten Jahren die Methoden der
Immunodiagnostik und Chemie herangezogen. Die in dieser
Richtung angestellten Untersuchungen vermochten jedoch
die Aetiologie des Leidens noch nicht klarzustellen. So¬
lange nun die Ursache der Eklampsie nicht auf¬
geklärt ist, wird auch die Behandlung keine spe¬
zifische seiin. Man nimmt heute meist an, daß
es sich bei der Eklampsie ebenso wie bei den anderen so¬
genannten Schwangerschaftstoxikosen um eine Autoin¬
toxikation des Organismus handelt, die dadurch zustande
kommt, daß die in der Schwangerschaft gebildeten Gift¬
stoffe durch die für den normalen Schwangerschafts- und
Wochenbettverlauf notwendigen Gegengifte nicht unschäd¬
lich gemacht werden. Auf die einzelnen Theorien soll hier
nicht eingegangen werden.
Fast allgemein wird angenommen, daß das Ei die Stätte
der Giftbildung ist. Dafür hatte schon die klinische Er¬
fahrung gesprochen, daß die Entleerung der Gebärmutter
einen günstigen Verlauf auf die Eklampsie nehme. Das
Bestreben ging daher dahin, die Plazenta als wahrschein¬
liche Giftquelle möglichst bald aus der Gebärmutter zu
entfernen. Somit wurde das exspektative Verhalten bei der
Eklampsie aufgegeben und es entstand die Lehre, eine
Eklamptische baldigst zu entbinden. Als Methoden zur be¬
schleunigten Entbindung werden Zervixdilatation, Wendung
und Zange angewendet. In den letzten Jahren wurde als
radikaleres, schnelleres Verfahren die sogenannte Schnell¬
entbindung durch Sectio caesarea abdominalis oder vaginalis
vorgeschlagen und von mehreren Geburtshelfern in An¬
wendung gebracht. Die durchschnittliche mütterliche Mor¬
talität von 20 bis 25% wurde dadurch nicht wesentlich
vermindert. Die große Zahl der Hilfsmittel, die angewendet
werden, läßt uns erkennen, daß, keines eine besondere Heil¬
wirkung hat.
Bei dem geringen Erfolge aller bisherigen Therapien
erwächst uns die Aufgabe, neue Methoden zur Bekämpfung
der Eklampsie zu suchen und zu prüfen.
Eine solche Methode wurde 1902 vom New Yorker
Gynäkologen Edebohls in der Nierendekapsulation vor¬
geschlagen. ln Deutschland stand und steht man dieser
Operation heute noch teilweise skeptisch gegenüber, hier
trat als erster Sippel 1904 für dieselbe ein. Kapselspal¬
tungen der Niere wurden von Chirurgen bereits früher bei
Nephritiden vorgenommen. Die sonstige Therapie, die auf
die rasche Entleerung der Gebärmutter zur Beseitigung der
Giftquelle und auf die Anregung der natürlichen Ausschei-
dungsvorgamge des Körpers zur Entgiftung hinzielt, wird
durch die Edebohls sehe Operation nicht beeinflußt.
Die Nierenenthülsung wird nach Sippel1) zum
Zwecke einer besseren ‘Durchblutung der Nieren
gemacht, um d am i t ei n e Hebung oder W i e d e r h e r-
stellung der gesunkenen oder aufgehobenen Nie¬
renfunktion zu erreichen.
Die Nierenfunklion ist — gleichbleibende Verhältnisse
der Ernährung und Flüssigkeitszufuhr vorausgesetzt — ab¬
hängig von der Blutzirkulation in der Niere. Erhöhter ar¬
terieller Druck, bessere Durchblutung der beiden hinter¬
einander geschalteten Kapillargebiete steigert die Harn-
sekretion quantitativ und qualitativ. Vorübergehende Unter¬
brechung des arteriellen Zuflusses bewirkt Anurie und de¬
generative Veränderungen in den Epithelien, besonders in
den gewundenen Harnkanälchen. Die arterielle Durchblutung
hemmende Hindernisse können außerhalb des Gefäßgebietes
oder in demselben liegen. In letzterem Fälle müßte die
Hemmung der Diurese durch einen Arteriospasmus veran¬
laßt, sein. Diese Annahme wird von den meisten Autoren ab¬
gelehnt. Im ersteron Fall, wo ein außerhalb dos Gefäßgebietes
liegendes mechanisches Hindernis als vorhanden angenom¬
men wird, ist die Kompression der Kapillaren infolge akuter
intrareUaler Drucksteigerung oder auch durch Druck von
seiten des in die Gewebe ausgetretenen Blutserums be¬
dingt. Dementsprechend ist die Wirkung der Entkapselung
durch Beseitigung dieses auf die Kapillaren wirkenden
Außendruckes herbeigeführt oder falls es sich um einen!
Angiospasmus handeln sollte, durch Reizung der Vasodila¬
tatoren oder Lähmung der Vasokonstriktoren verursacht.
Jedenfalls verdient die Operation nach den bisherigen
günstigen Resultaten sachlich geprüft zu werden.
Sitzenfrey2) konnte 1910 5 Fälle einseitiger und
53 Fälle doppelseitiger Nierendekapsulationen bei Eklam¬
psie zusammenstellen. Erstere ergaben 80%, letztere 35%
Mortalität. Mit Rücksicht auf die hohe Mortalität der ein¬
seitigen Dekapsulation ist dieselbe abz ul ebnen. Von den
53 doppelseitig dekapsuli eiten trat in 18-87% keine Besse¬
rung auf. Diese Fälle endeten alle letal; in 81-13% trat
') Zeitschr. für gyn. Urologie, Bd. 2, H. 2.
s) Beiträge zur klin . Chirurgie, Bd. 72.
448
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
eine Besserung auf. Die Mortalität von 35% wäre als re¬
lativ günstig zu bezeichnen, wenn wir annehmen, daß nur
schwere Fälle, wo andere Therapie versagt hat, zur Ope¬
ration kamen und daß die Heilung lediglich auf die De-
kapsulation zurückzuführen ist. Zu dieser Annahme sind
wir jedoch nicht berechtigt, da selbst die schwersten Fälle
von Eklampsie unerwartet, ohne Behandlung, zur Genesung
kommen. Dein Einwand, daß leichte Fälle unter den De-
kapsulierten sich befinden, kann entgegengehalten werden,
daß auch Fälle in die Statistik einbezogen sind, wo die
Indikation zum Eingriff infolge schwerer Organverände¬
rung nicht mehr gegeben war. Jedenfalls kann es als großer
Erfolg der Decapsulation bezeichnet werden, wenn wir im¬
stande sind, Falle von sicherer Heilung durch die Ope¬
ration festzustellen.
Um für die Zukunft ein Urteil in der Dekap-
sulat ionsfrage zu erlangen, müssen wir den
Schwerpunkt in die Indikationsstellung verle¬
gen. Dabei müssen wir uns vor Augen halten, daß
die Dekapsulatiion ein symptomatisches Heil¬
mittel ist und nur dann angezeigt ist, wenn die
Harnsekretion daniederliegt.
Da die Erfahrungen einer Klinik sich nur auf wenige
Fälle beziehen können, müssen zu abschließender Kritik
ties Verfahrens die Einzelmitteilungen zusammengefaßt wer¬
den. Aus diesem Grunde soll die Krankengeschichte einer
Eklarnptischen aus der Knauerschen Klinik mitgeteilt
werden, bei der ich Gelegenheit batte, die Nierendekapsu-
lation auszuführen.
L. T., 24jährige Erstgeschwängerte.
Anamnese: Als Kind Rachitis, Masern, Scharlach. Men¬
struation im 19. Lebensjahr zum erstenmal, bis zum Eintritt
der jetzigen Schwangerschaft nur fünfmal aufgetreten, acht Tage
dauernd, unter krampfartigen Schmerzen im Unterleib, Im 22. Jahre
Appendektomie wegen Wurmfortsätzentzündung, im Anschlüsse
daran eine linkseitige Pleuritis.
Schwangerschaft: Erste Zeit ohne besondere Störung.
Im siebenten Monate der Schwangerschaft wegen Gonorrhoe
und Condylom ata ac cum in at a in Behandlung der hiesigen
dermatologischen Klinik. Damals wurde auch an der Frauen¬
klinik ein eingehender Befund erhoben, der gesunde innere Or¬
gane, normalen Harn und keine Oedeme aufwies. Die Frau kam
uns erst wieder zu Gesicht, als sie am Ende der Schwangerschaft
von einem Gefangenhause der geburtshilflichen Station überstellt
wurde.
Befund: Kleine, unterernährte Frau mit blasser, pa¬
stöser Gesichtshaut und hochgradigen Oedemen der
unteren Gliedmaßen. Im Harne, der in normaler Menge entleert
wurde, 6°/o0 Eiweiß, hyaline und granulierte Zylinder, zahlreiche
Leukozyten. Körpertemperatur normal. Knochen grazil. Hoch¬
gradige, linkskonvexe Skoliose der oberen Brustwirbelsäule
mit kompensatorischer Verkrümmung der unteren Brust- und der
Lendenwirbelsäule. Das Kreuzbein ist schräg von links oben nach
rechts unten gestellt. Der Brustkorb ist stark deformiert, die
rechte Hälfte größer. Es' besteht ein rachitischer Rosenkranz
und eine Abknickung des Brustbeines nach außen. Der rechte
Darmbeinkamm steht höher als der linke. Die Schenkelknochen
sind gerade. Das Fußgewölbe ist eingesunken. Becken: Sp. 27,
Cr. 29, Tr. 81, C. e. I8V2 ; C. d. IU/2. Schoßfuge hoch, Kreuz¬
bein abgeflacht, Lineae transversae und Vorberg stark vor¬
springend. Der Bauch war durch die schwangere Gebärmutter
vorgewölbt, deren Grund zwei Querfinger unter dem rechten
Rippenbogen stand. Die relativ kleine Frucht befand sich in
zweiter labiler Schädellage. Zahlreiche spitze Kondylome des
Scheideneinganges, der Scheide und der Portio. Dieselben waren
so stark entwickelt, daß sie das enge Sch'eidenrohr fast aus¬
füllten. Der Scheidenteil halbfingergliedlang, der Muttermund
grübchenförmig. Im eitrigen Sekret der Harnröhre und der Scheide
Gonokokken.
Wegen des Nierenleidens wurde sofort mit entsprechender
Behandlung eingesetzt, salzarme Kost, feuchte Packungen, Bett¬
ruhe. Daraufhin nahmen die Oedeme bald ab. Da trat am
30. August 1910. sechs Tage nach der Aufnahme in die Klinik,
um 3 Uhr früh ein ek 1 am p tische r Anfall auf, dem1 bald
zwei weitere folgten. Die Untersuchung ergab einer- zweite
Steißlage, wobei der vorliegende Kindesteil über dem Becken-
einjgang noch beweglich war. Keine Wehen, Portio erhalten,
Muttermund geschlossen.
Geburt: Zur Erweiterung des Halskanales wurde
ein Laminariastift eingeführt. Bald darauf floß Fruchtwasser ab.
Da weiterhin um 7 Uhr und <S Uhr 35 Min. Anfälle folgten
und die Frau zwischen den Anfällen nicht mehr zum Bewußtsein
kam, wurde b: t chlossen, die Geburt zu beschleunigen. Wehen
hatten sich bisher noch nicht eingestellt. In tiefer Narkose wurde
der knapp für einen Finger durchgängige, 3 cm lange Halskanal
mit Metalldilatatoren bis Nr. 24 erweitert. Die Untersuchung ergab
cine II. vollkommen gedoppelte Steißlage und gesprun¬
gene Blase. Es wurde das rechte Bein herabgeholt.
An dem herabgeholten Bein wurde dann ein dauernder Zug
(ein Kilogewicht) ausgeübt. Um Vall Uhr vormittags wurde der
Steiß in der Vulva sichtbar, worauf sofort die Extraktion
der Frucht vorgenommen wurde. Kind lebend 2380 g schwer.
47 cm lang, frühreif. Die gelöste Plazenta wurde exprimiert. Die
ziemlich beträchtliche Blutung wurde durch Massage und intra¬
muskuläre Injektion von Sekakornin zum Stillstand, gebracht.
Wochenbett: Nach der Entbindung, 11 Uhr 45 Min.
vormittags, neuerlicher Anfall (6.), durch V enenpunktion
wurden 400 cm3 Blut der Armvene entnommen. Temperatur 86-8,
Puls 120, Blutdruck 140. In der Zeit von 2 Uhr bis 5 Uhr
15 Min. nachmittags traten weitere vier Anfälle auf (zehn
Anfälle). Während in den vier Stunden vor der Entbindung die
Harnmenge 30 cm3 betrug, wurden in den acht Stunden nach
der Entbindung 100 cm3 durch dreimaligen Katheterismus (2 Uhr
45 Min. nachmittags: 70 cm3; 4 Uhr 15 Min. nachmittags:
28 cm3; 5 Uhr 30 Min. nachmittags: 2 cm3) entleert. Es war
also unmittelbar nach der Entbindung ein Ansteigen der Harn
menge, bald darauf wieder eine bedeutende Abnahme festzustellen.
Die quantitative Eiweißbestimmung des Harnes ergab vor und
nach der Entbindung über l°/o. Im Sedimente fanden sich beidemal
zahlreiche Leukozyten, vereinzelte Erythrozyten, Nieren- und
Blasenepithelien, einzelne hyaline und granulierte Zylinder. Der
Zustand der seit, morgens bewußtlosen Frau verschlechterte sich
immer mehr. Um 6 Uhr , abends trat Kollaps ein, der trotz
mehrmaliger Kampferölinjektionen nicht behoben wurde. Zya¬
nose, Traehealrasseln, Puls klein, 140, der Blutdruck war auf 70
gesunken.
In Anbetracht der versiegenden Nierensekretion, der wieder¬
holten Anfälle (zehn) nach der Entbindung und des' hoffnungslosen
Allgemeinzustandes wurde die Nier en en t h ii 1 sung beschlossen.
Während der Vorbereitung zum Eingriff trat ein neuerlicher
A 11 fall (der elfte) auf.
6 Uhr 30 Min. abends Operation (Dr. Franz) in Billroth-
narkose. Schrägschnitt in der linken Regio lumbalis, zwei Finger
breit unter dem Rippenbogen. Nach Durchtrennung von Faszie
und Muskeln lag die Fettkapsel der Niere vor. Nachdem letztere
stumpf abgelöst war, ließ sich bei der hochgradigem, linkskon¬
vexen Skoliose der Lendenwirbelsäule die Niere leicht vor die
Wunde emporziehen. Die Niere war vergrößert und zeigte durch-
schimmemdo Hämorrhagien unter der Kapsel. Dieselbe wurde
nach Spaltung, ohne daß dabei ein Vorquellen der Nierensubstanz
wahngenommen werden konnte, leicht abgeschoben und nahe dem
iHilus reseziert. Nach der Enthülsung quoll die Niere etwas auf,
nahm eine dunkelblaurote Farbe an und fühlte sich mäßig hart
an. Da es1 an der Nierenoberfläche leicht blutete, wurde von hier
aus’ ein Drainagestreifen im unteren Wundwinkel herausgeleitet.
Vereinigung der durch trennten MuskeTschichten mit Katgut, der
Faszie und der Haut mit Seidennähten. Verband. Da der elende
Zustand der Frau befürchten ließ, daß ein weiterer Eingriff nieh!
mehr vertragen werde, wollte man bereits von der Dekapsulation
der zweiten Niere Abstand nehmen. Als sich jedoch auf Kampfer
die irreguläre, schwache Herztätigkeit wieder hob und die A timing
kräftiger und gleichmäßig wurde, wurde zur Operation auf der
rechten Seite geschritten. Die an der Konkavität der skolioti-
iseheü Lendenwirbelsäule gelegene rechte Niere wurde wegen
der Gefahr, die Nierengefäße ahzureißen, nicht vor die Wunde
luxiert. Es wurde deshalb in der Tiefe der Wunde die Kapsel
der von den Bauohdeoken aus emporgedrängten Niere gespalten
und mit dem Finger ringsum abgelöst. Schwellung und Hä¬
morrhagien. dieser Niere waren geringer, sonst war
sie wie die linke beschaffen.
Nach der Operation erhielt die Frau abermals Kampfer. Nach
der Dekapsulation traten noch vier Anfälle auf, 11m
9 Uhr 30 Min., 10 Uhr 16 Min. 11 Uhr 14 Min. vormittags:
und 12 Uhr 50 Min. nachmittags (15. Anfall, 10. Anfall nach der
Entbindung).
Zwei Stunden nach der Operation konnten 62 cm3 Harn
mittels Katheter entleert werden. 11 Uhr abends Temperatur
381, Puls 120, voller.
Nr. IB
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
449
31. August: 1 Uhr früh reagierte die Frau das erstemal
auf Anruf und brachte einzelne Worte hervor. 3 Uhr früh nahm
sie Tee zu sich, 10 Uhr vormittags Temperatur 37°, Puls 90 bis
100, Blutdruck wieder 140. Während des Tages trat auffallende
Besserung ein, die Frau nahm Nahrung zu sich. Harnmenge
580 cm3, Esbach 2%o.
1. September: Harnmenge 1700 cm3, Harn spontan.
Eiweißgehalt V2%o. Reichliche Nahrungsaufnahme; Gehörs- und
Gesichtshalluzinationen.
2. September: Harninenge nicht meßbar, wegen zeit¬
weiliger Inkontinenz. Eiweiß in Spuren. Selbstanklagen, Angst¬
zustände.
3. September: 1410 cm3 Harn spontan. Eiweiß fehlt im
Harn ; kein Sediment. Inkontinenz behoben.
5. September: Harnmenge 1650 cm3. In den folgenden
Tagen schwankte die tägliche Harnmenge zwischen 1200 und
< 2000 cm3. Eiweiß trat nicht mehr auf. Heilung der Wunde ging
vollkommen glatt und reaktionslos vor sich. Der weitere Wochen¬
bettverlauf war durch eine akute Strumitis1, deretwegen die Frau
an der chirurgischen Klinik inzidiert wurde und durch eine hart¬
näckige Zystitis kompliziert.
Am 57. Tage nach der Entbindung wurde Patientin voll¬
kommen gesund entlassen. Eine spätere Nachuntersuchung ergab
Mutter und Kind gesund.
Der günstige Ausgang dieser schwer e 1 1
Eklampsie darf uns nicht dazu verleiten, den
Heileffekt unbedingt der Dekapsulation zuzu¬
schreiben. Bei der kritischen Beurteilung dieses Ope¬
rationserfolges können wir nur das subjektive Empfinden
in die Wagschale werfen.
Vor Augen halten müssen wir uns ste's, daß schwere
Eklampsiefälle, wo die Nierenfunktion bereits daniederliegt,
wo sich Anfälle auf Anfälle häufen und wo das Koma
bereits lange besteht, gelegentlich noch zur Heilung kommen.
In meinem Falle war die Besserung nach der Dekap¬
sulation eine auffallende, während nach der beschleunigten
Entbindung der Zustand sich nicht besserte, sondern
schlechter wurde. Der Kollaps war bereits sehr bedrohlich,
das Koma bestand bereits seit zwölf Stunden, die Anfälle
häuften sich, die Nierenfunktion lag fast völlig danieder.
Bald nach der Dekapsulation war das Bild geändert: |der
Blutdruck war von 70 wieder auf 140 angestiegen, die An¬
fälle sistierten. Das Koma wich einem somnolenten Zu¬
stand, in welchem jedoch auf Anruf Antworten erfolgten.
Die Harnmenge stieg gleich auf das Vierfache, der Eiwei߬
gehalt des Harnes fiel um das Fünffache in den folgenden
Stunden.
Der klinische Verlauf erweckte jedenfalls den Ein¬
druck, daß die Frau ohne den Eingriff ihrer Eklampsie
erlegen wäre. Die Zahl der eklamptischen Anfälle betrug
vor der Dekapsulation elf, nach derselben vier.
Die Stellung der Indikation zur Dekapsulation war
in meinem Falle relativ leicht. Trotz Entbindung und an¬
deren therapeutischen Maßnahmen bestanden nicht nur
Koma, Anfälle, Oligurie, Albuminurie weiter, sondern es
entwickelte sich schließlich acht Stunden nach der Ent¬
bindung ein Kollapszustand, so daß die Frau moribund
schien.
Nach dem günstigen Ausgang dieses Eklampsiefalles
würde ich in einem derartigen Fälle wiederum die E d e-
bohlssche Operation ausführen.
Die Schwierigkeit liegt vorläufig in der In¬
dikationsstellung bezüglich der Wahl des Zeit¬
punktes und derVobbeding ungen zur Ausführung
des Eingriffes. Die Deka p su lat i on vor d er E n t bi n-
dung, in der Schwangerschaft, oder der Geburt
auszuführen, ist nicht angezeigt, da die Gift¬
quelle, die nach unseren heutigen Ansch au u n g e u
zur Eklampsie führt, bis ziur Entleerung der Ge¬
bärmutter wei t er b e s t e hi t.
Auch unmittelbar nach der Geburt oder Ent¬
bindung ist die Opelration verfrüht, da doch erst
der Effekt der Uterusentleerung ab gewartet wer¬
den soll. Wird anderseits bei Fortdauer der
Eklampsie nach der Entbindung der Eingriff all¬
zulange hinausgeschoben, sio isl der Erfolg
zweifelhaft, da bereits irreparable O r g a n Ver¬
änderungen vor h a n den sei n k ö n neu.
Langdauernde, wiederholte Anfälle, Koma,
Herzalterationen, Zyanose, allein können noch
keine Anzeige geben, sondern die Dekapsulation
soll vorläufig nur in jenen Fällen ausgeführt
werden, wo neben anderen toxischen Erschei¬
nungen die Nierenfunktion danieder liegt. Puer¬
perale Oligurie oder vorübergehende Anurie ohne Anfälle
oder Koma geben, wie Zangemeister,3) nach gewiesen
hat, im allgemeinen eine günstige Prognose.
Wir verlangen daher als Indikation für den
Eingriff:
1. Die erfolgte Entbindung.
2. Das Fortbestehen der Oligurie, bzw. Anu¬
rie oder zunehmende Albuminurie.
3. Das Fortbestehen der Krämpfe oder des
Komas.
Aus der I. mediz. Klinik in Wien. (Vorstand: Professor
Dr. C. v. Noorden.)
Eine Schwefelreaktion im Harne Krebs¬
kranker.*)
Von Hugo Salomon und Faul Saxl.
Wir nahmen vor fünf Vierteljahren Gelegenheit, über
die Vermehrung der Oxyproteinsäuren im Harne Krebs¬
kranker zu berichten.1) An einem größeren Krankenmaterial
142 Fällen — - ließ sich zeigen, daß die Relation der
Oxyproteinsäurenstickstoffe im Harne zum Gesamtstickstoff
beim Krebskranken höhere Werte zeigte, als beim Nor¬
malen.
Wir haben seit dieser Mitteilung bei einer großen
Zahl von Kranken zu diagnostischen Zwecken Oxyprotein-
säurebestimmungen gemacht; auch K. Kondo (Japan2) hat
auf unserer Klinik dieses Verfahren auf seine diagnostische
Brauchbarkeit geprüft, so daß wir alle Fälle zusammen¬
gerechnet, über etwa 500 untersuchte Fälle verfügen.
Die Hoffnungen, die wir an den diagnostischen Wert
der Oxyproteinsäurebestimmung im Harne gestellt hatten,
haben sich im großen und ganzen erfüllt. Es ergaben etwa
70% der Karzinomfälle hohe Oxyproteinsäurewerte, von
Nichtkarzinomatösem ergaben einige Fälle, wie: Schwere
Leberizrrhosen, Leberabszesse, Milztumoren fraglicher Pro¬
venienz usw., immerhin vereinzelte Fehldiagnosen. Fast alle
Graviden verhielten sich wie die Karzinome.
Eine Bestätigung unserer Befunde sehen wir ferner
in den mit der Formolti [ration nach Sörensen angestellten
Polypeptidbestimmungen im Harne, wo wir (Falk, Salo¬
mon und Saxl3) gleichfalls eine Vermehrung der peptid-
gebundenen Stickstoffe im Harne Krebskranker fanden, zu¬
weilen aber auch bei schweren Leberzirrhosen; Falk und
Hesky4) fanden eine Vermehrung der Polypeptide im
Harne Gravider.
E. Salkowsky5 6) empfahl, an seine alten Befunde
über den kolloidalen Harnstickstoff anknüpfend, leicht aus¬
zuführende Metallsalzfällungen im Harne, die in ihrer Me¬
thodik und den Zahlen,' die sie ergeben, mit unseren Oxy-
3) Zeitschr. für gyn. Urologie, Bd. 2, H. 2.
*) Im Auszug vorgetragen in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in
Wien am 17. März 1911.
’) Hugo Salomon und Paul Saxl, Ein Harnbefund bei Krebs¬
kranken. Vortrag in der k. k. Gesellschaft dpr Aerzte in Wien, De¬
zember 1909 und Beiträge zur Krebsforschung. Herausgegeben von
H. Salomon, 1910, II. 2.
3) In einer im Druck befindlichen Arbeit.
3) F. Falk. H. Salomon und P. Saxl, Ueber vermehrte
Polypeptidausscheidung bei Krebskranken. Med. Klinik 1910, 11. 13.
4) F. Falk und O. Hesky. Ueber Ammoniak-, Aminosäuren
und Peptidstickstoff im Harn Gravider. Zeitschr. für klin. Medizin 1910,
Bd. 71.
6) Emil S a 1 k o vv k y, Ueber die Verwertung des Harnbelumles
zur Karzinomdiagnose. Berliner klin. Wochensehr. 1910, S. 533, 1746, 2297.
450
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
proteinsäurebestimmungen in gewisser Hinsicht korrespon¬
dieren. Das Verfahren Salkowskys verdient Anerkennung
durch die relativ große Einfachheit seiner Ausführung. Wir
haben einige Fälle mit diesem Verfahren untersucht —
und soweit man dies nach so wenigen Fällen beurteilen
kann — gute Resultate damit erhalten. — Wenn auch der
Neutralschwefel des Harns nicht völlig identisch ist mit
dem Oxyproteinsäurescliwefel, so können wir eine indirekte
Bestätigung unserer Oxyproteinsäurebefunde bei Krebs¬
kranken in der Arbeit von M. W eiß* 6) sehen, der im Harne
Krebskranker die relativ höchsten Werte für den Neutral¬
schwefel fand.
•*
Wir waren nun weiterhin bemüht, den erhobenen Be¬
fund der vermehrten Oxyproteinsäuren heim Krebskranken
nach zwei Richtungen auszubauen: ihn spezifischer zu ge¬
stalten und seinen Nachweis zu vereinfachen.
Ermutigt wurden wir dazu durch die allgemein herr¬
schende Anschauung, daß die „Oxyproteinsäurefraktion“ des
Harnes ein buntes Gemisch von polypeptidartigen Körpern
mannigfaltiger Art ist, von mangelhaft oxydierten Eiwei߬
derivaten, die eine Fundgrube für .alle möglichen Substanzen
abgeben dürften.
Wir bemühten uns zunächst vergeblich um die stick¬
stoffhaltigen Gruppen der Oxyproteinsäuren. Alle möglichen
Eiweißderivatreaktionen wurden angestellt, ohne in der
Oxyproteinsäuregruppe der Krebskranken andere Reaktio¬
nen zu finden als beim Normalen.
Endlich wandten wir uns dem Schwefelbestandteil der
Oxyproteinsäure zu. Hatte Weiß7) eine quantitative Ver¬
mehrung gezeigt, so dachten wir daran, daß eine geänderte
Bindungsform beim Krebskranken vorliegen könne.
Es fiel uns auf, daß im (eiweißfreien) Harne Krebs¬
kranker reichlich bleischwärzender Schwefel vorkomme ; wir
dachten daher an Zystin- und Zysteinschwefel, ohne jedoch
diese Substanzen zu finden. Auch war dieser Befund nicht
ganz spezifisch. Auch andere Krankheitsgruppen lieferten
zuweilen bleischwärzenden Schwefel. Sodann suchten wir
Taurin- und Taurocholsäure im Harne, ohne sie jedoch hei
Krebskranken aufzufinden.
Hingegen führte ein anderer Gedankengang zum Ziele.
Die Oxyproteinsäuren sind mangelhaft oxydierte Körper;
ebenso ist ihr Schwefel — der Neutralschwefel des Harnes
— unoxydierter Schwefel; es ist bekannt, daß man den
Neutralschwefel des Harnes durch mächtige Oxydation in
Schwefelsäure überführen kann. Wir dachten daher an die
Möglichkeit, daß vielleicht hei Krebskrajnken, in deren Harn
sich eine so beträchtliche Menge schlecht oxydierter Sub¬
stanzen befindet, durch gelinde Oxydation ein Teil des
Schwefels heraus oxydiert werden könnte.
Diese unsere Vermutung bestätigte sich. Es läßt sich
beim Krebskranken ein Teil des Neutralschwefels1 mit H202
in geringer Konzentration (3:200) zu Schwefelsäure oxy¬
dieren und als solche nachweisen. Diesen Nachweis be¬
nützten wir zur Anstellung einer einfachen Reaktion, die
uns für Karzinome spezifisch zu sein scheint.
Die Ausführung der Reaktion ist folgende:
150 cm3 Harn werden! mit 100 cm3 destillierten Wassers
verdünnt (eiweißhaltiger Harn muß aufgekocht, mit wenigen
I ropfen Essigsäure versetzt und sorgfältig filtriert werden) ; sodann
werden 150 cm3 der Barytmischung, wie sie Salkowsky zur
Entfernung der Sulfate vorschreibt, zugesetzt; diese Barytmischung
besteht aus einer bei Zimmertemperatur gesättigten Lösung von
B aryumhy dr oxy d , von der zwei Teile, und einer bei Zimmer¬
temperatur gesättigten Lösung von Baryumehlorid, von der ein
Teil für die Mischung verwendet wird.8) Dann filtriert man klar
und überzeugt sich durch neuerlichen Zusatz einiger Tropfen der
8) Moriz Weiß, lieber den Neutralschwefel des Harnes etc.
Biochem. Zeitschr. 1910, Bd. 27.
7) 1. c.
8) Wir verwendeten die Baryumsalze stets »chemisch rein Kahl¬
baum«. Die Salze und ihre Lösungen sind stets gut verschlossen zu
halten, um sie vor Verwitterung zu schützen. Die Lösungen sollen
gesättigt und klar filtriert werden.
Mischung, ob vollständig gefällt wurde. Sodann werden zur Ent¬
fernung der Aetherschwef eisäuren (nach Salkowsky) 300 cm3
Filtrat verwendet, denen 30 cm3 Salzsäure vom spezifischen Ge¬
wichte 1-12 zugesetzt werden und in einen 500-Erlcnmeyerkolben
gebracht, der mit einem kleinen Trichter bedeckt wird und eine
Stunde auf dem Asbestnetz bei kleiner Flamme im Kochen er¬
halten,9) nach dem Kochen wird der Kolben mit einem Becher¬
glas bedeckt auf das Wasserbad gestellt und solange dort belassen
bis die über dem Niederschlag stehende Flüssigkeit sich klar (deut¬
lich lichtdurchlässig) abgesetzt hat (4 bis 24 Stunden); nun filtriert
man durch ein doppelt gelegtes, trockenes Barytfilter (vermeide
größere Trichter!) zweimal durch, wasche den Erlenmeyerkolben
griindlichst mit Lauge, Wasser und destilliertem Wasser aus, koche
nochmals im Kolben kurz auf, indem man Avieder den Trichter
aufsetzt und filtriere dann abermals durch ein doppeltgelegtes |
Barytfilter. (Bleibt jetzt noch ein Rückstand auf dem Filter,!
so stelle man den Kolben nochmals auf das Wasserbad.)
Hierauf versetzt man 200 cm3 des Filtrates mit 3 enr
Perhydrol Merk und kocht eine Viertelstunde lang wieder mit
aufgesetztem Trichter in demselben Erlenmeyerkolben. Nach dem ;
Kochen gießt man die Flüssigkeit in ein Spitzglas und sieht
nun innerhalb einer halben bis vier Stunden einen deutlichen i
sich zu Boden setzenden Niederschlag auftreten, der in erheb-!
lieber Menge nur beim Karzinom, in Spuren auch beim Nor¬
malen vorkommt; in der Regel fällt jedoch beim Normalen
innerhalb vier Stunden überhaupt nichts aus; erst viel später |
zeigen sich minimale Niederschläge, die aber vielleicht nur späi-
liche Reste von Raryumsulfat sind, das noch aus den Aether-
schwe felsäuren stammt. • — Der in der Regel reichliche, zuweilen)
spärliche Niederschlag heim Krebskranken enveist sich als durch
Farbstoffe verunreinigtes Baryumsulfat ; die Farbstoffe lassen sich
mit Alkohol -Aether entfernen. Es handelt sich Avohl um ein
aus einem Teile des Neutralschwefels durch Oxydation gewon¬
nenes Sulfat. — - Die Substanz, welche diesen Neutralschwefel I
trägt, findet sich in dem Barytsyrup der Oxyproteinsäuren, in
dem sie hei Krebskranken nachweisbar ist.
Der Ausfall der Reaktion ist. bis zu einem gewissen
Grade unabhängig von der Nahrungsaufnahme des, Patienten
und von der Konzentration des Harnes; insofern, als auch
der konzentrierte normale Harn die Reaktion nicht gibt;
Avohl aber gibt der konzentrierte und stickstoffreiche Harn
beim Krebskranken eine reichlichere Ausbeute als der di-
luierte Harn, AATie ihn manche Krebskranke absondern.
Von Substanzen, die die Reaktion hindern oder Vor¬
täuschen können, haben wir bis jetzt nur das Antipyrin
kennen gelernt, das die Reaktion stört; es kommt bei der
Oxydation mit Perhydrol zu einer diffusen Trübung, harzige
Massen, oft schwarzbraun gefärbt, fallen aus und können
mit unserem Niederschlag manchmal verwechselt werden.
Die Taurocholsäure (Ikterus) beeinflußt die Reaktion nicht.
\\ ir haben im ganzen 81 Karzinome untersucht, von
denen 61 eine deutliche Reaktion gaben, 10 eine schwach
positive, 10 fielen negativ aus.
Deutlich positiv waren : 26 Fälle von Magenkarzinom, dar¬
unter drei sehr kleine; 1 Fall von Zungenkarzinom, das sehr
klein Avar; 6 Fälle von Carcinoma recti, davon zwei recht
kleine Karzinome; 2 Fälle von Carcinoma intestini; 16 Fälle
von Karzinom der Leberwege; 3 Fälle von Carcinoma oeso- I
phagi; 5 Fälle von Carcinoma uteri, darunter zwei sehr klein;
1 Fall von Carcinoma ovarii ; 1 Nebennierentumor.
Schwach positiv waren': 4 Fälle von Magenkarzinom,
3 Fälle von Oesophaguskarzinom, 2 Fälle von Uteruskarzinom,
1 Fall von Rektumkarzinom.
Negativ waren: 4 Oesophaguskarzinome, 4 Uteruskar¬
zinome, 1 Fall von Knochenmetastasen post Operationen! bei
einem Mammakarzinom!, 1 Fall von Drüsenmetastasen post Opera¬
tionen! hei einem Carcinoma ovarii.
Unter den 79 Kon trollfällen von Nichtkrebskranken befanden
sich 3 Gesunde, 4 Leberzirrhosen, 10 chronische Phthisen und
1 akute Phthise, 1 Leukämie, 1 Pseudoleukämie, 6 Nephritiden,
10 Vitien, 3 G elenksrheum atismeny; 1 Sepsis, 1 Typhus, 2 Pneu¬
monien, 13 (schwere Enteritiden, 6 gutartige Pylorusstenosen,
8 Neurosen, 2 Basedow, 2 multiple Sklerosen, 1 Hirntumor.
- . . ; i ?T': . TTT" *
9) Es muß sorgfältigTdarauf geachteßfwerden,' daß1 die’F Salzsäure-
konzentration 'während des Kochens hier Tundl im"' Folgenden1 nicht ge¬
ändert Avird. Daher muß der Erlenmeyerkolben Avährend 'des Kochens
und auch auf dem Wasserbade stets so, Avie" oben ausgeführt1 ist, be¬
handelt werden.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
1 Fibroin, 2 Osteosarkome), 1 Myom', 3 Cholelithiasis, 2 Icterus
catarrhalis, 4 Anämien, 1 Ulcus ventriculi.
4 Gravide waren negativ.
3 Fälle blieben klinisch unaufgeklärt. Sie gaben ein posi¬
tives Resultat. Die Diagnose, ob Karzinom oder kein Kar¬
zinom, blieb offen. Im letzteren Falle wäre die Diagnose der
drei Fälle: Myoma uteri, Pseudoleukämie, Anaemia gravis.
Demnach besitzen wir anscheinend in dieser Schwefel -
reaktion eine handliche Probe, deren positiver Ausfall für
die Diagnose Krebs sehr zu sprechen scheint. Manche Fälle
von Krebs, die negativ ausfielen, erklären sich vielleicht
aus der geringen Nahrungsaufnahme der Patienten; eine
Nutrosezulage zur Nahrung haben wir erst in letzter Zeit
eingeführt und scheinen damit negative Karzinomfälle zum
Teil korrigieren zu können.
Wenig kachektische Individuen, mit kleinen Karzino¬
men, gaben häufig deutliche Reaktion, so daß wir die Hoff¬
nung haben, mit dieser Probe die Frühdiagnose Krebs, wenn
auch nicht immer, so doch in einzelnen Fällen stellen zu
können. Jedenfalls ist die Reaktion unabhängig von der
Kachexie und in gewissem Sinne auch von der Größe und
dem Sitze des Tumors. Daß sie mit dem Tumor in direktem
Zusammenhänge steht, dafür spricht das Verschwinden der
Reaktion nach der Operation, das wir bereits einige Male
beobachten konnten.
Aus dem propädeutisch-pathologischen Institute und
der chirurgischen Klinik der k. Universität Turin.
(Vorstand: Prof. Daniele Bajardi)
Untersuchungen über die Physiologie des
Magens beim Menschen.*)
Von Dr. Candido Mantelli, Assistent.
Die Physiologie des Magens, wie übrigens fast die
ganze Physiologie, ist in der Hauptsache an Tieren studiert
worden. An dem Menschen hat man wohl wenig beobachtet.
Nur Richet, Hornborg, Cade und Latarjet, Bickel,
Bogen, Sommerfeld, Umber, haben Berichte über
diesen Gegenstand veröffentlicht.
Der Mann, welcher als Objekt für die vorliegende
Studie diente, war sonst vollständig normal, was durch
fleißige, wiederholte Untersuchungen bestätigt wurde. Er
litt an einer gewöhnlichen Stenose der Speiseröhre und
wurde deswegen der Gastrostomie unterworfen. Durch die
Magenfistel machte man eine rückgängige Erweiterung, die
bald gute Erfolge brachte. Nach etwa zehn Tagen konnte
man schon eine Sonde von einem Durchmesser von 6 mm
einführen. Wurde diese durch einen Katheter ersetzt, so
kam der Speichel und jede geschluckte Flüssigkeit aus dem¬
selben heraus, ohne durch den Magen zu gehen. Auf diese
Weise erzielte man eine strenge Trennung der Mundhöhle
von dem Magen und es war dann möglich, einige Beobach¬
langen über die Magensekretion anzustellen.
Bei den Versuchen wurde eine gewissenhafte Technik
angewendet, wesentlich darauf gerichtet, die mechanischen
Einflüsse, welche von sehr erheblicher Wirkung hätten sein
können, auszuschalten. Die Untersuchungen wurden ami
nüchternen Magen oder überhaupt sieben bis acht Stunden
nach dem Essen vorgenommen. Man bestimmte die Gesamt¬
azidität des gesammelten Saftes nach der titrimetrischen
Methode und die Menge des Pepsins nach der Methode
von Volhard.
Es wurden 19 Scheinfütte rungs versuche auf verschie¬
dene Art gemacht. Aus denselben geht hervor, daß sich der
Magen bei Nüchternheit, oder sieben bis acht Stunden nach
dem Essen, in einem Ruhezustand befindet, daß seine
Drüsen keinen Magensaft geben. Die Scheinfütterung gibt
eine bedeutende Saftsekretion; dieselbe beginnt nach einer
fünf bis sechs Minuten dauernden Latenzperiode.
*) Der k. medizinischen Akademie in Turin in der Sitzung \om
2. Dezember 1910 mitgeteilt.
Von den untersuchten eingeführten Substanzen ver¬
anlassen diejenigen, die am meisten schmecken, größere,
in hohem Grade verdauungsbeförd.ernde Saftsekretion.
Die Sekretion ist am höchsten in der ersten Stunde,
in der zweiten nimmt sie ab, noch mehr in der dritten
und nachher hört sie auf. Durch eine Reihenfolge von.
Versuchen wurde bewiesen, daß der chemische oder me¬
chanische Reiz der Mundschleimhaut und der Speiseröhre
allein, wenn er von der Idee der Speise getrennt ist, keine
Magensaftsekretion hervorbringt. Es folgten dann 15 an¬
dere Versuche, aus welchen hervorgeht, daß man, infolge
eines rein physischen Reizes, eine sehr reiche Magensaft-
Sekretion erhalten kann; die psychische Vorstellung von
Speisen wurde einfach durch Worte und durch Gesichts-,
Geruchs- und Geschmacksempfindungen angeregt.
Die Sekretion auf psychische Eindrücke erscheint
damit sichergestellt und aufgeklärt: am Menschen ist dieses
Verhalten viel deutlicher ersichtlich als es an Tieren mög¬
lich ist.
Hierauf wurde die direkte Wirkung der Nahrung auf
die Schleimhaut des Magens mit Ausschluß anderer Fak¬
toren studiert. An Tieren machte man solche Untersuchun¬
gen mittels des kleinen isolierten Magens nach Päw-
low; an dem untersuchten Patienten war es nötig, anders
zu verfahren. Die Speisen wurden in den Magen einge¬
führt und dann wurde- die in der Zeiteinheit verdaute Quan¬
tität abgemessen. Jedesmal führte man 100 g mageren
Fleisches (Kalbsschenkel) ein, zerschnitten in kleine, auf
einen starken Seidenfaden gereihte Würfel. Nach einer ge¬
wissen Zeit wurde das Fleisch heraus genommen und durch
Abwiegen die Quantität ermittelt, welche in der bestimmten
Periode verdaut worden war.
Um den ganzen Verlauf der Magenverdauung zu stu¬
dieren, wurden drei Gruppen von Versuchen gemacht:
1 . Einführung von rohem Fleische in den Magen ohne
Wissen des Patienten.
2. Idem und Scheinfütterung.
3. Idem und normales Essen (Mahlzeit).
Aus der ersten Serie entnimmt man die durch rein
lokale Wirkung der Nahrung Stunde für Stunde bedingten
Verdauungswerte, aus der zweiten Serie entnimmt man
die durch lokale Wirkung der Nahrung und dazu durch
physischen Reiz bedingten Verdauungswerte.
Aus der dritten Serie entnimmt man die Werte für
normale Verdauung. Durch geeignete Rechnung kann man
deutlich für jede Stunde den durch psychischen Einfluß
und den durch lokale Wirkung bedingten Verdauungswert
ermitteln.
Hier sind die erhaltenen Durchschnittszahlen.
Stunden
Verdauung
bei reiner
lokaler Wir¬
kung auf die
Magen¬
schleimhaut
Verdauung
bei reinem
psychischen
Reize
Verdauung
bei lokalem Verdauung
und bei bei normalen
physischem Essen
Reize
1
350
u-50 n)
15-50 |)
15
16
2
4-50
35 36
5
53
2 )'
90
100
Daraus ergeben sich folgende Schlüsse:
1. Durch lokale Reize der Nahrung auf die Magen¬
schleimhaut kann Magensaftsekretion hervorgerufen werden.
2. Eine solche Sekretion beginnt gewöhnlich in der
zweiten halben Stunde der Anwesenheit des Fleisches im
Magen. ^
3. Dieselbe nimmt allmählich zu und erreicht sehr
hohe Werte in der dritten, vierten und fünften Stunde.
4. Durch physische Reize kann Magensaftsekretion aus-
gelöst, werden, die wenige Minuten nach Beginn der Reizung
eintritt. (Durchschnittlich nach fünf Minuten.)
5. Dieselbe ist sehr bedeutend in der ersten Stunde
und teilweise noch in der zweiten.
•452
WIENER KLIN I& CHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
6. In den folgenden Stunden nimmt sie schnell ab
und verschwindet.
7. Wenn man also- rohes Fleisch in den Magen einführt
und nachher eine Scheinfütterung veranstaltet, so wird die
Verdauung in der ersten Stunde größtenteils durch Saft
von psychischem Ursprung, die Fortsetzung durch den von
lokalen Reizen ausgelösten Saft bewerkstelligt.
8. In den späteren Stunden ist hingegen die Quantität
des abgesonderten psychogenen Saftes ganz unbedeutend,
während die Quantität des durch lokale Nahrungswirkung
ausgelösten Saftes hohe Werte erreicht; in dieser Periode
entspricht das Verdauungsvermögen der Summe der Wir¬
kung der beiden Saftportionen. Man muß aber beachten,
daß ein Teil des Saftes mit dem Chymus vom Magen in
das Duodenum Übertritt.
9. Wir haben gesehen, daß die Werte des Verdau¬
ungsvermögens bei normalem Essen, mit genügender An¬
näherung denen entsprechen, die durch Addition des Ef¬
fektes des psychischen Faktors und des Effektes der lo¬
kalen Reizung gewonnen werden.
(Bei normalem Essen haben wir etwas höhere Werte
gefunden, offenbar, weil hier der ganze Verdauungsverlauf
vollkommen natürlich ist und nicht auf künstliche AVeise
zweigeteilt wird, wie es bei isolierter Wirkung des psy¬
chischen Faktors und des lokalen Reizes geschieht.)
10. Wir sind also berechtigt, zu schließen, daß bei
normaler Magenverdauung der erste Antrieb zur Saftsekre¬
tion und der Saft der ersten und zweiten Stunde größten¬
teils auf Rechnung des psychischen Reizes zu setzen ist.
Dagegen stammt die Sekretion in den folgenden Stunden
von der lokalen Wirkung auf die Magenschleimhaut. Es
ist dies übrigens ganz natürlich, da die Scheinfütterung
offenbar nur den getrennten und isolierten Anfang des nor¬
malen Essens darstellt, während die Verdauung der in den
Magen direkt eingeführten Speisen, ohne psychischen Reiz,
dessen Folge und Ende bildet.
Zu ganz analogen Schlüssen ist bekanntlich Pawlow
an Hunden gelangt.
Es handelte sich dann darum, zu ermitteln, welcher
Natur das Reizmittel sei, welches auf die Magenschleim¬
haut örtlich wirkt. In einer Reihenfolge von \rersuchen
wurde auf verschiedene Art die Unwirksamkeit mechani¬
scher Reize bewiesen. Es handelt sich offenbar um eine
chemische Wirkung. Demgemäß ergab sich folgende Frage :
Wirken die chemischen Substanzen, welche die Sekretion
hervorrufen, auf die peripheren Endigungen der zentripe¬
talen Nerven des Magens, oder gelangen sie in das krei¬
sende Blut und reizen auf diese Weise die Zentren der
Absonderungsnerven oder die Magendrüsen selbst? Eine
bezügliche Entscheidung konnte bisher noch nicht erzielt
werden.
*
Die gefundene Azidität wäre viel höher, als sie
im allgemeinen angegeben wird: ungefähr 3%o, statt 1-8
bis 2°/oo.
*
Es wurde endlich der Einfluß der physischen und
der psychischen Arbeit auf den Verlauf der Magensekretion
geprüft, was bisher anscheinend noch nicht geprüft wurde.
Es ergab sich folgendes:
! . I mnittelbar nach einer bedeutenden Muskelanstren¬
gung ist die Magensekreiion psychischen Ursprungs erheb¬
lich herabgesetzt. Während dieser Periode ist die durch
örtliche Wirkung der Nahrung auf die Magenschleimhaut
auslösbare Saftsekretion minimal oder null.
2. A\ enn nach einer großen Muskelanstrengung eine
Ruheperiode von ungefähr einer Stunde eingeschoben wird,
zeigt die Sekretion psychischen Ursprungs einen Wert, der
ungefähr ein Drittel des normalen ist.
3. Die andere durch lokale AVirkung der Nahrung auf
die Magenschleimhaut ausgelöste Saftsekretion beträgt un¬
gefähr die Hälfte der normalen.
4. Wenn nach einer großen Muskelanstrengung eine
zweistündige Ruhepause eingeschoben wird, zeigt die Se¬
kretion psychischen Ursprungs ungefähr die Hälfte des Nor-
mal wertes, ln dieser Zeit ist die durch rein lokale AVirkung
auslösbare Saftreaktion beinahe normal.
5. Das A'erdau ungsvermögen des nach einer großen
Mnskelanstrengung abgesonderten Saftes ist ein sehr ge¬
ringes.
0. Unmittelbar nach einer großen psychischen An¬
strengung wie in der Folgezeit (1—2—3 Stunden) ist die
Hemmungswirkung auf die Magensekretion viel größer, als
jene einer physischen Anstrengung.
Der Verfasser vermutet, daß bei normalem Essen die
Folgen einer psychischen oder physischen Anstrengung sich
weniger bemerkbar machen werden, als in den mitgeteilten
Versuchen.
Zum Schlüsse wurde die Wirkung psychisch und phy¬
sisch ausgelöster Schmerzen studiert; dieselben hemmen
augenblicklich die Magensekretion, wenn sie im Gange ist
und verhindern ihre Entstehung, wenn der Magen bisher j
im Ruhestand war.
Es wurden im ganzen 87 Einzelbeobachtungen im
Verlaufe von ungefähr vier Monaten angestellt.
Aus dem staatl. serotherapeutischen Institute in Wien.
(Vorstand: Hofrat Prof. R. Paltauf.)
Beeinflußt Atoxyl die Bildung der Antikörper?
Von Di-. So, Tokio.
Die Unwirksamkeit des Atoxyls in vitro gegen die¬
jenigen Mikroorganismen, welche es im Tierkörper zum Ver¬
schwinden bringt, hat zu der Anschauung geführt, daß das !
Atoxyl erst mit Hilfe des tierischen Organismus seine mikro-
bizide Wirkung entfaltet. So nahm Ehrlich1) an, daß das
Atoxyl im Organismus reduziert Wird, Levaditiund Yama-
no uchi,2) daß das Atoxyl mit dem Eiweiß der Gewebe eine
\ erbindung eingeht und auf diese Weise das wirksame
Produkt gebildet wird. Nach Blumenthal3) wird aus dem
Atoxyl als wirksame Komponente die arsenige Säure ab¬
gespalten. Auch für ein anderes Arsenpräparat, das Ehr-
1 i ch-H at. a sehe Arsenobenzol, wird von Lesser4) die or-
ganotrope Wirkung hervorgehoben.
In Anbetracht einer organotropen AVirksamkeit dieser
Präparate war mil der Möglichkeit zu rechnen, daß auch die
Antikörper produzierenden Organe beeinflußt werden, so daß
sich bei Untersuchung des Blutserums derartig vorbehan¬
delter Tiere Unterschiede gegenüber der Wirkung des Blut¬
serums normaler Tiere zeigen konnten.
Zunächst wurde der Einfluß des Atoxyls*) auf den Komple¬
mentgehalt studiert. Meerschweinchen erhielten subkutan je 0-03 g
Atoxyl. Sowohl nach einmaliger, als auch nach wiederholten In¬
jektionen wurde Blut entnommen und mittels1 eines für Hammel¬
blut eingestellten Kaninchenambozeptors der Komplementgehalt
ausgewertet. Bei keinem dieser Versuche konnte eine Differenz
im Vergleiche zu normalen Meerschweinchen gefunden werden.
In einer anderen Versuchsreihe erhielten Kaninchen sub¬
kutan 0-1 bis 0-2 g Atoxyl und gleichzeitig intravenös Vio Oese
Typhusbakterien injiziert. Nach wiederholten derartigen Injek¬
tionen wurde das Serum dieser Tiere auf Agglutinine gegen Bac¬
terium typhi, geprüft. Eine Anzahl anderer Kaninchen war in
der gleichen AVeise mit Typhusbakterien gespritzt worden, nur
daß bei diesen Tieren, welche als Kontrollen dienten, die Atoxyl-
behaudlung unterblieben war. Ein deutlicher Unterschied zwischen
den vorbehandelten und Konfrontieren war auch bezüglich des
Agglutiningehaltes nicht festzustellen.
Nachdem die Untersuchung des Blutserums auf die genannten
Antikörper keinen Effekt der Atoxylbehandlung hatte erkennen
lafeisen, wurden dann noch die Blutkörperchen einer Prüfung unter¬
zogen.
Zu diesem Zwecke wurden die Blutkörperchen von mit Atoxyl
injizierten und unvorbehandelten Meerschweinchen sorgfältig ge-
*) Das Präparat wurde vorher auf seine Giftigkeit geprüft; 005 g
töteten ein Meerschweinchen von zirka 200 g.
Nr. 13
45S
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
waschen! und dann der Einwirkung einer Saponinlösung ausgesetzt.
Die roten Blutkörperchen der vorbehandelten Meerschweinchen
wurden vom Saponin ungefähr ebenso stark gelöst wie die der
Kontrolltiere, vielleicht sogar etwas stärker, doch waren diese
Differenzen nicht ausgesprochen. Ebenso verliefen Versuche mit
Kaninchenblutkörperchen.
Schließlich habe ich auch die weißen Blutkörperchen der
vorbehandelten und normalen Meerschweinchen bezüglich ihrer
Freßtätigkeit für Staphylokokken untersucht. Aber auch in dieser
Richtung konnte ich keinen Einfluß des Atoxyls feststellen.
Sämtliche angeführten Versuche haben somit ein nega¬
tives Ergebnis ergeben, trotzdem die meisten Tiere zu wieder¬
holten Malen mit Atoxyl vorbehandelt waren.
Literatur:
i) Beiträge zur exper. Pathologie und Chemotherapie, Leipzig 1909.
_ *) Compt. rend.' de la Soc. de biol. 1908. — 3) Deutsche med.
Wochenschr. 1910, Nr. 49. — *) Berliner klin. Wochenschr. 1910, Nr. 48.
Aus der k. k. dermatologischen Universitätsklinik in
Graz. (Vorstand : Prof. Dr. R. Matzenauer.)
Präventivbehandlung der Syphilis mit
Salvarsan.
Von Dr. R. Knaur, Assistenten der Klinik.
Unter den Fragen nach einer wirklich einwandfreien,
für den Kranken möglichst beschwerdelosen, für den Arzt
nicht allzu umständlichen Anwendungsweise des Salvarsans,
die energische und nachhaltige Wirkung vereint, ferner nach
allenfalls zu befürchtenden ungünstigen Nebenwirkungen und
endlich nach dem Dauererfolge der Ehrlichbehandlung, hat
wohl die letzte die größte Wichtigkeit. Wenn auch, wie fast
in allen Salvarsanarbeiten zu lesen ist, die Kürze der Be¬
obachtungszeit eine abschließende Antwort auf diese Frage
(die von vielen Menschen zu einer Art Lebensfrage gemacht
wird) jetzt noch nicht zuläßt, so dürften doch bei dem regel¬
mäßigen Ablauf wenigstens der ersten Syphiliserscheinungen
einige darauf bezügliche statistische Daten, auch wenn sie
nur einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum umfassen, nicht
ganz ohne Interesse sein.
Wenn eine wirkliche Heilung durch Salvarsan über¬
haupt vorkommt, so liegt es wohl am nächsten, sie bei mög¬
lichst frühzeitig behandelter, sogenannter primärer Syphilis
zu erwarten; deshalb und auch wegen der typisch aufein¬
anderfolgenden, leicht zu beurteilenden Anfangserscheinungen
der Lues, die eine therapeutische Beeinflussung ihres Ab¬
laufes leichter erkennen lassen, wurden für die folgende Be¬
trachtung nur solche Fälle ausgewählt, wo Patienten mit Initial-
affekten und Drüsenschwellung noch vor dem Auftreten des
Exanthems der 606-Behandlung unterzogen worden waren.
Unter den 200 an unserer Klink mit Arsenobenzol be¬
handelten Fällen befinden sich 19 männliche Patienten, die
präventiv, im Primärstadium, Salvarsan erhielten. Die ältesten
dieser Fälle sind nun schon über ein halbes Jahr in unserer
Beobachtung; die drei jüngsten, bei denen erst fünf Wochen
seit der Behandlung vergangen sind, sollen hier nicht weiter
berücksichtigt werden. Sie sind bisher ohne Erscheinungen
geblieben. Unter den 16 übrigen Patienten sind zwei sehr »frei¬
zügige“, die brieflich nicht zu erreichen waren und nur so
lange beobachtet werden konnten, als sie eben im Kranken¬
hause sich befanden.
Einer von ihnen verließ 25 Tage, nachdem er wegen seiner
fünf oder sechs Wochen alten Sklerose 0‘6 Hy in saurer Lösung
intraglutäal erhalten hatte, mit überhäutetem, weniger indurierten
Primäraffekt und unveränderter Drüsenschwellung das Spital,
ohne daß ein Exanthem aufgetreten wäre. Der andere war nur
eine Woche in unserer Beobachtung. .
Bevor ich auf die noch verbleibenden 14 fälle eingehe,
die ein halbes bis ein viertel Jahr alt sind, möchte ich ein
Wort über die von uns verwendeten Methoden der Einver¬
leibung sagen. Die ersten fünf der in Rede stehenden Pal.
wurden mit der möglichst neutral gemachten Emulsion nach
Wechselmann unter die Rückenhaut gespritzt; wegen
der fast stets zurückbleibeuden, meist fluktuierenden, hin
und wieder auch derb-soliden Geschwülste, die oft eine lang¬
wierige Nachbehandlung (Inzision usvv.) erforderlichen '), und
wegen der Umständlichkeit der Bereitung der Emulsion ver¬
ließen wir gerne diese Methode und verwendeten seither fast
immer eine mäßig saure Lösung, die einfach und schnell
herzustellen ist. Das Pulver wird mit ein wenig Alkohol an¬
gefeuchtet und in einigen Kubikzentimetern n/10-Natronlauge
gelöst ; die Lösung wird auf diese Art natürlich etwas weniger
sauer, als wenn man destilliertes Wasser oder Kochsalz
nähme. Die Einspritzung machen wir intraglutäal oder auch
zur Hälfte intraglutäal, zur Hälfte unter die Haut des Rückens
In einigen Fällen versuchte ich auch eine 10°/0ige Paraffinum
liquidum-Emulsion nach Kr o may er.
Die Salvarsanmenge von 0'5 oder 0'6 wurde auf drei, jeden
zweiten Tag erfolgende Injektionen verteilt und die Einspritzungen
recht gut vertragen. Aber selbst wenn die Wirkung an Energie
nicht hinter der Einverleibung der gesamten Salvarsanmenge auf
einmal zurückbliebe2), hat dieses Verfahren den Nachteil, daß
die Hohlnadeln sich sehr oft verstopfen und daß wenigstens
unsere, sorgfältigst hergestellte Emulsion bereits nach zwei Tagen
so klebrig und harzig wurde, daß sie nicht mehr verwendet
werden konnte.
Von 14 mit Salvarsan präventiv behandelten Patienten
sahen wir bisher bei fünfen Rezidive auftreten.
Der erste erhielt, etwa fünf bis sechs Wochen nach
der Infektion (T5 nach Wechsel mann; nach einer Woche
wurde er mit überhäuteter, noch indurierter Sklerose, unver¬
änderter Drüsenschwellung und negativem Wassermann ent¬
lassen. Bereits nach einem Monate bekam er ein papulo-
squamöses Exanthem hauptsächlich an den Armen und ein
krustöses auf der Kopfhaut, ein Rezidiv, das schon Neigung
zur Gruppenbildung zeigte und überhaupt einen etwas
schwereren Charakter aufwies, als es rein nach der Krankheits¬
dauer zu erwarten gewesen wäre. Die Injektionsstelle war
durch eine fluktuierende Geschwulst markiert; in der Punk¬
tionsflüssigkeit war Arsen in Spuren nachweisbar. Aut eine
neuerliche 606-Einspritzung bildete sich der Ausschlag zurück.
Der zweite Patient erhielt 05 nach Wechselmann
vier Tage vor dem Ausbruche eines sehr flüchtigen makulösen
Exanthems; der Wassermann war bei der bald darau1
folgenden Entlassung stark positiv. Nach fünfeinhalb Monaten
sahen wir ihn mit Roseola annularis, Papeln ad genitale et
ad anum und fluktuierender Injektionsgeschwulst wieder.
Der dritte Patient (etwa vierwöchige Sklerose), der 06
nach Wechselmann erhalten hatte, bekam nach neun
Wochen ein sehr reichliches, kleinfleckiges Exanthem. An
der Injektionsstelle tastete man eine Geschwulst und tiefe
Fluktuation.
Das nächste Rezidiv betraf einen Mann, der mit Sklerose
und kompletter Drüsenschwellung, also mit ungefähr sechs¬
wöchentlicher Krankheitsdauer, 06 in saurer Lösung intra-
gluteal erhalten hatte. Nach zwei Monaten bekam er einen
ziemlich reichlichen, großfleckigen Ausschlag, der sich deut¬
lich als Rezidivroseola darstellte. Die Sklerose war noch voll¬
ständig induriert.
Das fünfte Rezidiv sahen wir an einem mit 5 cm3 der
K r o m ay e r-Emulsion behandelten Patienten, der mit Primär¬
affekt und einer walnußgroßen Inguinaldrüse zu uns kam ;
nach sechs Wochen stellte er sich mit einem psoriasiformen
Exanthem am Kopfe, an den Schultern und Armen vor. Auch
hier hatten wir den Eindruck, daß dieser gruppierte Aus¬
schlag für ein so frühes Exanthem ein etwas ungewöhnliches
Aussehen bot, zumal irgend eine konstitutionelle Anomalie,
’) Neben diesen von normaler Haut bedeckten »Wechselmann¬
tumoren« kamen öfters auch Fälle zur Beobachtung, wo ein dunkel¬
brauner, mumifizierter Haut- oder Gewebsanteil aus einem Hautschlitz
hervorragte wie ein Lederknopf aus dem Knopfloch und sich nach innen
in eine derbe Kapsel fortsetzte, die dann stumpf herauspräpariert wer¬
den mußte. ...
») Es sei hier erwähnt, daß der mit Paraffinemulsion gespritzte
Patient sein Rezidiv am raschesten, nach sechs Wochen, bekam.
454
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1
die für einen schwereren Verlauf der Syphilis verantwortlich
gemacht werden könnte, auch bei diesem Patienten nicht
nachweisbar war.
Unter den übrigen neun Fällen, die bisher keine Rezidive
bekamen, wäre einer als Fall von unvollständiger Heilung zu
erwähnen. Mit Primäraffekt und beginnender Leislendrüsen-
schwellung, also etwa vierwöchentlicher Krankheilsdauer, er¬
hielt er 0‘6 in saurer Lösung. Die Sklerose begann wohl vom
Rande her zu überhäuten, die Drüsenschwellung nahm
nicht mehr zu, aber als sich Pat. nach drei Monaten
wieder vorstellte, war die Sklerose noch deutlich hart, wenig
verkleinert und zentral noch nicht überhäutet. Ein Exanthem
wurde, wie gesagt, bei diesem und den übrigen acht prä¬
ventiv behandelten Fällen nicht beobachtet.
Positive Komplementablenkungsreaktion ohne Rezidiv¬
erscheinungen fand sich bei einem, etwa sechs Wochen nach
der Infektion mit O’ö in saurer Lösung gespritzten Kranken,
u. zw. zwei Monate nach der Injektion.
Fünf Patienten, die ungefähr vier bis sechs Wochen
nach der Infektion 0 5 und 0-6 in saurer Lösung erhalten
hatten, boten nach dreieinhalb, bzw. einer nach zwei Monaten,
keinerlei neue luetische Erscheinungen und negativen Wasser-
mann dar; die Initialaffekte waren bei ihnen durch zarte
Narben ersetzt, die Drüsenschwellung entweder rückgebildet
oder nur mehr gering.
Derselben Gruppe dürften vielleicht die letzten beiden
Patienten anzureihen sein, von denen Blutproben nicht zu
erlangen waren, die aber — drei Monate nach Einspritzung
von 0-5 und 06 in saurer Lösung — von sich berichteten,
daß sie ganz gesund und ohne Erscheinungen wären.
Die Ergebnisse dieser kleinen Zusammenstellung lassen
doch wohl noch einer gewissen Hoffnung Raum, daß doch
vielleicht volle Heilung nach einmaliger präventiver Salvarsan-
anwendung möglich sein könnte, wenigstens beweisen sie
nicht das Gegenteil.
Vielleicht ist ja auch von der intravenösen Einver¬
leibung, eventuell mit nachgeschicktem intramuskulären Depot,
mehr zu erwarten.
Von der intramuskulären und subkutanen Einspritzung
abzugehen, dazu fordern ja nicht nur die schmerzenden In¬
filtrate und die Neuralgien im Ischiadikus und Peroneusgebiet
auf, die oft so lange Zeit Patient und Arzt quälen, sondern
mehr noch die pathologisch-anatomischen Befunde, die es
fraglich erscheinen lassen, ob von der Injektionsmasse nicht
ein vielleicht beträchtlicher Teil sich der Resorption entzieht
und ungenützt im Depot liegen bleibt, wenn rund um die
stets Nekrose erzeugende Masse die Gefäße thrombosieren
und durch reaktive Entzündung eine derbe Kapsel sich an¬
bildet. Bei der chemischen Labilität des Salvarsans ist der
baldige Zerfall in unwirksame andere Verbindungen sehr zu
befürchten und um so wichtiger wäre eine günstigere Resorp¬
tionsverhältnisse setzende Einverleibungsart.
Das Umschlagen der Wasser man n sehen Reaktion in
die negative Phase ist stets ein freudiges Ereignis für den
Patienten, ohne daß jedoch der Arzt den Optimismus teilen
könnte, da sorgfältige Untersuchungen jüngerer Zeit gerade
das unberechenbare und scheinbar regellose Hin- und Her¬
schwanken der Komplementablenkung erwiesen haben.
Wir wissen ja, daß der negative Ausfall für die Pro¬
gnose ziemlich belanglos ist und nur der positiven Reaktion
für die Diagnose und eventuell auch für die Therapie Be¬
deutung zukommt. Immerhin treffen in unseren Fällen nega¬
tiver Wassermann und zarte Vernarbung der Sklerose
und Rückbildung der Drüsen meist zusammen und man
braucht derzeit nicht jede Hoffnung aufzugeben, daß diese
Fälle vielleicht doch rezidivenfrei bleiben könnten.
Wenn nun auch die Salvarsantherapie die anfangs und
von einigen Seiten in sie gesetzten Hoffnungen auf eine Heilung
der Syphilis in allen Stadien wie mit einem Schlage nicht
zu erfüllen scheint, so stellt vielleicht die möglichst früh¬
zeitige Präventivbehandlung eventuell nach einer besseren,
alle Potenzen des Mittels zur Wirkung kommen lassenden
Einverleibungsart doch ein hoffnungsvolleres Feld dar. Auf
jeden Fall aber wird das Arsenobenzol, um oft Gesagtes zu
wiederholen, seinen großen und bei richtiger Indikations-
Stellung überragenden Wert behalten, 2. B. bei maligner
Syphilis, bei quecksilberfester Syphilis, bei Quecksilberidio¬
synkrasie und in allen Fällen, wo rascheste Wirkung
anzustreben ist
Zur temporären Sterilisierung der Frau.
Von Dr. Konstantin Rucura, Privatdozent Tür Geburtshilfe und Gynä¬
kologie in Wien.
Der Zweck dieser meine gleichnamige Veröffentlichung
in Nr. 46 des 23. Jahrganges, 1910, dieser Wochenschrift
ergänzenden Zeilen, ist ein zweifacher. Vor allem möchte ich
ein literarisches Versehen richtigstellen; dann aber aus
diesen der italienischen Literatur entstammenden Publika¬
tionen Beobachtungen verwerten und für die empfohlene
Methode Nützliches hervorheben.
Aus der Arbeit Pestalozzas, ,,Der Kaiserschnitt“,1!
ersah ich, daß der gleiche Operationsvorschlag (die Eier¬
stöcke aus der Bauchhöhle durch Versenken in eine Peri¬
tonealtasche auszuscheiden) von Taddei und Panä schon
gemacht worden ist, allerdings bloß behufs Sterilisie
rung, nicht mit der Absicht, später die Konzep¬
tionsfäh i gfk ei/ 1 wiederher zm stellen.
Taddei studierte schon 1908 2) die Veränderungen
des in einem Peritonealsack eingebetteten Eierstockes hei
Kaninchen, um die Brauchbarkeit des Ausscheidens des
Ovars aus der freien Bauchhöhle zu einer Operation fest
stellen zu können; 1909 3) empfahl er die Operationsmethode
wieder und berichtete über weitere entsprechende Experi¬
mente am Tiere. Panä4) schilderte nun einer Anregung
T add eis folgend die Technik dieser Operation, welche
er am Kadaver des öfteren ausgeführt hat, eingehend. Die
von ihm angegebene Technik unterscheidet sich von der
von mir empfohlenen eigentlich nur darin, daß Panä den
Schnitt ins Peritoneum mehr bogenförmig ausführt und das
Ligamentum tubo-ovaricum behufs besserer Mobilisierung
des Eierstockes durchschneidet. So viel zur Richtigstellung.
\\ ichtig aber für das Schicksal der im Bindegewebe
eingebetteten Eierstöcke und für die spätere Wiederher¬
stellung ihrer Funktion bei neuerlich gewünschter Konzep-
tionsfähigkeit sind die Beobachtungen T add eis im, Tier¬
experiment. Um das Verhalten der in einem Peritonealsacke
versenkten Eierstöcke zu studieren, führte er an erwach¬
senen Kaninchen zahlreiche Experimente aus, welche meinen
Versuchen ganz analog sind. Leichte Veränderungen wur¬
den an den versenkten Eierstöcken wohl beobachtet. Un¬
verändert und wohlerhalten aber fand er in allen Ovarien
die Primärfollikel und auch die Follikel aller Entwicklungs¬
stadien. Er fand an manchen Präparaten auch Stauungen,
interstitielle Blutungen und kleinzellige Infiltration; diese
Erscheinungen konnte er auch in solchen Eierstöcken fest¬
stellen, in welchen dieselben bloß von der Tubenöffnung
losgelöst worden waren. Bis auf die Stauungen und die
kleinzellige Infiltration decken sich Tadel eis Befunde im
Experiment mit meinen ; diese Stauungen dürften wohl die
Folgen sein der Loslösung des Eierstockes von der Tuben¬
öffnung, das heißt, der Durchtrennung des Ligamentum
tubo-ovaricum, die nach meiner Ansicht in den Fällen,
wo die Sterilisierung der Frau als eine nur temporäre ge¬
plant ist, besser zu unterbleiben hätte. Weiters aber fand
Taddei — und dies scheint mir von ganz besonderer
Wichtigkeit für die nur temporäre Sterilisierung, die er
aber, wie schon erwähnt, gar nicht in Betracht zieht —
daß das Ovar, falls eine Verletzung des Keim'epi-
thels vermieden . wird, mit dem ihn bedecken¬
den Gewebe gar nicht verwächst.
Ich halte dies schon deshalb für wichtig, weil auf
diese Eventualität der Schädigung des Eierstockes aller-
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
455
lings gedacht werden muß (beispielsweise bei Stellung der
Prognose für die eventuelle künftige Zeugungsfähigkeit) und
ichon hingewiesen worden ist (Schauta5). Aus dieser
ieobachtung Taddeis itn Experiment geht nun wieder
lervor, daß diese Operation nur auf das zarteste und scho-
leuds.te ausgeführt werden darf, zugleich aber, daß, wenn
<>de Berührung des Ovars vermieden wird, eine spätere
öllige Eunktionstüchtigkeit der Keimdrüse bei neuerlicher
lervorholung derselben gewährleistet erscheint, falls natiir-
ich, wie ich in der ersten Veröffentlichung hervorgehoben
iahe, auch die geringste Infektion und jegliche Blutung
n die Einbettungsstelle genauest vermieden wird, Dinge,
reiche die Verwachsung des Ovars mit seiner Umgebung
md so eine eventuelle Schädigung des späteren Ovulations-
organges ebenfalls begünstigen würden.
Literatur:
') Annali di ostetr. e ginec. 1910. — 2) Annali di qstetr. e ginec.
908, S. 861. — 3) Annali di ostetr. e ginec. 1909, Nr. 1, S. 1.
Annali di ostetr. e ginec. 1909, Nr. 10, S. 431. — 5) Wiener med.
Cochenschr. 1911, Nr. 10 und Monatschr. für Geb. und Gyn. 1911, II. 3.
Diskussion.
Lus der Ohrenabteilung der allgemeinen Poliklinik in
Wien.
!ur Frage der luetischen Erkrankungen des
Labyrinthes und des Hörnerven.
Von Prof. Dr. G. Alexander.
In Nummer 11 der Wiener klinischen Wochenschrift haben
layer und Frey in der Frage der luetischen Akustikus- und
.abyrintherkrankungen das Wort ergriffen. Mit Rücksicht auf
ueine Aeußerungen anläßlich der Diskussion zum Vortrage Fi ti¬
lers im November und Dezember 1910, möchte ich folgendes
uitteilen :
Ich habe in meiner Diskussionsbemerkung ausdrücklich Jier-
■orgehoben, daß mein gesamtes, von mir selbst beobachtetes
ihrsyphilitisches Material damals 68 Fälle umfaßt hat. Demnach
st die Behauptung Mayers, „daß Herr Prof. Alexander nur
•in Material von neun Fällen, Herr Prof. Habermann aber
•in solches von 66 Fällen überblickte“, nicht aufrechtzuerhalten,
len 66 Fällen, d. h. der Gesamtzahl der von Habermann be-
ibachteten Fälle von luetischer Akustikusaffektion, können doch
licht meine Fälle des rezenten Stadiums (neun) gegenübergestellt
verden, sondern wieder nur die Gesamtheit meiner Fälle.. Ich
latte keine Ursache, in meiner Diskussionsbemerkung die Ge-
■amtzahl der von mir beobachteten luetischen Akustikusaffek-
ionen, die 42 beträgt, zu nennen, da, sie für das diskutierte
fhema nicht in Betracht kam.
Ich gelangte heim Vergleich des von Finger und des von
nie beobachteten Materials zum Schlüsse, daß die akute luetische
Neuritis des Nervus octavus — mag sie sich im vestibulären oder
cochlearen Anteile des Nerven etablieren — im rezenten Sta-
lium der Syphilis äußerst selten ist. Zu dieser Erkenntnis führte
nich folgender Weg: Die von Finger beobachteten Fälle
iucl durch zwei Momente gekennzeichnet: erstens durch das
■’rühauftreten der Labyrintherscheinungen, zweitens durch die
■schwere dieser Erscheinungen. Unter den 68 von mir beobachteten
iillen waren 12 Fälle von Ohrerkrankungen im rezenten Sta-
liurn der Syphilis. Von diesen konnte ich selbstverständlich
mr jene heranziehen, welche beiden obgenannten Postulaten ge
recht wurden. Unter den neun Fällen von Labyrintherkrankung
Labyrinth-Nervenerkrankung) entsprachen jedoch eine noch gc-
angere Anzahl im frühzeitigen Auftreten und der Intensität der
Erscheinungen den von Finger beobachteten Fällen.
Da es mir in meiner Diskus'sionsbemerkung lediglich auf
len Vergleich mit den Finger sehen Fällen ankam, erscheint
meine Aeußerung vollkommen berechtigt, daß Fälle von Erkran¬
kung des inneren Ohres und des Hörnerven, (sc. Fälle, die im
i’rühauftreten und der Intensität der Erscheinungen den
Ringer sehen gleichen) äußerst selten sind. Ungemein auffällig
aber präsentiert sich dieses Ergebnis im Vergleiche des Finger-
m-hen und meines Materiales. Einerseits das urplötzlich ge¬
häufte Auftreten von Labyrinthsyphilis im Materiale Fingers,
anderseits die nicht zu bezweifelnde Tatsache, daß meine
neun Fälle von Labyrinthlues bei rezenter Syphilis das Resultat
einer vieljährigen Beobachtung daiötellen.
Die Mitteilungen von Mayer sind außerdem nicht allein
nicht geeignet, meine Behauptungen zu widerlegen, sondern bilden,
soweit es sich darin um aktenmäßige Angaben handelt, viel¬
mehr eine Stütze und Bestätigung meiner Beobachtungen. Mayer
erhielt von seinem Chef Habermann 86 Krankengeschichten,
die Fälle von Ohrerkrankungen bei Lues betreffen und teilt mit,
daß dieses Material den Fällen entspricht, die seit, 1896 beob¬
achtet wurden, d. h. : im Verläufe von 15 Jahren sind 86 Fälle
von luetischen Ohrerkrankungen in der Grazer Ohrenklinik zur
Untersuchung gekommen. Bei 13 von diesen 86 Fällen ist nun
die Akustikuserkrankung im rezenten Stadium der Syphilis auf¬
getreten. Für seine prozentuellen Berechnungen scheidet Mayer
zunächst die Fälle von hereditärer Lues aus. Da ich an meinem
Material di-es'e Scheidung nicht vorgenomtoen habe, muß ich
die Gesamtzahl meiner Beobachtungen der Gesamtzahl der: Fälle
Mayers gegenüberstellen. Danach ergeben sich bei Alexander
68 Fälle, darunter 9 Fälle von Erkrankungen des' inneren
Ohres im rezenten syphilitischen Stadium, dies ist zirka 13-25 % ;
bei Mayer 86 Fälle, darunter 13 Fälle von Erkrankung des
inneren Ohrels im rezenten syphilitischen Stadium, dies ist
zirka 15°/o.
Beide Zahlen sind voneinander wohl nicht sehr verschieden,
wenn man noch bedenkt, daß meine Zahlen das Resultat einer
fünf- bis sechsjährigen, die Mayers einer 15jährigen Sammlung
darstellen.
Einzeldaten, die einen sicheren Schluß auf die Schwere
der Symptome gestatten, sind in der May er sehen Publikation
nicht mitgeteilt worden. Es ist jedoch gar kein Grund vorhanden
anzunehmen, daß diese 13 Fälle Mayers durchwegs schwer
verlaufende waren und mit stürmischen Erscheinungen einher¬
gegangen sind. Nach der Zusammenstellung des Materials der
Grazer Klinik werden somit meine eigenen Beobachtungen, be¬
stätigt.
Zu den Ausführungen Freys sei folgendes bemerkt:
Unter den Fällen der Literatur kommen selbstverständlich gleich¬
falls' nur die Fälle in Betracht, welche in Frühzeitigkeit und Schwere
der Erscheinungen für einen Vergleich mit den Fing er scheu.
Fällen geeignet sind. Unter diesen Finger scheu Fällen, die einer
Beobachtungszeit von sechs Monaten entsprechen, ist die Ohr-
affektion in einem Falle bei sechs Wochen, in den übrigen
bei etwa drei Monate alter Lues aufgetreten. Diesen Postulaten
entsprechen jedoch nur wenige Fälle der Literatur. Daß leielit-
gradige Erkrankung? formen häufiger sind, soll nicht bezweifelt
werden, ebensowenig, daß die Mitteilungen, seitdem durch den
Fi nger sehen Vortrag und die daran angeschlossene Diskussion
die Aufmerksamkeit der Fachleute auf diese Frage gelenkt worden
ist, fürderhin zahlreicher erfolgen werden als bisher.
Referate.
Geschichte der Medizin.
Von Prof. Dr. Max Neuburger.
II. Band. Erster Teil. Zweite Hälfte.
Stuttgart 191 1 , Verlag von Ferdinand Enke.
Von Neuburgers Geschichte der Medizin, deren letzter
Abschnitt in Nr. 44 des Jahrganges 1908 dieser Zeitschrift be¬
sprochen wurde, ist nunmehr die Fortsetzung erschienen und damit
das Werk bis zum Schluß des Mittelalters weitergeführt. Den im
früheren Referate erwähnten Eigenschaften des Verfassers begegnen
wir wiederum im vorliegenden Buche. Es sind dies die sorgsamen
Studien der Quellen, die strenge medizinische und philosophische
Schulung und die geistvolle Analysierung der treibenden oder
hemmenden Kräfte, die ausstrahlend von dem ganzen Kulturleben
immer die Heilkunde beeinflußt haben. Gerade in der Darstellung
der mittelalterlichen Medizin im christlichen Abendlande treten die
eben genannten Vorzüge des Autors zutage. Neuburger ver¬
steht es nämlich, den in ungleicher Stärke überlieferten Stoff nach
dem inneren Zusammenhang zu sichten und zu gruppieren, bisher
isoliert gebliebene oder unbeachtete Geschichtskenntnisse als organi¬
sche Bindeglieder der Entwicklungsphasen an richtiger Stelle einzu¬
schalten, vor allem aber das Gewicht abzuschätzen, mit welchem
die christliche Glaubens- und Naturlehre, die »Konkordanz zwischen
456
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
Glauben und Wissen« die ärztliche Erkenntnis belastet hat. Das
neue und lebendige Bild, das der Verfasser von der damaligen
Theorie und Praxis entwirft, gestaltet sich, abgesehen von der Auf¬
nahme der allerneuesten Forschungsergebnisse zu einer willkommenen
Ergänzung des großen Gesehichtswerkes H ä s e r s. Denn der ge¬
feierte Breslauer Historiker wendet in der Darstellung des Mittel--
alters seinen bewunderungswürdigen Sammelfleiß mit Vorliebe dem
Schrifttum des Zeitalters zu und stellt in seiner gerühmten Sorgfalt
und Gelehrsamkeit die literarische Tätigkeit in den Vordergrund,
nicht überall dringt er in die Interpretation der Erscheinungen ein;
die wir erst dann zu deuten vermögen, wenn wir die Geistes¬
prinzipien verfolgen, die alles Denken und Geschehen beherrscht
haben.
Unter diesem erweiterten Gesichtskreise erfährt manche herge¬
brachte Vorstellung und Meinung eine Berichtigung. So findet unter
anderem die konservierende Arbeit der Kleriker- und Laienärzte
des früheren Mittelalters nicht die übliche Geringschätzung, sondern
gleich den Klosterschulen und Hospizen freundliche Anerkennung
als Mittler ärztlicher Ueberlieferung. Mit sichtlicher Anteilnahme
schildert der Autor die Schule von Salerno, das isolierte Zentrum
des Fortschrittes, wo die Reste der griechischen und spätrömischen
Heilkunde, unberührt von der Kirche, als Stütze des Systems erhalten
blieben und die Lehrmeister »nur den Interessen der Wissenschaft
dienend und von ärztlichem Gemeinsinn getragen, den Beruf des Heil-
künstlers veredelten«. Ueberzeugend wird der Nachweis erbracht,
wie die Civitas Hippokratica dem von außen eindringenden An¬
sturm des arabischen Wesens allmählich unterliegt, wie kulturelle,
selbst politische Einflüsse den Wandlungsprozeß in der Arznei¬
wissenschaft beschleunigen.
Die anschauliche Darlegung der Medizin im 13. Jahrhundert,
vorweg unter der Ueberschrift : »Arabismus und Scholastik« bündig
gekennzeichnet, darf zu den besten Partien des Buches gerechnet
werden. Neuburger leitet den Abschnitt mit dem Lapidarsatze
ein : »Auch in dieser Epoche bestätigt sich das historische Gesetz,
daß neue Geistesströmungen in der Medizin später als auf anderen
Gebieten des Kulturlebens zum Ausdruck gelangen.« Er vergleicht
die Salem i tan ische Lehrmethode und die dort waltende praktische
Nüchternheit mit der emporkommenden arabisierenden Umstaltung
des Wissenschaftsbetriebes und entwickelt in geistvoller Umschau
einen Kommentar zu allen jenen Ursachen, welche die Ver¬
kümmerung der Heilkunde bewirkt haben. Weshalb nach islamischem
Vorbild äußerliche Formgewandtheit und innere Leere, Autoritäts¬
glaube und dogmatisches Erstarren zur Signatur des Jahrhunderts
geworden waren, wird uns in großen Zügen wie in prägnanten
Einzelheiten vor Augen geführt. Die gesamte Literatur und ihre
Vertreter, den Stand der Chirurgie und anderer Zweige der ärzt¬
lichen Tätigkeit lernen wir unter vielseitig neuer Beleuchtung
kennen.
Ebenso anmutend und belehrend exponiert der Autor die
Grundlagen der Medizin im späteren Mittelalter, durch welches sich
die langwährende Vorherrschaft spitzfindiger Dialektik und einförmiger
Buchweisheit erstreckt. Und dennoch war, wie gezeigt wird, die
emsige Arbeit, die auf den neuentstandenen Universitäten Italiens
und Frankreichs geleistet wurde, nicht völlig wertlos; sie bereitete
die Zeit vor, wo eigene Gedanken und Beobachtungen sich in die
medizinischen Folianten einschlichen und innerhalb wie außerhalb
der Gelehrlenstube die mittelalterlichen Ideale zu verblassen be¬
gannen. Freilich bot noch geraume Frist hindurch die Heilkunde
ein abseits gelegenes Feld, bis das Zwielicht der Prärenaissance
die darüber lagernden Schatten erhellte. Lange noch lagen die
Wege im Dunkel, auf denen die Internisten, in Wesenheit die
Arabisten, mühselig sich fortbewegten, während die Wundärzte (die
Aerztechirurgen in Bologna, Paris und anderen Orten), leichter be¬
schwert von schalem Weisheitskram, frühzeitig darangehen, die
chirurgische Lehre und Praxis zu vervollkommnen und ihrer eigenen
Bildung wegen schüchtern den Versuch unternehmen, die Anatomie
des menschlichen Körpers aus tausendjährigem Schlaf zu erwecken.
Referent ist notgedrungen in die Lage versetzt, den Inhalt
des in Rede stehenden Abschnittes lediglich in Schlagworten anzu¬
deuten. Er muß hier, wie dies Blatt für Blatt die ganze Bearbeitung
erheischt, auf den Text'h in weisen, worin die Schicksale der Medizin
mit den geistigen Elementen des Zeitalters enge verwebt erscheinen,
Schriften und Schriftsteller gebührenden Platz einnehmen, Pestlehre’
Harnschau und Astrologie als besondere Attribute des schulgerechten
Wissens in scharfem Umriß gezeichnet, endlich die Unterrichts¬
und Standverhältnisse der Aerzte während des Mittelalters besonders
gewürdigt werden.
Eine literarhistorische Uebersicht bildet den Abschluß des
Buches, dessen Erscheinen wir auf das allerwärmste willkommen
heißen, nicht allein, weil wir uns seiner Gediegenheit erfreuen, son¬
dern auch in der Erwartung, es möge uns die Vollendung des Werkes
nicht allzu lange vorenlhalten werden. Fossel.
Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische
Forschungen.
Herausgegeben von E. Bleuler und S. Freud.
Redigiert von C. GL Jung.
Bd. I, zweite Hälfte.
Leipzig u. Wien 1909, Franz Deu ficke.
Zunächst setzt Ludwig Bins w anger (siehe Ref. der ersten
Hälfte des ersten Bandes) seinen „Versuch einer Hysterieanalyse' ‘
fort, um ihn schließlich durch die Freud sehen Lehren über die
frühinfantilen Quellen hypothetisch zu ergänzen; denn fertig ist
natürlich trotz der imponierenden Ausdehnung auch diese Ana
lyse nicht geworden; wohl aber haben auch ohne dem die An¬
fälle Fräulein Irmas aufgehört. Am interessantesten erscheint dem
Referenten ein Punkt aus der Katamnese des Falles. Die Patientin
begann nach Entlassung aus der Klinik wieder Blut zu spucken,
zeigte auch erhöhte Temperatur. Darauf reiste Binswanger
zu ihr, „erklärte ihr ohne Umschweife, 'wenn das Blutspucken nicht
sofort unterbliebe, würde sie nicht mjehr für mich existieren. Das
half! Nach drei Tagen war Irma wieder hergestellt!“ Es geht
also auch nach einer alten Methode.
Was man sich hier denken darf, wird unterstützt durch
ein Zugeständnis Freuds selbst in dem folgenden Opus: Be¬
merkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Man liest hier auf
S. 394 : „Es gelang nicht, dieses Gewebe von Phantasieumhül¬
lungen Fäden für Faden abzuspinnen; gerade der therapeutische
Erfolg war hier das Hindernis. Der Patient war hergestellt und
das1 Leben forderte von ihm mehrfache, ohnedies zu lange auf¬
geschobene Aufgaben in Angriff zu nehmen, die mit der Fort¬
setzung der Kur nicht verträglich waren. Man mache mir also
aus dieser Lücke in der Psychoanalyse keinen Vorwurf. Die
wissenschaftliche Erforschung durch die Psychoanalyse ist ia
heute nur ein Nebenerfolg der therapeutischen Bemühung und
darum ist die Ausbeute oft gerade bei unglücklich behandelten
Fällen am größten.“ Andrerseits soll aber gerade der Heilerfolg
der Beweis für die Richtigkeit dessen sein, was Freuds genialer
Kopf in den Patienten hineinkombiniert.
Eine Vertiefung in seine Gedankengänge und, die Reaktionen
seines schweren Falles von Zwangsneurose eröffnet in¬
teressante Ausblicke; es wäre eine verdienstliche Aufgabe, heraus-
zuschälen, was, vom Subjektiven abgesehen, für die Auffassung
dieser Krankbeitsfonn allgemeine Bedeutung hat. Uebrigens nimmt
Freud die eigene Definition der Zwangsvorstellungen aus dem
Jahre 1896 zurück, um in drei Kapiteln: einige allgemeine Cha¬
raktere der Zwangsbildungen, einige psychische Besonderheiten
der Zwangskranken, das Triebleben und die (Ableitung von Zwang
und Zweifel in bekannt geistvoller Weise abzuhandeln.
S. Ferenczi, Introjektion und Uebertragung. Der Autor
knüpft an die Entdeckung Freuds, daß die Neurotiker während
der Behandlung in ihren Neuauflagen, Nachbildungen von Re¬
gungen und Phantasien frühere Personen durch die des behan¬
delnden Arztes ersetzen. Introjektion nennt Ferenczi nun einen
für die Neurose charakteristischen Prozeß, daß ein möglichst
großer Teil der Außenwelt in dals Ich aufgenommen und zum Gegen¬
stände unbewußter Phantasie gemacht wird. Wenn Ferenczi
den Psychoneurotiker darum in Gegensatz bringt zum Paranoiker,
so widersprechen dem wohl die Erfahrungen aller Nicht-
Freudianer; auch der Paranoiker erweitert sein Ich durch Auf¬
nahme von Außenwelt. Warum der Autor gerade die Psycho¬
analyse verteidigt, ist auch nicht, klar, da er doch den Beweis
erbringt, daß der Neurotiker sich immer seihst mit Uebertragung
behandelt, man mag machen, was man will. So lasse man
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
anderen Therapeuten die Freude, daß auch sie Erfolge erzielen,
hl einem zweiten Falle erklärt Ferenc zi die Hypnotisierbarkeil
eines Menschen mit der positiven, wenn auch unbewußten sexu¬
ellen Stellungnahme des zu Hypnotisierenden dem Hypnotiseur
gegenüber. Die Uebertragung aber, wie jede Objektliebe, habe
ihre letzte Wurzel in dem verdrängten Elternkomplex; somit unter¬
scheidet er eine väterliche und eine mütterliche Hypnose. Wir
sind weit gekommen !
Wilhelm Stekel, Beiträge zur Traumdeutung, verdanken
wir einige neue Erkenntnisse, die ihm durch die Analyse von
mehr als tausend Träumen gekommen sind. Er deutet den Traum
im Traume, rechts und links im Traume, die Rolle der Ver¬
wandten, den Affekt im Traume, Träume, die verkehrt gelesen
werden sollen, das Problem des Todes und des Lebens im
Traume, Zahlensymbolik, individuelle Färbung der Träume, alles
ebenso unwiderleglich wie phantastisch. Wegen der Durchsichtig¬
keit der Zahlendeutungen darf sich hier, der Leser vielleicht auch
ein eigenes Urteil erlauben. Die Spielerei mit den Ziffern 6, 8,
mit der Zahl 24 ironisiert in prächtiger, freilich von Stekel
sicher nicht beabsichtigter Weise die Manipulationen anderer
Gewaltherrscher im Reiche der Zahlen.
Herbert Silber er, Bericht über eine Methode, gewisse
symbolische Halluzinationserscheinungen hervorzurufen und zu
beobachten. Im wesentlichen eine Untersuchung über hypnagogc
Halluzinationen in Selbstbeobachtung, die zu schönen Ergeb¬
nissen führt, wenngleich der Einwand nicht labgelehnt werden kann,
daß das Subjekt, welches Symbolisierungen von Gedanken in
Traumbilder erwartet, vielleicht im Sinne seiner Vorstellungen
und Wunschrichtungen träumt, das heißt Belege für seine Theorie
findet, dies um so mehr, als allgemeiner Erfahrung nach das
Material für unsere Träume rezenten Eindrücken und Gedanken-
gängen entnommen wird. Merkwürdig berührt der Gegensatz zu
den Träumen Stekel s. Man ist förmlich überrascht, zu erfahren,
daß es auch nichtsexuelle Träume gibt.
Alfred Adler, Heber neurotische Disposition, zugleich ein
Beitrag zur Aetiologie und zur Frage der Neurosenwahl. Der
Autor versucht die Frage zu beantworten, was die sexuelle Kon¬
stitution sei, nachdem sich die Freud sehe Lehre allmählich
dahin verschoben hat, daß nicht das sexuelle Trauma, sondern
die sexuelle Konstitution, eine biologische Nüance des Sexual¬
triebes, die letzte Wurzel der Neurose bilde. Erfreulich ist es,
durch Adler zu erfahren, daß die sexuellen und anderen Kind¬
heitseindrücke der Neurotiker in Grad und Einfang von denen
der Normalen nicht sonderlich verschieden sind. Man linde ein¬
mal mehr, ein anderes' Mal weniger davon, immer aber ein Maß,
das von den Gesunden auch erreicht werde. Seit 1904 kämpft
der Referent für Anerkennung dieses Prinzips! Ja sogar die Ver¬
erbung wird zugegeben, die angeborene Minderwertigkeit !in feiner
Beobachtung durch Adler mit vielerlei Zeichen belegt.
Resümee: Je nach Art, Ausbildung und Zusammenwirken
der vorhandenen Organminderwertigkeiten wird das Bild der Neu¬
rose sich gestalten. Von Wichtigkeit ist die Größe, Verwandlungs¬
fähigkeit und Ausdauer des angeborenen Aggressionstriebes, weil
diese Faktoren Gefühlskonflikte bedingen, oder ein Ausweichen,
„ Sublim ieren“, gestatten. Von großer Bedeutung ist ferner die
Stellung des zu Neurose disponierten Kindes in der Familie, ins-
besonders,- weil sich daraus die Situation ergibt, die zum Grund¬
risse der Neurose wird. In dieser Situation ist bereits alles an¬
gedeutet, was der fertige Neurotiker an krankhaften Erscheinungen
aufbringt, die Ursachen für den krankhaften Charakter liegen in
ihr zutage. Dem Zustand einer bestimmten psychischen Anaphy¬
laxie gleich gerichtete psychische Schädigungen, des späteren
Lebens erzeugen den verstärkten Zustand der ursprünglichen trau¬
matischen Situation: die besondere Neurose.
Den Schluß des Bandes bildet ein Referat von Abraham-
Berlin über Freuds Schriften aus dem Jahre 1893 bis 1909
und eines über die österreichische und deutsche psychoana¬
lytische Literatur bis zum selben Jahre.
457
Ueber den Selbstmord.
Von Prof. Robert (hm pp.
Zweite, vermehrte Auflage.
München 1910, Verlag der ärztlichen Rundschau Otto Gmelin.
Gau pp hat sich um die Klarstellung von Ursachen und
Motiven des Selbstmordes durch eigene Erhebungen während
zweier Jahre bemüht und festgestellt, daß von 124 in die Klinik
eingebrachten Selbstmordkandidaten eine einzige Person als psy¬
chisch gesund sich erwies. Darüber hinausgehend knüpft Gau pp
allgemeine Betrachtungen an das für unsere Kultur so wichtige
Problem des Selbstmordes.
*
Neurasthenie.
Von Priv.-Doz. Dr. Otto Yeragnth.
Berlin 1910, Julius Springer.
Das Buch, das sich bescheiden eine Skizze nennt, ist her¬
ausgewachsen aus einer Abhandlung, die in den Ergebnissen
der inneren Medizin und Kinderheilkunde erschienen ist und
gliedert sich in drei Abschnitte. Verf. nimmt - - um mit seinen
Worten zu sprechen - die Neurasthenie als eine Krankheits¬
entität, deren physio - pathologische Grundlage eine Störung einer
oder mehrerer oder aller Komponenten der Erregbarkeit der Ner¬
venzellen ist. Diese Störungen sind der Ausdruck eines abnormen
Tonus der Neurone. Die Ursachen der chronischen Abweichung
vom normalen Tonus können zum Teil in der Struktur der
Neurone präformiert sein (Disposition), sie müssen aber immer,
selbst im Falle der konstitutionellen Neurasthenie, auch aus der
Nachwirkung von Reizen entstehen, die nach Quantität, Qualität,
Dauer und Kombination tonusschädigend gewirkt haben. Die To¬
nusanomalie ist bei der Neurasthenie in allen Neuronen anzu¬
nehmen, aber nicht in allen gleich stark ausgeprägt, nach ihrem
Vorwiegen in einzelnen Neuronprovinzen unterscheiden sich die
klinischen Unterarten der Krankheit. Diesen allen aber gemein¬
sam ist eine Schädigung des Tonus der höchstdifferenzierten
Neurone, deren Funktion das psychische Geschehen involviert. Die
neurasthenisebe Anomalie der Psyche betrifft die 'ober- und unter¬
bewußten Sphären, erstere durch übernormal ausgedehnte De¬
pression der logisch- und affektiv - kritischen Fähigkeiten, letztere
durch Begünstigung gefühlsbetonter Komplexe von relativer
Tenazidität.
In ähnlich hochklingender Darstellung differenziert der Ver¬
fasser gegenüber der Norm, der Zyklothymie, dem manisch-
depressiven Irresein, der Zwangs- und Angstneurose, der Hysterie,
der Dementia praecox. Er sucht positive Zeichen der Neurasthenie,
wobei der p. g. R. und das Assoziationsexperiment berührt
werden. Der Verfasser ist besonders eingenommen für Mannig¬
faltigkeit des Behandlungsplanes, er macht gute, kritische Bemer¬
kungen zur Psychotherapie, um schließlich den Nutzen, der Ar¬
beitstherapie, die Notwendigkeit von Nervensanatorien für Wenig-
bemittelte gebührend zu vertreten.
*
Das Problem der Willensfreiheit in theoretischer und
praktischer Beziehung.
Von Dr. Richard Bescliore».
Hannover 1910, H a h n sehe Buchhandlung.
Von einem praktischen Arzte, der natürlich überzeugter
Determinist ist, werden die beiden kontrastierenden V eltanschau-
umgen miteinander verglichen. Die Freunde werden seine Aus¬
führungen leicht überzeugen. Aus wissenschaftlichen Diskussionen
sind derartige Debatten längst ausgeschaltet ; mit großem Nutzen
aber wird das Büchlein sich wenden an Juristen, Geschworene,
Schöffen, überhaupt an gebildete Laien. Hier mag es. zum Nach¬
denken anregen !
*
Die Psychoneurosen und ihre seelische Behandlung.
Von Prof. Paul Dubois.
Zweite, durchgesehene Auflage.
Bern 1 910, A. Francke, vormals Schmid & F r a n c k e.
Die Vorlesungen von Dubois, in deutscher Uebersetzung
durch Dr. med. Ringier, erscheinen gleichzeitig im französi¬
schen Original in dritter Auflage, gewiß ein Zeugnis, dafür, daß
sie in Laien- wie Aerztekreisen gut aufgenommen wurden. In dem
458
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Geleitworte setzt Dubois sich mit Zweiflern und Gegnern seiner
rationellen Therapie auseinander; er bleibt unerschütterlich bei
seiner Ueberzeugung, nur Hebung der Vernunft, Erziehung der
Kranken zur Selbstbeherrschung, dabei äußerste Wahrheitsliebe,
Verzicht auf jedes suggestive Verfahren, könne seine Heilresul¬
tate erklären.
*
Die Neuralgien, ihre Diagnose durch Algeoskopie und
ihre Heilung durch bestimmte Alkoholeinspritzungen.
Von Dr. Karl Francke, München.
Würzburg 1910, Kurt Kabitzsch (A. Stübers Verlag).
Im vorliegenden vierten Hefte des zehnten Bandes der
Würzburger Abhandlungen aus dem Gesamtgebiet der praktischen
Medizin, legt der Autor bei der Diagnose Neuralgie besonderen
Wert auf die Algeoskopie, das heißt die Untersuchung auf krank¬
haften Druckschmerz. Gewiß ist dieses Untersuchungsverfahron
älter als das Wort Algeoskopie. Weiters werden günstige Erfolge
einer modifizierten Sch lös s ersehen Methode mitgeteilt; der
\ erfasser spritzt abgestufte, zunächst schwächere Alkohollösungen
ein. Die Technik ist genau beschrieben.
*
Heinrich von Kleist.
Eine pathographisch-psychologische Studie.
Von Dr. J. Sadger.
Wiesbaden 1910, J. F. Bergmann.
Von den bekannten Deutungen abgesehen, enthält diese
Schrift allerdings positive Daten ; • sie rechtfertigt sich auch da¬
durch, daß die Wahl des zu pathographierenden Objektes auf
eine wirklich schwer psychopathische Persönlichkeit, auf einen
typischen degenere gefallen ist. Wir lassen uns gern überzeugen,
daß Kleist homosexuell empfand, daß er masturbiert hat und
sich darum mit moralischen und hypochondrischen Vorstellun¬
gen herumquälte ; ebenso nehmen wir sein unstetes, zerfahrenes
Verhalten Frauen gegenüber wahr. Daß auch sein Patriotismus
sexuell erklärt wird, muß aber ausschließlich der Brille Sadgers
zugeschrieben werden.
* i
Ionischer Beitrag zur Frage der Alkoholpsychosen.
Von Dr. Wilhelm Stöcker.
Jena 1910, Gustav Fischer.
Die Arbeit liefert ein überraschendes Ergebnis: Unter 90
chronischen Alkoholisten, welche in der Erlanger Anstalt und
Klinik behandelt wurden und bei denen es dem Verfasser möglich
war, Nachuntersuchungen anzustellen, erwiesen sich 34 Fälle
als trinkende Epileptiker, 27 als Manisch-Depressive, respek¬
tive chronische Manien, 14 als Fälle von Dementia praecox,
4 Fälle als Hysteriker, 2 als Psychopathen, wohinter aber Stöcker
Psychosen vermutet, 1 Imbeziller, 1 Paralytiker, 1 Korsakoff,
vielleicht auf arteriosklerotischer Basis.
Sohin resümiert Verf. : Der chronische Alkoholismus ist
wohl immer in erster Linie das Symptom einer geistigen Er¬
krankung; er vermag jedoch eine bis dahin latente und vielleicht
ohne Alkoholabusus noch lange latent gebliebene Epilepsie, chro¬
nische Manie, Dementia praecox usw. so zu steigern, daß es zu
einem raschen Auftreten turbulenter Krankheitserscheinungei i
kommt; er vermag auch für einige Zeit dieser Grundkrankheit
ein eigenartiges Gepräge oder eine eigenartige Färbung zu geben,
die zunächst sinnenfällig in die Erscheinung tritt und so die
Symptome der Grundkrankheil verdecken kann. Er vermag ferner
auch auf dem Boden dieser Grundkrankheit selbständige Krank¬
heitsbilder zu erzeugen.
Die Krankengeschichten ‘■‘’aller Fälle sind vom Verfasser
wiedergegeben. Vielleicht wäre es1 möglich, hie und da bei stren¬
gerer Kritik eine Diagnose zu bezweifeln. In der Hauptsache
aber muß für die überraschenden Befunde eine andere Erklärung
gefunden werden. Zunächst einmal in der Auswahl seines M;r
teriales und darauf weist Stöcker selbst auch hin. Die er¬
schwerten Aufnahmebedingungen einer Irrenanstalt verhindern,
daß die Tausende von Rauschaufnahmen eines Großstadtasyls
oder einer Beobachtungsstation, in die Irrenanstalt weitergeleitet
werden. Diese Alkoholiker werden einfach wieder entlassen; was
in der Irrenanstalt sich ansanuneln kann, sind eben nur die
geisteskranken Trinker. Insoferne dürfen die Resultate der sehr
fleißigen Arbeit nicht überschätzt werden. Sie regen zu weiteren
Erhebungen an, erfordern jedenfalls aber eine Ergänzung durch
eine Statistik über Gewohnheitstrinker, welche nicht Irrenanstalts-
insassen sind. Hier lernt man Stammgäste kennen, welche durch
Jahrzehnte kommen und wieder gehen, die nichts anderes sind
als Süchtige, Degenerierte, Psychopathen. So hat es den Referenten
direkt gewundert, daß der so häufige Typus des neuras thenischen
Säufers von Stöcker nicht erwähnt wird; ebenso möchten wir
hier in Wien der Alkoholhysterie eine größere Häufigkeit zuer¬
kennen, als dies aus der Zusammenstellung Stöckers hervor¬
gehen würde.
*
Die Psychanalyse.
Von Dr. L. Frank.
München 1910, Ernst Reinhardt.
Ein Vortrag, gehalten in der Versammlung schweizerischer
Psychiater in Zürich, am 21. November 1909. Wesentlich ein
Bericht und eine theoretische Begründung der von Frank per¬
sönlich geübten Behandlungsmethode. Die Psychoneurotiker wer¬
den in leichten hypnotischen Schlaf versetzt, welcher die Affekl¬
entspannung ermöglicht. Der unzweifelhafte Erfolg dieser Me- j
thode wird an kurzen Beispielen gezeigt.
*
Arbeiten aus dem neurologischen Institute (k. k. österr.
interakademisches Zentralinstitut für Hirnforschung)
an der Wiener Universität.
Herausgegeben von Prof. Dr. H. Obersteiner.
Bd. 18, 2. Heft.
Leipzig u Wien 1910, Franz Deuticke.
Dals Heft eröffnet der Herausgeber selber mit dem am
XVI. internationalen medizinischen Kongreß in Budapest gehal¬
tenen Referate, die Funktion der Nervenzelle.
Im ersten Abschnitte, die einzelnen Bestandteile der Nerven¬
zelle, schreibt Ober st einer dem Kern eine Beziehung zur
inneren Trophik, zur Ernährung, zur Aufrechthaltung des bio¬
chemischen Gleichgewichtes in der Nervenzelle zu, nebst weiteren,
vorderhand nicht präzisierbaren Aufgaben im Leben und Wirken
der Nervenzelle. Im protoplasmatischen Zellkörper sind die Funk
tionen der basophilen Nißlschollen, der Fibrillen und der Inter-
fibrillarsubstanz zu unterscheiden. Die Funktion der Nißlschollen
ist mit der Aufspeicherung von chemischen Kraftquellen keines
wegs erschöpft, ihnen sind gewisse weitere spezifische Aufgaben
anvertraut. Den Fibrillen kommt in erster Linie die Nervenleitung
zu, doch aber spielt auch die Perifibrillärsubstanz dabei, speziell
mi Bereiche der Nervenzelle, eine nicht unwesentliche Rolle.
Die Dendriten haben eine sehr wesentliche, spezifisch -funktio-
nellc Bedeutung, die sei last für einzelne! Dendriten derselben Zelle
eine verschiedene sein kann. Das hellgelbe Pigment kann als
Abfallsprodukt des Stoffwechsels der Zelle angesehen werden.
Im zweiten Abschnitte seines Referates, die Nervenzelle als
Ganzes, hält Oberst ein er die Stoffwechselprozesse in der
ruhenden und tätigen Zelle auseinander, um' weiters die Fragen
nach der allen Zellen gemeinsamen Leistung und den Aufgaben
der einzelnen Arten von Zellen zu beantworten. Obersteiner
ist der Anschauung, daß, wenn wir von der sichergestellten trophi-
schen V irksamkeit der Nervenzelle absehen, alle übrige, von
einer bloßen Leitung verschiedene Nerventätigkeit auf die Nerven¬
zellen, den Nervenfilz und wohl auch auf die Zwischensubstanz
verteilt ist. In kritischer Darlegung erfahren wir, was für Ansichten
die verschiedenen Autoren über die Tätigkeit der Zellen haben.
Sicher ist bezüglich der Nervenzellen der höheren Tiere eine
Arbeitsteilung im weitesten Maße durchgeführt. Eine ganz be¬
sondere Schwierigkeit macht es, die psychischen Vorgänge in die
Nervenzellen zu lokalisieren.
Den Beschluß bilden die Kapitel, vitale Vorgänge an den
Nervenzellen und pathologische Funktion der Nervenzelle. Wenn¬
gleich der Nachweis für die supponierte Beweglichkeit der Nerven¬
zellen nicht erbracht werden konnte, sind doch zahlreiche Ver¬
änderungen bekannt, welche die physiologische Tätigkeit der Zelle
begleiten sollen. Mit einem hoffnungsvollen Ausblicke auf Wege
künftiger Forschung schließt das inhaltreiche Referat.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
459
Nr. 13
Paul Schilder, vergleichend histologische Untersuchungen
über den Nucleus' sacralis Stillingii. Eine Untersuchungsreihe,
die zahlreiche morphologische Details bringt. Bei bestimmten
Tierklassen bietet der Nucleus sacralis oft charakteristische Eigen¬
tümlichkeiten der Lage, Größe, Anzahl und Form der Zellen.
Bei seinem Aufbau können sich Mittelzellen und Clarkesche
Zellen gegenseitig vertreten, es finden sich auch vermittelnde
Zwischenformen.
Dr. Tamaki T oy of uku-Tokio, Zur Frage der Lagerung
der motorischen Kerne im Hirnstamme. Eine Stellungnahme zu
der Hypothese Ariens Kappers über die Beeinflussung der Lage
von Kernen, durch die sie am meisten influenzierenden Bahnen.
Verf. hat eine Reihe von Mißbildungen untersucht und nirgends
einen Lageunterschied des siebenten Kerns bei Fehlen der Pyra¬
midenbalm gefunden. Hier liegt also ein Widersprach zu den
Beobachtungen von Ariens Kappers, was eine Erklärung ver¬
langt.
Dr. Bertold Spitzer, Die Veränderungen desi Ganglion
Gasseri nach Zahnverlust. Der Autor untersucht nach Durch-
sclrneidung -des Nervus mandibuiaris beim Hunde die Verände¬
rungen im zugehörigen Ganglion Gasseri und findet Degeneration
von Zellen diffus1 durch das ganze Ganglion. Beim Menschen
können sich trotz intakten Gebisses interstitielle Veränderungen
finden, wenn sie durch eine schwere allgemeine Infektionskrank¬
heit bedingt sind. Bei Zahnlosen hingegen registriert er: Eine
über das Maß des Normalen hinausgehende Atrophie der Zellen,
eine diffus im Ganglion verteilte axonale Degeneration einzelner
Zellen, das Vorkommen plaqueartiger Bindegewebsherde, die offen¬
bar im Anschluß an den Zellausfall entstanden sein dürften. Die
einzelnen Befunde werden näher beschrieben und auf den Pa¬
rallelismus zwischen Zahnverlust und dauernden Veränderungen
im Ganglion Gasseri hingewiesen.
Zdislaw Reich. Beiträge zur Neuromenfrage. Dem Ver¬
fasser scheinen ebenso Ganglienzellen wie Schwann sehe Zellen
oder die den beiden Zellarten gemeinsame nicht differenzierte
Mutterzelle als Ausgangskeim einer nervösen Geschwulst a priori
denkbar. Man könnte also dreierlei Neurome unterscheiden, die
neben Nervenfasern, welche die Hauptmasse des Tumors aus¬
machen, drei verschiedene Arten von Zellen führen, Ganglien¬
zellen, embryonale Nervenzellen und Schwann sehe Zellen.
Außerdem gibt es Neurome, für die der Ausdruck piale oder
Aberrationsneurome als entsprechendster zu akzeptieren wäre.
Reich selbst findet solche dreimal unter acht Fällen tabischer
Rückenmarke, beschreibt und deutet seine Befunde.
Robert Löwy, Zur Frage der superfiziellen Körnerschichte
und Markscheidenbildung des Kleinhirns, ihre Beziehungen zum
Lokalisationsproblem und zur Gehfähigkeit. An einer großen Reihe
von Embryonen verfolgt der Autor die histogenetische Entwick¬
lung des Kleinhirns und konnte konstatieren, daß die superfizielle
Körnerschichte bei den einzelnen Spezies zu verschiedenen Zeit¬
perioden verschwindet, nicht an allen Stellen gleichzeitig, in
zwei mehr oder minder ausgeprägten Perioden. Auch in bezug auf
die Markscheidenbildung fand Löwy, daß dieselbe eine Ein¬
teilung der Spezies in zwei Gruppen verlangt, bedeutend rascher
vor sich geht im Wurm als in der Hemisphäre. Die Lebensperiode
kurz nach der Geburt wirkt besonders anregend auf die Mark¬
scheidenbildung in der Kleinhirnrinde.
Auf Grand dieser histogenetischen Tatsachen und dem bio¬
logischen Verhalten der einzelnen Spezies war zu schließen,
daß die Kleinhirnrinde ein Komplex funktionell verschieden wir¬
kender Teile sei, daß das Verschwinden der superfiziellen Körner¬
schichte und die Markscheidenbildung im Zusammenhang mit der
Gehfähigkeit der Tiere stehen.
Dr. Max Landau, Zur Frage der Fettdegeneration der quer¬
gestreiften Muskulatur. Dem Autor handelte es sich darum, zu
bestimmen, bei welchen Erkrankungen Fett in den Muskelfasern
auftritt und in welchem Grade. Er hat demgemäß Stückchen aus
der Beinmuskulatur von 60 Leichen histologisch untersucht, mit
dem Ergebnisse, daß sowohl unter den akuten wie unter den
chronisch entzündlichen Krankheiten gewisse Prozesse am ehesten
den Zustand einer Degeneration der Körpermuskulatur hervor-
rufen können. Alle in der Literatur vertretenen Anschauungen
über die Verfettung der quergestreiften Muskulatur sind berechtigt.
Den Band zieren 28 Abbildungen.
*
Anleitung zur Untersuchung Geisteskranker und Aus¬
füllung der ärztlichen Aufnahmefragebogen deutscher,
österreichischer und schweizerischer staatlicher Irren¬
anstalten.
Von Dr. Max Dost.
Leipzig 1910, F. C. W. Vogel,
Der Verfasser wendet sich an die praktischen Aerzte, denen
er zunächst eine genaue Anleitung zur Aufnahme der Anamnese
gibt. Zu unterstreichen ist die Feststellung, daß es im Auf-
nahmsparere weniger darauf ankommt, eine spezielle Form von
Geistesstörung zu diagnostizieren, als die einzelnen, möglichst
gut beobachteten Krankheitssymptome vollzählig aufzuführen. Auf
die Technik der Aufnahme des psychischen und somatischen
Status' folgt ein kurzes Diagnostikum, das allerdings den er¬
strebten Zweck nicht ganz erreichen dürfte. Willkommen hingegen
ist eine Zusammenstellung der Aufnalünemodalitäten und Bedin¬
gungen der Irrenanstalten deutscher Zunge. Alles in allem ein für
den Praktiker sehr geeignetes Orientierungsbüchlein.
E. Raimann.
*
Howard Taylor Ricketts und seine Arbeiten über das
Tabardillo (mexikanisches Fieber).
Herausgegeben vom Ministerium für den öffentlichen Unterricht und für
die schönen Künste auf Grund eines Beschlusses des Präsidenten der
Republik Mexiko.
Das in spanischer Sprache erschienene Werk1) ist dem An¬
denken Howard Taylor Ricketts gewidmet, welcher am
3. Mai 1910 an mexikanischem Typhus starb, mit dem er sich
im Verlaufe seiner Forschungen über diese Krankheit infizierte.
Das Werk enthält: 1. Die Dokumente, den Tod Ricketts be¬
treffend. 2. Seine und seines Mitarbeiters Sen. Russel M. Wil¬
ders Arbeiten, die Aetiologie des Manchadafiebers und des mexi¬
kanischen Typhus betreffend. 3. Die Rede, welche Wilder bei
der Enthüllung der Gedenktafel im Institute für Bakteriologie
in Mexiko hielt. Die Gedenkrede Wilders würdigt die Persön¬
lichkeit Howard Taylor Ricketts und seine Verdienste um
die Erforschung des Manchadafiebers und des Tabardillo. Das
Manchadafieber ist bekannt durch die großen Unterschiede in
der Heftigkeit seines Auftretens. In manchen Gegenden beträgt
die Mortalität 70 bis 80°/o, in anderen weniger als 5%. Das
Fieber, welches nur im Frühjahre vorkommt, wird durch die
Zecke übertragen. Ricketts konnte die Uebertragbarkeit des
Fiebers auf Affen und Hunde nachweisen. Das Manchadafieber
ist bei der Zecke auch hereditär übertragbar. Die frisch aus den
Eiern einer infizierten Zecke geschlüpften jungen Zecken können
ein gesundes Tier infizieren. Ricketts konnte auch die Ent¬
deckung des Erregers des Manchadafiebers ankündigen. Es ist
dies1 ein kleiner, in der Regel bipolarer Bazillus, welcher dem
Pestbazillus außerordentlich ähnelt. Dieser Mikroorganismus findet
sich im Blute der infizierten Zecken und Menschen. In den Eiern
der Zecken findet sich der Mikroorganismus in so großer Menge,
daß eine Emulsion derselben zur Anstellung der Agglutinations¬
probe genügt. Im Serum von Tieren, welche diese Krankheit über¬
standen haben, war agglutinierende Fähigkeit für diesen Bazillus
selbst bei einer Verdünnung von 1:100 nachweisbar. Normales
Serum hatte diese Eigenschaft nicht. Die Spezifität der Reaktion
konnte nur durch die Annahme eines kausalen Zusammenhanges
zwischen der Krankheit und dem Bazillus erklärt werden. Einige
andere, noch nicht veröffentlichte Tatsachen bestätigen, daß' die
Aetiologie des Manchadafiebers als gesichert angesehen werden
darf. Der Nachweis, daß eine bazilläre Infektion, wie das Man¬
chadafieber, durch Insekten übertragen wird, zerstört das Axiom,
daß die durch Insekten übertragenen Krankheiten immer para¬
sitären Ursprunges sein müssen. Während der Beschäftigung mit
dem Manchadafieber wurde Ricketts Aufmerksamkeit auf das
mexikanische Fieber oder Tabardillo gelenkt. Die klinische Aehn-
lichkeit zwischen beiden Krankheiten war bekannt. Ricketts
') Mexiko, Tip. de la Vda de F. Diaz de Leon, Sues 1910.
4-60
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
mutmaßte, daß diese beiden Krankheiten Zweige einer Gruppe
hämorrhagischer Septikämien seien, zu der vielleicht auch die
Bubonenpest gehöre. Er durfte hoffen, daß seine beim Manchada-
fieber gewonnenen Erfahrungen ihm beim Studium des mexi¬
kanischen Typhus zugute kommen würden. Das Ergebnis dieser
Studien war: Affen der Spezies Macacus rhesus erwiesen sich
für den mexikanischen Typhus als empfänglich, wenn sie mit
Blut infiziert wurden, welches an dieser Krankheit Leidenden
entnommen worden war. Damit war erwiesen, daß das Virus
im Blute vorkommt. Es zeigte sich, daß, wenn auch das Man-
chadafieber und der mexikanische Typhus einige gemeinsame
Punkte haben, sie doch verschiedene Krankheiten darstellen.
Affen, die von mexikanischem Fieber geheilt worden waren,
konnten noch mit Manchadafieber infiziert werden. Gegen das
Manchadafieber immune Affen waren nicht auch gleichzeitig
immun gegen Tabardillo. Es konnte ferner gezeigt werden, daß
sich Tabardillo abgeschwächt beim Affen, durch den Biß von
Kleiderläusen hervorrufen lasse, die auf einem an dieser Krank¬
heit Leidenden gelebt hatten. Wenn ein Affe einen so erzeugten
Fieberanfall überstanden hatte, erwies er sich durch einige Zeit
als immun gegen Tabardillo. Die. Zahl der Kleiderläuse, welche
notwendig war, um einen Affen zu infizieren, betrug 17. Diese
konnten in ihrem Körper höchstens 0-2 cm3 Blut eines Kranken
enthalten. Da beim direkten Versuche mit denn Blute von Kranken
diese Menge sich als ungenügend zur Infektion erwies, mußte an¬
genommen werden, daß das Virus sich im Körper der Kleider¬
laus vermehre. Das Virus des mexikanischen Typhus geht zum
größten Teile nicht durch ein Berkefield-Filter. Gesunde Affen
wurden mit der gleichen Menge Blut und Serum von einem an
Tabardillo Leidenden infiziert. In einem Falle war das Serum
früher filtriert worden. Das damit inokulierte Tier blieb gesund,
während das Tier, welches das nichtfiltrierte Serum injiziert be¬
kam, das typische Krankheitsbild des mexikanischen Typhus
zeigte. Aus diesem Verhalten geht hervor, daß die die Krankheit
erregenden Mikroorganismen genügend groß sein dürften, um mit
dem Mikroskope gesehen zu werden. Kurze Zeit vor seinem Tode
kündigte Ricketts die Entdeckung eines bazillären Mikroorga¬
nismus im Blute von Täbardillokranken an. Die Zukunft muß
zeigen, ob dieser Bazillus die Ursache der Krankheit ist oder
nicht. Die mit Wanzen und Flöhen ausgeführten Experimente
ergaben, daß keines dieser Insekten den Typhus übertragen könnte.
Von der Identität oder Nichtidentität des Tabardillo mit dem
Typhus der Alten Welt wird es ab hängen, ob diese Experimente,
die Uebertragbarkeit des Typhus betreffend, als neu anzusehen
sein werden oder ob sie bloß als Bestätigung früherer Beobach¬
tungen von N i c o 1 1 e über den europäischen Typhus aufgefaßt
werden müssen. Es gibt viele klinische Unterschiede zwischen
beiden Krankheiten. So scheint Macacus rhesus für die In¬
fektion mit europäischem Typhus nicht empfänglich zu sein.
Die Inkubationszeit beim europäischen Typhus variiert zwischen
24 und 40 Tagen, während die fieberhafte Temperatursteigerung
bei mit Tabardillo infizierten Affen schon nach fünf bis zwölf
Tagen beginnt. Die Erzeugung eines Typhus mit hämorrhagischer
Eruption ist Ricketts und Wilder im Gegensätze zu Nie olle,
der mit europäischem Typhus experimentierte, bei ihren Ver¬
suchstieren nicht, gelungen. Das Ergebnis der Forschungen über
das mexikanische Fieber zeigt den Weg, auf welchem diese
Krankheit ausgerottet werden kann. Die Bereicherung des mensch¬
lichen Wissens, welches die Welt Howard Taylor Ricketts
verdankt, wird ihm ein dauerndes Denkmal im Andenken, seiner
Mitmenschen setzen. M. Weisz.
*
Atlas chirurgischer Krankheitsbilder in ihrer Verwertung
für Diagnose und Therapie für praktische Aerzte und
Studierende.
\ on Dr. Pli. Bockenlieimer, Universitätsprofessor und Privatdozent der
Chirurgie an der Univei’sität in Berlin.
Zweite, vermehrte Auflage.
150 farbige Abbildungen auf 120 Tafeln nebst ertäuterndem Text.
Berlin und W i e n 1910, V r b a n & Schwarzenberg.
Nach Ablauf von 2*/2 Jahren liegt eine zweite Auflage dieses
schönen Werkes vor, dem schon bei seinem ersten Erscheinen an
dieser Stelle eine warme Empfehlung mit auf den Weg gegeben
Nr. 13
wurde. In alle Kultursprachen übersetzt, hat die Aerzteschaft der
ganzen Welt hiemit einen sehr wertvollen Behelf gewonnen, um in
Wort und Bild sich mit dem Studium der chirurgischen Pathologie
zu befassen, alle einschlägigen Krankheitstypen in getreuer Wieder¬
gabe sich einzuprägen und aus einem gut geschriebenen Texte, der
das Wesentliche prägnant zusammenfaßt, all das zu erlernen, was
für Diagnose, Differentialdiagnose, Prognose und Therapie von Be¬
deutung ist. Alex. Fraenkel.
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
314. (Aus der chirurgischen Hospitalklinik der Universität in
Moskau.) Weitere Erfahrungen Uber die Desinfektion
der Hände und des Operationsfeldes mittels Alko¬
hol tannin. Von Dr. A. Jabludowski, Assistenzarzt. Im
»Zenlralblatt für Chirurgie« 1910, Nr. 8, hat Vcrf. bereits Uber
seine Methode der Desinfektion berichtet, jetzt möchte er manches
ergänzen. Die bakteriologischen Beobachtungen ergaben, daß zwei
Minuten für die Bearbeitung der Hände und eine Minute für
das Operationsfeld mit 50/0iger Alkoholtanninlösung (95°/0iger Alkohol)
genügen, damit die Lösung vollständig ihre Wirkung ausübt. Verfasser
prüfte seine Methode im Vergleich zu anderen Verfahren (5 Minuten
Bearbeitung der Hände mit Jodbenzinparaffin, 4 Minuten Alkohol¬
azeton, 5 Minuten 95°/0iger Alkohol, 2 Minuten 5°/0iges Alkohol-
tannin) und bringt den Nachweis der Sicherheit und größeren Ein¬
fachheit seines Verfahrens bei Zeitersparnis. Die Hände bekommen
beim Alkoholtannin ein trockenes, glänzendes Aussehen, so daß man
glauben könnte, man habe es mit einer Art Hautlackierung zu tun.
Es lehrten weitere Versuche, daß diese Art des Gerbens der Haut
eine anhaltende ist, daß die Haut die in ihr enthaltenen Bakterien
durch andere spätere Prozeduren (Waschen in sterilem Wasser, in
physiologischer Kochsalzlösung, künstliches Schwitzen, Einwirkung
von Wasserdampf) nicht entblößt, daß auch das vorhergehende
Waschen mit Wasser und Seife die Wirkung des Alkohollannins
nicht beeinträchtigt. Beim Alkoholtannin ist also nicht, wie bei
anderen Methoden, welche das Wasser fürchten, das vor!) ergehen de
Waschen kontraindiziert. Dieses Waschen ist z. B. da nicht über¬
flüssig. wenn die Hände Spuren sichtbaren Schmutzes tragen, es
sollen überhaupt Hände und Nagelräume in gewöhnlichem Sinne
des Wortes rein sein. Langes Waschen ist nun beim Alkoholtannin
überflüssig, was in manchen Fällen von Dringlichkeit des Falles
von Bedeutung sein kann. An obgenannter Klinik haben nun ein¬
zelne Aerzte das vorhergehende Waschen mit Wasser und Seife auf
10 bis 12 Minuten ausgedehnt, andere haben sich mit 2 bis
3 Minuten begnügt, die günstigen Resultate blieben in beiden Fällen
gut.- Verf. selbst geht so vor: Der Kranke nimmt einen Tag vor
der Operation ein Bad. Das Operationsfeld wird mit Seife rasiert
und einige Minuten lang gewaschen. Zu starkes Reiben ist zu ver¬
meiden, da es zu Schrunden und Exkoriationen führt und Derina-
litiden mit allen Folgen begünstigt. Schon während der Narkose
reibt man das Operationsfeld mehrmals mit in Alkoholtannin ge¬
tränkter Gaze, was 1 bis 2 Minuten beansprucht. Die Hände werden
2 bis 3 Minuten lang mit Wasser gewaschen, dann zieht man einen
sterilen Mantel an ; unterdessen trocknen die Hände, man reibt sie
mit Alkoholtannin ab, schenkt dabei den Nägeln besondere Auf¬
merksamkeit, wozu auch 2 Minuten genügen. In dieser Weise
wurden 232 Operationen ausgeführt, darunter 54 Ilerniotomien.
Einmal Eilerung in den Hautnähten mit Temperatur von höchstens
3 7' 7°, einmal ein unbedeutendes Infiltrat, das am vierten Tage
schwand, zweimal Hämatome ohne Eiterung. Tadellose Heilung von
neun Herniotomiewunden, die bei diesem Desinfektionsverfahren von
Studenten unter Assistenz junger Aerzte an einem Tage gemacht
wurden etc. Wenn schon Komplikationen auftraten, z. B. hei
Appendektomien, so hingen sie nicht von einer Uebertretung der
aseptischen Regeln ab, sondern waren im Organismus selbst be¬
gründet. Es wurde ohne Mützen, Masken und Handschuhe operiert,
cs gab keine Operationszimmer für septische und aseptische Fälle.
Unangenehm sind die bei diesem Verfahren zuweilen auftretenden
dunkelblauen oder schwarzen Flecke an den Händen (bei Benützung
nicht gut vernickelter Instrumente, Eisenreaktion !), welche Flecke
durch eine l%ige Oxalsäurelösung entfernt werden. Auch die Dielen
wurden so gereinigt. Auch die Wäsche wird gelb, resp. bei Zutritt
von Blut dunkel, man muß also vorsichtig sein, um solche Flecke
Nr. IB
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
461
zu vermeiden. Sie schwinden auch bei Anwendung einer Oxalsäure-
ösung. Die Hände der Operateure werden sonst in keiner Weise
geschädigt. — (Deutsche med. Wochenschr. 1911, Nr. 9.) E. F.
*
315. Ueber Pituitrinwirkung bei post partum-
Blutungen. Von Priv.-Doz. A. Foges und Dr. R. Hofstätter.
v. Frankl -Hoch wart und Fröhlich beobachteten, daß Pitui¬
trin (ein aus dem infundibulären Anteil der Hypophyse herge-
stellter Extrakt) die Uterusmuskulatur zur Kontraktion anregt.
Auf Grund dieser Beobachtung versuchten Foges und Hof¬
stätter an der Klinik Wertheim das Pituitrin bei Blutungen
post partum. Es wurde gefunden, daß das Mittel in jeder Form
der Verabreichung — per os, intramuskulär, intravenös — voll¬
kommen unschädlich ist und igut vertragen wird. Die Verwendung
per os erscheint wertlos; bei intramuskulärer Applikation bis
zu 2 cm3 stellt sich nach längstens zwei Minuten ein Zustand
der Uebererrogbarkeit des Uterus ei;n, welcher Zustand durch
längere Zeit bestehen bleibt. — (Zentralblatt für Gynäkologie
1910, Nr. 46.) E. V.
*
316. (Aus der kgl. Universitätspoliklinik für Hals- und
Nasenkranke zu Königsberg.) Die nichtspezifischen ulze¬
rösen Erkrankunge n d e r M u n d r a c h e n h ö h 1 e u n d S a 1 v-
arsan. Von Prof. Gerber. Verf. befaßt sich mit dem Kapitel
der Spirochätenerkrankungen der Mundrachenhöhle, bespricht sehr
eingehend die Morphologie der Spirochäten, worüber noch eine
sehr große Unklarheit herrscht, und wendet sich dann der Frage
zu, ob die Plaut- Vincentsche Angina eine Erkrankung sui
generis ist? Verf. hat seit einiger Zeit jeden einschlägigen Fall
bakteriologisch untersucht und in allen Fällen von Stomatitis
und Gingivitis Spirochäten und fusiforme Bazillen in großen
Mengen gefunden, in vielen die Spirochäten so vorherrschend,
gleichsam in Reinkulturen, wie bei der Plaut-Vincent sehen
Angina. Auch in einem der mitgeteilten Fälle von PI aut- Vin¬
ce nt scher Angina bestand gleichzeitig eine Gingivitis marginalis
und der Abstrich vom Zahnfleisch bot genau dasselbe Bild wie
von der Tonsille. Auch Miller hat für die Gingivitis marginalis
die Spirochäten direkt als Erreger in Anspruch genommen, eben¬
so wie für eine Form der Pulpitis, für Periostitiden und Abszesse.
Weiterhin hat Verfasser, ebenso wie Röna, die Spirochäten in
einem Falle von Stomatitis mercurialis massenhaft gefunden und
schließlich gab ein mitgeteilter Fall von Skorbut Aufschluß
über den Zusammenhang der Zahnfleischaffektionen mit Ulzera-
tionen der Tonsillen. Dieser Patient, ein 23jähriger Matrose, war
auf einer langen Seereise an Skorbut erkrankt und hat schon
lange an Schwellung und Blutungen des Zahnfleisches gelitten.
Erst in der letzten Zeit gesellten sich Schmerzen im tieferen
Halse hinzu. Daraus, sowie aus dem mikroskopischen Befunde
und aus dem therapeutischen Effekt geht deutlich die Zusammen¬
gehörigkeit der Zahnfleischaffektionen mit der ronsillaraffektion
hervor. Als nun feststand, daß Salvarsan nicht nur die Lues,
sondern auch die anderen Spirochätenerkrankungen zu beein¬
flussen vermag, war für alle diese Affektionen ein wichtiges
Reagens gegeben und es war für den Verfasser natürlich, jos
zuerst bei der Plaut- Vincentschen Angina zu prüfen, fälle
von Ehrlich selbst mitgeteilt, von Rumpel und vom Ver¬
fasser zeigten ein promptes Verschwinden der Spirochäten und
implicite der klinischen Erscheinungen. Nachdem Verfasser in
dem mitgeteilten Falle von Skorbut Spirochäten in solcher Masse
gefunden hatte, daß an einen zufälligen Befund nicht zu denken
war, zögerte er nicht, auch hier Salvarsan anzuwenden. Er sah
ein promptes Verschwinden sowohl der klinischen Erscheinungen
wie auch der Spirochäten. Ja, letztere reagierten schneller und
vollständiger wie die beiden Fälle von Plaut- V incen tschei
Angina. In der Mundrachenhöhle reinigte sich zuerst und rasch
das Zahnfleisch, dann folgte die Abheilung der Tonsillargeschwüre.
Es ist also dem Verfasser nicht zweifelhaft, daß man neben
der Plaut- Vincentschen Angina noch eine ganze Reihe der
entzündlichen und ulzerösen Erkrankungen der Mund- und Rachen¬
höhle zu den Spirochätenerkrankungen zu rechnen hat, so die
Gingivitis, die Stomatitis simplex wie mercurialis, manche peno-
stitische und peribukkale Abszesse, den Skorbut und vielleicht
auch die Noma. Alle diese Affektionen gehören demnach zu¬
sammen, sie bilden eine ätiologisch einheitliche Gruppe, in der
die Plaut- Vincentsche Angina nur ein besonders markantes
Glied ist. Daran, daß Spirochäten und fusiforme Bazillen für diese
Gruppe die Erreger sind, ist nicht mehr zu zweifeln. Bestand noch
ein Zweifel, so ist er durch die Wirkung des Salvarsans be¬
seitigt. Die Heilung durch Salvarsan beweist, daß die geheilte
Krankheit eine Spirochätenerkrankung war. Das hat nach Ver¬
fasser nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein prak¬
tisches Interesse für alle die, die aus der Heilung eines Ge¬
schwüres der Mundrachenhöhle durch Salvarsan auf den syphili¬
tischen Charakter des Geschwüres schließen wollen. Es hat aber
auch ein therapeutisches Interesse. Denn wenn man auch nicht
bei jeder leichten Gingivitis zum Salvarsan greifen wird, so wird
es doch bei den schweren Fällen von Stomakake, Skorbut und
Noma indiziert sein. Was es dabei leistet, zeigt des Verfassers
Fall in eklatanter Weise. — (Münchener medizinische Wochen¬
schrift 1911, Nr. 9.) > G.
*
317. V or besungen, über spezielle Therapie der
Geisteskrankheiten. VonNießl v. Mayendorf. Man kann
weder von rein exogenen, noch von rein endogenen Psychosen
sprechen, weil die Veranlagung stets mitzuspielen scheint, auch
wenn die nachgewiesene auslösende Ursache greifbar in den
äußeren Einflüssen wurzelt. Veranlagung und Heredität decken
sich nicht. Heredität gibt erst den Boden ab, auf welchem sich
die Anlage zur Psychose entwickelt oder sie hat überhaupt nichts
damit 'zu tun und die Anlage fundiert sich auf Residuen von Ge¬
hirntraumen oder abgelaufenen Großhirnerkrankungen des Kindes¬
alters. Durch Hygiene des Nervensystems kann man Geistes¬
krankheiten nicht wirklich verhindern. Durch zweckmäßige Wahl
des Keimes könnte allerdings die gefährliche Anlage nicht zur
Entwicklung gebracht werden. Aber wenn alle Keimgefahren pro¬
phylaktisch sicher ausgeschlossen werden sollten, gelangt man
zu einem praktisch undurchführbaren Extrem, welches erst noch
mehr schaden als nützen würde, da dann der Geschlechtstrieb
unausweichlich außerhalb der Ehe um so maßloser sich mit
unheilvollen Konsequenzen betätigen würde, der Arzt gebe also
lieber unbedingt die Zustimmung zur Ehe, falls nicht einer der
Heiratskandidaten selbst eine Geisteskrankheit durchgemacht
hat oder Zeichen schwerer Neuropathie an sich trägt; er weise
aber auf die Wichtigkeit der nächsten Umstände hin, unter denen
erfahrungsgemäß die Vereinigung verdächtiger Keime gefahr¬
drohend wird (Zeugung im Zustande alkoholischer Animiertheit,
schwerer Erschöpfung, oder syphilitischer Durchseuchung). Die
ausgebrochene Geisteskrankheit vermag der Arzt nicht zu heilen.
Dies ist den Angehörigen des Kranken rückhaltlos zu eröffnen.
Die Therapie kann nur eine symptomatische sein und die Wir¬
kungsweise der üblichen Mittel ist eine unsichere und beschränkte.
Der Irrenarzt ist nicht imstande, die Natur zu einer Wendung
zu zwingen, er muß sie derselben abscbineicheln. Das gelingt
aber nur dem, der angeborene psychiatrische Begabung besitzt.
„Der Irrenarzt wird geboren.“ In therapeutischer Hinsicht ist
zunächst das Leben des Kranken zu sichern (suizidale Gefähr¬
lichkeit der Melancholiker), dann ist alles zu beseitigen, was einem
günstigen Verlauf der Krankheit entgegenstehen könnte und end¬
lich ist alles in Anwendung zu bringen, was einen solchen her¬
beiführen und beschleunigen könnte. — Die heutigen Irrenanstalten
sind in Wahrheit Kerker geblieben und wie es Gefängnispsychosen
gibt, so gibt es sicher auch Anstaltspsychosen, von welchen
internierte Neuropathen befallen werden können. Indes ist die
Existenzberechtigung der Irrenanstalten doch begründet im Inter¬
esse des Geisteskranken selber zum eigenen Schutze vor sich
selber und als Schutzmittel für die Gesellschaft. Zwangs- und
Gewaltmaßregeln sind nicht unter allen Umständen inhuman, es
kommt vielmehr darauf an, wie, von wem und in welchen Fallen
diese Maßnahmen in Anwendung gebracht werden. Riesen¬
irrenanstalten, wie sie heute gebaut werden, sind nicht zweck¬
mäßig, da verantwortlicher Leiter und behandelnder Arzt hiei
nicht in einer Person erscheinen können, was ein Erfordernis
vertrauenerweckender Krankenbehandlung ist. Lieber kleine An
stalten, die mit je 120 Patienten, einem leitenden Arzt und zwei
Assistenzärzten, in den Städten und Vorstädten rationell verteilt
sind. Der Schwerpunkt der psychiatrischen Therapie rant m der
462
WIc-jmüK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Persönlichkeit des behandelnden Arztes, der nur au einer kleinen
Anstalt die notwendige ärztliche Freiheit und Selbständigkeit
entfalten kann. - - Die Zahl der Mittel, welche dein Irrenarzt
zur Linderung der Geisteskrankheit zur Verfügung bereitstehen,
ist eine minimale: Diätetik, Hydrotherapie, Medikamente. Zu
den Errungenschaften der Neuzeit gehört die Bettbehandlung der
Geisteskranken bei akuten Psychosen in Zuständen schwerer Ver¬
worrenheit und Erregung. Sie ist kontraindiziert bei Schwach¬
sinnigen und Blödsinnigen, welche zur Bewegung und Arbeit
angehalten werden müssen. Bezüglich der Ernährung können
keine Regeln gegeben werden, hier muß individualisiert werden.
Zwangsernährung ist nur als ultima ratio anzusehen und nur
indiziert bei sichtlich fortschreitendem körperlichen Verfall, an¬
dernfalls ist sie eine unbegründete, ungerechtfertigte Brutalität,
die nur leider zu oft in den Irrenanstalten an der Tagesordnung
ist. Die Hydrotherapie wird bei der Behandlung der Geistes¬
krankheiten entschieden überschätzt. Das Dauerbad spielt eine
Hauptrolle (umd empfiehlt sich in erster Linie für akute Psychosen,
dann auch in bestimmten Phasen chronischer Erkrankungen. Die
Anwendung des kalten Wassers in der Behandlung der Geistes¬
krankheiten ist zu perhorreszieren, ganz besonders aber der kalte
Wickel ! In medikamentöser Hinsicht stehen die Hypnotika im
Zentrum der psychiatrischen Therapie, sowie die Sedativa. Als
letzteres wird Brom nach Erlen meyer noch immer mit bestem
Erfolg angewendet. Bei starkem Affekte, welcher das Einschlafen
verhindert, wird am besten Opium verwendet, bei höchstem Be¬
wegungsdrang in gesteigerter Erregung, Tobsucht, empfiehlt sich
eine Injektion von Hyoszin -|- Morphium (0-0004 Hyoszin, respek¬
tive 0-016 Morphium). Mit Hyoszin wird in den Irrenanstalten
viel Mißbrauch getrieben. Als eigentliches Hypnotikum leistet
das Paraldehyd die besten Dienste (der Geschmack zu korrigieren
mit Tct. cort. Aur. spl. in einem Glas Zuckerwasser). Chloral
hydrat und Sulfonal sollen aber ganz gestrichen werden.
Psychotherapie in dem Sinne, daß Heilung eines psychischen
Symptomes durch fremde seelische Beeinflussung erfolgen würde,
ist sicher ohne jeden Erfolg in der Therapie der Geisteskrank¬
heiten. — (Fortschritte der Medizin 1910, 28. Jahrg., Nr. 46
und 47.) K. S.
*
318. Ueber Vergiftung mit Kalium hyper-
manganat. Von Dr. Franz Cohn in Breslau. Vergiftungen mit
Kalium hypermanganicum sind recht selten, die Literatur weist
nur wenige Beobachtungen auf. In der medizinischen Abteilung des
städt. Allerheiligenhospitales in Breslau (Primararzt: Prof. Dr. E rek¬
le nt.z) wurde ein solcher Fall im Oktober 1910 behandelt. Die
Polizeimeldung lautete auf Salzsäurevergiftung. Blasse, junge Frau,
leicht benommen, Sprechen erschwert. Zeigefinger der rechten Hand
und Mundwinkel schwarzbraun verfärbt. Zunge, Mund und Rachen¬
schleimhaut zeigen schwarzbraune Beläge. Puls 70, sehr klein, un¬
regelmäßig. Magen absolut unempfindlich. Dreimalige Magenspülung
mit Magnesia usta, Entleerung schwarzbrauner Flocken und wenig
schwarzroter Flüssigkeit. Sodann mehrmals Erbrechen. Injektionen
von Kampfer und Digalen, Magnesia usta innerlich. Am nächsten
Tage war der Puls noch schlecht, Blässe, geringe Oedeme, nur
300 cm3 Harn von 1031 spez. Gewicht, Spuren von Eiweiß. Stuhl
schwarzbraun, positive Benzidinprobe. Das Sprechen erleichtert.
Exzitantia, Kochsalzinfusionen per rectum. Patientin sagt aus, daß
sie in selbstmörderischer Absicht eine starke Lösung von Kalium
hypermanganicum (etwa 15 bis 20 g in wenig Wasser) eingenom¬
men ; sie rührte mit dem rechten Zeigefinger auf und trank die
tintig aussehende Flüssigkeit hinunter. Wenig später Erbrechen
schwärzlicher Massen. Zeugen bestätigen ihre Aussage, an welcher
nicht zu zweifeln ist (blauschwarze Verfärbung des Zeigefingers, der
Mundwinkel etc.). Ihr subjektives Befinden wurde besser, doch blieb
der Puls andauernd schlecht, im Urin waren Spuren von Eiweiß
und von Mangansalzen, das Blut gerinnt schwer. Die Beläge stießen
sich allmählich ab, Puls und Diurese besserten sich, Patientin wurde
1 5 Tage später geheilt entlassen und blieb auch später beschwerde¬
frei. Neben den lokalen Erscheinungen (Verätzungen) kommen die
allgemeinen toxischen Erscheinungen (Nierenschädigung, Herz¬
schwäche) in Betracht. Das Kalium hypermanganicum enthält zwei
Gifte (Kalium und Mangan), deren jedes als Ursache der toxischen
Symptome gilt. Verf. möchte mit Box u. a. das Kalium verant¬
wortlich machen auf Grund der Herz- und Zirkulationsstörungen,
die dem Bilde einer Vergiftung mit Kalisalzen recht nahe kamen'.
Bei der Magenspülung mit Magnesia usta gingen schwarzbraune
Flocken in Menge ab, in denen man wohl nicht mit Unrecht das
durch die Magnesia ausgefällte Manganhydroxydul vermuten kann. Der
Rest desselben dürfte mit dem Stuhl abgegangen sein (schwarz¬
braune Stuhlfarbe, positive Benzidinreaktion), es kam also wenig
Mangan zur Resorption, im Harne wurde daher auch nur wenig
Mangan ausgeschieden. Vielleicht ist gerade darauf, auf den Weg¬
fall des Mangangifles, die Leichtigkeit des Falles zurückzuführen,
denn in den drei bisher publizierten Fällen erfolgte rascher Exitus
infolge Aspirationspneumonie, Herzlähmung etc. Man wird also in
Hinkunft vielleicht gut tun, im Bestreben, das Mangangift auszu¬
schalten, eine Magenspülung mit Magnesia usta oder einem anderen
reduzierenden Mittel (Zuckerwasser nach Robert) an die Spitze
der Therapie dieser Vergiftung zu stellen, wenn nicht bei stärkeren
Verätzungen zunächst die Intubation oder die Tracheotomie in Be¬
tracht kommt. Weitere therapeutische Maßnahmen waren : Mund¬
spülungen mit Zusatz von Menthol, Spirit, vini, Tinct. Myrrhae
oder Ratanhiae etc., bei starken Verätzungen: Nährklistiere, Ex¬
zitantia bei Herzschwäche. Verf. weist noch darauf hin, daß das
Kalium hypermanganicum kein harmloses Mittel sei. Arzt und Apo¬
theker sollten auf die Giftigkeit desselben aufmerksam machen, da
es, selbst in kleinen Dosen eingenommen, recht unangenehme Er¬
scheinungen, in großen Dosen sogar den Tod herbeiführen kann.
— Mit solchen Warnungen wird man vielleicht den fahrlässigen
Mißbrauch des Mittels verhüten. — (Deutsche med. Wochenschr.
1911, Nr. 9.) E. F.
*
319. Versuch© zur Herabsetzung des Wehen-
schmerzes bei der Geburt. Vom Dr. Oskar Jaejger.
Der Verfasser wandte das Pantopon bei 50 Geburten als schmerz¬
stillendes Mittel an, in 20 Fällen allein, in 30 Fällen kombiniert
mit relativ kleinen Skopolamindosen. Das Pantopon wurde sub¬
kutan in der Eröffnungsperiode, bei einigen vorgeschritteneren
Geburten auch in der Austreibungsperiode gegeben (l cm3 einer
2°/oigen Pantoponlösung). Wurde Pantopon allein gegeben, so
war die Wirkung meist prompt und hielt einige Stunden an;
die Wehen, sowie die Bauchpresse wurden nicht ungünstig beein¬
flußt, doch scheinen große Pantopondosen nicht ganz gleich¬
gültig für das Kind zu sein. Wurde jedoch 1 cm3 Pantopon mit
0-0003 g Skopolamin injiziert, so war die Wirkung eine gleich¬
mäßigere. — (Zentralblatt für Gynäkologie 1910, Nr. 46.) E. V.
*
320. (Aus der II. medizinischen Abteilung des allgemeinen
Krankenhauses Hamburg-Eppendorf. — Oberarzt: Dr. Rumpel.)
Zur Frage der gonorrhoischen Allgemeininfektion.
Von Dr. Leede, Assistent der Abteilung. Es ist notorisch, daß
sich die Go'niokokken fast ausschließlich in den Schleimhäuten
aufhalten und von hier aus in die Blutbahn einbrechen können,
aber es! sind doch Fälle bekannt, in denen die Invasion direkt
von der verletzten Kutis aus erfolgte. So berichtet Jadassohn
über einen Fall, bei dem sich drei Tage nach der Kohabitation
eine Lymphangitis am Dorsum penis mit starken Schmerzen ent¬
wickelte; nach einigen Tagen trat eine Arthritis1 auf mit peri-
artikuläyem Abszeß, "in dem Gonokokken in Reinkultur nach¬
weisbar waren; dabei nie Ausfluß aus der Harnröhre. Verfasser
berichtet über einen ähnlichen Fall von Arthritis gonorrhoica,
der letal endigte. Im Frühjahre 1910 kam ein 49 jähriger Segel¬
macher auf die Abteilung mit der (Angabe, vorher nie krank, auch
nicht venerisch infiziert gewesen zu sein. Vor einigen Tagen
wiederholte Kohabitation; darauf Schwellung und Rötung des
Präputiums; kein Ausfluß aus der Harnröhre. Bald darauf
Schmerzen in beiden Fußgelenken, in der rechten Hand und der
linken Schulter. Bei der Untersuchung fand sich Rötung und
Schwellung des Präputiums. Im Sulcus coronarius ein Geschwür
mit schmierig belegtem Grunde, Der dorsale Lymphstrang, sowie
die Inguinaldrüsen geschwollen. Aus der Urethra, selbst mit der
Platinöse, kein Sekret. An beiden Fußgelenken, zu beiden Seiten
der Achillessehne, am Dorsum pedis sehr starke Schwellung
und Rötung der Haut, die sich sehr heiß anfühlt; starker Schmerz.
Wassermann im Blute positiv. Diagnose : Polyarthritis gonorrhoica,
Ulcus molle, vielleicht auch durum. Unter unsteten Tempera-
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
463
luren (37-8 bis 39-2) kam es zu brennenden, qualvollen Schmerzen
an beiden Haken, zur Atrophie der Beinmuskulatur. Die Haut
daselbst trocken, stark abschuppend. Blutentnahme stets steril ;
nie Ausfluß aus der Harnröhre. Unter Delirien, Verfall der Kräfte
trat am 53. Tage durch Herzlähmung der Tod ein. Die Sektion
ergab: Myodegeneratio cordis adiposa, Oedema pulmonum, Ar¬
thritis purulenta haemorrliagica articulation is talocrural is
utriusque. Im Gelenkeiter Gonokokken, sowohl im Ausstrich, als
auch bei der Kultur. Leichenblut steril. In beiden Fußgelenken
mäßige Mengen dicken Eiters. Verf. nirrimt nach dem Befunde
und dem Verlaufe der Genitalaffektion einen weichen Schanker
an, wenngleich anfangs die Möglichkeit einer Lues zugegeben
werden mußte. Aus der Harnröhre war nie Sekret zu bekommen;
ein Harnröhren tripper hat also nicht bestanden. Ueber die go¬
norrhoische Natur der Gelenksaffektion konnte nach dem ganzen
klinischen Bilde kein Zweifel bestehen. Die bakteriologische Unter¬
suchung des Gelenkseiters bestätigte die Diagnose. Verf. nimmt
also an, daß die Gonokokken vom Ulcus molle aus auf dem Wege
der Lymphbabn ins Blut und von dort in die Gelenke gelangt
sind, ein Invasionsmodus, der große Aehnlichkeit mit dem von
Jadassohn beobachteten Falle hat. Verf. erwähnt noch kurz
einen zweiten Fall, der in bezug auf Abmagerung, Hautschuppung
eine große Aehnlichkeit mit dem mitgeteilten Falle hatte. Es wurde
die breite Eröffnung des linken Ellbogengelenkes gemacht. Verf.
glaubt, daß er durch Entleerung der an Gonotoxinen reichen
Oedemflüssigkeit den Patienten vor dem Fortschreiten der schon
einsetzenden Kachexie bewahrt hat und möchte daher in allen
Fällen von gonorrhoischer Arthiritis, die mit einer erheblichen
Konsumption der Kräfte einbergehen, für die breite Inzision
des periartikulären Gewebes, eventuell auch mit Eröffnung der
Gelenke, eintreten. — (Münchener medizinische Wochenschrift
1911, Nr. 9.) G.
*
321. Ueber innere Sekretion und Autolvse. Mit
spezieller Berücksichtigung der Eiweißautolyse und klinischer
Fragen über Basedow und Myxödem, Chlorose und Karzinom.
Vom Dr. K. Kottmann, Priv.-Doz. für innere Medizin in Bern.
Unter Autolyse versteht man die fermentative Aufspaltung der
zusammengesetzten Eiweiß-, Fett- und Kohlehydratkörper in ein¬
fachere Spaltprodukte (selbsttätige Organauflösung). Die proteo¬
lytischen, also eiweißspaltenden Fermente entfalten ihre Wirk¬
samkeit entweder nur auf dasjenige Zellgewebe, in welchem sie
sich befinden, oder sie haben auch die Fähigkeit, fremdes Eiweiß
anzugreifen (heterolytische Fermente, wie sie z. B. bei der
Lösung des pneumonischen Infiltrates oder ganz besonders bei
der 'Krebskachexie tätig sind). Die autolytischen Fermente können
zu pathologischen Konsequenzen führen, wenn sie zu einer ab¬
normen Verstärkung oder Abschwächung veranlaßt werden, wozu
sehr verschiedene und verwickelte Möglichkeiten führen können.
Denn es können Fermenttätigkeiten variiert werden durch akti¬
vierende und schädigende Einflüsse, die auf die Fermente ein¬
wirken der auf ihre Profermente oder auf die Aktivatoren (Ki¬
nasen). Durch alle solche schließlich resultierenden autolytischen
Störungen im Sinne einer pathologisch gesteigerten oder ver¬
minderten Autolyse kann der primäre Anstoß zu verschiedenen
bedeutungsvollen Stoffwechselstörungen gegeben sein. Variationen
der Zellautolyse führen zu Variation der chemischen Zellkon¬
stitution und damit zu nutritiven und funktionellen Veränderungen
der verschiedensten Art. Die Wachtumsenergie wird in Mitleiden¬
schaft gezogen, ebenso die Oxydationsprozesse. Die Oxydations¬
störungen bei den Stoffwechselkrankheiten brauchen also nicht
primär zu sein. — In der Schilddrüse werden Stoffe produziert,
die in die Zirkulation gelangen (innere Sekretion) und im Sinne
von proteolytischen Aktivatoren wirken. Bei Morbus Basedow
findet sich vermehrte Eiweißautolyse infolge Hyperthyreoidismus,
beim Myxödem infolge Hypothyreoidismus mangelhafte Eiwei߬
autolyse, welche zu einem mangelhaften pathologischen Zellei¬
weißstoffwechsel mit Abschwächung der Zellenergie führend, in
den Wachstumshemmungen des Knochensystems und der Hirn¬
rinde zum Ausdruck kommt. Diese Störungen beim Myxödem
sind naturgemäß durch autolysenanregende Schilddrüsenzufuhr
in .der Tat besserungsfähig, während bei der Basedowtherapie alle
Bestrebungen rationell erscheinen, welche direkt oder indirekt
die Schilddrüsenfunktion herabsetzen (Erfolge der Chirurgie also
durchaus begreiflich). — Auch bei der Chlorose ist die Proteo¬
lyse im Sinne einer Abschwächung verändert. Die in der Pubertät
relativ intensiv wachsenden Bezirke der Sexualsphäre verlangen
mit Avidität ihren Eiweißbedarf zum Aufbau und nehmen dabei
sicher auch Bausteine in Beschlag, die sonst der Hämoglobin¬
synthese zugute kommen. Eisen wirkt katalysätorisch auf die
proteolytischen Fermente; die gesunkene Eiweißautolyse mit der
konsekutiven Hämoglobin- und Eisenverarmung der Zellen wird
stimuliert und mit der Erzwingung einer genügenden Eiweißabspal¬
tung können die Zellen das umspülende Eisen wieder aufnehmen,
es kommt auch wieder zur genügenden Abspaltung von Histon-
ei weißbausteinen, Bildung der Histone und damit auch des Hämo¬
globins. — Auch für das Zustandekommen der Krebskachexie,
bei der es in Zusammenhang mit einem gesteigerten Eiweaß-
zerfall zur Abmagerung mit besonderer Beteiligung der Muskulatur
kommt, sowie zur Schädigung der roten Blutkörperchen mit Ent¬
wicklung einer sekundären Anämie, spielen eigenartige autoly¬
tische Ferment lätigkei ten die ausschlaggebende Rolle. Die ab¬
norme autolytische Fermenttätigkeit des Karzinomgewebes wirkt
im Sinne einer Heterolyse auf die Eiweißkörper anderer Gewebe,
ja sie greifen beim reichlichen Uebertritt in die Zirkulation das
Gesamteiweiß des Organismus an. Der Uebertritt in die Blut¬
bahn ist nichts anderes, als innere Sekretion im' weitesten Sinne
des Wortes. — (Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1910,
40. Jährig., Nr. 34.) K. S.
*
322. Einiges über die Ernährung des gesunden
Säuglings. Von Prof. Dr. Meinhard Pfaundler in München.
Es gibt günstig veranlagte Neugeborene, welche sich durch große
Toleranz hinsichtlich der Emährungsfunktionen auszeichnen, die
also auch bei einer höchst irrationellen, unnatürlichen Ernährung
gut gedeihen, dann aber gibt es Neugeborene mit latenten Störun¬
gen, die in ihrer Anlage schon „konstitutionelle“ Krankheitsbereit¬
schaften (Diathesen wie: Rachitis, Spasmophilic, Lymphatismus)
besitzen, oder sonstwie ungünstig veranlagt sind. Bei letzteren
treten auch von der Fütterung unabhängige Nährschäden auf, die
aber einer wirksamen diätetischen. Prophylaxis zugänglich sind.
Da man diese günstige oder ungünstige Veranlagung eines Kindes
erst im Verlaufe erkennt, so ergibt sich daraus die Forderung
nach einem äußeret vorsichtigen tastweisen Vorgehen unter
strenger Kontrolle in jedem Falle. Verf. bespricht sodann die na¬
türliche Ernährung mit Muttermilch, verwirft hiebei den Stand¬
punkt, diese vom chemischen Standpunkte zu bewerten („den
frommen Selbstbetrug, der manche dazu verleitete, auf Grund
der Analyse einer Frauenmilch eine zu fette oder zu magere,
zu eiweißreiche oder zu wässerige Milch zu diagnostizieren, kann
man heute der Vorwelt überlasisen“), er stellt sich vielmehr auf
den Standpunkt des Biologen, nach welchem die Frauenmilch als
Anpassungsprodukt des mütterlichen Körpers an seinen Mitesser
(reifende Frucht) zu betrachten ist. Georg Hirth hat. es schon
vor zehn Jahren mit dein Worten ausgedrückt: „. . . . das eine
erkennen wir deutlich, daß die Mutterbrust eigentlich nichts an¬
deres ist, als die Fortsetzung der Nabelschnur und daß die Mutter
auch durch diesen neuen Kanal dem nun atmenden Embryo das¬
selbe, nur in anderer Form, zufließen läßt, wie vorher: Leben
von ihrem Leben!“ Das geht wahrscheinlich so weit, daß
auch pathologische Abweichungen der Milch bei pathologischer
Beschaffenheit des Eies und der Frucht zu gewärtigen wären, was
freilich noch in keiner Weise nachzuweisen war. Da hier Ueber-
fütterungen stattfinden können (solche kommen auch beim dome¬
stizierten Kalbe bei der natürlichen Ernährung vor), so beachte
man als allgemeine Regel, daß die kleinste Nahrungsmenge-, die
ein normales Gedeihen ermöglicht, die optimale Nahrungsmenge
ist. Ein Säugling braucht rund 100 Kalorien pro Tag und Kilo¬
gramm, daher sind ihm in den ersten Monaten rund 100 Kalorien
pro Kilogramm Körpergewicht an Frauenmilch täglich darzubieten.
Da ein Liter Frauenmilch ca. 700 Kalorien entspricht so würde
die Formel zur Berechnung lauten: 100 P — P, wobei P das
TOO 7
Körpergewicht in Kilogramm bedeutet. Mit anderen Worten: die
dem Brustkinde täglich zukommende Nahrungsmenge beträgt im
ersten Quartal den siebenten (in den folgenden beiden Quartalen
m
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
den achten, bzAv. neunten) Teil seines jeweiligen Körpergewichtes.
Verf. Aveist auf die Kontrolle durch Stichproben mit Wägung
vor und nach dem Anlegen hin, wobei man mit erheblichen
Differenzen zAvischen den einzelnen Tagesmahlzeiten rechnen
muß und schließt diesen Teil mit dem Rate, daß man Brust¬
kinder im allgemeinen vom zweiten Lebenstage ab sechsmal
oder fünfmal in 24 Stunden anlege, und durch Erziehung früh¬
zeitig für eine lange Nachtpause von etwa acht Stunden sorge,
die der Mutter nützt, und dem Kinde nicht 'schadet. Die „unnatür¬
liche Ernährung“ mit Tiermilch bildet den zweiten Teil der Ab¬
handlung. Durch kein Verfahren — und deren gibt es schon eine
große Menge — kann man aus der Tiermilch einen Nährstoff
machen, der annähernd Aehnliches leistet, Avie die Frauenmilch,
Avenn man von besonders gut veranlagten Kindern absieht, hei
welchen die Qualität des Nährstoffes überhaupt keine Rolle spielt.
Aus Kuhmilch kann man also keine Frauenmilch machen; Avorin
der Unterschied zwischen beiden in bezug auf Säuglingsnahrung
beruht, das ist noch unergründet. In qualitativer Hinsicht sind wir
da lediglich auf die Empirie angewiesen. Da hat es sich gezeigt,
daß man die Kuhmilch verdünnen, die Gesamtmenge derselben
herabsetzen und dafür Heizstoffe zusetzen müsse, um nicht bei
einer großen Zahl von Säuglingen Störungen hervorzurufen. Dem
praktischen Ärzte empfiehlt Verf. folgende einfache Merkformel,
die vom ZAveiten bis sechsten Lebensmonat des Säuglings ver-
wertbar ist. „Nimm den zehnten Teil des jeweiligen kindlichen
Körpergewichtes an frischer Kuhmilch, füge den 100. Teil des
jeweiligen Körpergewichts an Kohlehydrat zu, bringe das ganze
mit Wasser auf einen Liter, teile in fünf Mahlzeiten ab und
reiche von jeder so viel, als das Kind unit Lust trinkt“. Als Kohle¬
hydrate verwendet man bei Kindern bis zum vierten Monat Zucker¬
arten (Rohr-, Milchzucker, Löfflunds Nährmaltose, Nährzucker,
Soxhlets verbesserte Liebigsuppe) und Hafergrütze oder Hafer¬
flocken in 2 bis 3%igem Schleim, später (nebst Zucker) 3 bis
4°/oige Milchabkochungen (Hafer-, Weizen-, Gerstenmehl). Diese
Nahrungsformen müssen schließlich bei sorgsamer Kontrolle des
Kindes im Einzelfalle entsprechend abgeändert werden. — (Die
Therapie der Gegenwart, Januar 1911.) E. F.
*
323. Enterorose. Von Prof. Dr. E. Hagenbach in Basel.
Im Baseler Kinderspital Avird seit vielen Jahren die Enterorose
als Säuglingsnahrungsmittel mit Vorliebe verwendet, wenn keine
Muttermilch zur Verfügung steht und die Kuhmilch weggelassen
Averden muß. Nach ein bis zwei vollkommenen Fasttagen (Tee,
Reisschleim) werden je nach Alter des Kindes, Schwere und
Dauer der Störung, ein bis zwei Kaffeelöffel Enterorose mit 100
bis 150 g dünnem Reisschleim (ohne Fleisch) vermischt, unter
Zusatz von etwas Zucker. Meist tritt baldige Besserung ein,
welche dann gestattet, den Portionen etwas Milch zuzusetzen.
Einen Eßlöffel Milch kann man schon anfänglich zusetzen, wenn
das Kind anders die Mischung nicht nehmen will, worauf der
Widerstand gegen die neue Nahrung meist glücklich gebrochen
ist. Die Erfolge der Enteroroseernährung sind sehr gute. (Korre¬
spondenzblatt für Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg., Nr. 35.)
K S.
*
324. Z av e i Fälle von wiederholter Extrauterin¬
gravidität. Von M. Gerischun. Der Verfasser teilt zAvei
Fälle mit, in denen wiederholt Extrauteringravidität auftrat, ln
beiden Fällen handelte es sich um vollkommen einwandfreie
Fälle, da die Diagnose in jedem Falle durch die Operation
bestätigt Avorden Avar, im ersten Falle entwickelte sich die erste
Tubenschwangerschaft auf der rechten, die zAveite auf der linken
Seite, im zweiten Falle umgekehrt. Beide Frauen konnten durch
die Laparotomie gerettet Averden. Im ersten Falle lagen zwischen
der ersten und zweiten Schwangerschaft drei Jahre und ein
Monat, im ZAveiten Falle nur zehn Monate. In beiden Fällen !
wurden bei der ersten Operation die Adnexe der anderen Seite
gesund gefunden. (Zentralblatt für Gynäkologie 1910, Nr. 51.)
E. V.
*
325. (Aus der inneren Abteilung des Stadtkrankenhauses
zu Görlitz. — Dr. Schulz.) lieber Polyzythämie mit
besonderer Berücksichtigung größerer Aderlässe.
Von Alexander H order. Unter Polyzythämie (Synonyma: Poly¬
globulie, Erythrämie, Erythrozytämie) versteht man in erster
Linie die Vermehrung der roten Blutkörperchen im Blute. Ver¬
fasser berichtet ausführlich über eine eigene Beobachtung und
stellt als Ergebnis seiner Arbeit zwei Sätze auf: 1. Die Poly¬
zythämie ist ein in sich geschlossenes Krankheitsbild, Avelches
auf Zirkulationsstörungen und -anomalien und abnormer Blut-
Zusammensetzung beruht und an die Seite der übrigen ßlutkrank-
heiten (gestellt werden kann. 2. Durch systematisch vorgenommene
große Aderlässe ist es bei der Polyzythämie möglich, die Ery
throzytenzahl um drei bis vier Millionen vorübergehend lierah-
zusetzen, die übrigen, durch die abnorme Blutzusammensetzung
gesetzten Schädigungen (Kopfschmerzen, Schwindel, Ohren¬
sausen, Flimmern vor den Augen, allgemeine Mattigkeit, Schmer¬
zen seitens der stark vergrößerten Milz, verschiedenartige Bin
Innigen, dunkelblaurote Gesichtsfärbung, Oedeme, Nierenstömm
und so weiter) zu bekämpfen und auf diese' Weise dem Kranken
Erleichterung und Besserung zu verschaffen. Hinsichtlich der
Aderlässe. empfiehlt Verfasser dringend, mindestens 500 cm3 jedes¬
mal zu entnehmen. Unterstützt werden die Aderlässe durch die
Zufuhr von möglichst viel Flüssigkeiten, per rectum, in Ge¬
stalt von Kochsalzeinläufen oder per os in Form Aron Mineral-
Wä.ssem oder einer überhaupt mehr flüssig gehaltenen, mög¬
lichst eisenarmen Diät. Von internen Mitteln Avurde die von
Türk seinerzeit empfohlene Salut, arsenical. Fowled gegeben.
Unter dieser Therapie sank bei dem Kranken, den Verfasser be¬
obachtete, die Erythrozytenzahl im Anschlüsse an den ersten
Aderlaß und auch in den folgenden Tagen um drei bis vier
Millionen, nach dem zweiten Aderlässe von 700 cm3 sogar um
fünf Millionen, freilich fand immer wieder ein allmähliches An¬
steigen statt. Die Aderlässe wirkten auch günstig auf den Eiwei߬
gehalt des Harnes. Das erstemal wurde ein Zurückgehen von
8%o auf 2V2%j, das zweitemal „> /;•) auf lV2%o, ein ander¬
mal von 3Vs%o auf 3/4°/oo konstatiert. — (Medizinische Klinik
191t, Nr. 8.) • E. F.
♦
326. (Aus dem Frauenhospital Basel -Stadt. — Direktor :
Prof. Dr. O. v. Her ff.) Beitrag zur postoperativen Peri-
toniti spropliy laxe mittels Kampferöl. Von Dr. med.
Karl Kolb, stellvertretendem Assistenzarzt, zurzeit Assistenz¬
arzt an der Frauenklinik der Universität Bern. Nach den Unter¬
suchungen Gl im ms soll Kampferöl, welches in die Bauchhöhle
der Versuchstiere gebracht wurde, die Lymphgefäße des Perito¬
neums verstopfen und so die Resorption schädlicher Elemente
hintanhalten. In der Tat blieben seine mit Kampferöl geschützten
Tiere am Leben, Avährend die Kontrolltiere starben. Pfannen¬
stiel und Ho ohne griffen die Sache auf und berichteten be¬
reits auf dem Kongreß der gynäkologischen Gesellschaft zu Strali-
burg 1909 über ihre Versuche (klinische und experimentelle) zur
Prophylaxe der Peritonitis mittels Kampferöl und glaubten die
Oelbehandlung empfehlen zu dürfen. Herff wendet nunmehr übei
ein Jahr die prophylaktische Oelbehandlung an. Das Oel wurde
nicht vor (Pf an ne n s t i el), sondern während der Operation und
vor Schluß der Bauchhöhle, sofern eine Drainage mit Glasdrain
eingerichtet Avurde, auch noch nach Schluß der Bauchhöhle in
Quantitäten bis zu 50 cm3 (des 10°/oigen Kampferöls) in flic
Peritonealhöhle gebracht. Irgendwelche Schäden wurden nicht
bemerkt. Dagegen dürften die Resultate nicht als ungünstig er¬
scheinen, da die Peritonitismortalität in Herffs Fällen nur 1 -83"
betrug, obgleich es sich in allen Fällen um infektiöses Material
handelte. (Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1910,
40. Jahng., Nr. 35.) K. S.
*
327. Beitrag zur giftigen Wirkung der Scharlach¬
salbe. Von Dr. St. Gurbski. Auf eine Verbrennung, betreffend
die unteren zwei Drittel des rechten Oberschenkels und den Unter¬
schenkel bis an die Knöchel, legte Gurbski auf die granulierende
Fläche 'eine 8°,«ige Amidoazotoluolsalbe. 15 Stunden später tralen
Kopfschmerz, 'Schwindel, heftiges Erbrechen und Bauchschmerzen
auf, die Temperatur erreichte 39-1°, Puls 110, wenig gespannt,
Zyanose der Lippen, Enveißspuren im Harn. Nach dem Ver¬
bandwechsel und Milchdiät ließen die Erscheinungen binnen we¬
nigen Stunden nach. Nach acht Tagen abermals Scharlachsalben-
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
465
verband, bald darauf dieselben Erscheinungen mit Ausnahme
der Albuminurie. Dasselbe wiederholte sich nach fünf Tagen.
Als mit der Salbe nur ein Viertel der Gesamtoberfläche bedeckt
wurde, blieben die Vergiftungserscheinungen aus. — (Zentral
blatt für Chirurgie 1910, Nr. 49.) E. V.
*
328. (Aus1 dem Institute für allgemeine und experimentelle
Pathologie> der Universität Wien.) Ueber die Beziehungen
der Herz nerven zur Form des Elektrokardiogramms.
Von Dr. J. Rothberger, Privatdozent und Dr. II. Winter¬
berg, Privatdozent. Eine Beschreibung, auch nur der wichtigsten
Veränderungen des Elektrokardiogramms, erscheint ohne Betrach¬
tung der dazugehörigen Kurvenschemen fast unmöglich. Es sei
also hiemit nur auf das Originale selbst verwiesen. — (Separat¬
abdruck aus dem Archiv für die gesamte Physiologie, Bd. 135.)
K. S.
*
329. Zur Diagnose der Milz Verletzungen. Von
Dt. Lorenz Levy. Auf Grund eines beobachteten Falles von
Milzruptur (Exstirpation der Milz, Heilung), bei dem die haupt¬
sächlichsten Klagen über außerordentlich starke Schmerzen in
der linken Schulter vorherrschten, macht Levy auf dieses Sym¬
ptom als wertvolles diagnostisches Hilfszeichen aufmerksam. - -
(Zentralblatt für Chirurgie 1910, Nr. 50.) E. V.
*
Aus französischen Zeitschriften.
330. Das kolloidale S i 1 b e r i n der R h i n o 1 o g i e. Von
Henri Bourgeois. Die rhinologische Therapie erfordert wegen
der Sensibilität und Fragilität der Nasenschleimhaut Vorsicht.
Stärkere Antiseptika sind nur dort verwendbar, wo die Schleim¬
haut 'bereits tiefgreifende Veränderungen erlitten hat, zum Beispiel
bei Rhinitis syphilitica und Ozäna, sonst macht die starke Re¬
sorptionsfähigkeit der Schleimhaut und die Möglichkeit des Ge¬
lingens in den Verdauungstrakt die Anwendung möglichst un¬
giftiger und reizloser Substanzen notwendig. Ein für die Nase
und den Nasenrachenraum besonders geeignetes Antiseptikum
ist das kolloidale Silber, welches ungiftig ist und dessen Resorp¬
tion bei bestehender Allgemeininfektion direkt erwünscht erscheint.
Das kolloidale Silber wurde vom Verfasser im muko- purulenten
Stadium der protrahierten akuten Rhinitis, sowie bei der chro¬
nischen eitrigen Rhinitis, namentlich im Kindesalter, angewendet ;
ein Versuch scheint auch bei der sekundären Rhinitis bei Infek¬
tionskrankheiten, sowie bei Ozäna gerechtfertigt, während beim
akuten Schnupfen Von einer Lokaltherapie besser abgesehen wird.
Die Anwendung des Kollargols erfolgte in Form von Einträu¬
felungen, Salben, Zerstäubungen und Einpinselungen. Für das
Säuglingsalter eignen sich am besten Einträufelungen der iso¬
tonischen Elektrargollösung, von welcher in Rückenlage des Kindes
viermal täglich je vier Tropfen in die Nasenöffnungen einge¬
träufelt werden, wonach das Kind noch fünf Minuten in Rücken¬
lage verharrt. Bei starker Krustenbildung wird zweimal täglich
statt des Elektrargols eine Lösung von Gomenolöl 1 ; 30, bei Ver¬
legung der Nase eine Mischung von 1 Teil Adrenalin 1:4000
mit 3 Teilen Vaselinöl angewendet. Bei Säuglingen ist die Ein¬
träufelung größerer Mengen der Elektrargollösung zu vermeiden,
ebenso auch die Applikation des vielgebrauchten Menthols, weil
dieses einen letalen Glottiskrampf hervorrufen kann. Bei älteren
Kindern appliziert man zwei- bis dreimal täglich eine Salbe:
Kollargol, Vaselinöl ana 2-0 Lanolin, Vaselin ana 10-0. A or
der Applikation der Salbe muß der Schleim, eventuell unter
Zerstäubung einer Boraxlösung entfernt werden. Für Erwachsene
ist die Einpinselung einer 5 bis 10%igen Kollargol lösung nach
Anästhesierung mit Kokain 1:30 angezeigt, worauf eine halbe
Stunde hindurch das Schneuzen zu unterlassen ist. Das Kollargol
ist hinsichtlich der therapeutischen ’Wirkung dem Argentum nili i-
cum gleichwertig, dabei unschädlich und bei jeder Altersstufe
anwendbar. Der einzige Nachteil besteht in der Produktion
schwarzer Flecke, die von der Haut durch sofortiges Abwaschen
mitlSeife und warmem Wasser entfernt werden können. ( Pro« res
med. 1911, Nr. 3.) a-
*
331. Zur Behandlung der Aktinomykose. Von An¬
tonin Poncet und Leon Berard. Ein spezifisches Heilmittel
gegein Aktinomykose ist bisher noch nicht entdeckt worden; in
jüngster Zeit wurde der Nachweis erbracht, daß die Oospora¬
pilze vom Serum der damit Infizierten nicht agglutiniert werden.
Unter den empirischen Mitteln stehen die Jodverbindungen, ins-
besonders das Jodkalium, in erster Reihe. Als Unterstützungs-,
bzw. Ersatzmittel wurden die Quecksilber- und Arsenverbindungen
empfohlen, welch letztere auch in der Syphilis-, Tuberkulose- und
Karzinombehandlung, mit welchen Krankheiten die Aktinomykose
verwandte Züge aufweist, ausgebreitete Anwendung finden. Tat¬
sächlich haben sich die intern dargereichten Arsenpräparate, dar¬
unter auch das Natrium cacodylicum, bei Aktinomykose bewährt.
Auch die Photo- und Radiotherapie wurde bei der Behandlung
der Aktinomykose angewendet; in einem Fälle schien durch
die wiederholte Bestrahlung die Ausdehnung der Erkrankung
wesentlich befördert worden zu sein. Vom Standpunkte der The¬
rapie müssen die verschiedenen Formen der Aktinomykose sorg¬
fältig auseinander gehalten werden. Es gibt eine gutartige Form,
welche seltener vorkommt und durch umschriebene indurierte
Knoten ohne Fistelbildung charakterisiert ist; diese Form ist
der chirurgischen Behandlung mit anschließender Anwendung der
.1 od Therapie 'zugänglich , während die Jodanwendung für sich nicht
ausreicht. Die zweite Form ist durch diffuse Infiltration und
Fistelbildung gekennzeichnet, wobei die gelben Körner im Eiter
die Diagnose gestatten. Auch diese Form erfordert gemischte Be¬
handlung. An Stelle der hier undurchführbaren Radikaloperation
treteh Inzision, Kürettement, Glüheisen, Injektionen ätzender und
antiseptischer Mittel — Sublimat, Chlorzink, Jodtinktur, Jodipin
— 'daneben die medikamentöse Behandlung. Es müssen alle ober¬
flächlichen Eingriffe vermieden werden, weil dadurch Eingangs¬
pforten für die Sekundärinfektion geschaffen werden. Bei Aktino¬
mykose innerer Organe mit Fistelbildung ist jeder chirurgische
Eingriff zu vermeiden, weil dadurch Sekundärinfektion und Meta¬
stasenbildung gefördert werden. In diesen Fällen ist die interne
Medikation mit Jod- oder Arsenpräparaten angezeigt, welche wohl
wenig leistet, aber gefahrlos ist. Die Mortalität der Viszerälaktino-
mykose beträgt 40 bis 90°/o, je nachdem Darm, Harnorgane, Re¬
spirationsapparat oder Zentralnervensystem ergriffen sind. Es gibt
eine Form der sonst im allgemeinen gutartigen Gesichts- und Hals-
aktinomykose, welche sich entlang den Nerven und Gefäßen bis
zur Schädelbasis und von hier durch die Orifizien zur Schädel-
höhle fortpflanzt, daselbst Meningitis und enzephalitische Herde
produziert und stets letal verläuft. In der Therapie der Aktino¬
mykose 'habein sich die zuerst angegebenen Methoden bisher noch
am besteh bewährt. — (Gaz. des höp. 1911, Nr. 13.) a. e.
*
332. Ueber 2 Fälle von Pyelonephritis bei Säug¬
lingen. Von La malle. Die Pyelonephritis wird im Kindesalter
nicht sehr häufig beobachtet ; sie kann als Komplikation schwerer
Infektionen allgemeiner Natur Vorkommen, auch wird aszendie-
reode Pyelonephritis, von einer Zystitis oder Vulvitis ausgehend,
beobachtet. Häufiger tritt die Pyelonephritis im Verlaufe der
Gastroenteritis der Säuglinge auf und stellt eine Komplikation
der Kolibazilleüseptikämie dar, wohin auch die beiden vom Ver¬
fasser mitgeteilten Fälle gehören. In bezug auf bestehende Zy¬
stitis kann die Pyelonephritis primär oder sekundär sein, im
letzteren Falle liegt aszendierende Infektion von der Urethra aus
vor oder es erfolgt die Uebertragung der Infektion vom Darm
aus auf dem Wege der Lymphbahnen. Die größere Häufigkeit
der Pyelonephritis bei kleinen Mädchen spricht für die Urethra
als Ausgangspunkt der Infektion. Die Hauptsymptome der Pyelo¬
nephritis des Kindesalters sind intermittierendes Fieber, manch¬
mal Von Frösteln und Schweißen begleitet, sowie trübe Be¬
schaffenheit des Harns, welche auch nach Absetzung des Sedi¬
mentes fortbesteht. Der Harn ist in frischem Zustand von saurer
Reaktion, die mikroskopische Untersuchung zeigt Leukozyten,
vereinzelte Epithelien der Harnwege, Mikroorganismen — haupt¬
sächlich Kolibazillen, manchmal findet man auch Zylinder. Als
weitere Symptome werden Oedeme, Vergrößerung und Druck-
empfindlichkeit. der Niere, sowie Symptome leichter urämischer
Intoxikation, wie Erregungszustände und Erbrechen, beobachtet.
Die Prognose ist relativ günstig, bei in der Ernährung herab-
466
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
gekommenen Säuglingen ist die Prognose mit Vorsicht zu stellen.
Bei schwankendem Fieberverlauf ist es ratsam, wenn verschiedene
Organerkrankungen ausgeschlossen werden können, den Harn der
Säuglinge zu untersuchen. — (Le Scalpel, 5. Februar 1911.)
333. Ist das Natriumbikarbonat als ein schäd¬
liches Mittel bei Magenaffektionen zu betrachten?
Von E. Bi net (Vichy). Es wurde behauptet, daß das Natrium
bicarbonicum für Magenkranke schädlich ist, indem es sowohl
bei Hyperchlorhydrie, als bei Hypochlorhydrie den bestehenden
Zustand steigert, doch sprechen die Erfahrungen der Praxis nicht
in diesem Sinne. Dias Natrium bicarbonicum ist, Avie überhaupt die
Alkalien, in großen Dosen nicht schädlich, dagegen sind nur
die kleinen Dosen nützlich. Wenn man das Natrium bicarbonicum
in Dosen von 0-75 bis 1 ig mehrmals täglich verordnet, so tritt
anschließend an die Saturation keine sekundäre Exzitation der
Saftsekretion ein, welche erst nach Dosen von 3 g beobachtet wird.
Zur Beruhigung der Schmerzen bei Hyperchlorhydrie ist keine
vollständige Neutralisation der Säure erforderlich, sondern es
genügt die bloße Herabsetzung der Azidität. Bei Hunden Avurde
nach ßVmionatiger Darreichung von 10 g Natrium bicarbonicum
pro die eine Läsion der Drüsen der Magenschleimhaut beobachtet ;
auf das Körpergewicht des Menschen berechnet, Avürde dies einer
Tagesdosis von 130 g entsprechen, welche praktisch nicht zur
Anwendung kommt, so daß die Resultate des Tierversuches in
praktischer Hinsicht nicht von Bedeutung sind, um so mehr,
als auch die lang fortgesetzte Darreichung großer Dosen beim
Tiere keine tiefgreifenden Veränderungen der Magenschleimhaut
hcrvorruft. Es wurde! auch darauf hinjgewiesen, daß bei der
molekuläreln Zerlegung des Natrium bicarbonicum eine größere
Menge von Chlornatrium in das Blut übergleht und dadurch eine
Steigerung der Salzsäureproduktion des Magens bedingt wird. Die
Erfahrung lehrt, daß bei Tagesmengen von: 3 bis 5 g die Gefahr
einer Ueberladung des Organismus mit Chloriden nicht gegeben
erscheint. Ebenso ist bei mäßigen Dosen die Gefahr des Er¬
brechens durch zu reichliche Kohlensäureentwicklung nicht ge¬
geben. Die Beobachtung lehrt, daß durch die Verabreichung von
1 bis 3 g Natrium bicärbonicüm vor', mit oder nach der Ewald-
schen Probemahlzeit, deren Uebergang in den Darm beträcht¬
lich beschleunigt Avird; die exzitomotorische Wirkung mäßiger
Dosen, welche für die Therapie wertvoll ist, läßt sich regel¬
mäßig feststellen, während große Dosen einen direkten Spasmus
hervorrufein. Ein gewisser Nachteil liegt darin, daß Patienten mit
chronischer Dyspepsie mit der Dosis immer mehr steigen, doch
nicht Avegen der Unwirksamkeit des Mittels, sondern weil sie jedes-
mal'zur Beruhigün'g der Schmerzen davon Gebrauch machen. Die
Annahme, daß der fortgesetzte Gebrauch von alkalischen Mitteln
Kachexie herbeiführt, wird durch die Erfahrungen widerlegt,
welche1 zeigen, daß selbst nach jahrelangem Gebrauch sehr großer
Dosen von Natrium bicarbonicum keine Kachexie eintritt. In
Einzeldosen von 0-75 bis 1 g und in Tagesdosbn, Avelche 4 bis
5 g nicht übersteigen, ist das Natrium bicarbonicum nicht nur
unschädlich, sondern übt auch auf Motilität, Sensibilität und
sekretorische(F unktion des Maigens eine sehr günstige Wirkung aus.
(Progres med. 1911, Nr. 3.) a. e.
*
Aus italienischen Zeitschriften.
334. (Aus dem Institut für innere Medizin der Universität
in Siena. — - Direktor: Prof. V. Patella.) Beitrag zu den
Beziehungen zwischen der Niere und der Neben-
n ierenkapsel bei der chron i schein Nephritis. Von
Fiaincelsco d ’ Allessandro. Die Beziehungen zwischen der
Hyperfunktion der Nebenniere, dem erhöhten Blutdruck, der Hyper¬
trophie des Herzens und der Arteriosklerose, lassen sich nicht
deutlich zeigen, wenngleich sie auf Grund der vorliegenden Beob¬
achtungen sehr wahrscheinlich sind. Die anatomisch- patholo¬
gischen Läsionen, welche man bei chronischer Nephritis in der
Nebennierenkapsel findet, sind ähnlich jenen, die bei Infektions¬
krankheiten und im Alter gefunden werden oder sie sind zumindest
sehr verschieden von den Befunden in der Nebennierenkapsel im
Zustande kompensatorischer Ueberf unktion. Die Nebennierenver¬
änderung ist demnach als sekundärer Vorgang zu betrachten und
ebenso Avie die Veränderungen der Niere abhängig von der pri-
m|ä.ren Schädigung des Organismus durch Infektion oder In¬
toxikation. Wenn man in manchen seltenen Fällen bei chronischer
Nephritis Adrenalinämie findet, so muß dieselbe als Kompen¬
sation und Abwehr gegen durch andere Faktoren hervorgerufene
Schäden betrachtet werden. Bei der Verwertung des Adrenalin¬
befundes im Blute muß man vorsichtig sein, weil manche der
für das Adrenalin charakteristischen Reaktionen auch von an¬
deren Körpern gegeben werden. — (Gazzetta degli ospedali e
delle cliniche, 5. Februar 1911.) sz.
*
335. Die K oinp lernen tabl enkungsreakti on beider
Malaria. Von F. Valerio. Die mit syphilitischem Antigen
vorgejnommene Komplementablenkungsreaktion fiel bei frischer
Malaria in 40% deJr Fälle positiv aus. Dieses Resultat hat für
die Gegenden, in welchen Malaria endemis'ch vorkommt, eine
sehr wichtige Bedeutung, da es der Was sermann sehen Reaktion
bei frischer Malaria jeden Wert benimmt. Bei fortgeschrittenen
Fällen von Malaria ohne klinische Manifestationen Avar die Kom¬
plementablenkungsreaktion mit syphilitischem Antigen fast immer
negativ mit sehr Avenigen Ausnahmen, avo die Reaktion schwach
positiv ausfiel. In veralteten Fällen von Malaria ohne Parasiten
im Blute Avar die Reaktion immer negativ. — (La Riforma
roeidica, 30. Januar 1911.) sz.
*
336. Ein Fall von Oidiomykosis. Von Michelangelo
Vivaldi. Von seiner wahrscheinlich primären Lokalisation in
dein Bronchiolen aus rief Oidium albicans bei einer kranken
Frau konfluierende bronchopneumonische Herde, später eine En
teroperitonitis hervdr. Der Pilz bewahrte lange 'Zeit seine Vitalität
und erwies sich im Experimente als pathogen für Tiere. —
(Gazzetta degli ospedali e delle cliniche, 9. Februar 1911.) sz.
♦
337. (Aus dem Institute für klinische Medizin der Univer¬
sität in Genua. — Direktor: Prof. Maragliano.) Die peri¬
pher lokalisierte Arteriosklerose vom klinischen
Standpunkte aus betrachtet. Von Ettore Tedeschi. Die
periphere Lokalisation der Arteriosklerose kann Teilerscheinung
einer allgemeinen Gefäßsklerose sein oder sich nur isoliert vor¬
finden. Beispiele der peripher lokalisierten Arteriosklerose sind
gewisse Formen der Gangrän der Extremitäten und das inter¬
mittierende Hinken. Ferner kann der für gewisse Berufe charak¬
teristische Krampf auf periphere Gefäßsklerose zurückgeführt
worden. Einige dem intermittierenden Hinken ganz analoge Sym¬
ptome sind wahrscheinlich nur indirekt auf Gefäßveränderungen
zurückzuführen, insofern dieselben Aeußerungen funktioneller
Störungen eines Nerven darstellen, welche durch krankhafte Ver¬
änderungen der. ihn ernährenden Gefäße bewirkt werden. Man
muß daher neben einem vom Gehirne und vom Rückenmark aus¬
gelösten intermittierenden Hinken auch ein intermittierendes
Hinken zugeben, das' von den peripheren Nerven herrührt. Das
ätiologische Morneint, welches am häufigsten die Entstehung der
Gefäßisklerose begünstigt oder bewirkt, ist die Beschäftigung. Die
umschriebene periphere Arteriosklerose ist nicht selten das Zeichen
einer sich später verallgemeinernden Arterienverkalkung. — (II
Tommasi, 30. Januar 1911.) sz.
*
338. (Aus der dritten medizinischen Klinik der Universität
von Neapel'. — Direktor : Prof. R u m m o.) 1) i e S e r u m diagnose
mit Bacterium coli. Von Salvatore Fi eher a. Die Agglu-
tinationsprobe mit 32 Laboratoriumsstämmen von Bacterium coli
war bei einer Serumverdünnung von 1:50 nur viermal positiv.
Das Serum verschiedener Individuen gab die stärkste1 Agglutination
mit verschiedenen Bazillentypen. Das Serum eines und desselben
Individuums verhielt sich verschieden gegen die verschiedenen
Typen des Bacterium coli. Während die einen Aron demselben
bei einer bestimmten Verdünnung agglutiniert Avurden, blieben
andere ganz unbeeinflußt. Die aus den Fäzes isolierten Kol i-
bäzillen wurden meist durch das Serum desselben Individuums
bei einer Verdünnung von 1:50 agglutiniert. Aber auch hier
zeigten sich mannigfache Unterschiede, indem einige Bazillentypen
gar nicht agglutiniert wurden, was um so bedeutungsvoller er¬
scheint, als sich daraus ergibt, daß Bakterien sehr gut lange
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
467
Zeit im Intestinaltrakt leben können, ohne daß der Organismus
mit der Bildung spezifischer Agglutinine auf ihre Anwesenheit
reagiert. Wenn das Serum dieser Individuen mit den Bazillen
geprüft wurde, die aus den Fäzes anderer isoliert worden waren,
zeigte es' sich, daß die Agglutination selten bei 1:50, gewöhnlich
nur "bei 1:30 positiv war. Ferner konnte beobachtet werden, daß
das Serum eines Kranken, aus dessen Stuhl eine bestimmte
Koliart isoliert worden war, gegen dieselbe gar keine Wirkung
hatte. Dagegen erreichte die Agglutinationsfähigkeit des Serums
dieses Kranken einem anderen Kolistamm gegenüber die Intensität
1:100. Die Agglutinationsprobe kann bei einer Verdünnung 1:50,
sei es mit Kolibazillen aus dem eigenen, oder aus fremdem
Stuhle, oder mit Laboratoriumsstämmen, auch bei ganz gesunden
.Menschen positiv ausfallen. Positiver Ausfall der Probe bei
stärkerer Verdünnung als 1:50 deutet auf einen krankhaften
Zustand hin. — (La Riforma Medica, 20. Februar 1911.) sz.
*
339. Der Schüttelfrost beim Maltafieber. Von
F. Last aria. Der Schüttelfrost ist durch seine Heftigkeit und
seine Konstanz das Hauptsymptom der Infektion mit Maltafieber.
Derselbe kann durch seine Intensität, seine Dauer und sein wieder¬
holtes Auftreten mitunter alle anderen Krankheitserscheinungen
überwiegen. — (Gazzetta degli Ospedali e delle Cliniche, 19. Fe¬
bruar 1911.) sz.
*
340. Ueber den gegenwärtigen Stand der Lepra
in Sizilien. Von Gastorina. Während zur Bekämpfung an¬
derer Infektionskrankheiten bereits viel unternommen worden ist,
ist man noch nicht ernstlich daran gegangen, die Lepra, welche
einige blühende Gegenden Siziliens bedroht, gründlich auszu¬
rotten. Das Volk soll über die Schwere der Krankheit, über die
Bedeutung der Berührung mit Leprakranken aufgeklärt und zu
hygienischen Vorsichtsmaßregeln erzogen werden. — (Gazzetta
degli Ospedali e delle Cliniche, 23. Februar 1911.) sz.
Vermisehte fiaehriehten.
Ernannt: Priv.-Doz. Dr. Arno Scheibe zum außerordent
liehen Professor für Ohren-, Nasen- und Kehlkopfheilkunde in
Erlangen.
*
Verliehen: Prof. Dr. Ernst Wert beim in Wien das
Offizierskreuz des Franz Joseph- Ordens. - Dr. Ed. Miglitz
in Graz das Ritterkreuz des Franz Joseph - Ordens.
*
Gestorben: Dr. L. Ruß, Professor der inneren Medizin
in Jassy. — Dr. Pouchin, Professor der Pharmazie zu Rouen.
*
Am 21. März 1911 fand eine Sitzung des Fachkomitees
des Obersten Sanitätsrates für pharmazeutische
Standesangelegenheiten statt. Hiebei wurden Gutachten
über folgende Gegenstände erstattet: 1. Neuregelung der pharma¬
zeutischen Vor- und Ausbildung (Referent: Prof. Möller).
2. Rechtsfähigkeit der Apotheker zum Betriebe von Gewerben
(Referent: Gremialvorstand Apotheker Mag. pharm. Seipel).
*
Der V. internationale Kongreß für Thalasso¬
therapie wird vom 5. bis 8. Juni 1911 in Kolberg stattfinden.
Anmeldungen sind zu richten an den Generalsekretär des Kon¬
gresses Dr. Mar gulies in Kolberg.
*
Der VII. internationale Tuberkuloshkongreß wird
vom 24. bis 30. September 1911 in Ro m «abgehalten. Die Arbeiten
des' Kongresses werden in drei große Sektionen eingeteilt. Diese
sind: a) Aetiologie und Epidemiologie der Tuberkulose, b) Pa¬
thologie und Therapie (medizinische und chirurgische) der Tuber¬
kulose. c) Sozialer Schutz gegen die Tuberkulose. — Gleichzeitig
mit dem internationalen Kongresse wird eine, von einem be¬
sonderen Komitee vorbereitete, sozialhygienische Ausstellung zur
Bekämpfung der Tuberkulose eröffnet werden. Behufs Teilnahme
ani Kongresse, dessen Vorsitzender Guido Baccelli, dessen
Generalsekretär Vittorio As coli ist, wende man sich an das
Generalsekretariat in Rom, Via in Lucina, 36. Kongreßbeitrag ist
25 Franken. Jedes Familienmitglied eines Kongressisten zahlt
10 Franken. Der Beitrag muß bei der Einschreibung, mittels Post¬
anweisung hinterlegt werden. Die Eröffnung des Kongresses findet
am 24. September 1911, 10 Uhr vormittags, in dem großen
Amphitheater des Augusteums, in Gegenwart des Königs und
der Königin von Italien statt. Die Sitzungen des Kongresses werden
in der Engelsburg abgehalten.
*
Vom 19. bis 22. April wird zu Wiesbaden unter dem
Vorsitze des Geheimen Rates Prof. Dr. Krehl (Heidelberg) der
28. Deutsche Kongreß für innere Medizin tagen. Als
schon länger vorbereiteter Verhandlungsgegenstand steht auf dem
Programme: Ueber Wesen und Behandlung der Dia-
t he sen. Referenten: His (Berlin): Geschichtliches und Dia¬
thesen in der inneren Medizin. Pfaundler (München): Diathesen
in der Kinderheilkunde. Bloch (Basel): Diathesen in der Derma¬
tologie. Mendelsohn (Paris): Die Frage des Arthritismus in
Frankreich.
*
Krankenverein der Aerzte Wiefrs. Am 11. März
fand die Generalversammlung statt. Aus dem erstatteten Berichte
ist zu entnehmen, daß den Verein auch im Jahre 1910 sich nach
jeder Richtung hin bedeutend entwickelt hat. Vor allem ist
hervorzubeben, daß in diesem Jahre 105 neue Mitglieder beige¬
treten sind, eine Zunahme, wie sie wohl selten eine ärztliche
Wohlfahrtsinstitution auf zuweisen hat. Die ordentlichen Jahres¬
einnahmen betrugen 58.000 K. Zur Auszählung gelangten im Ver¬
laufe des Jahres an Kranken-, Leichen- und Unterstützungsgeldern
35.000 K. Mit Rücksicht auf die günstige finanzielle Lage des
Vereines stellte der Kassier Dr. Max Morgenstern den An¬
trag, das tägliche Krankengeld von 8 K auf 10 K zu erhöhen.
Der Antrag wurde angenommen und dabei die Aussicht eröffnet,
die Benefizien des Vereines noch mehr zu erweitern, wenn die
Lage des' Vereines sich, weiterhin so günstig gestaltet wie in den
letzten Jahren. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn der
Zufluß an Mitgliedern weiterhin so ausgiebig bleibt. Der jetzige
Mitgliederstand beträgt 900. Beitrittserklärungen sind zu richten
an den Obmänn Dr. J. Weis, II., Glockengasse 2.
Literarische Anzeigen. Im Verlage Benno Konegen
in Leipzig ist von Dr. F. Schill ings Taschenbuch der Fort¬
schritte der physikalisch-diätetischen Heilmethode
der 10. Jahrgang, von Becks' Therapeutischen Almanach
der 38. Jahrgang und das A - B - C d e r 1 a n d ä r z; 1 1 i c h e n Praxis
in zweiter Auflage erschienen. Im gleichen Verlage hat Doktor
W. H. Becker, Anstaltsarzt an der Landesirrenanstalt Weil-
müntster in Nassau, eine T her ap ie der Geisteskrankheiten
herausgegeben. 112 S. Preis 2 M. 60 Pf.
Theodor Heller, Direktor der Erziehungsanstalt Wien-
Grinzing : Ueber Ps ych o-logie und Psychopathologie des
Kindes. Wien. Hugo Heller. Preis 1 M. 25 Pf. Dias kleine Buch
enthält eine Sammlung von Vorträgen, die der Verfasser über
Einladung des Komitees für Jugendfürsorge vor einem Auditorium
von Eltern, Erziehern, Lehrern, Aerzten und Juristen gehalten
hat. Besonders eingehend hat sich der Verfasser mit dem „schwer
erziehbaren“ Kinde befaßt.
George Stein: Grundschema der Geisteskrank¬
heiten. Verlag von J. Safar in Wien. Preis 1 K 60 h. Der Ver¬
fasser hat auf sechs Tabellen nach den Vorträgen des Professors
Wagner v. Jauregg die klinischen Merkmale und die diffe¬
rentialdiagnostischen Momente der Geisteskrankheiten in über¬
sichtlicher Weise zusammengestellt.
Der von Medizinalrat Dr. E. Engel horn in Göppingen
im Frauenverein vom Roten Kreuz für die Kolonien gehal¬
tene Vortrag „Nervosität und Erziehung“, ist im Verlage
von F. Enke in Stuttgart erschienen. Preis 1 M. 20 Pf.
Letzte Erkenntnismöglichkeiten. Gedanken eines
Arztes. Von Prof. Adrian Schücking in Pyrmont. Verlag von
Enke in Stuttgart. Preis 1 M. 60 Pf.
*
Pest. Oesterreich-Ungarn. Das k. und k. Reichs-
Kriegsministerium hat mit einem an alle Korpskommandos ge¬
richteten Erlasse Maßnahmen gegen die Pest verfügt. Dieselben be¬
treffen die Reinhaltung der Ubikationen, Höfe und Umgebung der
Kasernen, die Entfernung von Kehricht und Küchenabfällen, die
Beschaffung einwandfreien Trink- und Nutzwassers, die Aus¬
rottung von Ratten und Ungeziefer, sowie die Anzeigepflicht bei
starker Rattensterblichkeit. Deutsches Reich. Mit Bekannt¬
machung des Reichskanzlers vom 18. Februar 1911 wurden nach¬
stehende Vorschriften in Vollzug gebracht: 1. Die Ein- und Durch¬
fuhr von Leibwäsche, alten und getragenen Kleidungsstücken oder
von Teilen solcher Kleidungsstücke, z. B. sogenannter Chinawatte,
von gebrauchtem Bettzeug, Hadern und Lumpen jeder Ai t a;js
China ist verboten. 2. Auf Leibwäsche, Bettzeug und Kien lungs-
468
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
stücke, welche Reisende zu ihrem Gebrauche mit sich führen,
oder welche als Umzugsgut eingeführt werden, findet das Verbot
unter Nr. 1 keine Anwendung. Jedoch kann die Gestattung ihrer
Einfuhr von einer vorherigen Desinfektion abhängig gemacht
werden. 3. Dem Reichskanzler bleibt Vorbehalten, Ausnahmen
von dem Verbot unter Anordnung der erforderlichen Vorsichtsma߬
nahmen zuzulassen. — Rußland. In Odessa, wo im Laufe
des Februar keine Pesterkrankungen zur Anzeige gebracht wurden,
kam am 4. März wieder ein Fall von Beulenpest vor. Er dürfte
kaum aut eine Einschleppung von außen zurückzuführen, sondern
als zeitweiser Ausdruck eines in der Stadt wahrscheinlich schon
endemisch gewordenen Pestherdes an Zusehen sein. Dies kann
aus dem Umstande gefolgert werden, daß in Odessa von Zeit
zu Zeit pestkranke Ratten aufgegriffen werden (die letzte am
5. März). Die Vertilgung der Ratten durch Fallen und Gilt
liefert durchschnittlich 300 Stück täglich. Zur Unterstützung
dieser Aktion werden Speicher, Getreidemagazine, Bäckereien und
ähnliche Räume mit undurchdringlichen Fußböden versehen. Be¬
hufs einer Pestverschleppung nach auswärts hat die llafenver-
waltung die Desinfektion aller den Hafen von Odessa verlassenden
Dampfer angeordnet. Im Gouvernement Astrachan wurden vom
November his 5. Februar 153 Todesfälle an Pest konstatiert. —
Chin a. Während in der nördlichen Mandschurei, wo die Pest
zuerst aufgetreten ist, die Seuche ständig an Ausdehnung ab¬
nimmt, greift sie in der Südmandschurei immer mehr um sich
und nähert sich der Grenze von Korea. Im Jurisdiktionsgebiete
von Mukden, welches die verseuchten Orte Mukden, Changchun,
Kungchuling, Fushun, Tiehling, Kaiyuen, Changtu, Liaoyang, Fa-
kumen und Szupingchieh umfaßt, sind bis 16. Februar 3075
Pestfälle konstatiert worden. In Hsinmintun ereigneten sich bis
zu diesem Zeitpunkte 155 Erkrankungen; in der Umgebung, zu¬
mal an der Strecke Hsinmintun-Fakumen tritt die Epidemie, noch
heftiger auf und hat schon 960 Todesfälle verursacht. In Kirin
sterben zirka 15 Personen täglich, in Changchun nimmt die
Mortalität von Tag zju Tag zu. In Charbin läßt die Sterblichkeit
wesentlich nach, dagegen sind in dem zur Durchführung der
Quarantäne nach Charbin gesandten Regimente, das sich in Chang¬
chun infiziert hat, bereits 51 Todesfälle vorgekommen. An der
Nordgrenze von Korea, unweit des russischen Hafens Wladi¬
wostok, herrscht in den mandschurischen Städten Hunchun und
Jondsinfu große Pestmortalität. In der Provinz Ts chili herrscht
die Pest bisher nur in mäßigem Grade. Die Seuchenherde be¬
schränken sich vorläufig auf die Orte Paotingfu, Poyehhsien
und Tiangtsun an der Bahnstrecke Peking-Hank ou und auf die an
der Bahn Tientsin - Pukau gelegenen Städte Hochienfu und
Ershilipin. In Tientsin sind bis 11. Februar 40 Pesterkran¬
kungen in der Chinesenstadt und 15 in der österreichisch-ungari¬
schen Niederlassung sichergestellt worden. In Peking wurden
bis 16. Februar- 16 Pestfälle zur Anzeige gebracht, die auf zwei
Infektionsquellen zurückgeführt werden. In einer chinesischen
Herberge, die durch einen aus Charbin zugereisten Gast infiziert
wurde, ereigneten sich unter den Angestellten und Besuchern
10 Falle ; die anderen 6 betrafen einen aus Tientsin kom¬
menden Studenten, dessen Verwandte und Bekannte. In Chcfoo
(Tschifu) in der Provinz Schantung wurden seit 21. Januar
bis 17. Februar 323 Peststerbefälle konstatiert. Die Gesamtsumme
aller bisher in China erfolgten Todesfälle an Pest beträgt nach
amtlichen Berichten 18.260, doch dürfte diese Zahl weit unter
der tatsächlichen Zurückbleiben, da zahlreiche Fälle verheimlicht
werden. In Charbin wurde am 11. Februar der erste Fall von
Bubonenpest beobachtet.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 10. Jahreswoche (vom 5. bis
11. März 1911). Lebend geboren, ehelich 561, unehelich 226, zusammen
787. Tot geboren, ehelich 61, unehelich 29, zusammen 90. Gesamtzahl der
Todesfälle 666 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17T Todesfälle) an Bauchtyphus 1, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 7,
Scharlach 5, Keuchhusten 5, Diphtherie und Krupp 4, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 5, Lungentuberkulose 127, bösartige Neu¬
bildungen 48, Wochenbettfieber 6, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 52 (==), Wochenbettfieber 5 (-(- 3), Blattern 0
(0), Varizellen 83 (— 25), Masern 200 (4- 64), Scharlach 109 (-f 3),
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 2 (— 3), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0),
Diphtherie und Krupp 69 ( — 17), Keuchhusten 41 ( — 9), Trachom 8 ( — 6),
Influenza 1 ( — 1), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Distriktsarztesstelle in Christianberg (politischer
Bezirk Krumau, Böhmen). Der Sanitätsdistriktsbezirk umfaßt die Ge¬
meinden Christianberg, Andreasberg, Tisch und KfHovitz, die Bewohner,
3855 Seelen, sind deutsch. Die Besetzung erfolgt vorläufig provisorisch.
Bewerber deutscher Nationalität werden berücksichtigt. Der Jahresgebalt
beträgt 800 K, das Reisepauschale 400 K, außerdem sind noch nach¬
stehende Bezüge verbunden: Für die Behandlung der im Revier Christian¬
berg, Ernstbrunn, Andreasberg, dann der in den Ortschaften Brenten-
berg, Neuhäuser, Jodlhäuser, Altrichterwald und Unterschneedorf wohn¬
haften fürstlichen kurberechtigten Personen ein Jahreshonorar von 380 K.
Vergütung der verabfolgten Medikamente. Ferner für ärztliche Behand¬
lung der in der Glasfabrik in Ernstbrunn erkrankten Arbeiter ein durch¬
schnittlicher Monatsbeitrag, respektive Pauschale bis 60 K und Ver¬
gütung der erfolgten Medikamente und Verbandmittel. Bewerber haben
die mit den im § 5 des Landesgesetzes vom 23. Februar 1888, L.-G.-Bl.
.Nr, 9, ex 1888 angeführten Nachweisen belegten Gesuche, bis 10. M ai l.J.
beim Bezirksausschuß in Kalsching einzureichen.
Gemeindearztesstelle für den Sanitätssprengel B os¬
sa n c z e mit dem Wohnsitze in Bossancze (Bukowina). Dieser Sanitäts¬
sprengel umfaßt die Gemeinden: Bossancze, Bunestie, Chilischeni. Ipo-
testie, Lisaura, Reuseni, Russmanastiora, Russplawalar, Russpojeni, Sekuri-
czeni, Teschoulz und Uidestie. Die mit diesem Posten verbundene Jahres¬
dotation beträgt 1600 K und eine in den Ruhegenuß anrechenbare
Aktivitätszulage von 400 K. Bewerber um diesen Posten haben nachzuweisen:
1. Die Berechtigung zur Ausübung der Heilkunde in den im Reichsrale
vertretenen Königreichen und Ländern, 2. die österreichische Staats¬
bürgerschaft, 3. daß sie der Sprache, welche von der Mehrheit der Be¬
völkerung gesprochen wird, d. i. in diesem Falle der rumänischen, irn
hinreichenden Grade mächtig sind. Die hiernach instruierten Gesuche
sind bis inklusive 20. April 1911 bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft
in Suczawa einzureichen.
Gemeindearztes stelle für den Sanitätssprengel M i h o-
weni mit dem Wohnsitze in Mihoweni (Bukowina). Dieser Sanitäts¬
sprengel umfaßt die Gemeinden: Balaczana, Bunince, Illie-St. Komanestie,
Kostina, Liteni, Ludihumora, Mihoweni, Parhoutz, Skeja, Solonetz, Stro-
jestie, Theodorestie und Zaharestie. Die mit diesem Posten verbundene
Jahresdotation beträgt 1600 K und eine in den Ruhegenuß einrechenbare
Aktivitätszulage von 400 K. Bewerber um diesen Posten haben nach¬
zuweisen: 1. Die Berechtigung zur Ausübung der Heilkunde in deD
im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, 2. die öster¬
reichische Staatsbürgerschaft, 3. daß sie. der Sprache, welche von der
Mehrzahl der Bevölkerung gesprochen wird, das ist in diesem Falle
der rumänischen, in hinreichendem Grade mächtig sind. Die hiernach
instruierten Gesuche sind bis inklusive 20. April 1911 bei der
k. k. Bezirkshauptmannschaft in Suczawa einzureichen.
Stadtarztesstelle in Pr nj a vor (Bosnien). Fixe Bezüge
3000 K jährlich und unentgeltliche Wohnung. Die Gage wird in monat¬
lichen Raten gezahlt. Der Arzt verwaltet das Stadtspital (24 Betten),
führt den gesamten Spitalsdienst, also auch die Ambulanz unentgeltlich,
weiters hat er in der 1900 Seelen zählenden Gemeinde den Sanitäts¬
dienst zu verrichten und die arme Bürgerschaft umsonst zu behandeln.
Die Gesuche sind bis 15. Mai 1911 an das Gemeindeamt in Prnjavor
zu richten und sind zu belegen: 1. Mit dem Diplome oder seiner Ab¬
schrift; 2. mit dem Nachweise einer mindestens zweijährigen, in einem
größeren Spitale abgeleisteten Spitalspraxis; 3. mit einem amtsärztlichen
Gesundheitszeugnisse. Kenntnis der serbokroatischen oder einer anderen
slawischen Sprache muß nachgewiesen werden. Bei gleicher Qualifikation
werden die Landessöhne bevorzugt. Die Gesuche müssen mit einem
bosnisch-herzegowinischen Stempel versehen sein.
Gemeindearztesstelle für die subventionierte Sanitäts¬
gruppe Walken stein (Niederösterreich), mit den Gemeinden Walken¬
stein, Rodingersdorf, Sallapulka, Röhrawiesen, Kainreith, Maigen und
Posselsdorf (Arztessitz in Walkenstein). Fixe Jahresbezüge von den
beteiligten Gemeinden 458 K 40 h. Bisherige Subvention aus dem nieder¬
österreichischen Landesfonds 400 K. Eine Erhöhung dieser Subvention
steht zu gewärtigen. Der jeweilige Gemeindearzt hat bei nachgewiesener
Eignung alle Aussicht, auch die Leitung der dem Stifte Geras in Walken¬
stein gehörigen Wasserheilanstalt zu bekommen. Ordnungsmäßig instruierte
Gesuche sind bis längstens 15. April d. J. an die Gemeindevorstehung
Walkenstein oder an die k. k. Bezirkshauptmannschaft Horn zu richten,
woselbst auch nähere Auskünfte erteilt werden.
Beim Stadtmagistrate Innsbruck gelangt die Stelle
eines Sanitätsassistenten mit einem jährlichen Adjutum von
1200 K zur Besetzung. Bewerber um diese Stelle, welche deutscher Ab¬
stammung, Doktoren der Gesamtheilkunde und österreichische Staats¬
bürger sein müssen, wollen ihre gehörig belegten Gesuche bis längstens
l. April 1911 beim Stadtmagistrate Innsbruck überreichen. :
Gemeindearztesstelle für die Gemeinde S c h ö n n a be
Meran, mit 1700 Einwohnern, sofort zu besetzen. Das Wartegeld beträgt
jährlich 1500 K, samt 100 K Holzpauschale. Der Arzt erhält ferner eine
geräumige Naturalwohnung, muß sich jedoch verpflichten, die beigestellte
Apotheke zu führen und die Gemeindearmen unentgeltlich zu behandeln.
Für die Hereinbringung ausständiger Forderungen an Gemeindeangehörige
bürgt die Gemeinde. Der Dienst ist entsprechend den Vorschriften für
Gemeindeärzte durchzuführen. Die Höhe der Ganggelder und der
Ordinationsgebühren werden nach Uebereinkommen festgesetzt. Gesuche
sind bis Mitte April an die Gemeindevorstehung zu richten.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
469
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Äerzte in Wien.
Feierliche Jahressitzung vom 24. März 1911.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 16. März 1911.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Feierliche Jahressitzung vom 24. März 1911.
Vorsitzender: Hofrat Prof. Dr. S. Exner.
Schriftführer: Reg. -Rat Prof. Dt. 0. Bergmeister.
Der Vorsitzende gedenkt des in Berlin verstorbenen Ehren¬
mitgliedes- Geh. Med.-Rates Prof. Lucae. Die Versammelten er¬
heben sich zum Zeichen der Trauer; von den Sitzen.
Der Vorsitzende begrüßt Dr. A. Wachta als Gast.
Prof. 0. Bergmeister, erstattet den J/ahresbericht.
Hochansehnliche Versammlung! Ich gestatte mir, Ihnen
hienrit den Bericht über die Leistungen der Gesellschaft, sowie
über die Aenderungen im Stande derselben während, des abge¬
laufenen 74. Vereinsjahres vorzulegen.
Am Schlüsse des Vorjahres 'zählte! die Gesellschalt 741 ordent¬
liche Mitglieder: hiezu kamen durch Neuwahl 38, während 20
in Abgang kommen, so daß die Zahl der ordentlichen Mitglieder
heute 759 beträgt.
Ferner zählt die Gesellschaft 65 Ehren- und 181 korre¬
spondierende Mitglieder.
Durch den Tod wurden uns 13 ordentliche Mitglieder ent¬
rissen :
Priv.-Doz. Dr. Josef Grünfeld am 14. Mai 1910, Dr. James
Eisenberg am 22. Mai 1910, Dr. Hans Schandelbauer am
25. Mai 1910, Hofrat Prof. Dr. Emil Zucker kan dl am 28. Mai
1910, Hofrat Prof. Dr. Leopold O s er am 22. August 1910, Doktor
Alfred Hermann am 29. August 1910, Hofrat Prof. Dr. Kudolt
Chrobak am 1. Oktober 1910, Dr. Richard Bernert am 15. No¬
vember 1910, Prof. Dr. Johann Fritsch am 13. Dezember 1910,
Hofrat Prof. Dr. Johann C-sokor am 7. Januar 1911, Hofrat
Prof. Dr. Gustav v. Braun am 8. Februar 1911, Hofrat Professor
Dr. Theodor Escherich am 15. Februar 1911 und Primararzt
Dr. Georg Kapsammer am 8. März 1911.
Außerdem haben wir den Tod von 8 Ehrenmitgliedern:
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Eduard Pflüger in Bonn, Exzellenz
Geh. Rat Prof. Dr. Robert Koch in Berlin, Hofrat Prof. Dr. Philipp
Josef Pick in Prag, Geheimrat Prof. Dr. F. v. Recklinghausen
in Straßburg, Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Emst v. Leyden in
Berlin, Prof. Dr. Angelo Mos so in Turin, Geh. Med.-Rat Professor
Dr. Franz König in Berlin und Geh. Med. -Rat Prof. Dr. J. A.
Lucae in Berlin, sowie von fünf korrespondierenden Mitgliedern:
Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Heinrich Curschmann in Leipzig,
Prof. Dr. R. Ullrjch Krönlein in Zürich, Prof. Dr. F. Ray¬
mond in Paris, Dr. Siegmund Lustgarten in New York und
Prof. Dr. Bohr in Kopenhagen zu beklagen.
Friede ihrer Asche, Ehre ihrem Andenken !
*
Im Laufe dieses Jahres fanden 32 wissenschaftliche
Sitzungen statt, in denen 155 Demonstrationen und 25 Vor¬
träge abgehalten und 6 Mitteilungen gemacht wurden. An dieser
wissenschaftlichen Arbeit beteiligten sich insgesamt 124 Herren,
die mit wenigen Ausnahmen unserer Gesellschaft als Mitglieder
angehören.
Im reichsten Maße fanden Demonstrationen klinisch inter¬
essanter Fälle statt, wobei besonders aktuelle Fragen des öfteren
zur Erörterung kamen; ich erinnere an die Diagnostik und operative
Behandlung der Hypophysentumoren, an die Ergebnisse und Fort¬
schritte der Radiologie, insbesondere in bezug auf die Diagnostik
der Magenerkrankungen, an die Resultate der Radiumbehandlung,
au die Behandlung der Syphilis mit Arsenobenzol, an die Fort¬
schritte der Hirnchirurgie.
Aus der Reihe der Vorträge hebe ich den interessanten
Festvortrag über den Einfluß der innersekretorischen Anteile der
Geschlechtsdi'üsen auf die äußere Erscheinung des Menschen
hervor, erinnere an die „neuen Ausblicke auf die natürlichen
Heilwege der Tuberkulose“, an die Vorträge über Blutgerinnung
in ihren biochemischen und klinischen Beziehungen, über die
gesundheitlichen Schicksale der erbsyphilitischen Kinder, über
Xanthelasma bei Ikterus, über Prognose und Therapie der pro¬
gressiven Paralyse, über Veränderungen des Pankreas hei Diabetes
Wiener dermatologische Gesellschaft. Sitzung vom 3. Februar 1911.
Aerztlicher Verein in Brünn.
Verein deutscher Aerzte in Prag.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in Böhmen.
melitus, über die Einwirkung des Plazentarserums auf menschliche
Karzinomzellen, über Eosinophilie und Sekretion, über die Ein¬
wirkung des Adrenalins aut einzellige Organismen, an die Unter¬
suchungen über Asepsis, an die Studien über die weibliche Keim¬
drüse usw.
Gedenkreden wurden gehalten auf weil. Emil Zucker-
kandl und Rudolf Chrobak; auch nahm die Gesellschaft an
einer Trauersitzung der Gesellschaft für, innere Medizin und Kinder¬
heilkunde für weil. Theodor Escherich teil.
Neben einer regen wissenschaftlichen Tätigkeit wendete die
Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit Fragen allgemein hygienischer
Bedeutung zu. So wurde ein Komitee zur Beratung eines An¬
trages auf Errichtung einer ärztlichen Milch-Kontrollkommission
gewählt, ferner je ein Delegierter zum II. internationalen Kälte-
kongreß in Wien, zum VI. Baineologenkongreß in Salzburg und
zur Festversammlung der k. k. photographischen Gesellschaft in
Wien entsendet. Ebenso nahmen zwei Delegierte unserer Gesell¬
schaft an den Beratungen der über Gerüeinderatsbeschluß ver¬
anstalteten Enquete über einen Entwurf einer neuen Bauordnung
für Wien teil.
Ueber Aufforderung des Zentralausschusses für öffentliche
Gesundheitspflege schloß sich unsere Gesellschaft demselben an
und übermittelte demselben bereits eine aus dem Schoße unserer
Gesellschaft kommende Anregung bezüglich der wichtigen Frage
der körperlichen Erziehung der Mittelschuljugend zur weiteren
Propagation.
Endlich besichtigte die Gesellschaft korporativ das nieder¬
österreichische Landeszentralkinderheim in Wien.
In der Sitzung vom 21. Oktober v. J. fand die Neuwahl
des Präsidenten und in der Sitzung vom 4. November die Wahl
des Vizepräsidenten statt.
Eine administrative Sitzung hielt die Gesellschaft am 3. März
dieses Jahres ab.
Ich kann den Bericht nicht schließen, ohne nochmals des
großen Verlustes zu gedenken, den die Gesellschaft durch das
Hinscheidens Chrobaks erlitten. Seine Verdienste um die Gesell¬
schaft stehen noch frisch in unserer Erinnerung. Er hat sich durch
seine Tätigkeit und Fürsorge ein dauerndes Denkmal in den
Annalen unserer Gesellschaft gesetzt. Nicht genug an dem, be¬
dachte er noch in seinem Testamente die Gesellschaft mit einem
Legate zur Errichtung einer Dr. Rudolf Chrobak- Stiftung, so
daß sein Name auch künftigen Geschlechtern als der eines För¬
derers und warmherzigen Freundes des Aerztestandes vor Augen
schweben wird. Die Familie Chrobaks schenkte der Gesell¬
schaft ein vortreffliches Oelbild des Verewigten zur dauernden
Erinnerung.
Auch der Name eines zlweiten verstorbenen Mitgliedes wird
in der Prof. Dr. Leopold 0 s e r - Stiftung fortleben, deren Er¬
richtung die Gesellschaft einer munifizienten Spende der Witwe
des Dahingeschiedenen zü danken hat.
Noch ist zu erwähnen, die Ausschreibung des Gol d berge r-
Preises für die beste Beantwortung des Themas : Ueber die bio¬
logischen Grundlagen der sekundären Geschlechtscharaktere.
Beglückwünscht wurden Exzellenz Geheimrat Erb zu seinem
70. Geburtstag und Dr. Emanuel Burger zum 50jährigen Doktor¬
jubiläum.
Ich bin mit dem Berichte zü Ende. Die Leistungen der
Gesellschaft stehen unentwegt auf lichter Höhe. Getreu ihren
Satzungen verfolgt sie das Ziel, im Interesse des wissenschaft¬
lichen Fortschrittes der Förderung und Vervollkommnung der
Heilkunde und der Befestigung der kollegialen Verhältnisse der
Aerzte untereinander zu dienen.
Diese Aufgabe nach Kräften zu erfüllen, sei unser stetes
Streben, dessen. Betätigung die sichere Gewähr terneren Ge¬
deihens1 gibt.
Möge es so sein und bleiben für und für.
Prof. Dr. H. Paschkis erstattet den
Bibli otheksbericht.
Hochansehnliche Versammlung! Ich habe die Ehre, Ihnen
hiemit den Bericht über die Bibliothek der Gesellschaft und deren
Geschäftsgang für das abgelaufene Vereinsjahr vorzulegen. In
470
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
herkömmlicher Weise beginne ich mit den zahlreichen und wert¬
vollen Geschenken, welche der Bibliothek gewidmet worden sind.
Die Bibliothek hat erhalten:
1. Von unserem Präsidenten weil. Hofrat Chrobak: Ver¬
handlungen der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie, XIII. Ver¬
sammlung, abgehalten zu Straßburg vom 2. bis 5. Juni 1909.
Leipzig 1909. 8°. — Verhandlungen der Gesellschaft deutscher
Naturforscher und Aerzte, 81. Versammlung zu Salzburg. 19. bis
25. September 1909. Leipzig 1909. 8°. — Bericht über den Ersten
österreichischen Alkoholgegnertag, abgehalten in Wien, 12. bis
14. Oktober 1908. Wien und Leipzig 1909. 89. 111. Internationaler
Kongreß für Irrenpflege, Wien, Oktober 1908. Wien und Halle a. S.
1909. 8°. — 3 Einzelwerke.
2. Von unseren ordentlichen Mitgliedern : Hofrat Doktor
V. Mauczka: 10 Einzelwerke. Hygienische Rundschau, Jahrgang
1894 bis 1897, komplett. Medizinisch-chirurgische Rundschau,
1873, 1888 bis1 1893, 6 Jahrgänge, komplett. Therapie der
Gegenwart, Jahrgang 1895, komplett (als Ergänzung für die
Bibliothek). — Prof. Dr. Herzfeld: 5 Einzelwerke. — Doktor
Max Weiß: 8 Einzelwerke. — Dr. Rudolf Neurath: 5 Einzel¬
werke. — Dr. Dem. Galatti: 3 Einzelwerke. L’Anjou medical
Angers 1910. Annales des medecines et Chirurgie infantiles. Paris
1910. La Pathologie infantile. Bruxelles1 1910. — Dr. Wilhelm
Shekel: 3 Einzel werke und 9 Separatabdrücke. — Professor
•H. Schlesinger: 1 Einzelwerk. — Priv.-Doz. Dr. Ilnjek:
2 Einzelwerke. — Dr. A. Kronfeld: 2 Einzelwerke. Annales
d’hygiene publique et de medicine legale Paris 1910. — Professor
H. Pasc hk is: The Pharmaceutical Journal, Vol. 84, 85. London
1910. - Dr. J. Zwilntz: 1 Einzelwerk. — |Priv.-Doz. Dr. lv. U li¬
man n: 1 Einzelwerk. - Prof. Pal: Revue des maladies de
la nutrition. Paris 1910. -- Dr. 0. Frankl: Gynäkologische
Rundschau. Berlin und Wien 1910. — Prof. A. Strass er:
Monatsschrift für die physikalisch -diätetischen Heilmethoden.
München 1910. Heft 1 bis 6. — Priv.-Doz. Dr. E. Schwarz:
Zentralblatt für die gesamte Therapie. Wien 1910. — Hofrat
Prof. Lang: Leopoldina. Amtliches1 Organ der Kaiserlichen
Leopold - Karolinischen deutschen Akademie der Naturforscher.
Halle a. d. S. 1910. Prof. Dr. Joannovics: 1 Einzelwerk.
3. Von unseren Ehren- und korrespondierenden Mitgliedern
haben gespendet: Herr Prof. Dr. J. Rille in Leipzig: 6 Inau¬
guraldissertationen der Universität Leipzig. 1910. — Herr Doktor
A. Pollatschek: Die therapeutischen Leistungen des Jahres
1909. 21. Jahrg. Wiesbaden 1910. Herr Prof. Dr. Paul v. Baum¬
garten: Arbeiten auf dem Gebiete der pathologischen Anatomie
und Bakteriologie. Bd. 7, H. 2. Leipzig 1910. — Herr; Med.- Rat
Direktor Dr. B. N och t- Hamburg: Eine größere Anzahl Sepa¬
rata über Arbeiten aus dem Institut für Schiffs- und Tropen, -
krankheiten zu Hamburg. — Herr Geh. Med.- Rat Prof. Johann
Orth: Eine größere Anzahl Separata über Arbeiten aus dem
pathologischen Institut zu Berlin. — Dr. C. Ziem: Gataraete
senile et maladies nasales purulentes (Extr.). Paris.
4. Ihre eigenen Werke und Zeitschriften haben gespendet
die Herren ordentlichen Mitglieder: Dr. R. Bernert: Kardiale
Dyspnoe. Leipzig und Wien 1910. — Prof. A. Biedl: Innere
Sekretion. Berlin und Wien 1910. — Priv.-Doz. Dr. A. Fog es:
Atlas der rektalen Endoskopie. Berlin und Wien 1910. — Hofrat
Prof. v. Neusser: Ausgewählte Kapitel der klinischen Sym¬
ptomatologie und Diagnostik. H. 2 bis 4. — Hofrat Professor
Neusser und Priv.-Doz. Dr. Josef Wiesel: Die Erkrankungen
der Nebennieren. Zweite, völlig' umgearbeitete1 und vermehrte
Auflage. Wien und Leipzig 1910. — Prof. L. Piskäcek: Ueber
Ausladungen umschriebener Gebärmutterabschnitte als diagnosti¬
sches Zeichen im Anfangsstadium der Schwangerschaft. Leipzig
und Wien 1899. Beiträge zur Therapie und Kasuistik der Uterus¬
rupturen. Wien 1899. — Prof. M. Benedikt: Alois Monti-
Gedenkrede. Wien 1909. La method© cathetometrique en biologic.
Paris 1910. (Extr.) Priv.-Doz. Dr. F. Hamburger: Allge¬
meine Pathologie und Diagnostik der Kindertuberkulose. Leipzig
und Wien 1910. — Prof. H. H. Meyer und R. Gottlieb: Die
experimentelle Pharmakologie als Grundlage der Arzneibehand¬
lung. Wien 1910. — Prof. Dr. H. Schlesinger: Die Indika¬
tionen zu chirurgischen Eingriffen bei inneren Erkrankungen.
Zweite Auflage. Jena 1910. — Prof. M. Kassowitz: Praktische
Kinderheilkunde in 36 Vorlesungen. Berlin 1910. - — Privatdozent
Dr. L. Teleky: Wiener Arbeiten aus dem Gebiete der sozialen
Medizin. Wien und Leipzig 1910. — Prof. Urban tsuhitsch :
Lehrbuch der Ohrenheilkunde. Fünfte Auflage. Berlin und Wien
1910. — Prof. Dr. A. Edler v. Tschermak: Ueber das Sehen
der Wirbeltiere, speziell der Haustiere (Akademische Rede.) Wien
1910. — Prof. A. K o 1 i s k o : Beiträge zur gerichtlichen Medizin.
Wien und Leipzig 1910—1911, Bd. I, ff., Ed. v. Hofmannsi
Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Neunte vermehrte und ver¬
besserte Auflage. Herausgegeben von Dr. A. Kol is ko. Wien
und Berlin 1909. - Prof. C. v. Noorden: Die Zuckerkrankheit.
Fünfte vermehrte Auflage. Berlin 1910. — Priv.-Doz. Dr. Julius
Bartel: Probleme der Tuberkulosefrage. Leipzig und Wien 1909.
Prof. F riedr. S c h 1 a genhaufe r und Hofrat v. Wagner:
Beiträge zur Aetiologie und Pathologie des endemischen Kreti¬
nismus. Leipzig und Wien 1910. — Dr. Ed. Hitsehmann:
Freuds Neufosenlehre. Nach ihrem gegenwärtigen Stande zu¬
sammenfassend dargestellt. Leipzig und Wien 1911. — Privat¬
dozent Dr. A. B ran dw einer: Die Hautkrankheiten des Kindes¬
alters. Wien und Leipzig 1910. Dr. A. Kronfeld: Führer
durch das medizinische Wien. Geschichte und Organisation. Wien
1911. Prof. Dr. Max Neuburger: Geschichte der Medizin.
Stuttgart 1911. zweiter Band, erste Hälfte.
5. Eine dankenswerte Spende erhielt die Bibliothek auch
in diesem Jahre von den Redaktionen der in Wiein erschei¬
nenden medizinischen Wochenschriften, die je ein Freiexemplar
für das Lesezimmer spendeten u. zw. : Die Wiener; medizinische
Wochenschrift, Redakteur Dr. A. Kronfeld. — Wiener klinische
Rundschau, Redakteure Prof. Dr. F. Obermeyer und Privat¬
dozent Dr. K. Kunn. — Die medizinische Klinik, Redakteur Pro¬
fessor De. Brandenburg. — Wiener klinisch - therapeutische
Wochenschrift, Redakteur Dr. M. T. Schuir er. — Wiener all¬
gemeine medizinische Zeitung, Redakteur Dr. Ed. Kraus. —
Aerztliche Zentralzeitung, Redakteur Dr. Lederer.
Eine weitere Spende hat die Bibliothek erhalten von der
Redaktion der Wiener klinischen Wochenschrift (Prof. Doktor
A. Fraenkel) u. zw.: 4 Einzelwerke, 38 komplette Jahrgänge
von verschiedenen medizinischen Zeitschriften und ebenso haben
die Verlagsbuchhandlungen Wilh. Braumüller & Sohn- Wien
(das Oesterreichische Aerzte -Kammer -Blatt), Moriz Perles in
Wien (Zentralblatt für die gesamte Therapie), Urban &
Schwarzenberg in Berlin und Wien (Medizinische Klinik),
Hirzel in Leipzig, Bergmann in Wiesbaden, Masson & Cie
in Paris u. a. der Bibliothek nahmhafte Spenden zugeführt.
6. Eine größere Anzahl von Geschenken hat die Bibliothek
ferner erhalten von den hohen staatlichen und Landesbehörden,
den kommunalen Verwaltungen, den wissenschaftlichen Insti¬
tuten und Vereinen des' In- und Ausländes u. zw. :
Von der k. k. Zen tralanstalt für Meteorologie:
Telegraphischer Wetterbericht 1910. — Von der k. k. Geolo¬
gischen Reichsanstalt: Jahrbuch, Bd. 60, H. 1 bis 3, Ver¬
handlungen 1910. Vom Landes ausschusse des Erzherzog¬
tums unter der Enns: Die niederösterreichischen Landesirren-
anstalten und die Fürsorge des Landes Niederösterreich für
schwachsinnige Kinder. Jahresbericht. 1907/1908. — Von der
Magistratsabteilung XIX lür Statistik: Statistisches Jahr¬
buch der Stadt Wien für das Jahr 1908, Wien 1910. Mitteilungen
der Magistratsabteilung XIX. Wochenberichte, Monatsberichte,
Wien 1910. Von der Anthropologischen Gesell¬
schaft in Wien: Mitteilungen, Bd. 30. Wien 1910. — Von
der Gesellschaft für innereMediz'in und Kinderheilkunde
in Wien: Mitteilung 1910. Vom allgemeinen österreichi¬
schen Apotheker-Verein: Zeitschrift 1910. — Von der
österreichischen Gesellschaft für Erforschung und
Bekämpfung der Krebskrankheit: Cancer. Internationale
Monatsschrift, herausgegeben im Aufträge der Internationalen Ver¬
einigung für Krebsforschung, von Generalsekretär Professor Doktor
George Meyer- Berlin. Bd. I, II, 1908/1910. — Vom Reichs-
verband österreichischer Amtsärzte: Der Amtsarzt 1910.
V orn Z e n t r a 1 v e r b a n d d er österreichis c h e n S t o rn a-
tologen: Oesterreichische Zeitsclniit für Stomatologie 1910. —
Vom Verein „Die Flamme“: Phönix, Blätter für fakultative
Feuerbestattung und verwandte Gebiete. Wien 1910. — Vom
Kongreß für innere Medizin: Verhandlungen des1 Kon¬
gresses, Wiesbaden 1910. — Vom' schlesischen Bädertag:
Der 38. schlesische Bädertag und seine Verhandlungen. Salzbrünn
1910. — Vom Verein der Aerzte in Abbazi a: Zentralblatt
für Thalassotherapie. Abbazia 1910. — Vom k. k. Zentral
ge werbei Inspektor at: Berichte der k. k. Gewerbeinspektoren
über ihre Amtstätigkeit in den Jahren 1902, 1903, 1906 bis 1908.
Von der medizinischen Fakultät der japanischen
Universität in Tokio: Mitteilungen, Bd. VIII, H. 4. — Von
der deutschen Ferdinands-Universität in Prag: Die
feierliche Inauguration des Rektors für das Studienjahr 1909/1910.
— - Von der österreichischen Gesellschaft vom Roten
Kreuze: 31. Generalbericht, Wien 1910. — Von den Direk¬
tionen der Wiener Kinderspitäler u. zw. des Karolinen-
Kinderspitales : Bericht über das Jahr 1909 ; des Leopoldstädter
Kinderspitales : Bericht über das Jahr 1909; des St. Josefs-Kinder-
471
Nr. 13 WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
spi tales : Bericht über das Jahr 190!). — Von der Wiener
Urania: Urania, Illustrierte populär-wissenschaftliche Wochen
schrift 1910. — Von der Universität, in Upsala: Brei och
Skrifelser of och tili Carl v. Finne tried. Umlerstöd at Svenska
Staten utgifna af Upasala Universitet. Stockholm 1910. IV. —
M. Ramström: Emanuel Swedenborgs Investigations in
Natural science and the Basis for his statements concernig the
Brain. University of Upsala 1910. 4°. — Von der; Universität
in Brüssel: L’Universite de Bruxelles pendant son troisiemo
quart de siede, par le Comte Goblet d’Alviella avec la colla
boration d’un groupe des Professeurs. Bruxelles 1909. 8°. ---
L’Universite de Bruxelles. LXXe anniversaires de la fondation.
Relation des fetes. November 1909. Bruxelles 1910. 8°. Uni-
versite libre de Bmxelles, LXVIIe an, nee academique. Rapport
sur l’ännee 1909 — 1910. Bmxelles 1910. — Von der Direk¬
tion des Z ivilmedizinalwesens in Norwegen: Norges
officielle Statistik V/74. — Rapport sur l’etat sanitaiie et medical
pour l’annee 1908. Kristiania 14)10. — Vom statistischen
Zentralbureau in Stockholm1: Bidrag1 tili Sveriges' offi-
ciella Statistik: a) Befolkningsstatistik N. F. XLIV. Stockholm
1910. — Von der American Otofogical Society: Trans¬
actions, Vol. XII., Part. I. New Bedford 1910. — Vom Lok al¬
go verne ment Board in London: Report of the Medical
officier for 1908/1909. London 1910. — Von der Academic
des sciences in Paris: Comptes rendus 1910. — Von der
Associazione Medic a Triestina: Bollettino. Annata Xllle.
Trieste 1910. — Von der Society for Experimental Bio¬
logy and Medicine: Proceedings1. Vol. VII., New York 1910.
Endlich haben noch gespendet eine Anzahl größerer und
kleinerer Einzelwerke und Zeitschriften die Herren: Bürgermeister
Dr. Josef Neu may er: Die Gemeindeverwaltung der Reichs-
haupt- und Residenzstadt Wien 1909. Wien 1910. 8°. — A. J a-
cohi & William J. Robin'son M. D'.-New York: Collected
essays, adresses scientific papers and miscellaneous writings of
A. Jacobi in 8 Volume's. Edit, by W. J. Robinson M. D.
New York 1909. — A. Judsoii M. D. -New York: The influ¬
ence of growth on congenital and acquired deformities. New
York 1905. 8°. — Dr. Gram veil und M. II. Vegas (Buenos
Aires) : Tratamiento de los quistes hidaticos. Buenos Aires 1910.
— A. M. Donald -Washington: A Plan for the Study of Man.
Washington. 1902. 8°. — W. F. Whitney -Boston (Mass.):
Bulletin of the Warren Anatomical Museum Harvard Medical
School. Nr. 1: Pathological Anatomy. Boston (Mass.). 1910. —
A. M. D1. B ass T e r-New York: A new method of tratement
for chronic intestinal putrefactions by m'eans of rectal instilla¬
tions of autogenous bacteria and strains of human bacillus colli
communis. New York 1910. — Some new methods of test meal
and feces' examinations. New York 1910. — H. G. A. G jessing
M. D.-New York: Borcbgrevnik O. Ambulatorische Extensions-
behandlung der oberen Extremität. Jena 1908. — Dr. II. von
Schrötter: Le travail dans Fair comprime. Bruxelles 1910.
Hygiene der Aeronautik. Berlin 1909. 8°. (S.-A.). — Professor
R. Fick- Innsbruck: Handbuch der Anatomie und Mechanik der
Gelenke (II. Teil. Allgemeine Gelenk- und Muskelmechanik). Jona
1910. — Dr. Ed. Kraus- Wien: Revue hebdomadaire de la-
ryngologie, otologie et de rhinologie. Paris 1909. Archives de
Ginecopathia, Obstetricia y Pediatria. Anno XXIH. Barcelona
1910. — Dr. M. Hirsch, Th. Tuffier und P. Des fosses:
Kleine Chirurgie. Nach der zweiten französischen Auflage ins
Deutsche übertragen, ergänzt und bearbeitet von M. Hirsch.
Wien und Leipzig 1910. — R. W. Lovett, L. A. .Tones1,
C. H. Bradford M. D. : Infantile Paralysis in Massachusetts in
1908. Boston 1910. — J. Weiß- Wien : Oesterreichisch-ungarische
Vierteljahrschrift für Zahnheilkunde. Wien 1910. 8". — Doktor
Jos. Herbst: Pester medizinisch - chirurgische Presse, redigiert
von Dr. Josef Herbst. Budapest 1910. — Dr. Hans Heger
und Dr. Ed. Stiaßny: Oesterreichische Chemikerzeitung. Wien
1910. — Dr. H. Keller und Dr. S. Schwarzhart: Oester¬
reichische Aerztezeitung. Wien 1910.
Allen diesen Behörden, Verwaltungen, Instituten des Jn-
und Auslandes, Vereinen, sowie den Mitgliedern unserer Gesell
Schaft sage ich für ihre reichen und wertvollen Geschenke namens
der Bibliothek bestein Dank und ich erlaube mir daran die
Bitte zu knüpfen auch in Zukunft an die Bibliothek, die ja unser
aller kostbarstes gemeinschaftlicheis Eigentum ist, nicht zu ver¬
gessen.
Der Natur unserer Bibliothek entsprechend, sowie in Hin¬
sicht auf die Vermögensverhältnisse der1 Gesellschaft findet die
Vermehrung durch Ankauf hauptsächlich auf dem Gebiete der
periodischen Literatur statt, welche möglichst vollkommen an¬
zuschaffen und zu erhalten die Bibliotheksverwaltung bestrebt
sein muß. Bei Einzelwerken, Hand- und Lehrbüchern müssen
wir unfe1 einschränken und der Bibliothekar erlaubt sich nach wie
vor, in dieser Hinsicht auf die Freundlichkeit der Mitglieder zu
zählen, welche, wie er hoffen darf, auch in Zukunft ihre eigenen
Publikationen der Gesellschaftsbibliothek zur Verfügung sLellen
werden.
A n ig e k a u f t wurden :
a) Handbücher und Einzel werke. 1. Handbuch der
biochemischen Arbeitsmethoden. Bearbeitet von E. Abder¬
halden, Dr. Ackermann, H. Aron, Baglioni usw. Heraus-
gegeben von Prof. E. Abderhalden. Berlin und Wien 1910.
8°. 4 Bände. Halbleder. — 2. Handbuch der Kinderheilkunde.
Heran »gegeben von Professor1 Dr. M. Pfaundler und Professor
Dr. A. Schloß mann. 2. Auflage. Leipzig 1910. 8°. 4 Bände.
3. Les maladies des enfants, par V. Hutinel, avec la colla¬
boration de M. M. Bah on ne ix, Big art, Darre, Jeanselme,
Pi erre, L ereboullet, Les Ue, G. Leven, Louis Martin,
P. Merkten, Nobecourt, Pais's'eau, L. Tixier, Vitry,
Roger, Voisin. Paris 1909. 8°. Vol. 1 — 5. — 4. Kunkel:
Handbuch der Toxikologie. Jena 1899—1901. 8°. — 5. M. Bern¬
hardt: Erkrankungen der peripherischen Nerven. 2. Teil nebst
Anhang: Akroparästhesien. Von Prof. Dr. L. v. Frankl -Hoch¬
wart. Wien 1904. 8°. — 6. Cornet: Die Tuberkulöse. Zweite,
vollständig umgearbeitete Auflage. Wien 1907. 8°. Vol. I und II.
Halbleder. — 7. Wickham L. und Degrais': Radiumtherapie.
Autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Max Winkler. Berlin
1910. 8°. — 8. P. Ehrlich und S. Hata: Die experimentelle
Chemotherapie der Spirillosen (Syphilis, Rückfallfieber usw.).
Berlin 1910. 8°. - 9. Arzneitaxe zu der österreichischen Pharma¬
kopoe, Ed. VIII. (Dritte Ausgabe.) Wien 1910. 8°. 10. Emil
Kraepelin: Psychiatrie. Lehrbuch für Studierende und Aerzte.
Achte, vollständig umgearbeitete Auflage. Leipzig 1909/10. 8°.
2 Bde. — 11. J. Heller: Die Krankheiten der Nägel. Berlin
1900. 8°.
b) Z e i t s c h r i f ten : 1. Zeitschrift für die gesamte Neurologie
und Psychiatrie. Von A. Alzheimer, R. Gaup, M. Lewan-
dowsky usw. Berlin und Leipzig 1910. ff. 8°. — 2. Zeitschrift
für Kinderheilkunde. Herausgegeben von Finkeistein, Tung¬
stein und Pfaundler. Berlin 1911 ff. — 3. Zentralblatt der
Krebskrankheiten. Internationales Organ. Unter ständiger Mitwir¬
kung Von Prof. P. Berge! 1 usw. Herausgegeben von Prof. Doktor
Anton Stricker. Leipzig 1910 ff. — 4. Zentralblatt für Psycho¬
analyse. Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde. Heraus¬
gegeben von Dt. S. Freud. Wiesbaden 1911 ff. 8°. — 5. Biblio¬
graphie der deutschen Zeitschriften. Literatur mit Einschluß von
Sammelwerken. Unter besonderer Mitwirkung von Oherbiblio-
thekar Dr. E. Roth, für den medizinisch-naturwissenschaftlichen
Teil, heraiTsgegeheiU von F. Dietrich. Leipzig 1909 ff. — -
6. Heart: A Journal fort the Study of the Circulation. Edited by
Thomas’ Dewy M. D1. London 1910 ff. — 7. The Journal of
medical Researche. Edited by Harold C. Ertast M. D. Boston.
Mass’. 1910 ff. — 8. Annales of Surgery. A. Monthly Review of
surgical science and practica. Ed. by L. S. Pilcher, J. W.
White etc. New York. 1911 ff. — 9. Internationale Monats¬
schrift zur Erforschung des Alkoholismus und Bekämpfung der
Trinksitten. Basel 1910 ff. — 10. Das Wissen für Alle. Volks¬
tümliche Hochschulvorträge und gemeinverständliche Einzeldar¬
stellungen aus allen Gebieten des Wissens. Herausgegeben von
der Vereinigung österreichischer Hochschuldozenten. Wien 1911 ff.
11. Oesterreichische Rundschau. Herausgegeben von Dr. Altred
Freiherr von Berger usw. Wien und Leipzig 191 Iff.
c) Ergänzungen lückenhafter Archive und Zeitschriften :
1 . Aerztliche Sachverständigen-Zeiturig, Herausgegeben von Doktor
L. Becker und Dr. A. Leppmann. Berlin 1895 — 1899. lahr-
gang I — V. — 2. Skandinavisches Archiv für Physiologie. Heraus¬
gegeben von Robert Tigers tedt. Leipzig 1889 — 1902. Band
I — XIII. — 3. Bericht der k. k. Gewerbeiesp-ektoren über ihre
Amtstätigkeit im Jahre 1904/05. Wien 1905/06.
Im ganzen wurden demnach 3 Handbücher, 8 größere
Einzel werke, 11 Zeitschriften neu angekauft und 2 Zeitschriften
in größerem Ausmaße vollständig komplettiert.
Ich gehe nunmehr zur Besprechung des gegenwärtigen
Standes der Bibliothek über:
Der vorjährige Stand an Einzelwerken betrug 16.773 Num¬
mern' , der gegenwärtige Stand beträgt 16.900; Vermehrung
217 Numhierif.
Der vorjährige Stand an Zeitschriften betrug 84o Num¬
mern, der gegenwärtige Stand beträgt 858 Nummern ; . Vermehrung
13 Nummern. Unter den Zeitschriften befinden sich 454 ^ab¬
geschlossene Nummern und 404 fortlaufende Nummern. Diese
401 Zeitschriften mit Fortsetzung bilden unseren gegenwärtigen
472
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
Einlauf und dieser Einlauf besteht aus: 46 Tauschexemplaren
und 234 abonnierten, 5 vom Verein für Psychiatrie und Neuro¬
logie in Wien und 1 von der Wiener Otologischen Gesellschaft
gelieferte und 118 gespendeten Zeitschriften.
Gebunden wurden im abgelaufenen Jahre 846 Einzelbände.
Die Volumenzahl der Gesamtbibliothek hat 50.000 überschritten.
Der Umfang des Lese- und Leihverkehres in unserer Biblio¬
thek geht aus folgender Statistik hervor:
Statistik der aus der Bibliothek im' Vcreii ns j ab r-e
1910/1911 entlehnten Zeitschriften und Bücher:
a) Zeitschriften : 2549 Bände.
b) Einzelwerke: 609 Bände.
c) Handbücher: 342 Bände.
Die Bibliothek wird täglich von durchschnittlich 40 Lesenden
besucht.
Die eigenen Einnahmen der Bibliothek durch Ausgabe von
Gastkarten an Nichtmitglieder für die Benützung der Bibliothek
und durch Verkäufe aus der Duplikatensaminlung betrugen im
abgelaufenen Vereinsjahre 725 Kronen. Es wurden 68 Gastkarten
und zwar : 23 Monatskarten und 45 Semesterkarten ausgegeben
und damit eine Einnahme von 655 Kronen erzielt. Durch Verkäufe
aus der Duplikatensaminlung sind eingegangen 70 Kronen. Unsere
Duplikatensaminlung hat sich wesentlich vermindert und beziffert
sich auf 180 Nummern Einzelwerke mit zirka 250 Bänden und
56 Nummern verschiedener Journale mit zirka 200 Bänden.
Abgesehen von den wenigen verkauften Werken hat die
Bibliotheksverwaltung im Einverständnisse mit dem Verwaltungs¬
rat der Universität in Toulouse, deren Bibliothek durch Brand
völlig vernichtet wurde, 213 Bände u. zw. ausschließlich Dou¬
bl etten von Journalfolgen geschenkweise überlassen.
72 Bände verschiedener doubletter Zeitschriften hat der
Bibliothekar einem hiesigen Antiquariatsbuchhändler im Tausch
gegen folgende W erke abgegeben u. zw. :
a) als1 Ergänzung:
R e v u e d e M e d e c i n e 1886 ;
(Zeitschrift für Heilkunde, Bd. XL 1890;
Archiv für p a t h o 1 o g i s‘c h e A n a t o m i e u n d Ph y s i o-
logie, Bd. XI. 1856;
b) für Werke, welche in Verstoß geraten sind :
Handbuch ' der Geburtshilfe, herausgegeben von F. von
Win ekel, Bd. 1, 1. Hälfte, Bd. II, 1. Teil;
Ergebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde, Bd. II;
Monatshefte für praktische Dermatologie, Bd. IX, 1889.
Ich bin hiemit am Ende meines Berichtes und bitte, den¬
selben zur Kenntnis zu nehmen.
*
Der Vorsitzen'«! e spricht den beiden Herren Bibliothekaren
Prof. H. Pa sc hk is und Dr. A. Hinterberger für ihre Mühe¬
waltung den Dank aus.
*
Prof. Durig: Vortrag: Physiologische Wirkung des
Höhenklimas. (Erscheint ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Hierauf folgt die Verk ü n d i gu n g des Wahlres ultates.
Protokoll der am 24. März 1911 vorgenommenen Wahlen von
Vorsitzenden, Schriftführern und Mitgliedern der k. k. Gesellschaft
der A-erzte in Wien.
Abgegeben wurden 155 gültige Stimmzettel. Die absolute
Majorität beträgt 78.
Als gewählt erscheinen :
Zu Vorsitzenden: Reg.-Rat Prof. A. Kreidl, Professor
Ludwig Unger, Prof. Ernst Wertheim.
Zu Schriftführern : (Dt. Otto v. Frisch, Dr. Rudolf
Paschkis, Dr. Heinrich Reichel.
Zum Ehrenrnitgliede : *) Dr. Pierre Marie,; Professor der
pathologischen Anatomie in Paris.
Zu korrespondierenden Mitgliedern die Professoren : Doktor
Pierre Delliet. Paris; Dr. Rudolf Fick, Innsbruck; Dr. S.Pozzi,
Paris; Dr. Paul Segond, Paris.
Zu ordentlichen Mitgliedern die Med. Doktoren: Moritz
R } ach, Wilhelm Ritter von Bucht a, Wilhelm Egert, Hans
Finsterer, Wilhelm Ginsberg, Hermann Fr. Grünwald,
Susy ela. Guarch Viktor Hanke, Albert Hintz, Ignaz Kolm,
Benjamin Lip&chütz, Ernst Löwenstein, Josef Meller,
Rudolf Müller Paul Odelga, Albin Oppenheim, Fernando
Perez, Armin Petschek, Leo Bapoport, Thomas Edler von
- t
*) Die Wahl von AusländeriWzu korrespondierenden oder Ehren¬
mitgliedern bedarf zu ihrer Gültigkeit der Genehmigung der k. k. Statt¬
halterei.
Resch, Max Richter, Hans Sc hei dl, Josef Schiffmann
Klemens .1. Scho pp er, Gustav Schreiber, O. Eugen Schulz
Dora Teleky, Hermann Ulbrich.
Die Skru tatoren:
Dr. H. Teleky m. p. Prof. C hia'ri m. p. Dr. v. Khautz m. |>.
Prof. Paschkis m. p.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 16. März 1911.
R. Grünfeld demonstriert einen acht Monate alten Säug¬
ling mit Klumpfüßen und kongenitaler Luxation des
R a d i u s k ö p f c h e n s u n d Syn d e smose zwisc h e n R a d i u s
und Ulna. Die Klumpfüße wurden orthopädisch behandelt, sie
zeigen jetzt eine hochgradige Besserung. Die Hände stehen in
fixierter Pronationsstellung, wenn man die Supination erzwingen
will, federt die Hand in die fixierte Pronationsstellung zurück.
Die radiologische Untersuchung ergab, daß das Köpfchen des
Radius laxiert und dieser mit der Ulna bindegewebig verwachsen
ist. In der Literatur sind bisher 36 derartige Fälle bekannt. Di«:
Funktion der Hände wird sich voraussichtlich bessern. Die Ur¬
sache der Affeklion könnte im Mangel an Fruchtwasser liegen.
A . Sou c e k zeigt einen Säugling mit Schwartenbild ung
um di e M i 1 z bei L nes h er e d i t a r i a tarda. Das Ki nd zeigt
Pa rot sehe Pseudoparalyse, Drüsemschwellung, Milztumor und
Abschuppung der Fußsohlen. Am unteren Pole der Milz ist Per-
game'ntknittern fühlbar und ein Reibegeräusöh hörbar.
J. Zap pert demonstriert einen 16jährigen Knaben mit
diffuser Hirnsklerose. Bis zum vierten Lebensjahre war
das Kind gesund, dann bekam es nach einem Sturz Konvulsionen,
Fieber und verfiel in Benommenheit. Nach allmählicher Erholung
trat eine geringe linkseitige Schwäche auf, die Konvulsionen
nahmen an Häufigkeit zu, so daß sie manchmal 60mal am Tage
vorkamen; sie waren manchmal halbseitig, aber meist betrafen
sie den ganzen Körper. Nach mehreren Jahren stellte sich
Schwachsinn und schließlich allgemeine Verblödung ein. Alle
Extremitäten sind gelähmt und spastisch an den Leib gezogen,
die spastische Starre betrifft auch den Rumpf. Die Affektion zeigt
das Bild der Pseudobulbärparalyse, das Kind ist vollkommen
sprachlos, kann kaum mehr schlucken, gelegentlich zeigt sich
Speichelfluß; Störungen von seiten der Augen oder ReizSymptume
an den Extremitäten fehlen. Der Begriff der Hirnsklerose, welche
hier vorliegt, läßt sich nicht so scharf abgrenzen, wie man bisher
angenommen hat. Sie entsteht im Anschluß an subakute Pro
zesse im Gehirn durch allmähliche Progredienz, ihre Symptome
hängen von dem primären Sitz der Affektion ab. Alle diese Fälle
passieren das Stadium der Pseudobulbärparalyse und zeigen einen
langsamen, progredienten Verlauf. Vortragender hat vier Fälle
gesehen, welche in diese Kategorie gehören. Im Wesen der ge.
nuinen Epilepsie liegt nicht eine vollkommene Verblödung, viel¬
leicht gehören manche Fälle von Epilepsie, die in- Verblödung
übergehen, in die K lasse der diffusen Hirnsklerose.
O. Marburg bemerkt, daß die Hirnsklerose immer etwas
Sekundäres ist, sie folgt einer primären Parenchymdegeneration.
Es gibt aber auch primäre Prozesse, welche ähnlich aussehe-n,
wie die Sklerose, nämlich die durch Tumoren hervorge rufenen.
Die Einteilung der Hirnsklerose ist nach folgendem Prinzipe mög¬
lich: 1. Fälle mit vaskulärer Aetiologie, entstanden durch fötale
oder postfötale Gefäßprozesse; sie können diffuse oder zirkum¬
skripte Hirnveränderungen hervorrufen. 2. Entzündliche Skle¬
rose, hervorgerufen durch eine parenchymatöse Entzündung wie
bei akuter multipler Sklerose; sie ist multipel oder diffus, in
bezug auf die- Lokalisation verhalten sich die Fälle- verschieden.
3. Fälle, welche auf hereditärer Degeneration beruhen und zwar
entweder auf primärer Degeneration der Ganglienzellen (Heredo-
deg-ene ratio cellularis1) oder der Nervenfasern (Aplasia axialis
extracorticalis congenita), letztere betrifft die Markscheiden und
die Achs-enzylinder und bietet ein ähnliches Bild wie die mul¬
tiple Sklerose. 4 Den Ueb-ergang von der Aplasie zu den Tumoren
bildet die tuberöse Sklerose, welche mit Tumoren der Nebenniere
und der Haut und mit Störungen der GefaßentwickTung c-inher-
geht. 5. Gliom, Gliosis und Gliomatosis. 6. Pseudosklerose; be¬
stehend in Schrumpfung des Gehirns infolge chemischer Einflüsse.
Die Symptome der GehirnSkle-ros-e hängen nicht Von der Form der
Krankheit, sondern von der Lokalisation ab. Die vaskuläre Skle¬
rose ist ‘nach dem Ablauf des Anfalles meist abgeschlossen, die
entzündliche und die tuberöse Sklerose sowie das Gliom sind
progredient.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
473
, Fr. Spieler weist darauf hin, daß Pseudosklerose mit dif-
I user Sklerose nicht identisch ist . Es ist als plausibel anzu¬
nehmen, daß bei der Pseudosklerose die Veränderungen des Ge¬
hirns' durch molekulare Veränderungen bedingt sind. Das klinische
Bild der diffusen Rückenmarkssklerose ist scharf Umrissen. Bei
dem Falle von Zap pert sind der chronische Verlauf, der trau¬
matische Beginn und akute entzündliche Prozeß im Anfänge der
Erkrankung hervorzuheben. Bei den vom Redner beobachteten
Fallen war ein solcher akuter entzündlicher Prozeß nicht nach
zuweisen. Bei Erwachsenen tritt der geistige Verfall in den Hinter¬
grund, er fängt spät an und nimmt nicht derartige Dimensionen
wie bei jungen Individuen an.
J. Zap pert stimmt mit dein Vorredner darin überein,
daß die diffuse Sklerose ein umschriebenes Krankheitsbild bietet,
sic hat aber Uebergänge zu anderen Affektionen.
B. Schick stellt ein 11 jähriges Mädchen mit Lues here¬
ditaria tarda vor. Dasselbe hot bis zum fünften Lebens¬
jahre keine auffälligen luetischen Symptome, seither sind solche
allmählich aufgetreten. Das Kind zeigt gegenwärtig am Halse
Narben luetischer oder tuberkulöser Natur, Fisteln an beiden Seiten
des Nasenrückens nach Trän ensackoperation , Perforation des Gau¬
mens, eine luetische Infiltration des Larynxeinganges, Perfora¬
tion des Nasenseptums, Taubheit seit drei Jahren, Tumor der
Leber und der Milz, leichte Keratitis’, Hute hin son sehe Zähne,
Verdickung des linken Kniegelenkes, Auftreibung und säbelschei¬
denartige Verkrümmung der Schienbeine, eine abnorme Länge der
unteren Extremitäten, namentlich der linken, welche zum Aus¬
gleich mit der rechten gebeugt gehalten werden muß. Die Pir¬
quet sehe und die W a s s er man n sehe Reaktion sind positiv.
Schmierkur, Z ittmannSehes Dekokt und Enesolhehandlung
hatten nur einen geringen Erfolg.
K. Hoch singer bemerkt, daß es bei frühzeitig erworbener
Lues auch zur Ausbildung von Hute hi n s on sehen Zähnen
kommen kann. Differentialdiagnostisch wichtig ist für die an¬
geborene Lues die Formation des Schädels (olympische Stirne,
Auftreibung der Tubera frontalis), weil er in seiner trühesten Ent¬
wicklung von der Lues beeinflußt wird. Derartige Gelenkaffek¬
tionen wie im vorgestellten Falle findet man bei hereditärer Lues,
deren Behandlung vernachlässigt wurde.
K. Pre leitner demonstriert Zellul oid-S tahldraht-
v er bä n de nach Langes Methode. Diese Verbände bestehen im
Innern aus einer weichen Filzlage, darüber aus einer Wickelung
von Leinwandgurten, die mit iu Azeton gelöstem Zelluloid (.1:3)
bestrichen und durch Stahldrähte verstärkt ist. Die- Verbände sind
sehr fest, leicht und billig und können von jedem Arzte ange¬
fertigt werden. Die Herstellung erfolgt über einem Gipsmodell.
Vortr. demonstriert nach diesem Verfahren hergestellte Platt fuß-
einlagen, Apparate zur Behandlung des Klumpfußes, der ange¬
borenen Hüftgelenksluxation, ferner stellt er Kinder vor, hei
welchen er mit Erfolg eine Kluinpfußbeliandlung, sowie ein Re¬
dressement eines Genu valgum durchgeführt hat.
Wiener dermatologische Gesellschaft.
Sitzung vom 3. Februar 1911.
Y orsitzender : Finge r.
Schriftführer: Mucha jun. und Kren.
Finger hält einen Nachruf für Lustgarten.
Nobl demonstriert an einem achtjährigen Knaben die spo¬
radisch vorkommende Erkrankung der Pseudoarea ( elsi.
Fasal stellt, aus der Abteilung No hl vor:
1. Eine Patientin, die am behaarten Kopfe fünf linsen- bis
liellergroße kahle Stellen zeigt, die1 rundlich, scharf umschrieben
sind und das Bild des Lupus erythematodes in verschie¬
denen Stadien zeigen.
2. Aus seiner Ambulanz in der Charite eine 62jährige I'rau,
bei welcher vor 4V2 Jahren eine A mp u tat io mammae nebst
Ausräumung der Lymphdrüsen der linken Achselhöhle vorge¬
nommen wurde. »Zwei Jahre später trat eine leichte Anschwel¬
lung des linken Armes auf, die in den letzten Monaten bis zur
derzeitigen Größe zunalnn. Der ganze linke Arm erscheint von
der Achsel an bis zu den wulstig aufgetriebenen Fingern außer¬
ordentlich vergrößert.
Seit fünf bis sechs Wochen bemerkt Patientin das Aul¬
treten zahlreicher Knötchen und Flecken in deir Brustgegend
und am linken Oberarm.
Wir 'sehen außer zahlreichen, flachen, linsenförmigen, braun¬
roten Infiltraten eine ganze Aussaat derber, kleinster, hirsekom-
his stecknadelkopfgroßer Knötchen, die teils im Niveau der Haut,
liegen, teils über dasselbe hinausragen und gegen die Klavikula
zu an Größe zunehmen und dort stellenweise Linsengröße er¬
reichen.
Ebenso sehen wir auf dem linken Oberarm zahlreiche derbe
braunrote, scharf umgrenzte Knötchen, welche in gesunder Haut
teils ganz isoliert, teils zu serpiginösen Formen an gereiht er¬
scheinen und nirgends Exulzeration zeigen.
Die histologische Untersuchung eines exulzerierten Knotens
ergibt die Diagnose einer diffusen, karzinomatösen Infiltration
in den Gewebsspalten der Haut.
Brand wein er demonstriert einen Fall von Lichen
p 1 anus.
Beck (als Gast): Gestatten Sie, daß ich Ihnen über den
weiteren Krankheitsverlauf jenes Chauffeurs berichte, den ich
wegen seiner Affektion des Gehörorganes am 1. Dezember in
der Gesellschaft der Aerzte demonstrierte.
Im Februar 1910 hatte der Patient eine Inilialsklerose ak¬
quiriert und erhielt wegen sekundärer Erscheinungen eine Salv-
arsan-Injektion. Darauf sollen die luetischen Manifestationen
prompt geschwunden sein. Fünf: Wochen post injectionem be¬
merkte der Kranke, daß er plötzlich am rechten Ohr sehr schlecht
höre. Am folgenden Tage setzte starker Drehschwindel ein, heftiger
Brechreiz bei leerem Magen und Erbrechen nach jeder Nahrungs¬
aufnahme. Der Patient war nicht imstande, sein Körpergleich¬
gewicht zu erhalten und wich beim Gehen stets nach rechts ab.
Bei der Untersuchung fand ich das rechte Ohr ertaubt und den
Vestibularapparat für sämtliche ihm zugeführten Reize unerregbar.
Die subjektiven Vestibularsymptome klangen allmählich ab, hei
weiter bestehend er Ausschaltung des Kochlejar- und Vestibular-
apparates. Die Wasser mann sehe Reaktion zeigte konstant
negativen Ausfall. Nach Sistieren des Schwindels bestand ein
diffuser Kopfschmerz weiter, dem durch keine Medikation bei-
zukommen war. Am 3. Januar wurde der Kranke wieder von einer
heftigen Schwind elättacke erfaßt, er mußte das Bett hüten und
konnte sich nicht aufrecht erhalten. Einige Tage später wurde
er von seiner Frau an die Ohrenklinik gebracht. Ich fand die
Zeichen einer Ausschaltung des linken Vestibularapparal.es und
einen breitspurigen Gang, wie man ihn hei Taubstummen sehen
kann, bei denen beide Vestibulärapparate zugrunde gegangen
sind. Trotz der Klage des Patienten, auch auf dem linken Ohre
zeitweise schlechter zu hören, konnte ich am Kochlearap parat
dieser Seite nichts Pathologisches nachweisen.
Seit dem 19. Januar nimmt aber dasi Gehör links derartig
rapid ab, daß heute nur sehr laut gesprochene Worte in einer
Entfernung von 20 cm vom Ohre gehört werden.
Bei kritischer Betrachtung dieses Falles ergibt sich fol¬
gendes Resümee: Die Lues als Aetiologie für diese schweren
Veränderungen an beiden Gehörorganen anzusprechen, ist deshalb
nicht sehr plausibel, weil die während der ganzen Beobachtungs-
zeit öfters vorgenommene Blutuntersuchung stets negativen Aus¬
fall ergab. Andrerseits kann man sich kaum vorstellen, daß fünf
Monate nach der Einverleibung von Salvarsan in den Organismus
so schwere Schädigungen durch das Arsen zustande kommen
sollten1 . i _ _i Li i
Es könnte sich nur noch um einen intrakraniellen Prozeß
handeln, der sowohl von der Lues, als auch vom Salvarsan
unabhängig ist. Gegen diese Annahme spricht der vollkommen
negative Nerven- und Augenbefund.
Oppenhei m demonstriert :
1. Einen etwa 50jährigen Mann mit einer Affektion der
Urethra und Glans penis. Man sieht einen runden, etwa heller¬
großen Substanzverlust, der die rechte I rethrallippe in toto, die
linke nur in ihrem oberen Anteile, zum Teil auch aut die Schleim¬
haut reichend, oberflächlich okkupiert. Die Ränder sind scharf,
bogenförmig, die Basis feindrusig, uneben, gelblich belegt, die Ure¬
thralmündung klaffend und unregelmäßig gefranst. Vor drei
Wochen hatte der Kranke nur einen kleinen Defekt an der rechten
Urethrallippe, und ich stellte damals die Diagnose U leer a
venerea; da. die Therapie erfolglos war, so ließ ich Wasser¬
mann machen, der positiv ausfiel, so daß heute die Diagnose
.G u m m a u r e t h r a e et g 1 a n d i s zweifellos ist.
2. Jenen Fall von Fazialisparalyse und frischem syphi¬
litischen Exanthem, der in der letzten Sitzung der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte demonstriert wurde. Die Fazialisparalyse war
damals komplett. Vor vier Tagen habe ich dem Kranken 0-6 g
Ehrlich-Hata subkutan injiziert. Daraufhin Rückgang des Exan¬
thems ohne Herxheimei1 und ebenso der Fazialisparalyse. Es folgt
daraus, daß die Fazialisparalyse tatsächlich durch
Syphilis bed i n g I vv a r.
3. Einen 40jährigen Mann, auf dessen hartem und weichem
Gaumen sich zahlreiche Ulzerationen finden. Dieselben .sind zum
Teil rund, zum Teil unregelmäßig konturiert; einer davon zeigt,
474
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
im Grunde in bohnengroßer Ausdehnung rauhen Knochen, ein
anderer von Kronengröße, neben der Uvula sitzend, wird in dem
medialen Anteil von einer pilzähnlichen Wucherung ausgefüllt.
Die Mehrzahl der Geschwüre ist gelblich-speckig belegt; an ein¬
zelnen Rändern kann man hi rs'ek omgr oße, graue Knötchen er¬
kennen. Wassermann ist stark positiv; Patient hatte von fünf
Jahren Lues. Es sind zweifellos Gummat a der Schleimhaut
und des Periostes. Doch bleibt die Frage offen, ob es sich
um eine Mischinfektion mit Tuberkelbazillen handelt.
Neugebauer demonstriert aus dem Ambulätori um 0 p p e ti¬
li e i m :
♦
1. Einen Patienten, der nur an seiner rechten Thoraxseite
eine Gruppe von ulzerösen Prozessen der Haut zeigt; die einzelnen
Ulzera, von einem roten Hofe umgeben, zeigen einen scharfen,
steil abfallenden Rand, an verschiedenen Stellen peripheres Weiter¬
schreiten. Es handelt sich um ulzerierte Gummen ; der Prozeß
besteht nach Angabe des Patienten zwei Monate.
2. Einen Fall von Lichen ruber planus1.
3. Einen Patienten mit Lupus erythematodes.
Sprinzels stellt einen Patienten vor, der vor fünf Mo¬
naten Lues akquirierte und vor vier Monaten eine Sal-
varsaninjektion erhielt (Garnisonsspital Wien). Mitte Dezember
(drei Monate nachher) Auftreten von Schluck- und Schling¬
beschwerden ; kurz nachher plötzlich Auftreten von Sprach¬
störung (näselnde Sprache). In Verbindung damit leichte Gleich¬
gewichtsstörung. Die Untersuchung ergab eine Lähmung des link¬
seitigen Gaumensegels, andere Erscheinungen im Bereiche der
Vagus Glossopharyngeusgruppe nicht nachweisbar. Diese Sym¬
ptome bestehen derzeit größtenteils fort. Romberg angedeuhet.
V assermann positiv. Der ätiologische Befund zeigt, eine leichte Stö¬
rung beider Vestibularn erven im Sinne einer mäßig gesteigerten Er¬
regbarkeit. Die positive Seroreaktion, das zeitliche Uebereinstim-
men mit einem Zeitpunkt, wo Rezidiven einzutreten pflegen, spricht
dafür, daß wir es hier mit einer syphilitischen Manifestation zu
tun haben, wobei allerdings die eigenartige isolierte Lokalisa¬
tion in einem Nervengebiete in Analogie zu beobachteten Fällen
die dringende Vermutung nahelegt, daß diese Art der Rezidive
in Beziehung zur Salvarsäninjektion zu bringen ist.
Groß demonstriert einen Patienten mit Lichlen planus
cor neu s an beiden Tibien symmetrisch. Außerdem zeigt der
Kranke Lichenefflöreszenzen an der Wangen Schleimhaut und an
der Zunge. Die Lokalisation an der Zunge gehört zu den selte¬
neren Vorkommnissen, besonders in der Ausbreitung, wie sie der
vorgestellte Fall aufweist, zwei guldenstückgroße, milchweiße
Plaques am Zungenrücken, der eine, offenbar ältere, zeigt eine
feinwarzige Oberfläche. Die Konsistenz des Zungenparenchyms
ist etwas vermehrt.
Bei Untersuchung mit dem Sch muckertschen Pharyngo¬
skop erweisen sich Larynx und Pharynx frei von Lichenknötchen,
dagegen finden sich am Zungengrunde teils einzeln stehende,
teils reihenweise angeordnete Knötchen in überaus charakteristi¬
scher Weise.
Die Erkrankung ist in der vorgestellten Lokalisation sehr
selten.
Ullmann: Die Ausdehnung der Plaques ist hier besonders
groß, doch muß ich nach meinen eigenen Erfahrungen diese
Lokalisation für etwas recht Gewöhnliches halten. Kleinere
streifenförmige und wenig auffällige fleckige Verfärbungen des
Zungenepithels sind wohl die häufigsten Erscheinungen dels Lichen
planus mucosae.
Sachs: Die klinisch differenten Schleimhautaffektionen des
Lichen ruber planus zeigen histologisch in ihrem1 patholo¬
gisch-anatomischen Verhalten keinen Unterschied.
Groß verweist darauf, daß nach den Aeußerungen der an¬
wesenden Fachmänner, nach seiner eigenen Erfahrung und nach
literarischen Angaben der vorgestellte Fäll als große Seltenheit
anzusehen sei. Er könne der von Ullmann geäußerten Meinung
nicht beistimmen.
Rusch demonstriert einen 51jährigen Mann mit einer seit
drei Vierteljahren bestehenden Schleimhautaffektion des Gaumens.
Die Schleimhaut des harten und weichen Gaumens, • einschlie߬
lich _ Uvula und Gaumenbögen, ist von einem meist gut um¬
schriebenen, beträchtlich elevierten Infiltrat okkupiert, das ober¬
flächlich stellenweise glatt, glänzend, stellenweise durch tiefe
Furchen papillär zerklüftet und dunkel gerötet ist oder von zahl¬
reichen, kleineren und größeren, unregelmäßig konfigurierten, ziem¬
lich tiefen, gelblich - schmierig belegten Geschwüren mit scharfen,
feinzackigen Rändern bedeckt ist. Im Bereiche des Gaumen¬
segels sind zahlreiche miliare, graugelbliche Knötchen in die
Schleimhaut eingesprengt. Die histologische und bakteriologische
Untersuchung bestätigt die Diagnose Tuberkulose der Gau¬
mensch leimhaut. Aehnliche Veränderungen finden sich an
der Schleimhaut der rechten ary-epiglottischen Falte und am
rechten Taschenband. Ueberraschend sind nun die zu beobach¬
tenden Heilungsvorgänge an der Gaumenaffektion, die auf eine
erst seit wenigen Tagen eingeleitete Jodkalimedikation fest¬
zustellen sind. Günstige Beeinflussung tuberkulöser, namentlich
lupöser Haut- und Schleimhautprozesse durch Jod und Queck¬
silber sind bekanntlich von verschiedenen Autoren berichtet
worden. Diesfalls könnte es sich aber um eine Kombination
von Tuberkulose und tertiärer Syphilis handeln, da die Wasser¬
mann sehe Serumreaktion positiv ist (vor zehn Jahren angeblich
weiches Geschwür und Bubo). Möglicherweise bringt der weitere
Verlauf — - partielle oder restlose Abheilung — weitere Aufschlüsse.
Lipschiitz demonstriert aus der Abteilung Rusch im
Wiedener Krankenhaus :
1. Einen Fall von Lichen ruber planus' am rechten
Unterschenkel, bei welchem die mächtige Ausbildung eines über
5 cm langen, oberflächlich stark zerklüfteten, mit grauweißen,
selm stark ausgebildeten, in kleinen Höhlenbildungen sitzenden
Hornpfropfen ausgestatteten Herdes, eine Aehnlichkeit mit Fr am
bösie herbeiführt. Es bestehen außerdem typische Effloreszenzen
von! Lichen ruber planus.
2. Einen Patienten mit tubero-seripiginösem Syphilid in der
linken Slchultergegend und auf der Stirne, bei welchem am
Stamme, hauptsächlich am Rücken, zahlreiche, linsengroße, rund¬
liche oder elliptische, nach den Spaltbarkeitsrichtungen der Haut
ungeordnete, weißliche Flecke zu sehen sind. Die Hautoberflächc
ist im Bereiche dieser Flecke leicht gefältelt; beim Betasten mit.
dem Finger kann man feststellen, daß die Haut daselbst substanz¬
ärmer ist. Patient steht seit 1906 in unserer Beobachtung und
wurde das Auftreten der sekundären Hautatrophie im un¬
mittelbaren Anschluß an die Abheilung eines lentikulären, papu¬
lösen Syphilids einwandfrei festgestellt.
3. Eine 2Qjährige Patientin mit einem Chilblain- Lupus
Hutchinson. Man findet auf beiden Handrücken und auf
fast sämtlichen Fingern zerstreut ungeordnete-, leicht e le¬
gierte, bläu Hellrote, bis- hellergroße Effloreszenzen, die in ihren
zentralen Anteilen eine graugelblich©, stark verdickte, leicht schup¬
pende Hornschicht aufweisen. An einzelnen Effloreszenzen ist auch
eine deutliche Stichelung der Oberfläche nachweisbar. Besonders
bemerkenswert sind die Veränderungen an den Fingerkuppen:
lin-sengroße, -elevierte, von rötlichen Höfen umgebene Efflores-
z-enzen, die im Zentrum1 eine trockene, derbe, mäßig schuppende,
schmutzig-gelbliche, verhornte Partie einschließen. In der linken
Vola imanus bestehen ferner mehrere mohnkorngroße-, im Zentrum
eine kleine Vertiefung aufweis-emde, blaurote, nur wenig vor-
sprin-gend-e, knötchenförmige Effloreszenzen, die einem Tuberkulid
sehr ähnlich sehen. Am- äußeren und inneren Fußrand beiderseits
findet man zahlreiche lividblaue, tiefsitzende-, auf Druck eine
bräunliche Pigmentierung zurücklassende knotenförmige Efflores¬
zenzen.
Es besteht ferner ein mit narbiger Atrophie abge'heilter, aus¬
gedehnter Lupus erythematodes der K o p f h a u t und frische
Herde am rechten und linken Ohrläppchen.
4. Einen zweiten Fall von zum Teil noch floriden, zum Teil
bereits in Abheilung befindlichen, sehr ausgedehnten, aus zahl¬
reichen Herden zusammengesetzten Lupus erythematodes
der Kopfhaut mit frischen Herden im Gesicht-e.
Sachs: Ein 19 jähriger Patient meiner Beobachtung zeigte
an1 den Fingern das1 Bild des Lupus erythematodes (Chil¬
blain- Lupus Hutchinson); die histologische Untersuchung
ergab keine Aehnlichkeit mit dem des1 Lupus -erythematodes, ent¬
sprach eher dem Bilde eines Tube-rkulids.
Lei n er stellt einen neunjährigen Knaben mit Keratoma
her edi tarium palmare et plantare vor.
Königstein stellt aus der Abteilung Ehrmann 1. eine
Frau mit zahlreichen gummösen Ulzeratione-n der Haut, der Nase,
sowie der Stirne vor;
2. teilt er folgendes mit: Bei den zahlreichen intravenösen
Injektionen von Salvarsan, welche wir in der letzten Zeit aus¬
geführt haben, beobachteten wir häufig das Auftreten einer Kon¬
junktivitis, ungefähr fünf bis sechs Stunden nach der Injektion,
ln den meisten Fällen ist diese starke Injektion der Conjunctiva
palpabrarum et bulbi vergesellschaftet mit einer Herxheim. er¬
stehen Reaktion, sowie von einer hohen Teimperatursteigerung
begleitet, doch sahen wir dieses Phänomen auch ohne Herxheimer
und wesentliche Temperatursteigerung.
Volk stellt eine Frau vor, deren Hauterkrankung offenbar
eine besondere Form der idiopathischen Hautatrophie ist. Die
Affektion ist besonders stark an den oberen und unteren Extre¬
mitäten, Weniger am Stamme ausgesprochen. Am Halse finden sich
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
475
nur einige Pigmentationen, aii beiden Wangen zahlreiche, feine
Gefäßektasiein. Die eigentliche Hauterkrankung lokalisiert sich
uni die Follikel, um welche die Haut in der Größe etwa eines
Stecknadelkopfes unter dem Niveau der Umgebung ist, glatt und
atrophisches Aussehen hat. Um diese Stellen finden sich Gefä߬
ektasien und kleinste kapillare Blutungen. Durch Aneinander¬
reihung solcher veränderter kleinster Hautpartien erhält die Haut
ein ganz eigentümlich gegittertes Aussehen. An den oberen Brust¬
partien einzelne Flecke wie von einem seborrhoischen Ekzem.
Die Affektion besteht angeblich schon seit mindestens zehn
Jahren.
Müller: Ich werde mir später erlauben, aus der Finger-
scheu Klinik einen Fall vorzustellen, welcher kn wesentlichen
mit .dein vorgestellten Fall identifiziert werden kann. Auch bei
diesem Falle handelt es sich um eine Atrophodermie mit Ektasie
der kleinen Gefäße.
Kren demonstriert aus der Klinik Riehl ein 19 jähriges
Mädchen mit universeller Sklerodermie, die vor fünf Jahren
als Sklerodaktylie begonnen hat. Auffallend erscheint an der
Patientin die dunkle Pigmentierung des ganzen Inteigumentes, be¬
sonders der Hände und des Gesichtes. Desgleichen ist auch das
Lippenrot deutlich pigmentiert; die Abgrenzung der P.raun-
färbung gegenüber der blaß gefärbten Lippenschleimhaut ist hier
eine unscharfe.
Derlei Pigmentierungen — besonders der Schleimhäute - -
werden von den Internisten vielfach als Folgen eines gleich¬
zeitig bestehenden Morbus Addisoni aufgefaßt. Es wird sogar
behauptet, daß Schleimhautpigmentierungen für Morbus Morbus
Addisoni geradezu typsich sind. '
Es folgt daraus, daß- bei Sklerodermiekranken die Diagnose
eines gleichzeitig bestehenden Morbus Addisoni nur mit großer
Vorsicht geteilt werden darf; keineswegs berechtigen die er-
erwähnten Symptome zur Diagnose eines kombinierten Krankheits¬
bildes.
Kerl demonstriert aus der Klinik Riehl eine 47jährige
Frau mit Tumoren in der linken Kieferwinkelgegend. Die Affektion
besteht seit vier Jahren. Stärkeres Wachstum bemerkt Patient
seit einem Jahre.
Die eine, fast handtellergroße, flächenhaft ausgebreitete Ge¬
schwulst grenzt sich scharf ab, ragt über das Niveau der Um¬
gebung ca. 0-5 cm vor und erstreckt sich tief in die Subkutis;
die Geschwulst ist auf der Unterlage verschieblich, die Konsi¬
stenz derb. Die Haut erscheint in die Geschwulst einbezogen.
Die Oberfläche zeigt gelbroten Farbenton.
Eine ähnliche, kronengroße Geschwulst, gelagert im Ko-
lium, findet sich in geringer Entfernung oberhall) der erwähnten.
Innere Organe normal, keine Drüsenschwellung. Blutbefund nicht
leukämisch. Die histologische Untersuchung ergibt einen Aufbau
aus kleinen Lymphozyten, daneben reichlich größere Zellen mit
unregelmäßigem Kern, vereinzelt Plasma und Mastzellen.
Mit Rücksicht auf das histologische Bild und den derzeitigen
klinischen Befund ist der Fall in die Gruppe der Mycosis fungoides
demblee einzubeziehen.
Müller stellt aus Fingers Klinik vor:
1. Einen Fall von Poikilodermie (Atrophodermia ery-
thematoides). Im Gesichte und an der Stirne sieht man zahlreiche
rote oder braunrote, sowie braune, meist netzförmig konfluierende,
makulöse Effloreszenzen. Freigeblieben sind nur die Partien über
den temporalen und frontalen Gefäßen, die zentralen \\ angen-
partien beiderseits, sowie die Gegend um die Ober- und nie Unter¬
lippe. Sehr ausgeprägt ist der Prozeß am Halse, speziell rückwärts
sieht man deutlich die hellrot gefärbten, erythemähnlichen Efflores-
zenzen in netzförmiger Anordnung. Die Hautpartien in den Netz¬
maschen sind ein wenig unter dem Niveau der übrigen Haut
gelegen und depigmentiert. Solche oberflächliche Atrophien, in
denen kleinste Gefäße besonders deutlich sichtbar werden, sind
besonders an der Vorderseite dos Halses sichtbar.
An der oberen Thorax- und Rückenpartie setzt sich der
Prozeß in. eine gleichmäßigere, glänzend glatte-, weiß-- livide, über¬
handgroße Fläche fort, die sich unscharf gegen die Umgebung
absetzt. Auf den Oberschenkeln haben sich seit einigen V ochen
hellrote, unregelmäßig begrenzte Flecken gebildet, wie man sie
bei künstlicher Stas© oder bei akuten Erythemen zu sehen g©-
wohnt ist. Es dürfte sich um einen jener seltenen, von Jakobi
zuerst beschriebenen Fälle oberflächlicher Atrophie handeln, die
er Poikilodermie genannt hat.
2. Einen Fall idiopathischer Hautatrophie. Bei dem
Patienten sieht man am rechten Bein von der Trochantergegend
beginnend bis zum Fuß-rücken das bekannt© Bild der idiopathischen.
Atrophie: verdünnte, leicht faltbare Haut. Auffallend ist der Le-
fund einer am Bande dieser Partie bestehenden, dein Nervus
ischiadicus folgenden sklerodonnieähn liehen Verhärtung.
Sachs: Ein von mir in der Sitzung vom 10. Februar 1909
demonstrierter Fall hat mit dem von Müller vorgestellten eine
gewisse Aehnlichkeit.
Stein demonstriert aus der Klinik Finger Reinkulturen
von Micro sp or on Audouini, die aus den Haaren und
Schuppen der in der letzten Sitzung gezeigten, an Mikrosporie
erkrankten Kinder gezüchtet wurden.
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 6. Februar 1911.
Prim. Dr. Wilhelm Bittner demonstriert: 1. Ein großes
embryonales Adenosarkom der linken Niere, das von
einem neun Monate alten Mädchen stammt und am 20. De¬
zember 1910 durch Laparotomie gewonnen wurde. Die Ge-
schwulst hatte dem Kinde keine Beschwerden verursacht; nur
das rasche Wachsen des Abdomens, besonders links, und das
zunehmend schlechte Aussehen des Kindes, für das kein Grund
vorlag, fiel den Eltern auf und veranlaßte sie, Spitalshilfe a.uf-
zusuchen. Bei der Aufnahme des Kindes am 16. Dezember war
ein Tumor nachweisbar, der die ganze linke Bauchhöhle fast
ausfüllte, auch über die Medianlinie nach rechts herüberreichte;
derselbe war etwas beweglich, von unregelmäßiger Gestalt, glatter
Oberfläche, weich, stellenweise scheinbar fluktuierend, schmerz¬
los. Der Perkussionsschall war darüber gedämpft; am medialen
Rande war ein tympanitischer Streifen nachweisbar, der dem
Colon descendens angehörte. Durch eine tympanitische Zone
war der Tumor auch von der Milz abgrenzbar. Es sprach also
alles für einen Tumor des linken Retroperitonealraumes. Der
Harn war normal, ohne Blutspuren, wie ja dies bei der Mehr¬
zahl dieser embryonalen Tumoren der Fall ist. Auffallend war
die Blässe und die Kachexie des sonst gesunden Kindes. Der
Tumor zeigte sehr rasches Wachstum, so daß er in den vier
Tagen der Spitalsbeobachtung die Medianlinie sehr weit über¬
schritten hatte. Mit Rücksicht darauf wurde trotz des schlechten
Aussehens des Kindes die Exstirpation beschlossen und dieselbe
am 20. Dezember mit Erfolg durchgeführt. Vor der Operation
erhielt das Kind eine subkutane Kochsalztransfusion von zirka
200 g physiologischer Kochsalzlösung und eine halbe Spritze
Kampferöl subkutan. Diese subkutanen Kochsalz translusionen be¬
währen sich dem Vortragenden bei schweren Operationen an
Kindern vorzüglich. - Die Bauchhöhle wurde durch eine, vom
Rippenbogen bis fast zur Inguinalgegend verlaufenden Schnitt
eröffnet. Es präsentierte sich der gewaltige Tumor, der die
Atmung mitmachte und von zahlreichen Venen überzogen war.
An seinem medialen Bande zog das Colon descendens herab .
Nun wurde das hintere Blatt des Peritoneums, das den Tumor
unmittelbar überzog und stellenweise mit dessen Oberfläche ver
klebt war, in der Schnittrichtung gespalten, dessen Ränder sofort
durch Mikulicz-Klammern fixiert. Dabei wurden einzelne große
Venen ligiert. Bei der nun folgenden vorsichtigen stumpfen Aus¬
schälung des Tumors riß derselbe ein und ergoß eine große Menge
von Geschwulstbröckeln über das Operationsfeld. Am unteren
Pol wurde der dünne Ureter entdeckt und doppelt ligiert, hierauf
die Gefäße des Nierenstieles separat sorgfältig ligiert, worauf
die Entfernung des mächtigen Tumors anstandslos gelang. Nach
sorgfältiger Durchspülung des Operationsfeldes mit physiologi¬
scher Kochsalzlösung wurde eine Gegenöffnung im retroperr-
tonealen Raum lumbalwärts angelegt und hier ein Drainrohr ein¬
gelegt, hierauf der Spalt in dem hinteren Peritonealblatte duich
Katgutnaht sorgfältig geschlossen, wobei die vorher erfolgte Fi¬
xierung der Spaltränder durch die Mikulicz-Klemmen sich vor¬
züglich bewährte. Nach nochmaliger Durchspülung der Bauch¬
höhle und der Darmschlingen mit physiologischer Kochsalzlösung
erfolgte Schluß der Bauchwun.de in Etagen.
Der Verlauf war ein vollkommen reaktionsloser. Es traten
auch keine Störungen der Nierensekretion seitens der anderen
Niere auf, wie solche vom Vortragenden nach derartigen Opera¬
tionen beobachtet wurden. Die Entfernung der Nähte eiidgte
nach sechs Tagen, die Entlassung des Kindes am •>. Januar
1911, also vierzehn Tage post operationem. Nur die Ernährung
machte Schwierigkeiten; es stellte sich ein Darmkatarrh ein, an
dem das Kind auch daheim laborierte. -
Die histologische Untersuchung des Tumors (Professor
Dt. Sternberg) ergab ein embryonales Adenosarkom
(Birch- Hirschfeld). . .,
Der Vortragende erwähnt in Kürze die Eigentümlichkeiten
dieser Tumoren in ihrem Auftreten und Symptomen. Sie verlauten
476
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
fast symptomlos, ein Umstand, der diese Tumoren so spät zur
Operation führt; sonst wäre die Mortalität und Prognose nicht
so schlecht, da diese Tumoren seiten Metastasen und Rezidiven
machen. Sie sind Geschwülste, die am häufigsten im frühen
Kindesalter beobachtet werden. Der Fall eines zehnjährigen
Mädchens, der ebenfalls eine fast die ganze Bauchhöhle aus-
lullen.de Nierengeschwulst betraf und vom Vortragenden im Jahre
1909 mit Erfolg operiert und im Vereine vorgestellt wurde', ge¬
hört zu den Seltenheiten. Das Mädchen lebt heute noch und
befindet sich wohl.
2. Ein 15 Monate altes Mädchen, bei dem er am
7. Januar 1911 ein über mannskopfgroßes Fibrolipom
der rechten Nierengegend per laparotomiam entfernt
hatte.
Die Geschwulst war symptomlos gewachsen; nur die Zu¬
nahme das Abdomens fiel den Eltern auf. Während der zwölf
Tage während Spitalsbeobachtung vom 26. Dezember 1910 bis
zum Operations tage, zeigte der Tumor ein so rasches Wachstum,
daß derselbe, wie man klinisch und röntgenographisch nachweisen
konnte, die ganze Bauchhälfte ausfüllte. Der Tumor war beweglich,
hart, von glatter Oberfläche; an seinem medialen Rande war durch
Perkussion der tympanitische Streifen nachweisbar, der dem Colon
ascendens entspricht und der charakteristisch für Tumoren der
Niere, respektive des Retroperitoneal raumes ist. Mit Rücksicht
auf das ungemein rasche Wachstum und die harte Beschaffenheit
desselben nahm der Vortragende einen malignen Tumor des
rechten Retroperitonealraumes, ein Lymphosarkom, an. Die
Operation, die in ganz analoger Weise, wie bei dem vorher demon¬
strierten Falle durchgeführt wurde, ergab aber, wie oben erwähnt,
■ein Fibrolipom. Die rechte Niere lag dicht der oberen, medial-
hinteren Fläche des Tumors an, von ihm fast eingehüllt, so daß
der Vortragende einen Moment schon entschlossen war, sie, mit
Rückssicht auf die Malignität des Tumors, mit zu entfernen. Doch
gelang die versuchte stumpfe Ausschälung aus dem Geschwulst¬
bette. Der Tumor war, in Hinsicht auf das kleine lVsjährige Kind,
von außerordentlicher Größe und wog 1555 g.
Fibrolipome der Nierengegend, die teils von dein Kapselfett,
teils von dem retroperitonealen Fett ausgeben können, sind ja
bei Obduktionen nicht so große Seltenheiten. Ein Tumor in
jener Größe dürfte aber ein Unikum sein ; wenigstens fand der
Vortragende keine ähnliche Mitteilung in der ihm zugänglichen
Literatur.
Der Verlauf war ein reaktionsloser. Das Kind wurde 14 Tage
post operatiomem mit einer Bauchbinde vollkommen gesund ent¬
lassen.
3. Eine zweifaustgroße H y d r o n e p h r o s e, herrührend
von einem 4 Vs Monate alten Säugling (Knabe), der am
1. Februar d. J. operiert wurde und sich zur Zeit der Demon¬
stration vollkommen wohl und gesund noch im Kinderspitale
befindet. Auch diese Geschwulst wuchs symptomlos und wurde
in der Ambulanz des Kinderspitals entdeckt. Den Eltern fiel
die Zunahme, speziell der linken Bauchhälfte, auf. Das Kind zeigt
gar keine Symptome, die auf ein Nierenleiden schließen würden.
Doch wurde der Tumor sofort als ein Tumor der linken Niere an¬
gesprochen. Der Tumor füllte die ganze linke Bauchhälfte aus und
reichte über die Mittellinie nach rechts. Auch hier war jenes
charakteristische tympanitische Rand an dessen medialer Umran¬
dung nachweisbar. Der Tumor war beweglich, fluktuierend und
ließ bei der Palpation eine größere innere, deutlich fluktuierende,
glatte, zystenartige „Hälfte“ und eine kleinere längliche, härtere
Abteilung nachweisen, die der „Zyste“ förmlich aufsaß. Wie man
an dem Präparate sieht, wird jene innere, zystenartige Abteilung
von dem enorm dilatierten Nierenbecken, die äußere aber von
der ebenfalls hydronephrotisch ausgedehnten Niere gebildet, die
in Form einer länglichovalen Kappe der Zyste auf sitzt.
Auch dieser Tumor wuchs „unter den Augen“ und der
Vortragende vermutete ein malignes Neoplasma der Niere.
Die Operation wurde in gleicher Weise, wie bei dem ersten
und zweiten Falle (ebenfalls nach vorhergehender subkutaner
Transfusion von ca. 200 g physiologischer Kochsalzlösung und
Injektion einer halben Spritze Olei camphorati) mit Erfolg
in 20 Minuten durchgeführt. Die Heilung erfolgte per primam.
Nur die Ernährung machte Schwierigkeiten. Der Mutter
blieb infolge der Angst und Sorge um ihr einziges Kind die
Milchsekretion aus, jede andere Nahrung wurde erbrochen. Das
Kind begann hoch zu fiebern, die Stühle wurden grün, schlecht
ausgehend, das Kind verfiel rasch, so daß am dritten Tage
piosjb operatiomem nachmittags das Kind ganz kollabiert, mit
trockener, in Falten abhebbarer Haut, nahezu sterbend, da lag.
ln dieser kritischen Situation bewährte sich, wie schon unzählige
Male, eine subkutane Kochsalztransfusion (250 g) geradezu als
lebens rettender Eingriff. Das Kind envachite förmlich, wurde
frischer; zum Glück, wohl unter diesem erfreulichen Anblick
stellte sich bei der nervösen Mutter die Milchsekretion ein. Sofort
änderte sich wie mit einem Zauberschlag das Bild. Das Kind
trank kräftig und erholte sich rasch, die Temperatur lief zur
Norm; es bewährte sich wieder einmal die förmlich heilende Kraft
der Frauenmilch bei einem in seiner Ernährung schwer alterierten
Säugling. Der Vortragende bemerkt, daß er Säuglinge nach Opera¬
tionen niemals fasten, sondern immer sofort an die Brust
legen lasse und legt auf diese Maßnahme ein außerordentliches
Gewicht, da Säuglinge auch geringe Blutverluste und Narkosen
sonst nicht gut vertragen.
Von jenem Moment an war der Verlauf ein tadelloser; das
Kind verließ mach einer Woche geheilt die Anstalt, und ist an¬
haltend gesund.
Zu bemerken wäre, daß der Ureter, der am unteren Pole
der Zyste abging, während der Operation abriß. Es gelang wohl,
das periphere Ende zu finden und zu unterbinden, nicht aber
das zentrale, das selbst an dem exstirpierten Präparate schwer
zu finden war. Die Folge war, daß der klare, flüssige Inhalt
in die Bauchhöhle während der Operation abträufelte. Doch erwies
sich der Harn bei der bakteriologischen Untersuchung (Professor
Dt. ('. Sternberg) als steril. Es handelte sich also um eine
hochgradige, offenbar kongenital angelegte Hydrone
p hr ose, die mit Rücksicht auf den anatomischen Befund (Fehlen
einer Narbe, eines Hindernisses usw., Mangel einer Erweiterung
des Ureters) wohl auf eine a b n o r m e, schräge lmplan tat i o n
des Ureters (mit Bildung einer ventilartigen Klappe) zurück¬
zuführen sein dürfte.
Prijm • B a k c s (als G ast) : 1 . Beit. rä g e z u r B ii cke n-
m a r k s c h i r u rg i e.
Vortr. demonstriert: a) Den Fall von Riesenzellensar-
k o m d er W i r h e 1 is ä u 1 e, welchen bereits Prim . Mager nach
der Operation vorstellte; die Heilung macht immer erfreulichere
Fortschritte, die Beweglichkeit der unteren Extremitäten ist heute
bereits eine sehr gute, Pat. weist einen normalen Gang auf.
b) Luxation der Wirbelsäule nach einem Sturz aus
einer Höhe von 6 m. An der Hand von Röntgenogrammen de¬
monstriert Vortr. die Halswirbelsäule mit dem luxierten sechsten
Wirbel, welcher außer schwerer Behinderung der Kopfbewegungen
durch Druck auf das Rückenmark, Parästhesien der oberen Extre¬
mitäten, schlaffe Lähmung und Atrophie des linken Armes,
große Scbmierzen und unklare Erscheinungen von seiten des
Zentralnervensystems verursachte. (Der Patient litt an Anfällen
epileptischer Natur und zeitweise an Erscheinungen von Ataxie.)
Vortr. legte den fünften bis siebenten Halswirbel bloß und ent¬
fernte die Bögen des fünften und sechsten Wirbels. Man sali
deutlich, wie das Rückenmark durch den luxierten Wirbelkörper
vorgewölbt war, jedoch gut pulsierte. Bei dem Versuche, das
Rückenmark vorzuziehen, um den vorspringenden Teil des Wirbel¬
körpers zu entfernen, traten Konvulsionen in den oberen Extre¬
mitäten auf und die Atmung wurde so oberflächlich, daß Vor¬
tragender auf einen weiteren Eingriff verzichten mußte. Immerhin
hatte die Operation einen entsprechenden Erfolg: die Schmerzen,
sowie die Erscheinungen epileptoider Natur sind verschwunden,
die Unbeweglichkeit der Wirbelsäule hat einer ganz beträcht¬
lichen, Bewegungsmöglichkeit im Sinne der Drehung und des
Nickens Platz gemacht. Es besteht allerdings noch (lie schlaffe
Lähmung der linken oberen Extremität geringen Grades.
c) Vortr. berichtet über zwei Fälle operativ b eh a n-
delter Kompressionsmyelitis infolge tuberkulöser
Spondylitis. Im ersten Falle — einem 18jährigen Jüngling
- waren alle Symptome der Kompressionsmyelitis nebst Gibbus
der Dorsalwirbel vorhanden. Durch Laminektomie wurden fünf
dorsale Wirbelbögen entfernt und folgender interessanter Befund
erhoben: der Wirbelkanal war durch ein sukkulentes tuberkulöses
Granulationsgewebe, welches das Rückenmark zirkulär umgab
und komprimierte, ausgefüllt. Das exakte Entfernen dieses tuber¬
kulösen Granuloms mit scharfen Löffeln förderte eine vollständig
intakte Dura zutage. Nach vorsichtiger Dislokation des Rücken¬
markes entdeckte der Vortragende den tuberkulösen Herd in zwei
anstoßenden Wirbelkörpern und entfernte denselben. Der Befund
der normalen Dura unter den tuberkulösen Massen war derart
überraschend, daß der Vortragende, um sich zu überzeugen, ob das
Rückenmark tatsächlich normal sei, die Dura unter Wahrung
strengster Asepsis mittels eines ca. 3 bis 4 cm langen Längs¬
schnittes inzidierte. Das Mark hot makroskopisch ein völlig nor¬
males Bild dar, weshalb die Inzision sofort durch eine feinste
fortlaufende Naht geschlossen wurde. Die per primam geheilte
Operation zeitigte einen guten Erfolg, da die Symptome der Korn
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
477
Nr. 13
pressionsmyelitis allmählich zurückgingen und der Patient wieder
die Beweglichkeit seiner gelähmten Beine erlangte.
Der eine 30jährige Frau betreffende zweite Fall litt eben¬
falls an einer schweren tuberkulösen Kompressionsmye¬
litis; es wurden sechs dorsale Wirbelbögen entfernt, das blo߬
gelegte Mark vorsichtig eleviert, wobei unter demselben ein in
den Wirbelkanal ca. 1 cm prominierender kleinhöckeriger, glatter
Tumor von der Größe eines Zehnhellerstückes vorgefunden wurde.
Derselbe bestand aus tuberkulösen Granulationen; bei seiner
Entfernung gelangter der scharfe Löffel in zwei para vertebrale,
faustgroße Abszesse. Alles Krankhafte wurde entfernt, die Höhlen
ausgetrocknet und mit Beck scher Bismutpasta ausgefüllt. Die
Patientin, welche den großen Eingriff überraschend gut über¬
stand, starb leider am zehnten Tage an einer Embolie der Ar
teria pulmonalis.
Die Sektion (Prof. Sternberg) hat gezeigt, daß die
Operation wohl radikal ausgeführt war, daß aber irreparable Ver¬
änderungen des komprimierten Markes eine Restitution schwer¬
lich zugelassen hätten.
Die Operationen der Kompressionsmyelitiden infolge Wirbel¬
karies gehören zu den Errungenschaften der Rückenmarkschirur¬
gie und Vortr. tritt entschieden für dieselbe ein, indem er für
eine frühe Zuweisung der einschlägigen Fälle plädiert.
2. Vortr. demonstriert, ein 17jähtriges Mädchen, welches
wegen schwerer chronischer bilateraler Nephritis nach seiner
Methode mittels beiderseitiger Einhüllung der dekor-
tizierten Nieren in gefäßreiche Partien des Netzes
und der Mesenterien behandelt wurde. Bei dieser Gelegenheit
demonstriert Bakes seinen neuen plastischen Querschnitt auf
die Niere. Der vorgestellte Fall weist vorläufig nahezu keine
Besserung auf.
Anknüpfend berichtet Bakes, daß ein vor zirka sechs
Jahren öperierter Nephritiker sich noch vor kurzer Zeit andauernd
gut befand (seitdem noch keine Nachricht) und daß von einem
im Herbste 1910 operierten 20jährigen Mädchen ebenfalls überaus
erfreuliche Nachrichten vor zwei Tagen eingelangt sind. Diese
Erfolge ermutigen Bakes zur Fortsetzung seiner operativen The¬
rapie der Nephritis, obwohl er sich gut bewußt ist, daß er durch
die Omentation kein neues Parenchym produzieren könne; doch
scheint es nach seinen Erfahrungen, daß durch die Einschaltung
der Nieren in neue Gefäßbahnen die chronischen Prozesse in
denselben zumindest auigehalten werden, was in der Abnahme
der Albuminurie und in subjektiver Besserung des Befindens
der Kranken zum Ausdruck kommt.
3. Der Vortragende berichtet über die Zweckmäßigkeit d< r
Spreng e Ischen Laparotomiequerschnitte für Operationen an
den Gallenwegen und demonstriert hiezu drei auf diese W eise
operierte Fälle: Zwei Ektomien wegen chronischer Cho¬
lezystitis und Empyems und einen Fall, in dem die Ektomie
infolge nahezu untrennbar fibrös verwachsener Blase mit den
Nachbarorganen so gefährlich erschien, daß man hier zur Zys t u¬
st o in ie greifen mußte. Erwähnung verdient noch die latsache,
daß, obwohl bei der Operation die Gallenblase durch Auslöffeln
und bimanuelles Ausstreifen total entleert wurde, sich dennoch
im Laufe der Rekonvaleszenz eine große Menge polyedrischer
Cholelithem aus der Zystostomieöffnung entleerte, deren Gesamt¬
volumen dem Fassungsraume der Gallenblase nicht entsprach.
Vortragender ist der Meinung, daß die Steine in einem in das
Leberparenchym eingebetteten Divertikel sich gebildet haben. Einen
ähnlichen Fall operierte Bakes im Trebitscher Krankenhause:
Bei einer älteren Frau wurde gelegentlich, einer Ektomie im
Leberbette der Gallenblase eine Oeffnung gefunden, welche in
einen intrahepatalen Sack, der ebenfalls mit kleinen Steinen
förmlich ausgestopft war, führte. Diese sackartigen Ausweitungen
der Blasenwand scheinen unechte Divertikel derselben darzu¬
stellen, welche auf Grund von Geschwürsprozessen der Wand
sich bilden und zur primären Steinbildung disponieren.
Diskussion: Prof. Sternberg hatte Gelegenheit, den
einen der beiden Fälle von tuberkulöser Spondylitis zu obduzieren
und meint in Anbetracht des erhobenen Befundes, der weit¬
gehenden Zerstörung der Wirbelkörper und schweren \ ei im e-
rung des Rückenmarkes, daß in solchen Fällen die operativ!
Behandlung wohl keinen Erfolg haben könne. Bei dem anderen
Falle scheint es sich nach der Schilderung des Prim. Lakes
um die Kahler sehe Pachymeningitis caseosa externa gehandelt
zu haben. Möglicherweise könnte hier die operative 'I herapie
bessere Aussichten haben.
Prim. Bittner empfiehlt für die Behandlung der Kom¬
pressionsmyelitis die Bay ersehe Extensionsbehandlung, mit. (<i
er brillante Erfolge erreichte. Er hat in einem Falle dorsolumbaler
tuberkulöser Spondylitis die Laminektomie nach Tr ein 1 ( 11
bürg gemacht und die Bögen von fünf Wirbeln reseziert. Die
Lähmungen gingen nach der Operation zurück, doch hat ei-
später von dem Kinde nichts mehr gehört. Nach seinen Erfah¬
rungen ist bei der Behandlung der tuberkulösen Spondylitis die
konservative Methode unbedingt zu bevorzugen und verhält sich
Redner auch der Hi ldeb r an d sehen Laminektomie gegenüber
in solchen Fällen sehr skeptisch.
Dr. Sch mied 1 fragt, um welche Formen, der Nephritis
es sich in den operativ behandelten Fällen von Bakes gehandelt
habe und ob vor und nach der Operation Blutdruckmessungen
gemacht wurden, Gerade für die Beurteilung des therapeutischen
Effektes operativer Eingriffe bei Nephritiden wäre die Aende-
rung des Blutdruckes von ausschlaggebender Bedeutung.
Prim. Bake§ tritt nochmals für die operative Behandlung
der Kompressionsmyelitiden infolge von tuberkulöser Wirbel¬
karies ein und betont, daß die Indikationsstellung vorläufig keine
strikte sein kann, da ausreichende Erfahrungen noch mangeln.
Dennoch muß der Chirurg bestrebt sein, in Fällen, welche gelähmt,
und hilflos einein unvermeidlichen Tode geweiht sind, den einzig
rettenden operativen Eingriff zu wagen.
Die operative Behandlung der Nephritis betreffend, begrüßt
der Vortragende die Anregung Schmie dis, durch Blutdruck¬
messungen die Nierenarbeit zu kontrollieren, um so die even¬
tuelle operativ erzielte Besserung konstatieren zu . können. Diu
Form der operierten Fälle ist durch histologische Hntersuchung
der exzidierten Nierenstücke festgestellt worden.
Sitzungen vom 20. Februar und 6. März 1911.
Prim. Engelmann berichtet über einen Fall von akuter
myeloider Leukämie im Anschlüsse an einen Scharlach.
Das bisher gesunde, blühend aussehende, kräftige, iOVajährige
Mädchen erkrankte an einer leichten Skarlatina. In der zweiten
Woche trat nach einer kurzen afebrilen Periode eine Temperatur¬
steigerung bis 39-2, begleitet von Kopfschmerzen, Konjunktivitis
und Rhinitis, auf, welche zwei Tage anhielt. Ende der zweiten
Woche typische lamellöse Schuppung, besonders an Händen und
Füßen. Bis zum 23. Krank belts tage frei von Symptomen und
Beschwerden. An diesem Tage zeigen sich, am ganzen Körper
zerstreut, verschieden große, mit klarem Serum gefüllte Bläschen,
die typischen Varizellen entsprechen. Mehrere darunter pem¬
phigoid, mit einem Durchmesser bis 20 mm. Temperatur bis 40°.
lu den nächsten zwei Tagen stark remittierendes lieber. Vom
26. Krankheitstage ab normale Temperatur. Die größeren EL
floreszenzen sind geplatzt, die kleineren Bläschen eingetrocknet.
Im Harne etwas Albuinen. Bis auf mehrmaliges Erbrechen gutes
Allgemeinbefinden. Am 28. Tage entwickelt sich der Symptomen-
komplex einer schweren hämorrhagischen Diathese in Form von
unstillbarer Epistaxis. Hämatemesis, Hauthämorrhagien und Blu¬
tungen aus den schon eingetrockneten Eifloreszenzen. Zuletzt noch
Abgang von blutigem Harn und Stuhl. Am 30. Krankheitstage
Exitus letalis. Die Autopsie (Prof. Sternberg) ergab den Be¬
fund einer akuten myeloiden Leukämie, der auch der post mortem
erhobene Blutbefund entsprach.
Prof. Ste mb erg hebt die wichtigsten Symptome der akuten
Leukämie hervor und bespricht insbesondere die Hauteffores-
zenzen, die in ihrem Bilde ungemein wechseln können, die
Neigung zu „hämorrhagischer Diathese , das Blutbild der akuten
lymphatischen und akuten myeloiden Leukämie und die Erschei¬
nungen von seiten der Schleimhäute.
Dr. E. Kraus: Eperimenteller Beitrag zur Ver¬
hütung der Konzeption durch chemische Mittel.
Vortr. hat in dem pathologischen Institute der Brünne r Laudes¬
krankenanstalt untersucht, ob man beim Kaninchen durch An¬
wendung der für den Menschen empfohlenen antikonzeptionellen
Mittel die Gravidität verhindern kann. Es wurden 0-8%ige Zi¬
tronensäure, 4°/oige ölige Borsäurelösung und N of f kesche Hygiea-
Pessare in löslicher Form in die Scheide der Versuchstiere vor
der Kohabitation eingebracht; diö meisten liere wurden gravid.
Diese Ergebnisse, sowie jene von Kontrollversuchen führen m
Ueberei nsti mm ung mit den Erfahrungen der täglichen Praxis zu
dem Schlüsse, daß die antikonzeptionellen Mittel äußerst unzu¬
verlässig und daher nicht zu empfehlen s nd. (Erscheint ausführlich
im Zentralblatt für Gynäkologie.) T ,
Priv.-Doz. Prim. Di L. v. Zumbusch (Wien) a. G. : Le iter
Hautkrankheiten und ihre Beziehungen zu inneren
Erkrankungen. 1
Vortragender hält ein Referat der jetzigen Anschauungen
über den Zusammenhang von Hautkrankheiten mit allgemeinen
und inneren Erkrankungen. Rel. tut kurze Erwähnung < ei 1
tigsten Folgen, welche Hautkrankheiten nach sich zu u n, n
478
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 13
«ie das Allgtumfinboiiuden h coin trächtigen; weiters derjenigen.
Leiden, die zugleich, die Haut und die inneren Organe hetalien.
Als die interessantesten Fragen sind anzusehen, wie Stoff¬
wechselanomalien (Diabetes, Gicht) und wie die Erkrankungen
der Drüsen ohne Ausführungsgang die Haut beeinflussen. Leider
sind wir, abgesehen von Xanthoma diabeticum und einzelnen Haut¬
leiden, welche bei Schilddrüsen und Genitalleiden auftreten, fast
völlig im Dunkeln. Umso reicher wuchern die Hypothesen; wenn
man die Literatm', besonders die ausländische, durchschaut, so
findet man fast jede Dermatose von irgendeiner Seite als Stoff¬
wechselkrankheit dargestellt.
Interessante und vielleicht für die Zukunft aussichtsreiche
Momente gibt uns das Studium des anorganischen Salzstof'f-
wechsels. Im großen und ganzen ist unsere Ausbeute an sicherem
Wissen sehr dürftig.
Verein deutscher Aerzte in Prag.
Sitzung vom 10. Februar 1911.
Dr. Imhofer: Rezidive nach Adenotomie.
1 ortr. unterscheidet echte Rezidive, d. h. neuerliche Wuche- !
i ungen des entfernten adenoiden Gewebes und Pseudorezidive,
d. h. Ausbleiben des erwarteten Erfolges der Operation ohne
eigentliche Neubildung des adenoiden Gewebes und faßt die Er¬
gebnisse seiner Untersuchungen in folgenden Sätzen zusammen:
1. Rezidiven adenoider Vegetationen sind häufiger, als im
allgemeinen geglaubt wird; genaue statistische Untersuchungen
größerer Kliniken in dieser Hinsicht wären wünschenswert.
2. Die Ursachen des Rezidives sind in der allgemeinen
Konstitution des operierten Individuums zu suchen.
3. Die Hauptursache ist die Skrofulöse.
4. Bei Skrofulösen sollen Adenotomien nur bei dringender
Indikation vorgenommen werden (wiederholte akute Mittelohr¬
katarrhe, erhebliche Störungen der Atmung und Entwicklung,
hartnäckige Konjunktivitiden ekzematöser Art).
5. Antiskrofulöse Therapie ist nach der Adenotomie wirk¬
samer als vor derselben.
6. Auch für die Pseudorezidive hat die Skrofulöse ätio¬
logische Bedeutung.
Dr. Hecht und Dr. Klausner: Moderne Gonorrhoe¬
therapie. Bericht über 50 Fälle, die nach Schindler-Berlin
behandelt wurden. Die Anwendung kleiner Atropinmengen er¬
möglicht es, auch bei akuten Erscheinungen sofort mit der Therapie
zu beginnen, ohne Komplikationen befürchten zu müssen. An¬
teriorbehandlung mit 3- bis öligem Protargol unter Zuhilfenahme
von Kokain, Posteriorbehandlung mit Vr- bis VWoigem Protargol
führen oft in kurzer Zeit zum Schwinden der Gonokokken.
Komplikationen werden durch die von Bruck inaugurierte
Vakzinebehandlung oft in erstaunlich kurzer Zeit geheilt; doch
gibt es genügend Fälle, in denen mit dieser Methode ’ allein
kein dauernder Erfolg zu erzielen ist. Der Urethralprozeß bleibt
stets unbeeinflußt. 0. Wiener.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte
in Böhmen.
Sitzung am 17. März 1911.
1. S o b o t k a demonstriert :
a) Einen 12jährigen Knaben mit einer seit 8 Jahren be¬
stehenden und zunehmenden Hauterkrankung. Gegenwärtig
leicht atrophische Veränderungen im Gesichte, schuppende nicht
juckende Ilerdchen an verschiedenen Körperstellen und bläulich-
rote, ausgebreitete, weiche und gewebsarme Infiltrate mit Horn-
pftöpfchen in den Follikelmündungen und mit gewaltigen gelben,
Ilornzellen enthaltenden Retentionszysten, besonders an den Ge¬
schlechtsteilen und am linken Oberschenkel. Histologisch in
jüngeren Herden uncharakteristische Entzündung, in älteren das
ganze Korium umgewandelt in ein Infiltrat von Lymphozyten
f ibroblasten, Plasmazellen und Riesenzellen in einem feinen
Netze als Rest des Bindegewebes bei fast vollständigem Verluste
der elastischen Fasern. Diagnose: Für Tuberkulose sprechen
Halsdrusennarben, aber weder physikalischer noch radiographischer
Befund, ebensowenig das Ergebnis der Pi r quetschen und
der K o c h sehen Reaktion; für leukämische oder pseudoleukämische
Hautveranderungen weder Blutbild noch Histologie; für Mycosis
fungoides vielleicht manches im histologischen, aber nichts im
klinischen Bilde. R e s u m e : Anscheinend ein Prozeß aus der
Gruppe der infektiösen Granulationsgewebe mit sehr starkem
Schwunde des autochthonen Gewebes; sekundärer Hornzysten-
bildung. Sichere Unterordnung der Affektion unter eines der
bekannten Krankheitsbilder vorläufig unmöglich.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Knbasta.
Druck von Bruno Bartelt. W
b) Einen 22jährigen Mann mit Morbus Reckling¬
hausen; ungewöhnlicherweise auch an der Wangenschleim¬
haut ein weiches Fibrom.
2. F. Pick: Perichondritis. Demonstration eines
45jährigen Mannes bei dem vor einem halben Jahre eine
Anschwellung am Halse auftrat, später Heiserkeit und Atemnot,
dann Aufbrechen der Anschwellung mit Fistelbildung. In der
Anamnese Rippenfellentzündung und Lungenspitzenkatarrh, jetzt
keine manifeste Tuberkulose. Im Kehlkopfe anfangs enorme
das Lumen fast ganz verschließende Schwellung, polsterförmig
von den falschen Stimmbändern aus. Nirgends Ulzeration. Von
der zwei Finger unterhalb des Pomum Adami liegenden Fistel-
[ Öffnung gelangte die Sonde auf rauhen Knorpel, bei stärkeren
j Hustenstößen geht die Luft auch zur Fistelöffnung heraus.
\ Wassermann negativ, Pirquet deutlich positiv. Im reich-
j liehen fötiden Sputum erst nach Verarbeitung großer Mengen
spärliche säurefeste Bazillen, Meerschweinchenimpfung vor vier
; Wochen, bisher negativ, ebenso eine solche vom Fistelsekret,
welches mikroskopisch keine Bazillen enthielt. Es handelt sich
demnach wohl um eine primäre Perichondritis des Schildknorpels
i mit äußerer Fistelbildung. Hiemit stimmt, daß der Mann vor zehn
1 Jahren wegen einer als Struma gedeuteten Geschwulst am Halse i
1 operiert wurde, die sich erst dann als Abszeß erwies. Seither
war er gesund. Im Verlaufe der jetzigen Behandlung hat sich
die Fistel geschlossen und und sind die Atembeschwerden ge¬
ringer, doch ist der objektive Befund wenig geändert, so daß
doch noch eine Operation nötig werden dürfte. (Schluß folgt.)
Programm
der am
Freitag; den 31. März 1911, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Regierungsrat Dr. Adler stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Priv.-Doz. Dr. U. Wiek: Zur Pathogenese der Gicht.
2. Diskussion über den Vortrag der Herren Jul. Neumann und
L. Herrmann: Biologische Studien Uber die weibliche Keimdrüse. Zum
Worte gemeldet Prof. H. Albrecht
Vorträge haben angemeldet die Herren: Haus Salzer, Robert
Breuer, K. U II manu, A. Kronfeld, F. Dimmer.
B e r g m e i s t e r, P a 1 1 a u f.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 8. April 1911, 7 Uhr abends, im Sitzungs¬
saale des Kollegiums I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Prim. Priv.-Doz. Dr. Lotheisen stattfindenden wissenschaftlichen Ver¬
sammlung.
Prof. Dr. K. A. Herzfeld: Wechselbeziehungen zwischen Er¬
krankungen des Processus vermiformis und der weiblichen Becken- '
Organe.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch den 5. April 1911, 7 Uhr abends, in: I
Hörsaale der Klinik Ilofrat Ghiari.
Programm:
Demonstrationen haben angemeldet: Dr. J. Pelzlbauer und
Dr. 0. Hirsch.
Unterstützungsverein für Witwen und Waisen der
k. u. k. Militärärzte.
Samstag den 6. Mai 1. J., 5 Uhr nachmittags, findet im Lehrsaale 1
der militärärztlichen Applikationsschule im Gebäude der ehemaligen
Josefsakademie (IX., Währingerstraße Nr. 25) die diesjährige General¬
versammlung mit folgender Tagesordnung statt:
L Verifizierung des Protokolls der vorjährigen Generalversammlung.
2. Vorlage des Rechenschaftsberichtes für das Jahr 1910.
3. Bericht der Revisoren.
4. Mitteilungen des Verwaltungskomitees.
5. Eventuelle Anträge von Vereinsmitgliedern (selbe müssen
14 Tage früher dem Verwaltungskomitee angezeigt werden)!
6. Wahl von Funktionären in das. Verwaltungskomitee nach § 22,
dann der Mitglieder des Schiedsgerichtes sowie deren Ersatzmänner nach
§ 30 der Vereinsstatuten.
Damit die Generalversammlung nach § 27 der Statuten beschlu߬
fähig sei, werden die P. T. Herren Vereinsmitglieder ersucht, zuversicht¬
lich erscheinen zu wollen. Der Präsident:
Dr. Florian Ritter Kratschmer von Forstburg.
Verlag von Wilhelm Branmiiller in Wien.
1 XVI11., Theresiengasse 3.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
i. ßhiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner. S.
H. Obersteiner. A. Politzer.
Exner, E. Finger, M. Gruber, F. Hochstetter, A. Kolisko. H. Meyer. J, Moeller K v. Noorden
A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
mton Freih. v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel. Ernst Fuchs. Julius Hochenegg, Ernst Ludwig. Edmund v. Neusser,
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumuller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg. Wien, 6. April 1911 Nr. 14
INHALT:
I. Oritrinalartikel: 1. Beiträge zur Kenntnis der menschlichen
Hautpigmentierung. Yon Dr. Y. Tanaka, Professor an der
medizinischen Hochschule zu Osaka in Japan. S. 479.
2 Aus der Prosektur des k. k. Kaiser Pranz-Josephspitales in
Wien. Ueber das Lipoid der Nebennierenrinde. Vorläufige Mit¬
teilung von H. Albrecht und 0. Weltmann. S. 483.
3. Ueber die psychische Aetiologie und Therapie der Arteriosklerose.
Von Priv.-Doz Dr. Max Herz. S. 484.
4. Aus der Abteilung für innere Krankheiten (I B) des St. Lazarus
Landesspitales zu Krakau. Ueber paroxysmale Hämoglobinurie.
Von Primararzt Dr. Anton K r o k i e w i c z. S. 487.
5. Aus der II. k. k. Universitäts-Augenklinik. (Vorstand: Hofrat
Prof. Dr. Ernst Fuchs.) Einseitige komplette Okulomotoriuslähmung
bei einem Säugling. Von Dr. Adolf P u r t s c h e r, Sekundar-
arzt. S. 494.
II. Oeffeutliclie Gesundheitspflege : Das Gesetz zum Schutze gegen
übertragbare Krankheiten. Von Sanitätsrat Dr. Eugen Hofmokl
in Wien. S. 497.
III. Referate: Beiträge zur gerichtlichen Medizin Von A. Kolisko.
Ref. : F. S t r a ß m a n n - Berlin. — Die erweiterte abdominale
Operation bei Carcinoma colli uteri (auf Grund von 500 Fällen).
Von Prof. Dr. E. Wertheim. Ref. : K e i 1 1 e r. — Atlas und
Lehrbuch der Histologie und mikroskopischen Anatomie des
Menschen. Von J. Sobotta. Ref.: Josef Lehn er. — Die
Ohrenheilkunde des praktischen Arztes. Von Dr. Wilhelm
Haßlauer, Ref. : Alexander.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Sozialärztliche Revue. Von Dr. L. Sofer. S. 508.
VI. Vermischte Naelirichten.
VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kougreßbericlite.
eiträge zur Kenntnis der menschlichen Haut¬
pigmentierung.
a Dr. Y. Tanaka, Professor an der medizinischen Hochschule zu
Osaka in Japan.
Die Frage nach der Pigmentierung in der Oberhaut und
den Haaren ist trotz ihrer vielfachen Bearbeitung noch
ht endgültig gelöst. Der Hauptpunkt dieser Frage liegt
der Herkunft der verzweigten pigmentierten Zellen, der
genannten Melanoblasten oder Chromatophoren. Die Tat-
he, daß die oben genannten Zellen sowohl in der Kutis,
; auch in der Oberhaut Vorkommen, führte zu der Streit¬
ig, ob sie aus den bindegewebigen Elementen stammen
d dann in die Epidermis einwandern, um derselben ihr
:ment zuzuführen, oder ob sie differenzierte Epithelzellen
td, denen die Eigenschaft zur Pigmentbildung zukommt,
'ser Streit begann, soviel ich weiß, mit einer Arbeit Köl¬
ners aus dem Jahre 1860.
Er beobachtete die verzweigten Pigmentzellen nicht
r in der tiefen. fSchicht der Epidermis, sondern auch unter-
äb derselben in der oberflächlichsten Stelle der Kutis und
Ai auf Grund dieser Lagebeziehung zu der Meinung, daß
Pigmentzellen bindegewebiger Natur sind und daß sie
die Epidermis einzuwandern vermögen. Im Anschluß
an hat eine Reihe von Autoren eingehend über die Pig-
ntierung an Häuten, Haaren und Federn verschiedener
wenienz gearbeitet und behauptet, daß eine primäre Pig-
atbildung im Epithel nie vorkommt, sondern die Pigmen¬
ti? durch Einwanderung von pigmentführenden Zellen
aus dem benachbarten Bindegewebe bedingt wird. Bekannt¬
lich hielten Kerb er t, Riehl, Aeby und Karg die Chro¬
matophoren für die Abkömmlinge der gewöhnlichen Binde¬
gewebszellen, Ehrmann dagegen erklärte sie für die Zellen,
die an der Grenze von Epithel und Kutis aus dem Meso¬
derm sich entwickeln. Auch Nothnagel fand die ver¬
zweigten Pigmentzellen in der Lederhaut der an Morbus
Addisoni Leidenden, bei Negern und nahm an, daß diese
Zellen aus den Bindegewebselementen und den Epidermis-
zellen ihr Pigment transportieren.
Im Gegensatz dazu behaupteten Waldeyer, Ivro-
inayer, Rabl, Schwalbe, Kaposi, J arisch, Post,
Grund, Loeb, Wieting, Hamdi, Favera, Meirowsky
und andere, daß das: Pigment der Epidermis nicht aus der
Kutis stammt, sondern selbständig im Epithel gebildet wird
und daß die Melanoblasten als die Gebilde epithelialer Her¬
kunft aufzufassen sind.
Es ist aber zu bemerken, daß die verzweigten Pigment¬
zellen gleichzeitig in der Epidermis und Kutis erscheinen
können. Dies wurde zwar von einer Anzahl von Beobach¬
tern mit Sicherheit festgestellt, aber die Ansichten der
Autoren über die Beziehung der Epidermismelanoblasten
I zu den Kutismelanoblasten sind auseinander gegangen. Cas-
pary meinte, daß die Epidermis durch Elemente pigmen
tiert wird, die a,us demj Bindegewebe stammen und daß
aber die basalen Epithelzellen die Fähigkeit haben, selb¬
ständig das Pigment zu erzeugen. Nach Post ist das Pigment
in der Epidermis das Produkt der spezifischen Bearbeitung
eines besonderen pigmentbildenden Stoffes seitens der Epi¬
thelzellen und, falls diese nicht ansreichen, durch eine Art
480
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 14
vikariierenden Eintretens seitens der Kutiszellen. Dagegen
behauptete Ko dis, daß die Pigmentierung der Kutis da¬
durch erfolgt, daß das Pigment aus der Epidermis in die
Kutis einwandert. Zu dem gleichen Resultate kam Plusch-
koff. Nach ihm tritt die Pigmentierung im subepithelialen
Gewebe auf, wenn die Epithelzellen stark mit Pigment aus¬
gefüllt sind.
Wieting und Ham di, die ebenfalls nur der Epider¬
mis die Fähigkeit zur Pigmentbildung zuerkannten, nahmen
an, daß das Pigment in der Kutis durch Auswanderung
amöboid beweglicher, verzweigter Epithelzellen zustande
kommt. Im Gegensatz dazu war Schwalbe der Ansicht,
daß die Epithelzellen und Bindegewebszellen vollständig
unabhängig das Pigment erzeugen können. In gleichem Sinne
spricht sich Meirowsky in seinen Untersuchungen über
das Hautpigment aus. Er sagte, daß die Kutis- und Epi-
dermismelanoblasten voneinander unabhängige Gebilde dar¬
stellen.
Nach dem angegebenen kurzen Ueberblick der Lite¬
ratur über die Hautpigmentfrage will ich versuchen, die
verschiedenen Anschauungen betreffs der Entstehung
des Pigmentes in folgende drei Gruppen zu ordnen :
1. Das Pigment entsteht nur in der Epidermis und
kann aus derselben in das Korium übertreten.
2. Es wird ausschließlich in den Bindegewebszellen
gebildet und dann in die Oberhaut eingeführt.
3. Es tritt sowohl in den Kutis-, wie in den Epidermis-
zellenauf.
Es sei mir daher gestattet, die folgenden, an der Hand
eines reichlichen Materials ausgeführten Untersuchungen
und die daraus gewonnenen Resultate zu publizieren, um
diese noch nicht sichergestellte Frage über die Hautpigmen¬
tierung etwas zu beleuchten.
Häute eines sechs Monate alten menschlichen Embryos.
Die Hautstücke wurden in Formalin und in Alkohol aul-
bewahrt. Zelluloidineinbettung, Hämatoxilinfärbung.
1. Kopfhaut. Die Basalschicht der Oberhäut ist schon schwach
pigmentiert. Das Pigment ist von hellgelber Farbe und von körniger
Beschaffenheit. In der unteren Epithelschicht kommen: die deut¬
lich verzweigten pigmentierten Zellen stellenweise vor und
schieben sich ihre langen Ausläufer zwischen die benachbarten
Epithelzellen ein. Diese Zellen haben teils langspindelförmige,
teils unregelmäßige Form und enthalten reichlich Pigmentkörnchen.
Ebenso lassen sie sich hie und da in der Matrix Jedes Haares
erkennen. Die Epithelzellen der Matrix sind bereits mit nicht
wenigen Pigmentmassen ausgefüllt. Dagegen kann man keine
Pigmentzellen in den Haarpapillen finden. Das Bindegewebe des
Koriums zeigt jedoch an einigen Stellen sehr spärliche, ovale
oder langgestreckte Pigmentzellen mit Ausläufern. Besonders treten
sie an den oberflächlichen Teilen der Lederhaut auf. Aber man
kann weder eine Einwanderung derselben in die Oberhaut, noch
ein Eindringen ihrer Fortsätze in die Epithelzellen beobachten.
2. Rücken- und Oberarmhaut. Die Pigmentanhäufungen in
der Epidermis sind noch äußerst schwach. An vereinzelten Stellen
der Basalschicht finden sich die verzweigten pigmentierten Zellen,
deren lange Fortsätze in den Interzellularraum reichen und die
Epithelzellen umfließen. In der Kutis erscheinen nur an ganz
vereinzelten Stellen sehr spärliche Pigmentzellen. Die Beziehungen
der letzteren zu den Epithelzellen sind nicht sichtbar.
Häute (Kopf-, Rücken- und Oberschenkelhaut) eines acht
Monate alten Embryos.
Alkoholfixierung. Zelluloidineinbettung. Hämatoxilinfärbung.
Die hellgelblichen Pigmentkörnchen treten in der basalen
Schicht der Oberhaut in geringer Menge auf und es finden sich
typische Melanoblasten mit pigmenthaltigen Fortsätzen. Die Epi¬
thelzellen der Matrix der Haare sind ziemlich stark pigmentiert,
während die Papille von Pigment ganz frei ist. Die Kutis ist
entweder vollkommen pigmentfrei oder es sind ah ganz verein¬
zelten Stellen äußerst spärliche Pigmentzelleil zu sehen.
Auf Grund der oben erwähnten Befunde kann ich
sagen, daß die verzweigten Pigmentzellen, sogenannte Me¬
lanoblasten, im Epithel sich bilden und daß die Pigment¬
bildung sowohl in der Oberhaut, als in den Haaren ohne
irgendeine Beteiligung von Bindegewebszellen stattfinden
kann. ‘ !
Im gleichen Sinne spricht sich eine Reihe von Beob-
tem in den Untersuchungen an Embryonalhäuten aus. So
beobachtete Garcia, daß die erste Pigmentierung der Haare
der menschlichen Embryonen in den Epithelzellen der Haar¬
matrix erfolgt. Retter er fand eine selbständige Pigmen¬
tierung in den Epidermiszellen und den Zellen der Haar¬
matrix bei Embryonen von Pferd und Esel. Meirowsky
konstatierte das Auftreter der verzweigten Zellen in der
Epidermis ohne eine Beteiligung der Kutis bei Embryonen
von verschiedenen Säugetieren.
Es ist jedoch hinzuzufügen, daß bei Embryonen das
Pigment ebenso in den Kutiszellen wie in den Epithelzellen
selbständig entstehen kann, weil ich in den oben erwähnten
zwei Fällen die Pigmentzellen in der Kutis beobachten
konnte, obwohl sie nur in sehr geringer Zahl zutage ge¬
treten sind.
Die Bildung der verzweigten Pigmentzellen in der Epri
dermis dürfte, wie Post sagte, als ein Vorgang der Arbeits¬
teilung anzusehen sein, ähnlicher Art, wie die Bildung der!
Schweißdrüsen-, Talgdrüsen- und Milchdrüsenzellen, Idie sich:
aus ursprünglich gleichwertigen Zellen der Epidermis diffe¬
renzierten. Was die Bildungsweise tier verzweigten Pigment
zellen anbelangt, so wurde sie von Wieting und Hamdi
eingehend untersucht. Nach ihnen erfolgt die Bildung der
betreffenden Zellen in der Weise,, daß der Kern der Epi¬
thelzellen durch eilte stärkere Tingierbarkeit die Zeichen
seiner erhöhten Tätigkeit erkennen läßt. Gleichzeitig treten
im Protoplasma der Zelle feine gelbbräunliche Körner auf,
die dann aber rasch in die Ausläufer übertreten. Mei-
rowsky hat bei seiner Untersuchung über die Regeneration
der Epidermis nach tier Finsenbestrahlung auch die Ent¬
stehungsart erforscht und geschrieben^ daß einzelne Epithel¬
zellen sich vergrößern und in ihrem Protoplasma außer dem
feinkörnigen Pigment feine Ausläufer auftreten, die größer
werden und sich zwischen den übrigen Epithelzellen ver¬
zweigen, wodurch die in Betracht kommenden verzweigten
Gebilde entstehen. Auch ich war imstande, an meinen Prä-I
paraten den Entwicklungsvorgang in der Epidermis zu ver¬
folgen : in der Basalschicht vergrößert, sich eine gewisse!
Anzahl der Zellen und unterscheidet sich dadurch zuerst
von den übrigen Retezellen. Dann kommen die gelblichen
Pigmentkörner im Zelleib vor und es entstehen dann Idie
Fortsätze, in welche das Pigment übertreten kann. Die so
umgewandelten Gebilde senden ihre pigmentierten Ausläufer
zwischen die benachbarten Epithelzellen und führen den¬
selben ihr Pigment zu. Dadurch treten die Pigmentkörn¬
chen auch im Protoplasma der den verzweigten Gebilden
zunächst liegenden Zellen auf.
Häute der Steißgegend von japanischen neugeborenen Kin
dein. ("Bei diesem Untersuchungsmaterial handelt es sich um die
sogenannten mongolischen Flecken: man findet einige blaue Flecke
an der Steißgegend der Neugeborenen, dm der mongolischen Rasse'
angehören. Die histologische Untersuchung ergibt das Vorhanden¬
sein der Pigmentzellengruppe in den tiefen Lagen der Kutis.)
Alkoholfixierung. Zelluloidineinbettung. Hämatoxilinfärbung. 1
Die Basalschicht ist ziemlich deutlich pigmentiert. In den
Epithelzellen der Matrix und des1 Schaftes der Haare ist das:
Pigment so reichlich vorhanden, daß sich Einzelheiten nicht
erkennen lassen. Die Papille der Haare aber zeigt kein Pigment.
In den tiefen Lagen der Kutis befinden sich zahlreiche verästelte,'
gelbbraun pigmentierte Bindegewebs'zellen von langspindelförmiger
Gestalt. Diese Zellen sind in mehr oder weniger großem Strängen
angeordnet, die parallel zur Hautoberfläche verlaufen. Dagegen
kann man an oberflächlichen Schichten der Kutis' keine Pigment¬
zellen wahrnehmen.
Dieser angegebene Befund spricht für die autochthone
Entstellung des Kutispigmentes. Außerdem ist er ein schla¬
gender Beweis dafür, daß die Pigmentzellen in der Kutis
nicht in die Epidermis1 und in den Haarkeim zum Zwecke
der Pigmentversorgung dieser Schicht einwandern, weil sie
eben nur in den tiefen Schichten der Kutis Vorkommen
und keinen Zusammenhang mit den Epithelzellen der Ober¬
haut und denen tier Maare aufweisen.
Auch Sch wa 1 b e hat bei seiner eingehenden Unter¬
suchung an dem Kutisgewebe des Schwanzes des Hermelins
beobachtet, daß die pigmentierten Bindegewebszellen grup¬
penweise in der Tiefe der Lederhaut Vorkommen, während
481
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
lie oberflächlichen Stellen und die Epidermis zeitlebens
[ligmentlos bleiben und daraus hat er die Unabhängigkeit
ler Kulis- und Epidermispigmentierung hergeleitet.
Was nun die Beschaffenheit der sogenannten mongoli¬
schen Flecke anbelangt, so ist sie schon von einer Reihe von
apanischen Forschern studiert worden. Nach Baelz sollte
de an Embryonen vom fünften Monate an auftreten. Wie
iben erwähnt, entstehen diese Flecke durch das Vorhanden¬
sein zahlreicher Pigmentzellengruppen in der Tiefe der Kutis.
laß die Pigmentzellen aber auch in der Kutis der Steiß.
regend der neugeborenen und embryonalen Europäer vor-
commen, ohne daß sie jedoch wegen ihrer geringeren Zahl
mikroskopisch als blaue Flecke zutage treten, ist zuerst
on A da chi nachgewiesen worden. Ich habe gleichfalls
lie Häute der Steißgegend einiger neugeborener europäischer
under untersucht und kam zum gleichen Resultate.
Warum aber die Anhäufung der Pigmentzellen mit
Vorliebe an der Steißgegend vorkommt, darauf will ich nicht
läber eingehen, ich verweise in dieser Beziehung auf die
•inschlägigen Arbeiten Adachis und Yamagiw'-as.
Häute eines brünetten, 17 Jahre alten, Mannes.
Die Häute wurden vom Rücken, Oberarm und Unterschenkel
enommen und in Formalin, dann in Alkohol, fixiert.
Zelluloidineinbettung. Hämatoxilinfärbung.
Der größte Teil der Oberhaut ist sehr schwach pigmentiert,
de Kutis ganz pigmentfrei.
Die normal pigmentierten Häute einer 20 Jahre alten,
rünetten Frau.
Die Häute entstammten der Brustwarze, den großen Scham-
ppen und der Ellenbogengegend.
Alkoholfixierung, Zelluloidineinbettung, Hämatoxilinfärbung.
Im allgemeinen ist die Epidermisschicht, insbesonders die
asalschicht, mäßig pigmentiert und an einigen Stellen ziemlich
ahlreicbes Pigment zu sehen. Die Kutis hat au vereinzelten
teilen spärliches Pigment. Der Zusammenhang zwischen dem
pidermis- und Kutispigment ist nicht sichtbar.
Die beiden Fälle beweisen auch, daß die Anhäufung
es Pigmentes in der Epidermis bei keiner oder äußerst
eringfügiger Pigmentierung des Koriums zutage tritt. Daraus
eht hervor, daß die Pigmentierung der Epidermis unab-
ängig von der Kutis stattfindet.
Die normalen, stark gelbbräunlich pigmentierten Häute eines
> Jahre alten Arbeiters.
Die Hautstücke wurden von dem Gesicht und den Hand-,
ickenteilen genommen.
Formalin - Alkoholfixierung, Zelluloid mein bettu ng, Häma-
Lxilinfärbung.
Die Pigmentierung ist am stärksten in den unteren Schichten
äs Rete und reicht bis zu den obersten. Unterhalb der stark
gmenthrten Basalschicht sieht man hie und da feine Pigment-
irner von gelbbräunlicher Farbe frei auftreten. Diese finden
ch auch zwischen den untersten Epithelien. Es ist dies wohl
s der freie Austritt des Pigmentes aus dem Epithel anzuseihen,
i der Spitze der Papillen der Kutis kommen wenige Leuko-
ten vor und diese beladen sich mit Pigmentkörnchen. Neben
*n Leukozyten finden sich die größeren rundlichen und spindel-
miigen Bindegewebszellen mit hellem Kerne. Diese Zellen ent-
dten teils die Pigmentkörner und bleiben teils farblos.
Keine dieser pigmenthaltigen Zellen lassen] sich als die
iS Pigment den Epithelien zuführenden; Melanoblasten aner-
'nnen, da ich weder sie noch ihre Ausläufer zwischen, den
tsalzellen eindringen sehen konnte. Es liegt daher nahe', die
Frage kommenden bindegewebigen Pigmentzellen, als diejenigen,
e das aus dem Epithel in der Kutis ausgestoßen e Pigment
ifgenommen haben, anzusehen. Außer in den Papillen, liegen
r‘ vereinzelt in den oberflächlichen Teilen der Kutis und lassen
h auch an den Wänden der Lymphbahnen erkennen, in den
rmphbalmen, die die Pigmentzellen zerstreut umgeben, kann
•m nicht selten freie Pigmentkörner finden. Daher scheinen
ir die pigmenthaltigen Zellen durch ihre Lokomotionsfähigkeit
rischen den Koriumfibrillen weiterzukriechen und die Lymph-
''ge, auf denen sich auch die sonstige Pigmentabfuhr v Gli¬
cht, aufzusueben.
Aus den angeführten Beobachtungen kann ich ent¬
minen, daß das Pigment aus dem Epithel in das Korium
isgestoßen und dann nicht nur von Leukozyten, sondern
ich von Bindegewebszellen in der obersten Kutisschicht
^genommen wird. Eine weitere Pigmentabfuhr scheint, mir
auf dem W ege der Lymphbahnen in der Kutis stattzufinden,
da sich die pigmentführenden Zellen vorzugsweise dem
Lymphstrang entlang gruppieren und die freien Pigment¬
körner sogar in den Lymphbahnen gefunden werden können.
Daß das Pigment aus dem Epithel in die Kutis über¬
treten kann, haben Post, Pluschkoff, Wieting, Hamdi
und andere bewiesen. Pluschkoff war der Ansicht, daß
dies dann geschieht, wenn die Epithelzellen stark mit’ dem
Pigment ausgefüllt sind.
Wieting und Hamdi schrieben, daß der Austritt
des Pigmentes aus dem Epithel dort, stattfindet, wo die epi¬
theliale Pigmentierung lebhaft ist und daß das in die Kutis
ausgestoßene Pigment sowohl von Leukozyten, sowie von
lokomotionsfähigen Bindegewebszellen aufgenommen und
verschleppt wird. Diese Pigmentabfuhr ist nach ihrer An¬
sicht eine Art Regulation, die eine hervorragende Rolle
im Stoffwechsel der Haut spielen kann.
Es wird auch keinem Zweifel unterliegen, daß die
Lymphbahnen das Vermögen besitzen, das Pigment weiter
abzuführen: Schmorl hat in den Lymphdrüsen der Neger
reichliches Pigment gefunden. /
Ferner beobachtete Chante messe bei einem
Neger eine Pigmentierung der inneren Organe. Diese Tat¬
sachen sprechen dafür, daß das in die Kutis übergetretene
Pigment von den Lymphbahnen verschleppt .wird.
Ephelides von dem Gesichtsteile eines 45jährigen Mannes.
Ein stecknadelkopfgroßer, ganz flacher, gelbbräunlich pig¬
mentierter Fleck der Haut.
Formalinfixierung, Zelluloidineinbettung, Hämatoxilin-
Eoisin- und van Gi es on sehe Färbung.
Die Basalschicht ist deutlich pigmentiert. Auch die höhere
Schicht zeigt schwache Bräunung. An der Grenze zwischen der
Oberhaut und der Kutis1 treten die Pigmentkörner in geringer
Menge auf. Da, wo das freie Pigment zerstreut liegt, kann man
wenige Leukozyten und Bindegewebszellen mit den Pigment-
körnem treffen. Man kann jedoch keinen Zusammenhang zwischen
den Epidermis- und den Bindegewebszellen, beobachten. Die Kutis
enthält stellenweise spärliches Pigment. Auf weite Strecken kann
das Kutispigment fehlen, obwohl die Oberhaut an solchen Stellen
deutlich pigmentiert, ist. Das Kutispigment kann man in spindel¬
förmigen Pigmentzellen treffen, die nicht nur in den oberfläch¬
lichen Teilen, sondern auch in den von der Epidermis weit ent¬
fernten tiefen Stellen der Kutis erscheinen. Um die Blutgefäße
herum sieht man auch sehr spärliche Pigmentzellen.
Dieser Fall spricht auch für die Annahme, nach welcher
die Pigmentierung der Epidermis ohne eine Beteiligung der
Kutis stattfinden kann. Es ist aber hinzuzufügen, daß die
Kutiszellen, abgesehen von einem Aufnehmen des aus
der Epidermis ausgesteuerten Pigmentes, das Melanin
auch selbst bilden können, denn es gibt einige pigmentierte
Bindegewebszellen, die sich auch dort zerstreut erkennen
lassen, wo der Austritt des Pigmentes aus dem Epithel
noch nicht stattgefunden hat.
Häute von einer an Morbus Addisoni zugrunde gegangenen
Person.
Die Hautstücke wurden aus dem Kopfe und dem Oberarm
entnommen.
Formalin- Alkoholfixierung, Zelluloidineinbettung, . Häina-
toxilintärbung.
Die Keimschicht ist diffus und intensiv körnig pigmentiert.
Die Pigmentierung reicht oft bis! zum Stratum lucidum und man
sieht auch zerstreut die Pigmentkömehen in den untersten La¬
mellen des! Stratum corneum. Unter! der Basalschicht lassen sich
freie gelbbraune Pigmentkörner zerstreut erkennen, die wohl aus
den Epithelzellen in die Kutis ausgestoßen sind.
Außerdem sieht man bei der Grenze zwischen Basalschicht
und Kutis das Auftreten weniger Rundzellen mit chroma tinreiclien
Kernen. Eine Anzahl derselben ist mit Pigment ausgefüllt und
findet sich nicht nur an dem angrenzenden Kutisgebiete, son¬
dern auch an der Subkutis. Ich fasse diese Gebilde als die
Leukozyten auf, Von denen das in die Kutis übergegangene
Pigment aufgenommen wird. Neben den Leukozyten lassen sich
die pigmenthaltigen, spindelförmigen und unregelmäßig gestal¬
teten Bindegewebszellen erkennten. Sie kommen dicht an dei
Keimschicht und zum Teil in derselben vor. Außerdem kann
man sie und ihre Fortsätze zwischen den Epithelzellen eingestreut
finden. Aber solche Erscheinungen lassen sich nicht überall
482
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
beobachten : da, wo die Pigmentierung der Epidennis in bedeu¬
tendem Maße stattfindet, kann man nicht immer eine Einwande¬
rung der pigmenthaltigen Bindegewebszellen und eine Einscliie-
bung der Ausläufer derselben in die Epithelzellen nach weisen.
Es ist weiterhin hinzuzufügen, daß trotz der ausgesprochenen
Pigmentierung der Epidermis die an dem angrenzenden Kutis-
gebiete vorkommenden Pigmentzellen an Zahl gering sind. Ein
zweiter Sitz der verzweigten Pigmentzellen in der Kutis sind
die Umgebungen der kleinen Blutgefäße und der Lymphbahnen.
Die Blutgefäße zeigen abgesehen von leichtgradiger Erweiterung
keine Veränderung.
Der angegebene Befund weist darauf hin, daß aucli
bei Morbus Addisoni das Pigment hauptsächlich in der Epi¬
dermis gebildet werden kann. Obwohl ich hin und wieder
das Eindringen bindegewebiger Pigmentzellen und das
Hineingelangen der Ausläufer derselben in die Epidermis
beobachten konnte, darf ich doch daraus nicht schließen,
daß das ganze Pigment in dem Epithel aus der Kutis zu¬
geführt wird. Wollte man annehmen, daß jedenfalls die
pigmentierten Bindegewebselemente ihr Pigment der Epi¬
dermis zuführen, so müßte bewiesen werden, daß das Ein¬
dringen von Bindegewebszellen in die Epithelzellen überall
da regelmäßig vorkommt, wo die Pigmentierung der Epi¬
dermis zutage tritt. Das ist jedoch, wie oben erwähnt, nicht
immer der Fall. Außerdem scheint es mir gegen die Ueber-
tragungstheorie zu sprechen, daß bei der ganz überwiegenden
Pigmentierung der Epidermis die Zahl der pigmentierten
Kuliszellen in der Regel unverhältnismäßig gering ist. Daraus
ergibt sich, daß die bindegewebigen Pigmentzellen für die
Pigmentierung der Epidermis von keiner allzu großen Be¬
deutung sind. Wie ting und Hamdi erklärten die als Chro¬
matophoren bezeichneten Zellen für diejenigen Elemente, die
der Epidermis das Pigment nicht zuführen, sondern das
aus dem Epithel in die Kutis übergetretene Pigment auf¬
nehmen, um es in die Lympliwege abzuführen. Nach der
Ansicht Rabls sollten die Wanderzellen in die Oberhaut
einwandern und sich erst sekundär mit den in den Saft¬
spalten vorhandenen Pigmentkömehen füllen und in diesem
Zustande die Epidermis verlassen, um wieder in die Kutis
zu kommen. Obwohl solche Auffassungen nicht zu allge¬
meiner Geltung kommen, so glaube ich doch, daß die Fül¬
lung der Kutiszellen mit dem Pigmente zum Teil ein sekun¬
därer Vorgang sein dürfte.
Was die Pigmentierung in der Kutis selbst betrifft,
die sich vorzugsweise an den Gefäßen findet, so könnte
sich die Meinung begründen lassen, daß die pigmjentfüh-
renden Kutiszellen von der Umgebung der Gefäße ihren
Ausgangspunkt nehmen und von dort aus in die Epidermis
einwandern. So beobachtete Nothnagel in der Haut der
an Addison scher Krankheit Leidenden die Pigmentzellen
meist um die Kapillaren herum und kam zu der Meinung,
daß die pigmentfähige Substanz aus dem Blute stammt
und daß die Epidermis durch Einwanderung der pigment-
führenden Kutiszellen pigmentiert werden kann. Aber ich
möchte dagegen die Ansicht aussprechen, daß die Pigment¬
bildung an den Wänden der Kapillaren, besonders auch in
der Nähe der Lymphgefäße, vielmehr im Sinne eines Pig¬
mentrücktransportes aufgefaßt werden sollte, indem es zur
weiteren Abfuhr des aus dem Epithel in die Kutis über¬
getretenen Pigmentes kommt. Die Untersuchungsergebnisse
Schmorls, der ebenso bei Morbus Addisoni, wie bei den
Negern die zugehörigen Lymphdrüsen grau bis grauschwärz¬
lich pigmentiert fand, weisen mit Sicherheit darauf hin,
daß das ausgestoßene Pigment weiter von den Saftzellen
und den Lymphbahnen ab geführt wird. Weiter ist hinzu-
zufügen, daß Wieting und Hamdi bei Morbus Addisoni
beobachteten, daß die pigmentierten Bindegewebszellen sich
nur dort erkennen lassen, wo die Epidermis bereits pigmen¬
tiert ist ii. zw. je dunliier diese ist, desto reichlicher pig¬
mentiert ist jene. Nach diesem Befunde habe ich es also
auch hier mit einer Pigmentabfuhr und nicht mit .einer
Zufuhr von Melanin zu tun.
Die pigmentierten Häute aus der Umgebung eines Karzi¬
noms des Gesichtes.
Formalin - Alkoholfixierung, Zelluloidineinbcltung, Häma-
toxilin - Eosin- und van G i e s o n sehe Färbung.
Die gelbbräunlichen Pigmentkörner liegen in mehr oder
weniger reichlicher Menge in der Epidermis, besonders in den
basalen Retezellen und in dein Zellen aller Schichten. An ver¬
einzelten Stellen der Epidermis kann man zwischen den Epithel-
zellen nicht wenige Leukozyten und die spärlichen spindelförmi¬
gen Bindegewebszellen mit Pigmentkörnern finden. Diese Binde¬
gewebszellen lassen sich auch in den Hautpapillen zerstreut er¬
kennen und senden ihre Fortsätze zwischen die benachbarten
Epithelzellen. Die Kutis ist auf eine große Strecke mit einer
großen Anzahl von Leukozyten und jungen Bindegewebszellen
durchsetzt. In diesen Entzündungsgebieten kann man auch hin
und wieder einige Pigmentzellen an den Kapillaren finden.
In (diesem Fälle sieht man, daß- die pigmentierten Binde¬
gewebszellen in die Epidermis einwandern und ihre Aus¬
läufer in die Epithelzellen einschicken. Es läßt sich jedoch
daraus nicht schließen, daß. die Pigmentierung der Ep-i
dermis durch Uebertragung ides Pigmentes in den Kutis
zellen auf die Epithelzellen erfolgt. Bekanntlich können
ebenso die Bindegewebszellen wie die Leukozyten aus der
Kutis in die Epidermis eindringen oder ihre Ausläufer zwi¬
schen die Epithelzellen einschicken, wenn irgendein nor¬
maler oder pathologischer Reiz auf die Haut einwirkt. Daraus
ist. ersichtlich, daß sich) bei diesem Falle die pigmentierten
Bindegewebszellen neben den Leukozyten stellenweise in
der Oberhaut erkennen lassen. Das Einwandern der Binde
gewebszellen in die Epidermis ist also als die Folge des
pathologischem Reizes anzusehen und steht daher mit dem
Pigmentierungsvorgange der Epidermis in keinem Zusam¬
menhänge. . •
Die Annahme, nach welcher die Pigmentierung der
Oberhaut durch Einwanderung der bindegewebigen Pigment¬
zellen zustande kommt, wird durch die Versuche Kargs
gestützt. Er transplantierte die Läppchen von der Haut
eines Europäers auf die Wundfläche eines Negers und ex-
zidierte die Hautstückchen nach wenigen Wochen.. In der¬
selben Weise verpflanzte er auch die Hautstücke eines
Negers auf einen Weißen. Im ersten Fälle wurde das trans¬
plantierte Hautstückchen schwarz, im zweiten weiß. Auf
Grund dieser Transplantationsversuche kam er zu der Auf¬
fassung, daß die Pigmentierung der Epidermis durch die
Einwanderung pigmentierter Zellen aus der Kutis bedingt ist.
Gegen die Versuche Kargs ist von Schwalbe, Post,
Meirowsky u. a. das berechtigte Bedenken erhoben
worden, daß es sich gar nicht um den Pigmentierungsvor¬
gang des transplantierten Hautstückchens, sondern um den
bei der Regeneration der Negerepidermis handelt.
L o e b studierte gleichfalls die Frage der Hauptpigmen¬
tierung an transplantierter Haut und kam zu dem entgegen¬
gesetzten Schlüsse als Karg, nämlich, daß das neugebildete
Epithelpigment in der Epidermis selbständig entstehen kann.
Paul Carnot und Deflandre führten auch Transplanta¬
tionsversuche aus und behaupteten, daß das Pigment in
der Epidermis nicht durch Chromatophoren aus der Kutis
zugeführt, sondern in den Epithelzellen gebildet wird.
V iirde die Epidermis durch die aus dem Bindegewebe
stammenden Pigmentzellen pigmentiert, so müßte jedenfalls
m der 'normalen Epidermis das Bild 'des Eindringens der pig¬
mentierten Bindegewebszellen und des Hineingelangens ihrer
Ausläufer in die Epithelzellen zur Beobachtung kommen.
Das ist aber nicht geschehen, und auch unmöglich. Daraus
komme ich zu der Ueberzeugung, daß das Vorkommen der
pigmentierten Bindegewebszellen in der Epidermis bei den
pathologischen Hautpigmentierungen auf einem ganz von
der Pigmentierung unabhängigen, durch den auf die Haut
einwirkenden Reiz verursachten Zellwanderungsvorgang be¬
ruhen dürfte.
Naevus pigmentosus von dem linken Arme eines fünf¬
jährigen Kindes.
Ein linsengroßer, stark pigmentierter, erhabener Nävus.
Formalin - Alkoholfixierung, Zelluloidineinbettung, Häma-
toxilin - Eosinfärbung.
Die Epidermis ist ungleichmäßig pigmentiert, indem stark
pigmentierte mit vollkommen pigmentfreien Stellen wechseln. Am
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
483
stärksten ist die Basalschicht mit Pigmentkömehen ausgefüllt.
Aber der Pigmentgehalt der einzelnen Zellen ist ein sehr wech¬
selnder. Zwischen den Zylinderzellen kann man hin und wieder
stark pigmentierte Elemente von verzweigter Gestalt sehen, deren
Korn den Charakter eines Epithelkernes hat. Die Ausläufer dieser
Pignientzellen laufen auf eine kurze Strecke zwischen Korium
und Basalschicht. An einigen Stellen zeigt die Epidermis eine
ziemlich starke Wucherung und es entstehen die gabelförmigen,
verästelten Epithelzapfen, die sich in die oberflächlichen Stellen
der Kutis vertiefen. Unter der Epidermis sieht man im Kutis-
bindegewebe die Gruppen der netzartig ungeordneten, verzweigten
l'igmentzellen. Jedoch besteht keine Beziehung zwischen der Pig¬
mentierung des Epithels und derjenigen dieser pigmentierten K Iltis¬
fellen. Neben diesen Pigmentzellanhäufungen finden sich in der
Kutis zahlreiche umschriebene Zellnester. Diese zeigen meist
eine netzförmige Anordnung und stellen nichts anderes dar, als
die erweiterten und mit gewucherten Endothelien aus'ge füllten
Lymphgefäße. Die Endothelzellen dieser Zellnester, die in den
oberflächlichsten Teilen der Kutis liegen, sind meist und stark
pigmentiert. Das' Pigment ist von hellgelber Farbe und von kör¬
niger Beschaffenheit. Indessen sind die Pigmentkömehen zum
Teil von bedeutender Größe und kontluieren zu größeren Körnern.
Es ist. mir aufgefallen, daß diese pigmentierten Zellhaufen zum
feil mit den Gruppen der verzweigten pigmentierten Bindegewebs-
sellen in Verbindung stehen, indem die langen Ausläufer der
hgmentzellen direkt zwischen den gewucherten Endothelien der
mnachb arten Nester eingeschoben sind.
Bei diesem Falle handelt es sich (daher um die Pigmen-
ierung der Epidermis und Kutis, an (die sich eine Wucherung
ind Pigmentierung der Endothelien der Lymphgefäße an-
müpft.
Bezüglich der Entstehung des Naevus pigmentosus
aim ich sagen, daß die Anschauungen darüber noch geteilt
;ind. I nna, Kromayer, Hodara, Marschand, Favera
aid andere sahen die Nävuszellen als die Abkömmlinge der
’.pidermiszellen an, während Virchow, Pini u. a. sie für
unge Bindegewebselemente erklärten. Auch Bibbert be¬
obachtete sie als Chromatophoren. Dagegen sind Lubarsich,
1 eckli nghausen u. a. der Meinung, daß sie von jden.
ndothelieri der Lymphgefäße stammen können.
Nach meiner Untersuchung am obigen Fälle ist aber
n zu nehmen, daß die Nävuszellen ihren Ursprung sowohl
en Epidermis- wie den Kutiszellen verdanken können. Was
ine Wucherung und Pigmentierung der Endothelien der
ymphbahnen betrifft, so kann ich mit Wahrscheinlichkeit;
ageu, daß sie ein sekundärer Vorgang sei. Es ist ja von
dieting und Hamdi festgestellt worden, daß die Zel I-
ucherung der Lymphgefäße auch bei der physiologischen
igmentierung der Neger vorkommt. Diese Wucherung ist
ach ihrer Ansicht von dem! jeweiligen Grade der epithe-
alen Pigmentation und der Lebhaftigkeit der Pigmentabfuhr
bhängig. Also ist sie als eine reaktive Proliferation (der
ndothelien der Lymphgefäße durch den Beiz des abge-
ihrfen Pigmentes anzusehen. Dafür spricht mein Unter-
uchimgsresultat. Wie oben erwähnt, stehen die reichlichen
iitispigmentzellengruppen mit den gewucherten, pigmen-
erten Endothelien der Lymphgefäße in Verbindung. Daraus
um man ersehen, daß zuerst das übermäßig gebildete
igment von den Lymphgefäßen abgeführt wird und es in-
»igedessen zu proliferativen Reizzuständen am Endothel
ommt.
Außerdem kann mein Fall gegen die Uebertragungs-
leorie geltend gemacht werden. Wäre diese Theorie gültig,
> hätte man erwarten müssen, d aß der reichlichen Anwesen-
•‘•t der Kutispigmentzellen entsprechend auch in der Epi-
''i'mis viel Pigment vorhanden sein müßte. Das ist aber
icht der Fall. Daß also bei ganz überwiegender Anhäufung
er verzweigten Pigmentzellen in der Kutis die Pigmen-
crung der Epidermis imverhältnismäßig geringfügig und
»gar sehr ungleichmäßig ist, spricht gegen die Ueber-
agungstheorie.
Zusamm etif assu n g.
Fasse ich nun die ausgeführten Beobachtungen zu-
inunen, so kann ich folgendermaßen schließen:
1. Die Epidermiszellen und Bindegewebszellen können
abständig und unabhängig voneinander das Pigment bilden.
2. Die verzweigten pigmentierten Zellen in der Epi¬
dermis sind reiner epithelialer Herkunft.
. Verhältnis zwischen der Epidermis- und der
h utispigmentierung ist wechselnd : die Pigmentierun« der
Kutis- ist bei dem großen Pigmentreichtum der Epidermis
eine geringfügige oder umgekehrt.
4. Das übermäßig gebildete Pigment in dem Epithel
wird aus demselben in die Kutis ausgestoßen und dann von
den Leukozyten und den Bindegewebszellen aufgenommen.
5. Die weitere Pigmentabfuhr kann auf den Lvinnh-
wegen stattfinden.
6. Die als Chromatophoren bezeichneten Zellen in der
Kulis spielen für die Epidermispigmentierung keine Rolle,
sondern sind zum Teil als die sekundär das ausgestoßene
igment aufnehmenden Bindegewebszellen anzusehen.
Aus der Prosektur des k. k. Kaiser Franz-Joseph-Spitales
in Wien.
lieber das Lipoid der Nebsnnierenrinde.
Vorläufige Mitteilung von H. Albrecht und 0. Weltmann.
Die interessanten Mitteilungen von Neumann und
Herr mann über die quantitativen Unterschiede an Chole¬
sterinestern, die das Blut Gravider und Neugeborener auf-
Yveist, veranlassen uns, Ihnen in gedrängtester Kürze über
die allerwichtigsten Resultate einer allerdings noch nicht
ganz abgeschlossenen Arbeit zu berichten, die wir seit weit
über Jahresfrist begonnen haben und die sich mit dem
Verhalten der doppeltbrechenden Substanz der .Nebennieren¬
rinde beschäftigt.
Es ist seit laji gern bekannt, daß in der Nebennierenrinde
des Menschen fettähnliche Substanzen physiologisch vorhan¬
den sind, deren chemische Natur von Untersuchungen einer
Reihe von Forschern, vor allem Panzers, Adamis und
Aschoffs und Biedls als Cholesterinester gekennzeichnet
wurde. Diese Lipoide sind außer durch gewisse mikrochemi¬
sche Reaktionen, durch ihr Verhalten iml Polarisationsmikro¬
skop charakterisiert, indem sie bei gekreuzten Nicols in
Form doppeltbrechender Tropfen aufleuchten. Wir haben
uns bei unseren Versuchen nach mühevollen, vergleichen¬
den Studien vor allem an dieses optische Charakteristikum
gehalten u. zw. haben wir Bedacht, darauf genommen,
immer die anisotrope Tropfenform nachzu wei¬
sen, da es ja bekannt ist, daß auch viele andere Substanzen,
z. B. Tripalmitin, Tristearin, Triolein, Fettsäuren und Seifen,
unter dem Polarisationsmikroskop in Kristallform Doppel¬
brechung zeigen.
Wir arbeiteten daher mit F'ormalingefrierschnitten, die
wir stets — und darauf kommt es besonders an — auf
ca. 80° erhitzten. Auf diese Weise gelingt es, die im' un-
■ eiwärmten. Formalingefrierschnitte vorhandenen Kristalle
mit Sicherheit in die doppeltbrechenden Sphärokristalle um¬
zuwandeln, die sehr beständig sind. . Wir haben so gegen
öoO menschliche Nebennieren untersucht und wollen unsere
Befunde in drei Gruppen einteilen:
1. Nebennieren mit auffallend reichlichen Sphäro-
kristallein.
2. Nebennieren mit. auffallend verminderten oder ganz
fehlen den Sphärokristall en .
3. Nebennieren, die eine Mittelstellung zwischen diesen
beiden Extremen einnehmen.
In die erste Gruppe gehören die Nebennieren bei fol¬
genden Krankheiten: Arleriosklerosis, Herzfehler, chroni¬
sche Nierenentzündung und Lungenemphysem mit Herz¬
hypertrophie, Cirrhosis hepatis, Marasmus ohne Infektions¬
prozeß, Encephalomalacia und Haemorrhagia cerebri.
In die zweite Gruppe gehören die Nebennieren bei
akuten oder subakuten, septischen und pyämischen Pro¬
zessen, wenn dieselben einigermaßen länger bestehen, ins¬
besondere bei Typhus, Influenza, Scarlatina seplica, Endo¬
carditis ulcerosa, ausgedehnten Eiterungen, gangränösem1 De¬
kubitus, exulzerierendem Karzinom, schwerer kavernöser
484
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Phthise, ferner bei allen ganz schweren Enteritiden, Wie
Cholera, Paratyphus und auch bei Phosphorvergiftung,, aller¬
dings hatten wir nur einen Fall zur Verfügung. Wir wollen
aber gleich einschränkend bemerken, daß im Kindesalter
ein vollständiges Verschwinden der doppeltbrechenden Sub¬
stanz nur selten zu beobachten ist, indem wir hier auch1
bei akuten Infektionen oft noch sehr reichlich doppelt¬
brechende Tropfen, vor allem in der Glomerulosa angetroffen
haben.
Ferner fanden wir auch bei sehr akuten Infektionen,
bei denen ganz im „Beginn der Tod durch Herzlähmung
eintrat, sehr reichlich doppeltbrechende Substanz.
In die dritte Gruppe endlich gehören die Nebennieren
von Fällen, bei denen sich eine Konkurrenz von patholo¬
gischen Prozessen vorfindet, die scheinbar antagonistisch
auf den Lipoidgeha.lt einwirken, z. B. Arteriosklerose und
Erysipel oder Nephritis und Piieum'onia cruposa, ferner loka¬
lisierte Infektionskrankheiten und die gewöhnliche chronisch¬
granuläre Tuberkulose. Wir wollen aber nicht verschweigen,
daß wir auch wenige Ausnahmen fanden, die sich mit Rück¬
sicht auf den Cholesterinestergehalt der Nebennieren zwang¬
los in keine der aufgestellten Krankheitsgruppen einreihen
ließen. Wir wollen heute nicht mehr sagen, als daßi es sich
in der ersten Gruppe vorwiegend um endogene, in (der
zweiten Gruppe um exogene Krankheitsprozesse (Infek¬
tionen, Intoxikationen) handelt. Wir können aber mit Sicher¬
heit behaupten, daß unsere von den Krankheitsprozessen
abgeleiteten Schlüsse auf die Reichlichkeit der Cholesterin¬
ester der Nebennieren sich in etwa 90% bewahrheiteten.
Auch müssen wir betonen, daß der Unterschied zwi¬
schen cholesterinesterreichen und einer daran verarmten
Nebenniere ein so enormer ist, daß dem subjektiven Er¬
messen keine die Exaktheit der Untersuchung störende Rolle
zukommen kann.
Es war natürlich unser Bestreben, die Resultate un¬
serer Untersuchungen an menschlichen Nebennieren durch
das Tierexperiment zu stützen. Da wir uns bei un¬
seren Versuchen an die gewöhnlichen Laboratoriumstiere,
Meerschweinchen und Kaninchen, halten mußten, stießen
wir auf die größten Schwierigkeiten, da sich die Neben¬
nierenlipoide bei diesen Tieren, obwohl durch. Zupfpräparate
sehr reichlich nachweisbar, der von uns beim mensch¬
lichen Material geübten Methode gegenüber ganz anders
verhielten. Da wir aber bestrebt waren, der Einheitlichkeit
halber und auch weil wir uns von der Insuffizienz des tink-
toriellen und mikrochemischen Nachweises überzeugt hatten,
die Cholesterinnester auch in den tierischen Nebennieren
in Form der anisotropen Tropfen nachzuweisen, erfanden
wir uns nach vielen mühevollen Versuchen dazu eine be¬
sondere Methode, welche uns glänzende Resultate lieferte
und uns auch einen Einblick in das feinere Verhalten der
enorm reichlichen Lipoide* gewährte. Diese Methode be¬
steht in Behandlung der Gefrierschnitte mit reinem Methyl¬
alkohol und mit durch Sapo viridis gesättigtem Methyl¬
alkohol.
Eine Vermehrung des Lipoids durch Injektion von art¬
gleichen und -fremden Nebennierenrinden und Gehirnbrei
durch reines Cholesterin und Cholesterinester1) gelang uns
bisher nicht nachzuweisen, dagegen konnten wir leicht
das Lipoid zum Schwinden bringen. Von den Fran¬
zosen haben hauptsächlich Oppenheim und Löper, Ber¬
nard und Bi gart die Veränderungen der Nebenniere bei
Infektionen, Intoxikationen und Vergiftungen studiert, doch
beschränken sich ihre Angaben auf die bsmierbare Substanz,
das Labilfett oder die sudanroten Tropfen und nirgends ist
auf die vom Fett, scharf unterschiedenen Lipoidkörper Rück¬
sicht genommen. Auch die neueren Untersuchungen von
Bogömolez beschäftigen sich nur mit dem Verhalten der
osmiumschwarzen Körper. Im Gegensatz dazu beschäftigen
') Die entsprechenden Präparate stellte uns in liebenswürdiger
Weise Herr Reg.-Rat Prof. M authner zur Verfügung, wofür wir ihm
uneren besten Dank aussprechen.
sich unsere, wie wir glauben, exakten Studien mit dem Ein¬
fluß von Infektionen, Intoxikationen und Vergiftungen zu¬
nächst. ausschließlich auf die doppeltbrechende Substanz
der Nebennieren von Meerschweinchen und Kaninchen. Es
gelang uns, sowohl durch Infektion mit Bakterien, als auch
durch Toxinwirkung und Vergiftungen die doppeltbrechende
Substanz zu vermindern oder zum totalen Schwunde zu
bringen. Doch scheinen nicht alle Bakterien und Gifte in
gleicher Weise die Nebennieren zu schädigen. Vor allem
bemerkenswert, scheint uns der Befund zu sein, daß der
Lipoidgehalt der Nebenniere nach einem' gewissen Inkuba
tionsstadium abzustürzen scheint. Wir haben durch unsere
Versuche den Eindruck gewonnen, als würde vielleicht
nach einem Stadium der Reizung die Nebennieren¬
rindenzelle plötzlich erlahmen und ihre Funktion, die Chole¬
sterinester aufzustapeln oder zu produzieren, einstellen.
Diese Auffasung steht auch im! Einklänge mit einigen Be¬
funden an menschlichen Nebennieren, wo wir bei perakut,
zum Tode führenden Infektionen sehr \reichlich oder in
einem zweiten Stadium noch in einzelnen Lagern dicht
angehäuft die doppeltbrechenden Tropfen antrafen. Dieses
Verhalten scheint uns darauf hinzuweisen, daß es sich in
den Nebennierenrindenzellen doch um einen sekretions¬
artigen Vorgang handeln dürfte, wobei wir allerdings nicht
wissen, in welcher Form von Cholesterinestern das Lipoid
der Nebennieren ins Blut gelangt. Wir müssen schon in
Anbetracht der igroßen Labiilität des Neben¬
nierenlipoids, das innerhalb der kürzesten Zeit
vermindert ocleir verschwunden sein kann, die
Nebenniere als eine bedeutsame Quelle für das
Lipoid des Bluteis halten. Bestärkt werden wir in
dieser Auffassung dadurch, daß wir bei der Anstellung der
Salkowsky sehen Cholesterinreaktion mit immer gleich
großen Mengen von Nebenniere zunächst einen, vollständigen
Parallelismus zwischen den Resultaten des Zupfpräparates,
des Gefrierschnittes und dem Ausfall der Cholesterinreak¬
tion feststellen konnten. Andrerseits aber fanden wir durch
Untersuchungen mit Leichenblut nach der von Neumann
und Herrmann angegebenen Methode Unterschiede, die
so groß waren, wie die Reaktionsdifferenzen zwischen dem
Blute Hochgravider und dem Neugeborener und die einen
auffallenden Parallelismus zu dem Cholesteringehalt, respek¬
tive dem Reichtum der Nebenniere an doppeltbrechender|
Substanz aufwiesen. Unsere Untersuchungen sind noch
nicht zahlreich genug, um daraus endgültige Schlüsse zu
ziehen — wir behalten uns dies für eine spätere Mitteilung
vor — aber wir wollen doch1 heute schon unserer Ansicht
dahin Ausdruck geben, d a ß d i e V e r m e h r ui n g d e r C h o le¬
st er i oester im Blute Hochigravider wahrschein¬
lich der Ausdruck der Schwangerschaftshyper¬
trophie oder Hyperfunktion der Nebennieren ist,;
wozu die Funktion des an doppeltb rechender Substanz sehr
reichen Corpus luteum sich addieren kann, welches von den
Franzosen direkt als temporäre Nebennierenrinde be¬
zeichnet wird. \
Ferner möchten wir nach unseren Erfahrungen auch
die Hypothese aufstellen, daß es überhaupt unter patho¬
logischen Verhältnissen zu einer vom1 Lipoid¬
gehalt und der Funktion der Nebenniere abhän¬
gigen Verm eh ruing oder Verminderung der Cho¬
lesterin oster im Blute kommt.
lieber die psychische Aetiologie und Therapie
der Arteriosklerose.*)
Von Priv.-Doz. Dr. Max Herz.
Meine Herren! Ich erbitte mir heute Ihre Aufmerk¬
samkeit nur für kurze Zeit, uml eine Angelegenheit zu be¬
handeln, welche man wohl mit Fug und Recht als eine der
wichtigsten Herzensangelegenheiten des ärztlichen Standes
- I
*) Vortrag, gehalten in der k. k. Gesellschaft der Aerzte am
24. Februar 1911.
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
485
bezeichnen darf. Und zwar aus zwei Gründen : Einerseits
deshalb, weil die Frage der Arteriosklerose die Menschheit,
also unsere Patienten, angeht und zweitens, weil sie uns
selbst, persönlich in hohem Grade angeht. Es ist Ihnen
allen bekannt, wie sehr die derzeitige Menschheit im Banne
der Angst vor der Arteriosklerose lebt,, es ist Ihnen vielleicht
weniger bekannt, wie sich diese Angst speziell bei unserem
Stande geradezu zu einer Phobie ausgebildet hat. Ich spreche
von einer Phobie deshalb, weil, wie ich vorweg bemerken
muß, diese Angst in den meisten Fällen glücklicherweise
unbegründet ist, aber leider nicht in so hohem Grade un¬
begründet, daß man die Sache nicht ernst nehmen und
besprechen sollte.
Es entsteht vorerst die Frage: Ist die Arteriosklerose
in den letzten Jahrzehnten tatsächlich häufiger geworden
oder nicht? Diese Frage läßt sich, wie auf anderen Ge¬
bieten, so auch hier nicht mit Bestimmtheit entscheiden, weil
ja Statistiken naturgemäß nicht vorliegen. Immerhin ist
der Eindruck, den der praktische Arzt von der Sache be¬
kommt, derart, daß man es Wohl als wahrscheinlich ansehen
kann, daß die Arteriosklerose häufiger geworden ist. Nun
scheint mir aber, als hätte sich1 der Charakter der Arterio¬
sklerose in der letzten Zeit verändert. Der Einwand (darf
wohl nicht erhoben werden, daß sie heute häufigen dia¬
gnostiziert wird, weil sich die diagnostischen Methoden ver¬
feinert haben; das mag bei anderen Krankheiten* möglich
sein, hier trifft dies nicht zu. Hier kommen ganz allein die
sogenannten physikalischen Untersuchungsmethoden in Bo-
tracht, auf welche die frühere Aerztegeneration genau so
gut, vielleicht, noch besser gedrillt war, wie die jetzige.
Der Charakter der Arteriosklerose scheint sich insofern ge¬
ändert zu haben, als jetzt das Gros der Arteriosklerotiker
nicht, unter dem klassischen Bilde der in kurzer Zeit zum
Tode führenden Angina pectoris erscheint, sondern unter
dem Bilde jener chronischen kardialen und kardiorenalen
Arteriosklerose, welche durch Jahrzehnte unter zeitweilig
auch Jahre hindurch stattfindenden Remissionen den Pa¬
tienten mit stenokardischen Beschwerden quält. Die
Arteriosklerose scheint also häufiger geworden zu sein, aber
sicher nicht bösartiger als früher.
Ich habe die Formten genannt, die uns hier inter¬
essieren: die kardiale und die kardiorenale Form, also Er¬
krankungen der Koronargefäße, bzw. Erkrankungen der
Koronargefäße, verquickt mit Erkrankungen der Niere. Die
Diskussion über das Entstehen dieser Krankheiten ist des¬
halb etwas schwieriger, weil sie uns in das Schema, das
vor uns in der letzten Zeit gemacht haben, nicht hinein¬
passen. Wir haben uns nämlich gewöhnt, die Arteriosklerose
im allgemeinen, wenn sie nicht toxischer Natur ist, als Ab¬
nützungskrankheit zu betrachten. Wir sind gewöhnt bei
Menschen, welche vorwiegend die oberen Extremitäten be¬
nützen, die Arterien der oberen Extremitäten arteriosklero¬
tisch werden zu sehen. In unseren Verhältnissen ist es
selten, daß man bei Frauen Arteriosklerose der unteren
Extremitäten findet, während sie am Lande, wo die Frauen
durch ihre Arbeit gezwungen sind mehr herumzugehen,
ziemlich häufig zu beobachten ist. Nun handelt es (sicli
darum : ist es möglich, die zentrale Arteriosklerose unter dem
'Gesichtspunkte der Abnützung zu betrachten? Ich glaube, ja.
Wieden Herren zumeist bekannt sein dürfte, habe ich,
um mir selbst Einblick in die Aetiologie der Arteriosklerose
zu verschaffen, Fragebogen an zahlreiche Kollegen geschickt,
mit der Bitte, mir mitzuteilen, wie sich die einzelnen Herren
das Zustandekommen der Arteriosklerose vorstellen. Es war
mir natürlich klar, daß auf diese Art eine strenge Statistik
nicht möglich sei. Aber immerhin konnte man hoffen, zu
erfahren, welche Vorstellungen sich der praktische Arzt,
der wohl eher einen Einblick in die Verhältnisse seiner
Kranken bekommt, gebildet hat. Ich will auf die verschie¬
denen Antworten, die ca. 1000 betragen, heute nicht ein-
gehen, sondern mich auf die psychische Aetiologie be¬
schränken. Es ist mir vor allem bei der Durchsicht der
Einläufe aufgefallen, daß eine relativ sehr große Anzahl von
praktischen Aerzten in erster Linie die schwere körperliche
und geistige Arbeit, bzw. die psychische Aetiologie im all¬
gemeinen betonen. Diese Feststellung hat mir eine große
Genugtuung bereitet, denn es war für mich seit langem
eine feststehende Tatsache, daß die zentrale Arteriosklerose
in dem größten Teil der Fälle psychischen Ursprunges und
nicht, wie gerne behauptet wird, auf den Abusus von Genu߬
mitteln zurückzuführen ist. Natürlich leugne ich toxische
Einflüsse nicht und ich weiß auch, daßi Lues frühzeitige
Arteriosklerose erzeugt.
Was sollen wir nun aber als frühzeitige Arterio¬
sklerose bezeichnen, welche ist die unterste Altersgrenze,
bei der ein Mensch schon Arteriosklerose haben darf? Ich
glaube, daß jede zentrale Arteriosklerose eine frühzeitige
ist. Ich glaube, daß auch dem höchsten Greisenalter (die
kardiale und kardiorenale Form als solchem nicht eigen¬
tümlich ist und daß wir uns in jedem Fälle zu bemühen
haben, die speziellen Ursachen aufzuklären. ■ Wenn ich nun
schon die psychische Aetiologie betone, so glaube ich, daß
unter den Angehörigen unseres Standes die Meinung, daß
die Arteriosklerose aus psychischen Ursachen entsteht, so¬
zusagen inoffiziell ziemlich verbreitet ist u. zw. im Gegen¬
sätze zu den Darstellungen der Fachliteratur, die sich zu¬
meist damit begnügt, nur nebenbei auch „Kummer und
Sorge“ unter den schädigenden Faktoren einfach aufzu¬
zählen.
Es ergibt sich dies aus der Feststellung, daß die meisten
Aerzte, wenn sie sich selbst im Verdacht haben, an zen¬
traler Arteriosklerose zu leiden, bei sich selbst psychische
Ursachen beschuldigen. Wie verbreitet übrigens die Angst
vor der Arteriosklerose in unserem Stande ist, möchte ich
nur durch eine Zahl belegen. Ich selbst führe jetzt in meinen
Protokollen von sämtlichen 3000 Wiener Aerzten 300, also
10°/o aller Wiener Aerzte. Sie sind] allein zu mir getrieben
worden durch die Angst, vor der Arteriosklerose, die, wie
ich betonen muß, größtenteils unbegründet ist. Ich darf
wohl bei der großen Anzahl von Internisten in Wien an¬
nehmen, daß mindestens jeder zweite Arzt seinem Herzen,
bzw. seinen Gefäßen mißtraut.
Ich habe vorhin erwähnt, daß eine große Anzahl von
Kollegen die schwere körperliche Arbeit und die schwere
geistige Arbeit, bzw. psychische Momente im allgemeinen
für das Zustandekommen der Arteriosklerose in erster Linie
verantwortlich machen. Ich meine, daß man die schwere
körperliche Arbeit und die schwere geistige Arbeit, sowie
psychische Ursachen im allgemeinen unter einen gemein¬
samen Gesichtspunkt bringen kann und das ist derjenige
der Unlust. Ich bin fest überzeugt,, daß die Unlustgefühle,
unter denen wir leiden, in erster Linie daran schuld sind,
daß wir frühzeitig an Arteriosklerose erkranken. Ein Mensch,
der schwere körperliche Arbeit zu leisten gezwungen ist,
hat auch Kummer und Sorgen, und dasselbe kann ich von
der geistigen Arbeit behaupten. Wenn ich es als wahr¬
scheinlich annehme, daß die zentrale Arteriosklerose der¬
zeitig häufiger vorkommt als früher, so müssen wir also
nach psychischen Ursachen in der Gegenwart suchen, welche
die Arteriosklerose begünstigen. Ich brauche nach dieser
Richtung nicht weitschweifig zu werden. Daß sich das
Leben der Menschheit in den letzten Jahrzehnten geändert
hat, daß sich das eingebürgert hat, was man als Amerika¬
nismus bezeichnet, ist bekannt. Es hat das behagliche Dahin¬
leben, nur belastet durch die Beschaffung der nächsten Be¬
dürfnisse aufgehört. Heute will der Mensch auch für die
Zukunft sorgen, arbeitet gewissermaßen unter Hochdruck;
er will seine Familie für die Zukunft sicherstellen, weil
es heute nicht sicher ist, ob selbst der arbeitsame Mensch
für den Moment immer auch nur seine Nahrung findet.
Diesen allgemeinen Gesichtspunkt sollten wir nun auf unsere
eigene Existenz anzuwenden versuchen.
Man darf einmal unter Aerzten auch über die Aerzte
sprechen. Ich habe Ihnen nur Bekanntes zu sagen, glaube
aber betonen zu müssen, daß der ärztliche Stand sich in
einem psychischen Elend befindet, dessen er sich vielleicht
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14
infolge der Angewöhnung und der Anpassung nicht voll¬
kommen bewußt ist. Der Arzt als Mensch, wenn er mit
seinen Patienten fühlt, sieht immer nur das Elend, wird
fortwährend unangenehmen Sensationen ausgesetzt, sieht
von der Welt nur die Schattenseiten. Er leidet in seinem
Familienleben deshalb, Aveil er niemals eine behagliche
Stunde findet, sich seiner Familie zu widmen ; die eAvige
Dienstbereitschaft hält ihn in kontinuierlicher Spannung;
seine Nächte sind gestört. Aber ein noch viel Avichtigerer
Gesichtspunkt ist, Avie ich meine, folgender: Der Arzt ist
gewöhnt, ununterbrochen die Klagen seiner Mitmenschen
entgegenzunehmen, es kommt ihm sonderbar vor, im Mo¬
mente, avo seine eigenen Beschwerden sich geltend machen,
die Rollen zu tauschen und selbst zu klagen, fällt ihm
schwer.
Bei der psychotherapeutischen Behandlung der Herz¬
krankheiten bin ich bestrebt, zu jedem meiner Patienten
in ein menschliches, intimeres Verhältnis zu treten. Sehr
bald bringt man fast jeden Menschen, so Aveit, daß er einem
sein Herz öffnet. Nur den Kollegen bringt man sclrvver
dazu. Er fügt sich in die Rolle des Klagenden nicht ein,
er entlastet sich nicht. Betrachten wir den Werdegang und
das Leben des Arztes. Der junge Arzt tritt hinaus, gar
nicht ausgerüstet für das praktische Lehen. Er hat sich
einige theoretische Begriffe, Adelleicht gründliche klinische
Kenntnisse im Laufe seines langwierigen und mühevollen
Studiums angeeignet, aber niemand hat ihm gegenüber ein
Wort darüber verloren, was ihn im wirklichen Leben er-
Avartet. Die Enttäuschungen bleiben nicht aus; wie viele
ungerechte Vorwürfe werden ihm zuteil, ja, was noch
schlimmer ist., welche selbstquälerischen Grübeleien martern
ihn, wenn er sich unter demj Eindruck eines therapeuti¬
schen Mißerfolges selbst beschuldigen zu müssen glaubt!
Und schließlich das Verhältnis der Aerzte untereinander!
Man kann da das Wort Goethes anwenden, das er auf
die deutschen Literaten geprägt hat: Wir sind alle Avie die
Billardbälle, jeder schießt auf der 'eigenen Bahn dahin ; treffen
sich zwei von uns einmal, dann schießen wir um so ener¬
gischer auseinander. Ich will auf diesem1 Wege nicht weiter
fortschreiten, weil Sie diese Argumente ja selbst ins Unend¬
liche vermehren können.
Nach dieser kurzen Einleitung will ich mich nun dazu
Avon den, Ihnen zu zeigen, daß Erwägungen solcher Art von
einschneidender Bedeutung für die Therapie sind. Bei der
Arteriosklerose ist leider von Heilung, Avie wir alle wissen,
nicht die Rede, aber es ist wichtig, zu wissen, ob man imstande
ist, ihr Fortschreiten zu begünstigen oder zu hemmen. Ich
glaube, man kann sie auf psychischem Wege hemmen und
so bedeutende Erfolge erzielen. Vor allem möchte ich Ihnen
sagen, daß es sich hier nicht um eine Psychotherapie han¬
delt, die sich zu verstecken braucht, es ist nichts darin,
was einem Schwindel ähnlich ist. Die Technik braucht nicht
als GeheimAvissenschaft behandelt .zu werden, denn es gibt
ja gar keine. Jeder Arzt, der sich seinem Patienten mit
offenem Gemüte gegenüberstellt, wird die Methode leicht
finden. Hier ist der edle Mensch sich tatsächlich des rechten
V eges wohl bewußt. Das Ziel der .Psychotherapie ist, da wir
in der Unlust dieUrsache der Arleriosklerose vermuten, in der
Unlust, die ich nicht anstehe, als. eine Mißhandlung der Koro¬
nararterien und der Nierengefäße zu bezeichnen, dieser ent-
gegenzuAvirken, das heißt, einerseits die Unlustgefühle, unter
denen der Patient leidet, zu beseitigen und andrerseits in
ihm Lustgefühle zu erzeugen.
Wenn wir an eine Prophylaxe der Arteriosklerose denken
du n ten, was naturgemäß leider eine Utopie ist, so müßten
wir das Uebel bei der Wurzel anfassen: bei der Erziehung
Nach meiner Ueberzcugung ist die heute so hochgepriesene
Moral ein Krebsschaden, der das Entstehen der Arterioskle¬
rose begünstigt. Was predigt man der Jugend ununter- *
brochen ? Nichts als Pflichten und wieder Pflichten! Große
Beispiele werden angeführt, die unerreichbar sind. Es ist
ganz natürlich, daß die Jugend sich auf einer Bahn zu be¬
wegen glaubt, an deren Ziel Phantasiegebilde stehen, ebenso
verlockend als unwirklich. Darum sind wir alle Enttäuschte
Die übermäßige Betonung des Pflichtbewußtseins bringt es
mit sich, daß die heutige Menschheit so ziemlich in zwei
Teile geteilt werden kann. Einerseits in die Leichtlebigen
denen es gelungen ist, die guten Lehren ganz zu vergessen;
sie sind in der Minderzahl und leben nur dem Vergnügen
und anderseits in Menschen, die von Genuß nichts Avissen
und in ihrem Berufe ganz auf gehen und dazu gehören die
Aerzte. Ich meine, in der Erziehung müßte man beginnen,
dem Menschen zu sagen : Du sollst arbeiten, denn die Ge¬
sellschaft braucht Arbeiter. Du hast aber auch Pflichten
gegen dich selbst: nicht nur du darfst dich freuen, sondern
du sollst, wenn du ein ganzer Mensch sein willst, nach der
Arbeit die Lust suchen. Die Arbeit ist leider keine.
Wie haben wir bei der Therapie vorzugehen? Zu¬
nächst einmal besteht eine Unluist, die in der Krankheit
selbst Avürzelt. Da ist unsere allererste und wichtigste Auf¬
gabe die Beseitigung der hypochondrischen Gedankengänge
des Patienten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß jeder dau
ernde Kummer oder jede dauernde Sorge für Herz und
Niere gefährlich sind. Ueber derartige Erfahrungen verfügt
jeder von Ihnen gewiß in großer Zahl. Es ist ganz selbst¬
verständlich, daß, wenn ein Mensch große Sorgen um sich
selbst, um sein eigenes HePz hat, dieser Kummer min¬
destens ebenso intensiv wirken müsse wie jeder andere,
also die Sorge, der Verdacht, daß man an Arteriosklerose
leide, daß man eine gefährliche Krankheit in sich trage,
welche die ganze Zukunft in Frage stellt, diese Angst vor
der Krankheit ist es, welche die Krankheit erzeugt oder
befördert.
Es ist daher wichtig, dem Patienten, wenn man ihm,
AAmgegen ich im Prinzipe nichts einzuwenden habe, über
die Krankheit, an der er leidet, aufklären will, dies in sehe
nender Weise zu tun. Vor allem das Wort ,, Gefäß verkalkmig“
streiche man aus dem Wörterbuch des Arztes, denn (der
Patient stellt sich unter einer „verkalkten“ Arterie ein starres,
brüchiges Rohr vor. So zeigte mir einmal ein Patient einen
Hühnerknochen, den er in seinem Nachttopf gefunden hatte
und den er für das abgegangene Stück einer verkalkten Ar¬
terie hielt. Von Verkalkung der Arterien braucht man also
nicht zu sprechen. Weiß der Patient schon, daß seine Ge¬
fäße nicht in Ordnung sind, dann muß man ihn darüber
aufklären, daß der Tod durch Herzschlag bei Arteriosklerose
relativ selten ist, daß ein Mensch! mit. nicht ganz normalen
Gefäßen sich durch Jahrzehnte Wohlbefinden kann usw.
Man trachte eben, die hypochondrischen Gedankengänge des
Patienten zu hemmen.
Menschen, die Avir im Verdacht haben, daß sie zu
angestrengt arbeiten, daß sie an sich: nicht denken, müssen
wir versuchen, zu einer heiteren Lebensauffassung zu
bekehren. Das gelingt viel leichter als man meint. Der
Patient, der zu uns kommt, Aveil ihn die Sorge um sein
Herz drückt, ist für unsere Beeinflussungen empfänglicher
als ein gesunder Mensch. Wenn wir ihm bloß begreiflich
machen, daß Arbeit und Erholung abwechseln müssen, geben
Avir ihm ein Prinzip in die Hand, das er selbst leicht zum
System auszubauen imstande ist.
Schließlich kann der Gesichtspunkt der Psychothera¬
pie bei der Arteriosklerose uns bei der Verwendung anderer
Heilmethoden förderlich sein. Jeder von Ihnen kennt ge\Ariß
Fälle, aato man dem Patienten die bekannten Diätvorschriften
gegeben und ihn dadurch einfach ruiniert hat. Auf Grund
A-on Theorien versetzt man den Patienten in eine Situation,
die für ihn unter Umständen verderblich werden kann.
Man verbietet ihm zum Beispiel gänzlich das schwarze
fleisch; er soll eine rein vegetabilische Kost genießen und
dergleichen. Der Patient, meist ein älterer Mensch, kommt
dadurch in einen Zustand der Unzufriedenheit, des Lebens¬
überdrusses, magert ah: kurz und gut einem Prinzip zu¬
liebe ruiniert man den ganzen Organismus, um angeblich
einen Teil dieses Organismus zu retten. Ich stehe nicht
an, den Salz aufzustellen: Was dem Arteriosklerotiker un¬
angenehm ist, das kann ihm nicht nützlich sein. Man. muß
Nr. 14
WIENER KLINISCHE' WOCHENSCHRIFT. 1911
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vorsichtig Vorgehen, sich nach den Neigungen und Lebens-
gewohnheiten des Kranken erkundigen und das neue Regime
so einrichten, daß es trotz der unvermeidlichen Einschrän¬
kungen ein behagliches Dasein gestattet.
Noch weiter geht man mit dem Verbot von Genuß-
miiteln. Es ist allgemein üblich, einem Menschen, den man
dir arteriosklerotisch hält, sofort das Rauchen zu verbieten;
ein Glas Wein oder ein Glas Bier isl etwas, das überhaupt
nicht erwähnt werden darf. Bedenken Sie, was das für
einen älteren Menschen bedeutet, wenn man ihm die wenigen
Genüsse, die er noch hat, entzieht. Man geht bei anderen
Giften, wenn man die Genußmittel schon als Gifte betrachten
will, vorsichtiger vor: Morphinisten, Arsenikessern entziehen
wir nicht sofort die betreffenden Gifte. Ich meine, daß es
selbst dann, wenn es festgestellt wäre, daß, was ich nicht
glaube, Nikotin die gewöhnliche Ursache der Arteriosklerose
ist, nicht zweckmäßig wäre, dem Patienten plötzlich das
zu nehmen, woran er so sehr 'gewöhnt ist.
Ebenso ist es mit dem Alkohol. Wir verschreiben dem
Patienten alle möglichen Gifte, um ihm eine gute Nacht
zu verschaffen und er berichtet uns : Wenn ich vor dem
Schlafengehen ein Glas Bier trinke, dann schlafe ich wie ein
Gott. Dann darf man ihm wohl sein Glas Bier ruhig ge¬
statten. Eine ältere Frau erzählt uns, ihre Hauptnahrung
sei Kaffee. Den verbietet man ihr aber, weil sie herzkrank
ist. Koffein hingegen verschreibt man ihr in viel größerer
Menge als in ihrem Kaffee, der doch reichlich mit Milch
verdünnt ist, enthalten sein kann. Ich glaube, vom Stand¬
punkte der Psychotherapie sagen zu dürfen: Wir sollen
dem Patienten durch die ungerechtfertigte Entziehung von
Genußmitteln nicht das Leben verbittern, weil die dadurch
bewirkte Unlust schädlicher ist als im unwahrscheinlichsten
Falle die Genußmittel selbst.
Denselben Gesichtspunkt müssen wir auch in die An¬
wendung der physikalischen Methoden hineintragen. Auch
hier ist.es sicher nicht gut, sich von Theorien leiten zu lassen.
Man suche nichts anderes durch die Anwendung von phy¬
sikalischen Methoden zu erreichen, als den Patienten an¬
genehme Gefühle, ein allgemeines Wohlbehagen zu ver¬
schaffen. Man sehe zu, welche Prozeduren dem Patienten
angenehm sind, ohne jede theoretische Erwägung. Wenn
einem Patienten zum Beispiel am Morgen eine spirituöse
Abreibung sehr angenehm ist, so gebe man sie ihm. Ob
jetzt der Blutdruck steigt oder herabsinkt, ist gleichgültig,
fürchtet ein Patient kalte Prozeduren, dann verschone man
ihn mit diesen usw.
Meine Herren! Ich bin am Schlüsse dessen angelangt,
was ich Ihnen sagen wollte. Ich möchte nur mit einem
Salze, der zugleich eine Mahnung an Sie enthält, schließen:
W enn wir Aerzte die Arteriosklerose im großen und ganzen
bekämpfen sollen, dann müssen wir die Erzieher und Seel¬
sorger unserer Patienten sein; um aber die Eignung hiefür
m gewinnen, müssen wir trachten, unsere eigene psychische
Situation auf ein höheres Niveau zu bringen.
ius der Abteilung für innere Krankheiten (I B) des
St. Lazarus Landesspitales zu Krakau.
Ueber paroxysmale Hämoglobinurie.
Von Primararzt Dr. Anton Krokiewicz.
Obwohl die paroxysmale Hämoglobinurie in Deutsch¬
land bereits im vorigen Jahrhundert im Jahre 1854 von
Dreß ler und bald darauf in England von Harley, Pavy,
• ull klinisch (beobachtet wurde, blieb trotzdem die Patho-
■tenese dieses Krankheitsprozesses noch immer unklar. Die
i ntersuchungen einer großen Anzahl hervorragender Klini¬
ker und Pathologen wie- Rosenbach, Lichtheim, Ehr-
Dch, Boas, (Popper, Pel, Langstein, Köhler, Ober-
nejer, M es net, Bristove und Copeman, Ponfick,
Dapper, Chvostek, Grawitz, vermochten diese Frage
tuchl zu lösen; erst durch die neuesten Arbeiten von
Donath-Landsteiner, E. Meyer und E. Emmerich,
Rößle, Benjamin, Moro und Noda und besonders
H ymans van dem Bergh wurde mehr Licht auf dieses
fehlet geworfen. Die Ursache, warum die Entstehungs¬
weise der paroxysmalen Hämoglobinurie bis jetzt nicht
näher erkannt worden ist, liegt ganz gewiß unter anderem
auch in leinem relativ sehr seltenen Auftreten dieser Er¬
krankung. Deswegen entschloß ich mich, als mir dank der
Liebenswürdigkeit des Herrn Hofrates Prof. Dr. Wiclier-
kiewicz Gelegenheit geboten wurde, einen Kranken mit
paroxysmaler Hämoglobinurie einer genauen Beobachtung
unterziehen zu können, die näheren klinischen Ergebnisse
zu veröffentlichen.
M. Gr., Reisender aus München, 48 Jahre alt, kam am
3. November 1910 in das Spital. Der Angabe nach soll er früher
stets gesund gewesen sein; erst vor sieben Jahren soll er wäh¬
rend einer längeren Reise im Winter zum erstenmal unter Blut
harnen erkrankt sein und seit dieser Zeit stellte sich dasselbe
anfallsweise jeweilig nach einer stärkeren Erkältung und zwar
im Frühjahre, Herbst und W inter öfters ein. Eine größere phy¬
sische Arbeit, wie anstrengendes Gehen, Reiten, Radfahren und
psychische Aufregungen verursachen das Blutharnen nicht, wenn
tier Kranke sich dabei nicht erkältet. Das ßlutharnen tritt in
seltenen Fällen auch ohne anderweitige bedeutendere Störungen
des Befindens auf; gewöhnlich werden jedoch zuerst allgemeines
Eiiiiüdimgsgeiühl und Muskelschniierzien, Unruhe, Kopfschmerz und
dann zirka 20 Minuten währender Schüttelfrost und Fieber (38° C
und höher) und nach ungefähr einer halben bis Dreiviertelstunde
blutiger, burgunderroter Ham wahrgenommen. Der Harn klärt
sich nach zwei bis fünf Stunden vollkommen auf und wird wein¬
gelb. Der Kranke stand in ärztlicher Behandlung in verschie¬
denen Kliniken und Spitälern, wie in München, Würzburg, Frei¬
burg i. B., Straßburg, Bonn, Berlin (Charite, II. Klinik), Köln,
Greifswald, Erlangen und die betreffenden Atteste bestätigen aus¬
drücklich, daß bei ihm überall paroxysmale Hämoglobinurie nur
nach einer Erkältung klinisch beobachtet wurde. Besonders die
betreffenden Bestätigungen von Dr. Meyer aus der Klinik in
München, wo der Kranke vom 9. Januar bis 18. Mai 1909 in
Behandlung stand und aus der Klinik in Greifswald (vom 29. Sep¬
tember 1909) verdienen Erwähnung. Excessus in ßaccho ac Venere
negantur. . Syphilis soll er nicht überstanden haben; nur soll
er vor vier Jahren an epidemischer Hodenentzündung krank
gewesen sein, während seine Kinder an Mumps litten. Hereditäre
Belastung in jeder Beziehung nicht nachweisbar. Der Vater starb
im 64. Lebensjahre an Herzschlag, die Mutter verschied in hohem
Alter a{n Altersschwäche; zwei Brüder und fünf Schwestern im
Alter von 38 bis 51 Jahren leben und sind vollständig gesund.
Der am 4. November aufgenommene Status praesens
eigab: Individuum von hoher Statur, ziemlich gut genährt,
von kräftigem Körperbau, Gesichtsfarbe ein wenig bräunlich,
anämisch, an der Gesichtshaut leichte, vasomotorische Erregbarkeit
wahrnehmbar. Die Nackendrüsen nicht vergrößert. Das Muskel-
und Knochensystem normal entwickelt. Körpertemperatur 36-8° C.
Brustkorb normal gewölbt. Perkussionsschall überall hell.
Die untere Grenze der rechten Lunge liegt in der Mamillarlinie
am unteren Rande der sechsten, die der linken am unteren
Rande der vierten Rippe; rückwärts1 beiderseits in der para¬
vertebralen Linie am unteren Rand der elften Rippe; verschiebbar.
Inspirium überall vesikulär. Exspirium verschärft, mit spärlichem
Pfeifen und Giemen. Atemzahl 18. Im Kehlkopf an der hinteren
Wand eine unbedeutende Verdickung vorhanden, welche auf der
laryngologischen Klinik als ,, Pachydermia laryngis“ diagnostiziert
wurde. Herzdimensionen normal. Herzspitzenstoß weder sicht¬
bar, noch fühlbar. Herztöne rein; Pulsfrequenz 80; Puls normal
gespannt, zeitweise aussetzend.
Zunge feucht, rein, rötlich. Bauch normal gewölbt, in den
Gedärmen mäßige Mengen Kot und Gase. Stuhlentleerung normal.
Leber ein wenig vergrößert; Milz angesch wollen, mit ver¬
dicktem derben unteren Rande, reicht von der sechsten linken
Rippe bis zum Rippenbogen und geht über die linke vordere
Axillarlinie nach vorne.
Das Nervensystem weist eine größere vasomotorische Er¬
regbarkeit auf. Die Haut des Gesichtes wird bald rötlich, bald
blaß. Die Pupillen ziemlich eng, gleichmäßig erweitert, reagieren
etwas träge auf Lichteinfall und Konvergenz. Das Sehvermögen,
die Weite des Gesichtsfeldes und der Augengrund verhalten sich
nach dem Ergebnisse der in der Augenklinik vorgenommenen
Untersuchung ganz normal. Patellarsehnenreflexe gesteigert:
Schlaf und Appetit gut.
Urinlassen normal. Urin weingelb, rein, sauer. Spezifisches
Gewicht 1-021: enthält weder Eiweiß noch Zucker Während
488
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14
des dreitägigen Aufenthaltes im Spitale (vom 4. bis 6. November)
fühlt sich der Kranke ganz wohl. Körpertemperatur 36-3 bis
30-8° C; Puls normal, ca. 80; Urin normal.
7. November: Nach einer gut verschlafenen Nacht fühlt
sich der Kranke ganz munter. Körpertemperatur früh 36-3" C.
Puls normal gespannt, ein wenig aussetzend, 80. Urin ganz
normal, sauer, weingelb, eiweißfrei. Während der Spitalsvisite
um Vs9 Uhr früh wurde dem Kranken ein zehn Minuten langes
eiskaltes Fußbad verabreicht. Drei Viertelstunden danach be¬
ginnt der Kranke im Gesichte zu schwitzen, wird von Unruhe,
Ermattung in den Waden und den Muskeln des Oberkörpers und
Kopfweh befallen; dann traten ein zirka 20 Minuten währender
starker Schüttelfrost und in der Folge 38° Fieber ein. Um Vs 10 Uhr
(d. h. in einer Stunde nach dem eiskalten Fußbade) ließ der
Kranke zum erstenmal 200 cm3 dunkelroten, fast schwarzen Urin,
dann um 2 Uhr nachmittags 330 cm3 dunkelroten, jedoch ein
wenig helleren, um 3 Uhr nachmittags 115 cm hellroten, fleisch-
wasserfarbenen, um 4 Uhr. nachmittags 115 cm3 weingelben, nor¬
malen und ' eiweißfreien Harn. Im allgemeinen währte der An¬
fall von Blutharnen, den Schüttelfrost inbegriffen, zirka sechs
Stunden und während dieser Zeit entleerte der Kranke 645 cm
blutigen Harnes.
Harnanalyse vor dem Anfalle und während desselben, im
hiesigen chemisch-pathologischen Institute von Professor Doktor
Marchlewski ausgeführt, ergab:
a) vor dem Anfalle:
Urin: Farbe: weingelb
Reaktion : sauer
S. G. : 1'018
Sediment : nebelig
Urochrom: etwas vermindert
Indoxyl : schwach vermehrt
Harnstoff
Harnsäure
Chloride
Erdphosphate
Alkaliphosphate: etwas ver¬
mehrt
Eiweiß : 0
normal
Zucker : 0
Sediment : vereinzelte Epithel¬
zellen der Harnblase, viel
Schimmelpilze.
ß) während des Anfalles
(erste Portion) :
Urin: schwarzrot
Reaktion : sauer
S. G.: 1'019
Sediment: stark vermehrt
Urochrom : stark vermehrt
Indoxyl : schwach vermehrt
Harnstoff
Harnsäure
Chloride
Erdphosphate
Alkaliphosphate : etwas ver¬
mehrt
Eiweiß : 0’6% ; Hämoglobin in
sehr großen Mengen
Zucker : 0
Sediment : reichlicher Hämo¬
globinniederschlag und sehr
spärliche körnige Zylinder.
I normal
Die Körpertemperatur stieg im Anfalle höchstens bis auf
38-5° C um 12 Uhr mittagls und sank dann langsam bis zur
Norm. Um 4 U!lu nachmittags war 36-6° C. Der Puls wies keine
bemerkenswerten Abnormitäten auf. Tagsüber und abends war
der Kranke sehr müde.
8. November: Der Kranke ein wenig geschwächt; Schlaf
gut; Körpertemperatur früh 36-7°, abends 36-8°; Appetit gut,
Urin normal.
9. November: Subjektives Befinden ganz gut, Körpertem¬
peratur 36-6° bis 36-8°, Urin normal.
10. November: Status idem. Körpertemperatur 36-4° bis
36-5°. Urin normal. Blutbefund (Dt. Kramar zynski) ergab:
Hämoglobingehalt (Sahli) . 80%
• S. G . 1062
Erythrozytenzahl . 5,700.000
Leukozytenzahl . 16.000
Färbungsindex . 07
Frisches Präparat: Farbe der Erythrozyten etwas blässer,
die Erythrozyten ordnen sich nicht in Geldrollen, zeigen in der
Mehrzahl normale Form, nur hie und da über die 1 läclie ge¬
bogen.
Gefärbtes Präparat :
Gefärbtes Präparat : Triazid
(schwach) ; Jänner (normal)
Lymphozyten . 15°/o
Mehrkörnige Neutrophile . . 69%
„ Basophile . . . 1%
Lymphoide Markzellen . . . 3'5%
Uebergangsformen .... 11%
Myelozyten (Knochenmark¬
zellen) . 0'5%
Normoblasten, einzelne Polychromatophile.
11. November: Nach einer gut zugebrachten Nacht fühlt
sich der Kranke ganz wohl. Körpertemperatur früh 36-4°, Puls 88,
zeitweise intermittierend. Urin normal. Um 9 Uhr, während der
Frühvisite, wurde dem Kranken zum zweiten Male ein zehn Mi¬
nuten langes eiskaltes Fußbad verabreicht. In einer Stunde danach,
d. h. um 10 Uhr vormittags, entleerte der Kranke 70 cm3 dunkel¬
blutigen Harn (jedoch etwas helleren, als beim früheren Ver¬
suche) und zehn Minuten danach traten Schweiß im Gesichte,
allgemeine Mattigkeit, zirka 20 Minuten währender Schüttelfrost
und 38-5° hohes Fieber auf. Der Kranke entleerte im ganzen
380 cm3 blutigen Harn u. zw. um
10 Uhr 40 Min. vormittags 20 cm3 dunkelroten Harn
11 „ 28 „ „ 30 cm3
12 ,, — ,, mittags 110 cm3 „ ,,
1 ,, — ,, nachmittags 50 cm3 „ „
3 „ — „ ,-, 170 cm3 orangengelben Harn.
Der Anfall wurde kupiert durch Applizierung von warmen
Flaschen auf die Füße, um 14 1 Uhr nachmittags. Körpertemperatur
früh vor dem Anfalle 36-3°, Pulsfrequenz 80; um 1411 Uhr vor¬
mittags, d. h. in einer Viertelstunde nach dem Schüttelfröste, 38°,
(Puls 90); um 11 Uhr 55 Min. 39-5° (Puls 90); um 2 Uhr nach¬
mittags 37-5°; um 3 Uhr nachmittags 37-7°; um 5 Uhr nach¬
mittags 37°. Zu Ende des Anfalles, d. i. um 3 Uhr, traten;
starke Schweiße ein. Im allgemeinen war der Anfall kürzer und
währte kaum über vier .'Stunden, obwohl schnell, steigendes Heber
und Harnbluten vor dem Schüttelfröste anfangs auf dessen starke
Intensität hindeuteten. Blutdruck (nach Riva-Rocci) betrug
vor dem Anfalle 125 bis 130 mm Hg, auf dessen Höhe, d. i. bei
39-5° Fieber, 135 bis 140 mm Hg und nach dem Anfalle, um
8 Uhr abends, 115 bis 120 mm Hg.
Blutbefund (Dr. Kramarzynski) auf der Höhe des An
falles, ergab :
Hämoglobingehalt (Sahli) . 80%
S. G . 1058
Erythrozytenzahl . 4,600.000
Leukozytenzahl . 7.000
Färbungsindex . . . . . . 0'8
Frisches Präparat wie früher
Gefärbtes Präparat: Triazid
(schwach); Jänner (normal)
Lymphozyten . 9%
Polynukleäre Neutrophile . . 84%
„ Eosinophile . . 2%
„ Basophile . . . 0'5 %
Neutrophile Myelozyten . . 3%
Lymphoide Markzellen . . . 1%
Uebergangsformen .... 0'5/o
Zahlreiche Zerfallsleukozyten, vereinzelte Polychromatophile
ein Normoblast, einige ausgelaugte Blutschatten. Die Untersuchung
des Blutkoagulums (das Blut durch Vemenpunktion aus der Vena
mediana), von Prof. Dr. March lewski vorgenommen, ergab
Zur Verfügung gestellte Blutquantität 8-007 g. Das koaguliert:
Blut wies im allgemeinen normale Beschaffenheit auf; es enthiel
reines Oxyhämoglobin ohne irgendeine Beimischung von anderen
Blutfarbstoffen, wie Methämoglobin usw. Die Oxyhämoglobin
menge, durch spektrokolorometrische Methode geprüft, betrag
124-8 auf 1000 Gewichtsteile des Blutes (unter normalen Verhält,
nissen 130 bis 150°/oo).
12. November: Körpertemperatur früh 36-3°. Urin normal
Das allgemeine Befinden des Kranken nach gut verschlafene
Nacht ganz befriedigend. Nach einem anderthalbstündigei
Spaziergange bei kühlem Wetter und ungenügender Bekleidun:
zog er sich eine Erkältung zu. Bald darauf, gegen Mittag, wurdt
er von einem Ermüdungs- und Schweregefühl in den untere)
Extremitäten und einem kurz andauernden Frösteln befallen
Urin, um 2 Uhr nachmittags in der Menge von 220 cm3 gelassen
war trübe, dunkelbraunrot und enthielt einen reichlichen Niedei
schlag; Körpertemperatur 38-2°; um 3 Uhr nachmittags Lr»
in der Menge von 70 cm3, rein, bräunlichrot, mit geringem Sem
ment, Körpertemperatur 38-2°; um! 6 Uhr nachmittags1: der in de
Menge von 75 cm3 entleerte Urin rein, rötlich, ohne Sedimen
Körpertemperatur 37°. Abends fühlt sich der Kranke ganz wob
Schlaf und Appetit ausgezeichnet. Der Anfall, durch leichte Er
kältung verursacht (die Außentemperatur betrug +8° R), hat <
eine geringe Intensität und währte im ganzen zirka sechs Stunden
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
489
Die Harnanalyse (Prof. Dr. Marchlewski) ergab:
a) vor dem Anfalle (nach
der Erkältung) :
Farbe: weingelb
Reaktion : sauer
S. G. : P030
Sediment: stark vermehrt
Urochrom \
Indoxyl I
Harnstoff I
Harnsäure J
Chloride : normal
Erdphosphate
Alkaliphosphate
Eiweiß: 004°/o
Spuren von Blutfarbstoff
normal
vermehrt
vermehrt
Sediment : reichliche Kristalle
von oxalsaurem Kalk, ziem¬
lich reichliche phosphorsaure
Kalkkristalle, vereinzeltes
Plattenepithel, zahlreiche
Bakterien.
ß) im A n f a 1 1 e :
Farbe: rot-bräunlich
Reaktion : sauer
S. G. : 1’029
Sediment : stark vermehrt
Urochrom : stark vermehrt
Indoxyl : schwach vermehrt
Harnstoff \ ,
Harnsäure / vermehrt
Chloride : normal
Erdphosphate : vermindert
Alkaliphosphate : vermehrt
Eiweiß : zirka 0'07%
Blutfarbstoff in bedeutender
Menge
Sediment: viel Hämoglobin,
zahlreiche hyaline Zylinder.
13. November: Körpertemperatur 36-2 bis 36-6°; Puls 88,
Urin weingelb, rein, ohne Eiweiß.
14. November : Stat. id. Blutbefund (Dr. Kram arzy nski)
wie folgt :
Hämoglobingehalt (Sahli)
80%
Zahl der Erythrozyten . . .
4,500.000
Zahl der Leukozyten . . .
7200
Frisches Präparat: Triazid
(schwach) ; Jänner (normal)
Lymphozyten .
25%
Polynukleäre Neutrophile . .
60%
,, Eosinophile . .
4%
,, Basophile . .
1%
Uebergangsformen ....
8%
Lymphoide Markzellen . . .
2%
Zahlreiche Bizzozero-Blutplättchen, zahlreiche Zerfallsleuko¬
zyten, spärliche Polychromatophile. Blutserum in anfallsfreiem
Zeitintervall (Prof. Dr. M a r c h 1 e w s k i) normal. Der Farbs tof f
gehörte zu der Liprochromgruppe und unter den Eiweißstoffen
wurden sowohl Albumin, wie auch Globulin festgestellt.
15. November: Körpertemperatur 36-4 bis 36-5°, Appetit
gut. Zunge feucht, rein, Puls 72, normal beschaffen. Blutdruck
(nach Riva-Rocci) 125 mm Hg. Beide Pupillen eng, gleich
weit, reagieren ziemlich träge auf Lichteinfall und Konvergenz.
Urin weingelb, rein, sauer; spezifisches Gewicht 1-021, Eiweiß
nicht vorhanden. Das allgemeine Befinden gut. Die Wasser¬
mann sehe Reaktion deutlich positiv. (Die Untersuchung wurde
gleichzeitig zu wiederholten Malen vom Primararzt Doktor
Borzecki und Assistenten am Hygienischen Universitätsinstitute
Dr. Eisenberg ausgeführt.
16. November bis 24. November: Körpertemperatur früh
36° und abends 36-8°; Pulsfrequenz zirka 80, Puls gut gespannt,
zeitweise aussetzend. Blutdruck (nach Riva-Rocci) 120 bis
125 mm Hg; Urin stets normal, enthält kein Eiweiß. Allgemeiner
Zustand sehr günstig.
17. November: Körpertemperatur früh 36-3, gegen Abend
36-8°; Urin normal. Behufs venöser Stauung wurde dem Kranken
ein Druckverband auf 20 Minuten am rechten Unterschenkel
angelegt. Gleich vor dem Abnehmen des Verbandes Pulsfrequenz
100, Puls normal beschaffen und gleich nach dem Abbinden
war der Puls deutlich oft intermittierend und seine Frequenz
betrug 80. Urin ganz normal. Dem Kranken wurde 0-0005 Atro-
pinum sulfuricum in wässeriger Lösung subkutan appliziert.
26. November: Status idem. Hypodermatische Injektion von
0-0005 Atropinum sulfuricum.
27. November: Der Kranke fühlt sich ganz wohl. Körper¬
temperatur früh 36-2°, Urin normal. Nach subkutaner Verab¬
reichung von 0-001 Atropinum sulfuricum in wässeriger Lösung
wurde dem Kranken um V29 Uhr während der Morgenvisite ein
eiskaltes Fußbad, 20 Minuten lang, appliziert. Der Kranke fühlte
sich vollkommen wohl und erst um 1 Uhr nachmittags, das
ist nach 4V2 Stunden nach dem Fußbade, ließ er zum ersten¬
mal 70 cm3 blutigen, dunkelroten Ham; der letzte blutige Harn
um 4 Uhr nachmittags. Die Gesamtmenge des blutigen Harnes
betrug 340 cm3. Um 5 Uhr nachmittags; verhielt sich der Urin
vollkommen normal. Abends unbedeutende Schweiße. Kein Fieber
und kein Schüttelfrost; deutliche Hemmung des Anfalls in
jeder Beziehung.
28. November: Das Allgemeinbefinden recht gut, Urin normal.
29. November: Körpertemperatur früh 36-8°; Puls 72, zeit¬
weise aussetzend. Urin normal. Dem Kranken wurde zum zweiten
Male 0-001 wässerige Lösung Atropinum sulfuricum subkutan
injiziert und gleich darauf, um 9 Uhr 20 Min., ein zwölf Mi¬
nuten langes eiskaltes Fußbad gegeben. Urin um 10 Uhr 3 Min.
in der Menge von 20 cm3 und um 11 Uhr in der Menge von;
200 cm3 gelassen, zeigt eine bräunlichrote Farbe; zum letzten
Male Blutharnen um 1 Uhr nachmittags in der Menge von
50 cm3. Die Gesamtmenge des Blutharnes betrug 270 cm3. Um
2 Uhr nachmittags Urin 180 cm3, vollkommen normal. Der
Anfall von Hämoglobinurie währte drei Stunden und
war weder von Schüttelfrost, noch von Fieber be¬
gleitet. (Körpertemperatur 36-2°; Pulsfrequenz 72 bis 90. Puls
aussetzend.) Das Blutserum, aus einer Fingerbeere gesammelt,
enthielt während des Fußbades keinen Blutfarbstoff; mit dem
ersten Auftreten von 20 cm3 Blutharnes zeigte es deutliche,
ausgesprochene Spuren von Oxyhämoglobin und um 11 Uhr
vormittags (die Menge blutigen Harnes betrug 200 cm3) zeigte
das Blut eine typische Hämoglobinurie. Pupillen ohne beachtens¬
wertere V eränd er ungen .
Harnanalyse (Prof. Dr. Mar ch Lews ki), wie folgt:
“) I. Portion:
Urin : Farbe dunkelblutrot
Reaktion : schwach sauer
S. G.: 1'026
Sediment : stark vermehrt
Urochrom : vermehrt
Indoxyl : normal
Harnstoff \ schwach ver-
Harnsäure f mehrt
Chloride : normal
Erdphosphate : fast nicht ver¬
mindert
Alkaliphosphate : normal
Eiweiß (Hämoglobin) : 0'8%
Urin enthält sehr viel Hämo¬
globin. Die Spektralanalyse
wies nur reines Oxyhämo¬
globin nach
Sediment : ziemlich viel Hämo¬
globin, etwas Schleim, einige
hyaline Harnzylinder mit
Hämoglobinderivaten verdeckt.
ß) II. Portion:
Urin : bräunlichrot
Reaktion: stark sauer
S. G. : 1‘025
Sediment : stark vermehrt
Urochrom : vermehrt
Indoxyl : etwas vermehrt
Harnstoff j schwach ver-
Harnsäure / mehrt
Chloride : normal
Erdphosphate : normal
Alkaliphosphate : gering ver¬
mehrt
Eiweiß: 01%; Blutfarbstoff in
bedeutender Menge, jedoch
viel weniger wie in der
I. Portion
Sediment : sehr starker Hämo¬
globinniederschlag ; zahlreiche
Hämoglobinzylinder.
30. November bis 2. Dezember: Körpertemperatur 36 bis
36-4°; Pulsfrequenz ca. 72, Puls aussetzend, gut gespannt. Urin
ganz normal.
3. Dezember: Körpertemperatur früh 36-2°; Pulsfrequenz
80; Puls ziemlich gut gespannt, intermittierend. Harn ohne Ei¬
weiß; normal. Um 3/i9 Uhr, während der Mogenvisite, wurde
dem Kranken 0-01 Pilocarpinum hydrochloricum in
wässeriger Lösung subkutan injiziert und ein zwölf Minuten
langes eiskaltes Fußbad appliziert. 20 Minuten darauf läßt der
Kranke 75 cm3 rötlichgelben Urin, welcher bedeutende Mengen
von Blutfarbstoff enthält und dann in einer Stunde 35 cm3 blu¬
tigen Urin ; um V22 Uhr nachmittags 165 cm3 rötlichgelben Urin
und um V24 Uhr nachmittags 170 cm3 etwas helleren, jedoch Hämo¬
globin und Eiweiß enthaltenden Urin. Harn um 6 Uhr abends
in der Menge von 190 cm3 gelassen, vollkommen normal be¬
schaffen. Gesamtmenge des blutigen Harnes 445 cm3. Der An¬
fall des Blutharnens trat bedeutend früher ein, als
bei den vorigen Versuchen und dauerte längere Zeit,
zirka sieben Stunden; der Urin war heller, rötlichgelb (nicht
burgunderrot) und enthielt viel Oxyhämoglobin. Fieber und
Schüttelfrost fehlten. Körpertemperatur hielt an bei 36-2°; Puls¬
frequenz schwankte zwischen 80 bis 90 Pulsschlägen; Puls aus¬
setzend. Die Schweiße, welche gleich nach dem Fußbade auf¬
traten, hatten eine geringere Intensität und hörten auf mit dem
Entleeren des ersten blutigen Urins; nachher waren sie nicht
mehr zu konstatieren. Pupillen ohne Veränderungen.
4. Dezember bis 5. Dezember : Der Kranke befindet sich ganz
wohl; Urin ohne Eiweiß, weingelb; Körpertemperatur 36-2°, voller
Puls, 80, aussetzend.
6. Dezember: Das Allgemeinbefinden ganz gut; Urin normal.
Nach längerem Spaziergange bei — 5° R und Erkältung bekommt
der Kranke gegen Mittag Schüttelfrost und 38° C Fieber, läßt
490
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14.
dunkelroten, beinahe schwarzen Urin. Der Anlall währte zirka
sieben Standen und zeigte mäßige Intensität.
7. Dezember bis 12. Dezember: Dieberloser Zustand; das
Aligemeinbeiiiiüen ganz gut; Urin vollKoinmen normal.
Wie zu ersenen ist, sieike unser Krankheitsfall ein
typisches l>jlu von iTaemogiohiriuiia paroxysmafis dar. Des¬
wegen richteten wir unser Augenmerk während der Spitals-
beobachumg mcht nur aul den kfiniscnen Verlauf a), son¬
dern auch ,aui das Verhalten des DiuLes ß) und auf «die
Entsteiiungsweise der einzelnen Anfälle, d. h. auf die Patho¬
genese dieses Krankheitsprozesses T).
u) Während des fünfwöchigen Aufenthaltes im Spnaie
wurde hei dem Kranken siebenmal paroxysmale Hämoglo¬
binurie beobachtet; fünfmal experimentell hervorgeruten,
d. h. durch ein eiskaltes Fußbad und zweimal durch zu¬
fällige Erkältung. Die einzelnen Anfälle zeigten sich im |
Zeitintervali von 24 Stunden, 2 (zweimal), 3 (zweimal),
4 und 15 Tagen. Der erste Anfall kam zum Vorschein jj
nach einem kalten F ußbade, 10 Minuten lang, nach Stun¬
den und begann mit starkem, 20 Minuten dauernden Schüttel¬
frost ; dann stieg das 4 ieber bis 38° C und der Kranke entleerte |
bürg und erröten Urin. Der volle Anfall währte sechs Stunden
und wies eine bedeutende Intensität auf; die höchste Tem¬
peratur betrug 38-5d C. Der zweite Anfall, verursacht durch
ein zehn Minuten langes eiskaltes Fußbad (drei Tage nach
dem vorigen), begann nach einer Stunde mit Entleeren
eines dunkelroten, beinahe schwarzen, blutigen Urins; dann
traten 20 Minuten anhaltender Schüttelfrost und Tempe¬
raturanstieg bis 39-5d C auf. Der Anfall, welcher anfangs
auf starke fntensität hindeuten ließ, wurde durch Erwärmen
der Füße mit warmen Wasserflaschen rasch kupiert und
wurde derselbe dadurch auf 'eine Dauer von über vier
Stunden eingeschränkt. Der dritte Anfall trat spontan auf,
24 Stunden nach dem vorhergegangenen, infolge einer zu¬
fälligen Erkältung und zeichnete sich durch eine sehr
geringe Intensität, Mangel an Schüttelfrost und durch das
38-2° C hohe Fieber aus und währte sechs Stunden. Nach
45 Tagen wurde bei dem Kranken der vierte Anfall unter
etwas veränderten Umständen zustande gebracht, indem
man vorher 0-001 Atropinum sulfuricum in wässeriger
Lösung subkutan injizierte und erst dann ein eiskaltes,
20 Minuten langes Fußbad applizierte. Trotz der beinahe
zweimal so lang wie bei früheren Versuchen wirkenden
Kälte entstand das Blutharnen erst nach Verlauf von
4x/2 Stunden, wurde nicht von Schüttelfrost und Fieber
begleitet und währte kaum drei Stunden. Ueberhaupt war
damals eine ausgesprochene Hemmung im Auftreten der
paroxysmalen Hämoglobinurie festzustellen, höchstwahr¬
scheinlich infolge einer hemmenden Wirkung des Atropins
auf die sekretorischen Nerven. Es bestätigten dies weitere
Versuche, d. h. der fünfte und sechste Anfall. Der fünfte
Anfall, hervorgerufen nach subkutaner Einspritzung von
0-001 Atropinum sulfuricum, durch eiskaltes, zwölf Minuten
langes Fußbad, war sehr schwach, verlief ohne Schüttel¬
frost und Fieber, manifestierte sich durch Blutharnen,
welches in 3/r Stunden zustande kam und zirka drei Stun¬
den anhielt. Dagegen dauerte im sechsten Anfalle, nach¬
dem dem Kranken subkutan 0-01 Filocarpinum rnur. zwecks
Reizung der sekretorischen Nerven eingespritzt und dann
ein eiskaltes Fußbad zwölf Minuten lang verabreicht wurde,
ungefähr sieben Stunden. Der Anfall trat rasch ein, schon
20 Minuten nach dem Fußbade und begann mit blutigem
Urinlassen; er wies im ganzen einen leichten Verlauf auf,
ohne Schüttelfrost und F'ieber. Der letzte Anfall, welcher
spontan drei Tage später infolge einer Verkühlung wäh¬
rend eines längeren Spazierganges zustande kam, zeigte
eine starke Intensität, dauerte ca. sieben Stunden bei
38-3° (’ Fieber und begann mit Schüttelfrost. In allen An¬
fällen von paroxysmaler Hämoglobinurie konnte man bei
unserem Kranken als unmittelbare Ursache immer nur
die Einwirkung einer sehr niedrigen, ungefähr e i s-
kalten Temperatur konstatieren; psychische Auf¬
regungen sowie auch 20 Minuten lange Unterbindung
des Unterschenkels mit nachfolgender venöser Stauung
und Zirkulationsstörung blieben ohne Einfluß.
Der Urin war im anfallsfreien Stadium stets normal
beschaffen und enthielt kein Eiweiß. Im Anfälle ging nur
einmal Albuminurie dem Blutharnen voran. Die blutige
Beschaffenheit des Urins wurde stets durch reines Oxy¬
hämoglobin verursacht (durch Spektralanalyse festgestellt)
und die Menge des Oxyhämoglobins verhielt sich parallel
zur Stärke des Anfalles; sie schwankte auf der Höhe des
Anfalles im Maximum zwischen 0-6% bis 0-8% und im
Minimum zwischen 0-04% bis 0-07%. Die Gesamtmenge
des blutigen Flames betrug in einem Anfälle von 270
bis 045 cm3; durchschnittlich 360 cm3. Im Sedimente waren
stets reichlicher Niederschlag (Detritus) von Oxyhämo¬
globin, Hämoglobinzylinder und manchmal auch hyaline
Zylinder, zahlreiche Kristalle von oxalsaurem Kalk und
phosphorsaurem Kalk vorhanden.
Im allgemeinen bestätigte der klinische Verlauf in
unserem Falle vollinhaltlich die Angaben anderer Autoren.
Etwas anders war der Sachverhalt bezüglich des hämato-
logischen Bildes und der Beschaffenheit des Blutes.
ß) Das hämatologische Bild sowie auch das Verhalten
des Blutes im Verlaufe der paroxysmalen Hämoglobinurie
wird verschieden angegeben. Im anfallsfreien Stadium ist
die Zahl der Erythrozyten normal oder leicht subnormal,
dagegen im Anfalle gewöhnlich in stärkerem oder gerin¬
gerem Maße verringert, je nach der Schwere des Paroxys-
mus (Mesnet, Bristove und Copeman, Kobler, Ober-
mejer, Ghvostek). Sehr selten, wie es Pel beschrieben
hat, kann neben Haemoglobinuria paroxysmalis auch Hyper-
globulie zutage treten. Die geldrollenartige Anordnung der
roten Bl u I körperchen ist nach Bristove und Cope m a 11,
Boas im Anfälle gestört; die roten Blutkörperchen zeigen
neben normaler Gestalt auch vielfach ausgebuchtete und
über die Fläche gebogene, an Poikylozyten erinnernde For¬
men, Zerfallskörperchen und sogenannte Blutschatten (Pon-
fick), d. h. mehr oder minder ihres Hämoglobingehaltes
beraubte ausgelaugte Blutscheiben. Rößle hat eine eigen¬
tümliche Agglomeration der roten Blutkörperchen an die
Leukozyten im defibri liierten, nur auf Zimmertemperatur
abgekühlten Blute eines Hämoglohinurikers gesehen; sie
war derart intensiv, daß sich überhaupt kein weißes Blut¬
körperchen fand, welches nicht von einer Kugel von rings¬
herum an ihm fest Liebenden Erythrozyten umgeben war.
Die Regeneration der roten Blutkörperchen scheinl schnell
vor sich zu gehen (Köhler, Obermejer, Bristove und
Copeman, Götze). Nach E. Meyer und Fl. Emmerich
ergab die Prüfung der Resistenz der roten Blutkörperchen
bei Flä'moglobinurikern eine Lädierbarkeit dieser gegen
Schütteln, gegen Saponin, Essigsäure. Gegen Kälte sind sie
nicht empfindlicher, wohl aber gegen Temperaturschwan¬
kungen ; dieses letztere wird besonders deutlich bei An¬
bringung einer zweiten gleichzeitigen Schädlichkeit, zum
Beispiel von Saponin oder Essigsäure. Der Hämoglobin¬
gehalt ist entsprechend der Zahlenverminderung der roten
Blutkörperchen während und nach dem Anfall herabgesetzt.
Die Leukozyten zeigen nach den übereinstimmenden An¬
gaben der Autoren überhaupt keine nennenswerten Ver¬
änderungen. Manche Autoren, wie E. Meyer und E. Em¬
merich, beobachteten im Anfälle einen Lymphozystensturz
und ein Verschwinden der Eosinophilen und Benjamin
eine Vermehrung der Mastzellen nach dem Anfalle und am
Tage darauf eine Steigerung der Eosinophilen bis zu ß°/o-
Rößle fand Hämoglobintropfen in dem Protoplasma der
Leukozyten. Die Gerinnbarkeit des Blutes ist erhöbt
(Ha yem, Salle); der schnell geronnene Blutkuchen soll
sich sehr rasch wieder lösen. Das Blutserum im Anfalle
und bald nach dem Anfälle durch Schröpfköpfe gewonnen,
enthält eine größere oder geringere Menge von gelöstem
Hämoglobin, je nach der Stärke des Anfalles und nach der
Zeit der Blutentnahme.
WIEJMER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
In unserem Falle hatte man vor dem Anfalle eine
mäßige Vermehrung der Erythrozyten (5,700.000), dagegen
sowohl im Anfalle wie auch zwei Tage darauf nur eine
leicht subnormale Zahl derselben (4,500.000), wie in nor¬
malen Verhältnissen konstatieren können. Die Erythro¬
zyten waren überhaupt blässer, zeigten keine geldrollen¬
förmige Anordnung und wiesen in der Mehrzahl eine nor¬
male Gestalt, und nur stellenweise vielfach ausgehuchtete
über die Oberfläche gebogene Formen, an Poikvlozyten er¬
innernd, auf. Ihre Resistenz gegen freie Kohlensäure, wie
es die nachstehenden anderenorts angeführten Versuche
beweisen, war deutlich herabgesetzt ; dagegen ganz normal
gegen wässerige Verdünnungen von Essigsäure. Die Zahl
der Leukozyten war vor dem Anfalle bedeutend erhöht
(16.400) und im Anfalle und zwei Tage darauf normal (7000).
Das Färbungsvermögen mit Triazid schwach, nach lä li¬
ners Methode normal. In den gefärbten Präparaten war
ein verschiedenes Verhalten der Leukozyten gegeneinander
festzustellen; überhaupt hat man auf der Höhe des Anfalles
einen bedeutenden Lymphozytensturz konstatieren können
(9 °/o , indem die Lymphozytenzahl vor dem Anfalle 15%
und zwei Tage darauf 25% betrug) und eine Vermehrung
der polynukleären Neutrophilen (ganz entgegengesetzt), sowie
ein vollständiges Verschwinden der Eosinophilen vor dem
Anfälle und ein Auftauchen derselben während des An¬
falles (2%) und besonders zwei Tage nach dem Anfalle
(4%). Pie polynukleären Basophilen blieben in allen
Stadien fast unverändert (0-5% bis 1%). Zugleich konnte
man stets lymphoide Knochenmarkzellen, Uebergangsfor-
meni und neutrophile Myelozyten feststellen, was für die
konstante Reizung der blutbildenden Organe spricht. Es
verdient erwähnt zu werden, daß während des Anfalles
die Zahl der lymphoiden Knochenmarkzellen bis 1% sank
und die der neutrophilen Myelozyten bis 3% stieg, indem
vor dem Anfalle und zwei Tage darauf die Zahl der lym¬
phoiden Knochenmarkzellen 3-5% bis 2% und die der
Myelozyten 0-5% bis 0% betrug. Mikroskopisch fand mä|n
an gefärbten Präparaten stets geringe Polychromatophilie,
spärliche Normoblasten vor dem Anfalle und während des
Anfalles; vereinzelte Blutschatfen und Zerfallskörperchen
während des Anfalles; zahlreiche Blutplättchen und zer¬
fallene Leukozyten nach dem Anfalle. Der Hämoglobingehalt
war immer derselbe (80%), obwohl die Zahl der Erythro¬
zyten eine verschiedene war. Färbungsindex schwankte
zwischen 0-7 bis 0-8; spezifisches Gewicht 1 062:1 058.
Das geronnene Blut, entnommen auf der Höhe des Anfalles,
tvies im allgemeinen ganz normale Beschaffenheit auf, ent¬
lieh ganz reines Oxyhämoglobin, ohne irgend eine Spur
mn anderen Färbstoffen, wie Metihämoglobin usw. Die
txyhämoglobinmeinge, spektrokolorometrisch geprüft, betrug
124-8 auf 1000 Gewichtsteile des Blutes (normal 130 bis
L50%o). Das Blutserum enthielt vor dem Anfalle kein
Oxyhämoglobin und zeigte in jeder Beziehung ganz normale
d gen schäften. Der Blutfarbstoff gehört zu der Lipochrom-
I ruppe; es enthielt von den Eiweißstoffen Albumine und
dobuline. Mit dein Entleeren der ersten Menge blutigen
Lames fand man im Blutserum ganz deutliche Spuren von
Oxyhämoglobin und auf der Höhe des Anfalles stellte das
Hut eine ausgesprochene Hämoglobinämie dar.
y) lieber das Zustandekommen der Paroxysmen bc-
fehen verschiedene Theorien. Die älteren Anschauungen
'her eine direkte Einwirkung der luetischen oder Malaria-
nfektion sind im- allgemeinen verlassen worden, da wäh-
(,nd des Anfalles im Blute weder Plasmodien noch luetische
'furochätein (Spirochaeta pallida) verkommen. Pavy,
fackenzie, Rose nb ach nehmen eine Auflösung der
ulen Blutkörperchen in den Nierengefäßen an. Nach Licht-
>eirn handelt es sich um Veränderungen des Blutes und
hr blutbildenden Organe, welche hei gewissen Reizen mit
uier Auflösung der roten Blutkörperchen reagieren. Pop-
'6T, Murri betrachten die paroxysmale Hämoglobinurie
!s ®ine vasomotorische Neurose, welche sich hei Kälte-
•nwirkung in einer abnormen Erregung der vasomotorischen
Nerven äußere, infolge deren es zur Erweiterung des Ge¬
fäßsystems, Verlangsamung des Blutstromes und daher
stärkerer Einwirkung der Kälte kommt. Gleichzeitig besteht
hei diesen Patienten eine krankhafte Störung der blut¬
bildenden Organe, derzufolge die roten Blutkörperchen
zum Teil weniger resistenzfähig sind und zugrunde gehen.
Ehrlich behauptet, daß sich unter dem Einflüsse der
Kälte bei spezifisch disponierten Individuen Fermente bil¬
den, die das Diskoplasma schädigen und die Lösungs¬
erscheinungen bedingen. Nach Dapper, Ehrlich ist indes
die Kälte zum Zustandekommen der Blutdissolution und
der paroxysmalen Hämoglobinurie überhaupt nicht nötig,
sondern einfache Zirkulationsstörungen durch Abbinden
eines Fingers ohne Kälteeinwirkung seien imstande, die
Hämolyse hervorzurufen. Die Erythrozyten derartiger
Kranken zeigen keine verminderte Resistenz gegen Kälte,
sondern gegen mechanische Einflüsse. Die Veränderung
der Konstitution der roten Blutkörperchen kann durch Lues,
Malaria, Inanition usw. bedingt sein; doch ist dabei die
Regenerationsfähigkeit der blutbildenden Organe intakt.
Außer dieser iLeiohtlöslichkeit eines Teiles der Erythro-
zysten nimmt Chvostek Zirkulationsveränderungen an,
welche infolge abnormer Innervation der Vasomotoren durch
Kontraktion der peripherischen Gefäße zustande kommt. In
den Fällen von paroxysmaler Hämoglobinurie nach Marsch¬
anstrengungen sollen diese Zirkulationsstörungen durch
Lageveränderung der inneren Organe bedingt sein. In man¬
chen Fällen können die Nieren im hervorragenden Maße
an dem Destruktionsprozesse beteiligt sein. Ueberhaupt
vereinigt Chvostek manche der früheren Theorien. Nach
Grawitz’s Anschauung dürfte das wahrscheinlichste sein,
daß die einzelnen Fälle von paroxysmaler Hämoglobinurie
sowohl nach ihrer Aetiologie wie nach der Art und Weise
des Zustandekommens der Hämozytolyse verschiedenartig
aufgefaßt werden müssen.
Auf Grund der neuesten Untersuchungen von Donath
und Land st einer findet sich in vielen Fällen von paroxys¬
maler Hämoglobinurie im Blutserum ein spezifisches Hämo¬
lysin (Ambozeptor), das nur bei sehr niedriger Temperatur
von den roten Blutkörperchen absorbiert wird und erst
dann unter Einwirkung des Komplementes bei 37° C die
Hämolyse hervorruft. Bringt man eine Suspension von
gewaschenen roten Blutkörperchen des Patienten im Serum
des nämlichen Patienten zuerst während einer halben
Stunde auf 0° C, dann während einer bis drei Stunden
in den Brutschrank auf 37° C, so wird Hämolyse statt¬
finden. Bei der Bruttemperatur ist nämlich das in jedem
Serum enthaltene Komplement imstande, auf das Blutkör¬
perchen-Ambozeptorenserum einzuwirken Hämolyse erfolgt
nicht, wenn da;s Serum durch Erhitzen inaktiviert wurde
(Vernichtung des Komplements); das inaktivierte Serum
jedoch kann wieder wirksam gemacht werden durch Hinzu¬
fügung einer kleinen Quantität eines beliebigen Serums
(Komplement).
Bei niedriger (0° C) Temperatur findet die Trennung
von Ambozeptor und Komplement in dem Immunserum
statt. Bei 0° C ist das Komplement unwirksam, während
der Ambozeptor noch an die roten Blutkörperchen fixiert
wird. Während aber in allen anderen Fällen auch für die
Wirksamkeit des Ambozeptors die optimale Temperatur bei
37° C liegt, wenngleich die Wirkung mehr oder weniger
auch noch bei 0° C erfolgt, so liegt für den Ambozeptor
der paroxysmalen Hämoglobinurie die optimale Temperatur
sehr tief und findet bei höheren Temperaturen eine stets
weiter fortschreitende Dissoziation der Verbindung statt.
Donath und Land st einer behaupten, daß während des
Anfalles der Ambozeptorgehalt des Blutserums aufgebraucht
werde und demzufolge das kurze Zeit nach dem Anfalle
folgende Experiment ein negatives Resultat ergeben könne.
Nach Gräfes und Müllers Anschauungen findet der Auf¬
brauch von Hämolysin nur bei schweren Anfällen statt.
E. Meyer und E. Emmerich untersuchten vier Fälle
von paroxysmaler Hämoglobinurie. Nach ihrer Angabe
492
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14
gelingt der Donath-Landsteinersche Versuch nicht
immer. Von 40 Versuchen beim ersten Kranken fielen
13 positiv aus, beim zweiten von 13 sechs Versuche, beim
dritten waren alle drei negativ, beim] vierten waren wiederum
von vier Versuchen zwei positiv. Ein Teil der negativen
Ausfälle war durch Komplementmangel zu erklären. Nach
diesen Autoren wird das Komplement im Anfalle verbraucht,
deshalb findet sich Komplementmangel besonders direkt
nach dem Anfalle und einige Tage darauf. Das Hämolysin
bei paroxysmaler Hämoglobinurie ist nicht sowohl als die
Ursache des Blutverfalles, wie als dessen Folge anzusehen,
vielleicht als das Resultat einer Autoimmunisierung (Auto¬
hämolysin). Die klinischen Symptome des Anfalles, der
rapide Lymphozytensturz, das Verschwinden der Eosi¬
nophilen, der Aufbruch des Komplements und das
Auftreten opsonischer Eigenschaften im Blute spre¬
chen dafür, daß in Paroxysmeri eine Umstimmung
des Organismus nach Art der bei Infektionen an¬
zunehmenden stattfindet, in deren Gefolge sich neue
Immunkörper bilden und deren Antigene die zerfallenden
roten Blutkörperchen des eigenen Organismus sind. Moro
und No da bestätigen auf Grund der Blutuntersuchung
eines an paroxysmaler Hämoglobinurie erkrankten 4V2]äh-
rigen Kindes die Donath-Landstei nerschen Versuche
„in vitro“ und erwähnen, daß der Erfolg sich am
besten gestaltet, wenn das Mischungsverhältnis von roten
Blutkörperchen und Serum 1:8 beträgt. Die Hämolyse ist
bereits am dritten oder vierten Tage nach dem Anfalle
eine geringere ; am siebenten Tage fiel der Wärmekälte¬
versuch überhaupt negativ aus. Während dieser Zeit war
eine rapide Abnahme des humoralen Komplementgehältes
vom Vollwert auf 0 zu konstatieren. Ganz anders verhält
sich die Sache nach Czernecki. Seine Ergebnisse lauten:
1. Bei den an Hämoglobinurie Erkrankten trat die
Hämolyse nicht konstant auf und wenn sie festgestellt wurde,
so trat sie auf eben so gut wie bei Behandlung der Mischun¬
gen des Serums und der roten Blutkörperchen mit wech¬
selnder wie auch konstanter Temperatur, was mit der
kategorischen Behauptung Donath -Landsteiners im
grellen Widerspruche steht.
2. Unter denselben Verhältnissen wie bei der paroxys¬
malen Hämoglobinurie wurde die Hämolyse gleichfalls auch
bei anderen pathologischen Zuständen bemerkt, ohne Rück¬
sicht. darauf, ob die Mischungen mit wechselnder oder
konstanter Temperatur behandelt wurden. Dies stimmt
auch nicht mit den Resultaten Donath- Landsteiners
überein, welche in 195 Fällen von verschiedenen anderen
Krankheiten ständig negative Resultate, d. h. keine „deut¬
liche Reaktion“ erhalten haben sollen.
3. Die Resistenz der roten Blutkörperchen in den
Fällen der paroxysmalen Hämoglobinurie scheint verschie¬
den zu sein; ebenso zeigten die roten Blutkörperchen der
nicht an paroxysmialer Hämoglobinurie Erkrankten verschie¬
dene und zwar eminent andere Resistenz gegen die hämoly¬
tische Wirkung der Sera, ob sie nun von den Fällen der
Hämoglobinurie oder von anderen Individuen entnommen
wurden.
4. Im Widerspruche mit der Behauptung Donaths
und im Einklänge mit Flayem behauptet Czernecki,
daß die Sera der an paroxysmaler Hämoglobinurie Er¬
krankten auch in anfallsfreier Zeit oft deutliche Absorptions¬
streifen des Oxyhämoglobins zeigen, was schon mit dem
Auge beurteilt werden konnte, da diese Seraportionen eine
mehr oder weniger im rosigen oder roten Scheine spielende
Färbung hatten und das Spektroskop Absorptionsstreifen
zeigte.
Hymans unterzog die Donath-Land Steiner sehen
Versuche einer .näheren Prüfung, und führt mit Recht
Schwierigkeiten an, welche bei Erklärung des Faktums
obwalten, daß ein Kranker tagtäglich an Anfällen von
paroxysmaler Hämoglobinurie leiden kann, sobald er der
Einwirkung einer intensiven Källe ausgesetzt wird, wenn
die betreffenden spezifischen Körper während des Anfalles
so weit aufgebraucht worden sind, daß sie durch eine
gewisse Zeit im Blute nicht erzeugt werden. Es be¬
stätigen dies auch andere Autoren wie Grafe und Mül¬
ler usw., welche bei dem betreffenden Kranken „den gan¬
zen Dezember über fast täglich Anfälle“ beobachteten und
der Donath-Lands feiner sehe Versuch, von den sieben
Malen bloß einmal „deutlich positiv“, zweimal „schwach
positiv“ und alle anderen vier Male „vollkommen negativ“
ausfiel. Ebenso wichtig ist es, daß ein Parallelismus zwi¬
schen der Intensität des Ausfalles des Experimentes in
vitro und der Schwere des Falles gewöhnlich gar nicht
zu erkennen ist. Schließlich erscheint es ausgeschlossen,
daß die Bluttemperatur des Hämoglobinurikers auf so nie
drige Werte sinken sollte, wie es nach der Donath-Land¬
stei nerschen Theorie notwendig wäre. Auch verdient der
Umstand erwähnt zu werden, daß in manchen Fällen der
Hämolyseversuch im Stiche läßt, nicht nur wegen Kom¬
plementmangels, sondern auch nach Hinzufügung von Kom¬
plement, sowie, daß in den meisten Fällen die höchste
Temperatur, bei welcher der Ambozeptor von den Erythro¬
zyten fixiert, wird, niedriger ist als der Kältegrad, welcher
zum Zustandekommen eines Hämoglobinurieanfalles in vivo
genügt. Auch steht es nicht unzweifelhaft fest., daß die von
Donath und Land steiner nachgewiesenen Hämolysine
die Ursache der Anfälle sind ; sie könnten sogar, wie es
E. Meyer vermutet, die Folge sein.
Flymans kam auf Grund der Blutuntersuchung von
drei an Haemoglobinuria paroxymalis Kranken zur Ueber-
zeugung, daß bei dem Anfälle von Hämoglobinurie außer
der spezifischen Hämolysine in vivo irgend ein anderer
Körper und zwar Kohlensäure, mitwirke. Es spricht dafür
auch die Beobachtung von Chvostek, daß nach Abbin¬
dung einer Extremität bisweilen paroxysmale Hämoglo¬
binurie zustande kommt. Hymans behauptet auf Grund
seiner Experimente in vitro, daß das Blut bei den an
paroxysmaler Hämoglobinurie Kranken einen bemerkens¬
werten Unterschied aufweist gegenüber dem Blute einer
gewissen Zahl bis dahin untersuchten normalen Personen,
denn das Blut von Hämoglobinurikern zeigte, sobald es
um einige Grade unter 37° C abgekühlt wurde, eine deut¬
liche und bei Zimmertemperatur sogar eine intensive
Hämolyse, wenn zugleich Kohlensäure einwirkte, sowie,
daß die abnorme hämolytische Eigenschaft nur dem Serum
des Hämoglobinurikerblutes zukommt und die Erythrozyten
sich vollkommen normal verhalten. Die Erhitzung auf
50° C während einer halben Stunde machte das Serum
unwirksam; das Serum eines Hämoglobinurikers durch
Erhitzen inaktiviert, kann durch Flinzufügung von frischem,
normalem menschlichen Serum nicht reaktiviert werden.
Höchstwahrscheinlich sind sowohl Ambozeptor wie Kom¬
plement sehr thermolabil. Kohlensäurehämolyse bedarf
der Mitwirkung von zwei Substanzen, des Ambozeptors
und Komplementes und eine wenn auch relativ geringe
Temperaturerniedrigung unter 37° C ist dazu erforderlich.
Die Kohlensäurehämolyse von Hymans zeigt nicht un¬
wichtige Unterschiede in bezug auf die Donath-Land¬
stei ne r sehe Kältewärmehämolyse und zwar:
1. Das von Donath-Landsteiner beschriebene
Hämolysin wirkt nur bei Erwärmung auf 37° C nach vor¬
hergegangener intensiver Abkühlung; Kohlensäurehämoly¬
sin wirkt bei einfacher und relativ geringer Abkühlung
unter 37° C.
2. Für das Zustandekommen der Donath-Land¬
stei nerschen Kältewärmehämolyse ist Kohlensäure nicht
erforderlich; für die Wirkung des Hämolysins von
Flymans ist ein starker Kohlensäuregehalt des Blutes
unbedingt nötig.
3. Die Donath-Lan d stein! ersehe Reaktion scheint
nicht konstant im Hämoglobinurikerserum nachweisbar.
Häufig ist für das Gelingen der Reaktion Hinzufügung von
fremdem Komplement erforderlich. Der Kohlensäureversuch
bei Zimmertemperatur gelingt ausnahmslos und immer gleich
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
493
intensiv. Hinzufügung von fremdem Komplement war nie¬
mals notwendig.
Der Donath-Landstei ne rsche Versuch war nur
dann positiv, wenn das durch Gerinnen bei 37° C gewonnene
Serum benutzt wurde. Das bei Zimmertemperatur ge¬
wonnene Serum verhielt sich negativ.
Für das Zustandekommen der Kohlensäurehämolyse
war es gleichgültig, bei welcher Temperatur das Serum
aus dem Blute erhalten wurde.
4. In den Donath -L andstei n ersehen Versuchen
war es immer möglich, das bei 55° C inaktivierte Serum
durch Hinzufügung von frischem menschlichen Serum zu
reaktivieren. Das durch Erhitzen auf 50° bis 55° inakti¬
vierte Serum erhielt durch Hinzufügung von frischem
menschlichen Serum die Fähigkeit zur Kohlensäurehämo¬
lyse nicht wieder.
Wie sich daraus ergibt, entsteht die K o h 1 e n s ä u r e-
hämolyse von Hymans in vitro unter Umständ en,
welche am meisten an das Zustandekommen die¬
ses Prozesses in vivo, d. h. im menschlichen Or¬
ganismus erinnern.
Angesichts dessen entschlossen wir uns, in unserem
Falle die Donath -Land st einer sehen und die Hymans-
schen Versuche eingehends zu prüfen.
Die Donath-Landsteiner sehen Experimente mit
dem Blute des Häjmoglobinurikers führten wir zweimal
in der anfallsfreien Zeit aus, wobei bei dem ersten Ver¬
suche (18. November), das ist sechs Tage nach dem Anfalle,
das Resultat, ein schwach positives (+), dagegen bei dem
zweiten Versuche (20. November), das ist acht Tage nach
dem Anfalle, unter denselben Bedingungen vollzogen, ein
stark positives (iM — b) war. Die Reaktion mit dem Blute
eines ganz .gesunden Individuums 'fiel stets negativ aus.
Zugleich wiederholten wir die Experimente von Hymans
ganz genau nach seiner Angabe. Zwecks dessen wurde
dem Patienten das durch Venenpunktion aus der Vena
mediana in der anfallsfreien Zeit (20. November) entnom¬
mene Blut durch Quirlen hei Zimmertemperatur defibriniert
und sofort zentrifugiert. Das vollständig hämoglobinfreie
Serum wurde labpipettiert (S). Die roten Blutkörperchen
wurden sorgfältig mit 0-9°/oiger Kochsalzlösung von Zim¬
mertemperatur ausgewaschen (E). Genau in derselben Weise
wurden das Serum (s) und die Blutkörperchen (e) eines
normalen Individuums behandelt. Dann stellten wir acht
Versuche nach der nachstehenden Zusammenstellung an,
indem in jedem einzelnen Falle eine Mischung von zwei
Tropfen Blutkörperchen Suspension und 15 Tropfen Serum
während zwei Stunden stehen gelassen wurde bei 8°, 16°,
37° C Temperatur unter Einwirkung der atmosphärischen
Luft oder der freien Kohlensäure (unter mit Kohlensäure
gefüllter Glasglocke). Das Ergebnis dieser Experimente
stellte sich dar wie folgt :
1. S -)- E während 2 Stunden bei 8° G in CO., : -j — |--
37° C * » : 0
2. S + E * 2
3. S 4- E » 2
4. s 4- e » 2
5. s -j- E » 2
b. S -(- e » 2
7. S + e » 2
8. S -j- e » 2
16° C an der Luft : ?
16° C in CO, : 0
16° C » * : 0
16° C » » ; -| — b
37° C » » : 0
8° C an der Luft : ?
Die obigen Versuche bestätigen vollinthaltlich die An¬
gaben von Hymans, daß im Hämoglobinurikerblute nur
das Blutserum die hämolytischen Eigenschaften besitzt und
die Erythrozyten .sieh ganz normal verhalten, sowie, daß
das Zustandekommen der Hämolyse im Blute des Hämoglo-
binurikers im hohen Grade durch die Anwesenheit von
freier Kohlensäure, bei niedrigerer Temperatur (8° bis 16° C),
ohne vorhergegangene intensive Abkühlung, begünstigt wird.
Das Blutserum und die roten Blutkörperchen eines normalen
Blutes weisen gar keine hämolytischen Eigenschaften auf.
Zugleich unternahmen wir eine Reihe von Experi¬
menten behufs Prüfung der Resistenz der Erythrozyten
(sorgfältig in 0-9°/oiger Kochsalzlösung gewaschen) gegen
die wässerigen 0-5 bis l°/oigen Lösungen von Essigsäure
und gegen freie Kohlensäure, sowohl aus dem des an
paroxysmaler Hämoglobinurie Kranken wie auch aus
normalem Blute. Wir konnten keinen bemerkenswerten
Unterschied feststellen in bezug auf das Verhalten der Ery¬
throzyten in beiden Fällen (beim Hämoglobinuriker und
gesunden Individuum) gegen die Einwirkung von Essigsäure¬
lösungen; dagegen waren nach fünf Minuten langer Ein¬
wirkung von freier Kohlensäure bei Zimmertemperatur auf
die Suspension der roten Blutkörperchen in der 0-9°/oigen
Kochsalzlösung beim Hämoglobinuriker ganz deutliche
Spuren von Hämolyse wahrnehmbar, indem die normalen
Erythrozyten unter denselben Umständen sich ganz wider¬
standsfähig verhielten. Die Hämolyse trat dann stark posi¬
tiv auf, nachdem Kohlensäure bei Zimmertemperatur fünf
Minuten lang in die obige Suspension der roten Blutkör¬
perchen des Hämoglobinuri kers eingeleitet wurde, nach vor¬
heriger Hinzufügung einer ganz geringen Menge Serums
des Hä'moglobimurikers (S), indem dieselbe hinzugefügte
Quantität eines (normalen Serums die Hämolyse nicht ver¬
ursachte. Ebenso trat keine Hämolyse auf, wenn der Ver¬
such unter denselben Bedingungen mit Blutkörperchensus¬
pension von normalem Blute und Beimischung eines nor¬
malen Serums ausgeführt wurde. Es unterliegt daher keinem
Zweifel, daß die Widerstandsfähigkeit der Erot.hrozyten
beim Hämoglobinuriker gegen Kohlensäure herabgesetzt ist
im Vergleich mit normalen roten Blutkörperchen.
Fassen wir die Ergebnisse der klinischen
Beobachtungen .und der angestellten Experi¬
mente in unserem Fälle zusammen, so kommen
wir zu nachstehenden Schlußfolgen:
1. Die Anfälle von paroxysmaler Hämoglobinurie traten
stets nur unter der Einwirkung einer niedrigen Temperatur,
d. h. nach Applizierung eines eiskalten Fußbades oder nach
spontaner Erkältung des Kranken auf. Die Ahbindung der
Extremität war nicht imstande, den Anfall hervorzurufen;
auch alle psychischen Aufregungen blieben erfolglos. Der
Anfall, welcher anfangs auf starke Intensität hindeuten
ließ, wurde bald kupiert nach Verabreichung von warmen
Wasserflaschen auf die unteren Extremitäten. Die Anfälle
konnten in 24 Stunden hervorgerufen werden.
2. Das Blut des an paroxysmaler Hämoglobinurie Er¬
krankten enthält spezifische Hämolysine. Die hämolytische
Eigenschaft kommt nur ausschließlich dem Blutserum und
nicht, den Erythrozyten zu. Die roten Blutkörperchen weisen
eine deutlich verminderte Resistenz gegen freie Kohlen¬
säure auf.
3. Für das Zustandekommen der Hämolyse „in vitro“
war die 'Einwirkung der freien Kohlensäure hei Zimmer¬
temperatur (16° C) unbedingt erforderlich, was den dies¬
bezüglichen Bedingungen „in vivo“ am meisten entspricht.
Ueberhaupt spielt die Kohlensäurehämölyse von Hymans
ganz gewiß keine unwichtige Rolle.
4. Gleichzeitig mit dem Auftreten der paroxysmalen
Hämoglobinurie konnte man Hämoglobinämie feststellen.
Das Blutserum enthielt während des Anfalles nur reines
Oxyhämoglobin, ohne irgend eine Beimischung von anderen
Blutfarbstoffen, wie Methämoglobin usw. In der anfalls¬
freien Zeit war in dem Blutserum ein normaler Farbstoff aus
der Lipochromgruppe und kein Oxyhämoglobin nachweisbar.
5. Für das Zustandekommen der Kohlensäurehämolyse
scheint der Einfluß der vasomotorischen und sekretorischen
Nerven von großer Bedeutung zu 'sein. Ganz kleine Mengen
von Atropin, welche keine Mydriasis verursachten, ent¬
falteten eine deutlich hemmende Wirkung in jeder Be¬
ziehung für das Auftreten und den Verlauf des Anfalles
und eine ganz kleine Dosis von Pilocarpinum mur. beföi'
derte den Anfall. Daher ist es sehr wahrscheinlich, daß
das Zustandekommen der Kohlensäurehämolyse auf die
gesteigerte sekretorische Tätigkeit der Gefäßendothelzellen
infolge einer größeren Erregbarkeit der vasomotorischen
und betreffenden sekretorischen Nerven zurückzu führen sei.
494
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14
6. Im Urin war stets nur reines Oxyhämoglobin ent¬
halten.
7. Der Blutdruck stieg nur während des Anfalles un¬
bedeutend an.
8. Der hä, matologische Befund wies einen starken
Lymphozytensturz während des Anfalles auf und sprach
für konstante Reizung der blutbildenden Organe. Ueberhaupt
stellt sich die Pathogenese der einzelnen Parox/smen nach
unserer Ansicht folgendermaßen dar:
Bei dem neuropathisch veranlagten Kranken, dessen
Blut eine bedeutend herabgesetzte Widerstandsfähigkeit der
Erythrozyten gegen die freie Kohlensäure zeigt und zu¬
gleich spezifische Hämolysine enthält, entsteht nach Kälte¬
einwirkung eine abnorme Reizung der vasomotorischen
Nerven, was sich durch starke Verengerung der peripheren
Hautgefäße und kompensatorische Erweiterung der Kapil¬
laren in den Baucheingeweiden manifestiert. Infolge der
Erweiterung der Kapillaren findet eine Verlangsamung des
Blutstromes in den Baucheingeweiden und eine Abkühlung
der Körpertemperatur statt; zugleich sammelt sich dorthin
eine größere Blutmenge und Kohlensäure. Dieser Umstand
wirkt erregend auf die sekretorischen Nerven der Endothel¬
zellen in den erweiterten Blutgefäßen der Baucheingeweide
und verursacht dorthin eine stärkere Sekretion der Endo¬
thelzellen. Unter Mitwirkung von spezifischen Hämolysinen,
größeren Gehaltes an Kohlensäure, Abkühlung der Körper¬
temperatur infolge einer Verlangsamung des Blutstromes
in den Kapillaren und gesteigerter Sekretion der Endothel¬
zellen (Komplement), entstehen in dem Blutgefäßgebiet der
Baucheingeweide Bedingungen für das Zustandekommen
der Kohlensäurehämolyse nach Hymans „in vivo“, ganz
analog zu dem diesbezüglichen Versuche „in vitro“. Gleich¬
zeitig mit dem Zustandekommen der Hämolyse triP Hämo¬
globinurie auf. Als dann nach einiger Zeit die Zirkula¬
tionsstörungen zurückgegangen (sind, hört die Hämoglo-
binämie und mit derselben auch die Hämoglobinurie auf.
Durch den Zerfall von Erythrozyten während des Anfalles
wird ein konstanter Reiz für die Regenerationstätigkeit der
blutbildenden Organe gegeben.
Die Ursache einer verminderten Resistenz der Ery¬
throzyten gegen Kohlensäure läßt sich nicht feststellen.
Zwar könnte man in unserem Falle die positive Wasser¬
mann sehe Reaktion, in Erwägung ziehen, jedoch würden
wir uns dafür nicht aussprechen, da Syphilis eine so
häufige und die paroxysmale Hämoglobinurie dagegen ein
so seltenes Vorkommnis ist.
Literatur:
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v. Eulenburg 1886. Grawitz, Klinische Pathologie des Blutes. 1896.
Chvostek, lieber das Wesen der paroxysmalen Hämoglobinurie.
Leipzig und Wien 1894. Zusammenfassende Monographie und Literatur¬
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Hymans v. d. B e r g h, Blutuntersuchungen über die Hämolyse bei
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Nr. 27 und 1909, Nr. 35. — Czernecki, Hämoglobinurie und Hämo¬
lyse. Wiener klin. Wochenschr. 1909, Nr. 42.
Aus der II k. k. Universitäts- Augenklinik.
(Vorstand: Hofrat Prof. Dr. Ernst Fuchs).
Einseitige komplette Okulomotoriuslähmung bei
einem Säugling
Von Dr. Adolf Purtsclier, Sekundararzt.
Lähmungen von Augenmuskeln kommen im Säuglingsalter
neckt feel ten zur Beobachtung; dies gilt, um so mehr, wenn
man noch von der Gruppe der angeborenen Lähmungen absieht,
wie sie durch EntwickTungsstörungen und Mißbildungen bedingt
sein können, durch intrauterin abgelaufene, enzephalitische Pro¬
zesse, durch Geburtstraumen mit folgender Blutung in die Kern¬
region, durch basale Veränderungen und ähnliches. -
Das im folgenden Gesagte soll nur auf die Gruppe der be¬
reits nach der Geburt erworbenen Augenniuskellähmungen Bezug
haben.
Im Säuglingsalter liegen die Verhältnisse insofern kompli¬
zierter als beim Erwachsenen, da einerseits die erworbene Lues
- die häufigste Ursache der Augenmuskellähmungen im späteren
Lebensalter weniger in Betracht kommt, somit andere krank¬
hafte Veränderungen als veranlassendes Moment gelten müssen;
anderseits neigt der Säugling gleich dem älteren Kinde zu Er¬
krankungen - insbesondere des Gehirnes — die beim Erwach¬
senen ungleich seltener beobachtet werden.
So ist die Annahme wohl gerechtfertigt, daß die Augen-
muskellä hm ungen des späteren Lebensalters mehr in Abhängigkeit
von der Syphilis stehen, während im Kindesalter mehr die
Tuberkulose des Gehirnes und seiner Hüllen dabei eine Rolle
spielt. Die mannigfachen pathologischen Prozesse, welche diesen
in Rede stehenden Krankheitsbild ern^tiologisch zugrunde liegen,
sind sehr geeignet, die Feststellung einer Diagnose zu beein
trächtigen.
Ohne auf alle die zahlreichen Ursachen einzeln ein geheil
zu wollen, welche geeignet, sind, bei Erwachsenen Lähmungen
von Augenmuskeln hervorzurufen, soll zunächst ein kurzer IJeber-
blick über jene Gruppe von Erkrankungen geworfen werden,
die für das Zustandekommen der fraglichen Erscheinungen im
Kindesalter in Betracht kommen. Es soll dies ohne Rücksicht
darauf geschehen, inwieweit die zu erwähnenden pathologischen
Veränderungen auf unseren Fall Bezug haben könnten.
Von den Allgemeinerkrankungen verdienen die Infektions¬
krankheiten zuerst erwähnt zu werden.
Lues congenita führt nur in Ausnahmefällen zu Lähmungen
vou Augenmuskeln. i
Bei Tuberkulose kommen — abgesehen von den Tuberkeln
des Gehirns - isolierte Lähmungen vor bei Bestehen von basaler
Meningitis mit Druckwirkung auf die austretenden Hirn nerven
oder Entzündungen derselben. Auch Beeinflussung des Sympa¬
thikus (Pupillendifferenz) durch vergrößerte tuberkulöse Bron-
chialdrüsen ist beschrieben worden.
Influenza und Diphtheritis haben das eine gemeinsam, daß
sie meist nur zu Lähmungen der Akkommodation führen und
solche der äußeren Augenmuskeln sehr selten sind. Doch sind
bei Influenza der Kinder nach den Angaben Strickers (1892)
7°'n der Fälle mit Augenkrankheiten vergesellschaftet; eine noch
größere Rolle spUUn sekundäre Erkrankungen der Ohren (37°/o),
die wieder in weiterer Folge zu Augenmuskellähmungen führen
können: allerdings ist nicht gesagt, ob diese angeführten Zahlen
auch für das Säuglingsalt U1 Geltung haben.
Keuchhusten verursacht abgesehen von Hirnblutungen im
Höhestadium der Erkrankung Zustände im Gehirn, die sich aus
Stauung, Oedem und Anämie kombinieren und ebenfalls' ein
Moment für die Entstehung von Lähmungen (allerdings vorüber¬
gehender Natur) abgeben.
Im Gefolge der Meningitis cerebrospinalis, die schon im
ersten Lobensiahre zur Beobachtung kommt, werden Lähmungen
der äußeren Augenmuskeln auf dem Höhepunkt der Krankheit
verzeichnet: doch sab Uhthoff unter 110 Fällen niemals eine
isolierte komplette Okulomotoriuslähmung. nur zweimal deutliche
Ptosis, daran Erklärung als Manifestation einer teilweisen Okulo¬
motoriusparese ihm aber keineswegs sicher erscheint.
Unter den akuten Exanthemen sind in erster Linie Masern,
aber auch Scharlach von Folgeerscheinungen seitens- der Augen¬
muskeln begleitet; allerdings ist die unmittelbare Ursache wohl
immer in einer sekundären Meningitis, Orbitalphlegmone oder
Sinusthrombose zu suchen.
Verhältnismäßig zahlreich sind auch die Veränderungen des
Zentralnervensystems, welche hier Erwähnung finden müssen,
von den schon erwähnten Bildern der Hyperämie, des Oedems
und der Anämie des Gehirnes (■/,. R hei Keuchhusten) angefangen
bis zu allgemeinen Systemerkrankungen.
Hirnblutungen — ebenfalls bei Keuchhusten auf tretend —
führen zu vorübergehenden oder bleibenden Lähmungein. insbe¬
sondere zu Bl'cklähtuungen.
Enzephalitis b°sr,nders jmm Formen, die hei Poliomyelitis
epidemica Vorkommen. nrigen durch direkte Affektion der Augen*
muskelkerne oder deren «unrairdchvire Zentren und Bahnen zu
häufigen Lähmung -erscbeitengei' der- Auceumuskelu. die oft nur
pa.ssaaeren Charakter besitzen. S f »• ii in n -e 1 1 hat bereits im Jahre
1885 darauf hinaewieR-en„ daß sich im Verlaufs des als zerebrale
Kinderlähmung bekannten Svmnt'unenbildes häufig Augenmuskel-
Sr. 14
WIENER KLINISCHE
Störungen einstellen. In Freuds Monographie über die i at an tile
Zerebrallähmung finden wir die Bemerkung, daß Augenmuskel¬
lähmungen bei der hemiplegischen Form nur vereinzelt, jedoch
mit der Bedeutung eines lokalen Zeichens, beobachtet werden;
diese Bedeutung fehlt ihnen aber bei der diplegischen Form, bei
welcher sie viel häufiger aufzutreten pflegen. W. König hat in
seiner Zusammenstellung von 72 Kranken (der hemiplegischen
und diplegischen Form) nur drei Fälle mit Schädigung des
Okulomotorius finden können.
Traumen des Schädels bedingen dasselbe Bild durch direkte
Verletzung der Nerven bei Basisfrakturen oder durch sekun¬
däre Abszeßbildung im Gehirn.
ln diagnostischer Hinsicht bieten die Lähmungen infolge
von primären oder sekundären Tumoren des Gehirns oder seiner
Häute verhältnismäßig oft die geringsten Schwierigkeiten; man
findet bei ihnen isolierte und kombinierte Lähmungen, auch
Blicklähmungen und Nystagmus vor.
Außerdem sind noch spinale Erkrankungen, insbesondere die
infantile Tabes hier anzuführen, die bereits in frühester Kind¬
heit Lähmungserscheinungen der Augenmuskeln zeitigen können
(Pupillenstörung usw.), ferner Affektionen unbekannter Ursache
nach akuten Infektionskrankheiten.
Akute und chronische Vergütungen - seien es nun Auto¬
intoxikationen vom Darme aus oder solche, die durch Produkte
des eigenen krankhaften Stoffwechsels bedingt sind — - zeigen
sich in den meisten Fällen, die mit Augensymptomen einhergehen,
in Lähmung der Akkommodation, ohne jedoch die äußeren Augen¬
muskeln regelmäßig zu verschonen. Die ähnlich wirkenden ekto-
genen Vergiftungen kommen im Säuglingsalter wohl kaum jemals
in Betracht, wohl aber der Diabetes, der sich bereits im ersten
Lebensmonat äußern kann und dem besonders die weiblichen
Kinder mehr als die männlichen unterworfen sind.
Nierenkrankheiten, die aus den verschiedensten Ursachen
primär und sekundär im Säuglingsalter auftreten können, bewirken
Intoxikationen, wie sie bereits weiter oben erwähnt wurden (siehe
Vergiftungen).
Sehr- wichtig sind noch die Erkrankungen der Nase und
ihrer Nebenhöhlen, die auf verschiedene Weise zu Schädigung
der Augenmuskeln führen können, indem sie sowohl mechanisch
eine Vordrängung der Augenhöhlenwand zur Folge haben, als auch
durch orbitale Phlegmonen kompliziert erscheinen können. Ein¬
zelne Fälle von Lähmungen bei Nasen- oder Nebenhühlenerkran-
kungen lassen sich nicht anders als durch infektiöse oder toxische
Wirkung erklären.
Endlich bildet auch die Otitis media (allenfalls auch Sinus¬
thrombose) die Ursache (siehe Influenza); Bernheimer zieht
liier die Wirkung der Toxine zur Erklärung heran, während U r-
bantschitsch ein Zustandekommen der Lähmungen auf reflek¬
torischem Wege annimmt.
Nach diesen Auseinandersetzungen, welche die Häufigkeit
hühinfantiler Augenmuskel p ares e 1 1 zeigen, sei nun eine derartige
Beobachtung mitgeteilt, die eines gewissen Interesses nicht ent¬
behrt; leider konnte aus äußeren Gründen hei dem Falle, der
letal verlief, keine Obduktion vorgenommen werden, so daß die
pathologisch-anatomische Bestätigung der Richtigkeit der Diagnose
aussteht.
Am 17. Juni 1910 wurde das acht Monate alle Kind St. Sp.
von der Mutter auf die Klinik gebracht, weil es vor sechs Wochen
mit dem rechten Auge nach außen zu schielen begonnen habe.
Mit vier Monaten hatte es einen Darmkatarrh durchgemacht, der
sich auch später noch einmal wiederholte. Die Mutter kann nicht
angeben, ob das Schielen plötzlich oder allmählich auftrat, es soll
aber während der ganzen Zeit seines Bestehens nicht zugenommen
haben. Im übrigen sind keine auffallenden Erscheinungen im
W esen des Kindes zu bemerken. Es besteht kein Erbrechen, keine
Schlafsucht; die Zähne sind noch nicht durchgebrochen. Die
Geburt des Kindes war normal; die Eltern sind angeblich gesund,
von Lues wissen sie nichts auszusagen, auch ist die Familie in
bezug auf Tuberkulose anamnestisch nicht belastet.
Status praesens vom 17. Juni 1910: Das Kind ist seinem
Alter entsprechend groß, etwas schwächlich entwickelt.
Beide Augen; Leichte Rötung und Sekretion der Lidbinde-
Haut, sonst äußerlich normal.
Rechtes Auge: Die rechte Lidspalte ist 4 bis 5 mm weit
ceöffnet ; bei Blick des linken Auges geradeaus ist das rechte
soweit nach außen abgewichen, daß die Sklera zwischen Canthus
mctemus und äußerem Hornhautrand kaum einen Millimeter breit
sichtbar ist. Die Pupille ist gut mittelweit, ohne Reaktion auf
Licht. Bei Blickwendung des linken Auges nach links folgt das
rechte nur bis zur Medianlinie nach innen; bei Hebung und
Senkung der Blickrichtung ist kein Zurückbleiben des rechten
Wochenschrift, mi.
Auges zu bemerken, wohl aber steht dieses eine Spur tiefer
als da.s linke. Außerdem besteht kaum merklicher Exophthalmus.
Linkes Auge* . \Y eite der Lidspalte etwa 7 mm.
Herr Priv.-Doz. Hr. Marburg war so liebenswürdig, den
eivenbetund des Kindes aufzuneiunen, der bis aut beiderseitigen
Babmski normal war.
Die Diagnose wird aui einen tuberkulösen oder luetischen
Prozeß im Gehirn gestellt.
Therapie: Hy drop y rin. 10 : 50-0, zweimal täglich ein Kaifee-
lotiel voll in die Milch zu geben.
Am 23. Juni 1910 wurde das Mädchen im Kinderspitaie
aulgenommen, im folgenden seien die dort erhobenen Angaben
kurz wiedergegeben :
Das vollständig ausgetragene, normal geborene Kind wurde
durch die ersten zwei Monate an der Brust ernährt (2Vs- bis
Bstündige Mahlzeiten), vom dritten Monat au mit abgekochter,
mit Fenchelwasser verdünnter xMilch (3/4 bis 1 Liter täglich)!
Vom vierten Monate an Breinahrung, vom sechsten Monate an
war es in der Kost; die Zahnung ist noch nicht erfolgt. Mit
drei Monaten litt es an Magendarmkatarrh mit Erbrechen nach
jeder Mahlzeit und fünf bis sieben grünen, dünnflüssigen Stühlen
täglich; Besserung nach der dritten Woche. Die Nahrung bestand
in russischem Tee mit Milch zu gleichen Teilen. Seit zwei Mo¬
naten hat es einen Ausschlag am Rücken, der mit Eichenrinden.-
bädern behandelt wurde und sich darauf besserte. Sonst hat das
Kind keine Erkrankung durchgemacht. Seit sechs bis sieben
Wochen steht das rechte Oberlid tiefer und das rechte Auge
schielt nach außen. Das Kind ist ruhig, erbricht nicht, schwitzt
aber stark in der Nacht; hei beiden Eltern finden sich keine
Anhaltspunkte für tuberkulöse oder Lues; die Wohnung tier
Familie ist feucht.
Status praesens vom 24. Juni 1910: Das 6200 g schwere
Kind mißt 64 cm und ist in seiner Entwicklung etwas zurück¬
geblieben; die Haut des Rumpfes zeigt zahlreiche Sudamina.
Knochengerüst mit deutlichen Zeichen von Rachitis; große Fon¬
tanelle, 3:3 cm, offen, vorspringende Tubera, rosenkranzartige
Verdickungen der Rippenenden und Verdickung der Epiphysen der
langen Röhrenknochen. Nur in der linken Achselhöhle mehrere
bis erbsengroße Drüsen. Kein Fieber, Sensorium frei. Kein
Fazialisphänomen ; Patellarsehnenreflexe gesteigert, Trousseau ne¬
gativ, Babinski positiv, Kernig negativ. Keine Nackensteifigkeit.
Bauchdeckenreflex lebhaft. Ptosis des rechten Oberlides, rechte
Pupille weiter als die linke, Strabismus divergent. Bindehäute
leicht gerötet, etwas sezernierend.
Der Befund des Mundes, der Nase und der Ohren zeigt nichts
Besonderes. Ueber den Lungen bestehen keine Schalldifferenzen,
die Atmung ist überall vesikulär. Spärliche bronchitische Rassel¬
geräusche. Herzdämpfung in normalen Grenzen, Töne rein, keine
Geräusche. Bauch leicht auigetrieben, nirgends druckempfindlich;
bisher kein Erbrechen; schleimig-dyspeptiscber Stuhl. Leber und
Milz nicht nachweisbar vergrößert. Im Harn keine abnormen Be¬
standteile. v. Pir quetsche Reaktion: 15. Wassermann sehe
Serumreaktion : schwach positiv.
2. Juli: Nahrungsaufnahme gut, kein Fieber, Stuhl in Ord¬
nung; Körpergewicht stationär; das Ekzem am Rücken etwas
gebessert. — Augenbefund unverändert, Patellarsehnenreflexe ge¬
steigert, keine Nackensteifigkeit; kein Kernig, kein Trousseau,
kein Babinski ; Bauchdeckenreflex lebhaft.
Augenbefund (Prof. Dr. Salz mann): Die rechte Lidspalte
ist um die Hälfte enger als die normal weite linke. Das rechte
Oberlid zeigt keine Falten; die rechte Augenbraue ebensoweit
höher stehend, als die linke Lidspalte weiter ist, das rechte
Auge uach innen, oben und unten unbeweglich, auch keine
Rollung des Bulbus sichtbar. Augenhintergrund beiderseits normal.
Sonstige Lähmungen von Hirnnerven fehlen vollständig. Die Ex¬
tremitäten sind frei beweglich, die Reflexe normal; Sensorium klar;
kein abnormes Benehmen, keine Anzeichen von Kopfschmerzen.
5. Juli; Augenbefund unverändert; Nahrungsaufnahme gut;
gestern zwei gelbe dyspeptische Stühle.
Am 6. Juli wurde das Kind ohne wesentliche Veränderung
in häusliche Pflege entlassen.
Am 29. Juli starb das Mädchen — das seither leider nicht
mehr auf die Klinik gebracht worden war — nachdem schon
14 Tage vorher Krämpfe der Extremitäten und immer häufige;
werdendes Erbrechen eingesetzt hatten; auch soll das Kind in
letzter Zeit einen vollständig benommenen Eindruck gemacht
haben. In einem Kinderambulatorium, wohin die Mutter noch
zweimal gekommen war, wurde Bromnatrium verordnet.
*
Versuchen wir nun, das im allgemeinen über Angcnmuskel-
lähmungen im Kindesalter Gesagte auf diesen besonderen Fall
496
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14
cinzuwendeii und dessen Entstellung danach zu erklären, so müssen
wir zunächst trachten, durch Berücksichtigung und gegenseitiges
Abwägen der vorhandenen Begleiterscheinungen uns über die
primäre ätiologische Veränderung klar zu werden.
Vor allem muß besonders das lange Bestehen der Lähmung
hervorgehoben werden, die während der ganzen Dauer der Beob¬
achtung jedenfalls keine bedeutende Veränderung erfuhr, immer
nur auf das rechte Auge beschränkt war und bei Beteiligung sämt¬
licher Okulomotoriuszweige auch die Binnenmuskulatur und den
Levator betraf. Dabei zeigte das Kind mit Ausnahme der letzten
zwei bis drei Wochen ein recht gutes Allgemeinbefinden und
keinerlei Symptome einer anderweitigen a usgebrei toteren Er¬
krankung.
Dieser sehr’ langsam fortschreitende Zustand der Lähmung
von seiten des rechten Auges erlaubt es uns auch, hinsichtlich
der zugrunde liegenden Veränderung einige Vermutungen aus¬
zusprechen. Es dürfte sich um einen ziemlich streng lokalisierten,
gar nicht oder nur wenig fortschreitenden Krankheitsherd im
Gehirne handeln, was schon von vornherein Entzündung aus¬
schließt. Die übrigen Veränderungen des Zentralnervensystems
— mit Ausnahme des Tumors — als Grundlage der Störung
lassen sich mit größter Wahrscheinlichkeit ausschalten. Gegen
Hirnblutungen — für deren Entstehung anamnestisch überhaupt
kein Umstand namhaft gemacht werden kann — spricht das nur
einmalige und So streng lokalisierte Auftreten der Schädigung
und deren für Blutung zu langsame Progredienz ; auch ein Trauma,
das' etwa das Vorhandensein eines Hirnabszesses erklären könnte,
fehlt in der Vorgeschichte, ebenso wie Erkrankungen der Nase
und ihrer Nebenhöhlen oder des Ohres, die ebenfalls zu Abszessen
führen können. Aus der ganzen Menge von Infektionskrankheiten
kommt kaum eine andere als Lues und Tuberkulose in Betracht,
ganz abgesehen von der bereits erwähnten Eigenartigkeit der
Kranklieitserscheinungen. Ebenso läßt die kurze Dauer und der
verhältnismäßig leichte Grad der Verdauungsstörungen — schon
gar bei der Einseitigkeit des Prozesses — den Gedanken eines
Zusammenhanges der Darmstörungen mit der Lähmung nicht auf-
kommen. Andere konstitutionelle Erkrankungen, welche zu einer
Autointoxikation hätten führen können, sind durch die negativen
Ergebnisse der Urinuntersuchung ausgeschlossen.
So bleiben nur die Möglichkeiten einer der Poliomyelitis
identischen Polioenzephalitis oder eines Tumors im Gehirn übrig.
Nimmt man auch an, die ersterwähnte Erkrankung sei ohne der
Umgebung auffallende Symptome abgelaufen, so bleibt es immer
noch eigentümlich, daß eine einseitige komplette Okulomotorius¬
lähmung das einzig nachweisbare Residuum der Krankheit ge¬
blieben wäre. Die spätere Progredienz des Leidens nach einem
scheinbar in völligem Wohlbefinden verlaufenden Intervall, ferner
das Fehlen anderer Symptome trotz der Dissemination des Pro¬
zesses, sowie das Ausbleiben fieberhafter Erscheinungen sprechen
nicht sehr für eine solche Annahme.
Bei der Voraussetzung eines Tumors des Gehirnes — wobei
sich die vorhandenen Erscheinungen am ungezwungensten er¬
klären ließen — kämen vor allem Syphilis und Tuberkulose in
Betracht. Der, wenn auch schwach positive Ausfall der Wasser¬
mann sehen Serumprobe erlaubt es nicht, die Möglichkeit einer
luetischen Granulationsgeschwulst ohne weiteres von der Hand
zu weisen.
Andrerseits liegt bei der so großen Häufigkeit der tuber¬
kulösen Hirntumoren im Säuglingsalter die Vermutung sehr nahe,
daß es sich hier um einen solchen handle; es sind auch gerade
die terminalen Erscheinungen einer Meningitis, welche sehr zu¬
gunsten dieser Annahme sprechen. Sind doch nach der Angabe
von Starr unter 300 Hirngeschwülsten des jugendlichen Alters
152 Tuberkel. Es könnte allerdings dagegen auch der Einwand
erhoben werden, daß eine basale Meningitis tuberculosa selbst
ohne Bestehen eines Tuberkels den Verlauf der Krankheit voll¬
kommen erklären würde; kommt es doch vor, daß basale Ent¬
zündungsprodukte um die Austrittsstellen der Hirnnerven durch
Ernährungsstörungen, Kompression oder Entzündung derselben
zu ganz denselben Symptomen führen; dann müßten die kurz
vor dem Tode aufgetretenen schweren Erscheinungen auf eine
plötzlich erfolgte Ausbreitung des schon lange bestehenden chro¬
nischen Krankheitsbildes bezogen werden. Diese Annahme ist indes
ebenfalls ziemlich unwahrscheinlich, da bei einigermaßen fort¬
schreitender Ausbreitung eines exsudativen Prozesses wohl auch
andere Gehirnnerven in Mitleidenschaft gezogen worden wären
und die; verhältnismäßige Konstanz des Krankheitsbildes sich
schwer damit vereinbaren ließe. Wohl aber kann sie in weitaus der
größten Mehrzahl der Fälle von Hirntuberkeln beobachtet werden,
die ja nach der Zusammenstellung von Zap pert zum größten
Teil bei Kindern bis zum Eintritt der terminalen typischen oder
atypischen Meningitis latent verlaufen (in 41 von 62 Fällen
seiner Tabelle). Infolgedessen wird bei Kindern sehr oft ein
recht großer Hirntuberkel bei der Sektion gefunden, während das
Krankheitsbild das Bestehen eines solchen nicht hat erkennen
lassen. Allerdings kommt es sehr auf Sitz und Größe der Ge¬
schwulst an, auch darauf, ob sie als solitäre oder multinle Neu
bildung auftritt; und gerade dann bilden sich ausgesprochene
Herderscheinungen aus, wemr das Wachstum des Tuberkels nicht
vorher durch den Ausbruch einer Meningitis unterbrochen wird.
Unter den vielfachen Erscheinungen, die uns zur Diagnose eines
HirnLuberkels führen können, nehmen die Lähmungen cler Hirn¬
nerven eine besondere Gruppe ein. Sie treten oft als das einzige
Symptom zu Beginn der Erkrankung auf, beschränken sich ent¬
weder nur auf die Augenmuskeln oder betreffen auch den Fazialis;
diese initialen Symptome werden insbesondere bei Tumoren der
Brücke oder der Vierhügel beobachtet, oft als einziges Anzeichen
der Eikrankung, kommen aber nicht auch allzu selten bei Tu¬
moren anderen Sitzes vor, wenn sie — in ihrem Wachstum
schon recht vorgeschritten — einen starken Druck auf die Basis
des Gehirnes ausüben. Doch steht wohl zu erwarten, daß diese
letzteren auch Lähmungen oder Ausfallserscheinungen in der
Funktion anderer Hirnnerven oder wenigstens die allgemeinen
Symptome vermehrten Hirndruckes aufweisen würden; im all
gemeinen gilt auch, daß beginnende Tuberkel im Groß- und Klem
him und den Stammganglien häufiger latent verlaufen, als solche
im Pons und den Vierhügeln. Für diesen von uns angenommenen
Sitz des Tumors spricht auch die von Zap pert aufgesteilte Be
hauptung, die lokalisierbaren Tuberkel seien meist schon ziemlich
groß und besonders an diesen beiden Stellen oder auch im
Kleinhirn gelegen. Gegen die Voraussetzung des Sitzes im Klein
him aber läßt sich der Mangel jeglicher zerebellarer Erscheinungen
anführen, obwohl er auch kein sicherer Gegenbeweis ist. üb
wir es mit einem solitären Tuberkel oder mit multipeln solchen
zu tun haben, von denen eben nur einer die sichtbaren Sym¬
ptome verursacht, während die anderen nicht erkannt wurden,
was ja nicht selten geschieht, darüber zu entscheiden haben wir
keine Möglichkeit; wahrscheinlich ist es nicht, da multiple Tu¬
berkel oft halbseitige, erst spastische, dann paretische Zustände
der kontralateralen Körperhälfte in ihrem Gefolge haben. Es ist
wohl auch keine erzwungene Erklärung, die zehn bis vierzehn
Tage vor dem Tode aufgetretenen konvulsiven Zustände einer ter¬
minalen Meningitis . oder einem trotz der Dünne des Schädels zu
stark werdenden allgemeinen Hirndruck zuzuschreiben, die ja
fast immer dieses Krankheitsbild abschließen.
Ein orbitaler Prozeß endlich kann nicht in Frage kommen,
da der von Anfang an ganz geringe, bei Lähmungen der äußeren
Augenmuskeln häutig beobachtete Exophthalmus nicht zugenom-
men hat; zudem hätte ein solcher Tumor irgendwelcher AeLio
logic endlich doch zu Veränderungen am Optikus führen müssen.
Warum eine basale Schädigung des Okulomotorius nicht
gut als Ursache der Lähmung angenommen werden kann, ist
bereits früher erwähnt worden. (Scharf abgegrenzte, kaum fort¬
schreitende Störung des einzigen Nervus oculomotorius bei Mangel
jeder anderen Erscheinungen.)
Ein pathologischer Prozeß, der zur Lähmung von Augen¬
muskeln im allgemeinen führt, kann — abgesehen von Orbita
und Hirnbasis — auch in der Kernregion oder in den Hemi¬
sphären des Gehirnes lokalisiert sein. Der Sitz der Störung
in der Kernregion ist für unseren Fall nicht sehr wahrschein¬
lich, da totale einseitige Okulomotoriuslähmungen aus anatomi¬
schen Gründen selten nukleär sein werden.
Eine einseitige Okulomotoriuslähmung könnte auch durch
Fernwirkung ausgelöst werden, wie sie z. B. von Tumoren des
gleichseitigen Schläfenlappens hervorgebracht wird. Trotz alledem
glauben wir für unseren Fall wohl am wahrscheinlichsten einen
tuberkulösen Tumor der Vierhügel voraussetzen zu dürfen, obwohl
nach Bernheim er der Sitz der Erkrankung aus der Lähmung
von Okulomotoriusfäsern allein niemals mit Sicherheit erschlossen
werden kann.
Am Ende dieser Arbeit möge noch eine Zusammenstellung
jener Fälle von Okulomotoriusparesen folgen, die sich innerhalb
der beiden ersten Lebensjahre entwickelt hatten, soweit sie mir
aus der Literatur zugänglich waren :
1882; Bagin ski, Arch. f. Kinderheilk., Bd. 3, S. 57. (2 Fälle.)
1883: M. Crohn, Arch. f. Kinderheilk.; Bd. 4, S. 91. 1885:
Moebius, Jakrb. f. Kinderheilk, Bd. 22, S. 354. 1892: E. Mein.
Wiener klin. Woehensehr., Nr. 42. — 1893: D Durante, La Pediatria
1/6, Juni. (Ref. im Arch. f. Kinderheilk. 1896. Bd. 19, S. 417.) 1894:
Bruns, Arch. f. Psych., Bd. 36, S. 300; Ponticaccia, La Pediatria,
S. 264 ff., 294 ff. (Ref. im Jahrb. f. Kinderheilk., Bd. 43. S 269.)
1897 : R. F i s c h 1, Prag. med. Wochenschr. Nr. 26— 28; G. A. G i b s o n u.
A. T urne r, Edinb. med. Journ. (May). (Ref. Jahresber. f. Neur.) —
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
497
Nr. 14
1899: H. Wolf, Arch. f. Kinderheilk.. Rd. 24. S. 319. (Fall 21.)
1901: W. Nissen, .Tahrb, f. Kinderheilk.. Bd. 54. S. 618 ff. (Fall 2 u. 4.)
- 1903: Guinon, Bullet, de la Socidtd de Pädiatrie de Paris, Nr 5
(Ref. Monatsschr. f. Kinderheilk., S. 456.) — 1904: Bouchaud. Arch
g6ner. de nrtd., Nr. 34. _ (Ref. Monatsschr. f. Kinderheilk., S. 536.)
1907: Meczkowski, Sitzung d. neurol. -psych. Ges. in Warschau am
19. Oktober 1907. (Ref. Neurol. Zentralbl. 1909, S. 781.) — 1908: Ba-
bonneix u. Harvier, Gaz. d. Hop.. Nr. 127. (Ref. Michel-Nagel
1908.) — 1910: Zap pert. Jahrb. f. Kinderheilk. u. phys. Erziehiuw.
Bd. 72 (Ergänzungsheft).
Es sei noch einmal erwähnt, daß hiebei von der Einbe¬
ziehung angeborener Beweglichkeitsdefekte abgesehen wurde; das¬
selbe gilt auch von den wenigen bekannten Fällen der frühzeitig
aufgetretenen, chronischen, progressiven, aber isoliert bleibenden
Ophthalmoplegie (Eliasberg, Hanke, .Tocqs, Marina, Neu¬
burger u. a.), welche von Moebius unter der Gruppe des „in¬
fantilen Kemschwundes“ eingereiht worden war. Zapp er t hat
gezeigt, daß — trotz des' erwiesenen Bestehens kongenitaler Kern¬
aplasie, die bei einseitiger Beweglichkeitsstörung des Auges immer
ausgeschlossen werden kann — kein Grund vorhanden sei, die
Krankheit als eine speziell das Kindesalter betreffende zu be¬
zeichnen.
Für die Ueberlassung des Falles bin ich meinem verehrten
Chef und Lehrer, Flerrn Hofrat Fuchs, sehr zu Dank verpflichtet,
ebenso dem Herrn Priv.-Doz. Dr. Marburg, der mich bei der
Abfassung der Arbeit wesentlich unterstützt hat.
Aus der Literatur wurden — außer den schon angeführten
Quellen noch folgende Arbeiten benützt:
Literatur:
Bernheime r, Aetiologie und pathologische Anatomie der
Augenmuskellähmungen. Graefe-Saemisch. Handb. d. ges. Augen-
heilk. 1902. 2. Teil. Bd. 8, Kap. 11, Nachtr. II. - Freu d. Die infantile
Zerebrallähmung. Nothnagel, Handb. d. spez. Pathol, u. Ther., IX/3.,
1901, S. 66, 123 ff. — - W. König, Neurol. Zentralbl. 1895, Sitzungsber.
d. Berl. Ges. f. Psych, u. Nervenkrankh. u. Zeitschr. f. klin. Med. 1896.
S. 284. — Moebius, zit. nach Zappert. — Starr, zit. nach
Oppenheim, Geschwülste des Gehirnes. Nothnagels Handb., IX/2.,
1897. S. 16. — Stricker, zit. nach Biedert. Lehrb. d. Kinderkrankh.,
1902. S. 383. — Strümpell. Ueber die akute Enzephalitis der Kinder,
lahrb. f. Kinderheilk. 1885. Bd. 22. — Uhthoff, Ueber die Augen-
symptome bei epidemischer Genickstarre. Kongreßber. d. Heidelb. ophth
Ges- 1905, Bd. 32, S. 84 ff. — Wilbrand-Saenger. Neurologie des
Auges 1. Bd., 1. Abt., Tab III (zit. Eliasberg, Hanke. Jocqs, Ma-
r. nab — Zappert, Der Hirntuberkel im Kindesalter. Arbeit, aus d.
a eurol. Inst, 1907, Bd. 16. S. 79 ff. Festschrift: ITeber infantilen Kern¬
schwund. Ergehn, d. int. Med. u. Kinderheilk., Bd 5 (zit. Neuburger)
OEFFENTLICHE GESUNDHEITSPFLEGE.
Das Gesetz zum Schutze gegen übertragbare
Krankheiten.
Von Sanitätsrat Dr. Engen Hofmokl in Wien.
Seit 2V2 Jahren steht der Regierungsentwurf eines ( lesetzes,1)
betreffend die Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krank¬
heiten, auf der Tagesordnung. Im November 1908 eingebracht,
wurde der Entwurf vom Herrenhause mit wenigen Abänderungen,
welche sich aber durchwegs als Verbesserungen darstellen, im
Juni 1909 verabschiedet. Vorschläge, die in ärztlichen Vereini¬
gungen und in der Fachpresse zur Erörterung kamen, fanden unter
diesen Umständen wenig Berücksichtigung.
Im Sanitätsausschusse des Abgeordnetenhauses begann die
Beratung über den Gesetzentwurf erst im März d. .1., sie ging
aber nicht über die ersten Paragraph« hinaus, weil das Abge¬
ordnetenhaus aufgelöst wurde. Immerhin wurde die Regierungs¬
vorlage durch die zahlreichen Abänderungsbeschlüsse des Sani¬
tätsausschusses ihres bisherigen dogmatischen Charakters ent¬
kleidet.
Indessen übergab der Zentralausschuß für öffent¬
liche Gesundheitspflege seine in Druck gelegten A nträge
der Regierung und dem Sanitätsausschusse des Abgeordneten¬
hauses.
Die Aktion des Zentralausschusses ist geeignet, für den
Werdegang dieses wichtigen Sanitätsgesetzes eine neue Etappe
(u eröffnen. Es kommt nicht bloß die gewichtige Stimme des
Zentralausschusses, welcher satzungsgemäß zu gemeinsamer Ver¬
anstaltung der elf bedeutsamen auf dem Gebiete der öffentlichen
Gesundheitspflege sich betätigenden Vereine berufen ist, in Be¬
fracht, vielmehr fällt auch die fachliche Begründung und die
sorgfältige Ausarbeitung der Anträge schwer in die Wagschale.
I m» -—4 — 3
*). Vgl. Wiener klin. Wochensehr. 1909, Nr. 16 u. 17.
Abseits der Kritik beschränkt sich der Zentraläusschoß
darauf, positive Anträge zu stellen, sie entsprechend zu fassen
und in den Rahmen des Gesetzentwurfes einzufügen. Dazu kommt
noch der auf sachliche Momente sich beschränkende Erläute¬
rungsbericht.
b>o liegt nebst dem Regierungsentwurfe unter weitgehender
Anlehnung an den letzteren eine zweite den Rereich des ganzen
Gesetzes umfassende Vorlage des Zentralausschnsses für Gesund¬
heitspflege vor.
Insolange der Grundsatz gilt, daß das Bessere der Feind des
Guten ist — hier die gedachte Vorlage gegenüber dem Regie-
rungsentwurfe — muß angenommen werden, daß an diesen An¬
trägen. welche in ärztlichen Kreisen die weiteste Verbreitung ver¬
dienen.2) achtlos nicht vorübergegangen werden kann.
Die praktische Seite im Auge behaltend, wurde der, wenn
auch enge Rahmen des vorliegenden Gesetzentwurfes beibehalten.
Infolgedessen blieb kein Platz übrig für Bestimmungen zur
Schaffung weitergehender prophylaktischer Schutzmaßnahmen, für
Assanierungsanlagen u. dgl. Auch die Bekämpfung der Tuber¬
kulose und Syphilis soll zum Gegenstände eines besonderen Ge¬
setzes genommen werden. Aus Opportunitätsgründen ist dieser
Weg der richtige.
Timern Wesen nach beziehen sich die Abänderungsanträge
auf die Abgrenzung der Kompetenzen bei Handhabung dieses
Gesetzes, auf die richtige Vertretung dev für die Bekämpfung ma߬
gebenden sanitären Gesichtspunkte, sowie auf die bisher ganz
unzulänglich vorgesehenen Entschädigungsansprüche. TJeberdies
ergab sich genug Gelegenheit, sprachliche und stilistische Ver¬
besserungen vorzuschlagen, sowie unerläßliche Ergänzungen hei-
zu fügen.
Dabei kam das grundlegende Gutachten des Obersten Sani¬
tätsrates, von dessen Anträgen die Regierungsvorlage vielfach
abweicht, oder einzelne derselben übergeht, besser zur Geltung.
Alle (übrigens nicht zahlreichen) Abänderungen des Herrenhauses
wurden beibehalten.
Eine klare Umschreibung der Rechte und Pflichten
der zur Bekämpfung vorgeschobenen Aerzte erfolgte in den
Anträgen des Zentralausschnsses nicht etwa in Vertretung der
ärztlichen Standes inter essen, sondern aus begründeten Rücksichten
auf den richtigen Ablauf der notwendigen Vorkehrungen. Die¬
selben soll der beamtete Arzt im Rahmen der normierten Bestim-
müngen aus eigener Machtvollkommenheit anordnen und veran¬
lassen u. zw. nur im Falle dringender Gefahr, jedoch stets hei Auf¬
treten von Pest. Cholera, Blattern, Flecktyphus, Scharlach, Diph¬
therie, Wutkrankheit und Bißverletzungen durch wutkranke Tiere
7). Der Arzt soll wie in Deutschland befugt sein, auch ohne
speziellen behördlichen Auftrag die unaufschiebbaren Erhebungen
und Untersuchungen einzuleiten (§ 5).
Sowohl die Gemeinden wie die politischen Behörden hätten
die Volkehrungen nur „mittels der in ihrem Dienste beamteten
Aerzte“ zu treffen (§ 42), ebenso über die einlangenden Infektions-
anzeigen den in ihren Diensten stehenden beamteten Arzt un¬
verzüglich zu verständigen (§ 4). Es soll eben hintangehalten
werden, daß Erhebungen durch Nichtäßzte stattfinden, was,
so befremdend es erscheint, tatsächlich doch vorkommt.
Die zur Feststellung der Krankheit etwa erforderliche Oeff-
nung der Leiche wäre in dringenden Fällen vom Amtsärzte der
politischen Behörde erster Instanz anzuordnen (§ 5).
Bei Ausschließung vom Besuche der Lehranstalten soll „nach
Weisung des beamteten Arztes“ vorgegangen werden (§ 10).
Die angeführten Bestimmungen sind im Regierungsentwurfe
entweder nicht anfgenommen oder in anfechtbarer Weise um¬
schrieben.
Was jene Punkte betrifft, welche mit den sanitären
G r u n d s ä t z e n besser in E i n k 1 a !n g g e b r a c h t w e r d e n
mußten, so war es unerläßlich, vorzuschreiben, daß außer den
kranken, gegebenen Falles auch die krankheitsverdächtigen Per¬
sonen abzusondern sind (§ 8).
Der Satz des Regierungsentwurfes, daß „die Desinfektion
nach Erfordernis unter fachmännischer Leitung durch'zu
führen“ sei, mußte naturgemäß als unklar und unzureichend
gestrichen werden (§ 9). Desgleichen der Satz im § 11, daß
„die Reinigung und Entleerung von Senkgruben, Aborten. Kanali¬
sierungsanlagen und Stallungen ungeordnet“ werden kann ; hiezu
fügt der Erläuterungsbericht des Zentralausschusses hinzu, daß
es zweckmäßiger wäre, gegebenen Falles die Verhinderung der
Entleerung zu Epidemiezeiten anzuordnen.
2) Diese Anträge erscheinen in der Oesterr. Vierteljahrschrift für
öffentliche Gesundheitspflege 1911. H. 1. Son dernbd rücke sind bei der
Redaktion der Vierteljabrschrifl, IX/.,, Kinderspitalgasse 15, zu erhalten.
498
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14
Zu den in ärztlichen Kreisen seit dem Erscheinen des Re¬
gierungsentwurfes angefochtenen Bestimmungen gehören jene der
§§ 11 und 21, wonach auf die Wasserbenützung zur Erzeugung
motorischer Kraft, sowie zu Verkehrs- und Industriezwecken ein
Verbot , .keinesfalls“ erstreckt werden, ferner daß die Schließung
einer Betriebsstätte erst nach Anhörung des zuständigen Gewerbe-
inspektors erfolgen darf.
Solche Enunziationen sind mit einem geordneten Gange
der Seuchenbekämpfung nie vereinbar, sie sind auch sachlich
nicht begründet. Es wird daher vorgeschlagen, daß das im ersten
Falle strittige Verbot nur von der politischen Landesbehördte,
erlassen werden dürfe und daß im zweiten Falle bei allfälliger
Schließung eines Betriebes aus sanitätspolizeilichen Gründen
gleichzeitig der Ge vr eßbeinspektor verständigt werde.
Wird aus epidemiologischen Erwägungen die Benützung
von Quellen, Brunnen, Wasserleitungen u. dgl. untersagt, so soll
folgerichtig die Gemeinde zur Beistellung einwandfreien Trink¬
wassers verpflichtet werden (§ 11). Dieser vom Zentralausschusse
vorgeschlagene Nachsatz fehlt im Regierungsentwurfe.
Zwischen den kontagiösen und den nur in geringem Grade
ansteckungsfähigen Krankheiten unterscheidet der Regierungs¬
entwurf in nicht ausreichendem Maße. Zur Beseitigung dieser
Mängel wurden die §§ 19 und 20 dahin abgeändert, daß die
Schließung der Lehranstalten oder das Verbot des Hausierhandels
nicht im Sinne der Regierungsvorlage „bei Auftreten einer an¬
zeigepflichtigen Krankheit“, vielmehr nur dann erfolgen darf, wenn
sie zum Schutze gegen Weiterverbreitung einer übertragbaren
Krankheit geboten erscheint. Aus dem gleichen Grunde soll ein
Verbot der Abhaltung von Märkten, Festlichkeiten, Wallfahrten
und dergleichen nicht „beim Auftreten einer anzeigepflichtigen
Krankheit“ (§ 16), sondern laut Antrag des Zentralausschusses
nur bei Auftreten von Cholera, Pest, Blattern, Flecktyphus oder
bei gehäuftem Auftreten von Abdominaltyphus und Ruhr zu¬
lässig sein.
Unter die anzeigepflichtigen Krankheiten soll nach dem
Anträge des Zentralausschusses auch Wochenbettfieber aufgenom-
men werden, jedoch nur festgestellte Fälle, da. sich bei unklaren
Symptomen geringgradiger Störungen im Wochenbettverlaufe und
beim Fehlen einer zuverlässigen ätiologischen Diagnose eine nur
halbwegs richtige und erfolgreiche Handhabung der A nzeigep flieht
bei Verdacht auf Kindbettfieber nicht erwarten läßt. Die fest-
bestellten Fälle sollen aber anzeigepflichtig erklärt weiden, vor
allem wegen der Gefahr der Verschleppung durch die die Kranken
pflegenden Hebammen.
Der Regierungsentwurf enthält bezüglich der nicht anzeige¬
pflichtigen übertragbaren Krankheiten nur die eine unzureichende
Bestimmung, daß unter Umständen auch andere Krankheiten als
anzeigepflichtig erklärt werden können (§ l). Hingegen ist nicht
vorgesehen, daß die Sanitätsbehörde auch ohne Anzeigepflicht
einzugreifen hat, sobald das öffentliche Wohl gefährdet ist. Nicht
anzeigepflichtig bedeutet nicht dasselbe wie sanitär ungefährlich.
Im Vordergründe stehen die Maßnahmen in den Schulen (auch
bei Masern, Keuchhusten. Parotitis epidemica, Krätze, Pediculosis
und dergleichen), ferner in engen Wohnungs- und Arbeitsgemein¬
schaften, Massenquartieren, Bahnbauten, Internaten, Naturalver-
pflegsstationen, Arresten usW. Sogar bei Vorkommen von Syphilis
ist. in bestimmten Fällen ohne behördliche Intervention nicht aus¬
zukommen, z. B. in Ammeninstituten.
In dieser Hinsicht schlägt der Zentralausschuß vor f§ 28 a),
es solle der Verordnungsgewalt Vorbehalten werden, Maßnahmen
anzuordnen, welche bei Auftreten übertragbarer, der regelmäßigen
Anzeigepflicht nüht unterliegender Krankheiten einzuhalten sind.
Eine solche allgemeine Bestimmung erscheint unerläßlich.
Es wäre irrig zu glauben, daß die Befriedigung der Ent¬
schädigungsansprüche lediglich die wirtschaftliche Seite
berühre. Durch Entschädigung wird die Durchführbarkeit der
sanitären Maßnahmen wesentlich unterstützt.
Von diesem Gesichtspunkte empfiehlt der Zentralausschuß
nach dem Muster des preußischen Gesetzes den Rückersatz an
leistungsschwache Gemeinden aus Staatsmitteln, sobald einer Ge¬
meinde im Laufe eines Jahres aus Anlaß der Vorkehrungen
zum1 Schutze gegen Post, Cholera, Blattern oder Flecktyphus Aus¬
lagen erwachsen, welche die Höhe einer 10°'oigen Gemeindeumlage
überschreiten. Um eine mißbräuchliche Ausnützung der staat¬
lichen Hilfe durch Gemeinden zu verhindern, soll sich dieser
Rückersatz nur auf Auslagen für die Einrichtung, Erhaltung
und den Betrieb von Absonderungsräumen für kranke und krank-
h ei tsverdäch tilge Personen, ferner für Beistellung von Kranken-
transnortmitteln und für Desinfektion beziehen.
Der Regierungsentwurf sieht auch nicht vor, daß die infolge
sanitätspolizeilicher Verfügung abgesonderten mfektionsverdäch-
tigen Pe~s um für Verdienstentgang zu entschädigen sind. Diese
Lücke soll ausgefüllt werden. Die Entschädigung, auf welche der
Anspruch erhoben werden darf, ist keine bedeutende, sie bewegt
sich in der Höhe des Krankengeldes der betreffenden Kranken
kasse. Eine gleiche Entschädigung soll den von ihrem Berufe
ausgesperrten K: aukenpflegepersonen und Hebammen zukommen.
Die vorgesehene Zuwendung von Ruhe- und Versorgungs¬
genüssen für Aerzte und deren Hinterbliebene darf sich nicht bloß
auf beamtete Aerzte beschränken (§ 34), soll vielmehr zumindest
bei Bekämpfung der besonders gefährlichen Krankheiten, wie
Pest, Cholera, Blattern und Flecktyphus, auf jeden mitwirkenden
Arzt ausgedehnt werden, sobald er in pflichtgemäßer Ausübung
des ärztlichen Beistandes berufsunfähig wird oder den Tod findet
Der praktische Arzt leistet, in solchen Fällen auch ohne behörd¬
lichen Auftrag eine gleich verantwortungsvolle Arbeit im Inter¬
esse der allgemeinen Wohlfahrt wie sein beamteter Kollege,
Einen neuen Punkt bildet der Antrag auf Festsetzung von
Ruhe- und Versorgungsgenüssen für Krankenpflegepersonen,
Krankenträger, Desinfektionsdicner und Totengräber, jedoch nur
bei Bekämpfung von Pest, Cholera, Blattern und Flecktyphus.
Diese Entschädigung ist billig; würden sich solche Personen
weigern, ohne materielle Sicherung ihrer Existenz und jener ihrer
Angehörigen die ihnen übertragenen gefährlichen Verrichtungen
zu übernehmen, so könnte mancher Fall für die Oeffentlichkeit
verhänge isvoll werden.
Bezüglich der Desinfektion wird der Grundsatz aufgestellt
(§ 9), daß di? behördlich angeordnete Desinfektion unentgeltlich
sein soll. Nach dem1 Regierungsentwurfe wird zwischen der behörd¬
lichen und privaten Desinfektion nicht unterschieden. Ein Ent¬
schädigungsanspruch für bei der Desinfektion beschädigte Gegen¬
stände kann naturgemäß nur bei behördlicher Desinfektion in
Betracht kommen. Hingegen wird mit Recht die Stellungnahme
der Regierungsvorlage bekämpft, daß der fragliche Schadenersatz
nur dann zu berücksichtigen sei, wenn „durch den verursachten
Schaden oder den Verlust des Gegenstandes eine Gefährdung oder
wesentliche Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage des Ent
schädigungsberechtigten herbeigeführt wird“ (§ 30).
Bei Erörterung der Ver k eh ps beschrä nkun gen gegen¬
über dem Aus lande (§ 26) erscheint die Anregung zu einer
Resolution des Abgeordnetenhauses höchst beachtenswert, dahin¬
gehend, die Regelung der einschlägigen Verträge mit Ungarn und
den anderen Staaten ehebaldig st in Angriff zu nehmen und zwar
hinsichtlich der Modalitäten des Nachrichtendienstes, der even¬
tuellen unmittelbaren Erhebung durch in das andere Land zu
entsendende Kommissäre, ferner der Ein- und Durchfuhr von
infektionsverdächtigen Waren und Gebrauchsgegenständen. Als
bedenkliches Illustrationsfaktum für den Mangel derartiger Verein¬
barungen wird die Tatsache angeführt, daß anläßlich der irn
Herbste 1910 in Wien aufgedeckten Choleraeinschleppungen, deren
Provenienz nachgewiesenermaßen auf Ungarn zu nick zu führen war,
die offizielle Mitteilung der ungarischen Regierung über das
Auftreten der Cholera in Ungarn erst drei Wochen später einlangte.
Im Vorstehenden wurden nur die wichtigsten Vorschläge
hierausgegriffen, während die Zahl der vom Zentralausschusse
beantragten Abänderungen und Ergänzungen etwa 60 Punkte um¬
faßt und begründet.
Ueber die Notwendigkeit einer durchgreifenden Umformung
der Regierungsvorlage bestand in den ärztlichen Kreisen kein
Zweifel ; es erhob sich wenigstens weder anläßlich der bezüg¬
lichen Verhandlungen, noch in der Fachpresse keine einzige
Stimme, welche für die unveränderte Annahme eingetreten wäre.
Nunmehr liegt eine alle sanitären Anforderungen nach Tun¬
lichkeit berücksichtigende ausführliche Arbeit vor. Es wäre nur zu
wünschen, daß die dort vertretenen Gesichtspunkte zum Gemein¬
gut werden und im Gesetze Aufnahme finden. Denn speziell dieses
Gesetz, welches auch in Zeiten der Gefahr die große kulturelle
Errungenschaft der sanitären Sicherheit gewährleisten soll, hat
die Aufgabe, die besonders hervortretenden Widersprüche zwi¬
schen den Interessen des einzelnen und jenen der Allgemeinheit
gerecht und wirksam auszugleichen.
Referate.
Beiträge zur gerichtlichen Medizin.
Von A. Kolisko.
Band 1.
Leipzig u. Wien 1911, -Franz Oeuticke.
Wie der Herausgeber im Vorwort mitteilt, soll das Unter¬
nehmen, dessen erster Band hiemit vorliegt, im wesentlichen dazu
dienen, das umfassende Material des Wiener gerichtlich - medi
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
499
zinischen Institutes, das in den letzten zwei Jahrzehnten durch
das Wachstum der Stadt sich ganz außerordentlich vermehrt
hat. statistisch und "kasuistisch zu verwerten. In der Tat gibt es
kein Institut unseres Faches, das über ein gleiches Material ver¬
fügt. Wenn andere Weltstädte eine gleiche oder noch größere
Bevölkerungszahl aufweisen, so bestehen doch in keiner von
ihnen ähnliche Einrichtungen, wie sie in Wien existieren, wo
alle gerichtlichen Leichenöffnungen im Institut selbst ausgeführt
werden und zugleich durch die Einrichtung der sanitätspolizei¬
lichen Obduktionen der Anstalt ein Material von unvergleichlicher
Reichhaltigkeit zu Gebote steht. Es ist gewiß berechtigt, daß
für dieses ganz besonders gestellte Institut auch ein besonderes
Publikationsorgan geschaffen wird und jeder Fachgenosse wird
das Erscheinen der „Beiträge“ begrüßen, die ihm die Arbeiten
dieses Institutes zugänglich machen. Der Referent persönlich
kann allerdings ein leises Bedauern dabei nicht unterdrücken.
Gehörten die Arbeiten des Wiener Instituts doch zu den wert¬
vollsten Beiträgen der von ihm herausgegebenen Vierteljahres¬
schrift für gerichtliche Medizin, die künftig auf jene Arbeiten
zum großen Teil, hoffentlich nicht ganz, wird verzichten müssen.
Die äußere Veranlassung dafür, daß die Beiträge gerade jetzt
ihr Erscheinen beginnen, bildet der Umstand, daß die Wiener
Lehrkanzel für gerichtliche Medizin vor kurzem ihr lOOjähriges
Bestehen gefeiert hat. Dementsprechend wird der erste Band er¬
öffnet mit einer Geschichte dieser Lehrkanzel aus der Feder
von A. Haberda, Sie füllt in dankenswerter Weise eine Lücke
der bisherigen historischen Zusammenstellungen der gerichtlichen
Medizin aus, in denen, wie aus Hab erd as Darstellung jsich
ergibt, die Tätigkeit der älteren Vertreter des' Faches in Wien
zumeist nicht genügend berücksichtigt worden ist.
An zweiter Stelle finden wir einen Aufsatz von A. Ko-
lisko selbst, über Gehirnruptur, in dem vor allem die An¬
schauung von der Entstehung eigentlicher Gehirn rupturen bei in¬
taktem Schädel bekämpft wird. Was man bisher für Gehirn¬
rupturen gehalten hat, sind, wie Kolisko durch eigene Beob¬
achtungen und kritische Prüfung der Literatur nachweist, primäre
-Gehirnblutungen, besonders solche, die sich in der Nähe von
Gehirn quetschungen als große Herde finden, die gelegentlich dann
nach außen oder in die Ventrikel durchbrechen und dadurch
noch eher den Gedanken einer primären Zerreißung fälschlich
hervorrufen können. Solche. Blutungen entstehen in der Regel
erst allmählich und nach Stunden, so daß während des Lebens
ein ähnliches Bild bestehen kann, wie bei den Hämatomen der
harten Gehirnhaut. Wenn sie — ebenso wie die Quetschungen
seihst — besonders häufig an der Basis der Stirn- und Schläfen¬
lappen sitzen, so liegt das offenbar daran, daß hier das Gehirn
direkt dem Knochen anzuliegen pflegt und nur wenig schützende
zerebrospinale Flüssigkeit vorhanden ist.
Eine besondere Stellung nehmen die streifenförmigen Blu¬
tungen in der Brücke ein, sie bilden sich nach Kolisko infolge
Herabdrängung des’ Inhalts der hinteren Schädelgrube, wodurch
es zur Zerrung der Blutgefäße kommt, die von der Basis in Hirn¬
schenkel und Brücke eindringen. Sie entstehen sowohl bei
Traumen, alb auch bei spontanen Blutungen des Großhirns, wenn
durch sie eine plötzliche sehr starke Drucksteigerung in der
Schädelhöhle eintritt. Die Blutungen in den großen Ganglien
endlich stimmen mit den spontanen Blutungen insofern überein,
als sich auch hier fast regelmäßig miliare Aneurysmen an den
Aesten der Arteria lenticularis finden. Sie sind danach wohl
in der Regel nicht als eigentliche Folgen des Traumas, sondern als
solche der begleitenden psychischem Erregung aufzufassen. In
einer Reihe von Fällen, in denen Blutungen in den zentralen Ab¬
schnitten und Zeichen äußerer Verletzungen zugleich gefunden
werden, war die Blutung offenbar das primäre. Es handelte sich
um einen 'echten Schlaganfall und die äußeren Verletzungen
entstanden erst sekundär beim Niederstürzen. F ür die Aufklä¬
rung solcher Fälle, deren Begutachtung dem Gerichtsarzt bekannt¬
lich besondere Schwierigkeiten macht, bringt Koliskos Arbeit
eine dankenswerte Vermehrung der bisherigen Kasuistik.
An dritter Stelle liefert Haberda auf 154 Seiten Beiträge
zur Lehre vom Kindesmord. Es handelt sich bei dieser Arbeit
um eine monographische Darstellung des /Kindesmordes auf der
Grundlage eines im Verlaufe von zehn Jahren beobachteten
Materials von 218 Fällen. Es ist unmöglich, im Rahmen eines
Referates den reichen Inhalt der Arbeit wiederzugeben, die fast
für jede der in diesem Kapitel auftauchenden gerichtsärztlichen
Fragen neue und wertvolle Untersuchungen und Beobachtungen
beibrimgt. Wer über schwer zu beurteilende Fälle von Kindesmord
sich künftig zu äußern hat, wird an dieser Arbeit nicht vor¬
übergeben dürfen.
Fritz Reuter hat die Selbstbeschädigung und ihre foren
sische Beurteilung besprochen. Er erörtert zunächst in Kürze
den Begriff und die Fälle von Selbstbeschädigung aus psycho
pathischer Grundlage, ausführlicher die Selbstbeschädigung zum
Zwecke der Befreiung vom Militärdienst und zum Zwecke der
Vortäuschung eines Unfalles. Für beide Kategorien, besonders für
die erstgenannte, werden eine Anzahl eigener wertvoller Beob
achtungen mitgeteilt. Speziell werden als häufigere Formen dieser
Art der Selbstbeschädigung erörtert die Ve rletzungen des Trommel¬
felles durch Einbringen ätzender Flüssigkeit in den äußeren Ge¬
hörgang, die Einführung von Fremdkörpern in den Bindehaut¬
sack, der künstlich erzeugte Mastdarmvorfall, Eingeweidebrüche,
schnellender Finger und die sonstigen Verletzungen der Finger
und Zehen, besonders des Daumens und Zeigefingers der rechten
Hand durch Schuß oder Hieb. Auch auf die Erzeugung von
Hautaffektionen durch Anwendung reizender Substanzen, auf
die von Ikterus, Abmagerung, Herzstörungen und von Pseudo¬
tumoren durch Paraffineinspritzung wird hingewiesen. Den Schluß
bildet eine kurze Darstellung der zur Verhinderung der Empfängnis
an Männern und zumal an Frauen hie und da gebräuchlichen
Operationen.
An letzter Stelle bespricht Karl Meixner das Glykogen
der Leber bei verschiedenen Todesarten. Bekanntlich war von
Lacassagne und seinen Schülern die Glykogenprobe em¬
pfohlen worden zur Feststellung, ob ein Mensch plötzlich oder nach
langsamem Todeskampfe gestorben ist. In jenem Falle soll Gly¬
kogen reichlich in der Leber vorhanden sein, in diesem ganz
oder fast ganz fehlen. Mehrfache Nachprüfungen der Angaben
der Lyoner Schule hatten ein wechselndes Ergebnis. Meixner
bringt nunmehr eine solche auf breitester Grundlage, gestützt auf
Untersuchungen an 218 menschlichen Leichen und auf eine An¬
zahl Tierversuche. Neben manchen physiologisch und klinisch
interessanten Resultaten ist für die gerichtliche Medizin bedeu¬
tungsvoll, daß der Nachweis großer Mengen Glykogen einerseits,
ein absolut negativer Befund anderseits allerdings gewisse
Schlüsse gestatten. Im ersten Falle ist der Tod rasch eingetreten,
im zweiten ist dies auszuschließen. Besonders wertvoll erscheint
der Glykogenbeiünd bei der Sektion Neugeborener. Findet man
bei diesen, wenn die äußeren Umstände ein längeres Leben nach
der Geburt ausschließen lassen, kein oder nur wenig Glykogen,
so darf man annehmen, daß das Kind während der Geburt
langsam an Erstickung zugrunde ging oder mindestens asphyktisch
zur Welt kam. Bedeutungsvoll ist der Glykogenbefund weiter
bei der Frage, ob eine durch schwere Gewalt zermalmte oder
hochgradig verstümmelte Leiche im Leben oder erst nach dem
Tode derart verletzt wurde. Dabei genügt allerdings nicht der
chemische Glykogenbefund der Leber überhaupt, vielmehr bedarf
es der mikroskopischen Untersuchung an Leberschnitten, die
Meixner überhaupt bei seiner Arbeit in der Hauptsache an¬
gewendet hat. Und zwar bediente er sich der Bestsehen Gly¬
kogenfärbung (Litbion — Ammonium — Karmin). Findet man dabei
Glykogen in großen Mengen nur in den Leberzellen ohne Aus¬
schwemmung in die Lymphspalten, so kommt nur eine Todes¬
ursache in Betracht, die den Körper durch schwere Zerstörung
sofort tötet, also eine solche ausgedehnte Zermalmung, allenfalls
eine rasche Verblutung aus einer großen Schlagader. Dagegen
ist zum Beispiel ein Tod durch Gehirnerschütterung auszu¬
schließen. Auch bei dem Tode durch Herzlähmung, die schein¬
bar plötzlich erfolgte, findet sich immer eine solche Ausschwem¬
mung, so daß man annehmen muß, daß dein Stillstände des
Herzens doch stets ein gewisses Stadium der Insuffizienz vor¬
ausging.
Das Referat ist etwas lang geraten, konnte aber nicht kürzer
gefaßt werden, wenn es der Bedeutung und dem reichen Inhall
des Werkes einigermaßen gerecht werden sollte.
F. Straßmann-Berlin.
500
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 14
Die erweiterte abdominale Operation bei Carcinoma
colli uteri (auf Grund von 500 Fällen).
Von Prof. Dr. IC. Wertlieim.
.Mit U Textillustrationen und 6 Tafeln.
223 Seilen.
Wien 1911, Urban u . Schwarzenberg.
Seit dem 16. November 1908, dem Tage, an dean Wert¬
heim die erste abdominale Totalexstirpation wegen Karzinom
nach der von ihm ausgearbeiteten Methode ausgeführt hat, sind
von ihm 500 Fälle von Kollumkrebs abdominal operiert worden.
Nicht so sehr die Erreichung der runden Zahl von einem halben
lausend, als wohl der Umstand, daß im Verlaüf von mehr als
elf Jahren eine genügend große Erfahrung über die Technik und
Leistungsfähigkeit der Operation gesammelt wurde, gab den Anlaß
zu einem Ueberblick über das Material und die Ergebnisse der
Operation, welche übrigens schon größtenteils in einer Anzahl von
Publikationen sukzessive niedergelegt wurden.
Wenngleich schon vor Wert heim die Entfernung des kar-
zinomatösen Uterus abdominal ausgeführt wurde, auch von ein¬
zelnen die Ureteren teils bougiert, teils ohne dieses Hilfsmittel
freigelegt wurden, auch prinzipielle Mitentfernung der regionären
•Lymphdrüsen von Rieß gefordert wurde, so waren dies alles
Bestrebungen, welche mangels einer verhältnismäßig lebenssiche¬
ren Operationsmethode nicht zur Nachahmung reizten. Hier setzte
Wertheims unermüdliche, zielbewußte und mutige Arbeit ein,
welcher es zu danken ist, daß die nach ihm benannte Operation
ein Allgemeingut der operativen Gynäkologie geworden ist.
Hie tabellarisch augeführten 500 Fälle enthalten kein lvorpus-
und kein tiefsitzendes Scheidenkarzinom. Von den einzelnen
Details über die Ausbildung der Operationstechnik wären folgende
zu erwähnen : Die Abklemmung der Scheide und Entfernung
des Präparates durch die Bauchwunde wird beibehalten bis auf
jene Fälle, bei denen die ganze Scheide mitentfernt werden muß.
Vor der Operation wird exkochleiert und paquelinisiert, die Höhle
mit l%o sublimatgetränkter Gaze plombiert. Eine peritoneale
Drainage wird nur dort angewendet, wo auch sonst bei Laparo¬
tomien drainiert würde: also bei Eitererguß während der Ope¬
ration. bei größeren Peritonealdefekten usw. usw. ; sonst, wird der
subperitoneale Raum gegen die Vagina hin drainiert; eine even¬
tuelle Ureternekrose ist nie als Folge dieser Drainage aufzufassen.
Die Blutstillung wird durch die Parametriumklemmen bedeutend
erleichtert; den Einwand, daß bei ihrer Anwendung mehr Para¬
metrium zurückbleibt, weist Wert heim damit zurück, daß die
Klemme ja beliebig knapp an die Beckenwand gelegt werden
können.
Die Ureterresektion ball Wert heim selten für nötig und
in den meisten Fällen, wo sie ausgeführt wurde, für überflüssig;
die mikroskopisch und klinisch erwiesene außerordentliche Wider¬
standsfähigkeit des Ureters gegen das Fortschreiten des Kar¬
zinoms ist bekannt. Nur sechsmal wurde die Resektion mit
Vorbedacht ausgeführt, nur einmal wäre sie nach der mikro¬
skopischen Untersuchung nötig gewesen. Elfmal wurde der Ureter
unbeabsichtigt verletzt; 32mal traten Ureterscheidenfisteln auf,
von denen sich 15 spontan schlossen, wobei stets der Ureter
durchgängig blieb. Ueberall dort, wo die Heilung der Fistel
ausbleibt, ist die Gefahr einer aufsteigenden Infektion der Harn¬
wege eine bedeutende. Die eigentliche Ursache der Ureternekrose
ist noch nicht, vollständig aufgeklärt und Wertheim ist ge¬
zwungen, sich damit abzufinden, daß in einer gewissen Anzahl
von Fällen die Nekrose unvermeidlich ist. Von größter Wichtig¬
keit ist es, zu betonen, daß auch ohne Ureterfistelbildung nicht
selten aufsteigende Infektion, wenngleich meist nicht allzu
schwerer Natur, beobachtet wurde. Die postoperative Zystitis
wurde auch durch die Krönigsche Elasenraffung nicht seltener,
weshalb letztere aufgegeben wurde. Die Blasenstörungen sind
eben ein unvermeidbares, durch die Radikalität der Operation,
bedingtes Uebel. Im Gegensatz zur Blase scheinen am Mastdarm
nachträgliche Nekrosen und Fistelbildungem nicht, vorzukommen.
Die regionären Lymphdrüsen entfernt W er the i m nur dann, wenn
sie vergrößert sind ; die Exstirpation wird für sich, am Schlüsse
der Operation vorgenommen; die histologische Untersuchung er¬
gab, daß nur ausnahmsweise in den verbindenden Lymphbahnen
Karzinom nachzuweisen war.
Die Dauer der Narkose wird dadurch verkürzt, daß die
Auslöffelung und PaqueJinisierung ohne Narkose vorgenommen
wird. Dort, wo die Inhalationsnarkose wegen des schlechten
Herzzustandes bedenklich erschien, wurde (33mal) die Lumbal¬
anästhesie angewendet.
Daß mit der Ausbildung der Technik der Operabilitäts¬
prozentsatz zunahm, liegt in der Natur der Sache; da die be¬
richteten 500 Operationen 1096 beobachteten Krebsfällen ent¬
sprechen, ergibt sich eine Gesamtoperabilität von ca. 50°/o. Dabei
ist zu berücksichtigen, daß ein schlechter Allgemeinzustand als
Kontraindikation gegen den Schweren Eingriff aufgefaßt wird. Da
durch die vaginale Untersuchung die Beteiligung der Lymphdrüsen
nicht immer zu erkennen ist, auch die Zystoskopie über das Ver¬
halten der Harnblase keine genügenden Aufschlüsse gibt, wird
jede Laparotomie wegen Carcinoma colli zunächst als Explo-
rativlaparotomie aufgefaßt; nur dann aber darf sie als solche
gezählt werden, wenn es nicht zur Uterusexstirpation gekommen
ist (79 von 1056 Fällen). Fünfmal wurde wegen hochgradiger
Adipositas, elfmal wegen Myodegeneratio und Kachexie, oder
hohen Alters, fünfmal, da ein eben beginnender, nur mikrosko¬
pisch festgestellter, Krebs bestand, vaginal operiert. Seit sich
die Mortalität der Operation erniedrigt hat, wurde bei Fällen
der letztangeführten Gruppe ebenfalls laparotomiert. Außergewöhn¬
liche Adipositas kann dauernd eine absolute Kontraindikation
gegen die Laparotomie ahgeben, während die Abkürzung der
Narkose und die Lumbalanästhesie, sowie auch die fortschrei¬
tende Technik die Fälle der mittleren Gruppe in größerer Zahl
der Laparotomie zuzuführen gestatten werden.
Die Operationsmortalität hat sich in den letzten Hunderter¬
serien beträchtlich verbessert: so erlagen von den letzten 100
Fällen 15 dem Eingriff, in der vorhergehenden Serie 9, gegen¬
über 30 in der ersten Serie. Auf 500 Fälle kommen im ganzen
93 Todesfälle, gleichviel, oh sie der Operation zur Last fallen
oder nicht. Davon war 39mal Peritonitis die Todesursache; bei
diesen 39 Fällen konnte 19ma) mit großer Wahrscheinlichkeit der
Ausgangspunkt festgestellt werden, welcher 6mal der primäre
Herd, 4mal die Laparotomiewunde, ömal der subperitoneale Raum
war; hervorgehoben zu werden verdient, daß in den einzelnen
Serien zu 100 die Peritonitisfälle ständig abnehmen. Nächst
Peritonitis wird als häufigste Ursache Herztod angegeben (22mal,
wobei Fall 23 auch in der Gruppe „Peritonitis“ geführt wird);
besonders über 60 Jahre alte Frauen sind diesem Zwischenfall
ausgesetzt; durch letztere Tatsache will Wer the im auch die
Deutung derartiger Fälle als Sepsis als unrichtig beweisen; auch
daraus, daß nach Abkürzung der Narkose und Anwendung der
Lumbalanästhesie die Herztode seltener wurden, folgert Wert¬
heim, daß es sich tatsächlich um solche gehandelt hat. Zwölf
Todesfälle stehen mit dem Harntrakt in Zusammenhang, darunter
neun Pyelonephritiden, einmal Ligierung des Ureters hei Huf¬
eisenniere, einmal Ausriß des implantierten Ureters, einmal Ureter¬
nekrose mit Urinaustritt ins Beckenzelligewebe.
Außerordentlich interessant sind die Daten über Rezidiven.
Unter 250 Fällen, welche wenigstens fünf Jahre zurückliegen,
finden sich 78 Rezidiven; 63 Fälle gingen letal aus, drei ver-
starben interkurrent. In den allermeisten Fällen schien die Rezi¬
dive von den iliakalen Drüsen auszugehen, nur in einer kleinen
Minorität saß sie im Narbengewebe. Mit der Beschaffenheit der
Rezidiven hängt es zusammen, daß sich eine wirkliche Rezidive¬
operation so gut wie nie ausführen ließ. Wertheim erklärt,
daß je radikaler eine Karzinomoperation durchgeführt, wird, desto
undankbarer eine eventuelle Rezidivoperation ist. Impfrezidiven
sind nach Wertheim gerade bei der abdominalen Operation
relativ leicht zu vermeiden. Bemerkenswert ist, daß eine ganze
Reihe besonders weit vorgeschrittener Fälle rezidivefrei befunden
wurde. Es ist ferner kein Zweifel, daß nicht immer die Zervix¬
karzinome schlimmer als die Portiokarzinome sind. Auch der
Umstand ist hervorzuheben, daß punkto Rezidivefreiheit die ju¬
gendlichen Fälle besser abschneiden. Mikroskopisch fand man
fast stets Plattenepithelkarzinome. Der immer wieder behauptete
ungünstige Einfluß der Gravidität auf die Prognose hat sich nicht
bestätigt. Außerordentlich ungünstig ist dagegen das Vorhanden¬
sein von krebsigen Drüsen u. zw. sogar dort, wo der primäre
Herd sozusagen im Beginne seiner Entwicklung steht. Von 62 Fällen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
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Nr. 14
mit Karzinom der regionären Drüsen (aus den 250 über fünf .lahre
beobachteten Fällen) haben 41 die Operation überlebt und ein
Fall starb interkurrent; von besagten 41 Fällen waren nach
fünf Jahren nur fünf rezidivefrei! Die bekannten schlauchähn¬
lichen Einschlüsse in Lymphdrüsen werden in neuester Zeit
von Albrecht und Arzt entsprechend der Ries sehen Hypothese
gedeutet; auch Wertheini scheint nicht abgeneigt, an ver¬
sprengte Teile des Wolff sehen Körpeis zu denken.
Um bei der Berechnung der Spätresultate, bzw. absoluten
Leistung besonders rigoros vorzugehen, hat Wer the im die neun
vaginal Operierten den Nichtoperierten zugezählt. Er erhält bei
dieser Berechnung nach der von Werner vorgeschlagenen Formel
als absolute Leistung 18-4°/o Rezidivefreiheit. Begreif¬
licherweise können große Statistiken über die abdominale Krebs-
operatiori bisher kaum vorliegen, nur die Zweifel sehe Klinik
verfügt über eine solche, welche als absolute Leistung nach der
Werner sehen Formel 20-46 °/o ergibt. Die schlechten Resultate,
über die seinerzeit aus der Grazer Klinik berichtet wurde, dürften
nur so zu deuten sein, daß die Durchführung der Operation damals
noch nicht radikal genug war.
Von den vaginalen Methoden kommt für die ärztliche Kon¬
kurrenz mit der abdominalen Krebsoperation Wert hei ms einzig
und allein die von Schauta ausgearbeitete erweiterte Total¬
exstirpation in Betracht. Bei der Beurteilung ihrer Leistungs¬
fähigkeit geht Wert heim von der Schautaschen Monographie
(1908) und den Mitteilungen Schaut as auf dem ßudapester
Kongreß (1909) aus. Seither aber haben sich Schau tas Zahlen
nicht unwesentlich verändert. Mit zunehmender Ausbildung der
Technik stieg der Durchschnitt von 12-2 im ersten auf 26-3 im
letzten Jahrgang, der bei der Berechnung in Betracht kommt;
so daß Schauta jetzt als absolute Arbeitsleistung 16-6°, b Dauer¬
heilungen hat. Als Ursache der Ueberlogenheit seiner Methode über
die vaginale betrachtet Wertheim erst in zweiter Linie die
Möglichkeit, die regionären Drüsen zu exstirpieren ; vor allem
ist es die größere Zugänglichkeit zu den Ureteren, zu Scheide,
Parametrium und paravaginalem Gewebe, die präparatorische
Ueberlegenheit des abdominalen Weges, die nach Wertheim
der abdominalen Operation den Vorrang sichert.
Sollte die abdominale Methode ihren Vorsprung auch weiter¬
hin beibehalten, so würde man doch der Exstirpation der regio¬
nären Lymphdrüsen einen großen Teil des Erfolges zuschreiben
müssen. Die Drüsenfrage in diesem Sinne ist es, die noch weiterer
Untersuchung bedarf.
Es ist unstreitig, daß die operative Therapie des Gebär¬
mutterkrebses ihren kräftigsten Impuls durch die Einführung der
erweiterten abdominellen Operation erhalten hat; daß die durch
die Operation bedingte Autopsie, wie Wertheim sagt, unsere
bisherigen Anschauungen in wesentlichen Punkten korrigierte und
das gewonnene anatomische Material wichtige Aufschlüsse über
die Ausbreitung des Karzinoms im Parametrium und in den
Drüsen gab. Daß die Indikationsgrenze zur Exstirpation des
krebsigen Uterus infolge der Wert he im sehen Operation be¬
deutend erweitert und damit für viele Fälle, welche früher pallia¬
tiv behandelt wurden, die Möglichkeit der Heilung gegeben wurde,
steht ebenso fest; und mit um so größerer Hoffnung muß uns
die Erkenntnis erfüllen, daß die abdominale Krebsoperation gewiß
noch nicht am Ende ihrer Leistungsfähigkeit angelangt ist. Wert¬
heim selbst erhofft die Verbesserungen seiner Resultate nicht
so sehr in den ausgedehnten Resektionen, als vielmehr in mög¬
lichst exakter Ausführung des Eingriffes, eventuell in der Ver¬
vollkommnung der Drüsenexstirpation. K ei tier.
*
Atlas und Lehrbuch der Histologie und mikroskopischen
Anatomie des Menschen.
Von J. Sobotta.
Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage.
München 1910, J. F. Leh m a n n.
Die anerkennenden Worte, die der »Atlas und Grundriß der
Histologie und mikroskopischen Anatomie des Menschen « von
J. Sobotta bei seinem ersten Erscheinen an dieser Stelle gefunden
bat (s. Wiener klin. Wochenschr., XV. Jahrg., S. 239), gebühren
in vollem oder noch höherem Maße der neuen Ausgabe. Diese mit
Recht als vermehrt und verbessert bezeichnete zweite Auflage des i
Prachtwerkes weist nicht nur eine wesentliche Bereicherung an Ab¬
bildungen auf — die Zahl der Abbildungen ist auf 400 ange-
wachsen — sondern ist auch durch die Ausgestaltung des Textes zu
einem, wenn auch kurzen Lehrbuch der Histologie des Menschen
geworden.
Auch bei dieser neuen Bearbeitung des Atlas hat der Ver¬
fasser das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, vollkommen naturgetreue,
von jeder Schematisierung freie Abbildungen zu bieten. Welch große
Mühe und Sorgfalt der Autor darauf verwendete und mit welchem
Erfolge er sich dieser Aufgabe entledigte, beweist jede einzelne
Figur. Die vollkommen naturgetreue Darstellung aller Forinverhäit-
nisse, die wunderbare Klarheit und Schärfe, mit der auch die
zartesten Strukturen hervortrelen und die ganz vorzügliche Wieder¬
gabe der verschiedenen Farben töne des mikroskopischen Präparates
durfte wohl allen Anforderungen, die an derartige Abbildungen ge¬
stellt werden körien, gerecht werden.
Ein sehr anerkennenswerter Erfolg, zumal es sieh fast aus¬
schließlich um mehrfarbige Bilder handelt ; denn die meisten Ab¬
bildungen sind getreu in den Farben des Präparates gehalten, wo¬
bei vorwiegend die allgemein geübte Hämatoxylin-Eosinfärbung,
aber auch Färbungen für spezielle Zwecke, wie die Pal- Weigo rtsche
Markscheidenfärbung, die Elastikafärbung mit saurem Orzein u. dgl.
zur Anwendung kamen. Dabei sei auch hervorgehoben, daß für die
Vervielfältigung der mehrfarbigen Bilder neben der Lithographie
auch ein vom Verfasser angegebenes Autotypieverfahren angewendet
wurde, das bezüglich seiner Brauchbarkeit der Lithographie gleich¬
gestellt werden kann und noch den Vorteil geringerer Kosten für
sich hat. Sehr wertvoll macht für den Praktiker das Buch der Um¬
stand, daß fast alle Präparate von menschlichem Material stammen.
Die Auswahl der Präparate ist eine vollkommen gelungene, so daß
alle Kapitel, so weit es seine Bestimmung für den Mediziner und
Praktiker erfordert, erschöpfend behandelt erscheinen. Im einzelnen
möchte ich neuerlich auf Figur 6 der Tafel III (Rippenknorpel),
Figur 1, 2 und 4 der Tafel XX (Schmelz und Schmelz-Zahnbein¬
grenze) verweisen, die durch typischere ersetzt werden könnten.
Figur 8 der Tafel II (Plasmazelle) läßt keine juxtanukleäre Vakuole
erkennen.
Der Text stellt ein kurzes Lehrbuch oder Repetitorium der
Histologie des Menschen dar, dem noch eine Anzahl von Ab¬
bildungen, vorzugsweise Schemata, beigegeben sind. Die Darstellung
ist kurz und klar und beschränkt sich auf die sicheren Tatsachen,
während strittige Punkte nicht oder nur kurz erwähnt werden,
Immerhin mag bemerkt werden, daß die Einteilung und Beschrei¬
bung der Bindesubstanzen, sowie der Drüsen (besonders einige
Schemata) auf Widerspruch stoßen dürften. Den Abschluß bildet
eine kurze Beschreibung des Mikroskopes und eine kurze Einführung
in die histologische Technik, die durch den Atlas vorteilhaft er¬
gänzt wird.
Dieses prachtvoll ausgestattete Buch, um das sich Autor wie
Verleger in hervorragendem Maße verdient gemacht haben, wird
dem Studenten und Praktiker ein willkommenes Hilfsmittel bei
mikroskopischen Arbeiten sein und sieh bald der wohlverdienten
allgemeinen Verbreitung erfreuen, wozu auch der niedrige Preis
das seinige beitragen wird. Josef Lehn er.
*
Die Ohrenheilkunde des praktischen Arztes.
Von Dr. Wilhelm llaßlauer.
München 1911, J. F. Lehmann.
Im Anschlüsse an sein für Militärärzte bestimmtes Lehrbuch
hat der Autor ein den Bedürfnissen des praktischen Arztes ge¬
widmetes Lehrbuch der Ohrenheilkunde herausgegeben.
Das Buch soll den Studierenden der Medizin in die Klinik
der Ohrenheilkunde eiuführen. All das, was den Spezialarzt selbst
angeht, sollte nach dem Plan des Verfassers in dem Lehrbuch nur
angedeutet, aber nicht näher behandelt werden. In diesem Sinne
hat der Autor sein Ziel vollständig erreicht. Interessant ist die ein¬
gehende Differenzierung der akuten Mittelohreiterung. In diesem
Kapitel werden außerdem die hauptsächlichsten endokraniellen
otogenen Krankheiten); behandelt Mustergültig ist das Kapitel »Die
Verletzungen des inneren Ohres« abgefaßt. In dem Abschnitte
»Ueber die Unfallsbegutachtung« werden alle Möglichkeiten berück¬
sichtigt und die breite Ausführlichkeit ist hier auf das lebhafteste
502
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
zu begrüßen. Eine größere Anzahl gut gewählter Abbildungen, die
dein Buche beigegeben sind, werden das Verständnis erheblich
fördern. Das Buch reiht sich vollwertig den vorzüglichen Schriften,
die wir bisher dem Autor verdanken, an.
Alexander.
Aus verschiedenen Zeitsehriften.
341. Lieber die Gemüseverdauung bei Gesunden
und Kranken und über die zerkleinernde Funktion
des Magens. Von Geh. Med.- Rat Prof. Dir. Adolf Schmidt
in Halle, ln jüngster Zeit angestellte Versuche haben ergeben, daß
der Grad der Gemüseverdauung, resp. Gemüsezerkleinerung in
Beziehung steht einmal zur Aufenthaltsdauer der Ingesta im
Verdauungsschlauch, derart, daß er im direkten Verhältnis mit
dieser wächst, sodann aber auch zum Säuregehalt des Magen¬
saftes, derart, daß bei genügendem und noch mehr bei reich¬
lichem Salzsäuregehalt des Mageninhaltes unveränderte wetnüse-
reste viel spärlicher in den Fäzes wiedererscheinen, als bei
fehlender Magensäure. Schon Stücke roher Kartoffel oder roher
Rübe werden, wenn man sie zwei bis vier Stunden Jang mjt
Pepsinsäurelösung im Brutschrank stehen ließ, in einer Pahkreatin-
lösung nach 10 bis 20 Stunden völlig erweicht, so daß sie leicht
in eine breiige Masse verwandelt werden können. Das Pepsin und
die im Pankreatin vereinigten Körper sind hiebei für den Erfolg
anscheinend völlig bedeutungslos, denn die Aufweichung der Ge¬
müse findet in der gleichen Weise statt, wenn man Salzsäuie-
und Sodalösungen verwendet ; dagegen tritt sie nicht ein, wenn
man zuerst die Sodalösung und dann die Salzsäurelösung ein¬
wirken läßt. Wie die Kartoffeln und Wurzeln verhalten sich die
meisten Gemüse: Reis, gelbe Erbsen (nach Entfernung der äußeren
Schale), Blumenkohl, Kohlrabi, Aeptel, Salat. Es ist nachgewiesen,
daß Magensaft und Dünndarminhalt die Zellen der Gemüse von¬
einander trennen, indem hiebei die Pektinstoffe der Mittellamellen
(der Zwischensubstanz z wüschen den einzelnen Zellen) gelöst
werden. Bei den gekochten Speisen (Kartoffeln, Reis, Kohl,
Wurzeln) tritt schon vor der Einnahme eine Lockerung der Zell¬
komplexe ein (Aufquellen der Mittellamjelle usw.). Veit, bezeichnet
nun den Einfluß des Magens auf die Gemüse generell als einen
chemisch zerkleinernden, der allerdings die Eigentümlich¬
keit hat, erst in dem alkalischen Milieu des Darmes effektiv zu
werden. Aehnliches leistet der Magen beim Fleisch (Lösung des
Bindegewebes) und beim Brot (Verdauung des die Stärkekörner
umspinnenden Klebergerüstes). Die eigentliche Muskelarbeit des
Magens tritt hiebei in den Hintergrund. Fehlt die Magensäure, so
gelangen größere Fleisch- und Fettreste, aber auch unverkleinerte
Gemüsestücke in den Darm, bilden dann sichere Schlupfwinkel für
die zersetzenden Bakterien, es entstehen Katarrhe. Bei Diarrhöen,
ganz besonders bei solchen achylischen Ursprungs, liegt also
auch die Gemüseverdauung in hohem Grade danieder, ln the¬
rapeutischer Hinsicht wird man bei subaziden und anaziden
Zuständen des Magens für eine genügende Zerkleinerung
der eingebrachten Speisen (Fleisch, Gemüse) zu sorgen haben.
Man koche und brate sie zuvor und zerkleinere sie noch mecha¬
nisch sorgfältig; werden sie gar roh genossen, so sollen sie
auf das feinste geschabt oder zerrieben sein. Ohne die bakteriellen
Vorgänge bei der Verdauung der pflanzlichen Zellwände ignorieren
zu wollen, zeigt Verf. schließlich, daß daneben noch andere
chemisch wirksame Faktoren eine wichtige Rolle nn Verdau-
ungskanale spielen. Zwischen Pektinen, He-mizellulosen und Zellu¬
losen gibt es keine scharfen Grenzen und es wird von ihrer
Mischung in den Zellwänden einerseits und von der Wirksam¬
keit der Verdauungssäfte des Individuums anderseits abhängen,
wie vollständig ihre Lösung zustande kommt und in welchem
Verhältnis sich daran die Verdauungssäfte und die Darmbakterien
beteiligen. — (Deutsche medizin. Wochenschrift 1911, Nr. 10.)
- E. F.
*
342. Der Einfluß des Salvarsans auf die Lepra¬
bazillen. Von Dt. Denis E. Montes an to in Athen. Ver¬
fasser berichtet in einem zweiten Artikel über seine Beobach¬
tungen und Erfahrungen bei Leprakranken, die mit Salvarsan
behandelt wurden. Aus vier mitgeteilten Krankengeschichten er¬
Nr.. 14
sieht man nur bei einem 46jährigen Patienten einen Erfolg,
indem alle Geschwüre an den Unterschenkeln geheilt sind. Sub¬
jektive und objektive Erscheinungen sind geschwunden. Patient
hat seine Arbeit wieder aufgenommen. ln vier anderen Fällen
hat Verf. eine Herxheim ersehe Reaktion und eine Neigung
zu rascher Ueberhäutung der ulzerösen Stellen beobachtet, aber
keine Wirkung des' Mittels auf die nichtulzeri arten Leprome.
Zwei Fälle von Lepra praecox, Vater und Sohn, wurden geheilt
Ersterer erhielt 0-7 intravenös, letzterer, 16 Jahre alt, 0-3 intra
venös. Ob die Heilung eine definitive ist, muß Verf. dahingestellt
. sein lassen. Die Resultate seiner Beobachtungen zusaminen-
gefaßt, lauten : a) Die kleinen Dosen, wie auch die subkutane
Einführung des Mittels haben fast keinen Einiluß auf die llansen-
bazillen. Etwas größere Dosen haben als erstes Resultat die
Her x he i morsche Reaktion, was eine gewisse Wirkung des
Mittels aut die Leprabazillen bedeutet. Die großen Dosen und
solche, die intravenös eingeführt werden, üben eine positiv de¬
struktive W irkung auf die Leprabazillen, wenngleich ungenügend,
um die ganze Invasion zu vertilgen, b) Das Salvarsan führt zur
Ueberhäutung der ulzerierten Hautstellen und Kontinuitätstren )
nungeil, welche nicht selten bei den Leprakranken Vorkommen. |
Diese Krall der Aisenpräparate ist schon aus den alten Arbeiten !
von Kubier, llebra, Kaposi bekannt und ist auf die nekto-f
fixierende Wirkung des Arsens auf die pathologischen Bestand- $
teile der Haut zurückzufühlen. Die äußerliche Anwendung großer «
Dosen von Arsen hat auf diese Bestandteile der Haut denselben I
nekrotisierenden Effekt, c) Das Salvarsan hat keine Wirkung auf!
die m Entwicklung begriffenen Leprome. Die Schlußfolgerung I
aus diesen Beobachtungen ist, daß für die- Anwendung des Salv-|
arsans bei der Lepra zweierlei Indikationen vorhanden sind: '
Erstens in den Anfangsstadien, wo anzunehmen ist, daß die
Anzahl der wirkenden Bazillen gering ist, zweitens in Fällen, wo
die Lepionie zerfallen oder bereits größere Substanzverluste ent¬
standen sind. Ob nicht eine konsekutive, auf die sukzessive Ab¬
tölung der Leprabazillen hinzielende Anwendung der intravenösen
Einverleibung des Salvarsans zu bedeutenden Erfolgen führen
könnte, wird erst durch die weitere Erfahrung gezeigt werden.
(Münchener niediz. Wochenschrift 1911, Nr. 10.) G.
*
343. (Aus dem medizinisch-chemischen und pharmakologi¬
schen Institute der Universität Bern. — Direktor: Prof. Doktor
E. Biirgi.) Ueber die Morphium- Chlor alhydrat- und
die Morphium-Urethan-Narkose bei intravenöser In¬
jektion. Von Dr. Wilhelm Hammerschmidt, Tierarzt. Durch
die \ ersuche Hammerschmidts wird die Vermutung (nach
Hauckolds und Lindemanns Untersuchungen), daß die Ver¬
stärkung der narkotischen Wirkung eines Medikamentes durch ein
zweites Narkotikum bei intravenöser Injektion beider Sub¬
stanzen nicht zu erreichen sei, widerlegt. Die Narkotika verschie¬
dener Arzneigruppen verhalten sich bei dieser Applikationsform
auch nicht anders als wie- bei der Einverleibung per os oder unter’
die Haut. W enn man berücksichtigt, daß die verschiedenen Nar¬
kotika, wenn sie- in die Venen eing-espritzt werden, eine ver-
schie-den lange Zeit brauchen, bis sie das Zentralnervensystem
zu lähmen beginnen und wenn man, darauf gestützt, die In¬
jektionen ,so vornimmt, daß die- Höhepunkte der narkotischen Wir¬
kungen zweier Medikamente einigermaßen zusammenfallen, end¬
lich, wenn man mehr die Dauer der Narkose als die minimalen
narkotisierenden Mengen untersucht, dann kann man eine gegen¬
seitige Verstärkung der Narkoseaffekte zweier Medikamente, die
weit über der einfachen Addition steht, auch bei intravenöser
Applikation mit voller Sicherheit konstatieren. Bei gar zu kleinen
Mengen verwischt sich diese Eigentümlichkeit namentlich infolge
der relativ kurzen Dauer der Narkose bei intravenöser Injektion
und das ist wohl auch der Hauptgrund, weshalb II au ck old
und Lindemann die sonst von ihnen beobachteten auffallenden
Verstärkungen 'der Narkosewirkung bei intravenöser Injektion ver¬
mißt haben. — (Zeitschrift für experimentelle Pathologie und
Therapie 1910, Bd. 8, H. 2.) K. S.
*
344. Ein Fall vongummösem Magentumor, geheilt
durch S a 1 v a r s an b-eh a n d lung. Von Dr. Hausmann in
Tula. D-er vom Verfasser mitgeteilte Fall bietet ein hervorragen-
Nr. 14
WIEN Eli KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
503
des Interesse zunächst wegen der Seltenheit, der syphilitischen
Geschwülste des Magens überhaupt und wegen der noch größeren
Seltenheit ihrer klinischen Diagnostizierbarkeit. Auf Grund einer-
genauen klinischen Untersuchung, auf Grund der Anamnese und
der schwach positiven W a ss e r m ann sehen Reaktion, stellte
der Verfasser die Diagnose: gummöser Magentumor, unterließ
die Operation, derentwegen der Kranke ins Tulascbe Spital auf¬
genommen wurde und leitete die Salvarsanbehandlung ein. Es
handelte sich um eine diffuse gummöse Infiltration der großen
Kurvatur, um gummöse Tumoren um den Pylorus herum und um
eine extraperitoneale Infiltration unterhalb des Pylorus und der
Gallenblasengegend, welche periodische Anfälle von Ikterus und
Aszites hervorgerufen hatte. Leber und Milz stark hypertrophisch.
Achylie, keine Stenosenerscheinungen von seiten des Magens,
Blut weder im Magen noch im Stuhl. Der Kranke erhielt innerhalb
sechs Wochen dreimal Salvarsan : 0-6 intravenös, nach zwölf
Tagen 0-6 intramuskulär, nach 40 Tagen 0-5 intravenös. Unter
dieser Behandlung resorbierte sich der Tumor zwar langsam, aber
stetig, so daß er nach IV2 Monaten vollständig geschwunden war.
Auffallend besserte sich der Chemismus des Magens, nach zwei
Monaten trat Ireie Salzsäure auf; jetzt drei Monate nach Beginn
der Behandlung ist der Chemismus vollständig normal. Sämtliche
Krankheitssymptome sind geschwunden. Die Leber von normaler
Größe, nur derber, die noch derbe Milz erheblich verkleinert,
was auf der irreparablen, zirrhotischen Komponente beruht. Die
vorher schwach posi live W asser m a n 11 sehe Reaktion ergab
schon nach drei Wochen ein negatives Resultat. Der Verfasser
wollte mit der Veröffentlichung dieses Falles, der in der Literatur
über Magensyphilis kaum seinesgleichen findet, zeigen, daß auch
bei viszeraler Lues das Salvarsan prompt wirkt. — (Münchener
inediz. Wochenschrift 1911, Nr. 10.) G.
*
■345. Der Einfluß dreifacher intravenöser
Salvarsaninjektion auf die Wassermannsche Re¬
aktion. Von Dr. C. Gntmann in Wiesbaden. An der inneren
Abteilung des städtischen Krankenhauses zu Wiesbaden (Professor
Dr. Wein tr and) wurden seit Anfang Oktober v. J. 40 Luetiker
in der Weise behandelt, daß man ihnen in der Gesamtzeit von
2 bis 6 Wochen drei Injektionen von Salvarsan intravenös ver¬
abfolgte. Männer bekamen 0'4 bis 0'5, Frauen 0 3 bis 0'4 pro dosi,
die Gesamtdosis betrug bei ersteren höchstens U5, bei den letzteren
P2 g. Sämtliche Patienten haben diese gehäuften Injektionen gut
vertragen, wenn man von den der Injektion selbst folgenden Er¬
scheinungen absieht. Da einige Fälle noch frisch sind, andere sich
der Beobachtung entzogen, so bleiben 27 zur statistischen Ver¬
wertung übrig. In einzelnen Fällen ward überdies die W a s s e r-
mannsche Reaktion, die hier in erster Linie in Betracht kommt,
schon zu Beginn der Behandlung negativ. Von den Wasser m an n-
schen positiven 27 Fällen wurden nach den 3 Injektionen 25 ne¬
gativ, 2 blieben positiv. In diesen 2 Fällen handelte es sich um
Personen, deren Infektion 12, bzw. 14 Jahre zurücklag. Der eine
halte vier Kuren durchgemacht, die letzte 1899 bis 1900. Beim
Beginn der Behandlung hatte er eine rechtsseitige Trochlearisparese
und eine stark positive Reaktion. Er erhielt dreimal Salvarsan
intravenös und später Jodkali; dennoch blieb die W ass er m an n-
sche Reaktion noch unverändert positiv und die Trochlearisparese
war wohl gebessert, aber nicht behoben. Der zweite Kranke war
überhaupt nicht spezifisch behandelt worden, er zeigte Tabes dorsalis
superior, Myokarditis und die Residuen eint r vor fünf Jahren er¬
littenen rechtsseitigen Hemiplegie. Wassermann stark positiv.
Trotz dreimaliger Injektion positiver Wassermann, keine Ver¬
änderung in den Symptomen, nur Steigerung der früher so gut
wie erloschenen Potenz. In den übrigen 25 Fällen (primäres und
sekundäres Sladium der Lues) wurde die Probe negaliv, bei 10
schon nach der zweiten Injektion, u. zw. wurde dieses Ergebnis
14mal schon 2 bis 6 Wochen nach der ersten Injektion festgeslellt,
zweimal erst ca. 12 Wochen nach Applikation der ersten Dosis, da
sie erst so spät wiederkamen. 9 Fälle wurden erst nach der dritten
Injektion Wassermann negativ. Es zeigte sich wieder, daß bei
Spätformen der Lues die Reaktion nur sehr schwer beeinflußt wird.
Diese Behandlungsmethode soll fortgesetzt werden, u. zw. sollen die
Infusionen, wenn irgend möglich, in ca. 14tägigen Intervallen er¬
folgen. — (Berliner klin. Wochenschr. 1911, Nr. 9.1 E. F.
346. Parotitis und Wochenbett. Von Dr. J. Fischer.
Es handelte sich in dem von Fischer beschriebenen Falle um
eine einseitige, links aufgetretene Schwellung der Parotis nach
der spontan verlaufenen Geburt, bei welcher durch eine ganz
kurze Zeit eine tlalbnärkose durchgeführt worden war. Lokale
Schwellung, geringe Schmerzhaftigkeit bei den Kieferbewegun¬
gen und eine Temperatursteigerung von vielleicht einigen Zehnteln,
waren, die einzigen Symptome der Erkrankung gewesen. Fisch e r
glaubt die Aetiologie für diese Parotitis in dem Falle in dem an¬
dauernden, forcierten Schreien der Gebärenden sehen zu müssen,
also traumatische ..Grundlage. - (Zentralblatt für Gynäkologie
1910, Nr. 49.) - E. V.
*
347. (Aus dem biologischen Laboratorium des städtischen
Krankenhauses am Urban. Die Bedeutung und Messung
der Magensaftazidität. Von Leonor Michaelis und Hein¬
rich Davidsohn. Für die Beurteilung der proteolytischen Wir¬
kungsfähigkeit eines Magensaftes ist die Kenntnis seiner wahren
Azidität, d. h. seiner Wasserstoffionenkonzentration notwendig,
da die Konzentration der Wasserstoffionen das allein richtige
Maß für die Azidität einer Flüssigkeit ist, während die bisher
üblichen Titrationsmethoden nicht imstande sind, die wahre Azi¬
dität anzugeben. Es kommen für diesen Zweck lediglich in Be-
trachtldie Methode der Konzentrationsketten und die für klinische
Zwecke hinreichend genaue Indikatorenmethode. Das Optimum
der Pepsinverdauung liegt bei einer Wasserstoffionenkonzentra-
tion von 0-016 n. Eine merkliche Zerstörung des Pepsins durch
die (Säure tritt bei einem Säuregrade von 0-03 an auf, ein völliges
Versiegen bei 0-0014 n. Es erscheint zweckmäßig, nach diesen
Zahlen zu beurteilen, oh ein Magensaft normal sauer, hyperL
oder hypazid ist. (Zeitschrift für experimentelle Pathologie und
Therapie '1910, Bd. 8, H. 2.) K. S.
*
348. Ueber eine Reaktion tuberkulöser Prozesse
nach Salvarsaninjektion. Von Prof. Dr. K. Herxheim er
und Dr. K. Äl’tmann in Frankfurt a. M. In neun Fällen von Haut-,
Lungen- und Drüsentuberkulöse, in welchen wegen gleichzeitige:
Lues1 Salvarsaninjektionen gemacht wurden, trat danach eine
Herdreaktion auf. Vier Fälle betrafen teils manifeste, teils latente
Veränderungen in den Lungen, resp. Hal'sdriisen, die weiteren
Fälle waren Lupuserkrankungen. Während die luetischen Ver¬
änderungen nach den Injektionen abheilten, flackerten die klinisch
latenten Tuberkulosen der Lungen aut, schmolz tuberkulöses Ge¬
webe einer Halsdrüse ein, resp. zeigte sich in den Lupusfällen
vier bis sechs Stunden nach der Injektion eine Reaktion, die
den Charakter einer akuten Entzündung aufwies (Rötung, Schwel¬
lung, Hitzegefühl, Schmerzhaftigkeit). Die Reaktion hielt
24 Stunden an, dann gingen die entzündlichen Erscheinungen
(bei den Lupusfällen unter Schuppenbildunlg) zurück. Bei Reinjek-
tion wiederholten sich die Erscheinungen, aber in deutlich gerin¬
gerem Grade. Die Reaktion hat Aehnlichkeit mit ,1er Tuberkulin¬
reaktion. Die Verfasser stellen sich vor, daß durch das \rseno
benzol in den tuberkulösen Herden Tuberkelbazillensubstanz, also
Tuberkulin mobilisiert wird, das, in die Umgebung gelangend,
eine typische Tuberkulinwirkung ausübt. Die Verfasser entwickeln
diese Anschauung in ausführlicher Weise und weisen darauf
hin, daß, wenn sie auch einen heilenden Einfluß des Salvarsaus
auf den tuberkulösen Prozeß bisher nicht beobachtet haben, doch
die theoretische Möglichkeit einer therapeutischen Beeinflussung
möglich sei. Die praktische Erfahrung allein lasse hier ein Urteil
zu und hiefür ist die bisher behandelte Zahl eine noch zu
kleine. Luetische Phthisiker könnten mit Salvarsan behandelt
werden, nur wäre in solchen Fällen eine vorsichtige, fraktio¬
nierte Dosierung den einmaligen größeren Dosen vorzuziehen.
(Deutsche medizin. Wochenschrift 1911, Nr. 10.) E. F.
*
349. Influenza? Von Prof. Dr. ,1. Trump p. In einem
in der Münchener Gesellschaft für Kinderheilkunde am 10. Fe¬
bruar 1911 gehaltenen Vortrage skizziert, Verf. zunächst das Bild
der typischen Influenza, wie es allgemein bekannt ist, schildert
dann die Variabilität, des Krankheitshildes nach den akuten Ini¬
tialsymptomen, welches bereits diagnostische Schwierigkeiten be-
504
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14
reiten kann. Noch größer köntaen aber dies1© Schwierigkeiten
bei den leichten und abortiven Fällen stein, die oft nur zur
Verlegenheitsdiagnose Influenza führen und eine diagnostische
Unsicherheit beim Arzte erzeugen. Verf. hat in den vergangenen
Monaten eine große Anzahl teils sicherer, teils zweifelhafter In¬
fluenzafälle gesehen, so Ende des Jahres 1910 37 Fälle, worüber
er sich genaue Aufzeichnungen gemacht hat. Von diesen Fällen
boten nur sieben das typische Bild der Influenza. Alle übrigen
30 Fälle verliefen ziemlich gleichmäßig folgendermaßen: Die
Kinder, die morgens noch ganz munter aufgestanden waren,
zeigten mittags verringerte Eß- und Spiellust, später Hitzegefühl.
Die Temperatur, 39° bis 40° C, stand in keinem Verhältnis zu
den geringen subjektiven Erscheinungen. Schon nach mehrstündi¬
ger Bettruhe verlor sich jedes Krankheitsgefühl. Die Augen waren
klar, nicht gerötet, die Respiration gleichmäßig, die Haut weder
besonders trocken, noch feucht oder klebrig, frei von Exanthemen,
die Frequenz des1 Pulses dem Alter und der Temperatur ent¬
sprechend, etwas trockener Husten und Verstopfung. Die übrige
Untersuchung ergab gleichfalls geringe Ausbeute. In Mund- und
Rachenhöhlte ein dünner, weißlicher Belag der Zunge, gleichmäßige
Rötung der aufgelockerten Rachenschleimhaut ; auf dem Gaumen¬
segel ab und zu kleine, rote Flecken, die in Verbindung mit vter-
einzelten roten Süppchen auf der Wanigenstehleimhaut an be¬
ginnende Masern denken ließen. Verf. hebt diesen Befund hervor,
weil er zeigt, daß man mit der Frühdiagnose Masern vorsichtig
sein muß, auch wenn alle bisher dafür geforderten Symptome
vorhanden sind, wie : hohes Fieber, Husten, Hyperämie der Kon¬
junktiven und Exanthem des Gaumens. Außerdem fand sich stets
eine teigige Infiltration der ziemlich großem, plattgeformten Sub-
maxillardrüsen u. zw. so regelmäßig, daß sie dem Verfasser fast
pathognomonisch vorkam. Die inneren Organe lieferten, abgesehen
von vereinzelten Ronchis über den Unterlappen, keinen Befund.
Verf. verordnete Einlauf, heißes Bad, wärmte Getränke, eiwei߬
arme Kost, sorgfältige Mund- und Zahnpflege1. Nach zwei bis
drei Tagen standen die Kinder auf. Es steht für den Verfasser
außer Zweifel, daß es sich um eine ansteckende Krankheit han¬
delte, denn sie ging in 14 Fällen nach ein- bis dreitägigem Inku¬
bationsstadium auf Angehörige, manchmal auf alle Personen eines
Hausstandes über, bei denen sie stets dasselbe leichte Krankheits¬
bild erzeugte. Verf. fragt nun, ob und mit welcher Berechtigung
diese Krankheit als Influenza bezeichnet werden darf. Sie hat
mit diester gemeinsam : 1 die verbreitete Disposition, 2. das
kurze Inkubationsstadium. 3. den meist plötzlichen Beginn, 4. das
hohe, häufig ephemere Fieber, 5. die Reizerscheinungen von
seiten des Respirationstraktes, 6. die Hyperämie der Konjunktiven.
Es fehlen aber an typischen Influenzasymptomen: I. das cha¬
rakteristische Bild des Influenzaräch ens, 2. die Affektion des
Zentralnervensystems; Prostration, Schlafsucht, Depression, all¬
gemeine Reizbarkeit und Ueberempfindlichkeit aller Sinnes¬
organe, 3. jede stärkere Affektion des Respirations- oder Dige¬
stionsapparates: Rhinitis, Bronchitis, Erbrechen, Diarrhöen, 4. die
Erkrankung des Ohres, 5. Komplikationen. Verf. hat bei der
Untersuchung des spärlichen Nasen- und Rachenschleimes in acht
Fällen vergeblich nach dem Pfeifferschen Bazillus gefahndet.
Dagegen fiel ihm in den Präparaten ein häufig intrazellulär gela¬
gerter, zu großen Nestern gruppierter, sehr kleiner Diplobazillus
auf, der zweimal so lang als dick war, torpedoförmige Enden
zeigte und sich mit Anilinfarben in' ganzer Ausdehnung gleich¬
mäßig färbte. Verf. bezeichnet sonach den heutigen Stand der
Influenzadiagnostik als recht unbefriedigend und möchte hiemit
die Anregung gehen, daß sich die Aerzte mit vereinten Kräften
bemühen, die Diagnose Influenza präziser zu gestalten. Das
wird nur mit Hilfe regelmäßiger bakteriologischer Untersuchung
des Nasen- und Rachensekretes aller zweifelhaften Fälle möglich
sein. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 10.) G.
*
350. Metritis dissecans und Uterusabszeß. Von
Dr. J. Risch, Assistenzarzt der Universitäts-Frauenklinik zu Gießen
(Prof. v. Franque). Eine 19jährige Hausschwangere, Primipara,
bekam im Anschluß an eine leichte Angina eine entzündliche Hals-
driisenschwellung mit hoher Temperatur. Am zweiten Tage darauf
spontane Gehurt ohne innere Untersuchung. Einige Stunden nach
dem Partus Schüttelfrost, Temperatursteigerung über 39°. Die Tem¬
peratur blieb auch in den nächsten Tagen hoch, während die Hals¬
drüsenschwellung zurückging. Es fiel nur die langsame Involution
und eine etwas stärkere Druckempfindlichkeit des Uterus auf. Erst
nach dem fünften Tage Auftreten von eitrigem Ausfluß, der immer
stärker wurde. Am zwölften Tage Einlegen des S i tz e n f re y sehen
Saugschlauches mit ziemlich langer Saugung. (Dieser Saugapparat
besteht aus einer Wasserstrahlluftpumpe, deren Saugwirkung durch
ein Hg-Manometer auf das genaueste reguliert werden kann ; die
Säugpumpe wird mit einem in den Uterus eingeführten Schlauch
oder Glasdrain in Verbindung gebracht durch einen Schlauch oder
eine Rohrleitung, in die ein zum Auffangen des Uterussekretes be¬
stimmtes Gefäß eingeschaltet ist.) Nach dreitägiger Saugbehandlung
sehr reichlicher Eiterabfluß, worauf sich mit einem Schlage der
Zustand der Kranken ganz auffallend besserte. Am 25. Wochen¬
bettstage wurde dann mit einer reichlichen Eitermenge ein großes
Stück Uterusmuskulatur (11:5 1/2 cm, bis zu 3 cm dick, von
pestilenzähnlichem Geruch) ausgesloßen, worauf die Temperatur zur
Norm abfiel und die Genesung ziemlich rasch fortschritt. Es war
dies ein seltener Fall von Metritis dissecans (der 58. bisher ver¬
öffentlichte Fall). Die reichliche Eitermenge stammle mit größter
Wahrscheinlichkeit aus einem Uterusabszeß, wofür auch die sicht¬
liche Besserung der Kranken nach Entleerung des Uterus sprach,
der Umstand, daß die Parametrien frei waren etc. Die Infektion
kam wohl auf dem Blutwege von den erkrankten Mandeln her zu¬
stande. Franque hat 1901 einen ähnlichen Fall beschrieben, der
im Anschlüsse an einen Abortus aufgetreten war. In allen bisher
beschriebenen Fällen von Metritis dissecans wurden Streptokokken
gefunden, in großer Zahl, meistens in Reinkultur. Die Diagnose
wird meistens erst nach Lösung oder Ausstoßung des Sequesters
gestellt werden können, was in der Regel in der vierten Woche
geschieht. In keinem Falle ist bisher eine nachfolgende Gravidität
beobachtet worden. Die oberwähnte Saugbehandlung hat sich sehr
gut bewährt. — (Med. Klinik 1910, Nr. 5.) E. F.
*
351. (Aus der Ill. medizinischen Klinik der Universität
zu Budapest. — Direktor: Prof. Baron Alexander v. Koränyi.)
Beiträge zur Frage der Tuberkulin-Anaphylaxie. Von
Dr. Geza Ivirälyfi. Im Serum der Tuberkulösen ist irgendeine
Substanz vorhanden, welche dem Tuberkulin auch in vitro eine
toxische Eigenschaft verleiht oder aus demstelben toxisch wirkende
Substanzen freimacht. Diese Wirkung des Serums des tuber¬
kulösen Kranken ist nicht in jedem Fälle genügend stark dazu,
daß sie nachweisbar werde; daß sie öfters doch nachzuweisen ist,
ist eine Tatsache1, welche bei der Klärung des Problems der
Anaphylaxie in Rechnung zu ziehen ist. — (Zeitschrift für klini¬
sche Medizin, Bd. 7.1, H. 3 bis 6.) K. S.
*
352. (Aus der chirurgischen Klinik zu Heidelberg. — Di¬
rektor: Prof. Dr. Wilrns.) Die Anwendung der Lokal¬
anästhesie bei größeren Operationen an Brust und
Thorax (Mammakarzinom, Thorakoplasdik). Von Pri¬
vatdozent Dr. Georg Hirschei. Die Lokalanästhesie hat sich
in den letzten Jahren an der Heidelberger Klinik ein sehr großes
Gebiet erobert. Manche Operationen, Avie Hernien oder Strumen,
werden fast nur unter Lokalanästhesie ausgeführt. Verf. hat nun
in der letzten Zeit auch drei Fälle von Mammakarzinom mit
Ausräumung der Achselhöhle und zwei Fälle von Thorakoplastik
mit Resektion mehrerer Rippen in Lokalanästhesie operiert. Die
Veranlassung bei den Mammakarzinomen Avar das Vorhandensein
eines scliAveren Herzfehlers und bei den Thorakoplastiken die
Tatsache, daß der sehr schAvere operative Eingriff, in Narkose
ausgeführt, nicht zu selten schwere Komplikationen schafft und
zum Exitus führt. Als Anästhetikum kommt eine l°/oige Novo¬
kainlösung in Anwendung ; das Adrenalin wird nach Bedarf hin¬
zugetropft, gewöhnlich auf 50 cm3 vier bis fünf Tropfen. Unan¬
genehme Nebenwirkungen bei oder nach der Operation fast gar
keine. Verf. hebt noch hervor, daß tes' sich in den drei Fällen
von Mammakarzinom um verhältnismäßig einfache Karzinome
handelte, wobei ein bis zwei Quadranten der Mamma von Kar¬
zinom befallen Avaren, mehr höckerige, knollige, als' infiltrierende
Form hatten, beweglich waren, mit deutlich fühlbaren, bohnen-
I großen Drüsen in der Tiefe der Axilla. Supraklavikulär Avaren
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
505
keine Drüsen, Hautmetastasen außerhalb des Mammagebietes nicht
vorhanden. Außerdem waren die Patientinnen nicht sehr fettreich,
so daß auch von dieser Seite keine Schwierigkeiten im Wege
lagen. Der erste und einzige schmerzhafte Nadelstich wurde
in der Achselhöhle gemacht. Von hier aus wurde zunächst sub¬
kutan das ganz© Operationsgebiet umspritzt. Nach dieser Um¬
spritzung handelte es sich darum, die in den Bereich der Operation
fallenden Nervi intercostales zu anästhesieren. Man tastet sich
mit der Nadel erst nach dem einen, dann nach dem anderen
Rippenrande und spritzt an jedem derselben etwa 3 bis 5 cm3
ein. Dann wird in zwei bis drei Richtungen in und unter dem
Musculus pectoralis bei erhobenen Annen in die Umgebung der
Armgefäße injiziert. Man kann weit nach oben unter die Pek-
torales gelangen bis zur ersten Rippe und den ganzen Plexus
brachialis1 treffen. Hiefür müssen 40 bis 50 cm3 verwendet werden.
Die für diese Anästhesie des Mammakarzinoms notwendige Zeit
beträgt 10 bis 15 Minuten. Wenn man an die Anästhesie die
weitere Desinfektion des Operationsfeldes und der Hände an¬
schließt, ist gerade die nötige Zeit verflossen, die bis zur Wirkung
des1 Anästhetikurbs notwendig war. Die Musculi pectorales mußten
in den drei Fällen nicht völlig entfernt werden, sondern es ge¬
nügte das Mitnehmen der Faszie und eines Teiles der Muskulatur
des Pectoralis major.- Die zweite größere Thoraxoperation, die
der Verfasser für Vornahme unter Lokalanästhesie für sehr ge¬
eignet hält, ist die Thorakoplastik. Denn es handelt sich meist
um heruntergekommene, durch die lange Eiterung geschwächte
Patienten, für die gerade die länge Narkose von großem Schaden
ist und oft zürn' Verhängnis wird. In den zwei Fällen des Ver¬
bs sers handelte es sich um einen 21jährigen und 60jährigen
Patienten. In dein einen Falle wurden sechs, im zweiten fünf
größere Rippenstücke entfernt. Beide Thorakoplastiken waren
durchaus schmerzlos verlaufen. Verf. gedenkt noch der Gefahr,
di© vielleicht bei Injektion in der Gegend der Pleura und der
großen Gefäßstämme des Armes besteht.. Irgendeine Verletzung
dies'er Organe kam1 nicht vor; doch liegt dieselbe im Bereiche
der Möglichkeit. Die ganze Technik des' Anästhesierens erfordert
Geschick und Uebung und darf' keinem1 Anfänger anvertraut wer¬
den. Auch möge man sich für jede Anästhesie die nötige Zeit
lassen und die Geduld nicht verlieren. Weiterhin ist es not¬
wendig, sich die einzelnen Fälle änzuseheh, ob sie zur Anästhesie
geeignet sind. Allzu große Aengstlichkeit ist eine Gegenindikation.
Morphium ist bei jeder Lokalanästhesie unbedingt zu empfehlen.
Allzu großes Fettpolster kann ebenfalls die Anästhesie unmöglich
machen; besonders beim Mammakarzinom könnte ein dickes Fett¬
polster das Aufsuchen der Rippen nicht ermöglichen. (Mün¬
chener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 10.) G.
*
353. Beiträge zur Behandlung der lebensgefähr¬
lichen M ag en b 1 u tu n gen. Von Dr. Ludwig Kraft, Ober¬
chirurg am Frederiksborg-Hospital in Kopenhagen. Die Anzahl
der wegen Blutung operierten Fälle von Magengeschwür ist eine
verhältnismäßig geringe und die Ursache dafür liegt zum Teil
darin, daß die Internisten mit den Erfolgen der internen Behand¬
lung zufrieden sind; zum Teil aber darin, daß die Indikationen
für die Operation unklar sind. Die einen sind für die operative
Behandlung der kleineren, sich öfter wiederholenden Magenblu¬
tungen, während andere Chirurgen profuser©, lebensgefährliche
Blutungen für die Operation geeignet halten. Der wichtigste Grund
für die geringe Ausbreitung der operativen Behandlung liegt aber
darin, daß in den meisten bekannt gewordenen Fällen die opera¬
tive Technik versagte. Zwar gelang es in einigen Fällen durch
direkte Unterbindung des blutenden Gefäßes oder durch Ver¬
schorfung des Geschwürs die Blutung zu stillen, aber bei dem
oft tiefen Sitze der Geschwüre ist manchmal eine Unterbindung
nicht möglich, oder man findet das blutende Gefäß nicht; es
passiert sogar manchmal, daß man das Geschwür weder bei
der Palpation, noch bei der direkten Inspektion nach Eröffnung
des Magens findet. Die anderen operativen Eingriffe, wie die
MageinausSchaltung oder die Gastroenterostomie, wiesen auch nicht
immer unmittelbare Erfolge auf. Diesen unsicheren Erfolgen der
bisherigen Behandlung gegenüber hat sich die vor zwei Jahren
von Rovsing angegebene Methode zur Behandlung blutender
Magengeschwüre in den vom Verfasser beobachteten fällen sein
gut bewährt. Die Methode besteht darin, daß nach Eröffnung
der Bauchhöhle der Magen mittels des von Rovsing angegebenen
Diaphanoskops, das von einer Gastrotomiewunde in den Magen
eingeführt wird, genau untersucht wird. Mittels dieser Methode
gelingt es, nicht nur große, sondern auch kleine (erbsengroße)
Geschwüre zu entdecken, man sieht gewöhnlich auch das1 blutende
Gefäß. Sowohl die Vorderfläche, als auch die Hinterfläche des
Magens, sowie das Duodenum können mit dem Diaphanoskop
genau inspiziert werden. Das blutende Gefäß wird durch eine
durch die ganze Dicke der Magenwand greifende Ligatur unter¬
bunden und die Stelle wird mittels ein bis zwei Tabaksbeutel¬
nähten versenkt. Zum Schlüsse wird das Diaphanoskop aus dem
Maigen entfernt und die Magenwunde verschlossen. Verfasser
hat dieses Verfahren in fünf Fällen angewendet und in vier
Fällen Stillstand der Blutung erzielt. In einem Falle kam es
durch einen Kurzschluß im Instrument zu einer schweren Ver¬
schorfung des Magens1; die Patientin ging zugrunde. — (Langen-
becks Archiv, Bd. 93, H. 3.) se.
*
354. Kinnbildung bei Mikrognathie. Von Dr. Esau.
Ein 18jähriges Mädchen hatte angeblich seit dem Beginn des
zweiten Lebensjahres nach Krämpfen Kieferklemme und Vogel¬
gesicht. Um diesen Fehler zu beseitigen, ging Esau in fol¬
gender Weise vor: In zwei Sitzungen, zwischen denen knapp
drei Wochen Zeit lagen, wurde zuerst beiderseits das ankylo-
sierte Kiefergelenk entfernt und die Temporalisfaszie interponiert.
Ih der zweiten Sitzung wurde aus der achten Rippe rechts ein
etwa 12 cm langes Stück mit Belassung des1 inneren Periostes
reseziert, darauf von einem kleinen Schnitt am Unterkinn nach
oben beiderseits di© Haut, möglichst entfernt von der Ober¬
fläche und nicht zu nahe der Mundschleimhaut, unterminiert,
dann das winklig eingeknickte Rippenstück versenkt, durch tiefe
Nähte fixiert und darüber eine sorgfältige Hautnaht angelegt.
Der Wundverlauf war ein ungestörter, der Mund konnte weit
geöffnet werden. — (Zentralblatt für Chirurgie 1910, Nr. 52.)
: i ! E. V.
*
355. (Aus der I. medizinischen Klinik — Vorstand: Professor
v. N o orden — und der I. Universitäts-Frauenklinik — Vorstand:
Hofrat Prof. Schauta — in Wien.) lieber Ammoniak-,
Aminosäuren- und Peptid-Stickstoff im Hann Gra¬
vider. Von Dr. Fritz Falk und Dr. Oswald Hesky. Die Ver¬
fasser untersuchten, ob die funktionelle LebersChädigung bei
Graviden, wie sie in der alimentären Lävulosurie zum Ausdrucke
kommt, sich auch im Eiweißabbau geltend mache. Sie weisen
nach, daß während deir Gravidität eine ziemlich konstante Ver¬
schiebung in der Zusammensetzung der stickstoffhaltigen Sub¬
stanzen des Harnes vorkommt, die sich in einer relativen Ver¬
mehrung des Ammoniak-, des Aminosääuren- und peptidartig
verketteten Stickstoffs gegenüber dem nicht graviden Zustand
zeigt. Der Aminosäurenstickstoff ist ungefähr in 73%, der Peptid-
stic.kstoff in 76% der Fälle um das Zwei- bis Dreifache ver¬
mehrt. ' Nach der Entbindung verbleibt der Ammoniak-, respektive
Aminosäurenstickstoff auf seiner Höhe, während der Peptidstick¬
stoff unter die Norm herabsinkt. Im Harn Eklamptischer, kurz
nach 'der Entbindung ist die Peptidstickstoffausscheidung oft noch
stark vermehrt und sinkt nur allmählich wieder ab. Alimen¬
täre Lävulosurie und vermehrte Peptidstickstoffaus'scheidung ver¬
laufen während der Gravidität meist parallel. Die Vermehrung
des Aminosäurenstickstoffes ist auf Leberschädigung während
der Gravidität zurückzuführein, die Vermehrung des Peptidstick¬
stoffes möglicherweise auf die gesteigerte Ausfuhr von mit Glyko-
koll gepaarten, aromatischen und hydroaromatischen Säuren.
(Zeitschrift für klinische Medizin, Bd. 71, H. 3 bis 6.) K. S.
Aus französischen Zeitschriften.
356. Ueber einen mit Arseno benzol behandelten
Fall von Nephritis syphilitica. Von Widal und Javal.
Bei dem Patienten bestand seit 14 Monaten eine typische Ne¬
phritis syphilitica mit starker Albuminurie von! 1 bis 3% Eiweiß.
Es bestand ferner hochgradiges Oedem als Ausdruck der Un-
d urchgängigkeit der Niere für Chloride und hartnäckige Lipämie.
506
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14
Es wurden 0-6 g Arsenobenzol intravenös injiziert und abgesehen
von einmaligem Erbrechen keine Reaktion beobachtet. In der
auf die Injektion folgenden Woche zeigte die Albuminurie noch
keine Veränderung, in der Zeit— vom 8. bis 17. Tage nach der
Injektion sank sie von 1% auf 0-25°/o, in der folgenden Zeit
schwankte sie zwischen 0-1 bis 0-25°/o. Da die Oedeme schon
früher zurückgegangen waren, so läßt sich die Wirkung nur hin¬
sichtlich der Albuminurie beurteilen und es hat den Anschein,
daß hier der Rückgang der Albuminurie mit der Injektion von
Arsenobenzol in Zusammenhang steht. Ueber die Einwirkung des
Arsenobenzols auf die Niere liegen widersprechende Mitteilungen
vor. Es findet sich die Angabe, daß nach der Injektion bei
einer größeren Anzahl von Fällen Albuminurie, hyaline und gra¬
nulierte Zylinder, sowie Erythrozyten auftraten. In Fällen von
Nierensyphilis wurde öfter Heilung, bzw. Abnahme der Albu¬
minurie, in vereinzelten Fällen aber auch Zunahme der Albu¬
minurie nach Arsenobenzolinjektion beobachtet. In der ersten
Zeit Avurde Nephritis unter den Kontraindikationen der Arseno-
benzolanwendung angeführt. Der mitgeteilte Fall ist Aveder für
die Frage der Heilwirkung, noch der Schädlichkeit des Arseno¬
benzols unbedingt verwertbar. Zur Zeit, der Injektion bestand
keine Retention der Chloride und das Arsen wurde in wenigen
Tagen vollständig ausgeschieden; es fragt sich, ob bei Ausführung
der Injektion zur Zeit, avq noch die Retention der Choride be¬
stand, ein gleiches Resultat erzielt worden wäre. Bezüglich der
Wirkung des Quecksilbers bei Nephritis lauten die Angaben wider¬
sprechend ; in dem mitgeteilten Falle hatten sich wiederholte
Injektionen von Jodquecksilber und benzoesaurem Quecksilber
als wirkungslos erwiesen. Die Beobachtung lehrt, daß jeden¬
falls nicht alle Formen der Nierensyphilis und alle Stadien der
Erkrankung eine Kontraindikation hinsichtlich der Arseno-
benzolanwendung darbieten. — (Bull, et mein, de la Soc. med.
des höp. de Paris 1911, Nr. 2.) a. e.
*
357. Ueber die Behandlung der vom Wurmfort¬
satz ausgehenden generalisierten Peritonitis. Von
Mauclaire. Die generalisierte Peritonitis geht in der großen
Mehrzahl der Fälle vom Wurmfortsatz aus; wobei zwischen der
septischen und eitrigen Form zu unterscheiden ist. Die septische
Form, durch eine geringe Menge trüben Exsudates, diffuse
Schmerzhaftigkeit und Auftreibung des Abdomens, Blässe, Zya¬
nose und Sefnveiße bei relativer Euphorie gekennzeichnet, ist
überhaupt keiner Therapie zugänglich, während die rein eitrige,
diffus oder in Form großer Abszesse auftretende Peritonitis, bessere
Chancen für die Therapie darbietet. Die Behandlung besteht in
Entleerung des Eiters und Drainage. Für die Drainage, die auch
an sichreren Stellen zugleich vorgenommen werden kann, sind
verschiedene Methoden angegeben worden, so zum Beispiel die
multiple Drainage des Hypogastriums und beider Iliakalgegenden,
die Drainage in Etagen, die lumbale, abdomino - vaginale, trans¬
mesenteriale und prärektale Drainage, Avelc.h letztere auf direktem
oder indirektem Wege vorgenommen werden kann. Die Aus¬
waschung der Peritonealhöhle mit antiseptischen Substanzen ist
größtenteils verlassen Avorden; kürzlich wurde’ die Durchleitung
eines Sauerstolfstromes. bzAv. die intraperitoneale Injektion von
10 'rigem Kampferöl vorgeschlagen. Bei Stauung des Darminhaltes,
sowie ausgesprochener Darmparese, können Appendikostomie oder
Cökostomie rettend wirken. Es wurden verschiedene Lagerungen
nach der Operation empfohlen, darunter die Fowler sehe Lage¬
rung, wo der Körper des Patienten mit der Ebene des Bettes
einen Winkel von 45° bildet; in manchen Fällen empfiehlt sich
die Ergänzung der Fowler sehen Lagerung durch perineale Drai¬
nage beim Manne, durch abdomino- vaginale Drainage beim Weibe.
Die Bauchlage, durch welche die Entleerung des Eiters wesentlich
befördert wird, ist schmerzhaft und kann daher nicht durch längere
Zeit beibehalten werden. Die kontinuierliche Enteroklysc mit
physiologischer Kochsalzlösung ist in jüngster Zeit von Arer-
schiedenen i Sei ten als wertvoller therapeutischer Behelf empfohlen
worden. Die statistischen Angaben lauten hinsichtlich der Resul¬
tate verschieden; es finden sich Statistiken mit bis zu 86%
Heilungen, während die eigene, 70 operierte Fälle, umfassende
Statistik des Verfassers nur 10% geheilte Fälle aufweist. Aus
den Statistiken geht hervor, daß, je frühzeitiger die Operation,
um so größer die Aussicht auf Erfolg ist, während die Art der
Operations- und Nachbehandlungsmethoden mehr von sekundärer
Bedeutung ist. (Gaz. des höp. 1911, Nr. 4.) a. e.
*
358. Ueber die Der m oreak t i o n mit Natriumgly-
kocholat. bei Syphilitikern. Von Loepler, Desbouifö
und Duroeux. Die Häufigkeit der Po rg es sehen Präzipitations¬
reaktion bei Syphilis veranlaßte Untersuchungen, ob das Natrium-
glykocholat, welches vom Blutserum Syphilitischer sehr leicht
gefällt wird, bei intradermäler Einspritzung eine charakteristische
Lokalreaktion hervorruft. Bei der leichten Zersetzlichkeit des
Natrium glykocholicum Avurden nur frisch bereitete oder in ver¬
schlossenen Ampullen, bei Licht und Luftabschluß aufbewahrte
Lösungen zur Anstellung der Reaktion verwendet und zwar ein
bis zwei Tropfen einer 2%igen, bzw. 5%igen Lösung injiziert.
Die erste Gruppe umfaßt 63 Personen u. zw. Gesunde und ver¬
schiedene nichtsyphilitische Erkrankungen; hier wurde bei An¬
wendung 'der 2%igen Lösung durchwegs negative, bei Anwendung
der 5% igen Lösung in sieben Fällen ganz schwache positive
Reaktion erhalten. Die zweite Gruppe umfaßt die syphilitischen
und parasyphilitischen Erkrankungen; die zehn Fälle von pri¬
märer und die 56 Fälle von sekundärer Syphilis gaben bei An-
Avendung der 5%igen und der 2%igen Lösung durchwegs ‘positive
Reaktion, ebenso mit Ausnahme eines Falles die 15 Fälle tertiärer,
bzAv. hereditärer Syphilis. Innerhalb einer Gruppe von neun
Fällen mit Tabes, bzw. progressiver Paralyse und Leukoplakie,
Avurde nur einmal bei Anwendung der 5%igon Lösung positive
Reaktion beobachtet. Es geht daraus hervor, daß die R.eaktion
bei der in Entwicklung begriffenen Syphilis nahezu konstant,
bei parasyphilitischen Erkrankungen und quaternärer Syphilis
nur ausnahmsweise auftritt. Die positive Reaktion tritt als lenti¬
kuläres Erythem oder als hirsekorn- bis linsengroßes, schmerz¬
haftes Knötchen oder als kleines Geschwür mit langsamer Ver¬
narbung zwischen der 18. bis 36. Stunde nach der Injektion
aul und persistiert durch zwei bis fünf Tage, Avobei intensive
Reaktionen von Schmerzen und Fieber begleitet sein können.
Bei den untersuchten Fällen ließ sich ein Parallelismus zwischen
Wasser mann scher, Porg es scher und Intradermoreaktion
nachvveisen. Die Reaktion zeigt die tiefgreifende biologische Ver¬
änderung, welche durch die Infektion veranlaßt wird und kann,
wenn ihr auch kein absolut spezifischer Charakter zukommt,
Avie einige Beobachtungen zeigen, mit Erfolg differentialdiagno-
stisch verwertet werden. — (Progres med. 1911, Nr. 3.) a. e.
*
359. B e in e r k u ngen zu einem Falle von Rogers che r
Krankheit. Von Andre Petit. Unteir Rogerscher Krankheit
versteht man das Vorhandensein einjer angeborenen Kommuni¬
kation zwischen den beiden Herzkammern. Die Erkrankung wird
selten beobachtet und Avird, Avenn man die Möglichkeit ihres
Bestehens nicht in Betracht zieht, gewöhnlich als Klappenfehler
diagnostiziert. Auf das Bestehen der Affektion Aveist das Vor¬
handensein eines systolischen Geräusches hin, welches weder
an der Spitze, noch an der Basis, sondern in der Mitte der
Präkordialgegend sein Maximum zeigt. Die funktionellen Be-
schAverden sind bei der Roger sehen Krankheit, falls keine ander¬
weitige Mißbildung des Herzens daneben besteht, nur wenig aus¬
geprägt. Die Dyspnoe ist nicht hochgradig und tritt in der
Regel nur bei Anstrengung auf. »Zyanose fehlt in unkomplizierten
Fällen, weil wegen des höheren Druckes im linken Ventrikel
das Blut aus dein rechten Ventrikel trotz der Kommunikation
nicht in den linken Ventrikel ei nd ringen kann; wen n durch eine
Lungenaffektion eine Störung im Lungenkreisläufe eintritt, so
sind die Bedingungen für die Entstehung von Dyspnoe und Zya¬
nose gegeben. In unkomplizierten Fällen fehlen Dyspnoe und
Zyanose, so daß das Hauptgewicht auf den Auskultationsbefund
zu legen ist. Man hört ein intensives, rauhes, in der Regel von
Schnurren begleitetes Geräusch, welches in gleichbleibender Inten¬
sität sich über die ganze Systole erstreckt und sein Maximum
entsprechend der Artikulation ZAvischen dem dritten linken Rippen¬
knorpel und dem Brustbein aufweist. Gelegentlich findet man
Verstärkung des zweiten Pulmonaltons, Dilatation und Hyper¬
trophie des rechten Ventrikels, soAvie Hypertrophie des linken
Ventrikels. Die Erkrankung ist an sich gutartig; beim Hinzutritt
Nr. 14
507
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1‘JIL.
interkurrierender Erkrankungen' können Zyanose, Dyspnoe und
Asystolie auf treten, _ bei Infektionen kommt es leichter zu Endo¬
karditis, w.pbei'Vögen der bestehenden kongenitalen Mißbildung
sich ’leichter Kompensationsstörungen entwickeln können. Im
Gegensatz zur angeborenen Stenose der Pulmonalarterienkl ippen
schafft die Roger sehe Krankheit keine Prädisposition zur Tuber¬
kulose. Bei reiner Pulmonalarterienstenose findet man das Maxi¬
mum des systolischen Geräusches im zweiten linken Interkostal¬
raum, neben dem Sternum und es wird das Geräusch gegen die
Klavikula zu am deutlichsten fortgeleitet, während bei der R og er¬
sehen Krankheit die Propagation in horizontaler Richtung erfolgt.
Die Behandlung der Roger sehen Krankheit besteht in Vermeidung
von Anstrengungen und Gemütsbewegungen, sowie in der Ver¬
hütung v-on Erkrankungen des Respirationsapparates und Infek¬
tionen. — (Progres med. 1911, Nr. 4.) a. e.
*
Aus italienischen Zeitschriften.
360. (Aus dem S. M . -Maddalenensp i ta 1 in Triest. Direktor
Dr. Markovich.) „Ehrlich 606“ bei der Lepra. Von
M. Gioseffi. In einem veralteten Falle von Lepra mit nega¬
tiver Wassermannscher Reaktion hatte die Injektion des Prä¬
parates „Ehrlich 606“ weder irgendeinen Einfluß auf den spe¬
zifischen Lepraprozeß, noch -eine Degeneration (Leprölyse) der
Hansenschen Bazillen zur Folge. (Gazzetta degli Üspedali
e delle Cliniche, 29. Januar 1911.) sz.
*
361. (Aus der III. medizinischen Klinik der Universität in
Neapel. Direktor: Prof. G. Rummo.) Die Bildung von spe¬
zifischen Antikörpern u n d d i e Koinple m e n t a b 1 e n-
kungsr eakti on bei der Malaria. Von Luigi Ferranini.
Das Serum von Malariakranken wurde wiederholt in verschiedenen
Zeitintervallen auf Komplementablenkung mit Benützung des Ex¬
traktes einer Malariamilz als Antigen untersucht. Das Resultat
war stets ein negatives. Autor schließt daraus auf den Mangel
jeder Antikörperbildung bei der Malaria. Bei dieser Krankheit ist
ja auch sonst das Fehlen aller Immunitätsphänomene, besonders
das der Bildung von spezifischen Agglutininen und Präzipitinen
bekannt. (Daher ist auch die Malaria nicht leicht radikal zu heilen
und ihr Ueberstehen verleiht auch keine Immunität. (La Ri-
forma medica, 13. Februar 1911.) sz.
*
362. (Aus dem Pathologischen Institute der Universität in
Padua. — Direktor Prof. Lucatello. lieber die Patho¬
genese der Akromegalie. Von G. A. Pari. Die Lehre, welche
die Akromegalie dem Hyperpituitarismus zuschreibt, erklärt auf
sehr einfache Weise 90% der Fälle, in welcher ein Tumor der
Hypophyse sich findet und die Tatsache, daß bei akuten, bösartigen
Fällen von Akromegalie ausnahmslos ein Tumor der Hypophyse
vorhanden ist. Diese Lehre wird nicht erschüttert durch den
Einwand, daß es Fälle von Akromegalie mit Tumoren der Hypo¬
physe ohne chromophile Zellen gibt, da anatomisch«' Tatsachen
ein unzuverlässiges Element darstellen, wo man über die noch
dunkle Funktion eines Organes urteilen soll und da es ferner
noch nicht erwiesen ist, daß die chromophile Substanz der Hypo¬
physe ein Sekretionsprodukt darstellt, welches auf den Organis¬
mus einwirkt, noch weniger aber, daß sie das einzige Sekre¬
tionsprodukt der Hypophyse sei. Auch der Einwand, daß es
sehr viele Fälle von Strumen der Hypophyse mit zahlreichen
chromophilen Zellen gibt, ohne daß Akromegalie besteht, kann
dieser Lehre nicht ihren Wert nehmen, nachdem innere Sekre¬
tion ja kompensiert werden kann. Die Lehre wird ferner nicht
erschüttert durch die Tatsache, daß sich in wenigen Fällen von
Akromegalie eine maligne Transformation der Drüsensubstanz
der Hypophyse in ein Adenokarzinom findet, da auch bösartige
Tumoren die gleiche Wirkung entfalten können, wie das Organ,
aus welchem sie hervorgegangen sind. Die Lehre,, welche in der
Akromegalie einen auf eine unbekannte Alteration des Stoll- :
Wechsels zurückzuführenden Symptomenkomplex sieht, verliert j
lim. so mehr an Wahrscheinlichkeit, je mehr die Lehre vom Hyper- |
pituitarismus gewinnt. — - (Gazzetta degli ospedali e delle Cli¬
niche, 7. Februar 1911.) sz.
♦
363. (Aus dem Institute für klinische Medizin in Neapel.
Direktor : Prof. A. Cardarelli.) lieber Eiweißverbin¬
dungen der Metalle und Metalloide. Versuche über
mit Metallen und Metalloiden kombinierte Organo¬
therapie. Von Amaldo Cantani. Die vom Autor unternom¬
menen interessanten Versuche, auch komplexe Eiweißverbin¬
dungen, fwie die in verschiedenen Organen, Gehirn, Hoden, Leber,
Eierstock, enthaltenen, durch Kombination mit Metallen und Me¬
talloiden in ihrer Gesamtheit zur Wirkung zu bringen, hatten
folgendes Ergebnis: Es war möglich, ohne die Konstitution des
Eiweißmoleküls zu stören, eine Verbindung von Proteinsubstanzen
mit Halogenen zu erhalten. Arsen, Eisen und Quecksilber da¬
gegen übten auf die chemische Zusammensetzung der Eiwei߬
substanzen einen Einfluß. Durch die Kombination der Proteine
mit den Halogenen lassen sich zwei therapeutische Vorteile er¬
zielen u. zw. die sterilisierende Wirkung der Halogene vereint
mit ihrer stimulierenden Wirkung auf die Gewebe und der der
jeweiligen, mit dem Halogen verbundenen Eiweißsubstanz eigene
o rg a n o t h erapeu t i sc h e Einfluß. Bei den Arsen-, Eisen- und Queck-
. Silberverbindungen geht die Wirkung dieser Metalle nicht ver¬
loren, dagegen scheint die organotherapeutisebe Wirksamkeit
zu leiden. Doch dürfte die kleine, in Betracht kommende Menge
dieser Metalle in ihren Eiweißverbindungen auf die chemische
Zusammensetzung der letzteren einen nennenswerten Einfluß nicht
ausüben. Die Wirkung dieser Metall- und Metalloideiweißverbin¬
dungen entspricht der Wirkung des in reinem Zustande einge¬
führten Metalle® oder Metalloides. Sie bieten den Vorteil einer
besseren Tolerabilität und der raschen Elimination durch den
Harn. Die organotherapeutisebe Wirkung der Eiweißkomponenten
wird durch die Halogene nicht zerstört. Durch die Verbindung mit
Eiweiß scheint die toxische Wirkung der Halogene eliminiert zu
werden. Bei der Jod Verbindung kann man der Eiweißkomponente
eine entgiftende Wirkung auf Jod nicht, absprechen. Der Mechanis¬
mus dieser Entgiftung ist allerdings bisher unklar. Weitere Experi¬
mente sollen dies aufklären. Auf dem Wege der Eiweißkombina¬
tionen erscheint es möglich, Proteinsubstanzen sozusagen in natür¬
lichem Zustande in den Organismus einzuführen und die Aus¬
nützung von so komplexen Substanzen, wie z. B. des Eigelb,
zu ermöglichen und außerdem die Gesamtwirkung von Organen
zu erreichen. Die mit den Eiweißkombinationen erzielten thera¬
peutischen Erfolge sind sehr gute. Nach den vorliegenden Experi¬
menten an Menschen und Tieren läßt sich eine Anregung auf den
Stoffwechsel der Zellen und ein wohltätiger Einfluß auf den Ge¬
samtorganismus nicht leugnen. Die Präparate erzeugen eine Ver¬
mehrung der roten und weißen Blutkörperchen, eine Gewichts¬
zunahme und eine Erhöhung der Widerstandskraft des Organismus.
— (II Tommasi, 30. Januar 1911.) sz.
*
364. Die chirurgische Behandlung der tuberku¬
lösen Peritonitis. Von Vincenzo Ruffo. Die chirurgische
Behandlung der Bauchfelltuberkulose ist bei allen ihren Formen
von großer Wirksamkeit. Die Spülung des Bauchraumes ist für die
Therapie nicht unumgänglich notwendig, bei manchen Formen
der Bauchfelltuberkulose kommt ihr aber der Haupteinfluß zu.
Die Indikation für das operative Verfahren besteht bei allen
Formen der tuberkulösen Peritonitis mit Ausnahme «1er Fälle
mit ausgedehnter Lungentuberkulose oder bei Beteiligung vieler
Eingeweide an dem tuberkulösen Prozeß und in den Fällen,
wo der allgemeine Zustand einen operativen Eingriff nicht mehr
zuläßt. — (II Tommasi, 30. Januar 1911.) sz.
*
Aus amerikanischen Zeitschriften.
365. Die D i I f e r e n t i a 1 d i a g n o s e der alkoholischen
von anderen Formen der Bewußtlosigkeit, mit be¬
sonderer Berücksichtigung der Fürsorge für unbe¬
kannte Personen, weile he von der Polizei in bewußt¬
losem oder halb bewußtlosem Zustande gefunden
werden. Von Lewis D. Mason. Für das alkoholische Koma
gibt es kein pathognomonisches Zeichen. Auch der Geruch aus
dem Munde ist nicht, beweisend, weil komatöse Zustände anderer
Provenienz, zum Beispiel infolge von Apoplexie bei Alkoholikern,
nicht selten Vorkommen und weil zur Labung Ohnmächtiger häufig
508
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14
Alkohol gegeben wird. Die bei alkoholischem Koma häufig beob¬
achtete geringe Pulsfrequenz — 60 Pulsschläge und darunter —
kommt bei allen Zuständen vasomotorischer Lähmung vor. Auch
die Pupillen zeigen nichts unbedingt Charakteristisches. Die Tem¬
peratur ist im alkoholischen Koma niedriger als normal. Dies
kann differentialdiagnostisch gegenüber Geliimerkrankungen ver¬
wertet werden, bei denen die Temperatur normal ist. Das Fehlen
der Reflexe ist nur ein Zeichen tiefer Bewußtlosigkeit. Die Haut¬
anästhesie, welche im Alkoholrausche soweit geht, daß selbst
größere Operationen vorgenommen werden können, ist für die
Volltrunkenheit recht charakteristisch, aber auch nicht sicher
differentialdiagnostisch zu verwerten. Es besteht meist Inkon¬
tinenz der Blase. Manche komatöse Zustände gleichen dem alko¬
holischen Koma außerordentlich. Als differentielle Momente
kommen in Betracht: Bei epileptischen Anfällen ist der Zungen¬
biß charakteristisch und das Koma pflegt nur kurze Zeit
zu dauern. Hitzschlag verrät sich meist durch die äußeren Um¬
stände seines Auftretens. Koma infolge Chloroformvergiftiing
kommt nicht oft vor und verrät sich durch den Geruch. Für die
Opiumvergiftung ist die stecknadelkopfgroße, starre Pupille cha¬
rakteristisch. Akute Bromvergiftung führt meist nicht zu tiefem
Koma, sondern nur zu halber Bewußtlosigkeit mit Gedächtnis¬
verlust, taumelndem Gang und Selbstmordabsichten. Schwindel,
kardiale Synkope, pflegen vorübergehender Art zu sein. Es ist
nicht angezeigt, in Fällen von Bewußtlosigkeit eine Diagnose zu
stellen, bevor genügend Zeit verstrichen ist, um die Mutmaßung
der Trunkenheit zu bestätigen. Die subkutane Verabreichung von
Strychnin ist, wenn nicht direkte Kontraindikation dagegen vor¬
handen ist, bei akuter Alkoholvergiftung von großem Werte. Die
bisher in solchen Fällen geübte schematische Methode des Aus¬
schlafenlassens ist zu verwerfen. Sie kann leicht der Anlaß zu
einem Kunstfehler sein. Alle Fälle von Bewußtlosigkeit, ob alko¬
holisch oder nicht, sollen in das nächste Spital geschafft und unter
sorgfältige Beobachtung gestellt werden. So sind zum Beispiel
in Paris im Hospital St. Anne 50 Betten für derartige Fälle re¬
serviert. Nur so kann die geeignete Hilfe rasch geboten und ein
fataler Irrtum in der Diagnose vermieden werden. — (The Vir¬
ginia Medical Semi-Monthly, 23. Dezember 1910.) sz.
*
366. Syphilis bei Kindern. Meine Erfahrungen
mit Salvarsan; unmittelbare Resultate und spätere
toxische Manifestationen. Von Louis Fischer. Autor
kommt zu folgenden Ergebnissen : Die toxische Wirkung des Salv-
arsans kann auf Ueberempfindlichkeit des Körpers, möglicher¬
weise auf Idiosynkrasie zurückzuführen sein. Die Dosis von
0-3 g ist zu groß für Kinder. Autor würde nicht mehr als 0-1 g
des Ehrlic h-Hataschen Präparates bei Kindern empfehlen.
Diese Dosis soll durch wenigstens einige Wochen nicht oder nur
dann wiederholt werden, wenn keinerlei Grund zur Annahmie
besteht, daß die erste Dosis von irgendwelchen Symptomen ge¬
folgt war. Nach seinen gegenwärtigen Erfahrungen würde Autor
die Injektion bei ambulanten Patienten abraten und verlangen,
daß dieselben entweder in einem Spital oder in einem Sanatorium
vorgenommen werde, wo die geeignete Ueberwachung durch Aerzte
und Wartepersonen möglich ist und toxische Symptome so früh
als möglich bemerkt werden können. — (The Journal of the
American Medical Association, 11. Februar 1911.) sz.
Sozialärztliche Revue.
Von Dr. L. Sofer.
Anläßlich der bei uns herrschenden Teuerung, die die Lebens¬
haltung weiter Kreise ungünstig beeinflußt, wird der Bericht
einer vom Deutschen Städtetag entsandten Kommission von
Interesse sein, die die Einfuhr und den Verbrauch gekühlten
und gefrorenen Fleisches in England untersuchte. Gekühltes
Fleisch kommt bisher nur aus Süd- und Nordamerika, gefrorenes
hauptsächlich aus Südamerika, Australien und Neuseeland; von
beiden letzteren Ländern ist die Reise nach Europa zu weit
für gekühlte Ware, indes wird man nach Lind ley scher Methode
(Kühlung mit gekälteter sterilisierter Luft) auch gekühltes Fleisch
von Australien zuführen können ; dabei würde das Fleisch vor
der Verladung Dämpfen von Formaldehyd ausgesetzt werden.
London und Liverpool haben zahlreiche Kühllager. Die Lon¬
doner Hafenbehörde hat seit vier Jahren deren sechs eingerichtet
das umfangreichste für 25.000 Rinder. Diese dem öffentlichen
Verkehr dienenden Anlagen werden von Einführern benützt, die
keine eigenen besitzen; andere Anlagen gehören Gesellschaften.
In den Anlagen werden die gefrorenen Hammel durch Teihmgs-
maschinen, die Ochsenviertel mit elektrischen Bandsägen zer¬
schnitten werden. Die Kälte wird durch Ammoniak erzeugt und
ebenso Avie in den Schiffen verbreitet. Elektrische Hebewerke
nehmen die Rinderviertel von den Schiffen auf; die Temperatur
ist, Avie in den Schiffen, etAva — 8° für gefrorenes und — 1°
für gekühltes Fleisch.
Gefrorenes Fleisch sollte innerhalb vier Wochen in Gebrauch
genommen werden, wenn es sich auch im Kühlhause länger hält;
gekühltes leidet bei mehr als 14 tägigem Lagern. Auf dem Gro߬
markt sucht man das gekühlte Fleisch noch an demselben Tage
in den Laden zum Verkauf zu bringen. Gefrorenes kann länger
hängen, muß aber nach dem Auftauen auch in zwei Tagen ver¬
braucht werden. Dec Gesundheitszustand des gefrorenen und
gekühlten Fleisches ist nach Auskunft der englischen Unter¬
suchungsbehörden sehr günstig, was darauf zurückzuführen ist,
daß es' sich um Weidevieh handelt. Die amtliche Untersuchung
besteht in einer Beschau bei der Löschung, hauptsächlich auf
Unverdorbenheit und in einer Marktbesichtigung mit allgemeiner
Kontrolle, Finnenprobe usw., eingehender Stichprobe der Drüsen
Die Hauptinspektoren sind tierärztlich gebildet, die Nebenbeamten
geschult. In den Herkunftsländern besteht eine Untersuchung für
lebendes Vieh, über die eine Bescheinigung ausgestellt wird.
In Argentinien erhält jedes Stück des zu versendenden Fleisches
einen besonderen Untersuchungsstempel.
Wir sehen also, daß man in England auf Grund langjähriger
Erfahrung zu einem sehr günstigen Urteil über die Einfuhr über¬
seeischen Fleisches gekommen ist. Die schüchternen Versuche,
die mit argentinischem Fleische in Oesterreich gemacht Avurden,
haben jedenfalls es nur bestätigen können. Wir müssen betonen,
daß nicht die geringsten hygienischen Bedenken gegen die Einfuhr
bestehen, sondern im Gegenteil, die Rücksicht auf das allgemeine
Volkswohl die Wiederholung der Einfuhr, in großem1 Maßstabe
erfordert.
In der reichsdeutschen Versicherungskommissiondes
Parlaments wurde bezüglich des Verhältnisses zwischen Aerzten
und Krankenkassen folgendes Kompromiß angeommen: Die
Beziehungen zwischen Krankenkassen und Aerzten werden durch
schriftlichen Vertrag geregelt; die Bezahlung anderer Aerzte kann
die Kasse, von dringenden Fällen abgesehen, ableimen. SoAveit
es die Kasse nicht erheblich mehr belastet, soll sie ihren Mit¬
gliedern die Auswahl zwischen mindestens zwei Aerzten frei-
lassen, die Satzung kann jedoch bestimmen, daß der Behandelte
während desselben Versicherungsfalles oder Geschäftsjahres den
Arzt nur mit Zustimmung des Vorstandes wechseln darf. Wird
hei einer Krankenkasse die ärztliche Versorgung dadurch ernstlich
gefährdet, daß die Kasse keinen Vertrag zu angemessenen Be¬
dingungen mit einer ausreichenden Zahl von Aerzten schließen
kann, oder daß die Aerzte den Vertrag nicht einhalten, so er¬
mächtigt das Oberversicherungsamt (Beschlußkammer) die Kasse
auf ihren Antrag widerruflich, statt der Krankenpflege oder sonst
erforderlichen ärztlichen Behandlung, eine bare Leistung bis zu
zAvei Dritteln des DurchschnittsbetragesThres gesetzlichen Kranken¬
geldes zu gewähren. Das Oberverwaltungsgericht kann zugleich
bestimmen:' 1. wie der Zustand dessen, der die Leistungen er¬
halten soll, anders als durch ärztliche Bescheinigung
nachgewiesen werden darf, 2. daß die Kasse ihre Leistungen so
lange einstellen oder zurückhalten darf, bis ein ausreichender
Nachweis erbracht ist und 3. daß die Leistungsfähigkeit der Kasse
erlischt, wenn binnen einem Jahre nach Fälligkeit des Anspruches
kein ausreichender Nachweis erbracht ist und daß 4. die Kasse
diejenigen, denen sie ärztliche Behandlung zu gewähren hat,
in ein Krankenhaus verweisen darf.
Soll ein Aerztevertrag geschlossen, verlängert oder geändert,
werden, so können die Krankenkassen und die Aerzte, die darüber
miteinander verhandeln av ollen, die Bildung von Einigungsaus-
Schüssen bestinünen und zu diesen je die Hälfte der Vertreter
wählen. Die Verträge zwischen Krankenkassen und Aerzten dürfen
für kürzere Zeit als ein Jahr nicht geschlossen oder verlängert
werden. Die Kündigungsfrist darf nicht längere Zeit als sechs
Monate betragen. Bei Streitigkeiten aus dem Vertrag entscheidet
ein Schiodsausschuß, zu dem jeder Teil zwei Vertreter benennt.
Die Krankenkasse kann aus einem wichtigen Grunde die Ver¬
längerung des auf bestimmte Zeit geschlossenen Vertrages ab¬
lehnen, oder einen Vertrag kündigen. Verneint das Schiedsgericht
die Frage, ob ein wichtiger Grand vorliegt, so gilt der Vertrag als
auf ein Jahr verlängert. Ein wichtiger Grund liegt jedenfalls
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
5U9
dann vor, wenn die Kasse nachweist, daß sie den Vertrag
zu ihr günstigeren Bedingungen auf mindestens ein Jahr
schließen kann, doch ist in diesem Falle der neue Vertrag mit den
alten Aerzten zu schließen, wenn die Kasse nur mit bestimmten
einzelnen Aerzten abgeschlossen hat, ohne anderen Aerztein einen
Anspruch auf Beitritt einzuräumen und die alten Aerzte die (neuen,
schlechten) Bedingungen annehmen wollen. Ein wichtiger Grund
liegt ferner vor, wenn die Kasse bereit ist, den Vertrag nicht mehr
mit bestimmten einzelnen Aerzten, sondern mit allen dazu be¬
reiten Aerzten abzuschließen, gegen deren Zulassung kein wich¬
tiger Grund vorliegt.
Das Schiedsgericht besteht aus dem Vorsitzenden, zwei
ständigen Mitgliedern, sowie in einem Aerztevertreter und Kassen¬
vertreter als Beisitzer. Die Krankenkasse hat dem Versicherungs¬
amte bis spätestens zwei Monate vor Ablauf des Vertrages oder,
wenn sie neu errichtet wird, vor dem Beginn ihrer Tätigkeit nach¬
zuweisen, daß sie den Vertrag mit einer ausreichendem Anzahl
von Aerzten geschlossen hat. Kann sie es nicht, so hat sie,
oder wenn sie es unterläßt, das V e-rs i c h erungjsam t alsbald die
Vermittlung des Schiedsamtes anzurufen. Das Gleiche gilt, wenn
das Vertragsverhältnis infolge unvorhergesehener Ereignisse vor¬
zeitig gelöst wird und Gefahr besteht, daß die Kasse den Vertrag
nicht rechtzeitig mit einer ausreichenden Zahl von Aerzten
schließen kann. Das Schiedsgericht stellt die Bedingungen fest,
die für einen Vertrag der Aerzte mit den Kassen als angemessen
zu gelten haben.
Wir müssen gestehen, daß dieses Kompromiß höchstens ein
Kompromiß zwischen Regierung und Krankenkassen darstellt; für
die Aerzteschaft ist es direkt unannehmbar. Denn es bedeutet
eine direkte Verschlechterung der bisherigen Situation. Da
— im Deutschen Reiche — keine Behandlungspflicht für Aerzte
besteht (entsprechend der allgemeinen Kurierfreiheit), konnten
bisher die Aerzte durch Sperrung einer Kasse einen Druck auf
sie ausüben, da diese gesetzlich eine Verpflichtung für die ärzt¬
liche Behandlung haben. Die oben angeführten, verwickelten
Bestimmungen sollen in Zukunft die Kassen vor diesem Druck
schützen. Die Regierung motiviert dies damit, daß heute im
Streite zwischen Kassen und Aerzten die Kassen den schwächeren
Teil darstellen. Angenommen, daß dies richtig ist, so muß man
an die Regierung die Frage stellen: Was hat sie für die Aerzte
getan, solange sie der schwächere Teil waren. Und der begeisterte
Lobredner der Regierung muß darauf antworten : Nichts, gar
nichts. Bloß durch Selbsthilfe-, durch den Leipziger Verband,
ist es den Aerzten gelungen, das Gleichgewicht in dem Kampfe
herzustellen. Sofort springt aber die Regierung herbei, um durch
gesetzliche Maßregeln den Kassen wieder das Uebergewicht zu
verschaffen.
Infolge des einmütigen Widerstandes der Aerzteschaft ließ
die Kommission den Schluß des Kompromisses, die Schieds¬
gerichte betreffend, fallen und es gelangt in der verkürzten
Form vor das Plenum. Hier ist allerdings sein Schicksal un¬
bestimmt.
Neuerdingte läßt die Pensionskatese für die Arbeiter der
Preußisch-Hessischen Eisenbahngemeinschaft in Berlin Lungen¬
kranke, die bereits eine Kur in einer ihrer Heilstätten durchgemacht
haben, ambulant von dem Kassenarzte auf ihre Kosten mit T uber¬
kulin weiter behandeln, wenn dies die Heilstätte zur Sicherung
eines- dauernden Heilerfolges für wünschenswert hält. Die- Fort¬
setzung der in der Heilstätte begonnenen Tuberkulinbehandlung,
die auf ausgesuchte Fälle beschränkt wird, erfolgt unter beson¬
deren Vorsichtsmaßregeln an der Hand einer genauen Anleitung
der Heilstätte für die Nachbehandlung und eines ausführlichen
Krankheits- und Behandlungsberichtes mit bildlicher Darstellung
des Lungenbefundes. Gleichzeitig ist die Eisenbahnpensionskasse
mit der Einführung von Lehrkursen über die Tuberkulinbehandlung
für Bahnärzte vorausgegangen. Die Kasse hat sich zur ambulanten
Tuberkulinnachbehandlung mit Zustimmung des Ministers der
öffentlichen Arbeiten entschlossen, nachdem auch die ärztlichen
Sachverständigen des Wohlfahrtsausschusses, der zur Beurtei¬
lung derartiger Fragen bestellt ist, die Einführung befürwortet
hatten.
In der Schweiz steht ebenfalls die Frage der Einfuhr
überseeischen Fleisches trotz der reich entwickelten V iehzucht
des Landes auf der Tagesordnung. In den Städten Zürich,
St. Gallen, Lausanne und Basel wird bereits argentinisches
Ochsenfleisch ausgewogen; Bern folgt, die Konsumenten -er¬
klären, daß es in bezug auf Qualität hinter dem frisch geschlach¬
teten Fleisch nicht zurückstehe. Anderseits rüstet sich die
Schweiz zu der im Jahre 1914 in Bern stattfindenden Allgemeinen
Landesausstellung. Mit ihr wird eine soziale- Ausstellung
verbunden sein. Zur Darstellung sollen die Zusammensetzung
der schweizerischen Arbeiterschaft nach Alter, Geschlecht, Zivil¬
stand und Nationalität gelangen, ferner die Fabriksstatistik und
die Verschiebungen in den letzten 60 Jahren, die Haushaltungs¬
und W oh nungs Verhältnisse, die Arbeitslöhne-, Arbeitszeiten, Be¬
rufskrankheiten und Unfälle, die Gewerkschaftsorganisationen, die
Lohnkämpfe und die Tarifverträge und die Bildimgsbestre-bungen.
\/ermisehte Haehriehten.
Ernannt: Der ordentliche Professor an der Universität
in Innsbruck Dr. Norbert Ortner zum ordentlichen Professor
der speziellen medizinischen Pathologie und Therapie und zum
Vorstände der dritten medizinischen Klinik und der mit dem
Titel eines ordentlichen Universitätsprof-essors bekleidete außer¬
ordentliche Professor an der Universität in Wien, Prinrarazt
D-r. Franz Chvostek, zum ordentlichen Professor der speziellen
medizinischen Pathologie und Therapie und zum Vorstände der
zu aktivierenden vierten medizinischen Klinik. - — Stadtphysikus
Obersanitätsrat D-r. August Böhm, zum Oberstadtphysikus in
Wien. — Priv.-Doz. Prof. Dr. Fischer in Greifswald zum Lehrer
der Zahnheilkunde in Marburg. — Prof. Winter st ein an Stelle
des verstorbenen Prof. Nagel zum ordentlichen Professor der
Physiologie in Rostock.
*
Verliehen: G eneralstabsarzt Dx. Paul M y r d a c z, aus
Anlaß seines Ueb-ertrittes in den Ruhestand, das Komturkreuz
des Franz Joseph - Ordens. — Den Oberstabsärzten Dr. Friedrich
Maurer und Dr. B. Longchamps de Berier der Orden der
Eisernen Krone dritter Klasse. — Das Ritterkreuz des Franz
Joseph- Ordens : den Oberstabsärzten zweiter Klasse: Dr. Karl
Pavlecka und Dr. Johann Merlin; das Goldene- Verdienst¬
kreuz mit der Krone : den Regimentsärzte-n : Dr. Leon W e i ß-
berg, Dr. Desiderius Fischer, Dr. Johann Hruby, Dr. Georg
David, Dr. Franz Gößl, Dr. Karl Bartäk, Dr. Emmerich
Ho 11 an und Dr. Bernhard Fuchs.
*
Habilitiert: Dr. Günter Freih. v. Saar für! Chirurgie¬
in Graz. — Dr. A. Elfer für medizinische Diagnostik
in Klausenburg. — D-r. Arthur Böhme für innere- Medizin
in Kiel.
*
Gestorben: Dr. Theodor Bakody, gewesener Professor
der speziellen Pathologie ,und Therapie, sowie- Primarius der
homöopathischen Abteilungen dreier Spitäler in Budapest. —
D-r. Arloing, Professor der experimentellen Medizin in Lyon.
*
D r i tter inter nationaler W ohnungshygienekon-
greß. Die Leitung des Kongresses, der; vom 2. bis 7. Oktober
in Dresden tagen wird, gibt nunpi-e-hr den allgemeinen Plan
für die Arbeiten des Kongresses bekannt. Danach gliedert sich
der ganze Kongreß in neun Sektionen, die in vier Gruppen zu¬
sammengefaßt werden. Die- Gruppe A hat die Aufgaben allge¬
meiner Natur zu bearbeiten, sie ist daher die- umfangreichste
und begreift vier Sektionen in sich. Von diesen behandelt die
Sektion 1 die Bebauungsart des Geländes, also alle Fragen des
Gesamtbildes (Städtebau, ländliche Besiedelungsformen, Garten¬
städte usw.), Sektion II befaßt sich mit der Bauausführung (Bau¬
planung, Raumabmessung, Baumaterial, Grundmauern, Keller,
Küchen, Aborte, Zwischendecken, Treppen, Aufzüge, Dächer), der
Sektion III ist die innere Ausgestaltung (Belichtung, Heizung,
Lüftung und Ausstattung) zugewiesen, während Sektion IV speziell
die Wohnungspflege (Reinhaltung, Beseitigung der Abfallstoffe,
Desinfektion) erörtert. Gruppe B, das Wohngebäude betreffend,
gliedert sich in je eine- Sektion für städtische (Sektion V) und
ländliche Wohngebäude (Sektion VI). Der Gruppe C sind die
besonderen Wohnungsformen zugewiesen u. zw. soll Sektion \ II
Schulgebäude, Gefängnisse, Gasthäuser, Krankenhäuser, Badean¬
stalten, Kirchen, Theater usw. behandeln, während sich die
Sektion VIII den Arbeitsräumen für gewerbliche Tätigkeit und
den Verkehrsmitteln (Bahnen, Schiffen, Wagen usw.) zuzuwenden
hat. Gruppe D behandelt die Wohnungsfragen vom verwaltungs¬
technischen Standpunkte aus und die Sektion IX erörtert dem¬
nach die hier einschlagenden Fragen der Gesetzgebung, Ver¬
waltung und Statistik. Als offizielle Sprachen des Kongresses
sind Deutsch, Englisch und Französisch bestimmt worden. Nähere
Auskunft gibt das Generalsekretariat, Dresden, Reichsstraße 4, IL
*
Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Urologie hat
den Beschluß gefaßt, an Stelle des verstorbenen Herrn. Dr. Kap-
s a mm er, Herrn Dr. Viktor Blum als Sekretär provisorisch
510
VV I KN Kit KLINISCHE W UClIENSClililFT. 1911
Nr. 14
in den Ausschuß zu kooptieren. Die Wiener Geschäftsstelle,
an welche alle Zuschriften in Angelegenheit des nächsten Kon¬
gresses zu richten sind, befindet sich von nun an Wien VliL,
Alserstraße 43.
*
III. Internationaler Kongreß für Säuglings¬
schutz in Merlin 1911. [Jeher Einladung des Ürganisatioms-
komitees des 111. Internationalen Kongresses für Säuglingsschutz
(Gouttes de Lait), Berlin, 11. bis 15. September 1911, hat der
Ausschuß des Kaiser- Jubiläumsfonds für Kinderschutz und
Jugendfürsorge beschlossen, sich als Ocsterreichisches Aktions¬
komitee für diesen .Internationalen Kongreß zu konstituieren.
Aus dem Ausschüsse wurde ein kleineres Exekutivkomitee (Ge¬
schäftsstelle) gebildet, dem der geschäftsführende Vizepräsident
des Kaiser- Jubiläumsfonds, Erbgraf Trauttmannsdorff und
Priy.-Doz. Dr. Leopold Moll angehören und das durch Zuziehung
von Fachmännern verstärkt werden soll. Dieser Geschäftsstelle
wird zunächst die Vermittlung des Verkehres zwischen dem Or¬
ganisationskomitee in Berlin und jenen inländischen Amtsstellen,
Korporationen, Vereinen und Persönlichkeiten obliegen, die an
dem Kongresse teilzunehmen beabsichtigen. Alle gegenständlichen
Zuschriften, wie Anmeldungen von Referaten und dergleichen,
wollen an das Präsidium des Kaiser- Jubiläumsfonds für Kinder¬
schutz und Jugendfürsorge, Wien 1., Herrengasse 7, II. Stock,
gerichtet werden.
Leipziger Verband der Aerzte Deutschlands. Der
Vorstand des Leipziger Verbandes hat in seiner letzten Sitzung
beschlossen, dem Dr. Franz- Ried au -Fonds 500 Mark zu
widmen. Diese hochherzige Gabe gibt dem Solidaritätsgefühle
der Aerzte Deutschlands mit ihren Kollegen in Oesterreich ein
glänzendes Zeugnis. Das die Spende begleitende Schreiben stellt
lest, daß das tragische Geschick des unglücklichen Kollegen Doktor
Franz nicht nur die innigste Teilnahme, sondern auch die
lebhafteste Erbitterung gegen seine Peiniger und die bestehenden
ärztefeindlichen Verhältnisse in Deutschland wie in Oesterreich
hervorgerufen hat.
*
Literarische Anzeigen. Von der vierten Auflage des
P e n 7. o 1 d t . - S t i n z i n g s e h e n Handbuches d er gesamt e n
Therapie, ist hei G. Fischer in Jena die 16. Lieferung er¬
schienen. Die I herapie der Hautkrankheiten, unter besonderer
Berücksichtigung der Röntgen- und Radiumhehandlung wird zu
Ende geführt. Einem Kapitel: Behandlung der Muskelerkrankun¬
gen, von Lenhar tz-Stintzing, folgt der Beginn des nächsten
größeren Abschnittes: Behandlung der Erkrankungen des Auges,
von Prof. Eversbusch.
Cholera. Türkei. In Konstantinopel ist seit Ende Januar
die Cholera erloschen, nachdem die Woche vom 16. bis '22. Ja¬
nuar noch einen Zuwachs von 86 (51) Erkrankungen (Todes¬
fällen) gebracht hatte. Insgesamt hat in dieser Stadt die Cholera
seit ihrem Ausbruche bis zu ihrem Erlöschen zu 1404 Erkrankungs¬
fällen geführt, von denen 844 letal endeten. Nachdem Smyrna
seit. 7. Februar cholerafrei schien, sind am 22. Februar neuer¬
lich zwei Choleraerkrankungen daselbst vorgekömmen. Die Ge¬
samtzahl der Erkrankungs- und Todesfälle beläuft sich bisher
auf 343, bzw. 213. ln Damaskus sind Ende Januar t3 Cholera-
iälle, davon 3 mit tödlichem Ausgange, aufgetreten, die zweifel¬
los durch Hedjazpilger eingeschleppt worden sind. Seither ist
diese Lokalepidemie angeblich wieder erloschen. Arabien,
ln Medina wurden in der ersten Hälfte des Februar 211 Cholera¬
todesfälle sichergestellt; in El Tor kommen noch immer verein¬
zelte Choleraerkrankungen auf Pilgerschiffen vor. Auf der Insel
Camaran wurden mehrere Cholerafälle konstatiert.
Pest. Rußland. 'Da bei den ungünstigen sanitären Ver¬
hältnissen in den von Tartaren bevölkerten Teilen der Stadt
Baku das epidemische Auftreten der Pest im Falle der Ein¬
schleppung derselben zu befürchten stellt, wurden, um eine solche
Einschleppung zu verhüten, ‘an drei Punkten der Strecke Derbent
Baku Quarantänestationen organisiert, in welchen clic aus dem
Gouvernement Astrachan kommenden Reisenden, vornehmlich die
Arbeiter, einer ärztlichen Untersuchung und Desinfektion unter¬
zogen werden. Britisch-Indien. Im Hindostan ereigneten
sich in der Zeit vom 1. bis 28. Januar 1911 nachstehende Pest¬
erkrankungen (Todesfälle): in der ersten Woche 15.415 (12.671),
in der zweiten Woche 15.003 (12.143), in der dritten Woche
24.783 (20.167), in der vierten Woche 25.251 (20.929).
Aegypten. In der Zeit vom 2. bis 9. März! 1911 ereigneten
sich in Aegypten 103 (80) Pestfälle (Todesfälle) u. zw. in den .
Provinzen Assiout 4 (l), Assouan 50 (35), Gharhieh 1 fl), I
Ken eh 46 (42), Minieh 2 (l); in der Woche vom 10. bis 16. März
151 (76) Pestfälle (Todesfälle) u. zw. in Alexandrien 1 (0) in
den Provinzen Assiout 9 (5), Assouan 67 (32), Gharhieh 4 m
Keneh 59 (32), Menoufieh 3 (2), Minieh 9 (4). Die Gesamt¬
zahl der seil Beginn des Jahres bis 11. März sicherges tell ten
Pestlällc beträgt 399 gegenüber 104 in der entsprechenden Zeit¬
periode des Vorjahres. China. Nach den letzten amtlichen
Nachrichten beträgt die Gesamtzahl der Todesfälle in der Mand¬
schurei bis zum 12. Februar 14.729, im Gebiete der südmandschu-
riseben Eisenbahn 205. In den Provinzen Kirin und Holung-
kiang (nördliche Mandschurei) sind allein 12.960 Personen der
Pest zum Opfer gefallen; auch gegenwärtig herrscht dort die
Seuche in großer Ausdehnung. Dagegen ist sie in Charbin und
Fudjadjen so gut. wie erloschen, ln Mukden, Changchun und
Paotingfu ist die Sterblichkeit noch immer eine hohe. Peking
ist seit Mitte Februar pestfrei.
*
Die Ges u n d h e itsve r h ä ltnisse der Wiener A r-
beiter schaff im Februar 1911. Bei dem Verbände der Ge
nossenschaftskrankenkassen Wiens und der Allgemeinen Arbeiter-
Krankem- und Unterstützungskasse in Wien, welche einen Stand
von 310.000 (320.000) Mitgliedern, davon 280.000 (290.000) in
Wien aufweisen, betrug im Februar 1911 die Zahl der Erkran¬
kungen mit Erwerbsunfähigkeit in Wien 10.654 (9688). Davon
entfielen auf Tuberkulose der Atmungsorgane 817 (864), andere
Erkrankungen der Atmungsorgane 1481 (1546), Anginen 191 (388),
Lungenentzündungen 48 (32), Influenzen 1146 (617), Erkrankungen
der Zirkulaiinnsorgane 304 (387), Magen- und Darmerkrankungen
518 (681), rheumatische Erkrankungen 866 (820), auf Verletzungen
(Betriebsunfälle) 1859 (1560 Erkrankungen. Die Zahl der Todes¬
fälle betrug im Februar 1911 269 (244). Davon entfielen auf
Tuberkulose 105 (93), andere Erkrankungen der Atmungsorgane
20 (20), der Zirkulationsoigane 45 (51), auf Neubildungen 21 (12),
Verletzungen 10 (7), auf Selbstmorde 8 (9) Todesfälle. (Die
Ziffern in den Klammern beziehen sich auf den Februar 1910.)
Vorläufiges Ergebnis der Sanitätsstatistik bei
d-e,r Mannschaft des k. u. k. Heeres im Januar 1911.
Krankenzugang 93%o, an Heilanstalten abgegeben 38%0, Todes¬
fälle 0-14%« der durchschnittlichen Kopfstärke.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 11. Jahreswochc (vom 12. bis
18. März 1911). Lebend geboren, ehelich 609, unehelich 235, zusammen
844. Tot geboren, ehelich 70, unehelich 19, zusammen 89. Gesamtzahl der
Todesfälle 718 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
184 Todesfälle) an ßauchtyphns 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 7,
Scharlach 5, Keuchhusten 2, Diphtherie und Krupp 3, Influenza 1,
j Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 5, Lungentuberkulose 134, bösartige Neu¬
bildungen 50, Woebenbettfieber 4, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 50 ( — 2), Wochenbettfieber 5 (=), Blattern 0
(0), Varizellen 93 (+ 10), Masern 167 (— 33), Scharlach 129 (+ 20)
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 2 (==), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0)
Diphtherie und Krupp 64 (— 5), Keuchhusten 30 (— 11), Trachom 2 (—6)
Influenza 3 (-1- 2), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Die Gemeinde arztessteile der Sanitätsgemeinde L a m-
b r e c h t e n, politischer Bezirk Ried i. I. (Oberösterreich), kommt an¬
fangs Mai 1911 zur Besetzung. Die Sanitätsgemeinde umläßt derzeit die
politische Gemeinde Lambrechten mit 1500 Einwohnern. Im Laufe des
Jahres 1911 steht jedoch wahrscheinlich eine erhebliche Vergrößerung
der Sanitätsgemeinde durch Anschluß von Teilen zweier angrenzender
Gemeinden bevor. Mit diesem Posten ist ein Fixum von 1000 K nebst
freier Wohnung, bestehend aus fünf Zimmern im Gemeindehause, Garten
und Pferdestall verbunden. Auf Subventionierung des Postens durch den
oberösterreichischen Landesausschuß ist Aussicht vorhanden. Die nörd¬
lich gelegenen Nachbargemeinden Eggerding und St. Marienkirchen mit
4000 Einwohnern sind derzeit ohne Aerzte. Nähere Auskünfte erteilt die
k k. Bezirkshauptmapnschaft Ried i. I. und die Gemeindevorstehung
Lambrechten.
Distriktsarztesstelle für die Gemeinden Metnitz und
Grades mit dem Wohnsitze in Grades (Kärnten). Mit derselben ist
eine Jahresremuneration von 600 K aus dem Landesfonds und 800 K
von den Gemeinden verbunden, sowie der Bezug der für Avmenbehand-
lung, Totenbeschau, Durchführung der öffentlichen Impfung und sonstige
Dienstreisen normierten Gebühren. Die gegenseitige Kündigungsfrist be
i trägt zwei Monate. Der Distriktsarzt hat die Verpflichtung, eine Haus¬
apotheke zu führen. Bewerber um die Stelle werden eingeladen, ihre
vorschriftsmäßig, d. i. auch mit einem ärztlichen Gesundheitszeugnis be¬
legten und gestempelten Gesuche direkt oder im Wege ihrer Vorgesetzten
Behörde bis längstens 1. M a i 1. J. bei der k. k. Bezirkshauptmannschalt
St. Veit zu überreichen, beziehungsweise an dieselbe einzusenden.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 19U
Bll
•4 -
Nr. U
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzie in Wien.
Sitzung vom 31. März 1911.
Verein fiir Psychiatrie and Neurologie in Wien.
INHALT:
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerate in Böhmen.
Sitzung am 17. März 1911.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 31. März 1911.
Vorsitzender: Reg.- Rat Prim. Dr. Adler.
Schriftführer: Priv.-Doz. Dr. A. Fuchs.
Mitteilungen des Vorsitzenden:
1. Einladungen der Deutschen anthropologischen Gesell¬
schaft zur V. gemeinsamen Versammlung der Deutschen und
Wiener anthropologischen Gesellschaft in Heilbronn, 6. bis
9. August 1911, verbunden mit dem Besuch deutscher Städte
(10. bis 15. August).
2. Einladung zum IV. allgemeinen österreichischen Taub-
stumtoenlehrertag (18. und 19. April 1911) in Wien.
Assistent Dr. med. et phil. Hermann Algyogyi: Gestatten
Sie mir, daß ich Ihnen aus Priv.-Doz. Kienböcks Röntgen
Abteilung an der Wiener Allgemeinen Poliklinik einen sehr
seltenen Fall von traumatischer Verletzung der Hand¬
wurzelgegend vorstelle. Der 26jährige Patient ist von Beruf
Luftakrobat und stürzte in Turin am 23. Februar d. J. während
‘iner Produktion im Zirkus von ungefähr neun Meter Höhe hinab
ind fiel auf die Kante der rechten Hand auf. Es trat sofort starke
Schwellung des Handrückens und der Handpurzelgegend ein
mcl Patient konnte nur die Finger bewegen. Drei Tage später
wurde er im dortigen Ospedale Maggiore röntgenisiert ; es wurde
lort. eine „Fraktur des Skaphoids“ diagnostiziert, in Chl'oro-
ormnarkose „der Bruch so gut wie möglich reponiert“ und dann
an Gipsverband angelegt. Anfangs dieses Monats kam er nach
Arien und einige Tage darauf erschien er auf unserer Abteilung
)ehufs neuerlicher Röntgenuntersuchung. Ehe ich jedoch auf
lnseren Röntgenbefund eingehe, möchte ich mit einigen Worten
len klinischen Befund schildern. Die Hand war in toto ge¬
schwollen, namentlich am1 Handrücken und in der Handwurzel-
jegend. An der Volärseite der Handwurzel- und der Vorderarm-
egion war die Schwellung Vorwiegend eine radiale. Druckcmpfind-
ichkeit war namentlich an der Dorsalseite des Schiffbeins und
nn griffelförmigen Fortsatz der Speiche nachweisbar. Die Hand
rurde in leichter Ulnarabduktion gehalten, die Finger in mäßiger
»eugung; sie konnten 'nicht gut gestreckt werden. Bei der Prüfung
ler Beweglichkeit zeigte es sich, daß die Beugung bloß in sehr
eringem Grade ausführbar war, während die Dorsal-, Ulnar- und
tädialbewegung kaum an gedeutet war. Durch Massage hat die
Schwellung inzwischen abgenommen und auch die Beweglichkeit
at sich dabei etwas gebessert.
Die Röntgenaufnahmen ergaben, nun einen sehr interessanten
lefund. Auf der dorsovolaren Aufnahme sieht man außer
iner kleinen Absprengung des Stylus radii eine ungeheilte Navi-
ulärefraktur, ungefähr in der Mitte, mit starker Drehung des
roximalen Bruchstückes um mehr als 90°, so daß dessen Bruoh-
läche statt radialwärts - distalwärts radialwärts - proximalwärts
ieht. Man würde nun fast allgemein danach einfach die
•iagnose einer Navikul'arefraktur mit Absprengung am Stylus
adii stellen. Diese Diagnose wäre aber höchst mangelhaft, denn
ei näherer Betrachtung der Platte zeigt es sich, daß auch eine
ursch iebung von Handwu rzelk n oc hen vorhanden ist. Aber erst
io radio-ulnare Kantenaufnahme der Hand zeigt dies deutlich :
as Mondbein hat seine normale Lage beihehalten, ist aber dabei
rieht gebeugt; dagegen ist das Os cäpitatum, hamatum, triquetrum
nd pisiforme sehr stark dorsal'wärts verschoben ; auch das distale
avikularef'ragment ist gegen das proximale verschoben.
Wir haben es demnach nicht bloß mit einer einfachen Nave
ularefraktur und Absprengung am Stylus radii, sondern gleich
citig auch mit einer dorsalen Luxation der Hand zu tun. Die
ußerl'ich durch Ales sung infolge, der Schwellung allerdings schwer
Mchweisbare Verkürzung zusammen mit der starken Vergrüßc
ung des dorsovolaren Durchmessers der Handwurzelgegend
önnte schon klinisch auf die richtige Fährte führen.
Kienböck will diese Verletzungsart als „dorsale Luxa-
on der Hand in unreiner interkarpaler Gelenkslinie“ bezeichnet
rissen, u. zw. in „periluruir-transnavikularer Trennungslinie“.
«s ist dies eine Abart der reinen porilunären Luxation, welche
'’ine Navrik ularefraktur enthält.
Dr. Leopold Arzt: Meine Herren! Ich möchte mir er
luben, aus der II. chirurgischen Klinik des Hofrates
Höchen egg. über zwei Fälle zu berichten, die beide Indivi¬
duen betrafen, welche in der Kopf- und Gesichts regio n
lokalisierte Geschwülste besaßen.
Im ersten Fall handelte es sich um eine 57jährige Pa¬
tientin, die wegen eines Tumors am linken Scheitelbein,
die Klinik aufsuchte. Sie sehen an den beiden Diapositiven, die
ich mir zu demonstrieren erlaube, deutlich den Sitz der Ge¬
schwulst u. zw. in der Ansicht von vorne und von der1 Seite.
Die Geschwulst war faustgroß, saß beweglich am Schädel mit
einer schmalen Basis auf und hatte harte Konsistenz. Sie bestand
schon seit sechs Jahren, hatte damals die Größe und das Aus¬
sehen einer kleinen Warze und war seit einem Jahre zu der
jetzigen Größe angewachsen. Die Palpation ergab einen außer¬
ordentlich derben und harten, nicht druckschmerzhaften Tumor.
Mit der Wahrscheinlichkeitsdiagnose, daß es sich um einen
epithelialen Tumor, vielleicht um Cylindroma epitheliale handle,
kam1 die Patientin zur Operation,' bei welcher die Basis der Ge¬
schwulst Umschnitten und die ganze Geschwulst, die keinerlei
Fortsetzung in die Tiefe hatte, entfernt wurde; die Wundränder
wurden hierauf zum größten Teile durch Nähte vereinigt und
konnte die Patientin nach wenigen Tagen geheilt die Klinik ver¬
lassen.
Schon am Durchschnitt durch den entfernten Tumor, der
nur mit der Säge herzustellen war, zeigte es sich, daß • es sich
um eine Geschwulst handelte, die Vornehmlich aus Knorpel
und dann auch aus Knochen aufgebaut war.
Sie können an dem’ nach Kais er ling konservierten Prä¬
parat der Geschwulst, welches ich mir herumzugeben erlaube,
leicht die verschiedenen Gewebsbestandteile erkennen: mikro¬
skopisch fanden sich aber auch neben Knorpel' und
Knochen zerstreute Inseln vo'n Fettgewebe und dann
sehr reichlich teils Schlauch-, teils zystenartige Ge¬
bilde, die teils einem1 niedrigen endothelähnlichen Be¬
lag, teils aber auch von einem hohen epithelähnlichen
Z ell be lag ausgekleidet waren.
Wie ihnen das eine Diapositiv zeigt, finden sich diese
den Tumor aufbauenden Gewebsarten, Knorpel1 und Knochen
und schlaucbartigen Gebilde im wirrsten Durcheinander und
wir haben es daher mit einer Mischgesch wulst vom
Typus der ParotisgeschwüTste im1 Sinne Wilms zu
tun. Insbesondere glaube ich, daß Sie diese histologischen Ver¬
hältnisse in dem nach van Gieson gefärbten Mikrophotogramm
deutlich erkennen können.
Solche Geschwülste finden sich nicht nur in der Parotis-
gegend, sondern an dein verschiedensten Stellen des Gesichtes
und würden — ich will aluf die Literatur nicht näher eingehen —
v. Pupovac, Volkmann, Semjoneff u. a. auf der Lippe,
am harten Gaumen usav., beschrieben.
Heber solche Tumoren am behaarten Schädel konnte ich
nur zwei Angaben in der Literatur finden. Die eine von einem
italienischen Autor Penis i hemihrend, der einen gleichen Tumor
unter dem Namen Endotheliom, der in der rechten Fronto¬
parietalg egend saß und zirka mandelgroß Avar, beschrieb
und eine zAveite kleine Notiz findet sich in einer vor kurzen:
erschienenen Arbeit v. Hansemarins, über die Histogenese
der Parotistumoren überhaupt, in welcher er einen haselnu߬
großen Tumor am Kopf.e eines Mannes, der als Atherom
entfernt wurde, erwähnt.
Der zweite Fall, über den ich kurz berichten möchte,
betrifft einen 68jährigen Mann, der mit einem klein apfel¬
großen Tumor auf der Nasenspitze, der exquisit gestielt
aufsaß, die Klinik aufsuchte.
Der Tumor bestand als kleines Gewächs seit zirka sechs
Jahren, war ebenfalls im letzten Jahre etwas rascher gewachsen
und an der Oberfläche im geringen Grade exulzeriert und von
mäßig harter Konsistenz.
Auch diese)- Tumor wurde mit der Wrahrscheinlichkeits-
diagnose einer mesodermalen Geschwulst - — man dachte auch
an eine Rhinophym - operiert u. zw. wurde er an der Basis
in der normalen Haut in Schlei ch scher Anästhesie Um¬
schnitten und dann entfernt.
Am Schnitt durch die GeschAvnlist, die ich mir herum¬
zugehen erlaube, war schon die weiße, w <* i r h o S ch n i 1 1 fl ach e
I auffallend.
513
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. U
Mikroskopisch zeigte es sich nun, daß sich' der Tumor
in seiner Gänze aus Plattenepithelien aufbaut, die in
schrankenloser Weise gewuchert sind und einte ausgesprochene
Polymorphie und Polychromasie zeigen.
Dabei finden sich stellenweise — an einzelnen Schnitten
recht zahlreich — einzelne Zellen verhornt, aneinander-
gelagert und typische Hornperlen bildend, so daß an der
Diagnose, daß es sich um ein verhornendes Platt enepii-
thelkarzinom handelt, wohl nicht zu zweifeln ist.
Ich möchte mir nur noch erlauben, einige Lumierephoto-
graphien des Falles u. zw. die eine in der Ansicht von vorne
mit dem bis über die Oberlippe herabhängenden Tumor und die
zweite in seitlicher Ansicht, um den gestielten Sitz desselben
zur Anschauung zu bringen, zu zeigten. Auf den beiden folgen¬
den Bildern, einem Diapositiv und einem Lumierephotogramm,
kann man wohl’ die histologischen Verhältnisse des Tumors deut¬
lich erkennen.
Ich habe* mir erlaubt, Ihnen, meine Herben, diese beiden
Fälle zu demonstrieren, weil sie beide Tumoren vorstellen
mit einer nicht gewöhnlichen Lokalisation und in
beiden Fällen erst durch die histologische Unter¬
suchung die richtige Diagnose gestellt werden
könnt e.
Priv.-Doz. Dr. Barany 'demonstriert d i e temporäre reiz¬
lose Ausschaltung der Kleinhirnrinde mitels Ab¬
kühlung, nachgewiesen durch den Zeigeversuch.
Meine Herren! Ich erlaube mir, Ihnen über Versuche von
temporärer1 Ausschaltung bestimmter Bezirke des Kleinhirns durch
Abkühlung zu berichten. Es handelt sich um Versuche am Men¬
schen und ich muß vorweg nehmen, daß bei wiederholter Aus¬
führung dieses Versuches an verschiedenen Personen nicht die
geringste Schädigung der Patienten sich gezeigt hat. Wie Ihnen
vielleicht bekannt ist, hat Trendelenburg auf dem inter¬
nationalen Physiologenkongreß in Wien 1910 seine Methode der
reizlosen Ausschaltung des Großhirns durch Abkühlung demon¬
striert. Trendelenburg entfernte bei Tieren den Schädel¬
knochen über der Extremitätenreeion, legte die Dura frei und
setzte nu nauf die Dura eine Art Eisbeutel, genauer gesagt, eine
Gummikapsel, durch welche eine Kältemischung von ca. — 3° C
zirkulierte. Kühlte er nun auf diese Weise die Oberfläche des
Gehirns ab, so trat, wenn die Abkühlung z. B. das Zentrum
des Armes betraf, ohne jede Reizerscheinung eine Monoplegie
des kontralateralen Armes auf, die so lange anhielt, als die
Eislösung zirkulierte. Sowie er wieder körperwarmes Wasser
zirkulieren ließ, stellte sich die Funktion wieder her. Trendel e n-
burg hat bei stundenlangen Versuchen am Tiere keine Schädi¬
gung der Funktion gesehen. Ich wurde durch Priv.-Doz. Doktor
Kollmer auf diese Versuche aufmerksam gemacht, der gelegent¬
lich einer Diskussion über Kleinhirnstörungen niteinte, man könnte
ja diese Methode auch am Kleinhirn versuchen. Ich bin nun
vorsichtig daran gegangen, diese Methode am menschlichen Klein¬
hirn anzpwenden. Zunächst handelte es sich darum, eine ge¬
eignete Versuchsperson zu finden. Einte solche sieht mir' zur
Verfügung Es ist ein junger Bursche, den ich schon in dieser
Gesellschaft demonstriert habe, ein Fäll, bei welchem ich eine
rechtseitige Sinusthrombose und einen rechtseitigen Kleinhirn-
abs'zteß operiert und geheilt hatte. Boi diestem1 Patienten liegt das
Kleinhirn, nur von Dura und einer, dünnen Haut bedeckt, hinter
dem rechten Ohre im Umkreise von über Fünfkronenstückgröße
frei. Ich habe nun bei diesem Patienten meine; Versuche angestellt.
Zunächst verwendete ich Wasser von 20° und spritzte die Haut
längere Zeit hindurch an. Es zeigte sich jedoch kein Effekt.
\uch als ich Wasser von 12° f! nahin1, ergab sich kein Effekt.
Der Patient vertrug aber die Abkühlung ausgezeichnet und hatte
keinerlei Beschwerden, weder vor, noch nach dem Versuche.
Da auch 12° C keine Reaktion ergab, so ging ich daran, die
Haut mittels Chloräthylsprays zu gefrieren. Ich ließ zuerst eine
halbe Minute den Spray wirken, aber ohne Erfolg'. Auch nach
diesem Eingriff hatte Patient keine Beschwerden. Nun steigerte
ich die Zeitdauer und hei zwei Minuten währender Einwirkung
habe ich nun ganz deutliche Ausfallserscheinungen erhalten. Auch
adzt hat Patient weder während der1 Abkühlung, noch nachher
irgendwelche subjektive Beschwerden bis auf die Kälteempfindung
und ein leichtes Brennten der Haut während des Versuches. Fm
die Ausfallserscheinungen zu verstehen, muß ich wenige Worte
vorausschicken. Wenn ich einen normalen Menschen hei ge1-
schlossenen Augen auf meinen Finger zeigen lasse, so gelingt
dies ohneweiters. Bei Wiederholung des Zeigens trifft er meinen
Finger stets prompt. Rufe ich jetzt durch Drehen oder Aus-
spritzen einen Nystagmus nach rechts hervor, so zeigt der Pa¬
tient nach links vorbei. Erzeuge ich einen Nystagmus nach links
so zeigt er nach rechts vorbei. Es sind zwei Zentren in der
Kleinhirn rinde vorhanden, deren eines das Abweichen nach rechts
deren anderes das Abweichen nach links bewirkt. Ist durch eine
Erkrankung eines dieser Zentren gelähmt, z. B. das Zentrum
für die Linksbewegung, dann tritt beim Zeigen (in vertikaler
Richtung) spontanes Vorbeizeigen nach rechts auf. Das heißt
wenn ich 'den Patienten ohne vorhergegangene Drehung auffordere
bei geschlossenen Augen meinen1 Finger zu berührten, dann den
Arm zu senken und ihn wieder zu meinem Finger1 zu führen,
so zeigt er nach rechts vorbei.' Sie können sich vors teilen, daß
die beiden Zentren wie zwei Zügel wirken, die den Arm gleich
mäßig ionisieren, so daß er bei Bewegungen in vertikaler Bi de
tung mit Leichtigkeit immer die intendierte Bewegung wiederholen
kann. Fällt aber jetzt der eine Zügel weg,, so muß Vorbeizeigen
in der Richtung des anderen Zügels auftreten. — vorausgesetzt,
daß die intendierte Bewegung dieselbe bleibt. Selbstverständlich
läßt sich der Ausfall des linken Zügels auch dadurch nachweisen.
daß ich einen Nystagmus nach rechts hervorrufe. Während der
Normale dabei nach links vorbeizeigt, fehlt bei diesem Patienten
das Vorbeizeigen nach links und er zeigt richtig oder sogar nach
rechts. Beim Patienten, den ich Ihnen vorstelle, kann ich nun
durch Abkühlung einer bestimmten Partie der Kleinhirnrinde
rechts, unmittelbar hinter dem Ansatz der Ohrmuschel, das Zen¬
trum für die Linksbewegung der oberen Extremität lähmen, so
daß jetzt einerseits spontanes Vorbeizeigen nach rechts auftritt
und andrerseits nach Linksdrehung, wenn ich einen Nystagmus
nach rechts hervorgerufen habe, die Reaktion nach links ausbleibt.
Diese Lähmung dauert nur zwei bis drei Minuten, nach zwei
Minuten Abkühlung mittels Chloräthyl. Dann, ist wieder das nor¬
male Verhalten vorhanden. Unmittelbar hinter diesem Zentrum
für den rechten Arm befindet sich das Zentrum für die Links¬
bewegung des rechten Fußes. Kühlte ich dieses Zentrum ah.
so bleibt der Arm unbeeinflußt und es tritt jetzt Vorbeizeigen des
rechten Fußes und Ausfall der Linksreaktion im rechten Fuße
auf. Ich habe schon theoretisch dieses Verhalten postuliert. Beim
vorgestellten Falle habe ich; wie erwähnt, einen Kleinhirnabszeß
operiert. Zur Zeit der Fernwirkung des Abszesses, der unmittel¬
bar vor dein durch Abkühlung nachgewiesenen Armzentrum ge¬
legen war, bestand, auch eine Lähmung des1 Armzentrums für
die Bewegung nach links und es bestand spontanes Vorbeizeigen
nach rechts, Fehlen der Reaktion nach links. Als dann aber
der Abszeß ausheilte und die Fernwirkung verschwand, stellte
sich die Reaktion im rechten Arm nach links' wieder ein. Ich
muß also annehmen, daß das1 Zentrum für die Linksbewegung des
Armes unmittelbar vor oder hinter dem Abszeß gelegen ist.
Erscheinungen von seifen des Fußes warten bei diesem Patienten
auch zur Zeit der schwersten Erscheinungen niemals nachweis¬
bar. Es entspricht dies der Tatsache, daß das Fußzentrum weiter
rückwärts gelegen ist. Weitere Beobachtungen müssen lehren,
wo die anderen, theoretisch zu fordernden Zentren für die Be¬
wegungen der Verschiedenen ExtremitätengeTenke in verschiedenen
Richtungen in der Kleinhirnrinde lokalisiert sind.
Prof. Ehrmann stellt vor:
1. Eine Patientin mit fast die, ganze Haut einnehmen¬
den Formen von Hauttub e'rkul'ose.
Bei dieser Patientin besteht ein ausgesprochener Infantilis¬
mus. Es wird Ihnen klär sein, wenn, ich hervorhebe, daß die
Patientin, deren Aussehen demjenigen eines zwölfjährigen Kindes
entspricht, bereits 17 Jahre vorüber ist; Patientin hat nicht
menstruiert und die sekundären Geschlechtsmerkmale sind nicht
einmal andeutungsweise entwickelt. Sie sehen an dieser Patientin
eine seltene Kombination verschiedener Formen der Hauttuber-
kul’ose. In der Höhe der Kinnfurche zieht quer über den Hals
ein Ring dicht nebeneinander stehender Narben. Neben diesen
Residuen früherer Skrophul'odermen sehen sie noch ein frisches
Skrophulodermä. Die teicigc Schwellung des Gesichtes ist wohl
zum1 Teil1 auf die nach Verödung der Lvmphdrüsen entstandene
Stauung zurückzuführen, zum Teil ein Folgezustand wiederholt,
überstandener Erysipele des - Gesichtes.
Die zweite Form der Hau ttuberku lose wird durch einen
Liehen s er oph u l'os oru m von ungewöhnlicher Ausbreitung
und seltenen Lokalisationsstellen dargestellt; Nicht nur der ganze
Stamm und die Extremitäten sind mit den charakteristischen
'bläulich- und bräunlich roten Scheiben, die dicht mit weißen
Schuppen besät, sind und hei näherer Besichtigung die Zusammen¬
setzung aus kleinsten Knötchen erkennen lassen, bedeckt, son¬
dern diese Effl'oreszenzen finden sich an der Stirnhaargrenze, an
den Augenbrauen und Lidern, an den Ohrmuscheln, sowie in der
Umgehung der Ohren, an der Oberlippe und an den Wangen.
Drittens sehen Sie an den Fußsohlen einen exnlzerierten
Lupus verrucosus. ’
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
513
Viertens zeige ich Ihnen bei dieser Patientin die Zeichen
einer beginnenden Sklerodermie. Neben einer Sklerodaktylie
erweisen sich auch die Sehnen der Unterarme verdickt und der
Hals zeigt die von mir wiederholt hervorgehobene Pigmentzeich¬
nung. Trotz dieser Affektion ist die der inneren Organe (der
Lungen) gering, wie es bei bazillenarmen Formen, welche die
hier vorhandenen Hauterscheinungen darstellen, vorkommt. Es
fehlt hier die bazillenreiche Miliartuberkulose der Haut, bei der
die Erkrankung der Lungen oder Abdominalorgane immer eine
intensivere ist.
2. Einen Fall von ungewöhnlich ausgedehnter gummöser
H au t er k r a nku ng.
Der Kranke ist 47 Jahre alt, akquirierte vor 23 Jahren die
Lues und wurde damals mit Schmierkur behandelt (wie exakt
diese durchgeführt wurde, läßt sich nicht konstatieren). 1899
bekam er Geschwüre auf den Unterschenkeln, deren Narben auch
heute zu sehen sind. 1893 bis 1894 serpiginöse Geschwüre in der
Gegend des Mons- veneris, die nach der Narbenform zweifellos
serpiginöse Guminen waren. Die jetzig e ausgedehnte Affek¬
tion besteht seit 1909 ; sie nimmt die ganze linke Hals- und
Brustgegend ein, besteht aus dichtgedrängten, gegen die gesunde
Haut sich scharf festonartig begrenzenden, in, der Mitte ulzo-
rierten Knoten. Seither ist keine Behandlung vorgenommen
worden. An dem Falle ist das bemerkenswert, daß, während
bei solchen ausgedehnten, jahrzehntelang bestehenden unbehan¬
delten Erkrankungen höchst selten; metaluetische Erkrankungen
des Nervensystems zu beobachten sind, hier eine beginnende
Tabes durch reflektorische Pupillenstarre und Steigerung der Pa-
tellarreflexe sich kundgibt. (Diagnose auch von Professor
Hirsch! bestätigt.) Bekanntlich wird von neurologischer Seite
ein gewisser Antagonismus zwischen Haut- und Nervensystem
angenommen und in; der Tat habe ich nur wenige Fälle (zwei bis
drei) dieser Art, wie der heute vorgestellte, gesehen. Adrian
hat solche Fälle gesammelt.
Diskussion über den Vortrag von Dr. Julius Neumann
und Dr. E. Herr mann: Biologische Studien über die
weibliche Keimdrüse.
Prof. H. Albrecht. (Siehe unter den Originalien dieser
Nummer.)
Dr. Lehndorff: Die wichtigen und sehr interessanten
Ergebnisse der Forschungen von Neumann und Herrmann
werfen ein charakteristisches Licht auf manche serologische Be¬
funde. Der chemische Nachweis der Lipoidvermehrung im Blute
der Schwangeren kann zur Erklärung einiger mittels biologischer
Methoden gefundener diesbezüglichen Tatsachen beitragen.
Bei den von Bauer und mir unternommenen Studien über
die Kobragifthämolyse war uns aufgefallen, daß die intensivsten
Reaktionen, d. h. die stärkste Aktivierung der Hämolyse durch
die Sera von Gebärenden und Schwangeren auftrat. Wir gingen
dieser Erscheinung nach und fanden bei der Untersuchung von
150 Seris im Blute von Gebärenden konstant die
erhöhte Fähigkeit der Kobragift-Hämolyseakti¬
vierung und schlossen daraus auf eine gesetzmäßige
Vermehrung der lösungsfördernden Substanzen
im Schwange rense rum. Dasselbe fand sich im Serum
Gravider aus den letzten Monaten und bei stillenden Frauen.
Hingegen fehlte die Lösungsförderung im Blute
von Neugeborenen. (Folia serologica 1909, Bd. 3. Das
Verhalten des Serums Schwangerer zur Kobragift-Pferdeblut¬
hämolyse.)
Bezüglich der Natur der aktivierenden Substanzen mußten
wir nach allen über die Kobragifthämolyse vorliegenden Erfahrungen
annehmen, daß es sich um lipoid artige Körper handelt.
Insoweit es sich um die Konstatierung der Lipoidver¬
mehrung überhaupt im Blute während der Gravidität handelt,
befinden wir uns in erfreulicher Uebereinstimmung mit den durch
exakt chemische Methodik erhobenen Befunden von Neumann
und Herrmann.
Dagegen steht unsere Meinung über das Wesen dieser
lipoidartigen Körper zu den Befunden der genannten Autoren in
weitgehendem Gegensätze. Die Untersuchungen von Kyes und
Sachs haben gezeigt, daß die Aktivierung der Kobragifthämo¬
lyse durch Lezithin bewirkt wird, Noguchi konnte dasselbe
für Fette und Fettsäuren nachweisen. In vitro wird die Kobra¬
gifthämolyse durch ganz geringe Mengen des käuflichen Lezithins
(O'l einer Verdünnung von 1 : 15.000) prompt aktiviert. Ander¬
seits wird dieselbe durch Cholesterin gehemmt (Noguchi). Auf
Grund des mittels biologischer Methodik gefundenen Antagonismus
zwischen der Wirkung des Lezithins und Cholesterins auf die
Kobragifthämolyse müßten wir, in vorsichtiger Vermutung, uns
dahin äußern, daß der die Hämolyse aktivierende Körper
im Serum der Schwangeren ein Lipoid von lezithinartiger
Struktur ist.
Nun ist aber durch die Untersuchungen von Neumann
und Herr mann und S. Fränkel eine Vermehrung eines
Cholesterinesters im Schwangerenblut festgestellt, eines
Körpers, der nach den vorliegenden Erfahrungen die Kobragift¬
hämolyse nicht nur nicht fördert, sondern sogar hemmt. Weiterhin
wird von den Autoren ausdrücklich das Fehlen des Lezithins in
ihren Extrakten betont. Durch diese Befunde erscheint das Phä¬
nomen der außerordentlich starken Aktivierung der Kobragift¬
hämolyse durch Schwangerenserum ungeklärt. Wir können gegen¬
wärtig, da ja unsere Kenntnisse über die Lipoidsubstanzen im
Blute noch lange nicht abgeschlossen sind, zur Deutung der von
uns gefundenen Tatsache der Kobragiftaktivierung durch Schwan¬
gerenserum, uns nur dahin äußern, daß in der Schwangerschaft
wohl Veränderung und Vermehrung verschiedenartiger Lipoide
stattfinden dürfte und daß der die Lyse aktivierende Körper
möglicherweise unter den in der Mutterlauge der Cholesterin¬
kristalle vorhandenen Substanzen enthalten sei, die Neumann
und Herr mann durch die Platinchloridreaktion charakterisiert
haben und die S. F rän kel vermutungsweise als ungesättigte
Phosphatide anspricht
Dr. Erwin v. Graff: Die Untersuchungen von Neumann
und Herr mann bedeuten eine Bestätigung und Ergänzungen
auf chemischem Wege für Tatsachen, die seit einigen Jahren auf
dem Gebiete biologischer Forschung bekannt geworden sind. Seit
den Untersuchungen von Kyes und Flexner wissen wir, daß
das Kobragift zwar allein nicht imistande ist, Blutkörperchen
aufzulösen, daß es aber gelingt, die lösende Fähigkeit desselben
durch Zusatz von Lezithin zu aktivieren.
Kyes fand, daß die Blutkörperchen gewisser Tierarten ge¬
löst, andere wieder nicht gelöst werden. Der Lezithinversuch
deutet daraufhin, daß das Ausbleiben der Lösung auf einen
Mangel, das Auftreten der Hämolyse dagegen auf das Vorhanden¬
sein gewisser Lipoide zurückzuführen ist.
Diese Versuche wollten Kyes und Sachs für die klinische
Diagnostik verwerten, indem sie Blutkörperchen vom Menschen
bei verschiedenen Infektionen auf ihre Resistenz gegenüber der
Kobragifthämolyse prüften. Zu abschließenden Resultaten sind
diese Autoren zwar nicht gekommen, meinten aber, daß es viel¬
leicht doch auf diesem Wege gelingen würde, eine verschie¬
dene Resistenz der Blutkörperchen bei den verschiedenen Erkran¬
kungen festzustellen.
Much wollte auf diese Weise zu einer Diagnose der Psy¬
chose gelangen.
Kraus, Pötzl, Ranzi und Ehrlich haben sich dann
systematisch mit der Resistenz der roten Blutkörperchen von
karzinomkranken Menschen und Tumormäusen beschäftigt und
konnten zeigen, daß die Blutkörperchen von Tumorkranken in
73% ein abweichendes Verhalten gegenüber der; Kobragifthämo-
lyse aufweisen, während die Blutkörperchen von normalen Men¬
schen im Resistenzversuch nur in 20% von der Norm abweichen.
Nach Untersuchungen von Weil dürften1 auch die Erythro¬
zyten von syphilitischen Menschen ein anderes Verhalten zeigen
als die von normalen.
Schon diese Resultate weisen darauf hin, daß die Blutkörper¬
chen bei verschiedenen Erkrankungen von Menschen und Tieren
einen anderen Lipoidgehalt besitzen, als die von normalen.
Untersuchungen, die ich gemeinsam mit Kraus über das
Verhalten von Karzinomblut- und Nabelschnurserum gegenüber
menschlichen Karzinonizellen ausgeführt und hier besprochen
habe, gaben Veranlassung dazu, auch die Blutkörperchen von
Graviden und aus dem Nabelschnurblut mittels Kobragift auf
ihre Resistenz zu prüfen.
Die gemeinsam mit Dr. v. Zubrzycki an einer größeren
Anzahl von Fällen gemachten Versuche, haben nun in der Tat
ergeben, daß die Nabelschnurblutkörperchen, so wie dies von
K raus und seinen Mitarbeitern für K ar z i n o m blütk ö rper ch e n nach¬
gewiesen wurde, nur in noch weit stärkerem Maße eine erhöhte
.Resistenz gegen Kobragift besitzen, als die Blutkörperchen ge¬
sunder Menschen und schwangerer Frauen. Wir glaubten dieses
Verhalten der Erythrozyten, das sich eng an die Befunde von
Bauer und Lelindorff anschließt, wie diese Autoren auf ein
Plus an Lipoiden, oder eine für die Hämolyse günstigere Mischung
derselben im mütterlichen gegenüber dem nichtgraviden und kind¬
lichen Blut, zurückführen zu müssen.
Wenn nun tatsächlich, wie Neumann und Herrmann
mitgeteilt haben, eine chemisch nachweisbare Anreicherung de«
Blutes an lipoiden Substanzen während der Schwangerschaft
besteht, das kindliche Blut dagegen arm an solchen Stoffen
ist, so wäre damit der exakte chemische Beweis für die von
514
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. U
uns auf Grund biologischer Untersuchungen gehegte Vermutung
gegeben. ,
Aber nicht nur an Blutkörperchen ließ sich mittels der
Kobragifthämolyse eine Verschiedenheit des Lipoidgehaltes nach
weisen, sondern auch im Serum.
Calmette hat als erster gezeigt, daß Serum von tuber¬
kulösen Menschen, im Gegensatz zum Serum normaler Menschen,
imstande ist, das Kobragift zu aktivieren, indem Pferdeblut¬
körperchen mit 'Normalserum und Kobragift versetzt, keine Lösung
zeigen, während das Serum Tuberkulöser das Kobragift aktiviert
und so Lösung herbeiführt.
Bauer und Lehndorff haben dann ganz ähnliche Unter¬
schiede zwischen dem Serum gravider Frauen und dem Nabel¬
schnurserum ermittelt.
Die von uns gefundenen und vorhin erwähnten Beziehungen
zwischen Karzinomserum und dem Serum Hochschwangerer, be¬
züglich der Karzinomzellreaktion, ließen uns vermuten, ob nicht
auch in bezug auf die Aktivierung der Kobrahämoiyse sich ähn¬
liche Abweichungen von der Norm würden nachweisen lassen,
wie von Bauer und Lehndorff für das Serum schwangerer
Frauen.
Die einschlägigen, derzeit noch nicht abgeschlossenen Ver¬
suche, die Kraus, Ranziund ich gemeinsam ausgeführt haben,
zeigen tatsächlich, daß Karzinomserum in der größten Zahl der
Fälle sich anders gegenüber der Kobragift -Pferdebluthämolyse
verhält, als normales Serum.
Es zeigt sich, wie uns die bisherigen Versuche lehren, daß
sich das Karzinomserum so verhält wie das Serum Tuberku¬
löser (nach Calmette) und das Serum gravider Frauen nach
Bauer und Lehndorff. Vergleicht mian quantitativ Serum
von normalen Menschen und Karzinomkranken, bei Zusatz von
Kobragift und Pferdeblutkörperchen, so zeigt sich, daß die Pferde¬
blutkörperchen dort, wo Karzinomserum zugesetzt wurde, früher
gelöst werden als bei Zusatz von normalem Serum.
Es wäre möglich, daß die früher besprochene Resistenz¬
erhöhung der roten Blutkörperchen Karzinomkranker gegen Kobra¬
gift einerseits, die Fähigkeit des Karzinomserums, die Kobra¬
hämolyse zu beeinflussen anderseits, klinisch praktische Ver¬
wertung finden könnten, worüber aber erst weitere Untersuchungen
Aufschluß geben können.
F. Bauer bemerkt, daß er die Much sehe, sogenannte
Psychoreaktion, die dieser irrtümlich als charakteristisch
für Dementia praecox beschrieben hat, regelmäßig im Nabel¬
schnurserum des Neugeborenen nachgewiesen hat. Diese Reak¬
tion, ebenso wie die von Lehndorf f und Bauer im Schwan-
gerenserum gefundene, gestattet in jedem Falle, Serum des Neu¬
geborenen von dem der Schwangeren oder Gebärenden einwandfrei
und sicher zu unterscheiden. In beiden Reaktionen wird nur das
Serum1 gebraucht, während Neumann und Herrmann auch die
Blutkörperchen bei ihrer Reaktion mit verwenden. Das mag viel¬
leicht Differenzen im Befunde der Lipoidart erklären.
Dt. 0. Fellner: Ich möchte mir erlauben, gegen die zwar
sehr vorsichtig vorgebrachte Schlußfolgerung der Herren N eu-
mann und Herr man In Stellung zu nehmen. Sie schlossen
aus den Vorgängen bei der Menstruation, Kastration, nach Röntgen¬
bestrahlung und in der Schwangerschaft, daß die hier in Beob¬
achtung tretende Cholesterinesterämie auf Sekretionsstillstand der
Follikel beruhe. Die Röntgenbestrahlung ist besser auszuschließen,
da durch die Röntgenstrahlen, wie wir wissen, chemische Ver¬
änderungen des Blutes gesetzt werden, wobei Körper entstehen,
die dem Cholesterinester ziemlich nahe stehen dürften. Es wären
die Röntgenbefunde nur zu verwerten, wenn Kontrollversuche
ergeben würden, daß bei Abdeckung der Ovarien keine Chol'esterin¬
esterämie auftrete. Zudem kommt ja die Röntgenbestrahlung einer
völligen Kastration gleich. Im Intervall wurde von den Herren
( Cholesterines terämie in mäßiger Menge gefunden, die nach den
ersten Tagen der Menstruation abnimmt. Die Ansichten hinsicht¬
lich der Tätigkeit der Ovarien in der Menstruation gehen stark
auseinander. Mit der am meisten propagierten Theorie, daß der
Hochstand der Eierstocksekretion kurz vor und im Beginne der
Menstruation statthat, stimmt der C h oles teri nes t erärn iebefu n d nicht
ganz. Doch fällt dies vielleicht weniger schwer ins Gewicht als der
Umstand, daß Follikel degeneration im Intervall nicht vorkommt,
höchstens geht, der eine Follikel zugrunde, aus dem sich das Corpus
luteum bildet. Das Schwergewicht scheinen die Herren Neu¬
mann und Herrmann auf die Identität der Befunde unmittel¬
bar nach der Kastration und in der Schwangerschaft zu legen. Sie
schließen daraus, daß auch in der Schwangerschaft der die
< holesterinesterämie hemmende Faktor zugrunde gehe und da
dies die interstitielle Drüse und das Corpus luteum nicht sein
könne, schließen sie diese beiden Gebilde in einer Anmerkung
vollkommen aus und rekurrieren auf die Follikel. Daß diese
letzteren in der Schwangerschaft in größerer Zahl zugrunde gehen,
kann ich am allerwenigsten leugnen, da ich dieses Vorkommnis
ausführlich beschrieben habe1. Aber es geht nur ein Teil der
Follikel zugrunde, es könnte sich also nur um eine Hyposekretiun.
nicht aber um einen Stillstand der Sekretion der Follikel handeln
und trotzdem ist die Cholesterines terämie bedeutender als nach
der Kastration. Dies die erste, vielleicht weniger ins Gewicht
fallende Unstimmigkeit. Es ist nun aber weiters von Seitz und
mir nachgewiesen worden, daß der Follikelschwund nur etwa bis
zum achten Monate andauert, dann aber sieht man wieder recht
zahlreiche wachsende normale Follikel. Sind doch auch sprun^-
reile Follikel in der Schwangerschaft wiederholt beobachtet
worden. Einen weiteren Beweis für die Neubildung und dos
Heranwachsen der Follikel bildet die Tatsache, daß Frauen ebenso
wie die tierischen Weibchen unmittelbar nach der Geburt kon¬
zipieren können. Es ist am dritten Tage nach der Geburt eine
Konzeption beobachtet worden. Wir müßten also eigentlich unter
Rücksichtnahme auf die Neubildung von Follikeln im letzten
Drittel der Schwangerschaft eine Abnahme der Cholesterinester¬
ämie beobachten. Nach Neumann und Herrmann nimmt
aber die Cholesterinesterämie gegen Ende der Schwangerschaft
ganz1 bedeutend zu und erreicht eine solche Höhe, wie nicht
einmal nach der Kastration. Es kann also schon aus diesem
Grunde der Follikel nicht für die Cholesterinesterämie verantwort¬
lich gemacht werden. Einwandfrei hätte dies durch Kontroll¬
versuche nachgewiesen werden können. Follikelflüssigkeit hätte
bei kastrierten Fieren und trächtigen die Cholesterinesterämie
aufheben müssen. Der Versuch wurde von den Herren Neumann
und Herrmann nicht gemacht und ich konnte mir in der Kürze
der Zeit keine passenden Ovarien verschaffen. Aber ich habe
weitere Kontrollversuche angestellt. Daß das trächtige Ovarium
die Cholesterinesterämie nicht aufhebt, haben bereits die Herren
Neumann und Herr mann gezeigt. Aber auch das nicht-
trächtige Ovarium kann dies, bei kastrierten und trächtigen nicht,
wie ich mich in einer freilich sehr beschränkten Anzahl von
Versuchen überzeugen könnte. Eines ist. mir aufgefallen, daß die
Herren bei Betrachtung der Verhältnisse in der Schwangerschaft,
an ein so lipoidreiches Organ wie die Plazenta nicht gedacht
haben. Ich habe zehn verschiedenen Tieren Plazenta injiziert
und fünfmal sehr starke, fünfmal schwächere Cholesterinesterämie
beobachtet. Es liegt daher nahe, die Plazenta als eine Quelle
des Cholesterinesters in der Schwangerschaft anzusehen. Fragen
wrir uns aber, was denn allen diesen Zuständen, insbesondere der
Kastration und der Schwangerschaft gemeinsam ist und als
Quelle des Cholesterinester s angesehen werden kann, so
werden wir vor allem auf die Nebenniere hingewiesen. Die Herren
haben in ihrer prächtigen Arbeit ja alles aus der Literatur zu-
sammenget ragen, was direkt auf die Nebenniere hinweist, so
daß es mir eigentlich rätselhaft erscheint, warum sie auf die
Follikel verfallen sind. Sie erwähnen die Hypertrophie der Neben¬
niere in der Schwangerschaft und nach der Kastration, d. i. auch
eine Verbreiterung der Rindenschicht, den starken Cholesterin¬
estergehalt nach Biedl und weisen darauf hin, daß sich nor¬
malerweise Cholesterinester im Blute nicht findet, man müsse
diesbezüglich Gravide und Kastrierte untersuchen. Da sie nun
tatsächlich C holesterinesterämie bei solchen Zuständen gefunden
haben, wo eine Vergrößerung der Nebennierenrinde vorliegt, so
ist es doch am Wahrscheinlichsten, die Verbreiterung der
Nebennierenrinde als Ursache der Chol es teri n es ter-
ämic anzüsehen. Auch bei den Vorgängen der Menstruation
ist etwas Aehnliches möglich. Cholesterinesterämie sehen wir
in Zunahme begriffen, solange der Blutdruck ansteigt und wahr¬
scheinlich geht mit der Hypertrophie des Markes die der Rinde
Hand in Hand. Freilich muß auch die Hypertrophie der Neben- -
niere ihre Ursache haben. Sie liegt vielleicht im Ovarium in dem
Sinne, daß sowohl Wegfall, als auch Steigerung der Sekretion
des Ovariums zur Hypertrophie der Nebenniere führt, wie ich dies
schon einmal auszufiihren Gelegenheit hatte. Es scheinen also
die schönen I ntersuehungon der Herren Neumann und Herr¬
mann daran! hinzuweisen, daß die Cholesterinesterämie ihre Ur¬
sache in der Hypertrophie der Nebenniere, in der Schwanger¬
schaft vielleicht auch in der Plazenta hat.
Dt. 0. Frankl: Von den interessanten Ausführungen des
Herrn N e n m a n n möchte ich bloß einen Punkt, berühren, nämlich
die Lipoidanreicherunig bei der Eklampsie. Ich habe gemeinsam
mit J. Richter an der Klinik Hofrat Schauta im letzten Jahre
zehn Fälle von Eklampsie bezüglich ihres Verhaltens zur Kobra¬
lyse untersucht und gefunden, daß das Serum der Eklamptischen
eine enorme Vermehrung der die Kobralyse aktivierenden Suit¬
stanzen enthält. Inwieweit unsere Befunde mit jenen von Neu-
Nr 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
515
mann und Herrmann, sich decken, muß vorerst unentschieden
bleiben.
Dr. 0. Forges: Die Untersuchungen der Herren Neu m a n n
und Herrmann scheinen zu ergeben, daß in der Gravidität der
Lipoidgehalt des Blutes vermehrt ist, wie sich ja auch in der
Literatur zahlreiche Hinweise auf eine Lipämie bei Schwangeren
linden. Halten wir nach Zuständen Umschau, die ebenfalls zu
Lipämie, bzw. Lipoidämie führen, so ist in erster Linie der
Diabetes melitus zu erwähnen. Die diabetische Lipämie, die
auch gleichzeitig nach Klemperers Untersuchungen eine Li¬
poidämie ist, tritt im Zustande der Azidosis auf, ohne daß wir
bisher die Art des Zusammenhanges mit der Azidosis, die Her¬
kunft der Fettstoffe erklären könnten. Mit Rücksicht auf diese
Verhältnisse wäre es von Interesse, auch bei Schwangeren nach
einer etwa bestehenden Azidosis zu fahnden. Wir sind nun in
Gemeinschaft mit Leimdörfer und Novak seit einiger Zeit
mit derartigen Untersuchungen beschäftigt. Veranlassung bot zu
diesen Untersuchungen die von uns gefundene Azidosis bei Kar¬
zinomen, was mit Rücksicht auf die in letzter Zeit festgestellten
Beziehungen zwischen Karzinom und Schwangerschaft analoge
Verhältnisse bei der Gravidität erwarten ließ. Unsere Unter¬
suchungsmethode war die Bestimmung der Kohlensäurespannung
in einer mit dem Lungenblut ins Gleichgewicht gesetzten Respi¬
rationsluft. Ist die Kohlensäurespannung herabgesetzt, so kann
man auf die Gegenwart von abnormen sauren Substanzen im
Blute schließen. Wir fanden nun in der Tat eine verminderte
Kohlensäurespannung bei Graviden in den letzten Monaten. Die
Azidosis ist hier allerdings viel geringfügiger als die diabetische
Azidosis, die zu viel höhergradigem Abfall der Kohlensäurespannung
führt, immerhin aber zeigten sich deutliche Unterschiede gegen¬
über der Norm. Die Natur der vorhandenen Säuren ließ sich
nicht feststellen. Die Säuren der diabetischen Azidosis (ß-Oxy-
buttersäure, Azetessigsäure) spielen hier jedenfalls keine Rolle.
Im Zusammenhang mit dem vorliegenden Vortragsthema
ergibt sich demnach die interessante Beziehung, daß die Lipoidämie
der Schwangerschaft ebenso wie die diabetische Lipoidämie von
einer Azidosis begleitet ist.
Prof. S. Frankel: Zu den interessanten Befunden von
Prof. Albrecht ist zu bemerken, daß es wünschenswert wäre,
die mikroskopischen Untersuchungen durch quantitative, even¬
tuell mikrochemische Bestimmungen in den Organen mittels Digi-
tonin zu kontrollieren und sicherzustellon.
Die Untersuchungen der Kollegen Bauer und Lehn d or ff
gehen meiner Ansicht nach völlig parallel mit den Funden von
Neumann und Herr mann, in deren Extrakten ja ein unge¬
sättigtes Phosphatid in reichlicher Menge neben dem1 Cholesterin¬
ester vorhanden ist, so daß die Resultate beider Untersuchungs¬
reihen sich decken.
Koll. Fellner will ich nun fragen, ob er über quantitative
Untersuchungen der Plazentalipoide verfügt. Wir wissen nur,
daß, nach denn Gehalt geordnet, Rückenmark, Gehirn und Neben¬
nierenrinde die lipoidreichen Organe sind (Dim it z, L innert,
Biedl).
Es ist nun, gleichgültig, ob die Theorien der Vortragenden
sich bestätigen werden oder- nicht, doch ein großer Fortschritt,
den diese Befunde gezeitigt und wir haben nun die Möglichkeit,
die im Blute enthaltenen angereicherten Substanzen aus1 dear Ex¬
trakten darzustellen und ihre Eigenschaften chemisch und physio¬
logisch zu studieren. Ich lege nur auf den Fortschritt durch
die gefundene Tatsache Gewicht.
Bei dem Parallelgehen einiger Erscheinungen im Blute Gra¬
vider und Karzinomatöser, wird es durch das Studium des Blutes
Gebärender möglich sein, die so wertvollen Befunde von Ernst
Freund einigermaßen zu erklären und deren Chemie zu ver¬
stehen.
Priv.-Doz. Dr. J- Neumann und Dr. Edm. Herrmann
(Schlußwort) : Im1 Schlußworte können wir uns um so kürzer
fassen, als Herr Prof. Franke 1 die wesentlichsten Bemerkungen
bereits vorweggenommen hat, welche auch wir zu den Ausfüh¬
rungen der Herren Diskutierenden machen wollen.
Ueberblickt man die Diskussion, so kann man dahin resü¬
mieren, daß sie sich hauptsächlich mit zwei Fragen beschäftigte,
nämlich mit der Herkunft der von uns im Blute Gravider
nachgewiesenen Lipoide und mit der Bedeutung dieser Sub¬
stanzen für die biologischen Eigenschaftein des Serums und der
Blutzellen von Karzinomatösen und Graviden, bzw. Neugeborenen.
Bezüglich der Herkunft der die- Lipoidämie bedingenden Sub¬
stanzen hat Herr Prof. Albrecht wertvolle Beiträge geliefert und
den Hinweis auf die Nebennierenrinde als Quelle der Cholesterin¬
ester noch weiterhin gestützt, welchen wir auf Grund der vor-
liegendenLiteraturangaben und eigenen Beobachtungen in vor¬
sichtiger Weise gemacht hatten.
Es scheint uns aber nicht möglich zu sein, diese Frage einer
weiteren Klärung oder ihrer Lösung zuzuführen, durch Injek¬
tionen von Plazentarsubstanz, über welche heute Herr Fellner
berichtet, denn man schafft auf diese Weise keineswegs eine leicht
verständliche oder einwandfreie Versuchsanordnung; überhaupt
folgt Herr Fellner einer anderen U eher leg ung, als der, welche
man aus unseren tatsächlichen Befunden ziehen muß. Hingegen
wollen auch wir betonen, daß ein Widerspruch zwischen unseren
Studien und denjenigen von Bauer und Lehndorff nicht be¬
steht, ja daß im Gegenteil (wie schon in unserem Vortrage erwähnt)
hier ebenso ein auffallender Parallelismus zu konstatieren ist,
wie zu den Forschungen über den Karzinomzellschutz von
Freund und Kaminer, von Kraus und v. Graff. Jedoch,
welchem1 Körper im Blute eine die Karzinomzellen schützende,
bzw. die Kobragifthämolyse aktivierende Eigenschaft zukommt,
bleibt noch eine offene Frage. Es ist uns von Wichtigkeit, hier
nochmals' hervorzuheben, daß in unserem Extrakten nicht bloß
Cholesterinester, sondern auch durch Platinchlorid fällbare Sub¬
stanzen, wie Herr Prof. Fraenke-l heute berichtete, besonders
Phosphatide nachgewiesen wurden und daß diese Substanzen an¬
einander physikalisch gebunden zu sein scheinen.
Diese und andere positive Ergebnisse unserer Studien wurden
nur allzu wenig zum Gegenstände von Erörterungen gemacht; wir
aber legten in unserem Vor trage das Hauptgewicht auf das dar¬
gelegte Material von Tatsachen.
Von diesem Standpunkte erachten wir als das wichtigste
Ziel weiterer Forschungen die definitive Feststellung der chemi¬
schen Natur der nachgewiesenen Substanzen, das Studium ihrer
biologischen Eigenschaften, sowie ihrer Bedeutung unter physio¬
logischen und pathologischen Verhältnissen. Dieses praktisch wich¬
tigste Problem ist natürlich die Auffindung derjenigen Substanz,
welche Karzinomzellen schützt.
Ich schließe mit dem Ausdrucke unseres Dankes für das
rege Interesse, mit dem Sie unserem Vortrage gefolgt sind.
Der Vorsitzende spricht den Herren Priv.-Doz. Doktor
Julius Neumann und Dr. Ed. Herrmann den Dank der Gesell¬
schaft aus. _
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 14. März 1911.
V orsitzender : Hofrat Obersteiner.
Schriftführer: Priv.-Doz. Dr. Marburg.
Regimentsarzt D-r. Glaser stellt aus der v. Wagner sehen
Nervenklinik einen Fall von traumatischer Epilepsie vor,
eine 28jährige Bauerntochter, mit folgender Anamnese: Im Alter
von zwei Jahren Sturz aus Armhöhe ihrer damals zwölfjährigen
Schwester auf eine Steintreppe mit schon seinerzeit konstatierter
Schädelfraktur. Hierauf drei Tage Anfälle von Schwindel und
Uebelkeit. Vor sechs Jahren Auftreten von epileptischen Anfällen
universellen Charakters in halbjährigen bis dreiwöchigen Inter¬
vallen mit kurzer, nicht visueller Aura und von Kopfschmerzen
gefolgt. Die Untersuchung ergab einen ca. 7X4 cm großem, ovalen,
mit einem Knochenwall umgrenzten, an die Mittellinie reichenden
Defekt des linken Hinterhauptknochens (Demonstration der Rönt¬
genbilder), in dessen Tiefe deutliche Gehirnpulsation sicht- und
fühlbar ist, Püpillendifferenz lj>r, bei unausgiebiger Reaktion
der rechten Pupille, einen Strabismus concomitans, keine' Pa¬
resen oder Reflexdifferenzen der Extremitäten, keine Ataxie, keine
Seelenblindheit, keine Störung des Tiefenisehens ; Sehschärfe beider¬
seits normal.
Die Aufnahme des Gesichtsfeldes ergab nun eine recht¬
seitige Hemianopsie, die mehr einer rechten unteren Quadranten-
anopsie sich nähert. Der Blick in der Richtung des Gesichts¬
felddefektes ist erschwert, die Patientin klagt dabei über Schwindel
und Schm'erzen und kann die Bulbi in der dieser; Blickrichtung
entsprechenden Stellung nicht fixieren.
Die beiden letzten Symptome sind Schwankungen insoferne
unterworfen, als der Gesichtsfeldausfall an manchen Tagen —
meist solchen, an denen die Patientin über Kopfschmerzen klagt
— - beinahe die ganze rechte Gesichtshälfte betrifft und die
Blickerschwerung an solchen Tagen deutlicher in Erscheinung
tritt, während sie oft ganz fehlt, oft nur: durch mechanische
Erschwerung des Blickes nach unten (passives Emporziehen der
oberen Augenlider) hervorgerufen werden kann, wobei jedoch
der Blick nach links unten prompt erfolgt.
Im vorliegenden Falle handelt es sich um eine traumatiscae
Läsion im linken Okzipitallappen mit einem Defekt des Knochens
darüber. Der Gesichtsfeldausfall ist der’ Effekt einer Läsion der
zur dorsalen Kalkarinalipp-e ziehenden Sehstrahlungsbahnen, viel¬
leicht der Lippe selbst oder beider dieser Faktoren. Man muß
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 14
in diesem Falle an die Möglichkeit denken, daß es sich um eine
der im Okzipitallappen so seltenen traumatischen Porenzephalien
handelt.
Das1 Schwanken der Gesichtsfeldweite, sowie der Blick¬
parese fände dann durch Druckschwankungen in dem derartige Por¬
enzephalien in der Regel und wohl auch hier begleitenden Hydro¬
zephalus eine zwangslose Erklärung.
Die Augenmuskelstörungen hängen, soweit sie sich auf die
inneren Augenmuskeln beziehen (Pupillendifferenz, J> Reaktion der
rechten Pupille) wohl auch mit der oben angeführten Läsion zu¬
sammen ; der Strabismus muß wohl als zufälliger Nebenbefund an¬
gesehen werden, da die einzige Möglichkeit eines, wenn auch
entfernteren Zusammenhanges, eine Visusschädigung, nicht vor¬
liegt.
Der Vortragende erwähnt im Anschluß kurz einen fast
gleichen Fall aus dem Jahre 1909 mit traumatischer Jackson¬
epilepsie bei einem lOVsjährigen Mädchen mit gleichfalls links¬
seitiger Porenzephalie des Okzipitallappens und rechtseitiger
Hemianopsie.
Sachs demonstriert einen Patienten der Klinik Fuchs
mit eigenartiger Kopfhaltung bei Augenmuskel¬
lähmung.
Anamnese: Vor sechs bis sieben Jahren verlor Patient,
während er in einem Wagen fuhr, plötzlich das Bewußtsein, war
„wie eingeschlafen“, 14 Tage blieb er in bewußtlosem Zustande
liegen. Er Aveiß von keinen Symptomen, insbesonders Muskel¬
lähmungen, oder anderen Erscheinungen nach jener Zeit. Vor
einem Jahre wurde Pat. durch ein scheues Pferd am Boden
geschleift, die ganze rechte Gesichtshälfte war verletzt und er
Avar den ganzen Tag bewußtlos. Schon tags darauf merkte er den
Beweglichkeitsdefekt des rechten Auges nach außen und dos
Doppeltsehen.
Status praesens: Visus beiderseits Fundus normal,
kein Gesichtsfelddefekt. Nervenbefund (Priv.-Doz. Dr. Marburg):
negativ. Ohrenbefund (Dr. Rutin): negativ. Die Störungen be¬
treffen den Augenmuskelapparat. Wir sehen an dem Patienten:
1 . Eine vollständige Abduzenslähmung des rechten Auges mit
deutlicher Einwärtswendung desselben (sogenannte Sekundärkon¬
traktur), Hebung und Senkung sind intakt. 2. Das linke Auge
zeigt intakte Beweglichkeit nach auswärts (links), beim Blick
nach rechts treten heftige nystagmische Zuckungen auf; auch
dieses Auge zeigt keinerlei Störungen im Bereiche der Fieber
oder Senker.
3. Zur Fixation wird ausschließlich das rechte Auge benützt;
um es zum Geradeaussehen verwenden zu können, wird der
Kopf stark — mindestens 30° nach rechts — gewendet; es ist
dies die habituelle Kopfhaltung des Patienten.
4. Bei Anstellung des Tastversuches wird bei Verwendung
des rechten Auges richtig getastet — wofern der Versuch unter den
üblichen Kautelen im hellen angestellt wird. Wird das rechte
Auge verdeckt und der Tastversuch unter Benützung des linken
Auges wiederholt, dann wird in allen Teilen des Gesichtsfeldes
mit großem sogenannten „spastischen“ Fehler getastet. Ich habe
für diesen von mir des öfteren beschriebenen Tastfehler die
Bezeichnung „spastisch“ gewählt, weil der Fehler der Richtung
niaich dem bei Paresen auftretenden entgegengesetzt ist. Der
Fehler nimmt mit zunehmender Rechtslage des Objektes zu.
Ich will zunächst nicht die Frage erörtern, wieso es kommt,
daß der Patient zur Fixation ausschließlich das rechts schlechter
bewegliche Auge verwendet, sondern auf eine von mir in einem
anderen Falle zuerst beobachtete und im Zentralblatt für Physio¬
logie, Bd. 18, beschriebene Folgeerscheinung der dauernden Ver¬
wendung eines abnorm gestellten, mangelhaft beweglichen Auges,
hinweisen, resp. zu demonstrieren : der Patient lokalisiert näm¬
lich den Kopf falsch; aufgefordert, die Richtung „der Nase nach“
anzugeben, zeigt er stark nach links. Soll er bei ausschließlicher
Verwendung des die gesehenen Gegenstände falsch lokalisierenden)
linken Auges die Richtung des Kopfes angeben, so wird hiebei
kein Fehler begangen. Meine Annahme, daß dieser Patient, gleich
dem früher beobachteten, bei Wiederholung des Versuches mit
dem rechten Auge im Dunklen, wenn als zu tastendes Objekt
eine zwar deutlich sichtbare, den Raum jedoch nicht weiter
erhellende Lichtlinie verwendet wird, diese falsch mit dem der
Augenmuskellähmung entsprechenden Fehler tasten, die Lage des
Kopfes jetzt aber richtig angegeben Averde, erwies sich als richtig.
Der Kopf wird, insoferne er selbst Objekt der Gesichtswahrnehr
mung ist, vom Patienten falsch lokalisiert, Avodurch die Fehler
in der Lokalisation, die sich aus der abnormen Stellung und Be¬
weglichkeit des Auges ergeben mußten, eine Kompensation er¬
fahren und die richtige Lokalisation des Gesehenen herbeigeführt
wird,
Ich wende mich nun der Frage zu, wieso es kommt, daß
der Patient es vorgezogen hat, das weitaus schlechter bewegliche
rechte Auge statt des linken Auges zur Fixation zu verwen¬
den. Dem Okulisten ist es wohl bekannt, daß oft ein paretisches
Auge bei intaktem zweiten zur Fixation gebraucht wird; so gut
Avie immer ist die Veranlassung in der: zufällig besseren Seh¬
schärfe des von tier Lähmung betroffenen Auges gelegen; ein
Grund, der hier nicht vorliegt. Meiner Ansicht nach bestand von
Anfang an zugleich mit der Abduzenslähmung eine starke Kon¬
vergenz (entweder als Folge einer bestandenen, durch die Abdu¬
zenslähmung manifest gewordenen Esophorie, oder infolge eines
mit der Abduzenslähmung unmittelbar zusammenhängenden lleber-
Aviegens der Konvergenz — worauf der spastische Fehler im
Gebiet des linken Internus hinweist); hiedurch war der Patient
außerstande, durch irgendeine Kopfhaltung sich binokulares Ein¬
fachsehen zu verschaffen. Er hatte die Wahl, durch die Wendung
des Kopfes nach rechts oder links, das rechte oder linke Auge
dem gerade vor ihm gelegenen Gegenstände gegenüber zu bringen.
Um es zu verstehen, daß er es vorzog, das rechts schlecht nach
außen bewegliche Auge zur Fixation zu verwenden, müssen wir
folgendes beachten: Jede Seitenwendung des Blickes kann ent-
Aveder durch eine Augenbewegung bei richtig gehaltenem Kopfe
oder durch eine Bewegung des Kopfes bei unveränderter Steilung
der Augen im Kopfe, oder endlich durch eine Kombination dieser
beiden Bewegungsvorgänge erfolgen. Unter den gewöhnlichen Um¬
ständen des Sehens beteiligen sich sowohl der Kopf als auch
die Augen an den Blickbewegungen. Wird der Kopf nach einer
Seite gedreht, so wird damit ein Reiz für die gleichmäßige Seiten-
Avendung gesetzt. (Näheres in meiner Abhandlung: „[Jeher die
Beziehungen zwischen den Bewegungen des Auges und denen
des Kopfes“, Zeitschrift für Augenheilkunde, Bd. 3.)
Hätte der Patient im Interesse der ’linksäugigen Fixation
den Kopf nach links gewendet gehalten, dann wären die gleich¬
zeitig damit gesetzten Reize zur Linkswendung des Kopfes der
richtigen Festhaltung der Fixation hinderlich gewesen, da ja diese
Impulse zur Linkswendung zu dem intakten Linkswender des
linken Auges gelangt wären. Dagegen war die Rechtswendung
des Kopfes, die der rechtsäugigen Fixation zuliebe ausgeführt
wurde, zwar auch von Impulsen zur Rechtswendung der Augen
gefolgt; diese Impulse trafen aber am rechten Auge auf einen
gelähmten Muskel, so daß das Auge in seiner Fixationsstellung
ungestört belassen Avurde.
Einerseits das U eberwiegen der Konvergenz, anderseits der
mit der Linkswendung des Kopfes auf die Linkswender, speziell
auf den linken Rectus internus gesetzte Reiz, sind meiner An¬
sicht nach die Ursache, daß das linke Auge beim Blick nach links
in heftige Nystagmuszuckungen gerät und beim Tastversuch ver¬
wendet -— den „spastischen“ Fehler begeht.
Auf die höchst lehrreichen Folgen der experimenti causa
vorgenommenen Ausschaltung des Fixierauges (durch zweitägiges
Verbinden desselben) und Verwendung des linken Auges, sowie
auf die Erörterung einer Reihe von Fragen, die durch diesen
Fall aufgeworfen werden, soll in einer ausführlichen Mitteilung
eingegangen werden.
Dr. Robert Löwy: Fall von 0 es o p h ag u s s p as mus.
Aus der Anamnese dieses Patienten der dritten medizini¬
schen Universitätsklinik, den ich mir hier vorzustellen erlaube,
sei kurz folgendes berichtet: Der Patient, ein 20jähriger Schmied¬
gehilfe, gibt an, daß er seit vier Wochen, an heftigem Erbrechen
leide. Gleich nach der Nahrungsaufnahme verspüre er ein eigen¬
tümliches Druckgefühl oberhalb der Magengrube und kurz darauf
müsse er die aufgenommene Nahrung erbrechen, nur mitunter
gelinge es ihm, durch Nachtrinken einer größeren Flüssigkeits¬
menge, das Erbrechen zu verhindern. Das Druckgefühl1 nach dem
Essen, das darauffolgende Erbrechen, legten deü Gedanken einer
Oesophagusveränderung nahe. Es wurden dem’ Patienten nun
200 cm3 Milch verabreicht ; nach 20 Minuten wurde er aus¬
gehebert, dabei ging der Magenschlauch ohne irgendwelche Hin¬
dernisse durch die Kardia in den Magen. Besondere Rückstände
wurden nicht vorgefunden. Damit konnte wohl eine organische
Stenose ausgeschlossen werden, was auch durch den weiteren
Verlauf bestätigt Avurde. Die nach einigen Tagen im Röntgen¬
institute und auf der Klinik ausgeführte Röntgenuntersuchung
ergab den übereinstimmenden Befund, daß eis sich um eine Passage¬
störung an der Kardia für flüssige und breiige Ingesta handle, mit
gleichzeitiger Dehnung des Oesophagusrohres. Eine verschluckte
Wismutkapsel blieb auf einem Flüssigkeitsspiegel liegen. Es
blieb also noch die Frage offen, ob es sich um eine primäre
Atonie oder um einen spastischen Zuständ handle, von dem wir
nach Mendelsohn drei Arten unterscheiden, einen sympto¬
matischen, reflektorischen und idopathischen, Aus der Anamnese
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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sei nun nachgetragen, daß der Patient angab, er habe den Mund
immer voll Speichel, was auf einen Hypertonus der Chorda lin
gualis hindeutet, wie ihn K .auf mann und Löwi an einem
Patienten feststellen konnten. Ich bestimmte nun die Toleranz
des Patienten gegen Dextrose. Dabei ergab sich, daß 200 g Dex¬
trose auf nüchternem Magen verabreicht werden konnten, ohne
daß der. Hain reduzierte. Erst bei 100 g Dextrose und gleich¬
zeitiger subkutaner Injektion von 0-001 Adrenalin wurden 0-3 g
Dextrose ausgeschieden. Auf 0-01 Pilokarpin trat heftiger Speichel¬
fluß, profuse Schweißsekretion und Erbrechen ein. Die Zahl der
Eosinophilen betrug 6°/'o, also ein Verhalten, das Eppinger
und Heß als charakteristisch für; gesteigerten Vagustonus ansehen.
Weiters sei auf die verschiedenen Befunde bei der Magenson¬
dierung hingewiesen. Am 25. Februar wurde er auf nüchternen
Magen ausgehebert und dabei 200 cm3 einer mit Speiserückständen
reichen Flüssigkeit entleert, wobei der; Abstand von der Zahnreihe
37 cm betrug. Bei 54 cm Entfernung entleerte sich eine gallig
gefärbte Flüssigkeit. Erwähnt sei, daß keine Resistenz verspürt
wurde. Am 2. März; bei 37 cm wurden 150 cm3 entleert, bei
44 cm verspürte man einen federnden Widerstand, der erst nach
einigem Zuwarten überwunden werden konnte. Ein eingegebenes
Probefrühstück wurde nach einer halben Stunde fast vollkommen
wieder entleert. Bei vorgenommener Bougierung fühlte man so¬
wohl für dicke als auch für dünne Sonden bei 43 cm einen
federnden Widerstand, der nicht überwunden werden konnte.
Völlige Klarheit ergab, sich aber: erst aus den Röntgen¬
befunden. Dabei zeigte sich, daß wir nicht nur an der Kardia,
sondern auch ungefähr in der Höhe der Bifurkation der Trachea
Spasmen haben, die zu verschiedenen Zeiten auftraten. So zeigte
sich am 10. Februar-, nach Aufnahme von Wismutbrei eine tumor¬
artige Ausbauchung des 'Oesophagus in der Höhe des Aorten¬
bogens. Am 3. Februar konnte man folgenden interessanten Be¬
fund erheben: Eine Wismutkapsel blieb etwa in der Höhe der
Bifurkation der Trachea stecken, nachgetrunkenes Wismutwasser
staute sich oberhalb derselben an und bahnte sich allmählich in
dünnem Strahle einen Weg zwischen Kapsel und Oesophagus-
wand. Durch Nachtrinken einer großen Flüssigkeitsmenge wurde
dieser Widerstand überwunden und ruckartig stürzte Kapsel und
Wismutwasser bis an die Kardia, wo sie liegen blieben. Der
hochsitzende Spasmus konnte durch Atropin beseitigt werden,
der Spasmus an der Kardia zeigte keine merkliche Beeinflu߬
barkeit.
Wir haben es also bei einem vagotonischen Individuum
mit Spasmen des Oesophagus zu tun, von denen nur die höheren
durch Atropin beeinflußbar waren; der Spasmus an der Kardia
nicht, wahrscheinlich deshalb, weil durch die Stauung oberhalb
der Kardia es zu sekundären Ulzerationen der Oesophagus-
schleimhaut gekommen war, die den idiopathischen Kardiospas-
mus in einen reflektorischen verwandelt hatten. Weiters dürfte
man vielleicht in diesem Falle, bei dem sich schon eine hoch¬
gradige Oesophagusdilatation, nebst den teilweise durch Atropin
beeinflußbaren Spasmen, entwickelt hat, einen jener Uebergangs-
fälle sehen, die Kaufmann und Kienboeck postuliertem.
Dr. O. Pötzl stellt aus der psychiatrisch - neurologischen
Klinik Hofrat v. Wagner's eine gemeinsam mit Professor
E. Redlich untersuchte Kranke vor, bei der eine bilaterale
Affektion beider Okzipitallappen zu einem eigenartigen
Symptomenkomplex geführt hat: Ausfall des peripheren Sehens
bei erhaltener Lichtperzeption und erhaltenem Farbensehen,
Seelenblindheit und Störung der Orientierung im Raume, Hyper-
prosexie auf Lichtreize.
B. L., 58jährige Frau. Bis Ende 1907 gesund, intelligent;
gute Schulbildung.
Ende 1907 begann, ohne daß ein Insult beobachtet worden
war, ein eigentümliches, als „Hörstörung“ bezeichnetes Verhalten:
wenn sie angerufen wurde, drehte sie sich nach der falschen
Seite. Zugleich soll das Sehvermögen abgenommen haben. 1908
hatte die Patientin einen Ohnmachtsanfall von kurzer Dauer.
Danach soll sich die frühere Orientierungsstörung verstärkt haben;
auch konnte die Patientin nicht mehr lesen und erkannte viele
Gegenstände nicht, beim Sprechen verwechselte sie häufig die
Worte.
Die Störungen blieben bestehen. Eine Parese war bei der
Patientin nie zu beobachten.
15. Dezember 1910 auf die Klinik aufgenommen, zeigt die
Patientin ein Zustandsbild, das auf eine bilaterale Affektion der
Okzipitallappen hinweist. Der Symptomenkomplex ist bisher
im ganzen konstant geblieben ; nur hat die psychische Ermüdbar¬
keit der Patientin stark zugenommen, ebenso die Einschränkung
des Wortschatzes, das Suchen nach Worten und die Unaufmerk¬
samkeit.
In psychischer Beziehung ist zu bemerken : Sie ist stets
heiter, gutwillig, zu kindlichen Scherzen geneigt, dabei fast
neckisch und wie kokett in ihrem Benehmem. Delirien, Hallu¬
zinationen, Konfabulationen fehlten bisher.
Ihr gesamtes Verhalten ist durch eine sehr charakteristische
Orientierungsstörung bestimmt : sie kennt ihr Zimmer nicht, findet
sich in keinem Raume zurecht, legt sich in fremde Betten usw.;
sich selbst überlassen, steht sie ratlos still oder geht auf helle
Flächen (Fenster), auf die Lichtquelle, zuweilen auf Flächen
in satten, hellen Farben zu.
Akustische Eindrücke (Anruf, Geräusche, Klänge) lokalisiert
sie falsch; dabei zeigt sich eine konstante Differenz in der
Reaktion, je nach der Richtung, aus der die Schalleindrücke
kommen: von rechts her kommende akustische Reize werden
entweder gar nicht oder nach links hin lokalisiert; nur relativ
selten, am ehesten noch nach Einübung stellt sie zögernd und
unschlüssig den Kopf nach rechts hin ein,. Schalleindrücke, die
von links her kommen, lokalisiert sie immer; prompt und richtig ;
akustische Eindrücke, die von rückwärts1 kommen, lokalisiert
sie entweder gar nicht oder nach links hin; häufig lokalisiert sie
auch einen von oben oder- von unten kommenden Schallreiz
falsch, zumal, wenn er nicht aus unmittelbarer Nähe erfoigt.
Sie ist auf iSchalleindrücke von rückwärts her zuweilen, aber
nicht immer, wenig aufmerksam.
Anders projiziert sie aber die akustischen Eindrücke in den
Raum, wenn eine starke Lichtquelle sich im Zimmer befindet. Eine
solche hält sofort ihre ganze Aufmerksamkeit gefesselt; von
welcher Seite immer her der Schallreiz kommt, auf welcher Seite
auch die Lichtquelle sich befindet, sie lokalisiert den akusti¬
schen Eindruck immer zum Licht hin.
Unterschieden werden Gehörseindrücke ganz gut; nur zeigt
sich bei der Benennung zuweilen ihre amnestische Aphasie.
Die linke Seite, nach der sie spontan (ohne Lichtreiz) die
akustischen Eindrücke regelmäßig lokalisiert, ist die Seite, nach
der- hin sie besser sieht. Allerdings ist eine infolge einer chro¬
nischen Mittelohreiterung rechts bestehende leichte Störung der
Funktion im schalleitenden Apparat nicht ohne Einfluß auf die
Halbseitendifferenz der Störung ihrer akustischen Orientierung.
Im ganzen aber erweckt ihr Verhalten den Eindruck, daß ihre
Einstellung auf akustische Perzeptionen von der Richtung durch¬
aus abhängt, nach der optische Perzeptionen tatsächlich erfolgen
oder wenigstens am ehesten möglich sind.
Tasteindrücke am eigenen Körper lokalisiert sie auf beiden
Seiten prompt und richtig. Die rechte Körperseite benennt sie
dabei prompt, die linke nicht, deutet aber richtig hin. Bei der
Lichtperzeption benennt sie die Richtungen über Fragen hin
prompt und richtig.
Ihre optische Perzeption ist folgendermaßen gestört: Be¬
wegte Objekte, etwas rascher angenäherte Gegenstände fixiert
sie weder von links noch von rechts her; der Lidschlußreiljex
ist von rechts her nie, von links her nur sehr selten auszulösen.
Bringt man Gegenstände in ihre linke Gesichtsfeldhälfte und läßt
sie eine Weile dort, so kommt sie zuweilen dazu, sie zu fixieren,
um so eher, je heller die Objekte beleuchtet sind, je mehr sie
eine helle, satte Farbe zeigen, je mehr sie durch simultanen
Helligkeitskontrast wirken. Sie hat dann die Tendenz, die Gegen¬
stände in die Hand zu nehmen, greift dabei so ziemlich in die
richtige Distanz; am schlechtesten trifft sie die Distanz bei
relativ schwach beleuchteten Objekten. Hat sie ein Objekt fixiert,
verliert sie es doch meist bald wieder, aus der Fixation, sucht
dann eine Weile mit den Blicken herum, zumeist gegen links hin.
Nach rechts hin fixiert sie nur eine stärkere Lichtquelle, andere
Objekte nie.
Jedes Licht, zumeist auch jedes größere, hell und satt
in den Grundfarben gefärbte Objekt fesselt sofort ihre ganze
Aufmerksamkeit. Auf einen stark leuchtenden Punkt stellt sie von
rechts wie von links her sofort prompt ein und benennt ihn als
Licht. Nur vom rechten oberen Netzhautquadranten her erfolgt
diese Einstellung deutlich etwas weniger prompt. Auf farbige
Objekte stellt sie, wie schon bemerkt, nur von links her prompt
und gut ein.
Licht, etwas weniger gut auch Farben, behält sie im Fixier¬
punkte. Die (Grundfarben agnosziert sie prompt, benennt sie
auch meistens prompt. Sie unterscheidet sie gut, sucht zu einer
vorgelegten Färbe unter anderen vorgelegten Farben die passende
gut aus, ermüdet aber bei diesen Prüfungen rasch. Ton den
Farben perzipiert und benennt sie am1 raschesten das Rot, dann
(der Raschheit und Promptheit nach in absteigender Reihe) Gelb,
Blau, Grün, Lila. Hellen reinen Flächen wendet sie von links
her immer sofort den Blick zu ; zuweilen auch von rechts.
Schwarz und Weiß werden nur im simultanen Kontrast erkannt
518
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
und benannt; bei nicht sehr heller Tagesbeleuchtung (bedeckten
lagen) übersieht sie schwarze Objekte oft vollkommen.
Kleinere Objekte fixiert sie (nur von links her) überhaupt
viel schwerer und weniger prompt als Farben. Sie erkennt sie
von der optischen Sphäre aus, ohne Zuhilfenahme des Tast¬
sinnes, fast nie ; ganz selten und ausnahmsweise indessen be¬
nennt sie doch ein Objekt, das sich in der linken Hälfte ihres
Gesichtsfeldes befindet; wenn ihr das gelingt, so ist stets er¬
sichtlich, daß die Benennung von einer lebhaften Farbe aus
angeregt worden ist oder daß eine hellglänzende Fläche des Ob¬
jektes ihre Aufmerksamkeit gefesselt und ihr eine längere Fixation
ermöglicht hat (Schmetterling, Thermometer, goldene Uhr, Wachs¬
stock, brennendes Zündholz). Bilder erkennt und benennt sie
nicht; sie bezeichnet aber häufig sofort eine auf dem Bilde be¬
findliche, helle und gesättigte Farbe prompt und richtig.
Große Objekte zu erkennen ist ihr vollkommen unmöglich,
desgleichen selbstverständlich das Erkennen der Personen von
der optischen Sphäre aus.
Abgetastete Gegenstände erkennt und benennt sie gut; nur
tritt auch hier in der letzten Zeit mehr und mehr ihr Suchen
nach Worten zutage.
Gibt man ihr einen Spiegel in die Hand, so erkennt sie die
spiegelnde Fläche nicht, ebensowenig ihr Spiegelbild und andere
Objekte, die den geschilderten Bedingungen ihrer; optischen Per¬
zeption nicht entsprechen. Wirft man aber ein Licht in den
Spiegel oder läßt man in ihm eine hell und satt gefärbte Fläche
sich spiegeln, so greift sie, vorausgesetzt, daß ihre Hand bei der
Bewegung nicht an den Spiegel stößt, an ihm vorbei und hinter
den Spiegel, in genauer räumlicher Projektion nach dem Schein¬
bild des Lichtes oder der Farbe.
Lesen von Schrift, Ziffern usw. ist vollkommen unmöglich.
Zum Schreiben gebracht, nimmt sie den Bleistift richtig in die
Hand und zieht ein paar Krähenfüße, in denen zuweilen die
richtige Konzeption des B (aus ihrem Namenszug) erkennbar ist.
Ihr optisches Erinnerungsvermögen ist in bezug auf Farben,
die man ihr in der jüngsten Vergangenheit (auf zwei bis drei Tage
zurück) gezeigt hat, auffallend gut; auch bei Bildern, die sie
nicht benannt, auch nicht erkannt hat, zeigt sich zuweilen das¬
selbe: „Das haben wir schon gehabt.“ Dagegen scheint ihr Ge¬
samtmaterial von optischen Erinnerungsbildern aller Qualitäten
doch stark defekt zu sein, am wenigsten noch die Reproduktion
von Farben bestimmter Objekte aus der Erinnerung; allerdings
macht sie auch dabei häufig grobe Fehlreaktionen, die nicht Be¬
nennungsfehler sind. Von Formen unterscheidet sie aus der Er¬
innerung : „Rund“ und „Eckig“, dieselben Qualitäten, die sie auch
bei der unmittelbaren Untersuchung unter den früher geschildertm
Bedingungen zuweilen erkennt und benennt. Im ganzen wird eine
exakte Prüfung ihres optischen Gedächtnisses durch ihre amne¬
stische Aphasie besonders schwer beeinträchtigt.
Läßt man im Dunkelzimmer eine starke Lichtquelle in lang¬
samerer oder schnellerer Bewegung auf sie wirken, scheint sie
die Bewegung des Objekts nicht zu apperzipieren ; sie bezeichnet
das, was sie sieht, als „mehrere Lichter“. Zwei oder mehrere
Lichter im Dunkelzimmer bezeichnet sie ebenso; die Zahl der
gezeigten Lichter gibt sie nie an („mehrere“) ; sie tastet nach
jedem einzelnen richtig, bezeichnet aber ihre räumliche- Entfernung
von einander nie, gibt auch sonst nicht zu erkennen, daß sie sie
simultan richtig erfaßt.
Die Sprache zeigt, wie schon bemerkt, eine hochgradige
Einschränkung des Wortschatzes, dazu vielleicht neben der peri¬
pheren Hörstörung eine geringe Erschwerung des Sprachverständ¬
nisses bei komplizierterer Konversation. In der Spontansprache
zeigt sich neben dem charakteristischen Suchen nach . Worten
zuweilen verbale Paraphasie, während sie doch aus den vor¬
gesagten Worten fast immer das Richtige auswählt.
Das Handlungsvermögen zeigt, eingehend geprüft, k-üne
apraktischen Störungen.
Sensibilität und Motilität sind intakt.
(Schluß folgt.)
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte
in Böhmen.
Sitzung am 17. März 1911.
(Schluß.)
3. Luksch demonstriert :
a) Ein Präparat von Amyloidose der Trachea bei
einem an Herzfehler zugrunde gegangenen 65jährigen Manne.
Es fanden sich hiebei eine deutliche Wucherung von Knorpel¬
gewebe. Interessant war das gleichzeitige Vorhandensein von
Corpora amylacea in den Schleimdrüsen.
Verantwortlicher
b) Das Präparat von einem 13V2jährigen Knaben, dem
einige Monate vorher ein typisches dreiblättriges Embryo m in
der Steißgegend entfernt worden war. Es fand sich bei der
Sektion ein die Gegend der linken Gesäßbacke einnehmender,
das Becken ausfüllender Tumor, der in den Lungen Metastasen
gesetzt hatte ; histologisch nahm er seinen Ausgangspunkt von
der Außenwand der Gefäße und konnte derselbe durch die An¬
wesenheit glatter Muskulatur als Mischgeschwulst und als Rezidiv
des Embryoms angesprochen werden.
4. H e r i n g : Demonstration des A t r i o v e n t r i.
k ularbündels.
5. Münzer: Ueber das Verhalten des Herz¬
gefäßsystems in zwei Fällen von Bradykardie
nebst kurzer Besprechung der neueren Unter-
suchungsmethodik.
Der Vortragende bespricht anläßlich der Mitteilung zweier
Fälle von Bradykardie ganz kurz eine Reihe von Methoden,
welche der Lösung bestimmter Fragen in der Physiologie und
Pathologie des Kreislaufes dienen.
Was die Krankenbeobachtungen betrifft, handelte es sich
in dem einen Falle um den bereits einmal (Wiener klin. Wochen¬
schrift 1910, Nr. 38) mitgeteilten Fall von hypnotischer Brady¬
kardie, dessen Elektrokardiogramm normale Verhältnisse darbot.
Während Münzer zur Erklärung der Hypotonie an eine mög¬
licherweise vorliegende Affektion des chromaffinen Systems er¬
innerte, möchte er die Bradykardie und Arhythmie in diesem
Falle auf Störungen der Reizerzeugung, bzw. der Reizbarkeit
zurückführen. Es würde sich also um eine echte, wahre
Arhythmie handeln.
Im zweiten Falle handelte es sich um eine 34jährige
Kranke, welche eine Pulsfrequeuz von 30 bis 36 Schlägen in
der Minute und einen Blutdruck von 230/130 bis 160 aufwies.
Das Elektrokardiogramm lehrte, daß es sich hier um totale
Dissoziation der Vorhöfe und Kammern handelte.
Der Vortragende hat in der letzten Zeit drei Fragen der
Kreislaufphysiologie besonders studiert :
1. Den Einfluß der Atmung auf den Kreislauf.
2. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit und
3. den Arbeitswert der Pulswellen.
Indem Münzer bezüglich der methodischen und sonstigen
Einzelheiten auf die ausführlichen Publikationen verweist, teilt
er mit : ad 1) daß der Einfluß der Atmung auf das Herz, bzw.
das Schlagvolumen und die Dauer der Pulswelle bei hypnotischen
Zuständen ganz deutlich sei, auch im vorliegenden Falle deutlich
in Erscheinung trat (die graphische Aufnahme wurde herum¬
gereicht), daß sich aber bei vaskulärer Hypertonie, bei Herzver¬
größerung, bei Arteriosklerose der großen Gefäße dieser Einfluß
kaum oder viel weniger geltend macht. Aenderungen des Blut¬
druckes infolge der Atmung wurden nur sehr selten gesehen.
Ad 2) Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Pulswelle,
welche zwischen Aorta und Wade normal ca. 9 bis 11 m in der
Sekunde beträgt, war in dem Falle von Hypotonie auf ca. 7'2 m
gesunken, im Falle von Hypertonie auf ca. 13 m erhöht.
Ad 3) Das gleiche gegensätzliche Verhalten ergab die
Energiebestimmung der Pulswelle ; normalerweise ca. 1700 bis
2500 betragend, war sie im Falle der Hypotonie auf ca. 1200
bis 1500 abgesunken, um im Falle der Hypertonie einen Wert
von ca. 4000 zu erreichen. Dr. Pribram (Prag).
Programm
der am
Freitag den 7. April 1911, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Exner stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Priv.-Doz. Dr. L. Wiek: Zur Pathogenese der Gicht
2. Prof. Dr. M. Benedikt: Zur Therapie der Beschäftigungs¬
neurosen und über Autogymnastik. (Mitteilung.)
Vorträge haben angemeldet die Herren: Hans Salzer, Robert
Breuer, K. Ullniann, A. Kronfeld, F. Dimmer.
Bergmeister, Paltauf.
Wiener med. Doktoren -Kollegium.
Programm der Montag den 10. April 1911, 7 Uhr abends, im Sitzungs¬
saal des Kollegiums. I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Hofrates Prof. (Jhiari stattfindenden wissenschaftlichen Versammlung.
Priv.-Doz. Dr. Erwin Stransky : Das manisch-depressive Irresein
in der ärztlichen Praxis.
(Die nächste wissenschaftliche Versammlung findet im Herbst
d. J. statt.)
Redakteur: Karl Kubasta. Verlag von Wilhelm Branmttller in Wien
Druck von Braue ti artel t, Wien XV 111., Theresien itaaae 8.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger, M. Gruber, F. Hochstetter, A. Kolisko, H. Meyer, J. Moeller, K. v. Noorden,
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J, Tandler, G. Toldt, J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
inton F reih. v. Eiseisberg, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs, Julius Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg.
Wien, 13. April 1911
Nr. 15
INH
1. Orierinalartikel: 1. Aus dem k. k. serotherapeutischen Institut
in Wien. (Vorstand: Hofrat Prof. Dr. II. Paltauf.) Die Schutz¬
kräfte der Zellen. Von Dr. Ernst Pribram, Assistenten am
k. k. serotherapeutischen Institut. S. 519.
2. Aus dem pharmakologischen Institut der deutschen Universität
in Prag. Ueber die Zuverlässigkeit des Peptonnachweises als
Abbaureaktion bei der Anaphylaxie. Von Priv.-Doz. Dr. Ferdinand
Schenk. S. 521.
3. Ueber einen Fall ausgedehnter Lymphdrüsentuberkulose. Ein
Beitrag zur Lehre von den Beziehungen der Lymphdriisen-
tuberkulose zur Hodgkinschen Krankheit. Von Doktor
0. M. Chiari, Assistenten am pathologisch-anatomischen
Institut der Universität Zürich. S. 523.
4. Aus dem bakteriologisch-anatomischen Institut der Landes¬
krankenanstalt in Czernowitz (Vorstand: Priv.-Doz. Doktor
Raubitschek). Die diagnostische Verwertbarkeit des Tuberkel¬
bazillennachweises in den Fäzes. Von Dr. Frieda Rittel-
W i 1 e n k o. S. 527.
5. Zur Therapie der koordinatorischen Beschäftigungsneurosen
und über Autogymnastik in chronischen Fällen derselben. Von
Prof. M. Benedikt. S. 529.
~~ .
Aus dem k. k. serotherapeutischen Institut in Wien.
(Vorstand: Hofrat Prof. Dr. R. Paltauf.)
Die Schutzkräfte der Zellen.*)
Von Dr. Ernst Pribram, Assistenten am k. k. serotherapeutischen Institut.
Jedes organisierte Lebewesen hat sich vom ersten
Augenblick seines Lebens im Kampf ums Dasein zu be¬
tätigen. Welcher Art sind die Schutzkräfte, die ihm hiebei
zur Verfügung stehen und woher stammen sie ?
Die Schutzkräfte der organisierten Zellen sind bedingt
durch das Gleichgewicht der physikalischen und chemischen
Kräfte, das in jeder lebenden Zelle besteht. Dieses Gleich¬
gewicht. ist ein labiles, dynamisches. Labil, weil es durch
Eintreten dritter Kräfte leicht gestört wird, dynamisch, na¬
mentlich das Gleichgewicht der chemischen Kräfte, weil
die Reaktionsprodukte leicht wieder in ihre Komponenten
zerlegt werden, indem sie eine reversible Reaktion ein-
gehen. Jede Störung dieses Gleichgewichtes kann unmittel¬
bar dazu führen, daß Kräfte (Energien) frei werden, die
durch Erhaltung oder Wiederherstellung des gestörten Gleich¬
gewichtes dem Organismus als Schutzkräfte dienen. Wir
wollen die physikalischen und chemischen Kräfte, welche
der Zelle zur Verfügung stehen, einzeln betrachten und an
Beispielen erörtern, wie diese Kräfte zu Schutzkräften wer¬
den können und wie mit der Differenzierung der Zellen
auch ihre Schutzkräfte sich in bestimmter Richtung weiter
*) Probevorlesung, gehalten am 22. März 1911 zur Erlangung dei
Venia legendi für allgemeine und experimentelle Pathologie an der
Universität Wien.
L T:
6. K. u. k. Marinespital in Pola. (Kommandant: Marineoberstabs
arzt Dr. Georg Kugler.) Aus der chirurgischen Abteilung
(Chefarzt: Linienschiffsarzt Dr. Gustav Ne£por.) Isolierte Karpal
knochenfrakturen. Von k. u. k. Fregattenarzt Dr. Anton
v. Posch. S. 530.
II. Diskussion : Zur Frage der Erkrankung des Akustikus und
des Labyrinthes bei erworbener Lues. Von Dr. Otto Mayer.
S. 532.
III. Oeffeutliche Gesundheitspflege : Die Enquete zum Bauordnungs¬
entwurf im Winter 1910/11. Von Dr. A. H i n t er b er g e r. S. 532.
IV. Samiuelreferat : Tuberkulose. Von Dr. M. Weisz.
V. Referate : Ribeiro Sanchez a sua vida e a sua obra. Por Maximiano
Le mos. Klassikerder Medizin. Von Karl Sud ho ff. Ref. : Neu¬
burger.
VI. Aus verschiedenen Zeitschriften.
VII. Vermischte Nachrichten.
VIII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
entwickeln und differenzieren. So treten dann im hoch¬
differenzierten Organismus ganze Zellverbände als Schutz¬
organe für ihn ein, unabhängig voneinander, aber doch
wieder miteinander verbunden durch den rasch kreisenden
Blutstrom und die noch schnellere Nervenleitung.
Die physikalischen Kräfte (Druckkräfte, ther¬
mische, elektrische Kräfte) sind durchwegs Oberflächen¬
kräfte, das heißt, sie können nur dort zur Wirkung gelangen
und in kinetische Energie umgesetzt werden, wo Niveau¬
differenzen bestehen. Dadurch sind sie zu Schutzwirkungen
besonders geeignet, denn die stärksten Niveaudifferenzen be¬
stehen naturgemäß, dort, wo Zelle und Milieu aneinander
grenzen.
Die kleinste Oberfläche bei gleichem Volumen ist in
der Kugelgestalt gegeben. Tatsächlich sehen wir den be¬
drohten einzelligen Organismus im flüssigen Medium Kugel¬
gestalt annehmen und so seine Oberflächenkräfte auf mög¬
lichst engem Raume konzentrieren. Dies ist aber nur dann
der Fall, wenn die Oberflächenkräfte allseitig in gleicher
Weise in Anspruch genommen werden. Andernfalls werden
diese Spannkräfte nur an der Stelle der stärksten Niveau¬
differenz konzentriert, nur dort die Oberfläche verkleinert.
Auf diese Weise entsteht eine Gleichgewichtsstörung im
System, hervorgerufen durch ein Potentialgefälle, das von
der Seite des kleinsten Krümmungsradius nach der des
größten gerichtet ist. ln dieser Richtung wird durch Ver¬
wandlung potentieller in kinetische Energie eine Bewegung
des Zellinhaltes erzielt. Dies ist der Grundtypus aller be¬
wegungsformen, die für den Organismus so wichtige Schu z-
520
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
Wirkungen entfalten. Ist die Zelle an einer Stelle fixiert., so
bewegt sie sich um den fixen Punkt (zum Beispiel Flimmer¬
bewegung). Ist sie an zwei Punkten fixiert, so können diese
Punkte einander genähert werden (so kann die Muskelzelle
durch ihre Kontraktion Bindegewebe, benachbarte Muskel¬
elemente und in letzter Linie die fixen Knochenpunkte ein¬
ander nähern). Dieselben Oberflächenkräfte, welche diesen
einfachsten Formen der Schutzvorrichtungen des Organis¬
mus zugrunde liegen, bewirken auch die wunderbaren, kom¬
plizierten Schutzvorrichtungen des hochdifferenzierten Orga¬
nismus, die wir unter dem Namen Immunreaktionen zu¬
sammenfassen. 'Die Hämolyse, Zytolyse, Agglutination, Prä¬
zipitation, sind alle aus Kräften hervorgegangen, deren Prä¬
existenz wir bereits im einzelligen Organismus nach weisen
können. Wir finden dort auch schon die Grundlage für die
Artspezifität.
Al. Schnitze, später P. .lensen, haben die Vorgänge
bei der Berührung von Rhizopodenz'ellen gleicher und ver¬
schiedener Art studiert und fanden, daß die Pseudopodien
zweier Rhizopoden gleicher Art sich gegenseitig ausweichen,
während die Pseudopodien artverschiedener Rhizopoden ein¬
ander umfließen und auflösen. In beiden Fällen findet eine
Aenderung der Oberflächenkrümmung statt, welche im erste-
ren Falle einer Verkleinerung, im letzteren einer Vergröße¬
rung der Oberfläche entspricht. Die Spannung der Ober-
flächenkräfte wird also im ersten h alle vermehrt, im zweiten
vermindert. Nun wissen wir nach einem physikalischen
Lehrsätze, den wir Thomson verdanken, daß im kolloiden
Medium — um ein solches handelt es sich hier — eine
Erhöhung der Oberflächenkräfte stets dann stattfindet,, wenn
eine Substanz in das Kolloid eindringt, welche im Disper¬
sionsmitte] des Kolloids schwer löslich ist. Umgekehrt setzt
eine leichtlösliche Substanz die Spannung der Oberflächen¬
kräfte bedeutend herab. Wir dürfen also annehmen, daß
die mit Vermehrung der Oberflächenspannung einhergehende
Verkleinerung der Oberfläche, die bei der Berührung der
Pseudopodien artgleicher Individuen zustande kommt, darauf
zurückzuführen ist, daß das Zellmaterial dieser beiden Zellen
ineinander nicht oder nur schwer löslich ist. Dies stimmt
auch damit überein, daß bei der Entwicklung artgleicher
Tochterzellen aus einer Mutterzelle ein Entmischungsvor¬
gang stattfindet, der deutlich erkennen läßt, daß das Ma¬
terial dieser Zellen ineinander unlöslich ist.
Den entgegengesetzten Vorgang haben wir bei der
Begegnung der Pseudopodien artverschiedener Rhizopoden
vor uns. Hier deutet schon die ^Vergrößerung der Oberflächen
an der Berührungsstelle, die mit. Verminderung der Ober¬
flächenspannung einhergeht, an, daß das Material der einen
Zelle in dem der anderen leicht löslich ist. Dies können
wir auch optisch feststellen, denn nach der Aufnahme des
einen Pseudopodiums durch das andere kommt es zur Auf¬
lösung des Inhaltes der artfremden Zelle. Wir haben hier
die Grundlagen für die analogen Erscheinungen im höher
differenzierten Organismus, wo sie allerdings durch die kom¬
plizierten Verhältnisse in ihrer Entstehung nicht so leicht
zu verfolgen sind.
Bringen wir die Blutkörperchen eines Tieres in das
Serum eines artverschiedenen, so werden sie darin auf¬
gelöst, nicht aber im Serum eines Tieres gleicher Art. Also
auch hier: Gute Löslichkeit des Zellinhaltes einer Tierart
in dem einer artfremden, schlechte Löslichkeit der Zellsub¬
stanzen artgleicher Tiere ineinander. Das Gleiche gilt für
die Zytolyse. Etwas komplizierter liegen die Verhältnisse
bei der Präzipitation und Agglutination.
Bringen wir das Serum eines Tieres mit dem Serum
eines entsprechend vorbehandelten Tieres verschiedener Art
zusammen, so nehmen wir ein Phänomen wahr, das darin
besteht, daß bisher suspendierte Partikelchen ausgeflockt
werden (Präzipitation). Die Ursache dieser Erscheinung ist
die Abnahme von Oberfläch enkräften, welche die Suspension
bedingt, haben. Diese Abnahme der Oberflächenkräfte, mögen
es elektrische oder Spannungskräfte anderer Art sein, deutet
wiederum darauf hin, daß bei der Mischung der Sera gut
lösliche Substanzen in das Dispersionsmittel des Kolloids
gelangt sind. Wir dürfen also auch hier annehmen, daß
die Sera artverschiedener Tiere aus Stoffen bestehen, welche
ineinander leicht löslich sind. Artgleiche Sera geben nie¬
mals Präzipitation, also keine Aenderung der Oberflächen¬
spannung, sie sind also ineinander offenbar unlöslich. Aehn-
lich ist die Agglutination hervorgerufen durch eine Ab¬
nahme der Oberflächenkräfte des Serums. Wir können auch
hier schließen, daß die Bakterien Zellsubstanzen enthalten,
die im Serum gut löslich sind, eine Tatsache, die als Bak-
teriolyse in der lmmimitätslehre wohl bekannt ist.
Die genannten Immunreaktionen (Zytolyse, Hämolyse,
Agglutination, Präzipitation) kann man künstlich steigern,
wenn man das entsprechende Material dem artfremden Tiere
wiederholt injiziert. Die physikalische Grundlage dieser Er¬
scheinung ist durch einen Lehrsatz gegeben, der in der
Physik als G i b b s sch es Theorem bekannt ist. Dieses besagt,
daß Stoffe, welche die Oberflächenspannung des Disper¬
sionsmittels eines Kolloids erniedrigen, sich in der Ober¬
fläche des Kolloids konzentrieren. Leicht lösliche Stoffe
des Zellmaterials jenes Tieres, dem wir artfremde Zell¬
bestandteile injizieren, werden auf diese Weise im Blute
dieses Tieres angereichert. Bei der Mischung der betreffen¬
den artverschiedenen Zellsubstanzen zum Zwecke der
Prüfung auf die entsprechenden Reaktionen, wird dann die
Oberflächenspannung noch rascher, leichter und vollstän¬
diger herabgesetzt werden, die Lösungs- und Ausflockungs¬
erscheinungen also in verstärktem Maße zur Beobachtung
gelangen.
Ein anderes Beispiel möge illustrieren, wie durch Tem¬
peraturerhöhung chemische und physikalische Kräfte
der Zellen freiwerden können und Schutzwirkungen aus¬
üben. Die Folgen einer Temperaturerhöhung der Zellen um
1 bis 2°C, also Temperaturen, wie sie bei der Entzündung
oder beim Fieber leicht zustande kommen, bewirken un¬
mittelbar eine Verschiebung des Gleichgewichtes zwischen
Säuren und Basen, also eine Reaktionsänderung des Proto¬
plasmas. Die Dissoziationskonstante für Wasser steigl näm¬
lich viel schneller mit der Temperatur, als die der schwachen
Säuren (Kohlensäure, Alonophosphate). Da das Wasser als
schwache Base wirkt, findet auf diese Weise eine nicht un¬
beträchtliche Erhöhung der alkalischen Reaklion der Ge¬
webe statt (ein Drittel bis ein Viertel des normalen Betrages)
Saure Reaktionsprodukte, mögen sie bakterieller Herkunft
sein, oder solche, die dem Organismus selbst entstammen,
können auf diese Weise neutralisiert werden. Eine zweite
Bedeutung dieser Reaktionsänderung der Zellen besteht
darin, daß, das Wasserverbindungs vermögen jeder einzelnen
Zelle, das bei erhöhter Temperatur ohnehin gesteigert ist,
durch die Zunahme der Alkaleszenz noch weiter steigt. Das
Durstgefühl, die Trockenheit der Schleimhäute, die Harn
retention, deuten alle auf dieses gesteigerte Wasserbedürfnis
der Zellen im Lieber hin. So können toxische Produkte ver¬
dünnt und der Entgiftung leichter zugänglich gemacht
werden.
Die chemischen Schutzkräfte des Organismus
sind zum Teil dieselben, welche uns der Chemiker kennen
lehrt. Oxydationen, Reduktionen, Synthesen, Spaltungen.
(Vgl. das Schema.) Sie wirken alle in dem Sinne, daß
giftige (reaktionsfähige) Substanzen in mindergiftige (minder
reaktionsfähige), verwandelt werden. So entstehen aus Ami
den durch Oxydation der chemisch indifferente Harnstoff,
aus giftigen Aldehyden (Chloral) durch Reduktion minder-
giftige Alkohole (Trichloräthylalkohol) usw. Eine besondere
V ichtigkeit kommt den Synthesen zu. Die Substitutions¬
synthesen und Paarungen erschweren meist die Angreifbar¬
keit chemischer Substanzen durch Verlegung der r?aktions-
fähigen Seitenketten. Die Kondensationen bilden größere
Moleküle aus kleineren. Solchen großen Molekülen, welche
durch Wasser nicht mehr ohne weiters in Ionen zerlegt
(dissoziiert) werden, kommt, die Fähigkeit zu, sich nach
dem Älassenwirkungsgesetze zu Komplexen aneinander zu
lagern. Auf diese Weise entstehen große Oberflächen, denen
521
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Beispiele für die wichtigsten ent. gi
1. Oxydationen
von Aldehyden zu Säuren
» Alkoholen » »
» Nitriten » Nitraten
>n aromatischen Substanzen zu
tienolen, welche nach 3. Syn¬
thesen eingehen.
2. Reduktionen
von Aldehyden zu Alkoholen
(z. B. Chloral — > Trichloräthyl-
alkohol)
von Nitraten zu Nitriten*)
von Nitrogruppen zu Amino¬
gruppen
(z. B. Nitrobenzol — > Anilin)
ttenden Vorgänge in den Zellen:
3. Synthesen und Konden¬
sationen
(unter Wasserabspaltung)
Bildung von:
Estern (z. B. Fett aus Fettsäuren
und Glyzerin, Aetherschwefel-
säuren durch Paarung von Pheno¬
len an Schwefelsäure)
Glykosiden (z. B. Glykogen aus
Aldosen, Glykuronsäurebildung)
Hippursäure (aus Glykokoll u. Ben¬
zoesäure) ; Harnsäure, Kynuren-
säure, Nukleinsäure, Chondroitin-
schwefelsäure, Gallensäuren,
Uraminosäuren aus Karbamin-
säure und Aminosäuren
Säureamiden aus Säuren und
Aminosubstanzen (z. B. Harnstoff
aus C02 und NH3)
Peptiden und Polypeptiden aus
Aminosäuren
Eiweißkörpern aus Polypeptiden
Rhodaniden aus Zyanresten
Cholesterin und Cholesterinestern.
4. Spaltungen
Desamidierung, Entmethylierung,
Hydrolysen (unter Wasserauf¬
nahme)
(Polysaccharide — Monosaccha¬
ride, Eiweißkörper — *■ Amino¬
säuren)
*) Diese sind mit NH3 leicht umsetzbar, eine Reaktion, die im höheren Organismus wahrscheinlich nicht läuft.
e genannten Oberflächenkräfte (Adsorptionskräfte, elek-
ische Kräfte usw.) zukommen. Sie vermögen Wasser zu
[sortieren und mit großer Energie festzuhalten. Durch
ese Bildung von Molekülkomplexen mit großen Oberflächen
id spezifischem Wasserbindungsvermögen entstehen Kol-
ide aus Kristalloiden. So entstehen Polysaccharide aus
onosacchariden (Glykogen aus Aldosen), Eisweißkörper aus
dypeptiden und diese aus Aminosäuren. Die reversible
rtur all dieser Synthesen geht aus beistehendem Schema
>rvor.
Außer diesen rein chemischen Entgiftungsprozessen
nnen wir noch Schutzwirkungen mehr physikalisch-che-
ischer Natur. So seien jene Wirkungen erwähnt, welche
irch die verschiedene Beeinflussung von Kolloiden durch
ilze verschiedener chemischer Natur bedingt sind. Hie-
■r gehören die von J. Loeb beobachteten antagonistischen
irkungen von Kalzium- und Natriumsalzen und die in
ngster Zeit von Chiari und Januschike beobachteten
sudationshemmenden Wirkungen der Kalziumsalze. Ein
deres Beispiel, das gleichzeitig zeigt, wie die einzelnen
gane sich gegenseitig zu schützen vermögen, ist das Ver¬
ben der Muskelzellen und Hautzellen bei großen Wasser¬
dosten (Cholera, Säuglingsdiarrhöen). Wie wir aus dem
scheinen von Kaliumsalzen und Phosphaten im Harne
d dem Ansteigen der Natriumsalze im 'Muskel schließen
nnen, vertauscht die Muskelzelle bei großen Wasserver-
sten ihre Kaliumsalze gegen Natriumsalze. Aus Unter-
chungen voir J. Loeb wissen wir, daß Kaliumseifen viel
ehr Wasser zu binden vermögen als Natriumseifen. Es
rd also durch diese chemische Umsetzung die Muskelzelle
fähig!, Wasser für den Organismus disponibel zu machen
d auf diese Weise andere, lebenswichtige Organe, ins-
1 sonders das wasserreichste Organ, das Gehirn, vor Wasser
'Güsten zu schützen.
Neben den physikalischen und chemischen Schutz¬
haften des Organismus ist noch ein Faktor zu nennen, der
i der Besprechung der Schutz- und Heilwirkungen nicht
'ergangen werden darf: Der Einfluß der Zeit. Besonders
t fällig sehen wir bei Ferment Wirkungen, wie der
; Bliche Ablauf der Reaktion im Organismus wechselt. Je
1 ch der Aktivität der Fermente können alle obengenannten
' emischen Prozesse sehr langsam oder äußerst rasch ab
hfen, so beispielsweise die Entgiftung durch Synthesen,
»ndensationen, Oxydationen usw. Die Auslösung des Pre¬
ises muß mit der Beschleunigung nicht Hand in Hand
dien.
Da wir wissen, daß katalytische Prozesse häufig durch
1 'erflächenwirkungen ausgelöst werden (Beschleunigung
<r Zersetzung des Wasserstoffsuperoxyds durch Platin-
nor). da wir weiter wissen, daß fermentäbnliche und fer¬
mentative Prozesse sich durchwegs im kolloiden Medium
abspielen und dieses, wie erwähnt, sich vom kristalloiden
insbesondere durch die große Oberfläche seiner Kolloid¬
komplexe unterscheidet, werden wir kaum fehlgehen, wenn
wir die fermentativen Prozesse mit Oberflächenwirkungen
in einen ursächlichen Zusammenhang bringen. Ein Beispiel
dafür, daß chemische Reaktionen durch die Gegenwart
kleinster Mengen von anorganischen Kolloiden in spezifi¬
scher Weise intensiv beschleunigt werden können, ver¬
danken wir Abelous. Von den drei Dioxybenzolen nehmen
Hydrochinon und Brenzkatechin aus der Luft innerhalb
einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge von Sauerstoff
auf. Dieser Prozeß wird durch Spuren von kolloidem Man-
gansulfat oder Eisenhydrat enorm beschleunigt. Die be¬
schleunigende Wirkung ist für das Mangansalz viel stärker
bei Verwendung von Hydrochinon als für das Eisensalz. Für
das letztere hingegen viel stärker bei Verwendung von Brenz¬
katechin.
Die Schutzkräfte der Zellen entstehen also dadurch,
daß bei jeder Störung des Kräftegleichgewichtes der che¬
mischen und physikalischen Kräfte der Zelle Kräfte für
den Organismus disponibel werden, welche bisher ander¬
weitig gebunden waren. Die potentielle Energie dieser Kräfte
wird in chemische, elektrische, kinetische, thermische Ener¬
gie umgesetzt und kann als solche zur Erhaltung des Gleich¬
gewichtes oder zur Wiederherstellung des gestörten Gleich¬
gewichtes dienen. Durch das kolloide Milieu, in welchem
sich solche Energiewandlungen abspielen, können derartige
Kräfte in sehr kurzer Zeit intensive Wirkungen entfalten,
weil ihnen durch Bildung von Molekülkomplexen große
Oberflächen dargeboten werden, an denen sich, wie gezeigt
wurde, chemische und physikalische Vorgänge in anderen
Zeiträumen und mit anderer Intensität abspielen, als in
den dissozierten Molekülbestandteilen der kleinen Moleküle
kristalloider Medien.
Aus dem pharmakologischen Institut der deutschen
Universität in Prag.
Ueber die Zuverlässigkeit des Peptonnach¬
weises als Abbaureaktion bei der Anaphylaxie.
Von Priv.-Doz. Dr. Ferdinand Schenk.
Die von Biedl und Kraus angenommenen Beziehun¬
gen des anaphylaktischen Shocks zum Bilde der Pepton¬
vergiftung einerseits, die Tatsache anderseits, daß sich nach
Friedberger, in vitro durch Eiweiß -Eiweißanlikörper und
Komplement giftig wirkende Spaltprodukte vom Typus
des Anaphylaxiegiftes bilden, veranlaßten Pfeiffer, dem
522
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
es gelungen war, weitere übereinstimmende Symptome
beider Vergiftungsbilder beim Meerschweinchen festzustellen,
Untersuchungen in der Richtung zu unternehmen, ob sich
der hypothetische Abbau des Eiweißmoleküls im Gefolge
der Eiweiß-Antieiweißreaktion nicht auf dem Wege che¬
mischer Reaktionen in vitro nachweisen lasse. Die Unter¬
suchungen, welche Pfeiffer in Gemeinschaft mit Mita
vornahm, sollten feststellen, ob sich erstens während des
anaphylaktischen Shocks im Serum der Versuchstiere Spalt¬
produkte des Eiweißes von Peptoncharakter nachweisen
lassen und zweitens, ob ein Abbau des Eiweißmoleküls
stattfindet, wenn das Antigen auf das Serum . anaphylakti¬
scher Tiere in vitro unter geeigneten Versuchsbedingungen
einwirkt, bzw. ob ein solcher Abbau ausbleibt, wenn statt
des Antigens der Vorbehandlung ein anderartiger Eiwei߬
körper mit dem Serum des Versuchstieres zusammen¬
gebracht wird.
Die Versuche an Tieren während des anaphylaktischen
Shocks ergaben, daß im Serum keine Abbauprodukte des
Eiweißes von Peptoncharakter nachzuweisen sind.
Wurde hingegen unter entsprechenden Versuchsbedin¬
gungen das Serum anaphylaktischer Meerschweinchen mit
dem Antigen der Vorbehandlung gemischt, die Mischung
durch 24 Stunden im Brutschrank digeriert, so konnte jedes¬
mal in den enteiweißten Flüssigkeiten ein intensiver, aus
dem positiven Ausfall der Biuretreakiion erschlossener Ab¬
bau des Eiweißmoleküls bis zu Spaltprodukten von Pepton¬
charakter nachgewiesen werden.
Die Reaktion erwies sich als spezifisch, da ein solcher
Abbau weder durch die Sera normaler Meerschweinchen
an dem geprüften Antigen (Fferdeserum) noch durch
die Sera anaphylaktischer Meerschweinchen (Pferdeserum)
gegen ein andersartiges Antigen (Rinderserum) nachweisbar
war; es ist ferner nach Pfeiffer und Mita das proteoly¬
tische Vermögen der Sera anaphylaktischer Meerschweinchen
als eine ganz konstante Erscheinung aufzufassen, welche
schon bei einer intraperitonealen Vorbehandlung mit
0 01 cm3 Antigen nach fünftägiger Inkubation deutlich nach¬
weisbar ist und erst zwischen dem 45. bis 80. Tage ver¬
schwindet.
Diese von Pfeiffer und Mita als konstant und spe¬
zifisch bezeichnete Fähigkeit der anaphylaktischen Sera,
im Reagensglasversuch mit dem Antigen der Vorbehandlung
Spaltprodukte von Peptoncharakter zu liefern, schien mir
die geeignetste Methode, um die Richtigkeit der von mir in
einer früheren Mitteilung aufgestellten Behauptung, daß eine
Uebertragung des anaphylaktischen Reaktionskörpers auch
durch das Sperma erfolgen könne, zu prüfen.
In einer großen Versuchsreihe konnte ich damals einer¬
seits die Angaben anderer Autoren bestätigen, daß beim
Meerschweinchen die Ueberc mplindlichkeit für Pferdeserum
regelmäßig von der Mutter auf die Jungen übergeht, ander¬
seits habe ich im Gegensatz zu Rosenau und Ander¬
son gefunden, daß unter einer größeren Zahl von Neu¬
geborenen, welche von anaphylaktischen Männchen und 'nor¬
malen Weibchen abstammten, über ein Drittel nach Injek¬
tion von 2 cm3 Pferdeserum Symptome aufwiesen, wie sie
sonst nur anaphylaktische Tiere nach Reinjektion des ent¬
sprechenden Serums zeigen.
Da aber auch von normalen Eltern abstammende Neu¬
geborene in einer gewissen Zahl auf die Injektion (von
2 cm3 Pferdeserum mit, wenn auch leichteren Erscheinungen
reagierten, so war es mir erwünscht, in der Pfeif fern
Mitaschen Reaktion eine Methode zu besitzen, welche ge¬
eignet schien, eine definitive Entscheidung in dieser Frage
bringen zu können.
Ehe ich auf die Untersuchungen der Neugeborenen
einging, hielt ich es für geboten, die von Pfeiffer und
Mita mitgeteilten Befunde an erwachsenen Tieren mit ge¬
nauer Einhaltung der Versuchsanordnung und Methodik einer
Nachprüfung zu unterziehen.
Es wurden je sechs Meerschweinchen einmal, be¬
ziehungsweise dreimal mit 0 01 cm3 Pferdeserum intraperi¬
toneal injiziert und nach verschiedenen Zeiten (20. bis
40. Tag) entblutet. Das • Serum wurde in der Menge voi
4 cm3 mit 2 cm3 Pferdeserum gemischt, diese Mischung
24 Stunden bei 37° gehalten. Zur Kontrolle wurde Serun
von normalen unvorbehandelten Meerschweinchen ver
wendet, welches in der gleichen Weise mit Pferdeseurm ge
mischt und behandelt wurde, ferner Serum anaphylaktische]
Meerschweinchen mit Rinderserum gemischt und 24 Stun
den bei 37u digeriert, weiters Pferde-, bzw. Rinderserun
allein.
Was die Enteiweißung der Sera anbelangt, so wurch
dieselbe genau nach Pfeiffer und Mita durch Erhitzen be
schwach essigsaurer Reaktion vorgenommen, wobei aller
von diesen Autoren geforderten Kautelen volle Beachtum
geschenkt wurde.
Die Versuche ergaben, daß wohl in den meisten ana
phylaktischen Seris — in neun von zwölf Fällen — ir
dem nach erfolgter Koagulation eingeengten Filtrat Stoffe
nachzuweisen waren, die positive Biuretreakiion gaben, dal
dasselbe Verhalten jedoch bei nahezu ebensoviel noimaUi
Fällen — acht von zwölf — ebenso bei Pferde- und Rinder
serum allein konstatiert werden konnte, so daß daraus de>
Schluß gezogen werden muß, daßi das Auftreten voi
Körpern mit positiver Biuretreaktion n i c h
als für anaphylaktische Meerschweinchei
spezifisch angesehen werden kann.
Es lag nahe, zu vermuten, daß es hauptsächlich ai
der Methode des Auskoagulierens liegt, ob biurete Körpe
im Filtrat nachgewiesen werden können oder nicht. Jeder
der öfters Eiweißlösungen auskoaguliert, weiß, daßes äußers j
schwer, ja fast unmöglich ist, durch bloßes Aufkochei
einer Eiweißlösung bei schwach essigsaurer Reaktion voll
kommen eiweißfreie Filtrate zu erhalten. Denn selbst Sera
deren Eiweiß beim Aufkochen in großen Flocken ausfäll
und die vollkommen klar durchs Filter gehen und derer
klares Filtrat sich bei weiterem Kochen nicht mehr trübt
geben oft noch eine positive ■ Essigsäure - Ferrozyankali
reaktion. t
Winternitz hat durch vergleichende Eiweißbesthn
mungen auf gewichtsanalytischem und refraktometrischen
Wege gezeigt, wieviel Eiweiß der Koagulation entgehei
kann.
Wir wissen, daß der Salzgehalt und die Reaktion deij
Lösung die Koagulierbarkeit des Eiweißes beeinflußt.
In vollkommen dialysierten Eiweißlösungen ist. dar
Eiweiß überhaupt nicht koagulabel. Pfeiffer und Mita
haben auf die erhöhte Koagulationsfähigkeit durch Salzzu
satz wohl Rücksicht genommen und führen an, daß siel
die Uebersättigung der Filtrate mit Kochsalzlösung als nicht
gangbar erwies, da die in Frage kommenden Körper ir
der Hitze bei schwach essigsaurer Reaktion nicht mein
koagulieren, wohl aber durch eine Kochsalzsättigung mit
gerissen werden. Dasselbe Verhalten zeigten sie der Fäl
lungsmethode von L. Michaelis und P. Rona gegenüber
Die Fällung von Eiweißkörpern durch kolloides Eisen
hydroxyd ist heute wohl die beste Enteiweißungsmethode
und wir konnten uns davon überzeugen, daß auch Albu
mosen und Peptone diesem Fällungsmittel nicht entgehen,
so daß die Methode für die vorliegenden Untersuchungen
nicht in Frage kommt.
Was hingegen die Erhöhung des Salzgehaltes anlangt
so müssen wir auf die Versuche von Friedberger ver
weisen, der auch bei Verwendung der Enteiweißungsmelhode
von Hohlweg und Meyer positive Biuretreakiion bei den
Anaphylatoxinbildung in vitro fand. Diese Methode besteh1
darin, daß Serum mit einer Mischung gleicher Teile 1 °/oiger
Essigsäure und 5°/oiger Monokaliumphosphatlösung bis zur
sauren Reaktion gegen Lackmus, aber noch neutralen Re¬
aktion gegen Kongo versetzt und nach1 entsprechender Ver¬
dünnung mit Wasser unter Zusatz von Kochsalz bis zui
Halbsättigung der Gesamtflüssigkeit koaguliert wird. Bei
Anwendung dieser Methode fand Friedberger in lieber
einstimmung mit den Befunden von Pfeiffer und Mita
Nr 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
523
ii dom von den Präzipitaten abzentrifugierten Mcerschwein-
hensenim gleichfalls positive Biuretreaktion, sowohl bei
I Verwendung von Hammelserum, als auch von Pferdeserum
ur Präzipitatbildung. Bei Digerierung der mit inaktivierten
lestandteilen hergestellten Präzipitate mit inaktiviertem
[eerschweinchenserum wurde dagegen keine Biuretreaktion
■rzielt.
Nun führen aber Hohlweg und Meyer in der er¬
mähnten Arbeit selbst an, daß es ihnen bei Verwendung
on wenig gefärbtem Serum ausnahmslos gelang, ein voll
ommen klares und eiweißfreies Filtrat zu erhalten, welches
>ei nochmaliger Koagulation weder mit noch ohne weiteren
•äurezusatz irgendwelche Trübung erkennen ließ. Essig-
äure und Ferrozyankalium erzeugten keinen Niederschlag,
'annin gab deutliche Fällung, während die mit Milions
teagens, mit Quecksilberjod idjodkalium und ebenso die Biu-
etreaktion im nicht eingeengten Filtrate negativ ausfielen.
Das nach genauer Neutralisation etwa auf
/io bis V20 seines ursprünglichen Volumens ein-
eengte Fi 1 1 r alt ergab dagegen deutliche Biuret-
eaktion, sehr stiark positiv Moli sch s Reaktion,
ositive Reaktion mit Milions Reagens, während
nderseits mit d’en Alkaloidreagenzien: Pikrin-
ä 11 r e, Jodqueckjsilberjodk a 1 i u m, J o d w i s m u t-
alium und auch mit Kaliumf errozy anid und
Essigsäure eihe Reaktion nicht zu er re ichen war.
us diesen Angaben von Hohlweg und Meyer geht her-
or, daß das Auftreten von Körpern im1 Serum, die positive
iiuretreaktion geben und die selbst bei Erhöhung des Salz¬
ehaltes nicht koagulabel sind, als normal angesehen werden
mß. Es stimmt dies also mit meinen Beobachtungen über¬
in, daß nicht nur im anaphylaktischen, sondern auch im
ormalen Meerschweinchenserum, sowie auch im normalen
’ferde- und Rinderserum nach dem Auskoagulieren fposi-
ve Biuretreaktion im Filtrate erhalten werden kann, die
ei der von Pfeiffer und Mita angewandten Methode
enigstens zum Teile auf native, nicht koagulierte Eiweiß-
örper zu beziehen sein dürfte.
Eine quantitative Bestimmung des nicht koagulablen
leststickstoffes in den verschiedenen Seris zeigte ebenfalls
einen spezifischen Ausschlag, der etwa in dem Sinne Pfeif¬
ers gedeutet werden könnte. Um festzustellen, ob vielleicht
insichtlich des Gehaltes an Reststickstoff ein nennenswerter
nterschied zwischen Pferde- und Rinderserum besteht, wo-
nrch eventuell die Versuchsergebnisse von Pfeiffer und
Uta erklärlicher erscheinen würden, habe ich je 50cm'3
on frischem Pferde- und Rinderserum nach der Methode
on Hohlweg und Meyer auskoaguliert und deren De¬
alt an Reststickstoff bestimmt.
Dabei fand ich, berechnet für 50 cm3 Pferdeserum
■0233, für 50 cm3 Rinderserum 0-0212 g Stickstoff. Die
eiden Zahlen zeigen einerseits eine gute Uebereinstimmung
lit den von Hohlweg und Meyer angegebenen Werten
on Reststickstoff, anderseits differieren sie nicht in einem
olchen Grade, daß dadurch die Einheitlichkeit, und Konstanz
er Resultate von Pfeiffer und Mita verständlicher und
rklärlicher erscheinen könnten.
Zusammenfassend möchte ich noch einmal hervor¬
eben, daß es erstens bei keinem der in Retracht kom-
tenden Sera durch bloßes Auskoagulieren in der Hitze
ei schwach essigsaurer Reaktion (ohne Erhöhung der Salz-
onzentration) mit positiver Sicherheit gelingt, ein Filtrat
u erhalten, welches auf das ursprüngliche Volumen ein¬
oengt, keine Biuretreaktion gibt und daß zweitens infolge¬
essen das Auftreten der Biuretreaktion im Serum ana-
hylaktischer Meerschweinchen, das man mit dem Antigen
er Vorbehandlung in Reaktion treten läßt, nicht als für
>e Anaphylaxie spezifisch angesehen werden kann.
Literatur:
H. Pfeiffer und S. Mita, Experimentelle Beiträge zur Kennt-
s der Eiweiß- Antieiweißreaktion. Zeitschrift für Immunitätsforschung
>d exper. Therapie 1910, Bd. 6, H. 1. — F. Schenk, lieber den
ebergang der Anaphylaxie von Vater und Mutter auf das^Kind. Mün-
'ener med. Wochenschr. 1910, Nr. 48. — R. Winternit z. Zweiter
i Beitrag zur chemischen Untersuchung des Blutes rezent luetischer
Menschen. Archiv für Dermatologie und Syphilis 1910, Bd. 101, H. 2 u. 3.
I — E. Friedberger, lieber Anaphvlaxie. X. Mitteilung. Zeitschr. für
j Immunitätsforscbung und exper. Therapie 1910, Bd. 8, H. 2. —
II. Hohlweg und H. Meyer, Quantitative Untersuchungen über den
Reststickstoff des Blutes. Hofmeisters Beiträge 1908, Bd. 11, S. 381.
Aus dem pathologisch-anatomischen Institut der Univer¬
sität Zürich. (Direktor: Prof. Dr. M. B. Schmidt.)
lieber einen Fall ausgedehnter Lymphdrüsen-
tuberkulose.
Ein Beitrag zur Lehre von den Beziehungen der
Lymphdrüsentuberkulose zur Hodgkinschen Krankheit.
Von Dr. O. M. Cliiari, Assistenten am Institut.
Ich erlaube mir, hier über einen Fall zu berichten,
der, wie ich glaube, von einigem Interesse ist, weil er einen
Beitrag zur Charakteristik des vielgestaltigen Bildes: gibt,
unter dem die Tuberkulose im menschlichen Körper auf-
treten kann. Vielleicht tragen derartige Beobachtungen auch
zur Klärung der Frage bei, in welchem Zusammenhang ge¬
wisse Formen der Pseudoleukämie mit tuberkulösen Er¬
krankungen stehen, eine Frage, die gerade jetzt wieder durch
die Untersuchungen von Fränkel und Much,1) Sticker
und Löwenstein,“) Li chte nstern3) und andere neuer¬
dings aktuell geworden ist.
Ich beginne mit der Wiedergabe der Krankengeschichte
des Falles, für deren Ueberlassung ich dem Direktor der
hiesigen chirurgischen Klinik, Herrn Prof. Dr. Sauerbruch,
zu Dank verpflichtet bin.
B. M., 49 Jahre alte Hausfrau.
Bis zur jetzigen Erkrankung niemals ernstlich krank ge¬
wesen, nie bettlägerig. Vor zirka fünf Jahren bemerkte sie zum
ersten Male das Auftreten von rechtseitig gelagerten Halsdrüsen;
diese hätten bald ihre jetzige Größe erreicht, seien aber zuweilen
auf Jodbehandlung etwas kleiner geworden; die Drüsen seien
nie schmerzhaft gewesen.
Erst im Laufe des Sommers 1910 bemerkte die Patientin,
daß sie schwerer atmen mußte als sonst; eine kleine Anstren¬
gung schon genügte, um intensives Keuchen hervorzurufen. Dabei
hustete die Patientin viel und konsultierte deswegen nacheinander
mehrere Aerzte, die ihr erfolglos Medizin aufschrieben.
Seit Oktober 1910 v erseht i nitrierte sich der Zustand
rapid. Die kleinste Bewegung rief pfeifende Atmung hervor, der
Husten verstärkte sich jedoch nicht. Auswurf war immer spär¬
lich vorhanden; nur ein einziges Mal war derselbe blutig. In
den letzten Monaten starke Gewichtsabnahme, Appetit mangel¬
haft. Die Patientin beobachtete, daß sie nach Nahrungsaufnahme
stets schlechter atmete als sonst.
Status praesens: Mittelgroße Frau von leicht kachek-
tischem Aussehen; fehlendes Fettpolster, atrophische Musku¬
latur, graziler Knochenbau. Die Patientin geht langsam und
müde, hörbarer Stridor beim Gehen; muß schon nach wenigen
Schritten wegen wachsender Dyspnoe stehein bleiben. Stimme
klar und laut, nicht belegt. Gesicht gebräunt, leicht zyanotisch,
Pupillen gleich weit reagieren prompt. Die Atmung geht bei
geschlossenem Munde vor sich, kaum merkliches Nasenflügel-
atnien, starke Beteiligung der auxiliären Halsmuskeln, inspira¬
torischer Stridor und inspiratorische Einziehung in den Inter¬
kostalräumen ; kein Zurückbleiben einer Thoraxhälfte. Bauch¬
muskulatur betätigt sich schwach bei der Atmung.
Vor dein Ansatz des rechten Muscülus sternocleidomastoi-
deus„ am Processus mastoideus, liegt eine nußgroße harte, be¬
wegliche, nicht druckempfindliche Drüse; zwei weitere von gleicher
Beschaffenheit und Bohnengröße am vorderen Skalenusrand.
Schilddrüse in normaler Lage, nicht vergrößert.
Thorax: Infra- und Suprakläviku largruben beiderseits
gleichmäßig eingesunken. Rippenknorpel stark verknöchert.
Thorax nicht federnd. Rechte Lunge: Oben normaler Schall,
vorne von 'der vierten Rippe, hinten vom fünften Processus
spinosus an nach abwärts eine rasch absolut werdende Dämpfung.
Aufgehobener Stimmfremitus über der Dämpfung. Oberhalb der
selben verlängertes und verschärftes In- und Exspirinm, ah- und
zu vereinzelte Rhonchi. lieber der Dämpfung verschärftes Atmen,
keine Rasselgeräusche. Nach unten geht die Dämpfung in die
Leberdämpfung über. Punktion ergibt klares, bernsteingelbes, ei¬
weißreiches Exsudat. Linke Lunge: Ueberall normale Verhält¬
nisse. Herz etwas nach links verschoben. Auskultationsbefund
524
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
normal. Spitzenstoß etwas hebend und verbreitert, 1 cm außer¬
halb der Mamillarlinie.
lieber dem Sternum liegt eine handtellergroße Dämpfungs¬
zone, die bis zur Incisura costalis II. nach oben reicht und
nach links in die Herzdämpfung, nach rechts in die beschrie¬
bene absolute Dämpfung übergeht. (Tumor?) Im Röntgenbildo
sieht man der Dämpfung entsprechend einen deutlichen, helleren
Schatten, der links ausgeprägter als rechts, dem Herzschatten
aufsitzt.
Pharynx und Larynx normal.
Bronchoskopie: Der Tubus kann bis zur Bifurkation
leicht eingeführt werden. Am Abgang des rechten Bronchus er¬
scheint eine höckerige, granulationsähnliche Wucherung von etwa
Bohnengröße, die in das Lumen hineinragt und es verengt. Diese
Wucherung wird für Tumor (Karzinom) gehalten.
Abdomen ohne pathologische Veränderungen, Temperatur
normal, Urin frei von abnormen Bestandteilen.
Diagnose: Auf Grund des ganzen Befundes wurde
primäres Karzinom des rechten Stammbronchus angenom¬
men, das sekundär zu einem metastatischen Lymphdrüsen-
tumor im Mediastinum geführt hatte.
Mit Rücksicht auf das gute Allgemeinbefinden hielt
man trotz des Vorhandenseins vom Lymphdrüsentumoren
den Versuch einer Radikaloperation für gerechtfertigt.
0 per a t i o n (Prof. Dr. Sauerbruch): U eberdruckäther-
narkose. Großer, quer über dem Sternum verlaufender Haut¬
schnitt, in der Höhe des zweiten Interkostalraumes, beiderseits
bis an die Knorpelknochengrenze der Rippen reichend. Die Weich¬
teile werden bis auf den Knochen, respektive das Brustfell durch¬
trennt.
Um an den rechten Bronchus zu gelangen, erscheint es
am besten, das Mittelfell von der rechten Pleurahöhle aus zu¬
gänglich zu machen. Zu diesem Zwecke wird die Pleura im
zweiten Interkostalraum durchtrennt und außerdem die zweite
Rippe- vom sternalen Ansätze an 10 cm weit reseziert. Bei der
Durchtrennung der Pleura entleert sich ziemlich reichlich klares,
gelbes Exsudat. Die Arteria mammaria interna wird verletzt;
ihre Unterbindung ist wegen, des Zurückschlüpfenß des oberen
Endes erschwert. Durch Einsetzen des Rippensperrers wird der
Zugang zur Brusthöhle noch erweitert, so daß man jetzt bequem
den oberen Abschnitt der Pleurahöhle und das Mittelfell der
rechten Seite- übersieht. Am Lungenhilus fühlt man unmittelbar
an der Umschlagstelle des Mittelfelles am Bronchus einen derben,
knolligen Tumor, der seiner Lage- nach vom Bronchus ausgeht
und zunächst mit dem bronchoskopisch festgestellten Tumor iden¬
tifiziert wird.
Das Mitte-lfell wird durch einen Längsschnitt von rechts
gespalten und der Mittelfellraum dadurch eröffnet. Es stellt sich
nun heraus, daß der vorher gefühlte Tumor größer ist, als zuerst
konstatiert werden konnte und sich aus drei Teilen zusammen¬
setzt. Ein Knoten liegt am Abgang des rechten Bronchus von
der Trachea und erstreckt sich bis in die Lungenwurzel hinein.
Ein zweiter Knoten liegt oberhalb der Bifurkation, ist mit der
trachea verwachsen und der dritte Tumoranteil1 lie-gt noch höher
und setzt sich aus einzelnen kleineren Knoten, die zu beiden
Seiten der Trachea liegen, zusammen. Während der untere Teil
des Tumors sich gut isolieren läßt, Vena anonyma und Arteria
pulmonalis sich gut aus der Umgebung ausschälen lassen, kann
man von hier aus noch nicht volle Einsicht in die Verhältnisse
im oberen Mittelraum gewinnen. Deshalb wird das Brustbein
in der Höhe des zweiten Interkostal'raumos quer gespalten und
der obere Abschnitt, des Brustkorbes nach oben, der untere nach
unten durch eingesetzte Haken auseinandergezogen. Man über¬
sieht jetzt sehr schön den ganzen Mittelraum, erkennt aber, daß
die Entfernung des oberen Tumorknotens infolge zu fester Ver¬
wachsung mit der Nachbarschaft unmöglich ist. Aus diesem
Grunde wird von einer Radikaloperation Abstand genommen.
Außerdem entdeckt man jetzt in der Pleura parietalis zahlreiche
graue Knötchen, die den Eindruck einer Karzinose derselben
machen.
Die Operation wird deshalb abgebrochen, das Sternum durch
Knochennähte wieder zusammengefügt und die Weichteilwunde
in zwei Etagen geschlossen.
Während der Operation waren bedrohliche Zustände bei
der Patientin nicht eingetreten, trotz des großen Eingriffes waren
Puls und Atmung unmittelbar nach der Operation gut. Erst
einige Stunden später wird die Atmung oberflächlicher, der Puls
kleiner und unter Zeichen von Herzschwäche erfolgte am Abend
des 17. Januar der Tod.
Die Sektion, die von mir am 18. Januar 1911 aus.
geführt wurde, ergab folgenden Befund:
Mittelgroße weibliche Leiche von ziemlich kräftigen
Knochenbau, mäßig gut entwickelter Muskulatur, mit geringen
Fettpolster. Die Haut blaß, am Rücken ziemlich gut sichtbar-
Totenflecke. Pupillen mittelweit, gleich, Lippen blaß, Hals dick
kurz. An der rechten Halsseite, längs des Musculus sternocleid--
mastoideus angeordnet, mehrere bis Nußgröße geschwellte, vei
schiebliehe Drüsen in der rechten Axilla,; ebensolche auch ai
der linken Halsseite. 5 cm unterhalb der Incisura juguiaris stern
verläuft quer über den Thorax eine 22 cm lange Operationswunde
Die Brustdrüsen schlaff, die Mammillae eingez-ogen. Die Hau
des Thorax gibt bei Berührung das Gefühl des Knisterns, h
der Bauchhaut alte Schwangerschaftsnarben. Zwerch fellstam
rechts Unterrand der sechsten, links Oberrand der Siebentel
Rippe.
Bei Eröffnung der Brusthöhle ergibt sich folgender Befund
zweite Rippe rechts im vorderen Anteil entfernt, rechte Lunge
teilweise kollabiert, durch einige Nähte- an die parietale Pleuu
fixiert. Im Pleuraraum etwa zwei Liter blutig tingierter Flüssig
keit ; die Pleura costalis und diaphragmatica übersät mit dick
stehenden miliaren und etwas größeren grauen, durchscheinende!
Knötchen. An der größten Krümmung der fünften Rippe ist dir
Pleura durch eine taubene-igroße Geschwulst vorgetrieben, an¬
der sich beim Einscbneiden dicker, rahmiger Eiter entleert; ahn
liehe Anschwellungen an. der fünften und sechsten Rippe, naht
der Wirbelsäule; diese bestehen aus weißem, weichem Gewebe
das den Knochen völlig usuriert hat. Das He-rz stark nach links
verdrängt. Gaumentonsillen groß, höckerig; die rechte schließ
mehrere käsige, unregelmäßig begrenzte Herde ein ; Zungenpapillcr;
stark prominent. Thyreoidea in Größe und Bau normal. Von ihi
an ziehen beiderseits der Luftröhre geschwellte Lymphdrüsen
die- besonders rechts teilweise- verkäst sind. Ihre Größe schwank-
zwischen Erbsen- und Nußgröße; die kleineren vorwiegend aii
der linken Halsseite, ziemlich derb, von rötlich-grauer Schnitt
fläche; einzelne am Oesophagus gelegene Drüsen von rein weißei
Farbe und eher markiger Beschaffenheit. Am Uebertritt in der
Thoraxraum bilden die Drüsen der rechten Seite- ein größeres
Paket, in dem die einzelnen Drüsen miteinander ganz verschmölze!’
sind. An der Bifurkation der Trachea liegt ein annähernd kn
g-eliger, an den Rändern stellenweise anthrakotischer Lymph
drüsentumor von einem Durchmesser von etwa 6 cm, der mil
dem Sporn der Trachea und mit beiden Hauptbronchien inn io
zusammenhängt. Er durchsetzt die Hinterwand beider Haupt j
bronchi-en unter Zerstörung der Knorpe-lspangen und bildet an
der Innenfläche ein Polster von höckerigen, mehrere MillimeÜ!
hoben, recht derben Knötchen, das sich in beiden Stammbronchieni
von der Abgangstelle 6 cm weit peripher erstreckt; der vordere
Anteil der Innenfläche der Hauptbronc'hien zeigt normale Schleim
haut. A-ehnliche Knötchen finden sieh noch in einzelnen Bronchien
erster Ordnung. Während der Tumor im allgemeinen, auch dort
wo -er in die Bronchial wand eindringt, von derber Konsistenz;
und weißer Farbe mit angedenteter Streifung ist, findet sich im
Zentrum eine kirschsteingroße Erweichungshöhle, von der eine
Fistel in den hier durch den Tumor stark nach links verdrängten
Oesophagus führt. Beiderseits am Lungenhilus mehrere stark
anthrakotisch-e Drüsen mit zentralen Käseherden. Auch an der
Pleura visceralis der rechten Seite, besonders an der Hinter-
Hache, nahe dem Hilus, zahlreiche miliare Knötchen. Beide
Lungen stark anthrakotisch, überall lufthaltig, die Ünterlappen
blutreich. Im Herzbeutel wenig ganz leicht getrübtes Serum.
Das Herz von entsprechender Größe, Mitralklappen am freien
Rande leicht verdickt, der Klappenapparat im übrigen intakt.
Keine Thromben in den Pulmonalarterien. In der Aorta nur un¬
bedeutende Intimaverdickungen. Die Milz nicht vergrößert, von
schlaff elastischer Konsistenz, Trabekel deutlich. Nebennieren
ohne Veränderungen. Nierenoberfläche glatt, das Parenchym an¬
scheinend normal. An der Kardia mehrere auffallend derbe, leicht
rötliche, kirschgroße Lymphdrüsen. Die Magenschleimhaut im
Fundus stark injiziert. Gallenwege ohne- pathologischen Befund.
In der Leber finden sich sowohl an der Oberfläche, als auf der
Schnittfläche ziemlich zahlreich (etwa drpi bis vier auf dem
Hauptschnitt) gelbweiße, runde Knoten von Hanfkorn- bis Erbsen¬
große, die manchmal miteinander konfluieren, häufig binde¬
gewebig gegen die Umgebung abgekapselt erscheinen und von
recht derber Konsistenz sind; im übrigen bietet die Leber das
Bild der Stauungsleber mäßigen Grades. Pankreas, Darmkanal
ohne pathologischen Befund.
D-er Uterus dickwandig, seine Schleimhaut leicht, gerötet,
an der Portio mehrere Ovula Nabothi. Die Mesenterialdrüsen
nicht vergrößert, die Inguinaldrüsen, besonders rechts, hyperä-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
misch und etwas derb. Desgleichen die Axillardrüsen links, die
etwas vergrößert erscheinen. Die Axillardrüsen der rechten Seite
bis zu Nußgröße geschwellt, verhalten sich wie die Halsdrüsen
rechts. Kopfsektion unterblieben; im Knochenmark des Sternums
keine Veränderungen.
P a t h o 1 o g i s c h!- a n a to mische Di a g n ose: Media
stinaler tuberkulöser Lymphdrüsentumor mit starker Stenn
sierung beider Stammbronchien und teilweiser Durchsetzung
ihrer Wand. Pleuritis tuberculosa; Rippenkaries; ausge¬
dehnte Lymphdrüsentuberkulose (Hodgkin ?).
Die histologische Untersuchung ergab in allen
erkrankten Organen den Befund von tuberkulösem Granu¬
lationsgewebe. Ich kann mich daher hierüber kurz fassen
und möchte nur auf einige hauptsächliche Momente Inn-
weisen.
An dem mediastinal gelegenen Tumor ist nur mehr
am Rande, wo er anthrakolisch ist, Lymphdrüsengewebe
vorhanden, im übrigen ist er aus derbem, größtenteils hya¬
linem Bindegewebe aufgebaut, in dem zahlreiche epitheloide
i'uberkel, meist mit Langhansschen Riesenzellen, liegen;
zwischen den Bindegewebsbalken ziehen stellenweise
Stränge von dicht liegenden Lymphozyten, unter denen sich
sehr viele Plasmazellen (Methylgrün - Pyroninfärhung) finden.
Lymphozytäre 1 uberkel sind nicht zu sehen. Der geschilderte
Aufbau bleibt an verschiedenen Stellen des Tumors an¬
nähernd derselbe; nur dort, wo dieser die Bronchialwaml
lurchsetzt, ist das Bindegewebe schwächer ' entwickelt und
cs liegen die epitheloiden Herde näher aneinander; auch
die sich in das Bronchiallumen vorwölbenden Teile des
Tumors bestehen größtenteils aus epitheloiden Knötchen,
zwischen denen das Bindegewebe ganz zurück! ritt und durch
sehr dichte Lymphozytehstränge ersetzt wird. Von der ur¬
sprünglichen Bronchialwand ist nichts mehr außer einzelnen
Resten der Knorpelspangen und allseits umwachsenen
Truppen von Schleimdrüsenzellen zu erkennen. Vielleicht
können aus so isolierten Drüsenzellen Riesenzellen ent¬
stehen; der Knorpel erleidet eine bindegewebige Metamor¬
phose, die sich an den Präparaten gut verfolgen läßt. Wäh-
•end sich hier nirgends Anzeichen von Nekrose finden, ist
ps am unteren Pole der Geschwulst zu Erweichung und
Durchbruch in den Oesophagus gekommen. Mikroskopisch
st die Wand dieser Zerfallshöhle durch außerordentlichen
Reichtum an Lymphozyten und polynukleären Leukozyten
lusgezeichnet, doch ist hier keine fortschreitende Verkäsung
cii konstatieren. Vielleicht rührt der Reichtum an Leuko-
cyten in der Wand von einer vom Oesophagus aus erfolgten
sekundären jnfektion her.
Schon makroskopisch erwies sich ein großer Teil des
-ymphdrüsenapparates erkrankt. Histologisch wiederholt
-ich hier das eben vom Mediastinaltumor geschilderte Bild,
uir ist der Prozeß in verschiedenen Stadien zu verfolgen.
Vusgedehnte \ erkäsung findet sich in den; Drüsen der rechtein
lalsseite, kleinere verkäste Herde auch in solchen der
inken Halsseite und der rechten Axilla. Es muß hervor-
kehoben werden, daß auch hier fast ausschließlich Riesen-
.ellen führende Epitheloidzellentuberkel vorhanden sind
nid daß größere Lymphozytenansammlungen nur hie und
lain den Spalten zwischen den epitheloiden Knötchen liegen,
n einer noch nicht verkästen rechtseitigen Zervikaldrüse
lüden sich Züge zellreichen Granulationsgewebes, in dem
ereinzelt mehrkernige Zellen vom Typus der von Stern-
>erg bei Hodgkin scher Krankheit beschriebenen Riesen-
lollen Vorkommen. Auf diesen recht vereinzelten Befund
:ann man natürlich nicht zu viel Wert legen, doch glaubte
Oi, ihn anführen zu sollen. Sehr stark prävalierl das Binde-
ewebe an den Drüsen der Kardia, die sich durch besonders
lerbe Konsistenz ausgezeichnet hatten; Verkäsung ist an
luien nicht zu konstatieren. Die Anfangsstadien des Pro-
f'sses finden sich wohl in den von der mutmaßlichen Ein
eil tspfovte — der Tonsille entferntest liegenden Inguinal -
Irüsen. Diese zeigen außer beträchtlicher Hyperämie eine
anfallend starke Entwicklung des Bindegewebes um’ -die
"däße und an den Sepien, ferner aber auch eine fleckweise
auftretende Verdickung des Retikulums selbst. Noch deut¬
licher ist dies an den linkseitigen Axillardrüsen ausge¬
sprochen. Hier ist herdweise das lymphatische Gewebe ganz
verdrängt durch die Verbreiterung der Retikulumfasern. So
entstehen helle, zellarme Herde im Lymphdrüsengewebe, (die
aber natürlich leicht von Keimzentren unterschieden werden
können.' Wenn auch die eben geschilderten Veränderungen
nichts für den tuberkulösen Prozeß Charakteristisches auf¬
weisen, glaube ich doch, besonders im Hinblick auf die
vielfachen Versuche über die Wirkung abgeschwächter Tu¬
berkelbazillen auf das Gewebe, in denen ebenfalls ähnliche,
nichl mehr für den Erreger spezifische Veränderungen er¬
zeugt werden konnten, in ihnen ein Teilstadium ries tuber¬
kulösen Prozesses erblicken zu können. Manche Schnitte
von Kardiadrüsen zum Beispiel, die, wie aus dem bakterio¬
logischen Befunde entnommen werden kann, sicher tuber¬
kulös affi ziert waren, lassen ein ganz ähnliches Bild er¬
kennen, in dem nur die bindegewebige Hyperplasie des
-Retikulums eine noch bedeutendere Ausdehnung erfahren
hat, als hier.
Ich glaube überhaupt, daßi die Rolle des Bindegewebes
hei manchen Formen tuberkulöser Lymphadenitis eine kom¬
pliziertere ist, als man gewöhnlich annimmt. Seine Hyper¬
plasie bedeutet keineswegs einen lokalen Stillstand des Pro¬
zesses, es erliegt im Gegenteil gerade auch das hyalin
gequollene Bindegewebe leicht Veränderungen, die zur Bil¬
dung von epitheloiden Tuberkeln oder direkt zur Verkäsung
des Bindegewebes führen. Ein derartiger Aufbau und Zerfall
des Bindegewebes kann wohl öfters hintereinander erfolgen,
bis entweder völlige Verkäsung oder schließliche binde¬
gewebige Induration und wirkliche Vernarbung eintritt.
Interesse hot noch das histologische Verhalten der
Leberherde. Sie bestehen im allgemeinen aus einem binde¬
gewebigen Zentrum, in dem einzelne epitheloide Knötchen
und typische L an gh a ns sehe Biesenzellen liegen. Der Rand
des Herdes wird von zellreichem Granulationsgewebe ein¬
genommen. Dieses breitet sich von hier aus radiär in den
Leberkapillaren aus, dringt in die Leberzellbalken ein und
es entstehen so an der Peripherie des großen Knotens kleine
Herde von netzartig aufgebautem Granulationsgewebe, das
in seinen Maschen noch1 einzelne Leberzcllen und Blutzellen
aus den Kapillaren einschließt. Allmählich verliert das junge
Bindegewebe seinen Zellreichtum und durch Quellung seiner
fasern werden die eingeschlossenen Zellen förmlich er¬
drückt, so daß auch hier ein ähnliches Bild wie in den
Lymphdrüsen und den älteren Leberherden entsteht, ein
grobbalkiges Bindegewebe, in dem sich weiterhin epi¬
theloide Knötchen etablieren. In Analogie zu den Ver¬
änderungen des Lymphdrüsenretikulums scheint mir auch
hier der Prozeß wenigstens in seiner ersten Entwicklung
durch entzündliche Hyperplasie des Stützgerüstes charak¬
terisiert zu sein, während die Bildung von lymphozytären
Knötchen, wenigstens in den Frühstadien, nicht zu beob¬
achten ist. An einem größeren Herde fanden sich zahlreiche
kleine verkäste Bezirke im Zentrum. Eine Beziehung der
Tuberkel zu Gallengängen konnte nicht erwiesen werden.
Im übrigen bietet die Leber das1 Bild venöser Stauung mit
starker Dilatation der zenl raten Gefäßabschnitte.
Die Tuberkel der Pleura sind ausschließlich epitheloide
Riesenzellentuberkel, es findet sich an ihnen nirgends Ver¬
käsung. An den affizierten Rippen ist der Knochen bis auf
kleine Reste durch das tuberkulöse Granulationsgewebe ver¬
drängt, das sich auch hier wieder bei bedeutender Tendenz
zur Verkäsung durch seinen Reichtum an hyalinem Binde¬
gewebe und au großen Epitheloidzellenknoten auszeichnet.
Die übrigen Organe bieten keine erwähnenswerten histo¬
logischen Veränd e ru ng e n .
Es gelang mir weder in zahlreichen Schnittpräparaten,
noch vermittels des Anliforminverfahrens, Tuberkidbazillen
nachzuweisen. Dagegen konnte ich an Schnitten des Haupt-
lumors, der Leberherde, der Pleura und der meisten Drüsen
Gram - positive Granula nachweisen, die morphologisch völlig
526
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
den Much sehen Granulis glichen und gleich diesen nach
Antiforminbehandlung und im Schnittpräparat mit der
Gram II -Methode darstellbar waren. Ich möchte gleich
betonen, daß ich den Befund im Schnittpräparat nur
dann als positiv ansah, wenn ich an den Granulis noch
deutlich die Lagerung innerhalb eines allerdings ungefärbten,
in seinen Konturen aber gerade noch sichtbaren Stäbchens
konstatieren konnte, das Vorhandensein von einzeln lie¬
genden Granulis oder solchen ohne deutlichen Stäbchenver¬
band aber nicht als entscheidend erachtete, wenn ich auch
der Ueberzeugung bin, daß es sich, auch hiebei um Muc la¬
sche Granula gehandelt habe. Am reichlichsten u. zw. in
ganzen Häufchen oder längere, leicht gebogene Ketten bil¬
dend, lagen sie im Haupttumor, jedoch ähnlich den Tuberkel¬
bazillen auch hier nur streckenweise und in ganz ungleich¬
mäßiger Verteilung. Nächstdem waren sie am Rande der
Käseherde in den Lymphdrüsen ziemlich reichlich, am spär¬
lichsten aber in den Leberherden zu finden.
Durch den Befund der Much sehen Granula ist die
schon aus dem histologischen Befunde leicht zu stellende
Diagnose auf Tuberkulose bestätigt worden, die freilich aus
dem makroskopischen Verhalten der Bronchienaffektion nicht
leicht zu stellen war. Soweit mir die diesbezügliche Lite¬
ratur bekannt ist, ist eine derartige, als Tumor imponie¬
rende tuberkulöse Erkrankung der Bronchialwand noch nicht
beschrieben worden. Eine sekundäre tuberkulöse Affektion der
Bronchien, die durch Durchbruch verkäsender Lymphdrüsen
durch die Wand erfolgt, ist ja an sich nichts Seltenes; das
Besondere meines Falles scheint mir aber darin zu liegen,
daß das tuberkulöse Granulationsgewebe ganz nach Art eines
malignen Neoplasinas die Lymphdrüsenkapsel durchbrochen
und die Bronchialwand durchsetzt hat, ohne daß es ,zu
einer Erweichung und Einschmelzung in ihm gekommen
wäre. Auch die mediastinal gelegene Lymphdrüsen-
geschwulst selbst ließ an Neoplasma denken u. zw. weniger
wegen ihrer Größe, als wegen der derben Konsistenz und
der homogenen Beschaffenheit ohne verkäste Einschlüsse.
Derartige Fälle, wo große tuberkulöse Lymphome als echte
Tumorknoten angesehen wurden, sind nicht allzuselten. A s-
kanazy4) hat in einer Arbeit aus dem Jahre 1897 die
bezügliche Literatur gesammelt und selbst zwei Fälle von
Pleuratumoren tuberkulöser Natur beschrieben. 1905 be¬
schrieb v. Schrötter5) einen außergewöhnlich großen
mediastinalen Lymphdrüsentumor tuberkulöser Genese. In
teressant ist es, daß sich in beiden Fällen Askanazys,
sowie in meinem Falle große Lebertuberkel fanden, die ja
an sich schon ziemlich selten sind; die weitaus überwie¬
gende Form der disseminierten Lebertuberkulose bleibt das
miliare Knötchen.
In meinem Falle lag fernerhin eine über den größten
Teil des Lymphdrüsenapparates ausgedehnte tuberkulöse Er¬
krankung vor, ein Moment, auf das ich noch etwas ein-
gelien möchte. Die Beziehungen generalisierter Lymph-
drüsentuberku losen zu gewissen Formen der Pseudoleuk¬
ämie, nämlich den sogenannten Granulomatosen des lym¬
phatischen Apparates, erfahren noch recht verschiedene Deu¬
tungen. Sternberg hatte bekanntlich für die von ihm
beschriebenen Fälle von Pseudoleukämie, die durch ein
spezifisches Granulationsgewebe charakterisiert sind, das
Tuberkulosevirus, allerdings vielleicht in abgeschwächter
Virulenz, als ätiologischen Faktor angenommen. Während
dieser Ansicht, von amerikanischer Seite besonders, heftig
widerstritten wurde und man jeden ursächlichen Zusammen¬
hang zwischen dieser Erkrankung und Tuberkulose leugnen
wollte, war man in Deutschland wenigstens zum Teil geneigt,
einen solchen anzuerkennen. Gerade in letzter Zeit scheint
aber Sternbergs Ansicht durch neue Untersuchungen
gestützt zu werden. Es gelang nämlich Fränkel und
Much unter 13 Fällen dieser jetzt gewöhnlich Hodgkin-
sche Krankheit benannten Erkrankung, zwölfmal, antifor-
minfeste Granula nachzuweisen, die sich in morphologischer
Hinsicht nicht von den Much sehen Tuberkulosegranulis
unterschieden, nach der Ansicht der Autoren zumindest also
eine dem Tuberkulosevirus nahe verwandte Form darstellen.
Sticker und Löwenstein haben kürzlich berichtet, daß
sie durch neuerliche Tierversuche die tuberkulöse Natur
der Hodgkin sehen Krankheit feststellen konnten; wahr¬
scheinlich handle es sich um den Typus bovinus. Ferner
ist eine Mitteilung von Lichtenstern von Interesse, der
durch Ueberimpfung von Drüsenpartikelchen eines an Hodg-
kin scher Krankheit Verstorbenen auf Meerschweinchen,
bei diesen eine wenig aktive Tuberkulose erzeugte, die der
Hodgkinschen Krankheit völlig identische Lymphdrüsen
Veränderungen hervorrief.
Den Fällen H o d g k i n scher Krankheit stehen die
echter tuberkulöser Lymphadenie gegenüber; auch von
solchen ist eine größere Anzahl beschrieben worden. Sie
sind durch das typische histologische Bild der Lymphdrüsen-
tuberkulose gekennzeichnet. N a e g e 1 i G) hat die Hodgkin-
sche Krankheit, die tuberkulöse und syphilitische Lymph¬
adenie unter dem Namen der Lymphogranulomatosen ver¬
einigt und eine unter seiner Leitung von Chotimsky7)
geschriebene Arbeit handelt von einem Falle tuberkulöser
Pseudoleukämie. Hier wäre auch mein Fall, wenn man die
Ausbreitung des Prozesses als für den Namen Lymphadenie
genügend erachtet, einzureihen, wenn er auch anatomisch
durch seine Verbreitung auf die Bronchien, durch die auf¬
fallende Härte einzelner befallener Drüsen an Hodgki ti¬
sche Krankheit erinnerte. Vielleicht ist diese Aehnlichkeit
doch keine zufällige, sondern durch die Eigenart des Er¬
regers verursacht. Es fanden sich, wie schon erwähnt, nur
Much sehe Granula, keine säurefesten Stäbchen in den
erkrankten Organen. Freilich ist es ja eine Erfahrungssache,
daß die Tuberkelbazillen gerade bei Lymphdrüsenaffektion
oft nur ungemein spärlich vorhanden sind und man kann
sich stets den Einwurf machen, daß man bei fortgesetztem
Suchen auch noch Bazillen gefunden hätte. Ich glaube, daß
ein derartiger Befund keine wesentliche Bedeutung gehabt
hätte; die Mehrzahl der Erreger befand sich sicher im Zu¬
stande der granulären Form und darauf möchte ich das
Hauptgewicht legen.
Die Anschauungen darüber, welche Rolle die granu¬
läre Form des Tuberkulosevirus in dessen Lebensschick¬
salen spielt, sind ja heute noch ziemlich different. Das
darf man wohl als feststehend betrachten, daß sie eine
weniger virulente Form darstellt.. Es ist nun nicht uninter¬
essant, wenn man das Eigenartige der tuberkulösen Affek¬
tion meines Falles mit den Veränderungen, die am tierischen
Körper durch Einverleibung künstlich abgeschwächter Tu¬
berkelbazillen erzeugt werden, vergleicht. Bartel8) hat
die durch geschwächtes Tuberkulosevirus gesetzten histo¬
logischen Veränderungen dahin gekennzeichnet, daß er sagt,
der Tuberkelbazillus behalte nach Verlust seiner exsuda¬
tiven Wirkung auf das Gewebe eine produktiv wirkende
Komponente. Das wird durch vielfache, von verschiedenen
Seiten mit abgeschwächten Bazillen vorgenommene Ver¬
suche erhärtet, auf die hier nicht näher eingegangen werden
kann.
Diese Tendenz zu Bindegewebsproliferation verleiht
auch dem tuberkulösen Prozeß in meinem Falle ein etwas
abweichendes Gepräge und nähert ihn in etwas dem histo¬
logischen Bilde der Hodgkin sehen Krankheit, mit. der
er auch das Vordringen in die Nachbarorgane nach Art eines
malignen Neoplasinas gemeinsam hat.
Literaturangaben:
') Fränkel und Much, Hodgkinsche Krankheit. Zeitschr. für
Hygiene 1910, Bd. 67, H. 2. — 2) Sticker und Löwen stein.
Lymphosarkom und Tuberkulose. Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins.
Mai 1910. Ref. Deutsche med. Wochenschr. 1910, S. 1L68. — 3) Lichten¬
stern, Pseudoleukämie und Tuberkulose. Virchows Archiv 1910, Bd. 202,
II 2. — ') Askanazy, Ueber tumorartiges Auftreten der Tuberkulose.
Zeitschr. für klin. Medizin 1897, Bd. 32. — s) v. S c h r ö tt e r, Wiener
klin. Wochenschr. 1905, S. 1110. — 6) Nägeli, Blutkrankheiten und
Blutdiagnostik, 1908. — 7) Chotimsky, Inaug.-Diss., Zürich 1907. —
8) Bartel, Probleme der Tuberkulosefrage, 1909.
Nr. 15
WIENEU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
527
Aus dem pathologisch-bakteriologischen Institut der
Landeskrankenanstalt in Czernowitz (Vorstand: Priv-
Doz. Dr. Raubitschek).
Oie diagnostische Verwertbarkeit des Tuberkel¬
bazillennachweises in den Fäzes.
Von Dr. Frieda Rittel-Wilenko.
Der Nachweis des Tuberkelbazillus bei klinisch fes (gestellter
Tuberkulose bezog sich bis vor kurzem hauptsächlich auf den
Auswurf der Kranken. In den Exkrementen war der Nachweis von
Tuberkelbazillen mit so vielen Schwierigkeiten verbunden, daß
mau nur in Ausnahmefällen diese Arbeit unternahm. Eine ganze
Reihe von Methoden älteren und neueren Datums, die zum Nach¬
weis von Tuberkelbazillen im Sputum angegeben wurden, konnten
überhaupt nicht, oder nur schwer zum Nachweis im Stuhl an¬
gewendet werden. Dazu gesellte sich der Umstand, daß bei den
meisten Methoden, wie besonders bei denen, die auf Kochen
des Materials mit verschiedenen Reagenzien : Soda, Kalk¬
wasser, Natronlauge usvv., beruhen, sich ein Geruch entfaltet, der
ganz unerträglich ist und die Verbannung dieses Untersuchungs¬
materiales aus dem Laboratorium zur Folge hatte. Die große
Zahl anderer Bakterien, welche sich im Stuhle finden, und vor
allem die Sporen, die bekanntlich auch die Karbolfuchsinfärbung
nach Ziehl-Neelsen annehmen, machte die Auffindung der
Tuberkelbazillen schwierig. Alle diese Schwierigkeiten, wie Un¬
annehmlichkeiten beseitigte erst die Antiforminmethode und er¬
möglichte die Untersuchung des Stuhles auf Tuberkelbazillen
häufiger vorzunehmen. Bei diesen Untersuchungen kommen sehr
deutlich alle Vorteile dieser heute so bekannten Methode zur
Geltung: Das Untersuchungsmaterial wird vollständig desodoriert,
binnen sehr kurzer Zeit homogenisiert, alle anderen Bakterien,
bis auf die säurefesten, vollständig aufgelöst, der ganze Inhalt
an Tuberkelbazillen auf eine kleine Fläche konzentriert.
Wie bekannt, hat diese brauchbaren Eigenschaften des Anli-
fonnins U h 1 e n h u t erkannt und zusammen mit X y 1 a n d e r
eine Methode ausgearbeitet, welche solche Vorteile gegenüber
allen bis jetzt bekannten Methoden zum Nachweis des Tuberkel¬
bazillus bietet, daß sie in kurzer Zeit alle verdrängen mußte.
Die Antiforminmethode vereinigt alles dies, was jede von den
früher angegebenen Methoden einzeln angestrebt hat. Da die
Methode allgemein bekannt ist und von vielen Seiten an zahl¬
reichem Material nachgeprüit wurde, wollen wir hier von der
näheren Besprechung derselben absehen. Auch die vielen Modifi¬
kationen, die anläßlich der Nachprüfung der ursprünglichen Me¬
thode zum Zwecke der Verbesserung und der Vereinfachung, um
die Methode um so eher in den Dienst des praktischen Arztes
zu stellen, gemacht wurden, sollen nur kurz erwähnt werden.
Bernhardt hat die Antiforminmethode mit der von L a n g e
und Nits che angegebenen Ligroinmethode kombiniert.
See man beschleunigt die Sedimentierung, indem er das
spezifische Gewicht der Lösung herabsetzt.
Thilenius gebraucht durchwegs öO'Vnge Antiforminlösung
mit Zugabe von Alkohol. Er konstruierte eigene Zentrifugenröhr¬
chen, um die Einengung des Sedimentes auf eine möglichst kleine
Fläche zu gewinnen.
Thilenius gebraucht durchwegs 50%ige Antiforminlösnng
und gibt dann eine Mischung von Chloroform und Alkohol hinzu.
Lorenz kocht das Material, nachdem er es mit 15%iger
Antiforminlösung ausgeschüttelt hat und zentrifugiert ohne irgend¬
welchen Zusatz.
Haserodt kombiniert die Antiforminmethode mit einem
Kohlenwasserstoff.
Schultes Modifikation besteht im Zusatz von Brenn¬
spiritus zum Antiforminverfahren.
Die von Kozlow angegebene Aether-Azeton- Kombination
der Antiforminmethode, die, soweit uns die Literatur zugänglich
war, nicht nachgeprüft wurde, wollen wir eingehender besprechen,
da wir im Laufe der mehrmonatigen Untersuchungen gelegentlich
fast alle bis jetzt angegebenen Modifikationen der Antiformin-
metliode nachgeprüft haben und zur Ueberzeugung gekommen smd,
daß die Kozlow sehe Kombination uns am schnellsten und
sichersten zum Ziele führte. Besonders bewährt hat sich die
Methode hei der Untersuchung des Stuhles. Das Material wird
mit reinem Antiformin homogenisiert. Während wir das Spu¬
tum fünf Minuten lang mit Antiformin unter mehrmaligem Schüt¬
teln homogenisierten, mußten wir den Stuhl zehn Minuten dem
Einfluß des Antiformins überlassen. Das Quantum des Anti-
form ins hängt von der Beschaffenheit des Materials ab. Bei
Sputum haben wir zu dünnerem ein halbes Volumen, zu dickerem
ein gleiches Volumen Antiformin dazugegeben, beim Stuhl die
doppelte oder dreifache Menge.
Die homogenisierte Mischung wird mit destilliertem Wasser
im Verhältnisse 1 : lü verdünnt. Nachher gibt man zu dieser
Lösung zu gleichen Teilen Aether und Azeton, von gleichem
Volumen wie das destillierte Wasser dazu. Die ganze Mischung
wird in einem Scheidetrichter kräftig geschüttelt und dann ruhig
stehen gelassen. Nach einigen Minuten hellt sich die trübe Fiüssig-
keitkeit auf und teilt sich in drei Schichten. Die Tuberkelbazillen
befinden sich mit den unaufgelösten Resten des Materials in
der mittleren Schichte und aus der wird das Präparat hergestellt;
getrocknet, i'ixiert und gefärbt.
Um ein gutes Haften des Materials am Objektträger oder
Deckgläschen zu erzielen, haben wir die Präparate 24 Stunden
an der Luft getrocknet oder ein bis zwei Stunden im Paraffinofen.
Nun haben wir in der Antiforminmethode eine Methode, die an¬
getan zu sein scheint, Klärung in die Frage der diagnostischen
Verwertbarkeit des Tuberkelbazillusnachweises in den Fäzes bei
vorhandener offener Lungentuberkulose zu bringen. Die Meinung,
daß Tuberkelbazillen im Stuhl von verschlucktem Sputum her¬
rühren und daß der positive Befund gar keinen Aufschluß über
die Beschaffenheit des Darmes gibt, kann vielleicht doch nicht
so ohne weiteres hingenommen werden, wenn auch bei der Em¬
pfindlichkeit der Antiforminmethode, bei welcher die Tuberkel¬
bazillen im Stuhle, wenn auch noch so gering an Zahl, dem
Suchenden kaum entgehen, zugegeben werden muß, daß mau
ein positives Resultat nur vorsichtig verwerten darf. Diese
Meinung setzt uns in einen Gegensatz zu den anderen
Autoren, die letzthin diesbezügliche Arbeiten publiziert haben.
Klose; sowie Wilson und Rosenberger, Philip und Porter
haben alle ausschließlich an einem klinischen Material gearbeitet
und sind übereinstimmend zur Ansicht gekommen, daß dem
positiven Tuberkelbazillenbefund gar keine diagnostische Bedeu¬
tung zukommt, da man fast in jedem Falle von offener Lungen¬
tuberkulose Tuberkelbazillen im Stuhle nachweisen kann, ja sogar
viel öfters als im Auswurf, ohne daß die klinischen Zeichen einer
tuberkulösen Darmaffektion vorhanden wären. Klose hat in 60 Fäl¬
len von offener Lungentuberkulose 55mal Tuberkelbazillen in den
Fäzes nachgewiesen, also in 90°/o, wobei nur in sechs Fällen
klinische Symptome für eine Darmtuberkulose sprachen. Er
kommt zum Schlüsse, daß Tuberkelbazillen im Stuhle vom ver¬
schluckten Sputum herriiliren und es nicht zulässig ist, aus dem
positiven Befund von Tuberkelbazillen im Stuhle in Fällen, in
denen Tuberkelbazillen im Auswurf gefunden wurden, eine Diarm-
tuberkulo'se zu diagnostizieren. Wilson und Rosenberger
haben in 100 Fällen von Tuberkulose lOOmal Tuberkelbazillen
im Stuhle nachgewiesen, überdies in 21°/o der Fälle, bei denen
die klinischen Symptome weder auf Lungen-, noch Darm¬
tuberkulose hin weisen. Sie führen aus, daß die Tuberkel¬
bazillen in den Blutstrom gelangen, mit welchem sie bis zur
Darmwand getragen werden, durch welche sie ausgeschieden
werden.
Philip und Porter haben häufiger Tuberkelbazillen im
Stuhl als im Auswurf gefunden. Auf 100 Fälle von Lungen¬
tuberkulose ohne Darmtuberkulose, hatten sie 79 positive Befunde
im Stuhl, während in 42 von diesen 100 Fällen keine Tuberkel¬
bazillen im Sputum nachzuweisen waren (!). Diese Autoren be¬
trachten daher die Untersuchung der Fäzes bei tuberkulösen
Kranken als wichtiger wie die Untersuchung des Sputums.
Imman hat von 26 Fällen in 18 Fällen ruberkelbazillen
im Sputum und von diesen in 16 Fällen Tuberkelbazillen im Stuhl
gefunden. Auch Imman nimmt an, daß die Tuberkelbazillen im
Stuhle die Folge von verschlucktem tuberkulösen Sputum ist.
Da alle diese Ergebnisse ausschließlich an einem klinischen
Material gewonnen wurden, ohne daß die Obduktion die klinische
Diagnose verifiziert hätte, schien es wünschenswert, festzustellen,
wie sich der Obduktionsbefund1 zlu den bakteriologischen Resultaten
in der Klinik verhält.
Wir haben ein zahlreiches Abteilungsmaterial untersucht und
die Ergebnisse am Sektionstische kontrolliert. Bei jedem Patienten,
.bei dem klinisch eine tuberkulöse Affektion der Lungen oder des
Darmes festgestellt wurde, wurde der Auswurf und der Stuhl
untersucht, wobei keinerlei Rücksicht auf die Beschaffenheit des
Stuhles genommen wurde.
Das Sputum, sowie der Stuhl (natürlich ohne Beimengung
von Urin) wurde zuerst nicht vorbehandelt nach Ziehl-Neelsen
gefärbt und nachher mit der Antiforminmethode behandelt. Zur
Anwendung kam sowohl die ursprüngliche U h 1 e n h u th sehe Me¬
thode, wie fast alle im Laufe der Untersuchungszeit veröffentlichte
Modifikationen ; in einem großen Teile der Fälle jedoch bedienten
wir uns, wie schon erwähnt, der Kozlow sehen Aether-Azeton-
528
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
Kombination der Antiforminmethode, indem wir diese für unsere
speziellen Zwecke anpaßten.
Wir stellten uns die Frage, inwiefern der pathologisch - ana¬
tomische Befund des Darmes mit den bakteriologischen Ergeb¬
nissen im Stuhl in Einklang zu bringen wäre.
In der dritten Kolonne ist lediglich das klinische Material
verwertet, das aus äußeren Umständen bei uns nicht zur Obduktion
kam. (Entlassung aus dem Spital.) Schließlich erscheinen die kli¬
nischen Diagnosen von jedem einzelnen Falle angeführt, wobei
hervorgehoben zu werden verdient, daß wir im Zeitraum der
Leichenmaterial ohne
Leichenmaterial mit klinischem
Klinisches Material ohne
klin. Befund
Befund
Obduktionsbefund
Sektionsprotokoll
oder Name
Tuberkel¬
bazillen-
be fund im
Ulzera
Tuberkelbazillenbefund
Ulzera
Tuberkelbazillenbefund
Klinische Diagnose
Stuhl
im Darm
Sputum
Stuhl
im Darm
Sputum
Stuhl
n. v.*
n. v.
V.
n. v.
V.
n. v.
V.
n. v.
V.
S. 227
+
4-
+
Tbc. pulmon.
S. 28
10- 7-+
3./1.4-
•+
+
—
+
4- (rec.)
Tbc. pulmon.
E. H.
—
—
—
—
Peritonitis tbc.
N. N.
—
—
—
—
Peritonitis tbc.
S. 248
4-
4-
—
4-
4-
Tbc. pulmon. et laryngis
S. 272
~T
4-
4"
4-
—
Tbc. pulmon. destructiva
S. C.
4-
~b
—
—
Tbc. pulmon.
S. 235
_
_
_
Arteriosclerosis, Enteritis
S. 238
+
+
4-
+
+
Tbc. pulmon. et intestini
K. P.
4-
4-
—
4-
Tbc. pulmon.
L. H.
.
4-
—
Tbc. pulmon.
E. M.
"b
• 4-
—
4-
Tbc. pulmon.
M. D.
4-
+
“b
4-
Tbc. pulmon. et intestini
D. B.
4-
4-
Juli —
Jan. —
+
Tbc. pulmon.
S. 251
_
_
—
Strictura intestini a tuberculos
S. 249
4-
4-
4-
+
4-
Tbc. pulmon.
P. S.
4-
4-
4-
4-
Tbc. pulmon. et intestini
S. 254
S. 257
—
—
—
Pleuritis serosa, Tbc. pulmon. '
Enteritis cbron., Marasmus
S. S.
+
4~
4-
Tbc. pulmon.
J. J.
—
—
Tbc. pulmon.
A. N.
+
4-
+ ’
+
Tbc. pulmon.
W. P.
—
4-
—
Tbc. pulmon.
W. 0.
4-
+
v-
4-
+
Tbc. pulmon.
W. K.
4-
+
4-
_b
4-
Tbc. pulmon. et intestini
J. Z.
4-
+
—
4-
+
Tbc. pulmon.
J. S.
+
4-
—
Tbc. pulmon.
W. K.
+
4-
4-
4-
Tbc. pulmon.
S. 22
“b
+
4-
4-
Tbc. pulmon.
S. 32
+
—
+
4-
Tbc. pulmon. et laryngis
R. B.
+
+
—
4-
4-
CO
CO
1 1
Tbc. pulmon.
P. B.
4-
+
4-
Tbc. pulmon.
S. 74
4-
4-
Tbc. pulmon. et laryngis
Peritonitis tbc., Tbc. pulm., Enteritis
E. P.
S. 72
+
+
—
Tbc. pulmon.
S. P.
—
—
—
—
Tbc. pulmon.
P. M.
4-
4-
' —
— ■
Tbc. pulmon.
D. H.
4-
+
—
- —
Tbc. pulmon.
B. B.
S. 83
+
+
4-
+
—
—
Tbc. pulmon.
Tbc. pulm., Gastroenteroan.
facta
S. 58
S. 61
+
-f
+
4-
+
+
Lues ulcer., Peritonit. tbc. perforat.
M. G.
4-
4-
—
—
Tbc. pulmon.
J. F.
+
+
—
4-
Tbc. pulmon. et intestini
J. N.
4~
4-
4-
4-
Tbc. pulmon.
S. 79
+
4-
4-
Dementia, Tbc. pulmon.
S. 81
+
4--
Dementia, Tbc. pulmon.
S. 1
+
4-
4-
Tbc. pulmon.
S. 78
S. 85
4-
4r
4-
4-
4-
Epilepsia, Tbc. pulmon.
Dementia, Tbc. pulmon.
Pawlink
4-
4-
—
4-
Tbc. pulmon.
M. R.
4-
4-
+
4-
Tbc. pulmon.
D. R.
+
4-
—
—
Tbc. pulmon.
J. W.
—
+
—
—
Ulcus tbc. lingu. tbc. pulmon.
*) n. v. = nicht vorbehandelt.
**) v. = vorbehandelt mit Antiformin.
Zur Erklärung der beigegebenen Tabelle sei hervorgehoben,
daß in der ersten Kolonne ausschließlich das Leich'enmaterial
angeführt erscheint, das wir aus verschiedenen äußeren Gründen
bei Lebzeiten zu untersuchen nicht Gelegenheit hatten; es waren
ausnahmslos schwere Tuberkulosen der Lunge und teilweise auch
des Darmes „Ulzera im Darme“ und das Untersuchungsmaterial
wurde während der Obduktion unter Beobachtung von Kanteten
entnommen, die eine sekundäre Verunreinigung ausschließen
lassen. In der zweiten Kolonne erscheint das Material zu¬
sammengestellt, das sowohl bei Lebzeiten, als auch nach
der Obduktion bakteriologisch untersucht und pathologisch veri¬
fiziert werden konnte.
Untersuchungen lediglich auf die bekannten klinischen Sym¬
ptome einer Darmtuberkulose bei der Diagnosestellung reflektierten
und uns naturgemäß bei Abwesenheit derselben auch durch den
Nachweis von Tuberkelbazillen im Stuhle in der Diagnose nicht
beeinflussen ließen.
Schon aus dieser Zusammenstellung zeigen die in der Ta¬
belle niedergelegten Befunde, wie häufig die tuberkulösen Verände¬
rungen des Darmes ohne klinisch manifeste Symptome einher¬
gehen, was bei den früher erwähnten Befunden von Klose, W il
son und Rosenberger, Philip und Porter und Imman
zu Fehlschlüssen Anlaß geben mußte. Ueberdies zeigt die Tabelle
die allseitig anerkannte und gebührend gewürdigte Verwendbarkeit
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHEN SCHRIET. 1911.
529
des Antiformins, indem in einer nicht geringen Anzahl der Fälle
trotz peinlichster Untersuchung des nicht vorbehandelten Materials
erst die Durchführung einer Antiforminmethode den positiven
Nachweis von Tuberkelbazillen ermöglichte.
Auf Grund unserer Befunde können wir uns nicht
den Ansichten der Autoren anschließen, welche im Stuhl genau
so häufig oder gar häufiger Tuberkelbazillen gefunden haben wie
im Auswurf. v/ir haben im allgemeinen weit seltener
Tuberkelbazillen im Stuhl als im Sputum gefunden. Hingegen
konnten wir konstatieren, daß in einer überwiegenden Zahl der
Fälle der bakteriologische Befund im Stuhl durch die Obduktion
bestätigt wurde. Bis auf verschwindend kleine Ausnahmen hat
überall dort, wo wir Tuberkelbazillen im Stuhl nachgewiesen
haben, die Autopsie tuberkulöse Geschwüre des Darmes ergeben.
Nur in sehr wenigen Fällen hatten wir einen positiven Tuberkel¬
bazi llcnbef und im Stuhl, bei welchen hei der Sektion keine
Darmgeschwüre gefunden wurden. Unter den Sektionsfällen be¬
fanden sich solche, die schon klinisch eine vorgeschrittene Lungen-
und Darm tu berkul ose zeigten, in diesen Fällen war natürlich
der bakteriologische und pathologisch - anatomische Befund über¬
einstimmend mit dem klinischen. Nun aber soll auf diese Fälle
besonders aufmerksam gemacht werden, in welchen keine kli¬
nischen Symptome einer Darmerkrankung zu konstatieren waren,
der Tuberkelbazillenbefund im Stuhl, aber positiv war und die
Obduktion nur mit wenigen Ausnahmen tuberkulöse Geschwüre
des Darmes gezeigt hat. Die Sektion also ergibt viel häufiger
eine tuberkulöse Erkrankung des Darmes, als man es in der
Klinik vermutet, eine Tatsache, die die früher erwähnten häufigen
Tuberkelbazilienbefunde in den Fäkalmassen bei fehlenden klini¬
schen Symptomen einer Darmtuberkulose plausibel erklärt. Daß
der positive Tuberkelbazillenbefund im Stuhl doch in einem Zu¬
sammenhang mit dem Auftreten von tuberkulösen Veränderungen
des Darmes steht beweisen vor allem Fälle, bei denen mehr¬
malige Untersuchung des Stuhles in mehrwöchigen Zeitmter-
v allen ein negatives Resultat ergaben, bei immer positivem Befund
im Auswurf, um schließlich in ein positives Ergebnis der Stuhl
Untersuchungen umzuschlagen. In diesen Fällen ergab die Sektion
ganz frische tuberkulöse Geschwüre im Darme.
Noch überzeugender wäre der Beweis des Zusammenhanges
des bakteriologischen mit dem pathologischen Befunde, wenn der
negative Tuberkelbazillenbefund im Stuhl mit intakter Darm¬
schleimhaut einhergeht. Da wir am Sektions tisch eine nur auf
die Lungen beschränkte Tuberkulose seltener sehen, muß jeder
einzelne Fall berücksichtigt worden. In solchen Fällen (zum Bei¬
spiel .1. S. und E. P. der Tabelle) unseres Sektionsm.atoria.les wies
die Lunge tuberkulöse Veränderungen auf — im Sputum waren
Tuberkelbazillen nachweisbar — die Darmschleimhaut war intakt,
entsprechend dem negativen Tuberkelbazillenbefund im Stuhl.
Wie erwähnt, hatten wir in einem kleineren Prozentsatz
der Fälle keine Uebereinstimmung des bakteriologischen mit dem
pathologisch-anatomischen Befund. In diesen Fällen müssen wir
den positiven Befund äußerst spärlicher Tuberkelbazillen im Stuhl
allerdings auf Rechnung der verschluckten, mit Tuberkelbazillen
beladenen Auswurfpartikelchen schreiben. Hier müssen wir aber
bemerken, daß die Zahl der gefundenen Tuberkelbazillen in diesen
Fällen eine viel geringere wie sonst war und daß sie erst nach
der Vorbehandlung mit Antiform in gefunden wurden, hn all¬
gemeinen möchten wir die Behauptung, daß verschluckte Tuberkel
bazillen sehr oft, durch den Dann ausgeschieden werden, ohne
irgendwelche Veränderungen der Schleimhaut hervorzurufen, sehr
vorsichtig aufnehmen. Im Frühstadium der Tuberkulose, wo die
Kranken noch nicht gelernt haben, ihr Sputum heraus-
zubefördern und es gewiß viel öfters verschlucken wie
später, haben wir Tuberkelbazillen im Stuhle sehr selten
nachweisen können bei positivem Befund im Answurf. Die
Tuberkelbazillen treten vielmehr im Stuhle in der Regel
erst in den vorgerückten Stadien auf. Auf Grund unserer
Sektion sbef u nde können wir k a. u m d e m positiv e n
Tuber k elbazillenbefun d im Stuhle jede diagnosti¬
sch e B e d e u tun g ab sprechen, i niGegenteil, wir m ii s s o n
das Auftreten von Tuberkelbazillen im Stuhl als
diagnostisch wichtig für eine spezifische M i 1. a ff e k-
tion des Darmes bezeichnen.
Literatur.
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Sputum Und Urin. Zeitschr. f. Tub., Bd. 15, H. 6. — G o e r r e s, Ueber
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methode. Zeitschr. f klin. Med., Bd. 70, H. 1 u. 2. — Kava i, Neuere
Methoden zum Nachweis von Tuberkelbazillen im Sputum, pathologi¬
schen Sekreten und Geweben. Med. Klin. 1911, Nr. 4 u. 5. — Fink ei¬
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bazillen im Sputum und anderen Exkreten. Berliner klin. Wochenschr.
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zum Nachweis spärlicher Tuberkelbazillen in Gewebsstücken. Deutsche
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Untersuchungen mit der Antiformin-Ligroin und Ellermann-Erlandsen-
schen Methode zum Nachweis von Tuberkelbazillen im Sputum. Zeit¬
schrift f. Hyg., Bd. 66, H. 2. — Merkel und Nenner, Der Tuberkel¬
bazillennachweis mittels der Antiforminmethode und seine Verwendung
für die histologische Diagnose der Tuberkulose-. Miinehener med.
Wochenschr. 1910, Nr. 13 — Zahn, Ein neues einfaches Anreiche-
rungsverfahrungs für Tuberkelbazillen. Münchener medizinische
Wochenschr. 1910, Nr. 16. — M ende, Zu den Zahnschen Anreiche¬
rungsverfahren für Tuberkelbazillen. Münchener med. Wochenschr. 1910,
Nr. 25.
Zur Therapie der koordinatorischen Be¬
schäftigungsneurosen und über Autogymnastik
in chronischen Fällen derselben.
Von Prof. M. Benedikt.
Therapeutische Anregungen und klinische Tatsachen
und ihre Urheber haben ihre Schicksale. Man braucht nicht
in die große Geschichte zurückzugreifen. Jeder, der selb¬
ständig gearbeitet hat, besitzt darüber Erfahrungen.
530
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
Als ich vor Jahren als wichtige Heilmethode zur Be¬
kämpfung der Konstipation die Faradisation der Eingeweide
perkutan durch die Bauchdecken — oder später mit der
Modifikation der Anwendung eines Mastdarmreophors —
empfahl, hat sich diese Methode rasch sozusagen die Welt
erobert, ohne daß man kurze Zeit darauf mehr an den Ur¬
heber dachte. Die Verbreitung war von Marienbad ausge¬
gangen. Die dortigen Aerzle waren häufig in Verlegenheit,
weil die Mineralwässer, statt die Konstipation der Kranken
zu heben, dieselbe oft noch verstärkten; sie sahen sich ge¬
nötigt, die Salze zu Hilfe zu rufen, oder sonstige Maßnahmen
zu treffen, welche dem Ansehen des Kurortes, respektive,
der spezifischen Wirkung der Wässer desselben abträglich
waren.
Basch begriff die Bedeutung meiner Angabe in ihrem
vollen Umfange und von ihm ging meiner Erinnerung nach
die allgemeine Verbreitung aus.
Ebenso raschen Erfolg hatte meine Entdeckung des
pathologischen Daltonismus (Gräfes Archiv 1864). Die
Tatsache erregte allgemeine Beachtung und es gibt kaum
einen Augenarzt der Welt, der sich nicht täglich mit diesem
Thema beschäftigt. Als ich einst Nothnagel fragte, ob
er der Entdeckung des pathologischen Daltonismus eine
Bedeutung für die Ophthalmologie und Neurologie zu¬
schreibe, antwortete er natürlich bejahend. Als ich ihn
dann fragte, ob er wisse, von wem diese Entdeckung her¬
rühre, verneinte er es ; es gibt vielleicht selbst in Wien
keinen Augenarzt, in dessen Bewußtsein die Autorschaft
fortlebt.
Ein ganz anderes Schicksal hatte meine vor vielen
Jahren gemachte Angabe, daß frische Fälle von koordina-
torischen Beschäftigungsneurosen (Schreiber-, Klavierspieler,
krampf usw.) rasch geheilt werden könne, wenn die von
mir angegebene Methode angewendet wird. Man kann wohl
behaupten, daß das Chronischwerden dieser Leiden in den
meisten Fällen mit der Außerachtlassung der angegebenen
Methoden z u s amm e nhän g t .
Ich hatte nämlich beobachtet, daß bei den frischen
Fällen in einzelnen oder mehreren Sehnen, besonders am
Handgelenk und in der Hand, oder in den Muskelsehnen¬
ansätzen der Pronatoren oder Supinatoren am Ellenbogen¬
gelenk, seltener auch in den Muskelansätzen am Schulter¬
gelenk, Schmerzhaftigkeit gegen Druck besteht und daß man
durch Einspritzung von 2°/oiger Karbolsäure an diesen
Stellen frische Fälle in der kürzesten Zeit heilt.
Ich wenigstens habe bis jetzt, keinen Fall gesehen, in
dem diese Methode, im ersten Moment angewendet, chro¬
nisch geworden wäre und ich kenne keinen Fall, ider
chronisch wurde, wenn er im Beginne in angegebener
Weise behandelt wurde. Ich will natürlich meine
persönliche Erfahrung nicht als ein allgemeines Gesetz
hinstellen. Diese Schmerzhaftigkeit verschwindet auch
ohne Behandlung mit der Zeit und das Leiden ent¬
wickelt sich immer weiter fort. Nur selten beob¬
achtet man noch bei chronisch gewordenen Fällen Reste
dieser Schmerzhaftigkeit und auch bei diesen haben noch
die Injektionen den Erfolg, nicht nur die Schmerzhaftig¬
keit zu heben, sondern auch eine Besserung hervorzurufen.
Die Tatsache, daß mit Sehnen- und Muskelhyper¬
ästhesien, die in der Regel nicht einmal spontane Schmerzen
auslösen, sich das Leiden entwickelt, ist der Grund, weshalb
wir dasselbe als zentrale koordinatorische Neurose ansehen
müssen. Diese Neurose ist also eigentlich ein Reflexleiden,
das durch Behebung des ursprünglichen Ausgangsleidens
in den Sehnen und Muskeln in seiner Entwicklung gehemmt
und behoben wird.
Ich hatte oft Gelegenheit, Examinanden unmittelbar
vor den Prüfungen im Konservatorium oder Virtuosen kurze
Zeit vor ihren Konzerten zu beobachten und sie waren in
der Ausübung ihrer Kunst vollkommen gehemmt. Wenn
das Leiden ganz frisch war, genügten einige wenige Injek¬
tionen, welche zugleich antiphlogistisch und narkotisierend
wirkten, sie der Ausübung ihres Berufes wieder zuzuführen.
Ich erinnere mich besonders lebhaft an einen Fall, wo
die Schmerzhaftigkeit an der Innenseite des Ellenbogen¬
gelenkes vorhanden war. In diesem Falle rief die Injektion
eine leichte Anästhesie im Gebiete des Nervus ulnaris her¬
vor; nichtsdestoweniger konnte die Künstlerin bereits im
Laufe der kommenden Woche ihr angekündigtes Konzert
geben.
1st das Anfangsstadium und dessen spezifische Behand¬
lung versäumt, dann bedarf es bekanntlich viefacher und
komplizierter Methoden, um das Leiden zu beheben, beson
ders, wenn dieses aus jener Stufe, die ich als paretische
Koordinationsstörung bezeichnet habe, in das Tremorartige
oder gar in das Spastische übergegangen ist. Beim Schreibe! -
krampte wird das erste Stadium gewöhnlich versäumt, weil
die Kranken lange warten, bis sie einen Arzt fragen.
Ich will hier von den verschiedenen elektrischen Me¬
thoden nicht sprechen, aber man weiß, 'daß ihre Anwen¬
dung und die Verbindung verschiedener Anwendungsarten,
lange Zeit benötigen, um Heilung herbeizurufen. Ich habe
zum Beispiel bei der Frau eines Freundes und Kollegen,
deren Kunstausübung vollständig gehemmt war, fast andert¬
halb Jahre gebraucht, um die Künstlerin ihrem Berufe
wiederzugeben.
Zu den Heilmethoden gehört weiters die Massage und
ich übe mit Vorliebe die Nervenmassage, indem ich di;'
drei Nerven des Oberarmes quer, wie zum Beispiel die
Saiten einer Guitarre, zur Vibration bringe. Therapeutisch
kommen noch die Aenderung der Schreibemechanik hinzu
und weiters mechanische Hilfsmittel, wie zum Beispiel die
von mir modifizierte Vorrichtung der Z a b 1 u d o w s k i sehen
Feder.
Zu den Behandlungsmethoden gehören auch Hebun¬
gen und man hat mannigfaltige Vorrichtungen, selbst die
kompliziertesten Zan d e r sehen herbeigezogen. Besonders
die instrumenteilen Uebungen sind nicht für jedermann zu¬
gänglich und ich will hier eine Methode beschreiben, die
ich als Autogymnastik bezeichnen will.
Das Instrument, mit dessen Hilfe die Uebungen vor¬
genommen werden, übertrifft an Feinheit der Intensitäts-
anwendung und des zu leistenden Widerstandes alle mecha¬
nischen Vorrichtungen. Dieselbe rührt von der Natur selbst
her — es ist für den Schreiberkrampf die linke Hand und
der linke Arm. Da die rohe Kraft bei den koordinatorischcn
Beschäftigungsneurosen eigentlich nicht leidet, so ist die Kraft
immer ausreichend. Wo es sich um beiderseitige Störung
handelt, treten beide Extremitäten in Funktion. Ich lasse alle
möglichen Bewegungen der Finger, der Metakarpophalangeal-
gelenke, ferner der Hand- und des Ellbogengelenkes, sel¬
tener des Schultergelenkes, ausführen und dabei spielt hei
den aktiv -passiven Bewegungsübungen die linke Hand oder
der linke Arm die Widerstandskraft.. Diese Methode hat
den Vorteil, daß der Kranke genau das Gefühl hat, bis zu
welcher Kraftanwendung für die Bewegung und für den
Widerstand er gehen kann.
Ebenso kann die linke Hand, respektive der linke
Arm die betreffenden Bewegungen ausführen und die rechte
Hand das richtige Maß des Widerstandes leisten. Wichtig
zu bemerken ist, daß die antagonistischen Bewe¬
gungen in der Regel mit sehr verschiedener Kraft aus¬
geführt werden und darum ist die Feinheit des Gefühles
für den zu leistenden Widerstand .so wichtig.
Es genügt eine kurze Zeit der Unterweisung, um den
Kranken die Methode dieser Uebungen beizubringen und
ihnen so die Vorteile derselben zu verschaffen.
K. u. k. Marinespital in Pola. (Kommandant : Marine¬
oberstabsarzt Dr. Georg Kugler.)
Aus der chirurgischen Abteilung: (Chefarzt: Linien¬
schiffsarzt Dr. Gustav Nespor.)
Isolierte Karpalknochenfrakturen.
Von k. u. k. Fregattenarzt Dr. Auton v. Poscli.
Pen Röntgenstrahlen, die in so manchen Winkel chirurgisch-
interner Diagnostik erfolgreich hineingeleuchtet haben, kommt
auch das Verdienst zu, die Diagnose der Karpalfrakturen erleich-
Nr. 15
531
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
tert bzw. sichergestellt zu haben, so daß nunmehr viele' der
früher unter der falschen Flagge einer einfachen Distorsion oder
chronischen Arthritis segelnden Karpalfrakturen, als solche er¬
kannt werden können. Demzufolge häufen sich auch jetzt Be¬
richte über solche Frakturen. Immerhin sind sie aber auch jetzt
noch als Seltenheit zu bezeichnen, so daß es mir wohl gestattet
sein mag, zwei solche Fälle zu veröffentlichen. Bezüglich der
einschlägigen Literatur sei auf eine Veröffentlichung des
Assistenten der Innsbrucker chirurgischen Klinik Dr. Kindl hin¬
gewiesen, der einer im 68. Bande der Beiträge zur klinischen
Chirurgie erschienenen Publikation seltener Karpalverletzungen
eine umfassende Literaturangabe vorausgeschickt hat.
I. Iso Her te Fraktur des Os navicular e.
A. W., Bauarbeiter, 30 Jahre alt, stürzte am 25. Novem¬
ber 1910 von einem 21k m hohen Gerüste auf einen Zementboden
derart herab, daß er auf beide, stark dorsal flektierten Handflächen
auffiel. Gleich nachher verspürte er, besonders links, einen
stechenden Schmerz in den Handgelenken ; diese schwollen stark
an und er war unfähig noch zu arbeiten. Dieser Zustand hielt
mehrere Tage lang an, besserte sich jedoch nur rechterseits, wäh¬
rend das linke Handgelenk auch nach dem Abklingen der akuten
Erscheinungen schmerzhaft und weniger beweglich blieb. Eine
Woche nach dem Unfälle wurde objektiv folgender Befund er¬
hoben : Das linke Handgelenk nicht geschwollen, von normaler
Konfiguration. An der Dorsalfläche wölbt sich im Gebiete des
Os naviculare ein stumpfer Höcker vor, der auf Druck unbeweg¬
lich bleibt, nicht krepitiert und nur wenig schmerzhaft ist. Er
fühlt sich beinhart an, die Haut über demselben ist nicht ver¬
ändert. Die Beugebewegung ist nur wenig eingeschränkt, stark
jedoch die Randflexionen. Alle Bewegungen sind schmerzhaft.
Der für die Fraktur als pathognomonisch geltende Druckschmerz
in der Gegend der Tabatiere ist nicht vorhanden. Vorderarm¬
knochen und Muskulatur normal.
Fall I.
Röntgenbefund (Platte Nr. 260 vom 26. November 1910;
s. Fig. 1): D ie Handwurzelknochen links zeigen im Vergleiche
zu denjenigen der rechten Seite eine deutliche Atrophie, bis
auf das durch einen breiten Spalt halbierte Os naviculare, dessen
Spongiosa verdichtet erscheint (Ostitis). In dem gerade, nicht
wellig verlaufenden Bruchspalt, sowie in den benachbarten Ge-
lcnksspaltcn sind kleine, scharf gezeichnete Schatten (Knochen¬
splitter) sichtbar. Alle übrigen Knochen des Handgelenkes nor¬
mal. Die Stellung der Fragmente gibt die normale Konfiguration
des Navikulare wieder.
Hervorhebenswert ist, daß an der anderen, scheinbar un¬
verletzten Hand als Folge des gleichzeitigen Traumas eine Fis-
sura radii loco classico sich befand, die nur röntgenographisch
nachgewiesen werden konnte.
Therapie: Warme Bäder, Heißluft, Massage und mäßige Be¬
wegungen. Einen operativen Eingriff verweigerte der Patient von
vornherein.
Nach acht Wochen derselbe Befund, röntgenographisch kein
Kallus nachzuweisen, dagegen eine Zunahme der Atrophie der
übrigen Handwurzelknochen, während die t Spongiosa der Frag¬
mente derb verdichtet erscheint, ganz im Gegensätze zu einer
vor einigen Jahren von Marineoberstabsarzt Dr. Okunievski
veröffentlichten Navikularefraktur, wo die Bruchenden deutliche
Sud ek sehe Atrophie zeigten.
Die DifferentialdiaghO'se zwischen Fraktur und Os navi-
culare bipartitum kommt in Hinsicht auf die typische Actio-
logie, die ausgesprochene Ostitis und Osteoporose und die Splitter
nicht in Betracht. Die Prognose des Falles dürfte zweifellos
ungünstig zu stellen sein, da sich der Arbeiter aus sozialen
Gründen einer konsequent durchzuführenden Behandlung im
Spitale nicht unterziehen kann.
II. Fr a c tu r a ossis lunati.
A. F., Rekrut, M. 4. KL, 2L Jahre alt, gab bei der Unter¬
suchung an, daß er sein rechtes Handgelenk seit sechs Monaten
nicht mehr beugen könne. An eine Verletzung will er sich nicht
erinnern können, gibt jedoch auf näheres Befragen zu, daß er
vor zirka sechs Monaten beim Erdschaufeln einmal einen heftigen
Schmerz im rechten Handgelenke gespürt habe. Der genaue Ver¬
letzungsmechanismus ist bei der Beschränktheit des Mannes nicht
zu eruieren, jedoch kann der Vermutung Raum gegeben werden,
daß ein Trauma dadurch zustande kam, daß der Mann, die
Schaufel in der linken Hand haltend, mit der rechten Handfläche
einen kräftigen Stoß gegen deren Stiel ausführte, um die Schaufel
in die Erde zu treiben und dadurch auch ein kräftiger Stoß gegen
die Karpalknochen ausgeübt wurde.
Der objektive Befund ergab eine diffuse Verdickung des
rechten Handgelenkes, an dessen volarer Fläche sich eine harte,
unverschiebliche, nicht krepitierende, unscharf begrenzte Vor¬
treibung findet, die stark druckschmerzhaft ist. Die Beweglichkeit
des Handgelenkes ist äußerst beschränkt und auch die passiv aus¬
geführten Bewegungen sind anscheinend mit großen Schmerzen
verbunden.
Atrophie der Knochen und der Muskulatur fehlt, dagegen be¬
steht eine deutliche Herabsetzung der Hautsensibilität im Ge¬
biete des Handrückens.
Röntgenbefund (Platte Nr. 272 vom 4. Dezember 1910;
siehe Fig. 2) : läßt im Gegensätze zu dem der anderen Seite
eine deutliche Verkürzung der Handwurzel, sowie eine zirka
2 mm breite, deutlich wellig verlaufende Bruchlinie im Os luna-
tum, die zuerst radioulnar verläuft und dann gegen das distale
Ende der Extremität umbiegt, erkennen. Die Spongiosa der Frag¬
mente ist deutlich verdichtet, die Fragmente verbreitert und man
gewinnt den Eindruck, als sei das Os lunatum in distalproximaler
Richtung zusammengequetscht worden. Bruchspalt und benach-
Fall II.
barte Gelenksspalten sind frei, nirgends Splitter oder Zeichen
von Arthritis. Die übrigen, an der Bildung des Handgelenkes sich
beteiligenden Knochen sind normal, nur das Os naviculare er¬
scheint im Vergleiche zu dem der Gegenseite verkürzt, da es,
wie aus dem genauen Studium der Schattentiefen ersichtlich,
um eine radioulnare Achse gedreht ist.
Therapie gleichfalls konservativ, der Erfolg aber trotz der
im Marinespitale konsequent durch zwei Monate fortgesetzten Be¬
handlung minimal.
D|ie Prognose dieses Falles (Operation wird verweigert)
dürfte noch infauster als die des ersten sein, da ja die Beweglich¬
keit von Anfang an fast gleich Null war und auch zwischen Ver¬
letzung und Behandlung ein sehr großer Zeitraum liegt. Allerdings
wird dem letztgenannten Umstande seitens namhafter Chirurgen
wenig Bedeutung beigemessen, da sie Erfolge, wie über einen
solchen auch K i n d 1 berichtet, auch durch konservative The¬
rapie noch nach vielen Monaten, die zwischen Trauma und Behand¬
lung verstrichen waren, verzeichnen konnten. Jedoch wir müssen
bei Beurteilung der Prognose und eventueller Entscheidung über
die Art der Therapie trotz der fast immer günstig lautenden Be¬
richte über konservative Therapie auch den Gegnern derselben
ein Ohr leihen, da selbst nach mit Erfolg durchgeführter konser¬
vativer Therapie nach Jahren noch Verschlimmerungen beob¬
achtet, werden, wie einen solchen Fall Hirsch (Münchener medi¬
zinische Wochenschrift, Dezember 19101 veröffentlicht hat, wo
noch nach einer Frist von drei Jahren Versteifung des Hand¬
gelenkes beobachtet wurde.
532
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
Diskussion.
Zur Frage der Erkrankungen des Akustikus
und des Labyrinthes bei erworbener Lues.
Von Dr. Otto Mayer.
In Nummer 13 dieses Jahrganges der Wiener klinischen
Wochenschrift hat Alexander behauptet, daß durch die von mir
mitgeteilten Beobachtungen von luetischen Akustikusaffektionen
seine eigenen Mitteilungen bestätigt würden. Demgegenüber möchte
ich folgendes bemerken: 1. Alexander sagte in der Gesellschaft
der Aerzte am 6. Dezember 1910: „Unter den neun Fällen meiner
Beobachtung kann ich nur einen einzigen finden, in welchem
die Hörstörung nach 13 Wochen zur Entwicklung kam, in allen
anderen Fällen ist die Hörstörung zwar innerhalb des rezenten
Stadiums der Lues aufgetreten, jedoch nicht früher als im vierten,
fünften oder sechsten Monate.“
Ich habe nun an dem mir von Herrn Professor Hab ermann
übergegebenen Materiale konstatiert (S. 382 1. c.), daß in 13 Fällen
die Akustikusaffektion schon zwischen der dritten und zehnten
Woche nach dem Primäraffekte aufgetreten war.
Ich kann somit feststellen, daß Alexander nach
seinen eigenen Angaben keinen einzigen Fall be¬
obachtet hat, in welchem die Akustikusaffektion in
einem so frühen Stadium der Lues aufgetreten war.
Die Bedeutung dieser Tatsache, daß Akustikusaffektionen schon
in diesem Stadium der Lues sich entwickeln können, habe ich in
meiner Arbeit bereits besprochen.
2. Die Berechnung, die Alexander anstellt, ist demnach
unrichtig, denn diese Von mir genannten 13 Fälle lassen sich
mit den neun Fällen Alexanders überhaupt nicht in Parallele
stellen. Hiefiir kämen nur die weiteren Fälle meiner Statistik
in Betracht, bei welchen die Akustikusaffektionen in einem spä¬
teren Stadium1 auftraten u. zw. sind dies acht Fälle, bei welchen
die Akustikusaffektion nach 10 bis 16 Wochen, fünf Fälle, wo
dieselbe nach 4 bis 9 Monaten und drei Fälle, wo sie
nach 9 bis 12 Monaten auftrat. Es wären also zusammen
16 Fälle, welche sich den von Alexander beobachteten
9 Fällen insoferne gegenüberstellen ließen, als sie ungefähr dem¬
selben Stadium der Lues entsprechen. Zähle ich aber die eingangs
genannten 13 Fälle, in welchen die Akustikusaffektion in einem
noch früheren Stadium1 der Lues aufgetreten war, hinzu,
so befanden sich also unter den 65 Fällen von Akustikusaffek¬
tionen bei erworbener Lues 29 Fälle, wo sich diese Erkrankung
bereits innerhalb des ersten Jahres nach der luetischen Infektion
entwickelt hatte.
Alexander hingegen hat 42 Fälle von Akustikusaffek¬
tionen bei Lues (hereditärer und erworbener!) beobachtet und
von diesen neun, bei welchen die Akustikusaffektion im rezenten
Stadium aufgetreten war.
Würde ich die Erkrankungen des Akustikus bei here¬
ditärer Lues mitrechnen, wozu aber gar keine Veranlassung
vorlag, weil für die diskutierte Frage nur die erworbene Lues
in Betracht kam, so würde diese Zahl nicht. 86, wie Alexander
meint, sondern nur 76 betragen, weil die Zahl dieser Fälle nur
elf betrug, wie ich mitgeteilt habe.
Alexander hat ferner angenommen, daß sich unter meinen
65 Fällen solche mit Veränderungen im Mittelohre befanden.
Tatsächlich aber handelte es sich in allen diesen Fällen
um reine Akustikusaffektionen, was, wie ich glaube,
aus meinen Ausführungen deutlich hervorging. Es hätte ja auch
keinen Sinn gehabt, bei Besprechung der Erkrankungen des
Akustikus die des Mittelohres einzubeziehen.
Es ergibt sich also, daß die von Alexander auf¬
gestellte Berechnung unrichtig ist.
OEFFENTLICHE GESUNDHEITSPFLEGE.
Die Enquete zum Baiiord"ungsentwurf im
Winter 1910/11.
Von Dr. A. Hinterberger.
Ich will in folgenden Zeilen einen Bericht von der Tätigkeit
der Delegierten der k. k. Gesellschaft der Aerzte in der Enquete
über den Bauordnungsentwurf geben und zugleich in aller Kürze
eine ganz ungefähre Vorstellung von der zu erwartenden Bau¬
ordnung für Wien verschaffen, sowie einige Orientierung betreffs
einiger wirtschaftlicher Anschauungen, die während der Enquete
als Gründe und Gegengründe einwirkten, bieten.
Die jetzige, für Wien geltende Bauordnung stammt aus dem
Jahre 1883. Nachdem eine Reihe von Jahren nach dieser Bau¬
ordnung gearbeitet worden war, litt unsere Stadt, welche nach
verschiedenen Gesichtspunkten, wie Untergrund, Umgebung, Mög¬
lichkeit guter Wasserversorgung und Abwässerableitung von der
Natur begünstigt zu nennen ist, an einer enorm dichten Ver¬
bauung zum Nachteile ihrer gesundheitlichen Verhältnisse. Die
Absicht, durch eine neue Bauordnung bessere hygienische Ver¬
hältnisse zu schaffen, gewann daher immer mehr an Boden.
Im Jahre 1892 wurde der k. k. Gesellschaft der Aerzte ein
Bericht über die Bauordnung von einer Anzahl angesehener Autori¬
täten auf dem Gebiete der Hygiene und des öffentlichen Sanitäts¬
wesens vorgelegt. Im Jahre 1906 wurde ein Entwurf einer neuen
Bauordnung geschaffen, der aber diesem Berichte durchaus nicht
vollkommen entsprach. Im Jahre 1907 erschien ein weiterer Ent¬
wurf, im Jahre 1909 ein Antrag und Bericht des Stadtrat.es
über die Bauordnung. Es gingen also der Schaffung des jetzt vor¬
liegenden Bauordnungsentwurfes lange Arbeiten und Beratungen
voraus, die aber leider nennenswerte Herabsetzungen der wich¬
tigsten sanitären Anforderungen zur Folge batten.
Nachdem Oberbaurat Dr. Kapp au n in der Oeffentlich-
keit wiederholt mit großer Sachkenntnis und Energie die
Mängel1 des neuen Bauordnungsentwurfes hinsichtlich Belichtung
und Lüftung von Dienerzimmern und Küchen betont hatte',
hat Prof. Grassberger in einem Vortrage1) in der Oester-
reichischen- Gesellschaft für Gesundheitspflege am 1. Dezember
1909 darauf hingewiesen, daß an dem1 ursprünglichen Entwurf
der Bauordnung durch die neue Fassung, die er bei den Durch¬
beratungen im Stadtrat erhielt, gerade in hygienischer Hinsicht
sehr einschneidende Veränderungen, die vom ärztlichen Stand¬
punkte als Verschlechterungen zu bezeichnen send, vorgenommen
wurden und hat darauf aufmerksam gemacht, daß insbesondere die
wichtigen Paragraphen über die Belichtung der Haupt- und Neben¬
räume in der gegenwärtigen Fassung vollkommen unzureichend
sind.
Am 3. Dezember 1909 wurde eine von zahlreichen hervor¬
ragenden Mitgliedern der k. k. Gesellschaft der Aerzte Unter¬
zeichnete, die Unterschiede des Berichtes und der beiden Entwürfe
vom Jahre 1906 und 1909 in einer Tabelle anführende Eingabe
dem Präsidium der k. k. Gesellschaft der Aerzte eingereicht,
worin die Vermutung ausgesprochen wurde, daß bei der Abfassung
des Entwurfes vom Jahre 1909 hygienisch geschulte ärztliche
Sachverständige nicht angehört wurden. In dieser Eingabe wurde
schließlich der Antrag gestellt, die k. k. Gesellschaft der Aerzte
möge beim Bürgermeister der k. k. Beichshaupt- und Residenzstadt
Wien in Angelegenheit der neuen Bauordnung deputativ vor¬
sprechen.
Im Spätherbste 1910 wurde die k. k. Gesellschaft der Aerzte
vom Magistrate eingeladen, einen oder höchstens zAvei Delegierte
für die über den neuen Bauordnungsentwurf einzuberufende En¬
quete zu nominieren. Das1 Präsidium der k. k. Gesellschaft der
Aerzte nannte als Delegierte: Prof. Dr. Roland Grassberger
und Dr. Alexander Hinter berge r.
*
Seit dem Jahre 1883 waren wesentliche Veränderungen im
Umfange der Stadt, soweit diese als Reichshaupt- und Residenz¬
stadt. Wien der Bauordnung von 1883 zu entsprechen hatte,
eingetreten. Durch die Schaffung von Groß- Wien Avar ein unge¬
heures Gebiet diesen Bestimmungen unterworfen, ein Gebiet, in
welchem sowohl der Begriff der Großstadt, als auch des Dorfes,
des landwirtschaftlich gepflegten und des brachliegenden, aber
doch noch Aveit von der Periode der Verbauung entfernten Bodens,
ebenso Avie des einzeln stehenden Fabrikskomplexes vertreten
waren.
Es Avar daher vor allem eine Abstufung der Vorschriften
je nach der Wertigkeit und der voraussichtlichen Bestimmung
der verschiedenen Gebietsteile nötig und das geschah durch die
Einführung einer Zoneneinteilung, deren genauere Durchbildung
ein zur Zeit noch in Bearbeitung stehender Generalregulierungs¬
plan uns in Bälde zeigen wird.
Die Straßenbreiten, die absolute Höhe der Gebäude und deren
Geschoßzahl sind je nach Zonen verschieden, ebenso die Größe
der Haushöfe. Diese ist in der alten Bauordnung in sehr un¬
vollkommener Weise bestimmt. Wir finden hier nach einem sehr
allgemein gehaltene^ gan'z willkürliche Auslegungen zulasseri-
den Einleitungsparagraphen die Bestimmung, daß 15% des Ce-
samtausmaßes des Bauplatzes frei bleiben müssen, daß Licht¬
höfe, durch Avelche Wohnräume oder Küchen erhellt werden,
mindestens 12 m2, Lichthöfe für Korridore, Aborte oder sonstige
*) Erschienen als: Der Entwurf der neuen Wiener Bauordnung-
Von Prof. Dr. Roland Grassberger, Wienr1910. Verlag von Moritz.
Perles.
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
533
unbewohnte Räume mindestens 6 m2 Grundfläche erhalten müssen
und daß Luftschachte für die Ventilation von Aborten nicht
unter 1 m2 Grundfläche haben dürfen.
Wer sich die Mühe nimmt und solche Lichthöfe von 2 zu
3 m ansieht, wer sich die Luftbewegung (von der Belichtung der
Aborte wollen wir ja gar nicht reden) in Aborten, die an einen
Hof von 1 in2 Grundfläche angeschlossen sind, vorstellt, wird
olmeweiters die Unhaltbarkeit solcher Normen verstehen.
Es ist klar, daß diese Bestimmungen in ihren Wirkungen
auch sonst oft recht ungünstig waren. Einerseits gestattete die
8ö%ige Verbauung des Bauplatzes eine enorme Ausnützung des
Rodens auf Kosten der Belichtung und Lüftung der Räume, andrer¬
seits bestand nicht, der geringste Zwang in Hinblick auf die Ver¬
teilung und Konfiguration der Höfe, so daß ungeschickte Grundri߬
lösungen, wo beispielsweise zur Belichtung von Räumen die
oft sehr bedeutend kleinere Dimension eines Hofes statt der
größeren in Dienst gestellt war, nicht beanständet werden konnten,
wofern nur die prozentuelle Verbauung nicht überschritten war.
Der neue Entwurf ließ das Prinzip eines prozentuellen
Verbauungsverbotes vollkommen fallen und führte an dessen
Stelle Minimalabstände zwischen Fenster und Nachbarwand oder
Nachbargrenze ein.
Dieser Gedanke ist ein sehr glücklicher zu nennen, denn das
Entscheidende betreffs der Belichtung eines in den Hof gehenden
Raumes ist selbstredend nicht die absolute Größe des Hofes, son¬
dern die Entfernung des betreffenden Fensters von der nächsten
bestehenden oder, bei einer Nachbargrenze, eventuell in Zu¬
kunft dort erstehenden Mauer und deren Höhe.
Der neue Bauordnungsentwurf stuft dieses Mindestverhältnis
einerseits je nach den Verbauungszonen ab. in welchem ja je nach
ihrer Entfernung vom Zentrum die hygienischen Anforderungen
steigen können und sollen, andrerseits unterscheidet er zwischen
sogenannten Haupt- und Nebenfenstern,
Unter Hauptfenstern Versteht er Fenster von
Räumen, welche zum längeL dauernden Aufenthalte
von Menschen bestimmt sind, unter Neben f enstern
aber Fenster von Vorzimmern, Stiegenhäusern, Gän¬
gen außerhalb der Wohnungen, Aborten, Speisekam¬
mern, Badezimmern, Ställen u. dgl.
Diese Gesichtspunkte, so vorzüglich sie gedacht sind, werden
aber im Entwürfe durch verschiedene Nebenbemerkungen in ihrer
konsequenten Durchführung durchbrochen und hier vor allem
war es die Aufgabe-Mer Vertreter der k. k. Gesellschaft der Aerzte
ihre warnende Stimme zu erbeben.
Nicht nur. daß die sowohl durch das Aussprechen eines
absoluten Flächenausmaßes, als auch durch die Kleinheit der Aus¬
maße geradezu ganz indiskutablen Bestimmungen der alten Bau¬
ordnung (Höfe von 12, resp. 6, resp. 1 m2 Fläche) wieder auf¬
tauchten, es fand sich auch ein Absatz vor, der Küchen und
Diener zimmern den Rang von Räumen für länger dauernden
Aufenthalt von Menschen raubte und auf Gänge mündende Fenster
derselben unter bestimmten Bedingungen erlaubte. Bemerkt sei
dazu, daß Stallfenster ins Freie münden sollen, bogar nach
diesem Entwurf.
Auch die Bestimmungen über die Höbe der Häuser waren
nicht in wünschenswerter Klarheit und Schärfe geh tue nt. Es hieß
im § 54, Absatz 1 : ... dürfen ... an breiteren Straßen eine
Höhe erreichen, die der anderthalbfachen Straßenbreite entspricht.
Dadurch war für manche Stellen Wiens dem plötzlichen Au
tauchen des Wolkenkratzers in den Häuserzeilen, einer ebenso
sonderbaren und scheußlichen, wie sanitär nach verschiedenen
Richtungen hin sehr bedenklichen Erscheinung Tür und Toi ge-
öffnet. , , , ,
Wenn auch im Entwürfe die Geschoßzahl auf höchstens
sechs in der ersten Zone festgesetzt war, so war es doch mehr
als wahrscheinlich zu erwarten, daß in dem Momen , wo man
an gewissen Plätzen durch die Erlaubnis einer Verbauung bis
zu einer die anderthalbfache Straßenbreite erreichenden Hohe
wahre Türme von Häusern ermöglicht, daraus der Schluß gezogen
wird, daß eine Vermehrung der Geschoße mindestens von lat
tu Fall, also einfach jedesmal bei besonders hohen Hausern ei
^Die Merkwürdig starke Betonung, weiche im weiteren Von
laufe der Enrruete die Besprechungen über Dachboden wohn angn
gewannen, zeigte, daß man nicht vorsichtig genug sein kanm
um unsere Stadt vor einer den Grundsätzen europäischer Hvgiene
und endlich auch der Individualität Wiens widersprechenden
Verbauung zu schützen. . .. ,
Speziell für Bureaugebäude und Industnegebaude ■win • ■ _
größere gestattete Gebäudehöhe verlangt als sons . |
Standpunkte wurde natürlich dagegen gesproc en.
Gebäuden, wo viele Menschen lange Zeit dicht gedrängt arbeiten,
gleichgültig, ob dies mit dem Hirn oder der Muskulatur oder
mit beiden geschieht, muß den Anforderungen strenger Hygiene
entsprochen werden. Ebensowenig darf selbstverständlich so ein
Arbeitsgebäude durch abnorme Höhe die sanitären Verhältnisse
der angrenzenden Wohnhäuser schädigen. Gleiches Recht für
alle ist wohl das erste Grundgesetz für jedes unter den Segnungen
westeuropäischer Kultur stehende Gemeinwesen.
Da es sowohl klarer als auch kürzer ist, die Forderungen,
welche die ärztlichen Vertreter teils gleichlautend mil dem Gesetz¬
entwürfe, vielfach aber diesen verschärfend aufstellten, in Form
einer Tabelle wiederzugehen, sei eine solche hier einer lang¬
weiligen und doch nur schwer kurz und verständlich zu stili¬
sierenden Auseinandersetzung vor gezogen.
Während der Enquete wurde eine ähnliche Tabelle von
Prof. May red er vorgelegt und im stenographischen Protokolle
abgedruckt. Diese Tabelle ist also eine erweiterte und stellen¬
weise umgearbeitete Nachahmung der Tabelle l’rof. Mayreders.
(Siehe umstehende Tabelle.)
Aus der sechsten Kolonne der Tabelle ersieht .man, daß
für bereits verbaute Gründe der ersten und zweiten Zone die
alte Haushöhe gestattet wird. Das schließt zwar eine Verbesse¬
rung der hygienischen Verhältnisse in bezug auf die Höhe der
Häuser in so manchen Fällen aus, hat aber ebenso wie die
aus der zehnten Kolonne (1er Tabelle zu entnehmenden, yon
den Vertretern der ärztlichen Vereine zulässig erklärten Erleich¬
terungen in bezug äuf die Fensterdistanzen beim Lmbau be¬
stimmter Haustypen seinen guten Grund.
Wenn man die strengeren Bestimmungen der neuen Bau¬
ordnung in allen Zonen auch auf alle Umbauten ausgedehnt hätte,
so wäre die Folge gewesen, daß so manches alte Haus, dessen Um¬
bau jeder Hygieniker begrüßt hätte (entweder weil der Grund¬
riß ganz veraltet oder unzweckmäßig war — Fehlen von Diener-
zimmem Speisekammern und Badezimmern, Munden der Fenster
von Küchen auf Gänge oder Stiegen, fensterlose Vorzimmer oder
sogar Wohnzimmer — oder weil das Haus entsetzliche Aboit-
und Kanalverbältnisse aufwies, oder endlich, weil die jahrhunderte-
lainige Benützung das Gebäude hochgradig verschmutzt hatte],
nicht zum Umbau gekommen wäre, weil dieser nicht nur keine
Rentabilität geboten hätte, sondern eventuell sogar einem Ver¬
mögensverlust. Da Wien derzeit kein Expropriationsrecht hat,
was jeder Hvgieniker nur bedauern muß, kann bekanntlich keine
Macht der Welt den Umbau eines Hauses erzwingen, solange dieses
nicht baufällig ist. Daher haben sich auch die ärztlichen Vertreter
nicht o-egen alle Ausnahmebestimmungen für Umbauten gewendet.
Sie betrachteten einen Umbau unter milderen baugesetzlichen
Bestimmungen für das kleinere Uchel gegenüber dem Fortbestände
alter, schmutziger und — last not least. — schlechter Hause
und wollten schließlich auch nicht Bestimmungen vorschlagen,
durch welche bestehendes Eigentum geschädigt wird.
Ein weiterer Grund dafür, daß man den in diesen Para¬
graphen zugestandenen Erleichterungen bis zu einem gewissen
Grade zustimmte, war folgender: Wenn die Bauordnung so
schaffen ist, daß sie bestehenden Gebaudebesitz der erste
und zweiten Zone für den Fall einer Wiederverbau ung eventuell
sugar im Werte herabsetzt, dann verliert sie noch mehr Stirnmen
in den gesetzgebenden Körperschaften und ihr Rechtskrafüg-
werden wird wieder auf Jahre hinausgeschoben
Bezüglich der die Umbauten begünstigenden P^asmae en
wurde gewünscht, daß zwischen Neuparzellierung und W lecler-
verbauung streng unterschieden werde, damit dieser Paragrap]
aicht die Handhabe dazu gibt, daß große Gebäudekomplexe (diese
sind meist im Besitze der toten Hand des Aerars usw ) m
einer allen Forderungen der Hygiene hohnisprechenden Meise
vmb^es'onderes Interegse wurcle den kleinen und kl.einst^
numeen entgegengebracht. Bekanntlich ist gerade bei Däusern,
wdebe Ären und kleinsten Wohnungen bestehen che
größte Gefahr, daß eine zu laxe Bauordnung, d. h. ‘Dso gesetzi ch
erlaubte Verstöße gegen die Lehren der Hygiene zu Gefahren
die Allgemeinheit werden. . flpr
Die Forderungen der Delegierten der k. k. Gesellschaft der
Aerzte gingen dahin, daß bei jeder Wohnung, )velche riur aus
Wohnraum und Küche besteht, der Wohnraum mindestens -0 ■
die Küche mindestens 6 m2 Grundfläche habe, < aß m jeder
Wohnung eine Speisekammer oder ein ins Freie entluftbarer Spe^s
schrank sei und daß jeder Wohnung ein eigener Abort ent
spreche. Es wurde dringend empfohlen, diesen Abor'
Schlüsse der Wohnung zu schaffen, aber dieser Mim.' inaachen
als unbedingte Forderung ausgesprochen, da 1 ';"s qf.uw;erin'keiten
Fällen bei der Grundrißlösung sehr bedeutende S
534
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
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bauten Teile
des X. u. XX.
Bezirkes
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XXI. Bezirkes,
die bereits ge¬
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viergeschos¬
sig verbaut
sind und die
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bauten Teile
des X. u. XX.
Bezirkes, so¬
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od. landhaus¬
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baute Teile,
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legenen Fen¬
sters auf- [
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messen.
und bei der Ausführung wesentliche Kosten bedingt hätte. Für
die Fälle, wo relativ viel Aborte außer dem Verschlüsse der
Wohnungen anzulegen wären, wurde an die Erbauung von „sani¬
tary towers“ erinnert, die dann auch Gelegenheit für Unterbringung
von Bädern, Waschküchen usw. geben würden. Dia speziell wegen
der Aborte wiederholt von Baufachleuten in der Enquete eine
Herabstimmung dieser Forderungen versucht wurde, wurde mehr¬
fach unter eindringlichem Hinweis auf die Möglichkeit der (Jeher¬
tragung von Infektionskrankheiten durch unreine Aborte und die
daraus sich weiters ergebende Notwendigkeit, unter Umständen
einen Abort zu sperren, ferner mit Erinnerung an den Begriff
„Bazillenträger“ und Betonung der Tatsache, daß bei so kleinen
Wohnverhältnissen nur dieser Baum zur Unterbringung nasser
oder schmutziger Kleider, Schmutzwäsche, Stiefel u. dgl. zur
Verfügung stehe, die Forderung je eines Aborts für jede Woh¬
nung als schlechterdings unabweisbar erklärt.
Der Anforderung der Schaffung einer Speisekammer oder
eines ins Freie lüftbaren Speiseschrankes, dessen Wichtigkeit be¬
sonders in bezug auf die Reinhaltung der Milch, also hauptsächlich
in Hinsicht der Gesundheit der Kinder jedem Mediziner klar ist,
erwuchs kein Widerspruch.
Dagegen war es nötig, sehr eindringlich zu betonen, daß
eine Küche stets, also auch hei der Kleinwohnung, ein ins Freie
führendes Fenster haben muß. Die Forderung wurde ausführ¬
lich begründet und dabei auf die jetzt festgestellten Einflüsse der
Wärmestau unig hei Anwesenheit von hohem Wassergehalt der
Luft und auf die Bedeutung von Luft und Licht in bezug auf die
T u b erku 1 ose v e r w i es ein .
Eine. Wohnung mit einem Zimmer von 20 m2 und einer
Küche von 6 m2, einer Speisekammer oder einem lüftbaren Speise«
schrank und einem zugehörigen Abort ist nach Ansicht der Aerzte
als die kleinste zulässige selbständige Wohnung für Wien zu be¬
trachten. Sogar die nur ausnahmsweise Schaffung von selbstän¬
digen Wohnungen, die nur aus1 einem Raume bestehen, die so¬
genannte Wohnküche, wurde als nicht rätlich bezeichnet.
Daß diese „kleinste Wohnung“ auch in bezug auf die Raus-
besorgerwohnung als Minimum anzusehen ist, war sehr nötig
zu betonen. Bekanntermaßen sind die Hausbesorger in Wien
gerade in neuen Häusern oft sehr merkwürdig untergebracht.
Glücklicherweise ist im Entwurf einiges über diese Frage enthalten.
In Hinkunft wird der Hausbesorger wirklich eine Wohnung haben,
das Haus bewachen können, auffindbar sein u. dgl., das heißt
- wenn der Entwurf durchgeht!
Bei allen Fragen über Nebenräume mußte während der En¬
quete immer und immer wieder darauf hingewiesen werden,
daß die Belichtung der Räume ein außerordentlich wichtiger
Faktor sei. In den laienhaften Vorstellungen über Bauhygiene
spielt die Belüftung eines Raumes eine viel größere Bolle
al's die Belichtung. Es ist dies begreiflich, denn auch in der
Hygiene wurde früher, bevor man über das1 Wesen der Infektions¬
krankheiten unterrichtet war, der verdorbenen Luft eine sehr
große, sagen wir, die größte Rolle zugewiesen. Wie hat früher
Nr. 15
WIENER KLINISCHE
der Begriff des „Miasma“ die Lehre von der Malaria beherrscht!
Was in der Wissenschaft als wahrscheinliche Hypothese ange¬
nommen wird, dringt häufig langsam in das Wissen der Allge¬
meinheit ein und bildet dort einen oft recht festsitzenden geistigen
Besitz zu einer Zeit, wo die Forschung dem Fachmann die Frage
geklärt hat und für diesen nur Teile dieser seinerzeit wahrschein¬
lichen Hypothese, jetzt aber als Wissen, bewahrt hat. Der Hygie¬
niker unterschätzt heute die Belüftung keineswegs, aber er schätzt
noch höher die Belichtung und die daraus1 resultierende Rein¬
lichkeit.
Die Erbauung sogenannter Kleinwohnungshäuser
(Häuser von höchstens 180 m2 Grundfläche mit mindestens zwei
Wohnungen in jedem Geschoße), denen mit Ausnahme der ersten
und zweiten Zone und der landhausmäßig zu verbauenden Teile
der vierten Zone um ein Geschoß, mehr erlaubt ist, wäre gewiß
im Interesse des heute sehr bedrängten ärmeren Mittelstandes
gelegen. Damit aber gerade diese Häuser ihren Charakter auch
beibehalten, wurde für diese ausdrücklich die Notwendigkeit einer
Wohnungsinspektion hervorgehoben, ein Verbot des Bettgeher¬
wesens gewünscht, sowie eine Beschränkung dieser Begünsti¬
gung auf 160 m2 Grundfläche empfohlen.
Auch sonst wurde verhältnismäßig häufig während der
Sitzungen der Ruf nach einer Wohnungsinspektion laut. Diesem
Wunsche schlossen sich die ärztlichen Vertreter selbstredend an,
ermangelten aber doch nicht, bei einzelnen Paragraphen des
Entwurfes, z. B. §§ 42, 50, worin schon in der Bauordnung
der Behörde ein Einfluß, auf die Benützung der Räume eingeräumt
wird, kleine verschärfende Aenderungen vorzuschlagen.
In bezug auf den Bau von Einfamilienhäusern, der ja für den
Hygieniker das anzustrebende Ideal des Wohnhausbaues über¬
haupt ist, waren die Delegierten bestrebt, sowohl durch genauere
Bestimmungen, als auch durch erleichternde Ausnahmen günstige
Verhältnisse zu schaffen.
Betreffs der Zwischenräume zwischen einzelstehenden Cot¬
tages wurde bei Seitenfrontlängen bis 16 m ein Abstand von
mindestens 8 m und für längere Fronten ein Zuschlag von je
einem Viertelmeter für jeden Meter Frontlänge verlangt. Es ist
klar, daß der gesundheitliche Vorteil des Einfamilienhauses nur
dann voll und ganz eintritt, wenn das Nachbarhaus entsprechend
entfernt steht. Wer sich vorstellt, wie breit 4 m sind, und für
die Dachtraufe 60 cm, die begehbare Wegbreite 140 cm und
für einen lebenden Zaun 50 cm rechnet, sieht, daß. eigentlich
nur eine Breite von 150 cm für Rasen oder eine Baumreihe,
Gebüsch usw. neben dem ums Haus führenden Weg übrig bleibt
— wahrlich nicht unbillig viel. Wer sich die ganze Distanz von
8 m von Haus zu Haus im Hinblick auf hustende tuberkulöse,
schuppende Exantheme, Keuchhusten oder auch Klaviere und
Grammophone und ähnliches vor Augen hält, wird diese Distanz
(früher war ein größeres Zimmer so lang) auch nicht unerhört
finden.
Speziell erwähnt wurde auch, daß ein Reihenbau von Ein¬
familienhäusern zweckmäßiger ist als das Zugestehen zu kleiner
Abstände zwischen Einzelhäusern.
Eine Anregung von Baudirektor Müller, bei landhaus-
mäßiger Verbauung nicht mehr als' ein Viertel der Parzelle ver¬
bauen zu lassen, enthob die Aerzte der Pflicht, durch diesen
Vorschlag entstehende und besonders auch bestehende Cottage¬
anlagen vor der Zerstörung ihrer Gärten und dadurch ’Vernich¬
tung eines Hauptmomentes ihrer sanitären Vorzüge durch gewinn¬
süchtige Bauspekulation bewahren zu müssen.
Ferner wurde vorgeschlagen, die landhausmäßig verbauten
Teile der vierten Zone prinzipiell von Industrieanlagen freizuhalten
und ersucht, die Benützung dortiger unverbauter Parzellen zu
Materiallagerplätzen der Bestimmung dieser Gebietsteile Wiens
entsprechend zu regeln und dadurch die Cottageanlagen in ihrer
Eigenart zu erhalten und zu schützen.
Dagegen wurden für diese Bauten Hausbesorgerwohnungen
im Souterrain als zu gestattende Ausnahme bemerkt. Die liiefür
inaißgebenden Gesichtspunkte waren, daß in solchen Häusern
doch vielfach dem Bau selbst eine erhöhte Sorgfalt gewidmet
werde, weil es meist Privatbauten vermögenderer Menschen sind
'infolgedessen auch die Souterrainwohnung oft wirklich technisch
erstklassig ausgeführt wird) und daß es gerade in Einfamilien¬
häusern oft besonders schwierig und kostspielig ist, die Haus-
besorgerwobnung anders unterzubringen als in dem^ ohnedies
für die Bedürfnisse des Hauses meist viel zu großen Souterrain.
Gegen das Münden von Stall-, Abort- oder Remisenfenstein
auf die Straße erklärten die Delegierten keine Einwendung zu
haben, da es in so manchen Fällen besser ist, wenn diese lenster
auf die Straße münden, statt in einen Hof oder in den Gärten
WOCHENSCHRIFT. 1914 535
eines Einfamilienhauses. Auch ist es besonders bei Cottage¬
häusern deren Gassenfronten nach Norden sehen, deren Gassen¬
fronten also für Schlafzimmer, Kinderzimmer u. dgl. nicht ge¬
eignet sind, eine ganz unnötige Erschwerung der Aufgabe der
Grundrißlösung, Abortfenster nicht auf die Straße münden zu
lassen.
In bezug auf die Dachbodenwohnungen, deren Erbauung
in der vierten, fünften und sechsten Zone im Entwürfe gestattet
ist, wurde nur verlangt, daß detailliertere Bestimmungen über
deren Deckenkonstruktionen geschaffen werden, um den gerade
dort besonders wichtigen Schutz gegen zu starke Wärmeeinstrah¬
lung im Sommer und hinwieder Wärmeverlust im Winter zu
gewährleisten. Es wurde besonders auf die nachgewiesene hohe
Säuglingssterblichkeit in Dachwohnungen durch das häufige Ver¬
derben der Milch infolge der hohen Temperaturen im Sommer
hingewiesen.
Es ist zu erhoffen, daß durch diese vielfachen Erleichterungen
der Bauvorschriften für Einfamilienhäuser, die sowohl im Ent¬
würfe enthalten sind, als auch von den Aerzten angeregt wurden,
der Cottagebau in Wien neue Impulse erhalte.
Daß eine Wohnung nur dann den Benützungskonsens er¬
halten darf, wenn alle ihre Teile brauchbar sind, ist ja selbst¬
verständlich, mußte aber doch ausdrücklich erwähnt werden, da
gegenteilige Ansichten laut wurden.
Zweimal aber wurde erklärt, daß es sich empfehle, der
Baubehörde die Rechtsmittel an die Hand zu geben, auch nach¬
träglich, trotz erteilten Benützungskonsenses eine Wohnung für
untauglich zu erklären, da es immerhin da und dort vorkommt,
daß gesundheitsschädliche Zustände in Wohnungen erst später
(etwa bei höherem Stande des Grundwassers) manifest werden.
Dabei wurde speziell auch erwähnt, daß manchmal in forciert
ausgeheizten Gebäuden trotz getrockneten Verputzes doch noch
nachträglich Räume feucht werden können. Die Beschüttung eines
Rohbaues vor dessen Vollendung wurde als bedenklich bezeichnet.
Von unterirdischen Stallungen für Rindvieh wurde abgeraten,
ebenso die Gefährlichkeit zu nieder gespannter Stacheldrahtzäune
beleuchtet, für die Erzielung genügender Sehalldichtigkeit zwischen
den einzelnen Wohnungen und Wohnungsbestandteilen gesprochen,
sowie auf die Gefahren der Leuchtgasvergiltungen und die Schäd¬
lichkeit von Heizkörpern mit relativ hoch erhitzten, aber nicht
tadellos und leicht reinigbaren Oberflächen hingewiesen und Heiz-
barkeit jedes zum dauernden Aufenthalte von Menschen be¬
stimmten Raumes verlangt.
Den Hausfrauen wird es angenehm sein, zu erfahren, daß
eine Vermehrung der Waschküchen angeregt wurde, indem in
größeren Häusern für je sechs Parteien eine Waschküche ver¬
langt wurde.
*
Mit diesen hier in aller Kürze vorgebrachten Vorschlägen
erklärten sich alle in der Enquete wirkenden Vertreter anderer
ärztlicher Vereinigungen2) solidarisch, ebenso wie die Delegierten
der k. k. Gesellschaft der Aer'zte den Aeußerungen der Herren Fach¬
kollegen vollinhaltlich zustimmten. Es zeigte sich auch hier wieder,
daß es in bereits gelösten wissenschaftlichen Fragen keine Meinungs¬
verschiedenheiten zwischen medizinischen Fachleuten gibt und
daß der Arzt stets im Interesse der Allgemeinheit zu wirken bereit
ist, ohne Rücksicht auf seinen eigenen Vorteil. Denn es wird wohl
niemand behaupten wollen, daß der Arzt seine Existenz gesunden
und in gesunden Wohnungen wohnenden Menschen verdanke.
*
Von vielen nichtärztlichen Teilnehmern an der Enquete
wurde immer und immer wieder darauf hingewiesen, daß. eine
etwas straffere Bauordnung die Wohnungen verteuere und die
ohnedies bestehende Wohnungsnot verschärfe.
Beide Ansichten sind meiner Ansicht nach entschieden un¬
richtig.
Es' sei mir erlaubt, das näher1 zu besprechen.
Wenn jemand ein Kapital in Form eines Hausbesitzes
fruchtbringend anlegen will, so geht er (entweder selbst oder
durch Fachleute) folgendermaßen vor: Er faßt irgendeinen ver¬
käuflichen Bauplatz ins Auge und läßt für diesen Platz einen Plan
eines Miethauses entwerfen. Dann berechnet er, wieviel dieses
entworfene Haus jährlich rein abwerfen kann und kapitalisiert
diesen Jahresertrag nach einem bestimmten Zinsfuß, der von der
Lage des Bauplatzes abhängt. Von der nun erhaltenen Summe
zieht er die Baukosten des Hauses ab und weiß nunmehr, bis
2) Oesterrefchische Gesellschaft für Gesundheitspflege: Professor
Dr. A. Schattenfroh und Regierungsrat Dr. A Merta; christlicher
Aerztebund für Oesterreich : Dr. L. Senfeider und Dr. A. Kapl; uienei
Aerzte verein : Dr. K. v. G e c z und Oberbezirksarzt Dr. R. .1 a h n.
536
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
zu welcher Summe er beim Ankauf des Bauplatzes gehen darf,
um sein Kapital durch das Haus noch in rationeller Weise ver¬
zinsen zu können.
Von diesen Faktoren ist für die Zeit dieser Berechnung
feststehend der Mietzins, d. h. die Summe, welche man für
den Quadratmeter Wohnungsfläche oder sagen wir für ein Zimmer
mit dem dafür entfallenden Teile der Nebenräume in dem be¬
treffenden Stadtteile, je nach der Qualität des Hauses usw. usw.,
jährlich verlangen kann und voraussichtlich bekommt. Feststehend
sind auch für den Tag der Berechnung die Baukosten.
Von der Bauordnung hängt aber ab, wie viele Quadratmeter
Wohnfläche, wie viele Zimmer auf dem betreffenden Bauplatz
untergebracht werden können, folglich hängt von der Bauordnung
ab, wieviel jährlichen Gesamtzins die Baufläche abwerfen kann,
folglich hängt die Differenz zwischen kapitalisiertem
Nettogesamt in ietzins und Baukostenbetrag, das ist
der Preis, der Wert des Baugrundes, von der Bauord¬
nung ab.
Eine laxe Bauordnung steigert den Wert der Baugründe,
eine straffere Bauordnung verbilligt den Boden. Der Zins bleibt
aber derselbe.
Zur Orientierung für jene, welche gar keine Kenntnis von
Grundwerten haben, sei hier bemerkt, daß bei einem neu ge¬
bauten Miethause in besseren Lagen der Stadt der Grundwert
oft die Baukosten des Gebäudes um das Doppelte und Dreifache
übersteigt. Die Fassung einer Bauordnung kann sehr bedeutende
Wertveränderungen bei Baugründen bedingen, besonders in zen¬
tralen Lagen, wo ganz märchenhafte Preise für den Quadratmeter
bewohnbaren Raumes, speziell für Erdgeschoße und das an¬
schließende zweite, eventuell sogar auch dritte Geschoß bezahlt
werden. Weniger einschneidend, wenn auch immerhin noch
sehr verhängnisvoll, wirkt die Bauordnung bei weiter von
der Mitte der Stadt oder weiter von Hauptverkehrsadern
und Nebenzentren entfernten Plätzen. Dort sind die reinen Bau¬
kosten das Ueberwiegende im Preis eines Hauses, weil die dort
erzielbaren Zinse wesentlich niedriger sind und folglich der kapi¬
talisierte Nettozins die Baukosten nicht mehr so bedeutend über¬
steigt. Dort steigt also der Grundwert weit nicht so stark mit
jedem Quadratmeter, der verbaut werden darf, wie im Zentrum.
Vielfach wurde auch betont, daß eine strengere Bauord¬
nung die Bautätigkeit hemme, dadurch die Wohnungsnot steigere
und folgerichtig die Wohnungszinse erhöhe. Vielleicht stimmt das
auf die (nächsten ein oder zwei Jahre, vielleicht aber auch
nicht. Viel mächtiger, viel einschneidender als jede; Bauordnung
wirken da gewiß die Verhältnisse des Geldmarktes (Geldknapp¬
heit und Geldflüssigkeit), des Hypothekenwesens, die größere oder
kleinere Wahrscheinlichkeit eines „Kraches“ bei Anlagepapieren,
die Art und Weise, wie die Steuerbehörden, die Gebührenbemes¬
sungsämter und dergleichen Gewalten ihre Gesetze handhaben
und noch andere Faktoren, wie Streikbewegungen, Kriegsgefahr,
kurz politische Unruhen und ähnliches.
Am meisten befruchtend auf die Bautätigkeit wirkt aber der
Zustand der ' Straßen und der Verkehrsmittel. Man kann ruhig
sagen; Wo der Schienenstr.ang der Straßenbahn hinkommt, dort
wächst ein Haus, wo eine ordentliche Straße gute Verbindungen
mit Nachbarstraßen herstellt, wo die Hochquellenleitung Anschluß
ermöglicht, wo der Kanal zur Einfügung der Abvyässerrohre bereit
ist, wo das Gasrohr, das Kabel, der Telephondraht zur Verfügung
steht, wo die Sicherheit der Menschen entsprechend gewährleistet
ist, dort suchen und schaffen sich Menschen Wohnungen.
Wie viele neue Häuser also in einem gegebenen Zeiträume
entstehen, wie viele neue Wohnungen durch ihre1 Konkurrenz
die Preise der alten Wohnungen drücken können, das liegt zum
großen Teile auch in der Hand der Gemeindeverwaltung. Eine
laxe Bauordnung wird da viel weniger leisten können. Sie würde
in erster Linie schlechte, gesundheitsschädliche Wohnungen
schaffen. Wesentlich mehr Wohnungen aber wohl kaum und daher
auch keine billigeren Wohnungen.
Es ist entschieden unrichtig, daß eine strenge Bauordnung
zur Folge hätte, daß die, auf eine durch das Wachstum der Stadt
eintretende Grundwertsteigerung spekulierenden „Großgrund¬
besitzer“ von Groß-Wien ihre Gründe einfach unverbaut liegen
lassen. Zweierlei spricht dagegen : Erstens sind diese Gründe
meist mit Hypotheken belastet und das Zahlen der entspre¬
chenden Zinsen hält der betreffende Spekulant nur eine gewisse
Zeit aus, wie ein den Untemeh merkreisen angehörendes Mitglied
der Enquete mitteilte. Zweitens aber würde der Spekulant Gefahr
laufen, allmählich in die Periode einer „vernewerten“ Bauordnung,
etwa vom Jahre 1930, zu kommen. Jeder, der den Wechsel der
Anschauungen über Besitz und Geschäft im Gegensatz zu den
Vonteilungen über Interessen der Allgemeinheit und soziale Für¬
sorge im Laufe der Zeiten sich vor Augen hält, wird sich sofort
darüber klar sein, daß eine Bauordnung von 1930 viel strenger
sein wird, als eine in unserer Zeit geschaffene. Der denkende
Unternehmer wird es vorziehen, sich mit der jetzt zu schaffenden
Bauordnung zu befreunden, und zu bauen oder zu verkaufen,
sobald es ihm nur irgend gewinnbringend erscheint. Je mehr
Jahre verfließen, je unwahrscheinlicher wird es, daß eine Bau¬
ordnung Rechtskraft erlangt, welche besonders dichte und hohe
Verbauungen zuläßt. Bei einem höheren Kulturniveau werden
die Bauordnungen nicht laxer, sondern schärfer und unsere Kultur
ist Gott sei Dank im Steigen !
Ob viel oder wenig Häuser in einem Jahre neu gebaut
werden, hängt auch sehr viel von Angebot und Nachfrage in
bezug auf Wohnungen ab. Nach einer Periode reger Bautätigkeit
stehen mehr Wohnungen leer, die Rentabilität eines neuen Hauses
ist weniger sicher, folglich kaufen die Sparer lieber Papiere, als
daß sie Häuser bauen oder kaufen, die Bautätigkeit sinkt daher.
Und umgekehrt! So schwankt das immer auf und ab, genau
so wie die Frequenz einer Fakultät davon abhängt, ob deren
Absolventen mit mehr oder weniger Sicherheit auf eine ent¬
sprechende Fruktifizierung ihrer beim Studium geleisteten Arbeit
und der hiefür aufgewendeten Gelder rechnen können.
Da dieser Bauordnungsentwurf, wie schon erwähnt, ohne¬
dies für viele bestehende Gebäude im Falle' des Umbaues ganz
bedeutende Ausnahmeverfügungen im Sinne der Erleichterung der
Bestimmungen getroffen hat und daher für viele bestehende Ge¬
bäude ohnedies ein sehr laxer zu nennen ist, tritt die Wirkung
einer neuen Bauordnung, bei welcher die ärztlichen Vorschläge
berücksichtigt werden, zumeist nur bei noch unverbauten, oder
mit niederen Häusern verbauten Gründen ein. Da bei diesen
Gründen ohnedies eine unter Umständen sehr bedeutende Wert¬
steigerung eingetreten ist, kann von einer Schädigung bestehen¬
den Besitzes keine Rede sein. Man kann höchstens sagen, daß
die Erwartungen, die Spekulanten in bezug auf Preissteigerungen
von Gründen, welche zu Spekulationszwecken angekauft wurden,
hegten und frühzeitig eskomptierten, von einer modernen Bau¬
ordnung etwas herabgestimmt werden dürften. Allerdings zu Nutz
und Frommen der Gesundheit aller Bewohner der Stadt.
*
Es ist klar, daß eine so genaue Fassung der Bestimmungen,
wie sie der gegenwärtige Entwurf hat, unter Umständen einen
Baumeister oder Architekten beim Entwerfen der Pläne beengt.
Das ist aber das kleinere Uebel zu nennen. Das weit größere
Uebel ist es, wenn eine Bauordnung unklar und dehnbar ist. Es ist
auch sicher, daß ein unterrichteter und tüchtiger Fachmann so
straffe Gesetze nicht braucht, um gute Häuser zu schaffen. Aber
man braucht genaue, klare und straffe Gesetze, um den minder
tüchtigen und weniger unterrichteten Fachmann oder den rück¬
sichtslosen Geldmenschen hindern zu können, schlechte
Häuser zu bauen und man braucht eine ordentliche Bau¬
ordnung, um zu verhindern, daß unsere Stadt an ihrem Fort¬
schritte in gesundheitlicher Beziehung durch zu weitgehende Aus¬
beutung von Grund und Boden gehindert werde.
Dem während der Enquete ausgesprochenen Wunsche, die
Bauordnung durch ein Subkomitee beraten zu lassen und dann
erst die Enquete weiterzuführen, verweigerten die Vertreter der
Gesellschaft der Aerzte entschieden ihre Zustimmung. Es wäre
das nur eine Verschleppung der ganzen Frage gewesen und hätte
höchstens Gelegenheit gegeben, statt einer Enquete mit nur be¬
ratenden und aufklärenden Erörterungen berufener Fachleute eine
Art Parlament mit Abstimmung unter den Mitgliedern dieses
Subkomitees zu schaffen. Daß dabei die Vertreter der Hygiene
ebenso wie manche Vertreter der höher gebildeten Techniker¬
schaft majorisiert worden wären, war mehr als wahrscheinlich.
Es wird vielleicht manchem Kollegen den Eindruck machen,
daß die Hygieniker in ihren Forderungen zu bescheiden waren. Es
ist aber ein vollkommen richtiges Prinzip, bei Anforderungen
für die Gesundheitspflege immer nur das unbedingt Nötige zu
verlangen. Sowie der Gegner (sit venia verbo!) weiß, daß über
das Mindestmaß hinausgegangen wird, fühlt er sich berechtigt,
Abstriche zu machen und führt dann die Abstriche als Laie oft
dort durch, wo sie absolut nicht berechtigt sind, so daß einer¬
seits wirkliche Gefahren für die Gesundheit nicht hintangehalten,
anderseits Sicherungen behördlich anbefohlen bleiben, die
den entsprechenden Aufwand nicht rechtfertigen. Was als unbe¬
dingt nötig zu bezeichnen ist, ist aber wieder, je nach dem
Kulturniveau der Orte, je nach ihrer Eigenart, je nach dem
Besitzstände des Gemeinwesens verschieden.
Wenn die Delegierten sich möglichst bemühten, ihre Vor¬
schläge in den denkbarst bescheidenen Grenzen zu halten, so
taten sie dies in der Absicht, mit keinem Worte etwas zu ver-
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
537
langen, was, sei es durch wissenschaftliche Gründe, sei es durch
wirtschaftliche Erwägungen, sei es auf Basis besonderer Ver¬
hältnisse unserer Stadt, zurückgewiesen werden kann.
Ein Exemplar des Bürstenabzuges des stenographischen
Protokolles der Enquete, sowie des Bauordnungsentwurfes wurde
der Bibliothek der Gesellschaft der Aerzte einverleibt, damit
jene Herren, welche sich genauer über die Angelegenheit unter¬
richten wollen, die Aeußerungen der Delegierten im Wortlaute
zur Kenntnis nehmen können.
Sammelreferat.
Tuberkulose.
Von Dr. M. Weisz.
Als Robert Koch im Jahre 1901 auf der internationalen
Tuberkulosekonferenz in London erklärte, daß der Infektion des
Menschen durch das Rind keine oder fast keine praktische Be¬
deutung zukomme, schienen viele Maßregeln der Tuberkulose¬
bekämpfung, die bis dahin, hauptsächlich durch Behrings Auto¬
rität gestützt, fast dogmatische Bedeutung hatten, überflüssig ge¬
worden zu sein. Das Aufsehen, welches Kochs Erklärung hervor¬
rief, war bei der außerordentlichen praktischen Tragweite der¬
selben begreiflich. Die Bedeutung des Rindes für die Epidemiologie
der Tuberkulose trat gegenüber der des Menschen weit zurück.
Koch wies nachdrücklichst auf den lungenkranken Menschen
als Quelle der tuberkulösen Infektion hin und forderte Maßregeln
zur Eliminierung der von den Schwindsüchtigen den Gesunden
drohenden Gefahr.
Es ist selbstverständlich, daß Kochs Auffassung nicht gleich
ungeteilte Anerkennung fand. Mußte ja doch Koch naturgemäß
den direkten Beweis für seine Behauptung, daß der Rindertuberkel¬
bazillus für den Menschen nicht krankmachend sei, den Versuch
am Menschen, schuldig bleiben. Aber Kochs Autorität genügte,
um die Frage ins Rollen zu bringen und an verschiedenen Stellen
beschäftigte man sich mit der Untersuchung der Beziehungen
zwischen der Rinder- und Menschentuberkulose, mit der Diffe¬
renzierung der beim Rinde und Menschen gefundenen Tuberkol¬
bazillen und mit der Prüfung von Kochs Behauptung durch
Anlegung von Kulturen und durch den Tierversuch.
Eine nunmehr zehnjährige Arbeit auf diesem Gebiete hat
Kochs Anschauungen über die Beziehungen zwischen Menschen-
und Rindertuberkulose als zu Recht bestehend erwiesen. Im
Jahre 1908 konnte Koch auf der internationalen Tuberkulose¬
konferenz in Washington erklären, daß bisher kein einziger Fall
von Lungentuberkulose beim Menschen nachgewiesen sei, in dem
Rindertuberkelbazillen durch längere Zeit ausgehustet worden
wären. Auch in den letzten zwei Jahren ist es nicht gelungen,
einen Fall von Perlsuchtinfektion der Lunge beim Menschen mit
Sicherheit nachzuweisen. Noch unter der persönlichen Mitwir¬
kung Kochs hat Mo eil er1) wieder diesbezügliche Untersuchun¬
gen des Sputums Lungenkranker vorgenommen. Von 51 Phthisi¬
kern wurde zur Erlangung von Reinkulturen Sputum auf 106 Meer¬
schweinchen überimpft. Es wurden 80 Reinkulturen angelegt.
Mit diesen Reinkulturen wurden 215 Kaninchen geimpft und die¬
selben nach drei bis vier Monaten zur Feststellung des Infek¬
tionstypus getötet. Als Ergebnis der subkutanen Verimpfung der
Reinkulturen auf Kaninchen konnte in allen untersuchten Fällen
einwandfrei das Vorhandensein von Tuberkelbazillen des humanen
Typus festgestellt werden. Dieses Ergebnis deckt sich mit dem
von Kitasato in 152 und dem von Dieter len in 50 Fällen
von Phthise erhaltenen. Ueber 235 systematisch nach dem gleichen
Ge^lbhtsp unkte untersuchte Fälle von Lungentuberkulose berichten
Park und K rum wiede2) aus dem Gesundheitsdepartement der
Stadt New York. In keinem dieser Fälle konnte der bovine lu-
berkelbazillus als Ursache der Lungenaffektion nachgewiesen
werden. Dagegen erwies sich derselbe in einer nicht allzu ge¬
ringen Zahl der angeführten Fälle von chirurgischer und ander¬
weitiger Tuberkulöse als Erreger der Krankheit. Bei 37 Kindern
unter fünf Jahren konnte llmial, bei 34 Kindern zwischen o und
16 Jahren 5mal, bei 230 Erwachsenen über 16 Jahre lmal der
bovine Tuberkelbazillus durch Kultur und durch den Impfversuch
nachgewiesen werden. Bei Lungentuberkulösen war, wie erwähnt,-
in 235 Fällen kein einziges Ma.1 der bovine Typus zu
finden. Dieser fand sich dagegen in einer nicht geringen
Zahl bei chirurgischer und allgemeiner Tuberkulose als
Erreger der Krankheit, zumeist allerdings bei Kindern. In
einer zweiten Arbeit setzten Park und Krum wiede3) ihre frü¬
heren Untersuchungen fort und ergänzten dieselben. Eine Gesamt¬
übersicht der von den Autoren untersuchten und der in der
Literatur angeführten Fälle ergibt: Bei 688 Fällen von Tuber¬
kulose der Erwachsenen waren neun bovinen Ursprungs, nur ein
Fall, bei dem aber nur einmal das Sputum untersucht worden
war, betraf Lungentuberkulose. Die übrigen Tuberkulosefälle bo¬
vinen Ursprungs bei Erwachsenen waren : Bauch-, Drüsen-,
Knochen- und Urogenitaltuberkulose. Unter 132 Kindern zwischen
5 und 16 Jahren war 33mal Tuberkulose bovinen Ursprungs
nachzuweisen, davon war der überwiegend größte Teil Drüsen-
und Bauchtuberkulose. Von 220 Kindern unter fünf Jahren litten
59 an Tuberkulose bovinen Ursprungs. Diese betrafen überwiegend
Lymphdrüsen-, Abdominal- und allgemeine Tuberkulose.
Aus diesen Arbeiten geht deutlich hervor, daß mit zu¬
nehmendem Alter die Bedeutung der bovinen Infektion für den
Menschen immer mehr zurücktritt. Das häufigere Vorkommen
der bovinen Infektion beim Kinde kann wohl auf nichts anderes
zurückzuführen sein als auf die leichtere Infektionsgelegenheit
des Kindes mit vom Rinde stammenden Tuberkelbazillen. Dies
muß aber auf die größere Rolle zurückgeführt werden, welche
der Milchgenuß in den ersten Lebensjahren spielt. Es war daher
eine sehr erwünschte Ergänzung der Arbeiten, die bovine Infektion
betreffend, daß die- zum Verkaufe in New York gelangende Milch
auf ihren Tuberkelbazillengehalt von Heß4) untersucht wurde.
Unter 107 zur Untersuchung gelangten Proben der Kannenmilch
wurde dieselbe 17mal, das ist in 16%, als tuberkelbazillenhaltig
befunden. Die Bazillen waren sowohl in der Sahne wie im Sedi¬
mente enthalten. Diese Milch gelangte als „pasteurisiert“ in den
Handel. Dies beweist, daß die Methode des Pasteurisierens, wie sie
gegenwärtig geübt wird, keinerlei Sicherheit bezüglich des Ba¬
zillengehaltes gewährt. Bei der Isolierung der Tuberkelbazillen
wurde in allen Fällen mit Ausnahme eines boviner Ursprung
festgestellt. Der eine Fall, in welchem Tuberkelbazillen humanen
Ursprunges nachgewiesen wurden, zeigt, daß die Milch auch durch
tuberkulöse Menschen infiziert werden kann und daß man auf diese
Infektionsquelle auch bei der Milch achten muß.
Die angeführten Untersuchungen beweisen die Richtigkeit
von Kochs Behauptung, daß für die Lungentuberkulose
des Menschen wieder nur der Mensch die Infektionsquelle darstellt.
Da jedoch in einer nicht allzu geringen Zahl von Fällen der bovine
Tuberkelbazillus als Ursache tuberkulöser Erkrankungen gleich¬
falls nachgewiesen wurde, so sind wir, wie Heß betont, nicht
berechtigt, die Gefahr der bovinen Infektion zu vernachlässigen.
Selbst bei der Annahme von nur 1% boviner Infektionen 'beläuft
sich die Zahl der hiedurch in einem größeren Staate verursachten
Tuberkulosefälle auf viele Tausende. Heß verlangt daher, daß
die Milch, welche von nicht mit Tuberkulin geprüften Kühen
stammt, verläßlich pasteurisiert oder aufgekocht werde. Wie Heß
im allgemeinen, so verbürgt Hohlfeld,5) daß speziell bei der
Bekämpfung der Tuberkulose im Kindesalter die Perlsuchtinfektion
nicht vernachlässigt werden darf, wenngleich die Infektion durch
den Menschen die Hauptrolle spiele.
Rothe6) untersuchte bei 100 Kinderleichen im Alter bis
zu fünf Jahren die Bronchial- und Mesenterialdrüsen auf Tu¬
berkelbazillen. 21 ergaben bei der Verimpfung positives Resultat.
In 13 von diesen 2l Fällen haben sowohl die Mesenterial- wie
die Bronchialdrüsen Meerschweinchen tuberkulös infiziert. In drei
Fällen waren nur die Mesenterial-, in fünf Fällen 'nur die Bron¬
chialdrüsen infektiös. Dieses Ergebnis spricht nach Rothe nicht
für, sondern eher gegen die Ansicht, daß im1 Kindesalter die tubei-
kulöse Infektion in der Regel vom Darme aus erfolgt. Von 34 Rein¬
kulturen erwiesen sich 32 als dem humanen und 2 als dem
bovinen Typus angehörend. Diese zwei Reinkulturen entstammten
den Bronchial- und Mesenterialdrüsen eines Falles. Es stehen
somit 20 Fällen von humaner 1 Fall von boviner Infektion
gegenüber. In diesem; Falle wurde noch der Rinderversuch ange¬
schlossen, welcher den bovinen Ursprung dieses Stammes be
stätigte. Der beim Rinderversuche verimpfte Stamm war berei s
538
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
elf Monate durch Meerschweinchenpassage und weitere elf Mo¬
nate in der Kultur fortgezüchtet worden.
Die Artbeständigkeit der verschiedenen Tuberkelbazillen
kann heute wohl, soweit praktische Fragen dadurch tangiert
werden, als gesichert angesehen werden. Zwei Fälle von llaut-
tuberkulose bovinen Ursprungs, über welche Heß7) berichtet,
beanspruchen darum Interesse, weil sie die Tatsache illustrieren,
daß bovine Tuberkelbazillen im menschlichen Gewebe viele Jahre
leben können, ohne den Charakter des humanen Typus zu er¬
werben. Y on diesem Gesichtspunkte betrachtet, sprechen sie gegen
die Umwandlungsfähigkeit des bovinen Typus in den humanen.
Die Artspezifität der Tuberkelbazillen machen zum Gegenstände
einer besonderen Untersuchung N. Janes o und Elfer.3) Sie
kommen zu folgenden Ergebnissen : Nicht nur die verschiedenen
säurefesten Gruppen, sondern auch die säurefesten Bazillen im
engeren Sinne weisen verschiedene Eigenschaften auf, die sich
sowohl im kulturellen Verhalten wie in den natürlichen Lebens¬
verhältnissen der Bazillen manifestieren. Dies konnte mit natur¬
wissenschaftlicher Genauigkeit für den humanen, bovinen und
für den Hühnertuberkelbazillus gezeigt werden. Die genaue Ana¬
lyse der humanen Tuberkelbazillenkulturen zeigte jedoch, daß
in ihnen Bazillen Vorkommen können, welche alle jene charak¬
teristischen Eigenschaften besitzen wie die unter natürlichen Ver¬
hältnissen in anderen Tieren sich entwickelnden säurefesten Ba¬
zillen. Es ist schwer, wahrhaft wesentliche Eigenschaften der
Bazillen kennen zu lernen. Die spezifisch pathogene Wirkung
der verschiedenen säurefesten Bazillen konnte abgestumpft werden.
Wenn diese aber innerhalb von Versuchsfristen vermindert werden
kann, so liegt die Annahme nahe, daß die verschiedenen säure¬
festen Bazillen ihrer pathogenen Eigenschaft schließlich auch
beraubt werden können. Die Aneignung oder Uebertragung neuer
spezifischer Eigenschaften zu bewirken, ist bisher noch nie¬
mandem gelungen. Die praktisch wichtigeren, säurefesten Gruppen
der Tuberkelbazillen entfernen sich im Haushalte der Natur immer
mehr voneinander.
Die Ausarbeitung einer nach jeder Richtung zufriedenstellen¬
den Methode des Tuberkelbazillennachweises beschäftigt noch
immer zahlreiche Forscher. Als Grundlage aller dieser Versuche
wird gegenwärtig allgemein das von Uhlenhuth angegebene
Antiforminverfahren benützt. Das Antiformin ist durch seinen
Gehalt an unterchloriger Säure und Lauge imstande, das Sputum
zu homogenisieren, indem es Schleim, Eiweiß und Hombestand-
teile auflöst, dagegen die Tuberkelbazillen, welche durch ihre
Fetthülle geschützt sind, nicht angreift. Diese bleiben sogar hiebei
kulturfähig. Das Antiforminverfahren eignet sich zum Nachweise
der Tuberkelbazillen nicht bloß im Sputum, Stuhl und Harn, son¬
dern auch zur Untersuchung von Geweben. Lorenz9) modifi¬
zierte die U hlenh u thsche Methode in der Weise, daß er das
erhaltene Sputum-Antiformingemisch kochte. Nach ihm gestaltet
sich das Verfahren folgendermaßen: 1. 2 bis 10 cm3 Sputum
werden mit der zwei- bis dreifachen Menge 10%igen Antiformins
etwa fünf Minuten kräftig bis zur völligen Homogenisierung ge¬
schüttelt. 2. Die Mischung wird im Reagenzglase aufgekocht.
• i. 15 Minuten zentrifugiert. Hierauf gießt man alles Antiformin
vom Sedimente ab, welches äußerst klein ist und im positiven
1 alle fast nur aus Tuberkelbazillen besteht. Hierauf fügt man zum
Sedimente einige Oesen Wasser hinzu und breitet es dann unter
Häufung auf dem Objektträger aus. Der Ausstrich ist fast immer
gleichmäßig und bildet, fixiert, eine feine milchglasähnliche
Schichte, die gut haftet und beim Entfärben nur zwei- bis drei¬
maliges kurzes Eintauchen in salzsauren Alkohol benötigt. Die
Anreicherung ist entsprechend dem sehr kleinen Sedimente sehr
groß. Die Dauer der Manipulation beträgt 20 bis 30 Minuten. Bei der
Beurteilung des Ergebnisses ist darauf zu achten, daß im Wasser
säurefeste Stäbchen Vorkommen können, worauf Beitzke10) be¬
sonders hingewiesen hat. Des Aufkoclhens zur besseren Ein¬
wirkung des Antiformins bediente sich schon früher Löffler.11)
Außerdem benützte er das in der Technik des Tuberkelbazillen¬
nachweises von Lange und Nit sehe eingeführte Prinzip der
Adhärenz der Tuberkelbazillen zu Kohlenwasserstoffen durch Ver¬
wendung von Chloroform. Lange und Nitsche12) haben fest¬
gestellt, daß aus einer Mischung von Tuberkelbazillen mit anderen
nicht säurefesten Bazillen Ligrointropfen bei ihrem Aufsteigen
Nr. 15
nur die Tuberkelbazillen mitnehmen. Löffler bediente sich
statt des Ligroins des Chloroforms. Sein Verfahren gestaltet
sich folgendermaßen: Der Auswurf wird mit der gleichen Menge
50°/oigen Antiformins aufgekocht. Zu 10 cm3 der Lösung werden
15 cm3 einer Mischung von 10 Teilen Chloroform und 90 Teilen
Alkohol hinzugesetzt. Nach tüchtigem Durchschütteln wird zen¬
trifugiert. Das Chloroform setzt sich ganz unten ab und darüber
eine Scheibe fester Bestandteile, in der auch die Tuberkelbazillen
sind. Die Scheibe wird im Ganzen herausgenommen und in
der gewöhnlichen Weise auf Tuberkelbazillen untersucht. Dieses
sogenannte Chloroformvierfahren ist in 15 bis 20 Minuten aus¬
zuführen.
Lange und Nitsche kombinieren nach ihrer letzten Pu¬
blikation13) auch das Ligroin- mit dem Antif ormin verfahren :
Zu einem Teil Sputum kommen vier Teile 10°/oigen Antiformins.
Nach mehrmaligem kräftigen Schütteln bleibt die Mischung
1 bis IV2 Stunden bei Zimmertemperatur stehen. Dazu kommen
2 cm3 Ligroin. Es wird wieder durchgeschüttelt. Dann fügt man
fünf Teile Wasser hinzu, schüttelt wieder und läßt bei Zimmer¬
temperatur stehen. Schon nach vier bis fünf Stunden läßt sich
dann das Material zur Untersuchung entnehmen. Die Anreiche-
rungszahl betrug die 40- bis öOfache Menge Tuberkelbazillen, wie
im gewöhnlichen Ausstriche. Lange und Nitsche haben ihr
Verfahren mit anderen Anreicherungsmethoden "verglichen. Nur
das Verfahren von Eller mann und Erlandsen14) ergab
stärkere Anreicherung. Die Methode der letzteren Autoren be¬
ruht auf Autodigestion des Sputums. Durch Kochen mit ver¬
dünnter Sodalüsung wird das Sputum homogenisiert, dann auf
24 Stunden in den Brutschrank gestellt, hierauf zentrifugiert.
Diese sogenannte „Autodigestions-Doppelmethode“ hat den Nach¬
teil, daß sie nicht sofort zu Ende geführt werden kann und daß
das 24 Stunden im Brutschrank gestandene Sputum stark stinkt.
Das Ligroinverfahren von Lange und Nitsche wurde von
Jörg en sen10) einer Kritik unterzogen. Der wesentlichste Vor¬
wurf, welchen dieser Autor erhebt, besteht darin, daß er die
von Lange und Nitsche angenommene besondere Adhäsion
der Tuberkelbazillen zu Kohlenwasserstoffen bezweifelt. Lange
und Nitsche10) halten jedoch in ihrer Erwiderung an dieser
Eigenschaft der Kohlenwasserstoffe fest.
Die uns heute zu Gebote stehenden Verfahren der Tuberkel¬
bazillenanreicherung sind somit auf dreierlei Grundtatsachen auf-
gebaut. 1. Auf der Verdauung des Sputums im Brutschränke.
2. Auf der Adhäsion der Tuberkelbazillen zu den Kohlenwasser¬
stoffen. 3. Auf der besonderen Resistenz der Tuberkelbazilien dem
Antiformin gegenüber. Für praktische Zwecke wird sich jenes
\ erfahren am besten eignen, welches die besten Chancen bezüg¬
lich des Bazillennachweises bietet und dabei am wenigsten Zeit
in Anspruch nimmt. Daß in dieser Hinsicht das A n t if 0 rm i n v er¬
fahren allein oder mit Benützung von Kohlenwasserstoffen am
allermeisten verspricht, ist wohl weiter nicht zweifelhaft. In der
jüngsten Zeit empfehlen Hart und L es sing16) das Antiformin¬
verfahren auch zum Nachweise von Tuberkelbazillen in Gewebs-
schnitten und zur Verarbeitung von ganzen Lymphdrüsen. Da die
1 uberkelbazillen bei diesem Verfahren nicht an Kulturfähigkeit
und Virulenz einbüßen, so kann das so gewonnene Sediment als
Grundlage weiterer Versuche dienen. Auf diese Weise müßte
sich die Untersuchung der Gewebe auf Tuberkelbazillen verein¬
fachen und dabei größere Sicherheit bieten.
Mehrere Arbeiten beschäftigen sich mit der Bedeutung der
Darminfektion bei der Lungentuberkulose. Strauß17) konsta¬
tierte, daß bei Verfütterung von Tuberkelbazillen vom Darme aus
eine direkte Resorption derselben in das Blut stattfinde. Die Auf¬
nahme der Tuberkelbazillen in das Pfortaderblut kann sechs
bis sieben Stunden nach der Verfütterung nachgewiesen werden.
Bei Darmtuberkulose konnte er fast regelmäßig Tuberkelbazillen
im Pfortaderblute nachweisen. In zwei Fällen fanden sich Tu¬
berkelbazillen im Pfortaderblute, während dieselben im Blute
der Vena cava nicht nachweisbar waren. In vier Fällen waren die
I uberkelbazillen im Pfortaderblute reichlicher zu finden als im
Blute des übrigen Körpers. Niemals fanden sich im Pfortaderblute
wie im Blute überhaupt Tuberkelbazillen, wenn der Darm nicht
tuberkulös war. Mit dem Verhalten der Lymphe beschäftigte sich
Betke.18) Er kommt zu folgenden Ergebnissen: Bei einer hohen
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
539
Prozentzahl aller vorgeschrittenen Phthisen enthält der Ductus
thoracicns Tuberkelbazillen, ohne daß eine Wanderkrankung des¬
selben vorliegt. Die Hauptquelle dieser Infizierung der Duktus
lymphe sind tuberkulöse Erkrankungen des Intestinaltraktes. Durch
die mit Tuberkelbazillen überschwemmte Duktuslymphe erfolgt
vielfach eine Neuinfizierung der Lunge. Anatomisch ist die durch
den Duktusinhalt hervorgerufene Neuerkränkung der Lunge durch
kleinknotige disseminierte Form der Tuberkelaussaat charakteri¬
siert. Die Verhütung der Darmtuberkulose ist daher, um einen
Circulus vitiosus zu vermeiden, dringendes Erfordernis.
Fischer19) faßt das Resultat seiner und seiner Schüler Unter¬
suchungen folgendermaßen zusammen : Bei Darm tuberkulöse
werden große Mengen von Tuberkelbazillen ständig durch die
Pfortader in die Leber und durch den Ductus thoracicns in die
Lunge geführt Regelmäßig treten bei Darmtuberkulose Tuberkel
oder entzündliche Prozesse in der Leber auf, die aber keine
Tendenz zum Fortschreiten haben. Die Leber dient als Filter
für die Bazillen. Durch primäre Infektion des Pfortaderblutes
vom Darme aus kann in seltenen Fällen eine primäre isolierte
Ix'bertuberkulose entstehen. Die Miliartuberkulose kann nicht
allein durch Infektion des Blutes mit Tuberkelbazillen erklärt
werden. Selbst ziemliche Mengen von Bazillen können beim Phthi
siker ins Blut übertreten, ohne daß eine miliare Tuberkulose ent¬
stehen muß. Die Miliartuberkulose kann ihre Quelle auch in einer
Darmtuberkulose haben. Die Ueberschwemmung des Blutes und
der Lunge mit Tuberkelbazillen bei der Darmtuberkulose kann
eine große Bedeutung für den Verlauf der Lungentuberkulose
und für die immunisatorischen Prozesse bei derselben bähen.
Der Verhütung und Behandlung der Darmtuberkulose muß
sonach eine große prophylaktische Bedeutung zugesprochen
werden. Es ist ja auch aus der klinischen Beobachtung bekannt,
wie sehr sich die Prognose der Lungentuberkulose verschlechtert,
sobald eine Darmtuberkulose dazukommt. Lungenkranke müssen
daher darauf aufmerksam gemacht werden, nicht ihr Sputum zu
schlucken. Glücklicherweise sind wir, was bei der Lunge leider
nicht, der Fall ist, in der Lage, die Tuberkelbazillen im Darme
abzutöten oder wenigstens in ihrem Wachstum zu beeinflussen.
Die Darreichung der Kreosotpräparate entspricht dieser Indika¬
tion. Vielleicht ist dies der wahre Grund, warum das Kreosot
und seine Derivate, trotzdem sie so oft schon bei der Medika¬
tion der Tuberkulöse beiseite gestellt schienen, doch immer wieder
aufgenommen wurden. Das Ziel, welches lange Zeit den Tüber-
kulosetherapeuten vorgeschwebt hatte, einen solchen Kreosotgehalt
im Blute zu erreichen, daß das Wachstum der Tuberkelbazillen
aufhöre, konnte nicht erreicht werden. Im Darm aber dies zu
erreichen, ist wohl auch ohne besonders forcierte Kreosottherapie
möglich.
Die Frage, ob das Tuberkulin per os oder subkutan gegeben
werden soll, dürfte nun endlich zugunsten der subkutanen Me¬
thode entschieden sein. Pfeiffer30) und Pfeiffer und Lev-
acker31) haben im Anschlüsse an Studien über die Einwirkung
der Magen- und Darmfermente auf das Tuberkulin mehrere zur
Darreichung per os empfohlene Tuberkelbazillenpräparate (Tuberal,
Tubertoxyl und Phthisoremidkapseln) geprüft. Das Resultat, das
sich für Tuberkulin und für die Bazillenemülsion ergeben hatte,
daß sie bei interner Darreichung bedeutend an Wirksamkeit ver¬
lieren, gilt, für alle Tuberkelbazillenpräparate. Dieselben werden
als Eiweißsubstanzen durch die Magen- und Pankreasverdauung
angegriffen und soweit sie intakt bleiben, nur unvollkommen
resorbiert. Zweifellos tuberkulinempfind liehe Patienten reagierten
auf die interne Darreichung relativ großer Dosen der genannten
Präparate nicht. Moeller22) will auch bei stomachaler Dar¬
reichung seiner Tuberoidkapseln Erfolge erzielt haben. Durch eine
Gelodurathülle vor der Einwirkung des Magensaftes geschützt,
sollen die Tuberoidkapseln erst im Dünndarm zur Resorption
gelangen. Moeller hat auch mit diesem Präparate charakteri¬
stische Tuberkulinreaktionen erhalten. Die Tuberoidkapseln
können nach ihm auch neben der Injektionsbehandlung zur Unter¬
stützung der letzteren gegeben werden.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es die Schwierig¬
keiten der Tuberkurinbehandlung sehr vermehren heißt, wenn man
an Stelle der genau dosierbaren subkutanen Injektionen ein Ver¬
fahren setzt, welches eine sichere Beurteilung der zur Resorp¬
tion gelangenden Tuberkulinmengen unmöglich macht. Ist schon
die Dosierung des Tuberkulins bei der subkutanen Methode nicht
leicht, so entzieht sich die bei der Darreichung per os wirklich
in den Kreislauf gelangte Tuberkulinmenge, mit. der wir allein
rechnen müssen, jeder Beurteilung. Denn zwei recht variable
Faktoren kommen bei der internen Verabreichung des Tuber¬
kulins dazu, die Einwirkung der Magen- und Darmfermente und die
Resorptionsfähigkeit der Schleimhäute des Intestinaltraktes. Mit
Rücksicht auf den Verlust, mit dem bei der stomachalen Dar¬
reichung des Tuberkulins gerechnet werden muß, müssen be¬
trächtlich größere Mengen gegeben werden als bei der subkutanen
Methode. Wer bürgt aber dafür, daß einmal nicht zuviel Tuberkulin
resorbiert wird und damit ein Tuberkulinschaden entsteht? Und
wer kann die Möglichkeit in Abrede stellen, daß hei dem heute;
verabreichten Tuberkulin gar nichts zur Wirksamkeit gelangt ist,
weil1 alles durch die Magen-Darmsäfte abgebaut worden ist? Das
Tuberkulin stomachal geben, heißt, dasselbe unberechenbaren Zu¬
fällen aussetzen und der Tuberkulinbehandlung die ihr so not¬
tuende Sicherheit der Dosierung gänzlich rauben.
Heber eine eigenartige, aber für gewisse Fälle brauchbare
Methode der therapeutischen Verwertung der Kutanimpfung nach
Pirquet berichtet. Münch.23) Von dem Standpunkte ausgehend,
daß das resorbierte Tuberkulin durch die Hautpassage einen
wesentlichen Teil seiner giftigen Eigenschaften verliert, empfiehlt
er die Anlegung von kleinen Tuberkulindepots auf der mit dem
Pirquet-Bohrer skarifizierten Haut. Geeignet sind vor allem
solche Patienten, die gegen Tuberkulininjektionen besonders em¬
pfindlich sind (Skrofulöse, Knochen- und Gelenkstuberkulose, so¬
wie beginnende Lungentuberkulose). Ungeeignet sind solche Fälle,
die trotz wiederholter Impfung keine Zunahme der Reaktionspapel
zeigen. Man beginnt mit zwei Impfpunkten und steigt sukzessive
um einen Impfpunkt. Die höchste Zahl der Impfpunkte, die ein
Patient erhielt, war 90. Es wurden Temperatursteigerungen und
Herdreaktionen wie bei der subkutanen Methode beobachtet.
Wiederholt wurde die Vakzination dann, wenn die Papel ab-
zublassen begann: meist war dies nach fünf bis acht Tagen
der Fall.
Ein neues Tuberkelbazillenpräparat wird unter dem Namen
Tuberk ul o se- Ser o: V acci n von den Höchster Farbwerken
in den Handel gebracht. Seine Darstellung basiert auf den Arbeiten
von Ru p pel und B ickmann,24)25) welche den Beweis erbracht
haben, daß komplementbindendes Tuberkuloseserum das Tuber-
kulotoxin sowohl im Tuberkulin, als auch in den Tuberkelbazillen
selbst zu entgiften vermag. Die Darstellung von hochwertigem
komplementbindenden Tuberkuloseserum gelang durch systema¬
tische Behandlung von tuberkulinempfindlichen Tieren mit Tu¬
berkelbazillen oder mit Tuberkulin. Als Versuchstiere eignen sich
Maulesel, Rinder und Pferde. Die Tiere tuberkulinempfindlich
zu machen, gelingt nach dem von Behring für die Bovovakzina-
tion eingeführten Prinzip der Einimpfung lebender humaner Tu¬
berkelbazillen. Wenn man einem solchen nach Behring ge¬
impften Tiere systematisch Tuberkelbazillenpräparate einverleibt,
so gelingt es, ein hochwertiges Immunserum zu erzeugen, welches
sowohl prophylaktische wie direkt heilende Wirkung bei Meer¬
schweinchen gezeigt hat. Es ist gelungen, Meerschweinchen, bei
welchen die serotherapeutische Behandlung am 5., 8., ja selbst
am 17. Tage nach erfolgter Infektion begonnen wurde, über neun
Monate am Leben zu erhalten, während die Kontrolliere vorn
gleichen Infektionsdatum bereits vor langer Zeit an generali¬
sierter Tuberkulöse zugrunde gegangen waren. Einige der vakzi¬
nierten Tiere wurden gelötet und bei ihnen nur sehr geringe
tuberkulöse Veränderungen gefunden.
Das Zusammenbringen irgendeines Tuberkelbazillenpräpa¬
rates mit dem Immunserum erzeugt Präzipitation des Antigens
und entgiftet, nach Ruppel26) dasselbe derart, daß selbst die
fünf- bis sechsfach tödliche Dosis von Alttuberkulin ohne weiteres
vertragen wird. Bei tuberkulösen Patienten sind derartige neutrale
Gemische von Alttuberkulin und Immunserum nicht mehr im¬
stande1, Pi r quetsche Reaktion hervorzu rufen. Tuberkulöse Meer¬
schweinchen können 0-5 g mit solchem Serum behandelter zer¬
riebener Tuberkelbazillen vertragen, während die tödliche Dosis
sonst bei Vorbehandlung mit normalem Serum oder ohne Vor¬
behandlung 0-001 g beträgt.
540
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Von allen Eigenschaften ries Tuberknlosesemms erweckt nach
Kuppel die Möglichkeit, mit ihm abgetötete Tuberkelbazillen zu
entgiften, das größte Interesse, nachdem von jeher das Bestreben
auf dieses Ziel gerichtet war. Die mit dem Immunserum behan¬
delten Tuberkelbazillen beladen sich mit spezifischen Immun-
stoffen. Deshalb wurde dieses Tuberkulin auch als sensibilisiert
bezeichnet, weil es dadurch befähigt wird, Komplement zu binden.
Die Emulsion dieser so sensibilisierten Tuberkelbazillen findet
bereits Anwendung in der Tuberkulosetherapie. Ueber zwei Fälle,
die mit sensibilisierter Tuberkelbazillenemulsion mit gutem Er¬
folge behandelt wurden, nachdem Alttuberkulin wegen fieber¬
hafter Reaktionen aufgegeben worden war, berichtet Roden¬
acker.27)
Das T uberku 1 oseimmu ns erutn der Höchster Farbwerke be¬
ansprucht auch darum Interesse, weil es sich zur Wertbemes¬
sung der verschiedenen Tuberkuline sehr gut eignen soll. Ein
Serum, von welchem 1 cm3 mit 0-01 cm3 eines Standardtuber¬
kulins komplette Komplementablenkung liefert, wird als einfach
komplementbindend bezeichnet. Die in 0-01 cm3 eines Standard¬
tuberkulins enthaltene Antigenmenge wird als Tuberkulineinheit
bezeichnet. So berechnet, enthält 1 g trockener Tuberkelbazillen
(12.500 Tuberkulineinheiten an spezifischem Antigen. Dieselbe
Menge enthält 1 g trockener Substanz von TO und TR 1 cm3
Bazillenemulsion enthält 200, 1 cm3 Alttuberkulin 1000 Tuber¬
kulineinheiten.
Vielleicht wird es auf diese Weise möglich sein, dem Streite,
welcher über ein neues Tuberkelbazillenpräparat, das sogenannte
Endotin, ausgebrochen ist, ein Ende zu machen. Gabrilo-
witsch“8') hat bekanntlich ein neues Tuberkulin hergestellt, das
frei von Glyzerin. Kochsalz und Albumose sein soll und welches
er als Endotin (abgekürzt aus Endotoxin) bezeichnet hat. Das
Endotin wird als die wirksame Substanz des Tuberkelbazillus
und der verschiedenen Tuberkuline von ihm angesprochen. Ein
besonderer Vorzug des Endotins wäre nach Gordon,29) daß es
keine fieberhaften Reaktionen hervorruft. Dagegen ist es im¬
stande, Eierdreaktionen zu erzeugen, wodurch es seine Spezifität
anzeigt. Den Behauptungen Gordons, daß das Endotin ein
entgiftetes Tuberkulin da.rstelle, tritt W ol ff- E i stier 30) entgegen.
Dieser Autor verweist mit Recht darauf, daß ein entgiftetes und
gleichzeitig wirksames Tuberkulin eine Contradictio in adjec.to
sei. Das Tuberkulin wirkt vermöge seiner toxischen Eigenschaften.
Die Eigenschaft, des Endotins, Herdreaktionen hervorzurufen, sei
nicht, nur kein Vorzug des Präparates, sondern ein Nachteil des¬
selben, da Herdreaktionen wegen ihrer Gefährlichkeit absolut
vermieden werden müssen. Gegenüber der Herdreaktion trete
das Fieber an Bedeutung zurück. In ähnlicher Weise wenden
sich auch Jochmann und Möllers31) gegen das Endotin,
das nicht als reines Tuberkulin angesprochen werden kann. Auch
könne es mit dem von Koch hergestellten albumosefreien Tuber¬
kulin nicht Verglichen werden. Es sei überhaupt arm1 an spezi¬
fischen Stoffen und stelle eher einen Rück- als einen Fortschritt
dar. Gegen Wo Iff- Eisner führt wieder Gordon32) eine Reihe
von Gründen ins Feld. Als „entgiftet“ sei Endotin nur in dem
Sinne bezeichnet worden als es frei von Albumosen und Peptonen
sei, welche Anaphylaxieerscheinungen hervorrufen könnten. Ein
gewisser Eiweißgehalt und eine gewisse Giftigkeit müsse aber
bei jedem Tuberkulin vorausgesetzt werden, soweit diese eben
durch die spezifischen Substanzen selbst bedingt sind. Das Endotin
zeichne sich aber dadurch aus, daß es nicht durch toxische All¬
gemeinwirkungen überrasche. Untersuchungen über den thera¬
peutischen Wert des Endotins liegen von Walterhöfer33) vor.
Er hat das Endotin bei 25 Kranken, 13 des dritten, 10 des zweiten
und 2 des ersten Stadiums, angewendet. Zusammenfassend kommt
er zum Resultate, daß die Erwartungen, die nach dem Berichte
von Gabrilowitsch an das Präparat geknüpft wurden, sich
bisher nicht erfüllt, haben. Vom Alttuberkulin sei Autor ganz
andere Erfolge zu sehen gewohnt als die« beim Endotin der Fall
war. Doch müßten weitere Berichte abgewartet werden, ehe ein
abschließendes Urteil über dasselbe möglich sein werde.
Literatur:
’) Deutsche med. Wochenschr. 1911. S. 341. — 3) Arbeiten aus
dem Gesundheitsdepartement der Stadt New York 1908 bis 1909, Bd. 4.
— 3) Arbeiten aus dem Gesundheitsdepartement der Stadt New York
1910, Bd. 5. — *) Arbeiten aus dem Gesundheitsdepartement der Stadt
New York 1908 bis 1909, Bd. 4. — 5) Münch, med. Wochenschr. 1910,
Nr. 5. — 6) Deutsche med. Wochenschr. 1911, S. 343. — 7) Arbeiten
aus dem Gesundheitsdepartement der Stadt New York 1908 bis 1909
Bd. 4. — 8) Beitr. z. Klin. d. Tub. 1911, Bd. 18, S. 175 — 9) Berl. klin'.
Wochenschr. 1911, S. 118. — 10) Berl. klin. Wochenschr. 1910, Nr. 31.
— ") Deutsche med. Wochenschr. 1910, S. 1987. — n) Deutsche med.
Wochenschr. 1910, S. 435. — 13) Zeitschr. f. Hyg. 1910, Bd. 67, S. 1. —
u) Zeitschr. f. Hyg. 1908, Bd. 61, S. 239. — 15) Zeitschr. f. Hyg., Bd. 36
S. 315. — l6) Wiener klin. Wochenschr. 1911, S. 303. — 17) Frankfurter
Zeitsch. f. Path. 1910, Bd. 5, S. 447. — >9) Ebendort, S. 446.' — >») Eben¬
dort, S. 419. — 2,>) Wiener med. Wochenschr. 1911, Nr. 7. — 21) Wiener
klin. Wochenschr. 1910, S. 1797. — 2i) Berl. Klinik 1911, II. 271. —
ä:i) Beitr. z. Klin. d. Tub., Bd. 16, S, 259. — 24) Deutsche med. Wochen¬
schrift 1910, S. 2446. — 2:>) Zeitschr. f. Immunitätsforschung u. exper.
Eher. 1910, Bd. 6, S, 344. — 26) Münch, med. Wochenschr. 1910, S. 2393.
-1) Klin. Jahrb. 1911, Bd. 24, H. 4. — 28) Zeitschr. f. Ther. 1907,
Bd. 11, II. 1. — 2S) Deutsche med. Wochenschr. 1910, Bericht über die
Naturforschervers. in Königsberg. — 3u) Berl. klin. Wochenschr. 1910
S. 2200. — 31) Deutsche med. Wochenschr. 1910, S. 2141. — 3-) Berliner
klin. Wochenschr. 1911, Nr. 9. — n) Beitr. zur Klinik der Tub. 1911
Bd. 18. S. 333
Heferate.
Ribeiro Sanchez
a sua vida e a sua obra.
Por Maxiniiano Leinos.
Porto 1911, Eduardo Tavares Martins.
Den Monographien desselben Verfassers über Amatus und
Zacntus Lusitanus reiht sich die vorliegende würdig an und es
ist nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß Lemos durch
seine jüngste Musterleistung eine Lücke in der Geschichte der
Medizin des 18. Jahrhunderts ausfüllt. Zwar wußte man bisher, daß
Ribeiro Sanchez der eigentliche Begründer der Sublimattherapie
gegen Syphilis, der erste Beschreiber der Lues hereditaria tarda ge¬
wesen ist, daß er energisch die Lehre vom amerikanischen Ursprung
der Syphilis bekämpft hat — aber Genaueres Uber das Leben und
Wirken des merkwürdigen Mannes, der eine Zeitlang am russischen
Kaiserhofe als Leibarzt wirkte und zu den Gelehrtenkreisen des
18. Jahrhunderts in regster Beziehung stand, ist aus den verbreiteten
medikohistorischen und biographischen Werken neueren Datums
nicht zu ermitteln. Wohl haben einst Andry und Vicq d’Azyr
Biographien des berühmten Maranenstämm lings verfaßt, aber diese
Arbeiten sind gegenwärtig vergessen und entbehren zudem genügender
dokumentarischer Grundlagen. Der Sache von neuem mit dem
nötigen Spürsinn nachzugehen, ein völlig erschöpfendes Bild von
der Bedeutung des portugiesischen Arztes zu geben, dazu war in
der Gegenwart niemand so sehr berufen wie Lemos, der mit
glühender Liebe zu seiner Nation eine sozusagen deutsche Gelehrten-
gründlichkeit vereinigt und davon in seiner Geschichte der portu¬
giesischen Medizin in seinen Archivaufsätzen usw. hinreichende
Proben geliefert hat. Was in der gesamten Literatur vorhanden ist,
was sich in den Archiven und Bibliotheken Portugals und Frank¬
reichs über Ribeiro Sanchez ausfindig machen ließ, ist mit be¬
wundernswertem Eifer zusammengetragen und kulturhistorisch ver¬
arbeitet worden und bei der Lektüre des 360 Seiten starken, reich
illustrierten Werkes bemerkt man deutlich, wie bei dem Verfasser
die Begeisterung für den Gegenstand wuchs, je mehr er auf uner¬
wartete Funde stieß. Begeisterung, nicht Ueberschwenglichkeit führte
ihm die Feder und wir glauben es gerne, wenn er in der Vorrede
sagt »comecei a trabalhar com verdadeira devoijao«, denn nur durch
völlige Hingebung an die Sache kann ein solches Buch zustande
gebracht werden ! Ein eingehendes Referat würde den zugemessenen
Raum weit überschreiten, nur so viel sei erwähnt, daß die neun
ersten Kapitel dokumentarisch gestützte, auf die kleinsten Einzel¬
heiten eingehende Angaben über die Abstammung, Familiengeschichie
und Lebensschicksale S a n c h e z’ enthalten, wobei Portugal, England,
Holland, Rußland und Frankreich den Schauplatz bilden. Kapitel 10
bis 12 schildern Sanchez als Syphilidologen, Hygieniker und
Reformator des medizinischen Unterrichts, Kapitel 13 entwickelt
seine noch heute höchst bemerkenswerten Ideen Uber Religion,
Politik und Volkswirtschaft. Man gewinnt den Eindruck eines Voll¬
menschen, der medizinisch dachte, aber dem das Nil humani a me
alienum puto zum Leitsatz diente. Jetzt erst wird e.s begreiflich,
weshalh Boerhaave so sehr an seinem Schüler Sanchez
hing, weshalb Haller und van Swieten, um nicht die vielen
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
541
anderen zu nennen, seine Freundschaft suchten und in ehrenvollster
Weise seinen Namen in ihren Schriften erwähnten. Widmete ihm
doch Haller sogar den zweiten Band seiner Ausgabe von Boer-
haaves Institutionen. Jetzt begreift man, weshalb das Vaterland den
wegen der Inquisition geflüchteten Sohn so gerne wieder zurück¬
gewonnen hätte, besaß es doch keinen, der das medizinische Re¬
nommee Lusitaniens so groß gemacht, so weil zu verbreiten wußte
wie Ribeiro Sanchez. Die anhangsweise beigegebene Bibliographie
gibt Aufschluß nicht bloß Uber die zum Teil selten gewordenen ge¬
druckten Schriften des Sanchez, sondern auch über die viel
zahlreicheren, meist in Paris vorhandenen Manuskripte des Autors ;
daran reihen sich noch 35 höchst interessante Dokumente, die
bisher unbeachtet in den Archiven schlummerten. Daß eine Menge
Porträts von Zeitgenossen, mit denen Sanchez in mündlichem
oder schriftlichem Verkehr stand, den Text beleben, soll nicht an¬
zuführen unterlassen werden. Eines nur ist zu bedauern, daß das
Buch, welches einen ganz ausgezeichneten Beitrag zur Geschichte
der Medizin und der Kultur überhaupt liefert, in einer Sprache ge¬
schrieben ist, mit der nicht gar viele vertraut sind, doch schließlich
bildet das Idiom keine unübersteigliche Schranke und wir sind
dessen gewiß, daß das Geleistete bald in der medizinischen Universal¬
geschichte aufgenommen werden wird. Die ärztlichen Kreise Portu¬
gals haben wahrlich Grund, Lemos für seine unermüdliche
historische Forschertätigkeit dankbar zu sein, denn wie keinem
anderem gelang es ihm, den alten Ruhm Lusitaniens auf medizi¬
nischem Gebiete aufzufrischen.
*
Klassiker der Medizin.
Herausgegeben von Karl Sudlioll-.
Bd. 5 bis 9.
Leipzig 1910, Verlag von Joh. Ambr. Barth.
Feber die höchst anerkennenswerten Ziele, welche den Her¬
ausgeber dieser Sammlung leiten, wurde bereits bei Gelegenheit
des Erscheinens der ersten vier Bändchen gesprochen. Das Lob,
das wir damals dein Textausgaben, bzw. Uebersetzungen zollten,
gilt auch für die neuen Nummern. Band 5 bietet in form¬
vollendeter und doch treuer Uebertragung Fracas t or os wert¬
volle Schrift De contagionibus et coutagiosis morbis,
Band 6 Sydenham's' unveraltete Abhandlung über die
Gicht. Bilden für diese beiden Werke aus dem 16., beziehungs-
' weise 17. Jahrhundert die bekannten medizinischen Fachhistoriker
F os sei und Pagel die berufensten Interpreten, so werden die
folgernden Bändchen, welche Virchows berühmte Arbeit über
Thrombose und Embolie, sodann R. Kochs fundamentale
Schrift über die Aetio logic der Milzbrand krank heit ent¬
halten, zweckmäßig durch Vertreter der aktuellen Forschung
R. Beneke, bzw. M. Ficker, eingeleitet. Mögen der Sammlung
noch viele Nummern beschieden sein. Neuburger.
fl us versebie denen Zeitschriften.
367. Zur biologischen Wirkung der Radium¬
emanation. Von J. Plesch, klin. Assistent an der II. med.
Klinik in Berlin (Prof. Dr. F. K r a u s). Es wird über mehrere
Versuche und Messungen berichtet, welche sich zunächst auf die
Aufnahme der Radiumemanation von unversehrtem und frischem
defibrinierten Blute bezogen. Als Resultat ergab sich, daß das
menschliche Blut weniger (etwa um 1 0°/0 weniger) Emanation
aufnimmt als das Wasser und dadurch ist auch festgelegt, daß eine
spezifische Affinität des Hämoglobins zur Emanation nicht bestehen
kann. Da im allgemeinen die indifferenten Gase durch das Blut
nur zu 9O°/0 ihres Wasserabsorptionskoeffizienten absorbiert werden
(Bohr), so dient das bei der Radiumemanation gefundene Resultat
auch als weitere Stütze für die Anschauung, daß die Emanation
sich wie ein indifferentes Gas verhält. Weiters lehrten diese Ver¬
suche, daß die absorbierten Mengen der Emanation sich proportional
der Tension ändern ; je höher die Tension der Emanation in der
Einatmungsluft ist, um so größer wird die von dem Blute absor¬
bierte Menge sein. Das aus der Lunge nach den Geweben ab¬
fließende Blut gibt sodann seine Emanation im Körper ab, wonach
sich die Lungen wieder mit Emanation sättigen, dies dauert so
lange, bis sich endlich das Spannungsgleichgewicht zwischen der in
derGesamtkörperllüssigkeil und der in der Einatmungsluft befindlichen
Emanation eingestellt hat. Je länger der Aufenthalt in emanations-
reicber Luft dauert, um so gründlicher wird die Sättigung des
Organismus mit Emanation sein. Und besonders werden auch die¬
jenigen Organe in Emanationsspannungsgleichgewicht geraten, die,
wie Gehirn, Rückenmark, Fettgewebe etc., eine geringere Durch¬
blutung haben als die übrigen Körperorgane. Wie lange kann nun
die Emanation nach erfolgter Einverleibung im Organismus ver¬
weilen? Die Emanation wird aus dem Blute in die Lungen trans¬
portiert und hier wieder nach den Spannungsgesetzen abgegeben.
Unter Hinweis auf die Abgabe des Stickstoffes zeigt Verf., daß die
Dauer der Entgasung des Körpers im direkten Verhältnis zu der
Zirkulationsgeschwindigkeit stehe. Je ruhiger sich also das Individuum
verhält, um so länger muß die Emanation in ihm verweilen, je
mehr es sich bewegt, um so schneller wird es mit Emanation ge¬
sättigt werden und umgekehrt. Die wirksame Dosis der Emanation,
bzw. das Optimum für den Organismus ist noch nicht feslgcslellt.
Da die größte Masse der Emanation rasch abgegeben wird, so wird
man, um eine Wirkung zu erzielen, das betreffende Individuum
stundenlang im Emanatorium halten müssen, denn nur so ist
es möglich, den ganzen Körper mit Emanation zu sättigen. Der
Verfasser bespricht schließlich die Trinkkur, bei welcher die Emanation
langsamer eindringt, dafür aber eine länger andauernde Wirkung
entfaltet. Die in den Magen und Darm einverleibte Emanation ge¬
langt auf dem Blut- oder Lymphwege ins rechte Herz, sodann in
die Lungen, von wo sie, ohne in das arterielle System überzugehen
(ohne also in dem Körper verteilt zu werden), abgegeben wird.
Wollen wir also auf das Blut, resp. nur auf die im Blute ent¬
haltenen Substanzen wirken (Gicht, zirkulierende Harnsäure), so wird
auch die getrunkene oder gegessene Emanation wirksam sein.
Ueberhaupt wird die kombinierte Emanations-Inhalalions-Trinkkur zu
empfehlen sein, um praktisch eine intensive und lang dauernde
Wirkung zu erzielen. — - (Deutsche med. Wochenschr. 1911, Nr. 11.)
E. F.
*
368. (Aus dem Samariterhaus zu Heidelberg. — Direktor:
Exzellenz Geheimrat Prof. Dr. V. Czerny.) Heber die Vor¬
lagerung intra abdomineller Organe zur Röntgen¬
bestrahlung. Von Priv.-Doz. Dr. R. Werner und Dr. A. Caan.
Die beiden V erfasser haben auf Veranlassung C zernys im Sama¬
riterhaus die von Karl Beck im Jahre 1907 angeregte temporäre
Eventrierung inoperabler Magen-Darmkarzinome oder anderer Ab¬
dominalorgane behufs Röntgenbestrahlung nachgeprüft und bisher
bei 14 Kranken angewandt, von denen neun an inoperablen Magen¬
krebsen, zAvei an weit vorgeschrittenen Rektumkarzinomen und
je einer an Kolonkrebs, an Gallenblasen-, bzAv. an Ovarialtumor
litten. Der vorbereitende operative Eingriff gestaltet sich ver¬
schieden. Bei Magenkrebsen in der Regio pylorica wurde ein
medianer Längsschnitt gemacht. Der erste Akt bestand in einer
zirkulären Vereinigung des Peritoneums mit der Haut dur'ch Katgut-
nähte, dann wurde der Tumor in möglichst großem Umfange in
die Wunde gezogen, von Adhäsionen befreit und mit Silkworm-
nähten derart an dem Haut-Peritonealrand befestigt, daß eine breite
und feste Verklebung der Peritonealflächen erfolgen konnte. Es
erwies sich als vorteilhaft, nicht den zerreißliehen Tumor seihst
zur Fixation zu verwenden, sondern benachbarte gesunde Teile.
Bei den Karzinomen an der Hinterfläche des Magens, die zu
stark fixiert waren, um sie zu dislozieren, wurde der Rand der
Maigenwunde so weit verzogen, daß die Hauptmasse des Tumors
nur durch die Vorderwand des Magens bedeckt war. In diesen
Fällen ist eine vollkommene Freilegung zur direkten Bestrahlung
kaum möglich. Dagegen ließ sich ein Tumor, der teilweise von der
Leber bedeckt, war und nicht losgelöst werden konnte, dadurch
'unmittelbar zugänglich machen, daß der Leberrand durch Ma¬
tratzennähte mit dem Hautrande vereinigt wurde. Die Silkworm-
iäden wurden immer lang gelassen, um als Zügel zur Distraktion
der Wundränder während der Röntgenbestrahlung zu dienen.
Eine schädliche Folge dieses Eingriffes, eine Infektion wurde
nie beobachtet. Die meisten Patienten konnten nach zAvei bis
drei Wochen mit einer festen Bandage das Rett. verlassen. Die
freiliegenden Tumor- und Magenteile bedeckten sich mit Granu¬
lationen, die vom Rande her zu epidermisieren begannen. Ein
Patient,- der vor sieben Monaten operiert wurde, ist seit sechs
542
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
Wochen wieder arbeitsfähig und hat keine Beschwerden von der
Oeffnung in seiner Bauchwand. Bei dem Gallenblasentumor, der
auf das Kolon Übergriff, wurde durch Vorziehen des Kolons
der Ilauptteil der Geschwulst in die Wunde gebracht und die
Darmwand zur fixation an dem Hautperitonealrand benützt. Auch
hier war der Abschluß des Peritoneums ein so fester, daß die Kranke
nach drei Wochen aufstehen konnte. Das Ovärialkarzinomrezidiv
saß im Mesenterium, wurde zuerst exkochleiert und dann direkt
an den Hautrand an, genäht. Sehr schwierig waren die hingriffe
zur Freilegung der beiden Rektumkarzinome. Es waren außer¬
ordentlich umfangreiche Tumoren, die sowohl am Sakrum wie
an der Blase breit festsaßen. Nach Resektion des Steißbeines
wurde der Tumor teils stumpf, teils blutig abgelöst, ein Teil der
Tumor- und Darmpartien abgetragen, der eingenähte Teil der1 Ge¬
schwulst bis zum Sakrum hinauf gespalten, so daß die Innen¬
fläche des Darmes und die ulzerierten Tumorpartien freigelegt
wurden. Bei beiden Kranken war schon früher eine. Kolos tomie
gemacht worden. Der eine Kranke, der vor sechs Monaten operiert
wurde, hat in der Gegend des Afters jetzt einen normalen Haut-
und Schleimhautüberzug und ist im Gehen und Sitzen nicht, be¬
hindert, der andere ist inzwischen an einer septischen Infektion
des Tumors gestorben. Beim Kolonkarzinom kam es nach Vor¬
lagerung zu einer rapiden Verkleinerung der Geschwulst; subjektiv
vollkommenes Wohlbefinden. Darmfunktion normal. Die Verfasser
ziehen aus ihren Beobachtungen folgende Schlüsse: l. Es ist
möglich, nach der von Karl Beck angeregten Methode der Ver¬
lagerung intraabdomineller Organe behufs Röntgenbestrahlung Er¬
folge zu erzielen, die weit über die bisherigen hinausgehen.
2. Die Vorzüge der direkten Bestrahlung beruhen einerseits auf
einer besseren qualitativen und quantitativen Ausnützung der
Röntgenstrahlen, anderseits auf der Möglichkeit, neben der bisher
allein üblichen diakutanen homogenen oder konzentrischen Be¬
strahlung, noch eine rücksichtslose, lokale Behandlung durchzu¬
führen, wobei die benachbarten Organe geschont und etwaige
schädliche Folgen, wie Nekrosen, Blutungen, Perforationen usw.
durch die bessere Kontrolle leichter verhütet werden und, wenn
sie eintreten sollten, harmloser verlaufen würden. 3. Es empfiehlt
sich, die vorgenähten Organe lange Zeit, eventuell dauernd in
ihrer Position zu belassen, da einerseits den Kranken hiedurch
keine wesentlichen Beschwerden verursacht werden, anderseits
eine längere Nachbehandlung von besonderem Werte zu sein
scheint und jedenfalls so eine bessere Ueberwachung der weiteren
Entwicklung des Leidens möglich ist. 4. Zu diesem Zwecke
dürfte es ratsam sein, speziell bei den Magenkarzinomen die
von den Verfassern angewandte exakte Methode des Peritoneal¬
verschlusses und bei Rektumkarzinomen das von Werner an¬
gegebene Verfahren zu benützen. 5. Einfache Probelaparotomien
und Gastroenterostomien bei inoperablen Magenkarzinomen sollten
daher, wenn irgend möglich, vermieden und durch das geschil¬
derte Verfahren ergänzt oder ersetzt werden. Etwas ähnliches
gilt von der Kolostomie bei inoperablen Rektumkarzinomen, ferner
von der Enterostomose bei karzinomatösen Stenosen der übrigen
Darmabschnitte. Es liegt nahe, auch für andere innerhalb des
Abdomens gelegene Tumoren (Niere, Blase, Pankreas), sowie für
die intrathorakalen und intrakraniellen Geschwülste ein analoges
Verfahren einzuschlagen, das in sehr vielen Fällen ohne allzu¬
große technische Schwierigkeiten gestatten dürfte, auf chirurgi¬
schem Wege eine erfolgreichere Intervention der Röntgenstrahlen
vorzubereiten und die Radiochirurgie in den Dienst der Therapie
maligner Tumoren zu stellen. — (Münc,hener mediz. Wochen¬
schrift 1911, Nr. 11.) G.
►
369. (Aus dem Laboratorium von Prof. J. Pa w low zu
Petersburg.) Die Kernprobe von Prof. Ad. Schmidt. Von
Priv.-Doz. N. van Westenrijk. Nach den Untersuchungen van
Westenrijks ist die Ivernprobe von Prof. Ad. Schmidt in
der Art, wie sie vom Verfasser angestellt wird, nicht verwert¬
bar, da dann viele gesunde Personen als pankreaskrank aufge¬
faßt werden müßten. Nur in dem Falle, wenn der Fleischwürfel
ganz intakt oder wenig mikroskopisch vermindert im Kote er¬
scheint, wäre dies auf eine mangelhafte Pankreassekretion zu
beziehen, z. B. kann dies bei Achylia gastrica der Fall sein.
Bei Leuten mit normaler Magensekretion aber wären die Gaze¬
beutel mit den Fleischwürfeln in Keratinkapseln zu geben, nur
dann würde die Probe dasselbe bedeuten können wie bei Achy,
likern. - (Zeitschrift für experimentelle Pathologie und The¬
rapie 1910, ßd. 8, H. 2.) k. S.
*
370. Z u )• 41 a gen-Kolonresektion. Von Prof. Dr. Rudolf
Goebel 1. »Verf. nahm in einem Falle von einem zwischen Magen
und Kolon liegenden Karzinom in erster Sitzung Resektion des
Colon transversum (40 cm), drei Viertel des Magens, vor. Da
eine Vereinigung des Colon transversum unmöglich war, wurde
die Appendikostomie ausgeführt. Nach günstigem Verlaufe wurde
zirka sieben Wochen später vorgenommien : Durchtrennung des
untersten Ileums. Schluß durch Tabaksbeutelnähte und Vereinigung
iles Ileums mit dem Colon descendens side to side mit drei¬
facher Naht. Fat. wurde geheilt entlassen. Vier Monate später
bestand nur mehr in der rechten Unterbauchseite eine Fistel von
3 mm Durchmesser, die in das Cökum führt und kaum sezerniert.
Es wurde demnach eine totale Ausschaltung des Cökums, Colon
ascendens und der. Flexura coli dextra gemacht. — (Zentralblatt
für Chirurgie 1910, Nr. 45.) E. V.
*
371. Arbeitstherapie. Von Direktor Dr. Dees in Haber¬
see. Verf. hat auf dem internationalen Kongreß zur Fürsorge
für Geisteskranke einen Vortrag über obiges Thema gehalten,
der manches Interessante bietet. So wird es selbst wenigen Psy¬
chiatern bekannt sein, daß es schon im Mittelalter Anstalten gab,
in denen die Beschäftigung der Geisteskranken in mustergültiger
Weise gepflegt wurde. Sehr interessant sind auch die Aeuße-
rungen Goethes über Arbeitstherapie in „Wilhelm Meisters Lehr¬
jahre“. Selbstverständlich ist die Forderung der Arbeitstherapie
ausschlaggebend bei der Auswahl des Ortes und der Anlage einer
Anstalt. Verf. ist ein Gegner der Entlohnung der von Geistes¬
kranken in einer Anstalt geleisteten Arbeit. Das Erträgnis dieser
Arbeit könnte zu Freiplätzen für Bedürftige, für HilsVereine, für
Entlassene oder für solche entlassene Pfleglinge verwendet wer¬
den, die unter der Kontrolle der Anstalt stehen. — (Allgemeine
Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin,
Bd. 68, H. 1.) ' S.
*
372. Ein Beitrag zur Frage des Impfschutzes.
Von Dr. Ernst Levy in Essen a. d. Ruhr. Um der in neuester
Zeit immer regeren Gegen agitation den Boden abzugraben und um
auf die jüngeren Zeitgenossen überzeugend einzuwirken, bringt Verf.
eine Reihe von Tatsachen vor, welche fast die Beweiskraft eines
Experimentes haben. Ein Schiffskapitän, zuletzt vor etwa 40 Jahren
geimpft, kehrte aus Rußland zurück, erkrankte leicht mit Ausschlag
im Gesicht, war dabei nicht bettlägerig. Seine 74jährige Mutter, die
nie im Lehen geimpft war, starb nach kurzer Krankheit an Va¬
riola vera. Zur Beerdigung fuhr diejganze Familie des Schwieger¬
sohnes (Mann, Frau, ein sechs- und ein vierjähriges Kind, dann ein
zweijähriges ungeimpftes Kind) aus Essen hin, ohne aber mit der
schon eingesargten Frau in Berührung zu kommen, resp. ohne
Sachen der Frau mitzunehmen. Drei Wochen später erkrankte der
nichtgeimpfte zweijährige Knabe an echten Pocken in schwerer
Form. Die ganze Familie kam ins Barackenspital. Das Kind genas.
Die übrige Familie, sofort revakziniert, blieb gesund, bis auf ein
zweitägiges hohes Fieber (bis 40'4°), das sich am fünften und
sechsten Tage nach der Aufnahme bei dem Mädchen und am
sechsten und siebenten Tage bei dem Vater einstellte. Bei letzterem
war auch ein masernähnliches Exanthem aufgetreten, das unter
Nachlaß des Fiebers am anderen Morgen schwand und welches
Verf. als eine gemilderte Form der Variola (Variola sine exanthe-
mate) auffaßt. Letztere rührte natürlich von dem in Essen erkrankten
Kinde her. Es haben sich also fünf Personen in gleicher Weise der
Ansteckung von Pockengift ausgesetzt, das eine nicht geimpfte
Person gelötet halte; von diesen fünf erkrankte wieder die eine
nicht geimpfte, u. zw. schwer, zwei Personen erkrankten späte»'
u. zw. in allerleichtester Weise. Es gehört schon sehr viel vorge¬
faßte Meinung dazu, hier an einen Zufall und nicht an die Wirkung
der Impfung zu denken. Verf. zitiert im weiteren die Vorschriften
zur Bekämpfung der Pocken, zeigt, daß viele Personen zum zweiten
Male die echten Blattern bekamen (auch der Kapitän behauptete,
schon die echten Blattern überstanden zu haben), daß eine vor fünf
I
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
543
Jahren vorgenommene Impfung keinen absoluten Schutz vor Er¬
krankung biete, daß Leute mit Pockennarben (meist vor 10 bis
20 Jahren akquiriert) gegen die Impfung mit Kälberlymphe positiv
reagieren etc., und gelangt zum Schlüsse, daß eine fünfjährige
Durchimpfung keinen genügenden Schutz für das Pflegepersonal von
Pockenkranken (Aerzte, Wärter) gewährleiste. Alle Personen, die
außer mit den Kranken auch noch mit anderen Zusammenkommen,
in erster Linie die Aerzte, sollten sich daher sofort bei Erkennung,
bzw. Behandlung eines Pockenkranken wieder impfen lassen, falls
die letzte Impfung über ein Jahr zurückliegt. Abgesehen von
der prophylaktischen wohnt der Impfung noch ein kurativer Wert
bei für den Fall, daß ein Arzt noch vor der Impfung oder bald
nach ihr, zu einer Zeit, wo noch keine Schulzwirkung entwickelt
war, sich infiziert. Verf. führt dies aus und zeigt, daß man bei
sofortiger Impfung (Revakzination) die Chancen habe, daß die
Vakzine die Variola (gleichzeitige Infektion mit Pocken vorausgesetzt)
überholt und dadurch mildert. Dies kann sogar noch der Fall sein,
wenn die Variola schon kurze Zeit früher von dem Körper Besitz
ergriffen hat. Die bezügliche Vorschrift sollte daher lauten: »Zur
Pflege und Behandlung von Pockenkranken sind nur solche Per¬
sonen zuzulassen, welche sich einer sofortigen Impfung, bzw. Wieder¬
impfung unterwerfen, die, wenn nötig, jährlich zu wiederholen
ist.« Das gilt auch für Geistliche, Urkundspersonen, Desinfektoren
und Leichenwärter. — (Deutsche med. Wochenschr. 1911, Nr. 11.)
’ E. F.
*
373. (Aus der dermatologischen Abteilung des Rudolf
Virchow -Krankenhauses zu Berlin. — Dirigierender Arzt: Sani¬
tätsrat Dr. Wechselmann.) Das Verhalten des Blut¬
druckes bei intravenösen Salvarsaninjektione n. Von
Dr. Richard Sieskind, Assistenzarzt. Der Verfasser hat bei
Patienten, die intravenös mit Salvarsan injiziert wurden, syste¬
matisch den Blutdruck gemessen, um fostzustellen, ob überhaupt
nach der Injektion mit Salvarsan Blutdruckünd er ungen eintreten,
welcher Art letztere sind und ob sie irgendwelche Störungen be¬
dingen können. Die Untersuchungen wurden mit dem Reckling¬
hausen sehen Tonometer vorgenommen. Injiziert wurde eine
schwach alkalische Salvarsanlösung 0-3 bis 0-45 auf 200 cm3
P lüssigkeit ; in einzelnen Fällen wurde das Flüssigkeitsquantum
auf 300 bis 500 cm3 erhöht. Die Messungen wurden zwei- bis
vierstündig durch drei bis vier Tage ausgeführt. Stark fiebernde
Patienten und solche, die längere Zeit an Kopfschmerzen, Nausea
und Erbrechen litten, wurden von der Blutdruck Untersuchung
ausgeschlossen. Auch auf die psychische Erregbarkeit der Pa¬
tienten wurde Rücksicht genommen. Nicolai hat zuerst bei
subkutan mit Salvarsan behandelten Patienten auf die nachher
eintretende Biutdrucksenkung aufmerksam gemacht. Seine Fälle
waren allerdings nur poliklinisch untersucht. Der Verfasser hat
nun bei seinem klinischen Material gefunden, daß in der Mehr¬
zahl der Fälle eine deutliche, in einzelnen Fällen sogar eine er¬
hebliche Blutdrucksenkung eintritt. In zwei Fällen, wo die Blut-
drucksenkung vermißt wurde, war die verabreichte Salvarsan-
dosis sehr gering. In drei Fällen bestand die Blutdrucksenkung
einen Tag, in fünf Fallen zwei Tage, in zehn Fällen drei Tage.
Die ursprüngliche Druckhöhe wurde nicht wieder erreicht in |
fünf Fällen, das heißt, die Blutdrucksenkung dauerte länger als
drei Tage. Die Resultate des Verfassers stimmen im wesentlichen
mit denen von Gennerich überein, der ebenfalls in den meisten
Fällen mit dem Riva-Rocci nach der Salvarsaninjektion Blut¬
drucksenkung beobachtet hat. Die Ursache der Biutdrucksenkung
kann nach Verf. nicht durch die Flüssigkeitsmenge, sondern nur
durch das Arsen bedingt sein. Nach Hans Meyer und Gottlieb
bringt das Arsen in toxischen Dosen ein tiefes Sinken des ar¬
teriellen Blutdruckes durch Lähmung der kontraktilen Elemente
der Mesenterialgefäße zustande. Es erfolgt, wie Krehl sich aus¬
drückt, eine Verblutung des Organismus in seine eigenen Unter¬
leibsgefäße hinein, während die Peripherie ungenügend Blut er¬
hält. Auch Hering fand eine Biutdrucksenkung beim Kanin¬
chen und Hunde mit toxischen Salvarsandosen. Aber auch die
Dosis tolerata nach Ehrlich und Data ist auf Grund der
Hering sehen Tierversuche nicht wirkungslos auf den Kreislauf.
Die Frage, ob diese Biutdrucksenkung dem Syphilitiker schaden
kann, verneint der Verfasser. Graßmann konnte eine Verminde¬
rung des Blutdruckes auch im Verlaufe der Quecksilberbehandlung
beobachten. Verf. zieht aus seinen Untersuchungen die folgenden
Schlüsse: 1. Es ist zweifellos, daß das Salvarsan genau wie die
übrigen Arsenpräparate intravenös appliziert, in der Mehrzahl
der Fälle eine Biutdrucksenkung, ähnlich wie es Nicolai schon
nach subkutaner Injektion festgestellt hat, hervorruft. Bei geringen
Dosen kann in einzelnen Fällen die Blutdruckdepression auch
fehlen. 2. Die Biutdrucksenkung ist bei den gewöhnlich auge-
w lendeten Dosen nie so hochgradig, daß sie das Leben der
Patienten gefährdet. 3. Die Gefahren für einen gesunden Zirku¬
lationsapparat sind nicht größer als die einer intravenösen Koch¬
salzinfusion. Die injizierte Flüssigkeitsmenge spielt nur insofern
eine Rolle, als mit der größten Verdünnung die Toxizität des
Mittels abzunehmen scheint. 4. Ob man auf Grund der bisherigen
Erfahrungen berechtigt ist, wie Weint r au d, Gerönne, Gra߬
mann dies befürworten, den Kreis der Indikationen bei Erkran¬
kungen des Zirkulationsapparates, besonders auf luetischer Basis,
zu erweitern, ist noch fraglich. Die von Spiet hoff publizierten
Fälle von Herzkollaps mahnen zur Vorsicht. 5. Kontraindiziert
erscheint die intravenöse Salvarsaninjektion bei Fällen mit primär
sehr niedrigem Blutdruck. — (Münchener mediz« Wochenschrift
1911, Nr. 11.) CL
*
374. (Aus denn Institute für allgemeine und experimentelle
Pathologie in Wien. — Vorstand: Hofrat Pal tauf.) Unter¬
suchungen über das Brustdrüsenhormon der G r a vi¬
di tät. . Von Prof. Dr. Artur Biedl und Dr. Robert König stein.
Um die Tätigkeit der Brustdrüse verständlich zu machen, genügt es
nicht, wie bei anderen Drüsen, die Abhängigkeit des Sekretions¬
vorganges von nervösen Erregungen oder chemischen Reizstoffen
(Hormonen) klarzulegen, sondern es muß zunächst auch festgestellt
werden, durch welche Momente diese Organe, bekanntlich in
zeitlichem oder ursächlichem Zusammenhänge mit der Funk¬
tion der Gemitalorgane, derart zum Wac’hstume angeregt werden,
daß sie zu einer bestimmten Zeit zur Sekretion bereit sind. Alle
Laktationstheorien nehmen bekanntlich die Wirkung chemischer
Reizstoffe an, wobei aber noch die Frage nach der Produktions¬
stätte dieser Hormone in Diskussion steht. Hal ban bezeichnet
die Plazenta als den Ursprungsort der die Mamma während der
Schwangerschaft zur Hypertrophie anregenden Substanzen. Star¬
ling und Lane Clayton, ebenso wie Foä aber erzielten
Versuchsergebnisse, aus denen sich zAvanglos der Schluß er¬
gibt, daß unter normalen Verhältnissen das Wachstum der Milch¬
drüse durch eine chemische Substanz, ein Hormon, bedingt ist,
welches hauptsächlich im heranwachsenden Embryo erzeugt und
durch die Plazenta hindurch auf dem Wege des ßlutstromes
der Drüse zugeführt wird. Die experimentellen Untersuchungen
von Biedl und und König stein stützen die Ansicht von
Starling u. a. und stehen im Gegensätze mit den Deduktionen
Hai bans, da ihre Versuche mit Plazenten in bezug auf Wachs-
tumsanregnng der Brustdrüse stets negativ ausfielen, positiv aber
bei Verwendung von Föten zu den Experimenten. — (Zeitschrift
für 'experimentelle Pathologie und Therapie 1910, Bd. 8, H. 2.)
K. S.
*
375. Niere neu thii lsung wegen Eklampsie. Von
Dr. Bollenhagen. Ein Fall von Dekapsulation beider Nieren
bei sehr schwerer Eklampsie nach Versagen des Accouchement
force und bei fast totalem Darniederliegen der Nierenfunktion.
Post (Operationen! noch mehrere Anfälle, doch Eintritt sehr starker
Diurese, rapides Sinken des Eiweißgehaltes des Harnes. Heilung.
(Zentralblatt für Gynäkologie 1910, Nr. 4.) E.\.
*
37ü. Zur Aetiologie, Diagnose und Therapie der tief-
j sitzenden Mastdarms trikturen. Von Dr. P. Dorsemagen,
Assistent an der Poliklinik für Magen- und Darmkrankheiten des
Prof. Albu in' Berlin. An besagter Poliklinik wurden während der
letzten 10 Jahre 28 Mastdarmstrikturen beobachtet, von welchen
26 Frauen und nur 2 Männer betrafen. Der Sitz der Stenosen war
7mal dicht oberhalb des Anus, llmal 3 cm, in den übrigen Fällen
4 bis 6 cm ab ano. Bei 8 F'ällen war Lues in der Anamnese oder
Residuen einer alten Syphilis, bei 4 Fällen Gonorrhoe, in den übrigen
: Fällen war ein ätiologisches Moment nicht zu eruieren. In einem
544
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
sehr großen Prozentsatz aller Mastdarmstenosen spielt demnach die
Lues ein wichtiges ätiologisches Moment. Das erwies auch die
Wassermann sehe Reaktion bei 13 daraufhin untersuchten
Fällen wurde 9mal ein positives, 4mal ein negatives Resultat ge¬
funden. Bezüglich des Palpationsbefundes erwähnt Verf., daß luetische
und karzinomatöse Strikturen in dieser Hinsicht eine so frappante
Aehnlichkeit zeigten, daß eine Verwechslung auf Grund des Pal¬
pationsbefundes sehr leicht möglich ist. Das karzinomatöse Gewebe
besitzt aber erfahrungsgemäß einen erheblich größeren Härtegrad
als das durch Periproktitis infiltrierte luetische Narbengewebe ; zu¬
dem fehlt bei letzterem die außerordentlich charakteristische, brett¬
harte, mauerartige Infiltration der Nachbarschaft. Von den 4 Fällen
mit negativer Wassermann sehen Probe betraf 1 Fall eine tuber¬
kulöse Stenose mit multipler Fistelbildung, bei 3 Fällen handelte
es sich um ganz scharfrand ige Strikturen, die wie eine Darmsaite
entweder zirkular sich im Rektum ausspannte oder nur halbmond¬
förmig die Hälfte desselben einnahm ; die Mastdarmschleimhaut war
sonst völlig intakt. Diese Fälle beruhten auf Gonorrhoe. Verf. be¬
spricht sodann den rektoskopischen Befund, die Symptomatologie
(elendes Aussehen, schlechten Ernährungszustand auch bei nicht
karzinomkranken, blutig-schleimige eitrige Ausscheidungen, Passage-
sperre, hartnäckige Verstopfung oder scheinbar diarrhoische Ent¬
leerungen, Tenesmus etc.), endlich die Therapie. Die Resektion der
Stenose wäre freilich das idealste Verfahren, doch stehen demselben
große Schwierigkeiten entgegen : der allgemeine Schwächezustand
des Kranken, die Morschheit und Zerreiblichkeit der Rektalwand,
die Infiltration des umgebenden Gewebes, dann periproktale, jauchende
Abszesse, besonders im Douglas u. dgl. Dann käme die Anlegung
eines Anus praeternaturalis mit anschließender Lokalbehandlung in
Frage. Die eigentliche Therapie ist die lange fortgesetzte Bougie-
behandlung. Neben den vielen Mastdarmbougien (Grede-K oerte,
Allingh am u. a.) haben sich dem Verfasser die Uterusdilatatoren
von Hegar und der R o s e n b e r gsche Dilatator gut bewährt.
Die Bougiebehandlung ist zumeist sehr schmerzhaft (Einlagen von
mit Kokainadrenalin getränkten Wattetampons), doch gehe man da¬
bei nicht brüsk vor, denn bei der Brüchigkeit der Rektalwand ist
eine Zerreißung der unnachgiebigen Stenose, Beckcnphlegmone und
Peritonitis eine große Gefahr. Jeder Bougieeinführung ist eine
Digitalexploration vorauszuschicken. Eine spezifische Behandlung hat
erfahrungsgemäß keinen Erfolg. Fibrolysin, das sonst bei Narben
gutes leistet, hat sich als wertlos erwiesen. Nach Erreichung der
Durchgängigkeit steuere man nach Möglichkeit dem jauchigen
Katarrh mit Adstringentien, lokalen Aetzungen oder Spülungen mit
nachfolgender Trockenbehandlung. Die konservative Behandlung
(Bougierung) hat sich nur auf solche Fälle zu beschränken, wo ans
äußeren Gründen die ideale chirurgische Behandlung nicht anwend¬
bar ist. — (Mediz. Klinik 1911, Nr. 9.) E. F.
! t
*
377. (Aus der medizinischen Abteilung des Krankenhauses
München rechts der Isaar. — Direktor: Prof. Littmann.) Ueber
ein neues Digitalispräparat (Digitalis Win ekel). Von
Dr. Ileinr. Ehlers. Der Münchener Chemiker Dr. Max Win ekel
hat ein enzymfreies Digitalispräparat hergestellt, das er jetzt unter
dem Namen „Digitalis Winckel“ auf den Markt bringt. Die zwei
auffallenden llebclstände der anderen Präparate, die große La¬
bilität der Wirkung und üble Nebenwirkungen auf den Magen¬
darmkanal sollen daran beseitigt sein. Das Präparat wird in
Röhrchen mit 15 Tabletten ä 0-05 Fol. Digit, in frisch konser¬
vierter, haltbarer, titrierter Form und frei von Zersetzungsstoffen
in den Handel gebracht. Diese Tabletten hat Verf. auf seiner
Abteilung bei etwa 00 Fällen angewendet. So bei Myokarditis
mit Dilatation nach Polyarthritis rheumatica, bei Dilatatio cordis
nicht rheumatischer Aefiologie, bei alten Herzaffektionen mit
Pulsus irregularis perpetuus; ferner bei höheren Graden der Kreis¬
laufstörungen, bei Dyspnoe in völliger Ruhe, stärkeren Oedemen,
bei Angina pectoris oder bei schwerem, kardialem .Asthma in¬
folge Herzinsuffizienz, in allen diesen Fällen hatten die Tabletten
sehr guten Erfolg und die Stauungserscheinungen gingen zuiüek.
Bei hohem Blutdruck bis 250/150 Riva-Rocci sah Verf. in drei
Fällen ein Sinken des systolischen Druckes. Es wurden im all¬
gemeinen drei bis vier Tage hindurch täglich sechs bis acht
Tabletten gegeben, oder in drei bis vier Einzelgaben zwei Ta¬
bletten. Von gutem Erfolge war auch die fortgesetzte Darreichung
kleiner Dosen, zweimal zwei Tabletten pro die, selbst oft nur
eine Tablette im Tage. Verf. fand, daß eine Tablette eine kräftigere
Wirkung entfaltet, als dieselbe Dosis der Pulv. fol. digit. Nach
diesen Beobachtungen kann daher gesagt werden, daß „Digitalis
Winckel“ allen Anforderungen, die an die gute, frische Digitalis¬
droge gestellt werden können, entspricht, ja, daß es den Ersatz¬
mitteln der Droge sich überlegen gezeigt hat. Es wurde ausnahms¬
los gut vertragen und konnte dauernd verabreicht werden. Es
entfaltet keinerlei ungünstige Nebenwirkungen auf den Verdau¬
ungstrakt. Neben der gleichbleibenden Wirkung möchte der Ver¬
fasser gerade das Ausbleiben von Magen -Darmstörungen als die
wichtigste und verdienstvollste Eigenschaft des neuen Präparates
betrachten. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 11.)
G. '
* • ■ C
378. (Aus der kgl. Nervenklinik der Charite. — Direktor:
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Th. Ziehen.) Wirkungen von Tem¬
peratur- und anderen Hautreizen auf das Gefä߬
system. Von Dr. Fritz Munk. Bei allen Bädern haben nach
Munk nur die Temperaturreize reflektorischen Wert auf die
periphere Blutverteilung. Die Wirkung eines Temperaturreizes
ist 'nur vorübergehend, indem durch ausgleichende Veränderungen
der Pulsfrequenz, des peripheren Blutdruckes, der peripheren
Blutfülle (wohl auch des Schlagvolumens) das Gleichgewicht in
möglichst kurzer Zeit wieder hergestellt wird. Die üblichen Unter¬
suchungen der Pulsfrequenz und des Blutdruckes vor und nach
dem Bade sind daher meist nutzlos. Dem gesunden Gefäßsystem
gelingt, die U Überwindung eines Reizes in gewissen Grenzen durch
die physikalische Wärmeregulation. Bei dem weniger elastischen,
arteriosklerotischen Gefäßsystem dagegen ist die Funktion ge
stört, an Stelle der nicht mehr genügend möglichen Gefäßkon¬
traktion bei einem Kältereiz kann Frostzittern eintreten. Elek¬
trische, Gas- und Salzreize im Bade haben keinen merklichen
Einfluß lauf die periphere Blutfülle. Die Hyperämie beim CO2- und
die Anämie beim Sauerstoffbade sind nur lokale Wirkungen
der Gase, wahrscheinlich auf chemischem Wege hervorgebracht.
Mit einer thermischen Kontrastwirkung lassen sich diese Erschei¬
nungen nicht erklären, die Senator -Frankenhaus ersehe
Theorie trifft daher das Wesen der Gasbäderwirkung nicht. —
Die Resultate des Usk off sehen Sphygmotonometers weichen
im allgemeinen, bei höheren Temperaturen mehr, bei niederen
weniger von dem nach Riva-Rocci gewonnenen Werten ab.
— (Zeitschrift für experimentelle Pathologie und Therapie 1910,
Bd. ,8, H. 2.) ~ K. S.
*
379. A d r e n a 1 i n - K och s a 1 z i n f u s i on und Schüttel¬
frost. Von Dr. Karl Haeberlin. Der Patient wurde wegen
Wurmfortsätzperforationsperitonitis durch Appendektomie und
Drainage operiert. Am dritten Tage wegen Verschlechterung des
Allgemeinbefindens intravenöse Infusion von 1500 cm3 Kochsalz¬
lösung mit acht Tropfen 1:1000 Adrenalin Takamina, frisch
bereitet. Schon während der Infusion Rückgang des Pulses von
140 auf 120, bei besserer Füllung der Arterie. Eine Stunde später
schwerer Schüttelfrost, danach kontinuierliches Ansteigen von
Puls und Temperatur auf 160 und 39-5°. Nächster Tag Exitus.
H aeb er l ein faßt Schüttelfröste bei septischen Kranken nach
Adrenalin - Kochsalzinfusionen als den Ausdruck einer unter dem
rasch zunehmenden Blutdrucke gesteigerten Giftresorption auf.
— (Zentralblatt für Chirurgie 1910, Nr. 47.) E. V.
* t
> 1
380. (Aus der Universitäts-Frauenklinik in Erlangen. —
Direktor: Prof. Dr. Seitz.) Ueber die epbemiire trauma¬
tische Glykosurie bei Neugeborenen. Von cand. me<L
Ei ich Hoeniger. Es werden vier Fälle von Geburtstraumen
(operativ beendete Geburten) milgeteilt, bei welchen im Harn der
Neugeborenen eine ephemäre Zuckerausscheidung, nur einige Tage
andauernd und dann völlig verschwindend, beobachtet wurde. Man
ist zu der Annahme berechtigt, daß die plötzlich einwirkendo
Kraft des operativen Eingriffes die Zuckerausscheidung (zumeist sehr
gering) verursacht. In normalen Fällen und in zwei Fällen mit
starker Kopfgeschwulst und langer Dauer der Austreibungsperiode
konnte kein Zucker nachgewiesen werden. Hier paßt sich der Orga¬
nismus den veränderten Druckverhältnissen an, während dies die
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
545
Plötzlichkeit des operativen Eingriffes nicht zuläßt. Verf. regt
zu weiteren Nachuntersuchungen an, insbesondere auch nach der
Richtung hin, ob sich etwa aus diesen transitorischen Glykosurien
ein echter Diabetes mellitus infantum entwickelt. Hinsichtlich der
Technik der Untersuchungen erwähnt Verf., daß er bei Knaben
eine Glasvorlage mittels Bändern anbrachte und Reibung und Druck
mit eingelegter Watte verhütete (zumeist urinierten diese Kinder
erst mit starkem Druck, wenn man die Vorlage entfernte), während
man bei Mädchen eine sterile Gaze vorlegt und diese dann auslaugt,
wenn man sich nicht zum Katheterisieren entschließt, was sicher
einige Schwierigkeiten hat. — (Deutsche med. Wochenschr. 1911,
Nr. 11.) E. F.
*
381. Ueber die Anwendung des Röntgeuvorfah-
rens bei der Diagnoseder Schwangerschaft. Von Doktor
Lars Edling, Vorstand der radiologischen Abteilungen der
Krankenhäuser zu Malmö und Lund (Schweden). Der Verfasser
hat im letzten Jahre eine Anzahl von Schwangeren röntgeno¬
graphisch untersucht und ist zu folgenden Ergebnissen gekommen :
Schon irn Beginn des dritten Schwangerschaftsmonates, vielleicht
auch früher, ist es möglich, gute und für die Diagnose vollkommen
ausreichende Röntgenbilder vom Fötus zu erhalten. In den folgen¬
den Monaten gelingt die Röntgendiagnose der Schwangerschaft
meist ohne Schwierigkeit. Auch die Diagnose der mehrfachen
Schwangerschaft ward schon in der ersten Hälfte der Gravidität
unschwer gelingen. Anormale Geburtslagen, wie Steiß- oder Quer¬
lage, können ebenso wie auch wahrscheinlich Hydrozephalus und
gewisse Formen von Doppelmißbildungen des Fötus durch das
Röntgenv erfahren diagnostiziert werden. Bei der extrauterinen
Schwangerschaft gelingt es, ebenso gute Bilder des Fötus zu
bekommen, wie bei der normalen; die röntgenologische Differen-
tialdiagnose dieser Zustände wird aber hauptsächlich von der
eventuell asymmetrischen Lage desselben im Becken der Mutter
abhängen. Die Aufnahmetechnik muß den Verhältnissen des ein¬
zelnen Falles Rechnung tragen. Die Methode des Verfassers
besteht in Benutzung der Gehler-Folie, möglichst kurze Aufnahme¬
zeiten, sowie in der Anwendung möglichst scharf zeichnender
Röhren. Uebermäßige Fettleibigkeit und größere Myome der Mutter,
sowie höhere Grade von Hydramnion können die Untersuchung
erschweren, bisweilen deren Resultate ganz vereiteln. Schädliche
Einwirkung der Röntgenuntersuchung auf den Fötus hat der Ver¬
fasser bisher nicht wahrnehmen können. — (Münchener medi¬
zinische Wochenschrift 1911, Nr. 11.) D-
*
382. (Aus der I. medizinischen Klinik der kgl. Charite zu
Berlin. — Geheimrat His.) Anatomische und experimen¬
telle Untersuchungen über das Reizleitungssystem
im Eidechsenherz. Von Dr. Külbs, Assistenzarzt der Klinik
und cand. med. W. Lange. Die Atrioventrikularverbindung beim
Herz der Eidechse, welches aus vier miteinander muskulär ver¬
bundenen Abschnitten besteht, wird hergestellt durch eine breite
Lage quergestreifter Muskelfasern, die vom Vorbof in den Ventiikel
sich einstülpt. Eine größere Verletzung der Verbindungsmuskulatui
macht Koordinationsstörungen, nicht aber die Verletzung eines
an der Hinterseite des Herzens liegenden Nervenbündels. —
(Zeitschrift für experimentelle Pathologie und Therapie^ 1910,
Bd. 8, H. 2.) K- S-
*
383. Oedem der Plazenta und kongenitale akute
Nephritis mit hochgradigem universellem Oedem bei
Zwillingen, die von einer an akuter Nephritis lei¬
denden Mutter stammen. Von Dr. Anton Sitzenfrley.
Es handelt sich um eine an akuter Nephritis mit ausgedehnten
Oedemen (nach Influenza) erkrankte Schwangere, die infolge dieser
Erkrankung gegen Ende des neunten Schwangerschaftsmonats
spontan gebar. Von den beiden Zwillingen staib dei erste 15,
'der zweite 20 Minuten post partum. Die Plazenta war hoch¬
gradig ödematös. Die Obduktion ergab bei beiden ,.willingen
hochgradige Oedeme, Aszites, Milz- und Lebervergiöbej uiigeii,
Fibringerinnsellin der Bauchhöhle. Die Nieren zeigten das Epithel
der Harnkanälchen, insbesondere der gewundenen Harnkanälchen,
stark geschwollen; die Zellkerne in der Regel nicht färbbar,
außerdem ausgedehnte interstitielle Infiltrate und Blutungen, a so
akute Nephritis. Die Nephritis der Mutter' heilte post partum
vollständig aus. Wassermann wiederholt negativ, auch sonst
keine Spuren einer Lues bei den Eltern zu finden. — (Zentral-
blatt für Gynäkologie 1910, Nr. 43.) E. V.
*
384. Ueber einige mit Serum geheilte Fälle von
Urtikaria. Von Prof. Dr. Lins er in Tübingen. An der Tü¬
binger Frauenklinik befand sich eine Erstgebärende, welche zu¬
erst an heftigem Erbrechen, später — etwa 14 Tage post partum,
nach Sistieren des Erbrechens — an heftiger, den ganzen Körper,
besondere die Rauchgegend betreffender Urtikaria, mit schreck¬
lichem Juckreiz lilt. Eine zweimalige intravenöse Injektion von
je 20 cm3 Serum einer gesunden Schwangeren führte in ganz
kurzer Zeit eine Abheilung der Urtikaria und des Juckreizes
herbei. Auch in anderen Fällen von Schwangerschaitsderma-
tosein hatte Verf. im Vereine mit Priv.-Doz. Dr. Mayer in Tü¬
bingen, speziell in einem schweren Falle von Impetigo herpeti¬
formis, mit solchen Seruminjektionen auffallend rasche Besse¬
rungen und Heilungen erzielt. Er versuchte daher an der Ab¬
teilung für Hautkranke auch andere Fälle von Urtikaria in dieser
Weise zu beeinflussen. Ein 46jähriger Schmied hatte seit drei
Wochen ohne bekannte Ursache eine sehr heftige Urtikaria.
Bäder, Salben, Pinselungen, Arsen innerlich brachten bei dem
sonst gesunden Manne keine Besserung. Am 14. Dezember erhielt
er 30 cm3 Serum von einem sonst gesunden Mannt; intravenös
injiziert. Einige Stunden danach war das Jucken verschwunden
und am Tage darauf konnte von der Urtikaria nichts mehr fest-
gestellt werden. Pat. ist seitdem gesund. Ebenso günstig verlief
der zweite Fall: Seit einem halben Jahre in Behandlung stehende
chronische Urtikaria, innere und äußerliche Behandlung bisher
ohne Effekt, Pat. sonst gesund, Ursache nicht zu entdecken.
Dieser Patient erhielt 30 cm3 Serum von einem gesunden Manne
subkutan, seitdem keine Urtikaria, kein Juckreiz. Der dritte Fall
wurde an der Tübinger medizinischen Klinik beobachtet. Ein
Mann bekam wegen suspekter Lungenspitzenaffektion eine In¬
jektion von Alttuberkulin (Vio mg), nach sechs Tagen eine zweite
Injektion von Va mg. Danach Allgemeinreaktion und tags darauf
Urtikaria, fast den ganzen Körper bedeckend, heftiger Juckreiz.
Drei Stunden später bekam Pat. intravenös 25 cm3 frischen Se¬
rums von einem Gesunden. Nach etwa einer Viertelstunde war
die Urtikaria his auf geringe Reste geschwunden, nach einer
Stunde kein Juckreiz, keine Urtikaria, bald darauf Temperatur¬
steigerung und Schüttelfrost. Bei der schwangeren Frau konnte
man mit großer Wahrscheinlichkeit eine Schwangerschaftstoxi-
kodermie a an eh men, für den letzten Fall kam möglicherweise
Anaphylaxie in Betracht, bei den zwei anderen Kranken war
die mögliche Ursache der Urtikaria nicht zu entdecken. Die
Aetiologie dieser vier Fälle ist also gewiß keine einheitliche,
gleichwohl war1 die Serumtherapie hei allen von Erfolg begleitet.
Hinsichtlich der Technik erwähnt Verf., daß von verschiedenen
gesunden Leuten ca. 50 cm3 Blut aus der Vena cubitalis in der
bei den W asserm an n sehen Blutuntersuchungen üblichen Weise
entnommen, daß es dann in der elektrischen Zentrifuge ausge¬
schleudert und 10 bis 15 Minuten nach der .Entnahme ganz frisch,
meist noch warm, teils intravenös, teils subkutan, in Mengen
von 20 bis 30 cm3, injiziert wurde. Selbstverständlich möglichst
steril. Die subkutane Injektion wirkte, nach den bisherigen Er¬
fahrungen, ganz ähnlich, wenn auch nicht so rasch. Auf welche
Weise diese frappanten Heilungen zustande kommen, darüber
konnte sich der Verfasser bisher noch kein Urteil bilden.
(Medizinische Klinik 1911, Nr. 4.) E. 1.
*
385. Ueber Unterschiede zwischen septischen und
S ch a r 1 a c h s t r e p 1 0 k o k ken. Von Dr. Felix Schleißner und
Regimentsarzt Dr. W ilhelm S p a e t. Schleißner und S p a e t
ist es gelungen, Scharlachstreptokokken und andere menschen-
pathogene Streptokokken biologisch zu differenzieren (vermittels
des etwas abgeänderten Verfahrens von Weil und Toyosumi).
— (Fortschritte der Medizin 1910, 28. Jahrg-, Nr. 48.) K. S.
*
386. (Aus dem Kaiserin- Augusta- Viktoria- Haus zur Be¬
kämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reiche., Zui
Kenntnis eosinophiler Darmkrisen im. Säuglings-
546
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
alter. Von Prof. Leo Langstein. Verl', hat bereits im .fahre
1908 darauf aufmerksam gemacht, daß bei Säuglingen plötzliche
Abgänge von Schleim und Eiter Vorkommen, in denen große
Mengen eosinophiler Zellen vorhanden sind. Er betrachtete es
als Teilerscheinung jenes Symptomenkomplexes, den Czerny
unter dem Namen der exsudativen Diathese zusammengefaßt hat.
Seither hat Verf. bei schleimig -eitrigen Stuhlgängen im Säug-
lingsalter immer nach eosinophilen Zellen gesucht und gesehen,
daß dieser Befund durchaus nicht so selten ist, als er anzunehmen
geneigt war. Er teilt nun einen Fall ausführlich mit, bei dem die
Entleerung großer Mengen eosinophiler Zellen im schleimig-eitrigen
Stuhlgang sogar ein Frühsymptom der exsudativen Diathese dar¬
stellte. Im Alter von fünf Wochen traten bei einem Säugling
ein Gesichtsekzem und plötzlich fünf schleimige, eitrige Stühle
mit zahlreichen eosinophilen Zellen auf. So plötzlich wie sie
gekommen waren, sistierten die abnormen Stuhlentleerungen und
wurden durch vollständig normale ersetzt. Die Entleerung schlei¬
mig-eitriger Stühle bei einem wenige Wochen alten Kinde wird
allgemein als ein ernst zu nehmendes Symptom, als Ausdruck
einer alimentären, respektive infektiösen Darmerkrankung auf¬
gefaßt, deren Prognose bei künstlicher Ernährung zweifelhaft ist.
Auf Grund des Befundes eosinophiler Zellen hat der Verfasser
die Durchfälle nicht als Ausdruck einer Ernährungsstörung im
engeren Sinne, sondern als Symptom der exsudativen Diathese
betrachtet und in der Diätetik bis auf eine geringe Einschränkung
der Nahrung nichts geändert. So ist der Nachweis eosinophiler
Zellen in schleimig - eitrigen Stühlen von Säuglingen nicht nur
von diagnostischer Bedeutung und theoretischem Interesse, sondern
er beeinflußt auch die Ernährungstherapie. Es ist nicht nötig,
solche Kinder auf Hungerdiät zu setzen, auch nicht die künst¬
liche Nahrung sofort durch Frauenmilch zu ersetzen. Der Ver¬
fasser erwähnt noch, daß es sich bei diesen eosinophilen Darm¬
krisen, einer Art „Darmasthma“ (Strümpell) des Säuglings,
nicht um schwere Allgemeinerscheinungen handelt. Temperatur¬
steigerung und Gewichtssturz, welche bei einer alimentären oder
infektiösen Schädigung kaum vermißt werden, fehlen hier. -
(Münchener mecliz. Wochenschrift 1911, Nr. 12.) G.
*
387. Stoffwechselvers uohe an Säuglingen mit
exsudativer Diathese. Yon F. Steinitz und B. Wei-
g e r t '.in Breslau. Steinitz und Weigert wollten auf dem Wege
der Stoffwechseluntersuchung eine Erklärung dafür finden, daß
Brustkinder mit exsudativer Diathese trotz ausreichender Nah¬
rungszufuhr in der Gewichtszunahme in den ersten Lebenswochen
und -monaten hinter den gleichaltrigen gesunden Kindern Zurück¬
bleiben. Dieses Ziel wurde allerdings aus äußeren Gründen nicht
erreicht, aber die Untersuchungsergebnisse bringen immerhin
eine Erweiterung unserer Kenntnisse des Stoffwechsels der Neu¬
geborenen. Hauptsächlich wurde bei Kindern mit exsudativer
Diathese eine erheblich schlechtere Stickstoff- und eine ebenso
schlechte Fettresorption konstatiert. Iliemit parallel verläuft die
Körpergewichtskurve durch mehrere Wochen sehr flach, trotz
ausreichenden Angebotes von Ammenmilch. . Die Körpergewichts-
kurve nimmt erst einen normalen Aufschwung bei Einleitung des
Allaitemeint mixte. Falls in weiteren Versuchen die Gesetzmäßig¬
keit dieses Verhaltens sich herausstellt, so hätten Steinitz,
und Weigert zuerst einen positiven Beweis erbracht für die
Annahme Czernys, ‘daß die exsudative Diathese eine Störung
des Fettstoffwechsels mit sich bringe. — (Monatsschrift für Kinder¬
heilkunde 1910, Bd. 9, Nr. 8.) K. S.
*
388. Die Behandlung des Fluor albus. Von Privat¬
dozent Dr. IV. Liepmann in Berlin. Verf. befürwortet die
Trockenbehandlung statt der noch vielfach gebrauchten Spülungen.
Die letzteren haben folgende Nachteile: Es findet eine Keimver¬
schleppung in die oberen Partien des Vaginalschlauchs statt,
zweitens, wTas noch schlimmer ist, eine Auflockerung, Erweichung
und Desquamation des Scheidenepithels und drittens bei Spü¬
lungen mit Sublimatlösungen, eine biologische Abschwächung
des Gewebsapparafes, welche die Keimansiedlung noch fördert.
Vermieden werden alle. Schädigungen durch die Austrocknungs¬
therapie mittels eingeführter Pulver. Nach Einstellung der Portio
mit einem Milchglasspekulum wird mit einem in eine Komzange
gefaßten trockenen Wattebausch die Portio, dann — mit immer
neuen Stieltupfem nach und nach die ganze Scheidenschleim
haut, einschließlich des Introitus und der Vulva, gereinigt, das
heißt von dem anhaftenden Sekret ohne heftiges Reiben, ohne
jede hastige Bewegung beim Verschieben des Spekulums, befreit.
Dann stellt man wieder die Portio ein, schüttet einen Teelöfllel
des zu verwendenden Pulvers in das Spekulum und trägt mit einer
mit Watte umwickelten Play fair sehen Sonde, von Bezirk zu
Bezirk fortschreitend, vorsichtig, aber exakt, das Pulver ziemlich
dick auf die Scheidenschleimhaut auf. Man vergesse keine Stelle
zu bepulvem. Als Trockenpulver dienen Isoform, Bolus alba oder
20°/oiges Lenizet (Aluminiumazetat), welches Verf. seit zirka
drei Jahren ausschließlich gebraucht. Tags danach werden die
feuchten Lenizetmassen entfernt und durch neue, trockene, er¬
setzt. Sn werden die Frauen äm 1., 2., 4., 6. 8., 10., 14.
und 18. Tage behandelt, sie dürfen absolut nicht spülen und
erst am achten Tage der Behandlung ein Bad nehmen, ln 90°/#
der Fälle war voller Erfolg. Allenfalls war bei hartnäckigen Zer¬
vikalkatarrhen noch eine Jodätzung oder eine Kürettage not¬
wendig. (Therapeutische Monatshefte, Dezember 1910.) E. F.
*
389. Der Milchmangel der Frauen, heilbar durch
Thyreo id in. Von Dr. Arnold Siegmund. Der Verfasser ver¬
suchte in drei Fällen von Milchmangel das Thyreoidin, jedoch
ohne Erfolg, erst als er in zwei anderen Fällen Thyreoidin schon
vom dritten Schwangerschaftsmonate an nehmen ließ, stellte sich
ein ausgezeichneter Erfolg ein. — (Zentralblatt für Gynäkologie
1910, Nr. 43.) E. V.
*
390. (Aus dem medizinisch -chemischen und pharmakologi¬
schen Institut der Universität Bern. — Direktor: Prof. Dr. Emil
Biirgi.) lieber die Empfindlichkeit verschieden alter
Tiere gegen die Opiumalkaloide. Von Dr. Emil Döbeli,
Spezialarzt für Kinderkrankheiten in Bern. Bei Kindern, nament¬
lich bei kleinen Kindern, Opiumpräparate im weitesten Sinne
des Wortes anzuwenden, gilt offiziell beinahe als ein Kunst-
fehler, obwohl die Opiumalkaloide in der Tat sehr viel gegeben
werden. Theorie und Praxis stehen mithin in schreiendem Wider¬
spruch, .den Döbeli auf experimentellem Wege zu beseitigen ver¬
suchte, zumal die klinische Literatur nicht die gewünschten Auf¬
klärungen über die Empfindlichkeit gegen Opiumalkaloide gibt.
Wohl sind verschiedene schwere, auch tödliche Opium- und Moi-
phiumvergiftungen in der Literatur niedergelegt, aber es handelte
sich in jedem Falle um hohe-, ja sehr hohe Dosen; keinesfalls
kann man sich aber aus den enthaltenen Angaben überzeugen, daß
wirklich Kinder, die über ein Jahr alt sind, eine höhere Em¬
pfindlichkeit ,als Erwachsene gegen die Opiumalkaloide auf¬
weisen. Nur bei Säuglingen erscheint einige Vorsicht in der
Verabreichung von Opiumalkaloiden geboten. Da nun also die
Frage der Darreichung der Opiate im Kindesalter klinisch nicht
eigentlich gelöst erscheint, so trat Döbeli der Sache durch das
Experiment am Tiere näher. Er fand, daß saugende Kaninchen
gegen Tinctura opii, Pantopon und Morphium (auf das Kilogramm
Körpergewicht berechnet) mehr als doppelt so empfindlich sind
Avie die ausgewachsenen Tiere. Etwas ältere Kaninchen dagegen
zeigen diesem Medikamente gegenüber genau die gleiche Empfind¬
lichkeit wie ausgewachsene. Für das Kodein aber ist die Em¬
pfindlichkeit aller Altersstufen dieselbe. — (Monatsschrift für
Kinderheilkunde 1910, Bd. 9, Nr. 8.) K. S.
Aus französischen Zeitschriften.
391. Weitere Mitteilungen über die abortive und
kurative Behandlung der Syphilis mit Hektin. Von
H. Hailope au. Zur Behandlung des Primäraffektes reichen die
lokalen Ilektininjektionen aus, da von hier aus das Hektin in
den Kreislauf übergeht, so daß die früher geübte gleichzeitige
Anwendung subkutaner Injektionen von Hydrargyrum benzoicum
überflüssig wild. Zur Lokalbehandlung des Primäraffektes sind
die unlöslichen Quecksilberpräparate überhaupt ungeeignet, auch
das Hydrargyrum oxycyanatum ist nicht frei von unerwünschten
Nebenwirkungen. Die goAvöhnliche Dosis des Hektins beträgt 0-2 g
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
547
in 1 cm3 sterilisierten Wassers gelöst. Die Injektion erfolgt in
das Frenulum, bzw. dessen Nachbarschaft und ruft durch einige
Stunden ziemlich heftige Schmerzen hervor, welche durch kalte
Umschläge gelindert werden können; Eiterung kommt nur bei
ungenügender Asepsis vor. Bei Frauen wird die Injektion unter
die Schleimhaut des Labium majus gemacht. Die ersten Injek¬
tionen werden möglichst nahe am Primäraffekt vorgenommen,
die anderen an verschiedenen Stellen des Organes; in der Regel
genügen BO täglich vorgenommene Injektionen. In allen in dieser
Weise unmittelbar nach dem Auftreten des Primäraffektes be¬
handelten Fällen, bisher 25, wurde das weitere ELortschreiten der
Syphilis endgültig aufgehalten. Die ältesten Fälle stehen schon
seit anderthalb bis zwei Jahren in Beobachtung. Auch die Mit¬
teilungen anderer Autoren lauten in gleichem Sinne, wobei sich
die vereinzelten Mißerfolge durch Abweichungen von der an¬
gegebenen Behandlungstechnik erklären lassen. Die Wasser
mann sehe Reaktion war bei den erfolgreich behandelten Fällen
durchaus negativ. Für den Erfolg der Therapie spricht die Be¬
obachtung, daß ein Patient vier Monate nach Ablauf der Be¬
handlung sich neuerdings infizierte. Man kann mit Rücksicht
auf die bisherigen Erfahrungen die Ehe gestatten, wenn die
Wasserm annsche Reaktion negativ geworden. Bei manifesten,
sekundären und tertiären Formen der Syphilis lassen sich durch
die Hektinbehandlung gleichfalls sehr günstige Resultate erzielen.
— (Bull, de l’Acad. de Med 1911. Nr. 3.) a. e.
*
392. Ueber die beim Menschen durch Uebertra-
gung der Skabies der Katze h erVorgeruf ene Haut¬
eruption. Von Georges Thibierge. Die Möglichkeit der Ueber-
tragung der Skabies der Haustiere auf den Menschen ist genauer
bekannt, als die aus dieser Uebertragung resultierenden Krank-
heitsbilder. Die durch Sarcoptes minor hervorgerufene Skabies der
Katze ist meist an der Ohrmuschel lokalisiert. Es bilden sich
zunächst flohstichartige Eruptionen, die sich in Knötchen und
Bläschen umwandeln; schließlich erfolgt Krustenbildung und Haar¬
ausfall im erkrankten Gebiete. Die Uebertragung der Erkran¬
kung erfolgt leicht auf andere Katzen, während bei der Ueber-
tragung auf Kaninchen eine lange Inkubationsdauer besteht. Die
Uebertragung auf den Menschen kommt hauptsächlich bei Per¬
sonen vor, welche sich berufsmäßig mit kranken Tieren befassen,
aber auch durch Spielen1 mit erkrankten Tieren wird die Affek¬
tion übertragen. Die Erkrankung ist beim Menschen durch die
Bildung pruriginöser Papeln charakterisiert. Zunächst bildet sich
eine spitze, stark gerötete Papel, in deren Zentrum sich ein
miliares Bläschen entwickelt; das Bläschen wird durch den Juck¬
reiz aufgekratzt und bedeckt sich mit einer Kruste, die durch
blutige Infiltration eine schwärzliche Färbung annimmt, wie sie
an Prurigoknötchen beobachtet wird. Bei längerem Bestand zeigt
die Eruption ein polymorphes Aussehen, doch zeigt eine nähere
Betrachtung, daß sich die verschiedenen Elemente von der glei¬
chen Grundform ableiten lassen. Bei stark entwickelter Ä Rektion
wird ein der Urticaria papulosa ähnliches Bild beobachtet. Die
Eruption ist von kontinuierlichem Jucken begleitet; hinsichtlich
der Verteilung ist eine umschriebene und eine generalisierte Form
zu unterscheiden. Bei der umschriebenen Eruption ist die Stelle
erkrankt, welche direkt mit dem erkrankten Tiere in innigerem
Kontakte stand, während die generalisierte Form sich hauptsäch¬
lich auf die bekleideten Partien des Körpers ausdehnt. Die Dia¬
gnose der Erkrankung ist leicht, wenn man die Möglichkeit ihres
Vorhanldenseins berücksichtigt; sie stützt sich auf die Inten¬
sität des Juckens, die ausschließlich papulöse Form der Eruptionen
und ihre Verteilung. Durch das Verschontbleiben der bekannten
Prädilektionsstellen läßt sich die gewöhnliche Skabies, durch
das Fehlen linearer Kratzaffekte und pustulöser Eruptionen die
Pediculosis vestimentorum, durch die rasche Entwicklung die
Prurigo Hebra ausschließen. Die durch die Geflügelmilbe hervor¬
gerufene, gleichfalls papulöse Affektion ist vorwiegend an Hand¬
rücken! und Vorderarm lokalisiert, welche bei der Uebertragung
der Katzenskabies in der Regel verschont bleiben. Meist läßt
sich auch anamnestisch der Kontakt mit erkrankten Katzen fest¬
stellen, während der Nachweis der Milbe auf oder in der Haut
bis jetzt noch nicht gelungen ist. Die Erkrankung geht nach dem
Wegfall des Kontaktes mit den kranken Vierten rasch und voll¬
ständig zurück, pie Behandlung besteht in Stärkebädern und
Applikation L as sar scher Pasta mit einem Zusatz von VW»
Menthol oder Phenol; die Anwendung schwefelhaltiger Präpa¬
rate ist wegen der dadurch hervorgerufenen starken Hautreizung
strikte'zu vermeiden. - — (Gaz. des höp. 1911, Nr. 12.) a. e.
*
Aus italienischen Zeitschriften.
393. Ueber die Salzsäuresekretion des Magens
bei Nephritis'. Von Giacomo Tri a. Bezüglich der Salzsäure¬
sekretion des Magens bei Nephritis mit Herabsetzung der Permeabi¬
lität der Niere bei Nephritis besteht keine Uebereinstimmung der
Autoren. Bei reinen Untersuchungen konnte der Verf. ein charak¬
teristisches Verhalten des Magenchemismus renalen Ursprungs
feststellen. Die bei vielen Fällen von Nephritis bestehende In¬
suffizienz der Ausscheidung der Chloride ruft eine Steigerung
der intraorganischen Tension des Chlornatriums hervor, welche
auf die Salzsäureproduktion des Magens rück wirkt. Die Angabe,
daß die Herabsetzung der Nierenfunktion mit einer Herabsetzung
der Magenfunktion einhergeht, erscheint nicht begründet. In
einem Falle mit schwerer Beeinträchtigung der Nierenfunktion,
Oligurie, Verminderung der Chloride, Albuminurie und Zylindrurie
konnte Hyperchlorhydrie und Hypersekretion des Magens, dem¬
nach ein direkter Antagonismus zwischen Magen- und Nieren¬
funktion festgestellt werden. Die Angabe, daß die akute Nephritis
konstant mit herabgesetzter Magensaftsekretion einhergeht, ist
nicht zutreffend. In einem Falle wurde Hypersekretion direkt
nachgewiesen ; die oft beobachtete Herabsetzung der Sekretion
läßt sich aus der bei Nephritis auftretenden Schädigung der
Magenschleimhaut durch Hyperämie oder Oedem1 erklären. Die
Kochsalzretention kann durch gesteigerte intraorganische Ten¬
sion des Chlornatriums eine vorübergehende Hypersekretion er¬
zeugen. Bei kochsalzarmer Diät beobachtet man nicht nur Zu¬
nahme der Ausscheidung der Chloride durch die Niere, sondern
auch Steigerung der Magensaftsekretion. Bei chronischer, paren¬
chymatöser Nephritis mit Hydrops wurde in Uebereinstimmung
mit den meisten Autoren Hypochlorhydrie, selbst Anachlorhydrie
beobachtet. Bei chronischer Nephritis von langsamer Entwicklung
und interstitieller Nephritis zeigt der Magenchemismus verschie¬
denes Verhalten. Anfälle von Hyperchlorhydrie können als erstes
Zeichen latenter Nephritis auftreten, so daß diesem Symptom
besondere Aufmerksamkeit zugewendet werden muß. Es liegt
darin eine Analogie mit den gastrischen Krisen bei Tabes, mit
dem Erbrechen bei Gehirntumoren, welche lange Zeit vor dem
Auftreten der charakteristischen Symptome sich einstellen können.
Die Koinzidenz von Magensymptomen und Albuminurie spricht
aber nicht unbedingt für Nephritis, da auch digestive Albumin¬
urien häufig Vorkommen. Die digestive Albuminurie geht in der
Regel mit Herabsetzung des Blutdruckes einher, während Hyper¬
tension für den renalen Charakter der Albuminurie spi’icht. —
(Rif. med. 1910, Nr. 46.) a. e.
*
394. Neue Beiträge zur Kenntnis des Kala-azar.
Von U. Gabbi. In Süditalien und Sizilien ist Kala-azar weit
mehr verbreitet, als bisher angenommen wurde und verursacht
zahlreiche Todesfälle bei Kindern. Im Initialstadium zeigt Kala-
azar eine gewisse Aehnlichkeit mit Typhus, Paratyphus und
Maltafieber. Diese Aehnlichkeit legt den Gedanken nahe, daß der
Krankheitserreger, Leishmania Donovani, vom Darm aus in den
Organismus eindringt, doch sprechen verschiedene Gründe da¬
gegen. Verschiedene Umstände sprechen für das Zustandekommen
der Erkrankung durch Inokulation u. a., die sehr kisurze Inkuba¬
tionszeit, der septische Charakter der Erkrankung und das \ or-
handensein zahlreicher Parasiten im Blute während des Initial¬
stadiums. Von großer Wichtigkeit ist der in Indien erbrachte
Nachweis von lebenden Kala-azarerregern in zwei Wanzenarten
und der Entwicklung des Parasiten im Organismus des Wirtes.
Dieser Befund würde erklären, daß nur die Kinder der armen
Bevölkerung von der Erkrankung betroffen werden. Die Beobach¬
tung zeigt ferner, daß die Erkrankungen fast ausschließlich im
Frühjahr auftritt, insbesondere in den Monaten April und Mai ;
dieses Verhalten würde auch hinsichtlich der angenommenen
Uebertragung durch Insekten von Wichtigkeit sein, weil dann
548
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
der Zwischenwirt ein Insekt sein müßte, welches gerade in dieser
Jahreszeit seine blutsaugende Tätigkeit, entfaltet. Betrachtung des
territorialen Auftretens des Kala-azar in Messina und Umgebung
zeigt, daß in den dichtbevölkerten Gebieten mit ungünstigen hygie¬
nischen Verhältnissen die Erkrankung weit häufiger vorkommt,
als in den Gebieten mit dünnerer Bevölkerung und besseren hygie¬
nischen Verhältnissen. Die Untersuchung zeigte weiter, daß die
fieberhafte I orm der Anaemia splenica ausschließlich bei Kindern
der armen Bevölkerung, die apyretische Form nur bei den Kindern
der wohlhabenden Bewölkerung vorkommt. Besonders häufig
tritt die Erkrankung bei der in Holzhäusern lebenden Bevölkerung
auf, welche der Einwirkung der Sommerhitze und der Winter¬
kälte in gleichein Maße ausgesetzt ist. Für die Bekämpfung des
Kala-azar wäre die Möglichkeit einer rein klinischen Diagnose
von Wichtigkeit, da die Diagnose jetzt nur auf Grund der Punk¬
tion der Milz und des Knochenmarkes gestellt werden kann. —
(Rif. rnedica 1910, Nr. 47.) a. e.
*
Aus englischen Zeitschriften.
395. lieber das häufige Vorkommen der ,, nodu¬
lären" Fi bromyositis und ihre Identität mit dem so¬
genannten chronischen Muskelrheumatismus. Von
W . H. Maxwell-Telling. Der sogenannte chronische Muskel¬
rheumatismus wird durch eine Exsudation in das fibröse Gewebe
hervorgerufen, welche akut oder chronisch sich entwickeln kann,
von Schmerzen begleitet ist, verschiedene Lokalisation zeigt und
bei stärkerer Intensität zu deutlicher Knotenbildung führt. Die
Exsudation wird wahrscheinlich durch bakterielle Toxine her¬
vorgerufen und betrifft da,s fibröse Gewebe, während die Muskel¬
substanz selbst zunächst nicht betroffen ist. Eine Exsudation in
das fibröse Gewebe der Nervenscheiden liegt vielen Fällen von
Ischias und Supraorbitalneuralgie zugrunde. Das Hauptsymptom
der Fi bromyositis sind Schmerzen, die spontan auftreten und
durch Druck gesteigert werden. Die Infiltrate sind nicht immer
leicht nachweisbar; bei der Untersuchung müssen die Muskeln
im erschlafften Zustande beiderseitig sorgfältig abgetastet werden.
Bei hochgradiger Infiltration sind die Schmerzen von extremer
Heftigkeit, es treten oft sekundär nervöse Symptome hinzu und
es kann sich schließlich ein Zustand ausgesprochener Invalidität
entwickeln. Die hauptsächlichsten Lokalisationen der Erkrankung
sind die Lumbal-, Nacken- und Bauchmuskulatur, bzw. das zu¬
gehörige fibröse Gewebe. Die Affektion der Lumbalmuskulatur
gibt sich klinisch als Lumbago kund, die Affektion des Trapezius,
Stemokleidomastoideus und der Schläfenaponeurose als hart¬
näckige Form von Kopfschmerz, die Affektion der Bauchmusku¬
latur k ann Magengeschwür, Appendizitis, Gallenstein- und Nieren¬
kolik, bei Lokalisation im oberen Anteil des Rectus abdominis
auch Herzaffektionen Vortäuschen. Die Ursachen der Exsudation
und Knotenbildung inr fibrösen Gewebe sind verschiedener Art:
vorangegangene Influenza, Einwirkung von Kälte und Nässe,
Traumiep, 'gastrointestinale Autointoxikation, während ein Zu¬
sammenhang mit akutem Gelenksrheumatismus nicht besteht. Die
Ursache 'der einzelnen Attacken liegt in Schwankungen der Witte¬
rung, traumatischen Einwirkungen und Indigestion. Die Behand¬
lung der akuten Anfälle besteht in Anwendung schmerzstillender
Mittel und Massage. Bei der Behandlung der chronischen Form
müssen die nachweisbaren Schädlichkeiten beseitigt werden. Die
Salizylderivate besitzen nur symptomatische Wirkung. Für die
Lokalbehandlung erweist sich das Gaultheriaöl in Form von Ein¬
reibungen als besonders wirksam. Das Hauptgewicht ist auf
Massage und Gymnastik zu legen; die Massage muß sich, wenn
sie wirksam sein 'soll, direkt auf die Infiltrate erstrecken, welche
durch sorgfältige Untersuchung eruiert werden müssen. Lange
Bettruhe ist bei der chronischen Form nicht angezeigt, sondern
Durchführung entsprechender gymnastischer Hebungen. In nicht
zu weit vorgeschrittenen Fällen können Massage und Gymnastik
bei richtiger Durchführung vollständige Heilung herbeiführen. -
(The Lancet, 21. Januar 1911.) a. e.
*
396. Die klinischen Symptome und die Behand¬
lung der chronischen subkutanen Fibrosis. Von Ralph
Stockman. Hielier gehörige Krankheitsbilder wurden unter der
Nr. 15
Bezeichnung symmetrisches diffuses Lipom und Adipositas dolo¬
rosa beschrieben, letztere durch irreguläres Auftreten hochgradig
druckempfindlicher Massen von Fettgewebe charakterisiert. Zeit¬
weilig treten heftige Schmerzen in den Fettmassen auf, welche
hart und geschwollen erscheinen, außerdem stellen sich Symptome
von seiten des Nervensystems ein : IJypästhesie, Schwäche, An¬
hidrosis usw. Die Adipositas dolorosa wurde auf eine Störung
der Schilddrüsenfunktion zurückgeführt und dem Myxödem ver
glichen. Die Erfahrungen des Verfassers sprechen dafür, daß
chronische Fibrosis des subkutanen Gewebes häufig ist und die
Adipositas dolorosa eine bei reichlicher Fettansammlung im sub¬
kutanen Gewebe beobachtete Form der Erkrankung darstellt. Das
Wesen der Erkrankung besteht in einer chronischen Entzündung
des subkutanen Gewebes, welche sich in unregelmäßiger Form
ausbreitet, auf die peripheren Nerven und Gefäße übergreift.
wobei sich die spontane Schmerzhaftigkeit und Druckempfiml-
lichkeit durch die Beteiligung der Nerven erklärt. Die Affektion
entwickelt sich im Anschluß an verschiedene 'Infektionen, nament¬
lich nach akutem Gelenksrheumatismus und Influenza, aber auch
nach generalisierter Gonokokkeninfektion, Kolitis usw. Die Er¬
krankung findet sich bei beiden Geschlechtern, in nllen Alters¬
stufen und ist von Fettleibigkeit unabhängig. Die Beteiligung der
peripheren Nerven führt zu Schmerzen, Gefühl von Schwäche
und Steifigkeit, sowie Parästhesien. Bei Personen mit stärkerem
Panniculüs adiposus lagert sich das Fett in Knollen verschiedener
Größe um das hypertrophierte Bindegewebe, wobei die Fettmassen
im Gefolge der interstitiellen Neuritis hochgradige Druckempfind¬
lichkeit zeigen; die Adfpositas dolorosa kann nicht als Erkran¬
kung süi generis aufgefaßt werden. Die Behandlung besteht bei
der nicht mit Fettleibigkeit verbundenen Form in Massage, Gym¬
nastik und Aufenthalt in freier Luft. Die Massage muß energisch
und direkt an den erkrankten Stellen auslgeführt werden; bei
fettleibigen Personen ist die Massage zunächst nicht anwendbar,
sondern zunächst Entfettung durch strenge Diabetesdiät, Schild¬
drüsenpräparate und flüssiges Extrakt von Fungus vesiculosus an¬
zustreben, worauf mit der Massage begonnen wird. Mit zuneh¬
mender Entfettung Verschwinden oft auch die paroxysmalen neur¬
algischen Schmerzen. Vorherige Applikation von heißer Luft und
heißen Bädern erleichtert die Ausführung von Massage und Gym¬
nastik. Jodpräparate, Antirheumatika, Gichtmittel1, Thiosinamin
und Gegen reize' zeigen keine deutliche Wirkung. Von den fünf
mitgeteilten Fällen sind zwei rheumatischer Natur, in einem ■
Fälle entwickelte sich die Erkrankung anschließend an Kolitis, j
in einem anderen Fälle traten, wie dies1 öfters beobachtet wird,
die ersten Symptome während der Schwangerschaft auf. — (Brit.
med. Journ., 18. Februar 1911.) a. e.
*
397 lieber die Behandlung von Hautkrankheiten
mit Hyperämie nach der Methode von Bier. Von
W. Knowsley Libley. Zur Erzielung von passiver Hyperämie
wurde zunächst die Stauungsbinde, später Sauggläser angewendet. ,
deren Formen den verschiedenen Körperteilen angepaßt wurden, j
Das Gefäß setzt sich in ein Glasrohr fort, welches einen Gummi- ,
ball trägt, die Auspumpung der Luft aus größeren Gefäßen ge¬
schieht durch entsprechend konstruierte Luftpumpen. Die Hervor-
rufung von passiver Hyperämie durch Applikation von Saug¬
gläsern hat bei zahlreichen Hautkrankheiten überraschend gün¬
stige Erfolge ergeben. Fast alle Hautaffektionen beruhen, wenn
man von den parasitären Hautkrankheiten absieht, auf Ernährungs¬
störungen, so daß sich für die Behandlung die Aufgabe ergibt,
die Ernährungsverhältnisse innerhalb des erkrankten Gebietes
zu bessern. Dieser Zweck wird am besten durch Erzeugung
passiver Hyperämie unter Anwendung von Sauggläsern erreicht.
Es wird die zu behandelnde Stelle fünf Minuten der Saugwirkung
ausgesetzt, dann mit Intervallen von drei Minuten das Ansaugen
wiederhol I, wobei zwei bis fünf Applikationen genügen. Die- Be¬
handlung wurde meist zweimal wöchentlich, in einer Anzahl von
Fällen täglich durchgeführt. Die erkrankten Hautstellen ertragen
eine -stärkere Hyperämie, als Entzündungsprozesse, doch kommt
es darauf an, jenen Grad von Hyperämie zu erzielen, welcher die
günstigste Wirkung mit sich bringt. Die Behandlung wurde bei
Acne vulgaris, Acne rosacea. Alopecia areata, Kongelatio, Ekzem,
Keloid, Lupus vulgaris, Milium, Narben, Psoriasis, Seborrhoe,
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
549
Sykosis, Syphilis, Ulzerationen, sowie Urticaria chronica und
pigmentosa angewendet. Einzelne Gebiete wurden nur mit Hyper¬
ämie behandelt, andere Stellen mit Hyperämie und nachfolgender
Salbeniapplikation. Es zeigte sich, daß die lokale Hyperämie
die Wirkung der lokalen medikamentösen Behandlung wesentlich
befördert; ferner wirkt die lokale Hyperämie durch Besserung
der Ernährung und Beseitigung schädlicher Stoffe auf dem Wege
des venösen Blutstromes. Die günstigsten Erfolge wurden bei
Psoriasis erzielt, namentlich bei chronischen umschriebenen For¬
men. Bei Lupus vulgaris wurden durch Stauungshyperämie manch¬
mal laschere Erfolge erzielt, als durch Röntgenbehandlung, wäh¬
rend Akne eine länger dauernde Behandlung erforderte. Durch die
venöse Hyperämie wird die Perspiration angeregt, bei bestimmten
Formen von Ekzem und Seborrhoe tritt starke Schweißsekretion
ein, in anderen Fällen beobachtet man seröse Exsudation, bei
, nicht ulzeriertem Lupus wurde Austritt blutig gefärbten Serums
beobachtet. — (The Lancet, 4. Februar 1911.) a. e.
*
398. lieber di e äu ß er e Anw e n du ng von M ag n es i u m-
sulfat zur Behandlung des Erysipels. Von Khan Bahadur
N. H. Cli oksy (Bombay). In neuester Zeit ist festgestellt worden,
daß das Magnesiumsulfat außer der bekannten Abführwirkung
eine schmerzlindernde Wirkung bei Entzündungen verschiedener
Organe, in Form subkutaner Injektionen angewendet, ent¬
faltet. In Form intraspinaler, subarachnoidaler und subku¬
taner Injektionen, wurde das Magnesiumsulfat mit Erfolg
gegen die Spasmen bei Tetanus, sowie gegen die lanzi-
nierenden Schmerzen bei Tabes angewendet, wobei die Dosis
1 cm3 der 25°/oigen sterilisierten Lösung pro 10 kg Körpergewicht
betrug. Es ist bemerkenswert, daß das Magnesiumsulfat intern
verabreicht, falls die Abführwirkung ausbleibt, toxische Wirkun¬
gen entfaltet, wobei einerseits tetanische Kontraktionen der quer¬
gestreiften Muskeln, anderseits Lähmung der glatten Muskulatur
des Magens, der Blase und der Blutgefäße beobachtet wurde. Bei
Erysipel und anderen Entzündungsprozessen hat die äußerliche
Applikation von Magnesiumsulfat nach Angabe mehrerer Autoren
sehr günstige Resultate ergeben. Man appliziert auf die erkrankte
Stelle und deren Umgebung Gaze in 10- bis löfacher Schichtung
oder hydrophile Watte, welche mit einer gesättigten Lösung von
Magnesiumsulfat durchtränkt wird, darüber kommt eine Schichte
von impermeablen Stoff. Der Verband wird zweistündlich frisch
durchfeuchtet, nach zwölf Stunden zum Zwecke der Inspektion
entfernt und sofort wieder angelegt; eine Waschung der erkrankten
Stelle während der Behandlung ist zu vermeiden. Als Wirkung
der Umschläge wurden Herabsetzung der Sensibilität und Auftreten
von Parästhesien beobachtet. Während die Wirksamkeit der Be¬
handlung bei Erysipel, akutem Gelenksrheumatismus und akuten
Entzündungsprozessen fast allgemein anerkannt wird, läßt sich
der Mechanismus der Wirkung der äußerlich applizierten Magne¬
siumsulfatlösung nicht in befriedigender Weise erklären. Der Ver¬
fasser wendete die angegebene Behandlung in 75 Fällen von
Erysipel und Phlegmone an. In fast allen Fällen wurde schon
nach kurzer Zeit Abnahme der Schwellung, der Schmerzhaftigkeit
und des Fiebers beobachtet. Am günstigsten waren die Erfolge
bei Kopferysipel. In sechs Fällen wurde die Ausbreitung des
Entzündungsprozesses nicht aufgehalten, so daß Antistrepto-
kokkenserum injiziert wurde, welches sich nur in einem Falle
als wirksam erwies. Nach Ausschaltung dieser Fälle, sowie der
in moribundem Zustand zur Behandlung gekommenen, verbleiben
59 Fälle, wovon 46 geheilt wurden, so daß die Mortalität 22","
beträgt. Nach den vorliegenden Erfahrungen ist die Anwendung
der äußerst billigen, einfachen und dabei wirksamen Methode
bei Erysipel und Phlegmone durchaus zu empfehlen. ( Ehe
Lancet, 4. Februar 1911.) a. c.
*
399. Ueber die Auskultation der Gelenke. \ on
A. E. Garrod. Das Vorkommen von Geräuschen, welche von
den Gelenken ausgehen und in größerer Distanz hörbar sind,
ist allgemein bekannt, doch lehrt die Erfahrung, daß die Stärke
der Geräusche keinen ’Maßstab für die Intensität der Erkrankung
gibt. Es gibt ferner schwächere Geräusche, welche nur mit dem
Stethoskop wahrnehmbar sind und denen ein diagnostischer Wert
bei verschiedenen Gelenksaffektionen zukomml. Zur Auskultation
wird ein binaurales Stehtoskop verwendet und das Gelenk langsam
gebeugt und gestreckt u. zw. in Form aktiver oder passiver
Bewegung. Am leichtesten sind Knie- und Schultergelenk zu
auskultieren, doch bietet auch die Auskultation der anderen,
selbst der kleinen Gelenke keine Schwierigkeit. Normale Ge¬
lenke jugendlicher Individuen geben keine Geräusche oder es
lassen sich die gelegentlich beobachteten Geräusche auf den
Luftdruck zurückführen. Bei älteren Individuen finden sich Ge¬
räusche häufig auch in Fällen, wo nicht über Schmerz odeir
Steifigkeit des Gelenkes geklagt wird. Bei beginnender Osteo¬
arthritis kann das Geräusch vor allen anderen Symptomen auf-
treten, doch ist Fehlen des Geräusches kein Zeichen der Gesund¬
heit eines Gelenkes. Bei Synovitis mit Erguß wird kein Geräusch
gehört, tritt aber auf, wenn der Erguß zurückgegangen ist. Diese
Geräusche sind häufig, von langer Dauer und erinnern in ihrem
Charakter an das Geräusch bei Hautemphysem. Bei Tuberkulose
und bei den akuten Formen der rheumatischen Arthritis ist der
Auskultationsbefund meist negativ. Bei älteren Individuen, be¬
sonders bei Frauen zur Zeit der [Menopause, kommen Klagen über
Schmerzen und Steifigkeit in den Knien, insbesondere beim
Treppensteigen vor; die Auskultation ergibt in diesen Fällen
zu beiden Seiten der Kniescheibe oft ein Geräusch von ganz eigen¬
tümlichem Charakter, welches an Rauhigkeit der Knorpel als
Ursache denken läßt. Die Wahrnehmung dieses von dem Geräusch,
welches die verdickte Synovialmembran hervorruft, verschiedenen
Geräusches rechtfertigt die Annahme einer Erosion und Zer¬
faserung des Knorpels mit Chondro- und Osteophytenbildung. Es
kommt auch ein Reibegeräusch an Gelenken vor, welches auch
palpatorisch wahrgenommen werden kann und meist bei vor¬
gerückteren Formen der rheumatischen' Arthritis beobachtet wird.
Dieses Geräusch ist von dem bei Erkrankungen der Sehnen¬
scheiden beobachteten Reibegeräusch zu unterscheiden. Nach den
vorliegenden Erfahrungen gestattet die Gelenksauskultation die
Diagnose beginnender Affektionen, sowie bei ausgebildeter Er¬
krankung die Unterscheidung der Von den Knorpeln und Knochen,
sowie von der Synovia ausgehenden Geräusche. — (The Lancet,
28. Januar 1911.) a. e.
*
400. Ueber das Argyll-Robertsönsche Symptom
bei zerebraler und spinaler Syphilis. Von J. Michell
Clark e. Die Häufigkeit und Bedeutung des A r g y 1 1 - R o b e r t-
s on sehen Symptoms bei Tabes und progressiver Paralyse ist
allgemein anerkannt, während über das Verhalten des Symptoms
bei zerebraler und spinaler Syphilis noch keine Uebereinstim-
mung der Ansichten herrscht. Das Ar g yl 1 - Roberts onsche
Symptom wird als Beispiel elektiver Wirkung' eines Toxins auf
das Zentralnervensystem betrachtet, indem nur eine besondere
Gruppe von Neuronen mit genau abgegrenzter Funktion betroffen
erscheint; eine Analogie besteht mit der Akkomodationslähmung
bei Diphtherie. Auch1 sonst werden bei parasyphilitischen Erkran¬
kungen, z. B. Tabes1, solche elektive Wirkungen des Virus beob¬
achtet, die zur Erkrankung bestimmter Fasern der hinteren Wur¬
zeln führen. Bei zerebrospinaler Syphilis werden die Lähmun¬
gen nicht durch den beschriebenen Mechanismus, sondern durch
Ernährungsstörungen . im Gefolge von Gefäßerkrankung, durch
Exsudate oder Gummen, welche alle sekundär idie Nervenelemente
schädigen, hervorgerufen. Aus diesem Grunde wäre das Auf¬
treten eines Symp tomes, welches wie das A r g y 1 1 - R o b ert-
s o n sehe Symptom auf elektive Toxinwirkung zurückgeführt wird,
nicht zu erwarten. Auf Grund von 37 Fällen von zerebraler
und spinaler Syphilis gelangte der Verfasser seinerzeit zu dem
■Schlüsse, daß die Syphilis an sich nicht das Symptom hervor¬
zurufen vermag, ’welches’ auf einen degenerativen Prozeß im
Nervensystem hinweist, der manchmal frühzeitig zum Stillstände
kommen kann. Bei einer späteren Analyse wurde es unter 42 Fällen
von Hirnsyphilis zweimal, unter 21 Fällen von Rückenmarks¬
syphilis gleichfalls zweimal beobachtet; Trägheit der Pupillen
reaktion wurde bei sechs Fällen von zerebraler und bei einem
Falle von spinaler Syphilis konstatiert. Die Fälle von reflekto¬
rischer Pupillenstarre bei Spinalsyphilis gehörten zur Gruppe
der spastischen Paraplegie des Erb sehen Typus; es ist anzu¬
nehmen , daß das A r g y 1 1 R o b e r t s o n sehe Symptom nur bei
Fällen auftritt, wo eine reine Degeneration der Pyramidenbahn
550
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
vorliegt, so daß diese Fälle den parasyphilitischen Erkrankungen
zuzurechnen sind. In der Literatur findet sich das Vorkommen
reflektorischer Pupillenstarre bei chronischer Poliomyelitis syphi¬
litica erwähnt. Die einseitige Pupillenstarre wurde nicht in die
Betrachtung einbezogen, weil sie durch verschiedene lokale Ur¬
sachen, vor allem Okulomotoriuslähmung bedingt sein kann. Aus
dem vorliegenden Material ist zu entnehmen, daß das Argyll -
R o her t s on sehe Symptom nicht zur reinen zerebrospinalen
Syphilis gehört, sondern auf das Bestehen degenerativer
Läsionen hinweist, wofür seine große Häufigkeit bei Tabes und
progressiver Paralyse spricht, wo es bei '70% der Fälle vorkommt.
Das A r gy 11 - R o b er t s o n sehe Symptom wurde auch bei Zysten
im III. Ventrikel, Tumoren des Sehhügels und des Vierhügels
beobachtet, findet sich auch bei Atrophie des Sehnerven, aber
niemals bei Neuritis optica. — (Brit. med. Journ., 11. Februar
1911.) a.. e.
Vermisehte Naehriehten.
Ernannt: Prof. Dr. v. Eicken zum Ordinarius für Oto-
Laryngo-Rhinologie in Gießen. — Priv.-Doz. Dr. V. Maar zum
Dozenten der Geschichte der Medizin in Kopenhagen.
*
Verliehen: Dem mit dem Titel eines kaiserl. Rates aus¬
gezeichneten Inspektor der Generalinspektion der österreichischen
Eisenbahnen Dr. med. Siegmund F r i ed der Titel eines Regierungs¬
rates. — Dem Marinestabsarzt Dr. Emil Waldek das Ritterkreuz
des Franz - Joseph - Ordens. — Dem Regimentsarzt Doktor
E. Kalamuniecki das Goldene Verdienstkreuz mit der Krone.
Dem Privatdozenten für Ophthalmologie in Kiel Di'. Karl
S t a r g a r d t der Professortitel.
*
Habilitiert: Dr. Richard Stumpf für allgemeine Patho¬
logie und pathologische Anatomie in Königsberg i. Pr. — Doktor
Perusini für Neurologie und Psychiatrie in Rom. — Dr. Dialti
für externe Pathologie in Siena. — Dr. Capelli für operative
Medizin in Modena. — Dr. Cargin a le für Semeiologie in
Neapel. — Dr. Zambelli für Kinderheilkunde in Padua —
Dr. Sarlo für externe Pathologie in Pisa.
Gestorben: In Smichow der LandessanitätsinsjJektor Re¬
gierungsrat Dr. St. Gell n er.
*
Pest. Aegypten. In der Zeit vom 17. bis 23. März 1911
ereigneten sich in Aegypten 148 (95) Pestfälle (Todesfälle) und
zwar in den Provinzen Assiout 14 (8), Assouan 87 (56), Favoum
5 (3), Gharbieh 0 (l), Keneh 36 (23), Menoufieh 4 (2), Mi-
nieh 2 (2). — Arabien. In Djeddah sind seit Ausbruch der
Pest (Mitte Januar) bis 23. März 21 Pesterkrankungen, sämtliche
mit tödlichem Ausgange, sichergestellt worden. — China. Nach
amtlichen Meldungen betrug die Zahl der Todesfälle an Pest
in der Mandschurei bis 3. März 26.623; davon entfielen auf die
Provinzen Kirin und Heilungkiang 22.293 und auf die Provinz
Fengtien 4330. Auf den Stationen der Ostchinesischen Eisenbahn
sind insgesamt 1445 Chinesen und 51 Europäer, im Gebiete der
südmandschurischen Eisenbahn 238 Personen der Pest zum Opfer
gefallen. In Tschifu wurden bisher insgesamt 827 Pesttodesfälle
konstatiert
*
Generalversammlung des Vereines „Wiener
Aerzte Orchester“. Die Generalversammlung des Vereines
„Wiener- Aerzteorchester“ fand am 3. d. M. im’ kleinen Sitzungs¬
saal« der k. k. Gesellschaft der Aerzte statt. Der Präsident Pro¬
fessor Ret.hi hob die intensive künstlerische Arbeit und die.
großen Erfolge hervor, welche der Verein im! zweiten Jahre seines
Bestandes errungen hat und welche das „Wiener Aerzteorchester“
zu einem Faktor im musikalischen und gesellschaftlichen Lehen
Wiens gemacht haben. Hierauf erstatteten Dr. Kronfeld den
Jahresbericht und in Abwesenheit des Kassiers1 Dr. Fasal
Priv.-Doz. Dr. Schüller den Kassabericht. Aus den Einnahmen
des satutenmäßigen Konzertes wurde ein namhafter Betrag für
arme Rigorosanten an der Wiener medizinischen Fakultät ver¬
wendet, das Reinerträgnis des großen Konzertes zugunsten der
Hinterbliebenen des Gemeindearztes Dr. Franz in Riedau seiner
Bestimmung zugeführt. Die Wahlen ergaben folgendes Resultat:
Ehrenmitglieder Hofrat Exner und Hofrat Freiherr v. Eiseis¬
berg; Präsident Professor Rot hi, Vizepräsidenten Professor
Joannovics und Priv.-Doz. Schüller, 1. Schriftführer Doktor
Kronfeld, Dirigent Priv.-Doz. v. Jagic, 1. Konzertmeister Pro¬
fessor S t r a ß e r ; ferner wurden in den Ausschuß gewählt die
Doktoren: Prof. Stoerk, F asal, Kühnei, Bauer, Weiß, Volk,
Oberstabsarzt Franz, Ma r sch i k, Sch idler, Schwarz.
*
Aus dem Sanitätsbe riebt der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 12. Jahreswoche (vom 19. bis
25. März 1911). Lebend geboren, ehelich 615, unehelich 230, zusammen
845. Tot geboren, ehelich 65, unehelich 21, zusammen 86. Gesamtzahl der
Todesfälle 739 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
189 Todesfälle) an Bauchtyphus 1, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 8,
Scharlach 4, Keuchhusten 2, Diphtherie und Krupp 4, Influenza 1,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 4, Lungentuberkulose 131, bösartige Neu¬
bildungen 51, Wochenbettfieber 5, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 45 ( — 5), Wochenbettfieber 1 ( — 4), Blattern 0
(0), Varizellen 78 (— 15), Masern 163 ( — 4), Scharlach 107 (— 22)
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 5 (— |— 3), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0)
Diphtherie und Krupp 00 ( — 0), Keuchhusten 00 ( — 00), Trachom 0 ( — 0)
Influenza 0 (-4- 0), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Distriktsarztesstelle in Böhmisch-Aic ha (Böhmen).
Der Jahresgehalt beträgt 1000 K, das Reisepauschale 600 K. Be¬
werber haben die mit den im § 5 des Landesgesetzes vom 23 Februar
1888, L.-G.-Bl. Nr. 8, ex 1888, angeführten Nachweisen belegten Ge¬
suche bis 15. April 1. J. beim Bezirksausschuß in Böhmisch-Aicha ein¬
zureichen.
Gemeindearztesstelle der subventionierten Sanitäls-
gemeindegruppe Harmannsdo r f (Niederösterreich) mit dem Arztes¬
sitze in Harmannsdorf. Fixe Bezüge von den Gemeinden 682 K.
fixe Bezüge seitens der Gutsinhabung 300 K, bisherige Landes¬
subvention 1000 K, zusammen 1982 K. Erhöhung der Landessubvention
um 200 K in Aussicht. Der Arzt ist zur Führung einer Hausapotheke
berechtigt. Ordnungsmäßig instruierte Gesuche sind bis längstens 15. Mai
1911 an die Gemeindevorstehung von Harmannsdorf oder an die k. k. Be¬
zirkshauptmannschaft Horn zu richten, woselbst auch nähere Auskünfte
erteilt werden.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeindegruppe
J agenbach (Niederösterreich), politischer Bezirk Zwettl, umfassend
die Gemeinden Jagenbach, Rieggers, Dorf Rosenau und Schloß Rosenau
mit 31. Mai 1911 zu besetzen. Flächenraum 40 km'2, Einwohnerzahl
1942, Gemeindebeiträge 400 K, bisherige Subvention aus dem Landes¬
fonds 800 K, freie Wohnung in für diesen Zweck neugebautem ein¬
stöckigen Hause steht zur Verfügung, Haltung einer Hausapotheke er¬
forderlich. Das an den niederösterreichischen Landesausschuß zu rich¬
tende, mit den Nachweisen der österreichischen Staatsbürgerschaft, der
Praxisberechtigung in Oesterreich, der physischen Eignung und sittlichen
Unbescholtenheit belegte Gesuch ist bis längstens 30. April 1911 an
den Bürgermeister in Jagenbach als Obmann der Sanitätsgruppe einzu¬
senden.
Die Stelle des Direktors der Landes-Irrenanstalt
Feldhof bei Graz kommt mit 1. Juni 1911 zur Besetzung. Mit
dieser Stelle sind die Bezüge der VI. Rangsklasse, Naturalwohnung an
der Anstalt samt Beheizung und Beleuchtung, Gartenanteil und Fahr¬
gelegenheit für den Verkehr mit der Stadt Graz verbunden. Bewerber
um diese Stelle wollen ihre Gesuche mit dem Nachweis der entsprechen¬
den Qualifikation, persönlichen Verhältnisse und bisherigen Tätigkeit bis
20. April 1911 an den steiermärkischen Landesausschuß einsenden.
Stelle eines Stadt- und zugleich Spitalarztes für
die Stadt Brixen mit dem Sitze in Brixen (Tüol). Die Bewerber,
welche an einer inländischen Hochschule den Doktorgrad erworben
haben müssen, haben ihr mit den Personaldokumenten und Zeugnissen
belegtes Gesuch bis längstens 5. Mai d. J. an den Stadtmagistrat Brixen
einzubringen. Bemerkt wird, daß die Stadt Brixen im Begriffe steht, an
Stelle des bisherigen alten Spitales ein modernes, mit den neuesten Ein¬
richtungen ausgestattetes Krankenhaus mit Zahlstock (Sanatorium) zu er¬
richten, welches ein Bedürfnis für die weite Umgebung ist. Bei der An¬
stellung werden Operateure bevorzugt. Mit dieser Stelle ist ein Grund¬
gehalt von 3600 K mit Aussicht auf Nebenverdienst verbunden, dessen
nähere Feststellung der vertragsmäßigen Vereinbarung Vorbehalten bleibt.
In Gemäßheit des Landesgeselzes vom 31. August 1910, L.-G.- und
V.-Bl. Nr. 57, wird behufs Besetzung der Stelle des Gemeinde¬
arztes für den Sanitätssprengel Dorna kandreny (Bukowina) der
Konkurs ausgeschrieben. Die Jahresdotation beträgt 1600 K und eine im
Rubegenuß anrechenbare Aktivitätszulage von 400 K. Als Sepa¬
rathonorar erhält der Gemeindearzt das von der Gemeinde Dornakan-
dreny für die Versehung der Funktionen des Badearztes in Aussicht ge¬
stellte Honorar von 700 K für die Dauer der Badesaison. Für Dienst¬
reisen erhält der Gemeindearzt die mit der Kundmachung der Buko-
winaer k. k. Landesregierung vom 27. April 1895, L.-G.- und V.-Bl. Nr. 12,
normierten Gebühren. Bewerber um diesen Posten haben nachzuweisen:
1. Die Berechtigung zur Ausübung der Heilkunde in den im Reichsrate
vertretenen Königreichen und Ländern 2. Die österreichische Staats¬
bürgerschaft. 3. Die Kenntnis der deutschen und im hinreichenden Maße
der rumänischen Sprache. Die gehörig instruierten Gesuche sind spätestens
bis 10. Mai 1. J. bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft in Kimpolung ein¬
zureichen. Der k. k. Bezirkshauptmann.
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
551
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft (1er Aerzte iu Wie».
Sitzung vom 7. April 1911.
Gesellschaft für innere Medizin nnd Kinderheilkunde in Wien.
Verein fiir Psychiatrie und Neurologie iu Wien.
II. russischer Internisteiikongreß.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
• Sitzung vom 7. April 1911.
Vorsitzender: Hofrat S. Exner.
Schriftführer : Hofrat Richard Paltauf.
Herr Dr. A. Selig aus Franzensbad als Gast.
Der Präsident, macht Mitteilung von einer Zuschrift der
wirtschaftlichen Organisation der Aerzte Wieus, laut
welcher diese beschlossen hat, jene von der Hamburg- Amerika-
Linie projektierte ärztliche Studien- und Erholungsreise (vom
8. bis zum 29. Juli 1911), zu welcher bereits vor einigen Wochen
eine Einladung mitgeteilt wurde, zu fördern, nachdem die Gesell¬
schaft sich erbötig gemacht hat, den Mitgliedern der Organisation
einen Nachlaß zu gewähren. Der Obmann der Organisation, Herr
Dr. Skorscheban, ist bereit, Aufklärungen zu geben und Vor¬
merkungen entgegenzunehmen (bis 5. Mai 1911).
Der Präsident teilt ferner mit, daß der Zentralausschuß für
öffentliche Gesundheitspflege, in welchem nach einem jüngsten
Beschlüsse auch die k. k. Gesellschaft vertreten ist, eine Emen-
dierung des Regierungsentwurfes für ein Gesetz, betreffend die
Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, einge¬
sendet hat. Einige Exemplare des mit den vorgeschlagenen Aen-
derungen versehenen Entwurfes stehen Herren, welche sich dafür
interessieren, zur Verfügung.
Der Präsident teilt ferner mit, daß durch Vermittlung des
Kollegen v. Eiseis b erg der bekannte deutsche Chirurg Dr. Beck
aus Chicago in der nächsten, am 28. April stattfindenden Sitzung
der k. k. Gesellschaft einen Vortrag über die Bismutbehandlung
der kalten Abszesse halten wird.
Endlich teilt der Präsident mit, daß er die Sitzungsfolge
für das begonnene Vereinsjahr in einer handlichen Form von
Taschenkarten drucken ließ, welche Karten den Mitgliedern zur
Verfügung stehen.
Prof. M. Benedikt : Zur Therapie der k o o r d i n a t o r i-
schen B e s chäftigung s neuro s en und über Autogymna¬
stik in chronischen Fällen derselben. (Siehe unter den
Originalien in dieser Nummer.)
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. A. Bum begrüßt die neuerliche
Empfehlung der ,, Autogymnastik“ bei der Behandlung der Be¬
schäftigungsneurosen, eines Verfahrens, dessen sich die Mediane
therapie seit langer Zeit erfolgreich bedient. Voraussetzung für
seine Anwendung ist Behebung der hier so häufigen Myitiden und
Tenosynitiden, die Benedikt auf „falsche Technik“ zurück¬
führt. Redner hat unrichtige Handhaltung beim Schreiben, Violin-
und Klavierspielen in fast jedem Falle von Graphospasm us und
Musikerkrampf beobachtet und einmal das epidemieartige Auftreten
von Klavierspielerkrampf in einer Klasse einer Musikschule ge¬
sehen, in welcher technisch unrichtig, d. i. unter Anstrengung
lind Ueberanstrengung ungeeigneter Muskeln, gespielt worden ist.
Prophylaktisch nicht minder wichtig ist die Konfiguration
der Hände. Junge Mädchen mit zu kleinen Händen, Menschen
mit zu kurzen Fingern (zumal mit kurzem fünften Finger) be¬
kommen, wenn sie sehr fleißig spielen, sehr leicht Ermüdungs¬
zustände, die, wenn '"sie im Eifer des Trainings nicht beachtet
werden, zu Klavier- und Violinspielerkrampf führen. Derartigen
Individuen drohen immer Schwierigkeiten im Verlaufe einer Vir¬
tuosenkarriere; sie sollten daher von Aerzten und Musikiehrern
rechtzeitig davor gewarnt werden, eine solche einzuschlagen.
Prof. Dr. Benedikt: Daß falsche Technik bei den Be¬
schäftigungsneurosen eine Rolle spielen, sehen wir besonders
beim Schreiberkrampfe. Wir lernen mit den Fingern schreiben
und nicht mit den Armen, wie bei der amerikanischen Methode.
Jedoch darf fehlerhafte Technik nicht allein beschuldigt werden,
sondern Ueberanstrengung, in Aufregung, wie vor den Prüfungen
oder Konzerten. Auch heilt der Uebergang zu einer besseren
Technik nicht von seihst; es bedarf in der Regel der Therapie,
wobei die angegebenen Methoden eine wichtige Rolle spielen.
Priv.-Doz. Dr. L. Wiek hält einen Vortrag: Zur Patho¬
genese der Gicht. 1
Der Vortragende erwähnt die neueren Anschauungen über
die Entstehung und das Wesen der Gicht und teilt unter Demon¬
stration von histologischen Bildern eines Gichtknotens und von
Röntgenaufnahmen Fälle von Gicht mit, welche auch auf das
Verhältnis der Gicht zu anderen Krankheiten, zu denen eine
gewisse Verwandtschaft angenommen wird, wie Gelenksrheumatis-
mus und Osteoarthritis deformans, ein Licht werfen. Aus dem
demonstrierten Knoten ist man, da er schon zu alt ist, nicht
mehr in der Lage, etwas über die' Art seiner Entstehung aus¬
zusagen, er weicht in seiner Beschaffenheit nicht von dem bis
jetzt Bekannten ab, die Entscheidung der Frage, ob die Rest¬
masse, welche nach Lösung der Urate hinterbleibt, nekrotisches
Gewebe oder sonstige Einschlußmasse oder Gerüstsubstanz der
Kristalle sei, ließ sich nicht mit Bestimmtheit lösen. Er trägt
den Charakter einer Fremdkörperwirkung an sich und unter¬
scheidet sich histologisch derart vom Bilde eines rheumatischen
Knotens, daß man daraus keine Schlüsse auf eine Verwandtschaft
der Gicht mit Rheumatismus, etwa derart, daß die Nekrose bei
beiden Leiden durch das gleiche Gift bewirkt werde, ziehen
kann. Die Untersuchung eines frisch entstandenen Knotens könnte
mehr Aufschlüsse darüber geben. Von vier Gichtfällen werden
die Röntgenbilder demonstriert, aus denen sich ergibt, daß bei
fortgeschrittener Krankheit in der Tat Veränderungen im Knochen
Vorkommen, welche man bei den anderen genannten Krankheiten
nicht findet; teils stammen sie von Druckwirkungen der Tophi
in der Umgebung, teils von Uratablagerungen in der Knochen¬
substanz selbst. Einer dieser Fälle repräsentierte den reinen
Typus der Gicht, in zwei anderen liegt wahrscheinlich eine Kom¬
bination mit Gelenksrheumatismus vor und im vierten eine Kom¬
bination mit Osteoarthritis deformans. Da man dem Gelenks-
iheumatismus die Eigenschaft zuschreiben könnte, daß er für
Gicht prädisponiere, da auch die Anschauung, daß beide Leiden
auf einer gemeinsamen Anlage beruhen, ihre Vertreter hat, so geht
der Vortragende auf diese Frage näher ein und zieht zu deren
Beantwortung, nachdem histologische und klinische Tatsachen
keine eindeutige Beantwortung zulassen, die Statistik zu diesem
Zwecke heran. Er findet in seinem aus dem Badespital in Bad-
gastein stammenden Material von fast 4000 Personen die Gicht
so wenig (0-28%), dagegen die rheumatischen Gelenksleiden so
zahlreich (34%) vertreten, daß man irgendwelche, in der Natur
dieser Leiden liegende Beziehungen zwischen ihnen ausschließen
und in jenen seltenen Fällen, in denen man sie als zusammen vor¬
kommend annehmen kann, eine zufällige Kombination sehen muß.
Die Krankengeschichten bestätigen diese Annahme und sprechen
zugleich für die Richtigkeit der jetzigen Theorie der Gicht. Die
Benützung der Statistik hat eben dermalen noch ihre Mängel, da
wir bei den komplizierten Untersuchungsmethoden nicht in der
Lago sind, Blut- und Stoffwechseluntersuchungen in einem grö¬
ßeren Materiale zu machen, was zur Entscheidung dieser fragen
notwendig wäre: erleichterte Untersuchungsmethoden, wie sie
jetzt auch schon versucht werden, könnten die Seltenheit der
Gicht auf ein geringeres Maß beschränken und die Wirksamkeit
unserer Heilmethoden, eine jetzt aktuelle Frage, durch Aufdeckung
leichterer, darum auch heilbarer Fälle in ein anderes Licht
stellen.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 23. März 1911.
M. Weisz: Die Bedeutung des Urochr omogens für
die Prognose und Therapie der Lungentuberkulose.
Di© Urochromogenausscheidung im Verlaufe der Lungentuber¬
kulose darf als Zeichen eines phthisischen Prozesses angesehen
werden. Die ungünstige prognostische Bedeutung des Urochromo-
gens bei dieser Krankheit deckt sich im wesentlichen mit der
schlechten Prognose der Lungenphthise. Eine Unterscheidung zwi¬
schen vorübergehendem und konstantem Auftreten des Urochromo
gens in bezug auf die Prognose der Lungentuberkulose kann um
in dem Sinne gemacht werden, als das vorübergehende Auf¬
treten dieses Körpers einen — wenn auch nach den Erfahrungen
des Vortragenden meist nur scheinbaren — Rückgang des Leidens,
wie er auch im Verlaufe der Phthise beobachtet wird, nicht aus¬
schließt, während das konstante Vorhandensein des Urochromo-
gens, insbesondere aber seine deutliche Zunahme im Haine von
Lungentuberkulosen den alsbald zu gewärtigenden Lod anzeig .
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Das Urochromogen JnuJj aber mit Sicherheit nur auf einen tuber¬
kulösen Prozeß der Lunge zurückgeführt werden können, da
Komplikationen der Lungentuberkulose, darunter auch chirut-
gische Tuberkulose und influenza, auch mit Urochroinogenaus-
scheidung einhergehen können, ohne die gleichen prognostischen
Schlüsse zu erlauben. Eine positive Urochromogenprobe kann
ferner im Anschlüsse an Chloroformnarkose und Tuberkulininjek¬
tionen auftreten und läßt auch nicht die gleichen prognostischen
Schlüsse zu. Die Urochromogenausscheidung kann als Indikator
des jeweiligen Standes der Lungentuberkulose angesehen und zur
Beurteilung der therapeutischen Maßnahmen bei der Behandlung
dieser Krankheit mit Nutzen herangezogen werden. Von den gegen¬
wärtig geübten Heilmethoden •kann Vortragender auf Grund seiner
Untersuchungen über die Urochromogenausscheidung mit Sicher¬
heit nur der Pneumothoraxbehandlung eine heilende Wirkung
auf die Lungenphthise zuschreiben, während der Anstaltsbehand-
lung ein lebensverlängernder, möglicherweise aber auch ein lebens¬
erhaltender Einfluß bei der Phthise zukommt. Die Tuberkulin¬
behandlung läßt in den Fällen, wo schon Urochromogen im Harne
ausgeschieden wird, kaum mehr einen Erfolg erwarten, doch
sind zur Sicherstellung dieser Frage noch weitere Untersuchun¬
gen notwendig. Die Urochromogenausscheidung ist die Folge einer
Toxämie, welche bei der Lungentuberkulose im wesentlichen durch
die Toxine des Tuberkelbazillus hervorgerufen wird. Sie ist in
den meisten Fällen das Symptom eines Massenimportes von
Toxinen in die Blutbahn, welcher von so ausgedehnten Lungen¬
veränderungen herrührt, daß schon danach eine Heilung un¬
möglich ist. Die- Fälle aber, in denen die Urochromogenausschei¬
dung durch die Ausdehnung des Lungenprozesses allein nicht
erklärt werden kann, zeigen an, daß die Ausscheidung dieses
Körpers auch das Symptom einer besonderen Hinfälligkeit des
Organismus den Tuberkelbazillen gegenüber darstellt, resp. ein
Zeichen dessen, was man Disposition nennt. Die Abwehr des
Organismus gegen den Tuberkelbazillus und seine Gifte muß in¬
folgedessen mit dein chemischen Vorgänge, der zur Urochrom-
und Urochromogenbildung führt, auf das innigste Zusammen¬
hängen. Dieser chemische Prozeß ist die oxydative Tätigkeit des
Zellprotoplasmas. In ihr müssen wir daher die Hauptwaffe des
Organismus gegen den Tuberkelbazillus erblicken. Die Beobach¬
tung von Urochromogenausscheidung im Beginne der Tuberkulin¬
behandlung und ihr späteres Verschwinden im Verlaufe dieser
Behandlung weisen auf die allmählich eintretende Giftwirkung
der Zelle bin, in welcher die eine Komponente der Tuberkulin¬
wirkung zu sehen ist. Das Auftreten von Urochromogen während
der Tuberkulinbehandlung deutet darauf hin, daß besonders hohe
Tuberkulinempfindlichkeit besteht oder daß die gewählte Dosis
zu groß war. Die Kontrolle der Tuberkulinbehandlung durch
die Harnuntersuchung kann daher vor Tuberkulinschäden he-
Avahren. Das vorübergehende Auftreten des Urochromogens wäh¬
rend der Tuberkulinbehandlung ist keine Kontraindikation gegen
die Fortsetzung dieser Behandlung, mahnt aber zur Vorsicht.
Da im allgemeinen nach den Untersuchungen über die Diazo-
reaktion bei Kindern und Frauen größere Tuberkulinempfindlich¬
keit angenommen werden muß, so sind bei diesen, Avenigstens
im Beginne der Tuberkulinbehandlung, niedrigere Dosen ange¬
zeigt als bei Erwachsenen.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 14. März 1911.
Vorsitzender: Hofrat Obersteiner.
Schriftführer: Priv.-Doz. Dr. Marburg.
(Schluß.)
Augenspiegelbefund (Dr. Ruttin): Fundus normal. Rechts
Drusen in der Makula.
Ohr befund (Priv.-Doz. Dr. Heinrich Neumann) : Rechts
in Verheilung begriffene Mittelohreiterung. Rinne negativ. Weber
nach links. Verkürzung. Links normal.
Ihr Gedächtnis im allgemeinen ist in bezug auf Aveiter
zurückliegende Ereignisse und Erinnerungen sclnverer gestört als
in bezug auf die jüngste Vergangenheit. Einzelheiten aus früheren
Untersuchungen, aus Gesprächen vom Tag vorher, reproduziert
sie oft auffallend gut. Dagegen erinnert sie sich nur mit Mühe
an den Namen ihrer Kinder, weiß so gut wie nichts von ihrem
früheren Wohnort, Aveiß nur ganz Allgemeines von ihrem Wirts¬
geschäft, besinnt sich nicht auf ihre Adresse usw. Die Prüfung
der Merkfähigkeit mit Merkworten ergibt schwere Defekte: sie
reproduziert das Merkwort schon nach zwei Minuten nicht mehr.
Die optischen Störungen der vorgestellten Kranken erinnern
an das Benehmen des Patienten mit doppelseitiger zerebraler
Hemianopsie und erhaltenem zentralen Sehen ; auch hei ihr
ist ja die Fixation erschwert und es ist ihr in den meisten; Fällen
unmöglich, eine gCAvonnene Fixation festzuhalten. Die Prüfung
mit Licht und Farben aber zeigt, daß diese Störungen liier nur
bestimmte Qualitäten des Sehens betyifft, Avährend andere von
ihnen nicht betroffen sind.
Ein helles Licht, große Flächen in hellen und gesättigten
Farben, kontrastreiche helle und dunkle Flächen erkennt sie sofort.
Von diesen erhaltenen Komponenten ihrer optischen Wahrnehmung
aus vermag sie zuweilen sogar Objekte zu erkennen und richtig
zu bezeichnen, während sie sich sonst wie eine Agnostischo
verhält.
Bei der Wahrnehmung der Farben zeigt sie eine besonders
leichte Perzeption für langwelliges Licht und für die hellsten
Stellen im hellen Farbenspektrum, Avas mit den physiologischen
Verhältnissen der Farbenperzeption im sogenannten Helligkeits¬
sehen übereinstimmt.
Dagegen erscheint bei ihr das Sehen von Bewegungen und
die Wahrnehmung geringer Helligkeitsunterschiede als unmöglich.
Aus diesem Defekt resultiert der Wegfall Avichtiger formgebender
und raumbildender Komponenten des Sehens. So erklärt es sich,
daß die Patientin zunächst den Eindruck macht, als fehle ihr
überhaupt das räumliche Sehen ganz, während sie doch die
Objekte, die innerhalb der Grenzen ihrer Wahrnehmungsfähigkeit
liegen, richtig in den Raum projiziert.
Wie schon bemerkt, macht Pat. in ihrem Gesamtverhalten
den Eindruck der Seelenblindheit. Eine Abgrenzung der agno-
stischen Komponente ihres Symptomenkomplexes von den Stö- ‘
rangen ihrer Wahrnehmung ist indessen im besonderen schwierig;
jedenfalls erscheint bei ihr soAvohl die apperzeptive, als auch die
assoziative Tätigkeit stark beeinträchtigt. Die assoziative Ver¬
arbeitung optischer Eindrücke ist indessen zweifellos nicht völlig
unmöglich geworden; sie läßt sich ja von den erhaltenen Kompo¬
nenten ihrer optischen Wahrnehmung aus zuAveilen in einer über
raschenden Weise anregen.
Auch die Störung ihrer Orientierung im Raume scheint
ganz von der Art ihrer optischen Wahrnehmung abhängig zu
sein. Auch die akustischen Eindrücke ordnet sie vielfach, Avie
zAvangsmäßig, dorthin ein, wo sich aus den erhaltenen Ele¬
menten der optischen Wahrnehmung der Raum gewissermaßen
partiell bildet. Der Fall bildet so ein Beispiel für die Präponde-
ranz der optischen Sphäre bei der Bildung des Raumbegriffes. _
Mit dem Wegfall der Untersuchung wichtiger Komponenten
des Sehens verbindet sich bei der Patientin eine Art von Ueber-
aufmerksamkeit auf die optischen Eindrücke, die sie leicht und
mühelos aufzufassen vermag: in erster Linie auf das Licht, so¬
dann auf Farben und auf simultanen Kontrast. Man könnte bei
ihr von einem durch zerebrale Störungen bedingten Phototropis¬
mus sprechen, da sie wie ein Nachtschmetterling auf jedes Licht
Aviderstandslos zustrebt; sie Avcndet sich in ähnlicher Weise
den Farben zu; nach Licht und nach Farbenflächen greift sie
hinter den Spiegel oder in den Spiegel hinein ; Avenn sie dem
Lichte nachzieht, stößt sie sich Avie ein Insekt an der gläsernen
Fläche des Fensters oder der Türe.
Die Analyse der eigenartigen zerebral bedingten Wahrneh¬
mungsstörung, die die Patientin aufweist, bringt somit Adele Einzel¬
heiten, die (mit der Theorie von v. Kries übereinstimmen,
v. Kries unterscheidet bekanntlich ein Dämmerungssehen (Sehen
hei schwacher Helligkeit), für das er den Stäbchenapparat der
Retina in Anspruch nimmt und ein Helligkeitssehen (Sehen der
Farben usav.), das er dem erst durch stärkere Lichtreize aktivier¬
baren Zapfenapparat der Netzhaut zuschreibt. Das Signal für
das Einsetzen der Tätigkeit des Helligkeitsapparates, die Wir¬
kung einer starken Beleuchtung ist auch bei der Patientin die
Bedingung, unter der die Reste ihrer optischen Wahrnehmungs¬
fähigkeit vortreten; der Kategorie nach (Sehen starker Licht¬
quellen, stärkerer! Kontraste zwischen Hell und Dunkel, Sehen
der Farben) decken sich diese Reste mit den Leistungen des
Helligkeitsapparates. Im Gegensatz dazu fehlen die Leistungen
des sogenannten Dämmerungsapparates: die Wahrnehmung
schAvacher Helligkeitsunterschiede, die Einstellung auf schwache
Lichtreize und jene Kontinuität der Perzeption, die das Sehen
der Bewegung eines Objektes ermöglicht.
Der Fall läßt somit an die Möglichkeit denken, daß jene
beiden Komponenten des Sehens, deren gesonderte Vertretung in
der Retina v. Kries behauptet, auch in der Projektion der
Retina auf die Großhirnrinde gesondert vertreten sind und iso¬
liert geschädigt Averden können.
Die rein hirnpathologische Betrachtung des Falles führt
ihrerseits zu Vermutungen, die mit einer solchen Annahme ganz
Avohl in Einklang gebracht werden können. Die Regio calcarina,
das „Lirhtfeld“, gilt ja als Einstrahlungsbezirk jener Projektion»-
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
55a
fasern, an deren Integrität die Farben Wahrnehmung geknüpft ist.
Lichtfeld und Farbenfeld der Hirnrinde ist somit aller Erfahrung
zufolge eine anatomische Einheit. Die Konvexität des Okzipital
lappens bis zum Gyrus angularis hin wird als optisch- motorisches
Feld bezeichnet und mit dein Sehen von Bewegungen mit dem
t onnensehen, mit dem räumlichen Sehen und mit der tiefen
Sensibilität des Auges in Verbindung gebracht. Wir; werden nach
den bisherigen Erfahrungen für unseren Fall eine bilaterale Affek¬
tion an der- Konvexität der Hinterhauptlappen annehmen müssen;
die erkrankten Partien würden in der linken Hemisphäre mehr
in die 'Tiefe reichen, und (dadurch inehr von den, saigittalen Schichten
des Marklagers durchbrechen, als auf der Gegenseite. Oder wir
müssen eine bilaterale Durchbrechung der zur Konvexität des
Hinterhauptlappens ziehenden Projektionsfaserung annehmen.
Die anatomischen Bedingungen für das Zustandekommen
einer derartigen Läsion sind in unserem Falle am ehesten durch
symmetrische doppelseitige Erweichungen im Gefaßgebiet der; Ar¬
terial temporales von Dur et gegeben. Dafür spricht, daß die
tiefe Sensibilität der Augen und Augenmuskeln in unserem Falle
allem Anschein nach nicht isoliert gestört ist und daß keine
Störungen der Blickbewegung vorhanden sind. Wie das Licht¬
feld, ist also auch die Region des Gyrus angularis als intakt an¬
zunehmen; die lädierte Partie dürfte aller Wahrscheinlichkeit
nach zwischen den beiden genannten Regionen, also mehr gegen
den Okzipitalpol und an der lateralventralen Kante des Hinter¬
hauptlappens liegen, während sie basalwärts, dem Getäßbereich
der genannten Arterie entsprechend, wohl die ganzen lateralen
Anteile des Gyrus occipito- temporalis bis in den Schläfelappen
und gegen den Enkus hin umfassen könnte. Daneben allerdings
scheint eine zunehmende arteriosklerotische Atrophie des Gehirns
zu bestehen.
Der Fall zeigt wieder, daß jene „optisch -motorischen“ Funk¬
tionen, von denen die Hirnpathologie spricht, nicht eine einheit¬
liche Kategorie für sich darstellen, sondern aus Teilkomponenten
bestehen, die isoliert geschädigt werden können und die möglicher¬
weise nicht nur in der Retina selbst, sondern auch in ihrer Pro¬
jektion auf die Großhirnrinde ihren gesonderten anatomischen
Ausdruck haben.
Dt. Karl Groß stellt aus der Nervenklinik des Herrn ilof-
rates v. Wagner zwei Fälle mit Benediktschem Sym¬
ptomen komplex vor, bei denen die im Institut Holzkneclit
vorgenommene Röntgenuntersuchung der Schädel kalkdichte Ge¬
bilde im Hirnstamm erkennen ließ. Zahlreiche Befunde von Kalk-
herden im Gehirn so anatomische Befunde von Infeld, Red¬
lich, Berger, besonders Schüllers röntgenologischer Nach¬
weis gewisser Verkalkungsherde bei einem Epileptiker — legten
die Vermutung nahe, daß sich Kalkkonkremente als Desorgani-
sationsprodukte enzephalitischer oder tuberkulöser Prozesse häu¬
figer röntgenologisch würden nachweisen lassen. Diese Vermutung
hat sich unter drei röntgenologisch untersuchten Fällen mit S^ n-
drom de Benedict zweimal bestätigt.
In beiden Fällen trat die Krankheit nach einem Trauma im
frühesten Kindesalter auf. In beiden Fällen besteht linkseitige
Hemiparese und Athetoso sowie z’echtseitige inkomplette Okulo¬
motoriuslähmung. (Die Krankengeschichten werden, demnächst
ausführlich publiziert.) Die klinische Diagnose lautete auf eine
— wahrscheinlich tuberkulöse — - Herderkrankung der Hirn-
schenkelhaube u. zw. beim Fehlen von auf die Beteiligung der
f’yramiden- und Schleifenbahn hinweisenden Symptomen, speziell
des Nucleus ruber. Die Röntgenuntersuchung, auf Veranlassung
des Herrn Dr. v. Econom o vom Vortragenden vorgenommen,
ergibt in beiden Fällen ein positives Resultat im Sinne von
kalkdichten Herden des Hirnstammes, die der Gegend des Nu¬
cleus ruber entsprechen dürften.
Dr. F erd . Bauer demonstriert das Präparat e i n e s
alveolären Endothelioms der Dura mater.
Bei der Pat. K. P., 65 Jahre alt, bestand seit, zwei Jahren
eine zunehmende Verschlechterung des Sehvermögens. Vor sechs
Monaten begann die Frau zu halluzinieren, wurde immer hin-
1 älliger und hilfloser. Am 24. November 1910 der psychiatrischen
Klinik übergeben, bot sie das Bild einer arteriosklerotischen De¬
menz; sie war zeitweise delirant, verworren, erwies sich als
zeitlich und örtlich desorientiert, zeigte hochgradige Störungen
Jes Gedächtnisses und der Merkfähigkeit. Die Kranke war auf¬
fallend schwer besinnlich. Die Pupillen gleich, lichtstarr; am
linken Auge bestand eine Cataracta senilis, am rechten Auge
Atrophie der Papille. Beide untere Extremitäten paretisch, kon-
1 fakturiert.
Der Exitus trat am 27. Dezember 1910 plötzlich unter Er¬
scheinungen von Konvulsionen ein.
Sektionsbefund (Assistent Dr. Wiesner): Im Bereiche
der Sella turcica und der vorderen Schädelgrube befindet sich
an der Hirnbasis ein ca!. 6 zu 41/» zu 31/« cm’ messender Tumor
von unregelmäßig, leicht höckeriger1 und derber Beschaffenheit,
der in seiner vorderen unteren Partie mit der Dura mater ver¬
wachsen ist, nach aufwärts sich in der unteren und medialen
I lache der beiden Stirnlappen ein tiefes, konkav ausgehöhltes
Bett bildet, aus welchem er allseits vollkommen glatt auszu¬
lösen ist.
Die beiden Iractus olfactorii liegen rückwärts lateral, vorne
über dem Tumor und sind stellenweise bis zur Papierdünne ab¬
geplattet. Der rechte Nervus opticus zieht neben dem Tumor
nach vorwärts und wird an einer Stelle von diesem und der
Arteria cerebri dextra, kurz vor deren Abgang von der Carotis
interna, derart eingeklemmt, daß er daselbst eine tiefe Furche
zeigt. Der linke Nervus opticus ist nur eine kurze Strecke nach
seinem Abgänge von dem mächtig komprimierten und atrophischen
Chiasma zu verfolgen und verliert sich bald in der Tumor¬
masse. i
Auch die linke Karotis ist durch den Tumor nach rückwärts
verdrängt; die mediale Fläche des linken vorderen Schläfepols
wird durch den 'Tumor etwas abgeplattet.
An der knöchernen Schädelbasis sind keine Veränderungen
sichtbar.
Die histologische Untersuchung ergab ein alveoläres Endo-
theliom der Dura mater.
Dr. Julius Bauer: Ueber regressive Veränderungen
der Körnerzellen des Kleinhirns.
Es wurden an Kaninchen aseptische Schnittwunden am
Kleinhirn gesetzt und die Kleinhirnrinde der nach verschiedenen
Zeiträumen getöteten Tiere histologisch untersucht, um die Ver¬
änderungen jener eigenartigen Elemente, die als Kürnerzellen
bezeichnet werden, zu studieren. Es ergab sich, daß bereits
zwei Stunden nach der Operation die Körnerzellein in der nächsten
Umgebung der linearen Schnittwunde die Zeichen der; Pyknose,
der homogenen Kernschrumpfung aufweisen. Außerordentlich
rasch schreitet nun die pyknotische Degeneration von der Läsions¬
stelle aus nach allen Seiten hin gleichmäßig fort und ergreift
fast sämtliche Körnerzellen, die sich in derselben Distanz von
der Läsionsstelle befinden, gleichzeitig, so daß sich eine haar¬
scharfe Abgrenzung der immer weiter vorrückenden Degenerations
zone von der Zone normaler Körner ergibt. Die Pyknose der
Körnerzellen, bzw. ihrer Kerne, beginnt aber schon nach vier
Stunden von Deformierungen des Kerns, Abschnürungen des¬
selben und schließlich von typischer Karyorrhexis gefolgt zu
werden. Die in kürzester Zeit entstehenden Trümmer und Ueber-
reste der Körner werden durch den Lymphstrom teils frei, größten¬
teils aber durch phagozytäre Elemente aller Art aufgenommen,
gegen die Rindenperipherie fortgeschleppt, worauf eine Wuche¬
rung und Vermehrung des gliösen Gewebes den Abschluß des
Prozesses bildet.
Während der schmale Protoplasmasaum der Körnerzellen
bei Verwendung der N iß I- Färbung unter normalen Verhältnissen
kaum1 wahrnehmbar ist, tritt er mitunter bei pyknotischen Zellen
in der Form eines ein Drittel bis drei Fünftel des Umfanges
einnehmenden Halbmondes von feingranulierter Struktur und
intensiver Färbbarkeit deutlich hervor. Diese FIalbrnon.de pflegen
sich dann an einem Ende vom Kern abzuheben und erscheinen
schließlich ganz ohne Zusammenhang mit den Kernen. Sie ver¬
lieren rasch ihre Färbbarkeit und verschwinden.
Die Pur kin je sehen Zellen gehen im Bereich der, Degene¬
rationszone der Körnerschicht und über diese noch eine kleine
Strecke hinaus zugrunde. Der bei den experimentell erzeugten
Läsionen schließlich resultierende Endzustand gleicht vollkommen
dem histologischen Bilde einer Kleinhirnsklerose, bei der
ebenfalls die Körner und Pu rk i n j eschen Zellen geschwunden
sind und nur ein schmales Band von Gliazellen die Körnerschicht
markiert. (Erscheint ausführlich anderen Ortes.)
Stabsarzt Priv.-Doz. Dr. Ma t tausch ek : Die bisheri¬
gen Erfolge der Salvarsanbehandlung bei Nerven¬
krankheiten.
Dias Hauptergebnis dür Ausführungen läßt sich in folgen¬
den Sätzen zusammenfassen :
Das Salvai’san ist bei einwandfreier Technik und zweck¬
mäßiger Methode ein nahezu ungefährliches, für echt syphili¬
tische Erkrankungen des Nervensystems der tertiären Syphilis¬
periode ungemein energisches und günstig wirksames Heilmittel.
Hinsichtlich der Raschheit des zu erreichenden Effektes erweist
es sich dem Quecksilber und Jod überlegen. Es ist daher dessen
Anwendung bei frischen Fällen zerebraler und spinaler Erkran¬
kungen, wo es auf eine besonders rasche Wirkung ankommt,
direkt indiziert, ebenso in Fällen, bei welchen Quecksilber ver¬
sagt oder unanwendbar ist. Auch bei Tabes, besonders bei den
aktiven Formen, gibt die Salvarsanbehandlung häufig sehr gute
Erfolge hinsichtlich der Reizerscheinungen.
554
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 15
Boi unkomplizierten beginnenden Paralysen ist ein Behand¬
lungsversuch erlaubt, bei ausgesprochenen Fällen ist keine Wir¬
kung zu erwarten. Als relative Kontraindikation, das heißt als
Kontraindikation gegen die intravenöse Anwendung, kann die
Komplikation mit Herzfehlern, schweren Herzneurosen, stärkerer
Arteriosklerose, sowie mit höhergradigem Alkoholismus und Dia¬
betes gelten. Absolut kontraindiziert ist die Salvarsanbehandlung
überhaupt nach Vorbehandlung mit Atoxyl, Enesol und der¬
gleichen, bei Nervenkrankheiten mit Lokalisation in wichtigen
Zentren, bei größeren Hirnherden, speziell bei Tumorformen,
bei sehr fortgeschrittenen degenerativen Erkrankungen, beson¬
ders aber bei vorgeschrittener Paralyse und bei allen Antalls-
paralytikern.
II. russischer Internistenkongreß
abgehalten zu St. Petersburg am 19. bis 23. Dezember 1910 (a. St.).
Referent: Dr. Julius S c h ü t z - Marienbad.
P. S. Us s ow-Moskau : Ueber Darmneurosen (Referat).
Vortr. beantragt folgende Einteilung der Darmneurosen :
1. Motorische (Tormina intestini nervosa, Diarrhoea nervosa,
Enterospasmus, Atonia intestinalis); 2. sensible (Hyperaesthesia
et Anaesthesia intestinalis, Colica intestinalis) ; 3. sekretorische
(Diarrhoea nervosa, Colica mucosa). Hiebei kann die nervöse
Diarrhoe, wie aus dem Schema ersichtlich, doppelte Aetiologie
haben — Hypermotilität und Hypersekretion des Darmes. Neben
anderen strittigen Punkten beansprucht die Colica mucosa ein
besonderes Interesse. Von dieser sind besonders drei Formen
wichtig: 1. Obstipation, abwechselnd mit Schmerzanfällen, unter
Abgang von Schleimmembranen, 2. kontinuierlicher Sehleim-
abgang mit zeitweisen Schmerzanfällen, 3. zeitweiser Abgang von
Schleimietzen ohne Schmerzanfälle (= Colitis membranacea
Nothnagel). Im Zentrum des ganzen Erscheinungskomplexes
steht nach dem Vortragenden eine vasomotorische Neurose. Eine
Reihe von Fragen ist noch als offen zu betrachten.
Th. G. J an o w s k i j - Kiew (Korreferat).
Vortr. weist u. a. darauf hin, daß bei der akuten Form der
Colica mucosa die psychische Komponente eine große Rolle spielt.
So wurde die Affektion im Verlaufe von lokalen , Choleraepidemien
beobachtet. Veränderung des Ortes wirkt heilend. Ferner spieltauch
die Idiosynkrasie gegenüber gewissen Speisen eine Rolle für die
akute Entstehungsl’orm der Colica mucosa. Bei der chronischen
Form muß die Grundursache (Neurasthenie usw.) von gelegent¬
lichen Anlässen (Erregungen, Diätfehler usw.) unterschieden wer¬
den. Es ist zwar nicht notwendig, in der Zwischenzeit zwischen
den einzelnen Anfällen eine besonders strenge Diät einzuhatteri,
doch ist immerhin am Grundsatz festzuhalten, daß die Diät so
beschaffen sein muß, daß dabei der Darm nicht unnützerweise
gereizt werde. Bei der ganzen Therapie muß nicht nur auf die
Beseitigung der Symptome geachtet werden, sondern in, erster
Linie auf die Bekämpfung der Grundkrankheit.
A. J. B u 1 aw i nz o w- St. Petersburg : Zur Aetiologie
und Behandlung der Colitis membranacea.
Vortr. weist auf die große Bedeutung der Schmidt sehen
Probekost für die feinere Analyse der Colitis membranacea hin.
ln einigen der von ihm beobachteten Fälle lenkte die schlechte
Bindegewebsausnützung zu der Annahme eines Magenleidens als
primärer Ursache hin. Die funktionelle Magenuntersuchung be¬
stätigte diese Annahme insofern, als verminderte Salzsäure- und
Pepsinabscheidung nachgewiesen werden konnte. Die eingeleitete
Therapie bestand im Wesen in morgendlichen Magenausspülungen,
Salzsäuredarreichung, Beschränkung der Fettzufuhr usw. Die The¬
rapie hatte prompten und dauernden Erfolg (jetzt bereits andert¬
halb Jahre lang keine Rezidive). In anderen' Fällen war ein
Magenleiden als primäre Ursache nicht nachzuweisen.
D. 0. Krylow-St. Petersburg: Ueber die Wirkung des
Alkohols auf den Blutdruck und die Blutversorgung
bei Neurasthenikern.
Unter dem Einfluß mäßiger Alkoholdosen sinkt bei Neur¬
asthenikern in drei Vierteln der Fälle der Blutdruck (nach
Gärtner), bei den übrigen findet eine Erhöhung statt. Der
Maxima Id ruck (nach Korotk ow) sinkt häufig (meist nach vorher¬
gehender Erhöhung), der Minimaldruck pflegt zu steigen. Die
Blutversorgung ist in einem Drittel der Fälle erhöht, in zwei
Dritteln vermindert. Lokale Gymnastik erhöht und erniedrigt gleich
oft die Blutversorgung, allgemeine Gymnastik erniedrigt häufiger
als sie erhöht. Bei Alkoholgenuß ändern sich die Verhältnisse
etwa im entgegengesetzten Sinne. Lokale heiße Bäder erhöhen
gewöhnlich die Blutversorgung, lokale kalte Bäder vermindern
sie, sowohl ohne als mit Alkohol.
R. J. G er owsk i j - St. Petersburg: Zur Frage des
Appendixkarzinoms.
Im Gebiete der Appendix findet man kleine Geschwülstchen
von Erbsengroße, welche histologisch sehr an Karzinom erinnern,
aber sich nach mancher Richtung von demselben unterscheiden.
(Demonstration von Präparaten.)
E. A. She browskij -Kiew : Zur Frage der funktio¬
nellen Diagnostik des Herzens.
Vortr. hat an 1032 Fällen den Einfluß des Atemanhaltens
auf die Herzfunktion studiert und ist zu folgenden Ergebnissen
gelangt: Das Atemanhalten hat bei gesunden Individuen jugend¬
lichen und mittleren Alters stets eine Verlangsamung der Herz¬
aktion zur Folge, bei älteren Leuten wird diese Erscheinung manch¬
mal vermißt. Man vermißt die Verlangsamung der Herzaktion
nach Atemanhalten weitaus häufiger bei Arteriosklerose und
Lungentuberkulose, als bei anderen Erkrankungen.
K. W. Punin-St. Petersburg: Ueber Reaktion der
Gefäße a u f wi ed er h ölte K omp r es si onen b ei Gesunden
u n d bei Herzkranken.
Das Gefäßsystem ist imstande, selbständig eine ungenügende
Blutversorgung einzelner Organe bei temporären Kompressionen
des Hauptarterienstammes zu kompensieren.
Di. P 1 e t n e w - Moskau : Zur F r ag e d e r Bradykardie.
Die Bradykardien müssen nach ihrem klinischen Charakter
in zwei Gruppen geteilt werden: 1. wahre Bradykardien, weiche
entweder nervösen Ursprunges sind oder auf Veränderungen des
Myokards beruhen ; 2. Pseudobradykardien, welche entweder a) als
Resultat einer Dysrhythmie zwischen Vorkammer und Ventrikel
auftreten — manche dieser Fälle entsprechen dem Morgagni-
Adams-Stokes sehen Symptomenkomplex - — diese Gruppe
könnte ,.Bradysystolie“ genannt werden, oder b) Fälle, die einei
dauernden Extrasystolie entsprechen, wenn je zwei Ventrikel¬
kontraktionen nur eine systolische Pulselevation entspricht; diese
Gruppe könnte man mit „Bradysphygmie“ bezeichnen. Vortra¬
gender illustriert seine Ausführungen durch eine Reihe von Kurven
der Vorhof- und Ventrikelkontraktionen, sowie Sphygmo-, Phlebo-
und Kardiogrammen unter gleichzeitiger Heranziehung der ent¬
sprechenden Elektrokardiogramme.
P. A. T r o i z k i j - St. Petersburg : Pathogene se und T h e-
rapie des Morbus Basedowi (Referat).
Die klinische Klassifikation des Morbus Basedowi ergibt
eine Anzahl Formen, welche in vieler Hinsicht sowohl bezüglich
Aetiologie, als auch Symptomatologie voneinander abweichen.
Als gemeinsamen Ausgangspunkt kann man die thyreogene The¬
orie betrachten und die Basedowsche Krankheit nimmt nur
die äußerste Stelle in dieser Gruppe ein, wobei sie sich von den
anderen Gliedern nicht prinzipiell, sondern nur quantitativ unter¬
scheidet. Bezüglich der Anwendung der thyreogenen Theorie auf
den Morbus Basedowi gibt es verschiedene Anschauungen. Die
meisten Autoren nehmen einen Hyperthyreoidismus an, andere
nur die Folgen einer qualitativ veränderten Schilddrüsenfunktion
(Dysthvreoidismus), wieder andere sogar einen Hypothyreoidis¬
mus. Gleichzeitig mit den primären Veränderungen der Schild¬
drüsenfunktion müssen aber auch solche Veränderungen in Be¬
tracht gezogen werden, welche sich unter dem Einfluß des Zentral¬
nervensystems entwickeln. Der gegenwärtige Stand der Frage
vereint in sich zum Teil beide Anschauungsweisen, indem einer¬
seits die Möglichkeit eines nervösen Einflusses auf die SehiUI-
drüsenfunktion zugegeben wird, anderseits Rücksicht genommen
wird auf sekundäre Affektionen des Nervensystems toxischen Ur¬
sprungs. In dieser Wechselbeziehung ist eine der Ursachen der Man¬
nigfaltigkeit des klinischen Bildes zu suchen. Die 2. Ursache liegt
in der Polyvalenz des Avirksamen Prinzips der Schilddrüse, die
dritte in der Wirkung der übrigen Drüsen mit innerer Sekretion,
deren Mitbeteiligung gegenwärtig erwiesen ist und viertens in der
individuellen Verschiedenheit der Organismen. Das klinische Bild
entspricht im allgemeinen einer Affektion verschiedener Körper¬
gewebe im Sinne einer Erregung.
Diese Auffassung des klinischen Bildes läßt gewisse Richt¬
linien für die Therapie gewinnen. Welche Methode für den Morbus
Basedowi auch vorgeschlagen werden mag, als Grandlage der Be¬
handlung müssen allgemein diätetische Maßnahmen, Ruhe und
manchmal Klimatotherapie angesehen werden. Die medikamen¬
töse Therapie des Basedow zerfällt in einige Systeme, von denen
jedes seine Indikationsgruppen hat. Die Serumtherapie hat zu
Beginn ihrer Anwendung Resultate ergeben, Avelche zu größeren
Hoffnungen Anlaß gaben, als wir derzeit als berechtigt ansehen
können. Eine spezifische Wirkung kann der Serumtherapie nicht
zugeschrieben werden. In manchen Fällen gibt die llöntgen-
therapie gute Resultate, hat aber auch in der letzten Zeit Gegner
gefunden. Die besten Resultate wurden bis jetzt bei chirurgischer
Behandlung publiziert, doch läßt sich auch diese Methode nicht
als die alleinherrschende ansehen. (Fortsetzung folgt-)
Verantwortlicher Redakteur : Earl Eubasta.
Druck von Brune Bartelt, Wien XVIII., Theresien nasse 8
Verlag von Wilhelm BraumHller in Wiw>
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0 Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger, M. Gruber, F. Hochstetter, A. Kolisko, H. Meyer, J, Moeller, K. v. Noorden
H. Obersteiner, A, Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs. Julius Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert ?on Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg. Wien, 20. April 1911 Nr. 16
INHALT:
II. Soziale Medizin: Die Schwierigkeiten bei clev Verwertung der
Krankenkassenstatistik. Von Priv.-Doz. Dr. Ludwig Teleky.
S. 568.
III. Diskussion: Bemerkungen zu der in Nr. 15 veröffentlichten
Arbeit von F. Schenk, das Abbauvermögen anaphylaktischer
Seren betreffend. Von H. Pfeiffer, Graz. S. 573.
IV. Referate: Operative Chirurgie der Harnwege. Von J. Albarran.
lief.: Viktor Blum. — Harnsäure als ein Faktor bei der Ent¬
stehung von Krankheiten. Von Alexander Haig. Die Vagotonie.
Von Prof. C. v. N o o r d e n. Ref. : K. Glaessner. — Franz
Mraceks Atlas und Grundriß der Hautkrankheiten Von Doktor
Albert J e s i o n e k. Der Lupus, seine Pathologie, Therapie und
Prophylaxe. Von Dr. J. Philipp son. Die Syphilisbehandlung
mit Salvarsan. Von Dr. Kurt v. Stokar. Abhandlungen über
Salvarsan. Von Paul Ehrlich. Ref.: Nobl.
V. Ans verschiedenen Zeitschriften.
VI. Vermischte Nachrichten.
Franzensbad). S. 566.
3.
4.
5.
Originalartikel: 1. Aus dem bakteriologischen Laboratorium
des k. u. k. Militärsanitätskomitees und der Heilstätte für
Lupuskranke in Wien. Die Wirkung des ultravioletten Lichtes
auf das Eiweißantigen und seinen Antikörper. I. Mitteilung.
Von Priv.-Doz. Dr. R. D o e r r und Dr. J. Moldova n. S. oop.
Zur Cholesterinesterämie der Schwangeren. Von L. Aschoff
in Freiburg i. Br. S. 559. _ , .
Aus der serodiagnostischen Station der Klinik für Geschlechts¬
und Hautkrankheiten (Prof. E. Finger) und der Heilanstalt
Alland (Chefarzt: Priv.-Doz. J. Sorgo). Vergleichende serologische
Untersuchungen bei Tuberkulose und Syphilis. (Peptonreaktion
bei Tuberkulose, Lues und Lepra.) Von Dr. Rudolf Müller
und Dr. Erhard Sueß. S. 559. _
Aus dem Odessaer Stadtkrankenhause. Einige Falle von Atoxyl-
behandlung der Tuberkulose. Von Dr. Bruno Kn o the. S. 562.
Aus dem Institut für exper. Pathologie der deutschen Uni¬
versität in Prag. (Vorstand: Prof. H. E. Hering.) Untersuchungen
über die Giftwirkung von Typhusexsudaten auf den Kreislauf.
Von Priv.-Doz. für innere Medizin Dr. Edmund Hocke (Prag-
Aus dem bakteriologischen Laboratorium des k. u. k.
Militärsanitätskomitees und der Heilstätte für Lupus¬
kranke in Wien.
Die Wirkung des ultravioletten Lichtes auf
das Eiweißantigen und seinen Antikörper.
I. Mitteilung.
Von Priv.-Doz. Dr. R. Doerr und Dr. J. Moldovan.
Bald nach der Entdeckung der bakteriziden Wirkung
des weißen Sonnenlichtes durch Downes und B 1 u n t
stellte es sich heraus, daß, die Bakterienschädigung nicht
auf der die Belichtung begleitenden Temperaturerhöhung
beruhen kann, da die Bakterizidie (des Lichtes erhalten bleibt,
wenn 'man dasselbe durch adiathermane filter seiner dunklen
Wärmestrahlen völlig beraubt (D i e u d o n n e, B u c h n e r).
Die genauere Untersuchung der verschiedenen leite des
Sonnenspektrums ergab, daß, die ultraroten,, roten und ge k n
Strahlen ganz unwirksam sind und daß, nur die am stärksten
brechbaren ultravioletten Strahlen das Leben der Baktenen-
zelle zu vernichten vermögen; dementsprechein ti wiesen
sich auch solche Lichtquellen, die an ultravioletten Kom¬
ponenten relativ reich waren, als1 besonders bakteiizic , wie
z. B. die elektrischen Lichtbogen zwischen Aluminium- und
Eisenelektroden (S t r e b e 1, C h at i n und N i c o l au , doch
war auch hier zur Keimabtötung eine so erhebliche Be¬
strahlungsdauer erforderlich, daß an eine praktische . (1
Wertung der Tatsache nicht gedacht werden konnte. Erst die
Verwendung eines für ultraviolettes Licht leicht peimea en
Materials (Quarz) und die Benützung des Quecksilbers ge¬
stattete der Technik, das wirksame Ultralicht derart zu kon¬
zentrieren und zu verstärken, daßi pathogene und sapro-
phytische Mikroben in durchsichtigen, wässerigen Suspen¬
sionen schon in kürzester Zeit abtötbar waren; bekanntlich
konstruierte N o g i e r einen auf diesem Prinzipe beruhen¬
den Apparat, in welchem klares) Wasser durch bloßes Vor¬
beiströmen an einer Quecksilberdampflampe sterilisiert
werden kann.
Das Wesen des Prozesses blieb indessen unklar. In
früherer Zeit stellte man sich auf Grund der Versuche von
Duel au x, Kruse, Richardson, Novy und Freer
und anderen vor, daß das ultraviolette Licht photochemische
Zersetzungen der flüssigen Medien hervorruft, in welchen
die Bakterien suspendiert sind ; bei länger dauernder Be¬
lichtung ließ' sich nämlich das Auftreten von Spaltprodukten
nachweisen und da dieselben zum Teile schon längst als
hochwirksame chemische Desinfizienzien bekannt waren, wie
Ozon, H202, organische Peroxyde, so faßte man die Licht-
bakterizidie in diesem Sinne als einein mehr indirekten V or-
gang auf. Bei der Bakterienabtötung! durch das Licht der
-Quarzlampe, die in wenigen Sekunden) bis Minuten erfolgt,
bleibt aber die Entwicklung von Ozon oder H202 gänzlich
aus (No gier), so daß, wir hier an eine direkte, wenn auch
vorläufig nicht aufgeklärte Wirkung der ultravioletten Strah¬
len auf die Mikroorganismen zu denken haben.
Es lag nun nahe, die Wirkungen des ultravioletten
Lichtes nicht nur an der Funktionsstörung des lebenden
Protoplasmas zu studieren, sondern auch unbelebte, hoch¬
molekulare Stoffe, die zu den Lebensprozessen in engei
B58
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Beziehung stehen, diesem Einflüsse zu unterwerfen, vor¬
nehmlich diejenigen Kölner, welche wir als Träger der Im¬
munitätsphänomene betrachten. Damit hot sich einerseits
die Aussicht, ein neues Agens in die Analyse der Immuni¬
tätserscheinungen einzuführen und auf diesem Wege zur
materiellen Identifizierung oder Differenzierung bekannter
Immunfunktionen zu gelangen, andrerseits eröffnete sich
die Möglichkeit, die näheren Ursachen der plötzlichen Ver¬
nichtung des Zellebens durch ultraviolettes Licht zu er¬
gründen.
Ueber die Veränderung, welche Immunkörper und Anti¬
gene durch Bestrahlung erleiden, liegen bereits verschie¬
dene positive Ergebnisse vor. Cernovodeanu und
II enri fanden, daß Tetanustoxin durch idas Licht der Quarz¬
lampe zerstört werden kann; No gier zeigte, daß man zu
diesem Zweck die Telanusgiftlösungen verdünnen müsse, weit
diese als Bouillonkulturfiltrate' Peptone und Albumosen,
also kolloidale Substanzen enthalten, deren Teilchen selbst
in der Lösung eine bedeutende Größe besitzen und aus
diesem Grunde, sowie wegen ihrer Undurchlässigkeit als
Lichtschirme fungieren, welche ein tieferes Eindringen der
Strahlen in die exponierten Flüssigkeitsschichten verhin¬
dern, falls man ihre Zahl nicht durch Diluition reduziert.
Zu demselben Schlüsse gelangten auch Baro n i und I o-
nesco-Mihai e s t i ; sie konstatierten ferner, daß auch
das Komplement des Normalserums, die Ambozeptoren, Ag-
glutinine und Antitoxine der Immunsera durch ultraviolettes
Licht zerstört werden können, und daß der vollständigen
Destruktion ein Stadium vorausgeht, in welchem sich die
Abschwächung meist durch eine Verzögerung der spezifi¬
schen Funktion zu erkennen gibt.
Besonderes Interesse schienen uns die Wirkungen des
ultravioletten Lichtes auf das artspezifische Eiweiß zu
bieten, da man dasselbe wohl zu den integrierenden Fak¬
toren der Lebensfunktionen des Protoplasmas rechnen darf.
Baroni und Ionesco-Mihaiesti sind nun auf diesem
Gebiete zu Resultaten gelangt, welche sich mit anderen
Ergebnissen der Immunitätsforschung nicht in Einklang
bringen lassen. Sie bestrahlten frisches Pferdeserum in ent¬
sprechender Verdünnung mit einer H e r a e u s - Lampe
(Westinghouse) und konnten dasselbe nunmehr aktiv
anaphylaktisierten Meerschweinchen ohne Schaden inji¬
zieren: es war also „atoxisch“ geworden, während sein
Gehalt an prazipitabler Substanz keine Ab¬
schwächung, sondern eine Zunahme erfahren
hatte. Die Autoren schließen daraus, daßi es sich hier
um zwei verschiedene, durch Licht isolierbare Eigenschaften
artfremder Seren, d. h. der darin enthaltenen^ Eiweißanti¬
gene handeln müsse und trennen die „toxische“ Wirkung
auf das sensibilisierte Tier (das Antisensibilisin Bes-
rcdkas) prinzipiell von dem Präzipitinogen oder, wie es
richtiger heißen sollte, von der präzipitablen Substanz, ln
einer zweiten Mitteilung berichten Ionesco-Mihaiesti
und Baroni, daßi eine sehr lange Bestrahlung von ver¬
dünntem Pferdeserum schließlich auch die spezifische Prä-
zipitabilität vernichtet und daßi in der gleichen Zeit auch
das sensibilisierende (anaphylaktogene) Vermögen eine be-
beträchlliche Reduktion erfährt.1)
In der ungleichmäßigen Beeinflussung der „Toxizität“
einerseits, d. h. des Vermögens artfremder Sera, beim ana¬
phylaktischen Tiere Symptome zu provozieren, der Präzipita-
bilität und sensibilisierenden Wirkung andrerseits lag nun
ein Widerspruch gegen die von Friedberger, Doerr
und R u ß, Doer r und Moldovan vertretene Auffassung,
daß das Eiweißäntigen und seine biologischen Funktionen
einheitlicher Natur sind und daß es theoretisch nicht ge¬
rechtfertigt ist, im artfremden Eiweiß Präzipitinogene, Ana¬
phylaktogene, Ambozeptorenantigene, toxische Substanzen
(Antisensibilisine) als besondere koexistierende Körper zu
unterscheiden.
!) Aehnlich verliefen Bestrahlungsversuche mit Tuberkulin (Henri,
Jousset, Compt. rend. Soc. Biol.).
Nr. 16
Wir haben daher die Frage experimentell geprüft und
sind dabei zu abweichenden Schlüssen gelangt, die wir
soweit sie sichergestellt sind., hier mitteilen.
Technik. Als Lichtquelle diente die Kr omayersch«
Quarzlampe mit kontinuierlicher Wasserkühlung u. zw. ein ganz
neues Exemplar, da nach den exakten Messungen von Bordiei
bei lange benützten Lampen das Quarzgehäuse des Lichtbogens
durch die Bildung von Merkurosilikaten undurchlässiger wird
und die Intensität der ultravioletten Lichtemanation infolgedessen
eine beträchtliche Einbuße erfährt. Die Spannung betrug no
Volt, die Stromintensität 4 Ampere.
Die Exposition der Flüssigkeiten erfolgte in eigens kon¬
struierten Dosen, die an der Vorderseite ein Quarzfenster hatten
und entweder 3 oder 6 min Tiefe besaßen. Das Quarzfenster
war derart eingesetzt, daß tote Winkel und Ecken nicht be¬
standen, daß mithin jeder Teil der Flüssigkeit der Strahlenwirkung
ausgesetzt war. An der Zirkumferenz und der hinteren Fläche
waren die Dosen während der Versuche beständig von kaltem
Wasser umströmt, so daß eine, wenn auch geringe Erwärmung
der Flüssigkeit sicher ausgeschlossen werden konnte. Die Distanz-
des Quarzfensters von der vorderen Fläche der Lampe variierte
zwischen 5 und 10 Cm.
I. Eiweißäntigen.
Die Veränderungen des Eiweißantigens wurden in der
Weise studiert, daßi bestimmte Normalsera (Hammel¬
serum, Rinderserum, Pferdeserum) durch .verschiedene
Zeiten dem Lichte der Kromayer - Lampe ausgesetzt i
wurden. Sodann prüften wir bestrahlte und unbestrahlte
Proben desselben Normalserums nach zwei Richtungen ;
u. zw. 1. auf ihre spezifische Präzipi tierhark eit mit einem
hochwertigen Antiserum vom Kaninchen, 2. auf ihre Fähig¬
keit, hei anaphylaktischen Meerschweinchen Shock aaszu¬
lösen ; hiezu wurden, um absolut sichere Vergleichswerte j
zu gewinnen, passiv präparierte Tiere benützt u. zw. solche, j
welche vor 24 Stunden 1 cm3 des zur Präzipitation ver¬
wendeten Antiserums (vom Kaninchen) intraperitoneal er-
halten hatten.
Unverdünnte Normalseren erlitten durch ultraviolette
Strahlen selbst bei langer Einwirkung meist keine nachweis¬
bare Veränderung, konform den Angaben von No gier, sowie!
von Baroni und Ionesco-Mihaiesti. Verdünnte Sera |
(mit Kochsalzlösung) zeigten dagegen in einer Zeit, welche
dem Diluitionsgrade umgekehrt proportional war, eine deut¬
liche Abschwächung, die sich bis zum Schwunde von prä-
zipitabler und „toxischer“ Substanz steigern ließ. Sie wurden
dabei auch für die grobe Betrachtung verändert, indem
sich eine deutliche Opaleszenz (wie bei stark verdünnten
und erhitzten Eiweißlösungen) einstellte; die Farbe wurde
dunkler, schlug ins Tiefgelbe oder Bräunliche um und der
Geruch erinnerte an verbranntes Horn, ganz ähnlich jenem,
der bei Verbrennung organischer, st ick stoff hat tiger Substan¬
zen auf dem Platinblech auftritt.
Präzipi tahilität und shockauslösendes Vermögen
nahmen stets parallel ah und zeigte sich nirgends eine Dis¬
kontinuität, allerdings nur unter einer Voraussetzung. Schon
Baro n i und Ionesco-Mihaiesti geben kurz an, daß
die partielle Abschwächung von Antikörpern nach erfolgter
Bestrahlung ihren Ausdruck meist in einem verlangsamten
Reaktionsverlauf mit dem betreffenden Antigen findet. Nun
konnten wir zeigen, daß auch das Antigen, im vorliegenden
Falle das Eiweißäntigen, in gewissen Fällen zuerst derart
modifiziert wird, daß es zwar präzipitabel bleibt u. zw. in
absolut gleichen Mengenverhältnissen wie im unbestrahlten
Zustande, daß aber die Reaktionsgeschwindigkeit mit dem
Präzipitin stark verzögert ist. So wurde zum Beispiel ein
Rinderserum durch die Belichtung in dem Sinne alteriert,
daß es erst nach einer Stunde in jenen Verdünnungen aus¬
geflockt wurde, die beim nativen Serum schon in 15 Mi¬
nuten Präzipitation gaben ; später glichen sich die Diffe¬
renzen aus und waren in zwei Stunden gering, in drei
Stunden kaum mehr angedeutet.
Ob es sich hier um eine Aviditätsherabsetzung im
chemischen Sinne (Kraus, P. Th. Müller) handelt oder
um physikalische xklieralionen, die das Zustandekommen
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
557
der Kolloidreaktion, hindern, sei dahingestellt. Sicher ist
jedoch, daß im angezogenen Beispiele die Ablesung nach
15 Minuten zur Annahme eines erheblichen Unterschiedes
der präzipitablen Substanz, nach zwei Stunden aber dazu
geführt hätte, jede Differenz in Abrede zu stellen. N'un
sehen wir im anaphylaktischen Experiment (Versuch 2),
daß das Serum durch die Bestrahlung seine Gefährlichkeit
für gleichgradig anaphylaktische Meerschweinchen partiell
eingebüßt hatte u. zw. war die Dosis letalis minima inter¬
essanterweise gerade um das Vierfache gestiegen (von 0 025
auf 0-1 cm3). Aus den obigen Angaben ist aber zu ersehen,
daß die Reaktionsfähigkeit (gemessen an der Reaktions¬
geschwindigkeit) in vitro gerade auf ein Viertel abgenommen
hatte. Diese Uebereinstimmung ist gewiß nicht zufälligen
Charakters ; das Zustandekommen des anaphylaktischen
Shocks hängt sehr wesentlich von der Avidität des Eiweißi-
antigens zu seinem Antikörper ab und die anaphylaktischen
Symptome bedrohen das Leben nur dann, wenn sie sich
in wenigen Minuten abspielen. Protrahiertes Eintreten von
Krankheitserscheinungen, langsamer Verlauf ist für den Ex¬
perimentator ein sicheres Zeichen, daß das Tier mit dem
Leben davon kommen und sich bald erholen dürfte.
Es ist unschwer zu erkennen, daßi diese Tatsachen
auch sonst für die Vergleichung verschiedener Antigenfunk¬
tionen von nativem Eiweiß oder seiner Antikörper Bedeu¬
tung haben und daß bei parallelen Versuchsreihen, welche
die Identität von Präzipitin und anaphylaktischem Reaktions¬
körper, von präzipitabler Substanz und shiockauslösender
(toxischer) Wirkung beweisen oder widerlegen sollen, nicht
nur absolute Zahlenwerte,— sondern auch der zeitliche Ab¬
lauf der Prozesse in Betracht zu ziehen sind. Zweifellos
beruhen auf der Vernachlässigung dieses Momentes die so
verschiedenen Angaben der Autoren, welche sich mit der-
Präzipitation nach Uhlenhuth, Ablesung des
nach zwei Stunden hei 37°.
vor nach
Verdünnung
des Pferdeserums
800
1.600
3.200
6.400
12.800
der Bestrahlung.
++++
-I — I — i — h
++++
++-P+
0
Resultates
Sodann wurde eine Reihe von Meerschweinchen mit je
1 cm3 Serum von Kaninchen Nr. 26 intraperitoneal präpariert
und nach 24 Stunden mit fallenden Mengen des bestrahlten
und unbestrahlten Pferdeserums intravenös reinjiziert.
Toxizität des Pferdererums
0T
005
vor
cm3
»
und
+ 5'
ß- 5-
nach der Bestrahlung
002
»
+ 5‘
+ 5'
0005
»
-f 5'
T*
0002
»
leichte Symptome
leichte Symptome
Es hatte also im unverdünnten Serum weder die prä-
zipitable, noch die toxische Substanz, letztere auch nicht
im mindesten abgenommen, was doch der Fall sein müßte,
wenn die toxische Fähigkeit gegen ultraviolettes Licht em¬
pfindlicher wäre.
2. Versuch. Rinderserum, auf das fünffache Volumen mit
physiologischer Kochsalzlösung verdünnt, wird drei Stunden
in 3 mm dicker Schichte bestrahlt. Sodann wird seine Präzipi¬
tabilität mit einem Antirinder serum vom Kaninchen Nr. 340
nach Uhlenhuth bestimmt und die Stärke der Ausflockung
von 15 zu 15 Minuten abgelesen. Es ergaben sich folgende
Reihen :
Verdünnung
des Rinderscrums
50
100
200
400
800
1600
3200
6400
Resultat nach verschiedenen Intervallen
15 Minuten
30 Minuten
45 Minuten
60 Minuten
90 Minuten
120 Minuten
vor*)
nach
vor
nach
vor
nach
vor
nach
vor
nach
vor
nach
+++
+++
+++
ß~ß — h
++
ß — P
ß-
+
0
+
+
+
+
+
-p
0
tut
Tß-ß-ß-
+++
+++
++
ß — H
”1“
+
+ +
+ +
+ +
+
+
0
ß — 1 — 1 — b
ß — 1 — 1 — r
++++
H — bß~
++
++
P
+
+ +
+ +
+ +
+ +
+ +
+
o
+H++
++++
ß — 1 — 1 — b
+++-F
++ß-
ß — b
ß~
+
+ß-
ß — b
++'+
ß-ß-
++
4"
0
++ß-ß-
ß-++ +
ß — 1 — 1 — b
ß — 1 — 1 1
+ß-ß- +
+ß-ß-+
+++
+
+
ß — b
++ß-
ß-ß — 1 — b
++ß-
+4+
++
+
ß — 1 — ! — b
ß-ß-+ß-
ß-ß-++
ß-+ß-+
ß — H-
+
+
++
++ß-ß-
+ß-ß-+
++ß-+
ß-ß-ß-+
ß-ß-
+
artigen Fragen befaßten, wie 1 r i e d e m a n n sehr richtig
vermutet.
Wichtig erscheint es ferner, (laß sich Reaktionsände¬
rungen im Sinne einer verminderten Avidität künstlich und
zwar durch Modifikation des Antigens erzeugen lassen.
Betrachtet man Versuch 2 genauer, so findet man überdies
bei der Bestimmung der Präzipitabilität, daß sich infolge
der Belichtung des Antigens eine untere H e m m u n g s-
zone gebildet hat, ein Phänomen, das man meist auf eine
besondere Beschaffenheit des Antikörpers bezieht. Daraus
ergibt sich, daß bei den Reaktionen zwischen Eiweiß und
Antieiweiß die Avidität, bzw. die Reaktionsgeschwindigkeit
sowie die Ausbildung einer unteren Hemmungszone, sowohl
durch besondere Eigenschaften der Antigenlösung als des
Immunserums bedingt sein kann und weiter die Wahrschein¬
lichkeit, daß im letzteren Falle ebenfalls das Eiweiß des
Immunserums, an welchem aller Wahrscheinlichkeit nach
die Immunwirkungen haften, als Träger der veränderten
Funktion anzusehen sei.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen seien folgende
Beispiele angeführt:
1. Versuch. Unverdünntes Pferdeserum wird in 3mm
dicker Schichte drei Stunden behandelt. Sein Gehalt an prazi-
pitabler Substanz vor und nach der Belichtung wird mit c em
Antipferdeserum von Kaninchen Nr. 26 festgestellt.
Hierauf wurden Meerschweinchen mit je 1 cm1 des Anti¬
rinderserums Nr. 340 vorbehandelt und nach 24 Stunden mit
bestrahltem und unbestrahltem Rinderserum in fallenden Dosen
intravenös reinjiziert.
Toxizität des Rinderserums
vor
und
nach der Bestrahlun
02 cm3
+ 5‘
+ 5'
01
+ 5'
+ F
005 »
+ 5'
leichte Symptome
0 025 »
+ 5‘
keine Erscheinungen
Das Rinderserum hatte also in doppelter Richtung
abgenommen: 1. an Präzipitabilität u. zw. derart, daß die
Reaktionsgeschwindigkeit verlangsamt war und eine deut¬
liche untere Hemmungszone bestand. Die Geschwindigkeit
war auf zirka ein Viertel reduziert; nach zwei Stunden waren
diese Differenzen ausgeglichen und die absoluten erte
für die Fällbarkeit bei bestrahltem und nicht bestrahltem
Serum annähernd gleich ; 2. an Toxizität für gleich stark
sensibilisierte Meerschweinchen, in dem die Dosis letalis
minima um das Vierfache zunahm.
3. Versuch. Auf das zehnfache Volumen verdünntes
mmelserum wird in 3 cm3 dicker Schichte fünf Stunden he
ihlt. Seine Präzipitierbarkeit vor und nach der Behchtung
prüft mit einem Antihammelserum vom Kaninchen Nr. üuyj
hielt sich, wie folgt:
558
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 16
Serumverdauung
vor
nach der Bestrahlung
100
++++
Spur Trübung
200
4 — 1 — i — P
»
400
4 — 1 — 1 — p
»
800
++d +
»
1.600
+ + -P+
0
3.200
+-H-
0
6.400
4
0
12.800
leichte Trübung
0
25.600
0
0
Meerschweinchen, präpariert mit 1 cm3 Serum 409
reagierten auf das bestrahlte und nicht bestrahlte Hammel¬
serum in fallender Dosis intravenös :
Reinjektionsdosis vor und
05 cm3
02
0-1 »
0-05 »
0 025 »
001
0005
0-002
-f 5'
+ 5'
+ 5'
4- 5'
+ 5‘
protrahierte, deutl. Symptome
nach der Bestrahlung
0, keine Erscheinungen
0
0
Die mit bestrahltem Serum injizierten Tiere verhielten sich
nach weiteren 24 Stunden gegen eine intravenöse Injektion von
0-1 cm" unhestralilten Hammelserums, zum Teil refraktär:
Das mit 0-5 cm3 belichtetem Serum reinjizierte Tier rea¬
gierte auf 0-1 cm3 unbelichtet nur mit leichten Symptomen;
das mit 0-2 cm3 belichtetem Serum reinjizierte Tier rea¬
gierte auf 0-1 cm3 unbelichtet mit starker Dyspnoe;
das mit 01 cm3 belichtetem Serum reinjizierte Tier rea¬
gierte auf 0-1 cm3 unbelichtet mit Tod in fünf Minuten.
Es waren also noch Antigenreste entsprechend der
spurweisen Präzipitation vorhanden, die in großen Dosen
(0-2 bis 0-5 cm3) Antianaphylaxie hervorriefen.
II. Ei weiß antikörper.
ln dieser Versuchsreihe wurden Antieiweißsera von
Kaninchen belichtet und ihr Gehalt an Präzipitin, sowie
ihr passives Präparierungsvermögen für normale Meer¬
schweinchen vor und nach dem Eingriff bestimmt.
Auch liier konnte die Reaktionsgeschwindigkeit der
Präzipitation verlangsamt werden u. zw. bei gleichbleiben-
dem absoluten Titer; Tiere, die mit solchen Seris vorbe-
handelt waren, reagierten auf die Antigeninjektion protra¬
hiert und erst auf bedeutend höhere Dosen. Auch gelang
durch Belichtung tier Präzipitine die Erzeugung der „un¬
teren Hemmungszone“ ebenso wie durch Bestrahlung der
präzipitablen Substanzen.
4. Versuch. Ein Hammelantiserum von Kaninchen S4
wird in 6 mm dicker Schichte drei Stunden bestrahlt.
Präzipitingehalt (abgelesen nach 2 Stunden bei 37° C.)
vor und nach der Bestrahlung
100
H — 1 — 1 — P
+
200
+-P-P+
4
400
P++4-
4
800
'1 — l — 1 — P
4
1600
4-4 — p-p
4
3200
+
+
6400
4
0
Präparierungsvermögen. Meerschweinchen in Ko¬
lonne 1 !mit unbestrahltem, in Kolonlne 2 mit bestrahltem Serum 84
u. zw. je mit 1 cm3 intraperitoneal vorbehandelt, reagieren auf
fallende Dosen Hammelserum, wie folgt :
1. 2.
leichte Symptome
0-05 ; 1
0-02 4-5'
0 01 4 5* 0
0‘008 schwere Symptome
0005
Es waren also Präzipitin und anaphylaktischer Reak-
fionskörper intensiv abgeschwächt.
5. Versuch. Antihammelserum von Kaninchen 409 in
3 nun dicker Schichte und in dreifacher Verdünnung mit Koch¬
salzlösung durch 90 Minuten bestrahlt.
100
1000
2000
Präzipitine (abgelesen nach 4 ständigem Stehen bei 37° C.)
vor und nach der Belichtung
++++ 0 (keine Spur von Trübung)
+ + ++ 0
+ 4 0
Präparierungsvermögen des bestrahlten und unbestrahlte
Serums, Versuchsanordnung wie im 4. Versuch.
1. 2.
0 2 cm3 o
0-1 » o
0 05 » 4 5' 0
0‘02 » leichte Symptome 0
Präzipitine und anaphylaktische Reaktionskörper wäret
also völlig zerstört.
G. Versuch. Antihamimelserum vom Kaninchen 409 b
doppelter Verdünnung, 90 Minuten in 6 mm dicker Schichte k
strahlt.
Der Präzipitingehalt, von 30 zu 30 Minuten abgelesen (nae,
U h 1 e n h u t h) ergab :
Antigen-
verdünnung
— - = - - - — — - ■
Ablesung nach
30 Minuten
60 Minuten
90 Minuten
120 Minuten
vor
nach
vor
nach
vor
nach
vor
nach
50
4-
0
++
0
+++
0
++ +
+
100
+
0
“I — b
0
+++
0
+++
++
200
++
0
~b++
0
+++
++
_b“b“b
++
400
++
+++
-P+
+++
++-P
++~b
+++
800
H — b
+
+++
++
++-P
H — i — b
+++
+++
1600
++
+
++-P
++
+~b+
+++
+~b-b
+++
Das Präparierungsvermögen war insofern geändert
als mit 002 cm3 Hammelserum intravenös injizierte Tier<
(die mit 1 cm3 bestrahltem Serum intraperitoneal vorne
handelt waren) -schwere, aber sehr protrahiert verlaufend»
und in Erholung übergehende Symptome zeigten. Das rtich
belichtete Serum machte dagegen so stark anaphylaktisch
daß mit 1 cm3 präparierte Meerschweinchen auf 0-005 cm
Hammelserum intravenös akut eingingen und es entwickeltet
sich die Erscheinungen selbst nach kleineren Doset
momentan.
Auch hier war also eine Verminderung der Aviditä
hei der Präzipitation und das Entstehen einer unteren Hem
mungszone bei gleichbleibenden absoluten Werten die Folgt]
der Bestrahlung mit ultraviolettem Lichte. Die vermindertu
Reaktionsgeschwindigkeit des Immunkörpers in vitro fan !
in dem abgeschwächten und protrahierten Verlauf der ana
phylaktischen Reaktion einen Ausdruck.
Schlußfolgerungen.
1. Durch die Bestrahlung mit ultraviolettem Lichte er¬
folgt eine Denaturierung der spezifischen Eiweißkörper na|
tiver Sera, welche ebenso wie bei der Erhitzung auf dem
Entstehen einer Trübung, d. li. auf der Bildung einer koa-j
gulierten, irreversiblen Modifikation beruht.
2. Bei normalen Seris findet diese Veränderung ihren}
Ausdruck im Verschwinden der spezifischen Präzipitabilitätl
und der Fähigkeit, heim anaphylaktischen Meerschweinchen!
Symptome auszulösen.
3. Bei Eiweißanti seris bewirkt ultraviolettes Licht die
Zerstörung des präzipitierenden und passiv anaphylaktisie-j
renden Vermögens.
4. Die Abschwächung der antigenen Eigenschaften der,
Normalsera und der limmmfunktionen der Immunsera er¬
folgt für Präzipitation und anaphylaktische Reaktion völlig
gleichmäßig, wenn man außer den absoluten Werten die
Reaktionsgeschwindigkeit in Betracht zieht.
5. Bestrahlung von Antigen und Antikörper in ge¬
wissen Abstufungen gestattet eine künstliche Herabsetzung
der Reaktionsgeschwindigkeit und die Erzeugung der soge¬
nannten unteren Hemmungszone.
Die letztere beruht daher auch beim Immunserum
nicht auf einer besonderen Beschaffenheit der Immunsub-
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
559
<lanz im engeren Sinne, sondern höchstwahrscheinlich auf
lein Zustande des Eiweißes, an welchem die Antikörper
laften.
Wie weit sich die mitgeteilten Ergebnisse mit den Re¬
sultaten von Baroni und Ionesco-Miliaiesti decken
kIci- von denselben abweichen und als neu zu betrachten
und, geht aus der Einleitung hervor.
Literatur:
Downes und Blunt, Proc. London Royal Soc., Bd. 26.
tieudonnd, Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamte, Bd. 9. —
iüchner, Archiv für Hyg., Bd. 17. — St rebel, Deutsche med.
Vochenschr. 1901. — Ch atin und Nicol an, Compt. med. Acad.
lienee 1903. — No gier, Archiv d’Electr. 1910. — Bordier, ebenda.
Duclaux, Annal. Part. 1892. — Richardson, Deutsche ehern.
Gesellschaft, Bd. 26. — Kruse, Zeitschr für Hyg., Bd. 19. — Novy
md Freer, Zentralblatt für Bakt., Bd. 31. — Baroni und Ionesco-
Vlihaiesti, Compt. rend. Soc. Biol. 1910 u. 1911. — Cernovodeanu
md H e n r i, Compt. rend. Acad. Science 1909.
Zur Cholesterinesterämie der Schwangeren.
Von L. Aschoff in Freiburg i. Br.
Die in Nummer 12 dieser Wochenschrift mitgeteilten
interessanten Befunde von Neu m a n n und Herrma n n
über die Cholesterinesterämie der Schwangeren sind für den
pathologischen Anatomen von besonderer Bedeutung, so
daß ich mir einige kurze Bemerkungen dazu gestatten
möchte. Seit einer Reihe von Jahren mit der Pathogenese
der Gallensteine beschäftigt, hatte ich im Gegensatz zu der
bisher herrschenden Lehre Naunyns die Behauptung auf-
gestellt, daß unter den Gallensteinen eine besondere
Gruppe, nämlich die reinen Cholesterinsteine, von allen
übrigen ahzusondern seien, weil sie meines Erachtens nach
nicht durch einen entzündlichen Prozeß, sondern durch
einfache Stauung der Galle, besonders hei gleichzeitiger
Anreicherung von Cholesterin oder Cholesterinestern, in
der Galle selbst zustande kämen. Die Beweise dafür habe
ich in mehreren mit meinem Schüler Baumeister zu¬
sammen unternommenen Untersuchungen geliefert. Wir
haben dabei mehrfach die Vermutung ausgesprochen, daß
die eigentümliche Tatsache des ersten fieberfreien Anfalles
von Cholelithiasis im Wochenbett auf die Bildung reiner
Cholesterinsteine während der Schwangerschaft zurück¬
geführt werden müßte und daß diese Steinbildung wiederum
in einem erhöhten Cholesterinstoffwechsel der Schwangeren
begründet sein möchte. Die von Baumeister unternom¬
menen Untersuchungen über den wechselnden Cholesterin¬
gehalt der Galle in Abhängigkeit von der Nahrung konnten
aus äußeren Gründen nicht weiter ausgedehnt werden und
einwandfreies Material von Schwangeren stand ihm nicht
zur Verfügung. Nun bringen die bemerkenswerten Unter¬
suchungen von Neumann und Herrmann einen sehr
willkommenen Beweis, daß in der Tat während der
Schwangerschaft der Cholesterinesterspiegel des Blutes er¬
höht ist, woraus, wenn auch mit gewissem Vorbehalt, auf
eine erhöhte Cholesterinausscheidung in der Galle ge¬
schlossen werden darf. Jedenfalls steht jetzt die Erklärung
der Bildung radiärer Cholesterinsteine während der
Schwangerschaft auf einem viel gesicherteren Boden und
die noch von K r e tz vertretene Anschauung, daß> die reinen
Cholesterinsteine durch Umwandlung aus Cholesterinkalk¬
steinen entstehen, dürfte sich nur schwer.. aufrecht erhalten
lassen. Ich bin jetzt mehrfach in der Lage gewesen, aus
dem eigenartigen Aufbau eines sogenannten Kombinations¬
steines in Fällen, die ich der Freundlichkeit des Kollegen
Bertelsmanns in Kassel verdanke und in welchen der
Kern des Kombinationssteines aus besonders großen radiären
Cholesterinsteinen bestand, die von mir geäußerte \ er-
mutung, daß hier dielprimäre Cholesterinsteinbildung wäh¬
rend der Gravidität eingetreten war, im Wochenbette zu ur¬
sprünglich leichten und späterhin durch nachträgliche In¬
fektion zu schwereren Anfällen geführt hat, durch den Kli¬
niker bestätigt zu erhalten.
In der an den Vortrag von Neumann und Herr¬
mann sich anschließenden Diskussion ist lebhaft die Frage
diskutiert worden, woher die Cholesterinester des Blutes
stammen und es ist dabei einerseits die Plazenta, andrer¬
seits die Nebenniere in den Vordergrund gestellt worden.
Insbesondere hat Albrecht geglaubt, auf Grund um¬
fassender Untersuchungen über den wechselnden Gehalt der
Nebennierenrinde an doppeltbrechender Substanz und auf
Grund von Experimenten eine Bildung von Cholesterinestern
in der Nebenniere und nachfolgende Ausschüttung in das
Blut bei der Gravidität annehmen zu müssen. Diese Hypo¬
these verdient jedenfalls alle Beachtung, wenn es mir auch
fraglich erscheint, ob damit schon die letzte Erklärung
der Cholesterinesterämie der Schwangeren gefunden ist. In
einer kürzlich erschienenen Monographie meines Schülers
Kawamur a habe ich die bis jetzt vorliegende Literatur
über die Morphologie der Cholesterinesterbildung im mensch¬
lichen und tierischen Körper zusammenstellen und dabei
auch systematische Untersuchungen über den Lipoidgehalt
der Nebenniere mitteilen lassen. Wie weit diese Unter¬
suchungen mit denjenigen Albrechts übereinstimmen,
bzw. von ihm abweichen, soll hier nicht weiter diskutiert
werden. In der Tat bestehen, wie diese Untersuchungen
gezeigt haben, eigenartige Beziehungen zwischen dem Chole¬
sterinestergehalt der Nebenniere und dem übrigen Chole¬
sterinstoffwechsel, so wie es Albrecht auch für die Gra¬
vidität behauptet. So ließ sich nachweisen, daß bei den
Huftieren die doppeltbrechende Substanz in den Neben¬
nieren so gut wie völlig fehlt und es paßt dazu die schon
von Naunyn hervorgehobene Tatsache, daßi beim Rindvieh
wohl Bilirubinkalksteine, aber keine Cholesterinsteine ge¬
funden werden. Eine andere Frage ist nur, ob tatsächlich
die Nebenniere als Quelle der Cholesterinesterverbildungen
im Blute angesehen werden darf. Ich möchte das vorläufig
noch dahingestellt sein lassen. Wie schon Albrecht her¬
vorhebt und wie es auch die Untersuchungen von Kawa-
mura gezeigt haben, ist der Gehalt der Nebennierenrinde
an doppeltbrechender Substanz ein außerordentlich schwan¬
kender und ehe nicht vergleichende Untersuchungen der
verschiedenen Organe und der Blutcholesterinestermengen
mit Hilfe der von Windaus eingeführten Digitöninmethode,
die wir mit so großem' Erfolge bei der Nierenverfettung und
der Gefäßatherosklerose anwenden konnten, durchgeführt
sind, läßt sich kein sicheres Urteil fällen. Denn auch die
Cholesterinestermengen des Blutes sind, wie besonders die
Untersuchungen von Chauffard gezeigt haben, bei den
verschiedensten krankhaften Zuständen einem sehr starken
Wechsel unterworfen und die Ursache dafür wird wohl
in den verschiedensten Organen oder in einer Störung des
Gesamtstoffwechsels zu suchen sein. So möchte ich auch
für die Gravidität annehmen, daß nicht eine Quelle der
Cholesterinesterbildung besteht, sondern daßi infolge der
Eibefruchtung überall im Körper eine erhöhte Cholesterin¬
esterbildung vor sich geht oder vor sich gehen kann, eine
förmliche Speicherung von Cholesterinester in den Organen
und so auch in der Nebenniere zustande kommt, ein Zu¬
stand, den ich mit Kawamura als „Cholesterinsteatose“
bezeichnet habe und deren eines mich besonders interessie¬
rendes Symptom die Bildung reiner Cholesterinsteine (sein
kann.
Aus der serodiagnostischen Station der Klinik für
Geschlechts- und Hautkrankheiten (Prof. E. Finger) und
der Heilanstalt Alland (Chefarzt: Priv.-Doz. J. Sorgo).
Vergleichende serologische Untersuchungen
bei Tuberkulose und Syphilis.
(Peptonreaktion bei Tuberkulose, Lues und Lepra.)
II. Mitteilung.
Von Dr. Rudolf Müller und Dr. Erhard Sueß.
In unserer ersten Mitteilung1) konnten wir nachweisen,
daß die Komplementablenkung tuberkulöser Sera mit Tuber¬
kulin nichl auf einer Wechselwirkung von Tuberkulose- Anti-
') Wiener klin. Wochenschr. 1910, Nr. 16.
560
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 16
gen und Antikörper beruht, sondern daß man mit denselben
Seris qualitativ identische Reaktionen mit Bouillon und mit
Peptonlösungen erhält. Eine Abhängigkeit positiver Ausfälle
von Tuberkulininjektionen konnten wir nicht nachweisen.
A usdiesenErgebnissenfolgerten wir, daß Tu¬
berkulin als Antigen zum Nachweise spezifi-
f i s c h e r komplementbindender Substanzen
unbrauchbar ist und daher die positiven Resultate
jener Autoren, die in ihren Versuchen das gewöhnliche
Tuberkulin (Kochs Alttuberkulin) verwendeten, nicht zum
Beweis für das Vorhandensein von spezifischen Immun¬
substanzen im untersuchten Serum herangezogen werden
dürfen. Nur solche Tuberkuline, welche nicht Nährsub¬
stanzen für das Bazillenwachstum enthalten, die für sich
allein imstande sind, mit Tuberkuloseserum Komplement
zu fixieren, könnten vielleicht hiezu dienen. Eine weitere
Stütze unserer Ansicht über die Rolle des Peptons bei der
Komplementbindung mit Alttuberkulin als Anligen zeigten
folgende von uns seither angestellte Versuche.
Wir bereiteten uns ein Tuberkulin aus der Kultur
eines aus Sputum gezüchteten Tuberkelbazillenstammes, auf
Bouillon, welche n i c h t w i e die zur Erzeugung
des Koch sehen Alttuberkulins verwendete
Bouillon einen Zusatz von 1 % i g e m Pepton
enthielt. Sera, welche mit Koch schein Tuberkulin kom¬
plette Hemmungen zeigten, ergaben in den gleichen Dosen
verwendet keine Ablenkung mit diesem (auf das Zehntel
Volumen eingedickten) peptonarmen Präparat. Dieselben
Sera ergaben jedoch, wie nach unseren früheren Versuchen
zu erwarten war, mit einer auf ein Zehntel Vo¬
lumen eingedickten Bouillon, auf welcher
keine Tuberkelbazillen kultiviert wurden,
der jedoch 1 °/o 'Pepton Witte zugesetz t war, Hem¬
mungen, welche qualitativ gleich den mit Alttuberkulin er¬
zielten waren.
deutliche Stichreaktion bei Dosen von 0-01 mg und in zwo
Fällen nach 0 05 mg und bei Wiederholungen dieser Dosi
Fieberreaktionen bis über 38°.
Trotz der eindeutigen Ergebnisse diese
Versuche möchten wir die Möglichkeit de
Nachweises spezifischer Immunsubstanze
im S e r u m tuberkulöser Menschen und Tier
durch die K o mp 1 e men t bi nd u n gs metho de be
Verwendung hiezu geeigneter Tuberkulin
präparatealsAntigennichtinAbredestellen
Zu dieser Anschauung führen uns nicht nur weitere eigen
Versuche, bei denen wir auch mit peptonarmem Tuber
kulin Ablenkungen, wenn auch viel schwächeren Grades, al
mit Alttuberkulin, erhielten, sondern auch die in der Eite
ratur erwähnten und als spezifisch betrachteten Ablenkun
gen mit verschiedenen Tuberkulinen, welche auf eiweiß
armen oder eiweißfreien Nährflüssigkeiten dargestell
wurden.
So berichtet Beranek2) über den Nachweis eine:
komplementbindenden Sensibilisators im Serum eines tuber
kulösen mit Tuberkulin vorbehandelten Pferdes bei Ver
Wendung seines auf peptonarmen Nährböden gewonneneil
Tuberkulins als Antigen. Nach Jochmann und M ö 1 1 e r,3
sowie nach R u p p e 1 und R i c k m a n n 4) soll auch das au
Asparaginnährflüssigkeit dargestellte albumosefreie Tuber
kulin imstande sein, mit hochgradigen Immunseren voi
Tieren Komplement zu fixieren. Allerdings erwähnen diese
Autoren nichts über das Fehlen der Komplementbindungs
fähigkeil der Nährflüssigkeit als solcher und auch der Nach
weis, daß es sich bei diesen Reaktionen nicht doch un
Bindungen mit Bazillenei weißsubslanzen nichtspezifiscbejl
Natur handelt, steht noch aus. Auf die Resultate der Koni
plementbindungsversuche mit Bazillenemulsionen wollen wi:
vorläufig nicht näher eingehen. Unsere diesbezüglichen
Versuche ließen keine völlige Uebereinstimmung der mi
Tabelle I.
Peptonarmes Tuberkulin
Kochsches Alttuberkulin
Bouillon mit 1% Peptonzusatz
Diagnose
Prot.
des
Falles
Nr.
kleine
mittlere
große
deine
mittlere
große
kleine mittlere
große
Dosis
Dosis
Dosis
Tuberkul. III St., febril
59
—
—
' I
+
+++
+++
++ ! +++
+++
*
III » »
60
' -
—
—
++
+-H-
++ ++
111 » afebril
61
:
+ P
+++
+++
++ 1 +++
I — 1 — h
Tabelle
II.
Peptonarmes Tuberkulin,
Tuberkulin mit Peptonzusatz,
Nicht, eingedickte Bouillon | Nicht eingedickte
Bouillon
Diagnose
Prot.-
mein
eingeengt
nicht eingeengt
ohne Peptonzusatz mit 1 /0 Pepton sus atz
des 1 alles
Nr.
kleine [ mittlere
große
kleine
mittlere j
große
kleine
mittlere
große kleine
mittlere
große
Dosis
Dosis
Dosis
1
Dosis
Tuberkul. III
57
• I
Tuberkul. III
"T-T
—
—
- + +
++
++
febril
OO
—
_ 1 _
—
—
Ein gleichsinniges Resultat erhielten wir mit ent¬
sprechend höheren Dosen der nicht auf das Zehntel
ihres Volumens eingedickten filtrierten Kulturflüssigkeit
dieses Stammes (Tuberculin filtre) : Nur das auf der Nähr¬
flüssigkeit. mit Peptonzusatz gewonnene Tuberculin filtre
war imstande, Komplement zu fixieren, ebenso wie die
entsprechende Konzentration von peptonhaltiger Bouillon
ohne spezifische Komponente. Dabei konnten wir
uns überzeugen, daß unser peptonarmes Tuberku¬
lin bei kutanen Impfungen von tuberkulösen
Patienten Reaktionen von der gleichen Art
und Stärke erzeugte, wie das Koch sehe Alt¬
tuberkulin in der gleichen Dosierung bei denselben
Patienten. Subkutan injiziert gab es in mehreren Fällen
Tuberkulin einerseits und Bazillenemulsion anderseits, er¬
zielten Resultate erkennen.
ir stimmen hierin Citron5) bei im Gegensatz zu
Michaelis und E i s n e r,6) welche mit beiden Antigenen
vollkommen identische Resultate erhielten. Die letzteren
Autoren konnten auch ganz im Gegensatz zu unseren Be¬
funden und denen von H. Koch7) in keinem Fälle von
") ^it. ‘n tl. Sahli, ruberkulinbehandlung und Tuberkulose-
l mmumtät 1910.
3) Deutsche med. Wochenschr. 1910, Nr. 46.
4) Zeitschr. für Immunitätsforschung, Bd. 6, H. 2 u. 3,
5) Kongreß für innere Medizin. Wiesbaden 1910.
6) Zeitschr. für Immunitätsforschung 1910, Bd. 6.
7) Münchener med. Wochenschr. 1910.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
561
Tuberkulose, also auch nicht in den mit Tuberkulin vor¬
behandelten, mit Peptonbouillon auch nur eine And eu lung
von positiver Reaktion nachweisen und betrachten die posi¬
tive Reaktion mit Tuberkulin als streng spezifisch und ab¬
solut beweisend.
Auch Much und Hoessli8) fanden bei ihren späteren
Untersuchungen in keinem Falle von nicht spezifisch be¬
handelter Tuberkulose Ablenkung mit Bouillon- oder Pep¬
tonlösungen, Jedoch Ablenkungen geringen Grades mit den
beiden genannten Antigenen nach vorausgegangener Tuber¬
kulinbehandlung. Möglicherweise finden diese wider¬
sprechenden Resultate zum Teil in nur quantitativen Diffe¬
renzen ihre Erklärung.
Wir haben außer den oben zitierten Versuchen noch
dadurch den Beweis vom Vorhandensein einer nichtspezi¬
fischen Komponente bei der Komplementbindung tuberku¬
löser Seren mit Tuberkulin erbracht, daß wir gerade bei
Seren, welche mit Tuberkulin Hemmungen geben, auch Hem¬
mungen mit alkoholischen Herzextrakten fanden, allerdings
nur in geringem Grade und meist nur im Vergleich mit
Normalseren und bei hoher Extraktdosis erkennbar, wäh¬
rend anderseits auch Luetiker mit Tuberku¬
lin oft Komplementbindung zeigten.
Much und Hoessli werfen uns mit Unrecht vor,
daß wir wegen des pulmonal-negativen Befundes der mit
Tuberkulin positive Ablenkung ergebenden Luetiker bei den¬
selben das Vorhandensein von Immunstoffen gegen Tuber¬
kulose im Serum ausschließen.
Bei eingehenderem Studium unserer Arbeit hätten sie
sehen müssen, daß- wir in richtiger Erkenntnis der Un¬
möglichkeit den negativen physikalischen Befund zur Ent¬
scheidung über stattgehabte Infektion heranzuziehen, ü b e r-
h a u p t nicht von dem Fehlen o d e r V o r h a n d e n-
s e i n von Sympt o m e n von Tuberkulose bei den
zitierten Fällen von Lucs sprachen. Allerdings
nahmen wir nur an klinisch nichttuberkulösen, kräftigen,
rezentluetischen Patienten unsere serologischen Unter¬
suchungen vor. Daß. die bestehende Lues und nicht eine
bei den luetischen einmal etwa vorangegangene tuberku-
zeilig auch die Ursache für eine frisch akquirierte oder neu
zum Ausbruch kommende, klinisch nicht konstatierbare Tu¬
berkulose sei. Uebrigens wäre nach Unseren Resultaten die
Tuberkulinbindung auch dann untauglich zur Beweisführung
für das Vorhandensein spezifischer tuberkulöser Antikörper,
d a auc h d i e L u e t i k e r wie die Phthisiker bei
geeigneter Dosierung gleichsinnige Reak¬
tionen mit Peptonlösungen ohne Tuberkuli n
gaben. Wir möchten, also nochmals auf das Resultat un¬
serer Arbeit hinweisen, in der wir durch Vergleich tuber¬
kulöser und luetischer Seren miteinander feststellen konnten,
daß manche Tuberkulöse schwache Bindungen mit alkoho¬
lischem Herzextrakt gleichzeitig relativ starke mit Tuber¬
kulin und Pepton geben können, und daß anderseits luetische
Seren gleichfalls Reaktionen mit Tuberkulin, resp. Pepton
zeigen, die aber im Vergleiche zu den Ausfällen mit alkoho¬
lischem Herzextrakt von bedeutend geringerer Intensität sind.
Es schien uns nun weiterhin interessant, oh nicht
auch ein ähnliches Verhalten bezüglich der quantitativen
Differenzen der Affinitäten von Lepraseren zu Herzextrakt
und zu Pepton nachweisbar wäre. Bekanntlich hat ja
Meier9) zuerst darauf hingewiesen, daß Lepraseren die
Bindung mit Luesextrakt gaben, auch mit Tuberkulin positiv
reagierten.
Nach den bei Tuberkulose von uns festgestellten Ver¬
hältnissen schien es uns, wie wir schon in der zitierten
Arbeit betonten, durchaus nicht unwahrscheinlich, daß zur
Erklärung auch hier Peptonaffinitäten vor allem in Betracht
kämen.
Zu unseren diesbezüglichen Untersuchungen dienten
uns sechs Fälle von Lepra tuberosa und tuberoanaesthetica
aus der dermatologischen Abteilung des bosnischen Landes-
spitales in Sarajevo, für deren Ueberlassung wir Herrn
Hofrat G. Kahler bestens danken; daneben verwendeten
wir gesunde Kontrollseren und drei rezent luetische Seren.
Um möglichst starke Reaktionen zu erhalten, wurden die
Seren nur im aktiven Zustande mit aufsteigenden Mengen
von alkoholischem Herzextrakt und 1 %iger Peptonlösung
(in physiologischer Kochsalzlösung) untersucht.
Tabelle III.
Quantitativer Komplementbindungsversuch von Lepra- und Luesseren mit aufsteigenden Mengen von Herzextrakt und I eptonlösung als Antigen.
1
Diagnose
H,
P
P
P
H,
P
p
1
p
p
P
p
Kein
Antigen
Lepra I
» II
+ ++
+++
+++
4-4-4-
++1-
4 +
+++
+++
+++
+++
4-4 — h
—
+++
+++
4 — H4-
4-4-4-
+++
+
+++
+++
4-4-4-
4-4-4"
4~ 4- 4-
—
» III
++
+++
4-4-4-
+++
—
s
s
+
4-
++
—
» IV
+
+
+4-4-
+++
—
s
+
4 — h
++
+++
—
» v
+++
+++
+++
+++
+++
. —
s
4h
++
++
+++
—
» VI
s
+
+++
+++
- _
—
—
s
4-
4 — b
—
Lues secund. 1 4936
4 1 1~
++4-
+4 +
4 — b+
+++
_
—
s
s
s
+
s
» 14937
+++
+++
4-4-4-
+++
+++
—
—
—
—
14939
+++
+++
4-4-4-
+++
+++
—
—
—
—
—
Normalkontrolle
—
—
—
—
— :
—
_
_
Kein Serum \ Antigen-
» » j Kontrolle
—
—
—
-
—
—
~
—
—
—
H = Herzextrakt.
p — l°/nige Peptonlösung (Pepton Witte) in physiologischer Kochsalzlösung.
Die Zahlen neben H. und P. bedeuten die Anzahl der verwendeten Anligeneinheiten.
löse Infektion für die positive Bindung mit Tuberkulin aus¬
schlaggebend war, glauben wir wohl mit Sicherheit an den
gleichzeitig zur Kontrolle ausgeführten (und in den Proto¬
kollen verzeichneten) Untersuchungen an Gesunden (klinisch
nichtluetischen und nichttuberkulösen Individuen) bewiesen
zu haben, welche immer negativ ausfielen.
Man müßte denn zu der wohl gewagten Schlußfolge¬
rung gelangen, daß die frische luetische Infektion gleich-
- . . ✓
Wie die Tabelle zeigt, reagierten alle sechs Fälle von
Lepra in den höheren Antigendosen komplett positiv
mit Herzextrakt, die Mehrzahl positiv in den nie¬
drigeren Dosen. Von den Luesseren reagierten alle
auch mit der kleinsten Herzdosis komplett positiv. Mit
Pepton reagierten zwei Leprafälle komplett, zwei stark
positiv, zwei zeigten eine nur angedeutete Reaktion. (Von
den Luesfällen zeigte einer schwache Reaktion, die beiden
8) Beiträge zur Klinik der Tuberkulose 1910, Rd. 17.
') Berliner klin. Wochenschr. 1907, Nr. 51.
562
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
anderen reagierten negativ. Um die auch mit der kleinsten
Antigendosis mit Herzextrakt komplett positiv reagierenden
Leprafälle gegenüber den Luesfällen qualitativ zu verglei¬
chen, wiederholten wir den Versuch nach Inaktivierung der
Seren. Die Reaktion der Luetiker blieb komplett positiv
auch in der kleinsten verwendeten Herzextraktdosis, mit der
keines der Lepraseren positive Reaktion zeigte.
Wir können aus diesen Resultaten schließen, daß
— durchschnittlich — bei starker Affinität zu
Herzextrakt sowohl der Lues- als der Lepra¬
seren sich die letzteren durch die relativ
s t ä r kere P e p tonbind ung von den Luessere n
unterscheiden lassen. Es wäre denkbar, diese Tat¬
sache der Differentialdiagnose zwischen Lepra und Lues
nutzbar zu machen. Diese Affinität zu Pepton scheint uns
genügend die von Meier und anderen gefundenen posi¬
tiven Reaktionen mit Tuberkulin bei Lepra ähnlich wie bei
Tuberkulose zu erklären. Auch hier handelt es sich also
wohl nicht um spezifische Bindung zwischen Antikörper und
Antigen, sondern nur um eigentümliche Affinitätsverhältnisse
des Serums der genannten Krankheiten zu nicht spezifischen
Substanzen, deren Zusammenhang mit Immunkörpern der¬
zeit durchaus unbewiesen ist.
Wie hei Tuberkulose, wollen wir jedoch auch bei Lepra
durch diese Feststellung durchaus nicht die Möglichkeit aus¬
schließen, mit geeigneten Antigenen spezifische
Reaktionen zu erzielen.
Aus dem Odessaer Stadtkrankenhause.
Einige Fälle von Atoxylbehandlung der Tuber¬
kulose.*)
Von Dr. Bruno Knotlie.
Meine Beobachtungen über die Wirkung des Atoxyls
auf die Tuberkulose habe ich in den Jahren 1907 und 1908
angestellt. Das von mir erprobte Mittel ergab, wie man
weiter sehen wird, positive Resultate. Während aber die
erwähnten Beobachtungen sich dem Ende näherten, tauchten
in der Literatur immer häufiger Mitteilungen über die schäd¬
lichen, ja sogar äußerst gefährlichen Nebenerscheinungen
(Erblindung) bei der Wirkun ■ des Atoxyls auf. Infolgedessen
verloren meine Forschungen ihre Bedeutung, ich konnte
sie nicht fortsetzen und beeilte mich nicht, sie zu veröffent¬
lichen.
Heute jedoch, beim Erscheinen eines neuen, dem
Atoxyl verwandten Arsenpräparates — des Arsenobenzols
(Ehrlich - Hata ,,606“) — welches sich überhaupt bei
denjenigen Krankheiten, bei denen das Atoxyl angewendet
wurde, geeignet erwiesen hat — nur daß es in seiner Wir¬
kung unendlich stärker ist und gleichzeitig fast keine Neben¬
wirkungen hervorruft — gewinnt auch meine Arbeit über
das Atoxyl bei der I uberkulose wieder Bedeutung, als Per¬
spektive für die Behandlung dieser Krankheit durch ein
stärkeres Sterilisationsmittel für den Organismus, durch das
Arsenobenzol. Es ist dies um so wahrscheinlicher, als letz¬
teres Präparat eine sehr energische Gewichtszunahme her¬
vorruft und hat doch schon dieser Faktor allein einen so
wichtigen, erprobten Einfluß auf die Tuberkulose.
*
Das Arsen wird, wie bekannt, schon längst in ver¬
schiedener Form bei der Behandlung der Tuberkulose an¬
gewandt. Den Nutzen einer solchen Therapie schreibt man
der heilsamen Wirkung des Arsens auf' die Zusammensetzung
des Blutes und (die Ernährung des Organismus zu, nicht aber
der spezifischen Wirkung. Mir persönlich hat es jedoch
immer wahrscheinlich geschienen, daß Arsen auf die Tu¬
berkelbazillen im Innern des Organismus in gewissem
Sinne bakterizid wirkt. Da Arsen überhaupt ein Gift ist,
wirkt es zerstörend auf die Gewebe (Dekapillation der Haare’
Nekrotisation des Nerven in der Zahntechnik), andrerseits
jedoch wird es bei der Behandlung verschiedener Krank-
Q .... iJ-Uag, gehalten in der Odessaer medizinischen Gesellschaft am
9. Marz 1911. Kurz mitgeteilt in der Odessaer dermatologischen Gesellschaft.
Nr. 16
beiten infektiösen Ursprungs angewandt. So ersetzt es oft
mit großem Erfolge das spezifische Mittel gegen die Malaria,
das Chinin. Ferner wird Arsen — auf Anraten von CzernV-
Tranecek1) — nicht ohne Erfolg hei der Behandlung des
inoperablen Krebses angewandt.
Seit der Einführung in die Therapie des von Lands¬
berger3) erfundenen, neuen, stark arsenhaltigen (36-7 %)
Präparates, des Atoxyls (das amidophenylarsensaure Na¬
trium), welches sich nach den Tierversuchen von B lu¬
men t ha l3) als 40mal weniger giftig als gewöhnliche
Solutio Fowled erwiesen hat und daher die Einführung
von sehr großen Dosen Arsen in, den Organismus gestattet,
kann man sagen, daß die Anwendung dieses Mittels, in Ge
statt seines neuen Vertreters, schnell sein Gebiet erweitert
hat und sozusagen in eine neue! Phase getreten ist. Uebri-
gens wurde das Atoxyl anfangs eher alslRoborans angewandt
und zudem in kleinen Dosen — bei der Blutarmut (Zeißl,4)
Mendel5), verschiedenen Hautkrankheiten (Schild,6)
Zeißl,') Bringer8) und verschiedenen Neurosen (Men¬
del, Möller9). Die neue Phase, von der ich gesprochen
habe, begann mit den Arbeiten von Thomas W o 1 f e r s t o n,*°)
Ayres Kopke10) und besonders Koch,11) welche die spezi¬
fische Wirkung des Atoxyls in großen Dosen gegen die
Trypanosomen bei der Schlafkrankheit, der Menschen und
ähnlichen Erkrankungen der Tiere bewiesen.
Einen besonderen Ruf aber erlangte das Atoxyl als
neues spezifisches Mittel gegen die Syphilis von da an.
als Paul Salmon12) in Frankreich und Uhlenhuth, Hoff¬
mann und Roscher13) in Deutschland anfingen, das Prä¬
parat in großen Dosen einzuspritzen (0-4 bis 0-6 g). Und
auch heutzutage erkennen eine ganze Reihe von Autoren
(Hallopeau,14) Neislser, Lassar,15) Metschnikoff)
das Atoxyl als wirkliches drittes Spezifikum an.
Neisser16) hat das Atoxyl auch bei der der Syphilis
verwandten Krankheit — Frambösie — angewandt.
Babes und Vasiliu17) erprobten das Atoxyl in
Dosen von 1 0 g mit besonderem Erfolge in zwölf Fällen
von Pellagra, einer Krankheit, deren infektiöser Ursprung
in letzter Zeit immer wahrscheinlicher wird.
Glaub ermann,18) T seih er k as soff,19) die das
Atoxyl beim Typhus recurrens — im ganzen in 59 Fällen —
angewandt haben, ^ erlangten, im Gegensatz zu vier Fällen
von Drobinsky,-20) einen zweifellosen Erfolg.
J. Brault21) erzielte mit einer Atoxylkur in drei
Fällen von Lepra, einer Krankheit, die sich zufolge (der
Morphologie ihres Erregers (Leprastäbchen) und den patho¬
logisch-anatomischen Bildungen (Knötchen), noch mehr zu¬
folge der Komplementablenkungsreaktion in Verbindung mit,
Tuberkulin (Georg Meier), ein wenig der Tuberkulose
nähert.
Ausgehend von der oben ausgesprochenen Voraus¬
setzung, daß dem Arsen überhaupt und besonders bei der
Tuberkulose, eine gewisse bakterizide, antiseptische Wir¬
kung im Innern des Organismus eigen ist und daß Arsen
den höchsten Grad dieser Wirkung in der Form des Ato¬
xyls, das große Dosen gestattet, erreicht, versuchte ich das
Atoxyl bei der Behandlung der Tuberkulose zu gebrauchen,
nicht, im gewöhnlichen Sinne als stärkende Arsenkur, wie
auch dieses Präparat (Atoxyl) bei dieser Krankheit von
Rohden ") angewandt wurde (übrigens in Verbindung mit
seinen Ichthyolsalizylpillen), sondern behufs bakterizider
Einwirkung und deswegen in großen Dosen, wie bei (der
Syphilis.
Abseits von meinen Beobachtungen liegt auch die kom¬
binierte Behandlung der Tuberkulose mit. Atoxyl und Tuber¬
kulin, welche Mendel“3) im Jahre 1909 vorgeschlagen hat..
(Meine Beobachtungen wurden 1907 bis 1908 angestellt.)
Ich habe im ganzen 18 Fälle mit Atoxyl behandelt —
acht, stationäre und 10 ambulatorische. Die stationären, die
ich im Odessaer Stadtkrankenhause behandelte, waren weit
voi geschrittene Formen von Tuberkulose, einige von ihnen
sogar in extremis. Ich führe hier die Krankengeschichten
dieser acht Fälle an.
Nr 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
568
Fall I. A. T., 20 Jahre alt, verheiratet. Einige Monate
vor der Beobachtung fieberte sie eine Zeitlang.
Status (8. März 1908): Erscheinungen von Pneumonia
caseosa des Oberläppens der linken Lunge : intensive Dämpfung,
Bronchialatmen, klingendes Rasseln hinten bis zur Mitte der
Skapula, sowie in der unteren Lungenpartie. Unbestimmtes Atmen
unterhalb des rechten (Schulterblattes. Kachexie. Husten, Aus¬
wurf, Nachweis von Tuberkelbazillen und Staphylokokken. Tem¬
peratur 38-5 bis 40°. Puls 110 bis 120. Hautreaktion (Pirquet)
und Ophthalmoreaktion (Calmette) auf l°/oiges Tuberkulin
negativ.
Vom 27. März bis 21. April 1908 wurden neun 10°/oige
Atoxylinjektionen subkutan gemacht, in Gaben von 0-3 bis 0-4 g,
ungefähr alle drei Tage. Keine Nebenerscheinungen, kein Eiweiß
im Harn. Der Prozeß schreitet rapid fort und führt zu letalem
Ausgang bald nach Abschluß der Behandlung. Die Temperatur
jedoch, die Vor der Behandlung bis auf 40° gestiegen war, war fast
bis zur Norm abgefallen und die Temperaturkurve (Tabelle l)
zeigt, daß das Sinken der Temperatur ziemlich systematisch
immer am folgenden Tage nach der Atoxylinjektion eintrat.
Fall II. D. G., 42 Jahre alt, Mädchen. Blässe und Mager¬
keit machten sich .in den letzten Jahren bemerkbar. Größerer
Gewichtsverlust im Jahre 1907 (6-2 kg). Am Anfang des Jahres
1908 Husten, Temperaturerhöhung (bis 38°). Ophthalmoreaktion
schwach ausgedrückt, Hautreaktion (Pirquet) positiv.
Status (19. Februar 1908): Dämpfung und abgeschwächtes
Atmen rechts: vorne bis zur dritten Rippe, hinten bis zur
Mitte der Skapula. Daselbst etwas niedriger und vorne von der
lünften Rippe an pleuritisches Exsudat. Kein Rasseln zu hören.
Geringer Husten, wenig Auswurf, keine Tuberkelbazillen (fest-
gestellt zur Zeit des zweiten Kurses').. Puls 100 bis 120.
Vom 17. Februar bis zum 7. Juni 1908 wurden drei Kurse
von jo zehn bis zwölf Injektionen mit 10%igeim Atoxyl ge¬
macht; von ihnen der mittlere in großen Deusen (0-3 bis 0-5 g alle
Tage), die übrigen in kleinen Gaben (0-1 g alle zwei Tage).
Alle Erscheinungen — Husten, Auswurf, das Infiltrat des rechten
Oberlappens und das pleuritische Exsudat - - gingen immer mehr
zurück, wobei ihr Schwinden besonders rapid während des zweiten
Kurses (in großen Gaben) vor sich ging. Zeitweilig trat hin und
wieder subkrepitierendes Rasseln auf, hauptsächlich während der
Intervalle und verringerte sich oder schwand während der Kurse.
Beim Ausgange der Kur vollständige Resorption des Exsudates,
die Verdichtung des linken Oberläppens beschränkt sich auf
die Lungenspitze, der Husten hatte fast ganz nachgelassen, gar
kein Auswurf mehr. Besonders charakteristisch ist die^ tem¬
peraturkurve (Tabelle 2). Daselbst ist ersichtlich, daß die Steige¬
rung des Fiebers, die mit dem Anfang des ersten Kurses (kleine
Dosen) zusammengefallen war, sich gegen Abschluß desselben
verringert, um während des Intervalls wieder zu steigen ; ferner
steigt das Fieber, das sich während der ganzen Zeit des zweiten
Kurses energisch zurückgehalten hat, wieder gegen Ende des
zweiten Intervalls, sinkt dagegen wieder während des dritten
Kurses — obgleich in kleinen Dosen — und auch nach Abschluß
desselben. Endlich fiel die Temperatur der Kranken vollständig zu:
Norm ab, nachdem sie gegen acht Monate gefiebert hatte. Wäh¬
rend der Kur dauerte der Gewichtsverlust fort (bei den großen
Dosen jedoch unbedeutender), nach dein Fieberabfall aber trat
Gewichtszunahme ein. Im Laufe von vier bis fünf Monaten
schien die Patientin gesund zu sein und nahm 3-2 kg zu.
Dann aber zeigte sich ein hartnäckiges Infiltrat der linken Ma-
millardrüse, das eine nicht verheilende Fistel ergab. Die Kranke
fing wieder zu fiebern an und der Lungenprozeß schritt foit..
Es zeigten sich noch zwei große kalte Geschwüre in der Lenden¬
gegend. Diesmal1 wurde eine vorsichtige Behandlung mit Endotm
(„Tuberculinum purum“) Versucht — 20 Injektionen in zwei
Kursen - — jedoch erfolglos. Die Kranke starb 1 Jahr 4/2 Mo¬
nate nach Abschluß der Atoxylkur.
Fall III. U. W., 23jähriges Mädchen. Hartnäckige Nah¬
rungsverweigerung. In zwei Jahren hatte sie 19 I<g verloren.
Nicht selten Durchfall. Im Februar 1908: Gewicht 34-6 kg; Tem¬
peratur 38 bis 39°, weder Husten, noch Auswurf. Puls 120. Ver¬
dichtung, des linken Oberlappens, daselbst hinten mittelblasiges
Rasseln beim Ein- und Ausatmen, vorne über den beiden Schlüssel
beinen scharfes Atmen und die sogenannten Frottements rallies,
die auch in den anderen Luing en parti en hie und da Vorkommen.
Der linke Unterlappen ist emphysematisch (vikar.). Haut- und
Augenreaktion auf l°/oiges Alttuberkulin deutlich ausgesprochen.
Vom 17. Februar bis zum 21. April wurden zwei Atoxylkurse
vorgenommen: der erste in kleinen Dosen (12 Injektionen n0-l)
alle zwei Tage, der zweite (9 Injektionen ä 0-3 bis 0-5) alle diei
Tage. Die Kurve zeigt, daß die Temperatur, die gegen 39 be¬
tragen hatte, während dos ersten Kurses unter 38° sinkt (unge¬
achtet eines Gewichtsverlustes von 1-8 kg), dann wieder während
des Intervalle® bis auf 39° steigt (ungeachtet einer Gewichts¬
zunahme von 1-3 kg), um während des zweiten Kurses (in großen
Dosen) wieder energisch zu sinken. Dieser ergab eine Gewichts¬
zunahme von 1-8 kg, wobei die Patientin anfing, besser zu essen.
Die feuchten Rasselgeräusche verringerten sich an Zahl und In-
feensivität, die trockenen verschwanden. Das rauhe Atmen der
rechten Lungenspitze wurde vesikulär. Ueber der linken Brust¬
warze erschienen drei bis vier sehr dumpfe, mittelblasige Ge¬
räusche mit bronchialem Charakter des Exspiriums. Patientin!
verließ das Krankenhaus.
Fall IV. N. R., 28jähriges Mädchen. Krank seit einem
Jahre. Hereditäre Belastung.
15. Januar 1907 : Nachweis Koch scher Stäbchen im Spu¬
tum1. Auch im gegebenen Falle wurde die Atoxylkur unter ganz
denselben Bedingungen und sogar auf demselben Bette vorge¬
nommen, auf dem die Kranke schon seit acht Monaten gelegen
hatte. Der einzige Unterschied im1 Rejgime, u. zw. im ungünstigen
Sinne für das Atoxyl, bestand darin, daß die Periode bis zu dieser
Kur während des Sommers verflossen war, wo die Fenster zum
Garten offen standen ; die Atoxyl'behandlung aber wurde im
Herbste begonnen, noch bevor man an|gefangen hatte zu heizen,
als es in den Krankensälen plötzlich kalt und feucht wurde.
Status praesens: Beständig starker Husten, eine etwas
heisere Stimme, charakteristisch für die Laryngophthise. Reich¬
licher dicker Auswurf : einige zehn Schleimstückchen in 24 Stun¬
den. Während der ganzen Zeit der Beobachtung wurde eine
24stündige Berechnung der Hustenanfälle geführt und die Quan¬
tität des Auswurfes (die Anzahl der Schleimstückchen) festg es teilt.
Diese Beobachtung ist in der Hinsicht interessant, weil der Atoxyl¬
kur zweimonatige Injektionen mit Arsen in der gewöhnlichen
Form von Na.tr. Kakodyl. (je 0-05 g täglich) vorangegangen waren
wobei die Kranke, die in den vorhergehenden sieben Monaten
10-2 kg verloren hatte, 2-8 kg zunahm, w, ährend Husten und Aus¬
wurf sich nur auf ganz kurze Zeit verringerten und die Tem¬
peratur, wie die Kurve (Tabelle 3), die zlu Anfang, des zweiten Mo¬
nats der Kakodylatkur begonnen wurde, zeigt, subfebril blieb.
Befund arm 4. Oktober 1907: Verdichtung; der linken
Lunge: oben Schrumpfung auf 3U cm, vorne Dämpfung bis zur
dritten Rippe, hinten über den ganzen Lungenbezirk ; hie und
da (hauptsächlich mittelblasiges) feuchtes Rasseln. Unterhalb der
Mitte der Skapula eine große Kaverne mit sehr starker ampho¬
rischer Bronchophonie und unbedeutendelml Rasseln. In der rechten
Lunge unbedeutendes vikariierendesi Emphysem, aber auch mit
hin und wieder vorkommendem subkrepitierendem Rasseln.
Vom 4. Oktober 1907 bis zum 5. Februar 1908 wurden zwei
Kurse von je 16 und 20 subkutanen Injektionen in Zwischen¬
räumen von ein bis drei Tagen mit großen Dosen von Atoxyl
(0-4 bis 0-8) vorgenommen, mit einem Intervall von 23 Tagen
zwischen den Kursen; im ganzen wurden 18-6 g des Präparates
eingespritzt. Schon von den ersten Tagen der Kur au
fiel die rapide und plötzliche Verminderung' des Hustens und
der Auswurfsmienge auf, die fast während eines Jahres so reichlich
und beständig gewesen war. Während eines, jeden Kurses
gab es drei Tage nach der Reihe ganz ohne Auswurf, was
außerhalb der Kurse absolut nicht beobachtet worden war. Die
Untersuchung des Auswurfes — zehn Tage nach Abschluß des
ersten Kurses — ergab das Verschwinden der Tuberkelbazillen,
während sie anderthalb Monate nach dem zweitem Kurse einen
„unbedeutenden“ und nach 3 Ei Monaten einen „bedeutenden
Stäbchengehalt nachwies. Die Stimlme war schon während des
ersten Kurses klar geworden. Die objektiven Veränderungen in
den Lungen lassen nach, die Rasselgeräusche sind fast ver¬
schwunden, die Ausdehnung der Kaverne hat sich vermindert, der
bronchiale Charakter der Atmung in derselben ist verschwunden
und sie ist noch trockener geworden. Die Temperatur, die dein
Kakodylate nicht gewichen war, wurde gegen Ende des zweiten
Kurses ganz normal und beständig, blieb auch so während der
ganzen Dauer des Intervalls (Tabelle 4). Während des zweiten
Kurses machte sich bisweilen schon die Neigung zu Steige¬
rungen bemerkbar, die gegen Ausgang der Kur deutlich hervor¬
tritt. Gegen Ende des zweiten Kurses zeigten sich, augenschein¬
lich als Nebenwirkung des Atoxyls, Schwächezustände und gleich¬
sam Erscheinungen von Polyneuritis. Drei läge lang konnte die
Patientin sich nicht auf den Füßen halten, dann blieb eine ge¬
wisse Atrophie derselben zurück. Diese Zustände schwamden
übrigens ziemlich schnell. Während des ersten Kurses Gewichts¬
zunahme von 2-4 kg, in den 23 Tagen des Intervalls w 2 kg,
während des zweiten Kurses Verlust von 4-6 kg (die besagte Neben¬
wirkung und, wahrscheinlich im Zusammenhang damit, zeitweise
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
565
Schwankungen des erlangten Heilerfolges). Die Patientin blieb
noch ein Jahr in der Anstalt, die erreichte Besserung glich sich
aus und hielt bis fast ganz zuletzt an, besonders die objektiven
Erscheinungen und die Temperatur, die wieder ganz normal
geworden war.
Fall V. 0. W., 27 Jahre alt. Im Februar-März 1900 eine
langsam verlaufende Pneumonie. Die Kranke erholte sich wieder
und nahm in einem halben Jahre zu ihren 35-8 kg 94 kg zu.
Dann fing sie aber wieder an abzumagern und seit Januar 1908
zu fiebern und zu husten. Affektion der beiden überlappen,
Veränderungen der Perkussion, des Atmens, feuchtes Rasseln,
teilweise auch über anderen Partien zerstreut. Temperatur 38
bis 39°. Hautreaktion (Pirquet) positiv, im Sputum Tuberkel¬
bazillen.
Vom 17. Februar bis zum 21. April 1908 wurden zwei
Atoxylkurse vorgenommen: 12 Injektionen in kleinen Dosen (04)
und 10 in großen (0-3 bis 0-4). Hier hatte die Behandlung gar
keinen Erfolg. Die Krankheit nahm die galoppierende Form an.
Es bildeten sich eine Menge Kavernen (bestätigt durch die Sek¬
tion, die auch die Darmtuberkulose an den Tag brachte). Exitus
am 2. Mai 1908.
Fall VI. E. P., 29jähriges Mädchen. Der Fall ist mit dem
vorhergehenden analog (galoppierende Form). Seit Anfang 1908
rapide Abmagerung ; schon im März trat beständiges Fieber auf
(39° und mehr), bei verbreiteten Lungenherden, mit anfangs spär¬
lichem Rasseln, aber Bronchialatmen in einigen Partien. Puls
beschleunigt (bis 130). Auswurf sehr reichhaltig an Tuberkel¬
bazillen. Es wurden zwei Kurse durchgemacht: 11 und 7 In¬
jektionen in Dosen von 0-3 bis 0-5. Im Verlaufe des ersten
Kurses nahm die Kranke um 0-8 kg (= 39-2 kg) zu, während sie
vor der |Kur in 2x/2 Monaten 5-6 kg verloren hatte. Die Temperatur
sank während dieses Kurses rapid auf mehr als 1° und verblieb
sc fast bis zum Abschluß desselben. Leider erkältete sich die
Patientin und eine katarrhalische Pneumonie komplizierte den
Prozeß. Der zweite Kurs erwies sich als wirkungslos, ergab
aber dennoch ein unbedeutendes Abfallen der Temperatur. Am
28. Juni 1908 Exitus.
Fall VII. Sch. Sch., ungefähr 26 Jahre alt. Tuberculosis
Chirurg ica. Zeichnete sich in früheren Jahren durch guten
Ernährungszustand aus (66 kg), frische Gesichtsfarbe. Seit 1905
fing sie an abzumagern. Gegen Mitte 1908 erschienen in rapider
Folge und progressierten große Infiltrate im Bereiche des linken
und dann des rechten Fußgelenkes, in Gestalt von kalten Ab¬
szessen, mit oft blutenden Fisteln, die zeitweilig in warme über¬
gingen (besonders links, mit großer Eiteranhäufung — ohne K o c h-
scbe Bazillen - — die Inzision erforderten) ; ferner ein kalter
Abszeß am rechten Unterarm, der so verblieb ; eine Hautaffek¬
tion an der linken Hinterbacke, von der Größe eines Fünffranken-
stückes, in Gestalt eines Ulkus mit tiefer Höhlung, die eine
korrespondierende Oeffnung hatte; schließlich ein kleines kaltes
Geschwür an der Wange, das auch akut wurde und nach der
Entleerung nicht zuheilte. Die Patientin fieberte periodisch, Puls
bis 130. Lungen gesund. Vom 8. Oktober 1908 bis zum 12. Mai
1909 wurden vier Kurse vorgenommen : zu 5, 13, 4 und 11
Atoxylinjektionen alle zwei bis drei Tage, in mittleren Dosen
ä 0-3 bis 04, die letzte 0-25. Dabei die gebräuchliche örtliche
Behandlung. Einen bestimmten Einfluß auf das Fieber, das über¬
haupt unbeständig war, konnte in diesem Falle nicht festgestellt
werden. Das Geschwür an der Hinterbacke verheilte gegen Ab¬
schluß der Behandlung. Der Verlauf der Abszesse war in den
ersten Monaten günstig : sie bluteten seltener und zeigten Nei¬
gung zu Granulationsbildungen; in der Folge im Gegenteil: Ka¬
chexie, Febris continua. Exitus am 20. Juni i909.
Fall VIII. A. S., 39 Jahre alt, Mädchen. Vater an der
Schwindsucht gestorben, Mutter hustete einige Jahre. Appetit¬
losigkeit, allmähliche Reduktion des Ernährungszustandes : im
Jahre 1904 wog die Kranke 64 kg, am' 1. März 1908 43 kg,
Husten, Auswurf. Verdichtung beider Lungenspitzen, daselbst
(sowie auch unter den Achselhöhlen) scharfes Atmen, mit ge¬
dehntem Exspirium, in der linken dabei abgeschwächt, in der¬
selben unbestimmtes subkrepitierendes Rasseln, unterhalb der
Spina scapulae. Frottements railles. Unten in der linken Lunge
und längs der Axillarlinie ein Streifen von Dämpfung mit klin¬
gendem, mittel- und feinblasigem Rasseln. Im Auswurf Kochsche
Stäbchen. Unregelmäßiges Fieber (37° bis 39°). Vom 10. März Ins
zum 8. April 1908 wurden zwölf Atoxylinjektionen in kleinen
Dosen (04 ; zwei Injektionen ä 045) gegeben. Die Temperatur
fiel fast zur Norin ab; + 2-6 kg. Die Rasselgeräusche ver¬
schwanden fast gänzlich; nur das rauhe Atmen und Exspirium
in den Spitzen blieb. Die Kranke verblieb noch einige Monate
in der Anstalt und die erlangte Besserung hielt an.
Was die ambulatorischen Kranken anbelangt, so boten
sie selbstverständlich weniger stark ausgeprägte Tuberkulose
und bei ihnen machte sich die Wirkung des Atoxyls viel
häufiger bemerkbar, dafür aber gelang es mir leider nicht
immer, die Kurse zu wiederholen und den weiteren Effekt
zu verfolgen.
Als Beispiel führe ich hier einen dieser Fälle an, in
welchem drei Kurse gemacht wurden.
N. Bl1., 37 Jahre alt, unverheiratet. Aus tuberkulöser Fa¬
milie. Hustet seit Jahren. Auswurf, bisweilen leichtes Fieber
gefühl. Seit zwei Jahren an Heroin gewöhnt, ohne welches ihn
der Husten nicht schlafen läßt.
Status praesens im November 1907. Dämpfung beider
Lungenspitzen vorn und hinten mit abgeschwächtem Atmen und
vereinzelten, unbeständigen Rasselgeräuschen, die auch oberhalb
der rechten Brustwarze zu hören sind ; über den Schlüsselbeinen
scharfes Exspirium. Hinten unten in den Lungen von beiden
Seiten ein ziemlich dichter, drei Querfinger breiter Streifen von
Subkrepitation, welcher bis über die Axillarlinien reicht. Der
Auswurf wurde gegen die Mitte des ersten Kurses untersucht:
Keine Tuberkelbazillen. Temperatur normal. Vom 14. November
bis zum 30. Dezember 1907 wurden 17 subkutane Injektionen
mit 10®/oigem Atoxyl' in gesteigerten Dosen von 0-07 bis 0-6 g
gemacht (im ganzen wurden 6-6 des Präparates injiziert).
Pat. unterbrach seine zwölfjährige anspannende Kanzlei¬
arbeit eines Zollbeamten nicht und unterwarf sich überhaupt
keinem Regime. Die bis zum Atoxyl verordneten Mittel, teilweise
auch das gewohnte Heroin, wurden schnell aufgegeben. Es ist
wichtig, zu bemerken, daß das Gewicht des Kranken sich
eher verringerte, gegen Ende des Kurses aber unverändert
blieb (69-2 kg). Der Husten und Auswurf verringerten sich rapid,
die Rasselgeräusche waren nur noch rechts hinten unten übrig
geblieben und reichten schon nicht mehr bis über die Axillar¬
linie; in der Mitte der linken Skapula erschien undeutliches,
vereinzeltes Rasseln. Nach einem1 einmonatigen Intervall, wäh¬
rend dessen die energisch in Anwendung gebrachten Mittel (Thio-
kol', Mentholinhalationen, Glyzerophosphate) einen kaum1 merk¬
lichen Fortschritt in der Besserung hervorgebracht hatten, wurden
alle Mittel beiseite gelassen und vorn 2. Februar bis zum 7. März
1908 wurde ein zweiter Kurs der A to x y 1 be h a n d lung vorgenommen.
Zwölf Injektionen' ä 0-13 bis 0-55 (im’ ganzen 5-75 des Präpraates).
Dieselbe Lebensweise, derselbe Dienst. Das Gewicht blieb
auch dieses Mal unverändert. Von den ersten Tagen an
aber machte sich rapide Besserung bemerkbar: Das Kratzen im
Larynx wurde viel schwächer, der Husten ebenfalls. Das sub¬
jektive Befinden wurde auch „viel besser als zur Zeit des Inter¬
valles“. Nach Abschluß des zweiten Kurses war in den Lungen
nirgends ein Rasseln deutlich zu unterscheiden; ab¬
geschwächtes Atmen über den Schlüsselbeinen (Schrumpfung?).
Dann, nach neunmonatigem Intervall, während dessen die sub
jektive Besserung vollkommen andauerte, wurden wieder (6. Mai
1908) hie und da — hauptsächlich an den früheren Stellen
— äußerst spärliche Rasselgeräusche konstatiert. Es wurde der
dritte Kurs vorgenommen — neun Atoxylinjektionen a 0-3 bis
0-4. Diesmal' ergab das Gewicht -f- 1-2 kg. Am 22. Mai 1908
nirgends ein Rasseln. Ich treffe den Kranken bis jetzt (No¬
vember 1910). Eine Nachuntersuchung habe ich nicht anstellen
können, aber er behauptet, daß er sich fast ebenso gut fühle
und daß er nur in der letzten Zeit angefangen habe ein wenig
zu husten. .
Die von mir angeführten Beobachtungen sind natürlich
nicht genügend. Leider konnte ich sie nicht fortsetzen,
da die Literatur Mitteilungen brachte über die bisweilen
schädliche Wirkung des Atoxyls auf die Sehnerven. Den¬
noch, scheint mir, kann man ausl den von mir mitgeteilten
Tuberkulosefällen — fast alle im letzten Stadium — den
Schluß ziehen, daßi das Atoxyl bei besagter Krankheit eine
heilsame Wirkung ausübt, eine Wirkung, die in einzelnen
Fällen, wo sich die Möglichkeit eines Vergleiches bol, die
Behandlung mit gewöhnlichem Kakodylate, sowie auch mit
Tuberkulin übertraf und die sich nicht selten auch ohne
Einfluß auf die Ernährung des Organismus und bisweilen
auch bei Gewichtsverlust geltend machte. Ich bleibe daher
bei meiner Meinung, daß die positiven Behandlungsresultate
einer gewissen spezifischen bakteriziden Wirkung aut die
Tuberkelstäbchen im Organismus zuzuschreiben sind.
Wen ich mir dennoch erlaube, _ meine so wenig
zahlreichen Beobachtungen zu veröffentlichen, so geschieht
566
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 16
dies in Anbetracht des Erscheinens des Salvarsans, eines ge¬
nügend unschädlichen Präparates, das sich als anwendbar
erwiesen hat — und zudem mit viel größerem Erfolge —
bei allen denjenigen Krankheiten, bei denen auch das Atoxyl
gebraucht worden ist (Syphilis, Trypanosen, Frambösie,
Typhus recurrens, Malaria, Lepra). Bis jetzt haben Autoren,
die das Arsenobenzol bei der Syphilis angewandt haben,
uns mitgeteilt, daß die Tuberkulose keine Kontraindikation
zum Gebrauche dieses Mittels ist. Ich, meinerseits, erlaube
mir mitzuteilen, daß meine ersten Eindrücke über die Wir¬
kung von ,,606“ bei der Tuberkulose von der Zeit an,
seit das Präparat in den Handel gekommen ist, mich dazu
bewegen, diese Krankheit im Gegenteil als Indikation zur
Anwendung des Arsenobenzols zu halten. Ob auch hier die
Methode der Therapia sterilisans magna oder Therapia
fractionata zugrunde liegen soll oder die Behandlung mit
gesteigerten Dosen, wie ich es bei der Parasyphilis vorge¬
schlagen habe, das wird freilich die Zukunft lehren.
Literatur:
*) G z e r n i - T r a n e c e k, Wochenschr. für Ther. und Hyg. der
Aerzte 1901, S. 43. — 2) Landsberger, Atoxyl bei der Behandlung
von Trypanosomenkrankheiten. Ther. der Gegenw. 1907, Bd. 3.
3) Blumenthal, Med. Wochenschr. 1902, Nr. 15. — 4) Zeißl, Wiener
med. Presse 1907, Nr. 33. 5) Mendel, Therap. Monatsschr. 1903,
H. 4, S. 180. - 6) Schild, Dermat. Zeitschr., Bd. 10, H. 1; Berliner
klm. Wochenschr. 1902, Nr. 23. - ’) Zeißl, Wiener med. Wochenschr.
1903, Nr. 17. — 8) Bringer, Therap. Monatsschr. 1903, H. 8, S. 839. —
ö) Möller, Klin. therap. Wochenschr. 1904, Nr. 9. — 10) Thomas
\\ o 1 1 e r s t o n, Ayres K o p k e, Zitiert nach Landsberger. Ther. der
Gegenw. 190/, III. — ») Koch, Sonderbeilage zu Nr. 51 der Deutschen
med. Woche 1906. — 12) P. Salmon, Nouveau traitement de la syphilis
par Parsonic org. Gaz. mödic. de Paris 1907, Nr. 6. - 13) Uhlenhut,
Hoffmann und Roscher, Untersuchungen über die Wirkungen des
Atoxyls auf die Syphilis. Deutsche med. Wochenschr. 1907, Nr) 22. —
- I4) Hallopeau, Sur le trait, d. 1. svphl. par l’anilarsinate de soude
suiv. le procedö d. Mr. P. Salmon. Revue scientif. 1907, Nr. 24.
l5) Lassar, Atoxyl bei Syphilis. Berliner klin. Wochenschr. 1907,
Nr. 22. — 16) Ne iss er, Atoxyl bei Syphilis und Frambösie. Deutsche
med. Wochenschr. 1907, Nr. 38 — ,7) Babes und Vasiliu, Atoxvl-
behandlung der Pellagra. Berliner klin. Wochenschr. 1907, Nr. 28. --
‘’) Glaubermann, Klinische Beobachtungen über die Wirkung des
Atoxyls auf den Verlauf des Typhus recurrens. Prakt. Wratsch 1907, Nr. 35
(russisch). la) Tcherkassotf, Zur Frage des Atoxylgebrauchs bei
der Behandlung des Typhus recurrens. Prakt. Wratsch 1908, Nr. 47
(russisch). ~r."J) Urobinsky, Ueber die therap. Anwendung des
Atoxyls beim Typhus recurrens und Sumpffieber. Charkow, med. Zeitschr.
190/ (russisch). **) J. Brault (Alger), Quelques cas de lepre tuber-
culeuse traites par 1 atoxyle. — 22) Rohden, Memoranda medica 1903,
E "f) E- Mendel, Die kombinierte Behandlung der Tuberkulose
mit Atoxyl und Tuberkulin. Münchener med. Wochenschr. 1909.
Aus dem Institut für exper. Pathologie der deutschen
Universität in Prag.
(Vorstand: Prof. H. E. Hering).
Untersuchungen über die Giftwirkung von
Typhusexsudaten auf den Kreislauf.
Von I iiv.-Doz. tür innere Medizin Dr. Edmund Hoke (Prag-Franzensbad).
Die1 Einwirkung von Bakteriengiften auf die Zirku¬
lationsorgane isl mit verschiedenen Bakterien und von ver¬
schiedenen Autoren studiert worden. Romberg, Päßler,
Brüh ns und Müller1) arbeiteten mit Diphtheriebazillen,
Diplokokken und dem Pyozyaneus. Radczynski2) stu¬
dierte den Einfluß der Toxine der Streptokokken und des
Bacterium coli, Charrin und Gley3) beschäftigten sich
ebenfalls mil dem Bacillus pyocyaneus und Arloing4) stu¬
dierte den Einfluß von Staphylokokkenprodukten auf die
Vasodilatatoren. Rothberger5) machte dann die Gifte der
El I or -Vibrionen zum Inhalte seiner Studie. In der vorlie¬
genden Arbeit wurde nicht der Typhusbazillus selbst, son¬
dern von ihm in dem infizierten Tiere, nicht in vitro ge¬
bildete Stoffwechselprodukte, als Ausgangsmaterial ver¬
wendet. Anläßlich seiner Studien über die aggressive Eigen¬
schaft^ von Körperflüssigkeiten mit typhusinfizierten Tieren
land Bail ) eine hohe Giftigkeit von Typhusexsudaten, wäh¬
rend andere Exsudate, wie die unter dem Einfluß der Diplo¬
kokkeninfektion entstandenen, gar keine Giftigkeit aufweisen,
sondern einzig und allein eine aggressive Wirkung entfaltei
(Hoke7).
Diese giftigen Exsudate als Ausgangspunkt zu verwen
den und nicht den Bacillus typhi selbst, lag um so näher
als beim Menschen die Toxämie beim Typhus das Bild be
herrscht, während die im Blute zirkulierenden Bazillen sichei
erst in zweiter Reihe, wenn überhaupt, zur Erklärung de:
Erscheinungen am Zirkulationsapparat herangezogen werden
können. Noch ein weiterer Punkt war maßgebend. Briiwi
man einem Tiere eine größere Bazillenmenge direkt ins Blut
und zur Erzielung eines „akuten“ Versuches sind dazu
sehr große Bazillenmengen notwendig, so war immer der
Eimvand berechtigt, daß durch die gewaltige Ueberschwem
mung des Organismus rein mechanisch durch Embolie Er¬
scheinungen ausgelöst werden konnten, welche natürlich
nicht auf die Wirkung des Typhusbazillus als solchen be¬
zogen werden konnten.
V e rsuchsanor d n u n g.
Verwendet wurde ein Typhusstamm „H“, welche:
aus dem Harne eines Typhusbazillenträgers irisch gezüchtet
worden war. Derselbe wurde durch zwei Kaninchenpassagen
„tierisch gemacht in der Weise, daß das erste Kaninchen mit
zwei Bouillonkulturen intrapleural infiziert wurde, das Exsudat
dieses Tieres (ca. 10 Cm3) sofort auf ein zweites (intrapleural '
übertragen wurde und erst dieses von dem zweiten Kaninchen
stammende Exsudat zu dem Versuche verwendet wurde. Zur
weiteren Exsudatgewinnung wurde immer Exsudat von dem vori¬
gen Versuche im Eiskasten aufgehoben, so daß niemals „Kultur-
bazillen“ zur Infektion verwendet wurden. Nur in einem Ver¬
suche wurde dies getan und wie zu erwarten war, erwies sich
das so gewonnene Exsudat bedeutend weniger giftig. Immer
wurden die Exsudate auf ihre Reinheit durch Anlegung von
Agarkulturen geprüft, um Mischinfektionen auszuschließen.
Die Herstellung eines derartigen, zu den Kreislaufstudien
verwendeten Exsudates war folgende: Ein großes Kaninchen (es
wurden immer fiere über 2000 g zur Exsudatgewinnung ver¬
wendet) erhielt 1 cm3 Vollexsudat in die rechte Pleurahöhle.
Kam es vor, daß die Lunge verletzt wurde und daher eine
Mischinfektion von der Lunge her zu befürchten war, so wurde
das Tier nicht weiter verwendet. Dieses recht unliebsame Er¬
eignis zeigt sich dadurch, daß dem Tiere die injizierte Flüssig j
keit aus der Nase fließt. In meist 24 Stunden war das Tier
verendet. Zur Exsudatgewinnung wurde das Tier aufgetnageil.
die Haut abgezogen, die entblößten Thoraxpartien ausgiebig ab
gesengt, mit glühender Schere ein Fenster in die Thoraxwaud
geschnitten und das Exsudat mit steriler Pipette aus den Pleura¬
höhlen gewonnen. Auf eine genauere Beschreibung dieser Typhus
exsudate muß hier verzichtet werden. Gewöhnlich gelingt es,
von einem Tiere 10 bis 15 cm3 Exsudat zu gewinnen. Das Exsudat
wurde in einer sterilen Eprouvette mit einer rasch lautenden
Zentrifuge durch zwei Stunden zentrifugiert, um es von zelligen
Elementen und der Hauptmasse der darin enthaltenen Bazillen
zu befreien. Dann wurde es entweder sofort , zu gleichen Teilen
mit 0 • 9 °/o ige r Kochsalzlösung verdünnt und zu dem Versuche
verwendet, oder es wurden durch Zusatz von einigen Tropfen
Toluol und zweistündigem Schütteln (bei Luftabschluß) die im
Exsudat vorhandenen Bazillen getötet, das Toluol abdampfen
gelassen und dann das Exsudat wieder zu gleichen Teilen mit
OUGAger Kochsalzlösung verdünnt.
Zum Studium der Kreislaufwirkung dieser so gewonnenen
Exsudate wurden ausschließlich größere Kaninchen im Gewichte
von 1950 g bis 3020 g verwendet. Die Tiere wurden kurari-
siert, die rechte Vena jugu laris mit einer Bürette verbunden,
durch welche das Exsudat infundiert wurde. Die linke Karotis j
stand mit einem Quecksilbermanometer in Verbindung, welches
den Blutdruck auf dem Hering sehen Kymographion verzeichnete.
V urde die Ausführung der Aortenkompression beabsichtigt, so
wurde die Aorta am Bogen ohne Thoraxöffnung so weit frei¬
gelegt, daß man um sie einen Faden schlingen und sie mit
einer stärkeren Klemmpinzette bequem fassen konnte. Zum
Zwecke der Splanchnikusreizung wan'd e der linke Splanchnikus
unterhalb seines Durchtrittes durch das Zwerchfell freigelegt,
durchschnitten und das periphere Ende über ein durch Hartgummi
geschütztes Elektrodenpaar gelegt.
Im ganzen wurden acht Versuche angestellt.
Ergebnisse der intravenösen Exsudatinjektion.
Die Typhusexsudate erwiesen sich als für den Kaninehen¬
körper enorm giftig u. zw. kam es in einem Versuche zu einer
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
567
Drucksenkung so rapid, daß das Tier zugrunde ging, ehe
,lie beabsichtigte Analyse der Blutdrucksenkung ausgeführt werden
konnte. Das Krankheitsbild derartig vergifteter Tiere wurde von
Bail in der bereits erwähnten Mitteilung beschrieben, auf die
verwiesen werden muß. Es sei nur erwähnt, daß die von Bail
beobachteten Diarrhöen nur einmal konstatiert werden konnten,
offenbar deshalb, weil die Tiere zu rasch starben.
Als Beispiel einer solchen rapiden Drucksenkung sei ein
Versuch genauer angeführt.
7. Versuch. Typhusexsudat steril; zu gleichen Teilen mit
0-9°oiger Kochsalzlösung verdünnt. Kaninchen 1910; das I ier
,var kurarisiert, die Aorta zur Abklemmung freipräpariert. Beginn
,les Versuches 12 Uhr 16 Minuten mittags. Druck 100 mm Queck¬
silber, Puls 330. Die wenige Sekunden später ausgeführte Aorten-
kornpression steigert den Blutdruck auf 154 mm Quecksilber.
Um 12 Uhr 23 Minuten wird die künstliche Atmung durch 15 Se¬
kunden ausgesetzt, was eine Druck erhebung bis auf 161 nun
Quecksilber zur Folge hat. Wenige Sekunden nach 12 Uhr
27 Minuten wird mit der Infusion des Typhusexsudates begonnen
und zwar laufen in Intervallen von je sieben Sekunden je 1 cm
Flüssigkeit ein. Im ganzen wurden 5 cm3 infundiert. Schon wenige
Sekunden nach Sistierung der Infusion sinkt der Druck auf
60 mm Quecksilber ab und ehe noch der Effekt der Aorten¬
kompression und 'des Aussetzens der künstlichen Ventilation
auf den Blutdruck geprüft werden konnte, geht das Tier zugrunde.
Im Herzen fand sich Gerinnung.
Analyse der B 1 u t d r u c k s e n k u n g .
Die immer beobachtete Drucksenkung konnte durch .'ver¬
schiedene Möglichkeiten bedingt sein. Das Gift konnte primär
das Herz schädigen, was namentlich bei der gewählten Einfuhr
des Giftes, der intravenösen, wohl möglich war, es konnte feiner
die Gefäße als primären Angriffspunkt haben und endlich konnten
beide Möglichkeiten gleichzeitig auftreten. Dann war noch zu
entscheiden, ob der Angriffspunkt des Giftes ein zentraler oder
ein peripherer war. . ,r ,
Zur Entscheidung dieser Fragen wurden folgende Versuche
Die Aortenkompression, die dyspnoische Blutdrucks teigenmg
durch Aussetzen der künstlichen Atmung, die reflektorische Er¬
regbarkeit, der Gefäße durch faradische Reizung der Nasenschleim¬
haut, die Splanchnikusreizung und endlich der Erfolg einer intra¬
venösen Adrenalininjektion auf den abgesunkenen Druck.
I. A o r t en ko mp re s s i on und Reizung der Nasen¬
schleimhaut.
2 Versuch. Typhusexsudat nicht sterilisiert, wieder zu
gleichen Teilen mit 0-9°/oiger Kochsaislösung verdünnt. Kaninchen
3020 g Aorta freigelegt ; in die Nase des Tieres wird ein Messing¬
knopfelektrodenpaar eingeführt. Blutdruck im Beginne des Ver¬
suches 92 mm Quecksilber Pulsfrequenz 300. Nun wurde die
Nasenschleimhaut des Tieres faradisch gereizt. Bei 10 cm Dollen¬
abstand und durch drei Sekunden fortgesetzter Reizung erhellt
sich der Blutdruck auf 98 mm, bei 8 cm Rollenabstand auf 146 mm.
Um 11 Uhr 45 Minuten wurde mit der Infusion begonnen, so
zwar, daß um- 11 Uhr 48 Minuten 5 cm3 eingelaufen waren. Nun
wurde die Infusion sistiert; der Blutdruck war m diesem Momente
104 mm, war also höher als vor der Infusion. Pulsfrequenz o, .
Der Druck sinkt nun langsam1 ab, um 11 Uhr 52 Minuten betrug
er nur mehr 54 mm. Die jetzt durch fünf Sekunden ausgefuhrto
Aortenkompression steigert den Blutdruck bis aut % nun, wahrem
die Reizung der Nasenschleimhaut bei 8 cm Rollenabstand und
zehn Sekunden langer Reizung schon versagt. Um 12 Uhr Mi¬
nuten mißt der Druck 54 mm, die Aortenkompression steigert
ihn auf 86 min. Um 12 Uhr 32 Minuten versagt die Reizung
der Nasenschleimbaut auch bei Null R.ollenabstand, wahrend
die Aortenkompression den Blutdruck von 42 mm noch auf 84 mm
erhebt. Ja selbst bei einem Druck von nur mehr 14 mm Queck¬
silber erhebt er sich nach einer neuerlichen Kompression noch
auf 64 mm Quecksilber.
Aus dem1 oben angeführten Versuche geht wohl unzweifel¬
haft hervor, daß die Hauptursache der Blutdrucksenkung nicht
in einer Schädigung des Herzens gesucht werden, kann, da dieses
sich noch bis zum letzten Moment als sehr reaktionsfähig ei¬
wies. Das Versagen der Trigeminusreizung wies dagegen auf eine
Aenderung des Gefäßapparates als Ursache der Blutdrucksenkung
hin. Diese konnte nun peripherer oder zentraler Natur sein Uii
.lies zu entscheiden, wurde der Einfluß einer peripheren Splanch-
nikusreizung studiert und gleichzeitig -die Beeinflussung des Blut¬
druckes durch das Aussetzen der künstlichen Atmung und durch
eine intravenöse Adrenalininjektion beobachtet.
II A us setzen der künstlichen Atmung, Splanchnikus¬
reizung und Adrenalininjektion.
6. Versuch. Typhusexsudat, steril, der linke Nervus
splanchnicus zur Reizung frei präpariert. Kaninchen 2500 g.
Blutdruck im Beginne des Versuches 78 mm Quecksilber;
Pulsfrequenz 360. Das Aussetzen der künstlichen Atmung durch
20 Sekunden führt zu einer Drucksteigerung bis auf 100 mm Die
fünf Sekunden ausgeführte Reizung des Nervus splanchnicus bei
14 cm Rollenabstand zu einer Drucksteigerung von 90 inni Queck¬
silber. Um- 6 Uhr 36 Min. wurde mit der Infusion des Typhus¬
exsudates begonnen u. zw. wurde in je fünf .Sekunden 1 cm3
infundiert. Nach der Infusion von 5 cm3 wurde die Infusion vor¬
läufig abgebrochen. Um 6 Uhr 40 Min. erhält das Tier neuerlich
1-5 cm3 Exsudat. Wenige Sekunden später wurde wieder bei
14 cm Rollenabstand der Splanchnikus durch fünf Sekunden ge¬
reizt. D-er Druck erhebt sich von vorher 64 mm Quecksilber auf
80 min. Um 6 Uhr 44 Min. wird die künstliche Atmung aus-
gesetzt, worauf der Druck auf 90 mm ansteigt. Um 6 Uhr 51 Min.
beträgt der Blutdruck nur mehr 50 mm Quecksilber, Puls 330.
Ungefähr 30 Sekunden später wird abermals 1 cm3 Exsudat in¬
fundiert. Die 15 Sekunden später vor, genommene Splanchnikus¬
reizung bei 14 cm Rollen abstand und 5 Sekunden langer^ Reiz¬
dauer führt noch zu einer Erhebung des Blutdruckes von 36 mm
auf 64 mm Quecksilber. Das Aussetzen der künstlichen Respira¬
tion durch 20 Sekunden steigert den Druck von 36 mm auf
54 nim. Um 7 Uhr gelingt es nicht mehr, durch das Aus¬
setzen der künstlichen Respiration den Blutdruck jn die Höhe
zu bringen, während die Splanchnikusreizung bei 5 cm Rollen¬
abstand (Reizdauer 5 Sekunden) den Blutdruck immer noch von
30 auf 36 mm erhebt. Um 7 Uhr 5 Min. erhält das lier 2-5 cm
einer 1:10.000 Adrenalinlösung, worauf sich der Blutdruck noch
bis auf 50 mm Quecksilber erhebt.
Aus dem eben beschriebenen Versuche geht hervor,
daß unter dem Einflüsse des Typhusgiftes die Splanchnikus¬
reizung und das Aussetzen der künstlichen Atmung ziemlich
gleichzeitig .versagen, etwas früher versagt der Einfluß der
Erstickung, während die Splanchnikusreizung, allerdings erst
bei viel stärkerer Reizung und in viel geringerem Grade
den Blutdruck noch beeinflußt. Die Adrenalinwirkung zeigt,
daß die Gefäße selbst in ultimis noch reaktionsfähig waren.
Schlußfolgerungen. 1
Die Versuche drängen zu der Annahme, daß im akuten
Versuch, denn nur dieser wurde untersucht, die Blutdruck¬
senkung durch zweierlei Ursachen bedingt ist. Erstens
durch eine zentrale Komponente, wie das Erlöschen der
reflektorischen Erregbarkeit des Blutdruckes durch die Tri¬
geminusreizung zeigt und wie sie sich ferner in dem all¬
mählichen Versagen derlWirkung der -dyspnoischen Blutdruck¬
steigerung kundgibt. Daß- die Gefäße noch in ultimis durch
das hauptsächlich peripher angreifende Adrenalin erregt
werden konnten, ist ein Grund mehr, die zentrale Wirkung
des Typhusgiftes in die erste Reihe zu stellen. Daß es bei
einer so schweren und rasch verlaufenden Vergiftung, wie
sie in den Versuchen gewählt wurde, schließlich auch zu
einem Versagen der peripheren Organe, id est den Gefäßen,
kommen muß, wie es die immer geringer werdende bteige-
rung des Blutdruckes durch die periphere Splanchnikus¬
reizung anzeigt, erscheint begreiflich. In praktischer
Hinsicht kommen bei außerordentlich akutem Verlauf des
Typhus abdominalis nach den hier gemachten Ausführun¬
gen die zentral wirkenden Analeptika in allererster Reihe
in Betracht und dann -das Adrenalin, welches in dem Stadium
der eintretenden Blutdrucksenkung den drohenden Kollaps
vielleicht noch aufhalten kann.
Literatur:
i) Romberg, Päßler, Brüh ns und M ü Ile r, Experimentelle
Untersuchungen über die allgemeine Pathologie der Kreislaufstörungen
bei Infektionskrankheiten. Deutsches Archiv für klinische Medizin, Bd. tre
— 2) Rade zyn ski, Ueber den Einfluß der Toxine von Streptococcus
pyogenes und des Bacillus coli commune auf den Kreislauf. Ebenda,
— 3) Charrin und G 1 e y, Recherches experimentales sur 1 action
des produits sdcrttds par le bacille pyocyanique. Archiv de Physiologie
1890 u. 1891. — *) Arloing, De l’influence des produits de culture
de staphylococce dort sur le Systeme nerveux vasodilatateui etc. Lomp .
rendus, Bd. 113. - ’) R ot h b e r g e r, Ueber die Wirkung des Giftes
568
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 16
M * f f«r wer. Pathologie und Therapie 1907,
StWh^hr. ÄÄ'Äf*, SS!7
SOZIALE MEDIZIN.
Die Schwierigkeiten bei der Verwertung der
Krankenkassenstatistik.
Von Priv.-Doz. Dr. Ludwig Teleky.
Krankheits-und Sterblichkeitsverhältnisse in der Orts-
kraokenkasse für Leipzig und Umgebung. - Unter¬
suchungen mber. den Einfluß von Geschlecht, Alter und
Beruf.*)
Krankheits^nn??! Erlangung einer beruflichen
V ankneits- und Sterblichkeatsstatistik setzten in Deutschland —
vSichelnVlio^n'™^ ~ 1)!f Mch Schaffung der Kranken-
Versicherung ein. Die Schwierigkeiten, eine solche zu erlangen
sind in Deutschland größer als sie in Oesterreich wären, weifbei
uns sämtliche Krankenkassen zur Führung einer Statistik nach
einheitlichen vom Ministerium des Innern herausgegebenen For
iSind> Während in ß-tsddand8 eine derartige
erpflichtung nicht besteht. Nach verschiedenen erfolglosen Er¬
hebungen bei anderen Krankenkassen zeigte es sich, daß die Lefn-
führt hSr?RnkaSSe lbre Aufschreibungen in solcher Art gl-
KraukJ^
Mi“- 3ä50()0 **
der Leip/igor Ortskrankenkasse wurde nun in
t ve/Xitefnnd r11 1“' statlstisth-^hnerisch gründlichsten
Alt verarbeitet und liegt nun in vier stattlichen Bänden vor von
denen der zweite bis vierte Band Tabellen, der erste Bmrd den
enthält1' emn Ta^el]e'n^erk> Ergänzungen und Erläuterungen
enthalt. Ueberall ist die Trennung nach Geschlecht nach ver
Und f^willigen Mitgliedern, innerhalb dieser
ui uppen die Trennung nach Altersklassen durchgeführt
l,r.;t«iXaCdASt Trd die Verteilung von Krankheitsfällen, Krank-
lcitstagen, Aussteuerungs- und Todesfällen, Unfällen Betriebs
Unfällen und einzelnen Krankheitsarten auf alle diese Gruppen
1 ar gestellt. Dann werden die männlichen v'ersic'herungspflichfiaen
Mitglieder in einzelne Berufsgruppen, innerhalb dieser in Alters
gruppen , geteilt und die Verteilung von Krankheitsfällen Krank-
eits tagen, Aussteuerungs- und Todesfällen, Unfällen und Betriehs-
*ode telteU;d S1chheßhd11 auch die der Krankheitsfälle, -läge und
heitsf ormen U auf ® ^^nze nen Krankheitsgruppen und einige Krank-
llacswCg gctoacht 8C”annten Bem'S- U"d
, .Im dritten Bande erfolgt die Darstellung aller dieser Ver¬
hältnisse nach Berufsarten, wobei in den Berufsarten mit stärkster
S ^,35-000 rerSOnen) die Verhältnisse mU deSt
■irten hinat I a»* T X Xng. in die einzelrr«n Krankheits-
ten hinab dargelegt werden, wie oben für die Gesamtheit der
■M lonC iaiiUI>gSpf lChtlgeni Mitgliöd'er angegeben. Die übrigen Berai's-
arden gelangen je nach der Zahl ihrer Mitglieder insoweit zu
weniger detaillierter Darstellung, als einzelne Krankheitsarten zu
liUteT f XT engefaßt werde'n und die Altersteilung nicht bis
auf Jahi fünfte- herab vorgenommen wird.
Dann werden noch die freiwilligen Mitglieder bestimmter
seeks- emw Beira<:htimg „,ld «.1,1«» «e
,r, rT V^,eite Eaud enthält die Tabellen über die weiblichen
Mitglieder deren Abfassung der über die männlichen entspricht ■
den Abschluß bilden Tabellen fiber die WochenbeUen P '
Eine Anzahl von detaillierten Einzeldarstellungen und Er¬
gänzungen zu dem I ab eilen werk enthält der erste Band
fv ri ■ enthalten in reichem Maße Verhältniszahlen
K ankhedsfalle -tage usw.. auf 1000 Personen berechnet) die
Berechnung weiterer Verhältniszahlen wird durch Hinzufügun-
von weiteren Daten ünd Rechnungsbehelfen erleichtert.
st . das Werk die umfassendste und detaillierteste
ss rrfÄk,TensiaMk :du- ein wahreä «°™-
aHasas «au»
, r - ß ^ * 6 l. aber auch Material, das ohneweiters als
verläßliche und richtige Darstellung der Berufs¬
morbid itat und -m o rtalität angesehen werden kann-?
Bei Feststellung der Grundzahlen ging die Bearbeitung nicht
von der Zahl der Mitglieder an einem bestimmten Tage, sondern
von der Zahl der Tage, für die das Erkrankungsrisiko durcli
Versicherung gedeckt war, aus. Ueber 468,000.000 RisikoüJ
umfaßt die Statistik, das entspricht 1,284.576 Personen, die cm
■fahr lang unter Beobachtung standen. Das ist rechnerisch zweifel-
los richtig, aber wo es sich um Erkrankungshäufigkeit oder Mor¬
talität handelt sind nicht alle Tage gleichwertig Jn
den Monaten Januar, Februar ist z. B. - nach Ausweisen des
Wiene! Verbandes der Genossenschaftskrankenkassen — die Mor
talitat die höchste, m einem1 der Monate August bis Oktoben
stets die niedrigste des ganzen Jahres, obwohl der Stand der Mil¬
glieder nur unbedeutende Differenzen zeigt.
Durchschnittlicher Krankenstand per' Woche (bei dem Ver
band der Genossenschaftskrankenkas'sen in Wien):
1905
1909
I. Quartal
7899
6401
II. „
5580
6326
III. „
4945
4807
iv. „
4928
4813
Daraus folgt, daß sich gegen die rechnerische Ermittlunc
inneS\JfhueS gewlSsf Bedenken ergeben, daß ceteris paribus
4 G T VOn denen jeder während des ersten Quartals be
schaf ügt ist, eine andere Erkrankungshäufigkeit zeigen müssen
als WO von denen jeder alle Vier Quartale beschäftigt ist. Solche
Jaüre aber, die sich vorwiegend aus bestimmten Monaten zu-
sammensetzen, müssen bei allen Saisonarbeitern Vorkommen.
der X Tfibli?en freiwilligen Mitglieder stellt
dei Beucht folgendes fest: Da schwangere Versicherungspflichtige
Xt 'er Jer?lcbeningspflichtigen Beschäftigung austreten, mit Blick -
slcht aut die Wochnennnemmterstützung als freiwillige Mitglieder
aber m der Kasse bleiben, hat das rechnerische Beobachtung*-
n rte. A ifeflmr ' da i Waäend der Beobachtungszeit eines Jahres
wp-Kl i,A rSf dor 20' bls 24jährigen auf 1000 freiwillige
99ul F Ti ■ Mi tg iedei aUS der Gruppe der Metallverarbeitung
2-44 Entbindungen kommen. Ebenso müßte es — wie wir hinzu-
UWP- ™öcbten “7 ceteris paribus hei nur im Winter Be¬
schäftigten z. B Arbeiterinnen der Modewarenerzeugung, zu einer
lechnenschen Häufung von Krankheiten überhaupt, speziell von
Erkältungskrankheiten, kommen.
Trotzdem sich in dem Werke kein Anhaltspunkt zur Kor¬
rekter dieser Verhältnisse oder zur Abschätzung ihrer Bedeutung
findet, wurden wir deren Bedeutung nicht allzu hoch anschlagen
~T sie Xei! weit zurück hinter andere Umstände (wir haben ja
ob«, stets betont ceteris paribus"), über die noch späterVe
sprechen werden soll. , 1 g
Ehe wir darauf eingehen, sei noch auf ein en weit schlim¬
meren Fehler des Materials hingewiesen, der sich
frei Berechnung der Mortalität geltend macht.
c der Krankenkassenstatistik werden nur jene Todesfälle
wirr ii d’eTV? Xi Kasse' entschädigt werden müssen. Sterbegeld
, X X 0desfa, C1'1PS Mitgliedes gewährt und dann, „wenn
nach Beendigung der Krankenunterstützung“ (z. B. Aussteuerung)
„die Erwerbsunfähigkeit bis zum Tode fortgedauert hat und der
Jod infolge derselben Krankheit vor Ablauf eines Jahres nach
des KV G j dei Krank enu nterstützung eingetreten ist“. (§ 20
l Xu Tr durcb den Wegfall der übrigen Todesfälle die
Bteiblichkeit m der vorliegenden Statistik beeinträchtigt wird,1)
r- ht i ar;u!s bervor> daß die Mortalität der versicherungspflich-
tigen Mitgheder einer Berufsgruppe, die in Morbidität und Mor-
a fiZU,den ungünstigsten gehört, der „Freiluftarbeiter“, das
n i oo smannei, Eisarbeiter, Jvanalarbeiter, Schleusenmänner
i 1 andere mehr noch beträchtlich günstiger erscheint (l6-03°/oo).
j S i '! au , Tl und der Baten der Gothaer Lebensv’ersichei'ungs-
bank berechnete Mortalität der Aerzte (23-0°/0o).
nflirU t"1 ^inV'!,SCbn'*! des Kapitels über die „Versicherungs-
pilichtigen Mitglieder nach Berufsarten“, wird auf Grund dieses
S3 aUf dl! Mrgdhafbgkpit der Krankenkassenstatistik hin-
g l sen, gesagt, daß (außer den oben erwähnten) nur weiter
oiwLeU1 rwer (;d der1 erbefälle unter den freiwilligen Mit
i jf 'II Cr a. 1WGrde UP' geschlossen: „Krankenkassensterblic'h-
keitsziflern sind daher für Lehensversicherungszwecke unbrauch-
- ' ■ ' : ! I _ TT^) rM
KontrrpR iS KailPs Annahme (Referat auf denUUI. internationalen
de, ToL?ilile enfgeh'eT en) **•" 60 b“ 7W"
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
569
bar. Sie haben nur einen gewissen Wert für vergleichende
Betrachtung zur Kennzeichnung der in den verschiedenen ßerufs-
arten der Krankenkasse, vornehmlich bei den Berufs trägem
herrschenden Gesundheitsverhältnisse.“
In früheren Abschnitten des Textbandes aber sind die Mor¬
talitätsziffern zu Berechnungen benützt worden, zu denen sie
nach dem gesagten keineswegs geeignet erscheinen : so vor allem
(einschließlich der freiwillig versicherten) zu einem Vergleich
der Sterblichkeit in der Ortskrankenkasse Leipzig mit der all¬
gemeinen deutschen Sterblichkeit und zu einer Berechnung der
Letalität mit Teilung nach Altersklassen.
Der erstgenannte Vergleich muß schon nach der
oben zitierten Aeußerung selbst als unstatthaft er¬
scheinen; die Berechnung der Letalität nach Alters¬
klassen und ihr Vergleich untereinander könnte nur
dann durchgeführt werden, wenn man annehmen
könnte, daß der Fehler in allen Altersklassen der¬
selbe. Welche Unterschiede in der Erfassung der Todesfälle in
den verschiedenen Altersklassen sich ergeben, zeigen aber aufs
deutlichste die Daten der Invalidenversicherungsstatistik.
In den Jahren 1891 bis 1899 wurden (Amtliche Nachrichten
des Reichsversicherungsamtes 1901, Bd. 1, Beiheft) .zuerkannt
an Rentenempfänger
im Alter von 20 — 34
Jahren
12.699
Renten
25—34
>»
34.617
>)
35—44
>>
46.904
>>
45—54
>>
87.285
n
55—64
>>
165.851
> i
65—69
> J
95.820
) j
Absolut und in noch
höherem
Grade relativ
zur Zahl
Versicherten der gleichen Altersstufe — denn diese zeigt ihren
Höhepunkt im dritten Dezennium, von da ab aber ein sehr
rasches Sinken — nimmt die Zahl der Invalidenrentner mit dem
Alter zu, das heißt, die Zahl jener, die infolge eines chronischen
Leidens arbeitsunfähig im Sinne des Invaliditätsversicheruugs-
gesetzes sind und die — nachdem sie die Kasse längere Zeit
in Anspruch genommen zum Teil von ihr ausgesteuert wurden
— aus den Mitgliederlisten der Krankenkassen verschwinden.
Uebrigens können wir auch aus der Kassenstatistik die Zunahme
der Zahl der Aussteuerungen in den höheren Altersklassen fest-
steilen.
Auf 100.000 ein Jahr lang beobachtete versicherungspflich¬
tige männliche Personen entfielen Aussteuerungsfälle:
Alter
18 wöchige
26 u. 34 wöchige
Zusammen
15-24
213
134
347
25—34
380
192
572
35—44
604
391
995
45—54
945
552
1497
55 — 64
1335
1107
2442
65—74
1437
2667
4104
Bei einem Teile der Todesfälle der Ausgesteuerten, bei
denen, die unter bestimmten Bedingungen innerhalb eines Jahres
nach der Aussteuerung sterben, hat die Krankenkasse Sterbegeld
zu zahlen und werden nur diese Fälle von der Krankenkassen¬
statistik erfaßt.
Die Bearbeiter des Textbandes nun meinen, daß manche
der so bei Betrachtung der versicherungspflichtigen Mitglieder
der Erfassung entgehenden Todesfälle sich unter den Todesfällen
der freiwilligen Mitglieder verzeichnet finden. Aber abgesehen
davon, daß dies nur ein kleiner Teil sein kann, entgehen auch
von den freiwilligen Mitgliedern (und ebenso von sämtlichen Mit¬
gliedern) in höherem Alter mehr der Erfassung.
Von 100.000 Mitgliedern (Versicherungspflichtige und Frei¬
willige) kamen zur Aussteuerung :
Alter lßwöchige 26 u. 34wöchige
15—34 303 181
35—54 746 547
55—74 1321 1687
Dazu kommt nun noch, daß die Wahrscheinlichkeit aus dem
Invalidenrentengenuß im Laufe des ersten Jahres auszuscheiden
in den jüngeren Altersklassen viel größer ist als in den höheren.
Nach Beiheft I 1906 zu den erwähnten Amtlichen Nachrichten
ist diese Wahrscheinlichkeit im1 Alter von 20 bis 24 Jahren
0-5120 und sinkt kontinuierlich mit dem Alter, im Alter von
60 bis 64 Jahren ist sie 0-1320.
Da, im ersten Jahre Ausscheiden durch Wiedererlangung der
Erwerbsfähigkeit numerisch kaum in Betracht kommt, zeigen uns
diese Zahlen, daß in höheren Jahren nicht nur die Zahl der
infolge Krankheit als dauernd Erwerbsunfähigen aus der Kranken¬
versicherung entschwindenden ungemein zunimmt, sondern auch
die Wahrscheinlichkeit, daß diese noch innerhalb des ersten
Jahres sterben — und also von der Kassenstatistik erfaßt werden
erheblich abnimmt. In den höheren Altersklassen werden
also mehr Todesfälle (absolut und relativ zur Zahl der Ver¬
sicherten) der Erfassung entgehen als in den jüngeren. Da also
mit zunehmendem Alter eine immer wachsende Zahl von Todes¬
fällen der Erfassung durch die Statistik entgeht, so ist der Fehler
in den verschiedenen Jahrzehnten sowohl bei der Krankheitsfall- als
auch bei der Krankheitstageletalität ein verschiedener und würden
so auch die entsprechenden Kurven einen anderen Verlauf nehmen.
Durch die Fehler aber, die diesen beiden Letalitäts¬
berechnungen anhaften, muß auch die Morbiditäts¬
tafel für das Deutsche Reich, die mit Zuhilfenahme dieser
Zahlen und der allgemein deutschen Sterbetafel aufgestellt wird,
beeinflußt werden.
Daß die Berechnung der Letalität der einzelnen Krankheits¬
formen und der Vergleich dieser untereinander, auf schwere Be¬
denken stoßen muß, braucht ja nicht erst erörtert zU werden :
es ist ja klar, daß bei den akuten Krankheiten sämtliche Todes¬
fälle erfaßt werden, bei den chronischen aber nur ein Bruchteil
derselben.
Wird durch die erwähnten Fehler des Materiales die Ver¬
gleichbarkeit der Mortalität verschiedener Altersklassen beein¬
flußt, so müssen wir uns nun die Frage vorlegen, welchen Wert
für eine vergleichende Betrachtung der Berufsarten diesen Mor¬
talitätsstatistiken der Krankenkasse (uncf der Krankenkassen¬
statistik überhaupt) zukommt.
W i r w ollen diese Fragezusammen mit der Frage
nach dem Werte der Morbiditätsstatistik für solche
vergleichende Betrachtungen erörtern.
Bei der Statistik werden nur die Erkrankungen mit Berufs¬
unfähigkeit, die Tage des Krankengeldbezuges, berücksichtigt.
Derjenige, der die Krankenversicherung nur aus der Theorie
kennt, wird meinen, daß die Krankmeldung nur dann erfolge,
die ärztliche Bestätigung, daß das Mitglied arbeitsunfähig ist,
n u r d ann, aber in a ITen jenen Fällen ausgestellt werde, in denen
auf Grund von durch objektive Zeichen festgestellter Erkrankung
die Unmöglichkeit besteht, den Beruf auszuüben ; wäre dies so,
dann würde die Krankenkassenstatistik ein eindeutiges sicheres
Bild der Gesundheitsverhältnisse geben : und von dieser theo¬
retischen Anschauung gehen leider viele Medizinalstatistiker —
und auch die Bearbeiter des Textbandes unseres Werkes —
aus und vernachlässigen viele jener Momente, auf die wir im
folgenden hinweisen werden.
Nun aber handelt es sich bei der Krankmeldung nicht um
Feststellung der Frage, ob die Ausübung des Berufes — in der
Krankenversicherung handelt es sich im allgemeinen um die
Berufs- und nicht um die Arbeitsunfähigkeit — unmöglich
ist, sondern darum, ob der Betreffende einerseits ohne über
das normale Maß hinaus gehen de Gefährdung seiner Ge¬
sundheit seinen Beruf ausüben kann, anderseits, ob die Un¬
lustgefühle, die er infolge seines körperlichen Zustandes zu
überwinden hat, so starke sind, oder durch die Arbeit so ge¬
steigert werden, daß ihm die Ueberwindung derselben billiger¬
weise nicht zugemutet werden kann.
Schon aus dieser Fassung ersieht man, daß die Krank¬
meldung in nicht geringem Umfange von den subjektiven Angaben
des Patienten abhängig ist und dies um so mehr, als im all¬
gemeinen die objektiven Untersuchungsmethoden nicht so feine
sind, daß wir die subjektiven Angaben genau kontrollieren
könnten.
Vor allem aber - niemand kann krank gemeldet werden,
der nicht selbst die Krankmeldung wünscht — niemand in Kran¬
kenstand behalten werden gegen seinen Willen. Voraussetzung
der Krankmeldung ist ja, daß der Kranke den Arzt aufsucht,
Voraussetzung des Verbleibens im Krankenstände, daß er sich
der Berufsarbeit enthält. Nun haben aber sehr viele ein chro¬
nisches Leiden (z. B. Tuberkulose) in einem mittleren Stadium,
sehr viele kleine Beschwerden, die ihnen die Möglichkeit, Krank¬
meldung zu erlangen, ja sogar das Recht auf dieselbe geben: eine
Möglichkeit aber und ein Recht, von dem sie keinen Gebrauch
machen, wenn sie davon eine schwere materielle Schädigung
erwarten, von dem sie aber sofort umfassenden Gebrauch machen,
wenn es für sie materiell von Vorteil. Schwertuberkulöse, Leute
mit fieberhafter Angina, mit akuter Bronchitis arbeiten weiter,
suchen den Arzt nicht auf, oder — wenn sie ihn aufgesucht
verweigern sie die Einstellung der Arbeit, solange sie lohnende
Beschäftigung haben ; tritt aber t. B. Arbeitsmangel ein, dann
verlangen alle diese und eine ganze Schar Leichtkranker die
Krankmeldung.
570
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Da so die Krankmeldung in weitem Umfange von dem
subjektiven Krankheitsgefühl und von dem Wunsche des Ver¬
sicherten abhängig ist, gewinnen äußere Momente, die den
W unsch im Krankenstand zu sein im Versicherten verstärken,
erwecken oder unterdrücken, großen Einfluß auf das Zu¬
standekommen der Krankmeldung und damit auch
uul die Statistik der Krankheitsfälle. Dieselben Mo¬
mente wirken aber nicht nur auf die Krankmeldung, sondern
auch — zum Teil in verstärktem Maße — auf das Verbleiben im
Krankenstand, auf die Dauer desselben, auf die Statistik der
Krankheitstage.
Diese äußeren Momente, die im wesentlichen ihre Wirkung
aus dem Einfluß schöpfen, den Krankwerden und
Kranksein — immer im Sinne des Krankenversicherungs¬
gesetzes — auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der
Kasse nmitgl'ieder a u s ii b e n, werden aber in verschiedenen
Berufen und zu verschiedenen Zeiten sich in ganz verschiedener
Weise geltend machen.
Bei der Krankmeldung tritt an Stelle des Arbeitsverdienstes
die Krankenunterstützung. Die Höhe des letzteren (absolute
Höhe des Krankengeldes), vor allem aber das Verhältnis zwischen
Arbeitsverdienst und Krankenunterstützung (relative Höhe des¬
selben) wird von ausschlaggebender Bedeutung für die wirtschaft¬
lichen Folgen der Krankmeldung sein.
Die Höhe des Krankengeldes steht in einem bestimmten, bei
der Leipziger Ortskrankenkasse stets annähernd gleichen Verhält¬
nis (50%) zum Arbeitslöhne; das Statut sieht zehn Lohnklassen
vor, wovon die zwei niedrigsten für Kinder bestimmt sind.
Die Erkrankungshäufigkeit nach Lohnklassen hätte viel¬
leicht auch manchen interessanten Einblick gewährt, lag aber
leider außerhalb des Rahmens der Erhebungen.
Eine Angabe aber, wie sich die verschiedenen Angehörigen
eines bestimmten Berufes auf die verschiedenen Lohnklassen
verteilen, wäre wünschenswert, weil sie doch einen gewissen
Anhaltspunkt dafür geben würde, wie weit zur Erklärung der
von der Statistik gegebenen Daten berufliche, wieweit rein soziale
Momente heranzuziehen sind.
Die ab so lute Höhe des Krankengeldes wird in den höchsten
Klassen (15 M. wöchentlich) vielleicht von einem gewissen,
die Krankmeldung fördernden Einfluß sein ; vor allem wird sie —
und zwar hemmend — auf die Krankmeldung in jenen Lohn¬
klassen einwirken, wo mit Aufgabe der Beschäftigung und Ange¬
wiesensein auf die Krankenunterstützung, die Einnahmen unter
das Existenzminimum sinken: Das ist in den untersten Lohn¬
klassen für weibliche Arbeiter mit einem wöchentlichen Kranken¬
geld von 4-5 und 6 Mi der Fäll.
Mehr aber als die absolute, ist die relative Höhe des
Krankengeldes von Einfluß. Diese ist nur scheinbar bei allen
Mitgliedern dieselbe. Daß die freiwilligen, nicht versicbe-
i ungspflichtigen Mitglieder häufig durch die Krankmeldung
Krankengeld gewinnen, ohne aber dadurch Arbeitsverdienst —
entweder überhaupt oder in entsprechendem Maße — einzubüßen,
daß ein Teil gerade der freiwilligen männlichen Mitglieder eine
Doppelversicherung eingegangen, sei hier nur nebenbei erwähnt
und dabei darauf hingewiesen, daß die große Morbidität der frei¬
willigen Mitglieder auch diesen Umständen und nicht nur der im
Fextwerke immer betonten Auslese der Ungünstigen zuzu¬
schreiben ist.
Aber auch bei den versicherungspflichtigen Mit¬
gliedern sind die ihnen während und durch die Krankheit zu¬
fließenden Einnahmen keineswegs auf das Krankengeld der Orts¬
krankenkasse beschränkt. Bei jenen, die gut organisierten
Gewerkschaften mit weitgehendem Unterstützungs¬
wesen angehören, kommt zu dem Krankengeld die Kranken¬
unterstützung der Gewerkschaft und dadurch ist der materielle
Verlust bei Krankmeldung ein geringerer. In Berufen, wo fast
sämtliche Berufsangehörige der Gewerkschaft angehören (Schrift¬
setzer), oder avo ein sehr großer Teil der Gewerkschaft angehört
(polygraphische Gewerbe) muß dieser Umstand auf die Häufig¬
keit, der Krankmeldung, weit mehr aber noch — wie wir sehen
werden - auf die Dauer der Erkrankung von Einfluß sein; es ist
ja nur natürlich (und hat mit Simulation gar nichts zu tun) :
Jb geringer die Einbuße an Einkommen ist, die durch die Krank¬
meldung verursacht wird, um so geringerer Unlustgefühle bedarf
cs, um die Krankmeldung zu verlangen, um so weniger wird —
Avenn einmal die Krankmeldung erfolgt ist — der Wunsch, mög¬
lichst, bald zur Arbeit zurückzukehren, sich geltend machen.
Stehen noch der Krankmeldung gewisse Bedenken gegenüber:
Rücksichtnahme auf die Stellung im Betriebe und auf Mitarbeiter,
auf die Unterbrechung der gewohnten Tätigkeit, so besteht dann'
Nr. 16
wenn einmal die Krankmeldung erfolgt ist, nur mehr der Wunsch,
ja nicht zu früh und möglichst vollständig hergestellt wieder zur
Arbeit zurückzukehren.
Das Krankengeld Avird aber auch dann relativ hoch
sein, Avenn der Arbeitsverdienst sinkt — bei Saison¬
arbeiten gegen Ende der Saison — oder wenn er ganz auf¬
hört, bei Arbeitslosigkeit; in solchen Zeiten strömt alles zum
Kassenarzt, sucht Krankmeldung zu erreichen und — Avenn diese
erreicht den Termin der Gesundmeldung möglichst Aveit hinaus¬
zuschieben, möglichst lange „krank“ zu bleiben.
Es werden also : Berufe mit gutem Unterstützungswesen,
Berufe mit Saisonarbeit, Berufe, in denen ein Wechsel des Ar¬
beitsplatzes häufig stattfindet — ceteris paribus — eine größere
Zahl der Krankheitsfälle und eine größere Zahl der Krankheits¬
tage ausAveisen müssen; wobei die gute Organisation des Unter-
stützungsAvesens unter Umständen noch stärker die Zahl' der
Krankheitstage, als die Zahl der Krankheitsfälle vermehrt.
Anderseits aber wirkt wieder die Ständigkeit des Arbeits¬
platzes, die Seltenheit und größere Schwierigkeit des Arbeits¬
wechsels, die Furcht, durch Krankmeldung den Arbeitsplatz zu
verlieren, in manchen Berufen der Häufigkeit der Krankmeldung
entgegen (Bureau person al) .
Alle diese Dinge sind jedem, der mit Kassenpraxis zu tun
hat, so bekannt und so selbstverständlich, daß sie für ihn kaum
erwähnt, noch weniger mit Zahlen belegt zu werden brauchen.
Für den theoretischen Medizinalstatistiker aber hoffe ich, ihren
Einfluß auch aus den Daten der Statistik selbst nachweisen zu
können.
Der Textband erwähnt neben dem Einfluß des Berufes zur Er¬
klärung der Differenzen noch den der sozialen Lage und den der Aus¬
lese; der Einfluß aller der eben genannten äußeren Momente findet sich
nur einmal erwähnt u zw. wird gegen Schluß des Bandes bei den frei¬
willigen Mitgliedern auf die Wirkung der Saisonarbeit, resp. der durch
dieselbe bedingten beschäftigungslosen Zeit hingewiesen, eine solche
Wirkung aber geleugnet mit Hinweis darauf, daß diese Berufe auch bei
den Pflicht mitgliedern hohe Morbidität zeigen, also auch erhöhtes »Krank¬
sein während der Beschäftigungszeit«. Pflichtmitglieder ist aber nicht
identisch mit Beschäftigten und noch Aveniger mit Vollbeschäftigten: Mit
Vollbeschäftigten nicht, weil gegen das Ende der Saison zunächst Arbeits¬
stunden und Arbeitstage in Wegfall kommen — mit Beschäftigten nicht,
weil ja nach aufhören der Beschäftigung noch eine längere Zeit — im
Falle dor Erwerbslosigkeit durch drei Wochen (nach § 28 Krankenver¬
sicherungsgesetz), in Leipzig 22 Tage, im Falle Uebergang zu einer nicht¬
versicherungspflichtigen Beschäftigung sieben Tage (§ 27 Krankenver¬
sicherungsgesetz) das Erkrankungsiisiko durch die Versicherung »gedeckt«
wird.
Der Einfluß der erwähnten wirtschaftlichen Momente wird
sich in allen Berufen geltend machen, in dem einen mehr, in
dem anderen weniger. In einzelnen Berufen werden diese
Momente von ganz ausschlaggebender Bedeutung
sein, in den anderen das Bild nur in geringem Maße
beeinflussen; immer aber wird die Morbiditäts¬
statistik d e r Krankenkassen beeinflußt werden: Nicht
nur von der Auslese für den Beruf, von der Wirkung der Berufs¬
tätigkeit und der mit dem Beruf zusammenhängenden sozialen
Lage auf die Gesundheit, sondern auch von den eben er-
Avähnten äußeren Momenten.
Als weiteres, die Statistik beeinflussendes Moment, kommt
noch die Verschiedenheit der Anforderungen hinzu, die der Beruf an
die Körperkräfte stellt: In einem Stadium der Tuberkulose, in dem
Schmiedearbeit nicht mehr verrichtet werden kann, ist Schreib¬
arbeit gut möglich. Bei gleichem Verlaufe des Rrankheitspro-
zesses wird der Bureauangestellte viel später arbeitsunfähig werden
als der Schmied ; dieser wird Aveit mehr Krankheitstage aufweisen
als jener. Die Schwere der Arbeit beeinflußt so die Statistik
weit mehr als die Gesundheitsverhältnisse.
Dieser Umstand aber - — ebenso Avie alle oben erwähnten
Momente wirtschaftlicher Natur, beeinflussen nicht nur Krank¬
meldung und Dauer der Krankheit — sie beeinflussen durch
diese auch die Zahl der von der Statistik erfaßten
T odes fälle. In einem je späteren Krankheitsstadium der Kranke
sich krank meldet - um so größer die Wahrscheinlichkeit, daß
sein Tod noch in die Zahlungspflicht der Krankenkasse fällt; je
früher er sich krank meldet, um so Avahrscheinlicher, daß bei
seinem Tode die Verpflichtungen der Krankenkasse schon er¬
loschen sind.
Daß der Zeitpunkt der Krankmeldung in verschiedenen Be¬
rufen infolge äußerer Umstände ein verschiedener ist, Avurde
dargelegt, damit muß auch der Prozentsatz der der Kasse ent¬
gangenen Todesfälle ein verschiedener sein. Verstärkt wird diese
Differenz noch dadurch, daß nach dem Kassenstatut Unterstüt-
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
571
Zungsansprüche in verschiedener Länge vorgesehen sind. Daß
im Jahre 1896 die Unterstützungszeit allgemein von 26 auf 31
Wochen verlängert wurde, ist für unsere Betrachtung kaum von
Bedeutung: wichtig hingegen ist, daß bis 1. Januar 1904 (also
für die ganze Beobachtungszeit, mit Ausnahme eines geringen
Bestes) für vier Gruppen eine nur 13wöchige Unterstützungsfrist
bestand: Für die, deren ununterbrochene Mitgliedschaft weniger
als sechs Wochen betrug; für die, die während der oben er¬
wähnten, durch die Versicherung gedeckten erwerbslosen /eit
von 22 Tagen erkrankten; für die infolge eines Betriebsunfalls
\rbeitsunfähigen, schließlich, für die, die, nachdem Aussteue¬
rung nach 26 oder 34 Wochen eingetreten war, innerhalb sechs
Monaten an derselben Krankheit abermals erkrankten. Daß die
Fälle der ersten drei Gruppen in verschiedenen Berufen eine ganz
verschiedene Bedeutung haben müssen — die ersten zwei in
Berufen mit stärkerem Arbeitswechsel, die dritte in Berufen mit
erhöhter Unfallhäufigkeit relativ zahlreicher sein müssen, ist ja
klar und ebenso, daß dadurch die Zahl der nicht erfaßten Todes¬
fälle in verschiedenem Maße beeinflußt, bei Berufen mit starkem
Arbeitswechsel und großer Unfallsgefahr, vermehrt werden muß.
Daß auch die verschiedene Altersbesetzung der Berufe auf das
Erfassen, respektive Nichterfassen von Todesfällen von Einfluß
sein muß, ergibt sich nach dem oben bei Besprechung der Letalität
nach Altersstufen Gesagten von selbst.
*
Wir wollen nun nach diesen allgemeinen Ausführungen
uns den speziellen Fällen zuwenden, die im Textteil (erster Band)
des Werkes ausführlicher behandelt werden.
Bei einem Vergleich der Morbiditäts- und Mortalmitsvei-
hältnisse der sechs größten Berufsarten (S. 156) zeigen die IIills-
arbeiter im Maurergewerbe die meisten Krankheitsfälle und -Lage,
dabei die geringste Zahl der Todesfälle, das Bureau- und Kontoi-
personal die gerade entgegengesetzten Verhältnisse (weitaus ge¬
ringste Zahl der Krankheitsfälle und -tage, höchste Zahl der Todes¬
fälle): Auf 1000 männliche versicherungspflichtige Personen nn
Alter von 25 bis 34 Jahren kommen:
Kranhheitsfälle Krankentage Todesfälle
bei Maurerhilfsarbeitern 645
Bureau- u. Kontorpersonal 195
11.691 387
4.702 6'88
Das vorliegende Werk sucht diese Gegensätze durch Aus¬
lese (schwächliche zu den Bureauarbeiten), hohe Arbeitsanstren¬
gung (welche die Gesundheit schädigt bei Mauiern) sow u
durch folgende Ausführungen zu erklären: „Die Mehr¬
behandlung und ausgedehntere Behandlung bei den Mau um
hilfsarbeitern ist ein Grund, daß weniger Mitglieder starben,
anderseits aber liegt in den ersparten Todesfällen, da du
troffenen Personen, wenn sie auch nicht gestorben sind, nun
doch nicht gleich völlig gesund geworden sein werden, ein
Grand dafür, daß mehr Krankheitsfälle und Erkrankungen zur Er¬
scheinung kommen).,“ So schmeichelhaft der erste feil uieses
Erklärungsversuches für uns Aerzte ist — so können wir weder
in ihm, noch in den anderen angeführten Momenten eine Erklärung
für die eigenartigen Zahlen finden — abgesehen davon, da .>
ja doch eine Erklärung dafür gegeben werden müßte, warum die
intellektuell so hoch stehenden Bureauarbeiter wenig und nicht
rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, wobei nebenbei
bemerkt sei, daß Behandlung mit Krankmeldung nicht identische
Begriffe sind. . ,
Wir bedürfen keiner so gezwungenen Erklärung, sie ist
nach dem oben Gesagten einfach.
Maurerhilfsarbeiter: Saisonarbeit, häufiger Wechsel des Ar¬
beitsplatzes, große Ansprüche an körperliche Leistungsfähigkeit,
daher zahlreiche Krankmeldungen und zahlreiche Krankentage,
frühzeitige Krankmeldung. Ferner: Zahlreiche Fälle mit nur
13wöchiger Unterstützungsdauer. Aus allen diesen Gründen Ent-
gang relativ vieler Todesfälle.
Bureau- und Kontorpersonal : seh r ständige Arbeiter, leichio
körperliche Arbeit, daher späte Krankmeldung, daher wenig Krank¬
heitsfälle und -tage aber Erfassen relativ zahlreicher Lodestalle.
Als statistischen Beleg dafür, wie gegensätzlich diese Le-
rufe in den von uns erwähnten Punkten sind, wollen wir nei
die Daten über die „gedeckten“ Tage — deren Zahl uns einen
Rückschluß auf die Häufigkeit des Arbeitswechsels und btellen-
losigkeit gestaltet — sowie die über die Aussteuerung folgen
lcissen
Auf 100 Risikotage fallen bei männlichen Versicherungs-
Pflichtigen in der Altersklasse von 25 bis 34 Jahren:
Beitragstage
85 '5
gedeckte Tage
nach § 27 nach § 28
8-3
96'5
93'8
3'0
0T
Krankheitstage
32
0'7
21
35
13
20
männliche V ersicher urigs-
bis1 34 Jahren fielen:
26— 34 wöchige
1000
1'23
3'80
Aussteuerungsfälle
1’59
126
192
Todesfälle
3'87
6'88
5‘32
Maurerhilfsarbeiter
Bureau- u. Kontor¬
personal
sämtliche Versiche¬
rungspflichtige
Auf 1000 ein Jahr beobachtete
pflichtige in der Altersklasse von 25
13 wöchige
Aussteuerungsfälle
Maurerhilfsarbeiter
Bureau- u. Kontor¬
personal
sämtliche Versiche¬
rungspflichtige
Wir glauben, daß gerade diese beiden Berufsgruppen als
Schulbeispiel dafür gelten können, daß bei einem Berufe, in dem
alle auf die Krankenstatistik einwirkenden äußeren Um¬
stände (nebst den aus den Ansprüchen an körperliche Leistun¬
gen sich ergebenden) mit vollster Kraft und in dem¬
selben Sinne zur Wirkung kommen, diese Momente
alle anderen, vor allem den uns ja allein interessie¬
renden Einfluß der Berufstätigkeit auf die Gesund¬
heit, so sehr an Gewicht übertreffen, daß beim Ver¬
gleiche mit der Gesamtheit der Berufe, vor allem
aber beim Vergleiche mit einem anderen Berufe, bei
dem alle diese Momente in entgegengesetztem Sinne
wirken, nur der Einfluß dieser Momente in Erschei¬
nung tritt.
Natürlich können wir nicht erwarten, daß bei allen Be¬
rufen und beim Vergleiche der verschiedenen Berufe immer vor
allem und in erster Linie diese äußeren Momente zur Geltung kom¬
men; die Wirkung selbst der einzelnen äußeren Momente kann
einander durchkreuzen, die günstigen oder ungünstigen Berufs¬
einflüsse, die Ausleseverhältnisse — all diese Kräfte wirken ja
zusammen zum Entstehen den der Resultierenden, die uns die
Zahlen der Krankenkassen zeigen. Immer aber werden am
Entstehen derselben auch jene äußeren Einflüsse
mit wirken, immer werden wir uns deshalb bemühen müssen,
ihr Gewicht wenigstens abzuschätzen und dann das
aus den Zahlen erhaltene Bild entsprechend zu korrigieren.
Um so notwendiger wird dies sein, je mehr die in Betracht
gezogenen Berufe voneinander oder von dem Durchschnitt in
bezug auf die oben erwähnten äußeren Verhältnisse abweichen.
Wir werden deshalb auch bei dem Vergleiche zwischen den
polygraphischen Gewerben einerseits, Gärtnerei, Land- und Forst¬
wirtschaft andrerseits, mit dem sich der Textband ausführlich
beschäftigt, mit größter Vorsicht Vorgehen und nicht ohneweiters
die Daten der Kassenstatistik einander gegenüberstellen und die
Differenzen .ausschließlich auf Einfluß der Berufstätigkeit, der
Lebenshaltung und der Auslese zurückführen dürfen.
Zunächst sei wieder auf dieselben Daten wie oben hin¬
gewiesen. Es fallen in der Altersklasse von 25 bis 34 Jahien
bei den männlichen Versicherungspflichtigen :
Auf 100 Risikotage Auf 1000 Personen
Polygraphische
Gewerbe
Gärtnerei etc.
sämtliche Ver¬
sicherungs¬
pflichtige
Da die Zahl der nach 13 Wochen Ausgesteuerten in der
Gärtnerei viel größer ist als in den polygraphischen Gewerben, so
entgehen mehr Todesfälle in der Gärtnerei der Eifassung conc 1
die Krankenkassenstatistik als in der Polygraphie (was nur zum
Teil durch eine größere A;nzahl der nach 2(3 und 34 Wochen
in den obersten Altersklassen Ausgesteuerten wettgemacht wird)
und auch etwas mehr als in der Allgemeinheit, in der Polygraphie
abeir _ mit Rücksicht auf die geringe Zahl der nach 13 Wochen
Ausgesteuerten — weniger als in der Allgemeinheit der Versichc-
rungspflichtigen (Männer). Wir können also annehmen, daß die
Kurven über die Todesfälle beider Berufsgruppen mehr von dei
abweichen müßten als die Figur des lext-
mehr in jenem Sinne, den die Kurven
Beitrags¬
tage
gedeckte Tage
nach §27 nach §28
Aussteuerungsfälle
.... 26-34
13 wöchige wöchige
Todes¬
fälle
95'6
0'2
1'8
224
2‘64
6'38
921
0'9
5'4
4'00
0'57
4'00
93‘8
0'7
35
3’80
U92
5’32
allgemeinen Kurve
bandes anzeigt u. zw.
i an des anzeigt u. zw. menr m jenem 7 r ■ n ^ ,•
ihnedies zeigen (mit Ausnahme der jüngsten Altersklasse ,
572
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. .1911.
Nr. 16
Kurven der Gärtner müßten noch ungünstiger, die der Polygraphie
noch günstiger verlaufen.
Aus den anderen Daten geht hervor, daß die Bedeutung der
gedeckten Tage eine sehr viel größere bei Gärtnerei als bei den
polygraphischen Gewerben und im Durchschnitt aller Versiche-
^fÄh^en k- da gerade die gedeckten Tage aus
') 7' , s0. se“r überwiegen, daß Arbeitswechsel, vor allem
Aibeitslosigkeit in der Gärtnerei eine größere Rolle spielen. Wir
weiden deshalb annehmen müssen, daß diese Momente auch die
Ausweise über die Krankheitsverhältnisse der Gärtner usw. un-
gunstig beeinflussen und werden dies bei Betrachtung der Kurven
und Zahlen in Betracht ziehen müssen.
Von größter Bedeutung aber für die Statistik im polygraphi¬
schen Gewerbe ist ein Moment, das aus den Tabellen nicht her-
ausgefunden werden kann; die hohe Krankenunterstützung, die
die Organisation der gelernten polygraphischen Arbeiter gewährt
sowie der Umstand, daß fast alle gelernten Arbeiter dieser Gruppe
der Organisation angehören. Diese Unterstützung, die bewirkt
claß das gesamte Krankengeld (Krankengeld von der Kranken¬
kasse und Krankengeld von der Organisation) häufig nicht sehr
viel unter dem Arbeitsverdienst zurückbleibt, muß natürlich von
größter Wirkung auf die Zahl der Krankmeldungen und Zahl der
\i an heritage se™' Retardierend auf die Zahl der Krankmeldungen
wirkt der geringe Arbeits Wechsel und alle die Krankmeldung
gerade bei geringem Arbeitswechsel1 und höher stehendem Per¬
sonal hemmenden oben erwähnten Umstände. Diesen Momenten,
nn Verein mit der relativ hohen Lebenshaltung der Berufsange-
h origen, sowie den — abgesehen von der Bleigefahr •— guten
hygienischen Verhältnissen des Berufes, ist es zuzuschreiben,
(lall die Berufsgruppe mit ihrer Erkrankungshäufigkeit unter dem
Durchschnitt bleibt; um so mehr aber zeigt sich die Wirkung
der hohen Unterstützung in der Länge der Krankheitsdauer.
Nach der vorliegenden Statistik überschreitet die durch¬
schnittliche Krankheitsdauer in den polygraphischen Gewerben
die der Gesamtheit der Versicherungspflichtigen (stets nur das
männliche Geschlecht berücksichtigt) in allen Altersklassen und
zwar — wenn wir von den jüngsten absehen — um ca. 20 bis50°/o.
Nun gehören aber nur die gelernten polygraphischen Ar¬
beiter fast vollzählig der Organisation an, von den ungelernten
ist nur ein geringerer Teil organisiert und deren Organisation
nicht so leistungsfähig. Die die Krankheitsdauer verlängernde
Wirkung der reichlichen Unterstützung muß sich daher am aus¬
gesprochensten in jener Berufsart des polygraphischen Gewerbes
zeigen deren Angehörige Ausschließlich gelernte Arbeiter sind
Ibcbn setzer), am wenigsten in jener, deren Angehörige aus¬
schließlich ungelernte Arbeiter sind (Hilfsarbeiter in Buch¬
druckereien).
Durchschnittliche
Alter
15—24
25—34
35—44
45—54
55—64
65—74
aller Versiche¬
rungspflichtigen
17’5
20 ‘5
237
273
32'8
414
Dauer eines Krankheitsfalles in Tagen.
Polygraphi¬
sche Gewerbe
19'8
27’4
34'2
36 7
41*6
51*2
Schriftsetzer
209
31'4
386
410
45'5
530
Hilfsarbeiter in
Buchdruckereien
187
21'8
28'0
296
343
44'0
^ enn ,w‘r weiter sehen, daß diese Steigerung der Krank¬
heitsdauer im polygraphischen Gewerbe sich in allen Alters¬
klassen bei allen Krankheitsgruppen, über die genügend große
Zahlen vorliegen — mit Ausnahme der Nervenkrankheiten —
findet, so ist es wohl ganz unmöglich, anzunehmen, daß alle diese
Krankheitsgruppen durch die Berufseinwirkung in ihrer Heilungs¬
dauer ungünstig beeinflußt werden, noch dazu in einem Berufe
bei dem Unterernährung keine, jedenfalls aber eine viel geringere
RoHe spielt, als m den anderen Berufen. Eine solche Konstanz
der Verlängerung der Heilungsdauer beweist wohl klar, daß sie
auf äußere Verhältnisse zurückzuführen ist.
Was aber die Nervenkrankheiten anbelangt, so bleibt hier
die durchschnittliche Krankheitsdauer zwar hinter dem Durch-
s< ujiilt zurück, dafür aber ist die Zahl der Erkrankungsfälle über
t em Durchschnitt (so daß die Zahl der Krankheitstage beträcntlich
über dem Durchschnitt) ; und der Textband klärt uns darüber
auf, daß es gerade die funktionellen Nervenerkrankungen sind
— also Erkrankungen mit meist kürzerer Krankheitsdauer bei
denen mehr als bei den anderen fast ausschließlich auf subjektive
Angaben hin mit der Krankmeldung vorgegangen wird — die in
uen polygraphischen Gewerben häufiger zur Ausweisung ge-
langen. Die Häufigkeit funktioneller Nervenkrankheiten in den
statistischen Ausweisen ist unserer Erfahrung nach teils durch
den Beruf eigentümliche Verhältnisse (Berufseinflüsse, soziale
Stellung, Auslese) bedingt, teils durch die oben geschilderten
äußeren Momente.
Bei diesem bestimmenden und so ganz hervorragendem
Einfluß der hohen Krankenunterstützung auf die Dauer der Er¬
krankungen in den polygraphischen Gewerben — ein Einfluß
auf die Erkrankungshäufigkeit besteht ja ebenfalls zweifellos, läßt
sich aber nicht so klar nachweisen — müssen doch Bedenken
auftauchen, ob es angängig sei, sich bei Betrachtung
und Vergleich so ausschließlich auf Krankheits¬
tage zu beschränken, wie es der Text band tut.
Was den Wert der statistischen Betrachtung von Krank¬
heitstagen anbelangt, so wird in Band I ausgeführt, daß bei Be¬
trachtung der Gesamtmorbidität den Krankheitstagen eine größere
Bedeutung als den Krankheitsfällen zukommt, da dem ersteren
Begriff doch eine größere Bestimmtheit zukommt als dem Begriff
„Fäll“, bei deren Zählung Fälle mit 200 und Fälle mit 2 Krank¬
heitstagen gleich gewertet werden. „Erst wo es sich um die Zahl
der , Fälle an bestimmten Krankheiten“ handelt .... und durch
diese zusätzliche Angabe der Begriff Krankheitsfall selbst eine
größere Bedeutung gewinnt, ist auch der Fallzahl eine gewisse
Bedeutung beizumessen“, sagt der Bericht (SZ 31), fügt aber
hinzu, daß auch hier die Summe der Krankheitstage das Genauere
und mehr Besagende sei. Dieser Ansicht können wir nicht ganz
beipflichten. Es sollten im allgemeinen beide Arten der Berech¬
nung nebeneinander zur Geltung kommen (was im Ta¬
bellenwerk auch geschieht), dringend aber wäre eine Neben¬
ei n an d er s teil u ng beider Buchungsarten (i m T extteil)
bei den polygraphischen Gewerben notwendig, wo nach dem
oben Gesagten der Zahl der Krankheitsfälle wohl größere Bedeu¬
tung zukommt als der der Krankheitstage.
Wir wollen hier — als Beweis für die Wichtigkeit solchen
Vorgehens — diese Nebeneinanderstellung beider Tabellen für die
„Krankheiten der Kreislaufsorgane“ vornehmen.
Auf 1000 männliche Pflichtmitglieder entfielen Krankheits¬
tage an Krankheiten der KreisTauforgane :
Alter
Polygraphische
15-24
25—34
35-44
45-54
55-64
65-74
Gewerbe
Alle Versiche¬
347
292
330
630
691
2379
rungspflichtigen
zusammen
258
234
315
476
857
1834
Auf 1000 männliche Pflichtmitglieder entfielen Krankheits¬
fälle an Krankheiten der Kreislaufsorgane:
Alter
15-24
25-34
35-44
45-54
55-64
65—74
Polygraphische
11*5
9*6
Gewerbe
9'3
125
171
33*2
Alle Versiche¬
rungspflichtigen
9'67
870
9'84
1303
17*57
3121
zusammen
Während man also bei Betrachtung der Krankheitstage zu
dem Schlüsse kommt, daß die polygraphischen Gewerbe in allen
Altersklassen, mit Ausnahme einer einzigen, ungünstiger da¬
stehen als der Durchschnitt, so zeigen bei Betrachtung der Krank¬
heitsfälle die drei Altersklassen vom 35. bis 64. Lebensjahre
günstigere Verhältnisse, als der Durchschnitt aller Mitglieder.
Bemerken wollen wir noch, daß auch die Zahl der Erkrankten
zu kennen, von einer gewissen Bedeutung wäre; es ist für die
Beurteilung der Berufsmorbidität nicht gleichgültig, ob zum Bei¬
spiel drei Erkrankungen an Tuberkulose ein tuberkulöses Mitglied
oder drei Mitglieder betrafen.
Eine weitere ausführliche Untersuchung des Textbandes ist
der Gicht als Berufskrankheit gewidmet. Die Morbiditätsstatistik
der Gicht stößt schon vor allem auf die Schwierigkeit, daß wohl
von den Aerzten nicht immer scharf zwischen Gicht und rheumati¬
schen Prozessen unterschieden w i rd , auch nicht immer leicht
unterschieden werden kann. Dazü kommt noch die Kleinheit
der Zahlen, die um so weniger maßgebend erscheinen, da nur
Krankheitstage veröffentlicht werden: Bei den Blei- und Zink¬
gießern sollen erwartungsgemäß (wenn die Verhältnisse ebenso
wären wie bei den Nichtbleiberufen) sechs Krankentage auf Gicht
entfallen — statt dessen aber entfallen 42 : Stammen diese 42
Tage von sieben leichten Gichtfällen, oder einem schweren? Das
wäre doch von wesentlicher Bedeutung, aber man kann, nach
dem oben über die Sicherheit der Diagnose und dein
noch früher über den Einfluß äußerer Momente auf die Krank¬
meldung Gesagten solch kleinen absoluten Zahlen, un¬
serer Meinung nach, überhaupt keinerlei Bedeutung
beimessen.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1'JIL
578
Zum Zwecke der Untersuchung über Gicht, werden die
Berufe in Bleiberufe und Nichtbleiberufe unterschieden.
Als Bleiberufe gelten jene, in denen Krankheitsfälle an Bleiver¬
giftung in mehr als zwei von den zwölf fünfjährigen Alters¬
klassen Vorkommen. Nicht der technische Nachweis, daß Blei im
Berufe Verwendung findet, sondern nur der statistische Gesichtspunkt
war für die Einteilung maßgebend. Es können also als Bleiberufe auch
solche figurieren, in welche Leute mit Bleivergiftung nur eingewandert
sind Ein Beruf — gleichgültig wie groß die Zahl seiner Angehörigen —
ült als Bleiberuf, sobald in ihm drei Personen, die verschiedenen Alters¬
klassen angehürten, mit Bleivergiftung behandelt wurden: ob eine solche
Einteilung statistisch einwandfrei, erscheint mir fraglich, sie führt zu
der Merkwürdigkeit, daß es „Bleibende“ gibt, die weniger Bleivergiftungs-
ta»-e aufweisen, als man nach dem Durchschnitt der Nichtbleiberufe
erwarten würde. Das Kontor- und Bureaupersonal ist ein solcher
„Bleiberuf“.
Will man den Zusammenhang zwischen Bleivergiftung und
Bleieinwirkung mit der Gichthäufigkeit feststellen, so muß man
jene Berufe herausgreifen, bei denen alle, fast alle, oder wenigstens
die weitaus überwiegende Majorität dauernd oder wenigstens zeit¬
weise mit Blei oder seinen Verbindungen, Legierungen usw., zu
tun hat. Besteht ein Zusammenhang zwischen Bleiaufnahme und
Gicht, dann wird sich hier in einer relativ großen Zahl von Fällen
Gicht finden müssen. In Berufen, in denen unter einer großen
Zahl von Berufsangehörigen nur ein kleiner Teil bleigefährdet
ist, wird natürlich die erhöhte Neigung dieser wenigen zu Gicht¬
erkrankung auf die Zahl der Gichterkrankungen der ganzen großen
Masse keinen sichtbaren Einfluß ausüben können, es wird ihr
Einfluß vollkommen verdeckt werden durch die anderen Ein¬
flüsse, die auf die große Masse der Berufsangehörigen wirken.
Die umfangreiche Untersuchung sagt uns deshalb nicht mehr
als das, was die Betrachtung einiger besonders ausgesprochener
31eiberufe — die ja daneben auch vorgenommen wird — und
was uns die Betrachtung der kolossalen Häufigkeit der Gicht
bei Bierbrauern, Kellnern und Köchen lehrt.
Weiter sei noch darauf hingewiesen, daß die Gruppenzusam-
lnenfassungen, wie sie das „Ausführliche Verzeichnis der Krank¬
heiten und Todesursachen“ bietet — und wie sie alle bisher be¬
stehenden Schemata bieten — der statistischen Erfassung von
Berufseinfiüssen große Schwierigkeiten bereitet. Was soll man
mit der Zusammenfassung der „Infektions- und parasitären Krank
beiten“ anfangen, die die Wundinfektionen, die akuten Infektions¬
krankheiten und die Tuberkulöse umfassen, was mit den Krank¬
heiten des Nervensystems, die Apoplexie, Migräne und Neur¬
asthenie in sich schließen, mit den Krankheiten der \eidauungs-
organe, die Zahnkaries, die Angina, den Magenkatarrh und die
Hernien einschließen. Da war es ein sehr glücklicher Gedanke
der Bearbeiter der Statistik, für jene Berufe, bei denen eine
Wiedergabe der einzelnen Krankheitsformen nicht stattfinden
konnte, wenigstens einige kleine charakteristische Kranitheits-
gruppen zur Darstellung zu bringen.
Wer den Einfluß des Berufes ermitteln will, wird, soweit
es irgend möglich, auf die einzelnen Krankheitsarten zurück¬
greifen und diese in der seinem Zwecke entsprechenden Art
gruppieren müssen. Er wird z. B. aus der Gruppe „Krankheiten
der Kreislauforgane“ den „Aderbruch“, die „Venenentzündung ,
die „Hämorrhoidalknoten“ und die „Drüsenentzündung“ ausschei-
den müssen, wenn er die Wirkung, z. B. von schwerer Arbeit oder
Bleiarbeit auf Herz und Gefäße feststellen will, er wird Aderbruch
und Venenentzündung gesondert betrachten müssen, wenn ei die
Wirkung von im Stehen verrichteter Arbeit ermitteln will, wiid
aber in letzterem Falle zu dieser noch aus der Gruppe der
„Krankheiten der äußeren Bedeckung“ das Ulcus cruris hinzu¬
fügen müssen (und weiter die betreffenden „Krankheiten der
Bewegungsorgane“ — Plattfuß — in Betracht ziehen müssen).
Da aber die von den Kassenärzten auf den Kassen¬
scheinen verzeichneten Diagnosen oft wenig verläßlich sind
— wozu mancherlei hier nicht zu erörternde Ursachen führen ■
so müssen bei statistischer Betrachtung stets alle jene Krank¬
heitsarten herangezogen werden, zwischen denen erfahiungsgema >
bei der Diagnosenstellung nicht scharf unterschieden wird Man
wird sich z. B. nie damit begügen dürfen, in einem Berufe die
Mortalität und Morbidität an Tuberkulose allein für sich /-n be¬
frachten, sondern wird stets daneben die Mortalität und ' 01-
bidität an akuter und chronischer Bronchitis studieren müssen.
Krankheiten, bei denen die Diagnose dem ja nicht mit allen lli ts-
mitteln arbeitenden Kassenarzte größere Schwierigkeiten inac 1
(z. B. Ulcus ventriculi), sind zu statistischen Betrachtungen über¬
haupt nicht geeignet.
Wenn ich auf alle diese Fehlerquellen und all diese Viel¬
deutigkeit der Krankenkassenstatistik hinweise, so geschieht es
nicht, um das Werk des Kaiserlichen statistischen Amtes herab¬
zusetzen; es hat in musterhafter Bearbeitung das gegeben, was
es geben konnte: die Daten, die sich aus dem Material der
Leipziger Ortskrankenkasse gewinnen lassen. Für die Verwaltung
der Kassen — für bestehende und erst zu gründende — bieten
die Tabellen ein ungemein schätzbares Material.
Will man aber aus dem Material Schlüsse auf den Gesund¬
heitszustand in den einzelnen Berufen, auf schädliche Berufs¬
einflüsse ziehen, dann muß man bedenken, daß die Zahlen
der Krankenkassenstatistik nicht nur durch die tatsäch¬
lichen Einwirkungen des Berufes und der mit dem Beruf ver¬
bundenen sozialen Lago auf den Gesundheitszustand der Arbeitei
— auch nicht durch diese Einwirkungen auf den von vorn¬
herein (durch Auslese bei der Berufswahl) verschiedenen Ge¬
sundheitszustand der verschiedenen Arbeitergruppen — beeinflußt
werden, sondern in weitgehendem Maße (unter Umständen
in ganz ausschlaggebender Weise) durch äußere Be¬
rufsverhältnisse, die auf den tatsächlichen Gesund¬
heitszustand ohne Einfluß sind.
Der vorsichtige Bearbeiter — aber nur dieser — wird aus
der Arbeit des Kaiserlichen statistischen Amtes so manch Wert¬
volles über Berufsmortalität und -morbidität ermitteln und er¬
schließen können und es wäre nur zu wünschen, (laß das Werk
die Grundlage für viele mit Vorsicht und Sachkenntnis
abgefaßte Monographien biete. Zu befürchten ist aber, daß gar
mancher glaubt, man könne aus dem Tabellenwerk schon allein
mit Zuhilfenahme der Schere Erkenntnis schöpfen.
Ich wollte mit meinen Ausführungen Warnungszeichen auf-
steilen für jene, die das gebotene Material weiter benützen und
verarbeiten wollen; Mahnungen zur Vorsicht und (Jeberlegung ,
Warnungszeichen, die mir um so notwendiger erscheinen, als die
Bearbeiter des vorliegenden Werkes sie auszustecken leider unter¬
lassen haben.
Bemerkungen zu der in Nr. 15 veröffentlichten
Arbeit von F. Schenk, das Abbauvermögen
anaphylaktischer Seren betreffend.
Von H. Pfeiffer, Graz.
Zu den in Nr. 15 dieser Zeitschrift mitgeteilten Ergeb¬
nissen von F. Schenk über Abbau versuche mit den Seren ana¬
phylaktischer Meerschweinchen möge hier nur das folgende be¬
merkt werden :
Unsere sehr zahlreichen, unter den verschiedensten Versuchs¬
bedingungen gewonnenen, durchaus eindeutigen positiven Resul¬
tate haben unzweifelhaft ergeben, daß das Serum von mit art¬
fremdem Eiweiß vorbehandelten Meerschweinchen im Sinne eines
Abbaues auf das Eiweiß der Vorbehandlung und nur auf dieses
einwirkt Zu diesem Schlüsse berechtigen uns nicht nur die
zahlreichen und konstant positiven Ergebnisse bei Digestion von
Anaphylaxieserum mit dem Antigen der Vorbehandlung, sondern
ebenso die negativen Kontrollen mit normalen Seren. Aus diesen
Versuchen ergibt es sich zur Evidenz, daß die gegenteiligen Resul¬
tate Schenks durch vermeidbare Fehler in der Enteiweißung
bedingt sind und unsere Schlußfolgerungen dadurch in keiner ei
Weise eine Einschränkung erfahren. Es gelingt und ich muß
daran auch heute festhalten, bei genügender Uebung und Sorg¬
falt in der Enteiweißung und mit den von uns angewendeten
kleinen Versuchsmengen der Seren konstant, alles native Eiweiß
zu entfernen und zu Filtraten zu gelangen, die durchaus negative
B iur etreakti onen geben, demnach auch auf demselben Versuchs¬
wege mit Seren anaphylaktischer Tiere Abbauprodukte von Pep¬
toncharakter nachzuweisen. In derselben Richtung vor kurzer
Zeit neuerdings unternommene Versuche lieferten gleichfalls das
konstante und regelmäßig positive Resultat bei Verwendung dei
Eiweißanaphylaxieseren, das Fehlen der Biuretreaktion bei den
Kontrollen.
Uebrigens sind mittlerweile, wenn ich selbst von der Be¬
stätigung unserer Ergebnisse durch E. Friedberger absehe
die Schenk gleichfalls in Zweifel zieht, auf anderen, wohl
völlig einwandfreien Versuchswegen und von anderen unter¬
suchen! kongruente Erfahrungen gemacht worden E. Ahoe
halden und seine Mitarbeiter haben bekannthehfestgesteüt
daß bei Digestion und darauf folgender Dialyse der Gern sehe won
■Eiweißimmunseren mit Antigen die Außen! ussig erfoM
tion gibt, also eine tiefgehende Spaltung v °
574
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
sein mußte. Derselbe Autor hat in seinen zahlreichen und um¬
fassenden Versuchen, in jüngster Zeit speziell auch für den Fall
der Meerschweinchenanaphylaxie, mit Hilfe der optischen Me¬
thode einen fermentativen Abbau des Antigens durch sein zu-
ge lunges Immunserum in einer, alle Zweifel ausschließenden
t ise dargetan, ln Anbetracht aller dieser Umstände, ferner in
l.erucksichtigung der Analogie des Erkrankungsbildes im ana¬
phylaktischen Shock und bei Peptonvergiftung, in Berücksich¬
tigung meiner erst vorläufig mitgeteilten Resultate mit den Harnen
anaphylaktisch geschädigter, mit Pepton vergifteter oder in an¬
deren Formen des akuten parenteralen Eiweißzerfalles befindlicher
liere, können Schenks Reusltate wohl nur durch v'ermeid-
b a r e Fehler in der Enteiweißung erklärt werden. 'Unsere früheren
Angaben erleiden dadurch weder hinsichtlich der Methodik noch
insbesondere hinsichtlich der damit erzielbaren Resultate und
der daraus gezogenen Schlußfolgerung, eine Einschränkung
Referate.
Operative Chirurgie der Harnwege.
Normale Anatomie und chirurgische pathologische Anatomie.
Von J. Albarraii.
Ins Deutsche übertragen von Dr. Emil 0 innert, Dresden.
1068 Seiten mit 541 teils farbigen Figuren im Texte.
Jena 1910, G. Fischer.
Als vor mehr als zwei Jahren das französische Originalwerk
A 1 b a i r a n s über die operative Chirurgie der Harnwege erschien
hatte wohl jeder, der das Euch studiert hatte, die Empfindung, daß
durch dasselbe die medizinische Literatur um ein großes, klassisches
Werk bereichert worden sei.
Es bestand damals ein Mangel an einem derartigen groß an¬
gelegten Werke und daß ein Bedürfnis nach einem solchen tat¬
sächlich bestanden hat, beweist der Umstand, daß kurze Zeit hierauf
den gleichen Inhalt behandelnde Werke anderer Autoren erschienen
sind . Watson und Cunningham, Oppenheimer.
Dr. E. Grunert unternahm es, das Meisterwerk A 1 b a r-
r an s ins Deutsche zu übertragen; wir müssen ihm für diese Arbeit
unumwunden danken; denn die Uebersetzung ist trefflich gelungen.
Das Originalwerk hat hier nicht wie in anderen Fällen durch ""die
Wiedergabe in eine fremde Sprache gelitten ; sie erhöht im Gegen¬
teile die lebendige Wirkung des französischen Textes auf unsere
Empfindung.
Da in dieser Zeitschrift das französische Originalwerk seiner¬
zeit nicht referiert worden ist, sei es gestattet, in Kürze auf den
Inhalt desselben einzugehen.
Der Plan, der dem Buche zugrunde lag, war nicht der, eine
vollständige Liste aller urologischen Operationsmethoden und deren
genaue Beschreibung zu bringen, sondern nur die nach den Erfah¬
rungen Albarrans besten und erprobtesten.
Und gerade durch dieses persönliche Moment — der Name
des Autors und seine wohl einzig dastehende urologisch-chirurgi-
sche Erfahrung bürgt für die Zweckmäßigkeit der getroffenen Aus¬
wahl tritt das Werk aus dem Rahmen einer kompilatorischen
Darstellung der urologischen Operationslehre heraus und wirkt wie
ein unmittelbarer Vortrag des berühmten Meisters. Wir müssen diesen
Umstand um so mehr betonen, da die Operationslehre A 1 h a r-
r a n s seit geraumer Zeit die letzte wissenschaftliche Arbeit ist, die
wir der Feder des leider seit langem erkrankten Meisters ver¬
danken.
Das praktische Ziel des Werkes, für angehende und erfahrene
Chirurgen ein lebendig wirkendes Bild der Operationsmethodik an
der Pariser urologischen Klinik zu entwerfen, konnte am besten
dadurch erreicht werden, daß der gewiß sehr spröde Stoff durch
t-*ine besonders glücklich gewählte Anordnung in die Form des
klinischen Vortrages eingepaßt wurde, eine Anordnung, die gerade
iUi eine Operationslehre genug der Schwierigkeiten geboten
haben mag.
Und doch ist diese Art der Darstellung vollkommen
ungezwungen, lebendig und natürlich gelungen. Jeder Operation ist
die normale Anatomie des Organes, jeder Krankheit die chirurgische
pathologische Anatomie des erkrankten Teiles vorangeschickt, dann
folgt in präziser Logik die Indikationsstellung, die Wahl derOpera-
tionsmethode, ihre Technik, Beschreibung möglicher Zwischenfälle und
Nr. 16
vermeidbarer technischer Fehler und endlich eine »ausführliche und
zuweilen minutiöse Beschreibung der Nachbehandlung der Opera¬
tion«. Auf den letzten Punkt legt Al harr an grundsätzlich die
größte Bedeutung.
Gekrönt wird diese Darstellung noch durch die Abbildungen
die von Meisterhand gefertigt, die deskriptive und topographische
Anatomie der Organe, das Instrumentarium und in unübertrefflich
plastischer Weise die einzelnen Phasen der wichtigsten Operationen
illustrieren.
Auf die einzelnen Kapitel des Werkes, die Chirurgie der
Nieren, Blase, Prostata, Urethra detailliert einzugehen, verbiete!
das Ausmaß eines Referates. Es ist jeder Abschnitt mit der gleichen
Liebe und der gleichen meisterhaften Prägnanz dargestellt.
Das klassische Werk Albarrans der Lektüre und dem ein¬
gehenden Studium allen denen, die sich für unser Fach inter¬
essieren, wärmstens zu empfehlen, ist der Zweck dieses Berichtes
Wir glauben, daß dasselbe auf lange Zeit die Grundlage für jeden
sein wird, der sich der operativen Chirurgie der Harnorgane widmen
will ; man wird hier alles das in kurzer präziser Darstellung finden,
was man ehedem mühsam aus Lehrbüchern der Anatomie, Physio¬
logie, den Lehrbüchern der Urologie und den monographischen Dar¬
stellungen einzelner chirurgischer Urogenitalerkrankungen zusammen¬
suchen mußte.
Es wird sich wohl jedem, der das Werk mit dem gleichen
Genüsse studiert hat wie der Referent, der lebhafte Wunsch auf¬
drängen, daß Meister Alb ar ran nach möglichst rascher Wider¬
erlangung seiner bewunderungswürdigen Arbeitskraft unsere Wissen¬
schalt und die ganze medizinische Literatur mit neuen Meister-
leislungen beschenken möge. Viktor Blum.
*
Hai’nsäure als ein Faktor bei der Entstehung von
Krankheiten.
Von Alexander Haig.
Autorisierte Uebersetzung der siebenten englischen Ausgabe.
Zweite, vermehrte deutsche Ausgabe.
Von Dr. med. Max Birch-Beimer, Arzt in Zürich.
62 Abbildungen.
661 Seiten.
Berlin 1910, Otto Salle.
Bekanntlich hat Haig an sich selbst den Purinstoffwechsel
in einem Versuch, der eine große Reihe von Jahren — 2990 Tage —
umtaßt, studiert und schon um dieser Leistung willen verdient sein
Buch, mit Interesse gelesen zu werden. Ebenso bekannt ist, daß
die Lehren Haigs namentlich in Deutschland auf scharfen Wider¬
spruch gestoßen sind und es ist besonders seine Methodik der
Harnsäure- und Purinbasenbestimmung, ferner seine durch Experi¬
mente nicht begründete Ansicht von der Blutdruckmessung, welche
jene Kritik herausforderte.
Es ist nicht leicht, sich durch das vorliegende große Buch
hindurchzuarbeiten. Die ersten Kapitel sind der Bildung und Aus¬
scheidung der Harnsäure gewidmet; Haig stellt das Gesetz auf,
daß die Harnwassermenge sich umgekehrt zur Harnsäuremenge ver¬
hält, daß ferner die Höhe der Harnsäure über Harnstoff den Ma߬
stab für die in der betreffenden Zeit durch das Blut gehende Harn-
säuiemenge abgibt. Die Ursache aller krankhaften Erscheinungen
erblickt er in der Retention der zugeführten Harnsäure. Der Ueber-
schuß von Harnsäure im Blut erzeugt ein Krankheitsbild : die
K o 1 1 ä m i e, welche ihrerseits zur Obstruktion der Kapillaren und
sekundär zur Erhöhung des Blutdruckes und zur mangelhaften
Versorgung der Gewebe führen soll. Besondere im Kapitel »Harn¬
säure und Kreislauf« fällt der unwissenschaftliche Ton auf, der
dem ganzen Buch seinen Charakter verleiht; so äußert der Ver-
lasser z. B. bei der Besprechung eines Falles von ausgesprochener
Mitralstenose : »Hätte Pat. von jeher diese (harnsäurefreie) Diät be¬
folgt, so wäre ihr schlimmes Herzleiden überhaupt nicht aufgetreten«.
Diese und zahlreiche ähnliche naive Feststellungen, so über die
Ursache des Kopfschmerzes, der Epilepsie und Hysterie, der Geistes¬
krankheiten u. a., klingen allzusehr nach Naturheillehre, als daß
sie ernst genommen werden könnten. Ebenso überholt sind seine
Beobachtungen über die Harnsäure als Ursache der paroxysmalen
Hämoglobinurie, der Raynaud sehen Krankheit, der Bright-
schen Krankheit, des Diabetes etc. Dagegen ist ein gewisser Scharf¬
blick bei der Auffassung der Zusammenhänge zwischen Hautkrank-
575
Nr. 16 WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
heiten und Harnsäureübetladung des Blutes, der Disposition zu
artbritischen Erkrankungen, zu Chorea und anderen Infektionen
nicht abzuleugnen. In der Th e r a p i e steht II a i g auf dem ziemlich
allgemein angenommenen Standpunkt, daß bei gichtischen Erkran¬
kungen Harnsäurebildner in der Nahrung zu vermeiden sind.
Es wäre angezeigt gewesen, wenn Haig lediglich seine
eigene Krankheitsgeschichte ohne den ungeheuren Ballast von
Theorien und mit schlechten Methoden gewonnenen Anschauungen
wiedergegeben hätte. So ist es eine Anhäufung von Kranken¬
geschichten mit der oft allzu naiven Erklärung der Symptome und
der Zuriickführung aller auf das Grundübel : die Kollämie. Vielleicht
entschließt sich der Verfasser oder sein Uebersetzer dazu, einen
genießbaren Extrakt aus dem Buche zu erzeugen. Ein solcher
könnte besser empfohlen werden, als man es mit dem vorliegenden
Buche tun kann.
*
Die Vagotonie.
Eine klinische Studie von Priv.-Doz. Dr. Hans Eppiuger
und Dr. Leo Heß -Wien.
Sammlung klinischer Abhandlungen über Pathologie und Therapie der
Stoffwechsel- und Ernährungsstörungen.
Herausgegeben von Professor C. v. Noorden.
98 Seiten. /
Berlin 1910, A. Hirschwald.
Es muß als ein großes Verdienst der beiden Autoren be¬
zeichnet werden, das erstemal einen konkreten neurologischen Begriff
der viszeralen Organe angebahnt zu haben, wie das in der vorlie¬
genden Studie in klarer, überzeugender Weise durchgeführt ist. Auf
Grund klinischer und pharmakologischer Beobachtungen gelingt es,
einen Typus von Störungen der inneren Organe zu konstruieren,
der als Vagotonie bezeichnet wird. Dieser Typus ist dadurch
charakterisiert, daß der Vagotonus leicht erregt werden kann. Als
Hauptagens für die Diagnose der Vagusübererregbarkeit benützen
Verff. aus guten Gründen das Pilokarpin, welches auf eine Reihe
von durch den Vagus innervierten Organen erregend wirkt. Die
leichte Ansprechbarkeit der Vagotoniker durch Pilokarpin (Reizung
des autonomen Nervensystems), die schwere Beeinflußbarkeit durch
Adrenalin (Reizung des sympathischen Nervensystems) lassen eine
gute und genügend präzise Abgrenzung des Krankheitsbegriffes zu.
Dies wird nun in der Broschüre für die einzelnen, durch den Vagus
innervierten Organe durchgeführt, dann ein klinisches Bild der
Vagotonie gegeben und der Einfluß der Vagotonie auf die Symptomen-
komplexe anderer Krankheiten geschildert.
Durchwegs originelle und geistreiche Deutung von bisher un¬
klaren Erscheinungen — ich erwähne nur die vagotonischen Magen¬
affektionen, das Asthma bronchiale, gewisse nervöse Darmerkran¬
kungen, Reizerscheinungen des Herzens, der Augenmuskeln, des
Blutes (Eosinophilie) — sind die Frucht der wichtigen Unter¬
suchungen der Verfasser. Aber nicht nur diagnostische, auch
therapeutische Errungenschaften werden uns geboten. Im Atropin
haben wir das Mittel, die Uebererregbarkeit des Vagus zu paraly¬
sieren und zahlreiche vagotonische Zustände zu beheben.
Jedenfalls haben die Verfasser einen neuen klinischen Begriff
scharf umgrenzt, der jedem Arzt nunmehr wird geläufig sein müssen
und der auch der vielfach mißbrauchten Diagnose Neurasthenie oder
funktionelle Neurose das Terrain abgraben wird. Nur eines wird
man vermeiden müssen : eine ernste, organische Grundkrankheit
durch vorschwebende vagotonische Erscheinungen zu übersehen. Es
gilt das vor allem für die Arteriosklerose in ihrem proteusartigen
Verlauf. Hoffentlich lernen wir bald außer den pharmakologisch
differenzierenden Symptomen noch andere klinisch brauchbare
diagnostische Momente kennen, die das begonnene System ausbauen
helfen und ist die Zeit nicht allzufern, wo wir eine Neurologie der
inneren Organe besitzen werden. _ K. Glaessner.
*
Franz Mraceks Atlas und Grundriß der Hautkrankheiten
Herausgegeben von Dr. Albert Jesiouek, a. o. Professor für Dermatologie
und Syphilis an der Gr. Landesuniversität Gießen.
Dritte, teilweise umgearbeitete und erweiterte Auflage.
Mit 109 farbigen Tafeln und 96 schwarzen Abbildungen.
München 1911, Verlag von J. F. Lehmann.
Das dem reichen Krankenmaterial der Wiener Rudolfstiflung
entlehnte Bilderwerk findet nunmehr mit Beiträgen der Mün¬
chener und Gießener Hautklinik die ergänzende Ausgestaltung,
gleichzeitig auch der Text die dem heutigen Wissensstände ent¬
sprechende erweiterte Behandlung. Mraceks knapper Leitfaden
wurdet derart zu einer kompletten Dermatologie, die" dem Ler¬
nenden die in dem Fachgebiete erforderliche Wissenssumme ver¬
mittelt. Die hinzugekommenen farbigen Tafeln jedoch können
nur zum Teil als Bereicherungen des Atlas angcslproc'hen werden.
Für die Wiedergabe der plastischen und koloristischen Fein¬
heiten der Dermatosen erweist sich der Oeltechnik breite Pinsel¬
führung völlig ungeeignet und ist von den Meistern der medizi¬
nischen Malkunst, El fing er, Heitzmann und anderen, nie¬
mals verwertet worden. So wirken denn auch die der Klinik
Posselt entstammenden Reproduktionen von Oclbildcrn zwar
als farbenreiche Köpfe und Gestalten, deren der'matodiagnosti-
sche Charakteristik jedoch selbst der Text vergebens zu inter¬
pretieren trachtet. Die 46 eingeschalteten Photographien der Neu¬
auflage ermöglichen eine zutreffende Vorstellung der festgehaltenen
Zustandsbilder.
*
Der Lupus. Seine Pathologie, Therapie, Prophylaxe.
Für den praktischen Gebrauch geschrieben von Prof. Dr. L. Pliilipppsou,
Direktor der Dermatologischen Universitätsklinik zu Palermo.
Aus dem italienischen Manuskript, übersetzt von Dr. Fritz Juliusberg'.
Mit 8 Tafeln.
Berlin 1911, Verlag von Julius Springer.
Die genauere Verfolgung der pathogenetischen Verhältnisse
hat gelehrt, daß die dem Lupus zugehörigen llautphänomene in
innigster Abhängigkeit zu der spezifischen Erkrankung des
Knochenapparates und des lymphatischen Systems stellen und
in besonderer Häufigkeit nur als auf das dermale Reaktions¬
feld projizierte Teilerscheinungen des Gesamtprozesses einzu¬
schätzen sind. Von dieser, der modernen Tuberkuloseforschung
entsprechenden Betrachtungsweise ausgehend, entwirft Phi¬
lipps on eine in markanten Umrissen skizzierte Darstellung des
Entwicklungsganges der primären und sekundären Lupusformen,
der Bedingungen ihres Fortschreitens und Stillstandes, sowie der
Voraussetzungen einer rationellen kausalen Bekämpfung. Daten
der Eigenstatistik und gut gewählte Photographien erläutern die
Wechselbeziehungen der Drüsen- und Schleimhauttuberkulose zu
den destruktiven Veränderungen der äußeren Decke und lehren
gleichzeitig, in welch verheerendem Umfang der Prozeß selbst
unter den günstigen klimatischen Verhältnissen Siziliens seine
Opfer fordert.
*
Die Syphilishehandlung mit Salvarsan.
Von Dr. Kurt v. Stokar.
München 1911, Verlag von J. F. Lehmann.
Eine, das Jahr 1910 umfassende, sorgfältig redigierte Studie,
der alle Erfahrungen zu entnehmen sind, welche in der Literatur
in bezug auf Dosierung, Applikationsform1, Wirkungsweise und
klinische Indikation des Arsenobenzols festgehalten erscheinen.
*
Abhandlungen über Salvarsan.
Gesammelt und herausgegeben von Paul Ehrlich.
München 1911, Verlag von J. F. Lehmann.
An dieser Sammlung Von Aufsätzen über die kurative
Wirkung des D i oxy d i am idoarsenobenz ols ist P. Ehrlich nur
insoferne beteiligt, als er den aus der Münchener medizinischen
Wochenschrift vereinten Aufsätzen einige einleitende Worte
widmet und die nach technischen, pbarmakodynaniischen und noso¬
logischen Gesichtspunkten geordnete große Reihe von Mitteilungen
mit dem vielvermerkten, in Frankfurt gehaltenen Fortbildungs¬
vortrag zum Abschluß bringt. Es ist dies! die im Dezember
1910 an gleicher Stelle veröffentlichte übersichtliche Formulie¬
rung des Anzeigegebietes der Salvarsananwendung und die mit
anerkannter Objektivität geführte Widerlegung der deletärenNeben-
wirkungen des Präparates. Nobl.
576
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 16
Aus verschiedenen Zeitschriften.
401. Die Bedeutung der Zy stoskopie für die Dia¬
gnose undBehandlung derSchwangerschaftspyelitis.
Von Dr. A. Cal mann in Hamburg. Die Zusammenfassung des
Verfassers lautet: Die Zys to skopie bedeutet für die Schwanger¬
schaftspyelitis einen Fortschritt in der Erkenntnis des Krankheits¬
bildes und eine Erweiterung der therapeutischen Leistung. Mit
ihrer Hilfe gelingt es: 1. Fälle zu erkennen, die sonst unklar
bleiben; 2. in dringender Situation, z. B. bei der Unterscheidung
von akuter Appendizitis oder Cholezystitis, schnell zur Entschei¬
dung und Indikationsstellung zu kommen ; 3. den Sitz der Erkran¬
kung zu bestimmen; 4. therapeutisch weiter zu kommen, wo die
interne Medikation versagt und wo früher Schwangerschaftsunter¬
brechung oder Nierenoperationen notwendig wurden. Diese seine
Leitsätze stützt Verfasser auf die reiche Literatur und auf eigene
Erfahrung, aus welcher er vier Fälle ausführlich mitteilt. In der
Norm ist sowohl für die Diagnostik, wie für Therapie die Endo¬
skopie entbehrlich; aber es gibt Fälle, sie sind nicht so selten,
wo die sonst schon makroskopisch sichtbare charakteristische
intensive Trübung des Urins fehlt und in welchen selbst die mikro¬
skopische Untersuchung des Harnes resultatlos bleibt, da der Harn
aus dem erkrankten Nierenbecken zeitweilig nicht in die Blase
gelangt (Ureterverschluß oder Verstopfung durch Eiterflocken).
Auch Schmerz und Fieber können fehlen und die wenig aus¬
gesprochenen Symptome (Abgeschlagenheit, Ziehen im Leib, Urin¬
drang usw.) werden als Molimina graviditatis gedeutet. Ist aber
der Urin etwas eitrig oder bakterienhaltig, so beruhigt man sich
mit der Diagnose einer Zystitis, bis endlich die Ureterensondie-
rung das Wesen der Erkrankung aufdeckt. Von seinen vier zysto-
skopisch kontrollierten Fällen waren zwei doppelseitig erkrankt.
In allen vier Fällen war der, wenn nicht heilende, so doch gründ¬
lich bessernde Einfluß der Nierenbeckenspülung (200 bis 300 cm3
einer Silberlösung 1 :2000 oder erst Ausspülung mit Borlösung, so¬
dann 50 cm3 einer l%igen Kollargollösung) unverkennbar. Da
diese Umstimmung (Schwinden des Fiebers, Wohlbefinden) oft
einer einzigen Ausspülung folgte, so hat es den Anschein, als ob
es sich in der Hauptsache um die Beseitigung einer Stauung
im Nierenbecken handelte. Die Häufigkeit einer solchen Stauung
erhellt auch aus der Erfahrung daß bei Einführung des Ureteren-
katheters sich manchmal eine größere Menge eitrigen Urins plötz¬
lich mit einem Guß und nicht — wie sonst — tropfenweise ent¬
leerte, sowie aus dem wechselnden Eitergehalt des' Urins über¬
haupt. Einzelne Autoren haben auch tatsächlich mit einfachem
Katheterismus des Nierenbeckens dasselbe erreicht wie mit der
Spülung, hie und da sahen sie sich aber doch gezwungen, noch
eine Spülung nachzuschicken. Die Spülung wirkt so schnell wie
die Spaltung und Entleerung eines Abszesses, sie beseitigt
Schmerzen, Fieber und Allgemednbeschwerden und, soweit man
jetzt, bereits ein Urteil wagen darf, auch die Gefahren für die
Erhaltung der Schwangerschaft. In den vier1 Fällen des Verfassers
wurde die Eiterung wesentlich eingeschränkt, zum Teil auf ein
Minimum, ein kleiner Rest und vor allem die Bakteriurie blieben
bestehen bis zum Ablauf der Schwangerschaft. Erst einige Wochen
nach der Geburt verschwanden Eiter und Bakterien völlig. Sehr
oft genügt auch die übliche interne Behandlung der Schwanger¬
schaftspyelitis (von neun Fällen der letzten anderthalb Jahre
hat Verf. drei mit Nierenbeckenspülüng behandelt, einmal den
Ureterenkatheterismus zur Stellung der Diagnose angewandt);
wo die interne Behandlung versagt, muß aber die Nierenbecken¬
spülung herangezogen werden, da die mit der Schwangerschaft
innig verbundene Pyelitis so wie die Schwangerschaftsniere schäd¬
lich und gefährlich werden kann. Opitz hat eine Statistik zu¬
sammengestellt, nach welcher von 53 Frauen nur 20 austrugen.
Bei 2o trat die vorzeitige Geburt von selbst ein und zehnmal
wurde die künstliche Unterbrechung ausgeführt. — (Deutsche
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 12.) E. F.
*
402. (Aus dem Laboratorium des Prof. Dr. J. H. Muss er.)
Ueber die Isolierung von Kupfer aus Harn und
Schweiß eines Messingarbeiters. Von Edward H. Good¬
man, M. D. Philadelphia, Pa. Verf. berichtet über den Fall eines
Messingarbeiters, aus dessen Schweiß und Urin Kupfer isoliert
werden konnte. Der 59jährige Patient kam in die Poliklinik des
University of Pennsylvania Hospitals Ende Oktober 1910 und
klagte über Schmerzen im Epigastrium. Gewichtsabnahme und
Schwäche. Er ist in einer Messingfabrik seit 47 Jahren tätig
und hat in jeder Abteilung der Fabrik gearbeitet. Manchmal hatte
er einen Geschmack wie Kupfer im Munde und grünen Schweiß
Der Harn und die grünen Flecken des Arbeitshemdes wurden am
Kupfer untersucht. Der Harn wurde in einer Por'zellanschale j
auf dem Wasserbade verdunstet, der Rückstand verascht und int
Salzsäure unter gelindem Erhitzen gelöst. Diese Lösung wurde
in einem Becherglase auf 80° erwärmt und durch ein Glasrohr
Schwefelwasserstoff in langsamem Strom eingeleitet; nach zirka
halbstündigem Erhitzen läßt man den Niederschlag absitzen und
filtriert ihn. Der Niederschlag wird mit heißem Wasser und
etwas Salzsäure ausgewaschen und auf dem Filter getrocknet.
Zur Bestimmung hat sich Verfasser eines Roseschen Tiegels
bedient. Das Filter samt Niederschlag wird in diesem Tiegel ver¬
brannt und jetzt das Kupfersulfit mit fein gepulvertem Schwefel
überstreut, M asserstoff in den Tiegel eingeleitet und dann langsam
erhitzt. Nun wird das Gewicht des Tiegels und Rückstandes
bestimmt und es findet sich 0-0980 g Kupfersulfit. Nach dein
Wägen wurde der Rückstand in starker Salpetersäure unter Er¬
wärmen gelöst, verdünnt und qualitativ Proben mit Ferrozyan-
kalium, Natriumsulfit, Glukose und Ammoniak angestellt. Alle
Proben bis auf Ammoniak fielen positiv aus, so daß es sich
zweifellos um Kupfer handelt. Dann wurde auch ein grüngefärbtes
Stückchen aus dem Hemde herausgeschnitten, in starker Salpeter¬
säure unter Erwärmen gelöst und die üblichen Proben gemacht.
Es wurde auch hier Kupfer gefunden. Verf. fand in den Lehr¬
büchern der Toxikologie keinen ähnlichen Fall. Inwieweit das
Messing selbst die Ursache einer Vergiftung ist, läßt sich schwer
sagen. Die meisten Autoren betrachten Kupfer als das. schädliche
Agens. - - (Münchener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 12.)
G.
*
403. Erfahrenen der inneren Klinik auf einigen
medizinischen Grenzgebieten. Von De. Gerhardt, Basel.
Bezüglich der Perityphlitis hält Gerhardt dafür, daß für die
Fälle, Welche nicht von vornherein für die Operation zu bestimmen
sind (nach den von Wilms aufgestellten Regeln), die konsequente
Opiumbehandlung durchgeführt werden sollte, nach der alten
bewährten Regel: Knappe, flüssige Diät und Opium durch min- j
destens acht Tage lang. Daß Opium Meteorismus erzeuge, sei i
sicher unrichtig und daß es die Beurteilung des Krankheitsbildes j
erschwere, sei nicht von ernster Bedeutung. ! Nachteile der Opium¬
behandlung hat G e r h a r d t nie gesehen, wohl aber wiederholt
ausgesprochene Verschlimmerung der Krankheit prompt nach Ge¬
brauch von Rizinusöl und anderen Abführmitteln. — Betreffs j
des Mag emkar zin omls bestätigen die Erfahrungen Gerhardts |
ilie Klagen der Chirurgen, daß die Patienten zu spät zur Opera- i
tion kommen, woran allerdings nicht so sehr späte Diagnose- j
Stellung, als vor allem der heimtückische Verlauf des Leidens i
schuldtragend ist. Es erwiesen sich nämlich beinahe die Hälfte I
der Fälle Gerhardts bei der Operation als radikal nicht mehr 1
operabel, obwohl Beschwerden erst viel weniger als ein Viertel¬
jahr bestanden ! Der Wunsch der Chirurgen, bei älteren Leuten
mit verdächtigen Magenbeschwerden die Probelaparotomie mög¬
lichst bald zu empfehlen, ist durchaus ein berechtigter, zumal
die bloße Probelaparotomie keinerlei Schaden bringt und die
V unde rasch heilt. — Die Mehrzahl Ider Magengeschwüre wurden
bei Gerhardt nach dem Schema von Lenhartz behandelt;
die Patienten erhielten also nicht ausschließlich flüssige Kost. 1
sondern schon vom fünften Tage an Fleisch, Reis und Zwieback
in geringen Quantitäten, aber doch in (steigender Mengel, hiebei er-
holten sie sich gewöhnlich gut und rasch; trotzdem waren sie
nicht wesentlich früher arbeitsfähig als die nach Leu be be¬
handelten. Die durchschnittliche Dauer des Spitalsaufenthaltes
war in jedem Falle ungefähr 40 Tage. Bei der exspektativen Be¬
handlung kamen auch sehr schwere Magenblutungen zum Still¬
stände; immerhin wäre bei hartnäckiger Hämatemesis nicht zu
späte Operation indiziert, wobei aber eine scharfe Fixierung der
Regel, wann bei solchen rezidivierenden Blutungen operiert werden
soll, wohl sehr schwierig erscheint. — Was die Fälle von tuber-
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
577
kulöser Peritonitis anbelangt, so konnte Gerhardt gut ein
Drittel seiner Fälle bei exspektativer Behandlung wesentlich ge¬
bessert oder geheilt entlassen. Bemerkenswert ist ferner, daß von
sechs ad exitum gekommenen Fällen drei ein Alter von 62 bis
64 Jahren hatten und daß die »Krankheit ganz akut, typhusähnlich,
verlief. Bei Oesophagusstenose gelang es regelmäßig, idurch Verab¬
reichung von Morphium und Narkotizis vor der Nahrungsaufnahme
die Schluckbeschwerden soAveit zu lindern, daß der Zustand er¬
träglich war und sogar in einzelnen Fällen Gewichtszunahme
zu verzeichnen war, während die Operation (Gastrotomie), in zwei
Fällen ausgeführt, wegen vollständiger Undurchgängigkeit des
Oesophagus nicht lange überlebt wurde. — Bei Rückenmarks¬
kranken mit der Möglichkeit eines Tumors empfiehlt Gerhardt,
die chirurgische Behandlung wenigstens zu versuchen, da, Avenn
auch die erhoffte operative Heilung nicht immer gelingt, die
Prognose sonst eine sehr triste ist und anderseits die Operation
keine oder keine wesentlichen Nachteile bringt. — Thorakoplastik
bei Lungenemphysem (Freund) brachte Gerhardt nach jeder
Richtung eine Enttäuschung. — (Korrespondenzblatt für Schweizer
Aerzte 1910, 40. Jahrg., Nr. 36.) K. S.
*
404. Das Zucht- und Tollhaus zu Celle. Von Ober¬
arzt Dr. Mönkemöller in Hildesheim. Aus alten Akten, die
MönkemölTer auf den Böden der Heil- und Pflegeanstalt, in
Hildesheim entdeckte, ließ sich Manches entnehmen, Avie man
im 18. Jahrhunderte außerhalb der Anstalt über Geisteskrank¬
heiten dachte und mit ihren Krankheitsäußerungen sich abzu¬
finden suchte und wie man in der Anstalt selbst lebte. M o n k e-
möller hat diese Akten zu einer höchst anziehenden Publi¬
kation verwertet. Es ist erstaunlich, mit welcher Humanität schon
zu damaliger Zeit die Geisteskranken in dieser Anstalt behandelt
wurden und wie große Aehnlichke.it das Leben in jener ver¬
alteten Anstalt, mit dem in unseren Anstalten, welche mit dem
modernsten Raffinement ausgestattet sind, aufweist. — (Allgemeine
Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch -gerichtliche Medizin,
Bä. 68, H. 2.) S.
*
405. Zur Behandlung der Pankreaszysten und
-pseudo zysten. Von Prof. Dr. W. Körte, Direktor der chi¬
rurgischen Abteilung des städtischen Krankenhauses am Liban
in Berlin. Es wird zuerst die Krankengeschichte einer 31 Jahre
alten Frau mitgeteilt, die in Rußland Avegen eines multilokularen
Zystadenoms des Pankreas mit Einnähung, Drainage usw., zwei¬
mal erfolglos, sodann vom Verfasser mit Exstirpation operiert
wurde und die zur Heilung kam. Die Ausheilung konnte in diesem
Falle früher nicht erfolgen, Aveil stets nur die größte oder einige
der größeren Zysten eröffnet worden waren, während andere
Zysten im Grunde uneröffnet blieben oder schnell nachwuchsen.
Ferner war die Ausheilung durch Einnähung und Drainage nicht
möglich, weil die Zysten mit Epithel ausgekleidet waren und dem¬
zufolge eine Verschrumpfung der Höhle durch Granulationsbildung
und Vernarbung nicht zustande kömmen konnte. Verf. Aveist aus
der Literatur (P. Lazarus u. a.) nach, daß nur ein geringer
Teil der als Pankreaszysten bezeichneten Bildungen wirkliche
Zysten, Zystadenome, waren, ein großer Teil aber waren Pseud o-
zvsten, d. h. entzündliche oder traumatische Ergüsse, welche
infolge von Pankreatitis oder infolge von Traumen der Drüse in
deren Umgebung, meist in der Bursa o mentalis, entstanden. lür
diese „Pseudozysten“ war in der Tat die Einnähung und Prämie¬
rung der vorgeschriebene Weg zur Heilung, während die wahren
Kystome mit bindegewebiger, innen mit Epithel ausgekleideter
Wand, von der Umgebung meist leicht abzutrennen, nur durch
Exstirpation beseitigt werden können. Nur bei malignen lu-
moren mit Zystenbildung kann die Exstirpation infolge- von Ein¬
wachsen von Tumormassen in die Umgebung unmöglich werden.
Verf. berichtet über die Schwierigkeiten und Gefahren, welche bei
der Exstirpation bestehen und beschreibt sodann sechs Fälle von
entzündlichen Pankreaszysten, welche er mittels Einnähung und
Drainierung zur Heilung brachte. Die ersten zwei Fälle sind
schon veröffentlicht worden. Der dritte Fall kam wegen f hole-
dochus Verschlusses durch eine Pankreasgeschwulst zur Operation,
bei Avelcher eine Zyste im Pankreaskopf freigelegt und drainiert
wurde; sodann Anlegung einer Gallenblasen-Dünndarm listed, ln
der Anamnese dieses Falles Avird über wiederholte entzündliche
Erkrankungen der rechten Oberbauchgegend (interstitielle Entzün¬
dung und Zystoidbildung im Pankreas) berichtet. Drei Aveitere
Fälle betrafen Pseudozysten, entzündliche abgekapselte Ergüsse
in die Umgebung des Pankreas, Avelche bei noch bestehender Ent¬
zündung operiert wurden. In zwei Fällen bestanden Schmerz¬
anfälle, Avelche Gailensteinkoliken glichen, während bei der Opera¬
tion die Abwesenheit von Steinen und von Entzündung der Gallen¬
wege, dafür aber zystische Tumoren konstatiert wurden. Da die
entzündlichen oder hämorrhagischen Ergüsse dieser Pankreas¬
pseudozysten sich nicht dazu eignen, aufgesaugt zu Averden, da
sie oft schubweise unter neuen Entzündungsattacken wachsen,
ist deren Operation (Inzision, Prämierung) angezeigt. Schließlich
ist anzunehmen, daß durch die jetzt immer allgemeiner geübte
Frühoperation der akuten Pankreatitis Avie der Pankreasverletzun¬
gen die Entstehung solcher Zysten verhütet werden wird.
(Deutsche medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 12.) E. F.
* 'I t )
406. Ein einfaches Verfahren zur Bekämpfung
des Medi astinalemphysems. Von Dr. Max Tiegel. Ein
Patient, hatte durch ein Trauma Fraktur der dritten bis siebenten
rechten Rippe, etwa vier Querfinger von der Wirbelsäule entfernt
erlitten. EtAva. 20 Stunden später trat, offenbar durch Eindringen
des Luftergusses von dem subkutanen GeAvebe des unteren Hals¬
abschnittes in das Mediastinum, ein bedrohliches Merliastinal-
emphysem auf. Da Lebensgefahr infolge hochgradiger Dyspnoe
bestand, machte Verf. einen 4 cm langen Längsschnitt im Jugu-
lum und ging nach Durchtrennung der Faszie mit dem Finger
stumpf in die Tiefe, bis die Trachea und der hintere Rand der
Incisura jugularis sterni zu tasten war. lieber die Schnittwunde
wurde eine Bi er sehe Saugglocke gestülpt, die mit einer Wasser¬
strahlsaugpumpe in Verbindung gesetzt wurde. Eklatanter Erfolg.
In kontinuierlichem Strome sprudelte aus der Inzisionsöffnung
Luft. Der Patient fühlte sich sofort wesentlich erleichtert, freiere
Atmung, rasches Zurückgehen des Emphysems im Hals und Kopf.
Nächsten Tag wurde die Frakturstelle freigelegt und ein Ventildrain
in die Pleurahöhle eingeführt. Die Saugglocke mußte bis zum
dritten Tage liegen bleiben. Der Aveitere, zwar durch ein auf¬
tretendes Delirium tremens gestörte Heilungsverlauf war dennoch
ein günstiger. — (Zentralblatt für Chirurgie 1911, Nr. 12.1 E. V.
*
407. Die Behandlung der Syphilis mit Ehrlich-
Hata „606“. Von Priv.-Doz. Dr. Hübner, Marburg. Wenn auch
die richtigste (wirkungsvollste und dabei unschädliche) Där-
reichungsform für das Ehrlichsche Mittel erst gefunden Averden
muß, So kann man doch heute schon sagen, daß man Ehrlich-
Hata ,,606“ in demselben Sinne gebrauchen darf wie Quecksilber,
dem esi an Schnelligkeit der Wirkung Avohl in jedem Fälle über¬
legen ist. Die Heilung der ansteckenden Symptome dauert jetzt
im1 Durchschnitt so viele Tage Avie früher Wochen. Die Möglich¬
keit der Verbreitung der Krankheit wird hiedurch allein schon
enorm eingeschränkt und die Ausgaben der Krankenkassen für
die Heilung der Luetiker werden bedeutend verringert. Schon
hieraus muß sich eine starke Einschränkung der Zahl der Neu¬
erkrankungen an Syphilis in der nächsten Zeit geltend machen.
Ob das neue Mittel in gleicher Weise prophylaktisch gegen das
Auftreten der schweren Nachkrankheiten der Syphilis wirkt, das
läßt sich heute noch nicht sagen. Keinesfalls wird man Ehrlich-
Hata „606“ in der Therapie der 'Syphilis’ mehr entbehren können,
wenngleich sich die überschwenglichen Hoffnungen, die man an
das neue Mittel im ersten Moment geknüpft hat, bisher noch
nicht voll erfüllt haben. Eis liegt aber auch gar kein Grund vor,
jetzt in dieser Enttäuschung, vor der niemand mehr als Ehrlich
selbst gewarnt hat, die eminent günstigen Eigenschaften des Mittels
gering zu veranschlagen. — (Fortschritte der Medizin 1911,
29. Jahrg., Nr. 1.) i K. S.
*
408. (Aus der inneren Abteilung des städtischen Kranken¬
hauses St. Rochus in Mainz. — Dirigierender Arzt : Dr. H. Our s c h-
mann.) Ueber Bantische Krankheit bei hereditärer
Lues und ihre Behandlung mit Salvarsan. Von V illi
Schmidt. Verf. berichtet über einen Fall von Bantischer Krank¬
heit, der diagnostisch und therapeutisch als ('in eklatanter Erfolg
578
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 16
der Salvarsanbehandlung von Interesse ist. Banti beschrieb
bekanntlich 1897 einen Symptomenkomplex, den er als ,, Spleno¬
megalie mit Leberzirrhose“ bezeichnete. Klinisch charakterisiert
er dieses Krankheitsbild als eine primäre Milzschwellung mit an¬
schließender Kachexie und Anämie und einer chronischen Hepa¬
titis, aus der zuletzt das Bild der Laenne eschen Zirrhose
resultiere. Im Blute linde sich Poikilozytose und Erythrozyto-
penie, dagegen keine Leukozytose oder Leukopenie. Anatomisch
wird die Milzschwellung als eine Fibroadenie und in späteren
Stadien als eine ausgiebige bindegewebige Umwandlung der Pulpa
bezeichnet. Aetiologisch schließt Banti ausdrücklich Lues, Ma¬
laria und Intoxikationen aus und nimmt als primäre Ursache
eine Schädigung des Verdauungsapparates an. Später haben andere
Autoren eine Reihe von Theorien über die Krankheit aufgestellt.
Unter anderen wiesen Chiari und Marse hand bei einigen
Fällen auf das Vorhandensein einer Lues hereditaria tarda hin.
Die Entdeckung der luetischen Aetiologie mußte auch der Therapie
der Ban tischen Krankheit einen neuen Weg weisen, der aber
noch wenig beschritten wurde. Im Sinne von Banti, der die
Erkrankung primär in die Milz verlegte, wurde eine Totalexstirpa¬
tion der Milz von chirurgischer Seite vorgeschlagen und in einer
Reihe von Fällen mit sehr gutem Erfolge ausgeführt. Der Erfolg
der Röntgentherapie war wechselnd, der Eisen-Arsentherapie nega¬
tiv. Der Fall des Verfassers war folgender: Ein 14jähriger Junge,
von Jugend auf schwächlich, mit einer der Lues stark verdäch¬
tigen Familienanamnese, erkrankt allmählich unter Erscheinungen
eines starken Milztumors und knotiger Veränderung der Leber.
Dabei leicht sekundäre Anämie mit deutlicher Leukopenie. Dia¬
gnose: Morbus Banti. Therapie: Zunächst Liquor ferri albuminati,
Liquor Kali arsenicosi. Der Erfolg war absolut negativ. Auch die
Röntgenbestrahlungen ließen jeden Erfolg vermissen. Inzwischen
war das Vorhandensein einer Lues hereditaria durch ausführlichere
anamnestische Momente und die Krankheit der Mutter (Tabes
dorsalis), sowie durch den positiven Ausfall der Wassermann-
schen Reaktion sicher geworden. Es wurde daher am 15. August
1910 0-4 Salvarsan subkutan injiziert. Zehn Tage nachher be¬
reits deutlicher Rückgang der Milzschwellung zu konstatieren.
Auch die Leberknoten waren zurückgegangen. Subjektives Be¬
finden erheblich besser. Der Blutbefund zeigte immer noch eine
deutliche Leukopenie. Bei der Entlassung am 4. Oktober fühlt
sich der Knabe so wohl, daß er wieder als Goldschmiedlehrling
seine Arbeit aufnehmen Avollte. Bei der Nachuntersuchung am
15. Oktober, also nach zwei Monaten, ist das Befinden des Jungen
andauernd ausgezeichnet. Milz 6(4 Cm lang, 4V2 cm breit, gegen¬
über einer Länge von 16 cm und einer Breite von 8 cm bei der
Aufnahme; sie hat also an Länge um 10 cm, an Breite um
3V« cm abgenommen. Es ist also in diesem Fälle, wenn auch
keine völlige Restitutio ad integrum, so doch eine geradezu er¬
staunliche und in ihrem prompten Eintreten verblüffende Wir¬
kung mit Salvarsan erzielt worden, die einer klinischen Heilung
fast gleichkommt. Von den derben Knoten der Leber ist über¬
haupt nichts mehr nachweisbar, der Milztumor ist ganz erheblich
kleiner geworden und in stetem Rückgang begriffen. Das subjektive
Befinden ist ausgezeichnet, der Ivnajie ist wieder völlig arbeitsfähig.
Das einzige Symptom, das dauernd unverändert bleibt, ist die
Leukopenie mit relativer Vermehrung der Lymphozyten. Die
Frage, ob diese Fälle Banti scher Krankheit, die auf Lues here¬
ditaria beruhen, wirklich in das Banti sehe Kränk'heitsbild sensu
strictiori gehören, beantwortet Verf. mit ja. Es sind also auch die
syphilidogenen Fälle zur Gruppe des Morbus Banti zu rechnen.
Nur ist ihre Aetiologie besonders scharf horVorzUkehren, weil sie
von der größten Wichtigkeit für die Therapie ist. Während die
Fälle des von Banti ursprünglich aufgestellten Krankheitsbildes
immer noch in das Gebiet der Chirurgie gehören, so ist doch
vor einer kritiklosen Milzexstirpation in allen Fällen von Morbus
Banti eindringlich zu warnen. Jeder dieser Fälle bedarf einer
genauen Erforschung auf vorausgegangene oder ererbte Lues und
der Anstellung der Was s er m annschen Reaktion. Verf. glaubt,
daß in diesen Fällen durch Salvarsan bedeutende Erfolge zu er¬
zielen sind und daß der chirurgische Eingriff nur als ultima
ratio anzusehen ist. — (Münchener medizinische Wochenschrift
1911, Nr. 12.) a
409. Heilungsvorgänge bei Schizophrenen. Von
Dr. H. Bertschi nger, Direktor der kant. Heilanstalt Breitenau.
Verf. kennzeichnet den Ausbruch der Krankheit, der als De¬
mentia praecox bezeichnet wird, als Einbruch des Unterbewußt¬
seins ins Oberbewußtsein. Verf. hat an seinem Krankenmateriale
gefunden, daß es hauptsächlich drei Wege sind, auf denen es
den Kranken gelingt, die Herrschaft übeir ihr Unterbewußtsein
zu erlangen : Die Korrektur der Wahnideen, die Umsymbolisie-
rung (allmähliche Veränderung der Wahngebilde) und die Um¬
gehung des Komplexes. Möglich, daß die Ausführungen des Ver-
iassers einige prognostisch brauchbare Anhaltspunkte geben, die
Therapie wird durch dieselben wenig gefördert werden. - (All¬
gemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch -gerichtliche
Medizin, Bd. 68, H. 2.) g_
*
410. Zur Klinik der Lungen- und Pleura¬
geschwülste (Endothelioma pleurae). Von Professor j
Dr. A. Franke 1 in Berlin. Unter den Primärtumoren der Lungen i
steht hinsichtlich der Häufigkeit des Vorkommens das Karzinom
obenan, dann kommen die primären Lungensarkome, die schon
seltener zur Beobachtung gelangen und von den bronchialen oder
mediastinalen Lvmphdrüsen oder von der Thymus ausgehen. Durch
Lebergreifen auf die Lunge können diese einen so großen Umfang
erreichen, daß man dann von einem Tumor der Lunge sprechen
kann. Der Verfasser bespricht die durch Lungenkarzinom, re¬
spektive Sarkome zustande kommenden Bronchostenosen und die
durch diese wiederum bedingten klinischen Symptome (Atelektase,
indurative Veränderungen im zugehörigen Parenchym der Lunge,
Verhalten des Auswurfes usw.) und erörtert eingehend die Pleura¬
ergüsse im Verlauf eines Karzinoms oder Sarkoms der Lunge.
Noch seltener sind primäre Tumorbildungen des Brustfells. Ein
echtes primäres Sarkom der Pleura hat Verf. niemals beobachtet,
dagegen verfügt er über vier einwandfreie, klinisch und anato¬
misch gut beobachtete Fälle von Endothelkrebs oder so¬
genanntem Pleuraendotheliom. Verf. beschreibt den Krank¬
heitsverlauf, den Befund bei der Sektion und das Ergebnis der
histologischen Untersuchung dieser vier Fälle und fährt sodann
fort: Drei Fälle boten bei der Autopsie die charakteristische, zu
diffuser Schwartenbildung führende Form des Pleuraendothelioms.
Sie zeigten nicht bloß anatomisch, sondern auch klinisch die
denkbar größte Uebereinstimmung : verhältnismäßig schnelle Ent¬
wicklung und schnellen Verlauf der Krankheit, Bildung umfäng¬
licher Pleuraergüsse von außergewöhnlich starkem Blutgehalt,
rapide Erneuerung des Exsudates nach den Punktionen und in¬
folge davon nur vorübergehend Erleichterung der Kranken, deren
Beschwerden sogar nach einigen Tagen bereits einen höheren Grad
wie zuvor erreichten. Sieht man die Pleura an, so fällt an ihnen
die eigentümliche Oberflächenbeschaffenbeit auf; grubige Ver¬
tiefungen und leistenförmige Erhabenheiten, ferner Knoten und
Platten an der Pleura costalis lassen die Besonderheit des Falles
ahnen. Einer der vier Fälle zeigte anatomisch einen anderen
Befund, es fehlte die diffuse Schwielenbildung der Pleura, statt
ihrer bestand nur ein knolliger Tumor von mäßiger Größe. Es
werden übrigens auch bei der schwielenartigen Verdickung der
Serosa daneben auch Knoten und Knollen von zuweilen ganz
erheblichen Dimensionen beobachtet. In allen vier Fällen wurde
endlich die auch sonst schon betonte auffallend geringe Neigung
zu Metastäsenbildung beobachtet. Verf. bespricht sodann ein¬
gehend die Stellung dieses Prozesses in der Geschwulstklassifika-
tion, erwähnt hiebei die Ansichten anderer Bearbeiter dieser
frage und gelängt sodann zu dem Schlüsse, daß bei dem Endo-
theliom der serösen Häute, mag man es nun zu dem echten
Karzinom rechnen oder nicht, sehr wahrscheinlich sowohl eine
Vv ucherung ties Oberflächenepithels wie der zelligen Auskleidung
der Lymphgefäße der Schwielen statthat, wobei die Frage offen¬
bleibt, ob die exzessive V ucherung des Epithels oder der Endo
thelien das Primäre ist. Verf. kommt zum Schlüsse nochmals
auf die klinischen S y m p t o m e des Pleuraendothelioms zu¬
rück. Eine sichere Diagnose am Krankenbette ist nicht möglich.
Stark hämorrhagische Ergüsse kommen gelegentlich auch bei
Karzinom der Pleura oder bei Sarkomen der Lunge mit Betei¬
ligung der Pleura vor, anderseits gibt es Pleuraendotheliome mit
einfach serösen Ergüssen. Bei Krebs der Lunge und Pleura werden
*
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
579
Nr. 16
oft ganz ähnliche polymorphe Goschwulstzellen im Exsudat an¬
getroffen, wie sie beim Endotheliom der Pleura gefunden wurden.
Immerhin wäre die Diagnose möglich, wenn bei einem auf Tumor
der Brusthöhle verdächtigen Menschien das Pleuraexsudat außer¬
gewöhnlich stark bluthaltig ist, zumal wenn der Kranke vor und
nach der Punktion über besonders heftige Schmerzen (Zug und
komprimierende Wirkung der -Schwielen) klagt.. Mancher Fall
wurde vielleicht auch am Leichentische nicht erkannt, weil man
einfach eine alte kallöse Pleuritis vor sich zu haben glaubte.
— (Deutsche mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 12.) E. F.
*
411. Schwangerschaftsunterbrechung bei perni¬
ziöser Anämie. Von Dr. Siegfried Kamin er, Berlin. S tied a
hat in einem Fälle von perniziöser Anämie die Frühgeburt mit
dem Erfolge eingeleitet, daß die Patientin einen Monat nach;
der Geburt bedeutend gebessert entlassen werden konnte Und
überhaupt nach drei Vierteljahren vollkommen gesund wurde.
Trotzdem kann man die Einleitung des künstlichen Abortus oder
der künstlichen Frühgeburt bei perniziöser Anämie nicht als in¬
diziert erachten, da bisher ähnliche Erfolge durch Einleitung
der Frühgeburt bei perniziöser Anämie niemals erzielt wurden,
dagegen die Erfahrung gemacht wurde, daß in den meisten Fällen
die Geburt selbst nur den Tod beschleunigt. Die Einleitung der
Frühgeburt ist demnach ziellos, wie Jaworski und Klein¬
wächter mit Recht betonen. — (Fortschritte der Medizin 1911,
29. Jahrg., Nr. 1.) 1
♦
412. Leber paroxysmale Tachykardie im An¬
schluß an Spontangeburten. Von Dr. Erwin Langes. Der
Verfasser beobachtete an der Klinik Stoekel einen Fall, in
dem gegen Ende der normalen Geburt der Puls bis 160 Schläge
sich hob, um in der Nachgeburtsperiode auf 180 Schläge empoi-
zugehen. Da keine Blutung bestand, wurde eine Spritze Morphin
gegeben. Das subjektive Befinden der Patienten war ausgezeichnet,
doch war der Puls zwölf Stunden post partum auf 210 gestiegen.
Am Herzen war eine Verbreitung der Herzdämpfung nach links
bis zwei Querfinger breit außerhalb der Mamillarlinic wahrzu-
nehrnen. Es war also fraglos eine akute, starke Dilatation ein¬
getreten. Subjektiv klagte Pat. nur über starkes Herzklopfen.
Der Puls ging dann langsam mit einigen geringeren, kurzen
Steigerungen zur Norm herab. Es trat eine Verbreiterung der Hmz-
dämpfung nach rechts auf, ein deutlich systolisches Geräusch
an der Herzspitze und ein klappender zweiter Pulmonalton. Vier
Wochen später konnte ein Zurückgang der Herzvergrößerung- und
der Intensität des Geräusches konstatiert werden, während eine
Vergrößerung des linken Vorhofes nicht mehr zu konstatieren
war. Verf. teilt noch zwei von Zangemeister beobachtete
ähnliche Fälle mit; hier trat erst unmittelbar post partum eine
starke Pulsbeschleunigung auf, die mit anämischen Symptomen
einherging. Nach wenigen Tagen fiel die Pulszahl ebenso rapid
wie sie emporgeöchnellt war. Verf. erklärt die Fälle so, daß
bei vorher gesundem Herzen die vermehrte Arbeit in der Geburt
in Gemeinschaft mit den dabei unvermeidlichen psychischen Ei
regungen einen Anfall paroxysmaler Tachykardie ausgelöst hat.
— (Zentralblatt für Gynäkologie 1911, Nr. 9.) E. V.
*
413. Ein geheilter Fall von jauchigem Pyo¬
pneumothorax nach Verschlucken eines Gebiß
Stückes. Von Dr. K. Nicol, im Inf.-Reg. Nr. 113 in Freiburg
im Breisgau. Ein 21 Jahre alter, bis dahin gesunder Soldat hatte
das Unglück, daß ihm in der Nacht ein lockeres Gebißstück m die
Luftwege gelangte, worauf sich heftige Hustenanfälle einstellten bei
stark behinderter Atmung. Plötzlich wurde die Atmung hei, cei
Mann hatte das Gebißstück geschluckt. Er wurde auf die Umversi-
täts-Halsklinik gebracht und daselbst wurde ihm, 8 Stunden nach
dem Umfalle, der Fremdkörper entfernt, gewiß ohne Verletzung der
Oesophagusschleimhaut. Es war ca. 2/s einer Gaumenplatte mil
einem Metallhaken und einem Schneidezahn. Er befand sich darnach
wohl, bekam aber schon am nächsten Tage unter Frösteln 1 m >ei ,
Stiche in der rechten Lunge beim Atmen etc. und winde ins ,aza
rett gebracht. Hier bildete sich im Verlaufe der nächsten Tage ein
jauchiger Pyopneumothorax aus; die gleichzeitige Anwesenheit \ on
Luft (bzw. Gas) und einer größeren Menge von freier jauchiger
Flüssigkeit wurde durch die physikalischen Symptome, durch die
Röntgendurchleuchtung und die Probepunktion erwiesen. Bei der
Operation (Resektion eines Stückes der 7. Rippe) entleerte sich mit
Luft gemischte, stark fötid riechende Jauche in großer Menge, nach
einigen Tagen gingen mehrere grünschwarze, gangränöse Gewebs-
fetzen ab, die sich als abgestoßenes faules Lungengewebe erwiesen.
Dasselbe trat noch mehrmals auf, der Schwerkranke wurde schlie߬
lich fieberfrei und mit einer Gewichtszunahme von 7 kg entlassen.
Verf. bespricht eingehend die Frage, wann und wodurch der Pneu¬
mothorax entstanden sei und woher die Pleuraerkrankung ihren
Ausgang genommen habe. Er gelangt unter Ausschließung anderer
Ursachen zu der Annahme, daß hier eine Aspiration von Schleim,
eventuell von Speiseresten, die an dem Gebißstücke saßen, statt¬
fand, daß infolgedessen eine lobäre Pneumonie entstand (klinisch :
Pneumoniesymptome) und daß sich hieran durch Einwirkung von
Fäulnisbakterien eine Gangrän des erkrankten Lungengewebes an¬
schloß. Die Infektion hat von der Lunge auf die Pleura überge¬
griffen, es bildete sich eine Kbmmunikation der Pleurahöhle mit
dem Bronchialbaum und der Pyopneumothorax war vorhanden. Der
Pneumothorax hat hier vollkommen symptom los eingesetzt.
Ortner hat auf diese Form, »den schleichenden indolenten Pneu¬
mothorax«, aufmerksam gemacht und gezeigt, daß in solchen
Fällen nicht eine große Kommunikation in Gestalt eines Loches be¬
stand, vielmehr die Pleura siebartig durchlöchert aussah .
»Hiedurch sickert der Eiter wie durch ein Filter hindurch und
soviel Eiter mit jeder Exspiration in die Lunge und Bronchien ein-
tritt, soviel wird mit jeder Inspiration durch aus den Lungen aus¬
tretende Luft ersetzt«, es findet also ein langsamer Austausch von
Empyemflüssigkeit und Bronchialluft statt. Verf. warnt die prakti¬
schen Aerzte zum Schlüsse, in Fällen von Anwesenheit von Fremd¬
körpern in den oberen Luft- und Speisewegen Extraktionsversuche
anzustellen. In vielen Fällen hat man genug Zeit, den Patienten
einem spezialistisch ausgebildeten Kollegen zuzuweisen, eventuell von
einem Chirurgen die Tracheotomie oder Oesophagolomie ausführen zu
lassen. Man kann dem praktischen Arzt nur raten, den Münzen¬
länger und andere derartige Instrumente zu den historischen In¬
strumenten zu legen und dem Patienten lieber die Errungenschaften
der modernen ärztlichen Technik angedeihen zu lassen. — (Berliner
klin. Wochenschr. 1911, Nr. 11.) E. F.
*
414. Die Braccosche Becken-Bauchbinde. Von
Dr. Otto Hug, Frauenarzt in Zürich. Es ist hinreichend bekannt,
daß die Bauchbinden von heute wohl alle in ihrer Funktion
ungenügend sind. Dr. Bracco, Direktor der luriner Poliklinik,
führte nach jahrelangem Studium eine neue Binde in die Praxis
ein, bei der alle Schäden der bisherigen Bauchbinden wegfallen.
Die Binde umfaßt das ganze Becken, von der Mitte der Ober¬
schenkel bis hinauf zum und über den Nabel. Sie besteht aus
einem Gitterwerk von unelastischen Streifen, welche nach Art
der Spica pelvica in Achtertouren Becken, Bauch und Ober¬
schenkel umfassen und welche in gesetzmäßig bestimmten Win¬
keln zueinander, entsprechend dem Parallelogramme der Kräfte,
geführt werden. Diese mathematisch genaue Anordnung der ein¬
zelnen Streifen ermöglicht, mit einem Minimum' von Material,
was bei dicken, leicht schwitzenden Patientinnen sehr ins Ge¬
wicht fällt, ein Maximum von Druck auszuüben, wodurch Bauch
und Eingeweide fixiert werden. Das wesentlich: Neue an dieser
Binde ist ferner noch, daß sie erst nach einem Modell des
Bauches (hergestellt durch einen Stärkebindenverband, der bereits
den Bauch wünschenswert korrigiert hat) angefertigt wird. Auf
diese Weise erhält man! eine genaue, wirklich minutiös sitzende
Binde, die nicht nur den Vorteil der Solidität hat (weil ganz
unelastisch), sondern auch gleich den Bauch so korrigiert, wie
es' vom Arzte gewünscht wird. Hug hat diese „Orthopädie des
Bauches“ an der gynäkologischen Klinik in München kennen und
sehr schätzen gelernt. — Die Binde ist sehr leicht, waschbar
und dauerhaft. Jederzeit kann nach dem Modell wieder eine
gleiche Binde angefertigt werden. Doch nehmen unter dem Tragen
der Binde die Zirkulationsstörungen der Bauchdecken so sehr
ab und kräftigt sich die Bauchmuskulatur in solchem Maße,
daß ein Tragen der Binde über zwei Jahre hinaus' nur selten
'notwendig wird. Die Indikationen ztnn Fragen dei Bracco
sehen Binde sind selbstverständliche; als Gegenindikationen
580
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 16
werden angegeben : Leute über 70 Jahre, hochgradige Nervosi¬
tät, Eventrationen mit schwerer Verwachsung der Eingeweide.
(Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1910, 40. Jahrg.,
Nr. 36.) K. S.
*
415. Normales Schwangerenserum als Heilmittel
gegen Schwangerschaftsdermatosen im besonderen
und Schwangerschaftstoxikosen überhaupt. Von
Privatdozent Dr. A. Mayer. Verf. gelangte auf Grund folgender
Ueberlegungen zu seinen Versuchen : Gewisse, durch den wach¬
senden Keim in dem mütterlichen Organismus normaliter gebildete
Giftstoffe können diesem in pathologischen Fällen schädlich
werden. Es ist daher für den normalen Ablauf der Schwangerschaft
nötig, daß jene Giftstoffe durch Gegengifte unschädlich gemacht
werden, da sonst blutfremde Stoffe im mütterlichen Blute ent¬
stehen, die zu nutologischen Erkrankungen führen. „Man kann
also sagen, daß eine an einer Graviditätstoxikose erkrankte Frau
an einem Defizit von Gegengiften leidet, die eine gesunde Schwan¬
gere besitzt.“ So versuchte Verf., dieses Defizit der kranken
Schwangeren durch Einverleibung von Blutserum einer gesunden
Schwangeren zu ersetzen. Es wurde einmal in einem Falle von
Herpes gestationis und einmal von Urtikaria in der Gravidität,
ferner zweimal hei in verschiedenen Schwangerschaften rezidi¬
vierenden Pruritis Serum gesunder Schwangerer intravenös (bis
40 cm" auf zwei- bis dreimal) mit gutem Erfolge injiziert. Ver¬
fasser fordert daher zu dem Versuche auf, alle Graviditätstoxi¬
kosen, Dermatosen, Eklampsie, Schwangerschaftsalbuminurie, ge¬
wisse Formen von Emesis, Tetanie und vielleicht auch Osteo¬
malazie nur mit Serumeinspritzung zu behandeln. — (Zentral¬
blatt für Gynäkologie 1911, Nr. 9.) E. V.
*
416. Ueber die wirksamen Bestandteile des
Mutterkorns. Von Dt. E. Bernouilli- Basel. Wegen der
großen Veränderlichkeit in der Wirkung der Sekalepräparate hat
man schon früh versucht, dieselben durch Isolierung der wirk¬
samen Bestandteile haltbarer zu machen. Dabei ist man jedoch
infolge der komplizierten chemischen Zusammensetzung des
Mutterkornes auf ganz besondere Schwierigkeiten gestoßen. Weder
das Ergotinin, noch die Ergotinsäure oder Sphazelinsäure oder
das Kornutin, haben sich als charakteristisch wirksamer Mutter¬
kornbestandteil erwiesen. Erst 1906 ist es zum ersten Male ge¬
lungen, einen wirksamen Mutterkornbestandteil rein zu gewinnen
(Barger und Carir, Kraft) u. zw. in dem stark wirkenden
Alkaloid Ergotoxin (Hydroergotinin Kraft). Das Ergotinin zeigt
schon in kleinen Dosen die typischen Mutterkornwirkungen, indem
es Gangrän des Hahnenkammes, Blutdrucksteigerung und Kon¬
traktionen des Uterus hervorruft. Außer dem Ergotoxin fanden
Barger und Dale im p - Oxyphenyläthylamin noch eine weitere
Substanz, welche für die Mutterkornwirkung von Bedeutung ist
und dabei geringere Giftigkeit für das Zentralnervensystem be¬
sitzt. Wenngleich, je weiter die Sekaleforschung fortschreitet,
es sich um so mehr zeigt, daß es sich im Mutterkorn um ein
kompliziertes und inkonstantes Gemisch verschieden wirkender
Substanzen handelt, so ist doch schon anzunehmen, daß wir in
absehbarer Zeit in den Besitz unveränderlicher, einheitlicher und
genau dosierbarer Sekalepräparate kommen werden. — (Korre¬
spondenzblatt für Schweizer Aerzte 1911, 41. Jahrg., Nr. 5.)
K. S.
*
Aus französischen Zeitschriften.
417. Ueber die rektale Drainage der appendiku-
Ihren Beckenabszesse. Von Chifoliau. Der Beckenabszeß
nach Appendizitis ist kein seltenes Vorkommnis; bei Beckenlage¬
rung des Wurmfortsatzes sammelt sich der von dessen Ende
ausgehende Eiter gewöhnlich im D ouglas sehen Raume. Bei
Zunahme des Abszesses erfolgt Aufsteigen in das große Becken
und selbst gegen das Hypogastrium. Beim Manne ist die Drai¬
nage der Beckenabszesse vom Mastdarm aus der einzige Weg,
bei weiblichen Individuen wird die hintere Kolpotomie vorgenom¬
men und selbst bei virginalem Zustande des Genitales der vagi¬
nale Weg gewählt, wodurch verschiedene Uebelstände geschaffen
werden. Die Diagnose des appendikulären Beckenabszesses läßt
sich nur durch wiederholte rektale Untersuchung stellen, da die
Symptome der Beckenappendizitis sich nicht von den anderen
Formen unterscheiden und auch die Harnretention nicht als cha¬
rakteristisch betrachtet werden kann. Die stürmischen Initial¬
symptome gehen unter Diät, Bettruhe und Eisapplikation zu¬
rück. Die Beckenappendizitis hat eine ausgesprochene Tendenz
zur Abkapselung und es kann der nach Ablauf des akuten Sta¬
diums vorgenommene operative Eingriff große Gefahren bringen,
wenn nicht durch vorherige genaue Untersuchung vom Mastdami
aus der lokale Befund kontrolliert wird. Bei nachweisbarer In¬
duration im D ouglas sehen Raume muß man mit der Operation
länger zuwarten als sonst, weil bei zu frühzeitigem Eingriff die
vollständige Exstirpation des Wurmfortsatzes unmöglich ist. Wenn
im Anschluß an Diätfehler die Entzündung wieder angefacht
wird, und der Abszeß gegen das große Becken aufsteigt, ist die
dringende Indikation zu einem Eingriff gegeben. In jenen Fällen,
wo der Abszeß gegen den Mastdarm sich vorwölbt, ist die rektale
Eröffnung von selbst gegeben. Der vorgeschlagene prärektale Weg
ist komplizierter; die Befürchtung von Blutung, sowie Verletzung
der Prostata oder einer Darmschlinge bei rektaler Inzision ist
unbegründet, ebensowenig ist eine Einwanderung von Infektions¬
keimen zu befürchten. Nach Inzision und Drainage sieht man die
Eiterung rasch versiegen. Auch tuberkulöse Ergüsse im kleinen
Becken 'können mit Erfolg durch die rektale Inzision entfernt wer¬
den. Zur Eröffnung des Abszesses auf rektalem Wege genügt
eine gekrümmte Klemme von genügender Länge, dann wird ein
dickes Drainrohr eingeführt, dessen Ende aus dem Anus ragt
und es wird der Abszeß einige Tage- hindurch mit gekochtem
Wasser oder Wasserstoffsuperoxyd ausgespült. Das Drain wird
am vierten Tage entfernt, am achten Tage kann der Patient das
Bett verlassen. Nach Eröffnung des Abs'zess-es wird nach Ablauf
von ein bis zwlei Monaten der Wurmfortsatz exstirpiert. —
(Progres med. 1911, Nr. 2.) a. e.
*
418. Das Erysipel der Säuglinge. Von Milhit und
ll. Steven in. Neben den typischen Formen, zum Beispiel dem
von'lder Nabelwunde ausgehenden Erysipel, gibt es beim Säugling
Formen, die vom Typus so weit abweichen, daß die wahre Natur
der vorliegenden Erkrankung übersehen werden kann. Es gibt
Erysipelformen beim Säugling, welche sich nur durch Auftreten
eines Oedenis kundgeben, welches umschrieben oder generalisiert,
von harter oder weicher Konsistenz sein kann; das Oedem ist
nicht entzündlicher Natur, das Allgemeinbefinden ist wenig gestört,
doch ist die Prognose-, besonders bei Kindern im ersten Lebens¬
monat, höchst ungünstig. Eine besondere Gruppe bilden hier die
Fälle mit außerordentlich schnell wanderndem Oedem. Bei einer
anderen Gruppe von Fällen gibt sich die Erkrankung durch rasch
aufeinanderfolgendes Auftreten von Abszessen an verschiedenen
Körperstellen kund, ohne daß die für das Erysipel als typisch
geltenden Symptome bestehen. Die Erfahrung lehrt, daß das Ery¬
sipel des Säuglings, auch dort, wo es sich vom Typus nicht
so weit entfernt, wie bei den beschriebenen Formen, in seinem
Bilde weniger deutlich ausgeprägt ist, wie das Erysipel beim Er¬
wachsenen. Die ödematöse Form des Säuglingserysipels kann
auf den ersten Blick mit kardialem, bzw. renalem Oedem oder
Sclerema neonatorum verwechselt werden. Bei aufmerksamer
Beobachtung findet pian am Rande einer ödematösen Stelle
einen rötlichen Saum oder stellenweise Desquamation, welche
für Erysipel charakteristisch sind, auch lassen sich nicht selten
Streptokokken in der Oedemflüssigkeit nachweisen. Auch bei
der mit multipler Abszeßbildung einhergehenden Form kann der
Befund umschriebener Oedeme mit rotem Saum auf die richtige
Diagnose führen. Die Hypeiieukozytose ist beim Säuglingsery¬
sipel wenig ausgeprägt, Temperatur, Allgemeinbefinden und Kör¬
pergewicht -zeigen kein charakteristisches Verhalten. Die Prognose
ist 'bei Säuglingen in den ersten drei bis vier Lebensmonaten fast
durchaus ungünstig, bei älteren Säuglingen wird die Prognose
mit der Zunahme des Alters immer günstiger. Die Therapie besteht
in Injektionen von Kampferöl, äußerlicher Applikation von feucht¬
warmen Umschlägen, Einreibungen und Injektionen von Kollargol,
heißen Bädern, Darreichung von Brustnahrung usw. ; das Anti¬
streptokokkenserum hat sich in einem Falle bewährt, in anderen
Fällen versagt. Ein Versuch mit Vakzinetherapie u. zw. mit
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
581
Autovakzine, erscheint prinzipiell gerechtfertigt. Die Prophylaxe
erfordert auch die Isolierung der erkrankten. Säuglinge. — (Progres
med. 1911, Nr. 4.) a. e.
*
419. Ueber die Hydrämie bei Morbus Bright ii
und kardialem Oedem, sowie ihren Nachweis mittels
der refraktometrischen Methode; Vergleich ihrer
Schwankungen mit den Variationen des Körperge¬
wichtes. Von F. Widal, Rene Bernard und £. Vaucher.
Die Flüssigkeitsansammlung im Organismus läßt sich lange vor
dem Auftreten sichtbarer Oedeme durch Kontrolle des Körper¬
gewichtes nachweisen. Zur Bestimmung des Wassergehaltes des
Blutes sind verschiedene Methoden angegeben worden, welche in
ihrer Ausführung kompliziert sind. Ein einfaches Verfahren,
welches die Feststellung des Eiweißgehaltes des Blutplasmas ge¬
stattet, ist die Bestimmung der Refraktion eines durch das zu
untersuchende Serum durchgehenden Lichtstrahles mit Hilfe des
Refraktometers. Einschlägige Untersuchungen haben ergeben, daß
beim kardialen Oedem, kardialem Morbus Brightii und epithelialer
Nephritis der Eiweißgehalt des Blutes herabgesetzt ist. Durch
die gleichzeitige Bestimmung des Körpergewichtes und des Ei¬
weißgehaltes 'des Blutes konnte festgestellt werden, daß das
Oedem des Zellgewebes mit erhöhtem Wassergehalt des Blutes
einhergeht. Mit dem Rückgänge des Oedems und der Abnahme
des Körpergewichtes steigt der refraktometrische Index. In der
Regel geht die Gewichtsabnahme der Zunahme der Konzentration
des Blutes voraus, so daß die Wägung, welche auch leichter
durchführbar ist, raschere Aufschlüsse gibt, als die refraktoi-
metrische Bestimmung. Aus dem Vergleich beider Methoden geht
hervor, daß zunächst das Oedem abnimmt und die llydrämie
noch fortbesteht, dann erst die erhöhte Konzentration des Blutes
folgt. Nach Darreichung von Digitalis beobachtet man mit der
Aufsaugung der Oedeme zunächst eine rasche Steigerung der
Hydrämie, welche passagerer Natur ist. Die Bestimmung des
Eiwejißgehaltes des Blutes durch das Refraktometer ist auch
für die Kontrolle der kochsalzarmen Ernährung von großer
Wichtigkeit. Wenn das Körpergewicht zuninimt und gleichzeitig
der refraktometrische Index absinkt, so weist dies auf V iedex-
ansammlung von Flüssigkeit im Organismus hin, während statio¬
näres Verhalten des Index darauf hinweist, daß die Gewichts¬
zunahme durch Ansatz von Substanz bedingt ist. Die Abnahme
des refraktometrischen Index bei einem Brightiker, der zui nom¬
inalen Ernährung zurückgekehrt ist, weist auf die Notwendigkeit
der neuerlichen Einleitung der kochsalzarmen Diät bin. Die
refraktometrische Untersuchung des Blutes gestattet nicht nur
einen tieferen Einblick in die Pathogenese der Oedeme, sondern
gibt auch wichtige Anhaltspunkte für die Behandlung. (Sem.
med. 1911, Nr. 5.) a- a
*
Aus englischen Zeitschriften.
420. Einige Bemerkungen über Pantop onanästhe-
sie. Von C. Louis Seipoldt. Das Pantopon ist eine Mischung,
welche sämtliche Alkaloide des Opiums, in Form von Chloriden
enthält und ein gelblich - braunes, leicht wasserlösliches tulvei
daxstellt, von welchen lg 5g einer 10°/oigen Morphinlösung
entsprechen soll. Das Pantopon hat eine ausgebreitete Anwendung
als narkotisches und schmerzstillendes Mittel gefunden. In neu¬
ester Zeit hat vielfach die kombinierte Narkose Anwendung ge¬
funden, wobei es1 sich zeigte, daß zwei nebeneinander, oder noch
besser, in kurzem Intervall nacheinander gegebene Anästhetika
eine stärkere Wirkung entfalten, als es der Summe der Einzel-
wirkungen entsprechen würde. Für Zwecke der kombinierten An¬
ästhesie wurde auch das Pantopon in Form von 1 cm dm
2 ‘Ligen Lösung, welche eine Stunde vor der Operation injiziert
wird, verwendet. Das Pantopon wirkt beruhigend auf 1 uls,
Temperatur und psychisches Verhalten, während das Skopo-
morphin in letzterer Hinsicht öfter unbefriedigende Resultate gibt.
In einzelnen Fällen genügten zwei Pantoponinjektionen zur Er¬
zielung der für die Operation notwendigen , Anästhesie, so daß von
der Narkose Abstand genommen werden konnte, doch ist dieses
Verfahren im allgemeinen nicht anzuraten. Ein Nachteil es
Skopomorphins bei nachfolgender Aether- Sauerstoffnarkose ist
das Auftreten länger anhaltender Apnoe und die Entwicklung
von Kongestion der Lungenbasis, wodurch das Auftreten postnarko¬
tischer Komplikation begünstigt wird, als weitere Nachteile sind
die erhöhte Exzitation, die längere Dauer des Stupors, das häu¬
figere Auftreten von Leblichkeiten und Erbrechen nach dem Er¬
wachen aus der Narkose anzuführen. Bei Anwendung von Pan¬
topon ist die Atmung regelmäßig und ruhig, auch kommt Apnoe
nicht vor; Erbrechen während oder nach der Narkose wurde
uicht beobachtet, die Patienten befinden sich nach der Narkose
wohl. Besonders gestaltet sich das Initialstadium der Narkose
nach Pantoponinjektionen nahezu ideal; die Patienten sind ruhig,
die Atmung tief und regelmäßig, der Puls voll und nicht be¬
schleunigt, zur Aufrechterhaltung der Muskelerschlaffung genügen
kleine Mengen des Narkotikums. Die Gesamtmenge des Narko¬
tikums ist geringer, wenn nicht gleichzeitig Sauerstoff gebraucht
wird. Kontraindikationen der Pantoponanwendung wurden bis¬
her nicht festgestellt; das Pantopon, kann fauch hei Klappenfehlern
und Ikterus verwendet werden, ebenso im Kindesalter. Das Pan¬
topon bewirkt Austrocknung der Schleimhäute, so daß der Durst
gesteigert ist und starke Schweißsekretion. In 'der Literatur lindet
sich bisher ein Todesfall nach einer unter Anwendung von
Pantopon bewerkstelligten Anästhesie, doch ist nicht sichergestellt,
daß das Pantopon die Todesursache darstellt. Falls Zeichen von
Opiumvergiftung auftreten, ist die intravenöse Injektion einer
stärkeren Lösung von Kalium hypermanganicum indiziert.
(The Lancet, 11. Februar 1911.) a- e-
*
421. Ueber die antihämolytische Wirkung des
Arsens. Von James A. Gunn und Wilfred J. Feltham. Stark
verdünnte Lösungen von arseniger Säure üben in vitro eine deut¬
liche Schutzwirkung gegenüber der Hämolyse durch hypotonische
Salzlösungen aus. Es wurde dieses Verhalten zur Erklärung
der Heilwirkung des Arsens bei Blutkrankheiten, speziell bei per¬
niziöser Anämie herangezogen und Untersuchungen angestellt,
ob die antihämolytische Wirkung auch anderen Arsenoverbin-
dungen | zukommt und sich auch gegenüber anderen hämolytischen
Agentien äußert. Mit Rücksicht darauf, daß die arsenlge Säure
im Organismus als arsenigsaures und arsensaures Natrium Auf¬
tritt, wurden auch mit diesen beiden Arsenverbindungen Versuche
angestellt und als hämolytische Agentien u. a. destilliertes Wasser,
Zyklamin und Natriumglykocholat verwendet. Als Probeobjekt
diente eine Suspension von 0-025 cm3 Blut in 2-5 cm3 0-85%iger
Kochsalzlösung; bei einer Reihe von Versuchen wurden auch
dreimal mit Kochsalzlösung zentrifugierte Erythrozyten ange¬
wendet. Es zeigte sich, daß das arsenigsaur'e Natrium in einer
Verdünnung his 1 : 200,000 Erythrozyten gegen die Hämolyse durch
destilliertes Wasser zu schützen vermag. Weitere Versuche wur¬
den bezüglich der Schutzwirkung des arsensauren Natriums gegen¬
über Zyklamin, einer stark hämolytischen Substanz der Saponin¬
gruppe, angestellt. Es zeigte sich, daß eine Verdünnung bis zu
100.000 vor Hämolyse schützte, während eine Verdünnung von
1 : 200.000 bis 1 : 500.000 die Hämolyse durch Zyklamin verzö¬
gerte. 'Die Schutzwirkung kommt hier nicht dem Arsensalz allein,
sondern einer Kombination mit einem Bestandteil der Erythio-
zyten zu. Bei den Versuchen mit Natriumglykocholat wurde
festgestellt, daß eine Lösung des Arsensalzes 1:20.000 einen we¬
sentlichen, eine Lösung 1:100.000 einen deutlichen Schutz gegen
die Hämolyse durch Natrium glykocholicum gewährt. Analoge
Versuche wurden mit Lösungen des arsensauren Natriums an¬
gestellt und konstatiert, daß auch diese die Erythrozyten . vor
der Hämolyse durch destilliertes Wasser, Zyklamin und Natrium¬
glykocholat schützen. Es scheint die Annahme berechtigt, daß
der Schutz der Erythrozyten vor normalen und pathologischen
hämolytischen Prozessen die therapeutische V irksamkeit dei
Arsenpräparate bei Blutkrankheiten zum Teile erklärt. (Bi it.
med. Journ., 21. Januar 1911.) a- e-
X/ermisehte f4aehriehten.
Ernannt: Der mit dem Titel und Charakter eines Re-
jierungsrates bekleidete Hofarzt erster Klasse, Dr. Viktor ‘
n eng er, zum Regierungsrate extra statum. 1 rivatoozeni
Dr. Ernst Frey in Jena zum außerordentlichen Professor <
582
WIErmK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 16
Pharmakologie. — Dr. Gunnar Forssner zum Professor der
Pädiatrie in Upsala. — Dr. Luga r a zum Professor der Psy¬
chiatrie in Turin.
*
Verliehen: Dem Privatdozenten für innere Medizin,
Dr. Klieneberger in Königsberg, das Prädikat Professor.
*
Habilitiert: Dr. C lernen ti für allgemeine Pathologie
in Florenz. — Dr. Poggenpohl für innere Medizin an der
militärmedizinischen Akademie in Petersburg.
*
Ge s t o r b e n : Der Professor der Oto - Rhinologie, Dr. Cozz u-
lino, in Neapel. — Dr. Sadun, ehemaliger Professor der ge¬
richtlichen Medizin in Pisa.
*
tll. internationaler Tuberkulosekongreß. Im Juni
1910 hat sich ein ständiges „0 österreichisch es Komitee
zur Vorbereitung internationaler Tu b erku 1 os ekon-
f eren zen und -Kongresse“, mit dem Sitze in Wien I.,
Waltischgasse 8, konstituiert, welches aus den in Oesterreich
wohnenden ordentlichen Mitgliedern der „Internationalen Ver¬
einigung“ gegen die Tuberkulose besteht. Dem Ausschüsse des
Komitees gehören an : Der Präsident des Hilfsvereines für Lungen¬
kranke „Viribus unitis“, Dr. Hans Graf Larisch als Präsi¬
dent, der Sanitätsreferent im Ministerium des Innern Ministeriah
rat. Dr. Franz R. v. Haberl er und Hofrat Professor Doktor
Anton Weichsel bäum als Vizepräsidenten, Dr. Hermann von
Schrott er und Priv.-Doz. Dr. Ludwig Teleky als Schrift¬
führer. Da vom 24. bis 30. September d. J. in Rom der VII. inter¬
nationale Tuberkulosekongreß stattfindet, hat das Komitee gemäß
dem in der Sitzung vom 5. Februar d. J. gefaßten Beschlüsse,
an die Professorenkollegien der medizinischen Fakultäten, sowie
an die Vereine zur Bekämpfung der Tuberkulose, die Einladung
gerichtet, diesen Kongreß recht z!ahl reich zu beschicken und Vor¬
träge für den Kongreß, sowie eventuell Objekte für die im An¬
schluß an den Kongreß stattfindende Tuberkuloseausstellung an
das österreichische Komitee bis zum 1. Mai d. J. anzumelden.
Die gleiche Einladung richtet das Komitee auch an alle Persön¬
lichkeiten, welche sich mit der Frage der Tuberkulosebekämpfung
beschäftigen.
*
Cholera. Türkei. In Smyrna wurde am 3. März ein
tödlicher Cholerafall sichergestellt. Die Erkrankung datierte seit
drei Tagen, war aber verheimlicht worden. — Tripolis. Die
im Herbste vorigen Jahres in der Stadt Tripolis aufgetretene
Choleraepidemie hat in der Zeit vom 20. September bis 8. De¬
zember 1910 zu 323 Erkrankungsfällen geführt, von denen 233
tödlich endeten. Außerdem sind in der benachbarten Ortschaft
Amrousse 6 (5), in Hani 3 (2) Erkrankungen (Todesfälle) vor¬
gekommen. — Arabien. In Mekka ist die Cholera erloschen,
in Djeddah dem Erlöschen nahe; in der Zeit vom 5. bis 25. Fe¬
bruar sind hier nur vier Erkrankungen an Cholera aufgetreten.
In Medina hat die Seuche vom 4. Januar bis 13. Februar 667
'Todesopfer gefordert, seit dieser Zeit aber wurden keine wei¬
teren Erkrankungen gemeldet, so daß auch hier von einem Er¬
löschen der Epidemie gesprochen werden kann, zumal die Rück¬
kehr der Pilger nahezu abgeschlossen ist und das letzte Piiger-
scliifl den Hafen von Jambo verlassen hat. Dagegen trägt im
südlichen Teile Arabiens (Yemen) die Anhäufung von Truppen
zur neuerlichen Ausbreitung der Krankheit bei. In Hodeidah
erkrankten vom 27. Februar bis 5. März 23 Mann im Truppen-
spitale, von denen 11 starben. Auch unter einem Militärtrans¬
porte von 50 Soldaten, der aus Hodeidah nach Mokha und
Djibuti befördert wurde, ist im Lazarette von Camaran die Cho¬
lera konstatiert worden.
Pest.. Rußland. In Odessa ist am 5. März ein neuer
Pestfall vorgekommen, der zweite im Laufe des Monats. Von den
beiden erkrankten Personen ist eine der Krankheit erlegen, die
andere genesen. — Nieder ländisch- In dien. Zeitungsnach¬
richten zufolge ist die Beulenpest im östlichen Teile der Insel
,1 a v a aufgetreten ; die ersten Erkrankungen ereigneten sich in
der Umgebung von Malang. Von Anfang Februar bis 1. April
sollen 105 Personen erkrankt, 75 gestorben sein. Am 2. April
ereigneten sich weitere 13 Erkrankungen und 7 Todesfälle. Die
Seuche beschränkt sich bisher auf die Bergdistrikte von Penan-
goengan und Karangle. — Türkei. Provenienzen aus allen
ägyptischen Häfen unterliegen einer 24stündigen Observation, der
Desinfektion und Deratisation, Provenienzen aus arabischen Häfen
zwischen Akaba und Konfudah einer fünftägigen Quarantäne,
Provenienzen aus Djeddah außerdem noch der Deratisation. —
China. Nach der amtlichen Pestzeitung vom 12. März betrug
die Zahl der Pesttodesfälle in der Mandschurei bisher 31.450
Davon entfielen auf die Provinzen Kirin und Heilungkiang 25.814
auf die Provinz Fengtien 5636; außerdem sind im Gebiete der
Südmandschurischen Eisenbahn 239 Personen an Pest gestorben.
In Charbin und Fudjadjen scheint die Seuche erloschen zu sein-
dagegen wurden aus Mukden für die Woche vom 4. bis 12. März
165, aus Changchun und Umgebung 154 neue Pestfälle gemeldet,
ln Tientsin wurden im Februar 36 Pesterkrankungen in den
Eingeborenenquartieren sichergestellt. In der Provinz Schantung
ereigneten sich bis zum 5. März 2451 pestverdächtige Todes¬
fälle, in Tschifu sind seit 12. Januar 937 Personen der Epidemie
zum Opfer gefallen.
*
Im Jahre 1911 werden Fortbildungskurse für prak¬
tische Aerzte durch die Professoren und Privatdozenten der
Universität Heidelberg abgehalten werden. Die Kurse finden
in der Zeit vom 17. bis 29. Juli d. J. statt. Anmeldungen
zur Teilnahme an den Kursen sind bis spätestens 1. Juli d. J.
bei dem Schriftführer des Lokalkomitees für das ärztliche Fort-
bildungswesen in Heidelberg, Priv.-Doz. Dr. Wilmanns (Psy¬
chiatrische Klinik) einzureichen; dieser Herr ist auch bereit,
weitere Auskunft über die Kurse zu erteilen. — An der Uni¬
versität Freiburg finden in diesem Jahre Fortbildungskurse
nicht statt.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 13. Jahreswoche (vom 26. März bis
L April 1911). Lebend geboren, ehelich 525, unehelich 217, zusammen
742. Tot geboren, ehelich 63, unehelich 29, zusammen 92. Gesamtzahl der
Todesfälle 714 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
18 3 Todesfälle) an Bauchtyphus 1, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 2.
Scharlach 2, Keuchhusten 4, Diphtherie und Krupp 3, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 6, Lungentuberkulose 115, bösartige Neu- ,
bildungen 47, Wochenbettfieber 3, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 57 (+12), Wochenbettfieber 7 (-|- 6), Blattern 0
(0), Varizellen 105 (-U 27), Masern 208 (-f- 45), Scharlach 105 (— 2)
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 2 (—3), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (01
Diphtherie und Krupp 64 (+13), Keuchhusten 40 (4- 4), Trachom 4 (+3)
Influenza 0 ( — 1), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Behufs Besetzung von zwei, eventuell mehreren S a n i t ä t s- I
konzipistensteilen in der X. Rangsklasse mit den systemmäßigen
Bezügen in dem galizischen Staatssanitätsdienste' wird
hiemil im Sinne der Bestimmungen von § 2 des Gesetzes vom 5. Janua’- I
J896, R.-G.-BI. Nr. 17, der Konkurs bis 30. April 1911 ausgeschrieben.
Die Kandidaten um diese Stellen haben ihre Gesuche mit dem Nachweise
über die mit der Ministerialverordnung vom 21. März 1873, R.-G.-Bl. Nr. 37.
vorgeschriebene Qualifikation sowie die Kenntnis der Landessprachen zu
versehen und innerhalb des Konkurstermines beim k. k. Statthalterei¬
präsidium in Lemberg zu überreichen u. zw. die im Staatsdienste
stehenden Kompetenten im vorgeschrienenen Dienstwege, sonst aber im
Wege der zuständigen Bezirkshauptmannschaft, bzw. der Polizeidirektion.
Gemeindearztesstelle der Sanitätsgemeindegruppe S o 1-
1 e n a u, Niederösterreich (bestehend aus den Gemeinden Sollenau, Matzen¬
dorf, Holles, Steinabrückl des politischen Bezirkes Wr. -Neustadt und der
Gemeinde Schönau am St. des politischen Bezirkes Baden). Die Stelle ist
mit einem Bezüge von 800 K seitens der Gemeinden verbunden. Ueber-
dies sind zirka 3600 K fixe Bezüge als Fabriksarzt der Fabriken in Sol¬
lenau und Schönau sowie der Krankenkassa der Pulverfabrik Blumau
bisher mit dieser Stelle verbunden gewesen. Außerdem gibt die Sollenauer
Spinnlabrik Ireie Wohnung. Bewerber um diese Steile haben ihre vor-
schriltsmäßig belegten Gesuche bis 5. Mai 1911 beim Bürgermeisteramte
in Sollenau zu überreichen.
Gemeindearztesstelle der Sanitätsgemeindegruppe W i 1-
d endürnbaeh (Niederösterreich), umfassend die Gemeinden Wilden¬
dürnbach und Neuruppersdorf mit 2346 Einwohnern. Sitz des Arztes ist
Wildendürnbach. Jährlicher Gemeindebeitrag 500 K, Landessubvention
600 K, Naturalwohnung, Hausapotheke. Gesuche sind bis 1. Mai 1911
an das Bürgermeisteramt in Wildendürnbach zu richten.
Gemeindearztesstelle der Sanitätsgemeindegruppe G r o ß-
S c h ö n a u (Niederösterreich), 40 62 km2 groß, mit 1525 Einwohnern.
Beiträge der Gemeinden 400 K, bisher Landessubvention 1200 K, Haus¬
apotheke erforderlich. Ordnungsgemäß belegte Gesuche sind an das Bürger¬
meisteramt Groß-Schönau bei Weitra bis längstens 15. Mai 1911 zu
richten.
Aus dem Erträgnisse der Dr. Gustav Lorenz L e itn e r - Stiftung
kommt im Jahre 1911 ein Betrag von 200 K an ein hilfsbedürftiges Mit¬
glied des Wiener medizinischen Doktorenkollegiums zur Verleihung. Be¬
werber um diese Stiftung haben ihre mit dem Nachweise der Hilfs¬
bedürftigkeit belegten Gesuche bis längstens 30. April 1911, 12 Uhr mittags,
beim Wiener medizinischen Doktorenkollegium, I., Rotenturmstraße 19
(Van Swietenhof), zu überreichen. Alle nach dem 30. April 1911 ein¬
langenden oder nicht ordnungsmäßig belegten Gesuche können nicht
berücksichtigt werden. Vom Wiener medizinischen Doktorenkollegium.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Kubasta. Verlag von Wilhelm Bianmdller in Wien.
Druck von Bruno Bartelt, Wien XVIII., Theresienaasao 3.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0. ehiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner. S. Exner, E. Finger, M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko. H. Meyer. J. Moeller, K. v. Noorden,
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. Q. Toldt. J. v. Wagner, E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Heransgegeben von
Anton F reih. v. Eiseisberg, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs. Julius Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser,
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k- k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg. Wien, 27. April 1911 Nr. 17
—
=— — = -
INH
1. Originalartikel: 1. Mitteilung aus der mit dem „Stephanie“-
Kinderspitale verbundenen Universitäts-Kinderklinik zu Buda¬
pest. Die Heilwix-kung des Salvarsans bei der Lues des Kindes¬
alters. Mitgeteilt von Dr. Johann v. Bökay, ord. öffentl. Uni¬
versitätsprofessor, unter Mitwirkung von Priv.-Doz. Dr. Ludwig
Vermes, Primararzt der ophthalmol. Abteilung und Doktor
Zoltän v. B o k ä y, Sekundararzt. S. 583.
2. Zur Diagnostik und Pathogenese der Gallensteine. Von Professor
Dr. E. Biernack i, Lemberg. S. 601.
3. Aus der IV. Abteilung des k. u. k. Garnisonsspitales Nr. 2
in Wien. (Vorstand: Stabsarzt W. Raschofsky.) Ein Fall von
Tetanieepilepsie. Von Dr. Alfred L u g e r. S. 604.
4. Mitteilung aus dem chemisch-bakteriologischen Institute
Bronstein, Levinson und Bernhardt, Moskau. Ein neuer Indikator
zur Bestimmung des titrierbaren Alkalis im Blute. Von Paul
Bernhardt. S. 606.
ALT:
II. Referate : Ueber Kinderschutz und Volksvermehrung mit be¬
sonderer Beachtung der Verhältnisse in Böhmen. Von Professor
Dr. Alois Epstein. Ueber die Bedeutung der Inanition bei
Ernährungsstörungen der Säuglinge. Von Prof. Ad. Czerny.
Die akute Poliomyelitis, bzw. Heine-Medinsche Krankheit. Von
Priv.-Doz. Dr. Ivar Wickmann. Ueber Bantische Krankheit
und Leberzirrhose im Kindesalter. Von Karl Vogel. Kinder¬
pflege-Lehrbuch. Von Prof. Dr. Artur Keller und Dr. Walter
Birk. Grundzüge für die Mitwirkung des Lehrers bei der Be¬
kämpfung übertragbarer Krankheiten. Von Dr. Fritz Kir stein.
Ref. : C. Leiner.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Mitteilung aus der mit dem „Stephanie“-Kinderspitale
verbundenen Universitäts-Kinderklinik zu Budapest.
Die Heilwirkung des Salvarsans bei der Lues
des Kindesalters.
Mitgeteilt von Dr. Joliaun v. Bökay, ordentl. öffentl. Universitäts-
prot'essor, unter Mitwirkung von Priv.-Doz. Dr. Ludwig Vennes, Primar¬
arzt der ophthalmol. Abteilung und Dr. Zoltän v. Bökay, Sekundararzt.
Ueber die Wirksamkeit der Ehrlichschen Behand¬
lung bei der Lues des Kindesalters stehen uns noch immer
trotz der sonst reichen Literatur nur spärliche Mitteilungen
zur Verfügung1) und die Art der Wirkung bei kleinen Kin¬
dern ist klinisch kaum genügend klargestellt.
Dieser Umstand veranlaßt mich, von meinen neueren
Beobachtungen abgesehen, über 26 relativ längere Zeit be¬
obachtete Fälle zu berichten und meine aus meinen Wahr¬
nehmungen geschöpften Ansichten darzulegen. Ich halte die
Mitteilung meiner Erfahrungen für wichtig, da meines Er¬
achtens durch meine Fälle nebst anderen strittigen Fragen
auch jene praktisch wichtige, von Ehrlich auf der Frank¬
furter Versammlung2) besonders hervorgehobene Frage ge¬
nügend geklärt werden kann, ob bei an Lues congenita lei¬
denden Säuglingen die direkte Anwendung des
Salvarsans gleich im Anfänge infolge der etwa
in großer Menge freiwerdenden Endotoxine nicht schädlich
*) Wechselmann, Hirschfeld, Michaelis, Taege,
Duhot, Raubitschek, Dobrowits, Scholtz, Esche rieh,
Freund, Baisch, Torday, Marschalk o, Hochsinger,
Peiser, Junkermann, Lesser, Myrowsky, Döblin u. A.
s) Deutsche med. Wochenschr. 1910, Nr. 41, S. 1893.
wirke oder ob die vorhergängige Behandlung der
stillenden Mutter mit S a 1 v a r s a n nicht empfeh¬
lenswerter sei, wobei mit der Milch in den Körper des
Säuglings eingeführte Antikörper infolge ihrer Wirksamkeit
den etwaigen Schaden einer späteren direkten Injektion
bei dem durch die indirekte Behandlung schon gebesserten
Säuglingen paralysieren, respektive ganz zunichte machen
können.
*
Meine 26 Fälle verteilen sich dem Alter nach fol¬
gendermaßen :
von 0— 1 Jahr = 13 Fälle
„1-2 „ =4 „
„2—3 „ =1 Fall
„ 4 — 5 „ = 2 Fälle
„8-9 „ =2 „
„ 10-11 „ = 4 „
Von meinen 26 Fällen betrafen 23 Lues congenita,
3 akquirierte Lues.
Von unseren an Lues congenita leidenden Kran¬
ken standen 13 unter einem Jahre, 10 jenseits des ersten
Jahres.
Die Altersverteilung der 13 Säuglinge nach Monaten
war wie folgt:
2 Monaten = 5 (minimales Alter 5 Wochen)
2-3 „ = 4
3 „ < = 4
Es handelte sich in allen 13 Fällen Um ziemlich gut
entwickelte und genährte, insgesamt von den
Müttern g e stillte Säuglinge, welche samt den Müt-
II Nummer
584
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
A. Fälle von kongenitaler Lues,
a) Lues congenita bei Säuglingen.
Name und
Alter,
Körpergewicht
Diagnose
Wassermannsche
[ Reaktion vor der
Behandlung
Salvarsan
Wiederholung
der
Injektion
Ergebnis
Karl D., | Exanthema papulo-
5 Wochen alt, j maculosum. Osteo-
3710 g chondritis luetica
Aranka D., L, ., ,
5 Monate alt, I Exanthema papulo-
5000 g
maculosum
Marie Sch., I Exanthema papulo-
5 Wochen alt, | maculosum. Osteo¬
chondritis luetica
3300 g
BMa M„
7 Wochen alt,
4210 g
Exanthema macu¬
losum
Emmerich Bi,
8 Wochen alt.
3320 g
Franz P.,
7 Wochen alt,
4700 g
10
11
Stephan L.,
6 Wochen alt,
4230 g
Helene F.,
4 Monate alt,
5300 g
Exanthema papulo-
sum. Rhagades
labior. oris
Exanthema papulo-
maculosum
Exanthema macu¬
losum. Ulcera lue¬
tica anguli oris.
Paronychia digito-
rum manus
Exanthema macu¬
losum. Rhagades
labii superoris. Ony-
chorhexis
2VsHMonateB alt, Exanthema papulo-
3 11 maculosum
4950 g
Josef H.,
2 Monate alt,
4900 g
Exanthema
maculosum
Rudolf O.,
6 Monate alt,
6500 g
Marie K.,
12 | 7 Monate alt.
6600 g
Facies luetica.
Hydrocephal. int.
chron. minor, grad.
13
Condylomata lata
circa anum, et labii
major., papulae
inguin.
Tnsef M • Exanthema maculo-
3 Monate alt, . W1“ ^ider
4300 o- I Mutter Exanthema
maculosum
intraglutä-
15. Juli: -J — | — |-
29. Juli: + +
3. Sept.: -f- 4
12. Sept.: 4
11. Sept.
2. Okt.: + 4 +
11. Okt.: 0
21. Okt.: + + +
16. Juli:
ale Injektion von
002 g in methyl¬
alkoholischer Lö¬
sung
1 10. Aug.: 0 05 g.
] Glykolische Lö¬
sung. Intraglu-
täal
31. Aug.: 0 05 g.
Glykolische Lö¬
sung. Intraglu-
täal
Genesung.
DieWassermannsche
Reaktion ist nach
107 Tagen am 19.
22. Juli: 005 g in
glykolischer Lö¬
sung, intraglutäal
3. Sept.: 003 g.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
13. Sept.: 0045 g.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
13. Sept.: 0-035 g.
Neutrale Emulsion
(W echselmann) .
Intraglutäal
4. Okt.: 0'04 g.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
4. Okt.: 004 g.
Neutrale Emul¬
sion (Wechsel¬
mann). Intraglu¬
täal
Februar 1911 nega¬
tiv. Vollkommene
Heilung
Besserung.
(Abreise des Kindes
nach 8 Tagen, keine
Nachricht.)
Genesung.
Wassermannsche
Reaktion nach 76
Tagen : sch wach po¬
sitiv; am 10. Fe¬
bruar 1911: negativ.
W assermannsche
Reaktion nach 49
Tagen : negativ. Am
13. Jänner 1911: 4
27. Jänner 1911:
U n zwe i felhafte
Rezidive.
28. Okt.: 0-05 g.
(Id.) Neutrale
Emulsion.
(Wechselmann).
Intraglutäal
12. Okt.: 0-04 g.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
21. Okt,: 0054 g.
(Id.)
Mit Salzsäure neu- 1
tralisierte Emulsion.
Intraglutäal.
28. Okt.: 4 + 4
28. Okt.: + + +
28. Okt.: 0-05 g.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
3. Nov.: + + 4
28. Okt.: 0.05 g.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
Genesung.
7. Dez.: Wasser¬
mannsche Reaktion:
4
5. März 1911:
Genesung?
Wassermannsche
Reaktion?
Genesung ?
Genesung.
Wassermannsche
Reaktion nach 35
Tagen: negativ.
Genesung.
Wassermannsche
Reaktion 20. Dez.:
negativ
3. Nov.: 005 g.
(Id.)
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal.
| 3. Nov.: 0'06 g.
I (Id.)
3. Nov.: -| — | — L | Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal.
10. Nov.: +4 +
10. Nov.: 0'50 g
(Hy) der Mutter.
24. Nov.: 0-045 g
(Id.) dem Kinde.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Der Mutter subku¬
tan, dem Säugling
intraglutäal
Bedeutende Besse¬
rung; (später Exitus
letalis infolge eines
Erysipels)
Besserung der Haut¬
farbe, Wasser¬
mannsche Reaktion
20. Feb. 1911: 4 —
Genesung.
Wassermannsche
Reaktion 27. Jänner
1911: negativ.
3. Februar 1911:
Unzweifelhafte
Rezidive
Genesung.
Wassermannsche
Reaktion 24. Jänner
1911: negativ;
W assermannsche
Reaktion 20. Feb.
1911: 4—, 6. März
1911: Unzweifel¬
hafte Rezidive
Bemerkung
Gewichtszunahme in un¬
gefähr 3 Monaten 3100 g.
Hautnekrose der Gluläal-
gegend von ungefähr 4 cm
Durchmesser. Ernährung
an der Mutterbrust
Gewichtsabnahme in 8 Ta¬
gen 130 g. Ernährung an
der Mutterbrust
Gewichtszunahme in 3 Mo¬
naten 2200 g. Ernährung
an der Mutterbrust
Gewichtszunahme von
1500 g in 3 Monaten. Den
zwei Injektionsstellen ent¬
sprechend zwei umschrie¬
bene Abszesse. Ernährung
an der Mutterbrust
Gewichtszunahme v. l'/8 kg
in 2 */2 Monaten. Ernährung
an der Mutterbrust
Gewichtszunahme in 5 Wo¬
chen beinahe 1 kg. Ernäh¬
rung an der Mutterbrust
Gewichtszunahme von Vs kg
in 6 Wochen. Ernährung
an der Mutterbrust. Um¬
schriebene Nekrose der
Glutäalgegend
Nekrose der Glutäalgegend .
von ungefähr 4 cm Durch¬
messer. Während des Ver¬
laufes Auftreten v. Gesichts- I
erysipel. Ernährung an der 1
Mutterbrust. Gewichtszu- ,
nähme von 900 g in 35
Tagen
Ernährung an der Mutter¬
brust. Gewichtszunahme
von 80 g während eines
Monates
Während des Verlaufes
Erysipel aus der retroauri¬
kulären Gegend ausgehend.
Ernährung an der Mutter- j
brust
Lumbalpunktion: Entlee¬
rung von 25 cm3 Liquor.
Ernährung an der Mutter¬
brust
Ernährung an der Mutter¬
brust
Wassermannsche Reaktion
bei der Mutter 10. Novem¬
ber: + 4 +. Gewichtszu¬
nahme in 3 Wochen '/* kg- i
Ernährung an der Mutter¬
brust
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
585
em im Spitale aufgenommen wurden. D.er Spitalsaufenthalt
letrug 10 bis 14 Tage, die weitere Beobachtung war eine
loliklinische.
Die mehr als ein Jahr alten Kranken blieben längere
'eit im Spitale und wurden größtenteils erst nach dem
Schwinden der manifesten Lueserscheinungen entlassen und
ier ambulanten Beobachtung zugewiesen.
.Eine tabellarische Zusammenstellung und eingehende
ieschreibungen meiner Fälle gebe ich im folgenden :
Fall I. K. D., fünf Wochen alt. Zwei Abortus gingen vor-
er. Seit einer Woche Schnupfen, seit einigen Tagen Hautausschlag.
Vird von der Mutter gestillt. Bei der Mutter keine manifesten
.ueserscheinungen. W as s er m annsche Reaktion bei der
lütter negativ.
Mäßig entwickelter und genährter Säugling. Gewicht 3710 g.
laut bleich, fahlbraun. Auf dem Gesichte, der behaarten Kopf-
aut, sowie auf den oberen und unteren Extremitäten ein ziem-
ich reichliches, hauptsächlich papulöses, stellen¬
eise makulöses und vesikulöses Exanthem. Die
beren E xtremitäten werden nicht bewegt, bei passiver
ewegung Schmerzen in beiden Ellbogen, besonders intensiv in
era linken; hier, zeigt auch das Gelenk mäßige Schwellung
Osteochondritis luetica). Mäßiger Schnupfen, Milz leicht palpier-
ar. Die Sohlen sind fettglänzend, daselbst Desquamation.
,'assermann sehe Reaktion : H — | — H
16. Juli 1910: Um 10 Uhr vormittags injizieren wir 0-02 g
rsenobenzol (Methyl- Alkohollösung, Gesamtmenge 12 cm3)
itramuskulär in beide Glutäalgegenden.
In den der Injektion folgenden 2mal 24 Stunden fand sich
ei zweistündiger Messung im Mastdarm am ersten Tage eine
saximaltemperatur von 38-6, am zweiten Tage eine solche
on 38-4.
18. Juli: Den Papeln entsprechend H e r x heim ersehe Re¬
gion. Sonst keine Veränderung, kein Fieber, gutes Allgemein¬
efinden, trinkt kräftig.
20. Juli: Schwinden der Her xheim ersehen Reaktion; die
apt ln werden auffallend flacher.
22. Juli: Die Papeln im Schwinden begriffen, die sohlen
eniger glänzend, keine Desquamation. Die Schm erzhaftig-
eit in den beiden Ellbogen geschwunden, beginnt
ei de Arme zu heben.
28. Juli: Exanthem kaum sichtbar. Gewicht 3880 g. Das
llgeineinbefinden einwandfrei. Die Injektionsstelle in den Glutäal-
genden kaum merkbar geschwollen, schmerzlos.
2. August : Bei einwandfreiem Allgemeinbefinden, ohne
ieber, auf den Extremitäten zerstreut neuerliche papulöse
ruption. Wassermann sehe Reaktion: H — | — h
10. August : Zahl der Papeln etwas vermehrt. Neuerliche
rseno benz o li n j ek t i on (0-05 g, 8 cm3 Glykollösung, in der
■chten Glutäalgegend, intramuskulär). Gewicht 4350 g.
In den folgenden 24 Stunden ist das Maximum der Tem-
:ratur im Mastdarm 38-8° C. Nach 48 Stunden ist die Mastdarm-
mperatur normal.
12. August: An der Injektionsstelle stärkere Infiltration und
ohmerzhaftigkeit. Allgemeinbefinden sonst gut.
13. August: Den Papeln entsprechend H e r x h ei m er sehe
eaktion.
15. August: Die Papeln werden auffallend flacher.
19. August : Die Papeln sind zum großen T e i 1 e ver-
I sh wunden. Die oberen Extremitäten werden frei bewegt.
a der Injektionsstelle nur kleines Infiltrat. Allgemeinbefinden
nwandfrei, trinkt gut, Körpergewicht 4600 g.
29. August: Die Sohlen nicht mehr glänzend. Zerstreut noch
nige kleinere blasse Maculae. W assermann sehe Reak-
on : -|-.
31. August : Die Maculae aufs neue etwas vermehrt,
euer liehe Arseno benzolin jekti on (0-05 g, Glykollösung,,
der linken Glutäalgegend, intramuskär).
In den folgenden 24 Stunden höchste Mastdarmtemperatur
56° C.
3. September : Stärkeres, schmerzhaftes, entzündliches ln-
Itrat in der linken Glutäalgegend. Die Maculae blassen
tufen weise ab.
7. September : Das Exanthem ist Vollständig geschw u n-
en. Die Schwellung der linken Glutäalgegend läßt etwas nach,
Jiltrat in der rechten Glutäalgegend kaum bohnengroß.
12. September: Die H aut Oberfläche hat sich voll-
tändig gereinigt. Die Anämie bessert sich zusehends. Der
’hwellung an d«r linken Glutäalgegend entsprechend begin- I
nende zirkumskripte Hautnekrose. Körpergewicht:
5400 g.
17. September: Luessymptome sind spurlos zurück¬
gegangen. Die beiden oberen Extremitäten werden
frei und lebhaft bewegt. Gesunde Hautfarbe, Milz nicht
palpierbar. Auf der linken Glutäalgegend hellergroße Haut¬
nekrose.
m
Fig. 1.
4. Oktober : Abstoßung der nekrotisierten Haut, verbliebener
Substanzverlust kaum hellergroß (s. Fig. 1). Allgemeinbefinden
ausgezeichnet; Körpergewicht 6150 g. Was s er man n sehe Re¬
aktion : -j — K
Die Menge des zu den drei Injektionen (16. Juli, 10. August,
31. August) benützten Arsenobenzols beträgt insgesamt 0-12 g,
d. i. 0-02+0-05+0-05.
Gewichtszunahme in beinahe drei Monaten 2400 g.
1. November: Körpergewicht 6800 g. Auf der linken Glu¬
täalgegend eine kaum bohnengroße granulierende Wundfläche.
Auf der rechten Gwutäalgegend schlaffer, hellergroßer Abszeß.
Luessymptome sind spurlos verschwunden. Blühendes Aussehen.
10. November: Was sermannsche Reaktion: .
21. November: Auf beiden Glutäalgegenden etwas retra-
hierte Narbe. Unterer Rand der Milz kaum zu tasten. Blühende
Hautfarbe. Körpergewicht 7200 g.
19. Februar 1911 : Vollständig geheilt. Prächtig entwickelt.
Körpergewicht 7820 g.
Fall II. A. D., fünf Monate alt, aus dem Komitate Maros-
Torda. Das erste Kind lebte fünf Tage, das zweite wurde tot
geboren, das dritte lebte 14 Tage, das vierte einen Tag.
Wurde im achten Monate geboren, wird gestillt. Gut ent¬
wickelt, gut genährt. Auf dem Rumpfe zerstreut rost¬
braune p apulo-makulöse Eff loreszenzen. Sohlen
und Handflächen von speckigem Glanze, Desquama¬
tion. Seborrhoea superciliorum. Hautfarbe ein wenig kaehek-
tisch. Milz gut zu tasten, Leber etwas vergrößert. Hinter beiden
Sternocleidomastoidei, in der Inguinal- und linken Ellbogenbeuge
Polymikroadenie. W as s er m annsche Reaktion: H — H“. Körper¬
gewicht 5000 g.
22. Juli : Injektion von 0-05 g Arseno benzol (Glykol¬
lösung, Gesamtmenge 12 cm3, appliziert in der Muskulatur der
linken Glutäalgegend).
Maximaltemperatur im Mastdarm am Tage der Injektion
38° C, an dem der Injektion folgenden Tage 38-6° C, nach zwei
Tagen kehrt die Temperatur zur Norm zurück. An dem der In¬
jektion folgenden Tage ist die Farbe des papulo-
maku lösen Ausschlages von lebhafterer Röte (Herx¬
heim er sehe Reaktion). ^
Die Injektionsstelle ist ein wenig geschwollen, empfindlich.
Allgemeinbefinden gut, trinkt gut. Am dritten Tage nach
der Injektion sind die Papeln ab geflacht, das Exan-
586
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
Nr. 17
them im allgemeinen blässer und die Konturen ver¬
schwommene r.
26. Juli: Das Exanthem ist noch blässer, an der Injek¬
tionsstelle Infiltrat in der Ausdehnung eines Guldens, welches
auf Druck etwas schmerzhaft ist; die Haut über ihm ist etwas
rötlich verfärbt und ein wenig glänzend.
27. Juli: Exanthem kaum mehr sichtbar, auch der speckige
Glanz auf den Sohlen ist bedeutend geringer. An der Injektions¬
stelle hat die Röte nachgelassen, auch ist das Infiltrat weniger fest.
29. Juli: Das luetische Exanthem wird nur .mehr durch eine
blasse, fahlbraune Pigmentation bezeichnet. Die Empfindlich¬
keit des Infiltrates in der Glutäalgegend ist beinahe geschwunden,
der Umfang desselben ist aber kaum verändert.
31. Juli: Die Mutter reist gegen unseren Rat ab. Bei der
Entlassung, d. i. am neunten Tage nach der Injektion, ist das
Exanthem am Rumpfe kaum sichtbar. Körpergewicht 4870 g.
Gewichtsverlust 130 g.
Konnte weiter' nicht beobachtet werden.
Fall III. M. Sch., fünf Wochen alt, wurde am 2. Sep¬
tember' 1910 aufgenommen. Erstes Kind. Die luetischen Symptome
zeigen sich seit der dritten Lebenswoche; wird gestillt. Gut ge¬
nährter und entwickelter Säugling. Gewicht 3300 g. Die Haut
ist im allgemeinen blaß, i a h 1 b r ä u n 1 i c h. Auf dem Gesichte
(der Stirne), sowie den Extremitäten ein ausgespro¬
chen pap ulo-makulöses Exanthem. Die Sohlen von
stark speckigem Glanz, Desquamation; laute, schnau¬
bende Atmung, aus den Nasengängen reichlicher
seröser Ausfluß. Auf der Oberlippe charakteristische
Rhagaden; keine aktive Bewegung der oberen Extre¬
mitäten, bei passiver schmerzliches Wimmern. Stär¬
kere schmerzhafte Schwellung des rechten Ell¬
bogen gelenkes (Osteochondritis luetica cubitorum). An den
Fingernägeln geringe Onychorhexis. Stärkere Milzschwellung,
Leber mäßig vergrößert. Wassermannsche Reaktion: -J — 1 — h,
bei der Mutter H — K
Am 3. September, nachmittags 5 Uhr, 0-03 g Arsen ei¬
ben zol injektion (neutrale Suspension, Menge der Flüssig¬
keit 7 cm3, intramuskuläre Injektion in der rechten Glutäal-
region).
In den der Injektion folgenden 24 Stunden Maximal temp e-
ratur im Mstdarm© 38-5° C. An den darauffolgenden Tagen sinkt
die Temperatur zur Norm.
5. September: Die Maculae sind blässer, die Sohlen
weniger glänzend, die Atmung durch die Nase ist
freier. An der Injektionsstelle mäßige, nicht schmerzhafte In¬
filtration.
7. September: Die Maculae sind kaum sichtbar. Die
linke obere Extremität wird gut gehoben und beginnt auch die
rechte zu bewegen. An der Injektionsstelle kleinnußgroßes, festes,
schmerzloses Infiltrat.
9. September: Bewegt auch die obere rechte Extre¬
mität freier, auch ist die Schwellung des Ellbogens
auf dieser Seite bedeutend geringer und kaum em¬
pfindlich. Oberfläche der Haut rein. Das nußgroße In¬
filtrat in der Glutäalgegend ist schmerzlos. An den Sohlen Glanz
kaum* mehr vorhanden.
15. September: Die Haut ist rein und hat ihren
kachek tischen Charakter verloren. Bewegung der
oberen Extremität eine gute und ziemlich lebhafte.
Infiltrat in der Glutäalgegend kaum haselnußgroß. Allgemein¬
befinden gut.
19. September: Allgemeinbefinden einwandfrei. Hautfarbe
normal, blaß rosafarben. Infiltrat in der Glutäalregion minimal.
Wassermannsche Reaktion -j — h
3. Oktober: Von der Lues keine Spur mehr. Die
Extremitäten werden vollständig frei bewegt. Lebhaft. In¬
filtrat in der Glutäalgegend vollständig geschwunden. Seit dem
2. September, das heißt während vier Wochen, Zunahme des
Körpergewichtes 800 g.
Das am 17. Oktober vorgestellte Kind zeigt keine Spur
von Lues. Es sieht blühend aus und entwickelt sich
prächtig. Körpergewicht 4420 g.
21. November: Wassermannsche Reaktion: +. Körper¬
gewicht 5200 g.
5. Dezember : Blühendes Aussehen. Glutäalgegend normal.
Gewicht 5500 g.
2. Januar 1911 : Die Heilung ist von Dauer.
9. Februar 1911: Vollständig gesund. Körpergewicht 6200 g.
Wasser m a n n sehe Reaktion — .
Fall IV. B. M., sieben Wochen alt, wurde am1 11. Sep¬
tember 1910 aufgenommen. Die erste Schwangerschaft endete
mit Abortus, das zweite Kind starb mit sechs Wochen, das!
dritte im Alter von sechs Monaten. Luessymptome an dem auf- :
genommenen Säugling seit der vierten Lebenswoche. Wird gestillt.
Gut entwickelt und genährt, Gewicht 4210g. Haut blaß
fahl. .Ziemlich reichliche, blaß-rostbraune Macu¬
lae, auf dem Gesichte, den oberen und unteren Ex
t rem i täten. Glänzen d e H an dt eil er und Fußsohlen mi i
Desquamation. Schnarchen, gestörte Nasenrespira-j
t i o n. Milz kaum vergrößert, W a s s er m a n n sch.' Reaktion —RH — f i
bei der Mutter +-j — h
13. September, 10 Uhr vormittags : 0-045 g Arseuobenzol-
injektion (neutrale Suspension, Menge der Flüssigkeit 7 .cm3,
intramuskulär, in der linken Glutäalgegend).
ln den folgenden 24 Stunden maximale Temperatur im
Mastdarm, 37° C, welche nächsten Tag zur Norm sank.
14. September: An der Injektionsstelle ein etwas straffes,
glänzendes, aber mit blasser Haut bedecktes nußgroßes, schmerz¬
loses Infiltrat.
15. September. Die Maculae sind im allgemeinen
blässer, das Schnarchen hat nachgelassen. Das Jnfiltrai
in der Glutäalgegend unverändert, an der Injektionsstelle eine
hanfkorngroße Pustel.
17. September: Gutes Allgemeinbefinden, trinkt gut, die
Maculae blassen noch mehr ab. Die Anämie wird besser.
27. September: Die Stellen der Maculae sind noch sichtbar!
In der linken Glutäalregion ein haselnußgroßes, nicht schmerz
haftes Infiltrat.
4. Oktober: Status idem. Neuerliche Arsenobenzol
injektion ambulanter (004 neutrale Emulsion, Menge der
Flüssigkeit 7 cm3, intramuskulär in die rechte Hinterbacke).
10. Oktober: An der ersten Injektionsstelle ein bohnen]
großes, an der zweiten ein nußgroßes, nicht schmerzhaftes In¬
filtrat. Allgemeinzustand einwandfrei, trinkt gut. Spuren dei
Maculae im Gesicht.
18. Oktober: Die Stellen der Maculae bloß zu vermuten
B 1 ü h e n des Aussehen. In der rechten Glutäalgegend haselj
nußgroßes, in der linken kaum bohnengroßes Infiltrat. Gewiclu
4780 g.
1. November: In der rechten Glutäalgegend Abszeß bi 1
dung, Eitersickern. Anämie auffallend gebessert. Kein Glam;
an den Sohlen, keine Spur von Lues. Gewicht 5200 g.
3. November: Wassermannsche Reaktion — . Körper
gewicht 5200 g.
16. November: In den beiden Glutäalgegenden schlaff a
Schwellung, die Haut über derselben ein wenig livid, rötlich
Unterer Rand der Milz kaum’ zu palpieren. Hautfarbe lebhaft!
Gewicht 5400 g.
4. Dezember: Körpergewicht 5850 g. Auf beiden Glütäal
regionen mäßige Retraktion.
21. Dezember: Körpergewicht 6200 g. Mäßige Kraniotabesj
Unterer Rand der Milz kaum tastbar. Die Haut ist rein.
6. Januar 1911: In den Glutäalgegenden mäßiges Sickerrj
dünnen Eiters. Seit einigen Tagen unruhig. Auf den Sohlen
einige blasse, kaum wahrnehmbare, fahl-bräun
liehe Flecken. Gewicht 6600 g.
13. Januar: Wassermannsche Reaktion +. Auf deij
Sohlen sind die fahlen bräunlichen Flecken auf
fallender. Gewicht 6750 g.
27. Januar: Rezidive zweifellos: reichlichere, pa
pulo-m akulöse Eruption auf den unteren E xtrenrij
täten. Körpergewicht 7020 g. Kalomel.
Fall V. E. B., acht Wochen alt, wurde am 11. Septembe
1910 aufgenommen. Sechstes Kind. Vier Abortus, das fünft
Kind starb mit drei Wochen. Bei dem eingebrachten Säusln)
bestehen die Luessymptome seit der zweiten Lebenswoche. Wir«
gestillt.
Schwach entwickelt und genährt, Körpergewicht 3320 g
Reichliche papulöse Eruption auf beiden Glutäa
g egenden, welche sich auf den Schenkel erstreck
(die Papeln sind stellenweise exulzeriert) ; die Sohlen habe:
einen starken speckigen Glanz. Desquamation. Au
der behaarten Kopfhaut ausgebreitete starke Seborrhoe. Stark
Desquamation auf dem Rumpfe und den Extremitäten. Die Har
ist blaß rosafarben, mit einem Stich ins Fahle. Auf den Lippe
einige Rhagaden. Schnauben, Nasenrespiration ausgesprochen b<
hindert. Unterer freier Rand der Milz gut palpierbar, Wasse
mann sehe Reaktion: +; bei der Mutter: H — I — h
13. September, um 10 Uhr vormittags: 0-035 g Ar sent
benz ol in jektion (neutrale Suspension, Menge der Flüssg
keit 7 cm3, Injektion subkutan in der unteren Partie der linke
Thoraxhälfte).
587
WIENER KLINISCHE
In^den folgenden 24 Stunden Maximaltemperatur im Mast-
arm <37-8° 0, welche alsbald zur Norm zurückkehrt, um nicht
| Jeder zur Fieberhöhe anzusteigen.
14. September: Injektionsstelle vollständig reaktionslos, Sym-
tome unverändert.
15. September: Allgemeinbefinden gut, trinkt gut. Die
Oberfläche der ex u 1 z er ier ten Papeln in der Glu-
Lalregion schön rotfarben, der speckige Grund hat
ich überall gereinigt, beginnende Epithelisierung,
u der Injektionsstelle zweihellerstückgroßes, ein wenig cntzün-
etes In filtrat. Das Schn au be n h a t au f g e h ö r t, d i e A t m u n g
urch die Nase ist frei.
20. September: Die Papeln der Glu täal region sind
ollständig abgeflacht, haben eher makulösen Cha-
akter und sind bedeutend blässer.
27. September: An der Injektionsstelle das Infiltrat in Rück-
ildung begriffen, in der Glutäalgegend das Exanthem tvie oben.
11. Oktober: Infiltrat an der Injektionsstelle' spurlos ver-
hwunden. Die Stelle der Papeln bloß angedeutet. All¬
meinbefinden einwandfrei, trinkt gut. Gewichtszunahme binnen
ier Wochen 600 g.
18. Oktober: Keine Spur des Ausschlages. Kein speckiger
lanz der Sohlen. Körpergewicht 4 kg. Wa ss er mann sehe
eaktion : + — .
6. November: Körpergewicht 4200 g. Befinden ganz normal.
28. November: Gewicht 4930 g. Die Sohlen sind ein wenig
Duzend, Milz gut palpierbar. Blässe der Haut besteht noch.
7. Dezember : Wasser m a n n sehe Reaktion : -j- — .
22. Dezember: Milz noch gut zu tasten. Gesicht blaß. Re¬
icht 5400 g.
4. Januar 1911 : Status normal.
12. März 1911: Was sermannsche Reaktion: — .
Fall VI. F. P., sieben Wochen alt. Aufgenommen am
Oktober. 2. Kind. Das 1. Kind wurde am normalen Ende der
( hwangerschaft geboren, starb im Alter von vier Wochen angeb-
eh an Glottiskrampf. Gut entwickelt und genährt. Wird von
jer Mutter gestillt. Körpergewicht 4700 g. Haut auffallend anä¬
misch. Auf dem Gesicht und den Extremitäten, haupt¬
pich lieh auf Hand- und Fuß rücken, ein reichliches,
ap u 1 o -m aku 1 ö ses Exanthem, ln der Inguinal beuge
nd Sk r o t a 1 f al te e x u 1 z e r i er t e Pap eln. Sohlen stark glän-
’rid. Auf den Nägeln der Finger und Zehen mäßige Onycho-
nexis. Atmung schnaubend, reichlicher seröser Ausfluß aus der
ase. Stark vergrößerte Milz. Wassermann sehe Reaktion:
"T+ (bei der Mutter Wasser mann sehe Reaktion: -t—j-).
4. Oktober: Injektion von 004 g A rs eno benzol (neutrale
mulsion in der Gesamtmenge von 7 cm3, intramuskulär in die
iikr Hinterbacke).
In den der Injektion folgenden 24 Stunden Maximum der
emperatur, acht Stunden nach der Injektion, im Mastdarm 39-1° C.
m nächsten Tag ist die Temperatur im Mastdarm normal.
6. Oktober: An der Injektionsstelle ein kleinapfelgroßes,
stes, schmerzhaftes Infiltrat, über welchem die Haut ein wenig
llzündet ist. Ausfluß aus der Nase besteht noch. Das papulo-
lakulöse Exanthem ist etwas blässer. Die exulz'erierten Pa nein
t InguinaTfalte reinigen sich ein wenig.
7. Oktober: Das Infiltrat in der Glutäalgegend ist kindsfaust-
oß, schmerzhaft; die Haut über demselben wenig entzündet,
as papulo- makulöse Exanthem blaßt weiter ab. Die Papeln
I' Inguinalgegend sind abgeflacht, trocken. Der Ausfluß aus
i' Nase hat aufgehört. Die Nasenrespiration ist frei. Das A 11 -
meinbefinden ist gut. Körpergewicht 5050 g.
9. Oktober: Die Schwellung der Glutäalgegend beginnt zu-
•i'kx.ugehen, ist nicht, mehr schmerzhaft.
13. Oktober: Die Schwellung der Glutäalgegend beginnt
i rück zu gehen, ist nicht mehr schmerzhaft.
15. Oktober: Das Infiltrat der Glutäalgegend ist haselnußgroß,
'n fester Konsistenz. Das papulo -makulöse Exanthem wird
'ii' mehr durch blasse Pigmentflächen angedeutet. Die Sohlen
ml nicht mehr glänzend, die Hautblässe hat bedeutend nach-
lassen. Das Allgemeinbefinden ist einwandfrei. Körpergewicht
100 g.
24. Oktober: Die Schwellung in der Glutäalgegend kaum
hnengroß, dem makulo - papulösen Ausschlag entsprechend blaß-
4e Verfärbungen. Wassermann sehe Reaktion : -j — | — h
28. Oktober: Das Exanthem zeigt denselben Status, tves-
i'gen eine neuerliche Arseriobenzoli n j ek t i o n vorgenom -
mn wird (0-05 g, Gesamtmenge der neutralen Emulsion 6-5 cm3,
i die rechte Hinterbacke) u. zw. diesmal ambulant.
WOCHENSCHRIFT. 1911.
30. Oktober : An der Injektionsstelle eine kaum haselnuß-
gioße Schwellung. Das Exanthem zeigt keine Veränderung
Körpergewicht 5500 g. Allgemeinbefinden gut.
5. November: Schwellung in der rechten Glutäalgegend kaum
hasclnußgroß, nicht schmerzhaft; in der linken Glutäalgegend
ander Stelle des Exanthems eine fahlbraune Pigmentation.
Körpergewicht 5600 g.
Fall VII. St. L., sechs Wochen alt, wurde am 11. Ok¬
tober 1910 aufgenommen. Drittes Kind, kam am normalen Ende
der Schwangerschaft zur Welt. Das zweite Kind lebt und ist
gesund, das erste starb plötzlich im Alter von neun Monaten.
Todesursache unbekannt. Das Kind ist seit zwei Wochen krank.
Es wird gestillt.
Gut genährt, gut entwickelt. Atmung stark schnau¬
bend. Aus der Na,se serös - blutiger Ausfluß. Auf der Ober¬
lippe, in der Gegend des Filtrums, ein etwa bohnen¬
großes, speckig aussehendes, schar fr an d i g es Ge¬
schwür, dessen Grund nicht infiltriert ist. In dem rechten
und linken Mundwinkel je ein Geschwür von dem¬
selben C h a r a k t e r, n u r von Lins e n g r ö ß e. A u f j e d e m
Handrücken je zwei rostbraune blasse Maculae. Die
morschen Nägel überragen die Fingerspitzen, an den gesamten
Fingern Paronychie, die Geschwüre mit schmutzigem
Belage. Die erste Phalanx des linken Zeige- und Mittelfingers
zeigt in geringem Grade das Bild der Spina ventosa. Die
Sohlen zeigen starken speckigen Glanz und Desqua¬
mation und sind ein wenig infiltriert. An der Kuppe der letzten
Phalanx beider großen Zehen von Epithel entblößte Stellen mit
mißfarbigem Beläge. Leber und Milz deutlich vergrößert.
W a s se r m an n sehe Reaktion: bei dem Säugling: — , bei der
Mutter gleichfalls : — . Das Körpergewicht 4230 g. Das Kind
fiebert. Temperatur im Mastdarm 38-6 bis 39-2° C.
12. Oktober: Temperatur im Mastdarm, nachmittags 4 Uhr,
38-2° C. Trotz des Fiebers Injektion von 0-04 Ars e n obenz ol
(7 cm-:’ neutrale Emulsion, intramuskulär in die linke Hinterbacke).
In den folgenden 24 Stunden ist die Temperatur im Mast¬
darm 39-8° C, sinkt aber alsbald und fällt unter das normale
Niveau.
14. Oktober: An der Injektionsstelle kleine kindsfaustgroße
Schwellung von fester Konsistenz, über welcher die Haut keine
Verfärbung zeigt. Allgemeinbefinden gut, kein Fieber.
17. Oktober: Die Paronychie ist an allen Fingern
bedeutend gebessert. Die m i ß f ar b i g e n Geschwüre a n
den Lippen und großen Zehen reinigen sich auf¬
fallend schnell. Das Infiltrat in der Glutäalgegend ist nu߬
groß, das Allgemeinbefinden gut, kein Fieber.
25. Oktober: An der Injektionsstelle kleine nußgroße Infil¬
tration. über welcher sich eine bohnengroße Nekrose de¬
markiert hat. Die Paronchien sind geheilt, die Ge¬
schwüre an der Lippe haben sich vollständig ge-
r einigt und granulieren. Der speckige Glanz der Sohlen
ist geschwunden, das Allgemeinbefinden gut. Körpergewicht 4325 g.
28. November: Körpergewicht 4760 g. In der linken Glutäal-
gend ist das nekrotische Gewebsstück abgestoßen. Tiefgreifender,
aber nicht sehr ausgebreiteter Hohlgang, dessen Ränder noch ein
wenig infiltriert sind. Kein Sekret. Milz noch ein wenig palpierbar.
Die Nägel sind frei, die gedunsenen Phalangen schwellen sicht¬
lich ab.
Fall VIII. I. F., vier Monate alt, aufgenommen am 21. Ok¬
tober. Der Vater wurde gegen Lues behandelt. An dem Kinde be¬
steht das Exanthem seit Wochen. Gut entwickelt und genährt,
etwas blaß. Körpergewicht 5300 g. Erstes Kind, wird von der
Mutter genährt.
Seborrhoen superciliorum. Behinderte Nasenrespiration.
Seröser Ausfluß aus der Nase. An d e r O berl i p p e m eh¬
ret1 e flache, l eicht bluten de Rhagad en. Auf den Glu¬
täon und den unteren Extremitäten mehrere, rost¬
braune, linsen- bis bohlten große Flecken, besonders
zahlreich auf der rechten Hinterbacke, s t e 1 1 en w e i s e
annuläre Roseolen. Speckiger Glanz der Handteller und
der Sohlen mit mäßiger Desquamation, an den Nägeln der Zehen
starke Onvchorhexis. Milz deutlich vergrößert. Wassermann-
schr Reaktion: Bid Mutter und Kind -| — \ — K
21. Oktober: 0-054 g A rsenobenz olinjekti o n (mittels
Salzsäure neutralisierte Emulsion in der Menge von 7 cm3 in die
linke Hinterbacke).
In den der Injektion folgenden 24 Stunden, sechs Stunden
nach der Injektion Temperatur im Mastdarm 38-1° C, welche zehn
Stunden nach der Injektion auf 39-3° 0 ansteigt. Tn den nächst¬
folgenden 24 Stunden ist das Kind schon fieberfrei.
588
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
23. Oktober : Gutes Allgemeinbefinden. Der Ausfluß aus
der Nase hat aufgehört, die Rhagade an der Oberlippe im Schwin¬
den begriffen. Das fleckige Exanthem ist überall ab geblaßt.
An der Injektionsstelle kleinapfelgroße und sehr schmerzhafte
Schwellung, über welcher die Haut gerötet ist.
24. Oktober: Um die Injektionsstelle eine runde Blase von
Kronengröße mit dunklem Inhalt.
25. Oktober: Gutes Allgemeinbefinden, dauernd fieberfrei.
Nasenrespiration vollständig frei. Ausfluß aus der Nase hat auf¬
gehört. Die Rhagaden an der Lippe sind beinahe geschwunden.
Das fleckige Exanthem ist ganz abgeblaßt, kaum pig¬
mentiert. Die Infiltration der Sohlen zurückgegangen, kaum
etwas Glanz. Auf der Glutäalregion silberguldengroße, scharf
umschriebene, bräunlichschwarze Nekrose; beginnende Ab¬
stoßung (siehe Fig. 2).
Fig. 2.
Entlassung aus dem Spital; wird der ambulanten Pflege
zugewiesen.
29. Oktober : Erysipel der linken Gesichtshälfte, welches
von einer retroaurikulären Intertrigo seinen Ausgang nahm. Mä¬
ßiges Fieber, Allgemeinbefinden wenig gestört. Glutäalnekrose
unverändert. Um den nekrotischen Herd keine entzündlichen Er¬
scheinungen.
31. Oktober: Das Erysipel im Rückgang begriffen, an den
Stellen des luetischen Exanthems sehr blasse Pigmentflecken.
Nekrotische Hautpartie der Glutäi abgestoßen, die Ränder etwas
unterminiert.
5. November: Gewicht 5450 g. Erysipel geschwunden. All¬
gemeinbefinden gut. Die die Stellen der Maculae einnehmende
Pigmentation beinahe vollständig geschwunden, Haut lebhaft rosa¬
farben. An der Glutäalgegend keine Veränderung.
12. November: Körpergewicht 5680 g. Allgemeinbefinden ein¬
wandfrei. Die Glutäalwunde granuliert.
25. November: Körpergewicht 6200 g. Haut vollständig rein.
Wässer m an n sehe Reaktion: 0.
20. Dezember: Heilung. Gewicht 6450 g. An Stelle der glu-
täalen Infiltration narbige trichterförmige Einziehung.
13. Februar 1911 : Blühendes Aussehen, Haut vollständig
rein. Milz kaum zu tasten. Körpergewicht 7200 g.
Fall IX. I. B., 214 Monate alt, aufgenommen am 28. Ok¬
tober 1910. Das erste Kind wurde zum siebenten Monate ge¬
boren, das zweite und dritte Kind am normalen Ende der Schwan¬
gerschaft. Beide gingen im Alter von zwei, resp. 18 Monaten
an Lues zugrunde. Bei dem aufgenommenen Kinde bestehen die
luetischen Symptome seit drei Wochen. Schwach entwickeltes,
gut genährtes Kind. Haut blaß. Auf dem Gesichte, dem
Rumpfe und den Extremitäten ein ziemlich reich¬
liches, rostbraunes, papulo-makulöses Exanthem; At¬
mung schnaubend, reichlicher, seröser, ätzender
Ausfluß aus der Nase. Auf der Oberlippe leicht blu¬
tende Rhagade mit etwas speckigem Grund. Mikropoly-
adenie. Größerer Milztumor. Körpergewicht 4590 g. Wird von
der Mutter gestillt. Wasser mann sehe Reaktion bei dem Säug¬
ling : -H — b ; bei der Mutter : +.
An dem Tage der Aufnahme 0-05 g A r s e n 0 b e n z o 1 (6V2 cm3
neutrale Emulsion, intramuskulär in die linke Hinterbacke).
In den folgenden 24 Stunden Maximaltemperatur, zwölf
Stunden nach der Injektion, 38-8° 0, in den darauffolgenden
24 Stunden fieberfrei.
29. Oktober: An der Injektionsstelle haselnußgroße, von nor¬
maler Haut bedeckte, nicht schmerzhafte Schwellung.
30. Oktober: Die Glutäalschwellung nußgroß, etwas empfind¬
lich. Ausfluß aus der Nase hat aufgehört. Die Papeln
sind flacher, die Maculae bedeutend blässer.
31. Oktober: Glutäalschwellung etwas mehr als nußgroß, von
normaler Haut bedeckt, schmerzhaft. Das papulo-makulöse
Exanthem im Schwinden begriffen. Das Allgemein
befinden gut.
1. November: Glutäalschwellung unverändert, das Exan¬
them nur schwach sichtbar. Auf Bitten der Mutter aus dem
Krankenhause entlassen. Weitere Beobachtung ambulant.
4. November: An der Stelle des Exanthems kaum sicht¬
bare, blasse, fahlbräunliche Pigmentflecken. Glutäalschwellune
kaum haselnußgroß, nicht empfindlich. Mäßige Bronchitis. Körper-
geAvicht 4970 g.
21. November: Glutäalschwellung kaum palpierbar. Auf der'
Haut noch sehr blasse Pigmentflecken zu sehen. Milz kaum zu
tasten. Körpergewicht 4930 g.
30. November: Pigmentflecken bloß angedeutet. Glutäal-
schwellung kaum bohnengroß. Körpergewicht 5030 g.
20. Dezember: Heilung. Was sermannsche Reaktion: -
Fall X. J. H., zwei Monate alt, aufgenommen am 28. Ok
tober 1910. Erstes Kind, wurde am normalen Ende der Schwanger
schaff geboren. Der Vater wurde längere Zeit gegen Lues be¬
handelt. Das Exanthem ist an dem Kinde seit zwei Wochen
sichtbar.
Gut -entwickelt, ziemlich gut genährt. Mutterbrust. Körper¬
gewicht 4900 g. Fahlblasse Haut, behinderte Nasen-I
atmung, reichlicher Nasenfluß. Auf dem Gesichte)
dem Rumpfe und den Extremitäten ein reichliches)
dunkelf arbiges, makulöses Exanthem. Milz gut palpier
bar. Sohlen infiltriert, speckig glänzend, desquamie-
rend. Was sermannsche Reaktion: Bei der Mutter ++; bei
dem Säugling: 4"! — h
Noch am Tage der Aufnahme (28. Oktober) Arsenobenzol
injektion (0-05 g in 6-5 cm3 Emulsion intramuskulär in die link-
Hinterbacke). In den folgenden 24 Stunden ist die Temperatur!
im Mstdarm, zwölf Stunden nach der Injektion 38-7° C. In den
darauffolgenden 24 Stunden ist die Temperatur im Mast dann!
schon normal.
29. Oktober: An der Injektionsstelle haselnußgroßes, niehl
empfindliches, von normaler Haut bedecktes Infiltrat. Nasen
floß bedeutend geringer. Allgemeinbefinden einwandfrei!
30. Oktober : Glutäalinfiltrat etwas größer, mäßig schmerz
haft, Nasenfluß hat vollständig aufgehört. Das Exanj
them blaßt ab.
2. November : Glutäalschwellung haselnußgroß, nicht
schmerzhaft. Das Exanthem ist auffallend blasser. Der Glanz
an den Sohlen hat wesentlich nachgelassen. Die Desquamation]
ist geringer. Das Allgemeinbefinden ist gut, trinkt gut. Körper
gewicht 4850 g.
Wird aus dem Krankenhause entlassen und weiter ambulant!
beobachtet. .1
7. November: Dyspeptische Stühle, auch ist das Allgemein
befinden ein wenig gestört. Ist bei der Vorstellung fieberfrei:
Die Glutäalschwellung ist haselnußgroß, nicht schmerzhaft. Dar
Exanthem ist bloß durch sehr blasse Pigmentf lecke)
angedeutet.
10. November: Fieber; Unruhe. Auf dem Scheitel Erysipel
sonst, ist der Zustand unverändert.
12. November: Glutäalinfiltrat ist etwas mehr als höhnen
groß. Den Maculae entsprechend sehr blasse Pigmentation. Ery
sip-el etwas verbreitert, jedoch auf den Kopf beschränkt.
16. November: Das Erysipel hat sich über den Nacken und
den oberen Teil des Rumpfes ausgebreitet; luetische Symptom
gänzlich geschwunden. Wässerige Stühle, Verfall.
17. November : Exitus letalis.
Aufgenommen
an
O., sechs Monate alt.
Erstes Kind wurde mit sieben Monaten ge
der ersten Lebenswoche gegen Lues be
Fall XL R.
3. November 1910.
boren und schon in
handelt.
Mäßig entwickelt und gut genährt. Körpergewicht 6500 ß
Mäßiger Hydrocephalus internus congenitus (SchädelumtaiV-
42 cm, Brustumfang 41-5 cm). Ausgesprochene Facies lue
tica, blasse, fahlbräunliche Hautfarbe.
Avurzel etwas eingesunken. Leber und Milz vergrößert
Glanz der Sohlen. W a s s e rm an n sehe Reaktion : -|
an der Mutterbrust genährt.
Win
Nr. 17
589
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
3. November: Injektion von 0-05 g A rseno benzol (neu¬
trale Emulsion in der Gesamtmenge von 7 cm3, intramuskulär,
in die rechte Hinterbacke).
Am nächsten Tage Maxim altem peratur im Mastdarm 38° t',
acht Stunden nach der Injektion.
5. November: Nußgroßes Infiltrat an der Injektionsstelle,
die Haut über demselben normal. Allgemeinbefinden gut, trinkt
gut. Lumbalpunktion : 25 cm3 wasserklarer Liquor cerebrospinalis
bei starkem Druck.
7. November: Das glutäale Infiltrat ist etwas stärker, kaum
empfindlich. Das Kind ist lebhaft, die Gesichtsfarbe
etwas frischer, der Glanz an den Sohlen hat nach¬
gelassen.
9. November: Körpergewicht 6600 g. Das glutäale Infiltrat
kleiiuiußgroß, nicht schmerzhaft.
20. Februar 1911: Was ser man n sehe Reaktion:
Frisches Aussehen, lebhaft.
Fall XII. M. K., sieben Monate alt. Auf genommen am
3. November 1910, zehntes Kind. Die zweite Schwangerschaft
brachte totgeborone Zwillinge. Wurde schon im Alter von einigen
Wochen gegen Lues behandelt.
Mäßig entwickelt und gut genährt. Körpergewicht 6600 g.
Fm den Anus ausgebreitete, stark vorragende, ex-
ulzerierte breite Kondylome von speckigem Aus¬
sehen. Auf der Innenfläche der linken großen Scham¬
lippe 2 1 i n sen g r o ß e, speckig aussehende Kondylome.
Etwas mehr als linsengroßes, stark nässendes Kon¬
dylom an der linken Inguinalfalte. Nasenwurzel etwas
ingesunken. Heisere Stimme, Haut blaß. Unterer Milzrand nicht
palpierbar. Mu tterbrust. W a s s e r m a n n sehe Reaktion : -f — | — \- ;
bei der Mutter — .
3. November: Injektion von 0-05 g Arsenobenzol (neutrale
Emulsion in der Gesamtmenge von 7 cm3 intramuskulär in die
linke Hinterbacke). In den folgenden 24 Stunden keine be¬
deutendere Temperaturerhöhung.
5. November: Die Kondylome nässen im allgemeinen we¬
niger, ihre Oberfläche hat sich überall gereinigt. An der In-
jektionsstelle etwa nußgroßes, kaum empfindliches Infiltrat.
7. November: Die Kondylome werden kleiner,
[lachen ab, ihre Oberfläche ist vollständig gerei¬
nigt, fortschreitende Epithelisierung. Glutäales In¬
filtrat größer, konsistenter, ein wenig schmerzhaft.
8. November: Körpergewicht: 6709 g. Allgemeinbefinden gut,
trinkt gut. Die Kondylome flachen weiter ab, die Epithelisierung
ist vollständig.
27. Januar 191 1 : Heilung. W asser m a n n sehe Reaktion
negativ, Körpergewicht 7030 g.
3. März 1911 : R ez idive zweifellos. Auf der linken Scham¬
lippe eine linsengroße nässende Papel.
Fal l XIII. J. M., drei Monate alt, wurde am 10. November
1910 aufgenommen. Erstes Kind, wurde mit acht Monaten geboren.
Luetisches Exanthem seit einem Monate sichtbar. Rei der stil¬
lenden Mutter manifeste Lues (Exanthema maculosum).
Ziemlich gut entwickelt und genährt; Körpergewicht 4300 g.
Hautfarbe von fahler Blässe. Ueber der ganzen Haut, be¬
sonders aber auf denGlutäen und den unteren Glied¬
maßen reichlich dunkles, rotbraunes, p apu 1 o- maku¬
löses Exanthem. Sohlen glänzend, Milz gut palpierbar.
Wasser mann sehe Reaktion: H — | —
Hei der Mutter über den g a n z e n K ö r p er z e r streut
I) lasse Maculae. Wasser man nsche Reaktion: -f — ! — H
11. November: Bei der Mutter 0-50 g Arsenobenzol-
injektion (neutrale Emulsion in der Gesamtmenge von 7 cm3,
Injektion in der interskapularen Region).
12. November: Die Injektionsstelle zeigt bei der Mutter
kaum irgendwelche Reaktion. Das Kind ist ruhig, sein Ausschlag
in verändert.
13. November : Injektionsstelle reaktionslos. B e i d e m S ä u g-
ling, den einzelnen Flecken entsurechend, deut¬
liche He rxh ei morsche Reaktion wahrnehmbar. Mäßige
Oyspepsie. Das Exanthem der Mutter blässer.
14. November: Bei dem Säugling hält die Horx-
heimersche Reaktion noch an. Dyspepsie auf Regelung
les Stillens gebessert. Injektionsstelle der Mutter kaum empfind¬
lich. Exanthem der Mutter auffallend blässer.
15. November. Die Her xheimersche Reaktion ist bei
hm Säugling geschwunden, das Exanthem ist gleich wie an dem
läge der Aufnahme. Dyspepsie besteht noch in geringem Grade.
Mlgemeinbefinden gut.
18. November: Bei der Mutter sind die Maculae beinahe
-'änzlich geschwunden; die Injektionsstelle ist kaum empfind¬
lich. Das Exanthem des Säuglings ist unverändert. Körper¬
gewicht : 4400 g.
24. November: Die Maculae der Mutter sind spurlos ver¬
schwunden. Das Exanthem des Säuglings ist nicht abgeblaßt.
0-045 g Ar so nobenzolinjektion bei dem Säugling (neu¬
trale Emulsion, Gesamtmenge 7 cm3 intramuskulär in die linke
Hinterbacke). ’
ln den folgenden 24 Stunden keine nennenswerte LVmperatur-
erhöhung. (Maximum im Mastdarm 37-9° C.)
25. November: Injektionsstelle etwas schmerzhaft, keine
Entzündung, trinkt gut.
26. November: An der Injektionsstelle nußgroßes, ein wenig
entzündetes Infiltrat. Exanthem etwas blässer. Körpergewicht
4500 g.
27. November: Glutäales Infiltrat weniger entzündet. Das
Exanthem beginnt stärker abzubl'assen.
3. Dezember: Glutäales Infiltrat, kaum hasolnußgroß, nicht
schmerzhaft. An der Stelle des Exanthems Pigmentflecken nur
angedeutet. Körpergewicht: 4550 g.
19. Dezember: Glutäales Infiltrat unbedeutend, Pigment¬
flecken kaum sichtbar.’ Körpergewicht 4950 g. Wassermann-
sehe Reaktion: + — .
28. Dezember : Körpergewicht 5000 g.
24. Januar 1941: Haut vollständig rein, blühendes Aus¬
sehen, Körpergewicht 5550 g. Glutäales Infiltrat spurlos ver¬
schwunden. Wasser m a n n sehe Reaktion : - .
20. Februar 1911: Wassermann sehe Reaktion: -(- — .
8. März 1911 : Zweifellose Rezidive.
(Siehe umstehende Tabelle.)
Fall XIV. P. S., zehn Jahre alt. Aufgenommen am 14. Ok¬
tober 1910. Zweites Kind, wurde am normalen Ende der Schwan¬
gerschaft geboren. Ein Abortus ging voran. Das dritte Kind,
eine Frühgeburt, lebte fünf Tage. In der zweiten Ehe des Vaters
ein Abortus. Das Augenleiden besteht angeblich seit zwei Monaten ;
zuerst erkrankte das linke und dann das rechte Auge.
Schwach entwickeltes, schlecht genährtes anämisches Mäd¬
chen ; Körpergewicht 25 kg. Mikropolyaidenie. Ausgesprochene
Hutchinson sehe Zähne, das Gehör etwas herabge-
s e t z t. W asser m a n n sehe Reaktion : -) — [ — |- ; Pirquet sehe Re¬
aktion : — . i
Augenbefund. Rechtes Auge: Bei mäßiger konjunk-
tivaler Vaskularisation blaß rosafarbige ziliare Injektion. Aus
den tieferen Gefäßen dringen einzelne Schlingen bloß in clem
äußeren oberen Quadranten in das Gewebe der Kornea, welche
ihrem ganzen Umfange, aber nicht gleichmäßig ge¬
trübt ist. Wie an Fig. 3a zu sehen, ist die dem unteren
Kornearande zunächst befindliche breite gürtelförmige Trübung
am gesättigtsten, während der äußere obere Sektor, wo diel pinsel¬
förmige GefäßneubiMung sichtbar ist, den am wenigsten grauen
Teil bildet. Die Oberfläche der Kornea ist besonders an den
stärker infiltrierten Stellen gesprenkelt. Die Zeichnung der
Iris ist nicht sichtbar, die Konturen d e r P u p i IT o
sind bloß angedeutet. V = zählt Finger auf 1 m.
a b
Fig. 3.
Linkes Auge: Bei geringer konjunktivaler Injektion sehr
blasse, ziliare Vaskularisation bloß neben dem unteren äußeren
Kbrnearande. Die peripheren Teile der Kornea sind glänzend
und vollständig durchsichtig, das Zentrum ist ein wenig ge¬
sprenkelt und trübe. Dem entsprechend scheint auch die Pupille
wolkig trübe durch. Die Zeichnung der Iris ist gut sichtbar. Die
Tension des Auges ist normlaj. V = zählt Finger auf 3 m. Gefäß
bildung in dem Gewebe der Kornea ist nicht wahrzunehmen.
Das KrankhedtsbiM entspricht auf diesem Auge dein Aufhcllungs-
stadium der Keratitis parenchymatosa.
Auf Atropin reagieren beide Pupillen nur mit mittlerer
Erweiterung.
59Q
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
A. Fälle von kongenitaler Lues,
b) Lues congenita bei Kindern über einem Jahre.
Nummer J
Name und
Alter,
Körpergewicht
Diagnose
Wassermannsche
Reaktion vor der
Behandlung
Salvarsan
Wiederholung
der Injektion
Ergebnis
Bemerkung
14
Palma Sz.,
10 Jahre alt,
25 kg
Keratitis parenchy-
matosa
20. Sept.: +++
21. Sept.: 0-21 g.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
—
Genesung. Wasser¬
mannsche Reaktion
nach 36 Tagen
negativ
Während des Verlaufes eine
milde Rachendiphtherie. Ge¬
wichtszunahme in 6 Wochen
1-5 kg
15
Andreas K.,
10 Jahre alt,
27 kg
Keratitis parenchy-
matosa
3. Sept.: i — ) — 1—
3. Sept: 0-215 g.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
27. Sept.: 0-230 g.
Neutrale Emul¬
sion (Wechsel¬
mann). Intraglu¬
täal
Bedeutende Klärung
der Tr Übung. Wasser-
mannsche Reaktion
nach 62 Tagen
negativ
Gewichtszunahme in zwei
Monaten 3 kg
16
Karl S.,
472 Jahre alt,
14 kg
Keratitis parenchy¬
matös a
2. Okt.: + + +
1. Okt.: 0-14 g.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
21. Okt..: 0 16 g.
(Id.) Mit Salzsäure
neutralisierte
Emulsion. Intra¬
glutäal
Bedeutende Klärung
der Trübung. Bei der
Wassermannschen
Reaktion nach 45
Tagen entsteht ge¬
ringe Hämolyse
Gewichtszunahme in zwei!
Monaten 2 5 kg
17
Viktor H„
4 Jahre alt,
19 kg
Keratitis parenchy-
matosa
10. Okt.': -f-P-f
21. Okt. :019 g. (Id.)
Mit Salzsäure neu¬
tralisierte Emulsion.
Intraglutäal ,
—
Besserung. Wasser¬
mannsche Reaktion
nach 18 Tagen
schwach positiv
'•Ja
1
18
Marie F.,
2 Jahre alt,
10 kg
Condylom ata lata
circa anum
12. Sept.: — f — 1 — j—
13 Sept.: 009 g.
Neutrale Emulsion.
(Wechselmann).
Intraglutäal
12. Okt.: 0T1 g.
Neutrale Emul¬
sion (Wechsel¬
mann). Intraglu¬
täal
Genesung? Wasser¬
mannsche Reaktion
nach 22 Tagen, nur
geringe Hämolyse.
10. Dez. noch immer
eine geringe Hämo¬
lyse
1
;
Gewichtszunahme in fünf
Wochen 1/i kg
•
19
Alexander Cs.,
2 lL Jahre alt,
10 % kg
Plaques muqueuses
der Uvula und der
linken Tonsille. Mä¬
ßiger Hydrocephalus
chron. intern. Para-
plegio spastica
20. Sept,: ++ +
27. Sept: 0T1 g.
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
21 Okt..: 0-10 g.
(Id.) Mit Salzsäure
neutralisierte
Emulsion. Intra¬
glutäal
Vollständiges
Schwinden der Pla¬
ques. Spastische Er¬
scheinungen kaum
verändert
—
20
Therese R.,
8 Jahre alt
21V* kg
Plaques muqueuses
palati et anguli oris.
Condylomata lata
circa anum
8, Okt.: + + -f
3. Nov.: 0 22 g. (Id.)
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
-
Genesung? Wasser¬
mannsche Reaktion
10. Dez.: -j-
Steht noch weiter
unter Beobachtung
Aussehen bedeutend ge¬
bessert
21
Samuel L.,
10 Jahre alt,
31-60 kg
Tumor cerebri (vero-
similiter lueticus).
Hydrocephalus int.
chron. minor grad.
Papillitis in atrophia
vergens oculi utri-
usque
2. Nov.: — ( — [ — [—
9 Nov.: 0-31 g. (Id.)
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Subkutan
1. Dez.: 0 29 g.
(Id.) Neutrale
Emulsion (Wech¬
selmann). Intra¬
glutäal
Weitere Beobachtung
Wassermannsche
Reaktion. l.Dez.: —
27. Nov.: Lumbalpunktion
(25 cm3 Liquor).
Pirquetsche Reaktion :
negativ
22
Elisabeth G.,
8 l/j Jahre alt,
19-20 kg.
Ausgebreitete tiefe
speckige Ulzeration
der Rachenwand
5. Nov.: -| — | — |—
17. Nov : 0-20 g. (Id.)
Neutrale Emulsion
Intraglutäal
—
Genesung? Wasser¬
mannsche Reaktion
7. Dez.: -)-
Zahlreiche Spirochäten.
Pirquetsche Reaktion: -p
23
Elisabeth T.,
21/, 7ahre alt,
97 j kg.
Condylomata lata
circa anum
15. Nov.: + + +
17. Nov.: 010g. (Id.)
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Intraglutäal
—
Genesung? Wasser¬
mannsche Reaktion
5. März 1911: -[ -
—
21. September: 0-21 g Arsenoben z;olinj-ektion (neu¬
trale Emulsion, 7 cm3 in die linke Hinterbacke intramuskulär).
Acht Stunden nach der Injektion 38-4° C in der Achsel¬
höhle, welche 14 Stunden nach der Injektion ihr Maximum,
39-2° C, erreicht. Das Fieber besteht noch in den der Injektion
f dgenden 24 Stunden und hält in geringem' Grade noch zwei
Tage an. (Tonsillitis follicularis, welche alsbald das Bild
einer auch bakteriologisch bestätigten milden Diphtherie an¬
nimmt).
23. September: Auf der linken Hinterbacke Infiltrat von
etwas strafferer Konsistenz; keine Schmerzen. Augenbefund
unverändert.
24. September: Die ziliare Injektion ist auf dem rechten
Auge etwas stärker, das linke zeigt keine Reaktion.
26. September: Die ziliare Injektion auf dem rechten Auge
ist geschwunden.
27. September. Die Pupillen zeigen Neigung, sich
zu erweitern, das glutäale Infiltrat ist bedeutend zurück¬
gegangen.
29. September: Die Injektionsstelle ist vollständig nur
mal, das Infiltrat ist geschwunden. Bei subjektiver Besserung des
Visus ist zu konstatieren, daß die zirkuläre Trübung auf dein
rechten Auge nicht mehr scharf konturiert ist und die
Pupille schw ä r z e r durchscheint.
4. Oktober: Beide Pupillen sind von Tag zu Tag mehr
sichtbar. _
8. Oktober: Oc. dext. : Die Trübung ist bloß in der
nasalen Fläche der Kornea sichtbar. Zählt Finger auf 3 m.
Oc. sin. : Zählt Finger auf 5 m.
13. Oktober: Oc. dext.: Die Pupille scheint schön schwarz
durch. V — 5/30. Oc. sin. : Auch die zentralen Teile der Kor¬
nea sind glänzend, feine Trübungen. V = 5/20.
16. Oktober: Oc. dext.: Im Umfange der Pupille bloß lünf
Punkte auf der Kornea, in dem unteren Quadranten eine feiue,
3 mm breite streifenförmige Trübung (s. Figur 3 b).
27. Oktober, Beide Augen sind, von einigen konjunktivalen
Gefäßen abgesehen, blaß. D ie 0 be r fläche der Kornea glän¬
zend; mit, freiem Auge ist auf dem rechten Auge,
Nr. i:
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
591
über dem unteren Pupillenrande, bloß eine feine Trü¬
bung sichtbar — sonst ist die Kornea durchsichtig
- doch auch durch die Trübung scheint die Zeich¬
nung der Iris und der Pupillenrand scharf hind u roh.
Am linken Auge ist bloß in dem Zentrum der Kornea eine
kleine fleckförmige scharf konturierte Trübung zu sehen, ln
der Substanz der Kornea ist keine Gefäßbildung wahrnehmbar.
Die Tension des Auges ist normal. Visus: Oc. dext. — 5/15,
Oc. sin. = 5/10.
Wasser man nsche Reaktion: — . Körpergewicht: 26-5 kg.
Wird entlassen, bleibt aber in weiterer Beobachtung.
1. Februar 1911: Nach brieflichem Bericht Befinden gut.
Tall XV. A. K., zehn Jahre alt, aufgenommen am
31. August 1910. Sehkraft wird seit einem Monat unter Tränen¬
träufeln und Lichtscheue schlecht. Die Knie schmerzen seit fünf
Monaten und sind geschwollen. Der Vater hat vor 20 Jahren
Lues akquiriert, gegen welche er behandelt wurde. Von acht
Kindern leben drei, von den nicht am Leben befindlichen Kin¬
dern wurden drei tot geboren.
Schwach entwickelt, schlecht genährt, Körpergewicht 27 kg.
Blasse Hautfarbe. Beide Kniegelenke geschwollen, die Konturen
verwischt, die Patella stark balottierend. Auf dem Halse und
in der Inguinalgegend empfindliche geschwollene Drüsen. Gehör
gut, Zähne gesund. Pirquet sehe Reaktion : + ; Wasser m an n-
sche Reaktion : -j — [-+.
Fig. 4.
Augenbefund: Das rechte Auge ist gesund. Auf dem
linken Auge bei mäßigem Tränenträufeln und Photophobie mittlere
ziliare Injektion. Die Kornea ist von einem oberen 1 nun
breiten Streifen abgesehen, getrübt, die Oberfläche
gesprenkelt. Durch die in verschiedenem Niveau
des Korneagewebes befindlichen wolkigen Trübun¬
gen sehe int die Iris nur durch die oberen Teile durch
'Keratitis parenchymatös a). Die Trübungen bilden auch
zerstreut Flecken. Pupillenerweiterung auf Atropin gut (siehe
Fig. 4 a).
3. September: In den letzten 24 Stunden trübte sich der
untere äußere Sektor der rechten Kornea unter Tränenfließen
und Photophobie. Die Trübung verdeckt mit ziemlich scharfer
Grenze beiläufig ein Drittel der Pupille (siehe Fig. 5 a).
An demselben Tage 0-215 g Arsenobenzol (7 cm3 neutrale
Emulsion intramuskulär in die rechte Hinterbacke), ln den der
Injektion folgenden 24 Stunden keine nennenswerte Temperatur¬
erhöhung.
4. September : Auffallend ist, daß Tränenfließen und Photo
phobic auf beiden Augen vollständig aufhörte und die ziliare
Injektion auf dem rechten Auge bedeutend geringer wurde. Die
I riibung auf dem rechten Auge verbreiterte sich kaum, die Trü¬
bungen der linken Kornea sind unverändert.
10. September: Die Trübungen auf beiden Augen sind durch¬
scheinender, besonders die peripheren Teile der Kornea hellen
'ich auf. Die Schmerzen in den Knien sind geringer, die Schwel¬
lung kaum verändert. Gipsschiene, Massage. Wassermann-
'Che Reaktion : H — h
Fig. 5.
16. September : Zustand der Kniegelenke unverändert, die
schmerzen sind geringer, stellt sich ziemlich leicht auf die
Beine. Visus: Oc. dext.: — o/30. Visus: Oc. sin.: — Finger¬
zählen auf 1 m.
21. September: Auf der rechten Kornea sind die
I riibungen höher gerückt, während die untere Randpartie
durchsichtiger wurde (siehe Fig. 5 b). Die Trübungen auf dem
linken Auge ziehen sich mehr auf das Zentrum zurück und
grenzen sich gegeneinander ab.
27. September: Neuerlich geringe Photophobie. Auf der
rechten Kornea breitet sich die Trübung aus. Neuerliche
Arseno benzolinjektion (0-23 g neutrale Emulsion in der
Gesamtmenge von 7 cm3 intramuskulär in die linke Hinterbacke).
Das rechtseitige glutäale lnliltrat ist beinahe schon geschwunden.
In den folgenden 48 Stunden ist die Maximaltemperatur
in der Achselhöhle 37-6° C, an der Injektionsstelle kindsfaustgroßes,
mäßig schmerzhaftes Infiltrat.
29. September: Photophobie hat bedeutend nachgelassen,
die linke Kornea ist etwas durchscheinender.
2. Oktober: Die Infiltration der rechten Kornea breitet sich
aus, die Trübung verdeckt beinahe vollständig die Pupille. In¬
jektionsstelle unverändert, ein wenig schmerzhaft, die Haut nicht
entzündet.
4. Oktober : Auf der linken Kornea erstreckt sich die Trübung
bloß auf 3 bis 4 mm vor der Pupille. Die peripheren Teile
haben sich vollständig aufgehellt. (Fig. 4 b.)
8. Oktober: Auf dem rechten Auge hat die Infiltration
der Kornea das Niveau des oberen Randes der Pupille erreicht,
während der untere Pupillenrand schon schwarz durchzuscheinen
beginnt. Das glutäale Infiltrat ist beiläufig nußgroß, kaum em¬
pfindlich.
11. Oktober: Auch die Trübungen der rechten Kornea sind
durchscheinender. Auch die linke Kornea hellt sich auffallend
rasch auf. Visus: Oc. dext. — 3/70; Oc. sin.: — 5/15.
18. Oktober: Die obere Hälfte der rechten Kornea ist getrübt,
die untere hat sich größtenteils aufgehellt (Fig. 5 c).
21. Oktober: Kniegelenke sind unverändert, nicht schmerz¬
haft. Glutäales Infiltrat etwa nußgroß, kaum empfindlich. Visus:
Oc. dext. — 5/50; Visus: Oc. sin.: — 5/10.
27. Oktober: Die Trübungen der rechten Kornea zeigen
eine rasche Aufhellung. Visus: Oc. dext. — 5/20; Visus: Oc. sin.:
5/10.
2. November: Trübung der linken Kornea mit freiem Auge
kaum sichtbar.
8. November: Was sermannsche Reaktion: — .
15. November: Das rechte Auge sieht 5/20, das linke 5/10
sieht schärfer. Die glutäale Infiltration kaum zu tasten.
26. Februar 1911: Nach brieflichem Berichte sind die Augen
vollkommen gesund, die Sehkraft gut. Die Schwellung der Knie,
wie auch die Steifigkeit, ist geschwunden.
Fall XVI. K. S., 4Va Jahre alt, wurde am 1. Oktober
1910 alufgenommen. Wurde am normalen Ende der dritten
Schwangerschaft geboren; die ersten beiden Kinder wurden tot
geboren. Angeblich ist da,s linke Auge des Knaben erst seit
einigen Taigen krank.
Mäßig entwickelt .und gut genährt. Körpergewicht 14 kg.
Die Haut ist blaß. Mikropolyadenie. Was s ermann sehe Reak¬
tion : ++'+ ; P i r q u et sehe Reaktion: — .
Augen beif und : Auf dem r ech teil Auge kaum wahrnehm¬
bare Erscheinungen. Bei sehr geringer konjunktivaler und ziliarer
Vaskularisation ist ein 1 mm breites Segment des oberen und
äußeren Randes der Kornea ein wenig getrübt. Auf dem inneren
Teile des linken Auges geringere, sonst bedeutend ziliare In¬
jektion; dem entsprechend ist die größere äußere Hälfte
der Kornea getrübt, ihre Ober fläche gesprenkelt. Die
Trübung ist diffusen 0 harakters und so star k d a ß
die Farbe der Iris durch sie nicht hindurchscheint.
Noch am Tage der Aufnahme (l. Oktober) 0-14 g Arseno¬
benzol in jekti on (neutrale Emulsion in der Gesamtmenge von
7 cm3 intramuskulär in die rechte Hinterbacke).
In den der Injektion folgenden 24 Stunden ist die maximale
Temperatur im Mastdarm 37-8° C, in den nächsten Tagen ist
die Temperatur normal.
2. Oktober: Auf dem rechten Auge ist die Injek¬
tion vollständig geschwunden, auf dem linken be¬
deutend geringer. Die Infiltration der Kornea hat sich nicht
verbreitet.
3. Oktober: Die Injektion des Auges ist ausgespro-
c h e n e r.
6. Oktober: An dem äußeren oberen Rande der rechten
Kornea beginnt. sich eine segmentförmige Trübung gegen das
Zentrum der Kornea zu entwickeln. Das glutäale Infiltrat ist etwas
über nußgroß, nicht empfindlich, die Haut über demselben normal.
592
Nr. 1?
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
8. Oktober: Oie Infiltration der rechten Kornea schreitet
kaum fort; das linke Auge ist unverändert.
16. Oktober: Die Infiltration der rechten Kornea verrät
eine geringe Tendenz zum Fortschreiten. Auf dem linken Auge
konzentrierten sich die Trübungen auf die innere Hälfte der Kor¬
nea, dabei ist besonders das obere, aber auch das äußere Segment
durchscheinender ; das glutäale Infiltrat ist unverändert.
20. Oktober: Das äußere -obere Segment der rechten Kornea
zeigt eine bündelförmige Trübung von 4 mm; daselbst ist die Ober¬
fläche der Kornea gesprenkelt.
21. Oktober: Neuerliche Injektion (016 g A rsenobenzol,
mittels Salzsäure neutralisierte Emulsion in der Gesamtmenge
von 7 cm3 intramuskulär in die linke Hinterbacke).
ln den folgenden 24 Stunden maximale Temperatur im Mast¬
darm, 38° C.
22. Oktober: An der Injektionsstelle nußgroßes Infiltrat.
Geringe Schmerzhaftigkeit.
23. Oktober: In der Glutäalgegend kindsfaustgroßes, stark |
schmerzendes Infiltrat, über welchem die Haut keine Verfärbung |
zeigt. An der ersten Injektionsstelle ist das Infiltrat in Rück- «
bildung begriffen.
25. Oktober: Die Trübungen der rechten Kornea verbreiten
sich gegen die Peripherie. Die Trübungen der linken Kornea ,
sind durchscheinender; die glutäale Schwellung ist etwas ge¬
ringer.
1. November: An der rechten Kornea ist nur mehr aas
innere Drittel noch durchsichtig. Die äußere obere Hälfte der
linken Kornea ist schon glänzend und durchsichtig.
5. November : Die rechte Kornea ist vollständig trübe,
doch scheinen die stärker gefärbten Stellen der Iris und die
Pupille gut durch.
Die Oberfläche der linken Kornea ist glänzend.
10. November: Die rechte Kornea beginnt sich am äußeren
oberen Limbus aufzuhellen.
15. November: Auf der linken Kornea vor der Pupille zieht
bloß eine 3 mm breite durchscheinende Trübung schräg von
oben innen nach außen unten. Auf der rechten Kornea schreitet
die Aufhellung fort. .
Was s er mann sehe Reaktion: + — . Die erste Injektions¬
stelle vollkommen normal, an der zweiten nußgroße schmerzlose
Schwellung in der Tiefe.
21. November: Beinahe vollständige Aufhellung des äußeren
oberen Segmentes der rechten Kornea, wobei auch die übrigen
Partien schon durchsichtig sind. Die linke Kornea ist, abgesehen
von einem beiläufig IV2 mm langen, schrägen Streifen vollständig
klar und durchsichtig. Das glutäale Infiltrat ist geschwunden.
28. November: Die Iris scheint schon durch die innere
untere Hälfte der rechten Kornea. Auf der linken Kornea befindet
sich bloß eine mit freiem Auge kaum sichtbare wolkige Trübung,
welche die Sehkraft kaum beeinträchtigt.
15. Dezember: Auf der rechten Kornea vollständig durch¬
scheinende Trübungen; die linke Kornea ist geheilt.
Fall XVII. V. H., vier Jahre alt, aufgenommen tun 10. Ok¬
tober 1910. Zweitgeborenes Kind; vor und nach ihm tote Früchte.
Wurde als Säugling längere Zeit gegen Lues behandelt. Das linke
Auge ist angeblich seit einer Woche krank.
Mäßig entwickelt. Das Skelett zeigt die Residuen abgelaufener
Rachitis. Ausgesprochene Sattelnase. Auf den Lippen
typische strahlenförmige Narben. Die linke Tibia ist
in der Mitte etwas verdickt, schmerzlos. Die Maxillardrüsen
bohnengroß, bilden eine Geschwulst von fester Konsistenz. Pir¬
quet sehe Reaktion stark positiv. Wassermannsehe Reaktion.
-| — (-+. Körpergewicht: 19 kg.
Augenbefund: Ohne jede Reizerscheinung befindet sich
im horizontalen Meridian der linken Kornea eine 5 mm und 3 mm
breite, vollständig undurchsichtige, gelblichgraue, trübe Stelle.
Die Trübungen befinden sich im Stratum der Kornea und trägt
zu ihrer Bildung auch eine hochgradige Sprödigkeit des kor-
nealen Epithels bei. Der scharf konturierten Trübung entspre¬
chend, macht das Stratum der Kornea den Eindruck eines aul¬
gelockerten Gewebes. Diese Stelle zeigt gegen das Niveau der
gesunden Oberfläche eine Ausbuchtung. Bei mittelweiter Pupille
erscheint der obere und untere Pupillenrand schwarz. Lie peri¬
pheren Teile der Kornea sind vollkommen klar. Tiefere Gefäße
sind, nicht wahrzunehmen, so daß nicht anzunehmen ist, daß
die Trübung sich von hier gegen das Zentrum gezogen hätte
(Fig. 6). Die äußeren Häute des rechten Auges sind gesund, der
ophthalmoskopische Befund ist normal.
Während einer Beobachtungszeit von 18 Tagen zeigt die
Infiltration der Kornea weder zum Fortschreiten, noch zur Rück¬
bildung eine Tendenz.
21. Oktober: 0-19 g A r senob enz olin j ekti on (mittels
Salzsäure neutralisierte Emulsion in der Gesamtmenge von 7 cm3,
intramuskulär in die linke Hinterbacke).
In den folgenden 24 Stunden kaum nennenswerte Tem¬
peraturerhöhung.
23. Oktober: An der Injektionsstelle kindsfaustgroßes und
schmerzhaftes Infiltrat von fester Konsistenz, über welchem die
Haut etwas verfärbt ist.
28. Oktober: Glutäales Infiltrat unverändert, die Hautröte
etwas mehr verbreitet.
2. November: Der Umfang der kornealen Trübung
unverändert, doch weicht die ursprünglich gelbe Farbe einer i
rein grauen. Die Injektionsstelle ist weniger schmerzhaft, die
Hautröte hat nachgelassen.
4. November : Der infiltrierte Teil der Kornea ist gesprenkelt,
aber nicht mehr von so rauher Oberfläche als ursprünglich.
8. November: W as ser mann sehe Reaktion: +.
11. November: Das Infiltrat ist etwas kleiner.
14. November: Die korneale Trübung ist etwas durchsich¬
tiger. Die glutäale Schwellung von etwas mehr als Nußgröße.
21. November: Langsame Aufhellung, Pupille mittelweit.
30. November: Die Aufhellung der Trübung ist eine fort¬
schreitende, doch beginnt das Auge in schielende Stellung zu
geraten. Glutäales Infiltrat nicht zu tasten.
23. Februar 1911: Nach brieflichem Bericht befindet sich
auf dem linken Auge noch eine geringe Trübung, doch ist die;
Sehkraft gut, ist auch sonst gesund.
Fall XVIII. M. F„ zwei Jahre alt, am 5. September auf¬
genommen. Fünftes Kind, wurde zur normalen Zeit geboren)
die um den Anus befindlichen Kondylome bestehen seit drei
Monaten. Erstes Kind, neun Jahre alt, ist gesund,* das zweite,
dritte und vierte wurden tot geboren.
Gut entwickelt und genährt. Die Haut ist ausnehmend
blaß, mit einem Stich ins Fahle. Um die Analöffnung
drei Kondylome von mehr als Bohnengröße, mit m;ß
farbiger Oberfläche und speckigem Glanz. Die Milz
zwei Querfinger breit unter dem Rippenbogen zu tasten. Körper
gewicht 10 kg. Was sermannsche Reaktion: +H h
13. Sep tember : 0-09 g A r s e n o b e n z 0 1 i n j e k t i 0 n (7 cm
neutrale Suspension, intramuskulär in die rechte Glutäalgegend;
Höchste Temperatur im Mastdarm 37-8° C 16 Stunden naclj
der Injektion, zwei Stunden nachher 37-1° C, die Temperatur bleib1
auch weiterhin normal.
14. September: Verbrachte eine ruhige Nacht, die Injek
tionsstelle ist reaktionsfrei. Kondylome sind unverändert. j
15. September: Das speckige Aeußere der Kondy
1 0 m e ist geschwunden und es ist b e g i n n e n d e E p i
thelisierung wahrnehmbar. An der Injektionsstelle in clej
Tiefe schmerzloses Infiltrat. Gutes Allgemeinbefinden.
17. September: Injektionsstelle unverändert. Die Kondylom«
flachen ab. Mäßige Diarrhoe. x
19. September: Infiltrat beiläufig kindsfaustgroß, die Hai'
über demselben etwas gespannt, glänzend, aber wenig empfindlicl
und nicht gerötet. Die Kondylome sind ganz abgc
flacht, die Epithelisierung ist beinahe vollständig
Diarrhoe gering.
23. September: Infiltrat etwa nußgroß, schmerzlos, die Kon
dvlome unverändert. . I
26. September: Das Infiltrat ist bloß ganz in der liefe zv
fühlen, kleiner als Nußgröße. An den Stellen der Kondylom-
noch immer lebhafter gerötete Flecken. Die Anämie bestem
unverändert. Wasse r mann sehe Reaktion: + — . (Schwach
Lysis.) . . I
12. Oktober: Neuerliche Arsenobenzolinjektioi
(011g Arsen 0 benzol, 7 cm3 neutrale Emulsion in die link
Hinterbacke). vj
Höchste Temperatur im Mastdarm 16 Stunden nach ‘
Injektion 37-6° C.
593
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
14. Oktober: An der Injektionsstelle apfelgroße, schmerz¬
hafte Schwellung von fester Konsistenz. Haut zeigt keine Ym-
färbung. Allgemeinbefinden gut.
15. Oktober: Schwellung unverändert. An Stelle der Kon¬
dylome blaßrosafarbene Flecken.
21. Oktober: Glutäales Infiltrat von etwa Apfelgröße, in
der 'Fiele der Schwellung Fluktuation fühlbar, aber von
normaler Haut bedeckt, nicht schmerzhaft. Die Stellen der
Kondylome sind bloß durch blasse, fahlbraune
Flecken angedeutet. Körpergewicht 10 ’4 kg.
7. November: Glutäale Schwellung links haselnußgroß.
10. Dezember: An Stelle der Kondylome nur eine kaum
sichtbare Pigmentation. Glutäales Infiltrat kaum bohnengroß. Die
Hautfarbe ist besser.
F all XIX. A, C., 2lh Jahre alt, aufgenommen am 20. Sep¬
tember 1910. Drittes Kind. Der Vater akquirierte vor 14 Jahren
Lues, war lange Zeit heiser, die Mutter ist scheinbar gesund ;
die beiden ersten Kinder waren Frühgeburten und lebten einen
Tag. Bei dem Kinde wurde schon im Alter von einem Jahre
Lues konstatiert und wurde es wegen eines Rachenprozesses
längere Zeit einer Inunktionskur unterzogen. Konnte wegen Steifig¬
keit der Glieder noch nicht gehen.
Schwach entwickelt, schlecht genährt. Die Haut blaß. Poly-
mikroadenie. Mäßige Makrozephalie (Schädelumfang 49cm).
Fontanellen schon geschlossen. Die obere Wand der Orbita beider¬
seits etwas herabgedrückt; dementsprechend sind die Achsen
der Bulbi ein wenig nach innen gerichtet. Die Rachengebilde sind
etwas injiziert, an der linken Seite der Uvula bohnen¬
große Plaques mit ungleichen Rändern und einem
mißfarbigen, weißlichen, speckigen, Belage sicht¬
bar. Auf der linken Tonsille beiläufig hell er große
Plaques von gleichem Charakter. Beiderseitige subangu-
läre Drüsen ein wenig infiltriert. Hyperästhesie. Beide untere
Extremitäten sind rigid, hypertonisch, hält die Beine gekreuzt.
Beim Aufheben stellt er sich auf die Fußspitzen, kreuzt die
Füße und preßt die Knie krampfhaft aneinander. Bauch-, Kre¬
master- und Plantarreflex. Patellarreflexe sind stark gesteigert.
Babinsky. Fußklonus nicht auslösbar Augenhintergrund normal.
\\ as s er mann sehe Reaktion: -j — | — Beider vorgenommenen
Lumbalpunktion entleeren sich unter ziemlich starkem Druck 45 cm3
wasserklare Zerebrospinalflüssigkeit. Körpergewicht 10-60 kg.
27. September: 0-11 g Arsenobenzol (7 cm3 neutrale
Emulsion, intramuskulär in die linke Hinterbacke).
In den ersten 24 Stunden höchste Temperatur im Mastdarm
37-4° C, in den zweiten 24 Stunden 38-2° C.
28. September: Injektionsstelle ohne Reaktion. Prozeß im
Rachen unverändert.
30. September: An der Injektionsstelle ist die Hinterbacke
im ganzen von festerer Konsistenz, die Haut über derselben
glänzend, etwas gerötet, schmerzlos. Beide Plaques reini¬
gen sich. Allgemeinbefinden gut.
1. Oktober: An der Injektionsstelle kleine, apfelgroße, feste,
kaum empfindliche, von ein wenig entzündeter Haut bedeckte
Schwellung. Die Plaques im Rachen kaum sichtbar. Die
spastischen Erscheinungen unverändert.
3. Oktober: Die Plaques im Rachen sind geschwun¬
den. Die Schleimhaut schwach injiziert. Glutäales Infiltrat nicht,
verkleinert, schmerzlos.
5. Oktober: Glutäales Infiltrat kaum taubeneigroß, schmerz¬
los. Das Kind setzt sich oft auf und hält sich fest an dem
Bettrand. Der Spasmus der Extremitäten ist übrigens unver¬
ändert.
8. Oktober: Glutäales Infiltrat erbsengroß, Rachen rein,
das Kind heiter.
20. Oktober: Neuerliche Lumbalpunktion: unter
sehr starkem Druck 45 cm3 wasserklarer Liquor cerebrospi¬
nalis abgeflossen. Spastische Erscheinungen unverändert. Gluta-
ales Infiltrat gänzlich geschwunden. Allgemeinbefinden ein¬
wandfrei. Rachen rein.
21. Oktober: Neuerliche Arsenobenzolinjektion
IÖ-10 g in 7 cm3 durch Salzsäure neutralisierte Emulsion intra¬
muskulär, in die linke Hinterbacke).
In den nächsten 24 Stunden Temperatur normal. Am nächst¬
folgenden Tage Temperatur im Mastdarm etwas erhöht. Maximum
37-8° C.
22. Oktober: An der Injektionsstelle haselnußgroßes, wenig
empfindliches Infiltrat.
23. Oktober: Infiltrat kleinapfelgroß, schmerzhaft. Allge¬
meinbefinden übrigens kaum gestört.
29. Oktober: Infiltrat nußgroß, schmerzhaft. Allgemein¬
befinden gut. Spastische Erscheinungen unverändert.
6. November: Linkseitige glutäale Schwellung spurlos ge¬
schwunden.
Fall XX. T. A., acht Jahre alt, aufgenommen am 28. Ok¬
tober 1910. Erstes Kind, wurde zur normalen Zeit geboren. Der
Vater leidet an Lues. An dem Mädchen beobachteten die Eltern
Fig. 8.
seit zwei Monaten das Entstehen von Kondylomen. Ueber den
Gesundheitszustand de« Mädchens im Säuglingsalter kann bei der
geringen Intelligenz der Eltern schwer etwas in Erfahrung ge¬
bracht werden.
Schwach entwickelt, schlecht genährt. Blasse Hautfarbe.
Plaques mit speckigem Belag im rechten Mundwinkel,
auf beiden Tonsillen, an der Uvula, aus gebreitete,
mißfarbige, stark vorragende Kondylome um den
Anus, flachere, von geringerer Ausdehnung an der
Innenfläche beider großen Labien (s. Fig. 8). Wasser¬
mann sehe Reaktion: -j — | — |-, Körpergewicht 21-25 kg.
3. November : 0-22 g Arsenobenzolinjektion. Neutrale
Emulsion in der Gesamtmenge von 9 cm3, intramuskulär in die
linke Hinterbacke.
Flöchste Temperatur in den nächsten 24 Stunden 37-9° C.
In den beiden folgenden Tagen ist die Temperatur noch nahe
der Fiebergrenze, wird aber am vierten Tage nach der Injektion
normal.
Fig. 9.
5. November: Die Plaques im Rachen sind kleiner, die
Ränder gerötet- Die Plaques am Mundwinkel in Rückbildung
594
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 1?
begriffen. Die Oberfläche der perianalen Kondylome gerei¬
nigt, weniger nässe n d. Die Kondylome rin den Labien sind
trocken, bedeutend abgeflacht. Das glutä&le Infiltrat von
der Größe eines halben Apfels ist schmerzhaft. Die Haut über
demselben ein wenig gerötet.
7. November: Die Kondylome mit Epithel bedeckt, flachen
weiter ab. Der Prozeß im Rachen im Schwinden begriffen,
der Mundwinkel beinahe geheilt. An der Injektionsstelle die
Schwellung nicht gefallen, schmerzhaft.
9. November: Die Kondylome an den Labien sind voll¬
kommen abgeflacht. Die perianalen Kondylome sind auf ein
Drittel zurückgegangen (s. Fig. 9). Ihre Oberfläche ist
trocken, mit Epithel bedeckt.
Das glutüale Infiltrat beginnt sich zu verkleinern, ist noch
schmerzhaft.
13. November: An der Innenfläche der großen Labien nur
blasse Pigmentflecken, Rachen rein. Mundwinkel frei. Glutäales
Infiltrat nußgroß, kaum empfindlich. Allgemeinbefinden einwand¬
frei. i
20. November: Die perianalen Kondylome erheben sich kaum
über das Niveau der Haut, werden nach und nach kleiner (siehe
Fig. 10-). Rachen, Mundwinkel frei. Das glutüale Infiltrat von
der Größe einer kleinen Nuß ist schmerzlos.
Fig! 10.
Fall XXL S. L., zehn Jahre alt, aufgenommen am 2. No¬
vember 1910. Wurde im vergangenen Jahre durch zwei Monate
im Krankenhause behandelt. Die damalige Diagnose war: T um or
cerebri (verosimiliter lueticus). Wahrscheinliche Lokalisation:
Die Gegend des Nucleus ruber. Auf Quecksilbersalbe bedeutend
gebessert. Bei der zweimal vorgenommenen Lumbalpunktion ent¬
leeren sich 25, respektive 36 c;m3 Liquor cerebrospinalis. Seit
einigen Wochen hat sich der Zustand verschlimmert, namentlich
wurde die Sehkraft schwächer, der Gang wieder schwankender.
Gut entwickelt und genährt. Körpergewicht 31-60 kg. Schädel
etwras vergrößert (Kopfumfang 53 cm).
Bauch- und Kremasterreflexe fehlen. Babinski negativ.
Die tiefen Reflexe gesteigert. Das Kind geht breitspurig, unge¬
schickt, schwankend; das Umwenden geschieht taumelnd und
schwerfällig. Kein Kopfschmerz, ist heiter und außer Bett.
Aug e n b e f u n d : Geringe Protrusion der Bulbi, der Blick
ist starr. Die Pupillen sind gleich, mittelweit, reagieren kaum
auf Licht. Beweglichkeit der Augen ist gut, nur das Aufwärts¬
blicken geschieht etwas schwerer. Visus : Oe. dext. : zählt
Finger auf 1 m. Visus: Oc. sin.: zählt Finger auf 2 m.
Gesichtsfeld frei. Ophthalmoskop! s eher Bef-und (s. Fig. 11) :
Die lichtbrechenden Medien sind klar. Beide Papillae nervi op¬
tici sind graurot.. Die Ränder der Papilla sind auf der nasalen
Seite verwischt, auf der temporalen Seite scharf. Die Venen
sind weiter als normal, einige sind geschlängelt. Die Arterien
sind eng. Sowohl Venen- als Arterien sind von weißen Streifen
begleitet. Beide Papillae nervi optici sind mittels + 3-0 noch
scharf sichtbar. Diagnose: Papillitis in atrophiam vergens
Oc. u.
Bei der Lumbalpunktion entleeren' sich bloß 2 cm3 wasser¬
klare Flüssigkeit, welche langsam abtropft. Wasser mann siche
Reaktion: -f-f — \~.
9. November: 0-31 g A rsen o benzol (neutrale Emulsion,
7 cm3 subkutan). !
Der Injektion folgte keine nennenswerte Temperaturerhöhung.
11. November: Die Injektionsstelle ist schmerz- und re¬
aktionsfrei.
16. November: Reaktion der Pupillen auf Licht sehr träge.
Visus: Oc. u. : 5/50. Das Gesichtsfeld frei. Die Venen im Augen¬
hintergrund nicht mehr so gefüllt und geschlängelt. Die innerem
Ränder der Papillae nervi optici werden sichtbar. Allgemein
befinden gut, an der injektionsstelle geringes Infiltrat.
23. November: Augenbefund: Visus: Oc. dext.: 5/15;
Visus: Oc. sin.: 5/20. Die Papillen sind um eine Schattierung!
röter, der innere Papillenrand verwischter.
27. November : Klagtü be r Kopfschmerz, ist wenige i|
heiter. Lumbalpunktion: 25 cm3 wasserklarer Liquor cere¬
brospinalis unter starkem Druck. Die Papillen etwas blässer,
28. November: Seit der Punktion sind die Kopfschmerzen
geschwunden, die Heiterkeit ist wiedergekehrt, die Ränder deij
Papillen besser wahrnehmbar.
1. Dezember: Neuerliche Arsenobenzolinjektion
(0-29 g, 7 cm3 neutrale Emulsion in die rechte Hinterbacke).
Der Injektion folgt keine nennenswerte Temperaturerhöhung!
Die Injektionsstelle kaum empfindlich.
5. Dezember: An der Injektionsstelle kindshandgroßes, kaum
empfindliches Infiltrat. Heiter. Visus: Oc. dext.: 5/15; Visus
Oc. sin.: 5/10. Gesichtsfeld zeigt keine wesentlichere Verän
de rung.
7. Dezember: Visus: Oc. dext.: 5/30; Visus: Oc. sin.: 5/201
Der Verschlimmerung des Visus entsprechende Veränderung, außen
den schon erwähnten, nicht zu konstatieren. Wasse rmannscha
Reaktion (Blutentnahme am 1. Dezember): 0.
19. Dezember: Beginn von Quecksilberinunktionen.
16. Januar 1911: Zustand nicht verändert. Lumbalpunktion !
30 cm3 Liquor cerebrospinalis.
Fa 11 XXII. E. G., 8Va Jahre alt. Aufgenommen am 15. No
vtember 1910. Sechstes Kind, wurde zur normalen Zeit geboren
Seit dem Säuglingsalter werden Luessymptome be;
obacht et und wiederholt Quecksilberkuren angel
wendet.
Gut entwickelt und genährt. Körpergewicht 19-20 kg. Bei
Nasenrücken mäßig verdickt, Nasenwurzel etwas abgeflacht. Uebe!
riechender Ausfluß aus der Nase. Von der rechten Tonsille
bis zur hinteren Rachen wandsich hi n z i eh ende, ziem
lieh tiefe Destruktion , aufweisende kraterförmige
mißfarbige Exulzeration. Erschwertes Schlucken. Uiü.ci
dem rechten Kieferwinkel nußgroße, feste, nicht entzündete Drüsen
Schwellung. Haut blaß, rein. Spirochäten zahlreich, in lebhafter
Bewegung. Wasser mann sehe Reaktion: H — I — h; Pi r quetsch*
Reaktion: +. Histologisches Bildeines aus dem Rachengeschwiin
-ex'zind ierten Gewebsstückes : von kleinzelligem Infiltrat umschlos j
senes Granulationsgewebe, in! welchem Riescnzie’.b n zu stehen sind
Intima und Media der kleineren und mittleren Arterien sinn
verdickt und zeigen hyaline Degeneration.
17. November: 0-20 g Arsenobenzol (7 cm3 neutrale
Emulsion in die linke Hinterbacke injiziert).
Keine nennenswerte Temperaturerhöhung weder in dei
ersten, noch in den zweiten 24 Stunden.
Nr 17
595
WIENER KLINISCHE
19. November: Das Rachenbild nicht verändert. Injektions¬
stelle kaum empfindlich.
20. November: Das Rachengeschwür hat sich be¬
deutend gereinigt und beginnt den speckigen Glanz
zu verlieren. Schlucken freier. In der Glutäalgegend Infiltrat
kaum zu fühlen. Allgemeinbefinden gut.
21. November: Rachengeschwür auffallend gerei¬
nigt, beginnt sich zu epithelisieren. Subangulare Drüseu-
hchwellung unverändert.
24. November: Glutäales Infiltrat taubeneigroß, kaum em¬
pfindlich. R a c h e n ge s c h w ü r v o 1 1 s tä n d i g g e r e i n i g t, s i n k t
auf das Niveau der Umgebung. Epithelisierung
schreitet rasch vorwärts. Schlucken frei; Allgemeinbefin¬
den einwandfrei.
29. November: Fortschreitende Granulation des tonsillären
Geschwüres, reine Wundfläche, Nasenrücken flacher. Schwellung
der Halsdrüsen bedeutend geringer. Glutäalgegend frei.
1. Dezember: Rachengeschwür vollständig gereinigt, ver¬
kleinert sich rasch, lebhafte Granulation. Frischere Gesichtsfarbe.
Allgemeinbefinden gut.
20. Dezember: Rachengeschwür beinahe geschwunden, an
seiner Stelle eine buchtige Einsenkung. Nasenrücken abgeflacht.
Uebler Geruch aus der Nase geringer, wenig sanguinolentes Sekret.
W a s s e r m a n n sehe Reaktion : +.
5. Januar 1911: Rachengeschwür geheilt. Nasensymptome
unverändert. Hautfarbe bedeutend besser.
Fall XXIII. E. T., 2V2 Jahre alt, aufgenommen am 15. No¬
vember 1910. Nach drei xAborten das erste ausgetragene lebende
Kind. Wurde schon im Alter von zwei Monaten län¬
gere Zeit gegen Lues behandelt.
Mäßig entwickelt und genährt. Körpergewicht 9-50 kg. Nasen¬
wurzel ein wenig eingesunken. In beiden Mundwink e 1 n
linsengroße, speckig aussehende Plaques. Um den
Anus rechts zehnhellergroßes, links kronengroßes,
auffallend mißfarbiges, stark vorragendes, breites
Kondylom (s. Fig. 12). Durch das Ultramikroskop zahlreiche
WOCHENSCHRIFT. 1911.
2. Dezember: An Stelle der Kondylome bloß eine rötliche
Verfärbung.
Fig. 12.
7. Dezember: Die rötliche Verfärbung ist abgeblaßt.
1. März 1911: Vollständige Heilung.
B. Fälle von Lues acquisita.
J Nummer ||
Name und
Alter,
Körpergewicht
Diagnose
Wassermannsche
Reaktion vor der
Behandlung
Salvarsan
Wiederholung
der
Injektion
Ergebnis
Bemerkung
24
Rosa Sp.,
11 Jahre alt,
32 kg
Plaque muqueuse
der rechten Ton¬
sille, mit Propa¬
gation auf den Arcus
palatoglossus
10. Juli: + + +
11. Juli: 0T6 g.
Methylalkobolische
Lösung.
Intraglutäal
22. Juli: 016 g.
Glykolische
Lösung.
Intraglutäal
Genesung?
Wassermannsche
Reaktion, nach 112
Tagen entsteht
schwache Hämolyse.
3. Dez.: + —
10. Feb. (1911): + —
Mäßige Eiterung an der
Stelle der Injektion. Ge¬
wichtszunahme in 2 Mo¬
naten 2 kg
25
Franz O.,
l'/> Jahre alt,
ll'/i kg
Condylomata lata
circa anum. Ulcus
induratum glandis
10. Aug.: + + +
10. Aug. : 010 g.
Glykolische Lösung.
Intraglutäal
31. Aug.: 0T0 g.
Glykolische
Lösung.
Intraglutäal
Genesung.
Wassermannsche
Reaktion nach 55
Tagen: negativ
Gewichtszunahme in 2 Mo¬
naten beinahe 2 kg
26
.
Dionys R.,
3 Jahre alt,
13 7* kg
Exanthema macu-
losum. Ulcus anguli
oris. Plaque mu¬
queuse der Tonsille
6. Nov.: + + +
9. Nov.: 014g. (Id.)
Neutrale Emulsion
(Wechselmann).
Subkutan
—
Genesung?
Was s er m anns ch e
Reaktion : 1. Dez. +
(
Gewichtszunahme in 3 Wo¬
chen '/j kg
Spirochäten in lebhafter Bewegung zu sehen. Leber und Milz
ausgesprochen vergrößert. W assermann sehe Reaktion : |- J — K
17. November: 0-10 g Arsenobenzol (8 cm3 neutrale
Emulsion intramuskulär in die rechte Hinterbacke).
In den der Injektion folgenden Tagen keine größere Tem¬
peratur Steigerung.
19. November: An der Injektionsstelle nußgroßes, schmerz¬
haftes Infiltrat, die Haut über demselben nicht verfärbt. Die
Kondylome sind nicht mehr nässend, beginnende
Epithelisierung an den Rändern. Die Plaques in den
Mundwinkeln gereinigt. Epithelisierung.
22. November: Plaques in den Mundwinkeln im Schwin¬
den begriffen. Die perianalen Kondylome flachen
ab, sind beinahe vollständig cpithelisiert. An der
injektionsstelle kaum nußgroßes, schmerzloses Infiltrat.
24. November: Kondylome flachen weiter ab, sind voll¬
ständig mit Epithel bedeckt (s. Fig. 13). Glutäales Infiltrat nicht
stärker.
29. November: Inliltrat geschwunden. Kondylome vollständig
abgeflacht.
Fall XXIV. R. Sp., elf Jahre alt, wurde am 27. Juni
1910 aufgenommen. Erstes Kind, kein Abortus vorher. Begann
vor einigen Monaten über Halsschmerz zu klagen. Der behan¬
delnde Arzt konstatierte schon damals Plaques muqu crises im
Rachen und wendete Quecksilberinunktionen an; die Infektion
ging von einem an florider Lues leidenden Dienstmädchen aus.
Gut entwickelt und genährt, etwas blaß. Auf der rechten
Tonsille eine auf den Arcus palatoglossus sich e r-
I streckende hellergroße, speckig glänzende Plaque.
Unter dem rechten Kieferwinkel etwa nußgroße,
feste, nicht schmerzhafte Drüse. Wassermann sehe Re¬
aktion: -} — | — K Körpergewicht 32-20 kg.
11. Juli: 0-16 g Arsenobenzol (Methylalkohollösung,
18 cm3, in zwei Gaben verteilt, intramuskulär in die beiden Glu-
täalgegenden injiziert).
Die Temperatu r ist sechs Stunden nach der I n j e k-
t i 0 n in der Achselhöhle 37-8° C. Diese Temperatur lä.llt
nach und nach und ist am nächsten Tage normal.
12. Juli : Die Injektionsstellen sind kaum empfindlich und
mäßig infiltriert.
596
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
13. Juli : Die Glutäalgegenden sind ganz schmerzfrei, so
daß das Mädchen außer Bett sein kann. Die tonsilläre
Plaque, welche an dem der Injektion folgenden Tage
von einer stärkeren Röte umgeben war, hat sich we¬
sentlich gereinigt, die sie umgebende Röte ist ge¬
schwunden.
16. Juli. Die Plaque im Rachen ist nur sehr schwach
sichtbar und bildet e i n e k au in 1 i n s e n gr o ß e, opal is i e r end e
Fläche. Die Drüsenschwellung unter dem rechten Kieferwinkel
ist unverändert.
Fig. 13.
20. Juli: An der Stelle der Plaque hirsekorngroßer, opali¬
sierender Fleck. Die Drüse ist unverändert. Wass er mann sehe
Reaktion : ++.
22. Juli: Neuerliche Injektion: 0-16 g Arsenobon-
zol (in den rechten Glutäus, 10-5 cm3 Glykollösung).
In den der Injektion folgenden 24 Stunden maximale Tem¬
peratur in der Achselhöhle 38-5° C, welche alsbald auf das nor¬
male Niveau fällt.
27. Juli: Der Rachen ist rein, die subangulare Drüse we¬
niger geschwollen. Die Injektionsstelle ist induriert, schmerzhaft.
Die Haut über derselben handtellerbreit entzündet.
31. Juli: An der Injektionsstelle minimales Eitersickern,
das Infiltrat ist weniger konsistent, Entzündung geschwunden.
Hachen vollständig rein, die subanguiäre Drüse bohnengroß.
10. August: An der Injektionsstelle minimales Infiltrat, un¬
bedeutendes Eitersickern.
29. August: W as s er mann sehe Reaktion: H — K An der
Stelle der auf der rechten Tonsille beobachteten Plaque nichts
Abnormes; subangulare Drüsenschwellung geschwunden. Allge¬
meinbefinden einwandfrei .
Gewichtszunahme seit dem 11. Juli, das ist in kaum zwei
Monaten, beinahe 2 kg. Gesamtmenge des zu den beiden Injek¬
tionen (11. und 22. Juli) verbrauchten Arsenobenzols 016 -f-
0-16 = 0-32 g.
10. Oktober: Was sermannsche Reaktion: + ■— . Rachen
rein.
6. November: Rachen vollständig rein. Unbedeutendes Eiter¬
sickern aus der minimalen Wunde des rechten Glutäus.
10. November : Wasserm a n n sehe Reaktion : + — .
10. Februar 1911: Heilung von Dauer. Was sermannsche
Reaktion : + — .
Fall XXV. F. O., fVb Jahre alt, aufgenommen am 10. August
1910. Zweites Kind. Das erste lebt und ist gesund ; kein Abortus.
Seit, vier Wochen werden Heiserkeit, Schnupfen und breite Kon¬
dylome um den Anus wahrgenommen. Angeblich war die Amme,
welche aber nicht mehr bei dem Kinde ist, luetisch.
Gut entwickelt und genährt. Körpergewicht 11-550 kg. Auf¬
fallende Anämie. An der Falte zwischen Präputium und
Glans, in der Nähe des Frenulum linsengroß e 's, i n-
duriertes Geschwür mit speckigem Belage. Die Ingui¬
naldrüsen stark infiltriert (beiderseits mehrere bohnengroße Drüsen
sichtbar). An dem Anus beiderseits je drei breite Kondylome
mit speckigem Belage. Was sermannsche Reaktion: +++-.
10. August: 0-10 g Arsenobenzol (12 cm3 Glykollösung
in den rechten Glutäus intramuskulär).
In den der Injektion folgenden 24 Stunden höchste Tem
peratur im Mastdarm 37-3° C.
12. August: An der Injektionsstelle schmerzhaftes Infiltrat
13. August: Das auf dem Penis befindliche Ulkus
ohne Belag, der Grund weniger induriert, um die
Kondylome ein lebhaft roter Saum. Allgemeinbefinden
gut.
15. August:. Das Ulkus auf dem Penis im Schwin
den begriffen, die Induration kaum zu fühlen. Kon
dylome flacher, ihr Sekret geringer. Das glutäale ln
filtrat in Abnahme.
18. August: An der Stelle der Kondylome rostbraune Fleckei
sichtbar. Das Geschwür auf dem Penis geheilt, die Inguinal
d rüsen wesentlich kleiner.
25. August: An der Stelle der Kondylome blaßbräunlich
rote Flecken. Infiltration an der Injektionsstelle minimal. Was
s e r m a n n sehe Reaktion : -j — h
30. August: Um den After statt der Kondylome helle rosa
farbige Flecken. Anämie noch ziemlich augenfällig.
31. August: Neuerliche Injektion: 0-10 g Arseno
benzol (12 cm3 Glykollösung intramuskulär in den linkei
Glutäus.)
Maximale Temperatur nach der Injektion 37-2° C im Mast
darin. Am Tage der Injektion ist die Einstichstelle sehr schmerz
halt, das Kind unruhig.
2. September: In der linken Glutäalgegend handtellerbreites
festes Infiltrat, über welchem die Haut ein wenig entzündet ist
3. September: Schwellung an der Injektiongsstelle wir«
kleiner; Allgemeinbefinden gut.
6. September : Schwellung wie oben.
12. September: Linke Glutäalschwellung nußgroß, die Hau
über ihr blaß.
26. September : Inguinaldrüsen zeigen keine Schwell ui
mehr. An der Stelle der Kondylome ganz blasse Pigment
flecken. Glutäale Schwellung bohnengroß. Allgemeinbefinde
ausgezeichnet.
11. Oktober: An der Stelle der Kondylome blaßrote Pigmen’
flecken, in beiden Inguinalgegenden Mikroadenie; im linken Gli
täus haselnußgroßes, schmerzloses Infiltrat. Blühendes An¬
sehen. Wassermann negativ.
25. Oktober: Im linken Glutäus noch zwei haselnußgroß
Infiltrate.
Seit dem 10. August, d. i. in zwei Monaten, Gewicht
Zunahme 2 kg. Die Gesamtmenge des zu den zwei Injektion**
(10. und 31. August) benützten Arsenobenzols betrug 0-10H0T
= 0-20 g.
3. November: An der Stelle der Kondylome eine ganz blaß
Röte. Rachen frei.
22. Dezember: Blühende Gesichtsfarbe. An Stelle der Kor
dylome blasse Pigmentation. Im rechten Glutäus haselüußgrolif
dunkel fluktuierende, links bohnengroße, konsistente Schwellum
19. Februar 1911: Vollständige Restitution.
Fall XXVI. D. R„ drei Jahre alt, aufgenommen am 6. N<
vember 1910. Zwilling. Wurde zwei Monate vor der normalen Ze
geboren. Der Zwillingsbruder lebte 14 Tage. Wurde angeblich clurc
eine luetische Familie infiziert.
Gut entwickelt und genährt. Körpergewicht 13-25 kg. In doi
rechten Mundwinkel linsengroßes, graues, speckige
Geschwür. Auf der linken Tonsille linsengroß'
speckig glänzende Plaque. Halsdrüsen ein wenig gc
schwollen. Auf der Haut disseminierte blaßrote M;
culae. Milz gut palpierbar. Haut blaß. Wa s sermannsche R<
aktion : H — I — j~.
4. November: 0-14 g Arsenobenzol (neutrale Emulsio
7 cm3 subkutan).
In den der Injektion folgenden 24 Stunden maximale Ten
peratur 38-3° f im Mastdarm acht Stunden nach der b
jektion.
10. November: Injektionsstelle kaum empfindlich.
11. November: Das Exanthem ist ein wenig abgeblab
Ulkus im Mundwinkel und tonsilläre Plaque etwas geremig
12. November: An der Injektionsstelle ist die Haut weni
entzündet Exanthem auffallend abgeblaßt. Geschwür ai
Mundwinkel rein, tonsilläre Plaque im Sch w i n d e n b e g r i f *’ 1
Nr. 17
597
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
15. November: An Stelle der Maculae ganz blasse
Pig m e n t f 1 eck en. Das Geschwür am Mundwinkel ist
geheilt, die ton s il lar e Plaque is t geschwunden. An der
Injektionsstelle talergroßes, flaches, entzündetes Infiltrat.
20. November: Pigmentflecke von der Haut geschwunden.
Infiltrat an der Injektionsstelle kleiner. Hautfarbe von letzterer
Röte. Sehr gutes Allgemeinbefinden.
27. November: Infiltrat kaum empfindlich, wird nach und
nach kleiner. Körpergewicht: 13-7 kg.
*
Wir wandten im Anfänge die von E hrl ich ursprüng¬
lich empfohlene Dosis von 0 005 g pro Kilogramm Körper¬
gewicht an. Später aber gingen wir auf die Dosis von
0-008, resp. 001 g pro Kilogramm Körpergewicht über.
Größere als diese Dosen gaben wir auch späterhin nicht,
da nach unserer Wahrnehmung das Mittel in diesen Gaben
sich als wirksam erwies.
In den Fällen, wo die Besserung uns nicht befrie¬
digte, stellten wir mit Rücksichtnahme auf den Zustand
des Kindes die Indikation einer wiederholten Injektion nach
drei bis fünf Wochen auf, ausgenommen unseren ersten
Versuch, in welchem wir wegen der fehlerhaften Technik
die zweite Injektion schon nach elf Tagen Vornahmen. Die
Dosis der zweiten Injektion bestimmten wir unabhängig
von der ersten nach dem jeweiligen Körpergewicht. Die In¬
dikationen einer solchen zweiten Injektion bildeten: 1. Der
langsame 'Rückgang der Symptome und 2. die
Standard- Positivität der Wasser m a n n sehen Reäk-
lion.
Intravenöse Injektion wandten wir mit Rücksicht auf
das Alter unserer Patienten in keinem einzigen Fälle an;
wir applizierten im Anfänge hei unseren Fällen mit Aus¬
nahme eines Falles, in welchem eine schwere Dermatitis
der Glutäalregion bestand und wir daher die Injektion unter
dem Rippenbogen subkutan gaben, die Injektionen intra¬
muskulär in die Glutäalmuskeln. Später geschah die Injek¬
tion der Salvarsanemulsion noch in drei Fällen subkutan.
Wegen der anfangs allzu großen Flüssigkeitsmenge (12 bis
17 cm3) verabreichten 'wir die Injektionen in beide Hinter¬
backen, später aber, als bedeutend geringere Mengen, durch¬
schnittlich 7 cm3, zur Injektion gelangten, nur in die eine.
Das Verfahren bei Bereitung der Flüssigkeit war ein
verschiedenes. In den zwei ersten Fällen wandten wir die
von Ehrlich empfohlene Methode der Methylalkohollösung
an und injizierten die genau neutralisierte, ja sogar ein
wenig alkalisierte Lösung. Von dieser Methode standen wir
aber, wegen der an der Prager dermatologischen Klinik ge¬
machten unangenehmen Erfahrungen ab. Die auf ähnliche
Weise bereitete Glykollösung verließen wir alsbald wegen
der großen Flüssigkeitsmenge (12 cm3) und der durch sie
hervorgerufenen schmerzhaften Infiltrationen.
Später benützten wir ausschließlich die von Wech¬
sel mann empfohlene, mittels Essigsäure und Natronlauge
bereitete neutrale Suspension. Bei dieser war die Infiltra¬
tion verhältnismäßig weniger hochgradig, verschwand auch
ziemlich rasch und bereitete in der Mehrzahl der Fälle den
Kranken keine Leiden. Wir können im allgemeinen be¬
haupten, daß die Applikation der neutralen Suspension, im
Gegensatz zu den Glykol- und Methylalkohollösungen, nie¬
mals mit größeren Schmerzen verbunden war. Die Infil¬
trate an den Injektionsstellen verhielten sich verschieden.
Die größten Veränderungen sahen wir bei Verwendung der
Glykollösungen, die geringsten bei Applikation der mittels
Essigsäure neutralisierten Natronlaugesuspensionen. Die
mittels Salzsäure bereiteten neutralen Suspensionen ver¬
ursachten in vier Fällen große Infiltrate und in einem
Falle eine mit dem Infiltrat verbundene, ziemlich bedeu¬
tende Nekrose (Fall VIII. s. Fig. 2h Um Nekrose handelte
es sich auch bei der dritten Injektion des K. D. (Fall I,
s. Fig. 1), wo Glykollösung zur Verwendung kam.3)
3) Bei einem Choreakranken (Deutsche med. Wochensc.hr. 1911,
Nr. 3), bei welchem wir das Arsenobenzol mit Erfolg anwandten, ent¬
stand auf Injektion der We ch s e 1 m an n sehen neutralen Suspension
Bloß hei einem einzigen unserer Säuglinge ver¬
suchten wir als Einleitung der Behandlung die indirekte
Anwendung des Salvarsans, indem wir die M u 1 1 e r, welche
manifeste Luessymptome zeigte, einimpften. In diesem
HBÜBi
Fig. 14
unseren Falle trat eine Woche, nachdem wir die stillende
Mutter geimpft hatten, an dem intensiv makulösen Exan¬
them des Säuglings ausgesprochene Herxheim er¬
sehe Reaktion auf, welcher eine ziemliche Abblassung
folgte, jedoch nur bis zu einem gewissen Grade, worauf die
weitere Rückbildung des Ausschlages aus¬
blieb. Das vollständige Schwinden des luetischen
Exanthems erfolgte erst später auf direkte Anwendung
des Salvarsans.
In diesem unseren Fälle erfolgte, wie wir weiter
unten sehen werden, zehn Wo c h e n nach der direkten
Injektion, trotzdem inzwischen die Wasser m a n n sehe Re¬
aktion negativ wurde, ein zweifelloses Rezidiv mit milden
Symptomen.
Wiederholte Injektionen gaben wir in 10 von unseren
27 Fällen:
Fall I. 5 Wochen alt, Körpergewicht 3710 g.
16. Juli . . . 0 02 g
10. August . . 0'05 ,,
31. „ . . 0'05 „
Insgesamt . 0T2 g
Fall IV. 7 Wochen alt, Körpergewicht 4210 g.
13. September . 0 045 g
4. Oktober . . 0 040 ,,
Insgesamt . 0 085 g
Fall VI. 7 Wochen alt, Körpergewicht 4700 g.
4. Oktober . . 0‘04 g
28. „ . . 0 05 „
Insgesamt . 0'09 g
Fall XV. 10 Jahre alt, Körpergewicht 27 kg
3. September . . 0'215 g
27. „ . . Q-230 „
Insgesamt . 0'445 g
Fall XVI. 4 V-2 Jahre alt, Körpergewicht 14 kg.
1. Oktober . . . 0T4 g
21. „ . . • 0T6 „
Insgesamt . 0'30 g
eine, dem ziemlich großen Infiltrate entsprechende Hantnekrose in der
Größe einer Krone (s. Fig. 14.)
598
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. \911.
Nr. 17
Fall XVIII. 2 Jahre alt, Körpergewicht 10 kg.
13. September . . 0 09 g
12. Oktober . . 0 11 ,,
Insgesamt . 0'20 g
Fall XIX. 2 Va Jahre alt, Körpergewicht 10 1/2 kg.
27. September . . 0T1 g
21. Oktober . . 0 10 ,,
Insgesamt . 0'21 g
Fall XXII. 10 Jahre alt, Körpergewicht 3L60 kg.
4. November . . 0'31 g
1. Dezember . . 0 29 ,,
Insgesamt . 0'60 g
Fall XXV. 11 Jahre alt, Körpergewicht 32 kg.
11. Juli . 016 g
22. „ . . . . . 016 „
Insgesamt . 0’32 g
Fall XXVI. IV2 Jahre alt, Körpergewicht ll'/s kg.
10. August . . . O'IO g
31. „ . . ■ O'IO „
Insgesamt . 0’20 g
Stärkeres Fieber sahen wir kaum nach den Injektionen.
Die fieberhafte Temperatur zeigte zumeist einen kaum höhe¬
ren Anstieg und wenn schon ein solcher sich ergab, so
sank er in den zweiten 24 Stunden spontan und schwand
alsbald.
Stärkeres Fieber sahen wir in unserem Fall VI, VII
und VIII, wo die Temperatur im Mastdarm in den ersten
24 Stunden 39 1, 39 8, resp. 39-3° C betrug. Unser Fall VII
(sechswöchiger Säugling), wo die Temperatur im Mastdarm
auf 39-8° anstieg, hatte schon vor der Injektion Fieber
(38-2°), doch fiel auch hier die Temperatur schon am
nächsten Tage und am dritten Tage war das Kind fieber¬
frei. In unserem Fall VI, wo die Temperatur im Mastdarm
am ersten Tage auf 391° emporschnellte, war dieses Ma¬
ximum schon acht Stunden nach der Injektion nicht mehr
zu beobachten.
In zweien unserer Fälle, wo sich am dritten und vierten
Tage nach der Injektion ausgesprochene Herxheimer-
sche Reaktion zeigte, war das Auftreten derselben mit keinem
Fieber, resp. mit keinem Wiederaufflackern des Fiebers
verbunden.
Das Körpergewicht der behandelten Säuglinge zeigte
nach Anwendung des Salvarsans folgende Veränderung:
1. Fall na
ihm in 3 Monaten
3100
3. „
„ „ 3
2200
4. „
„ 3
1500
5. ,,
2‘b
1500
6. „
” ” 1V2
1500
7- „
„ lV-2 ,.
500
8. „
„ 1
900
9. „
„ „ 1
90
10. „
„ „ 1
250
ln unserem zweiten Falle, dem einzigen, bei wel¬
chem wir in der der Injektion folgenden Woche einen nen¬
nenswerten Gewichtsverlust beobachteten, erfolgte ein
Gewichtssturz von 230 g. Wie sich das Körpergewicht in
diesem Falle weiter verhielt, entzieht sich unserer Kenntnis,
da der Patient eine Woche später endgültig unseren Augen
entschwand. In unserem Fall X trat bald nach der Injektion
aber unabhängig von ihr — Erysipel auf. Die Gewichts¬
änderung ist daher hier nicht zu verwerten. Fall XI und
XII wurden nach einwöchiger Spitalsbehandlung auf das
Land gebracht; wir konnten daher die Gewichtsschwankun¬
gen nicht länger beobachten, doch nahm Fall XI, 100 g,
Fall XII 200 g während einer Woche zu.
Die G< wichtszunahme kann daher bei einem guten
Teil unserer Säuglinge als ziemlich günstig a n ge¬
sprochen w e r d e n, was ich um so mehr hervorheben
muß, da bei Quecksilberbehandlung die Gewichts¬
zunahme ziemlich lange unter dem Mittel zu
bleiben pflegt.
Bedeutendere Verdauungsstörungen beobachteten wir
bei unseren Säuglingen im Verlaufe der Behandlung nicht
und wenn sich solche geringeren Grades einstellten, waren
sie nicht Folgen des 'Salvarsans, Isondern des unregelmäßigen
Stillens.
Bei unseren Patienten jenseits des ersten Jahres kamen
Verdauungsstörungen überhaupt nicht vor.
Die Beobachtungsdauer in unseren Fällen war wie
folgt :
L ä n g e r als vie r M o n a t e beobachteten wir
14 Fälle, zwei bis vier Monate 6 Fälle, während
in 6 Fällen die Beobachtungsdauer kaum zwei Mo-
n a t e betrug.
Von 14 lange beobachteten Fällen währte die Beob¬
achtung hei zweien (Fäll I Und XXV) 8 Monate, bei
dreien (Fall III, IV und XXVIII) 6, resp. 7 Monate.
Von diesen drei Fällen trat bei dem einen (Fall IV) drei
Monate nach der wiederholten — zweiten —
Injektion ein Rezidiv auf. In einem weiteren Fälle (Fall
XII), wo die Beobachtung vier Monate währte und bei
welchem die erste Injektion am] 3. November vorgenommen
wurde, konstatierten wir das Rezidiv am 3. März, ob¬
wohl die W as s e r m an n sehe Reaktion fünf Wochen
vorher schon negativ war. In einem dritten unserer Fälle
(Beobachtungszeit 4V2 Monate), wo wir zuerst die luetische
stillende Mutter injizierten und die direkte Injektion bei dem
Säugling erst nachträglich Vornahmen, erfolgte das Rezi
div zehn Wochen später, während die Wassermann-
sche Reaktion inzwischen negativ wurde. Von unseren
26 Fällen sahen wir bisher diese drei Rezidive.
Bei makulo-papu losem Exanthem trat im Anschlüsse
an die Injektion in jedem einzelnen Falle eine solche au gen-
scheinlich’e V e r ä n d e r u n g u. zw. in v e r h ä 1 1 n i s-
mäßig kurzer Zeit ein, daß wir schon hieraus auf die
unzweifelhafte Heilwirkung des Salvarsans schließen konnten.
Schon den zweiten, noch mehr den dritten Tag nach der
Injektion sahen wir den in allen unseren Fällen ziemlich
intensiven Ausschlag augenfällig abblassen; während der¬
selben Zeit schrumpften Papeln mit exulzerierter Oberfläche
zu bräunlichen warzenähnlichen Gebilden ein, wurden nach
und nach flacher, um sich alsbald kaum über das Niveau
der Haut zu erheben. Alle diese Veränderungen erfolgten
in solch rascher Reihenfolge, daß binnen fünf bis zehn
Tagen das intensive, makulöse, resp. makulo-papulöse Exan¬
them bloß durch fahlbräunliche Pigmenflecken angedeutet
war. Besonders auffallend war die rasche Epithelisierung
exulzerierter Papeln, welche nicht selten schon nach Verlauf
von drei bis vier Tagen erfolgte, ohne daß wir lokal außer
der gewöhnlichen, alltäglichen Reinigung irgend etwas an¬
gewandt hätten.
Aehnliche günstige Erfahrungen machten wir in un¬
seren Fällen mit breiten Kondylomen. Wie durch die Serie
unserer Abbildungen dargetan wird, ging die Rückbildung
der Kondylome mit ungewöhnlicher Raschheit vor
sich. Vernachlässigte, sukkulente Kondylome mit miß-
farbiger, speckiger Oberfläche reinigten sich schon in zwei
bis drei Tagen; sie hörten auf zu nässen und die Epitheli¬
sierung war binnen vier bis sechs Tagen vollendet. Die
vollständige Abflachung und das Schwinden der Kondylome
erfolgte in allen unseren Fällen so rasch, daß nach den
der Behandlung folgenden zwei Wochen die Stelle der Kon¬
dylome von ziemlich imposanter Größe um den After bloß
durch einige blaßrote Flecken angedeutet war.
Eine ähnlich schnelle Wirkung sahen wir vom Salv-
arsan hei den Rhagaden der Lippe. Mißfarbige, blu¬
tende Rhagaden, welche den Kranken sehr belästigten,
reinigten und epithelisierten sich binnen einigen Tagen,
wobei auf dem Lippenrot kaum merkbare Spuren zurück
blieben.
Die schmierigen, speckigen Geschwüre auf der Schleun-
haut der Mund- und Rachenhöhle, welche bekanntlich der
Quecksilberbehandlung lange und hartnäckig widerstehen,
reinigten sich auf Salvarsan rasch und schon zwei bis
drei Tage nach der Injektion konnten wir nebst der Reini-
i gung eine Verkleinerung der Wundflächen konstatieren.
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
599
Die beigegebene Figur (Kg. 15) stellt in beiläufiger
natürlicher Größe das perforierende Gaumengeschwür eines
zehnjährigen Mädchens vor der Behandlung mit Salvarsan
dar. Dieses Geschwür, aus dessen Grund Spirochäten zahl
rig. n>.
reich nachgewiesen werden konnten, verkleinerte sich nach
der am 1. Dezember (1910) applizierten Injektion von 0-29 g
Salvarsan in solchem Maße, daß es am 22. Januar 1911
sozusagen vernarbt war und bloß eine stecknadelkopfgroße
Oeffnung sich an Stelle des zweihellergroßen Geschwürs
befand. (Dieser einer späteren Beobachtungszeit ungehörige
lall figuriert nicht unter den oben erwähnten.)
In lauffallender Weise wurden bei unseren Säuglingen
die charakteristischen Veränderungen an den (Hand¬
flächen und Sohlen durch Salvarsan beeinflußt. Das
Bild der Infiltratio diffusa glabra, desquama¬
te v a u nderos a auf der Haut der Sohlen und Handflächen
änderte sich binnen einigen Tagen und eine Woche nach
der Injektion zeigte die Haut der Handflächen und Sohlen
beinahe das (normale Bild, höchstens, daß; ein geringer
speckiger Glanz noch wahrzunehmen war, welcher aber auch
alsbald schwand. Aehnlich verhielt sich die diffuse Infil¬
tration der Gesichtshaut, welche in zweien unserer Fälle
sehr ausgesprochen war, gegen Salvarsan.
In zwei Fällen bestand neben dem charakteristischen
Exanthem Osteochondritis cubitoru m mi I d em
Bilde der Pseudoparalysis lue tic a (Parrot) und
(vir sahen (Fall I und III), daß schon am vierten bis
fünften lag nach der Injektion die Schmer z-
b a f t i g k e i t d e r E 1 1 b o g e n ,g e 1 e n k e n a c h 1 i e ß, die
Säuglinge anfingen die oberen Extremitäten zu bewegen und
laß nach zwei, resp. drei Wochen die Symptome der Osteo-
hondritis vollständig und ohne eine Spur zu hinterlassen,
surückgingen und die Kinder die vorher stark schmerzenden
Bieder lebhaft bewegen konnten. Hochsinger4) machte
n einem Falle ähnliche günstige Erfahrungen. Hier ging die
Isteochondritis mit Epiphysenlösung einher und trotzdem
legann der siebenwöchige Säugling schon am sechsten Tage
'ach Salvarsan die Glieder zu bewegen und die Vereinigung
ler Knochenenden erfolgte sehr bald.
. Dei einem unserer Säuglinge bestand neben schweren
uetischen Hautveränderungen eine auf alle Nägel sich
^streckende Paronychia ulcerosa mit mißfarbi-
jen Geschwüren. Nach Anwendung des Salvarsans
leilte der Prozeß binnen kaum zwei Wochen, wobei außer
gewöhnlicher Reinlichkeit nichts Lokales einwirkte.
Das Salvarsan beeinflußte in jedem unserer Fälle anf¬
allend rasch in günstiger Weise die luetische Koryza
iud die stark beeinträchtigte Nasenrespiration wurde in zwei
•is drei Tagen frei. In den Fällen Ilf, VI, VII, Vlll und X,
f° Rhinitis specifica mit reichlichem eitrig-blutigem
sekret einherging, konnten wir schon 24 Stunden nach
4) Mitteilungen der Gesellschaft für innere Medizin und Kinder-
leilkunde in Wien 1911, Nr. 2, S. 30.
S a 1 va l sanin j ek lion eine augenfällige Abnahme der Menge
des Sekretes wahrnehmen und in drei bis vier Tagen hörte
die Absonderung endgültig auf. liiere meine Beobach¬
tung steht im Gegensatz zu den auf weniger Fälle sich
stützenden negativen Erfahrungen E s c h e r i e h s.5)
Von den im Gefolge der Lues hereditaria auftretenden
Augenleiden beziehen sich unsere Erfahrungen zumeist auf
Erkrankungen der Kornea. Wie wir sahen, wandten wir das
Salvarsan in vier solchen Fällen an, von welchen drei
typische Keratitis parenchymatosa waren, einer aber, bei
welchem die Infiltration wohl im Stratum der Kornea statt¬
halte, jedoch keinen diffusen Charakter besaß, sondern einen
zirkumskripten Herd bildete, zu jenen selteneren Formen
dei Keiatitis parenchymatosa gehörte, welche von einigen
als Keratitis gummosa bezeichnet werden. Wir müssen so¬
gleich bemerken, daß außer Mydriatika, um der Irishyper¬
ämie und etwaigen Komplikationen vorzubeugen, keine
lokale Behandlung stattfand.
Wie aus den Krankenbeschreibungen hervorgeht (Fäll
Xl\ , XV, X\ I, XVII), handelte es sich in Fall XIV um einen
kornealen Prozeß, welcher auf dem einen Auge in Rück¬
bildung begriffen, auf dem anderen auf seinem Höhepunkt
wai, in Fall XV um Infiltration, welche auf dem einen Auge
voll zur Entwicklung kam, auf dem anderen sich sektor-
iöimig, rapid einstcllte, irn Fall XVI um gänzliche Trübung
dei ( inen Kornea, auf der anderen um die allerersten Sym¬
ptome beginnender Keratitis parenchymatosa, im Fälle XVII
aber um umschriebene, torpide Keratitis.
Geradezu der \\ irkung des Arsenobenzols müssen wir
es zuschreiben, daß in Fall XV das stark ausgesprochene
rräiienträufeln und die Photophobie plötzlich schwanden,
w.is aber nicht von Dauer war. Die in diesem Falle wieder¬
holte Injektion hatte die gleiche Wirkung. Auffallend war
weiterhin der günstige Einfluß auf die ziliare Injektion, mit
welchem die raschere Erweiterung der hartnäckig verengten
Pupille Schritt hielt.
Fall XV und XVI können zur Entscheidung, ob das
Salvarsan imstande ist, den Ausbruch der Keratitis paren¬
chymatosa auf dem anderen Auge zu verhindern, respektive
in ihrer Entwicklung hintanzuhalten, herangezogen werden.
Auf die erste Frage müssen wir im Anschluß an Fall XVI
mit X e i n antworten, da sich trotz der Injektion aus den
allerersten Anfängen eine vollständige, wenn auch milde
Keratitis parenchymatosa entwickelte; in betreff der letz¬
teren Frage können wir uns nicht (dem Eindruck verschließen,
daß die Infiltration der Kornea nach Salvarsanan Wendung
langsamer fortsebritt. Lebhaft spricht hiefür Fall XV, bei
welchem von einem Tage auf Iden andern ein großes Segment
fiel Kornea von der Infiltration ergriffen wurde, welche nach
der an diesem Tage verabfolgten Injektion sich langsam und
in einer Weise entwickelte, wie wir sie gewöhnlich bei Kera¬
titis parenchymatosa nicht beobachten, sie wandern nämlich
von der unteren Korneahälfte vor das Zentrum und von hier
auf die oberen Partien, indem sie aufgehellte Teile hinter
sich zurückließ (s. Fig. 5 a, b, c).
Was den Heilerfolg betrifft, sind Fall XIV und XV ge¬
heilt, in Fall XVI und XVII ist die Aufhellung der Kornea
im Zuge u. zw. in einem Maße, daß; in beiden Fällen die
vollständige Aufhellung zu erwarten steht. Wenn wir in
Betracht ziehen, daß wir neben dem Salvarsan, abgesehen
von der üblichen reizenden lokalen Behandlung, bloß My-
driatica benützten und daß trotzdem die Infiltration der
Kornea in verhältnismäßig geringer Zeit schön zurückging,
so dürfen wir vielleicht trotz der geringen Anzahl der beob¬
achteten Fälle der Meinung Ausdruck geben, daß wir durch
das Salvarsan in der Behandlung der im Gefolge der
Lues hereditaria bei Kindern auf tretenden Keratitis pa¬
renchymatosa in den Besitz eines wertvollen
Heilfaktors gelangte n.6)
'') Wiener med. Wochen sehr. 1910, Nr. 46, S. 2749.
b) Mit dieser Erklärung geraten wir einigermaßen in Gegensatz
mit einer ganzen Reihe von Beobachtern. Tomasczewski schreibt
nämlich in seiner Broschüre »Zusammenfassende Uebersicht der Salv-
600
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
In unserem Fall XXI, wo wir einen luetischen Gehirn¬
tumor annahmen, hot der Augenhefund in der ersten Zeit
das Bild der Stauungspapille, an welche sich nach und nach
neuritische Erscheinungen anschlossen, welche in der Farbe
der Papille, sowie den weißlichen, die Blutgefäße beglei¬
tenden Streifen zum Ausdruck kamen. Der atrophische Pro¬
zeß war schon vor der Salvarsananwendung an der äußeren
Hälfte der Papillae nervi optici- zu konstatieren, während
an der nasalen Hälfte di.e Papillargrenzen noch verwischt
waren, die Papilla selbst abeT höher war, als auf der tem¬
poralen Seite. Die stark herabgesetzte Sehkraft zeigte eine
Woche nach der ersten Injektion eine bedeutende Besserung,
indem Fingerzählen auf 1, resp. 2 m sich auf fragliche 5/50
besserte. Zu gleicher Zeit waren (schon die nasalen Ränder
der Papilla durchscheinender. Die Farbe der Papilla übergeht
immer mehr ins Graue, wobei der Visus sich rechts auf 5/15,
links auf 5/20 bessert. Zwei Wochen nach der Injektion
wurde die Farbe der Papilla wieder röter, gleichsam den
drei Tage später eintretenden Kopfschmerz vorher verkün¬
dend, aber ohne wesentliche Herabsetzung des Visus. Auf
die dazumal angewendete Lumbalpunktion (25 cm3 Liquor
cerebrospinalis) blaßten die Papillen wieder ab und wurden
die Konturen auf der nasalen Hälfte wieder schärfer.
Vier Tage nach der zweiten Salvarsäninjektion er¬
reichte der Visus seinen bisher höchsten Stand. Visus:
Oc. dext. 5/15; Visus: Oc. sin.: 5/10 (??), aus unbekannter
Ursache sank dieser Visus den zweiten Tag auf 5/30, re¬
spektive 5/20; nach zwei Tagen wieder 5/15. Das ophthal¬
moskopische Bild zeigt gegen den ursprünglichen Zustand
in der mehr grauen Farbe der Papillae nervi optici und
in der schärferen Konturierung der nasalen Hälfte der Pa¬
pilla eine Veränderung.
Bei der Bestimmung des Visus fällt es auf, daß das
Kind die Buchstaben gleichsam zu suchen scheint, während
es sich im Raume gut und leicht zu orientieren weiß. Wahr¬
scheinlich sind im Gesichtsfelde mehrere kleine Skotome
vorhanden.
Bei einem Säuglinge, wo es sich um mäßigen Hy dro-
ceplialus internus ohne funktionelle Störungen han¬
delte, gewann ich nach mehrmonatiger Beobachtung den
Eindruck, als ob das Fortschreiten des Hydrozephalus aus¬
geblieben wäre. In einem anderen Falle, wo neben mäßigem
Hydrozephalus schwere spastische Erscheinun¬
gen in den Gliedmaßen vorhanden waren, sah ich vom
Salvarsan keine Heilwirkung auf diese Symptome.
Unter meinen hier angeführten Fällen sind keine mit
gummösen Knochenveränderungen, später unterzog ich
mehrere solche Fälle der Salvarsanbehandlung und will
ich hier nur kurz bemerken, daß die Heilwirkung des Salv-
arsans sich auch da in jedem Falle bewährte und die gum¬
mösen Auftreibungen schon drei und vier Tage nach
der Anwendung augenfällig abflachten. Da diese f älle
erst seit zwei bis drei Wochen in meiner Behandlung stehen,
will ich mich an dieser Stelle nicht eingehender mit ihnen
befassen.
Die bei unseren Säuglingen beobachteten, ziemlich im¬
posanten Milztumoren gingen parallel mit dem Nach¬
lassen der luetischen Symptome zurück, doch konnte ich
fast in jedem meiner Fälle, selbst nach Eintritt vollständiger
Heilung, nach Wochen, ja Monaten eine persistierende
leichte Hypertrophie d e r M i 1 z konstatieren, selbst
in Fällen, wo die stark positive Wass ermannsche Re¬
aktion vollständig und dauernd negativ wurde.
Genauere Blutuntersuchungen nahmen wir bei unseren
Fällen nur hie und da vor, doch auch ohne sie fiel uns
arsanbehandlung der Syphilis« (Wien 1911) folgendes: Die Erfolge der
Syphilisbehandlung bei Fällen kongenitaler Syphilis mit Keratitis paren-
chymatosa sind nur geringe. Nach I ge r she im er ist das Fazit der
bisherigen Reobachtungen von ihm selbst, Treupel, Neisser und
Kuzmitzky, Linden m eye r, Schanz, Sandmann, Wechsel¬
mann u. Seeligsohn, Fehl-, Glück, Fraenkel und Grouven
(auch Jadassohn), daß der Hornhautprozeß fast nie oder nie mit
Sicherheit durch Applikation des Ehrlich sehen Mittels — in welcher
Form es auch gegeben wurde — bis jetzt beeinflußt wurde.
das ziemlich rasche Schwinden der Blässe bei den Kindern,
besonders den Säuglingen, auf. ln dem einen und
anderen Falle löste schon nach einigen Wochen eine
lebhafte, gesunde Farbe die fahle Blässe ab. Bei
unseren neueren Beobachtungen machten wir eingehende
Blutuntersuchungen und verfolgten mit Aufmerksamkeit,
welche Veränderungen das histologische Blutbild erleidet.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden wir seinerzeit,
(gesondert publizieren.
Das Verhalten der Wasser m ann sehen Reaktion
nach der Injektion konnten wir in folgenden Fällen beob¬
achten : 7)
1. Fall
nach 107 Tagen
negativ
3. ,,
76 „
schwach positiv (2
4. „
>>
49 „
negativ (nach 3
8. „
35 „
negativ
9- „
> j
52 „
negativ
11. „
HO „
schwach positiv
12. „
61 „
negativ (nach 5
13. „
» ?
75 „
negativ (nach 6
14. „
„
36 „
negativ
15. „
62 „
negativ
16. „
) >
45 „
geringe Lysis
17. „
»>
18 „
schwach positiv
18. „
> )
22 „
geringe Lysis
21. „
43 „
schwach positiv
93. „
33 „
schwach positiv
95. „
J J
112 „
geringe Lysis
26. „
55 „
negativ
27. „
>>
26 „
schwach positiv
Unsere hierauf bezüglichen Erfahrungen stimmen daher
mit den in der Literatur publizierten Ergebnissen überein.
Das Verfahren, nach welchem wir die Reaktion ausführten,
war die ursprüngliche, von Wasser mann-Neisser-
Bruck beschriebene Methode.8) [-*
Die Abschwächung der Reaktion ist nach unseren Er¬
fahrungen insoferne individuell, daß, während v\ii in ein- .
/.einen Fällen schon am 22. Tage wahrnahmen, daß die
Reaktion bloß als schwache Lysis bestehe, indessen in an¬
deren Fällen, z. B. im XXV. (R. S.) eine so hochgradige
Abschwächung der Reaktion erst am 112. Page eintrat. 1
Im allgemeinen können wir aber auf Grund unserer Erfah¬
rungen behaupten — abgesehen von unseren ersten Fällen,
wo wir relativ kleinere Dosen gaben und die Reaktion daher
länger positiv blieb — daß, die negative Veränderung bei
stufenweiser Abschwächung am Ende der sechsten bis
achten Woche zu erwarten steht. Wir wollen bemerken,
daß im Falle der R. S. (Fall XXV) die schon schwache
Lysis zeigende Reaktion bei der vier Wochen späteren Unter- i
suchung mittelstark wurde (++), trotzdem das Mädchen als
vollständig geheilt betrachtet werden kann.
In unserem vierten Falle (zweimonatiges Kind), wo
trotz der wiederholten Injektion (Gesamtmenge 0-085 g Salv¬
arsan), nach drei Monaten eine unzweifelhafte
Rezidive erfolgte, wurde die negative Reaktion mit Ein¬
tritt der Rezidive schwach positiv.
ln der Novembernummer 1910, Nr. 22, der ,,La Clinique
Infantile“ erschien unter dem Titel ,,Une juste revendi-i
cation ä propos du 606“, ein kurzer polemischer Artikel,
in welchem unter Sternchen folgende Anmei’kung stellt.
„D’a pres les renscignements, que nous avons
p u r e c u e i 1 1 i r, 1 e „606“ s e r a i t u n remede des;
plus dangereux ä manier dans la syphilis de
l’enfance. On au r ait observe plusieurs acci
dents morteis apres son emploi chez les nour
rissons.“ Meine eigenen Beobachtungen bestätiget
keinewegs die Skepsis des anonymen französischen Autors
7) In allen diesen Fällen war die Reaktion vor der Injektioi
stark positiv +-(- + • , . , . „ n„ni
8) Herrn Kollegen Dr. Geza Turan spreche ich meinen uani
aus für die freundliche Mitwirkung bei der Ausführung der Was sei
m ann sehen Reaktion.
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
601
Ja,- sie beweisen sogar im Gegenteil und ich betrachte dies
als bedeutendstes Ergebnis meiner Versuche — daß' in be¬
friedigendem Zustande befindliche, n a Ui r-
1 i c h genährte Säuglinge, das Salvarsan, 1 cg auf
1 kg Körpergewicht genommen, intragluläal appliziert, ohne
Schaden und gut vertragen.9) Das in unserer Be¬
handlung gewesene SäuglingsmateriaHst sehr geeignet dazu,
bei meinen Pädiaterkollegen, jene Befürchtungen, die direkte
Anwendung des Salvarsans bei Säuglingen betreffend, welche
Prof. Ehrlich selbst auf der Frankfurter Versammlung
so betonte, zu zerstreuen.
Auf Grund meiner bisherigen Erfahrungen bin ich
der Meinung, daß das ,,606“ bei der Lues des Kindes¬
alters, des Säuglingsalters mitinbegriffen, in betreff der
Raschheit der symptomatischen Heilwirkung
die Quecksilberpräparate übertrifft. Ob die
Wirkung bei dem von uns befolgten Verfahren von Dauer
ist, darauf kann natürlich nur eine längere, auf Monate
sich erstreckende, genaue Beobachtung unserer Fälle Ant¬
wort geben. Unsere drei Rezidiven weisen jeden
falls darauf hin, daß die Einzelheiten der
Salvarsan behandlung heute auch bei der Hei¬
lung der Lues des Kindesalters noch nicht
endgültig festgestellt sind.
Zur Diagnostik und Pathogenese der Gallen¬
steine.
Von Prof. Dr. E. ßiernncki, Lemberg.
Wenn auch die Diagnostik der Gallensteine als einiger¬
maßen erschöpft und gut geigründet gilt, so daß gegen¬
wärtig der Gallensteinanfall nicht so leicht und häufig wie
noch vor 25 Jahren als „Magenkrämpfe“ (dazu „nervöse“)
aufgefaßt wird, so belehren mich doch eigene zahlreiche,
im Laufe von sieben Jahren in Karlsbad gesammelte Beob¬
achtungen, daß es noch manches in dieser Hinsicht zu
ergänzen gibt. Zugleich bringen meine empirischen Erfah¬
rungen einige Tatsachen, welche zur Klärung der Aetiologie
bzw. der Pathogenese der Gallensteinkrankheit beitragen
können.
Vor allem in bezug auf die Diagnostik der Cholelithia¬
sis. Allgemein bekannt ist es einerseits, daß Konkremente
in der Gallenblase ganz ohne Beschwerden vorhanden sein,
ja auch ohne Beschwerden mit dem Kote abgehen können;
als klinische Aeußerung der Gallensteinkrankheit ist an¬
dererseits der Schmerzanfall die Gallensteinkolik
bekannt. Tatsache ist es indessen, daß die C h o 1 e 1 i t h Las e
auch durch eine Gelbsucht ohne die geringsten
Schmerzen sich mitunter kundgibt, eine Gelbsucht,
die zwar meistens langdauernd ist, doch im großen und
ganzen als Icterus catarrhalis imponiert und als solcher
auch in der Regel diagnostiziert wird.
Im Jahre 1905 wurde an mich in Karlsbad eine über
60jährige Dame wegen einer seit etwa zehn Wochen existieren¬
den starken Gelbsucht gewiesen. In der Anamnese nicht die ge¬
ringsten Schmerz- oder Druckanfälle, keine Schmerzhaftigkeit der
Leber bei der Palpation, überhaupt, abgesehen von einem ziem¬
lich starken Schwächegefühl, subjektiv und objektiv negativer
Befund. Am dritten Tage des Kurgebrauches (Brunnen trinken)
ein starker Schmerzanfall von zehn bis zwölfstündiger Dauer im
9) Diesen meinen Erfahrungen stehen diejenigen D ö b 1 i n s
gegenüber, der in der Berliner klin. Wochenschr. 1911, Nr. 12, sich
folgendermaßen äußert: »Es ergibt sich aus diesen Beobachtungen,
betreffend das Allgemeinbefinden, daß bei den — allein gegebenen —
subkutanen und intramuskulären Injektionen von Salvarsan größte Vor¬
sicht zu bewahren ist, welche, abgesehen von der Auswahl der ge¬
eigneten Säuglinge, insbesondere sich auf die Größe der Dose richtet.
Elende wird man völlig ausschließen. Die auffälligen individuellen
Schwankungen der Arsentoxizität wird man sich liier besonders vor
Augen halten müssen. Es wird sich vielleicht empfehlen, 003 g als
Dosis letalis bei Säuglingen bis zum dritten Monat anzunehmen. Da die
einmalige Injektion auch von 003 nicht vor Rezidiv schützt, auch mit
0025 g gute antiluetische Wirkung zu erreichen ist, so wird man bei
so jungen Kindern 0-01 bis 002 g Salvarsan als die Dosis tolerata
geben dürfen, das ist 5 bis 6 mg pro Kilogramm.«
Epigastrium — der erste Anfall der Art im ganzen Leben der
Kranken — worauf die Gelbsucht rasch zurückzutreten begann
und die Kranke sich mit jedem l äge besser fühlte.
Ein Jahr später kam in meine Behandlung wieder ein
über4 ßOjähriger Herr, bei welchem der „katarrhalische“ Ikterus
wie zu Hause diagnostiziert wurde, schon seit etwa einem halben
Jahre ohne auffallendere Schwankungen der Intensität persistierte.
Wieder nicht die geringsten Schmerzen im Beginn oder im Ver¬
lauf der Gelbsucht, keine Schmerzhaftigkeit der Lebergegend, über¬
haupt, abgesehen von einem bedeutenden Schwächegefühl und
Appetitverlust, subjektiv und objektiv negatives Untersuchungs¬
ergebnis. Doch in der Anamnese etwa vor 15 Jahren Gallen¬
steinanfälle verzeichnet, wegen deren der Kranke nach Karlsbad
geschickt wurde. Da sich aber hier die Schmerzanfälle zu wieder¬
holen! begannen, verließ der Kranke gemäß dem Rate des ordi¬
nierenden Arztes nach zwei Wochen unseren Kurort und 'kehrte
nach Hause zurück. Seitdem fühlte er sich bis auf letztere Gelb¬
sucht vollkommen gesund.
In den ersten Tagen des Kurgebrauches fühlte sich der
Kranke bei ganz: mäßigen Brunnendosen verhältnismäßig wolii :
auf einmal zeigten sich am zehnten Tage schwarzblutige Stuhl-
ontleerungen, welche trotz Bettruhe, Unterbrechung des Brunnen¬
gebrauches, Styptizis innerlich usw. fortdauerten und ging der
Kranke nach zwei Tagen zugrunde. Unter solchen Umständen
schien eine Neubildung (ventriculi et hepatis) als Ursache der
Gelbsucht und der tödlichen Blutungen kaum zweifelhaft. Und
trotzdem entpuppten sich bei der Autopsie als Ursache der Gelb¬
sucht zwei kirschgroße Cholestearinsteine im Ductus choledochus
und als Ursache der Blutung zwei aneinander grenzende gulden¬
große Magengeschwüre in der Nähe des Pylorus in einem der¬
selben ein angefressenes Gefäß.
Daß die Gallensteine sich durch eine schmerzlose Gelb¬
sucht (Occlusio duct, choled.) dokumentieren können, ist
— um nach einigen Stellen der Riede Ischen1) Arbeit zu
urteilen — den Chirurgen besser als den Internisten be¬
kannt. Für letztere — mögen sie auch die obige Tatsache
schon kennen — wird die diesbezügliche Diagnose kaum
möglich sein, bis das Auftreten einer Gallensteinkolik, was
eben bei der Karlsbader Kur so häufig vorkommt, über das
Wesen der Erkrankung entscheidet. Sonst wird der Arzt
einen Icterus catarrhalis, ja vielleicht noch 'häufiger, be¬
sonders wenn es sich um einen älteren Kranken handelt,
oder angesichts einer fortschreitenden Abmagerung, Appetit¬
verlust und ( 1 gl., eine Neubildung vermuten. Rei wenig
angegriffenem Allgemeinzustande dürfte aber die Vermu¬
tung eines „Steinicterus“ doch genug für sich haben, wenn
anamnestisch Anfälle von Gallensteinkolik zu eruieren
sind, mag es sich dabei um jahrelange Intervalle zwischen
den Koliken und dem Erscheinen der Gelbsucht handeln.
Auch werden meiner Meinung nach die Gallenkon¬
kremente als Ursache des Ikterus in Fällen von rezidi¬
vierender Gelbsucht wahrscheinlich sein, ln einem
Falle der Art mit monatelangen Intervallen zwischen den
lkterusaufällen (von mehrwöchentlicher Dauer) habe ich
doch bei der abermaligen Karlsbader Kur, die zwei Jahre
nach der ersten vorgenommen wurde, einen kurz dauernden
Anfall von lästigem Drücken im Epigastrium und Kreuz
beobachten können. Bei dem ersten Anfall der Gelbsucht
war dies nicht einmal geschehen.
Es scheint mir weiter auch sicher, daß die Gallen¬
steinkrankheit das Bild einer „gichtischen“ oder
„nervösen“ Dyspepsde, wie sie angesichts von Anfällen
von Blähung im Epigastrum, reichlichem leeren oder säuer¬
lichem Aufstoßen diagnostiziert wird, Vortäuschen, be¬
ziehungsweise verursachen kann; denn ich beobachte
bei manchen derartigen Kranken, schwächere oder stärkere,
doch ganz typische Gallensteinkolikanfälle während der
Karlsbader Kur nicht selten. Ja — bei einer 55-jährigen
Kranken mit allgemeinen gichtischen Symptomen nebst,
gichtischer Dyspepsie trat ein schwerer, einige Tage an¬
dauernder Anfall von Gallensteinkolik nebst Gelbsucht und
Fieber_uwst beim dritten Aufenthalt in Karlsbad (drei Jahre
nach dem ersten und zwei Jahre nach dem zweiten) ein.
*) Riedel, Die Pathogenese, Diagnose und Behandlung des
Gallensteinleidens. Erweiterter Abdruck aus Penzoldts und Stintzings
Handbuch der Therapie innerer Erkrankungen Jena 1903, Fischer.
602
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
Es War das zugleich der erste Schmerzanfall im Epigastrium
im ganzen Leben der Kranken.
Bekanntlich gesellt sich auch typischen Schmerzan¬
fällen der Gallensteine Gefühl von Yrölle, Blähung im Epi¬
gastrium nebst leerem oder saurem, bitterem Aufstößen
recht häufig hinzu: es geht damit eine akute Magenatonie
(vielstündiges Verbleiben von Ingesta, Medikamenten im
Magen) Hand in Hand. (N. Reich mann). Bei starkem
Drücken und /Schmerzen werden aber diese Sensationen
meistens wenig beachtet. Andererseits ist der „nervösen“
oder „gichtischen“ Dyspepsie sogar bei starken Blähungs¬
anfällen ein Schmerz, ja auch lästiges Drücken in der
Magengegend in der Regel nicht eigen; sind also „gich¬
tische“ Blähungsanfälle mit solchem Druck, ja zugleich mit
einer psychischen Depression vergesellschaftet, so ist der
Fall als eine „reine“ gichtische Dyspepsie kaum mehr
sicher und ist, wie ich aus eigener, gar nicht spärlicher
Erfahrung schließe, mit der Möglichkeit eines typischen
Gallensteinanfalles vor allem während der verordneten
Karlsbader Kur im voraus zu rechnen.
Endlich sei hervorgehoben, daß, wenn es im Laufe
der Gallensteinkrankheit zu einem Schmerzanfall einmal
gekommen ist, die Lokalisation des Schmerzes ganz eigen¬
tümlich sich gestalten, bzw. ganz außerhalb der Magen- und
Lebergegend fallen kann. So empfinden manche Kranken
beim Fehlen jeglicher Sensationen im Epigastrium lästi¬
ges Drücken zwischen den Schulterblättern und
zugleich anscheinend „rheumatische“ Schmerzen in den
Oberarmen. Es klagte auch eine meiner Kranken, die sonst
typische Koliken durchgemacht halte, über „lästigen Rheu¬
matismus“, den sie die ganze Nacht hindurch an diesen
Stellen verspürte; bei Druck auf die Gallenblasengegend
nahm aber der „Rheumatismus“ auffallend zu. In anderen
Fällen wunderten die Schmerzen erst gegen Schluß Ides
Anfalles oder nach einer Morphiumeinspritzung nach dem
Epigastrium hin; doch bin ich im Besitz eines Falles, in
welchem erst mach 10 bis 12 ganz unklaren Schmerzan¬
fällen in den Oberarmen und zwischen den Schulterblättern
(fast täglich) sich die Herkunft der Schmerzen zu klären
begann, indem sie allmählich im Epigastrium am stärksten
empfunden wurden. Zum Schlüsse hat sich ein typischer,
etwa 20 ständiger Anfall mit Fieber und Ikterus entwickelt
und wurde die Sache ganz klar.
Inwieweit solche abnorme Schmerzlokalisationen mit
verschiedenen Entzündungslokalisationen (z. B. mehr in
intrahepatischen Gängen) im Zusammenhang stehen, wage
ich nicht zu entscheiden. Bekanntlich klagen die Kranken
auch bei typischen Anfällen nicht nur über Schmerzen im
Epigastrium oder der Lebergegend, sondern auch im Kreuz
nicht selten und lassen sich gleichzeitig warme Umschläge
auf das Epigastrium und das Kreuz oder unter die Schulter¬
blätter legen. Auch kommt dabei Schmerz im rechten Arm¬
gelenk vor. Es handelt sich eben um diagnostisch dunkle
Fälle, in welchen beim Fehlen der Beschwerden im Epi¬
gastrium oder in der Lebergegend die Schmerzempfindungen
sich ausschließlich rückwärts und in den Oberarmen kon¬
zentrieren.
Es können derartige Fälle den Verdacht auf eine An¬
gina pectoris hervorrufen. Nicht nur diese Fälle, ln man¬
chen anderen strahlen die Schmerzen nicht nach rückwärts,
sondern vorne nach oben hin aus und gehen zugleich mit
einem Gefühl des Zusammenziehens im Rachen, überhaupt
nicht selten mit einem Oppressionsgefühl einher. Es wer¬
den auch Fälle der Art an mich in Karlsbad mit der Dia¬
gnose : „Angina pectoris“ — freilich hie und da mit einem
Fragezeichen versehen — von Zeit zu Zeit gerichtet und
lassen sie sich tatsächlich meistens nicht so leicht lösen,
ehe im Laufe der Karlsbader Kur eine typische Gallenstein¬
kolik eintritt und der Kranke sich als leberkrank erweist.
Uebrigens gibt es zweifellos Kombinationen zwischen der
Cholelithiasis und der Angina pectoris.
Bekanntlich fassen wir gemäß den Untersuchungen
von Naunyn,2) den chirurgischen .^Erfahrungen von Rie¬
del, Kehr u. a. den Gallensteinanfall als eine Entzündung
der Gallenblase (Cholezystitis) auf, wobei durch die Zu¬
nahme der Flüssigkeitsmenge in der Gallenblase die darin
enthaltenen Konkremente in den Duktus getrieben sein kön¬
nen. Nach Naunyn, Gilbert ist diese Entzündung haupt¬
sächlich durch Bacill. coli clommune, ja in speziellen
Fällen auch durch andere Mikroorganismen (Typhusbazil¬
lus) bedingt. Sie ist zugleich Ursache der Konkremente¬
bildung, indem die gelockerten Gällenblasenepithelien, zu¬
gleich als Quelle des Cholesterins, zum Kern und Ausgangs¬
punkt werden, um welchen sich Pigmente, Kalksalze usw.
ansammeln.
Daß tatsächlich nicht die Steinwanderung, wie man
es noch vor 20 Jahren angenommen hatte, sondern die
Cholezystitis das Primum movens des S c h m e r z anfalles
ist, — wenigstens wenn es sich um langsam einsetzende,
länger dauernde, auch langsam abklingende, mit Fieber ver¬
bundene Anfälle handelt3) — dafür sprechen die gar nicht so
seltenen Fälle, wo auch trotz zahlreicher Gallensteinkoliken
in der Anamnese, keine Konkremente in der Gallenblase
bei der Operation gefunden werden. Vor einigen Jahren
konnte ich4) einen derartigen Fall aus eigener Beobachtung
anführen, wo auch bei abermaliger Operation, etwa ein
Jahr nach der ersten, nichts in der Gallenblase konsta¬
tiert werden konnte. Freilich deuten manche derartige Vor¬
kommnisse in der Weise, daß die Konkremente in der Chlo¬
roformnarkose bei der allgemeinen Relaxation der Gewebe
leicht durch das Diverticulum Vateri ins Duodenum hinein
durchschlüpfen, oder auch, was in der Tat geschehen kann,
daß sie bei der Operation nicht auf gefunden werden. Beides
erscheint aber recht unwahrscheinlich, in bezug auf Fälle,
wie der meinige, welcher zweimal operiert worden ist und
bei der Operation keine, die Steinextraktion erschwerende
Momente (Verwachsungen) bot.
Durch die Naunyn sehen Forschungen ist nicht nur
der Mechanismus der Gallensteinkolik anders aufgefaßt
worden als früher. Hauptsache ist es, daß die Gallenstein¬
krankheit zu einer Infektionskrankheit, zugleich auch zu
einer lokalen lOrganerk'rankung wurde. Für eine
lokale Krankheit paßt eine lokale Therapie am besten. So
beobachten wir auch in den letzten 20 Jahren starke chi¬
rurgische Strömungen in der Therapie der Gallenstein¬
krankheit.
Kann es nun als eine festgestellte Tatsache gelten,
daß die Cholelithiasis eine Infektionskrankheit, dazu eine
lokale Organerkrankung ist?
Es mehren sich nun in der letzten Zeit wenn nicht
Tatsachen, so doch Einwände gegen die ausschließliche
Auffassung der Cholelithiase als einer bakteriellen Erkran¬
kung. Es finden tatsächlich die Chirurgen (Riedel, Rov¬
sing) den Inhalt der Gallenblase trotz Anwesenheit der
Konkremente nicht selten ganz steril : freilich ist es noch
eine Frage, wie er sich hiebei vor und während der Bildung
der Konkremente verhielt. Ja, man kann auch in be¬
zug auf Naunyn, der nebst seinen Schülern keine Ver¬
änderungen der Gallenzusammensetzung bei Anwesenheit
der Steine konstatierte, die Frage aufwerfen, ob es so in
dieser Hinsicht auch vor und während deren Bildung war.
Auf Grund verschiedener Befunde und Erwägungen
halten nun Aschoff und B ac mlei s ter 5) den solitären
- . : i ü-J-ULLi
3) Nauny n, Klinik her Cholelithiasis. Leipzig 1892.
3) Dagegen scheinen kurze, intensive, aber plötzlich abbrechende
Schmerzanfälle, wie sie bei Gallensteinkranken mitunter Vorkommen,
unmittelbar vom Steindurchgang durch den Duktus und das Divertikulum
herzu rühren.
•*) Nach der Saison in Karlsbad. Medycyna 1904 (polnisch).
5) L. Aschoff und A. Bacmeister, Die Cholelithiasis. Jena
1909, Fischer. Nach Aschoff und Bacmeister bilden sich die
radiären Cholesterinsteine in gesunder Gallenblase durch einfaches
Auskristallisieren des Cholesterins aus der gestauten Galle, anderweitige
Gallenkonkremente in entzündlich veränderter Gallenblase. Dagegen
geht J. Boy sen vom Standpunkte aus. daß die Cholesterinsteine eben
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
003
Cholesterinstein (sog. „radiären“ Cholesterinstein) durchaus
nicht für ein Produkt bakterieller Entzündung, sondern „ste¬
riler autochthoner“ Zersetzung der Galle selbst. Andere
Gallensteinformen sollen dagegen von der infektiösen Cho¬
lezystitis herrühren. Die Entstehung einer solchen wird
auch durch die Anwesenheit eines sterilen Cholesterinsteines
in der Gallenblase begünstigt. In Uebereinstimmung mit
Naunyn halten die Verfasser die Stauung der Galle für
eine wichtige Vorbedingung sowohl der „sterilen autoch¬
thonal“ Zersetzung nebst Auskristallisierung des Choleste¬
rins als auch des Zustandekommens der bakteriellen Ent¬
zündung.
Bei anderen Autoren (z. B. Bi edel) finden wir wieder,
daß zur Entstehung der Gallensteinkrankheit eine „Anlage“
unentbehrlich ist, und daß diese Anlage im großen und
ganzen hereditär erscheint. Worin diese Aidage bestehen
soll, wird aber nicht näher auseinandergesetzt.
Als Beitrag zu letzterer Frage mag auf Grund meiner
zahlreichen Erfahrungen folgender Satz aufgestellt werden :
Nur ausnahmsweise begegne ich den Fällen von
Cholelithiasis, die nicht mit diesen oder jenen
Symptomen der „harnsauren Di a these“ — wie ich
sie vor zwei Jahren klinisch besprochen habe,* * * * * 6)
behaftet wären — also Schmerzen in den Extre¬
mitäten. sternokostale Druckempfindlichkeit, Nierenkolik,
Hautjucken (auch ohne Ikterus), Ekzeme, Harnveränderungen
und so weiter.') Fälle ohne gichtische Symptome kamen
mir a'.m häufigsten noch im jungen Alter (25 bis 35 Jahre)
vor; bei älteren Patienten mit Cholelithiasis und keinen
nennenswerten arthritiseben Beschwerden kam es öfters
vor, daß der Kranke, der nach dem' ersten Karlsbader Auf¬
enthalt von seinen Koliken sich frei fühlte, im folgenden
oder zwei Jahre später wegen der neu hinzugetretenen
Gelenks- und Gliederschmerzen, neuerlich die Karlsbader
Kur gebrauchen mußte.
Angesichts letzterer Tatsache könnte man meinen, daß
durch die Gallensteinkrankheit die Entwicklung der harn-
sauren Diathese begünstigt und gefördert werde. Demgegen¬
über bin ich aber im Besitz von sehr zahlreichen Beob¬
achtungen von Patienten, welche wegen der Gelenk- und
Gliederschmerzen, auch anderen gichtischen Beschwerden,
mehrere Jahre Trencsin, Wiesbaden oder auch Karlsbad
aufgesucht hatten, um dann speziell wegen der Gallen¬
steinkoliken in Karlsbad wieder zu erscheinen. So ein
Krankheitsverlauf entrollte sich in einer Reihe von eigenen
Fällen unter meinen Augen.
So hege ich auch die feste Ueberzeugung, daß das
allgemeinste und häufigste Agens, welches zur
Entstehung der Gallen stei n k rankh'ei t veranlagt,
diejenige Störung "der tierischen Oxydationen
ist, die man mit dem Namen „harnsaure Diathese“
bezeichnet. Ob die Entstehung der Cholelithiasis auch
ohne harnsaure Diathese, nur durch rein lokale Momente
(„Gallenstauung“) möglich ist, das wage ich nicht zu ent¬
scheiden. Sehr interessant wäre es zu erfahren, wie häufig
lie Anlage zur Gallensteinkrankheit auch in ärmeren Volks¬
klassen (wo diese Krankheit gar nicht so selten vorkommt)
lurch die harnsaure Diathese geschaffen wird.
Worauf die durch die gichtische Oxydationsstörung ge¬
bildete „Anlage“ beruht, ob es sich dabei nur um ein leich¬
teres Entstehen von Katarrhen in der Gallenblase und den
Gallenblasengängen handelt, in 'analoger Weise, wie Katarrhe
der oberen Luftwege so leicht durch die Gicht verursach I
in der Regel in anatomisch veränderter Gallenblase, andere dagegen
in intakter entstehen und daß den ersten Ursprung der Gallenstcine-
Pigmentsteine (Bilirubinkalksteine) bilden. (.1. Boysen, Ueber die Struktur
und die Pathogenese der Gallensteine. Berlin 1909, Karger.' Mit einem
Vorwort von Prof. Dr. Th. Rovsing in Kopenhagen.)
6) Zur Symptomatologie und Diagnostik der »harnsauren Diathese«.
Wiener med. Wochenschr. i 909, Nr. 8.
•( 7) Speziell habe ich mein Augenmerk in der obigen Hinsicht schon
un Jahre 1905 gerichtet urrrt besonders seit dem Jahre 1906 wenigstens
1200 bis 1300 P at ienten nach der obigen Richtung bin genau ausgefragt
"nd objektiv untersucht.
werden, oder ob im Gegensatz zu Naunyn die Haupt¬
sache auf die qualitativen Veränderungen der Gallensekre¬
tion ankommt, ähnlich, wie Anomalien der Magen- und
Darmsekretion so häufig bei Gichtikern nachweisbar sind,
endlich, welcher Anteil den Mikroorganismen bei der
Bildung der Konkremente einerseits und der Gallenstein¬
kolik andererseits zukommt— es sind alles Fragen, die erst
beantwortet werden müssei^. Die Aufgabe erscheint um
so mehr entwickelt, als, wenn auch in einer Reihe von
Fällen keine auffallenden Diätfehler zu verzeichnen sind,
in der überwiegenden Mehrzahl der übrigen übermäßiger
Genuß von überfetteten und scharfen Speisen
und Zulagen vor liegt, wie ich mich persönlich durch
genaues Ausfragen in Hunderten von Fällen überzeugen
konnte. Ja, es kennen die Kranken selbst den unmittelbaren
Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Kolik und dem
Genuß solcher Speisen. Uebrigems empfehlen auch seit
altersher viele Lehrbücher den Gallensteinkranken, der¬
artige Speisen zu vermeiden.
Bei Anerkennung einer „allgemeinen“ Grundlage er¬
weisen sich manche Erscheinungen im Verlaufe der Chb-
lelithiase verständlicher als früher. Eine noch wenig be¬
achtete Tatsache ist es z. B„ daß die Cholelithiasis bei man¬
chen Kranken eine gewisse Regelmäßigkeit ihres Verlaufes
zeigt: es treten nämlich die Anfälle nicht vereinzelt, son¬
dern sozusagen gehäuft im Zeitraum von sechs bis acht
Wochen auf, worauf längere, manchmal monatelange Pausen
folgen. Es weisen die Kranken selbst darauf hin, daß
solche Anfallsperioden mit den Jahreszeiten, z. B. Früh¬
lings- oder Herbstanfang, nicht selten im Zusammenhang
stehen, ln den Anfallsperioden kommen häufig die Koliken
durch die geringsten Diätfehler zustande, während in den
Intervallen auch größere Diätsünden ganz straflos ver¬
bleiben können.
Mit anderen Worten, zeigt der Verlauf mancher Gal-
lensteinkrankheit eine große Aehnliclikeit bzw. Verwandt¬
schaft mit dem der harn sauren Diathese, deren Erschei¬
nungen, z. B. Gelenk- und Gliederschmerzen, vor allem
typische Podagraanfälle, auch eine Regelmäßigkeit, Koin¬
zidenz mit den Jahreszeiten u. dgl. nicht selten erweisen.
Man könnte sich die in Rede stehende Erscheinung
(bei der Cholelithiase) in der Weise deuten, daß die Kolik¬
anfälle so lange wiederkommen, Iris die Konkremente durch
das Diverticulum Vater! ins Duodenum hinein geschaffen
werden. Dieser Deutung würde freilich nichts im Wege
stehen, wenn die Kolikanfälle durchwegs von der Stein¬
wanderung herrühren würden, was, wie oben hervorge-
hoben, durchaus nicht immer der Fall ist.
Ich hebe die besprochene Tatsache speziell hervor, als
durch die Kenntnis derselben erst die Beurteilung mancher
therapeutischen Effekte ermöglicht wird. Bei häufigen und
lästigen Anfällen wenden sich die geplagten Kranken an
allerlei patentierte geheime Mittel, ja auch Kurpfuscher
nicht selten, um tatsächlich nach einer gewissen Zeit eine
„Heilung“ bzw. Besserung zu empfinden. Es kommt hierbei
die Besserung sicher nicht früher zustande, bis sich die
Anfallsperiode „erschöpft“, d. h. etwa im Intervall von
sechs bis acht Wochen.
Die Annahme einer allgemeinen Grundlage bei der
Entstehung der Cholelithiasis „paßt“ andererseits zu man¬
chen therapeutischen Ergebnissen bei der Behandlung dieser
Krankheit und zwar zu den Ergebnissen der lokalchirur¬
gischen Behandlung ausgezeichnet. Au diesem Orte will
ich diese Behandlung, bzw. deren Indikationen speziell gar
nicht besprechen. Nur das eine will ich hervorheben, daß
ich, abgesehen von manchen speziellen Fällen (Occlusio
ductus choledochi), die Bedeutung dieser Behandlung als
einer rationellen und radikalen Methode im Gegensatz zu
manchem Chirurgen (Riedel) gar nicht zu hoch halte:
Denn alle Jahre habe ich in meiner Beobachtung in Karlsbad
Kranke, die vor einem bis anderthalb Jahren operiert worden
sind und trotzdem wieder an Schmerzanfällen mit Fieber
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
604
und Ikterus leiden. Unter meinen Kranken gibt es auch
in der chirurgischen Literatur bekannte Fälle.
Freilich kann man sofort einwenden, daß es sich
dabei meistens nur um Pseudo rezidive handle, indem
bei der Operation nicht alle Konkremente aufgefunden und
entfernt worden sind und daß mit Vervollkommnung der
Technik (z. B. Kehr sehe Drainage) derartige Fälle immer
seltener sein 'werden. Das Rezidivieren der Anfälle nicht
gleich nach der Operation, sondern eben erst nach ein- bis
anderthalb Jahren, spricht aber an sich zugunsten der
echten Rezidiven; und daß solche existieren, dürfte man
kaum bezweifeln. Sie sind auch durchaus verständlich
schon vom Standpunkte der Theorie aus, welche sowohl
das Krankheitswesen, wie die Anfälle von Koliken grund¬
sätzlich auf die Entzündung der Gallenblase und -gänge
zurückführt und die Konkremente als Produkt der KrankV
heit auffaßt. Von der Entfernung der Gallensteine können
wir unter solchen Umständen nur eine temporäre Weg-
schaffung der Schmerzanfälle erwarten: So lange die Nei¬
gung zur Cholezystitis fortbesteht, wird die Neubildung
von Konkrementen stattfinden.
Letzteres ist desto mehr zu erwarten, unter Aner¬
kennung der „Anlage“, als einer „inneren“ Ursache der
Gallensteinkrankheit. Die rationelle Behandlung der
Cholelithiasis muß dann vor allem gegen die „Anlage“ ge¬
richtet werden. Soweit nun meine persönlichen Erfahrun¬
gen reichen, sind hierbei diätetische M a ß n ah m e n von
großer Bedeutung: Einerseits Vermeidung der Ueberer-
nährung, andererseits nicht nur monate-, sondern auch
jahrelange Vermeidung von überfetteten und scharfen Spei¬
sen nach Art der Karlsbader Küche, auch Vermeiden von
Getränken mit größerem Alkoholgehalt. Es gilt diese Regel
eben so gut für die operierten wie für die nicht operierten
Kranken.
Aus der IV. Abteilung des k. u. k. Garnisonsspitales
Nr. 2 in Wien. (Vorstand: Stabsarzt W. Raschofsky.)
Ein Fall von Tetanieepilepsie.
Von Dr. Alfred Luger.
Gegenstand dieser Mitteilung ist ein Fall von Tetanie¬
epilepsie, welcher durch seinen klinischen Verlauf, vor allem
durch das bei ihm beobachtete Alternieren der Symptome
von allgemeinerem Interesse ist.
Schon im Jahre 1891 wies Frankl-Hochwart auf
Grund eigener und fremder Fälle darauf hin, daßi epileptische
Insulte als Symptom der Tetanie auftreten können, nach¬
dem er bereits früher (1888) das Fäzialisphänomen bei Epi¬
leptikern nachgewiesen hatte.
Wenn auch die Zahl der Beobachtungen hieher ge¬
höriger Fälle keine geringe ist, lichtet sich doch die Reihe,
wenn man sich auf jene Fälle beschränkt, bei welchen die
epileptischen Anfälle erst mit oder nach Einsetzen der Te¬
tanie auftraten und alle ausscheidet, bei welchen mit Rück-
sicht auf das oft lange Zeit vorhergehende Einsetzen der
epileptischen Anfälle oder Aequivalente an ein zufälliges
Zusammentreffen beider Krankheitsbilder gedacht werden
könnte. Hieher gehören die Beobachtungen von V e 1 i c s,
die Fälle von S tief ler, Hirschl, Mattauschek, der
erste der von Fries demonstrierten Kranken, sowie ein
Teil der von Frankl-Hochwart beobachteten Fälle.
Daß es anderseits Fälle gibt, in welchen ein gewiß sehr
enger Zusammenhang zwischen Tetanie und epileptischen
Krämpfen angenommen werden muß, beweist das Auftreten
parathyreopriver Tetanie und Epilepsie, wie sie von W est-
phal, Infeld, Hoffmann, Pineies gesehen wurde.
Im gleichen Sinne sprichl die genaue klinische Beobachtung,
welche oft das Auftreten epileptischer Krämpfe mit dem
Einsetzen einer Tetanie konstatieren konnte, Anfälle, die
mitunter nach Aussetzen der Tetanie schwanden, um mit ihr
später wieder zu kommen.
Natürlich ermöglicht nur das Vorhandensein sowohl
tetanischer als epileptischer Krämpfe oder wenigstens der
Nachweis sicherer Symptome latenter Tetanie die Stellung
der Diagnose, eine Forderung, welcher vereinzelte Fälle,
der Literatur, wie der von J. Gibb, nicht entsprechen.
Auch ein Fall H. Freunds läßt sichere Tetaniesymptome
vermissen, wenn auch dieser ähnlich einem Falle Gott¬
steins als Uebergangsform aufgefaßt werden könnte. Eine
verhältnismäßig geringe Beachtung erfährt in den haupt¬
sächlich in Betracht kommenden Krankengeschichten
(F r a n k 1 - H ocliwart, Herold, G o 1 1 s t e i n, Erie s,
C ursc b m a n n, S a i z) das Verhalten der Tetaniesymptome
während und unmittelbar nach dem epileptischen Anfall.
E. Freund betont in der Krankengeschichte einer Frau,
bei welcher im Anschluß an eine protrahierte Laktation
zuerst Tetanie, später epileptische Anfälle auftraten, die mit
der Tetanie wieder schwanden, daß (das Chvostek sehe
und Trousseau sehe Phänomen immer nachweisbar
waren, doch fehlt jede genauere Angabe. Cur sclim a nn
erzählt von einem neunjährigen Mädchen, welches seit meh¬
reren Jahren an Epilepsie und an typischen tetanischen
Krämpfen litt. „Nicht nur nach jedem Tetanieanfall, son
dern auch nach jedem epileptischen oder petit- mal Anfall
nahmen sowohl das Chvostek sehe, als das T r o u s s e a ti¬
sche Phänomen deutlich und erheblich zu.“ Aehnliches
berichtet Saiz, er erwähnt auch, daß mitunter, aber nicht
immer, die Tetaniekrämpfe gleichsam als Vorboten, stunden-
bis tagelang jenen schweren Anfällen mit Bewußtlosigkeit
und allgemeinen Konvulsionen vorangingen, um nach statt¬
gehabter Entladung zu verschwinden.
Mit. Rücksicht auf die geringe Zahl genauere?* Beobach¬
tungen dieser Verhältnisse und der relativen Seltenheit der
Affektion (Frankl-Hochwart berichtet über 11, be¬
ziehungsweise sechs Fälle, Mattauschek erwähnt in
seiner Tetaniestatistik nur eine Kombination mit Epilepsie)
scheint die Mitteilung unseres Falles berechtigt.
Auszug aus der Krankengeschichte :
Der 23jährige L. G. (Z.-Nr. 5136), früher Bauer in Sieben¬
bürgen, seit März 1910 in Wien, wurde am 30. Dezember 1910
ins Spital geschickt, nachdem er am vorhergehenden Tage von
Krämpfen befallen worden war. Die Anamnese ergab, daß Pat.
aus nervengesunder Familie stammt, bisher stets ohne Beschwn-
den geblieben war. Keine Kinderkrankheiten, namentlich nie
Fraisen, keine Enuresis nocturna, von sechs Geschwistern alle
gesund, keine Anfälle. Gestern bekam Patient während einer
Uebung im Freien Krämpfe in Händen und Füßen, im Laute
des Tages traten auch Krämpfe mit Bewußtlosigkeit auf, über die
Pat. nichts Genaueres anzugeben vermag. Für Lues kein Anhalts¬
punkt, Potus negiert.
Die Untersuchung des Patienten ergibt folgende Verhält¬
nisse (31. Dezember): Patient ist von kräftigem Knochenbau,
gut entwickelter Muskulatur, in gutem Ernährungszustand, sicht¬
bare Schleimhäute gut injiziert. Haut von leicht gelblichem Ko¬
lorit auffallende Pigmentierungen in der Taille und in der Linea
alba ausgesprochen weiblicher Behaarungstypus derCnnes pubis
spärliche Axillarhaare. Genitale normal entwickelt. Patient ist
Linkshänder, dementsprechend ein geringes UebietrWiegen der
Masse der linken oberen Extremität über der rechten. Schaar
mesozephal, bis auf leicht vorspringende Squama occipitalis von
normaler Konfiguration, nirgends klopfempfmdlich, kerne au um
lende Asymmetrie, weder des Gesichtes, noch des IlirnschadeE
Hirnnerven, Bulbi frei, Fazialis symmetrisch innerviert. L upim i
gleich weit, rund, reagieren auf Licht und Akkomodation. Kon-
junktival reflex prompt. Chvostek I, Schultze x •
Rachengebilde normal, Tonsillen, Zungenbälge von mäßigcij
Größe, keine Drüsen am Halse, keine abnormen Puisatic^en.
mäßige, weiche Struma. Im Bereiche der Extremitäten die Motilität
frei keine Spasmen, keine Atrophien, ferner keine Druckemptinü
lich'kc-it der peripheren Nervenstämme, während ihre mechanise i
Erregbarkeit deutlich eihöht ist. Trousseau, Schlesinger nicht au-
lösbar. Hautstrichreflexe vorhanden, Sehnen- und Penostreiiex
normal auslösbar, keine Differenzen, kein Klonus, , babm^
Mendel Oppenheim negativ. Sensibilität in allen Qualitäten
halten, kein Tremor, keine Ataxie, Rhomberg 'negativ.
Die inneren Organe ohne pathologischen Befund. Ins
sondere nichts Auffallendes im Bereiche des Gefäßsystems
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
druck 120). Entsprechend dem vorderen Mediastinum keine Däm¬
pfung.
Fundus oculi normal, keine Einschränkung des Gesichts¬
feldes. Gehör, Geschmack, Geruch normal. Keine Veränderungen
im Blutbilde.
Im Harn weder Eiweiß noch Zucker, Indikan nicht vermehrt.
1. Januar: Trousseau positiv, Schlesinger positiv, Chvostek I.
Elektrischer Befund: Faradische Erregbarkeit nicht wesent¬
lich gesteigert.
Galvanische Erregbarkeit :
N.
Facialis
N. median.
N. peron.
N. ulnar.
KSZ
0 8 MA
0‘4 MA
10 MA
0 3 MA
ASZ
12 „
PO „
15 „
0*8 „
AÖZ
P8 „
PO „
20 „
PO „
KST
3 „
3 auch bei Ein¬
schleichen
35 „
3 „
KÖZ
—
3'5 MA
—
35 „
3. Januar: Spontane Krämpfe in der rechten unteren Extre¬
mität, extreme Streckstellung und Supination des Fußes, dabei
anfangs Blässe, dann Rötung der Haut.
6. Januar: Schlaflosigkeit, häufige Wadenkrämpfe nachts.
7. bis 11. Januar: Häufige spontane Krämpfe von wech¬
selnder Intensität, Parästhesien im Ulnarisgebiete beider Hände.
15. Januar: Chvostek lebhaft, Trousseau positiv, Schlesinger
nicht auslösbar.
22. Januar: Keine spontanen Krämpfe, ab und zu Waden¬
krämpfe, Schlesinger, Trousseau negativ.
27. bis 30. Januar: Wiederauftreten der Krämpfe.
31. Januar: Beobachtung unmittelbar nach einem Anfall
(angeblich tonische Krämpfe in den oberen und unteren Extre¬
mitäten mit nachfolgenden klonischen Zuckungen). Patient ist be¬
wußtlos, Augen fest geschlossen, Zyanose, Puls 50, eine ober¬
flächliche Verletzung der rechten Schläfengegend, trage Reaktion
der Pupillen, leichte Parese des linken Mundfazialis. Petechien
auf Stirn und Hals. Links Babinski auslösbar. Nach zirka andert¬
halb Stunden beginnt Patient langsam auf Anrufe zu reagieren.
Sprache unverständlich lallend. Am linken vorderen Zungenrand
3mm lange Bißwunde. Unmittelbar nach dem Anfalle Eiweiß stark
positiv, Fundus normal. (Während und nach dem Anfalle Chvo¬
stek, Trousseau und Schlesinger negativ.) Patient bis zum Abend
somnolent.
1. Februar: Sensorium frei, vollständig orientiert, Amnesie
für den gestrigen Anfall, Sprache gedehnt, langsam, keine dvsarthri-
tischen, keine aphasischen Störungen, Fazialis vollständig sym¬
metrisch, Chvostek I, Schnitze, Trouseeau positiv. Während der
Prüfung des Schl es inger sehen Beinphänomens wird Patient
plötzlich unbesinnlich, reagiert nicht auf Anrufe, Kopf und Bulbi
nach links gewendet, Streckkrämpfe in allen Extremitäten, Opisto-
tonus, tonische Verzerrung der Gesichtsmuskeln, Apnoe, tiefe Zya¬
nose, Schaum vor dem Mund, es folgen durch eine bis zwei
Minuten heftige klonische Zuckungen im Fazialisgebiet und in den
oberen Extremitäten. Patient verfällt in tiefen Schlaf, Puls von
anfänglich 40 bis 50 auf 72. Während des Anfalles beiderseits
Babinski, Pupillen reaktionslos, keine Fazialisparese, keine Reflex¬
differenzen, Hautstrichreflexe auslösbar.
5 Uhr nachmittags neuerlicher Anfall, Dauer zirka eine
Viertelstunde, Drehung des Kopfes nach links, keine Parese, Ba¬
binski, reaktionslose Pupillen. Chvostek, Trousseau, Schlesinger
während der Dauer beider Anfälle negativ, mechanische Erregbar¬
keit des Ulnaris und Peroneus deutlich herabgesetzt.
2. bis 10. Februar: Chvostek, Trousseau, Schlesinger gut
auslösbar, keine Spontankrämpfe.
10. bis 18. Februar: Zeitweise spontane Krämpfe und Par¬
ästhesien.
18. Februar bis 4. März: Keine Spontankrämpfe, Chvostek,
Trousseau, Schlesinger positiv. Heute 148 Uhr früh neuerlicher
epil'eptiformer Anfall von mehreren Minuten. Nach einer Stunde
Chvostek positiv, Trousseau negativ, Schlesinger positiv, Babinski
negativ, keine Reflexdifferenzen, keine Parasen ; elektrischer Re¬
bind wie oben. Petechien an der Stirne, Ekchymosen der Con¬
junctiva bulbi und palpebrarum.
5. März: 9 Uhr vormittags epileptifouner Anfall wie oben.
Chvostek, Schlesinger, Trousseau negativ, nachmittags positiv.
6. März: Ein Anfall, keine spontanen Krämpfe, abends wieder
Auftreten von Chvostek, Trousseau, Schlesinger und Schnitze.
9. März: Leichte Angina, Temperatur bis 38-2°, schmerz¬
hafte tetanische Krämpfe in beiden Armen, bis 13. März häufige,
sehr intensive Krämpfe.
Bis 19. März : Krämpfe seltener. 5 Uhr epileptiformer Anfall.
( hvostek beiderseits nach dem Anfall fehlend.
G05
Bis 24. März : Selten Krämpfe von geringer Intensität, häufig
Parästhesien.
25. März: Ein epileptiformer Anfall.
26. März : Zwei epileptiforme Anfälle in Intervallen von einer
Stunde. Wiederauftreten von Chvostek zirka eine Stunde nach
dem Anfall.
Die Psyche des Patienten zeigt in der Zeit unserer Beob¬
achtung keine wesentlichen Veränderungen. Intelligenz dem Bil¬
dungsgrade entsprechend.
Durch Wochen fortgesetzte Verabreichung von Parathyreoidin-
tabletten ließ keinen Einfluß auf Häufigkeit und Intensität der
Krämpfe erkennen, ebensowenig eine zeitweise Brommedikation.
Wenn wir das Gesagte kurz zusammenfassen, 'so
handelt es sich in unserem Falle um einen früher stets
gesunden 23jährigen Mann der nach mehrmonatigem Auf¬
enthalte in Wien an Krämpfen erkrankte, welche bald typisch
tetanische, bald epileptiforme Charaktere tragen. Die eirste-
ren treten in unregelmäßigen Intervallen mit wechselnder
Intensität auf, während die letzteren deutlich die Neigung
zeigen, gehäuft in kleinen Serien zu erscheinen. Dabei in
der anfallsfreien Zeit sichere Symptome der Tetanie. So¬
wohl durch diese (Chvostek I, Schnitze, Erb, Hoffmann,
Trousseau, Schlesinger), als auch durch die selbst beob¬
achteten spontanen Krämpfe mit typischer Hand- und Fu߬
stellung, mit initialem Gefäßkrampf, erscheint, die Diagnose
Tetanie gesichert. Oh die oben erwähnte auffallende Pig¬
mentierung, wie sie ja in der Literatur auch gelegentlich
beschrieben wird, in das Symptomenbild der Tetanie ein¬
zureihen ist, scheint bei dem akuten Verlauf in. unserem
Falle wohl sehr zweifelhaft.
Die allgemeinen, mit Bewußtlosigkeit verbundenen
Krämpfe sind durch das tiefe Koma, die Pupillenstarrer
Zyanose, Zungenbiß, vor allem durch die auftretende, wenn
auch nur ganz passagere Fazialislähmung, sowie durch das
Auftreten des Babinski sehen Phänomens genügend cha¬
rakterisiert, um sie von den tetanischen Krämpfen im engeren
Sinne des Wortes einerseits, anderseits von hysterischen An¬
fällen zu scheiden und sie als epileptische zu bezeichnen.
Hysterische Stigmata fehlen, wie ich noch betonen
möchte, vollständig. Für eine lokalisierte organische Ge-
himaffektion, welche differentialdiagnostisch eventuell noch
in Betracht käme, fehlen gleichfalls genügende Anhalts¬
punkte. Keine Symptome eines gesteigerten Hirndruckes
in der anfallsfreien Zeit, keine Stauungspapille, kein Kopf¬
schmerz, nie Erbrechen, auch der Röntgenbefund, welchen
wir der Güte des Herrn Dr. Robins ohn verdanken, ergab
völlig normale Verhältnisse. Außerdem möchte ich hervor¬
heben, daß der Beginn der epileptischen Anfälle kein konstant
gleiches Bild bot. Bald fingen sie mit starrer Blickrichtung
nach rechts, bald nach links an, mitunter war das erste
eine langsame Drehung des Kopfes nach der einen oder an¬
deren Seite hin, mitunter tonische Krämpfe in beiden Fa¬
zialis. Auch die im Anfalle folgende leichte Fazialisparese
konnte nur einmal beobachtet werden.
Wenn wir auf die Beziehungen der tetanischen und
epileptischen Symptome zueinander eingehen wollen, müssen
wir zunächst hervorheben, daß wir weder eine Steigerung
der tetanischen Krämpfe vor dem epileptischen Anfall, noch
eine Zunahme des Chvostek sehen und Troussea ri¬
schen Phänomens nach demselben beobachten konnten, im
Gegensätze zu den oben zitierten Fällen der Literatur.
Wir konnten vielmehr konstant bei sämtlichen epilep¬
tischen Anfällen ein oft plötzliches Schwinden des C ve¬
st e k sehen, Trousseau sehen und des Beinphänomens
beobachten, zugleich war die mechanische Erregbarkeit des
Nervus ulnaris und peronaeus deutlich herabgesetzt. Im
Laufe einer halben Stunde bis zu einem Tage, scheinbar je
nach der Intensität des Anfalles, kehrten die genannten
Symptome wieder langsam zurück. Die elektrische Erreg¬
barkeit konnte aus äußeren Gründen nicht unmittelbar nach
dem Anfalle geprüft werden, doch ergaben wiederholte Unter¬
suchungen in Intervallen von einer Stunde bis zu einem
Tage nach dem Anfälle stets ungefähr gleiche Werte. Das
plötzliche Schwinden der oben erwähnten Symptome unter
GOG
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
dem Einfluß der einsetzenden epileptischen Attacke machte
den Eindruck einer Shoekwirkung und spricht wohl nicht
gegen den tetanischen Charakter der Anfälle. Um so we¬
niger, als es ja, wenn auch nur einmal, gelungen ist, bei
Prüfung des Beinphänomens einen generalisierten Anfall
von epileptischem Charakter auszulösen.
Der Grund, warum die Tetanie gelegenllich zu schweren
allgemeinen Krämpfen führen kann, muß' wohl in einer er¬
höhten Konvulsihilität des Gehirnes gesucht werden, ähn¬
lich, wie ja bei Kindern, worauf auch Pineies hinweist,
die Tetanie so leicht zu allgemeinen Konvulsionen führt
(E scher ich). Auch experimentelle Tatsachen (Kr ei dl)
sprechen für diese Erklärung.
Diesbezüglich ist bei unserem Kranken vielleicht die
Linkshändigkeit nicht ohne Bedeutung. Der Patient ist der
einzige Linkshänder in der Familie und es ist nicht aus¬
geschlossen, daß' es sich um eine singuläre pathologische
Linkshändigkeit im Sinne Redlichs handelt, wenn auch
sonst keine Anhaltspunkte für eine etwa überstandene Halb¬
seifenlähmung vorhanden sind, keine wesentliche Asym¬
metrien, keine Reflexdifferenzen, keine Hyperästhesien
(R. Stern), keine Störungen der Stereognose. In diesem
Falle wäre ja die Disposition unseres Kranken zu epilep-
lischen Zuständen, die epileptische Reaktion erklärt und
es wäre immerhin nicht ausgeschlossen, daßi unter diesen
Verhältnissen auch nach Ausklingen der Tetanie oder hei
völliger Latenz derselben die epileptische Veränderung dau¬
ernd bestehen bleibt, worüber jetzt ja ein Urteil nicht mög¬
lich ist.
Inwieweit die körperlichen Eigentümlichkeiten, welche
vielleicht im Sinne eines Status hypoplasticus zu deuten
wären, disponierend für den schweren Ablauf der Tetanie
sind, können erst weitere Beobachtungen lehren. Bemer¬
kenswert ist, daß' der von Falt a beschriebene Fall von
Tetanie, welcher allerdings weit auffälligere Konstitutions¬
anomalien auf Grund von Störungen im Gebiete mehrerer
Blutdrüsen zeigte, gleichfalls an epileptiformen Anfällen litt.
Zum Schlüsse erfülle ich die angenehme Pflicht, Herrn
Stabsarzt Dr. W. Raschofsky für die gütige Ueber-
lassung des Falles zu danken.
Literatur:
Chvostek, Wiener med. Presse 1878, S. 821. — v. Frankl'
Hoch wart, Deutsches Archiv für klin. Medizin 1888, Bd. 4-3, S. 2D
Die Tetanie 1891; Die Tetanie der Erwachsenen 1907. — Velicsi
Pester medizinische und chirurgische Presse 1887, Bd. 23, S. 489. —
H e r o 1 d, Deutsche militärärztL. Zeitschr. 1888, S. 127. — - v. Jak sch,
Zeitschr. für klin. Medizin 1890, Suppl. 17, S. 144. — E. Freund,
Deutsches Archiv für klin. Medizin 1903, Bd. 76, S. 10 — H i r s c h 1,
Wiener klin. Wochenschr. 1904, S. 608. — E. Fries, Wiener klin.
Wochenschr. 1907, S. 150. — G. Stiefler, Wiener klin. Wochenschr.
1907, S. 959. — J. A. Gibb, Wien. Brit. med. Journ. 1908, Bd. 2. S. 77.
Pineies, Wiener klin. Rundschau 1909, Nr. 47, S. 760. —
C u r s c h mann, Deutsche Zeitschr. für Nervenheilkunde 1910, Bd. 39,
S. 36. — Saiz, Wiener klin. Wochenschr. 1908; Berliner klin. Wochen¬
schrift 1911, S. 245. — E. Mattausche k, Wiener klin. Wochenschr.
1907, Bd. 16, S. 470. — R. Stern, Jahrbücher für Psych. 1911, XXXII.,
S. 184. — Falta, Mitteilungen der Gesellschaft für innere Medizin
1910. S. 24. — E. Redlich, Wiener klin. Wochenschr. 1907, Bd. 10,
S. 300.
Mitteilung aus dem chemisch-bakteriologischen Institute
Bronstein, Levinson und Bernhardt, Moskau.
Ein neuer Indikator zur Bestimmung des titrier¬
baren Alkalis im Blute.
Von Paul Bernhardt.
Ueber die Reaktion des Blutes ist. viel geschrieben
und gestritten worden. Gewöhnlich nimmt, man an, daß
die Reaktion des Blutes eine alkalische sei. Dieses ist von
anderer Seite bestritten worden, so weist zum Beispiel Maly
darauf hin, daß dem Blute eigentlich eine saure Reaktion
zuzuschreiben sei, da das saure kohlensaure -Natrium und
ebenso das Dinatrinmphosphnt, denen das Blul seine alka¬
lische Reaktion (Lackmus gegenüber) verdankt, noch ein
freies Wasserstoffatom enthält, das durch Metalle ersetz- I
har ist. Man ist also bei der Bestimmung der Reaktion des
Blutes, ganz ebenso wie hei manchen anderen Flüssig¬
keiten, sehr von der Wahi des Indikators abhängig. Einen
ähnlichen Fall können wir bei der Reaktionsbestimmung
der Kuhmilch konstatieren: Kuhmilch reagiert Lackmus
gegenüber amphoter oder schwach alkalisch, Phenolphtha¬
lein gegenüber jedoch ganz ausgesprochen sauer.
Seit Zuntz hat man fast immer nur Lackmus als Indi¬
kator für die Reaktionsbestimmung des Blutes angewendet,
woher sich auch allgemein die Ansicht ausgebildet hat,
daß das menschliche Blut eine alkalisch reagierende Flüs¬
sigkeit sei. Weiter hat man sich an der Hand dieses Indi¬
kators vielfach bemüht, die sogenannte Alkaleszenz oder
den Alkaleszenzgrad des Blutes möglichst genau durch
Zahlen auszudrücken und es ist eine stattliche Reihe
von Arbeiten erschienen, die den Alkaleszenzgrad
des Blutes unter normalen und pathologischen Um¬
ständen beleuchten. Es sei jedoch auch hier dessen
gedacht, daß man bei der Alkaleszenzbestimmung des
Blutes zwei Gesichtspunkte auseinanderzuhalten habe:
einerseits den wahren Alkaleszenzgrad, welcher uns
über den Gehalt, des Blutes an Hydroxylionen aufklärt;
derselbe wird, wie bekannt, am besten durch Bestimmung
der Leitfähigkeit ausgedrückt, anderseits die Ermittlung des
sogenannten titrierbaren Alkalis oder der alkalisch reagie¬
renden Substanzen (gewissen Indikatoren gegenüber), die
durch Säuren neutralisiert werden. Was den ersten
Gesichstpunkt anbelangt, so haben die Arbeiten von Höher
und anderen dargetan, daß sich die Hydroxylionen
und Wasserstoffionen im Blute die Wage halten und somit
dem Blute eine neutrale Reaktion zukonune. Es liegt somit
nahe, daß der Alkaleszenzbestimmung des Blutes vermittels
Titrieren häufig der Vorwurf gemacht wird: sie könne den
wirklichen Alkaleszenzgrad des Blutes nicht bestimmen. Un¬
geachtet dessen ist jedoch folgendes zur Rechtfertigung der
Titriermethode ins Auge zu fassen, daßi es sich, wie häufig
hei den meisten Methoden, um eine gewisse Uebereinkunft
handelt, die, streng unter denselben Bedingungen geliand-
habt, uns gewisse Normen aufstellen und auch ebenso Ab¬
weichungen von denselben bemerken, läßt; hiebei ist noch in
Betracht zu ziehen, daß der Titriermethode entschieden von
praktischer Seite ein großer Vorzug gebührt, der durch
die Einfachheit der Handhabung und Schnelligkeit der Aus¬
führung berechtigt ist.
Eine große Schwierigkeit hei der Bestimmung des titrier¬
baren Alkalis hat immer die Auswahl eines passenden In¬
dikators verursacht, da ja das Blut selbst eine intensiv
gefärbte Flüssigkeit ist; es lag somit nahe, daß man sich
der Tüpfelmethode auf Lackmus oder Lackmoidpapier be¬
diente. Es ist nicht Aufgabe dieser Zeilen, alle verschie¬
denen vorgeschlagenen Methoden näher zu beleuchten, hier
sei nur einer Methode gedacht, die in der ärztlichen Praxis
viel Anwendung und Anklang gefunden hat. Es ist dies die
Methode nach Engel, dieselbe hat folgende Vorteile: große
Einfachheit, arbeitet mit möglichst kleinen Mengen Blut
und ist sehr schnell auszuführen; auch sei hier noch des
sehr portativen Apparates gedacht, der von Engel behufs
Ausführung seiner Methode zusammengestellt ist, es kann
somit gleich am Krankenbette das titrierbare Alkali im Blute
bestimmt werden. Die schwache Seite dieser sonst recht
brauchbaren Methode liegt, in der Wahl des Indikators;
als solcher dient nach Engel Lackmoidpapier. Manist hiebei
von vielfachen Zufälligkeiten abhängig: so von der Güte
und Empfindlichkeit des Papiers, dann braucht man immer
einen gewissen Ueberschuß der stark verdünnten Säure,
um eine überzeugende Reaktion zu erhalten, auch ist das
Bemerken der sauren Reaktion auf solche Manier recht
großen individuellen Schwankungen von seiten des Analy¬
sators unterworfen; auf den, wenn auch kleinen, Material¬
verlust hei Tüpfehnethoden will ich gar nicht näher ein
gehen. Wenn man alle diese Bedenken zusammenfaßt, so
ist, es wohl berechtigt, daß man einen Indikator zu finden
sitrhte. der ein direktes Titriefen nach der Methödb Engel
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
60/
möglich machte. Ein solcher Indikator hätte also folgende
Ansprüche zu rechtfertigen:
1. Er mußt die Eigenfarbe des Blutes ausschalten.
2. Er mußt die Neutralisation der Karbonate und Phos¬
phate bei gewöhnlicher Temperatur anzeigen.
3. In Wasser löslich sein.
4. Genügend scharf sein, da nach der Methode Engel
nur minimale Mengen Blut in Arbeit genommen werden.
Nach reiflicher Ueberlegung und vielfachen Versuchen
entschloß ich mich, dem Alizarinsulfazid, einem Indikator,
der schon lange in der Alkalimetrie angewendet wird, vor
anderen den Vorzug zu geben, da er mir den Forderungen
der drei letzten Punkte zu entsprechen scheint. Um ihn
hinsichtlich des ersten Punktes gebrauchsfähig zu machen,
kombinierte ich ihn mit einem dem Blute und stark ver¬
dünnten, organischen Säuren gegenüber indifferentem
blauen 'Farbstoff; als dazu geeignet erschien mir eine Indigo¬
lösung. Der neue Indikator, den ich zur Bestimmung (des
titrierbaren Alkalis im Blute in Vorschlag bringen möchte,
hat folgende Zusammensetzung: Zwei Raumteile einer
wässerigen l°/oigen Alizarinsulfazidlösung und einen Raum¬
teil einer wässerigen l°/oigen Indigokarminlösung (Grüb¬
ler). Ein solches Gemisch besitzt bei neutraler und saurer
Reaktion eine intensiv dunkelgrüne Färbung, die durch den
geringsten Beberschuß von Alkali in eine rotviolette Färbung
umschlägt. Die Empfindlichkeit dieses Indikators ist eine
ganz bedeutende, man kann unter anderem sehr überzeugend
destilliertes (völlig neutrales) Wasiser von demj natürlich vor¬
kommenden, welch letzteres immer saure -kohlensaure Salze
enthält, unterscheiden; setzt man einige Tropfen des neuen
Indikators völlig neutralem Wasser zu, so färbt sich dasselbe
intensiv grün, nicht destilliertes Wasser nimmt hiebei oben
erwähnte rotviolette Färbung an; diese Erscheinung kann
man auch bei sehr weichem Wasser (zwei bis drei deutsche
Härtegrade) konstatieren.
Es dürfte wohl den Rahmen dieses Aufsatzes über¬
schreiten, wenn ich alle Versuche, die ich mit dem neuen
Indikator angestellt und die im allgemeinen seine Brauch¬
barkeit für unsere Zwecke bekundeten, hier aufzählen wollte,
es sei hier nur des folgenden gedacht:
Seit Lassar benützt man zur Bestimmung des titrier¬
baren Alkalis im Blute an Stelle der von Z u n t z vorgeschla¬
genen Phosphorsäure Weinsäure. Eine solche wird auch
bei der Methode Engel benutzt, Engel titriert mit V75-
Xonnal- Weinsäure. Es galt, also bei den Hauptversuchen
mit dem neuen Indikator sich in diesen Grenzen zu halten.
Zuerst verglich ich den neuen Indikator mit Phenolphthalein;
behufs dessen stellte ich mir eine genaue V75- Normallösung
von kohlensaurem Natron her und titrierte dieselbe mit
V75 - Normal - Salzsäure, einmal vermittels Phenolphthalein
unter dauerndem Kochen, das andere Mal mit dem neuen
Indikator kalt; die Resultate waren fast übereinstimmend,
Phenolphthalein zeigte unter obigen Bedingungen Neutrali¬
sation von 10 cm3 der Sodalösung bei Zusatz von genau
10 cm3 iSalzsäure, bei Anwendung des neuen Indikators
wurden bis zum bleibenden Farbenumschlag von Rotviolett
bis Grün, einige Minuten beständig, 9-9 cm3 verbraucht.
Weiter bereitete ich mir eine V75- Normal -Weinsäure, ein¬
gestellt vermittels V75- Normal -kohlensauren -Natrons. Als
Indikator verwendete ich auch hiebei sowohl Phenolphthalein,
als auch den neuen Indikator unter obigen Bedingungen,
auch hier waren die Resultate die obigen. Zum Schlüsse
wurde eine wässerige Lösung von Blutasche mit stark ver¬
dünnten Säuren titriert, als Indikatoren dienten hier auch
Phenolphthalein (Kochen) und der neue Indikator (kalt), die
Ergebnisse waren fast übereinstimmend.
Nachdem somit die Brauchbarkeit des neuen Indikators
für unsere Zwecke im großen und ganzen dargetan sein
dürfte, wandte ich mich der Bestimmung des titrierbaren
Alkalis im Blute zu. Ich benütze hiebei den von Engel
konstruierten Alkalimeter. Aus der Fingerkuppe wurde nach
erfolgtem Einstich mit dem Melangeur 0-05 Blut angesogen,
mit völlig neutralem, destilliertem Wasser bis auf 5 cm3
verdünnt, die Mischung in das dem Apparate beigegebene
Gläschen gebracht, fünf bis sechs Tropfen vom neuen Indi¬
kator zugegeben und durchgemengt, wobei bedingt durch
die alkalische Reaktion (dem neuen Indikator gegenüber)
eine deutliche rotviolette Färbung auftrat, jetzt sofort aus
der Bürette V75- Normal -Weinsäure behutsam zugefügt, bis
bei auffallendem Lichte auf weißem Untergründe eine deut¬
lich grüne Verfärbung der Flüssigkeit sich bemerkbar machte.
Bei einiger Gewöhnung an den neuen Indikator kann man
bis auf einen Tropfen genau das titrierbare Alkali im Blute
bestimmen. Der Alkaleszenzgrad kann nun, wie üblich, in
Milligrammen Aelznatron, auf 100 cm3 Blut berechnet,
zahlen gemäß ausgedrückt werden. Im Menschenblut, unter
normalen Verhältnissen, beobachtete ich bei beschriebener
Arbeitsweise einen Verbrauch von 0-45 bis 0-55 V75- Normal-
Weinsäure, was in Zahlen ausgedrückt, eine Alkaleszenz
von 467 bis 583 gibt. Auf verschiedene Abweichungen,
die ich von obiger Norm während der Arbeit erhielt, kann
ich hier nicht näher eingehen, da mir dazu die nötigen
klinischen Daten nicht zugänglich waren, nur konnte ich
konstatieren, daß mit Abnahme der Alkaleszenz auch ein
entsprechend geringer Hämoglobingehalt Hand in Hand ging.
Referate.
Ueber Kinderschutz und Volksvermehrung mit beson¬
derer Beachtung der Verhältnisse in Böhmen.
Von Obersanitätsrat Prof. Dr. Alois Epstein.
Wien und Leipzig 1910, W. B r a 11 ni ü 1 1 e r.
Wie in allen Ländern beginnt auch in Böhmen die Frage des
Säuglings-, bzw. des Kinderschutzes in den Vordergrund des Inter¬
esses zu treten. Der Verfasser bespricht kurz die bisher bestehenden
Institutionen in den verschiedenen Staaten und geht dann speziell
auf die diesbezüglichen Verhältnisse in Böhmen ein. Epstein
hebt die besondere Notwendigkeit einer Förderung dieser Institu¬
tionen für Böhmen hervor, nicht allein vom rein menschlichen,
volkswirtschaftlichen, sondern auch vom nationalen Standpunkte
aus. Gerade die deutsche Bevölkerung weist eine höhere Säuglings¬
sterblichkeit als die tschechische auf, was wiederum eine Rück¬
ständigkeit der natürlichen Volksvermehrung im deutschen Sprach¬
gebiete zur Folge hat. Die Hauptursache der hohen Mortalität ist
in dem Mangel der natürlichen Ernährung zu suchen.
Es werden daher die Aufgaben der Säuglingsfürsorge in den
deutschen Bezirken Böhmens vor allem dahin streben müssen, daß
durch eine entsprechende und beharrliche Belehrung der Bevölke¬
rung die Ausübung der Mutterpflicht wieder angeregt und, wo es
nottut, durch geeignete Einrichtungen und Mittel ermöglicht werde.
*
Ueber die Bedeutung der Inanition bei Ernährungs¬
störungen der Säuglinge.
Von Prof. Ad. Czerny.
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Verdauungs¬
und Stoffwechselkrankheiten, Bd. 3, Heft 2.
Halle a. S. 1911, Karl AI ar hold.
Die Inanition, die häufig von dem Säugling gut vertragen
wird, bringt auf der anderen Seite gar nicht so selten, mag sie
beabsichtigt sein durch zu lange eingehaltene Hungerdiät hei akuten
Ernährungsstörungen, oder ungewollt, veranlaßt durch den Krankheits¬
prozeß (Infektion) selbst, mancherlei Gefahren mit sich. Czerny
bestätigt die Angaben von Guest, daß die Folgen der Inanition
bei einem Körpergewichtsverlust von einem Drittel der Körpermasse
die Rettung eines Kindes mit unseren gewöhnlichen Hilfsmitteln
meist ausschließt. Die Inanition führt zu schweren Funktionsstörun¬
gen im Organismus, die bisher noch nicht genügend erforscht sind.
Nur bezüglich der Kohlehydrate läßt sich zeigen, daß die Assimila¬
tionsschwelle für Zucker während der Inanition sinkt, daß infolge¬
dessen schon bei geringer Zuckerzufuhr alimentäre Glykosurie
auftritt.
Das beste Mittel, den drohenden Gefahren der Inanition zu be¬
gegnen, haben wir in der Frauenmilch.
Steht diese nicht zur Verfügung, so leistet bisweilen auch eine
der salzreichen Flüssigkeiten, so die von II e i m empfohlene Lösung
Ü08
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
von Kochsalz und Natrium bicarbonicum, die Gemüsesuppe von
Mery, die Karottensuppe von Moro oder die Molke nach Czerny
gute Dienste. Die eigentliche Reparation kann mit diesen Salzen
nicht erzielt werden, sondern erst durch Zufuhr von Kohlehydraten.
Dieser Uebergang bereitet oft neue Schwierigkeiten. Rasche Steige¬
rung der Nahrungsmengen ist zu vermeiden, da hiedurch sogar letal
verlaufende Toxikosen ausgelöst werden können.
Der Organismus bleibt durch die Inanition lange geschädigt.
*
Die akute Poliomyelitis, bzw. Heine-Medinsche Krankheit.
Von Priv.-Doz. I)r. Ivar Wickman.
Berlin 1911, J. Springer.
Wickman, dem wir bereits eine Reihe ausgezeichneter
grundlegender Arbeiten über die Poliomyelitiserkrankung verdanken,
gibt uns in der vorliegenden Monographie, die einen unveränderten
Abdruck des gleichnamigen Abschnittes aus dem Handbuche der
Neurologie (M. Lewandowsky) bildet, einen Ueberblick über
den jetzigen Stand der ganzen Frage. Klinik, Anatomie, Pathogenese
und experimentelle Forschung werden auf Grund der neuesten
Poliomyelitisarbeiten eingehend erörtert. Es muß nach Ansicht des
Referenten besonders hervorgehoben werden, daß die wichtigsten
Schlußfolgerungen, zu denen Wickman durch seine eigenen
klinischen Beobachtungen und histologischen Befunde gekommen ist
(lymphogener Infektionsweg, Vorkommen von abortiven Fällen u. a.),
durch die neueste experimentelle Poliomyelitisforschung vollauf
Bestätigung gefunden haben.
*
Ueber Bantische Krankheit und Leberzirrhose im
Kindesalter.
. Inauguraldissertation von Karl Vogel.
München 1911, R. Müller und S t e i n i c k e.
Es ist nicht immer leicht, die beiden Krankheiten voneinander
zu differenzieren.
Verf. bespricht an der Hand von eigenen Beobachtungen und
einer Reihe von einwandfreien Literaturfällen die wichtigsten
differentialdiagnostischen Symptome, die in einer eigenen Tabelle
zusammengestellt sind.
Für den B a n t i sehen Symptomenkomplex spricht hauptsäch¬
lich der auffallende Milztumor, der Blutbefund (Anämie, Leukopenie,
Oligozytämie und Oligochromämie), das fast regelmäßige Fehlen von
Ikterus u. a. m.
*
Kinderpflege-Lehrbuch .
Bearbeitet von Prof. Dr. Artur Keller und Dr. Walter Birk.
Mit einem Beitrag von Dr. Axel Tagessou Möller.
Berlin 1911, Julius Springer.
Nicht nur jeder Pflegerin von Beruf, sondern überhaupt jeder
Mutter kann das Buch zur Lektüre empfohlen werden. Die wich¬
tigsten Prinzipien der Ernährung und Pflege des gesunden Kindes
erfahren von Dr. Keller und Dr. Birk eine sorgfältige Erörterung ;
in dem Kapitel » Kindererziehung« bekommen wir von Prof. Keller
eine Reihe beherzigender Winke und guter Ratschläge zu hören.
Besonders belehrend — auch für Aerzte — ist der Abschnitt
»Zimmergymnastik bei Kindern«, besprochen von Dr. Möller.
Zum Schlüsse gibt Prof. Keller noch einen kurzen Ueberblick
Uber die Frage der Säuglingsfürsorge.
*
Grundzüge für die Mitwirkung des Lehrers bei der
Bekämpfung übertragbarer Krankheiten.
Von Dr. Fritz Kirsteiu.
Zweite, völlig umgeänderte und erweiterte Auflage.
Berlin 1911, Julius Springer.
Das vorliegende Büchlein ist hauptsächlich für Lehrer bestimmt ;
es enthält gute Fingerzeige, wie die Lehrer sich beim Auftreten von
Infektionskrankheiten in der Schule zu verhalten haben und hebt
die Wichtigkeit hervor, die Infektionskrankheiten so früh wie
möglich zu erkennen, da hiedurch oftmals die weitere Ausbreitung
der Epidemien verhindert werden kann. Allerdings verlangt nach
Ansicht des Referenten der Verfasser gerade in diesem Punkt zuyiel
von den Lehrern. Die Frühdiagnose setzt eine besonders gute ärzt¬
liche Schulung und reiche Erfahrung voraus, die ja doch wohl den
meisten Lehrern fehlt. Hier müßten eigentlich die Schulärzte ihres
Amtes walten.
Bei der Aufzählung der in Frage kommenden Krankheiten,
die vom klinisch-diagnostischen Standpunkt kurz besprochen werden,
hätte auch der Herpes tonsurans capillitii und die Mikrosporie Auf¬
nahme finden sollen. C. L einer.
Aus verschiedenen Zeitschriften.
422. (Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institute in
Wien. — Vorstand: Hofrat Prof. R. Paltauf.) Zweiter Be¬
richt über die Behandlung des Typhus abdominalis
mit Heilserum. Von Prof. R. Kraus und Dr. R. v. Ste-
nitzer. Die Verfasser verwerten die Mitteilungen des Dr. Forß-
mann in Stockholm, des Dr. Ungar in Hermannstadt und des
Dr. Ruß jun. in Jassy, welche über ihre Erfahrungen mit dem
antiendotoxischen Typhuspferdeserum berichteten. Forßinann
hat 20 Fälle mit Serum behandelt, er injizierte durchschnittlich
20 cm3 Serum subkutan, viermal intravenös. Injiziert wurden
in der ersten Woche sieben Fälle, die übrigen in der zweiten
und dritten Woche. Schon die Laibacher Epidemie '..über welche
schon früher berichtet wurde, Wiener klinische Wochenschrift
1909, Nr. 41) hat gelehrt, daß eine Serumwirkung nur dann zu
erwarten sei, wenn die Injektion im Beginn der Erkrankung,
womöglich in der ersten Woche, erfolgt. Von den sieben
Fällen Forßmanns ist ein zweifelhafter Fall abzuziehen (keine
Roseola, Widal negativ, Angina, Diphtherieserum, Tod, keine
Obduktion), es bleiben somit sechs früh injizierte Fälle, in welchen
sich der erkennbare Einfluß des Typhusheilserums in der Ab¬
nahme der Somnolenz post injectionem und (in fünf Fällen) in der
abgekürzten Krankheitsdauer (zwei bis drei Wochen) kundgab,
wiewohl schon nach früheren Erfahrungen der Verfasser die
Menge von 20 cm3 etwas zu niedrig gegriffen scheint. Von den
sieben frühzeitig Injizierten verliefen sechs (85-7°/o) leicht, obwohl
vier Fälle von Anfang an als schwer imponierten. Bei den in
einem späteren Stadium injizierten Fällen verzeichnete Forß-
mann Besserung des Allgemeinbefindens mit Abnahme der Som¬
nolenz, wenn auch nur vorübergehend. Der zweite Bericht stammt
von Dr. Ungar in Hermanstadt (Epidemie 1908 und 1909). Die
Gesamtzahl der Typhusfälle betrug G15 mit 70 Todesfällen (11-380#
Mortalität). 32 dieser fälle wurden im Zivilspitale mit dem
Wiener Serum injiziert, davon 28 frühzeitig', 3 später. Em Todes¬
fall infolge Noma, mithin nur 3-2°/o Mortalität bei den Injizierten.
In einem späteren Bericht (1909) sind die Resultate- der Serum¬
behandlung nicht so günstig: von 13 behandelten fällen sind
11 geheilt, 2 gestorben (l5-38°/o), 8 ohnie, 3 mit Komplikationen.
Nur drei Fälle wurden früh injiziert, davon zeigten zwei abge¬
kürzte Verlaufszeit, ein Fall vorübergehende Fieberremission.
Dr. Ruß jun. in Jassy hat das Wiener Heilserum in 44 Typhus¬
fällen (1909 bis 1910) injiziert und hebt in seinem Berichte
hervor, daß diese Injektionen dann den größten Erfolg aufwiesen,
wenn sie im Verlauf der ersten Krankheits woche (längstens zehn
Tagen) gemacht wurden u. zw. intravenös. Reinjektionen müßten
sofort gemacht werden, wenn ein neuer Fieberanstieg sich zeigt
und zwar längstens nach sieben Tagen. Nicht komplizierte fälle
zeigten meistenteils den besten Erfolg. In einzelnen Fällen wurde
der Krankheitsverlauf abgekürzt, mit dem Abfall der Temperatur
war auch die Erkrankung beendet, ln anderen Fällen erfolgte
nicht vollkommene Apyrexie, wohl aber (unmittelbar danach oder
nach einigen Tagen) eine Abnahme der Temperatur, die nicht
wieder zur früheren Höhe anstieg. Zwei Rezidiven (nach 12,
respektive 30 Tagen) wurden beobachtet. Sonst wurde danach
Abnahme der Kopfschmerzen, Freierwerden des Sensoriums und
Besserung des Allgemeinbefindens beobachtet. Am Schlüsse ihres
ersten Berichtes über die Behandlung der Typhusfälle in der
Epidemie Laibach und Hermannstadt sagten die Verfasser, daß die
subkutane oder intravenöse Injektion von 20 bis 40 cm3 des
antiendotoxischen Typhusserums, namentlich in unkomplizierten
Fällen, bei frühzeitiger Injektion, eine Besserung des Krank¬
heitsverlaufes bedingen dürfte. Die Temperatur kann einige rage
nach der Injektion rasch zurückgehen und auch das subjektive
Befinden bessert sich. Der vorliegende zweite Bericht spricht
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
609
ebenfalls dafür, daß eine frühzeitige Serumbehandlung (subku¬
tan oder intravenös) des Typhus abdominalis weiter zu versuchen
sei, da &ie den Krankheitsverlauf günstig zu beein¬
flussen scheint. — (Deutsche mediz. Wochenschrift 1911,
Nr. Iß.) E. F.
*
423. (Aus dem Physiologischen Institut Direktor : Geheini-
rat Hürthle — und der Universitäts-Kinderklinik - Direktor:
v. Pirquet — in Breslau.) Anaphylaxie und Lymphbil¬
dung. Von Dt. Martin Calvary, Assistenzarzt der Kinderklinik.
Die anaphylaktische Vergiftung tritt je nach der Spezies der unter¬
suchten Tiere und nach der Art und dem Orte der zweiten Ein¬
verleibung des Antigens in verschiedener Weise in die Erschei¬
nung. Beim Menschen äußert sich die Serumkrankheit nach der
zweiten Injektion in Exanthem, Fieber, Allgemeinerscheinungen
und lokal bei subkutaner Injektion in dem „spezifischen Oedem“.
Das Meerschweinchen stirbt nach einer intravenösen Reinjektion
desselben artfremden Serums unter schwersten Krankheitserschei¬
nungen, während das Kaninchen selten akut eingeht. Hunde über¬
leben gewöhnlich den anaphylaktischen Shock, bieten aber eine
Reihe von charakteristischen Krankheitssymptomen. Biedl und
Kraus fanden als regelmäßige Erscheinung dabei eine typische
Senkung des arteriellen Blutdruckes, die ihrer Ansicht nach in
einer hochgradigen, peripheren Vasodilatation ihre Ursache hat.
Dazu kommen Veränderungen der Gerinnbarkeit des Blutes und
des morphologischen Blutbildes. Diese Erscheinungen stimmen
auffallend überein mit denen der Vergiftung durch Witte-Pepton.
Auch diese ruft eine hochgradige Blutdrucksenkung mit starker
Gefäßerweiterung hervor, Ungerinnbarkeit des Blutes, Krämpfe,
Benommenheit und Schwäche. Dazu kommt die lymphagoge Wir¬
kung, die Heidenhain festgestellt hat. Er fand eine Reihe von
Stoffen, welche, in die Blutbahn gespritzt, die Lymphmenge auf
das Dreifache und mehr vergrößern und nannte diese Stoffe Lym-
phagog a erster Ordnung. Ist nun die Peptonvergiftung beim Hunde
tatsächlich identisch mit dem anaphylaktischen Shock, so müßte
sich auch hier ein deutlicher Einfluß auf die Lymphbildung zeigen.
Verf. stellte daher darauf abzielende Untersuchungen an Hunden
an, bei denen er die aus dem Ductus thoracicus ausfließende
Lymphe vor und nach der Reinjektion eines artfremden Serums
maß. Es wurde Hunden im Körpergewicht von 8 bis 21 kg zuerst
10 cm3 Normalpferdeserum gegeben. 14 bis 16 Tage später wurde
in Narkose in den Ductus thoracicus< kurz vor seiner Mündung in
die Vena subclavia eine Glaskanüle eingebunden, durch die die
Lymphe in graduierte Gefäße geleitet wurde. Von zehn zu zehn
Minuten wurde die so erhaltene Lymphmenge notiert. Nach einer
halben Stunde gab Verf. die Reinjektion von 10 cm3 Pferdeserum
in die rechte Vena, facialis. Die Lymphmenge, die vor der Re¬
injektion 3-7 bis 3-9 cm3 in je zehn Minuten betragen hatte, stieg
nachher auf die 71/2fache Menge*, um dann langsam abzusinken.
Auch bei Versuchen mit Baryumchlorid trat vierfache Vermehrung
der Lymphmenge nach der Reinjektion von Pferdeserum auf.
In drei Hundeversuchen war das Resultat übereinstimmend. Gleich¬
zeitig beobachtete Verf., daß die Lymphe, welche vorher binnen
zehn Minuten einen Lymphkuchen gebildet hatte, nun ungerinnbar
war. Die Frage, ob nicht schon die erste Injektion eines art¬
fremden Serums Einfluß auf die Lymphbildung habe, wurde durch
einen vierten Versuch des Verfassers verneint. Um zu zeigen, daß
die Reaktion eine spezifische ist, gab Verf. einem mit Pferdeserum
sensibilisierten Hunde 10 cm3 Rinderserum in die Vene. Die
Lymphe veränderte sich nach der Einführung des Rinderserums
weder nach Menge, noch Beschaffenheit. Biedl und Kraus
stellten experimentell fest, daß das Baryumchlorid die Blutdruck¬
senkung des anaphylaktischen Hundes verhindern kann. Verf.
hat nun in seinem zweiten Versuche, als der Blutdruck nach Re¬
injektion zu sinken begann, durch intravenöse Injektion von
0-02 g BaCL in l°/oiger Lösung tatsächlich den Blutdruck wieder
gesteigert. Die lymphagoge Wirkung wurde aber dadurch nicht
behindert. Das Chlorkalzium, dem 'von N etter eine heilende* Wir¬
kung bei der Serumkrankheit zugesprochen wurde, fand Verfasser
wirkungslos. Es' wräre möglich, daß diese Versuche, einen kleinen
Beitrag zur Urtikariafrage u. zw. zur Pathogenese der Urtikaria¬
quaddel bringen. Wenn, wie des Verfassers Versuche zeigen,
das anaphylaktische Gift sich wie ein Lymphagogon erster Ord¬
nung verhält, die Anaphylaxie andrerseits meist (von Urtikaria
begleitet ist, so erhält die Vermutung Heiden ha, ins1, die Urti-
kaiiaeruption stehe in ursächlichem Zusammenhang mit ver¬
meinter Lymphsekretion aus den Kapillaren, eine weitere Stütze.
Verf. erklärt zum Schlüsse: Hunde, die mit Pferdeserum vorbe¬
handelt sind, zeigen nach einer zwei Wochen später folgenden
Reinjektion desselben Serums eine starke Vermehrung der Lymph¬
menge. Gleichzeitig wird die Lymphe ungerinnbar. Die Erstinjek¬
tion eines artfremden Serums, sowie die Reinjektion eines hetero-
logen Serums sind ohne Einfluß auf die Lymphbildung. Baryum-
chlojrid und Kalziumchlorid sind wirkungslos' gegenüber dieser
Erscheinung. — - (Münchener medizinische Wochenschrift 1911
Nr. 13.) G.
*
424. (Aus der I. medizinischen Abteilung des Allgemeinen
Krankenhauses in Wien. — Professor Pal.) Studien über
die Wirkung der Azetylsalizylsäure. I. Die Anwendung
und Wirkung der Azetylsalizylsäure beim Typhus abdominalis.
\ on Dr. S. Bondi. Viele in der klinischen Praxis beobachtete
\\ irkungen der Azetylsalizylsäure (wie Beseitigung der heftigen
Schmerzen bei Uteruskarzinom, der lanzinierenden Schmerzen
bei Tabes, bei Migräne, hypnotische Wirkung) lassen sich nur
durch eine spezifische Wirkung erklären, welche ihre Muttersub¬
stanz, die Salizylsäure, nicht besitzt. Da Pal schon seit vielen
Jahren den Typhus mit kleinen Dosen von Azetylsalizylsäure be¬
handelt (0-25 bei jeder Erhöhung der Temperatur über 39-5°), so
ergab sich Gelegenheit, zu untersuchen, ob sich auch an der
Hand der besonders starken antipyretischen Kraft des Mittels
eine spezifische Wirksamkeit feststellen lasse, welche der Salizyl¬
säure mangelt. Die Versuche ergaben, daß weder Salizylsäure
noch Essigsäure in entsprechenden Dosen die gleiche antipyretische
\\ irkung hervorrufen, wie dies fast immer mit kleinen Aspirin-
dosen nach P a 1 gelingt. Auch andersartige Paarungen dieser
Komponenten, der Salizylsäure im Diaspirin und Diplosat, der
Essigsäure im Triazetin, lassen ebenfalls in der geringen Dosis
keine gleich erhebliche antipyretische Wirkung erkennen. So
muß also die auffällige antipyretische Wirkung als eine der Azetyl¬
salizylsäure spezifische angesehen werden. Die Pal sehe Typhus¬
behandlung ist einfach und praktisch. — II. Experimentelle Bei¬
träge. Von Dr. S. Bondi und cand. med. Hans Katz. Für die
Erklärung der spezifischen Wirkung der Azetylsalizylsäure er¬
scheint von Bedeutung, daß die Spaltung im Darme wahr¬
scheinlich sehr langsam verläuft, so daß auch noch ungespaltene
Azetylsalizylsäure resorbiert wird, die dann im Körperinnern
erst völlig gespalten wird, da im Urin doch* nur Salizylsäure
erscheint. Die Spaltung im Körperinnern geschieht nicht bloß
durch die alkalische Reaktion des Blutes und der Gewebe, sondern
auch durch fermentative Prozesse. — ((Zeitschrift für klinische
Medizin 1911, Bd. 72, H. 1 und 2.) K. S.
*
425. Ueber B eck enh o ch 1 a g erung in der Geburts¬
hilfe. Von E. Bumm. Nachdem Verfasser auf die Vorzüge
der T r en de len b u rg sehen Beckenhochlagerung zuerst bei der
Ausführung des suprasymphysären Kaiserschnittes aufmerksam
wurde, empfiehlt er diese für jene Fälle, wo es sich darum han¬
delt, den vorliegenden Teil vom Beckeneingang zu entfernen,
um Platz für die eindringende Hand zu schaffen, also bei der
inneren Wendung, bei der Herabholüng des Fußes in Fällen von
Steißgeburt, bei der Umwandlung von Stirn- in Gesichtslagen, bei
Nabelschnurvorfall usw. Je fester der vorliegende Teil schon in das
Becken eingepreßt ist, desto mehr macht sich die günstige Wir¬
kung der Hochlagerung geltend. — (Zentralblatt für Gynäkologie
1911, Nr. 9.) E. V~
*
426. Heilversuche bei Paralytikern. Von Waiter
PI an ge, Assistenzarzt in Uchtspringe. Neuere Untersuchungen
haben die Zugehörigkeit der Syphilis zu den Protozoenkrankheiten
wahrscheinlich gemacht und die nahe biologische Verwandtschaft
zwischen Trypanosomen und Spirochäten festgestellt. Es lag daher
nahe, Mittel, welche die Schlafkrankheit günstig beeinflussen,
zur Behandlung der (Syphilis und der metasyphilitischen Er¬
krankungen des Zentralnervensystems heranzuziehen. Man hat
zuerst an einigen Orten Atoxyl (nach Ehrlich das Mononatrium-
wiener klinische Wochenschrift. 1911.
Nr. 17
tilO
salz der Paraaminophenylarsinsäure) bei Paralytikern versucht,
hatte jedoch nur negative Erfolge. Dennoch hielt man an dem
Gedanken fest, durch Arsenpräparate die Paralyse zu beeinflussen,
ein Gedanke, der aus der Möglichkeit seine Berechtigung schöpfte,
daß noch tätiges Virus im Körper vorhanden ist, während der
paralytische Prozeß sich bereits abspielt. Nun hat Ehrlich
im Arsenobenzolglyzin ein Präparat gefunden, das jedes Tier
mit experimentell erzeugter Schlafkrankheit mit Sicherheit heilt.
Mit diesem Präparat hat PI an ge 20 Patienten, welche alle po¬
sitiven Wassermann aufwiesen, behandelt und deren Blut vor
und nachher in bezug auf den Hämoglobingehalt, das spezifische
Gewicht und die Zahl und Beschaffenheit der Blutkörperchen
untersucht. Er fand nach der Behandlung mit Arsen ophenolglyzin
eine einwandfreie Leukozytose und eine bedeutende Vermehrung
der Mastzellen (über 0-5 hinausgehend). Ob diese Leukozytose
und die Mastzellen einen (vielleicht mittelbaren) Einfluß auf
die Zusammensetzung des Blutes bei Paralytikern haben, muß
weiteren Versuchen Vorbehalten bleiben. — (Allgemeine Zeit¬
schrift für Psychiatrie und psychisch - gerichtliche Medizin,
Bd. 68, H. 2.) S.
*
427. Zur Ursache und spezifischen Behandlung
des Heufiebers. Von W. P. Dunbar, Direktor des staat¬
lichen hygienischen Instituts in Hamburg. Das Pollenantitoxin,
welches durch Verimpfung der Extrakte von wirksamen Pollen
auf Pferde hergestellt wird, wurde nunmehr seit, vielen Jahren
von vielen Tausenden von Heufieberkranken benützt. Von rund
1000 dieser Kranken bekam Verf. Nachrichten. Einige von diesen
sind, nachdem sie das Mittel zwei bis drei Jahre hindurch ge¬
braucht hatten, definitiv immunisiert worden, die Kinder hatten
nach kurzem Gebrauch des Pollantins überhaupt nie wieder An¬
fälle gehabt. Verf. rät dringendst, mit größter Vorsicht den Aus¬
bruch eines Anfalles zu verhüten, indem man bei dem Auftreten
der leisesten Reizwirkung eine sehr geringe Menge des Pollen¬
antitoxins auf die entsprechende Stelle (Auge, Nase) bringt. Die
Empfindlichkeit der Patienten gegen das Pollentoxin läßt all¬
mählich nach, so daß sie auch ohne Gebrauch des Pollen¬
antitoxins von Heufieberanfällen freiblieben. Dunbars Pollan-
tin (flüssige Form) enthält außer Vrf/o Karbolsäure keinen anderen
Zusatz, das getrocknete Pollantin stellt eine reine Mischung von
anti toxischem Pferdeserum mit Milchzucker dar. Beide Präpa¬
rate sind sonst frei von entwicklungsfähigen Keimen. Jetzt soll ein
drittes Pollantinpräparat in Salbenform dargestellt werden. Sind
einmal die Schleimhäute gereizt, so möge das Pollenantitoxin in
denkbar geringster Menge an gewendet wenden, da die Kranken sonst
an einer lästigen Nebenerscheinung (Pferdeserumanaphylaxie) zu
leiden haben. Auch möge es dann nur alle zwei bis drei Tage ein¬
mal in sehr geringer Menge angewendet werden. Der Verfasser
resümiert: Das im Frühjahr auftretende Heufieber wird fast aus¬
nahmslos durch Gramineenpollen hervorgerufen : dar amerikani¬
sche Herbstkatarrh durch die Pollen von Solidagineen und Am-
brosiaceen und das Heufieber in China durch Ligusterpollen. Die
Heufiebersympiome sind als Abwehrreaktion gegen die, durch
abnorme Durchlässigkeit der Mukosa und Kutis ermöglichte par¬
enterale Zufuhr des Eiweib der genannten Pollen aufzufassen.
Um einen rein anaphylaktischen Vorgang im Sinne der heute
gültigen Definition handelt es sich jedoch nicht. Denn es gelingt,
die Symptome durch ein antitoxisch wirkendes Pollenimmunserum
zu beseitigen und dadurch gleichzeitig die individuelle Disposition
allmählich bis zu dem Grade herabzusetzen, daß die Anfälle
auch ohne weitere Behandlung ausbleiben. — (Deutsche medizini-
Wochenschrift 1911, Nr. 13.) E. F.
♦
428. Ueber die Anwendung des Mastixverbandes
und der Blutstillungszange Blunk. Von Stabsarzt Doktor
Thomschke in Metz. Verf. bespricht seine Erfahrungen, die er
in den letzten Jahren über den Mastixverband gesammelt hat.
Letzterer bietet ein Mittel, um die Verwunde' ten auf dem Schlacht¬
felde in einem Zukunftskriege schnell und aseptisch mit einem
ersten Wundverband zu versehen. Die Mastixlösung hat folgende
Zusammensetzung: Mastix 200, Chloroform 50-0, Ol. lini gtt. XX.
Die Klebekraft dieser Lösung hat sich in jeder Beziehung glän¬
zend bewährt. Verf. hat jeden Verband, wo es irgend möglich war,
mit Mastix befestigt und die Bindenanwendung möglichst ver¬
mieden. Der Mastixverband gilt ihm beute als der ideale Ver¬
band. Die Mastixlösung wird bis an die Wundränder heran¬
gestrichen, die Wunde mit aseptischem Mull je nach Bedarf be¬
deckt und der Verband mit einem sogenannten Schleier befestigt.
Nimmt man weitere Verbandstoffe, so fixiert man diese am besten
mit zwei bis drei Heftpflasterstreifen, die außerdem in den ersten
Tagen nach der Operation bei Laparotomien ein Zusammenhalten
der Wundränder bewirken. Auf diese Art ist jede Operations¬
wunde aseptisch abgeschlossen gegen die Umgebung und auch
für die Hand des Patienten. Der Verbandwechsel ist ungeheuer
einfach. Der mit Mastixlösung befestigte Verbandstoff läßt sich
leicht abziehen, wenn man an einer Ecke anfaßt. Bei empfind¬
lichen Patienten kann man vorher mit Benzin anfeuchten. Ebenso
einfach ist die Anwendung des Mastixverbandes bei Verletzungen.
Verf. hat bei frisch zugehenden Verletzungen auf jede Reinigung
der Umgebung verzichtet und nur bei groben Verunreinigungen
von Benzin Gebrauch gemacht. Nach Bestreichen der Umgebung
der Wunde mit Mastixlösung bis an die Wundränder heran wird
die Wunde selbst versorgt, nachdem aseptische Mullkompressen
bis an die Ränder herangelegt worden sind, so daß nur '.ein
schmaler Spalt frei bleibt, in dem sich die Verletzung befindet.
Nach dieser Methode wurden vom Verfasser unzählige Verlet¬
zungen behandelt u. zw. mit ausgezeichnetem Erfolge. Vorbedin¬
gung für eine glatte Heilung ist nur, daß man die Verletzungen
bekommt, ohne daß von ärztlicher oder anderer Seite Unter¬
suchungen an der Wunde vorgenommen wurden. Prädestiniert
geradezu ist der Mastixverband bei Finger- und Gesichtsverlet¬
zungen, aber auch an den Extremitäten, da die anderen Verbände
leicht zu rutschen pflegen. Besonders hervorzuheben ist der Mastix¬
extensionsverband aus gerauhten Köper- oder Flanellstreifen.
Dieser Extension sverbänd kann sofort einer größeren Belastung
ausgesetzt werden und wochenlang liegen bleiben, ohne daß ein
wesentliches Nachgeben zu bemerken wäre. Hautreizungen durch
die Mastixlösungen sind außerordentlich selten. Es gibt allerdings
Personen, besonders Frauen, die eine ungewöhnliche Empfindlich¬
keit gegen Mastix besitzen. In diesen Fällen muß man von dieser
Verbandmethode Abstand nehmen. Die Vorteile des Mastixver¬
bandes sind seine Billigkeit, Ersparnis an Binden1 und Verband¬
mull, die einfache Anwendungsart und Schmerzlosigkeit beim Ver¬
binden. Aber unvergleichlich höher sind die Vorteile auf dem
Schlachtfelde, weil die Anw'endung des Mastixverbandes bei einem
großen Teil der Verwundeten die Gefahr einer Wundinfektion
ausschließt, wie dies bereits praktisch im russisch-japanischen
Kriege von Oettingen erprobt wurde. Es ist nur notwendig, die
Krankenträger mit Mastixlösung und sterilen Tupfern auszurüsten.
O e 1 1 i n g e n hat Mullwattebäusche geldrollenartig in Pergament¬
papier eingeschlagen und sterilisiert. Man faßt den Bausch an der
zusammengeschlagenen Seite und drückt die gegenüberliegende
glatte Seite auf die Wunde. Nur der oberste Bausch wird berührt.
Der Mastixverband dürfte demnach als erster Verband in den künf¬
tigen Kriegen eine große Rolle spielen. Im Anschlüsse hieran be¬
spricht Verf. die Blutstillungszange „Blunk“. Er ist außerordent¬
lich befriedigt vom einfachen und sicheren Gebrauch dieser Gefä߬
klemmen. Unter den in den letzten Monaten ausgeführtem Opera¬
tionen gibt es nur vereinzelte, bei denen Verf. zur Blutstillung
eine Ligatur verwendet hat. Fälle von Nachblutungen wurden nie¬
mals beobachtet. Die Operationsdauer läßt sich bei Anwendung
der Bl unk sehen Zange bedeutend herabsetzen; die Operations¬
wunde ist frei von Fremdkörpern, was nicht zu unterschätzen ist.
Bei Verletzungen mit starker Blutung hat Verf. in zwei Fällen
mit der Gefäßklemme eine sofortige sichere Blutstillung erzielt.
Diese Klemme sollte in keines Chirurgen Instrumentarium fehlen.
- (Münchener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 13.) G.
*
429. (Aus dem städtischen Krankenhaus an der Jausa in
Moskau.) Eine Reinfektion beim Rückfallfieber und
ihr Einfluß auf den Verlauf der K r a n k h e i t. Von Doktor
Sergius Jarussow. Bei der Rekurrensepidemie in Moskau
1907/08 erwiesen sich zirka ein Drittel aller Erkrankten als Rein-
fizierte. Bei der Reinfektion verläuft die Krankheit in der Mehr¬
zahl der Fälle mit einem einzigen Anfall. Im allgemeinen' sind
die Anfälle bei der Reinfektion kürzer, die Apyrexien länger,
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
611
<lie Durchschnittsdauer der Reinfektion ist dementsprechend zwei¬
mal so kurz als die Krankheitsdauer bei Erstinfizierten. Die Frist
einer Reinfektion schwankt in weiten Grenzen (Minimum 37 Tage).
Im höheren Alter scheint die Reinfektionsfrist länger zu sein
und die Krankheit häufiger mit nur einem Anfall zu verlaufen
alä in jüngeren Jahren. In Anbetracht einer möglichen Rein¬
fektion sind die Kranken auf den Rekurpensabtei Jungen nicht
länger als 14 bis 15 Tage nach dem ersten und 17 Tage nach
dem nächsten Anfalle zu behalten. — ([Zeitschrift für klinische
Medizin 1911, Bd. 72, H. 1 und 2.) K. S.
*
430. Zur Aetiologie und Prophylaxe der TJterus-
myome (Anteflexio uteri als ätiologisches Moment).
Von Prof. Dm. v. Ott. Yerf. fand bei langjähriger Beobachtung,
daß er bei Patientinnen, die unter dem Symptomeinkomplex der
Anteflexio uteri seine Hilfe suchten, sehr oft die Entwicklung von
Fibromyomen — anfangs als ganz kleine Knoten, welche sich
später in 'mehr oder weniger umfangreiche Geschwülste ausbildeten
— verfolgen konnte. Verf. ist der Ueberzeugung, daß der unter
dem Namen Anteflexio uteri bekannte pathologische Zustand vom
ätiologischen Standpunkte unbestreitbar als ein zur weiteren Ent¬
wicklung von Uterusfibromyom prädisponierendes Moment be¬
trachtet werden kann. Verf. betont, daß man auf die schon von
Virchow vertretene Theorie der Entstehung der Fibromyome
aus den Blutgefäßen zurückgreifen müsse. Durch die Anteflexio
uteri wird hauptsächlich infolge passiver Hyperämie eine Stau-
ungshyperämie hervorgerufen, die durch den Einfluß der Form
des Uterus auf die Gefäße leicht erklärbar ist. Als Folge der
venösen Hyperämie erhalten wir das Anschwellen, das Austreten
der Blutelemente aus der Blutbahn und im weiteren ihre Organi¬
sation in junges und später in älteres Bindegewebe bei immer
mehr und mehr sich vermindernder Blützirkulation im ganzen
Uterus. Verf. erklärt es als falsch, die Anteflexio uteri in einer
Zeit, da sie noch symptomlos ist, als einen harmlosen Zustand
zu bezeichnen und ferner als unbedingt nötig, die die- Entwick¬
lung der Anteflexio uteri begleitenden schädlichen Momente ohne
langes Abwarten zu beseitigen. Vor allem befürwortet Verf. die
gynäkologische Massage und die Anwendung von Mitteln zur
Beseitigung der Sterilität, wobei er der Excisio portionis vaginalis
sehr das Wort redet. — - (Zentralblatt für Gynäkologie 1911,
Nr. 12.) E. V.
*
431. Ueber die Nachteile der Arbeitstherapie bei
Geisteskrankheit. Von Priv.-Doz. Dr. M. Kauffmann in
Halle a. d. S. Verf. scheint kein Freund der Arbeitstherapie bei
Geisteskranken zu sein. Er will den günstigen Einfluß der Arbeit
bei manchen Kindern nicht leugnen, aber er vermißt den
Beweis der Heilwirkung der Arbeit. In bestimmten Fällen
ist aber — wie er hervorhebt - die Arbeitstherapie so¬
gar schädlich, in Fällen nämlich, in welchen es sich
um Störung der ^Wärmeregulation handelt, in Fällen ferner, bei
denen Muskelarbeit Erregung hervorruft. Den Heiltendenzen bei
Geisteskranken entspricht am besten die Bettruhe, welche durch
geeignete Unterhaltungsmittel, durch Liegestätten im Freien usw.
abwechslungsreicher gemacht werden könnte. Geisteskranke be¬
dürfen endlich einer rationellen Diät. Besonders Stickstoffreteu-
tionen und ein Plus von Brennwerten sollten vermieden werden.
— (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch -gericht¬
liche Medizin, Bd. 68, H. 2.) S.
*
432. Ein Fall v' o n Exstirpation eines Le b e r k a v e r-
uomjs. V,o!n Prof. Dr. J. Israel in Berlin. Kavernöse Ge¬
schwülste der Leber sind zumeist durchaus gutartig, verlaufen
symptomlos und werden höchstens fünf- bis zehnpfennigstiick-
groß. Sehr selten wachsen sie zu großen Geschwülsten aus.
bn ganzen wurden derlei größere Leberkavemome 6mal operiert,
las erstemal 1893 von v. Eiseisberg. Im Falle des Verfassers,
ler eine 39 Jahre alte Frau betraf, ist wohl zum erstenmal die
Giagnose einer kavernösen Geschwulst der Leber gestellt und
lie Patientin auf diese Diagnose hin operiert worden. Seit einem
lahre fühlte sie eine Geschwulst im Epigastrium, welche sie seit
Ger Monaten durch Schmerzen, Druck auf den Magen und liäii
bges Aufstoßen belästigte. Man fand daselbst eine halbkugelige
\ orwölbung, bedingt durch eine weit über faustgroße Geschwulst
des linken Leberlappens, nach abwärts durch den gerade noch er¬
haltenen, ganz schmalen scharfen Ueberrand umsäumt, welcher
in der Mitte zwischen Nabel und Process'us ensifonnis verlief.
Diese Geschwulst wurde durch einen allmählich zunehmenden
Druck mit der flachen Hand zum Verschwinden gebracht und
erreichte beim Nachlassen des Druckes ihr altes Volumen wieder.
Auf Grund dieses Phänomens der Kompressibilität wurde die
Diagnose auf kavernöse Lebergeschwulst gestellt. Operation. Der
große, dunkelblaue Tumor ragte weit über das Niveau des Leber¬
lappens vor, seine Oberfläche war von weißen, sehnigen Narben¬
zügen durchzogen. Im rechten Leberläppen saßen noch zwei
oder drei kleine Geschwülstchen von Kirschkerngröße'. Durch-
schneidung des Ligamentum Suspensorium hepatis, Heraus wälzung
der Leber, Abtragung des linken Leberlappens, teils nach An¬
legung großer Umstechungsnähte mit Seide, teils (da wo das
Parenchym dicker war) durch Anlegung eines festen Gummi-
schlaucbes und Abbindung. Unblutige Resektion. Die Enden des
Gummischlauches wurden zur Bauchwunde' herausgeführt, diese
im übrigen geschlossen. Heilung per primam; nach 14 Tagen
wurde der Knoten des Gummischlauches durchschnitten, der
Schlauch entfernt. Hier befindet sich noch eine kleine sezernie-
rende Stelle, sonst ist die Frau geheilt. Die Geschwulst, die nach
der Entblutung 375 g wog, war ein echtes Kavemom und grenzte
sich scharf durch eine mehr oder minder starke Bindegewebs-
kapsel von dem gesunden Lebergewebe ab. — (Berliner klinische
Wochenschrift 1911, Nr. 15.) E. F.
*
433. Beitrag zur Wundbehandlung mit „Mastisol“
(v. Oettingen). Von Dr. med. F. W. Voos, Medical officer
of the Mexican Ligth u. Power Co. Necaxa, Estada de Puebla,
Mexico. Verf. hat in seiner ausgebreiteten Unfallspraxis Wa¬
schungen mit aniiseptischen Lösungen schon länge aufgegeben
und wendete den Trocken verband an. Ein Jahr läng arbeitete er
mit Jodtinktur, hatte aber zahlreiche Fälle von Erythem, von Pu¬
steln und Ekzemen, so daß er sich dem im Jahre 1909 von Oet-
ti ngen veröffentlichten Ma,stixVerband zuwandte. Die daselbst
mitgeteilte Mastixlösung zeigte eine Reihe von Nachteilen die an
feine Reizwirkung des Chloroforms zurückzuführen waren. Dieses
ist im Mastisol durch Benzol ersetzt und die an Stelle des Lein¬
öls genommenen Ester erhöhen die Klebrigkeit der Harze so sehr,
daß nach Verdunstung des Lösungsmittels das Harz: nicht mehr
pulvert. Im Jahre 1910 begann Verf. mit der Mastisolbehandlung
und ist heute, nachdem er damit Tausende von leichten und
schweren Fällen, auch komplizierte Knochenbrüche, behandelte,
ein entschiedener Anhänger dieser einfachen Methode. Nach Ver¬
zicht auf alle weiteren Desinfizientien genügt die Mastisolflasche
mit dem Pinsel für alle Quetschwunden mit zerrissenen Rändern,
Stoß-, Hieb-, Stich- und Schußwunden, wie sie dem Verfasser
täglich in die Hände kommen. Es wird nur mit Pinzette oder
Wundbausch der gröbere Schmutz aus der Wunde entfernt, mit
Mastisol gepinäelt, kurz darauf wird der Wundbausch aufgedrückt
und die ganze Prozedur ist zu Ende. Zeigte sich nach einiger Zeit
Eiter, was sehr selten der Fäll war, wird der Bausch durch
leisen Zug entfernt, wieder gepinselt und ein neuer Wundbausch
aufgedrückt. Bei den Unterschenkelbrüchen, die bei den Ge¬
steinsarbeitern sehr häufig sind, hat Mastisol niemals solche Ent¬
zündungen verursacht wie die Jodtinktur. Bei Schußwunden hat
Verf. nicht nur die Umgebung, wie Oettingen es vorschreibt,
sondern auch die Perforation selbst gepinselt. Anfangs legte er
über den mit Mastisol fixierten Wundbausch noch eine Gaze¬
bindentour, heute genügt ihm der Mastisolgazebausch allein zur
Fixation. Bei blutenden Wunden pinselt Verf1. einfach über das
Blut weg und näht ruhig durch die Mastisolpinselung. Während
früher, als Verf. noch wusch oder trocken behandelte, die Zahl
der Infektionen groß war, ist sie bei der Mastisolbehandlung
enorm heruntergegangen. Von 320 klinischen Verletzungen, die
im Hospital behandelt wurden, zeigten nur 22 Fälle Eiterung, bei
weiteren 700 ambulant behandelten Fällen ist das Resultat genau
so günstig. Nur 6% der Fälle zeigten Eiterbildung. Nicht gleich¬
gültig sind ferner die Ersparnisse an Verbandmaterial. Nach des
Verfassers Erfahrungen, die er unter den schwierigsten Verhält¬
nissen, im Urwald, ausgiebig gesammelt hat, zweifelt er nicht,
612
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
daß nicht nur für diese Verhältnisse, sondern auch für den
Krieg und für alle F riedens Verletzungen inmitten der Zivilisation
die Mastisolmethode das bedeutet, was der chirurgischen Therapie
bis jetzt gefehlt hat. — (Münchener medizinische Wochenschrift
1911, Nr. 13.) G.
*
434. Untersuchungen über das Ratte n vertil¬
gungsmittel „Liverpool virus“. Von Dt. med. Karl Stef¬
fenhagen, wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Kaiserlichen Ge¬
sundheitsamte. Wegen der prinzipiellen Bedeutung, ob die Aus¬
legung von Rattenvertilgungsmitteln (bakteriellen Ursprungs) der
menschlichen Gesundheit schädlich werden kann oder nicht, unter¬
zog Steffenhagen das von England aus propagierte Liverpool¬
virus einer eingehenden bakteriologischen Untersuchung, um das¬
selbe zu identifizieren. Gleichzeitig wurden die bereits auch in
Deutschland bekannten Ratin-, Danysz- und Tssatschenkobakterien
einer erneuten Prüfung unterzogen. Hiebei wurde festgestellt,
daß alle genannten Bakterien, inklusive des Liverpoolvirus, sich
weder kulturell bei Verwendung der zurzeit gebräuchlichen Nähr¬
böden, noch durch die Agglutination und die Komplementbindungs¬
methode von den Bakterien der Gärtnergruppe unterscheiden,
ferner, daß sie im allgemeinen für Haustiere nicht schädlich
sind, dagegen bei Ratten eine von Tier auf Tier übertragbare
Seuche zur Folge haben können, allerdings nicht müssen. Fälle
menschlicher Erkrankungen, welche auf' die Auslegung bakterieller
Rattenvertilgungsmittel zurückgeführt werden, sind bisher in
größerem Umfange nicht bekannt geworden, ausgenommen einmal
in London, wo eine an zwölf Personen eines Geschäftshauses
epidemisch auftretende Enteritis allerdings erst nach Genesung
der Erkrankten mit Sicherheit auf Infektion mit Liverpoolvirus
zurückgeführt werden konnte. Als Krankheitssymptome waren
mehr oder weniger ausgesprochen: Schwindel, Koliken, Durchfälle,
Erbrechen, belegte Zunge, Durst, Harnverhaltung, Kollapse, Fieber,
Milzvergrößerung, Kopfschmerzen, aufgetreten. Bei allen Patienten
trat nach zehn Tagen Genesung ein, aber die Mehrzahl sah aus,
als ob sie eine schwere Krankheit durchgemacht hätten. Dem¬
nach ist bei Auslegung von Rattenvertilgungsmitteln, speziell des
Liverpoolvirus, immerhin mit der Möglichkeit zu rechnen, daß
die betreffenden Bakterien der menschlichen Gesundheit schädlich
werden können und es ist Vorsicht bei der Handhabung) sehr
wohl angezeigt. — (Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheits¬
amte, 1910, Bd. 46, H. 2.) K. S.
*
435. Neue rad io therapeutische Erfahrungen in
der Gynäkologie auf Grund von 100 gutartigen Blu¬
tungen und Tumoren des Uterus. Von Priv.-Doz. Doktor
C. J. Gauß. Verf. hat an der Freiburger Frauenklinik die Radio¬
logie durch mehrere Jahre zur Therapie gutartiger Blutungen und
Tumoren des Uterus herangezogen. Durch systematisch ausge¬
bildete Technik gelang es ihm, die früheren Uebelstände flange
Dauer der Behandlung, Ungleichmäßigkeit der Erfolge, häufige
Nebenwirkungen) zu beseitigen und damit die operative Therapie
der Myome wesentlich einzuschränken. In 100 Fällen der letzten
zwei Jahre, in denen Frauen mit gutartigen Blutungen und Myo¬
men der Tiefenbestrahlung unterzogen wurden, wurde bei der
großen Majorität Amenorrhoe bei den älteren, Oligorrhoe bei dear
jüngeren Frauen, Schrumpfung der Tumoren bis zu völligem
Verschwinden in einigen Fällen, in anderen Ausstoßlang sub¬
muköser Myome erzielt. Eine Kontraindikation findet Gauß nach
dem heutigen Stande der Technik nicht. — (Zentralblatt für Gynä¬
kologie 1911, Nr. 10.) E.V.
*
436. (Aus der Universitäts -Frauenklinik der Kgl. Charite
— ■ Prof. Franz.) Serumtherapie bei Schwangerschafts¬
toxikosen. Von Prof. Dr. R. Freund in Berlin. In der Er¬
wägung, daß bei den durch Schnellentbindung nicht geheilten, be¬
ziehungsweise bei den erst puerperal ausbrechenden Eklampsien
noch wirksame fremde Stoffe im Blute kreisen, nahm Verf. in
anderthalb Jahren bei sechs Fällen puerperaler Eklampsie intra¬
venöse Injektionen mit frischem Pferdeserum in Dosen von
20 bis 80 cm3 vor, worauf in allen Fällen nach weiteren ein bis
vier Anfällen die Erscheinungen abklangen. Auf Grund weiterer
Untersuchungen und bei Annahme einer mangelhaft abbauenden
Tätigkeit des Serums in gewissen Fällen hat Verf., dein Vorgehen
von Mayer und Linser folgend, vier Fälle von schweren Gravi¬
ditätstoxikosen mit Serum von gesunden Schwangeren
behandelt. Auch Mayer und Linser injizierten in einem Falle
schwerer Schwangerschaftstoxikodermie (Herpes gestationis)
30 cm3 Serum einer normalen Schwangeren vom achten Monat und
sahen einen auffallenden Erfolg, nachdem vorher injizierte 10 cm3
Serum einer Nichtgraviden bis zum dritten Tage post injectionem
keinen Einfluß zeigten. Im ersten Falle des Verfassers (Graviditas
mens. Ill, Hyperemesis, Ikterus, Schwangerschaftsniere, ferner
beginnende Schwangerschaftspsychose und -dermatose in Form
einer Prurigo) wurde zweimal Serum von gesunden Schwangeren
von neun bis zehn Monaten in Dosen von 24, resp. 25 cm3 intra¬
venös injiziert. Schon die erste Injektion hatte nach drei Tagen
deutliche Besserung des Gesamtzustandes, die nach sieben Tagen
wiederholte Injektion rasches Verschwinden aller Erscheinungen
zur Folge. Die drei weiteren Fälle beziehen sich auf puerperale
Eklampsie. Im ersten Falle wurden nach einem Aderlässe von
400 cm3 58 cm3 Serum einer normalen Kreißenden vom zehnten
Monat injiziert, im zweiten Falle 40 cm3 Serum einer jungen
I para vom zehnten Monat, zuvor Aderlaß von 400 cm3, im dritten
Falle 36 cm3 Serum einer gesunden Kreißenden vom neunten
Monat, zuvor Aderlaß von 350 cm3. In allen drei Fällen erfolgte
rasche Besserung und vollkommene Heilung. Am sinnfälligsten
sind zweifellos die Erfolge der Seruminjektion in dear Fällen von
Schwangerschaftstoxikosen, in welchen leicht kontrollierbare Sym¬
ptome (Dermatosen, anderseits Erscheinungen seitens der Leber,
der Niere, des Nervensystems) tatsächlich zum Schwinden gebracht
wurden, viel weniger überzeugend sind nach Verf. die Resultate
bei den puerperalen Eklampsien, in Hinblick auf die bisweilen
durch andere Maßnahmen oder spontan genesene Fälle. Immer¬
hin muß hervorgehoben ■werden, daß in einem Fälle einer juve¬
nilen, außerordentlich schweren Form von Eklampsie, bei der
bereits als Ultima ratio die Nierendekapsulation in Frage kam,
der Erfolg ein überraschender war. Verf. empfiehlt schließlich,
in Hinkunft nicht bloß diese Methode der Serumbehandlung zu
üben, sondern gleichzeitig die experimentelLwissenschaftlicheai
Untersuchungen, zunächst mittels der von Abderhalden ein¬
geführten „optischen Methode“, weiterzuführen, um sich übel
etwaige Veränderungen des Blutes vor und nach der Injektion
Rechenschaft abzulegen. Nur auf diese kombinierte Weise und
unter strengster Ausschaltung jedweder anderen Therapie kann
der Einfluß der Serumbehandlung kontrolliert werden, bzw. an -
Beweiskraft gewinnen. — (Medizinische Klinik 1911, Nr. 10. )
E. F.
*
437. Zur Frage der direkten Bluttransfusion
durch Gefäßnaht. Von Dr. H. Flörcken. 24jährige Pa¬
tientin, ohne hämophile Belastung, erkrankte schon in der Re¬
konvaleszenz nach einer Staphylokokkenbakteriämie unbekannter
Eintrittspforte an sehr schweren allgemeinen Blutungen, die jeder j
Therapie trotzte. Als ultimum refugium wurde die direkte Trans¬
fusion von der älteren Stiefschwester ausgeführt, indem die linke j
Arteria radialis der Gesunden mit der linken Vena mediana
cubitalis der Kranken durch Gefäßnaht nach Carell-Stich ver
bunden und diese Verbindung ca. 30 Minuten lang aufrecht er- |
halten wurde. Von der Zeit der Transfusion an hörten die Blu¬
tungen bei der Patientin vollständig auf. Heilung. Irgendeine
Schädigung wurde nicht beobachtet. — (Zentralblatt für ( hirurgie
1911, H. 4.) E-V-
*
438. (Aus der psychiatrischen und Nervenklinik in Greifs¬
wald.) Die Sicherung der Gesellschaft gegen gemein¬
gefährliche Geisteskranke und der Vorentwurf zu
einem deutschen Straf gesetzbuche.. Von E. Schnitze, j
Verf. beschäftigt sich in vorliegender Arbeit namentlich mit dem
§ 65 des obengenannten Vorentwurfes, welcher Paragraph von der ;
strafgerichtlichen Nachbehandlung der vermindert Zurechnungs
fähigen handelt. Erscheint durch solche Individuen die offen - >
liehe Sicherheit gefährdet, so werden dieselben in einer Heil- un
Pflegeanstalt, eventuell wenn Bewußtlosigkeit durch selbs
verschuldete Trunkenheit vorliegt — in einer Trinkerheilanstalt
verwahrt und die Landespolizeibehörde hat auf Grund Her richter-
Nr. 17
613
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
lichen Entscheidung für die Unterbringung zu sorgen. Verfasser
beschäftigt sich nun mit der Frage, ob die angeführte Gesetzes¬
bestimmung eine Sicherung der Gesellschaft gegen Straftaten
unzurechnungsfähiger oder vermindert (zurechnungsfähiger Indi¬
viduen gewährleistet und bespricht die Forderungen, die eine sach¬
gemäße Durchführung obiger Bestimmung zur Voraussetzung hat.
— (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten , Bd. 48, U. 1.)
S.
*
439. Warum ist es berechtigt, der granulären
Form des1 Tuberkulosevirus Sporencharakter zuzu¬
schreiben? Von Dr. W. Knoll, Frauenfeld. Der alte, starre
Sporenbegriff ist dahin zu modifizieren, daß man darunter alle
diejenigen kugeligen und ovoiden Wuchsformen von Bakterien
versteht, die imstande sind, die Art unter ungünstigen natür¬
lichen Bedingungen auch dann noch zu erhalten, wenn die vege¬
tative Form dazu versagt, um beim Eintritt günstigerer Existenz¬
möglichkeiten zu der vegetativen Form der Art auszukeimen.
In dieser Definition ist sowieso, die größere Widerstandsfähigkeit
der Sporen gegenüber demjenigen Milieu enthalten, dem sich der
betreffende Mikroorganismus angepaßt hat. Von dem Postulat einer
Sporenmembran wäre grundsätzlich abzusehen, da sie nicht als
unbedingtes und wesentliches Merkmal gelten kann. Betrachtet
man von diesem Standpunkte eine Reihe von Tatsachen, die von
Knoll zusammengestellt und wissenschaftlich beleuchtet wurden,
so kann man die Körner der Tuberkelbazillen nur als Sporen
anseben, nicht mehr als bloß im höchsten Grade sporenähnliche
Gebilde (Lichtenhalm). — (Korrespondenzblatt für Schweizer
Aerzte 1911, 41. Jahrg., Nr. 2.) K. S.
*
Aus englischen Zeitschriften.
440. Ueber die kurative Wirkung der Röntgen¬
strahlen bei Malaria. Von Bruce Skinner und II. W.
Carson. Der Einfluß der Röntgenstrahlen auftdie pathologischen
Veränderungen bei verschiedenen Erkrankungen, z. B. Leukämie
und Lupus, führte zu der Annahme, daß auch die Bestrahlung
der Milz bei Malaria, insbesondere zur 'Bekämpfung der durch die
Milzvergrößerung hervorgerufenen Schmerzen von Nutzen sein
könnte. Auch die Möglichkeit, daß die Röntgenstrahlen auf die
Parasiten direkt oder indirekt auf dem Wege der Blutveränderung
zerstörend wirken könnten, war zu erwägen. Es ist denkbar, daß
die Röntgenstrahlen stimulierend auf die Leukozyten wirken
u. zw. im Sinne der Zerstörung der Parasiten oder, daß das
Blutserum eine Veränderung erleidet, wodurch die Wirkung der
Parasiten aufgehoben wird. Die (schmerzstillende Wirkung 'auf die
Milzregion applizierter Wärme ließ eine ähnliche Wirkung auch
von der Bestrahlung der Milzgegend erwarten. Die Behandlung
wurde bei fünf Fällen unkomplizierter Malaria, zwei Fällen von
durch Darmblutungen charakterisiertem Peshawar-Fieber, einem
Falle von Malaria mit Hirnsymptomen und drei Fällen von mit
Milzschwellung einhergehendem Fieber durchgeführt, wobei die
Dauer der Bestrahlung meist fünf, bei Wiederholung der Be¬
strahlung drei Minuten betrug. Es zeigte sich, daß durch die
Röntgenstrahlen die Milzschmerzen gemildert werden und der
frische Milztumor verkleinert wird, daß ferner die Temperatur
meist endgültig abfällt; die bei der. Chininbehandlung die Heilung
begleitende Anämie wurde nach der Röntgenbehandlung nicht
beobachtet. In den bestrahlten Fällen war eine Chininbehandlung
nicht erforderlich, während gegen Chinin refraktäre Malariafälle
durch die Bestrahlung geheilt wurden. In (Fällen von chronischem
Milztumor bei Malaria waren die Erfolge der Röntgenbestrahlung
weniger deutlich ausgesprochen. — (Brit. med. Journ., 25. Fe¬
bruar 1911.) ' a. e.
♦
441. Ueber die Behandlung des Karzinoms mit
Radium. Von Charles J. Morton. Die Behandlung geschah in
der Weise, daß reines Radiumsulfat auf eine mit Firnis versehene
Metall- oder Leinenschichte gebracht und Schirme verschiedener
Dichte zwischen Radiumschicht und dem behandelten Teil ein¬
geschaltet wurden. Es wurden zwei Applikatoren von 4-5, be¬
ziehungsweise 9 cm3 verwendet, welche pro Quadratzen timeter
2-5 mg reines Radium enthielten. Die Mehrzahl der behandelten
Fälle betraf weit vorgeschrittene Karzinome, nur in zwei Fällen lag
eine operable Neubildung vor; diese zwei Fälle waren Karzinome
des Mundhöhlenbodens, wovon das eine von .langsamerem Wachs¬
tum durch die Radiumbehandlung günstig beeinflußt wurde, wäh¬
rend das andere, rascher wachsende Karzinom 'unbeeinflußt blieb,
so daß zur Operation geschritten wurde. Im allgemeinen sind
die Chancen der Radiumbehandlung um so günstiger, je lang¬
samer das Karzinom wächst, doch wurde auch bei einem rasch
wachsenden Mammakarzinom ein gutes Resultat erzielt. In lang¬
samer verlaufenden Fällen kann das Radium auch bei ausge¬
breiteter Metastasenbildung noch Besserung bewirken. In einem
Falle von relativ gutartigem Mammatumor, der noch vier Jahre
nach der Operation nicht rezidivierte, und wo ein sehr bösartiges
Rezidiv in den Supraklavikulardrüsen auftrat, blieb die Radium¬
behandlung nicht nur erfolglos, sondern bewirkte anscheinend
Verschlimmerung. In einer Anzahl von Fällen in vorgerückterem
Stadium, zum Teil mit Geschwürsbildung und Drüsenmetastasen,
darunter Fälle von inoperablem Uterus- und Mastdarmkarzinom,
wurde zeitweilig Besserung erzielt. In der 'Regel hören Jauchung
und Blutung auf, die Schmerzen las'sen fnach und es wird manch¬
mal Verkleinerung des Tumors beobachtet. Bei in oder unterhalb
der Haut gelegenen Tumoren wurde der Applikator 1-5 cm oder
noch weiter von der Haut entfernt gehalten, so daß ein größeres
Feld bestrahlt wurde, wobei infolge der (Entfernung und zwischen¬
gelagerter Watteschichten die Haut nicht durch die weicheren
Strahlen geschädigt werden konnte. Bei tief gelegenen Tumoren
muß das Radium unter Zwischenschaltung eines 2 bis 3 mm
dicken Bleischirmes auf die Haut appliziert werden ; noch bessere
Resultate werden durch die Versenkung des Radiums in den
Tumor erzielt. Radiumemanation und interne Darreichung von
Radiumbromid blieb wirkungslos. Die mit Radium behandelten
Fälle wurden an der Peripherie mit Röntgenstrahlen bestrahlt.
Die Wirkung des Radiums tritt in den Fällen, wo es überhaupt
wirkt, relativ rasch, d. i. nach einigen Wochen, zutage. Die Ra¬
diumbehandlung soll nicht als Ersatz, sondern als Unterstützung
der anderen Behandlungsmethoden angewendet werden. — (Brit,
med. Journ., 25. Februar 1911.) / a. e.
*
Aus italienischen Zeitschriften.
442. (Aus der III. medizinischen Klinik der Universität in
Neapel. — Direktor: Prof. Rummo.) Die Farbe und das
Spektrum des normalen Blutserums. Von Domenico
de Sandro. Aus seinen Untersuchungen folgert der Autor, daß
das Blutserum eine ungefärbte Flüssigkeit zu sein scheine, welcher
keinerlei Spektrum zukommt. Die Farbe und das gewöhnliche
Spektrum des Blutserums ist auf Spuren von Hämoglobin zurück¬
zuführen, welche von den bei seiner Gewinnung aufgelösten
roten Blutkörperchen herrührt. Die Methode der Serumgewinnung
von Daremberg — stärkstes Zentrifugieren bei niederer Tem¬
peratur — ergibt, daß das Serum eine fast wasserkläre Flüssig¬
keit darstellt. Der von Gilbert aufgestellte Unterschied zwischen
Hypo- und Hyperserochromie besteht in absolutem Sinne nicht
zu Recht. Dagegen kann diese Unterscheidung Gilberts für
die Resistenz der roten . Blutzellen verwertet werden und ist
von klinischem Werte. — (La Riforma Medica, 13. März 1911.)
sz.
*
443. Der Aetherrausch nach Sudeck, mit beson¬
derer Berücksichtigung von Operationen längerer
Dauer. Von Giuseppe Gheza. Der Autor kommt zu folgenden
Schlußfolgerungen: Der Aetherrausch ist die unschädlichste Form
aller Allgemeinanästhesien. Der Aetherrausch nach Sudeck
kann auf eine Stunde und darüber verlängert werden und ergibt
•genügende Anästhesie, um jede beliebige Operation auszuführen.
Der Rausch beginnt nach den ersten Inhalationen des Aethers.
Derselbe läßt Operateur und Narkotiseur vollständig beruhigt
betreffs des Lebens des Patienten während und nach der Ope¬
ration, was namentlich in kleineren Spitälern die Beschaffung
von Narkotiseuren erleichtert, da die Aerzte vielfach die Ge¬
fahren der Chloroformnarkose fürchten. Aspirationspneumonien,
welche infolge der pharyngooralen Hypersekretion leicht ent¬
stehen, treten höchst selten beim Aetherrausch auf, sei es wegen
der geringeren Menge des angeAvendeten Anästhetikums oder weil
614
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
der Patient zu jeder Zeit den im Munde angesammelten Schleim
schlucken kann. Der Patient erwacht sehr rasch aus deni A ether¬
rau sch und kann bereits nach sechs bis acht Stunden in der
gewöhnlichen Weise Nahrung zu sich nehmen. Die einzige Un¬
annehmlichkeit des Aetherrausches besteht darin, daß manche
kräftige Männer — besonders Trinker — trotz der Bewußtlosig¬
keit während der Operation unruhig sein können, auch dann,
wenn früher 1 bis 2 cg Morphin injiziert worden sind. In solchen
Fällen kann man etwas Chloroform verabreichen, mit dem man
rasch die gewünschte Beruhigung erzielt. Die richtige Anwendung
des Aetherrausches ist geeignet, in der großen Mehrzahl der
Fälle die Gefahren der Chloroformnarkose zu beseitigen. — (La
Riforma Medica, 13. März 1911.) sz.
♦
444. Ueber die Persistent der Choleravibrionen
in den Dejekten der Rekonvaleszenten nach Cho¬
lera. Von Alfonso Montefusco. Bloß bei 18 von 107 Re¬
konvaleszenten nach Cholera wurde nach einem negativen Er¬
gebnisse der Stuhluntersuchung auf Cholerabazillen bei einer
späteren Untersuchung ein positives Ergebnis festgestellt. Einige
Male wurde selbst nach zweimaligem negativem Befunde bei
einer dritten Untersuchung ein positiver konstatiert. Bei allen
Rekonvaleszenten wurde noch ein viertes Mal untersucht, nach¬
dem früher keine Vibrionen gefunden worden waren. Ein drei¬
maliges negatives Ergebnis erwies sich immer als verläßlich,
da niemals in solchen Fällen bei einer vierten Untersuchung ein
positiver Befund erhoben wurde. — (La Riforma Medica, 6. März
1911.) sz.
Vermisehte Naehriehten.
Verliehen: Primararzt Dr. Karl Tenner in Beneschau
das Ritterkreuz des Franz - Joseph - Ordens. Dr. Alois Neu¬
mann in Wien das Ehrenkreuz IV. Klasse des Schaum burg-
Lippeschen Hausordens.
*
Habilitiert: Dr. Giulio Bonvicini für Neurologie und
Psychiatrie in Wien. - Dr. Anton Garkisch für Geburtshilfe
und Frauenheilkunde und Dr. Jose Vcrocay für pathologische
Anatomie an der deutschen Universität in Prag. — Dr. Ascoli
für innere Medizin in Pavia.
*
Gestorben: Geh. Hofrat Dr. Oskar Königshofer, Pro¬
fessor der Augenkrankheiten an der Tierärztlichen Hochschule
in Stuttgart, bekannt als Vorkämpfer für wirtschaftliche Standes¬
interessen der Aerzte des Deutschen Reiches. — Prof. G. Berru ti
in Turin.
*
Im Mai d. .1. wird das definitive Programm des VH. Inter¬
nationalen Kongresses für Dermatologie und Syphi-
lographie (Rom, September 1911) erscheinen. xAlle Kongre߬
mitglieder, welche Vorträge ankündigen, werden gebeten, späte¬
stens bis zum 15. Mal ein kurzes, tunlichst mit der Schreib¬
maschine geschriebenes Referat, entweder an den Generalsekretär
Dr. Gaetano Ciarrocchi (Rom, 5. Piazza Grazioli) oder .an
den Sekretär für Oesterreich Prof. Eduard Schiff (Wien I.,
Maximilianstraße 5) zu senden. Auf Grund der Kongreßkarte
werden Preisermäßigungen auf den italienischen Bahnen gewährt
werden. Um den Kongreßmitgliedern entsprechende Wohnungs¬
gelegenheit und sonstige Vorteile zu bieten, hat sich das römische
Komitee mit dem Reisebureau Cook (Esedradi Termini, Rom) und
mit Chiari -Sommariva“ (Piazza Venezia in Rom) in Ver¬
bindung gesetzt, an welche in Betreff der Wohnungen Anfragen
und Wünsche zu richten sind.
*
Für die VIII. Tuberkulose- Aerzte- Vervain mlung
(Dresden, 12. und 13. Juni) ist folgende Tagesordnung
festgesetzt worden : Bericht über die Organisation der Tuberkulose¬
bekämpfung in Sachsen, lieber Kläranlagen für Anstalten und
Einzelgebäude. Hydriatische Behandlung in den Lungenheilstätten.
Erfahrungen über das Koch sehe a lbu mosefreie Tuberkulin. Tu¬
berkulinreaktion und Anaphylaxie. — Mit der Versammlung ist
eine gemeinsame Besichtigung der Hygieneausstellung und im An¬
schluß an die Versammlung ein Besuch der sächsischen Tuber¬
kuloseeinrichtungen vorgesehen. Näheres ist in der Geschäfts¬
stelle des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuber¬
kulose, Berlin W., Königin Augusta, straße 11, zu erfragen.
*
Pest. Aegypten. In der Zeit vom' 24. bis 30. März
1911 ereigneten sich in Aegypten 152 (87) Pestfälle (Todesfälle)
und zwar in den Provinzen Assiout 14 (9), Assouan 82 (45),
Fayoum 1 (l), Keneh 44 (29), Menoufieh 6 (l), Minieb 5 (2).
Die Gesamtzahl der seit Beginn des Jahres bis 25. März sicher-
gestellten Pesterkrankungen beträgt 697 gegenüber 140 in der
entsprechenden Zeitperiode des Vorjahres. — Nieder ländisch-
Indien. Der Hauptherd der in Ost- Java ausgebrochenen Bu¬
bonenpest ist in Batoe (Distrikt Malang) in der Provinz Pasoeroean.
Im Distrikt Koranglo hat die Seuche sowohl unter den Menschen,
als auch bei den Ratten beträchtlich abgenommen. — Singa¬
pore. In Singapore sind mit Anfang März sporadische Erkran¬
kungen an Pest (darunter 1 Todesfall) vorgekommen. Es steht zu
befürchten, daß es hier — wie schon in früheren Jahren --
zum epidemischen Auftreten der Pest kommen wird.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 14. Jahreswoche (vom 2. bis
8. April 1911). Lebend geboren, ehelich 583, unehelich 211, zusammen
744. Tot geboren, ehelich 41, unehelich 23, zusammen 64. Gesamtzahl der
Todesfälle 653 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
16'7 Todesfälle) an Bauchtyphus 1, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 4,
Scharlach 5, Keuchhusten 5, Diphtherie und Krupp 3, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 3, Lungentuberkulose 104, bösartige Neu¬
bildungen 35, Wochenbettfieber 3, Genickstarre 0. An gezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 47 (— 10), Wochenbettfieber 5 (— 2), Blattern 0
(0), Varizellen 100 (— 5), Masern 199 (— 9), Scharlach 93 (-f- 12)
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 2 (=), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0)
Diphtherie und Krupp 66 (-)- 2), Keuchhusten 43 (-(- 3), Trachom 1 (— 3)
Influenza 1 (-f- 1), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Behufs Durchführung der M a 1 a r i a t i lg u n g s a k t i o n
im Küstenlande im Jahre 1911 sind — vorbehalllich der ministe¬
riellen Genehmigung des beantragten Aktionsprogrammes — nachfolgende
Endemiearztesstellen zu besetzen: 1. In der Gemeinde Terz o,
im politischen Bezirke Monfalcone mit den Fraktionen Terzo, St. Martino
und Murucis, mit dem Sitze in Terzo. 2. In den nördlichen Untergemein-
den der Gemeinde Cherso, im politischen Bezirke Lussin, mit dem Sitze
in C a i s o 1 e. 3. Um gebung von P o 1 a, I. Zone, begrenzt durch
Promontore, Bagnole, Porto, Veruda, Villa Ranfild, Valdibecco, Stanzia
Petris, Stanzia Peric, Giadreschi, Montirone und Pomer, mit dem Sitze
in Promontore. 4. Umgebung von Pola und Dignano, III. Zone,
begrenzt durch Porto di Badö und die Ortschaften Cavrano, Momorano,
Carnizza und Castelnuovo (einschließlich Prostimo Peruschi usw.) mit dem
Sitze in Carnizza. 5. Valle, im politischen Bezirke Pola, meerseits be¬
grenzt dnreh St. Damiano, bis V. Marichio, gegen Osten von der Reichs¬
straße Dignano- Valle bis Stanzia Bagozzi und nördlich bis zur Ortschaft
Valle in einer Linie die von Valle zur Capelia Madonna piccola, weiters
zur Kapelle Madonna alta und von dieser gerade zum Meere reicht, mit
dem Sitze in Valle. Mit diesen Stellen ist ein Honorar von monatlich ad 1
400 K, ad 2 600 K, ad 3 600 K, ad 4 500 K, ad 5 500 K verbunden,
welche Beträge im Wege der k. k. Postsparkassa in monatlichen Posti-
zipativraten flüssig gemacht werden. Die Aufnahmsbedingungen sind:
Der Nachweis der österreichischen Staatsbürgerschaft, der Besitz des an
einer österreichischen Universität erworbenen Aerztediploms, sowie Zeug¬
nisse über die allfällige bisherige Dienstesverwendung, ferner die Kennt¬
nis ad 1 der italienischen, ad 2 der kroatischen Sprache, ad 3 der ita¬
lienischen und womöglich der kroatischen, ad 4 der italienischen und
kroatischen und ad 5 der italienischen Sprache, schließlich die Beibringung
eines staatsärztlichen Zeugnisses über eine gesunde und kräftige Körper¬
beschaffenheit. Der Dienst, welcher am 15. Mai 1. J. angetreten werden
müßte, dauert bis 31. Oktober I. J. Bewerber haben ihre gehörig belegten
Gesuche bis zum 30. April 1. J. bei der k. k. Statthalterei in Triest
einzubringen und erhalten vom Staatsdepartement nähere Informationen.
Im Stande der Sanitätsbeamten der politischen Verwaltung Kärn¬
tens kommt ein Sanitätskonzipistenstelle mit den system-
mäßigen Bezügen der X. Rangsklasse zur Besetzung. Bewerber um diesen
Dienstposten haben ihre diesfälligen Gesuche mit den Nachweisen über
die nach dem Gesetze vom 2L. Mai 1873, R.-G.-Bl. Nr. 87, erforderliche
Befähigung und ihre bisherige Verwendung, wenn sie bereits im öffent¬
lichen Staatsdienste stehen, im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde, sonst
aber unmittelbar beim Präsidium der k. k. Landesregierung in Klagenfurt
bis 1. Mai 1. J. einzubringen. Noch nicht im Staatsdienste stehende Be¬
werber haben ihren Ansuchen überdies auch den Tauf- oder Geburts¬
schein, den Heimatschein sowie ein amtsärztliches Zeugnis über ihre
physische Eignung beizuschließen.
Gemeindearztesstelle in der Sanitätsgemeindegruppe
Feuers b r u n n, politischer Bezirk Tulln, Niederösterreich. Die Sanitäts¬
gemeinde umfaßt die Gemeinden Feuersbrunn und Wagram, mit zusammen
1097 Einwohnern und 12'. 3 km2 Flächenräum. Gemeindebeiträge 500 K.
bisherige Subvention des n.-ö. Landesausschusses 800 K, sonstige fixe Be¬
züge ungefähr 400 K. Haltung einer Hausapotheke erforderlich Der in
den n.-ö. Landesauschuß zu richtende, mit- den Nachweisen des Alters,
der österreichischen Staatsbürgerschaft, der Praxisberechtigung in Oester¬
reich, der physischen Eignung und sittlichen Unbescholtenheit, sowie über
die bisherige Verwendung belegte Gesuch ist bis längstens 5. Mai 1911
an das Bürgermeisteramt in Feuersbrunn einzusenden, wo auch nähere
Auskünfte über diese Stelle erleilt werden.
I
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
615
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INH
40. Versammlung' der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu
Berlin.
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie zu Berlin
vom 19. bis 22. April 1911 (im Langenbeckhausej .
Referent : Dr. M. Katzen stein - Berlin .
Nach einer stimmungsvollen Feier durch Gesang und einer
Rede des Vorsitzenden zum Andenken an, den 100. Geburtstag
von Langen beck, in der auf dessen Bedeutung für die deutsche
Chirurgie hingewiesen wurde, trat man in die Tagesordnung ein.
I. Hauptthema:
K ü 1 1 n er - Breslau : Die Desinfektion der Hände und
des Operationsfeldes.
Küttner legt seinen Ausführungen die Antworten zugrunde,
die er bei 210 Umfragen erhalten hat. Danach sind folgende Aen-
d erringen der Anschauung zu konstatieren. Die Ursache der Un¬
möglichkeit einer wirklichen Hautdesinfektion ist nicht die Folge
des Eindringens von Bakterien in die Haarbälge. Vielmehr werden
die Bakterien mechanisch bald ausgespült. Wir müssen als Ur¬
sache der mangelhaften Desinfizierbarkeit der1 Flaut die Tatsache
annehmen, daß die üblichen Antiseptika in, der Zeit, die man
gewöhnlich zur Desinfektion verwendet, die Bakterien abzutötem,
nicht imstande sind. Um hier weiterzukommen, bedarf es also :
1. Einer wirkungsvolleren chemischen Desinfektion. Die neu¬
eren Quecksilberpräparate, wie Quecksilberjodid, Quecksilberoxy
zyanüre und Sublamin sind in keiner Weise dem Sublimat vorzu¬
ziehen. f ortschritte aui diesem Gebiete scheinen die ganz neuer¬
dings aus Halogenen der Phenolpräparate hergestellten Stoffe zu
ergeben, die eine raschere Abtötung der Bakterien bewirken.
2. Die mechanische Desinfektion bezweckt eine Arretierung
der in der Haut befindlichen Bakterien durch Schrumpfung der
Haut, um So die Bakterien unwirksam zu machen. Die besten Resul¬
tate ergibt die Alkoholdesinfektion, wie sie in der B r u n s sehen
Klinik gehandhabt wird, oder die Heißwasserdesinfektion nach
A hl feld. Eine wesentliche Besserung scheint die von Herr
in neuerer Zeit empfohlene Anwendung des Tietrachlorseifenspii itus
zu sein.
Vortr. bespricht alsdann die Möglichkeit der Abdeckung
des Operationsfeldes sowie die Vorteile der Verwendung von
Gummihandschuhen, deren Verletzlichkeit allerdings eine große
Infektionsgefahr darstellt, insofern, als sich unter ihnen mehr
Keime ansammeln. Küttner hält die Anwendung der Jodtinktur
als Desinfektionsmittel der Haut des zu Operierenden als wich¬
tigsten Fortschritt auf diesem Gebiete und von den 210 angefragten
Chirurgen sind 187 Anhänger dieser Methode. Zur Ver¬
meidung der Ekzeme empfiehlt Küttner statt der 10°/oigen Jod¬
tinktur eine 5%ige zu benützen. Außerdem nur irische Jod¬
lösungen, da sich in alten Lösungen, die das Ek'z'ern hervorrufende
Jodwasserstoffsäure bildet. Gleichfalls ist die Entfernung des Jods
von der Haut nach der Operation, sowie die Vermeidung anderer
Desinfizientien neben dem Jod aus dem gleichen Grunde er¬
forderlich.
N o e t z e 1 - Saarbrücken : U eb er Wundbehandlung.
In der Keimabhaltung bei aseptischen Operationen ist ein
befriedigender Zustand der' Sicherheit und auch eine völlige Einig¬
keit hinsichtlich der Prinzipien der Technik erreicht, so daß
als ein strittiger Punkt dieses Kapitels fast nur noch die Katgut-
frage, bzw. die „Fadenfrage“ bezeichnet wenden kann. Anders
steht es mit der Bekämpfung der Infektion in bereits infizierten
Wunden, in welcher wir von gleichmäßig befriedigenden Resultaten
noch weit entfernt sind. Ein Beweis für die allgemeine Anerken¬
nung dieser Tatsache ist die große Zahl der in Gebrauch befind¬
lichen Antiseptika, auf deren Anwendung hei infizierten Wun¬
den nur eine sehr kleine Anzahl von Chirurgen völlig verzichtet.
Eine nüchterne Prüfung und ein Vergleich der mit Aseptik und
Antiseptik oder besser nach Lexer ausgedrückt, mit physi¬
kalischer und mit chemischer Antiseptik erzielten Resultate er¬
gibt aber, daß die gebräuchlichsten chemischen Antiseptika einen
Einfluß auf die Heilung nicht ausüben, und daß sie den Verlauf
der Wundinfektion tatsächlich nur durch die physikalisch-mechani¬
schen Maßnahmen der offenen Wundbehandlung beherrschen
können, bekanntlich eine Errungenschaft der vorantiseptischen
ALT:
I II. russischer InteriiisteiikongTeß.
Wiener laryugologiselie Gesellschaft. Sitzung vom 8. Februar 1911.
Zeit, deren Technik durch die physikalische Antiseptik allerdings
vervollkommnet ist. Ein sicher wirksames Antiseptikum ist aber
zweifellos ein dringendes Bedürfnis für viele Aerzte bei infi¬
zierten Wunden, an denen unser jetziges Können versagt, und wei¬
tere Bemühungen, solche Mittel zu finden, sind durchaus notwendig.
Diskussion: Kocher - Bern hat hei seinen Untersuchun¬
gen den desinfizierenden Wert der Jodtinktur nicht bestätigen
können.
E. Israel -Berlin verwendet zur Anlegung von Gipsver-
bänden wildlederne Handschuhe.
Blu mb erg -Berlin empfiehlt Gummihandschuhe mit etwas
rauher Oberfläche und außerdem Netze aus vernickeltem Draht¬
ringen, in die die Handschuhe gelegt werden, um sie auszu¬
kochen.
v. Oettin g en- Berlin empfiehlt Mastisol zur Herbeiführung
einer mechanischen Asepsis und bevorzugt dieses Präparat vor der
Jodtinktur.
!Pe.u sn er - Barmen empfiehlt zur Drainierung neue Drains,
aus Aluminiumspiralen bestehend.
Lau enstein -Hamburg hält die Joddesinfektion der Haut
nicht immer für ausreichend.
Hei necke- Leipzig teilt mit, daß nach seinen Erfahrun¬
gen das Eindringen der Jodtinktur in die Wunde nichts schadet,
daß man aber die Berührung der Därme mit Jodtinktur wegen der
großen Gefahr der Adhäsionen unter allen Umständen vermeiden
müsse.
Thö le -Hannover hat Experimente darüber angestellt, ob die
in der Jodtinktur enthaltene Jodwasserstoffsäure wirklich die Ur¬
sache der entstehenden Ekzeme ist, und kann diese in der Lite¬
ratur oft ausgesprochene Behauptung nicht bestätigen. Länger
dauernde Umschläge mit Jodwasserstoff machen auf der Haut
kein Ekzem. Das Entstehen eines solchen muß vielmehr auf
eine Idiosynkrasie zurückgeführt werden.
Weiterhin hat Herr Thöle Untersuchungen anges teilt dar¬
über, wie lange die Alkoholdesinfektion die Bakterien in der
Haut zurückzuhalten vermag und er hat gefunden, daß die Ver¬
wendung von Gummihandschuhen diese Zeit wesentlich verkürzt.
Er empfiehlt daher das Operieren ohne Hand mit Instrumenten
im König sehen Sinne.
D r e y er- Breslau hat an Kaninchenkniegelenken Versuche
angestellt über die Wirksamkeit der Jodtinktur bei Infektion mit
Staphylokokkken.
Die Gelenkeiterung, die in den Kontrollversuchen prompt
eintrat, blieb aus, wenn außer den Staphylokokken Jodtinktur
in das Gelenk gebracht wurde.
Jung en ge 1 hat einen Apparat konstruiert, mit dem es
möglich ist, Joddämpfe in statu naseendi auf die Wunden zu
bringen.
Kön i g - Greifswald wendet in neuerer Zeit an Stelle der sehr
oft die Uebersicht störenden braunen Jodtinktur farblosen Thymol
Spiritus an, der nach bakteriologischen Untersuchungen außer¬
ordentlich wirksam ist.
Steinmann- Bern weist, auf eine wenig bekannte grund¬
legende Arbeit Walthers über die bakterizide Wirkung der Jod¬
tinktur hin.
Hof f mann -Karlsruhe wendet Jodtinktur bei eitrigen Pro¬
zessen in der Bauchhöhle ausgiebig an, ohne je Schaden davon
gesehen zu haben.
R. e h n - Frankfurt a. M. warnt vor dieser Anwendung, da
danach zahlreiche Adhäsionen und Ileus auftreten.
II. Hauptthema.
Th. Koch er -Bern: Morbus Basedowi.
In allen Fällen dieser Erkrankung zeigen sich Verände¬
rungen der Schilddrüse mit Uebersekretion dieses Organes und
Vermehrung des Jodgehaltes des abgesonderten Sekretes. Man
konnte die Erkrankung beim Tier experimentell erzeugen durch
Injektion von Schilddrüsenpreßsaft, Schilddrüsensubstanz oder
Jodo-Thyreoidin. Dieses Experiment wurde unabsichtlich beim
Menschen durch Verabreichung von Jod ausgeführt.
Außer der Schilddrüsenvergrößerung ist charakteristisch für
den Morbus Basedowi die Veränderung des Blutbildes. Ein typi¬
sches Based owzeichen ist die Leukopenie und Mononukleose und
616
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
die Adrenalinämie. Letztere Veränderung weist auf die Einwir¬
kung der Drüsen mit innerer Sekretion aufeinander hin. Auf Grund
dieser Blutbefunde kann man die Diagnose auf Hyperthyreosis
stellen. Dazu kommt noch eine Beschleunigung des Stoffwechsels.
Die von der Norm abweichenden Bilder des Basedow lassen
sich einfacher erklären dadurch, daß das Schilddrüsensekret in
manchen Fällen mehr auf den Sympathikus und in manchen
mein- auf den Vagus einwirkt. Bei der sympathikotropen Form
des Basedow sehen wir Exophthalmus, Tachykardie, Ggykosurie.
Bei der vagotropen Form keine Beschleunigung des Pulses, kein
Exophthalmus, keine Glykosurie, wohl aber Verdauungsstörungen
und die typischen Blutveränderungen.
Für die Entstehung des Morbus Basedowi kommen ätiologisch
in Betracht : 1. heftige Gemütserschütterungen, 2. Jodzufuhr bei
Schilddrüsenerkrankungen (Jod-Basedow), 3. Infektionskrank¬
heiten, 4. Hypersekretion der Geschlechtsdrüsen. (Entstellung des
Basedow zur Zeit der Menstruation und nach Geburten.)
Da der Morbus Basedowi eine Hyperthyreosis ist, muß die .
Behandlung eine chirurgische sein und zwar entspricht die Bes¬
serung nach der Operation der Größe und Menge exzidierten
Drüsengewebes. Mißerfolge treten nur1 dann ein, wenn zu wenig
Schilddrüse entfernt wurde.
Kocher hat an 535 Fällen von Basedow 721 Operationen
ausgeführt und hiebei 17 Fälle verloren ; das entspricht einer
Mortalität von 3-1 %. Drei Fälle starben an der Narkose, drei an
Nephritis, drei infolge eines Status thymicus (in fünf Fällen ohne
Operation wurde ebenfalls ein solcher Thymustod beobachtet. Be¬
stätigung der Auffassung Garres). Zwei Fälle gingen an Em¬
bolie zugrunde und sechs an Pneumonie. Das typische Blutbild
wurde nach der Operation verändert.
Die Behandlung des Morbus Basedowi soll eine
chirurgische sein, die im Frühstadium der Krank¬
heit ausgeführte Operation ist als gefahrlos und
erfolgreich zu bezeichnen.
A. Kocher -Bern: Neue Untersuchungen der Schild¬
drüse und Hyperthyr eoidismus.
Vortr. hat bestimmte Beziehungen des histologischen Bildes
zu den klinischen Krankheitserscheinungen gefunden. Bei akut
auf tretenden Fällen findet man wenig Kolloid in den Präparaten,
beim typischen Basedow mit Exophthalmus Zyiinderzellen-
wucherung.
Klinisch atypische Fälle lassen bei der mikroskopischen
Untersuchung der Präparate unregelmäßig polymorphe Zellen mit
einer Desquamation lymphoiden Gewebes erkennen ; Kolloid findet
sich dann wenig. In diesen Fällen sind die Symptome außer¬
ordentlich schwer und die Prognose ungünstig.
In den Präparaten ist der Jodgehalt sehr wechselnd, eine
Gesetzmäßigkeit läßt sich nicht nachweisen. Das Thyreoglobulin
ist in sämtlichen Fällen relativ herabgesetzt. Das phosphorhaltige
Nukleoprotein ebenfalls sehr wechselnd. Auch hier läßt sich eine
Gesetzmäßigkeit nicht nachweisen.
Heinrich Klose-Frankfurt a. M. : Experimentelle
Untersuchungen über die Basedowsche Krankheit.
K 1 o se hat im Institut für experimentelle Chirurgie in
Frankfurt a. M. Untersuchungen angestellt über die Kardinal frage,
ob der Morbus Basedowi durch einen Hyper- oder einen Dys-
thyreoidismus entsteht. Bei Hunden gelingt es durch Injektion
von frischem Basedowpreßsaft eine typische Basedowsche
Krankheit zu erzeugen. Die Hunde bekommen selbst auf
Injektionen kleiner Mengen Fieber, einen unregelmäßigen
Puls, jaktierende Atmung, Zittern, Schwitzen, Eiweiß- und Zucker¬
ausscheidung. In seltensten Fällen tritt Exophthalmus ein. Das
Blutbild geht nach kurzdauernder geringer Polynukleose in das
typische Bild einer Basedowlymphozytose über. Der Blutdruck
sinkt von 100 mm Queckselber auf 80 mm Quecksilber. Nach
spätestens acht Tagen ist die schwere Basedowreaktion ahee-
klungen. Die Reaktion ist so eklatant, daß sie ein differential-
diagnostisches Merkmal für Fälle ist, in dem klinisch nicht ent¬
schieden werden kann, ob ein Morbus Basedowi oder eine ge¬
wöhnliche Struma vorliegt.
Injiziert man Hunden selbst exzessiv große Mengen von
gewöhnlichem Stramapreßsaft, so treten außer einer atypischen
Blutreaktion auf das körperfremde Eiweiß keinerlei klinische
Folgen ein.
Klose kommt zu folgenden Schlüssen :
1. Morbus Basedowi und der hypothetische Hyperthyreoi-
dismus sind etwas qualitativ Unterschiedliches.
2. Basedow und Jodvergiftung sind wahrscheinlich dasselbe.
Nach Kloses Arbeitshypothese hat beim Morbus Basedowi ein
Teil der Schilddrüse die Fähigkeit verloren, das Jod in organi¬
scher Form aufzuspeichern. Es wird vielmehr direkt als anor¬
ganisches Jod oder wahrscheinlicher in einer Form deponiert,
die es leicht als anorganisches dem Körper abgibt. Der Körper
muß so dauernd unter Wirkung von anorganischem Jod stehen:
Es handelt sich beim Basedow also um mangelnde Jodentgiftuug.
Kloses Theorie steht in Einklang mit den Erfahrungen am
Krankenbett. Denn nach neueren physiologischen Untersuchungen
kreist das per os eingeführte Jodothyrin — wodurch man be¬
kanntlich einen künstlichen Basedow erzeugen kann — nicht
als solches, sondern größtenteils als anorganisches Jod.
Klose kommt zu folgenden Schlußthesen: Die Basedow¬
sche Krankheit ist keine Hyper-, sondern eiire Dysthyreosis. Diese
Dysthyreosis entsteht dadurch, daß die Schilddrüse nicht die
Fähigkeit besitzt, das Jod in der normalen Form als Jodothyrin auf¬
zuspeichern, sondern es in einer Form deponiert, die vorerst beider
Unkenntnis der genaueren Zusammensetzung als „Basedowjod*'
bezeichnet werden mag, welches leicht anorganisches Jod aus
sich frei werden läßt. Dieses übt die gleiche Wirkung aus wie
das intravenös gegebene anorganische Jod.
G a, r r e - Bonn : Ueb-er Thyinektomie bei Basedow.
G arre hält den Morbus Basedowi für Dysthyreosis, Er fand
bei der Zusammenstellung einer größeren Statistik in 95% der nach
der Operation erfolgten Todesfälle eine Thymuspersistenz und
er ist der Meinung, daß die Thymus bei diesem Endausgange ur¬
sächlich beteiligt sein muß.
Er selbst hat 65 Fälle von Basedow operiert, hiebei zwei
Todesfälle erlebt, beide infolge einer hyperplastischen Thymus.
In zwei Fällen wurde mit Erfolg die Thymektomie gemacht,
davon einmal in Gemeinschaft mit Strumektomie, einmal als
alleinige Operation. . (
Hiebei wurde zwar der Exophthalmus und die Struma nicht
beeinflußt. Indessen besserte sich der Allgemeinzustand, es hat
Gewichtszunahme ein und das schwer veränderte Blutbild kehrte
zur Norm zurück. Nach der Meinung Garres erhöht mithiß
die Thymuspersistenz die Basedowsymptome und verschlecntert
die Prognose. Denn es bestehen zwischen. Basedow und Thymus¬
persistenz gewisse Wechselbeziehungen, wie auch die experimen¬
tellen Untersuchungen Geb eis dargetan haben.
Diskussion: L. Bircher- Aarau bestätigt diese Auf
fassung Garres, denn er hat im Tierexperiment durch Im¬
plantation pathologischer Thymus Basedowerscheinungen1 hervor¬
gerufen: Struma, Tachykardie, Tremor, Pfotrusio bulbi. Nach
seiner klinischen Erfahrung sind die schweren Basedowfälle meist
durch Thymuspersistenz beeinflußt.
Bircher ist nicht der Meinung Kochers, daß die Heilung
des Basedow eine um so bessere ist, eine je größere Menge
Strumagewebe entfernt ist.
Hal stead -Baltimore teilt die Meinung Kochers und ent¬
fernt den größeren Teil beider Lappen in zwei oder mehreren
Akten. Man muß einen Teil der Lappen zurücklassen, um die
Epithelkörperchen zu schützen. Halstead teilt dann weiter¬
hin interessante Einzelheiten seiner Tierversuche über Trans¬
plantation von Epithelkörperchen mit.
Hildebrand -Berlin hat 100 Fälle von Basedow operiert
und hievon fünf Fälle verloren. Zweimal lag ein Status thymicus
vor und in den anderen drei Fällen gingen die Kranken an
Herzschwäche zugrunde.
Als ein wesentliches Hilfsmittel in prognostischer Beziehung
hat sich das Elektrokardiogramm, das in jedem Talle vor und-
nach der Operation aufgenommen wird, ergeben. Hilde brand
zeigt, an Tafeln das normale Elektrokardiogramm zum Vergleich,
alsdann mehrere Elektrokardiogramme von Basedowkranken. Sie
zeigen schwere Veränderungen der Vorhofzacke sowie der Ini¬
tialzacke. Nach der Operation wurde jedesmal das Elektrokardio¬
gramm desselben Individuums annähernd normal.
Julius D ol linger- Budapest hat bei einem sehr hochgradi
gen beiderseitigen Exophthalmus, der von heftigen Augen- und
Kopfschmerzen, beiderseitiger Chemosis und Hornhautgeschwuren
am linken Auge begleitet war, die seitliche Knochenwand ne Met
Orbitalhöhlen samt der Periorbita entfernt und hiedurch bewirkt,
daß der nach vorne strebende Exophthalmus auch nach der
Seite hin ausweichen konnte. Hiedurch verschwanden alle itn-
angenehmen, sehr schweren Symptome und subjektiven e-
schw-erden. .
v. Eiseisberg- Wien betrachtet den Basedow als einen
toxischen Symptomenkomplex, bei dem die innere Therapie vo -
kommen Fiasko gemacht hat. Die Operation des Basedowkroptes
ist allerdings gefährlicher als die des gewöhnlichen Kroptes.
alten Fällen macht vor allen Dingen die Myodegeneratio 1
schlechten Resultate, außerdem aber der Status thymicus. v o
Eiseisberg hat bei seinen 71 Fällen sechs Todesfälle g
sehen. Die Endresultate sind als vorzüglich zu bezeichnen, w
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
617
23 Fällen sah er absolute Heilung, in den anderen wesentliche
Besserung und nur zAvei Fälle -blieben ungeheilt. Im allgemeinen
verwendet v. Eiseisberg Lokalanästhesie, nur bei sehr ner¬
vösen Individuen Allgemeinnarkose.
K ü t tn er- Breslau hat zur Feststellung der endgültigen Er¬
folge die iu den letzten 18 Jahren in der Breslauer Klinik
beobachteten 85 schweren Fälle von Basedow zusammengostellf.
'Sämtliche nicht Operierten (21) blieben ungeheilt. 11 Operierte
iu desolatem Zustande gingen nach der Operation zugrunde (2 an
Pneumonie, 2 infolge starken Thymikus und 7 an Herzschwäche).
Von den 52 Ueberl ebenden konnte er von 37 Fällen Nachricht be¬
kommen, darunter von 15 ganz schweren Fällen. Hievon sind 5
vollkommen geheilt, 8 arbeitsfähig, 2 ungeheilt. Von allen
Fällen sind :
33-2 % vollkommen geheilt,
36% weitgehend gebessert, mit geringen Symptomen, aber
vollkommen arbeitsfähig.
16-6% gebessert,
13% ungeheilt, davon waren 2 Fälle unvollständig operiert.
Im Gegensatz hiezu ergaben die ohne Operation Behandelten
keine einzige Heilung und 35% Mortalität, während die Ope¬
rierten nur 17% Mortalität nachweisen ließen.
Hönicke betrachtet den Basedow als eine Hyperihyreosis.
Schultze-Berlin berichtet über die Fälle aus der Bier-
schen Klinik. Unter 20 mit dein Röntgenschirm untersuchten
Fällen konnte 18mal das Vorhandensein einer Thymus festgestellt
werden.
Bei neun Todesfällen wurde bei der Sektion achtmal das
Vorhandensein einer Thymus festgestellt.
Mar tens -Berlin : Nach Strumektomie doppelseitige Re¬
kurrenslähmung. Stimmbänder standen unbeweglich straff ge¬
spannt in Medianstellung (infolge tonischer Kontraktur der Muscu li
thyreocricoidei). Wegen schwerer Atemnot wurde auf Vorschlag
Grabow er s der motorische Nerv dieses Muskels, der R. ext.
des Nervus laryngeus superior, einseitig unterschnitten, infolge¬
dessen trat die eine Stimmlippe einseitig nach außen und die
Atemnot verschwand.
Wolfsohn- Charlottenburg hat versucht, bei Basedow-
kranken eine Jod-, resp. Jodeiweißanaphylaxie auf serologischem
Wege nachzuweisen. Er ist dabei ähnlich vorgegangen wie Br uck,
zum Nachweis der Jod of orm übe r emp f i nd li c hkei t : 5 cm3 Serum
von Basedowkranken wurden Meerschweinchen einverleibt ; nach
24 bis 48 Stunden wurden dieselben Tiere mit Jodoformöl in untöd-
licher Dosis gespritzt. Bei positivem Ausfall des Experim mts
reagierten die Meerschweinchen mit einem schweren anaphylak¬
tischen Shock (Temperaturabfall, Dyspnoe, Krämpfe, Lähmungen,
Abgang von Kot und Urin u. a.).
Die Tiere können in diesem Shock sterben, sie können sich
aber auch nach sechs bis zwölf Stunden erholen. Von 17 so
untersuchten Fällen reagierten 8 positiv. Es waren das diejenigen,
bei denen schwere neurotische und vasomotorische Störungen
im Vordergrund standen.
Rhen- Frankfurt a. Al. hat bei einem Morbus Basedow
mit schwerer Psychose durch die Operation eine wesentliche
Besserung der Psychose gesehen.
Auch Kocher -Bern sah eine Besserung des psychischen
Verhaltens und jedenfalls ohne Operation des Basedow häufiger
Psychosen. Kocher kann einen wesentlichen Unterschied
zwischen seinen Anschauungen und denen des Herrn Klose
nicht wahmehmen.
D ern o ns trat i ons abend. Lichtbilder Projektionen.
A. W ö rner- Schwäbisch- Gmünd demonstriert etwa 100
ausgezeichnete Lichtbilder, um die Brauchbarkeit der Farbenphoto-
üraphie nach dem Lumi er eschen Verfahren für die Chirurgie
zu beweisen. Es werden die Originalplatten, die von Wörner
selbst während des täglichen Krankenhausbetriebs; angefertigt sind,
mit dem Projektionsapparat vorgeführt. Sie betreffen eine Anzahl
Hautkrankheiten, namentlich Lupus vor und nach der Behandlung,
Gesichtskrebs, Brustkrebs, ferner Operationen von Zungenkrebs,
kippenkrebs, Brustkrebs und von Brüchen; Aufnahmen von zahl¬
reichen durch Operation gewonnenen Präparaten, einige für ge¬
richtliche Zwecke wichtige Objekte und zum Schluß noch einige
Sektionspräparate, die sehr. schön und naturwahr zur Darstellung
kommen.
(Fortsetzung folgt.)
II. russischer Internistenkongreß
abgehalten zu St. Petersburg am 19. bis 23. Dezember 1910 (a. St.).
Referent: Dr. Julius S c h ü t z - Marienbad.
(Fortsetzung.)
W . E. Pre dtetschenski j -Moskau : Resultate eige¬
ner Untersuchungen zur Frage des Typhus exanthe-
m a t i c u s e r r e ig e r s.
Bei Verwendung der Methode des Vortragenden (doppeltes
Zentrifugieren usw.) findet sich im Blute eines jeden Flecktyphus¬
kranken ein Stäbchen mit abgerundeten Enden und einem Lumen
in der Mitte. Die Menge der Stäbchen variiert. Das Stäbchen läßt
sich aus \ enenblut in Bouillon rein züchten, am1 besten zwischen
deni fünften und neunten Krankheitstag. Das Stäbchen stellt
eine Art für sich dar und ähnelt noch am ehesten dein Erreger
der Bubonenpest. Durch Agglutination kann es sicher identifiziert
werden. Es läßt sich auch im Sputum gut nachweisen, beziehungs¬
weise rein züchten. Dasselbe gilt für den Harn. Der Vortragende
hält das Stäbchen mit Vorbehalt von Uebertragungsversuchen
auf Affen, für den Erreger des Flecktyphus. Die Verbreitung des
Flecktyphus scheint hauptsächlich durch Harn und Sputum be¬
wirkt zu werden, vielleicht auch durch „Bazillenträger". Die
Uebertragung auch durch Insekten ist nicht ausgeschlossen.
A. N. Shitkow-St. Petersburg: lieber Behandlung
der Cholera asiatica.
Der Ausdruck der Vergiftung mit dem Cholera asiatica-Gift ist
nicht der algide, sondern der typhoide Zustand. Ersterer ist haupt¬
sächlich auf Wasser- und Chloridverlust zurückzuführen, denn ei
tritt auch bei europäischer Cholera auf, ferner wird er bei Krank¬
heiten beobachtet, welche mit starkem Chlor- und Wasserverlust
einhergehen und läßt sich durch Kochsalzinfusionen rückgängig
machen, am besten intravenös. Ein Schaden durch intravenöse
Injektionen ist wohl auszuschließen. Die diesbezüglichen Schlu߬
folgerungen stützen sich auf Versuche an gesunden Tieren und
sind nicht auf chlor- und wasserverarmte übertragbar. Die Sterb¬
lichkeit wird durch systematische Anwendung intravenöser Infu¬
sionen herabgesetzt. Das typhoide Stadium wird durch die In¬
fusionen nicht beeinflußt. Da liier die Entfernung des Virus das
maßgebende ist, so muß die Selbstheilungstendenz des1 Organis¬
mus (Erbrechen, Durchfall) künstlich unterstützt werden. (Ab¬
führmittel, Flüssigkeitszufuhr, Magenspülungen). Wichtig sind
neben genügender Kochsalzzufuhr Sodaklysmen zwecks Erhöhung
der Blutalkaleszenz.
S. J. Slatogorow-St. Petersburg: Differential dia¬
gnose zwischen Abdominaltyphus und den Para¬
typ. he n.
Auf Grund von Literaturstudien und eigenen Beobachtungen
auf der Sir oti nin sehen Klinik teilt Vortragender die Para¬
typhusexkrankungen, soweit sie dem klinischen Bilde nach dem
Typhus ähnlich sind, in folgende zwei Gruppen: Die erste Gruppe
entspricht den Fällen, welche sich klinisch vom Typhus nicht
unterscheiden lassen, die zweite denjenigen, welche nach ge¬
wissen Besonderheiten diese Unterscheidung möglich machen.
Von diesen Besonderheiten sind folgende zu nennen: Der Beginn
der Erkrankung ist meist ein plötzlicher unter dem Bilde der
akuten Gastroenteritis und rascher Teniperatursteigerung. Außer
der Affektion der oberen Verdauungswege werden Katarrhe des
oberen Respirationstraktes beobachtet, ebenso wie Herpes labialis.
Die für den echten Typhus so charakteristische Milzvergrößerung
tritt bei dieser zweiten Krankheitsgruppe früher auf, verschwindet
schneller. Der Stuhl hat meistens stark stinkenden Charakter und
keine Erbssuppenkonsistenz. Die Temperaturkurve zeigt als Cha¬
rakteristika häufige Remissionen mit wiederholten profusen
Schweißen und kritischem Temperaturabfall. Zur Unterscheidung
des Paratyphus von Typhus ist die Serodjagnostik nicht als
absolutes Hilfsmittel anzusehen; dies gilt von der Widalschen
Reaktion, der Koplementbindung, der Bakterizidie, den Opsoninen,
der Aland el bäum sehen Reaktion, der Präzipitinreaktion und
der Aleiostagminreaktion. Für die genaue Diagnose ist eine bak¬
teriologische Untersuchung mit Reinkultivierung erforderlich. Der
Bacillus paratyphi muß auf Grund einer ganzen Reihe von bio¬
logischen Eigenschaften in eine bestimmte Gruppe der Typ'na-
zecnfamilie eingereiht werden. Das Interesse beim Studium dieser
Gruppe ist nicht nur auf rein praktischem Gebiete zu suchen, son¬
dern auch auf theoretischem, da sich hier die Variabilität der
Mikroben besonders deutlich zeigt.
G. A. Smirnow und M. K. P e t r o w - St. Petersburg : U e b e r
das Typhustoxin.
Das Typhusbakterium produziert ebenso wie der Diphtherie¬
bazillus unter gewissen Umständen ein freies Toxin, welches sehr
618
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 17
stark wirkt. Die Symptome, welche bei Vergiftung von Tieren
mittels Typhustoxin erhalten werden, unterscheiden sich sehr
genau von denen, welche nach Einspritzung von Endotoxin aul¬
treten. Dias Typhustoxin wird sowohl durch Erwärmen, als auch
bei längerem Stehen an der Luit leicht zerstört, während das Endo¬
toxin eine Erwärmung bis zu 137° C verträgt. Die Endotoxin-
Typhus-Sera weisen aus dem Grunde keinen deutlichen thera¬
peutischen Elfekt auf den Typhusverlauf von Menschen auf, weil
die Bereitung dieser Sera mittels Zerfallsprodukten des Bak¬
terienstromas und nicht mittels ihrer Toxine geschieht. Zur Pro¬
duktion von Toxinen sind spezielle Kulturbedingungen nötig,
denn auf Nährböden, auf denen der Typhusbazillus ein stark wirk¬
sames Toxin produzierte, war dies bei dem Cholerabazillus nicht
der Fall.
N. E. Kus chew-Ssaratow : Beobachtungen über die
Wirkung des Präparates Ehrlich-Hata.
Das Präparat ,,606“ stellt kein Spezifikum gegenüber dem
Tropenfieber dar. Die Fieberparoxysnien erscheinen nach intra¬
venöser Injektion des Arsenobenzols nach einigen Tagen vom
neuen. Unter dem Einfluß des Arsenobenzols verschwinden die
ringförmigen Plasmodien bald aus dem peripheren Blut; die
halbmondförmigen bleiben nach 'zweimaliger Einführung von „606“
ins Blut bestehen. In einem Falle von komatösem Fieber ver¬
schwand das Koma (nach „606“) nach einem Tage und kehrte
nicht wieder. Bei Persistenz des Fiebers nach ,,606“-lnjektionen
muß zum Chinin gegriffen werden.
P. J. Sarnizin-Kasan: Eine neue Methode der
Gewinnung von Dmnndarminhalt.
Das Prinzip der Methode besteht darin, daß ein stark kom¬
primiertes, trockenes Stückchen Schwamm in einer Glutoid- oder
Silberkapsel, resp. in einer kombinierten Glutoid-Silberkapsel per
os gereicht wird. Der Schwamm saugt den Dünndarminhalt ein
und hält ihn auf seinem Wege durch den Darinkanal fest, so daß
im Stuhle mit größerer Sicherheit, als dies bisher möglich war,
Pankreassekret nachgewiesen werden kann.
N. M. Ru d ni z kij - Charkow : Neurasthenie und Tu-
berk ul ose.
Der Begriff der Neurasthenie läßt sich derzeit als noso¬
logische Einheit nicht mehr gut festhalten. Von den Neurastheni¬
kern, die Vortragender beobachtete, ließ sich eine recht ansehn¬
liche Gruppe abgrenzen, welche eine Anzahl nur für sie allein
charakteristischer Symptome aufwies und sich gleichzeitig von
dem Krankheitsbild der echten Beard sehen Krankheit unter¬
schied. Diese Gruppe charakterisiert sich durch die Anwesen¬
heit von Lungenspitzenverdichtungein, manchmal' auch latenten
Pleuritiden. Man muß diese Gruppe, welche in wesentlichen Zügen
dem Krankheitsbilde der Tuberkulose entspricht, von der Neur¬
asthenie streng- abgrenzen und der Tuberkulöse zuteilen. Man
könnte sie als Pseudoneurasthenia tuberculosa bezeichnen.
G. J. Gurewitsch- Warschau: Ueber die Verschie¬
denheiten des klinischen Bildes bei Typhus.
Vortragender klassifiziert das klinische Bild, des Typhus
im wesentlichen nach folgenden Gesichtspunkten: 1. Grad der
Entwicklung des Bildes (rudimentäre, abortive, typische, protra¬
hierte, zyklische Form); 2. Charakter der Erscheinungen (typi¬
sche, atypische) ; 3. nach dein Charakter der Infektion (Misch¬
infektion, Sekundärinfektion usw.).
G. F. Lang-St. Petersburg: Der arterielle Blutdruck
bei Cholera und seine Beeinflussung durch reich¬
liche intravenöse Infusionen.
Vortragender sah bei Anwendung von 2 bis 2Va Litern
physiologischer Lösung gute Erfolge.
G. J. Jawein-St. Petersburg: Demonstration eines
Falles von Adams- Stokes scher Krankheit.
N. G. Kuk owjerow-St. Petersburg: Zur Diagnostik
der beginnenden Arteriosklerose.
Demonstration des S ir o tin in sehen Symptoms, welches an
Tausenden von Fällen nachgeprüft wurde und darin besteht,
daß, wenn der Patient seine Hände auf den Kopf legt, an der
Auskultationsstelle der Aorta anstatt des Tones ein deutliches
schabendes Geräusch hörbar wird. Bei Jodbehandwung pflegt das
Geräusch zu verschwinden.
M. W. Jan owski j-St. Petersburg: Anomalien der von
Korotkow beschriebenen Erscheinungen im Zusam¬
menhang mit der rhythmischen Kontraktilität der
Gefäße.
Vortragender beschreibt die Schallphänomene, welche bei der
Kor otk ow sehen Methode auftreten und führt die Abweichungen
auf selbständige rhythmische Kontraktionen der Gefäße zurück.
(Fortsetzung folgt.)
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Sitzung vom 8. Februar 1911.
Vorsitzender: Hofrat Prof. 0. Chiari.
Schriftführer : Dr. Kotier.
In der ordentlichen Generalversammlung wurden für das
Jahr 1911 gewählt als Präsident Hofrat Prof. Chiari, Vizepräsi-
den Priv.-Doz. Dr. W. Roth, Sekretär Priv.-Doz. Dr. M. Hajek,
Oekonom Prof. L. Rethi, Bibliothekar Priv.-Doz. Dr. 0. Kahler.
Schriftführer Dr. Braun, Dr. 0. Hirsch, Dr. J. Neumann.
Als neue Mitglieder werden aufgenommen Dr. Erhard Sueß
und Dr. Karl T schiaßny.
In der wissenschaftlichen Sitzung demonstriert Privatdozent
Dr. J. Fein einen 59jährigen Mann, bei dem wegen starker
Schwellung der Taschenbänder tracheotomiert werden mußte,
lieber die Natur der Wülste kann sich Vortr. nicht mit Bestimmt
heit aussprechen, doch schließt er insbesondere Tuberkulose und
Skleroml aus. , I
Prof. Rethi spricht sich für eine einfach entzündliche
Infiltration der Mukosa und Submukosa aus.
Dr. Braun stellt eine Tonsillarsklerose vor. Anfangs war
das Bild einer Angina phlegmonosa vorhanden. Der auftretende
Bubo, das sich entwickelnde speckige Ulkus, der Spirochäten¬
befund und ein makulo- papulöses Syphilid sicherten die Dia
gnose.
Dr. Mar sch ik zeigt einen Speichel’stein aus dem Ductus
submaxillaris ; er wurde nach Schlitzung der Schleimhaut und
des Duktus herausbefördert und besteht aus einer leicht zer¬
bröckelnden schalenartig aufgebauten Masse.
Hofrat Prof. 0. Chiari berichtet über einen Knochen im
linken Bronchus, der vor fünf Wochen aspiriert wurde, anfangs
Husten, Brechreiz, nach zwei Wochen Bronchoskopie ; die Bron¬
choskopie ergab einen gelblichen Fremdkörper 2 cm unter der
Bifurkation. Entfernung per vias naturales. Heilung nach einigen
Tagen.
Programm
der am
Freitag den 28. April 19x1« um 7 abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. L. Unger stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. Emil Beck (Chicago) als Gast : Ueber Wismutbehandlung
kalter Abszesse.
2. Dr. Demetrius Cliilaiditi (als Gast): lieber willkürliche 1
Hebung von Abdominalorganen und ihren Einfluß auf die Darmtätigkeit.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Hans Salzer, Robert
Breuer, K. Ullmann, A. Kronfeld, F. Dimmer.
Um die recl»t*eitijfe Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerltungcn
dem Schriftführer noch am Sltzungsabend zu übergeben.
Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik No or den
Donnerstag den 27. April 1911, um 7 Uhr abends, statt.
(Vorsitz: Prof. Dr. v. Noorden.)
Programm:
1. Demonstrationen angemeldet: Dr. Zak, Dr. Landesberg.
2. Dr. Jonas: Ueber die Abhängigkeit der Darmmotilität vom
Verhalten des Magens (speziell von seinem Säuregrad). .
3. Dr. Cliilaiditi: Zur Palpationstechnik des Abdomens, zugleich
ein Beitrag zur Mobilitätsprüfung der Abdominalorgane (mit Demon¬
stration). _ Das Präsidium.
Wiener laryngo-rhinologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch den 3. Mai 1911, 7 Uhr abends, 1;!
Hörsaale der Klinik Hofrat Chiari.
a) Außerordentliche Hauptversammlung (Vorlage einer Ge¬
schäftsordnung). . , ,
b) Wissenschaftlicher Teil. Eine Demonstration hat angemeidei
Dr. M. Weil: Ueber einen Fall von Trachealstenose und dessen Ke
handlung. _ ^ cTjrj
Wiener dermatologische Gesellschaft.
Einladung zu der am 3. Mai 1911 stattfindenden Sitzung (halb 6 Bhi
abends, Hörsaal Klinik Riehl).
Tagesordnung:
Demonstrationen von Kranken.
Mucha juu.
Finger.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Kubasta.
Druck von Bruno Bartelt, .Wien XVIII., Theresiengaase 8.
Verlag von Wilhelm Braumitller in Wien.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0 Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger, M. Gruber, F. Hochstetter, A. Kolisko. H. Meyer. J. Moeller K. v. Noorden
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs. Julius Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser.
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k- Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV Jahrg. Wien, 4. Mai 1911 Nr 18
- -
INHALT:
1. Origiualartikel: 1. Physiologische Wirkungen des Höhen¬
klimas. S. 619.
2. Zur Pathogenese des Kretinismus. Von Oberbezirksarzt
Dr. Arnold Flinker, Czernowitz. S. 631.
3. Aus der mährischen Landesgebäranstalt in Olmiitz. (Direktor :
Prof. Dr. Eduard Frank.) Ueber einen Fall von Tetanie nach
Adrenalininjektionen bei Osteomalazie. Von Dr Richard
Marek, Frauenarzt in Proßnitz. S. 633.
4. Aus der IV. med. Abteilung des allgemeinen Krankenhauses
in Wien. (Vorstand : Prof. Koväcs.) Zum Vorkommen von
„Herzfehlerzellen“ im Harn. Von Dr. Ewald Koller, Assistenten
der Abteilung. S. 636.
5. Aus dem pathologischen Institut der königl. Universität Turin.
(Vorstand : Prof. B. Morpurgo.) Ueber die Meiostagminreaktion
bei den weißen Ratten nach Exstirpation der beiden Neben¬
nieren. Von Dr. Franco Cattoretti. S. 637.
Physiologische Wirkungen des Höhenklimas.*)
Von Prof. A. Durig.
Es gereicht mir zu großer Ehre, in dieser festlichen
Versammlung das Wort ergreifen zu dürfen und bei diesem
Vnlasse in einer Uebersicht über die Versuchei berichten
n können, die meine Mitarbeiter und mich schon seit
ahren beschäftigen und deren Ergebnisse in dem 86. Bande
ler Denkschriften der Wiener Akademie ausführlich behan-
lelt sind.
Wenn ein Wanderer, der ziel bewußt seine Bahn ver-
olgt, ein tüchtiges Stück Weges zurückgelegt hat, so hält, er
n und blickt zurück auf den durchmessenen Raum, bald
ber schweift sein Blick wieder vorwärts, dem Ziele ent-
egen, das er erreichen will und er wägt die Kraft und wählt
ich den Weg, der ihn führen soll.
Ein tüchtiges Stück Weges ist es auch, das die Phy-
iologie in der Frage nach der Wirkung des Höhenklimas
uf den Menschen zurückgelegt hat und es lohnt sich darum
mhl der Mühe, auch hier ein wenig Rückschau zu halten,
amit wir die Bahn richtig erkennen, auf der die Forschung
ich weiterbewegen soll.
Ueberblicken wir die ältere Literatur über unseren
'egenstand, so scheint auf den ersten Blick so vieles — ,ja
ist. alles — geklärt. Eine Fülle von Gesetzen liegt schein-
ar sonnenklar zutage und doch hat. sich in den letzten
*) Vortrag, gehalten in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte
24. März 1911.
II. Referate: Die Krankheiten der Prostata. Von Prof. Doktor
A. v. Frisch. Ref. Schloffer. — Chirurgische Krankheiten
der unteren Extremitäten. Von Prof. M. v. Brunn. Leit¬
faden für die chirurgische Krankenpflege. Von Dr. med. John
Blumberg. Ref.: Siegmund Erdheim. — Ueber die Be¬
wertung des „sozialen Faktors“ in der Indikationsstellung zur
tubaren Sterilisation der Frau. Von H. Offer geld. Ref.:
Bucura.
III. Ans verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreöberichte.
Jahren gar manches Fundament als morsch erwiesen und
manches Gesetz ist zum zufälligen, nicht typischen Befund
geworden. Doch dies bedeutet keinen Rückschritt, denn
festgefügt muß der Rau der Erkenntnis sein und darum
fördert ihn auch jedes Steinehen, sei es noch so klein, selbst
dann noch, wenn es nur älteres Material durch besseres
ersetzt.
Mag die Theorie, mag kunstvolle naturphilosophische
Wortakrobatik und Spekulation dem Wissen von Heute
voraneilen, das Künftige ahnend, oder mag sie, das Wissen
von gestern nicht einmal fassend, auf Irrwege leiten, immer
fällt die Entscheidung erst im Experiment. In diesem ent¬
hüllt die Natur ihre wahre herrliche Form; befreit von. be¬
engender Theorie, verweist sie uns im Resultat wieder auf
den richtigen Weg, der meist auch der einfachste ist.
Tappend im Dunkeln legen wir unserer großen Lehr¬
meisterin die Fragen vor, die sie freimütig beantwortet.
Doch leicht ist das Fragen, schwerer das Verstehen ider
Antwort, besonders dann, wenn wir nicht weise maßhaltend
zuviel auf einmal gefragt haben. W ie oft müssen wir
zufrieden sein, nur die Antwort zu kennen, ohne sie deuten
zu können! Froh genug, auf der so (gewonnenen empirischen
Erfahrung weiter bauen und weiter fragen zu können.
Auf solcher Empirie fußt auch heute die Höhen¬
klimatherapie und solche Erfahrung ist es, welche in das
Rewußtsein der breiten Massen gedrungen, diese über¬
zeug! hat, daß der Höhenaufenthalt von günstiger Wirkung
auf den Gesunden, aber auch auf gar manchen Kranken sei.
620
WIENEU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
Welche Theorie hätte es auch vermocht, wenn [nicht
die empirische Erfahrung gewesen wäre, die Hunderttau¬
sende jährlich in die Berge zu führen, oder welche Lehr¬
meinung hätte die Wintersportplätze bevölkert und die
Listen der alpinen Vereine gefüllt? Immer und immer
wieder hat die eindeutige Antwort der Natur die Heim¬
kehrenden ausgesendet als Verkünder der Herrlichkeit, die
sie geschaut und immer neue Scharen führten diese Send¬
boten hinaus, die alle dem Lichte der Alpenhöhen zu¬
strebten, Gesundheit, Kraft und Erholung suchend — und
findend — die neu gestählt, 'nur ungern wieder aus dem
Bannkreis schieden, in dem sie so glücklich waren.
Doch selbst dieser Erfahrung stand die Theorie ent¬
gegen, war es doch einem Rostocker Gelehrten Vorbehalten,
vor der Luft der Alpen zu warnen, da diese ungesund sein
müsse, weil sie zwischen Bergen eingeschlossen, dumpf,
feucht und schädlich sei.
Zu groß ist die Antwort der Natur, als daß wir sie
auf einmal verstehen könnten. Dem Theoretiker kann es
auch nicht genügen, sie bloß zu kennen und bloß zu wissen,
daß nach tausendfältiger Erfahrung die Wirkung des Höhen¬
klimas eine günstige sei. Ihm drängt sich das „Warum“
entgegen und mit Recht trachtete er durch Vereinfachung
der Fragestellung das Wesen der Wirkung zu ergründen,
um eindeutige, klare Antworten von der Natur zu erhalten.
.Manches haben wir auf diesem Wrege erfahren,, gar
manches ist uns dunkel gehlieben und soll erst erforscht
werden. Wollen Sie mir nun gestatten, in einem Ueberblick
wenigstens die Grundzüge der Wirkungen des Höhenklimas
auf den 'Gesunden zu entwerfen. Mögen Sie es mir dabei
nicht als eine Unterschätzung der verdienstvollen Arbeiten
der anderen Autoren, die auf diesem Gebiete gearbeitet
haben, auslegen, wenn in dieser Besprechung unsere
eigenen neueren Untersuchungen (schematisierend im Vorder¬
grund der Darstellung stehen werden, da doch ein tieferes
Eindringen in die Literatur in der mir zugemessenen Spanne
Zeit nicht möglich wäre.
Es dürfte sich lohnen, vor einem Eingehen auf
die spezifischen Wirkungen des Höhenklimas den Blick
jenen klimatischen Faktoren zuzuwenden, deren Einflüsse
wir auch im Flachlande verfolgen können, um losgelöst aus
dem Gesamtkomplex der Erscheinungen, die der Mensch
in Höhenstationen zeigt, einzig jene Veränderungen und
deren Ursachen bewerten zu können, die als ausschließlicher
Ausdruck einer Höhenwirkung aufzufassen sind.
*
Es ist selbstverständlich, daß „Luft und Lieht.“ die
günstigen Heilerfolge in den Höhenkurorten bewirken,
schreibt Speck in einem seiner Aufsätze. Wenn auch an
dieser Wahrheit auf den ersten Blick niemand zweifeln
dürfte, so muß doch erst im Experiment die Wirkung von
Luft und Licht getrennt und gesondert der Klärung zuge¬
führt werden, um erkennen zu können, ob diese Annahme
zu Recht besteht und welcher Anteil der Wirkung des
Lichtes, welcher jener der Luft zuzuschreiben sei.
Fragt man nach den Unterschieden in der Zusammen¬
setzung der Luft, so findet man, daß diese verschwindend
kleine sind. Selbst dann, wenn man die Luftproben in Fä-
brikszentren, auf freiem Felde oder im Walde entnimmt,
ja auch dann, wenn man die Luft im höchsten Hochgebirge
untersucht, findet man immer dieselben Zahlen für den
prozentuellen Gehalt an Kohlensäure und Sauerstoff wieder.
Die Unterschiede im Ozongehalt der Luft scheinen, so sehr
man diesen eine Bedeutung beizumessen glaubte, für den
Menschen vollkommen belanglos zu sein, dient uns doch
der Ozongehalt. der Luft heute nur mehr als ein indirekter
Indikator für die Verunreinigung der Luft mit Staub. Voll¬
kommen in Unkenntnis sind wir darüber, ob die Unterschiede
in den übrigen, gasförmigen Bestandteilen der Atmosphäre
von einem Einfluß auf den Ablauf physiologischer Vorgänge
im Menschen sind.
nfs wesentlich kommen daher nur die Verunreinigun¬
gen der Luft durch Bakterien, Staub und Gase in Betracht,
durch die die Schleimhäute geschädigt werden. Doch selbst
diese Schädlichkeiten dürfen in der Luft der Städte nicht
allzusehr überschätzt werden, denn trotz der staubfreien
Luft der Hochtäler folgt die Infektionsgefahr dem Menschen
bis in die höchsten Gebirge. An Stelle der Granitsplitter
und der Tuberkulose tritt bei ungenügender Wetterfestig¬
keit die Gefahr der sogenannten Erkältungskrankhei ten in den
Vordergrund und Pneumonie wie septische Angina fordern
auch in der Höhe Non Tausenden von Metern noch ihre Opfer.
Selbst die Tuberkulose hat manche Alpendörfer heute schon
so durchseucht, daß man, sorglos gemacht durch die lleber-
zeugung vollständiger Sicherheit, unter ungünstigen Verlmli-
nissen der Reinlichkeit und Wohnungshygiene, dort nichl
minder gefährdet ist, als in der Großstadt und Jahr für
Jahr beobachtet man im Zusammenleben mit dem se߬
haften Alpenvolk, im Sommer endemisch ablaufende Erkran¬
kungen infektiöser Natur, die oft recht schweren Charakter
aufweisen. Es scheint auch recht fraglich, wie eine Sta¬
tistik der Sterblichkeit dann ausfallen würde, wenn man
nur jene Leute in Stadt und Land in Parallele stellen würde,
die unter sonst gleich günstigen Verhältnissen der Ernäh¬
rung, der Wohnung und körperlichen Uebung gelebt haben. i
Man muß bedenken, daß ein solches Elend, wie es in den '
Massenquartieren der meist unterernährten ärmeren Stadt¬
bevölkerung zur Steigerung der Mortalität führt, niemals und
selbst nicht bei den allerärmsten Bauerntaglöhnern in den
Alpenländern getroffen wird.
So selbstverständlich es ist, daß der Wegfall der stän¬
digen Reizung der Atmungsorgane durch den Staub der
Großstadt günstig wirken muß, iso bedeutungsvoll dürfte aber
auch die Tatsache sein, daß der ständige Kampf gegen die :
Schädlichkeit einer Atmosphäre auch die Widerstands¬
fähigkeit und Reaktionsfähigkeit gegen diese !
Schädigung steigern muß und so den geborenen Städter mit
Schutzeinrichtungen ausstattet, die dem Höhenbewohner
fehlen.
Die erhöhte Gefahr der Infektion mit Tuberkulose bei
den Alpenbewohnern und den Bosniaken, wenn sie in die '
Großstadt kommen, die häufigen Erkrankungen an Tuber¬
kulose hei den Bewohnern der Hoch-Anden, wenn sie aus
ihren Berghöhen ans Meer herabsteigen, ja die Jahr für
Jahr wiederkehrenden Katarrhe bei der Rückkehr nach 'Wien
nach längerem Landaufenthalt, sind wohl Zeichen dafür,
welche Bedeutung dieser Anpassung und Steigerung der
Widerstandsfähigkeit beim Städter zukommt, die dem Land¬
bewohner fehlt. Ueberraschend ist ja auch die Erfahrung,
daß abgehärtete Städter und Stadtkinder vielfach am Lande
atmosphärischen Schädlichkeiten gegenüber weniger em¬
pfindlich sind, als die Eingeborenen, deren, Wetterfestigkeit
von den Stadtbewohnern wie von den Landleuten selbst
meist weit überschätzt wird. Bezeichnend scheint es auch,
daß wir kaum irgendwo die Bevölkerung so einmütig husten
hörten, wie — in der paradiesischen, mit balsamischen Düften
durchsättigten, aber reizlosen Luft Teneriffas. Wohl mag
diese auf die Abheilung entzündlicher Prozesse an den
Schleimhäuten des Respirationstraktes zu glänzenden Er¬
folgen führen, keinesfalls wird sie die Schleimhaut aber
widerstandsfähig gegen jene Schädlichkeiten der Atmosphäre
machen, denen sich der Mensch auf die Dauer nie voll¬
kommen zu entziehen vermag.
Die Unterschiede im Sättigungsgrade der Luft mit
Wasserdampf sind wesentlich geringer, als man erwarten
möchte, denn es finden sich Werte für die relative Feuch¬
tigkeit, wie wir sie im Höhenklima, ja selbst auf dem Monte!
Rosa fanden, ebenso in der Ebene, am Meere und in
Großstädten. Sie können also nicht die Ursache der Wir¬
kungen auf den Menschen sein, die man im Höhenklima
beobachtet.
Innig verknüpft mit dem Einflüsse der Feuchtigkeit
ist jener der Temperatur und von dem Verhalten beider
zusammen hängt ja das Urteil über die Annehmlichkeit ernes
Klimas ab. Folgt der erschlaffenden Hitze des Tages die
kurze dunstige Nacht, so erlahmt physische und geistige
Ar. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
(121
•beilskrall, die Muskelspannungcn, die Bewegungen wer-
n eingeschränkt und der Tagesumsatz sinkt. Neu belebt
wachen wir zu reger Arbeitslust, wenn wir den heißen
mem der Stadt entfliehen. Die erquickende Kühle der
ich! verwischt selbst die lähmende Wirkung des heißesten
nnendurchglühten Tages. So ist es selbstverständlich, daß
i Höhe des Gesamtumsatzes mit dem Wechsel des Klimas
'ischen Stadt und Land und unter dem Einflüsse ieb-
fterer Bewegung wachsen muß. Darin liegt jedoch nicht
r Schwerpunkt der Frage. Für die Klärung der Wirkung
r Temperatur im Klima auf den Stoffumsatz, ist es nötig,
. s dem Gesamtkomplex des Umsatzes jenen Teil loszu-
;en, der für die Deckung variabler Körperarbeit ver-
. sgabt wird und den Grund- oder Erhaltungsumsatz des
irpers für sich zu bestimmen, der unter allen Umständen
stritten werden muß, dann läßt sich erst entscheiden,
das Klima anregend auf die Verbrennungsvorgänge im
i.rper eingewirkt habe, oder ob die- Veränderung im Stoff-
lsatz nur als Folge von verschieden großer Leistung der
iskulatur aufzufassen sei.
Die nachstehenden Tabellen mögen zur Erläuterung der Ver¬
misse dienen. Sie enthalten Werte über den Erhaltungsuinsatz,
Ehe aus \ ersuchen an Zuntz, Reichel und mir stammen,
wie unter ähnlichen Bedingungen ausgeführte Beobachtungen
l Lindhard, Geppert und Eijkman, in denen jedoch
Versuchspersonen nicht frei von Muskeilspannungen gewesen
■ l dürften.
Ort
COa cm3 pro kg und Stunde
Batavia .
236 (Malayenj
» ...
228 (Europäer)
Deutschland ...
234
N0. Grönland ....
236
Ort
Jahreszeit
Cal. pro m2
Durig
und Minute
Reichel
Vien .
Juli
0-542
0-572 j
»
Januar
0-540
0-576
März
0-545
0-557
eramering 1000 m
Januar
0-585
0563
Jagna . . 1200 »
September
0550
0-557
porner A. 1320 »
Juli
0-580
—
Wie die Tabellen beweisen, war der Erhaltungsumsatz in
Tropen genau gleich jenem, der bei Europäern gefunden wurde,
selbst im Nordosten Grönlands, im arktischen Klima, konnte
‘dgt werden, daß die Lebensflamme unter der Wirkung der
■ te nicht lebhafter brennt als in der Glutsonne Indiens. Ent¬
ladend geht daraus hervor, daß höhere Umgebungswärme nicht
pend, niedere Temperatur der umgehenden Luft nicht beför-
id auf den Grundumsatz des Körpers im Sinne einer chenu-
*n Regulation eingewirkt hat.
Auch Sommer und Winter setzt keinen Unterschied,
■ m wir den Erhaltungsumsatz berücksichtigen. B. wie
•gingen während des ziemlich strengen Winters 1906/07
h zur Zeit, als das Thermometer auf — 20° C sank, im
lachen Rock und genau denselben Kleidern und Unter-
dem, die sie im Juli in Wien und in der Po - Ebene
1 agen hatten. Im ungeheizten Zimmer ließen sie die
• te während Tag und Nacht ausgiebig auf sich wirken
I dennoch sind die Werte für den Erhaltungsuinsatz im
nmer wie im Winter ganz analoge u. zw. sowohl dann,
in wir die Beobachtungen in Wien oder jene aus den
efähr gleich hoch gelegenen Höhenstationen miteinander
gleichen.
Lehrreich ist wohl auch das Beispiel der Versuche,
ich gemeinsam mit meinem hochverehrten Lehrer und
unde Zuntz, auf der Seefahrt ausführte. In den ein-
(ien Stationen, in Berlin, wie auf dem Schiffe, im
i von Biscaya, vor Lissabon und an der Westküste
ikas, begegnen wir immer wieder denselben Werten für
' Erhaltungsumsatz, der sich dadurch in Meereshöhe, bei
■ und derselben Versuchsperson, als eine ganz außer-
cnllich konstante Größe darstellt. Es kann demnach als
Lai. pro Quadratmeter und Minute
Zuntz
Berlin .* 1 0-534
Wien .
Golf von Biskaya . 0-538
| vor Coruna . . . 0568
Bucht von Vigo . ! 0 545
Lissabon . 0552
30u Breite . 0 544
bestimmt feststehend erachtet werden, daß der Faktor Tem-
peratur an und für sich im Klima die Höhe der Verbrennungs¬
vorgänge in Körperruhe nicht beeinflußt.
In sich selbst bergen die beschriebenen Versuche noch
das weitere, ganz interessante Ergebnis, daß die Eigentüm¬
lichkeiten des Seeklimas und die besonderen während einer
Seefahrt herrschendenRedingungen, ja selbst Zeichen leichter
Erkrankung an der Seekrankheit (D. hatte unter dieser
etwas zu leiden), ebensowenig einen Einfluß auf die Höhe
der Verbrennungsvorgänge ausgeübt haben, wie die größere
Sättigung der Luft mit. Wasserdampf oder der mögliche
Salzgehalt der eingeatmeten Luft.
} Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen,
daß die Tropenbewohner sich nach den neuesten Unter¬
suchungen Glogners und Caspar is, auch in bezug
auf den Stoffwechsel nicht von den Bewohnern der ge¬
mäßigten Zonen unterscheiden. Es zeigt sich, daß die Nah¬
rungsaufnahme, die Ausnützung der Kost in allen ihren
Teilen, wie der Nahrungsbedarf und Appetit der Tropen¬
bewohner ganz dem der Europäer entspricht, ja selbst die
Annahme, daß Fett, Eiweiß, ja sogar Alkohol in mäßigen
Mengen dem Tropenbewohner schädlicher sei als dem
Menschen, der in kaltem Klima lebt, hat sich nicht be¬
stätigt.
Sieht man die roten Backen schlittschuhlaufender
Kinder, so möchte man meinen, daß dem Winde eine an¬
regende \\ irkung auf den Stoffwechsel zuzuschreiben -sei,
doch war ein solcher Einfluß in den Versuchen, die ich
gemeinsam mit Zuntz anstellte, nicht nachzuweisen. Wir
hatten uns im Firne des Grenzgletschers eingegraben
und ließen den eisigen Wind über uns streichen, der die
Salzlösungen in unseren Sammelröhren noch zum Gefrieren
brachte; wir lagen auf dem Dache der Capanna Margherita,
windgeschützt, in wohliger, behaglicher Wärme und doch
waren die V erte, die wir für den Umsatz ermittelten, über¬
einstimmende. Die entgegengesetzte Angabe aus dem Respi¬
rationsapparat ist wohl unzweifelhaft auf die Entstellung
der betreffenden Versuche durch unkontrollierbare Muskel¬
arbeit zurückzuführen, was man auf Grund der betreffenden
Werte unschwer beweisen kann, zudem können die Wir¬
kungen, die in einer „zugig“ gemachten Respirationskammer
gefunden werden, keinesfalls mit jenen eines Windes im
Freien verglichen werden.
Wesentlich scheint nur der Einfluß eines Windes zu
sein, nämlich jener des Föhns, der so manches unserer
Alpentäler im Sturm durchbraust und dem Klima ganzer
Ortschaften einen eigenen Charakter aufprägt. Wir ver¬
danken Traber t eine interessante Studie über die physio¬
logischen Wirkungen dieses Windes. Die ganze Volksmei¬
nung ist dort, wo der Föhn sich geltend macht, davon über¬
zeugt, daß die Beschwerden, wie Kopfschmerz, Unlust und
Unfähigkeit zur Arbeit, Mattigkeit und Appetitlosigkeit, die
sich , bei vielen Leuten vor dem Eintritt einer Föhnperiode
ausbilden, auf die Wirkung der Südwinde znrückzu/führen
sei. „Die Kinder sind wieder schrecklich laut, es kommt
der Wind“, ist eine geläufige Redensart und die Tatsache,
daß die epileptischen Anfälle, die Erregungszustände hei
Kranken, sich vor Ausbruch einer Föhnperiode häufen, ist
nach den exakten Feststellungen Traberts auch vom
skeptischesten Theoretiker nicht, mehr zu bestreiten; man
wird daher auch an der Angabe praktischer Aerzte in
töhngegenden kaum mehr zweifeln, nach denen die Todes¬
fälle moribunder Personen sich gerade in den Föhnperioden
Durig
0553
0-537
0538
0-554
0-551
0541
622
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
häufen. Es ist gewiß nicht uninteressant, aus den Beobach-
I ungen Traberts zu entnehmen, daß die Leistungen der
Schüler, deren Fleiß und Aufmerksamkeit zur Zeit des
Herannahens von. Baromelerdepressionen wesentlich schlech¬
tere waren, als an Tagen mit hohem Barometerstand. Vom
physiologischen Standpunkte aus ist cs unwahrscheinlich,
daß die Höhe des Luftdruckes oder die Veränderung
im Drucke dabei eine entscheidende Rolle spielt, denn man
muß bedenken, daß zum Beispiel bei einer Fahrt mit der
Seilbahn auf das Mittelgebirge wesentlich größere Luftdruck¬
unterschiede nicht nur ohne Beschwerden ertragen, sondern
sogar als Annehmlichkeit empfunden werden. Da aber der
Einfluß des Föhns unleugbar besteht und auch eine Ab¬
hängigkeit des Befindens zur Zeit eintretender Depression
nachgewiesen ist, wird man wohl annehmen müssen, daß
es uns derzeit unbekannte Komponenten im Klima sein
müssen, die für diese Wirkung verantwortlich zu machen
sind. Eine solche V erschiebung der Erklärung auf spätere
Zeit ist aber keineswegs nur alsein bequemes Zurückweichen
vor einer möglichen Lösung des Problems zu betrachten,
denn man muß bedenken, daßi nach den jüngsten Ergeb¬
nissen der physikalischen Forschung wohl mit Sicherheit
in absehbarer Zeit eine weitere Fülle neuer Tatsachen zu
erwarten ist, die bedeutungsvoll für die Physik der Atmo¬
sphäre, vielleicht die erwünschte Klärung bringen dürfte.
Pedersen und Lehmann glaubten übrigens, in
einer umfangreichen Abhandlung den Nachweis des Be¬
stehens eines Einflusses örtlicher Barometerschwankungen
auf die Muskelkraft erbracht zu haben, doch fehlt diesen
Untersuchungen die exakte wissenschaftliche Durcharbei¬
tung, die wir bei Trabert finden.
Ein weiterer Faktor in der Wirkung des Klimas ist,
das Licht, dessen Bedeutung Rubner richtig bemißt, in¬
dem er sagt, daß von der Zahl der Sonnenscheinstunden
hauptsächlich die Ausnützbarkeit eines Klimas abhängt. Be¬
kanntlich hat Fi ns en angegeben, daß unter dem Einflüsse
des Lichtes eine Zunahme des Hämoglobins zustande komme,
so daß der Mensch während des Sommers hämoglobinreicher
sei als während des Winters. Auch Oer um hat an Ka¬
ninchen die Beobachtung gemacht, daß He.lltiere an Hämo¬
globin reicher waren, als Dunkeltiere, doch steht diesen
Angaben die Beobachtung Blessings von der Nansen-
schen Nordpolexpedition gegenüber, während welcher in
der Polarnacht weder eine Polaranämie, noch eine Vermin¬
derung des Hämoglobins nachgewiesen werden konnte. Auch
Meyer und ebenso Borissow konnten den Einfluß des
Lichtes auf die Blulbildung nicht bestätigen. Neue Versuche
Lind hards aus Grönland sprechen zwar wieder für eine
Veränderung der Atemmechanik und des Stoffumsatzes wäh¬
rend der Polarnacht, doch kann auf Grund der Versuchs¬
methodik dieses Ergebnis für die Frage nach der Wirkung
der Belichtung nicht als einwandfrei angesehen werden.
Bei intensiver Belichtung führten Zuntz und ich
Schon im Jahre 1903 und weiters im vergangenen Frühjahr
in den Canadas auf Teneriffa Versuche aus, an welch
letzteren sich auch v. Schrotte f beteiligte.
0* Verbrauch pro Minute in cm3
Durig
Zuntz
Oien .
2623
246*9
» .
269*6
242*4
Margheritahütte .
255-7
284-2
.
2730
272*0
! Cafiadas (Teneriffa) ....
287-8
226-4
255*0
244*2
246*8
232-5
•
2603
281*6
235-7
2447
238-6
—
241-5
243*8
264*6
230-4
Die bei Belichtung gewonnenen Werte sind feil gedrucl
Auf Col d’Olen wie auf der Margheritahütte und auf de
Grenzgletsoher, wo eine niedere Temperatur herrschte, w.
nicht der geringste Einfluß der Besonnung auf den Umsa
zu erkennen. Dasselbe gilt auch von den Beobachtungen a
Teneriffa, in denen sich die Schwankungen leicht durch <1
großen Temporalurdil'forenzon erklären lassen. Bei Zuut
bei dem die Belichtung nur eine relativ kurze war Und P
tensive Hitzewirkung hinlangehalten wurde, findet sich g,:
kein Einfluß der Belichtung. Bei Durig ist der erste Wh
bei bedecktem Körper außergewöhnlich hoch; er findet seid
Erklärung aber darin, daß Durig mit einer dunklen Dec
bedeckt, im glühenden Sonnenbrand lag und bei nahe:
vollkommen verhinderter Wärmeabgabe wesentlich übt
wärmt wurde. Die folgenden beiden, bei 55° Sol. Then
ausgeführten Besonnungen des ganzen Körpers hatten ab
keine höheren Werte für den Erhaltungsumsatz zur FoL
als jenen, den wir nachher im bedeckten Zustand fanden (2
240, 200 cm3); etwas niederer fallen die folgenden beid
Zahlen aus (235 und 238), was darin seine Erklärung find
daß die Temperatur inzwischen nach Sonnenuntergang a
6° C gefallen war und zugleich auch eine Enfcwärmung d
bewegungslos ruhig liegenden nackten Körpers stattfaij
die natürlich eine Herabsetzung des Erhaltungsumsa.lzj
zur Folge hatte. In der folgenden Versuchsreihe deckt sij
der erste Besonnungsversuch ganz mit dem Versuche oh
Belichtung, da diese aber eine volle Stunde dauerte u|
das Brennen der Haut recht fühlbar wurde, mag etwas -g
ßere Unruhe den Wert in diesem Versuch (260-3) wohl <j
wenig in die Höhe getrieben haben. Die Verbrennung w
nämlich so stark gewesen, daß sich die ganze Vorderse
des Körpers mit kleinen Brandblasen bedeckte, in dei
Gefolge eine Pigmentierung auftrat, die auch nach ein«
Jahre noch nicht verschwunden ist.
In neuester Zeit hat man auch die Vermutung auf
stellt, daß das Potentialgefälle und die Luftioi
sation von großer Bedeutung für die Wirkung des Höhl
klimas seien. Zu dieser Annahme trug die Angabe bei, di
Bergkrankheit besonders zur Zeit von Gewittern und
Stellen beobachtet wurde, an denen sich mehr oder inind
stagnierende Luft findet, ausgehend von der Erfahrung, d
an solchen Stellen ausgesprochene Unipolarität gemes>
wurde. Schon im Jahre 1903 konnten Zuntz und ich f(
stellen, daß ein Zusammenhang zwischen dem Auftret
der Bergkrankheit und der Ionisation oder der Höhe t;
Polentialgefälles nicht nachweisbar sei.
Auch unsere neuen Versuche aus dem Jab
1906, welche mit verbesserter Methodik durchgefü
wurden, ließen keinen Zusammenhang mit diesen
scheinungen erkennen. Dem steht jedoch die Angfj
von Knoche gegenüber, der aus dem Umstande, d
er in einem engen, wesentlich tiefer gelegenen Tale be)
krank wurde, während er auf 5000 m nicht erkrankt w:
schließt, daß Ionisation die Ursache der Erkrank mg d
die auch in La Paz in manchen engen, steilen Straf
besonders leicht auf treten soll. Messungen und ßeobat
tungen Ducceschis aus den Anden, die der allerj tings
Zeit entstammen, beweisen aber entschieden, daß' kein ,
sammenhang zwischen Ionisation, Potentialgefälle •'
Höhenwirkung nachgewiesen werden könne. Auch auf d
Pik von Teneriffa sollte nach Knoche die hohe Ionisat
besonders leicht Bergkrankheit hervorrufen. Wir selbst '
krankten daselbst auch bei einem recht forcierten Aj
und Abstieg nicht und ebensowenig in der Höhle <|
Pik, in der doch ganz besonders hohe Unipolarität zu
warten gewesen wäre. Daß beim Ungewöhnten das V
schieren in mehr als 3500 m Höhe, an der heißen, sonrüt:
Lehne des Pik und die anstrengende Muskelarbeit b(
Waten durch den rutschigen Schutt und Bimstein an i
für sich sehr leicht die Bedingungen für das Auftre
von Bergkrankheit schaffen kann, ist wohl nicht zu
zweifeln, es kann darum an diesem Orte das Auftreten \
Bergkrankheit, nicht wundernehmen.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
623
Bemerkenswert isl übrigens die Talsache, daß noch
emals beschrieben wurde, daß in den Kellern der hoch-
•legenen Orte von Südamerika oder Tibet oder in den
»chgclegenen Bergwerken, wo man doch ganz besonders
»he Ionisations werte erwarten sollte, die Bergkrankheit
ichter eintreten soll, als an anderen Orlen. Von verscliie-
>nen Autoren wird übrigens das von Knoche beschrie-
■ne Auftreten der Puna in Südamerika zu einem beträch I-
hen Teile auf Wirkungen zurückgeführt, die mit dem
nßen Gehall der Gesteine an Antimon und Arsen zu
inmenhängen sollen. Versuche über den Einfluß, der Ein-
irkung ionisierter Luft im Laboratorium haben übrigens
»enfalls zu einem negativen Ergebnis geführt.
Auch zwischen der Höhe des Poteutialgefälles und dom
‘finden der Versuchspersonen konnte bisher ein Zusam¬
enhang nicht aufgedeckt werden, so daß nach unseren
■rzeitigen Kenntnissen Unterschiede in der Luftionisalion
id in der elektrischen Spannung, wie sie in der Atmo-
häre beobachtet werden, keinen nachweislichen Einfluß
d die physiologischen Vorgänge beim Menschen ausüben.
Nun wäre noch der Einfluß des letzten und wichtigsten
■r derzeit bekannten klimatischen Faktoren, jener des Ab-
ikens des Luftdruckes bei zunehmender Meereshöhe, zu
örtern.
Schon per exclusionem kommt man zu dem Resultat,
ß die Verminderung des Gesamtdruckes und damit die
»nähme des Teildruckes des Sauerstoffes das enlsehei-
nde Moment bei der Wirkung des Höhenklimas vorstellen
isse. Dieser Schluß wird fest fundiert durch das Ergebnis,
ß auch im pneumatischen Kabinett die nämlichen Erschei-
ugen wie im Höhenklima eintreten, wenn der Aufenl-
it in der Kammer hinreichend lange dauert.
*
Will man die Wirkung der Luftdruckverminde-
tig studieren und prüft man zu diesem Zwecke
>s Verhalten von Personen während des Aufenthaltes
Höhenstationen, so muß als Grundbedingung gelten,
»ß diese unter genau analogen Verhältnissen, wie
der Ebene untersucht werden. Es ist begreiflich,
iß reichlichere Bewegung, häufiger Aufenthalt im
eien, die Zeit zum Essen und das Sich-freuen auf die
dilzeit, wie überhaupt der Wegfall der Hemmungen, die
mühevollen Alltagsleben naturgemäß ungünstigere Ee-
jnsbedingungen schaffen, die Größe der Nahrungseinfuhr
ul die Ausnützung der Kost im Höhenklima wesentlich
ul zwar günstig zu beeinflussen vermögen. Solche Wir-
I ngen müssen natürlich ausgeschaltet werden, wenn man
(s reine, unverzerrte Bild der Höhenwirkung erkennen
'II. In diesem hat vor allem der Einfluß des Höhenklimas
f die Zusammensetzung des Blutes und die Blutbildung
s Interesse erregt.
Schon die teleologische Ueberlegung allein zwingt fast
dem Gedanken, daß die Abnahme des Sauerstoffdruckes
d damit die Verschlechterung der Bedingungen für die
' uerstoffversorgung zn einer kompensatorischen Vermeh-
1 ig des Hämoglobins führen müsse. Gegen die älteren
I tersuchungen, die in der Tat eine Zunahme der Bluf-
• rperchen, des Sauerstoffbindungsvermögens und desllämo-
■ 'bins im Höhenklima nachwiesenl, sind aber bald Einwände
leben worden, um so mehr als Gaule bereits während
Aufstieges im Luftballon eine Zunahme des Hämoglobins
Rehen haben
Mit Recht
der Menge
1 ''den müsse,
es sich
! igen des
wollte.
stellte man daher die Forderung auf, daß
des Gesa m I h ä m o g 1 o bins erwiesen,
ob eine solche Vermehrung stattfindel oder
nur um Verteilungs- oder Konzentrationsünde-
Blutes handle, denn sowohl die Vermehrung der
'bl der Blutkörperchen, wie die Erhöhung des Sauerstoff
Edungsvermögens einer Blutprobe, wie auch die Steigerung
sllämoglobingehaltes in einer solchen können immerhin
1 1’ einen rein örtlichen Befund vorstellen, der je nach dem
bißgebiet, aus dem das entnommene Blut stammt und
I
I
je nach der Gesamtblutmenge ganz verschieden einzu¬
schätzen ist.
Bekanntermaßen sind drei Theorien aufgestellt worden,
die ausgehend von der Annahme, daß die Vermehrung der
Zahl der Blutkörperchen im Kubikmillimeter nicht einer
tatsächlichen Zunahme derselben im Gesamlblut entspreche,
den auffallenden, immer wiederkehrenden Befund erklären
sollten. Es isl dies die Eindickungstheorie Billiges, die
Verteilungstheorie von Zimtz und die Theorie der Wasser¬
verarmung des Blutes von Grawitz. Obno auf eine Dis¬
kussion über diese Theorien einzugehen, seien nur einige
der wichtigsten Tatsachen angeführt.
Immer wieder begegnet man in der Literatur der An¬
gabe, daß Menschen und Tiere, wenn sie ins Hochgebirge
aufsteigen, nahezu plötzlich eine Vermehrung der Zahl der
roten Blutkörperchen, aber aui h eine V ermehrung des Hämo¬
globins aufweisen, die mit der Zunahme der Blutkörperchen-
zald allerdings nicht parallel geht. Nahezu sofort nach der
Rückkehr aus der llöhenstation verschwand auch in allen
Bällen die Vermehrung der Blutkörperchen. Die in der Lite¬
ratur vorliegenden Zahlen lauten sogar dahin, daß bereits
in löü m über dem Meeresspiegel eine grüßen1 Blutkör¬
perchenzahl vorhanden sein soll, als am Meeresspiegel und
dementsprechend eine Vermehrung der Blutkörperchen be¬
obachtet werden würde, die um so größer sei, je größer
die Meereshöhe, in der die Probe entnommen wurde, ln
der Tat wurde dieser Befund von zahlreichen Autoren be¬
stätigt und [Mi es eher baute darauf seine Theorie, daß
der Sauerstoffmangel die Steigerung der Blutbildung durch
Beizung des Knochenmarks herbeiführe. Daß dem nicht
so sein kann, ergibt sich wohl schon aus einer Ueberlegung
über den Verlauf der Dissoziations-spannungskurve des Hä¬
moglobins und über die alveolare Sauerstoffspannung, nach
der bis in Höhen von wesentlich mehr als 1000 m wohl keine
nennenswerte Aenderung der Sauerstoff Versorgung zu er¬
warten ist.
|
Blutkörperchen (Millionen)
500 m
2130 in
4560 ni
Brienz
Rothorn
Margheritahütte
Zuntz .
560
5-85
6T4
Loewy .
5-76
5 46
558
Caspari ....
6 T0
6 81
5-71
Kolmer ....
633
5-95
5-65
Müller .....
. 1 6 T0
626
6T7
H u
n d e
Zahl der Blutkörperchen (Millionen)
Bern
Rothorn
7T9
6-80
7-07
7-57
8 '92
8-82
9-03
911
Mittel 8 05
8:07
Bemerkenswert ist, daß die vorzüglichen Versuche von
Zunlz und seinen Mitarbeitern, ebenso wie jene von den
Brüdern Loewy und L. Z tin t z, keinen Anhaltspunkt
für eine Vermehrung der Zahl der Blutkörperchen ge¬
geben haben. Auch die Hunde, sowohl die alten, wie
mich die jungen, zeigten am 15. .Juli, nachdem sie seit
5. Juni, also rund sechs! Wochen, auf dem Rothorn gewesen
waren, keinerlei Abweichungen in der Zahl der Blutkörper¬
chen und doch hätte in dieser Zeit das Maximum des Aus¬
schlages beobachtet werden müssen. Nach diesen mit größter
Vorsicht ausgeführten Beobachtungen ergibt sich, daß sogar
die relative Veränderung der Zahl der Blutkörperchen als
keine gesetzmäßig im Höhenklima sich einstellende Erschei¬
nung zu betrachten ist, wenn auch keineswegs bestritten
werden kann, daß in den allermeisten Fällen eine höhere
Zahl von Blutkörperchen im Kubikmillimeter der
entnommenen Blutmenge gefunden worden ist. Be¬
zeichnend mag es für die Bedeutung der Werte, die bei der
Blulkörperchenzählung im Hochgebirge gefunden wurden.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
624
Nr. U
sein, daß Loewy und ebenso Abderhalden angeben,
daß man bei ein und derselben Versuchsperson in derselben
Station und zur selben Tagesstunde, je nach den Begleit¬
umständen drei bis acht Millionen Blutkörperchen im Kubik¬
millimeter zählen kann.
Interessant ist jedenfalls auch die Angabe Knoches,
daß er an sich, seiner Frau und seinem Diener ein wesent¬
liches Zurückgehen der anfangs gefundenen Erhöhung der
Blutkörperchenzahl fand, so daß nach etwa dreimonatigem
Aufenthalt, in 5000 m Meereshöhe endlich sogar niederere
Blutkörperchenzahlen als vor dem Aufstieg im Meeresniveau
ermittelt wurden.
Nicht viel anders steht es mit der Beweiskraft der
Ergebnisse jener Untersuchungen, in denen nach morpho¬
logischen Veränderungen an den Blutkörperchen, die Zeichen
von Neubildung oder Untergang sein sollten, gefahndet
wurde. Gerade in den einwandfreien, im Höhenklima ange-
stellten Beobachtungen, wurden kernhaltige Blutkörperchen
oder Jugendformen niemals gefunden, auch im Luftballon
konnten Z u n t z und v. Schrötter solche nicht nach-
weisen. Denselben negativen Befund erhoben v. Schrötter
und D o u glas auf dem 'Pik von Teneriffa. Auffallend mag es
sein, daß nur bei Versuchen, in denen die Tiere unter
Glasglocken gehalten wurden, kernhaltige Blutkörper¬
chen unzweifelhaft beobachtet worden sind. Es müßte
übrigens erst erwiesen werden, daß das Auftreten kern¬
haltiger Blutkörperchen und der Befund röteren Kno¬
chenmarkes bei Tieren, welche im Gebirge unter ver¬
mindertem Luftdruck lebten, im Sinne einer Vermeh¬
rung der Blutköreprc'hen gedeutet werden dürfe, da
es naheliegend ist, den Einwand zu erheben, daß
eine solche eventuelle Neubildung nur dem Ersätze reich¬
licher zugrunde gegangener Erythrozyten gedient habe. Bei
der intensiven Besonnung der Haut, die bis zum Abstoßen
der oberflächlichen Epidermisschichten, eventuell sogar bis
zur Blasenbildung führt, ist ein rascheres Zugrundegehen
der Blutkörperchen in den Gefäßen der belichteten Haut¬
partien keineswegs von der Hand zu weisen, ja bis zu einem
gewissen Grade sogar recht wahrscheinlich, wenn wir an
die gleichzeitige Wirkung von Sensibilatoren denken.
Ausschlaggebend könnte die Vermehrung der Blut¬
körperchen nur durch die Untersuchung des Gesamtblutes
erwiesen werden, doch auch in diesen kann nur die Be¬
stimmung des Gesamthämoglobins oder des Gesamtsauer¬
stoffbindungsvermögens, als sicher zum Ziele führend, an¬
erkannt werden. Beiden Untersuchungsmethoden stehen
aber große technische Schwierigkeiten entgegen. Gegen die
Bestimmung der- kreisenden Blutmenge am Lebenden mit
Hilfe 'der Kohlenoxydmethode, wurden Einwände wegen der
Bindung des Kohlenoxydes an andere Zellen, außer an
die Blutkörperchen, erhoben und die Feststellung der Ge¬
samtblutmenge im entbluteten Tiere stößt in erster Linie
auf die Schwierigkeit, daß die Untersuchung auf Konfron¬
tiere angewiesen ist, bei denen schwer zu entscheiden ist,
ob sie sich, abgesehen von der Höhenwirkung, unter voll¬
kommen analogen Lebens- und Ernährungsbedingungen be¬
funden haben.
Jaquet und seinen Schülern gebührt das Verdienst,
in mühevollen Versuchen die Frage des Hämoglobingehaltes
bei den Höhentieren in dem Sinne entschieden zu
haben, daß eine Vermehrung des Gesamthämoglobins
stattfindet. In der Tat weisen die Versuche an Ka¬
ninchen (s. folgende Tabelle) auf eine solche Steigerung
des sauerstoffbindenden Anteiles des Blutes hin, doch ist
die Zunahme des Hämoglobins, abgesehen von einem Ver¬
suche, der ganz aus der Beihe fällt, gar nicht so bedeutend
und es finden sich Versuchstiere in Davos und in Basel,
die ganz genau gleich hohe Zahlen für den Hämoglobin¬
gehalt aufweisen, ja auch Tiere in der Flbene, deren Hämo¬
globingehalt höher ist, als jener, die in Davos gehalten wur¬
den. Immerhin darf nicht übersehen werden, daß die Mittel¬
werte im Sinne einer Zunahme im Höhenklima sprechen.
Auch bei Tieren, die in der Ebene unter vermindertem Luft-
Ilb °/00 des Körpergewichtes
Jaquet
Kaninchen
Davos
Basel
6-6B
6-76
6-78
538
6-59
518
6-74
5-94
5-5
5-61
6-6
513
6-48
528
597
536
8-14
5-30
druck gehalten wurden, wie bei solchen, die sauerstoffarn
Gemische atmen mußten, wurde eine analoge Zunahme beoj
achtet.
Im selben Sinne spricht das Ergebnis der Entblutui
eines auf dem Rothorn von Zuntz gehaltenen Versuch
Inindes, der mehr Hämoglobin enthielt, als das Berner Ko
trolltier. Allerdings kann dieser Versuch darum nicht a
einwandfrei angesprochen werden, weil das Rothorntier w
sentlich mehr an Gewicht zugenommen hatte, als das Bern
Tier, so daß anzunehmen ist, daß letzteres sich unter ul
günstigeren Ernährungsbedingungen befunden haben müss
Diesen Angaben stehen jene von Weiss, der bei sein»
auf 'dem Pilatus gehaltenen Tieren keine Zunahme des Häm
globins gefunden hatte und jene von Abderhalden gegej
über, die sich auf so ungeheures Material stützen, wie
eben nur die Arbeitskraft di es es Autors bewältigen könnt]
Gegen die Schlüsse von Weiss, wie jene von A b d e
h a I d e n, sind von J a quet und Zuntz Bedenken (j
hoben worden. Immerhin ist selbst für das Tier im Höhe]
klima eine Vermehrung des Hämoglobins, die sich typisc
einstellen würde und so groß wäre, daß sie das Absink«]
des Sauersloffdruckes in größerer Höhe zu kompensier«
vermöchte, noch nicht nach gewiesen worden, wet
auch am Vorkommen einer Zunahme des Hämoglobins wo]
nicht zu zweifeln ist.
Jedenfalls liegt für den Menschen aber zurzeit keif
Angabe vor, die die 'Annahme einer Neubildung und Vermei
rung des atmenden Teiles des Blutes erweisen würd
Bestimmungen der Bindungsfähigkeit des Gesamtbildes, d
Douglas während unseres Teneriffa -Aufenthaltes in d«l
Canadas und auf der Alfa Vista ausführte, lieferten nepj
live Resultate hinsichtlich einer Steigerung, die Beobac:
lungert sind aber noch nicht, zahlreich und einwandfr
genug. Auch die Prüfung des Sauerstoffbindungsvermögeij
des Hämoglobins, die durch Barcroft in den Caflad
und auf der Alta Vista ausgeführt wurde, lieferte keinen B
weis zugunsten einer Kompensation des Druckabfalles d
Luft durch die Beschaffenheit des Blutes.
Bemerkenswert ist es jedenfalls, daß das spezifiscl
Gewicht des Blutes keine Aenderung zeigt, die einen Schli;
auf eine scheinbare Vermehrung der Blutkörperchen dun
Eindickung gestatten würde.
Dem Gedankengange folgend, daß der Ei seng eh a
des Blutes ein Kriterium für das Sauerstoffbindungsve
mögen des Blutes liefern könnte, wurden auch Eisenbestii
mungen an Höhentieren ausgeführt. Mit Recht hebt jedo<
Oerum hervor, daß solche Analysen nicht zu Schlüsse
auf den Hämoglobingehalt des Blutes geeignet seien, inde
er als merkwürdigen Befund unter anderem auch den U)
stand hervorhebt, daß der Eisengehalt des Blutes (F
Schweizer nur vier Fünftel des Blutes der Dänen betrag«!
solle.
Kine Entscheidung in der Frage nach der Vermehruii
des Sauerstoff bindenden Anteiles im Blute beim Höhe
aufenthalt wird wohl erst dann fallen können, wenn d
Methoden zur Bestimmung des Gesamthämoglobins und d«
Gesamtsauerstoffbindungsvermögens des Blutes vervo
kommnet sein werden, bis dahin bildet die Tatsache, dt
die Atmung auch bei lange dauerndem Aufenthalt in groß'
Nr. 18
625
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Höhe keine Anpassung gezeigt hat, ein ziemlich gewich¬
tiges Gegenargument. Auch der Umstand, daß, .nach der
Rückkehr aus der Höhe keine Mehrausscheidung an Stick¬
stoff, Eisen oder Schwefel beobachtet wird und noch nie¬
mals das Auftreten eines Ikterus als Folge eines rasch
unterbrochenen Höhenaufenthaltes nachgewiesen worden ist,
spricht nicht zugunsten des immer wieder beobachteten
raschen Verschwindens der Vermehrung der Blutkörperchen.
Auf eine weitere Tatsache sei ferner noch hingewiesen,
welche von Nothnagel betont worden ist. Es gelingt
keineswegs, Chloranämien oder Chlorosen ohne entspre¬
chende andere Therapie im Höhenklima zur Heilung zu
bringen und selbst dann, wenn sich Therapie und Klima¬
wirkung unterstützen sollten, ist keine beschleunigtere Neu¬
bildung von Blutkörperchen, sowie kein schnellerer Ersatz
des Hämoglobins nachzuweisen gewesen. Auffallend ist es
wohl jedem Alpenbewohner, der in die Großstadt kommt,
wie selten man in dieser gegenüber den Landstädten Chlo¬
rose oder Chloranämie bei Mädchen beobachtet. Ganz über¬
raschend ist es auch, bei wievielen Leuten man in den
Alpengegenden trotz lebhaft geröteter Gesichtsfarbe ganz
ausgesprochene Zeichen von Blutarmut findet. Ein eigen¬
tümliches Licht auf die Bewertung der Ergebnisse von
Glockenversuchen bei vermindertem Luftdruck werfen übri¬
gens die Beobachtungen Bornsteins im Caisson unter
Ueberdruck, bei denen eine Ver m e h r u n g des Ge¬
samthämoglobins erwiesen wurde.
Eindeutig und durch das Absinken des Sauerstoff¬
druckes leicht erklärlich istdie der Sauerstoffspannung in den
Alveolen entsprechende Verminderung im Sauerstoff gehall
des Blutes und ebenso unbestreitbar ist wohl auch die
Abnahme der Blutalkalinität festgelegt worden.
*
ln bezug auf das Herz wissen wir auf Grund viel¬
facher Angaben, daß im Höhenklima u. zw. besonders nach
Anstrengungen, Zeichen abnormer Herztätigkeit eintreten.
Nicht selten hört man, daß sonst rüstige Gänger im Ge¬
birge einem akuten Herztode erlegen sind, doch darf man
keineswegs annehmen, daß immer vorangegangene Ar¬
beit die Ursache der Veränderungen der Herzarbeit im
Gebirge sein müsse, da Pulsbeschleunigung, Herzklopfen
und Veränderungen im Charakter des Pulses auch nach
passiver Beförderung in die Höhenregion beobachtet wurden.
Eine einwandfreie Entscheidung über das Verhalten
der Herzarbeit konnte erst dann getroffen werden, als man
die peinlichste Sorgfalt darauf verlegte, das Verhalten des
Pulses in vollkommener Körperruhe, morgens, nüchtern in
Bettruhe zu zählen, da sonst nur allzuleicht u. zw. be¬
sonders im Hochgebirge, wesentliche Veränderungen beob¬
achtet werden können, die nicht rein auf eine Höhenwirkung
zurückgeführt werden dürfen. In dieser Hinsicht sind die
Zählungen von Zuntz und seinen Mitarbeitern vorbild¬
lich geworden. Die nachstehenden Kurven sollen als Bei¬
spiel das Verhalten von zweien unserer Versuchspersonen
wiedergeben.
Wie die Kurven zeigen, war die Pulsfrequenz bis zu
einer Höhe von 3000 m (Col d’Olen) nahezu unverändert
geblieben; zum selben Resultat waren auch Zuntz und
seine Mitarbeiter im Jahre 1901 gekommen, bei anderen
Personen, so bei einem unserer Begleiter auf der Teneriffa¬
expedition, war aber schon in 2000 m Höhe eine Pulsbe¬
schleunigung ganz deutlich ausgesprochen, die sich bei uns
allen in 4560 m Höhe auf dem Monte Rosa einstellte. Plötz¬
lich, mit dem Tage des Aufstieges, war die Pulsfrequenz
in die Höhe geschnellt und wenn auch die Beschleunigung
der Herzarbeit sich anfänglich rascher, später aber langsamer
rückbildete, sank die Pulsfrequenz doch auch im Laufe
eines Monats nicht auf die in der Ebene beobachteten Werte
ab. Trotz dieser Anpassung blieb die Pulsfrequenz doch
immer noch eine außerordentlich labile. Obwohl die Ver¬
suchsbedingungen stets ganz gleichartige waren, schnellte
doch an diesem oder an jenem Tage plötzlich ohne ersicht¬
lichen Grund die Pulsfrequenz wieder in die Höhe, um
am folgenden Tage wieder abzusinken. Ganz auffallend
war das Verhalten bei der Rückkehr ins Tal. Mit einem
Schlage war nicht nur die Steigung der Frequenz und die
Labilität verschwunden, sondern es sank die Pulsfrequenz
noch weiter, auf unter der Norm liegende Werte ab.
Deutet schon das Herzklopfen, unter dem die meisten
Menschen in großen Höhen zu leiden haben, darauf hin, -daß
sich abnormale Vaguswirkungen im Höhenklima geltend
machen, so ist es naheliegend, daran zu denken, daß das
Herabdrücken der Pulsbeschleunigung neben der Abnahme
der Körpertemperatur, auf die Ausbildung einer erhöhten
Hemmungswirkung, also auf gesteigerten Vagustonus, zu¬
rückzuführen sei. Diese Hemmung scheint nur allmäh¬
lich zur Ausbildung zu kommen und darum dürfte sie
auch nur allmählich wieder ausgeschaltet werden. Eine
solche Vermutung findet eine gewisse Stütze in dem Auf¬
treten der subnormalen Werte beim Wechsel zwischen
Höhen- und Talaufenthalt. Während mit dem Abstieg die
in der Höhe wirksamen, herzbeschleunigenden Reize plötz¬
lich wegfallen und dadurch die Pulsfrequenz zur Norm
absinken müßte, dürfte das Fortdauern der nur allmählich
Pulsfrequenz und Körpertemperatur am Morgen.
puls . . Temperatur W = Wien 150m 0- Co! d’Olen Alagna 1200m.
626
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 18
wieder verschwindenden, daher noch immer gesteiger¬
ten Hemmung die Pulsfrequenzen auf stibnormale Werte
herabdrücken. Diese werden normalen Werten erst dann
wieder Platz machen, wenn das ursprüngliche Gleichgewicht
zwischen Akzeleration und Hemmung wieder hergestellt ist.
Die Form der Pulskurve dürfte sich beim Gesunden
unter dem Einflüsse des Höhenklimas selbst in sehr be¬
deutenden Höhen nicht ändern, insolange zum mindesten
eine Ueberanstrengung des Herzens nicht stattgefunden hat,
wenigstens sprechen unsere neuen Untersuchungen dafür,
daß selbst recht anstrengende Aufstiege im Hochgebirge
von Leistungsfähigen durchgeführt werden können, ohne
daß der Charakter des“ Sphygmogrammes dadurch irgend¬
welche Aenderung erfährt. Man wird dabei allerdings nicht
übersehen dürfen, daß die Aussagen des Sphygmogrammes
nur mit größter Vorsicht gedeutet werden dürfen. Einige
Kurven sollen als Belege der bei uns in der Höhe zwischen
4000 und 5000 m erhobenen Befunde dienen.
Es dürfte sich daher bei dieser ab und zu auftretenden.
Veränderung wohl nicht um eine typische Höhenwirkung
handeln.
Auch der Blutdruck erfährt, trotz gegenteiliger An¬
gaben, beim Gesunden im Höhenklima keine typische Ver¬
änderung. Während in manchen Fällen unter der Ein¬
wirkung von Radiumemanation im Laboratorium Blutdruck¬
senkungenbeobachtet wurden, streb t im Höhenklima der Blut¬
druck trotz ausgesprochen erhöhter Ionisation eher erhöhten
Werten zu; eine ganz auffallende Steigerung beobachteten
wir an Zuntz auf dem Pik von Teneriffa. Als sicher fest¬
stehend kann daher die Tatsache gelten, daß die inr
Hochgebirge beobachtete Zyanose nicht auf Stauungsver¬
hältnisse, sondern nur auf die Einwirkung der niederen
Temperatur und auf die verminderte Sättigung des Blutes
mit Sauerstoff zurückzuführen ist. Ich muß es mir dabei
versagen, in eine Diskussion der Theorie Krön eck ers
einzugehen. Ebenso gestattet die zugemessene Zeit es nicht,
Durig
_9./VIIIy Monte Rosa (dritter Ta
In vorstehenden Abbildungen ist es besonders das
Pulsbild des sehr muskelkräftigen und gewandten Rainer,
das die Aufmerksamkeit fesselt. Der für ihn typische Cha¬
rakter des Pulses ist auch auf dem Monte Rosa deutlich
erhalten geblieben und selbst unmittelbar nach der Bestei¬
des Lyskammes und Rückkehr zur 4560 m hohen Punta
Guifetti weist der Puls genau den nämlichen Charakter auf,
wie in Wien, oder wie nach einmonatigem Aufenthalt auf
dem Gipfel (2. September). Ebenso wie bei Rainer, ist
auch bei Reichel, K o 1 m e r und D u r i g, abgesehen von
Aenderungen in der Pulsfreuqenz, eine nennenswerte Aen¬
derung im Sphygmogramm nicht zu beobachten gewesen.
Für jeden von uns sind alle seine Pulsbilder so charakte¬
ristisch, daß die ihm zugehörige Kurve sofort aus der ganzen
Fülle des Kurvenmateriales erkannt werden konnte, wäh¬
rend es ohne Signatur nicht möglich gewesen wäre, zu
entscheiden, ob das Sphygmogramm in der Ebene oder
auf dem Monte Rosa-Gipfel aufgenommen worden war.
Darüber, daß bei Ueberanstrengung Veränderungen im
Sphygmogramm beobachtet werden müssen, kann ein
Zweifel wohl nicht bestehen, in bezug auf diese werden
aber dieselben Erscheinungen in der Ebene, wie im Hoch¬
gebirge, zu gewärtigen sein. Auffallend ist das häufige Auf¬
treten von Arhythmien im Hochgebirge, das auch bei voll
leistungsfähigen, keineswegs überanstrengten Personen be¬
obachtet wird. Vielleicht steht damit die von Mos so
und dann auch von Fuchs gemachte Beobachtung des
Vorkommens von Frequenzperioden in gewissem Zusam¬
menhang. Wir konnten allerdings derartige Perioden tauf
dem Monte Rosa niemals erkennen, dagegen waren sie
deutlich während der Seefahrt nach Teneriffa ausgesprochen.
die Beobachtungen Henderso n s, Mannsfel d s und der
englischen Autoren über die Bedeutung des Kohlensäure¬
reizes für die Tätigkeit des Herzens eingehender zu be¬
sprechen. Wichtig scheint mir dagegen der Hinweis, daß
die Zahl der Beobachtungen über das Verhalten der Herz¬
arbeit in mäßigen Höhen noch eine ganz unzulängliche ist
und daß es dringend erwünscht wäre, wenn diese besonders
durch Beobachtungen von Aerzten, die in Höhensanatorien
tätig sind, ergänzt werden würden. Im Seitengalvanometer
besitzen wir in neuester Zeit zudem ein Instrument, das
geeignet ist, objektiv richtige Befunde zu registrieren. Da
in Davos, St. Moritz, und am Semmering elektrischer Strom
zur Verfügung steht, können derartige Untersuchungen der¬
zeit nicht mehr auf allzugroße Schwierigkeiten stoßen und
sicherlich würden solche Studien bei Kranken und zwar
insbesondere solchen, welche sich Terrainkuren unterziehen,
auch physiologisch interessante Ergebnisse liefern.
♦
Wenn Anpassungen im Sauerstoffbindungsvermögen
des Blutes und in der Herzarbeit imstande sein könnten,
die Folgen der \ erminderung des Sauerstoffanbotes im Hoch¬
gebirge zu kompensieren, so scheint es doch in erster Linie
die Aufgabe der Atmung, durch Steigerung der Ventilation
die Abnahme des Sauerstoffteildruckes wett zu machen.
Es ist darum begreiflicherweise auch die Mechanik wie der
Chemismus der Atmung im Hochgebirge eingehendem Stu¬
dium unterzogen worden.
Ganz auffallenderweise ist aber kein einheitlicher
Typus der Anpassung der Atemmechanik beobachtet wor¬
den. Frequenz und Tiefe der Atmung und selbst die Resul¬
tierende aus beiden, das Minutenvolum, sind in mäßigen
Nr 18
627
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Höhen ab und zu vergrößert., meist aber verkleinert ge¬
funden worden. Erst von Höhen von etwa 3000 m an, be¬
ginnt eine ausgesprochene Steigerung der Ventilation (siehe
folgende Tabelle).
Atemvolum.
Aenderung
und Zahl der
Personen.
Höhe m
Zahl der
untersuchten
Personen
Zunahme des
Atemvolums
gefunden
bei Personen
Abnahme des
Atemvolums
gefunden]
bei Personen
Konstanz
unter
600
7
_
3
4
»
1000
2
1
1
—
bis
1500
11
8
2
1
2000
1
1
—
,
2500
10
4
4
2
»
3000
13
8
3
2
*
4000
16
11
2
3
. »
5000
29
24
3
2
Man möchte nun meinen, daß dieses Ergebnis im Sinne
ler Mos so sehen Theorie der Luxusatmung gedeutet wer¬
ten müsse, doch dem ist nicht so. Käme schon die von
Mo sso gedachte Zweckmäßigkeit einer solchen zur Er¬
sparung an Arbeit gedachte Regulation darum nicht in Be-
racht, weil wir ja in der Ebene stets auf ' die neben-,
sächlichsten Reize hin das Atemvolum ändern und schon
isychische Erregungen, ja Aufmerksamkeit allein genügt,
lie Frequenz und Tiefe der Atmung zu variieren, so zeigt sich;
luch bei genauerem Zusehen, daß die Atmung in der Ebene
vie in der Höhe vollkommen den Reizen angepaßt ist, die
las Atemzentrum treffen. Allerdings ist es eine Summe von
Kompromissen, die zu einem bestimmten Typus der Atmung
md zu einem gegebenen Minutenvolum führt.
Während die Reizung der Nervenenden an den Alve¬
olen bei der Dehnung in der Inspiration und das
Anwachsen der Atemarbeit bei zunehmender Defor-
nation des Thorax im Sinne einer Verflachung wirken,
nüssen die Reize, welche das Atemzentrum durch das
Steigen der Kohlensäurespannung und das Sinken der
Sauerstoff Spannung treffen, bei Verflachung der Atmung
m Sinne einer Steigerung der Ventilation durch Vertiefung
ler Atemzüge wirken, da durch Vermehrung der Frequenz
illein, wegen des schädlichen Raumes, nur wenig geholfen
vürde. Zu diesen einander entgegenwirkenden Kompo¬
nenten tritt noch der Einfluß der Blutversorgung, sowie
ener des Nervensystems überhaupt und die Wirkung der
Temperatur, so daß begreiflicherweise jede Veränderung im
deichgewichte dieses ausäquilibrierten Systems den Typus
ler Atmung ändern muß.
Ein lehrreiches Beispiel dafür, was allein schon ein
Unwohlsein für die Atemmechanik bedeuten kann, mag es
mn eine Veränderung in der Empfindlichkeit des Atem¬
zentrums herbeigeführt, oder eine Verminderung der Lei¬
stungsfähigkeit der Atemmuskulatur bedingt haben, liefert
iiner der Marschversuche an Rainer in Neuwaldegg bei
Vien. Rainer war zu dieser Versuchsserie in „über-
lächtigem“ Zustand gekommen und hätte mit 15 kg Last
sergauf marschieren sollen. Während des Versuches stellte
sich bei ihm nun eine derartige Verflachung der Atmung
inter Frequenzsteigerung ein, daß er, trotzdem sein Atem-
.olum ganz der Leistung entsprach, zu einem guten Teile
iur den schädlichen Raum seiner Lunge mit Frischluft
spülte. Dadurch sank die Sauerstoffspannung in den Alve-
»len von 105 (normal für Wien) auf 57 mm, während die
vohlensäurespannung mächtig anstieg. Die Folge dieser Aen-
lerung der Alveolarluft war, idaßi sein Blut, das auf dem
' tonte Rosa noch mehr als 85% mit Sauerstoff gesättigt
var, bei diesem Versuche in Wien nur noch ca. '70% seiner
■ ollen Sättigung zu erreichen vermochte, so daß die Ver-
lältnisse für die Sauerstoffversorgung wesentlich ungün¬
stigere waren, als in 4560 m Höhe in Ruhe oder bei Arbeit,
is kann daher auch nicht wundernehmen, wenn Menschen,
lie infolge von Ueberanstrengung des Herzens und der Atem-
nuskulatur, nach einem vorhergehenden Forcieren verflacht
zu atmen beginnen, Zeichen von Sauerstoffmangel auf¬
weisen, die wir ganz mit den Symptomen der Bergkrank¬
heit in großer Höhe identifizieren können.
Da unter normalen Verhältnissen die Sättigung des
Hämoglobins wegen des asymptotischen Verlaufes der Dis¬
soziationsspannungskurve selbst in 2000 m Höhe nur um
wenige Prozente verschieden von der Sättigung in der Ebene
sein kann, so ist es begreiflich, daß verschlechterte Sauer¬
stoffversorgung bis zu diesen Höhen noch nicht den Anlaß
zur Ventilationssteigerung geben wird. Wohl aber sinkt
mit der Abnahme des Luftdruckes die Kohlensäurespannung
in den Alveolen, dieser feine Regulator für die Größe der Ven¬
tilation, meist merklich ab, so daß die Wirkung des Kohlen¬
säurereizes mit abnehmendem Barometerstand immer mehr
in den Hintergrund gedrängt wird. Untersucht man näm¬
lich den Prozentgehalt der Lungenluft an Kohlensäure in
verschiedenen Meereshöhen bei Ruhe und Arbeit, so sieht
man, daß dieser eine ganz auffallend geringe Verschiebung
erfährt. Da aber der Luftdruck mit zunehmender Höhe
eine Verminderung erfährt, entspricht einem gleichen Kohlen¬
säureprozent in der Lungenluft in größerer Höhe naturgemäß
ein geringerer Teildruck, der sich als niedrigere alveoläre
Kohlensäuretension ausdrückt.
Daß dies in der Tat der Fall ist, zeigen die in fol¬
gender Tabelle angeführten Versuchsbeispiele.
Wien .
Semmering ....
Alagna .
Sporner Alpe . .
Margh. -Hütte, Beg
» » Ende
co2
o2
Durig
Reichel
Durig
Reichel
150 m
320
35T
1098
1059
1000 m
290
34T
992
934
1200 m
289
339
972
89-3
1326 m
27 0
- -
96-3
_
4560 m
196
208
572
57-9
4560 m
20-9
215
567
56-6
Man könnte nun vermuten, daß der Wegfall der Reiz¬
wirkung der Kohlensäure durch die Zunahme der Reize,
die auf das Atemzentrum; infolge des verminderten Sauerstoff¬
anbotes in größerer Höhe wirken, kompensiert würde. Doch
dem ist nicht so. Ein Absinken der Sauerstoffspannung in der
Alveolarluft von 109 mm oder 106 mm auf 96 mm gibt
schon an und für sich zu keiner nennenswerten Aenderung
der Sättigung des Hämoglobins mit Sauerstoff Anlaß, noch
weniger kann aber eine solche darum zustande kommen, weil
mit dem Sinken der Kohlensäurespannung, die Fähigkeit
des Blutes, Sauerstoff zu binden, erhöht ist. Während das
Hämoglobin in unserem Falle in der Ebene etwa zu 96-5%
mit Sauerstoff gesättigt gewesen sein dürfte, muß die Sätti¬
gung in 1326 m Höhe noch immer rund 96% betragen
haben, so daß wir in der Tat eine Steigerung der Ventilation
zur Deckung des erforderlichen Sauerstoffbedarfes gar nicht
zu erwarten haben. Daß dagegen eine Verminderung des
Kohlensäurereizes das Atemvolum zu drücken, eine leichte
Zunahme der Kohlensäure dieses zu steigern vermag, kann
man ja sofort in dem bekannten Sehifl versuch 'nachweisen,
indem man sieht, daß Spuren von Kohlensäure, der Inspi¬
rationsluft zugemischt, sofort eine Steigerung der Venti¬
lation auslösen, während Wegschaffung der Kohlensäure
zur vorübergehenden Apnoe führt.
Die Verminderung der Ventilation infolge der Abnahme
des Kohlensäurereizes findet eine schöne Illustration in
den Versuchen aus dem pneumatischen Kabinett, die in der
folgenden Tabelle angeführt sind. Ganz auffallenderweise
Pneumatisches Kabinett, Ventilation in cm3 (unreduziert) pro Minute
bei verschiedenen Drucken
Loewy . . .
Müller . , . .
Waldenberg.
Caspari . . .
760 mm
480 mm
450 mm j unter 400 mm
5041
5801
5662
5837
4850
5495
5290
4588
4544
4092
5380
7731
7388
7468
628
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
ist erst von Drucken, von 450 mm an eine ausgesprochene
Vergrößerung des geförderten (nicht reduzierten) Atem¬
volums beobachtet worden.
Nach diesen Verhältnissen kann der Befund, der
oben in der Tabelle über das Atemvolum niedergelegt
ist, nicht mehr verwundern. Finden wir auch Per¬
sonen, bei denen die Abnahme der Ventilation in
mäßigen Höhen nicht ausgesprochen ist, oder finden wir
auch Menschen, die schon in geringer Höhe eine Steige¬
rung der Ventilation aufweisen, so kann dies nicht befrem¬
den, wissen wir doch, daß ganz wesentliche Unterschiede
individueller Art im Ansprechen des Atemzentrums auf den
Kohlensäurereiz bestehen, was die Tatsache beweist, (daß
die Kohlensäurespannung in der Alveole bei einzelnen Per¬
sonen in der Ebene mit 32 mm, bei anderen mit 46 mm
gefunden wird, also Werte erreicht, die bei vielen schon
mächtige Ventilationssteigerung auslöst. Vergessen dürfen
wir schließlich ja auch nicht, daß die Reize, welche als
Kohlensäuregehalt oder Folge des Sauerstoffmangels das
Atemzentrum treffen, ja nicht die einzigen sind, die die Atem¬
mechanik bestimmen. Keinesfalls darf aber nach dem Ge*
sagten der Klimatherapeut voraussetzen, daß der Aufent¬
halt in mäßiger Höhe, zu einer gesetzmäßigen, er¬
wünschten kräftigeren Ventilation der Lunge führen
müsse.
Es ist jedoch klar, daß mit der Verminderung der
Ventilation infolge der Abnahme des Kohlensäurereizes end¬
lich jene Grenze erreicht wird, bei der der Sauerstoffdruck
durch ungenügende Zufuhr von Sauerstoff in die Lunge
so niedrig wird, daß ein Mißverhältnis zwischen Sauerstoff¬
anbot und Verbrauch entsteht. Dieses wird sich endlich
auch dann einstellen müssen, wenn die Ventilationsgröße
konstant geblieben war, oder in geringem Maße zugenommen
hat. Von dieser Grenze ab muß die Ventilation durch die
Entstehung saurer, unvollständig oxydierter Stoffe, die das
Atemzentrum reizen, wesentlich gesteigert werden und um
so mehr, als diese Steigerung in den Vordergrund tritt,
wird die Spannung an Kohlensäure in der Lungenluft eine
weitere Verminderung erfahren, da jetzt reichlicher Kohlen¬
säure abventiliert wird. In seinen schönen Untersuchungen
hat W i n t e r s t e i n in neuester Zeit darauf hingewiesen,
daß es die Summe der H - Ionen, jener der Kohlensäure
und jener der sauren Abbauprodukte sein dürfte, deren
Gesamtheit die Intensität der chemischen Reizung des Atem¬
zentrums bedingt. Diese Annahme stimmt vollkommen mit
dem überein, was wir schon auf Grund unserer Versuche
in verschiedenen Höhenlagen gefolgert hatten und gibt eine
schöne plausible Erklärungsmöglichkeit für die geforderte
S u m m e der Reizwirkungen von Kohlensäuregehalt und
Sauerstoffmangel.
Dem Beweis dafür, daß nur in der Ebene und in
mäßiger Höhe der Kohlensäurebestand die hauptsächliche,
fein abgestufte Reizwirkung für das Atemzentrum bedinge,
den wir auch in unseren Versuchen auf dem Bilkengrat .an¬
getreten haben, möge die folgende Tabelle dienen.
Pro cm3
02-Verbrauch, cm3 geatmet (reduziert)
mkg pro
Geatmetes Volum pro cm3 Oä-
Ort
Arbeit.
Minute
_
tfedart
ca.
Durig
Reichel
Kolmer
Wien . . . 150 m
Ruhe
0
27-4
343
256
Semmering 1000 »
0
252
25-0
—
Sporner A. 1326 »
y>
0
259
—
—
Monte Rosa 4560 m
Kulte
0
20-4
183
20-5
Wien . . . 150 »
Arbeit
1200
19'4
176
192
Arbeit
auf Schnee
800
170
16-0
183
Semmering 1000 »
Horizontal-
marsch
560
197
163
—
Sporner A. 1326 »
Horizontal
500
195
—
—
ßilkengrat 2400 »
Arbeit
1100
17-2
—
—
Monte Rosa 4560 »
Arbeit
600
170
163
171
Die Zahlen zeigen, daß hi Wien, auf dem Semmering
und lauf der.'Sporne|r Alpe, in Körperruhe rund 25 cm3 Luft ge¬
atmet wurden. An diesen Orten mußte nach der Dissoziations¬
kurve des Hämoglobins die Sauerstoffversorgung in nahezu
vollkommen gleicher Weise erfolgen. Ganz anders fallen
jedoch die Werte aus, wenn man jene Versuche überblickt,
in (denen Arbeit geleistet Wurde und der Sauerstoffverbrauch
ein großer war oder bei geringem Sauerstoffverbrauch in
Körperruhe das Sauerstoffanbot ein niedriges war. Einheit¬
lich schwankt in allen diesen Versuchen die Größe der Venti¬
lation um etwa 19 cm3, seien nun die Versuche in Wien
bei 1200 mkg Arbeit, oder auf dem Monte Rosa in be¬
wegungsloser Körperruhe ausgeführt worden. Und doch
hatte der Sauerstoffverbrauch von 260 bis 2800 cm3 pro
Minute geschwankt! Dieses Bild deutet darauf Irin, daß bei
einem Mißverhältnis zwischen Sauerstoffanbot und Sauer¬
stoffverbrauch, wo immer dies auch auftreten möge, in
ihrem Hauptwesen die Regulation eine andere wird, als
dann wenn der Deckung des Sauerstoffbedarfes keine
Schwierigkeiten entgegenstehen. Die Unterschiede, welche
wir zwischen den einzelnen Werten beobachteten, die an
und für sich nicht erheblich sind, finden einerseits in Ver¬
änderungen der BlutaJkalinität und der Erregbarkeit des
Atemzentrums, auf die Haldane und Douglas hinge¬
wiesen haben, leicht ihre Erklärung, anderseits muß dabei
auf tdie Wirkung des schädlichen Raumes Bedacht genommen
werden.
Eine andere Ueberlegung ergibt sich noch aus den
eben besprochenen Verhältnissen. Da die Ventilation bei
einem Arbeiter in der Ebene bei großer Anstrengung ebenso
auf ca. 50 Liter pro Minute steigt, wie bei einem Menschen,
der in großer Höhe marschiert, so ist die Atemanstrengung
in beiden Fällen dieselbe und jedenfalls eine größere als
bei Körperruhe im Hochgebirge. Dennoch wurde die Deckung
des Sauerstoffbedarfes in allen drei Fällen genau nach
dem Konsum reguliert, obwohl dieser in Körperruhe nur
ein Zehntel desjenigen bei Arbeit betrug. Es müßte sich
daher für den Arbeiter in der Ebene bis zu einem gewissen
Grade wohl ebenso die Forderung nach einer Erhöhung des
Hämoglobinbestandes ergeben, wie beim Höhenbewohner,
um ihm die Deckung seines Sauerstoffbedarfes zu erleich¬
tern oder seine Arbeitsfähigkeit zu steigern.
Wie genau bei einer und derselben Person die Atem¬
mechanik sich unter der Einwirkung dieser Regulation ein¬
stellt, beweisen die Versuche auf dem Bilkengrat, in denen
sich trotz verschiedener Größe der Arbeit (800 bis 1200 mkg
pro Minute) in jeder Höhenlage die Sauerstoffspannung
immer wieder auf einen so konstanten Wert einstellte, daß
man fast wie mit dem Barometer nach ihr die Meereshöhe
hätte bestimmen können (siehe folgende Tabelle). Es ist
dabei zu bedenken, daß die Versuche sich über zwei Monate
erstreckten und auch sonst unter recht wechselnden Grund¬
bedingungen ausigeführt wurden.
Alveoläre Sauerstoffspannung nun Hg
ßilkengrat (Durig).
Die Oa Spannung betrug in den einzelnen Versuchsstrecken
Effekt
in
1790 m
in
1960 m
in
2410 m
84 4 mm
863 »
84-8 »
85T »
78 8 mm
80T »
819 »
81-2 »
74'2 mm
76-7 »
759 »
75T *
800 mkg !
1000 »
1000 »
1200 » !
Diese Ausführungen dürften wohl erwiesen haben, daß
in der Tat die Regulation der Atmung und damit die Größe
des Atemvolums genau der Summe der Reize angepaßt
ist, die das Atemzentrum treffen und daß daher die An¬
nahme einer Luxusventilation wohl keinen Boden mehr
findet.
*
Gestatten Sie mir nun, mich der Frage nach der Beein¬
flussung des Stoffwechsels im Höhenklima zuzuwenden.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
629
Erhaltungsumsatz
Cal. pro m2
Durig
Kolmer
Reichel
Wien .
0540
0-541
0-546
Semmering .
0-585
—
0-600
Monte Rosa, Beginn . . .
0-674
0-617
0-661
» » Ende .
0-701
0-617
0-668
Bestimmt man die Größe des Energieumsatzes (s. vor-
ehende Tab.) in verschiedenen Höhen, so zeigt sich deutlich,
iß in großer Höhe eine Steigerung der Verbrennungsvor-
inge eintritt, die in geringerer Höhe bereits angedeutet ist.
iese Steigerung war auf dem Monte Rosa in der Stunde
jr Ankunft vorhanden und erst mit der Rückkehr ins Tal
ar sie, so wie sie gekommen war, plötzlich wieder ver-
hwunden. Während eine Flamme in reichlicherer Sauer-
offatmosphäre lebhafter brennt, zeigt unser Körper Ras
ltgegengesetzte Verhalten. Reichlichere Sauerstoffzufuhr
trmag seine Oxydationsprozesse nicht zu beleben, vermin-
rtes Sauerstoffanbot steigert sie und gerade diese Wirkung
uß doppelt unzweckmäßig erscheinen, wenn man als Kom-
msation bei der Druckverminderung eine Vermehrung des
ämoglobins fordert.
Ist diese Steigerung der Verbrennungsvorgänge nun
n Zeichen erhöhten Zellzerfalles — ein Zeichen geistei-
•rten Sterbestoffwechsel — infolge von Sauerstoffmangel
ler handelt es sich dabei um eine anregende Wirkung jder
eize des Höhenklimas? Obwohl wir ein großes Versuchs-
aterial überblicken, das fast 250 Versuchstage umfaßt,
denen wir den Gesamtstoffwechsel untersuchten und Bi¬
nzen über den Energieumsatz, über Stickstoff, Fett und die
ilze auf stellten und in einer Fülle von Harnen die Ver¬
dung des Stickstoffes untersuchten, vermögen wir heute
ne Antwort auf diese Frage nicht zu geben. Nur das
ne können wir mit gewisser Sicherheit aussagen, daß
lbst in großer Höhe eine Verschiebung im Ablaufe der
xydationsvorgänge nicht stattfand. Dosen von 120 g Trau-
'nzucker, die wir morgens nüchtern einführten, wurden
d dem Monte Rosa in derselben Zeit und ebenso glatt
ubrannt wie in der Ebene und auch die respirator i-
ihen Quotienten (folg. Tab.) zeigten auf dem Monte
osa genau dieselbe Höhe, wie in den V ersuchen
Wien, bei Verabreichung derselben Kost. Es darf natür-
h nicht wundernehmen, wenn im Gegensatz .dazu,
Respiratorische Quotienten
Durig
Kolmer
Rainer
Reichel
Wien .
0-827
0-791
0-833
0-816
Semmering .
0-843
—
. -
0-823
Alagna. . . .
0-817
0-854
0-877
0856
Margh.-Hütte
0-804
0-785
0-806
0-855
der pneumatischen Kammer ein Anwachsen der Quo-
rnten bei Druckverminderung beobachtet wird, denn dieses
irhalten hat nichts mit den im Höhenklima zu beobach-
nden Erscheinungen gemein und ist nur ein Ausdruck
;r Abventilation von Kohlensäure aus dem Körper, wäh-
'nd sich dieser gegenüber dem verminderten Luftdruck
s Gleichgewicht setzt.
Wir wissen demnach heute nicht, wie wir die Urn-
-tzsteigerung zu deuten haben, ja wir wissen nicht ein-
al, ob wir diese als ein günstiges oder ungünstiges Zeichen
ir Höhenwirkung aufzufassen haben, da unsere bergkranke
■rsuchsperson die Zunahme der Verbrennungsvorgänge
nau in derselben Weise zeigte wie wir, die wir nicht
krankt waren.
Nur mit einer Erscheinung im Höhenklima kann die
insatzsteigerung verglichen werden, das ist die ausge-
'rochene Tendenz zum Stickstoffansatz, die schon von
iquet auf dem Chasseral beobachtet wurde. Folgende
ibelle gibt einen Ueberblick über die bei uns im Höhem
iina beobachtete Stickstoffretention. Wie die Tabelle zeigt,
N-Bilanz Tagesmittel
.unter Berücksichtigung der N-Verluste durch die Haut)
Durig
(15 g)
Kolmer
(16-3 g)
Reiner
(16 g)
Reichel
(16-8 g)
Wien .
Ruhe
-0113
- 0-124
+ 0-778
- 1-683
Margherit.ahütte
»
+ 2-894
+ 2-195
+ 1-486
- 1-403
Arbeit
+ 2-404
+ 2-399
+ 1-565
- 0-638
(9 g)
(io g)
Arbeit
+ 1-241
- 0004
+ 2-400
+ 1-341
Ruhe
+ 1-270
+ 1091
+ 3-214
+ 0 494
»
+ 0-308
+ 0446
+ 1 260
-0-432 ,
Alagna .
»
+ 0101
- 0-960
+ 0-850
-0-350 1
Wien .
Arbeit
- 0-431
- 0-737
- i
-1-736
Ruhe
-0139
- 0-745
- 0-759
-1-485 !
Semmering . . .
+ 0-909
—
_
-0-970
Wien .
+ 0-027
~
-1-846
war bereits auf dem Semmering ein Stickstoffansatz be¬
merkbar; bei mir wurde die in Wien bei derselben Kost
negative Stickstoffbilanz positiv, bei Reichel weniger ne¬
gativ. Selbst unter ungewöhnlich niedriger Stickstoff zufuhr
auf dem Monte Rosa (9 g pro die) trat die Stickstoffretention
deutlich hervor (bis zu 1-2 g Ansatz im Tage), nur zeigt
diese die Tendenz, sich allmählich zu verringern und einem
Gleichgewicht zuzustreben. Den Versuchen ist die .Stick¬
stoffausscheidung im Schweiß, die in Wien im Winter bei
Ruhe und Arbeit bestimmt wurde, zugrunde gelegt. Es
ergibt sich demnach, daß auch in sehr großen Höhen die
Tendenz zum Stickstoffansatz unverändert wie in mäßigen
Höhen beobachtet wird, daß. aber auch der zurückgehaltene
Stickstoff nach der Rückkehr ins Tal nicht wieder ausge-
stoßen wird, wie man erwarten möchte, wenn unter der
Höhenwirkung neu gebildete Blutkörperchen zugrundegehen
würden.
Zwei Fragen sind in bezug auf diese Retention von
Stickstoff zu beantworten, die dahin lauten werden, ob
der Stickstoff in Form von Eiweiß zurückgehalten wird
und ob die Stickstoffretention als eine erwünschte, vorteil¬
hafte Wirkung des Höhenklimas aufzufassen ist. ,Erstere
Frage können wir auf Grund unserer eigenen umfassenden
Versuche über den Stickstoff- und Salzumsatz, wie auf Grund
der Versuche v. W'endts bejahen — die Stickstoff reten¬
tion entspricht einem Eiweißiansatz — letztere Frage jedoch
muß vorläufig unentschieden bleiben, denn wir können nur
feststellen, daß der bergkranke Dr. K ohne r genau so zum
Stickstoffansatz neigte, wie wir alle, ohne daß sich bei ihm
irgendwelche Zeichen einer Anpassung gezeigt hätten. Auch
die Frage nach der Form, in der das Eiweiß angesetzt wird,
ist heute nicht zu entscheiden, denn der Vermutung
v. Wendts, daß in niederen Höhen Hämoglobin und Blut,
in größeren Muskeleiweiß gebildet werden solle, stehen
wohl noch Bedenken gegenüber.
-
Cal./N
im Harn
Durig
Kolmer
Rainer
Reichel
Wien .
8-96
10-24
1007
9-29
Monte Rosa 1
9-74
9-51
9-14
7-97
» »3
—
9-36
914
8-18
» »6
11-19
11-86
8-94
7-74
Alagna ....
10-46
9-75
9-75
7-33
Wien .
9-79
9-18
9-19
8-57
Semmering .
9-83
—
—
7-92
'Nach älteren Angaben sollte eine charakteristische
Wirkung des Höhenklimas darin bestehen, daß. sich unter
dem Einflüsse schlechterer Sauerstoffversorgung Störungen
im Eiweißabbau einstellen. Die Resultate der Untersuchun¬
gen über die Höhe des Brennwertes des Harnes wieseln
nämlich darauf hin, daß sauerstoffärmere, stickstoffhältige
Verbindungen zur Ausscheidung gelangen, die eine Steige¬
rung der kalorischen Quotienten des Harnes bedingen. Die
Bestimmung der Aminosäuren im Harne schien diesen Be¬
fund zu bestätigen. Auffallenderweise hatte man aber schon
in einer Höhe von 500 m ein vermehrtes Auftreten von
630
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
Aminosäuren im Harne gefunden. Unsere neuen Beobach¬
tungen (s. obige Tab.) ergaben keine Anhaltspunkte für eine
solche Annahme, denn die kalorischen Quotienten zeigten
auf dem Monte Rosa keine Tendenz zum Steigen und auch
die Menge der Aminosäuren war nicht erhöht, ja die höchsten
Werte für Aminosäuren im Harne fanden wir an einem
Versuchstage in Wien, hiezu ist allerdings zu bemerken,
daß diesem Befund keine Bedeutung zukommt, da die Be¬
stimmung der Aminosäuren nach der Isozyanatmethode, die
wir zur Kontrolle der älteren Angaben anwenden mußten,
keine quantitative ist. Bemerkenswert ist jedoch jedenfalls
die Tatsache, daß: in neuester Zeit nach Blutverlusten
ebenfalls eine Vermehrung der Aminosäuren im Harne ge¬
funden wurden.
Gegen gesetzmäßig im Höhenklima eintretende Aen-
derungen im Eiweißabbau spricht auch das Resultat der
Untersuchung der Stickstoffverteilung in unseren. Harnen,
die Befunde ergab, welche ganz mit jenen aus der Ebene
übereinstimmen.
Noch einige Worte seien mir in bezug auf die Aus¬
nützung der Kost gestattet. Bis in eine Höhe von 3000 m
war auch in den älteren Untersuchungen kein Einfluß des
Höhenklimas auf die Ausnützung der Nahrung zu beobachten
gewesen. In großer Höhe hatte sich aber unter dem Einflüsse
ausgesprochenen Unwohlseins und bei bestehender Berg¬
krankheit Appetitmangel und eine wesentliche Verschlechte¬
rung der Ausnützung, die das Eiweiß der Kost betraf, ein¬
gestellt. Die Stickstoffverluste im Kot stiegen von 6% bis
auf 20% im Maximum. Lhisere Versuche ergaben, daß
N pro Tag im Kot
Durig
Kolmer
Reichel
Rainer
Wien .
0999
1-349
1-543
1-506
Monte Rosa 1
0968
1-568
2 306
1-775
» »5
0955
1-791
2073
1-881
» »6
1013
1-872
1-747
1-892
Alagna ....
1094
1-997
1-613
2064
Wien .
1112
1-441
• 1-707
2-282
Semmering .
1157
—
1-668
Wien .
1-165
—
1-900
—
das Höhenklima auch in fast 5000 m, bei Durig und
Rainer, an und für sich die Ausnützung des Ei¬
weiß nicht beeinflußt hat. Es zeigte sich auch, daß
das Unbehagen, das uns die schlechte Fleischkonserve be¬
reitete und das um so ärger wurde, je länger wir diese essen
mußten, die Ausnützung immer mehr verschlechterte, so daß
schließlich bei uns beiden, in Wien am Schlüsse der Ver¬
suche die größten Mengen von Stickstoff im Kot erschienen.
Es darf uns daher nicht wundernehmen, wenn bergkranke,
den (Aufenthalt in der Höhe nicht gewöhnte Personen, denen
das Essen zum Ekel kvird, unter ausgesprochener Verschlech¬
terung der Ausnützung im Hochgebirge leiden. So ist bei
dem bergkranken Kolm er die Verschlechterung der Aus¬
nützung des Eiweißes auf dem Monte Rosa deutlich zum
Ausdruck gekommen.
Jene Erscheinungen, die sich im Hochgebirge beson¬
ders störend bemerkbar machen, sind Schlaflosigkeit (und
Kopfschmerz. Frau Bullok Workman, die bisher den Höhen¬
rekord hält, gibt der Ueberzeugung Ausdruck, daß die größte
Schwierigkeit für die Erreichung der höchsten Gipfel der
Erde in der Schlaflosigkeit gelegen sei. Verminderte Lei¬
stungsfähigkeit und die Größe der Entfernungen zwingt ja
bei solchen Besteigungen zu längerem Aufenthalte in der
Hochregion und es steigt daher die Zahl der schlaflosen
Nächte mit der Höhe der Gipfel.
Merkwürdigerweise konnten wir experimentell keiner¬
lei Störungen von seiten des Nervensystems nachweisen.
V ir fanden auf dem Monte Rosa dieselben Werte für Re¬
aktionszeit und Unterscheidungszeit wie in Wien. Auch für
das Auftreten des Bückschwindels, 'den man in großen Höhen
häufig beobachtet, konnten wir in den eigens angestellten
Versuchen keine Erklärung finden. Die Gasspannungen in
der Lunge und der Puls zeigten keine Abweichungen von der
Norm und bekanntermaßen ändert sich auch die Zirkulation
in den Hirngefäßen unter dem verminderten Luftdruck nicht.
Gar manche der Erscheinungen im Höhenklima ist uns
daher heute noch rätselhaft, viele Veränderungen haben sich
als mehr oder minder zufällig erwiesen und nur wenige
können als typischer Refund bezeichnet werden. Darüber
daß eine Höhenwirkung besteht, kann aber kein Zweifel be¬
stehen, doch ist das Bild ein mannigfaltiges, individuell recht
verschiedenes.
Es scheint ein Postulat, daß die im Höhenklima wir¬
kenden Reize wie viele andere Reize bei geringerer Reiz¬
stärke anregend, bei größerer schädigend wirken. Wo aber
die Schwelle liegt, die nicht überschritten werden soll, wird
nicht durch ein Gesetz festzuiegen sein. Es steht zu er¬
warten, daß leichter zum Zerfall neigende Zellbestände auch1
leichter auf den Reiz des Sauerstoffmangels ansprechen uni
diese Zellen werden auch leichter hei Vergrößerung der Reiz¬
stärke geschädigt werden. Es ist darum begreiflich, daß die
Symptome der Schädigung im Höhenklima wechselnd sein
müssen, je nach dem Organe, das den locus minoris resi-
stentiae hei bestehendem Sauerstoffmangel vorstellt. So kann
es der Darm, das (Herz, der Atemapparat oder die Hirnhaut
das Organ sein, das1 die Reize durch abnormales Funktio¬
nieren beantwortet und dazu Veranlassung gibt, daß eint
Symptom aus der latenten Bergkrankheit besonders her¬
vorgehoben wird. Doch welches und wieviele Symptome!
oder in welcher Höhenlage diese auftreten, das läßt sich
von vornherein nicht entscheiden, weil es ja keinen gleich
förmigen Typus Mensch gibt. Wozu also die Natur in die
zwängende Fessel von Gesetzen schlagen,, aus denen sie sich
doch wieder mit Sicherheit befreit.
Es wird uns nach dem Gesagten auch nicht wunder¬
nehmen, daß: die Anpassung an das Höhenklima nur eine
teilweise sein kann und sich nur auf die akuten, mehr in¬
dividuellen Symptome beschränkt, während die typischen,
auf verschlechterter Sauerstoffversorgung des Gesamtkörper?
beruhenden Erscheinungen in großer Höhe, wie die Umsatz-
Steigerung sich nach den bei uns gefundenen Werten an¬
scheinend nicht verändern (Tabelle über den Erhaltrrngs-!
umsatz, Beginn — Ende des Aufenthaltes auf dem Monte!
Rosa). Die Erklärung hiefür ist wohl eindeutig in der un¬
veränderlichen Höhe der alveolaren Sauerstoffspannung ge¬
geben (s. die betreffende Tabelle), die keinerlei Anpassung!
der Wirkung der Atemmechanik' an die ungünstige Sauer
Stoffversorgung erkennen läßt. Auch gegen das Auftreten
der Bergkrankheit dürfte es eine vollkommene Gewöhnung
nicht geben. Alan sieht dies an dem Verhalten ausgesprochen
bergkranker Personen ; so blieb einer unserer Begleiter wäh¬
rend eines Monates dauernd erkrankt, wenn auch die ersten
akuten Symptome verschwunden waren und doch handelte
es (sich dabei um einen sonst vollkommen gesunden, muskel¬
kräftigen Alenschen, der schon zahlreiche Hochgipfel erstiegen:
hatte. Bezeichnend ist das Verhalten eines jungen italie¬
nischen Aleteorologen, der so sehr unter der Bergkrankheit zul
leiden hatte, daß ihm endlich nichts übrig blieb, als in das Tal
zurückzukehren, da sein Zustand sich nicht besserte. Ganz)
analog scheinen die Verhältnisse aber auch bei Eingebo-.
renen in der Hochregion zu liegen, denn Ducceschi be¬
richtet ebenso wie Sven II e d i n, daß solche Hocklands¬
bewohner gleichfalls in Höhen zwischen 4000 bis 5000 m;
von Bergkrankheit befallen werden und auch die Arbeiter
der hochgelegenen Bergwerke in den Anden erkranken noch!,
ab und zu, selbst wenn sie schon seit ihren Jugendjahren,
sich an den Aufenthalt in den Alinen gewöhnt haben.
Trotz reichlicher, mühevoller Arbeit, kann der Theore
tiker dem Kliniker daher heute nur wenig gesetzmäßige
Befunde über das Verhalten des Menschen im Höhenklima
an die Hand geben. Man sieht nur die gesteigerte Tendenz
zum Stickstoffansatz, die Neigung zu einer Erhöhung der
Verbrennungsvorgänge, wie zu einer Steigerung der Tempe¬
ratur und der Pulsfrequenz in mäßigen Höhen ziemlich all¬
gemein ausgesprochen oder doch angedeutet und doch wissen
Nr. 18
=====
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
ir von allen diesen Symptomen nicht, ob wir sie als
iinstige, erstrebenswerte bezeichnen dürfen und wir sind
einesfalls in der Lage, in diesen den Ausdruck der unbe-
veifelt vorteilhaften Wirkung des Höhenklimas erkennen
l können.
Ungeklärter als beim Gesunden liegen noch die Ver¬
di nisse beim Kranken und es ist vielleicht das wichtigste
esu I tat, das bisher die Arbeiten auf diesem Gebiete ge-
rdert haben, daß der Individualität des einzelnen im Höhen-
ima ganz besonders Rechnung getragen werden müsse.
Viele Fragen sind noch zu beantworten und gerade
■m Pathologen verspricht das Studium der Erscheinungen
l Höhenklima wertvolle Aufschlüsse, die als Basis für
ne wissenschaftlich fundierte Klimatherapie dienen werden,
e aber auch befruchtend zurückwirken müssen auf das
jebiet der Physiologie und Biologie. Möge darum das Halten
ii heutigen Festtage keinen Stillstand, sondern nur den
iginn neuer Arbeit bedeuten!
Munter und hoffnungsfreudig sei (daher der Wanderstab
ieder zur Hand genommen und herzlichst sei jeder will-
’ oimen, welcher mitziehen will auf unserer Bahn,
■in Ziele der Erkenntnis entgegen, dem jeder Naturforscher
strebt, getreu dem Wahlspruche
Excelsior!
Zur Pathogenese des Kretinismus.
Von Oberbezirksarzt Dr. Arnold Flinker, Czernowitz.
Die Frage, ob der Kretinismus erblich ist, wird seit
ersher diskutiert. Fodere bezeichnet© den Kretinismus
o „Erb- und Familienkrankheit“ und suchte seine An-
•ht in einer Reih© von Thesen zu begründen. Iphofen
dt die Ansicht Foderes für unrichtig und war be-
’ iht, dieselbe Punkt für Punkt zu widerlegen. Sehr be¬
lohnend ist es für diese Polemik, daß die Frage sich haupt-
dilich darum dreht, ob die Kinder als Kretinen geboren
Tden. Es wird also angenommen, daß die vererbte An¬
te immer sofort in die Erscheinung treten müsse und über-
'S wird die angeborene Anlage mit der Vererbung veir-
' chselt, ein Irrtum, der auch heute noch in verschiedenen
Handlungen über den Kretinismus sich findet und der
- gt, wie notwendig es; ist, in so wichtigen Fragen vorerst
•ire Begriffe zu gewinnen. Wir müssen uns gegenwärtig
tteiR daß ein Leiden angeboren sein kann, ohne auf
' rerbung zu beruhen und daß ein angeborenes Gebrechen
nsowenig wie ein vererbtes' sofort bei der Geburt zum
irschein kommen muß'. So ist z. B. der Leistenbruch
■ nein Ursprünge nach sicherlich angeboren. Dennoch ge¬
bt ein bereits beirder Geburt bestehender Bruch zu den
! ‘rgrößten Seltenheiten. In der Regel macht sich derselbe
t mehrere Jahre nach der Geburt, nicht selten erst in der
bertät, bemerkbar. So führen ferner die Dermoidzysten,
■ zweifellos schon während des intrauterinen Lebens ent-
; tiden sind, erst, zur Zeit der Pubertät zu sichtbaren Ver¬
haltungen.
Von Vererbung einer Krankheit kann doch wohl nur
1 in die Rede sein, wenn die krankhafte Anlage bereits
den Aszendenten nachweisbar ist. Von diesem Gesichts-
ikte müßte eine Vererbung des Kretinismus schon des-
b a priori abgelehnt werden, weil in der Mehrzahl der
de die Eltern gar keine kretinis tischen Symptome dar-
len. Es ist jedoch dem Kropfe der Eltern in dieser Hin-
Bit eine Bedeutung beigelegt worden und von einzelnen
Boren ist der Kropf geradezu als der Beginn der kretini-
;en Degeneration angesehen worden. Ich will hier nicht
! Frage aufrollen, ob Kropf und Kretinismus als erwor-
ie Eigenschaften vererbbar sind, es scheint mir jedoch
1 <r gewagt, von einer Vererbung des Kretinismus
ß aus dem Grunde zu sprechen, weil vielleicht bei einem
' ' Aszendenten Kropf vorgekommen ist.
Damit soll jedoch keineswegs gesagt sein, daß der
■ ßd der Eltern vollständig bedeutungslos ist. Im Gegen-
' ’ es sprechen sehr viele Zeichen dafür, daß der Kropf
der Aszendenten für die Entstehung des Kretinismus hei den
Deszendenten verantwortlich zu machen ist.
Daß in der Aszendenz der Kretinen Kropf sehr häufig
vorkommt, ist schon seit langem aufgefallen. Schon Fodere
behauptet, daß- das kretinische Kind immer, wenn nicht
kretinische, so doch kropfige Eitern voraussetze. Bail-
1 arg er fand, daß- von 393 Kretinen 315 kropfige Eltern
hatten. Hiebei ist zu berücksichtigen, was schon Virchow
hervorgehoben hat, daß der Kropf unter Formen vorkommt,
die sich äußerlich nur in sehr geringem Maße darstellen.
Die Angaben der Laien in dieser Hinsicht sind vollends
unverläßlich. Ich selbst habe mich oft genug überzeugt,
daß Eltern eines Kretins' sagten, sie seien nicht mit Kropf
behaftet, während sich bei der Untersuchung herausstellte,
daß sie auffallend große Kröpfe hatten. Und doch gründet
sich die Statistik zum großen Teile auf solche von Laien
ausgehende Angaben. — Von vielen Autoren wird insbe¬
sondere auf die Häufigkeit des Kropfes bei den Müttern von
Kretins hingewiesen. Auch meine Beobachtungen lassen eine
vorwiegende Beteiligung der Mütter zweifellos erscheinen.
Unter 62 von mir genau beobachteteten Kretinen konnte
bei 12 der Zustand der Eltern nicht mehr erhoben werden.
Dagegen war bei 50 mit aller Sicherheit mindestens bei
einem der Eltern Kropf zu konstatieren. Hievon waren in
1 7 Fällen beide Eltern kropfig, in 32 die Mutter und in einem
bloß der Vater. Demnach war in 49 Fällen nur die Mutter
mit Kropf behaftet. Auch wenn man mit einzelnen Autoren
annehmen wollte, daßi die Frauen an Kropf häufiger er¬
kranken (als die Männer, erscheint die Beteiligung der Frauen
an der Kropferkrankung unter den Eltern der Kretinen noch
immer unverhältnismäßig groß.
Läßt sich das so häufige Vorkommen des Kropfes
unter den Aszendenten der Kretinen als bloßer Zufall
deuten?
v. Wagner, welcher sich mit dieser Frage in
der ihm eigenen lichtvollen Weise beschäftigt hat,
sucht das häufige Vorkommen des Kropfes in der
Aszendenz der Kretinen einfach1 dadurch zu erklären, daß
dieses Uebel, wo es eben endemisch auftritt, überhaupt
sehr häufig vorkommt. Auch der Nachweis, daß Kropf bei
den Eltern von Kropfigen und Kretins viel häufiger vor¬
kommt als bei den Eltern nicht mit diesem Uebel Behaf¬
teter oder daßi die Kinder von Kropfigen viel häufiger Kropf
oder Kretinismus bekommen, als die Kinder Nichtkropfiger,
ist nach v. Wagner wertlos, da diese beiden Uebel ende¬
misch sind und die endemischen Schädlichkeiten innerhalb
der einzelnen Territorien in verschiedenem Grade sich
geltend machen.
Die Ansicht v. W agners ist insofern zweifellos richtig,
als Kropf und Kretinismus neben- und miteinander
Vorkommen, sie reicht aber nicht aus, um die auffallend und
unverhältnismäßig vorwiegende Beteiligung der Mütter zu
erklären, denn es sind ja beide Eltern derselben Schädlich¬
keit ausgesefzt. Das fast regelmäßige Vorkommen des Krop¬
fes unter den Eltern der Kretinen kann demnach meines
Erachtens nicht anders gedeutet werden, als daß zwischen
beiden ein ursächlicher Zusammenhang besteht.
Wenn gesagt wird, daß kretinische Kinder von ge¬
sunden Eltern geboren werden, die in Kretinengeigendeü
eingewandert sind, so muß ich darauf hinweisen, daß- hiebei
niemals der Beweis erbracht wurde, daß nicht doch eine
Schädigung der Schilddrüse vorausgegangen ist, die in nach¬
teiliger Weise auf die Nachkommenschaft eingewirkt hat.
Ich meinerseits habe in allen Fällen, bei denen Gelegenheit
geboten war, die Eltern zu untersuchen, bei einem derselben
immer eine kropfige Entartung der Schilddrüse konstatiert.
Es wirft sich nun die Frage auf, inwiefern der Kropf
dabei beteiligt sein kann, um bei den Deszendenten Kreti¬
nismus zu erzeugen. Wenn wir von der Vererbung absehen,
so gibt es wohl nur zwei Möglichkeiten, welche diese Er¬
scheinung erklären können.
Wir können uns vors teilen, daß infolge der mit dem
Kropfe verbundenen Schädigung der Schilddrüsenfunktion
632
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
der Eltern im Stoffwechsel solche Veränderungen vor sich
gehen, die eine Schädigung der Keimzellen zur Folge
haben. ImHinbiek auf die innigen Beziehungen, die unter den
Drüsen mit innerer Sekretion bestehen, erscheint ein solcher
Einfluß des Kropfes nicht unwahrscheinlich. Ich erinnere
hier bloß an die Veränderungen, die während der einzelnen
Entwicklungsphasen : in der Pubertät, im Klimakterium und
im Greisenalter, ferner hei gewissen Krankheiten, wie Base¬
dow, Chlorose usw., mit der Schilddrüse einerseits und mit
der Keimdrüse andrerseits vor /sich gehen. Da nun nach dem
Ergebnisse der neuesten Forschungen die Eizelle und die
Samenzelle für die Nachkommenschaft nicht gleichwertig
zu sein scheinen, sondern der mütterlichen Keimzelle eine
größere Bedeutung beigemessen wird, so würde sich die häu¬
figere Beteiligung in bezug auf den mütterlichen Kropf in
der Aszendenz der Kretinen in einfacher Weise erklären.
Es ist aber auch möglich, daß die durch die Schädi¬
gung der Schilddrüse bedingte Schädlichkeit erst währenddes
Embry on all ehe ns einwirkt. Ob es1 sich dabei um eine
durch den Plazentarkreislauf vermittelte Uebertragung Von
giftigen Stoffen auf den Embryo oder um eine anderweitige
Schädigung desselben handelt, wollen wir vorläufig dahin¬
gestellt lassen. Jedenfalls aber wäre bei dieser Annahme
die größere Beteiligung der Mutter in noch viel einfacherer
Weise erklärt als hei der Keimes Vergiftung.
Ich habe hier bloß hypothetisch die Frage erörtert,
in welcher Weise die Entartung der Schilddrüse schädigend
auf die Nachkommenschaft einwirken kann, gebe jedoch die
Möglichkeit zu, daß auch, unabhängig von der Schilddrüsen¬
entartung der Eltern, auf den Embryo eine noch unbekannte
Noxe im Sinne einer kretinösen Entartung einwirken kann.
Unter allen Umständen aber halte ich meinerseits dafür,
daß der Kretinismus als ein angeborenes Leiden anzusehen
ist, das nicht selten schon bei der Geburt wahrzunehmen
ist, in der Regel 'aber erst in den ersten 'Lebensjahren in die
Erscheinung tritt.
Daß' der Kretinismus in vielen Fällen schon bei der
Geburt besteht, kann überhaupt nicht angezweifelt werden,
v. Wagner, der die Ansicht vertritt, daß der Kretinismus
in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle eine in den
ersten Lebensjahren erworbene Krankheit ist, beschreibt
selbst einen Fall, indem eine Mutter vier Kinder mit an¬
geborenem Kretinismus zur Welt gebracht hat. Die Wahr¬
nehmung, daß die kretinischen Symptome bald nach der
Geburt sich zeigten, ist oft genug gemacht worden.
Der Umstand aber, daß die krankhaften Symptome
in den meisten Fällen nicht schon bei der Geburt
wahrgenommen wurden, sondern erst später in die Er¬
scheinung traten, veranlaßte die meisten Autoren anzuneh¬
men, daß der Kretinismus ein- in frühester Kindheit erwor¬
benes Leiden ist. Bloß der alte Rösch scheint mir die
Sachlage genau erkannt zu haben, indem er annahm, daß
die Anlage, die Disposition zum Kretinismus immer ange¬
boren ist, daß die Entartung selbst ebenfalls zuweilen an¬
geboren ist und zur Stunde der Geburt schon wahr¬
genommen wird, daß- dieselbe dagegen häufiger erst nach
der Geburt, zu allermeist in der frühesten Kindheit, selten
erst im Knabenalter, sehr selten noch später beginnt.
Es gibt aber eine Reihe von Tatsachen, die mit aller
Entschiedenheit dafür sprechen, daß der Kretinismus an¬
geboren ist. So wird von vielen Autoren hervorgehoben,
daß die Kretinen meistens mit Leistenbruch behaftet sind.
Auch mir ist das unverhältnismäßig häufige Vorkommen
von Leistenbrüchen hei dep Kretinen aufgefallen. Wie will
man nun diese Tatsache anders erklären, als durch die
Annahme einer angeborenen Anlage? In diesem Sinne kann
auch ein Tierversuch v. W agners und Schlagenhau-
fer s gedeutet werden. Eine Hündin mit Totalexstirpation
der Schilddrüse warf fünf Junge. Von diesen gingen vier
an Peritonitis, resp. Vorfall der Eingeweide zugrunde, weil
sich 'bei ihnen der Nabel nicht geschlossen hatte.
Die thyreogene Idiotie, die in Kretinengegenden so oft beob¬
achtet wird und die zweifellos mit dem Kretinismus nahe
Nr. 18
verwandt ist, ist wohl immer angeborenen Ursprunges. —
Auch verschiedene Tierexperimente machen es wahrschein¬
lich, daß der Kretinismus angeboren ist. So teilt Lanz
mit, daß die Jungen einer thyreopriven Ziege, die von einem
thyreopriven Bock konzipiert hatte, kretinoiden Typus
zeigten, indem sie körperliche Merkmale des Kretinismus
aber keine geistigen Defekte äufwiesen. Allerdings sind diese
Angaben von Sch läge nhaufer und v. Wagner nicht
bestätigt worden. Ich möchte hier nur noch kurz auf die
experimentellen Untersuchungen Hoennickes hinweisen. Man
mag über H o ennickes Theorie der Rachitis, die er als
eine einfache Entwicklungshemmung definiert, im Mittel¬
punkte von deren Wesen eine funktionelle Insuffizienz der
Schilddrüse steht, denken, wie man will, das eine geht doch
mit größter Wahrscheinlichkeit aus seinen an Säugetieren
angestellten \ ersuchen hervor, daß ganz allgemein ein
Kranksein von gewisser Intensität und Dauer vor oder wäh¬
rend der Zeugung, hzw. der Gravidität,' imstande ist, em¬
bryonale oder i n f a n t i 1 e Entwicklungshemmungen zu ver¬
anlassen.
Abbildung 1: Zwillinge. Der Bruder ein Kretin höchsten Grades, di
Schwester normal.
Alles in allem, scheint mir denn die gegenwärtig ben¬
schende Lehre, der zufolge der Kretinismus ein in dec
j Kindheit erworbenes Leiden ist,, einer strengen Kritik nich
standzuhalten.
3
Abbildung 2: Die Zwillinge, neben ihren kretinösen Geschwistern.
Ich bin zu diesen Betrachtungen durch eine Beob
achtung veranlaßt worden, die wohl einzig in der Literatu '
dastehen dürfte und die ich hier kurz mitteilen will. Ef
handelt sich um Zwillinge, von denen der Zwillingsbrudei
i den höchsten Grad des Kretinismus darstellt, während dit
Nr. 18
633
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Zwillingsschwester in jeder Beziehung normal ist. (Abb. 1
und 3.) Sie sind am 4. Mai 1884 in der Kretinenortschaft
fspas geboren und sollen beide gut entwickelt auf die Welt
gekommen sein, der Bruder zuerst. Im dritten Lebensjahre,
Abbildung 3: Der männliche Zwilling,
ds der männliche Zwilling zu gehen und zu reden anfing,
zeigte sich, da.ßi er physisch und psychisch zurückgeblieben
var. Der Vater, eih berüchtigter Trunkenbold, ist im Alter
on 57 Jahren gestorben. Ob er Kropf hatte, ist unbekannt,
lie Mutter, die mit einem großen Kropf behaftet war, ist
m Alter von 40 Jahren gestorben. Von den Geschwistern
änd die zwei ältesten normal entwickelt und geistig gesund,
line 'ältere Schwester und ein älterer Bruder sind mit Kropf
»ehaftet und tragen ausgesprochene Symptome des Kreti-
lismus. (Abb. 2.)
Das höchste Interesse beansprucht aber das Zwillings¬
paar. Welch ein merkwürdiges Widerspiel der Natur! Beide
haben gleichzeitig in demselben Mutterleibe das fötale Leben
turchlebt, beide sind von derselben Mutter ernährt worden,
leide sind in (demselben Haushalte unter denselben äußeren
'erhältnissen aufgewachsen. Dieselbe Nahrung, dasselbe
Vasser, dasselbe Klima, die gleichen Sitten und Gebräuche,
iid doch ! welch gewaltige Disharmonie schon in der äuße¬
rn Gestalt. Er gegenwärtig 127 cm (vor sechs Jahren bloß
16 cm), sie 148 cm, er mit dem Stempel des Kretinismus
ezeichnet, die Nase breit, an der Wurzel sattelförmig ein-
esunken, mit großen, nach1 vorne gerichteten Löchern, die
dime kurz, die Zähne klein, braun belegt, im Unterkiefer
wei Backenzähne doppelt, die Schilddrüse nicht zu tasten,
m ganzen Körper deutliches1 Myxödem, die Haut trocken,
thl, Geschlechtsorgane zurückgeblieben. Sie vollständig nor¬
mal entwickelt, vom kleinen Kropf abgesehen, ohne jedes
iebrechen, die Züge regelmäßig1 und schön, von Myxödem
eine Spur, die Geschlechtsorgane normal. Und noch ge¬
waltiger ist der Unterschied in intellektueller Beziehung. Er
i jeder Hinsicht geistig zurückgeblieben, die Sprache Inl¬
and, sehr schwer verständlich, alle Bewegungen linkisch
nd unbeholfen, nicht einmal für die einfachsten häuslichen
arbeiten verwendbar, sie ein durchaus intelligentes, auf-
ewecktes Mädchen, mit einem1 den Durchschnitt ihrer ge¬
linden Umgehung weit überragenden Bildungsgrad.
Wie tnun soll man dieses merkwürdige Widerspiel er
lären? — Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß
er Unterschied auf die ungleiche Entwicklung der Schi D I -
riise zurückzuführen ist. Denn während bei ihm absolut
eine Schilddrüse aufzufinden ist, ist hei ihr ein nahezu
pfelgroßer Kropf vorhanden. Es muß also angenommen
werden, daß bei ihm eine vollständige Athyreosis Platz
egriffen hat, während bei ihr noch gesunde Schilddrüse
orhanden ist. Es entsteht nun die Frage, wie dieser Unter-
<hied zu erklären ist.
Da eineiige Zwillinge immer gleichen Geschlechtes,
nsere Zwillinge verschiedenen Geschlechtes sind, so folgt,
iiß diese Zwillinge sich aus zwei Eiern entwickelt haben.
Es ist nun schwer anzunehmen, daß der eine mütter¬
liche Keim vergiftet, der andere aber intakt war. Da ferner
gar kein Anhaltspunkt dafür vorhanden ist, daß die Zwil¬
lingseier durch Sperma von verschiedenen Männern bei¬
fruchtet wurden (Superfoekundation), so erscheint eine Kedm-
vergiftung sehr unwahrscheinlich, wiewohl dieselbe nicht
ganz ausgeschlossen werden kann. Eher schön kann man
an eine Schädigung während der ersten Zeit des Fötallehens
denken. Da bei Zwillingen eine der beiden Früchte in der
Entwicklung erheblich zurückbleibt, so ist vielleicht die An¬
nahme gestattet, daß einer von den Zwillingen für die Schäd¬
lichkeit eher disponiert, war, so daß es bei ihm zu einer
vollständigen Athyreosis gekommen ist, die sich in den
ersten Lebensjahren bemerkbar machte, als das Kind zu
gehen und zu sprechen' anfing.
Allerdings könnte man auch! sagen, daß der vielleicht
in Seiner Ernährung beeinträchtigte männliche Zwilling eine
erhöhte Disposition mit auf die Welt gebracht hat und es
erst in der Kindheit zu einer so schweren Schädigung der
Schilddrüse gekommen ist, die dann zum Kretinismus ge¬
führt hat. — Das Aber ist sicher: wir stehen hier vor einem
Problem, dessen Lösung hei dem gegenwärtigen Stande
der Lehre vom Kretinismus sehr schwierig ist.
Aus der mährischen Landesgebäranstalt in Olmütz.
(Direktor : Prof. Dr. Eduard Frank.)
Ueber einen Fall von Tetanie nach Adrenalin¬
injektionen bei Osteomalazie.
Von Dr. Richard Marek, Frauenarzt in Proßnitz.
Die günstige Wirkung des Adrenalins auf die Kno¬
chenerweichung läßt sich in manchen Fällen nicht bestreiten;
es gelingt in der Tat, manchmal eine auffallende Besserung
aller Symptome durch diese Behandlung zu erzielen. Wir
haben (Gelegenheit gehabt, das B o s s i sehe Verfahren in der
hiesigen Gebäranstalt in zwölf Fällen auszuprobieren: es
wurde dabei 8mal eine Heilung, eventuell bedeutende Besse¬
rung der Symptome beobachtet, in drei Fällen war die
Besserung nicht so deutlich und nur einmal versagte diese
Therapie.
Inder Zahl unserer Patientinnen, welche mit Adrenalin¬
injektionen behandelt wurden, befindet sich eine, bei welcher
sich im Laufe der Behandlung typische Tetanie eingestellt
hatte. Dieser Fall ist meiner Ansicht nach in mancher Be¬
ziehung interessant, deshalb erlaube ich mir denselben hier
mitzuteilen :
M. K., 35jährige Pferdehändlersgattm, wurde am 9. Sep¬
tember 1909 in die hiesige Gebäranstalt aufgenommen. Sie ist
zum siebenten Male schwanger. Die ersten drei Schwangerschaften
verliefen normal. In der vierten Gravidität stellten sich gleich
zu Beginn derselben Schmerlen im ganzen Körper ein, welche
durch die ganze Dauer anhielten; die Patientin konnte dabei
herumgehen und arbeiten, jedoch schwieriger als sonst. Am nor¬
malen Termine erfolgte spontane Geburt eines lebenden Kindes.
Bald darauf sind die Schmerzen verschwunden, so daß sich die
Patientin die nächsten drei Jahre vollkommen gesund fühlte.
Ein Jahr später ist sie wieder schwanger geworden und die Be¬
schwerden kehrten in demselben Maße zurück. Der zur Geburt
geholte Arzt machte Wendung auf den Fuß und entwickelte ein
lebendes Kind, welches nach vier Monaten an einer Bronchitis
gestorben ist. Zwei Jahre später die sechste Schwangerschaft.
Die Schmerzen waren wiederum nicht stärker wie sonst, die
Patientin konnte der häuslichen Arbeit nachgehen. Nach drei¬
tägiger Wehentätigkeit mußte schließlich das Kind perforiert wer¬
den (November 1907-). Ebenfalls nach dieser Geburt sind die
Schmerzen bald verschwunden. Letzte Periode war Mitte De¬
zember 1908, die ersten Kindesbewegungen verspürte sie gegen
10. Mai 1909. Die ersten sieben Monate dieser letzten Schwan¬
gerschaft verliefen ganz schmerzlos, in den letzten drei Monaten
traten die alten Beschwerden in derselben Intensität wie sonst
auf. Die Patientin wurde zur erwartenden Niederkunft von ihrem
Hausarzte in die Anstalt geschickt.
Die äußere Untersuchung der mittelgroßen, mittelkräftigen,
schlecht genährten Patientin ergab folgendes: sämtliche Knochen,
besonders die des Thorax und der Oberschenkel, sowie die Becken-
634
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
knochen sind auf Druck äußerst schmerzhaft. Der Gang ist müh¬
sam, watschelnd. Der Uterus ist längsoval vergrößert, sein Fundus
reicht drei Querfinger unter den Processus xiphoideus. Die Frucht
befindet sich in erster Kopflage; Herztöne der Frucht links unter
dem Nabel gut hörbar, Kopf hoch, beweglich. Bei der inneren
Untersuchung findet man, daß die Beckenknochen ebenfalls sehr
druckempfindlich sind ; die Symphyse ist schnabelförmig, das
Promontorium ist nach vorne geschoben und steht sehr hoch.
Beckenmaße: Sp. 23, Cr. 30, Tr. 33, C. d. 9 cm.
Am 18. September stellen sich schwache Wehen1 ein; der
Scheidenteil ist dabei erhalten (2 cm lang), der äußere Mutter¬
mund für zwei Finger durchgängig. Vom 19. bis 21. September
zeitweise schwache Wehen, Temperatur normal. Herztöne der
Frucht kräftig. Am 21. September, um 10 Uhr abends, stellen
sich kräftige Geburtswehen ein. Da, trotz derselben der Kopf
nicht eintritt, wurde am 22. September, um VklO Uhr vormittags,
in ruhiger Billrothnarkose, die typische Sectio caesarea sec. Porro
mit Entfernung beider Adnexe, ausgeführt und ein lebendes Kind
weiblichen Geschlechtes entwickelt (52 cm, 3820 g). Am 22. Sep¬
tember mußte die Patientin katheterisiert werden, am 24. Sep¬
tember ist die Druckempfindlichkeit der Rippen, sowie der' Becken¬
knochen fast verschwunden. Am 4. Oktober, nachmittags, plötzlich
Temperatursteigerung bis 38-5° C, die Patientin bekommt ein
Klysma und nach gründlicher Stuhlentleerung kehrt die Tem¬
peratur ad normam zurück. Seither fieberloser, Verlauf.
Am 5. Oktober wurde der Stumpf entfernt; die nekrotischen
Massen in der Tiefe stoßen sich langsam ab. Heilung der Wunde
per primam.
Am 12. Oktober steht in der Geburtsgeschichte folgendes
notiert : Beim Liegen fühlt sich die Patientin ganz wohl ; sie
kann sich jedoch nicht aufstellen. Der Gang ist nur dann möglich,
wenn sie von beiden Seiten unterstützt wird. Weil die Besserung
keine erhebliche ist, wird zur Adrenalinbehandlung geschritten.
Am 13. Oktober erste Injektion Adrenalin -Takamine (lern3).
Temperatur dabei 36° C, Puls 80, kräftig, voll. Im Urin keine
pathologischen Elemente. Bald nach der Injektion Spannungs¬
gefühl in beiden Händen, sonst keinerlei Nebenbeschwerden.
Am nächsten Tage fühlt sich die Patientin angeblich wohler.
19. Oktober: Die Patientin kann sich selbst aufstellen, sic
geht langsam herum, indem sie sich am Bettrande hält, was früher
nicht möglich war. Sie bekommt dabei jeden Tag 1 ein3 Adrenalin-
Takamine.
Am 20. Oktober stellen sich gegen Abend plötzlich und ohne
Veranlassung heftige Schmerzen in dem linken Oberschenkel ein,
so daß die Patientin überhaupt nicht auftreten kann. Durch die
Röntgenaufnahme lassen sich an beiden Oberschenkelknochen
nur osteomalazische Veränderungen nachweisen. Im Urin 0.
26. Oktober : Die Schmerzen sind geringer geworden, sie ver¬
lieren sich jedoch nicht. Die Patientin liegt den meisten Tag,
geht nur mit Hilfe herum.
30. Oktober : Der Zustand hat sich nur insofern geändert,
daß die Patientin langsam und mühsam einige kleine Schritte
machen kann. Sie verträgt die Injektionen ganz gut, klagt nur
über ein zusammenziehendes Gefühl in beiden Händen.
3. November: Pat. geht wieder leichter herum, klagt nur
über Schmerzen in den oberen Partien des linken Femurs, welcher
auch d ru cke'mp f i n d 1 i ch ist.
Bis zum 15. November ändert sich das Krankheitsbild fast
nicht. Am 16. November stellet sich bald nach der In¬
jektion tonische Kräinpfe in beiden Händen ein, bei
welchen die H a, n d die charakteristische G eb u r I, s-
helfer einstellung einnimnft (Tetanie!); die Krämpfe dau¬
ern ungefähr eine Viertelstunde und verlieren sich dann von
selbst. C h v os teksches Phänomen positiv, Trouss ©au Rehes
Phänomen läßt, sich nicht nachweisen. Am 17. November das¬
selbe Bild.
18. November: Die Krämpfe erscheinen fünf Minuten nach
der Injektion, dauern wie sonst ungefähr 15 Minuten. Pupillen-
rcaktion normal, im Urin weder Eiweiß noch Zucker.
Am 19. November wurde nur Vs cm3 Adrenalin injiziert;
die Krämpfe Avurden nur in der linken Hand beobachtet, in der
rechten sehr schwach. 20. November: Status idem.
21. November: Trousseausches Symptom positiv und
leicht zu erzielen.
23. November: Der Anfall dauerte diesmal eine halbe Stunde,
erschien erst 15 Minuten nach der Injektion, war nicht \be*-
sonders stark. Die Situation ändert sich bis zum 26. November
nicht. Am 27. November wurden die Injektionen ausgesetzt.
28. bis 30. November: Keine Anfälle von Krämpfen.
Fhvos teksches Phänomen deutlich, Trousseausches Phäno¬
men läßt sich erst nach längerer Zeit hervorrufen. Im Urin 0.
1. Dezember: Um 12 Uhr mittags abermalige Injektion von
1 cm8. Keine Krämpfe.
2. Dezember: Zweite Injektion. Keine Krämpfe.
Am 3. bis 4. Dezember wurde je 1 cm3 injiziert, ohne daß
sich die Krämpfe eingestellt hätten. Chvosteksches Phänomen
positiv, Trousseausches Phänomen erst nach längerer Zeit
und weniger deutlich ausgeprägt.
Am 4. Dezember Avurde die Patientin: auf eigenes Verlangen
entlassen. Befund am Entlassungstage: Wunde durch feste Narbe
verschlossen, Avelche nur in der Mitte eine kleinlinsengroße, rein
granulierende Fläche zurückläßt. Die Knochen sind auf Druck
nicht empfindlich, es besteht nur leichte Druckempfindlichkeit
der Beckenknochen bei der vaginalen Exploration.
Die Patientin geht freier herum, der1 Avatschelnde Gang
ist kaum angedeutet. Zeitweise klagt die Patientin über leichte
Kopfschmerzen.
Während der ganzen Zeit hat die Patientin ihr Kind selbst
gestillt; das Kind zeigte keine Störungen von seiten des lu-
testinaltraktus, hat an Gewicht zugenommen (4890 g gegen 3820 g
bei der Geburt).
Ueber das spätere Befinden' der Patientin erhielt ich durch
die Güte des Herrn Kollegen Dr. Kral zwei Berichte, welche
ich hier in kurzem Aviedergebe :
Bericht vom 3. März 1910: Subjektiv ziemlich Wohlbefinden,
guter Schlaf. Stillt bis jetzt das Kind, Avelches gut gedeiht. Die
leichteren Hausarbeiten kann die Patientin gut besorgen. Beim
Gehen ist der Oberkörper nach vorne gebückt; nach längeren:
Gehen (etwa nach einer Viertelstunde) fühlt sich die Patientin
ziemlich matt. Lungen- und Herzbefund normal. Im Urin keine
pathologischen Bestandteile. Im unteren Wundwinkel eine kleine
Fistel, aus welcher ein Vereiterter Faden' entfernt wurde. Im
linken Hüftgelenk ausstrahlende brennende Schmerzen, welche
auch bei aktiven und passiven Bewegungen gespürt werden. Sonst
sind die Knochen nicht druckempfindlich.
Ungefähr 14 Tage nach ihrer Entlassung aus der Gebär¬
anstalt bekam die Patientin einen geschwürigen Ausschlag an
beiden unteren Extremitäten ; diese Geschwüre, acht im ganzen,
heilten sehr langsam aus und ließen dunkelbraun pigmentierte,
kronen- bis guldenstückgroße Flächen zurück. Leider sind in
der Nachricht keine Angaben vorhanden, Avelche uns über die
überstandene Tetanie berichten Avürden.
Laut der zweiten Mitteilung von: 6. Februar 1911 hat sich
der subjektive Avie der objektive Zustand der Patientin kaum
geändert.
Wenn ich nun die Krankengeschichte kurz rekapitu¬
liere, so sehen Avir, daß sich bei einer Multipara, welche sei!
ihrer vierten Gravidität au einer nicht besonders schweren
Osteomalazie gelitten hatte, trotz der Kastration nach aus¬
geführter iSectio caesarea sec. Porro keine wesentliche Besse¬
rung der Beschwerden eingestellt hatte; deshalb wurde die
Adrenalinbehandlung angewendet. Die Injektionen wurden
anstandslos vertragen. Im Laufe rder Behandlung entwickelte
sich typische Tetanie; die Krämpfe traten nach jeder In¬
jektion auf, verschwanden, wenn die Injektionen ansgesetzt
wurden. Nach erneuten Injektionen kehrten die Krämpfe
nicht zurück.
Ob die heftigen Schmerzen im linken Oberschenkel
mit der Therapie Zusammenhängen, läßt sich bezweifeln.
Wir wissen im Gegenteil, daß in einigen Fällen nach Adre¬
nalinbehandlung die Schmerzen verschwunden sind, obzwar
die anderen Symptome in derselben Intensität anhielten.
Ueher einen solchen Fall berichtet Bossi, in letzter Zeit
Cristofoletti; auch Avir haben zwei solche Fälle beob¬
achten können, wo die Adrenalininjektionen nur das be¬
wirkt haben, daß' die quälenden Schmerzen aufhörten. Nach
Aussetzen der Injektionen erschienen die Schmerzen von
neuem, so daß uns die eine Patientin von selbst bat, die
Injektionen fortzusetzen. Eine langsame Besserung des Geh¬
vermögens trat in diesem Fälle erst nach ausgeführter Ka¬
stration auf ; diese Patientin hat spontan vorzeitig entbunden.
In dem zweiten Falle handelte es sich um eine äußerst
schwere Osteomalazie, wo durch die Adrenalinbehandlung
wenigstens das erzielt wurde, Idaß die Krankheit nicht weiter
fortschritt; es ist uns gelungen, die Schwangerschaft bis
gegen 'Ende zu erhalten und dann ein lebendes und lebens¬
fähiges Kind durch die Sectio caesarea sec. Porro zu ent-
wickeln.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
635
Nr. 18
Die sogenannte MaternitätsLetanie (Hie Tetanie der
Schwangeren, Gebärenden und Säugenden) ist zwar keine
seltene Erkrankung. Auch in der hiesigen Anstalt wurde
eine größere Anzahl schwerer Fälle beobachtet und über
diesbezügliche Erfahrungen wurde erst vor kurzer Zeit von
Prof. F rank berichtet.
Nach den jetzigen Anschauungen entsteht die Tetania
gravidarum dann, wenn die Epithelkörperchen insuffizient
werden. Es sind nach Frank zwei Möglichkeiten vor¬
handen. Es ist möglich, daß die von Tetanie befallenen
Schwangeren a priori wenig oder kranke Epithelkörperchen
besitzen, welche wohl in nichtgravidem Zustande die im
Körper vorhandenen Toxine zu neutralisieren vermögen,
aber erst in der Schwangerschaft durch die Toxine, welche
von der Plazenta produziert werden, insuffizient werden;
oder daß bei gewissen Frauen die Produktion der Toxine
eine so reichliche ist, daH sie allein auch bei gesunden Epi¬
thelkörperchen nicht neutralisiert werden können.
Diese Hypothesen werden wesentlich gestützt durch
die Veränderungen der Tätigkeit der Blutdrüsen in der
Schwangerschaft.
Wir wissen heute, daß der Adrenalinbedarf in der
Schwangerschaft gesteigert ist. Dieses kennzeichnet sich
durch die Vermehrung des Adrenalingehaltes im Blutserum,
wie es von Neu und Höfbauer nachgewiesen wurde.
Das chromaffine System wirkt aber hemmend auf die Epi¬
thelkörperchen, es ist also anzunehmen, daß durch diese
hemmende Wirkung eine Insuffizienz der Epithelkörperchen
entsteht, welche dann den Ausbruch der Tetanie zur Folge
haben kann. Diese Annahme ist um so wahrscheinlicher,
wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der Adrenalingehalt
im Serum der Schwangeren bis um das Zehn- Ins Zwölffache
^egen die Norm vermehrt werden kann (Neu).
Die gesteigerte Tätigkeit des chromaffinen Systems
tnider Gravidität hat also eine Insuffizienz der Epithelkörper¬
chen zur Folge, welche sich in geeigneten Fällen durch Auf¬
treten (der Tetanie 'kundgibt. Nach diesen Ausführungen wäre
dso jede Schwangere mehr oder weniger der Gefahr einer
Tetanie ausgesetzt; daß aber1 die Telanie nur in einzelnen
Fällen beobachtet wird, ist vielleicht dadurch zu erklären,
laß durch die gegenseitige Wirkung sämtlicher Blutdrüsen
lie Insuffizienz der Epithelkörperchen in der Schwanger¬
schaft ausgeglichen wird.
Nach Frank ist der Verlauf der Gravidilätstelanie
ein. rezidivierender; in jeder folgenden Schwangerschaft tritt
lie Tetanie wieder auf! u. zw. stellen sich die Krämpfe in
ler zweiten Hälfte der Schwangerschaft ein. Auch dieses läßt
sich mit der oben genannten Hypothese gut in Zusammen¬
hang bringen: Stellt sich bei einer Patientin Insuffizienz
ler Epithelkörperchen ein, dann ist es sehr wahrscheinlich,
laß sich dieses Ereignis in der nächsten Schwangerschaft
wiederholen wird, daß aber in der Zwischenzeit, wo sich
lie Adrenalinausscheidung in normalen Grenzen bewegt,
lie Insuffizienz der Epithelkörperchen ganz verschwinden
sann. Nach Neu scheint das Adrenalin in der graviden
iebärmutter chemisch gebunden zu werden. Die Masse der
lebärmuttermuskulatur nimmt aber in der Gravidität und
besonders zu Beginn der zweiten Hälfte derselben außer¬
ordentlich stark zu; deshalb imacht sich der vermehrte Adre-
aalinbedarf besonders in der zweiten Hälfte der Schwanger¬
schaft merkbar, dadurch wird zu dieser Zeit die Insuffizienz
ler Epithelkörperchon größer werden und die Möglichkeit
‘iner Tetanie wahrscheinlicher.
Die obigen Ausführungen gelten aber nur für die
Schwangerschaft ohne Osteomalazie. Bei der Knochenenvei-
hung finden wir im 'Gegenteil, daß das chromafiine System
insuffizient wird. Deshalb läßt sich auch die günstige Wir¬
kung der Adrenalinbehandlung sowie der Kastration bei
Osteomalazie erklären. Der therapeutische Effekt der Ka¬
stration liegt, wie bekannt, darin, daß durch Wegfall der
Ovarien eine Hypertrophie der Nebennieren zustande kommt;
durch diese wird der vermehrte Adrenalinverbrauch gedeckt.
Es ist also gar nicht notwendig, wie Cra m e r in seiner
letzten Publikation meint, anzunehmen, daß durch die Ka¬
stration ein knochenbildendes Prinzip im Organismus frei
wird und daß dieser Stoff im Blute der Kastrierten kreist.
Wir fnüssen uns also bemühen, für die Komplikation
Osteomalazie + Tetanie eine andere Erklärung zu finden.
Es sind zwar Fälle bekannt, wo die verschiedensten
Affektionen, deren Ursache in der Störung der Tätigkeit
der innersekretorischen Organe zu suchen ist, bei einer und
derselben Patientin beobachtet wurden. M ü 1 1 e r konnte bei
einer Patientin folgende Affektionen demonstrieren: Die seit
1889 an Akromegalie leidende Patientin akquiriert Struma,
Tetanie (Chvostek +, Trousseau +) und neuerdings Osteo¬
malazie. Fall Köppen-v. Recklinghausen: 23jährige
Frau. Basedow, Tetanie, Osteomalazie. Exitus. Große Thy¬
mus. Großes Hirngewicht. Ganglion supremum des Sym¬
pathikus beiderseits sehr lang. Herz vergrößert. Lymph-
drüsenschwellung.
E r d h e i m untersuchte Epithelkörperchen bei Osteo¬
malazie in sechs Hällen. Bei einem Falle mit hochgradiger
osteomalazischer Deformität des Beckens fand er eines der
vier Epithelkörperchen in einen nicht unbeträchtlichen Tu¬
mor umgewandelt, an dem sich mikroskopisch eine Wuche¬
rung feststellen ließ vom Charakter einer adenomatösen
Hyperplasie. Untersuchungen an fünf weiteren Fällen er¬
gaben bei vieren mehr odeir weniger ausgeprägte gleich¬
sinnige Verhältnisse, während ein Fall makro- und mikro¬
skopisch ein negatives Resultat lieferte. Es wurde aber in
diesen Fällen keine Tetanie beobachtet; jedoch nimmt Erd¬
heim einen Zusammenhang beider Krankheiten an.
Diese Befunde Erd hei ms lassen sich vielleicht da¬
durch erklären, daß, nachdem Nebennieren und Epithel¬
körperchen Antagonisten sind und sich gegenseitig hemmen,
die Hypofunktion der Nebennieren mit Hyperfunktion der
Parathyreoideä, welche sich mit hyperplastischen Vorgängen
kundgeben kann, einhergeht. Eine Analogie sehen wir zum
Beispiel in dem Antagonismus zwischen Nebennieren und
Ovarien (T h u m i m, B a r t z) ; in dem von diesen Autoren
beschriebenen Falle wurde bei der Autopsie neben Atro¬
phie der Ovarien eine mäßige Vergrößerung der Schild¬
drüse und eine beiderseitige, besonders links enorme Hyper¬
plasie des Nebennierengewebes (Struma) gefunden.
Es ist also begreiflich, wenn Erdheim in seinen
Fällen keine Tetanie beobachten konnte; denn es beruht
die Tetanie in einer Insuffizienz der Epithelkörperchen, in
Erdheims Fällen aber eine Hyperplasie derselben ge¬
funden wurde. Im Gegenteil wäre diese Aenderung der
Epilhelkörperchenstruktur eher als ein normaler Befund bei
der Osteomalazie zu betrachten, weil eben zwischen Neben¬
nieren und Epithelkörperchen ein Antagonismus besteht.
Es ist deshalb keine leichte Aufgabe, die Osteomalazie
mit der Tetanie in Zusammenhang zu bringen, denn die
Ursache dieser beiden Erkrankungen ist in einer Hypofunk¬
tion der betreffenden Systeme zu suchen.
Es könnte Vorkommen, daß die während der Schwan¬
gerschaft in dem mütterlichen Organismus gebildeten Gifte
auf die Epithelkörperchen in dem Sinne einwirken können,
daß es trotz des verminderten Adrenalingehaltes im Blute
und unabhängig davon zu einer Insuffizienz der Epithel¬
körperchen kommt, welche dann trotz bestehender Osteo¬
malazie Idie Tetanie zur Folge hat. Diese Annahme ist um so
wahrscheinlicher, wenn wir die Hypothese akzeptieren, daß
die Epithelkörperchen der von Tetanie befallenen Schwan¬
geren a priori erkrankt sind oder wenn die Bildung der
Toxine eine enorm reichliche ist.
Es 'wurde weiter bereits mehreremal erwähnt, daß bei
der Osteomalazie mehrere Blutdrüsen erkrankt sein müssen.
In letzter Zeit wurde dies besonders durch Cristofoletti
hervorgehoben. Cristofole 1 1 i schreibt folgendermaßen :
„Wenn auch die ßeteiligung~des chromaffinen Systems
bei der Osteomalazie festgestellt ist, so kann andrerseits
in der Störung dieses Systems allein keineswegs eine Erklä¬
rung für die Pathogenese dieser Erkrankung gefunden
werden. Wir müssen daher zur Erklärung des osteomala-
6B6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
zischen Prozesses unbedingt auch auf jene Drüsen rekur¬
rieren, welche in Beziehung zum Kalkstoffwechsel stehen
(Schilddrüse, Hypophyse und Epithelkörperchen).“
Inwieweit diese Drüsen auf dem osteomalazischen Pro¬
zesse mitbeteiligt sind, läßt sich heute nicht entscheiden.
Es ist aber möglich, daß es infolge Störung des Gleich¬
gewichtes der Funktion innersekretorischer Organe in ge¬
eigneten Fällen zu solchen Veränderungen in der Tätigkeit
der Epithelkörperchen kommen kann, welche dann eine
Tetanie hervorzurufen imstande sind.
Für einen Zusammenhang zwischen Nebennieren und
Epithelkörperchen sprechen die Versuche, über welche Gu-
1 e k e vor kurzer Zeit referiert hatte. Er fand, daß' bei
Hunden und Katzen, denen die Epithelkörperchen und die
Schilddrüse exstirpiert waren, die danach auftretende mani¬
feste Tetanie verschwand, wenn die Nebennieren zu Be¬
ginn des Anfalles exstirpiert wurden. Die Unterbindung der
Nebennierenvenen hatte ein vorübergehendes Verschwinden
der Anfälle zur Folge. Wurden nur die Epithelkörperchen
entfernt, ein Teil der Schilddrüse zurückgelassen, so blieb
die Nebennierenexstirpation ohne Erfolg. Aus diesen Ver¬
suchen geht hervor, daß zwischen Epithelkörperchen einer¬
seits, Nebennieren und Schilddrüse andrerseits ein Anta¬
gonismus besteht. Zur Aufklärung unserer Frage sind diese
Versuche ebenfalls ungeeignet.
Was weiter unseren Fäll anbelangt, möchte ich noch
betonen, daß die Tetanie nach der Kastration aufgetreten ist.
Daß. die Adrenalinzufuhr mit dem Auftreten der Tetanie¬
erscheinungen im Zusammenhänge war, geht daraus hervor,
daß sich die typischen Krämpfe jedesmal eine kurze Zeit
nach den Injektionen eingestellt haben; wurden diese aus¬
gesetzt, blieben die Krämpfe aus. Merkwürdig ist es aber,
daß die letzten vier Injektionen keine Krämpfe hervorriefen.
Vielleicht ist. durch das mehrtägige Aussetzen der Adrenalin¬
zufuhr ein Adrenalingleichgewicht eingetreten; eine länger
dauernde Adrenalinkur hätte vielleicht wieder zur Tetanie
geführt. Die trophischen Erscheinungen, welche in der Form
eines gesc.hwürigen Ausschlages beobachtet wurden, können
als ein Teil der Veränderungen betrachtet werden, welche
sich auch sonst bei der chronisch verlaufenden Tetanie ein¬
zustellen pflegen.
Zum Schlüsse möchte ich noch bemerken, daß wir
auch später hei einer schweren Osteomalatika, welche nach
ausgeführter Sectio caesarea sec. Porro mit Adrenalininjek¬
tionen behandelt, wurde, nach Tetaniesymptomen forschten,
jedoch ohne Erfolg. Dagegen ist es uns gelungen, in zwei
Fällender Osteomalazie in der Schwangerschaft eine erhöhte
galvanische Erregbarkeit der Nerven nachzuweisen (Er la¬
sches Symptom).
Ich bin mir zwar ganz bewußt, daß diese Erklärung
eine ungenügende ist, leider ist aber bei unserer heutigen
mangelhaften Kenntnis der Funktion und der wechselseitigen
Beziehungen sämtlicher Blutdrüsen eine genaue Erklärung
kaum möglich. Ich habe mich indessen bewogen gefühlt,
diesen Fall zu publizieren, weil unsere klinische Beobach¬
tung einem experimentellen Beweise nahe kommt und viel¬
leicht geeignet ist, in den noch immerhin nicht vollkommen
geklärten gegenseitigen Verhältnissen der Drüsen mit innerer
Sekretion gelegentlich als Beweis in der einen oder anderen
Dichtung zu gellen.
Es Wäre sehr “wünschenswert., in jedem Falle der Osteo¬
malazie, welcher zur Sektion gelangt, neben den Neben¬
nieren auch die Epithelkörperchen, die Schilddrüse und
die Hypophyse gründlich zu untersuchen.
Literatur:
Bossi, Archiv für Gyn., Bd. 83. — Cristofoletti, Gyn.
Rundschau 1911, Nr. 4. — Frank, Monatsschr. für Geb. und Gyn.,
Bd. 32. — Ne u, Ref. Zentral!)], für Gyn. 1910, Nr. 44 und Verhand¬
lungen der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie, Bd. 12. — Ho f-
bauer, Ref. Zentralbl. für Gyn. 1910, Nr. 44. — Bab, Sammlung klin.
Vorträge, Nr. 538 bis 540- — E r d h e i m, Ref. Zentralbl. für Gyn. 1909,
Nr. 35. — Thumin, Berliner klin. Wochenschr. 1909, Nr. 3. —
Bartz, Archiv für Gyn., Bd. 88. — Guleke, Ref. Münchener med.
Wochenschr. 1911, Nr. 3. — Gramer, Münchener med. Wochenschr
1911, Nr. 8.
Aus der IV. med. Abteilung des allgemeinen Kranken¬
hauses in Wien. (Vorstand: Prof. Koväcs.)
Zum Vorkommen von „Herzfehlerzellen“ im
Harn.
Von Dr. Ewald Koller, Assistenten der Abteilung.
In Nr. 35, Jahrg. 1909, der Münchener med. Wochen¬
schrift hat A. Bittorf auf das Vorkommen von ganz be¬
sonderen pigmenthaltigen Zellen im Harnsediment von Stau¬
ungsnieren aufmerksam gemacht, die Analogie mit den so¬
genannten Herzfehlerzellen des Sputums betont und auf die
eventuelle diagnostische Verwertbarkeit dieses Befundes hin¬
gewiesen.
Diese Zellen isind nach Bittorf dadurch gekenn¬
zeichnet, daß sie goldgelbes, körniges Pigment enthalten
und sich im übrigen als „mehr oder weniger gequollene,
polymorphe, meist aber noch angedeutet oder deutlich poly¬
gonale Zellen von wechselnder, oft recht erheblicher Größe,
mit einem meist schwer sichtbaren, großen, runden Kern“
präsentieren.
Um der Bedeutung dieser Zellen nachzugehen, habe
ich in sämtlichen Fällen kardialer Stauung, die ich in den
letzten (Monaten beobachten konnte, nach denselben gesucht
und die Resultate auf folgender Tabelle zusammengestelll.
Hiebei wurde auf das Bestehen von Ikterus, der jaiauch das
Auftreten pigmentierter Zellen im Harnsediment bedingen
kann, besonders geachtet und dasselbe jedesmal notiert.
Von den 24 Fällen, in deren Urin die „Herzfehlerzelieu ‘
nachweisbar waren, enthielten 21 Fälle im Sediment noch freie
Erythrozyten, 12 Fälle freies Pigment und 21 Fälle diffus gelb
gefärbte Zellen.
Es ergibt sich aus der Tabelle, daßi von 40 Fällen
mit kardialer Stauung in 24 Fällen die sogenannten Herz¬
fehlerzellen im Harnsediment zu finden waren. In diesen
24 Fällen waren die allgemeinen Stauungserscheinungen
meist besonders hochgradig und langdauernd.
Bezüglich der Morphologie dieser Zellen kann ich die
oben zitierten Angaben Bittorfs bestätigen und möchte
dazu nur bemerken, daß eine sichere Klassifikation dieser
Zellen wegen vorgeschrittener Degenerationserscheinungen
fast durchwegs unmöglich war. Die Beriinerblaureaktion,
welche Bittorf äußerst selten erhielt, gelang mir am ein¬
geschlossenen Pigment trotz oftmaliger Versuche nie.
Für die Auffassung der Entstehung dieser Zellen
scheint mir aber folgendes von Bedeutung zu sein:
Fast in allen ;Sedimentpräparaten, ^ welche die besagten
Zellen enthielten, konnten immer auch freie Erythrozyten
mikroskopisch nachgewiesen werden. Dieselben zeigten nur
zum ganz geringen Teil unverändertes Aussehen, meistens
waren sie vielmehr entweder ganz abnorm klein, oder ihre
Kontur war unregelmäßig, mit Ausstülpungen und Einbuch¬
tungen versehen und aus einzelnen Bildern wurde der
direkte Zerfall von roten Blutkörperchen zu kleinen, scharf¬
begrenzten, meist intensiv gelb gefärbten Schollein wahr¬
scheinlich. Solche freie Schollen, an welchen ich nie eine
positive Beriinerblaureaktion erzeugen konnte, fanden sich
in den untersuchten Sedimenten sehr oft. Gu mp recht1)
hat diese Fragmentation roter Blutkörperchen bei renalein
Blutungen ausführlich beschrieben und diese Degenerations-
form mit Berücksichtigung von experimentellen Untersuchun¬
gen auf die Einwirkung der mit Harnstoff beladenen Nieren-
epilhelien zurückgeführt. Er hält aus diesem Grunde solche
Fragmentationen diagnostisch verwertbar für den renalen
Ursprung der Blutung, während sie bei Blasenblutungen,
fehlen sollen. Vergleicht man nun sowohl die freien Mikro¬
zyten, als auch die erwähnten Schollen mit den intrazellu¬
lären Pigmenteinschlüssen, so findet man weder in Farbe,
noch in Form und Reaktion einen Unterschied und es liegt
wohl die Vermutung überaus nahe, daß, diese Pigment¬
einschlüsse nicht etwa durch chemische Zelltätigkeit ent¬
standene Umwandlungsprodukte vorstellen, sondern so, wie
*) Deutsches Archiv für klin. Medizin 1894, Bd. 53.
Nr. 18
63?
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Falle von kardialer
Stauung
Sogenannte Herz¬
fehlerzellen fanden
sich im Sediment
Erythrozyten
fanden sich im
Sediment
Freies Pigment in
Form von lichtgelben
Körnern und Schollen
fand sich im Sediment
Diffuse Gelbfärbung
der Zellen fand sich
im Sediment
Leicht subikterische
Verfärbung der Haut
bestand
infolge dekompensierten
Mitralfehlers
von
von
von
von
bei
27 Fälle
15 Fällen
20 Fällen
10 Fällen
17 Fällen
3 Fällen
infolge dekompensierten
kombinierten Herz¬
klappenfehlers
von
von
von
von
bei
3 Fälle
2 Fällen
3 Fällen
2 Fällen
3 Fällen
1 Fall
infolge dekompensierten
Aortenfehlers
4 Fälle
von
1 Fall
von
3 Fällen
von
2 Fällen
von
1 Fall
—
infolge Myodegeneration
2 Fälle
von
2 Fällen
von
2 Fällen
-
von
1 Fall
—
infolge Emphysems
3 Fälle
von
3 Fällen
von
1 Fall
von
2 Fällen
von
3 Fällen
—
infolge kyphoskoliotischer
Thoraxdeformität
von
von
von
1 Fall
1 Fall
1 Fall
1 Fall
zusammen 40 Fälle
von
24 Fällen
von
30 Fällen
von
16 Fällen
von
26 Fällen
bei
4 Fällen
sie sind, fertig von1 den Zellen aufgenommen wurden und
zwar vermutlich vor noch nicht langer Zeit, denn das Fehlen,
resp. das äußerst seltene Gelingen der Berlinerblaureaktion
an dem eingeschlossenen Pigment macht einen länger dau¬
ernden intrazellulären Aufenthalt desselben unwahr¬
scheinlich.
Es würden demnach als Bedingung für den Befund von
„Herzfehlerzellen“ im Harn nur ausgetretene, in einer ganz
bestimmten Art zugrunde gehende Erythrozyten und phago-
zytierende Zellen, die später zur Abstoßung gelangen, not¬
wendig sein, ohne daß. man deshalb unbedingt
auf eine Stauungsniere schließen dürfte. Be¬
stätigt wird diese Meinung durch Sedimenl Untersuchungen
an acht Fällen mit renaler Blutung ohne kardiale Stauungs¬
erscheinungen. In sieben von diesen acht Fällen (es han¬
delte sich bei allen um hämorrhagische Nephritiden) fanden
sich Zellen mit eingeschlossenem lichtgelben Pigment, die
sich in keiner Weise von den bei kardialen Stauungszustän-
den auftretenden Pigmentzellen unterscheiden ließen. Hin¬
gegen fehlten in einem Fälle von Blasenblutung sowohl die
Fragmentationsformen der Erythrozyten als auch pigment¬
haltige Zellen überhaupt im Sediment.
Aus alledem muß man den Schluß ziehen, daß den
pigmenthaltigen Zellen im Harnsediment nur die Bedeu¬
tung eines klinischen Nebenbefundes, nicht
aber eine praktische Verwertbarkeit für die
Diagnose der Stauungsniere zuzuschrei¬
ben ist.
Aus dem pathologischen Institut der königl. Universität
Turin (Vorstand: Prof. B. Morpurgo.)
Ueber die Meiostagminreaktion bei den weißen
Raiten nach Exstirpation der beiden Neben¬
nieren.*)
Von Dr. Franco Cattoretti.
Bei Gelegenheit einer Reihe von Untersuchungen über
die Veränderungen des Blutes bei weißen Ratten nach Ex¬
stirpation der Nebennieren, führte ich die Meiostagminreak¬
tion mit dem Blutserum der operierten Tiere aus.
Allerdings hatten mir vorhergehende Untersuchungen
mit Pankreasextrakt an verschiedenen normalen Tierseren
gezeigt, daß solche Seren im allgemeinen und Rattenserum
im besonderen eine beim Serum von normalen Menschen
nicht vorhandene Reaktionsfähigkeit zeigen.1)
Es 'handelte sich also, zu bestimmen, ob nach Neben¬
nierenexstirpation die Meiostagminreaktion wesentlich ver¬
ändert, erscheint.
Bekanntlich gehören die weißen Ratten zu jenen Tieren,
welche nach totaler Nebennierenexstirpation verhältnis¬
mäßig lange am Leben bleiben und nicht selten die Opera¬
tion endgültig überstehen. In meinen Fällen starben die
Ratten zwischen dem 10. und 30. Tage nach der Operation.
Die hauptsächlichsten Erscheinungen nach der Nebennieren¬
exstirpation sind die fortschreitende Abmagerung und die
Herabsetzung der Körpertemperatur; letztere Erscheinung
tritt in Nähe des Todes besonders klar hervor, so daß man
eine rasch und tief (bis zu 34° C) gesunkene Körpertem¬
peratur als Vorboten des Todes ansehen kann. Diese Er¬
fahrung habe ich benützt, um die Tiere in der möglichst
weit von der Operation entfernten Periode zur Entnahme
des Blutes zu benützen.
Zur Ausführung der Reaktion war die Blutmenge, die
ich durch Eröffnung des Herzens gewinnen konnte, ge¬
nügend, da ich in jedem Falle aus der Blutmasse 2 bis
2V2 cm3 Serum erhielt.
Die von einer jeden operierten Ratte gegebene Reak¬
tion wurde mit jener von einem normalen Tiere gleicher
Rasse, gleichen Gewichtes und Geschlechtes verglichen.
Außerdem stellte ich die Reaktion an dem Serum von einigen
große Spindelzellensarkome tragenden Ratten derselben
Rasse 2) an.
Die Technik der Reaktion in allen diesen Fällen war
im wesentlichen die von Micheli und mir in unseren
früheren Arbeiten angegebene 3) ; bei der Anfertigung der
Antigene folgte ich den von M. Ascoli und Izar ange-
*) Comunicaz. alia R. Acc. di Medic, di Torino. 16. Dezember 1910.
2) Diese wurden mir von Herrn Prof. B. Morpurgo gütigst zur
Verfügung gestellt.
3) Micheli und Cattoretti, »Biochemia e Terapia sperim.
II. Jahrgang, 4. Heft.
*) Comunicaz. alia R. Acc. di Medic; di Torino. 10. Februar 1911.
638
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 18
gebenen Vorschriften.4) Als Antigone kamen Hundepankreas
und menschliches Karzinomextrakt in Anwendung; mei¬
stens machte ich mit beiden die Reaktion. Beim Serum
der Sarkomträger gebrauchte ich Extrakte von zwei Ratten¬
sarkomen.
Die Ergebnisse meiner Untersuchungen sind in fol¬
gender Tabelle zusammengestellt:
Operierte Ratten
Normale Ratten (Kontrolle)
Hundepankreas-Extraktverdürinung 1:100 FLO
n
fr
Lebensperiode
des Tieres
nach der Ope¬
ration in Tagen
Tropfenzahl nach ein-
stündigem Verweilen bei
50» der
Differenz
15
fr
Tropfenzahl nach ein-
stündigem Verweilen bei
50» der
Differenz
Serum-
verdünnung
+ H,0
Serum-
verdünnung
+ Antigen
Serum -
Verdünnung
+ HaO
Serum¬
verdünnung
-f- Antigen
1
14
58-0
69- 1
+ 111
1
56-6
625
+ 5-9
2
8
556
64-7
+ 91
2
55'8
600
+ 4-2
3
7
552
65-2
+ iO'O
3
56'4
61 8
+ 5-4
4
7
56-2
67-2
+ 110
4
56-2
6P7
-t- 5-5
5
3
560
64' 7
+ 8-7
5
562
609
+ 4'7
6
7
55T
65 1
+ 100
6
58-2
641
+ 5-9
7
5
552
637
+ 8'5
7
570
595
+ 2 5
8
19
56-3
64-5
+ 8'2
8
558
595
+ 3-7
9
21
56-5
65-2
+ 8-7
9
560
596
+ 3-6
Operierte Ratten
Normale Ratten
Mamrnakarzinom-Extraktverdünnung 1:50 H.,0
15
fr
Lebensperiode
des Tieres
nach der Ope¬
ration in Tagen
Tropfenzahl nach ein-
stündigem Verweilen bei
50° der
Differenz
&
fr
Tropfenzahl nach ein-
stündigem Verweilen bei
50" der
Differenz
Serum-
verdünnung
+ H.,0
Serum-
verdünnung
-f Anligen
Sernm-
verdiinnung
+ h2o
Serum-
verdünnung
+ Antigen
1
7
55-2
58'0
+ 2-8
1
56-4
566
+ 0-2
2
7
562
591
+ 2 9
2
56'2
57-2
+ PO
3
3
56-2
598
+ 36
3
562
57-1
+ 0-9
4
8
55'6
59-4
+ 3-8
4
565
57'3
+ 08
5
19
56'3
59-2
+ 2'9
5
571
581
+ 10
6
14
58'0
611
+ 31
6
59-3
60-2
+ 0-9
Sarkom tragend
e Ratten
H undepankreasexti akt-
Rattensarkomexti akl-
Verdünnung 1: 100 HaO
Verdünnung i : 50 fLO
Tropfenzahl nach ein-
N
Tropfenzahl nach e>n-
N
-3
stiindigem Verweilen bei
<S>
—
stündigem Verweilen bei
CD
cö
fr
50"
der
<5
eö
fr
50" der
.0)
Serum-
Serum-
Q
Serum-
Serum-
Q
Verdünnung
Verdünnung
Verdünnung
Verdünnung
+ HaO
Antigen
+ h2o
+ Antigen
1
56-7
62-8
+ 61
1
56-7
608
+ 41
2
552
62'3
+ 71
2
55-2
598
+ 4'6
3
56-8
633
+ 6-5
3
56-8
593
+ 2'5
4
6P8
68-5
+ 6-7
4
61-8
671
+ 5-3
Aus dieser Tabelle kann man folgende Schlüsse ziehen :
1. Der Zusatz von Pankreasexi rakt zum Blutserum
der von beiden Nebennieren auf einmal beraubten Ratten
bewirkt eine sehr starke Verminderung der Oberflächen¬
spannung im Vergleiche zu der bei normalen Rattenseren.
Mit anderen Worten gesagt, weisen die Seren der operierten
Ratten eine bedeutend stärkere Reaktionsfähigkeit als die
der normalen gegenüber denselben Pankreasextraktverdün¬
nungen auf; mit diesen war die Meiostagminreaktion bei
normalen menschlichen Seren stets negativ.
2. Die Intensität der Reaktion fiel bei den operierten
Tieren immer viel stärker aus als bei den sarkom tragenden
Ratten u. zw. sowohl mit Pankreasextrakt als mit Extrakt
von Rattensarkom.
3. Bei den operierten Ratten fiel die Meiostagmin¬
reaktion mit dem menschlichen Karzinomextrakt mehr oder
minder deutlich positiv aus, während dieselbe in den Kon-
trollversuchen bei normalen tierischen und menschlichen
Seren stets negativ war. Die Extrakte von Geschwülsten er¬
wiesen sich bei der Meiostagminreaktion mit Rattenserum
4) M. 0 s e r 1 i und S z a r, Zur Technik der Meiostagminreaktion.
Münchner med. Wochenschrift 1910, Nr. 41.
überhaupt weniger wirksam als das Extrakt von Hunde¬
pankreas.5)
Es schien mir nicht ohne Interesse, vorliegende Unter¬
suchungen bekannt zu machen, da dieselben den Nach¬
weis liefern, daß man eine ganz beträchtliche Verminde¬
rung der Oberflächenspannung in einem mit der Geschwulst¬
entwicklung in keinem Zusammenhänge stehenden patho¬
logischen Prozesse nachweisen kann.
Referate.
Die Krankheiten der Prostata.
Von Prof. Dr. A. v. Frisch.
305 Seiten.
Wien und Leipzig 1910, Alfred Holder.
Nach elf Jahren ist die zweite Auflage des v. Frisch-
schen Werkes herausgekommen, das sich schon nach seinem
eisten Erscheinen eine ebenso allgemeine wie wohlverdiente
Wertschätzung erworben hat. ln der vorliegenden Auflage sind
die Forschungen und Erfahrungen des letzten Dezenniums berück¬
sichtigt, einzelne Kapitel beträchtlich erweitert und umgearbeitet
worden.
Die Einteilung des Stoffes ist dieselbe geblieben. Es gehen
wieder Anatomie, Physiologie der Prostata und Untersuchung
derselben am Lebenden voran, dann folgen angeborene Mißbil¬
dungen, Entzündung, Neurosen und Tuberkulose. Ein umfang¬
reicher Teil des Buches behandelt die Prostatahypertrophie; zum
Schlüsse folgen Atrophie, Konkretionen, Neubildungen und Para¬
siten der Prostata, insbesondere di© Hypertrophie der Prostata
hat eine gründliche Umarbeitung erfahren. Schon die Anordnung
des Stoffes erfuhr hier eine neue Gliederung, einzelne Abschnitte
wurden neu eingefügt. Zu den letzteren gehört jener über die
Röntgenbehandlung und die radioaktiven Thermalwässer. Recht
zurückhaltend spricht sich v. Fri sch übler die Erfolge der Röntgen¬
behandlung aus. Bei Prostatikern mit chronischer Retention und
Komplikation der Hypertrophie mit Prostatitis könne zwar die
Röntgenbehandlung eine wesentliche Besserung der subjektiven
Beschwerden zur Folge haben, auch der Residualharn könne vor¬
übergehend abnehmen, aber Fälle von unkomplizierter Prostata¬
hypertrophie mit kompletter oder inkompletter chronischer Reten¬
tion bleiben durch die Bestrahlung völlig unbeeinflußt. Hingegen er¬
wies sich nach- der Bestrahlung die Prostata mit der Kapsel fest ver¬
wachsen und die letztere verdickt, wodurch die spätere Ausschälung
in hohem Grade erschwert wurde. Günstiger spricht sichv. Frisch
über die radioaktive Wirkung der Gasteiner Thermen und über
die Ergebnisse eines Verfahrens aus, mit dem Dr. Altman n
auf v. F risch' Veranlassung Versuche gemacht hat (Blasenspülun¬
gen und rektale Applikation von Thermalwasser). Auf die anfäng¬
lichen Reizerscheinungen folgte gewöhnlich eine rasch eintretende
Depletion der Drüse mit Besserung des Urins und der Harn¬
entleerung.
v. Frisch’ Anschauungen über die verschiedenen Methoden
der Radikaloperation der Prostatahypertrophie haben in den ver¬
gangenen elf Jahren dieselben Wandlungen erfahren wie die der
meisten Chirurgen. So ist er von einem bedingungsweisen An¬
hänger der Bottin i sehen Operation zu einem entschiedenen
Gegner derselben geworden; alle seine Operationen, selbst jene,
welche anfangs ein vollkommenes Resultat hatten, waren von
Rezidiv gefolgt. — Die Abtragung des Mittellappens von der
durch Sectio alta eröffneten Blase aus gab nur in einem Drittel
der Fälle ein gutes Resultat und zu verschiedenen Malen konnte
v. Frisch die erstaunliche Schnelligkeit beobachten, mit welcher
exstirpierte Prostatamittellappen wieder .nachwuchsen.
Sehr 'beherzigenswert ist die Mahnung v. Frisch’, die
totale Prostatektomie mit Rücksicht auf ihre noch immer
recht hohe Mortalität nur für Ausnahmefälle zu reservieren und
bei der Indikationsstellung stets eingedenk zu sein, daß die
Schwere der Krankheitserscheinungen in einem richtigen Verhält-
5) Aehnliches Verhalten des von mir angewendeten Pankreas¬
extraktes im Vergleich zu jenem von Geschwülsten konnte ich bei Ge¬
legenheit einer Reihe von Untersuchungen an menschlichen Seris, die
ich mit Prof. J. Micheli angestellt habe, feststellen.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
639
nisse zur Schwere des chirurgischen Eingriffes stehen müsse.
Insbesondere chronische inkomplette und komplette Retention
mit großer Schmerzhaftigkeit, häufigen Blutungen, Steinbildung,
Schwierigkeiten beim Katheterismus und Infektion der Blase
können die Prostatatektomie erfordern und ihre Erfolge sind auch
bei septischen Prostatikern nicht ungünstig. Ob man dabei supra-
pubisch oder perineal operiere, will V. Frisch der Erfahrung
und Uebung des einzelnen überlassen. Die sexuellen Operationen,
insbesondere die Kastration, werden natürlich ebenso verworfen
wie vor elf Jahren. Nur für die Resektion der Vasa deferentia
bleiben einzelne Indikationen bei gewissen Komplikationen der
Prostatahypertrophie übrig.
Im Abschnitte über die Neubildungen der Prostata sind
gleichfalls verschiedene Erweiterungen vorgenommen und auch
der dürftigen Ergebnisse der operativen Behandlung beim Pro¬
statakarzinom gedacht worden.
Ein näheres Eingehen auf den Inhalt des Buches erübrigt
sich mit Rücksicht auf das ausführliche Referat über die erste
Auflage in dieser Wochenschrift (1899, Nr. 43). Zweifellos hat
dasselbe durch die weitgehende Berücksichtigung alles Wissens¬
werten, was die letzten Jahre auf diesem Gebiete gebracht haben,
in seiner neuen Form wesentlich gewonnen. Es ist nicht nur ein
verläßlicher, sondern auch durchaus moderner Ratgeber für jeden
geworden, der sich mit den Krankheiten der Prostata zü be¬
schäftigen hat. Schlöffe r.
*
Chirurgische Krankheiten der unteren Extremitäten
II. Hälfte.
Von Prof. M. v. Brunn in Tübingen.
Stuttgart 1910, Verlag von Ferdinand Enke.
Nach langer Pause erschien endlich die II. Hälfte der
66. Lieferung der Deutschen Chirurgie aus der Feder des
Prof. v. Brunn, während die vor 13 Jahren erschienene I. Hälfte
weil. Prof. Nasse zum Verfasser hatte.
Prof. v. Brunn befaßt sich vor allem mit den Mißbildungen
des Oberschenkels, dann mit den entzündlichen Erkrankungen der
Muskeln und der Knochen und schließlich mit den Neoplasmen des
Oberschenkels. Bei den Erkrankungen der Hüftgelenksgegend be¬
spricht Verf. zwei der vielleicht wichtigsten Kapitel der chirurgischen
Pathologie : die angeborene Hüftgelenksluxation und die Koxitis,
entsprechend ihrer großen Bedeutung, die sie sowohl für den Ope¬
rateur als auch für den Praktiker haben, auf das Genaueste ;
Anatomie, Pathologie, Therapie sind ausführlich dargelegt, die
neueren Arbeiten entsprechend berücksichtigt und eine große Zahl
von Abbildungen und Röntgenogrammen illustriert den Text.
Hingegen muß folgende Unterlassung hervorgehoben werden.
Trotz der ausgiebigen Berücksichtigung der sonstigen Literatur hat
Verf. bei der Behandlung der Osteomyelitis und Koxitis die Jodo¬
formplombe von Mosetig nirgends erwähnt, obwohl die Methode
die allgemeine Anerkennung der Chirurgen gefunden hat. Der auf
dem Gebiete der Knochenchirurgie so verdienstvolle Forscher
Mosetig hätte mehr verdient, als nur einmal im Literatur¬
verzeichnis und kein einziges Mal im Text erwähnt zu werden.
*
Leitfaden für die chirurgische Krankenpflege.
Von Dr. med. John Blumberg in Moskau.
Mit einem Vorwort des Geh. Medizinalrates Prof. Dr. 0. Hildebran d
in Berlin.
Mit 54 Abbildungen.
Wiesbaden 1911, Verlag von J. F. ßergma n n.
Verf. trachtet, in dem sehr schön ausgestatteten und reich
illustrierten Leitfaden das Pflegepersonal in die chirurgische Kranken¬
pflege einzuführen und schildert auf Grund seiner reichen persön¬
lichen Erfahrung alle die Handgriffe und Hilfeleistungen, welche
die zielbewußte Krankenpflege bedeuten und die geeignet sind, dem
Patienten das schwere Los des Krankseins erträglicher zu machen.
Siegmund Erd heim.
*
Ueber die Bewertung des „sozialen Faktors“ in der
Indikationsstellung zur tubaren Sterilisation der Frau.
Von H. Offergeld.
Würzburger Abhandlungen aus dem Gesamtgebiet der praktischen
Medizin 1911, Bd. 11, Heft 5.
Offergeld vertritt den Standpunkt, daß die Entscheidung4
ob die tubare Sterilisation im Einzelfalle angezeigt sei, ganz wesent¬
lich von den sozialen Verhältnissen der in Frage stehenden Person
abhängig gemacht werden müsse.
Auf Grund eines Beispieles — durch Unvernunft des Mannes,
der sein eigenes und seiner Angehörigen Vermögen durchgebracht
hat und nicht imstande war, Frau und Kinder ordentlich zu er¬
nähren, kommt eine Taglöhnersfamilie ins Elend, die Kinder ver¬
kommen usw. ; hier soll die tubare Sterilisation die Familie vor
weiterem Zuwachs und tieferem Verfalle bewahren — will Verf.
zeigen, daß unter sorgfältiger Berücksichtigung aller Nebenumstände
der gegenwärtigen und mutmaßlich zukünftigen Lage der Familie,
die sozialen Verhältnisse an sich gelegentlich die tubare Sterilisation
der Frau indizieren können, auch bei sonst durchaus körperlich und
geistig gesunden Eheleuten.
Die äußeren Verhältnisse, unter denen die Frau lebt, seien
aber erst recht imstande, das diesbezügliche Handeln zu beeinflussen,
wenn es sich um kranke Frauen handelt. Unter Mitberücksichti¬
gung des sozialen Faktors geht Offergeld die in einer früheren
Arbeit (Arch. f. Gyn., Bd. 91) schon erörterten medizinischen Indi¬
kationen durch und erörtert inwieferne das soziale Moment die Indi¬
kation dieses Eingriffes verschiebt. Offergeld streift die aus
prophylaktischen Gründen eventuell angezeigte Sterilisation bei Ge¬
fahr der Vererbung von Tuberkulose und psychischen Erkrankungen
und bespricht dann in bezug auf das soziale Moment die einzelnen
Erkrankungen, welche schon an und für sich die Anzeige zur
Operation abgeben können : Konstitutionskrankheiten, Anämien ver¬
schiedener Art, Herzkrankheiten, Osteomalazie, Diabetes, Hyperemesis,
Vorfall der Geschlechtsorgane, Verletzungen des Uterus, rezidivierende
Eklampsie und Placenta praevia, hochgradige Beckenverengungen
und gelangt zu dem Schlüsse, daß die enorme Wichtigkeit des
sozialen Faktors in der Indikationsstellung zur Sterilisation der Frau
außer Frage stehe, daß aber die Indikation zu diesem Eingriffe im
allgemeinen eine sehr enge ist ; sie setzte sich vor der exakten
Wissenschaft zusammen aus medizinischen Anzeigen unter weitest¬
gehender Berücksichtigung und Bewertung der den einzelnen Fall
begleitenden und komplizierenden sozialen Begleitumstände.
(Die einzige Indikation, die Ref. für die Sterilisierung der Frau
gelten lassen möchte ist die medizinische; die sozialen Faktoren
wären hiebei nach seiner Meinung am besten ganz auszuschalten
u. zw. einerseits wegen der Unmöglichkeit hier eine Grenze zu
ziehen, anderseits deswegen, weil jeder Stand das gleiche Recht auf
Schutz seiner Gesundheit haben muß. Es ist übrigens dies ein schon
viel diskutierter Punkt, in welchem eine Einigung kaum zu erzielen
sein wird.) B u c u r a.
Äus verschiedenen Zeitsehriften.
445. Kala- Az ar- Fälle in Griechenland. Von Doktor
A. Christ omanos, Direktor der Pathologischen Klinik in
Athen. Seit langer Zeit (1842, Pall is, Kl acl es usw.) haben
die Aufmerksamkeit griechischer Aerzte nicht zu selten zu beob¬
achtende Fälle auf sich gezogen', die sich durch Blutarmut, chro¬
nische Kachexie, eine ungeheure Milzvergrößerung und hektisches,
jeder Behandlung trotzendes Fieber charakterisieren und deren
Ausgang gewöhnlich ungünstig ist. Man hat diese Fälle bald als
Pseudoleukämie oder als Ban tische Krankheit gedeutet, doch
stimmte der liämatologische Befund oder der Verlauf nicht, daher
die Diagnose nicht befriedigte. 1903 und 1904 beschrieben aber
Leishnpan und Donowan im British med. Journal eigen¬
tümliche rundliche oder ovale Körperchen, welche sie in der
Leber und der Milz an Kala-Azar Verstorbener gefunden hatten
und dieser Befund — man nannte den Parasiten Leishmania Dono-
wani — wurde seither vielfach bestätigt. Verf. beschreibt ein¬
gehend zwei Fälle, die er im Krankenhaus „Evangelismos“ zu
beobachten Gelegenheit hatte und bei welchen durch Punktion
der Milz oder Leber usw. die für Kala-Azar charakteristischen
Körperchen gefunden wurden. Er ist nun überzeugt, daß sehr
64U
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
viele andere Fälle, die früher anders gedeutet wurden, durch
besagten Parasiten verursacht wurden, es ist ihm wahrscheinlich,
daß der „Ponos“ von. Spetzae usw. identisch mit Kala-Azar
sei, ja daß diese Erkrankung in Griechenland schon im Alter¬
tum bestand, daß es sich bei einer Erkrankung, welche Hippo-
krates andeutet, um Kala-Azar gehandelt habe. „Mit der Auf¬
findung der Parasiten in Griechenland klären sich viele, bei
Kinderh sowohl wie bei Erwachsenen Vorkommende, dem Chinin
nicht weichende, diagnostisch bis jetzt nicht zu erklärende, fieber¬
hafte Megalosplenien, die somit in der Zukunft einer richtigeren
Behandlung und Korrekturen prognostischer Schätzung unter¬
worfen werden können.“ lieber die Ansteckungsart weiß man
nichts Sicheres und auch die Therapie scheint noch im Argen
zir liegen. Verf. versuchte Atoxyl in größeren Dosen und Arsa,-
zetin (4mal je 0 05 g) viele Tage nacheinander, mit nur schein¬
barer Besserung. In einem Falle wurde Salvarsan (0-35 g) in¬
jiziert, doch fand man 48 Stunden später im Milzblute unver¬
änderte Parasiten. — (Deutsche mediz. Wochensehr. 191t, Nr. 14.)
E. F.
*
446. (Aus der medizinischen Klinik zu Jena. — Direktor :
Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Stintzing.) Zur Bestätigung des
Rumpel — Leedeschen Phänomens bei Scharlach. Von
Priv.-Doz. Dr. Benne c ke. Wenn man an einem Oberarme
Scharlachkranker eine Stauung erzeugt, die den Venösen Blut¬
abfluß aufhebt., den arteriellen Zufluß nicht oder nur wenig be¬
hindert, so treten in der Ellenbeuge nach1 5 bis' 20 Minuten Blu¬
tungen auf, deren Größe Von kleinsten Spritzern bis zu großen
suffusionsartigen Blutungen in der Haut schwankt. Durch um¬
fangreiche systematische Untersuchungen stellte Lee de fest, daß
die Blutungen sich am besten mittels des ,,Ri va- R o cci sehen
Apparates“ erzeugen lassen, wen'n in der Manschette ein Druck
hergestellt wird, der unter dem minimalen Blutdruck zurück¬
bleibt, also bei ca. 45 bis 60 mar Quecksilber. Es genügt aber
auch eine breite Gummibinde, die mäßig fest um den Oberarm
gelegt wird, wie es bei der Venenpunktion gebräuchlich ist. Nach
fünf bis zehn Minuten' wird die Binde gelöst und die Haut der
Ellenbeuge inspiziert. Nach Leedes Erfahrungen ist der nega¬
tive Ausfall des Stauungs Versuches als fast sicheres Kriterium
gegen den Scharlach zu verwenden', während der positive Ausfall
nur zusammen mit den übrigen Symptomen zu verwenden ist.
Verf. hatte schon früher anläßlich seiner systematisch durch
geführten bakteriologischen Blutuntersuchu'ngen bei Scharlach das
Phänomen beobachtet und unter 32 Fällen 26mal ein positives
Ergebnis gefunden. Seitdem hat er in' mehr als 30 Fällen die
Beobachtung fortgesetzt und bei der größeren Hälfte wieder die
Bestätigung gefunden. Sehr charakteristisch war das Phänomen
in den Fällen, bei denen bereits ein mehr oder weniger ausgebrei-
tetes, typisches Scharlachexanthem auf Brust und Rücken bestand,
die Extremitäten aber noch frei waren. Es fragt sich nun, ob
das Phänomen auch bei anderen Krankheiten auftritt, zweitens, ob
es sich wirklich um Blutungen handelt. Verf. beobachtete es
auch einige Male bei Masern anläßlich der Blutentnahme für
Wassermann, ferner bei zwei Kranken mit hochgradiger Blut¬
drucksteigerung infolge chronischer Nephritis. In1 den zwei letzten
Fällen Avaren die Blutungen 14 Tage bis 3 Wochen lang deutlich
zu sehen und ließen eine noch längere Zeit anhaltende Pigmen¬
tierung zurück. Dann sah er es bei einem Studenten, bei dem
wegen eines Hautausschlages und einer Angina, die Diagnose auf
Scharlach gestellt war. Das Exanthem war nicht ganz charak¬
teristisch für Scharlach, außerdem bestand eine Bronchitis, ein
geringer Milztumor. Der Fäll qualifizierte sich als Influenza. Es
zeigt sich also, daß die Von Leede gemachte Angabe, daß auch
bei anderen Krankheiten das Phänomen positiv sein kann, richtig
ist. Eine Eigentümlichkeit der Blutungen ist, daß sie nur in
der Ellenbeuge auftreten und daß sie auffallend schnell ver¬
schwinden. Nach zw ei bis drei Tagen waren sie ohne Id g men¬
tation en verschwunden. Einen Gegensatz hiezu bilden die beiden
erwähnten Fälle von Stauungsblutungen bei nephrogener Blut¬
drucksteigerung, bei denen sich die Blutungen von den hier ge¬
schilderten sehr wesentlich dadurch unterscheiden, daß sie sofort
entstanden, das ganze gestaute Gebiet betrafen, wochenlang zu
erkennen Waren und unter Pigmentumwandlung verschwanden.
Um das Phänomen womöglich zu erklären, hat Verf. ein Haut¬
stückchen von einer 23jährigen Patientin am sechsten Krank¬
heitstage mikroskopisch untersucht und gefunden, daß es sich
tatsächlich um Blutextraväsate handelt, die im Korium von ver¬
schiedener Größe sind. Nur gelang es nicht, festzustellen, ob die
Blutung per diapedesin oder per rhexin zustande gekommen
Avar. Dagegen fand er in seinen Präparaten, daß zwischen den
Blutextravasaten und der Epidermis zahlreiche mit Pigment be¬
ladene „Chromatophoren“ nachweisbar waren. Diese möchte der
Verfasser nicht als Zerfall von roten Blutkörperchen ableiten,
sondern als die letzten Reste des ursprünglichen, hämorrhagischen
Scharlachexsudates ansehen. Da an anderen Stellen derartige
pigmentführende Zellen vermißt Avurden, so kann gefolgert wer¬
den, daß die Blutungen des „Rumpel - Leedeschen Phänomens’
an den Stellen auftraten, die früher Sitz des Scharlachexanthems
waren, das wahrscheinlich unter der direkten Eimvirkung des
Scharlachgiftes entsteht. Sollte durch weitere Untersuchungen
diese Behauptung sich bestätigen, so würde das Phänomen noch
nähere Beziehungen zu dem Scharlachprozesse bekommen, als
Leede, der das Wesen des Phänomens gan'zl allgemein in der
gesteigerten Verletzbarkeit der Kapillaren bei Scharlach erblickt,
anzunehmen geneigt erscheint. — (Münchener mediz. Wochen¬
schrift 1911, Nr. 14.) G.
*
447. Beiträge zur Frage der Anaphylaxie. Von
Dr. Paul N. Clough, Assistent resident physician the John
Hopkins Hospital, Baltimore, freiAvilliger Hilfsarbeiter im Kaiser¬
lichen Gesundheitsamte. MeerschAveinchen, denen durch die un¬
verletzte und skarifizierte Haut Pferdeserum mit Lanolin ein¬
gerieben wurde, zeigen, daß nach Skarifikation eine Sensibili¬
sierung des Organismus ausnahmslos eintritt, daß sie hingegen
durch die unverletzte Haut nur unter Umständen möglich ist.
Auch durch die unversehrte Konjunktiva kann soviel Antigen
aufgenommen werden, daß eine Reinjektion den typischen ana¬
phylaktischen Shock auslöst. Eine Sensibilisierung vom Rektum
aus ist möglich, während' sie von der Vagina aus nicht ausge¬
schlossen erscheint, offenbar aber von der Einführung großer
Eiweißmengen abhängt. Einbringung von Katgutfäden in die Peri¬
tonealhöhle führten ebensowenig zu Sensibilisierung der Tiere,
ails Anlegung , einer Katguthautnaht mit einem 30 cm langen
Faden. Verf. nimmt an, daß das in dem als Nahtmaterial ver¬
wendeten Katgut enthaltene Eiweiß so verändert ist, daß es nicht
mehr imstande ist, Antikörperbildung auszulösen. Nachdem
Clough durch Versuche festgestellt hatte, daß Antiformin' in
20°/oiger Lösung und bei kurzer Einwirkung die sensi¬
bilisierenden Eigenschaften getrockneter Epidermis nicht aufhebt,
verwendet er Haarantiforminlösuügen als Antigen. Die Resul¬
tate dieser Versuche scheinen dafür zu sprechen, daß es auch
auf diese Weise gelingt, eine Sensibilisierung der Tiere zu er¬
zeugen, doch darf durch allzulange Einwirkung des Antiformins
auf die Haare ihr Eiweiß nicht zerstört werden. Dies ist aller¬
dings nur bei Aveichen, blonden Kinderhaaren der Fall, die schon
innerhalb einer halben Stunde restlos gelöst werden, während
die Haare erwachsener Menschen und verschiedener Tiere einer
weit längeren Antiforminbehandlung zur vollständigen Auflösung
bedürfen. — (S. A., Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheits¬
amte 1910, Rd. 31. H. 2.) J.
*
448. (Aus der dritten medizinischen Klinik in Wien. - -
Vorstand: Geheimrat A. v. Strümpell.) Orthod iagraphi-
sche Untersuchungen über die Herzgröße bei Tuber¬
kulösen. Von Dr. Rudolf Beck, Hospitanten der Klinik. Sind
die kleinen Herzen der Tuberkulösen nur die Folge des geringen
Gewichtes und des engbrüstigen Habitus dieser Kranken? Oder
spielen noch andere Faktoren mit? Stehen die kleinen Herzen
immer oder doch in einem Teile der Fälle etwa in einer innigen
Beziehung zur Lungentuberkuloste? Um diese Fragen zu lösen,
orthodiagraphierte Bec.k eine Anzahl von Lungen tuberkulösen
mit normal gebautem Thorax und mit einem1 der Länge ent¬
sprechenden. also nicht herabgesetzten KörpergeAvichte. Beck
erwies nun durch seine Untersuchungen, daß bei einem großen
Teile der Lungentuberkulosen die Relation, Avelche in der Norm
zAviscben Körpergröße und Körpergewicht einerseits und Herz-
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
641
volumen anderseits besteht, eine Aenderung erfährt im Sinne
einer Verringerung des Herzvolumens. Die Erklärung dieser fest¬
gestellten Tatsache kann nur eine hypothetische sein, da das
Herzvolumen von verschiedenen Faktoren, wie Pulszahl, Blut¬
druck, Verteilung des Blutes im Körper, abzuhängen scheint.
— (Deutsches Archiv für klinische Medizin 1910, Bd. 100.) K. S.
*
449. Ueber einen Versuch, die lokale Immunität
für die Praxis brauchbar zu machen. Von Geh. Med. -Rat
A. v. Wassermann und Dt. R. Led ermann. Die lokale Im¬
munität wird dadurch erzielt, daß man den Infektionsstoff direkt
auf das zu immunisierende Gewebe lokal einwirken läßt. Das
ist schon vielfach gelungen, wie v. Wassermann an meh¬
reren Beispielen zeigt. Er ging nun so vor, daß er lebende Sta¬
phylokokken mit Wasser im Schüttelapparate durch längere Zeit
extrahierte, dann zentrifugierte und auf diese Weise die immuni¬
sierenden Stoffe in Lösung erhielt. Da aber diese Substanzen als
kolloidale Moleküle nicht lange haltbar waren, so setzte er als
Schutzkolloid eine verdünnte Gelatinelösung zu, die sich als sehr
geeignet erwies. Das Präparat, welches er wegen seiner Eigen¬
schaft, örtlich auf das Gewebe zu wirken, als ,,Histopin“ be¬
zeichnen möchte, besteht also aus den immunisierenden Sub¬
stanzen der Stapholokokken, ist völlig steril und wird zur Halt¬
barmachung mit Gelatine versehen. Es ist dann entweder in dieser
Form oder in Verarbeitung von Salbe durch Pinselung oder in
anderer Weise auf die Haut aufzutragen. Es wurde B lasch ko,
Leder mann und Wechselmann zur Prüfung übergeben,
v. Wassermann legt Nachdruck darauf, daß das Hauptaugen¬
merk darauf zu richten sei, ob das Präparat imstande sei, mittels
lokaler Immunisierung der Haut das Weiter schreiten, bzw.
das Rezidivieren der Staphylokokkenprozesse, besonders der
Furunkulose, zu verhüten. Das Präparat hat keine Nebenwir¬
kungen, ist mit V2%igem Karbol versetzt, enthält keine lebenden
Staphylokokken, ist völlig reizlos und erzeugt keine fieberhafte
Reaktion. Es kann also wochenlang in beliebigen Quantitäten
vom Patienten selbst auf die Haut aufgetragen werden, um seinen
immunisierenden Zweck erfüllen. Durch Tierexperimente (Pro¬
fessor G. Michaelis) konnte man sich schließlich überzeugen,
daß die kleinsten Mengen, die eventuell resorbiert werden, daneben
zu einer Erhöhung des opsonischen Index gegen Staphylokokken
führen, so daß also außer der lokalen Immunität noch auf eine
durchaus schmerz- und reaktionslose Weise nach einiger Zeit
eine gewisse allgemeine Immunität durch das Hi stop in hervor¬
gerufen wird. — R. Led er mann macht, hieran anknüpfend,
eine vorläufige Mitteilung über seine wenigen Versuche an Men¬
schen. Fälle von Impetigo contagiosa und Furunkel schienen ihm
hiezu geeignet. Erstere Erkrankung nur in beschränkterem Maße,
einmal, weil sich Staphylokokken nicht immer als Krankheits¬
erreger allein in dem Blaseninhalte und in den sekundären Borken
finden, sondern oft noch Streptokokken, sodann aber, weil die
Impetigo contagiosa bekanntlich auch spontan oder unter Ein¬
wirkung verschiedener Mittel (Salizyl-, Schwefel-, Quecksilber-
Präzipitatsalben) rasch abheilt. Die Von ihm angestellten Versuche
zeigten, daß tatsächlich durch Bepinseln nässender Stellen mit
Histopin oder durch Einfetten, resp. Bedecken impetiginöser Stellen
mit 15- bis 50%iger Staphylokokkenextrakt-Lanolinsalbe die Af¬
fektion zur Heilung kam. Bei der Furunkulose kommen dagegen
nur Staphylokokken in Betracht. Es gelingt nun häufig, die Ent¬
wicklung kleiner, eben entstehender Furunkel durch Bepinseln
der erkrankten Stellen mit dieser Staphylokokkenextrakt-Gelatine
zu hemmen und die Abheilung abortiv zu gestalten. Bei kleinen
Furunkehi findet eine Abheilung auch öfters mit 25- bis 50°/oiger
Extraktsalbo statt, ohne daß sich der Prozeß weiter entwickelt.
Größere Furunkel wurden so behandelt: kleine, stichförmige,
nicht zu oberflächliche Inzisionen, Absaugen des Eiters mit der
Bi ersehen Saugglocke, Bedecken des ganzen Furunkels mit Ex¬
traktkompressen oder ExtraktsalbenVerband. Bei tiefsitzenden Fu¬
runkeln und Furunkelabszessen ist der Eiter ausreichend zu ent¬
leeren und dami die Stelle mit der Extraktsalbe zu bedecken. Bei
oberflächlichen Pusteln und Follikulitiden (Impetigo Bockhart)
hat sich diese Staphylokokkenextrakt-Gelatine als besonders nütz¬
lich erwiesen. Nicht so sehr in der Heilung der schon bestehenden
Affektion, als vielmehr in der Verhütung des Auftretens neuer
Furunkel ist der Hauptwert der Was serm ann sehen Gelatine
zu suchen. Es ist dem Verfasser (Leder mann) in einigen
Fällen gelungen, jahrelang bestehende, immer wieder rezidivie¬
rende Furunkelbildung dadurch zum Stillstand zu bringen, daß
er weite, anscheinend gesunde Hautstellen mit der Gelatine be¬
streichen ließ. Die Gelatinepinselung der Umgebung der Furunkel
dürfte sich ganz: besonders als Prophylaktikum empfehlen. —
(Med. Klinik 1911, Nr. 13.) E. F.
*
450. (Aus dem Heidelberger Institut für Krebsforschung.
Direktor: Exzellenz Geheimrat Prof. Dr. V. Czerny.) Ueber
Komplementablenkung bei Karzinom. Von Dr. Albert
Caan, erster Assistenzarzt am Samariterhaus. Dio Was ser¬
in ann sehe Reaktion läßt sich nicht nur bei Lues und post-
luetischen Erkrankungen, sondern auch bei Scharlach, Lepra,
Malaria, Framboesia tropica, Lungentuberkulose, myeloider Leuk¬
ämie, Typhus recurrens usw. nachweisen. Der Verfasser hat das
Phänomen auch in vier Fällen von Hodgkinscher Krankheit ge¬
funden und infolgedessen alle Karzinome systematisch nach dieser
Richtung hin geprüft. Es wurden im ganzen 85 Karzinomfälle
untersucht u. zw. nur solche, deren Charakter histologisch sicher
festgestellt war und bei denen anamnestisch Lues ausgeschlossen
werden konnte. Außerdem gab in allen Fällen der klinische
Befund für das Vorhandensein einer syphilitischen Infektion keinen
Anhaltspunkt. Von den 85 Karzinomfällen zeigten 35 eine posi¬
tive, resp. schwach positive Reaktion. Am auffälligsten ver¬
hielten sich die Lippenkarzinome; von sieben Fällen reagierten
seefhs positiv. Von 15 Hautkarzinomen zeigten 10 eine positive
Seroreaktion; ebenso 2 Unterkieferkarzinome, während 3 Ober-
kieferkrebse negativ reagierten. Bei 11 Mammakarzinomen fand
sich einmal, bei 4 Gebärmutterkrebsen zweimal Kompleinent¬
ablenkung. Die Kehlkopfkrebse und die der Mundhöhle hemmten
verhältnismäßig wenig. Unter den Karzinomen der Verdauungs¬
organe war der Befund bei 4 Kolohkarzinomen dreimal ein posi¬
tiver, während bei 13 Magenkrebsen dreimal, bei 6 Oesophagus¬
karzinomen einmal und bei 8 Rektumkarzinomen dreimal die
Hämolyse ausblieb. Bemerkenswert nach Verf. ist also der posi¬
tive Ausfall der Wasser mannschen Reaktion in ca. 41% der
untersuchten Karzinomfälle, dann aber auch das Resultat der
Untersuchungen bei den Lippenkrebsen und Hautkarzinomen im
Gegensatz zu den Brustkrebsen und einigen Karzinomen des Ver¬
dauungstraktes. Bemerkenswert ist ferner, daß es in einigen
Fällen zu einer schwach positiven Reaktion, also nicht zu einer
eigentlichen Luesreaktion kam. Lieber diese Tatsachen vermag
Verf. keine genügende Erklärung zu geben. Es wäre denkbar, daß
in manchen Fällen von Karzinom und besonders bei Lippen-
und Hautkrebsen eine Spirillose als Ursache des positiven Aus¬
falles der Wasser mannschen Reaktion in Frage kommt, es
wäre aber auch denkbar, daß das zerfallende Karzinom Stoff¬
wechselprodukte liefert, die denen der syphilitischen Affektion
entsprechen, bei der es sich um eine Art von1 Lipoidreaktion
handeln soll. Nach Verf. ist es jedenfalls wünschenswert, diese
Untersuchungen fortzusetzen, da vielleicht biologische Differenzen
bei verschiedenen Tumoren festgestellt werden könnten, die mög¬
licherweise für die Therapie eine Bedeutung haben könnten. —
(Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 14.) G.
*
451. Pathologie der angeborenen, familiären und
hereditären Krankheiten, speziell der Nerven- und
Geisteskrankheiten. Von Dr. Heinrich Higier (Warschau).
Seit Jahrzehnten beschäftigte sich die Naturwissenschaft mit der
Hereditätsfrage, aber vielleicht keine Disziplin hat auf dem Ge¬
biete der Erblichkeitslehre solche Erfolge aufzuweisen, wie die
Psychiatrie, deren Resultate zu Forschungen Anlaß gaben, die
die ganze ältere Lehre von der Heredität zu erschüttern geeignet
sind. Wie sehr die Hereditätsfrage mit vielen aktuellen Zeit- und
Streitfragen der Neurologie und Psychiatrie enge verknüpft ist,
hat Higier in einem umfangreichen Referate gezeigt, welches er
auf dem internationalen medizinischen Kongreß zu Budapest
zum Vortrag brachte und welches in der vorliegenden Arbeit den
engeren Fachgenossen zur Kenntnis gebracht wird. Die Materie
ist eine zu große, um hier im engen Rahmen eines kurzen Re¬
ferates besprochen werden zu können, so daß es genügen muß,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. .1911.
Nr. 18
612
wenn darauf verwiesen wird, daß der Verfasser1 mit rühmens¬
wertem Fleiß und mit großer Umsicht alles zusammengetragen
hat, was den Neurologen und Psychiater in der großen Gruppe
hereditärer Leiden interessiert und daß er bemüht war, mit mög¬
lichster Vollständigkeit alle zu der Hereditätsfrage in Beziehung
stehenden Fragen zu erörtern. — (Archiv1 für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten, Bd. 48, H. 1.) S.
#
452. Ueber bakteriologische Beobachtungen bei
Irrenruhr, insbesonders über die Erscheinung der
Paragglutination. Von Dr. Philalethes K ü h n, Dr. E. Gilde¬
meister und Dr. Woithe. Die vorliegenden Untersuchungen
schließen sich an die interessante, von Kuhn und Woithe
gemachte Beobachtung von Ruhrbazillen vom Typus Flexner,
Kolihazillen und Kokken im Stuhle einer ruhrkranken Irren,
welche Bakterien sämtlich die Eigenschaft zeigten, selbst in hohen
Verdünnungen von Flexnerseris agglutiniert zu werden. Außer¬
dem gelang es durch Vorbehandlung von Kaninchen mit diesen
Bakterien, ein Immunserum zü gewinnen, welches nicht nur die
entsprechenden Mikroorganismen, sondern auch Flexnerbazillen
agglutiniert. Dieses eigentümliche Phänomen, daß drei verschie¬
dene Bakterienarten in engen Beziehungen zu Stoffen des Ruhr¬
serums stehen, bezeichneten die beiden Autoren als Paraggluti¬
nation. Das weitere Studium1 dieser Ruhrepidemie in einer pri¬
vaten Irrenanstalt ergab, daß die Ausbreitung durch Kontaktinfek¬
tionen erfolgte, wobei chronische Ruhrkranke die gleiche Rolle
spielten, wie Typhusbazillenträger in der Epidemiologie des
Typhus. Die bakteriologische Untersuchung der Stühle ließ noch
weitere paragglutinierende Kolistämme au fd ecken. Der mit den
frisch aus dem Stuhle gezüchteten Kolistämmen festgestellte agglu-
tinatorische Titer geht, allmählich zurück. Während die gewöhn¬
lichen Bacterium coli - Stämme in der Regel nur ein Iminun-
serum liefern, welches bloß den zur Immunisierung verwen¬
deten Stamm agglutiniert, erhält man mit den paragglutinieren1-
den Kolistämmen ein Serum, Welches auf alle diese Kolistämtme
und auf Flexnerstämme einwirkt. Die Untersuchung des Serums
der Irren zeigte, daß auch eine Reihe nicht Ruhrkranker1 FleixneP-
stämme verschieden hoch zu agglutinieren vermochten, eine Beob¬
achtung, die den Schluß zuläßt, daß auch diese scheinbar gesund
gebliebenen eine ganz leicht verlaufene Dysenterie durchgemacht
hatten. Endlich dienten die Vorliegenden Untersuchungen den
Verfassern als Material zür Bewertung der Leistungsfähigkeit von
Agglutino- und Sedimentoskop. Sie empfehlen die Beobachtung
der Agglutination mittels des Agglutinoskops ohne Vorbehalt,
auch die sedimentoskopische Methode möchten sie für wissen¬
schaftliche Untersuchungen nicht missen, doch soll sie nur für
bestimmte Bakterienarten (Typhus, eventuell Paratyphus, Dysen¬
terie, Rotz, Strepto- und Menin'gokokkeln) reserviert bleiben. -
(S.-A., Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 191.1,
Bd. 31, H. 2.) ' J.
- *
453. Ueber Magenwandphl egmone im subakuten
S t a d iu m und eine HeiluUg durch M agenres ekti o n. Von
Prof. Dr. Fritz König in Greifswald. Eibe 28jährige Frau wurde
der chirurgischen Klinik Von der medizinischen Klinik zur Ope¬
ration überwiesen. Ihre Erkrankung hatte mit hohem Fieber,
Kopfschmerz und Erbrechen eingesetzt, dann wären die akuten
Erscheinungen zurückgegangen, es blieben Magenschmefzen,
Druckgefühl u. zw. unabhängig Vom1 Essen, ferner Erbrechen
gelblich - braungelber Massen. Nie war Blut im Stuhle, keine'
Durchfälle, Appetit stets vorhanden, trotzdem starke Abmagerung,
weit über 50 Pfund. Befund ah der chirurgischen Klinik : Obere
Hälfte des linken Rectus abdominis leicht gespannt, vorgewölbt.
In Nabelhöhe quergestellter, länglicher Wulst, der unter den
Fingern nach oben zu gleiten scheint. Bei Aufblähung rückt er
etwas unterhalb des Nabels. Laparotomie. Mittellinie. Vorliegen¬
der Magenteil zeigt Rötung, flächenhäfte, ziemlich zarte, injizierte
Adhäsionen. An der großen Kurvatur dicke Infiltration der ge¬
röteten Wand, etwa auf 10 ein, fast bis zum Pylorus reichend ;
an der Vorderwand und Rückwand aufwärts ziehend, jedoch nicht
bis zur kleinen Kurvatur. Die Infiltration hat die größte Breite
in der Mitte, Verjüngt sich nach beiden Seiten hin. Es scheint
ein Tumor vorzuliegen von ganz auffallend av ei eher Kon¬
sistenz, schwammig, etwa wie ein medullärer Krebs; ein Ulkus
ist nicht durchzufühlen. Die zarten Adhäsionen bluten auffallend
stark bei der Durchtrennung. Im Netz und Mesenterium zahl¬
reiche, weiche, geschwollene Drüsen. Auch hier bluten alle Teile,
sehr stark. Quere Durchtrennung des Magens unter Mitnahme
des Pylorus, es bleibt ein ziemlich großer kardialer Teil übrig.
Einstülpung und Verschluß der Magenresektionsfläche usw. Glatter
Wundverlauf. Nach einigen1 Wochen sah die Operierte blühend
aus, hatte keine Beschwerden und schon 26 Pfund an Körper¬
gewicht zugenommen. Der herausgenommene Magen zeigte keinen
Tumor, kein Ulkus, dagegen war die Schleimhaut, entsprechend
der an der Serosa geröteten und injizierten Partie, weich, ge-
schwollen, Vorgebuchtet, gerötet; an vielen Stellen fanden sich
linsengroße Defekte. Zwischen den Defekten war die Schleimhaut
abgehoben; man kann mit einer Sonde von einer Oeffnung zur
anderen unter der Schleimhaut herfahren. Die Magenwand war
stark verdickt und erfüllt mit einem weichen Brei, Avie eingeL
dickter Eiter. Muskulatur kaum zu erkennen, macht den Eindruck
von S etnvart engewebe. Verf. gibt den mikroskopischen Befund und
resümiert: Es handelte sich an dieser entzündlich geröteten, saft¬
geschwellten, an der Serosa peritonitischen, an der Schleim¬
haut. durchlöcherten Magenpartie um eitrige Entzündung
der Magen wand, um eine Gastritis purulenta, oder wie der
Verfasser sie treffender bezeichnen1 möchte, um „Phlegmone
der Magenwand“. Die Erkrankung hat ganz akut eingesetzt,
ist dann in ein subakutes Stadium eingetreten und anscheinend
zum ersten Male hat eine Resektion' die Möglichkeit gegeben,
dieses Stadium noch intra vitam autoptisch zu stu¬
dieren. Verf. bespricht eingehend den mannigfachen Verlauf
solcher Prozesse, die Beteiligung des Peritoneums, das Entstehen
sogenannter Magenwandabszesse, er hält den Befund eines eigen¬
tümlich weichen, querverlaufenden:, verSchwimmenden Tumors
in der Magengegend als diagnostisch sehr beachtenswert, ferner
die Angaben des Erbrechens bräunlich - gelber Massen bei unver¬
ändertem Chemismus. Der Fall beweist ferner, daß selbst eine viel¬
fache Spontanperforation in den Magen noch lange keine Heilung
bedeutet, denn trotzdem War die Entleerung des Eiters völlig
unzureichend, es kam allmählich zu einer derben Schwarte. Die
rationelle Therapie kann hier nur die Entfernung der erkrankten
Magenpartie sein, Avas der Erfolg bewiesen hat. Die frühere
probatorische Eröffnung der Magenwand hält Verf. schließlich für
unzulässig. — (Deutsche mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 14.)
E. F.
*
454. Stickstoff- un d Kochsalzstof fwech sei bei der
Karelischen Milchkur. Von C. Hegler. An zahlreichen Fällen
teils' reiner, teils mit Kompensationsstörungen komplizierter Fett¬
sucht vorgenommene Untersuchungen des Kodhsalz1- und Stickstoff-
Stof fwechsels ergaben, daß die Karell-Kur (sieben Tage lang je
800 cm3 Milch mit einer täglichen Zufuhr von rund 520 Kalo¬
rien und etwa 27 g Eiweiß) sich ganz1 beträchtlich unter dem
Eiweiße, resp. Kalorien1 minimum hält, also eine rigorose Hunger¬
kur darstellt, von der man eigentlich Schädigungen des Organis¬
mus erwarten sollte. Indes ist das durchaus1 nicht der Fall.
Es1 Avird rasche subjektive und objektive Besserung Iris zur Ar¬
beitsfähigkeit erzielt. — (Fortschritte der Medizin 1911, 29. Jahrg.,
Nr. 1.) K. S.
*
455. (Aus der Heidelberger chirurgischen Klinik. — Direktor:
Prof. Dr. Wilms.) Die Entstehung der Pankreatitis
bei Gallensteinen. Von PriV.-Doz. Dr. LudAvig Arnsper-
ger, erster Assistent der Klinik. Pankreasaffektionen und Chole¬
lithiasis sind sehr häufig kombiniert. Meist schließt sich die Pan¬
kreatitis an das primäre Gallensteinleiden an. Die Ursache führen
die meisten Autoren (Körte, Ebner, Kehr1) auf die anatomi¬
schen Beziehungen der Lage der Ausführungsgänge! des Pankreas
und des Gallensystems zurück, besonders bei den Choledochus¬
steinen. Verf. hat in einer Reihe Von Fällen an der Heidelberger
Klinik die Kombination von chronischer Pankreatitis mit
Gallensteinerkrankungen des Reservoirsystems beobachtet; ein¬
mal eine akute Pankreatitis mit Fettgewebsnekrose bei sub¬
akuter (Cholezystitis, Avährend jedoch der Ductus chole-
dochus sicher nicht beteiligt Avar und einer Pankreaszyste.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1Ü1L
643 j
Nr. 18
In fast all diesen Fällen konnte er eine entzündliche Schwellung
der in der Gegend des Zystikus und Choledochus gelegenen Lytnph-
driisen und des retroperitonealen Gewebes im Sinne einer Lymph¬
angitis nachweisen und es lag nahe, auch die Pankreasaffektion
als auf lymphangitischem Wege entstanden zu denken. Daß tat¬
sächlich die Lymphb, ahnen von der Gallenblase zum Pankreas
verlaufen, ergibt sich sowohl aus klinischen, als auch pathologisch¬
anatomischen Beobachtungen und ist auch den Anatomen be¬
kannt. Verf. hat bei seinen Gallensteinoperationen, besonders
bei der Cholezystektomie, mehrfach Gelegenheit gehabt, derartige,
von der Gallenblase ausgehende lyinphangi tische Prozesse in
jeder Abstufung zu sehen und zu studieren, üb es sich dabei
in allen Fällen um eine wirkliche Pankreatitis handelt, ist zweifel¬
haft. In vielen Fällen dürfte nur eine Pankreasschwell uug vor¬
handen sein, die auf den Pankreaskopf beschränkt bleibt, wobei
das Lymphgewebe, das zwischen den Drüsenläppchen eingestreut
ist, den Hauptanteil hat. Es würde sich also in diesen Fällen
um eine Lymphadenitis pancreatica handeln. Damit würde sich
die Tatsache gut vereinigen lassen, die Verf. klinisch häufig beob¬
achtete, daß nämlich bei Fällen von akuter Cholezystitis der
hifolge der entzündlichen Pankreasschwellung auftretende ent¬
zündliche Ikterus nach Entfernung der entzündeten Gallenblase
auch ohne Drainage der tiefen Gallenwege in wenigen Tagen ver¬
schwindet und die Passage für die Galle wieder frei wird, also
das Pankreas abgeschwollen sein muß. Für die große Rolle, die
die Lymphdrüsen des Pankreaskopfes als Abführwege des Lymph¬
systems der Gallenblase spielen, findet Verf. einen weiteren Beweis
in der Verbreitung der Metastasen des Gallenblasenkarzinoms.
Man findet dabei auffallend häufig Metastasen im Pankreaskopfe
und in dessen Umgebung. In der Klinik wurden acht solcher
Fälle beobachtet. Die Versuche von Franke, durch Farbstoff¬
injektion von der Gallenblasenwandung aus die abführenden
Lymphwege der Gallenblase darzustellen, bestätigen die Ausfüh¬
rungen des Verfassers. In der Mehrzahl dürfte auch die Erklärung
des entzündlichen Ikterus in dieser lymphangitischen Schwellung
des Lymphdrüsengewebes oder des Pankreaskopfes zu suchen sein.
Die Schlußsätze aus des Verfassers Beobachtungen lauten: 1. Wäh¬
rend die akute und chronische Pankreatitis bei Gallensteinen im
Ductus choledochus, die in der Regel die ganze Drüse betrifft,
in den innigen anatomischen Beziehungen beider Ausluhrungs-
gänge ihre natürliche Erklärung findet, kann die bei einfacher
Cholezystitis ohne Beteiligung der tiefen Gallenwege auf tretende
Anschwellung des Pankreaskopfes nicht so gedeutet werden.
2. Diese entsteht wahrscheinlich auf dem Lymphwege von der
entzündeten Gallenblase aus. Sie ist in vielen Fällen vielleicht
keine echte Pankreatitis, sondern eine nach Entfernung der ent¬
zündeten Gallenblase rasch zurückgehende Anschwellung der
Lymphapparate des Pankreaskopfes, eine Lymphadenitis pancre¬
atica. 3. Als Beweis für diese Anschauung dienen: a) Der ana¬
tomische Nachweis der von der Gallenblase zum Pankreas ziehen¬
den Lymphhalmen (Farbstoffinjektion Franke), b) Die klinisch
beobachteten Stadien der Ausbreitung des lymphangitischen Pro¬
zesses auf die Drüsen an der Ampulle der Gallenblase und am
Zystikus, die Drüsen in der Umgebung des Ductus hepaticus
und Choledochus bis zum Pankreas hin und c) der Verbreitungs¬
weg des primären Gallenblasenkarzinoms, hei dem Metastasen
im Pankreaskopfe, aut dem Lymphwege entstanden, auffallend
häufig Vorkommen. 4. Diese lymphangitische Schwellung des
Pankreaskopfes und der Lymphdrüsen im Ligamentum hepato-
duodenale, sind in vielen Fällen die Ursache des bei einfacher
Cholezystitis auf tretenden entzündlichen Ikterus. — (Münchener
mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 14.) G.
*
456. (Aus der chirurgischen Universitätsklinik zu Göttingen.
— Direktor: Geh. Med.- Rat Prof. Dr. Braun.) Beiträge zur
Appendizitisfrage auf Grund der Erfahrungen der
Göttinger Klinik in den letzten 11 Jahren. Von Privat-
dozent Dr. Albert Fromme. In einer ausführlichen Arbeit be¬
spricht Verf. die Erfahrungen, die an fast 700 Fällen von Appen¬
dizitis gewonnen wurden und legt die Grundsätze lest, nach
welchen bei der operativen Behandlung der Appendizitis iu den
verschiedenen Stadien der Erkrankung vorgegangen wurde. Vor
allem ist Verf. ein entschiedener Anhänger der Frühoperation,
die er jedem mit irgendwie akuten Symptomen erkrankten Pa¬
tienten zu empfehlen rät, da mit den jetzigen Hilfsmitteln einer¬
seits eine einwandfreie Prognose nicht gestellt werden kann,
anderseits nur durch die Frühoperation die schweren Zufälle
(Abszeß, Peritonitis) verhindert werden können. Im Intermediär-
stadium (dritter bis fünfter Tag) empfiehlt Verf. zuzuwarten, bis
sich ein Abszeß entwickelt hat oder bis die Erscheinungen zurück¬
gegangen sind. Verf. ist der Ansicht, daß sich in den ersten
18 Stunden das Schicksal der Appendixkranjken entscheidet, das
heißt, entweder kommt es hei fehlenden Verwachsungen zu Peri¬
tonitis und der Fäll muß operiert werden, oder es bestehen Ver¬
wachsungen und die Erkrankung des Peritoneums bleibt eine
zirkumskripte. In diesem Stadium ist es leichter, als im Früh¬
stadium, die Prognose zu stellen und bei mangelnder Progredienz
der Erscheinungen zuzuwarten. In diesem Stadium wird nur
bei vitaler Indikation operiert und die Appendix gleichzeitig
weggenommen. Hingegen hält Verf. die Resektion der Appendix
bei der Abszeßinzision im Spätstadium auf Grund seiner Er¬
fahrungen nicht für nötig. Die Entleerung des Eiters durch eine
kleine Inzision genügt nicht nur, um die akuten Erscheinungen
zum Abklingen zu bringen, sondern auch später traten, wie die
Nachfrage bei den Patienten ergeben hat, Rezidive nur in einer
geringen Anzahl auf, so daß Verf. annimmt, daß entweder der
den Reiz unterhaltende Kotstein durch die Eiterung entfernt wurde
oder andere, die Rezidive begünstigende Verhältnisse (Knickung,
Verengerung) beseitigt wurden und auf diese Weise eine Heilung
ohne Rezidive erfolgte. Deswegen empfiehlt Verf. den Patienten
mit Abszeß nicht in jedem Falle die Intervalloperation, er macht
sie nur aufmerksam, sich beim Beginn neuer Krankheitssymptome
sofort am ersten Tage operieren zu lassen. Bei nicht abszedierten
Fällen traten Rezidive häufiger auf und hier ist die Intervall¬
operation angezeigt, dieselbe kann in leichteren Fällen einige
Tage nach Beginn der Erkrankung, in schwereren Fällen nach
vier bis sechs Wochen ausgeführt werden. Bei Peritonitis besteht
die Indikation zur sofortigen Operation in jedem Falle, wobei
die Appendix als die Ursache der Erkrankung in jedem Fälle
mitgenommen werden soll. — (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie,
Bd. 108, H. 5 bis 6.) se.
*
457. Die Behandlung der Gicht und des Rheuma¬
tismus mit Radiu m. Von Geh. Rat W. H i s. Im ganzen wurden
mehr als 200 Fälle behandelt, von welchen nur 128 in der Charite
oder in Privatkrankenhäusern durch längere Zeit genau beobach¬
tete Fälle in Betracht kommen; von diesen gehörten 100 dem
chronischen Rheumatismus und 28 der Harnsäuregicht an. Von
den 100 Fällen chronischer Rheumatismen sind 17 gebessert
worden, erheblich gebessert 29, nahezu geheilt 5, ungebessert
bleiben 13 und bei 6 entzog sich der Erfolg der Beurteilung. Verf. er¬
wähnt einige markante Fälle. Ein 8V2jähriges Kind litt seit drei
Vierteljahren an symmetrischen Schwellungen fast aller Extremi¬
täten, es konnte weder Hände noch Füße gebrauchen. Nach acht¬
wöchiger Behandlung war die Gehfähigkeit und der Gebrauch
der Hände wiedergekehrt. Ein 20jährigeis Mädchen verlor subakute
Schwellung der beiden Sprunggelenke, die seit zwei Monaten
bestanden, innerhalb drei Wochen und konnte als geheilt entlassen
werden. Ebenso heilte eine subakute Schwellung der beiden
Fußgelenke innerhalb drei Wochen. Ein Mädchen von 19 Jahren
litt seit drei Jahren an exsudativer Polyarthritis aller Extremi¬
tätengelenke; zahlreiche Kuren konnten das Fortschreiten des
Prozesses nicht hindern. Emanations- und Trinkbehandlung. An¬
fangs vermehrte Schmerzen, dann lange Zeit stationärer Zustand,
schließlich — nach drei Monaten — erhebliches Abschwellen
der Gelenke, Gebrauchsfähigkeit der Hände und Füße. Nach
den letzten Nachrichten tanzt das Mädchen wieder. Ein ebenso
ausgesprochener Erfolg wurde bei einer schon ziemlich veralteten
Myalgie erzielt. So hervorragende Resultate lassen sich indessen
nur ausnahmsweise erzielen. Schwere anatomische Veränderun¬
gen an den Knochen, Knorpeln, Muskeln usw. lassen sich eben
durch kein Mittel mehr rückgängig machen. Am meisten Erfolg
versprechen also von vornherein die Erkrankungen, die noch
nicht allzulange gedauert haben und bei denen die Hauptver¬
änderung in einer Schwellung und Infiltration der Gelenkskapsel
besteht. Aber auch die trockene Form (die Kapsel bleibt lange
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
644
Zeit unverändert, der Knorpel aber degeneriert stark und die
Muskeln beteiligen sich fast immer) weist recht günstige Re¬
sultate auf, die Schmerzen nehmen ab, die Muskelkontraktionen
weiden geringer und die Beweglichkeit nimmt zu. Einzelne Fälle
von Myalgien (druckempfindliche und verhärtete Stellen in den
Muskeln, Aetiologie unbekannt) haben auf die Radiumbehandlnng
glänzend reagiert, andere sind gebessert, wieder andere blieben
ungeiheilt. Im ganzen läßt sich sagen, daß, je jünger das Indi¬
viduum, je frischer die Krankheit, um so besser der Erfolg,
daß aber zum mindesten eine schmerzlindernde Wirkung auch
bei sehr veralteten Fällen nicht ausgeschlossen ist. Weit auf¬
fallender sind die Erfolge bei der Harnsäuregicht. Von 28 längere
Zeit behandelten Personen erfuhren 24 eine beträchtliche Er¬
leichterung ihres Zustandes, 4 blieben ungebessert. Einige Pa¬
tienten sind etwa seit einem Jahre nach Abschluß der Kur
beschwerdefrei geblieben. Unter dein Einflüsse der Radiumema¬
nation verliert das Blut der Gichtkranken innerhalb einiger
Wochen seine Harnsäure. Von 18 daraufhin vor und nach der
Behandlung untersuchten Fällen wurde bei 15 das erwähnte
Resultat konstatiert (bei einem schwer Gichtkranken schon nach
lltägiger Trinkkur), während in drei Fällen die Harnsäure auch
nach intensiv durchgeführter Kur im Blute erhalten blieb. Zwei¬
mal (harnsäure-freies ' Blut) schwanden Ohrtophi während der
Behandlung. In einem Falle konnte ausgezeichnete Besserung
konstatiert werden, obwohl das Blut seine Harnsäure beibehielt,
dann war wieder ein Kranker da, der von .Gichtknoten ganz durch¬
setzt war, dabei weder zu Beginn, noch zu Ende der Behand¬
lung Harnsäure im Blute hatte; dabe-i wurde er während der
ganzen Zeit von Anfällen befallen. Es ist eine alte Erfahrung,
daß nicht nur die Ablagerung, sondern auch die rasche Auf¬
lösung harnsaurer Salze eine Entzündung aus-lösen kann. Der
Verfasser bespricht sodann die einzelnen Methoden der Radium¬
anwendung (Einatmung der Emanation, Bade- und Trinkkur) und
hält als die wirksamste Anwendung der Emanation diejenige, bei
welcher der Körper in einer Atmosphäre atmet, welche mit einer
gewissen Menge Radiumemanation beschickt ist. Die Erfahrung
hat ihn gelehrt, daß zur Erzielung deutlicher Heilerfolge und
zur Befreiung des Blutes Gichtkranker von Harnsäure ein zwei¬
stündiger Aufenthalt täglich in einer Luft, die pro 'Liter etwa zwei
bis vier Macheeinheiten enthält, in der Regel ausreicht. Benützt
wurden die von der Radiogengesellschaft Charlottenburg in den
Handel gebrachten, von Löwenthal und Gudze-nt konstru¬
ierten Emanatorian. Bei manchen Rheumatikern wurde die All¬
gemeinwirkung noch günstig unterstützt durch Injektion unlös¬
licher- oder öfteres Einbringen löslicher Radiumsalze in die un¬
mittelbare Umgebung der erkrankten Gewebe. Sterile Ampullen
solcher Salze werden jetzt von mehreren Seiten in den Handel
gesetzt. Der Verfasser bespricht sodann eingehend die Art der
Einwirkung des Radiums und äußert die Ansicht, daß bei der
Gicht sehr verschiedenartige Einwirkungen tätig sind, die alle
im gleichen Sinne auf -eine Auflösung der gichtigen Ablagerungen
und auf eine Zerstörung der Harnsäure hinwirken. Neben der
autolytischen, entzündungshemmenden und schmerzlindernden
Wirkung kommt bei der Gicht noch eine- spezifische Wirkung
auf die Harnsäure und ihre Salze und auf die Stoff¬
wechselvorgänge, welche die Menge der Harnsäure im
Körper regeln, hinzu ; daher die größere Sicherheit der
Wirkung. Die Behandlung dauert wochen- und monate¬
lang und verursacht nicht unerhebliche- Kosten. Bei der
Gicht muß unbedingt auch bei der Anwendung der .Radiumkur die
diätetische Behandlung eingeleitet werden (purinfrei-e Kost usw.).
Zum Schlüsse bespricht Verf. die zuweilen recht schwierige Diffe¬
renzierung der Gicht vom chronischen Rheumatismus, den Nach¬
weis der Harnsäure im Blute Gichtischer, endlich die Schwierig¬
keiten der individuell richtigen Dosierung und der besten An-
we-ndungsfoim 'des Radiums. — (Berliner klinische Wochen¬
schrift 1911, Nr. 5.) E. F.
*
458. (Aus dein allgemeinen Krankenhause Hamburg-Eppen¬
dorf. — Abteilung: Oberarzt Dr. Nonne.) Das Verhalten des
Blutdruckes im Deliriulm tremens. Von Dr. Friedrich
Wohl will, Assistenzarzt. Die Untersuchungen des Verfassers
über den Blutdruck im Delirium tremens ergaben, daß im Beginne
desselben und bei leichten und mittelschweren Fällen während
des ganzen Verlaufes der systolische und diastolische Blutdruck
gesteigert sind, ebenso der Pulsdruck und das Amp-litüdenfrequenz-
produkt, während der Blutdruckquotient in der Regel nicht wesent¬
lich von der Norm abweicht. Wahrscheinlich führt das Zusammen¬
wirken vasomotorischer Einflüsse und eines vermehrten Schlag¬
volumens (weil die funktionierende Muskulatur ein größeres Blut¬
bedürfnis hat) zu diesen Erscheinungen. Pulsdruck, Blutdruck¬
quotient und Amplitüdenfrequenzprodukt zeigen in späteren Sta¬
dien schwerer Delirien oft einen jähen Abfall. In der Rekonvales¬
zenz ist der Blutdruck sehr stabil. Der Blutdruckmessung bei Al¬
koholdeliranten mangelt jede praktische Bedeutung, namentlich
hinsichtlich der Prognose. — (Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten, Bd. 48, H. 1.) S.
*
459. Experimentelle Beiträge zur Infektion mit
T r yp an o s oma g ambiense und zur Heilu ng der mensch¬
lichen Trypanosomiasis. Von Prof. Dr. M. Beck, Re¬
gierungsrat nn Kaiserlichen 'Gesundheitsamte. Becks Unter¬
suchungen über die Infektiosität des Trypanosoma gambiense bei
einer Anzahl von Tiergattungen -ergaben, daß mit Ausnahme der
Feldmaus alle Mäusespezies für den genannten Parasiten em¬
pfänglich sind, ferner Ratten, Meerschweinchen. Beim Kaninchen
verursacht er eine Erkrankung, deren klinischen Symptome Aehn-
lichlve.it mit den Infektionen dieser Tiere durch Durine haben, wobei
sich aber wilde Kaninchen resistenter erweisen als zahme. Sehr
geeignet für die Infektion mit Trypanosoma gambiense sind junge
Hunde, die infolge Iritis und Trübung der Korneen erblinden;
ähnlich verhalten sich auch die Katzen. Im Gegensätze zu La¬
ver an und Me s nil gelang e-s dem Verfassei*, auch Schweine
mit dem genannten Parasiten zu infizieren. Sie können aber auch
gleich den Ziegen längere Zeit Trypanosomen im Blute beher¬
bergen, ohne Krankheitserscheinungen aufzuweisen und so unter
Umständen Parasitenträger werden. Während beim Cercopi-
thecus fuliginosus eine tödliche Erkrankung mit intermittierendem
Fieber zu erzielen ist, erwiesen sich Hühner und Tauben, ferner
Eidechsen und Frösche der Infektion mit Trypanosoma gambiense
gegenüber refraktär. Die Möglichkeit der Uebertragung der Schlaf¬
krankheit durch unsere- einheimischen Insekten ei'scheint durch
das Ergebnis der Versuche- von Beck so gut wie ausgeschlossen.
Aus den Untersuchungen des Verfassers über Heilung von künst¬
lichen Infektionen mit Trypanosoma gambiense geht hervor, daß
das Arsenophenolglyzin außerordentlich i*asch und sicher ebenso
Trypanosoma Bruc-ei, als auch das Trypanosoma gambiense
dm Tierkörper zum Verschwinden bringt und sich auch
prophylaktisch anwenden läßt, was vom Atoxyl nicht gilt. Dem
Arsenophenylglyzin kann in seiner Wirksamkeit das Antimonatoxyl
gleichgestellt werjd-en, welches überdies den Vorteil geringerer
Zersetzbarkeit, dagegen den Nachteil schwerer Löslichkeit besitzt.
Sowie es gelingt, durch Vorbehandlung größerer Tiere ein das
Trypanosoma gambiense spezifisch »agglutinierendes Serum zu
gewinnen, zweifelt Verf. auf Grund seiner Versuche auch nicht,
daß es möglich sein wird, s durch fortgesetzte Behandlung mit großen
Mengen von Trypanosomen bei geeigneten Tieren einen so hohen
Grad von Immunität zu erreichen, wie er zur praktischen Ver¬
wendung nötig ist. Dagegen] dürfte mit Rücksicht auf die außer¬
ordentlich ungleichmäßigen Ausschläge, welche die verschiedenen
Tierseren ergeben, die Verwendung der Komp-lementbindungs-
m-ethode zur Diagnose der menschlichen Trypanosomiase kaxun
in Betracht kommen. — (S.-A., Arbeiten aus dem Kaiserlichen
Gesundheitsamte, 1910, Bd. 34, H. 3.) J-
*
460. D ie tub-erkulö sen Intoxikationen, eine klinisch¬
experimentelle Studie. Von Dr. Josef Hollös, Prosektor am
allgemeinen Krankenhause in Szeged. Unter dem Namen tuber¬
kulöser Intoxikationen faßt Hol lös die Symptome latenter Tu¬
berkulose zu -einem äußerst wechselnden, aber doch einheitlichen
klinischen Krankenbilde zusammen, da er im Laufe der spezi I.
sehen Behandlung bei mehr als 1000 Kranken durch zeitweilige
oder gänzliche Beseitigung jener Krankheitssymptome oder durch
absichtliche Hervorrufunjg der Intoxikation deren tuberkulöse
Natur sicherstellen konnte, eventuell unter Bestätigung der Tuber¬
kulose durch physikalische oder spezifische Untersuchung. Der
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
645
Verfasser gruppiert diese Intoxikationssymptome in folgen¬
der Weise: 1. Kopfschmerzen, Schwindel; 2. Schlafstörungen:
Schlaflosigkeit oder große Schläfrigkeit, aufregende oder ver¬
worrene Träume; 3. vasomotorische und Temperaturstörungen;
4. Schwitzen; 5. Mattigkeitsgefühl, rasches Ermüden; (3. Erreg¬
barkeit, Nervosität, Verminderung der geistigen Arbeitsfähigkeit;
7. MagenJscbmerzen, Appetitstörungen, Brechreiz; 8. habituelle
Obstipation; 9. Menstruationsstörungen; 10. Basedowsche
Krankheit. Das genaue Erkennen der tuberkulösen Natur dieser
Intoxikationssymptome ist sehr- wichtig, weil die Tuberkulose im
anfänglichen Intoxikationsstadium meist sicher und endgültig
heilbar ist und weil diese Intoxikationssymptome bis jetzt klinisch
meist falsch beurteilt wurden, indem sie als Symptom von Anämie,
Neurasthenie, Hysterie und sonstigen Neurosen galten. Manch¬
mal sind von diesen Symptomen (zu welchen eigentlich auch noch
ein Teil jener Gelenksaffektionen, welche Poncet in Lyon unter
dein Namen „Rhumatisme tuberculeux“ zusammenfaßt, gehört)
nur ein einziges oder einige wenige vorhanden, wovon eventuell
eines dominiert, ein anderes Mal werden aber die Kranken von
ganzen Haufen dieser Symptome gequält, suchen einen Arzt
nach dem anderen auf, weder Eisen, Arsen, Phosphor noch
hydrotherapeutische, klimatische oder suggestive Heilversuche
wollen gelingen, während spezifische Behandlung Heilung bringen
könnte, wenn die Natur der Erkrankung richtig gedeutet würde,
was natürlich oft nicht der Fall ist, weil die Intoxikationssym¬
ptome schon Jahre vor Husten und physikalischer Nachweisbar¬
keit der Tuberkulose vorhanden sein können. Diese Intoxikations¬
symptome sind nach Hollös zu erklären mit Giftempfindlichkeit
der Organe, welche mit partieller Autoimmunität des Organismus
zusammenhängt und eigentlich nichts anderes ist, als die spon¬
tane Reaktion der einzelnen Organe gegenüber der Vergiftung.
(Bei solchen Tuberkulösen, bei denen sich keinerlei Immunität
findet, treten diese Symptome nicht auf, weshalb der tuberkulöse
Prozeß dominiert und sich um so mehr verbreitet.) Was die
spezifische Behandlungsmethode Hollös’ anbelangt, so arbeitet
er nur mit dem Tuberkuloseimmunkörper (IK) Spenglers,
welcher für Gesunde auch in konzentriertem Zustande indifferent
ist, aber bei Kranken auch in lOO.OOOiächer, ja millionenfacher
Verdünnung imstande ist, nicht nur das tuberkulöse Fieber, son¬
dern auch den Husten und sämtliche toxische Symptome zu be¬
heben und die Bazillen aus dem Sputum verschwinden zu lassen.
Mit dem IK wird dem Organismus ein fertiges Antitoxin zugeführt.
Die Behandlung ist anscheinend eine passive Immunisation ; es
entwickelt sich aber; oft ein aktiv - passives Immunisations ver¬
fahren durch Resorption der Toxine der von Lysinen aufgelösten
Bazillen, was kurze, mehr oder minder starke Temperatursteige¬
rungen zur Folge haben kann, worauf dann aber die Temperatur
meist vollständig und dauernd normal wird. Die IK- Behandlung
beginnt mit lOO.OOOfach bis l,000.000fach verdünnten Lösungen
des Stoffes mit Vio cm3 bis 2/io cm3 fortschreitend, in Zwischen¬
räumen von vier bis sechs Tagen; in manchen Fällen kann man
auch rascher steigen, bei giftempfindlichen Fällen aber hat man
möglichst vorsichtig vorzugehen, um toxische Reaktionen zu ver¬
meiden. Die Behandlung geschieht etappenweise, bis Ueberzeugung
von der gänzlichen Heilung gewonnen ist. Die IK - Behandlung
geschieht nicht nur durch Injektionen, sondern auch durch Ein¬
reibungen, also perkutan. Besonders bei giftempfindlichen Pa¬
tienten ist die letzte Methode noch viel geeigneter. Die IK - Be¬
handlung ist bedeutend milder in der Wirkung als die Tuber¬
kulinbehandlung, trotzdem muß man vorsichtig und individuali¬
sierend Vorgehen, da man sonst die toxischen Symptome erzeugt
oder gar verstärkt. Je ausgesprochener die toxischen Symptome
sind, desto sicherer ist auf partielle Immunität und damit auf
Ueberempfindlichkeit zu rechnen, desto geringer müssen die 1K-
dosen sein und in desto größeren Abständen sind die Injektionen
oder Einreibungen zu machen (bei Einreibungen werden täglich
oder in größeren Intervallen fünf Tropfen einer 30.000fach ver¬
dünnten IK- Lösung gebraucht). In ganz frischen Fällen kann
man mit einer gewissen Sicherheit darauf rechnen, mit einer
einzigen Behandlung Heilung zu erzielen. In vorgeschrittenen
l'ällen, wo toxische oder manifeste Symptome schon Jahre be¬
stehen, ist Etappenbehandlung erforderlich, da sonst Rezidive
entstehen. In den meisten Fällen wird also die Behandlung durch
mehrere Monate geführt werden müssen, um nach drei- bis vier-
monatiger Pause wieder fortgesetzt zu werden, selbst wenn gerade
keine neuen Intoxikations- oder andere Symptome eine Erneue¬
rung der Behandlung erfordern. — (Zeitschrift für experimen¬
telle Pathologie und Therapie 1911, Bd. 8, H. 3.) K. S.
*
461. Neues zur lechnik der Gaumenspaltopera¬
tionen. Von Prof. Dx. Karl Helbing. Der Verfasser führte
in einem Falle, in dem es aussichtslos erschien, die kollossal
breite Gaumenspalte nach der üblichen v. Lang en beck sehen
Methode zum Verschluß zu bringen, die Annäherung der beiden
Oberkiefer auf blutigem Weg^ aus. Helbing mobilisierte den
rechten Oberkiefer durch Durchtrennung des Os zygomaticum
und verband beide Oberkiefer durch Silberdrähte. Vier Tage
später wurde die Gaumenspalte durch Anfrischung und Naht
in, der gewohnten Weise ausgeführt. Der Erfolg der Operation
war ein tadelloser. — (Zentralblatt für Chirurgie 1910, Nr. 48.)
E. V.
*
462. Die Behandlung der Gicht mit Phenylchino¬
linkarbon säure (Atophan) nebst Bemerkungen über
die diätetische Therapie der Krankheit. Von Prof. Doktor
W. Wein fraud in Wiesbaden. Es ist eine Tatsache, daß der Or¬
ganismus der Gichtkranken größere Harnsäuremengen beherbergt
als der des Gesunden und diese Harnsäureüberladung des Körpers
spielt bei den gichtischen Prozessen eine Rolle. Verf. bespricht
die Ursache dieser Harnsäurestauung, hält für wesentlich die bei
allen Gichtkranken vorhandene übergroße Dichtigkeit des Nierem-
filters, indem die Niere des Gichtikers, wenn sie auch keine un¬
passierbare Barriere für die Harnsäure darstellt, doch insofern
insuffizient ist, daß sie den erhöhten Harnsäurespiegel im Blut
nicht genügend herabzusetzen vermag. Nun haben vor einigen
Jahren Nicolai er und Dohm von den Chinolinkarbonsäuren
und ihren Derivaten die Eigenschaft bekanntgegeben, eine erheb¬
liche Steigerung der Hamsäureausscheidung hervorzurufen. Ver¬
fasser hat diese Versuche seit ca. 2 Jahren bei einer größeren An¬
zahl von Gichtkranken mit Stoffwechselanalysen wiederholt und
berichtet hierüber eingehend. Wie die genannten Autoren hat auch
Verf. höchst befriedigende Resultate erzielt. Das Atophan (Phenyl-
chinolinkarbonsäure) beeinflußt den akuten Gichtanfall in
Dosen von viermal 0-5 g bis dreimal 1-0 g sichtlich günstig
(rascher Nachlaß der Schmerzen, schnelles Zurückgehen der akuten
Entzündung, freiere Beweglichkeit der affizierten Gelenke usw.).
Persönlich halte Verf. den Eindruck, daß die Wirksamkeit des
Atophans zuverlässiger sei als die der Kolchikumpräparate ; es ist
ihm kein einziger typischer Gichtanfall begegnet, der von der Dar¬
reichung des Atophans unbeeinflußt geblieben wäre. Freilich da.
wo sich schon von früheren Anfällen her chronische Arthritis und
Synovitis etabliert haben, kann Atophan auch nicht heilend wirken,
es kann auch die Schmerzen nicht beseitigen, welche chronische
Gichtkranke in ihren deformierten Gelenken — auch außerhalb
akuter Anfälle — aufweisen. Man verordne das Mittel möglichst
frühzeitig und dann mehrere Tage hindurch bis zu einem be¬
friedigenden Erfolge. Wenn nun der Gichtanfall vorüber ist, möge
man in solchen Fällen, wo der Organismus manifeste Harnsäure¬
depots enthält und von diesen Beschwerden ausgehen, auch außer¬
halb der eigentlichen Gichtanfälle das Mittel in Dosen von 2 bis 3 g
täglich durch längere Zeit nehmen lassen. Es hat sich in solchen
1 ällen gezeigt, daß die durch das Atophan horvorgenifene Ver¬
mehrung der Harnsäureausscheidung bei dem Aussetzen des1 Mittels
sofort wieder wie abgeschnitten war, daß sogar in den nächsten
lagen ein starkes Absinken der Hamsäurekurve folgte, welche
zuweilen auch zu neuen Beschwerden (Gichtanfall) führte. Das
Mittel bedingt auch Gefahren, wenn man nicht kunstgerecht vor¬
geht. Die massenhaft ausgeführte Harnsäure verleiht dem Harne
die Eigenschaften wie bei der sogenannten harnsauren Diathese,
welche ihrerseits bekanntlich Nierensteinkolik bedingen kann. Tat¬
sächlich haben zwei Gichtkranke, welche Verf. beobachtete, im
Anschlüsse an die Atophanbehandlung Nierensteinkoliken be¬
kommen. Das läßt sich aber vermeiden durch reichliche Auf¬
nahme von Flüssigkeiten und sodann durch gleichzeitige Dar¬
reichung von Alkalien (alkalische Wässer und überdies 15 g
Natrium bicarbonicum am ersten Tage, späterhin 5 bis 10 g
646
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
täglich), um einen neutralen oder alkalischen Ham zu erzielen und
bessere Lösungsbedingungen für die reichlich ausgeschiedene Harn¬
säure im Harnwasser herbeizuführen. Auch Urizedin (2mal täg¬
lich einen Teelöffel in reichlicher Menge Wasser) oder Urotropin
sind hiezu geeignet. Zum Schlüsse weist Verf. darauf hin, daß
nach seiner Erfahrung bei Gichtkranken nicht die purinfreie
Ernährung den Kernpunkt der ganzen Behandlung bilde, daß
vielmehr die physikalischen Heilmethoden — Bewegungskuren,
Thermalbäder und Mineralwässer — hier die Hauptrolle spielen.
Die Diät soll anderseits nicht vernachlässigt werden, speziell ist
die Vermeidung des Alkohols wichtig, die Einschränkung des
Eleischgenusses oft empfehlenswert. — (Therapie der Gegenwart,
März 1911.) E. F.
*
463. (Aus der königlichen chirurgischen Klinik zu Kiel.
— Direktor: Prof. Dr. Willy ;Ans chü tz.) Ueber Behandlung
von Fisteln mit Beckscher Wismutsalbe. Von Doktor
Max Brandes. Die Becksche Wismutpaste hat sich in zwei¬
facher Beziehung glänzend bewährt, vor allem zur Vervollständi¬
gung und Unterstützung ider Diagnose. Die Röntgenbilder, die
nach der Injektion von chronischen eiternden Fisteln aufgenommen
wurden, zeigten den genauen Verlauf der Eitergänge und konnten
über die Ausdehnung und über den Ursprung derselben genaue
Auskunft geben; dementsprechend wurde auch die nachfolgende
Operation vereinfacht. Aber ebenso glänzend hat sich die In¬
jektion der Beck sehen Pasta in therapeutischer Hinsicht be¬
währt. Obenauf stehen die Erfolge bei Empyemfisteln. Es gelang
in vier Fällen chronische Empyemfisteln von beträchtlicher Länge
in sehr kurzer Zeit dauernd zu heilen und so den Patienten
eingreifende Operationen zu ersparen. In einem Falle, bei dem
ein Mißerfolg verzeichnet wurde, handelte es sich um ©ine Bron¬
chusfisted. (Waiters gelang es in einer größeren Anzahl von
Weichteilfisteln (nach Niereimexstirpation, Bursitis, nach Seque-
strotomie usw.) in kurzer Zeit, manchmal nach einer Injektion,
Heilung zu erzielen. Aber auch bei Fisteln;, die von Knochen
ausgingen, wurde, wenn auch nicht in so kurzer Zeit, Heilung er¬
zielt. Nur bei stark herabgesetztem Kräftezustand des Patienten,
bei massenhafter Sekretion der Fisteln und bei Progredienz des
primären Krankheitsprozesses, waren ausgesprochen© Mißerfolge
zu verzeichnen. Die Gefahren,, die der Methode anhaften, be¬
stehen in der Nitritvergiftung und in der Wismutvergiftung. Die
erstero hat Verf. in seinen Fällen nicht zu verzeichnen, von Wis-
mutvergiftung erlebte er einen Fall, in dem die Injektion zu
diagnostischen Zwecken gemacht wurde. Einige Male wurden
leichte Fiebersteigerungen, die Verf. auf Sekretretention bezieht,
beobachtet. Den Gefahren trachtet Verf. durch eine kleine Aende-
rung der Technik zu begegnen. Vor allem benützt er nur die
weiche Pasta, die aus 60 Teilen Vaseline und 30 Teilen Wismut
besteht; die von Beck seinerzeit angegebene Paste enthielt noch
Paraffin und Wachs, verstopfte daher die Fisteln und konnte
zur Retention leichter führen, während die weichere Paste durch
den nachdrängenden Eiter leichter aus dem Gange entfernt wird.
Weiters füllt Verf. die Gänge vom Grunde aus mittels eines
dünnen Katheters aus, er vermeidet daher hohen Druck und
Gewebsläsionen. Die Nitritvergiftungen könnten für die Zukunft
durch Ersatz des Bismutum subnitricum durch Bismutum car-
bonicum vermieden werden; die Gefahr der Vergiftung mit mer
tallischem Wismut bleibt aber auch bei diesem Präparat bestehen.
Ueber die Wirkungsweise der Injektion ist sich Verf. nicht ganz
klar, das Wesentlichste scheint ihm eine chemotaktische Wirkung
des Wismuts auf die Leukozyten zu sein,. — (Deutsche Zeitschrift
für Chirurgie, Bd. 108, H. 3 bis 4.) se.
*
464. Ueber die Veränderungen des Rückenmarkes
und der Medulla oblongata bei Beriberi. Von Doktor
J. Shimazono, Assistenten an der med. Klinik zu Tokio.
In zehn Fällen von Beriberi findet Verf. in Rückenmark und
Medulla oblongata ähnliche Veränderungen an den Ganglienzellen,
wie sie bereits von Rodenwaldt und Dürck beschrieben
wurden. Bei einigermaßen längerem Bestand© der Lähmung
sind sie nach Shimazono ausnahmslos zu finden und be¬
treffen vorwiegend die laterale Ganglienzellengnippe der Lenden-
und Halsanschwellung. Aehnliche Läsionen zeigen auch die Zellen
des Vaguskernes im1 Nucleus ambiguus, dorsalis und tractus soli-
tarii ; sie äußern sich in Schwellung der Ganglienzellen, die Chro-
matolyse, Verlagerung des Kemes und Vakuolenbildung erkennen
lassen. Namentlich letztere kann, lange Zeit bestehen bleiben,
während die übrigen Veränderungen einer Rückbildung fähig sind.
Erst bei schwerer Lähmung werden auch die Hinterstränge und
die Pyramidenbahnen, sowie die vorderen und hinteren Wurzeln
in ihrem intramedullaren Verlauf ergriffen und degenerieren. — -
(S. A. Mitteilungen der medizinischen Fakultät der k. japanischen
Universität zu Tokio 1910, Bd. 9, H. 2.) J.
*
465. (Aus der rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt
Grafenberg. — Direktor: Geh. Sanitätsrat Dr. Peretti.) Ein
Beitrag zur Symptomatologie und pathologischen
Anatomie der Akromegalie. Von Oberarzt Dr. Fr. Witte.
Bei einem 55jährigen, bis dahin gesunden Manne entwickelten
sich Sehstörungen und Wachstumsstörungen der distalen Körper-
Partien; erster© führten im Verlaufe von neun Jahren zur
völligen Erblindung. Allmählicher Marasmus, Exitus nach 14jähr-
rigem Leiden im Kräfteverfall. An nervösen Störungen waren
im Verlaufe dieses typischen Falles Schwindel, Kopfschmerz, Rück¬
gang der geistigen Fähigkeiten, Sinnestäuschungen, Beeinträchti¬
gungsideen zu bemerken gewesen. Die Wahnideen waren nicht
systematisiert, bestanden unvermittelt nebeneinander und wech¬
selten häufiger. Mit fortschreitender Demenz wurden sie weniger
und verworrener. Im letzten Halbjahr ein Anfall von Bewußt- j
lösigkeit. Obduktion: Pflaumengroßes Adenom der Hypophyse.
— (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 48, H. 1.1
S.
*
466. Zwei mit hohen Antitoxingaben behandelte
Fälle von Tetanus. Von Dr. Ever ling, Assistenzarzt am
herzoglichen Krankenhaus- zu Braunschweig (Oberarzt: Doktor
Bingel). Der eine Patient zeigte zwölf Tage- nach einer Ver¬
letzung die ersten Anzeichen des Tetanus. Bei der Aufnahme j
am 17. Tage bestanden starker Trismus und titanische Erschei¬
nungen in den Gesichtsmuskeln. Trotz Serumtherapie verschlim¬
merte sich der Zustand noch weitere neun Tage, schließlich
erfolgte Heilung. Er bekam im ganzen 1300 Antitoxineinheiten
subkutan, gleich 23 Antitoxineinheiten pro Kilogramm seines
Körpergewichtes. Der zweite Patient erkrankte schon acht Tage
nach einer Verletzung an Trismus. Die Serumtherapi© setzte am I
zwölften Tage ein. Die Erkrankung blieb auf die Masseteren be¬
schränkt. Am 18. Tage nach der Verletzung noch Spannungs- :
gefühl in den Beinen. Er erhielt 920 Antitoxineinheiten. Gewicht
57-4 kg. Auch er genas vollkommen. Hier kann man wohl bei I
der kurzen Inkubationszeit den Stillstand der Erkrankung als
einen Heilerfolg der Serumtherapie ansehen. Der Preis des Anti¬
toxins ist noch sehr hoch. Es gehört eine gewisse Ueberwindung
dazu, für eine Therapie, die noch ihre Existenzberechtigung nach-
weisen muß, 100 und mehr Mark für den einzelnen Fall auszu¬
geben. — (Die Therapie der Gegenwart, März 1911.) E. F.
*
467. Erfahrungen über die Behandlung der Sy-;
phili smitDioxydiamido a rsenobenzol (Ehrlich ,,606“)- \
Von Dr. Bruno Bloch, Dozent für Dermatologie, Basel. Die!
Injektion des Arsenobenzols birgt nach Bloch in sich keine
irgendwie [schwerere Gefährdung und kann, richtige Technik
vorausgesetzt, ebenso unbedenklich angewendet werden wie die
üblichen wirksamen Quecksilberverbindungen. Im speziellen hat
Bloch nie bedrohliche Symptome von seiten des Zirkulations
und Nerv-enapparates oder der Ausscheidungsorgane-, nie Stö¬
rungen im Gebiete des Zentralnervensystems, auch nicht der
Augen, des' Herzens und der Nieren, beobachtet. Ein vorgekom¬
mener Todesfall war sicherlich nicht auf Rechnung der Injektion
zu setzen, da sie an einem schon moribunden Patienten jnit
schwerster Leberzirrhose und Degeneratio cordis gemacht wurde,
als letzter therapeutischer Versuch. Dagegen zeigte sich, daß das
Arsenobenzol gegen alle Manifestationen der Syphilis in allen Sta¬
dien eine unzweifelhafte, prompte, überaus intensive Wirksamkeit
besitzt. Nicht nur Primäraffekte, makulöse, papulöse Exantheme,
breite Kondylome, Plaques muqueuses, Hautgummen, tertiäre Ver¬
änderungen der inneren Organe, schwinden oft schon nach einer
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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Injektion mit erstaunlicher Raschheit, sondern auch der bis¬
herigen Therapie trotzende luetische Affektionen: wie immer
wieder rezidivierende Schleimhautplaques, maligne Lues und
Labyrintherkrankungen sind durch das Arsenobenzol einer Hei¬
lung oder wenigstens erheblichen Besserung zugänglich geworden.
Ranz erstaunlich günstig ist die Wirkung des Arsenobenzols auf
die subjektiven Symptome und ferner auf das Allgemeinbefinden
und den Ernährungszustand. Ehrlich „606“ erfüllt im großen
und ganzen die Bedingungen, die an ein Antisyphilitikum gestellt
werden dürfen, bis auf die eine der absoluten Sicherheit einer
definitiven Dauerheilung, was allerdings bisher überhaupt noch
nicht möglich war, von wegen der noch zu kurzen Beobachtungs¬
zeit. — (Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1911, 41. Jahrg.,
Nr. 3-) K. S.
*
468. Ein Fall tödlicher Arsen Vergiftung bei Be¬
handlung von Gehirnsyphilis (Dementia paretica)
mit Ehrlich-Hata 606. Von Priv.-Doz. Dr. Axel Jorgen¬
sen, erster Assistenzarzt am Kommunalspital in Kopenhagen.
Der 40 Jahre alte Kranke hatte vor elf Jahren Lues akquiriert,
wurde nach wiederholten Inunktionskuren gesund, erlitt 1908 einen
apoplektiformen Anfall, kam dann wegen Erscheinungen der pro¬
gressiven Paralyse ins Irrenhaus, von wo er, da er ruhiger wurde,
entlassen werden konnte. 1910 abermals apoplektischer Anfall!
von welchem er sich wieder erholte. Am 25. August 1910 intra¬
muskuläre Injektion von 0-5 g Ehrlich-Hata 606. Tod am 2. Sep¬
tember. Die leichte, akute, parenchymatöse Degeneration der
Organe, besonders der Nieren, die Fettdegeneration einzelner
Fäden der Nervi vagi und der Nerven im Plexus brachialis dexter
lassen auf Arsienvergiftung schließen. Das klinische Bild war
folgendes: Starke Blässe, Schweißausbrüche, Tremor und fibril¬
läre Zuckungen, völlige Kraftlosigkeit; der Harn enthielt viel
Eiweiß (8°/oo), körnige und hyaline Zylinder, rote Blutkörperchen,
dann reichlich Zucker, bis zu 8°/o. An der Injektionsstelle das
seither oft beschriebene Restdepot des Pulvers, um dasselbe
Infiltration und Nekrose, welche wohl eine völlige Resorption
unmöglich machten. — (Med. Klinik 1911, Nr. 10.) E. F.
*
Aus englischen Zeitschriften.
469. Ueber die Heilwirkung von Salvarsan („606“)
in Fällen von Frambösie. Von Henri Alston (Trinidad).
Es wurden zunächst fünf Fälle von Yaws, drei Erwachsene
und zwei Kinder, der Behandlung unterzogen, wobei die Dosis
ür Erwachseine 0-6 g Salvarsan in einer mit 5 bis 6 cm3 ste-
ilisierten Olivenöls hergestellten Emulsion betrug. Die Injek-
ion wurde intraglutäal appliziert und schon nach 24 Stunden
leutliche Besserung konstatiert, wobei die Knoten peripher ein-
rockneten und von einem weißlichen Kreis umgeben erschienen,
fon der Beobachtung ausgehend, daß hereditär - syphilitische Säug-
inge durch Salvarsanbehandlung der Amme geheilt wurden, was
ml Antikörperbildung hinweist, wurden bei mit Salvarsan be-
landelten Yaws -Fällen durch Kantharidenpflaster Blasen erzeugt
md das darin enthaltene Serum in Dosen bis zu 16 cm3 an-
leren Yaws -Fällen injiziert. Das Serum zeigte ebenso rasche,
'■um Teil selbst raschere Wirkung, als das Salvarsan. Das Sah
irsan scheint das einzige bisher bekannte Mittel zu sein, welches
he Bildung eines antitoxischen Serums mit kurativen Eigen-
(haften hervorrult. Es zeigte sich, daß klas Serum aus den durch
Kantharidenpflaster hervorgerufenen Blasen von Patienten, die
oil dem aus Kantharidenblasen gewonnenen Serum mit Salv-
1 räan injizierter Patienten behandelt worden waren, gleichfalls
loilwirkung entfaltete. Normales menschliches Serum erwies sich
L unwirksam, während das Serum von 'mit Salvarsan injizierten
atienton seine Wirksamkeit auch durch starkes Erhitzen nicht
inbüßte. Es wurden bei Yaws -Fällen Blasen erzeugt und das
igene Serum den Patienten injiziert, wobei der Erfolg negativ
var- Diese Versuche lassen die Annahme einer Komplement-
ixation durch das Toxin ausgeschlossen erscheinen. Injektion
011 kantha riden haltiger Lösung erwies sich als unwirksam, In-
oktion von Natrium cacodylicum als wenig wirksam ; weitere
ersuche sollen mit der Behandlung von Kranken mit der Milch
1:11 mR Salvarsaninjektion vorbehandelten Ziegen angestellt wer¬
den. I n angenehme Nebenwirkungen des Salvarsans wurden nicht
beobachtet, die Schmerzen nach der Injektion hielten einige
Stunden an, waren aber nicht bedeutend. In den mitgeteilten
Fällen wurde neben der Salvarsanbehandlung keine andere The¬
rapie, auch nicht Bäder, angewendet. — (Brit. med. jouru.,
18. Februar 1911.) a e
*
470. Ueber die Anwendung von Schilddrüsen¬
extrakt bei Karzinom. Von E. Hughes Jones. Unter den
organotherapeutischen Präparaten nimmt das Schilddrüsenextrakt
die erste Stelle ein, welches, außer bei Myxödem und bestimmten
Kropfformen, wo es spezifisch wirkt, auch bei Oedem, Psoriasis,
Uterusfibrom, Wachstumsstörungen des Kindesalters usw. An¬
wendung gefunden hat. In einem Falle von multipler Karzinom¬
bildung in der Haut und im 'subkutanen Zellgewebe wurde durch
Darreichung von Schilddrüsenextrakt, zunächst 0-3 g, dann stei¬
gend 0-6 und 0-9 g pro die nicht nur wesentliche Besserung des
Allgemeinbefindens, sondern auch Verschwinden der Tumoren
erzielt; jedenfalls ist in Fällen, wo eine Operation verweigert
wird oder- nicht indiziert erscheint, ein 'Versuch mit Schilddrüsen¬
therapie gerechtfertigt. In einer Anzahl von Fällen wurde das
vollständige Verschwinden von Karzinomen durch die Schild¬
drüsentherapie festgestellt; noch größer ist die Anzahl der Fälle,
wo Besserung des Allgemeinbefindens und Verkleinerung des
Tumors und etwaiger sekundärer Knoten erzielt wurde. In Fällen
von inoperablen Tumoren, namentlich Mammakarzinom hei Frauen
im klimakterischen Alter, wurde doppelseitige Oophorektomie mit
anschließender Darreichung von Schilddrüsensubstanz empfohlen,
während nach der Menopause die Exstirpation der Ovarien über¬
flüssig erscheint. Aus einer größeren Statistik ist zu entnehmen,
daß die Oophorektomie allein wenig wirksam ist, so daß das
Hauptgewicht auf die Schilddrüsentherapie gelegt werden muß.
Bei Vorhandensein viszeraler Metastasen ist kein Erfolg von der
Schilddrüsentherapie zu erwarten, sondern nur in Fällen, wo
sich die Metastasen auf Haut- und Lymphdrüsen beschränken.
In Fällen von operablem Karzinom kanmdie Schilddrüsentherapie
zur Unterstützung, speziell hinsichtlich der Verhütung von Rezi¬
diven, herangezogen werden. Bezüglich der Wirkung der Schild¬
drüsentherapie können nur Vermutungen aufgestellt werden. Durch
Beobachtungen ist festgestellt, daß karzinomatöse Tumoren, ferner
Haut- und Knochenmetastasen, nicht nur partiell, sondern auch
vollständig spontan sich rückbilden können, wobei die Rück¬
bildung als rein lokaler Prozeß aufzufassen ist. Es ist weiter
erwiesen, daß die Karzinomzelle ein Schmarotzer der Binde¬
gewebszellen ist und daß reichliche Zellbildung im subepithelialen
Bindegewebe die Karzinomentwicklung begünstigt, während fibröse
l Umwandlung der Zellen das Wachstum des Tumors hemmt. Es
ist denkbar, daß die Schilddrüsentherapie in zwei Richtungen
wirkt, indem sie einerseits durch Steigerung des Eiweißstoff-
wechsels die Lebensdauer der Krebszelle verkürzt, andrerseits
die fibröse Umwandlung der Bindegewebszellen begünstigt und
so dem Karzinom den Boden seiner Entwicklung entzieht. — (Brit.
med. Journ., 25. Februar 1911.) a. e.
*
471. Ueber die Anwendung von Leukozytcn-
o x t r a k t bei Infektionskrankheiten. Von Dt. Moore Alex¬
ander. Die Injektion lebender Leukozyten, bzw. von Leuko¬
zytenextrakten hat bei experimentellen Infektionen derartig gün¬
stige Wirkungen in prophylaktischer und ku rat Wer Hinsicht ent-
1 ultet, daß auch klinische Versuche in den letzten Jahren angestellt
wurden. Die bisher mitgeteilten Erfahrungen beziehen sich auf
die Anwendung von Leukozytenextrakt bei epidemischer Zerebro-
spinalmeningitis, Lobärpneumonie, Erysipel, Furunkulose usw.,
wobei günstige Erfolge verzeichnet wurden. Zur Verwendung
gelangte das Extrakt von Leukozyten aus der Pleurahöhle von
Kaninchen; es wurde eine sterilisierte 10%igc Suspension von
Mellin s - Nahrung in destilliertem Wasser in Menge von 5 bis
10 cm3 beiderseits in die Pleurahöhle injiziert, das Kaninchen
nach 24 Stunden getötet, das Exsudat aspiriert und dann zentri¬
fugiert. Nach erfolgter Sedi mentioning der Leukozyten wird die
Flüssigkeit abgegossen, dann die gleiche Menge sterilen Wassers
zu dem mit einem Glasstab verriebenen Leukozytensediment
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
648
zugesetzt und die Röhrchen durch vier Stunden hei 37° im Brut¬
ofen gehalten. Nach Prüfung der Röhrchen auf Sterilität wird
der Inhalt mehrerer Röhrchen gemischt und in Glasampullen
von 10 cm3 verteilt, welche im Eiskasten aufbewahrt werden.
Es wurden Fälle von Streptokokkenendokarditis, Osteomyelitis,
Koxitis, Furunkulose, Anthrax und Schlafkrankheit mit Injek¬
tionen von Leukozytenextrakt behandelt, wobei die Einzeldosis
10 cm3 betrug. Irgendwie bemerkenswerte Erfolge waren außer
länger anhaltender Besserung in einem Falle von Schlafkrank¬
heit nicht zu verzeichnen, wobei zu berücksichtigen ist, daß die
Fälle zum Teil in zu weit vorgerücktem Stadium sich befinden
und auch die Fortsetzung der Injektionen von den Patienten
wiederholt verweigert wurde, obwohl danach Besserung einge¬
treten war. Die Injektionen wurden in die Flanken- oder Glutäal-
region appliziert. Bezüglich der Wirkung des 'Leukozytenextraktes
wurden verschiedene Theorien aufgestellt, u. a. auf die bak¬
terizide und bakteriolytische Wirkung in vitro, die jedoch zur
Zerstörung größerer Mengen von Milzbrandbazillen nicht hin¬
reicht, sowie auf die Produktion von Endolysinen hingewiesen.
Der Verfasser konnte feststellen, daß nach Injektion von Leuko¬
zytenextrakt beträchtliche Leukozytose auftrift, worin die haupt¬
sächliche Wirkung erblickt werden kann. — (Brit. med. Journ.,
18. Februar 1911.) a- e-
*
Aus amerikanischen Zeitschriften.
472. Transfusion bei Pellagra. Eine Uebersicht über
20 Fälle. Von H. P. Cole. Bei Bluttransfusionen in 20 Fällen von
Pellagra fand Autor keinerlei schlechten Einfluß, welcher direkt
von der Operation ausgegangen wäre. Man kann beruhigt bei
schwereren Fällen zur Transfusion seine Zuflucht nehmen. Ein
Vorteil in der Anwendung des Blutes Von jemandem, der Pellagra
überstanden hat gegenüber dem Blüte von Leuten, welche niemals
diese Krankheit hatten, wurde nicht gesehen. Es besteht an¬
scheinend auch kein Unterschied zwischen der Wirkung1 des Blutes
von Blutsverwandten und Fremden. Der Vergleich der Heilungen,
welche in den schweren Fällen durch Transfusion erreicht wurden
(60 °/o ) mit den durch andere therapeutische Maßnahmen erzielten
(10 bis 20%) fällt zugunsten der Transfusion aus. Die Anwendung
der Transfusion in den letzten Stadien der Pellagra muß mit
voller Kenntnis der Schwierigkeiten und Gefahren der Operation
geschehen. Ohne sorgfältige Auswahl der Fälle muß diese Me¬
thode einem unverdienten schlechten Rufe verfallen. — (Tue
Journal of the American Medical Association, 25. Februar 1911.)
sz.
*
473. U eher die Gegenwart eines V e n e n g e r ä u s c h e s
im Epigastrium bei Leberzirrhose. Von William Sydney
Thayer. Ein venöses Geräusch, welches manchmal von einem
deutlichen Schnurren begleitet ist, kann im Epigastrium in
manchen Fällen von Leberzirrhose Vorkommen. Das Schnurren
und das Geräusch kann zurückgeführt werden entweder direkt
auf ausgedehnte Hautvarizes oder in Fällen, wo diese nicht deut¬
lich sind, auf venöse Stauung. In den meisten Fällen, in welchen
ein epigastrisches Venengeräusch bei Zirrhotikern beim Fehlen
von Hautvarizes zu hören war, war das Geräusch am besten in
der Nabelgegend und entlang der Medianlinie zü hören, mit anderen
Worten, entlang dem Verlaufe des Ligamentum rotundum. In
wenigen dieser Fälle zeigte es sich, daß die unvollständig oblite-
rierte Umbilikalvene sich im Gefolge des vermehrten Portaldruckes
stark erweitert hatte. In anderen Fällen wurde eine große dilatierte
Vene im Ligamentum rotundum entlang der obliterierten Umbili-
kalgefäße gefunden, zweifellos eine Erweiterung einer kleinen
paraumbilikalen Vene. Dieses Geräusch muß unterschieden wer¬
den von dem venösen Geräusch, welches man manchmal bei
Anämischen gerade über und rechterseits vom Nabel über der
Vena cava inferior hört, ein Geräusch, welches durch Druck bei
mageren Individuen erzeugt werden kann. Ein deutliches
Schnurren und ein starkes venöses Geräusch kann bei Leber¬
zirrhose mitunter über einem begrenzten Teile des epigastrischen
Winkels in unmittelbarer Nachbarschaft des Processus xyphoides
wahrgenommen werden. Diese Stelle ist so weit oberhalb des
unteren Randes der vergrößerten Leber, daß das Geräusch nicht
von Wirbelbildung in einer varikösen Umbilikal- oder Parum-
bilikalvene abhängen kann. Solche Geräusche können in manchen
Fällen in varikösen kleineren Gefäßen entstehen,' während in
anderen Fällen ihr Sitz wahrscheinlich in Anastomosen zwischen
den Wurzeln der Mammaria interna und den unteren tiefen
epigastrischen Gefäßen liegt oder vielleicht an einer erweiterten
Einmündungsstelle einer paraumbilikalen Vene von Braune in
die tiefen epigastrischen Gefäße. — (The American Journal of
the Medical Sciences, 11. März 1911.) sz.
*
474. (Laboratoriumsbericht aus dem Gesundheitsdepartement
von Pennsylvanien.) Mikroorganismen im Blute akuter
Fälle von Poliomyelitis. Von Samuel G. Dixon, Herbert
Fox und James B. Rucker. Bei der Prüfung des Blutes akuter
Fälle von Poliomyelitis bei Menschen und ebenso bei Affen, hei
welchen die Krankheit experimentell erzeugt worden war, wurde
ein Mikroorganismus besonderer Art gefunden, dessen ätiologisch'
Bedeutung bei dieser Krankheit weitere Untersuchungen bestä¬
tigen müssen. Blutausstriche wurden eine Minute in Methyl¬
alkohol fixiert und mit Karbol -Thionin gefärbt. Der Mikroorga¬
nismus erscheint schwach blaurot gefärbt, hat eine deutliche
Zellwand und ist etwa zehn Mikren lang und acht Mikron breit
und an einem Ende, gelegentlich an beiden Enden, gebogen.
Manchmal sind die gebogenen Enden verdickt. Einige dieser
Mikroorganismen zeigen ein sehr fein granuliertes Protoplasma
bei stärkster Vergrößerung. Man kann sie am besten mit Immer¬
sion erkennen. Man findet sie sowohl frei im Serum wie inner¬
halb der roten Blutkörperchen. Sie sind G r a m - negativ. Das
untersuchte Blut stammte von zehn verschiedenen Fällen akuter
Poliomyelitis bei Kindern und von 13 Affen, bei welchen die
Krankheit experimentell erzeugt worden war. Blutausstriche ver¬
schiedener normaler Individuen und von 13 gesunden Affen
wurden auf diesen Mikroorganismus mit ganz negativem Resultat
untersucht. Das Blut derselben Affen zeigte nach der Inokulation
des poliomyelitischen Virus die Mikroorganismen; das Blut an¬
derer gesunder Affen war hingegen frei von ihnen. Ausstriche
vom Herzen und vom Gehirne gelähmter Affen und von einem
Poliomyelitisfalle beim Menschen wurden gleichfalls untersucht,
aber in keinem Falle der Organismus gefunden. Filtriertes Virus
zeigte ihn nicht. Defibriniertes, drei Wochen bis zwei Monate
altes Blut, von zwei gelähmten Affen stammend, zeigte die Bak¬
terien in vermehrter Zahl. Kulturen, welche mit dem Blute eines
gelähmten Affen in Blutbouillon, Vollbouillon, Blutagar angelegt
wurden, zeigten nach drei Wochen den Mikroorganismus in ver¬
mehrter Menge. Dagegen gelang die Kultur auf dem Einährboden
von Dorset t nicht. Die Isolierung des Mikroorganismus glückte;
bis jetzt, nicht. — (The Journal of the American Medical Asso¬
ciation, 4. März 1911.)
*
475. Abortive Fälle von Poliomyelitis. Experimen¬
teller Nachweis spezifischer Immunkörper in ihrem Serum. Von
John F. Anderson und Wade H. Frost. Normales Blutserum,
kann eine keimtötende Wirkung auf das Virus der Poliomyelitis
ausüben. Diese Wirkung ist jedoch weit größer beim Serum von
Personen, die diese Krankheit überstanden haben. In der Wirkung
des Blutserums auf das Virus besteht kein Unterschied zwischen
Kindern und Erwachsenen. Das Serum von sechs' unter neun
Patienten, welche sich erst von einer Krankheit, die auf Polio¬
myelitis verdächtig war (abortive Formen) erholt hatten, zeigte
dieselbe keimtötende Wirkung wie das Serum eines sicheren
Falles von Poliomyelitis. Im Serum der anderen drei auf abortive
Poliomyelitis verdächtigen Kranken war es nicht möglich, eine
stärkere germizide Wirkung auf das Virus der Poliomyelitis zu
zeigen, obwohl ihre Krankheit der Poliomyelitis außerordentlich
glich. — (The Journal of the American Medical Association,
4. März 1911.) «•
*
476. Die Pest in Nordchina. Von J. J. Mullownev
Peking. Der Autor kommt zu folgenden Ergebnissen : Die Krank¬
heit nahm von Charbin ihren Ausgang. Bis zum 24. Jamiai
1911 starben ungefähr 1500 Chinesen und 27 Europäer, untn
denen zwei Aerzte und ein Gehilfe waren. Es wurde haupt-
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
649
sächlich die pneumonische und septikämische Form der Krank¬
heit angetroffen. Die Impfung mit dem Serum von Haffkin
scheint von bedeutendem Werte als vorbeugende ’Maßnahme zu
sein. Die Anwendung des Yersinschen Serums zur Behandlung
Pestkranker scheint nicht von großem Werte zu sein, obgleich
man sagen muß, daß hierüber noch nicht genügende Erfahrungen
vorliegen. Wenn es möglich wäre, 40 oder 50 Fälle mit dem
Serum zu behandeln und ihnen ebensoviele nicht behandelte
Fälle gegenüberzustellen, könnte man Sicheres über den Wert
des Mittels aussagen. Aber soweit bekannt, ist dieser Versuch
während dieser Epidemie nicht gemacht worden. Es wurde mit
Sicherheit gezeigt, daß die pneumonische Form der Krankheit
durch das Sputum und durch die Berührung mit Pestkranken
übertragen wird und daß das Tragen von Respiratoren einen
guten Schutz gewährt. Die Ratte oder der Rattenfloh scheinen
mit der Verbreitung der Pestpneumonie nichts zu tun zu haben,
wie es bei der Bubonenpest der Fall ist. Die herrschende Epi¬
demie scheint die erste von ausgesprochener Lungenpest zu sein.
Die Krankheit verbreitete sich entlang den Linien des Eisenbahn¬
verkehres, von Charbin 'nach Mukden, nach Shankhaikwan,
Tientsin und nach Peking und kleineren Städten. Sie gelangte
auch nach der Küstenstadt Chefu, wahrscheinlich durch einige
chinesische Kulis, die aus dem Norden in Fischerbooten heim¬
kehrten. — (The Journal of the American Medical Association,
11. März 1911.) sz
J/ermisehte fJaehtiehten.
Ernannt: Der ordentliche Professor an der Universität in
Innsbruck, Dr. Franz Hof mann, zum ordentlichen Professor
der Physiologie an der deutschen Universität in Prag. — Die
mit dem Titel eines außerordentlichen Universitätsprofessors be¬
kleideten Privatdozenten Dr. Roman Rencki und Dr. Maximilian
Hermann zu außerordentlichen Professoren für spezielle Patho¬
logie und Therapie der inneren Krankheiten, bzw. für Chirurgie an
der Universität in Lemberg. Dr. Wilson zum Professor
der Geburtshilfe in Dublin. - Dr. Donaggio zum ordentlichen
Professor der Neurologie und Psychiatrie in Modena. — I m
Militärärztlichen Offizierskorps: zum Generaloberstabs¬
arzt außer Dienst: Dr. Josef Kerzl; zu Generalstabsärzten die
Doktoren : Anton W e i ß, Wenzel S c hull er ; zu Oberstabsärzten
erster Klasse die Doktoren: Nikolaus Thomän, Franz
Radev, Paul Winternitz, Viktor Olexy; zu Oberstabsärzten
zweiter Klasse die Doktoren: Josef Löwenthal, Marian Gra¬
bows ki, Dusan Grig orie vies, Maximilian Herzog; zu Stabs¬
ärzten die Doktoren: Wenzel Kal end a, Eduard Neumann,
Eugen Rönai, Albert Schwarz, Abraham Stepler, Leon Wei߬
berg, Oskar Steinhaus, Bernhard Bardach, Marzeil Feder,
Gustav Po llak, Karl Diwald. Im Marineärztlichen
Offizierskorps: zum Marinestabsarzt: Dr. Leopold Majdic.
- Im Landwehrärztlichen Offizierskorps: zum Oberstabs¬
ärzten erster Klasse die Doktoren: Johann Burkl, Stanislaus
Lech, Franz Pick; zu Oberstabsärzten zweiter Klasse die
Doktoren: Ludwig Glück, Emil Taussig und Wilhelm
Zeliska.
*
Verliehen: Dem Privatdozenten für interne Medizin in
Lemberg, Dr. Julius Marischier, der Titel eines außerordent¬
lichen Universitätsprofessors.
* I
Habilitiert: Dr. Mircoli für interne Pathologie in Rom.
— In Neapel: Dr. Paladino für physiologische Chemie, Doktor
Ronchi für Dermatologie und Syphiligraphie. — ln Florenz:
Dr. Franchetti für allgemeine Pathologie, Dr. C o n f o r t i f ii r
externe Pathologie. — In Siena: Dr. Moriavi für pathologische
Anatomie, Dr. Malatesta für Chirurgie. Dr. Uivalleri
für Anatomie in Turin.
*
Gestorben: Der frühere Professor der Augenheilkunde
in Freiburg i. B. Dr. Wilhelm Mauz. Dr. Botsc harlot f,
Privatdozent für Chirurgie an der militär- medizinischen Aka¬
demie in St. Petersburg.
*
Am 22. April d. J. fand eine Sitzung des Fachkomitees
des Obersten Sanitätsvates, für Angelegenheiten der Be¬
kämpfung Von Infektionskrankheiten, statt. Hiebei wurde die
Herausgabe einer Cholerahelehrung für Aerzte in Beratung ge¬
zogen. (Referent: Prof. Norbert Ortner.)
*
Donnerstag den 27. April begannen im Festsaale der Tech¬
nischen Hochschule die Beratungen der vom Rektor der Tech¬
nischen Hochschule, Freiherrn v. Jüptner, einberufenen Kon¬
ferenz der Rektoren sämtlicher österreichischer
Hochschulen. Die Konferenz wird sich in erster Linie mit
der Frage der Regelung der Stellung und der Bezüge der Hoch¬
schullehrer, Privatdozenten und Assistenten befassen.
*
Oesterreichieehes Zentralkomitee zur Bekäm¬
pfung der Tuberkulose. I. Oesterreichischer Tuber¬
kulosetag. Samstag den 13. Mai werden sich im Hause der
k. k. Gesellschaft der Aerzte die Delegierten jener österreichischen
Vereine, die sich die Bekämpfung der Tuberkulose auf wissen¬
schaftlichem oder sozialem Gebiete zur Aufgabe gestellt haben,
versammeln, um ein „Oesterreichisches Zentralkomitee zur Be¬
kämpfung der Tuberkulose“, dessen Statuten vom Ministerium
des Innern bereits genehmigt wurden, zu konstituieren. Das Zen¬
tralkomitee hat den Zweck, den gegenseitigen Meinungsaustausch
unter den bestehenden Vereinen zu ermöglichen, gemeinsame
Aktionen anzuregen und durchzuführen. Nach seiner Konstituie¬
rung wird das Zentralkomitee sofort mit praktischer Arbeit be¬
ginnen und über eine Stellungnahme zum Sozialversicherungs¬
entwurf über die Versorgung Tuberkulöser in Spitälern, sowie
über Tuberkulosemuseen beraten. Im Anschluß an diese Sitzung
des Zentralkomitees findet Sonntag den 14. Mai im Hause der
k. k. Gesellschaft der Aerzte, Wien IX., Frankgasse 8, der
l. Oesterreichische Tuberkulosetag statt. An diesem Tuberkulose¬
tage kann jeder Arzt und jeder, der sich für die Tuberkulose¬
bekämpfung interessiert, teilnehmen. Die Tagesordnung ist fol¬
gende: I. Oesterreichischer Tu berkul os etag. Sonntag
den 14. Mai, Haus der k. k. Gesellschaft der Aerzte, Wien IX.,
Frankgasse 8. 9 Uhr vormittags: I. Mitteilung über die Grün¬
dung des „österreichischen Zentralkomitees zur Bekämpfung der
Tuberkulose“ und über den Stand der Tuberkulosebekämpfung in
Oesterreich. (Dr. Llans Graf L arisch.) II. Tuberkulose und
Kindheit. (Priv.-Doz. Dr. Franz Hamburger- Wien.) III. Ueber
Tuberkulin’wirkung und die Spezifität der Tuberkulinreaktion.
(Priv.-Doz. Direktor Josef S o r g o- A Hand.) Körperkonstitution
und Tuberkulintherapie (nach Obduktionsbefunden). (Privat¬
dozent Dr. Julius Bartel -Wien.) 2 Uhr nachmittags: IV. Die
Tuberkulose in den öffentlichen Krankenanstalten. (Professor
Dr. Maximilian S tern berg- Wien.) V. Zur Organisation der
Tuberkulosebekämpfung. (Prim. Dr. Wilhelm Mag er- Brünn.) Die
Tuberkulosebekämpfung auf dem Lande. Ihre Organisation. (Ober¬
bezirksarzt Dr. Re i s i n g er- Prag. Nach jedem Punkte der Tages¬
ordnung findet eine Diskussion statt. Die Tuberkulosetage sollen
von nun an alljährlich abgehalten werden und hofft man, daß
der gegenseitige Austausch von Erfahrungen und der persönliche
Kontakt zwischen den in den verschiedenen Kronjändern an
der Tuberkulosebekämpfung mitwirkenden Personen allseits an¬
regend und befruchtend wirken wird. Die Vorarbeiten für die
Schaffung des Zentralkomitees sowie für den Tuberkulosetag wur¬
den von dem österr. Komitee für den intern. Tuberkulosekongreß
in Rom, unter dem Präsidium des Herrn Dr. Graf L arisch,
Hofrat v. Haberler, Hofrat Prof. Weichselbaum, geleistet.
Nähere Auskünfte über diese Veranstaltungen erteilen die Schrift¬
führer des Komitees, Dr. H. v. Schrötter- Wien IX., Mariannen¬
gasse Nr. 3 und Priv.-Doz. Dr. I,. Tel eky- Wien IX., Türken¬
straße Nr. 23.
*
Einen Preis von 1000 Mark hat Prof. Dr. Theodor Jaensch
zu Berlin - Halensee für die Bearbeitung folgender physio- psy¬
cho logischer Preisaufgabe ausgesetzt: „Es ist durch
umfassende und sachgemäße, wissenschaftlich einwandfreie physio¬
logische Versuche festzustellen, welche Grundeigenschaften für
die leichte und schnelle Lesbarkeit einer Weltschrift — zumal
Druckschrift in Betracht kommen und welche der zurzeit ge¬
bräuchlicheren Schriftformen *) diesen Bedingungen am meisten
entsprechen, Die Versuche sinfd nach strengen physiologi¬
schen Grundsätzen und unter strengster kritischer Behand¬
lung aller in Betracht kommenden -Voraussetzungen aus¬
zuführen.“ Die näheren Bestimmungen der Preisausschrei-
*) Nicht unerwünscht wäre die Mitberücksichtigung einzelner neuer
Schriftgattungen — soweit sie im Hinblick auf Uebersichtlichkeit der
Wortbilder in Frage kommen können — und der Kurzschriftfrage. Auch
die Frage, ob Buchstabenschrift oder unmittelbare Augenschrift, soll
wenigstens im allgemeinen kritisch in Betracht gezogen werden.
650
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
bung werden noch bekanntgegeben werden. Die Bewerbung ist an
keinerlei formale Vorbedingungen geknöpft; auch soll es gestattet
sein, daß sich mehrere Bewerber zu gemeinschaftlicher Lösung
vereinigen. (Um Mißverständnissen vorzubeugen, wird bemerkt,
daß die obige Preisausschreibung schon seit Jahresfrist geplant
war. Nachdem durch das Vorgehen der Reichstags - Petitions-
Kommission diese ganze Angelegenheit eine unvermutete und
unwissenschaftliche 'Wendung genommen hat, ist ihre Lösung
um so dringlicher geworden. Dies allein ist der Grund obiger
Vorankündigung.)
*
Literarische Anzeigen. Unter dem Titel „Hand¬
buch der V ol ks g esu ndheitspf leg e“ hat das Mitglied des
Beirates des Deutschen Vereines für Volkshygiene', Oberstabs¬
arzt Ph. Neumann, eine Broschüre bei G m el i n- München er¬
scheinen lassen, welches einen kurzen Wegweiser für das Volks¬
wohl darstellen soll. Verfasset hat sich besonders zur Aufgabe
gestellt, die die verschiedenen Momente der \ olksgesundheit
bestimmenden Bestrebungen Ernährungs-, Wohnungs-, Klei¬
dungs-, Schulhygiene, sexuelle Aufklärung usw. in einem
Buche zusammenzufassen. Preis des Werkes 3 M.
Soziale S anglings- und Jugendfürsorge. Von Pri.-
vatdozent Dr. A. Uff enh eimer. (Wissenschaft und Bildung
Bd. 90.) Preis 1 M. 25 Pf. Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig.
Die Darstellung zerfällt in zwei Hauptabschnitte. Der erste be¬
handelt die Säuglingsfürsorge. Ausgehend von der Statistik der
Säuglingssterblichkeit, die namentlich in Deutschland betrübliche
Verhältnisse auf deckt, zeigt Verf. die Mittel und Wege zu einer
Besserung. Wohnungshygiene, Mutterschutz; und Mutterschafts-
Versicherung, Pflege und Ernährung der Säuglinge, Anstalten und
Einrichtungen für ihre Pflege werden eingehend besprochen, so
die Beratungsstellen, Milchküchen, Krippen, Stillstuben, Säuglings¬
heime, die Ammenfrage usw. Ein besonderer Abschnitt ist den
unehelichen Kindern gewidmet, und es werden die verschiedenen
Einrichtungen für ihren Schutz und ihre Erziehung kritisch ge¬
würdigt. Von nicht geringerem Interesse ist der zweite Teil des
Buches, der sich mit der Fürsorge für die außerhalb des Säug¬
lingsalters stehenden Kinder befaßt. Der Verfasser führt die
Kinderbewahranstaltcn, Kindergärten, Ferienkolonien, Seehospize,
Heilstätten, Walderholungsstätten usw. vor.
*
Cholera. Siam. In Bangkok sind in der Zeit vom
4. Dezember bis 28. Januar 338, und in der Zeit vom
29. Januar bis 25. Februar 243 Personen an Cholera gestorben;
die Gesamtzahl der Choleratodesfälle seit Juni vorigen Jahres
beträgt somit 1046. Hawaii. In Honolulu wurden am 25. Fe¬
bruar 4, am 26. und 28. Februar, sowie am 1. März je zwei
Choleraerkrankungen gemeldet. Von diesen 10 Fällen sind 9
tödlich verlaufen. Die Herkunft der Seuche konnte bisher nicht
sichergestellt werden. Bis 10. März sind weitere 16 Erkrankungs¬
und 12 Todesfälle festgestellt worden, so daß die Gesamtzahl
der amtlich konstatierten Fälle bisher 26 beträgt, wovon 21
mit dem Tode endeten.
Pest. Aegypten, ln der Zeit vom 31. März bis 6. April
1911 ereigneten sich in Aegypten 133 (92) Pestfälle (Todesfälle)
und zwar in den Provinzen Assiout 2 (2), Assouan 80 ',49),
Fayoum 1 (l), Giurgueh 4 (2), Keneh 43 (33), Menoufieh 1 (2),
Minieh 2 (3), in der Zeit vom 7. bis 13. April 116 (91) Pest¬
fälle (Todesfälle) u. zw. in der Stadt. Port Said 2 (l), in den
Provinzen Assiout 11 (9), Assouan 16 (14), Fayoum 2 (2), Ga-
lioubieh 1 (0), Guirgueh 11 (10), Keneh 63 (51), j Menoufieh
8 (3), Minieh 2 (l). Die Gesamtzahl der seit Beginn des Jahres
bis 8. April sichergestellten Pesterkrankungen beträgt 1000 gegen¬
über 176 in der entsprechenden Zeitperiode des Vorjahres. In
der Hafenstadt Suakim am Roten Meere ist am 7. April ein
Eingeborenenweib an Pestpneumonie gestorben. — Arabien.
Die Stadt Maskat. (Sultanat Oman) wurde wegen des amtlich
festgestellten Auftretens von Pestfällen als pestverseucht erklärt.
In Djeddah sind in der Zeit vom 25. März bis 6. April 9 töd¬
liche Pesterkrankungen gemeldet worden. Siam, ln der Haupt¬
stadt Bangkok wurden bis 29. Januar 8, bis 28. Februar 14 Pest¬
erkrankungen amtlich festgestellt. Britisch -Indien, im Hin¬
dustan ereigneten sich in der Zeit vom 29. Januar bis 25. Fe¬
bruar 1911 u. zw. in der ersten Woche 26.211 ((22.239), in
der zweiten Woche 24.715 (22.278), in der dritten Woche 22.632
(18.978), in der vierten Woche 27.716 (22.138) Pesterkrankungen
(Todesfälle).
*
Vorläufiges Ergebnis der S a n i t ä ts Statistik- bei
der Mannschaft des k. u. k. Heeres im Februar 1911.
Krankenzugang 78%o, an Heilanstalten abgegeben 30%o, Todes¬
fälle 0-13%o der durchschnittlichen Kopfstärke.
*
Die Gesundheitsverhältnisse der Wiener Ar-,
b e i terse 1 i a f t i in M ä r z 19 1 1 . Bei dem Verbände der Genoss m-
schaltsk rankenkassen Wiens und der Allgem. Arbeiter-Kranken- und
Unterstützungskasse in Wien, welche einen Stand von 310.000
(320.000) Mitgliedern, davon 280.000 (290.000) in Wien aufweisen,
betrug im März 1911 die Zahl der Erkrankungen mit Erwerbs¬
unfähigkeit in Wien 10.902 (10.150). Davon entfielen auf Tuber¬
kulose der Atmungsorga, ne 953 (938), andere Erkrankungen der
Atmungsorgane 1655 (1577), Anginen 543 (446), Lungenentzün¬
dungen 53 (44), Influenzen 882 (576), Erkrankungen der Zirku¬
lationsorgane 335 (325), Magen- und Darmerkrankungen 566 (607),
rheumatische Erkrankungen 944 (852), auf Verletzungen (Betriebs¬
unfälle) 1899 (1899). Die Zähl der Todesfälle betrug im März 1911
332 (290). Davon entfielen auf Tuberkulose 238 (126), andere
Erkrankungen der Atmungsorgane 29 (17), der Zirkulationsorgane
55 (56), auf Neubildungen 21 (14), Verletzungen (Betriebsunfälle)
10 (8), auf Selbstmorde 11 (15) Todesfälle. (Die Ziffern in den
Klammern beziehen sich auf den März 1910.)
+
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 15. Jahreswoche (vom 9. bis
15. April 1911). Lebend geboren, ehelich 506, unehelich 217, zusammen
723. Tot geboren, ehelich 43, unehelich 19, zusammen 62. Gesamtzahl der
Todesfälle 688 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17 4 Todesfälle) an Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 9,
Scharlach 4, Keuchhusten 1, Diphtherie und Krupp 3, Influenza 2,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 4. Lungentuberkulose 115, bösartige Neu¬
bildungen 50, Wochenbeltfieber 4. Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 53 (T- 6), Wochenbett fieber 0 ( — 5), Blattern 0
(O), Varizellen 85 (— 15), Masern 156 ( — 43), Scharlach 110 (+ 17)
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 4 (-f- 2), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0)
Diphtherie und Krupp 35 ( — 31), Keuchhusten 34 ( — 9), Trachom 3 (-j- 2)
Influenza 1 (=), Poliomyelitis 0 (0).
Eingesendet.
Ein medizinisches Warenhaus versendet an die Aerzte ein
Zirkular mit Anpreisung eines „Silberkappenpessais nach Pro¬
fessor Halb an“. Ich bitte, zur Kenntnis, zu nehmen, daß ich
dieser Angelegenheit vollkommen ferne stehe und mir alle er¬
forderlichen Schritte Vorbehalte, um diesen mit meinem; Namen
getriebenen Mißbrauch abzustellen.
Prof. Dr. Jose! Hal ban.
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle für den Sanitätssprengel D o r n a-
kandreny mit den Gemeinden Dornakandreny und Pojana'stampi mit
dem Standorte in Dornakandreny (Bukowina). Die mit diesem Posten
verbundene Jahresdotation beträgt 1600 K und eine für den Ruhegenuß
anrechenbare Aktivitätszulage von 400 K. Als Separathonorar erhält der
Gemeindearzt das von der Gemeinde Dornakandreny für die Versehung
der Funktionen des Badearztes in Aussicht gestellte Honorar von 700 K
für die Dauer der Badesaison. Für Dienstreisen erhält der Gemeindearzt
die mit der Kundmachung der Bukowinaer k. k. Landesregierung vom
27. April 1898, L.-G.- u. V.-Bl. Nr. 12, normierten Gebühren. Bewerber um
diesen Posten haben nachzuweisen: 1. Die Berechtigung zur Ausübung der
Heilkunde in den im Reichsrate Vertretenen Königreichen und Ländern;
2. die österreichische Staatsbürgerschaft; 3. die Kenntnis der deutschen
und in hinreichendem Maße der rumänischen Sprache. Die gehörig in¬
struierten Gesuche sind spätestens bis 10. Mai 1. J. bei der k. k. Be¬
zirkshauptmannschaft in Kimpolung einzureichen.
Im Status der k. k. Sanitätsbeamten in Böhmen gelangt die
Stelle eines Landessanitätsinspektors mit den Bezügen
der VII., beziehungsweise eines Oberbezirksarztes mit den Be¬
zügen der VIII., ferner die Stelle eines Bezirks arztes mit den Be¬
zügen der IX., eines Sanitäiskonzipisten mit den Bezügen der
X. Rangsklasse und eventuell die Stelle eines Sanitätsassistenten
mit einem Adjutum jährlicher 1000 K zur Besetzung. Bewerber um
diese Stellen haben ihre ordnungsmäßig instruierten Gesuche, welche
seitens der dem Staatsdienst noch nicht angehörenden Bewerber über¬
dies mit den Nachweisen über das Alter, die Zuständigkeit, die zurück¬
gelegten Studien, die körperliche Eignung, sowie über die mit Erfolg
abgelegte Physikatsprüfung zu belegen sind, bis längstens 10. Mai 1911
entweder unmittelbar, oder sofern sie bereits im öffentlichen Sanitäts¬
dienste slehen, im Wege tier Vorgesetzten Behörde beim k. k. Stalthallerei-
präsidium in Prag einzubringen. • ._• 'I
Gemeindearztesstelle in Grisignana (Istrien). Ge¬
halt 2400 K. Quatiergeld 300 K. Gesuche mit dem Nachweise der
österreichischen Staatsbürgerschaft, der Berechtigung zur Ausübung der
Heilkunde und der Kenntnis der italienischen Sprache sind bis 20. Mai
an den Gemeindevorstand in Grisignana zu richten.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
651
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin. I U. russischer Internistenkougreß.
10. Versammlung der Deutschen Gesellschaft fiir Chirurgie zu Berliu. 1
Des Feiertags (1. Mai) wegen mußte diese Nummer früher
fertiggestellt werden und erscheint deshalb das Protokoll der Sitzung
der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien vom 28. April erst in
nächster Nummer.
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin
vom 19. bis 22. April zu Wiesbaden.
Referent : K. Reich e r - Berlin .
1. Sitzung am Mittwoch, den 19. April 1911.
Kr eh 1- Heidelberg hält als Präsident des Kongresses die
Eröffnungsrede.
Der uralte Begriff der Diathesen hat sich bis in die zweite
Hälfte des vorigen Jahrhunderts erhalten. Durch hervorragende
Forscher wurde er mittels der exakten Methoden der Physio¬
logie, Pathologie und des Tierexperimentes gänzlich zurückgedrängt
und schien bis vor kurzem abgetan wie die Lebenskraft und die
Naturphilosophie. In dieser streng naturwissenschaftlichen Auf¬
fassung krankhafter Vorgänge wurden die meisten von uns er¬
zogen und auch der Kongreß geboren. Es sollen nun auch ferner¬
hin Chemie, Physik und Experiment in ihren Rechten nicht
verkümmert werden, anderseits aber ist nicht zu vergessen, daß
wir Aerzte vielfach den Begriff der Erfahrung mit einer Reihe
dunkler Eindrücke verwechseln. Trotzdem haben wir in der
Medizin nur einen Weg zur Erkenntnis, den der Beobachtung,
der Empirie, sowohl am Krankenbette, als im Laboratorium.
Sie ist gerade in unserer, zu phantastischer Spekulation neigen¬
den Zeit von außerordentlichem Werte. Vor Irrtümern der Beob¬
achtung und Erinnerungstäuschungen schützt uns nur Registrie¬
rung, diese ist aber bei der wechselnden Tätigkeit des Arztes
undurchführbar. Deswegen verfallen wir in den Fehler der Speku¬
lation. Trotz der hartnäckigen Ignorierung der unerklärlichen
Begriffe Disposition und Konstitution, konnten wir uns endlich
der Einsicht nicht verschließen, daß die physiologische, die ana¬
tomisch-lokal is tische und die ätiologische Auffassung der Krank¬
heitszustände nicht die ganze Summe des krankhaften Geschehens
umfaßt. Daher die Rückkehr zu den alten Begriffen mit fliegenden
Fahnen! Sie sind aber so von Phantasie und Speku¬
lation um woben, daß wir hei ihrer Erforschung alle
Energie werden au f wie n d e n müssen, um auf dem
festen Boden der Skepsis und der Tatsachen zu
bleiben.
Peber Wesen und Behandlung! der Diathesen (Referat).
1. His-Berlin: Geschichtliches und Diathesen in
der inneren Medizin.
Die Notwendigkeit für die innere Verwandtschaft größerer
Krankheitsgruppen einen Ausdruck zu finden, leitet uns wieder
zu dem Begriffe der „Diathesen“, welcher schon in der griechi¬
schen Medizin eine große Rolle spielte. In der unrichtigen Mischung
der Elemente und Temperamente und der damit begründeten Stö¬
rung des körperlichen Gleichgewichtes war nach Galen die Ur¬
sache der Krankheiten gegeben, die Organveränderung bloß ihre
Folge. In zahlreichen Wandlungen erhielt sich diese alte Lehre
und ihre letzten Verfechter waren Wunderlich und Roki¬
tansky, welch ersterer für Krankheiten ohne bestimmten Aus¬
gangspunkt den Namen Konstitutionskrankheiten "einführte, wäh¬
rend letzterer der K rasen lehre neues Leben einhauchte. Nach
deren Widerlegung durch Virch’ow löste sich die Pathologie
in eine Summe von Organkrankheiten auf. Durch die Bakterio¬
logie bröckelte ein weiterer Teil der Konstitutionskrankheiten
ab. In Frankreich dagegen wurde bis heute der Konstitutions- und
Diathesenbegriff unverändert aufrecht erhalten (Tissier, Ba¬
zin, Lancereaux) und auch in Deutschland lebt in letzter
Zeit der Konstitutionsbegriff in der Kinderheilkunde (Luxuskon-
sumption, einseitige Ernährung, Nährschaden) wie auch in der
Dermatologie, wieder auf. In der inneren Medizin wurde der¬
selbe von 0. Rosen b ach, F. Kraus und F. Martins er¬
schöpfend bearbeitet. His definiert die Diathese als Spezialfall
der Konstitutionsgruppen folgendermaßen : Diathese ist ein
individueller, angeborener, oft vererbbarer Zustand,
bei dem physiologische Reize eine abnorme Reak¬
tion auslösen und für die Mehrzahl der Gattung nor¬
male Lebensbedingungen, krankhafte Zustände be¬
wirken. Bis zur Auffindung der Aetiologie und bestimmter Re¬
aktionen ist jede Systematik provisorisch und läßt sich nur auf
ein Ensemble häufig gleichzeitiger Symptome stützen. (lieber ge¬
hören der Arthritismus, mehrere Kinderdiathesen, der Infantilis¬
mus, die eosinophile Diathese, gewisse Neuropathien und die
hämophilen Diathesen, alles in allem ein dankbares Forschungs¬
gebiet !
Pfaundler-München: Diathesen in der Kinderheil-
k u n d e.
Vortragender versteht gleich His unter Diathese (SidiGjais)
erhöhte Bereitschaft zu Erkrankungen u. zw. zum Auftreten be¬
stimmter Zeichen und Zeichengruppen.
Der Skrofulöse zum Beispiel liegt eine erhöhte Bereitschaft
zu entzündlichen Reaktionen zugrunde, Diathesis inilammatoria
(Th. White). Am besten ist die entzündliche oder exsudative
Diathese an jüngsten Kindern ohne Tuberkulose zu studieren.
Verwandt sind ihr der Status thymico - lymphaticus (Pal tauf,
Es eher ich) und der infantile Arthritisme der Franzosen. Die
Manifestationen dieser Trias stellen sich dar als exsudative Inte¬
gumentprozesse, Schwellung lymphatischer Gewebe, Ernährungs-
und Stoffwechselstörungen, vasomotorische und vagotonische Er¬
scheinungen, allgemein neuropathische Zeichen und tetanoide
Phänomene. Charakteristisch ist bei ihnen die Entstehung auf
geringfügige Anlässe hin, oft scheinbar spontan und paroxysmal,
ferner ihr Auftreten bei starker Körperfülle. Aetiologisch er¬
scheint. eine elektive Schädigung des Mesenchyms, in dessen Ab¬
kömmlingen die Trias ihren Sitz hat, möglich, oder eine Hormon¬
verminderung. Wahrscheinlich haben wir es dabei mit einem
plurizentrischen System zu tun. Die Zeichenkreise kommen in
vielfacher Kombination und Mutation vor, wie es auch aus Stamm¬
bäumen hervorgeht. Aus minderwertigen Determinanten im elter¬
lichen Keimplasma gehen funktionell minderwertige Organe und
Systeme hervor, die bei höheren oder auch schon bei physiologi¬
schen Ansprüchen versagen. Bei den Geschwistern von Kindern
mit exsudativer Diathese läßt -sich sechsmal häufiger eine neuro-
pathische Anlage nachweisen als bei normalen Kindern. Die
weiblichen Ueberträger sind- ferner doppelt so häufig als die männ¬
lichen. Unter den Empfängern überwiegen wieder die männ¬
lichen mit doppelter Zahl. Manchmal hat auch ein zeitliches Ante-
ponieren der Manifestationen statt. Alle diese Züge sprechen
für echte Vererbung. Die Forderung einer strengen Abgrenzung
der Gesamtdialhesen wäre eine verfehlte, zuverlässige Kriterien
sind nur für die Teilbereitschaften zu erwarten. Den angeborenen
kindlichen Diathesen sind auch die Rachitis, die Spasmophilie und
die Heterodystrophie zuzurechnen, welch letztere erst bei art¬
fremder Nahrung in Erscheinung tritt. Krankheitsbereitschaften
können auch erworben werden (Sensibilisierung, Anaphylaxie).
Bloch-Basel: Diathesen in der Dermatologie.
Die frühere französische Schule, allen voran Bazin, hat
hauptsächlich drei Diathesen postuliert, die herpetische, die lym¬
phatische und die arthritische. Letztere, die wichtigste, besagt
folgendes : Im Säuglingsalter treten nässende, impetiginüse und
papulo - vesikulöse Ekzeme auf, später urtikarielle Symptome, ade¬
noide Vegetationen, Gastrointestinalkrisen, Pernionen usw., in
der Pubertät Kopfschmerzen, Akne, Seborrhöe und später richtige
Asthmaanfälle. Beim Erwachsenen gesellen sich Viszeralkrisen, Mi¬
gräne, Neuralgien, Gallen- und Nierensteinkoliken, rheumatische
und gichtische Beschwerden hinzu, im Greisenalter endlich Ar¬
teriosklerose, Pruritus und Prurigo. Die arthritischen Derma¬
tosen sind das Produkt der latenten pathologischen Disposition,
die wir als Diathese bezeichnen und einer Gelegenheitsursache.
Eine allen diathetischen Dermatosen gemeinsame Stoffwechsel-
anomalie hat sich nicht fassen lassen. Es bleibt daher nichts
übrig, als aus Anamnesen und Stammbäumen Tatsachenmaterial
zu sammeln, zumal die deutsche Dermatologie seit Hebra und
Kaposi der Diathesenlehre ganz ablehnend gegenübersteht. Bloß
die Eosinophilie des Blutes ist eine ziemlich konstante Beglei¬
terin der hier in Frage kommenden Dermatosen. Bei der soge¬
nannten Idiosynkrasie kann man durch Einverleibung eines Medi¬
kamentes oder eines alimentären Stoffes, also durch funktionelle
Prüfung (Jadassohn), die Diathese jederzeit sichtbar machen.
Die Analogie dieser als chemische Allergie aufzufassenden ana¬
phylaktischen Reaktion mit der bakteriellen Allergie Pirquets,
052
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 18
liegt auf der Hand. Aehnlich könnten auch die krisenartigen
Erscheinungen des großen arthritis eben Symptomenkomplexes
auf der Haut und den Schleimhäuten (Urtikaria, Quinckesches
Oedem, Asthma und Dannkrisen) nichts anderes sein als ana¬
phylaktische Vorgänge. Bei der Jodoformdermatitis scheint eine
histogene Diathese, eine zelluläre Allergie gegen den Methanrest
des Jodoforms vorzuliegen. Zu den diathetisehen Hautzuständen
rechnet Vortr. auch die multiplen Xanthome, die nach Pinkus
und Pick aus Cholesterinestern bestehen und denen eine Hyper -
cholesterämie (Chauffard, La Roche und Thibierge) zu¬
grunde liegt. Aehnlich verhält es sich mit Jadas sohns Fall von
Kalkdiathese. Andere Diathesen beruhen auf einer Lichtüber-
empfindlichkeit (Xeroderma, Pellagtra, Fagopyrismus, Hydroa
aestivalis).
Bei Hunden läßt sich nach Pankreasexstirpation eine viel
schwerere Dermatitis durch Staphylokokken und Hefepilze hervor-
rufen als vorher. Hier tritt nach Ausfall einer Drüse mit innerer
Sekretion eine Allergie der Haut ein.
(Fortsetzung folgt.)
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie zu Berlin
vom 19. bis 22. April 1911 (im Langenbeckhause).
Referent: Dr. M. K at z en s tei n -Berlin.
(Fortsetzung.)
Katzenstein -Berlin: Ueber die Möglichkeit eines
Kollateralkreislaufes der Niere und die operative
Behandlung der Nephritis.
Demonstration schematischer Zeichnungen zur Erläuterung
der Bedingungen, die Vortr. für unerläßlich hält zur Hervorrufung
eines arteriellen Kollateralkreislaufes der Niere im Tierexperiment.
Diese Bedingungen sind: 1. Vermeidung der Dekapsulation.
2. Erhöhung der Widerstände in der Nierenarterie, 3. Umhüllung
der Niere mit Muskulatur.
Demonstration dreier Versuchsreihen in
Bildern.
1. Ausbildung eines Kollateralkreislaufs der Niere, Unter¬
bindung beider Nierenarterien an der Aorta. Präparation der Aorta
und Injektion des Arteriensystems mit Karmingelatine. Die In¬
jektionsmasse gelangte in die Nieren.
2. Versuchsreihe : Ausbildung! eines Kollateralkreislaufs
beider Nieren, Unterbindung beider Nierenarterien, Unterbindung
der Aorta ober- und unterhalb beider Nierenarterien, Injektion des
Arteriensystems mit Wismutbrei, Röntgenphotographie. Das
Wismut ist in die Nieren gelangt, was außer an makroskopischen
Präparaten auch an herausgeschnittenen Nierenstückchen demon¬
striert werden kann. Ausbildung eines ähnlichen Kollateralkreis¬
laufs in der Thyreoidea und in der Milz. Transplantationen
von Organen, die unabhängig von der Arterie gemacht sind.
3. Versuchsreihe: Durch Ligatur der Nierenarterien nach¬
einander und sonst in unveränderter Versuchsanordnung, gelang
es, drei Tiere längere Zeit nach Unterbindung beider Nieren¬
arterien am Leben zu erhalten. Ein Hund starb zehn Tage nach
Unterbindung der zweiten Nierenarterie an interkurrenter Krank¬
heit, ein Hund zwei Monate nachher infolge Aortenunterbindung,
der dritte Hund überlebte die Unterbindung der Aorta oberhalb
der Nierenarterie um fünf Wochen und die Unterbindung der
beiden Nierenarterien um vier Monate und ging an einem Aneu¬
rysma dissecans an der Stelle der Unterbindung der Aorta zu¬
grunde.
Bei beiden Hunden hatten Stoffwechseluntersuchungen auf
der Kr aus sehen Klinik annähernd normale Nierenfunktion er¬
geben.
Katzenstein hält danach den Beweis für erbracht, daß ein
Nierenkollateralkreislauf möglich ist und daß dieser den nor¬
malen Kreislauf bis zu einem gewissen Grade zu ersetzen vermag.
Diskussion: Li eck, der früher ohne Erfüllung der von
Katzenstein als notwendig bezeichneten Bedingungen ähnliche
Untersuchungen mit negativem Erfolge gemacht hat, ist von den
gemachten Demonstrationen nicht überzeugt.
B au e r -Breslau : Röntgendurchleuchtung ohne
Schirm.
In Kürze möchte ich Ihnen eine neue Methode der Piöntgen-
durchleuchtung demonstrieren, die eine solche ohne Zuhilfenahme
eines fluoreszierenden Schirms, des Röntgenschirms, möglich
macht. Eine Reihe von Umständen bei dem allgemein üblichen
Durchleuchtungsverfahren war es, die mich veranlaßte, eine Va¬
riation dieser Methode anzustreben.
Einmal war es die Schwierigkeit, die bei der Durchleuch¬
tung erhaltenen Bilder von Knochen, Organen, Geschwulstgrenzen,
Fremdkörpern, direkt graphisch auf der Körperoberfläche ohne
Hilfe großer komplizierter Apparate festzuhalten; ein weiteren
Mangel lag in der Schwierigkeit einer genaueren Lokalisation von
Fremdkörpern, die bei einfacher Durchleuchtung wenig genau
und selbst bei Aufnahmen von vorn und von der Seite nicht
vollkommen möglich war. Fernerhin war die Vornahme irgend¬
welcher, in manchen Fällen direkt während der Röntgendurch¬
leuchtung erstrebten Manipulationen, wie zum Beispiel die Re¬
position von Knochenfrakturen, durch die Behinderung des gleich¬
zeitig zu haltenden Schirmes erschwert. Endlich konnte man
bei mehreren Durchleuchtungen in verschiedenen Zeitintervallen,
wie sie zur Kontrolle der Therapie oder zur Feststellung von
Wachstumsveränderungen bisweilen notwendig wurden, hei der
immer wechselnden Stellungsabweichung des Schirmes selbst hei
tangential angelegtem Schirme keine ganz konstanten Bilder er¬
zielen.
Diese hier nur kurz präzisierten Mängel versuchte ich da¬
durch zu beheben, daß ich die Körperoberfläche zur Fluoreszenz
brachte und dadurch auf sie direkt projizierte.
Ein einfacher Anstrich mit fluoreszierender Masse war aus
selbstverständlichen Gründen nicht möglich, wohl aber konnte
man mit fluoreszierenden, mit Platinbaryumzyanat imprägnierten
Binden, die man um die Extremität oder den Rumpf wickelte,
diese gewollte Fluoreszenz der Körperoberfläche erreichen.
Mit diesem Verfahren, bei dem, anders wie beim Röntgen¬
schirm, das Verhältnis zwischen schattengebendem Körper und
Projektionsfläche immer ein konstantes bleibt, werden auf der
Haut des im ganzen aufleuchtenden Weichteils die schattengeben¬
den Gebilde zu Gesicht kommen. Man wird deshalb zu einer-
exakteren Vorstellung bei Brüchen, zu einer besseren Lokalisation
von Fremdkörpern kommen können; man wird durch aufgelegtes
Pauspapier die gefundenen Verhältnisse direkt auf der Körper¬
oberfläche festzuhalten imstande sein und etwaige Manipulationen,
wie’ Reposition von Brüchen, unmittelbar während der Röntgen¬
durchleuchtung und ohne durch einen Schirm behindert zu sein,
vornehmen können.
K. W es s el y- Würzburg : Ueber Angewöhnungser¬
scheinungen hei örtlichen Reizen.
Die Frage der Angewöhnung an örtliche Reize ist an keinem
anderen Organ so gut zu entscheiden wie am Auge.
Der Grad der Wirkung eines an der Bindehaut gesetzten
Reizes läßt sich nämlich genau messen dadurch, daß er sich auf
dem Wege des Reflexes in bestimmtem Verhältnis auch auf das
innere Auge überträgt und hier zu einer Vermehrung des Eiwei߬
gehaltes im Kammerwasser führt, die bis auf 1/ioo°/° zu bestimmen
ist. Auf diese Weise gelingt es, den Nachweis zu führen, daß bei
den verschiedensten örtlichen Reizen, wie subkonjunktivalen Koch¬
salzinjektionen, Pinselungen mit Jod und Höllenstein, eine schnelle
Angewöhnung an den Reiz eintritt. Schon bei der dritten Wieder¬
holung pflegt die Abnahme der Reaktion eine auffällige zu sein
und bei der siebenten oder achten kann sie bereits völlig aus-
bleiben. Am schönsten tritt die Erscheinung zutage bei Pinse¬
lungen der Lidbindehaut mit l°/oiger Lösung von Argentum nitri-
cum. Kaninchen reagieren mit starker Chemosis, die, wie Vor¬
tragender hierauf an Photogrammen demonstriert, bei mehrfacher
Wiederholung des Reizes von einem zum anderen Male abnimmt.
Auch die Abnahme der reaktiven Wirkung auf den Eiweißgehalt
des Humor aqueus wird an Photogrammen von Kammerwasser¬
proben erläutert.
Aber nicht nur für die gleichen Reize erfolgt eine Ange¬
wöhnung, sondern auch eine durch andere Mittel erzeugte Hyper¬
ämie hinterläßt für einige Zeit einen refraktären Zustand. Ein
einmal zur Hyperämie gebrachtes Gefäßgebiet scheint demnach
durch gleiche und andere lokale Reize für einige Zeit viel schwerer
zu einer erneuten Hyperämie zu bringen zu sein. Es liegen also
zwei verschiedene Erscheinungen vor, eine ausgesprochene lokale
Angewöhnung an das Reizmittel selbst und eine Gewöhnung
der Gefäße an den hyperämisierenden Reiz, welch letztere nicht
spezifisch ist.
Sch m i e de n - Berlin : Zur D if f e r en t i a 1 d i a g n o s e
zwischen Magenulkus und Magenkarzinom.
Vortr. bespricht die wichtigsten Faktoren, welche die mo¬
derne Magendiagnostik ermöglichen. In der Bierschen Klinik
werden außer allen anderen Hilfsmitteln der internen Medizin in
erster Linie folgende drei Hilfsmittel zur Entscheidung herbei¬
gezogen: Anamnese, Palpation und Röntgenuntersuchung. Vor¬
tragender zeigt nun an einer großen Reihe ausgezeichneter charak¬
teristischer Bilder die wichtigsten differentialdiagnostischen Kri¬
terien des Magenulkus und dos Magenkarzinoms und betont he-
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
653
sonders, daß auch schon für das frische Magenulkus sichere
Kriterien im Röntgenbilde sichtbar gemacht werden können.
Haudek-Wien demonstriert Röntgenplatten zur Diifcren-
tialdiagnose zwischen Magengeschwür und Magenkarzinom. Die
unterscheidenden Merkmale sind folgende: Morphologisch: 1. Das
Ulkus erscheint, sofern es am Röntgenbild des Magens direkt
sichtbar wird, als ein Schattenvorsprung (Nisehensymptom). Das
medulläre Karzinom als Schattenaussparung, indem es ins Lumen
vorspringt.
2. Führt ein hochliegendes Ulkus (an der kleinen Kurvatur)
durch Schrumpfung zur i Verkleinerung, so erhält der Magen
Schnecken form, indem die kleine Kurvatur eingerollt wird, wobei
die Hubhöhe erhalten bleibt.
Beim diffus infiltrierenden Krebs zeigt der Schrumpfmagen
den Pylorus als tiefsten Punkt, die Hubhöhe ist aufgehoben. Der
Magen erscheint gestreckt, nicht mehr hakenförmig.
3. Beim Sanduhrmagen auf Ulkusbasis liegt der Verbindungs¬
kanal stets an der kleinen Kurvatur, die Enge betrifft nur eine
kleine umschriebene Stelle.
Bei Sanduhrmagen auf Karzinombasis (sehr selten) ist die
Enge oft median gelegen und betrifft einen längeren Magen¬
abschnitt.
Beim Ulkus ist die Austreibungszeit verlängert, beim Kar¬
zinom im allgemeinen verkürzt.
M e rkens - Oldenburg : Seltene Verletzung des Penis.
Ein Mann urinierte durch einen Türspalt. Durch Zuschlägen
der Tür Einklemmung des Penis. Der Mann suchte ihn ver¬
gebens durch einen kräftigen Zug zu befreien. Resultat: voll¬
ständige Abquetschung des Penis in der Mitte der Länge bis
auf den Hautschlauch. Wegen Gangrän wurde die Amputation
des Gliedes nötig. — Demonstration von Diapositiven.
Pels -Leus den -Berlin demonstrierte eine Serie von Rönt¬
genbildern von verschiedenen Formen von Spina bifida occulta
und aperta. Er weist besonders auf die so häufigen gleichzeitig
vorhandenen Anomalien an den Wirbelkörpern und speziell den
Rippen hin. Da die letzteren sich unabhängig von der Wirbel¬
säule entwickeln, so ist nicht recht, einzusehen, weshalb eine
primäre Störung am Medullarrohr auch zu einer Veränderung des
Rippenwachstums führen sollte. Im allgemeinen nimmt man an,
daß die mangelhafte Trennung der Medullarplatte von dem Horn¬
blatt zum Teil auch von Teilen des mittleren Keimblattes das
Primäre bei der Entwicklung der Raehisohisisi sei, die Anomalien
der Wirbelsäule und der Rippen aber das Sekundäre. Vortr. ist
demgegenüber geneigt, beide Vorgänge als koordinierte zu be¬
trachten. Einer der demonstrierten Fälle war deswegen beson¬
ders interessant, weil eine Spina bifida occulta mit kongenitaler
Skoliose kombiniert war. Zum Vergleich wird ein Fall einer
kongenitalen Skoliose als reine intrauterine Belastungsdeformität
gezeigt.
I mm e lm an n- Berlin : Demonstration von Röntgen¬
bildern aus dem Gebiete der Knochenbrüche.
C. H ä b e r 1 i n-Bad Nauheim : Demonstration zu r F r a g e
der Ostitis fibrosa.
OeTecker-Hamburg : Demonstration von Röntgon-
bildern aus dem Gebiete der Pyelographie.
Durch Kollargoleinspritzungen in das Nierenbecken durch
den Ureter kann man das ganze Harnsystem röntgenologisch
darstellen. Herr Oelecker hat nun, um vergleichen zu können,
beide Seiten zu gleicher Zeit photographiert und demonstriert
eine größere Anzahl won Röntgenbildern.
D enck s - Rixdorf Kinematographisc h e D e m oust r a-
tion der Hormonalwirkung.
Physostigmin macht Krampf des Darmes, Hormonal gleich¬
mäßig peristaltische Bewegung.
Dies Experiment wird kinematographisch vorgeführt.
(Fortsetzung folgt.)
II. russischer Internistenkongreß
djgehalten zu St. Petersburg am 19. bis 23. Dezember 1910 (a. St.).
Referent : Dr. Julius Schütz- Marienbad.
(Fortsetzung und Schluß.)
L. E. Golubinin - Moskau : Heber Behandlung des
Diabetes mellitus.
Bei manchen Fällen von Diabetes ist die Ursache in einer-
allgemeinen Verlangsamung der Ernährung zu suchen („ralen-
tissement de nutrition“). Die meisten Formen des Diabetes sind
auf Funktionsstörung der Drüsen mit innerer Sekretion zurück¬
zuführen. Diese Funktionsstörung kann entweder primär sein,
°der durch nervöse Einflüsse bedingt sein. Solche Organe sind
vor allem : das Pankreas, die Schilddrüse, die Nebenniere, viel¬
leicht auch die Hypophyse und die Epithelkörperchen. Bei dem
heutigen Stande unserer Kenntnisse läßt sich eine wirklich kausale
Therapie lange nicht in allen Fällen durchführen; doch manch¬
mal ist dies möglich. Hierzu gehören zunächst die Fälle, wo
als primäre Ursache eine nervöse Störung anzusehen ist. Kommt
hierbei Lues ätiologisch in Betracht, so kann spezifische Thera¬
pie manchmal von Nutzen sein. Bei Störungen der inneren Sekretion
hat die Organotherapie bisher noch keine greifbaren Erfolge
gehabt, doch sollte auf diesem Gebiete weiter gearbeitet werden.
Wenn die Funktionsstörung des Pankreas ihre Ursache in ge¬
störter Magen-Darmtätigkeit hat, kann eine rationelle Therapie
in diesem Sinne nicht selten gute Erfolge zeitigen. Auch dort,
wo der Diabetes seine Ursache in einer Verringerung der Stoff¬
wechselenergie hat, leistet eine kausale, auf Erhöhung der Oxy¬
dationsvorgänge gerichtete Therapie in vielen Fällen gute Dienste.
Bei Unmöglichkeit einer kausalen Therapie tritt individualisierende
diätetische Behandlung in ihr Recht. Die medikamentöse Behand¬
lung spielt eine nur sekundäre Rolle. Eine rationelle Therapie
des Diabetes erfordert stete Ueberwachung, am besten in einer
Heilanstalt, welche der Kranke periodisch aufsucht und wo jedes¬
mal das genaue therapeutische Programm ausgearbeitet wird.
J. F. 0 rl o w s k i j - Kasan : Diagnostik der Pankreas¬
erkrankungen.
Charakteristisch für Pankreastumoren ist der Mangel an
respiratorischer Verschieblichkeit, ferner die Unverschieblichkeit
bei Palpation und Lagewechsel des Körpers, tympanitischer Schall
bei schwacher Perkussion, Verschlechterung bis Verschwinden
der Palpabilität bei Aufblähung des Magens und des Darmes.
Bei Mangel eines Tumors dienen als diagnostische Anhaltspunkte:
Druck auf benachbarte Organe (Vergrößerung der Gallenblase,
Ikterus, Neuralgia coeliaca etc.) und Funktionsprüfung. Keine der
beschriebenen Fnnktionsprüfungsmethoden hat absolute Gültigkeit.
Eine Diagnose läßt sich nur durch entsprechendes Abwägen der
einzelnen Symptome gegeneinander machen. Wichtig ist die
Feststellung von gestörter Fett- und Eiweißverdauung, Abwesen¬
heit von Trypsin im Mageninhalt nach Oelprobefrühstück. Die
meisten anderen Methoden haben einen sehr begrenzten Wert.
P. J. Sarnitzin - Kasan : Ueber klinische Bedeu¬
tung der Cammidgeschen Pankreasreaktion.
Die Cammidgesche Reaktion wird bei den meisten Pankreas¬
erkrankungen beobachtet und unabhängig von dem Grade der
Affektion, jedoch auch bei anderen Erkrankungen und bei ganz
gesunden Leuten. Ein einmaliger negativer Ausfall spricht nicht
gegen die Diagnose einer Pankreaserkrankung, ein mehrmaliger
nur mit einiger Wahrscheinlichkeit. Die erhaltenen Kristalle sind
chemisch nicht von einheitlichem Charakter. Die Abwesenheit
der Cammidgeschen Reaktion bei karzinomatösen Prozessen der
Bauchhöhle spricht gegen Karzinom des Pankreas.
A. S. Man ui 1 o w- Nowotscherkask : Diagnose der
primären malignen Pankreastumoren.
Am häufigsten wild der Pankreaskopf befallen. Für die
klinische Beurteilung sind folgende Momente vor allem wichtig :
völlige oder partielle Unterbrechung der externen Sekretion der
Drüse, Mitbeteiligung anderer Abdominalorgane (Leber, Darm¬
trakt), hämorrhagische Diathese, Herzveränderungen, Stoffwechsel¬
störungen, Metastasen.
M. M. Wolkow - St. Petersburg : Ein Fall von Pan¬
kreasnekrose.
Das klinische Bild erinnerte sehr an Gallensteineinklemmung.
W. P. 0 b r a s t z o vv - Kiew : Zur Diagnose der
Treitzschen Hernie.
In dem vom Vortragenden beschriebenen Falle traten die
ersten Symptome nach Heben einer Last auf. Nach einem Jahre
deutliche Geschwulst im Abdomen (mannskopfgroß). Die Ope¬
ration bestätigte die Diagnose. Exitus infolge Perforationsperitonitis.
W. N. M i c h a i 1 o w -Kiew : Zur Frage der klinisch
bestimmbaren Symptome von Pankreasaffektion
bei verschiedenen Lebererkrankungen.
Mittels des Boldyrewschen Fett-Frühstücks ist es
möglich, die sekretorische Funktion des Pankreas zu prüfen.
Dasselbe gibt nur bei starker Verminderung der äußeren Sekretion
des Pankreas klinisch verwertbare Anhaltspunkte. Bei Leberaffek¬
tionen ist das Pankreas meist mitbeteiligt. Bei Leberzirrhosen
pflegt die Pankreassekretion infolge indurativer Pankreatitis meist
sehr herabgesetzt oder ganz aufgehoben zu sein. Der sogenannten
katarrhalische Ikterus ist manchmal auf katarrhalische Pankrea¬
titis zurückzuführen.
J. Schütz- Marienbad : Ueber erhöhte Azidität
des Mageninhaltes und ihre diagnostische Be¬
deutung.
G54
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 18
Vortragender macht neuerdings auf den wichtigen Unter¬
schied zwischen prozentualem und absolutem HChGehalt des
Mageninhalts aufmerksam und führt aus, daß diese beiden Größen
häutig nicht parallel gehen. Auf Grund angeführter klinischer
Daten ergibt sich, daß nur der absolute HCl-Gehalt für die
Entscheidung, ob Sekretionsstörungen vorliegen oder nicht, ma߬
gebend sein kann. Fälle mit hohem absoluten HCl-Gehalt
erwiesen sich fast stets als Ulkus oder Ulkusnarbe.
F. F. Holzinger-St. Petersburg : Ueber das zahlen¬
mäßig e Verhältnis der Summe der Erkrankungen
der Atmung s- und Verdauungsorgane zur all¬
gemeinen Morbidität und über die Stabilität,
sowie Gesetzmäßigkeit dieses Verhältnisses.
Der Koeffizient für die Erkrankung der Atmungsorgane in der
russischen, deutschen, österreichischen und preußischen Statistik
bleibt konstant : 15 — 16% der allgemeinen Morbidität, der Koeffizient
für die Affektionen der Verdauungsorgane beträgt ca. 10%. Die
Zahlen sind als Pauschalzahlen für die gemischte Bevölkerung
jenseits des fünften Lebensjahres anzusehen.
M. M. W o 1 k o w - St. Petersburg : Beobachtungen bei
akutem Morbus B r i g h t i .
Vortragender sieht den akuten Morbus Brighti für eine
Infektionskrankheit an. Dafür spricht unter anderem der zyklische
Verlauf und der Umstand, daß die Krankheit oft kritisch abschließt.
A. 0. Ignatowskij - Odessa : Zur Frage der hämo¬
lytischen (acholischen) Gelbsuchtformen.
An der Hand einer Krankendemonstration entwickelt Vor¬
tragender die Pathologie und das klinische Bild der hämolytischen
Gelbsucht, welche in den beiden von ihm beobachteten Fällen
einen benignen Verlauf zeigte.
N. J. S s o b o 1 e w - St. Petersburg : Gas- und Wärme¬
wechsel bei Gesunden hei Bädern verschiedener
T e m pe-ratu r.
Ein Parallelismus findet nicht statt. Die Kälte verlangsamt
die Oxydationsprozesse.
G. .T. Gurjevit sch - Warschau : H i s t o 1 o g i s c h e S tr uk-
tur der chronisch entzündeten Leber.
J. P. Schapowalenko-St. Petersburg : Ueber nega¬
tiven Druck in der Brusthöhle.
Vortragender macht auf die große Bedeutung des negativen
Druckes in der Brusthöhle für den Blutkreislauf aufmerksam.
M. J. Breitmann - St. Petersburg : Indikationen
und Kontraindikationen desSalvarsans bei Herz-
k rankheiten.
M. J. P e w s n e r - Moskau : Ueber Diagnose und
Therapie des Ulcus duodeni.
Die Symptomatologie des unkomplizierten Ulcus duodeni
war bis jetzt wenig bekannt. Bei Fällen von unerklärlicher
Schwäche, Blässe etc. hei Kindern und Adoleszenten muß an
die Möglichkeit eines Duodenalulkus gedacht werden. Für Ulcus
duodeni sprechen unter anderem : Schmerzen in der rechten
Oberbauchgegend 2 bis 4 Stunden nach Aufnahme der Nahrung,
unabhängig von der Qualität der letzteren und unmittelbar nach
Aufnahme von Speisen oder Getränken sistierend. Charakteristisch
ist das Vorhandensein von Hyperaziditäts b e s c h w e r d e n,
ohne erhöhte Azidität des Mageninhaltes. Auch bei fortgeschrittenen
Fällen können die Schmerzen inkonstant sein. Die Schmerzen
erinnern ihrem Charakter nach an die gastrischen Krisen und
könnten daher „Crises ulceroduodenales“ genannt werden. Die
sekretorische Funktion des Magens kann normal, verstärkt oder
abgeschwächt sein. Den Anfällen können nervöse Störungen,
Erkältung oder Ueberinüdung vorausgehen; bei Frauen treten
die Schmerzen manchmal vor den Menses auf. Die Abwesenheit
von Blut im Stuhl schließt Ulcus duodeni nicht aus. Die Therapie
besteht bei Frühdiagnose in diätetischer Behandlung und nur bei
komplizierten Fällen in operativem Eingriff.
Th. Th. Hausmann - Tula : Ueber Behandlungvon
Syphilis des Magens mit „606“.
An der Hand eines demonstrierten Falles entwickelt Vor¬
tragender die Krankengeschichte desselben. Es handelte sich um
eine Geschwulst in der Magengegend bei positiver W a s s er¬
mann scher Reaktion. Vortragender diagnostizierte Lues des
Magens. Durch Salvarsanbehandlung ließ sich ein Zurückgehen
der Geschwulst erzielen.
S. S. S i mniz k i j - Kasan : Zur Frage der Sero¬
therapie der kruppösen Pneumonie.
Vortr. sah in 50 Fällen gute Erfolge von subkutaner In¬
jektion (10 bis 40 cm3 unter die Bauchhaut) monovalenten Serums.
Das Serum war nach der Methode von Ssawtschenko be¬
reitet worden. Vortr. schreibt dem Serum sowohl antitoxische
als auch bakteriotrope Eigenschaften zu.
A. M. Le win- St. Petersburg: Ueber Mo not her mL
bei kruppöser Pneumonie.
Während die Temperaturkurve des Gesunden eine physic
logische Hebung und Senkung aufweist, fehlt dieses Charakteristik^
bei manchen Leuten, welche eine kruppöse Pneumonie übe:
standen haben. Diese „Monothermie“ beobachtete Vortr. voi
120 Fällen in 15%. Ohne die Erscheinung völlig erklären zu können
hält er Pneumoniepatienten, so lange sie Monothermie zeigen
für
h ä 1
k u
nicht völlig genesen.
A. J. S te r n b e r g - St. Petersburg: Ueber das Vei
t n i s entzündlicher Hautbildungenzum Tuber
i n.
Wird in einen dermatitisch affizierten Hautbezirk Tubei
kulin injiziert, so tritt keine spezifische Reaktion auf, währem
sie von normalen Häutbezirken aus prompt ausgelöst wird. Is
die Hautaffektion spezifischer Natur, so hat die Reaktion stürm!
sehen Charakter.
L. S. Schernwal- St. Petersburg: Ueber t her mi sein
Wirkung von Hochfrequenzströmen.
D. M. Gortscherenko - Moskau : Ionoelektrischi
Theorie in ihrer medizinischen Anwendung.
W. W. G o m o 1 i t z k i j - St. Petersburg : Ueber den Ei n
fluß der Körperlage auf die Diurese.
N. W. Georgijewskij-St, Petersburg : Hydro
t h e r a p i e bei Lungentuberkulose.
Die Tuberkulintherapie befindet sich noch im Stadium del
Entwicklung angesichts des Mangels eines strengen Systems um
infolge der Vielgestaltigkeit der Tuberkulinpräparate.
Die Hydrotherapie ist ein Hilfsmittel für den Organisinu,
bei Bereitung seiner natürlichen Schutzkräfte gegen die zei
störenden Kräfte des Tuberkelbazillus. Als richtiger Indikato
für das Zerstörungswerk seitens der Bazillen dient das Fiebei
dessen Kurve derjenigen des Typhus im amphibolen Stadinn
ähnelt. Vortr. zeigt an Krankengeschichten von ihm beobachtete
Fälle die günstige Wirkung allmählich abgekühlter Bäder bej
Lungentuberkulosen.
A. W. R o s c h d e s t w e n s k i j - St. Petersburg : Z u
Frage der Bestimmung fest gebundener Kohlen
säure in Flüssigkeiten.
Demonstration eines Apparates zwecks genauer und gleich
zeitig einfacher Bestimmung.
Programm
der am
Freitag den 5. Mai 1911, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Prof. Dr. S. Exner stattfindende
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Priv.-Doz. Dr. Hans Salzer: Ueber Blinddarmentzündung beii
Kinde.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Robert Breuer, K. Uli
mann, A. Kronfeld, F. Dimmer, v. Fürth.
Um die rechtzeitige Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglicher
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkunge
dem Schriftführer nocli am Sitzungsabend zu übergeben.
B e r g m e i s t e r, P a 1 1 a u f.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Einladung zu der am 9. Mai 1911 im Hörsaal der Klinik llofra
v. Wagner (Zugang durch die Borschkegasse, alte Landesirrenanstalt
abends 7 Uhr, stattfmdenden Jahresversammlung.
1. Administrative Sitzung.
2. Demonstration: Assistent Dr. Pötzl.
3. Vortrag Priv.-Doz. Dr. A. Fachs: Analogien im KrankheitsbiU
des Ergotismus und der Tetanie.
Prof. Dr. R a i m a n n, Schriftführer. ,
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Dienstag den 9. Mai 1911, im Hörsaale der
II. Univ. -Frauenklinik. Beginn: Punkt 7 Uhr abends.
Programm:
1. Diskussion zum Vortrage von H. V. Klein: Die puerperal
und postoperative Thrombose und Embolie.
2. Vortrag. Hans Hermann Schmid: Appendizitis und Graviditäl
K r 0 p h, Schriftführer. Wertbeim, Vorsitzender.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Knhusta. Verlag von Wilhelm Branmüller in Wien.
Ihuck ton Hmnc KarteJt. Wien XVIII., Theresiengaajm !!
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0. Chian, F. Dimmer, V R. '- Ebner. S. Exner. E. finger. M. Gruber, F. Hochstetten, A. Kolisko. H. Meyer J Moeller K , Noorden
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schettenfrolt. F. Scheute, j. Tandler. 0. Tollt. J. ».Wagner. E. Werthelm
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs, Julius Hochenegg. Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser.
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg. Wien, II. Mai 1911 nTTijT
INHALT:
1. Originalartikel: 1. Aus der I. Universitäts-Frauenklinik in Wien.
(Vorstand: 'Hofrat Schauta.) Zur Pathologie und Klinik des
malignen Chorioepithelioms. Yon Priv.-Doz. Dr. F. Hi t sch¬
ul a n n und Dr. Robert Cristofoletti. S. 655.
2. Aus der medizinischen Klinik in Florenz. Ueber vertebrale und
linksseitige paravertebrale Leberdämpfung. Von Professor
P. Grocco, Direktor der Klinik. S. 667.
3. Aus der dermatologischen Klinik der k. k. Universität Innsbruck.
(Vorstand: Prof. Merk.) Koinzidenz von Herpes zoster und
Psoriasis vulgaris. Von Dr. Georg Gjorgjevic, Assistenten
der Klinik. S. 669.
4. Lichtschädigungen der Haut und Lichtschutzmittel. Von Privat¬
dozent Dr. Leopold Freund in Wien. S. 670.
5. Aus der II. mediz. Universitätsklinik in Wien. (Vorstand:
Hofrat v. Neusser.) Zur Technik der Venaepunktion und intra¬
venösen Infusion. Von Dr. Richard Bauer, Assistenten der
Klinik. S. 673.
11. Referate: Culture in vitro des cellules cancereuses. Par Marie
Bra. Leucopathies metastases, albuminuries et icteres leuco-
pathiques. Par le Dr. Emile Feuillie. Die bösartigen Ge¬
schwülste. Von Prof. Dr. Carl Lewin. Recherches experi¬
mentales sur les tumeurs malignes. Par le docteur Jean Cl u net.
Vorlesungen über Infektion und Immunität. Von Dr. Th Paul
Mulle r. Memorias do Instituto Oswaldo Cruz. Erkältung als
Krankheitsursache. Von Dr. Karl Chodounsky. Luftzug
atmosphärische, klimatische Einflüsse und die Erkältung. Von
Dr. B. Ernst. Das Radium in der Biologie und Medizin. Von
Prof. P. S. London. Hämolysine, Zytotoxine und Präzipitine.
Von Prof. Dr. A. v. Wassermann. Die Immunitätswissenschaft.
Von Dr. Hans Much. Die experimentelle Chemotherapie der
Spii illosen. Von Paul Ehrlich und S. Hata. Jahresbericht
über die Ergebnisse der Immunitätsforschung. Von Dr. Wolfgang
Weichardt. Ueber Anaphylaxie (Ueberempfindlichkeit) im
Lichte moderner eiweißchemischer Betrachtungsweisen. Von
Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Weichardt. Die übertragbare Genick¬
starre. Von Prof. Dr. Otto Busse. Ref. : Joannovics.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Aus der I. Universitäts-Frauenklinik in Wien.
(Vorstand: Hofrat Schauta.)
Zur Pathologie und Klinik des malignen Chorio¬
epithelioms.
Von Priv.-Doz. Dr. F, Hitschmanu und Dr. Robert Cristofoletti.
I.
Die Geschichte des: malignen Chorioepithelioms ist noch
jung, aber reich an Ueberraschungen jeglicher Art; 21 Jahre
sind es her, daß Sänger den ersten Fall beschrieb und
als Deziduom deutete. Bald kamen andere Beobachtungen,
jeder deutete seinen Fäll anders, bis March and mit
seinen beiden klassischen Arbeiten die feste pathologisch-
anatomische Basis schuf.
Heute herrscht in der pathologischen Anatomie des
malignen Chorioepithelioms unter allen Autoren Einigkeit,
alle abweichenden Ansichten sind der herrschenden Lehre
Marchands gewichen. Im ganzen und großen haben wir
<“s wenigstens nach der histogenetischen Seit© mit einer
abgeschlossenen, wohl fundierten Lehre zu tun.
Aber kaum war man durch die Marchand sehen Ar¬
beiten zu einem gewissen Abschluß gelangt, als neue kli¬
nische Beobachtungen von eminenter Bedeutung auf-
auchten, die uns die größte Ueberraschung brachten. Es
'varen dies Fälle von „gutartigem Chorioepithe-
i o m.
Bis dahin war mit der Diagnose des malignen Chorio-
“Pithelioms der Inbegriff der Bösartigkeit gegeben; nun ge¬
lten alle unsere klinischen Begriffe ins Wanken, zumal
s'ch, wie wir gleich vorwegnehmen wollen, diese gutartigen
I älle anatomisch in gar nichts von den bösartigen unter¬
scheiden.
Damit verschoben sich aber auch manche anatomi¬
schen Begriffe; zwar blieb die ganze Marc hand sehe
Lehre unberührt, aber die an und für sich unsichere ana¬
tomische Fixierung der Malignität wurde noch schwieriger
und entsprechend dieser zunehmenden Unsicherheit wird die
Definition der Malignität jetzt so weit gefaßt, daß
sie jede praktische Bedeutung verliert. Hatte es früher ge¬
nügt, bei vorangegangener Schwangerschaft das Vorhanden¬
sein eines uterinen Tumors, der aus fötalen Zellen aufge¬
baut war, zu konstatieren, um alle Konsequenzen auch be¬
züglich der Prognose daraus abzuleiten, so erklärt jetzt
Veit, daß anatomisch die Malignität erst dann mit Sicher¬
heit^ gegeben ist, wenn Metastasen von dieser Geschwulst
in Feilen bestehen, in die sie durch den Vorgang der Ver¬
schleppung nicht hineingelangen können. Maligne ist nach
Veit das Chorioepitlieliom erst dann, wenn außerhalb des
Uterus und der paravaginalen Venen sich Metastasen durch
neues Wachstum des Chorioepithelioms bilden.
Und doch ist diese Definition nur der Ausdruck un¬
serer Verlegenheit; sie zeigt nur an, daß pathologische Ana¬
tomie und klinischer Verlauf sich nicht mehr decken. Das
geht so weit, daß wir am Krankenbette nicht
mehr zu sagen vermögen, ob es sich um eine
spontane B ü c k b i 1 d u n g oder um einen schran¬
kenlos bösartigen Verlauf handeln wird. An
diesem Zustande wird au ch in der Regel durch
die mikroskopische Untersuchung des Tu¬
mors nichts geändert, so d a ß w i r bis jetzt für
WIENEU KLINISCHE WUCHENSCliUlET. U)il.
Nr. 19
65(5
die Beurteilung der Malignität des Tumors ^
gar keinen sicheren Anhaltspunkt besitzen.
Dies war aber nicht immer der Fall. Ursprünglich 1
wurde das maligne Chorioepitheliom für den bösartigsten
Tumor gehalten und auch heute noch wird diese Auffassung
von vielen, wenn nicht den meisten, Autoren geteilt. Da- (
mals war mit der Diagnose auch die bestimmte Prognose |
gegeben. Es ist gar keine Frage, daß viele Fälle derartig .
stürmisch verlaufen, daß sie in wenigen Wochen zum Tode
führen und daßi Rezidiven, resp. Metastasen, förmlich unter ,
unseren Augen wie Pilze emporschießen. Es prägen sich ;
naturgemäß solche f älle dem Gedächtnisse so fest ein, daß
die günstiger verlaufenden Fälle in der Erinnerung ver¬
blassen.
Je kleiner die Erfahrungen der Allgemeinheit und damit
natürlich auch des Einzelnen waren, desto pessimistischer ;
lautete das Urteil; leicht begreiflich, daß die Autoren aus !
früherer Zeit die ungünstigsten Prognosen stellten.
Die ersten fünf von |S ä n g e r als Sarcoma de-
ciduocellulare anerkannten Fälle endigten alle sechs bis
sieben Monate nach dem Abortus, resp. Partus letal; es
waren dies nicht operierte Fälle.
Noch i m Jahre 1896 konnte A p f e 1 s t a e d t
schreiben, daß die Therapie gegen diese bösartigste
aller bisher bekannten Neubildungen absolut ohnmächtig sei.
Aber schon ein Jahr später, 1897, berichtet
Eiermann über zahlreiche Heilerfolge.
Polano (1902) nimmt bereits 50% Dauerheilungen an.
Teacher (1903) gibt gar das Heilungsprozent mit
63-3% an. Doch beruht diese Angabe auf einem Irrtum.
Diese ungeheure Wandlung der Ansichten, von der
Annahme, daß jede Therapie gegen das maligne Chorio¬
epitheliom ohnmächtig sei bis zur Angabe Polano s und
Teachers von 50, resp. 63% Dauerheilungen, vollzieht
sich in einem Zeiträume von sechs Jahren, ein Zeichen der
ungeheuren Arbeitsleistung.
Wenn auch die Zahlen Polano s nicht auf ihre
Richtigkeit geprüft werden können und die Zahlen
Teachers richtiggestellt werden müssen, so ist doch heute
nicht mehr daran zu .zweifeln, daß die Zahl der operativ
geheilten f älle eine viel größere ist, als man anfangs zu
hoffen wagte. 'Wir kennen auch heute Fälle, die nicht radikal
operiert wurden, wo notgedrungen Tumormassen zurück¬
gelassen werden mußten und in denen dennoch Heilung
eintrat. Es sind ferner Fälle aus der Literatur bekannt, in
denen Erscheinungen der Lunge, die nur als Metastasen
gedeutet werden konnten, wieder zurückgingen.
Aber erst die letzte Zeit brachte die größte Ueber-
raschung. Nicht nur, daß ektopische chorioepitheliale Tu¬
moren der Vagina durch einfache Exzision zur Heilung ge¬
bracht wurden, wir und andere sahen maligne Chorioepi-
theliome, selbst solche, die schon Metastasen in die Vagina
gesetzt hatten, sich spontan und dauernd zurück bilden.
Solche Fälle gibt es bereits eine kleine Reihe und
wir selbst berichten später über einen solchen genau beob¬
achteten, klassischen fäll.
Wir sehen also im klinischen Bilde die
denkbar größten G e g ens ä tz e, von de m stur m i-
schesten, bösartigsten Verlaufe bis zur spon¬
tane n und dauernd e n R ü c k b i 1 d u n g.
Dieser widerspruchsvolle, ganz unberechenbare- Ver¬
lauf stellte uns vor neue Aufgaben.
Uns fesselte vor allem die Frage, warum der klinische
Verlauf speziell der operierten Fälle sich so verschieden
gestaltete, oder mit anderen Worten, was wohl die Ursache
der besonderen Malignität einzelner Fälle ist, nämlich die
Ueberseb wcmmung des Organismus mit Tumormassen und
wie sic sich verhindern lasse. Auch die spontane Rück¬
bildung gehört in den Kreis unserer Beobachtungen.
Aber allen Fragen geht wohl die voran, ob ein anatomi¬
scher Unterschied zwischen den gut- und bösartigen Fällen
besteht; ihre Entscheidung ist die Voraussetzung für jeden
weiteren forts ch r i 1 1 .
Bis zu den Beobachtungen von P i c k und Schlagen
häuf er war die Malignität der chorioepitlielialen Tumorei
überhaupt nicht fraglich gewesen, hier lernen wir zum erstei
Male „gutartige Fälle“ kennen.
Beide Beobachtungen haben sehr viel Aehnlichkeit
in beiden Fällen handelt es sich um vaginale Tumoren
der Uterus im f alle Pick enthielt eine Blasenmole, im Fall»
Schlagenhau fe'r war ein Abortus vorangegangen, abe
in beiden Fällen war der Uterus frei von Tumor ; die Kranket
blieben nach Entfernung des vaginalen Tumors vollkommei
gesund. Aber die Deutung, die beide Fälle finden, ist ein»
ganz verschiedene.
Pick will den vaginalen Tumor trotz seiner histo
logischen Identität mit einem typischen Chorioepilhclion
gar nicht als ein solches anerkennen; er hält den vaginalei
Tumor für die Metastase einer gutartigen Blasenmol»'
Keineswegs sei etwa die Bildung von Metastasen in Forn
von Zottenverschleppung von der Plazenta- oder Blasenmol
aus ein Zeichen der Malignität.
Maßgebend für diese Deutung Picks war de
Umstand, daß die Frau nach Entfernung des vaginale«
Tumors gesund blieb, was vollständig unvereinbar mi
der bekannten Bösartigkeit des Chorioepithelioms war um
I dann der Umstand, daßi die in situ befindliche ßlasenmol
| kein Zeichen einer Tumorbildung aufwies.
Heute müssen wir den Fall Picks als typisches vag
i nales Chorioepitheliom ansehen: daß die Blasenmole kein»'
Tumor im Uterus bildete, daß insbesonders die Frau g»
: sundete, ist heute mit dem Wesen des malignen Chord
' epithelioms nicht mehr unvereinbar.
Anders Schlagenhaufer; er erkennt seinen Fa ;
j als Chorioepitheliom an. Aber auch dieser Fall war durc
einfache Exzision m Heilung übergegangen!
Da dies einerseits im Gegensätze zu der allgemeine
Anschauung über die Bösartigkeit dieses Tumors stanc
anderseits histologische Differenzen, wie Schlagei
häuf er sofort, klaren Auges erkannte, gegenüber den typ
scheu Tumoren nicht bestanden, s o g e 1 a n g t e S c h 1 a g e i
h a u f e r d a hin, zwei klinische Formen diese
G eschwuls t arizune h m e n. Die ein e, u n g e in e i
bösartig, überschwemmt rasch den 0 r g a n i ;i
in us mit Geschwulstkeime n.
Die zweite For m is t von Haus aus benign
u n d w i r d durch Schlag enhaufers B e o b a c 1
t u n g repräsentiert.
Also bei gleichem histologischen Bau
eine benigne und eine maligne Form des 0 h »
rioepithelioms.
Eine andere Erklärung für die „Benignität“ ga
Schmit an der Hand einer Beobachtung aus der Klixii
Schauta. Hier handelte es sich um einen primären v
ginalen Tumor, dessen Trägerin durch Exzision des Tumoi
gesundete. Es war ein typisches malignes Chorioepitheliouj
Er zeigte, daß der günstige klinische Verlauf, d»|
Sch läge n häuf er zu der Annahme eines benignen Chj
rioepithelioms geführt hatle, darin seine Erklärung finde, da
' der vaginale Tumor zum großen Teile aus Koagulis bc[
! stehe, die »leu eigentlichen winzigen Tumor einschließej
umwallen. Dadurch werde der eigentliche Tumor nicht, m
von der gesunden Umgebung abgegrenzt, sondern dun
seine Lage und die Blutungen zu einer sehr frühen Z»
diagnostiziert, und damit Gelegenheit zu einer radikal»
Heilung geboten. Risl widerspricht dieser Erklärung dur»
Umwallung, macht aber die anderen Argumente Schaut,
[ S c h m i t s zu seinen eigenen.
Schon die nächsten Beobachtungen (S cbm or
Hübel, Peters, Lindfors u. a.) zeigten, daß die p»
mären, vaginalen Tumoren den uterinen an Bösarligk»
; nicht nachstelien, wenn die oben geschilderten Zustänc
! nicht zutreffen.
Nr. i'J
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1U11
Aber die Frage, ob die Gut- oder Bösartigkeit der
Fälle auf anatomische Unterschiede zurückzuführen ist, ver¬
schwindet nicht mehr von der Tagesordnung und es wird
die Diskussion darüber bis zur Stunde weitergeführt. Ge¬
rade in der letzten Zeit hat diese Frage, als wir spontane
Heilungen von malignem Chorioepitheliom kennen lernten,
an Wichtigkeit noch gewonnen.
Wir lassen die Ansichten der bedeutendsten Autoren
über diese Frage hier kurz folgen.
Schlagenhauf er hatte schon in seiner ersten Pu¬
blikation erklärt, daß anatomische Unterschiede zwischen
gutartigen und bösartigen Formen nicht vorhanden sind.
Ebenso Marc hand und Aschoff.
Im selben Sinne, nur noch entschiedener, äußert sich
Hi s 1. „Was die Beurteilung der Malignität der ehorioepithe-
lialen Wucherungen in den anscheinend primären Scheiden-
tumoren sowohl, wie im Uterus anlangt, so müssen wir
daran festhalten (was übrigens Aschoff neuerdings noch¬
mals besonders hervorgehoben hat), daß, histologisch ein
Unterschied zwischen gutartiger und bösartiger Wucherung
nicht besteht.
Der Charakter des Tumors wird sich nur unter genauer
Berücksichtigung aller Nebenumstände des einzelnen F alles
beurteilen lassen; für eine sichere Entscheidung könne nur
ler weitere Verlauf maßgebend sein.“
Sehr interessant sind die Auseinandersetzungen Za-
rorianski-Kissels, auf die wir später noch zurück-
(ommen werden.
Mit Bezug auf die uns interessierende Frage erklärt
£agorianski-Kissel, daß eine rein histologische Dia-
mose der „unbedingten“ Bösartigkeit im nämlichen Sinne
vic beim Karzinom an chorioepithelialen Produkten, gleich¬
gültig welcher Lokalisation, nicht zu erheben ist. Zweitens,
laß die exakte Diagnose „bösartiges Chorioepitheliom“ für
■ine Geschwulst dieser Art weder auf Grund der Bildung
on Metastasen, noch der Destruktion seitens ehorialer Ge-
vebewucherung, sondern allein nach beendetem Ablauf des
alles gestellt werden kann.
Eine andere Stellung nimmt v. Franque ein. Er
»eschreibt Fälle von malignem Chorioepitheliom, die nach
weifacher Ausschabung, nach Ausräumung und Aetzung,
usheilten, sich coupieren ließen, v. F r a n q u e hält diese
alle für wirkliche Chorioepitheliome. Er betont, daß es
ich in diesen, wie in den meisten zweifelhaften Fällen um
as Bild eines atypischen Chorioepithelioms handelt,
r bringt damit die typischen Fälle in Gegensatz zu den
typischen, als ob damit klinisch verwertbare Unterschiede
ogeben wären. Hörmann lehnt diese Auffassung ab und
ir können uns' damit nur einverstanden erklären. Aber
rhon March and hat erklärt, daß, typische und atypische
ormen von gleicher oder annähernd gleicher Malignität zu
ein scheinen.
Die eben zitierten Anschauungen beziehen sich auf
relativ benigne“ Fälle, wo durch einfache Exzision Heilung
i zielt wurde, wo unvollständig operierte Fälle gesundeten
nä Metastasen zurückgingen.
Als dann später spontane dauernde ltückbildungen
es malignen Chorioepithelioms bekannt wurden, war na
1 rgemäß wieder der erste Gedanke, Stru kturu n terschied e
i suchen,
'Hörmann, einer der ersten Autoren, die über spön¬
ne Rückbildung berichten, ist der Ueberzeugung, daß der
egrifl der absoluten Malignität für das Chorioepilhelioiu
icht existiere, wie für das Sarkom und Karzinom und daß
u kein einziges sicheres histologisches Kriterium hiefür
filzen. Hör mann schließt sich der Ansicht der bereits
Werten Autoren, speziell Zagorianski-Kissel, an.
Auch Albrecht ist der Ueberzeugung, daß eine histo-
gische Differenzierung zwischen dem benignen und ma-
aa'u Chorioepitheliom nicht möglich ist.
Nur v. Velits glaubte anatomische Unterschiede ge-
n|len zu haben: „Das mikroskopische Bild der Spontan
“ilung offenbart sich in der sich herabsetzenden Vilaliläl
057
der Langhanszellen und in dem mit dem Schwunde derselben
in gerader Proportion stehenden Auftreten der die Auf¬
lösung des Synzytiums anzeigenden Wanderzellen, welche
die Degenerationsprodukte des in Zerfall begriffenen Chorio¬
epithelioms, sowie der Blasenmole sind.“
Doch fand v. Velits keine Anhänger für seine An¬
sichten; Hörmann weist sie ausdrücklich zurück.
Auch alle anderen Autoren, die über relativ gutartige
Fälle, über spontane Rückbildung des Tumors berichten,
kennen keinen anatomischen Unterschied zwischen gut- und
bösartigen Fallen.
Dasselbe gilt für unsere eigene Beobach¬
tung, eine spontane Rückbildung eines m a 1 i-
g n e n Chorioepithelio m s.
Wir hatten zum vergleichenden Studium das große
und vielseitige Material der Klinik Schauta herangezogen.
Auf der einen Seite stand uns der eben erwähnte Fall
mit spontaner Ausheilung und Fälle, die durch die Opera¬
tion geheilt wurden, zur Verfügung; auf der anderen Seite
Fälle vom bösartigsten Typus und auch solche, 'die spontan,
ohne Operation zugrunde gingen, kurz, ein umfassendes
Material, das uns erlaubte, alle strittigen Fragen zu be¬
rühren.
Für wichtig halten wir es, zu erwähnen, daß wir nicht
nur die Falle mit verschiedenem klinischen Ausgang mit¬
einander verglichen, sondern auch mit Nachdruck das phy¬
siologisch fötale Gewebe, den Trophoblast, heranzogen.
Die histologische Beschreibung findet sich bei den
einzelnen Beobachtungen. Flier wollen wir nur erklären,
daß auch wir anatomische Unterschiede zwischen gut- und
bösartigen Fällen zu konstatieren nicht in der Lage waren.
Daß es bei dem Mangel einer anatomischen Aufklärung
an anderen Versuchen nicht gemangelt hat, braucht kaum
erwähnt zu werden; aber alle Erklärungen sind hypotheti¬
scher Natur, ohne Nutzanwendung für den konkreten Fall.
Schon Schlage nhaufer hatte sich vorgestellt, daß
die Zeit, in welcher die Verschleppung von Geschwulst¬
keimen erfolge, von großer Bedeutung ist. Er nimmt an,
daß einerseits der mütterliche Organismus mil der Zeit eine
Art Angewöhnung an die Schwangerschaftsprodukte zeige,
anderseits die fötalen Zellen nach einer gewissen Zeit in
ihrer vitalen Energie erlahmen. Wenn nun die Verschlep¬
pung der Geschwulstkeime zu einer Zeit erfolge, wo das
eine oder andere Moment zutrifft, so gelangen die ver¬
schleppten Elemente eben nicht zur Entwicklung, das Ent¬
stehen der Metastasen wird vermieden.
Sehr interessant sind die Vorstellungen, die Zago¬
rianski-Kissel in seiner bereits erwähnten Arbeit ent¬
wickelt. Er geht von der Voraussetzung aus, daß die Ele¬
mente des Chorioepithelioms gegenüber den Eigenschaften
des normalen Chorioepithels ausschließlich quantitative
Differenzen zeigen. Für die bösartigen Eigenschaften des
Chorioepithels 'komme weniger ein veränderter Zellcharakter
oder die Neuerwerbung besonderer Eigenschaften, als viel¬
mehr eine Veränderung der geweblichen Umgebung, ein
Fortfall sonst vorhandener Schranken in Betracht.
F ürs_Gewöhnliche habe das Körpergewebe die Eigen¬
schaft, die über eine gewisse Schranke vordringenden Io der
embolisierten Epithelien aufzulösen oder unschädlich zu
machen.
Komme es nun für die Möglichkeit einer exzessiv de-
struktierenden Wucherung des Chorioepithels auf die ge¬
schädigte oder verloren gegangene Widerstandsfähigkeit der
l ; tngebung an, so sei es klar, daß in dem Momente, (wo
diese sich wieder herstellt, auch der chorialen EpitheL
wucherung ein Ziel gesetzt wird, das Chorioepithel im
Wachstum stille steht und nunmehr der Auflösung, der
spontanen Rückbildung verfällt, zumal wenn durch reich¬
liche Extravasate der eingeschlossenen Zellen das Nähr¬
material mehr oder weniger abgeschlossen ist.
Schmauch, Sch olten-Veit, führten diese Ge¬
danken, die die Annahme von Synzyliolysinen nahe legten,
658
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911. Nr. 19
näher aus; doch sind wir bis heute über Hypothesen nicht
hinausgekommen.
* 1 ;
Histologische Unterschiede sind aber
a u c h nach unserer Ueberzeugung ganz u n-
wahrscheinlich.
Es wird die Tatsache, daß wir zwischen
d e m physiol ogischeüfö tale n Gewebe und dem
pathologischen keinen sicheren morpholo¬
gischen und biologischen Unterschied kennen,
viel zu wenig betont und gewürdigt.
Je intensiver man sich speziell mit den
jüngsten Stadien der P 1 a z e n t a t i o n b e s c h ä i-
I i g t hat und dann das Chorioepitheliom zum
Vergleiche h e r a n z i e h t, um so mehr wird man
von derRichtigkeitdes Satzes durchdrungen,
daß es zwischen Tro p h o b 1 a s t u n d m a 1 i g n e m
Chorioepitheliom keinen wesentlichen Unter¬
schied gibt. Allerdings ältere Stadien der Plazenta darf
man zum Vergleich nicht heranziehen.
Wie sollen wir da Differenzen im Baue
der gut- und bösartigen fötalen Tumoren er¬
wart e n, w o w i r d o c h e i n e n p r i n z i p i e 1 1 e n U n ter¬
se h i e d zwischen dem Trophoblast u n d d e m
malignen Chorioepitheliom nicht kennen, viel¬
mehr alle diese fötalen Zellen ohne einen
durchgreifenden Unterschied dastehen!
Und in biologischer Beziehung? Auch kein Unter¬
schied. ■.
Denn alle Eigentümlichkeiten der Tumorzellen finden
wir bereits als integrierenden Funktionszusiand im Tropho¬
blast. Die enorme Wachstumsfähigkeit der fö¬
talen Zellen, die Zerstörung des mütterlichen Gewebes
zum Zwecke des Einbruches in die mütterlichen Gefäße,
finden wir hier wie dort, nur daß wir bei dem physiologi¬
schen Gewebe eine lokale und zeitliche Begrenzung haben.
Aber das Verhalten der fötalen Zellen zum
mütterlichen Gewebe selbst ist immer das¬
selbe. _ •
Die wichtigste Funktion des Trophoblastes ist die D e-
struktion des mütterlichen Gewebes, speziell die Aro-
sion der Gefäße. Das Verhalten des Trophoblastes zu den
mütterlichen Gefäßen ist ein geradezu elektives zu nennen.
Es werden an der normalen Nidationsstelle Kapillaren in
der Tube, sogar auch Venen, eröffnet. Dadurch kommt
das junge Eichen erst in Verbindung mit dem mütter¬
lichen Blute, der interviliöse Kreislauf wird gebildet, die
Ernährung des Eichens ist gesichert. Das ganze Eichen
sitzt in den mütterlichen Gefäßen und wird vom mütter¬
lichen Blute umspült.
Dasselbe konstatieren wir beim Chorioepitheliom, wir
finden dieselbe Destruktionsfähigkeit, dasselbe elektive Ver¬
halten der Zellen zum mütterlichen Blute, daher auch die
Ausbreitung fast ausschließlich auf dem Wege der Blut¬
bahn. Beide haben kein Stützgewebe, keine eigenen Ge¬
fäße, beide sind in ihrer Ernährung auf das zirkulierende
mütterliche Blut angewiesen. Beide Zellarten sind labil.
Auch M archand, Langhans, Durante weisen
auf die iknalogie zwischen den Bildern des Chorioepithe-
lioms und des ersten Entwicklungsstadiums der Plazenta hin.
Zagorianski-Kissel und R i s 1 führen dies näher aus.
Zwar werden von mancher Seite Unterschiede an¬
gegeben, so Kerndegeneration, Veränderungen im Synzy-
tium und andere, sie sind aber nicht mit Sicherheit verwert¬
bar. Sie sind von verschiedenen Momenten abhängig und
kommen ebenso oft bei Neubildungen wie ohne diese vor.
DiefötalenZellendesTrophoblastessind
also morphologisch und biologisch mit den
Zellen des malignen Chorioepithelioms iden¬
tisch!
D e m nach ist auch aus der Des tru k-
t i o n des mütterlichen Gewebes f ü r d i e Dia¬
gnose des Chorioepithelioms kein sicherer
/
Schluß zu ziehen, weil, wie wir schon beton1
haben, Destruktion des mütterlichen Gew<
bes die wichtigste Funktion des TrophobUj
s t e s ist.
Damit wird einerseits zur Genüge dargetan, daß w
anatomische Unterschiede im Baue dieser Tumoren bei k!
nisch ganz differentem Verlaufe nicht zu erwarten habei
andrerseits wird damit die Schwierigkeit enthüllt, die si<
der mikroskopischen Diagnose entgegenstellen kann.
Seil March and wissen wir, daß die Blasenmo
mit einer ganz bedeutenden Infiltration der Dezidua in
fötalen Zellen bis an die Muskulatur gewöhnlich einhe
geht und daß die Infiltration längere Zeit, ) bis secl
Wochen, bestehen kann. Auch bei Abortus bleibt
größere oder kleinere Mengen von Trophoblast einige Zc
im Uterus zurück; in erhöhtem Maße kann dies bei d
Hyperplasie und Persistenz des Trophoblastes geschehe
einem wichtigen Zustande des Trophoblastes, den wir glei<;
beschreiben werden. Kurz, wir wissen, daß einige Ze
nach Ausstoßung des Schwangerschaftsproduktes ein v<
schieden großer Reichtum an fötalen Zellen in der Schlei;
haut und den oberflächlichen Schichten der Muskulat
nachweisbar ist. Aber gerade in diese Zeit fällt in ein
bedeutenden Zahl von Fällen der Beginn der Erkrankui
Wenige Wochen nach der Geburt einer ‘ Blasenmc
treten zum Beispiel Blutungen auf, die den Verdacht a|
ein malignes Chorioepitheliom lenken. Die mikroskopisch
Untersuchung soll die Diagnose sicherstellen u. zw. si
wir in den meisten Fällen gezwungen, auf Grund von At
schabungen unser Urteil zu bilden.
Häufig liegt nur Schleimhaut zur Untersuchung v
wenn nicht ein Tumor vorhanden war und nur in selten
Fällen werden die so wichtigen tieferen Partien, die Mi
kulatur, mit herausbefördert, gewiß auch ein die Diagni
erschwerendes Moment. j?
Und als ob noch nicht genug Schwierigkeiten in t
mikroskopischen Diagnose vorhanden wären, müssen \
jetzt auch noch mit den Fällen von Litt au er, Al
feld, v. Franque usw. rechnen, in denen klinisch u
mikroskopisch wohl begründeter Verdacht auf ein maligr
Chorioepitheliom vorlag und bei denen eine spätere Unt
suchung oder Operation normale Verhältnisse im Uten
ergab.
Wir können in diesen Fällen, auf die wir noch spä
zurückkommen werden, nicht mit Sicherheit entscheid
ob wirklich ein malignes Chorioepitheliom vorlag oder nie
wenn ja, ob es spontan oder infolge Kürettage aushei
Leider sind wir nicht einmal in der Lage, aus sold
Fällen viel zu lernen, weil die klärende Entscheidung fe
und scheinbar ganz ähnliche Fälle einen ganz verscl
denen Ausgang nehmen, wie die Beobachtungen v
Blum r e i c h und K 1 i e n beweisen.
Es vereinigen sich tatsächlich zahlreiche Momert
welche die Unsicherheit in der mikroskopischen Diagnci
speziell der Ausschabung, begründen.
Es liegen, twie aus unseren Untersuchungen hervorge
ganz spezielle Verhältnisse beim malignen Chorioepitheli
vor, die es dringend erheischen, schon bei der ersten A-
schabung mit tunlichster Sicherheit die Diagnose zu stell
Der rasche Verlauf der Krankheit läßt aber ein langes
warten nicht zu, jeder Tag des Zuwartens erhöht die Geh
daß Metastasen sich bilden. Und dann stellt der Eing
der Kürettage selbst, den bisher wir alle für einen ha|
losen hielten, bei bestehendem Chorioepitheliom eine a -
gesprochene Gefahr dar, so daß eine zweite AJj
schabung wohl die Diagnose sicherstellt, aber eventuell ■'
Chancen der Operation vernichtet.
Die Schwierigkeiten zeigen sich praktisch darin, >-
bei vorhandenem klinischen Verdachte auf den inikrofcj<
pischen Befund hin Frauen operiert wurden und der
stirpierte Uterus sich als gesund erwies (v. franq1
Graefe). Im letzteren .Falle sprach sich Risl, ein kon ■
tenter Beurteiler, auf Grund des mikroskopischen Befun
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
659
auf das bestimmteste für ein Chorioepitheliom aus — und
der daraufhin exstirpierte Uterus zeigte keinerlei patholo¬
gische Veränderung. Das sind publizierte Fälle; wie vied
falle dieser Art nicht veröffentlicht wurden, läßt sich gar
nicht sagen. Auf der anderen Seite sind die Fälle gar
nicht so spärlich, in denen die Untersuchung der Ausscha¬
bung kein genügend scharfes Bild ergab und eine zweite
spätere Ausschabung notwendig machte. Die Diagnose
wurde jetzt sichergestellt, aber es war schon zu spät, Meta¬
stasen waren bereits vorhanden (A u s t e r 1 i t z, Buss e,
Freu nd).
Die Schwierigkeiten der mikroskopischen Diagnose,
besonders aus ausgeschabtem Materiale, wurden bald an¬
erkannt und namhafte Autoren schenkten dieser Frage ihr
Interesse. Hier feind vor allein Rüge, Pick, Asc h o f j f und
Krukenbe-rg zu nennen.
v. Franque hat zwei hieher gehörende Fälle mit¬
geteilt; den einen Fall haben wir schon erwähnt, in dem
klinische und mikroskopische Diagnose zur Operation
drängten und der exstirpierte Uterus sich dann als gesund
erwies. Auch im zweiten Falle bestand klinisch und mikro¬
skopisch Verdacht auf ein Chorioepitheliom; allein eine
zweite spätere Ausschabung zeigte normale Schleimhau t-
irerhältnisse. v. Franque betont, daßi der von verschie¬
den. Autoren geforderte Nachweis des Eindringens von
ötalen Elementen in die Muskulatur nichts beweise und
sagt: Fördert die Kürette längere Zeit nach der Entbindung
loschwulstmassen von typischem Baue und nur solche
uitage, so wird man an der Diagnose nicht zu zweifeln
»rauchen. Finden sich dagegen, namentlich kurze Zeit nach
ler Ausstoßung des Schwangerschaftsproduktes, noch Zotten
ind Deziduareste mit nur einzelnen gewucherten Partien
los Chorioepithelioms oder ganz atypische Bilder, wie die
»ben geschilderten, so muß man die Diagnose in suspenso
assen und nach einiger Zeit die Ausschabung wiederholen,
or allem aber ist, wie Aschoff betont, in verzweifelten
allen die _ klinische Beobachtung zu Hilfe zu ziehen.
Sehr interessant und lehrreich ist die Diskussion in
er Leipziger .gynäkologischen Gesellschaft, die sich an
en Vortrag L i 1 1 a u e r s anschloß.
Li 1 1 a u er hatte einen Fall vorgestellt, der klinisch
ad mikroskopisch für ein malignes Chorioepitheliom nach
'lasenmole sehr verdächtig war, es hatte schon ein Tumor
estanden und die Uteruswand war tief zerstört. Auf AI a r-
liands Rat, der es bei der anscheinend noch sehr be-
sh rankten Verbreitung des Prozesses für möglich hielt,
aß derselbe nach der gründlich ausgeführten Ausschabung
um Stillstand kommen könne, wurde von der Totalexstir-
alion abgesehen (und das weitere abgewartet. Die: Blutungen
Orten nach (der Ausschabung auf. Später trat ein schmutzig-
rauner Ausfluß auf, es- wurde eine zweite Ausschabung
'((’genommen, die durchaus normale Verhältnisse ergab!
R i s 1 vertrat in der Diskussion seine bereits zitierte
asicht, daß histologisch ein Unterschied zwischen gül¬
tiger und bösartiger Wucherung des Epithelüberzuges der
horionzotten nicht bestehe. Von der Epithelwucherung,
|(J man sie in der gewöhnlichen Blasenmole finde, zu
men malignen Charakters, seien die Uebergänge so
(eßend, daß; man aus dem mikroskopischen Bilde der Epi-
U proliferation ,an solchen ausgeschabten Chorion-
hen allein die Diagnose nicht stellen könne.
Bei der Entscheidung, ob im einzelnen Falle eine
■digno Wucherung bestehe, müsse neben dem mikrosko-
schen Befund das klinische Verhalten, vor allem der ina-
utopische Befund berücksichtigt werden.
Demgegenüber betont Menge, daß nach Risls An f-
ssung eine Indikation für die Operation überhaupt nicht
äglich sei, denn auch die klinischen Erscheinungen seien
wh dem Falle Littauers nicht mehr maßgebend. (M enge
özisiert seinen ^Standpunkt dahin, daß er sich hüten würde,
ll,,n Lterus zurückzulassen, aus welchem Finger oder Kü-
te na,,h vorausgegangener Blasenmole zusammen-
mgende Epithelkomplexe von durcheinander gewucherten
synzytialen und ektodermalen Zellen herausbefördert hätte,
besonders wenn die Austastung des Uterus nach Ausstoßung
der Blasenmole eine leere Höhle und späterhin neuge¬
wucherte Massen oder gar eine knotige Verdickung der
Wand ergeben hätte.
Rob. Meyer faßt seine Erfahrungen, insbesondere
mit Rücksicht auf die choriale Invasion in folgendem zu¬
sammen :
„So lange Plazentarreste vorhanden sind, genügt der
Nachweis hämorrhagischen und nekrotischen Gewebes, klein¬
zellige Infiltration, Langhanszellen innerhalb der Schleim¬
haut keineswegs, weil diese im Bilde der Plazentarretention
ebenfalls Vorkommen. Viel schwerwiegender ist der gleiche
Befund innerhalb der Muskulatur. Erst wenn man sicher
sein kann, daß alle Zottenreste entfernt sind, dann kann
man etwa binnen zwei bis drei Wochen auf den Untergang
der Chorionepithelien in der Muskulatur rechnen. Kommt
es auch nach dieser Zeit zur Ausstoßung verdächtiger
Massen, oder erbringt ein neues Kürettement den Nachweis
frischer Chorionepithelien, dann mögen sie geartet sein wie
immer sie wollen, dann sind sie bedenklich. Vorher aber
genügen die (großen einzelligen epithelialen und epitheloiden
Elemente wechselnder Form mit großen, klumpigen, klexigen
Kernen und die mehrkernigen Riesenzellen keineswegs zur
Diagnose auf maligne Neubildung, auch wenn sie in Reihen
und breiten Strängen auf Ire ten und die Gefäßwand ersetzen
und durchbrechen, da diese , choriale Invasion' ohne jede
maligne Neubildung vorkommt.“
V e i t schließt sich im ganzen und großen den Aus¬
führungen R. Meyers an, betont aber insbesondere die
Dignität des rezidivierenden Plazentarpolypen.
Risl faßt, die bis zum Jahre 1907 in dieser Frage
gemachten Erfahrungen zusammen und sagt: „Es ist nicht
zu leugnen, daß sich der Praktiker unter diesen Umständen
in einei äußerst schwierigen Lage befindet. Er kann, wie
Marclia n d in seiner letzten Publikation sagt, in ’ dem!
einen Falle dem Irrtum verfallen, daß er einein Uterus ohne
hinreichenden Grund entfernt, in anderen kann er durch
Hinausschieben der Operation das Leben der Patientin in
die giöß te Gefahr bringen. Man darf gewißi der Vis medicatrix
bis zu einer gewissen Grenze vertrauen und muß nament¬
lich in der Stellung einer infausten Prognose vorsichtig sein,
aber sonst darf man wohl dem Bate des praktischen Gynäko¬
logen folgen, in zweifelhaften Fällen den Prozeß lieber als
einen malignen anzusehen und dementsprechend zu handeln,
als durch längeres Beobachten den für die Operation gün¬
stigen Zeitpunkt zu versäumen (Polano, v. Franque)
auch auf die Gefahr hin, daß einmal unnötigerweise ein
gesunder Uterus entfernt wird (Lit tau er).“
Diese ganze Zusammenstellung zeigt, wie wenig exakt
die mikroskopische Diagnose des malignen Chorioepithe¬
lioms an ausgeschabtem Materiale ist. Und wenn doch in
der großen Mehrzahl der Fälle die richtige 'Diagnose gestellt
wird, so liegt dies daran, daß die typischen Fälle häufig
sind und daß wir durch die genaueren Kenntnisse der nor¬
malen und pathologischen Plazentation besser abschätzen
gelernt haben, was für und was gegen die Annahme eines
malignen Chorioepithelioms spricht. Aber in vielen Fällen
bleibt es doch eine Schätzung, keine exakte Diagnose.
Und deshalb sehen wir in der mikroskopischen ’Unter¬
suchung der Kürettage bei Verdacht auf ein Chorioepithe¬
liom nur ein unterstützendes, nicht das ausschlaggebende
Moment. Dieses liegt aber in der klinischen Untersuchung.
Man muß sich aber darüber klar sein, was man bei
Verdacht auf malignes Epitheliom durch die mikroskopische
Untersuchung der Ausschabung erreichen kann und man
muß immer daran festhalten, daß wir keine merkliche Diffe¬
renzierung zwischen den fötalen Zellen verschiedener Pro¬
venienz besitzen.
Wird bei der Kürettage nur Schleimhaut gewonnen,
so verlieren wir gleich eines der wertvollsten Momente für
die Diagnose, das ist die Beurteilung der Tiefe der De¬
struktion.
WIENER KLINISCHE .WOCHENSCHRIFT. 1011.
Nr. 19
GGO
Der Befund in der Schleimhaut selbst kann sich nun j
verschieden gestalten; oft findet man das ganze Bild he- j
herrscht von fötalen Zellen, die Langhanszellen in größeren
Gruppen, die synzytialen Zellen in zusammenhängenden,
größeren, verschieden gestalteten Protoplasmamassen. Eine
weitere Durchmusterung der Schnitte zeigt, daß das ganze
oder nahezu ganze ausgeschabte Material aus fötalen Zellen
besteht. Hier kann wohl kein Zweifel bestehen, daß es sich
um eine Neubildung handelt — typisches Chorioepitheliom.
Aber sowie dieser Verband fehlt, die fötalen Zellen
einzeln innerhalb der Schleimhaut auftreten, ist es um
unsere Sicherheit getan, auch wenn die Infiltration der
fötalen Zellen eine noch so dichte wäre. Wir selbst
(Hitschmann-F reu n d) und R. M a y e r, beschrieben
so dichtes Vorkommen von fötalen Zellen, daß die Dezidua-
z eilen förmlich verdeckt werden, ohne daß eine Neubildung
vorliegen würde.
Hier sind alle Möglichkeiten vorhanden, von dem iso¬
lierten Vorkommen der Wanderzellen bis zu dem dichtesten
Infiltrate; dabei sind Uebergänge von diesen zu den atypi¬
schen Formen der Neubildung so fließend, so allmählich,
daß die Entscheidung, was in dem einzelnen vorliegt, nur
eine subjektive sein kann.
Daher auch der Hinweis von v. F r a n qu e, K r u k e n-
berg, Mayer, Veit auf - Nebenumstände, die die Dia¬
gnose erleichtern sollen, so zum Beispiel das Vorhanden¬
sein von Zotten. Diese können uns doch nur vielleicht leb¬
hafter, als es sonst der Fall wäre, daran erinnern, daß erst
vor kurzem Schwangerschaftsprodukte ausgestoßen wurden.
Aber ein verdächtiger Befund bleibt in unseren Augen
verdächtig, wenn Zotten noch nachweisbar sind, denn
das Einsetzen der Epithelwuch'e'rung ist unabhängig vom
Vorhandensein des Zottenbindegewebes, ein organischer Zu¬
sammenhang zwischen den beiden besteht nicht. Beginnt
doch die zur Neubildung führende Epithelwucherung oft
genug zur Zeit, wo noch Zotten in der Schleimhaut vor¬
handen sind.
Auch die Dignität der proliferierenden Zellen wurde
verschieden beurteilt, je nachdem diese Zellen noch im Zu¬
sammenhang e mit den Zotten stehen oder nicht. Es wurde
in dem Loslösen der Zellen aus dem ursprünglichen Zu¬
sammenhänge mit eine Ursache für das schrankenlose
Wachstum gesehen und dementsprechend auch dieses Vor¬
kommen hoch angeschlagen. Doch hat March and selbst
entgegen seiner ursprünglichen Ansicht sich später dagegen
ausgesprochen (Risl).
Selbstverständlich ist es auch für die Diagnose nicht
gleichgültig, wie lange nach der Ausstoßung des iSchwanger-
schaftsproduktes die Kürette noch fötale Zellen zutage för¬
dert ; ein neuer Beweis, welche Rolle Nebenumstände in
der Verwertung des mikroskopischen Befundes spielen.
Ganz anders verhält sich die Sache, wenn tiefe Par-
den, speziell Muskulatur, zur Untersuchung vorliegt, weil
wir hier das wichtigste Moment für die Diagnose, die De¬
struktion, zu beurteilen vermögen.'
Das isolierte Vorkommen von synzytialen Elementen
in der Muskulatur ist schon lange bekannt und hat für die
Diagnose keinerlei Bedeutung. Aber die Destruktion der
tiefen Schleimhautschichte, insbesondere der Muskulatur,
halten wir diagnostisch für bedeutungsvoll.
Zwar ist die Destruktion der fötalen Zellen ein phy¬
siologischer Akt, es besteht das ganze erste Stadium der
Nidation aus Destruktionsvorgängen, aber diese sind zeitlich
und örtlich genau begrenzt, indem die Destruktion nur in
den ersten Wochen sich bemerkbar macht und sich in der
Regel auf die Decidua comp acta beschränkt, so daß an der
geborenen Plazenta noch immer ein Rest der Decidua com-
pacta erhalten bleibt.
In diesem Vertrauen in die diagnostische Bedeutung
der in die Tiefe greifenden Zerstörung werden wir aber
durch die folgende Beobachtung erschüttert. Sie ist prin¬
zipiell wichtig; sie zeigt uns, daß- die Invasion der fötalen
Zellen und die damit verbundene Destruktion des mütter¬
lichen Gewebes weit die normalen Grenzen überschreiten
könne, ohne daß eine maligne Neubildung vorliegen würde.
Anläßlich unserer (Hitschmann-Freund) Stu¬
dien über die Adhärenz der Plazenta konnten wir den zum
ersten Male von J. N e u m a n n erhobenen Befund, daß
eine Dezidua im ganzen Reiche der Plazenta fehle, als für
die Adhärenz der Plazenta pathognostisch erklären, lieber
die Ursache und Entstehungsart der Adhärenz waren nur
Vermutungen vorhanden, die von der Wirklichkeit weit ent¬
fernt waren, bis es uns an der (Hand der folgenden Beobach¬
tungen zu zeigen gelang, daß1 die Decidua serolina fehle,
weil sie von dem hypertrophischen und persistierenden
Trophoblast vernichtet wird.
Wir beschreiben in der erwähnten Arbeit ein Ei in I
situ — zufälliger Obduktionsbefund — aus dem Anfang
des vierten Monats, das durch folgenden • ungewohnten
Befund ausgezeichnet ist. _ _ - f
1 . Das Zerstörungswerk ist nicht auf die physiologische
Destruktion der Decidua compacta beschränkt, sondern die
Decidua serotina ist in ihrer ganzen Dicke, also mit Ein¬
schluß der Spongiosa, zerstört, ja die Infiltration geht auch
noch in die Muskulatur hinein.
2. Dieses Ei aus dem Anfang des vierten Monats wies
den Trophoblast noch in solchem Reichtum auf, wie man
ihn sonst nur bei ganz jungen Eichen findet, also zu einer
Zeit, wo er nur noch in Spuren vorhanden zu sein pflegt,
oder bereits ganz verschwunden ist.
Die infiltrierenden Zellen bringen die Deziduazellenj
zur Nekrose, sie vernichten die Drüsen, sie dringen in did
Gefäße und Muskulatur ein, an manchen Stellen in sd
dichten Zügen, daß leicht der Gedanke an ein Chorioepi
theliom entstehen könnte.
Wir nannten diesen Zustand Hyperplasie und
P e r s i s t e n z des Trophoblastes; er ist pathologisch
und von ernster Bedeutung für die Lösung der Plazenta, ei-
bedingt. die Adhärenz der Plazenta, stellt aber keine maligne
Neubildung dar. , “ j
Wir sind iaber überzeugt, daß, wenn wir in einem Falk
klinischen Verdacht auf ein Chorioepitheliom hegen würdeij
und diesen mikroskopischen Befund erhoben hätten, wb
darin eine sichere Bestätigung unseres Verdachtes geseheij
hätten. Man muß diese Veränderungen genau kennen, si<|
sind außerordentlich wichtig für das Verständnis der Pia:
zentaradhärenz, sie müssen genau gekannt werden, uni
Fehler in der Diagnose des malignen Chorioepithelioms zij
vermeiden.
Ein Jahr nach unserer wenig bekannt gewordener
Arbeit im Handbuche von Winkel wurde derselbe Proze
von R. Mayer als choriale Invasion beschrieben und vie;
beobachtet. . j
Wir finden groß-e Aehnlichkeit zwischen diesem Bcj
funde und dem von Marc hand für die Blasenmole all
pathognomonisch erklärten.
Schon daraus allein würde erhellen, welche grolij
Bedeutung die von uns beschriebene Veränderung für di
Diagnose des malignen Chorioepithelioms besitzt; allerding
sehen wir auch in der Hyperplasie und Persistenz de|
Trophoblastes das Verbindungsglied zwischen dem normale
Ei und dem Chorioepitheliom.
W ennwiralso zur Diagnose aus der Küro
tage zurückkehren, so e r g i b t sich, da ß w ij
n i c h t ei n mal aus der in die Tiefe, i n d i e M u I
k u 1 a t u r greifenden Des t r u k t i o n m it Sich e i
heil Schlüsse ziehen d-ü r f e n.
Wir sehen so, daß der mikroskopischen Diagnose au
küreliiertem Gewebe enge Grenzen gezogen- sind, daß- grob
| Vorsicht in 'der Verwertung solcher mikroskopischer Befund
; notwendig ist und daß eine umso größere Bedeutung d<
j klinischen Untersuchung zukommt. Und hier legen wir de
I größten Nachdruck auf die Austastung des Uterus, auf de
Nachweis eines Tumors, wie es bereits Sänger, Got
1 schal k, M enge, Zweifel, Risl empfohlen haben.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 19IL
661
Der Tumor kann ein chorioepilhelialer Tumor oder
ein Plazentarpolyp sein. 1st der Tumor nur aus fö¬
talen Epithelzellen aufgebaut, gleichgültig, oh die fö¬
talen Zellen in zusammenhängenden Komplexen oder in
infiltrierender form aui'treten, so ist die Diagnose ganz
sicher; fast eben so sicher ist der klinische Nachweis
der W andzerstörung. Daran ändern auch Fälle, wie der
von L i ttau e r 'beschriebene, nichts, der trotz Tumorbildung
und Wandzerstörung nach einer Kürettage ausheilte. Be¬
steht der Tumor aus retiniertem lebenden oder abgestor¬
benen Platzenlargewebe, so ist trotzdem eine genauere
Durchmusterung notwendig, da schon häufig unter diesem
bilde beginnende maligne Chorioepitheliome übersehen wer¬
den sind. Auch hier kann das Vorkommen von zirkum¬
skripten, epithelialen Haufen die Entscheidung schwer
machen, ob es sich um normale Trophoblastreste oder um
ueoplastische Epi diel Wucherung handelt.
Ist die Uterushöhle leer, die Schleimhaut glatt, so isl
die Situation viel schwieriger und wir verweisen auf das
bereits Gesagte. Das typische Chorioepitheliom werden wir
auch ohne Tumorbildung leicht erkennen, aber die Infil¬
tration mit isolierten Zellen läßt, mag sie noch so dicht,
sein und bis in die Muskulatur eindringen, keine exakte
Diagnose zu. Wir müssen dieses diagnostische Defizit eili¬
ges Lehen und abwarten, ob später die Diagnose mit großer
Sicherheit zu stellen sein wird. Fehlgriffe lassen sich nicht
ganz vermeiden, sei es daß man die klinischen Symptome
und den mikroskopischen Befund überschätzte, sei es, daß
man den richtigen Zeitpunkt zur Operation verpaßte. '
Aber alle Autoren sind einig, lieber einmal ohne die
voll gesicherte Diagnose zu operieren, als durch zu langes
Zuwarten auf die sichere Diagnose zu spät zur Operation
zu gelangen.
Wenn wir nun kurz resümieren, so kennen wir keine
anatomischen Unterschiede im Baue der chorioepithe-
üalen Tumoren, trotz des so differenten klinischen Ver¬
laufes, ja wir kennen nicht einmal sichere morphologische
Unterschiede zwischen Trophoblast und Chorioepitheliom.
Es ist also gerade bei fötalen Epithel-
w u cherungen die Grenze des mikroskopisch-
diagnostisch Erreichbaren früher gegeben,
als bei allen anderen W u c h e r u n g e n.
In dieser Erkenntnis wird von den besten Kennern
der anatomischen Verhältnisse, so von Marc hand, Risl,
Pick, der Klinik die Entscheidung, ob gut- oder bösartig,
überlassen. Aber auch die Klinik vermag heute nach den
Erfahrungen über die spontane Rückbildung der Tumoren
bei anscheinend schon verlorenen Fällen keine Entschei¬
dung mit voller Sicherheit zu treffen.
Wir sind der Ueberzeugung, daß bei zwei Fällen von
malignen Chorioepitheliomen unter ganz gleichen Verhält¬
nissen ein ganz verschiedener Ausgang möglich ist, wobei
die Ursache weder in dem Tumor, noch im mütterlichen
Organismus gelegen, sondern akzidenteller Natur ist.
Zu dieser Ueberzeugung sind wir auf Grund der Lite¬
ratur und des eigenen Studiums gelangt; sieizwingt uns, die
unfruchtbare Suche 'nach anatomischem Unterschied im Bau
der (verschiedenen) Tumoren aufzugeben und andere Wege
zu betreten, die einerseits die morphologische und biolo¬
gische Identität der Tumoren zur Voraussetzung haben und
anderseits die notwendigen Konsequenzen aus den be¬
kannten physiologischen Eigenschaften der fötalen Zellen
zu ziehen.
II.
Es ist gewiß bemerkenswert, daß die Klinik des ma¬
lignen Chorioepithelioms nicht gleichen Schritt mit der patho¬
logischen Anatomie gehalten hat. Es war die enorme, von
den Autoren geleistete Arbeit auf die Anatomie und Histo¬
genesis des Tumors gerichtet, die Klinik schien aber bereits
mil den Schilderungen der ersten Autoren erschöpft zu sein.
Es basieren aber diese Schilderungen auf den ersten sehr
schlimmen Erfahrungen; gingen doch die von Sänger als
Sarcoma deciduocellularo anerkannten fünf
und die bis 1895 (Schauta) operierten
alle letal.
Fälle zugrunde
Fälle endigten
Seitdem sind Jahre vergangen, die Zahl der Publi¬
kationen über das maligne Chorioepitheliom ist unüber¬
sehbar groß geworden. Spätere Erfahrungen über opera-
live Heilungen haben die Ansichten der ersten Autoren
über die Bösartigkeit dieses Tumors nicht bestätigt, viel¬
mehr liegen zahlreiche Berichte über erzielte Heilungen vor,
so daß es an der Zeit wäre, die Erfahrungen der einzelnen
zusammenzufassen und unser klinisches Wissen über das
maligne Chorioepitheliom zu revidieren. Leider ist dies in
exakter Weise nicht möglich, da das ganze Material in
roim von hunderten kasuistischen Mitteilungen nieder¬
gelegt ist.
Die einzelnen Mitteilungen selbst pflegen mehr die
pathologisch-anatomische als die klinische Seite des Falles.
Sehr viele Berichte sind ganz kurze Zeit nach der Opera¬
tion erschienen, res fehlen bis auf wenige seltene Ausnahmen
jegliche Mitteilung von Nachforschungen nach den ope¬
rierten Fällen, so daß wir hei einer Publizistik von über
400 Arbeiten über das maligne Chorioepitheliom nicht wis¬
sen, wie groß der Prozentsatz der geheilten Fälle ist, wann
wir einen Fall als geheilt betrachten dürfen usw.
Aber noch mehr ist zu verwundern, daß die so glän¬
zende anatomische Charakterisierung des malignen Chorio¬
epithelioms für die operativen Maßnahmen ganz unberück¬
sichtigt geblieben ist! Ueberall nur der Hinweis, das ma¬
ligne Chorioepitheliom sei wie das Uteruskarzinom zu ope¬
rieren, vaginal, seltener abdominal, als ob wir nicht gerade
heim Uteruskarzinom gelernt hätten, daß die Operations¬
methode nur von der Kenntnis der Ausbreitung des Tumors
diktiert werden dürfe. Und trotzdem allgemein bekannt ist,
daß die Ausbreitung des Karzinoms und des Chorioepithe¬
lioms eine ganz verschiedene ist, doch immer der Hinweis
auf das Karzinom. Fast überall wird die vaginale Total-
exstirpation empfohlen und geübt.
So schreibt Veit im Kapitel: „Therapie des Chorio¬
epithelioms“, in seinem Handbuche wörtlich: „Die Technik
lolgt sonst ganz der vaginalen Uterusexstirpation bei Kar¬
zinom und Myom Und es kann hier auf die oben gegebene
Darstellung verwiesen werden.“
Brenner schreibt: „Bei der Operation ist im all¬
gemeinen der vaginalen Methode der Vorzug zu geben,
wenn nicht Veränderungen der Adnexe oder des Para-
metriums den abdominalen Weg indizieren.“ Ebenso spre¬
chen sich aus P o 1 a n o, v. Wenzel, Schmi t u. a.
Tatsächlich wurden auch bei weitem die meisten
Fälle vaginal operiert; wo laparotomiert wurde, waren es
zum Teil ähnliche Indikationen wie die oben angeführten.
F ü r die meisten L a p a r o t o m ien 1 ä ß t s i c h aber
zeigen, . daß nicht eine bestimmte klare E r-
k e n n t n i s dafür 'maßgebend war, so n d ern i n
d e n m e i s t e n F ä 1 1 e n e i li e f a 1 s c h e D i a g n o s e o d e r
Blutungen unbekannter A e t i o 1 o g i e dazu v e r-
anlaßten. Nur C z y c z e w i c z empfiehlt die L a p a-
rotomie.
Aber niemand dachte daran, bei der 0 p e-
ration des malignen Chorioepithelioms d e r
Ausbreitung des Tumors Rechnung zu tragen.
Wie sehr die Sachlage noch heute verkannt wird, zeigt,
ein Vorschlag Krömers. Aus dem Umstande, daß auch
einmal die regionären Lymphdrüsen erkranken können, em¬
pfiehlt. K r ö m e r, die Freieren nach Art der W e r t h ei iri¬
schen Operation zu präparieren und die Lymphdrüsen aus¬
zuräumen !
Osterloh folgte dieser Anregung und machte in
seinem Falle die Laparotomie zum Zwecke der Drüsen¬
suche; ebenso Bauer und Sellheinr.
Sicherlich k ö n nen auch die r e g i o n ä ren
L y mphdrüse n, aber nur auf dem Wege derBlu t-
bahn erkranken. Genau so, wie der Blutstrom Tumor¬
massen in entfernte Organe verschleppt, können auch Tu-
662
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
morteile in regionäre Lymphdrüsen gelangen. Es fehlt aber
im Gegensatz zum Karzinom jede Prädisposition für die
Erkrankung der regionären Lymphdrüsen. Ja M a r-
chand führt z. B. die Erkrankung der Beckendrüsen, wie
sie im Ealle P a vi o t angegeben werden, neben anderen Um¬
ständen als Grund gegen die Einreihung dieses Falles als
Chorioepitheliom an. Die Metastasierung in die Lymph¬
drüsen ist gegenüber der in andere Organe eine' seltene und
wo sie vorkommt, kann sie ebensogut in den peribronchialen
wie in den regionären Lymphdrüsen Vorkommen. — Aus
der großen Reihe von Obduktionsbefunden, die wir zu¬
sammengestellt haben, geht hervor, daß die Erkrankung
der entfernter gelegenen Lymphdrüsen, speziell der peri¬
bronchialen ebenso häufig verzeichnet wird als die der
regionären Lymphdrüsen.
Ist aber der Gedanke, das anatomische
Verhalten des Tumors bei der Operation zu
berücksichtigen, nun einmal a u f g e t a u c h t, so
ist der weitere Weg jedermann klar vorge-
zeichnet.
Man braucht sich nur ganz naiv von den
anatomischenVorstellungen 1 e i t en z u lassen,
um sich a priori sagen zu müssen: beim ma¬
lignen Chorioepitheliom sitzen die Tumor¬
massen, ebenso wie die fötalen Zellen des
Trophoblastes in den mütterlichen Gefäße n
und zwar in den offenen Gefäßen mit zirku-
Heren dem Blute. Der Tumor selbst ist enorm
brüchig, ohne bindegewebiges Stützgewebe.
Es besteht also beim malignen Chorio¬
epitheliom vermöge seines Wachstums in den
offenen mütterlichen Gefäßen die größte Ge¬
fahr, daß durch jede grobe Manipulation E m-
b o 1 i e n en masse erzeugt werden. Eine solche
grobe Manipulation stellt nun jede Opera¬
tion dar.
Wenn wir nun bei einem Individuum sehen, daß
vor der Operation der lokale Tumor im Vordergrund
der Erscheinungen steht, daß bei genauer Untersuchung der
inneren Organe von Metastasen keine Spur vorhanden ist,
dagegen gleich nach der Operation Metastase auf Meta¬
stase erfolgt, der ganze Organismus förmlich mit
den Tumormassen überschwemmt wird und ein stür¬
mischer Verlauf rasch zum Tode führt, muß man sich da
nicht mit zwingender logischer Konsequenz sagen : hier
ist durch die Operation die Metastasierung
provoziert worden, hier ist die besondere Ma¬
lignität des Tumors eine artefiziell erzeugte!
Dieser Gedanke wurde bei uns zum erstenmal anläßlich
der folgenden Beobachtung ausgelöst:
K. B., aufgenornmen am 13. Januar 1901, gestorben am
am 12. Februar 1901.
Erste Periode mit 18 Jahren, regelmäßig, achttägig.
Zwei spontane Geburten am normalen Ende, eine Früh¬
geburt mit acht und ein Abortus mit drei Monaten.
Wochenbett afebril.
Letzte regelmäßige Periode Juli 1900. Die Periode im Monat.
August blieb aus. Im September trat eine Blutung auf, über deren
Natur sich die Patientin nicht im klaren ist, sie vermag speziell
nicht anzugeben, ob Eiteile abgingen. Seitdem Aviederholten sich
öfters Blutungen aus dem Genitale, ohne das Allgemeinbefinden
zu alterieren. Erst im Dezember trat eine stärkere Blutung auf,
welche die Patientin veranlaßte, die Klinik aufzusuchen.
Somatischer Befund: Kräftig gebaute Frau, in gutem
Kräftezustand, etwas blaß. Die inneren Organe, speziell die Lunge
zeigt bei genauer Untersuchung durchaus normale Verhältnisse.
Gynäkologischer Befund: Uterus kugelig, ungefähr
einer viermonatigen Schwangerschaft entsprechend. Zervix für
die Fingerkuppe durchgängig. In seinem oberen Anteile fühlt man
ein Stückchen weichen Gewebes, das in die Korpushöhle hinein¬
reicht und dort mit einem die Korpushöhle ausfüllenden, weichen,
unregelmäßig höckerigen Tumor in Verbindung steht.
Die Diagnose schwankt zwischen gestörter Schwangerschaft
und malignem Chorioepitheliom. Es wird daher ein Stückchen
digital entfernt und mikroskopisch untersucht.
Mikroskopische Diagnose: Chorioepithelioma malignum.
Operation am 18. Januar. Vaginale Totalexstirpation. Glatter
Verlauf der Operation, glatte Wundheilung.
Der Tumor war handtellergroß, saß an der hinteren Wand,
war braunrot, leicht zerreißlich. Schon auf dem Durchschnitt
sah man mit freiem Auge, daß am Sitze des Tumors die Gefäße
mit Geschwulstgewebe erfüllt waren.
Der Krankheitsverlauf gestaltete sich äußerst
stürmisch. J ’
Bereits am 30. Januar konnten Metastasen in der Lunge
nachgewiesen werden.
Am 6. Februar traten zerebrale Symptome auf, Krämpfe in
der linken Körperhälfte, die auf Metastasen in der rechten Ge¬
hirnhälfte hinwiesen. Gleichzeitig wurde der Bauchumfang größer,
unter unseren Augen nahm die Leber rapid an Größe zu und i
ließ faustgroße Knollen erkennen. Die Milz war rasch auf Manns
kopfgröße angewachsen.
Am 12. Februar trat der Exitus ein.
Die Obduktion ergab, daß der Organismus mit Metastasen :
ubersät war. Kaum ein Organ, das nicht Metastasen auf ge¬
wiesen hätte. Die Tumoren in Leber und Milz geradezu monströs, I
In den Lungen zahllose Knollen. Tumoren im Gehirn, Schilddrüse. !
Niere, Dünn- und Dickdarm. Die Beckenvenen waren throm j
Dosiert und von Geschwulstgewebe erfüllt. In der vorderen Va¬
ginalwand saß, von intakter Schleimhaut bedeckt, ein haselnuß-
großer Knoten.
Wenn wir nun diese Beobachtung besprechen, ;
so ist die Wandlung zum schlechteren, welche die
Krankheit gleich nach der Operation genommen hat, die
auffälligste und wichtigste Erscheinung.
Die Frau war bei so gutem Kräftezustande an die ,
Klinik gekommen, daß sie sich kaum krank fühlte; wir selbst
konnten klinisch nicht entscheiden, ob Abortus oder Chorio- !
epitheliom vorliege.
Die sorgfältige Untersuchung bot nicht den ge- j
längsten Anhaltspunkt für Veränderungen der inneren Or¬
gane. Wir dürfen daher mit einem gewissen Recht sagen, |
daß zur Zeit der Operation Metastasen nicht bestanden I
haben.
Mit voller Bestimmtheit können wir das bezüglich
des vaginalen Tumors behaupten. Dieser war zur Zeit der i
Operation bestimmt nicht da, er hätte unmöglich übersehen ;
werden können.
Bereits zwölf Tage nach der Operation
sind die ersten Metastasen zu konstatieren,
gleich darauf folgen Metastasen fast in allen
inneren Organen und 24 Tage nach der O p e- j
ration erliegt die Kranke der allgemeinen
M e t a s 1 asier u n g !
Bei der Obduktion zeigten sich die inneren Organe
geradezu überschwemmt mit Tumormassen; die Leber, die
Milz, die zur Zeit der Operation normale Grenzen auf¬
wiesen, waren bei der Obduktion durch zahllose Knoten i
monströs vergrößert.
Mikroskopisch zeigt, der Tumor ein Prävalieren der
Langhanszellen über die synzytialen.
Wichtig sind die Gefäßverhältnisse. Im Bereiche des
Sitzes des Tumors sind die Gefäße der Uteruswand weit
und mehr oder minder von Tumorzellen ausgefüllt. Diese |
ragen bald nur als kleine Pfröpfchen in das Gefäß, bald
nehmen sie die größere Hälfte des Gefäßes ein, aber über¬
all besteht daneben Zirkulation in den Gefäßen. An noch
anderen Stellen sind die Gefäße mit Tumormassen ganz
ausgegossen. Oft, konnten wir sehen, wie die Gefäßwand
von innen nach außen durchbrochen wird, wie die fötalen j
Zellen gegen das nächste Gefäß ziehen und auch in dieses
einbrechen.
Bei diesen anatomischen Verhältnissen
mußten wir uns wohl sagen, d a ß h i e r eine u n-
endliche Gelegenheit zur Embolisierung ge¬
gebensei.
Und doch waren wir überrascht, ja entsetzt, gleich
nach der Operation eine Metastase nach der andern ent¬
stehen zu sehen. Und die Frau, die sich zur Zeit ihrer
Aufnahme in die Klinik kaum krank gefühlt hätte, ging
binnen drei Wochen nach der Operation zugrunde.
JMr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
668
Wir haben es hier mit einem Falle von so ausge¬
sprochenem bösartigen Verlauf zu tun, wie er bösartiger
gar nicht gedacht werden kann und wie er bei spontanem
improvozierten Verlaufe sehr seifen vorkommt.
Wir mußten so zur Ueberzeugung gelan¬
gen, daß die Metastasierung keine zufällige
sei, sondern daß die Generalisierung des Tu¬
mors durch die bei der Operation unausblei b-
lichen Insulte herbeigeführt wird.
In diesem Sinne hat auch einer von uns (Hi t sc li¬
ma nn) diesen Fall seinerzeit in der Wiener gynäkologi¬
schen Gesellschaft (1903) vorgestellt.
Dieser Fall ist aber keine singuläre Er¬
scheinung; eine Umschau in der Literatur zeigt uns
eine ganze Reihe solcher Fälle, die wir in der Tabelle II
zusammengestellt haben.
Allen diesen Fällen ist die rapide Verschlechterung
des' Befindens, hervorgerufen durch das Einsetzen der Me¬
tastasen nach der Operation gemeinsam. Und wenn wir
uns in unserem Falle und in den anderen analogen Fällen
nach der Ursache dieser furchtbaren Bösartigkeit fragen,
so läßt sich dies anatomisch fassen. Vom Hause aus liegt
sie nicht in dem Tumor, denn die Kranke hatte trotz mehr¬
monatigen Bestehens des Tumors kaum gelitten; auch war
es nicht' zur Metastasenbildung gekommen.
In seinem Aufbau hat der T u m o r n i c h I s
von d e r °N o r m wesentlich Abweichendes, k u r z,
es wurde die hochgradige Malignität -erst
herbeigeführt, als durch den operativen Ein¬
griff Tumormassen in den Kreislauf gepreßt
und der Organismus da m it direkt ü b e r-
schwem m t wurde.
Prädisposition zur Metastasierung ist
durch den anatomischen Bau in viel höhere m
Q r a d e als bei jedem anderen Tu m or gegeben.
Denn man kann dies nicht oft genug wiederholen das
ganze Wachstum des Tumors erfolgt in den .mütterlichen Ge¬
fäßen. Jeder mechanische Insult kann massenhafte Eos-
lösung von Tumorteilchen und Ueberschwemmung des
ganzen Organismus mit denselben bewirken.
Damit lernen wir einen neuen Faktor kennen, der
nach unserer Ansicht für die Frage der Malignität, speziell
des malignen Chorioepithelioms, von größter Bedeutung ist.
Widerstandsfähigkeit des mütterlichen Organismus,
Proliferationskraft der fötalen Zellen, sind Komponenten
der Malignität, die wir heute gar nicht beurteilen können,
mit. denen wir an der Hand eines 'konkreten Falles gar
nichts anzufangen wissen.
Mit der artefiziellen Metastasenbildung lernen wir aber
einen grob sinnlich wahrnehmbaren Faktor kennen, der
wenigstens einen Teil der Malignität zu erklären vermag.
Wir können in vielen operierten Fällen den stürmischen
Verlauf darauf zurückführen, ohne auf die verschiedene
Widerstandskraft der Mutter und verschiedene Proliferations¬
kraft der fötalen Zellen rekurrieren zu müssen.
Es m u ßi also für jede Operation des m a 1 i-
g n e n Chorioepithelioms der leitende Ge¬
sichtspunkt sein, nicht k ü n s 1 1 i c h M etaslasen
zu erzeugen.
Wird dies nicht berücksichtigt und dies ist bis jetzt
ausnahmslos der Fall gewesen, so kann und wird man
häufig in Fallen, in denen noch keine Metastasen bestehen,
eine Aussaat über den ganzen Körper setzen. Der Zusammen¬
hang zwischen Operation und Metastasierung ist. ein so
augenfälliger, daß man sich wundern muß, wenn er von
den Autoren nicht erfaßt wird.
So sagt Stein: „Unerklärlich bleibt die so rasche
Entwicklung der Metastasen; im vorliegenden Falle wurde
bei der ersten Untersuchung der Patientin klinisch an den
inneren Organen kein pathologischer Befund erhoben. Die
Lungen waren damals noch völlig frei. Etwa drei Wochen
später tritt mit. dem blutigen Sputum die erste Erschei¬
nung der Metastasenbildung auch in diesem Organe zu¬
tage und nach wenigen weiteren Wochen zeigt die Obduk¬
tion jene enorme Entwicklung der Metastasen.“
Nur H a m m erschlag faßt die rapide Metastasierung
richtig auf und schließt sich unserer bereits 1903
geäußerten Ansicht an. Er sagt: „Zu gleicher Zeit
fand sich die Schleimhautmetastase, die wohl kaum bei
der ersten Untersuchung vorhanden gewesen ist, da sie
sonst wohl bemerkt worden wäre. Es erscheint (Wahrschein¬
lich, daß auch diese Metastase erst nach der ersten Aus¬
räumung aufgetreten ist und daß also die Manipulation
der Ausräumung Iselbst. ein Anlaß zum progredienten Wachs¬
tum und zur Ausbreitung der Geschwulst gewesen ist.“
Aber bereits vor vielen Jahren hat K o 1 i s k o *) den
Ausspruch getan: „Das Chorioepitheliom ist unter Um¬
ständen ein Noli me tangere, weil durch Kürettage, Total¬
exstirpation den sich rückbildenden Chorioepitheliom-
massen die Möglichkeit geboten wird, in die Blutbahn ein¬
zubrechen und verschleppt zu werden.“
Die Annahme des Zusammenhanges zwischen Ope¬
ration und Metastasenbildung ist für viele Fälle eine zwin¬
gende. Ursache und Folge liegen in ihrer Mechanik klar
vor unserem Auge, ebenso wie das Verhalten der Thrombo¬
phlebitis zur Pyämie.
Ein mathemalischer Beweis läßt sich natürlich nicht
führen, das liegt in der Natur der Sache. Er ist aber auch
gar nicht notwendig.
Es würde bei dem bekannten Baue des Tumors der
Hinweis auf die Möglichkeit, daß durch die bisherige Ope¬
rationsweise der Metastasenbildung Vorschub geleistet wird,
genügen, um unsere Ausführungen und unseren späteren
Vorschlag plausibel zu machen.
Und bei diesem Sachverhalt bedenke man unser bis¬
heriges Operationsverfahren ! Muß man sich nicht wundern,
daß nicht jedesmal durch die Operation der ganze Orga¬
nismus mit Metastasen geradezu überschwemmt wird?
Die Klinik hat also bisher die besonde¬
ren anatomischen Verhältnisse dieses Tu¬
rn ors fürÜie Operation nicht gewürdigt, ihne n
in der Operationstechnik keine Rechnung ge¬
tragen. Es mußi in erster Linie das Ziel an¬
gestrebt werden, jede Verschleppung des Tu¬
mors selbst zu vermeiden.
Dies hoffen wir zu erreichen, indem wir:
1. die vaginale Totalexstirpation aufgeben;
2. statt dessen die Laparotomie machen und ohne den
Uterus zu quetschen, zuerst die spermatikalen und para-
metranen Venen unterbinden.
Die Technik (siehe Kownatzki) ist dieselbe wie
die bei den Exstirpationen des puerperalen Uterus wegen
septischer Thrombose geübte; wir wollen diese später an¬
läßlich eines Falles näher schildern.
*
Um aber die enorme Metastasierung dieser operativ
behandelten Fälle zu demonstrieren, ist es lehrreich, diesen
Fällen solche gegenüberzustellen, die ohne jeden Eingriff
bis zum Tode verliefen.
Wir stellten uns zu diesem Behuf e aus der vorhan¬
denen, vorwiegend deutschen Literatur rund 300 Fälle zu¬
sammen. Von diesen suchten wir mit Ausschluß der ekto¬
pischen alle aus, die spontan ohne jede Operation starben
und bei denen womöglich alle intrauterinen Eingriffe ver¬
mieden worden waren, um dadurch ein ungetrübtes reines
Bild, insbesonders in bezng auf die Metastasierung zu ge¬
winnen.
Wir fanden 46 solche, teils genauer, teils minder
genau beschriebener Fälle auf.
Der klinische Verlauf dieser nicht, operierten Fälle isl
schon von den ersten Autoren glänzend geschildert wor¬
den und gilt auch heute, so daß wir ruhig auf dieselben
verweisen können. Nur auf die Albuminurie, die Veit
besonders würdigte, möchten wir aus diagnostischen
’) Schlagenhaufer, Wiener klin. Wochenschr. 1899.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
664
Gründen aufmerksam machen. Hier wollen wir nur ein¬
zelne, zum Vergleich wichtige, Punkte hervorheben.
Diese, von einer Operation unbeeinflußt verlaufenden
Fälle zeigen ziemlich viel Uebereinstimmendes. Es fehlen
in der Regel stürmische Erscheinungen, wie wir sie bei so
vielen Operierten sehen. Es stehen die lokalen Erscheinun¬
gen im Vordergrund, die Blutungen, in manchen kommt es
zur septischen Infektion vom primären Tumor aus, aber erst
in späteren Stadien machen sich Lungenerscheinungein
geltend.
Die mittlere Lebensdauer dieser Fälleist
wesentlich größer als die der operierten auf
Tafel II verzeichn ete n Fäll e.
JV1 c . K enna hat ausgerechnet, daß die mittlere Lebens¬
dauer von der Stellung der Diagnose bis zum Tode bei
nicht operierten Fallen 5 Vs Monate beträgt; die Fälle der
Tafel II sterben fast alle vier bis fünf Wochen nach der
Operation.
Außerordentlich lehrreich und für die Auffassung des
Tumors von großer Bedeutung ist das Studium der Meta¬
stasierung.
Wir kamen dabei zu dem überraschenden Resultate,
daß in .den Fällen, die unberührt von operativen Eingriffen
sterben, die Metastasen in der Regel sehr spärlich sind
und ausgebreitete Metastasen die Ausnahme bilden.
Nur in der Lunge und in der Scheide sind die Meta¬
stasen nahezu konstant; da dies aber bei allen FWllen zu¬
trifft, die an dem malignen Chorioepitheliom zugrunde
gehen, gleichgültig, ob mit oder ohne Operation, so bleiben
zum Vergleiche nur die inneren Organe übrig.
Wir konnten aus unserer Zusammenstellung 46 Fälle
auffinden, die spontan starben und obduziert wurden.
Von diesen 46 Fällensind in 28 dieinneren
Organe frei von Metastasen, das ist mehr als
die Hälfte aller Fälle!
18 m a 1 sind Metastasen in den inneren Or¬
ganen vorhanden und
8 m a 1 nur in einem Organ,
4 m a 1 in zwei Organen,
6 m a 1 sind zahlreiche Metastasen vor¬
handen.
Das ist der Status bei den ohne Operation Ver¬
storbenen.
Vergleichen wir damit die Obduktionsergebnisse der
post Operationen! rasch zugrunde gehenden Individuen, so
sind die Differenzen ganz gewaltige.
Lungen- und Scheidenmetastasen fehlen auch hier in
keinem Falle.
W ä h r e n d a b e r b e i den ohne 0 p e r a t i o n V er¬
storbenen in der Hälfte aller Fälle die inne¬
ren Organe frei waren, sind hier die inneren
Organeohne Ausnahme vonMetastasendurch-
setzt.
Von 18 Fällen finden wir:
10 mal allgemeine Metastasen,
6mal sind mehrere Organe betroffen und nur
2mal einzelne Organe ;
letztere beiden Fälle könnten überhaupt ausgeschieden wer¬
den, da sie nicht direkt an den [Folgen des malignen Chorio-
epithelioms, sondern der eine an Anämie, der andere an
Lungenembolie zugrunde ging. Mehrfach findet sich die
Angabe, daß 'die Lungen ganz durchsetzt, förmlich von Meta¬
stasen substituiert sind.
Es sind also die inneren Organe der ohne
Operation Verstorbenen viel weniger Meta¬
stasierung ausgesetzt als bei den rasch nach
der Operation Verstorbenen.
Das spricht doch u n b e d i n g t f ü r unsere
Behauptung, daß die Bösartigkeit vieler ope¬
rierter Fälle auf einer künstlich h e r b e i ge¬
führten Metastasierung beruht.
♦
Nun ist es eine Tatsache, die sich an der Hand der
von uns gesammelten Krankengeschichten feststellen läßt,
daß die Rezidive nach der Totalexstirpation des Uterus
beim malignen Chorioepitheliom nur eine untergeordnete
Rolle spielt (siehe später) im gewaltigen Gegensatz zu der
Rezidive der anderen malignen Tumoren. Man findet unter
vielen Fallen nur wenige, die man mit Sicherheit als Rezi¬
dive deuten könnte.
Da wir also die lokale Rezidive nur -wenig zu fürchten
haben, so kommt also prognostisch alles darauf an :
1. ob zur Zeit der Operation bereits Me¬
tastasen vorhanden sind oder nicht;
2. daß jede künstliche Metastasierung
unterbleibe.
Das löst die wichtige Frage aus, wann im
a 1 1 g e m einen beim malignen Chorioepithe- t
Horn Metastasen entstehen, das heißt, in Fäl¬
len, d i e von jedem Eingriff verschont blieben.
W enn man bedenkt, d a ß in den spontan
verlaufenden Fällen in der Hälfte unserer
Zusa m menstellung n u r Lunge n- und S c h e i-
d e n m etastasen vorhanden sind, so kann man =
sagen, d a ß b e i den unberührten Fällen d i e M e-
tastasenbildung keine allzu heftige ist, daß
sie, da die Lungenmetastasen ziemlich rasch
zum Tode führen, spät auf treten und wahrscheinlich zu ,
einer Zeit noch fehlten, als die Fälle noch gut operabel
waren. i
Auch der [Umstand, daß doch ein beträchtlicher Pro¬
zentsatz von Fällen glücklich operiert wird, drängt uns zu
der Annahme, daß nicht nur bei der Operation Metastasen ■
vermieden werden, sondern daß auch zur Zeit der Ope- ;
ration die inneren Organe frei waren.
Aus den vorhandenen kasuistischen Mitteilungen
konnten wir uns über diese Frage nicht orientieren.
Es ist an und für sich schwierig und oft unmöglich,
kleine Metastasen durch klinische Untersuchung exakt aus¬
schließen zu wollen. Dazu kommt noch, daß. Kranken¬
geschichten, die über den allgemeinen körperlichen Zustand :
genauer berichten, gar nicht so häufig sind. I
Doch kamen wir auf eine andere Weise zum Ziele. 1
Wir suchten aus den zusammengestellten 300 Fällen
alle heraus, die plötzlich vor oder während der Ope- :
ration, sowie solche, die unmittelbar nach der Operation
an den Folgen derselben starben, bei denen sich aber noch
keine Metastasen durch die Operation entwickeln konnten.
(Tab. III.)
Es sind 27 Fälle, davon sind:
15 frei von allen Metastasen!
12 weisen Metastasen auf, doch müssen wir
diese etwas genauer betrachten;
5 werden von den Autoren als inoperabel oder hoff¬
nungslos bezeichnet;
3 sind weit vorgeschritten, die Blutung bestand neun
bis zwölf Monate ; ,
3mal sind Metastasen in Fällen, in denen operative
Eingriffe vier Totalexstirpation vorangegangen sind;
Imal fehlen nähere Nachrichten.
Das sind ganz ausnehmend günstige V e r-
hältnisse! Mehr wie die Hälfte der Fälle frei
von M etastasen und Metastasen nur d o r t v o r-
!h an den, wo die Fälle weit vorgeschritten
oder operative Eingriffe der Totalexstirpa- !
t i o n vorausgegangen waren!
Jedenfalls ist der Unterschied in der Metastasierung
in den drei Tabellen ein geradezu packender. )
Wir haben uns bemüht, alle erreichbaren Fälle aus
der deutschen Literatur und die leicht erreichbaren aus
der fremden zusammenzutragen; wenn auch die Tabellen
dementsprechend nicht die ganze Kasuistik - — wir haben
wie gesagt 300 Fälle gesichtet — enthalten, so glauben
wir trotzdem, daß die sich aus ihnen ergebenden Verhält-
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
665
nisse der Metastasierung für das maligne Chorioepitheliom
allgemein gültig sind. Man beachte nur, wie gut sich Ta¬
belle 1 und III ergänzen.
Wenn bei den ohne Operation Verstorbenen die Meta¬
stasen spät und spärlich auftreten, so stimmt damit schi-
gut, daß in einem früheren Zeitpunkte — (der eben für
die Operation in Betracht kommt — Metastasen in einer
großen Zahl noch fehlen.
Da Metastasen anfangs und eine gewisse Zeitlang in
der Regel fehlen — Ausnahmen gibt es immer — später
aber ohne Ausnahme auftreten, so ist es liier wohl von
der größten Bedeutung, möglichst früh zur Operation fern
gelangen. Wenn dann auch bei der Radikaloperation Meta¬
stasen vermieden werden, so ist die größte Aussicht auf
dauernde Heilung gegeben.
Abernoch eine ß e d i n g u n gistzuerfüllen
Esgenü. gtnicht, erstbeiderTotalexstirpation
darauf bedacht zu sein, künstliche Metasta¬
sierung zu vermeiden. Es sind alle Eingriffe
a m U t e r u s bei bestehendem malignen C h o r i o-
epHheliom geeignet, Verschleppung der G e-
sch wulstteile zu bewirken. Sehr gef ä h r 1 i c h
ist insbesondere das Kürette ment.
Wir wollen dies an der Hand der folgenden Beob¬
achtung zeigen und dabei gleichzeitig die Operationstechnik
etwas genauer schildern.
M. J., 36 Jahre, aufgenommen am 3. August 1910.
Die Frau hat fünfmal am normalen Ende geboren, nie
abortiert, die letzte Geburt erfolgte am 24. Mai 1910. Die Schwan¬
gerschaft verlief ganz normal. Die Geburt erfolgte am Schwanger¬
schaftsende mit ausgetragenem Kinde. Die- Nachgeburtsperiode
verlief ohne Störung. Das Wochenbett afebril. Sie stand nach
sechs lagen auf, stillte das Kind und fühlte sich ganz wohl;
sie bemerkte auch während der ersten vier Wochen nach dein
Partus keinen Blutabgang aus dem Genitale. Zu Beginn der fünften
V oche nach der Geburt trat plötzlich eine starke Blutung auf,
welche mit wechselnder Intensität bis Ende Juli anhielt. Wegen
dieser Blutungen wurde die Patientin am 1. August kürettiert.
Die ausgeschaften Partien wurden mikroskopisch untersucht und
die Diagnose auf malignes Chorionepitheliom festgestellt. Bei
der Ausräumung fand sich die Scheide frei von Meta
stasen.
Status praesens: Kleine Frau, stark abgemagert, sein-
anämisch.
Lungenbefund negativ. Am Herzen ein systolisches Geräusch.
Im Harn kein Albumen.
Genitalbefund: Nahe am Introitus vaginae und in der Mitte
der hinteren Vaginalwand sieht man je einen über linsengroßen
bläulichen Knoten mit zentralem Epithelverlust. Uterus °retro-
vertiert vergrößert. Das rechte Parametrium verdickt.
Die Adnexe sind nicht genau abzutaste-n. Aus dem äußeren Mutter¬
mund Hießt eine bräunliche Flüssigkeit heraus.
Die- vaginalen Metastasen haben sich in. wenigen Tagen
im Anschlüsse an das Kürettement entwickelt.
Es wurde die Entfernung des Uterus und der Scheide und
zwar nach unserem Vorschlag unter gleichzeitiger Unterbindung
der großen abführenden venösen Stämme im kleinen Becken be¬
schlossen.
Am Morgen vor der Operation klagte die Patientin über
stärkere Schmerzen im Abdomen. Temperatur 38-5.
Operation in Schl eich scher Narkose. Es wird zunächst
die Vagina am Introitus Umschnitten und auf eine Strecke von
der Blase und vom Rektum- abpräpariert und hierauf in Becken¬
hochlagerung die Laparotomie in der Linea alba ausgeführt. Im
Douglas finden sich zwei Eßlöffel Eiter. Das Peritoneum parietale
und viscerale injiziert. Um den Uterus nicht zu quetschen,
werden zwei starke Klemmen am Ligamentum latum nahe der
Ueruskante beiderseits angelegt und an diesen der Uterus vor¬
gezogen. Hierauf werden zunächst rechts die Spermatikalge-fäße
unterbunden und durchtrennt, nach Unterbindung des Ligamentum
rotundum wird das Ligamentum latum bis zum Parametrium
durchtrennt und die Blätter des Ligamentum latum auseinander-
gezogen. Es zeigt sich hiebei, daß das Bindegewebe in der Tiefe
etwas infiltriert und von einzelnen bereits thrombosierten Venen¬
stämmen durchzogen war. Das weitere Verfahren, um die hypo-
gastrischen Venen _ aufzusuchen, gestaltete- sich so, wie es von
ko wn atzki für die Venenunterbindungen bei puerperaler Pyäinio
angegeben ist. Die Art. hypogastrica dextra wird in einer Schlinge
nach innen gezogen und die Arteria iliaca externa leicht nach
außen disloziert. Wegen der schon bestehenden Infiltration des
Bindegewebes ist die Isolierung der unterliegenden Venen nicht
leicht. Bei der Präparation reißt sogar die Vena iliaca externa
ein, so daß wandständig eine- Klemme angelegt werden muß;
schließlich gelingt es doch, die hier in einem Stamme als Vena
hypogastrica in die Vena iliaca externa mündende- Vene zu iso¬
lieren und zu unterbinden, es wird sodann die Arteria hypogastrica
ligiert und die Klemme an der Vena iliaca durch eine wandständige
Ligatur ersetzt. Links gestalten sich die Verhältnisse einfacher.
Nach Unterbindung der Sperm atikalgef äße werden zwei getrennt
in die Vena iliaca externa einmündende Stämme, die- Vena iliaca
media und interna, unterbunden und die- Arteria hypogastrica eben¬
falls ligiert. Nach l nterhindung dieser Gefäße werden hierauf
der Uterus samt Adnexen und die ganze Vagina entfernt. Die
param-etrane Wundhöhle wird nach unten drainiert und das Peri¬
toneum darüber geschlossen.
1. Obduktionsbefunde.
Spontan ohne Operation Verstorbene.
1
Metastasen
—
Nr
Autor
Lunge
Scheide
Innere
Organe
1
Chiari 1
+
+
0
i
2
» 2
+
+
0
3
» 3
+
+
Ovar,
Lymphdrüsen
■
4
Pieiffer
+
4-
0
5
H. Groom
+
-j-
0
6
Pestalozza 1
+
4"
Lig. latum
7
» 2
+
0
0
8
» 3
+
0
0
9
» 4
+
+
0
10
Marchand
F
4-
0
'
11
Krebs
0
. 0
0
12
W.S. Wiliams
+
+
0
13
Kaman
+
0
Leber
14
Gutenplan
+
+
0
15
Spencer
+
0
0
16
Langenbeck
4"
+
0
L7
A. Pick
0
4-
0
18
J. Schmidt
+
-F
0
19
Kahlden
+
+
0
20
Lomer
+
I
~T~
0
21
Lichtenstern
+
-F
Großhirn,
Blase
22
Wilten
0
-F
0
.
23
Bacon
+
0
Lig. latum
] 24
Resinelli
+
Leber
25
Winkler 1
+
+
o
26
27
» 2
F
+
Lig. latum,
Lymphdrüsen
Fränkl 11.
+
-F
0
28
Apfelstaedt
+
0
Milz
29
Kleinhans
-F
0
30
Hofmeier
+
0
0
31
Kaltenbach
0
0
0
32
Svaine
+
0
0
33
Schmort
+
0
0
34
Lockyer
+
0
0
35
Aszel
+
+
Darm
36
Schlagen-
0
Mieren, Milz
haufer
+
u. Venen
37
Jaenbesch
0
+
Blasenhals
38 1
Fränkl 1
+
+
Leber, Nieren,
Milz, Gehirn
Allgemeine
Metastasen
39
Inglisch u.
+
Bonen
0
Gehirn
40
H. Meyer
?
0
Ö
Omentum,
41
HeiJier
+
0
Lig. latum,
Ovarien
42 1
v. Franqud
+
+
Parametrium,
Nebennieren
43
Marchand-
Risl
+
+
+
Allgemeine
Metastasen
Ovarien.
Allgemeine
Metastasen
44:
Krömer
+
+
Parametrium,
Jrüsen, Venen
45
Kelly u.
Allgem. Meta-
46
Workman
+
+
1
T
stasen, schon- in j
der Schwanger¬
schaft einsetzend |
Butz
+
0
0
666
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
Präparat: Uterus vergrößert, an der hinteren Korpus wand
ein kronengroßer, nur wenig erhabener, braunroter, morscher Tu¬
mor, der tief in die Uteruswand eindringt.
Mikroskopischer Befund: Typisches malignes Chorioepithe-
liom. Gleicher Befund an der Metastase.
Nach der Operation fieberte Pat. noch einige Tage, fühlte sich
aber dann subjektiv ziemlich gut. Später Verschlechterung des
Befindens.
15. August: Aus der Vulva ragte ein pflaumengroßer, blauer
Knoten, welcher leicht blutete, heraus ; wird mit dem Thermo¬
kauter abgetragen. Die mikroskopische Untersuchung ergibt Tu¬
mormassen.
22. September: Unter zunehmender Kachexie und pneu¬
monischen Symptomen erfolgt der Exitus.
Obduktionsbefund : C'horioepithelioma reeidivum in Form
nekrotischer Tumormassen im kleinen Becken, von den inneren
Organen finden sich nur die Lungen von Metastasen durchsetzt.
D’V ser Fall ist außerordentlich lehr¬
reich; man sieh!, was ein ganz einfaches Kü¬
rettement bei einem malignen C h o r i o e p i t h e-
liom an zu stellen vermag. Es ist ein direkt
warnendes Beispiel, das eindringlicher
spricht als lange Auseinandersetzungen.
Zunächst einige 'Worte über die Operationstechnik. Das
Prinzip ist, die abführenden venösen Stämme ohne viel
Manipulationen, ohne den Uterus zu quetschen, abzubinden,
um eine Ueberschwemmung des Organismus mit losge¬
lösten Tumorteilen zu verhindern.
Die Technik selbst — wir haben sie in der Operations¬
geschichte ausführlich beschrieben — ist ja bekannt; sie
ist dieselbe, wie die abdominale Totalexstirpation des Uterus
wegen puerperaler septischer Thrombophlebitis, so daßi über
die Technik selbst nichts mehr zu sagen ist. Auf die Be¬
gründung, die vaginale Operation zu verlassen und nach
der eben beschriebenen Art vorzugehen, brauchen wir wohl
auch nicht mehr einzugehen. Ist doch die ganze vorliegende
Arbeit eine einzige Begründung dafür.
Für diesen Fall hätten wir doch noch einige tech¬
nische Bemerkungen post hoc zu machen.
In einem nächsten analogen Falle würden wir etwas
anders vorgehen. Wir würden nicht die Scheide im Zu¬
sammenhänge mit dem Uterus entfernen, sondern lieber
auf die Exstirpation der Scheide verzichten und die kleinen
vaginalen Metastasen einzeln mit dem Paquelin entfernen.
Die Exstirpation der Schede vergrößert nicjit nur wesent¬
lich den Eingriff; der mechanische Insultistein wesentlich
größerer und damit wächst die Gefahr, daßi von den va¬
ginalen Metastasen aus regionäre Ueberschwemmungen ver¬
ursacht werden.
Wir würden es also vorziehen, zuerst die vaginalen
Metastasen zu entfernen u. zw. womöglich mit dem Pa¬
quelin und dann erst vom Bauchraume aus die Venen unter¬
binden und Iden Uterus exstirpieren. —
Wenige Tage nach dem Kürettement werden bei ge- 1
nauer Untersuchung zwei kleine vaginale Metastasen ent¬
deckt, und es ist gar keine Frage, daß auch die später ge- j
fundenen Lungenmetastasen auf denselben Zeitpunkt und
dieselbe Ursache zurückzuführen sind.
Wir halten das Kürettement bei e i n e m be¬
stehenden malignen Chorioepitheliom für
einen eminent gefährlichen Eingriff. Diese
Ueberzeugung hatten wir uns schon lange zuvor verschafft,
ehe wir diesen Fäll beobachteten. Es läßt sich an der
Hand der Literatur zeigen, wie nach der Ausschabung die
Temperatur in die Höhe geht, Schüttelfrost einsetzt und
nach wenigen Tagen Bluthusten und Lungenerscheinungon
II. Obduktionsbefunde.
Rapider Verlauf nach der Operation.
Metastasen
Thrombosen
Nr.
Autor
_ _
Lunge
Scheide
Innere Organe
1
Kitsch mann-
+
_J_
Leber, Milz, Gehirn, Schilddrüse,
Beckenvenen
Cristofoletti
Dünn- und Dickdarm
2
» II
1
4-
Milz. Gehirn
»
3
Apfelstaedl
d
+
Leber, Pankreas, Mesenterium,
Ovarium, Knochen
In den Beckenvenen keine
Thrombose
4
Hinz
“1“
0
Leber, Zwerchfell, Blase, Ovarium,
Sektion nicht komplett,
Ileocökalgegend, Muskulatur der
Beckenvenen nicht erwähnt
Bauchdecke, Perikard ?j
R. Spermatika
5
Schmauch
+
+
Milz, Leber, Niere, Groß- und
Kleinhirn
H y p o g a s t r i k a lliaka
6
Simonds
+
+
Parametrium, Leber, Milz,
Knochenmark
Spermatika
7
Krebs
+
4-
Leber, Schilddrüse, Darmbein,
Lymphdrüsen, retroperitoneal
und mediastinal
8
Czyczewicz
+
4-
Kurzes Referat. Sektionsbefund
beschränkt sich auf die Angaben
Fast alle inneren Organe
der allgemeinen Metastasen
9
Gebhardt
+
0
Kleinhirn, Milz, Mesenterium,
Beckenvenen nicht erwähnt
Lymphdrüse
V. Iliaca, Spermatika
10
Wallart
+
+
Harnblase, Mesenterium, Großhirn
11
Stein
4
+
Blase, Fossa iliaca, Bronchial-
Beckenvenen nicht erwähnt
drüse, Leber, Gehirn
12
Waldow
+
+
Gehirn, Milz, Mesenterium,
Lymphdrüsen, Blase
» » »
0
13
Schuhmacher
+
4
Milz, Gehirn, Mediastinum,
Lymphdrüse, Blase
14
Anders I
+
+
Blase, Ovarium, Darm
Parametrane Venen
15
Krömer
+
+
Ovarium, Parametrium,
Spermatikale Venen
Lymphdrüsen
16
Stiedel
+
0
Milz, Parametrium
17
Hammerschlag III
+
1
“r
0
Geschwulstthro m b e n in der
iliaca, cava, hy pogastrica,
Spermatika, A. p u 1 m o n a 1 i s
18
Reeb
+
+
Netz
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT . 1911.
667
III. Obduktionsbefund der während oder kurz nach der Operation Verstorbenen.
1 Nr.
1 - -
Autor
M e t a s t a
sen
j Vorausging
Da
Lunge
Scheide
1
Innere
Organe
Ki
■
1
Lindfors
0
0
0
Blasen mole
1 3
2
Trau ten roth
0
0
0
Partus
5
3
Me. Kenna (Teacher)
0
0
0
Abortus
5
4
Anders
0
0
0
5
Hammerschlag
0
i 0
0
Blasenmole
2
6
Graefe
0
0
0
Abortus
6
7
Schmidt II.
0
0
0
Partus
7
8
Neumann-lllich
0
0
0
Blasenmole
n nie
9
Steinhaus
0
0
0
Blasen mole
IV*
10
Schmidt J.
0
0
0
»
5
11
Hartmann u. Toupet
0
0
0
4 '/«
12
Zahn
0
0
0
?
13
K lein h ans
0
0
0
Blasenmole
VI
1 '2
2
14
Schmorl
0
0
0
Partus
15
Bauer
0
0
0
Blasen mole
1’/,
16
Sellheim
0
0
0
5 Monate p
• P-
17
Grube u. Herrnschmit
0
0
Mesokolon
Lymphdrüsen
18
Pl'annenstiel
-f
0
0
Bl äsen mole
10
19
Hübel
+
0
0
2
20
Rosenberg
+
+
0
Abortus
7
21
Zaboreskv
+
+
0
3
22
Krömer
0
Leber, Niere
Blasenmole
23
Arndt
+
0
0
»
9
24
Goetze
+
+
Leber, Niere
Partus
13
25
Cook J.
-F
0
Ovar
2 V,
26
Ti aute.nroth
+
1
~r
Darm, Leber 1
Niere
12
27
Marcband-Ahlfeld
0
1
0
Tubar-
gravidität
3
28
Scherer
+
0
Leber, Gehirn
Blasenmole
4
29
Jurassevskv
0
0
Gehirn
»
24
30
Ivlinen
+
+
0
Partus
2—
Porro. Mikroskopisch : Chorioepitheliom
iten vaginale Tumoren auf, die im Gesunden exstirpiert
. wurden. Tod an Lungenembolie
Hoffnungsloser Zustand
Inoperabel. Probelaparotomie. Stirbt 2 Tage p.op.
zweimaliges Kürettement !
Stirbt während der Vorbereitung zur Operation
an Verblutung aus einer geplatzten Luteinzyste
Weit vorgeschritten
Weit vorgeschritten. Tumor in die Bauchhöhle
perforiert
Weit vorgeschritten. Ausräumung
Inoperabel. Intrauterine Eingriffe vor der Radikal¬
operation
Stirbt einen Tag vor der festgesetzten Operation,
zweimaliger intrauteriner Eingriff
Inoperabel. Bei der Aufnahme nicht mehr
vernehmungsfähig.
Primärer Tumor in der Tube Vaginale Metastasen.
Sepsis nach Ruptur des Sackes
Zweimaliger intrauteriner Eingriff vor der Radikal¬
operation
sich geltend machen, ln einem Teile der Fälle gehen die
Erscheinungen zurück, in anderen zahlreichen Fällen
kommt es durch die Ausräumung oder Ausschabung zur
Entwicklung von Metastasen.
Wir haben schon erwähnt, daßi Hammerschlag
sich unserer seinerzeit geäußerten Ansicht über die Meta¬
stasierung anschließt.
Er sagt wörtlich: „Es erscheint wahrscheinlich, daß
auch diese Metastase erst nach der ersten Ausräumung
aufgetreten ist und daß also die Manipulation der Aus-
räumuung selbst ein Anlaß zu progredientem Wachstum
und Ausbreitung der Geschwulst gewesen ist.“ Aehnliehe
Beobachtungen, speziell Einsetzen von Lungenerscheinun¬
gen, machten v. Franque, Bauer, Goetze, Anders,
C h r o b a k, S i m monds, Kvorostansky, D r i e s e n,
Klei nh ans, Garkisch, Krebs u. v. a.
An dieser Tatsache ist gar nicht zu zweifeln, aber ein
Ausweg ist kaum zu schaffen; bei der Totalexstirpaüon
kann man präventiv die großen Venen abbinden, um die
Ucberschwemmung des Organismus mit Geschwulst¬
elementen zu verhüten. Hier fehlt aber jeder Rat.
Das einfachste wäre, die klinische Diagnose so zu
vertiefen, daß man auf die klinische Untersuchung allein
gestützt, die exakte Diagnose machen könnte. Das ist aber
heute für die meisten Fälle, die noch keine vaginalen Meta¬
stasen haben, unmöglich, oder nicht verläßlich genug, um
daraufhin einen so großen Eingriff, wie es die abdominale
Totalexstirpation ist, zu wagen. Wir können die mikro¬
skopische Untersuchung, auch wenn wir vor Ueberschätzung
derselben gewarnt haben, nicht entbehren und können uns
ohne Ausschabung oder Ausräumung das notwendige Ma¬
terial nicht verschaffen.
Wir sehen auf der einen Seite die Gefahr, welche
die Ausschabung bei einem etwa bestehenden Chorioepithe¬
liom provozieren kann; auf der anderen Seite ist in sehr
vielen Fällen die diagnostische Ausschabung nicht zu um¬
gehen.
Es ergibt sich daraus daß wir bei Verdacht auf ein
Chorioepitheliom jeden intrauterinen Eingriff so viel als
möglich vermeiden; ist dies nicht möglich, so dürfen wir
ihn mit hur größter Vorsicht und Zartheit und im Bewußtsein
der drohenden Gefahr ausführen.
(Schluß folgt.)
Aus der medizinischen Klinik in Florenz.
Ueber vertebrale und linksseitige paraverte¬
brale Leberdämpfung.*)
Von Prof. P. ttrocco, Direktor der Klinik.
Ich möchte kurz über ein neues Symptom bei der Per¬
kussion an der Basis der rückwärtigen Thoraxhälfte be¬
lichten, das ohne Schwierigkeit nachzuweisen ist und dem
eine nicht geringe klinische Bedeutung zukommt.
In den Lehrbüchern der physikalischen Semiotik heißt
cs, daß die obere Grenze des absoluten Dämpfungsbezirkes
der Leber an der Rückseite (gewöhnlich im Niveau des
zehnten Interkostalraumes gelegen) rechts von der Wirbel¬
säule ausgeht, um die rechte Thoraxhälfte herumlaufend,
*) Auszugsweise schon veröffentlicht in der Riforraa Medica,
Jahrg. XXVII., Nr. 1.
G68
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
vorne die Mittellinie des Sternums kreuzt und unge¬
fähr bis zur Mitte des von der linken Paras ternallinio
einerseits und der linken Mamilla andrerseits begrenzten
Raumes reicht.
Jedoch die besagte obere Grenze des absoluten Däm¬
pfungsbezirkes der Leber kreuzt die Mittellinie auch auf der
Rückseite und reicht nach links entweder in horizontaler
Richtung oder leicht nach abwärts geneigt verlaufend bis
durchschnittlich 3V2 bis 5 cm über die. Verbindungslinie der
Dornfortsätze hinaus.
Welnn die Leber entweder im ganzen oder nur im
Bereiche des linken Lappens vergrößert ist, so kann die
obere ‘Grenze des absoluten Dämpfungsbezirkes an der Rück¬
seite die Mittellinie um! 7 bis 8 bis 10 cm, ja — wie
ich beobachtet habe — sogar um 12 cm überschreiten.
In den ersten Lebensjahren ist der bezeichnete Be¬
zirk verhältnismäßig länger als bei erwachsenen Personen
und solchen in vorgerücktem Alter.
Wenn die obere Grenze der absoluten Leberdämpfung
rechts hinten sich infolge Volumsveränderung oder Ver¬
schiebung des Organes in loto nach oben oder nach unten
bewegt, so verschiebt sich im selben Sinne gewöhnlich auch
der vertebrale und linksseitige paravertebrale Bezirk der
Leberdämpfung.
Die eben erwähnten semiotischen Befunde, auf die
meines Wissens bisher noch niemand hingewiesen hat,
stimmen 'mit dem überein, was uns die topographische Ana¬
tomie der Leber zeigt, die in ihrem hinteren Rande ent¬
sprechend der Wirbelsäule eine Inzisur hat, um sich dem
Vorspringen des Wirbelkörpers anzupassen und in diesem
Einschnitt verlaufen die Cava ascendens, die Aorta, der
Oesophagus und der Ductus thoracicus.
Jenseits der Wirbelsäule verläuft der hintere Rand des
dünneren linken Leberlappens alsbald nach links vorne und
überlagert den Fundusanteil des Magens. Wenn jedoch die
Leber vergrößert ist, kann der besagte Rand seine Annähe¬
rung und den indirekten Kontakt mit der hinteren Thorax¬
wand noch einige Zentimeter weiter beibehalten, selbst bis
vier Querfinger, wie ich es an dem gut erhaltenen Kadaver
einer Frau beobachten konnte, die an einer akuten Vergif¬
tung gestorben war.
Ich begnügte mich nicht mit der Nachprüfung am
anatomischen Präparat und habe auch die Radioskopie zum
Vergleiche herangezogen, die mir ebenfalls die oberwähnten
semiotischen Befunde bestätigte.
Ich veröffentlichte das neue Symptom, nachdem ich
es an mehr als 300 Fällen festgestellt habe; ich war jedesmal
darauf bedacht, es mit der oberen Grenze der absoluten
Leberdämpfung links vorne zu vergleichen und habe hie¬
durch eine weitere Bestätigung für seinen klinischen Wert
gefunden.
Auf die verschiedenen Fälle, in denen ich Gelegenheit
hatte, das besagte Symptom festzustellen, will ich nicht
näher eingehen und möchte nur eines Falles Erwähnung
tun, in dem es' sich um eine große Wanderleber bei einer
abgemagerten Multipara mit allgemeiner Splanchnoptose
handelte. In diesem Falle wurde die vergleichende Bestim¬
mung der oberen Grenze des Dämpfungsbezirkes der Leber
an der Rückseite bei sitzender Stellung der Patientin und in
Rückenlage (die Patientin war auf zwei Stühle gelagert und
es wurde von unten nach oben perkutiert) ausgeführt und
ergab in sitzender Position eine deutliche Verschiebung der
Grenze nach unten um IV2 cm, sowohl im rechten hinteren,
als auch im linken hinteren Anteil; und der linke Abschnitt
maß 5V2 cm auf der Vorderseite, wie auf der Rückseite.
Die Perkussion muß bei der Feststellung des besagten
Symptomes mit einer gewissen Kraft ausgeführt werden
und es bedarf etwas Uebung. bevor man es leicht und sicher
auffinden kann.
Man perkutiert in methodischer Weise von oben nach
unten, zuerst entlang der rechten Paravertebrallinie a, dann
entlang der Wirbelsäule b, sowie links von derselben, ent¬
sprechend den Linien c, d, e, u. zw. so, daß man jedesmal
die Stelle, wo der Thoraxschall aufhört und die Leberdäm- I
pfung beginnt, durch ein Zeichen markiert. Man gelangt so
schließlich bis zur Linie f, welche den links von der
Wirbelsäule gelegenen, beinahe horizontal verlaufenden Ab- i
schnitt der Leberdämpfung begrenzt. Sobald man die Linie f 1
erreicht hat, empfiehlt es sich von links nach rechts, ent- |
lang der Horizontalen i — g, in der Richtung des Pfeiles 1
zu perkutieren, um den Punkt g, die äußere Begrenzung
des linken Anteiles der Leberdämpfung genau festzustellen.
Die Distanz g — h wird mit dem Bandmaß festgestellt; !
beträgt sie mehr als 4 V2 bis 5 cm, so bedeutet dies eine ,
Vergrößerung des linken Leberlappens.
Es ist wohl überflüssig zu betonen, daß weder der 1
obere Anteil der Nierendämpfung, noch der hintere obere i
Anteil der Milzdämpfung bei dem Zustandekommen der
von mir links hinten festgestellten Leberdämpfung irgendeine
Rolle spielen. Jetzt noch wenige Worte über die Verwer¬
tung und die klinische Bedeutung des neuen Symptoms.
Ich möchte vor allem betonen, daß das Symptom uns |
lehrt, daß die objektive Untersuchung der Leber sich in !
methodischer Weise auch auf die Gegend über der Wirbel- '
säule und links von derselben erstrecken muß; und wenn
die Bestimmung der oberen Grenze des Dämpfungsbezirkes j
der Leber im allgemeinen eine nützliche Ergänzung der
methodischen Perkussion des Organes darstellt, so trägt
sie speziell dazu hei, uns zu zeigen, um wieviöl der linke
Lappen die Mittellinie überschreitet.
Mit anderen Worten, man darf bei der perkutorischen :
Untersuchung der Leber die vertebrale und linkseitige para¬
vertebrale Zone nicht außer acht lassen. Ja, es kommen
auch Fälle vor, in welchen die methodische Untersuchung
der genannten Regionen eine kleine und eng umschriebene
organische Veränderung der Leber offenbaren kann. Dies
war bei einem unserer Kranken der Fall, den ich im vorigen i
Herbst während der Ferien gesehen habe, bei welchem
der Befund, daß der linke obere Rand des Leberdämpfungs- j
bezirkes auf der Rückseite nach oben verschoben und un¬
regelmäßig war, uns veranlaßte, einen zirkumskripten Leber¬
abszeß zu diagnostizieren, der in den übrigen Abschnitten. I
des Leberbezirkes keinerlei semio tische Anzeichen seines j
Vorhandenseins ergehen hatte.
In Fällen, wo das Organ in seiner Gesamtheit ver¬
größert ist, kann der Bezirk der Leberdämpfung an der Rück¬
seite sich links von der Mittellinie, wie auch nach oben j
hin in noch weit beträchtlicherem Maße ausdehnen. In
diesen Fällen erleichtert uns die erwähnte methodische Per¬
kussion des Organes auf der Rückseite bei Vergleich der '
rechten mit der linken Seite die Feststellung, sowie die :
Interpretation der oberen Grenze des besagten Dämpfungs- j
bezirkes auf der linken Seite des Rückens; anderseits ist
leicht einzusehen, daß man ohne die geschilderte metho¬
dische Perkussion sich bezüglich der Beurteilung dieser
basalen Dämpfung an der linken hinteren Thoraxseite leicht
Täuschungen hingeben kann und daß man früher diesbezüg¬
lich auch oft in Jrrtümer verfallen ist.
Nicht 'selten kommt es in der Praxis vor, daßiman sich
in Verlegenheit befindet, wenn man zu entscheiden hat,
ob ein Streifen einer basalen Dämpfung an der rechten hin-
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
669
(eren I horaxseite der vergrößerten, resp. nach oben ver¬
lagerten Leber oder vielmehr irgendeiner Verdichtung an der
Lungenbasis zuzuschreiben ist; auch1 die Auskultation ver¬
mag diese Fälle nicht immer aufzuklären. Jetzt wird man
mir über Wirbelsäule und links von derselben zu perku-
tieren brauchen, um festzustellen, bis wie weit der obere
Rand der Leberdämpfung auf der rechten Seite reicht und
ob oberhalb des genannten Niveaus eine Dämpfungszone
ist, die einer Verdichtung der Lunge zuzuschreiben wäre
Das Gleiche gilt für die Fälle, in denen Unsicherheit
bestehen kann, ob es, sich um die Leberdämpfung oder um
Dämpfung infolge zirkumskripter basaler Pleuritis handelt.
Kurz, man kann im allgemeinen mittels der metho¬
dischen Perkussion der Gegend der letzten Dorsalwirbel
und der Zone links; von der Wirbelsäule die obere Grenze
der Leberdämpfung rechts hinten bestimmen ; und dies kann
liir den Arzt auch1 eine äußerst nutzbringende Feststellung
werden, wenn es sich darum handelt, rechts an der Thorax¬
basis eine Explorativpunktion endothorakisch und nicht etwa
in die Lebersubstanz auszuführen.
Ich könnte noch mehr praktische Anwendungen des
neuen Symptoms, das ich beschrieben habe, aufzählen, um
zu prognostizieren, claßi es sehr bald zu den Symptomen
gehören wird, welche der Arzt Tag für Tag bei der Thorax¬
perkussion festzustellen pflegt.
Aus der dermatologischen Klinik der k. k. Universität
Innsbruck. (Vorstand: Prof. Merk)
Koinzidenz von Herpes zoster und Psoriasis
vulgaris.
Von Dr. Georg Gjorgjeviö, Assistenten der Klinik.
Mit den experimentellen Untersuchungen K ö b n e r s 4)
war auf das Wesen der Psoriasis ein neues Licht gefallen.
Während Hebra") noch lehren konnte, daß Hautreize an
und für sich niemals Psoriasis erzeugen — welchen Satz 1
man allerdings nicht ganz klar deuten kann — erfuhr man 1
und so weiter, an der lädierten Haut bei Psoriatikern die
Krankheit auftrat. Endlich wurde es bekannt, daß die Pso¬
riasis, wenn sie in ihrem Verlaufe von anderen Hautkrank¬
heiten kombiniert wurde,4) sich an diesen Kombinations¬
stellen entwickelte.
Ein solches Zusammentreffen von Psoriasis und Herpes
zoster beobachteten (zitiert nach Grosz) Pringle, sowie
Rebreyrend und L o m b a r d.
An unserer Klinik hatten wir jüngst Gelegenheit, eine
solche Kombination zu beobachten, und es sei auf sie im
folgenden des näheren eingegangen.
D. J., kam mit 40 Jahren am 20. November 1910 zur Auf¬
nahme an die Klinik. Seine Psoriasis datierte er seit zwei Jahren
und die ersten Herde waren an beiden Knien aufgetreten ; sie hatte
nie zu einer starken Ausbreitung auf der übrigen Haut geführt,
wenn auch ab und zu eine oder die andere Hautstelle ergriffen
war. Er war auf die verschiedenste Weise äußerlich behandelt
worden ; im August 1910 bekam er jedoch intern Arsen. Vier
Wochen vor der Aufnahme entwickelte sich nach seiner Angabe
an der linken Brustseite in bandförmiger Ausbreitung von hinten
nach vorne ein Ausschlag, den der intelligente Kranke als aus
Bläschen bestehend beschrieb. Das Bild änderte sich aber, die
Bläschen bildeten sich zurück, statt ihrer wurde das ganze Band
reichlich von neuen Ausschlagsformen bedeckt und das war die
Veranlassung, weshalb der Patient das Spital aufsuchte.
Befund am 20. November 1910:
Typisches Bild einer mäßig ausgebildeten Psoriasis vul¬
garis mit münzengroßen Herden an den Streckseiten der Extre¬
mitäten bei einem recht kräftigen muskulösen Manne. Bemerkens¬
wert waren nur die Verhältnisse an der linken Brust; hier zog
sich zwischen der vierten und achten Rippe ein breites Band
um die halbe linke Brustseite, welche die Medianlinie nur wenig
überschritt; dasselbe war besondere vorne dicht besät mit steck¬
nadelkopfgroßen bis linsengroßen Psoriasisflecken mit kaum ent¬
wickelten Schuppen, die sich leicht abkratzen ließen, worauf die
Basis punktförmig blutete ; dazwischen entdeckte man zahl¬
reiche Krusten von ebensolcher Größe, wie sie in Abheilung
begriffenen Zosterbläschen entsprechen; manche derselben waren
stark blutig, andere wieder krustig schuppig, so daß sich viele
Uebergänge von abheilenden Zosterbläschen und entstehenden
Psoriaisisformen annehmen ließen. Besonders fielen einige typi-
Linke Brustseite: Herpes zoster in Umbildung in Psoriasis vulgaris.
nun> daß1 besonders junge und eben ausbrechende Psoriasis
gerne an solchen Stellen typische Formen heraustrelen läßt,
welche beispielsweise durch Nadeln geritzt werden.
Es zeigte sich weiter,3) daß nach anderen mechanischen
Einflüssen, wie Tätowieren, Pferdebiß, Kuhpockenimpfung
. . ') Berliner klin. Wochenschr. 1878; Vierteljahresschr. für Dermato-
'Qgie 1876 und 1877; Jahresbericht der schles. Gesellschaft für vaterl.
Kultur 1872.
J) Handbuch der spez. Pathologie und Therapie 1860.
3) J arisch, Hautkrankheiten 1900.
sch:-, sich kräftiger abhebende, linsengroße Psoriasiseffloreszenzen
auf, die ihrem Aussehen und ihrer Verteilung nach sich direkt
aus größeren Herpesbläschen umgewandelt haben (siehe Ab¬
bildung).
Es muß als anamnestisch feststehend hervorgehoben werden,
daß der Kranke im August desselben Jahres an der Stelle des
beschriebenen Bandes die ihm gut bekannten Psoriasisformen
nicht hatte. Aus dem Befunde vom 20. November 1910 ließ sich
hinwieder deutlich feststellen, daß unter den Psoriasisformen
*) Grosz im Handbuch der Hautkrankheiten von Mracek 1905, Bd. 2.
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WIENfcK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
ziemlich reichliche Abheilungsstellen eines Zoster pectoralis sini¬
ster Vorlagen.
Im weiteren Verlaufe trat ein Teil der Zosterkrusten immer
mehr zurück und ein anderer Teil wandelte sich in entsprechend
große Psoriasisflecke um (siehe Abbildung).
Die Diagnose der Psoriasis wurde weiter durch die mikro¬
skopische Untersuchung exzidierter Haut aus diesem Gebiete er¬
härtet. _ .
Endlich verhielt sich der beschriebene Krankheitsherd den
therapeutischen Eingriffen gegenüber genau so, wie die Psoriasis
des übrigen Körpers. Mit anderen Worten, nachdem die an unserer
Klinik übliche Behandlung (Teerpinselung mit nachfolgendem
Seifenbad und Anwendung einer Pyrogallus-Ichthynat-Salbe) durch¬
geführt worden war, verschwanden auch allmählich an dieser
Stelle die Psoriasiseffloreszenzen.
Für die Aetiologie des Herpes glaube ich wohl zwanglos
die innerliche Arsentherapie heranziehen zu können, die der
Patient vor Aufnahme durchgemacht hatte. Ich war der Meinung,
daß es mir gelingen könnte, im histologischen Bilde eine direkte
Umwandlung der Herpesbläschen in Psoriasisforinen nachweisen
zu können, allein es war mir nicht möglich, dem mikroskopischen
Aussehen eine solche Deutung zu geben.
Wenn ich auf die Mitteilungen Pringles zurück-
komme, so liegt nach dem Referate über diese Abhand¬
lung hier offenbar ein Analogon vor, nur scheint es mir,
daß im vorliegenden Falle die Umwandlung von Herpes
zoster in Psoriasis ungemein augenscheinlich war, während
Pringle die Psoriasisformen nur um die Herpesstellen
herum entstehen sah. Beim Zoster deuten die Blasen nur
einen Teil des pathologischen Prozesses an, der zum Wesen
dieser Krankheit gehört; es ist bekannt, daßi die entspre¬
chende Umgehung zuweilen hyperästhetisch und hyper¬
algetisch ist und daß diese Symptome schließlich in eine
Unterempfindlichkeit und Schmerzverminderung Umschlägen
können. Deswegen ergänzen sich' der vorliegende Fall und
der Pringles insoweit, als in diesem Psoriasis um die
Herpesbläschen auftrat, während 'sie in meinem aus Herpes¬
bläschen entstand.
Lichtschädigungen der Haut- und Lichtschutz¬
mittel.
Von Priv.-Doz. Dr. Leopold Freund in Wien.
Seil den experimentellen Arbeiten Hammers
(1891), Widmarks, V e i e 1 s und U nnas ist es bekannt,
daß verschiedene pathologische Zustände der Haut, so zum
Beispiel das Ekzema solare, der Gletscherbrand, die Sommer¬
prurigo, die Hydroa aestivale, das Xeroderma pigmentosum
und die Pellagra mit der Einwirkung des Lichtes in ur¬
sächlichem Zusammenhänge stehen. Die erwähnten Unter¬
suchungen ergaben übereinstimmend, daß es insbesonders
die kurzwelligen Strahlen des Lichtes sind, welche die an¬
geführten krankhaften Veränderungen erzeugen, wenngleich
eine gewisse schwache Wirkung des Lichtes größerer Wellen¬
länge dabei auch in Betracht kommt. Genauere Bestimmun¬
gen der hiebei beteiligten hauptsächlich wirkenden Spektral¬
zonen stammen aber erst aus den letzten Jahren.
Das (Sonnenlicht, welches zur Erde gelangt, findet seine
Grenze bei klarer Luft und 3700 m Seehöhe ungefähr hei
der Wellenlänge 292 pp (0. Simony). Auf Gletschern und
Eisfeldern kommt neben der direkten Sonnenstrahlung noch
die Wirkung des reflektierten Lichtes in Betracht,
welches nach den Untersuchungen Hammers und W i d-
marks gleichfalls physiologisch sehr wirksam ist. Dies
findet durch die neuen spektralanalytischen Untersuchungen
J. v. Kowalskis seine Erklärung, indem derselbe in
seinen Beobachtungen auf Schweizer Schneefeldern nach¬
wies, daß: dieselben nicht nur das sichtbare, sondern auch
das ultraviolette Spektrum bist ungefähr 295 PP kräftig re¬
flektieren.
Meine Untersuchungen im Jahre 1 901 1) stellten die
Tatsache fest, daß als physiologisches Inzitament für die
i) L. Freund, Beitrag zur Physiologie der Epidermis mit Be¬
zug auf deren Durchlässigkeit für Licht. Archiv für Derm, und Syphilis,
Bd. 58, .H. 1.
Haut hauptsächlich ultraviolettes Licht bis zur Wellenlänge
325 pp (Milliontelmillimeter) in die Haut dringen kann, wäh¬
rend das Licht, kürzerer Wellenlänge von der Epidermis
absorbiert wird. Aus einer zweiten Versuchsreihe über die
Wirkungen verschiedenfarbigen Bogenlichtes geht hervor,
daß die physiologische Wirkung an der Grenze des violetten
uind ultravioletten Spektrums (Wellenlänge 397 pp) vor¬
handen ist und dann; bei der Wellenlänge 388 PP merklich
stärker zu w erdein beginnt. H. v. Schrötter, welcher
einschlägige Versuche über die Wirkung des Sonnenlichtes
auf Teneriffa machte und 1910 auf dem IX. internationalen
Tuberkulosekongresse zu Brüssel veröffentlichte, gibt als
bei der Entstehung des Sonnenbrandes wirksame Spektral¬
zone die ultravioletten Strahlen von kleinerer Wellenlänge i
als 382 PP an.
M a n k a n n somit a nnehme n, d a ß b e i in So n-
nenhrand wenige r d as sichtbare Spektrum,
sondern vielmehr hauptsächlich das Licht
kürzerer Wellenlänge, insbesonders das
Licht vom Beginn des Ultraviolett bis un¬
gefähr 325 PP in Betracht k o m m t, indem die Zone j
ultravioletten Lichtes noch kürzerer Wellenlänge, welche
zur Erde gelangt (von 325 bis 292 pp) wenig physiologisch
wirksam ist, (da sie von der nicht reaktionsfähigen trockenen [
Epidermis absorbiert wird und zu den reaktionsfähigen)
tieferen Schichten kaum noch in wirksamer Intensität ge¬
langen kann.
Seitdem die physiologischen und pathologischen Wir¬
kungen des Lichtes (Sonnenbrand) das Interesse der Der¬
matologen erregten, sind auch dine große Anzahl von Schutz¬
mitteln, welche hauptsächlich auf die Absorption des;
Ultraviolett hinzielten, empfohlen worden.
Bowles2) erzähl von einem Offizier, welcher die!
durch das Licht in Indien veranlaßten, ihn außerordentlich
peinigenden Gesundheitsstörungen mittels tief orangefar¬
bener Stoffe verhütete, mit 'denen er seine Kleider und Kopf-j
bedeckungen als Stoffutter versehen ließ. Hammer em¬
pfahl das Chininsulfat, am besten in Wasserlösung, aber
auch in Glyzerin und Unguentum Glycerini, Leistikow
gab als geeignetes Vehikel dafür das Gelanthum an;
Finsen erprobte das mit eingedampftem Frangula-
dekokt gefärbte Unguentum Glycerini; Unna fand,
daß curcumafarbene Dextrinpasten, weiters das Un¬
guentum Caseini und der Gelanth mittels Curcuma oder
rotem Bolus- oder Ichthyol gefärbt, sehr zweckmäßige, durch,
Wasser leicht abwaschbare Schutzdecken darstellen.3) Auch
dunkle, braune, rote und gelbe Schleier und ebenso ge¬
färbte Leime, Hautfirnisse und Schminken sind für diese
Zwecke empfohlen worden (Veiel).
Das neueste Mittel hat Prof. P. G. Unna jüngst em¬
pfohlen.4) Dasselbe kommt in zwei Sorten, unter dem Namen
Zeozon und Ultrazeozon in den Handel. Es enthält
Derivate des Acskulins u. zw. nach Unnas Angaben das
Monoxvderivat und das Dimethylaminoderivat des Aesku
lins, welche im Wasser leicht löslich sind. Das 3°/oige Z oo-j
zon wird zur Prophylaxe gegen Sonnenbrand, Ephelidenj
und so weiter, das 7 °/oige Ultrazeozon zum Schutze
gegen Gletscherbrand empfohlen. Nähere Angaben über di<j
durch die Zeozonpräparate absorbierten Spektralzonen
fehlen ; der Autor teilt nur seine günstigen Erfahrungen über;
den wirksamen Lichtschutz durch die beiden Präparate an
mehreren Fällen mit.
Um dieser Sache näher zu treten und die absoibie
runde Wirkung dieser neuen Mittel spektralanalytisch fest¬
zustellen, untersuchte ich unter freundlicher Mitwirkung von
Herrn Hofrat E d e r an der k. k. Graphischen Lehr- und
Versuchsanstalt in Wien mit Hilfe eines Bergkristallspek-i
Irographen die Ultrazeozonsalbe. Als Lichtquelle diente dei
2) L. Freund, Beiträge zur Phototherapie. Zeitschr. für neuen
physikalische Medizin 1908, Jahrg. II. Nr. 2.
3) Nach Bloch, Praxis der Hautkrankheiten 1908. .
4) Ueber einen neuen farblosen Schutz gegen unerwünschte ir
I kungen des Sonnenlichtes auf die Haut. Med. Klinik 1911, Nr. 1-.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
671
zwischen der sogenannten Eder sehen Legierung (Kad¬
mium, Zink und Blei) überschlagende, durch mehrere Ley¬
dener Flaschen verstärkte Funke eines R uhmkorff sehen
fnduktoriums. Die zu untersuchende Salbe wurde durch
zwei senkrecht zur Achse geschnittene Bergkristallplatten
sah flockig aus und entsprechend der Unhornogenität
schwankte auch die Sitärke der Absorption.
Da erfahrungsgemäß Touristen auf ihren Gletscher¬
wanderungen Vaselin, Lanolin, Zinksalbe und dergleichen
mit einigem Erfolg gegen den Gletscherbrand verwenden,
1. Vaselin, weiß, 0 2 mm.
2. Lanolin, Vaselin, gelb, 02 mm.
3. Schweinefett.
4. Glyzerin-Aeskulin 2°/0, 0 2 mm dick
5. Unnas Salbe.
6. Glyzerin mit 12°/0 Zuckerfarbe
(Karamel).
7. Glyzerin-Aeskulin 4%.
3
a
3
•3 Ultraviolettes
> Sonnenspektrum
Ultraviolett
kürzerer
Wellenlänge
zu einer 0-1 bis 0-2 mm dicken Schichte ausgebreitet, welche
immerhin noch stark trübe erschien, aber dennoch bei ge¬
nügend langer Belichtungszeit die Photographie des Ab¬
sorptionsspektrums gestattete. Auch wurden Proben des
Ultrazeozons mit dickem Glyzerin verrieben, um das Ver¬
halten bei größerer Verdünnung zu untersuchen. Es ergab
sich der Beginn einer schwachen Absorption schon im Blau,
welche im Violett stärker wurde und schon an der Grenze
des Violett und Ultraviolett bei ungefähr 397 pp Wellen¬
länge sehr stark war und von da das ganze Ultraviolett
kräftig absorbierte (s. Fig. Nr. 5). Allerdings zeigte die
Salbe in dünner Schichte keine homogene Beschaffenheit,
war es naheliegend, diese erwähnten Salben auf ihre Licht¬
absorption zu untersuchen. Die Ergebnisse sind in beifolgen¬
der Figur graphisch dargestellt und lassen sich in folgen¬
dem kurz zusammenfassen:
Weißes Vaselin läßt in 0-2 mm dicker Schicht
das ganze sichtbare Spektrum und den Beginn des Ultra¬
violett durch. Die Absorption beginnt bei ungefähr 360 pp
Wellenlänge und wird erst bei 300 pp sehr stark.
GelbesVaselin sowie g e 1 b 1 i c h e s L a n o 1 i n, in
0-2 mm dicker Schicht, verhalten sich ähnlich, nur rückt
der Beginn der Absorption bis 375 pp vor und wird bei un¬
gefähr 325 PP kräftig. Inkorporierung von Zinkoxyd oder
Tabelle I.
Sonnenlicht 21 8 Stunden | Uviollicht 23 Minuten
1 nach 24 Stunden
nach 48 Stunden
nach 4 Tagen
nach 24 Stunden
nach 48 Stunden
nach 4 Tagen
Zeozon
heftige Reaktion
starkes Brennen
und Rötung
schwache
Pigmentierung
heftige Reaktion
starke Reaktion
leicht pigmentiert
Vaselin
geringe Reaktion
geringe Reaktion
schwache
Pigmentierung
heftige Reaktion
starke Reaktion
weiß
Borlanolin
geringe Reaktion
sehr starke Reaktion
sehr dunkel
geringe Reaktion
weniger als gestern
leicht pigmentiert
Ungu. Zinci Wilson
geringe Reaktion
weniger Reaktion
als gestern
schwache
Pigmentierung
geringe Reaktion
keine Reaktion
leicht pigmentiert
Ultrazeozon
geringe Reaktion
weniger Reaktion
als gestern
schwache
Pigmentierung
geringe Reaktion
keine Reaktion
leicht pigmentiert
Aeskulin 2%
keine Reaktion
keine Reaktion
weiß
keine Reaktion
keine Reaktion
weiß
Aeskulin 4%
keine Reaktion
keine Reaktion
weiß
keine Reaktion
keine Reaktion
weiß
Karamel
geringe Reaktion
Reaktion, Brennen
schwache
Pigmentierung
geringe Reaktion
—
geringe Reaktion
leicht pigmentiert
Tabelle II.
1. Fall 4 Stunden insoliert
2.
Fall 4 Stunden insoliert
nach 24 Stunden
nach 48 Stunden j
nach 3 Tagen
nach 24 Stunden
nach 48 Stunden
nach 3 Tagen
Zeozon
rötlich
schwach rötlich
leicht pigmentiert
rötlich
rötlichbraun
leicht pigmentiert
Vaselin
rötlich
schwach rötlich
leicht pigmentiert
rötlich
rötlichbraun
leicht pigmentiert
Borlanolin
stark rot
rotbraun
sehr dunkel
stark rot
stark rotbraun
sehr dunkel
Ungu. Zinci Wilson
weiß
weiß
weiß
rötlich
rötlichbraun
leicht pigmentiert
Ultrazeozon
rötlich weniger
als Borlanolin
schwach rötlich
weiß
rötlich
schwach
rölichbraun
leicht pigmentiert
Aeskulin 2%
wie Ultrazeozon
weiß
weiß
rötlich
schwach
rötlichbraun
leicht pigmentiert
Aeskulin 4°/0
weiß
weiß
weiß
weiß
weiß
weiß
Karamel
wie Ultrazeozon
schwach rötlich¬
braun
leicht pigmentiert
rötlich
schwach
rötlichbraun
leicht pigmentiert
672
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
Bleiweiß bis zu l()°/o bewirkt keine spezifische Veränderung
des Absorptionsspektrums. Es wird lediglich eine Zerstreu¬
ung des gesamten Lichtes herbeigeführt, aber die Charak¬
teristik der selektiven Ultraviolettabsorption wird nur durch
die eigene Lichtabsorption des Bindemittels bestimmt. Wie
aus Fig. 1 und 2 ersichtlich, nimmt Vaselin und Lanolin
kaum die Hälfte der wirksamen ultravioletten Spektralzone
weg und die Schutzwirkung dieser Salben ist somit eine
sehr beschränkte, insoweit nicht (durch Aufträgen sehr dicker
Schichten dieser opaken Masse das zu tretende Licht mehr
oder weniger gedämpft, wird.
Dickere Schichten von gelbem Vaselin bewirken näm¬
lich eine steigende Ultraviolettabsorption und das Vorrücken
des Absorptionsverbandes gegen Violett.
Noch ungünstiger würde Schweinefett, Axungia
porci, wirken, welches unter gleichen Verhältnissen weit
mehr Ultraviolett durchläßt, als .weißes Vaselin. Noch durch¬
lässiger als Schweinefett ist bekanntlich reines Glyze¬
rin, welches das Ultraviolett des Sonnenlichtes so gut wie
gar nicht absorbiert. Somit, werden weder Schweinefett noch
Glyzerin für sich allein irgendeinen Lichtschutz gewähren
können, was mit der praktischen Erfahrung übereinstimmt,
Karamel (Zuckerfarbe) ist in dünner Schichte gelb¬
lich, in dicker Schichte schwarzbraun. Es gibt mit Glyzerin
gemischt eine Absorption, welche zwar schwach sich bis
ins Blau erstreckt, aber in dünner Schichte so langsam an¬
steigend Violett und Ultraviolett absorbiert (s. Tafel Nr. 6),
so daß von ihm ein wirksamer Sonnenschutz nicht zu er¬
warten und in den praktisch verwendbaren dünnen Schichten
de facto auch nicht vorhanden ist.
Chininsulfat ist ein bekanntes Absorptionsmittel
für Ultraviolett, welches in 2 bis 4%ige, mit 'Schwefelsäure
angesäuerter wässeriger Lösung als Lichtfilter recht wirksam
ist. Die Gegenwart von Schwefelsäure läßt aber die prak¬
tische Anwendung dieses Mittels als Gesichtssalbe bedenk¬
lich erscheinen. Die auf der Gesichtshaut nicht eintrock¬
nende Lösung des Chininsulfats in Glyzerin bezeichnet
Unna (l. c.) als eine wenig praktische und angenehme.
Jedoch wären Chininsalben in geeigneter Form auch in
Betracht zu ziehen. Ebenso wie Chinin wirkt Aeskulin
als kräftiges Absorptionsmittel für Ultraviolett, wobei diese
Lichtart in andere Energieformen von physiologisch nicht
mehr nachweisbarer Wirksamkeit umgesetzt wird. A e s k u-
1 i n besitzt in seinen Lösungen in Wasser oder Glyzerin selbst
in einer Schichtendicke von 0-2 mm von 1 bis 2°/oigen Lö¬
sungen eine beginnende Lichtabsorption in Blauviolett
(430 PP), diese wird stark an der Grenze von Violett und
Ultraviolett, um bei ungefähr 390 PP Wellenlänge das Ultra-
violett äußerst kräftig zu absorbieren. Die Lichtabsorption
verläuft äußerst kräftig bis 305 PP, dann beginnt das Aes¬
kulin für Ultraviolett kürzerer Wellenlänge von 305 bis
ungefähr 220 PP durchlässig zu werden, worauf wieder
vollständige Absorption des äußersten Ultraviolett erfolgt.
Diese Lücke in der Schutzwirkung des Aeskulins gegen
Ultraviolett verdient beachtet zu werden. Sie kann sich
vielleicht bei sehr dünnen Schichten unangenehm be¬
merkbar machen beim Lichte der Quecksilberdampf¬
lampe, niemals aber beim Sonnenlicht, selbst nicht
auf hohen Bergen, weil Licht von so kurzer Wellenlänge
durch unsere Atmosphäre nicht, in merklicher Menge zur
Erdoberfläche gelangen kann. Uebrigens dämpft 4°/oige Aes¬
kulin- Glyzerinlösung das Ultraviolett an dieser Stelle ver¬
minderter Lichtabsorption so kräftig, daß die JLichtabsorp-
tion für das ganze Ultraviolett im letzteren Fälle als voll¬
kommen gelten kann, ja sogar das Violett schon beträcht¬
lich gedämpft erscheint (siehe Figur).
Aeskulin - Glyzerinlösungen stellen ein ganz ausgezeich¬
netes Schutzmittel gegen Sonnenbrand dar. Es macht nur
Schwierigkeiten, genügend konzentrierte Lösungen herzu¬
stellen, weil das Glyzerin beim Erwärmen das Aeskulin
wohl reichlich löst, dasselbe beim Erkalten aber größten-
leils ausfallen läßt. Es gelingt jedoch, durch Zusatz von
kolloidalen Substanzen (Stärke, Gelatine) das Aeskulin beim
Erkalten gelöst oder in kolloidaler Verteilung zu erhalten,
so daß die gewaltige charakteristische Absorption im Ultra¬
violett in der erkalteten Masse gewahrt bleibt. So kann das
Präparat, zum Beispiel nach Art des Unguentum Glycerini
der österreichischen Pharmakopoe so hergestellt werden,
daß man 10 fe Weizenstärke, 10 g Wasser, 2 bis 4 g
Aeskulin und eventuell auch. 8 Tropfen 10°/oiger wässeriger
Sodalösung in einer Reibschale verreibt und in 100 g auf
110° C erhitztes Glyzerin, unter Verrühren einträgt, bis die
Masse transparent wird und die Konsistenz einer dicken
Salbe annimmt. Durch den geringen Sodazusatz wird die
Absorptionsfähigkeit des Präparates erhöht. Die Homogeni¬
tät dieser salbenartigen transparenten Aeskulinpräparate
sichert ihnen eine ausnehmende Schutzwirkung gegen
Sonnenbrand und alle ähnlichen Schädigungen durch Licht.
Die Schutzwirkung des Aeskulins übertrifft sogar diejenige
des sonst ganz vortrefflichen Ultrazeozons ganz merklich.
Dies geht aus folgenden Versuchen hervor.
Zwei Männern von annähernd gleicher Konstitution
und Hautfarbe wurden mittels Borstenpinsels auf die Innen¬
fläche der hellweißen Armhaut nebeneinander so gut. als
möglich gleich lange, breite und dicke, durch Zwischen¬
räume voneinander getrennte Salbenstriche folgender Prä¬
parate gezogen: Zeozon, Vaselin, Borlanolin, Unguentum
Wilson, Ultrazeozon, Aeskulin 2%, Aeskulin 4%, Karamel¬
salbe. Die eine dieser Versuchspersonen exponierte die
bestrichene Armfläche dem direkten Sonnenlichte am
22. April 1911, einem sehr klaren Tage, bei vollständig
unbewölktem Himmel in der Mittagszeit während 2%
Stunden. Die bestrichene Armfläche der anderen Person
wurde während 23 Minuten in 8 cm Distanz dem
Lichte einer Uviol - Quecksilberdampflampe exponiert. Nach
24 Stunden präsentierten sich die bestrahlten Stellen als
intensiv rote Flächen, aus denen sich als mehr oder we¬
niger hellweiße Streifen, die mit den erwähnten Salben
bestrichenen Partien abhoben. Die Reaktionen der Haut
unter den Salbenstrichen sind in vorangestellter Tabelle
angegeben. i
Am deutlichsten geht aus diesen Versuchen die pro¬
tektive Fähigkeit der Aeskulinpräparate hervor. Dieselbe
ist schon beim 2°/oigen Präparate tadellos vorhanden. Kleine
strichförmige Defekte in der Aeskulinglyzerinbedeckung der
Haut., durch Borstenstriche des Pinsels verursacht, gaben
dem Lichte Gelegenheit zum Vordringen bis zur Haut und
zur Erzeugung kleiner strichförmiger Sonnenerytheme.
Unter annähernd gleichen Bedingungen schützten die beiden
Zeozonpräparate nicht so gut vor der Einwirkung des Queck¬
silberdampflichtes, noch weniger aber vor den Folgen der
21/2Stündigen Insolation. Unvollkommen war der Licht-
schutz der Vaseline-, Borlanolin- und Zinksalben, ebenso der
Karamelpräparate. Es ist selbstverständlich und mit der
praktischen Erfahrung übereinstimmend, daß dickere
Schichten von Zinksalben zufolge ihrer beträchtlichen Opa¬
zität eine beträchtliche Schwächung der gesamten Lichtinten¬
sität. bewirken, so daß die physiologischen Effekte des durch¬
gedrungenen Lichtes geringer werden, namentlich, wenn
man gelbes Vaselin als Bindemittel verwendet (siehe obiges
spektrales Verhalten). Aehnliche Ergebnisse gab eine wei¬
tere Versuchsreihe (siehe Tabelle II), bei welcher
zwei Individuen von annähernd gleicher Konstitu¬
tion und Hautfarbe mit den acht Präparaten tunlichst
gleichmäßig bestrichen und vier Stunden lang dem direkten
Sonnenlichte exponiert wurden. Einen vollständigen Schutz
bot in diesem Versuche nur das 4°/oige Aeskulinpräparat.;
das Ultrazeozon, ebenso wie die 2°/oige und die kombi¬
nierten Aeskulinpräparate schützten die Haut nicht mehr
als eine dicke Schichte gelben Vaselins.
Um eine gleichmäßige Deckung der Haut herbei¬
zuführen, ist. es zweckmäßig, das Präparat mit den bloßen
Fingern aufzutragen und auf der Haut zu verreiben. Die
Verwendung von WHschern, Tupfern und namentlich von
steifhaarigen Pinseln empfiehlt sich aus dem Grunde nicht,
Nr. 19
WIENER KLINISCHE
weil durch vorspringende Fasern oder Borsten Furchen in
die A eskulin - Glyzerinschichte gezogen werden können,
durch welche das Licht ungehindert zur Haut gelangen
könnte.
Die Aeskulin - Glyzerinpräparate können durch Ab¬
waschen mit Wasser leicht entfernt werden. Ferner steht
ihrer Verwendung als Schutzmittel gegen Lichtschädigung
keinerlei nachteilige irritierende Wirkung auf die Haut ent¬
gegen. Sic lassen sich wegen ihrer salbenartigen Konsistenz
sehr gut auf die Haut auftragen, haften selbst bei 'mehrstün¬
digen Wanderungen im Sonnenlichte gut auf der Hanl, ohne
zufolge ihrer Durchsichtigkeit dem Kolorit des Gesichtes
ein anderes Aussehen zu erteilen, oder sich als aufgetra¬
gene Salbe besonders bemerkbar zu machen.
Aus der II. mediz. Universitätsklinik in Wien.
(Vorstand: Hofrat von Neusser.)
ZurTechnik derVenaepunktion und intravenösen
Infusion.
Von Dr. Richard Bauer, Assistenlen der Klinik.
Die immer häufigere Uebung der Venaepunktion und
intravenösen Infusion zu diagnostischen und therapeuti¬
schen Zwecken veranlaßt uns, eine Stauungsbinde zu be¬
schreiben, die wir zu diesen Zwecken schon seit zwei Jahren
benützen.
Die Binde besteht, wie untenstehende Abbildung
(Hg. 4) zeigt, aus einem Gebläse a, einem Dreiweghahn b,
dem Verbindungsschlauch c und einer Kiva - Rocci - Man¬
schette d. In der Stellung « des Dreiweghahnes, Figur 2,
geht die Luft aus dem Gebläse a in die Manschette d und
vollführt so die Stauung der Vene. Durch Drehung des
Hahnes um 180° in die Stellung ß , entweicht die Luft aus
der Binde, wodurch die Stauung sofort behoben wird. Die
Endstellung ß des Hahnes ist, wie Figur 1 zeigt, dadurch
markiert, daß der Hahn in dieser Stellung den schwarzen
Glaspunkt, der beim Einblasen an der Innenseite sich be¬
findet, an der Außenseite zeigt.
Fig. 2.
d
Diese Art der Stauung zeigt gegen die gewöhnlichen
Methoden mit Binden und Schläuchen, mehrere Vorteile.
Die Stauung läßt sich genau dosieren, respektive das Maxi-
WOCHENSCHRIFT. 1911. 673
mum der Stauung leicht erreichen. Man bläst solange Luft
ein, bis die Venen deutlich hervortreten, ohne daß der
Radialpuls an Stärke verliert. Sollte man eine Abnahme
der Pulsstärke bemerken, so läßt man durch Drehen des
Hahnes etwas Luft heraus, bis der Puls die volle Stärke
wieder erlangt. Dadurch vermeidet man, daß die
allzustarke Stauung auch den arteriellen Zufluß hemmt.
Wenn man dies nicht beachtet, sieht man bei der Venae¬
punktion, daß die anfangs prall gespannten Venen allmäh¬
lich zusammenfallen und das Blut zu fließen aufhört.
Ein weiterer Vorteil dieser Methodik liegt darin, daß
sich die Stauung ohne störende Erschütterung des Armes
momentan beheben läßt, so daßi man nahezu gleichzeitig
die Stauung sistieren und die Punktionsnadel herausziehen
kann. Dies ist besonders vorteilhaft, wenn man keine Assi¬
stenz zur Hand hat.
Für die intravenöse Infusion kommen die genannten
Vorteile noch mehr in Betracht : Das Maximum der Stauung
erleichtert uns das richtige Einführen der Nadel in die
Vene; sobald wir durch Ausfließen des Blutes die richtige
Lage der Nadel erkannt haben, wird durch Drehung des
Hahnes ohne jede Erschütterung des Armes und der in
der Vene liegenden Nadel die Stauung behoben und die zu
injizierende Lösung einfließen gelassen. Wir erwähnen dies
besonders, weil bei der Lösung der bisher verwendeten
binden und Schläuche sich die Nadel leicht in die Venen¬
wand einbohrt oder gar aus der Vene herausrutscht.
Wir haben mit dieser Methodik in den letzten Jahren
ca. 2000mal gearbeitet und sowohl bei den Venaepunk-
tionen, als bei den intravenösen Infusionen jede der sonst
so häufigen Pnannehndichkeiten vermieden.
Audi bei den therapeutischen Aderlässen hat sich die
Binde bestens bewährt, indem die Stauung durch längere
Zeit stets gleichmäßig blieb, so daßi wir größere Mengen
Blut auch durch die dünnen Ansatznadeln von 10 cm3-
Sprilzen anstandslos entnehmen konnten.*)
Referate.
Culture in vitro des cellules cancereuses.
Par Marie Bra.
Paris 1909, editeur A. Po in at.
Verf. berichtet über Kulturversuche aus epithelialen Tu¬
moren, bei welchen es ihm gelang, mit einem eigens bereiteten
Hautnährboden einen eigentümlichen Mikroorganismus zu kul¬
tivieren, den er als Myxobakterium bezeichnet. Derselbe zeigt ganz
merkwürdige AVachstumsverbältnisse, durch die er jenen Zellen
ähnlich wird, auf deren Kosten er lebt und die er schließlich auch
substituiert. Weder die Beschreibung des Wachstums dieses Mikro¬
organismus, noch die reichlich beigegebenen Mikrophotographien
vermögen dem Leser eine nur halbwegs anschauliche Vorstellung
über die vom Verfasser beobachteten Erscheinungen zu ver¬
mitteln, nach welchen der Krebs eine ganz eigenartige Infektion
darstellt, bei welcher das Myxobakterium in den Körper eindringt
und dank seiner Mimikrie Formen bildet, die den Organzellen
so sehr gleichen, daß sie von diesen nicht zu unterscheiden sind,
eine Vorstellung, die an phantastischer Originalität nichts zu
wünschen übrig läßt, sich aber vielleicht gerade deswegen von
der Wirklichkeit , am weitesten entfernt.
*
Leucopathies, metastases, albuminuries et icteres leu-
copathiques.
Par le Dr. Emile Feuillie, ancien interne en medecine des höpitaux de
Paris, Medaille des epidrmies (Dunkerque 1907), pharmacien de lere classe.
Iicenci4 en sciences physiques, stagiaire de 1 'Academic de medecine aux
Eaux minerales, preparateur ä la faculty de medecine.
Paris 1909, editeur G. Stein heil.
Ausgehend von der Forderung, daß den weißen Blutzellen
dieselbe Individualität in der Pathologie, wie in der Physiologie
*) D‘e Binde ist unter dem Namen »Stauungsbinde nach Doktor
Baue r« bei Paul H a a k, Glasbläserei Wien IX/3. Gareiligasse 4, er¬
hältlich.
674-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
einzuräumen ist, bezeichnet Verf. alle jene Erkrankungen, die
mit einer Störung in der Sekretion, Motilität, physikalischen und
chemischen Konstitution der Leukozyten einhergehen, als Leuko-
pathien. Die Bedeutung solcher Leukopathien erstreckt sich nicht
allein auf die Elemente in Zirkulation, sondern auch auf die
Entwicklung lokaler Infiltrate, dfenn der schließlicbe Ausgang
wird immer von dem Zustande der Leukozyten abhängig sein
und entweder zur Restitutio ad integrum oder zu Verflüssigung
und Einschmelzung des Gewebes oder endlich zur Bindegewebs-
entwicklung führen. Um solche leukopathische Zustände aufzu¬
decken, empfiehlt Feuillie, die Widerstandfähigkeit der Leuko¬
zyten zu prüfen, ihre Aktivität zu messen, ferner eine Injektion
von Sublimat (1:2000) unter die Haut vorzunehmen, auf welche
bei Gesunden ein derbes Knötchen sich bildet, während leuko¬
pathische Individuen mit einem weichen, lokalen Oedem darauf
antworten. Was ferner die Ursachen der Leukopathien anlängt,
so sind als solche Intoxikationen, Infektionen und Heredität ver¬
antwortlich zu machen. Es soll demnach die Behandlung dieser
Erkrankungsformen zunächst eine ätiologische sein und außer¬
dem Erneuerung der Leukozyten und Erhöhung ihrer Wider¬
standskraft anstreben.
*
Bibliothek medizinischer Monographien.
Die bösartigen Geschwülste.
Von Prof. Dr. Carl Lewin.
Leipzig 1909, Verlag Dr. Werner Klink har dt.
Die reiche und ausgedehnte Erfahrung, welche Lewin auf
dem Gebiete der experimentellen Tumorforschung sich erworben
hat, setzt ihn in die Lage, in der vorliegenden, ganz ausgezeich¬
neten Monographie eine willkommene Ergänzung der bestehenden
Lehrbücher über bösartige Geschwülste zu bringen, zumal in diesen
hauptsächlich nur die Kenntnisse aus der menschlichen Patho¬
logie Berücksichtigung finden, während die experimentellen Unter¬
suchungen mehr oder weniger in den Hintergrund treten. Diese
beiden, einem gemeinsamen Ziele zustrebenden Forschungsrich¬
tungen nebeneinander zu stellen und ihre Ergebnisse von einem
Gesichtspunkte gemeinsam zu besprechen, ist Le wins nicht zu
unterschätzendes Verdienst; indem er hiebei mit vollem Rechte
die gründliche Kenntnis der bewährten Lehrbücher von Borst,
v. Hansemann und Bibbert voraussetzt, bedarf es weniger
einer eingehenden Erörterung und spezieller Darstellung der ein¬
zelnen Geschwulstformen, sondern es genügt, wenn der Verfasser
mehr allgemein - pathologische Fragen in das Bereich seiner Aus¬
führungen einbezieht. Darum kann sich Lew in auch damit be¬
gnügen, als Einleitung einen Ueberblick über die Geschichte der
Entwicklung unserer Kenntnisse über maligne Tumoren, über
allgemeine Morphologie und Histogenese derselben zu geben, um
dann sofort auf das eigentliche Thema seiner Ausführungen,
den Vergleich der verschiedenen Tumoren im Tier- und
Pflanzenreiche durchzuführen. Hiebei erscheint es notwendig,
ganz besonders auf die Physiologie der Geschwulstzellen einzu¬
gehen, die als neu entstandene Zellrassenj sich durch ganz Avesent-
liche Eigenschaften von den normalen Körperzellen unterscheiden.
So ist eine Abartung des Chemismus der Krebszelle als erwiesen
zu betrachten, sie wird durch Trypsin leicht angegriffen, verhält
sich dagegen Pepsin gegenüber resistent ; im Krebsgewebe verläuft
ferner die Autolyse viel rascher als in normalen Geweben. Die
Frage bleibt aber noch unbeantwortet, ob der veränderte Chemis¬
mus der Krebszelle Ursache oder Folge der Krebskrankheit ist.
Darum erscheint es für den Verf. notwendig, auf die bisher
aufgestellten Theorien über die Aetiologie des näheren einzu¬
gehen, Avobei es sich herausstellt, daß keine derselben eine ein¬
heitliche Erklärung aller Erscheinungen zu geben vermag. Nach
allen vorliegenden Erfahrungen kommt Lew in zu dem Schlüsse,
daß „die bösartige Gesclnvulst die Folge des Zusammenwirkens
von Vorgängen ist, die lokal in der wahrscheinlich durch Reiz¬
wirkungen hervorgerufenen, blastomatösen Umwandlung von nor¬
malen Körperzellen ihren Ausgang nehmen, durch die Mitwir¬
kung allgemein konstitutioneller Verhältnisse aber zu einer für
den Gesamtorganismus mehr oder minder erheblichen Bedeutung
gelangen“. Füllen gerade diese mehr allgemein gehaltenen Aus¬
führungen des Verfassers Aveitaus den größeren Teil der Mono¬
graphie aus, so kann doch die Systematik der malignen Tumoren
nicht vollständig in derselben fehlen. Lewin schließt sie in Form
eines speziellen Teiles den eben besprochenen Darstellungen au
und geht auch hiebei auf alle jene Details ein, die durch die
experimentelle Forschungsrichtung Förderung und Klärung er¬
fahren haben.
*
Recherches experimentales sur les tumeurs malignes.
Par le docteur Jea» Clunet.
Paris 1910, öditeur G. St ein heil.
Auch dieses Werk zerfällt nach der Anordnung des darin
abgehandelten Stoffes in zwei Abschnitte. In dem ersten finden wir
eine sehr eingehende Beschreibung zahlreicher tierischer Neo¬
plasmen, die zum Teil spontane Geschwülste, zum Teil trans¬
plantierte betreffen. Das Studium der letzteren gestattet Clunel
nicht allein morphologische Veränderungen an den Tumorzellen
im Verlaufe der (Verimpfungen zu beobachten, sondern auch
Beziehungen zwischen chirurgischen Eingriffen und Metastasierung
gepfropfter Neoplasmen aufzudecken, indem viszerale sekundäre
Knoten, namentlich dann zur Entwicklung gelangen, wenn die
primären, ohne daß Heilung eingetreten Aväre, entfernt wurden.
Nach Schilderung des Blutbefundes und der pathologisch-anatomi¬
schen Veränderungen innerer Organe bei Tieren mit transplan¬
tierten Tumoren geht Verf. auf die Besprechung der Immunitäts-
Verhältnisse des näheren ein und zeigt, daß die Immunität nicht
allein von der Tierspezies, der Tierrasse und vom einzelnen
Individuum abhängt, sondern auch von geAvissen physiologischen
Zuständen und therapeutischen Maßnahmen. Zu ersteren gehört
die Laktation, zu letzteren die vorangehende Verimpfung nicht
Avachsender Geschwülste. Beide Momente beeinträchtigen die Ent-
Avicklung transplantierter Tumorteile, die Laktation allerdings nur
von Geschwülsten der Brustdrüse, nicht aber anderer Lokalitäten.
Der zweite Abschnitt des Werkes ist dem Studium der
Wirkung der X-Strahlen auf maligne GeschAVÜlste gewidmet. Auf
diese Weise lassen sich nicht allein geAvisse biologische Verhält¬
nisse der neoplastischen Elemente genauer verfolgen, sondern
es scheint auch sichergestellt, daß Avir in den X-Strahlen ein
hoch wirksames therapeutisches Agens gegenüber bösartigen Neu¬
bildungen besitzen. Eingehend Avird die Beeinflussung der Epi¬
theliome der Haut des Gesichtes und der Mamma, ebenso auch
der Sarkome durch Radium besprochen. Zu diesen gründlichen
Untersuchungen bilden eine Reihe von Experimenten, welche die
Wirkung von X-Strahlen auf das transplantierte Geschwulst-
gewebe und auf das umgebende Gewebe klarlegen, eine höchst
lehrreiche Ergänzung. Als letztes Kapitel findet sich eine sehr
interessante Darstellung der hyperplastischen Wirkung von
X-Strahlen. Erscheint diese schon vom Standpunkte des Radio¬
therapeuten aus sehr interessant, so bietet isie auch die Möglich¬
keit des Studiums der Pathogenese gewisser Neoplasmen. Denn
mit Hilfe der X-Strahlen gelingt es, wie Verf. zeigt, nicht allein
beim Menschen die Bildung von Karzinomen auszulösen, son¬
dern auch experimentell beim Tiere, so daß Avir in dieser Art
von Strahlen zum erstenmal ein Mittel kennen lernen, mit dem
wir willkürlich maligne Neubildung des Oberflächenepithels her¬
vorzurufen in der Lage sind.
*
Vorlesungen über Infektion und Immunität.
Von Dr. Tli. Paul Müller, a. o. Professor der Hygiene an der Uni¬
versität Graz.
Dritte, erweiterte und vermehrte Auflage.
Jena 1910, Verlag Gustav Fischer.
Kaum ein Jahr ist es her, daß Müller die zweite Auflage
seiner Vorlesungen über Infektion und Immunität wesentlich ver
größert erscheinen lassen konnte und nun liegt das Werk, welches
sich nicht allein Avegen seines reichen Inhaltes, sondern auch
wegen der übersichtlichen und klaren Art der Diktion eine große
Zahl von Freunden im In- und Auslande erworben hat, in er¬
neuter Auflage vor. Auch diesmal ist Verfasser bestrebt, den
neuen Errungenschaften und erweiterten Kenntnissen voll Rech¬
nung zu tragen, um den Lesern ein abgeschlossenes Bild über
die abgehandelten Wissensgebiete zu geben. So sehen wir manche
kleinere, darum aber nicht minder wichtige Aenderung im Texte
vorgenommen und begegnen vielfach neu eingeschalteten Kapi¬
teln, so über Kapselbildung, Membranverdickung der Bazillen im
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
675
Tierkörper, über' die erhöhte Resistenz „tierischer“ Bazillen gegen
die bakterizide Serumwirkung und Phagozytose gegenüber. °Im
Anschlüsse hieran bespricht Verf. die Schutzwirkung der Kapsel¬
stoffe. Die Frage der Organvirulenz, der komplexen Natur der
Komplemente und der chemischen Beschaffenheit derselben schil
dert Müller, den Arbeiten von F er rat a und Brand, be¬
ziehungsweise v. Lieber mann folgend. Die Besprechung der
Vorgänge bei der Hämolyse wäre keine vollständige, wenn "nicht
die Rolle der Lipoide bei derselben berücksichtigt würde. In der
Vorlesung über die bakteriziden und globuliziden Wirkungen von
Serum finden wir einen neuen Abschnitt über die Verschiedenheit
der bakteriziden Serum- und Leukozytenstoffe, an die sich die
Besprechung der Stimuline schließt, wie sie sich in der Gewebs-
und Stauungslymphe nachweisen lassen. Der Besprechung der
Art- und Organspezifizität, ferner der Paltauf scheu Zustands-
spezifizität von Immunseris, sowie der Frage der Eiweiß- oder
Lipoidnatur der Antikörper räumt Verf. einen breiteren Raum
ein. Weitere Ergänzungen des Textes finden sich in dem Kapitel1
über Lysine und Antilysine hinsichtlich Reaktionsbeschleunigung
und -Verstärkung, ebenso auch bei Besprechung der physikalisch-
chemischen Immunitätsreaktionen, betreffend ihre Beschleunigung.
Anschließend hieran bespricht Müller die von As coli entdeckte
Meiostagminreaktion. Entsprechend den gerade in das letzte Jahr
fallenden, umfangreichen Untersuchungen über Anaphylaxie hat
speziell dieses Kapitel eine besondere Erweiterung erfahren. Die
in der Theiapie der Infektionskrankheiten gemachten Fortschritte
fußen auf dem weiteren Ausbau der durch Ehrlich begrün¬
deten chemotherapeutischen Untersuchungen, die zur Entdeckung
seines neuen Arsenpräparates „606“ geführt haben. Bei der außer
ordentlichen Bedeutung, welche diesem Präparate für die Be¬
handlung der Lues zukommt, erscheint es begreiflich, daß es auch
in den vorliegenden Vorlesungen die entsprechende Würdigung
erfährt. Ebenso wie in therapeutischer Hinsicht, sind auch Fort¬
schritte aut dem Gebiete der Diagnostik, hier vorzüglich durch
Anwendung der Immunitätsreaktionen, zu verzeichnen ; so die
klinische Alexinprobe nach Moro, die Psychoreaktion von Much
und Holzmann, ferner die von Müller und Jochmann an¬
gegebenen antifermentativen Serumreaktionen. Die Anwendung
der Immunitätslehren auf gewisse pathologische Prozesse hat durch
die Untersuchungen von Faust das Verständnis der durch Bo-
thryozephalus bedingten enterogenen Anämien zu fördern ver¬
mocht, während das Studium der experimentell transplantierten
Tumoren nicht allein die atreptische Immunität, sondern auch die
mit ihr einhergehende Ueberempfindlichkeit aufdecken ließ.
Indem Müller alle diese Errungenschaften moderner For¬
schung in den Bereich seiner in jeder Hinsicht exakten Ausfüh¬
rungen ein bezieht, stellt er sein Werk auf jene Stufe der Voll¬
kommenheit, welche man weniger von einem kurzgefaßten Leit¬
faden, als vielmehr von ei nein Nachschlagewerk zu fordern be¬
rechtigt ist.
Memorias do Instituto Oswaldo Cruz.
Rio de Janeiro. — Manguinhos.
Die seit dem Jahre 1909 erscheinenden Mitteilungen aus dem
brasilianischen Institute Oswaldo Cruz bedeuten eine ganz
wesentliche Bereicherung der Literatur, speziell auf dem Ge¬
biete der Tropenkrankheiten; denn wir finden darin, wie die
folgenden Zeilen noch des näheren zeigen werden, eine stattliche
Anzahl äußerst gründlich und gewissenhaft durchgearbeiteter
Fragen. , i j j 1 ; j ? j $[ f:
Den ersten Band eröffnet eine Abhandlung : Leber Filtra¬
tion und Versuche, mit Hilfe derselben Diphtherie¬
serum zu konzentrieren, von Giemsa und Godoy, in
welcher die Verfasser zeigen, daß es gelingt, durch Filtration
von Diphtherieantitoxin durch „überschichtefce“ Agarfilter ein
Serum von dreimal höherer Konzentration zu gewinnen, ohne
höhere Wärmegrade oder chemische Agentien anzuwenden. Aller¬
dings ist ein solches Serum wegen seiner stark viskosen, sirup-
artigen. Beschaffenheit praktisch nicht Verwendbar. Die zoologische
Beschreibung einer neuen Pangonine, welche in fünf weiblichen
Exemplaren von Dr. Belisario Pen n, a in Barbacena ge¬
sammelt wurde, geben Lutz und Neiva, welche diese neue
-abanidenart E rep hops is au ri einet a benennen. In einem
sehr interessanten Aufsatze: Le serum anti-pesteux, zeigt
F. Vascon cellos, daß die Pestbazillen im Blute des infizierten
Pferdes sich in der Regel 24 Stunden am Leben erhalten, ohne
dabei eine besondere Temperatursteigerung bei den Tieren zu be¬
dingen. Besteht hingegen 24 Stunden nach der Impfung Fieber,
dann fehlen die Bazillen auch im Blute. Aus diesem Grunde er¬
scheint es notwendig, die Pferde mindestens 48 Stunden nach
der Infektion isoliert zu halten, da erst nach dieser Zeit bei nor¬
maler Temperatur die Bazillen aus dem Blute verschwunden sind.
Als: Beiträge zur Kenntnis der einheimischen Taba-
niden fauna, bringen Lutz und Neiva eine. Zusammenstellung
der oö in Brasilien verkommenden Tabaniden. Das Ergebnis
seiner sehr gründlichen Studien über Kernteilung bei Amöben
teilt H. de Beaurepaire Aragao in einem Aufsätze: Ueber
eine neue Amöbenart, Amoeba fliplomitotica, mit. Eine
Bereicherung unserer Kenntnisse über Plasmodien bedeuten die
Befunde von H. de Beaurepaire Aragao und Neiva. In ihrem
Aufsätze: A contribution to the study of the intraglo-
bular parasits of th ©^lizards beschreiben nämlich die
Autoren zwei neue Spezies von Blutparasiten bei der Eidechse:
Plasmodium diploglossi und Plasmodium tropiduri. Aus A. Fon¬
tes: Etudes sur la tuberculose, entnehmen wir, daß die
Säurefestigkeit des Tuberkelbazillus nicht von seinem Wachs¬
und Fettgehalt allein abhängig ist. Von dem Pseudotuberkelbazillns
läßt er sich durch geeignete Färbungsmethoden, die innerhalb
der Stäbchen Granula darstellen lassen, unterscheiden. Während
diese Bazillengranula mit der Resistenz der Bazillen in Beziehung
stehen, findet man in verkästen tuberkulösen Drüsen eine Sub¬
stanz, welche in vitro eine Verminderung emulsionierter Tuberkel¬
bazillen bedingen. Die höchste Wirksamkeit wird erzielt, wenn
dieser Körper etwa 120 Stunden auf die Bazillen einwirkt. Er¬
hitzen auf 65 bis 70° durch eine Stunde zerstört diese Substanz,
die auch nicht durch frisches Meerschweinchenserum aktiviert
wird ; sie verseift das Fett des Tuberkelbazillus, welches Palmitin-
und Stearinsäure enthält. Verf. halten diesen Körper für ein
hydrolysierendes Enzym. Endlich enthält das erste Heft des ersten
Bandes noch eine Arbeit A. Neivas: Beitrag zur Kennt¬
nis der Dipteren, in welcher Verf. über das Vorkommen der
verschiedenen Anophelen arten in Brasilien berichtet und ihre
Beziehungen zur Malaria schildert.
Im zweiten Bande begegnen wir zunächst einer Arbeit des
bekannten Mitgliedes des Berliner Institutes für Infektionskrank¬
heiten M. Hartmann, die über eine neue D arm am ö he,
Entamoeba testudinife, berichtet. Hiedurch ist die Zahl
der bisher bekannten Arten dieses Parasiten auf sieben ange¬
wachsen. Ln nouveau vaccin contre le char bon s y ni¬
pt, o mat ique beschreibt A. Godoy. In Va cm3 seiner Vakzine
sollen höchstens 200 Keime enthalten sein. Eine einzige Appli¬
kation seiner Vakzine soll genügen, die Tiere für längere Zeit
vor der Infektion zu schützen, zudem ist die Vakzine außerordent¬
lich haltbar. Wenn auch Godoy über eine Statistik seiner Vak-
zinationserfolge nicht verfügt, so spricht doch für dieselben der
enorme Anstieg der von ihm verabreichten Dosen, die inner¬
halb von vier Jahren von 11780 auf 188970 angewachsen sind.
In einem Artikel: Contribution towards the classifica¬
tion of brazilian Entozoa, beschreibt Gomes de Faria
einen neuen Parasiten der Gallenblase bei Eunectes murina und
gibt ihm den Namen Dicrocoelium infidum'. Zwei Beobach¬
tungen über Infektionen durch Paratyphus- u n d
EnteritidisbazilLen schildert A. Moses. Außerordentlich
interessant und gründlich sind die zoologischen und biologi¬
schen Untersuchungen über Polytomelia agilis, von
H. de Beaurepaire Aragao, der hiemit ein neues Genus und
eine neue Spezies von Süßwasserprotozoen aufstellt. Unter den
dipterologischen Notizen von A. Lutz finden wir die
Beobachtung, daß die Flugzeit der Diotomineura longipennis mit
der Höhe des Winters zusammenfällt, ferner die Beschreibung
melanotischer Exemplare von Sarkophaga und Stomoxys, endlich
eine Zusammenstellung von Sarkophagaarten von Sao Paulo. Einen
großen Teil des zweiten Bandes nimmt eine außerordentlich exakte
und mit peinlicher Gründlichkeit dnrehgearbeitetc Flagellaten-
Studie von M. Hartmann und C. Chagas ein. Bei seinen Stu¬
dien Ueber die Keimung der Sporen stellt Godoy lest,
676
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
daß sich für die Keimung der Sporen keine Anfangszeit aufstellen
läßt. Die Erscheinung verläuft, wie wenn sie in einer unendlich
kurzen /eit begonnen hätte; ihre Geschwindigkeit entspricht einer
Konstanten K — 0 0158 hei einer Temperatur von 22-8°. Verf. meint,
daß sich die Keimung der Sporen mit einer monomolekularen Zer¬
störung vergleichen läßt und daß sie hinsichtlich des Tempe¬
raturein flusses wahrscheinlich der Van t’Hoff-Arrhenius
Regel entspricht. Ueber die Bildung einer chininros i-
stenten Rasse des Malariaparasiten berichtet A. Neiva
auf Grund eigener Beobachtungen, daß die anfänglichen Dosen
von Chinin zur Malariabekämpfung allmählich gesteigert werden
müssen, daß ferner Leute, die infolge regelmäßigen Chiningenusses
frei von Malariaanfällen sind, dieselben wieder bekommen, wenn
sie in einem malariafreien Ort die Chininmedikation aussetzen
und endlich, daß anfangs therapeutisch wirksame Dosen ihre
Wirkung mit der Zeit verlieren. A. Fontes: Bemerkungen
über die tuberkulöse Infektion und ihr Virus gipfeln
in der Auffassung, daß die tuberkulöse, Infektion durch die Gra-
uula des Bazillus, welche die Lebenseinheit desselben darstellen,
verursacht wird. Ferner zeigen 160 Versuche an Meerschwein¬
chen, die mit virulenten Tuberkelbazillen infiziert wurden, daß
durch Injektion von Tuberkulozirase eine Abschwächung der In¬
fektion erfolgt.
L. v. Prowazek liefert einen lesenswerten Beitrag zur
Kenntnis der Protozoen fauna. Brasiliens; demselben
liegt ein genaues Studium der in der Nähe von Manguinhos gefun¬
denen Protozoen zugrunde. Keine einzige der beobachteten Spezies
findet sich nicht auch in Europa, ein neuer Beweis für das kos¬
mopolitische Vorkommen aller freilebenden Protozoen. Tn wei¬
terer Fortführung ihrer Amöbenstudien berichten M. Hartmann
und Chagas: U e b er die Kernteilung v o n A moeba h y-
alina. Einer Arbeit von C. Chagas liegen eigene eingehende
zytologische Studien über A d e 1 e a Hartmanni ein
neues Kokzidium aus dem Darme von Dysdercus ru-
ticollis zugrunde. A. Fontes, der seine Studien über Lu-
berkul ose fortsetzt, findet, daß die Granula des Tuberkelbazillus
von einer chromatinartigen Substanz gebildet werden, die als Ber¬
einigung lebender Einheiten den Tuberkelbazillus darstellen. Die
reproduktionsfähigen Granula dienen bei der Tuberkulose der¬
selben Funktion, wie die Konidien bei den Pilzen. Es gehen
die im tuberkulösen Eiter enthaltenen Granula durch Berkefeld-
filter und bewirken beim Meerschweinchen den Beginn der tuber¬
kulösen Reaktion, indem sie hier Bazillen hervorbringen. Bei¬
träge zur Biologie des Conorhinus megistus liefert
A. Neiva, die dadurch von ganz besonderem Interesse sind,
als diese Wanze, wie Chagas zeigen konnte, als Uebertrager der
durch das Schizotrypanum Cruzi verursachten menschlichen Try-
panosomiase fungiert. Ein zweiter Beitrag zur Kenntnis
der brasilianischen S im ul iu mar ten gibt A. Lutz Ge¬
legenheit, 20 Spezies davon zu beschreiben, von denen neun
neu gefundene Arten sind. Ueber Dysenterieserum und
seine Wertbestimmung berichtet A. Moses. Bei seinen
Versuchen bestimmt er die bakterizide Kraft seines Tmmunserums,
ferner den Agglutinationstiter, dann stellt er die Opsonine gegen
Dysenterie in seinem Serum fest. Unsichere Resultate ergab ihm
die Komplementbindungsmethode. Unmöglich war es ihm, ein
rein bakteriolytisches Serum ohne antitoxische Eigenschaften dar¬
zustellen. Bei der Bestimmung der kurativen und präventiven
Wirkung des Serums hielt sich Verf. daran, daß 0-1 cm3 Tmmun-
serurn am Kaninchen eine Heilwirkung zeigt, wenn vorher
die vierfache Dosis letalis minima einverleibt wurde. Endlich be¬
schreibt Gomes de Faria in einer dritten Mitteilung: Con¬
tribution towards the classification of b r a z i 1 i a n
Entozqa, eine neue, bei Hunden und Katzen vorkommende
Ankylostomenspezies, das Ancylostomum braziliense.
*
Erkältung als Krankheitsursache.
Von Dr. Karl Chodounsky, k. k. ord. Professor der böhmischen med.
Fakultät in Prag.
Zweite, durch einen Nachtrag ergänzte Ausgabe.
Wien und Leipzig 1911, Verlag Josef Safäf.
Wenn Chodounsky in einer zweiten Auflage seiner früher
., Erkältung und Erkältungskrankheiten“ betitelten Monographie
der von ihm vertretenen Anschauung, daß Erkältung weder eine
direkte noch indirekte Krankheitsursache abgibt, neuerdings Aus¬
druck verleiht, so fällt es auf, daß er für seine Meinung neue
Argumente nicht aufzubringen in der Lage ist. Denn zu dem
ursprünglichen Texte seiner Abhandlung finden sich keine Er¬
gänzungen, ja nicht einmal die geringsten Veränderungen, sogar
die Druckfehler der ersten Auflage' blieben unberührt stehen. 1st
schon so für den von Chodounsky vertretenen Wissenszweig
der mittlerweile verstrichene -Zeitabschnitt völlig spurlos vor¬
übergegangen, so scheint dies merkwürdigerweise auch für die
Person des Autors selbst zu gelten. Wie im Jahre 1907 schreibt er ■
auch heute: „Die folgenden 27 Selbstversuche habe ich vor
sechs Jahren unternommen, im 57. Lebensjahre, usw. Sollten
Chodounsky die Experimente am eigenen Leibe, wobei er sich
Temperaturunterschieden aussetzt, deren Vorstellung allein bei
einem weniger Gestählten höchst unangenehme Sensationen aus
löst, eine solche 'Widerstandskraft verliehen haben, daß nicht -
nur die verschiedensten Temperaturen in rascher Aufeinander- i
folge auf ihn einwirken können, ohne seine Gesundheit auch .
nur im geringsten zu tangieren, sondern daß sogar der Zahn |
der Zeit seiner glänzenden Konstitution nichts anhaben kann v -
In dem ergänzenden Nachtrag berichtet ( hodounsky über |
die Nachprüfung der Siegel sehen Versuche, die er nicht be¬
stätigen kann. Die von Siegel bei Hunden beobachtete Albu¬
minurie durch Abkühlung der Extremitäten faßt Chodounsky
als eine orthostatische auf, da sie ausbleibt, wenn die Tiere in
normaler Stellung der Kälteeinwirkung ausgesetzt werden. Den j
Versuchen von Ranzoni gegenüber wendet Verf. ein, daß Meer¬
schweinchen zu Abkühlungsversuchen ungeeignet seien. Endlich
zeigt Chodounsky noch an einer Beobachtung von Hrucir.
daß eine Anzahl von Individuen verschiedenen Alters, die im
Februar in die Eger gestürzt waren, und bei Temperaturen um
0° in durchnäßten Kleidern durch mehrere Stunden einem
kräftigen Winde ausgesetzt blieben, trotz dieser gewaltigen Ab¬
kühlung keine Erkrankung akquirierten. Auch die statistischen
Zusammenstellungen über klimatische Einwirkungen von S equip¬
ping lassen nach dem Verfasser keinen Schluß auf die Existenz
echter Erkältungskrankheiten zu.
*
Luftzug, atmosphärische, klimatische Einflüsse und die
Erkältung.
Eine Satire für Aerzte.
Von Dr. B. Ernst.
Mit einem Nachwort von Dr. K. Chodounsky.
Wien und Leipzig 1911, Verlag Josef Safäf.
In wohltuender Kürze, ohne auf die Literatur einzugehen,
oder eigene Versuche zu bringen, führt Ernst die Argumente
vor, welche ihn zu der Anschauung führen, daß es Erkältungs¬
krankheiten nicht gibt. Warum er seine Broschüre eine Satire
nennt, ist aus der Darstellung nicht zu entnehmen, denn sie ent¬
behrt aller Eigenschaften einer Satire. Dies scheint auch Cho¬
dounsky empfunden zu haben, da er in dem Nachwort selbst
erwähnt, daß die Satire sich nicht gut zur Illustrierung aller
der groben Unmöglichkeiten und Widersprüche eignet wie sie in
der Erkältungsfrage in so reichem Maße sich finden.
*
Das Radium in der Biologie und Medizin.
Von Professor F. S. London, Leiter der pathologischen Abteilung am
kais. Institut für experimentelle Medizin zu St. Petersburg.
Leipzig 1911, Akademische V e r lag s ge s e 11 s c h af t.
Die vorliegende Monographie bringt eine Zusammenstellung
unserer Kenntnisse über das Radium, insoweit dieser Körper lüij
den Biologen und den praktische«! Arzt von Interesse ist. Der ob-,
gehandelte Stoff gruppiert, sich naturgemäß in zwei Teile, deren
erster die physikalischen und chemischen Eigenschaften des Roj
diums umfaßt, während der zweite, umfangreichere, der physio¬
logischen Wirksamkeit dieses Körpers gewidmet ist. Bezüglich des
Mechanismus der Radiumwirkung auf lebende Wesen sind wnj
vorläufig noch auf Theorien und Hypothesen angewiesen, so
daß eine Einteilung der Materie von diesem Gesichtspunkte au>
zurzeit noch nicht möglich ist. Es erschien daher notwendig, duj
Wirkungen des Radiums der Reihe nach auf Bakterien, niedere
t
Nr 19
WIENER KLINISCHE
Pilze, Fermente, Toxine, Antitoxine, Pflanzen, niedere Ti er Orga¬
nismen und auf einzelne Gewebe und Organe zu schildern, um
dann erst auf die Allgemeinwirkung des Radiums und der Ema¬
nation auf höhere Lebewesen ü herzugehen. An diese schließt
sich dann die Besprechung der Radiumtherapie. Was speziell die
Radi u me m an a ti onsbäder anlangt, so kann ihre therapeutische
Wirkung ausschließlich nur auf die Einatmung der aus dem
Wasser entweichenden Emanation bezogen werden.
Wie aus der höchst lesenswerten Monographie Londons
zu entnehmen ist, hat die Entdeckung des Radiums sowie des
Studiums seiner Eigenschaften nicht allein der Chemie und
Physik, sondern auch der Physiologie und der praktischen Me¬
dizin neue Gebiete erschlossen. Denn sind hiedurch auf der einen
Seite die Vorstellungen über Bau und physikalische Eigenschaften
der Elemente ganz wesentlich gefördert worden, so hat auch
die Physiologie daraus einen nicht zu unterschätzenden Nutzen
gezogen. Und wenn wir unjs .auch bis heute noch nicht über
das eigentliche Wesen der physiologischen Radiumwirkung klar
sind, so gebührt dem Radium doch jetzt schon ein erster Platz
unter den Mitteln zur Behandlung oberflächlicher Haut- und
Schleimhautaffektionen. Sache weiterer Arbeit wird es sein, die
bereits verzeichneten Erfolge der Radiumtherapie akuter und
chronischer Allgemeinerkrankungen weiter auszubauen.
*
Hämolysine, Zytotoxine und Präzipitine
Von Professor Dr. A. v. Wassermann, Geheimer Medizinalrat
Neu bearbeitet und ergänzt von Dr. J. Leuclis und Dr. M. Wassermann.
Leipzig 1910, Verlag J. A. Barth.
Der in v. Volkmanns Sammlung klinischer Vorträge im
Jahre 1902 erschienene, gleichnamige Aufsatz von A. Wasser-
mann diente den beiden Verfassern als Grundlage der vorliegen¬
den Bearbeitung unserer Kenntnisse über Hämolysine, Zytotoxino
und Präzipitine. Entsprechend der Erweiterung und der Ver¬
tiefung unseres Wissens auf diesen Gebieten mußten auch die
beiden Autoren die vor acht Jahren verfaßte Zusammenstellung
A. Wassermanns ganz wesentlich ergänzen, damit das neue
Werk seinem Zwecke -entspreche, -den praktischen Arzt nicht
allein in die Lehren der Immunitätsforschung und Serologie ein-
zuführen, sondern ihm auch einen allgemeinen Ueberblick über
die Errungenschaften dieser Disziplinen zu verschaffen. Es ist
selbstverständlich, daß hiebei von -einer Schilderung der ein¬
zelnen Details Abgang genommen werden konnte und daß speziell
eine Erörterung noch unentschiedener Fragen nach Möglichkeit
vermieden wurde. In die Bearbeitung des Stoffes teilten sich die
Autoren in der Weise, daß Leuchs die Schilderung der Hämo¬
lysine übernahm, während M. Wassermann die Zytotoxine
und Präzipitine bespricht.
*
Die Immunitätswissenschaft.
Eine kurz gefaßte Uebersicht über die Immunotherapie und -diagnostik
für praktische Aerzte und Studierende.
Von Dr. Haus Much, Oberarzt am Eppendorfer Krankenhaus.
Würzburg 1911, Verlag Kurt Kabitzscb (A. Stüber).
Ganz ähnlich, wie bei dem eben besprochenen Werke, ist
auch dieser Monographie eine vor Jahren von Much selbst
zusämmengestellte kurze Uebersicht der Immunitätserscheinungen
vorausgegangen. Bei der großen Zahl der in letzter Zeit erschie¬
nenen, das gleiche Thema behandelnden Werke, sieht es fast
wie ein Wagnis aus, abermals mit einer neuen Zusammenstellung
der Immunitätsphänomene in die Oe-ffentlichkeit zu treten. Trotz¬
dem aber muß Muchs übersichtliche Darstellung als eine ganz
besonders gelungene bezeichnet werden. Denn nicht allein
die leicht faßliche Ausdrucksweise kommt seinem Werke zu¬
statten, sondern auch das Bestreben, ein Werk zu veröffentlichen,
welches, in erster Linie für den Praktiker bestimmt, ihn nicht
nur über die rein theoretischen Fragen orientiert, vielmehr auch
selbst in die Lage versetzt, praktisch die Errungenschaften der
hnmunitätslehre zu verwerten. Um dies zu erreichen, hat Much
jedem einzelnen Kapitel eine genaue Schilderung der entspre¬
chenden Technik zweckmäßig angegliedert. Was die Einteilung des
Stoffes selbst anlangt, so beginnt Much mit einer mehr allgemein
gehaltenen Darstellung des Wesens der Immunität und der Viru¬
lenz, um dann das Prinzip der Immunisierung zu entwickeln.
WOCHENSCHRIFT. 1911. 677
Daran schließen sich schon Erörterungen von praktischem Inter
esse, indem die Immunisierung gegen Gifte besprochen wird. In
das Kapitel über die endotoxisch wirkenden Mikroorganismen
werden zusammenhängend die Aggressine und Opsonine, nament¬
lich im Hinblick auf ihre praktische Bedeutung geschildert, ebenso
auch das Phänomen der Anaphylaxie, welches nicht nur bei
der Serumkrankheit, sondern auch bei Urtikaria, Heuschnupfen
und Eklampsie auf das Gebiet der praktischen Medizin übergreift.
Einen größeren Abschnitt umfassen Muchs Ausführungen über
die Immunkörper und ihre diagnostische Verwendung; denn für
den praktischen Arzt erscheint es ebenso von Wichtigkeit, die
verschiedene Anwendungsweise der Präzipitinreaktion zum foren¬
sischen Blutnachweis, zur Prüfung von Nahrungsmiltelveifälschun-
g-en usw. zu kennen, als über die Gruber- Widalsche Agglu¬
tinationsprobe vollkommen orientiert zu sein, oder die Was ser¬
in a mische Komplementbindungsreaktion zu. verstehen und even¬
tuell auch ausführen zu können. Erschien es notwendig, in dieses
Kapitel auch die Meiostagminreaktion aufzunehmen, so konnten
bis zu einem gewissen Grade auch Wiederholungen nicht ver¬
mieden werden, indem sowohl die Opsonin- als auch die ana¬
phylaktische Tuberkulinreaktion hier notwendigerweise ein¬
bezogen werden mußten. Zum ersten Male finden wir dann in
einer derartigen Zusammenstellung die Beziehungen der Serologie
zur Psychiatrie eingehender geschildert. Den Schluß des schönen
Werkes bildet ein mehr spezieller Abschnitt, in welchem die ein¬
zelnen Krankheiten mit Rücksicht auf die Ergebnisse der Im-
tnunitätsforschung der Reihe nach erörtert werden. Hiebei trifft
Much die Einteilung in Toxin-, Endotoxin- und Protozoenkrank¬
heiten, in maligne Tumoren, Tierseuchen und Seuchen, die durch
säurefeste Bakterien hervorgerufen werden. Daß Muchs Aus¬
führungen auf der Höhe der modernen Forschung stehen, beweist
die Tatsache, daß selbst die Errungenschaften allerneuester Zeit
aufgenommen worden sind. So finden wir nicht allein die Meio¬
stagminreaktion ausführlich beschrieben, sondern im Abschnitte
über Protozoenkrankheiten auch einen Anhang, die Chemotherapie
betreffend und in dem Kapitel über maligne Tumoren, die unsere
Erkenntnis der Karzinomerkrankung wesentlich fördernde
Freund sehe Reaktion geschildert.
*
Die experimentelle Chemotherapie der Spirillosen.
(Syphilis, Rückfallfieber, Ilühnerspirillose, Frambösie.)
Von Paul Ehrlich und S. Hata.
Mit Beiträgen von H. J. Nicliols-New-York, J. Iversen-St. Petersburg,
Bitter-Kairo und Dreyer-Kairo.
Berlin 1910, Verlag Julius Springer.
Die vorliegende Arbeit bringt eine außerordentlich inter¬
essante und genaue Schilderung der schönen Untersuchungen
Ehrlichs und seines Schülers Hata, die zur Entdeckung des
mittlerweile so berühmt gewordenen Dioxydiamidoarsenobenzols
(„606“) geführt haben. Wie unendlich mühevoll der Weg war,
den die beiden Forscher, ohne zu ermüden, zurückzulegen hatten,
geht ohne weiteres ans der enorm großen Zahl von Versuchen
hervor, die mit einer ganzen Reihe systematisch und zielbewußt
hergestellter Arsenpräparate vorgenommen werden mußten. Ihre
exakten Untersuchungen gewannen noch dadurch an Umfang, als
nicht allein das Verhalten einer Spirochätenart den Arsenpräpa¬
raten gegenüber studiert wurde, sondern daß erst nach Feststellung
der Wirksamkeit gegenüber den Spirillen des Rückfällfiebers und
der Hühnerspirillose die entsprechenden Heil vors uche an Kanin¬
chen mit künstlich übertragener Syphilis in Angriff genommen
wurden. Nur auf Grund mit so peinlicher Sorgfalt durchgeführter
Tierexperimente konnte Ehrlich zu dem erhebenden Ergebnis
der Entdeckung spezifisch und ätiologisch wirkender Heilmittel
gegen Protozoenkrankheiten u. zw. speziell gegen Spirillosen und
unter diesen in erster Linie gegen Lues, gelangen. Dabei erstreckt
sich die Wirkung des Dioxydiamidoarsenobenzols nicht nur auf
die Spirillen selbst, welche aus dem Organismus verschwinden,
sondern es befördert dieses Präparat auch die Resorption bereits .
gebildeter pathologischer Gew-ebsmassen. Die spezifische Wirk¬
samkeit von „606“ läßt sich ferner aus dem Verschwinden der
Wassermann sehen Reaktion schließen und geht auch aus
der Beobachtung hervor, daß hereditär - luetische Säuglinge, die
nur von der mit „606“ behandelten Mutter gestillt werden, ein
678
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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rasches Schwinden der luetischen Erscheinungen aufweisen, ein
Umstand, der annehmen läßt, daß durch die Injektion offenbar
im Körpergewebe Produkte frei werden, die als Antikörper auf-,
zufassen sind, zumal die Milch gar kein Arsen oder nur Spuren
desselben enthält. Als nicht spezifisch betrachtet dagegen Ehr¬
lich die wunderbar schnelle Heilung, die auf rasche Resorption
und auf intensive Anregung des Epithels zur Proliferation beruht.
Was nun den therapeutischen Wert des Dioxydiamidoarseno-
benzols anlangt, so sieht Ehrlich ihn hauptsächlich in dem
Umstande, daß dieses Präparat unter den bisher gekannten Mitteln
spirillozid wirkt. Es hat außerdem den großen Vorteil, daß es
allem Anschein nach durch den Orthoamidorest verschiedene
Spirillosenerkrankungen (Syphilis, Rekurrens, Frambösie und
llülmerspirillose) gleichmäßig therapeutisch günstig beeinflußt, was
von ähnlichen Mitteln (Quecksilber, Atoxyl u. a.) nicht gilt. Außer¬
dem aber erweist sich dieses Präparat auch wirksam gegenüber
Trypanosomen, Malaria und auch Variola.
Als Stütze der im Tierexperimente gefundenen bedeutenden
Tatsachen sind eine Reihe von Beobachtungen am Menschen von
verschiedenen Autoren der einen Wendepunkt in der Therapie
der Syphilis bedeutenden Monographie Ehrlich-Hatas bei¬
gegeben. J. I verseil, der seine Erfahrungen über die Chemo¬
therapie des Rekurrens schildert, beschließt seinen Auf¬
satz wie folgt: „Wir haben im Dioxydiamidoarsenobenzol ein
Medikament, welches mit mathematischer Sicherheit imstande
ist, die Spirochäten des Rückfallfiebers im lebenden Blute zu
vernichten, ohne dem; Wirt zu schaden.“ H. J. Nichols bringt
eine „Vorläufige Mitteilung über die Wirkung der
Ehrlichschen Substanz ,606“ auf Spirochaeta perte-
nuis im Tierkörper“, die zeigt, daß 24 Stunden nach der
Behandlung im Kaninchenhoden Spirochäten nicht mehr nachweis¬
bar und daß nach weiteren 48 bis 72 Stunden auch die Hodenver¬
änderungen verschwunden waren. In gleich günstiger Weise wie
I versen sprechen sich auch Bitter und Dreyer in „Kurze
Mitteilung über die im Cairo infectious hospital be
handelten Fälle von Rückfallfieber“ aus.
Jahresbericht über die Ergebnisse der Immunitäts¬
forschung.
Unter Mitwirkung von Fachgenossen
herausgegeben von Dr. Wolfgang Weichardt, Privatdozent an der
Universität Erlangen.
V. Band 1909.
Stuttgart 1910, Verlag Ferdinand Enke.
Die Vielseitigkeit, Reichhaltigkeit und Vollständigkeit von
Weichardts Jahresberichten der Immunitätsforschung ließ es
notwendig erscheinen, daß von dem eigentlichen Referatenteile
die zusammenhängende Besprechung spezieller im Vordergründe
des Interesses stehender Kapitel getrennt wurde und daß somit von
nun an dieses Sammelwerk in zwei Bänden zur Ausgabe ge¬
langt. Durch diese Einführung ist es nicht allein möglich, daß
die entsprechenden zur Erörterung gelangenden Artikel eine aus¬
führliche und eingehende Besprechung erfahren,, sondern daß
einem Jahresberichte mehrere solche Abhandlungen beigegeben
werden können. Dieser Vorteil ergibt sich schon in dem vor¬
liegenden Berichte über das Jahr 1909, in dem sich nicht allein
ein übersichtlicher und sorgfältig zusammengestellter Aufsatz
„Ueber aktive Resistenzerhöhung gegen Tuberku¬
lose“, von E. Levy, findet., sondern auch ein sowohl inhaltlich
als formell gleich wertvoller Artikel von C. Lewin, „Die Be¬
ziehungen der Immunitätsforschung zu den bös¬
artigen Geschwülsten“- betreffend, wobei sich der bekannte
Autor nicht bloß auf die Wiedergabe der in der Literatur hinter¬
legten Befunde beschränkt, vielmehr auch eigene, noch nicht ver¬
öffentlichte Untersuchungen zur Sprache bringt. Zwei weitere
Aufsätze berücksichtigen mehr die -praktisch wertvollen Ergeb¬
nisse der Immunitätsforschung, indem H. Lüdke uns in einem
mit gründlicher Sorgfalt durchgearbeiteten Artikel, „Die Bedeu¬
tung der Immunitätsforschung für die innere Klinik“,
vor Augen führt, während G. Meier als Fortsetzung seines mehr
theoretischen Sammelreferates im vorangegangenen Jahresberichte
eine für Praktiker und Theoretiker gleich lesenswerte Zusammen¬
stellung „Ueber Komplcmentbindung, mit besonderer
Berücksichtigung ihrer praktischen Anwendung“,
bringt.
Gleichwie in den früheren Jahrgängen dieses in jeder Hin¬
sicht mustergültigen Werkes leitet auch diesmal Weichardt
seinen Jahresbericht mit einer mehr allgemein gehaltenen Ueber-
sicht über die besonders bemerkenswerten Fortschritte der Im¬
munitätsforschung während des Berichtsjahres ein. In dieser Hin¬
sicht wurde speziell das Studium der parenteralen Verdauung
einer Eiweißart durch ein spezifisches Serum neuerdings aufge-
liommen und damit auch die Anaphylaxie in Zusammenhang ge¬
bracht. Dann sind die interessanten Versuche Abderhaldens
mit polarisiertem Lichte zwecks Untersuchung der Wirkung be¬
stimmter Fermente, ferner die Fortführung der Ehrlichschen
Experimente zum Ausbau seiner Chemotherapie und die As
coliscbe Meiostagminreaktion gewiß Leistungen, deren Bedeutung
nicht zu unterschätzen ist. Was das eingehendere Studium spe
zieller Erscheinungen und einzelner Krankheiten anlangt, so
wandten zahlreiche Autoren ihre Aufmerksamkeit der Anaphylaxie
zu; ferner schlossen sich an die Untersuchungen L. Heims von
verschiedenen Seiten unternommene Experimente zur Erschlie¬
ßung neuer Quellen von Schutzstoffen. Die Frage der Tuberkulose¬
immunität war auch in diesem Berichtsjahre Gegenstand eifriger
Forschung, desgleichen das Studium der Meningitis hinsichtlich
ihrer Beeinflussung durch das spezifische Immunserum. Und wenn
auch speziell auf diesen engeren Gebieten ein durchschlagender
Erfolg noch nicht zu verzeichnen ist, so blieben doch schätzens¬
werte Erweiterungen unserer Kenntnisse nicht aus, die sich aucii
vielfach auf mehr theoretisch wichtige Probleme erstrecken und
sich namentlich auf die Erscheinungen der Hämolyse beziehen.
Als ein besonderer Vorteil von Weichardts Jahresbericht
ist es anzusehen, daß seine bewährten Mitarbeiter ihm wie bisher
bei seiner mühevollen Arbeit mit rastlosem Eifer zur Seite stehen,
denn hiedurch wird dem ganzen großen Werke eine besondere
Einheitlichkeit gesichert, deren sich nur wenige derartige Unter¬
nehmen rühmen können. Daß Weichardt selbst immer be¬
müht ist, durch Vermehrung und Erweiterung des Referatenteiles
seine Jahresberichte auf die höchste Stufe der Vollkommenheit
zu bringen, beweist heuer wieder die Gewinnung Schürmanns
als Referenten für die Arbeiten aus dem Berner Institute für
Infektionskrankheiten und Aokis für die japanische Literatur.
*
Würzburger Abhandlungen aus dem Gesamtgebiet der praktischen
Medizin, XI. Band, 1. Heft 1910.
Ueber Anaphylaxie (Ueberempfindlichkeit) im Lichte
moderner eiweißchemischer Betrachtungsweisen.
Von Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Weichardt.
Würzburg 1910, Verlag Kurt K a b i t z s c h.
Der vorliegende Aufsatz wurde von Weichardt im Fort¬
bildungskurs der mittelfränkischen Aer'zte zu Nürnberg gehalten
und schildert die Entwicklung unserer Kenntnisse über Ana¬
phylaxie. Auf Grund eigener Erfahrungen und Untersuchungen
anderer erklärt Verf. das Zustandekommen der Anaphylaxie wie
folgt: „Durch wiederholte Einverleibung körperfremden Eiweißes
entstehen zytolytische, d. h. dieses Eiweiß verdauende Antikörper.
Diese vermögen nun das nach einer gewissen Zeit nochmals
einverleibte Eiweiß rasch zu zerschlagen und hieraus resultieren
Störungen, da ja die Eiweißbausteine bei der Injektion parenteral,
nicht im Darmkanal frei werden.“ Ganz neu und eigenartig ist
der von Weichardt mitgeteilte Fall von Anaphylaxie eines
Kollegen gegen Wittepepton, die ihm dein Vorteil bringt, durch
einfaches Aufschnupfen, Wittepepton von Seidenpepton unter¬
scheiden zu können.
*
Klinisches Jahrbuch, Bd. 23.
Die übertragbare Genickstarre.
Von Professor Dr. Otto Busse, Medizinalrat und Vorsteher der patholog.-
anatom. Abteilung.
Jena 1910, Verlag G. Fischer.
Trotz der reichlich in der Literatur vorliegenden Publika¬
tionen über die epidemische Zerebrospinalmeningitis bildet die
vorliegende Arbeit eine willkommene Ergänzung, indem sie nicht
allein eine geschichtliche Uebersicht unserer Kenntnisse auf diesem
Gebiete bringt, sondern auch die gesammelten Erfahrungen lun
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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sichtlich der Epidemiologie, des klinischen Verlaufes, der Aetio-
logie, sowie der Therapie und Bekämpfung dieser Erkrankung
einer kritischen Revision auf Grund eigener Erfahrung und reicher
Beobachtung unterzogen werden. Eine besondere Bereicherung
erfährt hiebei die pathologische Anatomie der Genickstarre; denn
Busse verfügt über die stattliche Zahl von 58 Obduktionen
aus den verschiedensten Stadien der Erkrankung. Zusammen mit
zahlreichen, selbst vorgenommenen Obduktionen auf anderen Ur¬
sachen beruhender Meningitisfälle stellt Busses [Jntersuchungs-
material eine auserlesene Sammlung von Präparaten zur gründ¬
lichen Erforschung der Meningitis epidemica vom Standpunkte
des pathologischen Anatomen und Histologen dar, ein Vorteil,
der um so höher einzuschätzen ist und dem Verfasser zu beson¬
derem Verdienste angerechnet werden muß, da gerade diese Rich¬
tung der Forschung bisher bei der in Rede stehenden Krankheit
relativ vernachlässigt worden ist. Um seine Ausführungen nicht
durch mehr nebensächlichen Ballast zu beschweren, verzichtet
Busse auf die Wiedergabe von Krankengeschichten und Obduk¬
tionsprotokollen und begnügt sich damit, seine interessanten Be¬
obachtungen in die Darstellung einzuflechten, um auf diese Weise
die Befunde und ihre Deutung zu ergänzen und, wo sie einer
Korrektur bedürfen, richtigzustellen. Gewinnt schon so die auf den
ersten Blick als zusammenfassende Arbeit imponierende Mono¬
graphie mehr den Charakter origineller Forschung, ohne daß
jedoch die vorliegende Literatur eine Vernachlässigung erfahren
würde, so zeigt sich beim Eingehen auf die einzelnen Details,
daß Busses Ausführungen einen wesentlichen Fortschritt unserer
Kenntnisse über die epidemische Genickstarre bedeuten. Die Be¬
sprechung des in seinen Einzelheiten gleich wertvollen Buches
wäre keine vollkommene, würde man nicht die Exaktheit in der
Ausführung der reichlich mitgegebenen färbigen Tafeln, welche
sowohl makroskopisch als mikroskopisch erhobene Befunde glän¬
zend wiedergeben, besonders hervorheben. Jo anno vies.
Aus tfersehiedenen Zeitsehriften.
477. Ueber die Bereitung von Impfstoff der
»Deutschen Pestkommission 1899« bei Gefahr der
Annäherung einer L u n g e n p e s t e p i d e m i e im Jahre
1911. Von Prof. Dr. Martini, Marineoberstabsarzt, Vorstand der
Bakteriologischen Untersuchungsabteilung und Wutschutzstation des
Gouvernements Kiautsc-hou. Die deutsche Pestkommission (Gaffky,
Pfeiffer, Sticker und Dieudonne) hat 1898 in Indien die
Impfung des Menschen gegen Pest mittels einer bei 65° C in ein
bis zwei Stunden abgetöteten Pest-Schrägagarkultur empfohlen. Sie
wurde zuerst am Affen, dann am Menschen ausprobiert, doch sind
Erfahrungen an einem größeren Menschenmaterial seither nicht be¬
kannt worden. Aus einem Lungenpeslfall der Provinz Schantung
(Dr. Prieur) züchtete Verf. »höchstvirulente« Pestbakterien —
das notwendige Erfordernis für die Herstellung aussichlsvollen 1
Schutzimpfstoffes — frisch heraus und bereitete in wenigen Wochen |
eine große Menge (etwa 1000 Dosen) eines brauchbaren Impfstoffes. !
Vieles mußte improvisiert werden. Da Kollesche Schalen fehlten, j
wurden zylindrische Flaschen aus starkem Glase mit immerhin noch ;
weitem Halse benützt. Die 12 kleineren boten Raum für je 8, die \
3 größeren für je 10 Schrägagarkulturen. Die Beimpfung fand in ;
folgender Weise statt; Ein Schrägagarröhrchen mit Pestkultur, die j
je nach Wachstum 1 bis 2 Tage alt gewählt wurde, wurde mit jj
4 cm3 physiologischer Kochsalzlösung beschickt und dann der j
Kulturrasen abgekratzt ; er wurde dann tüchtig mit der Lösung ge- j
mischt, bis er ohne grobe Bakterienbröckel war und milchig aus¬
sah. Von dieser Aufschwemmung wurden jedesmal in jede der
15 Flaschen 0'20 cm3 tropfen gelassen, u. zw. so, daß die ganze
Agarfläche damit befeuchtet war ; sodann wurden die Flaschen mit
dem Wattebausch geschlossen und Kondenswasser über die Fläche
3- bis 4mal laufen gelassen. Dann kamen sie in den Brutschrank
von 28 bis 30° C und wurden dort schräg im Winkel von etwa
45° gelegt. Am nächsten Tage war jedesmal die ganze Fläsche zart
bewachsen ; nur einzelne größere Kolonien traten auf diesem feinen
Rasen hervor; die spezifische Agglutination erwies auch die letzteren
als Pest. Man ließ wieder das Kondenswasser mehrmals über die
Fläche rieseln, fand nach 48 Stunden einen ziemlich gleichmäßigen
Bakterienrasen, überrieselte ihn wieder mit Kondenswasser und kratzte
die Kultur mit dicker PJatinnadel ab. Der Rasen wurde mit 2 cm3
Kochsalzlösung pro Kulturmasse eines gewöhnlichen Schrägagarröhr¬
chens (mit 16 cm3 für die kleinen und 20 cm3 für die großen
Flaschen) übergossen, nochmals abgekratzt und schließlich in
Erle nmey er sehe Kölbchen verteilt. Diese kamen in den
Schüttelapparat, der auf 65° C gebracht wurde und wurden nun bei
dieser Temperatur 2 Stunden lang geschüttelt. Sodann wurde alles in
einen 300 cm3- Kolben zusammengegossen, auf Sterilität geprüft,
durch Tierversuche (Ratten) auf das Vorhandensein von lebenden
Peslbakterien geprüft (die Kulturen auf Agar und Bouillon blieben
steril, die Tiere nach kurzer Vergiftungsreaklion gesund), so¬
dann Karbolsäure hinzugefügt (0'5°/0), das ganze in einen Eis¬
schrank gestellt. Am nächsten Tage noch durch ein dünnes,
steriles Drahtnetz filtriert, auf Flächschen verteilt, welche dunkel
gestellt wurden. Als erste Einzeldosis ist für den Erwachsenen
1 cm3 dieser Vakzine, d. h. eine halbe Schrägagarkultur festgeslellt,
zur Erhöhung des Schutzes werden als zweite Dosis 2 cm3 nach
10 Tagen empfohlen. Die erste Dosis (subkutan unter die Bauch¬
haut) ruft ein handtellergroßes Infiltrat und geringe Schwellung der
regionären Lymphdrüsen hervor ; diese können recht empfindlich
werden. Geringes kurzes Fieber mit folgendem leichten Schwei߬
ausbruch können eintreten, meist Eingenommensein des Kopfes,
eine gewisse Taumeligkeit 1 bis 2 Tage lang. Dann bilden sich die
örtlichen Erscheinungen zurück, der Injizierte befindet sich wohl.
Ob der 7 bis 10 Tage später eintretende Schutz groß oder gering
ist, darübar fehlt noch jede Erfahrung. Dieses Mal wurde nur über
die Herstellung, Prüfung und Bereitstellung großer Dosen von Impf¬
stoff berichtet. — (Deutsche mediz. Wochenschr. 1911, Nr. 15.)
E. F.
*
478. Ueber einen im Hochgebirge (1500 in) mit
Blutinjektionen behandelten Fall von (progressiver,
perniziöser) schwerster Anämie. Von Dr. T i e c h e, Davos-
Dorf. Der Fall kam in fast moribundem Zustande zur Behandlung
durch Dr. Ti ec he. Da trotz des klimatischen Reizes, milder
Arsentherapie, diätetischer Behandlung, Kampferinjektionen usw.
der Zustand im großen und ganzen unverändert blieb, so entschloß
sich Dr. Tie che zu Blutinjektionen. Er entnahm1 aus der Ell¬
bogenvene einer Schwägerin der Patientin 10 cm3 Blut (nach
Stauung durch eine einfache Binde) und injizierte es möglichst
rasch der Patientin tief subkutan in den Rücken. Zwei Tage darauf
trat auffallende Besserung im Befinden ein, der Blutbefund besserte
sich auch. Nach weiteren zwei Tagen wird die Injektion von Blut
wiederholt; Patientin konnte bald gebessert entlassen werden und
die Besserung hielt auch zu Hause an (Bericht des Hausarztes nach
einem halben Jahre!). — Huber berichtet auch über günstige
Erfolge mit Injektionen von defibriniertem Blute, doch waren die
Erfolge nicht so prompt wie im Falle T i e c h e s, wo vielleicht doch
der Aufenthalt im Hochgebirge noch das Seinige dazutat, daß die
Blutinjektionen sich so wirksam erwiesen. — (Korrespondenzblatt
für Schweizer Aerzte 1911, 41. Jahrg., Nr. 2.) K. S.
*
479. (Aus der chirurgischen Abteilung des allgemeinen
Krankenhauses in Nürnberg und dem pharmakologischen Institut
Prof. Faust — der Universität Würzburg.) Ueber intra¬
venöse Narkose. Von Prof. L. Burckhardt. Verf. berichtet
über seine Erfahrungen bei 250 intravenösen Narkosen. Blut¬
schädigungen, Hämoglobinurie, ernstere Nierenreizungen, wenn
die Nieren vorher intakt waren, sind nicht vorgekommen. Man
hat darauf hingewiesen, daß die niedere Temperatur der infun¬
dierten Aetherlösung (28°) eine zu starke Abkühlung des Pa¬
tienten bewirke. Messungen des Verfassers vor und unmittelbar
nach der Narkose ergaben nur Unterschiede von 0-5 bis 0-7°.
Aber auch bei der Inhalationsnarkose war die Temperatur um
0-8 bis 1° gesunken. Blutdruckmessungen während der intra¬
venösen Narkose ergaben, daß eine erhebliche Steigerung des Blut¬
druckes nur stattfindet, wenn dieser entweder pathologisch er¬
niedrigt oder in einzelnen Fällen bei schwerer Arteriosklerose
mit abnormer Erhöhung des Blutdruckes. Hier ist Vorsicht ge¬
boten. Störende Blutungen während der Operation hatte Verfasser
nicht zu beklagen. Der schwerste Vorwurf gegen die Methode ist
die Gefahr der Thrombose und Embolie. Verf. hat keine solche
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
beobachtet. Er geht so vor, daß, wenn die Toleranz erreicht ist,
die Aetherlösung nur noch tropfenweise einfließt. Dazu dient
ein Hahn, der die genaueste Regulierung gestattet. Bei Wieder¬
kehr der Reflexe wird der Hahn für kurze Zeit geöffnet. Bei dieser
Technik hat Verfasser nie ein Gerinnsel an der Kanüle beob¬
achtet. Der Zusatz von Hirudin zur Aetherlösung hat sich nicht
bewährt. Von drei Patienten mit Hirudinzusatz starben zwei
am vierten Tage nach der Operation. Verf. hat im pharmakolo¬
gischen 'Institut in Würzburg noch intravenöse Injektionen mit
Urethan, Hedonal, Chloralhydrat, Isopral, Chloralamid, Veronal
und Medinal bei Kaninchen und Hunden geprüft. Die Wasser¬
löslichkeit ist Grundbedingung. Mit 2-5 bis 3 g Urethan intra¬
venös wurde bei Kaninchen durchschnittlich tiefe Narkose er¬
reicht. Mittlere Hunde bedurften 10 bis 15 g. Die lange Nach-
wirkung der Narkose ließ das Urethan für intravenöse Narkosen
am Menschen ungeeignet erscheinen. Hedonal ist weniger wasser¬
löslich. Nach 015 bis 0-23 g intravenös injiziert, trat bei Ka¬
ninchen tiefe Narkose ein. Die Tiere blieben nach der Narkose
oft noch eine bis . sieben Stunden im tiefsten Schlafe. Chloral¬
hydrat wurde bei Tieren versucht. Es hat den Vorzug, daß es gut
wasserlöslich ist, den Nachteil der Gefährlichkeit. Die Tiere
gingen meist an Atmungsstillstand zugrunde. Giani hat beim
Menschen eine intravenöse Narkose ausgeführt. Sie gelang; im
Harn viel Hämoglobin und Albuinen. Als Resultat der Isopral-
versuche ergab sich, daß dasselbe in 1- bis 2°/oigen Lösungen
sehr gleichmäßige, tiefe Narkosen der Versuchstiere bewirkte.
Die Narkosenbreite ist beim Isopral ziemlich beträchtlich. Er¬
wachen und Erholung erfolgte bald. Die zur Narkose benötigte
Flüssigkeitsmenge' war eine sehr geringe, die Infusion der Lösung
soll tropfenweise geschehen. Die Atmung wurde nicht alteriert.
Chloralamid erwies sich nach den Tierversuchen als ungeeignet
zur intravenösen Narkose, ebenso Veronal und Veronalnatrium.
Nach den Mitteilungen Fedoroffs entschloß sich Verf. zur
intravenösen Hedonalnarkose beim Menschen. Er verfügt über
zehn Fälle. Hedonal ist so wenig ungefährlich wie der Aether.
Es setzt den Blutdruck herab, kann Nierenreizung bewirken und
heftige Erregungszustände beim Erwachen. Der größte Nachteil
ist seine lange Nachwirkung; oft stundenlange Betäubung nach
der Narkose. In sechs Fällen wurden A ether-H edonalm ischiiärkosen
(5°/o Aether und 0-5n/o Hedonal) gemacht. In vier Fällen kam
es zu Albuminurie und Zylindrurie. Zwölf Patienten wurden durch
Infusion einer l-5°/oigen Isoprallösung narkotisiert. Vorzüge vor
Aether und Hedonal : Bedarf geringerer Flüssigkeitsmengen ; Vor¬
zug vor dem Hedonal, daß es rascher ausgeschieden wird, daß
die Patienten rasch und vollständig erwachen, führt aber wie
Hedonal in einigen Fällen zu Erregungszuständen. Manchmal Blut¬
drucksenkungen. In mehr als 70 Fällen wurde die intravenöse
Aethernarkose mit der Isopralnarkose kombiniert und so einwand¬
freie Resultate erzielt, daß diese Kombination zur Zeit am häu¬
figsten angewendet wird. Die Erfahrungen des Verfassers über
die intravenöse Narkose gehen dahin, daß diese Methode bei
richtiger Indikation und Technik relativ ungefährlich ist. Keine
besonderen Schädlichkeiten. Unter den mehr als 250 Fällen wurde
einmal eine Bronchopneumonie beobachtet. Viermal Eiweiß im
Harn, dreimal kam es zu Asphyxie infolge Ueberdosierung. Wieder¬
holt vorübergehende Atmungsstörungen. Es gehört natürlich eine
Hebung dazu, um vollkommene Resultate zu erzielen. Verf. hält
den Aether zunächst für das zweckmäßigste Anästhetikum zur
intravenösen Narkose. Er wirkt nicht ungünstig auf den Blut¬
druck, besitzt die Vorzüge der flüchtigen Narkotika der Fett¬
reihe, welche in der leichten Dosierbarkeit der Narkose und in
der raschen Wiederausscheidung des Narkotikums bestehen.
Zweckmäßig ist bei kräftigen Individuen die vorherige Injek¬
tion von Skopolamin-Morphium. Ganz besonders aber empfiehlt
Verf. die Kombination der intravenösen Aethernarkose mit der
intravenösen Isopralnarkose. Kontraindikationen bilden Myo-
degeneratio cordis, schwere Arteriosklerose, Nephritis, schwerer
Itkerus, Cholämie, Stauungserscheinungen und allgemeine Ple¬
thora. Indikation bei Kollapszuständen, bei Blutverlusten, bei
Kachexie und Erschöpfungszuständen, bei Störungen der Respira¬
tionsorgane, bei Operationen an Kopf und Hals, in der Mund-
und Rachenhöhle. — (Münchener medizinische Wochenschrift
1911, Nr. 15.) G.
480. U e her I n j e k t i o n s n a r k o s e mit P an t o p o n - S k o-
polainin. Von Dr. G. Brüstlein. Mit der Injektionsnarkose
Von- Pantopon-Skopolamin ohne Stauung hat Verf. sehr gute
Resultate erzielt; eine halbe bis drei Viertelstunden ante Opera¬
tionen! 0-04 Pantopon mit 0-0004 bis 0-0006 Skopolamin inji¬
ziert, ersetzten die Inhalationsnarkose beinahe vollständig, hu
Gegensätze erlebte Verf. in drei Fällen, da er diese Narkose nach
v. Bumm im verkleinerten Kreisläufe (Stauung der unteren Ex¬
tremitäten, eventuell noch eines Annes) versuchte, schwere Folge¬
erscheinungen, Delirien, schlechte Respiration, ungenügender Puls,
so daß Verf. hievor dringend warnt. — (Zentralblatt für Chirurgie
1911, Nr. 10.) E. V.
*
481. (Aus der chirurgischen Universitätsklinik zu Leipzig.
Direktor: Geh. Rat Prof. Dt. Trendelenburg.) lieber
Extraduralanästhesie für chirurgische Operationen.
Von Priv.-Doz. Dr. Läwcn. Dem Verfasser gelang es, die Ca¬
thel in sehe Injektionsmethode so weit auszubilden, daß er mit¬
tels derselben Anästhesie für eine Reihe chirurgischer Opera¬
tionen am After und Umgebung erzielen konnte. Er benützt dazu
eine 2- bis lV20/'oige Novokainbikarbonatlösung, welche wirksamer
ist als die entsprechende Lösung der Chloride des Novokains.
Die jedesmal frisch zu 'bereitende Lösung wird durch einmaliges
Aufkochen sterilisiert und erhält einen Zusatz von einigem Tropfen
Adrenalinlösung. Die Zubereitung der Lösung und die Injektions¬
methode werden genau beschrieben und mögen in der Original¬
arbeit studiert werden. Die Menge der zu injizierenden Flüssigkeit
beträgt 20 bis 25 cm3 (0-3 bis 0-4 Novokain). Die Flüssigkeit
wird in den Sakralkanal (extradural) injiziert, durchdringt hier
die Duralscheiden und gelangt direkt an die Nerven. Da die
Nervenscheiden verhältnismäßig dick sind, gehört eben eine stär¬
kere Konzentration des Anästhetikums dazu, um eine Anästhesie
zu erzeugen. Verf. hat die Beobachtung gemacht, daß nicht alle
Nerven, die in den entsprechenden Sakralsegmenten wurzeln,
durch diese Methode ausgeschaltet werden können, sondern nur
die dünnsten und feinsten Stämmchen, an welche das Novokain
leichter gelangen kann, also vor allem Nervi anococcygei, Nervus
pudendus, Nervi haemorrhoidales inferiores, Nervi perinei, Ner¬
vus dorsalis penis. Nervi vaginales; niemals wurden der Nervus
peroneus und der Nervus tibialis in ihrer Leitung vollkommen
unterbrochen. Die Anästhesie ist in 10 bis 25 Minuten ausgebildet,
sie fängt in der Gegend zwischen Steißbeinspitze' und hinterer
Afterzirkumferenz an, schreitet nach vorne weiter, erstreckt sich
auf den Damm, dann auf Skrotum, Penis, Glans; anästhetisch
werden ferner der untere Abschnitt des Rektums mit Prostata,
Harnröhre, Vulva, Vagina. Der Inhalt des Skrotums wird nicht
anästhetisch, weil er von höher gelegenen Rückenmarkssegmen¬
ten seine Nerven bezieht. Von großem Vorteil ist auch der Um¬
stand, daß der Sphinkter nie vollständig erschlafft oder schmerz¬
los leicht gedehnt werden kann. Die Anästhesie wurde an der
Klinik in 80 Fällen ausgeführt; bis auf wenige Versager, welche
hauptsächlich in der schlechten Technik begründet waren, war die
Anästhesie eine vollkommene. Es wurden eine große Zahl von
Hämorrhoiden, Phimosen operiert, weiters Analfisteln, periprok-
titische und Glutealabszesse, Fissura ani, Douglasabszesse vom
Rektum eröffnet, Urethrotomien ausgeführt. An den äußeren weib¬
lichen Genitalien lassen sich alle Operationen ausführen. Eigent¬
liche Nachwirkungen (tagelang anhaltende Kopfschmerzen), wie bei
der Rückenmarksanästhesie, wurden in keinem Falle beobachtet,
hingegen in einigen Fällen entweder sofort nach der Injektion oder
einige Zeit später Ueblichkeiten, Erbrechen, Schwindel, Gesicht¬
blässe notiert, die noch vor Beginn der Operation zurückgegangen
sind. Verf. bezieht diese geringfügigen Störungen auf direkte
Resorption des in ziemlich starker Konzentration eingeführten
Giftes. In Anbetracht der vielseitigen Anwendung und der ge¬
ringen Gefahr empfiehlt Verfasser die Methode der extraduralen
Anästhesie auf das wärmste. — (Deutsche Zeitschrift für Lhi-
rurgie, Bd. 108, H. 1 und 2.) se.
*
482. lieber die experimentelle Impfsyphilis
der Kaninchen. Von Prof. Dr. Uhlenhut h und Doktor
M ulzer. In der Berliner medizinischen Gesellschaft berichtele jüngst
Uhlenhuth über die seit 1889 unternommenen Versuche der
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
G81
Syphilistiberimpfang auf Kaninchen (Impfungen in die Hoden und
in die Blutbahn) und über die darnach auftretenden Krankheils¬
symptome. Es lassen sich da drei klinische Formen unterscheiden :
1. Erosionen auf der Skrotalhaut, den menschlichen Primäraffekten
gleichend; 2. chronische Hodenentztindung und 3. Periorchitis. Die
pathologische Anatomie dieser Affekte ist derjenigen der mensch¬
lichen Affekte sehr ähnlich; es fanden sich stets viel Spirochäten.
Die Erkrankung der Hoden geht meistens spontan zurück, die ge¬
nannten Affekte sind als primäre Formen zu bezeichnen ; zuweilen
traten darnach sekundäre Erscheinungen auf. In letzter Zeit ver¬
suchten sie, durch Impfung in die Blutbahn allgemeine Syphilis
hervorzurufen. Sie injizierten 1 bis 2 cm3 Hodenemulsion von
hochvirulenten Kaninchen intrakardial vorerst ganz jungen Kaninchen,
später auch in gleicher Weise erwachsenen Kaninchen. Nach 4 bis
6 Wochen traten bei den so injizierten Tieren die ersten Allgemein¬
erscheinungen auf: zuerst kleine, derbelastische Nasen- und Schwanz¬
tumoren, dann Hautgeschwüre im Gesicht, besonders an den Ohr¬
wurzeln, Augenerscheinungen (Keratitis syphilitica), knollige Paro¬
nychien, dann Ulzerationen am ganzen Körper. Im kreisenden Blute
dieser Tiere konnten lebende Spirochäten nachgewiesen werden. In
einzelnen Fällen wurde ein papulo-ulzeröses Syphilid am Anus
zirkumskripter Haarausfall etc. beobachtet. Oft traten nach vorüber¬
gehender Abheilung der Affekte Rezidive ein. Das Atoxyl erwies
sich von guter Heilwirkung. Eine Immunität konnte durch die In¬
jektion nicht hervorgerufen werden, die Bildung von Antikörpern
war nicht nachzuweisen. Auch bei Affen konnte von der Blutbahn
aus mit dem hochvirulenten Material allgemeine Syphilis hervor¬
gerufen werden. — An den Vortrag, der von einer Demonstration
infizierter Kaninchen mit syphilitischen Erscheinungen, syphilitischer
Organpräparate, Moulagen, Zeichnungen etc. begleitet war, knüpfte
sich, wie wir dem Sitzungsberichte vom 29. März 1911
entnehmen, eine eingehende Diskussion, in welcher auch
v. Hansemann sprach. Er gab zu, daß die Spirochaete pallida
wohl eine Rolle bei der Syphilis spiele, ob eine ursächliche,
sei noch zweifelhaft, denn bei den tertiären Formen werde
sie nicht gefunden. In den Produkten der Impfung ist sie ja ge¬
funden worden, ist also deren Ursache, damit ist aber nicht
gesagt, daß diese Produkte syphilitischer Natur
sind. Ueber die Histologie der Produkte ist uns nichts näheres
mitgeteilt worden. Manches weicht nach der Mitteilung des Vor¬
tragenden von der menschlichen Syphilis ab: so ist keine Immunität
zu erzielen, findet keine intrauterine Uebertragung statt, es fehlen
die charakteristischen Erscheinungen bei der Allgemeininfektion.
Das fadenziehende Sekret beweist nichts. M u 1 z e r, B 1 a s c h k o
und G. Klemperer sprachen gegen die zu weit gehende Skep¬
sis v. Hansemanns; sie erblicken im Nachweis der Spirochaete
pallida ein . sicheres Zeichen für die bestehende Lues, auch im
jumma befände sich die Spirochäte, wenn auch nur in einzelnen
Exemplaren, schließlich sei auch die Therapie für die ätiologische
Bedeutung der Pallida zu beachten, denn das Salvarsan vernichte
)ei seiner Heilwirkung gegen Lues die Spirochäte, v. Hanse-
11 a n n bemerkte, ex juvantibus sei kein ätiologischer Beweis zu
nhren. So weit nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft der
leweis für Impfsyphilis erbracht werden konnte, ist er vom Vor¬
ragenden erbracht worden; aber der Schlußstein ist noch nicht
'rbracht. Fritz Lesser sprach sich dahin aus, daß die Spirochaete
»allida der Erreger der Syphilis sei, auch Benda u. a. sprachen
11 Sichern Sinne. Uh len hu th hob in seinem Schlußworte
lcrvor , daß bei den infizierten Affen dieselben Erscheinungen ge¬
linden wurden wie beim Menschen. Daß in Gummiknoten keine
Spirochäten anzutreffen sind, ist nichts besonderes, finden sich doch
uch oft z. B. in Tuberkelknoten keine Tuberkelbazillen. Auch
alariaparasilen hat man noch nicht in Reinkultur gezüchtet. Die
»pirochaete pallida ist der Erreger der Syphilis. — (Deutsche med.
Vochenschr. 1911, Nr. 15.) E. F.
Von
von
483 Hohe und tiefe extradurale Anästhesien.
Ir. H. Schlimpert. Verf. berichtet über die mit der
athelin zuerst angewandten, von Stoeckel in Deutschland
uerst aufgenommenen extraduralen Anästhesie an der Klinik
uönig gemachten Erfahrungen. Ueber die Technik, die genau
'©schrieben wird, muß das Original nachgelesen werden. Ver-
asser ist mit den Resultaten vorläufig nicht unzufrieden und
erwähnt als Vorteile der hohen extraduralen Anästhesie
das last vollständige Fehlen störender Erscheinungen, wie Brechen
während der Narkose. In positiven Fällen gute Entspannung.
Als Hauptvorteil faßt Verf. das Fehlen ernstlicher Nachwirkungen
auf. Nachteile sind vor allem die nicht leichte Technik, Ver¬
sager, vorübergehende Schwankungen im Kreislauf und das zeit¬
liche Beschränktsein der Anästhesie. Nach Verf. tritt die extra¬
durale Anästhesie in Konkurrenz mit der Inhalationsnarkose und
der Lumbalanästhesie. — (Zentralblatt für Gynäkologie 1911
Nr. 12.) E v_ ’
*
484. Eine neue Methode zur Verengerung des
Thorax bei Lungentuberkulose. Von Prof. Wilms in
Heidelberg. Verf. beschreibt eine Methode der Thorakoplastik, die
bi’i Einfachheit und relativer Ungefährlichkeit des Eingriffes eine
beträchtliche Verkleinerung des Thorax bei der chronisch indu¬
rativen Form der Lungentuberkulose gestattet. In dem mitgeteilten
und operierten Falle handelt es sich um eine linkseitige, seit fünf¬
zehn Jahren bestehende Oberlappentuberkulose mit starkem nächt¬
lichen Reizhusten, der die Patientin sehr belästigte. Auf dem
Röntgenbild war eine deutliche Kaverne im Oberlappen erkenn¬
bar. Bei dieser Patientin wurden in Lokalanästhesie von der
ersten bis achten Rippe je 3 bis 4 cm entfernt. Angefangen
wurde mit der achten Rippe, dann die siebente und sechste rese¬
ziert, von dem unteren Querschnitt, der durch die Muskulatur
hindurchgelegt war; dann wurde von einem mittleren Quer¬
schnitt die fünfte und vierte Rippe reseziert und von dem oberen
Querschnitt dritte, zweite und erste Rippe. Auffallend war die
leichte Entfernung des Stückes der ersten Rippe; die sich bei einem
Eingriff \ 0 1 i rückwärts bei ihrer horizontalen Stellung spielend
auf mehrere Zentimeter resezieren läßt, viel leichter, als es von der
Achselhöhle aus in ihren mittleren Teilen möglich ist. Eine Ver¬
letzung der Pleura fand nicht statt. Direkt nach der Entfernung
der Rippen näherten sich die Enden der durchtrennten Rippen,
von denen drei und mehr Zentimeter entfernt worden waren,
so stark, daß der Finger dazwischen eingeklemmt wurde. Dies
war ein Zeichen für die starke Retraktion der Lunge und für
die Beweglichkeit der ganzen Thoraxwand, die sich um die
elastischen vorderen, knorpeligen Ansätze leicht ein drücken ließ.
Aus dem 14 Tage post Operationen! aufgenommenen Röntgenbilde
sieht man, daß die Rippenenden kaum 1 cm auseinanderstehen;
die peripheren stehen wesentlich tiefer, als die zentralen, ein
Beweis, daß nicht nur der Thorax durch Einwärtsdrehen der
Rippen verkleinert wurde, sondern daß sich die ganze Thorax¬
wand nach abwärts gesenkt hat, was am deutlichsten im Bereich
der oberen Rippen erkennbar ist. Die Verengerung, die durch diese
veränderte Stellung der Rippen erzielt wurde, beträgt nach des
Verfassers Berechnung 150 bis 180 cm3 im Minimum. Der Ein¬
grift wurde von der Patientin relativ leicht überstanden, nur
die Expektoration war in den ersten zehn Tagen ziemlich er¬
schwert und der Hustenreiz so intensiv wie vor dem Eingriff.
Verf. hatte die Absicht, nach drei bis vier Wochen im Knorpel¬
teil am1 vorderen Ende der Rippen den Thoraxraum noch weiter
zu verengern, da aber schon nach drei Wochen Husten und Ex¬
pektoration ganz aufhörten, so wurde ein zweiter Eingriff als
überflüssig aufgegeben. Das Resultat in diesem Falle war also
ein so frappierendes und der anatomische Erfolg der Thorax-
Verengerung nach Entfernung von Rippenstücken neben der Wirbel¬
säule ein so (beträchtlicher, wie es Verfasser kaum zu erwarten
gewagt hatte. Zusammenfassend 'erklärt Verfasser, daß für ge¬
wisse Fälle von indurativer, chronischer Tuberkulose allein durch
Entfernung von kleinen Rippenstücken im Bereiche des Angulus
costae eine beträchtliche Verkleinerung des Thoraxraumes mög¬
lich ist, da um den knorpelig vorderen Rippenansatz die Rippen
nach ihrer Trennung im Gebiete des Angulus in breiten Grenzen
beweglich werden. Genügt diese Rippenresektion nicht, sö kann
noch in zweiter Sitzung eine Knorpeldurchtrennung am sternalen
Ansatz, eventuell mit Resektion kleinerer Stücke hinzugefügt
werden. Die Rippen sinken bei dieser Operation nicht nur nach
einwärts, sondern auch stark nach abwärts und verengern gerade
dadurch beträchtlich die Lungenspitzen, was. für viele Fälle von
besonderem Wert ist. Um die Rückenmuskulatur bei diesem
Eingriff nicht zu sehr zu lädieren, schneidet man durch die
682
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
Rhomboidei und den Trapezius horizontal hindurch, nachdem
die Haut in Längsrichtung durchtrennt ist. Bei der Nachbehand¬
lung muß darauf gesehen werden, daß der Thorax von außen
komprimiert wird, am besten so, daß über dicken Gazerollen,
die auf die Wunde in Längsrichtung gelegt werden, kräftige
Heftpflasterstreifen scharf gespannt herübergezogen werden, damit
diese die äußeren Rippendenden nach innen drücken. Obendrein
kann man die Patienten auf der kranken Seite liegen lassen oder
durch eng anliegende Kompressivverbände, wie dies auch Bremer
betont, den erschwerten Husten erleichtern. — (Münchener medi¬
zinische Wochenschrift 1911, Nr. 15.) G.
*
485. Welche Stellung im Arzneischatz gebührt
dem Antipyretikum Mar et in? Eine klinische Uebersicht
von Dr. Schmitz in Dortmund. Nach den ersten therapeutischen
Versuchen schien es, als sollte dem Maretin nur ein ephemeres
Dasein beschieden sein. Die weiteren praktischen Erfahrungen
haben jedoch gelehrt, daß dieses Mittel bei rationeller Darreichung
nicht nur unschädlich, sondern auch wirksam ist. Die Einzeldosis
soll im allgemeinen nicht 0-1 bis 0-2 überschreiten (bei Rheuma¬
tikern eventuell über 0-2). Als höchste Tagesdosis ist 0-o an-
zü sehen, da sonst Nebenerscheinungen, besonders1 profuse
Schweiße, auftreten. Bei Phthisikern und Typhösen ist es von
größter Wichtigkeit, das Maretin ein bis zwei Stunden vor dem
zu erwartenden Fieberanstieg zu geben. Im letzten Stadium der
Phthise empfiehlt Elk an rektale Applikation (Maretin 0-5, Vi 1
Milch, Tinct. opii gtt. X). Indikationen für Maretin sind: Fieber
der Phthisiker, Typhus, Polyarthritis; ferner hat sich Maretin
als Antineuralgikum bewährt bei Neuralgie, Kephalgie und da¬
durch bedingte Schlaflosigkeit. Die Entfieberung dauert gewöhn¬
lich einen halben Tag und länger an. Die Nebenerscheinungen
(Schweiße) lassen sich bei rationeller Darreichung sicher ver¬
meidein, wenn nicht von vornherein Disposition zu solchen be-
steht. Bei längerer Darreichung tritt Gelbfärbung der Haut und
Urin Verfärbung auf; der Farbstoff ist aber absolut unschädlich.
Maretinham reagiert auf Fehlinglösung positiv, doch ist dies
nicht auf Zucker, sondern auf Abbauprodukte des Maretins (—
Semikarbazid CH3-C,.H4-N NH CO-NH2) zurückzuführen. Maretin ist
geschmackfrei und eignet sich infolge seiner Billigkeit auch für
Krankenhauspraxis. — (Fortschritte der Medizin 1910, 28. .Tahrg.,
Nr. 48.) K- s-
*
486. (Aus dem k. u. k. Garnisonsspitale Nr. 11 und der
deutschen psychiatrischen Klinik in Prag.) Beiträge zur Kennt¬
nis des hysterischen Dämmerzustandes. — Ueber eine
eigenartige, unter dem Bilde eines psychischen „Pucr-
lismus“ verlaufende Form. Von Priv.-Doz. Dr. Ernst
Sträußler, k. u. k. Regiments arzt. Die vom Verf. mitgeteilten
Fälle repräsentieren einen besonderen Typus des hysterischen
Dämmerzustandes. Sie sind charakterisiert durch kindliches Wesen,
dem mitunter ein läppischer Zug anhaftet und sonderliche mani-
rierte Bewegungen und Haltungen, die Von katatonischen Erschei¬
nungen kaum unterscheidbar sind. Die Aehnlichkeit dieses Svm-
ptomenkomplexes mit den Erscheinungen der Dementia praecox
liegt auf der Hand. In den Fällen Sträußlers handelte es sich
unzweifelhaft um hysterische Psychosen. Das geschilderte Svm-
ptomenbild wurde von Dupre als Puerilisme mental beschrieben.
Sträußler erkennt in letzterem hysterische Bewußtseinsstörun¬
gen, die den Gans ersehen Dämmerzuständen sehr nahe stehen.
Es handelt sich gewissermaßen um die Flucht des Patienten aus
der für ihn peinlichen Gegenwart und dem gegenwärtigen Be¬
wußtsein, ohne daß sich der Kranke in allen Einzelheiten in die
Jahre seiner Kindheit rückversetzt fühlt. Im Stadium der all¬
mählichen Aufhellung des Bewußtseins kommt das typische Vorbei¬
reden zum Vorschein, ein Moment, welches gleichfalls an das
Gansersche Symptomenbild erinnert. — (Jahrbuch für Psy¬
chiatrie und Neurologie, Bd. 22, H. 1 und 2.) S.
*
487. Eklampsie im sechsten Schwangerschafts¬
monat bei Blasenmole ohne Fötus. Entstehung einer
scheinbaren Eihöhle durch hydropische Degenera¬
tion größeren Föten Stammes. Von Dr. Anton Sitzen-
frey. Verf. beschreibt aus der Klinik V. Franque den sehr
seltenen Fall einer Blasenmole ohne Fötus, mit dem Zusammen¬
treffen von Eklampsie. Es handelte sich um eine 25jährige Erst¬
gebärende, die am 25. Dezember 1910 in tiefem Koma der Klinik
eingeliefert wurde. Letzte Periode Mitte Juli 1910. Am 10. und
15. Dezember traten kürzere Blutungen ein. Am 25. Dezember
trat die Eklampsie auf. Bis zur Aufnahme an die Klinik im
Laufe von 16 Stunden 29 Anfälle. Vaginaler Kaiserschnitt nach
D ü hr s en. Ausräumung einer Blasenmole. Post operationem noch
ein leichter Anfall. Heilung. Die Bläschen der entfernten Mole
zeigen Pflaumen- bis Taubeneigröße. In dem vermutlichen Ei¬
sack, der gut 350 cm3 Flüssigkeit enthielt, fand sich weder ein
Fötus, noch eine Nabelschnur, vielmehr erwies sich die scheinbare
Eihöhle als Riesenblase, entstanden durch hydropische Degenera¬
tion eines größeren Zottenstammes. — (Zentralblatt für Gynä¬
kologie 191 1, Nr. 9.) E- V.
*
488. (Aus dem medizinisch - chemischen und pharmakolo¬
gischen Institut der Universität Bern. — Direktor: Professor
Dr. Emil Biirgi.) Ueber die Beeinflussung der Wir¬
kung n arkotischer Medikamente durch A ntipyretiku.
Von Sophie Lomonosoff aus Kijew. Die Antipyretika gelten
als eine Art. Narkotika und es läßt sich tatsächlich experimentell
der Narkotikacharakter erweisen, indem in einer Kombination j
zwischen einem Antipyretikum und einem eigentlichen Narkotikum
eine den ersteren innewohnende narkotische Kraft sich wirklich
geltend macht im Sinne einer Verstärkung der Narkose. Ob
einfache Addition oder Potenzierung hiebei vorliegt, läßt sich
derzeit noch nicht sagen, weil die minimalnarkotisierende Dosis
für das Antipyretikum bisher nicht festgestellt werden konnte und
daher ein mathematischer Ausdruck für diese Verstärkung sich
nicht finden läßt. — (Zeitschrift für experimentelle Pathologie
und Therapie 1911, Bd. 8, H. 3.) K. S.
*
Aus englischen Zeitschriften.
489. Einige Beobachtungen über herabgesetztenj
Blutdruck. Von W. E. Edgecombe. Durch Bestimmung des
Blutdruckes am Morgen und Abend in zahlreichen Fällen wurde
die Bestimmung eines Durchschnittswertes des Blutdruckes an-j
gestrebt und die Wirkung verschiedener Einflüsse auf den Blut
druck untersucht. Bei den Versuchen mit verschiedenen Medikaj
menten wurde nicht die unmittelbare Beeinflussung des Druckes
sondern der morgendliche und abendliche Blutdruck bestimmt
Niedrige Werte des Blutdruckes wurden, außer bei akuten Infok
tionskrankheiten, noch bei verschiedenen Zuständen beob¬
achtet. So findet sich niedriger Blutdruck bei Personen mit träge ij
Zirkulation, kalten Händen und Füßen, sowie Neigung zu Er
frier ungen und es wurde in einer Anzahl von Fällen ein systo
lischer Blutdruck unter 95 mm Hg nachgewiesen. Durch Bäder
Massage, Gymnastik wurde zeitweilig Steigerung des Blutdrucke:
mit Besserung der gestörten Zirkulation erzielt, doch könnt!
eine nachhaltige Wirkung nicht erzielt werden, weil mit den
Aussetzen der Behandlung der Blutdruck wieder abnahm. Nicdcre|
Blutdruck wurde auch bei reiner Neurasthenie mit körperlicher
bzw. seelischer Abspannung verzeichnet, wobei zunächst uU
entschieden blieb, ob der niedere Blutdruck die Ursache odej
die Folge der extremen Abspannung darstellt. Es ist, wahrschein¬
lich, daß durch toxische Einflüsse zunächst der Blutdruck herab
gesetzt wird und dadurch die träge Zirkulation bedingt wird, wrj
für auch der Umstand spricht, daß die Besserung des Zustande
von Steigerung des Blutdruckes begleitet wird. Bei der sogenannte!
Reizneurasthenie, die eher als eine Hypochondrie oder Psyclj
asthenie aufzufassen ist, erscheint der Puls beschleunigt unj
der Blutdruck schwankend, doch meist über die Norm erhohU
Andere mit niedrigem Blutdruck einhergehende Zustände sw
Nikotinvergiftung, Herzdilatation mit oder ohne Klappenfehler
gichtisch-rheumatische Zustände, die sich klinisch als Isc ia
Lumbago oder Neuritis kundgeben, ferner Phosphatune und M
thritis deformans. Während es im allgemeinen leicht geling
den abnorm gesteigerten Blutdruck herabzusetzen, ist eine dar
ernde Steigerung niedrigen Blutdruckes schwer erreich ar.
der Regel genügt eine relativ geringere Steigerung des Blutdruc e-
WIENER KUNISrMtf tonf'HCMef'uuip-n in,.
Nr. 19
, _=
um beträchtlich© Besserung herbeizuführen. Diät, Gymnastik,
Höhenklima und Hydrotherapie sind in dieser Beziehung den
medikamentösen Mitteln vorzuziehen. In der Diät ist reichliche
Fleischnahrung hei gleichzeitiger Einschränkung der Kohlehydrate
aiigezeigt; der Tonus des Gefäßsystems wird durch dosierte
Gymnastik, Höhenklima und Hydrotherapie erhöht. Von inneren
Mitteln besitzt Hypophysisextrakt die stärkste Wirkung, doch
besteht bei länger fortgesetzter Darreichung die Möglichkeit un¬
angenehmer Nebenwirkungen. Von anderen Mitteln sind Koffein,
milchsaures Kalzium und Digitalis, welche bei kardialer Blut¬
drucksenkung angewendet wird, zu nennen, während Strychnin
hier wertlos ist. — (The Lancet, 11. März 1911.) a. e.
♦
490. Ueber die klimatische und baineologische
Behandlung der Neurasthenie. Von W. Ringrose Gore
Die Balneotherapie der Neurasthenie stellt, obwohl sie am meisten
der Indicatio causalis entspricht, gegenwärtig nur eine Ergänzung
der anderen Behandlungsmethoden dar. Von größter Wichtigkeit
ist bei der Neurasthenie die genügende Dauer der Behandlung, weil
sonst der erwartete Erfolg leicht ausbleibt und der Gemüts¬
zustand des Patienten dadurch ungünstig beeinflußt wird. Pa¬
tienten mit sehr geschwächtem Zustande benötigen vor Einleitung
einer Badekur Bettruhe, Massage und sorgfältige Ernährung, fn
| jetten Fällen, wo die Neurasthenie von Erkrankungen der Ab¬
dominalorgane, wie Gallensteine, chronische Appendizitis oder
Enteroptosis abhängt, soll die Balneotherapie vor und nicht nach
der Operation eingeleitet werden. Man kann für fast alle Fälle
I von Neurasthenie eine toxische Grundlage annehmen und es
lassen sich sehr oft Erkrankungen der Verdauungsorgane als Ur¬
sache oder Begleiterscheinung der Neurasthenie nachweisen. In
diesen Fällen ist eine Trinkkur besonders indiziert. Der morgend¬
liche Gebrauch einer salinischen Quelle wirkt als Auswaschung des
\erdauungstraktes, wodurch die daselbst gebildeten toxischen
Produkte zur Ausscheidung gelangen. Die mit dem Blutserum
isotonische salinische Quelle von Claudrindod Wells geht sofort
in den Darm und wirkt anregend auf die Peristaltik, ohne durch
Entziehung von Serum aus der Darmwand schwächend zu wirken.
I Appetitsteigerung, bessere Verdauung und Körpergewichtszunahme
sind die Folge der Trinkkur. Die Wirkung der Bestandteile des
natürlichen Mineralwassers wird auf Radioaktivität und unbe¬
kannte Faktoren zurückgeführt, doch ist auch der Ersatz der Blut¬
salze durch chemisch aktivere Salze hiebei von Bedeutung. Hoch-
freguenzströme, Duschen, Bäder von verschiedener Temperatur,
sowie Ausspülungen des Dickdarmes bilden weitere Heilbehelfei
wobei letztere namentlich bei psychischen Depressionszuständen
gute Dienste leisten. Die Auswahl des Klimas hängt vom Sta¬
dium der Erkrankung und vom Alter des Patienten ab. Gebirgs-
und Seeklima verdienen nach vorheriger Ruhekur den Vorzug,
wenn sie nicht Schlaflosigkeit bedingen. Im Winter, wo Frei¬
luftbehandlung für Neurastheniker ersprießlich ist, können jüngere
Patienten alpine Höhenorte aufsuchen, sonst sind Reisen nach
Westindien, bzw. Aufenthalt an der Mittelmeerküste, speziell
Algier und die in der Umgebung von Kairo gelegenen Ortschaften,
für Winterkuren geeignet. — (The Lancet, 11. März 1911.)
a. e.
+
; 491 . Ueber maligne S t r i k t u r e n des Oesophagus
on G. William Hill. Die Behandlung der primären Oesophagus¬
karzinome ist vorwiegend palliativ, gegen die Dysphagie und die
Schmerzen gerichtet. Mit Erfolg wurden bisher nur vom Pha-
iynx auf die Speiseröhre übergreifende Karzinome operiert, wo¬
bei totale Exstirpation des Kehlkopfes mit partieller Inzision des
unteren Pharynx und des angrenzenden obersten Teiles des Oeso¬
phagus angewendet wurde. Die Operationen des primären Oeso¬
phaguskarzinoms — zervikale, thorakale und thorako-abdomi-
"ale Resektion der Speiseröhre — haben bisher keinen Erfolg
zu verzeichnen. In der Literatur ist die erfolgreiche Exstirpation
• eines kleinen Sarkoms der Speiseröhre unter Anwendung des
Oesophagoskopes verzeichnet. Als palliative Operation wird haupt¬
sächlich die Gastrostomie durchgeführt, doch kann durch rein
ondo-ösophageale Behandlungsmethoden — Intubation und Ra¬
dium— die Gastrostomie meist vermieden werden. Die medika¬
mentöse Behandlung — Jodpräparate, Fibrolysin, Adstringentien,
Lokalanästhetika besitzen höchstens palliative Wirkung, so daß
Morphiuminjektion zur Beseitigung der Schmerzen kaum entbehrt
werden kann. Zur Entfernung der über der Striktur angehäuften
Massen sind Waschungen mit antiseptischen Lösungen, wie Bor¬
glyzerin, Phenol usw., angezeigt, während Wasserstoffsuperoxyd
kontraindiziert ist. Aetzung ist auch unter Leitung des Oeso-
phagoskops nicht ratsam, Elektrolyse, Ionisation und Applika¬
tionen von Kohlensäureschnee sind noch zu wenig erprobt. Son¬
dierung ohne Oesophagoskop ist zur Erleichterung der Dysphagie
geeignet, aber nicht gefahrlos ; die beste Methode ist die Ein¬
führung eines dünnen Oesophaguskatheter aus Gummi, welcher
für längere Zeit belassen wird. Man verwendet einen durch
Silberdraht oder Fischbeineinlage festgemachten dünnen Üeso-
phaguskatheter, dessen vorderes Ende an den Zähnen fixiert
wird, so daß der Katheter durch Husten oder Erbrechen nicht
herausgeschleudert werden kann. Zunächst wird flüssige Nahrung
zugeführt ; nach ein bis zwei Wochen ist die Striktur meist so
erweitert, daß auch breiige, selbst feste Nahrung passieren kann.
In weit vorgerückten Fällen kann der Katheter permanent be¬
lassen werden; sonst kann man ihn zeitweilig entfernen und
bei zunehmender Dysphagie einführen. Der beschriebene Ka¬
theter ist nicht nur wirksamer, sondern kann auch leichter ein¬
geführt werden, als andere Sonden ; die permanente Applikation
ist namentlich in Fällen angezeigt, wo eine Kommunikation zwi¬
schen Speiseröhre und Luftwegen besteht. Die Radiumbehandlung
wurde in 22 Fällen von Oesophaguskarzinom angewendet; zur
Anwendung kamen 20, bzw. 50 mg, wobei die Dauer der Appli¬
kation 12 bis 28 Stunden betrug und der Turnus nach Bedarf
wiederholt wurde. In vier Fällen wurde temporäre Heilung, in
sechs Fällen beträchtliche, in sieben Fällen nachweisbare Besse¬
rung erzielt; nur in fünf Fällen blieb jeder Erfolg aus, in zwei
weit vorgeschrittenen Fällen schien das Radium sogar verschlim¬
mernd zu wirken. — (The Lancet, 25. Februar 1911.) a. e.
*
492. Ueber die Anwendung von Schilddrüsen¬
substanz bei Serumexanthem und Serumkrankheit
nach Diphtherieheilserum. Von A. E. Hodgson. Das
Auftreten von Serumexanthemen, allein oder in Kombination mit
Fieber,. Gelenksschmerzen, Oedem, Angina, Rhinitis, Adenitis,
Albuminuiie, nach Injektion von Diphtherieheilsemm und andere
Serumarten, sowie die schwereren Phänomene der Anaphylaxie,
haben in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit in hohem Maße
in Anspruch genommen. Es wird übereinstimmend angenommen,
daß die angegebenen Phänomene nicht durch den Antitoxingehalt
sondern einen Eiweißkörper des Serums bedingt sind und daß
Anaphylaxie eintritt, wenn die zweite Injektion zehn bis zwölf
Tage oder darüber nach der ersten Injektion stattfindet. Das
Serumexanthem ist im allgemeinen unbedenklich, kann aber bei
Lokalisation im Kehlkopf Erscheinungen von Krupp erzeugen,
auch kann die Serumkrankheit bei schwererem Grade den durch
die Diphtherieinfektion geschwächten Organismus gefährden und
bei an sich leichten Formen von Diphtherie Exitus bedingen.
Klinische Erfahrungen zeigen, daß das Serum bestimmter Pferde
häufiger Exanthem und Serumkrankheit hervorruft, als das Serum
anderer Pferde. Es wurde auch auf Beziehungen zwischen dem
Auftreten von Serumkrankheit, bzw. plötzlichen Tod nach sub¬
kutaner Injektion von Diphtherieantitoxin mit dem Status lym-
phaticus hingewiesen. Von dieser Annahme ausgehend, wurde in
50 Fällen gleichzeitig mit und einige Zeit nach der Diphtherie¬
seruminjektion, je nach dem Alter der Kinder, 0-075 bis 0-3 g
Schilddrüsensubstanz pro die in vier bis sechs Einzeldosen ge¬
geben, während die gleiche Anzahl kein Schilddrüsenextrakt er¬
hielt. Es 'zeigte sich hinsichtlich der Häufigkeit der Folgezustände,
namentlich des1 Serumexanthems, kein deutlicher Einfluß der
Schilddrüsentherapie, dagegen wurde das Auftreten der Serum¬
krankheit bei den gleichzeitig mit Schilddrüsensubstanz behan¬
delten Fällen weit seltener beobachtet, als bei den Kontrollfällen.
V enn auch die Zahl der Fälle noch zu gering ist, um definitive
Folgerungen zu gestatten, so lassen die Beobachtungen immerhin
weitere Versuche mit Schilddrüsenextrakt unter den genannten
Verhältnissen gerechtfertigt erscheinen. — (The Lancet, 11. Fe¬
bruar 1911.) ., e
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
68 1
X/ermisehte Nashriehten.
Verliehen: Dem kais. Rat Dr. Kaspar Schwarz in Wien
das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens.
*
Habilitiert: Dr. Otto Veit für Anatomie in Marburg.
Dr. Pan ag is tat ou für Infektionskrankheiten in Athen.
*
Gestorben: Dr. N äg eli- Ak er b 1 om, Privatdozent für
Geschichte der Medizin in Genf.
*
Wie uns mitgeteilt wird, begeht Professor Cornet, der be¬
kannte Forscher auf dem Gebiete der Prophylaxis der Tuberkulose,
am 15. Mai das 25jährige Jubiläum seiner ärztlichen Tätigkeit
in Bad Reichenhall.
*
Die Wiener laryngologische Gesellschaft hat sich zu einer
„Wiener laryngo-rhinologischen Gesellschaft1' umge¬
staltet und namentlich in betreff der Aufnahme von Mitgliedern
eine Reihe wichtiger und einschneidender Statutenänderungen
vorgenommen, welche auch bereits die Genehmigung der Statt¬
halterei erhalten haben. Das wesentliche dieser .Tenderungen
besteht erstens darin, daß nunmehr nicht nur in Wien wohnende
inländische Aerzte zu ordentlichen Mitgliedern gewählt werden
können, sondern daß jeder in den österreichischen Kron-
1 ändern wohnende Arzt von bewährter wissenschaftlicher Tätig¬
keit aufgenommen werden kann und zweitens darin, daß jedes
ordentliche Mitglied, welches die österreichischen Kronländer
dauernd verläßt, auch weiterhin Mitglied bleiben kann, wenn es
über sein Ansuchen von der ordentlichen Hauptversammlung
in die Liste der auswärtigen Mitglieder eingereiht wird ; als solches
behält es alle Rechte und Pflichten der ordentlichen Mitglieder bei.
Hiedurch wird nicht nur den in Wien wohnenden, sondern auch
den in anderen Städten der österreichischen Kronländer wohnen¬
den, bekanntlich vielfach sehr tüchtigen Laryngo-Rhinologen, die
sich zumeist auch eines ausgezeichneten Rufes erfreuen, Gelegen¬
heit gegeben, an den Sitzungen der Wiener laryngo-rhinologischen
Gesellschaft teilzunehmen, mit den Mitgliedern derselben inten¬
siveren wissenschaftlichen Verkehr zu pflegen und durch regeren
direkten Meinungsaustausch die Laryngo-Rhinologie in erhöhtem
Maße zu fördern.
*
Auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung in
Dresden wird in den Räumen der Deutschen Gesellschaft zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ein Pavillon errichtet,
in dem ein Projekt einer Mustereinrichtung für die Prostituierten¬
untersuchung vom kgl. Polizeipräsidium Berlin nach Angaben
von Polizeiarzt Dr. med. Dreuw ausgestellt wird. Die polizei¬
ärztliche Ausstellung, in der die Einrichtungen eines Unter-
suchungs-, Mikroskopier- und Zentralsterilisierzimmers vorgeführt
werden, wurde am 6. Mai eröffnet. Am 10. Juni wird Herr Doktor
Dreuw auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft zur Bekäm¬
pfung der Geschlechtskrankheiten in Dresden eine Führung durch
die Ausstellung mit anschließender Demonstration der anti- und
aseptischen Einrichtungen im polizeiärztlichen Untersuchungs¬
zimmer übernehmen.
*
Die Direktion der steiermärkischen Landeskuranstalt Ro¬
ll i ts ch- Sau er bru nn hat an die Wiener Aerztekammer
folgendes Schreiben gerichtet : „Der steiermärkische Landesaus¬
schuß hat die Direktion der Landeskuranstalt ermächtigt, für
zwei Mitglieder oder der im Familienbande lebenden Angehörigen
jährlich in der Vor- oder Nachsaison einen Freiplatz in der Landes¬
kuranstalt zu widmen, welcher in der freien Wohnung in, einem
der Anstaltshäuser, freier ärztlicher Behandlung und freiem Ge¬
brauche der Kurmittel besteht.“ Jene Herren Aerzte, welche von
dieser Begünstigung Gebrauch machen wollen, mögen ihre Ge¬
suche bei der Wiener Aerztekammer, Wien L, Börsegasse 1, ein-
bringen.
*
Literarische Anzeigen. Die vor einem Jahre im Ver¬
lage von Urban & Schwarzenberg in Wien erschienenen Rhino-
laryngologi sehen Winke von Priv.-Doz. Dr. Johann Fein
sind nun in zweiter Auflage erschienen. Die kurze Zeit, welche
die Neuausgabe des Werkes notwendig machte, spricht ebenso für
den Anklang, den das Buch ini Kreise der Praktiker gefunden,
wie der Umstand, daß es bereits ins Englische und Russische
übersetzt worden ist.
Von der vierten Auflage des Handbuches der gesamten
Therapie, von Pen z old t und Stintzing — Verlag
G. Fischer in Jena, — sind die 17., 18. und 19. Lieferung
erschienen. Sie haben die Chirurgie des Halses, des Brustkorbes,
der Bauchwand und der Extremitäten, Behandlung der äußeren
Erkrankungen des Auges, der Krankheiten des Gehörganges zum
Inhalt.
Die praktische Bedeutung des Salvarsans für die
Syphilistherapie, von Jessner. 23. Heft der Dermatologi¬
schen Vorträge für Praktiker. Verlag von C. Kabitzsch in
Würzburg. Preis 1 M. 80 Pf.
*
Von der Wiener Aerztekammer: Jene Herren Kolle¬
gen, welche die Absicht haben, in den Sommermonaten ärztliche
Vertretungen zu übernehmen, werden ersucht, sich schon jetzt,
zu diesem Zwecke beim Stellenvermittlungsbureau der Wiener
Aerztekammer und der Wirtschaftlichen Organisation der Aerzte
Wiens, L, Börsegasse 1, vormerken zu lassen.
*
Med. Dr. Rudolf Türkei wohnt und ordiniert ab 8. Mai
dieses Jahres: Wien, VIII., Alserstraße 25, gegenüber der Spital
gasse. - Telephon wie bisher 21.180. — xk% bis Va4 Uhr.
*
Kinderarzt Dr. Heinrich Lehndorff wohnt: 1., Rathaus¬
straße 8. Telephon wie bisher Nr. 18.512. — Ordiniert 3- -4 Uhr.
*
Dr. Siegfried Boxer, ern. Assistent der gynäkologischen Ab¬
teilung des Rudolfspitales wohnt und ordiniert ab Mai 1911:
Wien IIP, Hauptstraße 5. Telephon 9291.
*
Pest. China. Nach der amtlichen Pestzeitung vom 29. März
sind in der Mandschurei seit Ausbruch der Epidemie 42.756 Men¬
schen an Pest gestorben. Hievon entfielen 7137 auf die Provinz
Fengtien, 21.880 auf die Provinz Kirin und 13.739 auf die Provinzl
Heilungkiang. In der Hafenstadt Tschifu sind seit Beginn der
Epidemie (12. Januar) bis 31. März 1055 Personen der Pest er¬
legen. In der Provinz Schantung ereigneten sich bis 15. März
2866 Pesteikrankungen; gegenwärtig ist die Seuche dort im Kr
löschen. — Singapore. In Singapore ist am 24. März ein neuer
Pestfall festgestellt worden.
+
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 16. Jahreswoche (vom 16. bis
22. April 1911). Lebend geboren, ehelich 655, unehelich 225, zusammen
880. Tot geboren, ehelich 57, unehelich 19, zusammen 76. Gesamtzahl der;
Todesfälle 704 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden,
17 8 Todesfälle) an Bauchtyphus 1 Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 4,
Scharlach 6, Keuchhusten 0, Diphtherie und Krupp 5, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 10, Lungentuberkulose 133, bösartige Neu¬
bildungen 44, Wochenbettfieber 6, Genickstarre 0. Angezeigte Infekttons-i
krankheiten: An Rotlauf 53 (=), Wochenbettfieber 5 (-1- 5), Blattern 0
(0), Varizellen 81 (— 4), Masern 221 (+ 65), Scharlach 100 (— 19»
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 4 (=), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0)j
Diphtherie und Krupp 50 (4- 15), Keuchhusten 39 (- 1- 5), Trachom 6 (4-3)
Influenza 0 (-— 1), Poliomyelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Bei den politischen Behörden in Mähren gelangt demnächst die
Stelle eines Oberbezirksarztes der VIII. Rangsklasse, eventuell
eine Sanitätskonzipistenstelle der X. Rangsklasse und eine
Sanitätsassistenten stelle mit dem Adjutum jährlicher 1.200 hl
zur Besetzung. Bewerber haben ihre ordnungsmäßig instruierten Ge¬
suche, welche seitens der noch nicht im Staatsdienste stehenden]
Kompetenten insbesondere mit dem Nachweise des Alters, der Zuständig¬
keit, moralischen Unbescholtenheit, körperlichen Eignung, des Diplomes,
der Sprachkenntnisse, der abgelegten Physikatsprüfung, sowie ihrer bis-!
herigen Verwendung zu belegen sind, bis längstens 20. Mai 1911 u. zu.,
insoferne sie bereits im öffentlichen Dienste stehen, im Wege der Vor¬
gesetzten Behörde, sonst aber unmittelbar beim Statthaiterei-Präsidiun;
in Brünn einzubringen.
Gemeindearztesstelle für den Sanitätssprengel S t e i n a cf
am Brenner (Tirol). Derselbe besteht aus den Gemeinden: Steinach
Trins, Gschnitz, Gries am Brenner, Obernberg, Schmirn und Vals jm
dem Wohnsitze zweier Aerzte in Steinach. Der Sprengel hat eine Aust
dehnung von 35.420 ha und zählt 4307 Einwohner und dürfte die Ein¬
wohnerzahl nach der letzten Volkszählung um ca. 200 zugenommei
haben. Die Haltung einer Hausapotheke ist erforderlich. Die fixen Bezüge
des Gemeindearztes betragen 1200 K jährlich und erfolgt die Anstellung
nach den Grundsätzen des neuen Landesgesetzes vom 27. Dezember 190
L.-G.- und V.-Bl. Nr. 4 ex 1910 und der Durchführungsverordnung den
k. k. Statthalters vom 31. Dezember 1910, Z. 84 240, L.-G.- und V.-
Nr. 8 und 9 ex 1911. Die ordnungsmäßig instruierten Gesuche sind lu-
15. Mai 1911 bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft in Innsbruck ein-,
zureichen, woselbst auch weitere Auskünfte erteilt werden.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. l'Jll.
685
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wie.,
Sitzung vom 28. April und 5. Mai 1911.
INHALT:
28. Deutscher Kongreß fiir innere Medizin.
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 28. April 19U.
Vorsitzender: Prot. Dr. L. Unger.
Schriftführer: Dr. v. Frisch.
“E ProLDr' L- begrüßt Ilerm Pro-
lessor Di. K. Beck aus Chicago.
Hofrat E Fuchs: Meine Herren! Der hier vorgestellte
Fall ist ein nicht gewöhnlicher. Ein löjähriger, sonst gesunder
Junge hat seit dem dritten Lebensjahre die Lidränder entzündet.
Sie sehen daß die Zilien größtenteils fehlen und die Lid Hinder
von geröteter und gewulsteter Bindehaut umsäumt sind. Bei
leichtem Lidschluß bleibt eine schmale Spalte offen, auch wäh¬
rend des Schfafes wo man in derselben einen schmalen Streiten
Hornhaut sieht. Bei diesem Jungen sind also die Augen nicht
wie gewöhnlich, im Schlafe nach oben gerollt. — Solche Fälle
gelten allgemein als Verkürzung der Lidhaut nach lange dau¬
ernder Blepharitis ulcerosa. Ich deute diese Fälle aber anders
indem ich die Blepharitis nicht als die Ursache, sondern als die
folge des Leidens ansehe, das nach meiner Ansicht in einer
angeborenen Kurze der Lider besteht. Ich habe vor 25 Jahren
auf diese häufige- Anomalie aufmerksam gemacht, doch scheint
meine damalige Mitteilung keine Beachtung gefunden zu haben
weshalb ich einmal einen solchen Fall vorzustellen mir erlaube’
- Bei diesem Kranken beträgt die Lidhöhe, das ist die Strecke
von der Augenbraue bis zum freien Lidrande, bei leicht ge¬
schlossenem Auge 24 mm, was dem Mittel für dieses Alter ent¬
spricht. Die Ausdehnung der Lidhaut, das ist die Strecke von
< ei Arigen braue bis zum freien Lidrande, wenn man diesen
duich Zug an den Wimpern stark herabzieht, so daß alle Falten
ausgeglichen sind, beträgt bei dem Kranken 30 mm, hei anderen
Personen desselben Alters aber im Mittel 39 mm. Die Lidhaut ist
also her ihm um 9 mm gegenüber dem Mittel verkürzt. Wichtiger als
He absoluten Maße ist das Verhältnis der Lidhöhe zur Ausdehnung
der Lidhaut, welches für die Vollkommenheit des Lidschlusses
maßgebend ist. Die Lidhöhe entspricht der durch das Lid zu
bedeckenden Fläche, die Ausdehnung der Lidhaut der dazu zur
er ugung stehenden Haut. Die Ausdehnung der Lidhaut
muß nun -eine erheblich größere sein, als die Lidhöhe,
\\enn der Lidschluß vollkommen sein soll, da sich die
Lidhaut ja in Falten legt. Ich habe- nun gefunden, daß die
Ausdehnung der Lidhaut mindestens um die Hälfte größer sein
urn J die _ Lidhöhe und daß, wie dieses Verhältnis unter 1:1-5
unkt, der Lidschluß unvollständig wird. Da nun in unserem
tafle das Verhältnis wie 1:1-2 bis 1-3 ist, ist vollständiger Lid-
Schluß nicht mehr vorhanden. Dies führt zu Tränen träufeln und
ie dadurch gesetzte beständige Benetzung des Lidrandes zu Ble¬
pharitis mit Vereiterung der Haarbälge und Zeiß sehen Drüsen.
. verstärkt wohl die Verkürzung der Lider, kann sie, aber
nmmer allem erklären. Die Breite des mit den Wimpern be¬
izten Hautstreifens beträgt 1 bis 3 mm und wenn diese Haut
mc ganz zugrunde geht, kann sie doch nicht eine Verkürzung
He in unserem Falle sogar 9 mm beträgt, erklären.
( . H*- K- Eeri demonstriert einen Fall aus dem Nervenambu-
monum des Verbandes der Genossenschaftskrankenkassen. Der
atient stellte sich am 26. v. M. mit der Angabe vor, er sei
wei läge vorher mit der linken Hand in eine .Transmission
©raten, unmittelbar nachher habe er ein chirurgisches Ambu-
uorium aufgesucht, wo ihm eine „Verrenkung am Unterarm“
'»gerichtet wurde. Der Patient zeigte damals eine Kontraktur
er eugemuskeln des linken Handgelenkes und der Fingergelenke,
ruckeinpfindlichkeit war nirgends wahrzunehmen, auch keine
'Ultusion. Das Aktinogramm ergab normale Verhältnisse. Die
©üsibihtät war in allen Qualitäten frei, die elektrische Erreg -
ar eit aller Muskeln der linken oberen Extremität normal. Ls
kf • aljgelenkter Aufmerksamkeit leicht, die Kontraktur zu
verwinden und das Handgelenk, sowie die Finger bis zur Grenze
er normalen Beweglichkeit dorsal zu bewegen; war die Auf-
|ie r sanikeit n*cEt abgelenkt, so war es fast unmöglich, die Kon-
Ktur m überwinden. Es ist. also dieser Fall als funktionelle
ÄÄX.Siä11*“ des SymptomMjcom-
nmg SnSretondiSCh° I'inSel',"S! ist bereils “ne '™hte &*»-
VorlraT TLr' .if,“!! T Be<f-cMc»eo beschränkt sich in seinem
KaniM Li en Ah dl“nB,^lt Wismutpaste auf das
ivapitel des kalten Abszesses und der tuberkulösen Fistel.
besteh? 'rn^q^o?'6^1011 +m°ist !" .Verwendung kommende Lösung
besteht aus 33 /o Bismutum submtneum und 66H/o Vaselin. Diese
Mischung wird erwärmt und dadurch verflüssigt, die flüssige
mit einer Glasspritze, deren stumpfe Spitze direkt de-r
Fisteloffnung aufgesetzt und angepreßt wird, injiziert; es wird
langsam und kontinuierlich so viel eingespritzt, bis der Patient
C,!ZrVrm1- iCl ,Anwfndung zu großer Gewalt besteht die
Tetahi, daß insbesondere bei frischen Fisteln die, Wand reißt
gießt laSte W1C1 111 die Schlchten des gesunden Gewebes or-
Das nach de-r Injektion angenommene Röntgenbild zeigt
woSr; H Richtung die Fistel verläuft und meist auch,
nl! Ursache der Eiterung, zu suchen ist. Durch
Demonstration sehr instruktiver Röntgenhilde-r zeigt der Redner
wie entfernt oder versteckt oft der osteomyelitische, bzw. kariöse
zu fiilpn SUCi i Ufd W1! leicht.er rait Hilfe fer Wismutinjektion
u linden ist. ^ Insbesondere mit Hilfe stereoskopischer Bilder
welche deutlich erkennen lassen, ob ein Fiste-lgang vor oder
|de!>1 Kl;°chfe'1 und in welch<* Entfernung von demselben
ei vei lauft, gelingt es in ausgezeichneter Weise, chronische Lite-
l-'i S IM P nri !SS a 1,V 0 1 1 e, b ?<; h 6 1 1 llud Gelenken, sofern dieselben mit
1 istel- oder Ab-szeßbildung emhe-rgehen, so daß sie mit Wismut-
lnjektion behandelt werden können, vollkommen klar zu stellen
Dadurch ist weiters auch in, jenen Fällen, wo ein operativer
■mp?1?- ao:fefieiSt 1St- d*r A eg genau ersichtlich und meistens
zeichnet6 ^ ^ S°W1° Ausdehnung deSl Knochenherdes gekenn-
Sehr häufig ist nach der Injektion allein vollkommene Aus¬
heilung des Prozesses zu beobachten, so daß die Üpera-
tmn unterbleiben kann; dies gilt auch von nicht tuber¬
kulösen Fisteln und kalten Abszessen. Ueber die vermutlichen Vor-
gange uml W irkungen -der Wismutpaste in kurativer Beziehung
laßt sich Redner hier nicht aus; es werden eine große Reihe
von Rontgenbildern projiziert, welche die verschiedensten und
ausgedehntesten Knochen- und Gelenkseiterungen nach der In¬
jektion mit Wismutpaste illustrieren und von welchen ein großer
feil aut ein- oder mehrmalige Injektion hin vollkommen aus-
heilte (Spondylitis, Koxitis, Karies- des Schenkelhalses, Gonitis,
Osteomyelitis femoris, Syphilis, Empyema pleurae usw.).
Zur Behandlung relativ frischer kalter Abszesse-*) nimmt
Beck eine nur 10% ige Wismutlösung (Maximaldosis 100 g)
um die- Gefahr der Resorption zu verringern; er vermeidet es
aucii, bei der der Injektion vorausgeh-ende-n Entleerung des Ab¬
szesses von einem kleinen Schnitt ans, zu drücken und zu kneten •
nach der Injektion entleert sich im Laufe der folgenden Ta<m die
eingespritzte Paste unter Beimengung einer anfangs noch eitrigen
später mehr schleimigen, klebrigen Flüssigkeit, die allmählich
versiegt, worauf die Abszeßhöhle verödet.
Zur Verhütung der Wismutvergiftung gibt Redner folgende
Regeln an :
1. U eberschreitet die injizierte Menge 100 g, so soll sie nicht
langer als drei \\ ochen im Körper belassen werden.
2 Alan soll nie dem Patienten die Salbe zur Selbstbehand¬
lung über assen. (Zwei Fälle von Vergiftung waren darauf zurück-
zuhihren.)
.. r 3; ÄJ?'n. untersuche wenigstens zweimal wöchentlich den
Mund des Patienten.
4- Eine bläuliche Verfärbung des Gingivalsaumes ist noch
nicht als Vergiftung anzusehen; dieses Symptom besteht in 2Ün/o
aile-r Falle bei vollkommenem Wohlbefinden der Patienten.
v Entwickeln sich aber Ulzerationen und bläulichschwarze
\ crlarbungen am Pharynx oder den Tonsillen, bei Abnahme des
*) Ein Artikel hierüber erscheint demnächst in dieser Wochenschrift
G86
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
Körpergewichtes und Zyanose, so besteht eine \\ lsinut-
intoxikation, welche auch sofort zu behandeln ist.
6. Die Behandlung besteht darin, daß man die injizierte
Masse mit warmem Olivenöl sofort auswäscht — nicht auskratzt;
die Paste liegt frei in der Abszeßhöhle oder der Fistel, durch ein
Kürettement wird deren Wand lädiert, wodurch noch mehr Wismut
resorbiert Averden kann. „ . , vwm.m
Seitdem Redner, Eggenberger und Reich, zur Voi sicht
beim Gebrauch großer Wismutdosen geraten haben, sind die Be¬
richte über Vergiftungen viel seltener geworden; ähnlich den
Röntgenverbrennungen hört man trotz ausgedehnter Anwendu 0
des Verfahrens heute nur mehr sehr wenig von W lsmutvergit-
Redner schließt: „lieber meine Resultate will ich hier nicht
weiter sprechen; jeder Chirurg soll die Methode an seinen eigenen
Erfolgen beurteilen, soll sie aber nicht gleich beim ersten Mi߬
erfolg verwerfen; in diesem Falle soll er sich erst überzeugen,
ob nicht fehlerhafte Technik, ungünstiges Material (Sequester)
und dergleichen den Erfolg vereitelt haben.
Meine Herren! Lieber hätte ich Ihnen diese Falle zuhause
an meiner Klinik demonstriert; dort hätte ich Ihnen anstatt der
Bilder die Kranken selbst vorgestellt. In diesem Sinne lade ich
Sie auch alle ein, nach Chicago zu kommen und meine 'Gaste
ZU ÖG Diskussion; Dr. H. H. Schmid: An der I. chirurgischen
Klinik in Wien wurde die Beck sehe Methode der Wismut¬
pastenbehandlung seit Oktober 1910 in ca. 50 Fällen angewende )
Die Injektionen wurden nach der Vorschrift von B ecl ; au
geführt, indem die flüssig gemachte Paste direkt m die Fiste
eingespritzt wurde, bis sich ein leichter Widerstand fühlbar
machte. Es wurden in der Regel 25 bis oO cm injizieit. D e
Einspritzung wurde von dem Patienten nicht schmerzhaf
empfunden^ngaben von Beck konnten bei den Fällen der Klinik
v Eiseisberg vollauf bestätigt werden. Die Sekretion wurde
mehr serös und ließ nach wenigen Tagen in ihrer Menge be¬
deutend nach ; die Schmerzen, wenn solche vorhanden waren,
nahmen ab und das Ekzem, welches gerade in der Umgebung
chronischer Fisteln sehr hartnäckig jeder Behandlung trotzt
kam auffallend rasch zur Heilung. Was uns die Methode auf
diagnostischem Gebiete geleistet hat zeigen am besten einige
unserer Röntgenbilder. (Demonstration.)
Die Heilresultate waren leider nicht stets so gnnstig wie
in den von Beck mitgeteilten Fällen, doch ist zu hoffen, daß
sie sich mit zunehmender Erfahrung noch bessern werden. Ver-
Mftungserscheinungen und Embolien ivurden nicht beobachtet,
daher liegt kein Grund vor, die Technik zu ändern oder andere
Wismutpräparate zu verwenden (Bismut. carbonic., welches von
anderer Seite empfohlen wurde). . , . ,
Schließlich sei daran erinnert, daß Patienten mit chronischen
Eiterungen nicht nur unter ihrer Erkrankung schwer zu leiden
haben, sondern auch wegen derselben nirgends gerne gelitten
sind In keinem Spitale will man sie aufnehmen, das Interesse
an ihrer Krankheit ist ebenso gering wie die Muhe die man
sich mit ihnen gibt. Da erscheint es als ein Gebot der Humanität,
diese armen Kranken einer Methode teilhaftig werden zu lassen,
welche ihnen, wenn nicht Heilung, so doch weitgehende Besserung
bringen kann und dies gelingt mit keiner der bisher g eubten
Methoden so rasch, sicher und schonend wie mit der Wismut¬
pastenbehandlung nach Beck.
Dr Stiaßny: Mit wenigen Worten mochte ich ein An¬
wendungsgebiet der Wismutemulsion berühren, welches auch
Herr Beck in seinem Vortrage erwähnt hat; ich meine die
Analfistel. , „ , „
Die geringe, mir bisher zu Gebote stehende Beobachtun-,
gestattet mir kein abschließendes Urteil, allem so viel k onnte
ich bereits jetzt konstatieren, daß bei Anwendung einer Ka nto-
ro vicz-Spritze zur Injektion der Emulsion ( U Bismuthum
subnitricum, */. Vaselin) nur mäßige Schmerzhaftigkeit besteht,
die Wirkung eine Zeitlang anhält (Nachlassen bis Aufhoren der
Sekretion) und wenn Pat. und Arzt die nötige Geduld aufbringen,
auch Heilung erzielt werden kann. Jedesfalls wäre die Methode
nach Beck bei Analfisteln stets zu versuchen, ehe an die wenig
schöne Operation der Diszision geschritten wird.
Primarius Lotheissen: An meiner Abteilung haben
wir schon vor zwei Jahren, bald nach dem Bekanntwerden des
Beck sehen Verfahrens begonnen, Injektionen mit der Wismut¬
paste zu machen, vorwiegend in therapeutischer Absicht. Wir hatten
*) Bericht über einen Teil der Fälle s. Schmid, zur Behand¬
lung chronischer Eiterungen mit Wismutpaste nach Beck. Wiener
klin. Wochenschr. 1911, Nr. 7.
hie und da einen Mißerfolg, z. B. bei einer Empyemfistel im
ganzen waren aber unsere Resultate sehr günstig. Eine Reihe
von Patienten wurde ambulatorisch behandelt und ist uns daher aus
den Augen gekommen, die Gesamtzahl ist mir dahei nicht genau
bekannt. Stationäre Kranke sind über 40 behandelt worden. Die
schönsten Erfolge erzielten wir bei Kindern, die an Spondylitis
tuberculosa mit zahlreichen Fisteln litten. Knaben, die sich nicht
bewegen konnten, die ruhig im Bett liegen mußten, waren nach
den Injektionen bald so weit, daß sie sitzen, spater auch auf¬
stehen konnten. Sie mußten anfangs die Hände auf den Ober¬
schenkel stützen, um den Rumpf zu entlasten. Schließlich konnten
sie frei gehen, ja sogar laufen. Einen dieser Patienten, der ganz
geheilt ist, wollte ich mir erlauben, heute hier vorzustellen,
leider war er nicht aufzufinden.
In seiner ersten Mitteilung hatte Beck die Vermutung
ausgesprochen, das Wismut werde durch die Röntgen strahlen
radioaktiv und beeinflusse dadurch die Granulationsbildung, rege
zur Heilung an. Wir haben daher anfangs unsere Patienten nach
der Injektion durch zwei bis drei Minuten bestrahlt. Später ge¬
schah dies nicht und doch war der Erfolg gleich gut. Jetzt ist
Beck nach seiner letzten Mitteilung in der München med.
Wochenschr. zu der Ueberzeugung gekommen, daß es die Ab¬
spaltung von Salpetersäure aus dem Bismuthum subnitricum ist,
av eiche diese gute Wirkung hervorruft.
Bei den meisten unserer Patienten handelt es sich uni
tuberkulöse Prozesse, für die das Jod seit Jahrzehnten als Spe-
zifikum anerkannt ist. Darum hat man ja in kalte Abszesse ja
auch in solche Fisteln Jodoformglyzerm injiziert (Billroth,.
Seit I1/» Jahren haben wir an meiner Abteilung das Jodoform
durch das Novo jodin (ein österreichisches Praparat) ersetzt
Bei der Knochenplombe Mose tigs hat es sich ebenfalls gut
bewährt. Ich habe daher in letzter Zeit auch in der Beck sehen
Paste das Wismut durch das Hexamethylentetramindijodid
(d. i. eigentlich das Novojodin) ersetzt, weil dieses ungiftig ist,
Jod abspaltet und außerdem noch Formalin enthält, also aus¬
trocknend auf die Wunden wirkt. Die Zeit, welche seither ver¬
flossen, ist noch zu kurz, um ein abschließendes Urteil abzu¬
geben, bisher habe ich aber stets nur gute Resu täte gehabt.
Das Hexamethylentetramindijodid gibt deutliche, dunkle Schatten
im Röntgenbilde (wird demonstriert), steht also, hinter dein Wis¬
mut durchaus nicht zurück, ist aber (nach unseren monatelangen
Erfahrungen an Menschen und nach den Tierexperimenten) selbst
in großen Quantitäten als ungiftig anzusehen Bei der \\ismut-
pasteninjektion sind aber schon etliche, sogar tödliche Vergiftungen
berichtet worden. Vielleicht wird mancher, der deshalb ängstlich
war durch diese Modifikation, welche ja das Wesen das Prinzip
der Methode nicht tangiert, sich veranlaßt sehen, dieses schone^
und vorteilhafte Verfahren anzuwenden.
Freiherr v. E i s e 1 s b e r g : Vor ungefähr 20 Jahren wurde,
von französischen Autoren empfohlen, in Senkungsabszesse
Paraffin zu injizieren, um sie leichter exstirpieren zu können,
doch erwies sich dieses Verfahren als unzweckmäßig. Hatte im
damals schon mit Röntgen gearbeitet, so wäre man vielleichj
der Beck sehen Methode nahegekommen. Die verschiedener
Methoden, Abszeßhöhlen mit einer Masse zu fußen, so
roths Injektion von 107o Jodoformglyzerinlösung, Mo s e 1 1 g -
Jodoformplombe*), endlich die eben erwähnte, von Lothe isse.
empfohlene Novojodininjektion haben günstige, ja zum -
ausgezeichnete Resultate gezeitigt; dadurch wird aber das Ve
dienst des Kollegen Beck, gerade bei langbestehenden,. ha
näckigen Eiterungen immer und immer wieder seine W smu
injektionen gemacht zu haben, nicht verringert und moente c
dasselbe ganz besonders für die Diagnose von verzweigten F istel
kanälen empfehlen, aber auch auf die therapeutischen L g
die damit erzielt worden sind, hinweisen Erst vor wenige
Tagen konnte ich einen nach dieser Methode behandelten Pa
als anscheinend geheilt entlassen, bei welchem nach der Inzisioi
eines periproktitischen Abszesses zwei Fisteln zuruckgeblieb
waren, die, als Pat. in Behandlung an meiner Klinik kam b
reits ein Jahr bestanden. Vor drei Wochen wurde die erst
acht Tage später die zweite Wismutinjektion gemacht
acht Tagen sind die Fistelöffnungen vollkommen trocken unü m
Patient beschwerdefrei. Wenn auch von einer pauerheilung
gesprochen werden kann, so ist der Erfolg doch e)u al)f _•
In bezug auf unsere übrigen Erfahrungen an der Klinik
ich auf die obigen Ausführungen meines Schülers Dr. b c in
Dr. H. Teleky: Herr Prim. Lotheissen fuhrt als Argun
für die Ungiftigkeit des Novojodins an, daß Tiere es auc
*) Hieher gehört auch das von A. Fraenkel unpföh
Kohlenglyzerin.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
687
großen Gaben ohne Schaden gut vertragen. Ich kann dies Argu¬
ment nicht für ausreichend halten. Denn es gibt Gifte, die auf
Tier und Mensch ganz verschieden wirken und dasselbe Gift
welches dem Menschen letal ist, läßt manches Tier unbehelligt!
So fressen Schafe, Ziegen und Kaninchen die Tollkirsche
ohne Schaden, der Hund wird selbst von 10 g Atropin und
darüber nicht nachteilig beeinflußt, während die Maximaldosis
für den Menschen 0001 ! — pro die 0'003 beträgt. Katzen
Rinder und Pferde sind gegen das Gift erheblich empfindlicher!
Es muß daher am Menschen selbst die Giftigkeit oder Ungiftig-
keit eines Präparates erprobt werden, ehe es zur allgemeinen
Anwendung empfohlen wird.
Dr. Jerusalem: Seit einiger Zeit übe ich die Wismut¬
behandlung chronischer Fisteln im chirurgischen Ambulatorium
der Wiener Bezirkskrankenkasse, nachdem ich mich über die
Technik mit gütiger Erlaubnis des Herrn Hofrates v. Eiseis-
berg an dessen Klinik informiert hatte. Ueber Heilresultate
kann ich derzeit noch nicht berichten ; doch möchte ich mir er¬
lauben, eine die Technik betreffende Frage anzuschneiden. Manche
Patienten äußern nämlich bei der Injektion mehr oder weniger
heftige Schmerzen, während andere gar keine unangenehmen
Sensationen haben. Es scheint dies von der Temperatur der
injizierten Masse abzuhängen. Die Temperatur bedingt aber die
Konsistenz ! Machen wir die Paste recht flüssig in der Absicht
sie in den Fistelgängen gut zur Verteilung zu bringen, dann ist
sie in der Regel zu heiß. Lassen wir sie jedoch äbkühlen, dann
wird sie konsistenter, läßt sich schwerer injizieren und man hat
dann mitunter das Empfinden, daß sie nicht überall dorthin be¬
langt, wo man sie haben will.
Vielleicht klärt uns der Herr Vortragende darüber auf, wie
man den Ausweg aus diesem Dilemma findet.
:>.. Prof; Beck erwidert auf die Anfrage Jerusalems, daß
die Abszeßwand selbst, wie auch die Wand der Fistelgänge
nach seinen Erfahrungen nicht empfindlich sind, dort also die
mmst ziemlich heiße Paste stets gut vertragen wird. Dagegen
ist die Haut in der Umgebung der Fistel meist ekzematös ver¬
ändert und sehr empfindlich ; man trachte dieselbe zu schonen ;
1 i -ui ’ ^ie der Injektionsspritze kurz vor der Injektion
abzukuhlen. Demgegenüber verursacht die Injektion von Rektal¬
ste1’1 nicht selten Schmerzen, doch sind die Erfolge auch hier
so eklatant, daß man keine Analfistel operieren sollte, ohne
die Injektion mit Wismutpaste versucht zu haben. Von
Tu Fallen erfolglos operierter Analfisteln heilte Redner 43 durch
die darauffolgende Injektion.
Dr. Demetrius Chilaiditi - Konstantinopel (als Gast) : Uebe r
willkürliche Vergeh, ieblichkeit der Ab d o m i n a,l or¬
gan e u n d ihren Einfluß auf die Darmtätigkeit.
j ’ Meine Herren ! Ursprünglich zu Palpationszwecken, habe ich
ein Verfahren benützt, dessen Wirkungsart auf den Dickdarm
mich veranlaßt hat, es therapeutisch bei chronischen Obstipa¬
tionen zu verwenden.
Die Verschieblichkeitsprüfung der Organe in den verschie¬
denen Körperlagen (im Stehen und Liegen, bei Rechts- und Links-
Icigej, ferner bei vertiefter Respiration geschieht bekanntlich durch
lie Palpations- und Perkussionsmethoden.
In der Röntgenuntersuchung hat die Verschiebliehkeits-
piüJung eine wertvolle Bereicherung erfahren und besitzen wir
indem von Holzknecht -empfohlenen Baucheinziehen ein aus-
pebiges Prüfungsmittel. Es ist hiebei radioskopisch ein Hochrücken
ler Organe (Magen, Querdarm) bis um Handbreite und darüber
r? konstatieren, was, abgesehen von der Organ Verschieblichkeit,
ur die Untersuchung der Beweglichkeit von Tumoren und ihrer
aigehörigkeit zu anderen Organen, für die Untersuchung des
vvanderns oder Bestehenbleibens von schmerz haften Druckpunkten,
Feststellung gewisser Adhäsionen usw. von Wichtigkeit ist. Nä¬
heres hierüber kann aus den diesbezüglichen Publikationen Holz¬
knechts, Jonas’, Haudeks u. a. ersehen werden.
Durch die Kontraktion der Bauchdeckenmuskulatur beim
gewöhnlichen Baucheinziehen wird jedoch die Palpation der
j abdominal Organe erschwert, ja oft unmöglich gemacht. Es dürfte
l ies die l rsache sein, daß das Verfahren, das bei der radiologischen
* ntersuchung unentbehrlich geworden ist, von den Aerzten, denen
111 Röntgeninstrumentarium nicht zur Verfügung steht und die
m; Verschieblichkeitsuntersuchung der Bauchorgane hauptsächlich
iiuf die palpierende und perkutierende Hand angewiesen sind,
venig verwendet werden kann.
Dieser Einschränkung läßt sich aber dadurch begegnen, daß
min den Bauch ohne Kontraktion der Bauchdecken einziehen
[aßt. Dies ist möglich, wenn man den Bauch nicht „eindrückt“,
enden i „einsaugt“.
Zu diesem Zwecke lasse ich den Patienten nach einer tiefen
nspirahon vollständig ex'spirieren, hierauf bei geschlossener
Glottis eine forcierte, thorakale Inspirationsbewegung machen,
mithin ohne Betätigung des Zwerchfells und der Bauchmuskeln.
Bei dieser Bewegung hebt und verbreitert sich der Thorax Da die
Lunge infolge verhinderten Luftzutrittes sich nicht dementspre¬
chend entfalten kann, wird das schon infolge des vollständigen
Lxspiriums hochstehende Zwerchfell noch höher , gesogen“ die
Baucheingeweide rucken nach; hiebei tritt noch hinzu, daß, wie
Holzknecht gezeigt hat, gewisse Organe und Organteile (Pars
media ventriculi, Colon transversum) eine ausgiebigere Verschie¬
bung mitmachen, als das Zwerchfell und die unmittelbar darunter
liegenden Organe (Pars cardiaca ventriculi), da in der nun¬
mehr verbreiterten Thoraxbasis unter dem Zwerchfelle viel mehr
I latz vorhanden ist, der durch tiefer liegende Organe ausgefüllt
werden muß.
Bei diesem Hochrücken der Organe sinkt der Bauch von
selbst oder besser: infolge des äußeren Lufteindruckes ein die
Bauchpresse ist hiebei vollkommen überflüssig, ja direkt hinder¬
lich.
Zum näheren Verständnis der durch die Methode erzielten
Wirkungen auf den Dann erlaube ich mir, einige im II o 1 z k n e c h 1-
schen Institute aufgenommene Röntgendiapositive zu projizieren,
die uns die Hebung des Dickdarms und anderer wismutgefüllter
Organe mit der Methode veranschaulichen werden.
Demonstration mehrerer Dickdarm- und Magen-Röntgeno-
grarnme Von jedem Falle ist eine Aufnahme der betreffenden
Organe bei „eingesogenem“ Bauche und zum Vergleiche eine Auf¬
nahme in gewöhnlicher Lage gemacht worden. Hiebei sind Hebun¬
gen des Zwerchfells um! 6 bis 12 cm,1) der Flexuren (speziell der
Flexura hepatica) um 10 bis 20 cm, des Colon Hranslversum
und der Pars media des Magens um 8 bis 20 cm, des Pylorus
und hiernit der ersten Portion des Duodenums um 8 bis 17 ( ! ) cm
des C oku ms und Colon ascendens um: 3 bis 13 cm, des Colon’
descendens und sigmoideum um 3 bis 10 cm zu konstatieren.
Beach tens wert ist ferner die Entfaltung der häufig in Knäuelform
geballten und mit mehreren spitzwinkeligen Knickungen ver¬
sehenen Dickdarmportion, besonders der Flexura coli hepatica.
Sie sehen also, meine Herren, daß infolge dieser stellen¬
weise so außerordentlich hohen Hebung der Bauchorgane durch
den Thorax der Bauch auch ohne jede Kontraktion der Bauch-
d c ckenm u sku 1 a tu r einsinken muß und daß hiedurch die Pal¬
pation des Bauches, besonders die Tiefenpalpation erleichtert
wird. Die manchmal noch anfangs, besonders im Stehen vor¬
handene Neigung, die Bauchmuskeln bei der forcierten Inspira¬
tionsbewegung zur Unterstützung der allgemeinen Hebung zu
kontrahieren, läßt sich, wenigstens bei drei Vierteln der Fälle
bald ahgewöhnen.
Ueber die diagnostische Verwertbarkeit der Methode, sowohl
vom radiologischen Gesichtspunkte,2) als Modifikation einer schon
bestehenden Methode, als auch vom allgemeinen klinischen Ge¬
sichtspunkte,3) zur ausgiebigen Verschieblichkeitsprüfung der Ab¬
dominalorgane bei eingezogenem Bauche durch die unbehinderte
Palpation, teilweise auch die Perkussion und Inspektion, habe ich
schon andernorts gesprochen. Heute möchte ich mir erlauben,
auf den Effekt hinzuweisen, den dieses Verfahren
auf den D i c k d a r m au s ü b t.
Es war mir schon in Paris (Höpital St.-Antoine) aufgefallen,
daß Leute, die während der Untersuchung die Methode mehrmals
wiederholt hatten und manchmal Stuhldrang verspürten oder
direkt, teils gleich, teils einige Zeit später eine ausgiebige Stuhl¬
entleerung hatten. Da diese Tatsache sich zu häufig wiederholte,
um auf einem reinen Zufall zu beruhen, so glaube ich schließen
zu dürfen, daß die Ursache der beschleunigten Darmentleerung
m dieser Bewegung zu suchen sei, etwa nach Art einer Auto”
massage, die sich aber hier, zum Unterschiede von der gewöhn¬
lichen Automassage, nicht als Druck (der Bauchpresse), sondern
als Zug (des Zwerchfells, resp. des Thorax) auf den Dickdarm
äußert. Es war daher naheliegend, das Verfahren bei den ver¬
schiedenen Formen von Obstipation zu versuchen. Zu diesem
Zwecke habe ich die Methode folgendermaßen modifiziert: nach
vollständigem Exspirium macht der Patient bei schlaffem Ab¬
domen in ziemlich rascher Aufeinanderfolge und natürlich wieder
*) Die Maße sind auf die orthodiagraphisch festsetzbare Größe
reduziert worden.
. ... ) Chilaiditi, Methode pour examiner plus amplement la
mobihte stomacale etc._ Rull. soc. rad. med. de Paris, Dezember 1910.
.1 Chilaiditi, Zur Palpationstechnik des Abdomens, zugleich
ein Beitrag zur Mobilitätsprüfung der Abdominalorgane. Sitzungsbericht
der Gesellschatt liir inn. Med. und Kinderheitk. vom 27. April 1911
688
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
bei geschlossener Glottis mehrere tiefe thorakale In- und
E x s j) i r a t i o n s b e w egunge n, so lange, bis er eine leichte Atem¬
not verspürt, was gewöhnlich nach fünf bis sechs Bewegungen
cintritt. Hierauf schöpft Patient wieder zwei- bis dreimal lief Atem
mul beginnt die .Hebung von neuem. Das gleiche Spiel wiederholt
sich zirka zehnmal. Dauer der gesamten Hebung fünf Minuten. Die
Hebung wird am besten frühmorgens im Bette, gleich nach
dem Aufwachen ausgeführt. Ich lasse sie untertags nur in ein¬
zelnen Fällen wiederholen.
Genau so wie beim diagnostischen Verfahren ist auch hier
die Kontraktion der Bauchdeckenmuskulatur über¬
flüssig-" Die Patienten erlernen es auch meist rasch, wenn sic
es nicht schon von vornherein können, die Bauchmuskeln voll¬
ständig aus dem Spiele zu lassen. Es ist dies letztere auch für die
therapeutische Verwendung nicht ohne Bedeutung, denn der
Bauch kann bei gespannten Bauchmuskeln nicht so vollkommen
eingezogen werden, als bei erschlafften, was bei Berücksichtigung
der Insertionspunkte und der Kontraktionsrichtung* der Bauch¬
muskeln, vor allem der Musculi recti verständlich wird.4)
Ich werde mir erlauben, die Hebung durch mehrere
Patienten demonstrieren zu lassen. Ich habe eine größere
Anzahl zu dieser Demonstration hieher geladen, damit sich
möglichst viele Herren durch Palpation davon überzeugen können,
daß die Bauchdecken bei der Uebung entspannt bleiben. Hiebei
muß bemerkt werden, daß die Uebung im Liegen viel leichter,
ausgiebiger und mit noch entspannteren Bauchdecken ausgeführt~>
wird, als im Stehen, in welcher Lage durch das Gewicht der
Abdominalorgane und durch die feinen Regulierungsvorgänge der
Gleichgewichtslage oft ein erhöhter Tonus der Bauchmuskulatur
nicht zu umgehen ist.
Um Mißverständnissen und einer etwaigen Verwechslung mit
den verschiedenen Arten von Automassagen vorzubeugen, die auf
aktivem Baucheinziehen (also auf Anwendung der Bauch¬
presse) beruhen, betone ich hier nochmals, daß die Uebung
nicht als Druck (der kontrahierten Bauchdecke), son¬
dern als Zug (des Zwerchfelles, bzw. des Thorax.) auf
den D i c k d a r m, speziell die Fl e x u r e n s i c h ä u ß e r t. Das
Verfahren ist daher keine „M assage“ in 1 a n d 1 ä uf igem
Sinn e.
Ich habe bis jetzt, vorwiegend im Ilöpital St. -Antoine in Paris
und auf der IIP medizinischen Klinik in Wien (prov. Leiter:
Prim. Dr. Reitter), die Hebung bei 42 Fällen von sogenannter
reiner, chronischer Obstipation angewendet. Kombinierte „un¬
reine“ Formen, besonders solche, bei denen die Obstipation auf
eine organische Erkrankung des Zentralnervensystems, des Zir¬
kulationsapparates usw . zurückgeführt werden konnte, ferner
solche, die in einem organischen Hindernisse (narbige Stenose,
Tumor usw.) ihre Erklärung finden konnten, sind nach Tunlichiceit
hiebei ausgeschieden worden, ebenso die große Zahl der Fälle
von akuter, vorübergehender Obstipation.5)
Die kürzeste Beobachtungszeit der hier aufgezählten Fälle
beträgt ein Monat; einige der Fälle stehen schon seit zehn Mo¬
naten in Beobachtung, Die Fälle, die seit weniger als einem Monat
in Behandlung stehen, werden hier ebenfalls nicht mitgezählt.
Für die 42 Fälle von reiner chronischer Obstipation ist die
handliche, wenn auch nicht immer streng durchführbare6) und viel
zu allgemeine Einteilung in atonische und spastische Formen
hei behalten worden. De facto hatte fast jeder der Fälle seine
individuellen Eigentümlichkeiten und hätte für sich klassifiziert
und besprochen werden müssen, doch ist dies der allgemeinen
Uebersicht halber nicht zweckentsprechend gewesen.
Die Fälle der atonischen Gruppe (36) reagierten durchschnitt¬
lich günstig auf die Uebung. Hiebei ist zu bemerken, daß auch
die (vier) Fälle, unter ihnen, bei denen die Kotstauung sich
*) Immerhin bleibt ein beträchtlicher Teil von Patienten übrig, die
die Hebung teils wegen Ungeschicklichkeit, teils wegen körperlicher Ge¬
brechen, nicht korrekt ausführen können. Aber selbst wenn ein Entspannen
der Bauchmuskeln auf keine Weise erzielt werden kann, ist die Uebung
immerhin häufig noch von Erfolg begleitet, vorausgesetzt, daß die thorakale
Inspiratiorisbewegung, »der Lungenzug«, ausgiebig verwertet wird.
A Mit letzt erer würde die Zahl der behandelten Fälle hundert
übersteigen. Obwohl in Bezug auf Promptheit und Schnelligkeit der
Wirkung gerade hier die eklatantesten Erfolge erzielt wurden, wollte ich
sie bei obiger Aufzählung nicht berücksichtigen, da ja das Schwinden
einer akuten Obstipation nicht immer mit einem therapeutischen Er¬
folge gleichbedeutend ist.
8) So kann man die hier unter die spastischen Obstipationen ein-
gereihten sechs Fälle sicher nicht von einem einheitlichen, allgemein an¬
erkannten Gesichtspunkte aus betrachten, sind ja doch gerade in neuerer
Zeit die berufensten Autoren über das Wesen der spastischen Obstipation
geteilter Ansicht.
hauptsächlich auf das Rckt.um und Colon sigmoideum beschränkte
(proktogene Obstipation), günstig beeinflußt wurde.
In 22 Fällen erfolgte eine (anfangs meist harte) Stuhlentlee-
rung gleich am ersten Tage, jedoch auch in den folgenden Tagen
an keine bestimmte Zeit gebunden. Rei 14 der Fälle war nach
Ablauf einer Woche die regelmäßige tägliche Stuhlentleerung zur
gewünschten Zeit (frühmorgens, einige Zeit nach dem Er¬
wachen) erzielt und fast durchwegs dauernd beibehalien worden.
In fünf Fällen waren die Resultate auch nach durch ein Monat
(bzw. 2 und 214 Monate) fortgesetzter Uebung unsicher, zu¬
mindest nicht überzeugend; in drei Fällen versagte sie gänzlich
(zwei derselben waren ambulante Patienten und konnten deren
Hebungen nicht kontrolliert werden). Bei zwei fällen wurden (lie
Hebungen wegen hiebei auf tretender Schmerzen in der Nabel¬
gegend (bzw. im Kreuz und im linken Hypochondrium) trotz
beginnender Stuhlregelung ausgesetzt, ebenso bei einem Falle
wegen Verdachtes eines latenten Ulcus ventriculi.
Von den sechs, in die Gruppe der spastischen Obstipation ;
eingereihten Fällen reagierten zwei nach Ablauf von einer, be¬
ziehungsweise drei Wochen mit dem gewünschten Erfolge. Bei
dem einen verschwanden die im linken Hypochondrium häufig
a 1 1 lire tendon S chm erzen .
Von zwei weiteren Fällen (bei gleichzeitig bestehendem
R e i c h m a n n sehen Syndrom) konnte der eine überhaupt nicht
beeinflußt werden, der andere u. zw. dauernd, nachdem ihm durch j
vier Tage Natrium bicarbonicum und Magnesia usta verabreicht
wurden. Mittel, die vorher allein, d. i. ohne Kombination mit |
der Uebung, wirkungslos geblieben waren. Seitdem blieb der
Stuhl, auch nach Aussetzen der Alkalien, aber bei Fortsetzung
der Uebung, geregelt. _ I
In den zwei letzten Fällen war die Uebung zwei, bzw. vier
Wiochen ohne besonderen Erfolg fortgesetzt worden. Erst in
Kombination mit Darreichung von reichlicher, schwer resorbier-
I nurer Kost (Gurken, Salat, Obst, Pumpernickel, Grahambrot). 1
die durch einige Tage fortgesetzt wurde, wurde der Stuhl geregelt
und blich cs auch nach Aussetzung obiger Kost (Uebung wurde
fortgesetzt.). Die Nahrungsänderung hatte in diesen Fällen, ebenso j
wie in den vorhergehenden die Alkalien, sozusagen als auslösen¬
des Moment gewirkt.7) _ ... ,1
Wenn also aus der geringen Zahl der in die spastische Gruppe
eingereihten Fälle überhaupt ein Schluß gezogen werden darf,)
so ist es der, daß die spastischen Formen im allgemeinen weniger
günstig zu beeinflussen sind. i
Die Dauer der Behandlung mittels der Uebung ist eben¬
falls individuell verschieden. Gewöhnlich wird, wenn der Sluld 1
durch ein bis zwei Wochen regelmäßig und zur gewünschten Zeit !
(früh) entleert wurde, die Zahl der Einzelübungen allmählich ver- |
ringert (täglich um zwei bis drei Bewegungen weniger), so daß ,
meist nach Ablauf eines Monats oder noch früher die Liebling j
gänzlich sistiert werden kann; dies geschah in etwa 50% der
Fälle u. zw. mit großenteils bleibendem Erfolge. Bei den anderen I
mußte die Uebung immer zeitweise wiederholt werden. Einige
Patienten haben sich jedoch so an ihre Morgen Übung gewöhnt,
daß sie dieselbe, auch bei nunmehr geregelter Stuhlentleerung,
nicht mehr missen wollen.
Es sei mir gestattet, hei den theoretischen Erklärungsver¬
suchen der unbestreitbaren Tatsache eines Einflusses dieser
Uebung auf die Darmtätigkeit mich kurz zu fassen, um so mein,
da ich mich vielfach auf spekulatives Gebiet begeben müßte.
Ich beschränke mich daher hier nur auf eine der nahe¬
liegendsten Erklärungen, nämlich die, die das mechanische
Moment herbeiziebt.
An der allgemeinen Hebung sind — wie wir gesehen haben ■
. durchschnittlich am stärksten die Flexuren beteiligt, diese
werden nicht mir temporär gehoben, sondern auch entfaltet
und ihre Knickungen teilweise ausgeglichen. Diese Hauptvar-
kung auf die Flexuren mag daher für die Darmtätigkeit von Be- 1
dentung sein, um so mehr, als wir wissen, daß sich gerade vor
den Flexuren die Kotmassen am längsten stauen. Aber auch die
hebende Wirkung auf die übrigen Dickdarmteile scheint nicht
zu vernachlässigen zu sein, wenn auch aus begreiflichen Gründen
sowohl die Hebung dieser Partien, als auch die hebende Kraft I
im allgemeinem weitaus geringer ist. _ jjig: I
Wenn man auch zunächst geneigt ist, dieser äugen lälh.wn
Hebung, Mobilisierung, dieser Entfaltung von Knickungen w.in-
7) Diese vorübergehende Kombination der Uebung mit
j anderen Mitteln bat sich auch bei drei Fällen ans der atonischen Gruppe
! bewährt. Eine dauernde Kombination wurde bisher . aus äußeren.
Gründen nicht angewendet; doch ist anzunehmen, daß eine solche mi
etwa demselben günstigen Erfolge wie die vorübergehende angewen e
i wer en kann.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
689
rend und für die Zeit der Uebung eine große Bedeutung bei-
zumesstn, so dürfte vielleicht noch mehr Gewicht aut eine all¬
gemeine Anregung dbs Tonus und der Peristaltik
des Dickdarms durch die Uebung zu legen sein. Eine An¬
regung. die sich aber nicht nur auf den Moment der Uebung be ¬
schränkt, sondern wahrscheinlich stundenlang nach¬
wirkt.
Diese Annahme einer „Nachwirkung“ kann auch durch die
Tatsache gestützt werden, daß etwa 80°a der Patienten zu Anfang
der Behandlung nicht unmittelbar nach der Uebung Stuhl
habt n, sondern zu ganz verschiedenen Zeiten, etwa eine bis zehn
Stunden nach der Uebung; später allerdings, wenn die Uebung
regelmäßig früh durch längere Zeit (eine bis zwei Wochen but
2 setzt wird, stellt sich meist unmittelbar nachher, aiso früh¬
morgens, Stuhl ein. Die regelmäßige Stuhlentleerung zur äu¬
gt gebenen Zeit erfolgt aber auch dann noch, wenn die Dauer der
Uebung allmählich verringert und die Uebung schließlich sistiort
wird. Es findet eben eine Erziehung oder besser eine Rückerziehung
. des Darmes zur „automatischen“ Funktion statt, die sich darin
äußert, daß der Darm gelernt hat, zur physiologisch geeignetsten
Zeit in Tätigkeit zu treten. Diejenige Komponente der Uebung,
die auf der scheinbar momentanen Wirkung beruht, r e d u z i e r t
sich also wahrscheinlich allmählich und dürfte schließlich nur
mehr als auslösendes, als „erweckendes“ Moment in Betracht
kommen.
Meine Herren! Ich habe Ihnen heute über die Wirkung der
Uebung auf den Dickdarm gesprochen.
Hiemit ist aber die therapeutische Verwendungsmöglichkeit
der Uebung nicht erschöpft.
Herr Hofrat v. Noorden gab gestern die Anregung, bei
2* eigneten Fällen die Uebung zur Dehnung von pathologischen
Verwachsungen zu versuchen.
Dr. Hau d e k schlug mir jüngst vor, die Uebung bei solchen
gastroe nterostomierten Patienten therapeutisch zu versuchen, bei
denen, sei es wegen hoher Lage der Gastroenterostomie, sei es
wegen starker Belastung des Magens und hiedurch bewirkter
Verengerung der Gastroenterostomie u. a., die Entleerung des
Magens übermäßig verzögert wird.
Die ausgiebigste Perspektive eröffnet s i c h je¬
doch in der therapeutischen Verwendung der Uebung
'mit einer kleinen Modifikation) liei Magen a ton ie
und -dilatation.
Mit dem Ergebnisse dieser Untersuchungen, mit denen
ich mich seit etwa einem Jahre beschäftige, hoffe ich, das nächste
Mal vor Sie treten zu können.
*
Sitzung vom 5. AI a i 1911.
Vorsitzender: Hofrat Prof. Dr. S. Exner.
Schriftführer: Hofrat Richard Paltauf.
Der Präsident teilt mit, daß von Prof. Pierre Ma rie in Paris
ein Dankschreiben für seine Wahl zum Ehrenmitgliede eingelangt
ist und daß Hofrat Lang der Gesellschaft schriftlich gedankt
hat für die ihm durch das Präsidium vermittelten Glückwünsche
ftm 30. April dieses Jahres.
Priv.-Doz. Dr. Clairmont: Ich erlaube mir. Ihnen dieses
achtjährige Mädchen zu zeigen, das am 11. April 1911 in die
v. Eiselsbergsche Klinik aufgenommen wurde. Das Kin I wurde
schon von dem behandelnden Arzte (Dr. Karl Z n oj i 1- Siegharts¬
kirchen mit der richtigen Diagnose an uns gewiesen. Allerdings
bot die Anamnese sehr charakteristische Angaben. Das Kind,
das von Ptdegeeltern aufgezogen worden war. hatte seit seinem
dritten Lebensjahre die Gewohnheit, sich Haare auszureißen und
zu verschlucken. Einige Tage vor der Aufnahme hatte es einen
Haarknollen erbrochen. Bei dem Kinde fand sich in der Magen-
-< rend ein derber, sehr beweglicher Tumor mit glatter Ober- i
flie h- . in der Gestalt des Magens. Auch dieser Befund sprach mit
Sicherheit für die Annahme eines Trichobezoar. Am 13. April
machte ich die Laparotomie. Nach Eröffnung des Peritoneums
war jeh zunächst sehr überrascht, als sich an der kleinen K ir-
vatur des dilatierten Magens eine zirka fünfkronenstückgroße
Parti cinstellte, in deren Bereich die Serosa graugelb verfärbt
war. sich derb anfühlte, so daß im ersten Augenblick der
Gedanke eines malignen Prozesses nahelag. Die genaue Uulor-
Buchung und Palpation ließ aber doch einen entzündlichen Tumor
— aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Ulkus — annehmen.
Der Fremdkörper war zunächst hinter dem linken Rippenbogen
vei borgen und wurde durch streichende Bewegungen im Sinne
der Peristaltik eingestellt. Zunächst machte ich in der vorderen
Magenwand eine ca. 5 cm lange Inzision, durch die der Trieho-
teznar. den Sie hier sehen, leicht entfernt werden konnte. Diese
Inzision wurde sodann benützt, um das Mageninnere entsprechend
der von außen gesehenen Veränderung an der kleinen Kurvatur
zu besichtigen. Es fand sich nun tatsächlich ein Ulkus an der
kleinen Kurvatur, Die I eberlegung, was zur Heilung dieses
Geschwüres zu geschehen habe, war keine leichte-. Auf
der einen Seite mußte man sich sagen, daß vielleicht das
I ikus nur durch den Fremdkörper bedingt sei und nach dessen
Entfernung zur Ausheilung kommen werde. Auf der anderen Seite
trachten wir in neuerer Zeit, wie Sie wissen, meine- Herren,
das l lkus an der kleinen Kurvatur mit der Resektion zu behan-
ileln. Die Ueberlegung wurde noch dadurch erschwert, daß das
Kind in der Narkose eine, wenn auch leichte, Asphyxie hatte.
Nach Zuwarten von einigen Minuten besserte sich aber die Nar¬
kose, so daß ich mich entschloß, an die quere Magenresektion
heranzugehen. Es wurde damit zirka ein Drittel des Magens
entfernt. Das Präparat sehen Sie hier, meine Herren; an tier
kleinen Kurvatur das hcllergroße Ulkus. Der postoperative Ver¬
lauf war ein glatter, das Kind kann heute, drei Wochen nach
der Operation, alles essen und hat 1 kg 30 dkg zugenommen.
Dieser Fall ist der erste in der Literatur von Kombination
eines Trichobezoars mit Ulkus, der erfolgreich chirurgisch behan¬
delt wurde. \\ ie der ausführlichen Monographie von Wölf ler
und Lieblein zu entnehmen ist, wurden bisher fünf Fälle von
Tiichbezoar und Ulcus ventriculi bekannt. Das Geschwür saß in
diesen Fällen an der großen Kurvatur und wurde als Dekubital-
geschwür aufgefaßt. Durch die Perforation des Ulkus kam es in
diesen Fällen zum Tode. Auch bei diesem Kinde hatten einige
Tage vor der Aufnahme heftige Schmerzen bestanden, die aller
A\ ahrscheinliehkeit nach wohl durch das Geschwür bedingt ge¬
wesen sind.
Der demonstrierte Fall ist ferner der jüngste bisher beob¬
achtete von Trichobezoar (acht Jahre), ist wohl einer der jüngsten,
an dem überhaupt bisher eine Viagenresektion vorgenonnnen
wurde, jedenfalls in dem reichen Material der v. Eiselsberg-
sehen Klinik der jüngste.
Nicht für diagnostische Zwecke, doch des Interesses wegen
haben wir dieses Kind vor der Operation in dem Laboratorium
von Priv.-Doz. Dr. Holzknecht durchleuchtet. Es war der erste
Fall von Trichobezoar, der von uns radiologisch beobachtet werden
konnte. Die Durchleuchtung ließ ein charakteristisches Bild er¬
kennen.
Diskussion: Dr. Martin Haudek: Der Fremdkörper des
Viagens ließ sich im Röntgenbilde auf zweifache Weise erkennen,
einerseits verursachte er eine große Schattenaussparung am wis¬
mutgefüllten Viagen, andrerseits ließ sich sein oberes nierenpol-
artiges Ende in die Pars cardiaca hinaufheben, wo sie sich von der
dort befindlichen Gasblase deutlich abhob. Die Diagnose: Fremd¬
körper des Viagens wäre also, wenn die klinische Untersuchung
noch einen Zweifel offen gelassen hätte, unschwer gelungen.
Das bei der Operation gefundene Ulkus an der kleinen
Kurvatur gelangt am Röntgenogramm in zweifacher Weise zum
Ausdruck; in einer leichten Sanduhrverengung des Viagens derart,
daß in der Pars cardiaca ein Teil des Wismuts zurückbleibt und
in -einer Einziehung an der kleinen Kurvatur an der Stelle, wo das
1 lkus gefunden wurde. Die radiologische Funktionsprüfung wurde
j nicht vorgenommen, sie hätte wahrscheinlich Retention ergeben
und so zur Diagnose Ulkus geführt.
Gegen die Anschauung S tillers, daß die Zylinderform
des Viagens ein „durch den Wismutreflex hervorge-rufenes Zerr¬
bild des Viagens“, die wahre Form hingegen die Sackform des
aufgeblähten Viagens sei, spricht am besten das Präparat. Der
Fremdkörper präsentiert sich als hakenförmig gebogener Zylinder
und nicht als Sackausguß.
Priv.-Doz. Dr. Nobl demonstriert an zwei Patienten sel¬
tener beobachtete Frühformen a u s g e b r e i t e t e r pri¬
märer Hauterkrankungen, die trotz weitreichender Ver¬
schiedenheiten der klinischen Erscheinungsweise und des Ge-
wrbs Verhaltens immerhin die Nebeneinanderstellüng gestatten. Es
handelt sich um eigenartige Zustandsbilder, die Kaposi noch
gemeinsam mit den lymphatischen Erkrankungen dem vor¬
läufigen Sammelbegriff der sogenannten Sarkoiden Haut*
geschwiilste unterordnete und deren Stellung im pathologisch-
anatomischen System bisher keine endgültige Definition erfahren
konnte, r ür die nachbarlichen Beziehungen der hier vorliegenden
Prozesse sprechen: der meist protrahierte Verlauf, das gewöhn¬
lich bis zu den terminalen Erscheinungen normale Verhalten
des Blutbildes, den charakteristischen Geschwulstbiidungen mit¬
unter jahrelang vorangehende, in ihrer Natur unklare Hautverän-
rungen, sowie die ausgesprochene Fähigkeit der Phänomene sich
spontan rückbilden zu können, oder therapeutisch beeinflußt, auf
Arsen oder Röntgen strahlen günstig z.u reagieren.
690
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
Der Beginn des Leidens stellte sich bei dem 31jährigen Pa¬
tienten vor fünf Jahren in Form unscheinbarer, roter Flecke am
Stamme ein, um allmählich, ohne von subjektiven Störungen
begleitet zu sein, bis zu der jetzigen, ganz bedeutenden Ausbreitung
zu gedeihen. Unter Einbeziehung der Stirne, Augenlider und
Wangen sieht man die gesamte Körperoberfläche von diffusen und
zirkumskripten, annular und serpiginös figurierten, fein lamellös
abschilfemden, nicht infiltrierten Erythemen eingenommen. An
minder befallenen Regionen, wie am Hals, Rücken und an der
Brustapertur, zeigen die leicht ödematös vortretenden, rosenroten
Flecke als kindshandtellergroße Scheiben und breite Ringe eine
schärfere Abhebung von der scheinbar normalen Umgebung.
Das Integument der Arme und Beine ist gleichmäßig intensiv ge¬
rötet und an fingernagelgroßen Stellen des obersten Epithel¬
belages verlustig, doch nicht nässend. An den Streckflächen der
den Gelenken nachbarlichen Regionen ergänzen heller- bis kronen¬
stückgroße', chagrinierte, einen stärkeren Schuppenbelag führende
Läsionen clas Krankheitsbild. Die Lymphdrüsen aller Gebiete sind
normal. Der wiederholt erhobene Blutbefund ergibt der Norm ent¬
sprechende Verhältniszahlen der Elemente. Diesen erythematösen
streckenweise ekzemähnlichen und in einzelnen Gebieten pso-
ri as if or men Veränderungen ist insofern eine besondere Bedeu¬
tung beizumessen, weil sie als spezifisches Anfangstadium
des Granuloma fungoid es anzusprechen sind. Diese An¬
nahme findet in dem Gewebsbefund ihre volle Bestätigung, indem
den scheinbar banalen, schuppenden Erythemen bereits das typi¬
sche Substrat der diffusen, mykosiden Infiltration ent¬
spricht. Die eingestellten Präparate zeigen eine dichte Einschich¬
tung des an neugebildeten Gefäßen reichen Granulationsgewebes
in den mächtig verlängerten, ödematös gequollenen Papillen und
in den obersten Koriumlagen. Stellenweise ist es gleichzeitig zu
einer massigen Zelldurchsetzung der Epithelialschicht gekommen,
wodurch die Grenzen zwischen Oberhaut und Kutis verwischt er¬
scheinen. Der polymorphe zelluläre Aufbau dieses spezifi¬
schen lymphadenoi'den Granulationsgewebes zeigt eine
volle Uebereinstimmung mit der Struktur jener, mitunter bis kinds¬
kopfgroßen Tumoren, die das meist beobachtete Spätstadium des
Granuloma fungoides kennzeichnen. An der Formation des
oberflächlichen diffusen Hautinfiltrats sind vorzüglich Lympho¬
zyten, Plasmazellen, polymorphkernige Leukozyten, in geringer
Zahl Mastzellen und eosinophile Elemente, sowie Fibroblasten
beteiligt. Dieser Feststellung ist neuerdings zu entnehmen, daß
die sogenannten prämykotischen Dermatosen keine
einfachen Erythbme oder Ekzeme sind, auf deren
Basis sich erst der fungöse Prozeß entwickelt, son¬
dern daß dieselben schon als spezifische, oberfläch¬
liche Frühformen des Granuloms angesprochen wer¬
den müssen.
Der zweite Kranke, ein 58jähriger Mann, bemerkte zuerst vor
zwei Jahren das Auftreten braunroter Flecke an dem Hand- und
Fußrücken unter gleichzeitiger Schwellung der Finger und Zehen.
In der Folge traten stets neue, vielfach auch schwarzblau verfärbte,
größere Herde an den Schenkelbeugen, am Genitale und Achsel¬
höhlen hinzu. Von einer mäßigen Spannung in den Händen und
Fingern abgesehen, fühlt sich der Kranke ganz wohl und geht
unbehindert seinem Berufe nach. Als Teilerscheinungen des Krank¬
heitsbildes machen sich ausschließlich rosenrot bis tief stahlblau
und schwärzlich verfärbte, auf Fingerdruck nicht abblassende,
nur an den Hand- und Fußrücken sich derber und resistent an¬
fühlende, im Niveau der Umgebung gelegene Flecke bemerkbar,
die eine scharf begrenzte, scheibenförmige Konfiguration darbieten
und durch Konfluenz an einzelnen Hautbezirken zu mächtig ausge¬
breiteten Flächen zusammentreten. Die mäßig gespannte, glän¬
zende, an einzelnen Stellen von abgehobenen Hornlagen bedeckten
Hand -und Fußrücken, die Finger und Zehen inbegriffen, sind von
< rbsen -bis hellergroßen ähnlichen Effloreszenzen dicht besetzt,
die nur am Dorsum der Fingefp und am Uebergang zu den volaren
und plantaren Flächen durch dunkel verfärbte Pigmentsäume um¬
grenzt, scharf von der Umgebung abstechen. Die Achselhöhlen
und Beugeflächen der Oberschenkel okkupieren im oberen Drittel
zusammengeflossene, grauschwarze, in der Kutis gelegene, sich
weich anfühlende, bogenförmig konturierte Plaques, die vielfach
teils normal erscheinende, teils weißlieh verfärbte, wie zart narbige,
verschieden große, rundliche Areale in sich einschließen. Die
Penisdecke, sowie das Skrotum hämorrhagisch, blauschwarz ver¬
färbt, mäßig infiltriert, das letztere in sternförmiger Ausbreitung,
von mächtig erweiterten, bis federstieldicken, zirsoiden Venen¬
ästen durchzogen. Aehnliche diffuse, bis handtellergroße Ver¬
färbungen an den von aneurysmatisch erweiterten Phlebektasien
eingenommenen Unterschenkeln . An den Augenlidern, am Kinn,
Nacken und Rücken hellergroße, gleichbeschaffene Plaques, an den
Streckflächen der Arme in disperser Einstreuung heller gefärbte
Effloreszenzen gleicher Natur. Auch in diesem Falle ist das Drüsen¬
system in den Vorgang reicht einbezogen und die Blutformel
normal. Obwohl den von ekta tischen Gefäßen, Hämorrhagien und
angestautem Pigment bestrittenen Läsionen bisher an keinem
Standort der herdförmige infiltrative Charakter zukommt und
auch nirgends knotige Abhebungen zu verfolgen sind, so legt die
progrediente Natur des Zustandes, das stationäre Verhalten der
Schübe, sowie das intensivste Auftreten derselben an den be¬
kannten Prädilektionsstellen mit großer Wahrscheinlichkeit nahe,
daß es sich hier um eine Vorstufe des idiopathischen, mul¬
ti p 1 e n, h ämorrhagis c h e n H autsarkoms Kaposi handelt.
Das bisher untersuchte Testmaterial eines makulösen Präputial-
herdes zeigt, von einer massenhaften Einlagerung hämatogenen
Pigments in die Papillarschicht und einer mächtigen Erweiterung
der präkapillaren, kutanen Venen abgesehen, keine kennzeich¬
nenden V eränder ungen .
Im Anschlüsse demonstriert Nobt die Präparate eines vor¬
geschritteneren Falles, in welchem nebst ähnlichen, diffusen,
fleckigen Herden die bekannte Aussaat der schwarzblauen Knöt¬
chen an den polsterartig aufgetriebenen Füßen zu verfolgen waren.
In diesem Falle ist die aus Spindelzellen, kavernös erweiterten,
proliferierten Gefäßen und strotzend von Blut erfüllten Räumen
bestehende oberflächliche Neubildung deutlichst zu verfolgen.
Priv.-Doz. Dr. Robert Kienböck und Dr. Otto Willner:
lieber einen Fall von Osteopsathyrosis idiopathica
beim Kinde (mit Demonstration der Röntgenbilder).
Es handelt sich um ein 2V2 Jahre altes Mädchen, welches
durch viele Monate genau beobachtet wurde. Es ist das zweite
Kind gesunder Eltern, entwickelte sich zuerst ganz normal, im
Alter von neun Monaten trat aber ohne bekannten Anlaß
eine Sp ontanf rak tur des rechten Oberschenkels ein;
diesem Bruche folgten seitdem noch weitere Spontanfrakturen,
etwa ein Dutzend an Zahl. Die Brüche betrafen ausschließlich
beide Oberschenkel und beide Oberarme u. zw. meist
das obere Drittel des Schaftes ; der rechte Oberschenkel inklu-
rierte etwa drei- bis viermal, die Bruchstellen im oberen Teile
des Schaftes liegen nahe beieinander. Die Brüche schmerzten in
der Regel nur wenige Tage, die Behandlung durch Verbände war
eine sorgfältige, die Heilungsdauer war annähernd normal, be¬
ziehungsweise etwas verkürzt.
Das Kind ist seinem Alter entsprechend groß (war
mit 20 Monaten 78 cm lang), auffallend schlank gebaut und ent¬
sprechend der guten Heilung der Brüche nicht deformiert. Es
ist etwas blaß, sieht aber im übrigen gut genährt und gesund aus.
Die Muskulatur ist grazil, Lähmungen und Spasmen fehlen, im
Harn sind ab und zu Spuren von Eiweiß zu finden, kein Beneo-
.1 o n e s scher Körper. 3
Blutbefund (Ende August 1910) bis auf geringe Anämie
und geringe Lymphozytose normal. Zahnformel normal, Wasser¬
mann sehe Reaktion negativ. Geistige Entwicklung vollkommen
dem Alter entsprechend, das Kind ist sehr lebhaft, spricht viel,
ist leicht reizbar.
Es wurden niemals Fieber oder Zahnfleischveränderungen
beobachtet, von einer vorübergehenden Stomatitis aphthosa ab¬
gesehen. In der Familie ist bisher keine ähnliche
Knochenerkrankung vorgekommen, der Bruder ist ge¬
sund, die Eltern sind vollkommen gesund.
Bei der klinischen Untersuchung (Ende Oktober 1910 —
im Alter von 20 Monaten) erweisen sich die Knochen als schlank,
die meisten Frakturen sind nicht mehr nachzuweisen, der rechte
Oberschenkel ist etwas verdickt und schmerzhaft ; die Knochen sind
nicht weich und nicht biegsam, die Gelenke haben normales
Aussehen, sind sehr schlaff und daher stark überstreckbar.
Am Schädel sind ganz leichte Zeichen überstandener Rachitis
zu finden. ^
Die am 29. Oktober 1910 im Sanatorium Fürth in leichter
Narkose vorgenommene Röntgenuntersuchung ergab die
Zeichen gut geheilter Schrägfrakturen im oberen Drittel des
Schaftes an beiden Humeri; der rechte Femur zeigt mehrfache
leichte Knickung durch überstandene Frakturen in der oberen
Hälfte des Schaftes und an der Grenze zwischen mittlerem und
unterem Drittel; (1er linke Femur zeigt im Seitenbild keine Spur
der stattgehabten Fraktur. Die Brüche scheinen alle solid geheilt
zu sein. Die anderen Knochen des Skeletts, speziell die Rippen,
Schlüsselbeine, Unterschenkelknochen bieten keine Zeichen von
Verletzung. Am ganzen Skelett ist Osteoporose geringen Ins
mittleren Grades nachweisbar, alle Knochenschatten _ sind etwas
zu wenig dicht, die Spongiosazeidhnung ist ungemein fein, _ d;e
Kortikales der Epiphysenkerne und kurzen, Knochen erscheinen
als feine Striche, die Kortikales der langen Röhrenknochen sind
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
691
v.u dünn mid was das auffallendste ist: alle langen Röhrenknochen
sind für ihre Länge viel zu grazil; sie sind, abgesehen von. den
Frakturstellen, nicht verbogen, zeigen nirgends Zysten oder
Tumoren. Die Gelenke sind nicht verdickt, die Epiphysenzonen
verlaufen geradlinig und zeigen nichts Pathologisches; der Ossi¬
fikationszustand entspricht dem Alter des Kindes.
Der radiologiische Befund ist somit der einer
allgemeinen Knochenatrophie im Sinne einer Osteo¬
porose geringen bis mittleren Grades mit einer auf¬
fallenden Schlankheit de rDiaphysender 1 a n g e n 1 1 ö h-
renknochcn (sogenannte periostale Hypoplasie des
Skeletts); die mehrfachen Frakturen der Oberarm¬
und Oberschenkelknochen erscheinen solid geheilt.
Hält ' man die Anamnese, die Beobachtung des Kindes, den
klinischen und radiologischen Befund zusammen, so gelangt man
zur Diagnose der sogenannten idiopathischen Os loops a-
thyrose (Lobstein).
Die Behandlung wurde auf mehrfache Weise versucht;
mit Phosphortherapie, Barlowscher Diät, schließlich mit Thy¬
musfütterung, doch alles ohne Erfolg, es traten immer wieder neue
Spontanfrakturen ein.
Die neueren Autoren, z. B. Looser und Sumita, halten
I. die angeborene Knochenbrüchigkeit (die sogenannte Osteo¬
genesis imperfecta nach Vrolik), 2. die Osteopsathyrosis
oder Fragilitas ossium der Kinder (nicht selten familiär) und
3. die Knochenbrüchigkeit der Erwachsenen für eine und die¬
selbe Krankheit. Sicher ist, daß die unter dem Namen von Osteo¬
malacia congenita, Rachitis annullaris foetalis, Osteoporosis con¬
genita und Dysplasia periostalis foetalis beschriebenen Fälle bei
Neugeborenen (zum Teil Totgeborenen) mit der Osteogenesis im¬
perfecta identisch sind; Hochsinger schlägt dafür die Bezeich¬
nung Osteopsathyrosis foetalis vor.
Kienböck demonstriert zum Vergleiche mit dem oben be¬
schriebenen Falle auch die Radiogramme von Fällen von
der Gruppe 1 und Gruppe 3; Er zeigt zunächst die Bilder von
einem frühgeborenen und 30 Tage nach der Geburt
gestorbenen Kinde mit typischer Osteogenesis im¬
perfecta, über welches Hochsinger hier in der Gesell¬
schaft der Aerzte im Jahre 1908 bereits berichtet hat
und er demonstriert darauf die Radiogramme eines Falles
von Fragilitas ossium beim Erwachsenen, dein
Kienböck vor zwei Jahren untersucht und vor einem Jahre
in den „Fortschritten auf dem Gebiete der Röntgens trahlen“,
Bd. 15, beschrieben hat. Der Patient, damals 59 Jahre alt,
war in seiner Jugend stets gesund gewesen und hatte im 15. und
16. Lebensjahre bei geringer Veranlassung Fraktur der einen,
dann der zweiten Patella erlitten; die Brüche heilten nicht, es
blieb bei starker Diastase und ligamentärer Verbindung der Frag¬
mente. Gleichwohl war Patient später im Gehen nur wenig be¬
hindert. Nach fast 20 jähriger Pause brachen beide
Olekranon und mehrere lange Röhrenknochen der
Arme und Beine. Vom 40. bis 52. Lebensjahr trat wieder eine
Pause in den Spontanfrakturen ein, worauf solche wieder er¬
folgten. Im ganzen dürften über anderthalb Dutzefid Kno¬
chenbrüche stattgefunden haben. Manche Röhrenknochen
brachen wiederholt die Olekranon sind (nach den Röntgenbildern)
in drei bis fünf krümelige, perlschnurartig aneinander gereihte
Stücke zerfallen. Im übrigen sollen die Knochenbrüche nach des
Patienten Angabe stets gut geheilt sein.
Die fünf Monate vor der Untersuchung entstandene Schräg¬
fraktur des linken Humerus in seiner unteren Hälfte zeigt sich
aber im Röntgenbild keineswegs solid geheilt, eine helle Zone
zeigt die totale Abwesenheit von kalkhaltigem Mark¬
kallus; auch der dicke periostale Kallus verhindert eine be¬
deutende Biegsamkeit des Knochens an der Frakturstelle nicht.
Das ganze Skelett zeigt eine Osteoporose geringen bis mittleren
Grades, welche natürlich am besten an den Händen erkennbar
ist; auch das Mondbein und der Metakarpus V der linken Hand
bieten Zeichen von Verletzung. Hier sind ferner die Symptome
chronischer Arthritis mit auffallend starker Entkalkung im Be¬
reiche der Gelenksenden vorhanden. Patient hat den Vortragen¬
den vor mehreren Wochen wieder besucht, er hat seit 2% Jahren
keine Frakturen mehr erlitten.
Bemerkenswert ist an diesem Falle der Beginn der
Erkrankung im 15. Lebensjahre, die stärkere Beteiligung der
linken Körperseite, die symmetrische Affektion beider Knie¬
scheiben- und Ellbogenhaken, das frische Aussehen des Patien¬
ten, der sich im übrigen guter Gesundheit und kräftiger Mus¬
kulatur erfreut und entsprechend guter Heilung der; meisten Frak¬
turen der Schäfte der langen Röhrenknochen im großen und
ganzen nicht deformiert ist.
Wie ersichtlich, habtan wir es in den drei genannten Fällen
nicht nur mit verschiedenen Zeitpunkten des Beginnes der Kno¬
chenbrüchigkeit, sondern auch mit verschieden schweren Fällen
zu tun. Stets handelt es sich um starkes Ueberwiegen der Knochen, -
resorption über die Knochenapposition, bei den Kindern um
gestörte enchondrale und periostale Knochenbildung bei unge¬
hemmtem enchondralen Wachstum des Skelettes. Was unsere
2 /-jährige Patientin betrifft, so ist es nach den anderweitigen
Erfahrungen zu erwarten, daß die Erkrankung zum Stillstand
kommt, am wahrscheinlichsten nach Abschluß des Längen¬
wachstums.
Priv.-Doz. Dr. Hans Salzer: Heber Blinddarmentzün¬
dung beim Kinde. (Erscheint ausführlich in dieser Wochen¬
schrift.)
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin
vom 19. bis 22. April zu Wiesbaden.
Referent: K. Reich er- Berlin.
1. Sitzung am Mittwoch, den 19. April 1911.
(Fortsetzung.)
Vortr äge, die zum Referatthema in Beziehung stehen :
R. Mendelssohn - Paris : Zur Frage, des Arthri¬
tis m u s in Frankreich.
Der Begriff des Arthritismus ist in Frankreich geschaffen
worden, er bedeutet keine Krankheit, sondern nur eine Anlage
zu verschiedenen Krankheitszuständen, Erblichkeit spielt die
Hauptrolle, zum Arthritiker wird man geboren. Der Arthritismus
scheint eine Begleiterscheinung der Zivilisation und des Wohl¬
lebens zu sein, besonders günstig für seine Entwicklung erweist
sich kaltes und feuchtes Klima. Bouchards Theorie der Er¬
nährungsverlangsamung („ralentissement“) und der humoralen
Hyperazidität beherrscht zurzeit in Frankreich die Lehre vom
Arthritismus. Alle Gewebe und Organe der Arthritiker befinden
sich in einem Zustande funktioneller Insuffizienz (Meiopragie),
sie pendeln beständig zwischen Gesundheit und Krankheit hin
und her, ihr Leben ist oft ihre Krankheitsgeschichte. An die
1 rias : Gicht, Fettsucht und Diabetes schließen sich Chole- und
Nephrolithiasis an, Muskel- und Nervenkrankheiten, viszerale
und nervöse Sklerosen etc.
Nach Mendelssohn liegt dem Arthritismus eine Störung
des Gleichgewichts zwischen Assimilations- und Dissimilationsvor¬
gängen zugrunde. Da das Nervensystem dabei eine wichtige
Rolle spielt, erscheint Mendelssohn die neuro-humorale Theorie
von Lancereaux und de Grandmaison als die am
meisten befriedigende.
L i n s e r - Tübingen : Ueber die therapeutische
Verwendung von normalem menschlichen Serum.
Durch Einspritzung von Blutserum gesunder Menschen
ließen sich bei verschiedenen Hautkrankheiten (Urtikaria, Kinder¬
ekzem, Strophulus, Prurigo, Pemphigus vulgaris, Epidermolysis
bullosa) und Infektionskrankheiten (Erysipel) bedeutende Besse¬
rungen, ja vielfach Heilungen erzielen. Eine theoretische Auf¬
klärung für den Mechanismus dieser Wirkung läßt sich vorläufig
nicht geben, jedenfalls ist das neue Verfahren unschädlich und
einfach.
F riedel Pick- Prag : Ueber Vererbung von
Krankheiten.
Der wichtigste Faktor für die Diathesen und die Konsti¬
tution ist wohl die Vererbung. Für diese wurden 1865 von
Mendel exakte Grundsätze aufgestellt, dann wieder vergessen
und 1900 von Tschermak, de Vries und Correns neuer¬
dings vielfach nachgeprüft und haben heute für Pflanzen und
Tierreich unbestrittene Geltung. Pick zeigt nun an Beispielen
von Familien mit Haaranomalien, Diabetes insipidus, Hämo¬
philie etc., daß die hier sich ergebenden Verhältnisse vielfach
auffallend an die M e n d e 1 sehen Regeln erinnern, weshalb eine
weitere Sammlung einschlägiger Stammbäume wünschenswert
wäre. Das Gleiche gilt für die von Pfaundler gezeigten
Stammbäume bezüglich der Vererbung einzelner Merkmale des
infantilen Arthritismus. Die von Pfaundler hervorgehobene
Anteponierung der Symptome bei späteren Generationen scheint
auch sonst bei Vererbung von Krankheiten öfter vorzukommen,
wie ein aus v, Noordens Buch entlehnter Stammbaum von
Diabetes mellitus beweist.
O. Hansen- Kristiania :Bericht über 61 Bluttrans¬
fusionen bei Anämie.
In 6 von 15 Fällen von perniziöser Anämie war die Wir¬
kung der Transfusion deutlich günstig, die transfundierten Blut¬
mengen betrugen im Durchschnitt 200 — 400 cm8. Vorher wurde
immer eine Vorprobe auf Agglutination und Hämolyse angestellt,
692
WIEN lilt KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
und nur bei negativem Ausfall derselben das Blut des Spenders
genommen.
Armstrong - London : Die Radium behänd lung
der Stoffwechselerkrankningen.
Armstrong will bei hochgradigem Diabetes, Schrumpf¬
niere und chronischer parenchymatöser Nephritis etc. mit Radium¬
emanation glänzende Erfolge erzielt haben (? !).
Diskussion über das Referatthema und die
Vorträge:
W ein tr au d -Wiesbaden: Die Bedeutung des endogenen
Harnsäurewertes ist noch nicht geklärt. Die harnsaure Diathese
könnte dadurch charakterisiert sein, daß manche Leute aus den
Kernstoffen mehr Harnsäure erzeugen können als andere. Phenyl-
ehinolinkarbonsäure s. Vortrag.
U m b e r- Altona: Bei der gichtischen Diathese spielt die
Retention sicher eine wesentliche Rolle, wie aus seinen vor¬
jährigen Versuchen mit Retzlaff hervorgeht. Von sieben
Gichtikern haben einige die intravenös injizierte Harnsäure total
retiniert, andere nur bis zu 36% eliminiert, während der Ge¬
sunde sie vollständig ausscheidet. Eine ähnliche Retention zeigen
bloß noch Leute mit chronischer Bleivergiftung und schwerem
Alkoholismus. Die Ursache der Retention liegt nicht in der
Niere, sondern in allen Geweben. Anläßlich ausgedehnter hämo¬
lytischer Studien (gemeinsam mit Bürger) ließ sich in einem
Falle von eigentümlicher Anämie mit Hämoglobin-Stürzen und
Hämoglobinurie ein komplexes Hämolysin wie bei Donath-
L and stein er als Ausdruck einer latenten hämolytischen
Diathese nachweisen.
Otfried Müller-Tübingen berichtet über gute Erfolge der
Li ns er sehen Seruminjektionen bei Säuglingen und Kindern
mit chronisch-septischen Infektionen (Furunkeln, Diarrhöen,
Bronchopneumonien). Die bakterizide Kraft des Kinderblutes
steigt nach den Injektionen ausnahmslos um ein Vielfaches, die
Furunkeln heilen ab, der Krankheitsverlauf wird beträchtlich
verkürzt und auffallend guter Appetit stellt sich stets ein.
Neubauer- München : Schüttelt man den Urin mit 7r,
seines Volums konzentrierter ätherischer Lackmoidlösung als
Indikator, so färbt er sich blau oder grün (alkalische Reaktion),
bei Leuten mit Harnsäuresteinen reagiert er dagegen mit dem
Indikator sauer. Für die Zusammengehörigkeit von Gicht und
Nierensteinen spricht die Gleichheit der Begleiterscheinungen
wie der Dupuytren sehen Kontraktur und der Polyzythämie ;
auch der Purinstoffwechsel zeigt vielfach bei beiden Analogien.
Erich Meyer- Straßburg kann die Versuche Neubauers
durch eigene interessante Untersuchungen bestätigen. Eine hohe
Harnazidität (Wasserstoffionenkonzentration) 1 -2, 10 — 5 ändert
sich nach Einsetzen einer starken Diurese, ebenso nach Natrium
bicarbonicum.
Bornstein- Leipzig : Der Ausdruck Blastophthorie wurde
von Forel geprägt. Alkohol ist einer der wichtigsten Keim¬
verderber.
Kraft- Weißer Hirsch-Dresden weist auf die Gefahren
einseitiger Ernährung hin, die Gemüsekost wird arg vernach-
läßigt und bei der Zubereitung derselben außerdem unnötiger¬
weise die wichtigen Mineralsalze derselben ausgelaugt.
S c h i 1 1 e n h e 1 m - Erlangen konnte mit Weichardt
diathetische Umstimmungen der Schleimhautzellen des Darm¬
kanals bei Hunden durch parenterale Eiweißzufuhr hervorrufen.
So lösten z. B. kleinste Dosen von Witte-Pepton bereits hoch¬
gradige asthmatische Anfälle aus, eine interessante Analogie zu
den Beziehungen zwischen Pollentoxin und Heuasthma. Es wird
nun Aufgabe weiterer Forschung sein, die giftige Eiweißfraktion
zu isolieren, die jedenfalls unter den hochmolekularen Peptonen
zu suchen ist. Protamine und Histone wirken z. B. außerordentlich
giftig.
L ö w e n t h a 1 - Braunschweig glaubt nicht an die A r in¬
st r o n g sehen Angaben von Nephritisheilungen durch Radium¬
emanation. Nach Einsetzen derselben findet man oft im frisch
gelassenen Urin eine starke, rasch verschwindende Sedimentierung.
S t r u b e 1 1 - Dresden : Kurze Zeit nach Jod- und Bromgaben
sinkt der opsonische Index sehr bald und auf dem tiefsten Stande
des Index tritt die Akne auf. Sie ist für Vakzinebehandlung
besonders geeignet.
L i p p e r t - Wiesbaden bestätigt Löwenthals Beobach¬
tungen bezüglich des Sediments. In einem Falle von Diabetes
will Löwenthal mit Radiumbehandlung Zuckerfreiheit des
Urins erzielt haben.
Falta-Wien hat bei Anwendung ganz kolossaler Emana¬
tionsmengen (270. 000 Macheeinheiten in einem Emanatorium von
12 cm3 aus dem Radium werk Neulengbach) eine neu¬
trophile Leukozytose ( — 18.000) gefunden, gefolgt von einer
Leukopenie am nächsten Tage, resp. einer relativen Mononukleose.
Bezüglich des Blutdrucks waren keine gleichmäßigen Ergebnisse
wahrzunehmen.
Reicher hat bei experimentellen Untersuchungen bei
drei unter fünf Diabetikern ein Herabgehen des Blulzuckers um
die Hä fte nach einstündigem Aufenthalt im Emanatorium der
Charlottenburger Radiogenwerke beobachten können,
zwei Fälle blieben unverändert.
Gasanalysen werden über das Schicksal des verschwundenen
Zuckers entscheiden müssen. Für die Praxis sind diese Ergebnisse
vorläufig noch unverwertbar. Beim normalen Menschen wird
ferner nach 100 g Traubenzucker der höchste Anstieg des Blut¬
zuckers im Emanatorium bereits nach Vs Stunde erreicht, außer¬
halb desselben erst nach einer Stunde.
L i c h t w i t z - Göttingen : Die Azidität des Harns ist nicht
das allein Maßgebende für das Ausfallen der Harnsäure, sondern
die Harnkolloide. Kocht man einen Harn, bei dem nach Säure¬
zusatz Harnsäure ausfällt, so fällt nach neuerlichem Säurezusatz
die Harnsäure nicht mehr aus, denn die nunmehr fein verteilten
Kolloide schützen sie davor.
Kaufmann-Wildungen: Das gelegentlich beobachtete
Auftreten von Albuminurie lehrt, daß die Radiumemanation nicht
so indifferent ist, wie man gewöhnlich annimmt.
Von den V e 1 d e n - Düsseldorf : Emanationskuren in jeder
Form erhöhen die Gerinnungsfähigkeit des Blutes.
Umber- Altona konnte bei Radiumtrinkkuren weder auf
das sacchariflzierende Ferment, noch auf die Gicht irgend einen
Einfluß wahrnehmen.
His (Schlußwort) freut sich über die ausführliche Debatte,
die sich allerdings in anderen Bahnen bewegte, als er erwartet
hatte. Interessante Beispiele von Diathesen wurden im Verlaufe
derselben jedenfalls nicht beigebracht. Die Beobachtungen von
Armstrong und Li p pert sind mit aller Vorsicht aufzu¬
nehmen. Die Angaben über Albuminurie stammen aus der
ersten Zeit der Radiumtherapie und sind seither nie wieder
auf ge taucht.
F. v. Müller: Zur physikalischen Diagnostik.
Trachealatmen mit bronchialem Charakter ist am Telephon
in einem entfernten Zimmer gut hörbar, dagegen spricht es selbst
bei lautem Vesikuläratmen absolut nicht an, weil das Telephon
wie eine Art Tonfilter tiefe Stimmgabeltöne nicht überträgt. Das
Bronchialatmen gehört also einer höheren Tonreihe an als das
Vesikuläratmen, was auch daraus hervorgeht, daß das Bronchial¬
atmen durch relativ kleine konische Resonatoren, das Vesikulär¬
atmen aber erst bei solchen von über Meterlänge verstärkt
wiedergegeben wird. Zur genauen Reproduktion der Töne kon¬
struiert v. Müller nach Art eines Fernrohres ineinander ver
schiebbare Messingröhren mit einem kleinen Fußansatz und einem
binaurikulären Hörapparat. Die in Zentimetern abzulesende .
Röhrenlänge, bei der der Ton klangartig verstärkt wird, entspricht
der halben Wellenlänge.
Mittels dieses Resonanzstethoskop ergibt sich folgendes :
Die normale Lunge spricht sowohl bei der Perkussion als auch
bei der Inspiration und beim Anblasen durch die tiefe Stimme
(Pektoralfremitus) mit einer tiefen Tonlage in der großen Oktave '
bis in den Beginn der Kontraoktave an. Dies ist der Eigenton
der Lunge, der deswegen so tief ist, weil die Lunge als träge
Schaummasse langsam schwingt. Von dem gemischten Tracheal-
atmen werden durch die darüber befindliche Lunge als einen
schlechten Schalleiter die hohen Töne vorwiegend ausgelöscht,
die tiefen bleiben übrig, daher hört man dann bloß Vesikulär¬
atmen. Die klingenden Rasselgeräusche und das Bronchialatmen
zeichnen sich durch außerordentliche Höhe bis in die drei ge¬
strichene Oktave aus. Die tympanitischen Perkussionsschläge
über den Unterleibsorganen zeigen eine Mittellage, nämlich eine j
Röhrenlänge von 30 — 60 cm. Bei der Dämpfung über infiltrier teil
Lungenpartien und über Exsudaten fehlen die tiefsten Töne des
Perkussionsschalles und es bleiben nur die höheren Töne übrig
Da nun die höheren Töne rascher, die tieferen langsamer ab-
klingen, so wird der Schall dadurch kürzer.
Diskussion: L i 1 i e n s t e i n - Bad Nauheim demon¬
striert einen Telephonapparat, welcher die Uebennittlung von
Herztönen mit großer Reinheit über mehrere Räume und an
mehrere Hörer synchron gestattet und sich für die Auskultation
im Bade, bei der Narkose, bei Fieberkranken etc. sehr eignet.
P ä s s 1 e r - Dresden : Das Krankheitsbild der per¬
manierenden Tonsilleninfektion und seine Be¬
handlung.
Auf Grund konsequenter Untersuchung aller Patienten auf
das Bestehen einer permanenten Mandelgrubeninfektion (Pfropf-
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
693
bildung, Sekret in den Mandelgraben) und auf Grund der mit
radikaler Ausschälung der Tonsillen erzielten Heilresultate gelangt
Pässler zu dem Schlüsse, daß die Polyarthritis und die ge¬
wöhnlichen Rheumatismuskomplikationen, die Endo- und Myo¬
karditis und C horea minor nur einen Teil der von einer chroni¬
schen Mandelgrubeninfektion abhängigen Krankheitsbilder um¬
fassen und sich hier u. a. auch allgemeine leichte Infektions¬
und Intoxikationserscheinungen, Sepsis, zyklische Albuminurien
und wahrscheinlich auch die rezidivierenden Appendizitiden
subsumieren lassen.
Diskussion: K r e h 1 - Heidelberg kann sich auf Grund
von gemeinsam mit Kümmel 1 behandelten Fällen, in denen
allerdings nur vereinzelt eine Tonsillektomie vorgenommen
wurde, nicht auf ähnlich gute Resultate bei entsprechender
Tonsillenbehandlung erinnern.
F. v. M ü 1 1 e r hat eine große Zahl von Rheumatismus¬
fällen nach Tonsillenexstirpation sich bessern gesehen.
Pässler (Schlußwort): Ein Erfolg ist nur zu erreichen,
wenn keine einzige Alandeigrube bei der Totalexstirpation übrig
bleibt und sich sonst im Organismus nirgends eine andere Eite¬
rung befindet; als solche Orte kommen die Rachentonsille,
Zähne, Nebenhöhlen, Prostata und die weiblichen Genitalien
sowie Residuen appendizitischer Abszesse in Betracht.
L ü d k e -Würzburg : Ueber Darstellung und Wir¬
kungsweise von Partialgiften im Bakterien¬
protoplasma.
Lüdke stellte aus dem Dysenteriebazillus durch Fällung
mit 65°/o Alkohol ein spezifisch neurotoxisches Gift dar, das
durch Vistündiges Erhitzen auf 70 bis 75° zerstört wird. Klinisch
zeigten sich Paresen und Paralysen der Extremitäten bei Kanin¬
chen mit elektivem Ergriffensein der Vorderhörner. Nach Zer¬
störung der neurotoxischen Komponente trat eine Diarrhöen
und Marasmus verursachende Giftqualität zutage.
Mit dem in die Nährbouillon sezernierten Gifte der Dy¬
senteriebazillen ließ sich stets eine Temperatursenkung liervor-
rufen. Durch wiederholte Fällung mit Alkohol und nachfolgender
Dialysierung kann man aus Typhus-, Dysenterie- und Koli-
stämmen eine Protease darstellen, auch härnolysierende Gifte
sind in ihnen enthalten.
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie zu Berlin
vom 19. bis 22. April 1911 (im Langenbeckhause).
Referent: Dr. M. Katzen s tein - Berlin.
(Fortsetzung.)
H i r n c h i r u r g i e.
H. Leischner und W. Donk-Wien: Zur Prophylaxe
der operativen Meningitis.
Vorlr. berichten über eine Reihe von Versuchen, die die
bisherigen Kenntnisse über die infektionsverhindernde Wirkung
des Urotropins bei Gehirnoperationen erweitern sollen. Aus
kälteren Untersuchungen anderer Autoren ergab sich, daß sich
1 rotropin nach Verabreichung in den gebräuchlichen Dosen in
geringer Menge im Liquor cerebrospinalis nachweisen läßt und
daß es hier deutlich bakterizide Eigenschaften entfaltet. Es
standen aber noch die Fragen offen, ob sich wirklich Urotropin-,
"der dessen Spaltungsprodukt Formaldehyd im Liquor abscheidet,
lerner welche Konzentration von Formaldehyd in der Zerebro¬
spinalflüssigkeit man durch Urotropinverabreichung erzielen kann
und welcher Grad der Infektion gelegentlich der Operation da¬
durch bekämpft werden kann.
Nach Verabreichung mehrerer (2 bis 8) Gramme Urotropin
per os innerhalb einiger Tage konnte J autsch, Assistent
un Wiener chemischen Universitätsinstitut, im Liquor, der durch
Uimbalpunktion gewonnen wurde, freies Formaldehyd in
Mengen von 0-004 bis 0-02% nachweisen. Die Vortragenden
stellten nun mit verschieden starken Formalinliquorlösungen bak¬
teriologische Versuche an und fanden, daß bei einer Konzentration
von 0-03 ü/o Formalin im Liquor selbst eine große Menge von
liakterien (l Oese einer 24stündigen Staphylokokkenbouillonkultur
zu (> cm3 Formalinliquor) sicher abgetötet wird, bei einem For-
uialingchalt des Liquors von 0-003"«, also ungefähr der unteren
bronze der durch Urotropinverabreichung zu erzielenden Kon¬
zentration, nur eine relativ geringe Menge von Bakterien, abgetötet
'vird, indem nach Injektion von 6 cm3 Formalinliquor mit zwei Ins
s,'chs Oesen einer sehr stark verdünnten Kultur noch immer eine
"cim auch geringe Zahl von Kolonien aufging. Daß der Formalin-
"chalt im Liquor tatsächlich bakterizid wirkte, bewiesen die
Eontrollversuche, wobei die Platten jedesmal mit Kolonien übersät
waren .
Aus den Versuchen der Vortragenden ergibt sich also, daß
man durch V' o r behänd lung mit Urotropin die Gefahr der operativen
Meningitis wenigstens bei geringen Infektionen entschieden herab¬
setzen kann.
v. L r am an n - Halle : Ueber Hirnchirurgie, speziell
weitere E r La h r u rüg e n mit dem Balkens ti c h. Statistik
über die mittels seines vor drei Jahren angegebenen Balkenstiches
operierten Fälle. Die Zahl der Operationen ist 53, ohne! einen auf
diesen zurückführbaxen I odesfall. Es handelt sich um Tumoren,
Hydrozephalus, einige Fälle von Epilepsie, Lues cerebri usw. In
den meisten Fällen bestand Stauungspapille bis zu vier Dioptrien,
die infolge des Eingriffes zum Teil dauernd schwand. Auch die
anderen Symptome (Coma, Bewegungsstörungen, Kopfschmerzen,
Erbrechen) wurden in einem großen Prozentsatz dauernd oder auf
lange Zeit gebessert.
Die Methode findet ihr Anwendungsgebiet bei Hydrocephalus
internus und dem daraus resultierenden Hirndruck. Auch dia¬
gnostisch hat sie sich wertvoll erwiesen, teils direkt, teils dadurch,
daß die lokalen Symptome deutlicher wurden in dem Maße, wie die
A 1 1 gerne i ns y mp to me zurücktraten.
Payr- Königsberg berichtet über seine Erfahrungen mit Ven¬
trikeldrainage bei Hydrozephalus. Er hat diesen Eingriff
nn ganzen 18mal zur Ausführung gebracht, lömal hei Wasserkopf,
3 mal bei anderen mit Drucksteigerung in den Hirnkammern einher¬
gehenden Zuständen (Epilepsie, Idiotie usw.). Payr hat das von
ihm 1908 angegebene Verfahren der Drainage gegen den Hini-
blutleiter in der W eise abgeändert, daß das Hinterhorn der Gehirn¬
seitenkammer durch eine paraffinierte, mit Formalin vorbehandelte
Arterie und eine darübergezogene menschliche Vena saphena
mit der Vena jugularis interna oder Vena facialis communis in
Verbindung gebracht wird. Diese „Wasserleitung“ verläuft in einem
Subkutankanal vom Hinterhaupt zur seitlichen Halsgegend. Die
Einpflanzung in die venösen Halsgefäße geschieht durch Gefäßnaht
oder Ligatur über die widerstandsfähige, gehärtete Arterie. Der
Abfluß des Liquors muß tropfenweise erfolgen. Die Ableitung gegen
die venöse Blutbahn hat Payr 8mal gemacht, in den anderen
Fällen andere (subarachnoideale, subtemporale) Drainägeverfahren
stets mittels transplantierter Blutgefäße benützt.
Unter den 18 Drainagen kamen sieben Todesfälle vor, deren
Ursachen zu rasches Abfließen der Flüssigkeiten, Primär- (lrnxl),
Sekundärinfektion durch eine Liquorfistel war. In drei, bzw. vier
Fällen von Hydrozephalus kann man von einem dauernden
und in jeder Hinsicht befriedigenden Erfolg sprechen.
Das Verfahren scheint besonders dann am Platze zu sein, wenn
es sich um die Abfuhr größerer Flüssigkeitsmengen aus dem
Schädel handelt, während bei plötzlichen Drucksteigerungen inner¬
halb der Hirnkammern der Balkenstich Gutes zu leisten scheint.
Payr stellt zwei mit Ventrikeldrainage behandelte Kinder vor.
Kausch-Schöneberg zeigt an Abbildungen den günstigen
Einfluß wiederholter Lumbalpunktion auf den Hydrozephalus.
III. Hauptthema. /
Lexer: Ueber freie Transplantationen.
Seit 40 Jahren ist auch die deutsche Chirurgie, nachdem
Reverdin die Anregung gegeben, bemüht, die Verwendbarkeit
freier Gewebsverpflanzungen auszubilden, Epidermislappen, be¬
kanntlich zur raschen Ueberhäutung großer Wunden ausgezeichnet
verwertbar, eignen sich weniger für Schleim hautdefekte, gar nicht
innerhalb des Körpers, wie z. ß. bei Duradefekten.
Die Hautverpflanzung mit oder ohne Fettschicht, gleich¬
gültig von welcher Form und Größe der Lappen, hat sich überall
bewährt. Nur innerhalb des Körpers, zum Ersätze des Bauch¬
oder Brustfelles und der Gelenkskapseln eignet sie sich nicht.
Die Blutstillung der Wunde ist wichtig. Am besten läßt man sie
bluten, bis sich Gerinnsel bilden und drückt diese fest auf die
Wunde, der dann entstehende Fibrinbelag ist gleichzeitig wichtig
als Klebestoff. Die Heteroplastik ist gänzlich ungeeignet. Ueber
die Homoplastik herrschen in der Literatur die verschiedensten
Angaben. Nach Lexers Versuchen am Menschen mit frischem
homoplastischen Materiale gab es nur bei Verwendung von fötaler
Epidermis einen vorübergehenden Erfolg. Fremde Epidermis oder
Hautlappen verfallen der Gangrän oder heilen scheinbar an, werden
aber in der dritten Woche durch Eiter mit kräftigen Granulationen,
ähnlich der Fremdkörpereiterung, abgestoßen.
Es gibt auch eine eiterlose Losstoßung. Die Narbe überhäutet
sich wie bei der Schorfheilung. Schließlich kommt eine Ab¬
schilferung der Epidermis bei scheinbar angeheilten Hautlappen
vor, welche allmählich durch narbige Substitution verschwinden.
Nur die Epidermislappen vom Fötus heilen an und wachsen,
verschwinden aber später.
Die entgegengsetzten Angaben der Literatur, die sich auch
auf Leichenhaut beziehen, müssen auf Täuschungen beruhen.
694
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 19
Rassenunterschiede machen sich insofern geltend, daß hei
gleicher Rasse homoplastische Hautlappen narbig ersetzt werden,
von anderer Rasse sich eitrig abstoßen. Homoplastische Verpflan¬
zungen von Blutsverwandten sind Lexer am Menschen nicht
begegnet.
Schheimhauttransplantationen sind bei Homo¬
plastik ebenso erfolglos, hei Autoplastik hat man mit Infektionen
zu kämpfen. Für Harnröhrendefekte eignet sich nach einem vor¬
gestellten Falle ausgezeichnet die Verwendung des Wurmfort¬
satzes desselben Kranken, wenn man die Serosa vorher abzieht.
Versuche, Darmabschnitte mit Hilfe der Gefäßkraft zum Ersatz
der Speiseröhre zu verpflanzen, sind aussichtslos.
Die Fetttransplantation hat sich klinisch als Auto¬
plastik selbst bei großen Transplantaten gut bewährt: zur Unter¬
polsterung eingesunkener Stellen des Gesichtes, der Glieder, der
Mamma und zur Ausfüllung der Augenhöhle: zur Verhinderung von
Verwachsungen getrennter Knochenflächen (auch bei Myositis ossi¬
ficans), der Hirnoberfläche mit dem Knochen, ferner; auch zur
Umscheidung gelöster und genähter Nerven und Sehnen.
Muskeln und Nerven sind selbst bei Autoplastik wenig
geeignet. Weitere Untersuchungen haben festzustellen, ob bei
Nervenautoplastik eine raschere Regeneration eintritt.
Gefäßtransplantationen sind auf Grund der Gefä߬
naht möglich geworden. Den ersten Versuch am Menschen hat
Lexer vor vier Jahren berichtet. Der hier ausgeführte Versuch,
ein Stück der Vena saphena, desselben Patienten in einen Ar-
teriendefekt zu setzen, gilt auch heute noch als der erfolgreichste.
Die Gefäßhomoplastik gibt zwar klinische Erfolge, aber nur durch
Substitution des Gefäßstückes aus der Nachbarschaft und eignet
sich für klinische Versuche wegen leicht eintretender Thrombose
weniger als die Autoplastik. Abgesehen von der Erhaltung der
Zirkulation durch Verpflanzung von Venenstücken in Arterien
kann man Gefäße zum Ersätze von Harnröhrendefekten verwenden.
Versuche, die Harnleiter damit plastisch zu ersetzen, sind zu
wiederholen u. zw. unter Vermeidung des Durchfließems von Urin.
Für Nervendefekte eignet sich der autoplastische Ersatz mit Venen¬
stücken nach eigener klinischer Erfahrung sehr gut, weniger für
Sehnendefekte.
Faszienverpfl an zungen haben sich zu den verschie¬
densten Zwecken bewährt, auch die Per Lo^Lver pflanzung.
Die freie Sehnen Verpflanzung zeigt einen wichtigen
Unterschied im Verhalten bei gänzlicher Ruhe und bei früher
funktioneller Inanspruchnahme. Bei ersterer tritt bindegewebige
Substitution ein. Wegen fester Verwachsung mit der Umgebung
gelingt es so, wichtige Bänder zu ersetzen. Bei früher Funktion
bleibt die Verwachsung mit der Umgebung aus, und der funk¬
tionelle Reiz regt eine Wucherung des mitverpflanzten Peritoneums
an, wodurch zugrunde gehende Fasern regeneriert werden. Auf
diese Weise ist der Ersatz von Sehnen und von Sehnendefekten
z. B. nach eitriger Zerstörung an den Fingern möglich. Es wird
in solchen Fällen von kleinen Schnitten aus die Haut unter¬
miniert, um die Ersatzsehne einzufügen. Als Material dient hiezu
der Palmaris longus vom selben Patienten. Homoplastische Ver¬
pflanzungen nicht zu dicker Sehnen gelingen ebenfalls. Die Me¬
thoden sind klinisch und experimentell festgestellt.
Das Bauchfell wurde in Form von Bruchsack und
Ilydr okelenhaut zum Ersätze von menschlichen Duradefekten
vergeblich verw endet, da es Schwielen und Verwachsungen gab.
Normales Bauchfell verhielt sich in Experimenten nicht besser,
ebensowenig Netz.
Freie Knochenverpflanzungen sind ein großes und
dankbares Feld. Namentlich mit frischen periostgedeckten Kno¬
chen, die man aus amputierten Gliedern, bei großer Vorsicht
auch von Leichen, gewinnen kann. Totem Knochen sind sie
bei weitem vorzuziehen. Die Knorpelfuge erhält sich bei Ver¬
pflanzung großer Knochenstücke, ohne im Experimente Wachs¬
tumsstörungen zu zeigen.
Knorpeltransplantation e n haben sich auch bei Homo¬
plastik zur Einlagerung eingesunkener Stellen des Gesichtes oder
zwischen Gelenksflächen gut bewährt, ebenso die freie Verpflan¬
zung der Ohrmuschel und des Gelenksknorpels.
Gelenks Verpflanzung en aus amputierten Gliedern oder
aus frischen Leichen geben gute Erfolge. Sogenannte halbe Ge¬
lenksverpflanzungen, d. h. eines beliebig großen Röhrenknochen¬
abschnittes samt Gelenkskopf gibt sehr gute Beweglichkeit, da in
diesen Fällen Muskeln und Sehnen gut erhalten sind. Auch die
ganze Gelenkstransplantation hat sich als gut einheilendes und
unter Anpassung der Form substitutionsfähiges Material bewährt,
im ältesten Lexerschen Fälle (Kniegelenk) 3V2 Jahre nach der
Operation, nur ist in solchen Fällen mit dem stark atrophischen
Muskelapparat und mit der Zerstörung von Sehnen und Muskeln
zu kämpfen. Ein Kniegelenk hat Lexer einem Hingerichteten
8 Stunden nach dem Tode entnehmen und seit 5 Monaten fislel-
los einheilen können.
Der Versuch, g anze Extr ein bäten zu verpflanzen, reizt
wohl technisch und kann manche Transplantationsfrage beant¬
worten, hat aber wenig Aussicht auf Erfolg, namentlich da für
die Muskulatur alle die Ursachen gegeben sind, welche zur ischämi¬
schen Muskelkontraktur führen.
Bei den Organtransplantationen handelt es sich klinisch
um Homoplastik. Die Aussichten sind gering. Bei Organen mit
innerer Sekretion sind wohl die klinischen Wirkungen nicht aus¬
geblieben, aber der langsame Schwund durch Resorption ist
nach experimentellen Untersuchungen die Regel. Ganze Organe
mit Hilfe der Gefäßvereinigung zu verpflanzen, ist leider nur
bei Autoplastik geglückt. Möglich ist, daß bei Versuchen mit
langdauernder Blutmischung durch Parabiose bessere Erfolge zu
erzielen sind, um die biochemische Zelldifferenz zu vermindern.
Bezüglich anderer Wege legt die Möglichkeit der Geschwulsttrans-
plantation auf andere Individuen den Gedanken nahe, daß das
verpflanzte Organ eine genügende Wachstumsenergie und eine
hinreichende Anpassungsfähigkeit besitzen muli um aus dem
fremden Organismus Nährstoffe zu entnehmen.^- Weitere Unter
suchungen haben’ zu zeigen, ob es gelingt, die vorhandene bio¬
chemische Differenz des Zelleiweiß und des Serums bei Organ¬
homoplastik auszuschalten. Jedenfalls wird die Ernährungsfähig-
keit durch raschen Anschluß an die Zirkulation und durch funk¬
tionellen Reiz außerordentlich gefördert.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag den 12. Mai 19x1, um 7 lllir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Regierungsrat Prof. Dr. Alois Kreidl
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Primararzt Priv.-Doz. Dr. R. Breuer: Klinische Beobachtungen!
an Herzkranken.
Vorträge haben angemeldet die Herren: K. Uli mann, A. Kron-
feld, F. Dimmer, v. Fürtli u. E. Lenk, M. Sternberg.
Um die reell tzeitijje Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer noch am Sitzungsabeud zu übergeben.
Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik N e u s s e r
Donnerstag (len 18. Mai 1911, um 7 Uhr abends, statt.
(Vorsitz: Hofrat Prof. v. Neusser.)
Programm:
1. Demonstrationsabend.
2. Demonstrationen haben angemeldet: Priv.-Doz. Dr. Eppinger,
Prof. Dr. H. Schlesinger, Dr. Tedesko, Dr. R. Bauer, Priv.-Doz. Doktor
Kienböck.
Das Präsidium.
Ophthalmologische Gesellschaft in Wien.
Programm der am Wontag' (len 15. Mai 1911, 7 Uhr abends, im
Hörsaale der Klinik Dimmer stattfindenden Sitzung.
1. Administrative Sitzung.
2. Demonstration der neuadaptierten I. Augenklinik.
Dr. Richard Krämer, dz. Schriftführer.
fr
Wiener dermatologische Gesellschaft.
Einladung zu der am 17. Mai 1911 stattfindenden Sitzung (halb 6 Uhr
abends, Hörsaal Klinik Riehl).
Tagesordnung:
Demonstrationen von Kranken.
Mucha juu. Finger.
Verantwortlichsr Redakteur : Karl Knbasta. Verlag von Wilhelm Branmiiller in Wi«D.
Druck von Bruno Bartelt, Wien XVIII., Thoresien nasse 8.
(
Wiener klinische Wochenschrifi
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr
* '• nass aas :■ trt ■ -
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
*n,on Freih. , Eiseisberg. Alexander F™ke,. Er;s, Fuchs. Julius Hochenegg. Ernst Ludwig, Edmund , Neusser.
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlau von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- n. Dniversitätsbuchhändler. YIH/l, Wickenburggasae 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg.
Wien. 18. Mai 1911
Origlualartikel : 1. Ueber Blinddarmentzündung beim Kinde
Von Pnv.-Doz. Dr. Hans Salzer. S. 695.
Aus dein Institute für allgemeine und experimentelle Pathologie
in Wien. (Vorstand: Hofrat Prof. Dr. R. Paltauf.) Beitrag
zur mtravaskulären Transplantation. Von Prof. Dr Geor«-
Joann o vies. S. 699. '
Die latente Pyelonephritis der Frau und ihre Beurteilung. Von
rriv.-Doz. Dr. Fritz Kermauner, Wien. S. 698.
Aus dem pathol.-anatom. Institute der deutschen Universität
in Prag. (Vorstand: Prof. Dr. A. Ghon.) lieber die Behandlung
der akuten Infektionskrankheiten mit Salvarsan. Von Dr. Franz
Lucksch, Assistenten am Institute. S. 701.
Aus dem pharmakologischen Institute der k. k. Universität
Wien. Tierversuche über Hautreaktion. Von Dr. Friedrich
Luithlen. S. 703.
Aus der I. Universitäts-Frauenklinik in Wien. (Vorstand: Hofrat
fechauta.) Zur Pathologie und Klinik des malignen Chorio-
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
epithelioma. Von Priv.-Doz. Dr. F.Hitschmann und Doktor
Robert Cristofoletti. (Schluß.) S. 705.
£?&nilicie Ge?uu<lheitspflege : Die Notwendigkeit eines
Militarkurhauses für Lungenkranke. Von Prof. Dr. Th. Pfeiffer
Direktor der Heilstätte Hörgas (Steiermark). S. 715.
Referate: Handbuch der Geschlechtskrankheiten. Von Finger
Jadassohn, Ehrmann, Grosz. Ref.: Merk. - Die Sprache
c es Traumes. Von W. Steckei. Leitfaden der physiologischen
Psychologie. Von Zielen. Ref.: Schilder (Halle).
Aus verschiedenen Zeitschriften.
Sozialärztliche Revue. Von Dr. L. Sofer. S. 724.
Vermischte Nachrichten.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßbericlite.
lieber Blinddarmentzündung beim Kinde.*)
Von Priv.-Doz. Dr. Hans Salzer.
Wenn ich es heute unternehme, vor Ihnen über Blind-
armeutzündung zu sprechen, also ein Thema anzuschlagen,
as so unendlich oft schon durchgesprochen und durch-
ear beitet wurde, so dürfen Sie nicht erwarten, daß ich Ihnen
lel Neues über diesen Gegenstand bringen werde, Haupt¬
rund meines Vortrages ist vielmehr der, Ihre Aufmerk -
amkeit, auf eine traurige Tatsache zu lenken, die zwar
uch schon lange bekannt ist, die aber .meiner Meinung
ach nicht die ihr gebührende Berücksichtigung findet, daher
ei uns leider noch immer zu Recht besteht; ich meine die
u große Sterblichkeit der Kinder an Blinddarmentzündung,
v ährend bei Erwachsenen durch zielbewußites Vorgehen
ie Mortalität in rascher Folge von einigen 70% bis auf
bis 4% herabgedrückt werden konnte — Klimm eil
at uns im vorigen Jahre sogar berichtet, daß bei den
inerhalb der ersten 24 Stunden Operierten er nur mehr
ne Mortalität von 0-5% hatte — beträgt die Mortalität
Kindern an Blinddarmentzündung noch immer zwischen
L und 19, ja 30%. _ Riedel berechnete im Jahre 1907
^ k ?^ers^rklichkeit an Appendizitis auf 13%, während
e bei Erwachsenen 2-9% betrug. Nur wenige Autoren
innen über bessere Resultate berichten, so vor allem der
menkaner Deaver, der bei 500 Fällen eine Mortalität
>n 40/0 hatte.
„ . *.) Vortrag, gehalten in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der
rzte m Wien am 5. Mai 1911.
Mit diesen allgemein gültigen Zahlen stimmen auch
die Resultate überein, zu denen ich bei den in den letzten
vier Jahren an meiner Spitalsabteilung behandelten 200
fallen von Blinddarmentzündung bei Kindern gelangte. Von
diesen 200 Fällen wurden 35 ohne Operation entlassen,
sogenannt „geheilt“, nachdem es ohne Operation eine sichere
Heilung nicht gibt. Zwei Fälle starben wenige Stunden
nach dem Spitalseintritt und 163 Kinder wurden operiert.
\ ou diesen starben 22. Wir hatten also nine Gesamtmortali-
tä! von 12, eine Operationsmortalität von 13-5%, eine er-
scht eckend hohe Zahl, wenn man bedenkt, wie nieder im
A ergleiche dazu die Zahlen bei den Erwachsenen sind.
Seit geraumer Zeit schon sind diese, Tatsachen be¬
kannt, die verschiedensten Gründe wurden zur Erklärung
herangezogen; ja, man ging fast schon so weit, die Blind¬
darmentzündung der Kinder ganz von der der Erwach¬
senen zu trennen und als eigenes Krankheitsbild aufzu¬
stellen.
Ich will nun in Kürze die Erklärungsversuche für die
größere Kindersterblichkeit an Appendizitis anführen, die¬
selben auf Grund des untersuchten Materiales kritisch be¬
leuchten und auf diesem Wege der Hauptursache der großen
Kindersterblichkeit bei der in Rede stehenden Erkrankung
näherzukommen trachten.
Da sind es einmal die anatomischen Verhältnisse des
kindlichen Wurmfortsatzes, die für die Schwere der Er¬
krankung ausschlaggebend sein sollen, ein Erklärungsgrund,
der sicherlich nicht von vornherein abgewiesen werden
kann. Ist ja der AVurmfortsatz der Kinder relativ bedeutend
696
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 20
größer als der der Erwachsenen. Ribbert sagt, daß die
Länge des Wurmfortsatzes bei Kindern den 10. Teil, bei Er¬
wachsenen dagegen den 20. Teil der Dickdarmlänge aus-
niache. Nun ist es klar, daß es in einem relativ längeren
Blindsacke leichter zur Sekretstauung und dadurch zur Ent¬
zündung kommen kann, als in einem kleineren. Dem muß
aber die Weite der 'Einmündungsstelle in das Cökum gegen¬
übergestellt werden. Bei Kindern geht das Cökum trichter¬
förmig in die Appendix über. Die Kommunikationsöffnung
ist mithin eine relativ weite und dadurch können Sekret¬
massen leichter aus dem Fortsatze in das Cökum geschafft
werden, während beim Erwachsenen sich der Wurmfortsatz
scharf vom Blinddarm absetzt, sein Lumen sogar durch
eine Art Klappenbildung von der übrigen Darmhöhl© ab¬
gegrenzt ist. Allerdings konnte ,S u d s u k i feststellen, daß
die sogenannte G e r 1 a c h sehe Klappe keinen Einfluß) auf
die Passage des Dickdarminhaltes nach dem Fortsatze hin
besitzt, auch nicht die Entleerung des Fortsatzes selbst
verhindern kann. Von großer Wichtigkeit für die Patho¬
genese der Blinddarmentzündung scheint im Verhalten des
lymphatischen Apparates zu liegen. Der Wurmfortsatz des
Neugeborenen entbehrt vollständig des adenoiden Gewebes.
Die Säuglingsappendizitis ist auch eine ungemein seltene
Erkrankung. Schon in den ersten Lebensjahren treten
Lymphfollikel in der Fortsatzwand auf und werden so zahl¬
reich, daß der Wurmfortsatz mit der Tonsille verglichen
wurde, um dann ungefähr vom 30. Lebensjahre (angefangen
zu atrophieren. In die Zeit des großen Follikelreichtums
fallen auch die meisten Erkrankungen an Blinddarmentzün¬
dung, um dann in rascher Folge wieder abzunehmen.
Rechnet man nun das Kindesalter bis zum 14. Lebensjahre,
so sind die Erwachsenen durch dieses anatomische Verhalten
des lymphatischen Apparates in gleicher Weise gefährdet
wie die Kinder. Nun hat aber Albrecht im Jahre 1900
auf Verhältnisse hingewiesen, die nur dem Wurmfortsätze
des Kindes eigentümlich sind und die sicherlich eine Prä¬
disposition für das Auftreten der Blinddarmentzündung ab¬
geben. Er hat an Leichen bis zum sechsten Lebensjahre
gezeigt, daß in 15% der Fälle Lageanomalien der Appendix
vorhanden sind u. zw. Anomalien, die durch angeborene
sekundäre Verwachsungen im Sinne Toldts fixiert sind.
Durch diese ganz zarten Membranen kommt es zu scharfen
Biegungen, ja sogar zu spitzwinkeligen Abknickungen des
Wurmfortsatzes, der Inhalt kann datier nicht in freier Weise
fortbewegt werden, gewiß ein Moment, welches mit zur
Blinddarmentzündung führen kann. Im Laufe der Jahre
verschwinden diese zarten Verwachsungen und werden nach
dem fünften oder sechsten Lebensjahre kaum mehr gefun¬
den. Diese von Albrecht erwähnten sekundären Ver¬
wachsungen bilden also nur für wenige Jahre eine prädis¬
ponierende Ursache für das Zustandekommen der Blinddarm¬
entzündung bei Kindern und nur in dieser Beziehung können
wir es gelten lassen, daß anatomische Verhältnisse die
Kinder für diese Krankheit empfänglicher machen sollen als
den Erwachsenen. Dieses Verhalten wird aber nur in einer
ganz verschwindend, kleinen Anzahl von Fällen in Rech¬
nung zu stellen sein, da bekann term aßen die Blinddarm¬
entzündung ganz kleiner Kinder eine ziemlich seltene Erkran¬
kung ist und erst vom vierten bis fünften Lebensjahre an
häufiger auftritt, in diesem Alter aber die angeborenen Ver¬
wachsungen oft nicht mehr nachzuweisen sind. Daß der
Wurmfortsatz bei Kindern öfter als bei Erwachsenen im
kleinen Becken liegt, kann für die Aetiologie und Patho¬
logie der Appendizitis wohl nicht in Betracht kommen.
Wir können also in den verschiedenen anatomischen Ver¬
hältnissen beim Kinde und beim Erwachsenen keinen ge¬
nügenden Grund finden für 'die große Gefährdung der Kinder
durch die Blinddarmentzündung.
Als weiteren Grund für die große Gefährlichkeit der
Kinderappendizitis wird die schwierige Diagnosenstellung
angeführt. Da die Krankheit 'schwerer als beim Erwachsenen
zu erkennen ist, kommen die Kinder relativ später zur
richtigen Behandlung und Operation und datier sind die
Heilungsaussichten geringer. Ich glaube nicht, daß die
schwierige Diagnosenstellung an diesem sicher vorhandenen
Uebelstande die Schuld trägt, möchte vielmehr der Meinung
Spreng eis beipflichten, daß die Diagnose der Blinddarm¬
entzündung bei Kindern ebenso leicht oder besser gesagt,
ebenso schwer ist wie bei Erwachsenen. Um die Worte
Kümmels zu gebrauchen, gibt es leider kaum ein cha¬
rakteristisches Symptom, welches mit Sicherheit die Frage
einer Appendizitis uns annehmen läßt, wenigstens in den
Anfangsstadien. Das gilt sowohl von Erwachsenen, als auch
von Kindern. Druckschmerz, Bauchdeckenspannung, Nach¬
weis eines entzündlichen Tumors, Verhalten des Pulses und
Ider Temperatur, sind beim Kinde in gleicher (Weise für die
Diagnosenstellung zu verwerten, wie beim Erwachsenen.
Dazu kommt aber noch, daß manche Umstände (es bewirken,
daß die Untersuchung beim Kinde leichter gemacht Werden
kann als beim Erwachsenen. Wie oft mißglückt uns bei
Ider Dicke der Bauchdecken, nur irgend etwas bei erwach¬
senen Leuten durchzutasten, ein Umstand, der bei den
Kindern wegfällt. Anderseits ist die rektale Untersuchung
bei Kindern von ganz besonderem Werte und leichter voll¬
ständig durchzuführen als bei Erwachsenen, das kindliche j
Becken ist mittels dieser Untersuchungsmethoden leicht in
allen seinen Teilen abzutasten und gelingt dies auch bei
Säuglingen. Bei der im kindlichen Alter so oft sich vor¬
findenden tiefen Lage des Wurmfortsatzes gibt diese Unter¬
suchung oft ganz eindeutige Befunde. Dazu kommt noch, |
daß man Balz er sicherlich beistimmen kann, der sagt, |
daß die Diagnose der Blinddarmentzündung bei Kindern
leichter zu stellen sei, da gewisse differentialdiagnostische
Bedenken nicht vorhanden sind, die bei Erwachsenen zu
fast unüberwindlichen Schwierigkeiten führen, die Diffe-i
rentialdiagnose zwischen Blinddarmentzündung und Gallen-
und Nierensteinleiden, der Pyelitis und Oophoritis. Die
Meinung Alsbergs, daß die Diagnose um so schwieriger
sei, je kleiner das Kind ist, kann richtig sein; daß die
Schwierigkeit aber soviel größer ist als in vielen Fällen bei j
Erwachsenen, ist nicht zuzugeben. Ger, ade bei kleinen Kin¬
dern bis zum fünften Lebensjahre finden wir es in unseren
Fällen so häufig angeführt, daß das rechte Bein im Hüft¬
gelenke gebeugt gehalten wurde, ein Symptom, welches
uns oft auf die richtige Fährte bringt und das wir bei Er¬
wachsenen lange nicht so häufig vorfinden. Daß gerade)
bei ganz kleinen Kindern diese Beugestellung des Beines
vorgefunden wird, ist wohl dadurch zu erklären, daß durch
die früher angeführte tiefe Lagerung des Wurmfortsatzes
es verhältnismäßig leichter zu einer Reizung des hinteren
Peritonealblattes mit folgender Beteiligung der Psoasscheide
kommt. Bei Kindern wird die Differentialdiagnose zwischen;
Appendizitis und zentraler Pneumonie, die bekanntlich so
oft mit peritonealen Erscheinungen — Bauchschmerz, .Er¬
brechen, Schmerzen in der Ileocökalgegend — beginnt und
dann zwischen Appendizitis und anderen Erkrankungen des
Intestinaltraktes die Hauptschwierigkeiten darstellen. Küm¬
mel 1 hebt für die Diagnosestellung der kindlichen Appen¬
dizitis als erschwerend zwei Umstände hervor: Einmal,
daß die Kinder keine näheren Angaben machen können
und dann, daß der lokale Druckschmerz kaum mit Sicherheit:
festzustellen ist. Ersteres trifft sicherlich zu, ist jedoch
nicht so schwer in Rechnung zu setzen, nachdem wir ]a
wissen, wie unsicher öfters die Lokalisation peritonealen
Schmerzempfindung ist. Den lokalen Druckschmerz dagegen)
konnten wir in fast allen unseren Fällen mit großer Sicher¬
heit nachweisen, auch bei ganz kleinen Patienten. Aller-!
dings hatten wir nicht Gelegenheit, Kinder unter zwei Jahren
mit Appendizitis zu behandeln. Fassen wir daslEbengesaglc
kurz zusammen, so können wir sagen, daß die besonderen
Schwierigkeiten, die der Diagnose der Appendizitis im Kin¬
desalter entgegenstehen, aufgewogen werden durch Um¬
stände, die als große Erleichterung der Diagnosestellung;
anzusehen sind. Die größere Schwierigkeit der Diagnose¬
stellung kann also nicht verantwortlich gemacht werden hn
die größere Mortalität der Kinder an Blinddarmentzündung.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
697
Als dritter Grund für die größere Kindersterblichkeit
vird der progredientere Verlauf angeführt, den die Erkran-
urng bei Kindern [nehmen soll. B a g i n s k i, Spieler u. a.
iahen darauf hingewiesen. Ob dieser Grund zu Recht be¬
geht, dürfte wohl isehr schwer richtig zu (beantworten sein.
Air haben bei der Untersuchung der operativ entfernten
Vurmfort sätze alle Stadien der Entzündung auffinden
ünnen, wie sie für den Erwachsenen beschrieben sind, von
ter Appendicitis simplex angefangen, bis zur vollständigen
iangrän des Fortsatzes; teils ragte der entzündliche Wurm-
ortsatz frei in die mit Eiter erfüllte Bauchhöhle, teils war
r in Pseudomembranen eingebettet und nur mit Mühe aus
enselben zu isolieren. Die Zahlen, zu welchen wir auf
< rund unserer Fälle gelangten, scheinen auf den ersten
Rick für den rascheren Verlauf der Erkrankung hei Kin-
,em zu sprechen. Wir hatten unter 163 .Operationen 130,
ie im Anfalle, operiert wurden. 58 davon wiesen eine
’erforation des Wurmfortsatzes; auf, ein Verhältnis, welches
mhl sehr hoch zu sein scheint, das aber fast genau den
lahlen entspricht, zu denen Kümmell auf Grund seiner
alle gelangt ist; er hatte im Jahre 1909 unter 109 Früh-
perationen 44mal Gangrän und Perforation des Fortsatzes
efunden. Untersuchten wir aber unsere Fälle genauer, so
eigt es sich, daß man bei 106 von diesen 163 Fällen mit
icherheit nachweisen konnte, daß, die Erkrankung schon
iagere Zeit bestanden hatte, daßi man nicht während oder
ach der ersten Attacke operiert hatte, sondern nach einer
eihe von Anfällen. 106mal konnten Narben im Wurm-
»rtsalze oder andere Residuen abgelaufener Prozesse ge¬
laden werden. Die Schwere der Erkrankung war nicht
nf den progredienteren Verlauf zurückzuführen, sondern
arauf, daß. die Kinder schon zahlreiche Anfälle überstanden
atten. Vielleicht wäre in einer noch größeren Anzahl von
allen dieser Nachweis zu führen gelungen, hätten wh¬
ile Wurmfortsätze in Serienschnitten untersuchen können,
er raschere Verlauf der Erkrankung bei
indem kann nicht mit Sicherheit, wie g e-
agt, bewiesen werden, mit Sicherheit kann
ian dagegen sagen, daß die Kinder unter ganz all¬
eren Umständen u. zw. unter viel ungünstigeren Umstän-
3ii zur Behandlung kommen wie die Erwachsenen. Von
>3 Fällen waren 8 Intervalloperationen, 17mal wurde gleich
ich Ablauf der Attacke der Wurmfortsatz entfernt, 8mal
urde nur eine Abszeßinzision gemacht und 130mal im
nfalle operiert. Im ganzen konnten 106mal Veränderungen
tchgewiesen werden, die auf früher abgelaufene Anfälle
m'ickzuführen waren.
Aus diesen Zahlen und Befunden kann man ersehen,
iß im allgemeinen die Kinder zu spät zur Behandlung
anmen, meist erst dann, wenn es zu schweren Erschei-
ingen von seiten des Peritoneums gekommen ist. Die
ichten Attacken werden von der Umgebung nicht genügend
lachtet, wie Sonnenburg so richtig sagt, mit den bei
lodern so häufigen Verdauungsstörungen verwechselt,
lese leichteren Attacken, die in Form der chronischen
inddarmentzündung der Kinder verlaufen und deren Be-
hreibung wir in ausgezeichneter Weise in jüngster Zeit
o m b y verdanken, sind es, denen wir nähertreten müssen
id deren richtige Behandlung gefordert werdeai muß, um
ai den Kindern in vielen Fällen wenigstens die lebens-
‘drohlichen Folgen .schwerer Peritonitiden fernzuhalten.
Diese chronische Appendizitis der Kinder verläuft
der den mannigfaltigsten Formen. Meist handelt es sich
n blasse Kinder von gelblichem Hautkolorit, die Augen
id umrändert, manche sind dagegen auch gut gefärbt,
aiptbeschwerden sind Verdauungsstörungen. Die Kinder
iben wenig Appetit, meist trägen Stuhlgang, später kommt
zu Erbrechen. Besonders das zyklische Erbrechen der
uder läßt an Appendizitis denken. Nun treten auch Ko- j
*en, besonders nach den Mahlzeiten, auf, die rasch ei ri¬
tzen, um ebenso rasch wieder zu verschwinden. Es
illen sich iradiierte Schmerzen im rechten Beine ein,
e Kinder werden mißmutig, suchen die Einsamkeit auf, l
manche von ihnen neigen zu Ohnmächten oder leiden an
häufigeren Kopfschmerzen. Für dieses so vielseitige Krank¬
heitsbild liegt oft der Grund in einem Wurmfortsätze. Die
Entfernung desselben macht bisweilen wie mit einem Schlage
manchmal nach kürzerer oder längerer Zeit diesen ver¬
schiedenen Leiden ein Ende und es ist eine Freude zu
sehen, wie nach der Operation diese blassen, mißmutigen
Kinder sichtlich aufblühen.
Auf dieses chronische Leiden muß man aber auch
darum sein ganz besonderes Augenmerk lenken, da die
subjektiven und objektiven Krankheitserscheinungen so
häufig in geradezu diametralem Gegensätze zu den patho¬
logischen Veränderungen des Wurmfortsatzes stehen, ebenso
wie dies von allen Autoren beim akuten A p p endi z i ti s anf all
beschrieben wird. Ich hatte Gelegenheit gehabt, an meiner
Abteilung diese Tatsache in besonders lehrreicher Weise
auch für chronische Appendizitis bestätigt zu finden. Es
wurden seinerzeit fast gleichzeitig ein 13jähr. Knabe und
ein 12jähr. Mädchen mit schwerster akuter Osteomyelitis
in meine Abteilung eingebracht. Beide Kinder blieben mo¬
natelang bis zu ihrer vollständigen Ausheilung im Spital,
da sie von auswärts waren und nach Ablauf der akuten Er¬
scheinungen nicht ambulatorisch behandelt werden konnten.
Beide Kinder machten eine fast ungestörte Rekonvaleszenz
durch. Fünf Tage, nachdem der Knabe in bestem Wohl¬
befinden geheilt entlassen worden war, wird er mit einer
schweren Blinddarmentzündung eingeliefert. Die sogleich
vorgenommene Operation erwies, daß es sich um eine dif¬
fuse Perforationsperitonitis handelte, der schwielig verdickte
Wurmfortsatz war an der Basis perforiert, der Wurmfort¬
satz selbst durch dicke, schwartige Adhäsionen innig mit
der Umgebung verwachsen. Im Wurmfortsatz befand sich
ein großer Kotstein. Nach vier Wochen konnte der Knabe
endlich definitiv geheilt entlassen werden. Auf unsere Nach¬
frage bei den Pflegeschwestern stellte es sich heraus, daß
der Knabe während seines Spitalsaufenthaltes hie und da
über leichte Ueblichkeiten geklagt hatte, die jedoch immer
bald wieder verschwanden. Wir hatten sein blasses Aus¬
sehen auf die schwere septische Erkrankung zurückgeführt,
hatten es unterlassen, das Abdomen des Kindes zu unter¬
suchen und dadurch den Knaben in schwere Lebensgefahr
gebracht, der er nur durch die sogleich vorgenommene
Operation entrissen werden konnte. Als sich nach der Ope¬
ration des Knaben herausgestellt hatte, daß. er während
seines früheren Spitalsaufenthaltes schon an chronischer
Appendizitis gelitten hatte, machten die Schwestern Mit¬
teilung, daß auch das an Osteomyelitis erkrankte Mädchen
öfter Uebelkeiten, ja ein- oder zweimal sogar erbrochen
hatte. Immer dauerten diese Störungen ihres Wohlbefindens
nur wenige Stunden. Bei der Untersuchung des Abdomens
zeigte es sich mit Sicherheit, daß auch dieses- Kind an
einer chronischen Appendizitis leide. Es wurde wenige
Tage später operiert und ein 8 cm langer; ganz in Netz
eingehüllter, dicker, entzündlich geröteter Wurmfortsatz ent¬
fernt, der strotzend mit Eiter gefüllt war. Nicht gar lange
hätte es vielleicht gedauert, bis auch diese Appendix ge¬
platzt und eine schwere Peritonitis verursacht hätte. In
beiden Fällen lagen also schwere pathologische Verände¬
rungen des Wurmfortsatzes vor und doch war es in den
letzten sieben Monaten nur zu ganz geringfügigen Störungen
von seiten des Darmkanales gekommen, Störungen, die nicht
einmal von den gutgeschulten Pflegeschwestern beachtet
worden waren.
Die Diagnose der chronischen Appendizitis ist manch¬
mal sehr leicht, bisweilen wieder kaum zu stellen, wir
finden keinen Druckschmerz, keinen Tumor, keine Muskel¬
spannung. Da hat sich mir in einer Reihe von Fällen ein
Symptom recht gut bewährt, das auf das Vorhandensein
von entzündlichen Veränderungen in der Blinddarmgegend
schließen läßt: Es ist dies ein unter den zart palpierenden
Fingern auftretendes feines Knistern, welches ganz dem
gleicht, das wir bei Hautemphysem zu finden gewohnt sind.
Nach mehrmaliger Untersuchung verschwindet dieses Sym-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
698
Nr. 20
ptom, um nach einiger Zeit wieder hervorgerufen werden
zu können. Ich habe es niemals nachw eisen können, wenn
bei der folgenden Operation keine Veränderung des Fort¬
satzes vorhanden war. Nachdem, wie gesagt, die Diagnose
der chronischen Appendizitis manchmal nicht sicher zu
stellen ist, so kann vielleicht in einigen Fällen dieses Sym¬
ptom auf die richtige Spur führen.
Im kurzen will ich noch auf die schon von anderen
Autoren aufmerksam gemachte große Widerstandskraft der
Kinder bei Ueberwindung der Peritonitis zu sprechen
kommen, wenn man von ganz kleinen Kindern absieht,
Spieler und besonders Riedel haben diese Tatsache
betont, die mit den (Erfahrungen auf das beste übereinstimmt,
die wir an unserem Materiale machen konnten. Während
Grilliert für die in der preußischen und württembergi-
schen Armee während der letzten drei Jahre vorgekom¬
menen Perforationsperitonitiden nach Appendizitis eine Mor¬
talität von 31% berechnet, hatten wir unter 58 Perfora¬
tionsperitonitiden 10 Todesfälle — 17-2%, sicherlich ein
Beweis für die große Widerstandskraft des kindlichen Or¬
ganismus eitrigen Peritonitiden gegenüber.
Fassen wir zum Schlüsse die gewonnenen Resultate
kurz zusammen, so können wir sagen : Die so große Kinder¬
sterblichkeil an Blinddarmentzündung ist nicht auf beson¬
dere anatomische Verhältnisse, nicht 'auf die größere Schwie¬
rigkeit der Diagnosestellung und auch nicht darauf zurück¬
zuführen, daß bei Kindern die Skolikoiditis einen progre-
dienteren Verlauf nimmt, sondern auf den Umstand zurück¬
zuführen, daß die Kinder noch immer zu spät der zweck¬
entsprechenden Behandlung, das ist in den meisten Fällen
der Operation unterzogen werden. Wir müssen uns daran
gewöhnen und in diesem Sinne auch das Publikum auf¬
klären, bei den verschiedenen, durch chronische Appen¬
dizitis verursachten Symptomen auch wirklich an Appen¬
dizitis zu denken und in dieser Richtung hin zu unter¬
suchen und dann die geeignete Behandlung einzuleiten.
Wird diese Forderung ebenso energisch durchgeführt wie
es bei den Erwachsenen der Fall ist, so kann es nicht
ausbleiben, daß wir auch bei Kindern die Mortalität an
Blinddarmentzündung ebensoweit herabdrücken wie bei Er¬
wachsenen. Ja, ich möchte fast sagen, noch energischer
als für die Erwachsenen müssen wir die Frühoperation
der Appendizitis bei Kindern fordern, einmal, weil man
allgemein gewohnt ist, die Magen- und Darmstörungen im
Kindesalter fast als etwas Selbstverständliches und nicht
als ein häufiges Symptom einer ernstlichen, lebensgefähr¬
lichen Erkrankung anzusehen und dann, weil wir für die
Kinder, die kein Bestimmungsrecht für sich haben, denken
und sie gegen die Indolenz ihrer Umgebung schützen müssen.
Aus dem Institute für allgemeine und experimentelle
Pathologie in Wien.
(Vorstand : Hofrat Prof. Dr. R. Paltauf.)
Beitrag zur intravaskulären Transplantation.
Von Prof. Dr. Cteorg' Joamiovics.
Auf der diesjährigen Versammlung der deutschen Ge¬
sellschaft für Chirurgie teilt F. L a n d o i s im Anschlüsse
an das Referatthema über Transplantationen eine Anzahl
von Versuchen mit, in welchen er bei Hunden Epithel¬
körper in die Blutbahn transplantiert. Die Technik seiner
Experimente besteht darin, daß er die exstirpierten äußeren
Epithelkörper in die Vena jugularis externa einführt und
nach Ablauf von 14 Tagen bis drei Wochen die inneren
Epithelkörper entfernt. Bei elf Hunden, denen auf diese
Weise die eigenen äußeren Epithelkörper in die Blutbahn
eingebracht wurden, verhielten sich sieben auch nach Ent¬
fernung der inneren Epithelkörperchen vollkommen normal,
es trat bei ihnen keine Tetanie auf, so daß L a n d o i s’
Annahme, daß die Autotransplantation der äußeren Epithel¬
körper auf embolischem Wege in sieben von elf Fällen
gelang, vollkommen gerechtfertigt erscheint. Völlig negative
Resultate ergaben hingegen analoge Versuche mit Hornöc
transplantation, wo also äußere Epithelkörperchen eine
anderen Hundes intravenös eingebracht wurden. B<
sieben in dieser Weise operierten Tieren trat ausnahmslu
nach Exstirpation der eigenen Epithelkörperchen Tetani
auf, so daß von einer erfolgreichen Einheilung und Fünf
lionstüchtigkeil der Epithelkörperchen bei dieser Versuch:
anordnung nicht gesprochen werden kann. Aus diesen Ve
suchen schließt nun L a n d o i s, daß nur die Autoplastil
nicht aber die Homöoplastik von Epithelkörperchen in di
Blutbalm auf embolischem Wege gelingt.
Da ich selbst vor drei Jahren mit ähnlichen Exper
menten mich beschäftigte, dieselben aber wegen einer z
geringen Anzahl von Versuchen nicht publizierte, ersehen
es nicht ungerechtfertigt, dieselben nunmehr wiederzugebe
und ihr Ergebnis mit den Versuchen von Landois z
vergleichen.
Meine Versuche führte ich an Katzen aus, bei dene
ich nicht allein Epithelkörper, sondern auch Schilddrüse)
gewebe in zerkleinertem Zustande in die Vena jugular
externa einführte. Hiebei stellte ich mir vor, daß die a:
Emboli in den Lungengefäßen zurückgehaltenen Geweb
partikelchen nicht ohne weiteres zur Einheilung gelange
würden, sondern daß es notwendig sei, noch gewisse, <L
Anheilung und das Wachstum des eingeführten Gewebe
fördernde Momente in die Versuchsanordnung einzufügei
Zur Transplantation benützte ich aus diesem Grunde Sclnl«
drüsen, welche unmittelbar vor der Injektion Föten gegtj
das Ende ihres intrauterinen Lebens entnommen wurde)
Die mittels Scheere zerkleinerten Schilddrüsen wurden dao
in einigen Kubikzentimetern Serum einer Katze suspendiei
welcher 24 Stunden vor dem Aderlaß die Schilddrüs
partiell exstirpiert worden war. Nach Angabe französisch«
Autoren1) enthält nämlich das Serum von Tieren, dem
ein Organ partiell entfernt wurde, 24 Stunden nach ch
Exstirpation Stoffe, die bei intravenöser Injektion an g
sunden Tieren Hypertrophie des entsprechenden Organ«;
auslösen. Auf diese Weise erhoffte ich eine weitere St(
gerung der Proliferationsfähigkeit des transplantierten er
bryonalen Schilddrüsen- und Epithelkörperchengewebes i
erreichen. Endlich injizierte ich die zerkleinerten Schil
drüsen intravenös an Katzen, die überdies durch einseitig
Schilddrüsenexstirpaüon vorbereitet waren und so im eig
nen Serum jene Stoffe enthielten, die eine Förderung d«
Wachstums im Schilddrüsengewebe bedingen sollten.
Meine Versuche gestalteten sich also folgendertniaßei
Am ersten Tage wurden einer erwachsenen Katze dr
Viertel ihrer Schilddrüse operativ entfernt. 24 Stundtj
später wurde dieses Tier kräftig zu Ader gelassen, wälireij
einem zweiten Tiere eine Schilddrüse exstirpiert wurd
Dieses Tier war das eigentliche Versuchstier; ihm wurde;
am dritten Tage die frisch entnommenen, zerkleinert;
embryonalen Schilddrüsen im Serum der partiell thyreoi
ektomierten ersten Katze suspendiert, in die Vena jugular
externa injiziert. Acht Tage nach dieser ersten Operati»
wurde der Katze die zweite Schilddrüse exstirpiert. W;
die Eiidieilung der intravenös eingeführten Thyreoide
und Parathyreoideateilchen erfolgt, dann mußte das Ti
auch diese zweite Operation symptomlos überstellen.
Von vier in dieser Weise operierten Katzen starbt!
zwei 48 und 72 Stunden nach der totalen Thyreoidektom
unter den Symptomen schwerer Tetanie, während zw
mehrere Wochen den zweiten Eingriff überlebten und ,wä|
rend dieser Zeit ein recht interessantes Krankheitsbild zei
ten. Die eine Katze ließ im unmittelbaren Anschlüsse fj
die Entfernung der Schilddrüse keinerlei Symptome e
kennen und verhielt sich durch fünf Wochen völlig norm;
Zu Beginn der sechsten Woche stellten sich Lei ihr ziemlio
B P. Gar not, Sur l’activitö cytopoietique du sang et e
Organes reg6n6r6s au cours des regenerations viscerales. C. R. Soc. bi
61, 1906, S. 463 und Carnot u. Lelifevre, Sur l’activite nepbi
poietique du sang et du rein au cours des regenerations renales, C.
Acad. des Sc. 1907, Bd. 144, S. 718.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
699
plötzlich deutliche tetanische Krämpfe ein, die innerhalb
zweimal 24 Stunden trotz interner Verabreichung von
Thyreoidintabletten zum Tode führten. Bei der zweiten biter¬
lebenden Katze trat einen Tag nach der Thyreoidektomie
deutliche, aber nicht sehr intensive Tetanie auf, die sich
durch interne Medikation von Schilddrüsentabletten so gün¬
stig beeinflussen ließ, daß nicht nur die einzelnen Anfälle
kupiert wurden, sondern daß in den folgenden Tagen die
Krampfanfälle an Zahl und Intensität abnahmen und schließi-
lich sechs Lage nach der zweiten Operation vollkommen
sistierten, so daß von der weiteren Verfütterung [des Schild¬
drüsenpräparates abgesehen werden konnte. Das Tier,
welches in der ersten Woche infolge der tetaniseben Er¬
krankung und mangelhaften 'Ernährung stark abgemagert
war, erholt sich nun rasch und verhält, sich die folgenden
drei Wochen völlig normal. In der fünften AVoche zeigt die
Katze verminderte Freßlust, allmählich zunehmende Ab¬
magerung und stirbt in der siebenten Woche nach der
schilddrüsenexstirpation bis zum Skelett abgemagert, ohne
während dieser Zeit auch irgend welche Zeichen der Tetanie
■rkennen zu lassen. Bei der Obduktion dieser zwei Tiere
wurde speziell auf das etwaige Vorhandensein von akzes¬
sorischen Schilddrüsen geachtet und in den verschiedenen
Jrganen, namentlich in den Lungen nach dem intravenös
■iuverleibten Thyreoideagewebe gefahndet. Es fand sich
dmr weder dieses, noch versprengte Keime von Schild-
Irüsengewebe.
'Nach dem klinischen Verlaufe sehen wir bei
lern ersten Tiere, daß nach der totalen Schilddrüsen-
•xfitirpation das transplantierte Thyreoidea- und Parathyre-
»idgewebe die Funktion des entfernten Organes zu über-
lehinen vermag, daß demnach die Transplantation als ge¬
angen zu bezeichnen ist. Allerdings erhält sich auch dieses
mf dem Wege der Blutbahn transplantierte Gewebe nicht
lauernd, sondern geht nach Ablauf mehrerer Wochen zu-
’iunde und bedingt in dem einen Falle den Symptomen-
:omplex des Funktionsausfalles der Epithelkörperchen,,
yährend im zweiten Versuche sich mehr das Bild einer
achexia strumipriva entwickelt, ln diesem Versuche ist,
s auch recht interessant, zu sehen, daß’ die eingeheilten
iewebsstücke, als anfänglich die Transplantation noch
uedit so weit gediehen war, die Funktionen des entfernten
Irganes nicht vollkommen übernehmen konnten, so daß auf
ie Thyreoidektomie eine Reihetetanischer Anfälle folgt, die
inerseits durch orale Verabreichung von Thyreoidintabletten
ich günstig beeinflussen lassen, anderseits mit zunehmen-
or Entwicklung des Transplantates völlig schwinden, ln
er darauffolgenden dreiwöchigen Periode besten Wohl-
efindens des Tieres ersetzt das transplantierte Gewebe
ie Epithelkörper und wohl auch die Schilddrüse 1 voll-
ommen. Dieser Erfolg ist aber kein dauernder, denn
creits in der fünften Woche sehen wir das Tier
Imiagern und schließlich kachektisch zugrunde gehen,
o daß in diesem speziellen Fälle die Annahme nahe liegt,
aß zwar die transplantierten Epithelkörperchen noch funk-
onslüchtig waren, daß, aber das verpfropfle Schikldrüsen-
ewebe nach anfänglicher progressiver Entwicklung sich
ueder zurückbildet.
Vergleichen wir also die Versuche Landois mit, Iden
useren, so müssen wir sagen, daß mit Hilfe der von
nr verwendeten Versuchsanordnung eine i n-
f a v a s k u 1 ä r e Homöotrans p 1 a n t a t i o n m ö g-
'cdi ist; denn während sie in Landois’ Experi-
lenten in sieben Fällen immer versagte, gelang sie mir
i vier Versuchen zweimal. Dieses günstigere Resultat
’•einer Experimente möchte ich weniger auf die verschie-
ene Tierspezies beziehen — Landois arbeitete an Hun-
en’ än Katzen — als vielmehr auf die Verwendung
mbryonalen Gewebes, auf die vorausgegangene partielle
clnlddriisenexstirpation und vielleicht auch auf die gleich-
'hige Einverleibu ng Vines Serums von einer partiell thyreoid-
ktomierten Katze, Momente, welche die Ansiedlung und
Qtwicklung der transplantierten Gewebsteilchen begün¬
stigen können. Allerdings ist die so erzielte Homöotransplan¬
tation auch in diesem Falle keine dauernde.
\ on Interesse ist die Beobachtung, daß in dem einen
falle durch Schilddrüsendarreichung die an die Schild¬
drüsenexstirpation sich anschließende Tetanie zur Aushei¬
lung gelangte. Dieser Befund ist wohl in der Weise zu
deuten, daß der Organismus mit transplantierten Epithel¬
körperchen trotz ihrer Insuffizienz sich ganz wesentlich
unterscheidet von demjenigen, in welchem nach Exstirpation
der Epithelkörper ein völliger Ausfall ihrer Funktion einge-
Ireten ist,, da in diesem Falle, wie Pineies2) zeigen,
konnte, trotz mönafelanger Verfütterung von getrockneter
Epithelkörpersubstanz die Intensität der Tetanie keine Aen-
derung erfährt. Diese meine Befunde sprechen auch für
die Anschauung B i e d 1 s,3) daß durch Schilddrüsenverfütte-
lung eine Insuffizienz der Epithelkörper sich günstig be¬
einflussen läßt.
Die latente Pyelonephritis der Frau und ihre
Beurteilung.
Von Priv.-Doz. Dr. Fritz Kerniamier, Wien.
Es ist eine bekannte und allgemein anerkannte Tat¬
sache, daß sich die Pyelonephritis zwar in Form von
typischen fieberhaften Anfällen, die gewöhnlich etwa 5 bis
7 Tage dauern, klinisch manifestiert, daß sie jedoch mit
dem Abklingen eines solchen Anfalles durchaus noch nicht
geheilt ist. Sie geht in die latente Form über. Wie lange
dieser Zustand dauert, darüber sind vielleicht noch Dis¬
kussionen möglich; doch spricht sich die Mehrzahl der
Autoren für ziemlich unbegrenzte Dauer aus.
Sicherlich ist es nur auf der Basis einer Pyelonephrite
latente zu erklären, daß, eine Pyelonephritis in graviditate,
die z. B. in der ersten Schwangerschaft zum Ausbruch
gekommen ist, in späteren Schwangerschaften — mitunter
in jeder, bis zu 13mal (Legueu) innerhalb von 26 Jahren —
rezidiviert. Sie muß zwar nicht rezidivieren; zur Stütze
dafür haben wir beweiskräftige Fälle in der Literatur; aber
sie scheint es mit einer gewissen Vorliebe zu tun.
Eine durchaus latent verlaufende Pyelitis dürfte, wie
das schon mehrere französische Autoren (Le Brigand,
B r e d i e r, C lia m p e t i e r de R i b e s usw,) betont haben,
bei flüchtiger Untersuchung nicht so selten mit 'der Schwan¬
gerschaftsniere verwechselt werden. Meiner Ansicht nach
ist die AT e p h r o p a t h i ä gravi d a r u m überhaupt, nicht
so häufig, als dies manche neuere Untersuchungen annehmen
lassen.
Dieses Rezidivieren ist, also gewissermaßen akten-
nntßig festgestellt, ist, außer Zweifel ; und es ist ein klinischer
Beweis für die außerordentlich lange Dauer, für die Kon¬
tinuität dei Krankheit; ein Beweis, der um so notwendiger
wird, als die Zwischenzeit gewöhnlich ohne subjektive Be¬
schwerden zu verlaufen pflegt. Höchstens vor und während
der Menstruation, die ja. in ihren Wirkungen lauf den Harn¬
apparat ähnlich zu beurteilen sein dürfte wie die Schwanger¬
schaft, klingen wieder mehr oder weniger lebhafte "Er¬
innerungen an das Leiden an.
Strittig war immer nur der Anfang des Leidens und
die Art und Weise, wie es einsetzt, der Weg der Infektion.
Die Mehrzahl der deutschen Autoren hält noch bis in die
letzte Zeit an der Möglichkeit einer von der Harnröhre und
Blase aus aszendierenden Infektion fest (Lenhartz,
Stöckel usw.). Das häufige Vorkommen während der
Schwangerschaft, wo die Auflockerung der Gewebe be¬
günstigend wirken kann, das häufige Vorkommen beim weib¬
lichen Geschlecht mit seiner kurzen Urethra überhaupt; die
Tatsache, daß in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
Bacterium coli vorhanden ist; endlich die so oft bei
Sektionen nachweisbare Kompression und Dilatation der
") t1. P i n e 1 e s, Behandlung der Tetanie mit Epithelkörper-
praparaten. Arbeiten aus dem neurol. Institute in Wien 1907.
3) A. Biedl, Innere Sekretion. Wien 1910, S. 51.
700
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
Ureteren (sei es nach der ursprünglichen Auffassung 'durch
den Druck des Uterus, sei es nach der modifizierten durch
Schwellung der Schleimhaut in der Schwangerschaft, oder
gleichzeitige Hypertrophie der histologischen Wandelemente
[Hof bau er]), all das waren sehr plausibel erscheinende
Gründe. Zu erwähnen wären auch noch die .Versuche von
Voelcker, welche direkt den Nachweis bringen, daß es
bei Frauen gelingt, durch Füllung der Blase mit Kollargol
und Pressenlassen bei zugehaltener Urethralmündung die
Ureteren zu füllen. Daneben haben allerdings verschiedene
Autoren schon seil Jahren (Küster, französische Autoren),
von der Tuberkulose ausgehend, die hämatogene Infektion
und den deszendierenden Typus gelehrt.
Die Geburtshelfer haben vielleicht am hartnäckigsten
an der aszendierenden Theorie festgehalten. Erst in den
letzten Jahren bereitet sich auch hier allmählich ein Um¬
schwung vor. Al beck und Mirabeau haben nachge¬
wiesen, daß der Harn in den Ureteren Bakterien enthält,
während in der Blase keine Veränderungen nachweisbar
sind. Auf der einen Seite suchte man diesen Umstand zu¬
nächst damit zu erklären, daß: die Kolizystitis sehr
wenig Erscheinungen zu machen brauche; andererseits
wurde schon von mehreren Autoren die Folgerung gezogen,
daß die Pyelonephritis auch in der Schwangerschaft auf
hämatogenem Wege entstehe (Mirabeau, Rosinski,
Fromm e). A 1 b e c k hat sich sogar auf den Standpunkt
gestellt, daß die Infektion nicht erst in der Schwängerschaft
selbst erfolgen müsse, sondern derselben sehr oft voraus¬
gehe (ebenso Al bar ran, Legneu u. a.). Die übrigen
Autoren nahmen jedoch anscheinend an, daßi die Krank¬
heit zu irgendeiner Zeit der Schwangerschaft einsetze,
ohne noch direkt klinische Symptome zu machen ; durch
das Hinzutreten einer weiteren Schädlichkeit, als welche
z. B. die Stauung im Ureier infolge Kompression durch
den Uterus figuriert, kommt es erst zur Entwicklung der
akuten Pyelitis.
*
Ich habe bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen,
daß in der Flut der Literatur über die Pyelitis die Beob¬
achtungen G ö p p e r t s an Säuglingen übersehen worden
sind. Göppert hat uns gezeigt, daß das Krankheitsbild,
welches von Es che rieh, Trumpp u. a. als Zystitis
und nur ab und zu als Pyelitis der Kinder bezeichnet
worden ist, eine ausgesprochene Pyelozystitis zur Grund¬
lage hat. Die klinischen Symptome von seiten der Niere
sind sehr auffällig, während subjektive Blasensymptome
nur äußerst selten nachweisbar waren, trotz Miterkrankung
derselben. Blase und Ureteren faßt er beim Kinde als ein
zusammengehöriges und auch gemeinsam erkranktes System
auf; deshalb der Name Pyelozystitis.
Schon im frühen Säuglingsalter wird die Pyelozystitis
beobachtet, am häufigsten in der zweiten Hälfte des ersten
Lebensjahres; und zwar nach der Statistik Göp ports
etwa, 'zehnmal Iso oft, als das Lenhartz an seinem Material
für Erwachsene festgestellt hat. Ein großer Teil davon heilt
anscheinend aus ; aber 20 °/o dieser Pyelitiden
rezidi vieren noch in der späteren Kindheit,
u n d zwar selbst dan n, w e n n der II a r n in-
zwischen schon vollkommen normal g e w o r-
d e n war; und eine ganze Anzahl von Fällen
ist 'selbst nach achtjähriger Beobachtungs-
d auer nicht ausgeh eil t.
Interessant und für die Aufklärung der Aetiologie nicht
unwichtig ist die Tatsache, daß auch bei Göppert 89%
der Kranken weiblichen Geschlechts waren. Interessant ist
daneben noch die auch schon von Heubner, Biller usw.
betonte Tatsache, daß solche Pyelitiden besonders häufig
bei Kindern lauftreten, die eben erst eine (leichte Erkrankung
anderer Art, z. B. Masern oder Varizellen durchgemacht
haben. Bettruhe [des nur leicht erkrankten Kindes (begünstigt
also das Zustandekommen einer Pyelitis, Ich möchte daraus
den Schluß ziehen, daß die Masturbation, die wir ja bei
Kindern schon int frühesten Lebensalter sehen und speziell
auch in der Form der urethralen Onanie aus der reicher
Kasuistik von Fremdkörpern der Blase kennen, die ent
scheidende Rolle spielt, daß es also doch ein im wesenf
liehen aszendierender Prozeß ist. Doch ist diese Frage fü
uns schließlich von nebensächlicher Bedeutung.
Göppert spricht schon die ganz klar formuliert«
Vermutung aus, daß solche Fälle später bei Gelegenhei
von Menstruation, Schwangerschaft oder Wochenbett neuer
dings rezidivieren und dann als neue, primäre Erkrankung
imponieren können; letzteres um so mehr, als der Prozef
in der Kindheit keine subjektiven Symptome zu machet!
pflegt und deshalb auch meist unerkannt geblieben ist.
Ich schließe mich ihm darin vollständig an; und zwaj
nicht etwa nur für einzelne Fälle, für welche Opitz vo
sechs Jahren bereits die Möglichkeit einer schon vor de
Schwangerschaft bestandenen Infektion zugegeben ha.tl
sondern für alle die gewöhnlichen Fälle von sogenannte
Schwangerschaftspyelitis möchte ich diese ätiologische Auf
fassung vertreten. Das Häufigkeitsprozent dürfte damit un
gefähr übereinstimmen. Ein weiterer Umstand spricht nocl
in diesem Sinne. i
Die bakteriologische Untersuchung hat, wie schon erj
wähnt, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Koli eil
geben. Seltener sind Staphylokokken, Streptokokken
Proteus und andere Bakterien, noch seltener Gonokokken
Auch bei den Bakteriurien -wurde meist Koli gefunden. Nu:
hat Zöppritz gezeigt, daß das Bacterium coli durch de
Ham nicht weiter beeinflußt wird, daß es in demselbe;
ganz gut. wächst und sich vermehrt, während der Urin fü
andere Bakterien direkt bakterizide Eigenschaften besitz.
Damit ist eine experimentelle Stütze beigebracht für dij
Tatsache einer latenten Kolipyelonephritis, beziehungsweis
einer andauernden Bakteriurie. Die theoretisch erforderlich
Beweiskette ist geschlossen; wir sind für die Kolipyeliti
— sicherlich nicht für andere bakterielle Formen1 — berecl|
tigt, anzunehmen, daß die Krankheit schon in der Kindhej
einsetzen und nach einem langen Latenzstadium infolgj
irgend einer interkurrenten Schädlichkeit mit einem akute
Ynfall wieder zum Ausbruch kommen kann.
Als solche interkurrente Schädlichkeit — nicht all
primäre Ursache — müssen wir die prämenstruelle Bin
anschoppung im Becken ansehen; Lenhartz un
Scheidemantel haben uns gezeigt, daßi die Pyeliti::
attache zeitlich mit der Menstruation in Verbindung stehe
kann. Ja es scheint mir sehr plausibel und wird in Zuküß
beachtet werden müssen, daß die Blasenbeschwerden b(|
der Periode junger Mädchen auf derartige latente, nick
recht zum Ausbruch eines Anfalles kommende Pyelitide
zurückzuführen sind und daßi ebenso die mitunter im An
Schluß an Erkältung während der Periode auftretende
Pdasenkatarrhe nur neue Eruptionen der schon alten Kranlj
heit vorstellen. ; . ..T I
Die viel wichtigere interkurrente ' Schädlichkeit find
sich jedoch in der Schwangerschaft; aber eben nur a
interkurrente Schädlichkeit, die einen akuten Rückfall au:
löst, nicht als Ursache.
Die Pyelitis ist demnach keine spezifische Krankhe
der Schwangeren; der Name Pyelitis gravidarum ist streni
genommen, nicht richtig, man kann nur von einer Pyelit
in graviditate sprechen.
*
Den klinischen Beweis für die Annahme zu e|
bringen, ist nun freilich schwer, so lange wir nicht üb(|
eine Reihe von Krankheitsbildern vom Anfang bis zie
Ende verfügen. Wir müssen uns damit begnügen, Moment
aus der Anamnese ausfindig zu machen, welche die Aj
sich!, wenigstens stützen können.
Ich habe an anderer Stelle bereits eine Kranke’
geschichte in diesem Sinne kurz zergliedert. Dorf handel
es sich um eine Pyelonephritis mit akutem Anfall. Heu
bin ich in der Lage, über einen Fäll zu berichten, der a
latente Krankheit, ohne einein akuten Anfall aus'zulösei
zur Beobachtung gekommen war.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
701
Dio 30jährige Primigravida hatte ihre letzte Periode am
2(5. Juli 1910. Im Juli, zur Zeit der Periode, nur eine Viertel¬
stunde dauernde Blutung mit heftigen Schmerzen, angeblich in¬
folge von Erkältung. Es wurde damals eine Retro versio uteri
gefunden und der Schmerz damit erklärt. Im November oder
Dezember — genau weiß es die Patientin nicht mehr — - acht
Tage nach einem Trauma (dem die Patientin übrigens selbst
keine Bedeutung beilegt) in der rechten Nierengegend, sehr starker
Schmerz, so heftig, daß die Patientin heim Atmen behindert war.
Nach einigen Tagen Besserung. Im Februar 1911 langsam zu¬
nehmender Harndrang; der Ilarn zeitweise trüb. Seit ca. 5. März
häufiger ein Druckgefühl in der Niereng egenud rechts. Nie Fieber.
Die Untersuchung ergab Mitte März eine Schwangerschaft
von ca. 36 Wochen; zweite Kopflage, Kopf beweglich über dem
Bi'ckeneingang. -Zeichen von Rachitis. Der Harn diffus trüb:
Reaktion amphoter. Im Sediment mäßig viel Leukozyten, Platten-
rpithelien und vereinzelt runde Epithelion ; Stäbchen in mäßiger
Menge. Kein Eiweiß im filtrierten Harne.
Die Diagnose auf latente Pyelitis war aus diesem Bild
wohl unzweifelhaft sicher zu stellen.
Natürlich interessierte mich die Entstehungsgeschichte
derselben und ich erfuhr als Ergänzung zur Anamnese,
abgesehen von häufigen Anginen und einer von da aus
ausgehenden rechtsseitigen Drüsenaffektion und chronischen
Sehnenscheidenprozessen nicht tuberkulöser Natur : als
Mädchen hat Pat. dreimal Masern durchgemacht; außerdem
erinnert sie sich jedoch genau, in der Schulzeit einmal
drei Wochen lang wegen eines Darmkatarrhes im Bett ge¬
halten worden zu sein. Ferner gibt sie ganz bestimmt an,
daß sie hei der Periode regelmäßig heftigen Harndrang und
brennende und bohrende Schmerzen in der Scheide be¬
merkt habe. Das war alles. Ein richtiger Anfall konnte
nicht festgestellt werden. Ueber die erste Kindheit weiß
Pat. nichts anzugeben. Die Schmerzattacke im fünften oder
sechsten Monat der Schwangerschaft dürfte wohl ein akuter
Pyelitisanfall gewesen sein, der nur verhältnismäßig wenig
Allgemeinerscheinunigen machte, doch läßt sich nachträg¬
lich mangels jeder Temperaturmessung und sonstigen Be¬
obachtung etwas Bestimmtes nicht sagen.
Auch’ in Fdiesem Falle deuten die Erscheinungen ’darauf
hin, daß’ der Prozeß; schon seit Jahren in continue besteht.
Die heftigen Blasenbeschwerden jedesmal zur Zeit der
Periode sind mir ein wichtiges verdächtiges Moment. Ob
rlor Beginn der Krankheit in eine von den Masernattacken,
oder in die Krankheit des siebenten Lebensjahres, oder in
eine frühere Periode zu verlegen isU. — ich wage es nicht,
mich für das eine oder das andere mehr auszusprechen.
Wenn auch in den beiden bisher erbrachten Kranken¬
geschichten ein strikter Beweis für die Kontinuität, für
das Entstehen des Prozesses in der Jugend noch nicht er¬
bracht ist, so sind sie mir doch willkommen*? Stützen für
die Auffassung. Es handelt sich mir darum, die Aufmerk¬
samkeit auf diesen Punkt zu lenken, da ich selbst nicht im¬
stande wäre, in Kürze ein beweiskräftigeres Material zu
finden. Hoffentlich gelingt dies anderen in nicht zu langer
Zeit. Vielleicht ergeben sich aus der Vakzinebehandlung ‘in
dieser Richtung neue Gesichtspunkte.
*
Für die Therapie scheint mir die Tatsache des Vor¬
kommens einer latenten Pyelonephritis von gewissem Belang.
Zunächst die negative Seite.
Der Geburtshelfer ist im Allgemeinen gewohnt, bei
Vorhandensein geringer Eiweißmemgen im Harn sofort an
die Schwangerschaftsniere zu denken und dementsprechend
diätetische Vorschriften zu machen, unter Umständen auch
sein Vorgehen in der Geburt darnach einzurichten. Es
wird notwendig sein, in Zukunft der Unterscheidung
zwischen der Nephropathia g r a v i d a rum und einer
latenten Pyelonephritis mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
Denn die beiden erfordern eine verschiedene Beurteilung.
Eine andere Frage ist es, ob die latente Pyelonephritis
in der Schwangerschaft einer Behandlung unterzogen wer¬
den soll. Akute Attacken kommen nicht so selten vor. Wenn
man erwägt, daß sie immerhin das Allgemeinbefinden recht
arg beeinflussen, fdaß sie mitunter zu gefährlichen Zuständen
und — wenn auch selten — zum Tode geführt haben, daß
also die Prognose bis zu einem gewissen Grade nicht leicht
genommen werden darf, so wird sich eine interne Behand¬
lung mit Urotropin wohl in jedem Falle empfehlen. Zudem
wissen wir, daß das Urotropin sehr rasch günstige Wirkung
entfaltet; an eine wirkliche Heilung braucht man ja nicht
zu glauben.
An und für sich ist auch die Idee, daß man in zweifel¬
haften Fällen mittels einen eigenen Urotropi n ver¬
such es, also gewissermaßen ex juvanlibus zur Sicher¬
stellung der Diagnose nach der einen oder länderen Richtung
kommen kann, gar nicht von der Hand zu weisen. Rasche
Besserung des Harnbefundes würde entschieden gegen eine
Nephropathia gravidarum sprechen. In diesem Sinne möchte
ich den Urotropinversuch einer Prüfung empfehlen. *
Eine lokale Behandlung durch Nierenbeckenspülungen
halte ich jedoch in solchen latenten Fällen während der
Gravidität ebensowenig für indiziert wie im Beginn des
akuten Anfalles, der ja auch in der Schwangerschaft im all¬
gemeinen ganz typisch innerhalb einer Woche abzuklingen
pflegt. Erst wenn der Anfall länger dauert, oder die Er¬
scheinungen besonders schwer werden, kommt ein vor¬
sichtiger Ureterenkatheterismus und wenn dieser erfolglos
wäre, eine Spülung des Nierenbeckens in Befracht. Bei der
latenten Pyelitis wird eine lokale Behandlung besser erst
nach Ablauf des Wochenbettes einsetz en.
Literatur,
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Nr. 16. — Mirabeau, Monatsschrift f. Geb. u. Gyn. 1911, Bd. 33,
S. 193. Siehe auch Zentralblatt f. d. ges. Therapie 1910 u. Zentralblatt
f. Gyn. 1910, Nr. 13. — 0 p i t z, Die Pyelonephritis gravidarum et puer-
perarum. Zeitschrift f. Geb. u. Gyn. 1905, Bd. 55. - Rosinski, Pyelo¬
nephritis gravid. Nafurforscherversammlung Königsberg 1910. Ref. Münch,
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bei Frauen und ihre Beziehungen zur Menstruation. Deutsche med.
Wochenschr. 1908, Nr. 31. — Stoeckel, Zur Diagnose und Therapie
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Trumpp, Ueber Kolizystitis im Kindesalter. Jahrbuch f. Kinderheilk.,
N. F., Bd. 44, S. 268. — Völcker, Naturforscherversammlung Königs¬
berg 1910. — Z ö p p r i t z, Ueber bakterizide Eigenschaften des Vaginal-
sekretes und des Urins Schwangerer. Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. 1911.
Bd. 33, S. 276.
Aus dem pathol. -anatom. Institute der deutschen Uni¬
versität in Prag. (Vorstand: Prof. Dr. A. Ghon.)
Ueber die Behandlung der akuten Infektions¬
krankheiten mit Salvarsan.
Von Dr. Franz Luckscli, Assistenten am Institute.
Als im Sommer 1910 die glänzenden Erfolge bekannt
wurden, die bei Behandlung der Syphilis mit Ehrlichs
Präparat 606 erzielt worden waren, schlug ich im August
1910 dem Leiter der deutschen chirurgischen Klinik
(Priv.-Doz. Dr. Rubritius) vor, die Sepsisfälle ebenfalls
mit 606 zu behandeln. Maßgebend war dabei für mich die
Tatsache, daß, wie K r e i b i c h festgestellt hatte, bei der
Quecksilberschmierkur gegen Lues eine Erhöhung des bak-
702
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
teriziden Titres des Blutserums der Behandlung auch gegen¬
über anderen Bakterien slaLliindet. Lagen bei der Behandlung
mit Salvarsan ähnliche Verhältnisse vor, dann konnte man
hoffen, auch andere als Spirochätenerkrankungen mit dem
Mittel erfolgreich zu bekämpfen — akute Infektionskrank¬
heiten, bei denen Rezidive meist ausgeschlossen sind, um so
erfolgreicher.
Nach Freigabe des Salvarsans in den Handel ging ich
sofort daran, die Wirkung des Salvarsans auf 'verschiedene
pathogene Bakterien im Tierkörper und im Reagenzglas
zu prüfen.
Hier soll heute zunächst nur über die bis¬
herigen Versuche mit pathogenen Kokken be¬
richtetwerden.
I. Reagenzglasversuche.
Art des
Kokkus
Dauer der
Einwirkung
des
Salvarsans
Konzentration des Salvarsans
Kontrolle
0-2%
04%
0-05%
Streptococcus
pyogenes
Streptococcus
mucosus
20 Stund.
o
0
Wachstum
- - -
Wachstum
24 Stund.
0
0
0
Wachstum
Meningococc.
in traced.
6 Stund.
0
0
0
Wachstum
Diplococcus
lanceolat.,
Stamm I
20 Stund.
Wachstum
Wachstum
Wachstum
Wachstum
Dipl, lanc.,
Stamm II
20 Stund.
0
0
0
Wachstum
1
Staphylococc.
pyogenes,
Stamm I \
» II /
24 Stund.
Wachstum
Wachstum
Wachstum
Wachstum
Es zeigte sich also schon in den Reagenzglasver¬
suchen eine verschiedene Einwirkung des Salvarsans auf die
einzelnen Kokkenarten; einige wurden abgetötet, andere
nicht. Von den zwei Stämmen des Diplococcus lanceolatus
erwies sich der zweite, der durch Salvarsan abgetötet wurde,
für Kaninchen nicht virulent. Bei den Staphylokokken,
war allerdings zu beobachten, daß das Wachstum der mit
Salvarsan behandelten Kulturen gegenüber den Kontrollkul-
turen sehr verzögert war, so daß das der letzteren schon
nach sechs Stunden, das der ersteren erst nach 24 Stunden
voll entwickelt war.
II. Tierexperimente,
a) Streptococcus pyogenes. (Tabelle 1.)
Tabelle 1.
Versuch I
Zeit
31. /XII.
8 Uhr a. m.
Kaninchen, grau,
1720 g
Kaninchen, grau,
mit Knopf, 1885 g
je 1 Bouillonkultur Streptokokken,
Stamm Jaksch, intraperitoneal
5 Uhr p. m.
001 Salvarsan
1-/I-
lebt
t
2./I.
lebt
3./I.
f
Versuch 11
17. /I.
Kaninchen,
grau,
1370 g
Kaninchen,
grau,
1370 g
Kaninchen,
weiß,
1370 g
8 Uhr a. m.
je 7 5 cm3 Bouillonkultur Streptokokken,
Stamm Hoisik, intraperitoneal
11 Uhr a- m.
001 Salvars.
001 Salvars.
6 Uhr p. m.
lebt
lebt
t
18./I.
8 Uhr a. m.
t
f
Versuch III
26. /I.
4 Uhr p. m.
Kaninchen,
gelb,
1240 g
Kaninchen,
schwarzweiß,
1240 g
Kaninchen,
gelbweiß,
1240 g
je 7 cm3 Bouillonkultur Streptokokken,
Stamm Epstein, intraperitoneal
5 Ühr p. m.
001 Salvars.
27. /I.
lebt
lebt
lebt
28./I.
lebt
t
f
30./I.
lebt
3./II.
t
Versuch IV
27./I.
Kaninchen,
grau,
1130 g
Kaninchen,
weißgrau,
1130 g
Kaninchen,
schwarz,
1170 g
9 Uhr a. m.
je 15 cm3 Bouillonkultur,
Stamm Epstein, intraperitoneal
11 Uhr a. m.
0 01 Salvars.
28./I.
lebt
t
t
29./I.
lebt
4./II.
t
Versuch V
27./!.
Kaninchen,
gelbgrau,
1230 g
Kaninchen,
grau,
1230 g
Kaninchen,
gelbweiß,
1220 g
9 Uhr a. m.
je 20 cm3 Bouillonkultur Streptokokken,
Stamm Klima, intraperitoneal
11 Uhr a. m.
001 Salvars.
28./I.
lebt
lebt
t
29. /I.
f
lebt
lebt dauernd
I
Versuch VI
30. /I.
Kaninchen,
schwarzweiß,
1420 g
Kaninchen,
gelbgrau,
1400 g
Kaninchen, !
schwarz,
1370 g
1 1 Uhr a. m.
je 20 cm3 Serumbouillon,
Stamm Epstein II, intraperitoneal
11 Uhr a. m.
0 015 Salvars.
31. /I.
t
lebt
f
lebt dauernd
Versuch VII
31. /I.
Kaninchen,
1230 g
gelb,
Kaninchen, grau,
1220 g
3 Uhr p. m.
je 20 cm3 Serumbouillon,
Stamm Epstein II, intraperitoneal
5 Uhr p. m.
001 Salvarsan
l./II.
8 Uhr a. m.
lebt
t
l./II.
4 Uhr p. m.
getötet,
Peritoneum glatt
ohne Exsudat.
Kultur : steril
Abdomen aufgetrieb.
Reichliches Exsudat.
Kultur: Streptococcus
und Bact. coli
Versuch VIII
4. /II.
Kaninchen, weißgr.,
1300 g
Kaninchen, weißgrau,
1300 g
9 Uhr a. m.
je 25 cm3 Serumbouilion,
Stamm Epstein II, intraperitoneal
11 */a Uhr a. m.
0012 Salvarsan
5 Uhr p. m.
lebt
t
10 Uhr p. m.
t
Versuch IX
4. /II.
Kaninchen, grau,
1250 g
Kaninchen, schwarz¬
weiß, 1250 g
9 Uhr a. m.
je 23 cm3 Serumbouillon,
Stamm Epstein II, intraperitoneal
IR/aUhr a.m.
001 Salvarsan
I
10 Uhr p. m.
lebt
t
5. /II.
12 Uhr m.
lebt,
getötet.
Im Periton. wenig
Flocken. Kultur:
wenig Streptokokken
in Reinkultur
Peritonitis.
Kultur:
Streptokokken rein,
sehr reichlich
Uas Salvarsan wurde stets intravenös gegeben und erhielt
ich dasselbe in gelöstem Zustande von der Klinik Prof. Krei-
bich, wofür ich auch hier meinen Dank ausspreche.
Es kann demnach bei den Streptokokkenversuchen konsta
tiert werden, daß die intravenöse Behandlung mit Salvarsan
'tie tödliche Infektion entweder ganz aufhebt, oder wenigstens
den Tod der Versuchstiere um ein Bedeutendes verzögert, ln
günstigen Fällen wird die Bauchhöhle des Salvarsan tieres schon
nach 24 Stunden steril gefunden. Diese Befunde ergeben sich
mit Streptokokken verschiedenster Provenienz.
b) Diplococcus lanceolatus.
Die mit Pneumokokken (Stamm I) tödlich infizierten Tiere
konnten durch Salvarsan Behandlung bis jetzt nicht am Leben
erhalten werden.
c) Staphylococcus pyogenes.
Bei den Staphylokokkenversuchen im Tierkörper zeigte sich
also dasselbe Verhalten wie bei Streptokokken, trotzdem die
Staphylokokken in vitro nicht abgetötet, sondern nur in ihrem
Wachstum gehemmt worden waren.
Danach läßt, sich also die Wirkung des Salvarsans
gegenüber den angeführten Bakterien als eine dieselben
direkt abtötende auffassen, oder aber wie bei den Staphylo-
Nr 20
WIENER KLINISCHE
Tabelle II.
Versuch I
Versuch II
Versuch III
Versuch IV
Versuch V
1 7. /III.
Kaninchen, weißgelb
1030 g
Kaninchen, weißgrau
1020 g
8 llhr a. m
je 2'/2cm3 Agar-Kultur Staphylok. I,
intraperitoneal
12 Uhr m.
0'01 Salvarsan
-J8./I1I.
lebt
lebt
23 /UL
t
Peritonitis.
Kultur: steril
lebt,
getötet,
Peritoneum glatt bis
auf eine Flocke.
Kultur: steril
19. /III.
Kaninchen, schwarz,
900 g
Kaninchen, schwarz,
900 g
9 Uhr a. m.
je 5 cm3 Agar-Kultur Staphylok. 1.
intraperitoneal
10 Uhr a. m.
0 008 Salvarsan
21 ./III.
lebt,
getötet,
Peritoneum glatt.
Kultur: steril
J-
1
Peritonitis.
Kultur: Staphylok.
und Ract. coli
21. /Ul.
8 Uhr a. m.
Kaninchen,
grauweiß,
900 g
1 Kaninchen,
schwarz,
900 g
1 Kaninchen,
schwarzweiß,
900 g
je 5 cm3 Agar-Kultur Staphylok. II,
intraperitoneal
1 1 Uhr a. m.
001 Salvars.
1
4 Uhr p. m.
f Peritonitis
lebt
lebt
22. /III.
Kultur:
Staphylok.
reichlich
in Reinkultur
lebt,
getötet.
Im Periton.
weißl. Flecken
Kultur: wenig
Staphylok.
in Reinkultur
t
hämorrhag.
Peritonitis.
Kultur: reich!
1 Staphylok.
und Bact. coli
23. /III.
Kaninchen,
weißschwarz,
1000 g
Kaninchen,
schwarz,
1000 g
Kaninchen,
schwarzweiß,
1000 g
8 Uhr a. m.
je 5 cm3 Agar-Kultur Staphylok. 11,
intraperitoneal
12 Uhr m.
0'008 Salvars.
24./IU.
lebt
t
f
getötet 27./III.
Peritoneum
glatt.
Kultur: steril
Peritonitis.
Kultur :
Staphylok.
rein
Peritonitis.
Kultur:
Staphylok.
rein
24. III.
10 Uhr a. m.
Kaninchen,
weiß,
900 g
Kaninchen,
weißschwarz,
900 g
Kaninchen,
schwarz,
900 g
je 5 cm3 Agar-Kultur Staphylok. 11,
intraperitoneal
11 Uhr a. m.
I
001 Salvars.
25. /III.
f Peritonitis
lebt
lebt
26. /III.
Kultur:
Staphylok.
rein
lebt
t
getötet,
Peritoneum
glatt
Kultur: steril
Peritonitis.
eitrig.
Kultur:
Staphylok.
rein
kokken als eine das Wachstum derselben hemmende; (lurch
diesen letzteren Umstand wird der tierische Organismus
bi den Stand gesetzt, mit Hilfe seiner natürlichen Scliutz-
niittel sich der Infektion zu erwehren. Dabei ist es inter¬
essant, daß es bisher nicht gelungen ist, Kaninchen, die
mit Diplococcus lanceolatus tödlich infiziert worden waren,
durch Salvarsan zu heilen, daßi also auch im Tierversuche
das Salvarsan sich gegenüber verschiedenen Kokkenarien
verschieden verhält.
Nach diesen Erfolgen bei den experimentellen Unter¬
suchungen glaubte ich mich berechtigt, nunmehr die Herren
Kliniker auffordern zu dürfen, auch Behänd lungsversuche
am Menschen zu beginnen.
Es wurden auch bereits auf der deutschen chirur¬
gischen Klinik (Leiter: Priv.-Doz. Dr. Rubritius) fünf
alle behandelt. Einer betraf eine 44jährige Frau mit
jauchiger Periproktitis und jauchiger Bauchdecken-
WOCHENSCHR1FT. 1911.
703
phlegm one, also mit einer Mischinfektion, bei der das Mittel
in ultimis angewendet wurde — hier blieb es ohne Er-
uj g. Ein zweiter Fall betraf eine Osteomyelitis des
Femurs mit jauchiger Phlegmone und Gonitis » bei diesem
alle trat, trotzdem auch hier in ultimis injiziert wurde,
eine auffallende Besserung ein, das Fieber sank lytisch
ab, das Bewußtsein kehrte zurück, septische Flecken ver¬
schwanden, die trockene Zunge wurde wieder feucht. Der
.vranke erlag aber dann später einer Allgemeininfektion
durch andere Mikroorganismen aus der Jauchung.
Drei Fälle von eitriger Phlegmone wur-
(ien sehr gutem Erfolge behandelt, das
Fieber fiel nach der Injektion lytisch ab und die Bewegungs-
fähigkeit der betreffenden Glieder kehrte in sehr befriedi-
gender Weise zurück, ln allen diesen Fällen wurde nur
ü-3 Salvarsan intravenös injiziert. Die ausführliche Publi¬
kation aller dieser Fälle wird aus der deutschen chirur¬
gischen Klinik erfolgen.
ß i e oben angeführten E x p e r i m eilte im
v e i e i n mit den bereits gemachte n, w e n n auch
noch wenig zahlreichen, klinischen E r f a h-
rungen ermutigen also zu der Hoffnung, daß
w i r im Salvarsan ein Mittel besitze n, m it de m
vermutlich ''auch Streptokokken- und Sta-
p h y 1 o k o k k e n e r k r a n k u n g e n erfolgreich h e-
h a n d e 1 1 werden k ö n n e n.
Die experimentellen und klinischen Versuche werden
foi (gesetzt und sind insbesondere die experimentellen
Untersuchungen über die Wirkungen des Salvarsans auf
pathogene Bazillen und Vibrionen bereits im Gange.
Aus dem pharmakologischen Institute der k. k. Uni¬
versität Wien.
Tierversuche über Hautreaktion.
Von Dr. Friedrich Luithleu.
In dieser Arbeit wurde der Versuch gemacht, das
Fierexperimenl in der Dermatologie in weiterem Ausmaße
als bisher (zur Lösung klinischer Fragen zu verwerten.
F)ei ((rund, warum dasselbe nur vereinzelt angewendet
wurde, liegt in der Schwierigkeit der Wahl des Versuchs¬
tieres und der Technik. Die meisten Untersuchungen wur¬
den bisher am Kaninchen ausgeführt, obwohl dieses das
am wenigsten geeignete Versuchsobjekt ist. Na,ch der Arbeit
eines Jahres in dieser Richtung kann ich meine Erfah¬
rungen in folgendem zusammenfassen.
Am besten eignen sich von den mir zur Verfügung
stehenden. Tieren Katzen, in zweiter Linie Hunde zu der¬
matologischen Untersuchungen. Die Haut der Katze ist em¬
pfindlicher, zeigt stärkere Reaktion.
Bei der Auswahl des Versuchstieres ist es das Wich¬
tigste, nur junge Tiere zu nehmen, da nur diese eine ge¬
nügende Empfindlichkeit der Haut aufweisen, damit man
mit schwach entzündungerregenden Substanzen arbeiten
kann.
In zweiter Linie wählt man besser lichte, weißhaarige
Tiere als dunkle; einerseits sieht man auf der hellen Haut
die Anfansstadien der Entzündung, sowie geringe Grade
derselben besser als auf pigmentierter Haut, andrerseits
ist diese auch gegen die in Verwendung kommenden chemi¬
schen Agenden weniger empfindlich. Die Entfernung der
Haare geschieht am besten durch Rasieren in der Narkose,
da sonst Verletzungen fast unvermeidlich sind; nach dem
Basieren soll die Haut 24 Stunden in Ruhe gelassen wer¬
den, damit die nach der mechanischen Reizung durch das
Rasieren bestehende Empfindlichkeit nicht zu falschen Re¬
sultaten führt.
Entfernen der Haare durch EpilationsmitJel reizt zu
stark; Epilieren derselben mit der Pinzette ist nur am Ohre
am Platze, bei größerer Ausdehnung des Versuchsfeldes
nicht möglich..
704
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Am besten -stellt man die Versuche am Rücken der
Tiere an, da an diesen Stellen die Mittel am wenigsten weg-
gewischt. oder gerieben werden können. Auch hiebei sind
Katzen besser zu verwenden als Hunde, da letztere sich
wälzen, wenn sie mit einer die Haut reizenden Substanz
gepinselt werden. Meist muß man dem Tiere einen Maul¬
korb geben, um das Ablecken zu verhindern.
Um Schlüsse aus den Befunden ziehen zu können,
muß man jeden Versuch an einem Tiere durchführen;
dies ergibt sich schon aus den früheren Ausführungen be¬
züglich Alter und Färbung der Tiere. Ist dies nicht möglich,
so ist außer diesen Momenten noch auf gleiche Fütterung
zu achten, wie sich aus später anzuführenden Gründen er¬
gibt. Zu vergleichenden Untersuchungen soll man gleich¬
artige Hautpartien verwenden, so daß man zuerst die
Rückenhaut auf der einen Seite und dann beim weiteren
Versuche die korrespondierenden Stellen der anderen Seile
untersucht. Dies bedingt zwar eine Einschränkung des Ver¬
suchsfeldes, man kann aber nur in dieser Art gleichwertige
Befunde erzielen.
Die Anwendung der Medikamente, Irritantien, muß
mit möglichst wenig mechanischer Reibung erfolgen. Die
von S te i n bei seinen Untersuchungen über Hautgewöhnung
angegebene Methode, die Medikamente mit einem „flachen
Glasstäbchen ohne irgendwelchen Druck“ durch eine Mi¬
nute in die Haut (in seinen Fällen Kaninchenohr) einzu¬
reiben, hat sich bei im einen Untersuchungen nicht als zweck¬
mäßig erwiesen. Vermeidung jeden Druckes bei Einreiben
mit einem Glasstabe ist nicht leicht möglich ; daher bleibt
es dem Empfinden überlassen, wie stark der Druck aus¬
geübt wird. Außerdem ist Einreibung durch eine Minute
eine sehr lange Einwirkung, wobei es unter Umständen
auch zur Trennung von Medikament und Vehikel kommt. Ich
führe diese Einwendungen an, ohne die Resultate der Ar¬
beit von Stein anzuzweifeln ; ich habe aus diesen Grün¬
den, um die mechanische Reizung zu vermeiden nder wenig¬
stens gleichmäßig zu gestalten, die Medikamente stets nur
mit einem Wattepinsel ganz leicht und kurz eingepinselt.
*
Arbeitet man unter diesen Kautelen, dann erreicht
man gleichartige Resultate. Wenn auch die Haut der Tiere
verschieden von der des Menschen ist, so bestehen doch
in den pathologischen Veränderungen große Aehnlichkeiten,
und man erhält oft außerordentlich ähnliche, wenn nicht
gleiche Befunde.
I *
Ich habe das experimentelle Arbeiten am Tiere unter¬
nommen, um mir Klarheit über die Frage zu verschaffen,
ob die Haut bei geändertem Chemismus des ^Organismus, sei
es durch Ernährung, Einführung von Medikamenten, Er¬
krankungen oder Schädigungen eine gegen die Norm ge¬
änderte Empfindlichkeit gegen äußere Reize aufweise.
Kurz, um die Ekzemfrage experimentell anzugehen.
Ekze m ist meiner Ansicht nach Dermatitis an be¬
sonders disponiertem Individuum, d. h. ein solches Indi¬
viduum reagiert auf äußere Reize mit stärkeren 'oder anders
gearteten Erscheinungen der Haut, oder es treten bei dem¬
selben auf Schädigungen Erscheinungen der Haut auf, die
bei anderen Personen, bei normalem Zustande des Organis¬
mus keine Veränderungen hervorrufen.
Dies nur kurz, um meine Versuchsanordnung zu er¬
klären.
Die Tiere wurden meist in Narkose rasiert; 24 Stunden
später wurde die Reaktion der Haut im normalen Zustande
durch Einpinseln der reizenden Substanzen geprüft. Als
solche wurden meist Crotonöl rpur und in Verdünnungen 1 : 5,
1:10, 1:30, 1:50 mit Oleum olivarum, sowie Terpentin
Kampfer (10%) verwendet, ln den nächsten Tagen wurde die
Reaktion beobachtet und notiert; nach Ablauf der Erschei¬
nungen, meist drei bis sechs Tagen, wurde mit der
Behandlung des Tieres begonnen, um dann, nach ver¬
schieden langer Zeit, die Reaktion der Haut .wieder zu pro¬
bieren. Dabei wurde das Körpergewicht kontrolliert, die Er¬
nährung blieb bis auf die Ernährungsversuche die gleiche.
Von den zahlreichen gleichmäßig verlaufenen Ver¬
suchen werde ich von jeder Gruppe nur einige Beispiele
anführen.
In der ersten Versuchsreihe habe ich den Tieren
n/10 HCl — 0-365% HCl gegeben.
*
Gelbweiße Katze. Körpergewicht 3450 g.
5. Juni 1910: Rücken rasiert.
6. Juni 1910: Rechts gepinselt an verschiedenen Stellen
mit Croton pur, 1:5, 1:10, 1:30 und Terpentin -Kampfer.
7. Juni 1910: Croton pur: Blutungen, der Haut, am Rande
des Herdes Blasen; Croton 1:5: Rötung, Schwellung, Blasen¬
bildung ; Croton 1:10: Rötung der Haut, kein,© Blasen ; Croton
1:30 und Terpentin - Kampfer : keine Veränderung.
8. Juni 1910: Bei den starken Lösungen Blasen, Nässen.
Krusten- und Borkenbildung. Croton 1:10: vereinzelte Bläschen
auf geröteter Haut; Croton 1:30 und Terpentin- Kampfer : keine j
Veränderung.
Das Tier erhält vom 9. Juni bis 14. Juni 490 g 0-4%ige
Salzsäure ; Gewichtsabnahme auf 3150 g. Wird links an korre- j
spondierenden Stellen mit Croton 1:30 und Terpentin- Kampfer
gepinselt.
15. Juni 1910: Croton 1:30: Bläschenbilduirg ; Terpentin-'
Kampfer nur Schwellung.
16. Juni 1910: Croton 1:30: Reichlich Bläschenbildung;
Terpentin - Kampfer, ebenso Bläschen.
Das Tier zeigte nach Zuführung von 490 g 0-4%iger j
Salzsäure auf Lösungen, die im normalen Zustande keine
Entzündung bewirkten, erhöhte Reaktion, es entwickelten
sich ebenso Bläschen wie früher nur bei stärkeren Lö- j
sungen.
♦
Weiße Katze, gelb -grauer Kopf. Körpergewicht 2400 g.
2. März 1911: Rücken rasiert.
3. März 1911: Rechte Rückenhälfte gepinselt mit Croton
1:10, 1:30, 1 : 50 und Terpentin - Kampfer.
4. März 1911: Nur bei Croton 1:10; Schwellung; an an¬
deren Stellen keine Veränderung.
6. März 1911: Ebenso.
Das Tier erhält vom 10. März bis 20. März 1911 850 cta3
n/10 HCT, in den ersten vier Tagen nur je 50 c’m3.
20. März 1911: Links gepinselt mit Croton 1:10, 1:30,
1 : 50, Terpentin - Kampfer.
21. März 1911: An allen Stellen Schwellung; 200cm3
n/10 HCl.
22. März 1911: Bei Croton 1:10 und 1:30 auf geröteter
Haut diffuse Bläschenbildung, ebenso bei Terpentin- Kampfer,
Bläschen. Die Hautveränderung bietet das Bild eines Eczema]
vesiculosum..
Das Tier hat an Körpergewicht nicht abgenommen.
*
Die Tiere zeigen bei Salzsäurevergiftung eine erhöhte]
Reaktion der Haut; dies ist eine regelmäßige Erscheinung;
bei zahlreichen, seit einem Jahre angestellten Versuchen,
längt man mit kleinen Dosen an, so braucht das Tier auch
nicht an Körpergewicht zu verlieren, zeigt trotzdem die
Erhöhung der Reaktion.
'Prüfung der Haut nach geringer Salzsäurezufuhr ergibt
keine oder geringe Steigerung der Hautempfindlichkeit, die
erst mit weiterer Salzsäurezufuhr steigt.
In der zweiten Versuchsreihe habe ich die Tiere miij
oxalsaurem Natron behandelt.
* i *
Weiße Katze. Körpergewicht 2500 g.
19. Mai 1910 : Rasiert.
20. Mai 1910: Wird mit Croton pur, Croton 1:10 und
Terpentin - Kampfer gepinselt.
21. Mai 1910: Croton pur: Haut von Blutungen durch
setzt, mit Bla,senkranz herum; Croton 1:10: leichte Rötung, keim
Blasen; Terpentin - Kampfer : kaum merkbare Verfärbung der Haut
Erhält vom 29. Mai bis 31. Mai cm3 3%iges neutrale?
oxalsaures Natron subkutan.
31. Mai 1911: Nachmittags gepinselt.. Körpergewicht 2200 g
1. Juni 1911: Croton pur: Starke Blutung in der Haut,
am Rande Blasen; Croton 1:10: starke Schwellung, Oedenr:
Terpentin - Kampfer : reichliche Blasenbildung.
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Weiße Katze. Körpergewicht 3450 g.
4. Dezember 1910: Rasiert.
5. Dezember 1910 : Gepinselt mit Croton 1:5, 1:10 1 • '!()
1 : 50, T erpentin - Kampfer.
6. Dezember 1910: Croton 1:5 und. 1:10: Haut gerötet-
sonst nichts.
7. Dezember 1911: Bei Croton 1:5 Haut gerötet, einzelne
Bläschen.
9. Dezember 1911: Croton 1:5: Haut gerötet, einzelne
Krusten und Borken tragend; Croton 1:10: gerötet, vereinzelte
kleine Bläschen; Croton 1:30, 1:50, Terpentin - Kampfer : nichts-
9 cm3 oxalsaures Natron subkutan.
Darauf auf Croton 1 : 10 starke Schwellung und Blasen¬
bildung, auf Croton 1:30 Rötung und Blasen, auf Croton 1:50
vereinzelte Bläschen.
Körpergewicht 2850 g.
Zufuhr von oxalsaurem Natron in Form subkutaner
Injektion bewirkt eine Steigerung der Exsudation.
*
Anschließend hieran will ich die dritte Versuchsreihe
besprechen, bei welcher ich den Tieren CaCl2 injizierte.
*
Weiße Katze. Körpergewicht 2100 g.
2. Juni 1910: Rücken rasiert.
3. Juni: Gepinselt mit Croton pur 1:5, 1:10, 1:30, Ter¬
pentin - Kampfer.
4. Juni 1910. Croton pur: Blutungen, am Rande Blasen¬
bildung; Croton 1:5: Blasenbildung, Nässen; Croton 1:10: Bläs¬
chenbildung ; Croton 1 : 30 : vereinzelte Bläschen ; Terpentin-
Kampfer: vereinzelte kleinste Bläschen.
Erhält am 6., 7. Und 8. Juni 1910 zusammen 16 ein3 8 "edges
Calciumchlorid subkutan.
7. Juni 1910: Gepinselt mit denselben Lösungen; Croton
Pur: Blutung entwickelt, aber keine Blasen; bei allen anderen
Lösungen keine Blasen, kein Nässen.
Am zweiten Tage einzelne Krusten bei Croton 1:5, bei
Terpentin -Kampfer leichte Abschuppung.
Zufuhr von Kalziumchlorid setzt also die Exsudation
der Haut herab. Dieser Befund, daß an mit, Kalk ange¬
reicherten Tieren exsudative Dermatiticlen weniger leicht
zu erzeugen sind, wurde auch bereits von dem Vorstande
des Institutes, Herrn Geheimrat H. H. Meyer, am Kongreß
in London im Vortrage erwähnt; auch schließen sich meine
Befunde in dieser Versuchsreihe an die Untersuchungen von
Chiar i und Januschke an, welche dieselben Erschei¬
nungen für Entzündungen der Konjunktiva und Pleura aiach-
wiesen.
Als vierte Versuchsreihe habe ich Untersuchungen an
Tieren mit verschiedener Ernährung anzuführen.
\om 17. Oktober 1910 bis 9. November 1910 wurden
.je drei Kaninchen hei Hafer und je drei Kaninchen bei
Grünfutter gehalten.
Bei der Prüfung ergab sich, daß die mit Hafer gefüt¬
terten Tiere bei Pinselung mit den bekannten Lösungen
weit stärkere Reaktion zeigten als die Grünfuttertiere: wäh¬
rend bei den Hafertieren die mit Croton 1:5 und Terpentin-
Kampfer gepinselten Stellen gerötet, ja geschwollen waren,
trat bei den Grünfuttertieren keine entzündliche Verände¬
rung auf. Dieser Befund allein bedeutet nicht so viel, da er
un verschiedenen Tieren gemacht wurde; Bedeutung erlangt
er nur dadurch, daß der Versuch, auf Grund zahlreicher
binzelbeobachtungen angestellt, einsinnig ausfiel, sowie daß
er eine ganze Gruppe Von Tieren umfaßte. Die Umstimmung
Ones Tieres von einer Fütterung auf die andere, welche Ver-
Huchsanordnung sicher vorzuziehen wäre, braucht längere
^eit und birgt dadurch andere Fehlerquellen in sich.
Zum Schlüsse noch einiges über das klinische Bibi
der Säurevergiftung am Tiere.
Bei jeder Säuerung bekommt die Haut eine -eigenartige
bläuliche Verfärbung, wird eigentümlich transparent, so daß
man bei einiger Uebung, der mir assistierende Präparator
kennt es, weiß, wenn genug Säure gegeben wurde, um
die Reaktionssteigerung zu erreichen.
Gibt man längere Zeit Salzsäure, so tritt ein eigen¬
artiges Bild auf; die Haare wachsen sehr langsam und
schwach nach, das Fell verliert den Glanz, das Tier wird
schäbig, räudig,- es bietet alle Erscheinungen des chronischen
Ekzems dar. >
So habe ich einem alten Kater (3750 g Körpergewicht)
vom 4. bis 23. November 1910 1200 cm3 0-4%ige Salz-
saure gegeben, bis Steigerung der Reaktion auftrat. Körper¬
gewichtszunahme auf 4000 g. Erst bei weiterer Steigerung
nnn Salpäurezufuhr, noch 300 cm3 04%iger Salzsäure und
. 01 ein 0-8 Anger Salzsäure, trat starke Reaktionserhöhung
der Haut, bei einem Körpergewicht von 3800 g, ein.
Seit 8. Dezember 1910 hat das Tier keine Säure mehr
bekommen; demselben sind heute die Haare noch nicht
vollständig nachgewachsen, es bietet heute noch das Bild des
chronischen Ekzems nicht nur an den gepinselten Stellen.
Diese Beobachtung weist darauf hin, daß es sich um
dauernde Schädigungen der Haut als solche handelt.
*
Zusammengefaßit bieten meine Untersuchungen folgen¬
des Resultat: |
Trotz der Verschiedenheit der menschlichen von der
tierischen Haut kann man auch in der Dermatologie experi¬
mentell am Tiere arbeiten.
Die Hautreaktion ist abhängig vom Chemismus des
Organismus.
Sowohl Säuerung, als Zufuhr von oxalsaurem Natron
erhöhen die Reaktionsfähigkeit der Haut, während Kalk-
anreicherung die entzündlichen exsudativen Vorgänge herab¬
setzt. Auch verschiedene Ernährung ändert die Empfindlich¬
keit der Haut gegen äußere Reize.
Die Ursachen all dieser Erscheinungen dürften auf
einer Vermehrung der Ausscheidung der Alkalien beruhen;
bei der Ernährung dürfte auch die verschiedene Zufuhr von
Kalk eine Rolle spielen. Die Ursache der 'erhöhten Reaktion
liegt in einer Veränderung 'der Haut, welche bei chronischem
Verlaufe zu einer dauernden wird.
Die Begründung für diese Auffassung werde ich in einer
demnächst erscheinenden Arbeit bringen.
Aus der I. Universitäts-Frauenklinik in Wien.
(Vorstand: Hofrat Schauta.)
Zur Pathologie und Klinik des malignen Chorio-
epithelioms.
Von Priv.-Doz. Dr. F. Hitschmami und Dr. Robert Cristofoletti.
(Schluß.)
III. i
Der anatomische Bau des malignen Chorioepithelioms
bringt es, wie wiederholt betont wurde, mit sich, daß die
Prädisposition zur Metastasenbildung immer gegeben ist.
Die Metastasierung selbst zeigt aber die größten Diffe¬
renzen. Bei den nicht operierten Fällen erfolgt sie spät und
spärlich. Bei den operierten Fällen bleibt sie einmal ganz
aus, einmal kommen die Metastasen spät und ein anderes
Mal wird der ganze Organismus mit Geschwulstelementen
geradezu ü be r sc h w emm t .
Da aber die Prädisposition, wie gesagt, immer vor¬
handen ist, ein Insult bei der vorzugsweise geübten va¬
ginalen -Operation immer besteht, so entsteht die Frage-,
warum nicht jedesmal eine Uebersehwemmung des Orga¬
nismus mit Geschwulstteilchen stattfindet. Es muß also
noch ein bestimmter Grund, eine bestimmte mechanische
Ursache vorhanden sein, um dieses verschiedene Verhalten
zu erklären.
Dies veranlaßte uns, erhöhte Aufmerksamkeit den
Iransportwegen, speziell den Beckenvenen, zu schenken.
Es ist ganz klar, daß eine Erkrankung der
parametranen, respektive spermatikalen
Venen von größter Bedeutung für die Ent¬
stehung der Me tastasen sein m ti ß t e.
Schon bei den ersten flüchtigen Studien der Obduk¬
tionsbefunde fiel uns auf, daß die Thrombose der Becken¬
venen häufig angegeben wird ; in einem Teile der Fälle
706
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
finden wir die direkte Angabe, daß es sich um Geschwulst¬
thromben handle, während in anderen] Fällen keine Notiz
auf diesen Zusammenhang hindeutete, wohl ein Zeichen,
welch geringen Wert die Autoren auf diese Tatsache legten.
Uns schien dies von großer Bedeutung und veranlaßite
uns, dieser Frage nachzugehen. Daß es sich um keine
zufälligen Befunde handle, dafür sprach der uns vom Pla¬
zentarinfekt her bekannte Zusammenhang zwischen fölalen
Zellen und Thrombose, dafür sprach auch das auffallend
häufige Vorkommen der Beckenvenenthrombosen.
Den ersten Anhaltspunkt fanden wir in Marchands
zweiter Arbeit; in seinen beiden Fällen waren die para¬
metranen Venen von Tumormassen ergriffen, mächtig aus¬
gedehnt und thrombosiert. March and geht von der Vor¬
stellung aus, daß schon unter normalen Verhältnissen die
von den Zollenden auf die Decidua basalis übergehenden
fötalen Zellwucherungen geradezu als physiologische Funk¬
tion gerinnungserregende Eigenschaften, besitzen, wodurch
sie gewissermaßen den Kitt bilden, welcher die Zotten so
innig mit der Decidua basalis vereinigt! In seinem ersten
Falle konnte M a r c h a n d die Entstehung hämorrhagischer
Ihrombusartiger Gerinnungsmassen im Anschlüsse an die
Zellinvasion verfolgen, welche in exquisiter Weise auf das
wuchernde Epithel noch vorhandener Zottenreste zurück¬
zuführen war. Eine geradezu enorme Ausdehnung erlangte
der Prozeß im zweiten Falle Marcha n d s.
Wenn wir auch mit March and nicht eines Sinnes
sind, daß den fötalen Zellen geradezu als physiologische
Funktion gerinnungserregende Eigenschaften zukommöm so
war uns die Tatsache, daß in seinen beiden Fällen die
parametranen Venen unter dem Bilde einer Thrombose vom
Tumor ergriffen waren, von großem Werte.
Was das Verhalten der fötalen Zellen zur Blutgerin¬
nung betrifft, so haben Hitschma n n und L i n d e n t h a 1
schon vor Jahren gezeigt, daß dem Zottenepithel, (nicht
wie March and glaubt, eine Gerinnung fördernde, son¬
dern im Gegenteil eine Blutgerinnung hemmende Eigen¬
schaft zukommt. Das lehrt die Betrachtung eines jeden
Eichens. .Wäre das nicht der Fäll, so müßte ja, da das
mütterliche Blut im intervillösen Raume direkt das Zotten¬
epithel umspült, jedesmal Gerinnung eintreten, jede Schwan¬
gerschaft wäre unmöglich.
Solange das fötale Epithel und das gilt für das phy¬
siologische wie pathologische Gewebe, lebt, fehlt jede Ge¬
rinnung, sie tritt aber sofort mit dem Absterben der fötalen
Zellen ein. So entsteht auch der Fibrininfarkt ider Plazenta.
Damit erklärt es sich auch, daß Tumormassen in den
mütterlichen Gefäßen lange vom zirkulierenden Blute um¬
spült, ernährt und auch verschleppt werden. Kommt es
nun zum Absterben auch nur eines geringen Anteiles der
vorgeschobenen oder verschleppten Geschwulstteile, so setzt
die Thrombose ein.
Es ist daher jede Thrombose der parame¬
tranen und sperma tik-.a len Venen im Gefolge
eines malignen C h o r i o e p i t h e 1 i o ms als T u m o r-
I h rombose v e r d ä c h t i g. Natürlich muß dies nicht
immer der Fall sein. Daß dies aber für sehr viele Fälle zu¬
trifft, gehl aus dem folgenden hervor.
M a r c h ands Angaben über die Thrombose der para¬
metranen Venen beschränken sich auf seine beiden Fälle;
auch noch ein dritter Fäll von A. Pick wird zitiert.
Wir fanden in der Literatur noch folgende Angaben
über diese Frage vor.
Schmorl erwähnt an der Hand eines exstirpierten
Uterus die Thrombose der parametranen Venen auf Ge¬
schwulstbildung beruhend und glaubt, daß man vielleicht
Anhaltspunkte für die Prognose der operierten Fälle von.
malignem Chorioepitheliom durch Untersuchung der para¬
metranen Venen gewinnen könnte. Schmorl ist jedenfalls
der einzige, der die praktische Bedeutung dieser Frage sofort,
erfaßt hat.
Anders, Hammerschlag, Runge, Garkisch
beschreiben Thrombosen der Beckenvenen, die sie während
der Operation sahen und die ebenfalls auf einer Geschwulst¬
bildung beruhten.
Aus den .gesammelten Krankengeschichten konnten wir
keinen weiteren direkten Anhaltspunkt über die Thrombose
der Beckenvenen gewinnen, kein Wunder, da wir erst in
letzter Zeit die Thrombose der parametranen und sperrna-
(i luden Venen klinisch zu diagnostizieren gelernt haben.
Wir konnten aber aus den Krankengeschichten fest¬
stellen, daß in einer gewissen, nicht zu kleinen Zahl von
Fällen über parametrane Infiltrate berichtet wird und diese
verdienen eine genauere Beleuchtung.
Das „parametrane“ Infiltrat im Gefolge
eines malignen Chorioepithelioms ist näm¬
lich gaf kein Infiltrat, weder im Sinne einer
k a r z i n o m atösen, noch einer entzündlichen
Infiltration, sondern stellt in den meisten
F ä llen eineauf Geschwuls tbilduug beruhende
T h r o mbose der großen Beckenvenen dar.
Durch die Arbeiten der letzten Jahre über den Puer¬
peralprozeß haben wir erkannt, daß ein großer Teil der
Erkrankungen, die unter der klinischen Diagnose Parame¬
tritis laufen, Thrombosen der parametranen und spermati-
kalen Venen sind (Latz ko). Es bietet die Thrombose
dieser Venen den Tastbefund eines parametranen Infiltrates.
Es müssen also auch etwaige Thrombosen der 'Becken¬
venen im Gefolge eines malignen Chorioepithelioms sich
als parametrane Infiltrate präsentieren und solche Angaben
sind häufig. Es gelang uns, einige Fälle zu finden, wo
wir dem klinischen Befunde „parametranes Infiltrat“ den
Obduküons- oder Operationsbefund gegenüberstellen können.
Lehrreich ist der Fall Marchands (zweite Arbeit),
in dem wegen eines parametranen Infiltrates die Opera¬
lion abgelehnt wurde; bei der späteren Obduktion fanden
sich in den Parametrien Thrombose der Venen und Hä
morrhagien.
Im Falle Anders wurde die Exzision eines Vaginalen
Knotens aufgegeben, da sich die Tumormassen strangförmig
ins Parametrium fortsetzten. Die bei der Operation durch¬
schnittenen Venen waren erweitert und thrombosiert.
Martin berichtet in seinem Fall über Fixation des
Uterus durch ein parametranes Exsudat und gab auf eine
Anfrage in der Diskussion an, daß dasselbe nicht neo¬
plastischer Natur war, ohne aber näheres hinzuzufügen.
Krömers Angabe über ein parametranes Infiltrat
erwies sich als Geschwulstthrombose.
Wir selbst verfügen über zwei solche Beobachtungen:
in der ersten (Spontanheilung) wurde die Operation wegen
weit ausgedehnter Infiltrate abgebrochen und auf gegeben
und doch handelte es sich, wie exstirpierte Stücke zeigten,
um mächtige Thrombosen der Beckenvenen, auf Geschwulsl-
bildung beruhend.
ln einem, zuvor von uns beschriebenen Falle tasteten
wir strangförmige Infiltrate im Parametrium, die sich bei
der Operation als thrombosierte Venen erwiesen.
Man muß also in jedem Falle, wo bei einem malignen
Chorioepitheliom ein Infiltrat getastet wird, an diese Venen¬
thrombosen denken; man muß sich von vornherein sagen,
daß für eine neoplastische Infiltration des parametranen
Bindegewebes, respektive des Bindegewebes des Ligamen¬
tum latum jede Prädisposition fehlt. Das maligne Chorio¬
epitheliom greift auf das Parametrium und das Ligamentum
latum über, aber nur auf dem Wege der Blutbahn, indem
die parametranen und spermatikalen Venen teils durch das
Wachstum des Tumors per continuitatem, teils durch Ver¬
schleppung ergriffen werden.
Das Schicksal d i e s e r i n die großen Venen
gelangten T u m o rmasse n gestaltet sich verschieden ;
in einer kleineren Zahl von Fällen können liier größere
und kleinere Tumoren entstehen, die als parametrane Meta¬
stasen wohlbekannt sind. Sie können die Gefäße durch¬
brechen und große hämorrhagische Herde bilden. In der
größeren Zähl der Fälle kommt es aber früher oder später
zur Thrombose der Venen.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
707
Damil werden aber die Geschwulstzellen ihrer Ernäh-
nmi’ beraubt; sie können sich noch eine Zeitlang lebens¬
fähig erhalten, gehen aber bald zugrunde, werden (resorbiert
und sind im thrombus nicht mehr nachweisbar. So konnte
S c h 1 a g e n h a u f e r in seinem Falle trotz genauester I hiter-
siiohung der thrombösierten Venen nur vereinzelte syn-
zyliale Elemente finden; ebenso erging es Ree b. Auch
Risl konnte in einer bereits organisierten Thrombusmasse
einzelne Haufen von abgestorbenen Zellen, die an das Aus¬
sehen nekrotischer Geschwulstelemente erinnerten, konsta¬
tieren.
Denselben Refund, nur daß. die Nekrose der Geschwulst-
elemente noch nicht so weit vorgeschritten war, konnten
wir in dem später »zu beschreibenden Falle erheben.
Em entzündliches Infiltrat ist bei der zum Zerfalle
und Infektion neigenden Natur des Tumors natürlich nicht
auszuschließen ; es tritt aber mit Rücksicht auf das un-
gemein häufige Vorkommen der Venenthrombosen in den
Hintergrund.
Ueber die Häufigkeit der Thrombosen geben uns am
besten Obduktionsbefunde Aufschluß.
In den ersten vier Fällen von Marc h a n d kommt die
Thrombose dreimal vor; unter unseren eigenen drei Beob¬
achtungen, auf die wir uns in dieser [Arbeit beziehen, finden
wir sie dreimal. Davon wurden zweimal durch mikrosko¬
pische Untersuchung nachgewiesen, daß es sich um Ge-
schwulstthrombosen handle. Im dritten Falle hatten wir
nicht genügend darauf geachtet.
In den genauer mitgeteilten Obduktionsbefunden aus
jdei Literatur finden wir die Thrombosen der Reckenvenen
sein häufig notiert, vielfach aber ohne jede nähere Angabe,
\ on den 18 Fällen der Tabelle 11, von denen wir
genauere Obduktionsbefunde besitzen, finden wir neunmal
■Thrombosen notiert, davon sieben, in denen makroskopisch
oder mikroskopisch Tumorgewebe konstatiert wurde. In
anderen Fällen wird nur die Tatsache der Thrombose mit¬
geteilt und in noch anderen Fällen die Reckenvenen gar
nicht erwähnt. Interessant ist der Fall Fl a m m e r s c h 1 a g,
in welchem man den ganzen Prozeß bis zur Embolie in
die Arteria pulmonalis verfolgen kann.
Aber nicht allein bei den Fällen der Tafel II, sondern
auch bei allen anderen finden wir die Thrombosen der
Beckenvenen sehr häufig notiert.
Rei den nahen Beziehungen zwischen fötalen Zellen
und Thrombose sind wir der Ueberzeugung, daß. auch in
den Fällen, in denen nichts Näheres mitgeteilt wird, (die
Venenthrombose eine Geschwulstthrombose ist.
Wir glauben d a b e r a u c h u m gekehrt aus
der Häufigkeit der Thrombosen der Recken¬
venen sagen zu könne n, daß. das maligne C h o-
rioepitheliom, sei es durch Verschleppung,
sei es per continuitatem, sehr häufig in die
parametranen und s p e r m a t i k a 1 e n Venen g e-
langtund (hierein neues — vielleicht das wie h-
t i g s t e — Zentrum mit einer unbeschränkten Möglich¬
keit zur Embolisierung bildet.
Es ist aber von entscheidender Wichtig¬
keit, in welchem Zustande sich diese Venen
zur Zeit der Operation befinden.
Sind die großen Venen, die Tumormassen enthalten,
noch teilweise offen, die Passage ungestört, so kann jeder
mechanische Insult zur Loslösung von Geschwulstteilen und
zur Embolisierung führen. Sind die Gefäße bereits throm-
bosiert und dies kann in einem Fälle sehr früh, in dem an¬
deren sehr spät geschehen, so sind zwei Möglichkeiten ge¬
geben. Wenn die Thromben zur Zeit der Operation lebens-
und proliferationsfähiges Geschwulstmaterial enthalten, so
hängt der Ausgang bei der vaginalen Totalexstirpation ganz
davon ab, ob die Thromben fest genug sitzen, um nicht
herausgeschleudert zu werden. Wird dies vermieden, so
kann der Fall, trotzdem Geschwulstgewebe in den zentralen
Venen zurückgeblieben war, in Heilung übergehen Ma r-
c hand-Ewerk e.
Wird der Thrombus herausgeschleudert, so entstehen
massenhafte Lungenembolien (Anders, Garkisch), das
beißl, Metastasen in der Lunge, die rasch zum Tode führen.
. m li gioße Aeste der Pulmonalarterie können auf diese
Weise verlegt werden (H a mm erschlag, Marc hand II).
i o i ^ haben aber wiederholt darauf hingewiesen,
dab das lötale Gewebe in seiner Ernährung ausschließlich
aut das mütterliche Rlut u. zw. auf das zirkulierende, an¬
gewiesen ist.
Jede Störung der Zirkulation führt zu einer Schädi-
gung des fötalen Epithels, zur Nekrose desselben und jede
Schädigung des fötalen Gewebes begünstigt wieder die
I hrombose.
Kommen nun Fälle in diesem Zustande
der \ enen, insbesonders der spermatikalen
V e n e n, z u r Operation, so verhalten sich diese
ursprünglichen Geschwulst thromben wie ge¬
wöhnliche Thromben und es können tro^tz
aller Insulte Metastasen vermieden werden,
selbst in den Fällen, wo minder fest haftende
Thromben losgelöst und versclile p p t werde n.
\ erschleppungen von Geschwulstteilen bei günstigem
Kollateralkreislauf bleiben jedoch auch in diesen Fällen
möglich.
U n d w i r b r a uchen nur noch einen Schritt
weiter zu tun und können uns vorstellen, daß
durch ausgebreitete und vollständige Throm¬
bose auch der ganze Tumor, wenn er sich auf
diese V e neu bezirke beschränkt h a t, der N e-
k r o s e verfällt, resorbiert wird und ganz ver¬
schwindet
eine spontane und dauernde
Rückbildung eines malignen Chorioepithe
1 i o m s ! ,
Line wertvolle Unterstützung dieser Anschauungen
finden wir bei Gottschalk:
„Beide Gewebsarten können von Haus aus selbst assi¬
milieren, sich selbst ernähren, nur bedürfen sie dazu des
Lebens im mütterlichen Blute. . . . Wenn es möglich wäre,
das Blut, in welchem diese Gewebselemente vegetieren,
zur vollkommenen Gerinnung zu bringen und eine erneute
Blutzufuhr hintanzuhalten, (so müßten sie bestimmt zugrunde
gehen, denn nur im steten unmittelbaren Kontakte mit dem
1 bissigen Blute können sie gedeihen.“
Und von diesen Gesichtspunkten aus
wollen wir die folgende Beobachtung, eine
Spontanheilung, betrachte n!
M. H., 32 Jahre.
F'ie ersten Menses mit 17 Jahren, regelmäßig, vierwöchent-
Imh, drei bis vier Tage dauernd. Erster Partus 1898, zweiter
1900, beide spontan, am normalen Schwangerschaftseii.de..
Die Periode war neun Monate nach der letzten Geburt
— die Frau stillte das Kind — wieder aufgetreten und blieb bis
März 1903 Vollständig regelmäßig. Im Anschlüsse an die zur
richtigen Zeit einsetzende Märzperiode stellte sich eine länger
dauernde Blutung ein, wegen welcher die Fra» auswärts aus-
gekratzt wurde.
Vom Mai bis August war die Periode wieder regelmäßig.
Die .Augustperiode trat verspätet ein. Die Blutung war ziemlich
heilig und dauert mit geringen Unterbrechungen bis jetzt --
November an und ist auch die Ursache ihres Eintrittes in
die Klinik.
Ob Eiteile mit der Blutung abgingen, weiß die Kranke nicht;
subjektive Schwangerschaftszeichen waren nicht vorhanden.
3. November 1903: Status praesens. Die Kranke ist groß,
hat einen kräftigen Knochenbau, ist jetzt sehr abgemagert, sehr
anämisch. Haut und sichtbare Schleimhäute äußerst blaß: die
Kranke klagt über die lang dauernde Blutung aus dem Genitale,
durch die sie ganz geschwächt sei,
Ueber den Lungen überall vesikuläres Atmen, normaler
Lungenschall, gut bewegliche Lungengrenzen ; am Herzen keine
Besonderheit. Die Abdominalorgane bieten normalen Befund.
Im Harne Spuren von Eiweiß.
Status gynaecologicus : Alter inkompletter Dammriß. An der
hinteren Vaginalwand, ungefähr U,4 cm vom Introitus entfernt,
ein über erbsengroßer, ziemlich harter Knoten ; er ist. bläulich
durchscheinend und trägt an der Kuppe eine für eine dünne
708
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
Sonde durchgängige Oeffnung, aus welcher weder Blut noch
Sekret abfließt. "
Hinten und links, ungefähr in der Mitte der Vagina, ein
ähnlicher, haselnußgroßer Knoten, bläulich durchscheinend, ela¬
stisch sich anfühlend. Die Schleimhaut darüber intakt, gut ver¬
schieblich.
Ein dritter solcher Knoten etwa von Mandelgröße’ unmittel¬
bar hinter der Symphyse.
Uterus deutlich vergrößert, retroponiert, in Anteversio-flexio
fast unbeweglich durch über fingerdicke, strangförmige Infiltrate
der beiden Parametrien. Die Infiltrate schieben sich deutlich
nach vorne gegen die Blase vor.
Zur Sicherung der Diagnose wird der kleine1, nahe dem
Introitus sitzende Knoten zum Zwecke der Untersuchung exzi-
diert.
Mikroskopische Diagnose: Malignes Chorioepitheliom.
Die vaginale Totalexstirpation wird beschlossen. Operation
am 9. November 1903 (Hof rat Schauta).
Zunächst werden aus dem Uterus mit der Kürette einzelne
bröckelige Massen und Schleimhautfetzen entfernt.
Es wird nun in der Absicht, Vagina und Uterus zu ent¬
fernen, zunächst die vordere Vaginalwand mit dem unter dar
Symphyse gelegenen und mit der Unterlage verwachsenen Tumor
abzulösen versucht. Es zeigt sich dabei, daß der Tumor mit der
Blase verwachsen ist; es wird beim Ablösen des Tumors von
der Blase letztere eröffnet.
> Nun zeigt sich bei nochmaliger Untersuchung, daß die Ge¬
schwulstmassen sich weit in das Becken hinein fortsetzen, so
daß an eine radikale Entfernung! dieses beinahe das ganze Becken¬
zellgewebe infiltrierenden Tumors nicht zu denken ist.
Es wird daher die Operation abgebrochen, die Blase mit
Katgut vernäht und die Vaginalwunde tamponiert.
Patientin hat in den ersten vier Tagen nach der Operation
gefiebert, erholte sich aber merkwürdigerweise auffallend rasch.
Zehn Tage nach der Operation wird der Verweilkatheter
entfernt; Patientin ist inkontinent.
Die Blutung ist seit der Operation nicht wiedergekeihrt.
Die Erholung der Patientin hält an, die Kräfte nehmen zu. Pa¬
tientin verläßt 18 Tage nach der Operation das Bett.
Vier Wochen nach der Operation wurde die erste vaginale
Untersuchung vorgenommen: das ganze Chorioepitheliom war
verschwunden, kein Infiltrat mehr zu tasten, alles weich. Der
Uterus, der früher starr und unbeweglich war, ist jetzt beweglich.
Nach zwei Monaten wurde die Patientin mit der Fistel
entlassen. Das Allgemeinbefinden war vorzüglich, am Genitale
keine Aenderung.
Drei Monate später wird die Fistel geschlossen; Patientin
sieht blühend aus und bleibt dauernd — jetzt sieben Jahre nach der
Operation — gesund.
Das ist aber eine der bemerkenswertesten Beobach¬
tungen auf dem Gebiete des malignen Chorio epithelioma.
Denn diese Diagnose müssen wir trotz des günstigen Aus¬
ganges aufrecht erhalten.
Die Kranke wurde in einem ganz desolaten Zustande
mit der Diagnose malignes Chorioepitheliom in die Klinik
geschickt. Hier wurde die Diagnose durch Exzision des
Knotens und Untersuchung desselben verifiziert; darauf¬
hin wurde die Totalexstirpation beschlossen. Schon vor
der Operation waren wir uns darüber im Klaren, daßi die
Aussicht auf radikale Entfernung der Tumormassen nicht
groß sei. Während der Operation erwies sich die radikale
Ausführung als unmöglich, die Operation wurde ab¬
gebrochen, die Wunde versorgt und die Kranke ins Bett,
gebracht.
Die Kranke war verloren; es konnte sich nur darum
handeln, wann es zum Exitus* kommen werde. Daß dieser
nicht lange auf sich warten lassen werde, war bei dem
elenden Kräftezustand sehr wahrscheinlich.
Es sollte aber anders kommen.
Die Blutungen hatten nach der Operation aufgehört.
Die ersten Tage post operationem zeigten nichts 'Bemerkens¬
wertes im Befunde der Kranken.
Aber schon nach der ersten Woche fiel uns auf, daß
die Kranke sich wohler fühle, das objektive Befinden hatte
sich wenigstens nicht verschlechtert. Und kurze Zeit darauf
ging es der Kranken entschieden besser, die Anämie war
geringer, der Kräftezustand hob sich auffällig und die Kranke
verließ das Bett.
Als wir vier Wochen nach der Operation die Kranke
zum ersten Male genauer untersuchen konnlen, war das
maligne Chorioepitheliom verschwunden, das kleine Becken
war frei und der früher fixierte Uterus gut beweglich.
Wir behielten die Kranke durch Jahre in Evidenz,
sie blieb dauernd gesund.
Die Ausheilung müssen wir eine spontane nennen;
mit der Operation können wir sie nicht in Verbindung
bringen. Es war ja die Operation nur begonnen worden und
wurde dann gleich aufgegeben. Wir sind der1 festen Ueber-
zeugung, daß sich derselbe Ausgang eingestellt hätte,
wenn auch der Versuch der Operation unterblieben wäre,
weil der Tatbestand, den wir für die Ausheilung des Chorio-
epithelioms verantwortlich machen, die Thrombose der
Beckenvenen bereits vor der Operation bestand.
Trotzdem der Uterus leer war, tragen wir doch Scheu,
das Chorioepitheliom für ein ektopisches zu erklären. Denn
es ist uns nicht klar geworden, was eigentlich im Uterus
vor sich ging. Die Frau blutete durch drei Monate. Da
sich gar kein Anhaltspunkt für die Annahme einer Blutung
aus der Vagina findet — die Schleimhaut war über dem
viginalen Knoten unversehrt - — so müssen wir die Quelle
der Blutung in den Uterus verlegen.
Das Kürettement war negativ, oder vorsichtig gesägt,
scheinbar negativ; neben spärlicher, aber normaler Schleim¬
bau I fanden wir bröckelige Massen, die sich mikroskopisch
als nekrotisches, strukturloses Gewebe erwiesen. Nirgends
auch nur eine Spur von fötalen Zellen. Das ist der tat¬
sächliche Befund; er ist. nicht befriedigend. Denn es könnte
ja der Fall sein, wie es wiederholt vorgekommen ist, daß
trotz des negativen Kürettements der Tumor im Uterus
schwer zugänglich saßi. Und wenn jemand sagen wollte,
daß die bröckeligen Massen, die mit der Kürette aus dem
Uterus entfernt wurden, auf einen nekrotischen Tumor im
Uterus Hinweisen, so könnten wir auch nicht viel dagegen
erwidern.
Es war ja beabsichtigt gewesen, den Uterus mit zu
entfernen; dies unterblieb, als sich der Fall als inoperabel
erwies, so daß wir leider nicht wissen, ob ein Tumor im
Uterus saß.
Anatomisch verdienen einige Punkte hervorgehoben
zu werden. Der Tumor hatte seine Ausbreitung vorwiegend
in den parametranen Venen gefunden; diese Venen waren
aber thrombosiert und präsentierten sich als harte, strang¬
förmige Infiltrate des Parametriums. Wir kommen auf diesen
Punkt gleich zurück.
Der Tumor selbst ist, soweit er erhalten ist und dies
gilt für die vaginale Metastase, identisch mit dem gewöhn¬
lichen Bilde des typischen malignen Chorioepithelioms. Er
weicht morphologisch in gar nichts ab und anatomische
Unterschiede im Bau, auf die sich der günstige Ausgang
beziehen ließe, sind nicht vorhanden.
Gan2 anders verhält sich der in den thrombosierten
vaginalen Venen befindliche Anteil des Tumors; dieser be- ;
findet sich in Nekrose. Man muß oft ziemlich lange suchen,
um intakte Partien zu finden. .Man findet solche Stellen
einmal in der Mitte, ein anderes Mal an der Peripherie der
thrombosierten Vene. Die deutlich als Tumorgewebe er¬
kennbaren Partien sind klein; der Tumor hatte aber früher
eine größere Ausdehnung besessen, wie an den absterben¬
den, aber eben noch erkennbaren Tumorresten zu er¬
kennen ist.
Wir halten diesen Befund, Nekrose des
Tumors in einer thrombosierten Vene, für
außerordentlich wichtig, weil darin die
E rklärung für die spontane Rückbildung ge¬
geben is t.
Der symphysenwärts gelegene Knoten stand in di¬
rektem Zusammenhänge mit dem anderen tumorartigen In¬
filtrate; wir dürfen wohl annehmen, daß auch diese Massen
nichts anderes als thrombosierte Venen waren und daß
auch hier der Tumor sich in Nekrose befand.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
709
Es hatte sich das maligne Chorioepitheliom auf die
Becken- und die vaginalen Venen beschränkt und durch
diesen glücklichen Umstand war auf Basis der Thrombose
dieser Gefäße die spontane Heilung möglich geworden.
Trotz der spontanen Rückbildung dürfen wir den
Iianor nicht gutartig nennen. Vom Hause aus ver¬
hielt sich der Tumor wie jedes andere maligne Chorioepi-
Iheliom ; die Patientin machte bei ihrer Aufnahme in die
Klinik den Eindruck einer Schwerkranken. Es bestand
jene Anämie und Kachexie, wie wir sie beim malignen
Chojcioepitheliom zu sehen gewohnt sind. Auch Albuminurie
fehlte nicht.
Metastasen waren in der Vagina vorhanden. Das Tu-
morgewebe selbst bestand aus wucherndem Chorioepithel.
Klinik und Anatomie waren in voller Uebereinstimmung.
Kurz, es waren alle typischen Erscheinungen vorhanden
und kein Mensch hätte bei der Aufnahme der Kranken in
die Klinik daran zweifeln können, daßi es sich um ein
malignes Chorioepitheliom handle. Nun kommt die spon¬
tane Ausheilung; das ist die entscheidende Tatsache. Und
wer sich nur von diesem Endeffekt leiten ließe, könnte leicht
zur Annahme eines gutartigen Chorioepithelioms gelangen
und sagen : das maligne Chorioepitheliom, das spontan zur
Ausheilung kommt, war eben kein malignes Chorio¬
epitheliom.
Und doch ist dieser Standpunkt nicht zu billigen ; denn
der Endeffekt, so wichtig und entscheidend er auch ist,
vermag keine Auskunft darüber zu geben, ob der glück¬
liche Ausgang auf einer Aenderung der fundamentalen Eigen¬
schaften der fötalen Zellen beruht, oder ob der glückliche
Ausgang durch zufällige akzidentelle Momente herbeigeführt
wird. Aenderung der fundamentalen Eigenschaften der
fötalen Zellen sind uns nicht bekannt; sie sind unwahrschein¬
lich. Dagegen haben wir durch unsere Auseinandersetzun¬
gen Umstände kennen gelernt, die die Bösartigkeit ungeheuer
erhöhen und wieder andere Umstände, die unter beson¬
deren Verhältnissen einen Tumor zu eliminieren vermögen,
indem er von der Zirkulation ausgeschaltet wird und ab¬
stirbt, ohne idaßi die fötalen Zellen in den ihnen innewoh¬
nenden Eigenschaften eine Aenderung erfahren würden.
Der glückliche Ausgang des Falles widerspricht also
nicht unserer Auffassung, daßi wir es mit einem wirk¬
lichen Chorioepitheliom zu tun haben und ist diese
Auffassung mit dem Wesen des malignen Chorioepithelioms
gut vereinbar.
Wie weit sich die Verhältnisse unseres Falles auf die
anderen bekannt gewordenen Fälle von spontaner Rück¬
bildung übertragen lassen, das kann man an der Hand der
vorliegenden Publikationen kaum untersuchen. Vielleicht
ließe sich dieser oder jener Fäll heranziehen (zum Beispiel
Hör mann). Da aber auf die Venenthrombose nicht ge¬
achtet wurde, so könnten wir nur Vermutungen Vorbringen.
Eines möchten wir aber sicher glauben, daß der von
uns beschriebene Vorgang der Spontanheilung kein rarer,
zufälliger ist, sondern einen bestimmten Typus darstellt.
Man wird künftighin in jedem Falle diese Verhältnisse be¬
rücksichtigen müssen.
In den Fällen von Marchand-Ewerke und
Schmorl blieben in den zentralen Venen Tumormassen
zurück. Der (Fall gesundete aber trotzdem. Es wird speziell
der erste Fall überall als Beispiel angeführt, daß Heilung
trotz unvollständiger Operation vorkomme. Wir glauben,
daß dieser Vorgang sich bei der Häufigkeit der Erkrankung
der betreffenden Venen zahllose Male wiederholt; es ist
bisher nur wenig oder gar nicht beachtet worden. Es
dürfte auch hier die Thrombose nach Unterbindung der
Gefäße eine sehr große Rolle spielen, indem die in den
zentralen Venen steckenden Tumorteile durch Thrombose
unschädlich gemacht werden.
Sehr verlockend ist auch der Gedanke,
di esen Vorgang der Spontanheilung künst¬
lich nach zu ahme ri.
Wir sind heute alle darüber einig, daß alle Tumoren
chorioepilhelialer Natur exstirpierl werden müssen, so lange
dies technisch überhaupt möglich ist. Speziell Fixation ries
Uterus, Infiltration der Parametrien, die in den meisten,
wenn nicht in allen Fällen nichts anderes als Venenthrom¬
bosen sind, dürfen keine Gegenanzeige abgeben.
Immerhin wird es noch Fälle geben, wo die ope¬
rative Entfernung nicht mehr möglich ist; anstatt in diesen
Fällen die Hände in den Schoß zu legen, möchten wir Vor¬
schlägen, durch Unterbindung der großen Venen möglichst
ausgedehnte Thrombosen herbeizuführen, um vielleicht auf
diese Weise, wo es mit dem Messer nicht möglich ist, der
schrecklichen Krankheit Herr zu werden.
Der Vorschlag ist wohl diskutabel und für Fälle, wo
eben nichts mehr zu hoffen ist, anwendbar. '
In der Literatur ist bereits eine kleine Reihe von
Spontanheilungen und Heilungen nach unvollständigen Ope¬
rationen bekannt. Es sind dies die Fälle von Fleisch¬
mann, Ahlfeld (Risl i), Litt au er (Risl II), Lang-
hans, v. Franque, Hör m a n n und Kauf m a n n.
IV.
Wie ein Blick auf unsere Tabellen zeigt, erfolgt die
Metastasierung nicht allein auf dem Wege der Venen) son¬
dern es können Geschwulstteile auch auf arteriellem Wege
verschleppt werden.
Der Uebertritt der Geschwulstteile aus der venösen
Bahn in die arterielle kann auf dem Seltenen Wege des offe¬
nen Foramen ovale und durch Passieren der Lungenkapil¬
laren erfolgen. In den meisten Fällen jedoch, in denen die
Verschleppung durch den arteriellen Kreislauf stattfand, ist
das Formen ovale in den Sektionsprotokollen gar nicht er¬
wähnt.
Anfangs schien es uns gar nicht wahrscheinlich, daß
die großen choriöepithelialpn Zellen den Weg der Lungen¬
kapillaren passieren, später kamen wir jedoch durch sorg¬
fältiges Studium der Krankengeschichten dahin, diesen Weg
für gewisse Fälle für möglich, ja sogar für wahrscheinlich
anzusehen. 1
Jedenfalls sind diese beiden Wege nicht die einzigen.
Es besteht nämlich noch die Möglichkeit eines direkten
Einbruches der fötalen Zellen in eine Arterie. Denn wir
konnten bei der Untersuchung eines vaginalen primären
Knotens, der sich in der klinischen Sammlung befand, die
Arrosion einer kleineren Arterie feststellen; der Tumor
reichte auf einer Seite bis an die (Arterie heran, zerstörte die
Gefäßwand dieser Seite, die fötalen Zellen substituierten 'die
Wand bis an die Intima und auch die Elastika dieser Seite
war vollständig geschwunden.
Wenn auch der Durchbruch an dieser Stelle noch
nicht in das Lumen erfolgt war — wir konnten leider das
Gefäß nicht weiter verfolgen — so haben wir es doch
mit einer zweifellos weit vorgeschrittenen Arrosion einer
Arterie zu tun; es ist dies eine prinzipiell wichtige Kon¬
statierung. j
So weit wir uns in dieser Frage orientieren konnten,
wird das Eindringen von fötalen Zellen in die Wand einer
Arterie selten beschrieben. Die Eröffnung von Arterien
dürfte bei der physiologischen Destruktion des Eichens kaum
je Vorkommen; aber auch bei der pathologischen ist sie
nicht, häufig beschrieben, vielleicht, weil bisher nicht genug
darauf geachtet wurde.
Damit dürfte auch der Schleimhautdefekt an der Kuppe
des vaginalen Tumors, der sich fast konstant, findet und der
für die Diagnose eine nahezu pathognomische Bedeutung be¬
sitzt, seine Erklärung finden ; die fötalen Zellen gelangen
nach Arrosion der Arterie in die Blutbahn, werden ver¬
schleppt, verstopfen die subkutanen Kapillaren und brin¬
gen damit die Schleimhaut an einer zirkumskripten Stelle
zur Nekrose. Nach Ausstoßung der nekrotischen Partie ent¬
steht der oben erwähnte Schleimhautdefekt.
Dieser Einbruch in eine Arterie kann natürlich über¬
all erfolgen, wo chorioepitheliale Herde existieren. Außer-
710
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halb der Lunge ist dies der wichtigste, ■ wenn nicht der
einzige Weg des Uebertriltes von fötalen Zellen in den ar¬
teriellen Kreislauf. Für die Frage der allgemeinen Ueber-
schwemmung des arteriellen Kreislaufes mit Geschwulst¬
teilen, spielt dieser Modus nur eine untergeordnete Rolle.
Für die allgemeine Metastasierung bietet wohl die Lunge
besondere Prädispositionen und spielt sich der Vorgang
folgendermaßen ah :
Wir kennen ja die Eigentümlichkeit der fötalen 'Zellen,
daß sie die Gefäße, in die sie als Emboli hi nein gelangt
sind, von innen nach außen durchbrechen, wobei ,cs zu
Blutungen kommt, dann ziehen die Zellen gegen .das nächste
Gefäß und brechen jetzt in dieses von außen nach innen
ein. Es ist dieser Vorgang gut bekannt, speziell von An¬
ders betont und auch von uns oft beobachtet.
In der Lunge gewinnt aber dieser Vorgang eine be¬
sondere Bedeutung. Mit dem venösen Blutstrom gelangen
die verschleppten Geschwulstteile durch den rechten Ven¬
trikel in die Arteria pulmonalis und bleiben in den feinen
A es len derselben stecken. Die Aestchen werden bald durch¬
brochen, wobei die so häufigen Lungenblutungen, Blut¬
husten, entsteht. Die Zellen brechen dann in die nächsten
Gefäße, darunter auch Lungenvenen, ein und damit ist der
unbehinderte Eintritt in den arteriellen Kreislauf gegeben.
So erklärt es sich, daß die Gesc h w ulst
teil e, t. r o t zdem sie ursprünglich nur in de n
Venen stecken, schließlich durch de n Uebe r-
tritt in die Vena pulmonalis überallhin ge¬
langen k ö n n e n.
Wir waren anfangs wenig geneigt, der direkten Pas¬
sage durch die Kapillaren das Wort zu reden; denn die
Arrosion der Gefäße gehört zu den fundamentalen Eigen¬
schaften der fötalen Zellen und es liegt sehr nahe, diese
Eigenschaft der Zellen für den Ueber tritt in den arteriellen
Kreislauf heranzuziehen. An unterstützenden mikroskopi¬
schen Befunden hat es nicht gefehlt. (M.ar ch an d, 'Ri s 1.)
Wenn man aber die Krankengeschichten von diesen
Gesichtspunkten aus durchblättert, so steigen doch Zweifel
auf, wie weit dieser von uns angenommene Modus allge¬
mein gültig ist. Dieser Weg hat die Metastase in der
Lunge als Voraussetzung ; von ihr, als einem neuen Zentrum,
aus entsteht die weitere Verschleppung.
Iläll man sich nun zum Beispiel an die Gehirnmeta¬
stase, die bekanntlich durch ihren besonderen Sitz sich
rasch dokumentiert, so sieht man in zahlreichen, speziell
in den rasch ad exitum führenden Fällen, idaß diese häufig
so früh auf tritt, als ob sie früher noch, oder mindestens
zur selben Zeit wie die Lungenmetastase entstanden wäre.
Und auch wenn man annimmt, daß Gehirnmeta¬
stasen rascher wie alle anderen Erscheinungen machen,
so werden wir doch veranlaßt, anzunehmen, daß die Tumor¬
zellen auch auf dem direkten Wege durch die Lungenkapil¬
laren in die arterielle Bahn gelangen können.
Unaufgeklärt bleibt aber, warum die absolut konstanten
Lungenmetastasen der ohne Operation ad exitum gelan¬
genden Fälle 'so selten Veranlassung zu weiteren Metastasen
gehen ; es ist bemerke nswer t, daß in der großen
Mehrzahl dieser Fälle die Metastasierung auf
d en venösen Kreislauf beschränktbleibt, wäh-
r e n d bei den stürmisch verlaufenden Fälle n
die Metastasierung auf arteriellem Wegefast
ohne Ausnahme nachweisbar ist.
Wie schon lange bekannt, sind die wichtigsten und
die hei weitem am häufigsten Metastasen, die in der
Lunge. Von all den Fällen, die mit und ohne Operation,
an dem Chorioepitheliom zugrunde gehen, finden sich
kaum ein bis zwei Fälle, in denen diese Metastasen gefehlt
haben.
Es ist dies eigentlich selbstverständlich, da die Lunge
wie ein Schwamm alle ihr durch den venösen Strom zu¬
geführten Geschwulstteile aufnimmt. Dabei ist wohl sicher,
daß die Lunge viel häufiger Embolien erhält, als Meta¬
stasen entstehen. Von mikroskopisch kleinen Embolien bis
zu solchen, die die Arteria pulmonalis mehr oder minder
ausfüllen, sind alle Üebergänge vorhanden. In einem Teile
mögen die losgelösten Partikelchen in ihrer Vitalität schon
geschädigt gewesen sein. In anderen Fällen können die
Embolien in den Gefäßen der Lunge am Orte doi Vei Schlep¬
pung zugrunde gehen, in noch anderen entstehen Lungen-*
infarkte (v. Franque), welche die fötalen Zellen ’einschlie¬
ßen und das Izirkulierende Blut abhalten, bis schließlich doch
aus dem verschleppten Materiale ein neues selbständiges
Wachstum entsteht.
Daß Embolien an Ort und Stelle zugrunde gehen
können, haben wir in der Vagina gesehen und auch für
Lungenembolien angenommen, bis wir später eine diiekte
Bestätigung bei Risl fanden.
Sehr wichtig ist, zu wissen, daß die Lun¬
genmetastasen, so lange eine artefizielleVer-
s c h leppung v e r m i e d e n wir d, im a 1 1 g e m einen
spät entstehen. . Y
Ausnahmen kommen ja vor, wie die Fälle von Schl a-
genh a ufer und R a a b zeigen, die in 30, respektive
34 Tagen post partum tödlich endigen. Es sind diese
Fälle glücklicherweise seltene Ereignisse. Für die große
Mehrzahl der Fälle gilt unsere Behauptung, daß der
Organismus bei bestehendem malignen Chorioepitheliom
eine gewisse (leider nicht bestimmbare) Zeit frei von
allen “Metastasen bleibt und daß die schlimmsten Meta¬
stasen und die konstantesten, die der Lunge, relativ spät
auf t reten
Sind diese einmal da, so gehen die Kranken jauch
ziemlich rasch zugrunde. Es ist dies die komplizierende
Pneumonie, die den Exitus herbeiführt. Totes infarziertes
Material ist, ebenso genügend vorhanden, wie die Infektions¬
möglichkeit groß ist. .
Das Einsetzen der Lungenmetastasen macht sich kli¬
nisch rasch bemerkbar; Schüttelfrost, ansteigende Tempe¬
ratur und Bluthusten sind die Regel. Am besten kann man
diese Symptome nach Ausschabungen betrachten. . Inter¬
essant ist, daß das Fieber so häufig nach zwei bis drei
Tagen spurlos verschwindet. Es fällt schwer, dieses Fieber
nur auf eine Infektion zu beziehen. Schlagen hau fei
ist geneigt, das Fieber in seinem Falle nur auf Geschwulst¬
embolie zurückzuführen und wir möchten uns S ch lagen -
haufers Ansicht anschließen. Aber auch die anderen Er¬
scheinungen, die man als Metastase deuten mußte, können
verschwinden. [ -
Man vergesse aber einerseits nicht, daß auch größere
Embolien in die Aeste der Arteria pulmonalis stattfinden
können, ohne daß aus der Embolie auch eine Metastase
entstünde. Anderseits sind Ausheilungen von
Lungcnmetastasen sichergestellt. Risl hat
dafür den histologischen Beweis erbracht.
Dadurch gewinnen auch die klinischen Angaben über
Ausheilungen von Lungenmetastasen an Wert; solche Be-
richte liegen vor von C h r o b a k, v. F r a n q u 6, L a d i n-
s k y, Kvorostans k y, Lönnburg-Mann h ei m e r,
Pestalozza, Zagorianski, Svaine und Michel.
In allen diesen Fällen bestanden höchstwahrschein¬
lich Metastasen in der Lunge; die von denselben
ausgehenden Symptome schwanden angeblich mit der
Entfernung des Haupttumors. Es scheint, daß die In¬
farktbildung und die damit einhergehende Thrombose eine
große Rolle bei der Ausheilung spielt (v. Franque).
Leider läßt sich diese Angabe nicht mit
Sicherheit feststellen; sie wäre wohl geeig¬
net, unsere Indikation für die Operation we¬
sentlich zu beeinflussen.
Erwähnenswert ist noch, daß auch Bronchien von
dem Tumor arrodiert werden können (Risl, Winkler),
wodurch das Vorkommen von Tumorzellen im Sputum
leichter verständlich wird.
Auch zu Fehldiagnosen haben Lungenmetastasen Ver¬
anlassung gegeben, insbesondere dann, wenn die Genital¬
erscheinungen in den Hintergrund treten; so finden wir
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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Fälle, die als chronische 1 uborkulose, akute miliare Tuber¬
kulose und perniziöse Anämie geführt werden.
fast ehe ns o häufig wie die Lungenmeta-
s t a s e ist die Sc he idenmetastase; sie tritt aber
fruhei aut, ist. zumeist die erste Erscheinung der Ver¬
schleppung, unterscheidet sich aber in ihrer klinischen Be¬
deutung wesentlich von allen anderen Metastasen.
Pathologisch - anatomisch ist die vaginale Metastase
jeder anderen gleichzusetzen ; klinisch nimmt sie eine Son¬
derstellung ein. Um es gleich zu sagen, wir schließen uns
^Veit in der Beurteilung der klinischen Dignität an. Es
lehrt uns die Erfahrung, daß das Vorhandensein der va¬
ginalen Metastase die Prognose nicht wesentlich trübt, wenn
nur andere Metastasen fehlen. Allerdings nimmt V ei t dabei
den Standpunkt ein, daß die vaginale Metastase im strengen
sinne des Wortes noch keine Metastase, keine beginnende
Generalisierung des Tumors bedeutet.
. ^ enn wir uns auch der Begründung Veits und seinen
Ansichten über die Malignität des Chorioepithelioms nicht
anschließen können, die Tatsache, von der Veit ausgeht,
die von den anderen Metastasen so ganz verschiedene Dig-
nität der vaginalen Metastase im klinischen Sinne, bleibt
aufrecht.
Auch hier sind Ausheilungen sicher nicht
seltener als in der Lunge, trotzdem sich in der Lite¬
ratur nur wenige Angaben darüber finden. Langhaus
berichtet über eine Spontanheilung (Fall III3). Bekannt ist
Fall Dun gar. Wegen Chorioepitheliom wurde am
10. Oktober die vaginale Totalexstirpation gemacht. Am
3. Dezember wurde eine vaginale Metastase konstatiert, aber
die Kranke verweigerte die Operation. Nach 4 Vs Monaten
war die Frau vollkommen gesund; an der Stelle, wo der
Tumor saß, war eine halbkirschgroße, annähernd kugelige,
nicht besonders feste Resistenz, die deutlich unter der
Schleimhaut lag.
Uebei eine, vielleicht hiehergehörende, aber unvoll¬
ständige Beobachtung, wollen wir mit wenigen Worten be¬
richten.
Es ^ handelte sich um einen primären, vaginalen
Tumor (Sch mit I), der mit gutem Erfolg operiert worden
war. Die Frau stellte sich in gewissen Zeitabständen vor.
Zirka acht Monate nach der Operation fand sich — nach¬
dem fiühei nie etwas bemerkt worden war — ein kirschen¬
großer, bläulich durchschimmernder Tumor in der Vagina,
von dem nicht sicher zu sagen war, wie man ihn deuten
solle. Mit Rücksicht auf die vorhergegangene Erkrankung
mußte man auch an eine Metastase des malignen Chorio¬
epithelioms denken. Der kleine Tumor wurde exzidiert und
erwies sich als ein mit ganz niedrigem Epithel oder Endo¬
thel ausgekleidetes Zystchen, mit reichlichen Anhäufungen
mit Blutpigment. .
Da dieses Zystchen früher bestimmt nicht vorhanden
war, auch nicht in der Scheidennarbe saß, so ist sein Vor¬
kommen bemerkenswert. Es ist nicht unmöglich, wenn .auch
nicht zu beweisen, daß' es sich hier um einen analogen
lall wie bei Dun gar handelte, um eine Ausheilung einer
vaginalen Metastase (mit Ausgang in ein Zystchen. Heilungen
nach unvollständigen Operationen sind häufiger. Jüngst er¬
wähnt, Michel eine solche; wir selbst konnten in einem
lalle zeigen, daß der Tumor nicht im Gesunden operiert
worden war und trotzdem trat vollständige Heilung ein.
Labhart berichtet über einen sehr interessanten
melier gehörenden Fall.
Es wird ein Uterus wegen malignen Chorioepithelioms
supravaginal amputiert. Einen Tag später tritt eine starke
Blutung aus der Vagina ein. Die Inspektion ergibt eine
kleine typische Metastase am Urethralwulst, die an der
Kuppe eine Lücke hat und aus der es heftig blutet. Tam¬
ponade vergeblich. Da der Zustand der Kranken '.bedenklich
wird, wird von einer sofortigen Exstirpation des Tumors
abgesehen und die Blutung durch Umstechungen gestillt.
I rp ec is ^a§e später wird die Stelle nachgesehen —
cler lumor war verschwunden.
Wichtig ist die dabei konstatierte Arrosion einer Ar-
ene; wir möchten glauben, daß diese viel häufiger vor¬
kommt, als wir es annehmen. Denn solche schwere Blu¬
tungen wie die eben beschriebenen, kommen genug häufig
voi und bedrohen das Leben. Schmauch und Fleisch¬
mann sprechen direkt von arteriellen Blutungen in ihren
■’allen; auch tödlicher Verlauf trotz sachgemäßer Hilfe ist
bekannt (Ol sh au sen, Risl).
, r . . FF™11, folSen an Häufigkeit Metastasen in Leber
;\J 1 1 z, Gehirn, Parametriu m und N i e r e.
■ F e h i i n m e t a s t a s e n sind selten bei den mit einem
uterinen Tumor behafteten, ohne Operation verstorbenen
riauen, dagegen häufig bei den ektopischen und den nach
der Operation rasch zum Tode führenden Fällen.
Durch das rasche Wachstum des Tumors und die
sie begleitende Blutung entstehen oft stürmische Erschei¬
nungen, die an eine Apoplexie denken lassen. Und man
kann sich vorstellen, welche Schwierigkeiten sich der
klinischen Diagnose entgegenstellen können, wenn die
Genitalerscheinungen, wie es sogar bei uterinem Sitze
es Pnmärtumors vorkommt, in den Hintergrund treten
und nichts auf die richtige Spur weist.
■ Far nicht selten sind Metastasen im Darme, Ovar
Blase, selten Thyreoidea, Herz,- Muskulatur und
subkutanem Gewebe. Ueber die Lymphdrüsen
haben wir bereits eingangs berichtet. Ihr Verhalten beim
malignen Chorioepitheliom ist nahezu charakteristisch. Sie
ei kranken recht selten ; während beim Karzinom die^ Drüsen¬
frage eine der maßgebendsten ist, um die sich alles dreht
kommen beim malignen Chorioepitheliom die Drüsen kaum
in Betracht. Es fehlt speziell jede Prädisposition zur Er¬
krankung der regionären Lymphdrüsen.
Auch die Frage des Rezidivs muß gestreift werden. Es
ist allgemein bekannt, daß die uterinen Tumoren nach unvoll¬
ständiger Entfernung mit Finger und Kürette ungeheuer
rasch nachwachsen. Ebenso bekannt ist, daß oft nach Ex¬
stirpation von vaginalen Knoten, die scheinbar im Gesunden
eilolgte, neue Tumoren rasch wieder entstehen können. Gar
keine Frage, daß hier häufig genug Rezidiv und lokale Meta¬
stase verwechselt wurden. Eine nachträgliche Entscheidung
an der Hand der Krankengeschichten ist aber in der Regel
nicht möglich.
Aber ganz anders steht die Sache, wenn wir uns die
spezielle Frage vorlegen, wie oft ein Rezidiv in der Scheiden¬
wundnarbe oder im Parametrium nach der Totalexstirpation
des erkrankten Uterus vorkommt.
Und da ergibt sich die überraschende Tatsache, daß
em Rezidiv nach der Totalexstirpation des Uterus recht
selten ist. Man muß zahlreiche Krankengeschichten und
Obduktionsbefunde durchlesen, um auf ein wirkliches Re¬
zidiv zu stoßen; überall finden wir Metastasen, allgemeiner
und lokaler Natur, dagegen hat das Rezidiv als Todesursache
gai keine Bedeutung und tritt gegenüber der (Wichtigkeit der
Metastasen ganz in den Hintergrund.
Es ist (diese latsache, die bisher überhaupt keine Wür¬
digung gefunden hat, von verschiedenen Gesichtspunkten
aus von Wichtigkeit und Interesse. 1
Zunächst kommt sie etwas überraschend; denn für
die Entstehung eines lokalen Rezidives in den Parametrien
ist genügend Prädisposition vorhanden. Man denke nur
an die Fälle von M a r c h a n d - E w e r k e, S c h m o r 1,
Gottschall, R u n g e, man denke nur an die von uns.
so 'sehr betonte Tatsache, daß die Erkrankung der pararne-
tranen und kpermatikalen Gefäße eine so häufige, ja typische
ist. Damit wird gezeigt, daß sehr häufig Tumorgewebe in
den zentralen Venen zurückbleibt und von hier aus müßte
das lokale Rezidiv recht häufig sein. Das ist aber nicht
der Fall.
3) Hegar, Bd. 5, S. 1.
712
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
Die Erklärung scheint nicht schwer zu sein. Die zu¬
rückbleibenden Tumormassen stecken ausschließlich in
den Venen. Alle diese Venen im Parametrium und Liga¬
mentum latum thrombosieren nach der Operation, ob sie
1 i giert waren oder nicht und die in ihnen befindlichen Massein
verfallen der Nekrose.
Diese Konstatierung ist nicht ohne Be¬
deutung; da wir das Rezidiv hei de r R a d i k a 1 -
operation nur wenig, über alles aber die Me¬
tastasen zu fürchten haben.
Wenn wir dieses Verhalten des Rezidivs
festhalten, an die spontane A u s h e i 1 u n g de r
p r i m ä r e n Uterustumoren und der Metastase n
denken und auch die Ausheilung nach u nvol 1-
k o m menen Operationen heranziehe n, s o
müssen wir wohl sagen, daß esi sich d a b e i
nicht mehr um seltene und zufällige L i e i g-
uisse handelt. Wir wären geneigt, in den spontanen
Heilungen des malignen Chorioepithelioms eine wichtige
Eigenart zu erblicken, wie wir sie bei keinem anderen
Tumor mehr sehen.
Diese Ausheilungen offenbaren uns die
geringe Widerstandskraft der fötalen Zellen
und ihre große Abhängigkeit vom zirkulie¬
renden m .ütterlichen B 1 u t e.
Es besitzen diese Zellen eine enorme Destruktions¬
fähigkeit, dadurch entstehen schwere Blutungen, die die
Frauen rasch gefährden; sie können durch ihren Sitz in
den mütterlichen Gefäßen rasch über den ganzen Organis¬
mus verschleppt werden und in wenigen Wochen zum lode
führen. Aber sie besitzen keine eigenen Gefäße, sie sind
in ihrer Ernährung absolut auf das mütterliche Blut ange¬
wiesen. Kommt es zu Ernährungsstörungen durch Throm¬
bose der Gefäße, so verfallen die fötalen , Zellen rasch der
Nekrose und es spielt die Nekrose hier (edne größere Rolle,
wie bei jedem anderen Tumor und es hängt wie in unserem
Falle nur von dem Grade der Ernährungsstörungen ab, damit
eine spontane dauernde Heilung entstehe. Die spontanen
Heilungen haben anfangs verblüffend gewirkt; wenn man
aber die Sache von unserem Gesichtspunkte aus betrachtet,
so basiert die Möglichkeit der spontanen Ausheilung ebenso
auf bestimmten physiologischen Eigenschaften der chorialen
Zellen und gehört mit zum Wesen des malignen Chorioepi¬
thelioms, ebenso wie wir dies von den Verderben bringen¬
den Eigenschaften der Zellen des malignen Chorioepithe¬
lioms anzunehmen gewohnt sind. So paradox es
klingt, steht dicht neben der Möglichkeit der
schrankenlosen Metastasierung die der spon¬
tanen Heilung.
Wo Schwangerschaft vorkommt, kann
auch ein malignes Chorioepitheliom ent¬
stehen; und so sehen wir diese Tumoren lebenso bei
jungen Frauen, wie bei Frauen in den Fünfzigerjahien. Ls
werden auch Fälle beschrieben, wo Frauen an malignem
Chorioepitheliom erkrankten, die schon einige Zeit im Kli¬
makterium standen. Diese Fälle waren früher unverständ¬
lich. Mit dem Aufhören der Menses erschien eine Schwan¬
gerschaft nicht 'möglich. Man mußte auf weit (zurückliegende
Schwangerschaften zurückgreifen — oder an der Diagnose
zweifeln.
Heute wissen wir aber, daß auch noch nach dem
Sistieren der Menses Gravidität entstehen kann ; wir iwären
geneigt, zur Erklärung der in der Menopause entstehenden
Tumoren eher auf solche nicht alltägliche Graviditäten zu
reflektieren, als auf acht bis neun Jahre zurückliegende
Schwangerschaften zurückzugreifen.
S c h o n d i e ersten Autoren wußt e n, d aßi d as
maligne Chorioepitheliom zu m eist nach
Blasenmole, dann nach jungen Aborten, aber auch
nach normalen Geburten auftritt.
Das Verhältnis zu diesen verschiedenen, dem Tumor
vorausgehenden Schwangerschaftsprodukten, wird folgender¬
maßen angegeben (zum Teil nach Risl zitiert):
Chorio-
Blasenmole Abortus
Norm. Partus
epithet.
L a d i n s k i :
128
51 mal = 39%
—
—
Teacher:
188
73 ., = 36'6% 59
= 31%
49 = 28%
B r i q u e 1 :
217 ’
90 „ = 41 ’5% 73
= 33%
49 = 22 %
Mc.Kenna:
78
38 „ =50% 15
= 20%
24=30 %
H itschman
n: 240
HG ., =48% 73
= 30-4°/
, 51 = 21%
Cristololetti:
Vollen
Einblick in dieses Verh;
lltnis gewinnt man
erst, wenn
man nachforsch!, wie oft. nach leiner
Blasenmole
ein Chorioepitheliom entsteht. Es fand:
Kehrer:
nach
50 Blasenmolen 0
Chorioepithel.
König:
99
12 „ 0
99
G i g 1 i o :
99
20 „ 0
>9
Oster:
20 „ 2
99
(zwei Fälle
benorcheus: ,,
49 „ 1
99
zweifelhaft;
Menge:
99
23 „ 3
99
J. Neumann: ,,
8 3
99
C a v i g i n :
n
25 „ 1
99
Krömer:
99
15 „ 5
99
Summe . 900 Rlasenmolen 15 = 7 %% Chorioepithel.
Im Durchschnitt kommt das maligne Chorioepitheliom
nach Blasenmole in 44%, 'nach Abortus in, 29%, nach reifem
Partus in 25% der Fälle vor.
Und von 200 Blasenmolen waren 15 = 7-5% von
einem malignen Chorioepitheliom gefolgt.
Sicherlich spiel! die Blasenmole noch die wichtigste
ätiologische Rolle beim malignen Chorioepitheliom und doch
ist diese früher noch überschätzt worden. Hatte inan doch
früher geglaubt, daß diese in 70% der 'Fälle dem malignen
Chorioepitheliom vorausgehe und ging doch Solovij so
weit, in jedem Falle von Blasenmole, die Uterusexstirpation
vorzuschlagen. Denselben Vorschlag hatte Pestalozza
1891 gemacht und hält ihn noch heute aufrecht.
Krömer sagt noch 1907: „Alle diese geschilderten
pathologischen Symptome . lassen es geraten er¬
scheinen, die Blasenmole als Chorioepitheliom schlechthin
zu bezeichnen.“
Dazu ist allerdings keine Verat lassung vorhanden und
man muß sich hüten, aus kleinen Zahlen Scnlüsse zu ziehen,
wie dies ja Krömers Zusammenstellung schlagend he-
weist.
Auch die Indikationen von Anders und Butz sind
heute nicht mehr aufrecht zu erhalten, sie sind nicht in
Einklang zu bringen mit dem wahren Verhältnis Ider Blasen¬
mole zum Chorioepitheliom und widersprechen auch den
früher von uns entwickelten diagnostischen Prinzipien.
Dagegen bleibt der Satz, den Schauta schon voi
vielen Jahren ausgesprochen, aufrecht, daß man jeden Fall
von Blasenmole durch längere Zeit in Evidenz halten müsse.
Man vergesse aber nicht, daß nach der Blasenmole die
blutig - seröse Ausscheidung bis zu drei Wochen post partum
anlialten kann und sei bei der Verwertung des mikroskopi¬
schen Befundes bei Ausschabungen nach Blasenmole des
Umstandes bedacht, daß eine intensive Durchsetzung der
Serotina mit fötalen Zellen zum gewöhnlichen Bilde der
Blasenmole gehört.
Einen etwas anderen Standpunkt nimmt Veit ein;
er betrachtet eine partielle oder totale Blasenmole als Vor¬
aussetzung für das Chorioepitheliom und glaubt, daß eine
solche stets dem malignen Chorioepitheliom vorausgeht.
Veit kommt dadurch zu dieser Ansicht, daß er die par¬
tielle Blasenmole bei jungen abortiven Eiern sehr häufig
gefunden zu haben glaubt.
Das deckt sich aber nicht mit unserer Erfahrung.
Es ist aber schließlich diese ganze Annahme nicht
notwendig. Das Wichtigste ist, ob proliferierendes oder pro¬
liferationsfähiges Epithel vorhanden ist und dies ist der
Fall ebenso bei Blasenmole wie hei Abortus. Daran halten
wir allerdings fest. Und aus diesem Grunde müssen wir
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
713
auch die Angabe, daß ein Chorioepitheliom in 25% der
Fälle nach einem reifen Partus entstehe, in Zweitel ziehen.
Es sind nicht viele Fälle bekannt, die mit Sicherheit
zeigen, daß das Chorioepitheliom auch aus einer reifen
Plazenta entstehe, die meisten Beobachtungen sind nicht, ein¬
deutig. Man darf nicht vergessen, daß das Epithel der reifen.
Plazenta atrophisch ist, Langhanszellen fehlen, das Synzytium
ist wesentlich reduziert, so daß man sich nur schwer ent¬
schließen kann, aus einem solchen Epithel eine Neubildung
entstehen zu lassen. Zwar wurde auch über größere und
kleinere Throphoblastreste in der reifen Plazenta berichtet,
aber auch diese Gerichte wirken nicht überzeugend. Dagegen
vermag man in den meisten Fällen eine junge Schwanger¬
schaft post partum maturum nicht aus!zuschließen.
Erst in letzter Zeit wurde eine ganz exakte Beob¬
achtung gemacht, die, wenn auch eine Frühgeburt unsere
Zweifel beseitigt.
Walthard beschreibt folgenden Fall: Es handelt
sich um ©ine 37jährige Frau, die zum/ fünften Male schwanger
war und im siebenten Monate der Schwangerschaft Blu¬
tungen bekam; er fand in der vorderen und hinteren Wand
der Scheide Tumoren, die nur Metastasen eines malignen
Chorioepithelioms sein konnten. Die mikroskopische Unter¬
suchung der exstirpierten Tumoren verifizierten die Dia¬
gnose. Darauf Sectio caesarea, Exstirpation des graviden
Uterus. Im Uterus und an der genau untersuchten Plazenta
fand sich nichts Pathologisches. Sieben Monate später Tod
an multiplen Metastasen.
Die Beobachtung ist auch sonst sehr wichtig, .lahre-
lang hatte man auf eine ähnliche Beobachtung gefahndet,
da man sich aus der Untersuchung der Plazenta wertvolle
Schlüsse für die Genese des Chorioepithelioms versprach.
Aber die sehr genaue, in Serien vorgenommene mikrosko¬
pische Untersuchung der Plazenta ergab, daß weder ein
Primärtumor im Sinne eines Chorioepithelioma plazentae,
noch blasenmolenartige Veränderungen, oder andere Ver¬
änderungen nachgewiesen werden konnten, welche auf eine
besondere Wucherungsenergie der Plazentarzellen deuten.
Dieser Fall Walt hards ist also ein ekto¬
pisches Chorioepitheliom, ein lehrreiches
Beispiel dafür, daß ektopische Tumoren ent¬
stehen können, ohne daß an der Plazenta oder an
ihrem Sitze etwas Pathologisches aufzufinden wäre.
Diese ektopischen Fälle sind gar nicht so selten;
Risl hat bereits im Jahre 1903 an 30 Fälle zu¬
sammengestellt und heute ist die Zahl derselben ent¬
sprechend größer. Trotz der absoluten Identität der Fälle
ist der klinische Ausgang ganz verschieden ; wir sehen
hier, von welchen, oft zufälligen Momenten, die Malignität
eines Falles abhängig ist. Es kommt bei dem ektopischen
Chorioepitheliom entweder zur Entwicklung eines einzigen
Herdes oder zu multiplen Herden zugleich. Ist der einzige
Herd an einer leicht zugänglichen Stelle wie in der Vagina,
so wird er aus bereits erwähnten Gründen leicht diagnosti¬
ziert und früh operiert u. zw. vielfach mit dem Erfolge, der
zur Annahme eines gutartigen Chorioepithelioms geführt hat.
Es muß dies aber nicht immer der Fall sein; denn
auch von diesen vaginalen Tumoren können Metastasen
entstehen und Wum Tode führen. Immerhin ist 'die Prognose
dieser vaginalen Tumoren bei frühzeitiger Operation eine
relativ gute.
Fälle mit multiplen Herden sind natürlich von Haus
aus bösartig; durch besondere Bösartigkeit zeichnen sich
die ektopischen Tumoren aus, die nach einer normalen
Schwangerschaft entstehen. Alle endigten letal. (S c h m o r 1,
Walthard.)
Es ist auch noch die Frage zu streifen, wie wir uns
zum Uterus verhalten sollen bei bestehenden vaginalen
Knoten. Die Antwort ist nicht schwer zu geben: Ist der
vaginale Tumor ein primärer, das heißt, ist der Uterus
frei, so ist keine Veranlassung gegeben, an dem Uterus zu
rühren. So gingen Schauta-Schmitt vor. Die Schwie- I
rigkeit liegt vielmehr in der Entscheidung, o b der Uterus
frei ist.
In der großen Mehrzahl der Fälle erfolgen die Meta¬
stasen in den ersten sechs Monaten nach der Operation,
spärlicher nach dieser Zeit. Doch wird noch das Auftreten
von Metastasen zwei Jahre nach der Operation beschrieben.
Dies dürfte, wenn man/ diese Operationen anerkennen will,
der äußerste Termin sein. Wir fanden zwei solche Fälle
auf, die von Hammer schlag und Litt au er beschrie¬
ben wurden. Doch halten beide Beobachtungen einer
strengen Kritik nicht stand.
Uns scheint eine lange Latenzzeit für die
fötalen' Zellen nicht wahrscheinlich zu sein;
immerhin wäre, wenn diese beiden Beobach¬
tungen im Sinne der Autoren zu Recht bestün¬
den, der Zeitraum von zwei Jahren die '.Grenze,
jenseits welcher das Auftreten von Meta¬
stasen nicht einmal mehr von den Autoren
behauptet wird.
Wir können alle Fälle, die zwei Jahre
nach der Operation noch gesund sind, als ra¬
dikal geheilt betrachten.
Eine noch längere Latenzzeit wurde in einzelnen
Fällen zwischen Gravidität und Auftreten des primären
Tumors angenommen. Doch bestehen hier die größten (Diffe¬
renzen. J ; i 1 !
Wir haben auf der einen Seite Fälle mit so kurzer
Latenzzeit, daßi man nach Tagen rechnen muß, oder besser
gesagt, eine Latenzzeit fehlt. Auf der anderen Seite wird
von jahrelanger Latenz berichtet. So betrug die Latenzzeit
(nach Risl) im Fälle :
M c. Kenna
9 Jahre
Sandberg
5 „
H o 1 1 e m a n n
41/. „
Eierman n
4 „
D u n g a r
3 „
T r e u b
2
Fleischmann
23A „
L ö h 1 e i n
174 „
Diese Annahme der Autoren beruht aber nur 'auf den
subjektiven Angaben der kranken Frauen ; wie wenig verlä߬
lich diese sind, wenn es sich um die Ausschließung einer
eventuell ganz jungen Gravidität handelt, ist doch allgemein
bekannt. Wie oft sehen wir Frauen wegen Blutungen die
Klinik aufsuchen, welche auf die Frage nach der Gravidität
diese bestimmt verneinen, bis dann die mikroskopische
Untersuchung der ausgeschabten Schleimhaut Abortusreste
nachweist.
Dagegen konnten wir die Latenzzeit zwischen Primär¬
tumor und Metastasenbildung durch objektive Symptome
feststellen. Was hier gilt, dürfte auch1 sonst für die Frage
der Latenz der fötalen Zellen Geltung haben.
Ebenso wie wir für die Metastasen nur durch die
(nicht einwandfreie) Beobachtung Lissauer s gezwungen
ein Maxim u m der Latenzzeit von zwei Jahre n
annehmen, ebenso glauben wir, daß auch hier jede An¬
gabe über einen längeren Zeitraum zwischen Schwanger¬
schaft und Auftreten des Primärtumors nur mit großer Re¬
serve aufzunehmen ist.
Wir wollen nicht unerwähnt lassen, daß March and
wenigstens seinerzeit eine längere Latenzzeit nicht ohne
weiteres ablehnte.
Wie groß der Prozentsatz der D a u e r h e i-
I u ngen ist, darüber läßt sich gar nichts sagen: Bisher wurde
nicht einmal die Frage aufgeworfen, wann ein Fall als
dauernd geheilt zu betrachten ist. Wir haben nun schon
früher gezeigt, daß alle Fälle, die zwei Jahre nach der
Operation noch gesund sind, als dauernd geheilt betrachtet
werden können.
Wir haben uns bemüht, uns auf dieser Basis — an
der Hand der von uns gesammelten Kasuistik — einen
Einblick in dieser Frage zu verschaffen. Aber ganz ver-
714
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
geblich; es ist jede Statistik unmöglich, da die meisten
Beobachtungen ganz kurze Zeit nach der Operation mit¬
geteilt werden und fast gar keine Mitteilungen über Nach¬
forschungen bestehen.
Wir 'müssen daher auch die Zahlen, die P o 1 a n o und
Teacher bringen, ablehnen. Polano gibt einfach 50%
Dauerheilungen an, ohne zu sagen, wie er zu dieser Ziffer
gelangt ist. Teacher nennt gar 63% Dauerheilungen. Doch
beruht diese Angabe auf einem Irrtum. Es handelt sich,
wie eine Durchsicht der Tabellen Teachers ergibt, nicht
um Dauerresidtate, sondern Teachers Berechnung beruht
auf Grund des Gesundheitszustandes zur Zeit der Publi¬
kation der Einzelnen Fälle; daß dieser Zustand aber für eine
Statistik der Dauerheilungen nicht geeignet ist, haben wir
eben hervorgehoben.
Es ist eine Sache der Unmöglichkeit, auf Grund dieser
Literatur eine Statistik zu machen.
Wenn Wir auch nicht zahlenmäßig über die operativen
Resultate aussagen können, so dürfen Avir doch allgemein
sagen, daß die Resultate bei weitem besser sind, als man
anfangs ;zu hoffen Avagte.
Doch darf man nicht vergessen, daß" nach unserer
Auffassung die ganze bisherige Operationsweise als
irrationell bezeichnet werden muß; wir hoffen, daß durch
Beachtung unserer Vorschläge die artefizielle Metastasie¬
rung Avenigstens zum Teile zu vermeiden sein wird, wohl
der AAÜchtigste Faktor zur Erzielung besserer Operations¬
resultate.
Aber auch die Grenzen der Operabilität
müssen weiter gezogen Averden u. zav. soweit
als eine technische Möglichkeit zum Operie¬
ren v o r 1 i e g t.
Man liest 'noch heute oft genug, daß von der Operation!
Avegen 'Fixation des Uterus, wegen Infiltration des Para-
metriums abgesehen Avurde, ganz nach der Analogie mit
dem Karzinom, trotzdem auch hier jeder Vergleich mit dem
Karzinom undurchführbar ist.
Wir haben aber schon dargetan, daß der klinische
Tastbefund, der eben früher zur Diagnose parametranes
Infiltrat geführt hatte, zumeist auf einer Venenthrombose
beruht und keine Kontraindikation, gleichgültig, ob es sich
um eine Geschwulstthrombose handelt oder nicht, für die
Operation abgibt.
Dasselbe gilt auch für die Metastasen der Vagina.
Diese nehmen, wie wir schon bei einer anderen Gelegen¬
beit auseinandergesetzt haben, prognostisch eine besondere
Stellung ein.
Selbst bei schon vorhandenen Metastasen der Lunge
ist der1 Versuch der Operation nicht prinzipiell abzulehnen.
Denn wir wissen heute mit Sicherheit, daß auch Lungen-
inetastasen ausheilen können.
Es ist der Gedanke nicht ganz von der Hand zu
Aveisen, daß der mütterliche Organismus nach Entfernung
der Hauptmasse 'des Tumors mit den anderen metastatischen
Wucherungen leichter fertig Avird. Beweise lassen sich dafür
nicht erbringen, es verträgt sich aber sehr gut mit dem
Gedanken, daß die Schutzkräfte des mütterlichen Organis¬
mus der ganzen großen Masse des fremden GeAvebes gegen¬
über versagen, mit kleineren Anteilen aber fertig werden.
Es lassen 'sich die Ausheilungen von Lungenmetastasen nach
Entfernung des Haupttumors Avoid in diesem Sinne deuten.
Es spricht dies alles dafür, daß man im allgemeinen
das Vorhandensein von Metastasen nicht als prinzipielle
Gegenindikation gegen die Operation gelten lasse.
Schon vor Jahren sprach sich Anders dafür aus,
daß man die Indikation beim malignen Chorioepitheliom
Avciter ziehen solle als beim Karzinom.
Eindringlich setzt sich für die Erweiterung der Ope-
ralions!grenze Zagorianski-Kissel ein.
Auch Hörmann ist der Ansicht, daß man noch bei
scheinbar inoperablen Fällen durch eine möglichst radikale
Operation begründete Aussicht auf Dauerheilung hat, Aveil
eben der Körper imstande ist, nach Entfernung des Haupt¬
herdes die Metastasen zu vernichten.
Wir befinden uns also in U e b e r e i n s ti m-
m u n g mit den genannten Autore n, wenn w i r
dafür sind, die Indikation bis an die Grenze
des technisch Durchführbaren zu erweitern
und auch bei schon bestehenden Metastasen
die Operation nicht prinzipiell zu verwerfen.
Wenn auch nur ein kleiner Bruchteil der bis jetzt
als inoperabel geltenden Fälle gerettet wird, so ist die Be¬
rechtigung für die weiteste Indikation da und es sind schon
fast in extremis befindliche Fälle mit Erfolg operiert worden.
Man vergesse nicht, daß die Frauen durch den großen Blut¬
verlust oft einen Schlechteren Eindruck machen, als es
auf die Ausbreitung des Tumors käme und daß die Total¬
exstirpation für jeden Fäll die Blutung behebt, eine sympto¬
matische Indikation, die oft genug zu einer vitalen wird.
Die Tatsache, d a ßi das maligne Chorio¬
epitheliom, selbst av e n n schon Metastasen
bestehen, spontan ausheilen kann, ist für die
AuffassungdesTumors vongroßterBedeutune.
Aber Nutzen für unser praktisches Handeln,
können av i r aus diesem Zustande n i c h t z i e h e n.
Wir haben gar keine Handhabe, um diese Fälle zu erkennen,
wir können also auch nicht mit der Tatsache der Aus¬
heilung in der Art rechnen, daß Avir unser operatives Vor¬
gehen eben einschränken, im Gegenteil, sie muntern uns
auf, auch vor scheinbar nicht operablen Fällen nicht Halt
zu machen und womöglich alle der Operation zu unter¬
ziehen, in denen auch nur ein Funken Hoffnung auf Rettung
noch vorhanden ist.
Die Kenntnis der Spontanheilungen des malignen Cho-
rioepithelioms hat eine gewisse Unsicherheit erzeugt, aber
nur in unseren Vorstellungen; unser praktisches Handeln
bleibt davon ganz unberührt.
Wenn wir auch — - wie schon gesagt — heule
nicht Avissen, Avie groß unsere operativen Dauer¬
resultate beim malignen Chorioepitheliom sind, so ist
doch sicher, daß die Resultate unendlich besser sind,
als man jemals zu hoffen Avagte und Avir Avollen noch¬
mals Apfelstädt zitieren, der noch 1896 erklärte, daß
jede Therapie gegen das maligne Chorioepitheliom eine ver¬
gebliche sei.
Schlußsätze.
1. Anatomische Unterschiede zwischen
gut- und bösartigen Formen des Chorioepithe-
1 i o m s sind nicht bekannt.
2. Auch die Klinik vermag nicht mit voller
Sicherheit die Entscheidung, ob g u t o d e r bös¬
art i g zu treffen, da'einerseits Fälle, die schon
Metastasen zeigen, spontan au s h e i 1 e n k ö li¬
ne n, anderseits klinisch harmlose Fälle sich
als bösartig e r av i e s e n haben.
3. Bei der Frage, ob ein Chorioepitheliom
v o r 1 i e g t oder nicht, ist neben dem m i k r o-
skopiscben Befunde die klinische Untersu¬
chung von ausschlaggebender Bedeutung.
Bei der Deutung des mikroskopischen Befun¬
des ist große Vorsicht geboten.
4. Durch den anatomischen Bau des Tu¬
mors, durch seine Ausbreitung in der m ü 1 1 e r-
liehen Gefäß bahn ist die Gefahr der Metasta¬
sierung vom Hause aus eine sehr große. Jeder
Eingriff kann Embolien verursachen. Der
stürmische, äußerst bösartige Verlauf vieler
Fälle nach der Operation ist auf eine künst¬
liche Ueberschwemmung des Organismus mit
Geschwulstelementen zurückzuführen.
Trotz dieser P r ä d i s p o s i t i o n, die immer
gegeben ist, ist der Verlauf der Fälle nach der
Operation ein ganz verschiedener. Dies liegt
wenigstens zum Teile daran, daß die E r k r a n-
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
715
kung der p a r a m e t r anen und s p o r m a t i k a 1 e n
Venen, die sich als eine selir häufige, ja ty¬
pische her au ss teilt, von wesentlichem, aber
Wechsel vollem Einflüsse auf die Verschlep¬
pung des Tumors ist.
Beschränkt sich die Ausbreitung des m a-
lignen C h o r i o e p i t h e 1 i o m s auf die großen
Beckenvenen, so kannes auf Basis der T h r o m-
b o s e, iz u einer spontanen u n d dauernden ft ü c k-
b i 1 d u n g komme n.
5. Wir müssen bei der Therapie bestrebt
sein, eine künstliche Metastasierung zu ver¬
hüten. Besteht ein Verdacht auf malignes
Chorioepitheliom, so sollen wir alle nicht un¬
bedingt notwendigen Eingriffe unterlassen,
die notwendigen aber nur mit Vorsicht und
in dem Bewußtsein, leicht zur Embolie Ver¬
anlassung zu geben, vornehmen. Dies gilt b e-
sonders für die Kürettage,
Bei der Radikaloperation ist der v a g i-
n a 1 e W e g aufzugebe,n u n d in jedem Falle d c r
a b d o m i n e 1 1 e e i n z u s c h 1 a g e n, u m der Totale x-
s t i r p a t i o n die Unterbind u n g der a b f ü h r e n-
de n Venen der Hvpogastricae und S p erm a-
t i c a e vorausschicken zu könne n.
6, Die Indikation zur Operation ist mög¬
lichst auszudehnen.
Literatur:
Veits Handbuch der Gynäkologie, Kapitel: Chorioepitheliom 1 und
2. Auflage.
OEFFENTLICHE GESUNDHEITSPFLEGE.
Die Notwendigkeit eines Militärkurhauses für
Lungenkranke.
\on 1 rot. Dr. Th. Pfeiffer, Direktor der Heilstätte Hörgas (Steiermark).
Nach zwei Richtungen hat Hermann ß r e h m e r die
Lehre der Tuberkulosebehandlung umgestaltet.
Galt es vor ihm als Grundsatz, den Tuberkulösen vor der
kalten Luft zu bewahren und ergab sich daraus die therapeutische
Forderung, im Winter südlich-warme K 1 i m a t e aufzu¬
suchen, so suchte er im Gebirge Heilorte, die ihm ihre Heil¬
kraft durch die vermeintliche Immunität ihrer Bewohner gegen
Tuberkulose bewiesen, deren Wirkung also unabhängig von der
lahreszeit sein mußte.
Naturgemäß entwickelte sich aus der zuerst im Mittel¬
gebirge verwirklichten Idee Brehmers einerseits die klimatische
1 uberkulosebehandlung im Hochgebirge, dem doch die Vorzüge
des Gebirges in erhöhtem Maße eigen sein mußten, und — da
weder die Ansicht von der örtlichen Immunität und dessen Be¬
deutung, noch auch die von der disponierenden Rolle des Mi߬
verhältnisses zwischen Herz- und Lungengröße bestehen blieb -
andererseits die Behandlung im heimatlichen Klima Mitteleuropas
überhaupt, bei jetzt wohl allzuweit gehendem Verzicht auf klima-
ische Faktoren, unter ausschließlicher Betonung des zweiten in¬
tegrierenden Bestandteiles seiner Heilmethode.
Als solchen bezeichnete B re linier nachdrücklich die
^geschlossene Heilanstalt“ u. zw. die „geschlossene
eilanstalt, die nur tuberkulöse Patienten aufnimmt“ und
egründete schlagend diesen Grundsatz. Jede Krankheit werde
im besten unter stetiger Aufsicht des beobachtenden Arztes ge¬
eilt werden können, besonders gelte das für die Tuberkulose,
ieren zuverlässigstes Charakteristikum ihre Unzuverlässigkeit,
br unberechenbarer Verlauf ist. Einzig und allein ein Kranken-
'iaus, bzw. eine Heilanstalt gewähre diese stete Kontrolle und
ässe erwarten, nicht nur daß das Zweckmäßige geboten, sondern
iuch, daß alles entfernt sei, was die Krankheit fördern oder die
«enesung erschweren könnte.
r u Pas Sanatorium ist also nicht nur ein äußerer Behelf der
luberkulosebehandlung, welcher die Luft-Ruhe-Kur Dettweilers
mhemratlichen (kapgjj) Klima ermöglicht und deshalb in „warmen“
' interkurorlen entbehrt werden kann, sondern Anstaltseinrich-
Un<^ Anstaltsdisziplin sind für den Tuberkulösen auch in
malichen Stationen unentbehrlich.
t Gerade weil in der Phthiseotherapie eine Reihe von „natür. j
j,c en Heilfaktoren (Luft, Ruhe Bewegung, Ernährung) eine
große Rolle spielen, deren quantitive Wichtigkeit dem
Kranken weniger einleuchtet als die der Arzneischätze, darf man
deren Anwendung nicht seinem Belieben überlassen, sondern muß
ihn beständig beaufsichtigen, erinnern, leiten.
Am schnellsten und eindringlichsten haben sich beide prak¬
tische Bestandteile der Lehre Brehmers— Anstaltsbehandlung
Verzicht auf das südliche Klima — in Deutschland durchgesetzt
und sind dort herrschend geworden. Die Hochgebirgsbehandlung
hat die Schweiz an sich gerissen.
In Oesterreich hinken wir erst langsam nach ; noch immer
herrscht hier im Winter „der Süden“, im Sommer die „Sommer-
i n sehe , noch immer der „offene Kurort“, in dem der Kranke die
mehr minder guten ärztlichen Ratschläge nach eigenem Ermessen
zuschneidet, als ob die Tuberkulose wirklich nur der leichte
Spitzenkatarrh wäre, als welchen man dem Kranken sein Leiden
so gern tiöstend bezeichnet, so lange bis er aus lauter Rücksicht
auf seine Psyche körperlich zugrunde gerichtet ist und dann als
Sterbender doch vielleicht einer Anstalt zugeschickt wird.
Haben wir nun auch in Oesterreich schon einige wenige
private und auch öffentliche Tuberkuloseanstalten, läßt sich also
m Laien- wie in Aerztekreisen wenigstens einiger Fortschritt in
j der Pachtung anderwärts allgemein gültiger therapeutischer Grund-
! sa^ze erkennen, so steht die Fürsorge für tuberkulöse Militär-
| Personen noch fast gänzlich auf dem alten Standpunkt: denn
abgesehen von den drei (!) Freiplätzen in den Sanatorien Wiener-
wähl und Neu-Schmecks haben wir für den Winter einige
„Militäikurhäuser in südlichen Kurorten, welche jedoch über
keinerlei Kurmittel verfügen, also keine Heilanstalten für Tuber¬
kulöse sind, für den Sommer — nichts.
Es mag zugegeben werden, daß unter günstigen Umständen
entsprechend eingerichtete Pensionen teilweisen Ersatz für Sana¬
torien bieten können, wenn nämlich der Genius loci die Durch¬
führung der anstaltsmäßigen Kur zur allgemeinen Uebung macht,
wie z. B. in Davos (obwohl auch hier die Kombination Kurort —
Sportplatz hei nicht beaufsichtigten Patienten oft genug schädlich
wird). Fehlt aber das Massenbeispiel, unterscheidet sich der
Kianke, welcher Anstaltsregeln gemäß leben sollte, von den an¬
deren Kurgästen, die in Vergnügungen einen Hauptbestandteil
ihrer Erholung sehen, so wird er schon seltener genügend Aus¬
dauer. und Selbstzucht für die Befolgung der Vorschriften auf-
biingen. Hotels garnis aber, welche der Patient, unbekümmert
um Wind und Wetter, ohne Rücksicht auf sein Befinden, ver¬
lassen muß, um sein Nahrungsbedürfnis zu stillen, in denen er
bei den so häufigen interkurrenten Erscheinungen (Fieber, Pleuritis,
Hämoptoe usw.) schwer oder gar nicht Pflege findet, sind zur
Tubeikulosebehandlung gewiß weder nach unseren wissenschaft¬
lichen Anschauungen, noch nach den tatsächlichen praktischen
Bedürfnissen geeignet.
Nichts anderes als solche Hotels garnis, einfache Wohn¬
häuser, sind aber unsere bisherigen, für Tuberkulöse in Betracht
kommenden Militärkurhäuser. Ein einziges, auf österreichischem
Boden stehendes „Genesungsheim für Offiziere“ genügt den an
ein Tuberkulosesanatorium zu stellenden Anforderungen, die
Villa Hildebrand in A reo für Offiziere der — deutschen
Armee.
Das Haus besitzt neben den Wohnzimmern Behandlungs¬
räume, Bad, Liegehalle, Laboratorium und Röntgenzimmer, be¬
sorgt die Verpflegung selbst und gestattet auf diese Weise eine
strenge Anstaltskur. Die Durchschnittskosten der Verpflegung
(die mit 3 K 50 h berechnet sind) tragen die Kurgäste selbst.
Die ärztliche Behandlung, die Leitung und Verwaltung der An¬
stalt erfolgt durch den Chefarzt, dessen Anordnungen jeder
Kianke inner- und außerhalb der Anstalt unbedingt Folge zu
leisten verpflichtet ist.*)
Einrichtung und Organisation dieses Institutes könnten einer
gleichartigen österreichischen Offiziersheilstälte als Vorbild dienen
Die Bezahlung eines niedrigen Verpflegssatzes ist not-
w endig, weil die Sammlung eines Kapitales, das unentgeltliche
Aufnahme ermöglicht, kaum denkbar wäre; auch berechtigt,
da der Offizier keiner Wohltätigkeitsanstalt, sondern lediglich einer
\\ ohlfahrtseinrichtung bedarf, welche ihm vermöge des Verzichtes
auf Unternehmergewinn beträchtliche Erleichterungen bietet und
stellt auch keine Neuerung dar, weil die Bewohner der Militär¬
häuser auch jetzt ihre Verpflegung selbst decken müssen.
Leitung gehört dem Arzte, der mit unbeschränkter
Autorität ausgestattet sein muß, denn die ärztliche Vorschrift ist
das einzige Kommando, welches in einem Kurhause gelten muß
und militärische Rangunterschiede nicht kennen darf.
*) Vorschriften für Badekuren und sonstige außergewöhnliche
Heilverfahren für Militärpersonen vom 10. Mai 1905, Z. 128—144.
16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
Das Haus könnte klein, aber erweiterungsfähig angelegt
werden, müßte, unter Vermeidung von Luxus, ähnlich der er¬
wähnten „Villa Hildebrand“ in Arco, den hygienischen Forderungen
eines Sanatoriums entsprechen, ohne den Charakter eines Kranken¬
hauses anzunehmen.
Ort und Lage dieser ersten, zunächst einzigen Anstalt für
lungenkranke österreichische Offiziere müßte ganzjährigen Betrieb
ermöglichen; weder dürfte deshalb ein Ort gewählt werden, der
sich im Sommer wegen der Hitze nicht eignet, noch auch ein
Punkt mit ungenügender winterlicher Besonnung. So sehr es
ferner erwünscht wäre, wenn unsere Ostalpen endlich für ein
Hochgebirgssanatorium ausgenützt würden — den bekannten
Schweizer gleichwertige Plätze ließen sich unschwer finden — für
dieses erste Offizierssanatorium, dessen Benützbarkeit durch die
Gegenanzeigen des Hochgebirges nicht eingeschränkt werden
sollte, wäre wohl eine mittlere Höhenlage von 800 bis 1000 m
vorzuziehen, unter Berücksichtigung von Sonnenlage, Windschutz,
Nebel- und Niederschlagsarmut.
Besteht überhaupt das Bestreben, kranken Offizieren die
notwendigen Kuraufenthalte zu erleichtern, so darf auf die
tuberkulösen, bei ihrer gewiß nicht geringen Zahl, nicht ver¬
gessen werden. Eine rationelle, d. h. mit tunlichst geringem
Aufwande an Zeit und Mitteln zum Ziele führende Tuberkulose¬
behandlung verlangt die „geschlossene Heilanstalt“. Da eine
solche bisher fehlt, muß sie geschaffen werden.
Ihre Aufgabe wäre eine wesentlich andere als die der be¬
stehenden Militärkurhäuser in südlichen Kurorten. Nicht eine
weitere Erholungsstätte für Rekonvaleszente, sondern ein wirk¬
liches Sanatorium müßte erbaut werden, das
1. nur Tuberkulöse aufnimmt, die nach ärztlicher Ueber-
zeugung noch heilbar oder wesentlich besserungsfähig sind;
2. alle zur Behandlung solcher Kranker erforderlichen Ein¬
richtungen enthält;
3. Sommer und Winter gleichmäßig betrieben wird ;
4. Bezüglich der Behandlungsdauer an keinerlei Schema
gebunden ist, sondern die Kranken so lange behandelt, bis ent¬
weder Heilung, bzw. der nach ärztlichem Ermessen erreichbare
Grad der Besserung eingetreten ist, oder keine Aussicht auf
Besserung mehr besteht.
Heferate.
Handbuch der Geschlechtskrankheiten.
Herausgegeben von Finger, Jadassohn, Ehrmann, Grosz.
Band 1.
Wien und Leipzig, Alfred Holder.
IV. Jadassohn: Allgemeine Aetiologie, Patho¬
logie, Diagnose und Therapie der Gonorrhoe.
Dem in vier Abschnitte zergliederten Beitrag liegt das Be¬
streben zugrunde, ausführlich, dabei aber doch knapp und zu¬
weilen fast referierend die stolze Behauptung zu erweisen, „daß
die Gonorrhoe mit ihren Lokalisationen, Komplikationen und
Folgeerscheinungen jetzt eine der bestbear beiteten und best¬
gekannten Infektionskrankheiten ist“. Gleichzeitig klingt auch die
Klage durch, daß mangels empfänglichen Tiermateriales die Lehre
von der Gonorrhoe nicht an der Spitze der bestgekannten Infek¬
tionskrankheiten steht.
In einer kurzen Einleitung, in welcher die Würdigung der
historischen Bedeutung Bumms und Wertheims für die Ent¬
wicklung der Lehre nachgeholt wird, sind die Begriffe gonor¬
rhoische, para-, post- und pseudogonorrhoische Prozesse skizziert,
es wird an den wichtigen Erfahrungssatz erinnert, daß die Krank¬
heit sozusagen immer nur der Mensch auf den Menschen über¬
trägt und einige Worte sind der großen Bedeutung der Prostitution
im allgemeinen Sinne des Wortes als Hauptquelle des Leidens
gewidmet.
Der I. Abschnitt, Aetiologie, zerfällt in a) mikroskopische
Beschreibung der Gonokokken. Hier ist alles Bekannte und Wis¬
senswerte über ihre Form, Größe, Degenerationsstadien, Teilungs¬
bilder, den Mangel an Eigenbewegung, kurz und bündig nieder¬
gelegt. Das Kapitel b) Gonokokkenfärbung, bringt eine reiche Dar¬
stellung aller Färbungsarten von Trocken- und Schnittpräparaten,
insbesondere der differentialdiagnostisch so wichtigen Gram-Fär¬
bung. Höchst beachtenswert ist c) Züchtung der Gonokokken, mit
anschaulicher, bis ins letzte Detail reichender Beschreibung der
Methoden. Im Kapitel d) Biologisches sind die Tatsachen ge¬
sammelt, welche das Verhalten der Gonokokken gegenüber Tem¬
peratureinflüssen, Austrocknung, Wasser, Urin, Sauerstoffmangel,
gleichzeitige Anwesenheit von anderen Mikroorganismen oder
deren Stoffwechselprodukten betreffen. Ebenso erschöpfend sind
die folgenden Kapitel „Tierviersuche“ und damit in engem Zu¬
sammenhänge „Gontoxin“, „Komplementbindung“, „Agglutina¬
tion“, „Immunisierung“. Sie zeigen besonders, wie schwer die
Forschung empfängliche Tiere vermißt. Wie weit der Mensch
für diese Fragen in Betracht kommt, erfährt man summarisch aus
dem letzten Kapitel „Experimentelles über die Wirkung von Gono¬
kokken und Toxinen auf den Menschen“.
Der TT. Abschnitt, Allgemeine Pathologie und Histologie
der Gonorrhoe, ist selbstredend zum umfangreichsten geworden;
hier wir'd der Autor gleichsam warm. In einer Einleitung überblickt j
man die pathologischen Prozesse, Avelche durch die Infektion
erzeugt werden, wie man sich etwa seine Ausbreitung — sie hat
ja beim Weibe, ferner für das Entstehen der Epididymitis manches
schwer Verständliche — erklären kann und welch enorme Bunt¬
heit das histologische Bild der erkrankten Organe darbietet.
Das erste Kapitel ist der Histologie gewidmet und über¬
rascht durch die Minutiosität, mit der — trotz der Armut ent¬
sprechenden Untersuchungsmateriales vom Menschen — Schritt
für Schritt die Veränderungen an den befallenen Schleimhäuten
begleitet sind. Daneben ist auf die Verschiedenheit der einzelnen
Epithelsorten, auf das Verhalten der Gonokokken zu den Epithel-,
den Entzündungszellen besonderer Bedacht genommen. Analog
wird auf die chronisch-gonorrhoischen Veränderungen eingegangen.
Als berücksichtigenswert und von allgemeiner Bedeutung be¬
zeichnet es Jadassohn, daß hiebei zwischen dem (mittler¬
weile) regenerierten Zylinderepithel (der Uterinsehleimhaut) ein-
zeihe Inseln von geschichtetem Epithel erscheinen (B u m m),
welche letztere nunmehr allein infiziert bleiben. Des weiteren
interessieren die Veränderungen an den Schleimdrüsen, die Vor¬
gänge bei der Abszeßbildung, leider etwas weniger jene beim
Entstehen von Fisteln, da,s Eindringen der Tripperkokken in
die Tiefe, wobei Jadassohn aber mit Recht hervorhebt, daß
die Krankheit in erster Linie- als Oberflächenerkrankung aufzu-
fassen sei. Endlich erfährt das Verhältnis der verschiedenen
Exsudatzellen zu den Gonokokken und die Phagozytose eine aus
giebige Beleuchtung.
Diesem Kapitel schließen sich weitere an, deren tiefer Go-
halt durch die ledigliehe Titelangabe angedeutet sein möge: In-
fokfiomsSvege und -arten; Inkubationszeit; die für die Gono¬
kokken empfänglichen Organe; verschiedene Empfänglichkeit der
einzelnen Individuen; Differenz der Virulenz der Erreger; 'Be¬
deutung ihrer Zahl; Ursachen für die Differenzen im Verlaufe [
der Gonorrhoe; Dauer der Lebensfähigkeit der Gonokokkken im
Organismus. Für den Begriff der chronischen Gonorrhoe (im
Gegensatz zur postgonorrhoischen Entzündung) Verlangt Jadas¬
sohn. ebenso wie später im selben Werke W. Scholtz, die
Anwesenheit der Gonokokken. Der pathologische Anatom wird
an seinem Materiale diesem strengen Postulate leicht entsprechen
können; dem Kliniker aber, oder gar dem praktischen Arzte
erwachsen hieraus unüberwindliche Hindernisse. Das führt Ja¬
dassohn selbst besonders deutlich in dem Kapitel „Heilung
der Gonorrhoe, ihre Definition, ihre Konstatierung, ihr Mecha¬
nismus (Provokation)“ vor Augen, wo gezeigt wird, wie schwer
der Kliniker die Abwesenheit der Gonokokken, geschweige denn
die erfolgte Heilung erweisen kann. Die inneren Vorgänge der j
Genesung erklärt man mit. dem Autor wohl am besten durch eine
entstehende Immunisierung des Epithels gegen die auf demselben j
gewachsenen Erreger oder, kurz gesagt, durch eine entstandene
idiotrope Immunität der Schleimhaut. In dem Kapitel „Immu¬
nität und Superinfektion“ sucht der Autor unter anderem in be¬
achtenswerter AVeise der Erscheinung beizukommen, daß akut ein-
betzende Epididymitiden das urethrale Stammleiden zur Ver¬
minderung, ja zum scheinbaren Verschwinden bringen; wieso
ferner die Gonokokken der chronischen Gonorrhoe oder der chro¬
nischen Gonorrhoe der in beständigem Geschlechts V erk ehre Ste¬
henden, den Trägern gegenüber fast keine Toxizität mehr zeigen
und wie man sich solche „Tdioimmunisierungen“ oder Gewöh-
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
717
nungen an den eigenen Erreger vorstellen müsse. Endlich folgen
zur weiteren Vervollständigung dieses Abschnittes die Kapitel
„Komplikation der Gonorrhoe“, „Metastasen und toxische Pro¬
zesse“, „Para-, postgonorrhoische Erkrankungen“.
Der Abschnitt III, Allgemeine Diagnose, ist hauptsächlich
der Unterscheidung der Trippererreger von anderen, mehr oder
weniger ähnlichen Mikroorganismen des Körpers gewidmet. Er
enthält nur ein Kapitel, trifft aber den Kern der Frage um so
willkommener, als er das wichtige Kapitel „Die Mikroorganismen
der normalen Harnröhre“ streift.
In dem letzten (vierten) Abschnitte, Allgemeine Therapie,
verweist Jadassohn auf die nicht genug zu beherzigende Tat¬
sache, daß an vielen Orten, auch in der Harnröhre, der gonor¬
rhoische Prozeß von dem Körper selbst überwunden werden kann.
Inwieweit der Arzt diese natürlichen Heilbestrebungein durch die
bislang nicht aussichtreiche Sero-, Bakterie- oder Hefetherapie,
vor allem aber durch Medikamente, seien sie innerlich, seien sie
lokal gegeben, unterstützen kann, ist recht übersichtlich nieder¬
gelegt. ~ ' , ; , I ) !
Dem Werke fehlt anscheinend ein Beitrag mit dem unge¬
fähren Titel: „Die forensische Bedeutung der Geschlechtskrank¬
heiten.“ Soweit die Gonorrhoe in Betracht kommt, läßt ihn
Jadassohn fast vermissen.
V. W. Scholtz: Gonorrhoea acuta et chronica an¬
terior et posterior.
Es stimmt sehr nachdenklich, wenn man sieht, wie wenig
konvergent manchmal die beiden Gruppen medizinischer Forscher
— die Theoretiker, Anatomen und Physiologen, auf der einen, die
Praktiker auf der anderen Seite — arbeiten. Scholtz schreibt,
um die Frage der Einteilung der Harnröhre, ihren Verschluß,
das Auftreten des Harndranges zu erörtern, ganze Seiten aus
Fingers trefflichem Lehrbuche, ganze Absätze aus Posners,
Jadassohns, v. Zeißls Beiträgen und es gewährt sicher Be¬
friedigung, zu erfahren, wie reichlich und gründlich gewisser¬
maßen im eigenen Hause das Thema durchgehechelt wurde. Von
eigentlichen Anatomen erwähnt er fast nur Heule und Hyrtl
und doch vermochte E berth im Jahre 1904 46 Abhandlungen
über die quergestreifte Urogenitalmuskulatur allein, fast ebenso¬
viel© über die glatte Muskulatur dieser Teile zu zitieren. Um¬
gekehrt vermißt man im Beitrage Metzners zu Nagels Hand¬
buch der Physiologie des Menschen den Hinweis auf die Unter¬
suchungen 0. Zucker kan dis, Fingers, v. Zeißls usw., ob¬
schon sie unleugbar die Frage der Entstehung des Harndranges
stark durchwühlen. Die Tätigkeit und Eignung des Compressor
urethrae oder, wie ihn die moderne Anatomie nennt, des Rhabdo¬
sphincter urogenitalis, wird durch den leichter zu kontrollierenden
analogen Verschluß des Afters dem Verständnis sehr nahe ge¬
rückt und bei Heilung der Analfissuren leimt man die stetige Gewalt
dieser quergestreiften Muskulatur gut würdigen.
Sein Thema teilt Scholtz naturgemäß in zwei Gruppen.
Der erste Teil1, akuter Tripper der vorderen und hinteren Harn¬
röhre, wird außerordentlich breit behandelt, ist in sehr viele
Kapitel zerlegt (Muköses oder Initialstadium, Höhestadium, Be¬
fund der mikroskopischen Sekretuntersuchung, Verlauf der Go¬
norrhoe während des Höhestadiums, Terminalstudium, Prognose
und Diagnose der Gonorrhoea anterior, Gonorrhoea posterior
acuta, Verlauf und Symptome derselben, ihre Prognose, Diagnose)
und läßt kein Detail unberücksichtigt. Besondere Mühe gibt er sich
in der- Schilderung der zahlreichen therapeutischen Maßnahmen,
wofür ihm so mancher Arzt Dank wissen wird.
Im zweiten Teile, chronische Gonorrhoe, gerät sein Stil
zunächst in heftige Bewegung, weil er den Begriff nur auf solche
T alle angewendet wissen will, welche durch die Anwesenheit
von Gonokokken in und auf der Schleimhaut bedingt sind; andern¬
falls liege postgonorrhoische Urethritis vor. Die Differentialdia¬
gnose könne nur auf Grund des Gonokokkennachweises geliefert
werden. Ich habe schon erwähnt, daß mancher Leser dieses Po¬
stulat, streng genommen, nur am Leichenmaterial wird erfüllbar
halten. Glücklicherweise wird die Anwendung des Ausdruckes nie
zu einem Gezänke veranlassen, denn die Zeiten der Begriff, s-
raserei sind in den Naturwissenschaften überwunden. Dement¬
sprechend ist auf S. 425 zu lesen: „Wenn man bei Konfron¬
tation bisweilen bei der infizierten Frau keine sicheren klini¬
schen Symptome von Gonorrhoe und auch keine Gonokokken
nachweisen kann, so liegt das bekanntlich daran, daß bei der
krau die Gonorrhoe nicht selten äußerst chronisch, ja fast latent
Verläuft . . . .“
Ein sein- richtiges Wort äußert Scholtz in dem Kapitel,
Behandlung der chronischen Gonorrhoea posterior: Es erfordere
lakt und Erfahrung von seiten des Arztes, dabei die richtigen
VVe.go einzuschlagen und das richtige Maß zu halten. In der Tat,
die Therapie der Gonorrhoe ist eine Kunst, wie die Therapie so
mancher anderer Krankheiten. Und diese Kunst kann schwer
gelehit, schwer gelernt werden. Da ist es wirklich lediglich Sache
des angeborenen 1 alentes, des kühlen Erfassens, der natürlichen
Begabung, wenn der Arzt den Prozeß zu günstigem Ausgange
lenkt. Ei ist auch auf die verständige Mithilfe des Kranken an¬
gewiesen. Daher kommt es, daß, in bescheidener Verkennung
dieser persönlichen Qualitäten, viele Autoren ihre Methoden für
die einzig richtigen halten und als solche beschreiben.
VI. H. Wossidlo: Endoskopie der gesunden und
kranken Urethra. Endoskopische Diagnose und The¬
ra p i e.
Den Charakter des trefflichen Beitrages von Wossidlo kann
man am kürzesten durch die von ihm selbst (S. 655) ausgespro¬
chene Mahnung kennzeichnen: Durch die Urethraendoskopie
dürfen die anderen Untersuchungsmethoden und — man kann
hinzufügen, die anderen Behandlungsmethoden — nicht vernach¬
lässigt werden.
Wenngleich für die Lehre von der Gonorrhoe genügend
Leichenbefunde gesammelt werden können, so ist doch ihre Ver¬
wertbarkeit für den Ausbau der Klinik des Leidens zumeist eine
geringe, weil man nur selten in die Lage kommt, den korrespon¬
dierenden klinischen Verlauf zu konstatieren und daraus für
den Leichenbefund die richtige Lesart zu treffen. Hier hilft die
Endoskopie prächtig aus, namentlich bei chronischen Fällen.
Wossidlo gewährt uns einen kurzen Rückblick auf die
Entwicklung der Urethraendoskopie und des dazugehörigen In¬
strumentariums. Seine Schilderung des Bildes der gesunden und
kranken , vorderen und hinteren, männlichen und weiblichen Harn¬
röhre ist geradezu musterhaft und läßt die Beigabe von Abbil¬
dungen vermissen. Sie wird durch die Urethramdoskopie der
nicht gonorrhoisch erkrankten Harnröhre ergänzt. In einem Ab¬
schnitte, Endoskopische Therapie, wird auf die wesentlichen Er¬
folge aufmerksam gemacht, die sich mit dieser Methode erzielen
lassen und zum Schlüsse der eigenartigen Vorzüge des Gold-
schmi dt sehen Irrigationsurethroskops gedacht. Dem Beitrage
folgt ein überraschend reiches Literaturverzeichnis.
VII. Siegfried Grosz: Follikulitiden, Perifolliku¬
litiden, Cavernitis gonbrrhoica, und
VIII. Vom selben Autor: Gonorrhoische Erkrankung
präputialer und paraurethraler Gänge.
Der erste Beitrag wird wohl zweifellos durch die ausführ¬
liche Mitteilung von Fällen eigener Beobachtung und jenen von
M. Moeller interessieren, bei denen die Entzündung der Folli¬
keln zu zystenartigen Tumoren geführt hatte. Die operative Ent¬
fernung und mikroskopische Untersuchung klärte die pathologisch-
anatomischen Verhältnisse vollkommen auf. Neben der speziellen
Symptomatologie dieser Beobachtungen ist das Bild der Erkran¬
kung noch im allgemeinen entwickelt und als ein gutes thera¬
peutisches Moment unter anderem die Vibrationsmassage, em¬
pfohlen.
.Ein nicht selten zu beobachtender Ausgang der Follikuli¬
tiden ist die Bildung von Fisteln, die ja bekanntlich manchmal
— wenn sie z. B. vom Hinterteile der Urethra anterior aus¬
gehen — die enorme Länge bis zum unteren Teil des Hodensackes
erreichen können.
Der zweite Beitrag fußt in erster Linie auf der entsprechenden
Abhandlung Rönas und erschöpft vollkommen das leicht über¬
blickbare Thema.
IX. W. Scholtz: Cystitis gonorrhoica.
Die Symptome dieses seltenen Leidens, seine Diagnose, Pro¬
gnose, Therapie sind in dem belangreichen Beitrage sehr klar
niedergelegt. • Merk (Innsbruck).
*
718
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
Die Sprache des Traumes.
Von W. Steckei.
539 Seiten.
Wiesbaden 1911, J. F. Bergmann.
Handelt von Onanieträumen, Zahnträumen, Flugträumen, Am¬
menträumen, Wasser-, Feuer-, Schwangerschafts-, Geburts-, Multer¬
leibsträumen etc. und ihrer (psychoanalytischen) Deutung. Außer
den Kapitelüberschriften orientieren Uber den Inhalt des Buches
pikante Schlagworte, die über jede zweite Seite gesetzt sind. Ich
führe an: S. 401 ff.: »Der sterbende Vater als Bajazzo«, »Warum
tote Dinge lebendig werden«, »Die Bedeutung des Schweißfußes«,
»Die Taufe als Bad«, »Es gibt nur einen Vater«, »Das kleine
Einmaleins der Symbole«, »Unkeusche Gedanken und Meineid«.
Ueber die Art, wie die Traumdeutung gehandhabt wird,
orientiert das Folgende: (S. 24). »Herr Dalton träumt: (20). »Ich
habe zwei verschiedene Schuhe an : links einen gelben, rechts
einen schwarzen.
Er liebt zwei Wesen : ein blondes und ein schwarzes. Noch
wichtiger die Bedeutung : schwarzgelb. Er ist Oesterreicher und
tritt die Farben des Kaisers (Vaters) mit Füßen. Er ist ein
typischer Zweifler. Er schwankt ewig zwischen Mann (der schwarze
Vater) und Weib (die blonde Mutter). Sein Wunsch ist es, beiden
gerecht zu werden.
Sein psychischer Hermaphroditismus (Adler) drückt sich
wunderschön in diesem Bilde aus. Auch seine heftigsten Leiden¬
schaften : die Eifersucht (gelb) und seine finsteren Rachegedanken
(schwarz).«
Auf Grund dieser wissenschaftlichen Methodik kommt Steckei
zu einer neuen Auffassung des Lebens, welche den Haß als das
Primäre und als Grundlage der altruistischen Regungen anspricht.
Die Neurose sei die endopsychische Wahrnehmung dieses Hasses
durch die Brille des Schuldbewußtseins.
Um Mißverständnisse zu verhüten, sei hervorgehoben, daß
Steckei all das offenbar nicht — wie der Unbefangene zunächst
meinen könnte - — als Scherz aufgefaßt haben will. Er scheint es
vielmehr tatsächlich ernsthaft zu meinen.
*
Leitfaden der physiologischen Psychologie.
Von Ziehen.
Neunte, teilweise umgearbeitete Auflage.
Jena 1911.
In der neuen Auflage des ausgezeichneten Lehrbuches ist in
glücklicher Weise die neuere Literatur berücksichtigt. So wird u. a.
eingehend Uber die wertvollen Untersuchungen Webers berichtet.
Im übrigen wird konsequent der Standpunkt der Assoziations¬
psychologie vertreten. Die klare bestimmte Art des Vortrages er¬
leichtert ungemein das Eindringen in den schwierigen Stoff. Daß
hiebei etwas schematisiert wird, kann, da es sich um einen Leit¬
faden handelt, nicht schaden. Die Anschaffung des Buches kann
jedem, der für etwas allgemeinere Fragen Interesse hat, warm
empfohlen werden. Schilder (Halle).
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
493. Ein F ,a 1 1 von G enjtaltuberkulose, geheilt
durch Röntgenstrahlen. Von Dr. F. Spaeth, Frauenarzt
in Hamburg. Ein 22 Jahre altes Mädchen hatte einen mannsfaust¬
großen Bauchtumor, in welchem Uterus und Adnexa einbezogen
waren; auch die Parametrien waren derb infiltriert, starr. Es
bestanden Schüttelfröste mit Temperatursteigerungen auf 40° und
darüber, mithin wurde eine Abszedierung des Tumors angenom¬
men. Bei der Operation konnte der Tumor nicht ganz entfernt
werden, daher wurde vorerst seine Vorderfläche mit der Serosa
parietalis der vorderen Bauchwand vernäht; drei Tage später
wurde der Tumor inzidiert, wobei sich mäßige Mengen krümeligen
Eiters und reichlich nekrotisches Gewebe mit käsigen Herden
durchsetzt, entleerten. Die histologische Untersuchung der Ge-
websmassen ergab Tuberkulose. Seit dem Eingriffe sistierten
wohl die Schüttelfröste, Pat. fieberte aber weiter, die Sekretion
-war sehr stark trotz weiterer Ausräumung von Gewebsmassen, es
bildeten sich mehrfach Dünndarmfisteln, die Kranke magerte zum
Skelett ab. Nun versuchte Verf. die Bestrahlung der großen
Geschwürsfläche. Nach wenigen Sitzungen ließ die Sekretion
nach, die Darmfisteln schlossen, die Wunde verkleinerte sich.
Nach 18 Bestrahlungen wurde die Patientin mit abendlichen
Temperatursteigerungen zur Durchführung einer Freiluftkur ent¬
lassen. Nun erholte sie sich vollkommen, sah blühend aus,
hatte eine Gewichtszunahme von etwa 40 Pfund. Die Bauch¬
wunde war’ völlig geheilt. Nach dieser Beobachtung und nach
den zahlreichen günstigen Resultaten E. Birchers (Die chro¬
nische Bauchfelltuberkulose, ihre Behandlung mit Röntgenstrahlen,
Aarau 1907) muß man der Radiotherapie eine berechtigte Stel¬
lung in der Behandlung derartiger tuberkulöser Affektionen ein¬
räumen. — (Deutsche medizin. Wochenschrift 1911, Nr. 16.)
E. F.
*
494. Berichte über Bekämpfung der Lungenpest
mit Salvarsan. Von Dr. O. Schreyer in Tientsin. Eine
erfolgreiche Behandlung der Pest gibt es zurzeit nicht. Patienten,
die sich trotz Schutzimpfung infiziert hatten und noch 800 bis
1500 cm3 Pestserum aus dem Pasteurinstitut injiziert erhielten,
sind ausnahmslos «Hier Seuche erlegen. Als in Tientsin die ersten
Fälle von Limgenpest eingeschleppt wurden, beschloß Verfasser,
als österreichisch-ungarischer Sanitätsbeamter daselbst, Versuche
mit Salvarsan zu machen, ln zirka 20 von ihm damit behandelten
Fällen von Syphilis in allen Stadien hat es eine wahre Zauber ;
Wirkung entfaltet; bei einem Falle von Lepra hat es, wenn auch i
nicht Heilung, so doch eine eklatante Besserung gebracht. Er
wandte daher Salvarsan in drei von ihm behandelten Fällen 1
von Lungenpest an. Eine Frau, die einige Stunden vorher die |
ersten Symptome der Lungenpest zeigte und in deren Sputum !
reichlich Pestbazillen gefunden wurden, erhielt bei einer Körper- !
temperatur von 40-1° C eine subkutane Injektion von 0-5 g Salv- j
arsan. Vier Stunden nach der Injektion sank die Temperatur auf !
36-3°. Keine weitere Temperatursteigerung; das Allgemeinbefin- i
den besserte sich, trotzdem starb Patientin nach zwölf Stunden I
an plötzlich eingetretener Herzschwäche. Verf. bemerkt noch, daß i
die Lebensdauer eines Patienten vom Ausbruch der Krankheit i
bis zum Exitus 7 bis höchstens 20 Stunden beträgt. Die zwei
nächsten Fälle waren eine 24jährige Frau, die vor 14 Tagen :
geboren hatte und ihr Kind selbst nährte und eine Frau von j
40 Jahren. Beide waren gleichzeitig unter hohem Fieber und den
gewöhnlichen Pestsymptomen erkrankt. Mehrere Stunden nach <
Ausbruch der Krankheit bekam die jüngere 0-5 und die ältere, ;
die sich sträubte, 0-2 Salvarsan. Ferner bekam die jüngere Pa¬
tientin eine subkutane Injektion von 1500 cm3 physiologischer j
Kochsalzlösung mit 10 Tropfen Adrenalin, die ältere 500 cm3
derselben Lösung. Die jüngere hatte drei Stunden nachher eine
Temperatur von 38-3, die ältere von 37-8°. Letztere starb im
Laufe der Nacht an Herzschwäche. Die jüngere saß am nächsten
Morgen aufrecht im Bette, verlangte Nahrung, aß und trank und
wollte in ein anderes Zimmer. Sie stand selbst auf, ging, nur
an der Hand geführt, in einen anderen Raum. Husten und blutiger
Auswurf waren geschwunden. Am Abend stellte sich Herzschwäche
ein und trotz nochmaliger Kochsalzinfusion starb Patientin am
folgenden Morgen, ln diesem Falle ist nach Verf. trotz Exitus
eine deutliche Einwirkung des Salvarsans erwiesen. Denn er
glaubt nicht, daß während der ganzen jetzigen Epidemie ein
einziger Fall vorgekommen ist, daß ein an Lungenpest schwer
Erkrankter nach 24 Stunden erstens : wieder fiebedos war und
zweitens, so weit gebessert war, daß er aus freien Stücken im
Bette aufrecht sitzen konnte, zu essen und zu trinken verlangte,
ferner selbständig aus dem Bette aufstehen und einen Weg von
20 m zurückzulegen vermochte. Dazu kommt, daß die Kranke |
vor 14 Tagen geboren und das Kind bis zum letzten Momente j
selbst nährte. Als Kuroisität. erwähnt Verf. noch, daß (las Kind,
welches die Milch der pestkranken Mutter trank und sich be¬
ständig in ihrem Bette befand, nicht infiziert wurde, trotz des |
Nahrungswechsels von Muttermilch auf Kuhmilch, trotz der
mangelhaften Pflege gesund geblieben ist. Infolge der energischen
Absperrungsmaßregeln in dem dem Verfasser anvertrauten Be¬
zirke hatte er keine weitere Gelegenheit zur Anwendung des
Salvarsans. In künftigen Fällen würde er durch intravenöse
Injektion und andere Dosierung des Mittels bessere Resultate und
vielleicht volle Heilung zu erreichen versuchen. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 15.)
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
719
495. Die Behandlung der progressiven Paralyse.
Von Dr. Werner H. Becker, Arzt an der Landesirrcnausta.lt.
\\ eilmünster. Die Behandlung der progressiven Paralyse (edit
sich, a) in eine allgemeine und spezifische, b) symptomatische und
c) sozialhygienische Therapie. Ad a) hält Werner im Beginne
der Krankheit, auch wenn noch keine exakte Diagnose möglich
is(, eine antisyphilitische Kur für durchaus gerechtfertigt, wobei
Werner das Ehrlichsche Arsen präparat für ein vorzügliches
IVophylaktikum hält, welches die syphilitischen und metasyphili-
schon Erkrankungen herabzusetzen imstande ist und vielleicht
demnach auch die Paralysemortalität in den Irrenanstalten herab
mindern wird, zumal es schon in einigen Fällen von Paralysis
incipiens sogar noch heilende Wirkung ausgeübt hat. Ad b)
bemerkt Werner, daß vor „Kaltwasserkuren“ nicht energisch
genug gewarnt werden kann ; im übrigen nimmt die physikalische
Therapie aber doch den breitesten Raum in der symptomatischen
Therapie der Paralyse ein. In erster Reihe stehen protrahierte
warme Bäder, eventuell Dauerbäder, ferner feuchtwarme Ein¬
wicklungen des ganzen Körpers. Ad c) muß der Paralytiker vor
allem seiner Berufstätigkeit entzogen und womöglich gleich an¬
fangs in eine Anstalt untergebracht werden, was allerdings häufig
auf Widerspruch stößt. In solchen Fällen kann die Behandlung
in offenen Sanatorien warm empfohlen werden. Zweckmäßig
ist die Einleitung der Pflegschaft oder bei raschem Verlauf besser
gleich der Entmündigung, denn Hocke sagt: das beste, was
man einem Paralytiker und seiner Familie antun kann, ist früh¬
zeitige Entmündigung, deren Wiederaufhebung in geeigneten Fällen
mit langdauernden tiefen Remissionen eventuell befürwortet wer¬
den kann. — - (Fortschritte der Medizin 1910, 28. .Tahrg., Nr. 51.)
K. S.
*
496. Chronischer Katarrh der weiblichen Brust¬
drüse. Von W. Mintz. Verf. bezeichnet als chronischen Ka¬
tarrh der Brustdrüse eine von ihm 7mal beobachtete Affektion,
bei der es sich um eine konstante, sich über .Jahre hinaus¬
ziehende Sekretion von gelbem Serum einer der Brüste, ohne
irgendwelche Symptome handelt. Der Katarrh setzt ohne vor¬
herige Erscheinungen bei 30jährigen und älteren Frauen vor und
im Klimakterium einseitig ein. Quantität und Qualität des Sekrets
in keinem Zusammenhänge mit der Periode. Den Katarrh be¬
gleiten weder subjektive Symptome, noch Veränderungen an Brust¬
drüse und Warze. Er dauert jahrelang (bis zu sieben Jahren)
fort, kann vielleicht unter dem Einflüsse von Jodkaliumgebrauch
versiegen. Er kann neben einem Adenom der Brustdrüse be¬
stehen, ist aber nicht als Folgeerscheinung zu deuten. Er kann
feiner nach jahrelangem Bestehen hämorrhagisch werden, wäh¬
rend gleichzeitig in der befallenen Drüse sich ein Karzinom ent¬
wickelt. Komplizierende eitrige Mastitis ist beobachtet. — (Zen¬
tralblatt für Chirurgie 1911, Nr. 6.) E. V.
*
497. (Aus der psychiatrisch-neurologischen Klinik in Wien.
Hofrat Dr. v. Wagner.) Ueber dissoziierte Empfin¬
dungslähmung bei Ponstumoren und über die zen¬
tralen Bahnen des sensiblen Trigeminus. Von Doktor
Konstantin v. Economo. Daß die dissoziierte Empfindungs¬
lähmung — im allgemeinen ein pathognostisches Symptom der
Syringomyelie — auch bei zahlreichen anderen Krankheiten des
Rückenmarkes und des Hirnstammes Vorkommen kann, ist eine
längst bekannte Sache und es sind namentlich solche Fälle
von Interesse, in welchen Empfindungslähmungen auf eine eng
umschriebene Läsion zurückzuführen sind. Verf. bringt nun in
der vorliegenden Arbeit einen einschlägigen Fall, in welchem
die Läsion (Tuberkel) im Pons saß und der, abgesehen von dem
Interesse, das er als Rarität für sich in Anspruch nehmen kann,
bei der mikroskopischen Untersuchung einige neue Aufschlüsse
über die zentralen Bahnen des Trigeminus ergab, zu deren voll¬
kommener Klarstellung das Tierexperiment herangezogen wurde.-
(Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 32, H. 1
und 2.) S.
*
498. Komplikationen bei Stieldrehung von Ova¬
rialtumoren. Von Dr. F. Gronarz, Assistenten der Univer¬
sitätsfrauenklinik in Greifswald (Prof. Dr. P. Kroemer). ln drei
in der letzten Zeit an der Klinik operierten Fällen von Stiel-
drehung von Ovarialtumoren bestanden durch Einbeziehung be¬
nachbarter Organe in den gedrohten Stiel seltener beobachtete,
respektive sehr gefährliche Komplikationen. Im ersten Falle war
ein linkseitiges, hämorrhagisch infarziertes Ovarialkystom vor¬
handen, aber auch die rechte Tube war in den gedrehten Stiel
eingewickelt. Im zweiten Falle (Operation eines gutartigen Ova-
rialfibroms) wurde als interessanter Nebenbefund konstatiert, daß
eine bleistiftdicke Vene, die in einem zum Boden des Douglas
ziehenden, offenbar älteren Adhäsionsstrang verlief, mit in den
zweimal gedrehten Stiel eingewickelt war, deren Zerreißung jeden
Moment zur schweren intra, abdominellen Blutung führen konnte,
tm dritten Falle, bei welchem Symptome eines vollkommenen
Darm Verschlusses bestanden, fand man bei der Operation eine
Dünndarmschlinge derart in dem 'Stiel des gedrehten Ovarial¬
tumors mit verwickelt, daß es zum vollständigen Verschluß des
Darmes, gekommen war. Glücklicherweise bestand diese voll¬
kommene Darmabknickung erst ganz kurze Zeit, denn nach Auf¬
drehung des Stieles und Ablösung der lose verklebten Darm¬
schlingen konnte man sofort lebhafte Peristaltik und Wieder¬
kehren der normalen Farbe feststellen. Alle drei Fälle heilten
rasch aus, die im letzten Falle bestehende dreimonatige Gra¬
vidität blieb ungestört. Der erste Fall (Einbeziehung der beider¬
seitigen Tuben in den Stiel) hat mehr theoretisches Interesse,
die zwei anderen Fälle jedoch sind wegen der Gefährlichkeit der
erwähnten Komplikationen interessant. In allen drei Fällen hat
man den günstigen Heilverlauf dem Umstande zu verdanken, daß
man rasch umgriff und durch die Entfernung der nekrotischen
Massen Infektion und Jauchung des Tumors verhütete, im dritten
Falle außerdem den Ileus beseitigte. Die prinzipielle Früh¬
operation sofort nach gestellter Diagnose scheint das
richtige Vorgehen zu sein; ein Abwarten, bis die stürmischen
Anfangseischeinungen abgeklungen sind, bietet — abgesehen von
der Möglichkeit des Auftretens von Vereiterung, Verjauchung, sep¬
tischer Peritonitis — auch deshalb keine besonderen Vorteile,
weil auch bei reiner, aseptischer Fremdkörperperitonitis die Aus¬
lösung des Tumors aus den oft zahlreichen und derben Ver¬
wachsungen die Operation erschwert und durch Verlängerung
der Operationsdauer, sowie die Möglichkeit eventueller Neben¬
verletzungen, auch ihre Gefahr erhöht wird. Schließlich ist die
Frühoperation, wie 'die drei oben skizzierten Fälle beweisen,
gleichzeitig das sicherste Mittel, auch solchen selteneren Kom¬
plikationen aus dem Wege zu gehen. — (Deutsche medizin.
Wochenschrift 1911, Nr. 16.) E. F.
*
499. (Aus dem medizinisch -poliklinischen Institut der Uni¬
versität. Berlin. — Geh. Med. -Bat Dr. H. Senator.) Ueber die
Wirkung des butter sauren Natriums auf den Organis¬
mus junger hungernder Hunde nebst Bemerkungen
zur Lehre vom Coma diabeticum. Von Dr. Alfred Mark-
Frankfurt a. M. Buttersaures Natron, reisp. seine im Organismus
entstehenden Abkömmlinge wirken toxisch und erzeugen einen
dem Coma diabeticum des Menschen ähnlichen Zustand hei
jungen hungernden Hunden, wenngleich er nicht lange andauert und
regelmäßig nur bei intraperitonealer Applikation, seltener per
os herbeigeführt werden kann. Der Uebergang der eingeführten
Substanz in Azetessigsäure, bzw. Azeton scheint das Zustande¬
kommen des schweren Bildes zu begünstigen, dagegen scheint die
Hemmung dieses Abbaues zu Azetessigsäure und Azeton, durch
Darreichung von Kohlehydraten, ihn abzuschwächen. Vielleicht
handelt, es sich heim Coma diabeticum des Menschen auch weniger
um eine allgemeine Säurewirkung (Azidosis) als um eine spezifische
Vergiftung mit Buttersäure und deren Abkömmlingen. Was die
Alkalitherapie im Coma diabeticum betrifft, so scheint das Al¬
kali einzig und allein als Vehikel zu wirken, welches die
P - Oxybuttersäure schnell nach außen führt. Auch die Salze
der Buttersäure sind giftig und wirken wie die Säure selbst von
dem Moment an schädlich, wo die gebildete Menge die noch
mögliche Ausfuhr um ein Gewisses überschreitet. Das Gift,
welches zurückbleibt, hat eine besondere Avidität zum Zentral¬
nervensystem und befällt daher Gehirn und wichtige Lebens¬
zentren in exquisiter Weise. — (Zeitschrift für klinische Medizin
1910, Bd. 71, H. 3 bis 6.) K. S.
720
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
500. (Aus dem Allgemeinen Krankenhaus© St. Georg in
Hamburg.) Ueber die chirurgische Behandlung des
Morbus Basedowi. Von Dr. P. Sudeck. Vcrf. teilt seine
Fälle nach der Schwere in vier Rubriken ein u. zw. 5 ganz
schwere, 6 schwere, 19 mittelschwere und 4 leichte. Von diesen
54 Patienten ist einer gestorben. Bei 18 Patienten ist die Be¬
handlung ganz abgeschlossen ; davon sind 16 geheilt, 2 wesent¬
lich gebessert; diese zeigen nur noch myokahdi tische Erschei¬
nungen. Von den übrigen 15 kann bei 8 das Endresultat der'zeit.
noch nicht beurteilt, werden. Von den 7 Fällen sind G ge¬
bessert bis zur Arbeitsfähigkeit; 1 Fall wesentlich gebessert bis
auf Herzerscheinungen. Ungebessert ist keiner. Nun einige Beob¬
achtungen des Verfassers über Symptomatologie und Verlauf. Die
primären Basedowstrumen sind weich, nur mäßig vergrößert und
zeigen als klinisches Hauptcharakteristikum die Vaskularisation.
Bei der Operation erscheinen die Gefäße erheblich ausgedehnt,
sind leicht zerreißlich. Bei ca. 95°/o der Fälle ist ein nonnen¬
sausenartiges, systolisches Geräusch, ähnlich dem Sausen in den
Telegraphenstangen, zu hören, am häufigsten über den Arteriae
thyreoideae superiores. Die mikroskopische Untersuchung der
Strumen ergab vorwiegend parenchymatösen, nicht selten auch
kolloiden Charakter derselben. In beiden Arten fanden sich regel¬
mäßig Anhäufungen von lymphoiden Zellen. Bei den Kolloid¬
strumen wies Kocher jun. in den Bläschen neben dem Kolloid
abnorm viel gelöste jodhaltige Substanz nach, die in die Zir¬
kulation übergeht, ebenso wie in den parenchymatösen Strumen
die direkte Ausscheidung des Schilddrüsensekretes in die Blut¬
bahn vermehrt ist. Der Schwerpunkt liegt also nach Kocher jun.
in der Üeberfunktion oder Ueberresorption gelösten Schilddrüsen-
sckietes, die allen Basedowkranken gemeinsam’ ist. Kocher sen.
glaubt in der Blutuntersuchung einen frühen und wichtigen An¬
haltspunkt, sowohl für die Diagnose als Prognose des Morbus
Basedow7! gefunden zu haben. Diese Verschiebung des Blutbildes
war auch in den Fällen des Verfassers regelmäßig vorhanden,
am stärk steh" bei den akuten, schweren Fällen. Die unmittelbare
Wirkung der partiellen Strumektomie äußert sich gewöhnlich in
Fieber und Steigerung aller Basedowsymptom'e. Der Puls geht
in die Höhe-, das Grae fesche Symptom1 deutlich verstärkt. In
den nächsten ‘Tagen gehen aber 'diese gesteigerten Basedow1
erscheinungen rasch zurück. Der Exophthalmus geht, zurück, die
Pulsfrequenz fällt., mit der Zeit schwinden Mattigkeit, Depres¬
sion, Gewichtsabnahme, Tremor, Schweiße, Hitzegefühl, Durch¬
fälle, Menstruationsslörungen, die gewaltige Pulsation des Herzens,
da,s Karotidenklopfen. Daß die sekundären anatomischen Herz-
erscheinungen einer Rückbildung nicht fähig sind, ward Von
Kocher eindringlich betont,. Die Technik der Operation hat
Kocher wesentlich verbessert und das Gesetz aufgestellt, daß
die Heilung dem Quantum operativ entfernter Schilddrüsensubstanz
parallel ginge. Unvollständig geheilte Fälle können nachträglich
durch Arterienligatur oder Resektion noch völlig geheilt werden.
Melchior berechnet in seiner Statistik unter 907 Fällen 65
bis 75% Heilungen; Mortalität 46 Fälle, gleich 5%. Letztere hat
sich aber im letzten Dezennium infolge- Verbesserung der Technik
erheblich gebessert. Der Basedowtod nach der Operation ist in
der Regel eine Folge der Herzinsuffizienz. Sehr vorteilhaft ist
die Lokalanästhesie. Was die Indikationsstellung zur Operation
anlangt, so stellt Verf. folgende Leitsätze auf: 1. Die operative
Behandlung erfüllt eine kausale Indikation. 2. Die chirurgische
Technik ist im letzten Jahrzehnt so verbessert worden, daß man
in allen Fällen auf eine wesentliche Besserung, mindestens in
75% der Fälle- praktische Heilung erzielen kann;, vorausgesetzt,
daß sich die Patienten zu Ende behandeln lassen. 3. Die Mor¬
talität beträgt IV2, höchstens 5% und kann durch grundsätzliche
frühzeitige Operation sicher noch gebessert werden. Dem Ver¬
fasser erscheint es zweifellos, daß sich die Erfolge der Internisten
damit nicht messen können. Er hält daher die operative Be¬
handlung in jedem Falle von Thyreoidismus für indiziert, wo
das Allgemeinbefinden und die Arbeitsfähigkeit dadurch wesentlich
geistört werden und sobald festgestellt ist, daß sich die Erkrankung
durch innere Medikation oder eine mittlere Höhenkur nicht ekla¬
tant beeinflussen läßt. — (Münchener m-ediz. Wochenschrift 1911,
Nr. 16.) G.
*
501. Plastische Methode der Schließung von Fi¬
stelgängen, Avelche von inneren Organen kommen.
Von Mir. A brash an off. Verf. empfiehlt folgende Methode: Es
wird ein genügend großer Lappen aus den benachbarten Gewebs-
parti-en, am besten aus Muskelgewebe zugeschnitten. Nach An¬
frischung der Fistel mittels eines scharfen Löffels wird der Lappen
mit der Spitze voran in den Fistelgang bis zu dessen Grund ein¬
geführt, so daß der ganze Gang vom Lappen ausgefüllt ist. Inner¬
halb einigen Tagen wächst der Lappen an und gibt den Boden
zu Gewebsneubildung, welche die noch gebliebenen Lücken aus-
füllt. Verf. wandte dieses Verfahren in drei Fällen mit gutem
Erfolge an: 1. Lungenfistel, nach einem Lungenabszeß, 2. Mast-
darm-Scheidenfistel, nach vaginaler Adnexexstirpation, 3. ver¬
altetes Empyem, zweimal nach Schede vergebens operiert. —
(Zentralblatt für Chirurgie 1911, Nr. 6.) E.V.
*
502. (Aus dem medizinisch -chemischen und pharmakolo¬
gischen Institut der Universität Bern. — Direktor: Professor
Dr. Emil Bürgi.) Weitere Untersuchungen über die
Wirkungen von Narkotika-Antipyretika-Kombina-
tionen. Von Roman Herzen be rg aus' Riga. Die sogenannten
Fiebernarkotika unter den Antipyrctizis' ergeben bei gleichzeitiger
Einfuhr in den Organismus eine einfache Addition ihrer narko¬
tischen Einzeleffekte. Mit Narkotizis der Fettreihe gepaart, ver¬
halten sich die narkotischen Eigenschaften der gleichen Sub¬
stanzen ebenfalls additiv. Bei Kombination mit Morphium mit
diesen Substanzen (Phenazetin, Laktophenin, aber auch mit Anti-
pyrin) findet eine nicht hochgradige Potenzierung der Einzel-
Wirkungen statt. Die narkotischen Eigenschaften der Äntipyretika
treten in der Kombination deutlicher zutage, als1 wenn die Mittel
für sich allein in doppelten oder noch höheren Dosen gegeben
werden. Geht man mit der Dosis des einen Mittels nahe an
die minimal narkotisierende heran, so braucht es von der zweiten
Substanz nur noch ein verschwindend kleines Minimum, um dm
Wirkung zu vervollständigen. — (Zeitschrift für experimentelle
Pathologie und Therapie 1911. Bd. 8, II. 3.) K. S. :
*c
503. Zur Behandlung des Ulcus cruris. Von Doktor
Althoff in Attendorf i. W. Ein altes, schmutzig belegtes Fuß-
geschwür möge vorerst gründlich im Seifenbade gereinigt, sodann
mit. Wasser abgespült, mit Alkohol und Sublimatlösung nach-
gewaschen werden. Dann lasse man drei bis vier Tage lang zur
Schmerzstillung und vorläufiger Sekretabsaugung essigsaure Ton¬
erdeumschläge, die etwa alle -drei Stunden' erneuert werden, appli
zieren. Nun beginnt die eigentliche Heilbehandlung. Sorgfältige
Einwicklung des Beines mittels einer sogenannten Idealbinde
(Trikot), Regelung der Diät, in den ersten Wochen täglich ein
salinisches Abführmittel, Einschränkung des Alkohol- und Tabak¬
genusses. Wenn möglich lasse man reichlich Buttermilch trinken.
Lokalbehandlung: Pat. verbindet täglich zweimal selbst sein Ge¬
sell ^ wür, nachdem er es bei jedem, Verbandwechsel in gut lau¬
warmem Wasser vier bis fünf Minuten lang gebadet hat. Am
Tage Wird auf das Ulkus -ein mit folgender Salbe messerrückeindick
bestrichener Verband gelegt. Rp. Argent, nit.r1. 0-75, Bals. Peruv.
2-5, Vaiselini alb. ad 50. Nachts kommt auf das! Geschwür
ein feuchter, mit wasserdichtem Stoff bedeckter Sublimatumschlag
(1:1000), welcher höchstens 1 'bis 2 cm den Geschwürsrand über¬
ragt.. Der Verfasser gibt, drei Krankengeschichten, in welchen der
frappante Erfolg dieser Behandlungsweise demonstriert wird und
sagt, daß sich diese auch in anderen Fällein bewährt habe. Der
Sublimatumschlag wirkt sekretionsabsaugend und desinfizierend,
die guten Dienste des Perubalsams bei Unterschenkelgeschwuren
sind wiederholt hervorgehoben worden. In einzelnen Fällen wird
der Sublimatumschlag nicht vertragen. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1911, Nr. 16.) E. E.
*
504. (Aus der Universitätsaugenklinik zu Greifswald. —
Direktor: Prof. Dr. P. Römer.) Klinische-und experimen¬
telle Beobachtungen über das Verhalten des Salv-
arsans zur Hornhaut. Von Priv.-Doz. Dr. Walther Löh¬
lein. Die Berichte der verschiedenen Beobachter über den thera¬
peutischen Effekt des Salvarsans hei luetischen Augenerkran¬
kungen lauten sehr wechselnd. Ein Teil davon erfuhr wohl eine
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
721
auffallende, doch nicht anhaltende Besserung. Ziemlich ungünstig
fällt das Urteil über die interstitielle Hornhautentzündung auf
hereditär - luetischer Basis aus. Verf. berichtet über neun Fälle
von Keratitis parenchymatosa eigener Beobachtung. Es kam in
keinem Falle zu einer vollständigen oder raschen Abheilung unter
der Einwirkung des Salvarsans. In drei Fällen war überhaupt
kein Einfluß auf den Krankheitsprozeß zu erkennen, ln fünf Fällen
wurde zwar eine gewisse Besserung des Visus auf dem erkrankten
Auge erzielt, doch war der Erfolg nicht größer oder rascher als
bei der bisherigen Therapie. Erschwerend ist, daß in zwei von
diesen fünf Fällen das andere Auge durch die Salvarsanbehand
lung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Am auffallendsten war
dies bei einem 17jährigen Mädchen, bei dem trotz der Injektion
das bis dahin völlig normale zweite Auge an einer schweren
parenchymatösen Hornhautentzündung erkrankte und nach zwei
Monaten erst einen Visus" von 6/24 erlangt hatte. In einem an¬
deren Falle zeigte das linke, völlig reizlose Auge zarte alte Horn¬
hauttrübungen bei fast normalem Sehvermögen. In der dritten
Woche nach der Salvarsaninjektion flammte der alte abgeklun
gene Prozeß von neuem auf in Gestalt einer schweren Keratitis
parenchymatosa, die sich auch gegen erneute Salvarsanbehandlung
refraktär verhielt. Ein Fäll mit beiderseitiger Keratitis und Iritis
zeigte nach zehn Wochen eine beiderseitige Verschlechterung.
Mit diesem Ergebnis stimmen auch die Beobachtungen anderer
Autoren (Treupel, Uhthoff, Kramer usw.) überein. Bekannt
ist, daß die bisher übliche spezifische Therapie, Quecksilber und
.fodkali diesen Prozessen gegenüber nahezu machtlos war. Verf.
ging nun zur lokalen Anwendung des Salvarsans am Auge über und
machte subkonjunktivale Einspritzungen. Eine Schädigung an der
Einstichstelle resultierte nicht; es trat aber auch keinerlei Wirkung
auf den Hornhautprozeß zutage. Eher konnte man eine Ver¬
schlechterung in der Folge konstatieren. Verf. stellte nun Tier¬
versuche an, um festzustellen, ob und wie lange nach den üb¬
lichen Applikationsmethoden das Präparat am Auge nachweisbar
wird. Eine Serie von Kaninchen erhielt intravenöse, die andere
subkutane Injektionen. Bei ersteren zeigte sich, daß der Uebertritt
aus dem Blute ins KammePwasser sehr früh nachweisbar wird,
daß ein Nachweis des Präparates in der Hornhaut von der
2. bis zur 18. Stunde- nach der Injektion gelingt. Bei der subku¬
tanen Injektion kursiert das Präparat viel länger im Blute, ist
eine halbe Stunde nach der Injektion bereits im Kammerwasser
and bleibt dort bis zum 17. Tage. Eine Stunde nach der Zuführung
wird das Salvarsan auch in der Kornea nachweisbar und bleibt
mindestens 24 Stunden'. Es geht also daraus hervor, daß das
Salvarsan bei beiden Injektionsformen viele Stunden in der Horn¬
haut vorhanden ist. Auch eine Reihe klinischer Beobachtungen
sprechen dafür, daß das Salvarsan den Krankheitsherd in der
Hornhaut erreicht. Die Frage nun, warum trotzdem das Salvarsan
lio hereditär - luetischen Hornhautprozesse nicht beeinflußt, läßt
dch schwer beantworten. Es sind darüber nur Hypothesen auf¬
gestellt worden. Verf. erklärt zum Schlüsse: In neun Fällen von
luetischer Keratitis parenchymatosa war eine- sichere therapeu-
ische Beeinflussung durch Salvarsan nicht zu beobachten; die
Erkrankung des zweiten Auges wurde durch das Mittel nicht
verhindert. Auch die lokale Anwendung in Form subkonjimk-
ivaler Injektionen (dreimal 0-01 Salvarsan nach vorausgegangcncr
ntraglutäaler Injektion) brachte keinen Stillstand des Hornhaut-
irozesses. Dies Versagen des Präparates erklärt sich nicht so,
Laß das Salvarsan nicht in die Kornea gelangt. Es konnte im
Experiment nach intravenöser und auch nach subkutaner Zufuhr
herapeutischer Dosen ca. 20 Stunden lang Arsen, sogar in der
licht vaskularisierten Hornhaut, nachgewiesen werden. — (Aliin-
hener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 16.) G.
*
505. Gehirn und Psychose. Von Dr. E. Funkhäuser,
rivatdozent in AValdau bei Bern. Die moderne Schule will die
von ihr weitgefaßten funktionellen Störungen (bei den sogenannten
unktionellen Psychosen) zurückführen auf Störungen psychischer
Mechanismen, ausgelöst durch gewisse Erlebnisse, schwere psy-
hische Eindrücke. Die histologische Untersuchungsmethode wird
zugunsten der psychoanalytischen Methode für wertlos erklärt,
dementgegen weist Funkhäuser darauf hin, daß die anatomische
Erforschung der Psychosen doch einen entschiedenen praktischen
Wert hat. Denn alle Fortschritte in der Psychiatrie verdanken
- wir entschieden in erster Linie der histologischen Forschung.
Dio Aufgabe der Histologie ist allerdings nicht leicht, ihre Fort¬
schritte sind langsam, aber sie rechtfertigen die Fortsetzung der
Arbeit vollauf. — (Korrespondenzblatt für Schweizer' Aerzte 1910,
40. Jahrg,, Nr. 35 und 36.) K. g.
*
506. Zur Behandlung der progressiven Para¬
lyse mit Nukleinsäureinjektionen. Von Dr. Josef
Loew enstein, leitender Arzt der Le waldschon Heilanstalt in
Obernigk bei Breslau. Im vergangenen Jahre wurden bei 15 Para¬
lytikern Nukleinsäureeinspritzungen gemacht; zwei Kranke entzogen
sich rasch der Behandlung, es bleiben also für die Beurteilung
13 Fälle übrig. In der Regel wurde 10 Natrium nueleinicum in
I0°/Oiger Lösung in Intervallen von 6 bis 7 Tagen cingespritzt
8 Patienten erhielten je 8 g Nuklein, 5 Patienten von 9 bis 17 g.
Es trat innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Einspritzung eine
Temperatursteigerung zwischen 38 bis 39°, in mehreren Fällen bis
40° auf; war die Temperaturerhöhung — gegen Schluß der Kur
— geringer, so wurde die Einzeldosis auf 15 g erhöht, worauf
wieder Temperaturen über 38° einlraten. Der Verfasser bringt so¬
dann 13 kurze Krankengeschichten und fügt bei, daß in allen
Fällen die Diagnose der Paralyse durch den klinischen Verlauf, in
der Mehrzahl auch durch den Blut- und Liquorbefund sichergestellt
sei. In 1 1 Fällen war der Erfolg der Nukleinbehandlung völlig
negativ. 6 dieser Fälle befanden sich in einem frühen oder
relativ frühen Stadium der Krankheit (seit dem Ausbruch einige
Monate, Wochen oder gar Tage), in den 5 übrigen, auch unbe¬
einflußten Fällen, hatte die Krankheit schon längere Zeit (1 bis
2 Jahre) bestanden. Von diesen 11 Kranken sind 3 gestorben, die
übrigen 8 befinden sich bereits im Stadium der terminalen Demenz.
2 Fälle haben eine ziemliche, bzw. recht gute Besserung erfahren.
In beiden Fällen hat jedoch die Besserung schon vor dem Beginn
der Nukleinbehandlung eingesetzt, in 1 Falle wurde überdies vor
und nach den Einspritzungen von Nuklein auch eine andere Kur
(Hg-Schmierkur, später Ehrlichs Arsenophenolglyzin) angewandt,
so daß das Resultat als ungewiß bezeichnet werden muß. Im zweiten
Falle ist die Beobachtungszeit noch zu kurz. Keinesfalls sind durch
die Nukleinbehandlung mehr und bessere Remissionen erzielt worden,
als sie bei der Paralyse auch ohne jede spezielle Behandlung Vor¬
kommen. Ob diese Behandlung geschadet hat (ein Fall bekam Er¬
regungszustände während, paralytische Anfälle kurz nach der Kur,
ein Fall starb nach der 6. Injektion im Kollaps, ein Fall bekam
während zweier Kuren paralytische Anfälle), läßt sich auch nicht
entscheiden. Diese ungünstigen Erscheinungen decken sich mit den
jüngst von Klieneberger mitgeteilten Beobachtungen. Verf.
hat sich deshalb nicht veranlaßt gesehen, die Versuche fortzusetzen.
— (Berliner klin. Wochenschr. 1911, Nr. 16.) E. F.
*
507. (Aus dem chemischen Laboratorium der psychiatri¬
schen Universitätsklinik zu München.) Ueber eine angeblich
für progressive Paralyse charakteristische Reak¬
tion im Harn (mit Liquor Bellostii). Von Doktor
H. AI. Stucken. Jeffimoff hat eine für Helminthiasis cha¬
rakteristische Reaktion angegeben. Wenn man einen solchen Harn
mit fünf bis zehn Tropfen einer salpetersauren Lösung von Mer-
kurnitrat versetzt und kocht, bildet sich ein schwarzer Nieder¬
schlag. Das Reagens ist als Liquor Bellostii längst bekannt.
Butenko hat kürzlich diese Reaktion für die progressive Para¬
lyse als charakteristisch hingestellt. Unter' 50 Fällen von Para¬
lyse fand er sie 42mal positiv, unter 1 20 Fällen anderer Psy¬
chosen nur viermal* Verf. hat die Reaktion nachgeprüft an einem
Material von 157 Fällen. Unter den 27 Paralytikern gaben sechs
Fälle niemals die Reaktion. Bei 18 Fällen fehlte sie zeitweise.
Nur drei Fälle waren bei wiederholter Untersuchung stets positiv.
Fünf Fälle von Hirnlues reagierten stets positiv. Von elf Fällen
arteriosklerotischer und seniler Psychosen reagierten acht zeit¬
weise positiv; ebenso zwei Fälle von Tabes. Von 13 Epilep¬
tikern reagierten fünf stets negativ. Unter 23 Fällen von Dementia
praecox reagierten 20 stets negativ, 13 zeitweise positiv. Unter
elf Fällen von. chronischem, Alkoholismus reagierten sechs zeit¬
weise positiv. Bei 17 Fällen von manisch-depressivem Irresein
waren fünf zeitweise positiv. Bei verschiedenen anderen Psy-
722
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
cbosen wurde die Reaktion neunmal positiv gefunden. Daraus
ergibt sich, daß die Reaktion für Paralyse nicht spezifisch ist.
Verf. hat aber auch die Harne von anderen Kranken untersucht
und gefunden, daß dieser Reaktion keine ausschlaggebende Be¬
deutung zukommt. Es läßt sich nach Maßgabe der Untersuchungen
nur sagen, daß sie bei luetischen und metaluetischen Erkran¬
kungen des Zentralnervensystems ^besonders häufig ist. Verf. teilt
noch eine Reihe von Beobachtungen über den Chemismus dieser
Reaktion mit. Butenko war der Ansicht, daß die in Frage
kommenden Körper Lipoide seien, welche als Abbauprodukte
des Zentralnervensystems in den Ham übertreten. Da Verfasser
aber die Reaktion auch bei Erkrankungen, die das Zentralnerven¬
system intakt lassen, ifand, ist diese Ansicht hinfällig. Nach J ef-
f im off tritt Idle Reaktion bei Helminthiasis auf. Verf. ver¬
suchte nun die Reaktion mit Oelsäuix?, die bekanntlich als spe¬
zifisches Gift mancher lierminthen gilt, aber mit negativem Erfolg.
Bei s ole sucht in Zerfallsprodukten der nukleinreichen Gehirn¬
zellen die reagierenden Substanzen. Dagegen besteht der gleiche
Einwand wie 'gegen Butenko. Verf. fand eine außerordent¬
liche Empfindlichkeit der reagierenden Substanz gegen Säure.
Säuert man. einen positiv reagierenden Ham mit wenigen Tropfen
Salpetersäure oder Essigsäure an, so gelingt die Reaktion ent¬
weder nicht mehr oder sie fällt bedeutend schwächer aus. Dies
beruht nur auf der Säureempfindlichkeit der Substanz. Denn
das Resultat ist dasselbe, wenn man die zugesetzte Säure vor
dem Anstellen der Reaktion genau mit Natronlauge oder kohlen-
saurem Natrium neutralisiert hat. Da nativsaure Harne ver¬
wendet wurden, kann diese Erscheinung auch nicht auf Neutra¬
lisierung von freiem Ammoniak beruhen. Die positiv reagieren¬
den Harne sind übrigens durchgehends ziemlich sauer. Der Ver¬
fasser hat auch versucht, um die Natur der reagierenden Substanz
festzustellen, dieselbe mit Baryt auszufällcn. Fällt man posi¬
tiven Harn mit heiß gesättigter Barytlösung vollständig aus und
entfernt mit Kohlensäure den überschüssigen Baryt aus dem
Filtrat, so reagiert nur das Filtrat, nicht aber der Barytnieder¬
schlag positiv. Die reagierende Substanz gehört also nicht der
Oxyproteinsäurefraktion an, da diese Körper mit Baryt quan¬
titativ ausfallen. Die Reaktion ist auch nicht abhängig vom
Azetongehalt des Harnes. Azeton reduziert beim Erwärmen den
Liquor Bellostii, ein Hinweis, daß die Schwarzfärbung des Harnes
sehr wohl auf der Anwesenheit reduzierender Substanzen, wie
Ketonen oder Aldehyden, beruhen konnte. Auch mehrfach liydro-
xylierte Benzolderivate könnten in Frage kommen. Keineswegs
ist die Annahme des Entstehens von Quecksilber -Nifroammoniak
vorläufig zuzugeben. Verf. resümiert: In manchen Harnen, so¬
wohl von körperlich schwer Kranken, als körperlich anschei¬
nend Gesunden tritt beim Erhitzen mit Merkuronitrat in schwach
salpetersaurer Lösung eine Schwärzung des Niederschlages auf,
die wahrscheinlich auf Reduktion beruht. Diese Reaktion ist
für keine Erkrankung spezifisch. Die reagierende Substanz ist
gegen Erhitzen stabil, gegen Säure sehr empfindlich, in Aether
nicht löslich. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 16.)
' [J i i I ; | G.
♦
508. Zur Frage der sogenannten »Pseudomen¬
struation«. Von Priv.-Doz. Dr. Maximilian Neu. Neu wirft die
Frage auf : In welchem Verhältnisse stehen die alsbald nach Ope¬
rationen am inneren Genitale auftretenden Blutungen zum indivi¬
duellen Menstruationstypus ? Studiert wurden sämtliche Adnexopera¬
tionen unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob die Blu¬
tungen nur nach Ovariotomien oder auch nach anderen Adnexope¬
rationen auftraten. Das Resultat der Untersuchungen war folgendes :
Die postoperative Blutung tritt nach allen Adnexoperalionen auf,
wenn das Intervall zwischen der letzten Menstruation (bzw. der
Abortblutung bei Tubergravidität) und der Operation mehr als
14 Tage beträgt. Ist dagegen dieses Intervall geringer als 14 Tage,
so tritt keine Blutung ein. Die postoperative Blutung tritt am
zweiten oder dritten Tage nach der Operation auf und pflegt an
Dauer und Stärke den gewohnten Periodenblutungen gleich zu sein.
Neu faßt diese Blutung als eine antezepierte Periodenblutung auf
und schließt, daß die sogenannte » Pseudomenstruation « keine zu¬
fällige Blutung ist, sondern einer vollwertigen Menstruationsblutung
entspricht; ihre Auslösung geschieht, allgemein gesagt, durch den
Reiz der Operation, wobei der Reizweg hypothetisch bleibt. —
(Zentralblatt für Gynäkologie 1911, Nr. 10.) E. V.
*
509. (Aus dem Ncrvenambulatorium1 der ersten medizini¬
schen Klinik des Prof. Dr. C. v. Noorden.) Klinische
Studien über die Zukunft nervenkranker Kinder mit
spinalen und zerebralen Lähmungen. Von Dr. Richard
Stern. Um neue Handhaben für die Befestigung des Begriffes
der Disposition zu gewinnen, widmete sich der Verfasser dem
Studium der weiteren Lebensschicksale solcher Individuen, welche
bereits im Kindcsalter die Zeichen einer organischen Erkrankung
darboten, zu welchem Zwecke er als Ausgangspunkt die spinalen
und zerebralen Lähmungen des Kindesalters wählte. Zunächst
bearbeitete er das Material veralteter Poliomyelitisfällc. Er über¬
zeugte sich bald von der Tatsache, daß sich die Träger alter
Kinderlähmungen fast durchwegs recht wohl befanden und, ab¬
gesehen von den Residuen ihrer infantilen Erkrankung, keine
Zeichen anderer organischer Nervenleiden oder anderer Organ¬
erkrankungen trugen. Obwohl die Untersuchungen des Verfassers
ihn durch ihre unerwarteten Resultate von dem ihnen zugrunde
liegenden Gedanken abdrängten, kam er doch zu Ergebnissen,
die er, als mit den in der Literatur verbreiteten Anschauungen
in einem gewissen Widerspruche stehend, zu deponieren wünschte.
Diese Ergebnisse bilden demnach den Inhalt der vorliegenden
umfangreichen Arbeit, in welcher 107 Beobachtungen von Indi¬
viduen Verwertung finden, die Residuen einer alten spinalen
Kinderlähmung trugen. Die Ergebnisse der Studien des Verfassers
im Detail- anzuführen, überschreitet die einem: Referate gezo¬
genen Grenzen. Im allgemeinen soll nur gesagt sein, daß die
poliomyolitische Erkrankung selbst weniger das Forschungsziel
des Verfassers war, sondern die Beurteilung des Gesamtbefindens
der Kranken, zumal die Frage, ob etwaige spätere Nerven- oder
Organerkrankungein ausgeschlossen waren, was er teils an der
Hand der Protokolle, teils durch Revision beantwortete. — (Jahr¬
bücher für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 32, H. 1 und 2.)
S.
*
510. (Aus dem königlichen Krankenstift Zwickau.) Heber
die Anwendung der Suprareuinanämie hei Opera¬
tionen am Schädel und der Wirbelsäule. Von Professor
Dr. H. Braun. Verf. benützt bei Schädeloperationein:, um die
oft sehr störenden Blutungen aus den Weichteilen zu verhindern,
eine Methode, die bei ihrer Sicherheit und Ungefährlickeit wert
ist, allgemeine Verbreitung zu erlangen. Die Technik der Methode
ist identisch mit der der Lokalanästhesie. Er umspritzt das
Operationsfeld mit Voriger Novokainlösnng, der eine Spur Supra
renin beigemischt ist. Zur Herstellung der Lösung werden die
Höchster Novokain-Suprarenintabletteto A (0-125 Novokain, 0 0001 2
Suprarenin) benutzt. Eine Tablette wird in 25 cm3 Kochsalz
lösung aufgelöst. An Stellen des Schädeldaches, die nicht mit
Muskelschicbten bedeckt sind, ist die Technik sehr einfach. Durch
Quaddeln wird das Operationsfeld markiert und dann die Lösung
subkutan von einer Quaddel zur andern eingespritzt. Auf eine
Injektionslinie von 5 bis 6 cm kommen c'a. 5 cm3 Flüssigkeit.
Nach Ablauf von fünf bis zehn Minuten kann die Durchtrennung
der Weichteile unter sehr geringer Blutung vorgeinommen werden:
nur die größeren Gefäße bluten und müssen gefaßt werden. Wo
dickere Muskelschichten vorhanden sind, ist die Technik schwie¬
riger ; hier genügt nicht die subkutane Umspritzung des Opera¬
tionsfeldes, sondern hier muß der ganze Querschnitt des den
Schädel bedeckenden Muskels mit der Lösung durchtränkt werden,
dann ist aber auch die Blutstillung eine vollständige. Aehnlich
ist auch die Technik bei Laminektomie, bei der sonst die Blutung
aus den Weichteilen sehr störend wiikt. Einige instruktive Zeich¬
nungen erläutern die Beschreibung der Methode in wirksamer
W p i
— (TViifsrhcv Zmtsr.hrifl: für Chir
n pcn p
Rrl
1 07 TT t X bis 6.)
se.
*
511. (Aus der medizinischen Klinik der Akademie Düssel¬
dorf. — Prof. A. Hoffmann.) Die hämos typ tische Wir¬
kung der Gliederabschn iirung. Von Privatdozent Doktor
R. va;n der Velden, Oberarzt, Dozent für innere Medizin and
angewandte Pharmakologie. Das Abbinden der Glieder, das beißt
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
723
die Verhaltung von Blut in den Extremitäten durch teilweise
Hemmung des venösen Abflusses bei erhaltener arterieller Zufuhr,
wird seit den Zeiten der hippokratischen Schule zu lxämoslatischen
Zwecken angewendet und scheint auf den ersten Blick einer
näheren Erklärung nicht zu bedürfen. Indes schien es van
der Velden, daß so eklatante hämostatische Effekte, wie sie
von alten und neuen Autoren gemeldet wurden, nicht allein
begründet werden könnten durch die entlastende Wirkung der
Abbindung, sondern er vermutete, daß in Analogie mit der Wir¬
kung des Aderlasses vielleicht doch auch eine Veränderung der
Gerinnungsfähigkeit des Blutes im Sinne einer Erhöhung statt¬
finde. In der Tat bestätigten seine klinisch -experimentellen
Untersuchungen diese Vermutung, indem van der Velden eine
starke Erhöhung der Gerinnungsfähigkeit des Blutes sowohl im
Kapillarblut der gestauten Extremität, als in dem des freien Rumpf-
kreislaufs, nachweisen konnte. Es kann demnach bei jeder Blutung,
mag sie nun im großen oder kleinen Kreislauf liegen (selbstver¬
ständlich nicht im Bereich der Extremitäten, die abgeschnürt
werden sollen, und vorausgesetzt natürlich, daß es eine Blutung
per r hexin ist, was bei Empfehlung hämostyptischer Prozeduren
sehr leicht vergessen wird) die Abbindung in der alten, tradi¬
tionellen Weise sein- wohl vorgenommen werden u. zw. genügt
es im allgemeinen, wenn nur zwei Extremitäten, zum Beispiel
beide Beine, möglichst hoch oben abgebunden werden. Es em¬
pfiehlt sich, diesen Eingriff möglichst akut einsetzen zu lassen
'.also nicht nach und nach abbinden), da je plötzlicher das
osmotische Gleichgewicht im Körper gestört wird, desto ener¬
gischer die Regulation von seiten der Gewebe stattfindet und
liiemit die geriiinungsbefördemde Substanz eingeschwemmt wird.
Im Durchschnitt genügt es, die Binden eine halbe Stunde liegen
zu lassen. Jedenfalls kann man die altbekannte Abbindung der
Extremitäten unter jene therapeutischen Maßnahmen zählen,
welche bei richtiger Indikation und Ausführung einen sicheren
Erfolg versprechen, soweit ein solcher überhaupt im Bereiche
der Erfolgsmöglichkeit liegt. — (Zeitschrift für experimentelle
l’athologie und Therapie 1911, Bd. 8, II. 3.) K. S.
*
Aus russischen Zeitschriften.
512. Protrahierte warme Bäder in der psy¬
chiatrischen Praxis. Von S. A. Ssuchanow (Sankt
Petersburg). Verf. hat eine Anzahl von Beobachtungen über die
frage angestellt, welchen Einfluß die Anwendung- protrahierter
warmer Bäder auf psychiatrische Kranke hat und ist dabei zu
olgenden Resultaten gelangt. Besonders günstig wirken protrahierte
warme Bäder bei katatonischer und maniakalischer Erregung. Es
st. damit ein Mittel zur Bekämpfung aggressiver Anfälle und der
Neigung solcher Kranken zur Unreinlichkeit gegeben. Die er¬
wähnten Bäder üben eine sehr merkliche beruhigende Wirkung
ms und verbessern den Schlaf. Bei rationeller Anwendung wird
weder ein ungünstiger Einfluß auf den Appetit noch auf das
>hysische Allgemeinbefinden der Patienten beobachtet. Die Technik
st sehr einfach. Es ist zunächst dafür zu sorgen, daß eine ge¬
nügende Anzahl von Badewannen für die betreffende Abteilung zur
Verfügung steht. Die Badedauer betrug eine bis mehrere Stunden
)ei 28° R. Die Bäder wurden meist während des Tages verabreicht,
iodoeh wenn es der Zustand der Kranken erforderte, auch nachts.
Praktitscheskij VVratsch 1911, Nr. 7.) J. Sch.
*
513. (Aus der Abteilung des Dr. L. B. Buchstab dos
israelitischen Hospitals zu Odessa.) Zur Frage der Heine-
Nied in sehen Krankheit. Von W. D. Selen skij. Die Tat-
-ache, daß in Westeuropa in den letzten Jahren Poliomyelitis acuta
'pidemisch auftrat, ließ es gerechtfertigt erscheinen, in Rußland jedem
'inzelnen Falle dieser Krankheit besondere Aufmerksamkeit zu
widmen. Verf. beschreibt nun einen Fall, welcher einige sehr ausge-
nägte Besonderheiten des Krankheitsverlaufes darbot. Neben dem Alter
— cs handelte sich urn eine 39jährige Frau — war es der fulminante
Verlauf der Krankheit. Exitus nach fünf Tagen, welcher auffallend
war, ebenso das Auftreten der zum Tode führenden Störungen von
’eilen des Atem- und Schluckzentrums. Diese letztere Lokalisation
lös Giftes ist nach epidemiologischen Erfahrungen besonders selten.
Merkwürdig war auch der Entwicklungsgang der Lähmungen. Diese
begannen nämlich an den oberen Extremitäten, gingen dann auf
den Fazialis, ferner aut die untere linke Extremität und dann
unerwarteterweise aul das verlängerte Mark über. Blasen- und
Mastdarmstörungen bestanden nicht. Das Bewußtsein blieb bis kurz
vor dem lode erhalten. Verl, gibt eine genaue Lileraturübersicht.
(Russkij Wratsch 1910, Nr. 39.) L. Sch.
*
514. (Aus der Jurjewschen Universitätspoliklinik und dem
Berliner anatomischen Institute.) Zur Symptomatologie
und Differential diagnose der Mitralstenose. Von
Prof. N. A. Ssaweljew. Auf Grund genauer anatomischer
Untersuchung von neun Fällen und klinischer Analyse gelangt
Verf. zu folgenden Schlußfolgerungen. Wenn der linke Vorhof ver¬
größert ist, so übt er auf die Aorta einen Druck aus u. zw. nicht
unmittelbar, sondern durch die dazwischen liegende Pulmonalarterie ■
dieser Druck läßt sich willkürlich vergrößern, indem man die
Körperlage des Patienten wechselt — durch Ueberführen aus der
Vertikal- in^ die Horizontalstellung. Bei Versuchen .mit Injektion
läßt sich zeigen, daß, wenn man den Patienten auf den Rücken
legt, ihn ein wenig nach rechts dreht und zugleich das Beckenende
etwas hebt, daß dann der Druck des linken Vorhofes auf den
unteren 1 eil des Aortenbogens, i. e. den Teil, der von oben dem¬
jenigen Aortenabschnitt entspricht, wo an einer Seite die Anonyma,
an der anderen die Carotis communis sinistra und subclavia sinistra
entspringen, noch größer wird. Auf diese Weise bestätigen auch
die anatomischen Daten die Ansicht des Verfassers, daß bei manchen
Patienten mit Mitralstenose die oben erwähnte Lageveränderung
des Körpers in manchen Fällen differentialdiagnostisch von Wichtig¬
keit ist, wenn es darauf ankommt, die Differentialdiagnose zwischen
Mitralstenose und Aneurysma des Aortenbogens zu stellen. (Prak¬
titscheskij Wratsch 19 fO, Nr. 34/35.) J. Sch.
*
515. (Aus der Jurjewschen Universitätspoliklinik.) Ueber
Darmgase, Aufblähung des Darmes, mechanische
B e s e i t i g u n g dieser Aufblähung und über ein Gas¬
ableitungsrohr. Von Prof. N. A. Ssaweljew. Die Rolle
der Darmgase ist eine mannigfaltige. Ihre wichtigste Funktion ist
eine statische, als Hilfsmittel die gegenseitige Lagerung der Bauch¬
eingeweide entsprechend zu erhalten ; weiters dienen sie sozusagen
als Luftkissen, um bei mechanischen Insulten von außen einen
Schutz zu bieten. Eine weitere Aufgabe besteht darin, das Lumen
des Darmes entfaltet zu erhalten, wodurch sowohl Peristaltik als
auch Resorption gefördert werden. Anderseits ist ein Mißverhältnis
zwischen Tonus der Darmmuskulatur und Druck der Darmgase zu
gunsten der letzteren unter Umständen schädlich und es gehört
daher zu den Aufgaben der praktischen Therapie, einen Ueberschuß
an Gasen aus dem Darme zu entfernen. Nach Besprechung der
üblichen Methoden und ihrer Fehler beschreibt Verf. ein von ihm
konstruiertes Darmrohr, welches mannigfaltige Vorteile bietet und
eine gewisse Vielseitigkeit der Anwendung erlaubt. Das Rohr ist
ein 2 m langes Gummirohr mit vier longitudinalen Rippen und
einem äußeren Durchmesser von 10 mm. An einem dem Unter¬
sacher zugekehrten Ende trägt es eine trichterförmige Verbreiterung
zwecks Verabreichung eventueller Enleroklysmen. In das proximale
Ende der Röhre sind in einer Ausdehnung von einigen Zentimetern
kleine Löcher in drei parallelen Reihen in die Wand der Röhre ge¬
bohrt. Diese Lochreiho stellt das wesentliche dar. Wird nämlich
bei Einführung des Darmrohres das distale Lumen durch Kot¬
massen verstopft, so strömt die zum Enteroklysma verwendete
Flüssigkeit durch die Löcher aus der Röhre, erweicht und erodiert
allmählich die Stuhlmassen und macht dieselben durchgängig. Zu¬
gleich können Gase, die sich diesseits der Sfuhlmasse befinden,
durch die Löcher ihren Weg in das Lumen des Darmrohres finden.
Das Rohr kann auch zu Insufflationen verwendet werden. (Wra-
tschebnaja Gazeta, XVII. Jahrg., Nr. 37.) J. Seit.
*
516. Ueber Auskultation der S ch 1 u ck g e r äu sch e
als Methode zur Diagnostizierung von Speise¬
röhren- und Kardiaverenger ungen sowie ihre Be¬
deutung für die versicherungsärztliche Praxis.
Von Ih. Hausmann (Tula). Als Ausgangspunkt seiner Aus¬
führungen diente dem Verfasser das Vorkommnis, daß ein Mann
einen Monat, bevor er an Oesophaguskarzinom stailt, in eine Ver-
724
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
Sicherungsgesellschaft aufgenommen worden war. Er knüpft daran
die Forderung, daß bei Aufnahme in eine Lebensversicherung die
Möglichkeit eines Oesophaguskarzinoms in den Kreis der Betrach¬
tungen zu ziehen sei. Da nun einerseits der Grad und die Be¬
deutung des »schlechten Aussehens« Sache subjektiver Beurteilung
sind, anderseits die probeweise Sondierung eines jeden Versicherungs¬
kandidaten ganz undiskutabel erscheint, 430 macht er auf ein Symptom
aufmerksam, welches trotz seiner großen Einfachheit und trotzdem
es in der Literatur — allerdings wohl nur den Spezialisten —
bekannt ist, noch keinen Eingang in die allgemeine ärztliche Praxis
gefunden hat. Es handelt sich um die Auskultation der Geräusche,
welche im Oesophagus beim Schlucken von Flüssigkeiten entstehen.
Nach Berücksichtigung der einschlägigen Literatur resümiert Verf.
wie folgt : Auskultiert man, während ein Mensch Wasser trinkt an
der Vereinigungsstelle zwischen linkem Rippenbogen und Brustbein,
so hört man zwei Geräusche. Das erste (primäre) folgt unmittelbar
auf den Schluckakt und ist inkonstant ; sieben bis zehn Sekunden
nach Beginn des Schluckaktes hört man ein zweites gurgelndes
Geräusch, welches den Durchtritt der mit Luft gemischten Flüssig¬
keit durch die Kardia entspricht (sekundäres Geräusch). Normaler¬
weise fehlt das sekundäre Geräusch nur dann, wenn das primäre
vorhanden ist und umgekehrt. Unter pathologischen Verhältnissen
können beide Geräusche fehlen, wie z. B. bei völligem Verschluß
der Kardia und bei großen Divertikeln etc. Bei Verengerungen der
Speiseröhre tritt das zweite Geräusch verspätet auf oder dauert
länger oder zerfällt in einige Teilgeräusche, welche von einander
durch ein größeres oder geringeres Zeitintervall geschieden wird. Dies
findet am häufigsten bei Carcinoma cardiae oder oesophagi statt. Als
Verspätung ist ein Zeitintervall nicht unter 20 Sekunden nach dem
Schlußakt anzusehen, als obere Grenze wurden 70 Sekunden fest¬
gestellt. Als pathognostisch ist nur die wiederholte und konstante
Verspätung anzusehen. Behufs praktischer Ausführung des Ver¬
suches läßt man die Versuchsperson einen Schluck Wasser im
Munde halten, um ihn auf das Kommando »schlucken!« zu
schlucken. Hierauf wird das Stethoskop auf die oben bezeichnete
Auskultationsstelle gesetzt, man läßt schlucken und erwartet das
Schluckgeräusch. Die Markierung der Zeit geschieht durch Um¬
rechnung der Zahl der Herzschläge, welche zwischen Schlucken und
Auftreten des Geräusches fallen, durch Umrechnen aus der vorher
festgestellten Pulsfrequenz auf Sekunden. Die Prozedur muß fttnf-
bis sechsmal wiederholt werden. Wenn nach 70 Sekunden kein
Geräusch hörbar ist, so ist das Auftreten eines solchen nicht mehr
zu erwarten und der Verdacht eines vollkommenen Kardiaverschlusses
oder eines Divertikels gerechtfertigt. Verf. empfiehlt das Verfahren
auch in der versicherungsärztlichen Praxis zu verwenden. (Prak-
tilscheskij Wratsch 1911, Nr. 8.) ' J. Sch.
Sozialärztliche Revue.
Von Dr. L. Sofer.
Die von uns in der Nummer 10 angekündigte internationale
Beratung in Paris hat stattgefunden. Sie sollte das Material
für die im Mai stattfindende Konferenz vorbereiten. Diese ist
in erster Linie von der Türkei angeregt worden, die bereit ist,
der internationalen Akte zur Seuchenbekämpfung jetzt
beizutreten, unter der Voraussetzung, daß die Bestimmungen
über den internationalen Gesundheitsrat einer Umgestaltung unter¬
zogen werden. Auch Italien hat Vorschläge unterbreitet wegen
Milderung gewisser Ausfuhrsbeschränkungen, die für einige seiner
Produkte aus Anlaß der letzten Choleragefahr erlassen waren.
Die Pest in Ostasien steht in keinem unmittelbaren Zusammen¬
hang mit der bevorstehenden Konferenz, indessen sind bei der
Vorberatung auch bereits einige Maßnahmen zur Verhinderung
der Ausbreitung der Seuche Gegenstand von Erwägungen gewesen:
In der letzten Ausgabe des Reichsgesetzblattes ist das
internationale Uebereinkommen, betreffend d as
Verbot der industriellen Nachtarbeit der Frauen,
das am 26. September 1906 von den bevollmächtigten Vertretern
Belgiens, Dänemarks, des Deutschen Reiches, Frankreichs, Gro߬
britanniens, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Oesterreich-
Ungarns, Portugals, Schwedens, der Schweiz und Spaniens zu Bern
unterzeichnet worden ist, veröffentlicht. Zugleich wird unser Gesetz
vom 21. Februar 1911, das das Verbot ausspricht, kundgemacht. Der
Vereinbarung gemäß wird das internationale Uebereinkommen in
den genannten Signatarstaaten mit Ausnahme von Dänemark und
Spanien vom 14. Januar 1912 in Kraft treten und nicht vor dem
14. Januar 1922 gekündigt werden können. -Unser Gesetz ver¬
bietet grundsätzlich die Beschäftigung von Frauen und Mädchen
zur Nachtzeit, d. i. zwischen 8 Uhr abends und 5 Uhr morgens
bei allen industriellen Unternehmungen, in denen mehr als zehn
Arbeitspersonen in Verwendung stehen; die den Arbeiterinnen
zu gewährende Nachtruhe muß mindestens elf aufeinander
folgende Stunden betragen. Das Gesetz tritt im allgemeinen am
1. August 1911, speziell für Zuckerfabriken aber erst am
1. Januar 1915 in Kraft.
Eine bedeutsame Nachricht kommt aus Italien. Der neue
Ministerpräsident G i o 1 i 1 1 i hat in der Kammer die Schaffung
eines Lebensversicherungsmonopols angekündigt.
Das Erträgnis dieses Monopols soll einer Kassa für die Alters¬
und Invaliditätsversicherung der Arbeiter gewidmet werden.
Sollte dieses Projekt verwirklicht werden, so müßte für die Ver¬
staatlichung der bestehenden italienischen Versicherungsgesel!
schäften Sorge getragen werden, was, abgesehen von den erfor¬
derlichen Kapitalien, auch vom versicherungstechnischen Stand¬
punkt nicht leicht wäre; durchgeführt ist dieses Monopol nur in
Neu-Südwales. Jedenfalls geht Giolitti von der richtigen An¬
sicht aus, daß zu der Ausführung der Sozialversicherung nicht
nur ein kunstvoller Aufbau von Paragraphen, sondern auch —
Geld gehört. Vielleicht ist es nicht überflüssig, gerade in Oester- j
reich, wo wir vor tief einschneidenden Reformen und Neu¬
schöpfungen auf diesem Gebiete stehen, daran zu erinnern.
Im Deutschen Reiche ist zu verzeichnen, daß das M edi-
zinalwesen vom Kultusministerium auf das Mini¬
sterium des Innern übergegangen ist. Es verbleiben beim Mini- ■
sterium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten : 1. Die
Angelegenheiten des medizinischen, des zahnärztlichen und des |
pharmazeutischen Studiums, sowie der ärztlichen und zahnärzt- ;
liehen Vorprüfung; 2. die Verleihung des Professortitels, sowie |
die Erteilung der Erlaubnis zur Führung eines außerdeutschen
Doktortitels und eines außerpreußischen Professortitels an Aerzte,
Zahnärzte, Apotheker und sonstige Angehörige der Medizinal- 1
Verwaltung; 3. das Institut für experimentelle Therapie in Frank¬
furt a. M. Zu dem an das Ministerium des Innern übergehenden j
Geschäftsbereich gehören : 1. Die wissenschaftliche Deputation
für das Medizinalwesen, der Apothekerrat und die technische
Kommission für pharmazeutische Angelegenheiten ; 2. das Institut |
für Infektionskrankheiten in Berlin, die Versuchs- und Prüfungs¬
anstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung in Berlin, j
die hygienischen Institute in Posen, Beuthen und Saarbrücken, die
Medizinal-Untersuchungsämter und -Stellen, die Impfanstalten.
Ferner die Bearbeitung der Vorschriften über die Prüfungen, das |
praktische Jahr der Mediziner, die Erteilung der Ermächtigung
zur Beschäftigung von Medizinalpraktikanten, die Erteilung der j
Approbation als Arzt, Zahnarzt oder Apotheker, auch in den ;
Fällen, in denen sie unter Befreiung von den ärztlichen, den
zahnärztlichen oder pharmazeutischen Prüfungen erfolgt, sowie
die Erteilung des Ausweises als Nahrungsmittelchemiker; ferner
das Fortbildungswesen, die Akademien für praktische Medizin
in Köln und Düsseldorf, endlich die Errichtung und der Betrieb
von Spitälern, Wöchnerinnen-, Säuglings- und Krüppelheime, der
Schutz der Genfer Konvention, endlich die Angelegenheiten des
niederen Heilpersonals, der Krankenpfleger, der Desinfektoren,
der Hebammen, der Hebammenlehranstalten, die Nahrungsmittel¬
kontrolle, die Bekämpfung des Alkoholismus, und das öffent¬
liche Badewesen, sowie die Anerkennung von Mineral- und
Thermalquellen als „gemeinnützige“ im Sinne des Quellenschutz¬
gesetzes.
Diese Neuregelung entspricht ungefähr den bei uns be¬
stehenden Verhältnissen. Der Wunsch der Aerzte nach Vereinigung !
aller Agenden in ein eigenes Ministerium bleibt aber aufrecht, bei uns
und auch drüben. Allerdings hat vorläufig dieser Wunsch nur Aus¬
sichten auf Erfüllung in Bulgarien. Wir haben über diese Bestre¬
bungen schon kurz berichtet ; das Ministerium für Volkswobl
soll die in manchen Gebieten Bulgariens seit Jahrzehnten endemische j
Syphilis mit Hilfe von Salvarsan bekämpfen ; es soll eine Form
gefunden werden, Ehen zwischen belasteten Personen zu er¬
schweren; mit den Schulen auf dem Lande sollen Badestuben
verbunden werden ; die Kreisärzte sollen mit Gehilfen versehen
werden, denen besonders die Aufsicht über die Gesundheit in
den Schulen anvertraut wird. Bei der Jugenderziehung soll die
Ausbildung des Körpers in ein vernünftiges Verhältnis zu der
des Geistes gebracht werden. Die Beaufsichtigung aller die Gesund
heit schützenden Maßregeln in den Städten, die Einrichtung der
Quarantänen, die Krankenhäuser und Altenheime, die Irrenhäuser
und Hilfsstationen für Unglücksfälle, ebenso wie die Aufsicht in
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
725
Nr. 20
■
den Fabriken und Bergwerken sollen in das Arbeitsbereich des
neuen Ministeriums gehören. Ferner sollen Wanderlehrer an¬
gestellt werden, die in volkstümlicher Sprache den Bauern Vor¬
träge halten und Belehrungen erteilen sollen.
Trotz des Reichtums an Universitäten, Akademien, und
Instituten in Deutschland, zu dem wir nicht ohne ein Gefühl des
Neides emporblicken können, denkt man an die Neugr ün d u n g
von Universitäten. Von dem Hamburger Pianist es
allerdings still geworden. Man hat sich dahin entschieden —
wenigstens vorläufig — ein großartiges Kolonialinstitut zu
errichten, verbunden mit einem bereits bestehenden Institut für
Schiffs- und Tropenkrankheiten. Dagegen steht der Plan, in F r a n k-
f u rt a. M. eine Universität zu errichten, beinahe vor seiner Verwirk¬
lichung. Frankfurt ist ohnehinSitz vieler vvissenschaftlicherÄnstalten.
ln die neue Universität sollen übergehen : Die Akademie für
Sozial- und Ilandelswissenschaften, die naturwissenschaftlichen
und medizinischen Einrichtungen der Dr. S e nk e n b e r g sehen
Stiftung und der Senkenberg sehen naturforschenden Gesell¬
schaft mit Ausnahme des Bürgerhospitals, die chemisch-pliysi-
kalisch-elektrochemisch-meteorologischen Institute des Physi¬
kalischen Vereines, die Kliniken und die sonstigen medizinischen
Institute der Stadt, sowie endlich die Stadtbibliothek und die
Dr. Senkenberg sehe Bibliothek. In Frankfurt sind bereits
wie oben bemerkt, zahlreiche Ordinarien vorhanden, nämlich
4 Juristen, 19 Dozenten der philosophischen Fakultät u. zw.
3 Nationalökonomen, 1 Geograph, 1 Germanist, 1 Romanist,
1 Anglist, 2 Philosophen, 1 Historiker, 1 Zoologe, 1 Botaniker,
1 Geologe und Paläontologe, 1 Chemiker, 1 Physiker, 1 Elektro¬
techniker, 1 Dozent für physikalische Chemie und Metallurgie,
1 Geophysiker und 1 Mathematiker. Für die medizinische Fakultät
kann man die Direktoren der Kliniken und medizinischen Institute
den Ordinarien für die betreffenden Spezialgebiete gleichstellen,
zumal bei Berufungen schon seit längerer Zeit eine gewisse
Rücksicht auf den etwaigen Lehrberuf genommen wurde. Solche
Direktorstellen sind 15 vorhanden, u. zw. für Chirurgie, innere
Medizin, Hautkrankheiten, Gynäkologie, Kinderkrankheiten (2),
Augenkrankheiten, Ohren-, Hals-, Nasen-, sowie Zahnkrankheiten,
für Geisteskrankheiten, für das pathologisch-anatomische,
hygienische, chemisch - physiologische und das neurologische
Institut, für das Therapeutikum für physikalische Heilmethoden
und endlich für Chemotherapie (Georg Speyer- Haus mit Paul
Ehrlich als Direktor), neben dem das Institut für experimentelle
Therapie als staatliche Einrichtung weiter besteht. Das ist zu¬
sammen ein Lehrkörper von 38 hauptamtlich angestellten Do¬
zenten, neben dem zahlreiche Privatdozenten und nebenamtliche
Dozenten, so z. B. für Archäologie, Kunstgeschichte, wissen¬
schaftliche Photographie, Sozialwissenschaft, Sprachen und
endlich — im Rahmen der schon bestehenden Handelshochschule
mehrere hauptamtliche Dozenten für Handels- und Versicherungs¬
wissenschaft wirken. xAlles in allem, würde die neue Universität
über 59 Ordinariate und Extraordinariate verfügen, dazu das
Heer von Hilfskräften und Beamten.
Frankfurt wendet heute schon für seine Institute 1,750.232 M.
jährlich auf; für die Kliniken allein 747.650 M. Die Gesamt¬
summe entspricht dem Aufwande der meisten preußischen Uni- I
versitäten. Königsberg 1,634.650 M., Greifswald 1,390.683 M., I
Kiel 1,805.588 M., Göttin gen 1,714.677 M., Marburg
1,384.239 M., Bonn 1,798.473 M. Der Etat für die neue Uni¬
versität Frankfurt baut sich auf einer Jahressumme von 2,100.000 M.
ruf, womit diese Hochschule in finanzieller Beziehung etwa auf
lie gleiche Stufe wie Breslau (2,193.554 M.) und Halle
1,051.592 M. rückt, aber noch günstiger dasteht, da in Frankfurt
lie theologischen Fakultäten wegfallen. Die einmaligen Auslagen
beziffert die Denkschrift, der wir diese Daten entnehmen, auf,
L1/ 2 Millionen M. Sie werden für die Erweiterung der Hörsäle
len Neubau 'einer normalen Anatomie, eines pharmakologischen
Institutes etc. benötigt. Die Stadt Frankfurt macht sich nun
■rbötig, diesen ganzen Aufwand selbst zu tragen, so daß dem
3taat die neue Universität gar nichts kosten wird. Trotzdem
•'ind noch Schwierigkeiten wegzuräumen, aber sie sind politischer
Natur.
Freunde und Schüler des am 6. Mai v. J. verstorbenen
Vof. Heinrich Curschmann beabsichtigen eine Marmorbüste
les Gelehrten im Krankenhause zu St. Jakob in Leipzig zu
■rrichten. Den Entwurf hat Prof. Max L a n g e geliefert. Man
gedenkt, das Denkmal wenn möglich, schon am 28. Juni, dem
■eburtstag des Verstorbenen, zu enthüllen.
\/ermisehte J'laehriehten.
Ernannt: Priv.-Doz. Dr. Er land sen zum Direktor des
hygienischen Laboratoriums in Kopenhagen. — Dr. Da eis zum
Professor der Geburtshilfe und Frauenheilkunde in, Gent.
Verliehen: Dr, G. Ruprich in St. Radegund das Ritter¬
kreuz des Franz Joseph - Ordens. — Priv.-Doz. Dr. Wilhelm
Pfeiffer in Kiel der Professortitel.
Habilitiert: Dr. Hans Käthe für Hygiene in Halle au
dei Saale. Dr. Zancla für Otologie in Rom. — Dr. Slan-
c aneil i für Dermatologie und Syphiligraphie in Neapel.
*
Gestorben: Der Professor der Geburtshilfe Dr. Cauwen-
berghe in Gent,;— Dr. St. Bull, Professor der Augenheilkunde
in New York.
*
Am 15. d. M. wurde unter reger Beteiligung aller inter¬
essierten Kreise der erste österreichische Tuberkulosetag abge¬
halten, dem Dr. Graf L arisch präsidierte. Der gewiß sehr viel
versprechende Gedanke der Zentralisierung des Kampfes gegen
die Tuberkulose in Oesterreich hat mit dieser ersten öffent¬
lichen Veranstaltung ihrer Gesamtorganisation eine sehr gelun¬
gene Realisierung erfahren. Ueber die Vorträge, Entschließungen
und so weiter soll demnächst von berufener Seite berichtet werden.
Am 25., 26. und 27. Mai wird in Wien die Delegierten¬
versammlung des R e i c h s v e r b a n d e s ö s t e r r e i c h i s c h e r
Aerzteorganisationen abgehalten. Die1 öffentlichen Sitzun¬
gen finden im großen Sitzungssaale der k. k. Gesellschaft der
Aerzte (Wien IX., Frankgasse), die vertraulichen Sitzungen Frei¬
tag den 26. und Samstag den 27. Mai (nachmittags von x/24 Uhr
ab) im Verhandlungssaale der Wiener Aerztekammer (Wien I.,
Börsegasse l) statt. Am 26. Mai, abends 8 Uhr, veranstalten
die Wiener und die niederösterreichische wirtschaftliche Organi¬
sation zu Ehren der Delegierten ein Bankett im Saale des
„Schlaraffia“ (Wien L, Börsengebäude).
*
Der Reichsverband österreichischer Aerzteorga¬
nisationen gibt, Avas im Hinblick auf die bevorstehenden Reichs¬
ratswahlen aktuell ist, die Forderungen der Aerzteschaft
an die Gesetzgebung bekannt. Sie betreffen: I. Die Sozial¬
versicherung u. zw. : 1. Bestimmung einer oberen Einkommens¬
grenze für die Krankenkassenversicherungspflicht (Kassenzwang)
von jährlich höchstens 2400 K, soweit dabei die Beistellung
unentgeltlicher ärztlicher Behandlung in Betracht kommt. 2. Der
freiwillige Beitritt zu einer obligatorischen Krankenkasse ist nicht
zulässig. Die Aerzteschaft verwahrt sich gegen die Zulässigkeit
des freiwilligen Beitrittes zu einer Krankenkasse, selbst bei Auf¬
rechterhaltung der Einkommensgrenze von 2400 K, also unter
allen Umständen. 3. Die Aerzteschaft Oesterreichs besteht auf
der ausdrücklichen Aufnahme einer Bestimmung in das Gesetz,
welche die Einführung der freien Arztwahl bei den obligatori¬
schen Krankenkassen, welche, soweit sie unentgeltliche ärztliche
Behandlung beizustellen verpflichtet sind, als gesetzliche Form
der Krankenbehandlung als zulässig erklärt. 4. Die Aerzteschaft
fordert zur Regelung der Honorarverhältnisse sowie Beilegung
von Meinungsverschiedenheiten zwischen Krankenkassen und
Aerzten die gesetzliche Schaffung von Vertrags- und Einigungs¬
kommissionen und die im Gesetze gebotene Möglichkeit zur Ab¬
schließung von Kollektivverträgen. 5. Die Aerzteschaft Oester¬
reichs kann sich für die Familien Versicherung nur bei Einführung
einer Einkommensgrenze nicht über 2400 K jährlich und der
ausdrücklich im Gesetze- ausgesprochenen Einführung der obliga¬
torischen freien Arztwahl für diesen Versicherungszweig aus¬
sprechen. Für diesen Fall ist sie dann für die obligatorische
Familienversicherung. Die Landärzte verlangen unter allen Um¬
ständen die im Gesetze gebotene Möglichkeit der Einführung der
obligatorischen Familienversicherung dort, wo deren Notwendig¬
keit von den dazu berufenen Faktoren (Aerzten, Bezirks ha upt-
mannschaften, Gemeinden) als gegeben erklärt wird. 6. Die Aerzte¬
schaft Oesterreichs verlangt die Regelung der Krankenversicherung
bei registrierten Hilfskassen und Vereinskrankenkassen. 7. Daß
bei Krankenkassen auch über die Erkrankungsfälle und die ärzt¬
lichen Leistungen bei den Erkrankten ohne Krankengeldbezug
Ausweise herausgegeben werden. 8. Fordern die Aerzte, daß die
Aerztekosten nicht gemeinsam mit den Kosten der Laienkontrolle
geführt werden, sondern in den Ausweisen gesondert davon -er¬
scheinen. II. Schaffung einer Aerzte Ordnung. III. Be¬
rücksichtigung der ärztlichen Forderungen in der Strafgesetz-
726
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
gebung. IV. Das Reichssanitäts- un,d Beiclisseuehen-
gosetz.
*
Der Unterstützung sv er ein für Witwen und
Waisen der k. u. k. Militärärzte in Wien hatte am
6. Mai d. J. seine diesjährige 45. Generalversammlung. Der
Präsident, Generaloberstabsarzt Prof. Florian Ritter Iv r at se linier
v. Forstburg begrüßte die anwesenden Mitglieder und kon¬
statierte deren Beschlußfähigkeit. Aus dein vorliegenden Rechen¬
schaftsberichte ist zu entnehmen, daß das Vereins vermögen sich
mit 666.957 K 30 h in Wertpapieren und 1U.1G6 K 26 h in
harem Gehle beziffert, ln dem Genüsse der regelmäßigen Jahres¬
bezüge standen 209 Witwen und 4 Waisen, welche zusammen
den Betrag von 41.390 K erhalten haben; für zeitliche Unter¬
stützungen wurden 1010 K verwendet. Ueber Antrag der Rech¬
nungsrevisoren, welche am 21. März d. J. eine genaue Skon-
trierung aller Kassendokumente und Protokolle vorgenommen und
hiebei alles in bester Ordnung befunden haben, wurde dem
Verwaltungskomitee das Absolutorium erteilt und den Vereins¬
funktionären für ihre außerordentliche Mühewaltung der beste
Dank ausgesprochen. Weiters folgte die Wahl mehrerer Funk¬
tionäre und ist der Ausschuß folgendermaßen zusammengestellt:
Generaloberstabsarzt Prof. Dr. Florian Ritter K rats chm er von
F orstburg (Präsident), Generalstabsarzt Dr. Franz J a e g g 1 e, Ge¬
neralstabsarzt Dr. Franz Jaeggle, Generalstabsarzt Dr. Josef
Haas; Oberstabsarzt erster Klasse Dr. Zdislaus Ritter v. Juch¬
no wicz-H or dynski (Kassier), Oberstabsarzt erster Klasse Pro¬
fessor Robert Ritter v. Töply, Oberstabsarzt zweiter Klasse
Dr. Jaroslav Hladik; Stabsarzt Dr. Bertold Red er (Sekretär),
Stabsarzt Dr. Anton Brosch; Stabsarzt Dr. Gustav Poliak
(Buchführer), Regimentsarzt Dr. Ernst Wimmer, Regimentsarzt
Dr. Wenzel Zeman, Regimentsarzt Dr. Viktor Ruß, Oberarzt
Dr. Wolfgang Wo ls egg er.
•*
Das Deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung
der Tuberkulose hält am 10. Juni, vormittags 10 Uhr, im
Plenarsitzungssaale des Reichstagshauses zu Berlin seine Gene¬
ralversammlung ab. Auf der Tagesordnung steht der Vortrag:
Die Aufgaben der Gemeinden zur Kinderfürsorge bei der Tuber¬
kulosebekämpfung. Besondere Einladungen ergehen nur an die
Mitglieder. Allen interessierten Kreisen stehen in der Geschäfts¬
stelle des Zentralkomitees, Berlin, Königin Augustastraße 11, so¬
weit der Platz reicht, Einlaßkarten unentgeltlich zur Verfügung.
*
Die Vereinigung zur Förderung des Hebammen¬
wesens hält ihre diesjährige (V.) Tagung in München am
6. Juni, vormittags 10 Uhr und nachmittags 4 Uhr,
im Hörsaale der königlichen Universitätsfrauenklinik ab. The¬
mata: 1. Vor- und Ausbildung der Hebammen. Referenten:
Baumm, Kroemer. 2. Fortbildung und Nachprüfung der Heb¬
ammen. Referenten: Flinzer, Poten, Walther. Vortrag:
Sem on- Königsberg: Die Entbehrlichkeit und weitere Einschrän¬
kung der inneren Untersuchung in der Hebammenpraxis. Be¬
grüßungsabend am 5. Juni, 8Va Uhr, im Künstlerhausrestaurant,
München, Lenbachplatz Nr. 8.
*
Cholera. Rußland. Zeitungsmeldungen vom 28. April
zufolge sind in St. Petersburg in den letzten Tagen 16 cholera¬
verdächtige Fälle gemeldet worden. In einem Falle wurden cho-
leroide Vibrionen mit sehr- schwacher Agglutination gefunden.
Am 30. April und 1. Mai ereigneten sich weitere vier cholera¬
verdächtige Fälle. In einem Bergwerke des Taganroger Bezirkes
ist am 1. Mai ein Cholerafall bakteriologisch festgestellt worden.
Offiziell wurden diese Mitteilungen bisher nicht bestätigt. —
Türkei. In Smyrna ist am 26. und 29. April je ein Choleratodes¬
fall fesjgestellt worden; außerdem sind zwei choleraverdächtige
Erkrankungen gemeldet worden. Provenienzen von Smyrna wur¬
den der ärztlichen Visite und Desinfektion unterworfen. — Phi¬
lippinen. Vom 1. Januar bis 4. März sind in den Provinzein
190 Erkrankungen an Cholera, davon 158 mit tödlichem Aus¬
gange, vorgekommen; die Hauptstadt Manila war cholerafrei.
Pest. Aegypten. In der Woche vom 14. bis 20. April
1911 ereigneten sich in Aegypten 101 (82) Pestfälle (Todesfälle)
und zwar in der Stadt Port Said 0 (l), in dein Provinzen Assiout
18 (12), Assouan 31 (24), Fayoum 2 (2), Guirgueh! 1 (l), Kcneh
34 (31), Menoufieh 11 (9), Minieh 4 (2); in der Woche vom
21. bis 27. April 73 (52) Pestfälle (Todesfälle), u. zw. in den
Provinzen Assiout 9 (4), Assouan 10 (10), Fayoum 7 (5), Keneh
26 (20), Menoufieh 17 (ll), Minieh 4 (2). Die Gesamtzahl der
seit Beginn des Jahres bis zum 22. April konstatierten Pest¬
erkrankungen beträgt 1162 gegenüber 305 in der entsprechenden
Zeitperiodo des Vorjahres, ln der Hafenstadt Suakim wurde am
20. April neuerlich ein Pestfall bakteriologisch sichergestellt. —
Niederlande, ln Antwerpen wurde am 30. April der Dampfer
„Attila“ der ungarischen Levantelinie, der von Odessa kam, in
der Quarantänestation Doel in Observation genommen, weil ein
Matrose pestverdächtige Bubonen aufwies. Di© endgültige Dia¬
gnose des Falles ist noch ausständig, die bakteriologische Unter¬
suchung war bisher negativ. — Persien. In der Hafenstadt
Buschir sind am 24. April zwei Pesttodesfälle festgestellt worden.
*
Dr. mod. univ. Karl Pezzoli wohnt ab Mai 1911
Wien V Ul., Alserstraßc 23, 1. Stock.
+
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 17. Jahreswoche (vom 28. bis
29. April 1911). Lebend geboren, ehelich 626, unehelich 255, zusammen
881. Tot geboren, ehelich 49, unehelich 21, zusammen 70. Gesamtzahl der
Todesfälle 696 (d. j. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17 6 Todesfälle) an Buuchtyphus 1. Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 5,
Scharlach 3, Keuchhusten 4, Diphtherie und Krupp 4, Influenza 0.
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 2, Lungentuberkulose 116, bösartige Neu¬
bildungen 39, Woehenbettfieber 1, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 59 (-(- 6), Wochenbeltfieber 7 (4- 2), Blattern 0
(0), Varizellen 90 (-f- 9), Masern 235 (-)- 14), Scharlach 103 (+ 3)
Flecktyphus 0 (0), Rauchtyphus 3 (— 1), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0)
Diphtherie und Krupp 70 (-f-20), Keuchhusten 30 ( — 9j, Trachom 14 (— j- 8j
Influenza 0 (0), Poliomyelitis 0 (0).
Eingesendet.
In Bezugnahme auf unser Zirkular über das Silberkappen
pessar erklären wir über Aufforderung des Herrn Professor
J>r. Halb an, daß derselbe der Versendung dieser Zirkulare voll¬
kommen ferne steht.. Wir erklären ferner, daß wir in keiner Weise
autorisiert waren, das Pessar unter seinem Namen der Oeffent-
lichkeiit zu übergeben und bedauern, seinen Namen m diesem
Zirkular widerrechtlich genannt zu haben.
Medizinisches Warenhaus, Gesellschaft m. b. II.
Freie Stellen.
Sekundararztesstelle im allgemeinen öffentlichen Kranken¬
hause in Zwickau (Böhmen) mit dem Bezüge jährlicher 1600 K.
Kompetenten um diese Stelle haben die Nachweise beizubringen über:
a) deutsche Nationalität, b) österreichische Staatsbürgerschaft, c) über
das nicht vollendete 35. Lebensjahr, d) den Besitz des Grades eines
Doktors der gesamten Heilkunde und die bisherige Verwendung. Die
gehörig instruierten Gesuche sind bis längstens 31. Mai 1911 beim Ver-
waltungsausschusse des allgemeinen öffentlichen Krankenhauses in
Zwickau einzubringen. Die Anstellung erfolgt auf ein Jahr provisorisch,
mit dem Definitivum ist der Bezug von fünf Quinquennalzulagen ver¬
bunden. Die Pensionierung erfolgt nach dem Regulativ der Landesbeamten.
Dienstantritt am 1. Juli 1911. . .
Distriktsarztesstellen in Böhmen. 1. Im Sanitätsbezirke
Senftenberg I mit dem Sitze des Distriktsarztes ' in Senftenberg.
2. Im Sanitätsdistrikte Senftenberg II mit dem Sitze in Senftenberg.
3. Im Sanitätsdistrikte Geiersberg mit dem Sitze des Distriktsarzte
in Geiersberg u. zw. provisorisch aut ein Jahr. Dem Sanitätsdistrikte
Senftenberg J sind sieben Gemeinden zugeteilt, dieselben weisen im
ganzen 6326 Einwohner und ein Areal von 5131 km2'' auf. Der Gehalt
des Distriktsarztes für diesen Distrikt beträgt 1100 K und das Reise-
pauschale 265 K jährlich. Dem Sanitätsdistrikte Senftenberg II sind vier
Gemeinden (Kunwald, Klösterle, Pastvin, Lisnic) mit der Gesamteinwohner¬
zahl von 563t und einem Areal von 6515 km2 zugewiesen. Der Gehalt
für diesen Distrikt beträgt 1000 K und das Reisepauschale 338 K jährlich.
Dem Sanitätsdistrikte Geiersberg sind die Gemeinden Geiersberg, lvunau.
Erlitz, Rolnek, Schedowitz, Nekof, Studenei, Lukavic, Schreibersdorf und
Zampach mit der Gesamteinwohnerzahl von 8625 und einem Areal von
69'79 km2 zugewiesen. Der Gehalt für diesen Distrikt beträgt 1100 K und
das Reisepauschale 358 K jährlich, der Distriktsarzt wird eine Haus¬
apotheke führen können. Bemerkt wird, daß das Reisepauschale durch
eine jährliche Landessubvention erhöht wird. Die nach den Bestimmungen
des § 5 des Gesetzes vom 23. Februar 1888, L.-G.-BJ. Nr. 9, ordnungs¬
mäßig instruierten Gesuche sind bis inkl. 30. Mai 1911 beim Bezirks¬
ausschuß Senftenberg einzubringen.
Bei den politischen Behörden in M ähre n gelangt demnächst
die Stelle eines Oberbezirksarztes der VIII. Rangsklasse, even¬
tuell eine Sanitätskonzipistenstelle der X. Rangsklasse und
eine Sanitätsassistenten stelle mit dem Adjutum jährlicher
1200 K zur Besetzung. Bewerber haben ihre ordnungsmäßig instruierten
Gesuche, welche seitens der noch nicht im Staatsdienste stehenden Koin-
petenten insbesondere mit dem Nachweise des Alters, der Zuständigkeit-
moralischen Unbescholtenheit, körperlichen Eignung, der Sprachkenntnissi ,
des Diplomes, der abgelegten Physikatsprüfung, sowie ihrer bishengen
Verwendung zu belegen sind, bis längstens 20. Mai 191 L u. zw. mso-
ferne sie bereits im öffentlichen Dienste stehen, im Wege der Vorgesetzten
Behörde, sonst aber unmittelbar beim Statthaltereipräsidium in Brunn
einzubringen.
Wr‘ 1 _ _ WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in
Sitzung vom 12. Mai 1911.
Gesellschaft, für innere Medizin und Kinderheilkunde in
Sitzung vom 27. April 1911.
1 JN H
Wien.
Wien.
ALT
Älfrlp7^r7hi"0l™8ri 'f 1,6 ^sell8C,,aft- Sitzun£ vom 8. März 1911.
Aeizthchei Verein in Brunn. Sitzung vom 20. März 1911.
-8. Deutscher Kongreß für innere Medizin.
10. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 12. Mai 1911.
Vorsitzender: Reg.- Rat Prof. Dr. A. Kreidl.
Schriftführer: Dr. R. Paschkis.
Prim. Lotheissen : Gestatten Sie, daß ich Ihnen zwei Pa¬
tienten vorstelle, bei denen ich bei Tabes wegen gastrischer
Krisen die Resektion der hinteren Dorsalwurzeln
nach Förster ansgeführt habe. Bei dieser Operation wird
der Wirbelkanal eröffnet, indem man vom sechsten Dorsalwirbel
nach abwärts Dornfortsätze und Wirbelbogen entfernt, die Dura
eröffnet, also das Rückenmark freilegt und nun die sensiblen
Wurzeln auf Ibis 2cm Länge oder mehr reseziert, hi der ersten
Mitteilung vor zwei Jahren haben Förster und Küttner an¬
gegeben, daß es genüge, die siebente bis neunte Wurzel zu rese¬
zieren, später rieten sie, die sechste, zehnte, elfte und zwölfte
Wurzel ebenfalls zu durch trennen, damit auch die vom Darme
ausgelösten krisenhaften Schmerzen beseitigt würden.
; ' Der erste Erfolg nach der Operation ist glänzend. Kranke,
die bisher alles, erbrochen, sich in Schmerzen gewunden haben,
sind schmerzfrei, können wieder mit Appetit essen. Darum wurde
die Operation vielfach mit Enthusiasmus aufgenommen. In den
Berichten der Literatur waren aber die’ Kranken; nur wenige
Wochen nach der Operation beobachtet worden.
Für die Beurteilung des Wertes der Operation sind aber die
Dauererfolge entscheidend. Ich habe darum beide Kranke nicht
früher vorgestellt. Jetzt scheint die Begeisterung etwas abge-
schwächt, da die Operation nicht völlige Heilung bringt, wie
auch auf dein letzten deutschen Chirurgenkongreß in Berlin sich
zeigte.
Bisher wurde bei gastrischen Krisen erst ca. 28mal diese
Operation ausgeführt, darum darf die Mitteilung neuer Beobach¬
tungen wertvoll erscheinen.
Der eine Patient ist vor elf Monaten, der zweite- vor sieben
Monaten operiert. Die Anfälle der Mageink risen waren immer
heftiger, immer häufiger, die Pausen imimter kürzer geworden.
Bei dem zweiten Kranken stellten sie sich schließlich jeden
j zweiten Tag ein. Dabei verloren beide stark an Gewicht. Der
rste wurde von Herrn Prim. V. Czyhlarz, der zweite von
lerrn Dr. Scha werda an mich gewiesen. In Skopoiamin-
Morphium - Dämmerschlaf umPAe them ark ose ließ sich der Eingriff
:ut ausführen.
Bei dem ersten Kranken wurde genau nach Vorschrift die
de heute bis neunte Wurzel reseziert, dazu noch die sechste,
veil die Schmerzen hoch herauf reichten. Die ersten drei Monate
dng es glänzend, dar Kränke blühte auf. Dann stellten sich doch
allmonatlich einmal wieder Krisen ein, die aber viel weniger
lark waren.
Untersucht man 'den Patienten, so findet man, daß unterhalb
ler Operationsnarbe, genau entsprechend der zehnten Wurzel,
■ine hyperästhetische Zone ‘beginnt, in der, namentlich im Bücken,
Mir oft Schmerzen bestehen. Da diese Wurzeln die Sensibilität
les Darmes vermitteln, ist es wahrscheinlich, daß diese Beein-
rächtigung des guten Erfolges darin begründet ist, daß wir die
ehnte, elfte und zwölfte Dorsalwurzel nicht reseziert haben.
'“•> kann daher noch zu Krisen kommen, die nach Fo erster
°ni Darme ausgelöst werden. Daß dies so selten geschieht, daß
'io Krisen leichter sind, ist aber doch ein Erfolg.
I ^ Beim zweiten Patienten wurden die sechste bis zehnte
Wurzel reseziert. Hier hielt das völlige Wohlbefinden fünf Wochen
", dann kam es zu Mahnungen, die man als Abortivkrisen
osehen kann, da sie nie die alte Heftigkeit erlangten. Wenn
er Patient sich a/uch in der Zwischenzeit nie so vollkommen
rohl fühlt, wie früher in den Pausen, so ist erstens zu betonen,
uß er seinen Körper doch völlig im Gleichgewicht erhält, daß
r ordentlich essen kann. Zweitens ist aber hervorzuheben, daß
ior nach einem halben Jahre die Erschei'nüngen der Ataxie deut-
Jich geworden sind, daß wir also ein rascheres Fort-
'hreiten sehen. Wir dürfen daher wohl anneihmen, daß
ach die Magensymptome, die sich jetzt auf erträglicher Höhe
alten, inzwischen sich sehr gesteigert hätten; ja vielleicht wäre
ogar schon durch Inanition der Exitus eingetreten.
Für Fälle schwerer gastrischer Krisen darf man die Ope-
ratmn also wie ich g au be, anraten. Sie darf aber keinesfalls als
w0er,den- Die Statistik ergibt ziemlich holm
Mortali tat (etwa, 33. /o). Selbst bei guter Technik ist immer die
Geiahr der Meningitis vorhanden. Ich habe daher (abgesehen
von den modernen Hilfsmitteln hei der Operation, wie Gesichts¬
masken, Gummihandschuhen usw.) stets dem Rate amerikanischer
Chirurgen folgend, prophylaktisch Urotropin in großen Dosen
(b g pro die) gegeben. Trotzdem habe ich einen dritten Ooe-
nerten, bei. dem die sechste bis zwölfte Wurzel reseziert waren,
verloren. Es handelte sich um ein sehr he-rabgekommenes Indi¬
viduum, das also an sich gegen Infektion weniger widerstands-
tuhig war. Noch dazu hatte er aber’, wie wir leider zu spät
entdeckten, in den Rückenmuskeln, dicht daneben eine eigroße
Nekrose, welche hei der Obduktion durch einen feinen Gang mit
der Wunde in Verbindung stand, was hei der
der Fall war. Der Kranke hatte einige Wochen
Stelle eine Injektion von Arsenohenzol nach
Nekrose steril gewesen
für eine Infektion.
erhalten. Selbst wenn diese
sie sicher einen guten Boden
Operation nicht
zuvor an dieser
Hata-Ehrlich
wäre, bot
Dieser Tage hätte ich wieder eine Forst er sehe Operation
machen sollen, fand aber einen Tumor nach einer solchen Ar-
senobenzolinjektion, der weich, ^ fast fluktuierend war1. Nach der
einen traurigen Erfahrung habe ich hier darum zuerst mit Lokal¬
anästhesie inzidiert, den butterartigen Eiter entleert und die ganze
Nekrosenmasse exzidiert. Erst wenn diese Wunde ausgeheilt ist,
soll die Rückenmarksoperation stattfinden. Ich glaubte, dies er¬
wähnen zu sollen, um andere vor einer gleichen Erfahrung zu
bewahren.
Diskussion: Dr. Winternitz gibt zu bedenken, daß diese
tabi sehen Krisen auch unbeeinflußt lange wegbleiben können;
es sei die Frage, wie lange und auf welche Zeit die Operation
die Krisen ausschließe. Allerdings sei auch ein symptomatischer
Effekt von großem Nutzen.
Dr. Reitter: Von den vorgestellten Fällen kenne ich den
zweiten; derselbe lag an der Klinik Prof. Strümpells; im
Krankheitsbilde war anfangs die DiagnJose auf Tabes nicht sicher
zu stellen, da zu dieser Zeit ausgesprochene Erscheinungen
fehlten. Erst im Laufe der Beobachtung durch einige Wochen
wuide die Diagnose der Tabes vollständig sicher; es handelte
sich also um einen Fall rasch progredienter Tabes; Geheimrat
Strümpell erwog damals wegen der Magenkrisen die
Förster sehe Operation, lehnte sie aber eben wegen des Ver¬
laufes ab; wie wir vom' Herrn Vortragenden hörten, ist ja die
Zunahme der Ataxie auch jetzt für den noch immer fortschrei¬
tenden Prozeß zu verwerten.
Ich halte einen solchen Fall einer rasch verlaufen¬
den progressiven Tabes nicht für geeignet, um sich ein
Urteil über die Forst ersehe Operation zu bilden, zumal wir
wissen, daß in diesen Fällen die Magenkrisen nicht nur für-
längere Zeit aussetzen, sondern auch mit dem Fortschreiten des
anatomischen Prozesses ganz verschwinden können.
Dr. S. Federn: Ich habe schon einmal hier mitgeteilt, daß
ich gefunden habe, daß die Magenkrisen auch durch periphere
Läsionen ansgelöst werden kön nen, so habe ich in einem Falle die
Magenkrisen behoben durch Behandlung und Heilung einer par¬
tiellen Darmatonie; so können auch andere Läsionen im TJnter-
leibe diese Krisen verursachen. Es ist ja leicht einzusehen,,
daß die Förster sehe Operation einen günstigen Einfluß auf
dir Magenkrisen nehmen kann, aber ich glaube, unsere nächste
Aufgabe wäre, in jedem Falle die peripheren Punkte zu suchen,
von welchen die Magonkrisen ausgelöst werden und da dürfte
die partielle Darmatonie nicht selten als solche gefunden werden.
Prof. P41: Ich möchte an den Herrn Vortragenden nur
die Frage stellen, oh es sich in seinen Fällen um Magenkrisen
mit profusem Erbrechen gehandelt hat. In der Frage der Magen
krisen nehme ich einen besonderen Standpunkt ein. Ich unter¬
scheide echte Magenkrisen von vaskulären Krisen. Die beiden
Formen kommen auch bei demselben Kranken nebeneinander vor,
wie ich dies erst vor kurzem wieder bei einem leider letal ver¬
laufenen Falle feststellcn konnte. Ueber die Wirkung der Förs (er¬
sehen Operation kann ich mir kein Urteil gestatten. Es wäre
728
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
Nr. 20
aber für mich von Interesse, zu erfahren, Avie sich der Effekt
bei den verschiedenen Formen gestaltet. Es Aväre ja denkbar,
daß der Erfolg auch nach der Art der Krise variiert.
Prof. Pr. Ferdinand Alt demonstriert ein zehnjähriges
Mädchen, das am 21. Februar d. J. wegen einer seit fünf Jahrein
nach Scharlach bestehenden, linkseitigen Mittelohreiterung einer
Radikaloperation unterzogen wurde, wobei ein großer periostaler,
ein extraduraler und ein intraduraler Abszeß entleert wurde.
Das Kind wurde in einem sehr herabgekommenen Zustande
dem Rudolfspitale eingeliefert. Temperatur 39°, die am Nach¬
mittag auf 41" stieg, Puls 140, Nackensteifigkeit, Strabismus con-
vergens, Antrumeiterung links mit Granulationen und Cholestea¬
tom im Mittelohr, über und hinter dem Warzenfortsatze eine
fluktuierende Geschwulst. Die am Nachmittag vorgenommene Ope¬
ration gestaltete sich folgendermaßen Nach Ablösung des Periosts
entleerte sich ein großer periostaler Abszeß, der hinter dem
Warzen f ortsatzc gelegen war, im vertikalen Teil© des Processus
mastoideus war ein Knochenabszeß, bei Freilegung des Antrums
wurde ein Teil des Tegmen tympani abgetragen, und es stürzte
unter hohem Druck stehender Eiter in der Menge von etwa zwei
Eßlöffeln, einem extraduralen Abszesse entstammend, hervor.
Das Tegmen antri et tympani wurden in Kronengröße ab¬
getragen, die Dura war mißfärbig, eitrig infiltriert und wies
eine ca. SU Cm im Durchmesser betragende Fistelöffnung auf,
aus der Eiter hervorquoll. Der intraduralo Abszeß imponierte
zunächst als ein durchgebrochener Schläfelappenabszeß, doch er¬
gab die Exploration nach ausgiebiger Spaltung der Fistel und
die Untersuchung des Gehirns, daß eine Leptomeningitis circum¬
scripta purulenta vöHag. An diese Eingriffe schloß sich die Er¬
öffnung der Mittelohrräume an.
Der Wundverlauf war ein ausgezeichneter.
Die Therapie der otogenen Meningitis hat in den letzten
Jahren, große Fortschritte gemacht, vor allem durch die genaue
Erkenntnis der Labviintheiterungen, deren operative Behandlung
die beste Prophylaxe der Meningitis (larstellt. Ferner durch früh¬
zeitige Eingriffe bei jenen Formen, die wir als Meningitis serosa
bezeichnen, die sich durch eine seröse Infiltration der weichen
Hirnhaut und einen Hydrocephalus externus und internus cha¬
rakterisieren. Durch Ausschaltung des ursächlichen Momentes,
der Eiterung im Mittelohr, im Processus mastoideus, eines Extia-
duralabszesses oder einer Pachymeningitis circumscripta externa
oder interna gelingt es, Erkrankungen, Avelche alle klinischen
Symptome einer Meningitis aufweisein, zur Heilung zu bringen.
Trübes Lumbalpunktat, der Nachweis von Leukozyten und selbst
von Mikroorganismen in der Punktion s Flüssigkeit, nieten keine
Kontraindikation für den operativen Eingriff. Durch breite In¬
zision der Dura und Drainage versuchen Avir dem Eiter Abfluß zu
verschaffen und haben in einer gewissen Zahl von fällen die
Genugtuung, sichergestellte eitrige Meningitiden ausheilen . zu
sehen, ln jüngster Zeit wurden Versuche angestellt, bei eitrigen
Meningitiden nach der Operation intern Urotropin zu reichen,
da sichergestellt wurde, daß das Urotropin rasch' im Lumoal-
pnnktat nachweisbar ist und demnach seine bakterizide Wirkung
auf den Eiter aus üben könne. Auch durch wiederholte Lumbal¬
punktionen suchen Avir dem Eiter Abfluß zu v erschaffen und
führen manche Erfolge auf diese Maßnahmen zurück.
Dr. Oskar Weltmann demonstriert aus der Prosektur des
k. k. Franz- Joseph -Spitals das Präparat eines ungewöhnlich;
großen N e b e n n i e r e n h ä m a t o ms. Es stamlmt Von einem 8 Tage
alten Knaben aus dem Entbindungsheim „Luicina . Di© Mutter, eine
Zweitgebärende, war immer gesund gewesen und kam am nor¬
malen S cTlav a ng ers ch af tsen de nieder. Die Geburt erfolgte spontan.
In den ersten drei Lebenstagen Avies das Kind keinerlei Krank-
heitserscTieinungen auf. Am vierteh Tage Ikterus, Symptome
beginnender Lobulärpneumonien und Prostration. Nach einet
leichten Besserung verschlimmert sich der Zustand am sechsten
Tage. Die Gelbfärbung nähert sich denn Orangetone, Dyspnoe,
Apathie; Exitus am achten Tage. Bei der Sektion finden sich
frische Lobulärpneumonien in beiden Lungen, vereinzelte Blu¬
tungen unter die Pleura, hochgradig ikterische Verfärbung aller
Organe. In der Bauchhöhle und im OavUm Douglasi eine geringe
Menge frisch geronnenen Blutes. Die Lumbalmuskulatur der
rechten Seite ist. von Blutungen unterwühlt. Der rechte Leber¬
lappen ist stark komprimiert, an das Zwerchfell gepreßt und mit
einem fast faustgroßen Tumor verlötet, der retroperitoneal ge¬
legen, mit der Lumbalmuskulatur einerseits, mit Cökum und
Colon asoendens anderseits innig verklebt ist. Der Schnitt, der
durch den rechten Leberlappen und die Geschwulst geführt wurde,
zeigt, nun ein äpfelgroßes Hämatom, das offenbar Von der rechten
Nebenniere ausgeht, ikterisch verfärbte Gefäße und Gewebsreste
bind urchschimmern läßt. Es ist von einer fibrösen Kapsel um¬
schlossen, läßt sich von dem rechten Leberlappem, und der Niere,
die es komprimiert, nicht trennen und weist auf der Schnittfläche
das Lumen eines Ganges auf, durch den die Sonde ohne Wider¬
stand gegen die Lumbalmuskulatur vordringt. Die Gallehwcge sind
durchgängig. Nebennierenhämatome sind namentlich beim Neu¬
geborenen keine besondere Seltenheit. Doch erreichen sic nur
ganz ausnahmsweise eine so ansehnliche Größe Avio in dem
vorliegenden Falle und brechen sehr selten durch.
In der Aetiologio spielen die Venen thrombose, Kapillar
embolien, die hämorrhagische Diatheso, die Hauptrolle. Als Ur¬
sache für die Nebennierenblutungen bei Neugeborenen Averden
von Lissauer, .Simmonds, Börner und anderen ixau ma¬
lische Einflüsse bei der Geburt, _ Asphyxie, _ Hemmung des peri¬
pheren Kreislaufes und konsekutive Hyperämie der Abdominal
Organe angenommen. Auffallend ist das relativ baldigere Vor¬
kommen von Nebennierenblutungen bei Kindern
Jedenfalls ist die Nebenniere duröh ihr weiches,
liclies Gewebe und durch den Reichtum und die
ZI
der Gefäße für Blutungen prädisponiert
aklamptischer.
leicht zerreiß-
Beschaffenheit
Das häufigere Vorkom-
rechten Seite läßt sich
men von Nebennierenblutungen auf der _ s
vielleicht damit erklären, daß die rechte Nebenniere zwischen zwei
derben und sehr stauungsfälligen Organen eingekeilt liegt, während
die linke Nebenniere durch ihre Lagebeziehung zu Magen und
Darm bei traumatischen und vaskulären Druckinsulten eine nach
giebigere Nachbarschaft findet. .
Für das Zustandekommen der Blutung im vorliegenden habe
läßt sich bei der vollkommen normalen und leichten Geburt und
bei dem Fehlen asphyktischer Erscheinungen keine sichere
Erklärung gehen. Wahrscheinlich spielt der vorzeitige Blasen
sprung dabei eine Rolle, der 18 Stunden vor der Geburt erfolgte.
Primararzt Priv.-Doz. Dr. Robert Breuer: Klinische Be¬
obachtungen von Herzkranken.
Der Vortragende bespricht zunächst eine Beihe yoä be
schAverden und objektiven Symptomen bei Herzkranken, die sämt¬
lich ihre Erklärung in einer Druckwirkung von seiten des linken
Vorhof es finden. Der linke Vorhof, der vor allem bei organischen
Mitralfehlern, aber auch bei anderen Kranken mit insuffizient ge¬
wordenem linken Ventrikel (Pai mit peripherer Arteriosklerose,
chronischer Nephritis, Aorteninsuffizieiniz) oft hohe Grade .von
Ausdehnung erreicht, vermag infolge seiner topographischen Situa¬
tion auf eine Beihe von Nachbarorganen Druck- und Verdrängungs¬
wirkungen auszuüben. Der Vortragende hat im Laufe der Jahte
eine größere Reibe von Fällen gesammelt, in denen der vorhol
durch Andrängen gegen die Bifurkation quälenden Hustenreiz,
durch Kompression des, linken Bronchus Bronchos tenose,
durch mittelbaren Druck Schädigung des linken Rekurrens
durch Druck auf den Oesophagus Schlingbeschwerden hervor
gerufen hat. Alle diese Druckwirkungen können in- chronische)
Weise ausgeübt Werden (dies ist namentlich bei organischen
Mitralfehlern der Fall), sie können aber bei akuteren Schwach;
zuständen des linken Ventrikels, wenn die rechte Kammer krame
weiter arbeitet, auch in akuterer Weise in Erscheinung treten.
Bei dem Andrängen gegen Bifurkation und Bronchus kommt zu de<
mechanischen- Druckwirkung noch die Schleimhaütschwellung ai
der gedrückten Stelle hinzu.
Die Beobachtungen des Vortragenden auf diesem Gebiet, flu
im Laufe der letzten 14 Jahre gesammelt wunden, sind nicht pu
bli ziert Avorden; inzwischen haben Kahler und Stoerk unei
die Kompression des linken Bronchus, Koväcs und Stoerü
über die Oesopbagnskompression berichtet, wähnend die Dnicif
Wirkung auf den linken Rekurrens durch die Veröffentlichiraget
von Ortner, Hofbauer u. a. schon seit 1897 bekannt jsl
Der Vortragende bespricht unter kurzer Resümierung seine;
ei eenen Erfahrungen alle diese Erscheinungen, versucht die re,
lative Seltenheit der funktionellen Schädigung des Nernn
recurrens und der Speiseröhre aufzuklären und bebt. beson(l.-M
hervor wie wichtig für die Klarstellung aller dieser Verhältnis.^
die anatomischen Untersuchungen von Stoork und wie.msr.niiM
tiv die Stoerksche Sektionsmethode (Eröffnung des thoiäx voi
hinten her) sei. . .,
Im Anschluß an diese Darlegungen wird eine von den tn-n,.
gangbaren abweichende Erklärung der kardialen Ort i o on<
versucht.. Der Vortragende legt dar, daß zur Erklärung der. I
scheiming, daß eine Reihe von Herzkranken nicht liegen u .
auch nur schwer an gelehnt sitzen können, die bisheiigen a
klämngsversuclve nicht ausreichen. Auch die von1 Holzknetn
und Hofbauer gegebene Erklärung, welche auf die 'VN
Ausnützung der elastischen Kräfte der Lun'ge und der Ihlrsw
der Bauchmuskeln hei der Exspiration in der vertikalen. 8teliunj
rekurriert, reicht nicht aus, um verständlich zn machen, warn
so viele Herzkranke nur in leicht nach vorne geneigter Stenn
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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sich wohl fühlen. Auch solche Kranke, die, wenn sie augelehnt
sitzen, nicht wirklich dyspnoisch sind und keine Aktion der
Auxiliärmuskeln der Atmung, auch keine Kontraktion der Bauch¬
muskeln bei der Exspiration zeigen, ziehen die vomübergeneigte
Stellung vor, weil sie nur so von Beklemmung frei sind. Der
Vertragende referiert über eigene, mit Hilfe von H o 1 z-
k liecht ausgeführte Röntgenuntersuchungen an Gesunden
und Kranken, die zeigen, daß zwar beim Uebergang vom Liegen
zum Sitzen das Zwerchfell wesentlich tiefer tritt und damit die
Ausspannung der Lunge vermehrt und ihre elastische Retrak¬
tionskraft gesteigert wird, daß aber beim Uebergang von leicht
nach hinten geneigter zu leicht vorgeneigter sitzender Stellung
eine merkliche Aenderung des Zwerchfellstandes nicht ein tritt'
Als Hauptursache dafür, daß die Kranken das vornübergeneigte
Sitzen bevorzugen, wird die Druckwirkung angesprochen, der
der dilatierte linke Vorhof in der Rückenlage und beim nach
rückwärts geneigten Sitzen dadurch ausgesetzt ist, daß das meist
große und schwere Herz dieser Kranken dein1 linken Vorhof,
der den hintersten Herzabsehnitt bildet, gegen die Wirbelsäule
drückt. Dieser Druck schwindet selbstverständlich, wenn in ver¬
tikaler Stellung und ins besonders bei Vorwärtsneigung das Her/,
nach vorne sinkt.
In einem zweiten Teile des Vortrages wird die klinische
Bedeutung des Chey ne- Stokes sehen Atmens bei Herz¬
kranken besprochen. Dieses bildet bei vielen Herzkranken, be¬
sonders Arteriosklerotikern und Nephritikern eine oft jahrelang
dauernde, den Kranken furchtbar quälende und therapeutisch
schwer beeinflußbare Erscheinung, die viel häufiger ist, als gewö hn¬
lich angenommen wird. Es wird auf das Vorkommen: dieses Atem¬
typus unter anderen Umständen (Gehimkrankheiten, Bergkrank¬
heit, Morphinwirkung usw.) hingewiesen, die Genese seines Auf¬
tretens bei Herzkranken kurz angedeutet und bezüglich der feineren
Analyse seines Mechanismus auf die Arbeiten der englischen Phy¬
siologen Haldane und Douglas verwiesen. V mir. referiert
dann über mehr oder weniger mißlungene Versuche, das Cheyne-
Stokessche Atmen bei Herz-, wie Gehirnkranken durch medi¬
kamentöse Maßnahmen zum Verschwinden zu bringen, die eine
Hebung der Erregbarkeit des Atemzentrums erhoffen ließen; da¬
gegen berichtet er über gn te Erfolge, die seit längerer Zeit schon
von ihm und, wie er einer neueren Publikation entnimmt, auch
von englischen Aerzten, bei Cheyne- Stokes verschiedenen Ur¬
sprungs mit S auer's t o f f inbalationen erzielt wurden. Bezüg¬
lich der Erklärung der Sauerstoffwirkung verweist der Vortra¬
gende wegen Zeitmangels auf die Darlegungen von Haldane
und Douglas, sowie auf seine eigene ausführlichere Publikation.
Zum Schluß deutet der Vortragende an, daß das Cheyne-
Stokessche Atmen der Herz-, Gefäß- und Nierenkranken seinen
Beobachtungen zufolge wohl auch in der Entstehung und Aus¬
bildung bestimmter psychischer Störungen, wie sie bei solchen
Kranken sich häufig finden, eine gewisse Rolle spielen dürfte,
namentlich bei der Entwicklung der „Beeinträchtigungspsychose“
vieler dieser Kranker.
(Der Vortrag erscheint ausführlich an anderem Orte.)
Diskussion: Dr. H. TeTeky: Was die Ursachen der Ortho¬
pnoe an belangt, so glaube ic!h, daß die Behinderung der vollen Tätig¬
keit der Axillarmuskeln, wie sie durch das Liegen auf dem Rücken
i»ler Anlehnen beim Sitzen veranlaßt wird, das Atmen erschwert.
Ebenso scheint mir die Blutverteilung, das ist die stärkere Füllung
üer Gefäße der unteren Extremitäten nicht gleichgültig. Die
Kranken können im Bette sitzend nur dann leichter atmen, wenn
'lie Beine über den Bettrand herabhänJgen. Wenn, wie der Herr
Vortragende glaubt, ein Hauptmoment für die Dyspnoe in der
Rückenlage darin begründet ist, daß der ausgedehnte rechte Vorhof
zwischen Wirbelsäule und Ventrikel eingeklemmt wird, so würde
in der Bauchlage dieses Moment Wegfällen. Doch auch diese
vertragen die Kranken nicht.
Dr. 0. Porges: Die interessante Beobachtung des Herrn
I’riv.-Doz. Breuer bezüglich der Beseitigung des Cheyjne-
Stokesschcn Atmens durch Sauerstoffatmung läßt sich, wie ich
glaube, durch Einwirkung des Sauerstoffs als solchen nicht er¬
klären. Wir wissen, daß das Cheyne- Stokes sehe Atmen durch
Sauerstoffmangel in den Gewebeh, zustande kommt, dergestalt, daß
‘lio Persistenz von unvollständig oxydierten sauren Produkten die
Atmung reizt, was zur UebervPntilation, zur Erschöpfung des
Kohlensäurevorrates im Blute führt; war der Sauerstoffmangel
'hnrh herabgesetzten Sauerstoffgehalt der Einatmnngsluft ber-
vorgerufen, so steigt mit der Ueberventi lati on gleichzeitig die
alveolare Sauerstoffspannung, 'das Blut kann sich wieder mit
Sauerstoff sättigen, die angehäuften sauren Substanzen werden
plötzlich oxydiert. Damit entfallen zwei Atem reize auf einmal,
die atmungreizende Wirkung der Kohlensäure, sowie die sauren
intermediären Produkte und es tritt die Apnoe auf. Während der
Apnoe sammeln sich wieder Kohlensäure linjd' saure intermediäre
Produkte an, bis die Reizschwelle der Atmung’ erreicht ist, wor¬
an! wieder Atmung erfolgt, die zur plötzlichen Beseitigung der
Atem reize führt usw. Ganz anders liegen aber die Verhältnisse
beim S t o k es sehen Atmen, da,s, wie in den Fällen des Herrn
Priv.-Doz. Breuer, durch Zirkulationsstörungen verursacht ist.
Der Sauerstoffmangel ist. hier nicht die Folge herabgesetzten Sauer¬
stoffgehaltes der Inspirationsluft, sondern der herabgesetzten Zir¬
kulation. Da das Blut schon bei der Sauerstoffspannung der Atmo¬
sphäre sich vollständig mit Sauerstoff sättigt, so kann die Zu¬
fuhr von. reinem Sauerstoff nichts ändern; denn die Sauer-
stoffbindung im Blute beruht auf einer Oxydation des Hämo¬
globins und diese Oxydation erfolgt ebenso vollständig, oh wir
nun reinen Sauerstoff oder gewöhnliche Luft atmen. Es kann
daher das Atmen von reinelm Sauerstoff dem, Sauerstoffmangel bei
Zirkulationsstörungen nicht beheben und ebenso nicht für das
Sistieren der Chey ne- St okes sehen Atmung in diesen Fällen
verantwortlich gemacht werden. Dagegen drängt sich eine andere
Erklärungsmöglic’hkeit auf. Wir wissen, daß die Kohlensäure ein
intensiver Atemreiz ist. Herr Priv.-Doz. Breuer hat nun her¬
vorgehoben, daß die Sauerstoffatmung nur nützt, wenn die Atem¬
maske nahe appliziert ist, so daß der Patient gewissermaßen in
Sauerstoff eingehüllt ist. Wenn wir aber die Atemmaske nahe vor
das Gesicht halten, dann retinieren wir einen Teil der Exspirations¬
luft. Der Patient atmet dann zum Teil seine eigene Exspirationsluft
und inhaliert damit Kohlensäure. Diese Kohlensäure kann nun der
Atemreiz sein, der das Cheyne-Stokessche Atmen verhindert.
Die gleichzeitige Zufuhr von Sauerstoff ist aber in diesem Falle
sehr nützlich, dann würde der Patient n u r seine Exspirations¬
luft atmen, dann wäre bald der Luftsauerstoff aufgebraucht,
es würde zu wenig Sauerstoff zugeführt. Die, gleichzeitige Atmung
von Sauerstoff ermöglicht es erst, die eigene Kohlensäure als
Atemreiz zu inhalieren.
Dr. Türkei bestätigt die Erfahrungen Breuers bezüglich
des Cheyne-Stokesschen Atmens und macht aufmerksam, daß
es zuweilen gelingt, das Cheyne-Stokessche Atmen dadurch
zu kupieren, daß man die Kranken zu kräftigen Respirations-
. zügen auffordert. Der Erklärung Porges’ über die Sauerstoff
Wirkung vermag er nicht beizupflichten.
Dr. Hotbauer: Zunächst möchte ich dom Vortragenden
herzlichst danken dafür, daß er es verstanden, hat, durch seine
scharfsinnigen u!nd fein ziselierten Beobachtungen das Interesse
auf ein Kapitel zu lenken, das gewöhnlich wenig Beachtung findet,
auf die Entstehung der kardialen Atemnot und insbesondere auf
die Zusammenhänge mit rein mechanischen Vorgängen.
Trotz der vorgeschrittenen Zeit aber bin ich gezwungen
auf eine der vielen angeschnittenen Fragen kurz einzugehen. Ge¬
zwungen deshalb, weil der Vortragende unter Nennung meines
Namens meine Theorie der kardialen Atembot so hinstellte, daß
sie doch etwas Beleuchtung zu brauchen scheint, um ein wenig
su ff i zi enter dazu stehen .
Die Atemnot des Herzkranken veranlaßt denselben, seine
exspiratorischen Hilfsmuskel zu möglichster Anwendung zu brin¬
gen ; dies tut er in Form der Orthopnoe, was auf Grund folgender
Ueberlegung leicht begreiflich wird: Auf einem sagittalen Durch¬
schnitte des Bauches sehen wir die rückwärtige und untere Wand
von harten, knöchernen Gebilden durchsetzt, mithin unbeweglich.
Im Gegensatz hiezu besteht die Vordere Bauchwand und die obere
aus Bauchmuskeln und Zwerchfell, ist also beweglich. Um nun
das Zwerchfell zu maximaler Bewegungsmöglichkeit, zu veran¬
lassen, wird durch Vornfibern eigen die Last der Baucheingeweide
auf die weichen Bauch decken gelegt. Sie sinken nach vorne.
Bei jeder Ausatmung nun, ziehen sich die Bauchdecken zu¬
sammen u. zw. von unten nach oben fortlaufend. Infolgedessen
werden -die auf ihrer Innenfläche liegenden Baucheingeweide
langsam gleichmäßig nach oben in 'die Zwerchfellskuppel ger
trieben, das Zwerchfell maximal in den Brustraum vorgeschoben
und die erschwerte Ausatmung bestmöglich gefördert. So wie
dann die Einatmung beginnt, werden die Bauchdecken weich
und die Bauoheingoweide fallen nach abwärts, das Zwerchfell
kann ohne jeden Widerstand einen sehr bedeutenden Weg bis
zu seiner Inspirationsstelle zurücklegen.
Auf wenige Winkelgrade der Beugung kommt es hier des¬
halb an, weil bei leichter Naclirückwärtsneigung schon die Bauch¬
eingeweide auf die hintere und starre Wand des Bauches fallen,
mithin dem Einfluß der Bauchdecken entzogen sind. Bei leichter
Vornüherneigung hingegen fallen sie auf dieselben.
Daß heim Gesunden sieh dieser Einfluß nicht geltend macht,
ist begreiflich, weil dieser seine Bauchmuskeln nicht benötigt
und verwendet. Beim Herzkranken hingegen läßt sich, wie ich
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 20
vielfach durch Röntgenuntersuchung feststellen konnte1, die kolos¬
sale Steigerung der Zwerchfellsbewegung beim Vorn übersitz en
ohne weiteres feststellen.
Wie nun gestaltet sich die Förderung des Blutkreislaufes
bed der kardialen Insuffizienz? Durch die Knetung, welche der
Bauchinhalt durch die von unten nach oben fortschreitende Kon¬
traktion der Baucheingeweide bekommt, wird das Blut nicht bloß
der Baucheingeweide, sondern auch der Vena cava von unten
nach oben gegen den Zwerchfellschlitz massiert. Kommt nun der
Inhalt des Bauches infolge dieser Kontraktion in die Zwerch-
fellskuppel hinein, so wird das Foramen quadrilaterum aus¬
einandergedrängt, das Blut kann in die Brusthöhle leicht ab¬
fließen. Letzteren Vorgang konnte ich im Vorjahre in Gemein¬
schaft mit Herrn Priv.-Doz. Eppinger in Untersuchungen auf
der Klinik v. Noorden einwandfrei feststellen.
Prof. Dr. Ludwig Braun: Der Herr Vortragende ist zweifel¬
los im Recht, wenn er meint, daß die Orthopnoe der Herzkranken
nicht von einem einzigen Punkte aus zu erklären ist. Ich möchte
diesbezüglich auf ein weiteres Moment Hinweisen, nämlich die
Kompression der Cava superior in der Rückenlage und die Ent¬
lastung der oberen Kava in sitzender Haltung des Kranken. Bei
solchen Patienten entleeren sich die strotzend gefüllten Hals¬
venen mit einem Ruck, wenn die Kranken sich aufsetzen. Bei
Kranken mit chronischem Chey ne- Stokes habe ich wieder¬
holt. mit Erfolg Kampferpräparate zur Anwendung gebracht.
Wogen vorgerückter Stunde wurde1 das Schlußwort ries Vor¬
tragenden auf die nächste Sitzung verschoben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 27. April 1911.
E. Z a k stellt einen 23jährigen Mann mit einem k o n-
genitalen Vitium vor. Patient hat seit einigen Wochen eine
linksseitige Rekurrenslähmung und etwas Kurzatmigkeit. Im
15. Lebensjahre wurde bei ihm ein Vitium cordis festgestellt.
Der Kranke zeigt folgende Symptome: leichte Zyanose, Vor¬
wölbung der ganzen Herzgegend, Spitzenstoß 21 2 Querfinger
außerhalb der Mamillarlinie im 5. Interkostalraum, daselbst dia¬
stolisches Schwirren, welches im 2. und 3. Interkostalraum am
stärksten ist. Links vom Sternum findet sich im 2. Interkostal-
raum eine Dämpfung. An der Herzspitze akzentuierter 1. Fon
und ein langgezogenes Geräusch, im 4. Interkostalraum nimmt
es einen polternden Charakter an und ist im 3. Interkostalraum
präsystolisch verstärkt. Der 2. Pulmonalton ist kaum akzen¬
tuiert. Die Bronchoskopie ergibt eine Verengerung des linken
Bronchus an einer Stelle bis zu einem Querspalt von 3 mm. Es
liegt ein kongenitales Vitium vor (offener Ductus Botalli, even¬
tuell mit Verengerung der Pulmonalis, ferner einer Stenose der
letzteren). Vielleicht könnte eine aneurysmatische Erweiterung
der Pulmonalis mit Beteiligung des Ductus Botalli vorliegen. Die
Röntgenaufnahme ergibt eine Verschiebung des Oesophagus und
der Aorta nach rechts und eine Vergrößerung des Herzens.
Rud. Landesberg führt einen 46jährigen Patienten mit
lokaler Argyrie vor. Patient hat schon als Kind viel an
Halsentzündungen gelitten, vor 5 Jahren bekam er einen ulze¬
rösen Prozeß im Rachen und wurde durch viele Monate mit
Lapis behandelt. Gegenwärtig sieht man an dem Kranken eine
schiefergraue, fast bläulichgraue Verfärbung des Mesopharynx, der
lateralen Wand des linken Sinus pyriformis, des Zungengrundes,
des Ligamentum pharyngo-epiglotticum, der Stimm- und Taschen¬
bänder, des Sinus Morgagni und des subglottischen Raumes.
Man unterscheidet eine lokale und eine allgemeine Argyrie, eine
lokale Behandlung kann auch zur allgemeinen Argyrie führen.
Die Hautfärbung verschwindet nicht mehr. Vortragender empfiehlt,
nach Lapispinselungen mit Kochsalzlösung zu gurgeln und den
Patienten zu ermahnen, während der Pinselung nicht zu schlucken.
Fr. Fuchs stellt einen Mann mit Aortenbogenver¬
lagerung und fehlendem Puls in der linken Ar-
t e r i a subclavia, axillaris und r a d i a 1 i s vor. Patien t
spürte vor 7 Wochen in voller Gesundheit bei der Arbeit plötz¬
lich einen heftigen Schmerz in der linken Brustseite und kann
seit dieser Zeit den Kopf nicht gerade halten. Die Untersuchung
ergab leichte Zyanose, Caput obstipum nach links und eine
ziemlich bedeutende Struma. Linkerseits fehlt der Puls in den
angegebenen Gefäßen, rechts ist derselbe normal. Das Herz ist
nicht verbreitert, der 1. Ton an der Spitze unrein, sonst findet
sich normaler Befund. Der Musculus cuccullaris, supra- und
infraspinatus sind deutlich atrophisch, der Umfang der linken
Hand überall um 1 bis lVa cm geringer als rechts, auf der
ganzen linken Körperseite bis zur Nabelhöhe sind Hypalgesie
und vollständiges Fehlen der Wärmeempfindung zu konstatieren.
Die Röntgenuntersuchung ergab, daß der Aortenbogenschatten
stark nach links und hinten vorspringt, ohne daß die Aorta
wesentlich verbreitert wäre. Patient gab an, daß ihm vor einiger
Zeit der Arm plötzlich ganz kalt und weiß geworden sei und
daß dieser Zustand durch einige Zeit angedauert habe; dies
würde vielleicht auf eine Embolie der Arteria subclavia hin-
weisen. Im übrigen kann man an ein Aortenaneurysma oder
eine Verlagerung der Aorta durch einen substernal gelegenen
Anteil der Thyreoidea denken.
Kreuz fuchs bemerkt, daß die Symptome wohl die
Vermutung eines Aortenaneurvsmus aufkommen lassen, daß
jedoch intrathorazische Strumen zuweilen ein ähnliches Bild
erzeugen, so daß die Differentialdiagnose auf Schwierigkeiten
stoßen kann. Dämpfung über dem Sternum, Pulsation im Jugulum,
linksseitiges Fehlen des Radial- oder Karotispulses, Neuralgien
oder Parästhesien des linken Armes infolge Druckes auf den
Plexus brachialis, linksseitige Rekurrensparese und Schling¬
beschwerden kommen bei beiden Krankheiten vor. Auch das
Röntgenbild kann auf den ersten Blick an ein Aneurysma denken
lassen, wo in Wirklichkeit nur eine substernale Struma besteht.
Es kann auch ein Aneurysma übersehen werden, da beide
Affektionen nebeneinander bestehen können. In dem vorgestellten
Falle handelt es sich um eine Struma intrathoracica mit Ver¬
drängung der Aorta. Es wäre eine Operation wohl angezeigt,
doch wäre vielleicht zuerst ein Versuch mit einer Jodkur zu
machen. In jenen Fällen, bei denen ein Aneurysma nicht mit
Sicherheit auszuschließen ist, erscheint es als angezeigt, über¬
haupt nur eine Jod- oder eine Röntgentherapie einzuleiten, tritt
auf eine dieser Behandlungsmethoden eine weitgehende Besse¬
rung ein, dann würde dies eher für eine intrathorazische Struma
sprechen.
Bondy demonstriert ein anatomisches Präparat von V e r-
Schluß der tiefen Beinvenen. Es stammt von einer
Frau, welche an hochgradiger Herzinsuffizienz, Oedemen und
Zyanose litt. Aus der rechten Schenkelbeuge kam eine bis vier
Querfinger breite Vene hervor, welche an der Außenseite bis
zum Knie verlief; sie zeigte eine mit dem Herzen synchrone
Pulsation. Bei der Obduktion fand man alle tiefen Venen des
rechten Oberschenkels thrombosiert, deren Blut durch die dicke
Vene abfloß ; diese zeigte keinen Zusammenhang mit einer
Arterie.
Dem. Chilaiditi: Zur Palpationstechnik des
Abdomens, zugleich ein Beitrag zur Mobilitäts¬
prüfung der Abdominalorgane. Bei dem von Holz¬
knecht empfohlenen „Baucheinziehen“ zur Verschieblichkeits-
prüfung der Abdominalorgane unter dem Röntgenschirm ist
wegen Kontraktion der Bauchdeckenmuskulatur die gleichzeitige
Palpation des Abdomens erschwert. Um dieses für die radio¬
logische Untersuchung unentbehrlich gewordene Verfahren auch
am Krankenbette selbst anwenden zu können, muß die Palpation
ermöglicht, der eingezogene Bauch also „weich 1 sein. Dies kann
dadurch erreicht werden, daß nach einer Exspiration bei Glottis¬
schluß eine forcierte, thorakale Inspirationsbewegung (also ohne
Kontraktion des Zwerchfells oder der Bauchdecken) gemacht
wird. Dadurch wird das Zwerchfell stark gehoben, der Bauch
sinkt ein, „er wird eingesogen“; die Kontraktion der Bauch¬
muskulatur ist dabei überflüssig, der Bauch bleibt weich. Die
Methode eignet' sich besonders zur Tiefenpalpation, zur Lokali¬
sierung und Verschieblichkeitsprüfung der Organe, Druckpunkte
und Tumoren, zum Nachweis von Verwachsungen letzterer mit
der Bauchwand usw. Die frei beweglicheren Organe (Magen,
Colon transversum) werden bis zu 20 cm gehoben, aber auch
die fixierten (Duodenum, Flexuren des Dickdarms) beteiligen sich
mehr oder minder ausgiebig an dem allgemeinen Hochrücken.
Die bedeutende Hebung der Organe resultiert nicht nur aus
dem Zwerchfellhochstand, sondern auch aus dem Umstand, daß
durch die bei der thorakalen Inspirationsbewegung eingetretene
Verbreiterung der Thoraxbasis Raum geschaffen wird, der durch
tiefer gelegene' Organe ausgefüllt werden muß.
K. v. Noorden glaubt, daß dieses Verfahren auch eine
therapeutische Bedeutung besitzt, z. B. zur Behandlung von
Adhäsionen.
E. S t o e r k hat Fälle beobachtet, welche nach der Methode
des Vortragenden wegen Darmatonie behandelt wurden. Es war
eine Besserung zu konstatieren. Diese wäre vielleicht so zu er¬
klären, daß durch die Hebung des Darmes Knickungen desselben
ausgeglichen werden, so daß für die Fäzes eine leichtere Passage
geschaffen wird. Zirka 6 Fälle von Darmatonie wurden unter
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
731
dieser Behandlung nach zehntägiger Therapie, hei welcher dreimal
täglich die Inspirationen vorgenommen wurden, geheilt.
Dr. Jonas: U e b e r die Abhängigkeit der Dar m-
lu otilität vom Verhalten des Magens (speziell
von seinem Säuregrad). Vortragender demonstriert ein
Material von 36 Fällen an 5 Tabellen u. zw.: Achylia simplex
(ohne Darmkatarrh), Achylia carcinomatosa (resp. karzinomatöse
Pylorusstenose) und narbige Pylorusstenose. Darmkatarrh (bei
Achylikern einerseits und normomotorischen Normaziden andrer¬
seits), verschiedene Säuregrade des Magens ohne Darmkatarrh,
Ulcus ventiiculi. Die Schlüsse, zu denen Vortragender auf Grund
klinisch-radiologischer Untersuchungen gelangt, sind folgende :
Für das Stuhlbild ist nicht allein die Schnelligkeit der Passage
durch den Darm, sondern auch die Empfindlichkeit des Rektums,
seine Fähigkeit, Stuhldrang auszulösen (II e r t z), maßgebend ;
hat das Rektum diese Fähigkeit verloren, dann kann es trotz
Hypermotilität des Darmes zum Liegenbleiben, zur Eindickung
des Stuhles und zum Stuhlbild der Obstipation kommen. ' Kann
daher zwar aus dem Vorhandensein von Diarrhöen auf beschleu¬
nigte Darmpassage geschlossen werden, so ist dagegen der
Schluß aus dem Stuhlbild der Obstipation auf verlangsamte
Passage nicht zulässig. Die Darmmotilität zeigt sich im allgemeinen
von der Motilität des Magens abhängig, insofern als sich bei
Hypermotilität des Darmes stets auch Hypermotilität und niemals
Hypomotilität des Magens fand und sich bei Hypomotilität des
Magens niemals Hypermotilität des Darmes ergab. Hypermotilität
des Darmes, mindestens in seinen oberen Abschnitten bis zur
Flexura coli lienalis, fand sich bei Achylie, Ulkus, (nervöser)
Hypermotilität des Magens und Katarrh des Darmes ; die Hyper¬
motilität der oberen Darmabschnitte kann jedoch mit normaler
oder verlangsamter Passage der unteren Darmabschnitte ver¬
bunden sein. Ein Hindernis am Magenausgang narbiger, karzi-
nomatöser oder spastischer Natur verlangsamt die obere Darm¬
passage und zwar um so mehr, je hochgradiger es ist. Ein
bestimmtes Verhältnis zwischen dem Säuregrad des Magens und
der Motilität des Darmes besteht nicht.
Wiener laryngo-rhinologische Gesellschaft.
Sitzung vom 8. März 1911.
Vorsitz: Hofrat Prof. Chiari.
Schriftführer : Dr. 0. Hirse h.
Der Präsident hält dem verstorbenen Sanitätsrat Doktor
Hennig in Königsberg einen Nachruf.
Dr. Menzel demonstriert eine Hemmungsmißbildung der
Nase mit unvollständiger doppelseitiger Atresie der vorderen
Nasenöffnungen; der Fall zeigt ferner auch ein Nichtvorhanden¬
sein des Filtrums des Nasenfortsatzes mit dem Processus alveolaris,
so daß eine Kommunikation des vorderen Nasenanteiles mit dem
Vestibulum oris in der Gegend des Zwischenkiefers besteht. Ein
Versuch, die Kommunikation operativ zu schließen, führte nicht
zum Ziele und schließlich ist ein Defekt im Septum cartilagineum
vorhanden, der durch eine vom Nasenrücken zum Nasenboden
ziehende Hautbrücke in zwei Hälften geteilt wird.
Die von den Priv.-Doz. Glas und Roth erwähnten Ge¬
sichtsnarben sowie die Narben an der Oberlippe und im Introitus
nasi führt Redner auf Variola und die vorgenommene Operation
zurück.
Dann stellt Dr. Menzel zwei Fälle von Stirnhöhlen¬
eiterung vor, in denen eine konservative Behandlung zur
Heilung führte. Es war nebst heftigen Kopfschmerzen und Fieber
bis 39', Rötung und Schwellung des oberen Augenlides vor¬
handen und in dem einen def Fälle kam späterhin nach Ablauf
dieser Schwellung eine haselnußgroße Geschwulst an der unteren
Stirnhöhlenwand zum Vorschein. Resektion des vorderen Endes
der mittleren Muschel, Sondierung, die in dem zweiten Falle
erst am nächsten Tag gelang und Ausspülung, sowie Ausräumung
des vorderen Siebbeinlabyrinthes führte bald Rückgang aller
Erscheinungen herbei. Die haselnußgroße Schwellung, die Redner
für einen Abszeß hält, ging binnen zwei Tagen zurück. In der
Diskussion bemerkt Priv.-Doz. Dr. Roth, daß er schon wieder¬
holt betont habe, eine radikale Operation sei in derartigen
Fällen nicht absolut notwendig und man soll vorerst versuchen,
mit konservativen Methoden auszukommen.
Auch Priv.-Doz. Fein sieht in dem Umstande, daß Lid¬
ödem vorhanden ist, noch keine Indikation zur Vornahme eines
radikalen Eingriffes.
Ebenso spricht sich Prof. R e t h i bei akuten Empyemen,
selbst wenn Lidrötung und Schwellung vorhanden ist, vorerst
für ein konservatives Vorgehen aus und nur wenn man damit
nicht reüssiert oder schwere Erscheinungen seitens der Meningen
etwa drohen, soll von außen eröffnet werden. Selbst eine partielle
Lonchotomie ist nur selten notwendig. Im zweiten demonstrierten
falle kann es sich nicht um einen Abszeß gehandelt haben, da
eine Resorption binnen zwei Tagen nicht möglich ist.
Priv.-Doz. Glas zeigt einen Patienten mit Aneurysma der
lec den Artena pharyngea ascendens. Pulsation im Meso- und
Epipharynx. Hofrat Chiari, Prof. Rethi und Dr. Hirsch
sprechen sich gegen Aneurysma und für eine verlagerte Arteria
pharyngea ascendens aus.
Dr. Hutter stellt eine Patientin vor, mit Zerstörung des
Vomer und des Nasenbodens. Wulstig-narbige Beschaffenheit der
Epiglottis und Narben vom seitlichen Zungengrund zur hinteren
Rachenwand. Die früher bestandenen Infiltrate und Geschwüre
sollen seinerzeit — Redner sah damals die Patientin nicht —
ein typisch tuberkulöses Aussehen gehabt, haben. Tuberkulin¬
injektionen wirkten günstig. Abendliches Fieber, Spitzeninfiltration.
Von Lues sollen nie Anzeichen vorhanden gewesen sein. Der¬
artige Zerstörungen auf tuberkulöser Grundlage seien sehr selten.
Priv.-Doz. Glas betont die Wichtigkeit einer histologischen
und einer Blutuntersuchung.
Dr. Hirsch frägt, ob es sich nicht um eine Oberkiefer¬
periostitis mit Nekrose handeln könne.
Dr. Hutter meint, eine Wassermann - Probe werde
nachgehoH werden, eine Probeexzision dürfte aber bei dem jetzt
bestehenden narbigen Gewebe kein entscheidendes Resultat er¬
geben. Linen dentalen Ursprung hält er für sehr unwahrscheinlich.
Dann stellt Dr. Hutter einen Patienten mit Lichen ruber
planus, bzw. Lichen corneus planus an den Unterschenkeln vor,
bei dem sich an der Wangenschleimhaut matt-weißliche Herde
tinden, die aus rundlichen streifenförmigen und flächenhaften
Ettloreszenzen zusammengesetzt sind. Es ist das Bild einer
netzförmigen Anordnung vorhanden. Bei näherer Betrachtung
erkennt man als primäre Herde minimale weiße Stippchen, die
sich zu Linien aneinanderreihen und zu Feldern konfluieren.
Die Mukosa fühlt sich rauh an. Die Umgebung zeigt keinerlei
Entzündung. Es handelt sich um einen Lichen ruber planus der
Mundschleimhaut.
Piiv.-Doz. Roth: Ohne diese Hautveränderungen wäre
uei die Diagnose nicht leicht, weil die Veränderungen an der
Schleimhaut nicht so charakteristisch sind, daß man sie von der
Leukoplakie unterscheiden könnte.
Dr. Hutter glaubt, daß die charakteristische Zeichnung
und Genese aus kleinsten Knötchen doch eine Unterscheidung
treffen lasse.
Priv.-Doz. Kahler demonstriert einen Patienten, bei dem
er,„ e zePhale Stirnhöhlenoperation nach Grünwald aus¬
geführt hat. Nach vorheriger konservativer Behandlung wurde
vorerst links, später rechts die Radikaloperation nach Killian
vorgenommen. Wegen neuerlicher Schmerzen nochmalige Er¬
öffnung beiderseits. Rechts fand sich die Stirnhöhle fast ganz
verödet, nur außen unter dem Processus zygomaticus war eine
kirschgroße Eiterhöhle vorhanden. Resektion des Processus
zygomaticus und nach dem Vorschlag Grün walds des Septum
interfrontale gegen die Nase zu, sowie eines großen Teiles der
Lamina perpendicularis. Breite Kommunikation mit der Nase.
Heilung.
Ferner zeigt er einen Schädel mit Asymmetrie der Augen¬
höhlen, an dem in frühester Jugend der linke Bulbus enukleirt
wurde. Man sieht bedeutende Verengerung der linken Orbita,
hauptsächlich infolge von Erweiterung der Nebenhöhlen dieser
Seite.
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 20. März 1911.
Dr. Schönfeld demonstriert: 1. einen Fall von Mongo¬
lismus, hebt die ckarakteristischen somatischen Symptome
dieses Krankheitstypus hervor, welche die vorgestellte Kranke
aufweist, erwähnt die ätiologischen Momente, als welche hier
Alkohol und Tuberkulose neben psychischer hereditärer Belastung
in Betracht kommen und weist auf einige bei der Kranken inter¬
essante Vorkommnisse hin, so auf das beim Mongolismus bisher
kaum beobachtete hohe Alter von 58 Jahren, ferner auf den
Umstand, daß die Patientin sechs normale Geburten überstand,
schließlich auf die eigentümliche an Dementia praecox gemah¬
nende Verlaufsform der Psychose, welche durch die jahrelange
Persistenz von Halluzinationen in visu et auditu, impulsiven
Akten und Stereotypien bemerkenswert ist. Endlich wird auf das
seltene Vorkommen des mongoloiden Schwachsinns im Lande
Mähren hingewiesen. 2. Zwei Fälle von juvenilerParalyse.
732
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 20
I. Antonie P., 18 Jahre alt, stammt von einem auf Potus
und Lues verdächtigen Vater, die Mutter hat zweimal abortiert,
starb beim dritten Abortus. Die Annahme von Heredolues hei der
Kranken findet durch den positiven Ausfall der Was s er man n-
schen Reaktion ihre Bestätigung. Pat. war schon in der Schule schwer
begrifflich, versagte nachher ganz, nachdem sie noch einige Zeit
als Fabriksarbeiterin sich verwenden ließ. Erwähnenswert ist
das Ausbleiben der Menses; dagegen trat zu Beginn des 17. Lebens¬
jahres immer am Monatsanfang „vikariierendes Nasenbluten ‘ auf,
welches einige Tage dauerte; als dieses sistierte, motorische
Unruhe mit Verwirrtheitszuständen und akuter Ausbruch der
Psychose.
II. Der Vater des zweiten Kranken, Rudolf N., 21 Jahre,
starb an progressiver Paralyse in der Irrenanstalt. Wasser-
m an n sehe Reaktion negativ, dagegen Lymphozytose der Lumbal-
II üssigkeit.. Der schwach veranlagte Kranke brachte es bloß bis
zur 2. Schulklasse. — Gemeinsam: Die rechte Pupillenweite;
träge Lichtreaktion.
In beiden Fällen Stillstand der körperlichen Entwicklung,
ferner motorische Reiz- und Ausfallserscheinungen (Reflexe, insbe¬
sondere Patellarsehnenreflex bei beiden Kranken gesteigert, Babinski
in Fall I positiv), paralytische Lähmung der Beine in Fall II. Bei
beiden ataktische Störungen und typische paralytische Störungen
der Sprache und Schrift.
In psychischer Hinsicht bei beiden euphorische Grund¬
stimmung, Mangel von Größenideen. Bei Fall II gelegentlich
plötzlicher Stimmungswechsel. Einmal wurde ein durch Halluzi¬
nationen und Nostalgie bedingter Erregungszustand beobachtet.
Beiden Kranken gemeinsam die hochgradigen Intelligenz- und
Gedächtnisdefekte, bei Fall II herrscht Neigung zur Konfabulation.
Bei demselben Patienten ist der lange schleppende Verlauf mindestens
durch 10 Jahre bemerkenswert.
Oberarzt Dr. S 1 a n i n a demonstriert eine Contrecoup-
fraktur des Unterkiefers. Es handelt sich um einen
Wachtmeister, der durch Steinwurf an der linken Gesichtshälfte
verletzt wurde; daselbst deutliche Spuren der Gewalteinwirkung
(Exkoriation, Suffusion, Schwellung). An der rechten Seite des
Unterkiefers hinter dem Eckzahne eine quere Zusammenhangs¬
trennung des Knochens. Die Deviation der Fragmente wurde
mittels Aluminiumbronzedrahtligierung aufgehoben und durch
diese Fixation der Bruchstücke der Kauakt ermöglicht.
Primarius Mager demonstriert: 1. Eine 37jährige Tag¬
löhnerin mit Tetanie, bei der das Schlesingersche Phänomen
an den Beinen deutlich ausgesprochen erscheint.
2. Eine Patientin, bei der nach S al v a r s an Injektionen
in die Glutäalmuskulatur beiderseits tiefe schmerzhafte Infiltrate
6 Wochen nach der Injektion noch vorhanden sind. Es scheint,
wie bekannt, relativ häufig nach intramuskulären Salvarsanin-
jektionen zu diesen Infiltraten zu kommen, weshalb in der
Salvarsantherapie der intravenösen Applikation dieses Mittels
der Vorzug zu geben wäre.
3. Eine 48jährige Frau, mit Myxödem.
4. Ein 11 jähriges Mädchen mit Sklerodermie, welches
bereits in einer früheren Sitzung vorgestellt wurde und nunmehr
nach Behandlung mit Thyreoidin intern und Thyosinamin in
Salbenform ein starkes Zurückgehen der Hautveränderungen dar¬
bietet. Die Haut hat bereits größtenteils eine normale Beschaffen¬
heit und läßt nur fleckenweises Vorhandensein der Sklerodermie
erkennen.
Prof. Dr. Sternberg demonstriert den Thorax eines
Falles von kongenitaler Trichterbrust. Es handelte
sich um ein 7 Tage altes Mädchen, so daß hier wohl die land-
■ läufigen Erklärungen, Rachitis, ßzw. Einfluß von Berufsschädlich¬
keiten („Schusterbrust“, „Töpferbrust“ etc.) wegfallen ; weder in
der väterlichen noch in der mütterlichen Aszendenz des Kindes
kam diese Veränderung vor; der Vater ist Bäcker. Vortr. erinnert
an die Untersuchungen von March and, sowie an die in jüngster
Zeit erschienene Arbeitvon Verse, der die Trichterbrust auf Wachs¬
tumsanomalien namentlich des Sternums zurückführt.
Regimentsarzt Dr. Richard Po llak bespricht den Wert
an t hr opo met rischer Messungen für präzisere
Beurteilung der Rüstigkeit. Die vom französischen
Militärärzte Pignet angegebene Methode wurde nach Publi¬
kationen Glasers im Heere eingeführt und dürfte auch sonst für
Aerzte, die nach Akten Gutachten abzugeben haben, von Wert
sein. Man erhält den „Pignetschen Index“, indem man von der
Körperlänge (in Zentimetern) das Körpergewicht (in Kilogrammen)
und den Brustumfang bei tiefster Ausatmung (in Zentimetern)
subtrahiert. Je niedriger dieser Wert, desto größer, je höher er
ist, desto geringer ist die Widerstandskraft desbetreffendenMenschen.
Auf Grund von ca. 1500 Messungen, die beim Inf.-Rgint. Nr. 49
ausgeführt wurden, berichtet P ollak über die Schwankungen, denen
der Rüstigkeitsindex durch verschiedene Einflüsse ausgesetzt ist.
Die Pignetsche und Sistinische Skala, die in rnner Arbeit des
Regimentsarztes Gustav P ollak im „Militärarzt“ angeführt sind,
kann dort, wo es nur auf Uebersicht und Unterstützung sub¬
jektiver Ansicht ankommt, derart vereinfacht werden, daß ein
Index bis 15 gute, bis 25 mittlere und darüber mindere Körper¬
rüstigkeit anzeigt. Die Vergleiche verschiedener Berufe ergaben,
daß Bauern, Fleischhauer, Kellner und Bäcker zum größten Teile
in die erste, Schneider, Friseure, Studenten in die letzte Gruppe
gehören. Beobachtungen an Leuten, die nicht zum Militärdienste
gelangen, könnten hier interessante statistische Tabellen ergeben.
Der Einfluß des Militärdienstes machte sich bei Rekruten derart
günstig bemerkbar, daß eine Reihe bei der Einrückung Minderer
nach der Ausbildung bereits in die Gruppe der Guten eingereiht
werden konnte. Vortragender verweist auf die im „Militärarzt
publizierten Arbeiten von Gustav Po llak und Dozent Livi. Venn
ersterer der Ansicht ist, daß bei der Assentierung Indexgrenz¬
werte fixiert werden mögen und letzterer die entgegengesetzte
Ansicht vertritt, dürfte als Mittelweg der Vorgang beobachtet
werden können, daß Vergleiche der Messungen „Minderer“ bei
der Einrückung und nach der Ausbildung gute Uebersichtsdaten
für die Beurteilung der Tauglichkeit bieten könnten. Auch bei
Auswahl von Mannschaft zur Polizei, Fiannzwache etc. könnte
analog vorgegangen werden. aP
Stadtphysikus L. R. Dr. Kok all: Ueber einige sani¬
täre Anlagen der Stadt Brünn (mit Demonstrationen
von Photographien).
Nach einleitenden Worten über die sanitären Verhältnisse
der Stadt Brünn, bespricht Vortragender die Vorteile der neuen
Wasserleitung aus Quellhütten, das System der Abwässerreini¬
gung nach Oberbaurat A b t, welches sich in den Probeversuchen
sehr gut bewährt, geht hierauf auf die Schilderung der staub¬
freien Kehrichtabfuhr über, bespricht die große Müllverbrennungs- j
anlage und demonstriert an der Hand von Photographien die
Kanalanlagen. An schematisch dargestellten Zeichnungen skizziert
der Vortragende das Sterblichkeitsverhältnis nach jenen Bezirken, ;
wo am meisten Tuberkulose und wo Darmkatarrhe auftreten, j
ebenso an weiteren Tabellen, wo am häufigsten Infektionskrank- I
lieiten wie Scharlach, Diphtherie, Masern und lyphus sich I
zeigen, er hebt hervor, daß die Mortalität eine sehi gelinge
geworden ist und daß zur Schulzeit regelmäßig ein Ansteigen
der Infektionskrankheiten festzustellen ist.
Vortragender geht zur Besprechung der Desinfektionsanstalt
über, durch welche es unter anderem auch ermöglicht wird,
mittels transportabler Badewägen für Rekonvaleszenten nach
Infektionskrankheiten in ihren Wohnungen Bäder auf Kosten der
Gemeinde zu verabreichen.
An der Hand zahlreicher Photographien zeigt Vortragender
die Körperbeschaffenheit der Brünner Schuljugend. Die neu er¬
bauten Schulen mit ihren großen lichten Zimmern und S.ilen,
sowie den in einzelnen Schulen vorhandenen Werkstätten werden
an anderen Bildern demonstriert, ebenso die in mehreren Schulen
vorhandenen Brausebäder und die in den Kindergärten vor¬
handenen Einrichtungen. . I
Redner bespricht hierauf die Wohlfährtsinstitute in Gurein,
Ullersdorf, Wohautschitz und Neu -Leskau, wo jährlich viele
Kinder ihre Ferienzeit verbringen.
Hierauf werden Bilder der öffentlichen Parkanlagen und
Schrebergärten gezeigt. Endlich bespricht der Vortragende das
musterhaft eingerichtete städtische Kinderschutzamt, das Asyl
für Obdachlose und die von einer Fabrik eingerichtete Fürsorge¬
stelle für Säuglinge (Fabriksstillkrippe).
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin
vom 19. bis 22. April zu Wies baden.
II. Sitzung vom 20. April 1911, vormittags.
Referent: K. Reicher -Berlin.
(Fortsetzung.)
III.
E. A 1 b r c c h t - Oeynhausen : Ueber einseitige Druck¬
änderung der Lungenluft als Hilfsmittel für;
Diagnose und Therapie von Herzerkrankungen.
Bei Ausatmung oder Einatmung in verdünnter. Luft werden
die Lungenkapillaren passiv stärker mit Blut gefüllt, dagegen
durch Ex- oder Inspiration in komprimierter Luft verengt. Man
vermag daher mit Hilfe einseitiger Druckänderungen der Lungen¬
luft und zwar durch Kombination von Luftverdünnung und
-Verdichtung bei In- und Exspiration den unterstützenden Ein-
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
73B '
lluß der Atmung auf die Zirkulation iin Lungenkreislauf direkt
nachzuahmen und damit die Strömung im kleinen Kreislauf
beliebig zu beschleunigen oder zeitweilig zu verlangsamen. Diese
Strömungsbeschleunigung setzt sich auf das Herz selbst fort und
es gelingt daher, bei langdauernder Anwendung der kombinierten
Methode Dilatatipnen' des rechten wie des linken Herzens zu
verringern, Arhythmien zu bessern., frustane Kontraktionen
seltener zu machen etc. Die Pulsfrequenz sinkt, die Herzkraft
steigt allmählich- und etwaige Stauungen, Oedem u. dgl. gehen
zurück. Ausatmung in verdünnte Luft führt erst bei ange¬
schlossener Einatmung komprimierter Luft zum Ziele. Ein schwaches
Herz wird entgegen bestehenden Lehrmeinungen durch vermehrte
Arbeitsanforderung nicht gestärkt, sondern im Gegenteil geschwächt.
Dagegen beseitigt Verringerung der Füllung des linken Herzens
nach und nach’ die Dilatation sowohl bei Klappenfehlern, idio¬
pathischen Herzhypertrophien und Myokarditis als auch bei
Kropf. Ueber eine Druckgröße von + 3 mm Hg des wirklichen
Barometerstandes hinausgehen, ist nicht ratsam. Kontraindiziert
ist die Methode bei allen akuten Erkrankungen, vor allem bei
Verdacht auf Thrombenbildungen.
Diskussion: Kuhn- Biebrich : Die Behandlung
von Herzschwächezuständen und Stauung im
Vejiengebiete durch negativenDruckin derBrust-
höhle. Kuhn hebt die Vorzüge seiner Saugmaske bei Be¬
handlung von Herzkrankheiten hervor.
Ge r h a r d t - Basel hat bei Versuchen zur Kontrolle der
K ro n e c k e r sehen Theorie der Bergkrankheit eine bedeutende
Strömungsbegünstigung in der Lunge bei Unterdruckatmung ge¬
funden und damit ist eine wesentliche Erleichterung der Arbeit
des rechten Herzens gegeben. Bei Herzkranken hat Gerliar d t
auch sehr gute Erfolge bei Exspiration in verdünnte Luft gesehen,
dagegen äußert er Bedenken gegen die Ausatmung in verdichtete
Luft, sie könnte durch außerordentliche Erschwerung der Arbeit
des rechten Herzens schließlich zu Erlahmung desselben führen.
Albrecht (Schlußwort) hat bei Mitralfehlern, Aorten¬
klappenfehlern und Kompensationsstörungen mit der K u h n sehen
Maske keine Erfolge gesehen, vielmehr schädige sie durch Er¬
schwerung der physiologischen Inspiration direkt ein schwaches
Herz.
E. Hering- Prag : D i e monotope und heterotope
Automatie des Herzens.
Die monotopen Ursprungsreize entwickeln sich am K e i t h-
Flack sehen Knoten, bei den heterotopen unterscheiden wir
aurikuläre, ventrikuläre und atrioventrikuläre. Lokalisieren können
wir die Ursprungsreize durch gleichzeitiges Aufzeichnen von
Arterien- und Venenpuls. Die Lokalisation kann transversal oder
longitudinal erfolgen. Schlagen Kammern und Vorhöfe gleich¬
zeitig oder fast gleichzeitig, dann liegt der Ursprungsreiz im
l’awara sehen Knoten. Die heterotopen Ursprungsreize in den
Vorhöfen kann man nur mit dem Elektrokardiogramm lokali¬
sieren, muß aber auf Ausgangspunkt, Ableitung und Lage des
Herzens achten. Heterotope Ursprungsreize treten auf, wenn die
normalen sich selten oder gar nicht entwickeln, oder die
heterotopen stärker sind als die normalen oder endlich bei
Ueberleitungsstörungen, z. B. bei Dissoziationen. Sehr viele Fälle
von Extrasystolie beruhen auf heterotopen Ursprungsreizen. Das
Verständnis einer nervösen Extrasystolie ist unserem Ver¬
ständnisse heute näher gerückt. Die Extrasystolen nach Vagus-
und nach Akzeleransreizung, ebenso die paroxysmale Tachykardie
führt H e r i n g auf heterotope Ursprungsreize zurück. ■
Diskussion: Nicolai - Berlin : Die vom Vortragenden
heute zugestandene Bedeutung des Elektrokardiogramms für die
Lokalisation schließt den Widerruf seiner im Vorjahre abgegebenen
gegenteiligen Erklärung in sich.
Hoffmann - Düsseldorf : Die Anfälle von paroxysmaler
Tachykardie gehen von ganz verschiedenen Ausgangspunkten
>us, die man mit Hilfe des Elektrokardiogramms differenzieren
Vann. Hoffmann freut sich, daß Herr Nicolai nicht mehr
von Kontraktions-, sondern von Erregungsablauf spricht.
V o 1 h a r d - Mannheim : Durch intravenöse Strophanthin-
njektionen lassen sich die Anfälle von paroxysmaler Tachykardie
regelmäßig prompt beseitigen.
Ni e o 1 ai- Berlin : Das Elektrokardiogramm ist der Aus¬
huck der Aktion des Herzens, dazu gehört die Erregung, der
hemische Umsatz, die Wärmebildung, die mechanische Kon-
raktion und schließlich das elektrische Aequivalent : alles dies
iSt ein einheitlicher Vorgang und man kann nicht die Erregung
’der die Kontraktion einzeln herausgreifen, mein Ausdruck sollte
lalier keine Konzession bedeuten.
R h o m b e r g - Tübingen : Ueber die Entstehung der Ur-
’Prungsreize im K e i t h - F 1 a k sehen Knoten sind wir uns alle
einig, dagegen konnte J ä g e r in der Tübinger Klinik nachweisem
daß entgegen Mackenzies Ansicht Verschorfung des Simus-
vnotens nicht genügt, um perpetuelle Arhythmie auszulösen,
mehr wollte Jäger damit nicht behaupten.
Gerhardt - Basel : Magnus-Aisleben wies mit Durch-
schneidungsversuchen nach, daß das Herz in derselben Weise
wenn auch ein wenig langsamer weiterschlagen kann, auch wenn
der K e i t h - F 1 a k sehe Knoten nicht mehr da ist. Trotzdem
kommt ihm normaliter jedenfalls eine führende Rolle zu. Durch
Heizung dei Nasenschleimhaut konnte Gerhardt nicht wie
andere Autoren Extrasystolen erzielen.
Hering (Schlußwort) hält die schon Knoll bekannt ge¬
wesenen Extrasystolen nach Reizung der Nasenschleimhaut für
echte, aber nicht beweisend für etwaigen nervösen Ursprung, da
sie auch nach Vagus- und Akzeleransdurchschneidung zustande
kommen.
An der Bedeutung der K e i t h - F 1 a c k sehen Knoten als
Sitz des Ursprungsreizes hält Hering fest.
Fleischmann - Berlin : Die Erregbarkeit der
Herznerven bei kropfigen undschilddrüsen losen
Tieren.
Es bestand bisher ein auffallender Widerspruch zwischen
Klinik und Experiment, indem die Zirkulationsstörungen des
Hyperthyreoidismus beim Menschen bei schilddrüsenlosen und
kropfigen Tieren (nach Cyon) sich wiederfinden sollten. In
dankenswerter Weise hat Fleischmann diesen unerklärlichen
Gegensatz aus der Welt geschafft. Es ist tatsächlich bei diesen
Tieren die Erregbarkeit des Vagus und Depressor gesteigert, der
Puls auffallend verlangsamt und der Blutdruck erniedrigt. Die
besonders intensive Atropinwirkung beruht bei ihnen auf ver¬
langsamter Entgiftung im Blute. Jodnatriumlösungen entfalten
nach Thyreoidektomie keine besondere Wirkung.
H o k e - Franzensbad und R i h 1 - Prag : Experimentelle
Untersuchungen über dieBeeinflussung d e r K r e is¬
la u f o r g a n e und der Atmung durch das Salvarsan.
In Bezug auf die Kreislauf organe ist Dyperideal ungefähr
zwanzigmal so giftig als Salvarsan, Ideal steht in der Mitte
zwischen beiden. Bei alkalischer Lösung tritt die Drucksenkung
langsamer ein. als bei saurer. Für die Drucksenkung ist nicht das
Herz verantwortlich zu machen, da noch bei ganz minimalem
Druck unmittelbar vor dem Tode Abklemmung der Aorta eine
erhebliche Drucksteigerung zur Folge hat, sondern im wesent¬
lichen eine zentrale bedingte Wirkung auf den Gefäßtonus. Die
reflektorische Erregbarkeit erlischt nämlich früher, während die
periphere bis in die letzten Momente des lebenden Tieres er¬
halten bleibt. Die Kreislaufwirkung ist demnach im wesentlichen
eine Arsenwirkung, wie sie schon Pistorius für die arsenige
Säure hat zeigen können.
Diskussion: Hering: Es wäre interessant, ob der
verschiedenen organotropen auch eine differente spirillotrope
Wirkung der Präparate entspricht. Adrenalin erhöht den para¬
lytischen Druck nach Salvarsaninjektion auffallenderweise nicht.
S c h r e i b e r - Magdeburg konstatiert, daß Hyperideal nicht
giftiger ist als Salvarsan.
Nicolai- Berlin hat gemeinsam mit R e h f i s c h in
Königsberg bereits die Blutdrucksenkung nach Salvarsaninjektion
demonstriert und schon damals aus dem Mangel jeglicher Aende-
rung im Elektrokardiogramm das Ausbleiben einer direkten Herz¬
schädigung erschlossen.
B e n a r i o - Frankfurt a. M. kann auch gar keinen Unter¬
schied in der Wirkung von Salvarsan und Hyperideal finden.
Ri hl -Prag: Zur Vermeidung von Mißverständnissen stellt
Ri hl fest, daß sich in den Versuchen die Giftigkeit lediglich
auf das Verhalten des Blutdruckes bezieht.
(Fortsetzung folgt.)
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie zu Berlin
vom 19. bis 22. April 1911 (im Langenbeckhause).
Referent: Dr. M. Katzen stein -Berlin.
(Fortsetzung.)
Fritz König -Greifswald: Neue Wege der plastischen
Chirurgie (Verlötung und Ueberbrückung).
König hat im Verfolg früherer Arbeiten ein Verfahren aus-
gebildet, um unsichere Nähte an Schleimhautkanälen zu ver¬
stärken sowie um Lücken und Defekte plastisch zu decken.
Durch Experimente an Hunden konnte er nachweisen, daß das
Aufnähen eines ungestielten Faszienlappens auf die Darmwand
743
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
Nr. 20
über prolab ierte Schleimhaut genügt, um Heilung herbeizuiühreu,
daß Oesophagus-, Blasen- und Dam wunden, sogar zirkuläre
JJarmresektion, wenn die Wundränder nur ganz flüchtig mit fort¬
laufender Katgutnaht zusammengezogen waren, mit dieser Me¬
thode primär heilten (Verlötung). Bei Defekten von Magen und
Darm genügte das Hinübernähen eines ungestielten Faszien¬
lappens, um auch ohne Naht der Ränder den Defekt zum V er¬
schluß zu bringen (Ueberbrückung). Die Faszie heilt ein und
bleibt am Leben. König hält das Verfahren bei allen unsicheren
Nahtlinien für wichtig.
Am Menschen hat er es bei der Harnblase, bei Verschluß
von Hamröhrendefekten, bei der End- zu End- Vereinigung des
resezierten Rektums mit Vorliebe verwendet, empfiehlt es für
die Naht des Oesophagus, für den Verschluß von Fisteln an den
Harnwegen, am Mastdarm usw., eventuell für das perforierte
Magengeschwür. r
Hohmeier- Greifswald: Experimentelle Unter¬
suchungen zur Verlötung und Ueberbrückung von
W unden und Defekten schleimhauttragender Kanäle.
Die freie Transplantation von Fascia lata erwies sich im
Versuch als geeignet zur Deckung künstlich geschaffener Defekte
an Oesophagus, Harnblase und vor allem Trachea. Bei Versuchen,
die ganze vordere Harnblasenwand zu ersetzen, kam es zur Bil¬
dung von Konkrementen nebst Perforation.
G. S chöne- Marburg : Transplantationsversuche
mit artgleichen und artfremden Geweben.
Hauptsächlichstes Hindernis für das Gelingen der Trans¬
plantation kann bestehen :
1. im „Verhungern“ des Transplantats (erschwerte Assimi¬
lation des körperfremden Eiweiß,
2. in toxischer Wirkung des Transplantates (bekannt bei der
Bluttransfusion),
3. im Auftreten von Immunitäts-, bzw. anaphylaktischen Re¬
aktionen. , ; i ; )
Durch Kr ankheits Vorgänge - — und wir haben es ja fast stets
mit Kranken zu tun — kann es sogar zur Reaktion gegen körper¬
eigenes Eiweiß kommen. Ausführliche Untersuchungen über Homo¬
plastik bei Blutsverwandten ergaben stets eine Minderwertigkeit
gegenüber der Autoplastik. Im übrigen bei Geschwistern, aber
nicht notwendig reziprok, eine Ueberlegenheit gegenüber dem
Verhalten bei Nichtverwandten. Auf das eigene Muttertier ließ
sich kindliches, bzw. fötales Gewebe verhältnismäßig gut über¬
tragen. Uebertragungsversuche im ungekehrten Sinne verlaufen
resultatlos.
Versuche, die Transplantationsfähigkeit von Haut bei Ueber-
tragung von Tier auf Tier zu steigern, haben bis jetzt ebenfalls
keinen Erfolg gehabt.
E. Rehn-Jena: Experimentelle Erfahrungen über
freie Gewebstransplantation.
Die homoplastische Uebertragbarkeit von Fettgewebe kann
nach dear Tierversuchen Reh ns als sichergestellt gelten. Jedoch
gibt die Autoplastik ungleich regelmäßigere günstigere Erfolge.
Bei der Faszienübertragung liegen die Verhältnisse für die
Homoplastik wesentlich günstiger. Aehnlich wie das Ueb ertragen
des Periosts erhält sich das Peritoneum monatelang vortrefflich.
Als geeignetes Mittel für den Ersatz von Knochen kann das
Horn empfohlen werden.
Ivüttner-Breslau. Die Transplantation aus der
Leiche.
Bericht über den im vorigen Jahr erwähnten Fäll von
Transplantation des oberen Femurteiles. Patient kam nach 13 Mo¬
naten zum Exitus, bei der Obduktion zeigte sich makroskopisch das
Transplantat gut erhalten. Es hat sich eine neue Gelemkskapsel
gebildet. ( i j ' i ; i j j i j j r|
Verf. kann über zwei ähnliche Fälle berichten, von denen
der eine zwei Rezidive und eine Spontanfraktur überstanden hat.
A. Stieda-Halle: Klinisches und Histologisches
zur freien Knochentransplantation.
An der Stelle von frei transplantiertem, durch Kochen ge¬
tötetem Knochen findet sich ein zellreiches Gewebe, das zu
Spontanfrakturen neigt.
Läwen-Leipzig : Freie Knochenperiosttransplan¬
tation in die Unterlippe bei doppelseitigem ange¬
borenem Fazialisdef ekt.
Durch freie Transplantation einer Periostknochenlamelle in
die Lippe wurde Heilung in zwei Fällen erzielt.
Goebell-Kiel: Behandlung der habituellen Pa-
tellarluxation mit freier Aponeurosentransplanta-
tion; in einem Falle erfolgreich.
A x hau sen -Berlin bemerkt, daß er vor kurzem die gleiche
Operation wie Goebell zur Heilung einer Luxatio patellae late¬
ralis inveterata gemacht hat. Unmittelbarer Erfolg gut.
Zu dem Vortrage Lexers sei zu bemerken, daß die Parallel¬
stellung von Knochen und Knorpel bezüglich Iransplantations¬
fähigkeit nicht ganz gerechtfertigt sei. Gleich sei das Verhalten
der deckenden Membran: Perichondrium wie Periost überleben.
Während aber das Knochengewebe selber abstirbt und vom Pe¬
riost, resp. Mark her ersetzt werden muß, bleiben am Knorpel¬
gewebe selber wesentliche Partien am Leben, die allmählich die
nekrotischen Abschnitte durch Knorpelzellwucherung bei Persi¬
stenz der Gewebssubstanz substituieren. Es ist also der Knorpel
bei der Transplantation zu seiner Erhaltung nicht auf das Peri¬
chondrium angewiesen: auch der Gelenksknorpel ist transplan¬
tationsfähig. Und so erklären sich die guten Erfolge bei den
Gelenksüberpflanzungen Lexers und Küttners.
Hügel- Landau : Epiphysäre freie Knochenimplan¬
tation bei Epiphysen tu berkul ose des Erwachsenen, mit
gutem Erfolge ausgeführt.
v. Habe rer- Wien erlebte beim Ersatz des Humerus durch
eine homoplastische Fibula Spontanfraktur und Sequestrierung
des ganzen Transplantats. Das transplantierte Periost blieb je¬
doch zurück und bildete neuen Knochen.
S ch e pel m a n n -Halle a. d. S. demonstriert ein von ihm an¬
gegebenes Transplantationsmesser, durch einen unbieg¬
samen Schutzbügel gekennzeichnet, der die Haut der Ent¬
nahmestelle spannt und somit eine Assistenz unnötig macht,
dann aber auch mittels Mikrometerschrauben und Teilstrichen
eine genaue Einstellung der Lappendicke ermöglicht. Vortr. zeigt
eine Anzahl langer, breiter, mit dem Messer geschnittener Lappen,
die sehr dünn sind und dabei nicht eine einzige dickere Stelle
aufweisen.
Baum -Kiel hatte bei Ersatz von Pseudarthrosen nur vor¬
übergehende Erfolge. Ausgang in Knochennekrose und Spontan-
frciktur
Braun -Berlin betont die Erhaltungsfähigkeit auch dickerer
hindegewebshaltiger Hautstücke.
Völck er -Heidelberg: Duraplastik mittels Bruchsacks.
L u c a s - Trier benützte für den gleichen Zweck Fascia lata.
Kostlin g-Trebitsch führte bei Epilepsie mit Erfolg eine
Duraplastik durch Bruchsacküberpflanzung aus.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag den 19. Mai 1911, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. Ernst Wertheim stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. Martin Handek : a) Neudiagnostische Ergebnisse bei Fungus
jugendlicher Individiuen; b) Ueber Frühdiagnosen bei Magenkarzinom.
(Demonstration.)
2. Primararzt Priv.-Doz. Dr. Roh. Brener: Schlußwort in der
Diskussion über den Vortrag: Klinische Beobachtungen an Herzkranken.
3. Priv.-Doz. Dr. Karl Ullmann : Ausscheidungswerte und
Speicherungsverhältnisse organischer Arsenpräparate (Salvarsan) nach
_ .. „1. : . j . .. A v\r\lilr«iU’AnofAVJirion tim MpdqpIipd UTlil 1TY1 Tll'T*
Programm
verschiedenartigen Applikationsformen am
experiment.
Vorträge haben angemeldet die Herren: A. Kronfeld, !• Dimmer,
v. Fürtli u. E. Lenk, M. Sternberg.
Bergmeister, Paltau 1.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der pädiatrischen Sektiou findet im Hörsaale der
pädiatrischen Klinik Donnerstag den 18. Mai 1911, um 7 Uhr abends, statt.
(Vorsitz: Priv.-Doz. Dr. Jelile.)
Programm:
Demonstrationen haben angemeldet: Priv.-Doz. Dr. Knöpfeimacher,
Dr. Em. Gottlieb, Dr. Goldreich, Dr. v. Reuß, Dr. Schick.
Das Präsidium.
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Dienstag den 28. Mai 1911, im Hörsaale der
II. Univ. -Frauenklinik. Beginn: Punkt 7 Uhr abends.
1. Fortsetzung der Diskussion zum Vortrage von H. V. Klein:
Die puerperale und postoperative Thrombose und Embolie.
2. Demonstration. Prof. J. Schottläuder : Uterus und Adnex¬
karzinome in ihren wechselseitigen Beziehungen. >
K r 0 p h, Schriftführer. Wertheim, Vorsitzender.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Kubasta.
Verlag von Wilhelm Braumiiller in Wien.
Droek von Bruno Bartelt, Wien XVIII., Theresiengaaee 8,
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. ''■Ebner. S. Exner. E. finger. M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko. H. Meyer. J. Moeller K v Noorden
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. Q. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs, Julius Hochenegg, Ernst Ludwig. Edmund v Neusser
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumuller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg.
Wien, 25. Mai 1911
Nr. 21
INHALT:
1. Originalartikel: 1. Aus dem hygienischen Institute der k. k. Uni¬
versität in Wien. Ein unschädliches Desinfektionsverfahren für
milzbrandinfizierte Häute und Felle. Mitgeteilt von Professor
A. Schattenfroh. S. 735.
2. Aus der I. medizinischen Klinik in Wien. (Vorstand. Karl
v. Noorden.) Experimenteller und klinischer Beitrag zur Azeto-
nitrylreaktion mit besonderer Berücksichtigung der Differential¬
diagnose bei Morbus Basedowi. (I. Mitteilung.) Von Professor
Dr. G. G h e d i n i (Genua). S. 736.
3. Zur Symptomatik der Salvarsanwirkung. Von Dr. V. Hrdliczka
in Wien. S. 745.
4. Aus dem pharmakologischen Institute der k. u. k. Tierärztlichen
Hochschule in Wien. Darf man den Stramoniumzigaretten eine
. arzneiliche Wirkung zuschreiben? Von Prof. Dr. Gustav
Günther. S. 748.
5. Ueber den derzeitigen Stand der Pest in Indien. Von Dr Emil
Wiener. S. 749.
II. Referate : Medizin und Strafrecht. Von Geh. Med.-Rat Doktor
F. Straß mann. Ref. : Reuter. — Untersuchungen über
Rachitis und Osteomalazie. Von Friedrich v. Recklinghausen
Ref. : Carl Sternberg.
III. Ans verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Aus dem hygienischen Institute der k. k. Universität
in Wien.
Ein unschädliches Desinfektionsverfahren für
milzbrandinfizierte Häute und Feile.
Mitgeteilt von Prof. A. Schattenfroh.
ln den letzten Jahren wurden im Institut anläßlich
des \ orkommens von Milzbranderkrankungen bei Arbeitern
bestimmter gewerblicher Betriebe zahlreiche Untersuchungen
milzbrandverdächtiger tierischer Rohstoffe vorgenommen.
Hiebei konnten durch eine besondere Versuehsanord-
ming regelmäßig und zwar vielfach in einer unerwartet
großen Verbreitung, Milzbrandsporen nachgewiesen werden,
nie als die Ursache der Erkrankungen angesehen werden
mußten. Die systematischen, in großem Maßistabe ange¬
legten Untersuchungen wurden vorn Assistenten Priv.-Doz.
Ih. Reichel durchgeführt und werden von diesem dem¬
nächst, zum Teil mit mehreren Mitarbeitern, veröffentlicht
werden.
.Der gelungene Nachweis von Milzbrandsporen auf zur
Federbereitung oder kürschnermäßigen Verarbeitung be¬
stimmten Fellen und Häuten führte notwendigerweise hei
dem gegenwärtigen Stande unserer Anschauungen zu stren¬
gen sanitätspolizeilichen Maßnahmen, als deren einschnei¬
dendste in einigen Fällen die Vernichtung der infizierten
»der infektionsverdächtigen Ware beantragt werden mußte.
So sehr auch die schweren wirtschaftlichen Schädi¬
gungen, die derartige Verfügungen hervorrufen müssen,
gewürdigt wurden, es blieb doch keine andere Wahl, da
alle bisher versuchten wirksamen Desinfektionsverfahren
gegen Milzbrand das Material in so erheblichem Grade schä¬
digen, daß. seine technische Verarbeitung weiter nicht mehr
möglich ist. Es gilt dies bekanntlich auch für die ver¬
schiedenen neueren Anwendungsarten des Formaldehyds.
Anläßlich eines bestimmten Falles nun, in dem (die
Vernichtung einer mehrere Lausend Felle umfassenden infi¬
zierten Warenpartie unvermeidlich zu sein schien, wurde
in Erwägung gezogen, oh nicht doch vorher eines oder das
andere der zahlreichen Desinfektionsmittel unter besonderen
Bedingungen versucht werden sollte. Hiebei wurde zunächst
an eine Kombination einer Säure. Imit Sublimat gedacht. Nach
einer diesbezüglichen Besprechung mit dem Leiter der k.k.
Lehr- und Versuchsanstalt für Lederindustrie in Wien, Herrn
Prof. Kohnste in, fiel die Wahl auf die Salzsäure, die,
wie diesen Mitteilungen entnommen wurde, in Verbindung
mit Kochsalz neben anderen Säuren (wiez.B. Schwefelsäure,
Buttersäure) bereits seit längerer Zeit insbesondere in Frank¬
reich zum sogenannten Pickeln der Häute Anwendung 'fand
und die in Verbindung mit Kochsalz die Gerbfähigkeit der
Häute in keiner Weise beeinträchtigt.
Da jedoch die Anwendung des Sublimats under Praxis
wegen seiner Giftigkeit und wegen seines ziemlich hohen
Preises als nicht sehr aussichtsvoll erschien und (jedenfalls
umständlich sein mußte, so wurde des weiteren die
erwähnte Kombination wieder fallen gelassen und
der [Gedanke erwogen, ob denn nicht die Pro¬
zedur des ,, Pickeins“, eventuell nach bestimmter
Modifikation des Verfahrens, an sich desinfizierende
Wirkungen auf die Milzbrandspören ausübt.
736
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Wie erwähnt, wirken iiiebei Salzsäure und Kochsalz >zu-
sanunen ein und zwar wird die Pickelung so vorgenommen,
daß die Felle für ein bis drei Tage in eine Lösung von
zirka l°/o Salzsäure (HCl) und 10% Kochsalz eingelegt,
werden. ' ! ! i i _ : t_J .. ; . i i Ij
Nach dem Herausnehmen werden die Häute ohne
weitere Prozedur feucht zur Versendung gebracht. Das
Pickeln dient in erster Linie zur Konservierung der Häute
und ist dem einfachen Einsalzen überlegen. Gepickelte Felle
können sowohl kürschnermäßig verarbeitet als auch nach dem
Lohe- und dem Chromverfahren gegerbt werden.
Theoretische Erwägungen ließen allerdings die An¬
nahme, daß die Pickelbeize energisch desinfizieren würde,
als nicht sehr begründet erscheinen, da Salzsäure und Koch¬
salz in gewisser Hinsicht (in bezug auf das \ erhalten zum
Quellungswasser) antagonistisch wirken und auch die Ioni¬
sierung der Salzsäure durch die großen Mengen von Kochsalz
erheblich herabgesetzt werden mußte. In dem gleichen
Sinne schien zu sprechen, daßi 1 bis 2°/oige Salzsäure
allein, ohne Kochsalz, von den Fellen, die hiedurch ihre
Gerbfähigkeit verlieren, nicht vertragen wird,- so daßi man
annehmen konnte, daß die Pickelung nur deshalb die Felle
nicht schädigt, weil das Kochsalz die schädliche \\ irkung
der Salzsäure zum Teil, bezw. in einer gewissen Hinsicht
paralysiert.
Es traf aber das Gegenteil zu, die Pickel¬
heize wirkte auf resistente Milzbrand Sporen
kräftig und ganz verläßlich desinfizierend
(Sporenfäden und milzbrandinfizierte Felle
und Häute).
Ohne daß auf Einzelheiten (Kontrollversuche u. a.)
eingegangen werden soll, mögen hier nur kurz folgende
Tatsachen Erwähnung finden.
Wie sich in einer Reihe von Vorversuchen mit Sporen¬
fäden ergeben hatte, reichte bei gewöhnlicher Temperatur
(20 bis 22° C) eine Salzsäurekonzentration von 2°/o aus,
um in weniger als 24 Stunden die resistentesten Milzbrand¬
sporen zu vernichten, wenn Kochsalz in der vier bis sech¬
zehnfachen Menge hinzugegeben wurde. Bei einer Tempe¬
ratur von 40° C genügte die Einwirkung der Salzsäure-Koch¬
salzlösung (lo/o HCl, 8%' Kochsalz) während zwei bis drei
Stunden zur verläßlichen Desinfektion.
Die Desinfektion der Felle (Ziegen- und Lammfelle)
wurde in der Weise vorgenommen, daß zunächst in einem
großen Bottich die Pickelflüssigkeit (1% HCl, 8% Koch¬
salz) bereitet wurde. Hierauf wurden die Felle sorgfältig
versenkt und durch sechs Stunden in der Lösung bei einer
Temperatur von 40° C belassen. Eine weitere Anzahl von
Fellen wurde in eine Lösung von 2% HCl und 10% Koch¬
salz gegeben und durch zwei Tage bei gewöhnlicher Tempe¬
ratur (20 bis 22 0 C) gehalten. Nach Beendigung der Des¬
infektion wurden die Felle durch verdünnte Sodalösung
gezogen und hierauf in fließendem Wasser gewaschen.
Unmittelbar vor dem Einlegen der Felle in die Pickel¬
flüssigkeit — es wurde ein mit Milzbrand hochgradig infizier¬
tes Material verwendet - wurden Teile derselben abge-
schnitten und auf das Vorhandensein von Milzbrandsporen
untersucht. In der gleichen Weise wurde mit den des¬
infizierten Fellen verfahren. Stets zeigte sich, daß ein großer
Teil der milzbrandigen Felle zum Teil in außerordentlich reich¬
haltigem Maße — Milzbrandsporen enthielt, während die
desinfizierten Felle ausnahmslos hievon frei waren.
Die Unschädlichkeit der kombinierten Salzsäure-Koch¬
salzeinwirkung hinsichtlich der Gerbfähigkeit der Häute war,
wie weiteren Mitteilungen des Herrn Prof. K o h n s t e i n ent¬
nommen werden konnte, auch dann zu konstatieren, wenn die
Salzsäurekonzentration noch wesentlich über die übliche
hinaus erhöht wurde (bis zu fast 3% HCl), soferne nur der
Säure ein Vielfaches von Kochsalz beigefügt wurde. Dieser
Umstand ermöglicht es, die für die Desinfektion vorgeschla¬
genen Salzsäurekonzentrationen im Bedarfsfälle zu erhöhen,
ohne daß eine Schädigung der Felle zu (befürchten wäre.
Da eine Lösung von 2% Salzsäure und 10°/o
Kochsalz bei gewöhnlicher Temperatur in mehreren Tagen
ebenso verläßlich desinfizierte, wie eine l%ige Salzsäure
mit 8% Kochsalz bei 40° C in, sechs Stunden, so wird man
zwischen den beiden Varianten der Desinfektion die Wahl
haben und je nach den Umständen das ieine oder das andere
Verfahren ausführen.
Die Pickelung bei höherer Temperatur, die bisher zu
technischen Zwecken nicht ausgeführt wurde, verdient
immerhin den Vorzug, auch deshalb, weil die , Felle hiebei
außerordentlich vollkommen gereinigt werden und weil hei
einer künstliche n Erwärmung der Pickelflüssigkeit die
bei der gegebenen Konzentration für den Abtötungseffekt
notwendige Temperatur verläßlicher eingehalten werden
dürfte, als wenn die Prozedur hei „gewöhnlicher“ Temperatur
(20 0 C) vorgenommen werden soll (ungeheizte Räume im
Winter!)
Die Nutzanwendung der mitgeteilten Tatsachen für
die Praxis könnte in mehrfacher Weise gezogen werden.
Am rationellsten erchiene die behörd¬
liche' Verfügung, daß ausschließlich vor¬
schriftsmäßig gepickelte Häute und Felle' in
d en Verkehr gelangen dürfe n. Sollte sich dies aus
irgendwelchen Gründen nicht durchführen lassen, so müßte
in noch näher zu bestimmenderWeise das Verfahren als Des¬
infektionsprozedur entweder bei allen oder beschränkt auf
die verdächtigen Felle zur Anwendung kommen.
Eine Kontrolle hinsichtlich der vorgenommenen Picke-
lung bzw. Desinfektion der Felle wäre voraussichtlich durch
Prüfung (event. Titration) der Reaktion und Ermittlung der
Kochsalzkonzentration der Felle möglich, da ja, wie schon
erwähnt, die zu Zwecken der Konservierung gepickelten
Felle ohne weitere Prozeduren und im feuchten Zustande
in den Verkehr kommen.
Versuche über die Wirkung der Pickelflüssigkeit auf
Tierhaare (Schweinsborsten, Roßhaare) sind im Gange, fer¬
ner soll die Eignung der Salzsäure-Kochsalzkombination für
die Zwecke anderweitiger Desinfektionsmaßnahinen
studiert werden.
Aus der I. medizinischen Klinik in Wien.
(Vorstand: Karl v. Noorden.b
Experimenteller und klinischer Beitrag zur
Azetonitrylreaktion mit besonderer Berück¬
sichtigung der Differentialdiagnose bei Morbus
Basedowi.
(I. Mitteilung.)
Von Prof. Dr. G. Ghedini (Genua).
Das Azetonitryl (CH3CN) oder Methylzyanid ist ein
farbloser, flüssiger, flüchtiger Körper, von etwas scharfem
Geruch, der hei 82° siedet und durch das Zusammentreten
von Jodalkyl (CH3J) mit Zyankaliüm (KCN) in der Hitze
(nach der Formel: Cfi3J + KCN — CH3CN + KJ) erhalten
wird. Es wird gewöhnlich, mit destilliertem Wasser ver¬
dünnt, in den Handel gebracht. Diese Lösung ist für lebende
Organismen ziemlich giftig ; die tödliche Dosis ändert sich
nach der Tierart, den verschiedenen Rassen und den va¬
riablen Eigenschaften derselben. Nach Reid Hunts1) be¬
trägt die tödliche Dosis bei weißen Mäusen für jedes Gramm
Tier 0-25 mg, nach Trendelenburg2) 0-80 mg.
Bei der Beurteilung der tödlichen Dosis erscheint es
wichtig, darauf hinzuweisen, daßi die Substanzen des Han¬
dels (z. B.* Azetonytril Merck oder Kahl bäum) durch¬
aus nicht konzentrierte Lösungen darstellen; die Angaben
T r endete n b u r g s und Reid Hunts lauten auf 0-25 mg.
resp. 0-80 mg. ln keiner der angegebenen Arbeiten ist je-
l) Journal of Mol. chem. 1905. — Bulletin hyg. lab. v. s. publi»
health and marine hospit. service, Washington 1909.
s) Biochem. Zeitschr. 1910.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
737
doch die Form des Ausgangsproduktes und die Angabe ent¬
halten, ob die Autoren die diluierten oder konzentrierten
Lösungen verstehen.
. _ Deswegen erscheint es notwendig, die tödliche Dosis
in jedem Versuche an Kontrölltieren zuerst zu ermitteln.
Es ist von größtem biologischen Interesse, wenn R e i d
Hunt3) angibt, daß weiße Mäuse gegenüber dem Azetonylril
sich viel widerstandsfähiger zeigen, wenn sie mit Schild¬
drüsen gefüttert werden.
Die Einverleibung von 20 mg getrockneter Schild¬
drüsensubstanz (Thyreoidektin Parke- Da vis) im Zeit¬
raum von elf Tagen genügt, um die Tiere gegen die
20fache tödliche Dosis von Azetonitryl widerstandsfähig zu
machen. Diese Erhöhung der , Widerstandsfähigkeit kommt
um so schneller zustande und ist um so größer, je höher
der Jodgehalt des verwendeten Präparates ist; obwohl auch
jodfreie Schilddrüsensubstanz imstande ist, die Resistenz
bis zu einem gewissen Grade zu steigern.
Zur Vervollständigung und Bestätigung seiner Ergeb¬
nisse fügt Reid Hunt noch hinzu, daß dementsprechend
bei weißen Mäusen, die mit dem Blute thyreoidektomierter
Tiere gefüttert und später mit Azetonitryl inijziert wurden,
der Tod mit einer viel kleineren Dosis als gewöhnlich her¬
beizuführen sei ; d. h. es entsteht dabei eine Herabsetzung
der V iderstandsfähigkeit dem Azetonitryl gegenüber.
Dieselben Ergebnisse erhält man bei Mäusen, die mit
dem Blute nicht thyreoidektomierter Tiere gefüttert wurden.
Warum und auf welche Weise kommt die iResistenz-
erhöhung zustande? Reid Hunt ist der Meinung, daß
organische und anorganische Stoffe der Schilddrüse, ins¬
besondere das Jod, die Abspaltung der CH3-Gruppe aus
der Verbindung CH3CN verhindern, wenn das letztere in
einen lebenden Organismus gebracht wird, der solche
Schilddrüsensubstanzen in größerer Menge enthält. Es
könnte sich demnach die CN-Gruppe (resp. KCN) immer nur
in kleinsten Mengen abspalten und erst nach einiger Zeit
sine ausgesprochene Giftwirkung entfalten. Außerdem würde
die geringfügige Abspaltung und schubweise Entstehung
les freien CN die Bildung spezifischer Reagine (id est
Schutzkörper im weitesten Sinne) nach bekannten anti-
oxisch-chemischen Immunitätsgesetzen ermöglichen.
Diese Anschauung Re id Hunts ist nun wohl durch
Erfahrungen allgemeiner Art und durch indirekte experi-
nentelle Versuche gestützt und erscheint logisch in ihren
mlgerungen; trotzdem ist sie unzureichend. Die Lücken
n den Erklärungen R e i d Hunts sind hier, wie in ähn-
ichen Fällen für den Biochemiker von besonderem Inter¬
esse. Für den Kliniker kommen diese Fragen [erst in zweiter
Anie in Betracht; denn will dieser eine bestimmte Reak-
ion in die Klinik einführen, so ist sein Ziel vor allem,
hre Bedeutung für das Verständnis der Pathogenese und
ür die Diagnose zu prüfen und wenn möglich zu beweisen.
Die Ergebnisse von R e i d Hu n t wurden kürzlich von
frendelenburg teilweise bestätigt; auch diesem Autor
;elang es, durch Verfütterung von Schilddrüsensubstanjz
Thyraden Knoll), an weißen Mäusen eine erhebliche Er-
löhung der Widerstandsfähigkeit gegen die tödliche Wir¬
kung des Azetonitryls zu erzielen. Er glaubt jedoch nicht
laß der größere oder kleinere Jodgehart einen besonderen
Anfluß, auf das Zustandekommen dieser Resistenzerhöhung
gegenüber Azetonitryl ausübe. Z. B. zeigte eine Reihe von
läusen, die mit Jodothyrin — ein jodreiches Präparat von
layer — gefüttert wurden, diese Resistenzerhöhung über-
aupt nicht. Trendelenburg glaubt außerdem, auch
ef unden zu haben, daß die Verfütterung des Blutes einer
ürzlich (vor zwei bis drei Tagen) thyreoidektomierten Katze
ine ausgesprochene Erhöhung des Widerstandes gegenüber
■ zetonitryl hervorrufe. Prüft man jedoch die verschiedenen
ntersuchungen Trend elenburgs genauer, so erschei-
en seine Schlußfolgerungen nicht ganz erwiesen. Demi nur
rei von vier Mäusen, die mit Blut thyreoidektomierter
Katzen gefuttert wurden, konnten etwas größere als töd¬
liche Dosen vertragen (1-2 bis 1-5 mg Azetonitryl pro Gramm
her gegenüber 0-76 oder 0-80 mg bei den Konfrontieren)
Aber mindestens bei zwei von diesen Tieren wurden gleich¬
zeitig mit den Schilddrüsen auch die Epithelkörperchen ent-
eint, so daß Trendelenburg schwere tetanische Er¬
scheinungen auf treten sah. Hier drängt sich nun notwen¬
digerweise die Frage auf, ob die von T r e n d e 1 e n b u r o-
erzielten Resultate nicht vielleicht zum Teil auch auf das
kehlen dieser Organe zurückzuführen seien. ,
Diese Resultate Trend eien burgs lassen die Er¬
gebnisse der B. e i d Hunt sehen Untersuchungen, die, wie
oben erwähnt, im gleichen Sinne ausgeführt wurden, keines¬
wegs zweifelhaft erscheinen. Auch der Schluß, daß Verfütte-
iiiiig von Blut, das von Menschein stammt, die an chroni¬
scher Insuffizienz der Schilddrüse leiden, bei Mäusen Reisi-
stenzerhöhung gegenüber Azetonitryl hervorrufe, ist nach
Trend eien burgs Resultaten sicherlich nicht zulässig.
Außerdem sprechen andere, von Trendelenburg ausge¬
führte Untersuchungen für die Richtigkeit der Ergebnisse
und Anschauungen Reid Hunts. Es zeigten nämlich zwei
Reihen von Mäusen, welche mit Blut thyreoidektomierter
Katzen (die Tiere wareh vor 9 bis 28 Tagen thyreoidekto-
iniert worden) gefüttert wurden, keine besondere Erhöhung
der Widerstandsfähigkeit dem Azetonitryl gegenüber.
Zur Vervollständigung muß ich noch erwähnen, daß
t1 1 ' s °.n uncl W ö 1 f e 1 4) bei einer Serie von Mäusen, die sie
mit Schilddrüsenlymphe gefüttert hatten, keine Resistenz¬
erhöhung gegenüber Azetonitryl wahrnehmen konnten.
*
Die Untersuchungen, über welche ich liier folgend be¬
richte, wurden in der Absicht ausgeführt, einen neuen Bei¬
trag zur Beleuchtung und genaueren Bestimmung von Wesen
und Zweck der Azetonitrylreaktion zu liefern,’ und insbe¬
sondere, um zu erfahren, ob andere Drüsen mit innerer
Sekretion oder deren spezifische Produkte auf die Entste¬
hung der Reaktion von Einfluß seien.
Vor Besprechung meiner Untersuchungen, schicke ich
voraus, daß1 auch von mir weiße Mäuse als Versuchstiere
verwendet wurden. Das Gewicht derselben schwankte zwi¬
schen 15 und 20 g. Sie wurden mit Brot, das in Wasser
getaucht war, gefüttert, nicht mit Hafer, da dieser nach
meinei Erfahrung für längere Zeit nicht gut vertragen wird
und die Lebenskraft der Tiere herabsetzt. Das Brot wurde
täglich eist verteilt, nachdem ein kleiner Bissen, welcher
die zu untersuchende Substanz enthielt, verzehrt worden
war. Zu den Einspritzungen wurde K a h 1 b au m sches
Azetonitryl verwendet.
Nach einer langen Reihe von Versuchen ist es mir
gelungen, die Menge von Azetonitryl zu bestimmen, die nötig
ist, um eine nicht vorbehandelte Maus schnell, d. h. in
einer halben bis drei Stunden, zu töten. Nach meiner Er¬
fahrung beträgt diese Menge für jedes Gramm Tier 4-5 mg
bis 5-5 mg oder Kubikmillimeter (das Azetonitryl wurde
von Kahl bäum bezogen), die gewöhnlich mit 1 cm3 de¬
stillierten Wassers versetzt Wurden.
Diese Dosis, die größer ist, als andere Autoren an¬
geben, ist nach meiner Erfahrung absolut und rasch töd¬
lich; alle Tiere, die diese Dosis erhalten, gehen zugrunde
(z. B. sechs Tiere von sechs). Wird diese Dosis nur um
ein geringes erniedrigt, so sterben die Tiere in einem nicht
konstanten Prozentsatz (z. B. drei von vier). Es soll auf
diese Verhältnisse mit besonderem; Nachdruck hingewiesen
werden, weil die Bestimmung der tödlichen Giftdosis, wie
bereits vorher erwähnt, für die weiteren Untersuchungen
von der allergrößten Bedeutung sein kann : denn ist dieser
Wert nicht genügend exakt fixiert, so könnte dies zur Ur¬
sache von einmal negativ, einmal positiv ausfallenden, sich
eventuell widersprechenden Untersuchungsergebnissen wer¬
den. Es sei noch1 erwähnt, daßi ich zur Erlangung größerer
Genauigkeit bei Vergleichen und zur größeren Sicherheit [der
') Journal of biol. cheni. 1905.
4) Journ. of biol. chem. 1910.
788
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
Schlüsse in den einzelnen Untersuchungen nicht nur töd¬
liche, sondern auch noch größere Dosen inijziert habe und
zwar stets um 0-5 mm3 pro Gramm Tier mehr als die je¬
weilige tödliche Dosis betrug. Andere Einzelnheiten sind
bei den weiter unten besprochenen Versuchen zu finden.
1. Versuch. Das Ziel dieses Versuches war, zu erfahren,
oh den. Angaben Reid Hunts gemäß das Jod wirklich für sich
allein, ohne Mitwirkung anderer Schilddrüsensubstanze-n, bei der
Maus einen direkten, besonderen Einfluß auf das Zustandekoni men
der Azetonitrylhyperresistenz ausübe. Es wurde JK in wässe¬
riger Lösung verwendet.
Tabelle 1.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
J-Menge
CIL, CN-Menge
.
Ausgang
1
15 g
25 cg in 5 Tagen
5 /2 mm'1 pro
Gramm Tier
T. d*)
2
14 g
100 cg in 10 Tagen
5Va nun3 pro
Gramm Tier
3
16 g
256 cg in 16 Tagen
6 mm8 pro
Gramm Tier
»
Dieses Ergebnis läßt den Schluß: zu, daß Jod auf das Zu¬
standekommen der Azetonitrylhyperresistenz keinen besonderen
Einfluß habe.
2. Versuch. Dieser Versuch hatte zum Ziele, die: Beein¬
flussung der toxischen Azetonitrylwirkungen durch Extrakte von
Epithelkörperchen zu erfahren. Außer durch Betrachtungen all¬
gemeiner Art wurde ich zu diesem, Versuch noch durch die
Kenntnis der Tatsache bewogen, daß sowohl frische Schilddrüsen¬
extrakte, als auch die im Handel erhältlichen Schilddrüsenpräpa¬
rate verschieden große Mengen von Parathyrieoideasubis tanzen ent¬
halten, so daß eine eigene Wirksamkeit der letzteren, möglich
erscheint. Es wurde Parathyreoidin Vassale vom sero therapeu¬
tischen Institut in Mailand verwendet, mit destilliertem! Wasser
im Verhältnis 1 : 10 verdünnt und per os einverleibt.
Tabelle 2.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Parathyr.-Menge
Acetonitrvl-
Menge
Ausgang
4
15 g
9 cm3 der verd.
Lösung in 18 Tagen
5 1/2 mm3 Pr0
. Gramm Tier
Tod
5
17 g
9 cm8 der verd.
Lösung in 18 Tagen
6 mm pro
Gramm Tier
»
Dieses Ergebnis läßt schließen, daß Verfütterung von Epi¬
thelkörperchen keinen Einfluß auf die Entstehung der Wider¬
standsfähigkeit gegen Azetonitryl besitze'.
3. Versuch. Der Zweck dieses Versuches war, festzu¬
stellen, in welcher Weise das Sekret der Nebennieren die toxischen
Wirkungen des Azetonitryls beeinflusse. Besonders wurde ich zu
dieser Versuchsreihe durch die Annahme angeregt, daß zwischen
dem Sekrete der Nebenniere und der Schilddrüse innige Beziehun¬
gen bestehen, außerdem durch die Tatsache, daß. jede der beiden
Drüsen ihre funktionelle Tätigkeit steigert, wenn ihr eigenes Se¬
kretionsprodukt in den lebenden Organismus gebracht wird. Es
wurde Adrenalin Parke- Davis in PVooiger Lösung verwendet. Von
dieser Stammlösung wurden Verdünnungen mit destilliertem
Wasser im Verhältnis 1 : 10 hergestellt und diese in Mengen von
1/2 oder 3U cm3 unter die Haut gespritzt. Von Kon troll tieren
wurden solche Dosen stets gut vertragen. Die Azetonitrylinjeki-
tionen wurden einer ersten Reihe von Mäusen eine halbe Stunde
nach der Behandlung mit Adrenalin, einer zweiten Reihe einige
Tage später verabreicht.
Tabelle 3. (1. Reihe.)
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Adrenalinmenge
CH, CN-Menge
Ausgang
6
14 g
7 2 cm3 der Lösung
5'/« mm3 pro
Gramm Tier
Tod
7
14 g
7, cm3 der Lösung
5’/2 mm3 pro
Gramm Tier
8
13 g
3/s cm3 der Lösung
6 mm3 pro Gramm
Tier
*) In dieser, wie in allen folgenden Versuchsreihen trat der Tod
spätestens 24 Stunden nach der Injektion ein.
Tabelle 4 (2. Reihe.)
Diese Ergebnisse gestatten dem Schluß, das Adrenalin, sub¬
kutan injiziert, nicht zur Entstehung der Hyperresistenz, gegen
Azetonitryl beiträgt.
4. Versuch. Dieser Versuch wurde ausgeführt, um zu
erfahren, ob dem Hypophysenextrakt ein Einfluß bei der Ent¬
stellung der Widerstandserhöhung gegen CH3CN zukomme. Wir
Verwendeten ein Präparat vdn Burroughs Wellcome, das mit
zerstoßenem Zwieback zu einem Teige verarbeitet und per os
verabreicht wurde. Die Dosis betrug für jedes Tier eine fa-
blet.te (= 0T3 g aktiver Drüsensubstanz).
Tabelle 5.
Tier¬
nummer
■
Ge¬
wicht
Menge von Hypo¬
physenextrakt
CH, CN-Menge
Ausgang :
12
20 g
16 Tabletten im
Laufe von 16 Tagen
6 nun3 pro Gramm
Tier
!
Tod
13
18 g
16 Tabletten im
Laufe von 10 Tagen
6 mm3 pro Gramm
Tier
»
14
20 g
16 Tabletten im
Laufe von 10 Tagen
57s mm3 Pro
Gramm Tier
1
Diese Ergebnisse erlauben den Schluß, daß Hypophysen¬
extrakt zur Entstehung der Hyperresistenz gegen, CH3CN nicht
beitrage.
5. Versuch. Dieser Versuch sollte zeigen, ob der Extrakt
der Thymusdrüse die Entstehung der Azetonitrylhyperresistenz
beeinflusse. Man verwendete Thymusdrüseinextrakt Merck. Eine
Tablette enthält 0 05 g aktiver Substanz.
Tabelle 6.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Menge von Thy¬
musextrakt
CH3 CN-Menge
.
• .
Ausgang
15
13 g
11 Tabletten in
11 Tagen
57s mm3 pro
Gramm Tier
Tod
16
15 g
11 Tabletten in
11 Tagen
6 mm3 pro Gramm
Tier
»
Diese Ergebnisse zeigen, daß auch T hy mu s drüs encxtra k t
heim Entstehen der Azetonitiylhyperresistemz nicht beteiligt ist.
6. Versuch. Zweck dieses Versuches war, zu erfahren,
oh Ovarialextrakt (verwendet wurde Oophorin Landau) Einfluß
auf das Zustandekommen der Hyperresisten z gegen Azetonitryl
Einfluß habe.
Tabelle 7.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Menge des
Ovarialextraktes
CH, CN-Menge
Ausgang
17
18 g
5 g in 10 Tagen
57s mm3 pro
Gramm Tier
Tod
-
18
18 g
5 g in 10 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
» • :
19
15 g
5 g in 10 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
» .
Diese Ergebnisse erlauben den Schluß, daß Ovarialextrakt
keinen Einfluß auf die Entstehung der Azetonitrylhyperresistenz
habe. '• ■ • Ikl.
7. Versuch. Dieser Versuch sollte zeigen, ob das Pro¬
stataextrakt auf das Entstehen der Widerstandserhöhung
Azetonitryl Einfluß besitze. Verwendet wurde Prostatin, ein I: ra-
parat. aus dem organolherapeutischen Institut Poehl in Peters
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
789
burg. Jede Tablette enthält (angeblich) 0-5 der wirksamen Drüsen-
substaiiz.
Tabelle 8.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Menge des
Prostataextraktes
CH3 CN-Menge
Ausgang
20
13 g
5 g in 20 Tagen
57a mm3 pro
Gramm Tier
Tod
21
12 g
5 g in 20 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
22
12 g
5 g in 20 Tagen
6 mm8 pro .
Gramm Tier
»
Diese Ergebnisse führten zum Schluß, daß auch Prosta, ta-
extrakt das Entstehen der Azetonitiylhyperresistenz nicht be¬
einflusse.
8. Versuch. Dieser Versuch wurde angestellt, um zu prüfen,
welchen Einfluß auf das Z u s tändele ommei l der Hyperresisteuz
gegen Azetonitryl das Blut eines durch längere Zeit mit Schild-
drüsenpräparaten behandelten Menschen habe. Dieses Blut sollte
voraussichtlich aus der Schilddrüse herrührende Substanzen in
größerer Menge als normal enthalten. Das Blut stammte von einer
45jährigen Frau. Diagnose: Hirntumor (Fibrom; des Ganglion
Gasseri). Sie bekam durch 15 Tage täglich sechs Thyreoid iu-
ta,l Hotten von Parke- Davis, die Schilddrüsenzufuhr machte sich
bei dieser Patientin weder durch Tachykardie, noch Abmagerung
oder sonst durch irgendwelche Erscheinungen geltend. Mittels
Aderlaß wurden ihr 30 cm3 Blut vor Beginn der Schilddrüsen¬
behandlung entnommen, nach derselben wurde der Aderlaß wieder¬
holt. Das Blut wurde, wie es im zweiten Teile dieser Arbeit
näher beschrieben wird, getrocknet und mit den beiden erhaltenen
Rückständen wurden zwei Reihen von Mäusen gefüttert.
Tabelle 9. (Vor der Schilddriisenbehandlung.)
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutmenge
CH„ CN-Menge
Ausgang
23
16 g
1'6 g in 8 Tagen
6 mm9 pro
Gramm Tier
Tod
1 24
16 g
1'6 g in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
25
17 g
1'6 g in 8 Tagen
57, mm3 pro
Gramm Tier
»
T a b e 1
le 10. (Nach der Schilddrüsenbehandlung.)
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutmenge
CH,, CN-Menge
-i
Ausgang
26
18 g
1'6 g in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
27
17 g
1'6 g in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
*
CO
fM
20 g
1'6 g in 8 Tagen
57* mm3 pro
Gramm Tier
»
Tabelle 11.
Tier-
I
Ge¬
nummer i wicht
29
30
31
18 g
18 g
19 g
Blutmenge
CH, CN-Menge
4 g in 20 Tagen
4 g in 20 Tagen
4 g in 20 Tagen
5 */, mm3 pro
Gramm Tier
5 V2 mm3 pro
Gramm Tier
6 mm3 pro Gramm
Tier
Ausgang
Tod
Diese Ergebnisse gestatten den Schluß, daß Verbitterung
von Blut, das aus den abführenden Schilddrüsenvenen fließt,
nach elektrischer Reizung der Drüse, keinen Einfluß auf das
Entstehen der Azetylhy perresistenz habe.
10. Versuch. Hier wollte ich untersuchen, welchen Einfluß
auf die Entstehung der A ze t o n i t r y 1 hy i ierr esi;s tenz das Serum eines
thyreoidektomierten Tieres (Hammel) habe. Gleichzeitig konnte
ich so diel Ergebnisse Re id Hunts und Trend elenbuilgs,
die in ihren Ergebnissen nicht ganz übereinstimmen, nachprüfen.
E:s wurde Moebi u s sches Serum (Antithyreoidin) von Merck
verwendet und mit zerstoßenem' Zwieback vermengt, in den unten
angegebenen Mengen (siehe Tabelle 12) verabfolgt.
Tabelle 12.
Tier- Ge¬
nummer I wicht
32
33
34
15 g
14 g
Menge von Anti¬
thyreoidin
CH„ CN-Menge
3 cm3 in 7 Tagen
3 cm3 in 7 Tagen
16 g I 3 cm3 in 7 Tagen
ö'/a mm3 pro
Gramm Tier
57a nun3 pro
Gramm Tier
6 mm3 pro
Gramm Tier
Ausgang
Tod
Dieses Ergebnis zeigt, daß das Serum eines thyreoidekto¬
mierten Tieres (Hammel) keinen besonderen Einfluß auf das Zu¬
standekommen der Hyperresistenz gegen, Azetonitryl zu haben
braucht.
11. V ersuch. Hier sollte untersucht werden, wie der le¬
bende Organismus auf Azetonitryl reagiere, wenn sich die Drüsen
mit innerer Sekretion im Zustande der physiologischen Hyper¬
funktion befinden. Da nun bekanntlich eine solche Hyperfunktion
in der Schwangerschaft und im Puerperiuim zustande kommt,
wurden in diesem Versuche weibliche Mäuse injiziert, die vor
einem Tage geboren hatten.
Tabelle 13.
Tiernummer
Gewicht
CH, CN-Menge
Ausgang
35
18 g
47a mm3 pro Gramm Tier
Tod
36
19 g
4 '4 mm3 pro Gramm Tier
*
37
19 g
41/, mm3 pro Gramm Tier
»
Diese Ergebnisse gestatten die Annahme, daß Verfütterung
von Eint, das von Menschen herrührt, die längere Zeit hindurch
mit ziemlich großen Dosen von Schilddrüsenpräparaten behan¬
delt wurden, keinen besonderen Einfluß auf das Entstehen von
Hyperresistenz gegen Azetonitryl auszuüben imstande sei.
9. Versuch. Mit dieser Versuchsreihe sollte geprüft werden,
ob Verfütterung des Blutes, das nach vorausgegangener elektri¬
scher Reizung der Schilddrüse (im Sinne vom Wiener) oder
während derselben aus einer ihrer großen! Venen fließt und das
an innerem Sekret reich sein dürfte, auf das Zustandekommen
der Widerstandserhöhung gegen Azetonitryl einen Einfluß habe.
Zu diesem Zwecke wurde einem großen Hunde (Gewicht ungefähr
10 kg) in Aetbernarkose die Schilddrüse heramsprä pariert und
links und rechts von den umgehenden Geweben isoliert; di.
wichtigsten abfließenden Venenzweige wurden gleichzeitig mit
den beiden Nervi laryngei inferior freigelegt. Letztere wurden
mit einem Induktionsapparat verbunden und mit schwachen fara-
dischen Strömen gereizt. Nun wurde in eine der freigelegten
großen Venen eine zugespitzte Kanüle eingeführt und bei fortdau¬
ernder elektrischer Reizung ließ man im1 ganzen ungefähr 40 cm3
Blut .abfließen'. Dieses wurde getrocknet, wie es später beschrieben
ist und dann damit eine Reihe von Mäusen gefüttert.
Diese Resultate 'beweisen, daß ein Zustand von physio¬
logischer Ueberfunktion der endokrinen Drüsen den lebenden
Organismus (zumindest bei weißen Mäusen) dem Azetonitryl gegen¬
über nicht widerstandsfähiger werden läßt.
*
Aus den oben angeführten Untersuchungen ergibt sich
also, daß, die Injektionen von tödlichen oder (größeren Dosen
von Azetonitryl bei Mäusen stets den Tod herbeiführten,
auch nach Einverleibung der Sekretionsprodukte von ver¬
schiedenen endokrinen Drüsen, wie : Hypophyse, Epithel¬
körperchen, Thymus, Nebennieren, Ovarium, Prostata. Eben¬
so trat der Tod durch Azetonitryl stets ein nach Einverlei¬
bung von Blut eines Menschen, der mit Schilddrüsenextrakt
vorbehandelt war, oder nach Fütterung mit Blut, das aus
den abfließenden Venen einer elektrisch gereizten, tieri¬
schen Schilddrüse stammte; ebenso nach Verfütterung des
Serums eines thyreoidektomierten Hammels oder nach
Gaben von Jodpräparaten.
Mit dieser ganzen) Reihe von Körpern gelang es also
nicht, die Widerstandfähigkeit gegen Azetonitryl deutlich zu
740
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
steigern, wie sie nach Verfütterung von Schilddrüsenextrak¬
ten auftritt und die wir nach den übereinstimmenden Ergeb¬
nissen R e i d Hunts und Trendelen burgs als kon¬
stante Erscheinung ansehen müssen. Diese Tatsache würde
also für die spezifische Wirkung des Schilddrüsenextraktes
sprechen, wenigstens mit Bezug auf die bisher in diesem
Sinne untersuchten anderen innersekretorischen Drüsen¬
produkte. Obwohl diese Annahme einer spezifischen Wir¬
kung des Schilddrüsenextraktes durch die Ergebnisse meines
achten und neunten Versuches nicht gestützt wird. In diesen
beiden Fällen kann aber angenommen werden, daßi das Blut
deshalb unwirksam war, weil es nur ungenügende Mengen
von aktiven Drüsensubstanzen enthielt, oder weil der Tier¬
körper, in den es gebracht wurde, Veränderungen erleiden
mußte (letzteres wenigstens beim achten Versuch).
Außerdem bestätigt der erste Versuch, daß dem im
Schilddrüsenextrakt enthaltenen Jod für die Entstehung der
Hyperresistenz gegen Azetonitryl keine besondere Bedeu¬
tung zukomme. Dies entspricht den Ergebnissen T r en¬
de 1 e n b u r g s und widerspricht denjenigen R e i d Hunt s.
Der zehnte Versuch endlich bestätigt Reid Hunts
Angaben bezüglich der Unwirksamkeit, des Blutes thyreoid-
ektomierter Tiere. Teilweise finden hier auch die früher
angeführten Angaben Trendel e.n burgs — daßi das Blut
solcher Tiere unwirksam sei, wenn es mehrere Tage nach
der Thyreoidektomie entnommen wird — eine Bestätigung.
*
In folgendem sind die Versuche zusammengefaßit, die
unternommen wurden, um zu erfahren, wie weiße Mäuse
auf die tödliche oder eine größere Dosis von Azetonitryl
(letztere war stets um 0-5 mm3 pro Gramm Tier größer
als die tödliche) reagieren, nach längerer Fütterung mit
dem Blute von Menschen, die an diversen Erkrankungen
litten. Zur Feststellung des Einflusses von normalem Blute
der gebräuchlichen Laboratoriumstiere und von Menschen-
blut wurden keine Versuche angestellt; denn nach Reid
Hunts und Trendelen burgs Untersuchungen ist es
sicher, daß. das normale Blut von Hunden, Katzen und des
(nicht an besonderen Erkrankungen leidenden) Menschen,
weißen Mäusen einverleibt, nicht zur Entstehung der Hyper¬
resistenz gegen Azetonitryl beiträgt; ja nach Reid Hunt
setzt es die Widerstandsfähigkeit sogar herab.
In einer Anzahl von Fällen führte ich die Reaktion
mit dem Blute von Menschen aus, bei welchen wahrschein¬
lich oder sicher funktionelle Veränderungen der Drüsen
mit innerer Sekretion (Hypo- oder Hyperfunktion) und ins¬
besondere anatomische und funktionelle Störungen der
Schilddrüsen bestanden.
Das Blut wurde aus einer KubitalVene steril entnommen,
im Vakuum getrocknet, sehr fein zerrieben und mit gestoßenem
Zwieback innig vermengt. Aus diesem Geimisch wurden mit Wasser
dicke, gleich große Pillen geformt und täglich den Mäusen vor¬
gelegt. Ehe das verriebene Blut mit Zwieback vermengt war,
wurde es stets gewogen. So war bekannt, welche Blutmenge in
einer gewissen Anzahl von Pillen und auch in jeder einzelnen
enthalten war. Um bei den Ergebnissen stets ein sicheres Ver¬
gleichsmoment zu besitzen, bemühte ich mich, Pillen herzustellen,
die immer je 20 cg Blutpulver enthielten. Sie wurden täglich
morgens gegeben und ehe sie nicht verzehrt waren, erhielten
die Tiere kein anderes Futter. Im allgemeinen fraßen die Mäuse
die Pillen gerne und verzehrten sie innerhalb' vier bis fünf
Stunden. Gewöhnlich wurden die Pillen durch zehn Tage ver¬
teilt, so daß am Ende dieser Zeit jedes Tier ,2 g Blutpulver
vertilgt hatte. 25 cm3 Blutes genügen, um diejenige Menge Blut¬
pulver zu erhalten, die zur Ausführung der Reaktion an drei
Mäusen nötig ist. Nach dieser vorbereitenden Periode wurde
Azetonitryl injiziert u. zw. in Mengen, die nach zahlreich aus¬
geführten Versuchen, den Tod in wenigen Stunden herbeiführen.
Man verabreichte auch größere Dosen u. zw. stets Vs mm3 pro
Gramm Tier mehr, als die jeweilige tödliche Dosis betrug. Weitere
Einzelheiten sind aus den verschiedenen Tabellen ersichtlich.
1. 'S. A. Pal. klagt seit einiger Zeit über hart¬
näckige Kopfschmerzen und Schwindel; psychische Störungen.
Die Untersuchung ergibt, hauptsächlich: mäßige Fazialisparese
rechts, Schwerhörigkeit des rechten Ohres, Stauungspapille, tor¬
kelnder Gang mit Neigung, nach rechts zu fallen; Romberg-
sches Phänomen.
Diagnose: Tumor cerebri (Sektionsbefund: Neurofibrom
des Ganglion Gasseri).
Tabelle I.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
C.H3 CN-Menge
Ausgang
i
16 g
160 cg in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
2
16 g
160 cg in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
3
16 g
160 cg in 8 Tagen
5 Va mm3 pro
Gramm Tier
* i
2. M. K., 52 Jahre alt.
Anamnese: Masern, Bleivergiftung, im Jahre 1906 Haut-
leiden zweifelhafter Natur, das durch die Behandlung nicht be¬
einflußt wurde. 1910 trat Muskelschwäche auf, Dyspnoe und
dann Schwellung dier Lymphdrüsen, besonders der zervikalen
und axillaren; Milz Vergrößerung. Die Blutuntersuchung ergab im
November eine Zunahme der weißen Blutkörperchen' (63.000),
davon 55.000 Lymphozyten.
Diagnose: Lymphatische Leukämie.
Tabelle II.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
4
17 g
18 g in 9 Tagen
5 '/a mm3 pro
Gramm Tier
Tod
5
19 g
2 2 g in 11 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
3. X. X., ungefähr SOjähriger Mann. Früher Lues; Patient
klagt bei der Aufnahme über Schmerzen hinter dem Brustbein,
Herzklopfen, Dyspnoe. Bei der Untersuchung lassen sich die ge¬
wöhnlichen Symptome der Atherosklerose und der Aortitis nach-
w eisen. Außerdem Hypertrophie des linken Ventrikels und ein
starkes Geräusch nach dem zweiten Aortenton.
Diagnose: Lues, Atherosklerose der peripheren Gefäße,
Aortitis, Aorteninsuffizienz.
Tabelle III.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht.
Bl utp ulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
6
13 g
P2 g in 6 Tagen
572 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
7
14 g
16 g in 8 Tagen
572 mm3 pro
Gramm Tier
»
8
19 g
16 g in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
4. X. X., ungefähr 55jährige Frau. Früher wegen Tumor
hysterekfomiert; Pat. klagt über Schmerzen an den linken Rippen
und Dyspnoe. Die physikalische Untersuchung und die Probe¬
punktion ergeben ein beträchtliches serofibrinöses Exsudat der
linken Pleurahöhle. Die Palpation des Abdomens zeigt eine Ge¬
schwulst. im kleinen Becken.
Diagnose: Pleuritis exsudativa serofibrinosa links, Tumor
abdominis.
Tabelle IV.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
9
14 g
P6 g in 8 Tagen
o'/2 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
i
10
16 g
16 g in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
*
11
18 g
P6 g in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
5. K. E., 28 Jahre alt. Pat. machte Masern durch; leidet
seit einigen Monaten an Schmerzen in den Lenden und in den.
unteren Extremitäten, Kopfschmerzen, besonders nachts. Wasser
m a n n sehe Reaktion positiv.
Diagnose: Lues ; mäßige Schilddrüsen Vergrößerung.
Nr 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
741
Tabelle V.
Tier-
1 nunimer
j Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH, CN-Menge
Ausgang
12
16 g
1'6 g in 8 Tagen
ö'/j mm3 pro
Gramm Tier
Tod
13
18 g
16 g in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
14
17 g
12 g in 6 Tagen
5 ‘/2 mm3 pro
Gramm Tier
»
6. K. J., 20 Jahre alt. Bei der Aufnahme Kopf-, und Magen-
chmerzen, Appetitlosigkeit, Hyperazidität, Magenerweiterung,
rasomotorische Störungen mit entsprechendem Kälte- und Wärme-
efiihl in den ’Extremitäten, Lymphdrüsen des Mundeis und Rachens
lyperplas tisch.
Diagnose: Vagotonie.
Tabell
e VI.
Tier-
nunimer
( _
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
15
13 g
1'2 g in 6 Tagen
5'/2 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
16
18 g
l’S g in 9 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
17
25 g
1*8 g in 9 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
7. M. R., 61 Jahre alt. Pat. hat siebenmal geboren. Vor
20 lehren litt sie sechs Wochen lang an Gelbsucht und Abmage¬
rung. Seit Oktober 1910 Schmerzen im Epigastrium, Appetit-
verlust; im Januar 1911 Hartleibigkeit, Ikterus, starke Abmage¬
rung, weitere Verminderung des Appetites, Ruktus.
Status praesens: Die Leber ist stark vergrößert; in der
Höhe der Gallenblase fühlt man eine große, harte Geschwulst,
die druckempfindlich ist. Im Harne Gallenfarbstoffe, Urobilin
in geringen Mengen. Die Oxyproteinsäure beträgt 3% des Ge¬
samtstickstoffes.
Diagnose: Neoplasma der Gallenwege, Ikterus.
Tabelle VII.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
18
13 g
P4g in 7 Tagen
51/2 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
19
13 g
14 g in 7 Tagen
5 7, mm3 pro
Gramm Tier
»
20
16 g
14 g in 7 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
8. K. 0., 28 Jahre alt. Früher Arthritis rheumatica acuta,
Pleuritis, Diphtheritis ; acht Tage vor der Aufnahme Schmerzen
im Schlunde, Fieber. Diese Symptome sprechen für die Dia¬
gnose Pharyngolaryngitis acuta.
Tabelle VIII.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH, CN-Menge
Ausgang
21
13 g
16 g in 8 Tagen
47* mm3 pro
Gramm Tier
Tod
22
17 g
P6 g in 8 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
»
9. J. K., 58 Jahre alt. Früher Masern, Diphtherie; seit
fünf Jahren Magenschmerzein, die besonders nach den Mahlzeiten
stärker werden. Häufig Kopfschmerzen, geringer Appetit, Hart¬
leibigkeit.
Diagnose: Atherosklerose, Cholelithiasis, mäßige Schild¬
drüsenvergrößerung.
Tabelle IX.
Tier-
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH, CN-Menge
Ausgang
23
15 g
18 g in 9 Tagen
47, mm3 pro
Gramm Tier
Tod
24
16 g
1'8 g in 9 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
y>
10. H. F., 41 Jahre alt. Früher Masern; seit Februar
Dyspnoe, Herzklopfen, leichtes Oedem an den unteren Extre¬
mitäten (Füßen). Das Herz stark vergrößert, besonders der linke
Ventrikel, Herztöne dumpf.
Diagnose: Myokarditis, Atherosklerose der Nierengefäße.
Tabelle X.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht 1
Blutpulvermenge
CH, CN-Menge
Ausgang
25
I
17 g
P8 g in 9 Tagen
5 nun3 pro
Gramm Tier
Tod
26
17 g !
P8 g in 9 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
11. H. 'E., 28 Jahre alt. Pat. befindet sich im vierten
Monate der Schwangerschaft. Seit ungefähr zehn Tagen fortwäh¬
rendes Erbrechen; bedeutende Abmagerung. Innere Organe normal.
Diagnose: H yper emesis gravidarum .
Tabelle XI.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
27
14 g
2 4 g in 12 Tagen
51/, mm3 pro
Gramm Tier
Tod
28
17 g
2'4 g in 12 Tagen
6 mm8 pro
Gramm Tier
29
17 g
2'4 g in 12 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
12. M. A., 23 Jahre alt. Pat. hat wenige Tage vor der Auf¬
nahme geboren, klagt über unbestimmte Beschwerden. Die Harn¬
analyse ergibt die Anwesenheit von. Eiweiß und von roten und
weißen Blutkörperchen.
Diagnose: Nephritis? Nierenanschoppung.
Tabelle XII.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht.
Blutpulvermenge
CH, CN-Menge
Tod
30
15 g
16 g in 8 Tagen
57, mm3 pro
Gramm Tier
Tod
31
13 g
16 g in 8 Tagen
51/, mm3 pro
Gramm Tier
»
32
17 g
1'6 g in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
13. M. F., 62 Jahre alt. Seit einigen Monaten, (von August
an) klagt Pat. über ein Gefühl der Völle, das nach den Mahl¬
zeiten lange anhält, so daß sie nur flüssige Nahrung zu sich
nehmen kann.
Diagnose: Chronische Gastritis, Pylorusstenose; chro¬
nische Schilddrüsenschwellung.
Tabelle XIII.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH, CN-Menge
Ausgang
33
16 g
2 g in 10 Tagen
5 V2 nim3 pro
Gramm Tier
Tod
34
19 g
2 g in 10 Tagen
57* mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
85
18 g
2 g in 10 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
14. M. S., 30 Jahre alt. Pat. leidet seit einigen fahren an
Schmerzen im Abdomen; zuweilen a|n gleichzeitigem Erbrechen.
Die Harnanalyse ergibt Eiweiß, Anwesenheit von roten und weißen
Blutkörperchen, Nierenepithel ien und Zylindern.
Diagnose: Nephritis subacuta, mäßige Schilddrüsenver¬
größerung.
742
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
Tabelle XIV.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
36
13 g
37
18 g
38
20 g
15. S. J.,
Blutpulvermenge : CI13 CN-Menge
U8 g in 9 Tagen J
I
1'8 g in 9 Tagen j
18 g in 9 Tagen
57*
pro
Gramm Tier
5’/2 mm3 pro
Gramm Tier
6 mm3 pro
Gramm Tier
leidet seit drei I ähren an
Ausgang
Tod
wpiJreDSnJiisgeiuiiie'ii uu ircirai, vuu zjciiu u uu« -mm .
von retrosternalen Schmerzen und typische Dyspnoe, Husten,
Thora.xischmerzen, Vemichtungsgefühl. Der Befund an Herz und
Gefäßen drängt zur Diagnose Atherosklerose und Aortitis;
Schilddrüsen Vergrößerung.
Tabelle XV.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CHj CN-Menge
Ausgang
39
15 g
16 g in 8 Tagen
51/2 mm1 pro
Gramm Tier
Tod
40
17 g
16 g in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
16. X. E. Seit einiger Zeit leidet Pat. an Schwäche, Ab¬
magerung, Husten und Auswurf. Die Untersuchung der Lunge
und des Sputums, das Koch sehe Bazillen zeigt,
Diagnose: Tuberculosis pulmonum; mäßige
größerung.
Tabelle XVI.
erg eben die
Schild driisen ver-
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
41
18 g
21 g in 11 Tagen
5^2 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
42
18 g
1‘8 g in 9 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
43
20 g
2 ig in 11 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
17. K. A., 25 Jahre alt. Die Schilddrüse ist schon seit
mehreren Jahren vergrößert. Seit einigen Monaten bemerkt diei
Patientin eine fortschreitende Hervorwölbung der oberen und
mittleren Brustabschnitte mit dem Gefühl der Atembehinderung.
Das physikalische, vom Rüntgenbilde bestätigte, üntersuchuiigs-
ergebnis veranlaßte uns zur Diagnose sehr starke Vergrößerung
der Schilddrüse, die sich hinter dais Sternum ausbreitet.
Tabelle
XVII.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
44
19 g
16 g in 8 Tagen
6'/s mm3 pro
Gramm Tier
Tod
45
17 g
U6 g in 8 Tagen
5 '/a mm3 pro
Gramm Tier
46
28 g
1 6 g in 8 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
18. W. K., 19 Jahne alt. Früher Keuchhusten; Pleuro¬
pneumonie. Seit drei Jahren Muskelschwäche, Blutarmut, mäßige
Abmagerung, die trotz Behandlung f ortbestehen, ln der Klinik
wurde im Harn 1 bis 3°/o Zucker festgestellt.
D i a g n o s e : Diabetes mellitus .
19. X. X. Früher Lues; Urethritis gonorrhoica. Vor einigen
Jahren wurde Diabetes diagnostiziert; später oft wiederholte Harn¬
analysen ergaben bald Anwesenheit von Zucker, bald nicht. All¬
gemeinbefinden und Ernährungszustand sind ziemlich gut. All¬
gemeine Atherosklerose. Die letzte in der Klinik ausgeführte
Harnanalyse ergab keinen Zucker, aber Eiweiß und Zylinder.
Diagnose: Chronischer Diabetes in einer aglykosurischen
Periode; chronische Nephritis.
Tabelle XIX.
Tier-
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH, CN-Menge
Ausgang
50
16 g
U6 g in 8 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
51
20 g
16 g in 8 Tagen
bl/2 mm3 pro
Gramm Tier
52
21 g
2 g in 10 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
20. S. P.,
39 Jahro alt. Pat. litt früher an
Gelenksrhett
matismus. Seit einigen Monaten Schmerzen in den unteren Extre¬
mitäten und im Bereiche des Nervus ischi, adieus ; Muskelschwäche.
Im Harn Wird 1% Zucker nachgewiesen, der sehr bald ver¬
schwindet.
Diagnose: Leichter Diabetes, Schilddrüsertvergrößeraiig.
Tabelle XX.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
53
1-4 g in 7 Tagen
ö-1/, mm3 pro
Gramm Tier
*
bleibt am
Leben
54
18 g
D4 g in 7 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
55
18 g
18 g in 9 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
21. K. A., 51 Jahre alt. Pat.
hat Gelenksrheumatisinus um
Influenza überstanden. Sie klagt seit, einigen Wochen über Muskel¬
schwäche, Herzklopfen, Kopfschmerzen. Der linke Ventrikel ist
hypertrophisch, die Gefäße fühlen sich hart an. Die Harnanalyse
zeigt Eiweiß, Epithelien und Zylinder. In den letzten Tagen
traten charakteristische Symptome von Urämie auf. In dieser
Zeit, wurde der Aderlaß ausgeführt.
Diagnose: Nephritis chronica, schwere Urämie, Athero¬
sklerose.
Tabelle XXI.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
56
22 g
2 g in 10 Tagen
51/,, mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
57
22 g
2 g in 10 Tagen
572 utm3 pro
Gramm Tier
Tod
58
22 g
2 g in 10 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
22. S. M., 56 Jahre alt. Vor einem Jahre wurde die Pa¬
tientin wegen Beschwerden, über die sie jetzt klagt, in die Klinik
auf genommen ; damals wurde sie gebessert entlassen. Später litt
sie mit Unterbrechungen an Anfällen von Kopfschmerzen, Er¬
bte 'ben, Herzklopfen, Oedeme. Während eines solchen Anfalls
wird sie zum zweiten Male in die Klinik aufgenommen.
Die chemisch -mikroskopische Harnuntersuchung ergibt das
selbe Resultat wie vor einem Jahre und bestätigt die frühere
Diagnose chronische Nephritis, mittelschwere Urämie.
Tabelle XVIII.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
•
C1I3 CN-Menge
Ausgang
47
15 g
1*4 g in 7 Tagen
b'/2 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
48
14 g
22 g in 11 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
r>
49
18 g
2 6 g in 13 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
I
1
Tabelle XXII.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH., CN-Menge
Ausgang
59
18 g
18 g in 9 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am ,
Leben
60
20 g
18 g in 9 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
61
22 g
18 g in 9 Tagen
4’/2 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
743
Nr. 21
23. M. A., 34 Jahre alt. Pat. hat seit ungefähr sechs Jahren
Beschwerden, die für eine Nierenaffektion sprechen. Der chemisch¬
mikroskopische Harnbefuml ist typisch dafür1; mit Unterbrechungen
treten Verschlimmerungen mit urämischen, Erscheinungen a,uf.
D i a g n o s e : Chronische Nephritis, U rämie.
Tabelle
XXIII.
Tier-
j mi miner
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
1 CH3 CN-Menge
Ausgang
62
17
1‘4 g in 7 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
63
17
1'4 g in 7 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
24. B. A., 46 Jahre' alt. Seit einigen Jahren hat Pat. cha¬
rakteristische Hautveränderungen an Gesicht, Händen und unteren
Extremitäten. Schilddrüse nicht tastbar.
D i :a,g n o s e : Sklerodermie.
Tabelle
XXIV.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
64
17 g
2 g in 10 Tagen
5l/2 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
65
19 g
2 g in 10 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
25. Z. M., 50 Jahre alt. Die Schilddrüse ist nicht tastbar;
m den Supraklavikulargruhen s,i!n|d beiderseits zwei, Fettdepots
sichtbar und tastbar; vorne am Abdomlen finden sich beiderseits
dicke Fettablagerungen. Nates und Schenkel zeigen ebenfalls sehr
starken Pannikulus. Pat. klagt über Schmerzen, in den erwähnten
Fettablagerungen.
Diagnose: Adipositas dolorosa.
Tabelle XXV.
28. S. F., 17 Jahre alt. Pat. überstand in der Kindheit
Masern, Appendizitis, Typhus. 14 Tage vor der Aufnahme in
die Klinik machte Pat. eine Angina Idiphtherica durch, an die
sich eine akute Nephritis mit intensiven Symptomen von An¬
schoppung und Hämorrhagien in der: Niere anschloß. Gleichzeitig
begann die Schilddrüse größer zu werden. Später hatte Patientin
stärkeres Herzklopfen, Arterien pulsation, Muskelschwäche, leichtes
Zittern, Schweißabsonderung, Erbrechen. Am Tage der Aufnahme
bemerkt man eine mäßige Schilddrüsenvergrößerung, starke Pul¬
sation mit ziemlich intensivem1 Geräusch an der Drüse. Graefe
leicht positiv. Die chemisch -mikroskopische Untersuchung des
Harnes ergibt Nephritis. Während des Aufenthaltes in der Klinik
besserte sich die Nephritis immer mehr, die Muskelschwäche wurde
bedeutend geringer, das Zittern verschwand fast ganz, das Er¬
brechen hörte auf und das Herzklopfen nahm sehr stark ab.
Diagnose: Nephritis postdiphtherica; Basedowoid.
Tabelle XXVIII.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
74
16 g
1'4 g in 7 Tagen
5'/2 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
75
18 g
14 g in 7 Tagen
5'/2 mm3 pro
Gramm Tier
76
1
20 g
P4 g in 7 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tief
»
29. H. A., 37 Jahre alt. Pat. überstand mit sieben Jahren
Masern, mit neun Jahren Pleuropneumonie. 1 Seit Juni 1910 be¬
merkt sie eine Vergrößerung der Schilddrüse.
Status praesens: Hervortreten der Bul'bi mit den Sym¬
ptomen von Moebius und Grafe, Muskelschwäche, Zittern,
Schweißabsonderung, profuse Diarrhöen, starke Herzopressionen,
frequenter Puls, Schlaflosigkeit, leichte Erregbarkeit.
Diagnose: Morbus Based owi.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
|
Ausgang
66
14 g
2 g in 10 Tagen
5'/a mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
67
15 g
2 g in 10 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
68
15 g
2 g in 10 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
26. S. M., 11 Jahre alt. Schilddrüse ziemlich stark ver¬
größert, Intelligenz unter dem gewöhnlichen Mittelmaße. Die Haut
ist seit einigen Juhren sukkulent, ödematös; Behaarung spärlich;
pes eqnino - valgus.
Diagnose: Myxödem.
Tabelle XXVI.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
.
■ »
16 g
1'4 g in 7 Tagen
5 Va mm3 pro
Gramm Tier
Tod
70
16 g
1‘4 g in 7 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
27. S. L., 42 Jahre alt. Pat. befindet sich in den Wechsel -
(ihren; seit einigen Monaten leidet sie an Kopfschmerzen, hart
läckigem Erbrechen, Herzklopfen. Die Schilddrüse ist ziemlich
dark vergrößert; leichter Exophthalmus, frequenter Puls, vaso¬
motorische Hautphänomene, übertriebene Empfindlichkeit.
Diagnose: Basedowoid.
Tabelle XXVII.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH, CN-Menge
Ausgang
71
17 g
18 g in 9 Tagen
5l/a mm3 pro
Gramm Tier
Tod
72
18 g
1 8 g in 9 Tagen
5’/a mm3 pro
Gramm Tier
73
19 g
1'8 g in 9 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
»
Tabelle XXIX.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
77
18 g
2 g in 10 Tagen
5 ’/a mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
78
17 g
2 2 g in 11 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
79
19 g
22 g in 11 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
30. B. J., 20 Jahre alt. Als Kind hatte Pat. Masern Über¬
ständern Seit etwa einem Jahre bemerkt sie eine sltets zuneh¬
mende Vergrößerung der Schilddrüse. Gleichzeitig klagt die Pa¬
tientin über Magenschmerzen, Vergrößerung und Hervortreten der
Augäpfel, Muskelschwäche, starke Schweißabsonderung, Herz¬
klopfen, frequenten Puls, hartnäckige Kopfschmerzen. Im März
1910 wurde Pat. in die Klinik aufgenommen, wo sie mit diesen
Erscheinungen bis Juni verblieb. Dann wurde sie in die Klinik
Eiselsber.g verlegt, wo an ihr die Thyreoidektomie ausgeführt
wurde. Ihr Zustand besserte sich hierauf bedeutend und die
Patientin fühlte sich bis zum Dezember 1910 wohl, ln diesem
Monate traten aber alle früheren Beschwerden wieder auf. Sie
magerte stark ab, so daß sie in einem Monate 6 kg verlor. Die
Patientin klagt auch über große Schwäche. Bei der Aufnahme
in die Klinik am 20. Februar 1911 sind alle typischen Symptome
wahrnehmbar, auch die von Graefe, Moe-bius und St ©11 wag.
Tabelle XXX.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH, CN-Menge
Ausgang
80
16 g
2 g in 10 Tagen
5'/a mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
81
16 g
2 g in 10 Tagen
5l/2 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
82
16 g
2 g in 10 Tagen
6 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
31. H. F., 21 Jahre alt. Pat. hat seit der frühesten Jugend
eine starke Vergrößerung der Schilddrüse, Exophthalmus, mit
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
744
den Phänomenen von Graefe, Moebius und Stellwag, Zittern,
Schwäche, Durchfälle, starke Schweißabsonderung, Herzklopfen
und Hypertrophie des linken Ventrikels, frequenten, ungleich¬
mäßigen Puls; Ernährungszustand schlecht. Die Schilddrüse war
teilweise operativ entfernt worden, aber nach einer kurzdau¬
ernden Besserung traten die früheren Beschwerden wieder auf.
Deshalb wurde Pat. in die Klinik aufgenommen.
Diagnose: Morbus Basedowi.1
Tabelle XXXI.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
83
16 g
18 g in 9 Tagen
4 l/v mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
84
21 g
T8 g in 9 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben
85
23 g
18 g in 9 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
bleibt am
Leben |
04
co
18 Jahre alt. Seit drei Tagen typische Sym
ptome der Tetanie (Chvostek, Trousseau usw.). Man entnimmt
30 cm3 Blut.
Tabelle XXXII.
Tier¬
nummer
Ge¬
wicht
Blutpulvermenge
CH3 CN-Menge
Ausgang
86
16 g
1 8 g in 9 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
Tod
87
20 g
1-8 g in 9 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
88
26 g
18 g in 9 Tagen
5 mm3 pro
Gramm Tier
Das Ergebnis der ausgeführten, Versuche ist folgendes:
Nach Injektion von sicher und schnell tötenden 'Azeto-
nitryldosen trat bei weißen Mäusen, die acht Fis zehn Tage
lang mit Blut von verschiedenen Kranken gefüttert worden
waren, in 23 Versuchsreihen der Tod stets innerhalb
24 Stunden ein (1. Gruppe), in neun Versuchsreihen jedoch
blieb er fast bei allen Tieren aus (2. Gruppe).
Zur 1. Gruppe gehört: Eine (1.) Reihe von Versuchen
mit dem Blute von Leichtkranken; eine andere (2.) Reihe
von Versuchen, die mit dem Blute von mehr oder weniger
Schwerkranken ausgeführt wurde (unter diesen befanden
sich auch einige Fälle Von sicheren Erkrankungen (der inner¬
sekretorischen Organe und des Stoffwechsels); eine weitere
(3.) Reihe von Versuchen, mit dem Blute von Menschen,
die eine stärkfere oder geringere Vergrößerung der Schild¬
drüse aufwiesen.
Zur zweiten Gruppe gehören: Vor allem drei typi¬
sche Fälle von Morbus Flaiani-Basedowi ; dann zwei Fälle
von chronischer Nephritis und Urämie; ein Fall von chro¬
nischer interstitieller Nephritis (wird zu dieser Gruppe ge¬
rechnet, obwohl nur bei einer von zwei Mäusen Hyperresi-
stenz entstand); ein Fall von Adipositas dolorosa; ein Fall
von mäßiger Schilddrüsenvergrößerung bei einer Diabetika;
ein Fall von starker Schilddrüsenvergrößerung (wird zu
dieser Gruppe gerechnet, obwohl nur bei einer von drei
Mäusen Hyperresistenz gegen Azetonitryl hervorgerufen
wurde).
Dies sind die Tatsachen, die ich bisher beobachten
konnte; die ausführlichere Besprechung, die nötig ist, um
ihre Genese und ihre klinische Bedeutung würdigen 'zu
können, verschiebe ich auf später, bis andere, schon be¬
gonnene Untersuchungen zu Ende geführt sind.
Aber bezüglich der Genese des Phänomens glaube 'ich,
schon jetzt die Ansicht äußern zu dürfen, da.ß die Schild¬
drüse auf das Zustandekommen der Hyperresistenz einen
ganz besonderen Einfluß ausübe : denn bisher zeigte nur
der Schilddrüsenextrakt mit Sicherheit die Fähigkeit, eine
Erhöhung der Widerstandsfähigkeit gegen Azetonitryl zu
erzeugen; und ebenso zeigte diese Fähigkeit nur das Blut
solcher Kranken, deren Schilddrüsen höchstwahrscheinlich
verändert waren. Dieses Blut stammte bei meinen Unter¬
suchungen: 1. Von drei typischen,, schweren Basedow-
kranken. Hier ist es wohl überflüssig, auf die herrschende
Ansicht hinzuweisen, welche annimmt, daß sich bei Basedow
die Schilddrüsen im Zustande der Ueberfunktion befinden
und daß also größere als normale Mengen ihres inneren
Sekretes in den Kreislauf gelangen.
2. Von zwei Urämikern. Auch hier ist daran zu er¬
innern, daß sehr sorgfältige experimentelle und pathologisch-
anatomische Untersuchungen (siehe z. B. diejenigen Ti-
bertis [Lo sperimentale, c. 59]) gezeigt haben, wie sich
die Schilddrüsen bei der Urämie, mehr als bei allen an¬
deren Intoxikationen, im Zustande der Hyperfunktion be¬
finden und daher größere als normale Mengen inneren Se¬
kretes in die ßlutbahn werfen.
3. Von zwei Patienten mit vergrößerter und wahr¬
scheinlich (nichts spricht dagegen) auch überfunktionieren¬
der Schilddrüse (besonders 20. Fall).
4. Von einem Patienten mit chronischer interstitieller
Nephritis oder Sklerose der Nierengefäße.
5. Von einer Patientin mit Adipositas dolorosa.
Sei es nun, daß irgend ein Umstand die Abspaltung
der giftigen CN-Gruppe vom Komplex CH3CN verhindere
oder daß oxydierende Kräfte imstande seien, diesen Kom¬
plex, resp. seine CN-Gruppe in weniger giftige Körper zu
verwandeln; oder sei es, daß irgendein anderer biochemi¬
scher Faktor im Spiele sei — so muß man fragen: Beruht
das Zustandekommen der Hyperresistenz auf direktem Ein
flußi der in den Drüsenextrakten und dem Blute bestimmter
Kranker enthaltenen Thyreoideasubstanzen; oder ist die Er¬
höhung der Widerstandsfähigkeit eine Folge nur indirekter
Wirkungen dieser Substanzen, d. h. von Wirkungen, die
sekundär, nach Veränderungen der verschiedenen inneren
Organe oder der Blutzusammensetzung; auftreten? Und
könnte die Wirksamkeit des Blutes solcher Kranken nicht
auf besonderen, von den Schilddrüsen verursachten chemi¬
schen Veränderungen beruhen?
Es sind dies Fragen, die sich von selbst aufdrängen
und deren Beantwortung neue Untersuchungen erfordert.
Was den klinischen Wert der Reaktion anlangt, 'glaube
ich sagen zu dürfen, daß er schon jetzt nicht gering (er¬
scheint : denn zwei Kranke, mit unvollständiger Basedow¬
symptomatologie, die, wenn auch mit Vorbehalt, vom Klini¬
ker als Pseudo-Basedow oder Basedowoid diagnostiziert
worden waren, ergaben ein absolut negatives Resultat (das
heißt die Mäuse, welche mit dem Blute dieser Kranken ge¬
füttert wurden, starben bald nach Injektion von tödlichen
oder größeren Dosen von Azetonitryl) ; während drei andere
Kranke, mit typischen, schweren Basedowsymptomen, die
rückhaltlos als Morbus Basedowi diagnostiziert worden
waren, ein absolut positives Resultat ergaben.')
Die Bedeutung dieser Ergebnisse kann wohl nieman¬
dem entgehen; besonders nicht jenen, die wegen eigen¬
artiger lokaler Verhältnisse, wie sie z. ß. hier in Wien
bestehen, fast täglich in der Lage sind, ähnliche Fälle zu
sehen und zu untersuchen und deshalb aus eigener Erfah¬
rung wissen, wie schwierig es sehr oft ist, ein Basedowoid
von einem echten Morbus Basedowi zu unterscheiden und
welch große Schwierigkeiten daraus für die Prognose er¬
wachsen.
Auch sind diese Dinge für diejenigen von großem
Interesse, welche die Untersuchung und Erforschung der
allgemeinen Pathologie und der speziellen Pathogenese des
Morbus Flaiani-Basedowi verfolgen, die bekanntlich noch
immer recht dunkel sind. t
Hoffentlich wird sich also der Wunsch erfüllen, daß
zahlreiche, wiederholt ausgeführte, methodische Anwendun¬
gen der Reaktion ihren Wert bestätigen, so daß die Zurück¬
haltung, die jetzt geboten ist, nicht mehr nötig erschiene.
7) Aach Re id Hunt bemerkt in einer Note (Journ. of the
Amer. Med. Ass. 1907), daß er bei Mäusen, die mit dem Blute einei
Basedowschen Kranken gefüttert worden waren, eine positive Reaktion
fand. Aber da das Blut aus der Leiche stammte und die Patientin an
Bronchopneumonie und eitriger Peritonitis nach vorausgegangener Tuben¬
eierstockentzündung starb, scheinen mir seine Resultatate nicht sicher
und beweisend zu sein.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
745
Zur Symptomatik der Salvarsanwirkung.
Von Dr. V. Hrdiiczka in Wien.
Die Einführung eines neuen Heilmittels ist im allge¬
meinen ein recht gefährliches Experiment, da die meisten
wirksamen Heilmittel Gifte sind und Tierversuche nicht
direkt auf den Menschen übertragen werden dürfen. Auch
Salvarsan ist ein Gift. Ein Experiment aber, das ein Heil¬
mittel gegen eine so vielgestaltige und eminent chronische
Krankheit betrifft, wie es die Syphilis ist, von der wir
wissen, daß' sie trotz mangelhaftester Behandlung Jahre
und Jahre latent bleiben kann und gerade dann leicht zu
Tabes und progressiver Paralyse führt — ein solches Ex¬
periment muh; wohl eine genügend große Zahl von Fällen
einbeziehen, braucht aber auch eine genügend lange Be¬
obachtungszeit.
Ich kann hier den Vorwurf nicht unterdrücken, daß
eine weise Einschränkung in Bezug auf die Zahl der
Fälle und auf ihre Auswahl bei dem großen Experiment,
das mit Salvarsan derzeit durchgeführt wird, nicht
getroffen wurde. Ich glaube, daß neben den
Aerzten gleichzeitig auch das große Publikum vom Salv¬
arsan genaueste Kenntnis erhielt. Darauf ist es wohl
zurückzuführen, daß wir über eine Reihe von Beobachtungen
verfügen, die gewißi nicht im Sinne Ehrlichs, nicht einmal
im Sinne der Aerzte, die die Einspritzungen mit Salvarsan
Vornahmen, gelegen sind, sondern nur, ich möchte sagen,
auf die aktive Beteiligung des heilungsuchenden Publikums
ander Einführung des Mittels zurückgeführt werden müssen.
Zu diesen letzteren Fällen gehört auch der folgende,
in dem in verhängnisvoller Weise alle bis letzt
beschriebenen (Finger, Meyer) Symptome der
Salvarsanvergiftung, dazu noch eine Reihe
bisher unbekannter Symptome auftraten. Im
ganzen genommen, stellt dieser Fall ein Paradigma der
Salvarsanvergiftung, dazu ein ganz neues Krankheitsbild
dai. Er ist weiter ein Beweis dafür, daß es Individuen gibt,
die aus uns unbekannter Ursache eine große Empfindlichkeit,
dem Salvarsan gegenüber besitzen, wie dies bezüglich der
arsenigen Säure und anderen Arsenverbindungen schon
längst bekannt ist.
Anamnese: 0. L., Oberleutnant, 33 Jahre alt, stammt
aus gesunder Familie. Eltern leben und sind gesund. Er er¬
krankte im März 1903 an Lues (Sklerose und Erstexanthem).
Darauf machte1 er im Garnisonsspitale Brünn 30 Einreibungen.
Anfangs 1904 trat ein ulzeröses Syphilid und Periostitis beider
Schienbeine auf. Heilung nach 20 Sublimatinjektionein. Ende
1904 wurde er von einem Augenärzte wegen seiner Kurzsichtigkeit
(drei Dioptrien) untersucht, der bei normalem Visus und nor¬
malem Gesichtsfeld eine leichte Verfärbung der Papille ins
Graurötliche, ein leichtes Verwaschensein der Papillengrenzen
und vielleicht auch eine geringe Schwellung der Papillen und
zwar gleichmäßig an beiden Augen konstatierte.
Bis zum Jahre 1908 machte dann Patient jedes Jahr eine
Quecksilberkur durch, obwohl keine Erscheinungen der Lues sich
zeigten.
Seither fühlte er sich wohl und gebrauchte keine Kuren.
Im Oktober 1910 verließ Patient seinen Garnisonsort an
Je-i montenegrinischen Grenze und ließ sich im Garnisons-
spital in Sarajevo aufnehmen, damit ihm auf seinen Wunsch
eine Injektion mit Ehrlicli-Hata gemacht werde.
Am 24. Oktober 1910 erhielt er Ehrlich-Hata (0-6 g) in
neutraler Emulsion nach Wechselmann intraglutäal injiziert.
IW'h im März 1911 von uns erbetener Angabe des Abteilungs¬
vorstandes im Garnisonsspital in Sarajewo sollen damals seit
zwei Wochen eine kleinapfelgroße Periostitis im oberen Drittel
des Schienbeines und allgemeine Drüsenschwellungen bestanden
haben. Wassermann sei positiv, Augenbefund sei normal ge¬
wesen. Eine Untersuchung durch einen Augenarzt sei nicht vor¬
genommen worden.
Im Gegensatz zu diesen Angaben, erzählt Patient, daß er sich
die Injektionen nur hätte machen lassen, weil er von den glän¬
zenden Erfolgen mit Ehrlich-Hata in den Zeitungen gelesen habe
mul auch einige seiner Kameraden schon Injektionen bekommen
hatten. Vor seiner Abreise nach Sarajewo hatte er auch in Briefen
an seine Eltern nichts von einer Erkrankung mitgeteilt, sondern
seine Absicht in gleicher Weise begründet.
Am 27 Oktober reiste Patient in seinen Garnisonsort und
dienst ^ ^ montencgrmisch«n Grenze den schweren Kordon-
In der zweiten Hälfte des Monates Januar stellten sich
n!SbeSnhWfrden Cini' besüind völlige Appetitlosigkeit, ein
leucht©1 Brechreiz und allgemeine Schwäche, denen sich bald
behstorungen und Schwindelgefühl hinzugesellten.
Da diese Erscheinungen nicht besser wurden, fuhr der
Patient zu semen Eltern nach Wien. Auf der Reise trat Ün
Gravosa ein arger Magenkrampf auf, so daß Patient mehrere
Stunden liegen mußte. Als wir den Patienten das erstemal am
Abend des 6. Februar 1911 sahen, fanden wir einen kräftigen,
*»"8® Mann mit fahlem, lichtgrauem Hautkolorit, mäßig ge-
nahrt, Muskulatur sehr schlaff; besonders auffallend war eine
starke Abmagerung der Interossei, leichte Drüsenschwellungen in
mguine. Nirgends an der Haut Narben sichtbar, an den Knochen
keine Veränderungen.
In der linken Glutäalgegend, an der Injektionsstelie, eine
wurstförmige Resistenz, welche in der Breite von drei Quer-
iingern, ca. 10 ein lang, sich in ziemlicher Tiefe nach aufwärts
zog. Haut darüber war verschieblich und normal.
Lungenbefund normal, Herz perkutorisch normal. Ueber der
Basis leichte systolische Geräusche, Puls 92, klein. Bauchomane
normal, Temperatur normal.
Sensorium frei. Doch fiel eine hochgradige Amnesie
für alle Ereignisse seit der Injektion auf. Weiter waren arge Ge¬
dächtnisfälschungen nachzuweisen. Er erzählte z. B., daß er
vor acht Tagen in Sarajewo gewesen, sei, dort 20 Hata-Injektionen
bekommen habe usw. Im nächsten Moment sprach er vollkommen
vernünftig über Tagesereignisse, Garnisonsverhältnisse usw. Keine
Lähmungserscheinung, keine Sensibilitätsstörung. Rachenreflex,
Haut- und Sehnenreflexe normal, bis auf eine leichte Steigerung
der Patellarreflexe.
I a tie nt war völlig schlaflos. Kein Kopfschmerz.
Er konnte nur mühsam stehen, ganz gleich, hei offenen
oder bei geschlossenen Augen. Der Gang war unsicher, schwan¬
kend; er mußte sich anhalten, um nicht zu fallen.
Patient klagte über heftigen Schwindel beim Auf¬
setzen und Gehen. Beim Liegen bestand kein Schwindel. Weiters
Llagte Patient, daß er nicht gut sehe und die; Zeitung, wo¬
von wir uns auch überzeugten, nicht lesen könne. Gehör normal,
kein Ohrensausen.
7. Februar 1911: Patient gibt wieder auf Befragen falsche
Antwort. Die Gedächtnisfehler beziehen sich vor allem auf die
Zeitangaben bezüglich der jüngst vergangenen Ereignisse, manch¬
mal auch auf den Inhalt derselben. Er klagt noch immer über
hochgradige Gesichtsfeldeinschränkung und Herabsetzung des Seh¬
vermögens, ferner über Schwindel beim Gehen, der auch im Bette
hei plötzlichen Bewegungen des Kopfes eintritt. Kopfschmerz
besteht nicht. Patient hat jetzt guten Appetit, Harnabsonderung
und Stuhl normal.
Auf Beklopfen des Schädels keine Schmerzen. Reflexe wie
am Vortage. Zunge weicht etwas nach rechts ab1 (am Vortage
nicht geprüft).
Augenbefund: Feinphasiger horizontaler Nystagmus beim
Blick nach rechts. Grober Nystagmus beim Blick nach links.
Andere Augenbewegungen frei. Keine Doppelbilder. Pupillen gleich
weit. Pupillarreaktion lebhaft auf Licht und Konvergenz. Die Seh¬
nervenpapille beiderseits in gleicher Weise verändert und zwar
so, daß die Papille sehr wenig geschwollen ist (Differenz gegen
die Umgebung kleiner als zwei Dioptrien). Die Farbe der Papille
ist leicht schmutziggraurot, besonders die Ränder grau und opak.
Das Gewebe ist deutlich getrübt. Eine Differenz in der Fär¬
bung zwischen äußerer und innerer Pupillenhälfte nicht zu sehen.
Keinerlei Blutung oder Exsudate auf der Papille und in deren Um¬
gebung. Gefäße der Papille und des übrigen Fundus normal. Das
Gesichtsfeld für Handbewegungen hochgradig eingeschränkt (etwa
auf 20°). Patient kann die Zeitung nicht lesen.
Eine genaue Sehprüfung und Untersuchung des Gesichts¬
feldes konnte wegen Ermüdung des Patienten nicht vorgenommen
werden. Dieselbe wird auf den 12., vormittags, verschoben.
12. Februar : Patient wird aus dem Bette gebracht, wobei er
über lebhaften Schwindel klagt. Er muß geführt werden, da er
umzustürzen droht. Patient behauptet, heute gut zu sehen
und das Gesichtsfeld freier zu haben. Die Sehprüfung
ergibt beiderseits mit — 3 Dioptrien normale Sehschärfe (6/6).
I Gesichtsfeldprüfung ist aus der nebenstehenden Zeichnung zu
I ersehen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Die Angaben, die Patient bei der Aufnahme des Gesichts¬
feldes machte, waren sehr präzis. Mancher Punkt des Gesichts¬
feldes wurde dreimal überprüft. Jedesmal stimmten die Angaben
genau mit den früheren überein. Keinerlei Ermüdungsreaktion.
Die übrigen Erscheinungen unverändert.
Am selben Tage wurde noch ein genauer Haut- und Drüsen¬
befund aufgenommen, der sich mit dem vom 6. Februar deckt.
Am 13. Februar war Wassermann negativ.
Mit Rücksicht auf diesen Befund, ri amen tlich die groben
Störungen des Vest ib ular appar ates, sowie die vor¬
übergehenden Einschränkungen des Sehfeldes und
den Wechsel im Sehvermögen bei dem Patienten, der
bis Ende 1910 sich, was sein zentrales und peripheres Nerven¬
system anbelangt, wohl gefühlt hatte, weiters mit Rücksicht auf den
negativen Ausfall der Wasser mann sehen Reaktion mußten wir
annehmen, daß es sich um Intoxikationserscheinungen handeln
könnte, die von dein Salvarsandepot herrühren, kaum aber um
Lues des Nervensystems und veranlaßten die Exzision des
Salvarsandepots, um eine weitere Aufnahme des Giftes hintan¬
zuhalten. Dies wurde am 13. Februar ausgeführt. Die Unter¬
suchung des ex zi di er ten Stückes ergab das Vorhan-
Unter zunehmender Nackensteifigkeit und Benommenheit und
rapidem Temperaturanstieg in den letzten zwei Tagen auf 40°
trat am 8. März der Exitus ein.
Die Einwilligung zur Sektion wurde von den Eltern nicht
gegeben.
Fassen wir das Wichtigste aus der Krankengeschichte
zusammen, so ergibt sich :
Ein junger, kräftiger Offizier aus gesunder Familie
erkrankt 1903 an Lues, behandelt sich regelmäßig bis 1908,
trotzdem seit 1905 keine Erscheinungen der Lues sich zeig¬
ten, bekommt am 24. Oktober 1910 0-6 g Salvarsan injiziert,
das reaktionslos im Glutäus einheilt. Erkrankt in der zwei¬
ten Hälfte Januar 1911 ohne Fieber, in langsam zunehmen¬
der Weise, ohne nachweisbare neuerliche Noxe am allge¬
meiner Schwäche, Appetitlosigkeit, leichtem Brechreiz, Seh¬
störungen, die auf eine wechselnde Behinderung in der
Leitung im Sehapparat liinweisen, weiters Störungen von
Seile des Vestibularis, sodann an Amnesie und 'Schlaflosig¬
keit. Babei fehlt auch noch zu einer Zeit, wo alle diese Er¬
densein größerer Mengen unzersetzten, mikroskopisch
zu erkennenden Salvarsans, weiters Arsen in reichlicher Menge,
das sich aus dem Salvarsan abgespalten hatte und in einer un¬
bekannten Verbindung war. Das Gewebe in der Umgebung des
unzersetzten und zersetzten Salvarsan war mit Leukozyten durch¬
setzt. Keine auffallende Nekrose.
Die Wundheilung erfolgte per primam.
Der weitere Verlauf gestaltete sich folgendermaßen:
In den folgenden 14 Tagen nahm die allgemeine Körper¬
schwäche trotz recht guten Appetites zu; der Puls stieg allmählich
Ins 120. Die Erscheinungen von seiten des Nervus vestibularis
nahmen zu. Das Sehvermögen wechselte. K o p f s c h m erz wurde
immer negiert. Das Sensorium war leicht benommen. Die
schon anfangs bestandene Schlaflosigkeit war trotz Vero¬
nal und Sulfonal eine vollständige. Nachts konnte Pa¬
tient nur mit Mühe im Bette erhalten werden. Die Temperatur
stieg allmählich leicht an. Spiegelbefund blieb unverändert. Am
28. Februar war u. zw. zum erstenmal leichte Nackensteifigkeit
und eine leichte Parese des rechten Fazialis, sowie erschwertes
Sprechen zu konstatieren.
Am 1. März wurde eine Schmerzempfindlichkeit der Haut¬
decken und Kernig beim Aufsetzen konstatiert.
Trotz negativem Wassermann wurde wegen der Verschlim¬
merung des Zustandes sofort mit energischen Quecksilbereinrei¬
bungen und großen Jodkalidosen intern begonnen.
Doch der Zustand wurde immer schlechter.
scheinungen hochgradig ausgebildet sind, vollständig jeg¬
licher Kopfschmerz, jegliche Störung von Seite des Akustikus
und sämtlicher übrigen Kopfnerven, vielleicht mit Ausnahme
des Hypoglossus. Auch von seiten des Rückenmarkes und
der Körper- und Extremitätennerven keine Störungen. Alle
inneren Körperorgane frei. Wassermann sehe Reaktion
negativ. . 1
Erst am 28. Februar treten neue Erscheinungen hinzu ;
Nackensteifigkeit, leichte Parese des rechten Fazialis, er¬
schwertes Sprechen, Sensibilitätsstörungen, Benommenheit,
Fieber.
Exitis am 8. März.
Sollen wir diese Erscheinungen auf die Lues, aut
das Salvarsan oder auf nine neue, von den beiden genannten
verschiedene Krankheitsursache beziehen?
Diese dritte Möglichkeit werden wir wohl mit großer
Wahrscheinlichkeit ausschließen können. Schon mit Rück¬
sicht darauf, daß Patient durch einen Monat fieberfrei war,
während welcher Zeit die Krankheitssymptome ansliegen,
schein! eine bakterielle Ursache ausgeschlossen.
Der Umstand, daß eine Veränderung an den Sehnerven¬
papillen, die am 10. Februar beobachtet wurde, schon im
Jahre 1904 in ganz gleicher Weise gesehen wurde, überdies
während der Progredienz der Krankheitserscheinungen
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
747
stationär blieb, sowie der allzeit fehlende Kopf¬
schmerz läßt jede raumverengernde Bildung in der Schädel¬
kapsel ausschließien. ■
Es ‘könnte also Lues sein ! Wenn diese Annahme schon
durch die negative Wasser m a n n sehe Reaktion einiger¬
maßen hinfällig wird, wird sie es andererseits auch dadurch,
daß es unmöglich ist, die Mehrzahl der Symptome anders,
als durch eine toxische Enzephalitis zu erklären.
Und in der Tat finden wir in den meisten der Symptome
alte Bekannte aus der Lehre von der iVergiftung mit Arseni¬
kalien: Gedächtnisstörungen, Schlaflosigkeit, fehlender Kopf¬
schmerz, allgemeine Muskelschwäche, dazu das Symptom
der Sehstörungen aus der Atoxylzeit und das neueste Sym¬
ptom der isolierten Vestibulaxaffektion ohneAkustikusstörung
aus der Salvarsanzeit (Finger, Meyer). Auch die Art
des Krankheitsverlaufes suh finem ist ähnlich dem hei Ver¬
giftung mit anderen wirksamen Arsenikverbindungen.
Weiters besteht eine Uebereinstimmung mit den Er¬
fahrungen am Krankenbett und den Ergebnissen des Ex¬
periments bezüglich anderer Arsenikverbindungen, daß
Wochen und Monate eines relativen Wohlbefindens vergehen
können, ehe die zum Tode führenden Vergiftungserschei¬
nungen auftreten. Wenn nun auch die vollständige Beweiskraft
unserem Falle mit Rücksicht auf den fehlenden Sektiousbe-
fund fehlt, so stellt er immerhin ein (eigenartiges Zusammen¬
treffen von zahlreichen Symptomen dar, die einzeln bei
vielen anderen Erkrankungen, insbesondere auch bei lue¬
tischen Erkrankungen Vorkommen mögen, die aber
doch in ausgeprägter Weise vornehmlich Vergiftungen mit
Arsenikalien eigentümlich sind.
Gerade durch ihr Zusammentreffen weisen sie aber
darauf hin, daß wir es mit einem neuen Krankheitsbilde zu
tun haben dürften, mit einem Falle von Tödlich verlaufender
Salvarsanvergiftung.
Die Art der Symptome scheint darauf hinzuweisen,
daß nicht das Vorhandensein des Arsenik für das Krankhei ts¬
bild verantwortlich zu machen ist, sondern die chemische
Konstitution des neuen Präparates.
*
Die schuldige persönliche Rücksicht, vor allem aber das
sachliche Interesse veranlaßten die Redaktion dieser Wochenschrift
den obigen Beitrag noch vor der Veröffentlichung dem allver¬
ehrten Begründer der Salvarsantherapie zur Einsichtnahme und
Begutachtung vorzulegen. Herr Geheimrat Prof. Ehrlich hat
die Sendung mit folgendem Briefe umgehend beantwortet.
Frankfurt a. M., 13. Mai 1911.
Herrn Prof. Dr. Alexander Fraenkel, Wien IX/1,
Wasagasse 12.
Hochgeehrter Herr Kollege !
Nehmen Sie meinen besten Dank für Ihre freundliche Zu¬
sendung des Manuskriptes von Herrn Dr. Hrdlic'zka! Der
Artikel ist außerordentlich präokkupiert geschrieben und wenn
der Autor in der Einleitung Vorwürfe wegen der Einführung
des Mittels macht, so müssen dieselben vollkommen ungerecht¬
fertigt erscheinen. Ich habe alles getan, was ich konnte, um
eine sorgfältige Erprobung des Mittels durch die ersten Fach¬
männer (und alle Kliniker Deutschlands und Oesterreichs' gehören
dazu) vornehmen zu lassen. Früher wurde ein Mittel ausgegeben,
wenn es an einer einzigen Klinik an 50 oder höchstens 100
Patienten erprobt war. Wenn ich bei dem Salvarsan ebenso
verfahren wäre und etwa Anfang Juli das Mittel herausgegeben
hätte, würde man mir einen Vorwurf machen können, aber ich
habe gewartet, bis die Indikationen und Kontraindikationen, die
Dosen und alles sonst wichtige festgelegt war, ehe das Mittel
überhaupt zum Verkauf gekommen ist. Ich habe auch mit der
Freigabe gewartet, bis die Flut der ersten Begeisterung abgeebbt
war und die Kritik über Nebenwirkungen und ungenügende Wir¬
kung in wissenschaftlichen Zeitschriften und in der Tagespresso
reichlich zu Wort gekommen war. Es war mithin jeder Arzt
bei Freigabe des Mittels in der Lage, ungeeigneten Patienten
auf Grund der vorhandenen Literatur das Mittel zu verweigern.
Ich könnte gerade über diese Seite der Frage noch sehr viel
schreiben. ,
Sehr sonderbar berührt es mich, daß Herr Dr. Hrdliczka
in seinem Resümee, S. 16, sagt, daß der Patient seit 1905 keine
Erscheinungen der Lues gezeigt habe, während doch aus dem
Sevajevoer Krankheit« bericht deutlich hervorgeht, daß eine Peri¬
ostitis und multiple Drüsenschwellungen hei positivem Wasser¬
mann bestanden haben, mithin ein vollkommen aktiver syphiliti¬
scher Prozeß! Ich sollte doch meinen, daß 'man die Angaben einer
amtlichen und daher verläßlichen Stelle gegenüber1 den Angaben
des Patienten seihst, zumal derselbe desorientiert war, nicht ein¬
fach unter den Tisch fallen lassen sollte. Daß Patient in seinem
Briefe an seine Eltern von der Erkrankung nichts erwähnt, be¬
weist doch nicht das mindeste !
Was den Fall selbst betrifft, so darf ich wohl auf die Arbeit
von Dr. Benario verweisen, die ich mir beizufügen erlaube. Wir
haben hier in mühseliger Arbeit, auf Grund eines reichen Mate-
rials klargelegt, welche Gründe dafür sprechen, daß die Erschei¬
nungen des Nervensystems, insbesondere des Optikus und Aku-
stikus syphilitische Erkrankungen darstellen. Dieser Standpunkt
dürfte auch von den allermeisten Fachgenossen und selbst von
Gegnern geteilt werden. Auch diejenigen, die an diesen Erschei¬
nungen dem SalVarsan eine Schuld zuschreiben, nehmen wohl
größtenteils n i c h t eine direkte Arsenvergiftung an, sondern sind
der Ansicht, daß Alterationen des Nerven das Auskeimen der
Spirochäten begünstigt hätten. Andrerseits ist es sicher, daß die
nervösen Affektionen durch eine antisyphilitische Behandlung -
auch mit Salvarsan — wenn dieselbe rechtzeitig einsetzt, ge¬
wöhnlich in der allerbesten Weise beeinflußt werden und ich muß
es sehr bedauern, daß Herr Dr. Hrdlic'zka sich nicht über diese
Seite erst orientiert hat, bevor er seine Arbeit schrieb. Denn
dann hätte er nicht nur einseitig mit der Vergiftungshypothese,
sondern auch mit der Möglichkeit, resp. Wahrscheinlich¬
keit eines syphilitischen Rezidivs rechnen müssen. Hätte er dieses
getan, so wäre es angezeigt gewesen, den Patienten sofort einer
energischen antisyphilitischen Behandlung zu unterziehen und
nicht, erst sub finem vitae die Quecksilberkur zu unternehmen.
In der Arbeit von Dr. Benario ist mit aller Klarheit zum
Ausdruck gebracht, daß die Neurorezidive möglichst frühzeitig und
intensiv behandelt werden müssen. Jeder Tag des Zuwartens
kann Schaden bringen, der schließlich bei wochenlangem Auf¬
schieben irreparabel werden muß. Nach meiner Ansicht ist der
Patient auf Grund falscher theoretischer Vorstellungen unrichtig
behandelt worden. Es handelt sich nicht um eine Arsenver¬
giftung, sondern um eine verkannte und daher' unbehandelt ge¬
bliebene Syphilis des Zentralnervensystems. Was das Negativ-
sein des Wassermanns betrifft, so spricht dieses nicht im min¬
desten gegen das Vorhandensein eines syphilitischen Prozesses.
Gerade über diesen Punkt ist ja — wie Ihnen selbst am besten
bekannt ist — in der Literatur ausführlich diskutiert worden.
Ich wollte noch hinzufügen, daß in einigen Fällen von Neiuro-
rezidiven, wo das Blut einen negativen Wassermann! zeigte,
die Zerebrospinalflüssigkeit positiv reagierte.
Zustimmen muß ich Ihrer Ansicht, daß es natürlich ein
großer Mangel der Beobachtung ist, daß eine Sektion unterblieb.
Es ist mir von einem in Wien vorgekommenen Fälle erzählt
worden, wo von einer bekannten Autorität eine Meningitis syphi¬
litica diagnostiziert wurde, die- nach SaJv'arsan aufgetreten sein
sollte und wo die Sektion tuberkulöse Veränderungen ergab.
Schade ist es auch, daß der Zustand des Magens nicht unter¬
sucht werden konnte. Es könnte immer sein, daß hier syphili¬
tische Veränderungen Vorgelegen haben, die, wie aus der Lite¬
ral ur ersichtlich, gar nicht so selten zu ausgedehnter Kachexie
führen.
Daß die intramuskuläre Injektion, zumal wenn nur ein¬
malig ausgeführt, in ihrer Wirkung nicht verläßlich ist, ist ja
längst bekannt und habe ich seit Monaten schriftlich und münd¬
lich alles getan, um diesen Modus, den ich für unzureichend halte,
aus der Welt zu schaffen. Daß in dem Exsudat sich sehr lange
Arsen halten kann, ist ja bekannt; vom unlöslichen Quecksilber
wissen wir auch, daß dasselbe jahrelang im Körper abgekapselt
vorhanden sein kann. Daß Herr Dr. Hrdliczka auf Grand
der Voraussetzung, daß von dem Depot eine Arsenvergiftung
ausgehen könnte, die Nekrose exstirpierte, ist ja an und für
sich durchaus folgerichtig, jedoch hätte er sich hi ein it allein
nicht begnügen dürfen, sondern auch die andere, weiter ver¬
breitete Ansicht der syphilitischen Natur der Erkrankung ins
Auge fassen und dementsprechend therapeutisch handele
müssen !
Mit nochmaligem besten Dank und freundlichen Grüßen
bin ich, in vorzüglicher Hochachtung,
Ihr aufrichtigst ergebener
Paul Ehrlich.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 21
7-18
Aus dem pharmakologischen Institute der k. u. k. Tier¬
ärztlichen Hochschule in Wien.
Darf man den Stramoniumzigaretten eine
arzneiliche Wirkung zuschreiben?
Von Prof. Dr. Gustav Günther.
Die Stramonium- oder Asthmazigaretten haben sich
lange Zeit eines (gewissen Ansehens erfreut; sie galten
als iein Mittel, das bei echtem Atshma fast immer gute Dienste
leistet. Man setzte dabei voraus, daß die in den Blättern
enthaltenen Alkaloide — hauptsächlich Atropin — zum Teil
in den Rauch übergehen und dadurch die günstige Wirkung
bedingen, ohne für diese Annahme einen greifbaren Beweis
zu haben. Hirn und Netolitzky haben versucht, diesen
zu erbringen und das Resultat ihrer Untersuchung 'in diesen
Blättern veröffentlicht.1) Sie fanden im Rauche neben
Cyan- und Schwefelwasserstoff zwar Atropin, jedoch ist
dessen Quantum nach einem späteren Berichte von (Hirn2)
so gering, daß diesen Mengen kaum mehr eine sichere Wir¬
kung Izugeschrieben werden kann (für je 1.00 g Blätter 0 0046
-0-0069 g Atropin, daher pro Zigarette eine Atropinmenge
von 0-000035 — 0000052 g). Dieses Resultat ist für die
Beurteilung der A s thmäzi garett en nicht ohne Einfluß ge¬
blieben. Man ist seither geneigt, in ihnen nur noch ein
Mittel 'zu sehen, das entweder ausschließlich oder doch
hauptsächlich suggestiv wirkt. So schreiben H. Meyer
und R. Gottlieh in ihrem ausgezeichneten Lehrhuche,3)
S. 290, wörtlich: „Wenn den , Asthmazigaretten' überhaupt
eine heilsame Wirkung zukommt, so kann es sich wohl
nur um die Spuren von Atropinsalzen handeln, vdie mit.
dem eingesogenen Rauch mechanisch mitgerissen werden
und so in Mundhöhle und Lunge gelangen.“ Indes die
prompte Wirkung, die man 'oft schon nach (wenigen, aus der
Zigarette gemachten Zügen auftreten sieht, muß den Unbe¬
fangenen doch stutzig machen und es ergibt sich für ihn
die Frage : handelt es sich hier um (Suggestion oder enthält
dieser Rauch doch wirksame Substanzen in Mengen, die
man für den Erfolg verantwortlich machen kann? Die
Lösung dieser Frage schien mir eine dankbare Aufgabe
zu sein, um so mehr, als ich keinerlei Literaturan¬
gaben fand, durch welche die von Hirn und Neto¬
litzky erhaltenen Resultate bestätigt oder korrigiert
wurden. Theoretisch schien es durchaus nicht unmöglich,
daß unter günstigen , Verhältnissen doch mehr Atropin in
den Rauch übergeht, als Hirn und Netolitzky darin
nachweisen konnten. Zunächst, sprach hiefür der Umstand,
daß nach Angabe ganz verläßlicher Autoren4) der unmäßige
Gebrauch von Stramoniumzigaretten die Erscheinungen einer
Atropinvergiftung hervorrufen kann, weiterhin die Wahr¬
scheinlichkeit, daß der Rauch nicht Atropin s al z e, sondern
freies Atropin enthält, von dem wir aber ovissen, daß es
sich beim vorsichtigen Erhitzen unzersetzt, verflüchtigt,5)
endlich der Bericht von Hirn und Netolitzky seihst, wel¬
cher die Möglichkeit offen läßt, daß der Rauch ansebnlicheAtro-
pinmengen enthält, indem es hei ihnen heißt : „Daß die Menge
des wirksamen Alkaloides im Rauche viel größer ist, als durch
die Aetheraus'schü Hellingen aus den Absorptionsmitteln nach¬
gewiesen wird, konnte durch folgenden Versuch bewiesen
werden.“ (Der Rauch bewirkte, eine Viertelstunde lang ge-
1) Rauchversuche mit einigen Asthmamitteln. Wiener klin. Wochen¬
schrift 1908. S. 588 ff.
2) R. Hirn, Quantitative Bestimmungen von Atropin, Blausäure
und Schwefelwasserstoff im Rauche von Stramoniumzigaretten. Zeit¬
schrift des allgem. österr. Apothekervereines 1903, S. 1454 ff.
3) H. H. Meyer und R. Gottlieb, Die experimentelle Pharma¬
kologie als Grundlage der Arzneibehandlung. 1910.
4) R. Robert, Lehrbuch der Intoxikationen. 2. Aull. 1906, Bd. 2-
S. 1043: L. Le win, Die Nebenwirkung der Arzneimittel. 3. Au fl., S. 191, etc.
6) Gewöhnlich wird A. Ladenburg als derjenige genannt, der
diese Eigenschaft des Atropins entdeckt hat; ich habe jedoch in Laden¬
burg? Arbeiten vergeblich nach einer diesbezüglichen Angabe gesucht;
vielmehr scheint die Kenntnis dieses eigentümlichen Verhaltens des Atropins
bis in die 50er Jahre zurückzureichen. Vgl. Schloßberger, Lehrbuch
der organ. Chemie 1857, S. 623. -
geo das Auge eines Kaninchens geblasen, hei diesem deut¬
liche Mydriasis.)
Zur Klärung dieser Erage habe ich Herba Stramonii6)
unter ähnlichen Bedingungen wie Hirn und Netolitzky,
jedoch ausschließlich aus Glaspfeifen verraucht, wäh¬
rend zur Erzeugung eines genügenden, aber konli-
nuierlichen Luftstromes von mir ebenso, wie von
Hirn und Netolitzky,' eine Säugpumpe benutzt
wurde. Bei dieser Versuchsanordnung machten sich verschie¬
dene Uebelstände geltend. Obgleich die Saugwirkung der
Pumpe in allen möglichen Stärkegraden ausprobiert und
der gleichmäßigen Stopfung der Pfeife besondere Sorgfalt
zugewendet wurde, ging das Pfeifenfeuer alle Augenblicke
aus; auch ließ die Glaspfeife erkennen, daß sehr oft Hohl¬
brennen eintrat, ein Umstand, der dem Uebertritte von
Atropin in den Rauch keineswegs förderlich sein konnte.
Auch die Absorptionsvorrichtung ließ zu wünschen übrig,
da der Rauch trotz Vorlage von fünf W o u 1 f sehen Flaschen
nicht vollständig absorbiert wurde. Aus diesen Gründen
schlug ich einen anderen Weg ein. Die Stramoniumblätter
wurden, um ein gleichmäßiges und besseres Brennen (zu
garantieren, vorerst mit. Kaliumsalpeter imprägniert, eine
Behandlung, die auch bei der Herstellung der Asthmaziga¬
retten 'zumeist geübt wird.7) Dazu diente eine 2%ige Lösung
von Kaliumsalpeter; mit ihr wurde eine vorher lufttrocken
gewogene Menge von 200 g Herba Stramonii befeuchtet und
nachher wieder getrocknet, so daß trotz dieser Prozedur
die eigentliche Krautmenge die gleiche blieb. Zur (möglichst
vollkommenen Aufsaugung des Rauches' wurde dieser aus
der Pfeife zunächst in 'eine Woul f sehe Flasche geleitet, die
zur Hälfte mit destilliertem, durch Zusatz von (5% Schwefel¬
säure stark angesäuertem Wasser gefüllt, war. Zwischen
dieser und einer zweiten, ebenso beschickten Wo ul f schon
Flasche wurde ein 1 m langes und ca. 3 cm im Lichten
messendes Glasrohr eingeschaltet, das durch mit 5°/oiger
Schwefelsäure angefeuchtete Baumwolle vollständig, aber
locker ausgestopft war. Diese Anordnung machte die Ver¬
wendung weiterer W o ul f scher Flaschen vollständig über¬
flüssig, da schon in die zweite Flasche kaum mehr eine
Spur des Rauches gelangte, so Haß das darin befindliche
Wasser erst nach mehrstündigem1 Durchsaugen eine leichte
Färbung bekam, während in der ursprünglichen Anordnung
sich auch der Inhalt der letzten Flasche bald ganz dunkel
färbte. Zur Untersuchung des Atropingehaltes wurde der
Inhalt. rder beiden Flaschen, sowie das Waschwasser, mit dem!
die vorgeschaltete Watte bis zur Entfärbung behandelt und
auch das ganze Leitungssystem ausgespült worden war, zu¬
nächst neutralisiert, wobei sich eine dunkle, unangenehm nach
Pfeifen Saft riechende Flüssigkeit, bei H i r n und Netolitzky
„Teer“ genannt, abschied. Dieser „Teer“ entsteht in ganz be¬
trächtlicher Menge — ich erhielt aus 200 g Herba Stramonii
davon 12-286lg — und ist durch seinen schon tdurch den Ge¬
ruch sich verratenden Gehalt an Pyridinbasen für die Wir¬
kung des Rauches wohl nicht ganz gleichgültig. Das von
diesem Teer abfiltrierte Wasser wurde im Vakuum auf Vi
seines Volumens eingedampft, mit Kalilauge alkalisch ge¬
mach! und das Atropin durch zehnmaliges Ausschütteln
mit Chloroform in dieses überführt, das Chloroform ver¬
dunstet, der Rückstand behufs1 weiterer Reinigung mit an¬
gesäuertem Wasser aufgenommen und abermals mit Kali¬
lauge und Chloroform behandelt. Nach dem Verdunsten des
letzteren blieb eine gelbliche, ölige Flüssigkeit zurück, die mit
Salzsäure neutralisiert, und mit soviel Wasser versetzt wurde,
daß das Gesamtgewicht der Mischung 200 g betrug. Da die
6) Die Droge wurde von einem renommierten Wiener Großhandlungs¬
hause bezogen und zunächst auf ihren Alkaloidgehalt untersucht. Du-ser
betrug, nach dem Verfahren meines Namensvetters Günther (Viertel.]'.
Pharm., Bd. 19, S. 598) bestimmt, 0-3442 °/n, eine Zahl, die mit den in
der Fachliteratur angegebenen Werten von 0'308 — O'37O°/0 recht gut
übereinstimmt.
7) So bei den Asthmazigaretten des Dr. Plaut, beim Asthrna-
kraute des Apothekers P 1 ö n e s in Weiskirchen (zitiert nach Hagers
Handbuch der pharm. Praxis) etc.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
749
quantitative Bestimmung des Atropins nach derselben phy¬
siologischen Methode vorgenommen werden sollte, die seiner¬
zeit schon Hirn benutzt hatte, nämlich durch Feststellung
des kleinsten Quantums der Lösung, das noch auf die
Pupille erweiternd wirkt, wurden aus der Stammlösung vom
Atropin Titre x:200 mit physiologischer Kochsalzlösung ver¬
schiedene Verdünnungen bis zum Titre x : 20.000 hergestellt.
Diese Lösungen wurden zunächst für die Augen einiger Ver¬
suchskatzen benützt, obwohl ganz prompt Mydriasis eintrat
und die Tiere bei Verwendung stärkerer Lösungen sogar
dasselbe starke Speicheln zeigten, wie nach mittelstarken
Atropinlösungen, erwies sich doch die Auswertung am
Katzenauge als ganz unzuverlässig. Die Tiere schütteln nach
der Instillation oft den Kopf, wobei ein unkontrollierbarer
Teil der Lösung verloren gehen konnte und erschwerten
später durch ihr ungebärdiges und lichtscheues Wesen den
Vergleich mit dem unbehandelten, normalen Auge. Aus
diesem Grunde wurden schließlich die schwächsten Lösun¬
gen am menschlichen Auge ausprobiert, wozu einige Per¬
sonen ineiner nächsten Umgebung 'sowie ich selbst herhalten
mußten. Es ergaben sich dabei individuelle Verschieden¬
heiten, da bei den einen noch die Verdünnung x: 11.000
wirkte, während bei einigen anderen auch eine stärkere
Lösung, z. B. x: 10.000 nicht die geringste Pupillenerwei¬
terung hervorbrachte. Bemerkt sei, daß für jede Instillation
ein einziger, stets gleich großer Tropfen Lösung ibenützt
wurde; die Lösung wurde zuvor auf Körpertemperatur vor-
gewärmt, wodurch das Eintröpfeln reaktionslos ertragen
wurde und weder durch Lidschlag noch durch Tränenfluß
ein Teil der eingeträufelten Flüssigkeit verloren ging. Als
nun in den nächsten Tagen zur Kontrolle die von den
Autoren als eben noch als wirksam angegebene Atropin¬
lösung 1 : 130.000 bei den gleichen Versuchspersonen an¬
gewendet wurde, zeigten sich die gleichen individuellen
Unterschiede, so daß. die Angabe : ein Tropfen einer Atro¬
pinlösung 1 : 130.000 sei eben noch im Stande, eine Pupillen¬
erweiterung hervorzubringen, für den Menschen nur mit , der
Einschränkung „zumeist“ gelten kann. Diese Pupillener-
weiterung tritt erst nach 50 — 60 Minuten ein, erreicht einen
nur mäßigen, keine wesentliche Sehstörung hervorrufenden
Grad und verschwindet über Nacht wieder vollkommen.
Durch diese Versuche ergab sich somit die Gleichwertig¬
keit der Verdünnung x: 11.000 mit einer Atropinlösung
1:130.000. Zur weiteren Kontrolle wurde noch bei einer
Versuchsperson in das eine Auge ein Tropfen einer Atropin¬
lösung x: 65.000, in das' andere Auge ein Tropfen der Ver¬
dünnung x : 5500 gebracht. An beiden Augen trat, die Pu¬
pillenerweiterung nach derselben Zeit und in derselben
Stärke auf, womit die Richtigkeit der früheren (Beobachtun¬
gen bestätigt war. Demnach waren im Rauche von 200 g
Herba iStramonii Mydriatica entsprechend einem Quan¬
tum von 0.0846 g Atropinum sulfuricum, bzw. bei 1 g
Stramonium 0 000423 g Atropin enthalten, während H i r n
bei seiner quantitativen Bestimmung in dem Rauche von
200 g Blätter nur 0 0092 — 0 0128 g Atropin fand. Ich habe
versucht, den quantitativen Nachweis von Atropin auch
durch dessen Wirkung auf das Hundeherz zu führen. Nach
N o t h n a g e 1 - R o ß b a c h tritt beim Hunde Pulsheschleu-
eigung im Mittel nach 0 001g Atropin ein. Als ich zu den
einschlägigen Versuchen zunächst junge Hunde verwendete,
kam ich sehr bald zur Ueberzeugung, daß sie für diesen
Zweck unbrauchbar waren. Sie reagierten ungleich und
erst auf größere Dosen. Nach dieser Erkenntnis gab ich
einem einjährigen, 6-5 kg schweren Foxterrier in Pausen
von 5 Minuten je 0 0003 g Atropinum sulfuricum subkutan,
'vorauf die Pulszahl, die durch die beiden ersten Injek¬
tionen von 124 bis auf 108 in der Minute gesunken war,
nach der dritten plötzlich auf 180 Schläge hinauf schnellte
und auch nach einer Viertelstunde sich noch auf der gleichen
Höhe hielt. Dieses .Versuchstier zeigte mithin schon nach
0-9 Milligramm Atropin beginnende Lähmung des Herzvagus.
Als demselben Tiere nach einigen Tagen, als die Puls¬
frequenz schon wieder normal war, ein dieser Atropin¬
menge entsprechendes Quantum Giftlösung subkutan ein¬
gespritzt wurde, brachte diese nur eine längere Zeit an¬
haltende Herabsetzung der Pulsfrequenz hervor. Die Rech¬
nung schien also nicht zu stimmen. Allein ich hatte über¬
sehen, daß von der Herstellung der Giftlösung bis zu ihrer
Verwendung beim Hunde schon geraume Zeit — über drei
Wochen — verflossen waren. Da auch Hirn und Neto-
litzky bei ihren Versuchen fanden, daßi die Wirkung der
Lösungen beim längeren Stehen durch teilweise Zersetzung
nachläßt, galt es nochj einen weiteren Versuch mit frischer
Giftlösung zu machen. Es wurden daher nochmals 200 g
Herba Stramonii in der geschilderten Weise verraucht, die
frische Giftlösung rasch am Menschenauge auf ihren Titre
untersucht, wobei sich die Verdünnung x: 11.000 wie 'früher
als noch wirksam erwies1. Als hierauf von , dieser frischen
Giftlösung das einer Atropinmenge von 0-9 Milligramm ent¬
sprechende Quantum bei demselben Versuchshunde sub¬
kutan injiziert wurde, trat, eine Vermehrung der 'Pulsschläge
um 44 pro Minute (von 110 auf 154) ein, so daß der
Beweis der Anwesenheit einer entsprechenden Menge auch
auf diesem Wege als erbracht angesehen werden kann.
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß den Stramonium-
zigaretten wohl eine medizinelle Wirkung zugeschrieben
werden darf; denn bei einem Gehalte von durchschnittlich
1 — iVr g Herbae Stramonii liefert eine Zigarette in ihrem
Rauche (neben Blausäure, Schwefelwasserstoff und Pyridin¬
basen) 3 — 5 dmg Atropin, welches namentlich dann, wenn
der Rauch in die Lunge inhaliert wird, ganz wohl eine
lokale Wirkung entfalten kann. Ja, man dürfte sich sogar
nicht wundern, wenn schon zwei bis drei Zigaretten,- rasch
nach einander geraucht, üble ’Nebenerscheinungen zur Folge
hätten.
Ueber den derzeitigen Stand der Pest in
Indien.
Von Dr. Emil Wiener.
Seit Jahrhunderten ist die Pest als Epidemie aus Europa
Verschwunden. Ihre letzte große Periode fand am Ende des
18. Jahrhunderts ihren Abschluß, zu welcher Zeit Wien und
Umgebung, Deutschland, Spanien und die Türkei Zehntausend© von
Menschenleben verloren, während sie aus Frankreich schon ein
halbes Jahrhundert früher verschwunden war. Wenn derzeit immer
noch aus außereuropäischen Ländern eingeschleppte- Fälle durch
eine stellenweise auftretende Gruppenerkrankung maßlosen
Schrecken verbreiten, so liegt dies zunächst darin, daß in deren
eigentlicher Heimat, in Indien und China, die Pest in den letzten
Jahren neuerdings eine ganz besonders starke Ausbreitung ge¬
wonnen hat. und dadurch die Erinnerung an die verheerenden Epi¬
demien in Europa vom Mittelalter bis in die Neuzeit wieder wach¬
gerufen wird.
Ungleich der Cholera, blickt die Pest auf eine lange Geschichte
zurück. Schon die ersten historischen Ueberlieferungen deuten ihr
Vorhandensein an. Sie ist in der Bibel mehrfach erwähnt und
die Erscheinungen, unter welchen im Altertum die schwarzen
Blattern beschrieben sind, decken sich vielfach mit jenen der
Pest.
Die alte griechische Schule gibt durch ihre Meister Hippe¬
ls rates und Galen Beschreibungen, von denen manche noch
heute Geltung besitzen, Paulus von A eg i n a bezieht einige der
Aphorismen Hippkorates' in den Büchern der Epidemien auf die
Pest. 300 Jahre v. Ch. herrschte sie- in Kleinasien, Griechenland.
Tacitus, Archaeus und Rufus von Ephesus erwähnen und
schildern sie, vielfach freilich ziemlich ungenau.
Europa wurde durch eine mehrere Jahrzehnte währende
Pest im 6. Jahrhundert verwüstet. Nachdem vereinzelte Fälle
an den Küsten des Mittelmeeres aufgetreten waren, trat sie im
Jahre 534 nachmals unter der Bezeichnung Pest des Justinian
gekannt und beschrieben, in Konstantinopel auf, um, bald Flu߬
läufen, bald den Heeresstraßen folgend, allmählich den ganzen
Kontinent zu überziehen manchmal ganze Länderstrecken über¬
springend, um sich erst nach Jahren in ihnen, festzusetzen.
Procopius schätzt deren Opfer schon im Jahre 568 auf die
Hälfte der Bewohner des Byzantinischen Reiches, während
Gibbon ihre Gesamtzahl mit 100 Millionen bemißt. Keiner der
750
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
Befallenen genas. Die Erkrankung begann unter Delirien, Blut¬
andrang zum Kopf, Anschwellung des Gesichtes oder aber mit
Beulen in den Leisten und Fieber, welches am zweiten oder dritten
Tage tötete. In anderen Fällen traten Karbunkeln auf, manchmal
Diarrhöen^ und Erbrechen, endlich auch Fälle von, Bluthusten.
Obwohl nach mannigfachen Angaben das einmalige Ueber-
stehen der Krankheit gegen neuerliche Erkrankung nicht schützen
soll und genügend Beispiele vorhanden sind, daß manche erst in
der zweiten oder dritten Erkrankung, in einem Falle sogar erst
in der siebenten, erlagen, ist doch anzunehmen, daß nach der
Pest des Justinian die Ueberlebenden durchseucht waren, da sie
allmählich erlosch und in den folgenden Jahrhunderten nur die
bis dahin verschonten Länder befiel, so England und Island,
wo sie im Jahre 664 zwei Drittel der Bewohner tötete. Erst im
11. Jahrhundert begann sie sich wieder auszubreiten. Sie kam
aus Indien und überzog, dem damaligen Verkehr entsprechend,
sehr langsam neuerdings den Kontinent. Die Heeceszüge und
Kreuzfahrten lieferten die meisten Opfer; vor Antiochia starben
im Jahre 1097 binnen zwei Monaten 200.000 Menschen.
Hungersnot und eine Nilüberschwemmung, welche nach zwei
wasserarmen Jahren im Jahre 1201 ganz besonders ausgebreitet
gewesen sein soll, bereiteten den Boden für die Ausbreitung der
Epidemie in ganz Aegypten vor, unter jenen beginnend, die
sich mit der Bearbeitung des Bodens beschäftigten
und rafften eine Million weg, davon 110.000 in Kairo. Auch für
die im Jahre 1346 begonnene Epidemie, welche an Ausbreitung
und Opfern nur mit der des Justinian zu vergleichen ist, wild
eine vorhergehende Hungersnot verantwortlich gemacht. Sie er¬
reichte in Konstantinopel ihren Höhepunkt im Jahre 1347, über¬
zog Italien und Südfrankreich und tötete in Avignon binnen
drei Tagen 1800 und im Verlauf von sieben Monaten 150.000 Men¬
schen. Auch hier wird über Drüsenschwellungen mit hinzutreten¬
dem Fieber, Blutspeien und über solche Fälle, welche binnen
wenigen Stunden unter unausgesprochenen Symptomen zum Tode
führten, berichtet. Zunächst trat die Epidemie als Lungenpest
auf und führte binnen drei Tagen zum Tode, vom dritten Monat
ab traten die Symptome der Bubonenpest mehr hervor; diese
Fälle verliefen schon milde, besonders jeine, bei welchen e's zur
Vereiterung der Bubonen kam. In fast allen größeren Städten
und in deren Umgebung gab es in den folgenden Jahrzehnten
größere und geringere Ausbrüche. Wien verlor in den Sommer¬
monaten 1381 gegen 40.000 Menschen. Im darauffolgenden Jahre
war wieder der ganze Erdteil verseucht und wieder wurde die
Bevölkerung in den folgenden Jahrzehnten dezimiert.
Im Jahre 1438 überzog die Tä’un, Beulenpest, ganz Indien.
Sie tötete vom Heer des Sultans xAhmed vor Malora mehr Leute,
als irgendein anderer Feind vermocht hätte; zu gleicher Zeit
trat sie in Aegypten au f und kam wieder nach Europa, wo
nunmehr, strenge Abwehrmaßregeln im Sinne der damaligen Auf¬
fassung getroffen wurden. Die ersten Wiener Pesttraktate er¬
schienen 1428, das Pestreglement in Löwen 1474; dieses ordnete
an die Absonderung von Kranken, die Absperrung verseuchter
Häuser und deren Kenntlichmachen durch Strohwische für die
Dauer von 40 Tagen. In Majorka richtete Lucian Colombia ein
Pestspital ein und veranlagte, daß ohne Zustimmung des Gesund¬
heitsrates keine Warenversteigerung stattfinden durfte, alle Schiffe
kontrolliert wurden und durch 40 Tage und länger in Beobachtung
standen. Noch weiter ging der Stadtrat von Troyes, welcher
Pesthäuser niederbrennen ließ und eine Reihe hygienischer Ma߬
regeln einführte, so die Reinigung der Stadt, die Kehrichtabfuhr;
das Halten von Schweinen, Kaninchen und Geflügel wurde ver¬
boten und den Bäckern und Fleischern aufgetragen, ihre Waren
vor dem Verkauf nicht berühren zu lassen. Die erste Wiener Jn-
fektionsordnung von Stocker, aus dem Jahre 1540, welche
an alle Wiener Häuser ausgegeben und von den Kanzeln ver¬
lesen wurde, ordnete an die Straßenreinigung, Durchsuchung der
Häuser nach Pestkranken, Wacholderräucherungen und Reini¬
gung voii Zimmern mit Lauge oder Essig, Verbot des Kleideir-
handels und der Menschenansammlungen.
Aus jener Zeit stammen auch Beschreibungen von Krank¬
heiten, deren Symptome mit Unrecht der Pest zugeschrieben wur¬
den. Im Jahre 1528 starben in Neapel 50.000 Menschen an Pest,
während das belagernde französische Heer 30.000 Menschen an
Flecktyphus verlor. Dabei weiß man aber auch, daß vielfach vor
oder während Pestgängen andere Epidemien auftraten, wie Typhus
und Ruhr.
Die siebente Belehrung der Wiener medii'nischen Fa¬
kultät sprach von einem „heftigen, vergifteten Fieber, einer
schnellen, tödlichen Krankheit, mit Drüsen, Tüpeln und Ge-
schweren“. In Aegypten starben in den Jahren 1574 bis
1576 über eine Million, in Kairo angeblich 860.000, zur selben
Zeit in Venedig 80.000, darunter der 99jährige Titian. Der Kar¬
dinal Carl Borromäus von Mailand errichtete damals ein Isolier¬
spital mit 388 Zellen und führte eine allgemeine Quarantäne ein.
Im sechsten und siebenten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts war
wieder der ganze Kontinent verseucht.
Neuerdings begann in Asien im Jahre 1611 eine Pestperiode;
nachdem große Mäusescharen über das Land gezogen waren,
zeigte sich die Waba, Beulenpest, in Afghanistan und zog über
Kandahar in das Pandschab. Sie war auch für Tiere aller Art
sehr infektiös; von den Bewohnern des nördlichen In¬
diens hauptsächlich für Hindus. Nach Aufzeichnungen
des Großmoguls Schab Dschahangir starben in Agra, der Sonnen¬
stadt, täglich gegen 100 Menschen. Sie trat durch vier Jahre
während der kalten Jahreszeit auf, um während der heißen zu
verschwinden. Vom Jahre 1616 bis 1624 erfolgten jährlich Pest¬
epidemien in Benares, was in dem Umstande, als die heilige Stadt
zu 'bestimmten Jahreszeiten Zuzug aus ganz Indien hat, erklärt ist.
Wieder trat die Seuche ihre Wanderung nach Europa an; auf
dem Karawanenwege kam sie über Syrien nach Konstantinopel
und von da, trug sie zur weiteren Verbreitung in dem schon pest¬
verseuchten Europa bei ; dezimierte die Einwohnerschaft Lon¬
dons und verheerte in den Jahren 1628 bis 1631 Frankreich und
Italien. Damals sollen „Pestsalber“ die Epidemie verbreitet haben.
Was daran nach den unter Foltern erpreßten Geständnissen den Tat¬
sachen entsprach, dürfte wohl unaufgeklärt bleiben. Im Jahre 1635
reduzierte sie die Einwohnerzahl Württembergs von 313.000 auf
48.000. In den Rheinlanden und den Niederlanden ging sie mit,
Blattern-, Masern- und Ruhrepidemien einher.
Auf eine Einschleppung aus der Levante wird auch die
Pest in Konstantinopel im Jahre 1636 zurückgeführt. Sie erschien
dann in allen Häfen des Mittelmeeres. Italien wurde im Jahre
1656 und 1657 von einer großen Pestepidemie heimgesucht,
welcher eine Hungersnot voranging. Besonders heftig trat sie in
Neapel auf, um nach einem Regenguß im August plötz¬
lich nachzulassen. Sie hatte 400.000 Menschen im Königreich
getötet. Der Papst ergriff ungemein strenge Absperrmaßregeln
gegen Neapel. Jeder Verkehr, auch der Güterverkehr, wurde bei
Todesstrafe untersagt, Briefe unter den erdenklichsten Vorsichts¬
maßregeln nach Rom gebracht und dort geräuchert, den Gast¬
wirten die Aufnahme fremder Leute strengstens verboten. Trotz¬
dem erschien sie am 8. Juni in Rom angeblich durch zwei päpst¬
liche Schiffe von Neapel nach Centumcellae (Civita vecchia)
verschleppt, von wo sie von einem Soldaten nach Rom gebracht
wurde. Die Erkrankung begann in dieser Epidemie zumeist mit
heftigem Hitzegefühl in der Herzgegend, Schmerzen, in den Eiti-
geweiden, Erbrechen, Kopfschmerz, Delirien, hohem Fieber,
Krämpfen, unstillbarem Durst; die Zunge hatte einen dicken
weißen Belag, ein Symptom, welches fast in allen Epidemien
erwähnt wird, später wurde sie schwarz (trocken). Der Harn
war trüb und blutig. Hierauf erschienen kurz vor dem letalen
Ausgang Karbunkeln, Bubonen und schwarze Flecken. Bemerkens¬
wert ist die öftere Erwähnung der peste di castrone, was auf die
Erkrankung der Parotis hinweist. Alsbald wurden die Hospitäler
vermehrt und alle Pestkranken hingebracht. In einer vorzüg¬
lichen Quarantänestation auf der Tiberinsel wurden gesonderte
Gebäude für Männer, Weiber und Kinder eingerichtet, ferner
zwei Reinigungsanstalten für verseuchte Gegenstände. Auch hier
wurde der Gesundheitspaß eingeführt. Die Einfuhr und der Vertrieb
von Nahrungsmitteln wurde strenge überwacht, auf die Haus¬
tiere, besonders Hunde und Katzen besonders geachtet und über¬
all für große Reinlichkeit Sorge getragen. Auch an anderen
Orten wurden Pestmaßnahmen eingeführt, so in Venedig, in vielen
deutschen Städten, wie Gießen, Straßburg, Basel, Ulm, Augsburg,
Nürnberg, St. Gallen u. a. Gelegentlich der letzten Pest ,in
Oesterreich in den Jahren 1678 bis 1681 erließ Kaiser Leopold l.
eine neue Infektionsordnung. Diese Epidemie war wieder un-
gemein bösartig ; sie tötete die meisten Befallenen binnen zwölf
Stunden; fast alle Schwangeren starben an derselben. Sen
felder (zitiert nach Sticker) zählt die Todesfälle in den ein¬
zelnen Bezirken Wiens und Umgebung auf.
Während sie nun Europa für einige Jahre verließ, wütete
sie in ihrer Heimat in Indien in kürzerer oder1 längeren Zwischen¬
räumen, Städte und ganze Provinzen entvölkernd, ln Ahmed¬
abad kehrte sie vom Jahre 1683 ab durch sechs Jahre immer
nach der Regenzeit wieder, ebenso in Surat an der Westküste;
schon gelegentlich dieser Epidemie fiel es auf, daß kein Eng¬
länder an der Seuche erkrankte, während sie von den
Einheimischen 300 täglich tötete, viele davon binnen wenigen
Stunden. Nicht so gut kamen die Europäer im Jahre 1690 in
Bombay davon, von 860 blieben nur 50 am Leben. In Siam trat
sie gleichzeitig mit Gelbfieber auf. Im Jahre 1690 näherte sic
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
751
sich wieder Europa, trat in Bosnien und Dalmatien auf, überzog
wieder Aegypten, die Türkei und Syrien, kam von Konstantinopel
über Podolien nach Galizien, wo sie im Jahre 1707 allein in
Krakau innerhalb fünf' Monaten 18.000 Menschen tötete. Im Jahre
1709 vernichtete sie in Danzig über 20.000 Menschen; im fol¬
genden Jahre in der Provinz Brandenburg 215.000, in Oesterreich
.100.000. Von da, ab trifft man schon auf Angaben, die als eine Ab¬
schwächung der Krankheit zu deuten sind. In der Umgebung Wiens,
in Petzelsdorf, zeigte sich das gravierende Kontagium zu kleinen
Abszessen abgeschwächt, ohne große Sterblichkeit, während
in anderen Vororten eine solche Abnahme nicht bemerkbar war.
In Marseille wurde sie im Jahre 1720 durch ein aus der Levante
kommendes Schiff eingeschleppt, dessen Kapitän einige Pestfälle
verheimlichte, um der Quarantäne zu entgehen. Die nun folgende
Epidemie raffte von 247.689 Einwohnern 87.666 weg. Auch in
Messina wurde zwei Jahrzehnte später die Pest durch ein Schiff
aus Missolunghi gebracht, welches auf der Fahrt mehrere Rei¬
sende verloren hatte. Sticker schätzt die Opfer auf 47.000
bis 48.000, Proust auf 43.000. Wieder war die ganze Levante,
die Türkei und viele kontinentale Orte verseucht. In Moskau
starben im Jahre 1770 bis 1771 80.000 Menschen.
ln ihrer eigentlichen Heimat verursachte sie immer wieder
größere Ausbrüche. So in Suleimanyeh in Kurdistan, ferner in
Südchina, von Yün-nan aus. In Tschau-Tschau und in Yün-nan
erschienen nach Berichten aus jener Zeit fremdartige Ratten bei
Tage in den Häusern, um unter Blutspeien zu Boden zu fallen
und zu verenden; alle Menschen, welche mit dem Hebel durch
Berührung noch lebender oder verendeter Ratten oder kranker
Menschen in Berührung kamen, starben.
Aegypten hatte zu jener Zeit fortgesetzt zu leiden, aber
die Seuche begann bereits einigermaßen von ihrem Schrecken
einzubüßen; im Jahre 1790 scheint sie sogar ziemlich mild auf¬
getreten zu sein; denn obwohl die Zahl der Toten noch immer
sehr beträchtlich war — über 83.000 — sollen im) ganzen 600.000
Menschen pestkrank gewesen sein, was einem verhältnismäßig
sehr geringen Prozentsatz an Todesfällen entspräche. Eine neue
Epidemie trat 1800 nach einer großen Nilüberschwemmung auf,
ließ dann nach und tötete im Jahre 1805 150.000 Menschen.
Sie hatte mittlerweile auch im Kaukasus, am Schwarzen Meere
und in Syrien viele Opfer gefordert. Es kam dann an der Mittel¬
meerküste zu mehrfachen Ausbrüchen, zu einem besonders heftigen
im Jahre 1819 in Konstantinopel, zn kleineren in einigen mittleren
Städten. Sie trat nochmals im Jahre 1828 in der Moldau auf, ging
bis Kronstadt und nochmals starben im Jahre 1837 in Konstan-
tinopel 30.000 Menschen (Moltke). Es war die letzte große
europäische Ptstepidemie; kurz vorher waren in Bagdad 100.00 )
Menschen der Seuche erlegen.
*
Der im Jahre 1812 in Zentralindien auf getretenen Pest -
sie hatte diese Provinzen durch mehr als ein Jahrhundert ver¬
schont — ging ein großes Rattensterben und eine Hungersnot
voraus. In Ahmednabar starben 50.000 Hindus und Musel¬
männer .Die Radschputanen blieben verschont, ferner nach be¬
sonderen Aufzeichnungen auch die Oelhändler. Zuerst erkrankten
überall die Baumwollspinner, deren Magazine zumeist Rattenbrut¬
stätten sind. Die Seuche breitete sich nach Norden und Süden
aus, wurde durch Baumwolle nach Dollera eingeschleppt, ging
bis zur Küste, kam 1820 nach Ahmednabar und war im
Jahre 1821 überall im Erlöschen.
Aber schon im Jahre 1822 bereitete sich ein neuer Aus¬
bruch der Mahamari (Pest), vom Himalaya ausgehend, vor.
Ein Rattensterben ging ihm Voraus. Alle zwölf Jahre findet
von Nasik aus eine große Pilgerfahrt statt, welche die Seuche
überall hinting, selbst in das bis dahin verschonte Radsch-
putana. Seit jener Zeit erlosch die Pest nicht mehr bis zum
heutigen Tage in den Bezirken Garhwal und Kama, on ; man zählt
seither eine Serie- von wenigstens 30 Pestausbrüchen. Immer
erschien sie in den nördlichen Provinzen der indischen Halb¬
insel. 1828 bis 1829 im Gebiet von Delhi, im Jahre 1833 in
den Grenzgebieten des Himalaya, Bhutan und Nepal und zog
in Kamaon bis zu den Quellen des Ramganga. Typisch war
das Vorherrschen von Lungenpest in der kalten und
Umschlagen in Bubonenpest in der warmen Jahres¬
zeit; die Inkubationszeit soll, wie nach der Erkrankung von
Leuten, die sich ganz kurze Zeit im Pestgebiet aufhielten, fest¬
zustellen war, ein bis fünf Tage betragen haben. Wir wissen
mittlerweile durch die Rolle, welche gesunde Bazillenträger (auch
Tiere), oder unbekannte Gelegenheitsursachen spielen, wie- schwan¬
kend die Annahmen über die Inkubationszeit sind. Wieder verur¬
sachten Pilger im Jahre 1836 eine große Verbreitung der Seuche,
welche im Frühjahr zurückging, nachdem sie in Maiswara, Mawar
und längs des Indus 60.000 Opfer gefordert hatte.
Vom Jahre 1846 bis 1860 gab es in Kamaon am Fuße des
Himalaya alljährlich Pestausbrüche. Die Einwohner verließen,
sowie dieselbe im Anzuge war, was durch ein vorhergegangenes
Rattensterben kenntlich wurde, ihre Häuser, flohen in die Wälder,
wo sie so lange blieben, bis nach ihren Erfahrungen die Gefahr
vorüber war, das heißt nach vier Monaten. Sie kam den dicht-
bewohnten Stätten immer näher, mit der Regenzeit 1849 in das
benachbarte Gashaval, 1852 in die Berge von Yusofzai im Norden
von Peschawar, 1853 nach Bidschnor und Moradabod zwischen
Ganges und Dschamna. Gleichzeitig herrschte sie aber auch
nördlich und östlich vom Himalaya. Nach den großen IJeber-
schwemmu ngen in der chinesischen Provinz Hukuang kam sie
nach Yün-nan, im Jahre 1850 nach Pakhoi, wo sie seither ende¬
misch ist und im Mai gewöhnlich Massenerkrankungen bedingt,
Welche auch große- Tierherden und Hausgeflügel vertilgt.
Von Kamaon aus verbreitete sich die Seuche im Jahre 1859
rasch nach Südosten und herrschte- auf der Saugorinsel im Ganges¬
delta; im Jahre 1863 raffte- sie einen großen Teil der Einwohner¬
schaft in Lahore weg.
Von der großen mittelasiatischen Hochebene gmg die Seuche
auch nach Westen und verursachte viele Todesfälle in Persien,
Mesopotamien und den Länderstrecken zwischen Euphrat und
Tigris, in welchen Gegenden es in den Jahren 1835 bis 1867
immer wieder vereinzelte oder gehäufte Fälle gab, im Jahre 1873
ging sie bis nach Irak-Arabi unweit von Bagdad, bis zum Juli
1874 starben von 90.000 Bewohnern 4000. Bagdad hatte- sich
durch eine doppelte Sperre verschanzt. Trotzdem starben dort
im Frühjahr 1876 2683 Menschen, ungefähr 50% der Erkrankten.
Als die Temperatur im August auf 49° stieg, ließ die Epidemie
rasch nach, um aber nach einer Tigrisüberschwemmung im No¬
vember wieder aufs neue zu erscheinen, besonders in den Vor¬
städten am linken Euphratufer. Sie -dauerte bis ins späte Früh¬
jahr. In der Umgehung von Bagdad gab es vielfach kleinere
Herde, wobei ein der Pest vorausgeh-endes Sterben der Kamele
beobachtet wurde und auch andere Epidemien, wie Ruhr und
gastrisches Fieiber auftraten.
Zur selben Zeit herrschte auch in Kamaon und Garhwal
neuerdings die Pest. Sie war unter ganz besonders bemerkens¬
werten Umständen aufgetreten. Im November erkrankte ein Kind
in Bintola; es war im Orte geboren, nie aus demselben heraus-
g-ekommen, seit Monaten hatte kein, Fremder denselben betreten.
Binnen zwei Monaten starben 13 Personen in demselben Hause-.
Es waren keine Pestsymptome aufgetreten, keine- Bubonen, keine
Lungenerscheinungen. Nur war ein Rattenster'ben bemerkbar. Als
nun bei neuerlichen Erkrankungen Bubonen auftraten, wurde das
Dorf alsbald verlassen. Ein Weib hatte aber die Krankheit in das
nächste Dorf geschleppt. Auch hier wanderte-n die Bewohnet’
aus und ’blieben solange gesund, bis der erste große
Schneefall sie zurücktrieb. Alsbald traten wieder vier Neu¬
erkrankungen auf. Von den vor Ausbruch der Epidemie in Bin¬
tola gefundenen Rattenleichen hatten Kinder einige gebraten und
verzehrt, ohne zu erkranken. Von einem der verseuchten Dörfer
wurde am 15. Januar Reis in eine benachbarte Ortschaft gebracht
und dort geschält. Am 18., 19. und 21. Januar starben die
Bewohner des Hauses, in welchem der Reis aufbewahrt wurde.
Die Pest ist in dein südwestlich, südlich, süd¬
östlich und östlich um das mittelasiatische Hoch¬
land gelegenen Gebieten endemisch und verursacht
von Z e i t zu Zeit Epidemien verschiedenen Umfanges.
Sie herrschte fast überall in den genannten Landstrecken in, den
letzten Jahrzehnten mit ziemlicher Intensität. Ausgebreitete Ge¬
biete in Persien und in Südchina hatten in dem neunten Jahr¬
zehnt des vorigen Jahrhunderts große Epidemien; in Pakhoi am
Golf von Tönking forderte- sie im Juli 1892 500 Menschenleben
und jedesmal in den neun folgenden Jahren erschien sie- im
Frühling, um mit dem, Beginn der tropischen Regenzeit nach¬
zulassen. Jedesmal war eine starke Flohplage vorausgegangen.
Yün-nan litt neuerdings im Jahre- 1889; dort wurden fast aus¬
schließlich Chinesen ergriffen, höchst selten Europäer. Die Zone
der Erkrankung hält sich dort zwischen 1200 und 7200 Fuß See¬
höhe. In demselben Jahre wurde das seit altersher verschonte .
Siam zum ersten Male ergriffen. 1890 war ein Ausbruch
in Nordpersien, 1891 in China, Kamaon, Garhwal, Irak-
Arabi', 1892 ein umfangreicher in Südchina, welcher bis zum
Jahre 1894 verschiedene Orte verseuchte, um in diesem Jahre in
Kanton 100.000 Menschen zu vernichten, eine Epidemie, gegen
welche die jetzt im Erlöschen befindliche geradezu geringfügig
erscheint. Unserer kurzlebigen Zeit ist die- Erinnerung an diesen
Ausbruch fast entschwunden, ebenso die damals gemachten Er
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
fahrungen und so konnte die diesjährige Winterpest in der Mand¬
schurei in Europa wieder maßloses Entsetzen hervorrufem. Be¬
merkenswert ist die in der Kantonepidemie gemachte Beobachtung,
daß die har fußgehen d en Chinesen mehr an Schenkel¬
bubonen, die schuhtragenden Japaner mehr an
Achselbubonen erkrankten. D i e Fremden blieben
vollkommen versch o n t, während die Kotawe n, Beulenpest,
an dem anderen Ufer des Perlflusses ungemein starke Ver¬
heerungen bewirkte. Alsbald nach Hongkong verschleppt,
bewirkte sie dort eine Massenflucht; 86.000 Einwohner flohen
binnen wenigen Wochen, von den Zurückgebliebenen starben
2500. Sie kam von dort nach Formosa und ruft dort alljährlich
zwischen Mai und Oktober beträchtliche Ausbrüche hervor; von
dieser Insel nahmen in der Folge mehrere Seuchen in Japan
ihren Ausgangspunkt, zunächst in Kobe, dann im Jahre 1899 in
Osaka, ohne indes viele Opfer zu fordern.
Im Jahre 1896 war eine große Anzahl von Provinzen in
Indien von einer Hungersnot befallen. Hie Menschen verließen
ihre Dörfer, um anderswo Erwerbsmöglichkeiten zu finden und
es fand alsbald ein Zudrang zu den größeren Städten statt, welcher
verhängnisvoll wurde. Die Bevölkerungszahl von Bombay, welche
im Jahre 1891 821.764 betragen hatte, stieg auf mehr als eine
Million. Am 31: August traten im Hafenviertel einige Fälle von
Pest auf, welche zunächst unberücksichtigt blieben. Alsbald traten
aber Fälle auf, welche binnen 48 Stunden letal endeten; diese
häuften sich und verursachten unter den Eingeborenen um so
größeren Schrecken, als Hunderte von Ratten aus ihren Wohn¬
orten auf die Straße kamen und dort verendeten.
Von da ab bis heute ist die Pest in Bombay nicht mehr
erloschen. Sie fordert fortgesetzt eine große Anzahl von Opfern
und selbst während des Nachlassens derselben ist deren Zahl noch
immer eine ungemein hohe. Sie verursachte eine Massenflucht,
als im April 1897 7000 Menschen starben. Wahrend der regen¬
reichen Monsunzeit erfolgte ein Nachlassen, im März 1898 neuer¬
dings ein Anstieg, diesmal auf 9000, im März 1899, nach kurzem
Nachlassen in demselben, Monat neuerdings auf über 9000, während
der Anstieg im Jahre 1900 schon im Januar erfolgte und bis
April allmonatlich je 9000 Todesfälle verursachte. Die folgende
Tabelle gibt einen Ueberblick über Erkrankungs- und Sterbefälle.
Die folgenden Angaben sind zum großen Teile den Be¬
richten des Stadtphysikats in Bombay entnommen, welche ich
dem Entgegenkommen Dr. Turners verdanke; diesen sind einige
allgemeine Daten von Indien angefügt, doch beziehen sich die
weiteren statistischen Daten auf Bombay.
Jahr
Pest
1
Todesfälle
ü/on der Be¬
völkerung
«/* der
Todesfälle
Pest-
Todesfälle
in Indien
Er¬
krankungen
Todes¬
fälle
der Er¬
krankungen
4896
2.541
1.936
236
7610
\
1897
13.314
11.003
1339
82-64
57.965
1898
22.130
18.185
22 12
82-17
118.103
1899
19.454
15.796
1922
8U20
134.102
1900
17.913
13.285
1616
74-16
91.627
1901
21.006
18.736
24-14
8919
282.497
1902
16.423
13.820
17-80
8415
574.493
1903
23.344
20.788
26-78
8905
853.573
1901
15.488
13.538
17-44
87-40
1.022.299
1905
16.308
14.198
18-29
8706
950.863
1906
12.323
10.823
11-06
87-82
332.181
1907
7.353
6.389
6-53
86-88
1,010.532
1908
6.134
5.361
5-48
87-39
140.683
i 1909
1910
5.864
5.197
3.054
5-31
88-62
163.008
Im ersten Quartal 1911 wurden 1370 Pesttodesfälle kon¬
statiert, was gegen dieselbe Periode 1910 (1074) ein leichtes
Ansteigen zeigt.
Uebertragung.
Abgesehen von den mystischen Annahmen des Altertums und
teilweise auch des Mittelalters, galt seit jeher die Meinung als
feststehend, die Pest werde übertragen von Mensch zu Mensch oder
indirekt durch Berührung oder selbst durch Anwesenheit solcher
Dinge, welche mit Kranken irgendwie zusammengekommen waren.
Vieles in den früheren Pestgängen sprach für die Annahme.
Das Bild, welches die europäischen Epidemien im Mittelalter
zeigten und welches von den jetzigen einigermaßen abweicht, war
aber auch ein derartiges, daß die Möglichkeit für eine Reihe von
Annahmen zugegeben werden mußte. Wenn auch heute dem
Zuge der Zeit, um nicht zu sagen, der herrschendem Mode folgend,
jede andere Infektionsmöglichkeit außer der indirekten durch
parasitäre Zwischenträger, insbesondere Flöhe, als nebensächlich
und geringfügig hingestellt wird, kann doch, selbst aus Experi¬
menten jüngster Zeit und älteren zweifellos richtigen Angaben
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß vielfach die
direkte Ueberlraguiigsmöglichkeit, sei es von Mensch zu Mensch
oder von Tier zu Mensch vorkommt, daß ferner leblose Gegen¬
stände, Kleider, Nahrungsmittel, selbst längere Zeit nachdem sic
infiziert wurden, noch als Vermittler dienen können.
lieber die Lebensdauer der Pestbazillen schwanken
die Angaben ungemein. Während dieselben nach manchen
Experimenten im üblichen, aus Kuhmist und erdigem Material
gestampften Fußboden der Eingeborenenstämme in Indien nur
wenige Tage beträgt, wobei allerdings immer wieder hervorzuheben
ist, welch zweifelhaften Wert für die Praxis diese mit Labo¬
ratoriumskulturen unternommenen Versuche mitunter besitzen,
haben andere mit solchen Medien unternommene Versuche, welchen
die Bazillen bereits angepaßt waren, eine Lebensdauer von 41 2
Jahren erwiesen (II ata, Uriarte). Gottschlich züchtete aus
einer mehrere Monate alten, von Schimmelpilzen überwachsenen
Kultur noch Keime, welche nach mehrmaliger Uebertragung als¬
bald ihre Degenerationszeichen verloren. Auch die Virulenz
schwankt in sehr erheblichen Grenzen. Die Keimzahl scheint großen
Einfluß zu haben, wie Mallanah zeigte. Die österreichische
Kommission züchtete im Jahre 1897 eine Kultur, welche zehn
Monate lang in 19 Generationen ohne Tierpassage fortgezüchM,
mit V too ooo Oese vom Peritoneum aus eine hämorrhagische
Pestikämie erzeugte. Die biologischen Verhältnisse sollen
hier nur flüchtig berührt werden, sie beweisen immer wieder,
daß die Lebensdauer, Virulenzsteigerung und Virulenzibschwä-
chung, von einer Reihe von Umständen abhängen, von denen
wir gewiß viele noch nicht kennen, da sie aus den uns bekannten
Tatsachen keineswegs erklärt werden können.
Ebensowenig stichhaltig ist für alle Fälle die Annahme, daß
bei den früher als durch Kleider erfolgte Infektion angenommenen
F!älllcn ebenfalls nur die in denselben verbliebenen Insekten
(Flöhe) die Zwischenträger sein müssen. Anderseits sind aber
auch die älteren Angaben mit Vorsicht aufzunehmen, wonach
einmal durch einen durch vierzig Jahre in einer Truhe
aufbewahrten, von einem Pestkranken herstammenden Strick, ge¬
legentlich der Eröffnung der Truhe und Berührung desselben
eine Ansteckung erfolgt sein soll, welche zu einer Epidemie
an wuchs und 10.000 Menschen das Leben kostete, denn hier
ist immerhin in Betracht zu ziehen, daß damals als indirekte
Ueberlraguiigsmöglichkeit nur die galt, welche durch Gegenstände
hervorgerufen wurden, welche mit Pestkranken in Berührung
gekommen sein sollten, während andere derzeit als wichtig er¬
kannte überhaupt nicht in Erwägung gezogen wurden. Immer¬
hin blich der Glaube an die Infektiosität der Kleider durch Jahr¬
hunderte tief in der Volksmeinung eingewurzelt. Daß Nahrungs¬
mittel Ueberträger werden können, kann nicht ganz abgewiesen
werden. In einem Speicher, welcher zur Aufbewahrung von Reis
diente, war eine Anzahl von Menschen beschäftigt; von diesen
erkrankten mehrere zu fast derselben Zeit, keine Ratte oder
Rattenleichen wurden trotz sorgfältiger Nachforschungen gefun¬
den, trotzdem die Vorratskammer deren Lieblingssitz ist; man
kann die Infektion zwanglos nur so annehmen, daß die Ratten
mit bazillenreichen Se- oder Exkreten den Reis verunreinigten, daß
die Sekrete den Bazillen zusagende Nährböden sind, in welchen
sie, wenn vor vollständiger Austrocknung anderseits aber
auch vor Fäulnis geschützt, längere Zeit virulent bleiben
können. Von einem pestverseuchten indischen Dorfe ge¬
langte ein Reisquantum in einen von dort entfernten, voll¬
kommen pestfreien Ort, in welchem erst der Reis geschält wurde.
Von den hiemit Beschäftigten erkrankte eine Anzahl an Pest.
Ob die Ansteckung durch Vermittlung von Kleidern oder
nur durch die in denselben ansässigen Ungeziefer, insbesondere
Flöhen, erfolgen kann, ist ebenfalls noch nicht ganz aufgeklärt.
Sicher ist, daß seit den ältesten Zeiten die Berührung der
Kleider als sehr gefahrbringend galt, was schon deswegen
gegen die ausschließliche Uebertragung durch Flöhe spricht,
weil diese keineswegs immer bei Kadavern oder durch
längere Zeit nicht getragenen Kleidungsstücken zu finden sind. Die
den Kordon bildenden Soldaten um Wetljanka, einem russischen
Dorfe, in welchem 1878/79 die Pest herrschte, beraubten die
Leichen der Verstorbenen ihrer Kleider, anstatt dieselben, wie vor
geschrieben, mit langen Hakenstangen zu den Begräbnisorten zu
bringen. Viele von ihnen erkrankten und starben. Bevor mit.
Sicherheit die Behauptung aufgestellt werden könnte, daß die
Infektionsquelle bei Manipulation mit Kleidungsstücken von Pest¬
kranken nur die in denselben befindlichen Insekten Zwischenträger
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
753
seien, müßte 'erst in allen Fällen die Anwesenheit solcher Insekten
festgestellt werden, ferner, ob sie noch Träger vollvirulenter
Pestbazillen sind.
Der rein antikontagionistische Standpunkt hat schon aus
dem Grunde keine Berechtigung, weil der Uebertragungsmöglich-
keiten von Mensch zu Mensch ohne Zwischenträger zu viele
sind, um nicht gelegentlich unter entsprechenden Umständen
größere Infektionsreihen zu erzeugen. Die Absonderungen ster¬
bender Pestkranker sind häufig bazillenreich. Die Uebertragung
auf Pilegepersonen kann demnach erfolgen durch direkte Be¬
rührung derselben oder durch die mit Bazillen beschmutzte
Wäsche. Die Sekrete und Exkrete Pestkranker bilden gew iß ein
besseres Nährmedium für die Bazillen als irgendeiner unserer
üblichen Nährböden; es ist daher nach Analogie einer Bei he
von Experimenten anzunehmen, daß mit diesen beschmutzte
Wäsche oder Kleidung unter Umständen sehr lange infek lions fähig
bleiben kann, ohne daß man zwischen tragende Parasiten als
l'ebertragungsui Sache zu Hilfe nehmen müßte.
Um die .Wege der Infektion durch Flöhe klarzulegen,
hat die Indian plague Commission eine Reihe von Experi¬
menten unternommen: In einer Versuchsreihe wurden in unge¬
reinigten Pcsthäusern, in einer zweiten in desinfizierten Wohnun¬
gen Meerschweinchen ausgesetzt, die als „Flohfallen“ dienten.
Diese wurden nach einiger Zeit chloroformiert, auf weißes Papier
gelegt, und gestriegelt, wodurch die Flöhe gewonnen wurden, nobst-
dem wurde noch der Pelz abgesucht, ln 42 Versuchen waren
I® 29°o, pestverseucht; diese Meerschweinchen gingen zum
Teil an Pest zugrunde. A on 17 verendeten Tieren waren bei
allen Nackenbubonen zu finden. Durchschnittlich fand man
J20 Flöhe in einem Raume, zumeist Rattenflöhe, Pulex cheopis;
in 18 Räumen mehr als 20, davon ungefähr die Hälfte pest¬
verseucht.. In den desinfizierten Räumen wurde dieselbe Ver¬
hältniszahl gefunden, was zu beweisen schien, daß die desinfek-
torischen Maßnahmen wirkungslos waren. Die Uebertragung durch
Flöhe von Tier zu Tier wurde durch ein sinnreiches Experiment
erwiesen. Neben dem Käfig einer Pestratte wurden an beiden
Seiten Käfige mit gesunden Meerschweinchen aufgestellt, der eine
jedoch mit einem sechs Zoll breiten, mit einem Klebemittel be¬
strichenen Papier umgeben. Das in diesem Käfig befindliche
Tier blieb gesund, da die Flöhe, welche hiueingelangen wollten
— ihre maximale Sprungweite beträgt fünf Zoll alle an
dem Papier kleben blieben, während sie zu dem anderen Meer¬
schweinchen ungehindert gelangen konnten und dasselbe infi¬
zierten. In neun Versuchsreihen hatten von den am Leim haf¬
tenden Flöhen u. zw. unter 85 Menschen flöhen 1, unter 4
Katzen flöhen keine, unter 77 Ratten flöhen 23 pestähnliche Ba¬
zillen im Magen. Man sammelte 'nun aus Pesthäusem Rattonflöhe.
Dabei zeigte sich, daß deren Infektionsfähigkeit in keinem Ver¬
hältnis zu ihrer Zahl stand. Es gab Fälle, in welchen die Tiere
durch 5, 8, 77 Flöhe tödlich infiziert wurden, während andere
mit 79, bzw. 106 gesund blieben. In Sydney werden regelmäßig
von AVoche zu Woche Ratten gefangen und untersucht; man fand
insgesamt in vier Jahren unter 114.670 719 Pestratten, also auf
160 eine. In vielen Fällen von Rattenpest gelingt es überhaupt
nicht, den Pestbazillus nachzuweisen. Dies ist allerdings nach
keiner Richtung beweisend, da die Pestbazillen durch Flöhe ver¬
schleppt werden konnten, um dann in späteren Stadien der Er¬
krankung in der Ratte zugrunde zu gehen. In Tokio fand man
unter fünf Millionen Ratten in den Jahren 1901 bis 1905 209
Pestratten, in Osaka von ungefähr 1-2 Millionen Ratten 817,
in Kobe sind von einer halben Million 589 infizierte gefunden
worden. Auf 21 durch Pe.stra.tten infiziertem Schiffen des Ham¬
burger Hafens fand man in den Jahren ,1901 bis 1907 durch
Einlassung von Kohlemoxydgas 4230 tote Ratten, darunter 174
4 % pestige ; ferner 481 Mäuse, darunter ein« pestig. Auf fünf
Schiffen fand man nur eine Pestratte.
_ Ueber die Verteilung der Ratten, nach Art und Landstrichen,
weiß man, daß in Indien die Mus rattus var. rufesoens vorherrscht.
Sie macht 90% aller Ratten aus; außerdem Mus Alexandrinus
decumanus, Nesokia bandicota, Nesokia bengalensis, letztere beiden
Feldrattenarten. Die Mus decumanus, die Wanderratte, bewohnt
in Bombay zumeist Ställe und Abzugskanäle. Im Hafen von Odessa
fand man Mus decUmanus, rattus, Alexandrinus, erstem am weit¬
aus zahlreichsten ; von 733 durch ausländische Schiffe impor¬
tierten Ratten gehörte die größte Zahl der Mus Alexandrinus
an. In San Francisco war die Verpestung in den Jahren 1907
mul 1908 unter den verschiedenen Rattenarten, bei starkem Vor¬
herrschen der Wanderratte, im Verhältnis ganz gleich. Im Jahre
1904 hatte die Spitzmaus, Sorex Vulgaris, einen Anteil an der
Arcrbreitung der -Pest in Formosa.
Nächst den Rattonarten dient noch eine Anzahl von Nagern
den Pestbazillen als Wirte; das Eichhörnchen, das Meerschvvein-
(ben, das Känguruh, das Murmeltier, Arctomis bobac, sibiricus
. I aihagan), robuslus; letzteres gewissermaßen das Pestreservoir
in den Hochebenen Mittelasiens, durch welche der Pest¬
bazillus immer wieder in die Grenzläuder geschleppt und diese
oft nach jahrzehntelangen Ruhezeiten von neuem infiziert
werden . Die Arktomisarten spielen demnach in der Pe st¬
öbert ragung die wichtigste Rollo. Ferner kennt man
noch Fälle von Uebertragung durch Haustiere und Kriechtiere
aller Alt; ob direkt oder wieder durch parasitäre Insekten als
Zwischenwirte, ist nicht sichergestellt.
Die Pest der Murmeltiere ist den spärlichen Bewohnern
jener Landstriche wohlbekannt; dieselben wissen, daß, wenn die
Iiere auf der Erdoberfläche erscheinen, taumeln und ermattet
niederfallen, das große Sterben unter ihnen ausgebrochen ist,
welches auch für die Eimyohner Verhängnisvoll werden kann.
Expeditionen, welche zur Ergründung der Tnrbaganpest entsendet
wurden, endeten mit Mißerfolgen. Man weiß nur im großen und
ganzen, daß die I iore teils unter Blutspeiein, teils an großen Bu¬
bonen der Achsel- und Nackengegend erkranken, taumeln, so
daß sie unfähig sind, sich gegen herannahende Gefahr zu schützen
und hinnen wenigen Tagen oder seihst Stunden verenden. Erfah¬
rene Bewohner jener Gegenden wissen, daß man kranke oder
verendete Tiere nicht essen' darf und sogar jede Berührung den
Jod bringen kann. Immer wieder findet in irgendeiner AVeise die
Uebertragung statt und es hängt von den Umständen des Falles
ab, ob die Epidemie westwärts nach Persien, östlich nach China
oder südlich, bzw. südöstlich oder südwestlich ihren AVeg nach
Indien oder Siam nimmt. Das Hochplateau Mittelasiens ist, den
neuesten Annahmen zufolge, jener Herd, von welchem die Epi¬
demie direkt oder indirekt ihren Ausgangspunkt nimmt, wo sie
niemals erlischt. Auf diese AA^eise sind die Epidemiewellen in
Indien in ihrem An- und Absteigen zum Teil verständlich, da
die Ratten endenden und -epidemien ihre Ausbreitung von dort
nehmen. ,
Die Art der Verbreitung ist aber noch nicht in allen Punkten
völlig aufgeklärt, obwohl in vieler Hinsicht neue Tatsachen, ins¬
besondere durch das bakteriologische Laboratorium in Bombay,
aufgedeckt wurden. Oberst. Dr. Bannermann vom indischen
Sanitätsdienst, welchem ich für sein liebenswürdiges Entgegen¬
kommen auch an dieser Stelle meinen. Dank anszusp rechen
mich Verpflichtet fühle und ein Stab von jüngeren Aerzten sind,
von der Regierung reich ausgerüstet, zur Erforschung dieser Frage
unausgesetzt tätig. Major Liston, Major Lamb und Kapitän
Taylor haben experimented! bewiesen, daß bei der parasitären
Verbreitung der Pest durch Flöhe, dem Rattenfloh, Pulex
cheopis, die wichtigste Rolle zu fällt, weil derselbe sich zumeist
auf Ratten aufhält, dieselben aber auch gelegentlich für einige
Zeit 'verläßt und wenn hungrig, seine Nahrung auch von Menschen
bezieht. Die Art, wie die Uebertragung erfolgt, ist. aber noch
nicht völlig aufgeklärt.. Der Floh saugt von der pestkranken
Ratte Blut, die in demselben befindlichen Pestbazillen erhalten
sich bis zu drei AA'ochen und können sich sogar nach diesen
Beobachtungen im Magen der Flöhe vermehren; alsbald wird
durch den Darmkanal ein postbazilionreiches Exkret ausgeschie¬
den, welches, auf die unverletzte Ilaut eines Meerschweinchens
geriehen, eine tödliche Postinfektion erzeugt, Nach Lamb kann,
falls der infizierte Floh seinen AAGrt sticht, durch den Rüssel
ein Regurgitieren des pestbazillenhaltigan Mageninhalts in den
gesetzten Stichk an n P'ü ncT" d am i t die Infektion des neuen Wirtes
erfolgen, eine Annahme, die wohl viel für sich hat, aber noch
unbewiesen ist. Aron anderen Floharten kommen noch in Be¬
tracht der Pulex can äs, der Pulex irritans, der eigent¬
liche Menschenfloh, welcher selten auf Tieren gefunden wird und
der G e r'a. tophyllus f a s c i a tu s, welche r wieder selten die
Ratte verläßt. Der Gang der Infektion wäre nach Annahme der
Nichtkontagfönisten : 1. Rattenpest, 2. Infektion vn Ratten flöhen,
3. Auswandern der Flöhe von ihren Wirten, 4. Hungern der
pestin fizierten Flöhe, 5. Verletzung der Menschen durch den
.pestigen Floh, 6. Infizierung des Menschen. Tn dieser Reihen¬
folge muß demnach die Infektion erfolgen. Daß die Infektion
von Nager zu Nager in dieser AAreise erfolgein kann ist einwand¬
frei dargetan. Man fing eine Anzahl pestinfizierter Flöhe und
setzte sie über dem Käfig einer gesunden Ratte aus. Von 13 derart
behandelten Ratten starben 8 an Pest, das sind 60%. Nimmt
man an, daß die Infektion von Ratte zu Mensch nach dem Er¬
wähnten keineswegs so einfach ist. wie von Tier zu Tier, so
wird mit jeder neuen Etappe dije Wahrscheinlichkeit der
Infektion des Menschen derart verdünnt, daß nach diesem
Schema schließlich nur wenige Menschein infiziert würden, was
Nr. 21
754
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
don Tatsachen widerspricht. Dagegen könnte man annehmen,
daß Flöhe, welche an pestinfizierten Menschen gesaugt haben,
leichter wieder Menschen angingen, eine Erfahrung, welche Ana¬
logien genug hätte, welche aber praktisch unbeweisbar ist. Wie
schwierig die Uebertragung durch Flöhe wäre, wenn man nur
die Möglichkeit der Uebertragung durch den Menschenfloh aner¬
kennen würde, geht aus folgerndem Experiment hervor. Im Parel-
Eaboratorium wurden auf Leimpapier 401 Flöhe gefangen, 55°/o
waren Rattenflöhe, 37% Menschenflöhe, 8% Katzenflöhe. Im
.Mageninhalt von bloß einem unter 85 Menschenflöhen wurden
Pestbazillen gefunden, dagegen in 26 von 132 Rattenflöhen. Stehen
demnach diese Erwägungen den strengen Nichtkontagionisten ent¬
gegen, so ist anderseits zuzugeben, daß eine Anzahl von Tatsachen
für die große Rolle spricht, welche den Ratten bei Verbreitung der
Pest zukommt. Seit den ältesten Zeiten ist es bekannt, daß den
Pestepidemien in vielen Fällen ein Rattensterben vorausgeht.
Aus folgendem Diagramm sind die Resultate der Erhebungen er¬
sichtlich, welche Dr. Turner in Bombay für die Jahre 1906
bis 1909 ausarbeiten ließ, welche diesen Annahmen eine weitere
Stütze geben. *
Auch in diesem Jahre (1911) macht sich wieder ein be¬
deutendes Rattensterben bemerkbar. Nebstdem läßt die Muni¬
zipalität in Bombay täglich ungefähr 2000 Ratten langen und
dem Parel - Laboratorium zuführen, wo sie genau klassifiziert
und seziert werden. Eine ganz ungewöhnlich hohe Zahl wurde
pestinfiziert gefunden; durchschnittlich jede vierte Ratte erwies
sich als pestkrank. Es mag wohl ein Zufall sein, wenn ich bei
einer ganzen Gruppe von Sektionen fast ausschließlich infizierte
Hatten sah; bei diesen waren die Submaxillardrüseii. infiltriert,
ferner wahrnehmbar Hyperämie der Lungen, serös-blutiger Er- .
guß in Pleura und Perikard, stets eine sehr beträchtlich ver¬
größerte, manchmal von Abszessen durchsetzte Milz (was auf
mehr chronischen Verlauf deutet) und ein Symptom, auf
welches Oberst Bail nermann aufmerksam1 machte, 1 i viele
Verfärbung der Extremitäten, so daß sich unter den gefangenen
Batten die infizierten ' schon v'or der Sektion erkennen
lassen. Die im Verhältnis vorgerückte Jahreszeit läßt baldiges
Eintreten des Regenwetters und damit, trotz der anscheinend hohen
Ziffer der Postratten Abbruch der Epidemie erwarten, da ähnliche
Verhältnisse auch in früheren Jahren beobachtet wurden. Dagegen
tritt sie neuerdings an vielen Orten Indiens verstärkt auf. In
Agra erfuhr ich von 'einem Militärarzt anfangs April, daß die
Anzahl der Pesterkrankungen täglich um 100 betrage, ln der
Umgebung A gras sieht man denn auch ganze Dörfer ver¬
lassen. Die Eingeborenen errichten — wie dies bei solchen
Gelegenheiten üblich — in geringer Entfernung von ihren
Wohnstätten Strohhütten und warten dort das Erlöschen der
Epidemie ab. Auch hierin liegt wieder ein Moment, welches
gegen das Schema Ratte— Floh— Mensch spricht. Es ist bekannt,
daß die Ratte in Indien mit dem Menschen (Eingeborenen) ver¬
gesellschaftet, daher anzunehmen ist, daß sie ihm nach seinem
nahen Wohnorte folgt. Es ist daher schwer erklärlich, wieso
die Epidemie unter jenen keine weiteren Opfer _ mehr fordert,
welche ihre Häuser verlassen, während sofort wieder neue Er¬
krankungen auftreten, wenn die Leute innerhalb der nächsten
Monate die Häuser wieder betreten. Da die Flöhe, die etwa zurück¬
geblieben sein können, durch ihre Exkremente nur durch 14 Tage
infektiös bleiben, müßten die Bazillen an irgendein anderes Ma¬
terial gebunden sein welches die Infektion vermittelt. Auch sonst
gibt es zahlreiche Gelegenheiten, bei welchen eine Infektion sein-
leicht erfolgen könnte, wenn durch Ratten vermittelt und sie
dennoch nicht erfolgt. Wenn man an heißen F'rühjahrsäbenden
durch die Straßen Bombays geht, sieht man Hunderte von Men¬
schen auf dem Pflaster liegen, wo sie übernachten; gelegentlich
sieht man auch Ratten über sie hinweglaufen ; die leichteste
Möglichkeit der Infektion ist hier gegeben und trotzdem bleibt
die Epidemie an gewisse Häuser und Stadtteile gebunden.
Zweifellos direkte Uebertragung findet statt bei
Uebertragung der Lungenpest. Das durch Hustenstöße
herausbeförderte Sekret wird in Tröpfchen zerrissen, bleibt in der
Luft suspendiert und gibt Veranlassung zur Inhalation bei gesunden
Personen. Dies kann auf Grund zahlreicher, einschlägiger, insbeson¬
dere von FT ü g g e mit anderem Material unternommenen Versuchen
behauptet werden und wird auch von den Aerzten bestätigt,
welche die jüngste Epidemie in China zu beobachten Gelegenheit
hatten, bei welcher anfänglich viele Fälle von Lungenpest auf¬
traten. Wenn demnach die Kontagiosität, die direkte Uebertragung
für eine ganze Kategorie von Fällen zweifellos sichergestellt ist,
so ist nicht e, inzusehen, warum sie für alle anderen Fälle — auf
verschiedenen, vielfach gewiß noch unbekannten Wegen — * aus¬
geschlossen sein soll.
Klimatische Einflüsse.
Je weiter man in der Geschichte der Pest zurückblickt, tun
so größeren Einfluß sieht man bei den verschiedenen Hypothesen
bezüglich des Entstehens derselben, dem Klima eingeräumt. Und
wenn auch das meiste als unstichhältig, derzeit als überkommen
gilt, manches ist doch wissenschaftlich gesichert zurückgeblieben,
was beim Entstehen und Vergehetn der Pest dem Klima zuzu-
schreiben ist, nebst den örtlich zeitlichen Verhältnissen, welche
überall eine Rolle spielen. Aus dem Mittelalter kennen wir Epi¬
demien, welche nach heftigen Regengüssen entstanden, andere
wieder, welche nach solchen aufhörten. Man kennt Winter- und
Sommerepidemien. Forscht man jedoch unter dem als richtig
erkannten Tatsachenmaterial nach, so findet man, Haß diese
scheinbaren Unterschiede mit dein biologischen Verhältnissen des
Pestbazillus wohl in Einklang zu bringen sind. Der Pestbazillus
ist durchaus nicht so empfindlich, als allgemein angenommen
wird; der Pestbazillus geht, bei einer nur um wenige Grade über
der des Menschen liegenden Temperatur zugrunde. Sein Tempera¬
turoptimum liegt zwischen 18 und 20° C und bleibt, er noch vitlc
Grade unter dem Gefrierpunkt lebensfähig. Daraus erklärt sich
einerseits die Hartnäckigkeit gewisser Winterepidemien und das
Erlöschen der Seuche bei Lufttemperaturen von 45° und darüber.
Es wird demnach zu Winterepidemien sowohl im kalten, als im
heißen Klima kommen, in letzterem aber die Epidemie mit Ein¬
tritt der heißen Jahreszeit erlöschen, während sie in kalten und
gemäßigten Klima ton gerade mit Beginn der heißen Jahreszeit Ein¬
setzen kann, weil dort ihr Temperaturoptimum zu dieser Zeit
nur um weniges überschritten wird. In Bombay fällt der Beginn
des Ansteigens gewöhnlich in die Wintermonate, die Spitze der
Kurve wird im April erreicht, um im Mai langsam oder rasch
abzufallen und schon im Juni zunächst auf das Minimum zu
sinken. Als das Erlöschen wesentlich befördernd, wird hier auch
der Eintritt der Regenzeit angenommen, welche zumeist Ende
Mai einsetzt und bis Ende August andauert. Der frühere Eintritt
der Regenzeit hat auf den Gang der Epidemie keinen Einfluß, wie
im Jahre 1903 ersichtlich war, wo geringe Regenmengen schon
im Herbst fielen, im Verhältnis beträchtliche im Mai und da bei
die größte Pestkrankenziffer der letzten 15 Jahre mit 23.344 r allen
erreicht wurde, ln den Jahren 1905, 1906 und 1907 gab es im Mai
gar keinen Regen, im Juni 6-50, 13-20 22-49 Zoll Niederschläge.
Die Pesterkrankungsziffer jener Jahre hielt sich auf 16.308, 12.3-x
7353, woraus man kaum auf irgendwelchen Zusammenhang in"
der Menge der Niederschläge folgern kann.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
755
Dr. N. A. F. Moos, Direktor der Observatorien in Bombay
und Alibag, welchem ich für sein Entgegenkommen, auch hier
danke, hat eine Beobachtung gemacht, welche geeignet ist, ge¬
wisse klimatische Faktoren in Hinsicht auf ihren Einfluß bezüg¬
lich des Entstehens und Vergehens von Epidemien dem Ver¬
ständnis näher zu bringen. Es ist das Verhältnis des Druckes
des Wasserdampfes (entsprechend dem Feuchtigkeitsgehalt der
Luft) und der Temperatur der Bodenluft in einer Tiefe von 60 Zoll
(1-54 m), nach der Formel
m = Ap -J- Bg -f- C,
in welcher m ist die durchschnittliche wöchentliche Ziffer von
Todesfällen, p = der Dampfdruck, von welchem abzuziehen
ist g, g = das Produkt der Differenz zwischen der Bodenlufl-
temperatur in der Tiefe von 1-54 m und der Lufttemperatur
mal der Konstanten 0-01147.
Aus dieser Formel hat Moos nach Marrimans ,, Method
of least squares“ berechnet die Konstanten
A zu - 2583'4
B „ — 3326 6
C „ + 3089
Das folgende Diagramm zeigt die Mortalität zweier Jahre,
verglichen mit der ermittelten Kurve und der Durchschnittsmorta¬
lität von fünf Jahren (1883 bis 1887). mit gutem Gesundheits¬
zustand. Der strenge Parallelismus ist hiebei ganz auffallend, ins¬
besondere, wenn man in Betracht zieht, daß die gesteigerte Mor¬
talität der beiden Jahre fast nur durch die Pest verursacht wurde.
Klimatische Skala
- Todesfälle
- Durchschnitt der Todesfälle der S Jahre 1083-87 mit gutem Gesundheitszustand.
Nun ist in Betracht zu ziehen, daß diese Formel weder
für, noch gegen den kontagionistischen oder antikontagionistischen
Standpunkt spricht. Denn ebenso wie die Kontagionisten tier
Pettenk of ersehen Schule diese Tatsache für die große Be¬
deutung des Bodens auch bei Verbreitung der Pest heranziehen
können, kann man ee vom nichtkoniagionistischein Standpunkt da¬
hin deuten, daß die Flöhe, welche ihren Wirt zeitweilig ver¬
lassen, ihre Brut dort absetzen, wo ihr Fortkommen am besten ge¬
sichert ist, das ist in einer gewissen Bodenliefe und daß die
größte Anzahl der Eier in ihrem Temperaturoptirmuu uiisgebrület
wird. Hiefür würde auch der Umstand sprechen, daß vielfach mil
Pestepidemien Flohplagen einhergehen.
0 er 1 1 i c h e Verhältnisse.
Der Dichtigkeit der Bevölkerung ist für die Bedeutung der
Verbreitung von Epidemien zu allen Zeiten eine große .Bedeutung
zugesprochen worden. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß je
mehr Individuen zu einer gewissen Zeit an einem gegebenen
Orte vorhanden sind, der Erreger der Krankheit ein um so grö¬
ßeres Augriffsquantum und damit auch günstigere Verhüllnisse
für Virulenzsteigerung und Verbreitung findet. Potenzier! werden
aber diese Möglichkeiten noch durch den Umstand, daß hygienisch
günstige Verhältnisse im umgekehrten Verhältnis zur Dichtigkeit
der Bevölkerung stehen. So kommt es, daß eingeschleppte Keime
zunächst sporadische Erkrankungen hervorrufen, bis sie, in das
entsprechende Milieu gelangt, explosionsartig Epidemien erzeugen
und so ist es erklärlich, daß die vereinzelten Pestfälle einmal in
dein Hafenviertel von Bombay, Mandvi, aufgetreten, dort alsbald
die Mittelpunkte ebcnsovieler Pestherde wurden.
Die Straßen in Mandvi, der sogenannten Black Town, welche
zum großen Teil von Eingeborenem bewohnt wird, sind mit Aus¬
nahme weniger Hauptstraßen eng. Jedes Haus steht von allen
Seiten frei. Was aber zunächst als Vorteil erscheint, schlügt
hei näherer Betrachtung in das Gegenteil um. Die Häuser stehen
tatsächlich nur an der Straßenseite frei, die Eckhäuser gegen zwei
Straßenseiten, während sie an den beiden, hzw. drei anderen
Seiten nur durch schmale, 40 bis 60 cm breite Luftschläuche
von ihren Nachbarhäusern getrennt sind, so daß die an diesen
Seiten befindlichen Fenster eben noch geöffnet werden können.
Am Boden dieser Luftschläuche laufen offene Kanäle, welche auch
Meteorwasser abführen und an deren -Ende ein offenes Gerinne
in die unterirdischen Straßeinkanäle führt. Mehrere, einen
Häuserblock bildende Häuser bilden gewöhnlich einen kleinen,
fast unzugänglichen Hofräum, in welchem sich, befördert durch
den in Bombay stets herrschenden Wind, während der regenlosen
Zeit, meterhohe Misthaufen ansammeln. Die Wände des Erd¬
geschosses sind fast in allen Häusern bis zu Meterhöhe und
darüber von Feuchtigkeit durchtränkt. Holztreppen führen in
die Obergeschosse, deren Wohnungen! entweder durch einen offe¬
nen Korridor oder durch einen gemeinschaftlichen, licht- und
luftlosem Mittelraum zu erreichen sind. Die Wohnungen bestehen
zumeist aus einem' Gemach, welches, wenn durch einen Korridor
zu erreichen, nur durch eine Türe Licht und Luft empfängt,
im anderen Falle zumeist durch ein Fenster. Manchmal befindet
sich noch eine kleine Küche neben diesen Gelassen, welche dann
Licht und Luft ausschließlich durch die erwähnten Luftschläuche
erhält und damit alle dorthin gelangenden Unreinlichkeiten nebst
der Ausdünstung aus den Kanälen, fn diesen, durchschnittlich
2-5 m breiten, 3 bis 4 m langen und 2 bis 2-5 m hohen Zim¬
mern wohnen, soweit ich erheben konnte, zwei bis sieben Men¬
schen; gelegentlich mögen es aber auch mehr sein. Da die Häuser
drei- bis siebenstöckig sind, in jedem Stockwerk bis zu zehn
Wohnungen, so kommt es nicht selten Vor, daß in diesen Chawls
bis 500 Menschen leben. Dies ist ungefähr der Typus, doch findet
man auch Abweichungen von demselben.. Ich fand in einem, durch
mehrere Gebäude gebildeten Hofraum ein© Getreidemühle mit
Handbetrieb (jeder Stein durch zwei Frauen getrieben), welche
von Korridoren begrenzt war. von welchen man wieder in voll¬
kommen lichtlose Räume gelangt; dort hausten ganze Familien.
Eine eigene Küche Avar nicht vorhanden. In den äußeren, eben¬
falls von sehr armer Bevölkerung bewohnten Stadtteilen gestalten
sich die hygienischen Verhältnisse, trotzdem dort große Armut
und Schmutz Vorherrscht, aus dem Grunde wesentlich günstiger,
weil die Straßen breiter, die Häuser durch breitere Zwischen¬
räume Voneinander getrennt und zumeist nur ein bis zAvei Stock
hoch sind.
Es hat sich ein Verein zur Verbesserung der Wohnungs-
verhälfnisse der ärmeren Volksschichten gebildet, welche in allen
Stadtteilen billige hygienische Neubauten aufführen läßt.
Die Indian plague Commission hat konstatiert, daß die
meisten Pesterkrankungen immer im Erdgeschoß des betreffenden
Hauses "Suf treten und sich gegen die Obergeschosse verminderten,
was immerhin für die Annahme der Bodenständigkeit des Infek¬
tionserregers spricht, wenn man auch andrerseits annehmen kann,
daß die Flöhe ihren Weg von den Ratten zum Menschen im
Erdgeschoß leichter finden als weiter nach oben.
K r an khe i ts e r sc b c inun g e n und -verlauf.
Die alten Beschreibungen der Pest, ihres Verlaufes und ihrer
Symptomatologie sind vielfach noch heute gültig.
Dr. N. H. Chocksy, Chefarzt des Maratha-Pest-Spitals in
Bombay, welcher die Freundlichkeit hatte, mir in entgegen¬
kommendster Weise Aufklärung zu gehen, stellt auf Grund eines
Beobachtungsmaterials von fast 14.000 Fällen folgende Typen auf:
1. Bubonenpest. Ohne Prodrome, drei Tage nach der
Infektion erkrankt der Infizierte plötzlich unter hohem Fieber
und Schmerzen der affizierten Drüsen, die Konjunktiva ist
gerötet, das Bewußtsein etwas benommen, Brechreiz oder Er¬
brechen tritt auf. Pulsfrequenz sehr hoch; es zeigt sich an den
affizierten Drüsen periglanduläres Oed cm. Am folgenden Morgen
leichte Remission, die aber bald wieder einer Temperaturerhöhung
weicht. Delirien, mitunter auch Asphyxie treten auf. Nach 48 Stun-
756
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
den täuscht ein Nachlassen des Fiebers um 0-5 bis 2° C Besse¬
rung vor, welche aber nach wenigen Stunden einer allgemeinen
Verschlimmerung des Zustandes weicht. Am Abend steigt die
Temperatur wieder und der Widerstand, welchen das kardio¬
vaskuläre und lymphatische System in den nächsten zwei
lagen zu leisten vermag, ist entscheidend für das Schicksal
des Patienten. Ist dieser ungenügend, so tritt unter Lungen¬
ödem oder auch durch plötzliche Herzschwäche der Tod ein,
was zwischen dem dritten bis fünften Erkrankungstag hei S2ü/o
der Todesfälle eintrifft. Es hängt der Ausgang zumeist davon ab,
ob Septikämie hinzutritt, d. h. ob die ergriffenen Drüsen keinen
hinreichend dichten Schutzwall bilden, um den Eintritt der Ba¬
zillen in die Blutbahn zu verhindern. Sind die Bazillen in die
Bluthahn gelangt, so gibt sich dies in der Mehrzahl der Fälle
durch tiefe Prostration, fast unfühlbaren, unzählbaren Puls, Ikterus,
und Verfall kund, während bei ungefähr 28°/o dieser Fälle ein
scheinbares Wohlbefinden selbst dem Arzte eine Wendung zum
Besseren Vortäuschen kann. Bloß 3 bis 4°/o dieser Fälle ge¬
nesen, während dies bei 55% der nichtseptikämischen der Fall ist.
Demgemäß ist es prognostisch von größter Wichtigkeit, die
Anwesenheit von Pestbazillen im Blute festzustellen. Als Regel
gilt, daß, wenn A4- cm3 Blut weniger als zehn Kolonien enthält,
der Fall nicht hoffnungslos ist, während Fälle über zehn Kolo¬
nien kaum jemals davonk ommen1, selbst wenn die klinischen
Symptome günstig erscheinen. Zum Zwecke der Untersuchung
wird aus einer Vene eine geringe Quantität Blut, entnommen,
davon genau A4 cm3 auf einer schrägen Agarfläche gleichmäßig
verteilt, was bei einiger Uebung iminler gelingt, dann durch zwölf
Stunden bei 37° belassen und nach dieser Zeit gezählt.
In seltenen Fällen ist der Krankheitsverlauf bei septikämi-
schen Patienten protrahiert, um dann aber mit langsamem Maras¬
mus zu enden.
2 . Die U n t e r h a u t z e 1 1 g e w e b e p e s t . Sie entsteht durch
die Fähigkeit des Pestbazillus, durch sein Protoplasma oder Endo¬
toxin regressive Metamorphosen im Unterhautzellgewebe zu er¬
zeugen. Es entsteht Rötung, datnh Blasenbildung, welche nach
Zerfall zu mehr oder weniger tiefen, unregelmäßigen Gesell würs-
bildungen führt. Diese können vereinzelt bleiben oder mehrfach
auftreten, wohl auch konfluieren und größere oder geringere
Substanzverluste der Haut und des Unterhautzellgewebes bis zu
ausgebreiteten Zerstörungen setzen. Dr. Chock sy beschreibt
einen Fall, in welchem fast eine ganze Gesichtshälfte samt dem
oberen und unteren Augenlid geschwiirig zerfallen war; der Fall
endete mit Genesung. Sekundär können hier Bubonen auftreten.
Es ist diese Form die gutartigste unter allen Pesterkrankungen,
da 36% derselben ausheilen.
3. Die Pestseptikämie erscheint unvermittelt in jenen
Fällen, in welchen der Bazillus direkt in die Blutbahn gelangt
oder die Drüsen dem Passieren desselben keinen Widerstand
leisten. Verlauf: fünf bis zehn Tage. Häufig stehen die klinischen
Symptome im Widerspruch mit der Schwere der Erkrankung.
Klalres Bewußtsein ohne Prostration oder Ikterus lassen den letalen
Ausgang binnen wenigen Tagen nicht vermuten. Vielfach ist
auch rascher Anstieg der Temperatur vorhanden, kurze Remis-
rionen sind von neuerlichen Steigerungen gefolgt, sekundär können
Bubonenschwellungen oder Pneumonie zutreten, mit Ikterus, tiefer
Prostration, Stupor oder Koma, die Zunge wird trocken, an allen
sichtbaren Schleimhäuten treten Sugillationen auf, welche man
dann auch in allen inneren Organen findet. In wenigen Fällen
erscheinen schon am dritten Tage Bubonen und kann dann
Heilung eintreten, welche aber, immerhin selten, kaum 2% der
Fälle umfaßt.
4. Die Pestpneumonie ist unter allen Formen die viru¬
lenteste. Sie wird durch Tröpfcheninhalation akquiriert und endet
immer binnen drei bis fünf Tagen mit dein Tode. Zunächst tritt,
ohne lokale physikalische Symptome, das Bild starker Prostra-
lion und einer schweren Erkrankung auf. Alsbald stellen sich
blutige Sputa ein, doch gibt es auch Fälle, wo solche fehlen und
das dicke oder auch dünnflüssige mukoide Sputum rötlich fin¬
giert erscheint. Mikroskopisch findet man nicht häufig Pestbazillen,
weshalb die Blutuntersuchung oder der Tierversuch durchgeführt
worden muß. fhocksy beschreibt nirr einem Fall von
Heilung nach Lungenpest.. Es Avar dies ein Fall von
Mischinf ektionimit Bacillus pyocyaneus. Pat. Würde
am dritten Krankheitstage eingebracht. Leichtes Fieber Puls 101,
Spannung gut. Kein Sputum, keine physikalischen Merkzeichen.
In der folgenden Na 'hl Tompratur 40-3, Puls 130, Respiration 35.
Schmerzen in der Brust, Dyspnoe, Husten, mehrfach nicht charak¬
teristische Sputa. Nunmehr Verdichtung auf beiden Seiten der
Lunge. Die Sputumnntersnchung ergab Bacillus pestis und Ba¬
cillus pyocyaneus. Eine subkutan mit Sputum infizierte weiße
Maus starb an Pest. Nach drei Tagen Besserung. Am 13. Tage
waren keine Pestbazillen mehr im Sputum, sondern
nu r n oeb Staphylococcus aureu s. Es folgte noch eine leichte
sekundäre Drüsenschwellung der Abdominaldrüsen. Noch in einem
anderen Falle von Pneumonie erfolgte Heilung bei Mischinfektion
mit Bacillus pneumoniae. Diese Fälle von Heilungsmög¬
lichkeiten bei Mischinfektionen, könnten den An¬
griffspunkt therapeutischer Maßnahmen bilden, in¬
dem man den sonst unbedingt verlorenen Patienten
Pyozyaneus- oder Staphylokokkenkulturen oder Ba¬
cillus pneumoniae in die Blutbahn injiziert. Diese
Versuche können unternommen werden mit lebenden abge¬
schwächten Kulturen der einen oder mehrerer dieser Arten.
Von der primären Pestpneumonie ist streng zu unter¬
scheiden die sekundäre Pneumonie nach Bubonenpest. Zu An¬
fang April sah ich im Pestspital in Bombay unter 77 Pestfällen
sechs sekundäre Pneumonien, deren Prognose zum mindesten
nicht ungünstiger war, als die der reinen Bubonenpestfälle.
5. Pestis am hu laus. Leichte Fälle mit geringem Fieber
und mäßiger Schwellung vereinzelter Drüsen. Ausgang in Heilung
gewöhnlich.
Diesen Formen wären noch hinzuzufügen :
6. Die Pestvergiftung, welche in Indien fast unbekannt,
aus früheren guten Beschreibungen und der diesjährigen Pest
in China zweifellos festgestellt ist.
Es sind dies Fälle, welche hinnen wenigen Stunden unter
Erscheinungen der Herzschwäche enden, ohne daß der Blutbefund
■hinreichenden Aufschluß geben würde. Erklärt können diese Fälle
werden, indem man entweder vorhandene Störungen kardiovasku¬
lärer Natur annimmt, oder1 daß durch besonders rasche -Vermeh¬
rung und Auflösung der Pestbazillen eine ungewöhnlich große
Menge Endotoxin in die Bluthahn gelangt oder daß endlich in
manchen Fällen die Postbazilleü Gift in hinreichender Menge
sezernieren, um Herzlähmung herheizu führen.
Die folgende Uebersieht zeigt, die Verteilung nach Formen
und deren Verhältnis bezüglich Heilung.
Zahl
Todesfälle
Heilungen
Sterblichkeit
■n %
Bubonenpest
Unterhautzell-
12.080
8.947
3.133
74'06
gewebspest
497
317
180
6377
Septikämie
312
30G
6
9807
Pneumonie
134
133
1
9925
Folgende Tabelle gibt Aufschluß über die Anteile der Rassen
an der Pesterkrankung :
Zahl
Todesfälle
Geheilt
Sterblichkei
in 7«
Hindus
10.315
7.899
2.416
76‘57
Mohammedaner
1.450
998
472
68'82
Eingeborene Christen
1.088
716
372
65 ’80
Parsis
126
63
63
50 ‘00
Juden
38
26
12
68'42
Eurasier
3
0
3
0
Japaner
2
0
2
0
Chinesen
1
1
1
(100)
Es ergibt sich, daß die Hindus am meisten leiden. Zieht
man in Betracht, daß sie unter den schwierigsten Lebensbedin-
gungen stehen, sich im allgemeinen von Vegetabilien nähren, dem¬
nach gewissermaßen dieselbe Nahrung haben wie die
Nager, so begreift man, daß der von den Nagern her-
stammende Pestbazillus dort einen ihm genehmen
Nährboden findet, während der an starke Fleisch
nahning gewöhnte Europäer naturgemäß anders zu-
samm engesetztes G ewehe hat, auf welchem dem Pcst-
bazillus das Gedeihen erschwert ist. Die Tatsache, ;
daß Europäer von der Seuche fast nie ergriffen wer- ;
den, ist daher nicht nur auf dessen bessere Lebens¬
bedingungen zurück z u f4i.h reu, sondern auf die er¬
erbte, r a s s e n m ä ß i g größere Widerstandsfähigkeit.
Maßregeln.
Diese erstrecken sich nach drei Richtungen: 1. Verbesse¬
rung der hygienischen Verhältnisse; 2. Vernichtung der Ratten
als der wichtigsten Keimträger; 3. Evakuierung; 4. prophylaktische
Schutzimpfung. »Vi
1. In größeren Städten, insbesondere in Bombay, bilden sich
Vereine zur Herstellung hygienischer Wohnungen der ärmeren
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
757
Klassen. Diese Vereine haben schon Erhebliches geleistet. Ueberu.ll
sieht man Mietskasernen im europäischen Stil im Bau und wenn
diese auch nicht das Ideal der Wohnung bilden, so bedeuten sie
doch mit den derzeitigen Unterkünften in Mandvi, Umarkhadi,
Mazagaon, Byculla und einer Reihe anderer Vororte Bombays
einen gewaltigen Fortschritt.
2. Die Ratten Vertilgung bildet eine wichtige Fürsorge der
Sanitätskommissionen größerer Städte Indiens. Bombay hat eine
Reihe von Rattenfängern angestellt, welche täglich durchschnitt¬
lich 2000 Ratten fangen. Von der Vertilgung mittels ratten¬
tütender Bazillen ist man vollkommen abgokoinmen; zunächst
wegen deren Unwirksamkeit. Die von Danysz, Issatschenko
und anderen hergestellten Kulturen werden rasch avirulent und
selbst bei solchen Kulturen, welche noch wirksam waren, hat
es sich alsbald herausgestellt, daß ihr Nutzen geringfügig war
im Vergleich zu dem Schaden, welchen sie schufen, indem die
Ratten auswanderten und die Verschleppung der Reist in stär¬
kerem Maße förderten, als dies sonst der Fall gewesen wäre.
Einer Maßregel wird wohl entsprechend, s Augenmerk zugewendet,
doch sind deren Kosten im Verhältnis zum erzielten Erfolg ver¬
hältnismäßig hohe: Die Rattenvertilgung auf Schiffen. Diese ge¬
schieht derzeit mittels Ausschwefeln und durch Einleitung von
Kohlendioxyd in die Schiffsräume. Die Kostspieligkeit der Ma߬
regel brachte es mit sich, daß sie nur bei verdächtigen Schiffen
Anwendung findet, in pestverdächtigen Zeiten wird es
notwendig sein, alle von Indien kommenden Schiffe
— ohne Unterschied, ob Pestratten auf denselben
gefunden wurden oder nicht — dieser Prozedur zu
unterwerfen; denjn wenn einmal Pestratten gefun¬
den werden, nachdetm das Schiff im Hafen liegt, ist
es gewöhnlich schon zu spät, die Ratten haben Zeit
gefunden, die Pest im Hafen zu verbreiten.
3. Evakuation. Dies ist eigentlich eine Maßnahme, welche
die Eingeborenen aller Länder, in welchen die Pest endemisch
ist, freiwillig vollziehen. Die Wohnstätten am Fuße des Hima¬
laya werden sofort verlassen, sowie ein Pestfall sich ereignet,
die Eingeborenen gehen in die Wälder und kehren nach vier
Monaten, dem Termin, in welchem die Pest zumeist erlischt,
zurück. Man kann in den Zentralprovinzen, wo die Best der¬
zeit im Zunahmen ist, viele solche verlassene Ansiedelungen und
in geringer Entfernung von denselben die Notunterkünfte, zu¬
meist bloß aus einem Strohdach, die Wände aus Matten oder
Segeltuch bestehend, sehen.
4. Schutzimpfung. Das bakteriologische Laboratorium in
Parel bei Bombay befaßt sich unter der Leitung Oberst Banner¬
manns mit der Herstellung von Heilserum nach Haff'kine.
Die Herstellung erfolgt aus abgetöteten Kulturen. Die Nährbouillon
wird aus Hammelfleisch bereitet, in große Ballons je ein Liter
derselben gefüllt und nunmehr mit Pestbazillen infiziert; nach
einigen W ochen bilden sich die bekannten Stalaktiteinformen ; nach
drei Monaten wird die Kultur durchgeschüttelt, durch 15 Mi¬
nuten auf 50° erwärmt, was zur Abtötung der Bazillen voll¬
kommen genügt, ohne die immunisierende Komponente zu be¬
einträchtigen. Nach Zusatz von V2%iger Karbolsäure erfolgt nun¬
mehr das Abfüllen und Verschmelzen in Gläschen von 20 cm:i,
welche für fünf Schutzimpfungen zu 4 cm3 ausreichen; ein Test¬
röhrchen bleibt von jedem Gläschen im Laboratorium und kann
bei irgendwelchen Anständen sofort einer Nachprüfung unterzogen
werden. Die Bevölkerung verhielt sich zunächst vollkommen ab¬
lehnend, wodurch auch die Statistik litt. Die Geimpften ver¬
schwanden, nachdem sie die von der Regierung für jeden Gei-
impften bewilligte V2 Anna (d. i. 5 Heller) erhalten hatten,
ohne daß eine Kontrolle möglich war. Derzeit scheint sich
aber die Schutzimpfung mehr Vertrauen erkämpft zu haben.
Während der monatliche Verbrauch in den Jahren bis einschlie߬
lich 1910 zwischen 50.000 bis 90.000 Portionen betrug, ist er in
den ersten Monaten 1911 auf 110.000 bis 130.000 gestiegen, eine
weitere beträchtliche Zunahme ist zu erwarten. Die von B a nn e r¬
mann und seinem Stabe ausgearbeiteten Statistiken zeigen ganz
bedeutende Erfolge.
Aber auch der Heileffekt des Serums u. zw. des Roux-
Versinschen wird von Dr. Chocksy warm verfochten. Es sind
hier Dosen von 100 bis 300 cm3, täglich zu 100 cm3 injiziert,
notwendig und ist der Erfolg um so eklatanter, zu je früherer
Zeit die Injektion vorgenommen wird. Chocksy berechnet die
Differenz in der Mortalität derzeit zu 10%.
Er hat in 1739 Fällen die Serumbehandlung angewandt,
wobei die Mortalität sich auf 64-9% gegen 75-4% bei 11.284 nicht
behandelten Fällen stellte.
Zahl
Lustigi Serum 1089
Roux-Yersin ,, 1904 80
„ „ 1905—7 449
Brezils „ 50
Tavels ,, 28
Terni „ ig
Haffkine ,, 15
Paltauf ,, g
Japaner „ 4
1739
Gestorben
Geheilt
Todesfä
in u/o
715
374
656
55
25
68'7
273
176
608
41
9
82'0
18
10
64‘2
12
4
75’0
11
4
73‘3
4
4
500
1
3
25 0
1130
609
640
Rekonvaleszente und Hoffnungslose wurden keiner Behand¬
lung unterzogen. Andere 449 Fälle wurden auf Anraten Prof.
Martins behandelt u. zw. mit Ro ux-Y ers in schein Serum,
während 200 ähnliche, nicht behandelte Fälle als Kontrolle
dienten. rr ,
Zahl Gestorben Geheilt Jodes, die
in %
249 146 103 58 '6
Kontrolle
Serumfälle
200
200
148
127
52
73
74 '0
63‘5
Differenz zu
Gunsten
der Serumfälle
10'5
Totale der
Serumfälle
449
273
176
60'8
Ich habe vor kurzem hervorgehoben, daß eine
Pestgefahr für Europa derzeit nicht besteht, wie sich
dies gezeigt hat in Odessa, in London, in Triest und
bei einigen Laboratoriumsinfektionen. Genau durch¬
geführte hygienische Maßnahmen, Desinfektion,
welche sowohl Kontagionisten, als auch Antikonta-
gionisten, dadurch Rechnung trägt, daß auch alle
etwa in den Kleidern befindlichen Parasiten ver¬
nichtet werden, Rattenvertilgung auf allen Schiffen
in den Häfen, werden in absehbarer Zeit genügen,
eine Pestepidemie von Europa fernzuhalten, nicht
sowohl wegen der Unfehlbarkeit dieser Maßnahmen,
als wegen der Tatsache, daß der Mensch der weißen
Rasse ein dem Pestbazillus derzeit nicht genehmer
Nährboden ist.
Bombay, April 1911.
Literatur:
G. Sticker, Die Pest. Gießen 1908 u. 1910. A. Töpelmann
und mehrere der in diesem Werk angeführten, einige Tausend um¬
fassenden Literaturangaben. — Proust, Le defense de l'Europe contre
la peste. Paris 1897, Masson u. Co. — Bericht über die Tätigkeit der zur
Erforschung der Pest im Jahre 1897 entsendeten Kommission. Arbeiten
aus dem Kais. Gesundheitsamte, Berlin 1899, Bd. 16. — Bericht der
österreichischen Pestkommission. 66. Band der math.-naturw. Klasse der
kais. Akademie der Wissenschaften, Wien 1898. — Zentralblatt für
Bakteriologie und Parasitenkunde. - The journal of hygiene. Extra
plague number I— V. 1906, 1907, 1908, 1909 u. 1910. Report of the
Indian plague Commission. Alle Jahrgänge. — Ban nermann, Plague
in India, past and present a contrast. Research defense Society. Bom¬
bay 1909. — Glen Liston, The cause and prevention of the spread
of plague in India. Bombay 1909. — Lamb, Etiology and epidemiology
of plague. Bombay 1908. — The Bombay Bacteriological Laboratory.
Bombay 1909. — Chocksy, General pathology and serum. treatement
of plague. Bombay 1908; The various types of plague and their clinical
manifestations. American journal of medical science. September 1909 .
Burnett Ham, Report on plague in Queensland 1900 — 1907.
Brisbane 1907. — Report of the executive health officer of Bombay
1900—1910. I. Quarter 1911. — Annales de l’Institut Pasteur. — Moos,
Observations made at the governement observatory Bombay. Bombay
1910. — E. Wiener, Ueber einige Krankheiten der Tiere und deren
Beziehungen zu denen des Menschen. Berichte aus der landw. -ehern.
Versuchsstation 1902. Nach einem Referat, erstattet in der III. land¬
wirtschaftlichen Woche. Wien; Die Mäuse- und Rattenplage. Ebenda;
Zur Entstehung von Rattenepizootien. Zentralbl. für Bakt. 1902.
Heferate.
Medizin und Strafrecht.
Ein Handbuch für Juristen, Laienrichter und Aerzte.
Unter Mitwirkung von Med.-Rat Dr. H. Hoffmann, Gerichtsarzt zu Berlin
und Dr. H. Marx, Gerichtsarzt zu Berlin.
Herausgegeben von Geh. Med. -Rat Dr. F. Straümann, Professor an der
Universität und Gerichtsarzt zu Berlin.
Mit einem Anhang: Die kriminellen Vergiftungen.
Von Dr. P. Fraenckel, Privatdozent an der Universität in Berlin.
Lichter felde-Berlin 1911, Dr. P. Langenscheidt.
Das vorliegende stattliche Werk verfolgt in erster Linie den
Zweck, „den bei der Strafrechtspflege tätigen Juristen und den
zur Mitwirkung hier berufenen Laien einen Ucbcrblick darüber
758
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 21
zu geben, was die .medizinische Wissenschaft für die Strafrechts¬
pflege zu leisten vermag“. An Bestrebungen, die Juristen in dieser
Hinsicht uufzukiären, fehlt es ja nicht und an jeder Universität
wird neben der Vorlesung aus gerichtliche Medizin für Mediziner
auch eine Parallel Vorlesung für Juristen gehalten, die sich ähn¬
liche Ziele setzt. So wertvoll solche Vorlesungen sind und so sehr
sie auch in den Reihen der Juristen begrüßt werden, so kann doch
der Erfolg derselben kein allgemeiner und dauernder sein, da ja
der Jurist, z. B. der Richter, wenn er in der Praxis stellt,
nicht inaner über die notwendige Zeit verfügt, solche Vorlesun¬
gen zu besuchen und die Kenntnisse, die er sich als Student
vielleicht an der Hand dieser erworben hat, zur Zeit, da er
praktisch tätig ist, nicht immer mehr dem Stande der Wissenschaft
entsprechen. Versucht ein solcher medizinischer Laie, sich aus
den gangbaren Lehrbüchern der gerichtlichen Medizin in schwie¬
rigen Fällen Rat zu holen, so wird dies oft mit unüberwindlichen
Schwierigkeiten verbunden sein, zumal diese Lehrbücher für Aerzte
geschrieben und das in ihnen Niedergelegte von dem Juristen
leicht irrig gedeutet werden kann. Da der Richter, namentlich
auf dem Lande, nicht immer einen wirklich sachkundigen Beirat,
nämlich einen geschulten Gerichtsarzt, zur Seite hat, der ihn
über zweifelhafte Punkte aufklären kann, er sich also in Büchern
orientieren muß, so ist es gewiß sehr zu begrüßen, wenn durch
das vorliegende Werk — das erste in seiner Art — - diese em¬
pfindliche Lücke in der juridisch-medizinischen Literatur ausgefüllt
wurde. Ref. muß es sich leider versagen, in eine detaillierte Be¬
sprechung des reichen Inhaltes des vorliegenden Bandes einzu¬
gehen, da dies den Rahmen 'eines Referates weit überschreiten
würde. Auch braucht Ref. wohl nicht besonders hervorzuheben, daß
Inhalt und Form überall die Hand des Meisters erkennen lassen.
Bei einer gerichtlich-medizinischen Autorität, wie sie Sr aß mann
ist, konnte man ja nichts anderes erwarten. Aber auch die Ab¬
schnitte, die nicht vom Herausgeber selbst, sondern von dessen
tüchtigen und praktisch geschulten Mitarbeitern verfaßt sind, ver¬
raten überall den erfahrenen Gerichtsarzt, der nicht nur selbst
über umfangreiche Kenntnisse verfügt und die einschlägige Lite¬
ratur beherrscht, sondern es auch versteht, das eigene Wissen
in entsprechender Form dem Laien verständlich zu machen. Ueber-
all trägt das Buch den Stempel der persönlichen Erfahrung, wo¬
durch die Lektüre an Reiz gewinnt. Bei einem Fache, wie die
gerichtliche Medizin, das so tief in der praktischen Er¬
fahrung wurzelt, kann die literarische Verwertung solcher Er¬
fahrungen nur begrüßt werden, da nur solche Abhandlungen
eben den oft so schwierigen Verhältnissen der forensischen Praxis
innig angepaßt sind.
Der Band bringt aus der Feder Straßmanns das Vorwort
und die Einleitung, im zweiten Kapitel, von den gewaltsamen
Todeisarten. Teil 1 : Den Tod durch Erstickung, im dritten Ka¬
pitel, der forensischen Psychiatric, Teil 3g: die Epilepsie und
endlich im vierten Kapitel, Sexuelle Fragen, Teil I: den Kindes¬
mord. Medizinalrat Hoffmann hat im zweiten Kapitel die mecha¬
nischen Todesarten, im vierten Kapitel die Abtreibung und den
Abort, die Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit be¬
arbeitet. Gerichtsarzt Dr. Marx behandelt die Methoden der ge¬
richtlichen Medizin und die forensische Psychiatrie mit Aus¬
nahme der Epilepsie. Priv.-Doz. Fraenckel endlich gibt im
Anhang eine kurze, sehr übersichtliche Zusammenstellung der
kriminellen Vergiftungen. Der Text ist durch zahlreiche, gut ge¬
lungene Abbildungen vorteilhaft ergänzt.
Wenn auch Straßmanns Werk Medizin und Straf¬
recht zunächst für das Deutsche Reich bestimmt ist, so enthält es
doch auch für den österreichischen Richter und Gerichtsarzt viel
Interessantes und Wissenswertes, so daß auch diesen das Buch
zum Studium wann empfohlen werden kann. Reuter.
*
Untersuchungen über Rachitis und Osteomalazie.
Von Friedrich v. Recklinghausen.
Jena 1910, Gustav Fischer.
Einen großen Teil seines Lebens hat Recklinghausen
dem Studium der Knochenpathologie gewidmet, die vielfach strit¬
tigen Fragen auf diesem Gebiete haben ihn immer von neuem
gefesselt und ihn veranlaßt, ein Material von mehr als .zwei¬
hundert Fällen zu sammeln, um auf Grund desselben die rachiti¬
schen und osteomalazischen \ eränderuugen zu studieren. Aber
erst, als er sich 190(3 vom Lohramte zurückgezogen hatte, fand
er die nötige Zeit und Muße, um sich ganz dieser Arbeit zu widmen.
Es gelang ihm auch trotz seines hohen Alters, sie zu bewältigen;
als ihn am 25. August 1910 ein rascher Tod ereilte, war das Werk
in allen seinen wesentlichen Teilen abgeschlossen, so daß dem
Bohne bei der Herausgabe des Buches nur mehr die Erledigung
eines Teiles der Zusammenstellungen und Korrekturen über¬
lassen blieb.
Das Werk zerfällt in einen umfangreichen Textband und
einen Atlas. In ersterem legt Recklinghausen zunächst einige
der von ihm gebrauchten Bezeichnungen fest (z. ß. Osteoid nur
für kalkloses, während der Dauer der Krankheit neugebildete«
Knochengewebe) und skizziert die von ihm angewendete Unter¬
suchungstechnik. Es wurden im Gegensätze zu anderen Autoren
bei den Röhrenknochen vorwiegend Längsschnitte der Diaphysen
untersucht, wobei ganz besonders von neuem auf die Untersuchung
des nicht entkalkten Knochens Gewicht gelegt wird; für die histo¬
logische Untersuchung leistete 'dem Verfasser eine besondere
Modifikation der Schm or Ischen Thioninfärbung vorzügliche
Dienste.
in den folgenden Kapiteln IV bis IX schildert R e c k 1 i n g-
h au s en, wie sich die Resorptionsvorgänge am Knochengewebe
und Knochenmark während der rachitischen Erkrankung gestalten.
Er führt hiebei das Wort Onkose ein, das eine Volumzunahme
eines zeitigen Elementes bezeichnen soll, die zum Zerfall und
Untergang desselben führt, bzw. denselben einleitet. So findet sich
eine Onkose der Knochenkörperchen hei der Osteomalazie und
namentlich bei der Rachitis. Eine besondere Erörterung widmet
er hiebei auch den perforierenden Kanälen, die er (im Gegensatz
zu einigen anderen Autoren) auch hei der Rachitis in großer Zahi
nach weisen konnte. Bei dein Knochenabbau unterscheidet er
neben der lakunären osteoklastischen Resorption und neben der
Durchbohrung des Knochengewebes eine Abschmelzung, welche
Schichte lur Schichte die Tela ossea erweicht. Diese Erweichung
bezeichnet er als Thrypsis und beschreibt eingehend die einzelnen
sich hiebei abspielenden Vorgänge, ln diesem Zusammenhänge
kommt er natürlich auch auf die Frage der Gitterfiguren und die
lialisterese zu sprechen und hält in beiden Fragen an dem bereits
früher von ihm vertretenen Standpunkt fest. Gitterfiguren sind nur
im kalkhaltigen Knochengewebe zu erzeugen und die Halisterese
besteht aut Grund seiner Untersuchungen vollständig zu Recht,
der kalklose Knochen ist nicht durchwegs' neu gebildet. Er steh,
also in dieser Beziehung im Gegensatz zu der von der Mehrzahl
der Redner gelegentlich der eingehenden Diskussion auf der Leip¬
ziger Tagung der deutschen pathologischen Gesellschaft vertretenen
Anschauung.
Nach einer Erörterung über die Beteiligung des Knochen¬
markes bei der Rachitis und Osteomalazie, bzw. bei der Möller-
Barl ow sehen Krankheit bespricht er die Besonderheiten des
Abbaues und Umbaues am eigentlichen Knochengewebe hei diesen
Krankheiten u. zw. zunächst die rachitischen Störungen in der
Ossifikationszone und der hypertrophischen Knorpelschichte, dann
die Appositionsvorgänge an den Diaphysen und Metaphysen der
rachitischen Knochen, wobei er die große Mannigfaltigkeit und die
abwechselnden Bilder der Ossifikationsstörungen aufs genaueste
schildert. Hierauf bespricht er die Entstehung der rachitischen
und malazischen Knochendeformationen sowohl im allgemeinen
als im besonderen für die einzelnen Skelettabschnitte; die Ver¬
krümmungen der Diaphysen sind in der Regel auf Frakturen oder
Infraktionen zurückzuführen, doch gibt es auch allmählich aul¬
tretende Verbiegungen, welche die Folge einer besonderen, durch
Erweichung (Thrypsis) bedingten Nachgiebigkeit der Knochen sind.
Eine Zusammenfassung seiner umfänglichen Untersuchungen
führt Recklinghausen nunmehr zu der wichtigen und noch
in der jüngsten Zeit vielfach erörterten Frage, oh Rachitis und
Osteomalazie im Wesen dieselbe Krankheit darstellen oder schall
voneinander zu trennen sind (vgl. hiezu auch die bereits erwähnte
Diskussion auf der Leipziger Tagung der deutschen pathologischen
Gesellschaft). Recklinghausen tritt energisch für die von ihm
seit jeher vertretene Anschauung ein, daß eine Trennung \on
Rachitis und Osteomalazie von der Hand zu weisen ist. Ebenm
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
kann er eine scharfe Grenze zwischen Osteoporose und Osteo¬
malazie, wenigstens für das Kindesalter, nicht anerkennen, für das
G reisenalter will er sich mangels eigener einschlägiger Unter¬
suchungen eines Urteils enthalten. Er stellt daher einen Sammel¬
begriff auf, die rachitisch-malazische Erkrankung, von welcher er
mehrere Kategorien unterscheidet, u. zw. :
a) die porotische Malazie; hieher gehören die meisten Fälle
von Rachitis.
a1) Die porotisch-hypoplastische Malazie, diejenigen Fälle von
Rachitis, in welchen neben der Porosität auch relative Kürze
und Schmalheit der Knochen besteht; hieher gehört auch die
Kranfotabes.
b) Die hyperplastische Malazie, bei welcher im Gegensatz
zu den früheren Formen ein Uebermaß von Knochensubstanz ge¬
bildet wird; sie ist charakterisiert durch das Auftreten eines
derben Osteoids. Ein weiches Osteoid, nicht selten mit Geflecht¬
struktur, kennzeichnet
c) die phlegmatoplastische Malazie. Alle diese Formen treten
im ersten Kindesalter auf und erreichen in den ersten Lebens¬
jahren ihren Höhepunkt. An sie reihen sich
d) die meta plastische Malazie = fibröse Ostitis (Reck¬
linghausen). Während für die bisher genannten Formen der
Name Rachitis allgemein gebraucht wird, gehören der hier ge¬
meinten Form Fälle an, die gewöhnlich als Osteomalazie be¬
zeichnet werden. In einer eingehenden Besprechung der Ostitis
fibrosa hält Recklinghausen seine seinerzeitige Darstellung
in vollem Umfange aufrecht. In den Rahmen dieser Erkrankung
gehören auch Geschwulst- und Zystenbildungen im Knochen, deren
Entstehung er im folgenden genau erörtert. Für ihr Gebundensein
an eine fibröse Ostitis sprechen viele Umstände, so zum Beispiel,
daß in der Regel schon anamnestisch sich Anhaltspunkte für
Rachitis ergeben, daß, wie namentlich die neuere Literatur zeigt,
die Erkrankung meist sehr frühzeitig, im Kindesalter oder im
jugendlichen Alter beginnt, daß solitäre Zysten fast ausnahms¬
los an den Diaphysenenden der langen Röhrenknochen dicht
unterhalb der Epiphysennarbe sitzen usw. Auch die Pag et sehe
Ostitis deformans (Schuch ardts Osteomalacia chronica defor¬
mans hypertrophica) ist mit der Ostitis . fibrosa nahe verwandt
und bildet
e) die hyperostotisch - metapl'astischo Malazie. Sie bevor¬
zugt Schädel, Femur und Tibia und geht mit mächtiger Verdickung
der Knochen einher; dabei sind dieselben einerseits exquisit porös,
anderseits sklerotisch. Man kann daher zwischen einer hypero¬
stotisch -porotischen und einer hyperostotisch - metaplastischen
Malazie unterscheiden, ohne diese böiden Formen scharf
voneinander abzugrenzen, da zum Beispiel in demselben
Schädeldach porotische und sklerotische Stellen nebeneinander
Vorkommen können und auch das Vorkommen oder Fehlen der
Zysten nicht für eine Trennung maßgebend sein kann. Zu der
fibrösen Ostitis stellt er auch die häufig vorkommenden Kiefer¬
tumoren, die Myeloide Pagets, die Epuliden der Autoren und
Tumours ä myeloplaxes Nelato ns*, sowie entsprechende Ver¬
änderungen an den Schädelknochen vieler Tierarten, wofür er
die Bezeichnung hyperostotisch- und zystisch - metaplastische Ma¬
lazie — tumorbildende fibröse Ostitis1 der Säugetiere, vorschlägt.
Als höchste Entwicklungsstufe dieses Prozesses betrachtet er die
gutartigen Sarkome der Knochen, die Epuliden und Myeloid-
Uunoren beim Menschen. Ihr gelsamtes anatomisches und klinisches
Verhalten veranlaßt ihn, sie im Sinne Nelato ns als1 gutartige
hyperplastische Neubildungen und somit als Spielarten der meta-
plastischen Osteomalazie zu deuten. — An diese Formen der
Malazie reiht sich endlich
f) die myeloplastische (und hypostotische) Malazie Osteo¬
genesis imperfecta, welch letztere Bezeichnung er entgegen
manchen neueren Autoren nur im engeren Sinne Vrolilcs ge¬
braucht. Eingehende Untersuchungen an einem großen eigenen
Material zeigten ihm, daß in diesen Fällen neben der „Unvoll¬
kommenheit der osteoplastischen Apparate“ der Markhyperplasie
eine große Bedeutung zükommt und letztere soll eben in der neuen
Bezeichnung ihren Ausdruck finden. Unter diesem Namen wären
auch die kongenitale Osteomalazie (Marc1 hand), die fötale Osteo¬
porosis (Kund rat), die fötale Rachitis’ früherer Autoren und
manche andere Krankheitsbilder unterzubringen.
Recklinghausen wendet sich hierauf zur Besprechung
der im Laufe der Zeit entwickelten Anschauungen über die Aetio-
logie und den Stoffwechsel in der malazischen Erkrankung und
warnt vor einer Ueberschätzung der Bedeutung von Tierversuchen.
Ins besonders verhält er sich gegen die Bedeutung der bisher vor¬
liegenden Stoff Wechseluntersuchungen, gegen die Annahme einer
erhöhten Kalkberaubung oder verminderten Kalkzufuhr skeptisch;
seine eigenen ausgedehnten Untersuchungen konnten ihm keinen
Aufschluß über die Aetiologie der Krankheit geben.
In einem Schlußkapitel findet sich eine Zusammenfassung
aller erhobenen Befunde und der aus denselben abgeleiteten Fol¬
gerungen, worauf ein Verzeichnis der eigenen1 Fälle und eine
umfangreiche Literaturzusammenstellung folgt.
Der Atlas enthält auf 41 Tafeln 127 zum Teil farbige, überaus
sorgfältig hergestellte Abbildungen, die die makroskopischen und
histologischen Befunde des Verfassers erläutern und auf die allent¬
halben im Text Bezug genomrrien wird; außerdem ist jeder Tafel
eine Erklärung beigegeben. Die Tafeln umfassen ein überaus großes
Material sämtlicher in dem Werke abgehandelter Knochenerkran-
kungen, das in dieser Reichhaltigkeit wohl nur sehr wenigen Ana¬
tomen zur Verfügung gestanden haben dürfte.
In vorstehender Zusammenfassung konnte der reiche Inhalt
dieses Buches nur in groben Umrissen wiedergegeben werden,
aber vielleicht zeigt schon diese Uebers-icht, wie erschöpfend
Recklinghausen das Thema bearbeitet und wie er vielfach
neue, von der herrschenden Lehre häufig abweichende, Anschau¬
ungen vorgebracht hat. Sicherlich wird dieses Werk reiche An¬
regung zu weiterer Arbeit und zum Studium auf dem Gebiet
der Knochenpathologie geben, erklärt ja Recklinghausen
selbst in der Einleitung, er wäre glückselig, wenn es seinem Buche
gelingen wird, „wenigstens die äußere Schale der Dinge zu zeigen,
sie unter die richtigen Gesichtspunkte zu bringen, die Begriffe
zu klären und damit der Verwirrung zu wehren, welche der Lehre
von der Rachitis und Osteomalazie noch in so manchen Punkten
anhaftet“, er erhebt aber nicht den Anspruch, „alles zu lösen
und zu lichten“.
Recklinghausen wollte seine Arbeit der Berliner Uni¬
versität zu ihrer Jubelfeier am 10. Oktober 1910 überreichen, um
der Alma mater, in deren Schutz! er als Student und später als
Assistent Virchows eine Reihe der glücklichsten Jahre seines
Lebens verbrachte, in dieser Form seinen Dank abzustatten.
Es war ihm nicht beschießen, diesen Vorsatz1 auszuführen, immer¬
hin war aber, wie wir von seinem Sohne erfahren, das Bewußt¬
sein, daß „das Werk nunmehr geborgen“ war, die letzte große
Genugtuung -seines Lebens1. Daß dieses stolze Gefühl dem nimmer
rastenden Manne die Tage seines glücklicherweise nur kurzen
Leidens verschönte, mag einigermaßen damit versöhnen, daß es
Recklinghausen nicht mehr gegönnt war, sich an1 dem Er¬
scheinen seines großen Werkes 'zu freuen. Carl Sternberg.
Aus verschiedenen Zeitschriften.
517. Experimentelle Untersuchungen über die
Schar lach ätiologie. Von Dr. Georg Bernhardt, Assi¬
stenten am Institut für Infektionskrankheiten in Berlin. In der Er¬
wägung, daß das Scharlachvirus wahrscheinlich (in ähnlicher Weise
wie das Pockengift) eine besondere Affinität zum Epithel hat und
bei der Schwierigkeit, geeignetes Sektionsmaterial zu erhalten,
wählte Verf. als Ausgangspunkt den dicken, weißen, sich leicht ab¬
stoßenden Zungenbelag, der sich bei jedem Scharlachkranken
vor Eintritt der sogenannien Himbeerzunge findet. Dieses Ausgangs¬
material enthält zwar auch zahlreiche andere pathogene Keime (vor
allem Streptokokken), er hoffte aber, daß er — wenn ein Schar¬
lach beim Tiere entstanden — in einem bestimmten Zeitpunkte
und in bestimmten Organen das Scharlachvirus trotzdem rein er¬
halten werde. Das besagte Material wurde in physiologischer Koch¬
salzlösung gründlich geschüttelt, dann einem Affen in einer Menge
von 4 cm3 in eine Leistenbeuge subkutan injiziert. Ein Teil der
Emulsion wurde dem Tiere auf der Schleimhaut der Wange und
Zunge und auf den Tonsillen kräftig aufgerieben. Die Tiere er¬
krankten in einigen Tagen unter Fieber, die Leistendrüsen schwollen
an. Nach Verlauf mehrerer Tage wurden den Affen die Leisten-
700
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
drüsen der anderen (nicht injizierten) Seite exzidiert und das so
gewonnene Material, in ähnlicher Weise verarbeitet, anderen Affen
injiziert. Die dritte Tierpassage war schon kulturell steril, das
Material wurde in gleicher Weise verimpft. Dieses Tier erkrankte
nach vier Tagen mit 39 9° und allgemeinen Drüsenschwellungen.
Zunge dickschmierig belegt. Haut im Gesicht, Hals und Schultern
gerötet und besonders an Hals, Schultern und Brust deutlich
frieselig. Am nächsten Tage beginnt die Abschuppung am ganzen
Körper, die Zunge ist rot, die Papillen geschwollen (Himbeerzunge).
Die Abschuppung ist in den nächsten Tagen eine großlamellöse,
die Temperatur bleibt subnormal, die Schwellung der Drüsen geht
zurück, das Tier genest vollkommen. Von vier derartigen Passage¬
reihen gelangen drei, d. h. Verf. konnte bei Ueberimpfung von
Affe zu Affe das geschilderte Krankheitsbild erzeugen. Ueber die
vierte Passage hinaus gelang die Impfung aber nicht. Auch keim¬
frei filtriertes Material erzeugte bei der Ueberimpfung Fieber, Drlisen-
schwellung, Exanthem, Abschuppung etc. Die Abschuppung war
zuweilen kleinlamellös oder kleienförmig. Einem scharlachkranken
jungen Manne wurde aus einer Hautblase etwas Serum entnommen,
und einem Affen injiziert ; es entstand das beschriebene Krankheits¬
bild mit nachfolgender Glomerulonephritis. Insgesamt wurde bei
19 Impfungen 14mal eine Infektion herbeigeführt. Verf. resümiert
1. In den initialen Zungenbelägen, den Lymphbahnen der Haut
und den Lympbdrüsen Scharlachkranker ist ein Virus vorhanden,
das, auf niedere Affen übertragen, bei diesen mit wechselnder In¬
kubationszeit ein Krankheitsbild hervorzurufen vermag, das in allen
wesentlichen Punkten dem des Scharlachs beim Menschen gleicht.
2. Dieses Virus, ohne eine Beimengung irgendwelcher Bakterien
von Affe zu Affe weilerverimpft, vermag dasselbe Krankheitsbild zu
erzeugen. 3. Die beschriebene Allgemeininfektion kann von der
Mundhöhle als Eintrittspforte aus, ohne eine Verletzung der äußeren
Haut, hervorgerufen werden. 4. Das Virus gehört höchstwahrschein¬
lich in die Gruppe der filtrierbaren Virusarten. — (Deutsche med.
Wochenschr. 1911, Nr. 17.) E. F.
*
518. Aus dem hygienischen Institut (Direktor Prof. Doktor
H. Kos sei) und dem Samariterhaus (Direktor Exzellenz Wirklicher
Geheimer Rat Prof. Dr. V. Czerny) zu Heidelberg. Ueber eine
Tetanusinfektion nach subkutaner Einverleibung
von Radiolk arbenzym. Von Priv.-Doz. Dr. K. Laube n-
heimer und Dr. A. Caan. Durch die Verbindung enzymatischer
und radioaktiver Substanzen mit pulverisierter Pflanzenkohle, wie
sie in dem Radiolkarbenzym verwirklicht wurde, ist es möglich,
wirksame Radiumdepots innerhalb der Tumoren zu schaffen. Die
S t i c k e r - F a 1 k sehen Versuche ergaben auch Einschmelzung und
Erweichung von krankhaftem Gewebe in ausgedehntem Maße und
zwar ohne Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens. Die im Sama¬
riterhause angestellten Versuche zeigten gleichfalls eine günstige
Beeinflussung. Es kam in der Regel nach Einverleibung des Prä¬
parates zu vorübergehenden stürmischen Erscheinungen, denen als¬
bald subjektive Erleichterung und Schrumpfung der Tumoren folgte.
Die Versuche wurden aber abgebrochen, als im Anschlüsse an eine
Einspritzung eine Tetanusinfeklion auftrat, die zum Tode des Patienten
führte. Zur Verwendung kamen die von Dr. A s c h o f f hergestellten
Radiolkarbenzymampullen. Es handelte sich um einen 17jährigen
Gymnasiasten mit einem mehrfach rezidivierten Lymphosarkom der
rechten Halsgegend. Am 19. Oktober 1910 inlratumorale Injektion
von 1 cm3 Radiolkarbenzym. Nach einer x/2 Stunde Schüttelfrost,
Temperatur 39’5, Schmerzen an der Injektionsstelle, Kopfschmerzen.
In den nächsten Tagen wiederholte Inzisionen fluktuierender Stellen,
leichte Besserung. Am 4. November 1910 zweite Injektion von
Radiolkarbenzym, 0'5 in die Nähe der alten Einspritzungsstelle und
0'5 in den submentalen Knoten. Dieselben Reaktionserscheinungen
wie früher. Nach zwei Tagen Tetanussymptome. In der Nacht wie¬
derholte Erstickungsanfälle, so daß Pat. früh tracheotomiert werden
mußte. Nach einigen Stunden Exitus. In den Ausstrichpräparaten
der nekrotischen Gewebsstücke fanden sich Tetanusbazillen. Durch
den Tierversuch und Kulturverfahren wurde bewiesen, daß der
Tetanus von dem infizierten Lymphosarkom seinen Ausgang ge¬
nommen hatte. Von dem genannten Präparat wurden nun ver¬
schiedene Ampullen im Tierversuch und durch Kulturverfahren
untersucht. Diese Versuche bewiesen das Vorkommen von Tetanus¬
keimen in dem Radiolkarbenzym. Die Tetanusinfektion muß somit
auf das Präparat selbst zurückgeführt werden. Wie die Tetanus¬
keime ins Radiolkarbenzym hineingelangt sind, ist schwer zu sagen.
Ein Versuch experimentell festzustellen, welche von den beiden
Komponenten für die bakteriellen Verunreinigungen des Radiol-
karbenzyms verantwortlich zu machen sei, führte zu keinem
Resultat, denn der Inhalt von sechs Ampullen, die nur »Radiol«
enthielten, erwies sich als vollkommen steril, ebenso auch das
Karbenzym allein, von dem allerdings nur eine Probe untersucht
wurde. Dieser Befund ist den Verfassern um so auffallender, als
sämtliche Proben der Mischung sich als hochgradig infiziert erwiesen.
Die Verfasser betonen zum Schlüsse, daß therapeutische Präparate,
die subkutan dem Körper einverleibt werden sollen, mit der größten
Vorsicht angewendet werden müssen, zumal, wenn infolge der Natur
des Präparates eine absolut sichere Sterilisation nicht gewährleistet
werden kann. — (Münchener med. Wochenschr. 1911, Nr 17.)
G.
*
519. Dr ei mit E h r 1 ich -H a ta- In jekti on behandelte
luetische Augenerkrankungen. Von Priv.-Doz. Doktor
C. Hirsch. Verfasser berichtet über zwei Fälle von luetischer
Atrophie der Pupillen, 'bei welcher durch dais Ehrlichsche Mittel
wesentliche Besserung der Sehstörung erzielt werden konnte, in
einem dritten Falle, wo reflektorische Pupillenstarre vorhanden
war, trat wieder Beweglichkeit der Pupille ein. Das Ehrlich-
H a lasche Mittel sei also ferner nicht mehr bei Kranken mit
Sehnervenstörung als kontraindiziert zu betrachten. Auch Gefä߬
erkrankungen dürfen keine Kontraindikation mehr bilden, da in
dem einen Falle vermittels des Augenspiegels deutlich die Rück-
bildungsfähigkeit der luetischen Gefäßwandwucherungen nach der
Injektion beobachtet werden konnte. — (Fortschritte der Medizin
1910, 28. Jahrg., Nr. 52.) K. S.
♦
520. Eröffnung neuer Abfuhrwege bei Stauung
in Bauch und unteren Extremitäten. Von Prof. Lanz.
Verf. hat die Talmasche Operation bei hochgradigem Aszites
infolge Leberzirrhose viermal ausgeführt. Das erstemal mit vollem
Erfolg, im zweiten Falle weiß Verf. nicht, ob das Resultat ein
dauernd günstiges geblieben ist, im dritten und vierten Falle war
das Resultat ein völlig negatives. In einem fünften Falle, bei dem
die klinische Diagnose auf Aszites infolge Leberzirrhose gestellt
war, wurde von einem rechtseitigen Inguinalabschnitt aus die
Bauchhöhle eröffnet, wobei sich 12 bis 15 Liter Aszitesflüssigkeit
entleerten, hierauf deü rechte Hoden nach oben luxiert, vom Fundus
scroti losgelöst durch Durchquetschen des Gubernaculum Hun¬
ten mit der Rouxschen Angiotribe; hierauf wurde die Tunica
vaginalis propria testis gespalten, der Hoden in die freie Bauch¬
höhle gebracht und der Samenstrang in ganzer Länge zu beiden
Seiten der peritonealen Inzision fixiert und die Laparotomie-
wunde geschlossen. Eine Besserung trat nicht ein, fünf Wochen
post Operationen! starb der Patient. Die Autopsie ergab tuber¬
kulöse Peritonitis, eine Wiederansammlung der Flüssigkeit hatte
nicht stattgefunden. — (Zentralblatt für Chirurgie 1911, Nr. 5..1
E. V.
*
521. (Aus der I. Chirurg. Abteilung des städt. Krankenhauses
am Urban in Berlin. — Prof. Dr. Körte.) Ueber Hernia
pec tinea. Von Dr. Ulrichs. Das Bemerkenswerte dieser Her¬
nienart ist ihre Lage unter der Fascia pectinea, die auch als tiefes
Blatt der Fascia lata bezeichnet wird. Verf. teilt die Kranken¬
geschichte eines operierten Falles mit, bei welchem neben Er¬
scheinungen eines Darmverschlusses (plötzliches Einsetzen von
Bauchschmerzen mit Erbrechen, kein Stuhl), eine Vorwölbung in der
Fossa ovalis (dicht unterhalb des Ligamentum Pouparti) bestand.
Diese schmerzhafte Anschwellung am rechten Oberschenkel, die
gleichzeitig mit den Allgemeinerscheinungen des Darmverschlusses
aufgetreten war, wies auf eine Darmeinklemmung in einem tief¬
liegenden Bruchsacke hin, die Diagnose schwankte zwischen Herma
pectinea oder Hernia obturatoria. Die Operation verschaffte Auf¬
klärung. Nach Spaltung der Fascia pectinea wurde die Brueh-
geschwulst sichtbar, die in dem muldenförmig auseinandergedrängten
Musculus pectineus lag. Sie war durch den inneren Schenkelring aus¬
getreten und wie bei den gewöhnlichen Schenkelbrüchen saß auch
dort die Einklemmung. Nach mehreren Leichonuntersuchungen hält
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
761
Verf. die auch von anderen geteilte Ansicht für richtig, daß an
der Fascia pectinea gelegentlich Lücken Vorkommen, vielleicht an
Durchschnittsstellen von Gefäßen, die der Hernie den Durchtritt er¬
möglichen. An den von ihm untersuchten Leichen hat er solche
Lücken aber nicht gesehen. Der Verfasser bespricht sodann die Lage
der Hernia pectinea zu den Femoral gefäßen. Zum Unterschiede von
der sogenannten Hernia retrovascularis liegt die Hernia pectinea
unter der Faszie, also eine Schicht tiefer. Sie tritt medial von den
Gefäßen, dicht am Ligamentum Gimbernati aus, liegt demnach zu¬
erst neben ihnen. Erreicht sie aber eine gewisse Größe, so ver-
v er läuft sie mit dem Musculus pectineus in dessen Faserrichtung lateral-
vvärts, so daß sie schließlich hinter die Gefäße gelangt — was ge¬
rade im letztoperierten Falle, der einen sehr langen Bruchsack auf¬
wies, sehr deutlich zu sehen war. Im weiteren unterscheidet Verf.
diese Hernie von der Hernia obturatoria (die Pectinea tritt durch
den Schenkelring aus und zieht über den horizentalen Schambein¬
ast, die Obturatoria geht durch den Canalis obturatorius und erscheint
unterhalb des Knochens) und bespricht die Schwierigkeit der
Diagnose. In zwei früheren Fällen, die in demselben Krankenhause
operiert wurden, machte man erst die richtige Diagnose bei der
Laparotomie. Im ganzen wurde die Hernia pectinea 4m al durch Ob¬
duktion (2 mal beiderseits), 4mal durch Laparotomie, 7mal durch
Herniotomie gefunden. Meistens saß sie rechts. Körtes jüngster
Fall genas rasch. Sonst sind die Operationsresultate noch recht
ungünstig, es starben von 11 Operierten 7, einmal (May dl) ist
das Resultat nicht angegeben. Drei Frauen wurden durch die
Operation (Herniotomie, einmal mit anschließender Darmresektion)
geheilt. — (Deutsche med. Wochenschr. 1911, Nr. 17.) E. F.
*
522. ZurRöntgendiagnostikdes runden Magen¬
geschwürs. Von Prof. Dr. F. de Quervain in Basel. Die
Diagnose großer Magengeschwüre wird derzeit mit großer Sicherheit
aus der im Röntgenbilde gefundenen Ausbuchtung der Magenkonlur
an der kleinen Kurvatur, aus dem längeren Liegenbleiben des
Wismutschattens an dieser Stelle, aus der Luftblase daselbst, sowie
aus der ausgesprochenen Sanduhrform des Magens gestellt, während
dies bei den weniger weit vorgeschrittenen Magengeschwüren viel
schwieriger ist. Faul h aber kommt auf Grund des Befundes
eines von En der len operierten Sanduhrmagens, bei dem die
Operation eine noch für drei Finger durchgängige Stenosierung er¬
geben hatte, während das Rönigcnbild eine hochgradigere Ver¬
engerung erwarten ließ, zum Schlüsse, daß neben der anatomischen
Stenosierung noch eine lokale, tetanische Kontraktion der Magen-
muskulalur vorhanden war, welche nach der Ingestion reflektorisch
durch das Ulkus hervorgerufen wurde. Er unterscheidet diese konstante,
lelanische Kontraktion von der periodisch auftrelenden und dann
sich wieder lösenden Kontraktion, wie sie dem funktionellen Sanduhr¬
magen zugrunde liegt. Als Ursache derselben ist der Reiz des Ulkus
anzusehen. Rieder betont die Bedeutung der Atropindarreichung
zur Erkennung der spastischen Form und gibt als Ursache dieser
spastischen Zustände Ulkus, Erosion an, schreibt aber auch im
Gegensatz zu Haudek dem Karzinom die Fähigkeit zu, derartige
spasmodische Kontraktionen zu veranlassen. Die Frage nun, ob
ein Geschwür in dem betreffenden Magensegment eine tetanische
Kontraktion zu unterhalten imstande ist, ist nur durch gleichzeitige
Berücksichtigung von Röntgenbild und Autopsie in vivo zu lösen.
Verf. berichtet nun über eine derartige Beobachtung. Eine 36jährige
Patientin kam zur Röntgenisierung, da ihre Beschwerden durch die
klinische Untersuchung nicht gedeutet werden konnten. Sie halle
kurz nach der Nahrungsaufnahme Schmerzen, die weit nach rechts
hin projiziert wurden, so daß man nicht von vornherein an Ulkus
dachte. Das Röntgenbild ergab einen sehr steilstehenden Magen,
dessen Pars pylorica links von der Wirbelsäule lag. An der kleinen
Kurvatur weit oben eine ganz leichte Vorbuchtung, ihr gegenüber
eine scharf geschnittene Einschnürung des Magens, mehr als die
Hälfte seines Durchmessers. Um einen vorübergehenden Spasmus
auszuschließen, wurden wiederholte /Schirmunlersuchungen vorge¬
nommen. Immer dasselbe Bild. Verf. nahm eine mäßige organische
Verengerung des Magens, einen narbigen Sanduhrmagcn an. Die
Operation zeigte ein kleines, mit dem Pankreas verwachsenes
Magengeschwür, aber keinerlei Verengerung des Magens selbst.
Von narbigem Sandubrmagen war keine Spur vorhanden. Heilungs¬
verlauf normal. Sechs Wochen nach der Operation steht im Röntgen¬
bild der ganze Magen höher als vor der Operation. Die Pars
pylorica ist der Kardia wesentlich genähert, der Magen nach der
kleinen Kurvatur hin zusammengeknickt, dabei besieht die Ein¬
buchtung der großen Kurvatur in gleicher Weise fort. Zehn Minuten
nach Alropinverabreichung wurde eine neue Aufnahme gemacht.
Dieselbe ergab ein fast völliges Verschwinden der Einziehung der
großen Kurvatur. Dieser Fall liefert also den strikten Beweis, daß
ausgesprochene Sanduhrform des Magens durch tetanische Kontrak¬
tion der Magenwand in der Höhe eines Ulkus zustande kommen
kann, unabängig von irgendwelcher narbigen Schrumpfung oder
perigastrischer Veränderung Die Tatsache, daß die Kontraktion nur
bei wismutgefülltem Magen nachweisbar war, bei der Operation
dagegen fehlte, ist nach Verf. nicht so sehr mit der Narkose in
Zusammenhang zu bringen, als darauf zurückzuführen, daß der
Magen durch Nahrungszufuhr gereizt wird. Es fragt sich also, ob
es auf Grund des Röntgenbildes möglich ist, Spasmus bei Ulkus
von reinem Spasmus zu unterscheiden. Eine bestimmte Antwort
läßt sich dermalen nicht geben. Verf. kann nur folgendes sagen :
1. Jede auch noch so geringe Ausbuchtung der Magenkontur an
der kleinen Kurvatur spricht für noch bestehendes Ulkus, während
sich aus geradliniger oder gleichmäßig geschwungener Form der
kleinen Kurvatur nicht gegen Geschwür schließen läßt. 2. Je tiefer
und je andauernder die Kontraktur ist, um so eher wird sie
organisch bedingt sein. Seichte, rasch vorübergehende oder multiple
Kontrakturen sprechen für eine rein funktionelle Erscheinung.
3. Bei verschiedenen Untersuchungen stets gleichbleibender Sitz
spricht für durch Geschwür bedingte, wechselnder Sitz für rein
funktionelle Kontraktur. — (»Münchener med. Wochenschr. 1911
Nr. 1 7.) G.
*
523. Ueber Tr opine und Opsonine im Diphtherie-
immuns erutn. Von Oberstabsarzt Dr. Lindemann, komman¬
diert zum Kaiserlichen Gesundheitsamt. Für eine antiinfektiöse
Wirkung des Diphtherieserums kommen bisher nur die phago¬
zytären Antistoffe in Betracht, da bakterizide Ambozeptoren weder
von Lindem an n, noch von anderen im Diphtherieimmunserum
gefunden werden konnten und die Agglutinine der allgemeinen
Ansicht nach als Heilstoffe überhaupt keine Rolle spielen. Trotz¬
dem glaubt Lindemann, die Möglichkeit, auch von antiinfek¬
tiösen Antikörpern (Tropinen und Opsoninen) bei der Serum¬
behandlung der Diphtherie Nutzen zu ziehen, nicht von der
Hand weisen zu dürfen und rät, zu Heilversuchen solche Sera
zu verwenden, bei denen auf Grund exakter Versuche ein hoher
Gehalt an den genannten Antistoffen festgestellt ist. Tatsächlich
haben Martin, Prevot und Loiseau kürzlich Beobachtungen
mitgeteilt, wonach antibakterielle Diphtherieseren klinisch bessere
Wirkungen haben sollen, als rein antitoxische Sera. — (Arbeiten
auis dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 1910, ßd. 36, 11. 2.)
K. S.
*
524. Ueber einen Fall von Darm perforation bei
Kürettage des Uterus. Von Karl Justi. Eine 21jährige
Chinesin erkrankte au akuter Gonorrhoe und wurde auch mit
intrauterinen Aetzungen behandelt. Wegen der darauf entstehen¬
den Entzündung des Uterus wurde kürettiert. Hiebei kam es zur
Perforation des Uterus mit konsekutiver Peritonitis. Zwei Mo¬
nate nach der Kürettage wurde ein Abszeß zwischen Vagina und
Rektum eröffnet Entstehen einer Rektalfistel. Unter wechseln¬
den Fiebertemperaturen, manchmal bis zur Norm herabfallend,
ziemlich unverminderter Status, bis fünf Monate nach der Küret¬
tage die Laparotomie vorgenommen wurde, die eine Fistel des
Cökums aufdeckte. Es war bei der Kürettage zur Perforation de«
Uterus und des Cökums gekom'men! Drainage. Im weiteren Ver¬
laufe Ausbildung einer Dünndarmfistel. Nach zwei mißglückten
Versuchen, diese zu schließen, Kolostomic. Nach Schluß der Fisteln
auch operativer Schluß der Kolostomie. Endgültige Heilung. —
(Zentralblatt für Gynäkologie 1911, Nr. 5.) E. V.
*
525. Die Bedeutung des Dampfstrahls für die The¬
rapie. Von Prof. Dr. L. Brioger in Berlin. Die feuchte Wärme
durchdringt, im Gegensatz zur trockenen heißen, wegen ihrer
ausgezeichneten Leitungsfähigkeit sehr rasch die Organe des Kör¬
pers, um sich ebenso schnell und ausgiebig in deren Tiefen zu
762
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
vierteilen. In dieser Hinsicht greift nun der Dämpfstrahl von
hoher Spannung am energischesten ein und verursacht (nach
Herz) in seinem Wirkungsbezirk eine über 24 Stunden sich
hinziehende Hyperämie, welche den Heilungsvorgang wesentlich
fördert. Der Dampfstrahl von hoher Spannung kommt deshalb in
der vom Verfasser geleiteten hydrotherapeutischen Anstalt der
Universität Berlin fast bei einem Drittel der Patienten zur An¬
wendung. So wird der Dampfstrahl bei Ischias als wärmestauende
Prozedur benützt, d. h. man läßt denselben 10 bis 15 Minuten
lang auf die schmerzhaften Stellen des Ischiadikus, resp. seiner
Hautäste einwirken und schließt hieran das vom Verfasser an¬
gegebene Bewegungsbad, ein Verfahren, das sich als sehr1 vorteil¬
haft erwiesen hat. Der Dampfstrahl beseitigt am schnellsten
den bestehenden Schmerz, macht anderseits das Gewebe sehr
sukkulent und schafft damit für die Massage zur Entfernung der
krankhaften Produkte einen günstigen Boden, was bei der Zu¬
fuhr der trockenen Wärme nicht der Fall ist. Die Dampfduschen¬
massage ist am meisten indiziert bei Gelenkserkrankungen infolge
von Rheumatismus, Gicht, Tripper, namentlich in der monartiku¬
lären Form. Die Omarthritis mit oder ohne Brachialneuralgie, aber
auch die Koxitis 'und alle sonstigen monartikulären Gelenksaffek¬
tionen erweisen sich für diese Therapie als' sehr geeignet (Brin¬
ger und Laqueur). Erst kürzlich wurde ein sehr bedrohlicher
Fall von rheumatischer Kieferklemme auf diese Weise schnell
behoben. Bei der Nachbehandlung von akutem oder subakutem
Gelenksrheumatismus ist der etwaigen Erkältungsgefahr sofort
durch wechselwarme Fächerdusche (Winternitz) zu begegnen.
Diese Art. der Behandlung empfiehlt sich auch für die beginnende
Versteifung der Wirbelsäule (Bechterews Spondylosis rhizomelica),
wie Verfasser an drei Patienten beobachten konnte, sowie im
Anfang der einfachen Arthritis. Andrerseits trotzen manche Ge¬
lenksleiden jeder Wärmebehandlung, dagegen erweist sich bei
ihnen eine intensive, feuchte Kältebehandlung, besonders in Form
der Longuetten, sehr hilfreich. Bei der Nachbehandlung der trau¬
matischen Gelenkserkrankungen, Distorsionen, Luxationen, Kno¬
chenfrakturen möchte Verf. zur Linderung der Schmerzen, Be¬
förderung der Resorption von Ergüssen, Erweichung der Gewebe,
insbesondere als Vorbereitung für die nachfolgende Massage und
Gymnastik, den Dampfstrahl nicht missen. Auch Narbenkontrak¬
turen, besonders die Dupuytren sehe Kontraktur, ferner Bra¬
chial-, Trigeminus-, Interkostalneuralgien, der Muskelrheumatismus
(mit nachfolgender Massage), die Lumbago, Plattfußbeschwerden,
Beschäftigungsneurosen usw. werden mit dem Dampfstrahl gün¬
stig beeinflußt. Li s sauer hat die Dampfdusche als Expektorans
bei chronischen Bronchitiden (auch solcher tuberkulöser Natur)
mit sehr guter Resultaten angewandt. Unter einem Druck von
1-5 Atmosphären wird der Dampf ca. 15 Sekunden auf den Thorax
appliziert, gefolgt von einer Fächerdusche von 15 bis 20° C,
fünf Sekunden Dauer. Verf. hält es für ratsamer, den Dampf
länger einwirken zu lassen, am Schluß gefolgt von einem wechsel¬
warmen Fächer. Das Verfahren hat sich unter Umständen auch
beim Icterus catarrhalis und bei Schmerzen von Gallensteinen,
bei Cholezystitis, sowie überhaupt schmerzhaften Affektionen der
Leber und Nieren (Nephrolithiasis), sowie bei allen Koliken der
Abdominalorgane vorteilhaft bewährt. Der Dampfstrahl dürfte
sich noch andere therapeutische Gebiete erobern, zumal sein
Assistent Dr. Fürstenberg eine transportable Einrichtung
(„Vapophor“) konstruieren lie. ', wodurch der hochgespannte Dämpf
auch in kleineren Anstalten und selbst dem praktischen Arzte
zugänglich gemacht worden ist. — (Medizinische Klinik 1911,
Nr. 14.) E. F.
*
526. (Aus dem pathologisch -anatomischen Institut Basel.
Vorsteher: Prof. He ding er.) Zur Frage der rezidivie¬
renden Prostatahypertrophie nach Prostatektomie.
Von Dr. E. Lamport, Volontärassistent am Institut. Bei par¬
tiellen oder auch sogenannten totalen Prostatektomien kann sich
die Prostatavergrößerung erfahrungsgemäß wieder ein stellen und
zwar oft ziemlich rasch. In dem von Lamport anatomisch -histo¬
logisch untersuchten Falle, zeigte sich, daß die Substanz der
Prostata einer großen Regeneration fähig ist, ohne im geringsten
Spuren einer malignen Entartung zu zeigen. — (Korrespondenz¬
blatt für Schweizer Aerzte 1911, 41. Jahrg., Nr. 3.) K. S.
527. Karzinom des Zervixstumpfes nach supra-
vaginaler Amputation dos myomatösen Uterus. Von
Dr. Rudolf Ekler. Es wurde bei einer 35jährigen Frau die
supravaginale Amputation des myomatösen Uterus ausgeführt.
Die histologische Untersuchung ergab keinerlei maligne Dege¬
neration. Vier Jahre post operationem traten Kreuzschmerzen,
Ausfluß und Abnahme des Körpergewichtes um 4!4 kg auf. Die
Untersuchung ergab ein Karzinom des Zervixstumpfes. Radikal¬
operation nach Wert heim. Die Parametrien vollkommen frei,
keinerlei metastatische Drüsen. Am Präparat sieht man dicht
über dom Orificium externum ein kirschkerngroßes karzinoma-
töses Geschwür. Heilung. — (Zentralblatt für Gynäkologie 1911,
Nr. 8.)_ E. V.
*
528. (Aus dem chirurgisch-poliklin. Institut der Universität
Leipzig — bisheriger Direktor: Prof. Dr. Perthes.) Ueber
Arthritis deformans juvenilis. Von Prof. Dr. Perthes.
Verf. veröffentlicht die Krankengeschichten von sechs in kurzer
Zeit beobachteten Fällen dieser interessanten Krankheit und zieht
den Schluß, daß die Krankheit viel häufiger vorkomme, als man
bisher geglaubt hat und daß ihre praktische Bedeutung eine große
ist. Die Symptome sind zum Teil denen der Koxitis ähnlich und
die beiden Krankheiten können daher verwechselt werden. Die Be¬
schränkung der Beweglichkeit ist das auffallendste Symptom, die¬
selbe ist aber nicht bedingt durch reflektorische Muskelspannung
oder Verwachsung wie bei Koxitis, sondern durch die mechanischen
Verhältnisse des Gelenkes infolge Gestaltsveränderung des Kopfes.
Die Bewegungshemmung kann nach verschiedenen Richtungen ver¬
schieden ausgebildet sein ; am meisten scheint die Abduktion ge¬
hemmt zu sein, während die Beugung erhalten ist ; auf diesen
Gegensatz zwischen Flexionsmöglichkeit und Abduktionshemmung
macht Verf. ganz besonders aufmerksam. Schmerzen sind entweder
gar nicht vorhanden oder treten nur nach längerem Gehen auf;
Krepitation ist nur selten zu finden. Auffallend ist weiters der
hinkende Gang, welcher weniger durch Verkürzung, als vielmehr
durch Insuffizienz der Abduktoren bedingt ist. Schon in den An¬
fangsstadien sieht man im Röntgenbilde leichte Veränderung des
Oberschenkelkopfes im Sinne einer Abflachung desselben, weiters
finden sich subchondrale Aufhellungsherde ; in späteren Stadien
sind die Resorptionserscheinungen am Kopf stärker, außerdem finden
sich Wucherungs Vorgänge an Kopf und Pfanne. Die Krankheit ist
gewöhnlich progredient. Die konservative Therapie kann im Anfang
des Leidens vieles leisten. Von einer immobilisierenden Behandlung
sah Verf. Nachteile, hingegen kann man mit passiven Bewegungen,
sei es manuell oder mit Hilfe von mediko-mechanischen Apparaten,
der Ausbildung von Knochenhemmungen entgegenarbeiten. Der
Knochenprozeß kommt zwar nicht zum Stillstand, aber der Knochen
wird so ummodelliert, daß die Bewegungshemmungen geringer
werden. In sehr vorgeschrittenen Fällen, bei welchen hochgradige
Schmerzen beim Gehen auftreten, kann die Resektion des Gelenkes
in Frage kommen. - — (Deutsche Zeitschr. f. Ghir., Bd. 107,
Nr. 1 bis 3.) se-
*
529. (Aus dem Heidelberger Institut für Krebsforschung. —
Direktor: Exzellenz Geheimrat Prof. Dr. V. Czerny.) Erfah¬
rungen mit Salvarsan bei malignen Tumoren. Von
Prof. Dr. V. Czerny und Dr. Albert Caan. Es wurden im ganzen
12 maligne Tumoren mit Salvarsan behandelt. Von 7 Karzinom¬
fällen handelte es sich 2mal um Neubildungen des Magendarmtraktes,
3mal der Zunge und je lmal Lippen- und Mundhöhlenkarzinom.
Bei einem 61jährigen Manne mit Rektumkarzinomrezidiv wurde
0 6 Salvarsan in die rechte Subklavikulargegend injiziert. Nur die
Beschwerden beim Urinieren ließen nach, die lokalen Schmerzen
wurden ebenfalls geringer, aber eine Beeinflussung der Rezidivknoten
erfolgte nicht. Ein 49jähriger Mann mit einem inoperablen Magen¬
karzinom entzog sich nach der Injektion der weiteren Beobachtung.
In 3 Fällen von Zungenkarzinom mit deutlicher Komplement¬
ablenkung konnte eine wesentliche subjektive Besserung erzielt
werden. Bei einem Patienten mit Lippenkarzinomrezidiv kam es zu
einer Verflüssigung des Tumors und Nachlaß der Schmerzen. Das
Fortschreiten des karzinomatösen Prozesses konnte jedoch nicht ver¬
hütet werden. Bei einem Mundhöhlenkarzinom wurden die Schmerzen
und die Neubildung ganz unbeeinflußt. Eine günstigere Reaktion
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
768
zeigten 2 Sarkome mit positivem Wassermann. Während es hei
dem ersten Fall (Sternalsarkom) hauptsächlich zu einer subjektiven
Hebung des trostlosen Zustandes kam, zeigte der zweite Fall, ein
I9jähriger Techniker, eine auffallende Besserung. Patient hatte ein
von der Ohrspeicheldrüse ausgehendes linksseitiges Sarkom. Am
21. Oktober 1910 0'2 Salvarsan intratumoral, 0'3 intraglutäal.
Am 31. Oktober wurde ein walnußgroßes, nekrotisches Stück Tumor
aus der ulzerierten Stelle herausgepreßt. Pat. fühlte sich bedeutend
erleichtert und wurde nun ambulant behandelt. Anfangs Januar hat
sich die Geschwulst vollständig zurückgebildet, keine Beschwerden.
Pat. wurde zum Militärdienste als tauglich erklärt. Bei 3 Lympho¬
sarkomen kam es nur in einem Fall zu einer deutlichen Besserung
des subjektiven Befindens, während der objektive Befund keine
wesentliche Veränderung zeigte. Im ganzen zeigt sich also, daß die
Sarkome am günstigsten beeinflußt wurden, am wenigsten die
Lymphosarkome (auch Hodgkin sehe Krankheit). Bei den
Karzinomen war bisweilen neben der subjektiven Besserung eine
gewisse objektive Beeinflussung der Tumoren nicht zu verkennen.
Bei einem Kranken mit Zungenkarzinom, dessen intensive Schmerzen
selbst durch große Morphiumdosen nicht gelindert wurden, konnte
durch Salvarsan absolute Schmerzlosigkeit ausgelöst werden. Am
meisten Nutzen sahen die Verfasser von der kombinierten Ein¬
spritzung in den Tumor und die Glutäen, wobei eine gewisse elektive
Wirkung auf die Zellen der Neoplasmen nicht zu verkennen war.
Die Verfasser kommen zu folgenden Schlußfolgerungen: 1. Bei in¬
operablen malignen Tumoren mit positiver W assermann scher Re¬
aktion und hier vor allem bei Sarkomen, ist der therapeutische
Versuch mit Salvarsan angezeigt. Zu begründen ist die Anwendung
mit der günstigen Beeinflussung gewisser Geschwülste, vor allem
der Sarkome (Verflüssigung, Nekrotisierung) und mit der auffallenden
schmerzstillenden Wirkung in fast allen zur Behandlung gekom¬
menen Fällen. Außerdem gibt Veranlassung zur Erprobung des
Mittels die Tatsache, daß Arsenik eines der ältesten und in mancher
Pachtung wirksamsten Medikamente gegen bösartige Geschwülste ist
und ferner, daß das Präparat als wirksames spirillozides Mittel viel¬
leicht auch bei einigen Arten von Tumoren gute Dienste zu tun
imstande ist. 2. Operable Tumoren sind unter allen Umständen
chirurgisch zu entfernen, doch ist die Frage, ob nicht speziell bei
Sarkomen mit positiver Wassermannscher Reaktion ein Ver¬
such mit Salvarsan analog der Esmarch sehen Jodbehandlung
vorausgeschickt werden soll. 3. Die Salvarsanbehandlung maligner
Tumoren ist wegen der bisweilen auftretenden stürmischen Reaktions¬
erscheinungen zunächst nur klinisch durchzuführen. Kachektische
und geschwächte Patienten sind von der Behandlung auszuschließen.
4. Die bisherige Dosierung (einmalige Injektion von 0 4 bis 0‘6 Sal¬
varsan) erscheint für die Behandlung maligner Neoplasmen zu
gering, es wäre je nach der Ausdehnung des Falles die mehrfache
Verabreichung von ähnlichen Dosen zu versuchen. 5. Eine Kom¬
bination von intratumoraler Einverleibung mit der Verwendung des
Salvarsans am Ort der Wahl erscheint zweckmäßig (nach den
neuesten Erfahrungen dürfte die intravenöse Applikation die größten
Vorteile bieten). Auch hier wird die Frage der Dosierung weiteren
Versuchen Vorbehalten bleiben müssen. — (Münchner medizinische
Wochenschr. 1911, Nr. 17.) G.
*
530. Ueber die Prognose und den Verlauf der
Pneumokokkenmeningitis. Von Prof. Dr. Fr. Roily in
Leipzig. Unter 30 Fällen von Pneumokokkenmeningitis, welche in
den letzten fünf Jahren an der mediz. Klinik der Universität in
Leipzig beobachtet wurden, befinden sich vier geheilte Fälle.
In 3 Fällen bestand gleichzeitig eine Pneumokokkenpneumonie, im
4. Falle (23/4 Jahre altes Kind) eine Bronchitis. Verf. beschreibt
diese 4 Fälle eingehend. Die übrigen 26 Fälle sind gestorben. »Auf
dem Wege der Lymphbahnen oder auch durch direkten Kontakt ge¬
langen die Pneumokokken vom Rachen und der Nase bei Rhinitis,
Nasennebenhöhlenerkrankungen, Otitis media in die Meningen,
während bei der Pneumonie und bei der Sepsis die Infektion fast
ausschließlich auf dem Blutwege erfolgen dürfte.« Bei den 26 letal
verlaufenen Fällen setzte die Krankheit ziemlich akut ein, allerdings
mit geringfügigen Prodromen, welche 1 bis 7 Tage lang anhielten.
Die meningitischen Symptome können aber auch, wie 5 Fälle
zeigten, ganz plötzlich, ohne jegliches vorausgegangens Unwohlsein,
mit rasenden Kopfschmerzen, starkem Schwindel, Erbrechen, Fieber
und Unruhe einsetzen. Nur ein einzigesmal bestand im Beginn ein
Schüttelfrost. Stets waren bei diesen Kranken Nackensteifigkeit,
meist auch hochgradige Sehmerzempfindlichkeit bei Bewegungen
des Kopfes, allgemeine Hyperästhesie, Zähneknirschen, sowie das
Kernigsche Symptom ausgesprochen. Das Abdomen war meist
flach und weich, 5mal waren die Bauchdecken bretthart gespannt
und kahnförmig eingezogen. Ein deutlicher Herpes war nur in
4 Fällen. Verf. beschreibt sodann das Verhalten der Temperatur,
des Pulses, der Respiration, das frühe Auftreten einer Trübung des
Sensoriums, das Erscheinen von Muskelspasmen oder Lähmungen,
das .Verhalten der Reflexe etc. und fährt sodann fort : Die bei den
meisten Kranken ausgeführte Lumbalpunktion ergab einen mehr
oder weniger trüben, in 3 Fällen klaren Liquor, der Lumbal¬
druck war stets mehr oder weniger erhöht, der Eiweißgehalt des
Liquors vermehrt. Es fanden sich überall darin reichlich Pneumo¬
kokken, sodann zahlreiche polynukleäre Leukozyten und nur eine
geringe Anzahl von Lymphozyten. Die Dauer der Erkrankung bis
zum Exitus schwankte von 2 bis 25 Tagen, in 7 Fällen verlief
sie in 3 Tagen tödlich, bei nur 6 Kranken in mehr als 10 Tagen.
In therapeutischer Hinsicht scheinen zahlreiche und aus¬
giebige Lumbalpunktionen von günstigem Erfolge zu sein, da hie¬
durch eine Masse Bakterien aus dem Körper herausgelangen und
anderseits wieder neue und offenbar bakterizide Flüssigkeit an die
Stelle der entleerten abgeschieden wird. Auch die dadurch erzielten
Druck erniedrigungen dürften nach den Autoren eine günstige Wirkung
ausüben. Fälle der letzten Zeit lehrten, daß große innerliche Dosen
von Urotropin hier auch am Platze sein, da es nach Gr owe sodann
in der Lumbalflüssigkeit erscheint und daselbst auf die Bakterien
abtötend oder wenigstens entwicklungshemmend einwirkt. Verfasser
schließt mit dem Hinweise, daß der Pneumokokkus eine seröse und
eitrige Meningitis hervorrufen kann. Diese Form der Meningitis ist
auf Grund der Lumbalpunktion von den Meningitiden anderer
Genese mit Sicherheit abzutrennen ; gegenüber der tuberkulösen
Form auch durch deren Verlauf und langsamen Beginn. Die Pro¬
gnose der Pneumokokkenmeningitis ist wohl viel schlechter als die
der epidemischen Form, sie ist aber nicht immer als absolut un¬
günstig zu bezeichnen. — (Deutsche med. Wochenschr. 1911,
Nr. 17.) E. F.
*
531. Zur Aetiologie der Eklampsie. Vorläufige Mit¬
teilung. Von Dr. Artur Dienst. Dienst machte experimentelle
Studien über die Bedeutung des Fibrinfermentes und des Fibrino¬
gens in der Aetiologie der Schwangerschaftsniere und Eklampsie.
Dienst glaubt, daß das aus dem Zerfall der zu physiologischen
Zwecken während der Schwangerschaft verbrauchten vielkernigen
Leukozyten hervorgehende Fibrinferment, welches infolge von Blut¬
stauung in der Leber im Blute nicht hinreichend Antithrombin
findet, infolgedessen sich in pathologischen Mengen ansammelt, auch
bei schwangeren Frauen die toxische Substanz ist, welche den
Hydrops graviditatis und die Schwangerschaftsniere hervorruft. Gleich¬
zeitig wird durch das Fibrinferment infolge der schädlichen Ein¬
wirkung auf die Leber eine Leberinsuffizienz begünstigt, wodurch die
mehrfach nachgewiesene abnorme Ansammlung von Fibrinogen im
Blute bei Frauen mit Schwangerschaftsniere und Eklampsie erklärt
wird. Durch das toxische Fibrinogen wird infolge seiner chemo¬
taktischen Wirkung eine weitere Vermehrung der Fibrinregeneratoren
durch hochgradige Hyperleukozytose hervorgerufen, gleichzeitig er¬
zeugt es als Grundstoff des Fibrins durch seine Vereinigung mit dem
hier in abnormer Menge entstehenden Fibrinferment die multiplen
Fibrinthromben bei der Eklampsie, welche die Krämpfe auslösen. —
(Zentralblatt für Gynäkologie 1911, Nr. 11.) E. V.
*
532. Die Behandlung der Syphilis mit Ehrlichs
„606“ (Salvarsan). Von Dr. E. Heuß in Zürich. Nach den
Erfahrungen von Heuß hat das Arsenobenzol bis jetzt die Er¬
wartungen auf eine rasche sichere Abheilung der Syphilis nicht
erfüllt. In manchen, vielleicht auch vielen Fallen darf man zwar
hoffen, eine definitive Heilung zu erzielen ; bei dem Gros der
Fälle erreicht man nur Besserungen, temporäre Abheilung, aller¬
dings oft eklatantester Art; eine weitere, verschwindend kleine
Anzahl von Syphilitikern läßt sich durch Arsenobenzol über¬
haupt nicht oder nur ganz ungenügend beeinflussen. Ehrlichs
„606“ ist nur ein Mittel, nicht aber das Mittel gegen Syphilis.
764
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
Die Kombination von Arsenobenzol mit den alten Spezifizis dürfte
aber den Kampf gegen die Syphilis mit erhöhter Sicherheit auf
Erfolg aufnehmen lassen. - (Korrespondenzblatt für Schweizer
Aerzte 1911, 41. Jahrg., Nr. 1.) K. S.
*
533. Aus dem städtischen Krankenhaus Düren (Rheinland).
Erfahrungen mit Hormonal bei chronischer Obsti¬
pation und paralytischem Ileus. Von Dr. Josef
Kauert, Assistenzarzt der inneren Abteilung. Verf. berichtet
Uber seine Erfahrungen mit dem von Zuelzer entdeckten Peri¬
staltikhormon, das von der Fabrik vormals Schering, unter dem
Namen Hormonal in den Handel gebracht wird. Das Präparat ist
ein in sämtlichen Organen, vornehmlich in der Milz vorkommender
chemischer Körper, der einen spezifischen Reiz auf die die Darm¬
peristaltik erregenden Zellkomplexe ausübt. Das Hormonal wurde
zu 15 cm3 entweder intramuskulär, meist intraglutäal, oder intra¬
venös injiziert. Im ganzen wurden neun Fälle auf der internen
Abteilung und sieben Fälle auf der chirurgischen mit Hormonal
behandelt. Es waren meist schwere Fälle von chronischer Obstipation,
bei denen selbst mit starken Abführmitteln nur vorübergehend
Stuhl zu erzielen war, während die Fälle auf der chirurgischen
Abteilung schwere Fälle von paralytischem Ileus bei diffuser eitriger
Peritonitis waren. Verf. hat in fünf von seinen Fällen eine sichere
Wirkung des Hormonais gesehen, aber nur bei zwei von diesen
einen dauernden Erfolg. Diese beiden Dauererfolge waren jedoch,
wenn man die schweren, mit keinem anderen Mittel zu behebenden
Störungen der Kranken vor Anwendung des Hormonal in Betracht
zieht, geradezu glänzend. Sämtliche Beschwerden waren wie mit
einem Schlage verschwunden, die Kranken fühlten sich *wie neu¬
geboren«. Bei drei Kranken wurde nur ein vorübergehender Erfolg
gesehen, der aber immerhin noch recht bemerkenswert ist. Von
sieben Fällen auf der chirurgischen Abteilung bei paralytischem
Ileus wirkte Hormonal in sechs Fällen prompt und dauernd. Es
scheint demnach vorzüglich bei Atonie und Hypotonie des Intestinal¬
traktes seine peristaltische Wirkung zu entfalten. Die Erfahrungen
des Verfassers decken sich mit denen von Zuelzer, Henle und
Saar. Auch er konnte beobachten, daß die Wirkung des Hor¬
monais meist nicht sofort auftrat, speziell bei der intravenösen
Injektion fehlte die direkte Wirkung, wie sie im Tierexperiment
vorhanden ist. Meist wirkt das Mittel nach 2 bis 26 Stunden,
gleichgültig ob intraglutäal oder intravenös gegeben und auch dazu
bedarf es meist eines ein bis zwei Stunden nach der Injektion ge¬
gebenen Schiebemittels in Gestalt eines Eßlöffels Rizinusöls oder
Sennainfus oder Sennaklysmas. Irgendwelche Nebenerscheinungen
außer einer leichten Temperatursteigerung in vereinzelten Fällen
oder mäßigen Schmerzen an der Einstichstelle bei intraglutäaler
Injektion hat Verf. nicht beobachtet. Jedenfalls zeigen die Resultate,
daß das Hormonal in geeigneten Fällen ein sehr wirksames Mittel
ist und einen wesentlichen Fortschritt in der Therapie der chroni¬
schen Obstipation und besonders des paralytischen Ileus bedeutet.
- — (Münchener med. Wochenschr. 1911, Nr. 17.) G.
*
Aus französischen Zeitschriften.
534. Ueber die apiastische Form der perniziösen
Anämie. Von A c c o 1 a s. Die Anämien sind durch Abnahme der
Erythrozytenzahl und des Hämoglobins mit oder ohne Modifikationen
der anderen Blutelemente charakterisiert ; je nach der Schwere der
Affektion unterscheidet man einfache und perniziöse Anämien. Bei
perniziöser Anämie beträgt die Erythrozytenzahl unter zwei Millionen
pro Kubikmillimeter und man unterscheidet je nach der Reaktionsform
des Knochenmarkes, des wichtigsten blutbildenden Organes, orthopla-
stische, bzw. normoblastische, metaplastische, bzw. megaloblastische
und apiastische, bzw. aregenerative Anämien. Die apiastische Form
ist durch das Fehlen von Regenerationsvorgängen im Blut und im
Knochenmark charakterisiert. Bei einer Gruppe dieser Fälle findet
man diffuse myeloide Hyperplasie des Knochenmarkes, bzw. In¬
vasion von Lymphozyten, doch können diese Fälle nicht als echte
apiastische Anämie bezeichnet werden. Die zweite Gruppe ist durch
Hautblutungen, bzw. Neigung zu Ilämorrhagien, ähnlich wie bei
Hämophilie charakterisiert. In der Aetiologie dieser Gruppe findet
man ungünstige Lebensverhältnisse, vorangegangene Infektionskrank¬
heiten, wie Pneumonie, Dysenterie, Malaria, ferner hereditär
Syphilis und kongenitale Schwächezustände erwähnt. Bei einer dritten
Gruppe ist die fehlende Tätigkeit des Knochenmarkes allein
charakteristisch und eine Ursache der Anämie nicht nachweisbar.
Die Diffentialdiagnose gegenüber Chlorose, Anaemia pseudoleucaemica
infantum und anderen Formen einfacher Anämie bietet keine
Schwierigkeit. Die Diagnose stützt sich auf die makroskopische und
mikroskopische Untersuchung des Markes der Röhrenknochen und
der flachen Knochen. Ein Verdacht auf apiastische Anämie ist ge¬
geben, wenn nach vorausgegangenem hämorrhagischen Zustand sich
eine hochgradige Anämie mit Erythrozytenzahl unter einer Million
und Fehlen abnormer Zellelemente, insbesonders kernhaltiger
Erythrozyten entwickelt, Leukopenie mit relativer Lymphozytose
besteht, das Blutgerinnsel keine Retraktion zeigt und die Erkrankung
ausgesprochen progressiven Charakter zeigt. Die Prognose der
apiastischen Anämie ist absolut infaust, die Therapie vollkommen
machtlos. — (Gaz. des höp. 1911, Nr. 26.) a. e.
*
535. Ueber die Behandlung der Lungenschwind¬
sucht mit den Gesamtextrakten der Leber. Von
H. P armen tier. Die Behandlung besteht in der subkutanen
Injektion eines aus dem Leberparenchym und der Galle gewonnenen
Extraktes, welches in einem Gemenge von verschiedenen Oelen ge¬
löst, in Ampullen von 2 cm3 gefüllt und sterilisiert wird. Die In¬
jektionen werden täglich oder jeden zweiten Tag in das Unterhaut¬
zellgewebe der Gesäßgegend appliziert. Zur Gewinnung des Extraktes
sind die Organe von Rindern zu verwenden. Versuche mit Cholesterin,
Cholesterin und Lezithin, Gallenextrakt und dem als Cholergin be-
zeichneten Totalextrakt der Leber haben ergeben, daß die therapeu¬
tische Wirkung um so besser ist, je mehr die Zusammensetzung sich
dem Gesamtextrakt nähert. Zur Behandlung sind Fälle von Bron¬
chitis, Vorstadium der Tuberkulose und heilbarer manifester Tuber¬
kulose geeignet, wobei in der Regel sich die Besserung nach 30 In¬
jektionen zeigt. Zunächst erfolgt Gewichtszunahme, deren Ausbleiben
prognostisch ungünstig aufzufassen ist, dann Abnahme der Nacht-
schweisse, schließlich Abnahme oder vollständiges Verschwinden
der Tuberkelbazillen. Kontraindikationen konnten bisher nicht fest¬
gestellt werden. Besonders günstig wird die Hämoptoe beeinflußt,
weil bestimmten Lipoiden der Leber eine die Hämolyse hemmende
und gerinnungsbefördernde Wirkung zukommt. Die Injektionen
können auch bei fiebernden Patienten angewendet werden. In einem
Fall von Hodentuberkulose mit Fistelbildung wurde ein bemerkens¬
werter Erfolg erzielt. Versuche bei verschiedenen Infektionen und
Intoxikationen, z. B. Gastroenteritis des Säuglingsalters, Leber¬
insuffizienz etc. haben Resultate ergeben, welche für eine be¬
merkenswerte, antitoxische und bakterizide Wirkung der Leber¬
extrakte sprechen. — (Bull. gen. de Ther. 1911, Nr. 6.) a. e.
♦
536. Ueber den Wert des d’Espineschen Zeichen
für die Diagnose der Tracheobronchialdrüsen-
tuberkulöse bei Erwachsenen. Von M. Roch- Genf. Das
d’Espinesche Zeichen besteht in verstärktem Fremitus und
bronchophonischem Klang der über der Wirbelsäule auskultierten
Stimme, insbesondere der Flüsterstimme. Die Mediastinaldrüsentuber-
kulose kommt nicht nur im Kindesalter, wo sie nicht selten ohne
begleitende tuberkulöse Lungenaffektion besteht, sondern auch relativ
häufig bei Erwachsenen vor und ist hierin der Regel mit einer tuberku¬
lösen Erkrankung der Lunge vergesellschaftet. Für die Diagnose der
Mediastinaldrüsentuberkulose sind die indirekten, mit Kompressions¬
und Irritationsphänomenen zusammenhängenden und die direkten
Symptome — Vorwölbung am Thorax, charakteristische Schatten
im Röntgenbild, Dämpfung bei der Perkussion und das d’Espine¬
sche Auskultationsphänomen — zu unterscheiden. Nachweisbare
Thoraxdeformitäten sind namentlich beim Erwachsenen selten, Radio¬
skopie und Perkussion geben nicht immer eindeutige Befunde. Beim
d'E spine sehen Zeichen ist zwischen verstärktem Stimmfremitus und
bronchophonischem Klang zu unterscheiden, wovon dem ersleren an
sich keine pathologische Bedeutung zukommt. Man auskultiert zu¬
nächst Uber den unteren Halswirbeln und dann über den oberen
Brustwirbeln, wobei man die Worte trois cent trente-trois möglichst
deutlich aussprechen läßt. Unter normalen Verhältnissen hört der
bronchiale Stimmklang schon am Dornfortsatz des siebenten Halswirbels
auf, wo die Lunge beginnt, während bei Bronchialdrüsentuberkulose
die Bronchophonie weiter nach unten bis zum vierten oder fünften
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
765
Brustwirbel sich erstreckt. Das Stethoskop dient zur Abgrenzung der
Bronchophonie, bei der Auskultation mit dem Ohr ist die Broncho-
phonio und der verstärkte Stimmfremitus deutlicher wahrnehmbar.
Falls die Auskultation der lauten Stimme kein eindeutiges Resultat
ergibt, auskultiert man die Flüsterstimme, welche bei Bronchial¬
drüsentuberkulose ein dem B a cc e 1 1 i sehen Phänomen analoges
Verhalten zeigt. Das d’E spinesche Phänomen beruht auf Ueber-
tragung der Luftwellen im Bronchialbaum auf die Thoraxwand durch
Vermittlung der Lymphdrüsenpakete. Der Wert des d’Espine-
schen Symptoms ist von verschiedenen Seiten bestätigt worden
u. zw. fast ausschließlich für die Broncbialdrüsentuberkulose des
Kindesalters. Die Untersuchungen des Verfassers bei Erwachsenen
haben in mehr als 30 Fällen das Vorhandensein des d’Espine-
schen Zeichens ergeben. Für die diagnostische Verwertbarkeit spricht
die Konstatierung in einem Fall, wo nur Bronchialdrüsentuberkulose
ohne begleitende Lungentuberkulose bestand, das in einigen Fällen
konstatierte Verschwinden des Phänomens bei Rückgang der Drüsen¬
schwellung sowie die Kontrolle durch die Röntgenuntersuchung. Man
auskultiert den sitzenden Patienten und läßt die erwähnten Probe¬
worte zuerst laut, dann mit Flüsterstimme sprechen ; als pathologisch
ist beim Erwachsenen das d’Espinesche Phänomen dann zu be¬
zeichnen, wenn es noch über dem Dornforlsatz des vierten Brust¬
wirbels und noch tiefer nachweisbar ist. Als Fehlerquellen, welche
das Phänomen gleichfalls produzieren, sind Induration, bzw. Kavernen¬
bildung im Oberlappen, sowie pleuritisehe Ergüsse anzuführen, wo¬
durch jedoch der Wert des d’E s p i n e sehen Zeichens keine wesent¬
liche Beeinträchtigung erleidet. — (Sem. med. 1911, Nr. 8.)
a. e.
. *
537. Zur Behandlung der Aktinomykose beim
Menschen. Von Antonin Poncet und Leon Berard. Ein
spezifisches Heilmittel gegen Aktinomykose wurde bisher nicht ge¬
funden ; eine kurze Zeit hindurch hat das Tuberkulin Verwendung
gefunden und auch die serotherapeutischen Versuche sind nicht über
die ersten Anfänge hinausgekommen. Unter den empirisch ange¬
wendeten Mitteln stehen die Jodpräparate, insbesondere das Jod¬
kalium, in erster Reihe, wozu in den letzten Jahren als Unter-
slützungs- und Ersatzmittel die Jod- und Quecksilberpräparate ge¬
treten sind. In einer Anzahl von Fällen wurde eine sehr günstige
Wirkung durch interne Darreichung von Natrium cacodylicum er¬
zielt. Auch Photo- und Radiotherapie wurden bei Aktinomykose
angewendet und in einem Fall nach Röntgenbestrahlung einer Hals-
aktinomykose rapide Verschlimmerung beobachtet. In therapeutischer
Hinsicht sind zwei Formen zu unterscheiden, u. zw. die seltenere
gutartige, durch Bildung umschriebener Knoten ohne Fistelbildung
charakterisierte Form und die häufiger vorkommende infiltrierte Form
mit Abszeß und Fistelbildung, welche namentlich an Hals und Ge¬
sicht lokalisiert ist. Bei der gutartigen, umschriebenen Form bilden
die Jodpräparate eine wichtige Ergänzung der chirurgischen Be¬
handlung, die in Inzision, Auskratzung etc. besteht. Bei der diffus-
infiltrierten, mit Abszeß- und Fistelbildung verlaufenden Form, deren
Diagnose leicht durch den bloßen Anblick zu stellen ist und durch
den Nachweis der gelben Pilzkörner gesichert wird, ist eine radikale
Exstirpation undurchführbar und die reine interne Jod- oder Arsen¬
therapie unzureichend. In diesen Fällen ist eine Kombination chirur¬
gischer Behandlung — Inzision, Auskratzung, Gltiheisen, antisepti¬
scher Injektionen von Sublimat, Zinkchlorid, Jodtinktur, Jodi¬
nin etc. und interner Medikation erforderlich. Bei der chirurgischen
Behandlung sind alle Eingriffe zu vermeiden, welche zu oberflächlich
sind und deshalb Eingangspforten für Sekundärinfektion schaffen.
Bei Aktinomykose innerer Organe sind chirurgische Eingriffe, nament¬
lich Inzision und Kurettement der Fisteln, gefährlich, weil dadurch
Sekundärinfektion und Metastasenbildung gefördert werden. In diesen
Fällen ist die, wenn auch nicht oft wirksame, so doch gefahrlose
Jod- und Arsentherapie indiziert. Die Mortalität der Aktinomykose
der inneren Organe beträgt je nach der Lokalisation 40 bis 90%,
wobei die Darmaktinomykose die prognostisch güngstigste, die Aktino-
inykose des Zentralnervensystems die prognostisch ungünstigste Form
darstellt. Unter allen bisher gegen Aktinomykose vorgeschlagenen
Mitteln haben sich die gleich nach Entdeckung der Erkrankung
angewendeten Mittel am besten bewährt. — (Bull, de l’Acad. de
med. 1911, Nr. 5.) a. e.
Vermisehfce Naehriehten.
Ernannt: Der mit dem Titel und Charakter eines ordent¬
lichen Universitätsprofessors bekleidete außerordentliche Professor
an der Universität in Wien, Dr. Josef Schaffer, zum ordent¬
lichen Professor der Histologie und Entwicklungsgeschichte an
der Universität in Graz. — Dr. med. Leopold Rei singer
zum außerordentlichen Professor, Vorstand der Lehrkanzel
für ambulatorische und buiatrische Klinik, Dr. med. Josef
Schnürer zum außerordentlichen Professor und Vorstand der
Lehrkanzel für bakteriologische Hygiene an der Tierärztlichen
Hochschule in Wien. — Zu L an d es s ani tä ts i n s pek to re n die Ober¬
bezirksärzte: Dr. Franz Kohlgrub er in Niederösterreich, Doktor
Rektor W o i ß in Tirol und Vorarlberg, Dr. Gottlieb Reisingor
in Böhmen, Dr. Anton Sine ly in Mähren. — Dr. Valdenmr,
IJenriques zum Professor der Physiologie in Kopenhagen.
*
Dem Landessanitätsreferenten bei der Statthalterei in Wien,
Hofrat Dr. August Netolitzky, wurde anläßlich der erbetenen
Uebernahme in den dauernden Ruhestand der; Ausdruck der Aller¬
höchsten Anerkennung für seine vieljährige pflichttreue und er¬
sprießliche Dienstleistung bekanntgegeben.
*
Gestorben: Generalarzt Dr. Albert Villaret in Eisenach,
bekannt durch die Herausgabe eines „Handwörterbuches der prak¬
tischen Medizin“. — Geh. Med.-Rat Dr. Heinrich Braun, Pro¬
fessor der Chirurgie in Güttingen.
*
Die k. k. österreichische Gesellschaft für Erfor¬
schung und Bekämpfung der Krebskrankheit veran¬
staltet einen Zyklus von Vorträgen, deren erster am Donnerstag,
den 8. Juni, um 7 Uhr abends, im Saale der k. k. Gesellschaft
der Aerzte abgehalten werden wird. Die Herren Professoren an
der tierärztlichen Hochschule in Wien, Dr. . R. Hartl und
Dr. Th. Schmidt, werden unter Demonstration einschlägiger
Präparate über das Vorkommen der bösartigen Geschwülste bei
den Haustieren sprechen. Die Vorträge sind allen Aerzten zu¬
gänglich.
*
Der VII. in ter nati on ale Tuberkulo s ek o ng reß Rom,
findet vom 24. — 29. September 1911 statt. Sitzungen im Chateau
Saint Ange. 23. September, 9 Uhr abends, Empfang der Teilnehmer
im Chateau Saint Ange, 24. September, 10 Uhr vormittags, feierliche
Eröffnung im Großen Amphitheater Augusteum. Vom 25. ab täglich
9 bis 12 Uhr vormittags und 3 bitei 6 Uhr nachmittags Sitzungen
der Sektionen: 1. Sozialer Schutz gegen die Tuberkulose;
2. a) medizinische, b) chirurgische Pathologie und Therapie;
3. Aetiologie und Epidemiologie. Am 30. September, 10 Uhr
vormittags, Schlußsitzung. Die Stadt Rom plant einen Empfang
im Kapitol. An noch zu bestimmenden Tagen werden in öffent¬
lichen Versammlungen allgemein interessierende wissenschaft¬
liche xmd soziale Fragen der Tuberkulosebekämpfung beraten
werden. Beitrag 25 Lire, für Angehörige 10 Lire. Zuschriften
an das Kongreßbureau, Via in Lucina, 36, Rom, zu richten mit
Angabe der Sektion auf den Umschlägen, für die sie bestimmt
sind. — Die X. internationale Tuberkulosekonferenz
der internationalen Vereinigungen gegen die Tuberkulose wird am
23. September, vor Eröffnung des Kongresses, unter dem Vorsitz
von Leon Bourgeois, im Kongreßsaal zusammentreten. Ge¬
schäftsstelle des Deutschen Komitees : Berlin Wa, Königin
Augustastraße 11.
*
Der 3. Internationale Kongreß für Wohnungs¬
hygiene findet bekanntlich in diesem Jahre gelegentlich der
Internationalen Hygieneausstellung u. zw. vom 2. bis 7. Ok¬
tober in Dresden statt. Nähere Auskunft über dein Kongreß
erteilt der Generalsekretär, Herr Dr. med. IT o p f - Dresden, Reichs¬
straße 4.
*
Dienstag, den 16. Mai 1911 fand eine zahlreich besuchte
Plenarversammlung der Wiener Aerztekammer statt, in welcher
zunächst Erkenntnisse des Ehrenrates publiziert wurden. Zwei
derselben bezogen sich auf Zahnärzte, welche sich zur Anwer¬
bung von Patienten eigener Provisionsagenten bedienen, eines
auf den Primararzt eines geistlichen Spitales, welcher sich den
Titel „Primararzt“ schon zu einer Zeit beilegte, wo er als solcher
von dem betreffenden Konvente noch nicht ernannt war, vielmehr
ein anderer Arzt in noch ungekündigter Stellung das Primariat
innehatte. Die Aerztekammer gab' auf Veranlassung der Statt-
halteroi ein Gutachten zu dem Anträge des niederösterreichischen
766
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
Landessanitätsrates, betreffend die Grundsätze für die Regelung
der berufsmäßigen Krankenpflege dahin ab, daß der erwähnte
Beruf nach Ansicht der Kammer nur für diejenigen, welche ein
auf Grund eines in v («'geschriebener Weise genossenen Unter¬
richtes erlangtes Diplom besitzen, frei sein, für Diplomlose nur
in Epidemiezeit frei sein solle. Auf Veranlassung des Geschäfts¬
ausschusses der österreichischen Aerztekammem sollte die Kam¬
mer ein Gutachten über einen Antrag der Westgalizischen Aerzte-
kauimer auf dem Brünner, Aerztekammertage über spezifische Heil¬
mittel abgeben. Das von Dr. Grün vertretene Referat gipfelt
in dem Anträge, eine Zentralstelle zur Ueberprüfung von wissen¬
schaftlichen Arbeiten über Heilmittel zu errichten, um auf diesem
W ege Mißbräuchen bei Ankündigungen über solche Heilmittel
entgegenzutreten. Die Beschlußfassung über dieses Referat wurde
im Hinblicke auf gewisse Bedenken, welche gegen den Erfolg der
vorgeschlagenen Maßregel geltend gemacht wurden, vertagt. Auf
Grund eines Referates des Dr. Loewens’tein wurde festgesetzt,
daß jeder Arzt berechtigt ist, sich für eine telephonische Inan¬
spruchnahme honorieren zu lassen. — Es wurde mit Bezug
auf eine in der Neuen Freien Presse vom) 5. März 1911 enthaltene
Notiz, derzufolge Herr Prof. v. Noorden die Patronanz über
ein Rekonvaleszentenheim in Vöslau übernommen hat, die Richtig¬
stellung des Herrn Prof. v. No erden mitgeteilt, daß er dieser
Angelegenheit vollkommen ferne steht.
*
Betreff der Impfstoff abgabe in Wien wird Jolgendes
bekannt gemacht: Die exponierte Lage der neuerbauten k. k.
Impfstoffgewinnungsanstalt im XVI. Bezirke, Possingergasse 38
und Arltgasse 37, erforderte die Errichtung einer zentral gele¬
genen Lyinpheabgabestelle für die Bedürfnisse der Privatimpfungen.
Die Lympheabgabe an Privatparteien erfolgt von jetzt an für
den Wiener Polizeirayon durch die k. u. k. Hofapotheke, Wien L,
Habsburgergasse 11. Die Bezugsbedingungen und Preise bleiben
unverändert.
*
Cholera. Türkei. Zu den bereits ausgewiesenen Cho¬
lerafällen in Smyrna sind am 30. April 1, am 6. Mai 2 Neu¬
erkrankungen zugewachsen, von denen eine tödlich ausging. Pro¬
venienzen aus Smyrna unterliegen gegenwärtig einer 24stündigen
Beobachtung, sowie der vorschriftsmäßigen Desinfekktion in einem
türkischen Lazarette, eventuell in den Sanitätsstationen von
Jaffa oder Rhodus. — Hawaii. Am 12. April wurde in Hono¬
lulu 1, am 15. April 2 neue Cholerafälle gemeldet. — Arabien.
Im Militärspitale zu Hodeidah; sowie in der Umgebung dieser
Stadt dauert die Choleraepidemie an. Unter den Truppen in Lith
sind 5 Cholerafälle konstatiert worden, von denen 4 gestorben
sind. In Maskat (Sultanat Oman) wurden vom 25. März bis
8. April 19 Choleraerkrankungen gemeldet, davon 14 mit töd¬
lichem Verlaufe.
Pest. Türkei, ln Bassorah wurde am 6. Mai ein Pestfäll
konstatiert. Provenienzen aus diesem Hafen wurden der ärzt¬
lichen Visite unterworfen. — Arabien. Seit Ausbruch der Pest
in Djeddah am 1Ü. Dezember 1910 bis 8. April 1911 wurden
daselbst 33 Pestfälle, darunter 30 mit letalem Ausgange, fest¬
gestellt. — Formosa. Auf der Insel Formosa wurden 129 Pest¬
fälle sichergestellt. — N ied erhändisc h- 1 ndi en. Die Ge¬
samtzahl der vom 1. Februar bis 28. April im Distrikt Malang
(Provinz Pasoeroean) auf der Insel Java vorgekommenen Pest¬
fälle beträgt 414, von denen bisher 200 tödlich endeten. Vom
29. April bis 4. Mai ereigneten sich in der Stadt Pasoeroean 1,
in der Stadt Soerabaja 3 Pesterkrankungen ; vom 5. bis
11. Mai sind auf Java 176 weitere Pestfälle gemeldet
worden, wovon 125 starben, 8 davon waren Pestpneumonien.
— Britisch-Indijen. Im Hindostan ereigneten sich in der
Zeit vom 26. Februar bis 18. März 1911 in der ersten Woche
34.524 (28.113), in der zweiten Woche 36.101 (31.054), in der
dritten Woche 38.498 (32.975) Pesterkrankungen (Todesfälle).
*
Dr. Erwin Stransky, Privatdozent an der k. k. Universität,
Landeisgerichtspsychiater, wohnt Wien V1II/1, Mölkergasse 3,
Telephon 4719 II.
Freie Stellen.
In der Brünner Landesgebär anstalt gelangt mit 1. Juli
1911 eine Sekundararztesstelle mit der Remuneration jährlicher
1920 K, welche nach einem Jahre auf 2120 K, nach zwei Jahren auf
2320 K und nach drei Jahren auf 2520 K steigt, nebst Naturalwohnung
mit Beleuchtung und Beheizung, dann der Kost nach der I. Klasse zur
Besetzung. Bewerber um diese Stelle, welche österreichische Staatsbürger,
Doktoren der gesamten Heilkunde und beider Landessprachen mächtig
sein müssen, haben ihre gehörig dokumentierten und an den Landes¬
ausschuß gerichteten Gesuche längstens bis 31. Mai 1911 bei der Di¬
rektion der genannten Anstalt einzubringen. Unter sonst gleich qualifi¬
zierten Bewerbern erhalten solche den Vorzug, welche Kenntnisse im
Spezialfach der Geburtshilfe und Gynäkologie nachweisen. Die Dienstzeit
ist bei einer beiden Seiten zustehenden vierwöchigen Kündigung auf zwei
Jahre festgesetzt und kann bei zufriedenstellender Dienstleistung um ein
oder zwei Jahre verlängert werden.
Gemeindearztesstelle der Sanitätsgemeindegruppe St. An to n-
a. d. Jeßnitz -Puchenstuben, Bezirkshauptmannschaft Scheibbs (Nieder¬
österreich), mit dem Wohnsitze des Arztes in St. Anton (St. Anton a. d.
Jeßnitz mit 1505, Puchenstuben mit 803 Einwohnern). Bezüge für St. Anton:
eine Landessubvention von 1600 K, Sanitätsbeitrag der Gemeinde St. Anton
330 K; Puchenstuben: Landessubvention 400 K, Sanitätsbeitrag 60, K:
Bezüge der Bezirkskrankenkasse St. Pölten nach Vereinbarung. Haltung
einer Hausapotheke erforderlich. Bewerber um diese Stelle haben ihre
vorschriftsmäßig belegten Gesuche bis 15. Juni 1911 beim Bürgermeister
und Obmann der Sanitätsgemeindegruppe Alois R e i n e 1 1 in St. Anton
a. d. Jeßnitz einzureichen, der Uber weitere Anfragen Auskunft erteilt.
Gemeindearztesstelle der Sanitätsgemeindegruppe S t r a-
ning (Niederösterreich), bestehend aus den Gemeinden Straning und
Etzmannsdorf bei Straning. Sanit.ätsbeiträge der Gemeinden jährlich 500 K.
Landesbeitrag 800 K, zusammen 1300 K. Der Gemeindearzt ist zur
Führung einer Hausapotheke berechtigt. Ordnungsmäßig belegte Gesucht;
sind bis längstens 1. Juli 1. J. an die Gemeindevorstehung Straning oder
an die k. k. Bezirkshauptmannschaft Horn einzusenden, woselbst auch
nähere Auskünfte erteilt werden.
An der k. k. allgemeinen Lebensmitteluntersuchungs¬
anstalt in Innsbruck gelangt eine Assistentenstelle mit
den systemmäßigen Bezügen der X. Rangsklasse zur Besetzung. Gesuche
um Verleihung dieser Stelle sind bis längstens 15. Juni 1911 beim
k. k. Ministerium des Innern einzubringen. Bewerber, welche bereits im
Staatsdienste stehen, haben ihre Gesuche im vorgeschriebenen Dienstweg
vorzulegen. Die Gesuche sind zu belegen mit: 1. dem Geburtsscheine,
2. einem staatsärztlich bestätigten Gesundheitszeugnisse, 3. dem Nachweis
der mit der Ministerialverordnung vom 10. Oktober 1910, R.-G.-Bl. Nr. 184.
vorgeschriebenen Befähigung für den fachtechnischen Dienst an einer
allgemeinen staatlichen Lebensmitteluntersuchungsanstalt. Bewerber,
welche nicht als definitiv angestellte Beamte im Staatsdienst stehen, haben
überdies den Nachweis der österreichischen Staatsbürgerschaft beizu¬
bringen.
Gemeindearztes stelle für den Sanitätssprengel M ü h 1-
b a c h (Tirol), umfassend die Gemeinden Mühlbach, Rodeneck, Spinges.
Vals, Meransen, Niedervintl, Weitenthal und Pfunders mit dem Wohnsitz
des Arztes in Mühlbach (Bezirk Brixen). Die Bezüge des Gemeindearztes
betragen 1200 K und ist zur eventuellen Erhöhung dieser Bezüge ein
Gesuch nach § 13 an den hohen Landesausschuß eingereicht worden.
Außerdem ist die Haltung einer Hausapotheke vorgeschrieben. Der Dienst
ist im Sinne der geltenden Vorschriften für Gemeindeärzte zu versehen.
Doktoren der gesamten Heilkunde, deutscher Nationalität und katholischer
Konfession, wollen ihre Gesuche bis 1. Juni 1911 dem Obmann des
Sanitätssprengels, Johann Pichler in Niedervintl, welcher auch die
näheren Auskünfte erteilt, übersenden.
In dem neu erbauten, modern ausgestatteten Allgemeinen
öffentlichen Krankenhause in Scheibbs (Niederösterreich)
kommt ab 1. Juli 1911 die Stelle eines Hilfsarztes zur Besetzung.
.Mil dieser Stelle ist ein Jahresgehalt von 1600 K, freie Wohnung (zwei
Zimmer), vollständig freie Verpflegung, Licht und Beheizung im Anstalts¬
gebäude verbunden. Anträge sind unter Nachweis der österreichischen
Staatsbürgerschaft bis 15. J uni 1911 bei der Gemeindevorstehung Scheibbs
zu überreichen. Bewerber mit zahnärztlicher Ausbildung können auf ein
schönes Nebeneinkommen rechnen. Auskünfte erteilt Primararzt Dr. Birn¬
bach er. .[
Im Rudolfinerhause in W i e n XIX (chirurgisches Spital)
sind zwei Sekundararztesstellen u. zw. die eine vom 1. Juli,
die andere vom 1. September 1911 an zu besetzen. Diese Stellen sind
mit freier Station und einem Gehalt von 200 K monatlich verbunden.
Bewerber wollen sich bis längstens 15. Juni 1911, vormittags zwischen
9 und 12 Uhr, im Rudolfinerhause, XIX., Billrothstraße 78, vorstellen.
Die Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeindegruppe
Orth a. d. Donau, politischer Bezirk Floridsdorf Umgebung (Nieder¬
österreich), mit dem Wohnsitz des Arztes in Orth a. d. Donau, ist infolge
anderwärtiger Bestellung des bisherigen Gemeindearztes bis 1. Juli 1911
zu besetzen. Die Sanitätsgemeindengruppe umfaßt sieben Gemeinden mit
2896 Einwohnern. Die von den beteiligten Gemeinden zu leistenden Bei¬
träge belaufen sich jährlich auf 730 K und die aus dem niederösterrei¬
chischen Landesfonds geleistete Subvention hat 600 K betragen. Dem
Gemeindearzt wird überdies seitens der Gemeinde Orth ein eigenes Haus
ohne Mietzins zur freien und uneingeschränkten Benützung als Dienst¬
wohnung überlassen. Die Haltung einer Hausapotheke wird zur Pflicht
gemacht. Die mit dem Diplom, dem Tauf- (Geburtschein), dem Nachweis
der österreichischen Staatsbürgerschaft, dem Sittenzeugnisse, einem amts¬
ärztlichen Gesundheits-, bzw. Tauglichkeitszeugnisse sowie mit den Nach¬
weisungen über die bisherige ärztliche Tätigkeit ordnungsgemäß in¬
struierten, an den niederösterreichischen Landesausschuß zu richtenden
Gesuche sind bis längstens 30. Juni 1911 an das Bürgermeisteramt in
Orth a. d. Donau zu richten, welch letzteres auch zur Erteilung von etwa
gewünschten Auskünften bereit ist. Bewerber mit mehrjähriger Spitals¬
praxis werden bevorzugt.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
767
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Prolokoll (1er k. k. Gesellschaft <ler Aerzte in Wien.
Sitzung vom 19. Mai 1911.
Verein (1er Aerzte in Oherösterreicli. Sitzung am 6. April 1911.
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin.
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 19. Mai 1911.
Vorsitzender: Prof. Dr. Ernst Wertheim.
Schriftführer: Priv.-Doz. Dr. Heinrich Reichel.
Der Vorsitzende, Prof. Dr. E. Wertheim, dankt der Gesell¬
schaft für die Ehre, die ihm durch die Wahl zum Vorsitzenden
zuteil wurde.
Dr. Martin Haudek: Meine Herren! Ich erlaube mir, Ihnen
heute über einige Beobachtungen zu berichten, welche ich in
den letzten anderthalb Jahren am Röntgeninstitute des Herrn
Priv.-Doz. Holzkneclit im Allgenuinen Krankenhause bei ju¬
gendlichen Individuen gemacht habe, die zur Untersuchung wegen
Verdacht aid Gelenkstungus zugewiesen wurden. Die letztgenannte
Diagnose gilt klinisch nicht als leicht; die Anamnese leistet Lei
Kindern inlolge der wenig verläßlichen Angaben nicht viel. Weich¬
teilschwellungen im Bereiche der Gelenke können vielfache andere
Ursachen, haben, als die genannte. Noch schlechter steht es
mit der Diagnose „Fungus“ im Röntgenbilde. Skelettveränderungen
fehlen zumeist gänzlich, nach längerem Bestände des Leidens
kann gelegentlich eine ossifizierende Periostitis oder geringe
Strukturatrophie dlas Leiden erkennen lassen. Die Bilder, die
ich Ihnen nun zeige, weisen folgende Eigentümlichkeiten auf:
Auf der erkrankten Seite sehen Sie bei einzelnen Bildern mehr
Knochenkerne entwickelt als auf der gesunden Seite, auf anderen
die Zahl der Knochenkerne wohl beiderseits gleich, doch auf der
erkrankten Seite die Knochenkerne größer. Es handelt sich also
jedesmal darum, daß sich die Knochen des erkrankten Gelenkes
in einem vorgeschrittenen Entwicklungsstadium befinden, ihr
Verkalkungszustand dem eines Kindes entspricht, das um mehrere
■Iahte älter wäre. Schließlich finden sich bei Individuen in der
Pubertät vorzeitige Verschmelzungen der Epiphysen fugen, also
auch hier wieder ein Vorauseilen der Entwicklung um Jahre.
Venn ich auch meine Beobachtungen an einem relativ spär¬
lichen Materiale — dem Hol z k n ech t sehen Röntgeninstitute
werden nur wenige erkrankte Kinder zugewiesen gemacht habe,
so erfolgten sie doch in einem so hohen Prozentsatz bei fun-
aösen Erkrankungen, daß ich eine gewisse Regelmäßigkeit des
Hofundes konstatieren kann. Es scheint tatsächlich so zu sein,
laß der fungöse Prozeß auf die im Entwicklungsstadium befind¬
lichen Knochen der erkrankten Region einen entwicklungsbeför-
lornden Einfluß ausübt. Um zufällige Befunde kann es sich
! hier nicht handeln, denn vergleichende Untersuchungen an den
gesunden Extremitäten, also etwa an den Fußwurzeln, bei Kin-
lern mit Handgelenksfungus ergaben normales Verhalten und
sprechen dagegen, daß es sieh bei diesen Kindern um Anoma¬
lien handle. Die Literatur verzeichnet ähnliche Beobachtungen
hei Fungus nicht und meine heutige Demonstration bezweckt
n erster Linie, die Aufmerksamkeit auf diese interessante Tät-
-arhe zu lenken und Veranlassung dazu zu geben, 'laß an Kinder-
'pitälern, denen reichliches Material zur Verfügung steht, durch
''eitere Röntgenuntersuchungen festgestellt werde, wie weit die
liagnostische Verwertbarkeit des von mir zuerst erhobenen Re
uhdes reicht. Als Ursache für den entwicklungsreizendeu Ein-
iuß der. Erkrankung müßte wohl in erster Linie an die mit dem
Prozeß verbundene Hyperämie gedacht werden.
Prof. Riehl: Bei der 73jährigen Patientin, die stets gesund
'(’wesen war, ist vor drei Jahren über der rechten Skapula eine
schmerzhafte Geschwulst aufgetreten, welche im Februar 1909
»perativ entfernt worden ist. Bald nach der Operation begann
icv Tumor neuerdings sich zu entwickeln; im November 1910 '
rat Ulzeration des Knotens auf mit folgender rascherer Größen
mnahme, so daß er im Februar dieses Jahres sich bis in die j
Vchselhöble erstreckte. Im Arm auftretende Schmerzen voran- j
jlaßten d ie Patientin, sich Ende April an meine Klinik aufnehmen '
ui lassen.
Befund der inneren Organe und des Blutes zeigten normale
Verhältnisse. Das Aussehen des Tumors kurz nach der Aufnahme
yird nach einem Autochrombilde demonstriert. Es besteht eine
«eschwuls1, die vom Akromion über das Schulterblatt sich in die
Achselhöhle erstreckt, mehr als männerhandgroß erscheint und
3 bis 4 cm über das Niveau vorragt. An den unteren Partien
sind die Grenzen der Geschwulst nicht deutlich determiniert,
weil dort Oedom der Haut besteht, an den oberen Anteilen mar¬
kieren sich die ziemlich steil ansteigenden Ränder der braun-,
nahezu kupferroten Geschwulst scharf von der Umgebung ab.
Die obere Kuppe des I umors trägt eine 10 cm im Durchmesser
haltende Ulzeration mit unregelmäßigem höckerigen Grunde und
eitrig-nekrotischem Belag. Der untere Pol des Tumors setzt sich
unter der Axilla auf die Haut der rechten Mamma bis über den
Warzenhof in Gestalt eines ungefähr 3 cm breiten, derb infil¬
trierten Streifens fort, über welchem die Haut keine Farbver¬
änderung zeigt. Die Lymphdrüseu der Achselhöhle sind zu einem
über kindsfaustgroßen Paket intumesziert, die Drüsen an der
rechten Halsseite über der Klavikula kleinapfelgroß geschwollen.
An der linken Halsseite erscheinen die Lymphdrüseu gleichfalls
höhnen- bis kastaniengroß, die Inguinaldrüsen sind vergrößert und
leicht induriert. Der rechte Arm ist in toto, die Hand ziemlich
bedeutend ödematös. Links von den Domfortsätzein in der Höhe
des oberen Skapularrandes findet sich eine Gruppe von klein¬
linsen- bis über erbsengroßen, ein wenig vorragenden, braun¬
roten Geschwülsten, deren Oberfläche glatt ist.
Die Patientin wurde Ende April einer Röntgenbestrahlung
unterzogen und heute erscheint die Geschwulst etwas abgeflacht,
das Geschwür in eine granulierende Fläche verwandelt.
Unsere Diagnose lautet: Mykosis fungoides d’embiee. Es
ist dies jene Form der seltenen Krankheit Mykosis fungoides,
welche ohne Vorausgehen der bei der1 gewöhnlichen Form zu
beobachtenden Exantheme (prämykotische Exantheme) auf an¬
scheinend gesunder Haut Tumoren erzeugt, die oft lange Zeit
nur auf begrenzte Regionen beschränkt bleiben, im übrigen aber
die Eigenschaften der mykosiden Tumoren zeigen, vor allem
die. spontane oder durch Therapie v'eranlaßte Rückbildungs
fähigkeit.
Unser Wissen über die Mykosis fungoides ist bezüglich der
Aetiologie bekanntlich noch völlig unzureichend und selbst über
die klinischen und anatomischen Befunde sind die Ansichten
der Autoren noch weit auseinandergehend. Ganz besonders gilt
letzteres für die Form der Mykosis d’embiee, welche von man
oben Autoren überhaupt nicht anerkannt, sondern als Sarkomatosis
aufgefaßt wird. Auch Pal tauf, dem wir die ausgezeichnete
erschöpfende Studie über diese Krankheit verdanken, neigt zu der
Ansicht, daß namentlich jene Fälle der Mykosis fungoides d’em-
hlee, welche, rasch verlaufend, sich auf tiefer liegende1 G e webs¬
schic, hi en, Muskel und Periost erstrecken, der Sarkomatosis zu¬
zuzählen seien.
Die Beobachtung, daß auch hei diesen Formen im wei¬
teren Verlaute die sonst prämykotischen Erscheinungen nachträg¬
lich generalisiert Vorkommen, daß auch die Tumoren der My¬
kosis fungoides d’embiee spontaner und therapeutischer Rück¬
bildung fähig sind, veranlaßt die meisten Kliniker, diese Er¬
krankung der Mykosis fungoides zuzuzählen. Vor wenigen Tagen
ist ein Patient meiner Klinik zur Obduktion gekommen, den wir
jahrelang beobachten konnten; er war jahrelang an intensiv
juckenden ekzemähnlichen Plaques erkrankt, in welchen sich
späterhin Infiltrationen von braunroter Färbe zeigten und typi¬
sche Mykosistumoren entstanden. Unter dem Einflüsse von
Röntgenbestrahlung und Arsentherapie schwanden Tumoren und
Infiltrate und es entwickelte sich eine über den ganzen Körper
ausgebreitete Erythrodermie mit zeitweise stark schuppender Ober¬
fläche, abwechselnd hellroter und leicht zyanotischer Färbung
mit mäßiger Verdickung der Haut und Faltenbildung. Dieser Zu¬
stand bestand monatelang; bei der Obduktion wurde keine Spur
von Knotenbildung nachgewiesen. - Bei unserem Falle, in dem
dre Knoten auf vorher gesunder Haut auf getreten sind, finden wir
an der Mamma sklerodermieähnliche Kutisinfiltrationem, wie sie
schon des öfteren als prämykotische Erscheinungen beschrieben
worden sind. Die auffallend rasche Reinigung des großen Ulkus
sowie die bedeutende Voluinsvejmindenmg des Tumors zirka, zwei
Wochen nach der Bestrahlung sprechen für die klinische Diagnose
Mykosis fungoides d’crpblee, wogegen allerdings die ausgebreitete
768
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. .1911.
Nr. 21
und intensive Drüsenaffektion im Sinne der Sarkomatosis zu
deuten wäre, falls man sie nicht als eine sekundäre Erscheinung
der ausgehreiteten Ulzeration auf fassen wollte.
Immerhin möchte ich den Fall jener Gruppe von Mykosis
fuugoides zuzählen, für welche Pal tauf als Endausgang Sar¬
komatosis annimmt.
lieber den demonstrierten Fäll wird später ausführlich be¬
richtet werden.
Diskussion: Hofrat Prof. Pr. Pal tauf betont, daß er seiner¬
zeit solche Fälle nur insofern als Mykosis fungoides in Zweifel
gezogen habe, als die sonst prämykotischen Symptome nicht
noch nachträglich auftreten. Es wurden damals sicher zahlreiche
Sarkome zur Mykosis gerechnet ; diese Fälle hatten malignen Cha¬
rakter: Metastasenbildung und Durchwachsung der Gewebe, was
bei echter Mykosis eben nicht vorkommt, außer, wenn die Er¬
krankung später in Sarkom übergeht. Kundrat obduzierte einen
solchen Fall, wo nach achtjähriger Mykosis ein durch die Brust-
wand gewachsener sarkomatöser Tumor zu finden war.
Dr. Leopold Arzt: Demonstration einer Mißbildung des
Geschlechtsappparates bei einem Individuum mit
sekund ä r e n m ä n n 1 i c h e n G e s c h 1 e c h t s: c h a r a k t ei r e n.
(Wird ausführlich publiziert.)
Primararzt Priv.-Doz. Dr. Robert Breuer: Schlußwort
in der Diskussion zu dem Vortrage vom 12. Mai 1911: Klini¬
sche Beobachtungen an Herzkranken.
Meine Herren! Die Diskussion über meinen Vortrag am
letzten Freitag endete so spät, daß ich um die Erlaubnis gebeten
habe, meine Schlußbemerkungen heute Vorbringen zu dürfen.
Ich will von dieser Erlaubnis einen möglichst bescheidenen Ge¬
brauch machen und will mich kurz fassen, um die Herren nicht
zu lange aufzuhalten.
Der eine Punkt in meinem Vorträge, zu dem’1 sich einige
Herren geäußert haben, war das Vorkommen des Cheyne-
Stokes sehen Atmens bei Herzkranken. Ich hatte davon ge¬
sprochen, daß dieser Atemtypus bei Herzkranken ein sehr häufiger
sei, bei manchen durch Monate, ja Jahre beobachtet werden könne
und nicht selten zu intensiver schwerer Qual für die Patienten
werde. Ich hatte darüber berichtet, daß, während ich andere
medikamentöse Maßnahmen ohne viel Nutzen versucht hätte,
in einem Großteil der Fälle Sauerstoffinhalationen das
Cheyne-Stokes 'sehe Atmen zum V erschwinden gebrach Chatten .
Auf eine Diskussion der Ursachen, aus denen beim Herzkranken
C h e-y ne- S t ok essches Atmen auftritt, habe ich mich ebenso¬
wenig eingelassen, wie auf die detaillierte Besprechung des1 Mecha¬
nismus der Sauerstoffwirkung. Ich habe das unterlassen, weil
ich mich außerstande fühlte, die sehr komplizierten Verhältnisse,
die dabei in Betracht kommen, hier in einigen Minuten ver¬
ständlich darzustellen, ohne mir unzulässige Simplifikationen zu
gestatten. Die Erklärung der Sauerstoffwirkung hatte ich nur
angedeutet und im übrigen auf die Arbeiten der Physiologen
Haldane und Douglas und auf meine ausführlichere Publi¬
kation verwiesen. Die Bemerkung hatte ich noch hinzugefügt,
daß i n teressanter weise der1 Cheyne-Stokesscbe Atemtypus sich
sowohl durch Sauerstoffinhalationen, als auch - — wie englische
Aerzte gefunden haben — - durch eine Steigerung des Kohlensäure¬
gehaltes der inspirierten Luft aufheben lasse. Sauerstoff und
Kohlensäure wirken hier im selben Sinne, wenn auch auf ver¬
schiedenem Wege.
Herr Dr. Porges hat nun in der Diskussion bemerkt,
die Wirkung des Sauerstoffs auf das Chey ne- Stokes sehe Atmen
der Herzkranken sei nicht ohneweiters verständlich. Die beob¬
achtete günstige Wirkung des Sauerstoffs! bei dem Cheyme-
Stokcs sehen Atmen dieser Kranken sei nicht durch die Wir¬
kung des Sauerstoffs als solchen zu erklären, wie beim Cheyne-
Stokeis infolge herabgesetzten Sauerstoffgebaltes- der Inspirations¬
tuft. Bei den Herzkranken sei der Cheyne-Stokes sehe- Atem¬
typus eine Konsequenz von Zirkulationsstörungen und dabei könne
der Sauerstoff als solcher nicht nützen, denn es sei sicher,
daß sich das Blut schon bei der Sauerstoffspannung der Atmo¬
sphäre vollständig mit Sauerstoff sättige und daß deshalb das
Atmen von reinem Sauerstoff eine Steigerung der Sauerstof {Sätti¬
gung nicht bewirken könne. Die Wirkung der Sauerstof (Inhala¬
tionen bei dem Chey ne- Stokes sehen Atmen der Herzkranken
müsse anders zustande kommen, vielleicht so meinte Kollege
Porges — so, daß beim Atmen aus einer Maske der Patient
seine eigene Exspirationsluft zum Teil wieder einatme; die in
dieser Exspirationsluft enthaltene Kohlensäure, welche bekannt¬
lich ein starker Atemreiz ist, sei seiner Vermutung nach das
eigentlich Wirksame bei der beobachteten Wirkung der Sauerstoff¬
inhalationen beim Cheyne-Stokes der Herzkranken.
Meine Herren! Diese Erklärung des Herrn Kollegen Porges
ist sicher falsch. Denn wenn das Zuströmen des Sauerstoffs
so langsam erfolgt, daß der Patient einen Teil seiner Exspirations¬
luft wieder zurückatmen kann, weil die Maske eine Vergröße¬
rung des sogenannten ,, toten Raumes“ der Atmung darstellt ---
wenn, sage ich, der Sauerstoff so langsam zuströmt, dann wirkt
er gar nicht auf das Chey ne- Stokes sehe Atmen der Herz¬
kranken. Er wirkt nur, wenn er in so reichlichem Strome zugeführf
wird, daß die exspirierte Luft wohl recht vollständig von Mund
und Nase des Kranken weggeblasen wird. Aber auch sonst scheint
mir der Gedankengang des Herrn Kollegen Porges unrichtig.
Selbstverständlich ist der Sauerstoff kein Atemreiz wie die Kohlen¬
säure und daß, wenn ordentlich und regelmäßig re¬
spiriert. wird, das Blut sich in der Lunge nicht stärker mit
Sauerstoff sättigt, wenn reiner Sauerstoff als wenn Luft geatmet
wird, wissen wir alle auch schon lange. Aber trotzdem wirkt der
Sauerstoff beim Cheyne-Stokes des Herzkranken als solcher,
als Sauerstoff (wobei ich auf die Frage auch heute nicht ein-
gehe, die Herr Kollege Porges als zweifellos entschieden vor¬
weggenommen hat, ob nämlich das Cheyne-Stokessche Atmen
der Herzkranken eine direkte Folge von Zirkulationsstörungen
sei). Wenn nämlich nicht regelmäßig geatmet wird, wenn Nei¬
gung zu Atempausen besteht infolge einer irgendwie bedingten
Erregbarkeitsherabsetzung des Respirationszentrums oder aus an¬
deren Ursachen, dann macht es wohl einen Unterschied, ob sich
in den Respirationswegen ein Gasgemisch befindet, das relativ
arm oder sehr reich an Sauerstoff ist.
Ich habe schon neulich darauf hingewiesen, daß die Sauer¬
stoffinhalationen nicht etwa nur bei dem Chey ne-Stokesschen
Atmen der Herzkranken, Gefäß- und Nierenkranken, sondern auch
bei dem der Gehirnkranken (Apoplektiker usw.) das Phänomen
zum Verschwinden bringen, wie sie wobl auch den Chey ne-
Stokesschen Atemtypus, wenn er aus irgendwelchen anderen
Ursachen auftritt, aufheben dürften. Der Sauerstoff richtet sich
also offenbar nicht etwa gegen den Krankheitsprozeß, der dem
pathologischen Atemtypus zugrunde liegt, sondern er wirkt auf
ein schadhaft gewordenes Glied in dem Prozeß der Atmungs-
logulation. Und ich hatte dies mit den Worten angedeutet: Reich¬
liches Einströmen von Sauerstoff in die Luftwege (und ein solches
reichliches Einströmen ist nötig, um therapeutische Effekte
zu erzielen) bewirke eine erhöhte Sauerstoff Spannung
in der Alveolarluft, die selbst dann noch erhalten
bleibe, wenn längere Zeit nicht geatmet worden sei
(Atempause). Dies habe zur Folge, daß, wenn nach der Atem¬
pause die Respiration mit sehr kleinen Atemzügen Wiederbeginne,
doch schon während dieser seichten Respirationen so viel Sauer¬
stoff aufgenommen werden könne, daß nicht, wie es sonst eben
beim Chey ne-Stokesschen Atmen der Fäll ist, der Sauerstoff
mangel (mit seinen Konsequenzen) nach dem Beginne der Atmung
noch weiter zunehme und dadurch überkräftige und übertiefe
Respirationen provoziert werden, die wieder eine neue ^ Atem¬
pause! im Gefolge haben. Etwas grob ausgedrückt: Der Sauer¬
stoff verhindert, daß die Kranken so hyperpnoisch
werden, daß sie sich dadurch wieder dine neue Apnoe
„an atmen“. Daß das so ist, wird am besten durch den Hin¬
weis auf einen Befund von Haldane und Douglas gezeigt.
Diese Autoren haben beobachtet, daß sich bei jedem Gesunden
in jedem Momente für einige Zeit C hey ne- Stokes sches. Atmen
erzeugen lasse. Wenn ein Gesunder durch einige Zeit absichtlic
tief und rasch atmet, so folgt beim Unterbrechen der tiefen
Respirationen eine Periode- der ApUoe. Das weiß man seit
langem. Haldane und Douglas beobachteten nun aber, daß,
wenn nach der Apnoe die Atmung wieder beginnt., sie zunächst
nicht regelmäßig ist, sondern daß (durch einige Minuten un
Chey ne- Stokes sehen Typus geatmet wurde, 'der sich erst lang¬
sam wieder verliert. Dieses künstlich provozierte Cheyne-Sto-
kessche Atmen beim Gesunden bleibt nun aus, wenn wah¬
rend der letzten forcierten Inspirationen vor der (pri¬
mären) Apnoe nicht Luft, sondern Sauerstoff geatmet
wurde. Das zeigt doch klar, daß es bei der Sauerstoffwirkung
gegenüber dem Chey ne-Stokesschen Atmen nicht, auf irgend¬
eine Wirkung auf die pathologische Ursache des abttormen
Atemtypus ankommt (nur beim S t. o k e s sehen Atmen infolge
herabgesetzter Sauerstoffspannung in der Luft, z. B. in der Hotte,
besteht eine solche direkte Einwirkung auf die Grundursache,
sondern daß der Sauerstoff in allen anderen Fällen wirkt, wie ooeii
angedeutet: indem er, in genügender Menge in den Respirations-
wegen und vor -den Respirationsöffnungen vorhanden, i erbm ei .
daß nach einer (primären) Apnoe die Atmung so hyperpnonc '
wird und damit eine solche Ueb-erventilation eintritt, daß c.nr
neue und dann immer weitere Apnoen resultieren.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
769
Den übrigen Herren, die sich zur Frage des Cheyno-
Stokes sehen Atmens geäußert haben, habe ich nur wenige
Worte zu erwidern. Wenn Herr Prof. Braun gesagt hat, er habe
beim C h e y ne- S t o kes sehen Atmen der Herzkranken mit Kam¬
pfer gute Erfolge gehabt, so bezweifle ich das keinen Augenblick,
es ist theoretisch gut verständlich ; ich muß nur sagen, daß ich
persönlich mit der Wirkung des Kampfers wenig zufrieden ge¬
wesen bin, ebensowenig wie mit der des Strychnins, des Atro¬
pins und anderer Mittel. Herr Kollege Türkei hat berichtet, daß
es ihm gelungen sei, das Chey ne- Stokes sehe Atmen der Herz¬
kranken dadurch zu beseitigen, daß er den Kranken zuredete'
regelmäßig tief weiter zu atmen. Auch mir ist dies hie und da
gelungen, aber nicht zu häufig und namentlich nicht in den
schwereren Fällen. Auch ich habe manchen Kranken viertel¬
stundenlang immer wieder zugeredet, ruhig weiter zu atmen und
„auf das Atmen nicht zu vergessen“. Aber besonders bei solchen
Patienten, die müde und erschöpft sind, nützt das leider nur
wenig: sie schlafen während jeder Apnoe immer wieder ein
oder sind, wenn man sie in diesem Zeitpunkt weckt, wenig
bereit und schlecht imstande, den fehlenden automatischen Atem¬
reiz durch willkürliche Respirationsimpulse zu ersetzen.
Der andere Punkt in meinen Darlegungen, zu dem sich
mehrere Herren geäußert haben, betrifft meinen Erklärungsversuch
der kardialen Orthopnoe, oder, wie ich vielleicht besser
sagen sollte, der ortho tischen Zwangslage vieler Herz¬
kranker. Denn, daß es auch bei Herzkranken oft genug dys-
pnoische Zustände (gibt, in denen die sitzende Stellung deswegen vor-
aezogen wird, weil in dieser Lage die Aktion von Auxiliarmuskeln
besser zur Geltung kommen kann, ist ja eine nicht zu bezweifelnde
und von mir auch nicht bezweifelte Tatsache'. In einem Anfall
von kardialem Asthma z. B. sitzen die Kranken wohl haupt¬
sächlich aus denselben Gründen, aus denen auch ein Patient
im bronchialasthmatischen Anfall nicht liegen kann. Und auch
die von Herrn Kollegen Hofhauer vorgebrachte Erklärung da¬
für, daß sich dyspnoische Herzkranke im Sitzen gerne vorneigen,
hat bestimmt häufig Geltung, daß nämlich im Vornübersitzen
die Bauchmuskeln besser als Auxiliarmuskeln der Exspiration
wirken können als in angelehnter Stellung. Aber was mir einer
Erklärung bedürftig und was mir nur der neulich gegebenen
Erklärung zugänglich scheint, ist die so häufige Erscheinung,
daß Herzkranke, ohne eigentlich dyspnoisch izu sein, ohne in
irgendeiner Stellung eine Aktion irgendwelcher Auxiliarmuskeln
zu zeigen (auch nicht eine Kontraktion der Bauchmuskeln bei
der Exspiration), nur in sitzender und vor allem in vorgeneigter
Haltung frei von Beklemmung sind und nur so sich relativ
wohl fühlen, auch nur in dieser Stellung schlafen können, ohne
durch ein Angstgefühl gequält zu werden. Ich habe mich in den
letzten Tagen an zwei derartigen Kranken noch einmal davon
überzeugt, daß sie nicht aktiv mit den Bauchmuskeln exspirieren.
für diese Leute hat die Theorie Hof Bauers keine Geltung
und trotzdem sitzen sie am Tage und besonders bei Nacht, vor¬
geneigt in ihrem Bette oder auch in ihrem Lehnstuhl. Für1 dieses
Phänomen scheint mir nur die Erklärung ausreichend, die ich
neulich gegeben habe. Und wenn das so ist, dann wird die
Beeinträchtigung des linken Vorhofes in zurückgelehnter oder
gai' liegender Stellung außerldetm 'wohl sicher auch für solche
Kranke in i t bestimmten^ dafür sein, daß sie sich vornübergebeugt
halten, denen die vorgeneigte Haltung auch noch die anderen
con den Herren hervorgehobenen Vorteile bringt.
Dies war es, meine Herren, was ich Vorbringen wollte.
Ich schließe, um die Herren nicht noch länger aufzuhalten.
Priv.-Doz. Dr. Karl Ullmann : hält seinen angekündigten
Vortrag: A us s che i dungs werte und Speicherungs Ver¬
hältnisse organischer Arsenpräparate (Salvirsan)
lach verschiedenartigen Applikationsformen am
Menschen und am Tierexperiment. (Erscheint ausführlich
ui dieser Wochenschrift.)
Verein der Aerzte in Oberösterreich.
Sitzung am 6. April 1911.
Primarius Dr. D o b e r e r bespricht die Unterschiede
ler Darmresektion, die sich bei den verschiedenen Darm-
ibschnitten bezüglich Methode und Prognose ergeben, wobei
lünndarmresektion, Resectio ileocoecalis und Dickdarmresektion
trenge auseinander gehalten werden müssen. Zur Illustration
ler Resectio ileocoecalis demonstriert der Vortragende ein Prä-
iarat, welches bei der Operation eines an Ileocökaltuber-
■ ul ose leidenden Mannes gewonnen wurde, bei dem einzeitig
üe Resectio ileocoecalis mit End- zur Seitenanastomose vor¬
genommen wurde. Der betreffende Kranke hat die Operation gut
überstanden, erstaunlich an Körpergewicht zugenommen und ist
zu seiner schweren körperlichen Arbeit wieder vollkommen
tauglich geworden.
Nach Besprechung der verschiedenen ein-, zwei- und drei¬
zeitigen Methoden der Dickdarmresektion stellt der Vortragende
einen 56jährigen Musiklehrer vor, welcher vor Jahren bereits
wegen Beinfraß am rechten Fuße operiert wurde, wobei die
Unterschenkelamputation ausgeführt wurde. Derselbe litt seit
mehreren Monaten an Stuhlbeschwerden, Verstopfung abwechselnd
mit Diarrhöen, Auftreibung des Leibes und kolikartigen Schmerzen.
Bei der Untersuchung fand sich Auftreibung des Leibes, eine
schmerzhafte Resistenz oberhalb der Symphyse, Abmagerung,
belegte Zunge und blasses Aussehen.
Die am 28. Januer 1911 wegen Darmstenose vorgenommene
Laparotomie ergab ein übermäßig großes Karzinom der
Flexura sigmoidea, mit dessen Vorderfläche das Netz
breit verwachsen war, so daß der Tumor durch das Netz fixiert
und an demselben gleichsam aufgehängt war. Erst nach Re¬
sektion des angewachsenen Netzes wird der Tumor etwas beweg¬
lich und kann vom Peritoneum parietale, mit dem er gleichfalls
verwachsen ist, getrennt werden. Nun erst gelingt es, den Tumor
vor die Bauchwunde zu ziehen und die Resektion desselben
vorzunehmen. Die Resektion wird einzeitig nach der Methode
vorgenommen, wie sie Prof. Dr. Karl Bayer in Prag im
Zentralblatt für Chirurgie 1910, Nr. 44, angegeben hat und welche
in der Fixation der Nahtstelle in der Bauchwandwunde besteht.
Der Schnitt war vom Nabel bis zur Symphyse geführt worden.
Die ganze vordere Halbperipherie der Naht wurde entsprechend
der angegebenen Methode im Peritonealschlitze der Mitte der
Laparotomiewunde in der Weise fixiert, daß links und rechts
der Peritonealrand, ca. 1 cm entfernt von der Nahtstelle des
Darmes, dicht an die Darmwand genäht wurde. Auf die hintere
Halbperipherie der Naht wurde ein Xeroformstreifen eingeführt
und derselbe durch einen offen gelassenen Schlitz im Peritoneum
herausgeleitet, so daß die Ringnaht, des Darmes hinten durch
den Xeroformstreifen gedeckt, vorne ganz extraperitoneal dalag.
In beiden von Prof. Bayer nach dieser Methode operierten
Fällen kam es zur Bildung einer vorübergehenden Kotfistel.
In dem vorgestellten Falle war der Verlauf ein günstiger
und es hatte zunächst den Anschein, als ob eine primäre Darm¬
vereinigung ohne Fistelbildung erzielt worden wäre. Erst ziem¬
lich spät, am 12. Tage nach der Operation bildete sich eine
Kotfistel, welche bei einzeitiger Resektion und Versenkung der
Nahtstelle zu einer Perforationsperitonitis und Exitus geführt hätte.
So aber schloß sich die Darmfistel bald und der Kranke
konnte 57a Wochen nach der Operation geheilt das Spital ver¬
lassen. Seither ist der Appetit gut, die Stuhlentleerung geregelt
und schmerzlos ; der Operierte hat bis heute um 8 kg an Körper¬
gewicht zugenommen. Der entfernte Tumor wog nur um 2 g
weniger als 7a kg.
Der Vortragende glaubt auf Grund des vorgestellten Falles
die Fixationsmethode nach Prof. Bayer aufs beste empfehlen
zu können.
Regierungsrat Brenner bemerkt zur Ergänzung des über
Dünndarmresektion gebrachten Zitates aus der Arbeit Denks,
daß sich diese Arbeit auf dem im Linzer Spitale operierten Fall
der Resektion von 540 cm Dünndarm bezieht — die 61jährige
Frau starb nach 2Va Jahren an Marasmus; Dr. Denk hat den
Befund an der Leiche aufgenommen und die Länge des Testierenden
Dünndarmes mit 106 cm bestimmt ; er sagt : nicht die Länge des
entfernten, sondern des zurückgebliebenen Dünndarmes ent¬
scheidet — die 3 m sind eine ungefähre Durchschnittszahl für
die halbe Länge des Dünndarmes.
Zu dem Falle der Dickdarmresektion, den Herr Doberer
vorgestellt hat, bemerkt Brenner, daß die Unterpolsterung der
Darmnaht zur Sicherung gegen Perforationsperitonitis schon an
der Klinik Billroth geübt wurde ; es wurde aber vielfach
hervorgehoben, daß sie die primäre Verklebung der Nahtstellen
eher stört als fördert und Anlaß zu Fistelbildung gibt. Die Klinik
v. Eiseisberg steht z. B. nach der letzten Publikation
v. Haber ers im Archiv für Chirurgie, Bd. 94, auf dem Stand¬
punkte primärer Resektion des Kolontumores mit exakter Ver¬
schlußnaht der Darmenden und Seit-zu-Seit-Anastomose, dann
vollkommener Verschluß der Bauchhöhle. Billroth hat im
Laufe der Jahre bei Karzinom des Dickdarmes 40 quere
Resektionen des Kolons oder Ileocökums mit zehn Todesfällen
ausgeführt (vier von den Toten fallen der Anwendung des
Murphy-Knopfes zur Last), sechsmal bei Cökaltumoren die
Resektion des Ileocökums und End-zu-Seit-Anastomose mit
zwei Todesfällen, sechsmal vorgelagert mit zwei Todesfällen.
770
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Billroth hat auch einige Fälle mit querer Resektion und Naht
im untersten S romanum zur Heilung gebracht. Die Hauptsache
ist außer der exakten Naht das Vorhandensein des Peritoneal¬
überzuges im ganzen Umfange der genähten Stelle.
Prof. Sc limit erwähnt einen Fall, bei dem er wegen
hochgradigem Ileus die Resektion des untersten Ileums mit
nachfolgender zirkulärer Darmnaht gemacht und die Bauchhöhle
mit Jodoformgaze drainiert hatte. Auch hier ging die Darmnaht
trotz exakter Ausführung auf und er ist geneigt, dieses unan¬
genehme Ereignis, das zur Bildung einer Bauchdeckenkotfistel
Veranlassung gegeben hatte, auf die Drainage zurückzuführen.
Bemerkenswert ist der angeführte Fall auch deshalb, weil hier
nach einer wegen Carcinoma uteri ausgeführten Radialoperation ein
verhornendes Plattenepithelkarzinom im Ileum aufgetreten war
und zur Stenosierung des Darmes geführt hatte.
Primarius Dr. Fuchsig, a) Zur Prognosestellung
bei Strang ulationsileus.
Für die Stellung der Prognose beim Strangulationsileus
sind bekannterweise maßgebend die Dauer der Darminkarzeration
und die Straffheit der Abschnürung und es ist eine Erfahrungs¬
tatsache, daß nach Ablauf des zweiten Tages die Chancen der
Operation erheblich sinken, einesteils infolge der Gefahr des
Darmbrandes, andernteils infolge der zunehmenden Autointoxi¬
kation. Ich hatte in sechs Fällen von Strangulationsileus diese
Erfahrung bestätigt gefunden. Es waren das Fälle, welche am
vierten oder gar fünften Tage nach der Einklemmung zur Ope¬
ration kamen und trotz raschester Erledigung und in zwei Fällen
ausgeführter Enterostomie sämtlich zugrunde gingen. Ich war
nun sehr angenehm überrascht, als es mir vor etwa vier Mo¬
naten gelang, einen 4ß jährigen Patienten zu heilen, bei dem die
innere Darminkarzeration schon drei volle Tage bestanden hatte,
die Einklemmung durch einen straff gespannten Netzstrang erfolgt
war, nach dessen Durchtrennung sich eine blutig infarzierte
Schnürfurche fand. Der Darm erholte sich in diesem Falle
allerdings recht langsam und es dauerte fast eine Woche, bis
regelmäßige Darmfunktion wiederkehrte.
Vor ungefähr vier Wochen wurde ich zu einem 14jährigen
Mädchen gerufen, das ich vor nicht ganz einem Jahre wegen
eitriger Peritonitis nach Epityphilitis operiert hatte. Es etablierte
sich damals noch ein Douglasabszeß, den ich vom Rektum aus
inzidierte, worauf rasch Heilung eintrat. Bei bestem Wohlbefinden
waren jetzt plötzlich Schmerzen und initiales Erbrechen auf¬
getreten. Ich sah das Mädchen erst am Anfänge des sechsten
Tages nach Beginn der Erscheinungen, fand hohe Pulsfrequenz,
nur mäßig aufgetriebenes Abdomen, dessen dünne Decken die
Konturen dreier schräg gestellter, parallel gelagerter, geblähter
Dünndarmschlingen durchscheinen ließen. In Intervallen von
zehn Minuten steiften sich unter heftigen Schmerzen die Schlingen.
Häufiges von Anbeginn gleich fäkulentes Erbrechen. Bei der
Operation fand sich die Strangulation einer oberen Dünndarm¬
schlinge durch einen zum Cökum ziehenden Netzstrang; die
peripheren Schlingen lagen kontrahiert und leer im kleinen
Becken; nach Durchtrennung des Stranges zeigte der Darm eine
deutliche Schnürfurche ohne Schädigung der Vitalität der Darm¬
wand. Der Heilungsverlauf war ganz ungestört. Den beiden
letzten Fällen ist gemein das rasche Auftreten fäkulenten Er¬
brechens; in beiden Fällen fand sich als Ursache dessen, daß
eine der obersten Dünndarmschlingen inkarzeriert war. Es ist
nun bekannt, daß bei Einklemmungen hochgelegener Schlingen
häufiges und bald fäkulentes Erbrechen die Regel ist und daß
dieses Symptom zur Lokalisierung der Einklemmung gut ver
wertbar ist. Ich glaube nun auf Grund meiner zwei Erfahrungen
behaupten zu sollen, daß dieses Symptom auch prognostisch
verwertbar ist, wenn die Darmabschnürung keine schwerere
Zirkulationsstörung im eingeklemmten Darmabschnitte setzt und
daß solche Einklemmungen oberster Dünndarmschlingen auch
bei mehrtägiger Dauer noch prognostisch günstiger bleiben als
gleich alte, tiefer sitzende Inkarzerationen. Denn erstens ist die
Putreszenz des Darminhaltes der obersten Schlingen viel geringer
als des unteren Ileums und zweitens wird dieser an sich weniger
giftige Darminhalt durch das häufige Erbrechen rasch entleert.
b) Gebär mutter krebs und Schwangerschaft
Bei bestehendem Uteruskarzinom muß das Auftreten einer
Gravidität als folgenschwere Komplikation bezeichnet werden.
Es kommen liier hauptsächlich das Portio- oder Zervixkarzinom
in Betracht, weil beim Korpuskarzinom die Einnistung des Eies
kaum je möglich ist. In den Anfangsstadien des Karzinoms ist
dei Möglichkeit der Konzeption vorhanden, in den späteren
Stadien wohl kaum mehr wegen der Veränderung und Ver¬
engerung des Zervixkanals. Darum ist die Komplikation relativ
gelten. Die Gravidität begünstigt das Wachsen des Karzinoms
und dieses wieder bildet mehr weniger ein Geburtshindernis.
In der Mehrzahl der Fälle wird das Karzinom während der
Schwangerschaft entdeckt. In diesem Falle hat sich das thera¬
peutische Verhalten je nach der Dauer der Schwangerschaft, der
Operabilität des Krebses und dem Willen der Mutter zu richten.
In den ersten Monaten bis zur Hälfte der Gravidität soll sofort
und ohne Rücksicht auf das Leben der Frucht die Radikalope¬
ration ausgeführt werden. Ist diese vom technischen Standpunkte
möglich, so wird sie vaginal oder abdominal ausgeführt, je nach
den Verhältnissen und der Neigung des Operateurs. Bei lebens¬
fähiger Frucht und operablem Karzinom wird die Frühgeburt
eingeleitet und ehemöglichst oder am besten sofort die Exstir¬
pation angeschlossen. Oder es wird der vaginale Kaiserschnitt
nach Dührssen ausgeführt, die Frucht gewendet, extrahiert, die
Plazenta entfernt und sofort oder nach 14 Tagen exstirpiert.
Diese beiden Methoden empfehlen sich aber nur dann, wenn
anzunehmen ist, daß die Geburt des Kindes, beziehungsweise
die Extraktion der Frucht durch die Karzinommassen und die
infolgedessen mangelhafte Dehnungsfähigkeit der Zervix nicht
sehr erschwert sein wird. Ist dies anzunehmen, dann ist die
Sectio caesarea mit nachfolgender abdominaler Exstirpation des
Uterus vorzuziehen, weil leicht Zerreißungen erfolgen können.
Dieser Vorgang empfiehlt sich auch, wenn das Karzinom erst
während der Geburt entdeckt wird und ein Geburtshindernis
bildet. Ist das Karzinom in diesen Fällen inoperabel, dann wird
nach durchgeführter Sectio caesarea der Uterus nach Porro
exstirpiert und später das Karzinom exkochleiert.
Der Wille der Mutter wird natürlich in erster Linie respek¬
tiert werden müssen. Wünscht diese sehnlichst ein Kind, so
muß dieser Wunsch bei bereits lebensfähiger Frucht Befehl sein,
meiner Ansicht nach auch dann, wenn durch das Zuwarten das
Karzinom inoperabel oder die Exstirpation schwieriger würde.
In solchen Ausnahmefällen wird man das Schwangerschaftsende
abwarten und je nach den Verhältnissen Kaiserschnitt und ab¬
dominale Exstirpation ausführen, oder nach Exkochleation der
karzinomatösen Massen die Spontangeburt abwarten und 14 Tage
später die vaginale Exstirpation ausführen. Eine eingehende
Belehrung der Mutter vor der Entscheidung setze ich natürlich
voraus.
Es ist bekannt, daß die Exstirpation des Uterus nach der
künstlichen Entbindung durch die Auflockerung der Gewebe sehr
erleichtert wird, ferner, daß manches Karzinom, das vor der
Entleerung des Uterus für inoperabel gehalten wurde, nach Ent¬
leerung desselben eher zur Radikaloperation einladet. Namentlich
in Fällen, wo die Geburt bereits im Gange ist, kann man leicht
irregeführt werden. Die Aussichten auf Dauererfolge werden
von den Franzosen als sehr schlechte bezeichnet; dem stehen
aber die Berichte mehrerer deutscher Autoren entgegen, welche
Heilungsdauer von 4 V* Jahren beobachtet haben.
Ich kam am 7. Februar d. J. zum ersten Male in die
Lage, bei bestehendem Portiokarzinom und bereits seit zwei
Tagen im Gange befindlicher Geburt eingreifen zu müssen.
Eine 37jährige Frau, zum neunten Male gravid, letzte
Periode Ende April 1910. Im Beginne der Gravidität zeigten
sich abnorme Blutabgänge, derentwegen ein Arzt konsultiert
wurde, der eine Neubildung konstatierte und die sofortige Ope¬
ration empfahl. Die Patientin mißachtete aber diesen Rat, die
Schwangerschaft blieb weiter bis auf geringe Blutverluste unge¬
stört und vor zwei Tagen setzten Wehen ein und einige Stunden
später ging das Fruchtwasser ab. Da aber die Geburt trotz guter
Wehen nicht vorwärts ging, wurde ein Arzt gerufen, welcher
ein Portiokarzinom als Geburtshindernis fand und die Ueber-
führung der Frau ins Krankenhaus anordnete.
Status gynaecologicus : Scheide weit, bläulich verfärbt,
Zervix verstrichen, vordere Muttermundlippe durch ein exul-
zeriertes Karzinom ersetzt. Kindeskopf bereits ins Becken ein¬
getreten. In Narkose sofort mediane Laparatomie, Vorwälzung
des graviden Uterus, Längsinzision desselben, Entwicklung eines
asphyktischen Kindes, das bald wiederbelebt wird, Entfernung
der Nachgeburt, geringe Blutung; hierauf typische Totalexstir¬
pation der Gebärmutter, die, weil das Karzinom auf den Uterus
beschränkt war, leicht und unter geringem Blutverluste gelingt.
Lockere Tamponade des subperitonealen Wundbettes, Vereinigung
des Blasen- und Douglasperitoneums. Bauchdeckennaht. Am
achten Tage Entfernung der Nähte, kleiner Ligaturabszeß, Ent¬
fernung des Tampons. Wundverlauf ungestört. Wahrscheinlich
infolge entsetzlicher Gebißverbältnisse zuerst eine Pleuro¬
pneumonie im rechten Lungenunterlappen, nach Abheilung
dieser, pneumonialer Herd im linken Oberlappen mit eitrigem
Zerfall. Spontanheilung.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
771
Anschließend an die Demonstration des Herrn Primarius
Dr. Fuchsig zeigt Professor Sch mit einen vor 14 Tagen
wegen Karzinom exstirpierten Uterus. Derselbe stammt von einer
38 jährigen Frau, die zum 14. Male gravid war und sich bereits
im 10. Schwangerschaftsmonate befand. Fs fand sieb bei der
gutaussehenden Patientin ein noch nicht sehr weit vorgeschrittenes
Zervixkarzinom, doch war das linke Parametrium schon etwas
infiltriert. In diesem Falle wurde die Sectio caesarea abdominalis
ausgeführt (Frucht lebend, 2350 g und 48 '/a cm lang), dann der
Uterus nach Schluß der Bauchhöhle per vaginam (mittels
Sc h u ch a r d tschen Hilfsschnittes) exstirpiert. Heilung durch eine
kleine Nahteiterung der Bauchdecken etwas gestört. Prof. S c, h m i t
begründet sein operatives Vorgehen in diesem Falle damit, daß
ihm die vaginale Exstirpation des karzinomatösen Uterus wegen
geringerer Infektionsgefahr weniger gefährlich schien, als die
abdominale Totalexstirpation und daß er von der Sectio caesarea
vaginalis absah, weil das Gewebe der Zervix sehr brüchig war
und daher die Eröffnung des Uterus von der Vagina aus nicht
sehr glatt vor sich gegangen wäre.
Assistent Dr. Riedl berichtet über seine Reise rund
um Afrika, welche er im Herbst 1910 auf einem Dampfer der
Deutschen Afrika- Linie gemacht hat. Die Fahrt begann in Neapel,
ging zunächst über Port-Said durch den Suezkanal und das
Rote Meer, von Aden durch den indischen Ozean nach Kilindini-
Mombassa, Tanga, Zanzizbar und Dar-es-salaam, weiter nach
Mozambique, Chinde, Feira und Lourenzo Marques, von wo er
einen Ausflug nach Johannesburg und Pretoria machte, um so¬
dann in Durban seinen Dampfer wieder zu erreichen. Von süd¬
afrikanischen Häfen wurde East-London, Port Elisabeth und
Kapstadt besucht, auf der Fahrt längs der Westküste legte das
Schiff nur in den beiden Häfen Deutsch-Südwest-Afrikas, Lüderitz-
bucht und Swakopmund, ferner in Las Palmas und Teneriffa an.
Die Reise endigte nach Berührung von Southampton in Antwerpen.
Vortr. hatte Gelegenheit, die Gouvernementsspitäler in
Dar-es-salaam und Tanga, dann die städtischen Krankenhäuser
von Johannesburg, East-London, Port Elisabeth und Kapstadt
zu besuchen und teilt die hier gemachten Beobachtungen mit.
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin
vom 19. bis 22. April zu Wiesbaden.
II. Sitzung vom 20. April 1911, vormittags.
Referent: K. Reich er -Berlin.
(Fortsetzung.)
III.
Magnus-Levy - Berlin : Ueber dieHaferkiir bei
Diabetes.
Vortragender hat zur Entscheidung der Frage, ob die gün¬
stigen Erfolge der Haferkuren bei Diabetikern auf besonderen
Eigenschaften der Haferstärke oder auf dem Vorhandensein eines
besonderen Stoffes beruhe, in minutiös exakt angelegten, langen
Reihen Parallelversuche mit Hafer, mit reiner Haferstärke und
mit einer konzentrierten Hafergrütze angestellt, in der ein etwa
wirksamer hypothetischer Stoff hätte angereichert sein müssen.
Die Versuche sprechen nun nicht für letzteren, da in diesem
Falle die Verwertung hätte eine bessere sein müssen. Das war
aber nicht nachzuweisen. Anderseits lieferten die Versuche mit
reiner Haferstärke im wesentlichen die gleichen günstigen Er¬
gebnisse wie die gewöhnliche Haferkost. Damit ist durch direkte
Versuche am zuckerkranken Menschen erwiesen, daß die Hafer¬
stärke sich tatsächlich anders verhält als andere Stärkearten.
Die Haferkur ist nach verschiedenen Richtungen hin eines Aus¬
baues fähig und kann, in geeigneter Weise angewandt, zur Er¬
leichterung des Loses vieler Diabetiker führen.
Diskussion: Bürker- Tübingen : Gegen B ü r k e r s i m
vorigen Jahre entwickelte Narkosetheorie, ein Narkotikum wirke
um so stärker, je mehr Sauerstoff es unter bestimmten Um¬
ständen entzieht, hat Minkowski ins Feld geführt, daß
Traubenzucker bei der Hydrolyse Sauerstoff wegnehme und
dennoch werde es niemand ein Narkotikum nennen. Nun hat
Traubenzucker nach weiteren Untersuchungen Bürker s bei
alkalischer Reaktion keinen Sauerstoff weggenommen, dagegen
unter dem Einflüsse von Hafer und Phlorhidzin 64 Prozent. Ver¬
wendet man nun statt Hafer ein Extrakt desselben, so wird die
Traubenzuckeroxydation fast ganz gehemmt. Das müßte vom
Praktiker zu Versuchen herangezogen werden.
B I u m - Straßburg: Man kann mit gewöhnlichem Weizen¬
mehl in den meisten Fällen dieselbe Wirkung erzielen wie mit
Hafermehl, besonders bei leichten Diabetikern. Die größte Rolle
bei der Haferkur spielt die Abwesenheit von tierischem Eiweiß,
speziell von Fleisch, ein zweites Moment ist die eingeschobene
Hungerkur, die sehr schnell zur Entzuckerung führt, eine spe¬
zifische Haferwirkung besteht jedenfalls nicht.
Grund- Jlalle : Gemeinsam mit B a u m g a r t e n ange-
stellte Versuche decken sich im wesentlichen mit den Be¬
funden von Magnus-Levy. Bei Zugabe zu gewöhnlicher
Kost läßt sich zwischen Gersten- und Hafermehl kein Unterschied
finden. Weizenstärke bleibt in der Wirkung hinter Haferstärke
zurück. Bei isolierten Verfütterungen der übrigen Bestandteile
des Hafers lassen sieb keine sicheren Wirkungen erzielen.
M o h r - Halle : Die Klotz sehen Versuche werden am
besten zur Klärung hierher gehöriger Fragen nicht herangezogen,
denn die Leberverfettung ist ein komplizierter Prozeß von fettiger
Degeneration und Infiltration. Die Haferstärke wirkt wie jedes
andere Kohlehydrat.
Falta-Wien: Die Wirkung des Hafers besteht nicht nur
darin, daß verhältnismäßig wenig Zucker bei den zahlreich zu¬
geführten Kohlehydraten ausgeschieden wird, sondern auch in
dem Heruntergehen der Azidosis und der Einschränkung der
Eiweißzersetzung, die sich nur durch Ausnützung der Kohle¬
hydrate als solcher erklären läßt. Die Erfolge der Haferkur sind
nur auf eine spezifische Wirkung des Hafers zurückzuführen,
die Eiweißbeschränkung allein ist jedenfalls nicht das maßgebende,
denn die Wirkung bleibt auch bei Zulagen großer Roboratmengen
bestehen, Blums Befunde können wir nicht bestätigen.
H i s - Berlin : Es scheint, daß sowohl die Haferstärke als
auch die übrigen Bestandteile des Hafers bei der Wirkung in
Betracht kommen.
B o r u 1 1 a u - Berlin : Bei Durchströmung von Leber oder
Herz von pankreaslosen Tieren schwindet das Glykogen außer¬
ordentlich schnell, nach Zufügung von Pankreasextrakt zur
Durchströmungsflüssigkeit wird der Glykogenverlust viel geringer,
ja die Leber kann sich dann sogar mit Glykogen anreichern.
Aehnlich wirkt Zusatz von Haferextrakt.
Lüthje -Kiel: Ueber die gute Wirkung der Haferkost ist
wohl jede Debatte überflüssig; man kann allerdings unter guten
klinischen Bedingungen, genau so wie Blum mit Buchweizen¬
oder Reismehl beinahe dieselben Wirkungen erzielen, anderer¬
seits mit zulange protrahierter Haferkost schaden. Die feste
Umschreibung der für Haferkost geeigneten Fälle ist jedesfalls
sehr schwer.
Kaufmann- Bad Wildungen: Wichtig ist, daß bei der
Haferkost die gleichzeitige Darreichung anderer Kohlehydrate
schadet; man schaltet daher nach der Haferkost eine Ruhepause
von zwei bis drei Stunden ein, bis man andere Nahrungsmittel
verabreicht.
Minkowski- Breslau macht auf die starke Wasserreten¬
tion und Oedembildung bei der Haferkur aufmerksam.
Ad. Schmidt- Halle : Die Haferstärke wird nach unseren
bisherigen Kenntnissen nicht wie Zellulose teilweise vergärt,
sondern genau so restlos abgebaut, wie die anderen Stärke¬
arten. Sowohl chemische Konstitution als Größe der einzelnen
Stärkekörner sind dagegen verschieden, was auch bei der ver¬
schiedenen Wertigkeit von Hafer- und anderer Stärke berück¬
sichtigt werden muß.
Z ü 1 z e r - Berlin : Bei der Spezialität der Haferwirkung lag
es nahe, eine gleiche Wirkung des Haferextraktes und des
Pankreashormons anzunehmen, ersterer kann jedoch Adrenalin
nicht neutralisieren.
Weidenbaum - Neuenahr : Die Eiweißbeschränkung scheint
bei der Haferkur die Hauptsache zu sein, denn ersetzt man hierbei
das Pflanzeneiweiß durch Sanatogen, so geht der Urinzucker
nicht zurück.
Magnus-Levy (Schlußwort): Eine Hormonwirkung
scheint bei der Haferkur nicht vorzuliegen. Mit Grund stimmt
Magnus-Levy überein, daß die Verwertung des Hafermehls
nicht immer gleich bleibt. Derartige Versuche, wie Blum,
Grund u. a. hat Magnus-Levy ebenfalls angestellt und
konnte in vielen Fällen mit einer eiweißarmen, rein vegetabili¬
schen Mehlkost qualitativ Aehnliches wie mit der Hafernahrung
erzielen, aber niemals dasselbe. Es bestehen also unbedingt
graduelle Unterschiede, v. No or den hat seinerzeit die Indi¬
kationen für die Haferkur mit Recht sehr vorsichtig gestellt,
doch wird man sie noch ausdehnen können. Die Gründe, die
Falt a gegen die Vergärung im Darme angeführt, auf die
Magnus-Levy übrigens nicht ausschließlich die Erfolge der
Haferkur zurückführen wollte, scheinen Vortragendem nicht
stichhaltig zu sein.
von den Velden: Düsseldorf : Untersuchungen
zum Stoffaustausch zwischen Blut und Gewebe
772
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
Akute Aenderungen der Gerinnungsgeschwindigkeit des
Blutes können durch Hereinziehung einer im Gewebe befind¬
lichen, also histogenen Komponente des Gerinnungsaktes hervor¬
gerufen werden, z. B. durch Uebersalzen des Blutes, durch
Aderlaß, Gliederabschnürung, aber auch durch Kälte (Eisblase,
Chlorätbylspray), besonders vom Nacken aus, in geringerem
Grade durch Wärme. Ebenso gelingt es, durch Anämisierung
einer Schleimhautpartie mittels Adrenalin oder durch Adstrin¬
gentia wie Argentum nitricum, Cuprum sulfuricum, Plumbum
aceticum, Gerbsäure, Terpentinöl, also Mittel, denen man von
altersher eine fernwirkende hämostyptische Wirkung zuschrieb,
nach wenigen Minuten eine universelle starke Erhöhung
der Gerinnungsfähigkeit des Blutes zu erzielen.
Morawitz-F reiburg : Klinisches und Experi¬
mentelles über Eisentherapie.
Bei 60 Fällen von Chlorose mit typischem Chlorosebefund
ohne Verminderung des Blutfarbstoffs ließen sich mit Eisen sehr
günstige Resultate erzielen. Die Oligochromämie steht also nicht
im Zentrum des Krankheitsbildes, sondern ist nur Symptom. Bei
durch Aderlaß anämisierten Kaninchen wurde in der Regene¬
rationsperiode kein wesentlicher Unterschied im Blutbild mit
oder ohne Eisendarreichung wahrgenommen. Die v. Noorden sehe
Reiztheorie der Einwirkung besteht demnach nicht zu Recht.
Diskussion: Schmincke - Bad Elster-Rapallo : Mittels
des von Schmincke modifizierten Hämatokriten ließen sich
bei Normalen ungefähr 50°/o Erythrozyten nachweisen, bei
Anämie unter 42°/o. Nach Eisendarreichung stieg bei einem Teil
der Patienten das Maß der roten Blutkörperchen.
Ger har dt- Basel hält die Fälle von Morawitz nicht
für wirkliche Chlorosen, der Erfolg der Eisentherapie beweist es
jedenfalls nicht; Eisen hilft ja bei allen Zuständen, z. B. Ne¬
phritis. Wie schon Sahli seinerzeit erwähnt, verstecken sich
hinter solchen Pseudochlorosen häufig initiale Tuberkulosen.
Nenadovic- Franzensbad hebt die auffallende Besserung
einer schweren Anämie in Franzensbad hervor.
Morawitz (Schlußwort) hält daran fest, daß seine Fälle
echte Chlorose vorstellen.
IV.
Sitzung vom Donnerstag, den 20. April 1911.
Koni ge r- Erlangen: Ueber Pleuritiswirkung und
Pleuritisbehandlumg.
Unter 49 Fällen von primärer Pleuritis war mit einer ein¬
zigen Ausnahme in allen anderen Fällen nach der Entfieberung
eine deutliche Besserung der Tuberkulose zu konstatieren, ja in
70olo wurde dauernde Heilung erzielt. Bei 29 Fällen sekundärer
Pleuritis blieben 11 seit der Pleuritis dauernd gesund, in 5 Fällen
trat ein Stillstand der Tuberkulose ein. Doch ist die günstige
Wirkung nicht lediglich auf mechanische Momente, wie Ruhig¬
stellung der kranken Lunge etc., sondern auch auf chemische
Einflüsse zurückzuführen. Je reiner die Pleuritis klinisch erscheint,
d. h. je mehr sie dem Bilde idiopathischer, aus voller Gesundheit
heraus entstandenen Pleuraerkrankung entspricht, desto eher
darf und muß man punktieren. Dagegen sind bei klinisch na,ch-
weislich sekundären Pleuritiden schon Punktionen von 1 Liter
von allen Zeichen fortschreitender Tuberkulose gefolgt. Der
günstigste Zeitpunkt für die Punktion scheint das Ende der
zweiten bis Anfang der vierten Krankheitswoche zu bilden. Bei
Behandlung von serösen Exsudaten mit Jodoformglyzerininjek¬
tionen erzielt man sehr befriedigende Resultate. Autoserotherapie
regt manchmal die Resorption des Exsudates an, übt aber bei
wiederholter Anwendung einen ungünstigen Einfluß auf die
Tuberkulose aus.
Stäub li-Basel-St. Moritz: Zur Pathologie und The¬
rapie des Asthma bronchiale.
Stäubli faßt unter dem Begriff der „eosinophilen
Diathese“ diejenigen krisenartigen Krankheitsäußerungen zu¬
sammen, die mit Eosinophilie einhergehen. In gewissen, aller¬
dings individuell variablen Höhen fehlt für das Asthma, das
krisenauslösende Moment, und die Leute, namentlich Kinder,
verlieren sofort nach ihrer Ankunft in bestimmter Höhe die An¬
fälle. Nur bei älteren Patienten, deren Herz schon geschwächt
oder die Stauungsbronchitis besitzen, sehen wir erst nach \\ ochen
Besserung eintreten. In diesen Fällen scheint auch die Viskosität
des Blutes regelmäßig erhöht zu sein.
D i e s i n g - Trebschen : Tuberkulose und Stoffwechsel.
D i e s i n g will mit Adenochrom, einem organischen, adrena-
lintreien Nebennierenpräparat äußerst günstige Erfolge bei Tuber¬
kulösen erzielt haben.
Bacmeister-Freiburg: Experimentelle Lungen¬
spitzentuberkulose.
Läßt man junge Tiere in eine Drahtstenose hineinwachsen,
so findet man nach einiger Zeit eine Verschmälerung der oberen
Brustapertur und ein Steilerstehen der ersten Rippe, ganz ini
Sinne der Freund sehen Kriterien. Durch die auf die Lunge
sich fortsetzende Druckwirkung entsteht in der subapikalen
paravertebralen Partie eine Atelektase, welche der Schmorl-
schen Druckfurche direkt entspricht. Zur Prüfung der Zirku¬
lationsverhältnisse wurde Zinnober in die Ohrvene eingespritzt,
wir finden ihn dann in der ersten und zweiten Furche ganz
abgefangen. Nach Aufenthalt im Rußkasten setzen sich die Ru߬
massen oberhalb der Druckstellen in den Lymphräumen ab.
Denken wir uns die Rußteilchen durch Tuberkelbazillen ersetzt,
so findet man dementsprechend nach hämatogener Infektion
(Injektion in die Ohrvene) einzelne oder mehrere Tuberkelherde
in der Lungenspitze oberhalb oder direkt in der Druckebene,
aber nie in den übrigen Lungenpartien. Durch Tropfeninhalation
gelingt es dagegen nie eine isolierte, lokale Spitzentuberkulose
zu erzeugen, höchstens im Unterlappen eine Aspirationstuber¬
kulose. Von infizierten Leistendrüsen aus kann man bei solchen
Tieren auch wunderschöne isolierte Spitzentuberkulosen hervor-
rufen, sogar echte Peribronchitiden.
Bruns- Marburg: Ausschaltung einzelner Lungen¬
lappen zu therapeutischen Zwecken.
Genau so wie man in der Pneumothoraxlunge völlige Ate¬
lektase und absolute Blutleere absichtlich erzeugt, da in ihr der
Tuberkelbazillus keinen oder fast keinen Boden findet, haben
Sauerbruch und Bruns einzelne Aeste der Pulmonalis unter
bunden, um bronchiektatische Kavernenbildung günstig zu beein¬
flussen. Gangrän tritt nicht ein, da die Bronchialarterie erhalten
blieb, ebensowenig anämische Nekrose. Die bisherigen Erfolge
ermutigen zu weiteren Versuchen.
Diskussion zu den Vorträgen Königer-Bruns.
Bönni ger- Pankow: Das Symptom der Lymph¬
stau u n g bei den Erkrankungen der Pleura.
Bönni ger demonstriert Photographien, welche die ein¬
seitige Lymphstauung bei Erkrankungen der Pleura (Karzinom,
exsudative Entzündung etc.) sehr deutlich illustrieren, so Stau¬
ungen an der Mamma, an den Nates etc.
Jessen- Davos machte mit einem Kompressorium, das den
Thorax von hinten nach vorne komprimierte, bei Tuberkulose
sehr schlechte Erfahrungen. Die Autoserotherapie von Gilbert
leitet bei einmaliger Anwendung nicht nur die Resorption von
Exsudaten ein, sondern übt auch eine günstige antitoxische
Wirkung aus.
Rothschild-Bad Soden a. Taunus betrachtet bei exakte)
Feststellung des Ortes der Blutung Hämoptoe als Indikation
für Anlegung eines künstlichen Pneumothorax. Rothschild
betont ferner die Häufigkeit von Hyperazidität im Magensäfte
von Phthisikern, sie wird am besten durch Kohlehydrate beseitigt
Ad. Schmidt- Halle : In den Höhenkurorten kommt, ab
gesehen von klimatischen Faktoren, Herabsetzung des Luftdruckes
und Verminderung des Sauerstoffpartialdruckes in Betracht. Irr
Experiment kann sowohl die Druckkompenente für sich allein
ausgeschaltet (Albrecht, K u h n), als auch der normale Sauerstoff
Partialdruck der Luft vermindert werden, ohne daß man den
Luftdruck als Ganzes herabsetzt. Bei diesem Atmen in Luft mil
verringertem Sauerstoffgehalt wird in der Tat Asthma außer
ordentlich günstig beeinflußt und steht daher Schmidt nicht
an, diesen Faktor als den beim Höhenklima wahrscheinlich wirk
samen anzusprechen. Es entwickelt sich dabei eine Hyperämie
der Lunge infolge des Reizes der sauerstoffarmen Luft, auf das
Alveolarepithel, wie ja bekanntlich bei zu langem Einatmen sauer
stoffreicher Luft eine Desquamationspneumonie entstehen kann
Zuelzer- Berlin hat mit Adrenalin- oder Adrenalin-Tuber
kulin-Zerstäubungen bei Phthisikern sehr gute Resultate erhalten;
bei Asthmaanfällen hat er von Atropin, Adrenalinzerstäubung und
Trägerapparat viel Gutes gesehen.
S t i n z i n g - Jena : Es ist sehr verdienstvoll, daß Herr
Koni ger der Annahme einer stets heilsamen Wirkung der
Pleuraexsudate bei Lungentuberkulose den Boden entzogen hat
Das Exsudat komprimiert übrigens meist den unteren Teil der
Lunge, wo gerade am wenigsten Tuberkulose sitzt. Idiopathische
Pleuritiden gibt es nicht. Die Autoserotherapie hat in der Jenaei
Klinik keine nennenswerten Erfolge gezeitigt.
Schoeppner - Bad Reichenhall lobt die gute Wirkung
der pneumatischen Kammern bei Asthma.
Determann-St. Blasien-Freiburg hebt den günstigen
Einfluß des Höhenklimas bei Kindern hervor sowie die Schwierig¬
keiten exakter Viskosimetrie.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
773
Kuhn- Biebrich a. Rh. möchte die Entstehung von Pneu¬
monien bei Versuchstieren durch längere Sauerstoffzufuhr be¬
stätigen.
Ewald- Berlin hat bei drei Fällen von Pleuritis von der
Autoserotherapie keinerlei Erfolg gesehen. Die Behandlung des
Asthma mit Atropin hat schon Trousseau seinerzeit vor¬
geschlagen.
B ö n n i g e r - Pankow : Schlußwort.
Koni ge r (Schlußwort) bezeichnet als primäre Pleuritiden
solche, bei denen vorher klinisch keine Tuberkulose nachweisbar
ist, ohne damit ihre sekundäre Entstehung, z. B. von der Lunge
aus, leugnen zu wollen.
S t ä u b 1 i : Schlußwort.
(Fortsetzung folgt.)
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie zu Berlin
vom 19. bis 22. April 1911 (im Langenbeckhause).
Referent : Dr . M. Katzenstein - Berlin .
(Fortsetzung.)
v. E i s el sbe r g - Wien : Demonstration zur Frage der
Urethralplastik bei Hypospadie.
Bei perinealer Hypospadie hatte sich mit der Entfernung des
Katheters das implantierte Stück der Saphena abgestoßen. Die
Reimplantation der Saphena gelang bis auf eine Haarfistel.
S trei ß ler-'Graz transplantierte den Wurmfortsatz bei peri¬
nealer Hypospadie. Die Resultate1 waren am besten, wenn die
Serosa abgetragen war.
Tierversuche ergaben, daß sterile Hohlorgane (Harnleiter,
Tube) sich erhielten, während bakterienhaltige (Darm) zugrunde
gingen.
Deutschländer hat bei Ankylose des Kniegelenks mit
Erfolg frisch exstirpierten Bruchsack benützt.
Perthes war in der Lage, bei einer schweren Oberkiefer¬
fraktur mit starkem Herabsinken des Bulbus und dadurch be¬
dingtem Doppeltsehen durch Knochentransplantation eine Heilung
dieser Zustände zu erzielen.
Felix L and o is- Breslau : Die Transplantation in die
Blut bahn. ■
Vortr. versuchte mit Epithelkörperchen die Transplantation
in die Blutbahn am Hund.
In der ersten Sitzung brachte er die beiden äußeren Epi¬
thelkörperchen in das Lumen der Vena jugularis externa und1 ließ
sie vom Blutstrom wie einen Embolus in den Kreislauf spülen.
Nach 14 Tagen oder drei Wochen, wenn man annehmen konnte,
daß die transplantierten Epithelkörperchen eingeheilt waren,
wurden die beiden inneren Epithelkörperchen, resp., wenn, schon
eine Schilddrüse in der ersten Sitzung mitfortgenommen war,
das letzte innere Epithelkörperchen exstirpiert. Waren die Epithel¬
körperchen eingeheilt, mußten die Hunde frei von Tetanie sein.
Von 11 Hunden gelang es, autoplastisch Epithelkörperchen
auf embolischem Wege in sieben Fällen funktionstüchtig einzu¬
heilen.
Sodann tauschte- er bei je zwei Hunden die äußeren Epithel¬
körperchen nach demselben Modus aus.
Sieben Hunde, die in diesem Sinne homoioplastisch operiert
wurden, starben sämtlich.
Die homoioplastische Transplantation in die Blutbahn auf
embolischem Wege gelang nicht.
Vortr. nimmt daher an, daß die Epithelkörperchentransplan¬
tation zum Zwecke der Heilung der Tetanie beim Menschen
von einem anderen Individuum erfolglos ist.
Schmieden -Berlin berichtet über die theoretisch wich¬
tigen Erfahrungen, die er mit freier Knochentransplantation ge¬
macht hat. Selbstverständlich muß stets dem lebenswarmen Knor¬
pel, der im Zusammenhang mit dem Perichondrium überpflanzt
wird, der Vorzug gegeben werden. Großer Wert muß aber darauf
gelegt werden, den Knorpel zur Verpflanzung demselben Indivi¬
duum zu entnehmen. Vortr. legt ferner großen Wert auf die lebens¬
erhaltende Bedeutung der Funktion. Belasteter, zur Artikulation
und anderem benützter Knochen und Knorpel bleibt erhalten und
wächst eventuell sogar weiter.
Vortr. bespricht und zeigt sodann besonders glückliche Er¬
gebnisse der freien Knochentransplantation.
Berge! -Hohensalza weist auf die Bedeutung des fibrins
bei der Knochenneubildung bin.
Kirschner -Königsberg macht Mitteilungen von Versuchen
über Nerventransplantation.
F riedric h- Marburg : Bei der Transplantation muß Rück¬
sicht genommen werden auf die Schädigung, die der Körper durch
vorbergegangene Infektion erlitten hat und auf die; man das
Mißlingen der Transplantation zuweilen zurückführen kann.
Er warnt vor zu ausgedehnter Anwendung konservativer
Maßnahmen bei Tumoren der Extrernitäbemknoehen, da sehr häufig
danach Metastasen ein treten.
E n der len- Würzburg demonstriert eimen transplantierten
Knochen, der zum großen Teil nekrotisch geworden ist und teilt
mit, daß ihm von vier Kniegelenkstransplantationen nach Lexer
zwei gelungen sind.
G u 1 ek e - Straßburg hat Epithelkörperchen zu überpflanzen
versucht, jedoch mit negativem Erfolge.
Mül ler- Rostock warnt vor übertriebenen Hoffnungen bei
Transplantation von Knochen aus Leichenteilen.
v. R r a m a n n - Halle hat hei Duradeiekt nach L umorexscir-
pation mit Erfolg Fett transplantiert.
K ö nig -Greifswald hat gute Erfolge erzielt beim Ersatz
eines resezierten Unterkieferknochens durch Elfenbeinprothesen.
Am besten gelingt er, wenn die Schleimhaut nicht verletzt werden
mußte. War dies nicht zu vermeiden, so ist eine gute Naht
der Schleimhaut wegen der sonst bestehenden Infektionsgefahr
erforderlich.
R akes -Brünn hat bei Hypospadie die Urethra durch die
Vena basilica mit Erfolg ersetzt.
Henle- Dortmund verwendete Rippenknorpel bei Tiefstand
des Bulbus zur Vermeidung der Doppelbilder.
v. Frisch- Vien benützte bei der Sehnentransplantation
nach Sehnenvereiterung die Sehne des Flexor carpi ulnaris.
Lexer-Jena: Vollkommener Ersatz der Speise¬
röhre.
Das 27jährige Mädchen hatte 1901 aus Versehen Schwefel¬
säure getrunken. Als sie im Dezember darauf eine Stenose be¬
kam, wurde sie zuerst mit Bougierung behandelt, später wurde
eine Gastrotomie gemacht, um die retrograde Bougierung durch¬
zuführen, der sich die Kranke jedoch entzog. Bis 1908 nährte
sie sich von der Magenfistel aus. Sie ist sodann mehrfach zur
Herstellung einer neuen Speiseröhre operiert worden, und zwar
wegen Bildung Von stark hypertrophischen Narben in langen
Zwischenpausen.
Durch die Roux sehe Operation gelang es, die; ausgeschaltete
und mit dem Magen in Verbindung gebrachte- Jejunumschlinge
bis zur Mamma unter die Haut einzubeil-en. Sodann wurde; durch
Umkrempelung und Uebernähung von Jugulum bis zur Oeffnung
der Jejunumschlinge ein iHautschlauch gebildet. Es folgte dann die
Oesophagotomie zur Vorbereitung der Verbindung mit jenem Haut¬
schlau ch. Die linke Wand der Speiseröhre wurde so stark nach
außen gezogen und dicht oberhalb der Klavikula über den Kopf¬
nicker hinübergenäht, daß eine Verzerrung der Richtung des
Oesophagus entstand und beim Schlucken alles zur Fistel entleert
wurde. Darauf folgte im September 1910 die Verbindung zwischen
Ider Oeffnung der Speiseröhre mti jener des Hautschlauches.
Die Patientin ißt heute alles ohne Beschwerden; man sieht den
Hautschlauch sich sofort nach dem Schlucken lullen und den
Bissen hinabgleiten. Trockene Bissen spült sie mit einem Schluck
Wasser oder Milch nach. Die Wunden sind ohne- Fistel ge¬
schlossen.
W u 1 Ls tei n -Halle hat dasselbe Verfahren schon vor Jahren
versucht.
K ü In Ui e 1 1 - Hamburg berichtet ebenfalls über drei nach
dieser Richtung hin gemachte Versuche.
v. Hacker -Graz teilt die Beobachtung einer Oesophagus-
fistel, durch Fremdkörper entstanden und deren operative Hei¬
lung mit. Er benutzte einen Muskellappen zur Ausfüllung einer
durch Eiterung entstandenen Mediastinalhöhle.
Scho e m a k e r - ’s Gravenhage : U e b e r Uranoplast i k .
Vortragender beschreibt eine Methode der Uranoplastik, die
eine Modifikation der Brophy sehen Operation ist und zur An¬
wendung kommt hei Spaltbildungem, bei denen der Processus alveo-
laris einen Defekt aufweist. Durch submuköse üurclmieißelung
der vertikalen Platte der Kiefer hälften werden die horizontalen
Kieferstücke mobilisiert und aneinandergebracht. Mit einer kräf¬
tigen Nadel werden sie durchstochen und durch drei Se-iden-
knopfnähte aneinander befestigt. Die- Operation wird bei ganz
jungen Kindern ausgeführt. Später folgt die Lippenplastik und die
Vernälmng des weichen Gaumens, Operationen, die dann beide
sehr leicht sind, da diese Teile viel näher aneinandergebracht
sind. Auffallend war der günstige Einfluß auf den Stand der
Nasenflügel und der Scheidewand zwischen den Nasenlöchern.
Die Alveolarränder der Ober- und Unterkiefer korrespondierten
nach der Operation miteinander1.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 21
774
Wern er -Heidelberg berichtet über die Erfahrungen mit
den neueren, nicht operativen Behandlungsmethoden der
bösartigen Neubildungen (darunter Otto Schmidts Anti¬
meristem, Coleys _loxin, Fermentinjektionen, aktive Immuni¬
sierung, Saivarsaneinspritzungen, Röntgen- und Radium therapie)
und vergleicht damit die Chancen der chirurgischen Verfahren,
wvenn man dieselben nach den im Samariterhause erprobten
Grundsätzen mit den modernen Hilfsmitteln, die an und für
sich in den meisten Fällen nur palliativen Wert haben, unterstützt.
Danach sind einzelne Sarkom- und Epitheliomformen auf nicht-
chirurgischem Wege durch Strahlen-, Toxin- oder Arsentherapie
zu heilen, sonst aber ist überall, wenn irgend möglich, die Ra¬
dikaloperation auszuführen. Diese sollte bei geeigneter Lage: des
Tumors nicht mit dem Messer, sondern mit dem elektrischen
Lichtbogen vorgenommen werden, namentlich, wenn die ana¬
tomischen Verhältnisse keine breite Exstirpation im Gesunden
gestatten. Unter allen Umständen ist eine offene Wundbehandlung
zur wirksamen Applikation der Röntgeinstrahlen einzuleiten, wo
dies nur irgendwie technisch durchführbar ist. Als Schutz gegen
die Metastasen ist eine aktive Immunisierung scheinbar nicht ohne
Wirkung, doch müssen noch weitere Erfahrung über die Un¬
schädlichkeit und den Wert der Methode gesammelt werden, ehe
man das Verfahren allgemein empfehlen darf. Ist eine Radikal¬
operation nicht mehr möglich und die nichtchirurgische Behand¬
lung ausgeschlossen, dann kommt in erster Linie! die operative
Freilegung der Geschwulst zum Zwecke der Piöntgenbestrahlung
in Frage und nur, wenn dieses Verfahren unausführbar er¬
scheint, ein Versuch mit den übrigen Palliativmitteln.
Bier -Berlin demonstriert eine 78jährige Frau, bei der nach
Exzision eines Kankroids des Gesichtes ein handflächengroßes,
die ganze Wange einnehmendes schweres Rezidiv mit Fazialis¬
lähmung, Kieferklemme und Drüsenmetastasen eingetretem war.
Da es inoperabel war, wurde eine gründliche Ausschabung mit
dem Löffel vorgenommen und die Umgebung mit Borsäuregelatine
injiziert. Vortr. läßt es dahingestellt, ob die eingetretene voll¬
kommene Hjeilung auf diese oder auf das später eintretemde
Erysipel zurückzuführen ist. Die Patientin wird geheilt vor-
geführt.
d e Ru y t er - Berlin hat kurze Zeit nach einer Hodcnver-
letzung ein Karzinom auftreten sehen. *
C z er ny -Heidelberg konnte bei Sarkomen einen günstigen
Einfluß durch Salvarsaninjektionen feststellen und empfiehlt im
übrigen eine kombinierte Behandlungsmethode bei bösartigen Tu¬
moren. Auch Drey er- Breslau hat in einem Falle von malignem
Lymphomen eine wesentliche Besserung durch Salvarsaninjek-
tion gesehen.
Stammler-Ham'burg : Ueber neue serologische Me¬
thoden der Karzinomdiagnose.
Die Meiostagminreaktion ist zwar keine spezifische Krebs¬
reaktion, sondern besteht vielmehr in einem Nachweis von Stoffen,
die bei einem größeren Zellzerfall nachweisbar sind. Sie war
etwa in 73% positiv und ist unter Berücksichtigung der übrigen
klinischen Methoden äußerst brauchbar. Die neuerdings Von
Freund angegebene Methode ergab 80% positiven Ausfall und ist
ebenfalls ein sehr brauchbares Verfahren.
Keil ing- Dresden hält die Meiostagminreaktion für spe¬
zifisch bei Karzinom, und Rantzi-Wien teilt mit, daß ihm die
Freund sehe Methode sehr brauchbare Resultate geliefert hat.
Friedrich Hesse -Dresden: Mitteilungen zur Demon¬
stration geheilter Stich Verletzungen des Herzens.
Vortr. hat sechs Fälle von Herz Verletzungen selbst operiert.
Ein Fall (Schuß) starb sieben Stunden nach der Operation. Die,
übrigen fünf Stichverletzungen (zwei linker", ein rechter Ventrikel,
zwei linker Vorhof) sind geheilt und werden demonstriert. Auf
Grund seiner Erfahrungen spricht sich Verfasser: 1. gegen ein
atwartendes Verhalten aus, weder bei sicheren, noch bei wahr¬
scheinlichen Herzverletzungen, 2. gegen Darreichung von Ex-
zitantien vor beschlossener Operation, hält aber wie bei vielen
Herzaffektionen überhaupt Morphium für günstig. 3. Schnitt¬
führung soll individualisieren, aber guten Zugang, ErWeiteruings-
fähigkeit des Schnittes und die gute Lage einer eventuellen Peri¬
karddrainage berücksichtigen. Bei sicherer Diagnose der Herzvcr-
letzung Empfehlung extrapleuralen Vorgehens, eventuell ohne
Rücksicht auf Lage der äußeren Verletzung; der Hämatothorax
kann besonders durch Punktion versorgt werden. 4. Zur Frage
der Pleuradrainage: War die Pleurahöhle bei der Operation längere
Zeit und 'breit offen, dann empfiehlt Hesse sorgfältige Pleura¬
drainage und zwar Schaffung eines guten Abflusses am tiefsten
Punkt, also eine „prophylaktische Drainage“ links hinten unter¬
hall) der Skapula, wie es Hesse bereits 1905 in seinen beiden
ersten Fällen tat. Eine mögliche Infektion muß bereits den' ricli-
Yeran ‘wörtlicher Redakteur : Karl Knbastn«
Ligen Abllußweg vorfinden. Das „Wie" der Drainage spielt sicher¬
lich eine große* Rolle* und eine nach falschen Prinzipien angelegte
Drainage kann sicherlich eher .schaden als nützen.
Diskussion: E . 1 1 es s e - St. Petersburg berichtet über
21 Herzverletzungen, von denen 15 zugrunde gingen, 11 an An¬
ämie und 4 an Infektion. Von den 6 Geheilten war hei drei
der Wund verlauf durch eitrige Pleuritis und Perikarditis kom
pliziert. Die übrigen drei heilten glatt. Die Dauerresultate sind
bei sämtlichen sechs Fällen gut.
Emst F u c h s i g - Schärding a. I.: Die transdiaphragma¬
tische Freilegung des Herzens.
Medianer Schnitt von der Brustbeinkörper-Schwertfortsatz-
grenze abwärts 12 cm lang, Durchtrennung der Faszie* in der Linea
alba, Zurückschieben des präperitonealen Fettgewebes und Unter-
minierung des Schwertfortsatzes. Mediane Spaltung desselben
mit Billroth scher Knochenschere, evjemtuell des Schwertfurl-
satzes, Spaltung des vom Peritoneum isolierten Zwerchfells median
nach hinten, worauf das Perikard sichtbar wird. Nach Inzision
desselben in der Längsrichtung Übersicht man gut die untere
Hälfte des Herzens, kann mit der Hand eingehen und Herzwunden
nähen. Vortragender hat bei einer Herzstichverletzung diesen
Weg bei Verdacht auf gleichzeitige Magenverletzung mit Erfolg
gewählt. Die Naht an der Herzspitze war leicht auszuführen.
Die Eröffnung des Peritoneums orientierte rasch über die Ver¬
hältnisse am Magen. — Die transdiaphragmatische Freilegung
des Herzens ist leicht ausführbar, bei einiger Uebung Verletzung
von Peritoneum und Pleuren (links halten!) leicht zu vermeiden;
die Methode hat den Vorzug der raschen Ausführbarkeit, ohne
Schädigung der Thoraxfestigkeit. Die Naht des Herzens ist nicht
schwierig, bei Nebenverletzungen von Baucheingeweiden macht die
Eröffnung des freiliegenden Peritoneums diese zugänglich. Me¬
thode geeignet bei Herzwunden im Bereiche der untern Herz¬
hälfte, für Perikard iotomien, bei eitriger Perikarditis. Drainage-
verhältnisse günstig, demzufolge auch der Wundverlauf günstig.
Bei infizierten Herzwunden geringere Gefahr, weil Pleura- un’d
Peritoneumverletzung leicht zu vermeiden ist.
Diskussion: Wilms- Heidelberg hat vier Herzoperationen
wegen Herzverletzung gemacht und geht stets prinzipiell zwischen
zwei Rippen durch die Pleura ein. Es handelte sich: um einen
Stich im rechten Vorhof (geheilt); Schuß im linken Ventrikel
(geheilt); Stich im linken Ventrikel (Tod auf denn Operationstisch);
Schuß im rechten Vorhof. Bei diesem Falle war die Naht der
ganz hinten gelegenen Wunde nur nach völliger Luxation 'los
Herzens möglich. Der Tod trat infolge gleichzeitiger Verletzung
der Pulmonalis ein.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag den 26. Mai 1911, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Regierungsrat Prof. A. Kreidl stattfinder, den
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Priv.-Doz. Dr. Max Herz : Ueber Digitalisleim. (Vorläufige Mit¬
teilung.)
2. Dr. tdolf Kronfeld : Zur Entwicklung des Anatomiebildes in
neuerer Zeit. (Mit Demonstration.) ? I
Vorträge haben angemeldet die Herren: Fr. Dimmer, v. Fiirtli und
E. Lenk, M. Sternberg.
. Bergmeister, Paltauf.
Um die rechtzeitige Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbcm erkungen
dem Schriftführer iiocli am Sitzuiigsabenfl zu übergeben.
Wiener laryngo-rhinologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch den 14. Juni 1911, 7 Uhr abends, in
Hörsaale der Klinik Hofrat C h i a r i.
Demonstrationen. R e t h 1.
Oesterreicbische otologische Gesellschaft.
Programm der Montag den 29. Mai 1911, 6 Uhr abends, im Hörsaai
der Klinik Ur-bantschitsch stattfindenden wissenschaftlichen Sitzung«
1. Demonstrationen. Angemeldet die Herren: Prof. Urbantschitscli,
(lomperz, ltuttin, E. Urbantschitscli, Reck.
Bondy, Schriftführer.
Verlag von Wilhelm Branmüller in Wi»n.
Druck ron Bruno Bartclt. Wien XVIII., Theresiemjanso 8.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0 Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner. S. Exner. E. Finger. M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko. H. Meyer. J. Moeller. K. v. Noorden,
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. G. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs, Julius Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg.
Wien, I. Juni 1911
Nr. 22
INH
1. Originalartikel : 1. Ueber St. Joachimsthaler Radiumträger. Vor¬
läufige Mitteilung. Vom k. k. Badearzte Dr. Fritz Dautwitz,
St. Joachimsthal. S. 775.
2. Ueber die Abhängigkeit der Darmmotilität vom motorischen
und sekretorischen Verhalten des Magens. Von Dr. Siegfried
Jonas. S. 777.
3 Aus der Universitätskinderklinik in Lemberg. (Vorstand:
Prof. Raczyriski.) Das Verhalten des Reduktionsindex (nach
E. Mayerhofer) in der normalen und pathologischen Zerebro¬
spinalflüssigkeit, Von Dr. Mathilde Lateiner, Assistentin der
Klinik. S. 783.
4. Aus der Abteilung für Frauenkrankheiten der Wiener All¬
gemeinen Poliklinik. (Vorstand: Prof. Dr. H. Peham.) Ein Fall
von Mangel des rechten Ovariums bei rudimentärer Entwicklung
der rechten Tube. Von Dr. Ludwig H e r z 1. S. 787.
5. Aus der deutschen chirurgischen Klinik in Prag. Selbsthaltender
Operationsmundsperrer. Von Dr. Rudolf R u b e s c h, Assistenten
der Klinik. S. 789.
II. Diskussion: Bemerkungen zur Zuschrift des Herrn Geheimrates
Prof. Ehrlich in Nr. 21 der Wiener klin. Wochenschrift. Von
Dr. Viktor Hrdliczka. S. 790.
=
Ueber St. Joachimsthaler Radiumträger.
Vorläufige Mitteilung.
Vom k. k. Badearzte Dr. Fritz Dautwitz, St. Joachimsthal.
Die Natur des Radiums setzte nicht nur Physiker in
größtes Erstaunen, erregte das lebhafteste Interesse nicht
allein von Chemikern und Biologen, sondern auch der ärzt¬
lichen Kreise, welche sich ebenfalls bald eingehend mit dieser
wunderbaren Substanz beschäftigten.
Von den Erscheinungen, welche die Radiumstrahlen bei
biologischen Vorgängen hervorzurufen vermögen, war es vor
allem die zellverändernde Wirkung dieser Strahlen, die für
therapeutische Zwecke in der Weise nutzbar gemacht wurde,
daß das kostbare Radiumsalz eingeschlossen in Hüllen und
Kapseln (aus verschiedenem Material z. B. Zelluloid, Kaut¬
schuk, Ebonit, Metall, Glas bestehend) zur Bestrahlung patho¬
logischer Haut- und Schleimhautprozesse diente. Wenn einer¬
seits bei dieser Anordnung ein Verlust des wertvollen zur
Bestrahlung verwandten Radiumpräparates nicht erfolgte, so
haftete anderseits derartigen Bestrahlungsapparaten doch mehr
oder weniger eine ganze Reihe verschiedener Nachteile an,
die sich besonders dann fühlbar machten, wenn mit der
Radiumbehandlung auch ein günstiges kosmetisches Resultat
erzielt oder größere Flächen der Radiumstrahlung unter¬
worfen werden sollten. Es möge nur die ungleichmäßige
Strahlenwirkung, der infolge der Einhüllung stattfindende
große Verlust an wirksamer Strahlung, die kleine wirksame
Fläche, die für manche Zwecke ungeeignete Form solcher
Apparate erwähnt und noch vermerkt werden, daß bei
manchen derartigen Apparaten eine Reinigung und Desinfektion
L T:
III. Referate : Gegenbauers Lehrbuch der Anatomie des Menschen.
Von M. Fürbringer. Das Wachstum des Menschen nach
Alter, Geschlecht und Rasse. Von S. Weißenberg. Hand¬
buch der Anatomie und Mechanik der Gelenke unter Berück¬
sichtigung der bewegenden Muskeln. Von Rudolf Fink.
Ref. : Tandler. — Geschichte und Beschreibung des Baues
der neuen Frauenkliniken in Wien. Von R. Chrobak und
F. Schauta. Die junge Frau. Betrachtungen und Gedanken
über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Von Dr. Wilhelm
Huber. Festschrift zur Jahrhundertfeier des Trierschen Insti¬
tutes (Universitäts-Frauenklinik in Leipzig) am 29. Ok¬
tober 1910. Von P. Zweifel. Die Behandlung der Frauen¬
krankheiten. Von J. Veit. Ref.: Ke i tier. — Die Behandlung
der Nasenbrüche und der Mißbildungen der Nasenscheidevvand.
Von Dr. Claude und Dr. Francisque Martin. Ref.: Ewald.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Sozialärztliche Revue. Von Dr. L. Sofer. S. 800.
VI. Vermischte Nachrichten.
VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
unmöglich und auch ihre wirksame Strahlenmenge nicht be¬
stimmbar ist. Diese Mängel veranlaßten wahrscheinlich auch
viele Aerzte, von einer therapeutischen Verwendung des
Radiums für Bestrahlungen vorläufig abzusehen. '
Eine französische Firma (Armet de Lisle, Paris) kon¬
struierte vor mehreren Jahren eine andere Type von Radium¬
bestrahlungsapparaten, bei denen Metall oder Hanfgewebe
als Grundlage für das in eine Lack- oder Firnismasse ein¬
geschlossene Radiumsalz dient. Damit stellten u. a. auch
Wickham und Degrais1) ihre Versuche an, worüber
vor einiger Zeit ausführlich berichtet wurde ; gleichzeitig
teilten diese Autoren auch ihre mit Radiumbestrahlung er¬
zielten Heilerfolge mit, die weite Kreise lebhaft interessieren ;
wenngleich bei den französischen Apparaten viele der früher
aufgezählten Nachteile vermieden werden konnten, weisen
doch Wickham und Degrais auf gewisse Mängel hin,
worauf bei der Verwendung dieser Apparate Rücksicht zu
nehmen ist: Die radiumhaltige Schichte ist sehr leicht vulne¬
rabel und hält einer entsprechenden Reinigung und Desin¬
fektion nicht stand. Haben schon diese beiden Momente
wahrscheinlich manchen aufmerksamen Leser der Arbeit
Wickhams und Degrais von der Anschaffung solcher
Bestrahlungsapparate abgehalten, so dürfte außerdem noch
der unverhältnismäßig hohe Preis, zu welchem die franzö¬
sischen Apparate, deren Herstellung Fabriksgeheimnis ist,
verkauft werden, Grund dafür sein, daß diese Apparate in
der Therapie keine besonders ausgedehnte Anwendung fanden.
l) Wickham und Degrais: Radiumtherapie, Berlin 1910,
Julius Springe r.
776
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
Da die bisherigen Erfahrungen gelehrt haben, - daß
Radiumbestrahlung schon mittels der bisherigen Behelfe bei
geeigneten Fällen angewandt, therapeutische wertvolle Re¬
sultate erzielen kann, war mein Bestreben, vom k. k. Mini¬
sterium für öffentliche Arbeiten in weitgehendstem Maße ge¬
fördert, darauf gerichtet, möglichst vollkommene Radium¬
bestrahlungsapparate anzufertigen.
Die Natur sowie der Wert der die wirksamen Strahlen
liefernden Substanz sind die Ursache dafür,. daß solche Ap¬
parate immer nur einen gewissen Grad von Vollkommenheit
erreichen können und mit einer gewissen Sorgfalt behandelt
werden müssen.
Trotz dieser Voraussetzung scheint es aber doch mög¬
lich zu sein, die für Radiumbestrahlung bestimmten Behelfe
technisch derart vollkommen auszugestalten, daß dadurch die
therapeutische Verwendung des Radiums für Bestrahlung nicht
wesentlich behindert wird. Die radiumhaltige Masse — das
Radiumsalz muß nämlich zwecks Vermeidung mancher früher
aufgezählter Nachteile in irgend einer Weise fixiert gehalten
werden — muß soweit als möglich allen Anforderungen ent¬
sprechen. Sowohl die französischen Apparate als auch ein
vor kurzem von Wichmann 2) erwähnter Apparat bedürfen
in dieser Hinsicht einer Verbesserung. Für den Gebrauch
seines Apparates gibt Wichmann die Weisung, daß „die
dem Präparate schädliche Feuchtigkeit abzuhalten sei“ ; die
Mängel der ersteren Apparate wurden bereits erwähnt.
Eine meines Erachtens besonders wichtige Eigenschaft
fehlt allen diesen Apparaten, d. i. eine derartige Wider¬
standsfähigkeit der radiumhaltigen Schichte, daß dieselbe
gereinigt und desinfiziert werden kann. Diese Forderung,
welche auch dadurch keine Einschränkung erfährt, daß näm¬
lich die Apparate für Radiumbestrahlung in sehr vielen
Fällen mit Filtern verwendet werden, scheint um so berech¬
tigter zu sein, als doch diese Apparate im Kontakt mit der
äußeren Haut oder einer Schleimhaut, sehr oft auch auf Ge¬
schwürsflächen appliziert werden müssen.
Bei der Herstellung der St. Joachimsthaler Radium¬
träger war es daher vor allem die Aufgabe, eine Substanz
zu finden, die das Radiumsalz einzuschließen und auf der
Unterlage (Metall oder Gewebe) vollkommen festzuhalten hat;
sie muß nicht allein die nötigenfalls zur Reinigung und Des¬
infektion der Apparate erforderlichen Maßnahmen, ohne
Schaden zu nehmen, ertragen, nicht bloß dem zerstörenden
Einfluß der Radiumstrahlen standhalten, sondern auch mög¬
lichst wenig Radiumstrahlen absorbieren, damit das teure
Radiumpräparat infolge des Einschließens an seiner wirk¬
samen Strahlung nur eine ganz geringe Einbuße erleidet.
Von den bisher bestehenden Bestrahlungsapparaten unter¬
scheiden sich die St. Joachimsthaler Radiumträger, bei denen
Metall die Unterlage bildet, zunächst dadurch, daß die radium¬
haltige Schichte infolge ihrer Härte und gleichzeitigen Elasti¬
zität gegenüber grobmechanischen Einflüssen (Ritzen, Ab¬
nutzung, Stoß, Schlag, Fall etc.) ganz bedeutende Wider¬
standsfähigkeit besitzt.
Bei den St. Joachimsthaler Radiumträgern konnte weiters
erreicht werden, daß sie im Bedarfsfälle entsprechend ge¬
reinigt werden können. Dazu kann ohne Beeinträchtigung der
das Radiumpräparat enthaltenden Schichte Wasser, Schwefel¬
äther oder Benzin benützt werden. Wattebäuschchen werden
in diesen Flüssigkeiten getränkt und damit die radiumhaltige
Masse vorsichtig abgewischt.
Gegenüber den übrigen derartigen Apparaten besteht
eine Verbesserung der St. Joachimsthaler Radiumträger darin,
daß sie, wenn erforderlich, auch desinfiziert werden können.
Eine solche Desinfektion kann mit absolutem Alkohol, Alkohol-
Azeton und Formalindämpfen vorgenommen werden, ohne
daß darunter die radium haltige Masse Schaden leiden würde,
denn in einem Bericht des Institutes für Radiumforschung
der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften an das k. k.
Ministerium für öffentliche Arbeiten wird folgendes erwähnt:
2) I’. Wichmann, Radium in der Heilkunde Harnburg-Leipzig 1911,
Leopold V o ß.
»Zuerst wurde betreffs der Sterilisierungsfähigkeit durch
Alkohol festgestellt, daß zehntägiges Liegen in 960/0igeni
Alkohol für die Aktivität unschädlich ist, indem hiedurch keine
merklichen Spuren 3) von Radiumsalz herausgelaugt werden.«
Versuche haben übrigens noch ergeben, daß diese
Apparate dem dreistündigen Einwirken trockener Hitze (120°)
sowie dem kochenden Wasser durch zehn Minuten wider¬
stehen können. Da sich jedoch bei diesen beiden Maßnahmen
infolge der Erhitzung teils eine schwere Störung im radio¬
aktiven Gleichgewichte der Apparate einstellt, teils durch
öftere Anwendung derselben das eine oder andere Mal doch
eine Schädigung der radiumhaltigen Schichte eintreten könnte,
wird es sich empfehlen, davon abzusehen, zumal ja die An¬
wendung der früher angegebenen Flüssigkeiten zur Reinigung
und Desinfektion vollkommen hinreichend sein dürfte.
Hervorzuheben ist noch die ganz beträchtliche Aus¬
nutzung der vom Radiumpräparat trotz seiner Einschließung
abgegebenen Strahlenmenge, wodurch sich die St. Joachims¬
thaler Radiumträger vor den übrigen Radiumbestrahlungs¬
apparaten auszeichnen. In dem früher erwähnten, Modelle
von St. Joachimsthaler Radiumträgern betreffenden Bericht
des Institutes für Radiumforschung wird betreffs der a-Strahlung
erwähnt: »Weiters wurde festgestellt, daß die Radium¬
emanation fast vollständig zurückgehalten wird, so daß die
daraus entstandenen Zerfallsprodukte, vor allem das strahlungs¬
wirksamste Ra-G darin aufgespeichert sind. Dadurch ist
erzielt, daß bei unbedekten Scheibchen wesentlich die
a-Strahlung von Radium selbst sowie die der Radiumemana¬
tion und "die von Ra- A und Ra-C zur Wirkung gelangen
können. Diese letztgenannte a-Strablung von Ra-G ist die
durchdringlichste der genannten «-Strahlungen und daher
besonders maßgebend.«
»Daraus ergibt sich, daß etwa der vierte Teil der vom
reinen Radium erzielbaren Wirkung tatsächlich erhalten wird,
was als sehr günstiges Ergebnis betrachtet werden muß.«
Da mithin bei den St. Joachimsthaler Radiumträgern
schon eine ganz hervorragend gute Ausnutzung der a-Strahlung
— der am leichtesten absorbierbaren Radiumstrahlen — er¬
zielt werden konnte, ist es klar, daß die weniger leicht absor¬
bierbare ß-Strahlung bei den St. Joachimsthaler Radium¬
trägern voll und ganz zur Wirkung gelangt.
In einfacher Weise kann die von den St. Joachims¬
thaler Radiumträgern emittierte Strahlung an Schirmen ge¬
zeigt werden, die mit S i d o t scher Blende oder Barium-
platinzyanür bedeckt sind. Selbst wenn diese Apparate nur
eine ganz geringe Menge eines keineswegs hochwertigen
Radiumsalzes enthalten, erregen die von ihnen abgegebenen
Radiumstrahlen an diesen Schirmen lebhafte Leuchterschei¬
nungen.
Es ist Vorsorge getroffen, daß an den Metall-
apparaten, die für die jeweilige Bestrahlung nötigen Filter,
(Aluminium, Blei, Kautschuk etc.) in geeigneter Weise bei
voller Ausnutzung der die Strahlung abgebenden Fläche be¬
festigt werden können.
Auch soll noch vermerkt werden, daß die St. Joachims¬
thaler Radiumträger in den verschiedensten Größen und
Formen sowohl mit ebenen als auch mit sphärischen Flächen
hergestellt werden können, wodurch ihre Anwendbarkeit ganz
wesentlich erweitert wird.
Endlich möchte ich noch erwähnen, daß sich auch die¬
jenigen St. Joachimsthaler Radiumträger, bei welchen Gewebe
die Unterlage für die radiumhaltige Schichte bildet, im Gegen¬
satz zu den französischen Apparaten durch beträchtliche
Biegsamkeit auszeichnen. In größerem Format, z. B. 13X14 cm,
können diese St. Joachimsthaler Radiumträger, versehen
mit schwächer aktiven Radiumpräparaten, als radioaktive
Kompressen verwendet werden, wobei eine Schädigung
der Haut ausgeschlossen ist.4)
3) Mit der elektrischen Meßmethode gelingt es, den hillionsten Teil
eines Grammes Radium nachzuweisen.
4) In der Angabe L e e b s (Gesellschaft für physikalische Medizin-
Sitzung vom 8. Februar 1911, ref. Wien. med. Wochenschr. 1911, Nr. 1; )■.
der über Erfahrungen berichtet, die er mit Präparaten des »Radium-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Indiziert sind solche schwache Bestrahlungen vor allem
bei manchen inneren Erkrankungen, worauf schon v. Neusser
im Jahre 1905 hingewiesen hat und womit seitdem auch von
anderen Autoren günstige Erfolge erzielt werden konnten.
Das bei den bt. Joachimsthaler Radiumträgern von mir
angewandte Verfahren zur Einschließung eines Radiumsalzes
das speziell für medizinische Zwecke bestimmt ist, wird in¬
folge der ausgezeichneten Strahlenausbeute auch für manche
biologische und physikalische Untersuchungen gute Dienste
leisten.
Vielleicht trägt der Umstand, daß bei Anfertigung der
St. Joachimsthaler Radiumträger Unvollkommenheiten der
bisherigen Radiumbestrahlungsapparate behoben werden
konnten, dazu bei, daß nunmehr das Radium in geeigneter
allen Anforderungen möglichst entsprechender Form für Be¬
strahlungen in ausgedehnterem Maße als bisher verwendet
werden kann. Ueber die bei therapeutischer Verwendung dieser
St. Joachimsthaler Radiumträger einzuhaltende Technik soll
in einem späteren Zeitpunkte berichtet werden.
Ueber die Abhängigkeit der Darmmotilität vom
motorischen und sekretorischen Verhalten des
Magens.*)
Von Dr. Siegfried Jonas.
Bald nachdem Oppler auf' das gemeinsame Vorkom¬
men und die Abhängigkeit von Obstipation und Hyper¬
azidität einerseits und Diarrhoe und mangelnder Salzsäure¬
sekretion .andererseits aufmerksam gemacht hatte, wies E i ti¬
li orn darauf hin, daß diese Kombinationen wohl häufig,
aber nicht regelmäßig seien; die Möglichkeit die Darin -
stö Hingen als gastrogen zu erkennen aber sei darin gegeben,
daß dieselben durch rationelle Behandlung des Magens sich
! bessern lassen und zwar in einem, Zeitraum, der zu kurz ist,
als daß in ihm! eine selbständige Erkrankung des Darmes
durch bloße Hebung der Magenfunktion gebessert werden
könnte. Die Frage, ob dabei die primäre ..Störung im Magen
oder im Darm zu suchen sei, wurde für das gemeinsame
Vorkommen von Hyperazidität und Obstipation von v. N o o r-
den dahin beantwortet, daß. zumeist die Dyspepsia enterica
jdas Primäre, die Dyspepsia gastrica das Sekundäre sei, da
es ihm (wie auch E inho r n und Ebstein) durch bloße Be¬
handlung der Obstipation gelang, die Salzsäure zu normalen
Werten zu bringen; übrigens gebe eine genau aufgenom-
mene ^Anamnese der Diagnose und Therapie am besten
lie Richtung, indem sie erkennen lasse, ob zuerst
lie Magenfunktion oder die Darmfunktion gestört ge¬
wesen seid) Was ferner das gemeinsame Vorkommen
von Achylie mit Diarrhoe anlangt (auf welches zu¬
nächst von Einhorn hingewiesen wurde), so wurde als
Wesen der achylischen Diarrhoe von S c h m i d t die Binde-
,rewebslienterie erkannt; denn fällt die Magensalzsäure als
las allein bindegewebeverdauende Agens weg, so wird einer¬
seits das Bindegewebe ungelöst und andererseits das ,einge-
ichlossene Fett und Muskelfieisch unverdaut in den Darm
jefördert; das letztere bildet einen Schlupfwinkel und eine
Brutstätte für zahlreiche Mikroorganismen und gerät in Zer-
,rerkes Neulengbach« gemacht hat, daß sich nur bei Applikation von
ladiumpräparaten mit BO mg Reingehalt an Radium unerwünschte Neben-
i'scheinungen (Rötung und Schmerzhaftigkeit der Applikationsstelle)
•‘lgten, ist der Ausdruck »Reingehalt an Radium« wohl nicht in dem
“brauch liehen Sinne gebraucht, denn vom Reingehalt an Radium eines
räparates darf doch nur dann gesprochen werden, wenn derselbe auf
:e chemisch reine Form eines Radiumsalzes bezogen wird. Wenn das
on Leeb benutzte Präparat tatsächlich 30mg eines reinen Radium-
dzes enthielte, würden trotz der bei der Applikation angewandten Ver-
ünnung und des Rehledersäckchens bei längerer Bestrahlung schwere
chädigungen der bestrahlten Hauptpartien sich einstellen.
I iii. Kach einem in der Gesellschaft für innere Medizin und Kinder-
eukunde in Wien am 27. April 1911 gehaltenen Vortrage.
') Auch tierexperimentell wurde die Frage mit Hilfe künstlicher
'hshpation angegangen von Wiczkowsky und Samuely und
war von ersterem mit positivem Resultate (Ansteigen der Salzsäurewerte),
m letzterem mit negativem Resultat.
Setzung, deren Produkte die Darmwand bis zum Katarrh
reizen, wobei es infolge der Fäulnis des abgeschiedenen
Irans- oder Exsudates zur Steigerung der Peristallik kommt.
Hier ist also das' Primäre die Magenstörung, das Sekundäre
die Darmstörung, dort in manchen Fällen. Findet sich nun
m der Regel auch Obstipation mit Hyperazidität und Diarrhoe
mit. Achylie vereint, so wird doch von S c h m i d t , E i n h.o r n
u. a. darauf hingewiesen, daß bisweilen Diarrhoe mit Hyper-
azKütat vereint vorkomme und andererseits sahen M a r t i u s
Emhorn Boas, Schütz, Brauner u. a. bei Achylie
normale Stuhle, ja sogar Obstipation.
Aehnlich wechselnde Stidilbilder erzeugt ein zweiter
die Motilität des Darmes beeinflussender Faktor, der Darm¬
katarrh. Denn ist er im1 Dünndarm allein lokalisiert, so er¬
zeugt er nach Nothnagel Obstipation; ist der Sitz der
Erkrankung der Dickdarm, dann kommt es in einer Reihe
von Fällen zu Obstipation, die der genannte Autor dabei
als das eigentlich pathologisch-physiologische Verhalten an-
smht, weil dasselbe der von ihm gefundenen kleinzelligen
Infiltration und Atrophie entspricht; ein andermal erfolgen
weiche Stühle, die von Nothnagel auf Reichtum an
Schleim, Fett, oder Wasser zurückgeführt werden; in einer
Reihe von Fällen erfolgt Wechsel zwischen Verstopfung mnd
Diarrhoe, die von ihm in den meisten Fällen auf akute
Exazerbationen des Katarrhs infolge von Diätfehlern bezogen
werden; in wieder anderen Fällen endlich, bei Mitbeteiligung
des Dünndarms, kommt es zur Diarrhöe.
Dem Versuche zur Aufklärung dieser wechselnden Stuhl-
bildei beizutragen, möchten die folgenden Untersuchungen
dienen.
Obstipation und Diarrhoe sind Ausdrücke, die — wie
schon Schmidt und Stras burger hervorheben —
nichts weiter bezeichnen, als dem Zustand des ab ge¬
setzten Stuhles, und zwar bezeichnet der Ausdruck Obsti¬
pation (nach Nothnagel) das Vorhandensein seltener,
v eilig kopiöser, harter Stühle, der Ausdruck Diarrhoe das
Auftreten häufiger, dünnflüssiger Entleerungen, und wir sind
msoferne gewöhnt, aus dem Stuhlbilde auf die Motilität des
Daimes zu schließen, alsl das Vorhandensein von Diarrhoe
(mit unverändertem Gallenfarbstoff etc.) gesteigerte Motilität
Obstipation herabgesetzte Motilität im allgemeinen er¬
kennen läßit. Die nicht unbedingte Richtigkeit dieses
Schlusses wird aber sofort klar, wenn wir uns an das
V orkommen der (den Patienten als Diarrhoe imponierenden)
Schleimabgänge bei hochgradiger Obstipation, der Colica
mucosa und Enteritis membranacea, erinnern und der soge¬
nannten „falschen Diarrhöen“, der flüssigen, hauptsächlich
aus Schleim und Eint bestehenden Abgänge gedenken, die bei
Stenosen des Dickdarms Vorkommen. Neuestcns erst bot
sich die Möglichkeit, die Passage der Ingesten durch den
Darm mittels der Röntgenstrahlen zu beobachten, indem
man den Fortschritt einer Wismuthmilchspeise im Darm
verfolgt. Der erste, der diesen Weg ging, war Hertz in
seinem Ruche Constipation and allied intestinal disorders,
der auf Grund seinerj Untersuchungen der Darmpassage an
18 vollkommen magengesunden Individuen folgende Nor¬
malzeiten für die Füllung der einzelnen Darmabschnitte
feststellte :
per Schatten des Coecums erscheint zwischen 3 und
5 /o (zumeist in ca. '41/2) Stunden; die Flexura coli hepatica
wird erreicht zwischen 5 und 8 (zumeist in ca. 6l/2) Stun¬
den ; die Flexura coli Jienalis wird erreicht zwischen 7
und 14 (zumeist in ca. 9) Stunden; die Verbindung zwischen
Colon descendens und dem Anfangsteil des Colon sig-
moideum (bis zum Kamm des Darmbeines Colon iliacum
genannt, während der Endteil bis zum Rektum Colon pelvi¬
cum genannt wird) wird erreicht zwischen 8 und 16 (zu¬
meist in ca. 11) Stunden.
Was endlich die Füllung und Entleerung des Colon
pelvicum und des Rektum anlangt, so wurde diesbezüglich
von Hertz die wichtige Rolle festgestellt, die das
Colon pelvicum bei der Defäkation (die normalerweise ein¬
mal in 24 Stunden und zwar früh erfolgen soll) spielt;
778
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
dean indem der in diesem Darmteil angesammelte Kot
besonders nach dem Frühstück (unter dem Reiz der in den
leeren Magen neu aufgenommenen Nahrung, der sich auf
den Darm fortpflanzt) ins Rektum eintritt, wird (Stuhldrang
ausgelöst und bei der nun folgenden Defäkation »normaler¬
weise der ganze unterhalb der Flexura coli lienalis liegende
Darminhalt entleert ; und so konnte Hertz für »den Rnd-
teil des Darmes jenen Modus der Darmpassage (feststellen,
den Holzknecht auch am übrigen Darm beobachtete :
ruckweise Entleerung des einen und Füllung des (nächst¬
folgenden größeren Darmabschnittes. Entsprechend der
Funktion des Colon pelvicum als Sammelort der 'Fäzes, teilt
Hertz den Darm in einen Anteil oberhalb und unterhalb
des Colon pelvicum und unterscheidet demgemäß zwei Arten
von Obstipation : eine Art, wobei die Defäkalion (normal ist
und sich die .Verlangsamung der Passage im oberen (Teil
des Darmes bis zum Colon pelvicum abspielt, gewöhnlich
zurückzuführen auf zu wenig oder zu wenig Peristaltik-
anregende Nahrung (wie hei Ulkus, Karzinom); und eine
zweite Art, wobei die Passage des Darmes (normal, die
Defäkation aber gestört ist; diese nennt Hertz Dysche-
zie2) — - ihre Ursache ist zumeist die Unterempfindlichkeit
des Rektums, welches bei häufiger Vernachlässigung des
Stuhldranges seine Empfindlichkeit verliert, worauf der Stuhl
ohne Drang auszulösen hier liegen bleibt und eingedickt wird,
ohne entleert zu werden; ihre Diagnose stützt (sich auf den
Nachweis von Stuhl im Rektum außerhalb der (unmittelbar
vor der Defäkation liegenden Zeit. (Selbstverständlich
kommen beide Arten von Obstipation auch miteinander ver¬
eint vor).
So erzählt Hertz den Fall einer 17jährigen Dame, die
seit ihrem zehnten Jahre nur ein- bis zweimal in der Woche
sehr harte Stühle entleerte, bei der Röntgenuntersuchung aber
eine abnorm schnelle Passage des Dünndarms und des
Kolons bot, während die Fäkalmassen im Rektum liegen blieben,
ohne Stuhldrang auszulösen; bei einem anderen Patienten, einem
Fall von Karzinom des Colon pelvicum, fand sich normale Pas¬
sage des Dünndarms, abnorm rasche Passage des Dickdarms (mit
Antiperistaltik) und trotzdem Obstipation; auch ich selbst habe
einen solchen besonders eklatanten Fall beobachtet es ist
Fall III der Tabelle V — der schon nach fünf Stunden Wismut¬
massen im Rektum zeigte, Wismutstuhl aber erfolgte erst nach
48 Stunden.
Hertz’ Untersuchungen lehren also, daß unabhängig
von der Schnelligkeit der Passage durch den 'übrigen Darin
das Stuhlbild durch das Hinzukommen eines zweiten Faktors
beeinflußt wird ; durch die Empfindlichkeit des Re k-
tums, durch seine Fähigkeit Stuhldrang auszulösen und
die Entleerung des Stuhles herbeizuführen; denn ist die
Empfindlichkeit des Rektums gestört, dann kann es hier zur
Eindickung des Stuhles kommen und es können, »trotz Hyper -
motilität des Darmeis harte Stühle erfolgen. Da (wir aber die
Empfindlichkeit des Rektums a priori niemals kennen, so
ergibt sich daraus, daß aus dem Stuhl niemals auf die Schnel¬
ligkeit der Darmpass, age, besonders nicht aus harten Stühlen
auf verlangsamte Passage geschlossen werden darf.3)
Hatte sich solcherart aus den Hertz sehen Unter¬
suchungen die Unmöglichkeit ergeben, aus dem Stuhlbild die
Motilität, speziell die Hypermotilität des Darmes zu erkennen,
so lag es nahe, mit Hilfe der iRöntgenuntersuchung auch der
Frage der Hypermotilität des Darmes, speziell der
achylischen und katarrhalischen näherzutreten und es waren
insbesondere in Bezug auf die achylische Hypermotilität
») Der Begriff der »proktogenen Obstipation« war auch der älteren
Literatur geläufig, fand jedoch eingehende (radiologische) Bearbeitung
erst durch Hertz. Uebrigens fallen auch die von F o g e s und besonders
Singer (Ueber einen typischen romanoskopischen Befund. Wiener klin.
Wochenschr. 1909, Nr. 51) beschriebenen rektoskopischen Befunde bei
der sogenannten spastischen Obstipation unter das Bild der proktogenen
Obstipation.
3) Auf ein klinisches Symptom der Hypermotilität
des Darmes macht Hertz aufmerksam, das sich dabei in der Tat
häufig findet: während nämlich normalerweise nur einmal im Tag
U. zw. Früh oder nach einer größeren Mahlzeit Stuhldrang ausgelöst
wird (und Stuhl entleert wird), tritt bei Hypermotilität Stuhldrang und
Stuhl nach jeder Mahlzeit auf.
folgende Fragen zu beantworten: Ist mit der Achylie regel¬
mäßig Hypermotilität des Darmes verbunden? Läßt sich
aus der Hypermotilität des Darmes auf Achylie schließen?
und läßt sich überhaupt ein bestimmtes Verhältnis zwischen
tier Azidität des Magens (sowie seinem sonstigen Verhalten)
und der Motilität des Darmes feststellen?
Bevor ich zur Beantwortung dieser Fragen an der Hand
meiner Tabellen schreite», seien mir einige kurze Bemerkungen
über die angewandte Technik gestattet. Die Patienten bekamen das
Ewald-Boas sehe Probefrühstück (eine Semmel und 400 Gramm
Wasser) und wurden 45 bis 50 Minuten später ausgehebert ;
wohl wurde in letzter Zeit, zuerst von Curschmann, darauf
hingewiesen, daß dieses Probefrühstück zu geringe Werte er¬
gebe, da es die Sekretion zu wenig anrege, weshalb von verschie¬
denen Seiten, zuletzt von Fischer, ein „Appetitfrühstück“ (das
sich der Patient, zum Teil seinem Geschmack folgend, aussucht)
empfohlen. Doch habe ich mich mit Rücksicht darauf, daß alle
bisher zum vorliegenden Thema gemachten Untersuchungen sich
ebenfalls auf dieses beziehen, an das alte Probefrühstück ge¬
halten. Die freie Salzsäure ist mit D imeth y 1 amid o az oben z o 1 , die
Gesamtazidität (die in keinem Falle von Achylie 12 überschritt) »
mit Phenolphthalein als Indikator bestimmt; auf Pepsinbestin»-
mungen glaubte ich (mit Ke lling) mit Rücksicht darauf ver¬
zichten zu können, daß, wie 0 pp ler gezeigt hat, die Sekretion
des Pepsins und der freien Salzsäure», wenn auch nicht ganz,
so doch im allgemeinen parallel geht und daß es sich liier haupt¬
sächlich um die Feststellung des Verhältnisses zwischen der Darm¬
motilität zum Gehalt des Magens an freier Salzsäurei handelt.
_ Die Stuhluntersuchung auf Schleim wurde nach der von
Schmidt empfohlenen Technik vorgenommen: Verreibung einer
kleinen Stuhlportion auf einer Reihschale» mit Wasser, darauf Ab-
fließenlassen des wässerigen Produktes auf einer gegen das Licht
gehaltenen Glasschale, darauf mikroskopische Untersuchung ein¬
zelner Schleimpartikelchen auf Zelleneinschlüsse. - Die Blut-
bestimmung im Stuhl wurde nach Weber in1 der Modifikation
von Schümm (Auswaschung des essigsauren, Aetberextraktes
mit destilliertem Wasser) vorgenomirneai. — Die Röntgenunter¬
suchung wurde am nüchternen Patienten, bei möglichst ent¬
leertem Darm, unter Füllung des Magens mit Griesmilchspeise
und 40 g Bismutum carbonicum vorgeiniommen ; zwar wurden
einerseits Hertz’ Normalzahlen für die» Passage der einzelnen
Darmabschnitte mit Bismutum oxychloricum gewonnen und
wohnt andererseits dem kohlensauren Wismut eine leichte stuhl¬
befördernde Wirkung inne. Doch geht aus den Untersuchungen von
Hertz, Schlesinger und Cook hervor, daß bei Anwendung
von Bismutum oxychloricum und carbonicum in bezug auf die
Schnelligkeit der Diamipassage kein wesentlicher Unterschied sich
ergibt, so daß trotz der angewandten verschiedenen Technik
zum Vergleich mit meinen Untersuchungen das Hertz sehe Schema
herangezogen werden darf. — Endlich könnte^ noch cingew endet
werden, daß Milch bei manchen Menschen beschleunigend auf die
Darmperistaltik einwirke; doch ist dem entgegenzuhalten, daß
erstens die Patienten nicht pure Milch, sondern Milchgries be¬
kamen, der nach Schmidt weit weniger auf die Darmperistaltik
einwirkt und ferner, daß auch Hertz’ Normalzahlen mit Milcb-
grie»s gewonnen sind. — Sechs Stunden nach Aufnahme der'
Milchspeise wurden die Patienten wieder durchleuchtet u. zw. des¬
halb in diesem Zeitpunkt, weil er, wie Haudek hervorhebt,
den maximalen Zeitpunkt darstellt, indem sich die weitaus größte
Mehrzahl der Mägen (auch der atonischen) ihres Wismutinhaltes
bereits entledigt hat und weil dies andererseits jener Zeitpunkt
ist, in dem die Füllung des Dickdarms bereits bis zur 1 lexura
coli hepatica gediehen sein soll.4)
I. Die Fälle der Tabelle I betreffen durchwegs Fälle von
sogenann ter Achylia g a s t r i c a simplex im Sinne von
Einhorn-Martius, d. h. es handelt sich durchwegs um
Patienten, die sich trotz ihrer Sekretionsstörung im Magen,
abgesehen von dyspeptischen Beschwerden und Diarrhöen,
einer relativ guten Gesundheit erfreuen, — wie denn auch
ihr Stoffwechsel nicht zu leiden braucht (v. Noorden,
S t r a u ß, v. Neusser). Bekanntlich hat Lübars ch u. a.
4) 1st auch die von Breuer (Kongreß f. inn. Med., Wiesbaden
1911) hervorgehobene chemische Wirkung des Bism. carbon., die sich in
einer Erniedrigung der Salzsäurewerte kundgibt, zuzugeben, so muß oc
anderseits (bis auf weiteres) an diesem Wismutsalz schon deshalb es
gehalten werden, weil die. normalen Austreibungszeiten der einzen
Magenformen unter Benützung dieses Salzes (von H a u d e k) gewonn
wurden. Uebrigens fand T ab o r a (ibidem) für Bism. subnitr. und carbon
keine nennenswerten Unterschiede.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
Tab eile I. Achylia simplex (ohne Darmkatarrh)*)
Fall
Name
und Alter
Stuhl
(Anamnese und
Objekt. Befund)
Magen
Darm
Anmerkung
I
FS.
5/
Diarrhoe;
weich,
schwach
sauer, kein
Schleim
t. P.:2 Qrf./N,
3 Querf. breit.
Nach 5 Stun¬
den: leer
Nach 5 Stun¬
den: Flex,
col lien.
Nach 24 Stun¬
den: 2 Bi-
Stühle
II
F. T.
40
weich, täg¬
lich regel¬
mäßig, kein
Schleim
t. P. : 4 Qrf./N,
3 Querf. breit.
Nach 5 Stun¬
den leer
Nach 5 Stun¬
den: Flex,
col. lien
Nach 24 Stun¬
den: Bi-
Stulil
III
0. A.
32
normal,
manchmal
weich, kein
Schleim
t. P.: 3 Qrf./N,
3 Querf. breit.
Nach 6 Stun¬
den: leer
Nach 6 Stun¬
den: Flex,
col. lien.
Nach 24 Stun¬
den Col. desc.
Nach 26 Stun¬
den: Bi-Stuhl
Langsame
Passage des
unteren Dick¬
darmes
IV
H. E.
47
Diarrhoe ;
weich, kein
Schleim
t. P. : 3 Qrf./N,
3 Querf. breit.
Nach 6 Stun¬
den: leer
Nach 6 Stun¬
den: Flex,
col. lien.
V
M. P.
53
täglich, weich,
kein
Schleim
t. P. : N/4 Qrf.,
3 Querf. breit.
Nach 4 Stun¬
den: leer
Nach 4 Stun¬
den: Flex,
col. lien.
VI
R. K.
31
1 bis 2 weiche
Stühle täglich,
p. c., kein
Schleim
t. P.: 5Qr f./N,
2 V2 Querf.
breit. Nach 5
Stunden: leer
Nach 5 Stun¬
den: Stuhl im
Rektum. .
Nach 6 Stun¬
den: Bi-Stuhl
VII
J. K.
66
weich,
schwach
sauer, kein
Schleim
t. P.: N,
2 7a Querf.
breit.
Nach 5 Stun¬
den: leer
Nach 5 Stun¬
den: Bi-Stuhl
VIII
H. E.
59
Diarrhoe-
Obstipation
t. P.: N,
3 Querf. breit.
Nach 6 Stun¬
den: leer
Nach 6 Stun¬
den: Flex. col.
hep. Erw. des
Col. asc. Anti¬
peristaltik.
Nach 24 Stun¬
den: dtto.
Dickdarm¬
stenose
auch bei dieser Formt, die von M a r ti u s auf eine angeborene
rein nervöse Sekretionsanomalie bezogen wird, die Ver¬
änderungen einer chronisch interstitiellen Gastritis gefunden,
womit sie sich der mit Drüsenatrophie einhergehenden Achylie
angliedert; doch fehlten meinen Fällen andererseits schwer
anämische oder kachektische Zustände, die nach M a r-
tius auf die Mitbeteiligung des Darmes an dem atrophischen
Prozeß schließen lassen, vollkommen; dagegen zeigten die
meisten dieser Fälle den von M a r t i u s hervorgehobenen
neurasthenischen Einschlag — den Stiller sehen asthe¬
nischen Typus.
Was ergibt nun die Tabelle? Was zunächst die Stühle
anbelangt, so sind dieselben weich bis diarrhoisch, (in einem
Falle normal ; mit Ausnahme des letzten Falles, auf den ich
gleich zu sprechen komme, findet sich eine Obstipation in
keinem Falle verzeichnet — das Material ist offenbar zu
klein, als daß ich diesem selteneren Vorkommnis begegnet
wäre; Schleim ist nicht vorhanden. Der Magenstand zeigt
'de bereits von Emmo Schlesinger betonte Neigung
/um Hochsland; auffallend ist die geringe Breite des Magens,
die 3 Querfinger in 'keinem Fall überschreitet; nach 6 Stun¬
den sind alle Mägen leer, auch die relativ tiefstehenden, so
daß bei Vorhandensein von Tiefstand des Magens das Zu¬
sammen treffen mit Achylie als günstig für die iMotilität des
Magens bezeichnet werden muß. In allen Fällen wird nach
*) Erklärung der Abkürzungen: t. P. bedeutet tiefster Punkt; N be¬
eiltet Nabel; 2 Querf./N bedeutet 2 Querfinger Uber dem Nabel; N 2 Querf.
edeutet 2 Querfinger unter dem Nabel, (t. P. :N bedeutet also tiefster
funkt am Nabel; t. P.:2 Querf./N bedeutet tiefster Punkt 2 Querfinger
über dem Nabel, etc.) Br. bedeutet kaudale Breite.
i> Stunden mindestens die Flexura coli lineal is yom Wismut¬
brei erreicht (Haudek), während normalerweise nach 6
stunden erst die Flexura coli hepatica gefüllt erscheint; in
zwei Fällen (\ I und VII) ist die achylische Hypermotilität des
Darmes (ohne Katarrh) eine' so große, daß nach 5 Stunden
sogar Wismutstühle (leicht kenntlich an ihrer grauweißen
Färbe) auftreten.
Besonders bemerkenswert ist der genau beobachtete Fall
III der Tab. 1, hei dem in der Anamnese normale, manchmal
weiche Stühle angegeben werden. Auch hier findet sich radio¬
logisch Hypermotilität der oberen Darmabschnitte, die den
Wismutbrei in 6 Stunden die Flexura coli lienalis erreichen
läßt — dabei aber normale Passage der unteren Darmab¬
schnitte, so daß nach 24 Stunden das Ende des Colon descen-
dens erreicht wird und nach 26 Stunden Wismutstuhl ent¬
leert wird. Es zeigt dieser Fäll also, daß sich die achy¬
lische Hypermotilität der oberen' Darmabschnitte nicht auf die
unteren zu erstrecken braucht, daß sich vielmehr hier nor¬
male (und wohl auch abnorm langsame) Passage finden kann.
Es wird so dem eingangs erwähnten Faktor, der das Stuhl¬
bild beeinflußt, nämlich der Empfindlichkeit des Rektums,
ein weiterer Faktor hinzugefügt : die Motilitätder unte¬
ren Darmabschnite; denn besteht hier normale oder
langsame Passage, so kann es trotz Hypermotilität der oberen
Darmabschnitte geradeso zum Stuhlbild der Obstipation kom¬
men, wie bei Eindickung des Stuhles im unterempfindlichen
Rektum.
Und so finden nun die zwischen diarrhoischen, weichen,
normalen und harten Stühlen wechselnden Stuhlbilder der
Achylie ihre Erklärung. Denn zunächst ist es in manchen
Fällen das hochgradige Sinken der Appetenz (das (M a r t i u s
besonders für die mit Anadenie einhergehenden Achylien
betont und das gewiß' auch bei der Obstipation des Carci¬
noma ventriculi eine Rolle spielt), wodurch die Nahrungs¬
aufnahme so sehr leidet, daß dadurch allein schon die
Obstipation erklärt wird; andererseits lehrt Fall III der Ta¬
belle I, daß mit der Hypermotilität der oberen Darmab¬
schnitte normale Motilität der unteren verbunden sein kann;
ferner lehren die Erfahrungen bei der katarrhalischen Hyper¬
motilität (auf die später eingegangen werden soll), daJ3i mit
Hypermotilität der oberen sogar Hypomotilität der unteren
Darmabschnitte verbunden sein kann; und schließlich lehrt
Fall III der Tabelle V, daß es trotz abnorm rascher Passage
des ganzen Darmes durch rektale Eindickung des Stuhles
zum Stuhlbild der Obstipation kommen kann; und 'so lassen
sich also diarrhoi-sche Stühle bei der Achylie ableiten von
der Hypermotilität des ganzen Darmes, normale oder harte
Stühle von normaler oder abnorm langsamer Passage der
unteren Dickdarmabschnitte, eventuell rektaler Eindickung
der Stuhlmassen.
Wie sich dem gegenüber nun die Verhältnisse bei der
Achylia carcinoma tos a gestalten, darüber gibt Ta¬
belle II A Auskunft. Die Differentialdiagnose zwischen beiden
Formen der Achylie hat die Autoren zu allen Zeiten beschäf¬
tigt. und wird von Marti us im wesentlichen darin gesehen,
daß beim Karzinom im weiteren Verlaufe stets eine Moti¬
litätsstörung zur Achylie hinzutrete: wenn bei monatelange
bestehender Achylie Stagnation und Zersetzung ausblieben,
dann dürfe man getrost Karzinom ausschließen, eine An¬
schauung, gegen deren Allgemeingültigkeit schon die Er¬
fahrung beim Skirrhus spricht, bei dem die Motilitä t infolge
der konkomittierenden Insuffizienz des Pylorus (Schmie-
d e n und Härtel) normal bleibt. Die ersten vier Fälle zeigen
das Verhalten eines stenosierenden Carcinoma pylori, wie
der Befund von Milchsäure und langen Bazillen ergibt. Auf¬
fallend ist hier vor allem das Verhalten des Magens, dessen
Breite hier die bei Achylie simplex in keinem Fall gefundene
Breite von vier Querfingern erreicht ; auffallend ist ferner,
daß sich hier der Magen trotz Achylie (innerhalb 6 Stun¬
den nicht entleert, sondern einen erheblichen Rest der Mahl¬
zeit nach dieser Zeit enthält — die won M a r t i u s hervorge¬
hobene, von Haudek radiologisch bestätigte Motilitäts¬
störung des karzinomatös-achylichen Magens. In Bezug auf
Nr. 22
780
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Tabelle II. A) Karzinom der Pars pylorica.
Fall
Name
und Aller
L. H.
52
II
III
IV
V
VI
S. G.
67
A. B.
72
L. K.
72
J. P.
76
I. P.
76
Stuhl
Obstipation
Obstipation
Obstipation
Obstipation
Magen
Neigung zu
Obstipation
Neigung zu
Obstipation
P. F.: Milch¬
säurebazillen
t. P.: N;
Br.: norm.
Nach 6 Stun¬
den : Vs Mahl¬
zeit
P. F.: Milch¬
säurebazillen
t. P.: N;
Br.: norm.
Nach 6 Stun¬
den: '/4 Mahl¬
zeit
P. F.: Milch¬
säurebazillen
t. P.: N;
Br.: 4- Querf.
Nach 6 Stun¬
den: ganze
Mahlzeit.
Nach 24 Stun¬
den: 2/3 Mahl¬
zeit
P. F.: Milch¬
säurebazillen
t. P. : 3 Quer-
finger/N,
Br. 4 Querf.
Nach 24 Stun¬
den fast ganze
Mahlzeit
P. F.: Salz¬
säure -f- ; Blut.
t.P.:N/4 Qrf.,
Br.: 4 Querf.
Nach 6 Stun¬
den fast ganze
Mahlzeit.
Nach 24 Stun¬
den ' 3 Mahl¬
zeit
P. F.?
t. P.: N;
Br. 3 Querf.
Nach 4 Stun¬
den: leer
Darm
Nach 6 Stun¬
den: Flex,
col. hep.
Nach 6 Stun¬
den: Flex,
col. hep.
Nach 6 Stun¬
den: Flex,
col. hep.
Nach 6 Stun¬
den: schwach,
Col. asc.
Nach 6 Stun¬
den: schwach,
Col. asc.
Nach 4 Stun¬
den: Flex,
col. lien
Anmerkung
Resist, am
Pylorus.
Ca. ventr.
stenosierend
Lebermeta¬
stasen.
Ca. ventr.
stenosierend
Ca. ventr.
hochgradig
stenosierend
Tumor.
Ca. ventr.
oper.
Ca. ventr. auf
Ulkusbasis
operiert
Lebermeta¬
stasen Resi¬
stenz und
Raumbeen¬
gung adPylor.
Ca. ventr.
nicht steno¬
sierend
B) Narbige Pylorusstenose.
I
II
III
J. B.
48
1 — 2 normale
Stühle
täglich
P. F. : l'3°/00
_ 55
t. P.:N/3 Qrf.
Br.: 4 Querf.
Nach 7 Stun¬
den: 2 Querf.
Rest
Nach 7 Stun¬
den: Col. asc.
J. K.
40
normaler
Stuhl ;
Neigung zu
Obstipation
P. F.: ?
t. P.: N;
Br. 5 Querf.
Nach 24 Stun¬
den: 1 Querf.
Rest
Nach 9 Stun¬
den: Col. asc.,
schwach Col.
transv.
P. F.: l'8°/00
_ 79
F. Z.
39
Obstipation
starke Hyper¬
sekretion
t P. : 2 Querf.
/Symph.
Br. : 5 Querf.
Nach 24 Stun¬
den fast ganze
Mahlzeit
Nach 6 Stun¬
den: 0. Nach
24 Stunden:
Col. asc.
(schwach)
Operiert.
Ermiidungs-
stadium (vgl.
Jonas 1. c.)
Meläna vor
3 Jahren
die Darmmotilität findet sich bei karzinomatöser Achylie eine
normale, in Fällen hochgradiger Stenosierang eine stark
verlangsamte Darmpassage — und dementsprechend und
infolge der herabgesetzten Aahrungszufuhr Obstipation. Die
karzinomatöse Pylorusstenose ") verhält sich nicht anders
als die narbige Pylorustenose (Tabelle II B), nur wird hier
starke Verbreiterung des Magens auf 5 Querfinger und
darüber gefunden, die die Karzinome zumeist nicht erleben
(Holz kn echt).
Unter allen Fällen von Carcinoma pylon land sich mrr
ein Fall (VI) mit Hypermotilität des Magens und des Darmes,,
der im übrigen durch Lebermetastasen, Resistenz und laum-
beengende Veränderungen ;in der Pars pylorica, sowie
durch seinen rasch tödlichen Ausgang ( ! 2 Jahr nach dem
Auftreten der ersten Beschwerden) als Karzinom gekenn¬
zeichnet ist; hier findet sich aber auch die bei Achylia,
simplex gefundene geringe Breite des Magens, sowie Leer-,
sein Tdes Magens nach 4 Stunden. Es ist wohl kein Zweifel,,
daß es sich hier um ein nicht stenosierendes (vielleicht
exulzeriertes) Karzinom handelt; und so ergäbe sich dn Be¬
zug auf das Verhältnis zwischen Carcinoma pylon und
Darmmotilität folgendes : stenosiert das Karzinom, so findet
sich trotz Achylie verminderte Motilität des Magens und
fehlende Hypermotilität des Darmes; stenosiert es nicht,
so findet sich wie1 bei Achylia simplex Hypermotilität des
Magens und des Darmes.
Und so bleibt’unter all diesen Fällen von Achylie nur ein
Fall (Tab. I, Fall VIII), der, trotzdem stenosierendes Karzinom
des Pylorus nicht vorlag, den Wismütbrei nach 6 Stunden erst
an der Flexura coli hepatica zeigte; hier aber fanden sich
charakteristische Symptome einer Dickdarmstenose an der
Flexura hepatica: Erweiterung und Verlust der haustralen
Zeichnung sowie Antiperistaltik am Colon ascendens, Ver¬
weilen des Wismutbreies 24 Stunden lang daselbst, so daß
das Fehlen der Hypermotilität des Darmes trotz Achylie auf
die Stenose des Dickdarms zurückgeführt werden darf. Sc¬
haben also alle Fälle von Achylia gastrica -simplex Hyper¬
motilität des Darmes darin erkennen lassen, daßi das. Wis¬
mut nach 6 Stunden bereits die Flexura coli lie-nalis er¬
reichte ; wurde dieser Punkt trotz Achylie nicht erreicht, dann
lag (narbige oder karzinomatöse) Stenose am Pylorus oder
am Dickdarm vor. Ob sich dies freilich als Regel auf¬
stellen läßt und ob nicht doch auch -bei Achylie Hypomo-
lilität des Darmes Vorkommen kann, muß die weitere Er¬
fahrung lehren.
II. Hatte sich so eine rein achylische Hypermotilität des
Darmes im Röntgenbilde feststellen lassen, so galt, es nun
die 'zweite Hauptart der Hypermotilität, die
k' a t a r r h a 1 i s c h e, zu untersuchen.
Wenn auch der Steigerung der Peristaltik, die man lange
Zeit, als das wichtigste Symptom des Durchfallesl auffaßte, von
Schmidt nur die Rolle- eines sekundären, in selteneren Falten
allenfalls die eines koordinierten Momentes zugeteilt wird, so
kommt ihr doch jedenfalls eine wichtige Rolle beim' Zustande¬
kommen des häufigsten Symptoms des Katarrhs, der Diarrhoe zu.
Freilich weist schon Nothnagel, wie eingangs erwähnt, daran!
hin daß mit dem Katarrh nicht notwendig Diarrhoe verbunden
sein müsse, denn er fand hei ausschließlicher Beteiligung des
Dünndarms oder -des Dickdarms Stuhlträgheit, hei Dickdarm¬
katarrh außerdem Wechsel zwischen Verstopfung und Diarrhoe,
bei Beteiligung des Dick- und Dünndarms anhaltende- Durch i -me.
Was nun aber die Diagnose- des Sitzes des Katarrhs
anlangt, so wird derselbe- nach Schmidt und Strasbuiuoi
aus der Art und der Beimengung des Schleimes erkannt: Derkum
aus dem Dünndarm, dessen Schleim nur bei ungewöhnlich rascher
Passage in die Fäzes gelangen kann, ist. nur für kleinste und
fein verteilte Schleirnpartik-elchen in flüssigen Stühlen ap zu¬
nehmen, besonders, wenn sich unveränderter Gallenfarbstoli im
Stuhl nach weisen läßt und die Schleimpartikelchen mikroskopisch
arm an Zellen, aber reich an Bakterien sind. Der1 größte len
des Schleimes stammt aus dem Dickdarm (niemals aus
Magen oder Speiseröhre, deren Schleim nicht unverdaut, in < >'
Fäzes gelangen könnte) ; Schleim aus dem Mastdarm oder Ko on
ende überzieht in dicker Lage geformte Kothallen ; findet steh euw
innige Durchmischung von Schleimfetz-en und Fäkalsubstanz i
breiiger oder dünnbreiiger Konsistenz der letzteren, so darf man
daraus den Schluß auf die Herkunft des Schleimes aus’ den höheren
5) Ygt. Jonas 1. c.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
781
Partien des Dickdarms ziehen (besonders, wenn der Schleim
unveränderte Darmepithelien enthält) u. zw. stammt der Schleim
aus um so höheren Partien, je kleiner und je gleichmäßiger verteilt
die einzelnen Schleimpartikelchen sind.
Was ergibt nun die Tabelle (III) ? Sie zeigt zunächst,
wie zuerst Haudek hervorhob, daßi die Austreibungszeit
des Magens nicht allein vom Tonus, sondern auch von der
Azidität beeinflußt wird, denn während der tiefstehende,
nicht atonische achylische Magen in G Stunden leer ist,
zeigt der tiefstehende, nicht atonische aber normazide und
hyperazide Magen einen kleinen Wismutrest nach G Stunden,
der bei der Abwesenheit von Ulkus- und Stenosensymptomen
mit Holzknecht wohl auf den Mer ing sehen Pylorus-
reflex zu beziehen sein dürfte.
Tabelle III. Darmkatarrh (bei Achylikern und normotonischen 5a)
7-, . Normaziden).
Name
und
Alter
Stuhl (Anam-
Fall
nese und
objektiver
Befund)
Magen
Darm
Anmerkung
1
J- N.
50
Diarrhöen;
fast flüssig,
saure Reak¬
tion, Schleim
fein verteilt
P. F. ; Achylie,
; t.P.: 2 Qrf./N,
Br.: 3 Querf.
Nach 6 Stun¬
den: leer
Nach 6 Stun¬
den: ßi-Stubl
Katarrh der
oberen Darm¬
abschnitte
ii
h. k.
50
Diarrhöen ;
fast flüssig,
saure Reak¬
tion, Schleim
in feinen und
groben Parti¬
keln
; P.F.: Achylie,
t. P.:N/3 Qrf.,
Bn: 3 Querf.
Nach 6 Stün¬
den: leer
Nach 6 Stün¬
den : Bi-Stuhl
Dünn- und
Dickdarm¬
katarrh
III
0. G.
32
normal;
weich ;
Schleim in
größeren Par¬
tikeln
P. F.: Achylie, -
t. P.: N. Br.:
3 Querfinger.
Nach 6 Stun¬
den: leer
Nach 6 Stun¬
den: Fl. lieh.
Nach 24 Stun¬
den: Bi-Stuhl
Dickdarm¬
katarrh (mitt¬
lerer). Lang¬
same Passage,
der unteren
Dickdarmab¬
schnitte
IV
M. S.
35
Neigung zu
Obstipation,
manchmal
Diarrhoe ;
weich,
Schleim fein
verteilt
P. F.: t°/0046
LP.: N/4 Qrf.
Nach 5 Stun¬
den: kleiner
Rest
Nach 5 Stun¬
den Flex, lien.
Nach 24 Stun¬
den: Bi-Stuhl.
Katarrh der
oberen Dick¬
darm¬
abschnitte
V
F. R;
24-
Obst.; manch¬
mal weich bis
Diarrhoe;
Schleim fein
verteilt
P. F.: l°;o0 44
t. P. : N/3 Qrf.
Nach 6 Stun¬
den: kleiner
Rest
Nach 6 Stun¬
den: 1 y Col.
transv.
Nach 24 Stun¬
den: Bi-Stuhl
im Rekt.
Katarrh der
oberen Dick¬
darm -
• abschnitte
VI
C. A.
52
regelmäßig;
weich ,
Schleim fein
verteilt
P. F.: l°/(0 46
t. P.:N/2 Qrf.
Nach 5 Stun¬
den: kleiner
Rest
Nach 5 Stun¬
den: Col.
transv.
schwach.
Nach 24 Stun¬
den: Col.desc.
stark
Katarrh der
oberen Dick¬
darm¬
abschnitte.
Langsame
Passage der
unt. Darm¬
abschnitte
VII
F. D.
32
Obst. — weich
geformt,
Schleim fein
verteilt
P F. : L3° '„„46
t. P. : N 4 Qrf.
Nach 6 Stun¬
den: kleiner
Rest
Nach 6 Stun¬
den Flex. hep.
Nach 24 Stun¬
den Flex. lien.
Nach 48 Stun¬
den: Bi-Stuhl
Katarrh der
oberen Dick¬
darm¬
abschnitte.
Langsame
Passage
VIII
S. K. j
34
Obst. ; manch¬
mal weich;
breiig,
Schleim in
größeren Par¬
tikeln
P.F.: P2°/00 48
t. P.: N.
Nach 6 Stun¬
den: leer
Nach 6 Stun¬
den Flex. hep.
Nach 24 Stun¬
den Col. desc.,
schwach
Dickdarm¬
katarrh (mitt¬
lerer). Lang¬
same Passage
Was lehrt nun die Tabelle in Bezug auf die katarrha¬
lische Hypermotilität?
Sie zeigt zunächst an' den ersten 3 Fällen die Kombi¬
nation zwischen Achylie und Darmkatarrh (der nach
Sch m i d t hier stets als sekundär anzusehen ist, siehe oben),
md zwar in Fall I mit Dünndarmkatarrh, im Fall II und 111 mit
6a) Der normale Tonus zeigt sich darin, daß der Magen bis oben
ult Wismutspeise gefüllt ist.
Dick- und' Dünndarmkatarrh ; in den beiden ersten Fällen er¬
folgen fast flüssige Entleerungen und es zeigt sich radiolo¬
gisch, daß in beiden Fällen die achylische Hypermotilität des
Darmes durch seine katarrhalische Erkrankung noch eine
weitere Steigerung erfährt, die schon nach 6 Stunden Wis¬
mutstühle auf freien läßt — ein Verhalten, das, wie Fall VI
und \ II der Tabelle1 1 lehrte, auch ohne Katarrh Zustandekom¬
men kann. Im Fäll Ul liegen weiche Stühle vor; radio logisch
zeigt sich Hypermotilität der oberen Darmabschnitte, dabei
aber normale Passage der unteren trotz Achylie und Ka¬
tarrh; Die Fäll IV Dis \ II zeigen das Verhalten des Darmes bei
normaler Azidität des Magens und Katarrh der oberen Dick-
darmabschnitte, Fall VIII bei Katarrh des mittleren Dickdarms.
Was zunächst das Stuhlbild anlangt, so findet sich im Fäll
IV, V, VII und VIII Wechsel zwischen Obstipation und weichen
Stühlen, im Fall VI weiche Stühle. Radiologisch findet sich
im Fall IV, V und VI gesteigerte Motilität der oberen Darmab¬
schnitte, die den Wismutbrei im Fall IV und V in 6 Stunden
die Mitte des Colon transversum, in Fäll IV sogar die Fiexura
coli lienalis erreichen läßt, in Fall VII und VIII ist die Motilität
der oberen Darmabschnitte normal. Was die unteren Darm-
äbschnitte anlangt, so zeigt Fall IV und V normale Passag-e
derselben, Fall VI, VII und VIII abao r m längs a m e P a s-
sage (Fall IV und V trotz etwas schnellerer Passage der
oberen Darmabschnitte). Es fand sich somit bei Katarrh der
oberen Dickdarmabschnitte (und normaler Azidität des Ma¬
gens) zumeist, jedoch nicht immer Hypermotilität dieser
Abschnitte, dabei aber normale oder verlangsamte
Passage der unteren, in einem Falle von ausgespro¬
chenem (mittleren) Dickdarmkatarrh normale Motilität des¬
selben und es zeigt sich daher, daß 1. mit dem Dickdarm¬
katarrh nicht immer Hypermotilität des Darmes verknüpft
sein muß1, und daß 2. mit der Hypermotilität der oberen Dick¬
darmabschnitte nicht immer Hypermotilität der unteren ver¬
bunden sein muß.
Erinnern wir uns nun daran, daß die flüssig an die
Ileocökalklappe gelangenden Fäkalmassen bald nach der¬
selben — im Colon ascendens — Eindickung 6) und im
weiteren Verlauf des Colons immer weitere Verhärtung er¬
fahren, so ergibt sich : flüssige Stühle können nur dann
Zustandekommen, wenn der ganze Dickdarm sich im Zu¬
stande der Hypermotilität befindet (ob dabei die Zone der
Hypermotilität stets der Ausbreitung des Katarrhs entspre¬
chen mußi, muß dahingestellt bleiben) ; sie erfolgen also beim
reinen Dünndarmkatarrh niemals — beim oberen Dickdarm-
katarrh, wenn der untere Dickdarm sich nicht im Zustande
der Hypermotilität befindet — bei Dünn- und Dickdarm-
katarrh immer. Weiche Stühle können nur dann erfolgen,
wenn einerseits im Dickdarm keine allzu hochgradige Hyper¬
motilität und andererseits im unteren Dickdarm keine Hy-
pomotilität besteht und es auch zur rektalen Eindickung der
Fäkalmassen nicht kommt. Harte Stühle können auftreten:
1. beim Dünndarmkatarrh mit fehlender Hypermotilität
des Dickdarms, 2. beim Dickdarmkatarrh infolge Hypomo-
tilität (Schädigung der Motilität durch entzündliche Infil¬
tration und Atrophie, No th nag e 1), oder bei Hypermotilität
der oberen Darmabschnitte, wenn in den unteren Partien
normale oder abnorm langsame Passage besteht, oder wenn
es (zur rektalen Eindickung weicher Stuhlmassen kommt (für
flüssige Fäkalmassen kann eine bis zur Verhärtung führende
rektale Eindickung nicht wohl angenommen werden).
III. Haben wir so einerseits die Achylie, (andererseits
den Katarrh als die Motilität des Darmes beeinflussende Mo¬
mente kennen gelernt, so; ist nun zu untersuchen, wie sich
die Abhängigkeit der Darmmotilität b 1 o ßi von
der Azidität des Magensaftes (ohne Achylie einer¬
seits und ohne Katarrh andererseits) darstellt; Tabelle IV
gibt darüber Auskunft.
Sie zeigt zunächst an zwei Fällen von Subazidität
(l und II), daß sich an diesen Säuregrad Hypermotilität des
Darmes nicht anschließen m u ß, daß sie sich daran an-
6) Vgl. R o i t h I. c.
782
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
Tabelle IV.
Verschiedene Säure grade ohne Darmkatarrh.
Fall
Name
I und Alter
Stuhl
L. H.
38
Diarrhöen —
Obstipation;
kein Schleim
C. S. Obstipation,
46 kein Schleim
III
R. S.
40
Obstipation —
Diarrhöen,
kein Schleim
IV
Neigung zu Obsti¬
pation, kein Blut,
kein Schleim
C. N.
40
Obstipation,
kein Schleim
K. S.
35
normal, Neigung
zu Obstipation,
kein Schleim
VII
Th. F.
56
1 bis 2 weiche
Stühle täglich früh,
flüssig; kein
Schleim bei Probe¬
diät Bindegewebe,
sonst normal
Magen t Darm
Nach 6 Stunden:
P. F.: O'5°/00 60
t. P.: N/3 Querf.
Nach 6 Stunden:
ca. '/4 Mahlzeit
P. F.r 0'5°/oo 48
t. P. : N/4 Querf.
Nach 5 Stunden:
kleiner Bi-Rest
P. F.: 1'3 Voo 84
t. P. : N/5 Querf.
Nach 6 Stunden :
kleiner Bi-Rest
P. F.: ungefähr |
normale Azidität.
(Lösung der
Schwarzschen
Kapsel nach
2 Stunden.) .
t. P.: N.
Nach 6 Stunden: (
leer
P. F. : Hyperazi- |
dität.
(Laut Bericht.)
t. P. : N/3 Querf.
Nach 6 Stunden;
kleiner Rest
P. F.: 2. : 2'2«/0086
t. P.: N/4 Querf.
Nach 6 Stunden:
2 Querf. Rest
P. F.: 2°/0o 70
t. P.: N/3 Querf.
Nach 6 Stunden:
leer
Flex. col. hep.
Nach 5 Stunden:
Flex. col. hep.
Nach 6 Stunden:
Flex. col. hep.;
schwach Col.
transv.
Nach 24 Stunden:
‘/g Col. transv.
stark, schwach
Flex. col. lien.
Nach 6 Stunden:
Bi-Stuhl im Rekt.
Nach 9 Stunden:
Bi-Stuhl
Nach 6 Stunden:
Flex. col. hep.
Nach 6 Stunden:
nichts im Kolon,
nach 24 Stunden:
Flex. hep.
Nach 6 Stunden:
Flex. col. lien.
Nach 12 Stunden:
Bi-Stuhl
schließen kann — und zwar wahrscheinlich dann, wenn
sie hochgradig ist und zu sekundären Darmkatarrhen führt,
geht aus den Untersuchungen von Schütz, Ei n horn (und
Schmidt hervor, die dabei Diarrhöen heobachleten. Von
den Izwei Fällen mit ungefähr normaler Azidität fill und IV)
zeigt Fall III Hypermotilität bis zur Flexura coli lienalis (die
nach 6 Stunden schwach gefüllt erscheint) und Hypomoti-
lilät des unteren Dickdarms (nach 24 Stunden schwache Fül¬
lung der Flexura coli lienalis); Fall IV zeigt starke
Hypermotilität des ganzen Darmes, nach 6 Stunden
Wismutmassen im Rektum. Von den drei Fällen von
Hyperazidität (V, VI und VII) zeigt Fall V normale Motilität
(nach 6 Stunden Füllung der Flexura coli hepatica),
Fall VI hochgradige Hypomotilität (nach 24 Stunden erst
Füllung der Flexura hepatica), Fall VII hochgradige IHyper-
motilität des Darmes (nach, 6 Stunden Füllung der Flexura
coli lienalis, nach 12 Stunden Wismutstuhl). Es ergibt sich
also, daß ein konstantes Verhältnis zwischen
dem S ä u r e g r a d des Magens und der Darmm o-
t i 1 i t ä t nicht besteht.
Auf die beiden letzten Fälle will ich, näher eingehen, weil
sie für die Erklärung des gemeinsamen Vorkommens von
Obstipation und Diarrhoe einerseits und Hyperazidität ande¬
rerseits wichtig erscheinen. Es handelt sich in beiden
Fällen um neurasthenische Individuen vom Still ersehen
Typus, in beiden Fällen liegen dieselben hohen iSäuregrade
(2 — 2-2%0) vor, der Stand des Magens ist in beiden
Fällen gleich tief (3 — 4 Querfinger unter dem Nabel), auch
sind beide Mägen, wie ich hinzufügen will, normotonisch
(3 Querfinger breit, bis oben mit Wismut gefüllt) und haben
beide eine Hubhöhe (Distanz zwischen Pylorus und kau¬
dalem Pol) von Handbreite; und doch zeigen beide Fälle
in Bezug auf die Motilität des Magens und Darmes ein ganz
verschiedenes Verhalten. Bei dem einen (Fall VI) enthält der
Magen nach 6 Stunden einen recht starken Wismutrest und
dieses Verhalten erscheint durchaus erklärlich, wenn man
bedenkt, daß der Entleerung des Magens zwei Hindernisse
entgegenstehen : die (handbreite) Hubhöhe einerseits und der
infolge der starken Azidität verstärkte M e r i n g sehe Pylorus-
reflex andererseits. Entsprechend dieser Hypomotilität des
Magens findet sich auch Hypomotilität des Darmes:
erst, nach 24 Stunden Füllung der Flexura coli
hepatica — Neigung zu Obstipation. Ganz anders
verhält sich der andere Fall (VII): Hier entleert sich
der Magen trotz seines Tiefstandes und seines hohen
Säuregrades in 6 Stunden; er zeigt also, mit Rücksicht auf
diese beiden die Austreibung hindernden Momente eine
relative Hypermotilität und dementsprechend findet
sich auch eine recht 'hochgradige Hypermotilität des Darmes,
die den Wismutbrei llachl 6 Stunden diehlexura coli lienalis
erreichen ließ, nach 12 Stunden Wismutstuhl auftreten 'ließ
— und Diarrhöen, ein Verhalten, wie wir es bei der achy-
lischen Hypermotilität des Darmes erheben konnten.
Zur weiteren Aufklärung des Falles wurde der Patient
nun für 3 Tage auf Schmid tsche Probediät gesetzt und
da ergab sich folgendes : Der Stuhl bot das Bild einer starken
Hypersekretion ; 6a) er war ganz flüssig, wässerig, wenig fäku-
lent, es fand sich darin kein Schleim, wohl aber
reichlich Bindegewebe. Auf solche Funde von Binde¬
gewebe im Stuhl trotz Hyperazidität hat schon Schmidt
aufmerksam gemacht und sie mit Wahrscheinlichkeit zum
Teil auf eine Komplikation mit Hypermotilität be¬
zogen — eine Auffassung, die der Röntgenbefund
in unserem Falle bestätigte. Damit aber ist auch
das Auftreten von Diarrhoe bei Hyperazidität mit
Hypermotilität erklärt; denn bleibt dem Magen infolge seiner
Hypermotilität keine Zeit, den Mageninhalt genügend für
die Darmverdauung vorzubereiten, so müssen sich daran
alle jene Folgezustände knüpfen, die wir bei der Achylie
gesehen haben : Zersetzung, Reizung, Diarrhoe. Inwieweit
dabei nervös-vasomotorische Einflüsse beteiligt sind, läßt
sich nicht feststellen; doch würde die obige (Auffassung das
Vorkommen von „nervösen Diarrhöen“, wie sie trotz Norm¬
azidität oder Hyperazidität bei Neurasthenikern Vorkom¬
men, erklären.
Es geht ans diesen beiden Fällen hervor, daß mit
Hyperazidität sowohl Hypomotilität wie Hypermotilität des
Magens und Darmes verknüpft sein kann,') woraus sich
das Vorkommen von Obstipation und Diarrhoe bei Hyper¬
azidität leicht erklärt ; und es geht weiters daraus hervor,
daß seihst aus hochgradiger Hypermotilität bei Fehlen von
Schleim in den Fäkalmassen (ohne den ein Katarrh nicht
angenommen werden kann, Nothnagel) auf Achylie nie¬
mals geschlossen werden darf.
IV. Ganz kurz sei endlich noch eine weitere Art der
Hypermotilität des Darmes erwähnt, der ich bei meinen
Untersuchungen begegnete : die bei Ulcus v e n t r i c u 1 i
vorkommende. Von den darauf untersuchten 6 Fällen zeig¬
ten 4 den Magen nach 6 Stunden leer und dabei Hyper¬
motilität des Darmes, die den Wismutbrei in 3 Fällen nach
6 Stunden die Flexura coli lienalis erreichentließ, in 1 Fall
zu dieser Zeit Wismutmassen bereits im Rektum auftreten
ließ.* * 7 8) Die übrigen 2 Fälle (V und jVI) ergaben nach 6
Stunden Wismutreste im Magen, die mit Haudek auf
Pylorospasmen zu beziehen sind, die er bei floriden, selbst
pylorusfernen Geschwüren fand ; entsprechend dieser Hypo-
motilität 'zeigten diese 2 Fälle auch keine Hypermotilität des
Darmes, sondern normale Passage desselben. Demnach er¬
gäbe sich für das Ulkus folgendes: geht das Ulkus mit
Motilitätsstörung des Magens einher — und das ist sicher
der häufigere Fall — so fehlt im Darme die Hypermotilität;
®a) Neuestens wird diese Hypersekretion von Schmidt als
leichtester Grad des Katarrhs aufgefaßt.
7) Nach Rubow (1. c.) ist dabei oft die Hypermotilität des Ma¬
gens das Primäre und die Hyperazidität sekundär.
8) Diese Hypermotilität des Darmes läßt darauf schließen, daß es
sich hier vielleicht um primäre Hypermotilität des Magens mit sekun¬
därer Hyperazidität und Ulzeration handelt (Rubow 1. c.).
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
783
Tabelle V. IJlcus.
Fall
Name
und Altei
Stuhl
Magen
Darm
Anmerkung
I
II
P. S.
1 28
K. S.
37
Neigung zu
Obstipation ;
weich, Blut
stark positiv
Obstipation,
Blut stark
positiv
t. P.: N.
Nach 5 Stun¬
den: leer
t. P.: N
Nach 5 Stun¬
den: leer
Nach 5 Stun¬
den Flex. lien.
Nach 5 Stun¬
den Flex. lien.
III
J. K.
53
Obstipation,
Blut stark
positiv
t. P.:N;2 Qrf.
Nach 6 Stun¬
den: leer
Nach 6 Stun¬
den: Bi im
Rektum.
Nach 48 Stun¬
den: Bi-Stuhl
Dyschezie
IV
S. F.
40
Obstipation,
Blut stark
positiv
t. P.:N/1 Qrf.
Nach 6 Stun¬
den: leer
Nach 6 Stun¬
den Flex. lien.
Nach 24 Stun¬
den: Bi-Stuhl
V
A. E.
17
Obstipation,
Blut stark
positiv
t. P.: N/4 Qrf.
Nach 6 Stun¬
den: 2 Querf.
Rest
Nach 6 Stun¬
den Flex. hep.
Nach 24 Stun¬
den: Bi im
Rektum
Dyschezie
VI
A. R.
40
regelmäßig,
Blut stark
positiv
t. P. : N/3 Qrf.
Nach 6 Stun¬
den: 1 Querf.
Rest
1
Nach 6 Stun¬
den Flex. hep.
Nach 24 Stun¬
den: Col.desc.
nicht stenos.
Ulcus callos.
operiert
ist es nicht mit Motilitätsstörung des Magens ver¬
bunden, dann findet sich die Motilität des Darmes gesteigert.
l\s erscheint naheliegend, für die Hypermotilität des
Darmes bei Ulkus einen Reizzustand desselben auf moto¬
rischem Gebiet verantwortlich zu machen, in dem sich der
Magen auf sekretorischem Gebiet bei dieser Krankheit befin¬
det, da wir ja wissen, wie häufig das Ulkus mit Hyper¬
sekretion einhergeht. Was aber die Beteiligung der unteren
Darmabschnitte anlangt, so zeigt sich, in Uebereinstimmung
mit den bei den anderen Arten der [Hypermotilität erhöbe
nen Befunden, daß auch mit der ulzerösen Hypermotilität
der oberen Darmabschnitte normale Motilität der unteren
verbunden sein kann; und so erklärt sich das Vorkommen
barter Stühle trotz der Hypermotilität auch hier [leicht bald
als Folge von Dyschezie (Fall III undiV), bald als Folge der
normalen (in manchen Fällen gewißi auch verlangsamten)
Passage der unteren Darmabschnitte (Fall VI). (
*
Wenn ich zum Schlüsse das Resultat d e r (Unter¬
suchungen meiner 38 Fälle zusammenfasse, slo ergibt sich
olgendes :
1. Für das Stuhlbild ist nicht allein die Schnelligkeit
ler Passage durch den Darm, sondern auch die Empfindlich¬
keit des Rektums, seine Fähigkeit Stuhldrang auszulösen
Hertz) maßgebend; hat das Rektum diese Fähigkeit ver-
oren, dann kann es trotz Hypermotilität des Darmes zum
degenbleiben und zur Eindickung des; Stuhles und zum
duhlbild der Obstipation kommen. Kann daher zwar aus
!em Vorhandensein von Diarrhöen auf beschleunigte Darm-
»assage geschlossen werden, so ist dagegen der S c h 1 u ß
us dem Stuhlbild der Obstipation auf ver-
angsamte Darmpassage unzulässig.
2. Die Darmmotilität erweist sich im allgemeinen von
er Motilität des Magens abhängig, insoferne, als sich bei
lypermotilität des Darmes stets auch Hypermotilität und
iemals Hypomotilität des Darmes fand und sich bei Hypo-
lotilität des Magens niemals Hypermotilität des Darmes
rgab.
3. Hypermotilität des Darmes, mindestens in seinen
beren Abschnitten bis zur Flexura coli lienalis, findet sich
ei Achylie, manchen Fällen von Ulkus, (nervöser) Plyper-
lOtilität des Magens und manchmal bei Katarrh des Darmes ;
ie Hypermotilität der oberen Darmab-
chnitte kann jedoch mit normaler oder ver-
3-ngsamter Passage der unteren Darmab-
chnitte verbunden sein.
4. Ein Hindernis am Magenausgang narbiger, karzino-
matöser oder spastischer Natur verlangsamt die Darmpas¬
sage um so mehr, je hochgradiger es [ist.
5. Ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Säurm
grad des Magens und ''der Motilität des Darmes besteht nicht.
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dauungskrankh., IV.
Aus der Universitätskinderklinik in Lemberg.
(Vorstand: Prof. Raczynski.)
Das Verhalten des Reduktionsindex (nach
E. Mayerhofer) in der normalen und patho¬
logischen Zerebrospinalflüssigkeit.
Von Dr. Mathilde Lateiner, Assistentin der Klinik.
Bei der Diagnose der tuberkulösen Meningitis pflegt
man 'sich neben der Beachtung der klinischen Erscheinungen
auch der Untersuchung der (durch eine Punktion gewonnenen
Zerebrospinalflüssigkeit zu bedienen; die Methoden, die da¬
bei seit der Einführung der Lumbalpunktion zu diagnosti¬
schen Zwecken zur Anwendung kommen, sind : die Unter¬
suchung auf Tuberkelbazillen, die zytologische Unter¬
suchung, die Beachtung des nach einiger Zeit entstehenden
Gerinnsels und die Prüfung des Eiweißigehaltes.
Wie bekannt, zeichnet sich die Zerebrospinalflüssig¬
keit bei Meningitis tuberculosa durch die Fähigkeit aus, ein
Gerinnsel zu bilden und durch einen erhöhten Eiweißgehalt ;
oft enthält sie Tuberkelbazillen, gewöhnlich aber nur in sehr
geringer Zahl. Während die Gerinnselbildung erst nach
mehreren Stunden entsteht und ausnahmsweise ausbleiben
kann, der Tuberkelbazillenachweis oft mühsam ist und
nicht, in allen Fällen ,zum Ziele führt — eignet sich die
Eiweißbestimmung recht gut zu einer schnellen Orientierung
am Krankenbette. Nach Allard1) braucht man die quan¬
titative Bestimmung nicht anzuwenden, es genügt das Auf¬
kochen mit Zusatz von einigen Tropfen verdünnter Essig¬
säure : bei einfacher Trübung handelt es sich noch um
normale Eiweißmengen, bei Flockenbildung kann man die
Diagnose der entzündlichen Flüssigkeit stellen. Wir ver-
784
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
wenden die einfache Heller sehe Eiweißtprobe (Unterschich-
!ung mit konzentrierter Salpetersäure) und gewinnen für
gewöhnlich recht verläßliche Resultate, indem es bei vor¬
sichtiger Unterschicht ring bei Meningitis tuberculosa zur Bil¬
dung eines dichten, 3 bis 6 mm dicken Eiweißringes kommt,
während hei normalem Liquor ein kaum merkbarer Ring, oft
erst nach einigen Sekunden entsteht.
Bieten also recht viele Fälle diese einfachen Verhält¬
nisse, so kommt es doch gelegentlich vor, daß uns die quali¬
tative Eiweisprohe keine verläßlichen Resultate gibt; es ent¬
steht ein 1 bis 2 mm breiter Ring und wir können es in diesem
Falle ebensogut mit einer entzündlichen Flüssigkeit wie
mit einem Begleitsymptom einer andersartigen Gehirner¬
krankung (Blutungen, Tumoren, venöse Hyperämie), wie
endlich um Zustände, die unter Meningismus (oder Menin¬
gitis serosa Quinque) zusammengefaßit werden und hei Ty¬
phus, Pneumonie, Influenza, Autointoxikationen, Insola¬
tionen Vorkommen, zu tun haben. Eine quantitative Eiweißi-
bestimmung würde ebenso wenig zum Ziele führen, weil
der normale Eiweißgehalt nach Quinque eben zwischen! 0-2
und 0-5 ^oo schwankt (nach anderen Autoren noch höher
sein kann), bei 0-5°/oo also die Grenzwerte liegen, die weder
für, noch gegen eine Meningitis sprechen (ausnahmsweise sah
Q u i n q u e bei 7 %0 Eiweiß keine Meningitis sondern venöse
Stauung). Für diese zweifelhaften Fälle schien uns die
von E. M ayerhofer 2) angegebene'Meihode der Bestimmung
des Reduktionsindex, die sich auf die gesummte organische
und organisierte Substanz bezieht — wenn sie sich bewähren
sollte — sehr erwünscht, um die Diagnose der Meningitis zu
erleichtern. Ich stellte mir also zur Aufgabe, seine Befunde
an dein mir zu Gebote stehenden Materiale nachzuprüfen.
Ich untersuchte im ganzen die Zerebrospinalflüssigkeit
von 29 Fällen. Unter diesen hatten wir zwei Zerebro-
spinalmeningitiden, eine Meningitis streptococcica, eine
Meningitis pneumococcica, 17 Fälle von Meningitis
tuberculosa, einen Fall von Hemiplegie nach einer
Kapselblutung, einen unter stürmischen meningealen
Symptomen tödlich verlaufenden Fall, der auch durch die
Obduktion nicht aufgeklärt wurde, zwei Fälle von enterogener
Intoxikation älterer Kinder (4 und 5 Jahre), die auch mit
heftigen meningealen Erscheinungen einherliefen und wegen
Verdachtes auf Meningitis tuberculosa punktiert wurden,
in einigen Tagen aber vollkommen genasen. Ferner
wurden untersucht ein Fall von Tetanie, ein Fäll
von vermehrter Lymphozytose des Liquor cerebro¬
Normaler
Liquor
■
Meningitis basilaris tuberculosa
Meningitis
purulenta
Fall 1
Fall VII
Fall XIII
Fall XIX
Fall XXIV
1. 1-8
1. 20
1. 34
2. 25
3. 2T
1. 41
1. 2-8
2. 1-8
2. 18
2. 31
3. 21
Fall 11
Fall VIII
Fall XIV
Fall XX
Fall XXV
1. 1-6
1 . 22
1. 34
1. 61
1. 33
2. 1-3
2. 2-6
3. 4-5
2. 2-8
Fall 111
1. 1-5
2. 1-3
Fall IX
1. 27
2. 1-8
3. 1 8
Fall XV
1. 3 6
2. 35
Fall XXI
1. 67
2. 2-8
Fall XXVI
1. 40
Fall IV
Fall X
1. 2-7
3. 2 2
Fall XVI
1. 35
Fall XXII
1. 8-2
Fall XXVII
1. 49
1. 1-7
2. 25
2. 7-9
2. 3 2
3. 11
3. 7-8
3. 37
Fall XXVIII
Fall V
Fall XI
1. 2-9
2. 2 1
Fall XVII
1. 3-7
Fall XXIII
1. 20
2. 1-9
Hemiplegia
post morbillos
1. 14
2. 24
3. 24
1. 2T
2. 1-7
3. 20
Fall XIX
Fall VI
1. 1-7
Fall XII
Fall XVIII
Hyperämia
1. 3-2
2. 27
1. 40
2. 1-7
Meningum
1. 30
1
2. 28
spinalis mit ebenfalls meningilischen Erscheinungen
(Meningitis serosa Quinque), der nach zwei Tagen vollkommen
genas und ein Fall von Peritonitis und Pericarditis pneumo¬
coccica mit meningialen Reizerscheinungen. Alle diese. 5 letz¬
teren Fälle wurden wegen Verdachtes auf Meningitis tubercu¬
losa punktiert; da sowohl der klinische Verlauf wie die Unter¬
suchung des Liquor cerebrospinalis den Ausschluß der Dia¬
gnose Meningitis tuberculosa erlaubten, können diese Fälle
als Kontrollfälle für die Bestimmung des normalen Verhält¬
nissen nahekommenden Reduktionsindex dienen.
Bei der Untersuchung folgten wir vollkommen den An¬
gaben des Autors und verwendeten entweder drei Portionen
oder nur die erste und dritte oder endlich in selteneren
Fällen, in denen wir zu wenig Flüssigkeit erhielten, mir
eine. Die Resultate will ich hier tabellarisch zusammen¬
stellen und anbei die Krankengeschichten in kurzen Aus¬
zügen folgen lassen.
Fall J. B. W., Amb.-Prot. Nr. 428. 14 Monate alt. Erkrankte
tags vorher mit klonischen Krämpfen, die sich an einem Tage
mehrmals wiederholen. Bei der Untersuchung ist die Fontanelle
gespannt, leichte Nackensteifigkeit, Temperatur 37-8. Fäzialisphä-
nomen positiv. Die Lumbalpunktion ergibt eine vollkommen klare
Flüssigkeit, stark spritzend. Der Heller sehe Eiweißring kaum
sichtbar, entsteht nach einigen Sekunden. Kein Sediment. Reduk¬
tionsindex 1-8 (siehe Tabelle). Die Krämpfe wiederholten sich
nicht mehr. Unter Darreichung von Brom und Phosphor lebert nur
vollkommene Genesung.
I) i a g'n ose: Tetania.
Fall II. M. L., Prot.- Nr. 120, drei Jahre alt. Erkrankt
mit Erbrechen, Diarrhöen und Schmerzen im Abdomen. Nach
einigen Tagen Bewußtlosigkeit, Stuhl angehalten. Bei der Auf¬
nahme am 3. April bewußtlos, unruhig ; in der Atmung größere
Pausen, Visus sacer, Schmerzäußerung bei Kopfbeugung, Trous¬
seau sehe Flecken, Dauer -Babinsky. Abdomen gespannt, im Tho¬
raxniveau, undeutlich schmerzhaft. Lumbalpunktion ergibt eine
vollkommen klare Flüssigkeit, bei der Hell ersehen Probe Eiwei߬
ring xh mm breit, erst nach einigen Sekunden auftretend, Reduk¬
tionsindex niedrig (1-6 bis 1*3), nach 24 Stunden keine Ge¬
rinnselbildung. Am 4. April tritt perikardiales Reiben auf. un
5. April Exitus. Die Obduktion ergibt eine Peritonitis und Peri¬
carditis pneumococcica.
Fall III. M. B., zehn Monate alt, Amb.-Prot. Nr. 2383.
Erkrankt vor vier Tagen mit Fieber, Erbrechen und Diarrhöen.
Temperatur 38-6, Fontanelle stark gespannt, Nackensteifigkeit;
der übrige Organbefund normal. Keine Druckschmerzhaftigkeit
der Ohrmuschel. Die Lumbalpunktion ergibt eine leicht getrübt“
Flüssigkeit unter hohem Drucke. Der Eiweißring 3 mm breit,
entsteht sofort. Nach Zentrifugieren ein reichliches Sediment;
das mikroskopische Präparat enthält ausschließlich Lymphozyten,
keine Mikroorganismen. Färbung auf Tüberkelbazillen negativ.
Auch die Kultur auf Blutagar blieb negativ. Reduktionsindex
(].-5 bis 1-3). Keine Gerinnselbildung. Hier hätten wir ohne
die Untersuchung des Reduktionsindex die Diagnose
der Meningitis basilar is gestellt (vermehrter Lympho¬
zytengehalt, erhöhter Eiweißgehalt). Am nächsten Tage . war das
Kind fieberfrei, ohne meningitisebe Symptom©. Reaktion nach
Pirquet negativ. Nach zwei Wochen erscheint das Kind wieder
im Ambulatorium und ist vollkommen gesund.
Fall IV. A. B., vier Jahre alt (ein Fall aus der Privat¬
praxis). Erkrankt mit Erbrechen, bald darauf Somnolenz, Hin¬
fälligkeit, Sensorium benommen. Temperatur normal, leichte
Nackensteifigkeit, Organbefund normal. Die am dritten Tage der
Erkrankung vorgenommene Lumbalpunktion ergibt eine vollkom¬
men klare Flüssigkeit unter hohem Druck; Eiweißring mit Sal¬
petersäure ca. 2 mm; breit; im Sediment Lymphozyten, keine
Gcrinnselbildung ; Kultur auf Blutagar bleibt steril. Der Reduk¬
tion sindex niedrig (siehe Tabelle). Nach der Punktion Besse¬
rung des Allgemeinzustandes, das Sensorium freier. Nach drei
Tagen vollkommene Genesung.
Fall V. O. Z. (Fall aus der Privatpraxis). Fünf Jahre a it.
Erkrankt mit Erbrechen, Kopfschmerzen, Temperatur 38-6, ‘leid¬
lich© Nackensteifigkeit, allgemeine Hyperästhesie. Die Kop>.-
schmerzen werden am nächsten Tage noch intensiver. Die Lum¬
balpunktion ergibt eine klare Flüssigkeit unter mäßigem Druck.
Der Eiweißgehalt gering, im Sediment spärliche Lymphozyten,
keine Gerinnsclbihlung. Die Kultur auf Blutagar bleibt steril.
Reduktionsindex niedrig (siehe Tabelle). Nach der Punktion
Schwinden der Kopfschmerzen. Am nächsten Tage fällt die Tem¬
peratur zur Norm. Das Kind bleibt dauernd gesund.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
785
Kiren
Jar,
Eiweißring ;
Hel
der
ler1-
R.e-
>ensorumi ;
vorgeuoin-
1’ dll VI. Betrat einen chronischen, angeborenen Hydro¬
zephalus, bei dem ich die Ventrikelflüssigkeit untersucht habe
welche durch eine zu therapeutischen Zwecken vorgenommene
\ enti lkcipunklion (Operation nach Brahman) gewonnen worden
ist. Auch bei diesem Falle war die Flüssigkeit klar, die
sehe Probe ergab einen kaum sichtba
duktionsihdex war niedrig (1-7).
Fall VII. J. R., zwei Jahre alt. Amh.-Prot. Nr. 344. Seit
einigen Monaten Husten und Abmagerung, seit 10 'tagen Erbrechen
Obstipation; in den letzten Tagen Hinfälligkeit und Somnolenz.’
Bei der Untersuchung Nackensteifigkeit, Trousseausche Flecke
Kern igsches Phänomen positiv, Puls 68, arhyth misch Nach
vier Tagen derselbe Befund, Reaktion nach Pirquet positiv.
Die Lumbalpunktion ergibt eine leicht opalisierende Flüssigkeit
unter hohem Druck. Der Eiweißring 5 mm dick, im Sediment
reichlich Lymphozyten, nach einiger Zeit entsteht ein zentrales
Gerinnsel. Reduktionsindex an der Grenze (siehe Tabelle). Es
entw ickelt sich nun langsam das typische Bild einer tuberkulösen
Meningitis. Nach sieben Tagen Exitus.
Fall VIII. M. W., 18 Monate alt, Prot.- Nr. 14. Vor zwei
Wochen mit Fieber und Erbrechen erkrankt. Die Untersuchung
ergibt einen typischen Befund einer Meningitis basilaris im spä¬
teren Stadium. Lumbalpunktion: Leicht getrübte Flüssigkeit mit
dickem Hel ler sehen Eiweißring, Gerinnselbildung. Keduktions-
mdex 2-2 (siehe Tabelle). Nach einer Woche Exitus.
0 b d u k t i o n s b e fu n d : Leptomeningitis sero - librinosa
tuberculosa baseos cerebri. Tuberculosis glandularum, Tubercu¬
losis nodosa pulmonum.
Fall IX. L. St., sieben Monate alt. Prot.- Nr. 6t. Er¬
krankte vor einem Monat mit Fieber, Appetitlosigkeit; magert
wlinell ab, in der letzten Zeit Erbrechen. An der Haut einige
Knötchen des; papulösen Tuberkulids. Karies des rechten Warzen-
foitsatzes. Vier Tage nach der Aufnahme deutliche Nackensteifig
mit gesteigerte Patellarsehnenreflexe bei erhaltenem S
häufiges Erbrechen, der Stuhl angehalten. Die jetzt
nene Lumbalpunktion ergibt eine kaum getrübte Flüssigkeit, unter
Geringem Druck. Der Eiweißring 3 mm breit; im Sediment Lym-
»hozylen; nach zwölf Stunden Gerinnselbildung. Reduktions-
ndex (2-7 fallende Tendenz, siehe Tabelle). Die meningitischen
Symptome werden in den nächsten Tagen immer deutlicher, nach
icht Tagen Exitus.
Obduktionsbefund: Caries processus mastoidei dextri;
j leptomeningitis serofibrinosa tuberculosa baseos cerebri; Hydro¬
zephalus internus inflammatorius. Ulcera tuberculosa intestini ;
■ruptio nodosa dispersa pulmonis utriusque.
Fall X. E. R., 12 Monate alt. Amh.-Prot. Nr. 2066
or drei Wochen mit Fieber, zu gleicher Zeit mehrere
n der Haut (Skrofuloderma). Das Kind magert schnell
(rusternährung). Seit zwei Tagen Erbrechen, Obstipation. Die
ntersuchung ergibt ein abgemagertes Kind mit gespannter Fon-
anelle, Nackensteifigkeit, gesteigerten Patellarsehnenreflexen. Puls
'0, arhyth misch. Die durch eine Lumbalpunktion gewonnene
Zerebrospinalflüssigkeit ist nicht ganz klar, weist einen ver-
! uchrten Eiweißgehalt auf (3 mm: breiter Ring), bildet nach meli¬
eren Stunden ein zentrales Gerinnsel; die Flüssigkeit steht unter
rhöhtem Druck, so daß mit Leichtigkeit 30 cm3 abgelassen werden
onnten. Nach dem Zentrifugieren ein reichliches Sediment aus
-ymphozyien bestehend; Tuberkelbazillen wurden nicht gerun-
len. Der Reduktionsindex 2-7, mit fallender Tendenz (siehe
abelle). Fünf Tage später ist das Bewußtsein getrübt, die Re¬
ktion nach Pirquet positiv; die meningitischen Symptome wor¬
in immer deutlicher, es treten Krämpfe auf; zehn Tage nach1 der
nmbalpunktion Exitus.
| Fall XI. D. S., drei Jahre alt. Amh.-Prot. Nr. 2734.
eit einigen Wochen Abmagerung, allgemeine Schwäche. Seil;
Gier Woche Fieber, Klagen über Kopfschmerzen, Erbrechen; der
tuhl angehalten.
Ein .abgemagertes Kind mit zahlreichen Tuberkulidknötrhen
er ganzen Hautdecke. Sensorium leicht benommen, Puls 60,
rhythi nisch, Respiration unregelmäßig. Deutliche Nackensteifig-
'-it, Kern igsches Symptom positiv; erhöhte Patellarsehnen-
-flexe. Die Lumbalflüssigkeit ein wenig getrübt, Eiweißring 1 mm
'eit, Gerinnselbildung nach sechs Stunden; im mikroskopischen
ilde Lymphozyten. Reduktionsindex 2-9, mit fallender Tendenz
•ieho Tabelle). Nach zehn Tagen Exitus unter typischen menin-
itischen Symptomen.
Fall XII. J. D., lVa Jahre alt. Prot.-Nr. 66. Seit zwei
• when krank, fiebert, magert ab; zeitweise leichte Bewußtseins¬
übung, Stuhl angehalten. Seit zwei Tagen Erbrechen. Ein ab-
’■magertes Kind, somnolent, doch bei Bewußtsein. Leichte Nacicen-
eifigkeit, Trousseausche Flecken, Kern igsches und Babin-
Erkrankt
Vbszesse
ab (trotz
sk i sch es Symptom positiv. Die Augenachsen divergieren, die
upi len reagieren träge. Puls arhythmisch, 62 in der Minute. Die
Lumbalpunktion ergibt eine stark spritzende, ganz leicht getrübte
Massigkeit; Liwei Bring 6 mm breit, Gerinnselbildung nach acht
btunden. Der übrige Organbefund normal. Temperatur 38°. Am
nächsten Tage ist das Kind ganz bewußtlos, Pirquet positiv.
Index 3-2 mit fallender Tendenz (siehe Tabelle). Auf Verlangen
dei Litern wird das Kind nach Hause entlassen, wo es nach
zehn Tagen stirbt.
F:an]lrX11L M‘ £■> dr?i Jahre alt- Prot.- Nr. 43. Erkrankte
voi zwölf Tagen mit Kopfschmerzen; vor zehn Tagen eine Stunde
lang dauernde klonische Krämpfe; Fieber um 38°. Bei der Unter¬
suchung ist das Kind benommen, apathisch, somnolent. Puls 110
- h e y n e-S t o k e s sches Atmen angedeutet. T r o u s s' e a u sehe
Mecken, Nackenbeugung 'schmerzhaft. Die Lumbalpunktion fördert
10 cm einer minimal getrübten Flüssigkeit; Eiweißring 10 mm
üieit, nach 24 Stunden bildet -sich ein. zentrales Gerinnsel. Reduk¬
tionszahl 3-4, mit fallender Tendenz. Nach sieben Tagen Exitus.
, . Obduktionsbefund lautet: Leptomeningitis tuberculosa basi¬
laris. Lymphadenitis tuberculosis cavernosa universalis. Tuber¬
culosa miliaris pulmonum1, lienis, renum, hepatisque.
Fall XIV. Ch. H., 4V2 Jahre alt, Prot.-Nr. 70. Das Kind
wird wegen einer schweren septischen! Periostitis, von einem
kariösen Zahn des linken Unterkiefers ausgehend, eingeliefert;
außerdem Erbrechen und Kopfschmerzen seit drei Tagen. Während
des Aufenthaltes auf der Klinik kommen langsam neben anderen
Erscheinungen memngitische Symptome zum Vorschein. Die zwei
läge vor dem Exitus ausgeführte Lumbalpunktion ergibt eine
wenig opaleszierende Flüssigkeit, stark spritzend. Der Eiweiß-
ii ng 4 mm breit; nach sechs Stunden bildet sich ein zentrales
Gerninsel. Reduktionsindex 3-4, mit fallender Tendenz (siehe
1 abelle). Der Obduktionsbefund lautet: Meningitis tuberculosa
basilaris, Tuberculosis miliaris, Caries mandibulae sinistrae.
Fall XV. J. K., sieben Jahre alt. Amb.-Prot. Nr. 633.
Seit einer Woche fiebernd, in der Nacht unruhig; vor vier Tagen
mehrmaliges Erbrechen; seit dieser Zeit andauernde Somnolenz
Bei der Untersuchung bewußtlos, mit starker Nackensteifigkeit;
Kern igsches Symptom positiv, Patellarsehnenreflexe erhöht, Ri¬
gidität der Extremitäten. Die Lumbalpunktion ergibt eine1 leicht
opalisierende Flüssigkeit, unter hohem Druck hervorspritzend,
m der sich nach sechs Stunden das typische Gerinnsel bildet.’
Eiweißring 4 mm' dick. Reduktionsindex 3-6, mit fallender Ten¬
denz (siehe 1 abelle). Zwei Tage später: Pupillen reaktionslos,
C h 0 y n, e - S t o k e s sches Atmen. Lumbalpunktion ergibt das
gleiche Resultat. Nach weiteren zwei Tagen stirbt das Kind.
F all XVI. A. P., 16 Monate alt. Prot.-Nr. 37. Vor zwölf
1 agen Krämpfe, die sich nach einigen. Tagen wiederholten.
Bei der Untersuchung: Sensorium benommen, leichte Fa¬
zialisparese rechts, ebenso Parese der rechten Hand, leicht er¬
höhte Patellarsehnenreflexe, Kern igsches Symptom negativ, keine
Nackensteifigkeit. Die Lumbalpunktion ergibt eine nahezu klare
Flüssigkeit mit hohem Eiweißgehalt (5 mim breiter Ring), in dem
nach einigen Stunden ein Gerinnsel entsteht. Reduktionsindex
3-5 mit fallender I eridenz (siehe Tabelle). Die meningitischen
Symptome werden in den nächsten Tagen deutlicher; nach
16 Tagen Exitus.
Obduktionsbefund : Meningitis basilaris, Tuberculum soli¬
täre ad corpus subthalamicum sinistrum, Lymphadenitis tuber¬
culosa caseosa universalis. Tuberculosis miliaris.
Fall XVII. B. L., neun Monate alt, Prot.-Nr. 116. Das
Kind war längere Zeit in poliklinischer Beobachtung wegen Ra¬
chitis und Hydrozephalus. Einige Wochen später Erbrechen, klo¬
nisch© Krämpfe. Fieber. Bei der Aufnahme leichte Nackensteifig¬
keit, Fontanelle gespannt, Sensorium frei, Atmung aussetzend;
K e r n i g sches, B ah i n s k i sches Phänomen negativ. Die Lumbal¬
punktion ergibt eine leicht getrübte Flüssigkeit, Eiweißring 3 mm
dick. Nach 11 Stunden Gerinnsel. Reduktionsindex 3-7 mit fal¬
lender Tendenz (siehe Tabelle). Nach drei Tagen Exitus.
Sektionsprotokoll : Meningitis tuberculosa, basilaris, Hydro¬
cephalus internus. Tuberculosis glandularum, pulmonum. Tuber¬
culosis nodosa lienis, Tuberculosis miliaris renum et hepatis.
Fall XVIII. M. H., 15 Monate alt, Prot.-Nr. 10. Vor einer
Woche mit Fieber und Appetitlosigkeit erkrankt. Bei der Auf¬
nahme der Befund einer Bronchialdrüsentuberkulose; nach
drei Tagen Unruhe, Sensorium getrübt, Puls arhythmisch, Atmung
unregelmäßig, Nackenbeugung schmerzhaft, Pupillendifferenz. Lum¬
balpunktion gibt eine opaleszierende Flüssigkeit unter“ hohem
Druck. Eiweißring 6 mm breit, nach sechs Stunden Gerinnsel¬
bildung. Reduktionsindex 1-0 mit fallender Tendenz (siehe Ta¬
belle). Nach sechs Tagen Exitus.
786
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
Sektionsprotokoll : Leptomeningitis serofibrinosa, tuberculosa
baseos cerebri. Hydrocephalus inflammatorius extern us. Lymph¬
adenitis tuberculosa caseosa, Tuberculosis miliaris.
Lall XIX. J. B., sieben Monate alt; Amb.-Prot. Nr. 21 So.
War mit vier Monaten wegen eines tuberkulösen Geschwürs am
Penis (nach Zirkumzision entstanden) in poliklinischer Behand¬
lung. Jetzt ist das Geschwür noch nicht verheilt; in seinem
Sekrete lassen sich Tuberkelbazillen nachweisen; in der Leisten¬
beuge beiderseits große Drüsenpakete, Sensorium benommen, deut¬
liche Nackensteifigkeit, Kernigsches Symptom positiv, Fonta¬
nelle gespannt, Strabismus ; die rechte obere Extremität rigid,
leicht paretisch. Die Lumbalpunktion ergibt eine leicht getrübte
Flüssigkeit; stark spritzend; Eiweißring 5 mm breit, nach sieben
Stunden entsteht ein zentrales Gerinnsel; im Sediment Lympho¬
zyten. Reduktionsindex 4-1 mit fallender Tendenz (siehe Tabelle).
Nach vier Tagen stirbt das Kind; zuletzt starke klonische Krämpfe,
öfters sich wiederholend.
Fall XX. M. VV., zwei Jahre alt, Prot. -Nr. 77. Vor drei
Wochen mit Fieber und Erbrechen erkrankt. Der Stuhl ange¬
halten. Bei der Aufnahme bewußtlos, mit Nackensteifigkeit;
Kernigsches, Babinskisches Symptom positiv, Fazialisparese
und Ptose rechts, leichte Parese der rechten oberen und unteren
Extremität. Die Lumbalpunktion ergibt eine klare Flüssigkeit
unter mäßigem Druck, in der nach acht Stunden ein Gerinnsel
entsteht. Eiweißring 7 mm breit. Reduktionsindex G l mit fal¬
lender Tendenz (siehe Tabelle). Am nächsten Tage Exitus. --
Sektionsprotokoll : Leptomeningitis serofibrinosa baseos cerebri,
Enoephalomalacia incipiens thalami optici sinistri, corporis callosi
et corpor. cjuadrigem. Tuberculosis caseosa glandularum omnium.
Tuberculosis miliaris pulmonum hepatis lienisque.
Fall XXL H. B., sieben Monate alt; Amb.-Prot.-Nr. 812.
Vor drei Wochen mit Fieber und Erbrechen erkrankt; seit einer
Woche treten öfters klonische Krämpfe auf.
Bei der Aufnahme: Sensorium getrübt, Strabismus, Pupillen
weit, wenig auf Licht reagierend; Nackensteifigkeit, Kernigsches
Symptom positiv. Fontanelle stark gespannt. Die Lumbalpunktion
ergibt eine leicht getrübte Flüssigkeit unter hohem Druck, Eiwei߬
ring 6 mm breit, im Sediment reichliche Lymphozyten, nach
einigen Stunden entsteht ein typisches zentrales Gerinnsel. Re¬
duktionsindex 6-7 mit fallender Tendenz (siehe Tabelle). Nach
sechs Tagen Exitus.
Fall XXII. E. Sz., sieben Monate alt; Prot. -Nr. 120. Vor
zwei Tagen mit klonischen Krämpfen erkrankt. ' Bei der Aufnahme
bewußtlos, mit spastischen Extremitäten, gesteigerten Patellar-
reflexen; Kernigsches Symptom positiv; Fontanelle gespannt.
Lumbalpunktion ergibt eine ganz zart getrübte Flüssigkeit mit
hohem Eiweißgehalt und schneller Gerinnselbildung. Reduktions¬
index 8-2 mit fallender Tendenz (siehe Tabelle). Nach drei Tagen
Exitus.
Sektionsprotokoll : Meningitis tuberculosa basilaris. Tuber¬
culosis miliaris universalis.
Fall XXIII. A. Dz., 16 Monate alt; Prot.-Nr. 124. Erkrankte
vor sechs Tagen mit Fieber; seit dieser Zeit sich immer stei¬
gernde Somnolenz. Bei der Aufnahme bewußtlos, mit reaktions-
losen Pupillen und Tremor in den hypertonischen Extremitäten.
Die Lumbalpunktion eigibt eine leicht opaleszierende Flüssigkeit,
in der sich nach zwölf: Stunden ein Gerinnsel gebildet hat.
Der Eiweißring ist 4 mm breit. Fünf Tage später Exitus. Re¬
duktionswerte an der Grenze (2 0).
Sektionsprotokoll : Lymphadenitis tuberculosa universalis.
Leptomeningitis serofibrinosa tuberculosa baseos cerebri. Hydro¬
cephalus internus. Tuberculosis miliaris.
Fall XXIV. M. S., zehn Monate alt; Prot.-Nr. 43. Eiterige
Streptokokken-Meningitis, dickeiterige Lumbalflüssigkeit mit zahl¬
reichen Strep tokokkenketten .
Fall XXV. M. T, sieben Monate alt; Amb.-Prot.-Nr. 300.
Betrifft eine Meningitis cerebrospinalis. (Positiver Kulturversuch.)
Fall XXVI. M. L., drei Monate alt; Prot.-Nr. 89. Menin¬
gitis pneumococcica nach einer Pneumonie. (Diagnose durch die
Obduktion bestätigt.)
Fall XXVII. 0. K., sieben Monate alt; Prot.-Nr. 64.
Wiederum eine Meningitis cerebrospinalis mit stark eitriger Zere¬
brospinalflüssigkeit und positiver Kultur.
Fall XXVIII. D. K., elf Jahre alt; Prot.-Nr. 54. Im Rekon¬
valeszenzstadium von Masern trat ohne Fiebererhöhung und ohne
apoplektischen Insult vollkommene Hemiplegie der linken Körper¬
hälfte ein, die sich nur sehr langsam zurückbildet, ohne ganz zu
schwinden. Die ein Monat später ausgeführte Lumbalpunktion ergibt
eine vollkommen klare Flüssigkeit unter mäßigem Druck stehend
mit geringem Eiweißgehalt (kaum sichtbarer Ring), ohne Ge-
wruiselbildung. Rdduktionsindex an der Grenze (siehe Tabelle).
Fall XXIX. J. L., sechs Jahre alt; Prot.-Nr. 99. Tags vorher
erkrankt; es traten ganz unvermutet klonische Krämpfe von der
Dauer einer Minute auf; einige Stunden später Fieber, Bewußt¬
losigkeit, heftigste Jaktationen. Bei der Aufnahme ist Aas kräf¬
tige Kind 'bewußtlos, die Pupillen reagieren auf Licht; die Extre¬
mitäten spastisch, Nackensteifigkeit; Patellarreflexe erhöht,
Kernigsches Symptom positiv. Außer einer geringen Rötung
des Rachens kein Befund zu erheben. Harn ohne pathologische
Merkmale. Die Lumbalpunktion ergibt eine stark spritzende, voll¬
kommen klare Flüssigkeit mit geringem Eiwedßgehalt (kaum sicht¬
barer Ring); es entsteht kein Gerinnsel. Permanganatzahl 3-0
(siehe Tabelle). Das Kind bleibt bewußtlos bis zum Tode, der
tags darauf eintritt.
Das Sektionsprotokoll lautet: Tuberculosis caseosa chronica
pulmonis utri usque (zwei, bloß erbsengroße Herde), Tuber¬
culosis nodosa dispersa et miliaris lobi inferior pulmonis dextri.
Lymphadenitis tuberculosa caseosa universalis. Degeneralio parcu-
chymatosa organorum. Ulcera tuberculosa coeci. Hyperaemia
meningum. Cystae plexus chorioidei.
Besprechen wir nun in die in der vorangeschickten
Tabelle zusammengestellten Resultate.
Was das Verhalten der einzelnen Portionen eines Lum-
balpunktates gegen einander betrifft, so konnte ich in meinen
zwei nicht entzündlichen Fällen die von Mayerhofer bei
normalen Verhältnissen oft gefundene Tatsache, daß der
Reduklionsindex bei nicht entzündlichen Flüssigkeiten wäh¬
rend einer und derselben Punktion steigt, nicht bestätigen.
In diesen zwei Fällen von nicht entzündlicher Zerebro¬
spinalflüssigkeit war ein Fallen des Reduktionsindex zu be¬
obachten. Das übrige Verhalten des Reduktionsindex ent¬
spricht aber vollkommen den Angaben des Autors.
Die eiterigen Meningitiden wurden nur der Vollständig¬
keit halber der Untersuchung unterzogen, um die Ueberzeu-
gung zu gewinnen, ob alle entzündlichen Flüssigkeiten den
erhöhten Reduktionsindex aufweisen, was auch in diesen
Fällen vollkommen zutraf; zur Diagnose wird man bei eiteri¬
ger Flüssigkeit diese Methode selbstverständlich entbehren
können.
Die sechs Kontrollfälle, die entweder nach einigen Tagen
vollkommen genasen oder sich bei der Obduktion als eine
andersartige Erkrankung herausstellten, weisen den Angaben
des Autors gemäß, niedrige Reduktionswerte weit unter der
Grenze des Pathologischen auf. Ich muß betonen, daß uns
gerade in zwei dieser Fälle die Eiweiß besti in
mutig im Stich ließ, indem sie leicht erhöhten
Eiweiß ge halt gab. Die tuberkulösen Meningi¬
tiden weisen nach meinen Befunden im allgemeinen
sehr hohe Werte auf, weit über der Grenze des
Normalen; nur in drei Fällen bewegen sich die Werte
der ersten Punktion knapp an der Grenze, so daß sie zur
Diagnose schwer verwertbar wären; in solchen Fällen wäre
wohl eine zweite Punktion mach einigen Tagen .angezeigh
Wenden wir uns nun |zu den zwei letzten Fällen (Fall XX\ Jli
und XXIX). In dem! einen, wo es sich wahrscheinlich um
eine lang vorher überstandene Gehirnblutung mit nachfol¬
gender Hemiplegie handelte, haben wir Grenzwerte und
undeutlich ausgesprochenes Fallen des Index, im zweiten,
der vor wie nach der Obduktion ganz unklar blieb und bei
dem es sich vielleicht um eine akut verlaufende Poliomyelitis
gehandelt hat (die Untersuchung des Rückenmarks wurde
leider nicht vor genommen), haben wir es mit hohen Werten
und fallendem Index zu! tun; es ist auch der einzige Fall,
in dem uns die Bestimmung des Reduktionsindex hätte in der
Diagnose irreführen können ; er bleibt aber zu unaufgeklärt
(die Hyperämie der Meningen könnte ja auch das erste
Stadium einer beginnenden Meningitis bedeuten; der übrigf
Obduktionsbefund genügte nicht, um den fulminanten Krank
heitsverlauf izu erklären) als daßi wir berechtigt wären, ihn
gegen die Brauchbarkeit der Methode ins Feld zu führen
Auf Grund unserer Untersuchungen können wir also
behaupten, daß bei der tuberkulösen Meningitis größten
teils sehr hohe Reduktionswerte gegen Permanganat gefun¬
den werden, die uns gemäß den Angaben des Autors zui
Diagnose einer Meningitis berechtigen; in dem normalen
Liquor finden wir ganz niedrige Zahlen, die eine Meningitis
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
787
ausschließen lassen; in den andersartigen Affektionen der
Zentralorgane fanden wir einmal Grenzwerte; solche fanden
sich auch in drei Fällen von Meningitis; sie sind also im
Allgemeinen nicht zu verwerten und erlauben nach einer
einmaligen 1 unktion noch keine ‘©iagnosenstellung.
Im allgemeinen können wir (die M a y e r li o f e r sehe Me¬
thode als eine willkommene Bereicherung unserer Unter¬
suchungsmethoden der Zerebrospinalflüssigkeit begrüßen. Im
besonderen scheint es uns, daßi gerade den negativen Befunden
'-ine gute diagnostische Bedeutung innewohnt.
Literatur:
i vVl1 m d’ .^eLiimpalpunkticit. Ergebnisse der inneren Medizin
und Kinderheilkunde, Bd 3. - ’) E. Mayerhofer, Zur Charakteristik
"'u oin“ wdl^n0Se des Ll(luor cerebrospinalis. Wiener klin. Wochen-
sennit lyiU, J\r. 18.
Aus der Abteilung für Frauenkrankheiten der Wiener
Allgemeinen Poliklinik.
(Vorstand: Prof. Dr. H. Peham.)
Ein Fall von Mangel des rechten Ovariums bei
rudimentärer Entwicklung der rechten Tube.
Von Dr. Ludwig Herzl.
t Seil Morgagni1) sind im ganzen erst einige zwanzig
f alle von einseitigem Mangel des Ovariums beschrieben wor-
Icn. Bedenkt man die Fülle von Sektionen und Operationen,
he in diesem Zeiträume von anderthalb Jahrhunderten Vor¬
kommen wurden, iso erhellt daraus eine Seltenheit des
torkommens, welche die Publikation eines solchen Falles
•echtfertigt.
Am 24, November 1910 wurde die 27jährige Magd Kr I
mf unsere Abteilung aufgenommen. An Kinderkrankeiten kann
ie sich nicht erinnern. Im 16. Lebensjahr war sie angeblich an
vopttyphus und Lungenentzündung erkrankt. Seitdem 16 Lebens-
ahre menstruierte sie stets regelmäßig, alle vier Wochen in der
lauer von zvvei bis drei Tagen unter mäßigem Blutverluste. Vor
wei Jahren blieben die Menses vier Monate lang aus. Patientin
j/wae damals wegen Blutarmut behandelt, worauf die Periode
ich wieder mit der früheren Regelmäßigkeit einstellte. Die letzten
enses waren am 4. August 1910. Seither hat sich kein Blut-
bgang mehr gezeigt, dagegen traten Schmerzen im Kreuz und
i der linken Bauchhälfte auf. Patientin war nie gravid.
Patientin ist mittelgroß, derbknochig, gut, genährt. Lungen-
ietund normal. Herzgrenzen normal. Erster Ton an der Basis
irausch artig. Puls rhythmisch, mäßig gespannt. Harnbefund
ormal.
Abdomen im Niveau des Thorax, nirgends druckempfindlich
urmaler Palpationsbefund. Kein Aszites nachweisbar. Die sekun-
iren Geschlechtscharaktere gut ausgeprägt.
Normales äußeres Genitale. Hymen lazeriert. Scheide eng
emheh lang. Portio zapfenförmig, Uterus normal groß, hart, in
io nach rechts gedrängt durch einen hinter dem Uterus gelegenen,
i ka mannsfaustgroßen, kugeligen, ziemlich derben, unempfindlichen’
•n linken Adnexen angehörenden Tumor von glatter Oberfläche
ici ziemlich guter Verschieblichkeit.
Diagnose: Tumor ovarii sinistri, verisimile Cystis der-
oides.
Am 26. November wurde in Narkose die Laparotomie
aszienquerschnitt nach Pf a n n e n s t i e 1) ausgeführt. Nach
'Öffnung des Abdomens läßt sich der Tumor, ein Dermoid
linken Ovariums, leicht vorwälzen. Er wird nach
lascher Abklemmung des Ligamentum infundibulo-pelvicum und
r lulie dem Ligamentum ovarii proprium hart am Uterus
gesetzt. Eine geringe Menge seröser Flüssigkeit in der Abdominal-
e. Bei der Inspektion der inneren Genitalien erweist sich nun,
;a«fder rechten Seite das Ovarium vollko m-
e. n f e b 1 1 und auch vom L i g a m entum ovarii p r o-
i um und Suspensorium keine Andeutung vorhanden ist.
1 stelle der Tube zieht vom Uterus, der v o 1 1-
* in m e n normale Gestalt und Größe zeigt und
• d e r s e i t s ein vollkommen normal entwickeltes
g a m entumrotundumbesitzt, ein ca. 3 mm dicker,
o ö cm langer, solid sich anfühlender Str a n g
S) der, allmählich s i c h verjüngend, im v o 1 1-
m m e n normalen Ligamentum latum sich v e r-
De sedibus et causis morborum. Epist. LXIX. Venedig 1761.
zjeprJ„(siehe^bbMu"g>’)Nir8e"ds i»t oin« narbige Ver-
Ziehung oder sonstige, auf abgelaufene E n t 7 t'i n
düngen zu rück zu lü bren de Verändelu n g „ a c h w e i l
"»»‘«fl.». Fläche. So "veil lö .
il l b j c iA B z u eC„ Jf 6 "l L a *’ a 0 ‘ ° m i e s c l> n i 1 1 r e i eh t.
Ovarium e t e S * n ‘ 6 a s e ' n e m “*>sesch nürten
Klemmen durch Umstechungen werten'' die fcu'ehde'ctaTn8 lypT
scher We.se vier Etagen geschlossen. PIlSS Ä
zen,kberlew%SifAm„t1asjem",i0nem- Pa‘ienUn Kird “>
jogmeh-anatom, sehen Institut der Allgemeinen Poliklinik verdate,’
„Das uns übersandte Präparat stellt einen ungefähr manns¬
faustgroßen eiförmigen Tumor von blaßgelber Farbe und glatter
und glanzender Oberfläche dar. Seine Konsistenz ist teigig- weich
ne ungefähr o cm lange, kantenartig aufsitzende und der Kapsel
aufgelagerte Falte entspricht der Abtragstelle vom Ligamentum
Jatum. Auf der entsprechend dem größeren Durchmesser ange¬
legten Schnittfläche zeigt sich folgendes Bild :
Der größte Teil des Tumors wird von einer großen Zyste
eingenommen, die mit einer fettigen, schmierigen, talgähnlichen, mit
Haaren vermengten Masse erfüllt ist. Einzelne kleinere Zysten
lugen unmittelbar unter der äußeren fibrösen Kapsel, zum Teil
in einem Gewebe, welches dem sonst ganz verdrängten Ovarium
entspricht und kleine wabige, mit gelbem Fettstoff erfüllte Lücken
erkennen laßt. Eine kleinpflaumengroße Vorwölbung zeigt auf der
Schnittfläche eine dunkelbraunrote, von Hämorrhagien durchsetzte
Stelle, welche von einem gelben zackigen Streifen umsäumt ist:
Dorp us luteum, lube ist nicht vorhanden. Histologisch: Dermoid¬
zyste mit Fettaustntt in die Zystenwand und in das Ovarial-
gewehe.
Rokitansky'5) hat als erster in den Entstellungs¬
modus solcher Anomalien Licht gebracht. Er führt auf
< 'rund seiner Beobachtung von acht Fällen, in denen aller¬
dings das betreffende Ovarium nicht vollständig fehlte, son-
cTn meist ll0chsradig pathologisch verändert an anderer
Ste le gefunden wurde, den einseitigen Mangel des Ovariums
und das Vorhandensein eines rudimentären Tubenstumpfes
aut Abschnürung zurück, die schon in der Fölus-
periode vor sich gegangen sein kann. Nach den Ausfüh-
1 an gen seines Schülers Kl ob4) hat man sich diese Vor¬
gänge folgendermaßen vorzustellen. Unter eigentümlichen
unbekannten Verhältnissen dreht sich ein Ovarium um seinen
Stiel und zwar scheint die Drehung des äußeren Endes
nach unten und dann nach innen häufiger und auch schon
darum wahrscheinlicher zu sein, weil das äußere Ende
des Ovariums offenbar das beweglichere ist. Bei der halben
Drehung in dieser Richtung biegt sich das Abdominalende
der lube um den Rand des nun zum äußeren gewordenen
inneren Endes des Ovariums herum; bei Vollendung der
ganzen Umdrehung ist aber die Tube auch völlig in einer
Spn all our um den aufgedrehten Stiel des Ovariums herum-
2) Dieselbe stellt eine Skizze dar, die, da der Uterus nicht ent-
iernt wurde, nach dem Erinnerungsbilde in der Ansicht von hinten an-
ge fertigt ist. Das Dermoid war in Wirklichkeit relativ größer, der Tuben-
slumpi etwas dünner und kürzer, als nach dem Bilde angenommen
werden konnte.
3) Lebrb. d. pathol. Anat. 1861, Bd. S, S. 413 bis 415.
*) Pathol. Anat. d. weibl. Sexualorgane 1864, S. 325 bis 330.
788
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
gewunden. Die Achsendrehung, die auch ein normales
Ovarium betreffen kann, ist von der größten Wichtigkeit
wegen der Beeinträchtigung der doppelten, vom Uterus her
und von den spermatischen Geflechten kommenden Venen¬
plexus, welche in der Aufdrehung des Stieles förmlich
stranguliert werden, wodurch es zunächst zu Hyperämie
und Entzündung des Ovariums und der Tube und zu Peri¬
tonitis kommt. Die Achsendrehung des Ovariums kann end¬
lich zur völligen Abschnürung desselben und des äuße¬
ren Abschnittes der betreffenden Tube führen.
Eine andere Möglichkeit, die zur Abschnürung
eines Ovariums führen kann, besteht nach Rokitansky in
der Zerrung, welche das Ligamentum ovarii von einem
vergrößerten Ovarium, dann bei manchen, zuweilen schon
sehr frühzeitig im Kindesalter, ja, in der Fötusperiode
akquirierten Adhäsionen des Ovariums erleidet, wodurch das¬
selbe vom Uterus abgelöst, verödend, an der Stelle seiner
Adhäsionen 'fixiert oder selbst lose gefunden wird, — manch¬
mal ist es spurlos verschwunden. Es ist dann nach K 1 o b,
wenn es nicht aus den Gefäßen der Pseudomembranen er¬
nährt werden kann und wenn es sich um ein kindliches Ova¬
rium, zumal im Fötalleben handelte, gewiß einer völligen
Resorption anheimgefallen. Daraus geht hervor, daß so man¬
cher früher als ursprünglicher Mangel eines Ovariums und
der betreffenden Tube gedeutete Fall auf fötale Abschnü¬
rung zurückzuführen sein wird und daß man bei Vorge¬
fundenen Mangel eines Ovariums sorgfältig die ganze Bauch¬
höhle zu durchsuchen habe, um die Reste desselben nament¬
lich dann zu finden, wenn am Uterus ein kurzer Tuben¬
stumpf angetroffen wird.
In unserem Falle nun war keine Spur von Adhäsionen
oder narbigen Veränderungen zu finden, die als Residuen
einer Entzündung hätten aufgefaßt werden können. Nun
hat Braun5) einen Fall beschrieben, in welchem zweifel¬
los eine Abschnürung des rechten, am Netz adhärenten,
hochgradig veränderten Ovariums vorlag und wo keinerlei
Narbe nachweisbar und das Peritoneum überall glatt und
verschieblich war. Es ist dies also ein Befund, der nicht
gegen eine Abschnürung des Ovariums und der Tube spricht.
Gegen eine primäre Aplasie des Ovariums spricht auch
der Zustand der Tube, der auf eine durch pathologische
Vorgänge herbeigeführte Abtrennung des äußeren Teiles hin¬
weist. Denn hierfür eine primäre Aplasie des Müll er¬
sehen Ganges anzunehmen, geht schon aus der vollkom¬
menen Ausbildung des Uterus nicht an, da, wie Sachs6)
richtig vervorhebt, der distale Teil des Müller sehen Ganges
bei primärem Fehlen des proximalen Teiles nicht angelegt
sein kann.
Wir müssen also auch für unseren Fall eine Ab¬
schnürung im Sinne Rokitanskys als Ursache
annehmen.
Welcher Natur die Vorgänge waren, die zur Ab sehn ü-
-rung führten, ob es sich um eine Achsendrehung oder um
peritoni tische Pseudomembranen handelte, die durch Zer¬
rung dieses Resultat zeitigten, läßt sich natürlich nur
vermutungsweise aussprechen. Wie später noch ausgeführt
wird, betrachten wir die beschriebene Anomalie unseres
Falles als im fötalen Leben entstanden. Fassen wir nun
zunächst als Ursache eine fötale Peritonitis ins Auge, die
ja zur Bildung von Strängen führen kann, welche sich
um Ovarium und Tube legen, diese Organe von der Zir¬
kulation ausschalten und schließlich ganz absetzen können,
so isl allerdings mit Hinblick auf den oben erwähnten Fäll
Brauns diese Möglichkeit für einen Fall wie den unsrigen
trolz Mangels jeglicher Adhäsionen gegeben. Ich kann mir
aber schwer vorstellen, daß eine Peritonitis mit so weil-
gehenden Folgen das abgeschnürte Ovarium derart intakt
lassen sollte, daß es so gänzlich resorbiert werden könnte.
Ich möchte also gerade für solche Fälle wie den vorlie¬
5) lieber die Abschnürung der Ovarien. Inaug.-Diss., Gießen 1896.
6j Einseitiger Mangel des Ovariums mit rudimentärer Entwicklung
der Tube bei normaler Ausbildung des Uterus. Monatsschr. f. Geb. u. Gyn.,
Februar 1911.
genden, in welchen man keine Adhäsionen u. dgl. findet
und das Ovarium völlig mangelt, eine fötale Peritonitis
als ursächliches Moment ausschließen.
Anders steht es mit der Annahme der Achsendrehung,
durch welche das Ovarium und das mittorquierte Tuben¬
stück durch Ernährungsstörung und Nekrose schließlich der
Abschnürung verfallen können. Torquierte Venen werden
naturgemäß eher undurchgängig als Arterien mit ihren stär¬
keren Wandungen; es kommt also zu Hyperämie, Entzün¬
dung der abgesperrten Organe und lebensgefährlicher Peri¬
tonitis. Wenn sich aber diese Vorgänge in einer so frühen
fötalen Periode abspielen, daß in der Wandstärke der Ar¬
terien und Venen noch keine wesentliche Differenz besteht,
so wird bei einer Drehung mit dem Abflüsse des Blutes
gleichzeitig auch der Zufluß desselben unterbrochen, so daß
es nicht zu den eben erwähnten Konsequenzen kommen
kann (Kossmann7). Erfolgt nun auf diesem Wege die
Loslösung des Ovariums und des betreffenden Tubenstückes,
so ist eine völlige Resorption der gewiß nur wenig veränder¬
ten, weichen Gebilde ohneweiteres im Bereiche der Möglich¬
keit.
Ich 'bin daher geneigt, den Defekt des Ovariums und des
lateralen Tubenteiles in unserem Falle auf die zuletzt er¬
wähn tc Art zu erklären.
Kommen wir auf diese Weise schon zu der Annahme,
daß wir es mit einem im fötalen Leben entstandenen Defekte
zu tun haben, so führt uns auch der Zustand des Tuben¬
stumpfes zu diesem Schlüsse. Daß» der mit dem Uterus
in Verbindung stehende Tubenanteil, der also in seiner Er
nährung laicht gestört war, einst weiter ausgebildet, gewesen
und nach Abtrennung des lateralen Teiles mit der Zeit vor
kümmert sein sollte, läßt sich wohl ohneweiteres von dei
Hand weisen. Dagegen begegnet die Annahme keiner
Schwierigkeiten, daß die Entwicklung der Tube auf der
jenigen Stufe stehen blieb, auf welcher der vorhanden»
Stumpf sich vorfand und daß hiefür dieselben Störungei
verantwortlich gemacht werden, welche zum Defekt des OVa
riums und des übrigen Tubenanteiles geführt haben. Dies»
Störungen können wir mit Sachs für eine Zeit annehmen
in welcher sich die beiden Müll ersehen Gänge bereit;
zum Uterus vereinigt gehabt hatten. Diese Vereinigung is
am Ende des dritten Schwangerschaftsmonats beendet. D;
ferner auch in unserem Falle die rudimentäre Tube einci
soliden Strang darstellt, wir also wohl annehmen können
daß' es in dieser Tube noch nicht zur Faltenbildung de
Schleimhaut gekommen war, so können wir ebenso wi<
Sachs, dessen Fall mit dem unsrigen weitgehende Ana
logien zeigt, als E n t s-t e hu n.g s z eit der Anomalie dei
vierten bis sechsten Schwangerschafts m o n a
ansetzen.
Zum Schlüsse sei bemerkt, daß unser Fall die An
nähme Nagels8) umwirft, daß der Mangel eines Eiei
stockes bisher n u r in V e r b i n d ung mit V e r k ü m m r
r ung des einen Müll ersehen Ganges, bei der
sogenannten Uterus unicornis, beobachtet woi
den sei, eine Annahme, welcher sich anscheinein
die meisten Autoren anschließen. In unserem
handelte cs sich — wie die Ausbildung beider Ligs
menta rotunda beweist — sicher um keinen Uteru
unicornis, also nicht um jene Verkümmerung des Mü
ler sehen Ganges, die Nagel ausdrücklich bezeichne
Es ist also nicht recht verständlich, wieso Sachs seine
Fall, in welchem ebenfalls ein völlig normaler Uterus m
beiden Ligamentis rotundis vorhanden war, als Bes tat
g u n g (der Nagel sehen Behauptung.auf fassen konnte. Alle
dings zitiert Sachs unvollständig, indem er die wichtig
Apposi tion „bei dem sogenannten Uterus uni c o
nis“ wegläßt und nur die Verkümmerung des einen Mü
1 e r sehen Ganges anführt. In unserem Fälle sowohl al
i) Mangel, Unvollkommenheit etc. der Eierstöcke. In: Marti
Die Krankheiten der Eierstöcke und Nebeneierstöcke. Leipzig
S. 182 f.
8) Veits Handbuch, I. Aufl., Bd. 1, S. 562.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
789
auch m dem von Sachs handelte es sich aber nicht um
eine Verkümmerung des einen Müll ersehen flan¬
ges in to to, was Nagel offenbar meint, sondern um
eine bloß teilweise Verkümmerung desselben. Nagels
Annahme ist also durch beide Fälle widerlegt.
Aus der deutschen chirurgischen Klinik in Prag
Selbsthaltender Operationsmundsperrer.
Von Dr. Rudolf Rubescli, Assistenten der Klinik.
Die bisher zur Verfügung stehenden Mundspiegel haben
den Nachteil, daß sie während einer Mund-, Kiefer- oder Rachen¬
operation nur schwer in der gewünschten Stellung im Munde
des Patienten ruhig festgehalten werden können. Bald gleiten sie
seitlich aus dem Munde oder zu tief in diesen hinein, setzen
unliebsame Verletzungen oder versperren das Operationsterrain.
Dald drehen sie sich um die eigene Achse oder gleiten, besonders
bei defektem oder zahnlosem Kiefer nach vorne — bekannte
Zwischenfälle, die höchst störend wirken. Sie häufen sich und
In die Platte eingesetzter Mundspiegelhalter (Mh) von Oben gesehen.
werden oft geradezu unüberwindlich beim „spannenden“ Pa¬
tienten, den bei derartigen Operationen allzu tief zu narkotisieren
oftmals das Gebot der Vorsicht verbietet, um Aspiration zu ver¬
meiden.
Ein Spiegel, der bei Operationen Ober- und Unter-
v!efer verläßlich und auch maximal weit voneinander hält,
muß am Kopfe des Patienten seine Befestigung finden, um un-
abhängig von Geschick, Aufmerksamkeit und Kraft assistierender
Hände zu sein. Diesen Bedingungen glaube ich durch Angabe
eines selbsthaltenden Operationsmundsperrers*) entsprechen zu
können, der sich uns bei einer Reihe von Operationen — Ober¬
und Unterkieferresektion, Exstirpation der Zunge mit und ohne
fonsiilenexstirpation, Exstirpation eines Zungenkarzinomrezidivs
üheigreifend auf Mundboden, Tonsillen und weichen Gaumen
vollauf bewährt hat. Der Mundsperrer besteht aus drei leicht
zusammenfügbaren Teilen, die als Ganzes wirken :
1. Einem Stirnband (S) aus Zelluloid, welches um den
Horizontalumfang, des um Stirn- und Hinterhaupt mit sterilen,
nassen Binden reichlich eingewickelten Schädels in der in der
Skizze veranschaulichten Weise angelegt wird. Das Einwickeln
des Schädels ist, abgesehen von Asepsis, notwendig, um mög¬
lichst festes Anziehen des Stirnbandes zu ermöglichen. Wenn
dieses fest sitzt, hält auch der ganze Operationsmundsperrer
unverrückt. Rückwärts, seitlich am Stirnband und an dem einen
Ende desselben ist ja ein kleiner Metallhügel angebracht. Durch
gegenseitiges Nähern dieser Bügel können die beiden Enden des
Stirnbandes übereinander verschoben werden, bis das Stirnband
am Schädel fest angezogen anliegt. Durch Festziehen einer an
einem Ende des Stirnbandes befindlichen Schraube wird das
Stirnband am Schädel fest fixiert. Seitlich am Stirnband ist je
eine horizontal abstehende Metallplatte angebracht, in welcher der
2. Mundspiegelhalter (Mh) durch einen einfachen Griff und
durch eine Schraube (Sch) befestigt wird. Der Mundspiegelhalter
besteht aus einer vertikalen Stangenschraube (St), welche durch
zwei Schrauben (Si, Sa) höher oder tiefer gestellt und fixiert
werden kann. Die Schraubenstange (St) ist vertikal an einem
horizontalen Gewinde angebracht und kann durch Drehen des
Flügels FL, bzw. FL in horizontaler Richtung nach vorn oder
rückwärts bewegt werden.
3. Zum Oeffnen des Kiefers selbst dient eine Abänderung
und Kombination der Mundspiegel nach Heister und Roser-
König. An der Basis seiner Schenkel befindet sich je eine
Bohrung, in welche das untere Ende der Stangenschraube (St)
eingefügt und durch die Schraube Ss, bzw. S< fixiert werden kann.
Der Mundspiegel kann nach rückwärts, nach vom bewegt
und um die vertikale Achse gedreht werden. Er kann so dem
Kopf- und Kieferbau angepaßt werden.
Dadurch, daß dies durch Gewinde erfolgt, kann die Ein¬
stellung ohne brüske Bewegung selbst am spannenden Patienten
ohne Schwierigkeit vor sich gehen. Durch die festgezogenen
Schrauben und dadurch, daß der Mundsperrer am Kopf selbst
fixiert ist, bleibt die dem Mundspiegel gegebene Lage selbst bei
den eingreifendsten Operationen eine sichere. Der Mundspiegel
kann jederzeit nach Wunsch eine andere Stellung bekommen
und kann durch Aufdrehen der Schraube Sa, bzw. Si rasch
entfernt werden.
Der Mundsperrer wird in der Weise angelegt, daß zunächst
das Stirnband in Verbindung mit dem Mundspiegelhalter in
einem angelegt wird. Dann wird erst der Mundspiegel selbst
hinter die Zahnreihe, bei zahnlosem Munde möglichst weit nach
rückwärts eingeführt und mit dem Ende der entsprechend der
Kopfgröße eingestellten Stangenschraube St in Verbindung ge¬
bracht. Sodann erst erfolgt durch Drehen der Mundspiegelschraube
MS das Oeffnen des Mundes.
Der Mundsperrer wird auf der der Operation entgegen¬
gesetzten Seite angelegt. Dadurch ist das Operationsterrain selbst
hei den eingreifendsten Operationen in keiner Weise gestört.
Der Mundsperrer ist für beide Seiten benützbar, man braucht
den Mundspiegelhalter nur in die Platte der anderen Seite ein¬
zusetzen, den Mundspiegel umzudrehen und seinen anderen
Schenkel in Verbindung mit der Stangenschraube (St) zu bringen.
Mundspiegelhalter und Mundspiegel sind durch Auskochen,
das Zelluloidstirnband durch Einlegen in desinfizierende Lö¬
sungen sterilisierbar. Doch verträgt auch letzteres im Notfall
ein Auskochen.
*) Zu beziehen durch das Sanitätsgeschäft M. Schaerer.
A.-G., Bern.
790
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Diskussion.
Bemerkungen zur Zuschrift des Herrn Geheim¬
rates Prof. Ehrlich
in Nr. 21 der Wiener klin. Wochenschrift.
Von Dr. Viktor Hrdliczka.
Bezüglich des ersten Abschnittes der Zuschrift des Herrn
Geheimrates Ehrlich erkläre ich, daß ich lebhaft bedaure, den
einleitenden Passus in meiner Arbeit so abgefaßt zu haben,
daß darin ein Vorwurf gegen seine Person, bzw. gegen die Gründ¬
lichkeit seines Vorgehen gefunden werden konnte.
Der Passus richtet sich ganz allein gegen die Tagesblätter.
Jeder Arzt weiß, wie suggestiv spaltenlange Berichte über
ein neues Heilmittel auf das Publikum wirken, und wie schwer
sich ein Arzt dem stürmischen Begehren des suggestionierten
Publikums entziehen kann.
In dem folgenden Abschnitt spricht nicht mehr der Experi¬
mentator, sondern der Kliniker Ehrlich.
Ich kann wohl getrost ein Urteil über die — leider nicht
immer ganz unpersönliche — Kritik Ehrlichs den Lesern meiner
Mitteilung überlassen, will aber hier noch der Hoffnung Ausdruck
geben, daß der Vorwurf der falschen Behandlung, der in der
Zuschrift Ehrlichs enthalten ist — über den ich ebenfalls
das Urteil den Lesern überlasse — nicht in die Öffentlichkeit
dringt und gerichtliche Folgen für mich hat.
Keferate.
Gegenbauers Lehrbuch der Anatomie des Menschen.
Von M. Fürb ringer.
Achte, umgearbeitete und vermehrte Auflage.
Erster Band.
Leipzig 1909, Wilhelm Engelmann.
Der erste Band des Ge gen bau er sehen Lehrbuches der
Anatomie, neu bearbeitet von Fürb ringer, bringt eine Ueber-
raschung. Das, was in früheren Auflagen nur als Einleitung
in wenigen Kapiteln über die Zelle, über die Ontogenese und
die Gewebe gesagt wurde, füllt jetzt einen 600 Seiten starken
Band. All das, was sich der Student früher mühsam in Lehr¬
büchern der allgemeinen Biologie, der Entwicklungsgeschichte
und der Histologie zusammensuchen mußte, findet er hier im
Detail behandelt, wobei doch wieder nirgends zu weit gegangen
ist. Mit Sorgfalt ausgewählte Literaturangaben, die jedem Ka¬
pitel angefügt sind, werden jedem, der an dem oder jenem spe¬
zielles Interesse findet, den richtigen Weg weisen.
Nach einer klaren Definition der hier in Betracht kom¬
menden Disziplinen, folgt ein Abriß der geschichtlichen Ent¬
wicklung der anatomischen Wissenschaft. (Hier ist übrigens ein
k leines V ersehen unterlaufen : Für b ringers Auffassung des
mittleren Aristotelischen Herzventrikels als Conus arteriosus aor-
tae findet sich schon bei Vesal.) Nun folgen nach einleitenden
Worten über die Stellung des Menschen in der1 Tierreihe und
über die Organsysteme die Kapitel aus der Zytologie. Der Bau
des Plasmas, des Kernes, der Zentrosomen, die Physik und Che¬
mie der rZelle, endlich die vitalen Erscheinungen derselben werden
in diesem Abschnitt abgehandelt. Darauf folgen die Kapitel,
welche die Ontogenese zum Inhalt haben. Morphologie und Ge¬
nese der Geschlechtszellen, Befruchtung, Furchung, Keimblätter-
bildung, Entwicklung der äußeren Körperform des menschlichen
Embryos erfahren eine eingehende Besprechung. Mit besonderer
Sorgfalt ist der nächste Abschnitt geschrieben, welcher die ein¬
zelnen Ge websarten beschreibt. Die letzten Kapitel enthalten die
Betrachtung der Organe und des Körpers als Ganzes. Hier werden
die Verteilung der Organe im Körper, die Maße und Gewichte
desselben, seine Alters- und Geschlechtsdifferenzen, sowie die
Orientierungsbegriffe der Anatomie erläutert. Ausgezeichnete Ab¬
bildungen, in reicher Zahl — fast 300 — dem Texte beigegeben,
erleichtern das Verständnis des interessant geschriebenen Buches
in hohem Maße.
*
Das Wachstum des Menschen nach Alter, Geschlecht
und Rasse.
Von S. Weißenberg.
Stuttgart 1911, Strecker & Schröder.
Der Autor bemerkt in der Einleitung seines Buches ganz
mit Recht, daß trotz der relativ großen Anzahl von Messungen,
welche sich auf das Wachstum des Menschen beziehen, eine auf alle
Perioden des menschlichen Wachstums sich erstreckende, lücken¬
lose Untersuchung bis zum heutigen Tage fehlt. Diesem Mangel
wird zweifellos durch das vorliegende Buch Weißenbergs ab¬
geholfen. Seine Untersuchungen erstrecken sich auf das intra¬
uterine Leben, umfassen dann die Körperproportionen des Neu¬
geborenen, des wachsenden Individuums, in jedem einzelnen Jahre
bis zum 20. und von hier an in jedem Quinquennium, resp. De¬
zennium bis zum 70. Lebensjahre. Hiebei wurde das metrische
Maß als Ausdruck der Körperhöhe, der Sitzhöhe, der Klafterbreite,
der Extremitätenlänge usw. benützt. Außer diesen absoluten
Maßen gibt Verfasser auch die relativen Maße der einzelnen
Längen, resp. Breiten zueinander. Die folgenden Kapitel beschäf¬
tigen sich mit den Beziehungen des Geschlechtes und des Wachs¬
tums, der Rasse und des Wachstums, ein eigenes Kapitel ist den
äußeren Einflüssen auf das Wachstum gewidmet. Wenn auch viele
Resultate der niedergelegten Untersuchungen teils durch ander¬
weitige Messungen, teils durch Beobachtungen sozusagen dem
wissenschaftlichen Bewußtsein des Apatomen schon früher ein-
verleibt worden waren, so bekommen sie dennoch erst durch die
exakten Messungen Weißenbergs einen präzisen Ausdruck
Die ganze Anlage des Buches ist eine übersichtliche, die Dar¬
stellung von willkommener Knappheit. Das Buch selbst bedeutet
eine unzweifelhafte Bereicherung der anatomischen Literatur für
den Anatomen, den Arzt und den Künstler.
*
Handbuch der Anatomie und Mechanik der Gelenke unter
Berücksichtigung der bewegenden Muskeln.
Von Rudolf Fink.
Zweiter Teil:
Allgemeine Gelenk- und Muskelmeclianik.
Dritter Teil:
Spezielle Gelenk- und Muskelmeclianik.
Jena 1910 und 1911, Gustav Fischer.
Der zweite Teil der Anatomie und Mechanik der Gelenke
von R. Fick beschäftigt sich mit der Kinematik der Knochen
Bewegungen, d. h. mit der Geometrie derselben. Im Vorworte be¬
merkt Fick, daß er sich hauptsächlich bemüht habe, die schwer
verständlichen Probleme dein nur humanistisch vorgebildeten Me¬
diziner durch eine möglichst breite gemeinverständliche Darstel¬
lung mundgerecht zu machen. Dieses Versprechen hat der Autor
auch in vollem Maße erfüllt.
Verfasser bespricht zunächst die geometrische Entstehung
der Gelenksflächen, sodann die Faktoren, welche den Zusammen¬
halt der Gelenksflächen bedingen. Besonders eingehend werden
die Bewegungen im allgemeinen und die Bewegungen in den ein¬
zelnen Gelenksformen besprochen. Zunächst erläutert der Autor
die Bewegungen der Gelenksflächen, ferner di© Bewegungen der
(einzelnen Körperteile gegeneinander und endlich die Achsen¬
vereinigung und -Zerlegung. Das fünfte Kapitel, das die Bewe¬
gungen in den einzelnen Gelenken bohaindelt, zerfällt in Ab¬
schnitte, welche die Bewegungen in Haften, in echten Schleif¬
gelenken und in Ei- und in Sattelgelenken, die Bewegungen in
Gelenksketten, besondere G elo nksmechanistmen — Gesperrt; (.an
den Fischflossen, an den Sehnen und Sehnenscheiden von Vö¬
geln, Fledermäusen und kletternden Säugern) und Schnappgelenke
(z. B. Ellbogen- und Sprunggelenk des Pferdes) — und endlich
den Bewegungsumfang zum Inhalt haben. Nach kürzeren Be¬
trachtungen über Bänderwirkung und die Schaltscheiben, sowie
nach einigen vergleichend anatomischen Bemerkungen wendet
sich Fick der Einteilung der Knochen Verbindungen zu. Er unter¬
scheidet straffe und ausgiebig bewegliche Gelenke. Die letzteren
zerfallen in Rollgelenke, Schleifgelenke und Mischgelenke, von
denen aber die ©rsteren bei den organischen Gelenken über¬
haupt nicht Vorkommen, während die dritte Art nur auf das
Kiefer- und Kniegelenk beschränkt ist. Die zweite Art zerfällt
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
wieder in Gelenke mit einem, zwei und, drei Graden der Bewegungs¬
freiheit, d. h. in ein-, zwei- und dreiachsige1 Gelenke. Der Be¬
sprechung der allgemeinen Muskelmechanik geht noch ein Kapitel
flüb&r die Untersuchungsmethoden der Gelenksbewegungen voraus.
Das letzte Kapitel selbst bringt die Besprechung der Muskel¬
resultante, der möglichen Arbeitsleistung eines Muskels und der
Gelenkswirkung der Muskelresultante. Dem Werke sind 350 Ab¬
bildungen beigegeben.
Im dritten Bande dieses Handbuches beschäftigt sich
Fick mit der speziellen Gelenks- und Muskelmechanik. Fick geht
hiebei die einzelnen Gelenke durch und bespricht bei jedem
zunächst außerordentlich detailliert die möglichen Arten der Be¬
wegung. Fa gibt dann bei jeder Gelenks Verbindung eine kurze
Uebersicht über ihre Mechanik, wendet sich dann zu den be¬
wegenden Muskeln und gibt zum Schlüsse eines jeden Kapitels eine
Reihe praktischer Bemerkungen, welche die Wichtigkeit der ana¬
tomischen Kenntnis für den Praktiker einleuchtend illustrieren.
Verfasser beginnt mit der Besprechung das Kiefergelenkes, wendet
sich sodann der Mechanik der Wirbelsäule zu. Dieses Kapitel,
sowie jenes über die Mechanik des Brustkorbes erfuhren eine
besonders eingehende Bearbeitung. Bei der Besprechung der be¬
wegenden Kräfte des Brustkorbes wird auch die alte Streitfrage
nach der Funktion der Interkostahnuskeln nochmals eingehend
behandelt. Fick hält nach seinen Versuchen an der respira¬
torischen V irksamkeit dieser Muskelgruppen fest. Das nächste
Kapitel beschäftigt sich mit den Bewegungsmöglichkeiten des
Schultergürtels, woran die Besprechung der einzelnen Gelenke
der freien Extremität angeschlossen wird. Ein eigenes Kapitel
ist der Beweglichkeit der oberen Extremität als Gelenkskette ge¬
widmet.
Die nächsten Kapitel haben die Mechanik des Becken¬
gürtels, sowie die der Gelenke der unteren Extremität zum In¬
halt. Hier dürften besonders die Kapitel über die Mechanik des
Beckens, sowie jenes über die Mechanik des Fußgewölbes den
Praktiker interessieren.
Dem Bande sind außer zahlreichen Textfiguren (248) noch
Iß Tafeln beigegeben, von denen sieben photographische Rönt¬
gentafeln sind. Gerade diese letzteren sind aufs freudigste zu be¬
grüßen, da sie nach ausgezeichneten Röntgenogrammen hergesbellt
sind und als Kopien solcher Aufnahmen, wie auch Fick im,
Vorwort erwähnt, alle Details besser wiedergeben, als dies durch
irgendein anderes Reproduktionsverfahren erreicht wird.
Durch das vorliegende Handbuch der Gelenkslehre hat dieser
Wissenszweig selbst nicht nur eine große Bereicherung, sondern
auch eine vollständige Umarbeitung erfahren. Wenn man sich
auch der Einsicht nicht verschließen kann, daß diese drei mäch¬
tigen Bände nur für Spezialisten und Fachgelehrte geschrieben
sind, so werden doch auch Ferner'stehende und vor allem die
Praktiker entsprechend der klaren Anordnung der Materie sich
sicher gerne und mit Nutzen daraus Rat holen.
T a n d 1 e r.
*
Geschichte und Beschreibung des Baues der neuen
Frauenkliniken in Wien.
Von weiland R. Chrobak und F. Schanta.
Mit 26 Textabbildungen.
80 Seiten.
Wien 1911, Urban & Schwarzenberg.
Als im Jahre 1908 die neuen Frauenkliniken ihrer Fertig¬
stellung entgegengingen, beschlossen die damaligen Vorstände, im
Verein mit dem Leiter der Baukanzlei eine Denkschrift über die
Anstalten, die in ihrer Art die größten der Welt darstellen, zu ver¬
fassen. Der von der Baukanzlei des Allgemeinen Krankenhauses zu
liefernde Beitrag, der den technischen Teil behandeln sollte, ist
unterdessen noch immer nicht fertiggestellt worden; nunmehr ent¬
schloß sich Schauta, die von ihm und Chrobak schon im
September 1908 druckfertig vorgelegten Abschnitte zu publizieren.
Wie Schauta in pietätvollen Worten betont, stellt Chro-
b a k s Beitrag die letzte, posthume Publikation des dahingeschiedenen
Gelehrten dar. Sie behandelt in der für Chrobak charakteristi¬
schen Gründlichkeit die Geschichte des Allgemeinen Krankenhauses
und die Vorgeschichte des neuen klinischen Spitales auf den Grün¬
den der Landesirrenanstalt ; in einem zweiten Abschnitte die Vor¬
geschichte der beiden neuen Frauenkliniken.
Die Zeitdauer des Leidensweges, welchen die Wiener Kliniker
bis zur Lösung der Krankenhausfrage zu durchwandeln hatten, das
großenteils ablehnende Verhalten der in Betracht kommenden Be¬
hörden, die zahlreichen wieder fallengelassenen Pläne — all dies
dürfte wohl kein Ehrenblatt in der österreichischen Geschichte
Hillen, für den Historiker aber einen wichtigen Behelf zur Illustration
der österreichischen Rückständigkeit darstellen.
Dei von Schauta verfaßte Abschnitt gibt eine ungemein
anschaulich geschriebene, durch gute Reproduktionen erläuterte Be¬
schreibung seiner Klinik, welche ebenso wie die Schwesterklinik
dank der mühevollen, jahrelangen Arbeit Ghrobaks und
Schautas, in Größe und Anlage ihresgleichen auf der Erde
nicht hat.
*
Die junge Frau. Betrachtungen und Gedanken über
Schwangerschaft, Geburt und .Wochenbett.
Von Dr. Wilhelm Hnber, Leipzig.
207 Seiten, Kleinoktav.
Leipzig 1910, Weber.
Abgesehen von der ebenso wie in ähnlichen populär-wissen¬
schaftlichen Büchern stellenweise beliebten blumenreichen Ausdrucks¬
weise und einem nicht ganz unbeträchtlichen Zuviel bezüglich der
Verhaltungsmaßregeln für schwangere Frauen, muß das Buch als
ein ernst und gut geschriebener und ernst zu nehmender Ratgeber
ftii angehende Mütter bezeichnet und als solcher empfohlen werden.
*
Festschrift zur Jahrhundertfeier des Trierschen Insti¬
tutes (Universitäts-Frauenklinik in Leipzig) am 29. Ok¬
tober 1910.
Von P. Zweifel und seinen Assistenten.
Hervorgegangen aus einer Stiftung des wohltätigen Leipzigers
Trier und seiner Gattin und 1892 in das neue, allen Anforde-
l ungen entsprechende Gebäude übersiedelt, feiert die ruhmreiche
Leipziger Frauenklinik ihren 100jährigen Bestand, während dieses
Zeitraumes nur von drei Leitern: Jörg, Credo und Zweifel
geführt. Daß ein so festlicher Tag zu Reflexionen Anlaß gibt, ist
klar und auch wir lesen mit Teilnahme von dem Wirken ver¬
gangener Generationen und freuen uns über das Blühen der
Zwei fei sehen Schule, welche eine Reihe von führenden Geistern :
D ö d e r 1 e i n, Menge, K r ö n i g, F U t h, Zangemeister u. a.
die ihren nennt.
Zur Feier des Tages beschert uns Zweifel einen kritischen
Bericht über die wichtigsten gynäkologischen Operationen der letzten
23 Jahre — eine stolze Reihe von mehr als 4000 ! Von großem
Werte sind seine Aeußerungen über den verschärften Wundschutz,
über die Verhütung des Ileus, über die Lungenembolien (Infektion
und Beckenhochlagerung gelten als Anlaß !), über Ovario- und
Salpingotomien, über die Tuberkulose des Genitaltraktes, über
Myome, über die modifizierte Karzinomoperation mit Extraperitoni¬
sierung vom Abdomen aus, über Lageveränderung und Operationen
bei Komplikationen der Schwangerschaft etc. — Liechtenstein
gibt eine Kritik von 64 vaginalen Ovariotomien ohne Todesfall.
Aul horn berichtet Uber die Dauererfolge der abdominellen Total¬
exstirpation bei Carcinoma uteri, die an der Zwei fei sehen Klinik
eine absolute Dauerheilung von 25% ergibt — die höchste Leistung,
die bisher erzielt wurde. — Untersuchungen über das Eindringen
von Badewasser in die Scheide haben Schweitzer bewiesen,
daß das Vollbad bei Kreißenden und Schwangeren zu umgehen ist.
*
Die Behandlung der Frauenkrankheiten.
Für die Praxis dargestellt von J. Veit, Halle.
Mit 39 zum Teil farbigen Abbildungen.
244 Seiten.
Berlin 1911, Karger.
Vor allem sei von Veits neuestem Werk gesagt, daß es in
erster Linie für den spezialistisch ausgebildeten Gynäkologen
bestimmt ist und nicht nur die sogenannte kleine Gynäkologie be¬
handelt. Nach Veits eigenen Worten bietet er uns eine Fixierung
des heutigen Standpunktes.
792
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 22
Wie notwendig wir derartige Bücher brauchen, wie schwer
wir sie vielfach vermissen, weiß jeder Gynäkologe und jeder prak¬
tische Arzt. Wir sind ja fast alle noch in der Zeit der von Veit
nicht ohne Ironie geschilderten »unendlichen« Sprechstunde des
Frauenarztes, die den Beweis für seine Tüchtigkeit abgab, heran¬
gewachsen. Pinselungen, Tampons, Behandlung der Portio, Pessarien,
Badereisen — das alles ist für die Gynäkologie von heule nicht
im entferntesten mehr von der Bedeutung wie lrüher. Wir alle be¬
streben uns, gleich Veit, »die Sexualleiden und deren Folgen
möglichst objektiv festzustellen und möglichst nur das zu behandeln,
was objektiv an ihnen verändert ist«. Bei der Beschränktheit der
Mittel nun, die uns außer einem operativen Eingriff zur Verfügung
stehen, begrüßen wir freudig jede neue Darstellung der gynäkologi¬
schen Behandlungsweise, zumal wenn der Autor einen klangvollen
Namen führt.
Erfreulicherweise ist V e i t s Buch — ein wenig in diesem
Punkte an Fritsch erinnernd re- subjektiv und anscheinend in
einem Zuge flott niedergeschrieben. Wir hören immer nur bestimmte
Ratschläge für eine bestimmte Situation und wissen so ohneweiters,
welche Methoden Veit befriedigen. Auch Veit gibt offen zu, daß
die Therapie noch Lücken aufweist; am empfindlichsten fühlt dies,
der Frauenarzt bei der Behandlung der Endometritis chronica. Wir
lesen ferner mit großem Interesse die Schilderung einzelner Ope¬
rationen und entnehmen derselben wertvolle Winke. Die beigegebenen
Illustrationen sind gut geraten.
Kein spezialistisch ausgebildeler Frauenarzt sollte versäumen,
Veits Buch zu lesen. Er wird darin eine Fülle von Belehrung
und Anregung finden, die ihm eine langjährige, stets mit dem Fort¬
schritt gehende, aber dabei doch kühl abwägende Erfahrung bietet.
K e i 1 1 e r.
*
Die Behandlung der Nasenbrüche und der Mißbildungen
der Nasenscheidewand.
Von Dr. Claude und Dr. Francisqne Martin in Lyon.
Uebcrsetzt von M. Carow.
Berlin 1911, J. Springer.
32 Seiten.
Nach einer historischen Einleitung erörtern die Verfasser
ihre Behandlungsweise. Sie besteht darin, daß eine besonders
geformte Zange nach ausgeführter Bellocscher Tamponade in
die Nasenlöcher eingeführt und durch Schließen gespreizt wird.
Dadurch soll die untere Fläche der Nasenbeine gehoben werden.
Die linke Hand prüft durch Betasten von außen den Erfolg.
Ist das geschehen, wird die Nasensdheddewand mit einer anderen
Zange gefaßt, durch schaukelnde Bewegungen aus ihrer: Verbin¬
dung gelöst und in die Mitte gebracht. Alle widerstrebenden Teile
müssen eingebrochen oder in so viele Stücke zerbrochen werden,
daß eine gute Reposition möglich ist. Das vollständig beweglich
gemachte Nasengerüste soll nun durch besondere, recht kom¬
pliziert gebaute Prothesen, die zwei Flügel tragen, in aufgerichteter
Stellung erhalten werden.
Bei alten Nasenbeinbrüchen verwenden die Autoren eine
Sequesterzange, die sie dann nicht auf die Haut wirken lassen,
sondern unter die Haut einführten und auf den Knochen wirken
lassen. Damit die in das Nasenloch eingeführte Branche die
Schleimhaut nicht verletze, wird sie mit einem Kautschukschlauch
überzogen.
Die Prothesen, die die Retention erhalten sollen, bestehen
aus zwei wagrechten Platten, von denen je ein Flügel mittels
Schlüssels und Schraubengetriebes abgespreizt werden kann.
Dieser Apparat findet seinen Stützpunkt auf dem Boden der
Nasenhöhle. Der Apparat soll ungefähr vier Wochen getragen
werden. Während dieser Zeit wird er mitunter herausgenommen
und gereinigt.
Die Verfasser rühmen ihre Erfolge, fanden aber nötig, für
besondere Fälle Aenderungen an den Retentionsapparaten vor¬
zunehmen, die auch ausführlich und durch Zeichnungen er¬
läutert werden. Dennoch wird man auf Grund dieser Beschrei¬
bungen nicht in den Stand gesetzt, die Apparate nachzumachen,
weil die Bilder nicht klar genug sind. Ist außer dem Nasenbeine
auch der Oberkiefer gebrochen, dann wird dem Retentionsapparate
die nun fehlende Stütze dadurch verschafft, daß um die Nase
ein lyraförmig gebogenes Metallband angelegt und dieses mittels
11 ar tg u mi n is c bienen nach Art der Schienen der Fechtmasken, am
Kopfe befestigt wird.
In einem besonderen Kapitel wird die Behandlung der Mi߬
bildungen der Nasenscheidewand besprochen. Das verbogene
Septum wird zerbrochen und die Bruchstücke werden in die
Mittellinie eingerichtet, die Fraktur durch besondere Retentions¬
apparate, die den oben beschriebenen ähnlich sind, behandelt.
Der Chirurg, der weiß, wie schwer insbesondere kleine Ver¬
schiebungen gebrochener Knochen zu völliger Korrektur zu brin¬
gen sind, welcher Kraftaufwand dazu gehört, eine derart genaue
I laltung zu erhalten, wird lebhafte Bedenken gegen die Wirksamkeit
des Verfahrens nicht unterdrücken können. Der komplizierte Bau
der Retentionsapparate erschwert die Anwendung des Verfahrens
weiterhin, so daß es wohl kaum viele Nachahmer finden wird.
E w a 1 d.
Aus \/erse hie denen Zeitschriften.
538. Heber experimentelle Iris- und Chor io ideal
tuberkulöse der Kaninchen. Von Prof. Dr. A. Schieck,
Oberarzt der Universitätsaugenklinik in Göttingen. Im Institut
für Infektionskrankheiten in Berlin (Prof. Gaffky) hat Ver
fasser 13 Versuchsserien zu sechs bis zehn Kaninchen angestellt,
deren Resultate er mit folgenden Worten mitteilt: 1. Bei Ver¬
impfung in die Vorderkammer besteht eine weitgehende Diffe¬
renz, je nachdem, ob der Typus humanus oder der 1. ypus
bovinus der Tuberkelbazillen zur Anwendung gelangt, insofern
der menschliche Tuberkelbazillus Knoten erzeugt, die nur geringe
Tendenz zur Verkäsung, dafür aber große Neigung zur Spontan¬
heilung besitzen. Demgegenüber gingen alle mit noch so geringen
Dosen boviner Stämme geimpften Augen an totaler Verkäsung
und Destruktion zugrunde. 2. Wurden die Bazillen in die Blut-
balm (Ohrvene oder Karotis) verimpft, so gelang es nie, sie zu
einer wirklich virulenten Haftung im Augeninnern zu bringen.
Wohl traten kleine Herde in der Iris und Aderhaut, auf, aber
weder der humane noch der bovine Typus vermochte progre¬
diente Prozesse zu erzeugen. Alle so hervorgerufenen Formen
der Augen tuberkulöse ließen unverkennbare Neigung zur Spontan¬
heilung erkennen, obwohl die Tiere der Tuberkulose der inneren
Organe erlagen. 3. Die Entwicklung der Tuberkulose auf einem
Auge übt einen deutlichen schützenden oder wenigstens mil¬
dernden Einfluß auf den Ausbruch und den Verlauf der Tuber¬
kulose am zweiten Auge aus, wenn die gewählt© Impfdosis in
die Vorderkammer nicht zu groß ist. 4. Es ließ sich nicht der
geringste Anhaltspunkt dafür finden, daß der Gehalt des Serums
oder des Kammerwassers an tuberkulösen Antikörpern in einer
Parallele mit den Heilungsvorgängen steht. Auch konnten die
Antikörper trotz schwerster Iris tuberkulöse keineswegs regelmäßig
im Kammerwasser angetroffen werden. Ebensowenig ließ sich
mit Sicherheit erkennen, daß der Antikörper in der vorderen
Kammer, resp. in dem vorderen Bulbusabschnitt gebildet wird.
Die Prüfung auf Antikörpergehalt geschah mit der Methode der
Komplemeritbildung. 5. Bei durch intravenöse Injektion von ab
getöteten Bazillen und von „sensibilisierter Tuberkelbazillenenuil
sion Höchst“ (S.-B.-E.) hoch immunisierten Tieren ließ sich
der im Serum in großen Mengen vorhandene tuberkulöse Anti
körper bei gesunden Augen im stehenden Kammerwasser niemals
dagegen regelmäßig im neu sezernierten nachweisen. Bei, der
in die Vorderkammer tuberkulös infizierten Augen dieser Heu
war der Antikörper dagegen auch im stehenden Kammerwasset
zu finden. G. Weder mit Emulsionen abgetöteter Bazillen nocl
mit S.-B.-E. gelang es, die Tiere so zu immunisieren, daß eine
Infektion der Iris mit Typus bovinus von der Vorderkanrmet
her ausgeblieben wäre, auch wenn kleine Dosen zur Verunpfunt
kamen. — (Deutsche medizin. Wochenschrift 1911, Nr. IG-
539. Die Doppelreaktion bei der Kuhpocken
impfung. Von Prof. C. v. Pirquet in Breslau. Yerf- be
spricht zunächst die Erfahrungen bei der Serumkrankheit, die ei
hältnisse nach der Iteinjektion u. zw. bei kurzem Interva <
die „sofortige“, bei langem Intervalle die „beschleunigte Ron'
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
793
lion; weitere eine dritte Kategorie von Fällen, welche beide
Reaktionen nacheinander zeigen, Fälle von Doppelreaktion. Bei
der Kuhpockenimpfung kommt nun ein Faktor hinzu, der die
Vorgänge auf den ersten Blick sehr kompliziert erscheinen läßt,
die Entwicklung des vakzinalen Keimes in der Haut, die von
den Reaktionen zwischen fremdem Eiweiß und Antikörper, der
Bildung von Apotoxin aus Allergen und Ergin, getrennt werden
muß. Knöpf elmacher hat bekanntlich gezeigt, daß bei In¬
jektion abgetöteter, erhitzter Kuhpockenlymphe in der Haut von
Personen, welche früher vakziniert wurden, subkutane Reaktionen
auftreten. Sie erinnern einerseits an das „spezifische Öedem“
bei der Reinjektion mit artfremden .Serum, andrerseits an die
Stichreaktion bei der subkutanem Injektion von Tuberkulin
bei dem Tuberkulösen. Klinisch läßt sich jedoch die vak-
zinalo Stichreaktion von den beiden anderen bei einiger Uebung
unterscheiden. Sie zeigt nicht die urtikarielle Hautbeschaffenheit
und den lebhaften Juckreiz des spezifischen Serumödems, auch
nicht das dunkle Kolorit und den Druckschmerz der subkutanen
Tuberkulinreaktion. Sie zeichnet sich durch eine lebhafte, ins
Gelbliche spielende Rötung und vollkommene Schmerzlosigkeit
aus. Auch diese Stichreaktion mit abgetöteter Lymphe braucht
nicht immer innerhalb 24 Stunden aufzutreten, sondern kann
als „beschleunigte Reaktion“ eine Inkubationszeit von mehreren
Tagen aufweisen, Verf. führt einige Versuche an. Wenn man mit
frischer Kuhpockenlymphe die kutane Impfung ausführt, so kann
die Lymphe 'beim früher Vakzinierten entweder eine sofortige
apotoxiische Reaktion ergeben, oder es kann auch keine Frill i-
reaktion zustande kommen, sondern eine „beschleunigte Reak¬
tion“, bei welcher der Vakzineerreger eine Koloniebildung in der
Haut wie bei einer Erstvakzination verursacht und dann unter
Areaformation „beschleunigt“ zum Absterben gebracht wird. Es
gibt aber auch Fälle, wo, in Analogie zur Doppelreaktion beim
Serum, nach der Revakzination sofortige und beschleunigte Re¬
aktion sukzessive in Erscheinung treten. Verf. bringt auch dafür
Beispiele. In weiteren Versuchen wurde sowohl die Erstimpfung
mit ihrer normalzeitigen Reaktion, als auch die Doppelreaktion,
112 Tage nach der Erstimpfung, beobachtet. Es ist auffallend,
daß schon so kurze Zeit nach der Erstimpfung wieder Kolonien¬
bildung an deir Impfstelle erschien und der Verfasser möchte die
Ursache dieses Mangels an Immunität auf die gleichzeitige In¬
jektion der unveränderten Lymphe beziehen. Verf. vermutet,
daß diese den Organismus von Erginen soweit beraubt hat, daß
eine Abtötung aller Keime nicht mehr erreicht wurde. Aus diesen
Versuchen zieht Verfasser folgende Schlüsse: 1. Wie bei der
Serumkrankheit lassen sich auch bei der Kuhpockenimpfung als
verschiedene Formen der zeitlichen Allergie eine sofortige und eine
beschleunigte Reaktion unterscheiden. 2. Die beschleunigte Re¬
aktion wird sowohl nach der kutanen Einimpfung von virulenter
Lymphe, als auch nach subkutaner Injektion von abgetöteter
Lymphe beobachtet. 3. Wie bei der Serumkrankbeit findet sich
ferner auch bei der Kuhpockenimpfling die „Doppelreaktion“,
d. h. das sukzessive Auftreten von sofortiger und beschleunigter
Reaktion. — (Münchener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 18.)
G.
*
540. Die Therapie der Rachitis. Von Privatdozent
Hr. Paul Sittleir, Colmairf i. E. In der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle entsteht die Rachitis durch Ueberfütterung, wenn auch
über die Art und Weise der Ueberfütterung nicht genügende Klar¬
heit besteht, so d aß der behandelnde Arzt in jedem speziellen
Falle anamnestisch die Art der Ueberfütterung erst feststellen
muß, um sich die Therapie zurechtzulegen. Verf. ist allerdings
der Ueberzeugung, daß speziell die Ueberfütterung mit Mehlen
zur Rachitis führt, nicht so sehr die alleinige Milchüberfütterung
welche eher zu einem Milchnjährschaden oder bei gegebener Dis¬
position zur iSpasmophilie führen kann, als zum Auftreten rachi¬
tischer Veränderungen Veranlassung gibt. Andere Autoren sehen
endlich in jeglicher Art der Unterernährung die Ursache der Ra¬
chitis. Tatsache ist, daß man in Fällen beginnender Rachitis
durch bloße Regulierung der Ernährung, speziell durch möglichste
Herabsetzung der Mehlzufuhr eventuell auch der Rohzuckerdar¬
reichung, therapeutisch das Auslaugen findet, ferner, daß die Mutter¬
brust das beste Prophylaktikum und Therapeutikum gegenüber
der Rachitis darstellt. Neben der genannten Ernähr ungstherapie
haben hygienische und klimatische Heilfaktoreu durch Neu¬
mann volle Existenzberechtigung bei der Behandlung der Ra¬
chitis erhalten und dürfen heute nicht mehr vernachlässigt werden,
(Seebäder, Seeaufenthalt, Sol-Salzbäder im Hause, Uochgebirgs-
au tenth alt usw.). In schwereren Fällen kann man allerdings der
medikamentösen Mittel nicht entraten. Unbestritten in dieser Hin¬
sicht das wichtigste Medikament der Phosphorlebertran ; bemerkt
wurden, daß die Menge von 0-001 g Phosphor pro die1 nicht über¬
schritten werden soll, da diese Dosis ohnehin schon dem Drittel
der Tagesdosis für den Erwachsenen gledchkommt ; immerhin ver¬
trägt der jugendliche Organismus offenkundig den Phosphor im
Phosphorlebertran weit besser als der Körper des Erwachsenen.
Der Phosphor soll nicht ohne Not in anderer öliger Substanz
verabreicht werden, da sicherlich auch der Lebertran an und für
sich schon eine günstige Wirkung auf den Organismus auszuüben
vermag. Organische Phosphorpräparate haben den Phosphorleber-
tran bisher nicht zu verdrängen vermjocht. Ein gewisser thera¬
peutischer Wert ist dem Lezithin und seinen Derivaten, aber nur
bei gleichzeitiger Nukleindarredchung, zuzusprechen, ebenso dem
Adrenalin, doch leistet die Behandlung mit Phosphorlebertran
ebensoviel. Jene Präparate können ebenso wie die Eisentherapie
im Sommer vorübergehend den Phosphorlebertran vertreten, im
übrigen sind auch im Sommer die Schwierigkeiten der Lebertran-
darreichung keineswegs sehr groß. Im Kalzium ist kein Spezifi¬
kum gegen Rachitis zu sehen, da die ausschließliche Kalktherapie
der Rachitis völlig erfolglos bleibt (Stöltzner). Indes ist nichts
einzuwenden gegen den Versuch, bei einer schon in Heilung be¬
griffenen Rachitis außer den oben genannten indizierten Heil¬
mitteln noch Kalk zu geben, um den Körper über einen aus¬
reichenden Kalziumüberschuß verfügen zu lassen. Am besten
eignet sich 'hiezu der essigsaure Kalkf (bis 0-2 pro die). Bei gleich¬
zeitiger Späsmophilie ist wieder in erster Linie der Phosphor¬
lebertran (nicht Phosphoremulsion oder andere ölige Lösung)
am wirksamsten, wogegen in diätetischer Hinsicht zunächst die
spasmophilen Zustände als akutere, das Leben direkt gefährdende
Symptome vor der Rachitis Berücksichtigung verdienen und eine
Lei Rachitis sonst kontraindizierte, reine Mehl- Wasserdiät ein¬
gehalten werden muß, aut welche die ausgesprochene Spasmophilic
prompt reagiert. Mit dem Abklingen der spasmophilen Symptome
wird dann die Diät allmählich in die für Rachitis indizierte über¬
geführt. — (Fortschritte der Medizin 1911, 29. Jahrg., Nr. 9.)
K. S.
*
541. (Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Uni¬
versität Königsberg i. P. — Direktor: Prof. E. Meyer.) Die
amnestische und zentrale Aphasie (Leitungsapha-
sie.) Von Kurt Goldstein. Bei einem 54jährigen Manne ent¬
wickelte sich allmählich ein Krankheitsbild, welches — ab¬
gesehen von Kopfschmerzen, Klopfempfindlichkeit des Schä¬
dels in der linken Schläfengegend, zunehmender Benommenheit,
hauptsächlich aphasische Störungen zeigte und zwar eine amne¬
stische Aphasie, zu der sich später Störungen von seiten des
zentralen Sprachieldes und in geringerem Grade auch des ße-
griffsfeldes hinzugesellten. Die. auf Grund der angegebenen Sym¬
ptome und verschiedener Nebenumstände gestellte Diagnose auf
Tumor des linken Schläfelappens wurde durch die Obduktion
bestätigt. Es handelte sich um einen karzinomatösen Tumor,
der Mark und Rinde des mittleren linken Schläfelappens ergriffen
und zu Volumsvergrößerung und Druck erscheinungen in der
ganzen linken Hemisphäre geführt hatte. Auf Grund der genauen
Analyse des Falles erklärt G ol ds tein die anamnestisohe Aphasie
für eine klinisch scharf umschriebene Aphasiefor'm, entstanden
durch gleichzeitige Läsion des Sprach- und Begriffsfeldes, wo¬
durch für die verschiedenen Funktionen des Wiedererkennens
und der Wortfindung eine sehr verschiedene Störung bedingt
wird, woraus die Symptomatologie der amnestischen Aphasie
resultiert. Letztere kommt entweder durch feinste und diffuse
oder durch herdförmige Läsionen zustande, wofern diese ge¬
eignet sind, gleichzeitig eine diffuse Schädigung weiterer Ge¬
biete zu bewirken. — (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank¬
heiten, Bd. 48, H. 1.) S.
♦
794
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 2ä
542. (Aus der chirurgischen Abteilung des St. Joseph-Hospi¬
tals in Wiesbaden.) Ueber den Bauchdeckenschnitt hei
Blindarmoperationen. Von San.- Rat Dr. Hackenbruch.
Verf. empfiehlt, zur Ausführung der Appendektomie den kör¬
perqueren Bauchschnitt (beginnend von einer körperqueren
Eröffnung der vorderen rechten Rektusscheibe) zu verwenden,
weil ein solcher Schnitt die Aponeurosen möglichst in deren
Längsrichtung trennt, viel weniger lädiert als ein Körperlängs¬
schnitt und später viel leichter und ohne Spannung wieder ver¬
einigt werden kann. Da. ferner die Nerven in besagter Gegend
auch quer verlaufen, so wird man beim Einschnitt deren Ver¬
letzung mit ziemlicher Sicherheit vermeiden können. Zudem wird
die durch den queren Hautschnitt erzielte Narbe viel weniger
sichtbar und bleibt für die Dauer strichförmig, Eigentümlich¬
keiten, die der Körperlängsnarbe in solchen Fällen stets zu fehlen
scheinen, ln dieser Weise hat Verf. bereits 80 Appendektomien
ausgeführt. Eine ähnliche Schnittführung scheinen auch andere
Chirurgen (Wertheim in Warschau, Krajewski und Ger-
suny) in Gebrauch zu haben. — (Deutsche medizinische Wochen¬
schrift 1911, Nr. 16.) E. F.
*
543. v (Aus der chirürg. Klinik in Basel — früher Professor
Dr. Wilms.) Experimentelle Untersuchungen zur
Frage der Fettembolie mit spezieller Berücksich¬
tigung prophylaktischer und therapeutischer
Vorschläge. Von Dr. Ernst Frits che. Verf. gelang es auf
experimentellem Wege den Beweis zu erbringen, daß die Fett¬
embolie, welche sowohl nach Verletzungen am Knochen (Frakturen-
und Quetschungen), als auch nach Operationen (Osteotomie, Re¬
dressement) beobachtet wurde, auf zweierlei Wegen, sowohl durch
die Venen als auch durch die Lymphwege Zustandekommen kann.
Bei blutigen Verletzungen konnte die Unterbindung des Ductus
thoracicus die Fettembolie nicht verhindern, sie mußte also auf
dem Wege der Blutbahn erfolgen, hingegen verhindert die Unter¬
bindung des Duktus bei Erschütterung des Knochens durch Be¬
klopfen die Fettembolie auch bei nicht unterbundenen Venen; ein
Beweis, daß hier das Fett durch den Ductus thoracicus dem Blute
zugeführt wird. Dementsprechend würde sich eine wirksame Prophy¬
laxe nur auf die letzteren Fälle beziehen. Beim Menschen liegen
die Fälle aber nicht so einfach wie im Tierexperiment. Die meisten
Frakturen verlaufen auch gleichzeitig mit Erschütterung des Knochen¬
systems. Immerhin kann angenommen werden, daß im Beginne
der Erscheinungen die Drainage des Duktus die Fettembolie ver¬
hindern wird, die Schwierigkeit besteht nur im frühzeitigen Er¬
kennen der Symptome. Wie der Fall, den Wilms operierte, be¬
weist, ist die Operation nicht gefährlich, da der Ausfluß der Lymphe
nach vier Tagen von selbst aufhörte. Die Technik ist einfach ; der
Duktus wird bloßgelegt und vor der Eröffnung desselben eine
Fadenschlinge peripherwärts um denselben umgelegt. Dann wird der
Duktus eröffnet und die fettreiche Lymphe fließt ab. Wenn die ge¬
fahrdrohenden Erscheinungen vorüber sind, wird diese Fadenschlinge
geknotet und der Lymphfluß hört auf. Die große Zahl der Ana-
stomosen ermöglicht eine rasche Ausbildung eines Kollateralkreis-
laufes und macht die Unterbindung des Duktus ungefährlich. —
(Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 107, Nr. 4 bis 6.) se.
*
544. (Aus der akademischen Klinik für: Kinderheilkunde und
der Klinik für Infektionskrankheiten. — Prof. Schloßmann.)
Die Sch arlachthyr eoiditis. Von Dr. J. Bauer, Assistenz¬
arzt. Bauer gibt eine klinische Beschreibung dreier Fälle von
Scharlachthyreoiditis, die er zu beobachten Gelegenheit hatte.
Daß solche Entzündungen vorkom’men, ist zwar schon von Roger
und Garnier anatomisch festgestellt worden, nirgends findet sich
aber eine klinische Beschreibung einer nicht eitrigen Thyreoi¬
ditis nach Scharlach. Obwohl es sich in den Fällen Bauers
nur um mäßige Thyreoideaschwellungen handelte, ohne jede be¬
sondere Krankheitserscheinung, wie sie sonst bei Schilddrüsen¬
entzündungen verzeichnet werden, so war eine bloße Kongestion
der Thyreoidea doch auszuschließen, da gleichzeitig mit der
Schwellung Temperaturerhöhung und Neuanschwellung der Hals¬
drüsen parallel einhergingen. Die Thyreoiditis nach Scharlach
ist jedenfalls wie andere Nachkrankheiten verschiedenster Form
bei Scharlach als äquivalente Erkrankung (Schick) zu be¬
trachten. Inwieweit die Scharlachthyreoiditis, sowie die anderen
einfachen entzündlichen Thyreoiditiden nach akuten Infektions¬
krankheiten zu den basedowoiden Erkrankungen im späteren
Kindesalter in Beziehung zu bringen wären, kann allerdings erst
die Zukunft lehren. — (Monatsschrift für Kinderheilkunde 4911
Bd. 9, Nr. 10.) K. S. ’
*
545. (Aus der chirurgischen Klinik zu Greifswald. — Direk¬
tor: Prof. Dr-, König.) Ueber ein neues Verfahren zur
Deckung von Trachealdef ekten. Von Priv.-Doz. Doktor
II ohmei er, 1. Assistenzarzt. Frühere1 Untersuchungen zeigten
dem Verfasser, daß die Faszie wegen ihrer Haltbarkeit und Wider¬
standsfähigkeit ein ausgezeichnetes Material zur Plastik darstelh.
Er benützte zunächst in Tierversuchen die Faszientransplantation
zur Ueherbrückung von Defekten der Trachea, Verf. setzte Hunden
in der Mitte zwischen Ringknorpel und Jugulum verschieden
große Defekte in der vorderen Trachealwand, welche mit einem
aus dem Sternokleidomasfoideus entnommenen Faszienlappen
überbrückt wurden. Letzterer mußte so groß sein, daß er den
Defekt auf allen Seiten überragte, so daß die Ränder des Lappens
auf gesundem Trachealgewehe ruhten. Die Muskelfläche der Faszie
wurde dein Lumen zugewandt. Um das Einslaugen des Lappens
in die Trachea zu verhindern, wurden an den vier Enden Fixa¬
tionsnähte angelegt; dann wurde der Lappen ringsum durch
fortlaufende Nähte am Rande des Trachealdef ektes befestigt. Als
auch jetzt noch bei der Atmung der Lappen leicht in die Trachea
eingezogen wurde, wurden die Ränder des Lappens angespannt
und weiter vom Defekt entfernt durch eine zweite fortlaufende
Naht au das Perichondrium der: Luftröhre befestigt. Darauf legt.
Yerf. besonderes Gewicht. Nach Befestigung der Faszie Ver¬
einigung der Halsmuskulatur und Schluß der Wunde. Diese Plastik
wurde in neun Fällen ausgeführt. Acht Tiere wurden nach Wochen
getötet und die Halsorgano untersucht. Der Defekt war in allen
Präparaten überspannt von glänzend weißer Faszie, die mit üer
Unterlage fest verwachsen ist. Wie ein glatter Deberzug zieht
sie auf den Knorpel über. Der Lappen ist von zahlreichen kleinen
Gefäßen durchzogen, die vom Perichondrium ihren Ursprung
nehmen. 1 cm unterhalb des Defektes ist eine starke Gefäß-
entwicklung zu sehen. Die Oberfläche des Faszienlappens ist
ganz glatt. Bei den Präparaten, bei denen die Faszie durch
zwei fortlaufende Nähte stärker angezogen ist, ist der ganze
Faiszienlappen mit Schleimhaut überdeckt. Eine Entzündung in
der Uipgebung der eingepflanzten Faszie ist in keinem Falle
feistzustellen. Mikroskopisch sieht man deutlich, daß das Peri¬
chondrium die Hauptstütze für den überpflanzten Lappen ahgibt
und für seine Ernährung Sorge trägt. Verf. hat durch diese
Experimente nachgewiosen, daß Defekte der Trachea sich in aus¬
gezeichneter Weise durch freie Faszientransplantation überbrücken
lassen. Sorgfalt ist nach seinen Beobachtungen auf die Vereini¬
gung der Faszie mit dem Perichondrium zu legen. Wichtig ist
ferner, die Faszie mit der Muskulatur zu bedecken. Ein freies
Liegenbleiben des Lappens oder Auflegen eines Gazestreifens
auf denselben würde zur Austrocknung und Gewebsschädigung
führen. Die Faszie bleibt, nach einer zwölf Wochen dauernden
Beobachte ngszeit des Verfassers, fast unverändert erhalten. Eine
wesentliche Verkleinerung des Defektes, die zu einer Verengerung
der Trachea führen könnte, tritt nicht ein. Atmungsstörungen durch
Einziehung des Lappens sind bei richtiger Technik nicht zu
fürchten. Die Operation ist durchaus einfach. Verfasser hatte bis
her keine Gelegenheit, diese Methode der freien Faszienübertragung
bei Traehealdefekten an einem Patienten zu erproben, hält sich
aber nach den durch die Experimente gewonnenen Erfahrungen
für durchaus berechtigt, die Anwendung dieser einfachen Tra-
chealplastik auch für den Menschen zu empfehlen. — • (Münchener
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 18.) G-
*
546. (Aus d er psychiatrischen und Nervenklinik zu Greifs¬
wald.) Ueber Assoziationen bei Dementia praecox. Von
Otto Markus. Ueber Assoziationen bei Dementia praecox ist
bisher wenig bekannt, zum mindesten wurde bisher noch nie
der Versuch unternommen, eine umfassende Betrachtung der Er¬
scheinungen anzustellen, die bei den Assoziationen der Dementia
praieeox-K ranken zutage treten. Verf. war nun bemüht, diese
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
795
Lücke auszufüllen. Es geht aber aus seinen fleißigen Bemühun¬
gen leider nur hervor, daß der Wert des Assoziationsexperimentes
bei der Anwendung des letzteren in Fällen von Dementia prae¬
cox in diagnostischer und psychologischer Hinsicht ein recht
bedingter ist und zu Erwartungen neuer Errungenschaften'
auf dem Gebiete dieser Psychose nicht berechtigt. — (Archiv
für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 48, H. 1.) S.
*
547. Die Behandlung der Wanderniere. Von Professor
Dr. F ii r b ri nger in Berlin. In einem klinischen Vortrage besprach
Verl, vorerst die Aetiologie dieses Leidens mit seinen vielgestal¬
tigen Beschwerden, er wies dabei auf die auf ererbte Disposition
und ,auf die viel häufigeren, durch mechanische Ursachen er¬
worbene Formen der Nephroptose hin und erklärte im allgemeinen
als den bedeutungsvollsten Faktor, der für unser therapeutisches
Handeln gar nicht hoch gewürdigt werden könne, die Insuffi¬
zienz der Bauchmuskulatur. Schon die Prophylaxis gipfelt
in der Kräftigung der Muskeln unter besonderer Berücksichtigung
der abdominalen, also: Bewegung im Freien (Spaziergänge und
leichtere Sportarten), vorsichtige Turnübungen (schwedische Heil¬
gymnastik), örtliche Faradisation und Massage, hydropathische
Methoden usw. Die aus gebildete Wanderniere bedarf, wenn
sie symptomlos verläuft, keiner Behandlung ; allenfalls beruhige
man den Kranken mit dem Hinweise auf die relative Gefahrlosig¬
keit des Leidens. Sind die Bauchdecken sichtlich schlaff, so
sollte man die bewegliche Niere in ihrer normalen Lage durch
dauernd zu tragende Bandagen (Bauchbinden) immobilisieren,
was in der Mehrzahl der: unkomplizierten Fälle auch gelingt.
Wenn auch nicht Heilung, so wird zumeist eine hervorragende
Palliativwirkung erreicht. Man muß dabei einen den ganzen
Unterleib betreffenden, von unten vorne nach oben hinten
wirkenden Druck ausüben und dadurch die Niere indirekt, das
ist vermöge der unter ihr lagernden Bauchkontenta, heben. Binden
mit Pelotten, welche direkt auf die Nierengegend einwirken sollen,
leisten schon weniger. Der Vortragende empfahl zu diesem
Zwecke eine Reihe von Binden (die K 1 a, es s- Barde nheu er¬
sehe „Universalleibbinde“, Senators „Badehose“ mit breitem,
elastischem Bauchteil, Ostertags Binde „Monopol“, die Binden
von Teufel oder Philipp, das Israel sehe Korsett, den ein¬
fachen Glenardschen Gurt, Stef fecks „hypogastrische Gurt¬
leibbinde“ u. a.). Oft genug genügt eine schlichte, breite, in den
trüberen Partien besonders festsitzende Drillichbinde mit einge¬
setzten elastischen Streifen, zumal wegen ihrer Billigkeit für die
arbeitende Klasse. Je leichter und einfacher, um so besser ist die
Binde. Nachts sind die Bandagen abzulegen. Manchmal (krumme
Rückenhaltung) muß ein Apparat zur Streckung der Wirbelsäule
angewandt werden. Der Vortragende besprach sodann den Wert
einer längeren Liegekur auf dein Rücken und bekannte, daß er
selbst kaum einem einwandfreien Fall von Festwachsen der repo-
nierten Niere auf diese Weise erlebt habe. Zeitweise ruhige
Rückenlage beseitigt immerhin die oft genug exazerbierenden
Schmerzen. Ueber Straßers Belastungskur (täglich stunden¬
langes Auflegen eines fünf Pfund schweren Sandsackes auf den
Unterleib bei Rückenlage mit erhöhtem Kreuz), welches Ver¬
fahren die Enteroptose gut beeinflussen soll, fehlen dem Vor¬
tragenden eigene Erfahrungen. Die oft gerühmte Mastkur nützt
wohl bei Neurasthenischen und Hysterischen mit weitgehender
Unterernährung, bietet aber sonst wenig Vorteile, sie schadet
ur einzelnen Fällen, da nun Lipomato.se und Mastherz dazu
kommen, darf also nur mit Vorsicht herangezogen werden. Auch
mit der intensiveren Massage der gelockerten Niere sei man sehr
vorsichtig, soll nicht eine arge renalpalpatorische Albuminurie
und Hämaturie riskiert werden. Man bewahre den Kranken vor
ungeübten oder gar brutalen Händen. Dies gilt besonders auch
von der Thnre-Brandtschen „Untemiereinzitterdrückung“. Im
weiteren besprach der Vortragende die operative Fixation der
Niere (nur bei großen Beschwerden und starker Herabsetzung
der Arbeitsfähigkeit) und führte aus, daß die Nephrorrhaphie wohl
augenblicklich in einem hohen Prozentsätze der Fälle vorzügliche
Resultate liefere, aber schon einen geringeren Betrag von Dauer¬
erfolgen, zudem— euch Mißerfolge und schließlich nicht absolute j
Gefahrlosigkeit gewährt. Er selbst erlebte einen Todesfall bei |
einem blühenden jungen Mädchen, das er einem besonders ge- I
übten Chirurgen überwiesen hatte. Da aber von der jüngstens
geübten Nephropexie ca. 65% endgültige Heilungen, die sich
für viele Jahre behauptet haben, gemeldet werden, so ist sie
unter allen Umständen ein verdienstvolles Werk. Bleibt der Er¬
folg des Eingriffes aus, so kann er wiederholt werden (Read-
lixio). Zum Schlüsse besprach der Vortragende noch die eine
Nephropexie ungünstig beeinflussenden Komplikationen (Gallen¬
steine, Appendizitis, Nierensteine usw.), er berührte die schweren
und gefahrdrohenden Die tischen „Einklemmungserscheinungen“,
welche durch lorsion des Harnleiters, Perinephritis, Verstopfung
des Dieters durch Llutkoagula usw. bedingt sein können, gegen
welche strenge Bettlage, fortgesetzte (kalte oder warme) Um¬
schläge, knappe Diät, eventuell auch Opium und in letzter Reihe
die Nephropexie empfohlen werden. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1911, Nr. 18.) E. F.
*
548. (Aus delm Kaiserin Augusta Viktoria -Haus in Char¬
lottenburg. — Direktor : Prof. K e 1 1 e r.) Z u r F r a g e d e r B u 1 1 e r-
milcbennährung des Säuglings. Von Privatdozent Doktor
N. Mens ch ik of i- Kasan. Die Ueberlegenheit der Buttermilch,
die sich bei gewissen neugeborenen und frühgeborenen Kindern
gegenüber den fetthaltigen Nahrungsgemischen findet, hat nicht
ihren Grund darin, daß die Buttermilch eine saure Nahrung ist,
auch nicht darin, daß den Kindern das fettspaltende Ferment in
genügendem Maße zur Verfügung steht, sondern der Grund liegt
wahrscheinlich darin, daß die Buttermilch als kohlehydratreiche
Nahrung besser ausnutzbar ist als die fetthaltigen Gemische. —
(Monatsschrift für Kinderheilkunde 1910, Bd. 9, Nr. 9.) K. S.
*
549. (Aus dem klinischen Ambulatorium' für Nervenkrank¬
heiten in Wien. — Hofrat Prof. v. Wagner.) 1. Scoliosis
hysterica; 2. Atrophie bei zerebraler Hemiplegie;
3. Medianus Verletzung. Von Priv.-Doz. Dr. Alfred Fuchs,
klin. Assistent. Im ersten Falle handelt es sich um eine Scoliosis
hysterica bei einem 22jährigen Studenten. Die von Riebet be¬
schriebene und als Station hanchee bezeichncte Stellungsanomalie
Hinaufziehen der Hüfte, so daß der eine Fuß, nur mit der
Spitze den Boden berührt — ist deutlich. Tic der Hals- und
Schultermuskeln, ebenso im Akzessorius- und Fazialisbereich.
Die Störungen waren im September 1909 akut aufgetreten und
persistieren seitdem. — Im zweiten Fälle handelt es sich um
eine Atrophie der linken Körperhälfte bei einem 22jährigen Manne
nach einem im Alter von 15 Jahren erlittenen Schädeltrauma.
Aus dein Befunde geht hervor, daß die hochgradige Atrophie
der linken Schulter und der linken oberen Extremität als zere¬
brale Hemiplegie mit Atrophie der gelähmten Muskeln anzu¬
sprechen ist. — Im! dritten Falle handelt es sich um eine
Verletzung des Nervus medianus durch einen als Projektil wir¬
kenden Eisensplitter. Das Eisenstück lag, wie die spätere Opera¬
tion erwies, akn Nervus imedianus und hatte ihn zur Hälfte
verbrannt. Die Folge war eine motorische und sensible Lähmung
des Nervus medianus gewesen. — (Jahrbücher für Psychiatrie
und Neurologie, Bd. 32, H. 1 und 2.) S.
*
550. Ein Fall von Vagit ns uterinus. Von Dr. Julius
Rothschild, Assistenten an der Provinzial-Hebamlnenlehranstalt
in Breslau (Direktor: Dr. Bau mm). Dia das Phänomen des
intrauterinen Kindesschreies sehr selten ist und von manchen
Aerzten noch bezweifelt wird, teilt Verfasser eine eigene Beob¬
achtung mit. Wegen schwacher Wehen bei vor 17 Stunden er¬
folgtem Blasen sprung und hoher Steißlage sollte die Extraktion
mit der Naeg eieschen Kopfzange, eventuell die Extraktion am
herabgeholten vorderen Fuße bewerkstelligt werden. Beim Ein¬
führen der Zange und auch als die Zange ins Schloß gebracht
wurde, hörte man deutlich Luft in die Vulva einströmen. Beim
Zu sammen p ressen der Zange hörte Verfasser deutlich einen
gellenden kurzen Kindesschrei. Beim zweiten Fassen der Zange
ertönte von neuem ein Schrei aus dem Uterus. Die Schülerin
glaubte, „eis sei vom Darin gewesen“. Da nun höchste Eile
nottat, wurde die Zange entfernt, der Fuß herabgeholt. Als Ver¬
fasser aber den Fuß fest anzog, erscholl ein so lautes, etwa eine
Sekunde anhaltendes Schreien des Kindes im Uterus, daß es
alle Anwesenden als solches erkannten und sich darob verw.un-
796
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
dorten . Das Kind schrie auch sofort, als sein Mund über den
Damm rollte. Der Fall verlief für die Mutter günstig, das Kind
lebte noch vier Wochen nach der Geburt. Der Vagitus uteri nus
entsteht, wenn die Blase gesprungen ist und Luft in die Gebär¬
mutterhöhle und bis zum Munde des Kindes eindringt. Dazu
muß nach Bucura noch eine vorübergehende Störung des Pla¬
zentarkreislaufes und Kohlensäureüberladung des kindlichen
Blutes mit ihren weiteren Folgen kommen. Die Prognose solcher
Fälle ist. nicht ungünstig, die Therapie wird, wenn irgend mög¬
lich, in der sofortigen Entbindung bestehen müssen. Jeder wei¬
tere intrauterine Schrei kann das Kind durch Aspiration von
Fruchtwasser und Kindspech mit nachfolgender Bronchopneumonie
in höchste Lebensgefahr bringen. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1911, Nr. 18.) E. F.
*
551. (Aus der psychiatrischen Klinik zu Breslau. Geheim¬
rat Bonhoeffer — und aus der psychiatrischen Klinik zu
Bonn — Professor Westpha,l.) lieber periodisches
Schwanken der Hirnfunktion. Von Privatdozent Doktor
Georg Stertz. Das oft zu beobachtende, auffallende Schwanken
der allgemeinen Ansprechbarkeit bei organisch Hirnkranken und
bei anderen Benommenheitszuständen, wobei einfache Ermüdungs¬
erscheinungen vollkommen ausgeschlossen sind, ist in bezug auf
seine näheren Umstände und seine Grundlagen bisher wenig
bekannt. Es war daher eine dankenswerte Arbeit, eine Reihe
eigenartiger Zustände von periodischem Schwanken der Hirn¬
funktion mitzuteilen und die Grundlagen desselben zu erwägen.
Dabei fand Verfasser Gelegenheit, auf die Berührungspunkte dieser
Schwankungen der Hirnfunktion zu dem ,, intermittierenden
Hinken“ im Sinne Dejerines und Grassets einzugehen, ferner
auf die Beziehungen zu den eingangs angedeuteten Bewußtseins¬
schwankungen mancher organisch Benommener und zu gewissen
auf dem Boden von Neurosen erwachsenden Bewußtseinsände¬
rungen. Die Ausführungen des Verfassers dürfen die Aufmerksam¬
keit der engeren Fachgenossen um so mehr beanspruchen, als
in der deutschen Literatur zur gegenständlichen Frage noch nie
Stellung genommen wurde und es ist nur zu wünschen, daß die
vorliegende Arbeit zur weiteren Forschung auf diesem Gebiete
und zur Vermehrung der Kasuistik, sowie zur endlichen Klärung
der hier in Betracht kommenden symptomatologischen und ätio¬
logischen Beziehungen anregt. — (Archiv für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten, Bd. 48, H. 1.) S.
*
' 552. Beiträge zur klinischen Bedeutung der Endo¬
skopie der unteren Luftwege. Von Dr. A. Ephraim in
Breslau. Eine Reihe sehr interessanter Fälle, deren Leiden auf
diesem Woge aufgedeckt wurde. 1. Hämoptoe bei einem 23 Jahre
alten Mädchen, das blühend aussieht, aus unbekannter Ursache;
endoskopische Diagnose eines primären Bronchialtumors; Probe¬
exzision : Sarkom. In vivo ist es wohl bisher noch niemals ge¬
lungen, einen derartigen Tumor im Anfangsstadium mit solcher
Sicherheit zu erkennen, wie es hier, wo weder die gewöhn¬
lichen Untersuchungsmethoden, noch die Röntgenographie die
Diagnose ermöglichten, allein die Bronchoskopie gestattet hat.
Die regelmäßigen Blutungen haben seit der Aetzung mit Chrom-
säujrlei alüfgehört, doch dürfte die Prognose, trotz Arsen und
Röntgenbestrahlung, eine infauste sein. — 2. Geringe, in Inter¬
vallen auftretende Hämoptysis, anscheinend auf der Basis von
Lungentuberkulose bei einem 58 Jahre alten Manne; endosko¬
pische Diagnose: Lungenkarzinom. Die Symptome (Bluthusten,
Nachtschweiße, starke Abmagerung, geringe Kurzatmigkeit, jm
linken Oberlappen stark verschärftes Inspirium und geringe Däm¬
pfung) wiesen trotz des Fehlens von Tuberkelbazillen im Sputum
auf Lungentuberkulose hin, die Bronchoskopie, die Exzision eines
erbsengroßen Stückchens aus der lateralen Wand des verdickten
linken Bronchus ergab den sehr seltenen Befund eines Platten¬
epithelkrebses. — 3. Seit drei Jahren bestehende periodische
Hämoptoe unbekannten Ursprunges. Im Sommer 1910 hatte der
60jährige Mann eine Attacke, während deren er acht Tage lang
täglich einen halben Liter Blut, später weniger ausgehustet hatte.
Bei der Bronchoskopie sah man in der Tiefe des linken Bronchus
eine größere Menge Blut, sodann sehr starke Venektasien an der
hinteren Trachealwand, dicht unterhalb der hinteren Kehlkopf¬
wand. Die Röntgenaufnahme ergab normalen Befund. Bepinsehmg
der varikösen Stelle in der Trachea mit der Chromsonde. Seit¬
her (anfangs November 1910) ist die Blutung, bis auf ganz ge¬
ringen Blutauswurf um die Weihnachtszeit im Anschluß an einen
starken Influenzakatarrh, nicht wiedergekehrt. Diese drei Fälle
haben auch den Wert, daß sie lehren, daß die Hämoptoe nicht
nur keine Kontraindikation für die Tracheobronchoskopie, daß sie
vielmehr geradezu angezeigt und zulässig sei, indem eine rite
ausgeführte Bronchoskopie im allgemeinen ohne erheblichen
Husten und Würgen der Kranken abläuft. Besondere Reizbarkeit
ließe sich durch Morphium herabsetzen. Blutungen aus trachea-
len Venektasien sind besonders bei jugendlichen Personen wieder¬
holt beschrieben worden, deren Erkennung mit dem Spiegel ist
nicht immer möglich, wie auch im dritten Falle. Da es frag¬
lich ist, ob solche Fälle nicht viel häufiger sind, so sollen Pa¬
tienten mit Blutungen unbekannten Ursprunges häufiger der
bronehoskopischen Untersuchung zugeführt werden. — 4. Dyspnoe
bei Struma, hervorgerufen durch Bronchostenose. Ein I8jähriges
Mädchen hatte eine große, mittelweiche, symmetrische Struma.
Bei tiefer Atmung in- und exspiratorischer Stridor. Die endo¬
skopische Unterschung zeigte nicht die erwartete Trachealstenose,
das Lumen der Trachea war vielmehr in ihrer ganzen Ausdehnung
normal. Als Ursache der Dyspnoe wurde gefunden: Die Bifurka¬
tion hatte statt ihrer spitzwinkeligen Form die eines breiten
Sattels und verengerte die Mündung der beiden Hauptbronchen
außerordentlich. Offenbar handelte es sich hier um starke Schwel¬
lung der intrabifurkalen Drüsen. Bei Röntgenaufnahme normaler
Befund, die Gegend der Bifurkation ist im Röntgenbild nicht
sichtbar. Auf körperliche Ruhe und Jod besserten sich die Be¬
schwerden. — 5. Dyspnoe und Rekurrenslähmung bei Struma,
bedingt durch ein Aortenaneurysma. Ohne endoskopische Unter¬
suchung hätte man wohl die Diagnose auf Kompression des Re-
kurrens und der Luftröhre -durch den taubeneigroßen, ganz harten
Strumaknoten stellen müssen, erst die Untersuchung deckte das
Aneurysma auf. — 6. Aortenaneurysma oder Mediastinaltumor?
Ein in differentialdiagnostischer Hinsicht interessanter Fall, bei
welchem auch das Röntgenbild keinen Aufschluß gab. Der Fall
eignet sich nicht zu einem kurzen Referate. Auch hier gab die
Endoskopie bedeutsame Aufschlüsse über gewisse Veränderungen,
deren Erkennung auf keine andere Weise möglich war. — (Medi¬
zinische Klinik 1911, Nr. 18.) E. ®VjS
*
553, (Aus dem Kaiserin Augusta Viktoria- Haus zur Be¬
kämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reiche. -
Direktor: Prof. Keller.) Zur Physiologie des Neugebo¬
renen. lieber die Dauer, die Größe und den Verlauf
der physiologischen Abnahme. Von Dr. W. Pies. Die
Erfahrungen Pies’ stehen im Widerspruch mit der allgemeinen
Meinung, daß die physiologische Abnahme unter normalen Ver¬
hältnissen bis zum zehnten Tage ausgeglichen sein muß. Nur
bei 11% der Kinder des Pi es sehen Gesamtmateriales war dies
der Fall, dagegen erreichten auch jene Kinder, welche nicht wegen
mangelhafter Ernährung oder anderer Umtetände außer Betracht
gekommen waren, erst durchschnittlich am 22. Lebenstage wiodei
ihr Anfangsgewicht. Als physiologisch hätte demnach nicht bloß
der Verlauf der Gewichtsabnahme und Zunahme der Neugeborenen,
entsprechend der B u di n sehen Kurve unter einem spitzen Winkel
zu gelten, sondern auch ein mehr rechtwinckliger oder bogen¬
förmiger Verlauf der Kurve, wobei das' Kind viel später, oft erst
nach Wochen, sein Anfangsgewicht erreicht. Eine zweite Ge¬
wichtsabnahme (G r eg o r y, L an d o i s) oder längerer Stillstand
in dieser Kurve, hält aber auch Pies nicht mehr für physio¬
logisch. - (Monatsschr. für Kinder hei lk. 1910, Bd. 9, Nr. 9.) IV
*
554. Zur operativen Behandlung des Hirnschlags.
Von Dr. Hans I sei in, I. Assistenten der chirurgischen Klinik
in Basel (Prof. Dr. Quervain). Prof. Franke hat im Vorjahre
vorgeschlagen, beim Hirnschlag den Bluterguß frühzeitig, das
heißt innerhalb der ersten zwölf Stunden, zu entfernen, das
Blut durch Hirnpunktion abzuleiten. Er schlug vor, mit der Punk¬
tionsnadel als Mandrin eine seitliche, mit Löchern versehene,
feinste Kanüle in das Hirngewebe einzuführen und darin liegen
zu lassen, oder durch die Trepanation dem Blute Abfluß zu ver-
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
797
schaffen, indem man in den Blutungsherd ein Gummirohr einlegt.
Franke hofft, durch dieses Vorgehen eine starke Druckzunahme,
eine ausgedehnte, allmählich entstehende Durchblutung der Ge¬
hirnsubstanz und endlich auch die chemisch schädigende Wirkung
der Hämorrhagie zu vermeiden. Nicht, um diesen Rat zu be¬
folgen, sondern unfreiwillig hat Verf. in einem Falle (62jäh-
riger Mann mit Erscheinungen eines subduralcn Hämatoms und
Hirnquetschung oder Apoplexie), der tatsächlich eine Apoplexie
aufwies (Sektion), etwa drei Stunden nach dem erlittenen Un¬
fälle trepaniert und hat während der Operation nach Entleerung
einer blutigen Flüssigkeitsansammlung unter der Dura und im
Anschluß an eine Ventrikelpunktion, d. h. nach der völligen
Druckentlastung, nachdem das Hirn wieder angefangen hatte,
zu pulsieren und das Bewußtsein wieder zurückgekehrt war
eine erneute Blutung in das Gehirn und in die Ven¬
trikel von ungeahnter Wucht mit Exitus in 24 Stunden
eintreten sehen. Der Verfasser bespricht die Einzelheiten seines
Falles, erwähnt, daß der Vorschlag Frankes nicht neu sei
und erörtert einen anderen Vorschlag, bei Apoplexien die Karotis
der betroffenen Seite zu unterbinden. Wiewohl Frankes und
Verfassers Fall tödlich verliefen, möchte Verf. den Ratschlag
Frankes dennoch nicht gänzlich abweisen. Nach der Entlastung
des Hirns kehrte hei seinem Operierten das Bewußtsein wieder
mul man kann bedenken, oh nicht die Ventrikelpunktion zuviel
war. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ohne die Ventnfcelpunk-
tion die auffallende Besserung, welche schon der einfachen Ent¬
leerung des subduralen Flüssigkeitsergusses gefolgt war, von län¬
gerer Dauer geblieben wäre. In Fällen von Jack son scher Rinden¬
reizung sollten die Chirurgen versuchen, mit der Trepanation
,len Zustand des Apoplektikers zu verbessern. Hiebei sind auch
schon Heilungen erzielt worden. Auch die Trepanation der Pachy¬
meningitis haemorrhagica wäre nach den günstigen Resultaten
von Prof, de Quervain, Marion u. a. zu versuchen.
(Deutsche medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 18.) E. F.
*
555. Eine ungewöhnlich starke Reaktion auf An¬
wendung der Methoide nach Tou louse- Rieb et bei
einem alten Epilepsiefall. Von Dr. Wern. II. Becker.
Die Methode nach Toulouse-Riehe t besteht darin, daß die
Chlorsalze in der Nahrung des Epileptikers ganz oder teilweise
durch Bromsalze ersetzt werden. In einem so behandelten Falle,
eine 48jährige Frau betreffend, sah Verf., obwohj. nach seiner
Berechnung lediglich 1-5 g Chlornatrium durch das ebenso große
Quantum Bromnatrium ersetzt wurden, einen äußerst ungünstigen
Einfluß auf die Psyche der Patientin, weshalb er die obere
Grenze der substituierten Bromnatriumdosis pro die hei obiger
Methode herabgesetzt zu sehen und die Anwendung dieser Be¬
handlungsart der Epilepsie auf die Anstalten beschränkt wünscht.
— (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gericht¬
liche Medizin, Bd. 68, H. 2.) S.
♦
556. lieber Fibrolyisin, seine Wirkung, Neben¬
wirkungen und rektale Anwendung. Von Dr. Felix Men
del in Essen (Ruhr). Da.s Fibrolysin, eine chemische Verbindung
von Thiosinamin und Natrium salicylicum, in W asser leicht lös¬
lich, schmerzlos in der Anwendung, wurde vom Verfasser 1905 an¬
gegeben und in die ärztliche Praxis eingeführt. Es greift neu¬
gebildete Bmdegewebssbstanz an, daher seine Wirksamkeit auf
Narbengewebe, das bei längerer Anwendung des Mittels aufquillt
und zur Erweichung kommt. Starkenstein hat durch Lahora-
tori ums versuche nachgewiesen, daß das Fibrolysin die Umwand¬
lung von Kollagen, dem Hauptbestandteil des Bindegewebes, in
Leim zu fördern vermag und daraus den Schluß gezogen, daß
diese Fähigkeit vielleicht neben anderen die eigentliche Heil¬
wirkung des Fibrolysins bedingt. Der Verfasser bespricht ein¬
gehend das große Indikationsgebiet dieses Mittels (Narben, Ad¬
häsionen, Verwachsungen, Wucherung des interstitiellen Binde¬
gewebes usw.) und erwähnt auch die von F riedländ o r neues tens
empfohlene gleichzeitige Anwendung von Salvarsan und Fibro¬
lysin., um dadurch die Bildung von Arsenöbenzolintiltraten zu
verhüten, resp. um die schon gebildeten Infiltrate zu beseitigen
und dadurch die Resorption des Salvarsans zu erleichtern. So
dann bespricht Verfasser die Nebenwirkungen. Lokale Störungen
lassen sich ganz vermeiden und doch bedeutend mildern, wenn jl as
Mittel vor der Injektion auf 45° C erwärmt wird. Auch' die Re
sorption und die Heilwirkung sind dann günstigere. Eingehend
werden die allgemeinen unerwünschten Nebenwirkungen dös
Mittels erörtert. In einzelnen Fällen folgten nach öfterer Injektion
von Fibrolysin unter Schüttelfrost ziemlich beträchtliches Fieber,
verbunden mit schwerem Krankheitsgefühl, Erbrechen, Exanthem
usw. Diese Symptome gingen nach höchstens 48 Stunden ohne
folgen zurück, es blieb aber eine große Empfänglichkeit zurück,
so daß auch spätere (kleinere) Injektionen wieder dieselben Er¬
scheinungen hervorriefen, ja, selbst die äußerliche Applikation
des Mittels auf Narbengeweb© oder Gelenke (Fibrolysinpflaster)
lief Rötung und Schwellung, resp. akute Dermatitis hervor, die
wieder nach 24 bis 48 Stunden schwanden. Hiebei wurden zwei
Umstände konstatiert: einmal wurden die ersten Injektionen gut
vertragen und erst wenn die Behandlung einen besonders ener¬
gischen Erfolg aufwics, traten die erwähnten Allgemeinerschei¬
nungen auf; zweitens war es möglich, wenn man mit kleinsten
Dosen begann, durch allmähliche Steigerung derselben eine all¬
mähliche Gewöhnung des Organismus an das Mittel zu er¬
zwingen. Verf. nimmt an, daß diese allgemeine Wirkung nicht
als Fibrolyslntoxikose aufgefaßt werden könne, daß siei ferner
weder auf Kumulation der Wirkung, noch auf konstitutioneller
Idiosynkrasie beruht, sondern einzig und allein auf Anaphy¬
laxie. Die gelöste Leimsubstanz tritt ins Blut über und wirkt
dort als albuminoider Stoff, wie artfremdes Blut und gibt
als Antigen zur Bildung von Antikörpern Anlaß. Die meisten
Autoren haben auch trotz der sogenannten Fibrolysinvergiftung
wegen des zu dieser Zeit stark einsetzenden Heilerfolges die Kur
whiter und zu Ende geführt. Im weiteren empfiehlt Verf. die von
ihm eingeführten Fibrolysinsuppositorien zu 043 Fibrolysin (Firma
E. Merck) und zeigt, daß diese Suppositorien ebenfalls rasch
wirken, bei den gegen Fibrolysin sensibilisierten Patienten aber
in derselben Zeit und in der gleichen Intensität wie die intra¬
muskuläre Injektion dasselbe Bild der Anaphylaxie hervorrufen.
D(ie rektale Methode, vielen Patienten angenehmer, hat auch
in manchen Fällen sehr zufriedenstellende Resultate erzielen
lassen. Die Kranken führten sich jeden Abend im Bette ein
Zäpfchen ein. Besonders geeignet erwiesen sich für diese Be¬
handlung die mit Exsudaten und Verdickungen einhergehenden
gynäkologischen Erkrankungen, sowie Narbenstränge im
Zellgewebe usw. Gleichzeitig wurde die zweckentsprechende me¬
chanische Therapie eingeleitet, denn von der bloßen Auflockerung
des Narbengewebes ohne diese Behandlung können wir keinen
großen Erfolg erwarten. In einzelnen Fällen (chronischen Gelenks¬
erkrankungen) wurde an drei Tagen der Woche gespritzt, wäh¬
rend an den vier anderen Tagen Suppositorien zur Anwendung
kamen. Zum Schlüsse bringt Verfasser eine Krankengeschichte,
in welcher gezeigt wird, in wie günstiger AVeise ein Fall von
Arthritis deformans trotz öfteren Auftretens schwerer anaphylak¬
tischer Erscheinungen durch die Fihrolysininjektionen beeinflußt
wurde. Die schwere Erkrankung konnte als völlig beseitigt be¬
zeichnet werden. Gerade das Auftreten der Anaphylaxie gilt dem
Verfasser als Beweis für die energische Einwirkung des Heil¬
mittels auf das Narbengewebe. — (Die Therapie der Gegenwart,
April 1911.) E. F.
*
557. (Aus der psychiatrischen Klinik der Universität Stra߬
burg. — Direktor : Prof. Dr. W o 1 1 en b e r g.) Z u r K as uistik
des Paramyoclonus multiplex. Von Oberarzt Dr. Heilig,
kommandiert zur Klinik. Ein 35jähriger, erblich nicht belasteter,
im übrigen kräftiger Arbeiter, leidet nach Schreck seit seinem
neunten Lebensjahre an klonischen Zuckungen, vorwiegend der
oberen Siammeismuskulatur. Die Zuckungen erfolgen blitzartig.,
arhythmisch, gewöhnlich in Intervallen von 10 bis 15 Sekunden.
Seit Beginn dieser Erkrankung erlitt Patient dreimal je einen
kompletten epileptischen Aufall. Bei Ablenkung der Aufmerk¬
samkeit nehmen die Kloni ab und schwinden im Schlafe völlig.
Durch körperliche Untersuchung, psychiatrische Erregung, Auf¬
merksamkeit auf dieselben nehmen die Kloni zu. Neben den Klonis
fibrilläre Zuckungen und echte Myokymie. Bei schlaffer Rücken¬
lage nehmen alle beschriebenen Erscheinungen ab. Haut- und
Sehnenreflexe gesteigert, Gowersches Phänomen deutlich,
798
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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Psyche normal. — Im Anschluß an den mitgeteilten Fall be¬
spricht Verf. die Beziehungen des Paramyoclonus multiplex zu
anderen Krankheiten und das Wesen des ersteren, die Frage,
auf welche Weise diese’ eigentümlichen Zuckungen zustande kom¬
men, worüber gegenwärtig noch keine Klarheit herrscht. — (Ar¬
chiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 48, H. 1.)
S.
*
558. (Aus dem medizinisch -chemischen und pharmakolo¬
gischen Institut der Universität Bern. — Direktor: Professor
Dr. Emil Bürgi.) Ueber die Wirkung kombinierter
Opiumalkaloide. Von Viktorie Zee len aus Wolmar. Der
narkotische Gesamteffekt, den zwei oder mehr gleichzeitig in
den Organismus eingeführte Opiumalkaloide ausüben, entspricht
nach den Untersuchungen von Zeelen der algebraischen Summe
ihrer Einzelwirkungen. Damit wird dem von Bürgi gefundenen
Gesetz über die Verstärkungen der Arzneimittelgemische eine
neue Stütze gegeben. Bürgi fand nämlich auf Grund sehr
zahlreicher Experimente, daß bei gleichzeitiger Verabreichung
zwei Narkotika der Fettreihe sich in ihren Wirkungen bloß
addieren, während zwei Narkotika aus verschiedenen Gruppen
(zum Beispiel : Morphium— Urethan ; Skopolamin— Urethan) einen
narkotischen Gesamteffekt erzielen, der weit über den algebrai¬
schen Summen der zwei Einzeleffekte liegt. Zwei Narkotika
verstärken sich nur dann zu ungewöhnlicher Wirkung, wenn sie
zu zwei verschiedenen Zellsubstanzen chemische, bzw. physi¬
kalische Verwandtschaft haben. — (Zeitschrift für experimentelle
Pathologie und Therapie 1911, Bd. 8, H. 3.) K. S.
*
559. Beiträge zur Lehre von der Weilschen Krank¬
heit. Von Generalarzt Dr. Hecker und Stabsarzt Prof. Dr. Otto
in Hannover. Im Jahre 1886 erfolgte die erste Publikation W eils
über einen bestimmten Symptomenkomplex, seither ist eine große
Reihe von Arbeiten erschienen, welche sich mit dieser Erkran¬
kungsform beschäftigten. Mitte Juli 1910 gingen dem Garnisons¬
lazarett Hildesheim 20 Fälle Weil scher Krankheit zu, wTelche
Soldaten betrafen, die bis kurz vor ihrer Erkrankung in der
Militärbadeanstalt in der Innerste geschwommen hatten. Die bis
dahin völlig gesunden, kräftigen Soldaten erkrankten plötzlich
mit Kopf-, Nacken- und Kreuzschmerzen, Uebelkeit, hohem Fieber,
verhältnismäßig niedrigem Puls und starker Hinfälligkeit; meh¬
rere Kranke hatten auch galliges Erbrechen, fast alle Albuminurie
und Stuhlverstopfung, der in der Regel Durchfälle vorangegangen
waren. Meist war eine deutliche Leber1-, nicht immer auch eine
Milzschwellung vorhanden. Eine sichere Diagnose war erst mög¬
lich, als bei den Zugängen 7 und 8 deutliche Gelbsucht mit
Nasenbluten, Herzschwäche und bluthältigem Urin auftraten. In
früheren Epidemien haben schon die Militärärzte auf den Zu¬
sammenhang der Erkrankung mit der Beteiligung am Schwimm¬
unterrichte hingewiesen. Die Verfaissec haben bei dieser Epi¬
demie neuerlich mikrobiologische und bakteriologische Unter¬
suchungen angestellt, auch Tierversuche gemacht, stets mit nega¬
tivem Resultate; sie glauben, daß Proteusbazillen und andere
Bakterien oder sichtbare Mikroparasiten als Erreger der Weil¬
schen Krankheit nicht in Betracht kommen. Im! weiteren be¬
sprechen die Verfasser eingehend die klinischen Symptome, den
Unterschied im Krankheitsverlauf zwischen den Erkrankungen
im Anfang, auf der Höhe und am Schlüsse der Epidemie (auf
der Höhe ausgeprägte Fälle, früher und später leichtere Fälle)
und heben die bemerkenswerte Tatsache hervor, daß die anstren¬
gende Arbeit des Schwimmens während der Inkubationszeit als
ein besonders verschlimmerndes Mordent a|uf den späteren Krank¬
heitsverlauf der Infektion anzusehen sei. In Hildesheim sind
schon in den Vorjahren sporadisch und epidemisch unter der
Militärbevölkerung Fälle von Weil scher Krankheit beobachtet
worden, alles wies darauf hin, daß die Infektion beim Baden
erfolgt sei. Es ließ sich ferner feststellen, daß die Epidemien
nur zu bestimmten Jahreszeiten und in bestimmten Garnisonen
auftreten und daß gleichzeitig unter der Zivilbevölkerung ver¬
einzelte Fälle von ,, fieberhafter Gelbsucht“ Vorkommen. Die Ver¬
fasser gelangen zu folgenden Schlußfolgerungen: 1. Die sogenannte
Weil sehe Krankheit ist eine fast ausschließlich in der heißen
Jahreszeit auftretende, akute, nicht kontagiöse Krankheit. 2. Sie
verläuft unter einem ganz charakteristischen Krankheitsbilde
doch sind in den einzelnen Epidemien und in den einzelnen
Fällen die Symptome sehr verschieden ausgeprägt. 3. Besonders
im Anfang und am Ende der Epidemie sieht man einzelne leich
tere, mit geringem oder atypischem Fieber verlaufende Fälle.
Der völlig ausgebildete Weil sehe Symptomenkomplex findet sich
hauptsächlich nur auf der Höhe der Epidemie bei Leuten, die
während der Inkubation bis zum Ausbruch der Erkrankung an¬
gestrengt geschwommen oder gearbeitet haben. 4. Der noch un¬
bekannte Erreger der Krankheit ist durch ein streng lokales
Vorkommen ausgezeichnet und mit großer Wahrscheinlichkeit kein
züchtbares Bakterium, sondern ein sich außerhalb des Körpers
entwickelnder, durch Zwischenträger (Insekten) verbrei
t e t e r Mikroorganismus. Wahrscheinlich handelt es sich dabei
um ein invisibles Virus. - — (Deutsche medizinische Wochen¬
schrift 1911, Nr. 18.) E. F.
* ,
560. (Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Uni¬
versität Breslau. — Direktor: Geh. Rat Prof. Dr. Bonhoeffer.)
Zur differentialdiagnostischen Bedeutung der Lum¬
balpunktion und der Serodiagnostik. Von Dr. Otto
L. K 1 ijeneber g er. Nach einer schon vor einiger Zeit vor-
angegangenen Publikation desselben Autors über das gleiche
Thema bringt er nun seine weiteren experimentellen Erfahrun¬
gen, welche aus sero- und zytologischen, sowie aus chemischen
Untersuchungen resultieren. Er bespricht zunächst die Technik
und die Gefahren der Lumbalpunktion, ferner Druck und Farbe
der Zerebrospinalflüssigkeit, die pathologischen Beimengungen,
Niederschläge und Eiweißgehalt derselben. Es ist differentialdiagno¬
stisch wichtig, daß alle jene Fälle, in denen sicher eine luetische
Infektion stattgefunden hatte, die aber weder der Paralyse, noch
der Tabes, noch der Lues cerebrospinalis angehörten, normalen
Eiweißgehalt aufwiesen. Sicher ist, daßi die zytologische Unter¬
suchung der Zerebrospinalflüssigkeit, kombiniert mit der chemi¬
schen, ein diagnostisch wichtiger Faktor ist, indem positive Zell
befunde mit Eiweißvermehrung für, ohne Ei wT ei ß vermeh rung aber
gegen das Vorliegen einer metasyphilitischen Erkrankung spre¬
chen. Verfasser berichtet schließlich noch über die serologischen
Ergebnisse der letzten anderthalb Jahre bei Paralyse, Tabes und
Lues cerebrospinalis und bei jenen Fällen, die ehemals wahr¬
scheinlich luetisch infiziert, unabhängig von der Infektion irgend¬
wie andersartig erkrankten. — (Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten, Bd. 48, H. 1.) S.
*
561. (Aus der II. medizinischen Abteilung des städtischen
Krankenhauses am Urban. — Prof. Dr. Plehn) in Berlin. Er¬
fahrungen mit Salvarsan, speziell bei Lues des Zen¬
tralnervensystems. Von Dr. Martin Neu haus, Von syphi¬
litischen und metasyphilitischen Erkrankungen des Zentralnerven¬
systems wurden mit Salvarsan behandelt: Lues cerebrospinalis 7,
Poliomyelitis subacuta 1, Tabes 5, Paralyse 2 Fälle, ferner
1 Hepar lobatum und 1 Leberzirrhose. Aus den mitgeteilten
Krankengeschichten geht hervor, daß Schädigungen durch das
Salvarsan, auch bei bereits bestehenden Erkrankungen des Seh¬
nerven nie beobachtet wurden. Bei Tabes ist selbstredend eine
Restitutio ad integrum unmöglich. Es ist nur möglich, daß der
Prozeß in seinem Fortschreiten gehemmt wird und gewisse Sym¬
ptome bei frischen Prozessen zum Schwinden gebracht werden, wie
Blas en-Mastdarmstö rangen. Auch Wiederkehr der Pupillenreaktion
wurde zuweilen beobachtet. Es ist daher auch in scheinbar
verzweifelten Fällen ein Versuch mit Salvarsan gerechtfertigt.
Daß durch eine einmalige Salvarsangabe eine Sterilisatio magna
bei dieser Art des Krankenmaterials erreicht werden kann, er¬
schien dem Verfasser von vornherein ganz unwahrscheinlich,
weswegen er von Anfang an die Etappenbehandlung gewählt hat.
Ein Intervall von vier Wochen scheint den zweckmäßigsten Ab¬
stand zwischen zwei S a 1 v ars a n g aben zu bilden. Wie oft die
Injektion zu erfolgen hat, muß die Zukunft lehren. Verfasser
wiederholt gegenwärtig die Injektion drei- bis viermal. Nach
seinen bisherigen Erfahrungen scheint das Salvarsan eine Friih-
und eine Spätwirkung zu haben. Auffallend rasch und unerwartet
bildeten sich schon wenige Tage nach der Injektion einige quä¬
lende Symptome zurück, wie Sprachstörung nach Apoplexie,
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
799
Schmerzen. Andere Symptome verschwanden oder besserten sich
erst nach drei bis vier Wochen, wie Wiederkehr der Motilität ein¬
zelner gelähmter Teile, der Pupillenreaktion usw. Was die W a ss e r¬
mann sehe Reaktion an be langt, so blieb sie in den meisten
Fällen, in denen sie vor der Behandlung positiv ausgefallen
war, auch nach Abschluß der Behandlung positiv, ln einigen
h allen wurde die anfangs positive Reaktion nach mehrmonatlichei:
Behandlung negativ. Keinesfalls kann die Wassermann sehe
Reaktion einen Maßstab für die Heilung bilden. — - (Münchener
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 18.) G.
♦
562. (Aus dem Kinderheim in Frankfurt a. M.) Kardio¬
spasmus im Säuglings alter. Von Dt. Kurt Beck. Aus
den beiden mitgeteilten Krankengeschichten ist zu ersehen, daß
dem habituellen Erbrechen ausgesprochener Kardiospasmus zu¬
grunde lag, wie er von Göppert beschrieben und als eine dem
Pylorospasmus pathologisch gleichwertige Erscheinung von seiten
der Kardia aufgefaßt wurde. Hier wie dort hindert der Krampf
ei|nes Schließmuskels die Fortbewegung der Speise und führt
zu schwerster Abmagerung des Kranken, hier wie dort verhindert
die Elastizität der kindlichen Gewebe den Eintritt einer Dilatation
des oberhalb gelegenen Teiles der Verdauungsorgane, die beim
Erwachsenen in solchen Fällen mit Sicherheit zu erwarten sind.
Nach dem Schwinden des Krampfes tritt wieder ein völlig nor¬
maler Zustand ein. Das merkwürdige Würgen beim Kardiospas¬
mus hat eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Wiederkäuen ; doch
pflegt bei diesem eine größere Menge von Nahrung ruhig auf¬
genommen und dann erst erbrochen zu werden, wogegen beim
Kardiospasmus das Würgen schon nach dem ersten Schlucken
auftritt und unmittelbar nach dem Beginn des1 Schluckaktes alles
oder fast alles erbrochen wird. Die Aetiologie des Kardiospasmus
ist unklar, die Prognose bei richtiger Behandlung und sorgfältiger
Pflege eine gute. Die Therapie besteht in systematischer Sonden¬
fütterung oder in zeitweise alleiniger Ernährung vom Darme aus.
ln ein bis zwei Wochen verschwindet dann der Krampf der
Kardia, wenn durch diese Zeit kein Reiz die Ring.miiskulat.uT/
getroffen und zur Kontraktion .angeregt hat. — (Monatsschrift
für Kinderheilkunde 1911, Bd. 9, Nr. 10.) K. S.
*
563. Zur Therapie der Pyelitis gravidarum. Von
Or. N. Markus, Assistenzarzt, an der gynäkologischen Abtei¬
lung des Allerheiligenhospitals Breslau (Primararzt: Doktor
R. Asch). Die Hauptursache des Leidens ist in dem graviden
Uterus zu suchen. Der Prozeß ist fast stets einseitig und spielt
sich überwiegend im rechten Nierenbecken, ab. Wie diese Harn¬
stauung im rechten Ureter zustande kommt, darüber sind die
Ansichten noch sehr geteilt. Verf. bespricht die einzelnen, hier
vorgebrachten Theorien und erwähnt, daß Rosinsky die
Ansicht vertritt, daß der rechte Ureter durch den graviden dextro-
vertierten Uterus direkt komprimiert werde. Für diese' Ansicht
sprechen seine Heilerfolge mit einfacher Linkslagei-
rung der Patienten. Verf. berichtet über zwei Kranke seiner
Beobachtung, die durch diese einfache Methode in kurzer Zeit
geheilt wurden. Die eine hatte eine ausgesprochene Pyelitis
(Mischinfektion von Kolibazillen und Diplokokken) und eine stär¬
kere Rechtslagerung des graviden Uterus. Einfache Linkslagerung,
daneben Wildunger Was sei' und Urotropin, welche Mittel schon
früher erfolglos angewendet worden waren. Nach sieben Tagen
war die Patientin fieberfrei, nach neun Tagen eiweißfrei ; im
Harnsediment keine Eiterkörperchen, keine Zylinder, keine Bak¬
terien. Die Patientin war nün außer Bett, bekam aber am elften
läge eine Rezidive (Temperatursteigerung, Eiweiß, Eiterkörper¬
chen und Bakterien im Urin), welche nach acht Tagen hei
derselben Behandlung schwand. Der zweite Kranke litt eben-
talls an einer rechtseitigen Pyelitis. Bei einfacher Linkslagerung
mit interner Durchspülung der Nieren konnte die Patientin nach
14 Tagen geheilt entlassen werden. Verf. glaubt, daß man in
dieser Weise in vielen Fällen von Pyelitis gravidarum rasch
zum Ziele kommen werden, ohne erst die für den praktischen
Arzt schwierige Nierenbeckenausspülung oder gar die1 Unter¬
brechung der Schwangerschaft vornehmen zu müssen. — (Ber¬
liner klinische Wochenschrift 1911, Nr. 17.) E. F.
*
Aus englischen Zeitschriften.
564. Die Art des Vorkommens von Cholesterol
in tierischen Geweben und die Methoden, die zu
seinem Nachweise benützt werden. Von A. Lapworth.
Dei Autor zeigt, daß das Digitonmverfahren von Windaus
eine sehr befriedigende Methode zur quantitativen Trennung freien
Cholesterols von seinen Estern und von anderen Substanzen, wie
Fett, Fettsäuren und Lezithin darstellt. Das Trocknen mit wasser¬
frei em Natriumsulfat verursacht keine Esterifizierung von freiem
Cholesterol in Mischungen. Nach der Trennung vom freien Chole¬
sterol können die Cholesterolester mit Kalilauge hydrolysiert
und auf dieselbe Weise durch Fällung mit Digitonin in alkoholi¬
scher Lösung bestimmt werden. Die Nieren, die Nebennieren,
Deimoidzysten und da,s Gehirn enthalten sowohl Cholesterolester
wie freies Cholesterol. Mehr als 99°/o des Cholesterols sind irn
Gehirn frei. — (The journal of Pathologie and Bacteriology 191 1
Bd. 15, S. 254.) sz ’
*
565. Ejinige Untersuchungen über da,s Problem
des Ursprunges von Immunköripern. Von Mc. Gowan.
Die intravenöse, intraperitoneale oder subkutane Injektion von
gewaschenen Ochsenblutkörperchen bei Kaninchen gibt zur Bil¬
dung von hämolytischen Immunkörpern, aber zu keiner bemer¬
kenswerten Leukozytose Anlaß. Die Entfernung der iMilz, der
Schilddrüse oder einer Niere hat keinen Einfluß auf die Entwick¬
lung von Immunkörpern. Die Ernährung von Kaninchen mit
Ochsenblut bewirkt die Entstehung von Hämolysinen, Aggluti-
ninen und Präzipitinen. — (The Journal of Pathology and '’Bac¬
teriology 1911, Bd. 15, S. 262.) sz.
*
566. Protozoengleiche Körper im Blute und in
Organen von Patienten mit gelbem Fieber. Von H. Sei¬
del in. In Blutausstrichen und in Organen von Patienten mit
Gelbfieber, gefärbt nach den Methoden von Giemsaund Leish-
mann, fand Autor kleine Körper, die in 25 von 27 Fällen
von ihm als Protozoen angesprochen wurden. - (The Journal
of Pathology and Bacteriology 1911, Bd. 15, S. 282.) sz.
♦
567. Experimentelle Untersuchungen zur Hor-
m o nen th eorie, betreffend die Entstehung von Neu-
gebilden. Von A. und H. Grünba,um. Wenn man Ratten, die
sich bei einem oder mehreren Versuchen als refraktär gegen
Sarkomimplantation erwiesen haben, gleichzeitig mit dem Sar¬
kom normale Parotisdrüse inokuliert, so wächst das Sarkom eine
Zeitlang, obgleich es schließlich doch verschwindet. Es ist mög¬
lich, das Wachstum vorübergehend wieder durch eine frische
Inokulation von Parotisgevvebe zu beleben. Die Entfernung der
Parotis bei Ratten mit wachsenden Tumoren bewirkte regres¬
sive Veränderungen in den Tumoren (in drei Fällen). — (The
Journal of Pathology and Bacteriology 1911, Bd. 15, S. 289.)
568. Skabies bei Laboratoriumstieren. Von Doktor
R. Löw. Kaninchenräude ist auf Sarcoptes minor oder auf
Psoroptes oder auf beide zurückzuführen. Die Krätze beginnt
im Gesichte und kann sich über den ganzen Körper ausbreiten.
Sie ergreift niemals die Innenseite der Ohren. Sie wird leicht
auf Meerschweinchen, aber nicht auf Ratten übertragen. Die
Psoroptesräude ergreift nur die Innenseite der Ohren. Katzenräude
ist entweder auf Sarcoptes minor oder Chorioptes cynotis zurück¬
zuführen. Rattenskabies wird durch eine- Art Sarcoptes verursacht
in der Größe zwischen Sarcoptes scabiei und Sarcoptes minor
stehend. Diese Art findet man auch beim Fuchs. Die Parasiten
und die von ihnen hervorgerufenen Veränderungen sind bildlich
dargestellt. — (The Journal of Pathology and Bacteriology 1911,
Bd. 15, S. 333.) . sz.
*
569. Untersuchungen über die kutane Pigmentie¬
rung in normalen und pathologischen Zuständen. Von
W. Dyson. Drei Theorien sind in bezug auf den Ursprung des
Hautpigmentes aufgestellt worden. 1. Das Pigment wird von der
Epidermis gebildet und das Kutispigment ist erst sekundären Ur¬
sprunges. 2. Das Pigment wird in der Kutis durch besondere
800
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
Zellen (Chromatophoren) gebildet und -durch sie in die Epi¬
dermis gebracht. 3. Das Kutis- und Epidermispigment entstehen
an Ort und Stelle und haben miteinander nichts zu tun. Aus
seinen Studien über das Pigment in normalen und pathologischen
Zuständen schließt Autor, daß die Bildung de« schwarzen Pig¬
ments eine normale Funktion der Epidermis darstelle und daß
etwas von demselben durch den Lymphstrom in die Kutis ge¬
führt werde. Für die Entstehung des Pigmentes in der Kutis
liegen keine Beweise vor. Im Beginne ihrer Bildung sind die
Pigmentpartikel mit Fettsubstanzen innigst verbunden, sowohl
im Kerne wie im Zytoplasma, was durch die Weigertsche Bi-
chromat-Hamatoxylinmethode, modifiziert von Smith und Mair
deutlich gezeigt wird. Vermehrung des Pigments ist entweder
auf Reizung der Epidermis durch Licht, Hitze] usw. zurückzuführen,
welche zu vermehrter Pigmentbildung Anlaß geben oder auf Ver¬
legung der Lymphwege in der Kutis, was zur lokalen Ansamm¬
lung des Pigmentes führt. — (The Journal of Pathology and Bac¬
teriology 1911, Bd. 15, S. 298.) sz.
*
Aus russischen Zeitschriften.
570. (Aus der therapeutischen Klinik des Prof. A. P. F a-
wizkij der mil. -med. Akademie in Petersburg.) Ueber das Pan¬
topon (Sahli). Von A. D. Ntirenberg. Pantopon ist dort in¬
diziert, wo eine Indikation für Opium, Kodein, Morphium, Dionin,
Heroin etc. besteht; manchmal auch als Ersatz gewisser Schlaf¬
mittel ; bei manchen Fällen von Appendizitis, verschiedenen Krampf-
zusländen des Magendarmkanals, bei periodischen Psychosen, viel¬
leicht auch bei Diabetes insipidus etc. ist Pantopon seinen arznei¬
lichen Analogis vorzuziehen. Ulcus ventriculi und Hypersekretion
sind nach Rodari als Kontraindikalion anzusehen. Diese Angabe
bedarf der Bestätigung, ebenso wie die Angabe desselben Autors,
daß die Motilität des Darmes herabgesetzt werde. Die Angaben aller
Nachprüfer stimmen darin überein, daß das Pantopon keinerlei
Nebenwirkungen auf Blutkreislauf und Atmung hat. Die Anwend¬
barkeit und Wirksamkeit des Pantopons bleibt bei Applikation per
rectum und subkutan erhalten; hiebei wurde in der Fawizkij-
schen Klinik als größte Einzeldosis 0'02 g verwendet. Die Giftig¬
keit großer Pantopondosen ist sehr unbedeutend. Ein Fall allge¬
meiner Erregung nach Pantoponeinspritzung, ebenso wie ein ähn¬
licher, von Ewald beobachteter, weisen auf notwendige Vorsicht
beim Gebrauch bin, wenn es sich um Patienten mit allgemein ge¬
steigerter Erregbarkeit des Nervensystems handelt. Die Narkose bei
Anwendung von Skopolamin-Pantopon zu chirurgischen Zwecken
ist weniger tief als die Morphin-Skopolamin-Narkose. - — (Russkij
Wratsch 1911, Nr. 6.) L. Sch.
*
571. (Aus dem pathologischen Kabinett des Instituts für ex¬
perimentelle Medizin.) Ueber den Einfluß von Blutver¬
lusten auf Verdauungsprozesse. Von N. A. Dobro-
w o 1 s k aj a. Eine einmalige Entziehung von 1/3 bis % des ange¬
nommenen Gesamtblutes des Hundes ruft im Wesen folgende
Störungen des Verdauungsmechanismus hervor. Es lassen sich zwei
Phasen unterscheiden: 1. Die Phase der Herabsetzung von Se¬
kretions- und Motilitätskraft; 2. die Phase mit erhöhter Sekretion
und Motilität. Die Säfte der ersten Phase enthalten mehr feste
Stoffe. In der zweiten Phase wird die Speise schlechter verdaut
und resorbiert ; die beiden letzteren Prozesse können in der ersten
Phase verstärkt werden. Wiederholte Blutentziehungen wirken ähnlich,
aber in ausgeprägterer Form. Wird nach der Blutentnahme physio¬
logische Kochsalzlösung in die Vene gespritzt, so wird für kurze
Zeit die Wirkung der Blutentnahme paralysiert, ohne daß die
Wiederkehr der normalen Funktionen beeinflußt würde. Die drei
Nährstoffgruppen (Eiweißkörper, Fette und Kohlehydrate) werden
bezüglich ihres Schicksals in gleicher Weise beeinflußt. Die Wieder¬
kehr der durch die Blutentnahme alterierten Funktionen zur Norm
tritt hei den einzelnen Darmabschnitten mit ungleicher Schnellig¬
keit ein. — (Russkij Wratsch 1911, Nr. 7.) J. Sch.
*
572. (Aus dem Laboratorium der propädeutisch-therapeutischen
Klinik des Prof. Fawizkij der mil. -med. Akademie in Peters¬
burg.) Ueber physiologische Glykosurie und ihre
Beeinflussung durch Kohlehydrathunger. Von M. J.
Barantschick. Der normale Urin enthält Zucker in kleinen
jedoch meßbaren Mengen. Im Laufe von 24 Stunden scheidet ein
gesunder Mensch 0 23 bis 0 665 g Zucker aus, demnach 0‘01 bis
0‘0369%. Völlige Ausschaltung der Kohlehydratkomponente aus
der Nahrung im Laufe von fünf Tagen bleibt ohne jeden Einfluß
auf den Zuckergehalt des normalen Harnes. Verf. schließt aus dieser
Tatsache, daß die physiologische Glykosurie auf einer Durchlässig¬
keit der Niere für kleine Zuckermengen beruht. — (Russkij Wratsch
1911, Nr. 1.) J. Sch.
+
573. Aus der therapeutischen Hospitalsklinik des Prof. N. A.
Sassjetzkij der Kasaner Universität.) Zur Frage der Blut¬
veränderung bei Morbus B a s e d o w i und bei Kropf.
Von W. A. Bjeljajew. Bei Morbus Basedowi ließ sich eine
Oligozythämie hei parallel vermindertem Hämoglobingehalt nach-
weisen. Meist fand sich Leukopenie. Die polynukleären Neutrophilen
waren vermindert (42 bis 5 3 • 7 °/0) , die Zahl der Lymphozyten war
vermehrt (ca. 50% im Durchschnitt). Die großen Mononukleären waren
vermehrt (bis 4' 2%), die Eosinophilen meist vermindert. Bei
Patienten mit einfachem Kropf war die Zahl der Erythrozyten meist
normal, der Hämoglobingehalt ein wenig vermindert. Die Gesamt¬
zahl der Leukozyten war meist normal, manchmal leichte Leuko¬
penie. Die Lymphozytenzahl (relativ) war vermehrt (zwischen 34 und
59 4%). Manchmal — jedoch nicht oft — war die Zahl der großen
Mononukleären vermehrt. Die polynukleären Neutrophilen waren
vermindert (50 — 33'6°/0). Die Eosinophilen waren meist ver¬
mindert, die Uebergangsformen meist vermehrt. Die Blutuntersuehung
kommt daher als differentialdiagnostisches Moment hei Kropf nicht in
Betracht. — (Russkij Wratsch 1911, Nr. 7.)- J. Sch.
Sozialärztliche Revue.
Von Dr. L. Sofer.
Die von uns in Nummer 10 angekündigte Vorlage eines
sozialen Versicherungsgesetzes in England ist inzwischen erfolgt.
Der Schatzkanzler Lloyd George, der nach längerer Krankheit
wieder im Hause erschienen war, legte den Entwurf dem Parla¬
mente vor; er fand allgemein Zustimlmung, da er weiter geht,
als man angenommen hatte. Er gliedert sich in zwei Teile:
Krankheit und Arbeitslosigkeit. Die Krankenversicherung
gliedert sich in die pflichtliche und die freiwillige; die ersten:
besteht für ein jährliches Gesamteinkommen von weniger als
160 Pfund (ca. 3840 K ; 1 Pf. = 24 K) ; Unternehmer und Staat
leisten Beiträge. Ausgenommen von dem Gesetz sind Lehrer und
Angehörige Von Heer und Flotte, für die besonders gesorgt
werden soll. Der Lohnabzug wird hei Männern 4 Pence (l Pence
: 9 h), bei Frauen 3 Pence wöchentlich betragen. Die Gesamt
zahl der von dem Gesetz betroffenen Männer, Frauen und Jugend¬
lichen beträgt 14,700.000. Um der Ausbreitung der Schwindsucht
zu begegnen, schlägt die Regierung vor, den Gemeinden bei der
Errichtung von Sanatorien im ganzen Landet Beihilfe zu leisten.
Der Staat wird dafür einen Betrag von anderthalb Millionen Pfund
Sterling bestimmen. Die Krankenunterstützung soll für die ersten
drei Monate 5 Schilling (l Schilling — 1 K 20 1)1
wöchentlich betragen. Dauernd Arbeitsunfähige sollen fünf
Schilling wöchentlich erhalten. Der Entwurf soll haupt¬
sächlich mit. Hilfe der Arbeiterunterstützungsvereine (Friendly
Societies) durchgeführt werden, doch können die Beiträge
auch durch die Post entrichtet werden. Das Gesetz soll am
1. Mai 1912 in Kraft treten. Die Belastung des Staates für
1912/13 wird sich auf 1,742.000 Pf. St. belaufen, für 1913/14
auf 3,350.000 Pf. St. und für 1915/16 auf 4,568.000 Pf. St. Was
die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit betrifft, ein Punkt, in
dem das englische Gesetz über das deutsche Vorbild hinausgehl.,
so wird sie pflichtlich, vorläufig aber; nur auf das Maschinen- und
Baugewerbe beschränkt sein, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen
je 2Va Pence für die Woche entrichten, während der Staat ein
Viertel der Kosten tragen wird. Die Arbeitslosenunterstützung
wird hei den Maschinenbauern 7 Schilling wöchentlich betragen.
Im Falle von Ausständen oder Aussperrungen werden aber keine
Zahlungen geleistet. Von diesem Gesetze werden 2,400.000 Ar¬
beiter betroffen, deren Gesamtbeiträge 1,100.000 Pf. St. betragen
würden. Die Unternehmer würden 910.000 Pf. St. und der Staat
750.000 Pf. St. zuschießen. Die gesamte Belastung im ersten
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
801
Jahre für beide Arten der Versicherung würde 24,500.000 Pf. St.
betragen, wovon der Staat 2,500.000 Pf. St. beizutragen hätte.
Im vierten Jahre würden die Beiträge des Staates schon auf
5,500.000 Pf. St. gestiegen sein. Die Vorlage, auf die wir noch
zuriickkonimen werden, ist im wesentlichen eine Nachbildung
der deutschen Sozialversicherung, für englische Verhältnisse zu-
geschnitten. Sie ist trotzdem berufen, eine große Umwälzung
im Leben des englischen Volkes hervorzubringen.
Die trage der Arbeitslosenversicherung, die im all¬
gemeinen noch am meisten rückständig ist, hat in Dänemark
und Norwegen einen großen Fortschritt erfahren. In Dänemark
besteht eine ausgebreitete Organisation freiwilliger Arbeits¬
losenversicherung. Nach diesem Gesetze müssen Arboits-
losenkassen, wenn sie gewisse Bedingungen erfüllen, vom Staate
und können von den Gemeinden unterstützt werden. Die Ge¬
meindebeiträge dürfen nicht ein Drittel des Betrages der Mit¬
gliederbeiträge überschreiten; die Staatsunterstützungen betragen
die Hälfte des Betrages der Mitglieder- und Gemeindebeiträge.
Nach dem letzten Rechenschaftsbericht, der die Zeit vorn 1. April
1909 bis 31. März 1910 umfaßt, betrug am Schlüsse des Berichts¬
jahres die Zahl der anerkannten Arbeitslosenkassen 18, der männ¬
lichen Mitglieder 85.728, der weiblichen 9501, zusammen 95.289.
Das größte Kontingent der Mitglieder bilden die Täglöhner. im
großen Abstand dann folgen die Metallarbeiter, dann die Tischler
und die Maurer. Die Zahl der Unterstützungstage betrug bei
37 Kassen . 1909/10 : 1,053.853 und bei sämtlichen Kassen
1,087.186 Tage; auf jedes Mitglied sind 13 Tage zu rechnen,
in denen es unterstützt wird. Verwandt ist die Regelung in Nor¬
wegen. Das Gesetz stammt vom' 12. Juni 1906. Jede Arbeitslosen¬
kasse, die gewisse Bedingungen erfüllt, erhält aus der Staatskasse
ein Drittel der Geldbeträge, mit denen sie ihre in Norwegen
wohnhaften Versicherten unterstützt. Zwei Drittel der vom Staate
bezahlten Beiträge werden auf die Gemeinden umgelegt, in denen
die Unterstützten während der letzten fünf Jahre gewohnt hauen.
Die Gewerkschaften brauchen nicht, wie in Dänemark, der Form
nach selbständige Arbeitslosenkassen zu errichten, ln Christiania
wurden von sechs anerkannten Arbeitslosenkassen 3700 Arbeits¬
lose angemeldet.
In Deutschland soll eine Gesellschaft zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit als deutsche Abteilung der Internationalen
Vereinigung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
gegründet werden. Beitrittserklärungen nimmt das Bureau des
Verbandes deutscher Arbeitsnachweise, Berlin SO, entgegen. In
dein Aufrufe wird auf die im Herbste vorigen Jahres in Paris
stattgehabte Internationale Konferenz zur Bekämpfung der Ar¬
beitslosigkeit und auf die Gründung der Internationalen Vereini¬
gung hingewiesen. Die deutsche Gesellschaft soll alle bezüglichen
Materialien sammeln und so zur Lösung des Problems beitragen.
Die neueste Forderung der Sozialpolitik ist die unentgelt¬
liche Geburtshilfe. Sie ist bis jetzt durcligeführt in Olfen¬
bach und in einigen schweizerischen Städten: Aarau, Neuen¬
bürg, Zug. Zuletzt ist diese Reform in Zürich durchgedrungen.
Der Züricher Stadtrat hat sie für unbemittelte Wöchnerinnen unter
folgenden Bedingungen beschlossen: Wöchnerinnen, die seit min¬
destens einem Jahre ununterbrochen in der Stadt Zürich nieder¬
gelassen und auf ein Einkommen von nicht mehr als 2000 Franken,
ohne Vermögen, angewiesen sind, sind zur unentgeltlichen Ver¬
pflegung in der kantonalen Frauenklinik oder zum Bezüge der
staatlichen Hebammengebühr (25 Franken) und bei abnormalen
Geburten auch zum Bezüge der Arztes- und Arzneikosten berech¬
tigt. Ausnahmsweise kann in Fällen, wo ein höheres Einkom¬
men vorhanden ist, aber die wirtschaftliche Lage der Familie
es rechtfertigt, diese Vergütung ebenfalls gewährt werden. Behufs
Sicherstellung der Anstaltspflege wurde mit der Verwaltung der
kantonalen Frauenklinik ein Vertrag geschlossen, demzufolge die
Gemeinde für die Erweiterung dieser Staatsanstalt 440.000 T ranken
leistet und das Recht erhält, jährlich 2000 Wöchnerinnen gegen
«’ine die amtliche Gebühr übersteigende Verpflegungstaxe (1 Trank
über den amtlichen Satz) zu überweisen. Eine Verordnung zur
Kugelung des Verhältnisses zu den Krankenkassen, die eine solche
Vergünstigung bereits gewähren und zur bevorstehenden eid¬
genössischen Wöchnerinnen- Versicherung soll ausgcai‘1 teilet
werden. In Zürich bestehen außerdem folgende gemeinnützige
Maßregeln: Die unentgeltliche Beerdigung, die freie Lieferung der
Lehrmittel und eine großzügige Wohnungsfürsorge.
Nicht nur in Oesterreich — siehe die letzte Rektorenkonfe
renz — sind die Hochschullehrer mit ihrer Lage unzufrieden.
Besonders die außerordentlichen Professoren klagen über
ihre Zwitterstellung. So gibt es in Preußen für gewisse Tücher,
wie gerichtliche Medizin, Dermatologie, Statistik,
überhaupt keine Ordinariate; die Lehrer der betreffenden Fächer
können höchstens zu einem persönlichen Ordinariat gelangen,
Zweitens gibt es eine Reihe von Fächern, wie Kinderheilkunde,
Ohrenheilkunde, spezielle Botanik usw., in denen die Zahl der
vorhandenen Ordinariate so gering ist, daß sich die außerordent¬
lichen Professoren dieser Fächer mit dieser Stellung dauernd oder
doch sehr lange begnügen müssen; von der Bedeutung der außer¬
ordentlichen Professoren als bloßen Durchgangsposten kann also
in der Regel nicht die Rede sein. Daran hindert überhaupt die
große Zahl von Extraordinariaten gegenüber den Ordinariaten.
Dieser Vernachlässigung seitens des Staates entspricht auch die
untergeordnete Stellung im Lehrkörper selbst. Von dem Senat
und den Fakultäten ist der Extraordinarius so gut wie ausge¬
schlossen. Die Gewohnheit aber, unverhältnismäßig viel Stellen
mit Hilfskräften, anstatt mit Vollkräften zu besetzen, hemmt
in letzter Linie die wissenschaftliche Entwicklung der betref¬
fenden Fächer. Zu dem kommt noch ein anderer; Umstand. Die
Universitäten und in erster Linie die medizinischen Fakul¬
täten, entwickeln sich immer entschiedener aus Vorlesungs-
ämtern, bei denen es nicht viel verschlägt, ob der: Vortragende
vor 50 oder 300 Hörern liest, zu Arbeitsämtern, wo ein Lehrer
immer nur mit einer beschränkten Zahl von Studenten in den
Laboratorien, Kliniken und Ambulatorien arbeiten kann. Der Ordi¬
narius kann allein nicht mehr die Aufgabe bewältigen, er muß
die Extraordinarien der betreffenden Fächer mit zu seiner Ent¬
lastung herbeiziehen. Dies geschieht aber heute, ohne daß ihnen
eine entsprechende Entschädigung geboten würde. Daher stellt eine
Denkschrift der außerordentlichen Professoren folgende Forde¬
rungen auf: 1. Mit dem Hilfslehrersystem muß an sämtlichen
Universitäten gebrochen und der Grundsatz durchgeführt werden,
ein Lehrbedürfnis nur durch eine wirkliche Vollstelle (Ordinariat)
zu decken. Von den vorhandenen Hilfsstellen (Extraordinariaten)
— gleichviel, ob etatmäßig oder nicht — ist daher die größere
Zahl in VollstcTlon umzuwandeln. 2. Die Extraordinarien, welche
übrig bleiben, sind in einer Weise an dein korporativen Leben
der Universitäten zu beteiligen, die ihrer Bedeutung für den
Unterricht und ihrer Eigenschaft als Staatsbeamten angemessen
ist; auch ist ihre materielle Lage zu verbessern. 3. Die Stellen
der Abteilungsvorsteher sind in etatmäßige Extraordinariate oder
Ordinariate mit Lehrauftrag umzuwandeln.
\ Auch die folgende Nachricht wird das Interesse weiter
akademischer Kreise erwecken. Das Testieren am Schlüsse
des Semesters ist an der Berliner Universität als zwecklos al>
geschafft worden. Nun ist man einen Schritt weiter: gegangen,
indem auch bei Beginn des Semesters gleich beim Bezahlen der
Honorare an der Universitätskasse das Testat durch einen vom
Quästor aufgedruckten Stempel ersetzt wird.
Im Deutschen Reiche besteht bekanntlich der Impf¬
zwang, den wir bis jetzt in Oesterreich vergebens erhoffen.
Andrerseits wird von seiten der Naturheiler eine lebhafte Agita¬
tion gegen das Impfen entfaltet. Ende April fand nun im Mini¬
sterium des Innern eine Konferenz sämtlicher Regierungs- und
Medizinalräte des Deutschen Reiches und der Vorsteher der preu¬
ßischen Impfanstalten statt; die Beratung bezog sich auf die
Bedeutung und die Durchführung der Schutzpockenimpfung und
auf die Frage, ob und inwieweit eine Abänderung des Reichs¬
impfgesetzes zulässig sei. Diese Frage wurde einstimmig ver¬
neint und die Schutzimpfung als ein unentbehrliches Mittel zur
Verhütung der Pocken erkannt.
Der Kultusminister ordnete an, daß die Behörden der Durch¬
führung des Impfgeschäftes ihre besondere Aufmerksamkeit wid¬
men sollen. Die Impfärzte sollen die iaseptisc'hen Vorsichtsmaßregeln
streng beobachten. Kinder, welche mit unsauberer Wäsche und
ungewaschenem Körper zum Impftermin erscheinen, sind, so¬
weit sich dieser Mangel nicht im._Termin selbst beheben läßt,
zurückzuweisen. Jedem Kinde soll vor dem Impfen der Ober¬
arm mit einem mit Alkohol getränkten Bausch steriler Watte
abgerieben werden. Auch soll möglichst jede Blutung vermieden
werden. Nach der Impfung sind die Kinder so lange unter Auf¬
sicht zu halten, bis die Lymphe vollkommen getrocknet ist; auch
ist darauf zu achten, daß die Angehörigen nicht etwa die Wunde
aussaugen oder abwischen, wie es von impfgegnerischer Seite
empfohlen wird. Auch sollen die Angehörigen von jedem un¬
gewöhnlichen Verlauf der Impfung und von jeder Erkrankung
in den nächsten 14 Tagen dem Impfarzt Mitteilung machen.
Die Antipestkonferenz in Mukden ist ohne Resul¬
tat verlaufen. Die europäischen Delegierten begegneten dem
Widerstand der chinesischen Aerzte, sobald sie eine ernste Frage¬
stellung versuchten. Das einzige, was erzielt wurde, ist die Er¬
richtung einer Sanitätsstation am Sungari, die von Rußland
und China gemeinschaftlich verwaltet wird.
802
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 22
\/ermisehte Nachrichten.
Ernannt: Generalstabsarzt Dr. Jos. Haas zum Präses
dos Militärsanitätskomitees. - — - Im land wehr ärztlichen
Offizierskorps: zu Oberstabsärzten erster K lasse die Doktoren :
Nikolaus Teodorovits und Bela Polin szky v. Kassa; zu
Oberstabsärzten zweiter Klasse die Doktoren: Gabriel Csejdi,
Ludwig Lichtenegger, Demetrius The odor ovits, Desiderius
Tönay, Alexander Szepesi, Ladislaus K es zier, Eduard Birö,
Hermann R osenberg; zu Stabsärzten: Gregorius Osväth,
Alexander Kanizsai, Zoltän Majos, Wilhelm Nazimeeki,
Hermann F e n y 6.
*
Generalstabsarzt Dr. Philipp Peck, Vorstand der 14. Ab¬
teilung im Reichskriegsministerium, wurde mit der Führung der
Dienstagenden des Chefs des Militärärztlichen Offizierskorps
betraut.
*
Verliehen: Aus Anlaß der Uebernahme des Generalober¬
stabsarztes Prof. Dr. Florian Ritter Kratschmer v. Forst¬
burg, Chefs des Militärärztlichen Offizierskorps und Präses des
Militärsanitätskomitees, in den Ruhestand, das Komturkreuz des
Franz Joseph- Ordens mit dem Sterne und dem Generalober¬
stabsarzt Dr. Karl Nusko das Ritterkreuz des Leopold- Ordens.
Dr. Jiakob Schreiber in Wien der Titel eines kaiser¬
lichen Rates.
*
Gestorben: Der ordentliche Professor der Histologie und
Entwicklungsgeschichte in Innsbruck Dr. Ludwig Kersch n er.
Geh. Med.-Rat Dr. Karl H e n n i g, a. o. Professor der Geburts¬
hilfe, Frauenheilkunde und Pädiatrie in Leipzig. — - Dr. Hermann
Jakob Knapp, ehemaliger Professor für Augenheilkunde in Heidel¬
berg und New York.
*
Vom 25. bis 27. Mai hat in Wien die Delegiertenver¬
sammlung österreichischer Aerz teorgani sätionen
stattgefunden. Einen Hauptgegenstand der Beratung bildete das Re¬
ferat, des Präsidenten des Reichs Verbundes österr. Aerzteorganisa-
tionen, Dr. Gruß über den Vorentwurf zu einem neuen Strafgesetz¬
entwurf, soweit er ärztliche Interessen berührt und das Sozialver-
sicherungsgesetz. Es wurde beschlossen, an der Forderung festzu¬
halten, daß von der Krankenversicherung alle Personen, ausgenomr
mem werden, deren Gesamtbezüge 2400 K übersteigen. Ueber die
Schaffung einer Zentralstelle, in der alle straf-, zivil-, gewerbe-
und verwaltungsrechtlichen Entscheidungen, die ärztliche Inter¬
essen berühren, gesammelt und hinterlegt, ebenso alle sozial¬
ärztlichen Vorkommnisse aufbewahrt und in Evidenz gehalten
werden, referierte Dr. Heinrich Grün. Er beantragte im Namen
der Wiener Organisation, daß die sozialärztliche Bewegung durch
die Schaffung eines sozialärztlichen Zentralarchivs in ein System
.gebracht werde. An diesem Zentralarchiv hätten direkt oder
indirekt alle Aerzte Oesterreichs mitzuwirken. Aufgabe des sozial-
ärztlichen Zentralarchivs wäre die Sichtung des gesamten sozial-
ärztlichen und sozialmedizinischen Materials.
*
Im preußischen Abgeordnetenhausei ist das Gesetz für! Feuer¬
bestattung mit 176 gegen 158 Stimmen angenommen worden.
Dessen Annahme durch das Herrenhaus vorausgesetzt, bleiben
von den größeren deutschen Bundesstaaten nur mehr Bayern
und Mecklenburg, welche am Verbot der Feuerbestattung f ent¬
halten.
*
Der V. Internationale Kongreß für Thalasso¬
therapie in Kolberg wird am 6. Juni durch den Großherzog
von Mecklenburg- Schwerin persönlich eröffnet werden. Die Re¬
gierungen fast aller Kulturstaaten werden durch offizielle Dele¬
gierte vertreten sein. In der ersten Sitzung hält Geheimrat Zuntz
einen Vortrag über physiologische und hygienische Wirkungen
der Seereisen.
*
Aerztliche Fortbildungskurse in Graz. Die ärzt¬
lichen Fortbildungskurse an der Grazer Universität werden in
diesem Jahre vom 25. September bis 7. Oktober 1911 abgehalten
werden. Die Programme werden auf Wunsch von der Univer-
sitätsquästur in Graz übersandt.
*
Der nächste Zyklus der Ferienkurse der Berliner Do-
zentenvereinigung beginnt am 2. Oktober 1911 und dauert
bis zum 28. Oktober 1911 und die unentgeltliche Zusendung
des Lektionsverzeichnisses erfolgt durch Herrn Melzem Berlin,
Ziegelstraße 10/11 (Langen beck- Haus), welcher auch sonst hier¬
über jede Auskunft erteilt.
*
Cholera. Rußland. Im Gouvernement Minsk (West¬
rußland) wurden vom 21. bis 29. Apiril 4 Choleraerkrankungen,
davon 1 mit tödlichem Ausgang, gemeldet. — Türkei. Vom
26. April, dem Tage des tödlich verlaufenen ersten Cholerafalles,
bis 7. Mai sind in Smyrna 9 Choleraerkrankungen, darunter
4 mit letalem Ausgange, offiziell konstatiert worden.
Pest. Aegypten. In der Woche vom 28. April bis 4. Mai
1911 ereigneten sich in Aegypten 68 (43) Pestfälle (Todesfälle)
und zwar in den Provinzen Assiout 9 (4), Assouan 0 (1),
Fayoum 1 (2), Keneh 41 (34), MenoufieW 2 (1), Minieh 14 (l),
in der Stadt Alexandrien 1 (0) ; in der Woche vom 5. (jus
11. Mai 1911 60 (51) Pestfälle (Todesfälle), und zwar in den
Provinzen Assiout 12 (ll), Fayoum 10 (7), Keneh 29 (26), Me-
noufieh 3 (4), Minieh 6 (3). Die Gesamtzahl der seit Beginn des
Jahres bis zum 6. Mai konstatierten Pesterkrankungen beträgt
1323 gegenüber 470 in der entsprechenden Zeitperiode des Vor¬
jahres. Die im ganzen vorigen Jahre erreichte Krankheitsziffer
von 1238 Fällen ist also gegenwärtig bereits überschritten.
4
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 18. Jahreswoche (vom 30. April bis
6. Mai 1911). Lebend geboren, ehelich 560, unehelich 238, zusammen
798. Tot geboren, ehelich 59, unehelich 26, zusammen 85. Gesamtzahl der
Todesfälle 688 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17 5 Todesfälle) an Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 4,
Scharlach 2, Keuchhusten 1, Diphtherie und Krupp 3, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 2. Lungentuberkulose 136, bösartige Neu¬
bildungen 51, Wochenbettfieber 5, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 70 (-f- 11), Wochenbettfieber 6( — 1), Blattern 0
(0), Varizellen 55 (— • 35), Masern 180 ( — 55), Scharlach 101 (— 2)
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 5 (4- 2), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0)
Diphtherie und Krupp 50 (— 20), Keuchhusten 39 (+ 9), Trachom 7 (— 7)
Influenza 1 (-j- 1), Poliomyelitis 0 (0).
19. Jahreswoche (vom 7. bis 13. Mai 1911). Lebend geboren,
ehelich 553, unehelich 240, zusammen 793. Tot geboren, ehelich 54,
unehelich 22, zusammen 76. Gesamtzahl der Todesfälle 698 (d. i. auf
1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden 17'7 Todesfälle), an
Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 12, Scharlach 2, Keuch¬
husten 3, Diphtherie und Krupp 7, Influenza 1, Cholera 0, Ruhr 0, Rot¬
lauf 5, Lungentuberkulose 113, Bösartige Neubildungen 61, Wochenbett-
fieber 3, Genickstarre 0. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf
57 ( — 13), Wochenbettfieber 2 (- 4), Blattern (0), Varizellen 87 ( r 324
Masern 267 (-J- 87), Scharlach 102 (-J- 1), Flecktyphus 0 (0), Rauch¬
typhus 2 ( — 3), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie u. Krupp 44 (— 64
Keuchhusten 35 ( — 4), Trachom 6 ( — 1), Influenza 1 (=), Polio¬
myelitis 0 (0).
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle in der Sanitätsgemeindegruppe
Hadres-Untermarkersdorf (Niederösterreich). Die Einwohnerzahl
beträgt 2758, Gemeindebeiträge 400 K. Die vorschriftsmäßig instruierten
Gesuche wollen an das Bürgermeisteramt Hadres bis 15. Juni 1. J.
übersendet werden.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeinde K alten¬
eu tgeben (politischer Bezirk Hietzing-Umgehung, Niederüsterreich) mit
2134 Einwohnern. Mit dieser Stelle sind nachstehende fixe Bezüge ver¬
bunden: als Gemeindearzt der Sanitätsgemeinde Kaltenleutgeben jährlich
800 K, als Arzt der Bezirkskrankenkasse Baden für Behandlung doi
Arbeiter und Versorgung mit Medikamenten 1840 K, für Armenbehand¬
lung vom Bezirksarmenrate Liesing 150 K. Haltung einer Hausapotheke
erforderlich. Die mit dem Diplom, dem Tauf- (Geburts-) Scheine, dem
Nachweise der österreichischen Staatsbürgerschaft, dem Sittenzeugnisse,
einem amtsärztlichen Gesundheits- beziehungsweise Tauglichkeitszeugnisse,
sowie mit den Nachweisungen über die bisherige ärztliche Tätigkeit
ordnungsmäßig instruierten, an den niederösterreichischen Landesaus¬
schuß zu richtenden Gesuche sind bis längstens 15 J u n i d. J. an das
Bürgermeisteramt in Kaltenleutgeben zu senden, wo auch nähere Aus¬
künfte über diese Stelle erteilt werden.
Gemeindearztesstelle der Sanitätsgemeindegruppe Re i ti¬
gers (politischer Bezirk Gmünd, Niederösterreich), bestehend aus den
Gemeinden Reingers, Groß-Radischen, Reinberg-Litschau, Hirschenschlag-
Illmanns und Leopoldsdorf, 3794 km2 groß, 2386 Einwohner, fixe Bezüge
238 K von den Gemeinden; vom niederösterreichischen Landesausschusse
bisher gewährt an Subvention 1600 K, an Wohnungsbeitrag 200 K jähr¬
lich. Hausapotheke erforderlich. Ordnungsgemäß belegte Gesuche sind
bis spätestens 20. Juni 1911 beim Bürgermeisteramt in Reingers
einzubringen.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
803
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 26. Mai 1911.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 11. Mai 1911.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
\
Sitzung vom 26. Mai 1911.
Vorsitzender: Reg.- Rat Prof. Dr. A. Kreidl.
Schriftführer: Dr. 0. v. Frisch.
Laut Mitteilung des Präsidenten Hofrat Exner wird, über
diesbezügliche Aufforderung des k. k. niederösterreichischen
Landesschulrates, Herr Priv.-Doz. Dr. Anton B um als Dele¬
gierter der Gesellschaft in die Zentrale für die körper¬
liche' Erziehung der Schuljugend in Niederöster¬
reich, nominiert.
Dr. W. Weibel: Ich erlaube mir, Ihnen eine 42jährige
Fiau zu demonstrieren, hei der ich dieses Präparat exstirpiert
habe. Sie kam wegen langdauernder Verdauungsstörungen und
Schmerzen im Abdomen an die II. Frauenklinik. Man konstatierte
im Abdomen multiple Tumoren, welche sich in etwas freier
Flüssigkeit außerordentlich gut verschieben ließen und nahm an,
daß es sich um einen Primärtumor mit Metastasen an Netz und
Darm handle1. Das Genitale konnte als Sitz tier Tumoren aus¬
geschlossen werden, da, Uterus und Adnexe keine tastbaren Ver¬
änderungen aufwiesen.
Bei der Laparotomie zeigte es sich, daß vier Tumoren vor¬
handen warfen, welche hintereinander in einer Dünndarmschlinge
saßen. Im zugehörigen Mesenterium stak eine kleinapfelgroß-e
Drüsenmetastase, gut beweglich. Der maligne Charakter der Ge¬
schwulst unterlag keinem Zweifel. Der eben erwähnte Drüsen¬
tumor machte es bei der nun folgenden Resektion der befallenen
Dünndarmschlinge notwendig, beiderseits noch ein gesundes Dann-
stück mitzunehmen, so daß 135 cm Darm zur Resektion kommen
mußten, teils Ileum, teils Jejunum. Die Vereinigung der Dank¬
enden geschah „end to end“. Das rechte Ovarium wurde wegen
einer derben, haselnußgroßen Metastase exstirpiert. Das Gesamt¬
gewicht der Geschwülste beträgt 1850 g. Der Verlauf war ganz
glatt und die Patientin verließ geheilt die Klinik.
Am Präparate findet man vier hintereinander liegende ovoide
Tumoren von Kleinfaust- bis Doppelfaustgröße, zwischen denen
immer ein kurzes Stück anscheinend normalen Darmes liegt.
An einem Längsschnitt durch einen Tumor zeigt sich, daß die
ganze Darmwand dick infiltriert, das Lumen aber nicht ver¬
engt ist. Mikroskopisch findet man ein kleinzelliges Rundzellen-
sarkom, ausgehend von den Lymphfollikeln, welches auch die
makroskopisch normal scheinende Darmschleimhaut diffus in¬
filtriert. Ja seihst die beiderseitigen, anscheinend gesunden Enden
Jus resezierten Darmes sind sarkomatös infiltriert. Der Knoten
im Ovarium ist ebenfalls ein kleinzelliges Rundzellensarkom.
Die Lymphosarkome des Darmes gehören zu den seltenen
Erkrankungen, sie befallen vorzüglich den Dünndarm, kommen oft
multipel vor, bleiben lange gut beweglich, rezidi vieren aber rasch
und geben eine schlechte Prognose. Chiari fand auf tausend
Sektionen nur ein Sarkom des Darmes und nach Mikulicz
kommen auf 100 Fälle von Darmkarzinom (ohne die Rektum¬
karzinome) nur fünf Fälle von Darmsarkomen.
Die Patientin zeigt jetzt, zwei Monate nach der Operation,
in der linken Flanke einen beweglichen, eigroßen Tumor und
'inen zweiten, faustgroßen, wenig beweglichen in der Magen-
Gegend. Die Anordnung der exstirpierten Tumoren ist derart,
laß der größte der am meisten distal gelegene ist, der kleinste
d>er proximal liegt. Die jetzigen Rezidivtumoren liegen noch
nehr proximal, was mit der Richtung des Lymphstromes riber-
’ bestimmt.
Priv.-Doz. Dr. Leopold Freund: Zur B andagen behau d-
> u n g d e r Gastroptosc.
In bezug auf die Behandlung der Gastroptosc herrscht
zwischen Internisten und Chirurgen keine besondere Ueberein-
dimmung. Nur bezüglich der Bandagenbehandlung der Gastroptosc
und beide Lager einig. Von beiden wird sie als rationelle Methode
a Vorschlag gebracht. Demzufolge sind auch eine Menge von
km dagen und Band agierun gsmethoden zur Behandlung dieses
Leidens angegeben werden. Auffallenderweise haben aber alle
liese Hilfsmittel, deren Anwendung von dem sicher richtigen
Wiener dermatologische Gesellschaft. Sitzung vom 8. April 1911.
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin.
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft fiir Chirurgie zu Berlin.
Grundsätze ausgehen, daß eine Besserung der Verdauungs-
beschwerden bei solchen Kranken dann eintreten müßte, wenn
dem gedehnten Magen die durch Senkung der Dünndarmschlingen
und des Querkolons, sowie durch Dehnung der Bauchdecken
verloren gegangene Unterlage und Stütze von außen her in der
Bandage geboten wird, wenig Erfolg. Es ist bekannt, daß sehr
viele Frauen wegen der bedeutenden Beschwerden, die solche
Bandagen verursachen, nach kurzem Versuche von ihrem Ge¬
brauche absehon und sich lieber mit dem von der Gastroptosc
ausgehenden Unbehagen abfinden, als die Bauchbinde wieder
anzulegen.
Ich habe mir die Aufgabe gestellt, diese Tatsache auf radio-
skopischem Wege zu prüfen und habe zu diesem Zwecke mit
gütiger Unterstützung des Herrn Prim. Dr. Karl Reift er im
letzten Halbjahr eine Reihe von Untersuchungen an der dritten
medizinischen Klinik gemacht, deren Resultate ich mir hier kurz
mitzuteilen erlaube. Diese Untersuchungen bezogen sich aus¬
schließlich auf die radioskopischen Verhältnisse hei Personen
mit schlaffen Bauchdecken, da ja für Personen mit straffer Bauch¬
wand die Bandagenbehandlung, wie v. No or den gezeigt hat,
als wirkungslos kaum in Betracht kommt. Um die Beziehungen
zwischen der meist verwendeten Bandage und dem gedehnten
Magen genau studieren zu können, ließ ich die Pelotten der
vei'ordneten Binden aus einem für Röntgenstrahlen transparenten
Stoffe, nämlich Zelluloid hersteilen, das natürlich so stark ge¬
nommen wurde, daß die Konsistenz und Elastizität dieser Zelluloid-
pelotten sich von jener der sonst allgemein verwendeten nicht
unterschied. Entlang dem oberen Rande der Pelotten befestigte
ich einen Bleidraht, welcher mir den Stand der Pelotte auf
dem Fluoreszenzschirme oder der photographischen Platte an¬
zeigte.
Sie sehen auf dem ersten Bilde den mit der Rieder-
scheu Mahlzeit gefüllten und gedehnten Magen einer 45jälirigen
Frau. Der Magen erscheint als 35 cm langer, 5 bis 7 cm dicker,
etwa an der Grenze des unteren vom mittleren Drittel umgebogener
Schlauch. Beide Schenkel sind parallel und steigen senkrecht
nach oben, so daß die Hubhöhe zwischen dem Pylorus und
dem kaudalsten Punkte der großen Kurvatur 9 cm beträgt. Der
dem Pylorus angrenzende Teil des Magens ist gedehnt. Der
tiefste Punkt des Magens befindet sich in der Höhe der Stelle
stärkster Einschnürung des Hüftbeinschattens oberhalb des
Pfannenrandes. Die Peristaltik war sehr träge, die Austreibungs¬
zeit des Mageninhaltes verlängert.
Das zweite Bild wurde aufgenommen, nachdem die Pa¬
tientin auf nüchternen Magen in liegender Stellung die Magen¬
binde anlegt und danach die Wismutmahlzeit eingenommen hatte.
Wir sehen auf diesem Bilde wohl eine Hebung der unteren
Magen grenze um 4 cm. Aber wir sehen auch, daß ein großer
Teil des Magens von der Pelotte komprimiert und gegen die
Rückwand der Bauchhöhle gedrückt wird. Dies geht aus dem
minder intensiven Schatten des hinter der Pelotte befindlichen
Teiles des Magens im Vergleich zu seinen übrigen Partien hervor.
V ir sehen, daß durch diesen Druck die Passage der Ingesten
von der Kardia zum Pylorus sehr erschwert und mit Ausnahme
der kleinen Lücke zwischen dem Knick der kleinen Kurvatur
und dem oberen Rande der Pelotte fast unmöglich gemacht wird.
Luter solchen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß eine
so anliegende Bandage keine Besserung, sondern eher eine Ver¬
schlimmerung in den subjektiven Beschwerden der Patienten her¬
beiführte. Ja man kann wohl annehmen, daß hei einer der¬
artigen Abschnürung des Magenschlauches der nach abwärts
strebende und durch nachrückende Nahrung vermehrte Magen¬
inhalt oberhalb der Einschnürungsstelle nach und nach eine
Erweiterung des Magenlumens und damit eine Dehnung der
Magenwandung, wie sic im Röntgenbild ja schon angedeutet ist,
herbeiführen muß, so daß nicht nur die Störung der Funktion,
sondern noch eine Verschlechterung der anatomischen Verhält¬
nisse die wirkliche Folge einer derartigen Behandlung ist. Tat¬
sächlich dauerte die Entleerung des Magens unter einer solchen
Binde länger als ohne Binde.
Das nächste Bild zeigt, wie sich die Pelotte zum Magen
verhält, wenn sie erst nach der Nahrungsaufnahme angelegt
804
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
wurde. In diesem Falle ist die Hebung der unteren Magengrenzc
eine wesentlichere — 6 cm — und die Einschnürung vom linken
Horn der Pelotte keine so hochgradige und so weit in das Magen-
lumm hineinreichende. Das breite kaudale Ende des gefüllten
Magens bietet der Pelotte beim Heben offenbar eine bessere
Angrifflfäche als der schlaffe leere Magensack.
Auf Grund dieser Erfahrungen habe ich nun versucht, eine
Bandage herzustellen, welche den anatomischen Verhältnissen
besser angepaßt ist. Zuerst stellte ich auf radioskopischem Wege
den Umriß der großen Kurvatur des gefüllten ptotischen Magens
her. Nach der so ermittelten Linie wurde die Pelotte der Ban¬
dage geformt. Unter Kontrolle des Röntgenschirmes wurde die
Pelotte an der richtigen Stelle des Abdomens an dem Leibgurte
befestigt, so daß die große Kurvatur genau in den oberen Ein¬
schnitt der Pelotte hineinpaßte. Die Pelotte wird durch den
Druck einer Feder und durch elastische breite Riemen fixiert,
welche um den Bauch herum zu dem hohen mit festen Einlagen
versehenen Rückenstück hinziehen, das ihnen eine gute Stütze
gibt. Sie sehen auf dem letzten Bilde, wie exakt die große Kur¬
vatur des Magens in die Höhlung der Pelotte hineinpaßt, die
Hebung des kaudalen Endes beträgt 8 Cm und gleichzeitig kann
man bemerken, daß der aufsteigende Schenkel des Magenschlauches
nicht mehr vertikal, sondern stark geneigt zieht, so daß die
Hubhöhe wesentlich verringert und der Austritt des Mageninhaltes
erleichtert wird. Tatsächlich ergab sich radioskopisch, daß die
Austreibezeit so um 1 bis lVa Stunden verringert wurde. Wie
die Patientin angab, bereitete ihr diese Bandage fast gar kein Un¬
behagen und fühlte sie ihre Beschwerden wesentlich erleichtert.
Ich lasse sie die Binde erst nach dem Mittagessen anlegen
und bis zum Schlafengehen tragen.
Ich glaube nach diesen Ergebnissen empfehlen zu dürfen,
Pclotlenbandagen für Behandlung der Gastroptose nur unter radio-
skopischer Kontrolle hersteilen zu lassen.
Durch diese Modifikationen in der Herstellung und An¬
legung der Bandagen werden wir allerdings auch nicht imstande
sein, Gastroptosen beim Hängebauch zu heilen. Davon kann
ja in Anbetracht der anatomischen Verhältnisse nicht die Rede
sein. Die von mir erwähnten Verbesserungen in der Anfertigung
und Anlegung von Bandagen könnten nur dann in Betracht
kommen, wo man hofft, die Beschwerden der Kranken durch
Bauchbinden erleichtern zu können. Daß neben diesem Hilfsmittel
jedes andere therapeutische Vorgehen, welches die Krankheit
kausal zu’ beeinflussen strebt und vermag, berechtigt und am
Platze ist, bedarf keiner Hervorhebung.
Diskussion: Hofr. Eiseisberg: Es wäre sehr erfreulich,
wenn es gelänge, Pelotten zu kon struieren, welche erfolgreich gegen
Gastroptose verwendet werden können. Ich zweifle nicht daran,
daß es gelingt, den gesenkten Magen auf die Art und Weise,
wie uns eben gezeigt wurde, momentan zu heben, doch dürfte
infolge der wechselnden Ausdehnung des Organs, die Wirkung des
Apparates keine dauernde sein. Es gibt nicht einmal ein Bruch¬
band für Nabelbrüche, das von den Patienten vertragen würde.
Alle diese Vorrichtungen sind leider unbrauchbar, eben weil
sie sich dem schwankenden Ausdehnungszustand nicht anpassen,
infolge dessen einmal zu locker sitzen, das andere Mal wieder
drücken.
Prof. Riehl demonstriert eine 28jähr. Frau R. D. Ch. aus
Rußland, welche ein über die ganze Körperoberfläche verteiltes
prämykotisches Exanthem (Köbners II. Stadium) mit Infiltra¬
tion zeigt noch ohne Tumorbildung. (Der Fall wird später ver¬
öffentlicht.)
Prof. Riehl berichtet aus dem Obduktionsbefund (Professor
Stoerk) der in der Sitzung vom 19. d. Al. als Mykosis fungoides
d’emblee demonstrierten Kranken.
Die Infraklavikular- und Axillardrüsen zu faustgroßen Pa¬
keten konfluiert und in eine weiße, teils harte, teils weiche
A f term a;sse umgewandelt, auch die Drüsen am Halse und an der
Klavikula in gleicher Weise verändert. Der Schilddrüse anliegend
und teilweise auf dieselbe übergreifend ein ähnlicher Knoten.
Die Lymphfollikel des Zungengrundes stark vergrößert, kon-
iiuierend, in der linken Tonsille Geschwulsteinlagerungen. Leber
leicht fettig infiltriert, Milz etwas vergrößert, in dem Nierenparen¬
chym zahlreiche weißliche, unscharf begrenzte Tumoren. Die
Lymphdrüsen des Mesenteriums unverändert, die retroperitonealen
zum Teil infiltriert. Knochenmark unverändert. Der große Tumor
an der Schulter zeigt im Querschnitt weißliches, gleichmäßiges
Infiltrat und gegen die Muskulatur zu unscharf begrenzt.
Anatomische Diagnose: Mykosis fungoides sarcomatodes.
Dieser Befund spricht für die Auffassung des ganzen Pro¬
zesses als Lymphosarkom, zumäl auch die Drüsen histologisch
ein entsprechendes Bild zeigen. Der Fäll mußte also im Sinne
Palt aufs zu jener Gruppe gerechnet werden, welche als Sar¬
kom endet, oder ist überhaupt als Sa.rko'matosis aufzufassen.
Die klinische Diagnose wurde auf Alykosis fungoides d’emblee
gestellt, hauptsächlich im Hinblick darauf, daß das histologische
Bild der Hautknoten Polymorphie der Zellen zeigte, daß der pri¬
märe Tumor an der Haut entstanden war und erst im dritten
Jahre des Krankhöits Verlaufes zu Metastasen geführt hat; ferner
daß auch bei typischen Mykosisfällen mit jahrelangem Verlauf
und pvämykotischcn Erscheinungen Metastasen in Drüsen und
inneren Organen öfters beobachtet worden sind. Die Grenze zwi¬
schen Mykosis und Lymphosarkom ist wohl derzeit klinisch und
anatomisch nicht sicher festzustcllen. Der Fall wird noch ein¬
gehend histologisch untersucht und später publiziert werden.
Priv.-Doz. Dr. Max Herz: Ueber Digitalisleim. (Vor¬
läufige Mitteilung.) (Erscheint ausführlich in dieser Wochen
schrift.)
Dr. Adolf Kronfeld: Zur Entwicklung des Anatomie¬
hildes seit. 1632.
Das Auflauchen eines neuen Anatomiehildes in der deut¬
schen Kunst gibt dem Vortragenden Anlaß, in aller Kürze und
mit Hervorhebung des besonders Charakteristischen die Entwick¬
lung des Anatomiebildes seit dem Jahre 1632 zu besprechen.
Er zitiert aus der Literatur die Arbeiten von Choulant, Tila-
nus, Tri a i re, Aleige, Richer, Holländer u. a. und schil¬
dert hierauf die „Anatomiestudie des Dr. Tulpius“ von Rem¬
brandt, die vornehmste künstlerische Verherrlichung ( der ärzt¬
lichen wissenschaftlichen Arbeit überhaupt. Es wird hierauf eine
Reihe holländischer Anatomiebilder kurz erörtert, die Geschieht''
des anatomischen Studiums in Wien gestreift, ein Blatt von
Hogarth besprochen, ferner 'eine Anatomie äus der italienischen,
eine zweite aus der japanischen Kunst vorgeführt Uriel an dem
Beispiele des „CursUä änatomicUs“, welchen Dr. Höchstetter
im Jahre 1711 in Rothenburg an der Täuber vorgenommen hat,
der Gang derartiger Demonstrationen skizziert. Aus der großen
Ves al iu s - Ikonographie wird ein Bild von Hammahn erwähnt
Es wird die Bedeutung des „Anatomen“ von Gabriel von Alax
für die 'moderne Kunst erörtert und ein hieher gehöriges Original
Ölgemälde von Schraudolph aus der Sammlung des Hof rates
Politzer demonstriert. Die Arbeiten Simonets, Skarbinas, Bel¬
langers, Leroux’, Chicotots, Desmoulins werden vorgeführt und
zwei Anatomendenkmäler, ferner eine Placpiette vori Roty be¬
sprochen. Die jüngste „Anatomie“ ist ein Werk des Münchener
Malers Wolfgang Merkel und stellt den Göttinger Anatomen Pro¬
fessor Friedrich Merkel mit dem Bonner Physiologen Verwom,
dem Göttinger Kliniker Hirsch, dem Göttinger Prosektor Heid e-
rich, dem Greifswald er Anatomen Rellins und dem Stra߬
burger Arzte Preise bei einer Leiche dar. Der Vortragende
hebt hervor, daß die Geschichte der Anatomie unlösbar verknüpft
sei mit der Geschichte der Malerei und daß die freie Kunst
in unseren Tagen, ähnlich wie zur Zeit Rembrandts, wieder
danach strebe, einen Maßstab für Idie Bedeutung und die Vor¬
nehmheit der wissenschaftlichen Arbeiten des Arztes zu gewinnen.
40 Lichtbilder, mehrere Lithographien und Stiche üild ein Ori-
ginalgemälde werden demonstriert.
Professor 0. Stoerk demonstriert die Präparate eines am
Vortage obduzierten Falles — identisch mit dein von Prof. Riehl
in der vorangegangenen Sitzung vorgestellten Fall von Mycosis
fungoides. Es werden folgende Objekte gezeigt: Eine Gewebs-
sebeibe, einem Vertikals'chnitt durch die Haut und der darunter
liege ml <hi Schultermuskulatur entsprechend, welche die infiltrie¬
rende und substituierende Ausbreitung tiefenwärts erkennen läßt;
Metastasen am Zungengrund und an den Tonsillen; ausgedehnte
Metastasen in beiden Nieren und ein faustgroßes infraklavikulare.s
Drüsenpaket. Mikroskopisch zeigen die Metastasen das Aussehen
eines Bundzellensarkoms mit uniformen Elementen von lymphoi-
dem Typus.
Diskussion: Prof. Palt auf bemerkt, daß er den Fall so
wie er jetzt vorliegt, nicht zur Alykosis fungoides rechnen könnte;
die Mykosis fungoides d'emblee ist gewiß keine so charakterisierte
Erkrankung, als die klassische Mykosis fungoides, welche außer¬
ordentlich selten innere Lokalisationen setzt, die ein zürn vor¬
liegenden Falle ganz verschiedenes Aussehen und Verhalten
zeigen; er hat einen solchen Fall beobachtet und wird dm
zum Gegensatz gelegentlich demonstrieren. Paltauf hält es
nicht für ausgeschlossen, daß es eine dem Lymphosarkom, respek¬
tive Lymphosarkomatose nahe stehende primär lokalisierte Er¬
krankung der Haut gibt, die im äußeren Aspekt mykosiden Tumoren
sehr ähnlich ist, als Mykosis fungoides d’emblee demnach er¬
scheint, aber dem Wesen nach gar nicht zugehört.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
805
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 11. Mai 1911.
II. Kienböck demonstriert Röntgenbilder eines Falles
von pulsieren den. Hilusdrüsen. Bei einem 60jährigen
Mann fanden sich bei der Durchleuchtung Schattenherde in
beiden Ililusgegenden der Lunge, welche Pulsation zeigten.
Rechts war der Schatten nußgroß, in beiden Lungenfeldern
fanden sich streifenförmige pulsierende Schatten, welche auf
eine Erweiterung der Arteria pulmonalis zurückzuführen sind. Der
nußgroße pulsierende Herd dürfte eine zerfallene Drüse sein, in
welcher eine Blutung von einem arrodierten Aste aus erfolgte.
Pat. war zwei Jahre lang lungenkrank gewesen und hatte eine
Mitralinsuffizienz sowie eine Rekurrenslähmung.
Fr. Tedesko stellt aus der Abteilung Schlesinger
eine 20jährige Frau vor, bei welcher eine Streptokokken¬
meningitis durch Lumbalpunktion geheilt wurde.
Pat. bekam vor einem Monat Erbrechen, Kopfschmerz, Nacken¬
steifigkeit, Druckempfindlichkeit des Schädels, Herpes an der
Oberlippe und ein Fieber von 39’2°, sie zeigte Neuritis optica
und Kernigsches Symptom. Die Tonsillen waren geschwollen.
Die Spinalpunktion ergab eitrige Flüssigkeit, welche unter hohem
Drucke stand, das gefärbte Sediment zeigte polymorphe neutro¬
phile Leukozyten und Streptokokken in Reinkultur. Nach der
Punktion fiel das Fieber ab und es trat eine Besserung ein, das
Kernig sehe Symptom und die Nackensteifigkeit blieben jedoch
bestehen. Eine neuerliche Punktion brachte endlich eine definitive
Besserung. Bei der dritten Punktion war die gewonnene Flüssig¬
keit steril. Der Ausgang der Meningitis dürfte in den ge¬
schwollenen Tonsillen zu suchen sein, die Streptokokken haben
eine Endokarditis und dann Meningitis hervorgerufen. Auf der
Abteilung Schlesingers wurden mehrere Fälle von eitriger
Meningitis (lurch Lumbalpunktion geheilt. Durch die Punktion
im fieberfreien Stadium werden die Erscheinungen des Hydro¬
zephalus gut beeinflußt.
H. Schlesinger zeigt einen 53jährigen Mann mit
multiplen Neurofibromen der peripheren Nerve n-
wurzeln mit Beinphänomen und atypischem
frousseau sehen Phänomen. Pat. bemerkte vor 14 Jahren
fine schmerzhafte Anschwellung am rechten Thenar und eine
'bensolche oberhalb der linken Kniekehle. Im Beginn dieses
lahres stellten sich Schmerzen im Kreuze, Parästhesien im
echten Beine bei gleichzeitiger Abnahme der Kraft sowie
schialgische Schmerzen im rechten Oberschenkel ein. In der
echten Hohlhand bildete sich noch ein zweiter schmerzhafter
umor aus. Allmählich entwickelte sich eine fortschreitende
’arese beider unteren Extremitäten ; die Lähmung ist eine schlaffe,
»etrifft sowohl die motorische wie die sensible Sphäre und ist
irogredient. Die anfangs gesteigerten Sehnenreflexe sind jetzt
Höschen, das Babinskische Zehenphänomen ist nicht aus-
ösbar. Die Beine sind ödematös. Die Empfindungsstörung ist an
ler rechten unteren Extremität stärker als an der linken, sie
eicht nach oben bis zum Rippenbogen, wo sie allmählich in
lie normale Empfindung übergeht. Mastdarm und Blase sind ge¬
ahmt, Pat. fühlt weder Abgang von Harn noch von Stuhl. Die
fiagnose ist wohl auf multiple Neurofibrome an den peripheren
lerven und innerhalb des Wirbelkanals zu stellen. Das Rücken¬
mark dürfte im mittleren Brustmarke von rechts her und von
inem oder mehreren Knoten im Lumbalmarke komprimiert sein.
Ulf eine mögliche Mitbeteiligung der Schädelhöhle weist nur
ie zeitweilige Verwirrtheit des Patienten hin. Bei dem Patienten
onnte durch Druck auf den Neuromknoten der Hand, aber nicht
urch Druck auf den Oberarm rechts eine Pfötchenstellung der
fand hervorgerufen werden. Zu gleicher Zeit bestanden Fazialis-
hänomen, mäßige galvanische Uebererregbarkeit der Nerven und
leinphänomen. Alle Erscheinungen verschwanden innerhalb
eniger Tage. Das Beinphänomen war nach anscheinendem Ver-
ehwinden dadurch auslösbar, daß eine Kautschukbinde um den
Oberschenkel gelegt und dann das Bein im Hüftgelenke gebeugt
urde. — Schlesinger demonstriert ferner einen Mann mit
hier in multiple Sklerose übergehendenMeningo-
nzephalitis nach Pneumonie. Pat. machte im Januar
ine Diplokokkenpneumonie durch, nach Ablauf derselben traten
ichte Temperatursteigerungen, Nackensteifigkeit, Kernig sches
ymptom, heftige Kopfschmerzen und zeitweilig Erbrechen auf.
he Spinalpunktion ergab eine hämorrhagische Flüssigkeit mit
pärlichen Zellelementen. Hierauf folgte eine Parese der unteren
nd eine Schwerbeweglichkeit der oberen Extremitäten, ferner
törungen des Fazialis und des Gaumensegels. In den letzten
M ochen gingen die Erscheinungen etwas zurück, es bildete sich
aber ein geringer Intentionstremor aus. Pat. kann mit den
Beinen jetzt einige Bewegungen ausführen, die Sprunggelenke
befinden sich in Kontrakturstellung, beiderseits ist Fuß- und
Patellarklonus auslösbar. Grobe Störungen der Sensibilität sind
nicht vorhanden. Bemerkenswert ist die lange Dauer der Er¬
krankung des Zentralnervensystems. Einen ähnlichen Fall hat
Vortr. nach Masern beobachtet.
R. Fleckseder und J. Bartel demonstrieren aus der
Klinik v. Neusser das anatomische Präparat eines Falles von
gashaltigem subphrenisch sitzen de n Echino¬
coccus alveo laris. Ein 26jähriger Mann bekam im März
ein Druckgefühl im Magen, Brechreiz und dyspep tische Er¬
scheinungen ; nach drei Tagen kam Ikterus hinzu und nach
14 lagen stellte sich eine neuerliche Exazerbation ein. Seit Mitte
April bestand Fieber. Die Untersuchung ergab eine ikterische
Färbung der Schleimhäute, Dämpfung um den rechten Brust¬
wirbeldorn, Vergrößerung des rechten Leberlappens, Meteorismus,
über dem untersten Sternalende eine tympanitische Zone. Die
Röntgenuntersuchung zeigte entsprechend der Zwerchfellkuppe
eine Reihe von Gasblasen, die mit dem Magen und Darm nicht
zusammenhingen. Die klinische Diagnose wurde auf einen sub¬
phrenischen gashaltigen Abszeß gestellt. Pat. starb an Peritonitis.
Die Obduktion ergab einen Echinococcus alveolaris der Leber,
welcher in die Bauchhöhle durchgebrochen war, die einzelnen
Zysten waren gashaltig. Der Echinokokkus entwickelte sich
zwischen dem Magen und der Leber, hinter dem Magen und
weiter bis zur Leberpforte. Der Ductus choledochus war finger¬
dick, in seinem Lumen fanden sich einige Echinokokkusblasen,
ebenso im Jejunum. Der Inhalt der Blasen sowie die Peritoneal¬
flüssigkeit waren gelblich und putrid riechend, in derselben
fanden sich zahlreiche Bakterien, besonders Bacterium coli.
M. Haudek beschreibt das Röntgenbild. Im Bereiche des
linken Leberlappens fanden sich halbkreisförmige lichte Stellen,
welche mit Luft und Flüssigkeit gefüllten Höhlen entsprachen.
Wenn Pat. seine Stellung änderte, stellte sich das Flüssigkeits¬
niveau wieder horizontal ein.
G. Singer hat bei einem 60jährigen Manne mit rechts¬
seitiger Pleuritis eine ähnliche Beobachtung gemacht. Wegen an¬
dauernden Fiebers wurde punktiert und in der Gegend der
Dämpfung seröses Exsudat gewonnen. Die Leber stand tief und
das Fieber nahm einen septischen Charakter an. Wegen Ver¬
mutung auf subphrenischen Abszeß wurde die Punktion aus¬
geführt und dabei wurden einige Tropfen rahmigen Eiters
aspiriert. Nach Rippenresektion stieß man auf eine Vorwölbung
des Zwerchfelles, aus welcher sich nach Anschneiden massen¬
hafte Echinokokkusblasen entleerten. Die Kuppe des rechten
Leberlappens war in eine große, dünnwandige Höhle umge¬
wandelt, in welcher Eiterung eingetreten war. Der Fall ging in
Heilung über.
R. Bauer und H. Albrecht führen eine 21jährige Frau
mit typhöser Infektion der Gallen w ege und
Aplasie- der Gallenblase vor. Pat. machte vor 3 7a Jahren
Typhus durch, welcher später rezidivierte, die Lebergegend war
damals schmerzhaft. Vor einigen Monaten bekam die Kranke
Schmerzen in der Lebergegend, Ikterus und Fieber, welches
später schwand, dagegen vergrößerte sich die Leber. Die Ope¬
ration ergab eine Aplasie der Gallenblase, griesige Konkremente in
einer im Ligamentum hepato-duodenale liegenden Höhle und in den
Gallenwegen, der Ductus hepaticus war verlagert, in denselben
wurde ein Drain eingelegt. Aus der Galle wurden Typhusbazillen
gezüchtet. Sie können sich also auch beim Fehlen der Gallen¬
blase in den Gallenwegen nach Typhus lange erhalten, sie bleiben
wohl in den Nischen der Schleimhaut und an den Konkrementen
haften. Nach Entfernung des Drains sind die Stühle jetzt fast
frei von Typhusbazillen. Aplasie der Gallenblase ist selten, mit
ihr ist meist eine Enge der abführenden Gallenwege verbunden.
Derartige Kinder werden ikterisch und erreichen nur ein
niedriges Alter.
H. Stern führt eine Frau mit Sigmatismus nasalis
vor. Diese Art der Sprachstörung besteht in der fehlerhaften
Aussprache der S-Laute, wobei der Luftstrom durch die Nase
abgelenkt wird, so daß man statt des S ein respiratorisches
Geräusch durch die Nase hört. Die Therapie besteht darin, daß
durch eine Sonde das Gaumensegel, welches bei Sigmatismus
schlaff bleibt, gehoben wird; der Patient gewöhnt sich, diesen
Vorgang beim Sprechen nachzuahmen und das Gaumensegel zu
heben. Außerdem müssen fleißig Stimmübungen gemacht werden.
Vortr. stellt außerdem eine schon geheilte Frau vor.
806
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
Wiener dermatologische Gesellschaft.
Sitzung vom 8. April 1911.
Vorsitzender : Finger.
Schriftführer: Mucha jun.
Grosz (zum Protokolle der vorletzten und letzten Sitzung) :
Gelegentlich der Vorstellung von Lichen ruber planus-
Fällen mit Lokalisation an der Zungenschleimhaut durch mich
und Weidenfeld hat Ullmann im Gegensätze zur Majorität
der Diskussionsredner den Standpunkt vertreten, daß das Vor¬
kommen von Lichen planus-Effloreszenzen an der Zunge überaus
häufig zu beobachten sei und hat hiebei statistische Angaben
aus dem Buche von Gottfried Trautmann (zur Differential¬
diagnose von Dermatosen und Lues etc. 1903) zur Stütze heran¬
gezogen. Nach diesen soll der Lichen planus der Zunge in 54°/o
der Fälle zur Beobachtung gelangen. Ich habe gleich damals die
Richtigkeit dieser Angabe in Zweifel gezogen, da ja jeder zweite
Fall von Lichen planus Zungenerscheinungen darbieten müßte,
was den tatsächlichen Verhältnissen sicher nicht entspricht. Ich
habe mich nun der geringen Mühe unterzogen und das Buch
von Trautmann eingesehen. Da ergibt sich nun folgendes:
der Autor hat unter sämtlichen bis 1903 publizierten Fällen von
Lichen ruber planus 69 Fälle mit Schleimhautlokalisation ge¬
funden, hiezu kommen drei Fälle, die er (bei Hallopeau und
Max Joseph) mitbeobachten konnte. Gesamtzahl 72.
Unter diesen 72 Fällen von Schleimhautlichen war in 54°/o
der Fälle die Zunge erkrankt.
Die Traut in a n n sehe Statistik, die sich nur mit der re¬
lativen Häufigkeit der verschiedenen Schleimhautlokalisationen
(Mundhöhle, Larynx, Pharynx) beschäftigt, besagt also in der
Frage der Häufigkeit der Zungenerkrankung beim Lichen ruber
planus nicht däs geringste, ich kann nur wiederholen, daß ich
selbst die in Rede stehende Lokalisation ebenso wie die anderen
Herren nur sehr selten zu sehen Gelegenheit hatte, besonders in
einer so schönen Ausprägung wie in den Fällen von Weiden¬
feld und mir.
Bei dieser Sachlage kann ich auch die Statistik, die U 1 1-
mann von seinen eigenen Fällen produziert hat, nur mit der
größten Skepsis werten.
Ullmann: Von dem in der letzten Sitzung über die heute
abermals angeschnittene Frage auch nur ein Wort zurückzu¬
nehmen oder Meritorisches hinzuzufügen, habe ich keine Ver¬
anlassung. Aus der von Kollegen Grosz nunmehr hier auch
zitierten Zusammenstellung Trautmanns ist nur das heraus¬
zulesen, was ich gemeint habe und nichts anderes. Denn nur
um das relative Verhältnis handelt es sich.
Sachs demonstriert: 1. einen 26jährigen Patienten mit
zwei symmetrisch am Kinn lokalisierten, kronengroßen Herden
von Lupus erythematodes. Einreiben der Herde mit
M o r o scher Tuberkulinsalbe hat keine Reaktion ergeben.
2. Einen 20 Jahre alten Patienten mit Folliculitis
decalvans. Auf der behaarten Kopfhaut sieht man zahlreiche
20-hellergroße kahle Stellen mit an den Follikularapparat sich
anschließenden Atrophien. Außer solchen älteren, seit einem
Jahre haarlosen Stellen sind auch frischere Krankheitsherde mit
ausgesprochen follikulären Entzündungsprozessen und geringer
Eiterung zu finden. Die Erkrankung besteht seit l'U Jahren.
Oppenheim. Der Kranke, 30jähriger Einspännerkutscher,
akquirierte im Juli 1910 Syphilis, machte damals eine Queck¬
silberkur durch und kam im November in meine Ambulanz mit
einem ausgedehnten papulösen Rezidiv. Ich gab ihm am 29. No¬
vember Salvarsan 0'6 subkutan, neutrale Suspension, worauf das
Exanthem zurückging. Vor drei Wochen kam der Kranke zu
mir und klagte über Schwerhörigkeit, Schwindel und Ohren¬
sausen; die Untersuchung der Ohren ergab jedoch nichts posi¬
tives. Vor einer Woche kam der Kranke abermals mit der An¬
gabe, er könne nicht mehr fahren, da er schlecht sehe. Die
Augenuntersuchung ergab Parese des rechten Abduzens
und deshalb Doppeltsehen. Der Fall reiht sich den von Finger,
mir und anderen beobachteten peripheren Nervenerkrankungen
nach Salvarsan an, denn eine Abduzenslähmung luetischer Natur
in so früher Zeit der luetischen Infektion gehört gewiß zu den
Seltenheiten. Der Patient bekommt jetzt Jod in großen Dosen,
worauf die Lähmungserscheinungen zum Teil zurückgingen.
Der zweite Fall zeigt Ihnen eine Syphilisrezidive
im unmittelbaren Anschlüsse an eine energische
Quecksilberkur. Der Patient, 25 Jahre alt, kam mit Sklerose
und Exanthem im November in meine Ambulanz und wurde
mit Salizyl-Quecksilberinjektionen behandelt, worauf die syphiliti¬
schen Erscheinungen verschwanden. Nach der lö.Quecksilber-Salizyl-
injektion bekam Patient das heutige Rezidiv : hellrote bis kreuzer¬
große papulöse Effloreszenzen auf der Stirne, um den Mund,
am Kinn und am Halse, sowie an den Streckseiten der Arme.
Der Stamm und die Beugeseiten der Extremitäten sind frei.
Einzelne der Papeln sind mit fettigen Schuppen bedeckt und
von akut entzündlichen Höfen umgeben. Es zeigt also dieser
Fall die von mir wiederholt hervorgehobene Eigenschaft, daß
Syphilisrezidive, die während oder unmittelbar nach energische«
Quecksilberkuren auftreten, oft akut entzündlichen Charakter
und manchmal dieselbe Lokalisation wie das Erythema
exsudativum multiforme haben.
Deutsch. Ich möchte entschieden gegen die Verallge¬
meinerung der Annahme, daß Rezidive während oder nach einer
energischen Quecksilberkur immer entzündlichen Charakter tragen,
Stellung nehmen.
O p p e n h e i m. Es ist selbstverständlich, daß die Ercheinung
nicht für sämtliche Fälle gilt, sondern, daß ihr nur eine gewisse
Regelmäßigkeit innewohnt.
Neugebauer demonstriert einen Patienten, der an der
Haut beider Vorderarme bis zu handtellergroße Krankheitsherde,
die zum Teil — die kleineren — gleichmäßige Rötung zeigen,
während die größeren im Zentrum fast normale Haut aufweisen,
deren Rand aber durch einen scharf nach außen abgegrenzten
Wall gebildet wird. Die zentrale Abteilung, das periphere Fort¬
schreiten läßt auf eine Dermatitis mykotischer Ursache schließen.
Die Pilzuntersuchung ist noch nicht abgeschlossen.
Lipschütz demonstriert einen Patienten mit Herpes
zoster generalisatus. Der systemisierte Zoster in typischer
Ausbildung entspricht dem ersten Ast des linken Trigeminus.
Am Stamm und auf den oberen Extremitäten findet man etwa
12 zerstreut angeordnete hellrote papulöse, bzw. papulovesikulöse
und vesikulöse Effloreszenzen, von denen einzelne fast Linsen¬
größe erreichen. Nach den Erfahrungen, die wir in den letzten
zwei Jahren sammeln konnten, besteht keine Uebereinstimmung
in der klinischen Ausbildung der den eigentlichen Herpes zoster
zusammensetzenden Effloreszenzen einerseits und den zerstreut
angeordneten Bläschen anderseits. Es können daher beispiels¬
weise auch bei einem gangränösen Zoster frontalis die Haut-
effloreszenzen am Stamm bloß papulösen oder vesikulösen
Charakter besitzen.
Weidenfeld erinnert an die vor zwei Jahren statt-
gehabte Diskussion über einen von ihm vorgestellten Fall von
Zoster generalisatus, bei welcher Gelegenheit er hervorhob, daß
derselbe am ganzen Körper in disseminierten kleinen variola-
oder varizellenähnlichen Bläschen auftreten kann. Gewöhnlich
bestand, wenigstens in seinen Fällen, als Hauptherd ein Zoster
gangraenosus. Auch an der Mundschleimhaut sah er Effloreszenzen
auftreten. Die Fälle betrafen alle erwachsene Personen, manche
Greise. Auch für die Pathogenese scheint ihm der Herpes zoster
generalisatus von Wichtigkeit zu sein, indem an eine bakteritische
Infektion mit Lokalisation derselben in den Intervertebralganglien
eher gedacht werden kann, als an eine vasomotorische Reflex¬
neurose, wie es von anderer Seite behauptet wurde.
N o b 1 : Der vorgestellte Fall bestimmt mich daran fest-
zuhalten, daß nur jene Fälle dem exanthematischen Herpes zoster
zugerechnet werden sollten, bei welchen die Einzelblüten des
Körpers mit den typischen Teilphänomenen des primären systema¬
tisierten Ausbruches übereinstimmen. Wenn jedoch in der Literatur
immer wieder Beobachtungen als zugehörig ausgewiesen werden,
in welchen die Generalisierung aus singulären abortiven Erythem¬
papeln gefolgert wird, die mit und ohne Zoster auf jeder Haut
leicht aufzufinden sind, so wird hiemit dem Aufhellungswerk
der ohnehin genügend komplizierten Zosterpathogenese nur ein
fraglicher Dienst geleistet.
Fasal: Die Frage, ob es sich um einen Zoster generali¬
satus handelt oder um Vesicules aberrantes, läßt sich durch die
Zahl der auftretenden Bläschen nicht beantworten. Ein wichtiges
Kriterium bilden die lokalen Beziehungen der einzelnen Bläschen
zu dem Hauptherd. Wenn bei einem Herpes zoster frontalis
-entfernt von dem Hauptherd an den Extremitäten oder am
Stamm einzelne Bläschen auftreten, so wird man von einem
Herpes zoster generalisatus sprechen können, während zahlreiche
Bläschen in der nächsten Umgebung des Hauptherdes nur als
Vesicules aberrantes bezeichnet werden können.
Ullmann: Gewiß wäre die auch von Ehr mann ange¬
nommene Infektionstheorie im Sinne von Embolisierung von Ge¬
fäßen diskutabel, doch fehlt bis jetzt ihr Nachweis. Ich halle die
Embolisierung für unwahrscheinlich. Anders die ebenfalls aus
der Infektionstheorie zur Erklärung des Auftretens gehäufter,
spontaner Herpes zoster -Fälle herangezogene, rein toxische
Schädigung mehrerer trophischer Zentren in den Spinalganghen
durch die im Blute kreisenden Toxine des unbekannten Virus.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
807
Diese Auffassung erscheint mir durchaus nicht hypothetisch, da
wir ja auch anderweitige, rein toxische Zosterformen genügend
kennen. Ich erwähne hier nur den Arsenzoster, vor allem aber
den Kohlenoxydzoster. Für gänzlich ungeeignet halte ich jedoch
das Heranziehen eines Spätreflexes im Sinne von K r e i b i c h
zur Erklärung des generalisierten Exanthems, wie dies jüngst
N o b 1 versucht hat. Denn abgesehen davon, daß ja sowohl der
Stammherd, wie die an allen möglichen Nervengebieten zer¬
streuten Bläschengruppen oder Einzelbläschen, fast immer gleich¬
zeitig in Erscheinung treten und nicht so wie beim Kreibich-
schen Grundphänomen Tage und Wochen nach der Primärläsion,
wäre ja durch die Annahme einer reflektorischen Entstehung
der einzelnen Bläschen sozusagen nur der Weg, die Bahn der
Fortpflanzung des pathologischen Reizes gegeben. Hingegen ist
damit über die gemeinsame Ursache zur Entstehung des Haupt¬
herdes und der kleineren Bläschen nichts erklärt.
Riehl bemerkt, daß er die Bezeichnung „Zoster generali¬
satus“ als eine wenig empfehlenswerte betrachtet. Das klinische
Bild des Zoster ist so klar umschrieben, seine Gebundenheit an
das Ausbreitungsgebiet eines sensiblen Nerven so determiniert,
daß man für Bläscheneruptionen, die gleichzeitig oder im Verlauf
des Zoster zerstreut am Körper auftreten, lieber eine andere Be¬
zeichnung gebrauchen sollte. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß
zwischen Zoster und den generalisierten Bläscheneruptionen ein
Zusammenhang besteht, dieser dürfte aber in einem gemeinsamen
ätiologischen Moment gelegen sein und nicht — was für den
Zoster charakteristisch ist — in Abhängigkeit von einer peripheren
Neuritis. In seiner weiteren Aetiologie ist der Zoster eine jener
Krankheiten, die auf sehr verschiedenartige Ursachen zurück¬
geführt werden muß. Toxische Ursachen (Arsen, Phosphor,
Kohlenoxyd), traumatische Verletzungen, Druck durch Geschwülste
oder entzündliche Prozesse etc., Rheumatismus und andere In¬
fektionskrankheiten können dadurch, daß sie eine Neuritis er¬
zeugen, zum Zoster führen. Es erscheint darum viel wahrschein¬
licher, daß die Eruptionen, welche man als Zoster generalisatus
bezeichnet, durch eine allgemein wirkende Noxe veranlaßt werden,
die zugleich die Neuritis hervorgebracht hat und in dieser Rich¬
tung erscheint es auffällig, daß diese zerstreuten Bläschenerup¬
tionen, die manchmal auch an der Schleimhaut der Mundhöhle
gefunden werden, in vielen Fällen große Aehnlichkeit mit Vari¬
zellen zeigen. Bokai berichtet über Beobachtungen von Herpes
zoster und Varizellenerkrankung. Wir werden uns bemühen müssen,
die generalisierten Bläschen in ihrer Aetiologie in jedem Falle
klarzustellen und müssen sie, ebenso wie den Zoster, als ein
Symptom der Grundkrankheit auffassen, nicht aber als eine
Zostererscheinung, d. h. als durch Nervenerkrankung bedingt. Ich
halte es ebenso für unzulässig, auf die Pfeiffersche Theorie
der Gefäßerkrankung zu rekurrieren, die sich für den Zoster
selbst als unrichtig erwiesen hat. Wenn eine Phosphorvergiftung
einen Zoster veranlaßt und nebenbei Petechien, so werden wir
letztere ebensowenig als Zostersymptome erklären, als allenfalls
Hyperpigmentation und Keratose, die nach Arsengebrauch neben
Zoster Vorkommen.
Nobl demonstriert: 1. Eine seit mehreren Wochen be¬
stehende Erkrankung des weichen Gaumens, der Arkaden und
des Zäpfchens bei einem 25jährigen Manne, welche als diffus
infiltrierendes, papillär gewuchertes Syphilid
anzusprechen ist.
2. Drei Kranke mit Rezidivexanthemen nech S a 1 v-
arsanbehandlung. 1. 30jähriger Beamter erhielt gegen
ein dichtes, makulopapulöses Erstexanthem im August 0'5 saure
Lösung intraglutäal. Mitte Februar Iritis rechts und dichtes papu¬
löses Exanthem, Plaques der Mundschleimhaut. 2. 28jähriger
Mann bekam gegen die gleichen initialen Erscheinungsformen
anfangs September 0'6 der neutralen Suspension am Rücken.
Der seit wenigen Tagen bestehende Nachschub präsentiert sich
als schütter eingestreute, gruppierte Rezidivroseola. 3. 26jähriger
Eisenbahnbediensteter erhielt am 1. Oktober 0'6 neutrale Suspen¬
sion in zwei interskapularen subkutanen Depots. Die Rezidive
ist auf singuläre bohnengroße Papeln am Stamm und den Extre¬
mitäten beschränkt. Das Auftreten von Syphilisrezidiven in der
Frühperiode nach einem vier- bis fünfmonatigen Latenzstadium
weicht keineswegs von dem bei der Quecksilberbehandlung verfolgten
Verlaufstypus ab. Auch scheint die von mancher Seite vertretene
Verschiebung in der Konfiguration und Lokalisation der Neuaus¬
brüche nur für einen Bruchteil der mit Arsenobenzol behandelten
Fälle zurecht zu bestehen.
S p r i n z e 1 s stellt einen 35jährigen Pat. vor, der seit
vier Jahren an einer Hauterkrankung leidet, die teils spontan,
teils unter Behandlung zeitweise wesentlich sich zurückgebildet
hatte, um immer wieder an Intensität zuzunehmen. Befallen er¬
scheinen Stamm, Gesicht, Hals, obere und untere Extremitäten ;
in gleicher Weise Beuge- wie Streckseiten. Man sieht über den
Körper zerstreut Effloreszenzen verschiedenster Art. Von kleinsten
linsengroßen Herden an bis zu fünfkronenstückgroßen Scheiben,
die mehrfach miteinander konfluieren und dann weiterhin er¬
scheinen große Hautflächen in ausgedehntem Maße von der Er¬
krankung betroffen.
Die Krankheit verläuft ohne jede subjektive Störung des
Patienten ; es ist kein Jucken vorhanden.
Das Blutbild zeigt keine grobe Abweichung vom Normalen
in bezug- auf die Zahl der Blutkörperchen. Im prozentualen Ver¬
halten der Leukozytenformen untereinander ist eine leichte Ver¬
mehrung der Eosinophilen festzustellen. Von den in Betracht
kommenden Erkrankungen fehlen für die Psoriasis genügende
Anhaltspunkte, die leukämische Manifestation scheidet aus durch
den Blutbefund. Dagegen berechtigt das eigenartig polymorphe
Krankheitsbild, das Vorhandensein von ganz oberflächlichen,
erythrodermieartig verlaufenden Prozessen neben den tiefer¬
gehenden infiltrativen Vorgängen, der chronisch remittierende
Verlauf, die spontane Rückbildungsmöglichkeit einzelner Herde,
die Diagnose auf Mykosis fungoid es zu stellen.
Schramek demonstriert ein löjähriges Mädchen mit einer
Trichophytie des Kopfes. Ueber das ganze Kapillitium zerstreut
finden sich dünne, weißliche Schuppenauflagerungen, die voll¬
kommen denen einer Seborrhoea sicca entsprechen. Abgebrochene
Haare lassen sich makroskopisch nicht nachweisen. Hebt man
aber diese Schuppen ab, so sieht man in ihnen kleine, kork¬
zieherartig gewundene, grauweiße Haarfragmente, die nach Auf¬
hellung reichlich Gonidien eines Endothrixpilzes enthalten.
Erkrankt sind auch die Nägel des Daumens, Mittel- und
Zeigefingers der linken Hand. In den abgeschabten Lamellen des
Nagels fanden sich gleichfalls Pilzelemente.
Die Kultur des Pilzes ergab das Trichophyton violaceum.
Ehrmann: Bei dieser 17jährigen Patientin fällt Ihnen vor
allem der kindliche, unterentwickelte Typus auf. Das Aussehen
entspricht etwa dem eines 12jährigen Mädchens. Von diesem
infantilen Typus abgesehen ist dieser Fall durch eine seltene
Vereinigung verschiedener Formen der Hauttuberkulose ausge¬
zeichnet.
Der Hals der Patientin ist eingesäumt von einem Ring dicht
aneinandergestellter Narben, die von Skrofulodermen herrühren.
Hinter dem linken Sternokleidomastoideus sitzt noch ein perfo¬
riertes Skrofuloderma.
Die zweite Form der Hauttuberkulose stellt ein ungewöhnlich
stark ausgebreiteter Lichen scrophulosorum dar.
In der Höhlung des Fußes beiderseits sowie an den Zehen
ist ein typischer, zum Teil jetzt ulzerierter Lupus verrucosus zur
Ausbildung gelangt. Schließlich sei erwähnt, daß bei dieser Pa¬
tientin das Bild einer diffusen Sklerodermie mit Raynaud-
schein Symptomenkomplex an den Extremitäten in Entwicklung
begriffen ist.
Auf den ätiologischen Zusammenhang zwischen Sklerodermie
und Tuberkulose hier einzugehen, halte ich nicht für geeignet,
da ich glaube, daß die Entscheidung dieser Frage experimentellen
Untersuchungen Vorbehalten ist.
Stein demonstriert einen sechsjährigen Knaben mit zirka
kronenstückgroßen kahlen Herden auf der Haut des behaarten
Kopfes, die im Zentrum vernarbt, an der Peripherie von bis
linsengroßen, follikulär angeordneten, mit Krusten bedeckten
Knötchen begrenzt sind. Es handelt sich um einen atypi¬
schen Favus.
Kyrie demonstriert einen 29jährigen Patienten mit den
Erscheinungen von Pityriasis lichenoides chronica;
dann einen 20jährigen Patienten mit zwei gleich alten Sklerosen,
die eine an der Penishaut sitzend, die zweite an der Schleim¬
haut der Unterlippe. Beiderseits die zugehörigen, regionären
Lymphdrüsen mächtig geschwollen.
Mucha demonstriert : 1. Zwei Patienten, deren einer
seinerzeit von Finger wegen Neuritis optica, der andere wegen
beiderseitiger Läsion des Akustikus vorgestellt wurde. Von
beiden Patienten wurde die 24stündige Harnmenge auf Arsen
untersucht ; es zeigt sich, daß beide Patienten u. zw. der erste
nach zehn Monaten, der zweite nach sechs Monaten noch deutlich
nachweisbare Spuren von Arsen im Harn auf weisen. Dieser
Umstand läßt die Erwägung berechtigt erscheinen, daß dem
Arsen vielleicht eine ursächliche Rolle bei dem Zustande¬
kommen der Erscheinungen zukommt, um so mehr, als beide
Pat. negative Wassermann sehe Reaktion zeigen.
2. Einen Pat. mit fünf bis sechs Monate alter Lues, der am
7. Januar und 21. Januar 1911 je 0‘4 g Salvarsan intravenös
erhielt. Am 25. Februar 1911 wird der Patient wegen einer
808
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
schweren luetischen Iridozyklitis des rechten Auges wiederum
aufgenommen, die anfangs Februar begonnen haben soll.
3. Eine Pat. mit einer ca. Vs Jahr alten Lues, die am
20. Dezember 1910 0'5 g und am 10. Januar 1911 0'4 g Salvarsan
intravenös erhalten hatte. Sie wurde am 6. März wegen einer
seit 8 bis 10 Tagen bestehenden schweren Iridozyklitis des rechten
Auges wieder aufgenommen.
4. Einen Pat., dem am 23. September 1910 wegen einer
Sklerose und beginnendem Exanthem 0'5 g Salvarsan in saurer
Lösung subkapsular injiziert wurden. Am 19. November 1910
wird Pat. wegen Ohrensausen, Schwindel und Neigung nach links
zu fallen neuerdings aufgenommen, die Erscheinungen sollen seit
10 bis 12 Tagen bestehen, haben sich also etwa 37s Monate nach
der Behandlung eingestellt. Die Ohrenuntersuchung ergibt links
Taubheit nach eitrigem Prozesse, rechts normalen Befund, also
vom Ohr aus keine Ursache für die Erscheinungen.
5. Ein Patienten mit jetzt sechs Monate alter Lues, am
29. Dezember 1910 mit 0‘5 g und am 11. Januar 1911 mit 0'4 g
Salvarsan intravenös behandelt, wird am 27. Januar 1911 wegen
heftiger Kopfschmerzen, Schwindel und Ohrensausen, die seit
10 bis 12 Tagen bestehen sollen, wieder aufgenommen. Der
Ohrenbefund lautet Laesio auriculae internae, für die Schwindel¬
anfälle keine Ursache im Vestibularapparät. Das Komplement bei
dem Patienten ist negativ. Auf Jod bisher keine Besserung.
6. Pat. mit ca. V» Jahr alter Lues. Am 11. Februar 1911 0'6 g
Salvarsan in monazider Lösung intraglutäal. Etwa 8 bis 10 Tage
nach der Injektion Nebel vor dem rechten Auge. Am 1. März
wird von der Klinik Dimmer eine Neuritis optica leichten
Grades rechts konstatiert.
7. Pat., der am 17. Januar 1911 mit 0'6 g Salvarsan in
monazider Lösung intraglutäal behandelt wurde (Lues 8 bis
10 Wochen), am 28. Februar 1911 einen epileptiformen Anfall er¬
litten hat, am 5. März 1911 wiederholt sich der Anfall. Früher
sollen niemals ähnliche Anfälle aufgetreten sein.
8. Ein Kind mit akquirierter, etwa V2 bis 1 Jahr alter Lues
hat am 17. Januar 1911 0'2 g Salvarsan in monazider Lösung
intraglutäal erhalten. Am 18. Februar wird das Kind von der
Mutter gebracht, da sich öfters, besonders vor Hustenanfällen
(das Kind leidet an Pertussis), epileptiforme Anfälle einstellen
sollen. Neurologisch leichte Hemiparese der ganzen rechten
Körperhälfte. Früher soll das Kind nie ähnliche Anfälle gehabt
haben.
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin
vom 19. bis 22. April zu Wiesbaden.
Sitzung vom 20. April 191 1, vormittags.
Referent: K. Reicher -Berlin. '
(Fortsetzung.)
IV.
Bürgi- Bern: .Ueber die Wirkung von Arzneigemi¬
schen mit besonderer Berücksichtigung der Diure-
t i k a .
Narkotika, welche im gleichen Organ in der gleichen Rich¬
tung wirkend, verschiedene pharmakologische Angriffspunkte
haben, führen bei Kombination zur Wirkungspotenzierung ; gleiche
Arzneien mit dem nämlichen Angriffspunkt dagegen zeigen, gleich¬
zeitig gegeben, rein additive Eigenschaften. Dasselbe gilt auch für
die Diuretika, wie Vortr. in einer sehr interessanten Versuchsreihe
unter Zugrundelegung der minimalsten diuretisch wirkenden Menge
pro Kilogramm Tier exakt nachweist.
Hohlweg -Gießen: Ueber die Bedeutung des Rest¬
stickstoffs für die Nephritis und Urämie.
Bei Nierengesunden findet man 41 bis 63 mg Rests ticks toff,
davon entfallen ungefähr 60°/o auf Harnstoff; beUNep Kritikern
schwanken die Werte des Reststickstoffs zwischen 63 und 96 mg,
dabei erleidet der Pr]ozentgehalt dessen einzelner Bestandteile
keine Verschiebung. In drei Fällen ausgesprochener Urämie mit
nachfolgender Besserung der Symptome zeigten sich 66 bis 93 mg
Reststickstoff. Wesentlich anders verhalten sich dip Patienten,
die während der Beobachtung unter schweren urämischen Er¬
scheinungen ad exitum kamen; da konnte parallel mit der fort¬
schreitenden Verschlechterung ein konstanter Anstieg des Rest-
stickstoffs bis zu 340: mg beobachtet werden. Die Retention der
stickstoffhaltigen Substanzen im Blute ist trotzdem lediglich als
Ausdruck einer Ausscheidungsinsuffizienz der1 Niere anzusehen
und bildet, außer bei ganz exzessiven Werten, kein Charakteri¬
stikum für die Urämie. Bei Herzkranken findet in den letzten
Lebenswochen keine Vermehrung des Reststickstoffs im Blute
statt.
Diskussion zu Bürgi und Hohlweg:
Heubner -Gottingen weist darauf hin, daß die Deutung
die Bürgi seinen Befunden zugrunde legt, nicht die einzig
mögliche ist, und erinnert, daß z. B. Atropin in sonst unwirk¬
samen Dosen die Wirkung eines Antagonisten vollständig auf¬
zuheben vermag.
Vollnard- Mannheim tritt für eine Lostrennung gewisser
Symptome, die bisher als urämisch galten, von der Urämie ein.
Auf den mangelnden Parallelismus zwischen klinischen Sym¬
ptomen und Ansteigen des Reststickstoffs hat schon As coli
hingewiesen. Bei eklamptiseber Urämie findet man keine Stick¬
stoffretention, dagegen bei echter Urämie 100 bis 390 mg Rest-
stickstoff im Blute. Rücksichtslose Lumbalpunktion hat bei Ur¬
ämie guten Erfolg.
Frank -Wiesbaden: Nach der Mörner-Folinschen Me¬
thode sind 40% des Reststickstoffs auf Harnstoff zu beziehen
selbst bei sehr starkem Anstieg des Reststickstoffs findet man
nur eine geringe Zunahme des Harnstoffanteils. Die Formol-
titration ergab auch ein negatives Resultat, Aminosäuren und
Polypeptide scheinen jedenfalls nicht den wesentlichen Bestand¬
teil des Reststickstoffs auszumachen.
Reiß -Frankfurt am Main neigt mit Ascoli und Volhard
zur dualistischen Auffassung der heute noch als einheitlich an¬
gesehenen Urämiesymptome.
Gerhard t- Basel zieht zur Erklärung gewisser urämischer
Symptome die Trau besehe Hypothese des Hirnödems heran.
Bei vorwiegender Herzschädigung sieht Gerhardt von Aderlaß,
bei Urämie von Lumbalpunktion gute Erfolge.
Lüthje- Kiel hält die Beschränkung des Begriffes Urämie
auf jene Fälle, welche mit zerebralen Herderscheinungen einher¬
gehen, nicht für wünschenswert, macht doch gerade Ascoli
auf die Vielseitigkeit des ürämischen Symptomenkomplexes auf¬
merksam. Speziell die Fälle, welche jahrelang mit Kopfschmerzen
und mit psychischer und motorischer Unruhe einhergehen, sollen
als urämische Zustände aufgefaßt werden, nicht als Hirnsklerose.
Brugsch -Berlin hat seit 1903 bei allen Fällen von Ne¬
phritis den Reststickstoff bestimmt und auch hei Nephritiden
ohne jede Spur von Urämie bedeutende Erhöhung des Rest¬
stickstoffs finden können, ebenso bei Sublimatvergiftüng. 1905
wurde von Brugsch eine ausführliche Arbeit über den Harnstoff¬
gehalt des Blutes publiziert und nachgewiesen, daß bis zu 80%
des Reststickstoffs mitunter ,auf Harnstoff zu beziehen seien.
Bürgi und Hohlweg: Schlußwort.
S topp - Gießen : Fütterungsversuche mit lipoid¬
freier Nahrung.
Ernährt man Tiere mit lipoidfreier Nahrung, d. h. einem
Futter, dein man die alkohol- und ätherlöslichen Bestandteile ex¬
trahiert hat, so gehen sie zugrunde, setzt man der Nahrung den
Extrakt wieder zu, dann bleiben sie am Lehen. Dagegen läßt
sich der Extrakt nicht durch Milchfett, Butter oder reine Tri¬
glyzeride ersetzen, wohl aber durch den Alkoholextrakt der Mager¬
milch, in der also die lebenswichtigen Stoffe zu suchen sind.
Diskussion: K. Rei eher- Berlin : Zur Kenntnis der
Fett- und Lipoidverdauung.
Auf der Suche nach den löslichen Verbindungen, in denen
Nahrungsfett resorbiert und' assimiliert wird, konnte Vortr. ge¬
meinsam mit E. H. Stein nach der D o rm ey er sehen Methode
(Pepsinsalzsäureverdauung des Fettextraktes) im Blute in keiner
Periode der Verdauungstätigkeit bedeutende Mengen von Fett¬
eiweißverbindungen im Blute- nachweisen (5 bis 10% des Gesami-
blutfettes), dagegen fand Hagenau unter Reichers Leitung
eine bedeutende, bis zu 150% des Ausgangsmaterials betragende
Vermehrung von Lezithin und Cholesterin im Blute nach Ver-
fütterung von chemisch reinem Triolein (Fett). Desgleichen konnte
it. bei Leberdurchblutungen eine beträchtliche Vermehrung von
Lezithin und Cholesterinestern sowohl in Leber, wie im Blute
bei Zusatz von 15 cm3 Triolein nachweisen. Da diese Stoffe
auch bei Bakteriolyse und Hämolyse in vermehrter Menge nach
Untersuchungen des Vortragenden entstehen, gewinnt Ehrlichs
Behauptung, daß die Immunitätsvorgänge nach den Gesetzen der
gewöhnlichen Nahrungsassimilation ablaufen, sehr an Wahrschein¬
lichkeit.
B. Ohm-Berlin: Zur Lehre vom Venenpuls.
O h m registriert nach einer eigenen photographischen Me¬
thode gleichzeitig Venenpuls und Herztöne und vermag aus den
Kurven die 1. (A) Welle des Venenpulses als synchron der Vorhof¬
tätigkeit oder präsystolische Welle1 zu identifizieren, die zweite
(VCK-Welle nach Ri hl) als systolische und die 3. als dia¬
stolische, weil sie mit dem Beginn der Diastole, dem _Semi-
lunarklappenschluß, zusammenfällt. Nach Ansicht des "Vortra-
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
809
genden ist der letztere an der Entstehung von Dikrotien 'be¬
teiligt.-
L oeb- Göttingen : Die pharmakologische Beeiinflus-
.sung des Sinus am Warmblüter herzein.
Stub er -Freiburg: Experimentelle Studien über
die Gefäß vv ir ku ng der Drüsen mit innerer Sekre¬
tion.
Von .allen gekochten Organextrakten erwies sich bloß der
l’ankrcascxtrakt als wirksam und zwar als blutdrucksteigernd
(Versuche am Froschschenkel). Die Wirkung wächst mit zu¬
nehmender Alkaleszenz, schwach alkalische zeigen noch Adrenalin¬
wirkung mit Anstieg und baldigem Abfall, stark alkalische eine
anhaltende Druckerhöhung.
C h r i s ten- Bern : D i e S tau u n g s k u r ve d e s Pulses und
das Energieproblem.
Da die Pulsmechanik vornehmlich dynamische Aufgaben
enthält, schlägt Vortragender vor, statt der bisherigen Methode
der Sphygmographie die Wirkung der Kräfte mit Hilfe seines
Knergümeters zu studieren. Vortr. bestimmt die Größe des Blut¬
volumens, welches gegen einen gegebenen Manschettendmck Ar¬
beit leistet und mißt die dabei geleistete Arbeit. Als geeignetsten
Punkt für die Messung der Energie wird der Druck angesehen,
bei welchem die periphere Welle gerade erlischt (dem soge¬
nannten Maximaldruck). Seine dynamischen Diagramme, Stau¬
ungskurven, genannt, sind von dein Luftvolumen der Man¬
schette ebenso abhängig wie von den elastischen Deformationen
der Manschette und der Weichteile. Die pneumatische Manschette
legt Vortr. um die Wade um. Die nach seiner Methode erhaltenen
Werte weichen von den Sahli sehen mit Hilfe des Sphygmo-
bulometers gewonnenen Zahlen ab.
A. Strub ell-Dresden: Ueber opsonische Staphylo-
k o k k e n i m m u n i t ä t.
Die von Strubeil unabhängig von Wright befürwortete
Behandlung lokalisierter Staphylomykosem der Haut mit Vakzine
Opsonogen) hat sich als sehr erfolgreich bei subakuten und chroni¬
schen Furunkulosen gezeigt. Bei Aktie vulgaris treten die Besse¬
ungen langsamer ein; Kontraindikationen bilden bloß die Men-
-truation und in gewissem Sinne der Diabetes.
(Fortsetzung folgt.)
10. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie zu Berlin
vom 19. bis 22. April 1911 (im Langenbeckhause).
Referent: Dr. M. K at z en s tei n -Berlin.
(Fortsetzung.)
E. D. Schunrach er- Zürich: Die Unterbindung von
1 ulmonalarterie n äs ten zur Erzeugung von L u nge n-
■chrumpfung.
Bruns und Sauer bruch haben in Tierexperimenten, die
ler Referent nach speziellen Gesichtspunkten weiterführt, nachge-
v lesen, daß die Ligatur einzelner Aeste der Arteria puhnonalis,
ja. sogar eines ganzen Hauptastes für das Versuchstier keine
chweren Schädigungen nach sich ziehe. Namentlich kam es nie,
veiler klinisch noch pathologisch-anatomisch zu dein Erscheinungen
Ines Lungeninfarktes. Damit ein solcher sich einstelle, muß, wie
inch schon frühere Untersucher feststellten (Orth, Grawitz,
ujinami, Zahn) zur Störung der Blutzirkulation noch eine
weite Schädigung hinzu treten. Da,s Endresultat der Arterien-
igatur war stets eine intensive Bindegewebswucherung und
kihrumpfung des ausgeschalteten Lungeinabschnittes. Da in der-
irtigen Veränderungen die Grundlage für die Heilung vieler
•ungenaffektionen gelegen ist, so gewinnen diese experimentellen
nter.-uchungen auch praktisches Interesse.
Es wurde denn auch bereits zweimal von Sauerbruch
lie 'Unterbindung von Lungenarterienästen (Unterlappen) ausge-
Cihrt. Die Ergebnisse der Tierexperimente wurden, soweit sich
linisch feststellen läßt, bei diesen zwei Operationen bestätigt.
Die Verzweigungsweise der Lungenarterienhauptäste und die
natomischen Verhältnisse der einzelnen sekundären Veste wer-
!@n an Hand von Bildern klargelegt. Den Zugang zu den liaupt-
sten und den von vorne an die Oberlappen herantretenden
Aveigen gibt ein Interkostalschnitt im zweiten Zwischonrippen-
aum; um den interlobär gelegenen Teil der Arteria und die von
lun abgehenden Zweige zu erreichen, ist ein Interkostalschniü
ui fünften Zwischenrippenraum auszuführen.
Schwierigkeiten in der Zugänglichkeit und Isolierung der
< ungenarterienäste bereiten normalerweise speziell für die Gefäße
rir Oberlappen die Lagebeziehungen zu den entsprechenden
enen. Von pathologischen Veränderungen, die hier in Betracht
kommen, sind Verwachsungen der Pleura, sowie von den broncho¬
pulmonalen Lymphdrüsen ausgehende periadenitische Prozesse zu
nennen.
Im großen und ganzen ergibt sich, daß die Ausschaltung
einer ganzen Lunge aus dem respiratorischen Blutkreislauf durch
Ligatur des Hauptastes der Lungenarterie, beim Menschen mög¬
lich wäre; ferner ließen sich auch leicht alle zu den Untcriappen
gehenden Arterienzweige unterbinden. Bei den anderen Lungen¬
lappen. müßte man sich eventuell mit der Ligatur nur einzelner
Aeste begnügen. ,
Die Ligatur von Lungenarterienästen zur Erzeugung von
Bindegewebswucherung und Schrumpfung könnte in Erwägung
gezogen werden bei gewissen Tuberkuloseformein, bei denen eine
extrapleurale Thorakoplastik in Frage käme. Die Ligatur würde
hier entschieden für den Patienten einen viel kleineren Eingriff
bedeuten als die ausgedehnte Rippenresektion.
Freilich müßte später wohl die Entknochung der Brustwand
noch folgen, deren Gefahren (so besonders durch Aspiration in¬
fektiösen Materials und das Mediastinalflattern), aber durch die
schon eingeleitete Lüngenschr umpiring bedeutend verringert
wären. Ob auch schwer jeder anderen Behandlung trotzende
Spitzenaffektionen durch Ligatur einzelner Arterienästchen ange¬
gangen werden könnten, sei dahingestellt. Bei Bronehiektasien
und Lungenneoplasmen könnte der Arterienligatur namentlich als
Voroperation für eine folgende Lungenamputation oder Resektion
Bedeutung zukommen .
Diskussion: Müller- Rostock hat bei käsiger Pneumonie
einen Lungenlappen exstirpiert. Das Kind überstand den Ein¬
griff überraschend gut, starb jedoch drei Wochen später an tuber¬
kulöser Meningitis. Auch Kü mim eil beobachtete, daß die Total-
exstirpation eines Lungenlappens auffallend gut ertragen wurde.
Der Tod erfolgte .acht Tage nach der Operation infolge Pneu¬
monie der Testierenden Lunge.
Körte hat wegen Bronehiektasien den Mittel- und Unter¬
lappen der rechten Lunge mit dauerndem Erfolge entfernt.
Friedrich -Marburg hat bei 28 Fällen wegen Tuberkulose
die Thorakoplastik ausgeführt (neun Todesfälle) und hat bei
desolaten Fällen auffallende Besserung gesehen. Er macht in der
letzten Zeit die Resektion nicht mehr so ausgiebig wie früher
und führt darauf die guten Resultate zurück.
Wul 1st ein -Halle empfiehlt, zur Herbeiführung einer Lun-
genschrumpfung bei lokalisierter Tuberkulose statt Unterbindung
der Arteria. pulmonalis die Ligatur eines Bronchus vorzunehmen.
T i eg e 1 - Dortmund : U e b e r operative Lungenst a u-
ung und deren Einfluß auf die Tuberkulose.
Von der Erfahrung ausgehend, daß die Stauungslunge der
Herzfehler-kranken im allgemeinen eine geringe Disposition für
Tuberkulose zeigt, wurde im Experiment versucht, eine ähnliche
Zirkulationsstörung der Lunge herbeizuführen. Es wurden zu
diesem Zwecke bei Kaninchen und Hunden an die Lungenvenen
einengende Silberdrahtligaturjem angelegt, die ohne Schädigung
der Gefäßawnd einheilten und eine dauernde Stenosierung des
Gefäßes bewirkten. An 80 Versuchstieren (62 Kaninchen und
18 Hunden) wurden bisher im ganzen 150 derartige Ligaturen
angelegt. |
Das Resultat einer solchen dauernden Blutstauung war
jedoch nicht das erwartete. Wohl zeigte der autoptische Befund
in den ersten. Tagen post operationem eine erhebliche Blutüber¬
füllung der Lunge, die vergrößert und dunkelrot gefärbt war.
Doch bei den nach längerer Zeit vorgenommenen Obduktionen
konnte diese Hyperämie nicht mehr festgestellt werden. Die ge¬
staute Lunge war dann mehr oder weniger geschrumpft, fühlte
sich derber an und war von blässerer Farbe. In einigen Fällen
konnte die Bildung von Kollateralbahnen an der Pleuraoberfläche
bemerkt werden. Die mikroskopische Untersuchung ergab teilweise
nur geringe Aenderungen der histologischen Struktur, in einigen
Fällen jedoch, besonders bei stärkerer Einschnürung der Vene,
erhebliche Vermehrung der bindegewebigen Elemente : Verdickung
der Alveolarsepten und der Pleura. Die gänzliche Unterbindung
der Venen, die in einigen Fällen vorgenommen wurde, ergab das
gleiche Resultat.
In einer weiteren Versuchsreihe wurde dann untersucht.,
welchen Einfluß die Einengung der Venen auf eine experimentell
erzeugte Tuberkulose habe. Die Tiere (Kaninchen) erhielten 1 bis
2 mg einer Reinkultur (Typus lnimanus) zu feiner Emulsion ver¬
rieben in die- Ohrveme injiziert. Nach zwei Wochen bis zwei
Monaten wurde dann die eine Lunge in der eben beschriebenen
Weise gestaut, nach weiteren zwei bis vier Monaten wurden
die Tiere getötet.
Das Resultat dieser Versuche, die noch weiter fortgesetzt,
werden, war ein auffallendes Zurückbleiben der Entwicklung und
810
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 22
Ausbreitung der Tuberkulose in der gestauten Lunge. Während
es in der ungestauten Lunge zu ausgedehnten Verkäsungen kam,
beschränkte sich der Prozeß in der gestauten Lunge auf weniger
zahlreiche, kleinere, gegen das Lungengewebe schärfer abge¬
grenzte Herde, die durchwegs weit geringere Tendenz zur Ver¬
käsung zeigten.
Der Gedanke, diese Versuche auch auf andere Organe auszu¬
dehnen, namentlich auf die ebenfalls zum Vergleich der Wir¬
kung sehr geeigneten Nieren, liegt sehr nahe und ist auch von
dem Vortragenden in Aussicht genommen.
Sauerbruch-Zürich: Da die Tuberkulose der Lunge durch
Bindegewebsentwicklung zur Ausheilung gelangt, so dürfte die
Einengung der venösen Bahn dieselbe Wirkung habbn, wie die
von ihm angegebene Unterbindung der Arteria pulmonalis zwecks
Hervorrufung der Schrumpfung eines Lungenteils. Beide Opera¬
tionen verdienen den Vorzug vor der technisch oft schwer aus-
zuführenden Exstirpation des Organes.
IV. Hauptthema.
W i 1ms- Heidelberg : Coecum mobile und chronische
Appendizitis.
Die unter dem Namen „chronische Appendizitis“ bekannten
Schmerzattacken können durch eine Reihe von Störungen bedingt
sein: 1. Verwachsungen im Gebiete des Wurmfortsatzes oder des
Cökums und Colon ascendens, so daß Zerrungen bei Füllung
des. Darmes entstehen, 2. durch Knickungen oder Drehungen
des Dickdarmes an der Flexura hepatica oder dem Cökumansatz,
wodurch dann ein vorübergehender Darmverschluß eintritt. Die
von Wilms als Coecum mobile oder auch Typhlospas-
mus, von anderen als Typ h lato nie oder Typhlektasie be-
zeichneten Anomalien haben mit den obgenannten Störungen nichts
zu tun, sondern werden in der Regel bedingt durch lange Stagna¬
tion des Darminhaltes im Cökum. Der Inhalt kann 24 und mehr
Stunden, wie auf Röntgenbildern schön demonstrierbar, im Cö¬
kum bleiben. Er dickt sich dort ein, dadurch haben die anderen
Kolonteile eine erschwerte Arbeit, den eingedickten Stuhl durch¬
zutreiben, die Patienten leiden meist an einer habituellen
chronischen Obstipation. Als Ursache für, den langen Auf¬
enthalt des Darminhaltes in Cökum muß wohl eine antipeui-
s taltische Arbeit im Colon ascendens angenommen werden,
die in Verbindung mit spastischen, durch entzündliche Rei¬
zung bedingten Kontraktionen des Cökums und Kolons die
Schmerzanfälle erklärt. Diese spastischen Kontraktionen, die mit
einer Verlängerung des Cökums einhergehen, bewirken Z e r r u n-
gen des beweglichen Cökums an seinem Mesenterium, oder
wenn der Wurmfortsatz und sein Mesenteriolum relativ kurz
sind, erfolgen die Zerrungen an dem Mesenteriolum des Wurm¬
fortsatzes. Die Schmerzen bei der chronischen Appendizitis sind
also Zerrung ss chm erzen, verstärkt durch leichte entzünd¬
liche Zustände im Gebiete des Mesenterialnerven.
hinzufügen, wobei zu bemerken ist, daß - — wie dies auf Grund
der Tierversuche an Pflanzenfressern vorauszusehen war — Ge-
müsekost zu schweren Störungen führt.
Die gleichen oder ähnliche Störungen treten jedoch bei Ge¬
mütsbewegungen auf.
Oberhalb der Anastomosenstellen bis zur Flexura lienulis
fungiert der Darm als Rezeptakulum für die Fäzes.
Die vom Redner bevorzugte Operation ist die Ileotrans-
versostomie, zu der er schreitet, wenn er im Röntgenbilde eine
aufs Dreifache verlängerte Verweildauer einer Wismutmasse im
oberen Dickdarm gefunden hat. Die gleiche Operation ist wegen
der geringeren Konsistenz der dahin gelangten Fäzes auch bei
Obstipation erfolgreich.
Sonnenbu'rg- Berlin: Das Coecum mobile ist eher ein
Vorteil für seinen Träger, da gerade Fixation und Adhäsion
zu Beschwerden führen. Erst, wenn sich ein Katarrh im Cökum
etabliert, treten Erscheinungen auf. Eine solche Typhlitis gilt
oft für eine Appendicitis chronica., während es in Wirklichkeit
bloß eine lokalisierte Kolitis ist, ähnlich wie die der Umbiegungs
stellen. . 4
Die Ergebnisse der Röntgenuntersuchungen des Dickdarms
sind mit größter Vorsicht zu verwerten (längere Verweildauer
im Cökum befindet sich auch bei Nichtobstipierten). Das Coecum
mobile kann als Krankheitsbild nicht anerkannt werden.
Eduard Sti erlin -Basel: Vortr. demonstriert die Radio-
gramme von drei Fällen schwerer Obstipation vom Aszendeus-
typus, wo von Wilms und de Quervain, gestützt auf den
radiographischen Befund, die Ausschaltung des Coecum und Colon
ascendens ausgeführt wurde1. Das funktionelle Resultat der Ope¬
ration ist. ausgezeichnet. Wo vor der Operation 24 und 48 Stunden
nach Wismutmahlzeit noch das gesamte Wismut in dem atonischen
sehr weiten Coecum und Colon ascendens gesehen wird, ist
nach der Operation zur selben Zeit entweder kein Schatten mein'
oder nur noch eine Spur eines solchen vorhanden. Entsprechend
dem funktionellen Resultat ist auch das klinische ein sehr gutes.
Bei allen wurde die Obstipation geheilt.
D re ye r- Breslau findet bei zwei Drittel aller Sektionen
ein bewegliches Cökum. Das Coecum mobile ist also nichts
Krankhaftes. Noch weniger ist die Fixation des Coecum mobile
nach Wilms geeignet, physiologische Verhältnisse herbeizuführen.
Bei nachträglich eintretender Gravidität könnte sie direkt bedroh
liehe Darmstörungen herbeiführen.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag den 2. Juni 1911, um 7 Flir abends,
Zur Diagnose ist außer der Palpation (gurrender Tumor)
das Röntgenbild unbedingt erforderlich. Wilms empfiehlt drei
Bilder nach Wismutdarreichung, 4, 8 bis 10 und 24 Stunden
nach der Wismutmahlzeit. Seine mit der Cökumpexie er¬
zielten Resultate zeigen, daß man hiemit nicht nur die Schmerzen
beseitigt, sondern auch dauernd die chronische Obstipa¬
tion heilen kann. Nicht weniger wie 75°/o der Operierten hatten
nach dem Eingriff ohne weitere Therapie normale Stuhlentlee¬
rung, während früher meist Stuhl nur nach Abführmitteln erzielt
wurde. Bei ungewöhnlich großen Formen des Cökums empfiehlt
Wiilms die Ausschaltung durch direkte Vereinigung der
untersten, vor dem Cökum gelegenen Dünndarmpartie mit dem
Querkolon. Operiert werden soll nur, wenn die interne Behandlung
der Obstipation auf Schwierigkeiten stößt oder erfolglos war.
de Quervain-Basel: Zur chirurgischen Behand¬
lung schwerer Funktionsstör u n gen des D i c k d a r m s .
Angesichts der mangelhaften (Kenntnisse über die Physio¬
logie der Dickdarmtätigkeit ist es mißlich, funktionelle Störungen
desselben operativ zu behandeln. Es ist schwer, zu beurteilen,
wie weit die Funktionsstörungen anatomisch bedingt sind. Sekre¬
torische und motorische Anomalien verwirren durch ihr Ifinzu-
treten das Bild vollends.
Die Kolopexie vermochte ihren Einfluß selbst nicht voll¬
ständig zu befriedigen. Appendix- und Cökalfisteln schieden als
verstümmelnde Operationen aus. Selbst die Ausschaltung des
ganzen Kolons oder von Partien desselben vermag in der Mehr¬
zahl der Fälle die Darmstörung nicht auf die Dauer zu beheben.
So mußte Redner wiederholt wegen Rückstauung des Kotes die
Exstirpation von Dickdarmteilen, besonders des Colon ascendens,
im Hörsaale der I. Universität«- Augenklinik ( Ulgem. Kranken
liaus) unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Prof. Exner staltfindender
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Prof. Dr. Fr. Dimmer : Die Photographie des Augenhintergrundes
(Vortrag mit Demonstrationen.) __ .
Vorträge haben angemeldet die Herren: v. Eürtli und E. neun
M. Sternberg. . . „ .
Bergmeister, Pallauf.
Um die rechtzeitige Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen
ist es not wendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemertungei
dem Schriftführer noch am Sitzungsabend zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Ortner, Donnerstag
den 1. Juni 1911, um 7 Uhr abends, statt.
(Vorsitz: Professor v. Noorden.)
Programm:
A. Administrative Sitzung. n .
B. Wissenschaftliche Sitzung. Demonstrationen angemeldet: uok
tor Beck, Frau Dr. Liclitenstern, Priv.-Doz. Dr. Eppinger.
Das Präsidium.
Wiener laryngo-rhinologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch den 14. Juni 1911, 7 Uhr abends, in
Hörsaale der Klinik Hofrat C h i a r i.
Priv.-Doz. Dr. J , Fein hat eine Demonstration angemeldet.
R <§ t b i-
Verantwortlicher Redakteur : Karl Knhasta.
ftrnek von Bruno Barlelt, Wien XVIII., Tberesieugaaso 8,
Verlag von Wilhelm BranmHller in Wien.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
* ' stvs. ää ra i- asr-yraari irr ■
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
inton Frei!,, v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel Ernst Fuchs. Julius Hochenegg. Ernst Ludwig. Edmund v. Neusser
Richard Paltauf. Gustav Riehl und Anton Weichselbaum
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg, _ Wien. 8. Juni 1911 Nr. 23
INHALT:
1. Oi iginalartikel : 1. Experimentelle Studien zur Nierenfunktion. II.
Von Dr. Arthur Katz und Dr. Robert Lichtenstern. S. 811.
2. Aus der Unfallstation der ersten chirurgischen Klinik. (Vor¬
stand : Prof. v. Eiseisberg.) Ueber Wund- und Frakturbehand¬
lung. Von Dr. Hans Ehrlich, Assistenten der Klinik, derzeit
Chefchirurg des österr -Ungar. Spitales in Konstantinopel. S. 813.
3. Aus dem diagnostisch-therapeutischen Institut für Herzkranke
in Wien. Ueber Digitalisleim (Gelina Digitalis). Vorläufige
Mitteilung von Priv.-Doz. Dr. Max Herz, Wien. S. 821.
4. Ueber einen Fall von Erweiterung der Aorta bei gleichzeitiger
Verengerung des Ostium derselben und des linken Ostium
venosum. Von Prof. Dr. K. E. W agner, Direktor der medi¬
zinischen Klinik an der Universität Kiew. S. 822.
5. Die Typhusepidemien in Hermannstadt. Von Dr. Karl linear,
Prosektor. S. 824.
6. Ernst Fuchs.. (Zum 14. Juni 1911.) Von C. Heß, Würzburg.
S. 833.
II. Referate: Die großen Probleme in der Geschichte der Hirn-
lehre. Von Prof. Dr. Döllken. Ref. : Obersteiner. —
Chemie und Biochemie der Lipoide. Von Dr. Ivan Bang.
Dynamische Biochemie. Chemie der Lebensvorgänge Von
Dr. Siegmund Fränkel. Ref.: 0. v. Fürth. - Handbuch der
speziellen Chirurgie des Ohres und der oberen Luftwege. Von
Dr. L. Katz, H. Preysing und Dr. F. Blumenfeld.
Ref.: Alexander. — Neue Wege und Ziele für die Weiter¬
entwicklung der Sing- und Sprechstimme. Von G. Wirz
Ref. : L. R e t h i.
III. Ans verschiedenen Zeitschriften.
IV. Ungarischer Brief. Von Dr. Heinrich Pach. S. 842.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßbericlite.
•xperimentelle Studien zur Nierenfunktion. II.
Von Dr. Arthur Katz und Dr. Robert Lichtenstern.
Die Folgen einseitiger Ureterenunterbindung wurden
in Tierexperiment nach verschiedenen Richtungen unter-
ucht. Einerseits wurden die Untersuchungen auf die dem
interbimdenen Ureter zugehörige Niere beschränkt, ander-
eits die Veränderungen der zweiten Niere und die durch
en Eingriff gesetzten allgemeinen Störungen des Körper-
aushaltes ermittelt. Der Ort, an dem die Unterbindung
orgenommen wird, spielt für den Ablauf der Erscheinungen
eine Rolle. Zwar behauptete Spalitta, daß eine nahe
em Hilus angelegte Ligatur im Gegensatz zu mehr peri¬
pherer komplette Anurie, welche als reflektorische Sekre-
lonshemmung .gedeutet wurde, zur Folge hat, aber bereits
' o r i wies das Irrige dieser Annahme in eigens darauf -
in unternommenen Experimenten nach. Damit wurde die
insicht, daß nervöse Störungen die Ursache der nach dem
'ingriff auftretenden Erscheinungen sind, hinfällig und jene
nschauung, welche toxische Einflüsse für diese Störungen
erantwortlich machte, a priori die wahrscheinliche, wie
ereil s in einer früheren Mitteilung (Wiener klin. Wochen-
chrift 1909, Nr. 45) ausgeführt wurde. Fiori war es auch,
er im Tierversuch feststellen konnte, daß die Sekretion
er Niere nicht sofort nach der Ureterenunterbindung
isliert. ln dem Inhalte der sich ausbildenden Hydronephrose
-urde eine Flüssigkeit gefunden, welche nach 24 bis
0 Stunden 5 bis 6°/oo Harnstoff, größere Mengen von
hosphaten und wenige Chloride enthielt. Beim längeren
überleben des Tieres nahm der Umfang der sich ent¬
wickelnden Hydronephrose unter fortschreitender Einschmel-
zung des Nierenparenchyms immer mehr zu, die Flüssig¬
keit erschien eiweißreich (8%0), ihr Harnstoffgehalt nahm
immer mehr ab : Sie verlor immer mehr den Charakter
des normalen Nierensekrets. Die Injektion des sterilen
Hydronephroseninhaltes hatte bei Kaninchen Anämie, später
Oligurie, Atembeschleunigung, Verminderung der ausgeschie¬
denen Harnstoffmenge zur folge: alles Symptome, welche
die Gegenwart toxischer Stoffe in dieser Flüssigkeit sehr
wahrscheinlich erscheinen ließen. Gestützt wird di© An¬
nahme, daß die nach der Ureterenunterbindung zu konsta¬
tierenden anatomischen Veränderungen sich unter dem Bilde
trophischer Störungen charakterisieren.
Diese Tatsachen bilden übrigens nur die Bestätigung
der bereits 1898 im Pasteur sehen Institut ausgeführten
Arbeiten von Nefedieff, der bei Kaninchen den Ureter
unterbunden hatte und 21, resp. 41 Tage nach der Opera-
tion das Serum der operierten Tiere anderen Kaninchen
injizierte. Nach der Injektion stellte sich vorübergehende
Albuminurie ein und bei der Untersuchung der von diesen
Tieren stammenden Nieren wurden die Veränderungen einer
diffusen Nephritis in denselben gefunden. Aus diesen Unter¬
suchungen zieht der Autor den Schluß, daß nach Ureteren¬
unterbindung Toxine im Organismus gebildet werden, welche
in ihrer Menge nach der Operation zunehmen und anschei¬
nend der infolge des Eingriffes alterierten Niere entstammen
oder mit zur Ausscheidung bestimmten retinierten Stoffen
identisch sind.
Für die zuerst ausgesprochene Ansicht scheinen die
Versuchsresultate von Timofew zu sprechen. Er konnte
812
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1011.
Nr. 23
ermitteln, daß das Blutserum von Tieren, denen der Ureier
unterbunden, worden war, lymphagoge Eigenschaften ge¬
winnt. Das einige Tage nach dem Eingriff gewonnene
Serum ruft, Hunden injiziert, erhebliche Steigerung der
Lymphabsonderung hervor. Bei dem Hunde, dem der Ureter
unterbunden worden war, kommt es übrigens auch nach
einigen Tagen zu Steigerung der Lymphsekretion. Weiter¬
hin fand Timofew, daß bei den Versuchstieren einige
Tage nach dem Eingriff durch Injektion physiologischer
Kochsalzlösung schwere Erscheinungen ausgelöst werden
können : (Jedem, Aszites, Lungenödem als Todesursache.
Das Blutserum war stets durch gelöstes Hämoglobin
intensiv gefärbt; das Toxin muß also hämolytische Eigen¬
schaften besitzen. Auf Grund dieser Versuchsresultate nimmt
Timofew an, daß nach Ureterenunterbindung, Unterbin¬
dung der Arteria renalis, nicht aber nach einseitiger Nephrek¬
tomie Substanzen entstehen, welche giftig wirken und in der
durch den Eingriff veränderten Niere gebildet werden. Er
bezeichnet sie mit dem Namen der Nephroblaptine.
Weiteres ist über die Natur dieser nach Ureteren¬
unterbindung auftretenden Stoffe nicht bekannt. Die Frage
nach ihrem Wesen wäre wohl am exaktesten durch che¬
mische Beindarstellung zu beantworten. Doch hat dieser
Weg kaum Aussicht auf Erfolg, da zur Darstellung analysen¬
reinen Materials kaum genügende Mengen von Blutserum
zur Verfügung stehen würden, um so mehr als die Isolie¬
rung von den Toxinen nahestehenden, nicht wirksamen
Stoffen mit kaum überwindlichen Schwierigkeiten verbunden
sein dürfte.
Es erübrigt daher, einen mehr indirekten Weg ein¬
zuschlagen, um über das Vorkommen und die Natur
der nach Ureterenunterbindung auftretenden toxischen
Stoffe ins Klare zu kommen.
Da es sich um das Vorhandensein von nur relativ
geringen Toxinmengen im Organismus handeln dürfte, er¬
scheint es gerechtfertigt, jene Methoden der biologischen
Analyse anzuwenden, die auf dem Gebiete der „Chemie
des Unwägbaren“ so gute Dienste leisten. Der positive Aus¬
fall der biologischen Proben gestattet aber auch einen
Rückschluß- auf die Natur der vorhandenen Substanz, indem
es ja bekannt ist, daß Körper von niedrigem, Molekular¬
gewicht, ins Blut eingebracht, weder zu Präzipitinbildung
noch zu Komplementablenküng Veranlassung geben. Posi¬
tive Reaktion gestattet daher die Annahme, daß- die sie
auslösende Substanz entweder ein mit dem Körpereiweiß
nicht identisches Eiweiß- oder ein hoch molekulares Abbau¬
produkt des ersteren ist.
Die beiden wichtigsten, weitgehender Anwendung fähi¬
gen Methoden der biologischen Analyse sind, wie erwähnt, die
Erzeugung von spezifischen Präzipitinen und die Unter¬
suchung auf Komplementablenkung.
Die mitzuteilenden Untersuchungen beziehen sich zu¬
nächst auf das Studium derjenigen Präzipitine, welche nach
Injektion des Blutserums von Hunden und Kaninchen, denen
ein, resp. beide Ureteren unterbunden worden waren, im
Kaninchenorganismus gebildet werden.
Der Ausgangspunkt der zahlreichen Arbeiten über Prä¬
zipitinbildung sind bekanntlich die Untersuchungen von
Kraus, der als erster den Nachweis erbrachte, daß- das
Blutserum eines gegen Typhus immunisierten Tieres in dem
klaren Filtrate aus Bouillonkulturen des Typhusbazillus
Niederschläge hervorruft, daß Cholera- und Pestbazillen ein
ähnliches Verhalten zeigen. Die nachfolgenden Arbeiten von
T s c h i s t o w i t c h und von Bordet, welche zeigten, daß
Injektion von Pferde- oder Aalserum hei Kaninchen spezi¬
fische Präzipitine entstehen läßt, brachten den Beweis, daß
die Methode einer großen Erweiterung fähig i t und für den
Nachweis bestimmter Eiweißkörper verwertet werden kann.
Ihre Empfindlichkeit ist viel größer als die der empfind¬
lichsten chemischen Reaktionen.
Die Methodik der Präzipitinreaktion hat insbesondere
durch die Arbeiten von Uhlenhuth und seine Schule
entsprechende Ausbildung erfahren und eine Gewähr für
ihre Eindeutigkeit und Empfindlichkeit ist der Umstand,
daß der mit ihrer Hilfe zu führende forensische Nachweis
von Menschenblut in den meisten Staaten Eingang ge¬
funden hat.
Die Präzipitinbildung beruht auf der Entstehung neuer
Rezeptoren im Körper, welche unter dem Einflüsse des
Reizes, der durch die eingespritzte Substanz ausgelöst wird,
gebildet werden. Daher ist es auch erklärlich, warum die
Einführung des eigenen Körpereiweiß nicht zur Präzipitin
bildung Anlaß gibt: es wird eben kein anderer als der
physiologische Reiz ausgeübt. Daß- die verschiedenen
Eiweißstoffe desselben Tieres meist einige Rezeptoren ge¬
meinsam haben, ist wohl anzunehmen und daraus ist er¬
klärlich, warum ein für einen bestimmten Eiweißkörper
dargestelltes Antiserum auch auf einen zweiten in ge j
wässern Maße einwirken kann: So wirkt ein für Serum¬
globulin dargestelltes Antiserum spurenweise auch auf
Serumalbumin, ein auf Albumin eingestelltes energisch auf
Globulin ein. Dieser von Michaelis aufgestellte Ge¬
dankengang macht es erklärlich, daßi absolut artspezifische
Sera kaum existieren und daß stets eine gewisse .größere
oder geringere Reaktionsbreite der pathologischen Antisera !
gegenüber dem normalen bestehen muß.
Daß Abartungen des Eiweiß mit Hilfe der Präzipitin¬
bildung zu erkennen sind, war aus Versuchen sehr wahr
scheinlich gemacht, die Abhauprodukte der Eiweißkörper, I
wie sie bei der Pankreasverdauung entstehen, zur Darstel¬
lung spezifischer Antisera heranzogen, ferner durch die
von G r u n d, Forstu e r u. a. erwiesene Möglichkeit, welche ;
die einzelne Organe, wie Milz, Leber, Niere u. dgl., auf¬
bauenden Eiweißkörper durch die Präzipitinreaktion wenig¬
stens bis zu einem gewissen Grade- voneinander zu differen¬
zieren vermochten. Weiters hatten die Arbeiten Ascolis
und Sc h ii tzes gelehrt, daß mit der gleichen Reaktion der
Nachweis von im Blut enthaltenen Nahrungs-, resp. Muskel- -
eiweiß- leicht zu führen ist.
Für den Nachweis des fremden, resp. abgearteten Ei¬
weiß- kommen im Rahmen der Präzipitinreaktion zwei Me¬
thoden vorwiegend in Betracht: der Nachweis spezifischer,
präzipitabler Substanz, die vorwiegend mit dem spezifischen,
mit Hilfe des pathologischen Blutserums dargestellten Anti¬
serum einen Niederschlag gibt und die M Rhode D ebnes,
der gefunden hat, daß das gebildete Präzipitat im Beher¬
rsch ii ß des betreffenden Blutserums löslich ist. Beide Me- 1
thoden ergaben in unseren Versuchen positive Resultate.
Unsere Versuchsanordnung war eine sehr einfache :|
Behufs Darstellung der normalen Präzipitine für normales
Hundeblut wurde Kaninchen normales Hundeblutserum
intraperitoneal oder intravenös eingespritzt, entweder in
steigenden Mengen in kurzen Intervallen von drei bis sechs
Tagen oder an drei aufeinanderfolgenden Tagen nach der
Methode von For net und Müller. Um Isopräzipitiue
für Kaninchenblut zu erhalten, geschah die Injektion von
Kaninchenblutserum von Kaninchen zu Kaninchen auf die
gleiche Weise. Etwa eine Woche nach der letzten Injek¬
tion erwies sich das Antiserum als wirksam und gab mit dem
normalen Hundeblut-, resp. Kaninchenblutserum deutliche j
Ausschläge bei Verdünnungen von 1:1000 bis 1:2000. Be¬
hufs Gewinnung eines Antiserums gegen das Blutserum j
nach Ureterenunterbindung wurde per Laparotomie bei Hun¬
den, resp. Kaninchen, die Unterbindung eines Ureters vor¬
genommen und einige Tage nach der Operation Blut durch
Aderlaß- aus der Vena jugularis, bei Kaninchen aus der
Ohrvene entnommen und wieder in gleicher Weise, wie:
oben beschrieben, das Serum Kaninchen injiziert. Auch
hier war die Wirksamkeit des Antiserums nach zirka einer
Woche in voller Stärke seinem Antigen gegenüber ausgespro¬
chen. Mil den so gewonnenen (Blutproben wurde eine
Reihe von Versuchen angestellt, die stets gleiches Resultat
ergaben.
Behufs Ausfällung jener Bestandteile, die in nach Ure-
Lerenunterbindung gewonnenem Blutserum mit normalem
Antiserum Niederschläge geben, wurde nach Angaben von
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
813
Kister und \\ eichärdt zunächst normales Kaninchen
antiserum und nach Absetzen und Zentrifugieren des ent¬
standenen Niederschlages Ureterantiserum (d. h. Kaninchen¬
blutserum von Tieren, die mit Hunde-, resp. Kaninchen-
blut nach Ureterenunterbindung vorbehandelt waren) zu¬
gesetzt. Es trat bei Zusatz dieses Ureterantiserums neuer¬
lich ein Niederschlag auf: ein Beweis, daß, nicht alle Stoffe
des Ureterblutserums durch Normalserum fällbar sind und
dahei ein den Eiweißkörpern nahestehendes Toxin in Lösung
gewesen sein mußte. Denselben Ausfall zeigte die Reaktion
bei Verwendung von Kaninchenureterblut und Kaninchen¬
antiserum. Die Reaktion wurde in Verdünnungen von 1 : 100
bis 1:200 durchgeführt. Auch die umgekehrte Versiichs-
anoidnung, d. h. Fällung der Uretersera mit Ureterantiserum
und nachträglichem Zusatz von Normalantiserum ergab posi¬
tiven Ausschlag. Positiver Ausfall der Dehn eschen An¬
ordnung des Versuches war gleichfalls zu konstatieren:
Fällung des Ureterserums mit Ureterantiserum und neuer¬
licher Zusatz von Ureterserum, wobei Aufhellung der trüben
Flüssigkeit erfolgt. Mit diesen Versuchen ist wohl der Be¬
weis erbracht, daß nach Unterbindung des Ureters bei
Hunden und Kaninchen eine Substanz im Blute vorhanden
ist, welche im Normalblut nicht vorkommt.
Daß, Normalserum durch Ureterantiserum gefällt wird,
ist selbstverständlich, denn im Ureterantiserum werden ja
zahlreiche Rezeptoren vorhanden sein, welche auf die des
Normalserums einpassen. Der positive Ausfall der Präzi¬
pitinreaktion beweist weiterhin, daß nach Ureterenunter¬
bindung im Blutserum eiweißartige oder dem Eiweiß nahe¬
stehende Substanzen enthalten sind, welche als Ursache
ier toxischen Wirkungen anzusehen sind. Ob es Zerfalls¬
produkte der Nierensubstanz sind, sollen weitere Versuche
ehren.
Unsere Versuche wurden im physiologischen Institut
ler k. k. Wiener Universität durchgeführt.
Serum vom
bß
G
G
G
G
:G
--
<u
>
Zusatz von
Antiserum
l ,
normalen
Hund
normalen
Hund
Hunde nach
Ureterunter¬
bindung
Hunde nach
Ureterunter¬
bindung
normalen
H und
normalen
Hund
Hunde nach
! Ureterunter¬
bindung
I Hunde nach
Ureterunter¬
bindung
Kaninchen,
normal
Kaninchen
mit unter¬
bundenem
Ureter
Kaninchen
niit unter¬
bundenem
Ureter
1 : 10
1:10
1: 10
1:10
1:1
nach Injekt. nor¬
malen Hunde-
blutes
nach Injekt. von
Ureterhundeblut
nach Injekt. nor¬
malen Hunde¬
blutes
nach Injekt. von
Ureterhundeblut
p
c
q;
Sofort
Nach Stehen
im Eiskasten
1
RICO
10
1:10
nach Injekt. nor¬
malen Hunde- I 1
blutes
nach Injekt. von ;
Ureterhundeblut
nach Injekt. nor¬
malen Hunde¬
blutes
nach Injekt. von
Ureterhundeblut
1
nach Injekt. von |
normalem
Kaninchenblut
nach Injekt. von |]
normalem '• ^
Kaninchenblut
I nach Injekt. von
: 10J Ureter¬
kaninchenblut
|0'4
|0'5
1 : 10. Trübung
1:10
1:10
1:10
schwache
Trübung
Trübung
Trübung
1 . jqi deutliche
"Rübling
i.1n deutliche
Wiibung
l : 10
schwache
Trübung
. |Q deutliche
Trübung
intensive
Trübung
intensive
Trübung
sehr
intensive
Trübung
deutlicher .
Niederschlag
geringerer
Niederschlag
+
deutlicher
Niederschlag
+
deutlicher
Niederschlag
+
deutlicher
Niederschlag
d F
deutlicher
Niederschlag
H — F
geringer
Niederschlag
d~
starker
Niederschlag
+++
deutlicher
Niederschlag
deutlicher
Niederschlag
sehr deutl.
Niederschlag
Ans den mitgeteilten Versuchen geht, hervor, daß:
1. der Nachweis, der nach Ureterenunterbindung im
Jiimde- und Kaninchienorganismus entstehenden Toxine mit
Hille der Präzipitinreaktion in eindeutiger Weise möglichj
ist und daß,
i , dahcAr, ,di'ose Toxine als Eiweißkörper oder hoch
molekulare Abbauprodukte des Eiweißes anzusehen sind.
Aus der Unfallstation der I. chirurgischen Klinik.
(Vorstand: Prof. v. Eiseisberg.)
Ueber Wund- und Frakturbehandlung,
Von Dr. Hans Ehrlich, Assistenten der Klinik, derzeit Chefchirurg des
osterr.-ungar. Spitales in Konstantinopel.
Wenn wm am Lude des kurzen Zeitraumes ivon 14 Mo-
das Krankenmaterial der in der Zeit, vom 1. November
bis Ende Dezember 1910 an die neugeschaffene Un¬
fallstation eingelieferten Verletzungen einer kritischen
Durchsicht unterziehen und unsere Resultate zusammen-
lassen, so dürfte eine derartige Zusammenstellung kaum viel
Neues bringen und das Thema der Verletzungschirurgie ,ge-
u iß nicht erschöpfend behandeln. Die an einem vorder¬
hand beschränkten Material gesammelten Erfahrungen
setzen uns nur in den Stand, zu gewissen Fragen Stellung
zu nehmen, wie sie teils infolge ihrer allgemein chirurgf-
schen Bedeutung bei jeder neuen Verletzung von Interesse
smü, teils bei der häufigen Wiederkehr bestimmter Ver-
letzungs typen auch an der Hand einer relativ kleinen Zahl
von Fallen beantwortet werden können.
Eine Zusammenstellung der gerade im ersten Jahre
gewonnenen Erfahrungen, erscheint uns hauptsächlich des¬
halb von Wert, weil dieselben für dielweitere an der Unfall¬
station einzuschlagende Therapie maßgebend sein werden.
r« uDie- Bf;urteiluilg eines eventuellen therapeutischen
Ettektes ist hei akzidentellen Verletzungen ganz besonders
erschwert, weil wir kein sicheres Kriterium besitzen, das
uns die primäre schädigende Wirkung eines Traumas von
\ omherem voll ei messen läßt und weil man eher geneigt ist
einen Mißerfolg, z. B. Wundinfektion auf die All und Aus-
dehnung der Verletzung, anderseits einen Erfolg, wie glatten
Wundverlauf auf die eingeschlagene Therapie zurückzu¬
führen. Erst mit größerer Erfahrung auf diesem Gebiete
wird man seltener in diesen Fehler verfallen und erst dann
imstande sein, deji richtigen Mittelweg zwischen einer mehr
aktiven oder streng abstinenten. Therapie einzuschlagen.
Ohne bei der nahezu unbegrenzten Variationsmöglieh-
keit von Verletzungen für eine zu weitgehend .schematisie¬
rende Behandlung eintreten zu wollen, ist die Aufstellung
gewisser Grundprinzipien, vielleicht auch deshalb nicht
überflüssig, weil sich gerade auf dem Gebiete der Ver-
lelzungschirurgie der Mangel allgemein anerkannter einheit¬
licher Behandlungsmethoden besonders fühlbar macht.
Wenigstens scheinen nach unseren Erfahrungen an Ver¬
letzungen, die nicht von der Wiener Freiwilligen Bettungs¬
gesellschaft in mustergültiger Weise versorgt, kurz nach dem
I raum a eingeliefert wurden, sondern bereits vorbehandelt,
aus größerer -Entfernung die Anstalt aufsuchten, über die
primäre Versorgung von Verletzungen, die divergentesten
Ansichten zu herrschen. So werden nicht so selten frische
Schuß,- und Stichkanäle, mit Sonden untersucht, andrer¬
seits m der übertriebenen Angst vor Infektion glatte Wunden
duich Desinfektionsmittel verätzt, Hautwunden über ver¬
letzten Sehnen oder Nerven durch die Naht geschlossen
oder ischämische Kontrakturen durch zirkuläre Gipsver¬
bände erzeugt, Fehler, welche leicht zu vermeiden wären,
wenn der erste behandelnde Arzt, sich der Tragweite der¬
artiger Eingriffe und seiner vollen Verantwortlichkeit auch
Verletzten gegenüber, denen er nur erste Hilfe leistet, be¬
wußt wäre. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführun¬
gen zum leil von vorwiegend lokalem Interesse, indem sie
den Zwreck verfolgen, den Vorletzten womöglich noch vor
dei Einlieierung in die Unfallstation eine sachgemäße erste
Hilfe zu sichern.
814
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
Das Krankenmaterial der Unfallstation gibt keine er-
se Lupfende Uebersicht über sämtliche in die Klinik ein¬
gelieferten Verletzungen, weil regelmäßig eine große Zahl
in dem räumlich getrennten Ambulatorium in Behandlung
steht. Zur Aufnahme gelangten nur solche, die wegen der
Schwere des Falles mitunter auch aus sozialen Gründen
eine interne Spitalsbehandlung angezeigt erscheinen ließen,
ln der folgenden Zusammenstellung fehlt somit der größte
Teil der an der Klinik beobachteten Frakturen und Luxa¬
tionen der oberen Extremität, der Sehnenverletzungen, Kon¬
tusionen und anderen geringfügigen Verletzungen. Erst, in
letzter Zeit wurden an der Unfallstation in steigender Fre¬
quenz Verletzungen auch ambulatorisch behandelt. Bei dem
häufigen Vorkommen von multiplen Verletzungen ist es
nicht gut möglich, die Patienten nach ebensoviel .Diagnosen
zusammenzustellen. FTm nur die wichtigsten hervorzuheben,
verzeichnen wir bei 627 Kranken (450 Männer, (177 Frauen)
667 Verletzungen, die sich nach der Lokalisation verteilen
wie folgt:
Verletzungen der Haut . 138
,, ,, Sehnen . 10
,, ,, Nerven . 7
Frakturen des Hirnschädels . 37
,, Gesichtsschädels . 14
obere Extremität und Schultergürtel . 81
untere Extremität und Beckengürtel . 168
Wirbelsäule und Rippen . 127
Luxationen . 20
Verletzungen innerer Organe:
Gehirn . 28
Thorax . . 22
Abdomen . 16
Defekte von Gliedmaßen . 14
Multiple Zertrümmerungen . 4
Gefäßverletzungen . . 12
Kontusionen . 77
Wenn wir nach operativen Eingriffen, die mit ge¬
kochten Instrumenten in desinfizierter Umgebung vorge¬
nommen, nach den Regeln der Asepsis nachbehandelt wer¬
den, nur selten Störungen des Wundverlaufes sehen, .andrer¬
seits nach akzidentellen Verletzungen schwere Infektionen,
Gasphlegmonen u. dgl. beobachten, so schiene es, als ob
diese beiden Arten von Verletzungen prinzipiell vonein¬
ander verschieden wären und die Grundsätze in der Be¬
handlung von den ersteren auf die letzteren nicht zu über¬
tragen wären. Demgegenüber steht allerdings die durch
wiederholte genaue bakteriologische Untersuchungen fest¬
gestellte Tatsache, daß trotz, aller Vorkehrungen die ischein-
bar aseptischen Operationswunden am Ende einer Opera¬
lion niemals bakterienfrei sind und daß wir daher den
guten Wundverlauf nicht, so sehr dem Fehlen von Keimen
als anderen Umständen verdanken, wie sie durch die glatten,
gut ernährten Wundränder, die (genaue Blutstillung, die Ver¬
meidung toter Räume, die sorgfältige Nachbehandlung usw.
gegeben sind, die den Organismus in den iStand setzen,
eine Infektion mit wenig virulenten Keimen ohne Reak¬
tion zu überstehen. Wenn wir anderseits Operationswunden
bei ungünstigen Heilungsbedingungen, z. B. Hämatombil¬
dung, vereitern sehen, während dagegen mit unreinen In¬
strumenten zugefügte Verletzungen unter sonst günstigen
Wund Verhältnissen nicht selten per primam heilen, so unter¬
liegt. es kaum einem Zweifel, daßi auch bei Verletzungen
die Bedeutung der primären Wundinfektion gegenüber der
anderer in der Beschaffenheit der Wunde selbst gelegener
Faktoren nicht überschätzt werden darf.
Da wir nun bei den auch nicht .verläßlich keimfreien
Operationswunden mit der rein aseptischen Behandlung fast
durchwegs gute Resultate erzielen, nehmen wdr keinen An¬
stand, das Prinzip der Asepsis auch auf die Behandlung von
Verletzungen im allgemeinen zu übertragen, allerdings mit
der Einschränkung, daß wir bei Wunden, die hochgradig
verunreinigt scheinen, durch vorwiegend mechanische Maßi-
nahmen bestrebt sind, die Infektionskeime und das mangel¬
haft ernährte Gewebe zu entfernen, die Sekretstauung zu
verhindern und so die Verletzungswunden den Operations¬
wunden ähnlicher zu machen.
Um zunächst, von rein praktischen Gesichtspunkten
ausgehend, die Verletzungswunden nach ihrer Beschaffen¬
heit zu klassifizieren, lassen sich im wesentlichen drei
häufig wiederkehrende, allerdings nicht scharf getrennte
Typen unterschieden.
1. Kontinuitätstrennung der Haut- und Weichteile ohne
Defekt mit mehr oder weniger glatten, gut .ernährten Wund¬
rändern ohne sichtbare Verunreinigung.
2. Quetschwunden mit schlecht ernährten Rändern.
3. Wunden, die sichtbar hochgradig verunreinigt sind
(Erde, Kleidungsstücke).
Was nun die Behandlung dieser Wunden betrifft, so
sehen wir uns nur bei den Wunden; der zweiten und dritten!
Gruppe zu einem energischeren Vorgehen veranlaßt. Die
Wunden der ersten Gruppe heilen erfahrungsgemäß am
besten, wenn man sie ganz nach den Grundsätzen, wie
sie für reine Wunden Geltung haben, behandelt. Rasieren,
der Haut, Reinigung der Umgebung mit Jodbenzin, Pinseln
der Haut mit Jodtinktur sind Maßnahmen, die eine nach-;
trägliche Infektion verhindern sollen, die Wunden werden:
als rein betrachtet und nur aseptisch verbunden.
Die einzige Konzession, die wir an die eventuelle,!
durch das verletzende Instrument erfolgte und makro-|
skopisch nicht nachweisbare Verunreinigung der Wunde;
machen, ist die, daß wir derartige Wunden im Gegensatz;
zu den Operationswunden nur mit wenigen Ausnahmen nicht
durch die Naht verschließen. Die anfangs auch bei glatten
Wunden ohne Defekt geübte prophylaktische Anwendung
des Perubalsams hat sich, wenn dadurch auch kein nach-j
weisbarer Schaden entstand, als unzweckmäßig erwiesen,!
weil der Perubalsam, wie es scheint, das Gewebe in einen
nicht unbeträchtlichen Reizzustand versetzt, zur Sekretion!
anregt und so die Primaheilung, die bei rein aseptischem:
Vorgehen häufig eintritt, verhindert.
Die Ausnahmefälle, in welchen wir die Haut 'durch diel
Naht verschließen, sind jene, bei welchen größere Haut-:
lappen durch einige lockere Nähte fixiert werden, wobei aber;
immer darauf geachtet wird, daß der Abfluß des Wund¬
sekretes in keiner Weise gehemmt ist. Für die primäre]
Naht eignen sich ganz besonders selbst nicht ganz glatt
randige Wunden des: Gesichtes, während andere Hautver¬
letzungen, wie die Wunden der Kopfschwarte und des übri
gen Körpers eine viel geringere Tendenz zur primären Hei¬
lung zeigen. Es dürfte dies damit Zusammenhängen, daß
infolge der innigen Verwachsung der Haut des .Gesichtes!
mit der mimischen Muskulatur die Bildung eines .subkutanen
Hämatoms nicht so leicht zustande kommt, wie dies unter
der leicht abhebbaren Haut der Kopfschwarte der Fall ist.,
Für letztere Fälle empfiehlt sich auch aus diesen Gründen
selbst wenn die Blutung aus größeren Gefäßen 'durch Liga
tur gestillt ist, ein leichter Kompressionsverband.
Die Resultate, die wir mit der rein (.aseptischen, jedoch
offenen Behandlung von makroskopisch reinen Wunden er
zielt haben, sind durchwegs befriedigend zu nennen, in
dem wir bei Fällen, die kurz nach der Verletzung einge¬
liefert wurden, wohl manchmal vorübergehend entzündliche
Rötung der Wundränder, niemals aber schwere Infektionen
entstehen sahen. Dagegen hatten wir öfters Gelegenheit,
ausgedehnte Phlegmonen zu behandeln, die nach glattrandi
gen, primär vernähten Schnittwunden der Kopfschwarte odei
der Extremitäten entstanden waren. Das relativ häufig»“
Vorkommen von Sehnenscheidenphlegmonen nach Nalil
scheinbar ganz unbedeutender Wunden über dem Hand
gelenk oder im Bereiche der Hohlhand weist (darauf hur
daß wohl öfters eine Verletzung der Sehnenscheiden vor
liegt, als man dies' bei Mangel einer Fünktionsstörung von
seiten der Sehnen nach dem Aussehen der (Wunde vermuten
würde.
Um anschließend daran unseren Standpunkt bei Be¬
handlung von Sehnenverletzungen zu präzisieren, so trach-
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
815
ten wir, womöglich die primäre Sehnennaht auszuführen,
die immer mehr die Bedeutung einer dringlichen ^Operation
erlangt. Die Vorbereitung der verletzten Extremität durch
ein Sublimatbad hat nicht, den Zweck, die Wunde zu
desinfizieren, die gewöhnlich durch ein Blutkoagulum ver¬
schlossen, die desinfizierende Flüssigkeit kaum eindringen
laßt;, unser Vorgehen richtet .sich vielmehr gegen die Ver¬
unreinigungen der Haut, die in dem beschränkten Opera¬
tionsfeld. nicht so exakt abgedichtet werden kann, daß da¬
durch die Infektion des zu versenkenden Nahtmateriales
mit Sicherheit zu vermeiden wäre.1)
Für platte Sehnen hat sich die einfache Naht nach
W ö 1 f 1 e r am besten bewährt. Starke, runde Sehnen werden
nach Lange genäht.
Je nach der Lokalisation der Sehnenverletzungen ist
nach Vereinigung der Sehnenstümpfe die exakte Naht der
Sehnenscheide oft nicht durchführbar, was jedoch1 das funk¬
tionelle Resultat nicht wesentlich zu beeinflussen scheint.
Die zum Aufsuchen der Sehnenstümpfe erforderlichen Hilfs¬
schnitte wurden immer primär vernäht, die ursprüngliche
Verletzung offen gelassen.
Bei älteren Sehnenverletzungen ist, besonders wenn
die Ränder der Hautwunde kein vollkommen reaktionsloses
Aussehen darbieten, von jedem operativen Eingriff abzu¬
sehen und die Reinigung der Wunde abzuwarten, wenn sich
auch mit der Länge der Zeit, die seit der Verletzung ver¬
strichen ist, das funktionelle Resultat der Sehnennaht .nicht
unerheblich verschlechtert.
Während bei primär genähten Sehnen Verletzungen außer
einer geringfügigen Sekretion, aus der nicht genähten ursprüng¬
lichen Hautwunde niemals Störungen des Wundverlaufes beob¬
achtet wurden, heilten sekundäre Sehiiennähte gewöhnlich per
seen n dam. In einem Falle kam es nach Ausstoßung des Naht-
materiales zu einer neuerlichen DehiszeWz der Stümpfe, in einem
anderen sogar zu einer schweren pyämischen Allgemeininfektion,
die erst nach Rippenresektion und Abstoßung eines Lungen¬
sequesters zur Heilung gelangte.
Solange es keine verläßliche Desinfektion einer granu¬
lierenden Wunde gibt, wird man bei Ausführung der sekun¬
dären Sehnennaht mit der Möglichkeit derartiger Kompli¬
kationen immer rechnen müssen, und sich bei infizierten
Fällen doch eher entschließen unter Verzicht auf vollkom¬
mene Wiederherstellung, die Sehnennaht erst nach Ueber-
häutung der Wunde auszuführen.
Daß man 'bei Sehnen Verletzungen innerhalb gequetsch-
fer und zerrissener Wunden a:n eine primäre Wiederherstel¬
lung der Kontinuität nicht denken wird, braucht nicht be¬
sonders betont zu werden. Es! sind dies jene Fälle, in
welchen man nach vollkommener Reinigung des Wundbettes
durch plastische Operationen versuchen wird, die schwere
Funktionsstörung zu bessern.
Bei der eingangs erwähnten zweiten Gruppe von Ver¬
letzungen, die meist durch stumpfe Gewalt entstanden, un¬
regelmäßige, zerrissene und gequetschte Wundflächen dar¬
bieten, ändert sich, wenn makroskopisch keine Verunreini-
mngen nachzuweisen sind, nach der Beschaffenheit der
Wunde jedoch eine primäre Heilung ausgeschlossen er¬
scheint, unser Verfahren gegenüber glatten Wunden nur in¬
sofern, als wir möglichst konservativ nur sicher nicht er-
lährtes Gewebe exzidieren, Wundtaschenbildung durch
Drainage aus'zuschalten suchen und die Wundhöhle nach'
\usgießen mit Perubalsam mit Gaze locker tamponieren.
Wir legen dabei viel weniger Gewicht auf die bekanntlich
iußerst geringe bakterizide Wirkung des Perabalsäms, doch
scheint derselbe infolge der reizenden Eigenschaften durch
\nregung der Granulationsbildung die Wundhöhle rascher
'on der Umgebung abzuschließen und die Abstoßung 'even-
ueller nachträglicher Nekrosen zu befördern.
0 Die Versuche von Hecht und Köhler (Untersuchungen
'her Asepsis. Wiener klin. Wochenschr. 1911, S. 371) kamen erst später
um Abschluß, so daß die Sublimatalkohol-Desinfektion der Haut bis
• Januar 1911 bei Verletzungen nicht zur Anwendung kam.
So einfach und bestimmt unsere Indikationsstellung
füi die Behandlung der makroskopisch reinen Wunden ist,
indem wir hier mit gutem Erfolge dem rein aseptischen
Prinzip folgen, s.o leicht könnte man im Hinblick auf
manche letal endigende Fälle von schwer verunreinigten
Verletzungen, wie z. B. nach Ueberfahrenwerden, Verschüt¬
tungen, Schrotschüssen aus nächster Nähe u. dg]., immer
wieder schwankend werden und sich veranlaßt sehen, durch
antiseptische Mil lei den Kampf mit den eingedrungenen
Krankheitserregern in wirkungsvollerer Weise zu versuchen.
Schädliche Nachwirkungen von Spülung der Wunde' mit
Sublimatlösung, wie wir sie bei schwer verunreinigten Fällen
ab und zu vorgenommen haben, haben wir niemals beob¬
achtet. Doch können wir auch in keinem Falle von einem
effektiven Nutzen derartiger Maßnahmen berichtein, indem
wir nur dann, wenn es gelungen war, durch ausgedehntes
Debridement der Wunde, radikale Exzision der verunreinig¬
ten Gewebe weit offene einfache Wundhöhlen zu schaffen,
einen Erfolg verzeichnen. Ob aseptisch oder antiseptisch
nachbehandelt, wird, scheint von untergeordneter Bedeu¬
tung zu sein.
Auch die Anwendung des Perubalsams hat bezüglich
der Verhütung von anaerober Infektion nicht das erfüllt,
was nach den experimentellen Untersuchungen Suters von
seiner Wirkung zu erhoffen wäre. |
So sahen wir in zwei Fällen (Schrotschuß aus nächster Nähe
in das Gesäß, subkutane Pfählung) trotz Behandlung mit Peru-
balsam Gasphlegmonen auftreten, weil das Debridement nicht
radikal genug vorgenommen war und infizierende Fremdkörper
(Filzpfropfen, Holzspan) zurückgeblieben waren1, während in zwei
anderen Fällen, die ohne Perubalsam mit gründlicher Exzision
behandelt wurden, bei welchen im Tierexperiment und durch
das Mikroskop in den exzidierten Verunreinigungen pathogene
Anaerobien nachzuweisen waren, die Gasphlegmone ausge¬
blieben ist.
In einem weiteren Falle, der mit multiplen Gasabszessen
in der Muskulatur des Oberschenkels eingeliefert wurde, mußte
trotz mehrfacher Inzisionen und Ausgießen der Wunden mit Peru¬
balsam die Amputation vorgenominen werden, die oben erwähnte
Gasphlegmone der Bauchdecken nach Pfählung kam nach In¬
zision und Tamponade mit Wasserstoffsuperoxyd zur Heilung.
Wenn wir nach* * dem' Gesagten bei unreinen Wunden
nach der Exzision oder auch großen gequetschten, schein¬
bar reinen Wunden doch immer wieder Perubalsam ver¬
wenden, so tun wir dies in der meines Erachtens wohlbegrün¬
deten Annahme, daß wir dadurch vielleicht manche Infektion
durch Eiterkokken, wenn auch nicht zu verhindern, wohl
aber auf die Wunde selbst zu lokalisieren imstande sind.
Zur Verhütung der anaeroben Infektion bleibt uns als sou¬
veränes Mittel nur die mechanische Desinfektion durch Ex¬
zision der Wunde und Schaffung weiter Kommunikation
mit der Außenwelt. Die Tamponade der Inzisionswunden
mit in Wasserstoffsuperoxyd getauchter Gaze wird bei ein¬
getretener Gasphlegmone vielleicht noch Rettung bringen,
wo Inzisionen allein den Prozeß nicht mehr !zum Stillstand
bringen können.
Eine weitere, nicht minder gefürchtete Komplikation
verunreinigter akzidenteller Wunden ist die Infektion mit Te¬
tanus, die um so heimtückischer genannt werden muß, als
sie auch durch geringfügige Verletzungen erfolgen kann.
Unsere diesbezüglichen Erfahrungen erstrecken sich
auf vier Fälle.
Die Infektion war in einem Falle durch eine Verletzung
des Bulbus durch einen Holzspa, n verursacht, in1 den anderen drei
Fällen durch Hufschlag, Pferdebiß und Verunreinigung einer B.iß-
quetschwunde durch Pferdemist, wurde demnach in drei Vierteln
der Fälle nachweisbar mehr oder weniger durch das Pferd über¬
tragen. (Verneuil.)
Um über den Wert der Serumtherapie bei ausgebrochenem
Tetanus Schlüsse zuzulassen, ist unser Material zu klein, cs sei
nur erwähnt, daß zwei derartige Fälle allerdings von der wenig
malignen Form dos Kopftetanus unter wiederholten Seruminjek¬
tionen zur Heilung kamen, nachdem in dem einen Fälle ein
tekrotisches Knochenstück des Scheitelbeins entfernt worden und
iei dem anderen der verletzte Bulbus enukleiert worden war.
816
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
Der dritte Fall, bei welchem der Verletzung, obwohl sie
durch ein Pferd verursacht war, wegen ihrer Geringfügigkeit
keine besondere Beachtung geschenkt wurde und die Serum-
injektion unterblieb, endete letal.
■ 20jähriger Mann, Defekt einer Fingerkuppe durch Pf'erde-
biß, Verband mit Perubalsam, am zweiten Tage in ambulatorischer
Behandlung entlassen. Am zehnten Tage Exitus unter ganz akuten
Erscheinungen des Tetanus in einem anderen Spital.
Für den Wert der prophylaktischen Seruminjektion spricht
jedoch in überzeugender Weise der vierte Fall.
35jährige Musiklehrerin, von einem Lastwagen überfahren.
Skalpierung des Fußrückens, am äußeren Fußrand die Haut bis
gegen die Fußsohle mehrfach unterminiert, die dadurch entstan¬
denen Höhlen mit Pferdemist förmlich tamponiert. Entfernung
der gequetschten Haut, Exzision des- verunreinigten Subkutan¬
gewebes unter Spülung mit Kochsalzlösung. Drainage der Wund
faschen am äußeren Fußrand, aseptischer Verband mit Penir
balsam. Subkutane Tetanusantitoxininjektion (50 A.-E.) in den
Oberschenkel derselben Seite.
Wundverlauf unter geringer Temperatursteigerung und
mäßiger Sekretion der Wundflächen. Am siebenten bis elften
Tage mehrmals täglich Auftreten von tonischen Streck- und Ab¬
duktionskrämpfen der kleinen Zehen mit ziehenden Schmerzen
in der Streckmuskulatur des Unterschenkels. Kein Trismus. Unter
weiteren Seruminjektionen Heilung.
Wir stehen nicht an, die in diesem Falle aufgetrete-
nen Krämpfe der fünften Zehe für die Manifestation einer
lokalisierten Tetannsinfekfion zu halten. Da. der Tetanus
beim Menschen erfahrungsgemäß! mit den Symptomen einer
Ulgemeinintoxikation des Zentralnervensystems (Trismus)
einsetzt und lokaler Tetanus ohne Allgemeinerscheinungen
sonst nicht beobachtet wird, so dürfte dieser abnorme und
ganz besonders .günstige Verlauf der Erkrankung mit der
Seruminjektion in kausalem Zusammenhänge stehen.
Da wir demnach bei prophylaktischer Injektion, die
wir außerdem in sechs weiteren Fällen vorgenommen haben,
über durchwegs günstige Resultate verfügen und nur der
eine Fall, in welchem die Injektion unterlassen worden war,
letal endete, wollen wir auch weiterhin an der prophylakti¬
schen Antitoxininjektion fest hat ten bei Behandlung aller
durch Erde, Holzspäne, Kleidungsstücke u. dgl. verunreinig¬
ten Wunden, um so mehr, wenn das Debridement solcher
Wunden nicht radikal genug durchführbar erscheint; ganz
besonders ist jedoch die Seruminjektion angezeigt, hei blu¬
tigen Verletzungen, die durch das Pferd verursacht sind oder
in einem näheren Zusammenhänge mit demselben stehen.
Worm ich schließlich von akzidentellen Wundkrank¬
heiten die Infektion mit Eiterkokken keiner besonderen ’Be¬
sprechung für wert, halte, so geschieht dies, aus dem Grunde,
weil sich die Behandlung von Eiterungen nach Verletzun¬
gen mit den auch’ sonst bei ähnlichen Prozessen gebräuch¬
lichen Maßnahmen vollkommen deckt und wir bei Kokken¬
infektionen, wenn sie durch Knochenverletzungen nicht kom¬
pliziert, sich auf die Weichteile beschränken, mit konser¬
vativen Mitteln meist gut auskommen. Es sei hier nur
hervorgehoben, daß wir bei Einhaltung des Prinzipes der
aseptischen offenen Wundbehandlung, hei frisch oirtgeliefer-
ten Verletzungen eine äußerst geringe Morbidität aufzu¬
weisen haben. Wenn man nur bestrebt ist, eine nachträg¬
liche Infektion nach Möglichkeit Von der Wunde fernzuhalten
und alles unterläßt, was den normalen Heilungstendenzen
entgegenwirken könnte, so wird man auch hei akzidentellen
Wunden, wenn sie rechtzeitig in Behandlung kommen, im
allgemeinen eine günstige Prognose stellen können. Wenn
wir von der Infektion durch die oben besprochenen anaero¬
ben Bakterien, Tetanus und malignes Oedem abseheo,
müssen wir einen großen Teil unserer Erfolge weniger auf
unsere therapeutischen Maßnahmen als auf die geringe Viru¬
lenz der in der Außenwelt vorkommenden Bakterien zurück¬
führen. Dafür spricht auch die bekannte Tatsache, daß trotz
der äußerst günstigen Infektionsmöglichkeit, wie sie Ver¬
letzte mit zahlreichen Exkoriationen und kleinen oberfläch¬
lichen Verletzungen darbieten, Erysipel nach frischen Ver¬
letzungen so gut. wie niemals beobachtet wird. Der einzige
Fall von Erysipel, den wir im Verlaufe eines Jahres er¬
lebten, ist für die Pathogenese dieser Erkrankung so charak
teristisch, daß er kurz wiedergegeben werden soll.
30jährige Arbeitersfrau. Eingeliefert mit Phlegmone der Kop
sell warte, ausgehend von einer vor fünf Tagen akquirierten, in
behandelten, 6 cm langem Rißquetschwunde» über dem Scheite
beim Ausgedehnte radiäre Inzisionen, im Eiter Streptokokke
in Reinkulturen. Nach dreiwöchiger Behandlung mit gram
lierender Wunde» in häusliche Behandlung entlassen. Sech
Wochen nach der Entlassung wieder Aufnahme» der Patienti
w»e»gen Schüttelfrost und hohem Fieber. Diie noch immer bestehend
granulierende Wunde am Scheitelbein vollkommen vernachlässig
mit Borken bedeckt. Erysipel nahezu des ganzen Kopfes bis z
beiden Schlüsselbeinen. Nach Erweichung der Krusten dürr
Oelumischläge heilt das Erysipel in acht Tagen ab.
In diesem Falle war es, wie dies bei vernach
lässigteh Wunden der Kopfschwarte relativ häufig beoh
achtet wird, zu einer Streptokokkenphlegmone gekommen
nach deren Ausheilung die Erreger in der granulierende!
Wunde lange latent blieben, bis durch die Sekretstauuni;
unter den Borken ihre Virulenz so weil gesteigert war,
daß» die Infektion von neuem u. zw. erst längere Zeit nacl!
der ursprünglichen Verletzung in Form des Erysipels wiede
aufflammen konnte. . ■ '
Schließlich wäre noch unser Verhalten Schußver
lelzungen gegenüber zu charakterisieren, weil sich dieselbe!
in die oberwähnten drei Arten von Verletzungen nur zun»
Teil einreihen lassen:
• Für Explosionsver lei zungen, Schrotschüsse aus nach
ster Nähe und alle mit schweren Zertrümmerungen und Veil
unreinigung durch Kleidungsstücke u. »dgl. einhergehendei
Schußverletzungen gelten dieselben Regeln, wie für verj
nnreinigte und gequetschte Wunden überhaupt und ist hie
nur von einem möglichst aktiven Vorgehen ein Erfolg zi
erwarten.
Dagegen beobachten wir im allgemeinen ein stren-
exspektatives Verhalten bei allen Verletzungen durch Ge
schosse der üblichen, wenig rasanten Feuerwaffen, wenr
nicht Komplikationen von seiten verletzter innerer Organ
(wie Blutung, Verletzung des Magen-Därmtraktes oder de
Harnapparates) einen operativen Eingriff dringlich verj
langen. Bei dem relativ seltenen Auftreten infektiöser Proj
zesse im 'Anschlüsse an einfache Schußwunden, finden wi
keine Veranlassung, soforl nach der Verletzung den Schuß
kanal prophylaktisch zu debridieren, sondern wir sehen igd
rade in dem Fernhalten jeder weiteren mechanischen Schäj
digung und der vollkommenen Ruhigstellung des verletzte#
Körperteiles ein wichtiges Mittel, um die Infektion zu ver
hüten.
Das Projektil selbst gibt nur selten die Indikation
zur operativen Entfernung, so besonders durch mechanisch
Störungen innerhalb von Gelenken, in der Nähe »von Sehne»#
oder Nerven. Jedenfalls sind derartige Eingriffe erst länger»
Zeit nach der Verletzung vorzunehmen, wenn bei normale
Temperatur und glattem Wundverlauf infektiöse Komplikaj
tionen nicht mehr zu befürchten sind.2)
Unsere Erfahrungen über Behandlung von Weichteil
wunden lassen sich in folgenden Sätzen zusammenfassen.
Bei Beurteilung von akzidentellen Wunden genügt es
sowenig dies auch bakteriologisch korrekt erscheint,' siel
von dem makroskopischen Befunde leiten zu lassen. Wim
den, die keine groben Verunreinigungen aufweisen, sind al
rein zu betrachten und nach den Regeln der Asepsis zu bc
handeln, wobei bei Vorhandensein von sichtbaren Ernäh
rungsstörungen die Exzision des schlecht ernährten Gewebe
im Verein mit. der Applikation von Perabalsanr den Wund
verlauf günstig beeinflußt. Nur (mit wenigen Ausnahmen sim
die Wunden offen zu halten und ist in allen Fällen auf Ab
leitung des WundSekreles ein besonderes Gewicht zu legen
Jede chemische Desinfektion ist zum mindesten übei
flüssig.
s) Die Behandlung der Bauchschüsse soll hier nicht näher b(
sprechen werden, weil dieses Thema Gegenstand einer späteren /■'
sammenstellung sein wird. •
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
817
Makroskopisch verunreinigte Wunden sind durch Ex¬
zision und Spülung mit indifferenten Flüssigkeiten von allen
sichtbaren Fremdkörpern zu befreien, durch lockere Tam¬
ponade offen zu halten. Die prophylaktische Tetanusanli-
toxin Injektion ist sehr zu empfehlen und soll besonders bei
allen durch das Pferd verursachten blutigen Verletzungen
nicht unterlassen werden.
Seit der Monographie von Professor v. E i s e I s b er g
vom Jahre 1905 !) hat sich trotz der verschiedenen Neue¬
rungen, welche die letzte Zeit gebracht hat, in der Behand¬
lung der Frakturen der I. chirurgischen Klinik kein nen¬
nenswerter Umschwung vollzogen. In der Ueberzeugung,
daß nicht die Fraktur als solche, sondern einzig und allein
die Dislokation mit ihren Komplikationen besondere Mal.V
nahmen erfordern, daß ferner hei Gleichwertigkeit mehrerer
Behandlungsverfahren dem einfachsten der Vorzug gebühr! ,
und als ans trebeiis wertes Ziel in erster Linie ein gutes funk¬
tionelles Resultat zu gelten hat, gehört nach wie vor die
blutige Behandlung unkomplizierter Fraktuien zu den Aus¬
nahmefällen.
Das Extensionsverfahren hat wohl immer mehr an
Ausbreitung gewonnen, so besonders auch bei Frakturen
der oberen Extremität, wenn die Dislokation eine hoch¬
gradige war oder selbst nach gelungener Reposition die
Tendenz zur Wiederherstellung der pathologischen Stellung
das Krankheitsbild beherrschte. Daßi in den Fällen, in wel¬
chen es gelingt, durch manuelle Reposition, eventuell in
Narkose vorgenommen, eine gute Stellung der Fragmente
mit geringer Tendenz zu 'neuerlicher Dislokation zu erzielen,
die Extensionsbehandlung weniger häufig geübt wurde,
braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden. Störungen’
des Hei lungsv erlauf es als Folge des von B a r d enhe u e r
supponierten interfragmentären Druckes, konnten wir niemals
beobachten, sehen uns daher nicht veranlaßt, die vielen
Vorteile, welche die sofortige manuelle Korrektur, dort, wo
sie ausführbar ist, bringt, gegen die langsame Wirkung der
Extensionszüge einzutauschen, wenn die Retention der re-
ponierten Fragmente durch einfachere Mittel zu erreichen ist.
Bei dem großen Fortschritt, der in der Technik der
Gefäßnaht besonders durch die Bemühungen von Carrel
und Stich zu verzeichnen ist, wäre es naheliegend zu er¬
warten, daß trotz Komplikation von Knochenbrüchen durch
Verletzung wichtiger Gefäßstämme noch manche Exlremität
zu erhalten wäre, die sonst der Amputation verfällt. Unsere
diesbezüglichen Bemühungen sind teilweise an der Unzu¬
gänglichkeit des Operationsterrains oder an schweren trau¬
matischen Wandveränderungen der Arterien gescheitert.
Doch unterliegt es keinem Zweifel, daßi auf diesem Gebiete
noch manche Erfolge zu erhoffen sein werden.
Als eine wertvolle Errungenschaft der letzten Jahre
ist die Nagelextension zu betrach I en, ein Verfahren,
das sich bei strenger Indikationsstellung bisher vorzüglich
bewährt hat und besonders da einsetzen soll, wo andere
Extensionsmethoden nicht mehr zum Ziele führen. 3a)
Wenn trotz der verfeinerten Technik die diagnosti¬
sche Bedeutung des Röntgenverfahrens gegenwärtig mehr
in den Hintergrund getreten ist, so liegt dies daran, daß man.
die Symptomatologie mancher früher verkannter Frakturen
durch den wiederholten Vergleich mit dem Röntgenbild be¬
reits so weit kennen gelernt hat, daß das Röntgenbild nur
mehr dazu dient, die klinische Diagnose zu bestätigen. Un¬
geschmälert bleibt jedoch der Wert des Röntgenverfahrens
für die Stellung einer sicheren Prognose, zur Kontrolle der
eingeschlagenen Therapie, besonders im Extensionsverband,
ferner bei Reposition mancher Frakturen unter direkter Be¬
obachtung vor dem Röntgenschirm.
Um zunächst ohne Rücksicht auf die Lokalisation die
Behandlung der ohne Dislokation einhergehenden Frak
luren kurz zusammenzufassen, so kann hier neben der sym-
8) v. Eiseisberg, Die heutige Behandlung der Frakturen.
Deutsche Klinik am Eingang des 20. Jahrhunderts, Bd. 8, S. 521.
3a) Das gleiche gilt von dem von Rücker (Zentralblatt- für
Lhir. 1910, Nr. 4) in letzter Zeit angegebenem Extensionsverfahren.
ptomatischen Bekämpfung von Bruchschmerz und Häm¬
atom die rein exspektative Behandlung als oberster
Grundsatz gelten. V ir wenden dieselbe an bei den
nicht komplizierten Frakturen des Schädels, so besonders
der Schädelbasis, bei Frakturen der Wirbelsäule und der
Rippen, des Beckens, ferner bei Infraktionen der Extremi¬
tätenknochen. Erscheint eine frühzeitige Funktion der ver¬
letzten Knochen erwünscht oder ist dieselbe nicht aus¬
zuschalten, so wird man wohl meist mit leichl fixierenden
Verbänden auskommen. So genügt beispielsweise die Wick¬
lung mit einer feuchten Binde bei Frakturen der Fibula,
um den Patienten gehfähig zu machen, oder die Anlegung
eines halbseitigen Zingulums hei Rippenfraktur im Verein
mit der Morphiuminjektion, um die Atmung wesentlich zu
erleichtern. Die Nachbehandlung gestaltet sich auch sehr
einfach, weil Komplikationen von seiten der Gefäße und
Nerven meist nicht vorliegen und Störungen des Heilungs¬
verlaufes durch verzögerte Kallusbildung, chronisches
Oedem oder Versteifung von Gelenken kaum beobachtet
werden.
Zur Behandlung der dislozierten F rakturen kamen
an der Klinik folgende Verfahren zur Verwendung: Manu¬
elle Reposition und Retention durch Gips- oder Schienen¬
verbände, Heftpflasterextension, Nagelextension und in sel¬
tenen Fällen die Knochennaht. Alle diese Methoden sind
fast bei allen Frakturen anwendbar, doch ist es Sache der
Erfahrung, je nach der Dislokation die am wenigsten ein¬
greifende Behandlungsart zu wählen.
An der unteren Extremität wurde die sofortige Reposi-
mit nachträglichem Gipsverband (vorwiegend bei allen ohne
wesentliche Verkürzung -einhergehenden Frakturen ge¬
übt, so bei Malleolarfraktur mit Subluxationsstellung des
Talokruralgelenkes, beim Spiralbruch der Tibia und Fibula
oder bei isolierter Fraktur eines der beiden Knochen. Die
nachteilige Wirkung einer längeren Fixation des Sprung¬
gelenkes ist durch die spätere mechanische Nachbehandlung
gewöhnlich leicht korrigierbar, so daß wir dagegen bei An¬
legung des Verbandes keine Vorkehrungen zu treffen ge¬
nötigt sind, doch ist bei Fraktur im (oberen Drittel des Unter¬
schenkels, besonders wenn die Bruchlinien einen intraarti¬
kulären Verlauf nehmen, die Versteifung des Kniegelenkes
sehr zu fürchten und durch Anbringung eines Scharnier-
gelenkes in der frontalen Bewegungsachse des Kniegelenkes
erwünscht. Für den Erfolg ist es von wesentlicher Bedeu¬
tung, wie lange nach der Verletzung der Gipsverband an¬
gelegt werden kann, weil die Aussicht auf ideale Reposi¬
tion verschleppter Frakturen immer geringer wird. Die früh¬
zeitige definitive Versorgung einer Unterschenkelfraktur ist
auch deshalb zu empfehlen, weil dadurch die Ausbreitung
des Hämatoms und damit die für jeden therapeutischen Ein¬
griff so unliebsame Entwicklung von saguinolenten Epi-
dermisblasen am besten auf ein Minimum reduziert wird.
Daß' bei schon entwickeltem Hämatom oder bei dem ge¬
ringsten Verdacht auf Zirkulationsstörung vom Gipsverband
zunächst abgesehen wird, ist eine dringend gebotene Vor¬
sicht. Die definitive Versorgung der Fraktur kommt dann
erst in Betracht, wenn unter Lagerung auf dem Petit sehen
Stiefel und Applikation des Eisbeutels die früher prall ge¬
spannte Haut die ersten Zeichen einer oberflächlichen Fälte¬
lung zeigl. Manchmal ist da allerdings die günstigste Zeit
für die Reposition bereits verstrichen und eine Verbesse¬
rung der Stellung nur mehr durch dauernden Zug im Ex¬
tensionsverband zu erreichen.
Wir nehmen keinen Anstand, bei hinreichendem Bruch¬
flächenkontakt die Patienten sofort nach Austrocknen des
Gipsverbandes gehen zu lassen, was meist gut. vertragen
wird.
Aus der übersichtlichen Zusammenstellung unserer
nicht komplizierten Frakturen beider Unterschenkelknochen
und der Tibia allein ergibt sich, daß der Gipsverband hie¬
bei in der überwiegenden Anzahl der Fälle zur Anwen¬
dung kam.
818
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
Während von IG isolierten Frakturen der Fibula 15 durch
einfache Bindenwickelung und nur eine mit Gipsverband be¬
handelt wurden, ändert sich bei isolierter Tibiafraktur das Ver¬
hältnis in dem Sinne, daß in 14 Fällen nur zweimal die Binden-
wickelung und 12mal zirkulärer Gipsverband zur Anwendung kam.
Von 48 Frakturen beider Knochen konnten 42, ein Teil davon in
Narkose, reponiert und mit dem zirkulären Gipsverband versehen
werden, nur in sechs Fällen erwies sich der Extensionsverband
notwendig.
Wenn wir selbst im Extensions verband in Fällen von
Fraktur beider Unterschenkelknochen vollkommene anato¬
mische Korrektur nur selten erreichten, so liegt dies darin,
daß gerade nur die schwersten Dislokationen für den Ex¬
tensionsverband reserviert wurden und wir durch äußere
Manipulationen überhaupt nur unvollkommen in der Lage
sind, die Verschiebung eines gegen das Spatium interosseum
zu vorragenden Knochenfragmentes zu beheben. Durch den
Extensionsverband läßt sich meist Vlie Dislokation der Achse,
die Verkürzung und die Rotation korrigieren. Eine Testie¬
rende geringe Dislocatio ad latus hat nun allerdings zur
Folge, daß die Tragfähigkeit der Extremität für längere Zeit
aufgehoben ist, das endgültige funktionelle Resultat wird
jedoch dadurch nicht so wesentlich beeinträchtigt, als daß
uns die operative Korrektur und Naht in allen solchen Fällen
indiziert erschiene. Ein Mittelding zwischen der operativen
und unblutigen Behandlung stellt der von Clairmont4)
ausgeführte kleine Eingriff dar, der darin besteht, daß durch
einen von einer Inzisionswunde aus eingeführten Knochen¬
haken das Tibiafragment aus dem Zwischenknochenraum
liervorgeholt. wird, Avas sich in zwei Fällen in Kombination
mit dem Gips- und Extensionsverband gut bewährt* hat,
ohne die Patienten in irgendeiner Weise zu gefährden.
Das Hauptindikationsgebiet für die Extensionsbeband-
lung bleibt nach Avie vor die Fraktur des Oberschenkels.
Von 21 unkomplizierten Frakturen des Femurschaftes wurde
der Gipsverband nur viermal, durchwegs bei Kindern, mit ge¬
ringer Dislokation angewendet, in 17 Fällen der Bar denheuer-
sche Heftpflasterextensionsverband.
In zwei Fällen von Epiphysenlösung am unteren Femurende
gelang es auf unblutigem Wege, durch Reposition in Narkose
und Fixation der Extremität, bei maximal gebeugtem Kniegelenk
ein ideales anatomisches und funktionelles Resultat zu erzielen.
Bei elf Frakturen des Schenkelhalses, durchweg bei alten Leuten,
wurde auf die Korrektur der Dislokation verzichtet, in dem Be¬
streben, die Patienten so rasch als möglich gehfähig zu machen,
was durch einen leichten Fixationsverband über dem Hüftgelenk
erreicht wurde.
Von den 17 mit Extension behandelten Fällen, sind nur sechs
ohne Spur einer Verkürzung geheilt, vorwiegend Spiralbrüche
des Schaftes, welche, wenn die Dislocatio ad peripheriam, durch
Rotationszüge behoben wird, meist nur einen relativ geringen
Längszug erfordern. Ungünstiger liegen die Verhältnisse beim
reinen Querbruch, besonders im unteren Drittel, weil infolge der
ungleichmäßigen Verteilung des Muskelzuges der Beuger und
Strecker auch bei stärkstem Längszug und Anwendung von Seiten-
zügen die Tendenz des peripheren Fragmentes zur Dislokation nach
hinten nicht behoben werden kann. Eine exakte anatomische
Korrektur ist uns in diesen Fällen gewöhnlich nicht gelungen,
so daß Verkürzungen von Vs his IV2 cm häufig verzeichnet wurden.
Eine hochgradige Verkürzung von 4 cm, wie wir sie nur einmal
aufzu.weisen haben, Avar dadurch bedingt, daß der Patient wegen
ausgedehnten Ekzems längere Zeit ohne Verband und dann mit
Gipsverband behandelt Avnrde.
Inwiefern diese Resultate durch Anwendung der
Schiene von Z u p p i n g e r verbesserungsfähig sein Averden,
kann nach den geringen Erfahrungen, die erst in letzter
Zeit mit dem Verfahren und der modifizierten Schiene von
L inhart an der Klinik gemacht Avurden, nicht entschieden
werden, doch dürfte man gewiß berechtigt sein, auch bei
unkomplizierten Oberschenkelbrüchen in gewissen Fällen
von renitenter Dislokation die Nagelextension vorzuschla¬
gen. So gut der zirkuläre Gipsverband bei Aufrechthaltung
aller notAvendigen Einschränkungen an der unteren Extremi-
- . , 1 ~
4) Clairmont, Ein Vorschlag zur blutigen Einrichtung von
Unterschenkel- und Vorderarmbrücben. Archiv "für klin. Chirurgie,
Bd. 93, S 745.
tät im allgemeinen zu verwenden ist, so 'selten kommt der¬
selbe bei Verletzungen der oberen Extremität in Frage und
selbst für die wenigen Fälle, in welchen er unter beständiger
Kontrolle in Spitalsbehandlung anwendbar wäre, gilt er hier
aus didaktischen Gründen als verpönt.
t
/
Ganz ausgezeichnete Resultate gibt die Extensions-
behandlung bei den Gelenksfrakturen des Humerus. Die
Extension wird vorgenommen bei Kollumfrakturen in maxi¬
maler Elevationsstellung, bei der suprakondylären Humerus-
fraktur in rechtwinkeliger Beugestellung des Ellbogengelen-
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
819
kes. Seihst mein fache, hochgradig dislozierte Splitterbrüche
des unteren Humerusendes lassen sich durch die allerdings
komplizierten und nach der jeweiligen Dislokation zu modi¬
fizierenden Seiten- und Kompressionszüge in kurzer Zeit,
korrigieren, wobei in jeder Phase der Behandlung dem
Gelenk eine gewisse Bewegungsfreiheit gewahrt bleibt und
Qpurch frühzeitig ciusgeführte Uebungen der Versteifung vor-
gebeugt, werden kann. (Fig. 1, 2, 3, 4, 5.)
Die schematischen Zeichnungen veranschaulichen die W ir¬
kung der Heftpflasterzüge. Fig. 1 bei typischer, Fig. 2 bej
atypischer Dislokation des unteren Hiunerusfragmeotes. Der in
Fig. 3 angegebene Seiteinzug fällt in eine Ebene, die zur Ebene
,1er übrigen Züge senkrecht steht. Um das System zu verein
fachen, kann man den Seitenzug b m,it a derart kombinieren,
daß man an Stelle der 'beiden nur einen Zug in der resultierenden
Ebene, die zur ursprünglichen in einem Winkel von 45° geneigt
ist, wirken läßt.
In Fig. 4 und 5 ist die Stellung des Humerus vor und
nach Anlegung der Extension bei Kollumfraktur angegeben.
Auch beim Schaftbruch des Humerus kommt das Prin¬
zip der Extension zur Geltung in der dorsalen Gipshanf¬
schiene, die unter Zug am gebeugten Vorderarm und Gegeu-
zug in der Axilla angelegt wird und Schulter- und Ellbogen-
gelenk fixiert oder in der nach dem Vorbilde der Phelps-
schen und Güssen b a u e r sehen Schiene konstruierten Ex¬
tensionsschiene von B r o g e r, die Schulter und Ellbogen-
gelenk frei läßt. (Fig. 6.)
Dio nach den Angaben von Josef Broger, dein verstor¬
benen Diener der I. chirurgischen Klinik, vom Instrumenten-
laacher Kutill konstruierte Schiene besteht im wesentlichen aus
einem durch ein Zahngetriebe verlängerbaren Metallstab, dessen
beide Enden an Heftpflasterverbänden angreifen, die in der ver¬
längerten Achse des Oberarmes das Schulter- und Ellbogengelenk
mit je einer Schlinge überragen. Wenn der Heftpflasterverband
angelegt und mit einer Mullbinde fixiert ist und die Fragmente
durch Wirkung der Schraube distrahiert sind, wird die Fraktur¬
stelle durch zwei verschiebbare Holzplättchen mittels zirkulärer
Heftpflasterstreifen geschient und so einer seitlichen Dislokation
vorgebeugt. Um die Festigkeit des Verbandes zu erhöhen und
das Pendeln der Schiene zu verhindert, wird mit einer weiteren
Ende, die an der Hand beginnt und als Spica humeri endet, der
Oberarm an die Schiene herangewickelt. Durch Anziehen der
Schraube kann die Extension auf einer konstanten Höhe erhalten
werden.
Für die Frakturen des Vorderarmes, die der Extensions¬
behandlung nur in seltenen Fällen zugänglich sind, waren
schon seit längerer Zeit die verschiedensten Schienenver-
batule in Gebrauch, bei welchen durch allmählichen Druck
auf vorragende Fragmente die pathologische Stellung korri¬
giert werden sollte. Vom Schienenverband sehen wir in
diesen Fallen auch heute noch nicht ab, doch trachten wir,
die Fraktur vor Anlegung des Verbandes möglichst genau
zu reponieren, was am narkotisierten Patienten vor dem
Röntgenschirm häufig vollkommen gelingt (vgl. v. F r i s c h 5).
Die ausgedehnte Anwendung der Narkose bei allen stark
dislozierten Vorderarmbrüchen ist bestens zu empfehlen
Man wird dadurch manchen sonst notwendigen blutigen (Ein-
gntt vermeiden. Selbst bei der typischen Radiusfraktur ist
das gewöhnliche Repositionsmanöver durch Zug am ulnar¬
und volargebeugten Handgelenk ohne Narkose nicht immer
von Erfolg und eine exakte Reposition erst am anästhe¬
sierten 1 atienten weniger durch Zug am Handgelenk, als
durch direkte Verschiebung des kurzen peripheren Frag¬
mentes zu erreichen; je gründlicher die Reposition, desto
einfacher die Nachbehandlung durch leichte, nicht strangu¬
lierende Verbände (Storp sehe Manschette), was für die
iruhzeitige Wiederherstellung der Gelenksfunktion von
großer Bedeutung ist.
Ueber unsere Indikationsstellung zur Nagelexten-
sion ist bei Besprechung eines Falles berichtet worden,
bei welchen wegen Kompression der Arteria poplitea (durch
ein Knochenfragment eine rasch wirkende und gründliche
Reposition dringend erwünscht war.6)
Bei frischen Frakturen blutige Eingriffe auszuführen,
haben wir nicht häufig Gelegenheit und selbst bei Patellar-
Unc Olekranonfrakturen wird die Knochennaht nur dann
ausgeführt, wenn die aktive Streckfähigkeit vollkommen auf¬
gehoben ist und die Fragmente sich durch Verbände nicht
genügend nähern lassen. Ein weiteres Indikationsgebiet für
die Knochennaht geben manche Gelenksfrakturen und Luxa¬
tion, manche Formen von Unterschenkel- und Vorderarm-
brüchen, letztere immer erst dann, wenn unblutige Eingriffe
versagen. Auch hier wird die exakte Beherrschung der un¬
blutigen Methoden die Häufigkeit derartiger Operationen
wesentlich einschränken. Eine relative Indikation dürfte
gelegentlich bei hochgradig dislozierten Schliisselbein-
irakturen gegeben sein, welche unter Behandlung mit
den gebräuchlichen Verbänden durchwegs kosmetisch
schlechte Resultate geben, wenn auch die Funktion
dadurch meist nur unwesentlich beeinträchtigt wird,
mmerhin ist es besonders beim jugendlichen Arbeiter er¬
wünscht, eine schon für jeden Laien kenntliche hochgradige
Deformität nicht entstehen zu lassen, nicht zum geringsten,
um späteren, eventuell unberechtigten Ansprüchen auf Un¬
fallsrenten vorzu beugen.
\ iel häufiger besieht die Notwendigkeit, bei veralteten
schlecht gehellten Frakturen operativ einzugreifen, wozu
man sich um so leichter entschließt, als eine Verbesserung
aut anderem Wege nicht zu erreichen ist und die Gefahren
c eiai tiger Eingriffe nicht größer sind als die anderer ortho¬
pädischer Knochenoperationen überhaupt. Die Technik ist
hier meist atypisch und der jeweiligen Eigenart des Falles
anzupassen, wenn auch allen Eingriffen die eine gemein¬
te Schwierigkeit anhaftet, daß die Schrumpfung der
Weichteile che Korrektur der pathologischen Stellung er¬
schwert. Im Gegensatz zu frischen Frakturen wird man hier
auf die operative Vereinigung der Fragmente weniger Ge¬
wicht legen, sondern sich in manchen Fällen mit der Lö¬
sung und Entfernung des Kallus, eventuell partieller Re¬
sektion von Knochen begnügen, um durch die 'nachträgliche
Extensionsbehandlung im Heftpflasterverband oder unter
Benützung des C o d i v i 1 1 a sehen Nagels die Reposition
zu erzielen.
So schwierig es ist, für die Behandlung unkomplizierter
Frakturen allgemeine Regeln aufzustellen, um so unzurei¬
chender wird, jeder derartige Versuch bei Besprechung von
komplizierten Frakturen. Deshalb will ich mich hier ganz
besonders nur auf die M iedergabe unserer diesbezüglichen
Erfahrungen beschränken.
.... i.,-6-* V, F r i s c h, Zur Behandlung frischer Diaphvsenbrüche. Archiv
für klm. Chirurgie, Bd. 93, S. 729.
•) Ehrlich, Nagelextension aus dringlicher Indikation. Wiener
klm. Wochenschr. 1911, S. 132.
830
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. \911.
Nr. 23
Unter 26 komplizierten Frakturen der langen Röhrenknochen
verzeichnen wir einen Todesfall an Lungenkomplikationen bei
gleichzeitigem Bestehen ausgedehnter Rippenbrüche, 25 Fälle sind
geheilt, davon sechs nach Amputation..
Drei Judikation für die Absetzung von Extremitäten
war gegeben, zweimal durch Zirkulationsstörungen, die ope¬
rativ nicht behoben werden konnten, viermal durch Infektionen,
die nach längerer Behandlung nicht zum Stillstand kamen und
das Leben gefährdeten, ln den letzteren Fällen lagen durchwegs
schwer verunreinigte zertrümmerte Knochen- und Weichteilwun¬
den vor, die erweitert, von allen sichtbaren Verunreinigungen
und Knochensplittern befreit und mit Perubalsam ausgegossen
worden waren. Bemerkenswert ist, daß in allen vier Fällen grö¬
ßere Gelenke, nämlich dreimal das Kniegelenk, einmal das Sprung-
gelenk durch das Trauma mit der Knochenwunde' in Kommuni¬
kation gesetzt und von der nachträglichen Eiterung befallen war.
Von den 19, mit Erhaltung der Extremität geheilten Frak¬
turen ließen sich in fünf- Fällen an vorragenden Fragmenten
makroskopische Verunreinigungen, Kleiderreste, Haare, Erde nach-
weiisen, die vor der Reposition mechanisch vollkommen entfernt
werden konnten, 14 Frakturen erschienen makroskopisch rein und
wurden nicht debridiert. In allen 19 Fällen kam ein Desinfiziens
mit der Wunde selbst nicht in Berührung, in fünf Fällen wurde
Peru balsam zwischen die Fragmente eingegossen. 13mal heilte
die Hautverletzung ohne Störung, bei Seichs Patienten waren wegen
Abszeßbildung und Abstoßung von Knochensplittern Inzisionen
notwendig. Wenn es nicht gelang, die Fragmente Vollkommen
zu reponieren, :so daß ein Teil des Knochens von Haut entblößt
blieb, so wurde das freiliegende Periost und damit auch eine
darunter liegende Knochenlamelle regelmäßig nekrotisch, wodurch,
wie auch sonst bei eiternde|n Frakturen, wegen mangelhafter
Kallusbildung die Heilungsdauer beträchtlich verlängert wurde.
Zur Korrektur komplizierter; Frakturen diente in der Mehr¬
zahl der Fälle, so besonders bei Untersdienkelfraktur, der zirku¬
läre Gipsverband, bei 0 her schenkelf rak turen die Nageiextension
oder bei geringer; Dislokation der zirkuläre Gipsverbarid. Bei aus¬
gedehnten Weichteilvteirletzungen oder iwenn Infektion zu erwarten
wa,r, wurde die Extremität auf den Petit sehen Stiefel oder auf
dem Planum inclinatum fixiert, Frakturen des Ober- und Unter¬
arms wurden durch die Gipshanfschiene oder durch Holzschienen
ruhig gestellt.
Als die geiurch leiste Komplikation von Frakturen ist
die Unterbrechung der Zirkulation im Bereiche wichtiger
Gefäßßtänime zu betrachten. Wir halten in vier Fällen Ge¬
legenheit aus diesen Gründein dringliche Eingriffe vorzu¬
nehmen.
In einem Schon erwähnten Falle, handelte es sich um Kom¬
pression der Arteria, poplitea, die' unter Nagel ex tension behoben
werden konnte.7)
In zwei Fällen von Zerreißung der Arterie blieb es beim
erfolglosen Versuch der Arterienlnaht :
30jähriger Mann, komplizierte Fraktur des Unterschenkels
im oberen Drittel durch Uebe r fahren werden,- Extremität pulslos,
blaß, zyanotisch. Die operative Freilegung ergab, daß' die Arteria
poplitea in ihrer Adventitia stark suffuin|d,ietrt und im übrigen
bis zum Abgang der Tibialis anterior erhalten, war, hier fand; sich
'eine quere Abreibung des Gefäßes. Das zentrale Ende abgequetscht
und stark retrahiert, dieselben Veränderungen an der Tibialisi
posterior, die an ihrem Ursprung abgerissen war,» der Anfangsteil
der Arteria anterior war in den Canalis popliteus retrahiert und
vom hinteren Schnitt aus überhaupt nicht auffindbar. Eine Ver¬
einigung der Stümpfe schien in dein schwer zugänglichen Opera, -
tionsterrain wegen der hochgradigen Wandveränderung der Ge>-
fäße und der bedeutenden Diastase, die aus, der Resektion der
gequetschten Gefäßendep resultiert w,äre, undurchführbar, wes¬
halb die Amputation sofort ausgeführt wurde.
45jähriger Monteur, Hämatom der Fossa poplitea nach Zer¬
trümmerung der Femürkondylen durch zwei gegeneinanderrollende
Wasserledtungsrohre. Pulslosigkeit des Unterschenkels. Die Opera¬
tion ergab Zerreißung der A r Leri a poplitea und Quetschung der
Arterien wand, Versuch einer zirkulären Naht mißlingt, daher Li¬
gatur. Nach der Operation stellt sich der Puls nicht wieder ein,
Amputation wegen septischer Gangrän.
Im vierten erfolgreich behänd eiten Falle fand sich Zer¬
reißung einer Hauptarterie und Kompression der zweiten.
53 jähriger Kesselschmied, Verletzung durch eine schwere,
aus beträchtlicher Höhe her abfallende Bleiplatte. Der Vorder¬
arm zn vier Fünfteln seiner Zirkumfeneinz dicht über dem Han-
gelenk quer durchgequetscht, die Hand ist gefühllos, livid ver-
7) Ehrlich, loc. cit.
färbt, kein Puls nachweisbar. Bei der Operation fand sich kom¬
plizierte Fraktur des Radius, nahezu zirkuläre Rißquetsc'hwunde
der Haut, Durchtrennung der Artejria radialis, fast sämtlicher
Beuge- und Strecksehnen der Radialseite bis zum Nervus media-
nus. Erhalten ist die Ulna, Nervus uhiaris und einige Sehnen
am Ulnarrand© des Vorderarmes. Der Zwischenknoehenraum ist
mit gequetschten Sehnen und Knochensplittern erfüllt. Ausräu¬
mung der Knochensplitter, Naht der Sehnen. Resektion eines
2 cm langen Stückes der Arteria radialis, zirkuläre Vereinigung
der Stümpfe. Sofort nach der Naht lebhafte Pulsation u;nd Blu¬
tung, retrograd aus der nahezu abgetreppten Hand. Die Ulnaris
wird durch einen Längsschnitt bloßgelegt und findet sich durch
teiin unter der Faszie gelegenes Hämatom komprimiert. Nach
Ausräumung des Hämatoms tritt ebenfalls sofort lebhafte Pulsa¬
tion auf. Lockere Hautnaht, Eingießen Von Peru balsam und Drai¬
nage der durch den Knochendefekt im Radius bedingten W und-
hühle.
Nach der Operation ist die Hand warm, gut gefärbt, der
Puls fühlbar. Heilung nach zehn, Wochen, Konsolidation der
Kadiusfi aktur in Varusstellung der Hand. Daumen aktiv1 nahezu
unbeweglich, Funktion der übrigen Finger erhalten.
ln dem letzteren Falle können wir den Erfolg allerdings
nicht der Naht, der Arteria radialis allein, zusehreiben, weil
sich auch in der Ulnaris nach Ausräumung des Hämatoms
die Zirkulation wieder herstellte. Ohne Operation wäre je¬
doch die Hand gewiß verloren gegangen, weil bei der voll¬
kommenen Zerquetschung der Weichteile im interosseal-
rauin ein Kollateralkreislauf auf dem Wege der Arteriae
interosseae sich gewiß nicht eingestellt hätte.
Bei vier Fällen von Zirkulationsstörung konnte dem¬
nach nur in zwei Fällen von Kompression eine Besserung
erzielt werden, die schweren Wandveränderungen der Ge¬
fäße und die ungünstige Zugänglichkeit des Operations¬
terrains verhinderte in zwei Fällen die Ausführung der Ar¬
teriennaht. Im vierten Falle war die Arteriennaht dadurch
wesentlich erleichtert und von dauerndem Erfolge, daß hei
dem bestehenden Knochehdefekt des Radius der gequetschle
Anteil der (Arlerie reseziert werden konnte, ohne dadurch
die Spannung zwischen den Gefäßstümpfen allzusehr zu ver¬
größern.
Wenn auch unsere bisherigen Resultate hei Gefä߬
zerreißung infolge von Frakturen vorderhand nicht sehr
ermutigend sind und länger dauernde erfolglose Eingriffe
für den noch unter der Shockwirkung des Traumas stehen¬
den Patienten eine Schädigung bedeuten, so ist ein letzter
Versuch, eine Extremität zu erhallen, immerhin erlaubt.
Mit der größeren, persönlichen Erfahrung und Uebung |
wird sich auch die Operationsdauer noch wesentlich ab¬
kürzen lassen, vielleicht sind plastische Operationen an den
Gefäßen, so besonders der Ersatz einer gequetschten Arterie
durch ein vom selben Individuum transplantiertes Venen-
stück so lange von Erfolg, bis die Extremität auf dem Wege
kollateraler Bahnen mit Blut versorgt wird.
Die Schlüsse, die sich aus diesen Daten für die Pro¬
gnose und Behandlung komplizierter Frakturen ergeben, sind
die, daß hei schwer verunreinigten und zertrümmerten Kno¬
chenwunden größerer Gelenke die Aussichten die Extremität
zu erhalten, seihst nach gründlicher Exzision von Verunreini¬
gungen und des gequetschten Gewebes infolge der nachträg¬
lichen Eiterung des Gelenkes sehr gering sind. In diesen
Fällen käme als letzter Versuch noch die totale Resektion
des Gelenkes oder die primäre Amputation in Betracht.
Bei Gefäßverschluß infolge von Kompression durch
Fragmente oder Hämatom ist die Prognose im allgemeinen
günslig zu stellen, wenn frühzeitig operative Hilfe erfolgt,
dagegen isl die Aussicht, zerrissene und gequetschte Arte¬
rien durch die Gefäßnaht zu vereinigen und durchgängig
zu erhalten, gering, immerhin soll vor der primärem Am¬
putation die operative Freilegung des Gefäßes vorgenommen
werden, besonders, da. sich die Art der Zirkulationsstörung
oft. erst durch die Autopsie genau feststellen läßt. Gün-
stigere Resultate gibt das Debridement hei verunreinigten
Diaphysenbrüchen, wenn eine1 Verletzung größerer Gelenke
nicht vorliegt. Hier liegt ein weites Feld für die extrem
konservative Behandlung und wenn es auch nicht immer
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
821
gelingt, die Infektion zu verhindern, so läßt sieh dieselbe
durch Offenhalten der Wunde, Drainage, Anwendung von
Perubalsam meist lokalisieren.
Bei nicht verunreinigten komplizierten Frakturen (rill
che Sorge bezüglich der Infektion so sehr in den Hinter-
grund, daß man nach der üblichen Desinfektion der Flaut
mit Jodtinktur und Anlegung eines aseptischen Verbandes
das Hauptaugenmerk auf eine gründliche Reposition der
Fragmente richten kann; dasselbe gilt von Frakturen mit
geiingei Hautverletzung, bei welchen dislozierte Fragmente
das Hautniveau nicht überragen, letztere unterscheiden sich
in der Behandlung von subkutanen Brüchen nur durch den
aseptischen Verband, der die Hautwunde deckt.
Aus dem diagnostisch-therapeutischen Institut für
Herzkranke in Wien.
(Jeber Digitalisleim (Gelina Digitalis*).
Vorläufige Mitteilung von Priv.-Doz. Dr. Max Herz, Wien.
Die Anzahl der Digitalispräparate, über die wir der¬
zeit in der Praxis verfügen, ist eine enorme, ihre große
Anzahl aber beweist, daß keines von ihnen alle Wünsche
ganz erfüllt. Die allerorts sehr regen Bestrebungen nach
einer Vervollkommnung der Digitalistherapie müssen daher
noch immer als gerechtfertigt angesehen werden. Dies um
so mehr, als wir hier nicht genügsam sein dürfen. Für das
kranke Herz ist das Beste gerade gut genug.
Das Beste aber ist und bleibt die Digitalisdroge selbst,
das Pulver der Blätter. Jede angebliche Reinigung kann eine
Verstümmelung sein und bei" der Herstellung der Extrakte,
ja auch der Infuse und Mazerate oder gar einzelner als
besonders wirksam angesehener Bestandteile wissen wir nie,
wieviel und was des vielleicht Wertvollsten mit dem Rück¬
stände verloren geht. So ist es nicht wunderbar, wen|n
wir oft noch mit dem einfachen Pulver der Blätter Erfolge
erzielen, nachdem verschiedene aus ihnen gewonnenei Pro¬
dukte gänzlich versagt haben.
Den Dilitalisblättern haften; aber bekanntlich einige ge¬
wichtige Fehler an: Ihre Wirksamkeit ist je nach demi
Standorte der Pflanze und den Verhältnissen, unter denen
die Ernte stattfand, verschieden und überdies nimmt sie
während der Aufbewahrung, besonders in pulverisiertem
Zustande ab. Schließlich reizen sie die Magen- und Darm¬
schleimhaut.
Dem erstgenannten Uebel wird jetzt dadurch ab¬
geholfen, daß die betreffenden Firmen den Wirkungsgrad
der Droge am Tierherzen bestimmen, bevor sie dieselbe
in den Handel bringen („titrierte“ Digitalisblätter). Einen
weiteren Fortschritt erzielte man dadurch, daß man das
Pulver in die sogenannten G e 1 o d u, r a t k a p s e 1 n ein-
•><ihloß, welche sich erst im Darme lösen, so daß Wenigstens
ler Magen verschont bleibt. Gänzlich unkorrigiert ist aber
loch die geringe Haltbarkeit der Blätter.
Wenn es nun gelänge, das Pulver der „titrierten“ Digi-
alisblätter in eine Form zu bringen, in der sie haltbarer
verden und ohne Verlust irgendeines ihrer Bestandteile
lufhören, den Magen-Darmkanal zu reizen, dann müßte dies
void als die Erfüllung eines berechtigten Wunsches an¬
erkannt werden.
Nach mehrfachen vergeblichen Versuchen kam ich auf
olgende Idee: Wenn ich titrierte Digitalisblätter oder
ine andere pflanzliche Droge pulverisiere, in Wasser ma¬
zeriere und dann die Flüssigkeit in erhitztem Zustande mit
<elatine versetze oder die zerkleinerte Droge in der erhitzten
ind dadurch flüssig gemachten Gelatine mazeriere, dann
rhalte ich nach dem Erkalten eine gallertige Masse, die
m so härter wird, je mehr Wasser man ihr entzieht,
•urch Zusatz von Glyzerin u. dgl. kann man sie geschmeidig
•halten.
*) Erstattet in der
3. Mai 1911.
k k. Gesellschaft der Aerzte in Wien am
In dieser Masse befinden sich nun alle Bestandteile,
welche sich bei der Mazeration gelöst haben u. zw. mole¬
kular umschlossen von den kleinsten Teilen des Leimes,
ferner das stark zerfallene und gequollene Pflanzengewebe,
von der Gelatine durchdrungen und eingehüllt. Es ist nichts
verloren gegangen.
^ei Leim scheint als Medikamenfenträger in der inneren
Medizin niemals eine Rolle gespielt zu haben, obwohl eine
Ge atina medicata schön seit langer Zeit bekannt sein
soll.* 1)
Eine auf die beschriebene Art hergestellte Masse stellt
vor allem eine ausgezeichnete Konserve dar. So sollen
sich in einem aus gerösteten Kaffeebohnen oder getrock¬
neten Teeblättern hergestellten Präparate selbst die so ver¬
gänglichen aromatischen Substanzen durch Jahrzehnte un¬
verändert erhalten. Wir dürfen demnach etwas Aehnliches
vom Digitalisleim erwarten.
Verwenden wir statt der reinen Gelatine eine solche
welche an ihrer Oberfläche mit Formalin behandelt worden
ist, dann geben wir unserer Masse eine zweite wichtige
Eigenschaft. Sie wird dadurch widerstandsfähig gegen die
Einwirkungen des Mageninhaltes in gleicher Weise wie die
oben erwähnten Geloduratkapseln, so daß der Magen vor der
Reizwirkung der Digitalissubstanzen geschützt wird.
Während aber die Kapseln nach ihrer Lösung im Darm
den pulverförmigen Inhalt plötzlich freigeben müssen, so daß
nunmehr an dieser Stelle eine um so intensivere Reizung der
Schleimhaut entsteht, quillt der Digitalisleim erst auf und
gibt zunächst während der Wanderung durch den Darm
seine löslichen Bestandteile auf dem Wege der Diffusion
sehr langsam ab, d. h. er wird ausgelaugt. Es wird da¬
durch eine derartige Verdünnung erzielt, daß eine Irritation
der Gewebe nicht mehr erwartet werden kann. Bemerkens-
u * ' 1 ( J s 1 auch, daß die in erster Linie reizenden, für di©
spezifische Wirkung aber bedeutungslosen, harzigen Be¬
standteile der Droge von dem Leime am längsten zurück¬
gehalten werden. Ja, man kann, wenn man die Resorbier¬
barkeit des Präparates, eventuell unter Heranziehung Von
Agar-Agar stark herabsetzt, eis dahin bringen, daß die ge¬
quollene Masse vollkommen ausgelaugt, d. h ihrer lös¬
lichen Bestandteile beraubt, jedoch noch beladen mit den
wasserunlöslichen, harzigen Teilen im Stuhle erscheint, ähn¬
lich wie bei dem bekannten Regulin.
Das Verfahren ist schließlich auch billig, billiger somr
als die Herstellung eines Infuses.
Ein derartiges Präparat will ich „Gelina“ nennen,
Gelina Digitalis, Gelina Strophanti, Gelina Convallariae ma-
jalis usw.
. Lmi Apotheker Dr. Stohr in Wien hatte die Freund¬
lichkeit, die Versuche für mich durchzuführen; schließlich
gelang es ihm, eine brauchbare Gelina Digitalis in der
Gestalt von Bohnen mit je 0-05 Fol. digit, herzustellen.
Dieses Präparat habe ich in mehreren Fähen versucht
u. zw. größtenteils in solchen, deren Darmkanal sowohl
aut das Pulver, wie auf das Infus; lebhaft reagierte. Der
Eitolg entsprach durchaus meinen Erwartungen. Es wurde
überall eine volle Digitaliswirkung erzielt, ohne Rei¬
zung des Magens oder Darmes. Besonders instruktiv war
das Verhalten einer leicht dekompensierten Mitralstenose,
die auch auf die kleinen Digitalisgaben, die ich zur Her¬
stellung des Gleichgewichtes für notwendig hielt, mit Uebel-
keit und Diarrhöen reagiert hatte, den Leun jedoch ohne
jede Beschwerde assimilierte.
Der Umfang meiner Versuche ist sicher viel zu gering,
um ein abschließendes Urteil zu gestatten, aber immerhin so"
ermunternd, (daß ich mich für berechtigt hielt, diese Mit¬
teilung zu erstatten und zur Erprobung dieses gewiß noch
entwicklungsfähigen Verfahrens am klinischen Materiale auf-
zufordernu)
n it ^ Singer und Glaessner haben in Gelatine suspendierte
Galle zu therapeutischen Zwecken verwendet.
i .. ) Herr Apotheker Dr. Stohr (Wien II., Schiffamtsgasse 13) ist
bereit, die nötigen Versuchsmengen zur Verfügung zu stellen.
822
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
lieber einen Fall von Erweiterung der Aorta
bei gleichzeitiger Verengerung des Ostium
derselben und des linken Ostium venosum.
Von Prof. Ür. K. E. Wagner, Direktor der medizinischen Klinik an der
Universität Kiew.
N. M., 48 Jahr© alt, Kleinbürger. Aufgenommen in die
Klinik am 13. März 1904. Er klagte über allgemeine Schwäche,
Herzklopfen, Atemnot nncl Oedem der unteren Extremitäten. Sämt¬
liche bezeichneten Erscheinungen sollen nach den Angaben des
Patienten sich vor ungefähr einem Monat im Anschluß an eine
heftige Blutung aus den Hämorrhoidalknoten eingestellt haben.
Vor 14 Tagen bestanden heftige Schmerzen im ganzen Abdomen
und Diarrhoe, worauf sich nach zwei bis drei Tagen Ikterus ein¬
gestellt hatte. Der Patient leidet an Hämorrhoiden seit ungefähr
15 Jahren. Er hat sich überhaupt niemals einer besonders guten
Gesundheit erfreut. Ueber Herzklopfen, Atemnot bei Bewegungen
klagt er schon seit langer Zeit. Mißbrauch an Spirituosen gibt
er zu, Syphilis stellt er in Abrede. Der Patient ist verheiratet.
Er hatte Kinder, die aber sämtlich in frühem Kindesalter ge¬
storben sind.
Status praesens: Körpergewicht 123-5 Pfund. Tempe¬
ratur normal. Allgemeiner Ernährungszustand unter mittelmäßig.
Schleimhäute und Haut mit schwacher ikterischer Nuance. Die
äußere Besichtigung ergibt eine mit der Systole kongruierende
Erschütterung des Kopfes, Pulsation der großen Halsgefäße und
der Vena jugularis externa, Erschütterung der ganzen Herzgegend
und Einziehung des unteren Teiles des Brustkorbes links. An den
unteren Extremitäten Oedeme, die ziemlich bedeutend sind und
an die Knie reichen. Lungengrenzen etwas gesenkt. Lungenränder
nicht beweglich. Atmung vesikulär. In verschiedenen Teilen des
Brustkorbes zerstreute trockene Basselgeräusche; in den hin¬
teren unteren Teilen beider Lungen kleinblasige feuchte Bassel¬
geräusche. Herz : Außer der allgemeinen Erschütterung der Herz¬
gegend sieht man deutlich diastolische Hebungen des fünften,
sechsten und siebenten Interkostalraumes. Herzspitzenstoß an
der vorderen Axillarlinie im siebentem Interkostalraum, breit,
negativ. Grenzen der kleinen Herzdämpfung : obere an der vierten
Hippe, rechte geht über die linke Mamillarlinie hinweg, linke
an der vorderen Axillarlinie, untere an der achten Hippe. An der
Auskultationsstelle der Aorta und am oberen Teile des Sternums
hört man zwei Geräusche, von denen das eine systolische sehr
scharf und protrahiert ist und auch noch oben hin auf das rechte
Schlüsselbein und auf das Caput humeri übergeht. An der Aus¬
kultationsstelle der Arteria pulmonalis hört man dieselben beiden
Geräusche, jedoch weniger scharf. Bei der Fortbewegung des
Stethoskops zur Herzspitze werden die beiden Geräusche schwächer
und es treten zwei Töne hervor. Am Brustbein hört man
(der Insertionsstelle der fünften Hippe entsprechend) zwei deut¬
liche Geräusche, wobei das erste bedeutend stärker ist als das
zweite. Die äußeren Arterien sind ziemlich hart (Sklerose zweiten
Grades). Beide Karotiden sind erweitert, und man sieht, wie
sie pulsieren. Puls in der Radialarterie an beiden Armen gleich¬
mäßig, 100 Schläge in der Minute, nicht hoch, von ziemlich guter
Füllung und vom Charakter des Pulsus celer ; teilweise bemerkt
man Extrasystolen; auf dem Sphygmogramm sind die elasti¬
schen Schwankungen deutlich, der Rückstoß ist schwach ausge¬
prägt. In der Inguinalfalte hört man, an den Gefäßen deutlich
zwei, etwas klatschende Töne. Die Venae jugulares extern ae- zeigen
positive Pulsation; solchen Püls sieht man auch an den ge¬
schwollenen subkutanein Venen in der rechten Ellbogenbeuge
und am Vorderarm. Bauch vergrößert, Bauchwänd© gespannt.
Im Abdomen freie Flüssigkeit nachweisbar, deren Niveau zwei
Querfinger unterhalb des Nabels liegt. Leber unterhalb des Hypo-
ehondriums in einer Ausdehnung von drei Querfingern palpabel;
sie ist gleichmäßig vergrößert, ziemlich hart; ihr Rand ist etwas
abgerundet, leicht schmerzhaft. Die ganz© Leber zeigt deutliche
systolische Pulsation. Milz nicht palpabel. Von seiten des Magen¬
darmkanals sichtbare Veränderungen nicht vorhanden; ziemlich
bedeutende innere und äußere Hämorrhoidalknoten. Harn: Täg¬
liche Quantität 1110 cm, spezifisches Gewicht 1-014, Eiweiß in
Spuren; im Niederschlage ab und zu hyaline Zylinder, späriiche
weiße Blutkörperchen und amorphe Urate.
Bei der Diagnose zog man natürlich in erster Linie die
Veränderungen von seiten des Herzens in Betracht. Man hatte
es hier mit einer komplizierten Erkrankung des Herzens im
Stadium der Kompensationsstörung zu tun, welch letzter© augen¬
scheinlich durch starke Hämorrhoidalblutung und durch irgend¬
eine akute Erkrankung des Darmkanals hervorgerufen wurde,
die mit Diarrhoe und Ikterus einherging und allgemeine Schwä¬
chung des Organismus zur Folge hatte. Von den einzelnen Sym¬
ptomen von seiten des Herzens fielen vor allem der negative
Herzspitzenstoß, die diastolische Pulsation einiger Interkostal-
räume bei allgemeiner Erschütterung der Herzgegend und die
Einziehung des unteren Teiles des Brustkorbes links bei der Sy¬
stole auf. Der negative Herzspitzenstoß spricht, wenn er deut¬
lich ausgeprägt ist, in der Mehrzahl der Fälle für Verwachsung
des Herzbeutels mit dem Herzen, namentlich, wenn diese- Ver¬
wachsung an der Herzbasis besteht. Diastolische Pulsation der
Interkostalräume bei negativem Herzspitzenstoß spricht für aus¬
gedehnte Verwachsung des Herzens mit dem Herzbeutel. Ein¬
ziehung des unteren Teiles des Brustkorbes bei der Systole, Er¬
schütterung der ganzen Herzgegend lassen aber an Verwachsungen
deis Herzbeutels mit dem Brustkorb und mit dem Zwerchfell
denken. Auf Grund dieser Erwägungen sprach ich die- Vermutung
aus, daß es sich im vorliegenden Falle nicht nur um vollständige
Verwachsung des Herzbeutels handelt, sondern auch um äußere
Verwachsung desselben mit dem Brustkorb und dein Zwerchfell.
Das diastolische Geräusch, welches man an der Aorta und am
oberen Teile des Brustbeines am deutlichsten hörte, sprach neben
der Erschütterung des Kopfes, dem Pulsus celer, dein diastoli¬
schen Ton an der Kruralarterie und der Verschiebung des Herz¬
spitzenstoßes nach links und unten für Insuffizienz der Aorten¬
klappen. Das systolische Geräusch, welches an der Aorta am
deutlichsten zu hören, stark ausgeprägt und protrahiert war und
sich nach oben hin auf das Schlüsselbein und das Caput humeri
ausbreitete, sprach für Verengeiung des Ostium aortae. Für diese
Annahme sprach bis zu einem gewissen Grade auch der Charakter
des Pulses, nämlich die gewisse Härte -desselben und die geringe
Höhe der Pulswell-e, trotz der bestehenden Insuffizienz der Aorten¬
klappen, bei der der Puls gewöhnlich hohe Exkursionen und
wenig ausgeprägte elastische- Schwankungen auf weist. Das starke
systolische Geräusch an der Auskultationsstelle der Trikuspidalis
sprach in Verbindung mit der positiven Pulsation der Leber
und -dem positiven Venenpuls am Halse- und Arm, sowie den
zwei klatschenden Tönen an der Kruralvene für relative In¬
suffizienz der Trikuspidalis.
Eine besonders gründliche Besprechung erheischte der sehr
niedrige Stand (im siebenten Interkostalraum) des Herzspitzen¬
stoßes, der stark nach links, nämlich bis zur vorderen. Axillar¬
linie verschöben war. Für die Verschiebung des Ilerzspitzeu-
stoß-es nach unten und links war im vorliegenden Falle von
seiten der Insuffizienz der Aortenklappen und der konsekutiven
Vergrößerung des linken Ventrikels genügende Veranlassung vor¬
handen. Jedoch war hier die Verschiebung so bedeutend, daß
man unwillkürlich daran denken mußte, daß vielleicht noch eine
andere Ursache hiefür vorliegen könnte. Erweiterungen der Pars
ascendens aortae dienen bekanntlich sehr häufig als Ursache
von starker Senkung des Herzspitzenstoßes und so mußte man
auch im vorliegenden Falle unwillkürlich an diesen Vorgang
denken. Jedoch sprachen das Fehlen von Dämpfung im oberen
Teile des Brustbeines und rechts von demselben, ferner das
Fehlen von Pulsation rechts vom Brustbein, das Fehlen von
mehr oder minder bedeutender Verspätung des Pulses in den
Radial- und Kruralärterien im Vergleich zur Herzsystole, schlie߬
lich die mutmaßliche Verengerung des Aortenostiums, gleichsam
gegen das Vorhandensein einer Aortenerweiterung. Die bestehende
Dislokation des Herzspitzenstoßes mußte- man teilweise auf \er-
größerang des linken Ventrikels, teilweise auf Hemiederziehung
des ganzen Herzens nach unten infolge von Verwachsung des
Herzbeutels mit dem Zwerchfell zurückführen.
Die- Bronchitiserscheinungen, die kleinblasigen, -feuchten
Rasselgeräusche in den unteren hinteren Teilen der beiden Lun¬
gen, die unbedeutenden Veränderungen im Harn, die voi an¬
gegangene hämorrhoidale Blutung ließen sich auf durch insuffi¬
ziente Herztätigkeit bedingte Stauungen im Blutkreislauf zurück¬
führen. Die Beschränkung der Beweglichkeit der Lungenränder
sprach für überstandene Pleuritiden, die Verwachsung der Lungen
mit der Brustwand zur Folge hatten. j»
Dementsprechend lautete die- klinische Diagnose folgender¬
maßen : Arteriosklerose. Verödung des Herzbeutels und Verwach¬
sung desselben mit der Brustwand und dem Zwerchfell. In¬
suffizienz der Aortenklappen und Verengerung des Aortenostiums,
relative Insuffizienz der Trikuspidalis. Beiderseitige adhäsive Pleu¬
ritis. Stauungserscheinungen in den verschiedenen Organen in¬
folge von Störung der Kompensation der Herztätigkeit, lkteuis
auf der Basis von Katarrh und Stauung im Duodenum.
Verlauf: Der Patient lag in der Klinik zehn Tage. Er
bekam während dieser Zeit Digitalis, Adonis vernalis, Strophantus,
Koffein; sein Zustand besserte- sich jedoch nicht; im Gcgenm ,
der Patient fühlte sich immer schwächer und schwacher, u
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
823
Puls wurde weicher und schwächer, der Ikterus wurde stärker
die Oedeme nahmen zu. Die Temperatur blieb ununterbrochen
normal. Unter Erscheinungen von äußerster Schwäche trat der
Tod ein.
Sektion: Leiche eines Mannes von mittlerer Statur und
schlechtem Ernährungszustand. Untere Extremitäten etwas öde-
matös. Bauch nicht aufgetrieben, Rauchwände schlaff. Die Leber
ragt ungefähr drei Querfingerbreitein über den Rippenrand hinaus-
an der oberen Oberfläche ist die Leber mittels fibröser Ver¬
wachsungen mit dem Zwerchfell und Peritoneum parietale ver¬
wachsen. Der Darm ist ziemlich ausgedehnt. Das Omentum ent¬
halt eine geringe Quantität Fett. Die Mesenterialdrüsen sind
vergrößert, viele verkalkt. Im Mesenterium des Sigma romanum
bemerkt man eine strahlenförmige Narbe. Die Kuppel des Zwerch¬
felles liegt rechts an der sechsten Rippe, links am sechsten
Interkostalraum. Rippenknorpel mäßig ossifiziert. Beide Lungen
mit der Brustwand, dem Herzbeutel und dem Zwerchfell fest
verwachsen. Das Trigonum cordis ist offen und geht rechts un-
Refähr drei Querfingor über die1 Mittellinie hinaus. Das ganze Herz
ist wesentlich nach links disloziert und befindet sich zwischen
dem Zwerchfell und der nach oben verdrängten Lunge. Der Herz¬
beutel ist in seiner ganzen Ausdehnung an die Brustwand, an die
Lungen und das Zwerchfell, das Herz durchwegs an den Herz¬
beutel angewachsen; letzteres ist vergrößert. Die Höhle des
rechten Ventrikels und des Vorhofs sind bedeutend erweitert;
die Wandungen sind von ungefähr normaler Dicke; die venöse
Ocffming läßt frei mehr als drei Finger passieren; die Triku-
spidalis ist fibrös verdickt, die Lungenarterie erweitert. Die Wand
des linken Ventrikels ist bis zu 2 cm verdickt, auf dem Quer¬
schnitt trübe, von bräunlich-roter Farbe, mit grauen Streifen.
Das Endokard ist namentlich in der Nähe der Klappen fibrös
verdickt, stellenweise weist es Kalkablagerungen auf. Das linke
Ostium venosum hat die Form einer 3-5 bis 4 cm langen und
3 bis 4 mm breiten Spalte. Die Aortenklappen sind gleichfalls
geschrumpft, verdickt, teilweise kalziniert, an ihren Berührungs¬
stellen zusammengewachsen, ulzeriert und ebenso unbeweglich
wie die Klappen der Bikuspidalis. Die Aorta ist erweitert: sie
mißt an der Basis 8-25 cm, am Bogen 8-5 cm, in der Pars
descend ens 6-25 cm im Durchmesser. Sämtliche vom Aorta,-
hogen abgehenden Arterien' sind gleichfalls erweitert. Die In¬
tima der Aorta ist namentlich am1 Bogen mit sklerotischen Pla¬
ques bedeckt. Die Kranzarterien sind erweitert, ihre Wandungen
verdickt. Lungen teigig, Lungenpleura, verdickt, ödematös; am
Querschnitt bemerkt man im Gewebe der oberen Lungenlappen
Narbenstränge von schiefergrauer Farbe; außerdem ist das Lungen¬
gewebe stark ödematös und weist dem Verlauf der Gefäße und
Bronchien entlang Entwicklung von Bindegewebe' auf. Bronchial¬
drüsen vergrößert, am Querschnitt schiefergrau pigmentiert und
stellenweise kalziniert. Die Milz ist nicht groß, induriert. Ihre
Schnittoberfläche ist glatt, von kirschroter Färbe; die Trahekula
sind verkleinert. Die Leber ist vergrößert, induriert. Die Leber¬
kapsel ist verdickt, ihre Oberfläche körnig. Die Schnittfläche
zeigt. Muskatnußmuster. Die Lobuli der Leber sind verkleinert.
Die Wandungen der Aorta hepatioa sind verdickt. Die Gallen¬
blase ist nicht groß; sie zeigt verdickte Wandungen und enthält
(liebte, zähe Galle von dunkelgrüner Färbe. Die Nieren zeigen
ungefähr normale Größe und abnorme Dichtigkeit; auf dem Quer¬
schnitt. erscheinen die Kortikalschicht graurot, die Pyramiden
dunkel rot, mit grauen länglichen Streifen. Die Schleimhaut des
Magens und Duodenums ist geschwollen, aufgelockert, im Zu¬
stand von venöser Stauung, mit Schleim bedeckt. An einigen
Stellen sieht man unregelmäßige, glattrandige Geschwüre, welche
bis zur Submukosa Vordringen. Die Schleimhaut des Dünn¬
end Dickdarms 'befindet sich im Zustande venöser Kongestion und
ist ödematös; außerdem weist die Schleimhaut des Anfangsteiles
des Dickdarms einige kleine rote polypöse Wucherungen auf.
Pathologisch-anatomische Diagnose: Chroni¬
sche, adhäsive, fibrinöse Perikarditis. Verwach¬
sung des Perikards mit der Brustwand, mit den Lun¬
gen und mit dem Zwerchfell. Chronische, fibrinöse
Endokard i t i s m it Sch rump fu ng d er Klapp en d er Bi k u-
spidalis und der Valvulae semi lunares aorta e nebst
Insuffizienz derselben und Verengerung der Oeff-
»ungen. Relative Insuffizienz der Trikuspidalis. Er¬
weiterung der Pars a, sc ende ns und des Arcus aor¬
ta© nebst Sklerose derselben. Erweiterung der Aorta
pulmonalis. Chronische, adhäsive, fibröse bilate-
t'ale Pleuritis. Chronische Tuberkulose beider Lun¬
genspitzen. Käsige Degeneration nebst Kalzination
her Bronchial- und Mesenterialdrüsen. Lungenödem.
Induration der Milz, der Leber und der Nieren in¬
folge von Stauung. S tauungsk onges tion im Magen¬
darmkanal nebst schleimigem Katarrh und einfachen
Geschwüren des Magens un d des Duodenums.
. Aus der Zusammenstellung der vitalen Erscheinungen
mit den Erhebungen der pathologisch-anatomischen Sektion
ergibt sich, daß letztere in bezug auf das Herz Schrumpfung
der Bikuspidalis nebst Verengerung des linken Ostiums
venosum und Erweiterung der Aorta zu Tage gefördert hat
— Befunde, die intra vitam nicht festgestellt werden konnten.
Wenn ein Symptom, das für Aortenerweiterung sprach, -
nämlich hochgradige Dislokation des Herzspitzenstoßes nach
links und unten, auch vorhanden war, so fehlten jegliche
klinische Anhaltspunkte, die diese Affektion hätten vermuten
lassen können. Wie gesagt, hörte man an der Herzspitze
zwei Töne; die bis hierher heranreichenden zwei schwachen
Geräusche führte ich auf die Aorta zurück, wo sie außer¬
ordentlich klar und scharf zu hören waren. Ein derar¬
tiges Fehlen von Geräuscherscheinungen an der Bikuspi¬
dalis bei gleichzeitigem Bestehen einer Aortenklappeninsuffi-
zienz und einer Verengerung der Aorta ist ein Vorkomm¬
nis, welches in der Klinik namentlich bei schwacher Herz¬
tätigkeit nicht selten beobachtet wird und auf diejenigen
Wechselwirkungen 'zurückgeführt werden kann, die der Blut¬
strom bei kombiniertem Herzfehler während des Ueber-
gangs aus dem einen Herzabschnitt in den anderen er¬
leidet. Die übrigen klinischen Befunde fanden bei der Sektion
ihre vollkommene Bestätigung.
\ on gewissem Interesse sind die Verwachsungen der
beiden Pleurablätter des Perikards von innen und von außen,
sowie die Verwachsung der oberen Oberfläche der Leber
mit dem Zwerchfell und dem Peritoneum parietale. Wir
wissen, daß Verwachsungen der Pleurablätter am häufigsten
auf tuberkulöser Basis Zustandekommen und obwohl hei
meinem Patienten Veränderungen in den Lungenspitzen
klinisch nicht nachweisbar waren, so war nichtsdestoweniger
die Annahme einer chronischen tuberkulösen Affektion
durchaus wahrscheinlich. Die Sektion ergab Tuberkulose
der Bronchial- und Mesenterialdrüsen, sowie unbedeutende
Veränderungen in den Lungenspitzen. Nun entsteht die
Vermutung, ob man es hier nicht mit multipler Affektion
der serösen Häute, mit! der sogenannten Polyserositis 'tuber¬
kulöser Natur zu tun hatte. Im positiven Fälle hätte man die
Erkrankung der Pleurablätter, des Perikards und des Peri¬
tonealüberzugs der Leber unter eine gemeinsame Aetiologie
bringen können. Gemäß' den neuesten Ansichten von
Behring, Bueppel und Ro einer1) wissen wir, daß
tuberkulös affizierte Lymphdrüsen die häufigste Ursache
von Entzündung der serösen Häute sind, wobei diese Ent¬
zündung nicht nur die Tuberkelbazillen selbst, sondern auch
die Endotoxine derselben hervorrufen können. Von diesem
Standpunkte aus würde das Fehlen von Tuberkeln mit
spezifischen Veränderungen in den Pleuren, im Perikard
und im Peritonealüberzug der Leber noch nicht gegen
tuberkulöse Aetiologie sprechen.
Ich kehre nun zu dem Umstand zurück, der im vor¬
liegenden Falle von . besonderem Interesse war, nämlich
zu der bei der Sektion festgestellten Aortenerweiterung.
Es entstehen hier zwei Fragen: 1. Weshalb (gab die ziemlich
bedeutende Aortenerweiterung zu Lebzeiten des Patienten
keine ausreichenden klinischen Erscheinungen? 2. Wie
konnte bei gleichzeitigem Bestehen einer Verengerung des
Ostium aortae und des linken Ostium venosum diese Erwei¬
terung entstehen?
Der Boden für eine Erweiterung der Aorta war vorhan¬
den : es waren dies die sklerotischen Veränderungen an
der Intima. Anderseits kann man per analogiam mit den
endokarditischen Veränderungen am Herzen annehmen, daß
auch die Intima der Aorta früher von entzündlichem Prozeß
befallen, d. h. daßi Endaortitis vorhanden war. Die diese
letztere gewöhnlich begleitende Veränderung der Media hatte
Verlust 'der Elastizität der ganzen Aortenwand zufolge. Eine
— — - - - I
*) Beiträge zur experimentellen Therapie. Marburg 1902, H. 5.
824
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
zweite, für das Zustandekommen einer Aortenerweiterung
erforderliche Bedingung ist Steigerung des Blutdrucks.
Von den Ursachen, die Steigerung des Blutdrucks zur
Folge haben, war eine vorhanden, nämlich Insuffizienz
der Aortenklappen. Dieser Klappenfehler- ist bekanntlich
nicht selten mit A o rtene r w ei terun'g aus dem Grunde kom¬
biniert, weil der Blutdruck bei demselben bei jeder Systole
über die Norm steigt. Diese Kombination der Erweiterung
der Aorta mit Insuffizienz der Aortenklappen auf der Basis
des atheromatösen Prozesses wird als ,,H)od g s o n sehe
Krankheit“ bezeichnet. Bei meinem Patienten waren jedoch
zwei Momente vorhanden, die im entgegengesetzten Sinne,
nämlich im Sinne einer Verringerung; der Blutfüllung in
der Aorta, folglich im Sinne einer Verringerung des Blut¬
drucks in der Aorta wirkten. Diese Momente 'sind die Ver¬
engerung des Ostium aortae und die Verengerung dels linken
Ostium venosum. Man kann also kaum annehmen, (daß sich
bei den früher vorhanden gewesenen Verengerungen der
erwähnten Oeffnungen eine Erweiterung der Aorta ent¬
wickeln konnte. Vielmehr muß man zur Erklärung des1
in Rede stehenden Falles annehmen, daß die Erweiterung
der Aorta sich früher 'als die Verengerungen der erwähnten
Oeffnungen entwickelt hatte. Den Verlauf des Prozesses
könnte man sich folgendermaßen vorstellen: Zunächst hatte
sich Sklerose der Aorta entwickelt, wofür ebenso wie für die
Sklerose der äußeren Arterien und der Kranzarterien der
anamnestisch festgestellte Mißbrauch an Spirituosen als ätio¬
logisches Moment in Betracht kommen konnte. Von der
Aorta hatte sich dann die Sklerose auf die Valvulae semi-
lunares ausgebreitet und Deformation, Schrumpfung sowie
Insuffizienz derselben bewirkt; eis Waren somit Bedingungen
für die Entwicklung einer Aortenenveiterung geschaffen und
diese Erweiterung kam! nun zustande. Derselbe sklerotische
vielleicht auch der hinzugetretene entzündliche Prozeß im
Endokard ging nun weiter; nach und nach entstanden Ver¬
engerung der Aortenmündung sowie Insuffizienz und Ver¬
engerung der Bikuspidalis. Von diesem Augenblick nahm
die Erweiterung der Aorta augenscheinlich nicht mehr zu;
im Gegenteil, es entstanden1 Bedingungen entgegengesetzter
Natur infolge von Verringerung der Blutfüllung der Aorta
und es würde nichts Unwahrscheinliches an sich haben,
wenn (man armehmen würde, daß die Erweiterung der Aorta
sich hätte verringern können, wenn die Elastizität ihrer
Wandungen [nicht verändert gewesen Wäre. Jedenfalls war
die in die erweiterte Aorta eintretende verringerte Blut¬
quantität nicht imstande, ihre Wandungen in gespanntem
Zustande zu erhalten. Darauf kann man den Umstand zu¬
rückführen, daß die bei der Sektion Vorgefundene, ziem¬
lich bedeutende Aortenerweiterung Zu Lebzeiten weder Pul¬
sation rechts vom Brustbein noch Dämpfung gab und sich
jedenfalls in keiner Weise an ihrer Lokalisationsstelle be¬
merkbar machte, d. h. einer genauen Diagnose unzugängig
war.
Die bei der Sektion Vorgefundene geringe Erweiterung
der Aorta, pulmonalis, die durch Stauungen im [kleinen Blut¬
kreislauf bedingt war, ist nicht so selten und infolgedessen
von keinem besonderen Interesse ; zu Lebzeiten lassen sich
geringe Erweiterungen der Aorta pulmonalis gewöhnlich
nicht feststellen.
Zum Schluß möchte ich noch einige Worte über den
Charakter der im Herzen und in der Aorta Vorgefundenen
Veränderungen sagen. Diese Veränderungen dürften sich
bei dem Patienten augenscheinlich nach und nach sehr
langsam entwickelt haben; wenigstens bot die Anamnese
keine Anhaltspunkte für die Annahme irgend einer (vom
Patienten überstandenen akuten, stürmischen Herzerkran¬
kung dar. Unwillkürlich dränjgt sich nun einem die Frage
auf, ob nicht diese Veränderungen auf dieselbe Aetiologie
zurückzuführen waren wie die [Veränderungen, die im Herz¬
beutel, in den beiden Pleuren und in der Leberkapsel fest-
gestellt. wurden. Wenn man die oben geschilderten! An¬
sichten Behrings und seiner Schüler, wonach die 'Endo¬
toxine der Tuberkelbazillen Endzündung der serösen Häute
hervorrufen können, für richtig hält, so müßte man doch
auch gelten lassen, daß dieselben Endotoxine vielleicht auch
Veränderungen an der Intima der Aorta und am Endokard
hervorzurufen imstande wären. jVon diesem Standpunkte
aus wäre jene Langsamkeit und jener chronische Verlauf der
Entwicklung der Vorgefundenen ausgedehnten Veränderun¬
gen im Herzen und der Aorta eines relativ nicht alten
Mannes (48 Jahre), der! keine akute Herzerkrankung über¬
standen hatte, verständlicher. Experimentelle Studien über
den Einfluß der Endotoxine der Tuberkelbazillen auf Herz
und Gefäße sind, soweit mir bekannt ist, vorläufig noch
nicht vorhanden, werden aber Iden Gegenstand meiner näch¬
sten Arbeit bilden. In; 'der mir zugänglichen (Literatur (Lehr¬
bücher, Monographien) der Herz- und Gefäßerkrankungen
habe ich Fälle von Aortenerweiterung bei Verengerung des
Ostium aortae und des flinken Ostium venosum nicht erwähnt
gefunden. Infolgedessen glaubte ich den vorliegenden Fall,
der nicht geringes klinisches Interesse darbietet, beschreiben
zu sollen. f
Die Typhusepidemien in Hermannstadt.
Von Dr. Karl Ungar, Prosektor.
I.
Seit, die Wissenschaft in dem Eberth-Gaffky schein Bu-
zillus den spezifischen Erreger dies Abdominaltyphus erkannt hat,
besteht für die überwiegende Mehrzahl der Kliniker, Hygieniker
und Bakteriologen kein Zweifel mehr, daß die Quelle der Ver¬
breitung des Typhus im Menschen selbst zu suche|n sei, und daß
seine Ausbreitung nicht durch abnorme Konstellation der Ge¬
stirne, nicht durch Zauber und Spuk, nicht durch Wind und
Wetter, sondern durch belebte Organismen erfolgt. Mögen lokale
Verhältnisse mannigfacher Art bei Verschiedenen Epidemien eine
begünstigende Rolle spielen, immer wird, die letzte Ursache der
bakdenenausscheidende Mensch sein. Die Bekämpfung des Typhus
als Volksseuche wurde erst nachdrücklich und erfolgversprechend,
als man den lokalis tischen Standpunkt Pettemkofers verlassen
und der K o c h sehen kontagionist.ischlen Lehre sich zuneögte.' Dieser
Auffassung entspricht auch die systematische und erfolgreiche
Bekämpfung des Typhus an vielen Ortetni, die unter seiner Heim¬
suchung schwer zu leiden haben, z. ß. im Südwestern des Deut¬
schen Reiches.
Wenn auch die folgenden Ausführungen eine absolut sichere
Entscheidung über die Entstehungsursaclm der Typhusepidemit'ii
von Hermannstadt nicht bringen können, wie das ja meist auch
nicht möglich ist, so dürfte1 doch die Untersuchung und Beselirei-j
bung aller in Betracht kommenden Umstände1 und Beobachtungen!
vom epidemiologischen und hygienischem, gleichwie vom klini¬
schen Standpunkte aus berechtigt sein.
Tabelle I.
Allgemeine U ebersicht über die Typhus - Morbiditäi
und -Mortalität in Hermannstadt.
Januar !;!
Februar j
. SJ
1
aj 'S
< §
1
Juni
Juli
August
September j
Oktober }
November
Dezember
!
Zusammen
Davon
Auswärtige
Davon
gestorben
0/ :
10
1894
i
i
2
1
2 1
, ...
1 1 .
i
2
3
18
4
1895
i
i
. I 1
2
1
1
7
5
3
1896
i
i
• 1 i
3 2 3
1
2
6
5
25
9
6
1897
3
i
l
2 4
4 2 | 1
4
2
4
5
33
14
10
1898
2
i
. 1
. . 3
6
9
5
3
30
12
2
1899
i
2
• 1
2 A 3
1
1
1
1
13
2
5
1900
i
i
1 1
. . 10
2
3
5
1
25
13
5
1901
i
1
2 .
112
10
3
1
3
25
10
3
1902
3
3
13 1
1 3 1
8
8
6
1
48
24
/
1903
1
2
2 ll.:
4
2
2
3
17
9
O
1904
5
2
1
. ! 2 | 2
6
79
13
4
114
12
18
1905
1
i
1
. 2
1 1 ■ bus
8
47
479
21
569
13
51
1906
3
•4
1
• 1
4 2 5
14
4
38
12
4
1907
1
l
1
2 1
. 3 5
6
12
2
34
16
3
1908
1
2
2
3 7
13 14 120
15
57
298
309
741
-46
58
1909
34
7
6
3 2
6 2 6
16
14
8
6
110
34
14
1910
7
3
4 | 8
12 25 22
11
10
3
1
106
56
8
Summe
68 30
21
32 31
50 63 87
109 250 843
369
1953
287
203
104
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
825
Herman ns ladt (magyarisch Nagy-Szeben) in Siebenbürgen
111 ,lor. ^'tlceiner nach Süden durch den Rotenturmpaß in das
romanische I ic I land sich öffnenden Hochebene gelegen mil einer
Einwohnerzahl von 30.000, mit überwiegend deutschem Charakter
isl in I lühmen Jahrzehnten stets vom Typhus beimgesucht worden-
größere Epidemien herrschten 1866 und 1882, während in den
anderen Jahren (nur sporadische Fälle vorkamen. Vom Jahre 1801
Ins 1904, über 'die genauere Aufzeichnungen vorliegen, finden wir
stets nur einzelne Typhusfälle verzeichnet und von diesen stammt
c(wa ein Drittel aus dien umliegenden Ortschaften (s. Tabelle 1).
• , I"! * hm bst des Jahres 1904 nun trat die erste Epidemie
aut (Tab. 2), die in der Tabelle mit 08 Fällen ..verzeichnet ist,
uii/u noch zwölf Fäll© aus der Garnison kommen; nach be¬
gründeter Annahme jedoch muß die Erkrankungsziffer wesentlich
•höher angenommen werden, da viele Fälle, besonders leichte
nicht angezeigt wurden, und namentlich im Beginn viele ver¬
kannt worden 'sein mögen.
Tabelle II.
Typhusepidemie 1904.
■ _ Soweit sich aus den behördlichen Aufzeichnungen fest-
steilen läßt, waren von dein 68 Fällen 33 männliche und 35 weib¬
liche Individuen; dem Alter nach standen die meisten im jugend¬
lichen Alter, zumeist zwischen dem 8. und 20. Lebensjahr,3 da r-
unter auffallend viel© Schulkinder. In bezug auf die Verteilung |
dm Eikrankungen kann keine Gesetzmäßigkeit erkannt werden,
die ersten Fälle sind in der ganzen Stadt zerstreut und lassen
keine irgendwelche Beziehungen zu früheren oder späteren Er-
kr an ku ng en erk en men .
Vom Januar bis Oktober 1905 sind wieder nur einzelne
dein endemischen Typhus entsprechende Fälle verzeichnet, bis
vom 10. Oktober angefangen die Erkrankungen zuneihmen in
der dritten Woche des Oktober schon eine bedrohliche Höhe er-
Kicliei) und in der vierten Woche explosionsartig in die Höhe
sr mellen (lab. 3). Langsamer als sie gekommen, nimmt die
bpideiine ab und erlischt mit Ende November. Es erkrankten
o43 Personen, darunter 330 männliche und 213 weibliche- auf
die Zahl der Bewohner berechnet l-8°/o. Dem Alter nach wären:
1 — 5 Jahre alt ... 16
6—10 „ ,, . . . 92
11_ 15 .. „ . . . 124
16~ 20 .. „ . . . 131
21—30 „ . 142
31—50 „ 36
über 50 „ „ . . . 2
Di© Erkrankungen sind nicht gleichmäßig über die ganze
Stadt, ausgebreitet, sondern die gegen Südwesten gelegenen höheren
Stadtteile sind stärker befallen, als di© nach Nordosten und tiefer
gelegenen. Man kann die Stadt zweckmäßig entsprechend der
Höhenlage, den topographischen, Wohnungs- und Lehens Verhält¬
nissen m vier Teile sondern u. zw. die Josefstadt, zu der ich
außer der: eigentlichen Josefstadt noch die Heltauervorstadt und
das Villenviertel der Hallerwiese zähle, ferner die Oberstadt,,
die l nters t.adt und die jenseits des Cihinflusses gelegenen Vor¬
städte, Entsprechend dieser! Einteilung kamen Typhuserkran¬
kungen vor :
Stadtteil
Josefstadt
Oberstadt
Unterstadt
Cibinvorstadt
Einwohner¬
zahl
4.260
7.140
10.280
5.760
Zahl der Er¬
krankungen
in Prozent
168
154
189
33
39
2T
1-7
0-57
Tabelle III.
Typhusepidemie 1905.
826
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
Betrachtet man die Schulen und Internate nach den prozen¬
tuellen Verhältnissen der Erkrankungen zu der Schülerzahl, so
findet inan übereinstimmend mit den früheren Daten, daß das
in der Josefstadt gelegene evangelische Seminar die höchste Er¬
krankungsziffer aufweist, während die in der Unter- und Cibin-
vorstadt gelegenen weniger hart mitgenommen sind (Tab.. 4).
Tabelle IV.
Verteilung der Typhusfälle 1905 in den Schulen.
Schule
Zahl der
Schüler
Zahl der
Fälle
0/
1 0
Ev. Seminar .
169
30
180
Franziskanerinnen . . .
602
34
5-6
Ev. Gymnasium ....
276
19
60
» Realschule ....
278
9
33
» Knabenschule
587
25
4-25
» Mädchenschule . . .
721
22
3 05
Staatsgymnasium ....
655
19
29
Staats-Elementarschule . .
838
21
25
Rom. Volksschule . . .
90
5
55
» Internat .
115
7
60
» Seminar .
223
7
3 13
Kath. Normalschule . . .
138
4
29
Ursulinerinnen .
253
8
31
; Theresianum .....
255
14
54
Rom. Volksschulen . . .
Ev. Volksschule ....
j 230
lyphuslrei
Stadtteil
Josefstadt ■
Oberstadt
Gib in- f
Vorstadt j
Gehen wir den ersten Fällen nach, so finden wir, daß,
sie durch die ganze Stadt zerstreut sind und anscheinend unab¬
hängig voneinander auftreten, doch scheinen die an der Peri¬
pherie der Stadt gelegenen Gassen anfangs stärker befallen zu
sein. Ferner traten in der Nähe von Häusern, in denen im Vor¬
jahre Typhusfälle waren, auch jetzt wieder solche auf, während
einzelne Straßen, auch volkreiche, verschont bleiben.
Auffallend ist, daß die tiefer gelegenen, unreinen und dichter
bewohnten Stadtteile weniger stark befallen sind. Während in der
Josef- und Oberstadt die wohlhabenderen, mehr den geistigen
Berufsarten nachgehenden oder dem Kaufmannsstande an gehörigen
Menschen wohnen, sind die Unterstadt vorzugsweise der Wohnsitz
der Han dwerker, die Cibinvorstadt der der landbau treibenden
Bevölkerung und der Fabriksarbeiter; dazu kommt, daß die
Schmutz- und Meteorwässer aus den beiden oberen Stadtteilen
sämtlich in die Unterstadt abfließen und sich hier oft in Tüm¬
peln und Pfützen ansammeln; hier ist auch die Pflasterung und
die Straßenreinigung weniger sorgfältig; endlich werden Unterstadt
und Cibinvorstadt der ganzen Länge nach von dem Cibinfluß
bespült, der im Herbste oft nur ein dünnes, trübes Wasser¬
äderchen führend, allen Schmutz und Abfälle, oft auch Senk¬
grubeninhalt aufnimmt und nur langsam, oft auch gar nicht, weiter¬
schafft. Und doch bleiben diese Gegenden im Verhältnis mehr
vom Typhus verschont als die ersterwähnten Teile! Wir werden
auf diesen auffallenden Umstand im dritten Teile dieses Aufsatzes
noch zurückkommen.
Hinsichtlich zweier in der Cibinvorstadt gelegener Insti¬
tute muß noch ein anscheinend divergierendes Verhalten erwähnt
werden. In der staatlichen Heilanstalt für Geisteskranke, deren
Bewohnerzahl etwa 500 beträgt, ereignen sich nur zwei Fälle,
darunter die Frau des Direktors, die erst vor kurzem in diese
Stadt übersiedelt ist, 14 Tage später ein Geisteskranker, während
in dem ganz nahe gelegenen Theresianischen Waisenhaus abnorm
viele Fälle Vorkommen, nämlich im Internat mit 140 Zöglingen 7
(4-l°/o) und in der Volksschule mit 115 Schülern 7 (6°/o) Erkran¬
kungen. Es kann dieses verschiedene Verhalten der beiden In¬
stitute, die sonst unter gleichen äußeren Bedingungen stehen,
auch beide an die Wasserleitung angeschlossen sind, nur damit
erklärt werden, daß in der Irrenanstalt meist ältere Menschen
interniert sind, während im Theresianum vornehmlich Kinder
und Jünglinge im Alter von 8 bis 20 Jahren leben, von
denen viele auswärtige sind und viele die Schulen der Ober¬
stadt besuchen; übrigens ereignen sich die Typhusfälle des Waisen¬
hauses erst spät, in der zweiten Woche des November, als die
Epidemiewelle schon abflaut und die Kontaktinfektionen sich
be me rk b ar m ac h en .
Analog wie in den Schulen und Internaten stehen tlie Ver¬
hältnisse in den Kasernen (Tab. 5).
Tabelle V.
Verteilung der Typhusfälle 1905 in den Kasernen.
Stadtteil
Kaserne
Mann-
schafts-
stand
Zahl der
Fälle
0/
/ 0
Garnisonsspital 22 . . .
Artilleriekaserne und
90
4
4-4
Kadettenschule ....
1072
39
3-6
Josefstadt
Jägerkaserne .
425
6
P4
Husarenkaserne ....
300
7
23
Trainkaserne .
250
6
2-4
Infanteriekaserne ....
900
18
20
Verpflegsmagazin ....
75
1
13
(
Kempeikaserne ....
200
4
20
Unterstadt!
Honvedkaserne ....
300
4
1-3
1
Garnisonsarrest ....
40
3
75
Ganze Garnison . . ca.
3450
110
31
A n in er k un g : Die auf das Militär bezüglichen Daten sir.d entnommen
einer Arbeit von Stabsarzt Dr. Robitschek, Wiener
med. Presse, 1906, Nr. 18 und 27.
Nach dem Abklingen der Epidemie 1905 tritt in den beiden i
folgenden Jahren wieder Ruhe ein, die 38, bzw. 34 Erkrankungen
dieser Zeit., unter welchen überdies 12, bzw. 16 eingeschleppte
Tabelle VI.
Epidemie 1908/9
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
827
Fällo sind, erheben sich nicht über die gewohnten Zahlen des
endemischen Typhus. Eist im Herbste 1908 tritt eine neue, noch
heftigere Epidemie auf, die in der zweiten Woche des No¬
vember einsetzt, nachdem schon seit Oktober bedrohliche Er
krankunigszahlen gemeldet worden sind, in drei Erhebungen, die
etwa eine Woche auseinander liegen, ihren Kulminationspunkt er-
reu Id., um m dei dritten W oche Dezember langsam, unter leichten
Schwankungen abzuklingen. Erst Ende Januar 1900 erlischt die
Seuche vollkommen (Tab, 6). — In dieser Zeit erkranken ins¬
gesamt 682 Personen, darunter 442 männliche und 240 weib¬
liche. Dem Alter nach waren :
1
6
11—15
15—20
21—30
31—50
über 50
5 Jahre alt
10 ..
18
72
150
189
201
44
8
Der jüngste Kranke war 2, der älteste 70 Jahre alt.
Wrenn wir wieder die Typhusfälle nach dein Stadtteilen
sondern, so finden wir in der
Josefstadt
Oberstadt
Unterstadt .
C'ibinvorstadt
150 Fälle = 3'5c/i)
100 „ = 2'2'Vo
203 „ = 2'5'7o
109 „ = l'9°/o
Es überwiegen also auch bei dieser, Epidemie die Fälle
der Josefs tadt .gegenüber denen .der Vorstadt, nur die Unter¬
stadt zeigt diesmal ein abweichendes Verhalten, da ihre rela¬
tive Erkrankungsziffer höher ist, als die der Oberstadt. Allo
Zahlen aber sind weniger weit auseinanderliegend und sowohl
die einzelnen Stadtteile, als auch die Schulen, Internate und Ka¬
sernen zeigen geringere Unterschiede. (Tab. 7 und 8.)
Tabelle VII.
V o Heilung der T y p h u s f ä 1 1 e 1 908/09 in den Schulen.
Stadtteil
Schule
Zahl der
Schüler
Zahl der
Fälle
0/
1 Io
'
Josefstadl j
Ev. Seminar .
170
3
P8
Franziskanerinnen . . .
600
9
1 3
3-8
! Ev. Gymnasium . .
260
10 •
I » Realschule . .
280
9
31
» Knabenschule
600
26
4 3
» Mädchenschule . . .
720
15
20
Oberstadt
1 Staatsgymnasium ....
660
13
2-0
Staats-Elementarschule .
850
16
1-8
Rom. Internat ....
120
4
33
2-6
» Seminar .
230
6
Kath. Normalschule . .
130
2
1-5
Ursulinerinnen ....
260
5
2 0
Gibin- |
Theresianum ....
260
6
2 3
| Vorstadt |
n .
Rom. Volksschulen .
1
Tabelle VIII.
350
11
3-1
1
Verteilung der Typhusfälle 1908/09 in i
en Kasernen.
|
Stadtteil
i— -
Kaserne
Man n-
schafts-
stand
Zahl der
Fälle
01
Io
Josefstadt
Fntersladtj
Garnisonsspital ....
90
3
Artilleriekaserne ....
870
27
Kadettenschule ....
210
8
Jägerkaserne .
420
2
Husarenkaserne ....
300
14
Trainkaserne .
250
7
Infanteriekaserne ....
900
43
Verpflegsmagazin ....
75
3
Kempelkaserne ....
200
3
Honvedkaserne ....
300
8
Ganze Garnison . . ca.
3620
118
33
31
3- 8
0-4
4- 7
2-6
4-6
40
1- 5
2- 7
3 2
jf Nach dem Aufhören der Epidemie im Januar 1909 ereignen
jjuh in demselben und dem darauffolgenden Jahre 1910 mehr
ryphuserkrankungen, als das vor 1904 üblich war (70, bzw. 50),
\va.s wir wohl ohne jeden Zwang darauf zurückführen dürfen,
'lab von der letzten Epidemie zahlreiche Dauerausscheider und
Bazillenträger stammen, die auch in den nächsten Jahren den
Typhus nicht vollkommen zur Ruhe kommen lassen werden.
II.
,im a?nß T ?lch, in Ä“ «cwd*UdeHeu Epidemien tatsächlich
oth t T k k"Cl T t h - G ,af f fk y sehen Bazillus veran-
n[iU lyplm,s abdominalis gehandelt hat, ist durch unzählige
nm h ? ’ ?f'rolof^cbe Untersuchungen des Blutes Typhuskrmker
1908/00 r 11 b,e:r,,VVl,da;] Wild wenigstens in der' Epidemie von
1908/09 auch durch den kulturellen Nachweis des Krankheits-
gestelir Im B1Ute’ LnU uud Stuhl wber jeden Zweifel sicher-
„ l Uehereinstimmend mit den bisherigen Erfahrungen konnte
auch hier beobachtet werden, daß auswärtige, erst in letzter
* hie iei . zwger eiste Personen häufiger und verhältnismäßig
schwerer erkrankten als die einheimische, durch Endemismus
zum Teil immune Bevölkerung ; ferner, daß Kinder bis zum
15 Lebensjahr viel leichter erkrankten als die nächsten Alters¬
stufen und Manner häufiger erkrankten als Frauen. Uebcr die
iUortahtats Verhältnisse gibt Tabelle 9 Auskunft.
Tabelle IX.
Zahl der
Typhus-
°/o
Von den f
waren
j Erkran-
i kungen
Todes-
1 lalle
CD
e
Weiber
Epidemie 1905
543
50
92
28
22
» 1908/09
682
57
83
41
16
1894-1910 . ..
1953
203
104
Unter den f
waren; alt
tO
1
o
7
iO
T-— 1
1
3
-30
—50
o
lO
8h
CD
v— t
<x>
— -j
D3
T—t
<M
CO
S3
J a
h
r e
24
20
6
12
Es ist auffallend, daß die Gesamtsterblichkeit für den ganzen
Zeitraum von 1894 bis 1910 mit 10-4% und 1 bis 2% höher
ist, als das bterblichkeitsverhältnis der Epidemien. Indessen ist das
auch anderwärts beobachtet worden und auf zwei Ursachen
zuruckzufuhren ; einmal verderben die vielen, von auswärts ein-
geiscldeppten Fälle die Statistik, da immer nur die schweren
Jangdauernden und infolge von Komplikationen besserer Pflege
bedürftigen Krankheitsfälle in das städtische Krankenhaus über¬
fuhrt werden; zweitens aber scheint auch die Art der Ansteckung
aut die Schwere des Verlaufes einen Einfluß zu haben; wenn
( ei Krankheitsstoff durch Kontakt von einer Person auf die andere
unmittelbar übertragen wird, wird er virulenten sein, als wenn
er in irgendeinem Medium, z. B. Milch oder Wasser, zuerst
längere Zeit vegetieren muß; er wird in seiner Angriffsfähigkeit
so geschwächt sein, daß im Verhältnis zur Massenverbreitung
nur einige wenige Prozente und unter diesen die meisten leicht
erkranken.
Nur so erscheint es verständlich, daß im deutsch- französi¬
schen Krieg bei 73.000 Typhuserkrankungen nur 9000 Todesfälle
d. i 12-4°/?, sich ereignen, obwohl im Kriege die sanitären Ein¬
richtungen, was Verpflegung, Reinlichkeit, Unterkunft und Kranken¬
pflege anbelangt, manches zu wünschen übrig lassen, während
• Mche TypJxus in wien im Zeitraum von 1902 bis
1907 bei 3060 Fällen eine Mortalität von 18%, im Jahre 1905
sogar 20% auf weist, obwohl hier doch allen Anforderungen der
Gesundheitspflege und Behandlung in ausreichendem Maße ent¬
sprochen wird. ) Und wenn man die Sterblichkeit ariderer Typhus-
masseneindennen bei rächtet, findet man imUier ein niedriges Ver¬
hältnis etwa Von 5 bis 10%, so in Altwasser in Schlesien, wo
durch Infektion der Wasserleitung der Typhus entstand, 5-1%,*)
in Pola 9-5%. ) Vielleicht ließe sich aus der Schwere des Ver¬
laufes einer Typhusepidemie ein Rückschluß ziehen auf die Ent-
stehungsursache, in der Hinsicht, daß ein hohes Mortalitäts¬
prozent aut direkte Infektionen von Mensch zu Mensch, durch
Gegenstände und Nahrungsmittel unter der Intervention von
Dauerausscheidern und Bazillenträgern hinweisen würde, ein nie¬
driges dagegen auf Uebertragung mit Hilfe eines Mediums, in
denn die Krankheitserreger vorher durch kürzere oder längere
Zeit eine Abschwächumg erlitten.
Was das Sterblichkeitsverhältnis unserer Epidemien an-
helangt, so ist das von 1904 mit rund 16% abnorm hoch
das von 1905 mit 9-2% und von 1908/09 mit 8-3% als mäßig
zu bezeichnen. Schon hier muß die Frage aufgeworfen werden,
ob in allen drei Epidemien die Entstehungsursache die gleiche
war oder ob die erste entsprechend der geringen Zahl der Fälle,
dem mehr schleichenden Verlaufe und der hohen Sterblichkeit
eine andere Genese hatte. Wir werden im dritten Abschnitt
hierauf noch zurückkommen.
Was aber den Charakter der beiden letzten Epidemien an-
belangt, so kann derselbe trotz des mäßigen Sterblichkeitsverhält-
828
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 28
nisses nicht als leicht bezeichnet werden ; denn wenn auch,
namentlich unter den Kindern, zahlreiche milde und abortive
Fälle vorkamen, so wurden andrerseits auch auffallend viele bös¬
artige, tückische, mit lenteszierendem, durch Monate sic'h hin¬
ziehendem Verlaufe und Rezidiven einhergeh ende Fälle beobachtet,
ferner ambulatorische Typhein, die zwei bis drei Wochen kaum
nennenswerte Beschwerden machten, um dann plötzlich mit den
bedrohlichsten Symptomen einzusetzen. Feber diese Verhältnisse
lassen sich natürlich keine zahlenmäßigen Daten bringen, doch
dürfte sich aus den Ausweisen der beiden Heilanstalten (Franz -
Joseph-Bürgerspital und Garnisonsspital Nr. 22) immerhin ein
ungefährer Ueberblick gewinnen lassen (Tabelle 10). Eine auf¬
fallende Erscheinung war ferner, daß nahezu die Hälfte der
Fälle nicht mit Diarrhöen, sondern mit festen Stuhlgängen, ,ja
Obstipation cinherging.
Tabelle X.
Epidemie 1905.
Zahl der
K o m p
likationen
P
Perfor.-
Darm- 1
Pneu-
Otitis
Im
~ S
iP
Cß i
QJ ;
0/
.0
Periton.
blutung j
monie
med.
C
P
o !
H !
Zähl
t
Zahl
,t|
Zahl f
Zahl t
Fr. J. B. -Spital
190
25
131
6
6
11
8
18 5
2
Garnisonsspital
110
7
6-3
3
3
9
1
24 | 1
1 I •
Zusammen
300
32
10 6
9
'
9
20
9
42 6
3 [,.
E p
demie 1908/09.
Zahl der
Komp
likationen
<V
Perfor.-
Darm-
Pneu-
Otitis
Im
i o
•g s
CTj
P
tn
%
Periton.
blutung
monie
med.
Zahl
JL
t
Zahl
t
Zahl f
Zahl t
Fr. J. B. -Spital
1 313
30
9-6
8
8
20
5
|
16 j 10
I 3 1
Garnisonsspital
130
9
69
( 5
5
7
2
18 j 1
4 1 .
Zusammen
443
1
39
8-8
13
13
-27
7
34 , 11
| 7 1
NB. Die Daten des Fr
anz Josef-Bürgerspitals können auf volle Richtig-
keit keinen Anspruch erheben, dadie Krankengeschichten
mangel-
haft sind.
Was die Therapie anbelangt, wurde, wo angängig, fleißig
gebadet, jedoch nur in den zwei ersten Krankheitswochen, da
die in der dritten Woche drohenden Darmblutungen und Perfora¬
tionen das Baden nicht ratsam erscheinen ließen. Gleichzeitig
mit dem hydriatischen Verfahren, namentlich aber, wenn aus
irgendeinem Grunde dieses nicht durchgeführt werden konnte,
wdide vom (Antipyretizis reichlich Gebrauch gemacht, im bet¬
sonderen von Chinin und Pyramidon und erwies sich namentlich
letzteres als ein unschätzbares Mittel, um die Temperatur in
mäßigen Grenzen, ja oft auf dem Normalen zu erhalten. Nament¬
lich Kinder konnten durch zwei- bis dreistündige Gaben von
0-1 g nahezu fieberfrei erhalten werden, so daß man oft über
(den eigentlichen Zeitpunkt der Genesung im Unklaren blieb.
Die Obstipation wurde mit Vorliebe durch Kalomel oder Oleum
Ricini bekämpft, Herzschwäche durch Digalen, Strophantus oder
Alkohol, Darmblutung durch Ergotin, Styptizin und Gelatine.
In drei Fällen von Darmperforation wurde lapaxotomiert und
der Darm reseziert, in keinem mit positivem Erfolge.
Es wäre in diesem Zusammenhänge weiters zu berichten,
daß auch Typhusserum in Anwendung gebracht wurde, das ich
durch di© Güte des Herrn Prof. Rudolf Kraus vom Serotherar
peu tischen Institute in Wien in größerer Menge erhielt, wofür
ich auch an dieser Stelle meinen wärmsten Dank auszusprechen
mich verpflichtet fühle. Herr Prof. Kraus hat im Zusammen¬
hang mit anderweitig gemachten Beobachtungen auch über die
meinigen an zwei Orten4)5) ausführlich berichtet und habe ich
nur hinzuzufügen, daß erst beim Nachlassen der Epidemie 1909
ohne Auswahl der Fälle 44 Kranke möglichst frühzeitig inji¬
ziert wurden. Man gewann bei der ersten Serie (31) der so Be¬
handelten den Eindruck, daß die Temperatur rascher zum Ab¬
sinken gebracht, daß das subjektive Befinden ein besseres und
die Somnolenz und die Hinfälligkeit der Kranken günstiger be¬
einflußt wurde. Bis auf einen Fall, der an Noma zugrunde
ging, trat Heilung ein. Bei der zweiten Serie der Injizierten (13)
indessen konnte eine so günstige Beeinflussung nicht immer
konstatiert werden, in zwei Fällen traten trotz der Seruminjek¬
tionen starke Darmblutungen auf, in einem anderen zog sich
der Krankheitsverlauf unter fortwährenden Nachschüben durch
viele Wochen fort und führte unter Entkräftung zum Tode und
endlich ereignet© ©s sich, daß in dem Falle eines kräftigen,
jungen Mannes, der in der ersten Krankheitswoche mit allen
Zeichen einer foudroyanten Typhusbakteriämie und naeningealen
Symptomen eine intravenöse Injektion von 40 cm3 erhielt, und
bei dein nun sozusagen eine Generalprobe der Wirkung des
Serums erwartet wurde, daß dieser Mann nach acht Stunden
unter exzessiver Steigerung der Temperatur und Zunahme der
Hirnreizung starb. Man konnte sich des Eindruckes nicht er¬
wehren, daß durch die Injektion eine akute, massige lieber-
sehwemmung des Blutes mit lysierten (?) Bakteriengiften statt¬
gefunden haben mochte.
Endlich seien noch die Erfahrungen über die Gruber-
Widalsche Reaktion hier mitgeteilt, die vom Mai 1909 bis
Ende 1910 bei 180 Kranken in 219 Fällen angestellt wurde. I
Es wurden Serumverdünnungen von 50 und 100 mit physiologi- j
scher Kochsalzlösung ungerichtet und ein© ca. 20stündige Agar¬
kultur eines und desselben gut zu agglutinierenden Typhusstammes !
(aus dem Rudolf-Spital© in Wien) zugesetzt. Beobachtung nach j
©inständigem Aufenthalt im Brutofen im hängenden Tropfen bei |
schwacher Vergrößerung; als positiv wurde nur die Agglutination
durch Vioo- Verdünnung angesehen. Von den 118 positiven Re I
äktionen standen 19 Fälle in der ersten (die frühesten Reak- i
tionen traten zweimal am fünften Tage auf), 57 in der zweiten i
Woche, 26 in der dritten und 14 in der vierten Woche, ln jedem
dieser Fälle handelte es sich nach dem klinischen Verlauf, be¬
ziehungsweise der Autopsie um echten Typhus. Von den 90 nega- .
tiven Reaktionen waren 69 andere Erkrankungen: Malaria, Pneu
monie, Tuberkulose, Meningitis, Osteomyelitis, Puerperalprozeß; :
die übrigen wurden später positiv, in einem Falle erst in der j
fünften Woche nach emgetreteiier Entfieberung. In keinem der
dauernd negativ reagierenden Fälle wurde später bei der Auto¬
psie Typhus konstatiert. .Dafür erbrachte die Gruber- Widal-
scho Reaktion in manchen Fällen, die keineswegs den Eindruck
des Typhus machten, die oft überraschende Erkenntnis der echten 1
Typhusnatur der fraglichen Erkrankung, so bei einem Bauern
und dessen Sohn, die beide zu Fuß das Ambulatorium besuchten,
mit Klagen über Husten und Gliederschmerzen, bei denen keine
Roseola, kein Milztumor, kein Ileocökalgurren usw. bestand und
nur der gleichartige Charakter der Krankheit den richtigen Weg
wies. Da, wo die kurzdauernde Erkrankung kein© Entscheidung
von der G ru her- W id al sehen Reaktion erhoffen ließ, wurde
auch der kulturelle Nachweis der Typhusbakterien aus dem strö¬
menden Blute versucht, fast ausnahmslos in positivem Sinne
und erwies sich die Galleanreicherung mit Ka&per-Conradi
schien Typhusgalleröhrchen als unschätzbares Hilfsmittel.
Schließlich wurde fünfmal die Reaktion an Personen ge¬
macht, welche schon früher den Typhus überstanden hatten;
einmal nach sieben Monaten, dreimal nach einem Jahre und
einmal nach 20 Jahren; sie war stets negativ.
III.
Es ist natürlich, daß die geschilderten Typhuepidemien die
Gemüter der Bevölkerung und der Stadtverwaltung in hohem
Grade beunruhigten und die weitesten Kreise auch außerhalb
I lenna rmstadts, namentlich die Sanitätsbehörden und das Reichs-
kriegsministerium beschäftigten, was in der häufigen Entsendung
von Fachmännern und Sanitätsinspektoren in diesen südöstlichen (
Winkel der Monarchie zum Ausdruck kam. In erster Linie wurde
begreiflicherweise nach dem Ursprung der Epidemien geforscht
und hierüber Untersuchungen angestellt. Welches das Resultat
dieser, sowie der retrospektiven U Überlegungen und der kriti¬
schen Würdigung der zur Abwehr der Seuche getroffenen Ma߬
nahmen ist, soll im folgenden Vorgetragen werden.
Wenn irgendwo der Typhus epidemisch auftritt, so fragt
jedermann zuerst, wie die betreffende Stadt mit Wasser versorgt
ist; denn wenn auch das epidemische1 Auftreten des Typhus
nicht so vorherrschend, wie man bis vor kurzem glaubte, nur
auf das Trinkwasser zurückzuführen ist, da die vorbildliche
Seuchenbekämpfung im Südwesten des Deutschen Reiches gelehrt
hat, daß häufig auch andere Ursachen, z. B. Milch, Kontakt,
die Veranlassung sind, so ist die Güte1 des Trinkwassers doch, immer
einer der maßgebendsten Faktoren, für die Gesundheitsverhäll-
niss© einer Stadt.
Bis zum Jahre 1894 wird Hermannstadt in recht primi¬
tiver Weise teils durch Zieh- und Pumpbrunnen, teils durch
einen aus dem Schewisbach unterhalb des Dorfes Resinat
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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Nr. 23
abgeleiteten Mühlkanal mit Wasser versorgt, das in offenem
Gerinne bis zum höchsten Punkte der Stadt geleitet, hier
in einem offenen Bassin geklärt und ohne weitere Viltra-
tmn zum Teil in hölzernen Röhren zu öffentlichen Brunnen,
zum Teil in Rinnsalen durch die Straßen der Stadt geleitet
wird. Da. die Gesundheitsverhältnisse durch den Gebraucht] i esc s
mimst lehmig getrübten, im Sommer 'bis 28° C warmen, im
Winter eisigkalten, ungemein keim reichen Wassers entsprechend
1 1 an i igo sind, entschließt sich die Stadt nach dem Projekt des
Baurates Salbach in München zur Errichtung einer Wasser-
gewmnungsanlage im oberen Schewi stale, indem die unter dem
\\ lldbachbetto sich hinziehenden Grundwässer, nachdem sie durch
etwa 4 bis 5 m mächtige Bodenschichten in natürlicher Fil¬
tration gereinigt worden sind, in fünf Brunnen gesammelt werden,
die mit durch löchteren Eisenkränzen von 1 m Durchmesser ver¬
sehen und in Entfernung von 30 bis 40 m derart plaziert sind,
daß die von den fünf Brunnen gebildete Linie senkrecht auf
das Bachbett zu liegen kommt. Aus dem zu tiefst liegenden
Brunnen entspringt das Hauptrohr, das täglich 1730 m3 Wasser
m em Reservoir .abführt, von wo es mit natürlichem Gefälle in die
Stadt fließt. Diese Anlage wird 1894, nachdem sie mehrere Jahre
arbeitete, ohne daß das produzierte Wasser verwendet wurde,
dem Betrieb übergeben und funktioniert bis 1904 tadellos; ein
blick auf Tabelle 1 zeigt, daß in diesem langen Zeitraum trotz
einzelner, offenbar Kontakt- und eingeschleppter Fälle, trotz klima¬
tischer, zeitlicher und örtlicher Disposition, trotz Mangel einer
Kanalisation und trotz früherer Verunreinigung des Bodens der
Typhus eine seltene Krankheit wird unld einzelne Exazerbationen
eng begrenzten lokalen Ursachen, wie einmal dem verseuchten
Brunnen eines Sägewerkes, ihre Entstehung verdanken.
Mit dem Wachsen der Stadt larweist sich jedoch diese
alte Anlage als zu wenig ergiebig und es wird, um möglichst
die ganze durchfließende Wassermenge nutzbar zu machen, eine
neue ergänzende Anjage zugebaut, indem eine mächtige, das
Scbewistal der Länge nach unterirdisch durchziehende Sammel¬
galerie errichtet wird, die der undurchlässigen Schicht tertiären
Tones auilieigt und wieder aus Sammelbrunnen und durchlochten
Steinzeugröhren zusammengesetzt ist. Auch diese „neue An¬
lage“ kreuzt an einer Stelle'die Bachsohle, an welcher
Kreuzungsstelle ein Brunnen situiert ist.
Diese Anlage wird im Frühjahr 1904 dem Betriebe über¬
geben. Während das Wasser der alten Anlage auch nach Regen¬
güssen nur eine leichte Opaleszenz zeigte, ändert sich das Ver¬
halten nunmehr so, daß das Wasser ganz trübe wird. Bakterio¬
logische Untersuchungen existieren aus dieser Zeit keine, dagegen
werden solche im Januar- 1906 fiber Auftrag des k. und k. Reichs-
kriegsminisleriums vom Regimentsarzt Dr. R. Doerr ausgeführt
und ergeben in der „alten! Leitung“ pro Kubikzentimeter 36,
in der „neuen“ 114 Keime, keine pathogenen. Im November 1906
werden von demselben Herrn neuerliche Untersuchungen beson¬
dere nach der Richtung hin vorgenommen, ob die bei Inun-
dat.ionen des Bachbettes auftretenden Trübungen nur auf gelöste
Stoffe zurückzuführen sind oder auch korpuskuläre Elemente
der Filtration entgehen. Es wurde daher die Keimzahl zuerst in
allen Brunnein feistgestellt, dann dler Mühlkanal oberhalb der
\V a,s serge w i nnu n g s an läge in den Wildbach eingeleitet und nach
fünf Stunden wieder gezählt; es ergab sich, daß die Anzahl der
Keime in den links yom Schewisbäch gelegenen Brunnen be¬
deutend anstieg, in einem von 200 bis 1500 pro Kubikzentimeter.
Gleichzeitig konnte man wahrnehmen, daß die Ueberflutung des
V ild baches ein rasches und ausgiebiges Steigen des Grundwasser¬
spiegels zur Folge hatte, so daß er nur wenig von der
Bachsohle entfernt war. Endlich wurden, um die direkte Kom¬
munikation zwischen dem Bachgeriniie und der Gewinnungsanlage
ad oculos zu demonstrieren, 300 g Fluoreszin etwa 100 m ober¬
halb des ersten Rohrstranges in dein Schewisbäch geschüttet;
2Vi Stunden nachher konnte in allen Brunnen deutliche grüne
Fluoreszenz beobachtet werden; ebenso konnte nach Aussaat von
1 kg emulgierter Preßhefe solche in entnommenen Proben nach¬
gewiesen werden.
Es wurde also in durchaus einwandfreier Weise bewiesen,
flaß Oberflächenwasser in nicht genügend filtriertem Zustande
dem Grund- und damit dem Trinkwasser beigemengt wurde und
mußten diese Verhältnisse noch viel krasser sein, wenn nach
vorhergegangener Dürre und sommerlicher Hitze, wo das Erd¬
reich Sprünge und Klüfte bekommt, Regengüsse den Bach aus¬
giebig schwellen, so daß er den Charakter eines breiten, tosenden
Wildbaches annimmt. Denn dann muß sich das Grundwasser
noch mehr dem Flußbett nähern und es werden nicht nur viel
erheblichere Mengen Oberflächen wasser einsickem, sondern es
'wird auch die Filtration gestört, weil die bei langsamer Wasser¬
strömung durch Sinkstofle gebildete Filterhaut vielfach zerrissen
und defekt wird.6)
Daß die Verhältnisse wirklich so sind, geht auch zur Evi¬
denz aus den seit 1906 durch das Stadtphysika t regelmäßig ange-
s tell ten Keimzählungen hervor, indem nach jedem Regen ein
rapides Ansteigen der Keimzahlen des Trinkwassers beobachtet
wird. So beträgt die Keimzahl am 15. September 1906 in der
alten Leitung 5, in der neuen 12; nach fünf Tagen 2820, be¬
ziehungsweise 6744; am 29. Dezember 16 und 4020, am 23 März
1909 339 und 10.380 usw.
Daß aller die natürliche Filtrationsfähigkeit der Boden¬
schichten nach der Erbauung der „neuen Anlage“ in so ungün¬
stigem Sinne gestört wurde, daß Oberflächenwasser und damit
zahlreiche Keime ins Grundwasser gelangen, konnten, hat seinen
Grund darin, daß beim Baue der neuen, Anlage das Erdreich in
Form eines Grabens ausgehoben wurde; wenn auch nach der
Rohrlegung ein dichter Lehmschlag darüber angebracht wurde,
war. derselbe teils durch Senkungen und Sprünge, teils durch
Undichtigkeit ober- und unterhalb nicht genügend stark.
Weiters kam aber auch zutage, daß durch Schotterentnahme aus
dem M ildbachbette tiefe Gruben entstanden, waren, in denen
das Bachwasser einfach versank und endlich, daß durch Hoch¬
wasser die Schotterschichten in der Nähe des unter der Rach¬
sohle liegenden Sammelbrunnens ausgewaschen waren.
Indessen wären alle diese Umstände nicht von Bedeutung,
wenn nicht die ganze Wassergewinnungsanlage im Untergründe
einer stark bevölkerten Gemeinde, Resinar, situiert wäre-, deren
letzte Häuser kaum 2 km entfernt sind unld sämtliche Abfall¬
stof i-e, Schmutzwässer und Fäkalien dieser Ansiedlung in den
Schewisbäch entleert würden. Ein großer Teil der Häuser1 dieses
Dorfes liegt unmittelbar an dem Bache und seinen Nebenbäcben
nnd es ist bei der Armut und dem Kulturniveau der Anwohner*
begreiflich, daß das gesamt© Leben und Treiben sich an und in
ihm abspielt, Geschirr und Wäsche hier gereinigt, Abfälle und
Dejekte in ihn hineinigeworfen werden.
Angenommen rum den Fall, es kämen iir Resinar Typhusfälle
vor, so ist es a priori unumstößlich sicher, daß das Uiach-
wasser mit ryphuskehnen infiziert wird. Es ließe sich weiter
begreifen, daß die Bakterien sich bei trockenem Wetter und bei
normalen Fließzuständen auf der Filterhaut ansammelten und nicht
nur einige Zeit am Lehen bleiben, sondern in der warmen Jahres¬
zeit. sich auch anreichern könnten ; denn diesbezügliche Unter¬
suchungen 7) haben gelehrt, daß die Typhuskeime im Filterschlamm
auch hei Anwesenheit anderer Bakterien sich vermehren und unter
einer tiefen Sandschichte virulent bleiben und weiters,6)9) daß
die Typhuserreger in steriler Erde bis zu 18 Monaten, in nicht
steriler immerhin bis zu drei Monaten lebensfähig bleiben. Wenn
dann durch einen Wolkenbruch die Filterhaut zerrissen wird,
müssen sie in massenhafter Weise auf einmal oder in Schüben
dem Untergrund- und damit dem Leitungswasser beigemengt
werden. Ferner ist bewiesen,10) daß ein Wasser nur ein einziges-
mal durch Typhusbazillen infiziert zu werden braucht, um län¬
ger© Zeit, etwa einen Monat, als Infektionsquelle dienen zu
können.
Bis zu diesem Punkte also wäre die Beweisführung fin¬
den h yd rischen Ursprung der Hermann städter Typhusepidemien
in vollständig lückenloser Weise zu erbringen — es erübrigt
mir noch der Nachweis des Typhusvorkommens in Resinar zu
jenen kritischen Zeiten.
Dieser Nachweis ist nun, wenigstens für die Jahre 1904 und
1905, nicht zu erbringen. Die amtlichen Ausweise wissen nichts
von einer Typhuserkrankung in dieser Zeit, erst im November 1905
werden zwei Fälle gemeldet, die aber sicher nicht in Resinar
entstanden, sondern von Hermann stadt, als hier schon der Typhus
epidemisch herrschte, eingeschleppt worden sind. Dagegen werden
in den Sommer- und Herbstmonaten 1905 sechs Dysenteriefälle
gemeldet. Es könnte nun I der naheliegende Verdacht rege
werden, daß unter diesen auffälligen sechs Ruhrkranken vielleicht
doch der eine oder andere ein echter Typhus gewesen sein könnte,
denn Dysenterie kommt bei uns nicht eben häufig vor, sondern
•wird meist aus Rumänien eingeschleppt und in anderen um¬
liegenden Gemeinden, sowie im' ganzen Komitat weiß zu jener
Zeit niemand etwas von Ruhr. Eine diesbezügliche Anfrage an
den Gemeindearzt von Resinar ergab, daß zwar eine bakterio¬
logische oder autoptische Diagnose jener fraglichen Krankheits¬
fälle nicht gestellt werden konnte, jedoch alle mit geringem.
Fieber (bis 38° C), krampfartigen Schmerzen im Unterleib, Tenes¬
mus, häufigen eitrig-blutigen Entleerungen einhergegangen seien
und nach etwa zehn Tagen mit Genesung geendet hätten.
Anders dagegen stand die Sache im Jahre 1908. Aus diesem
Jahre werden aus Resinar 101 Typhuserkrankunigen mit zehn
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Todesfällen gemeldet, nach Monaten geordnet : April 8, Mai 1,
Juni 8, August 9, September 5, Oktober 17, November 16, De¬
zember 16, Januar 1909 7 und Februar 4. Die erste Erkran¬
kung trat in einer Filiale der Gemeinde, Riusadului, auf, wohin
sie durch rumänische Holzarbeiter aus der Marmarosch gebracht
worden war; dort infizierten sich auch Resina rer Holzarbeiter,
die am oberen Ende von Resinar wohnten, hier den Bachlauf
verseuchten, so daß in kurzer Zeit zahlreiche Insassen, die jenes
Bachwasser als Trinkwasser benützten, von derselben Krankheit
ergriffen wurden. In diesem Jahre also ist der Zusammenhang
der Hermannstädter Typhusepidemie mit dem Typhus in Resinar
lückenlos zu erbringen.
Doch sehen wir uns, bevor wir die Schlußfolgerungen ziehen,
auch nach anderen Entstehungsmöglichkeiten um. Es wäre mög¬
lich, daß unter den mehreren hundert Arbeitern bei dem Bau der
„neuen Anlage“ ein Dauerausscheider seine Dejekt-e in den Rohr¬
graben entleert hätte. Das gäbe aber nur für die Typhuserkran¬
kungen 1904 eine ausreichende Erklärung. Weiters kommt der
Umstand in Betracht, daß von dem Schewisbache gleich unterhalb
Resinar ein Mühlkanal abzweigt, der zuerst ab verschiedenen
Gehöften, meist Mühlen und Fabriken!, vorbeifließt, um nach
etwa 8 bis 9 km langem, offenem Laufe in Hermannstadt zum
Teile zur Bewässerung und Reinigung der Straßen zu dienen.
Auf diesem Wege könnte -der Kanal von irgendeinem Typhus-
kranken oder Typhusbazillen ausscheidenden Mühlenbewohner
infiziert worden sein. Nachforschulngen in dieser Richtung haben
nun ergeben, daß unmittelbar an diesem Mühlkanal die Behausung
des Aufsehers der Wassergewinn uhgs'ainilage steht, daß dessen
Frau Wäscherin ist, ihre Wäsche- von -einer bestimmten Wasch¬
anstalt aus der Stadt erhält und ihr Geschäft an und in dem Wasser
des Mühlkanals ausübt. Ob sie auch Wäsche von Typhuskranken
in jenen kritischein Zeiten zur Reinigung bekam, konnte nicht
eruiert werden. Es ist aber dieser Weg der1 Infektion auch un¬
wahrscheinlich, da doch angenommen werden muß, daß- selbst
größere Mengen von Typhusbazillen auf dem viele Kilo¬
meter langen Wege- vernichtet worden1 sein mögen und die Ver¬
teilung der Erkrankungen in der Stadt keine Kongruenz zeigt
mit der Berieselung -durch dieses Kanalwasser.
Um endlich die durch das Wasser bewirkten Infektions¬
möglichkeiten zu erschöpfen, ist -es notwendig, auch auf den Lauf
des Hauptflusses, der die Ebene und die Stadt durchströmt, den
Cibin, das Augenmerk zu richten. Dieser Fluß tritt bei dem
Dorfe- Gurariülui aus dem Gebirge, s'Chläng-e-lt sich in einem Bogen
durch die Ortschaften Orlat, Grossau und Neppendorf, fließt dann
durch die Stadt zwischen -der Unterstadt und d-enl linksufrigen
Oibinvorstädten in einem etwa 3 km langen Lauf, um1 nach
Berührung von sechs weiteren Gemeinden in den Altstrom zu
münden. Das Wasser des Cibin wird wohl weder zu Trink-,
noch zu industriellen Zwecken Verwendet, jedoch baden im
Sommer in ihm und einem voU ihm aibzweig-enden Mühlkanal
noch heute- viele Menschen und wird Schotter aus seinem Bette
gewonnen. Eine Verunreinigung dieses Flußlaufes kann iu den
oberhalb der Stadt gelegenen Ortschaften recht wohl stattfinden
und sind tatsächlich Typhusfälle hier in allen kritischen Jahren
vorgekommen: In Neppendorf Oktober und November 1904 4,
Januar und August 1905 je- 1 Fäll und im Jahre 1908 tritt
sogar eine ziemlich starke Epidemie auf, die von Juli bis De¬
zember 24 Fälle aufweist. In Grossau sind vom April bis No¬
vember 1908 11, in Gurariului Februar bis April 1908 16 Per¬
sonen an Typhus erkrankt. Also Gelegenheit zur Verseuchung
dieses Wassers ist gegeben, ob aber diese Eventualität von
bemerkenswertem Einfluß auf die- Typhusausbreitung in Hermann¬
stadt ist, muß als sehr unwahrscheinlich hingestellt werden;
denn weder ereign-ein sich auffällige Erkrankungen in den Mo¬
naten, in weichein gebadet wird, noch unter den Arbeitern, die
Schotter erzeugen oder verführen, noch endlich sind die an
oder in der Nähe des Flußlaufes gelegenen Stadtteile stärker
befallen.
Gehen wir die Reihe der Möglichkeiten weiter durch, so
kämen die Nahrungsmittel, Gemüse und namentlich Milch
in Betracht.
Die Stadtbewohner beziehen die Milch nicht aus Zentral¬
molkereien, sondern jede Bauersfrau trägt sie ihren Kunden ins
Haus. Gemeinden, aus denen vornehmlich Milch geliefert wird,
sind Neppendorf, Hammersdorf, Groß-Scheuern, Klein-Scheuern
und Schellenberg. Außer der erstgenannten Gemeinde-, deren
Typhusfälle im Vorhergehenden schon aufgezählt sind, kamen
solche vor in Groß-Scheuern August 1904 2, Oktober und De¬
zember 1908 je 2, in Hammersdorf und Schellenberg keine, in
Klein-Scheuern September 1908 6 Fälle. Man ging natürlich schon
von allem Anfang dieser Infektionsmöglichkeit nach, konnte aber
niemals einen Anhaltspunkt gewinnen, daß Typhuserkrankungen
in der Stadt von der Milchversorgung durch irgendeine Frau,
die in der eigenen Wirtschaft einen Kranken hatte, abhängen
würde. Bei der Epidemie in Neppendorf 1908 wurden die streng¬
sten sanitätspolizeilichen Maßnahmen in Anwendung gebracht,
der Milchverkauf aus verseuchten Häusern, oft unter Aufstellung
von Wachen verhindert und nach jeder Hinsicht strenge Kon¬
trolle geübt.. Der Umstand, daß die Milch wohl nie in ungekochtem
Zustande genossen wird, ferner Personen, die gewöhnlich keine
Milch trinken, z. B. Soldaten, im Verhältnis eher häufiger er¬
kranken , spricht ebenfalls gegen diese Verbreitungsweise. Allen¬
falls könnten die in Groß-Scheuern 1904 auftretenden zwei Fälle
in -einem Konnex mit dem vier Wochen später in der Stadt
ausbrechenden Typhus isteben, da in jenem Jahre die Bevölkerung
noch nicht gewarnt war und wohl auch die sanitären Vorkeh¬
rungen nur mangelhaft gehandhäbt wurden, überdies diese Epi¬
demie einen anderen Charakter zeigte als die späteren.
Ebenso wären die 1908 aus Grossau gemeldeten 11 Fälle
geeignet gewesen, durch die Butter die Seuche- einzuschleppen.
Denn Grossau besitzt eine große Butterei und deckt einen großen
Teil des Bedarfes an diesem Nahrungsmittel. Eine -aus dem-
Jahre 1903 erschienene Arbeit11) weist nach, daß die Typhus¬
bakterien aus der Milch in die Sahne und aus dieser in die
Butter übergehen. Aber auch dadurch, -daß zum Spülen der
Gefäße infiziertes Wasser verwendet wird, kann die Butter nach¬
träglich infektiös werden; die Typhusbakteriein erhalten sich in
ihr drei 'bis vier Wochen virulent und können sich in den
ersten Tagen anreichern. Doch spricht wieder gegen die Butter
als Epidemiequelle, daß sie in jenem Jahre in pasteurisiertem
Zustande in den Handel kam, daß die Milch aus Typhushäusern
nicht verwendet wurde und endlich, daß Leute, die gewiß von
dieser Butter nichts aßen, Lehr jungen, Arbeiter, Soldaten, relativ
am stärksten befallen waren .
In den letzten Jahren ist die Aufmerksamkeit der Forscher
auf die Fliegen als Verbreiter ansteckender Krankheiten und
im besonderen des Typhus , gelenkt worden und kann uns diese
Annahme heute nicht mehr unwahrscheinlich Vorkommen, seit,
wir wissen, daß Malaria und Schlafkrankheit durch Stech¬
mücken, Pest durch Flöhe Überträgen wird. Anderson in
Nordamerika behauptet, daß 30% der Typhusfälle durch Fliegen
übertragen werden, dasselbe sagt Vender aus de-m kubanischen,
Poore aus dem südafrikanischen Kriege. Hamilton fand 1903
unter 18 Fliegen in einem Typhuszimmer 5 infizierte und
Fischer hat Fliegen mit Typhuskulturen genährt und gefunden,
daß sie noch nach 23 Tagen Träger lebender Keime waren,
die nicht nur am Kopfe und den Beinen, sondern auch lim!
Darme- und in den D arme n tleeru ngen zu finden waren. Auch
englische und amerikanische Autorein beschuldigen die Stuben¬
fliege der Verbreitung des Typhus. B ertajrelli12) in Parma
beobachtete dann eine Typhus-eipidemie in Turin und. gewann
die Ueberzeuguug, daß tatsächlich -die Fliegen eine wichtige Rollo
spielen, da, -eine große Zahl von ihnen in der Nähe Typhuskranker
an Füßen und F roß, Werkzeugen virulente Keime tragen.
Und in der Tat, wer während der Sommerszeit in einem
Krankensaal viele Typhuskranke beisammen liegen gesehen hat,
wird sich -erinnern, wie die Fliegen die Kranken förinlich be¬
lagern, in dichten Schwärmen an -den Nasen- und Mundöffnungen,
an den Augenlidern, namentlich der Sch werk ranken und Som-
n nlcnten, ferner auf beschmutzten Stellen des Bettes, auf _ Spuck¬
schalen und Speiseresten sitzen und saugen. Und es spricht für
diese Verbreitungsmöglichkeit der Umstand, daß der Typhus
in den Herbstmonaten seine größte Extensität und Intensität
zeigt, wenn die Fliegen anfangen, sich in die Wohnräume der
Menschen zu rück zu ziehen. Indessen ist es unwahrscheinlich, daß
in unseren Epidemien den Fliegen ein entscheidender Einfluß
zukommt; denn einmal war die Jahreszeit, rtämentlich 1908,
schon stark vorgerückt und im November und Dezember pflegen
bei uns auch die letzten Mücken das Zeitliche gesegnet zn
haben, dann aber spricht die- örtliche Verteilung absolut gegen
diesen Modus : gerade jene Stadtteile, die unter der Fliegenplage
am meisten zu leiden haben, wo -die meisten Düngerhaufen und
Ställe sind und wo die öffentliche Reinigung am wenigsten ge-
handhabt wird, die Vorstädte jenseits des Cibins, haben1 die
wenigsten Erkrankungen.
So bliebe denn noch -eine Entstehungs- und Verbreitungs¬
möglichkeit übrig, die K o n t a k t. ausbreitung durch Typhusträger
und Dauerausscheider. Die methodische Bekämpfung des Typhus
an verschiedenen Orten des Deutschen Reiches hat ja gelehrt,
daß die fast, ununterbrochene Kette der TyplmserkrauKungen,
die gegen den Monat August ein An- und gegen den Februar
ein Äbsch wellen zeigen, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
Nr. 23
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(hnxh ,iazillcnL'ägor vennitldt wird; daß es Typhusstraßen in
dem Städten gibt, auf denen die Krankheit fortschreitet und das
Ansteigen der Erkrankungsziffer im August, dem Monat nach
der größten Hitze, bedingt ist durch den regeren Verkehr der
Menschen untereinander, den vermehrten Durst, das Baden, die
r hegen, den Genuß verdorbener Speisen usw.13) Gleiche Beob¬
achtungen, die eben aus Straßburg gemeldeten, sind in der
lfalz, ) Trier, ) Hannover,16) Königsberg,17) Schweiz18) und an
vielen anderen Orten gemacht worden. Nicht nur Menschen
die den Typhus selbst überstanden habein, spielen die Vermittler-
lolle, wobei man auf 100 Typhusfälle fünf bis sechs Bazillen¬
träger rechnen kann, sondern auch Zwischenpersonen, die selbsl
me krank waren.
Sehen wir uns aber solche Kontakt- oder Kettemcpidemien
naher an, so finden wir, daß zum Beispiel in Straßham im Zeit
raume von 1903 Ms 1907 505 Fälle = l%o auftreten, die
sich kontinuierlich hinziehen, nur zuweilen, wie erwähnt, im
Sommer, kleine Anschwellungen' zeigen, ja selbst zu Explosionen
werden, wenn irgendwo durch einen Bazillenträger die Milch
infiziert wird. In einer anderen Stadt mit 60.000 Einwohnern19)
wird wieder durch einen Dauerausscheider die Milch infiziert und
es erkranken — 25 Menschen! Aus diesen und ähnlichen Bei¬
spielen geht hervor, daß die Kontaktepidemien sich durch einen
schleichenden, schleppenden Verlauf, verhältnismäßig kleine Er¬
krankungsziffern kennzeichnen und an bestimmte, begrenzte Oert-
lichkeiten Straßenzüge, Häusergruppen, Internate usw. gebunden
sind , explosionsartige Massenepidemiein.1 aber, wobei mehrere Pro-
zente der Bevölkerung erkrankeh, können nur in die Erscheinung
treten wenn ein' die ganze oder einen großen Teil der Einwohner
schalt betreffendes infektiöses Agens wirksam wird.
Ob in Hermannstadt Bazillenträger waren oder sind kann
mangels diesbezüglicher Untersuchungein' nicht strikte bewiesen
werden; immerhin ist es als sicher anzunehmen, da der Typhus
seit Alters her endemisch ist und in einzelnen Häusern immer
wieder vereinzelte Erkrankungen Vorkommen. So ist auch an¬
zunehmen, daß die den Epidemien vor- und nachgehenden Fälle
Kontaktinfektionen sind und so ist es Verständlich, daß nach den
Epidemien in den Jahren 1908 und 1909 mehr endemische Fälle
verzeichnet werden, als in dem Jahrzehnt vor 1904.
Die Entstehungsursache der großen Epidemie von 1905
wurde in dem Sanitätsbericht des Stadtphysikates nun vorwiegend
in lokalen disponierenden Verhältnissen gesucht u. zw. zum Teil
in Anlehnung an die Pettenk o f er sehe Bodentheorie, zum Teil
an die Koch sehe kontiagionistische Lehre, ohnle daß ein be¬
stimmtes Moment als von wesentlicher Bedeutung hätte namhaft
gemacht und bewiesen werden können. Man suchte zufällig ge¬
häufte Erkrankungen in einzelnen Gassen, die verschiedene Bös¬
artigkeit der Fälle mit Kontaktin fektioneur zu erklären, .man suchte
den explosionsartigen C harakter der Seuche zu leugnen und man
suchte das Auftreten der Seuche in der Stadt als eine Teil
erscheinung des das ganze Land beherrschenden Genius epide-
mieils zu erklären. Demgegenüber betonte schon, damals Regi¬
men tsarzt Dr. Doerr den hydrisehen Ursprung, welche Annahme
in der Zukunft von vielen Sachverständigen als die einzig plau¬
sible Erklärung hingestellt wurde.
Für die Epidemie 1908/1909 jedoch muß noch ein Um¬
stand in Betracht gezogen werden, daß nämlich in jenem Jahr
die Kanalisierung der Stadt durchgeführt wurde. Nun ist ja eine
der verbreitetsten Lehrmeinungen: der Retten k o fe r schon Schule
die, daß das Aufwühlen der Erde, in die vor Jahren, Jahrzehnten
und Jahrhunderten Typhusgift gelangt sei, die Krankheit wieder
an fachen könne. Indessen ist es noch nie und nirgends ein¬
wandfrei nachgewiesen worden, daß nach Abreißen eines ver¬
seuchten. Hauses, beim Aufgraben eines Abortes, bei der Kanali¬
sierung usw., aus dem Boden nach Jahren Typhus entstanden
sei.19) Die Typhuskeime geben in Aborten und Senkgruben sehr
rasch, schon in der dritten Woche, vollständig zugrunde90) und
wenn sie in'nerhaTb dieser Zeit aus den Aborten an die Ober¬
fläche gebracht werden, leben sie höchstens noch 20 Tage. Eine
Verschleppung kann wohl innerhalb dieses engbegrenzten Zeit¬
raumes durch Schuhe, Fliegen usw. geschehen, nach Monaten
und Jahren indessen ist es ausgeschlossen.
Es kann nicht geleugnet werden, daß auch in unserem
Falle alle jene Momente, welche die Pettenk o f ersehe Lehre
als ursächliche Faktoren für die Entstehung der Typhusepide-
mien verantwortlich macht, in eigentümlicher Weise Zusammen¬
treffen : Der Boden, den jene Lehre als die Brutstätte des1 Typhns-
vinis betrachtet, in dein es sich vermehren, einen Reifnngsprozeß
dnrehmachen und aus dem eine Aushauchung giftiger Gase statt
finden soll, ist anscheinend verseucht; die Außentemperatur ist
enorm hoch, srroße Trockenheit herrscht, das Grund wasser sinkt.
die atmosphärische Luft vermengt sich mit der giftigen Grund¬
luft und macht die Menschen krank und zur Aufnahme dos
V irus^ geeignet. In hohem Grade disponierend wirkt dabei noch
die Kanalisation mit. Es wäre bestechend, sich mit dieser Er¬
klärung zufrieden zu geben, wenn jene Prämissen richtig und
durch einen einzigen Beweis gestützt wären; denn dann wären
die großen Ausgaben für neue Wasserwerke und Reinigungs¬
verfahren unnötig gewesen und die verantwortlichen Beamten
der Stadt hätten mit Seelenruhe auf die allmähliche Assanierung
des Bodens nach der geschehenen Kanalisation warten können.
Daß sie es nicht getan, sondern mit Nachdruck auf die Be¬
schaffung eines einwandfreien Tränkwassers. gedrungen haben,
hat schon bisher seine guten Früchte getragen und dürfte wohl
auch den wenigen Verfechtern der alten Theorie21) 22) 23) nicht
überflüssig erscheinen.
Jene Anschauungein über den autochthonen Ursprung des
Typhus, seine Abhängigkeit von zeitlichem und örtlichen Ein¬
flüssen, sowie die scheinbaren Beziehungen zwischen Grund-
waisser, Bodenbeschaffenheit und T y p hus freeprenz , 240 die wohl in
vielen Städten unterstützend und verstärkend einwirken können,
müssen auch in unserem lalle der Erkenntnis weichen, daß die
Quelle der Epidemien der typhuskranke Mensch war, dessen
virulente Keime in ungeheuren Mengen, einmal oder wiederholt,
in ein allen Menschen zugängliches Vehikel gelangten und in
wenigen Wochen explosionsartig 1 bis 2°/o der Bevölkerung ver¬
güteten. Ein solches Vehikel kann nur das Trinkwässer sein.
In der Kette der vorgetragenen Beweise fehlt eigentlich nur für
1905 ein einziger Schlußstein : Das Fehlen einer Typhuserkrankung
in Resinar.
Aber aus dem Mangel einer Meldung oder Anzeige folgt
nicht, daß in Resinar kein. Typhus war, ja wir brauchen über¬
haupt keinen wahrhaftigem Typhus einzu sch m n g g e 1 n, es genügt
ein einziger Bazillenausscheider, der ewig verborgen bleiben kann.
Auch daß lyphnsbazillen im Wasser niemals gefunden worden
sind, hat bei der Schwierigkeit des Nachweises und bei der
langen Inkuba tiomsdauer des Typhus keine Bedeutung.
Fassen wir alle Momente noch einmal zusammen, so finden
wir, daß im Verlaufe von fünf Jahren eine kleinere, prämoni-
torischo und zwei größere explosive Epidemien auftreten, die sich
zeitlich an die Erweiterung einer Wassergewinmmgsanlage an¬
schließen, bei welcher Gelegenheit die Filtrationsfähigkeit der
Bodenschichten so gestört wird, daß mangelhaft filtriertes Ober¬
flächenwasser in das Leitungssystem eindringt. Ob schon- die
erste Epidemie diesem Umstande die Entstehung' verdankt, ist
fraglich, die geringe Erkrankungsziffer, die hohe Mortalität, das
Befallensein vorwiegend der Wohlhabenden, vorausgehende Ty¬
phusfälle in einer Milch liefernden Gemeinde, endlich die Er¬
krankung von acht Kindern, die durch den Genuß von Leb¬
kuchen einer bestimmten Provenienz Typhus bekamen, lassen
die Vermutung zu, daß sie auf dem Wege der Milch, Butter oder an¬
derer Nahrungsmittel, durch chronische Keimträger, entstan¬
den ist.
Mit der Behauptung aber, daß die Epidemien von 1905
und 1908/1909 hydrisehen Ursprungs seien1, steht, in Einklang
die Verteilung der Falle, indem die näher der Einbfuchspforte
des Wassers und der Seuche gelegenen Stadtteile stärker be¬
fallen sind, als die periphenvärts gelegenem. Denn das mit Typhus¬
keimen beladene Wasser wird die näher gelegenen Stadtteile
stärker infizieren, da. die im Wasser suspendierten' korpusku¬
laren Elemente nicht, so sehr mit dent zentralen Wasserstrom
innerhalb des Hauptleitungsrohres strömen, sondern als1 spezifisch
schwerer sich mehr an der Peripherie ansamm'eln werden, wo
die Strömungsgeschwindigkeit verlangsamt ist und von wo das
Abfließen in die Seitenrohre erfolgt. Und weiters steht damit in
Einklang, daß jener Stadtteil, der 1905 nur einige wenige An¬
schlüsse an das Leitungsnetz hat, die CiMnVorstädie, die we¬
nigsten Erkrankungen aufweist, im Jahre 1908/1909 aber, wo
'solcher Anschlüsse schon bedeutend mehr sind, auch relativ'
stärker befallen ist.
Aus der Fülle der gut beobachteten, durch infiziertes Trink-
wasser entstandenen Typhusepidemien , von denen die meisten
von Prof. A. Gärtner geschildert worden sind,25) möchte ich
zum Schlüsse eine in Altwasser in Schlesien beobachtete kurz
berVor heben. Bei der Reparatur und Vergrößerung einer Wasser¬
leitung kommen sechs Arbeiter in länger dauernde Berührung
mit dem Filter und dem Sam'melbassin ; zwölf Tage nach der
ersten Wiederboi i ii I zu ng erkrankt ein Einwohner an Typhus und
im Verlauf von weiteren 14 Tagen täglich zuerst 20, dann 30,
zuletzt 54, im ganzen 300 hei einer Einwohnerzahl von 17.000.
Fs erkranken fast, nur solehe Personen, deren Häuser an diesen
Teil der Wasserleitung angesehlossen sind, meist Kinder und
882
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
junge Leute bis zu 30 Jahren. Nach Desinfektion der Leitung
hören die Massenerkrankungen auf und es schließen sich etwa
100 Kontaktfälle an. Klingt das nicht wie ein getreuer Ab¬
klatsch unserer eigenen traurigem Erlebnisse?
IV.
In großen Zügen sollen in diesem letzten Abschnitt noch
jene Maßnahmen besprochen werden, die zur Bekämpfung der
Typhusepidemien und zur Verhütung neuer Seuchenausbrüche
von der Stadtverwaltung getroffen wurden.
In erster Linie wurde schon 1905 neben den sonst üblichen
Bekämpfungsmaßnahmen, wie Isolierung, Desinfektion, öffentliche
Reinigung, Aufklärung der Bevölkerung usw., die Verbesserung der
im Scbewista.1© durch den Bau der „neuen Leitung“ ungünstig be¬
einflußten Wassergewinnungsanlage angestrebt, einmal durch Aus¬
schaltung und Ausbetonierung jenes unter dem ßachbeft gele¬
genen Brunnens, dann durch Anbringung eines die ganze Bac'h-
sohle überziehenden Lehmschlages. Ferner wurden die Vorar¬
beiten für die schon seit, längerer Zeit in Aussicht stehende Kana¬
lisation in beschleunigtem Tempo durchgeführt.
In den zwei nächstem Jahren 1906 und 1907 war zwar
Ruhe, aber es drohte unaufhörlich das Gespenst des Typhus,
denn die bakteriologischen Untersuchungen des Wassers1 ergaben
nach jedem Regen eine oft ungeheure Vermehrung der Keime.
Dazu kam, daß man sich bed der in Angriff zu (nehmenden
Kanalisierung der Stadt um neue Wasserbezugsquellen umseben
mußte, da das bisherige Quantum unzureichend war. Eingeholte
Gutachten sprachen sich mit Entschiedenheit gegen eine weitere
Vermehrung der Sammelgalerien im Schewistale aus, ebenso gegen
die Errichtung eines Stauwehres und Filtration des gewonnenen
Wassers; Bohrungen an anderen Orten, zum Beispiel im Cibins-
tale, ergaben qualitativ und quantitativ ungenügendes Wasser.
In diesem Dilemma berief der Stadtmagistrat den Erbauer des
Wasserwerkes Reichenberg, den Bauingenieur Ulrich Huber hu>
her, durch den die genannte Stadt nach vieljährigen vergebr
liehen Bemühungen ein gutes Trinkwasser erlangt hatte. Nach
eingehenden Studien kam der Genannte zu dem erfreulichen and
überraschenden Resultat, daß, was bisher alle Gutachten als
außerhalb des Bereiches der Möglichkeit liegend angenommen
hatten, aus dem naheliegenden Gebirge Hochquellenwasser zu be¬
schaffen sei. Dieses Gebirge gehört zur Urformation und wird
aus Gneis gebildet. Während nun. die herrschende Meinung dahin
ging, daß in solchem Gestein keine wasserführenden Schichten
anzutreffen seien, konnte der Genannte nachweisen, daß die
Schichten dieses Urgebirges sehr steil aufgerichtet, an manchen
Orten sogar auf den Kopf gestellt sind und zwischen den Schichten
Igrobe Klüfte und Verwerfungsspalten sich befinden, die dem
gebirgsbildenden Druck, also der Zusammenziehung der Erde ihre
Entstehung verdanken. Dadurch, daß das an der Oberfläche be¬
findliche Wasser zwischen die Schichtenköpfe einsickert, ent¬
stehen im Innern des Gesteins Wasseransammlungen , die sich
fortgesetzt vergrößern und endlich an einer günstigen Stelle als
kontinuierliche Quelle zutage treten. Da es aber meist kleinere
Quellen sind, bedarf es, um eine größere Ergiebigkeit zu schaffen,
der Zusammenfassung vieler. Von diesen Quellenfassungen, die
je nach der Natur des angeschnittenen Untergrundes verschieden
gebaut sind, werden die Ableitungsrohre in einen Sammeltopf
geleitet und von hier nach Passierutig eines Druckunterbrechungs-
Schachtes in das Wasserwerk. Gegen den Nachteil der abnormen
Weichheit und den faden Geschmack, den ein solches Wasser
hat, wird noch eine Durchlüftungsanlage notwendig, in der das
Wasser in dünner Schichte über Z s c h okk e sehe Holzhordeb
herabrieselt, wodurch es mit der Luft durch längere Zeit in
möglichst innige Berührung gebracht wird.
Auf der Grundlage dieses Projektes wird unter dem Ein¬
drücke der Epidemie von 1908/1909 noch in demselben Winter
von der Stadtvertretung die Erbauung der Hochquellen, wasser-
leitung beschlossen und mit dem Bau sofort begonUen. Da aber
zu befürchten stand, daß der Herbst 4909 eine* neue Epidemie
bringen könnte, bis dahin jedoch die Hochquellenleitung fertig
zu stellen unmöglich war, mußten Vorkehrungen getroffen wer¬
den, um das bisherige Trinkwasser unschädlich zu machen.
In dieser Beziehung kamen die verschiedenen, auch sonst
mit Erfolg Verwendeten Reinigungsverfahren in Betracht, in erster
Linie die großen, langsam arbeitenden Sandfilter; da die Zeit
drängte, diese Filteranlagen jedoch zur Erbauung und Erprobung,
lange Zeiträume erfordern, außerdem große Kosten verursachen,
mußte hievon abgesehen werden. Von anderen Reinigungsver¬
fahren boten nur zwei Aussicht auf Erfolg : die Delphinfilter,
die während der letzten Epidemie mit gutem' Erfolg in vielen
Haushaltungen verwendet worden waren und die Ozonisierung.
Die Delphinfilter sind wohl billig und liefern, bei sorgfältiger
Behandlung, das heißt, wenn mindestens alle vier Tage neue
sterile Steine eingesetzt werden, keimfreies Wasser; über Zentral¬
anlagen aber hatte man damals noch keine Erfahrung, so daß
an jedem Auslauf ein selbständiger Filter hätte angebracht werden
müssen, bei freistehenden Ausläufen derselbe überhaupt nicht
wegen Frostgefahr zu verwenden gewesen wäre. Hingegen er¬
schien nach zahlreichen Publikationen, darunter' des Reichsge¬
sundheitsamtes in Berlin, ferner nach mehrjährigen Beobachtungen!
in Paderborn, das Ozonisierungsverfahren für unsere Verhältnisse
erfolgversprechend. Zwar war damals das Verfahren noch wenig
bekannt und eine Stockung in der Errichtung solcher Anlagen
eingetreten, da außer in Paderborn in Deutschland nur noch
Wiesbaden eine Ozonanlage besaß und diese außer Betrieb stand,
da das dortige stark eisenhaltige Grundwasser sich dafür nicht
eignete. Eine Studienreise, die den Verfasser in Gemeinschaft
mit dem städtischen Oberingenieur L at t ebb erg in die beiden
genannten Städte führte, erbrachte die Ueberzeugung, daß das
Ozonverfahren sich für unsere Zwecke recht gut eignen würde
und auch die chemische Beschaffenheit unseres Trinkwassers,
das kaum nennenswerte Beimengungen von Eisen und Chlor¬
natrium hat, kein Hindernis sein würde. Dazu kam die gerade
damals in Paris eingeführte Verbesserung der Technik in Gestalt
der de Fries e schen Türme, von denen man schon gute Resul¬
tate hörte. So entschloß sich denn die Stadt, als Provisorium
bis zur Fertigstellung der Hochquellenleitung eine Ozonanlage
für das bestehende Schewiswasserwerk nach den Plänen von
Siemens & Halske zu erbauen, welche Anlage schon im
August 1909 fertig da stand. Es kann mit freudiger Genugtuung
und dankender Anerkennung der erbauenden Firma berichtet
werden, daß das Werk ohne nennenswerte Störungen bis zum
heutigen Tage tadellos gearbeitet hat, das ozonisierte Wasser
ist fast regelmäßig keimfrei, oder enthält zwei bis vier Keime
und sein Geschmack unterscheidet sich in gar nichts von dem
gewöhnlichen. Dabei ist. die entwickelte Ozonmenge so groß,
daß seit dem Herbst 1910 nicht nur das Scbewiswasser, sondern
auch das der Hochquellenleitung ozonisiert werden kann. Letztere
wurde im Frühjahr 1910 fertiggestellt und da vorläufig nur
20 Sekundenliter von ihr geliefert werden können, sind beide
Wasserwerke ständig nebeneinander im Betrieb. Die Herstellungs¬
kosten des Ozonwerkes betrugen 130.000 Kronen, der Betrieb
erfordert jährlich 7000 Kronen, wobei aber die Kosten
für die umsonst gelieferte elektrische Kraft nicht gerechnet sind.
Trotz dieses Kostenaufwandes ist der Preis für das Wasser in der
Stadt kein sehr hoher, denn ein Hektoliter kostet 4 h.
Seither ist Hermannstadt von einer Typhusepidemie ver¬
schont geblieben, obwohl gerade1 im Herbst des vergangenen
Jahres die klimatischen Verhältnisse neuerlich jenen gefährlichen
Charakter der langdauernden trockenen Wärme mit darauffolgen¬
den Regengüssen annahmen und ängstliche! und ungläubige Ge¬
müter einen neuen Ausbruch der Seuche prophezeiten.
Daß er trotz gewiß vorhandener „zeitlicher und örtlicher
Disposition“, trotz vieler Dauerausscheider und Bazillenträger aus¬
blieb, ist nicht nur ein schöner Erfolg der getroffenen Abwehr¬
maßregeln und eine Genugtuung für die Stadtbehörde und ihre
Beamten, sondern mit ein Beweis ex juväntibus für den hydrischen
Ursprung der Typhusepidemien.
Sollen diese aber dauernd vermieden werden, dann obliegt es
der Verwaltung der Stadt, außer den bisherigen Werken, die
ein einwandfreies Trinkwasser beschaffen, außer der Kanalisa¬
tion, die den Boden reinigt und außer einer modernen Markt-
polizeiordnung, Zentralisation der Kehrichtabfuhr und Straßen-
reinigung noch für eine Neupflasterung, die übrigens schon be¬
schlossene Sache ist, Sorge zu tragen. Denn dann ist den Koch¬
schien Postulaten nach „Reine Straßen, reines Wasser, reine
Häuser und reine Hände“ wenigstens von seiten der Stadt Ge¬
nüge geschehen. Es bliebe höchstens noch zu wünschen übrig
die Schaffung einer bakteriologischen Untersuchungsanstalt nach
dem Muster und dem Arbeitspläne der Laboratorien in Deutsch¬
land, die sich zur Bekämpfung des endemischen Typhus so segens¬
reich bewährt haben.
Literatur.
Es wurden außer der gesamten mir zugänglichen Typhusliteratur
die Berichte, Ausweise und sonstigen Akten der städtischen Behörde, die
Krankenhausberichte des Franz-Joseph-Bürgerspitals und des k. u. k.
Garnisonsspitals Nr. 22, die zahlreichen Gutachten der Sachverständigen,
die Arbeiten über Ozon und endlich folgende im Text erwähnten Publi¬
kationen benützt: ') Schlesinger, Der Wiener Typhus. Wiener klm.
Wocbenschr. 1907, Nr. 17. — ,J) Leliwa, Deutsche med. Wochenschr.
1909, Nr. 32. — 3) Gioseffi, Wiener klin. Wochenschr. 1906, Nr. 3°,
4) Krauß, Wiener klin. Wochenschr. 1909, Nr. 41; 5) Deutsche
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
833
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 13. ») Doerr, Gutachten an
das k. u. k. Reicbskriegsministerium 1906; 7) Zentral!»], f. Bakt., Bd. 45,
Nr. 1; 8) Zentralbl. t. Bakt., Bd. 30, Nr. 8. — 8) Buhl mann, Zentralbl.
f. Bakt., Bd. 38, Nr. 4. — ,0) L e v i d e 1 1 a V i d a, Zentralbl. f. Bakt.,
Bd. 45, Nr. 3: u) Deutsche med. Wochenschr. 1903, Nr. 26; n) Zentralbl.
f. Bakt., Bd. 53, Nr. 5. — l3) Kays er, Typhus in Straßburg, Münchener
med. Wochenschr. 1909, Nr. 22. - u) Mayer, Münchener med.
Wochenschr. 1908, Nr. 34. — l5) Krieger, Archiv f. ö. Gesundheitspfl.
1902, Bd. 20. 1#) Hecker 1909, Typhus im X. Armeekorps. —
■^Scheller 1908. — ls) Silberschmidt, Schweiz. Korrespondenzbl.
1910, Nr. 10. — ia) K o s s e 1-Gießen, Deutsche med. Wochenschr. 1907
Nr. 39. 2U) Galvagno und Calderini, Zeitschr. f. Hygiene’
Bd. 61, Nr. 2. — - 2|) Emmerich und Wolter, Jubiläumsschrift 1 907 -
und \\ o 1 1 e r, Hauptgrundsätze 1910. — ") Mandelba u m, Münchener
med. Wochenschr. 1908. Nr. 1. — ,23) Sticker, Berliner klin. Wochen¬
schritt 1911, Nr. 6. — 24) Brückner, Münchener med. Wochenschr.
1910, Nr. 13. — J5) Klin. Jahrbuch 1902, Bd. 9.
Ernst Fuchs.
(Z u m 14. Juni 1911.)
Von C. Heß, Würzburg.
Am 14. Juni feiert Ernst Fuchs seinen 60. Geburts¬
tag. Die Augenärzte der ganzen Welt, ihnen voraus die
deutscher Zunge, senden ihm ihre herzlichsten Wünsche,
doppelt freudig, da wir sie dem von schmerzhaftem Leiden
Genesenen darbringen können.
Früh begann Fuchs sich die breiten Grundlagen zu
schaffen, auf welchen sein späteres Wirken sich aufbauen
konnte. Noch in seiner Studienzeit bekleidet er die Assi¬
stentenstelle am Innsbrucker physiologischen Institut, nach
seiner Promotion (1874) bildet er sich durch zwei Jahre
als Operationszögling her Billroth aus, bevor er unter
A r 1 1, dessen Schüler er sich mit Stolz nennt, Ophthalmologe
wird. Schon das erste Jahr seiner augenärztlichen Assi¬
stententätigkeit bringt uns seine Erstlingsarbeiten über
Herpes und über Keratitis. Ein Jahr nach seiner Habilita¬
tion wird der Dreißigjährige auf den Lehrstuhl der
Augenheilkunde mach Lüttich berufen; schon vier Jahre
später kehrt er in die Heimat zurück, um Eduard v. Jägers
Nachfolger zu werden.
Klarheit, Ruhe und Wohlwollen scheinen mir die Eigen¬
schaften zu sein, die, im Verein mit nie ermüdender Ar¬
beitsfreudigkeit und Arbeitskraft und einer unbedingten Zu¬
verlässigkeit, Fuchs hier schon über ein Vierteljahr-
hundert zu einem Führer in unserer Kunst gemacht haben.
Es gibt wohl kaum ein Gebiet unserer Disziplin, juit
dem er sich nicht auch durch eigene Untersuchungen ver¬
traut gemacht hätte. Unterstützt von einem glücklichen Ge¬
dächtnisse, weiß er aus der Fülle der von ihm verfolgten
klinischen Einzelbefunde die charakteristischen Merkmale
heran szuheben und festzuhalten; so lehrt er uns eine Reihe
von Krankheitsbildern kennen, die jetzt in der Wissenschaft
seinen Namen führen.
Noch in seine Assistentenzeit fällt die Abfassung des
Buches über das Sarkom des Uvealtraktus (erschienen 1882);
der Lütticher Periode gehört u. a. das Werk über die Ur¬
sachen und Verhütung der Blindheit an, das von der Society
for the prevention of blindness in London preisgekrönt
wurde; seinen physiologischen Neigungen verdanken wir
die Studie über Erythropsie, zu der er sich dasi Selbst¬
beobachtungsmaterial durch sonntägige Wintertouren mit
seinen Assistenten verschafft. In erster Linie richtet er
aber immer wieder sein Streben dahin, das .Ver¬
ständnis der klinischen Krankheitsbilder durch sorg¬
fältigstes pathologisch - anatomisches Studium zu för¬
dern; mit einer seltenen Ausdauer bearbeitet er ein
Material, von seltenem Umfange und bringt so unserer
Wissenschaft immer neue, bedeutsame Aufklärung. Und
unter wie schwierigen äußeren Umständen leistet er so
mühevolle Arbeit! Mit Staunen sieht der Fremde das kleine
Gelaß, das ihm als Laboratorium des Vorstandes der zweiten
Universitäts-Augenklinik gezeigt wird und in dem Fuchs
nach zeitraubender Berufstätigkeit noch Lust und Muße
zu seinen ausgedehnten histologischen Studien findet. Um
den Beziehungen zwischen vorderer Synechie und Druck¬
steigerung nachzugehen, zerlegt er über 70 Augen in mikro¬
skopische Schnitte, die Arbeiten über Entzündung des
Augeninnern; gründen sich auf histologische Durchmusterung
von 200 Augäpfeln, darunter 35 mit sympathisierender
Entzündung, 14 mit sympathischer Reizung und so
fort. Die überraschenden Ergebnisse so umfassender
Untersuchungen haben uns im Verständnis der verwickel¬
ten Fragen nach der Natur der sympathischen Ophthalmie
wesentlich gefördert.
Durch das Studium der krankhaften Störungen des
Sehorganes wird F u c h s wiederholt zu eingehender Analyse
der normalen Verhältnisse geführt und auch dieses oft be¬
arbeitete Gebiet verdankt seiner subtilen Beobachtung wert¬
volle Förderung und Klärung, ich brauche nur an die Unter¬
suchungen über die Iris, die Blut- und Lymphgefäße der
Lider, über die Ansätze der Augenmuskeln und den Verlauf
der Wirbel Venen zu erinnern. Auch sie tragen, wie alle
I uchs sehen Arbeiten, den Stempel größter Gewissen¬
haftigkeit und Zuverlässigkeit ; und indem er den anatomi¬
schen Befund immer aufs neue zu wichtigen klinischen
Krankheitsbildern in Beziehung bringt, versteht er auch
einem an sich vielleicht trockenen Gegenstände Leben und
Interesse zu verleihen.
Es sollen hier nicht die wissenschaftlichen Arbeiten
von Fuchs analysiert werden, die, wie schon diese
wenigen Beispiele zeigen, für die normale Anatomie wie für
die Physiologie des Auges, für die pathologische Histologie
wie für die klinische Augenheilkunde reiche Frucht getragen
haben. Doch sei mit einigen Worten seines Lehrbuches ge¬
dacht., das die Vorzüge, die wir an dessen Autor bewundern,
seine umfassenden Kenntnisse, seine Gründlichkeit bei aller
Vielseitigkeit, sein ungewöhnliches Geschick der Zusammen¬
fassung, in so glänzendem Lichte zeigt. Nie hat ein Lehr¬
buch der Augenheilkunde einen Erfolg gehabt, der mit
jenem des Fuchs sehen verglichen werden könnte,1) und
er darf stolz darauf sein, daß der gute Klang, den sein
Name nicht unter den Ophthalmologen allein hat, sondern
überall in der ärztlichen Welt, nicht zuletzt von diesem
Werke ausgeht, das uns viel mehr ist, als ein Lehrbuch
im gewöhnlichen Sinne. Welch ein Reichtum von Tat¬
sachen und eigenen Beobachtungen ist darin zusammen¬
getragen, wie geschickt die rechte Mitte zwischen erschwe¬
render Kürze und lästiger Breite gefunden. Nie lehrhaft,
belehrt es, indem es unterhält. Mit klarem, praktischem
Verstände ist aus der Fülle dessen, was mitgeteilt werden
konnte, gerade das gewählt, was für den Arzt das Wesent¬
liche und Wichtige, daher auch das Interessante ist. Ueber-
all steht die unbefangene Schilderung der Tatsachen im
Vordergründe, mit vorbildlicher Zurückhaltung ist auf das
Betonen persönlicher Anschauungen in strittigen Fragen
verzichtet. Jedes einzelne Kapitel ist behandelt, als wäre
es des Autors Lieblingsgebiet und doch erscheint das Ganze
harmonisch, wie aus einem Gusse gearbeitet. Und wenn
uns die letzthin erschienene zwölfte Auflage noch als
ebenso modernes Buch entgegen tritt, wie die erste vor
21 Jahren, so ist das nicht allein auf Rechnung der Ge¬
wissenhaftigkeit zu setzen, mit der Fuchs alles Neue in
unserer Disziplin aufnimmt und verarbeitet, sondern eben¬
so sehr auf Rechnung der erwähnten Vorzüge in der An¬
lage des ganzen Werkes.
Diese Empfänglichkeit für Neues, für alles, was einen
Fortschritt in unserer Kunst bedeuten kann, gibt auch der
Arbeit in der Fnchs.schen Klinik das Gepräge. Jeder¬
zeit ist er bereit, Vorschläge für neue Operationen, neue
Behandlungsweisen vorurteilsfrei zu prüfen und freudig er¬
kennt er dabei fremdes Verdienst an.
Mit seinem Namen sind verschiedene- wertvolle neue
Operationsmethoden verknüpft, von welchen hier nur die
Transfixion der Iris, die Keratoplastik für ektatische Horn-
*) In 21 Jahren hat es 12 Auflagen in deutscher Sprache erlebt.
Es ist in die Sprachen aller Kulturvölker übersetzt; die englische Ueber-
setzung ist bereits in dritter Auflage erschienen.
834
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
liautnarben und ein Verfahren der Tarsorhaphie angeführt
seien. Seine reiche Erfahrung, seine Ruhe, seine gründliche
chirurgische Schulung machen ihn zu einem Meister auch
in der operativen Augenheilkunde.
Wer mit F uclis beruflich in Berührung kommt, hat
bald die wohltuende Empfindung, die nur das Gefühl begrün¬
deten Vertrauens in uns weckt. Das gleiche Vertrauen
bringen ihm seine Kranken entgegen; immer wieder hören
wir die Art rühmen, in der er sich ihrer annimmt. Die
Gefahr, daß bei einem „interessanten Fall“ der Forscher
den Arzt in den Hintergrund drängen könnte, besteht hier
nicht; das Wohl des Kranken geht stets über alle anderen
Interessen.
Eine so glückliche Verbindung seltener Gaben des
Geistes und Herzens macht Fuchs auch zu einem hervor¬
ragenden und geliebten Lehrer. Und es ist nicht die aka¬
demische Jugend allein, die ihm herzliche Verehrung ent¬
gegenbringt; für nicht Wenige ist der persönliche Eindruck,
den sie in ihrer Studienzeit von Fuchs erhielten, be^
stimmend gewesen, sich ganz der Augenheilkunde zu wid¬
men und groß ist die Zahl derer, die, nicht in österreichi¬
schen Landen allein, freudig sich zur F u c h s sehen Schule¬
bekennen und gerne die Beziehungen pflegein, die an der
Wiener Klinik geknüpft wurden.
So vielem Ernste und so redlicher Tüchtigkeit fehlt
es nicht an äußeren Auszeichnungen; aber ich glaube, es
wäre nicht im Sinne unseres Jubilars, wollten wir sie hier
aufzählen; und dem1 Bilde, das wir uns von ihm machen,
können sie nichts hinzufügen.
Mit unseren Glückwünschen und mit unserem Danke
geben wir heute der Hoffnung Ausdruck, daß, Ernst Fuchs
uns und unserer Kunst noch lange sein möge, was er
bisher gewesen ist.
Referate.
Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.
Akademische Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Döllken.
Leipzig 1911, Veit & Co.
In ansprechender Form führt der Autor die Entwicklung
der großen Hirnprobleme, von der ältesten Zeit her, vor Augen,
wobei er in erster Linie den höchsten Funktionen des Gehirns,
den psychischen Erscheinungen, seine Aufmerksamkeit widmet.
Die verschiedenen Namen, denen die Hirnlehre große Fortschritte
verdankt, ziehen in seinen Auseinandersetzungen an uns vor¬
bei; vielleicht hätten Reil und Flourens auch kurze Er¬
wähnung verdient. Der Autor stellt sich ganz auf den Standpunkt
Flechsigs; dies prägt sich schon darin aus, wie er gewisser¬
maßen eine Rahmenerzählung liefert. Anfangs sagt er, daß
Alkmai on bereits scharf die bewußten Empfindungen von der
Intelligenz trennte; damit habe er das größte Problem unserer
Zeit vorausgeahnt, doch habe der Gedanke 2000 Jahre geschlum¬
mert, bis Flechsig ihn 1894 aus klaren anatomischen und
physiologischen Grundlagen heraus zu einem wirklichen Leben
gebracht hat. Ganz ähnlich lautet der Schlußsatz dieses lesens¬
werten und anregenden Vortrages. Obersteiner.
*
Chemie und Biochemie der Lipoide.
Von Dr. Ivan Baug, o. Professor der medizinischen und physiologischen
Chemie an der Universität Lund.
187 Seiten.
Wiesbaden 1911, Verlag von J. F. Bergmann.
Die physiologische Chemie der Lipoide ist so verwickelt, die
biologische Deutung der bedeutsamen Rolle, welche diese Substanzen
bei den Immunisierungsvorgängen im Organismus spielen, so
schwierig, daß man Ivar Bang, welcher selbst regen Anteil an der
Entwicklung dieser Seite der biologischen Wissenschaften genommen
hat, nur Dank dahin wissen kann, daß er diese spröde Materie in
Gestalt einer Monographie bearbeitet hat. Dieselbe basiert auf zwei
Aufsätzen, die der Autor schon früher in den von Asher und
Spiro herausgegebenen »Ergebnissen der Physiologie« veröffent¬
licht hatte und zerfällt in zwei Hauptschnitte. Der erste davon be¬
handelt die Fette, Cholesterine, Phosphatide und Zere¬
broside; der zweite handelt von der biochemischen Bedeu¬
tung der einzelnen Lipoidstoffe; es ist darin von den
Lipoiden als Enzymaktivatoren und -kinasen, als Giften, Hämoly¬
sinen, Hemmungskörpern und Antigenen ausführlich die Bede. Die
Klarheit und Uebersichtlichkeit, mit der dieser schwierige Gegen¬
stand, der seit der Einführung der VV asse rm an n sehen Reaktion
auch in weiteren ärztlichen Kreisen viele Interessenten gefunden
hat, behandelt wird, muß rühmend hervorgehoben werden.
*
Dynamische Biochemie. Chemie der Lebensvorgänge.
Von I)r. Siegmuud Frankel, a. 0. Professor für medizinische Chemie
an der Wienei; Universität.
600 Seiten.
Wiesbaden 1911, Verlag von J. F. Bergmann.
Das vorliegende Bach ist als der zweite Teil eines das Ge-
samtgebiet der physiologischen Chemie behandelnden Werkes gedacht,
dessen erster Teil unter dem Titel »Deskriptive Biochemie
mit besonderer Berücksichtigung der chemischen
Arbeitsmethoden« im Jahre 1907 erschienen ist. »Was der
physiologischen Chemie am meisten fehlt«, schrieb damals der Autor
in der Vorrede, »ist gleichsam eine chemische Anatomie der Ge¬
webe, insbesondere aber eine chemische Histologie. In den letzten
Jahren hat aber das planmäßige Studium der physiologisch wich¬
tigen Substanzen so überraschend große Fortschritte gemacht, daß
es für eine Darstellung der physiologischen Chemie zweckmäßig ist,
diese Disziplin in einen chemisch-anatomischen und chemisch¬
physiologischen, resp. einen statischen und einen dynamischen Teil
zu trennen. Dieser Versuch wird in dein vorliegenden Werke unter¬
nommen « .
Die »dynamische Biochemie« behandelt nun die Ver¬
änderungen, welche die physiologisch wichtigen Substanzen im Or¬
ganismus erfahren.
Nach einem kurzen allgemein gehaltenen Abschnitte über
physikalisch-chemische Vorgänge werden die speziellen
chemischen Umsetzungen im Organismus, der Abbau der
Kohlehydrate, Fette und Eiweißkörper sowie ihrer Bruchstücke und
die synthetischen Vorgänge in eingehender und sachkundiger Weise
behandelt.
Der Abschnitt über Fermente gibt eine Uebersicht der
neueren Entwicklung der Kinetik enzymatischen Reaktionen und der
Theorien über das Wesen der Fermenle. Es folgen dann die aus¬
führlichen Abschnitte Uber Verdauung, Assimilation, Stoff¬
wechsel und die Leberfunktion. Die Kapitel, welche von der
Schilddrüse, den Nebennieren, Muskeln, dem Nerven¬
system, der Nervo nfunktion und dem Knochensystem
handeln, sind sehr knapp gehalten.
Eingehender wird wiederum die physiologische Chemie der
Sexualorgane, ferner beim Kapitel »Blut« die Lehre von der
Gerinnung behandelt.
Eine kurze Erörterung der wichtigsten Ergebnisse der
Immunochemie schließt das Werk ab, das, in seinem ersten
Teile als Nachschlagebuch gedacht, in seinem zweiten Teile das um¬
fassende Wissen des Autors in lesbarer Form zum Ausdrucke bringt
und auch dem Fachmanne mannigfache schätzenswerte Anregungen
bietet. 0. v. Fürth.
*
Handbuch der zpeziellen Chirurgie des Ohres und der
oberen Luftwege.
Herausgegeben von Dr. L. Katz, H. Preysiug und Dr. F. Blumenfeld.
Würzburg, Curt K a b i t z s c h.
Lieferung 1/2.
I. Topographische Anatomie des Kopfes exklusive Nasenhöhle uud
Gehörorganes.
Von Dr. J. Sobotta.
Bisher liegt die erste Doppellieferung des viel verspre¬
chenden Werkes vor, die mit mustergültigen topographischen Ab¬
bildungen versehen ist.
Sobotta behandelt eingehend die Anatomie des Schä¬
dels. ln dem Abschnitte über topographische Anatomie sind die
Bedürfnisse des Oto- und Rh Biologen nach jeder Richtung hin
berücksichtigt.
Eine eingehendere Besprechung wird nach Erscheinen des
folgenden Heftes erfolgen. Alexander.
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
835
Neue Wege und Ziele für die Weiterentwicklung der
Sing- und Sprechetimme.
Von G. Wir/, Köln.
Auf Grund wissenschaftlicher Versuche mit Lauten, 1910.
80 Seiten.
Selbstverlag.
Der Verf. geht vorerst den Gründen nach, weshalb die Laute
oft schlecht klingen und will dann auf Grund von Versuchen
mit den Organen, welche an der Bildung der Sing- und Sprech¬
stimme beteiligt sind, eine verbesserte Bildungsmöglichkeit der
Laute anbahnen. Diese Versuche sind, wie er sagt, mit sehr
einfachen Mitteln gemacht, um eine Nachprüfung in weiteren
Kreisen zu ermöglichen. Der Verf. stellt Untersuchungen mit
den genaueren wissenschaftlichen Methoden“ in Aussicht und
wir sehen denselben mit Spannung entgegen.
Der Autor hebt die genugsam bekannte Tatsache hervor
daß zwischen der wissenschaftlichen Lautlehre und der Kunst
zu sprechen und zu singen, Lücken klaffen, die noch nicht über-
bruckt sind und es ist leider richtig, daß, die Wissenschaft bisher
in die Lehre von der koordinierten Tätigkeit der Stimmorgane
fui künstlerische Zwecke nur wenig Licht gebracht hat. Er unter¬
sucht vorerst die Flüstersprache und kommt zu folgenden
Schlüssen: 1. daß die dunklen Hauptvokale schwerer mit Spreizung
der Lippen, als helle mit Vorstülpung derselben sich bilden
- lassen und 2. daß der Vokalcharakter am reinsten gewahrt wird
wenn viel Luft langsam in die Ansatzhöhlen einzudringen ver¬
mag. Bei der Flüstersprache stellt die Hebung des Gaumensegels
nur eine Mitbewegung dar, hervorgerufen durch die Be weg mm
der benachbarten Organe und ist dieselbe eine Folge des Nichb
geubtseins eines der einzelnen Organe. Er betont die Bedeutung
namentlich des Zungengrundes bei der Lautbildung und geht de¬
tailliert auf die Kontraktion der einzelnen Teile der Zuime bei
den verschiedenen Lauten ein.
Die Angabe der Eigenschaften der Stimme, der Stärke,
er Lage, und der Sonorität (nasale Resonanz), meint er lasse
jede Registerbezeichnung überflüssig erscheinen. Die Bezeich
ming Brust-, Kopf-, Mittelstimme usw. haben gar keinen Sinn,
da man damit keinen feststehenden Begriff verbinden kann Wenn
schon von der Praxis abgesehen werden soll, so sind doch bereits
-wie Ref. hervorheben möchte -auf Grund wissenschaftlicher
experimenteller Untersuchungen Unterschiede im Mechanismus
der verschiedenen Register aufgedeckt und festgestellt worden.
Der Verf. weist dann auf die allerseits betonte Wichtig¬
keit der nasalen Resonanz bei der Tonbildung hin und führt dann
des näheren aus, daß, die Kopfresonanz gesteigert wird 1. durch
Zunahme der Tonstärke, 2. je langsamer die Luft durch die
Ansatzhöhle durchstreicht, 3. je freier die schwingungsfähigen
Teile, die Zähne und der harte Gaumen von jeder Berührung
mit der Zunge und den Lippen gehalten werden und 4. je mehr
die weichen Teile, Lippen, Zunge und Gaumensegel in kontra¬
hiertem Zustande sich befinden. Der Sänger hört bei voller
Ausnützung der nasalen Resonanz den Ton besser und infolge¬
dessen können gewisse Formen von Intonationsstörungen leichter
vermieden werden.
Alles in allem ein lesenswertes und interessant geschriebenes
BüchIein- _ _ L. Rethi.
Äus t/ersehiedenen Zeitsehriften.
574. Ueb'er Fremdkörper im Uterus als Mittel zur
Verhütung de!r Konzeption. Von Dr. Liek in Danzig.
Im Jahre 1909 empfahl Dr. Richter in Waldenburg nach mehr¬
jähriger Erprobung die Einführung zusammengerollter Silkfäden
in den Uterus als „ein unschädliches und einfaches Mittel zur
Verhütung der Konzeption“. Das Silkfädenknäuel wird hoch in
Fundus uteri eingeführt, ein dünner Draht, der die Fäden Zu¬
sammenhalt, in der Höhe des äußeren Muttermundes abgeschnitten.
Die Fäden bleiben ständig, auch während der Menses liegen. Bei
schlaffen, mangelhaft involvierten Uteris rufen die Fäden Blu¬
tungen, bzw. verstärkte Menorrhagien hervor, daher man sie
entfernen müsse; auch frische, entzündliche und schmerzhafte
Prozesse verbieten deren Anwendung. Nach Herausnahme der
Fäden soll der Uterus wieder konzeptionsfahig werden. Der Ver¬
fasser fühlt, aus, daß diese- Fäden eine Endometritis erzeugen
müssen u. zw. eine immerhin erhebliche, wenn sie ausreichen
sollep, das Festhaften des Eies zu verhindern. Schon das wäre
ein großer Nachteil. Er hat aber eine Beobachtung gemacht,
welche zeigt, daß derartige eingelegte Silkfäden auch zu ern¬
steren Erkrankungen führen können. Einer 28 Jahre alten Frau
hatte ein Arzt, da -sie schwächlich und nervös, aber ohne sonstige
organische Erkrankung war, solche Silkfäden nach Richter ein¬
gelegt. Die früher regelmäßigen Menses wurden bald stärker und
schmerzhaft, sie bekam nach Ablauf einiger Monate Leibschmerzen
und Fieber, auch Durchfälle, so daß man in einem Kranken¬
hause an Typhus dachte. Am zehnten Tage der Erkrankung ging
massenhaft Blut und Eiter per rectum ab, wonach sich die
Kranke zu erholen begann. Vier Wochen später sah sie der Ver¬
fasser. Sie führte selbst die Beschwerden auf die Silkfäden zurück.
Verf. fand einen anteflektierten, vergrößerten, weichen Uterus,
reichlich schleimiges, zuweilen sanguinolentes Sekret. Zu beiden
Seiten je einen gänseeigroßen, undeutlich fluktuierenden Tumor
(Pyosalpinx). Mit einer stumpfen Kürette wurde aus dem Uterus
ein Silkfädenknäuel, durch einen dünnen Draht zusammengehalten,
entfernt. Drei Tage später Laparotomie. Zahlreiche Adhäsionen
wurden gelöst, rechte Tube daumendick, prall, mit Eiter gefüllt,
rechtes Ovar zystisch degeneriert; auch linke Tube mit Eiter
gefüllt, das Ovar total vereitert. Alles wurde entfernt. Patientin
genas vollkommen. Hier wurde also durch den Reiz der Silkfäden
zunächst eine heftige Endometritis verursacht, dann kam es
tai einer aufsteigenden Infektion der Eileiter, schließlich zur
schweren - Pelveoperitonitis (linke Adnexe waren tief im Douglas
adhärent). Weder im Sekret der Vagina, der Zervix oder im' Eiter
der resezierten 4 üben konnten Gonokokken nachgewiesen werden.
Vielleicht wären diese schweren Komplikationen vermieden
worden, wenn man die Fäden beim Einsetzen endometritischer
Symptome entfernt hätte, Richter selbst empfiehlt auch regel¬
mäßige Kontrolle in halb- bis ganzjährigen Pausen; die Frauen
gehen aber nicht zum Arzte, sie nehmen stärkere Blutungen und
Schmerzen bei den Menses mit in den Kauf, wenn nur die Kon¬
zeption verhütet wird. Wenn sie zum Arzte gehen, so sind schon
schwere, oft genug irreparable Schäden vorhanden. Die Fäden
gehen nach Richter gelegentlich auch spontan während einer
Metrorrhagie ab, aber Arzt und Patientin wissen nicht sicher,
ob die Fäden noch im Uterus sind. Die Methode gibt also leicht
zu Täuschungen Anlaß, deren Folgen verhängnisvoll werden
können. Eine Methode vollends, die, wie in diesem Falle, an¬
statt die Konzeption vorübergehend zu verhüten, beide Eileiter
und Ovarien einer jungen Frau vernichtete, ist absolut ungeeignet.
Das gilt auch für ähnliche Methoden. So hat Verf. zwei schwere
Endometritiden gesehen, die eine kompliziert durch eine Salpin¬
gitis, hervorgerufen durch silberne Intrauterinstifte, sogenannte
Steriletts (von anderer Seite eingelegt), nach deren Entfernung
die Kranken genasen. -— (Deutsche medizinische Wochenschrift
1911, Nr. 19.) e. F.
575. Entstehung, Wesen und Behandlung des
Glaukoms. Von Dr. W. Gilbert, Privatdozent und erster Assi¬
stenzarzt der kgl. Universitäts-Augenklinik zu München. Verfasser
sieht das Wesen dies Glaukoms in einer durch nervöse und
angiopathische Einflüsse bedingten Störung der Regulation zwi¬
schen Zu- und Abfluß der intraokulären Flüssigkeit bei rigider
Skeralwandung. Dementsprechend findet er, daß auch heute noch
gar zu oft die Allgemeinbehandlung gegenüber der lokalen The¬
rapie vernachlässigt wird. Es kann nicht genug betont werden,
daß es sich beim Glaukom, besonders bei den entzündlichen
Formen nur ausnahmsweise um ein lokales Leiden handelt. Gich¬
tische und rheumatische Erkrankungen, besonders aber die Skle¬
rose des Gefäßsystems, sind sorgfältigst zu berücksichtigen, da
die verschiedenen Glaukomoperationen, seien sie noch so wirk¬
sam, doch eigentlich nur Palliativoperationen sind, geeignet, den
einzelnen Anfall aber nicht die Disposition zu Glaukom zu be¬
heben. Es kommt also darauf an, die konstitutionellen Momente
zu beseitigen, die erfahrungsgemäß zu Glaukom prädisponieren
und das sind in erster Linie die Erkrankungen des alternden
Gefäßsystems. Daher hat Eversbusch schon seit langem beim
83G
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
Glaukom die Venaesectio geübt und Gilbert empfiehlt diese
ebenfalls angelegen! liehst, ohne damit andere Behandlungsmetho¬
de dts Glaukoms verdrängen zu wollen. Die •Venaesectio stellt
aber nach Gilbert eine wirkungsvolle Bereicherung unseres
therapeutischen Schatzes dar und vermag ProdromaleTScheinun-
ge-n schnell, völlig und dauernd zu beseitigen, vorausgesetzt,
daß im übrigen ein zweckmäßiges Regime, wie Abstinenz, reiz¬
lose blande Diät, Schonung vor körperlicher und geistiger (Über¬
anstrengung eingehalten wird. Die Venaesectio ist ferner neben
den Miotizis sehr wichtig als Vorbereitung für die lridektomie
bei entzündlichem Glaukom mit sehr seichter Kammer, dessen
Operation sich nach Gilberts Erfahrungen entschieden leichter
gestaltet, wenn 12 bis 24 Stunden vorher die Venaesectio vor'aus-
geschickt wird. Ebenfalls zweckmäßig erscheint dir“ Venaesectio
hei hämorrhagischem Glaukom, sowie bei Iritis mit Drucksteige-
i-un-g, wo operative Eingriffe wegen Blutungen sonst untunlich
erscheinen und gerne' einige Zeit hinausgeschoben werden. • —
(Fortschritte der Medizin 1911, 29. Jahrg., Nr. 5.) K. S.
*
576. Derber den Einfluß von Schildclrüsenpreß-
saft auf die Blutgerinnung. Von Priv.-Doz. Dr. P. Mathes
in Graz. Verf. hat bereits vor zwei Jahren in Tierversuchen ge¬
zeigt, daß vorherige Injektion von S chi 1 d ( I rüsenpre ßsa f t die Ka¬
ninchen vor der Wirkung von sonst tödlichen Mengen von Plar
zentapreßsaft schützte. Diese Ver'suchsergolmisse, ferner die Tat¬
sache, daß bei schwangeren Frauen die Schilddrüse regelmäßig
liypertrophiert, weiters die Versuche Langes an Katzen, die
weitere Annahme Von Dientet, daß Störungen in pler Blut¬
gerinnung die Ursache der Eklampsie seien, legten dem Ver¬
fasser die Frage nahe, ob nicht in der Schilddrüse Stolle ent¬
halten seien, die die Blutgerinnung verhindern und dadurch Stö¬
rungen aiußgledchien, die die Anwesenheit der Chorionzotten in
der mütterlichen Bluthahn im ßlutgerinnungsVorgang zweifellos
hervorrufen kann. Eis war nun nach'zu weisen , wie sich der Preß-,
saft der Schilddrüse in dieser Beziehung verhalte. Zur Bestim¬
mung des zeitlichen Ablaufes des Vorganges bediente sich Ver¬
fasser der Methode Bürgers. Die Ausschläge warten so bedeutend,
daß die Methode als hinreichend genau bezeichnet werden kann.
Die hypertrophische, frisch exstirpierte Schilddrüse eineis jugend¬
lichen Individuums wurde ausgepreßt und der! Saft im Verhältnis
von 1:20 und 1:400 mit destilliertem Wasser verdünnt. Von
den Lösungen wurde je ein Tropfen zum Versuch verwendet.
Während ein Tropfen Blutes eines jungen Mädchens in einem
Tropfen destillierten Wassers nach der gewöhnlichen Zeit von
OVa Minuten die ersten Spuren der Gerinnung zeigte-, verursachte
die stärkere Lösung des Kropfpreßsaftes fast momentane, die
schwächere Lösung Gerinnung nach zwei Minuten. Die Versuche
wurden mehrmals mit denselben Resultaten wiederholt. Wenn
also dem Schilddrüsensaft die Fähigkeit eigen ist, Versuchstiere
vor 'den Folgen intravenöser Plazentasaftinjektionen zu schützen,
so kann diese Fähigkeit nicht auf dem Einfluß beruhen, den der
Schilddrüsensaft auf die Blutgerinnung ausübt. Worauf er sonst
beruht, ist Sache der weiteren Untersuchung. — (Münchener
inediz. Wochenschrift 1911, Nr. 19.) G.
577. Zur medikamentösen Theifapio der Flyper-
azidität. Von Dr. B. Roubitschck (Karlsbad), Assistanten
der Poliklinik für Magen- und Darinkrankheiten von Prof. Doktor
Rosenheim und Dr. Kramtet in Berlin. Nach Besprechung der
bisher gegen die Hyperazidität mit mehr minder gutem Erfolge
angewandten Heilmittel berichtet Verf. über das nach dem Vor¬
schläge von A. Schmidt (Halle) und Petri und später auch
von anderen angewandte Wasserstoffsuperoxyd, welches
er am Material der Poliklinik in 35 Fällen von Hyperazidität und
Hypersekretion hinsichtlich seiner Wirkung nachgeprü ft hat. Die
Patienten bekamen zu Anfang der Behandlung ein Probefrüh¬
stück (300 dm3 Tee und eine trockene- Schrippe), wurden nach
einer Stunde ausgehebert, wonach nach F reu n d- T ö p fer die
freie Salzsäure und die Gesamtazidität des Magensaftes bestimmt
wurde. Nun nahmen die Kranken durch drei Tage je 300 cm3
einer V2 Lügen Wasserstoffsuperoxyd-, resp. Perhydrollösung nüch¬
tern und blieben gleichzeitig bei der gewöhnlichen Kost.
Am vierten Tage wurde der Mageninhalt nach Probefrühstück
(ohne Zusatz von H2O2) wieder untersucht. Die Resultate
waren folgende: Reichte man das Wasserstoffsuperoxyd, respek¬
tive das Perhydrol in oberwähnter Weise durch drei Tage und
zeigte sich dann der freie Salzsäurewert, bzw. die Gesamtazidität
nicht merklich vermindert, so versuchte man eine •’/*- bis l°/#ige
Lösung. Gewöhnlich sah man dann nach fünf- bis sechsmaligem
Gebrauche ein starkes Abfallen der Säure werte.. U-eber eine l%ige
Lösung gehe man nicht hinaus, da dann Brechreiz oder Erbrechen
ei »tritt, das sich manchmal auch in jenen Fällen, die auch sonst
erhöhte Reflexe zeigten, schon hei 'der1 V2°/oägen Lösung einstellte.
2. In 80°/o der Iso behandelten Fälle war. ei;n Erfolg zu verzeichnen,
in 20% war diese Behandlung -erfolglos, resp. allein nicht ge¬
nügend, da es sich um Fälle von Flyperazidität handelte, die
mit Hypersekrtetion und Motilitätsstörungen kompliziert waren.
3. Die Kranken blieben bei dreimonatiger Beobachtungsdauer
meist vollkommen bescbwe-rdefrei (Po ly slab' einen Fäll, der
anderthalb Jahre lang ohne Beschwerde war). 4. Die Dauer der
Behandlung betrug im Durchschnitt 14 Tage, nach dieser Zeit
waren die Personen geheilt, resp. gebessert, doch kann man die
Behandlung auch länger ohne Schaden fortsetzen. 5. Das AVasser-
stofl'hyperoxyd wirkt leicht abführend (Schwinden, der hier ge¬
wöhnlich vorkommenden Obstipation). 6.. Das Magnesiuihsuper-
oxyd (Merck), das Hypogan, sowie das Magnodat spalten eben¬
falls, in den Magen eingebracht, Sauerstoff ab, doch wirken diese
festen Präparate unsicherer und viel langsamer als diet wässerige
HäOs-Lösung. 7. In 40% der erfolgreichen Fälle konnte man
erst dann eine, Besserung beobachten, weteni zugleich die Diät
geregelt wurde. Es ist daher das H2Q2 nur als unterstützendes
Mittel der Hyperazidität anzusehen. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1911, Nr. 19.) . E. F-
578. (Aus der IV. medizinischen Abteilung und dem patho-
1 ogisc h-ehe-m isclien Laboratorium der k. k. Rudolf-Stiftung in
Wien.) Lieber Urämie. Von Prof. Friedrich Ober mayor und I
Dr. Hugo Popper. Nach den Untersuchungen Obermayers
und Poppers ist. die Urämie jedenfalls als Vergiftung zu be¬
trachten, hervorgerufen durch Retention von Hambes fand teilten
oder ungenügende Ausscheidung von Stoffwechselprodukten, wo¬
bei es aber nicht sicher ist, daß- eis sich, in jedem vFalle Um:
die gleichen Körper handelt. Eher wäre zu schließen, daß es
verschiedene Körper oder Gruppen solcher sind, womit das oft
wechselnde klinische Bild, die- in jedem einzelnen Falle- wechselnde
Ausscheidungskraft der Niere in UebereinstimPiung stehen. Eines
scheint jedoch charakteristisch für Urämie zu sein, nämlich die
Nachweisbarkeit von Indikan im Blute. Im noribalen Serum!
und sonst bei den verschiedensten Erkrankungen wird Indikan
regelmäßig vermißt, . während eis in dleir überwiegenden Menge-
urämiischer Seren sicher naichgewieis-en werden kann. Indikan-
ämie Spricht also für eine Nierenaffektion im Stadium der Urämie.
Die Anwesenheit noch .anderer aromatischer Substanzen im urämi¬
schen Serum ist. übrigens auch sehr wahrscheinlich. In der über¬
wiegenden Mehrzahl von Urämien ist ferner eine Erhöhung der
molekularen Konzentration und S t i cks t of f rete n ti o n zu finden, in
jedem Falle aber, sofern die Untersuchung nur eine genügend
umfassende ist, eine Retention von Harhbeistandteilon, welche
allerdings nicht immer dieselben sind, erweislich. — (Zeitschrift.
für klinische Medizin, Bd. 72, H. 3 und 4.) K. S.
+
579. (Aus dem medizinisch- chemischen und pharmakologi¬
schen Institut der Universität Bern. — Direktor: Prof. Doktor
E. Bürgi.) Uebor eine neue Methode, dials Salvarsan
nachzu weisen. (Vorläufige Mitteilung.) Von Dr. J. Abel in,
Assistenten des Instituts. Verf. berichtet über eine einfache Me¬
thode, Salvarsan in Körporflüssigk'eSten nachzuweisen. Er hat,
ausgehend von der Formel des D i ox y di afnid oarsen oben z ol s , den
Körper diazotiert und die erhaltene Substanz mit verschiedenen
Phenolen und Naphtholen gekuppelt. Es traten charakteristische
Farbstoffe auf. Die Methode ist sehr empfindlich und auch Lir
den Nachweis des Salvarsans im Urin geeignet. Von den Phenolen
gibt das Rieisorzin die beste Fapbstofftieaktion. Die- Ausführung
der Probe ist folgende: Verwendet werden zwei Lösungen, (“ine
salzsaure Salvarsanlösung und eine alkalisch© 10%ige Resorzin¬
lösung. Eine ganz kleine Menge Salvarsan wird in 2 bis 3 cm
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
837
Wasser gelöst; die gelbe Lösung wird bei Zusatz von drei bis
vier Tropfen verdünnter Salzsäure fast farblos. Man kühlt sie
unter de;- Wasserleitung stark ab, setzt drei bis vier Tropfen
einer VsMdgen Natriumnitritlösung zu, wodurch ein Diazokörper
gebildet wird, der eine sehr lebhafte grünlichgelbe Fluoreszenz
zeigt. Diese '‘Diazolösung des Salvarsans wird nun tropfenweise
in eine mit Natriumkarbonat alkalisch gemachte 10‘Voige llesorzin-
lösung gebracht, wobei ein sehr schöner roter Farbstoff entsteht.
Es ist darauf zu sehen, daß die Lösung stets alkalisch bleibt,
weil freie Mineralsäure die Farbstoffbildung verhindert. Das Salv-
arsan gibt auch mit dem Ehrlich sehen Diazorcagens einen
charakteristischen Farbstoff. Versetzt man nämlich eine Lösung
von Salvarsan mit einer salzsauren Sulfanilsäurelösung und \a-
triumnitrit und gibt einige Tropfen Ammoniak hinzu, so erhält man
eine braunrote Färbung. Dieis ist wohl zu beachten, da Urine von
mit Salvarsan behandelten Patienten dementsprechend die E h r-
lichsche Diazoreaktion in einer nur wenig abweichenden Färben -
nuance geben. Um zu sehen, ob die Harnbestandteilei die Re¬
aktion stören können, hat V-erf. zu 15 dm3 normalen Urins: ein
Körnchen Salvarsan zugesetzt und die Resorzin probe angestellt.
Sie fiel stark positiv aus. Dann wurde der Urin von Patienten,
die Salvarsaninjektionen erhalten haben, untersucht. 7 bis 8 cm3
Urin werden in einem Reagenzglas mit fünf bis sechs Tropfen
verdünnter Salzsäure sauer gemacht und nach dem Abkühlen mit
drei bis vier Tropfen einer V2%igen Natriumnitritlösung ver-
, setzt. Von dieser Lösüng bringt man einige Tropfen in 5 bis
6 ein3 der alkalischen farblosen Resorzinlösung, welche sich, sofort
rot färbt. Die: Färbung ist besonders sdhön, wenn man, ohne
umzuschütteln, das Uringemisch Vorsichtig auf die Resorzinlösung
. schichtet. Urine, die kein Salvarsan enthalten, sowie freie sal¬
petrige Säure, geben nadh der gleichen Methode nur eine Gelb
färbung. Die Methode des Verfassers gestattet auch, die' Aus¬
scheidung Jdes Salvarsans zeitlich zu verfolgen. Schon zwei
Stunden nach der intravenösen Injektion war das Salvarsan im
Urin naebzu weisen. Der Verfasser bemerkt noch, daß das Atoxyl
mit salpetriger Säure diazotiert und mit alkalischer Resorzin¬
lösung gekuppelt, eine Orangefärbüng gibt. Die mit Salvarsan
erhaltene Färb© spielt auch etwas ins Gelbliche; doch ist der
rote Ton vorherrschend. — (Münchener mediz. Wochenschrift
1911, Nr. 19.) (;
&
580. Heilquellenaktivität, physiologische Wir¬
kung und therapeutische Anwendung. Von E. Sommer
in Zürich. Die R ad i umema nation ist in fast allen daraufhin
untersuchten Heilquellen einwandfrei nachgewiesen worden.
Ibermalquellen weisen die höchsten Radioaktivitäts werte auf;
die weniger warmen unter ihnen sind' radioaktiver als die heißen.
Der Emanationsgehalt kann a’m gleichen Orte von Quelle zu
Quelle wechseln. Ein Zusammenhang zwischen Größe des Emä-
nationsgehaltes einer Quelle und dem geologischen Aufbau des
betreffenden Thermalgebietes läßt sich für die meisten Orte ver¬
muten ; die meisten radioaktiven Quellen scheinen aus graniti-
schem Gestein zu entspringen. 1 Salz reiche Mineralquellen zeigen
im allgemeinen keine hohe Radioaktivität; das aktivierende Ema¬
nationsgas löst sich in salzhaltigen Wässern in geringerer Menge
als in salzarmen oder salzfreien. — Die Radiumemänation ist
bezüglich ihrer physiologisch-biologischen Wirkungen noch nicht
genügend bekannt. Indes besitzt sie sicher eine das Wachstum
und den Stoffwechsel verschiedener Mikroorganismen verändernde
(hemmende, schädigende, bakterizide) 'Wirkung, welche zwar; rela¬
tiv schwach ist, aber parallel der* Intensität der1 Radioaktivität
der einzelnen Emanations träger geht. Ferfier führt die Emana¬
tion eine Aktivierung des Pepsins und Pankreatins herbei, sie
paralysiert mehr oder weniger den die EiweißVerdauung heim
inenden Einfluß der Kochsalzthermen. Die eiweißiverdauende Kraft
des Magensaftes wird durch radioaktives Wasser weniger ge¬
hemmt als durch dasselbe Wasser, welches durch Stehenlassen
seine radioaktiven Eigenschaften © ingebüßt hat, Daß) die in der
Atmosphäre enthaltene Emanation zus.amimJen mit den anderen
klinischen Faktoren der Höhenluft therapeutische Erfolge1 erzielen
kann, ist ein bekanntes1 Faktum. Es werden der Emanation rc-
soiptionsbefördernde, zeirteilenid-auflöseiide Eigenschaften zuge¬
schrieben. Der Einfluß auf die Drüsen mit innerer Sekretion
ist, noch wenig aufgeklärt, während Vermehrung der Diurese nach
Emanationsbädern in vielen Fällen schon nach gewieisen worden ist,
Die radioaktiven Bäder wirken aber nicht, durch perkutane Re¬
sorption der Emanation, sondern durch Inhalation; bei Trink¬
kuren. ist ebenfalls die Inhalation der Lufte/manation neben der
Emanationsresorption durch die Schleimhäute des Verdauungs-
traktes in Betracht zu ziehen. Auf jedem Fäll ist die Radium-
eimanatronstheräpie eine wertvolle Bereicherung unseres physio¬
therapeutischen Heilschjatzes. Zwischen Emanationsgehalt und
Heilwirkung besteht ein Kausalnexus'. — (Korrespondenzblatt für
Schweizer Ae-rzte 1911, 41. Jahrg., Nr. 6.) K. S.
581. (Aus der medizinischen Klinik und dem hygienisch-
bakteriologischen Institute der Universität in Erlangen.) Ueber
zelluläre Anaphylaxie. Von Alfred Schi ttenhelm und
Wolfgang Wei char dt. Die auffälligste Form der Zellanaphylaxie
haben die Verfasser im Vorjahre als Enteritis anaphylac¬
tic a beschrieben. Sie sensibilisierten einen Hund mit ungiftigem
Eiweiß (Eiereiweiß, intravenös injiziert) und sahen dann bei
der Reinjektion, die nach geraumer Zeit erfolgte, schwere inte¬
stinal« Erscheinungen (Erbrechen unter Würgen, Stuhl-
drahg, stark blutiger, dünnflüssiger Kot). Die Sektion solcher
Tiere zeigte den Darm angefüllt mit einer blutig-schleimigen
Flüssigkeit, an der Därmsrhleimhaut und in tieferen Schichten
zahlreiche miliare Hämorrhagien, all dies bis in die Pylorus-
g egend hinein, während der Fündus des Magens normales Aus¬
sehen hatte. Abwärts reichte die Affektion bis zur' Analgegend,
der obere Dünndarin und die unteren Partien von der Ileocökal-
k lappe ab waren am stärksten befallen, .allenthalben fanden sich
diphtherische Auflagerungen. Nicht sensibilisierte Hunde,
diei mit großen Mengen (80 cm3 Eierei weißlösung, 50°/oig) injiziert
wurden, zeigten keinerlei pathologische Veränderungen. Die Ver¬
fasser besprechen eingehend diese lokale zelluläre anaphylak¬
tische Reaktion, weisen auf ähnliche Befunde anderer Autoren
hin, ziehen die Erscheinungen bei kutaner Anaphylaxie heran
und beirichten kurz über einen Fall von Wittepep ton- Anaphylaxie.
Em Assistent am Institut bekommt sofort, wenn man ein Gefäß
von Wittepepton nur öffnet, Jucken in der Nalse, später1 heftiges
Nielsen und quälenden Husten, noch ärger beim Aufs'chnupfew
des1 Pulvers, das für andere Personen indifferent ist; strich man
W ittepeptou auf die Haut, so entstand ein roter, juckender1 Fleck.
Solche: Fälle sind zweifellos häufiger als man glaubt, für! manche
Fälle von Asthma besteht sicherlich eine derartige Genese. Im
weiteren besprechen die Verfasser das Heuasthma, welches auf
parenterale Verdauung des Polleneiweiß zurückzuführen ist (Wei¬
ch and t). Da man es hier mit einem der Anaphylaxie zuge¬
hörigen S y mp tom enk omp lex zu tun hat, so ist es1 ausgeschlossen,
daß gegen Heufieber ein ant.itoxisches Heilserum hergestellt
werden kann. Ein gewisser, allerdings1 nicht allzu hochgradiger
Schutz kommt erfahrungsgemäß den Heufieberseris allerdings1 bei
lokaler , Anwendung zu. Die Verfasser betrachten das Heufieher
als eine zelluläre epithelial© Anaphylaxie und erklären daraus
mehrere Erscheinungen, so die Unwirksamkeit, eines in vitro
gebildeten Pollen toxins, daß man Nicht- Heu fieberkranken auf die
Schleimhaut bringt n. a. Schließlich verhallen sich die Zellen
der Bindehäute und des Respirationstraktus in bezug auf die
verdauenden Eigenschaften beim Menschen anders1 als die Dartn-
ziellen dels Hundes, da. es bisher niemals! gelang, durch Versuche
mit, subkutanen Pollenin jektionen (von dem Verfasser teilweise
an sich selbst angestellt) einen normalen Menschen heufieberkrank
zu machen. Das Heufieber ist also ein Ueberolmpfindlichkeits-
prozeß. — (Deutsche medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 19.)
E. F.
*
582. (Aus der medizinischen Klinik der Akademie für prak¬
tische Medizin zu Düsseldorf. - Direktor;: Prof. Dr. A. Hoff¬
mann.) Ueber die luetische A ort|en erkrank ung. Von
Dr. H. Grau. Obwohl die Kenntnis einer syphilitischen Erkran¬
kung detr Aorta schon auf lange Zeit zurfickgeht und das Aneu¬
rysma der Aorta in den meisten Fällen als Symptom und End¬
stadium der luetischen A o r tenerkran ku n,g aufgefaßt wird, so ist
doch bisher die Aortitis selbst viel zu wenig1 Gegenstand der
Beobachtung gewesen. Nach Grau ist aber diese Erkrankung
838
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
in den mittleren Lebensaltern außerordentlich häufig. Freilich
macht die Aortenlues im allgemeinen erst imi Stadium der Dekom-
p c 1 1 ation subjektive Störungen, da sie lange symptomlos ver¬
laufen kann, auch wenn sie gleich nach der Infektion einsetzt.
Die objektive Untersuchung durch die physikalische Diagnostik
liefert nur einige wenige und unsichere S o nderm er'kmal e für den
luetischen Charakter der Aortenerkrankung (relativ kleines1,
wenigstens nicht erheblich vergrößertes Herz selbst bei lueti¬
scher Aorteninsuffizienz; sekundäre Erscheinungen dieser an den
peripheren Gefäßen weniger ausgesprochen als bei anderer Aetio-
logie ; der Habitus des Patienten ähnlich wie bei Mitralfehlern,
jedenfalls auffallend verschieden vom typischen Bilde bei ander-
wärtig begründeter Schlußunfähigkeit der Aortenklappen). Einiger¬
maßen für Aortenlues charakteristisch scheinen psychische Ver¬
wirrtheit mit halluzinatorischen Ideen zu sein. Die W as ser¬
in an rische Syphilisreaktion fällt bei Aortenlues fast stets positiv
aus; doch haben Döhle-Heiller auch bei sicherer Aorten¬
lues negativen Wassermann konstatiert. In nicht zu seltenen Fällen
kommt übrigens Aortenlues kombiniert mit anderweitiger Endo¬
karditis vor. Ist einmal bei einem luetischen Aortenvitiuni Dekom¬
pensation eingetreten, so wird der Verlauf meist rasch ungünstig.
Von Erfolgen einer spezifischen Therapie ist wenig zu sehen,
außer, wenn es gelingt, die Diagnose der luetischen Aorten¬
erkrankung sehr frühzeitig zu stellen. Daher sollten die Spezia¬
listen für 'Geschlechtskrankheiten ihr Augenmerk auch dem Herzen
und der Aorta zuwenden, da die Luetiker zum Internisten ge¬
wöhnlich viel zu spät kommen. — (Zeitschrift für klinische
Medizin, Bd. 72, H. 3 und 4.) K. S.
+
583. (Aus der medizinischen Klinik in Halle a. et. S. —
Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Ad. Schmidt.) Lieber die Wir¬
kung des Chloromorphids auf den Menschen. Von Pri¬
vatdozent Dr. Georg Grund. Das Chloromorphid entsteht als
Zwischenprodukt bei der Gewinnung des Apomorphins aus dem
Morphin. Harnack und Hildebrandt. haben eingehende phar¬
makologische Studien über dasselbe angestellt. Aus denselben
ergibt sich, daß es im Hun-deversuch eine wesentlich stärkere
narkotische Wirkung aufweist, als das Morphin; es kann bis zu
einem gewissen Grade die brechenerregende Wirkung des Apo¬
morphins aufhe-ben. Atemstörungen kaufen zwar vor, aber nicht
in bedenklichem Maße. Auch beim Froschversuch zeigte es die
charakteristischen Eigenschaften des Morphins. Verf. hat nun
auf Veranlassung Harnacks das Präparat beim Menschen ge¬
prüft. Er begann mit dem ß- Chloromorphid in Dosen von 1mg,
die er vorsichtig bis 5 mg, in einzelnen Fällen auch bis 10 mg
steigerte. In 50 Einzelv erstreben bei 15 Patienten, die vergleichs¬
weise auch Morphineinspritzungen erhielten, ergab sich, daß die
narkotische Wirkung gegenüber dem Morphin oft etwas schwächer,
in einer Anzahl Fälle etwa gleichwertig, niemals aber stärker
war. Unangenehme Nebenwirkungen erheblichen Grades wurden
nicht beobachtet. Nur in zwei Fällen trat drei bis vier Tage
nach der Einspritzung von 1 mg ein urtikariaähnliches Exanthem
am ganzen Körper auf. Später verwandte Verf. das »-Präparat.
Mit diesem wurden bis zum Abbruch der Versuche zehn Pa¬
tienten in Dosen von 2 bis 10 mg behandelt. Der Erfolg war zu¬
nächst ein ähnlicher. Die narkotische Wirkung war im ganzen
etwas geringer als beim Morphin und einige Male etwa von der
gleichen Stärke. Bei einigen Patienten leichte Schwind elerschei-
nungen, einmal Erbrechen. Nur bei einem 39jährigen Kutscher,
dessen Krankengeschichte Verf. ausführlich mitteilt, kam es nach
einer Injektion wegen gastrischer Krisen zu Zyanose, voller Be¬
wußtlosigkeit und Asphyxie. Nach Einleitung der künstlichen
Atmung kam der Patient nach 15 Minuten wieder zum Bewußt¬
sein. Es kam also zu einer zentralen Atemlähmung schwersten
Grades. Nach diesem Ereignis hat Verf. jede weitere Anwendung
des Mittels' unterlassen. Harnack hat darauf aufmerksam ge¬
macht, daß ähnliche unangenehme Nebenwirkungen auch beim1
amorphen Apomorphin, bei dem Verunreinigung mit Chloro¬
morphid nachgewiesen ist, Vorkommen. Verf. erklärt zum Schlüsse :
1. Das Chloromorphid hat beim Menschen eine narkotische Wir¬
kung, die hinter derjenigen des Morphins zurückbleibt, jedenfalls
nicht stärker ist als diese. Daneben kommen in besonders prä¬
disponierten Fällen Störungen der Atmung vor, die höchst bedroh--
lieh sein können. Das Mittel ist also zu einer therapeutischen
Verwendung am Menschen ungeeignet. 2. Gewisse mit Atem¬
störung einhergehende Vergiftungen mit Apomorphin, die in der
Literatur bekannt sind, sind wahrscheinlich auf Verunreinigung
mit Chloromorphid zu beziehen. — (Münchener mlediz. Wochen¬
schrift 1911, Nr. 19.) G.
*
584. (Aus der medizinischen Klinik der Universität Halle a. S.
Direktor: Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Adolf Schmidt.) Die Ver¬
dauung und Resorption roher Stärke verschiedener
H e r k u n f t b e- i n o r m a 1 e r und krankhaft veränderter'
Tätigkeit des Magen-Darmkanals. Von Dr. med. L. F o-
fanow (Kasan). Ueber die Verdauung und Resorption roher
Stärke finden sich in der Literatur kaum irgendwelche Angaben,
obwohl bei genauerer Betrachtung unserer Nahrung es gar nicht
so selten vorkommt, daß rohe oder unvollständig gekochte Stärke¬
nahrung genossen wird. Auf Anregung A. Schmidts hin unter¬
nahm nun Fofanow diesbezügliche Untersuchungen mit ver¬
schiedenen Stärkearten, sowohl bei normaler als krankhafter Ver¬
dauungstätigkeit. Er fand, daß bei normaler gesunder Verdauung
rohe Weizen-, Hafer- und Reisstärke in gleicher Weise fast ohne
Rest verdaut werden, daß hingegen rohe Kartoffelstärke 2-5- bis
4mal schlechter ausgenützt werde und das besonders, wenn iso¬
lierte Kartoffelzellen mit erhaltener Zellulosemembran verabreicht,
wfarden. (Darstellung isolierter Kartoffelzellen nach Professor
A. Schmidt.) Bei Hyperazidität des Magensaftes geht die Ver¬
dauung und Resorption jeder Stärkesorte schlechter vor sich, da¬
gegen bei Subazidität besser als unter normalen Verhältnissen.
Obstipation begünstigt bei Subazidität noch die Verdauung und
Resorption der rohen Stärke, Diarrhoe verschlechtert sie. Bei
Gärungsdyspepsie oder Pankreassekretionsstörung ist die Verdau¬
ung roher Stärke in jeder Form stark beeinträchtigt. — (Zeit¬
schrift für klinische Medizin, Bd. 72, HI 3 und 4.) K.S.
*
585. Chronische Darmstase, behandelt mittels
kurzer zirkulärer Umschneidung oder Kolektomie.
Von Harold Chappie in London. Im Jahre 1901 hat Arbuth-
not Lane ein Leiden unter dem Titel der „chronischen Darm¬
stase“ ausführlich beschrieben und dagegen eine Radikalbehand¬
lung in Vorschlag gebracht. Verf. teilt die Resultate mit, welche
bei 50 Fällen, welche er zumeist untersucht, mitoperiert und später
nachuntersucht hat, erzielt wurden. Die Symptome, bedingt durch
chronische Obstipation infolge von Adhäsionen, bestehen in Bauch¬
schmerzen von verschiedener Intensität und variierender Lokali¬
sation, zuweilen so heftig, daß sie den Kranken arbeitsunfähig
und lebensüberdrüssig machen, sodann in den Folgen der chro¬
nischen Verstopfung, die man kurz unter „Autointoxikation“ zu¬
sammenfaßt: Kopfschmerzen, Anfälle von Nausea, Appetitmangel,
Gewichtsverlust, auffallend kalte Hände und Füße, geistige Apathie,
ständiger fauliger Geschmack im Munde, Anfälle von Spannungen
im Leibe, allgemeine Muskelsehmerzen usw. Die hartnäckige Ver¬
stopfung widerstand jeder Behandlung, ein Patient hatte zuweilen
28 Tage lang keine Stuhlentleerung. Der Hauptsitz der Obstruktion
variierte bei verschiedenen Kranken, demgemäß auch die Lage
des Maximums der Empfindlichkeit bei der Palpation. Das Cökum
war in der Regel im Becken und sehr erweitert, in einigen Fällen
war es in der rechten Fossa iliaea fixiert. Das Colon traris-
versuim King unterhalb des Nabelniveaus, sein mittlerer Teil
befand sich im Becken, ebenso war gewöhnlich das Ileum ganz
im Becken. Arbuthnot Lane machte- nun die Laparotomie
und untersuchte die Eingeweide. Nachdem er den tiefsten Punkt
des Verschlusses gefunden hatte, durchtrennte er das Ileum und
pflanzte dessen proximales Ende seitlich in den tiefsten zugäng¬
lichen Teil des Colon ileopelvicum ein. In einzelnen Fällen,
wenn früher der Schmerz besonders heftig gewesen, wurde das
Kolon bis zum Sitze der Anastomose entfernt, indem' man das
Mesokolon stückweise unterband und sodann oberhalb der Liga¬
turen durchschnitt. Nach der Operation wurde- eine lange Oeso-
phagussonde durch den Anus aufwärts geführt und vier bis fünf
Tage lang liegen gelassen. Bei der Operation fand man zu¬
meist schwere Adhäsionen, welche den Darin an die hintere
Rauchwand so anh-efteten, daß er in einem spitzen Winkel ab-
g-ebogen und daneben oft noch um seine Längsachse gedreht war.
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
839
In einzelnen lallen war das Hindernis durch statische Mo¬
mente bedingt. Verf. beschreibt sodann das durch den Eingriff
gebesserte Befinden, das Schwinden der Symptome der Auto¬
intoxikation, das Schwinden, resp. Nachlassen der; Schmerzan-
fallc. Zwei Mißerfolge durch Neubildung von Adhäsionen. Nicht
alle Operierten sind vollkommen gesund geworden, wohl aber
die Mehrzahl derselben, während der Rest ein erträgliches Leben
führte. Verf. beschreibt schließlich in Kürze seine 50 Beobach¬
tungen. In 33 Fällen hat er sich persönlich von der Heilung,
respektive dem Besserbefinden der Operierten überzeugt, in dem
Reste der Fälle durch Berichte der behandelnden Aerzte oder
durch Berichte aus dein Guys Hospital. Vom Juni 1909 bis
Juni 1910 wurden im genannten Spitale 16 Kranke operiert,
von welchen nur einer starb, sieben Tage nach der Operation!
infolge Berstens eines Abszesses der Bauch wand ins Peritoneum!
Verf. bespiicht schließlich die' schweren Folgen einer kontinuier¬
lichen und jahrelangen bakteriellen Infektion seitens der Intestina
(Einfluß auf die Tuberkulose und die Entstehung von Arterio¬
sklerose, den schädigenden Einfluß auf das Herz, Leber und
Nieren usw.) und schließt mit den Worten: Sollte die Zukunft
eine Bestätigung dieser Beobachtungen bringen, so erscheint die
Annahme berechtigt, daß, bis wir nicht andere Mittel zur Hem¬
mung dieser Absorption kennen gelernt haben, die Ileo- KolostonRe
eine der alltäglichsten Operationen sein, wird ! — . (Berliner klinische
Wochenschrift 1911, Nr. 17.) E. F.
*
586. Swedenborg über das Rückenmark. Von M. Neu¬
burger-Wien. Swedenborg hat auf fast allen Gebieten der
Physiologie bahnbrechend gewirkt. Vielen der von ihm vertre¬
tenen Anschauungen, welche erst die jüngste Forschung als zu
Recht bestehend erwiesen hat, merkt man nicht an, daß sie
vor mehr als 100 Jahren ausgesprochen wurden. Swedenborg
hat bereits die höheren psychischen Funktionen und die Wahr¬
nehmung durch die Sinne auf das Hirngrau übertragen. Die
motorischein Zentren werden von ihm schon vielfach korrekt
lokalisiert und die Beziehungen zwischen den Corpora quadri-
gemina und den Augenbewegungen erkannt. Es mehren sich ferner
die Anzeichen, daß Swedenborgs Theorien, die chemische
Aktivität gewisser Gehirnteile betreffend, so der Glandula pitui-
taria, wenigstens zum Teil sich als gerechtfertigt erweisen wer¬
den. Diese Drüse, deren Beziehungen zu höchst wichtigen Funk¬
tionen des Organismus die letzten Jahre deutlich gezeigt haben,
bezeichnet Swedenborg als das chemische Laboratorium des
Gehirnes. Swedenborg hat in die- Funktion des Rückenmarkes
bereits einen sehr tiefen Einblick gehabt. Wir verdanken ihm
die Kenntnis von der relativen Selbständigkeit des Rückenmarkes
gegenüber dem Gehirne, die Erkenntnis von der vermittelnden
Rolle, welche die graue Substanz des Rückenmarkes bei den von
der Gehirnrinde ausgehenden Impulsen spielt. Als Sitz der Tätigkeit
des Rückenmarks wird von Swedenborg die graue Masse,
die den Zentralkanal umgibt, betrachtet. Die segmentäre Teilung
des Rückenmarkes, den Wirbelkörpern entsprechend, ist in Swe¬
denborgs Lehren bereits angedeutet. Danach empfangen die
vorderen Wurzeln der Spinalnerven Fasern vom vorderen Teile
der grauen Substanz des Rückenmarkes, die hinteren Wurzeln
aber werden mit Fasern vom vorderen und hinteren Teile der
grauen Substanz versehen, immer aber von der entgegengesetzten
Seite, so daß eine Kreuzung der Fasern stattfindet. Es muß als
eine höchst bemerkenswerte Erscheinung angesehen werden, daß
Swedenborg ohne die nötigen Hilfsmittel, nur durch die intui¬
tive Kraft seines Geistes, mehrere Fundamentaltatsachen der Ar¬
chitektonik des Rückenmarks erkannt hat, eine Eigenschaft, die
keiner seiner Zeitgenossen besaß. — (Internationaler Sweden¬
borg-Kongreß, London, 4. bis 8. Juli 1910.) sz.
*
587. Der mandschurische Typhus, sein klinisches
Bild und sein Erreger;. Von Prof. S. S. Botkin (St. Peters¬
burg) und Prof. S. S. Simnitzki (Kasan). Auf Grund des Stu¬
diums einzelner Krankheitsfälle sowohl, als auch der epidemischen
Verbreitung des sogenannten mandschurischen Typhus und der
bezüglichen bakteriologischen Untersuchungen stellt diese Ivrank-
beit einen Morbus sui generis dar, wenngleich sie in die Gruppe
der typhösen und verwandten Infektionen gehört. Besonders
charakteristisch für diese Krankheit ist nebst dem plötzlichen
Beginn unter Schüttelfrost die Eruption von kleinen, roseola-
artigen und petechialen F leckchen, die gewöhnlich am dritten
bis vierten Tage reichlich am ganzen Körper auftreten. Was die
anderen klinischen Symptome von seiten des Magendarmkanals,
Milz, Atmungsorgane usw., anbelangt, so sind sie denen des Ab¬
dominaltyphus (ähnlich und bieten nichts Charakteristisches. Die
Prognose quoad vitam et valetudinem cornpletam ist gewöhnlich
eine gute bei rein symptomatischer Therapie. Der Erreger des
mandschurischen Typhus gehört biologisch in die Gruppe der
koh-typhösen Mikroorganismen. Bemerkenswert ist vielleicht noch,
daß der „mandschurische“ Typhus auch in Rußland vorkommt!
— (Zeitschrift für klinische Medizin, Bd. 72, H. 3 und 4.)
K. S.
*
088. Einige wichtige U eher ei ns tim mun gen
zwischen Swedenborg und den modernen Physiolo¬
gen. Von M. Neuburger:- Wien. Swedenborg, der wegen
seiner Universalität mit Recht den Namen des schwedischen
Aristoteles führt, hat die mannigfachsten Berührungspunkte
mit der modernen Physiologie. Das Blut war ilmi nichts weniger
als eine tote Masse. Er wußte nicht allein, daß dasselbe das
Nährmaterial für den Körper mit sich führe, sondern er ahnte
auch seine Beziehungen zur atmosphärischen Luft. Große Bedeu¬
tung schrieb er den chemischen Eigenschaften der Salze im
Blute zu. Man glaubt, irgendein modernes Werk zu lesen, wenn
man in seiner „Oekonomi© des tierischen Königreichs“ von beson¬
deren Eigenschaften des Blutes, je nach dem Organ und je' nach
der Tierart, von Aenderungen desselben unter dem Einfluß des
Alters, des Temperaments usw. liest. Vor der Mitte des 19. Jahr¬
hunderts hatte kein Physiologe so klare Anschauungen über das
Leben des Organismus wie Swedenborg. Er betonte die
wechselseitigen Beziehungen zwischen den Organen, welche gegen¬
wärtig in der Lehre von der inneren Sekretion ihr wissenschaft¬
liches Fundament erhielten. Die Funktion eines Organs wurde
von ihm als abhängig erkannt von der Funktion seiner elemen¬
taren Teile oder wie wir heute sagen, seiner Zellen. Das be¬
merkenswerte Phänomen der spezifischen Ernährung wurde von
ihm nicht auf Zufälligkeiten des vom Herzen in die Organe
dirigierten Blutes, sondern auf die besonderen Gesetze des Zell¬
lebens zurückgeführt. Das Blutserum wird von den Geweben
nach Swedenborg angezogen. Er erkannte die Permeabilität
der tierischen Membranen und die Bedeutung der Leber und
des Pankreas bei der Entgiftung des Körpers. In fast allem,
was Swedenborg schrieb, übertraf er seine Zeitgenossen. Er
war von visionärem Geiste erfüllt und sah vieles voraus, was
erst die modernste Physiologie als ihren sicheren Besitzstand
anerkennt. (Internationaler S w eden bor g- Kongreß, London,
4. bis 8. Juli 1910.) sz
*
* v
589. (Aus der medizinischen Klinik in Marburg.) Behand¬
lung eines Falles von perniziöser Anämie mit Injek¬
tionen polyzythämischen Blutes. Von Dr. E. Walter.
Ein öOjähriger Arbeiter zeigte das charakteristische Blutbild der
perniziösen Anämie : 700.000 bis 900.000 rote Blutkörperchen,
20°/o Hämoglobingehalt, Verminderung der weißen Blutkörperchen
auf 4J00, dann Poikylozytose., deutliche Polychromatophilie, Vor¬
handensein reichlicher, kernhaltiger roter Blutkörperchen, Megalo¬
blasten usw. Der Mann sah leichenblaß aus, hatte starken As¬
zites, großen doppelseitigen Hydrothorax, Oedeme der unteren
Extremitäten, Die Therapie (Eisen und Arsen, letzteres auch sub¬
kutan, Glyzerin per es, Darmspülungen und Darmdesinfizientien)
blieb ohne Einfluß, intravenöse Injektion defibrinierten Blutes
riefen alarmierende Symptome (Atemnot, grobe Unregelmäßig¬
keiten des Pulses) hervor, wurden daher bald sistiert. Nun wur¬
den systematisch intramuskuläre Injektionen mit dem Blute einer
Patientin gemacht, die damals gleichzeitig wegen echter Poly¬
zythämie in Behandlung stand. Diese Kranke hatte elf Millionen
rote Blutkörperchen, 15.000 weiße, 160% Hämoglobin, blaurote
Hautfarbe usw. Man nahm also dieser Kranken anfangs alle fünf,
später alle acht Tage ca. 50 cm3 Blut, defibrinierte und filtrierte
es und injizierte' es dem anämischen Kranken, anfangs 10, später
15 bis 20 cm3 intraglutäal. Nach einigen derartigen Injektionen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
840
besserte sich der Zustand des Kranken, die Oedeme schwanden,
das Blutbild wurde ein besseres. Nach der 14. Injektion (im
ganzen wurden 15 Injektionen gemacht) hatte Pat. ungefähr nor¬
male Blutworte erreicht, 90% Hämoglobin. Er ging nach Hause,
hatte einen Monat später eine interkurrente Krankheit, die ihn
sehr herunterbrachte, kam wieder an die Klinik, woselbst ihm
Arsen und Eisen gereicht wurden, w.onach er sich rasch wieder
vollkommen erholte. Sein Blutbild bietet jetzt normale Zahlen
für rote und weiße Blutkörperchen, bei einem Hämoglobingehalt
von 75%. Verf. möchte aber trotzdem noch nicht von Heilung
sprechen, sondern nur sagen, daß durch diese Injektionen poly¬
zythämischen Blutes bei dem Kranken eine auffällig günstige
Beeinflussung des Krankheitsbildes hervorgerufen wurde*. Bei der
perniziösen Anämie* kommen des öfteren auch weitgehende Re¬
missionen vor; der Grad und die* Dauer der erzielten Besserung
(länger wie drei Vierteljahre) geht aber über das Maß* der üb¬
lichen Remissionen hinaus. Auch ging die Besserung so parallel
mit der Zahl rind Größe* der Injektionen vor sich, daß ein ge¬
wisser Kausalnexus nicht abzuweisen 1st. Wir stellen uns die
Wirkung gewöhnlicher Blutinjektionen bei *Chloros*e und anderen
sekundären Anämien als durch chemische Reizung des röten
Knochenmarkes bedingt vor, in gleicher Weise können wir hier
in dem hyperglobiscben Blute eine besonders starke derartige
Rieizquelle vermuten. — (Medizinische (Klinik 1911, Nr. 19.)
E. F.
*
Aus amerikanischen Zeitschriften.
590. Die Prognose tuberkulöser Läsionen eines
ganzen oder mehr als eines Lappens.. Von J. Walsh.
Tuberkulöse Läsionen, welche* einen Lappten der linken Lunge
betroffen, zeigen gewöhnlich eine bessere* Prognose als Läsionen
derselben Größe in der rechten Lunge. Einei Erklärung hiefür
scheint darin zu liegen, daß große Läsionen linkerseits häufig
sekundär auf treten, nachdem bereits durch eine rechtseitige Affek¬
tion eine gewissei Immunisierung erreicht wurde. Erfahrungs¬
gemäß geben die tuberkulösen Läsionen des linken Oberlappens
dann eine bessere Prognose*, wenn rechterseits ein Spitzenprozeß
ausgeheilt ist. Eine andere* für1 die heisrere Prognose der links¬
seitigen Phthise gegebene Erklärung,: daß die Verziehung des
Herzens und der* großen Gefäße nach rechts bei rechtste i tigern
Prozesse die Prognose* ungünstiger gestalte, erwies sich bei Prüfung
dieser Verhältnisse an Leichen nicht als stichhaltig. — (The
American Journal of the* Medical Science, April 1911.) sz.
*
591. Typhus-Meningitis. Von V. Dawid und F. Spedk.
In unkomplizierten Fällen von Typhus* werden Typhusbazillen
in der Zerebrospinalflüssigkeit nicht gefunden. Typhuspatienten,
welche an den gewöhnlichen nervösen Begleiterscheinungen dieser
Krankheit leiden, wie* starkes* Kopfweih, Delirium usw., erfahren
eine Besserung durch Entnahme von Zerebrospinalflüssigkeit. Bei
Typhuspatienten, welche die klassischen Symptome des Menin¬
gismus zeigen, kann die Zerehrospinalflüsisigkeit nichtsdesto¬
weniger steril sein. Wenn Typhüspatienten meningeal© Symptome,
wie Nackensteife, das Kernig sehe* Zeichen, Konvulsionen, Stra¬
bismus oder unregelmäßige* Pupillen zeigen, soll die Lumbal¬
punktion immer voi genommen und die erhaltene Flüssigkeit bak¬
teriologisch und mikroskopisch untersucht werden. — (The Jour¬
nal of the American Medical Association, 21. März 1911.) sz.
*
592. Primäre* Naht bed subparietaler Nieren¬
ruptur. Von F. Gregory Connell. Sübparietale* Nierenruptur
kommt häufiger vor als nach den Berichten in der Literatur an-
zunehmen wäre. Shock, Verletzung anderer Organe und äußere
Zeichen eines Traumas fehlen häufig. Wenn in der Anamnese
eine Gewalteinwirkung auf das Abdomen angegeben ist, welche
von Rigidität der Baucbdeckten und Hämaturie gefolgt ist, so
genügt dies, um zur Freilegung der Niere zu veranlassen. I, eichte
Verletzungen und komplette Ruptur dien Niere können durch
klinische Zeichen nicht differenziert werden. Eine* ernstei Ver¬
letzung der Niere muß ausgeschlossen werden, hievor man sich
zur sogenannten exspektativen Behandlung ents'chließt. Die Ne¬
phrektomie soll für sehr ausgedehnte Schädigung des Organs
reserviert werden. Konservative Behandlung mit Naht des Organs
ist in der Mehrzahl der Fälle angezeigt. — (The Journal of the
American Medical Association, 25. März 1911.)
*
593. Einige einfache Wahrheiten, Arsen obemz ol
betreffend. \Ton W. Gottheil. Arsenobenzol heilt die Sy¬
philis nicht, obgleich es ihre Symptome mit großer Schnelligkeit
zum Verschwinden bringt und unmittelbarer wirken mag, als
Quecksilber. Es ersetzt das Quecksilber in der Behandlung ge¬
wöhnlicher Fälle* nicht und wenn, es , angewendet wird, soll es
von der gewöhnlichen 0 uecklsilbterm edikation gefolgt sein. Es
ist indiziert: ln Frühfällen, wo es besonders wünschenswert
ist, alle* Symptome so rasch als möglich zu beseitigen, sei, es
aus sozialen Gründen, oder um die Gefahr der Ansteckung zu
vermeiden. Ferner in veralteten oder -gegenüber der Quecksilber-
therapie refraktären Fällen; in Fällen, in denen lebenswichtige
Organe bedroht sind und wo dringende Hilfe nottut; in Fällen,
die* keiner sorgfältigen und systematischen Behandlung ödete Beob¬
achtung unterzogen werden können. Es ist kontraindiziert: In
Fällen, die ernste innere < ) r g a,n v er *i ndte m ngen haben, in Fällen
mit Läsionen irgendeines Augennerven, ferner bei dein, Spätfonnen
der Lueis, wie Tabes und Paralyse. Die beste Methode der An¬
wendung ist die intramuskuläre, wobei klarte Lösungen ange-
wendet werden und der Quadratus lumborum zur Injektion ge¬
wählt, wird. Spitalspflege oder entsprechende Pflege zu Hause
ist notwendig. Das Mittel soll nie an Ambulanten angewendet
werden. — (The International Journal of Surgery, März 1911.)
sz.
*
Aus englischen Zeitschriften.
594. Bemerkungen über die Behandlung .der Sy¬
philis mit D ioxydiamidoarsenohenzol („606“). Von
C. F. Marshall. Es müssen vor allem die Fragen beantwortet
weiden, ob das Arsenobenzol Jod und Quecksilber in der Be¬
handlung der Syphilis zu ersetzen vermag oder, wenn dies nicht
den" Fall ist, als drittes Antisyphilitikuni neben diesen beiden !
Mitteln zu betrachten ist. Von einem Mittel, welches Quecksilber
und Jod aus deir Syphilistherapie verdrängen soll, muß verlangt
werden, daß es den Ausbruch der Allgenieinsymptomte verhindert,
das heißt, abortiv wirkt, auch das Auftreten tertiärer und para-
syphilitischer Läsionen verhindert, außerdem die Manifestationen
der Syphilis rascher und konstanter heilt, als Quecksilber und
Jod, ferner keine toxischen Nebenwirkungen besitzt. Die starke
Wirkung deis Arsenobenzols bei Rekurrensinfektion der Ratten
ließ eine abortive Wirkung bei Syphilis im Sinne der Therapia
sterilisans magna erhoffen. Bisher! ist jedoch noch kein Beweis
dafür erbracht; weder das Negativwe-rden der W as's'ermann-
schen Reaktion, noch das Vorkommen von Reinfektion sind als
sicherer Beweis der1 Ausheilung der primären Infektion zu be¬
trachten. Heber die Verhütung -des Auftretens tertiärer und para-
syphilitischer Läsionen läßt sich bei der Küteze der Beobachtungs-
zeit noch kein Urteil abgeben. Auch hinsichtlich der: Raschheit
und Konstanz der* Wirkung, sowie der Verhütung von Rezidiven
ist das Arsenobenzol den bisher gebräuchlichen antisyphiliti-
schem Mitteln nicht durchaus überlegen. Es kommen Fälle vor,
wo Arsenobenzol rascher wirjet, doch sind dies oberflächliche
Ulzerationen und Plaques, die* auch durch Quecksilber zu rascher
Heilung kommen können. Bei Viszeriajsyphilis, Tabes, Paralyse
und Leukoplakie hat sich das Arsenobenzol als machtlos er¬
wiesen. Das Auftreten von Rezidiven wurde zunächst auf An¬
wendung zu kleiner Dosen zurückgeführt, doch wurden auch
nach den jetzt gebräuchlichen Dosen von 0-6 g Rezidive beob¬
achtet. Aus alldem geht hervor, daß gegenwärtig das Arseno- ,
benzol das Quecksilber in der, Syphilistherapie nicht z,u ersetzen
vermag. Das Arsenobenzol wird auch zur Behandlung gegen
Quecksilber resistenter Fälle empfohlen, doch ist zu bemerken,
daß wirkliche Resistenz gegen Quecksilber selten ist und ver¬
meintliche Resistenz meist auf unrichtiger; Anwendungsweise be¬
ruht. Wie* wichtig der Modus der Anwendung ist, zeigt eine
Beobachtung von tertiärer Syphilis, die* sich gegen Quecksilber
und Jod anscheinend völlig resistent verhielt, aber durch Dar¬
reichung kleiner JodkaJiümdpsen ,in großen Mengen heißen
Wassers zur Heilung kam. Hinsichtlich der toxischen Wirkungen
ist zu bemerken, daß das Arsenobenizol bereits eine Anzahl
Nr. 2H
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
841
von I odesfällen bewirkt hat und die intravenöse Injektion große
Gefahren mit «ich bringt, auch ist die Bildung örtlicher Nekrosen
y.u ei wähnen, ferner das Vorkommen von Nierenreizung; sowie
Beo bat htungen über Sehnervenatrophie» Nach den vorliegendem
Erfahrungen ist das Arseno'hicnzol kein vollwertiger Ersatz des
Quecksilbers; es heilt wohl rasch, aber weder konstant, noch
dauernd bestimmte syphilitisch© Läsionen, besitzt keine abortive
Wirkung, seine Anwendung ist nicht frei von Gefahren, so daß
cs vorläufig nur in Fällen, wo wirkliche Resistenz gegen Otieck-
silber besteht, indiziert erscheinen konnte. (The Lancet, 25. Fe¬
bruar 1911.).
♦
a. e>.
595. Der gastrische Ursprung der Angina pecto¬
ris- 'Von H. Walter V erd on. Die Beobachtung eines Falles,
wo ein schwerer Anfall von Angina pectoris durch Einführung
einer Sonde in die Speiseröhre, wodurch reichliche Ruktus aus
gelöst wurden, behoben wurde, führt zu der Annahme, daß der
Anfall durch abnorme tGasanhäulu ng im Magen ausgelöst wird
und lauf dem Wege des- Reflexes zustande kommt. Dieser Anfalls
typus scheint häufig zu sein und es finden sich bei der Be-
(Schreibung der Anfälle von Angina, pectoris; Magensymptome er¬
wähnt, welche iiii Krankheitsbildo stark herVortreteu. In die
gleiche Kategorie gehören die nicht seltenen Fälle, wo der Tod
im Anfall erfolgt und hei der Obduktion keine Veränderungen an
den Koronararterien gefunden werden.' Eine Beobachtung des
Verfassers zeigte, daß unter bestimmten Bedingungen Gasan¬
häufung im Magen Anfälle aus lösen kann, die sich von typischer
Angina, pectoris nicht unterscheiden lassen. Es ist anzunehmen,
daß die Spannung der Wand des Magens und der: Speiseröhre
auf den PJexujs oesophagealis einwirkt, welcher vom Vagus ge¬
bildet wird und in den auch Sympathikus fasern ein bezogen sind.
Wichtige Sympathikusfasern gehen vom oberen Brustmark aus,
welche zunächst in den Grenzstrang, dann in den hinteren Pul
monalplexus ziehen und 'sich an die vom Vagus gelieferten
Fasern des Plexus pharyngeus anschließen, ln dem mitgeteilten
Falle bestanden während des Anfalles Schmerzen im Gebiete
des zweiten bis vierten Interkostalnerven, deren Wurzeln parallel
mit den zum Plexus oesophageus .ziehenden Fasern verlaufen.
Die Zusammen ziehung der Magen- und Oesophaguswand um die
angehäuften Gase1 löst den zum Anfall führenden Reflexmecha-
nismus aus und 'dle|r Anfall selbst hört auf, wenn die; Magengas©
entweichen. Nach der herrschenden Anschauung ist die Angina
pectoris durch vollständige oder unvollständige, funktionelle oder
mechanische Obstruktion der Koronararterien bedingt. Diese An¬
schauung ist aber nicht durchwegs zutreffend, da bei 50% der
Fälle Veränderungen des Herzens und der Koronararterien fehlen.
Diese Fälle werden durch Annahme eines KraJmpfes> der Koronar¬
arterien erklärt, doch ist es erwiesen, daß eine Kontraktion der
Koronararterien überhaupt durch keinen Reiz aus, gelöst werden
kann. Es, läßt sich, ferner aus größeren Statistiken entnehmen,
daß Erkrankungen der Koronararterien hei Angina pectoris nicht
häufiger gefunden werden, als bei anderen Zirkulationsstörungen ;
auch findet sich der Hinweis, daß unter allen Eingeweidearterien
die Koronararterien am häufigsten erkranken und bei älteren Indi¬
viduen fast ausnahmslos erkrankt sind. Die Beobachtung lehrt
weiter, d,aß die Todesfälle durch Angina pectoris nach dem
60. Lebensjahr stark abnehmen, während die Häufigkeit der Er¬
krankung der Koronararterien zunimmt. Es geht daraus hervor,
daß den Erkrankungen der Koronararterien für die Entstehung
der Anfälle von Angina pectoris überhaupt keine Bedeutung zu¬
kommt, wohl .abler durch die Ernährungsstörung des Myokards
für den letalen- Ausgang des Anfalls. Thrombose und Embolie
der Koronararterien sind nicht Ursache, sondern Folge der Angina
pectoris. Die Anfälle entstehen durch einen gastrischen Reflex
und können durch eine den Magen betreffende Behandlung be¬
seitigt werden. — (Brit. meid. Journ., 18. März 1911.) a. e.
596 . Versuch e ü b e r
turns be i Ra,t t e n un d
Hemmung1 des Tu m'orwachs-
M ä u s eil, n ei b s t © i n e m V o r¬
s c h lag zur Karzinom be: h a n d Tu n g beim Menschen. Von
Helen G. Grün Raum und Albert S. Grünbaum.. Ein Ergebnis
der E h r 1 i chschen Immunitätstheoriei ist der Nachweis von Zyto-
lysimen, das sind Substanzen, welche fremde Zellen zerstören.
Nach Injektion von Zellen einer, fremden Tierart gewinnt das
Serum des injizierten Tieres zytolytische Eigenschaften. In diesem
Sinnt wurden einer Kuh Zellen eines Mammakarzinoms inji¬
ziert, ohne daß jedoch Milch oder Blutserum karzinolytischo
Eigenschaften annahmen. In der Voraussetzung der Bildung von
Schutzs ub'stanzien bei Heren mit. Epitheliom wurde das Serum
einei Stute mit Epitheliom der, Vulva, verschiedenen Krebs¬
kranken,
Es folgte
darunter einer Patientin mit Uteruskarzinom injiziert,
auf jede lokal vorgenommene Injektion eine heftige
Reaktion und das früher inoperable Karzinom nahm operable
Beschaffenheit an, doch wurde hei späteren Injektionen mit dem
Sei um einer anderen Stute mit Epitheliom eine derartige günstige
Wirkung nicht mehr wahrgenommen. Spätere Versuche ergaben
Rückbildung von Rattenkarzinomen nach Injektion des Serums
von Pferden mit Epitheliom, sowie von gesunden Pferden. Eine
weitere Versuchsreihe zeigte, daß eis bei Mäusen und Ratten
nicht möglich ist, gleichzeitig Immunität geigen Kobragift und
gegen neuerliche Einimpfung von Karzinomgewebe zu erzielen;
ebenso gelingt es nicht, nach erfolgreicher Einimpfung von Tu-
morgewehe Immunität gegen Kobragift zu erzielen. Bei Tieren,
wo die Erzielung der Immunität gelang, wurde Rückbildung von
Pumoren, die bereits 1 cm Durchmesser erreicht hatten, erzielt,
ln diesen Fällen ist da,s Vorhandensein von Antikörpern als
Produkt aktiver Immunisierung anzrlnehimen und es ist auch an¬
zunehmen, daß passive Immunisierung mit Antiveninserum ähn¬
liche' V irkungen hervoi bringt. Es wurdet eine Anzahl von Tieren
mit Antiköbragiftserum behandelt und nur in jenen Fällen Rück¬
bildung erzielt, wo der Tumor einen Durchmesser von 1-5 cm
noch nicht überschritten hatte. Der Erfolg scheint von einem
bestimmten Verhältnis zwischen Tum origew i c h t und Körpergewicht
abzuhängen ; aus diesem Grunde ist es bei Versuchen am Menschen
ratsam, die Hauptmasse des Tumbr|s operativ zu entfernen und
gleichzeitig die Behandlung eiri'zuleiten. Es wurden bisher drei
Fälle von »Karzinom mit Injektionen von Kobragift und Anti¬
kob ragiftserum zur Erzielung aktiver und passiver Immünität
behandelt, doch wurde nichts vom Tumor exstirpiert, so daß
diese Fälle nur für; die- Beurteilung der Unschädlichkeit, nicht
aber der Wirksamkeit der Methode geeignet sind. - (The Lancet,
1. April 1911.) a- e.
*
597. Sporotrichosis. Von E. v. Ofenheim. Die als
Sporotrichose bezeiclmete Erkrankung kommt so selten vor, daß
die Mitteilung einzelner Fälle gerechtfertigt erscheint. Die zirka
19jährige Patientin war Vior sechs Jahren wegen Halsdrüsen¬
schwellung operiert worden; nach drei Jahren stellte sich wieder
Halsdiüsen Schwellung ein, welche als Hodgkinsche Krankheit
diagnostiziert und 'mit Röntgenstrahlen erfolglos behandelt wurde.
Die Untersuchung des opsonischen Index machte das Vorhanden¬
sein von Tuberkulose wahrscheinlich und es wurden Tuberkulin¬
injektionen vorgenommen. Seit einigen Monaten bestand auch
eine harte, nicht sehr empfindliche, bei Nacht stärker schmer¬
zende Schwellung' über dem mittleren Drittel des linken Schien¬
beins. Die Diagnose schwankte zwischen Tuberkulose, Gumma
und Osteosarkom, Tuberkulose war mit Rücksicht auf die Erkran¬
kung der Halsdrüsen wahrscheinlich, gegen Gumma sprach die
negative Wassermann sehe Reaktion. Während im weiteren
Verlauf die Halsdrüsenschwellung beträchtlich zurückging, nahm
die Schwellung an der Tibia zu und es stellte sich Fluktuation
ein. Mit der Aspirationsnadel wurden 2 c'm3 Blut entnommen
und verschiedene Nährböden damit geimpft, die direkte' Blutunter¬
suchung ergab ein negatives Resultat. Die Schwellung und
Schmerzhaftigkeit nahm zu und eine neuerliche Aspiration ergab
2 c'm3 einer dicken, dunklen Flüssigkeit, die sich als geronnenes
Blut erwies. Dieses Ergebnis, sowie der Umstand, daß die gegen
die Halsdrüsenschwellung wirksame Tuberkulinbebandlung sich
gegen die Affektion der Tibia als machtlos' erwies, legte den Ge¬
danken an eine maligne Neubildung nahe. Es wurde der Herd
an der Tibia freigelegt und zwei Fisteln nachgewiesen, die in
eine mit halbigelatinöser Substanz erfüllte Höhle führten, die
nicht mit dein Knochenmark kommunizierte. Aus den bei, der
ersten Aspiration beschickten Nährböden gingen hefeartige Kul¬
turen auf, die gleichen Gebilde wurden an den bei der zweiten
Aspiration angelegten Kulturen nachgewiesen. Tochterkulturen
842
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 28
auf zuckerhaltigen Nährböden ergaben nicht die von Hefezellen
gelieferten Gärungsprodukte. Abstriche der Tochterkulturen er- 1
gaben zum Teil ein Myzelinin mit Haufen rundlicher, erythro¬
zytengroßer Sporen. Es kann der beschriebene Fall mit großer
\’v ahrscheinlichkeit den Sporotrichosen zugezählt werden, wenn
auch die Lokalisation im Knochen bisher nicht beschrieben
wurde. Für Sporotrichose sprechen auch in dem mitgeteilten
Falle drei kleine Geschwüre an der Außenfläche des rechten
Oberschenkels, aus denen gleichfalls die charakteristischen Mikro¬
organismen in Reinkultur gezüchtet werden konnten. — (The
Lancet, 11. März 1911.) a. e.
Ungarischer Brief.
Allmählich beginnen die ungarischen Aerzte auch in der
Fliege der äußeren Standesbeziehungen und Lebensart nach dem
bewährten Muster der ausländischen Kollegen zu leben. Früher
immerwährend in das Joch des schweren und verantwortungs¬
vollen Berufes gespannt und sich nie etwas Erholung gönnend,
benützen jetzt unsere Aerzte die alljährlich sich wiederholenden,
nach den Disziplinen sich scheidenden, Kongresse, um nebst
der Erholung des Körpers a,uch die Kenntnisse aufzufrischen.
Am 31. März d. J. traten die Baineologen Ungarns zum
XXI. Landeskongreß zusammen, um im Kreise der Fachgenossen
ihre Erfahrungen auszutauschen und hiebei ereignete es sich
heuer zum ersten Male, daß auch aus dem benachbarten Oester¬
reich eine Abordnung des dortigen „Zenjxal verbandes der Balneo-
logen“ an den Verhandlungen aktiv teilnahm. Ein Ereignis,
dessen soziale und wissenschaftliche Tragweite gewiß hoch ein¬
zuschätzen ist und deshalb raschest auch den Fernstehenden
vermittelt werden soll.
Mehr für die Gesamtheit der praktizierenden Aerzte
Ungarns von Bedeutung wird der anfangs Juni in Budapest ta¬
gende ,,1V. Kongreß der ungarischen Chirurgen“ sein.
Denn wie immer, hat auch diesmal das Präsidium der Vereini¬
gung dafür Sorge getragen, daß sehr wichtige, jeden Arzt inter¬
essierende Fragen der kleinen und der großen Chirurgie zur
Erörterung kommen sollen und daß die Referate den besten
Köpfen, oder was in diesem Falle noch wichtiger ist, den besten
Händen anvertraut werden. In den anberaumtem vier Sitzungen
wird nebst der Vorstellung interessanter Fälle' noch über folgende
Probleme diskutiert werden : 1 . Die B © z i e h u n ;g e n d e r Zucker¬
krankheit zur Chirurgie. 2. Die Beckeneit©runge|n.
3. Die radikale Heilung der Brüche. Ueberdies haben
Prof. Dollinger, Haberern, Fischer, Verebely, Kuzmik,
Chudovszky, Pölya, Makara usw. mehrere die alltägliche
Praxis betreffende Vorträge angemeldet, so daß außer Zweifel auch
die IV. Tagung unserer Chirurgen für die Fortbildung der hier¬
ländischen Aerzte von großem Nutzen sein wird.
Es wird ja erfreulicherweise jetzt immer mehr Gewicht
darauf gelegt, daß sich unsere bereits in der Praxis stehenden
Aerzte von Zeit zu Zeit mit der rastlos vorwärts schreitenden
Medizin ä jour halten können und sollen. Wie im Auslande,
bestehen schon seit dem Jahre 1883 auch in Ungarn sogenannte
„Fortbildungskurse für Aerzte“. Während der bisher ver¬
flossenen 25 Jahre haben an den abgehaltenen 14 Kursen ca. 1000
praktische Aerzte teilgenommen und da sich überdies unter dem
Protektorate der Regierung auch die „Zentralkom mission
für ärztlich^ Fortbildung“ konstituiert hat, so wird die
Fortbildung nunmehr in größerem Ausmaße und mit mehr Um¬
sicht vor sich gehen können. Programmgemäß sollen nicht nur
in Budapest und in Kolozsvär, den zwei Universitätsstädten des
Landes, sondern auch an anderen Orten, wo bedeutende Spitäler,
Heilanstalten und Hebammeninstitute mit lehrreichem Kranken¬
materiale vorhanden sind, derlei Fortbildungskurse abgehalten
werden. Bedauerlich ist nur, daß die gewiß berücksichtigens;-
werten Gebiete der Sozialen Hygiene und Medizin, heuer gar
nicht aufs Tapet gelangen werden, während es schon im Inter¬
esse der öffentlichen Gesundheitspflege und des Arbedterschutzes
dringlich geboten wäre, daß auch diese den praktischen Arzt
sehr interessierenden Fragen erörtert werden. Hoffentlich wird
dieses Versehen schon im nächsten Jahre gutgemacht! Die Kon¬
solidierung und der Aufschwung unserer Arbeiterversicherung
deren grundlegende Reorganisation ich ja in dieser Zeitschrift
bereits dargestellt habe — macht erfreuliche Fortschritte und
berechtigt zu der Hoffnung, daß auch hierzulande die Arbeiter¬
versicherung sich bald als die beste Stütze und Ergänzung im
Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege erweisen wird. Als
lies oh der s erwähnenswert dünkt es uns, daß die General versamm
lung der Landeskasse; beschlußweise ausgesprochen hat, daß fürder¬
hin auch die gewerblichen Krankheiten und Vergif¬
tungen, gleich den Unfällen, entschädigt werden sollen.
Und in logischer Konsequenz dieses Beschlusses, wurde auch
bereits die Errichtung eines „Dispensa ires für Gewerbe¬
krankheiten“ in Budapest beschlossen und die hiezu nötigen
Mittel bewilligt. Dieses Institut wird im Rahmen der Landes¬
kasse errichtet und sollen daselbst wöchentlich dreimal Ordina¬
tionen abgbhalten werden, Sonntag vormittags und an zwei an¬
deren Arbeitstagen in den Abendstunden. Da ferner die Landes¬
kasse gerade 'jetzt auch jihr Ambulatorium zur Unfallunter¬
suchungsstation tmit allen modernen Behelfen der Medizin
(Röntgen, Laboratorium für chemische und bakteriologische Unter¬
suchungen, Photographie, Zander usw.) ausgestaltet, so wird es
gewiß möglich sein, die gewerblich Erkrankten eingehend und
genau untersuchen zu können.
Der jüngst veröffentlichte Jahresbericht der Buda-
p ester Krankenkassa ist wieder sehr reich an interessanten
statistischen Daten. Von diesen soll hier nur jene Tabelle wieder¬
gegeben werden, die auf Grund der Ergebnisse des Jahres 1910,
das durchschnittliche Alter einzelner Berufsangehöriger
veran-
schaulicht. Demzufolge betrug die durchschnittliche
Lebens-
dauer
Jahre
Monat
e Tage
der Männer . . .
41
2
17
der Frauen .
37
2
2
der an Tuberkulose verstorbenen Männer
35
6
17
der an Tuberkulose verstorbenen Frauen
28
6
10
der männlichen Taglöhner .
41
2
13
der weiblichen Taglöhner ......
34
11
9
der an Tuberkulose verstorbenen männ¬
lichen Taglöhner .
39
5
14
der an Tuberkulose verstorbenen weib¬
lichen Taglöhner .
30
9
22
der Schneider . .
32
10
n
der an Tuberkulose verstorbenen Schneider
26
3
20
der Schuster .
33
8
22
der an Tuberkulose verstorbenen Schuster
29
4
15
der Buchdrucker .
35
—
18
der an Tuberkulose verstorbenen Buch¬
drucker .
33
4
4
der Mühlenarbeiter .
48
7
20
der Schmiede .
45
9
11
der Maler und Anstreicher .
40
10
21
der Maurer .
40
—
11
der Kellner .
37
10
3
der Tischler .
36
11
24
Obwohl diese Zahlen nur die Ergebnisse eines einzigen
Jahres beleuchten, so werden sie- dem Fachmanne besser als
langatmige Beschreibungen über die desolaten Verhältnisse der
Budapester Lohnarbeiter aufklären. Wir Nahestehenden können
nur die geradezu unglaubliche und trotz der auf der ganzen Linie
bereits aufgenommenen aktiven Reform noch immer ungemildert
bestehende Wohnungsmisere dafür beschuldigen, daß die Mor-
biditäts- und auch die Mortalitätsbilanz der hauptstädtischen Ar¬
beiterschaft so traurig ist. Und daß wir hiebei auf richtiger
Fährte sind, wird gewiß jedermann zugeben müssen, wenn er
z. B. ebenfalls an Hand des in Rede stehenden Kassenberichtes
liest, daß allein im Berichtsjahre (1910) im Kreise der Kassen¬
mitglieder 24.102 Fälle von Infektionskrankheiten vort-
kamen ! Darunter waren 838 Bauchtyphen, 2685 Skarlatinen und
1043 Diphtheriefälle !
Welche ungeahnte Arbeit die Budapester Krankenkassen¬
ärzte seit Jahren vollbringen, kann nachstehende kleine Stati¬
stik belegen:
Im Jahre 1906 behandelten sie 199 077 Mitglieder und 112.701
Familienangehörige ;
im Jahre 1907 behandelten sie 276.338 Mitglieder und 140.188
Familienangehörige ;
im Jahre 1908 behandelten sie 322.763 Mitglieder und 179.703
Familienangehörige ;
im Jahre 1909 behandelten sie 369.518 Mitglieder und 232.313
Familienangehörige ;
im Jahre 1910 behandelten sie 408.746 Mitglieder und 263.783
Familienangehörige.
Die durchschnittliche tägliche Krankenfrequenz betrug in
den Jahren 1901 bis 1910: 501, 558, 657, 757, 741, 855, 1141,
1372, 1648, 1842. Wem fällt da nicht das schöne Wort E w adds ein.
der in seinem soeben erschienen Buche „Soziale Medizin'' sehr
richtig meint: „Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
843
haben eine Storung in die innigen Beziehungen gebracht die
zwischen Arzt und Patienten bestehen sollten. An die Stelle des
Patienten ist als wirtschaftlicher Vertreter für die weitesten Kreise
unseres Volkes die Krankenkasse getreten. D i e ä r z 1 1 i c h e T ä t i g-
k°i wird Konsumartikel, an die Stelle der ärztlichen
Kunst tritt dafe ärztliche Handwerk!“ Aber ob auch
< as ärztliche Handwerk seinen goldenen Boden hat? Angesichts
der hier herrschenden Verhältnisse ist die Frage immerhin bl
rechtigt. Um so erfreulicher, daß die ungarischen Kassenärzte
trotz alldem unverdrossen und unentwegt ihre besten Kräfte
m den Dienst der Arbeiterversicherung stellen und unbekümmert
um ihr eigenes materielles Interesse stets den Fortschritt fordern -
Von diesem Gesichtspunkte verdient das nachstehende Ereignis'
§*? ,|.,auch den ausländischen Kollegen mitgeteilt werde’
Bekannthhc wütet auch in Ungarn die Zweikampfmanie Um
dieser gesellschaftlichen Rückständigkeit und Tollheit irgomb
'™ den ,Boden 7bzupaben, hat die Fünfkirchener Filiale des
„Landes-Aerzteverbandes“ beschlossen, folgenden Antrag anzu¬
nehmen : „Bei jeder Herausforderung zum Duell, soll zunächst
ein Ehrenrat darüber entscheiden, ob die erfolgte Beleidigung
unbedingt im Wege eines Duells auszutragen oder vor das kom
potente Gericht zu weisen sei. Die Aerzte dürfen nur dann beim
mit dS Waffen Wenn der ?hreTat die unbedingte Austragung
mit den Waffen ausgesprochen hat. Der gemeinsame Kriems-
minister und der Landwehrminister mögen ersucht werden den
Militärärzten aufzutragen, bei den Duellen von Zivilpersonen nur
untei den erwähnten Bedingungen zu assistieren. Bei der An-
P-TrtHen BeIe.idigung beim Ehrengericht haben beide
Parteien je 30 K zu deponieren. Wird die Angelegenheit friedlich
ausgetragen oder werden die Parteien an das Gericht gewiesen
HHfJ? 2a m zu™ck^tattet, während die restlichen,
° 1 (1CnwH1'ififonds des Kindersanatoriumvereines zugeführt
werden. Wird dagegen die Angelegenheit mit den Waffen ausge¬
tragen, so sind die ganzen 60 K dem Hilfsfonds für die Witwen
und minderjährigen Waisen des Aerzteverbandes zuzuführen da¬
gegen wurden die Aerzte unentgeltlich bei den Duellen assistieren “
Budapest, Ende Mai 1911. Dr. Heinrich Pach
f/ermisehte flaehriehten.
Dr. Ferdinand Hochs tetter, Professor der Anatomie in
VVien wurden zum ordentlichen Mitgliede der Kaiserlichen Aka¬
demie der Wissenschaften gewählt. Prof. E. Mets chnik off
m Paris und Prof. J. B. Taylor in Oxford sind zu
Ehrenmitgliedern, Prof. A. Dung in Wien und Professor
-V Weis mann in Freiburg i. B. zu korrespondierenden Mit¬
gliedern gewählt worden.
*
• ,.E, r n an n ^ ’ Ber mb dem Titel eines außerordentlichen TJni-
vcisitatsprofessors bekleidete Privatdozent Dr. Ottomar Völker
zum außerordentlichen Professor der Anatomie an der böhmischen
L mversitat in Prag. — Der Primararzt an der Landesgebäranstalt
in Czernowdz Dr. Oktavian Gheorghian zum Professor der
Geburtshilfe. an der . Hebammenlehranstalt in Czernowitz.
i. ans V\ inters fein an Stelle Prof. Nagels zum ordentlichen
1 rofessor der Physiologie in Rostock.
*
Verliehen: Den Privatdozenten an der böhmischen Uni¬
versität in Prag Dr. Johann Jesensky, Dr. Franz Samberger
J°sef C is Per der Titel eines außerordentlichen Universe
tatsprofessors. — ■ Dem Distriktsarzte Dr. Robert Klein zu Pichl
m Tragöß 'der Titel eines kaiserlichen Rates. — Dem Priva.t-
< ozenten Dr. Samuel Jellinek in Wien die französische De¬
koration eines „Officier d’Academie“. — Dem Privatdozonten
i)r. Erdmann in Rostock der Professortitel.
*
Habilitiert: In Wien: Dr. Otto R. v. Frisch für Chi-
lui’gie, Dr. Robert C ristoLoletti für Geburtshilfe und Gynä¬
kologie, Dr. Bertold Spitzer für Zahnheilkunde und Dr. Robert
Stigler für Physiologie. - — Dr. W. Stepp für innere Medizin
in Gießen. Dr. Walter Telemann für innere Medizin in
Königsberg i. Pr.
*
Gestorben: Geh. Oberregierungsrat Prof. Adolf Schmidt
mann, Kurator der Universität Marburg.
♦
■Die Abhaltung des von der k. k.f österreichischen
Krebsgesellschaft, im Saale der k. k. Gesellschaft der Aerzte,
veranstalteten Vortragsabends, an welchem die Herren Professoren
fler Wiener k. k. tierärztlichen Hochschule, Dr. R. Hartl und
Hr. Tb. Schmidt, unter Demonstration einschlägiger Präparate,
über das Vorkommen der bösartigen Geschwülste bei den Haus¬
tieren sprechen werden, mußte auf Montag den 12. Junii,
( Lar abends, verschoben weiden.
*
ni « A w 26’oMai,d:. faud eine Sitzung des Fachkomitees des
bersten S an,i tatsrates für Angelegenheiten der Bekäm¬
pfung von Infektionskrankheiten, ferner am 27. Mai je eine
bitzung des Fachkomitees für Arzneimittelwesen und des Fach¬
komitees für Bau- und Wohnungshygiene statt. Das Fach¬
komitee tur Angelegenheiten der Bekämpfung von
Infektionskrankheiten nahm folgende Gegenstände in Ver¬
handlung: 1 Gesuch um geschäftsmäßige Vornahme chemisch¬
mikroskopischer Untersuchungen. (Referent: Hofrat Weichsel¬
baum.) 2 Instruktion über Verhaltungsmaßregeln gegenüber in¬
fektiösem Material. (Referenten: Prof. Prausnitz und Landes-
vete r l narreferen t Dr. Anton Greiner.) 3. Entwürfe von Ver¬
ordnungen über Verhütung der Weiterverbreitung ansteckender
Krankheiten durch die Schulen. (Referent: Oberstad tphysikus
Bohm.J 4. Cholera- und Pestmaßnahmen. (Referent: Ministerialrat
v. Haber ler.) 5. Herausgabe einer Choleraanleitung für Aerzte
sowie einer neuen Cholerainstruktion. (Referent: Dr. Altschul.)
Das Fachkomitee für Arzneimittel wesen hat nach¬
stehende Gutachten abgegeben: 1. Vertrieb von Radiumpräparaten
außerhalb der Apotheken. (Referent: Prof. Maut finer) 2 Ver-
kehr nut kosmetischen Mitteln. (Referent: Hofrat Horbaczew-
s k i.) 3. Einreihung eines Desinfektionsmittels unter die offizineilen
Desinfektionsmittel. (Referent: Prof. Mauthner.) 4 Aufnahme
von Desinfektionsmitteln in die neue Giftordnung. (Referenten •
Prof. Mauthner und Prof. Schattenfroh.) — Das Fach¬
komitee für Bau- und Wohnungshygiene hat über fol¬
gende Gegenstände beraten: 1. Entwürfe von Bauordnungen. (Re-
tei eilten : Prof. Schatte nf r o h und Oberbaurat F o 1 z. bzw Ober-
lngemeur Gustav Gelse.) 2. Entwurf eines Gesetzes über Woh¬
nungspflege und Wohnungsaufsicht. (Referent: Hof rat Hue pp©.)
*
. Lnte-i dem Protektorat der deutschen Kaiserin wird in der
/dt vom 11. bis 15. September d. J. im Reichstagsgebäude
zu Berlin der Hl. internationale Kongreß für Säug¬
lings schutiz stattfinden. Anmeldungen als „Mitglied“ oder
„außerordentlicher Teilnehmer“ sind so bald wie möglich an den
Generalsekretär des Kongresses, Prof. Dr. K el le r- Charlottenburg
(Berlin), Mollwitzstraße, zu richten. — Programm für die all¬
gemeine Sitzung am 12. September 1911: 1. Geheimer Medizinal-
rat Prof. Dr. Heubner- Berlin: Physiologie und Pathologie des
Sauglingsalters im Universitätsunterricht. 2. Seb-astien Turquan-
Päns: Historische Entwicklung des Kinderschutzes. 3. Ministerial¬
ly v. Ruf fy- Budapest: Staatlicher Säuglingsschutz. — An den
Kongreß schließt sich ein Besuch der Internationalen Hygiene-
ausstellung in Dresden an, wobei insbesondere die Gruppe VT 11
der wissenschaftlichen Abteilung (Kinder und jugendliche Per¬
sonen) sowie die historische Abteilung besichtigt werden sollen
Mitglied des Kongresses kann jeder werden, Herr oder Dame
der sich wissenschaftlich oder praktisch mit der Säuglings¬
fürsorge beschäftigt. Dem Organisationskomitee steht das Recht
zu, nicht geeignete Personen von der Mitgliedschaft auszuschließen.
Der Mitgliedsbeitrag beträgt 20 M. Angehörige der Kongreßmit-
gliodei, welche die Mitgliedschaft nicht selbst zu erwerben wün-
sehen, sowie Besucher von Hochschulen, werden gegen Zahlung
eines Beitrages von 10 M. zu den Sitzungen und Veranstaltungen
des Kongresses zugelassen, sind aber nicht berechtigt, an der
Diskussion teilzunehmen und haben keinen Anspruch auf die
Drucksachen. Körperschaften, amtliche Stellen und sonstige Or¬
ganisationen für Säuglingsschutz können sich durch einen Ab¬
gesandten auf dem Kongreß vertreten lassen. Der Beitrag ist
auf den Namen des betreffenden Delegierten einzusenden. ” Die
Sitzungen zerfallen in allgemeine und Abteilungssitzungen. All¬
gemeine Sitzungen sind die Eröffnungs- und die Schlußsitzung
Jeder Referent ist verpflichtet, bis zum 1. Juli 1911 die Schlu߬
sätze- seines Referates an den Generalsekretär des Kongresses
einzu-senden, damit diese als Grundlage für die Diskussion den
Teilnehmern rechtzeitig übermittelt werden können. Für die Refe¬
rate- stehen den Referenten höchstens 20 Minuten zur Verfügung.
Die Südbahngesellschaft Wien gewährt eine 20°/oige Ermäßigung
für die Fahrten von österreichischen Südbahnstationen nach Wien,
Leoben und Kufstein für Hin- und Rückfahrt der Schnell- und
Personenzüge erster, zweiter und dritter Klasse, in der Zeit vom
5. bis 20. September 1911. Als Bedingung, gilt, die Rückreise
aul derselben Strecke zurückzulegen. Die Ermäßigungen werden
nur bei Entfernungen über 101 km gewährt. Die Ausstellung der
Blankos erfolgt an den Einsteigstationen auf Grund der Mitglieds¬
karte. Die Blankos müssen von den Reisenden gestempelt werden.
Nr. 23
844 WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Eine einmalige Fahrtunterbrechung ist nach Meldung gestattet.
Wegen Erwirkung 'clor bewilligten Tarifermäßigungen ist ein Gesuch
an den Generalsekretär des österreichischen Komitees zu richten.
♦
Der VII. internationale Kongreß für Kriminal-
anthropologic findet nach dem Beschlüsse des letzten Kon¬
gresses in Turin vom 9. bis 13. Oktober 1911 in Köln a. Rh.
statt. — Auskunft in Kongreßangelegenheiten erteilt Professor
A s c halfen bu rg, Köln-Lindenthal, Stadlwaldgürtel 30, in Aus¬
stellungsangelegenheiten Stabsarzt Dr. Parten heimer, Köln,
Psychiatrische Klinik. Anmeldungen zur Teilnahme sind zu richten
an: Assistenzarzt Dr. Brügge 1 man, Köln, Psychiatrische
Klinik. i
*
Am 30. Mai fand in Prag eine Versammlung der böh¬
mischen Aerzte statt, um die Forderungen der Aerzteschaft
an das neue Parlament zum Ausdrucke zu bringen. Die Forde¬
rungen der Aerzte betreffen die Sozialversicherung, den gesetz¬
lichen Schutz hei Ausübung der ärztlichen Pflichten, die Er¬
lassung einer Aerzteordnung, das Reich sgesetz über die Infek¬
tionskrankheiten und das Sanitätsgesetz. Die Aerzte appellieren
an die zukünftigen Gesetzgeber, diesen in einem besonderen
Referate auseinandergesetzten Forderungen zum Durchbruche zu
verhelfen. Namens des Professorenkollegiums der böhmischen
medizinischen Fakultät erklärte Professor Dr. Srdinko, daß sich
die Professoren diesen Forderungen anschließen und hiezu die
Forderung nach Errichtung einer zweiten böhmischen Universität,
die Forderung nach einer Regelung der materiellen Lage der Lehr¬
personen an den Hochschulen und die Forderung nach Errichtung
eines eigenen selbständigen Ressorts für das Sanitätswesen bei¬
fügen. Dr. Kramaf gab die Versicherung, daß die böhmischen
Abgeordneten die Forderungen der Aerzte unterstützen werden.
*
Am 18. Mai d. .1. wurde die ordentliche Generalversammlung
der Witwen- und Waisen-Sozietät des Wiener' medizinischen Dok-
lorcnkollcgiums unter dem Vorsitze des Präses Regierungsrates
Dr. Hans Adler abgehalten. Der Vorsitzende berichtet, daß zu
Ende des Vorjahres der Personalstand 458 Mitglieder, 198 Wit¬
wen und 3 Waisen betrug. Das Gesamtvermögen des Institutes
beziffert sich mit, 6,294.298 K 57 h. An Pensionen wurden
274.015 K 1 h ausgezahlt, für Ameliorationen der Realitäten
25.676 K 62 h verwendet. Am Schlüsse seines Berichtes1 be¬
merkt der Präses, daß während seines achtjährigen Präsidiums
das Mehrerträgnis der Realitäten am Ende des Jahres 1910
78.417 K betrug. Der durch die vermehrten Einnahmen gehobene
Vermögensstand gestattet dem Präses den berechtigten Antrag
auf Erhöhung der Pensionen für Witwen und Waisen von allen
Mitgliedern, welche bis heute der Sozietät angehörten, von 1400 K
auf 1640 K jährlich, welcher Antrag einstimmig angenommen
wurde. Ferner ist es ihm gelungen, die Geschäftsgebarung ent¬
sprechend einer Versicherungsanstalt umzugestalten und über¬
haupt die Verwaltung der Sozietät derart cinzuriehten, daß ihre
Sicherheit auch für die Zukunft, soweit menschliche Voraussicht
reicht, begründet erscheint. Dieses Ziel, welches ihm immer
vorgeschwebt, sei jetzt nahezu erreicht, weshalb er seine Stelle
niederzulegen entschlossen ist. Er sagt allen Mitarbeitern Dank
für ihre Unterstützung und bittet, ihm ein treues Andenken zu
bewahren. Dieses Andenken wird vyohl am besten gewahrt durch
den Antrag des Ausschusses, daß er in Anerkennung seiner
hohen, ja unvergleichlichen Verdienste, zum , .Ehrenmitglied“ der
Sozietät ernannt werde, was mit allgemeinem Beifall einstimmig
bewilligt wurde. Zum Schlüsse wird zum Präses der Sozietät
nunmehr Regierungsrat Prof. Dr. Bergmeister, zu Vizepräsi¬
denten Hofrat Prof. Dr. Pa 1 tau f und, Priv.- Doz. Prim. Dr. Reifte r
gewühlt. Die Herren DDr. Moritz Bauer und Ludwig Klein
werden zum Kassier, resp. Aktuar, wiedergewählt.
*
Cholera. Oesterreich. Durch die am ,28. Mai d. J.
abends abgeschlossene bakteriologische Untersuchung wurde bei
dem Postal hinkten Anton Franzki in Waltendorf hei Graz
asiatische Cholera festgestellt. Der Genannte erkrankte während
eines achttägigen Urlaubes am 21. Mai in Venedig, angeblich
nach Genuß von Austern und kehrte am 23. Mai nach Graz zurück.
Die Erkrankung kam am 27. Mai zur amtlichen Kenntnis: die
notwendigen Isolienmgsmaßnahmen und sonstigen, Schutzvorkeh¬
rungen wurden sofort getroffen. Anton Franzki ist am 29. Mai,
’41 Uhr mittags, gestorben ; die sanitätspolizeiliche Obduktion
zeigte das charakteristische Bild von asiatischer Cholera. Die
bakteriologische Untersuchung des Darminhaltes hat abermals zu
einem positiven Resultate geführt. — Rußland, ln der Zeit
vom 28. April bis 3. Mai wurden im Gouvernement Cherson
ein Erkrankungsfall an Cholera in Wosnessensk und eine tödliche
Choleraerkrankung in Noworossijsk konstatiert.
Pest. Niederlande. Auf dem Dampfer „Attila" sind
keine weiteren pestverdächtigen Erkrankungen vorgekommen. Der
hei der Ankunft des Dampfers wegen Pestverdacht in das Lazarett
von Liefkenshoek (Doel) transferierte griechische Matrose wird
dort noch weiter in Beobachtung gehalten. Die bakteriologischen
Untersuchungen haben bisher kein bestimmtes Resultat ergehen,
doch sollen die Tierexperimente auf Syhrptome einer „ambu¬
latorischen Pest“ hindeuten. China. In Mukden wurden
am 31. März drei neue Pestfälle, am 12. April eine solche Er¬
krankung angezeigt. Changchun ist seit dem 26. März j testfrei.
Auch aus den übrigen Teilen der Mandschurei lauten die Berichte
so günstig, daß die Epidemie, wenn auch noch sporadische f älle
Vorkommen, doch als erloschen anzusehen ist. Persien. In
Buschir sind vom 21. bis 30. April acht Pesterkrankungen mit
tödlichem Ausgänge vorgekommen. Alle diese Fälle waren Beulen-
pest; sie dürften von der arabischen Küste des persischen Golfes
(El Riad) oder von den Bahreininseln eingeschleppt worden sein.
Arabien. In Maskat (Sultanat Oman) ereigneten sich vom
8. bis 15. April 13, vom 15. bis 22. April 8 Pestfälle; die Ge¬
samtzahl der seit dem Epidemieausbrüche angezeigten Erkran¬
kungen beträgt 10. In Camaran wurde auf einem aus Djeddah
kommenden Pilgerschiffe ein Pestfall unter javanischen Pilgern
konstatiert. N e u s e e 1 a n d . ln Onehuugä bei Auckland er¬
eigneten sich in der zweiten Hälfte1 März drei lüstfälle, von
denen einer (Pest pneumonic) tödlich endete. Neue Erkrankungen
wurden seither nicht konstatiert. - N Derber lä n di s ch - 1 n dien.
In der Woche vom 12. bis 18. Mai sind auf Java 189 Neuerkran-
kungen (darunter 4 an Lungenpest) gemeldet worden, von denen
129 tödlich endeten.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Ge mein de gebiet. 20. Jahreswoche (vom 14. bis
20. Mai 1911). Lebend geboren, ehelich 604, unehelich 232, zusammen
836. Tot geboren, ehelich 64, unehelich 38, zusammen 102. Gesamtzahl der
Todesfälle 682 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17 3 Todesfälle) an Bauchtyphus 1, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 13,
Scharlach 1, Keuchhusten 0, Diphtherie und Krupp 2, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 3, Lungentuberkulose 114, bösartige Neu¬
bildungen 52, Wochenbettfieber 5, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 48 ( — 9), Wochenbettfieber 6 (-(- 4), Blattern 0
(0), Varizellen 91 (-L 4), Masern 321 (-{- 54), Scharlach 122 (+ 20)
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 5 (-4- 3), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0)
Diphtherie und Krupp 52 (-f- 8), Keuchhusten 31 (—4), Trachom 11 (+5)
Influenza 0 (— 1), Poliomyelitis 1 (-(- 1).
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle im Sanitätsdistrikte P a u 1 i t z-
W o 1 f r a m itzkirchen mit dem Sitze in Krawska bei Znaim (Mähren).
Der Sanitätsdistrikt umfaßt fünf Gemeinden mit 2888 Einwohnern deutscher
und böhmischer Umgangssprache. Gehalt 1400 K, Fahrpauschale 300 K;
überdies vom Großgrundbesitze 800 K und freie Wohnung. Haltung einer
Hausapotheke erforderlich. Doktoren der gesamten Heilkunde, welche
beider Landessprachen mächtig sind, wollen ihre mit den im § 11 des mähri¬
schen Sanitätsgesetzes vom 27. Dezember 1909, L.-G.-Bl. Nr. 98, bezeich-
neten Nachweisen belegten und mit 1 K-Stempel versehenen Gesuche
bis 30. Juni 1911 an den Obmann des Sanitätsausschusses Jakok S a r a
in Wolframitzkirchen, Post Krawska hei Znaim, einsenden.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeindegruppe
Orth an der Donau (politischer Bezirk Floridsdorf-Umgebung),
Niederösterreich, mit dem Wohnsitze des Arztes in Orth a. d. Donau. Die
Sanitätsgemeindegruppe umfaßt sieben Gemeinden mit 2896 Einwohnern.
Die von den beteiligten Gemeinden zu leistenden Beiträge belaufen sich all¬
jährlich auf 730 K und die aus dem niederösterreichischen Landesfonds
geleistete Subvention hat 600 K betragen. Dem Gemeindearzte wird über¬
dies seitens der Gemeinde Orth ein eigenes Haus ohne Mietzins zur freien
und uneingeschränkten Benützung als Dienstwohnung überlassen. Die
Haltung einer Hausapotheke wird zur Pflicht gemacht. Die mit dem
Diplome, dem Tauf- (Geburtsscheine), dem Nachweise der österreichischen
Staatsbürgerschaft, dem Sittenzeugnisse, einem amtsärztlichen Gesund-
heits-, bzw. Tauglichkeitszeugnisse, sowie mit den Nachweisungen über
die bisherige ärztliche Tätigkeit ordnungsgemäß instruierten, an den
niederösterreichischen Landesausschuß zu richtenden Gesuche sind Ins
längstens 30. Juni 1911 an das Bürgermeisteramt in Orth a. d. Donau
zu richten, welch letzteres auch zur Erteilung von etwa gewünschten
Auskünften bereit ist. Bewerber mit mehrjähriger Spitalspraxis werden
bevorzugt.
_ _ ^ _ WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 2. Juni 1911.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 18. Mai 1911.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 2. Juni 1911 (im Hörsaale der ersten ok ul is ti-
schen Klinik, Prof. Dimmer).
Vorsitzender: Hofrat Prof. Dr. S. Exner.
Schriftführer: Hofrat Richard Paltauf.
Prof. Dimmer hält seinen Vortrag: Lieber die lies ul
täte der Photographie des Augenhintergrundes; und
demonstriert zahlreiche photographische Aufnahmen physiologi¬
scher und pathologischer Veränderungen, sowie den Apparat.
(Erscheint ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 18. Mai 1911.
A. Goldreich stellt einen neunjährigen Kn, alben mit Ior-
dotischer Albuminurie und progressiver Muskel¬
atrophie vor. Pat. kann seit einiger Zeit nur schwer gehen,
die Pect orales majores und Serrati, die Oberarmmüsku la tu r und
die langen Rückenmuskeln, ferner die Muskulatur der Nates und
der Oberschenkel sind atrophisch, die Wadenmuskulatur zeigt
Pseudohypertrophie. Die Patellarsehnenreflexei sind kaum aus¬
lösbar, der Achillessehnenreflex ist normal. Pat. kann sich aus
liegender Stellung spontan nicht erheben. Die Wirbelsäule ist
infolge Atrophie der langen Rückenmuskeln lordotisch, das Kind
zeigt ausgesprochene lordotische Albuminurie.
B. Schick zeigt einen sechsjährigen Knaben mit Dystro¬
phie der Beckenmuskeln. Das Kind lief mit IG Monaten
und entwickelte sich geistig normal. Seit zwei Jahren ist der
Gang unsicher und das Kind fällt leicht,; beim Stehen stellt
es sich ,a,u f eine breite Basis und beim Gehlen pendelt es in
den Hüftgelenken hin und her. Es sind .jene Muskeln, welche
vom Oberschenkel zum Becken ziehen, dystrophisch. Die Pa^
tellarreflexe sind gesteigert, das Ba b i ns'ki sehe Phänomen ist
Positiv. Es handelt sich wahrscheinlich unreinen Fall von H o f-
m a. n n - W e r d n i g scher Erkrankung.
0. Marburg bemerkt, daß es bei Kindern schwer zu
entscheiden ist, ob es sich um eine primäre, eine: sekundäre
oder eine neuropathisch entstandene Muskelatrophie handelt. Die
Muskelerkrankungen sind bei Kindern idiopathisch, spinal oder
neurotisch. Die spinale For'm hat mehrere Abarten: die Hof¬
mann- W erd nigsche Atrophie tritt gewöhnlich inr ersten
Lebensjahre auf und befällt zuerst die Beckenmuskulatur; es
handelt sich um eine progressive spinale Erkrankung, welche
familiär vorkommt. Die Myatonia congenita ist zum1 Teil iden¬
tisch mit der H of mann- We'r d n ig sehen Krankheit; bei der
Geburt des Kindes ist der Krankheitsprozeß abgeschlossen, man
findet Atome und Atrophie der Muskeln, die Atrophie bessert
sich funktionell, aber nichf anatomisch. Bei Myatonia congenita
enthalten die atrophischen Muskeln Bindegewebe, dieses verkürzt
sich und es kommt zu Kontrakturen. Diese Affektion ist eigentlich
eine ausgeheilte fötale Poliomyelitis.
R. Neurath hat zwei Fälle von Dystrophie mit Lordose
beobachtet; bei diesen fand sich keine Albuminurie. Vielleicht,
handelt, es sich in dem vorgestellten Falle um eiti zufälliges
Zusammentreffen von lordotiseher Albuminurie mit Dystrophie.
Klinisch tragen die Fälle von Myatonie einen degenerative.«
Gharakter.
W. Pick demonstriert ein Mädchen mit papulösem ne
kr oti sehen Tuberkulid. Da,s Kind bekam vor einigen Tagen
em Exanthem, welches sich über den ganzen Körper verbreitete.
Es besteht aus geröteten Knötchen mit zentraler Nekrose, außer¬
dem finden sich aus kleinen Knötchen bestehende, schuppende,
scheibenförmige Herde (Lichen scrophulosoru'm).
F. Spieler empfiehlt zum Nachweis der tuberkulösen Natur
des Exanthems den Impfversuch am Meerschweinchen.
A. v. Ben ß berichtet über das Vorkommen von lndi-
kanreaktion im Sä ügli n gs h a rn. Vortr. hat, von Kindern
Aerztlicher Verein in Brünn. Sitzung vom 3. April und 1. Mai 1911.
Wissenschaftliche Gesellschaft deulsclier Aerzte in Böhmen.
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin.
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin.
bis zum neunten Lebenstage den Harn auf ludikan untersucht.
Am 'ersten Lebenstage fand sich in der Regel kein fndikan, am
zweiten fanden sich schon einige positive Fälle, welche an den
nächsten Tagen noch zahlreicher wurden. Die Ursache ries Vor¬
kommens von ludikan im Harne ist die bakterielle Fäulnis im
Darme oder ein parenteraler Eiweißzerfall. Beim Neugeborenen
bilden die Ursache der Indikanreaktion vielleicht bakterielle Zer¬
setzungsprozesse im Mekonium, doch ist sie noch nicht geklärt.
K. Hochsinger hat vor vielen Jahren die Indikanaus-
scheidung beim Kinde studiert. Er konnte niemals am ersten
Lebenstage im Harne ludikan naehweisen, an den späterem Tagen
wurde es bei künstlich genährten Kindern immer gefunden, bei
.gesunden Brustkindern kam es bei leichten Verdauungsstörungen
sehr häufig vor. Bei tuberkulösen Personen ist die Indikanurie
ein Anzeichen des Eiweißzerfalles.
F. Pas sin i bemerkt, daß in den ersten 12 bis 24 Stunden
nach der Geburt der Harn des Kindes kaum indolhältig ist,
der Stuhl enthält selten eine Bakterien flora. Am zweiten Tage
tritt, letztere schon auf und es findet sich ludikan im Harne.
Das Indol stammt aus bakteriellen Zersetzungen im Darme.
A. v. Reu ß erwidert, daß sich in den ersten Lebenstagen
sehr häufig geringfügige Verdauungsstörungen finden, welche die
Ursache der Indikanauss’cheidurig sein dürften. Auffallend ist
die große Menge der letzteren.
M. Menzel zeigt einen Fremdkörper, welchen er bei
einem zweijährigen Knaben aus der Nase’ extrahiert hat. Es
ist ein Teil eines Schnullers, welchen das Kind ein halbes Jahr
in der Nase in der Nähe der Chöanenöffnung trug. Er mußte
beim Verschlucken hineingelangt sein und verursachte eine an¬
dauernde Rhinitis.
H. Neu m a n n demonstriert ein Messer zu r E n.tfer nu n g
adenoider Vegetationen. Es ist ein Ringmesser, in Ver¬
bindung mit einer kleinen, in einem Scharnier sagittal beweg¬
lichen Gabel. Das Instrument wird vom Pharynxdach an der
hinteren Wand des Rachens nach abwärts geführt, wobei die
adenoiden Vegetationen in einem Stücke abgeschnitten und auf
die Gabel aufgespießt werden. Die Anwendung ist gefahrlos,
Nebenverletzungen sind nicht zu fürchten.
J. Za.ppert fragt., oh die Gabel beweglich sein muß.
M. Menzel weist auf die Aehnlichkeit des Instrumentes
mit dem B ec km an n sehen Messer hin. Nach der Entfernung
der adenoiden Vegetationen muß man sich durch Palpation mittels
Fingers, welcher mit einem sterilen Kondom bekleidet ist, über¬
zeugen, ob der ganze Tumor abgetragen ist.
H. Neumann erwidert, daß die Gabel deswegen beweglich
ist, damit sie dem Zuge des Messers folgen kann. Man darf
das Instrument nicht in der Art einer Kürette benützen, sondern
muß den Tumor in einem Zuge abtragen.
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 3. April und 1. Mai 1911.
Prof. S tern b e r g demonstriert :
1. Ein Cor triloculare biatriatum bei Situs vis¬
cera m inversus.
_ Ras Präparat stammt von einem totgeborenen Mädchen; die
Sektion ergab einen typischen vollständigen Situs inversus der
Bauchei ngeweide. Die linke Lunge war zweilappig, desgleichen
die rechte, deren Oberlappen allerdings einen durch eine tiefe
Kerbe abgesetzten Anhang zeigte. Das Herz werde von den Venen
her mit Formalin ausgegossen ; am gehärteten Präparat ist fol¬
gender Befund zu erheben:
Das Herz hat eine Höhe von 4 cm und einen größten Um¬
fang von 71/2 cm, seine Gestalt ist stumpfkonisch; sowohl an der
Vorderl'läche, als an der Rückflache- des Herzens, woselbst Fur¬
chen entsprechend einer Teilung in zwei Ventrikel nicht sicht¬
sind, wie auch entsprechend den Herzkanten verlaufen kleine
Arterienästehen. Der Herzbasis sitzt kappeinförmig ein Vorhofsack
auf, an dem bei äußerer Betrachtung keine Teilung sichtbar ist.
Er bildet nach rechts hinten und nach links vorne je eine kleine
846
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
auftkelartige Ausstülpung. Vor der Vorderfläche des Vorhof¬
sackes verläuft ein am rechten Ende der Herzbasis entspringendes,
gut 8 mm im Durchmesser haltendes Gefäß (vgl. Abbildung) und
: h links von diesem ein am Ursprung aus dem Herzen sehr
d Mines, fast fadenförmiges Gefäß, welches sich weiter oben etwas
erweitert. Das erstbeschriebene Gefäß erweist sich als Aorta, die
in ili rem aufsteigenden. Anteil vor dem (gleich zu beschreibenden)
rechten Ast der Arteria pulmonalis verläuft, hierauf einen nach
links gewendeten Bogen bildet und nach Kreuzung des linken
Bronchus sich nach abwärts wendet. Sie gibt zunächst eine rechte
Arteria. anonyma ab, die sich in gewöhnlicher Weise in Arteria,
subclavia und 'Arteria carotis teilt, hierauf die linke Arteria carotis
und sodann die linke Arteria subclavia. Vom inneren Rande des
Aortenbogens geht ein 9 mm langes, 3 min im Durchmesser hal¬
tendes Gefäß äb;, welches in eine Arterie übergeht, die sich in
zwei, in die beiden Lappen der linken Lunge eintretende Aeste
teilt. Diese Arterie geht aus einer Teilung jenes früher beschrie¬
benen, links neben der Aorta aus dem Herzen entspringenden
Gefäßchens hervor, welches sich in diese Arterie und einen für
die rechte Lunge bestimmten Ast gabelt und mithin die Arteria
pulmonalis darstellt, Das oben beschriebene, von dem inneren
Rande des Aortenbogens abgehende Gefäß, das auf den ersten
Blick als Arteria pulmonalis anzusprechen wäre, bildet mithin
den Ductus Botalli, der hier die Verbindung zwischen Aorta
und linkem Ast der Arteria pulmonalis bildet. Das Lumen des
Stammes der Arteria pulmonalis ’ ist in ihrem' ganzen Verlaufe
durchgängig, an ihrem Ursprung aus dem Herzen jedoch voll¬
ständig verschlossen. — In den Vorhofsack tritt linkerseits an
seiner vorderen Fläche neben der beschriebenen aurikelartigen
Ausstülpung die' Vena cava superior, an der hinteren Fläche
linkerseits die weite Vena cava inferior (keine Vena cardinalis)
ein, während in den rechten Abschnitt des Vorhofes die Lungen¬
venen münden.
Das Herz wird durch einen, entsprechend beiden Herz¬
kanten über die Herzspitze geführten Schnitt eröffnet. Hiebei
zeigt sich, daß nur eine Ventrikelhöhle besteht, indem das Ven¬
trikelseptum fehlt (vielleicht ist ein kleiner, nahe der Herzbasis
an der rechten Herzkante entspringender Muskelwulst als An¬
deutung eines Ventrikelseptums aufzufas-sen ?). Aus der rechten
Hälfte des gemeinsamen Ventrikels entspringt, wie früher be-
s ’.i ’ en, die Aorta, welche drei Klappen, eine vordere, eine
rechte und eine linke, besitzt. Die Klappen sind wohl gebildet,
im Sinus der linken Klappe sind zwei seichte Grübchen sicht¬
bar, die anscheinend Koronarostien entsprechen. Die linke \en-
trikelhälfte steht in Kommunikation mit dem Vorhof; an der
Grenze zwischen Vorhof und Ventrikel findet sich eine drei-
zipfelige Klappe u. zw. sind zwei Zipfel, ein vorderer und ein
hinterer, frontal gestellt, während der mittlere (rechte) sagittal
gerichtet ist und so den Aortenbulbus abgrenzt. Der Vorhof ist
durch eine annähernd sagittal ausgespannte, großenteils häutige,
an den Rändern muskulöse Scheidewand in einen geräumigen
rechten und einen kleinen linken Abschnitt geteilt. Diese- Scheide¬
wand weist in ihrem häutigen Anteil eine einem offenen Fora¬
men ovale entsprechende Lücke auf; ihr unterer Rand ist frei
über den Ventrikel ausgespannt und bildet einen nach unten
offenen Bogen; der vordere Schenkel geht in den sagittal ge¬
stellten, der hintere in den rückwärtigen Zipfel der Atrioventri¬
kularklappe über. Durch die hiedurch gebildete Oeffnung kom¬
muniziert der rechte Vorhofsabschnitt einerseits mit dem linken
Abschnitt (daneben auch durch die kleine Lücke im häutigen
Septum), andrerseits mit dem gemeinsamen Ventrikel. Eine direkte
Verbindung zwischen letzterem und dem rechten Vorhofsabschnitt
besteht nicht, ebensowenig ist im Ventrikel ein Ostium der
Arteria pulmonalis oder auch nur die Andeutung eines solchen
auffindbar.
Es besteht mithin ein völliger Defekt des Septum ventri-
culorum (daher eine gemeinsame Ventrikelhöhle) -und ein un¬
vollständiges Septum atriorum, durch welches ein größerer rechter
von einem kleineren linken Vorhof teilweise abgegrenzt wird.
In den linken Vorhof münden die Vena cava, superior und in¬
ferior, in den rechten Vorhof die Lungenvenen; der linke Vor¬
hof kommuniziert durch eine dreizipfelige Klappe mit dem ge¬
meinsamen Ventrikel. Die Aorta steht rechts und etwas vorne,
die Arteria pulmonalis links und etwas hinten, ihr Lumen ist
sehr eng und ihr Ostium vollständig verschlossen. Die Aorta, gibt
ihre Aeste in normaler Reihenfolge ab und bildet, wie de nonna
einen nach links verlaufenden Bogen. — Die Bauchorgane zeigten
typischen, vollständigen Situs inversus.
Vortr. erörtert auf Grund der entwicklungsgeschichtlichen
Verhältnisse und der in der Literatur vorliegenden Untersuchungen
(Rokitansky, Lochte, Geipel usw.) die vorhandenen Mi߬
bildungen und kommt nach Abwägung der in Betracht kommenden
Erklärungsmöglichkeiten zu dem Schlüsse, daß es sich in dem
vorliegenden Fälle um einen Situs inversus des Herzens (trotz,
des Verhaltens der Aorta) mit fehlerhafter Anlage und Drehung
des Septum trunci arteriosi, Ausbleiben der Entwicklung des
Septum ventriculorum und mangelhafter Entwicklung des Sep¬
tum atriorum handle. Vortragender bespricht den inneren Zu¬
sammenhang zwischen der fehlerhaften, bzw. mangelhaften Ent¬
wicklung der drei Septa und verweist sodann speziell auf das
Verhalten der Arteria pulmonalis. ln dieser Hinsicht besteht
eine Uebereinstimmung mit einem Fälle G i e r k es (Charite-An¬
nalen 1908, Bd. 32, S. 299). Auch in dem vorliegenden Falle
konnte eine Persistenz des Truncus arteriosus und Abgang der
Arteria pulmonalis von der Aorta vorgetäuscht werden (vgl. Ab-
bildung), doch zeigt die genauere Untersuchung einwandfrei, daß
die Arteria pulmonalis als selbständiges Gefäß vorhanden, aller¬
dings stark hypoplastisch und daß ihr Ostium atretisch ist (fehler¬
hafte Anlage des Septum trunci arteriosi). — Aehnliche Fälle
won Kombination eines kompletten oder partiellen Situs \is-
cerum inversus mit mehr weniger gleichen Mißbildungen des
Herzens, wie in dem vorliegenden Falle, liegen in der Literatur
bereits vor, vgl. z. B. die Literaturzusammenstellungen bei Ri sei,
Zentralbaltt für pathologische Anatomie 1909, Bd. 20, S. 673,
und bei Herxheim er, in Schwalb.es Morphologie der Mi߬
bildungen, III. Teil.
2. Ein Projektil in der Spitze des linken Herz¬
ventrikels. Das Präparat stammt von einem 42jährigen Maim,
der sich in die Brust geschossen hatte ; es bestand eine komplette
Concretio cordis cum pericardio.
3. „Leber steine“, korallenstockartig verzweigte Kon¬
kremente, die die beträchtlich röhrenförmig erweiterten^ Aeste
des Ductus hepaticus im linken Leberlappen einer Oljäniigen
Frau ausgefüllt hatten. Der Hauptstamm des Ductus hepaticus,
sein rechter Ast, sowie dessen Verzweigungen und der Ductus
choledochus waren frei ; in der Gallenblase fand sich eine giößeie
Menge kleiner, facettierter Bilirubinkalksteine.
Prof. Sternberg: Die Wassermannsche Reaktion.
Vortr. -erläutert den Begriff der Komplementbindung, be¬
spricht den Bordet-Gengou sehen Versuch, bzw. das More-
s c h i sehe Phänomen und die Arbeiten von W a,s s er m an n und
Bruck, speziell die Wassermannsche Syphilisreaktion und
führt eine Reihe solcher Proben vor. Hierauf erörtert er die
praktische Anwendbarkeit dieser Reaktion.
Dr. Eugen Kodon (als Gast): Ueber die Pathogenese
des Ulcus rotundum ventriculi et duodeni in ihrer
Beziehung zur Tumorfrage. A
Ausgehend von dem konstitutionellen Moment, dessen Be¬
deutung für die U lku spathogenese von R. Schmidt und Bartel
und in letzter Zeit von B. Stiller betont wurde, berichtet der
Vortragende über häufiges Zusammentreffen des Ulcus rotundum
mit Strumen und hypothyreoiden Zeichen. Auch an Individuen,
mit Hauttuberkuliden oder mit anderen exsudativen Prozessen
der Haut, ließen sich die kleinen Zeichen der HypotKyreoidie
vielfach beobachten. Poncet gibt Rothschild gegenüber zu,
daß beim Rheumatismus ankylosant Schilddrüsenschwäche häufig
zur Beobachtung kommt. Bei der extremen Hypothyreoidie des
Menschen, dem Kretinismus, kommen exsudative Erkrankungen
als Todesursachen besonders oft vor (C. A. E w a 1 d, Die Erkran¬
kungen der Schilddrüse, Myxödem und Kretinismus). _ Berück¬
sichtigt man außerdem, daß sich das Myxödem häufig mit luber-
kulose kombiniert und auch sporadischer Kropf und Myxödem
in der Aszendenz und Konsanguinität viele tuberkulöse Erkran¬
kungen aufweist, so erscheint es wahrscheinlich, daß das Ulcus
rotundum als Enanthem aufgefaßt (Wiener medizinische Wochen
schrift 1910, Nr. 34, 35) auch eine gewisse Beziehung zu den
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
847
Stoffwechselkomponenten des thyreoidealen Systems aufwcist. Da-
her kommt wahrscheinlich so häufig das familiäre Ulkus im
Engadin vor, wie Huber-Zürich berichtet und wie Vortragender
selbst in einigen Familien beobachten konnte; daher auch bei
solchen Zuständen, wo Diskordanzen des polyglandulären Sy¬
stems, besonders der Thyreoidalgruppe in Erscheinung treten,
B. Pubertät, Gravidität, Klimakterium, Senium.
Der Vortragende knüpft weiter an die Ausführungen B artels
über die Konstitution der Ulkuskranken an, welcher iir der Dis¬
kussion zu seinem ersten Vortrag besonders den Antagonismus
dieser Kranken zur Tuberkulose, sowie die Zugehörigkeit derselben
zur sogenannten Tumormasse betonte. Wie R. Schmidt bei Tu¬
morkranken das häufige Fehlen der meisten Infektions- und Exan¬
themerkrankungen anamnestisch erheben konnte, so konnte dies
auch der Vortragende tun. Wenn man die Tumoren auf kon¬
stitutionellem Boden glaubt entstehen zu sehen, so bietet auch
hier die Hereditätsforschung recht gute Anhaltspunkte, denn wie
die Struma und weiterhin das Karzinom der Thyreoidea als
neoplastische Erkrankungen eines besonders empfindlichen Ge¬
webes bei Individuen auftreten, welche in unseren Regionen,
wo kein endemischer Kropf ist, als Erbmasse kranker Aszen¬
denten erscheinen, so ist es unwahrscheinlich, daß auch die an¬
deren Tumorkranken ihr zu Neoplasien neigendes Gewebe einer
pathologischen Erbmasse zu verdanken haben. Ausdruck dessen
wäre manchmal die eigentümliche hypothyreoide Konstitution
ihrer Deszendenz, welche einer allgemeinen Zellschädigung zu
entspringen scheint.
Prim. Mag er demonstriert einen 23jährigen Mann, der den
Sy mptomenkomp lex des Morbus Banti darbietet; der positive
Ausfall der Wassermann selben Reaktion läßt eine hereditäre
Lues, für welche sonst kein Anhaltspunkt besteht, als Ursache der
Erscheinungen annehmen.
Prim. Mager: Demonstriert einen Fäll von Myxödem,
der einen 38jährigen Mann betrifft, und erläutert das Krank¬
heitsbild.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte
in Böhmen.
Sitzung vom 5. Mai 1911.
Prim. Dr. Fink- Karlsbad: Ueber die chirurgische
Behandlung des Magengeschwürs.
Der Vortragende bespricht an der Hand eigener operierter
60 Fälle die chirurgische Behandlung des Magengeschwürs und
zieht zum Vergleiche die mit interner Behandlung erzielten augen¬
blicklichen und Dauererfolge heran. Vom pathologisch-anatomi¬
schen Gesichtspunkte sind die Fälle in solche des akuten und
des chronischen Stadiums einzuteilen. Zum ersteren Stadium
gehörten 17, zum letzteren 43 Fälle. Fenier bespricht er den
hei der Operation erhobenen Befund, das hei den einzelnen
Stadien eingeschlagene Operationsverfahren, die augenblicklichen
und die Dauerresultate. Bei den unmittelbaren Erfolgen trat in
83-33°/o ein günstiger, in 16-66°/o ein Mißerfolg ein. Der Vortra¬
gende ist Anhänger der Gastroenterostomose und ist unter be¬
stimmten Bedingungen für die Resektion.
Priv.-Doz. Hoke: Ueber die Wirkung des Typhus¬
giftes auf den Kreislauf.
Die Exsudate von Kaninchen, welche einer intrapleuralen
Infektion mit dem Typhusbazillus erlagen, sind auch im sterili¬
sierten Zustande sehr giftig. Der Blutdruck sinkt durch eine Wir¬
kung auf die Gefäße, wie die Analyse der Blutdrucksenkung
(Aortenkompression, dyspnoisc'he Vagusreizung, Trigeminus-
Splanchnikusreizung, Adrenalinwirkung) zeigt. Die Gefäßwirkung
ist erst zentral und mit dein Fortschreiten der Vergiftung peripher.
Therapeutisch empfehlen sich daher beim Typhuskollaps in erster
Linie die zentral wirkenden Analeptika, dann das peripher wir¬
kende Adrenalin.
Dr. Selig- Franzens bad : Ueber die Wirkung der Rin¬
ger- und Kochsalzlösung auf den Kreislauf.
Die Ring ersehe Lösung wirkt bei intravenöser Injektion bei
Kaninchen und Katzen bei normalem Kreislauf nicht, blutdruck-
steigernd, wohl aber hei Blutdrucksenkung nach Verblutung oder
Ku rarein jektion. Bei zwei Kaninchenversuchen war hei Verwen¬
dung von älterer Ringer-Lösung Thrombenbildung im rechten
Vorhofe und Ventrikel nachzuweisen. Es ergab sich ferner aus
Tierversuchen, daß sowohl der bei normalem, als bei tief gesun¬
kenem Blutdruck nach intravenöser Injektion physiologischer Koch¬
salzlösung eine Blutdrucksteigerung auftrat. Es genügen mitunter
10 bis 25 cm3 Kochsalzlösung, um den vorher gesunkenen Blut¬
druck in bisweilen drei Minuten auf das Dreifache des Anfangs-
Wertes zu steigern. Häufig konnten die durch Kalziuminjektionen
entstandenen Puls Unregelmäßigkeiten und Blutdruckschwankungen
durch Kochsalzinfusionen beseitigt werden.
Auch die intravenöse Injektion von 2- bis1 5°/oigem Trauben¬
zucker steigert den vorher gesunkenen Blutdruck bedeutend. Die
Ring ersehe Lösung vermag Herz und Gefäße wieder zu beleben
und ihre Tätigkeit für einige Zeit zu erhalten, eine spezifische
pha,i makologis'chei Wirkung scheint ihr1 wegen des ; m tag onis ti¬
schen Verhaltens der einzelnen Salze nicht zuzukommen.
Dr. Hugo Pribram- Prag.
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin
vom 19. bis 22. April zu Wiesbaden.
(Fortsetzung.)
Referent: K. Reicher- Berlin.
V.
J. Hoffmann - Heidelberg : Zur Lehre von der spina¬
len hereditären Ataxie.
Kasuistik, zu kurzem Referate nicht geeignet.
Bi 1 1 o r f - Breslau : Experimentelle Untersuchungen
über die Ursachen nephritischer Blutdrucksteige¬
rungen.
Vortragender; spricht sich gegen die ätiologische Bedeutung
von Nephrolysinen, Adrenalinämie und Neben nie renhypertrophie
hei Entstehung der nephritischen Blutdrucksteigerungen a,us.
Im Tierversuch kann Vortr. durch Injektion von Serum
Nephritischer keine oder eine minimale Blutdrucksteigerung her-
vorrufen, dagegen eine erhebliche durch Injektion von Oel
oder Oel — Wismut in die Nierenarterien von der Arteria
mesenterica superior nach vorhergehender Unterbindung der Aorta
unterhalb der Nierenarterien. Nach neuerlicher Oeffnung der
Aorta bleibt in einzelnen Fällen der Blutdruck um 40 bis 100 u/o
des Anfangswertes erhöht. Es kann also rein lokal bedingte
Erhöhung der Widerstände in der Niere zu allgemeiner Blutdruck-
Steigerung führen.
F is c h ler- Heidelberg : Zur Frage der internen u,nd
operativen Behandlung der Typhlatonie und ver¬
wandter Zustände (chronische Appendizitis, soge¬
nanntes Coecutm mobile).
Wilms hat hei Schmerzzuständen in der Blinddarmgegenü
Heilungen nach Annähen des Cökums gesehen und von seinen
Schülern wurde der radiologische Nachweis einer Cökumvergrö-
ßerung, einer abnormen Beweglichkeit desselben und einer ab¬
normen Länge von dessen Mesenterium erbracht. Nach Klose
kann sich lein solches Cökum volvulusartig drehen und dadurch die
Schmerzattacken verursachen. Umgekehrt findet Hofmeister
häufig als Veranlassung von Schmerzen Fixierung des Cökums
durch entzündliche Stränge und Beseitigung der; Beschwerden
nach Durchtrennung der Fixationen. Dje Ursache des Coecum
mobile soll Obstipation sein. Klinisch charakterisieren sich die
chronischen Beschwerden durch anfallsweise auftretende inter¬
mittierende Schmerzen, durch einen luftkissenartig sich anfüh¬
lenden, druckempfindlichen, dem Cökum ungehörigen Tumor und
durch Stuhlunregelmäßigkeiten. Vortr. hat an katarrhalische Ty¬
phlitis mit konsekutiver Wandinsuffizienz als ätiologische Fak¬
toren gedacht. Erstere erschließt er aus den Stuhlunregelmäßig¬
keiten, aus dem stets auslösbaren Ileocökalgurren und dem häu¬
figen Plätschern. Es käme dann zu Typhlatonie analog der Ent¬
wicklung von Magenatonie. Die Motilität ist nicht das wesent¬
liche Moment, denn es gibt viele Fälle von Coecum mobile ohne
alle Erscheinungen. Das also notwendig noch hinzukommende
sekundäre Moment haben die- Chirurgen übersehen. Wenn trotz¬
dem Stier ling in 75°/o der Fälle Heilungen durch Cökumfixation
erzielt, so ist dies auf die zu kurze Beobachtungszeit angesichts
der monate- und oft jahrelang dauernden Remissionen in dem
Krankheitshilde der Typhlatonie und des Coecum mobile zurück-
zuführen. Vortr. plädiert daher für interne, nicht chirurgische
Therapie u. zw, diätetische und Wismutmedikation gegen die katar¬
rhalischen, leichte Massage und Körperübungen gegen die atoui-
schen Erscheinungen. Vortr. hält die Anheftung des Cökums, das
freie Beweglichkeit besitzen muß, für viel gefährlicher als die
Pexie anderer Organe.
Diskussion: Ewald -Berlin begrüßt das Breschelegeu in
die allgemeine Masse der von den Chirurgen als Appendizitis
diagnostizierten und schleunigst operierten Fälle. Der Begriff der
Typhilitis wird fraglos neuerdings wieder in den Vordergrund
geistellt und im Gegensätze zur Appendizitis erzielt man dabei
durch abwartende Haltung unter Anregung der Peristaltik Dauer¬
erfolge. Das Coecum mobile läßt sich übrigens durch Insufflation
Nr. 23
848 WIENER KLINISCHE
vom Rektum aus als aufgeblähte und beweglich© Darmschlinge
erkennen.
Curse hm ahn -Mainz a. Rh. kann als Gegenstück zu
Tischlers Fällen über Fälle von permobiler Flexura sigmoidea
berichten. Derartige Verlängerungen und Lageanomalien sind zu¬
erst von C urschmann sen. beschrieben worden. Sie beruhen
zweifellos auf kongenitaler Basis und sind die Ursache, nicht
die Folge der Obstipation. Die Therapie der Lageanomalien des
Dickdarms scheint mehr und mehr in chirurgisches Fahrwasser
zu segeln.
Singer- Wien hat schon vor mehreren Jahren auf dem
Kongresse für innere Medizin über ganz gleiche Krankheitsbilder
wie Herr Fisch ler berichtet und sie als Distensio coeci
bezeichnet. Sie kann unter anderem auch funktionell entstehen,
besonders wenn sich durch Krampfbildung in den tieferen Dick¬
teilen eine Stauung im Cökum ausbildet. Operative Eingriffe
führen in solchen Fällen namentlich bei Hysterischen und Ner¬
vösen nur eine Steigerung der Beschwerden herbei, daher hält
auch Singer die interne Therapie weit besser angebracht als die
chirurgische.
K rieh 1- Heidelberg : Während die Chirurgen früher eine
Unterscheidung der einzelnen Formen der Appendizitis und der
verwandten Prozesse abgelehnt haben, beginnt man doch jetzt,
einzelne Gebiete herauszuschälen. M ir werden in Zukunft fest¬
stellen müssen, welche Prozesse eigentlich der Attacke zugrunde
liegen, und dann eher entscheiden können, ob eine Operation in
dem betreffenden Falle unbedingt notwendig ist.
F i s c h 1 e r - Heidelberg : Schlußwort.
K ü )bs - Berlin : Zur Physiologie der Magen Ver¬
dauung.
Külbs untersuchte in längeren Reihen, wieviel eine Katze
bei täglicher Ernährung, wieviel bei 48stündiger, 62stündiger usw.
Ernährung aufnimmt und wie sich dabei die Verdauungs- und
Gewichtsverhältnisse gestalten. Eine Katze nimmt bei täglicher
Ernährung 150 bis 200 g, die jeden zweiten Tag ernährte 350
bis 400 g, die jeden dritten Tag ernährte 450 bis 470 g zu sich.
Es gelingt, Katzen selbst bei Ernährung an jedem dritten oder
vierten Tage Wochen und Monate hindurch im Gleichgewicht zu
erhalten, da isie an eine gewisse Unregelmäßigkeit gewöhnt, zu sein
scheinen. Doch darf diese Unregelmäßigkeit nicht zu groß sein,
sonst nimmt das Tier rapid an Körpergewicht ab und stirbt.
Der stark aufgetriebene Magen enthält dann bei der Sektion noch
fast die ganze letzte Nahrungsaufnahme, obwohl sie mehrere
Tage zurückliegt. Der Magen ist also motorisch vollständig in¬
suffizient geworden. Verfolgt, man die Gewichtskurve im V ergleich
zu jeder Nahrungsaufnahme, so findet man, daß die täglich er¬
nährte Katze nach 20 Stunden, die jeden zweiten Tag ernährte
nach 45 Stunden ihr Anfangsgewicht wieder; erreicht usw. Röntgen¬
untersuchungen und Sektionen ergeben, daß die täglich genährte
Katze nach sechs Stunden noch 50°/» der Nahrung im Mägen
hat, während nach 20 Stunden entsprechend der Körpergewichts¬
schwankung der Magen bereits leer ist. Zieht man aus der
menschlichen Pathologie ähnliche Verhältnisse heran, so weiß
man, daß ein gesunder Mensch mit einer einmaligen Nahrungs¬
aufnahme täglich auskommt, doch muß sie regelmäßig und aus¬
giebig eingenommen werden, sonst kommen Magendarmstörungen
und Gewichtsverlust zustande.
S i c k - Stuttgart : Zur Pathologie der Magenbewe¬
gungen.
Bei Leuten, die ,an Pylorusstenose leiden, sieht man am
Röntgenschirm lebhafte Peristaltik des Antrum pylori, dann einen
plötzlichen Wechsel im Bilde und ein Nachgeben des Magens im
Tonus, die sogenannte ovoide Erschlaff ungsforin. Von Jonas
wurde zuerst der Mechanismus der Magenbewegungen bei Pylorus¬
stenose beschrieben und speziell die Antiperistaltik als patho-
gnomonisches Zeichen angegeben. Im Röntgenbilde sieht man
dagegen, daß die Speisemassen gegen den Pylorus verdrängt
und dann wieder gegen den Fundus zurückgedrängt werden. Das
schaut wie eine antiperistaltische Welle aus, ist aber keine echte
antiperistaltische Welle. Das Duodenum ist nicht, wie allgemein
behauptet, der radioskopisehen Untersuchung schlecht zugänglich,
man kann es vielmehr ganz gut in seiner Tätigkeit beobachten.
In der Pars inferior duodeni liegt nämlich der Wismutbrei vor
dem Uebergang in das .Jejunum längere Zelt. Die Pars des-
cendens duodeni passiert der Wismutbrei sehr rasch. Die Pars
superior duodeni ist wegen ihres Verlaufes senkrecht nach hinten
nur in starker Verkürzung zu sehen oder als kegelförmiger Aufsatz
auf dem Pylorus. Diese Befunde können wertvoll sein bei der
Diagnose der seltenen stenosierenden Zustände im Duodenum,
zum Beispiel bei Karzinom am Diverticulum Vateri. Manchmal
sieht man den Wismutbrei auch unter dem Rande des Pylorus
WOCHENSCHRIFT. 1911.
hieirvorkommen. Das ist ebenfalls auf das Duodenum zu beziehen
und kann eine Fehlerquelle hei der radioskopisehen Untersuchung
des Pylorus abgeben. Füllungsdefekte des Magens treten meist
bei Karzinom auf, allerdings in seltenen Fällen auch bei ner¬
vösen Erkrankungen. Der Begriff Py lorusins uf fizienz ist fallen
zu lassen.
v. Tab ora-Straßburg ; lieber motorische Magen
r e flex e. N ach gemeinschaftlichen Untersuch ungen mit D i e 1 1 e n.
.Schon Pawlow hat nachgewiesen, daß sich nach Eintritt
von Säure in das Duodenum der Pylorus reflektorisch schließt,
ferner, daß Fett beim Uebertritt in das Duodenum die Magen-
entleerung beträchtlich verlangsamt. Klinisch finden wir tatsäch¬
lich bei Leuten mit Hyperazidität größere MagenmckstAnd©, ebenso
nach fettreicher Nahrung, v. Ta bora hat nun die Hemmungs¬
vorgänge am Pylorus einer eingehenden Prüfung unterzogen und
zu diesem Zwecke Personen mit normaler, herabgesetzter und
gesteigerter Säuresekretion Wismutbrei als Normalversuch gegeben,
an anderen Tagen dasselbe mit Salzsäure-, bzw. Oelzusatz und
schließlich Suspensionen von Wismut in dünner Salzsäureiösung
und in Oel. Der Zusatz von Säure zum Wismutbrei läßt nun
regelmäßig die Peristaltik sehr lebhaft werden und verzögert
deutlich die Entleerung des Magens bis um die Hälfte der nor¬
malen Zeit. Ueberraschenderweise wird nach Oelzusatz zum Wis¬
mutbrei die Peristaltik zunächst flacher und macht schon nach
wenigen Minuten einem vollständigen Stillstand derselben Platz.
Gleichzeitig steht der Pylorus offen, denn bei rechter Seifeniagc
können die Inges ta sehr rasch den Magen verlassen. Diese Fett-
lähmuug dauert zwei bis drei Stunden, je nach der angewandten
Oeidosis. Ja, es gelingt durch wiederholte Fettdarreichung in
Intervallen, tagelang die Peristaltik zu lähmen. Wir können so
bei zweistündlicher Darreichung von Gelen bei geschwürigen
Magienprozessen einen Stillstand des Magens genau so erreichen,
wie ein Chirurg eine Extremität immobilisiert.
Diskussion zu den Vorträgen Külbs, Sick und von
Tabu ra.
Weber- Kissingen, gemeinsam mit Groß- Greifswald:
U e b er Salz säu Fe d ef i z i t.
ln der Bestätigung der Angaben von Leo fanden die
Autoren, daß die von Eiweiß gebundenen Salzsäuremengen sehr
erheblich sind. Die Verbindungen von Eiweiß und Salzsäure
werden nur bei Anwesenheit von freier Salzsäure in Lösung
gebracht. Ein Mehr oder Minder von Pepsin hat keinen Einfluß
auf die Menge der freien Salzsäure, wohl aber auf die Total-
azidität. Das Salzsäuredefizit wird durch Pepsin nicht verändert.
Die Vortragenden folgern aus den Untersuchungen, daß ein Salz¬
säuredefizit nur eintreten kann, wenn eine relative Salzsäure-
insuftizienz vorliegt und daß ein geringer Stickstoffgehalt der
Lösung davon herrührt, daß in dem ungelösten Teile ein reich¬
licher salzsäurebindender Faktor gegeben ist.
Ewald-Berlin: Die Resultate von v. Tabor a harmonieren
trefflich mit unseren praktischen Erfahrungen über den Einfluß
der Oelkur bei Hyperazidität und bei Ulkus. Wolff und Jung-
huns haben in meinem Krankenhaus die Verdauungsarbeit fest¬
gestellt, das heißt die Menge, welche nach einem Probefrüh-
stück zu einer bestimmten Zeit im Magen noch vorgefunden
wird. Es werden fallende Mengen von filtriertem Mageninhalt mit
Phosphor- Wrolf ramsäure versetzt; das Glas, in dem nur ein
geringer Grenzring von Eiweiß auftrjtt, wird als Maßstab für
die Menge von gelöstem Eiweiß angenommen, so daß man dann
von einer eiweißlösenden Kraft des Mageais v-on 10(4, 200 usw
spricht. Nach dieser Methode haben nicht die Fälle von Hyper-
< hlorhydrie die stärkste eiweißlösende Kraft, sondern diejenigen
mit normalem Salzsäuregehalt. Fälle von Krebs zeigen .auch
eine fast normale eiweißlösende Kraft.
v. Berg m an n - Berlin möchte sich gegen die Abschaffung
des Begriffes „Pylorusinsuffizienz“ wenden und glaubt im Gegen¬
teil, daß das Königen verfahren uns eine viel genauere Definition
dieses Begriffes erlaubt. Der vom Duodenum ausgelöste reflek¬
torische Pylorusschluß fehlt in einer ganzen Reihe von Fällen,
so zum Beispiel bei Achylie und bei Magenkarzinom mit An¬
azidität, hängt also zum Teil mit Aziditätsverhältnissen zusammen.
Es scheint aber auch Infiltrierung des Fundus in größerer Aus¬
dehnung als ein mechanisches Moment den Ablauf der Peristaltik,
beziehungsweise den Schluß des Pylorus zu verhindern. Es gibt
alle Uebergängo zwischen absolutem Offenstehen und mangel¬
haftem Verschluß des Pylorus.
G. K lein p er e r- Berlin : Die klinischen Beobachtungen
stehen mit den Befunden von v. Tabor a bezüglich der Oelläh-
tmmg nicht im Einklang, denn Klemperer konnte bei quan¬
titativen Messungen von verabreichten Oelmengen behufs 1* esst-
Stellung der motorischen Tätigkeit des Magens, beispielsweise
Nr. 28
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
849
von 100 cm* bei gesunden Menschen nach zwei Stunden bloß
25 cm" wieder bekommen. Bei Pylorusstenosen dagegen erhielt
er 100, bei schwacher Stenosierung 70 bis HO cm3. i'Vrner be¬
ruhigt Ocl die Schmerzen beim Ulkus häufig, aber nicht immer.
Ebenso wenig werden damit bessere I teilungsresultate erzielt als
mit den anderen bewährten Methoden der Ulkusbehandlung.
F ,a 1 1 a - Wien hebt im Gegensatz zu Sick hervor, daß man
in typischen Fällen die antiperistaltische Welle am Magen außer¬
ordentlich deutlich sehen kann. Fraglich ist allerdings noch,
ob man in ihr ein sicheres Zeichen einer organischen Pylorus
läsion zu sehen hat. Denn Falta hat sie gemeinsam mit
U. Schwarz in zwei Fällen von sicherem Morbus Reichmann
(mit Tetanie vergesellschaftet) gesehen. Vielleicht kann auch ein
bloßer Pyloruskrampf eine antiperistaltische Welle verursachen.
G l'oeido 1- Nauheim ist auch gegen das Lieber bord werfen
der Bezeichnung Pyl'oiusinsuffizienz, deren Bestehen durch die
Röntgenuntersuchungen erwiesen ist. ln einem interessanten Falle
-zeigte sich typische intermittierende Pylorusinsuflizienz mit inter¬
mittierendem Sanduhrmagen vergesellschaftet, ln diesem Faile
beeinflußten deutlich Sekretion und mechanische Momente und
zwar perigastritisehe Verwachsungen, den Pylorusschluß. In
Fällen von Pylorusinsuffizienz .sehen wir das Duodenum dauernd
mit Ingestis angefüllt. Die Antrumperrstaltik ist bei Hyperazidität
sehr lebhaft, bei Anazidität sehr gering.
Bah rdt- Berlin -Charlotten bürg : Die flüchtigen Säuren ver¬
mögen den Magen außerordentlich energisch zum Stillstand zu
bringen. Genaue quantitative Bestimmungen der flüchtigen
Säuren nach einer neuen Methode zeigten, daß die Mengen, welche
im Magen bei der Gärung entstehen, besonders Essigsäure und
Kohlensäure, dazu vollständig genügen. So erklärt es sich, warum
Ueberfütterung zu Stagnation führt. Diese erzeugt wieder ver¬
mehrte Bildung von flüchtigen Säuren und so wird der Circulus
vitiosus geschlossen.
Schitterihelm- Erlangen: Die großen Differenzen in dem
Angaben der einzelnen Forscher über das Salzsäureoptimum im
Viagen sind durch die beträchtliche Verschiedenheit der einzelnen
verwendeten Pepsinpräparate zu erklären.
B ü n ni g er -Pankow : Die Form des Magens ist nicht nur
von der Peristaltik, sondern auch vom Tonus abhängig. Ein nicht
Peristaltik zeigender Magen ist noch nicht atonisch. Ein atoni-
scher Magen hat aber stets ausgesprochene Hakenform. Der von
Sick demonstrierte Magen zeigte aber Kugelgestalt, was für
erhöhten Tonus spricht.
Neubau er- München : Die eiweißverdauende Kraft des Kar-
zinommagens ist bedeutend erhöht, doch ist dies jedenfalls nicht
die einzige Ursache des Salzsäuredefizits. Forinolti Rationen haben
da ebenfalls zu keiner Aufklärung geführt.
v. Tabora (Schlußwort): Bei dem Oelmagen handelt es
sich um gelähmte Peristaltik, aber zugleich um einen Magen mit
gutem Tonus. Es bildet sich sogar wahrscheinlich ein spastischer
Eindruck in der Mitte des Magens.
Sick (Schlußwort): Sick hält auch die1 Röntgenunter¬
suchung für die Aufklärung der verschiedenen Funktionszustände
des Pylorus für außerordentlich wertvoll.
Winternitz -Halle: U'eber eine neue Methode zur
Funktionsprüfung des Pankreas.
Die Aethy leister bieten dem Pankreas eine viel schwierigere
Aufgabe bei der Aufspaltung als die gewöhnlichen Fette. Vor¬
tragender hat daher den Monojod-Behänsäure-Aethylester ausge¬
wählt, um beim Menschen eine Pankreasfunktionsprüfung in fol¬
gender Weise vorzunehmen : Morgens werden nüchtern. 3 bis
4 cm3 des Stoffes gleichzeitig mit einem Probefrühstück verab¬
reicht. Nach drei Stunden tritt beim normalen Menschen eine
schwache Jodreaktion im Harn, bzw. im Speichel auf und läßt
sich viele Stunden lang bis zum nächsten Tage verfolgen. Das
Vorhandensein dieser Jodreaktion beweist zureichende Pankreas¬
funktion. Fehlen der Jodreaktion weist auf Insuffizienz des Pan¬
kreas hin. Der verwendete Ester verhält sich auch gegen Pflanzen-
hpasen ganz anders als gewöhnliches Fett und wird z. B. durch
Rizinuseimulsion nur sehr wenig aufgespalten. Beweisend für die
Methode sind nur die Fälle, wo bei in fast normalen Grenzen
sich vollziehender Fettspaltung und Resorption sich eine Funk¬
tionsstörung nach der neuen Methode ergab und durch Opera¬
tion und Autopsie bestätigt wurde. Dies war der Fall bei zwei
akuten Piankreetitiden. Intereissanterweise blieb auch in zwei
Fällen von Diabetes die Jodreaktion aus, was auf eine Störung
der Pankreasfunktion hinzuweisen scheint. Ganz Aehnliches zeigte
sich auch bei zwei Fällen von Splenomegalie, bei deren einem
eigenartige Koliken nach der Funktionsprüfung als Pankreaskoliken
angesprochen werden konnten. Eine wesentliche Einschränkung
erleidet die Methode allerdings dadurch, daß die Mitwirkung der
Galle zu ihrem Zustandekommen notwendig isl. Bei Ikterus mit
acholischen Stühlen ist also ein Ausbleiben der Jodreaktion
nicht für Pankreasinsuifizienz beweisend. Ebenso wird bei lleius-
erkrankung die Einnahme des Probefrühstücks und das Abwarten
des Reaktionseintrittes mit Schwierigkeiten verbunden sein. Jeden¬
falls ist sie aber einer ausgedehnten Nachprüfung wert.
(Fortsetzung folgt.)
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie zu Berlin
vom 19. bis 22. April 1911 (im Langenbeckhause).
Referent: Dr. M. Katzen stein -Berlin.
(Fortsetzung.)
Heinrich Klose-Frankfurt a. M. : Die habituelle Tor¬
sion des mobilen Cökums.
Die Frankfurter chirurgische Klinik beschäftigt sich mit
dem Krankheitsbild des Coecum mobile seil dem Jahre 1904.
Seit dieser Zeit sind 154 Fälle mit einer absoluten Heilungs¬
ziffer von 89°/o operiert worden.
Klose vertritt im Gegensatz zu Wilms den Standpunkt,
daß mechanische Passages törungen, die durch eine habituelle
Torsion an der Flexura hepatica zustande kommen, für das Zu¬
standekommen der Krankheit die Hauptrolle spielen. Sekundär
treten Hypertrophien und Atrophien der Wand, entzündliche Pro¬
zesse in der Umgebung des Coecum und Colon a,scendens sowie
chronische Torsionen und Dislokationen dieser ' Organe ein. Die
habituelle Torsion des mobilen Cökums ist nach ( inters uchungen
der Frankfurter Klinik eine der wichtigsten und häufigsten Ur¬
sa/, dien für die akute Appendizitis. Es werden diesbezügliche
Präparate demonstriert. Auch Wanderniere und schwere pye-
litisebe Infektionen können durch habituelle Cökaltorsxonen ver¬
anlaßt werden.
Klose berichtet über Experimente an Leichen, die1 seine
mechanische Grundauffassung bestätigen. Entsprechend •der¬
selben wird in Frankfurt das Gökum und ganze Colon asceiidens
an der seitlichen Bauchwand fixiert, um Torsionen unmöglich
zu machen, ln der letzten Zeit ist man weitergegangen und hat
bei schweren entwicklungsgeschichtlichen oder erworbenen Ente-
roptosen den gesamten Dickdarm, Leber und Milz in der normalen
Lage mit bestem Erfolge fixiert. Damit ist nun das große, ver¬
nachlässigte Gebiet der Entecoptosen für eine chirurgische aus¬
sichtsvolle Behandlung gewonnen.
F ro m me- Berlin : Bei der Frau wird das Cökuni während
der Gravidität weit nach oben gedrängt. Während der letzten
Hälfte derselben sind Beschwerden, ähnlich der chronischen Ap¬
pendizitis häufig. Diese beruhen auf zu starker Fixation des
Cökums. Zu große Beweglichkeit anderseits führt dabei zum
Volvulus.
Körte- Berlin befürchtet das Aufleben alter Irrlehren von
der Blinddarmentzündung im eigentlichen Wortsinn. Diese ist
so selten, daß er nur zweimal Geschwüre im Cökum gefunden hat.
Operation bei chronischer Appendizitis führt er nur aus, um
akuten Anfällen vorzubeugen. Das bloße Schmerzsymptom be¬
trachtet er als unzuverlässig. Sieht man in ihm eine Indikation
zur Operation, so wird man nur vorübergehende Erfolge erzielen.
Die Obstipation beruht auf mangelhafter Erregbarkeit des ge¬
samten Darmtraktus. Lokale Hindernisse spielen keine Rolle,
wie die Erfahrungen bei I leocökaltu berk u lose und bösartigen Tu¬
moren beweisen.
S p ren g el- Braunschweig : Die Typhlitis stercoralis ist de¬
finitiv erledigt : der Blinddarminhalt ist flüssig. Die Passage
durch den Darm ist. um so schneller, je beweglicher er ist. Ein
Coecum mobile (richtiger Mesenterium commune)) befindet sieb
in 1.0% der Fälle. Die Diagnose der Appendicitis chronica kann
mit Sicherheit gestellt werden. Findet sich in der Appendix ein¬
gedickter Kot, so ist die Exstirpation vollkommen gerechtfertigt.
Eine konstante Schmerzempfindlichkeit besitzt eine wirkliche dia¬
gnostische Bedeutung. Im Zweifelsfall wartet man den nächsten
akuten Anfall ab und operiert in den ersten 24 Stunden.
E. Alexander -Leipzig findet in Steinschnittlage bei appen¬
dizitisverdächtigen Patienten Schwellungen der sympathischen
Ganglien, die er durch Massage zur Heilung bringt.
Artur S eh les i ng e r- Berlin : Die Beschwerden können durch
Bettruhe oder Tragen einer Heftpflasterbinde oft beseitigt wer¬
den. Sie herüben dann auf Enteroptose.
Reh n- Frankfurt a. M. tritt für die Typhlitis ein. Er findet
Atonie, Hypertrophie und einen entzündlichen Schleier über dein
Cökum.
850
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 23
Mechanische Momente sind von großer Bedeutung, er be¬
richtet über Fälle von Torsion und Verlagerung. Nach dem An¬
fall, reicher mit Entleerung des Cökums unter Gurren aufhört,
macht er blutige Stühle.
Wilms -Heidelberg: Seine Kranken haften alle meistens
überhaupt keinen appendizitisc'hen Anfall. Durch die Fixation
des Cökums vermochte er Heilung herbeizuführen, wo die Appen¬
dektomie ohne jeden Erfolg aus geführt worden war.
V oelcker- Heidelberg : Raffung des Cökums.
Die Fixation von Hohlorganen mit veränderlichem Lumen
erscheint bedenklich, um so mehr, wenn man an die Beschwerden
denkt, die von Adhäsionen veranlaßt werden.
Darum zieht er die in zwölf Fällen von ihm ausgefühlte
Raffnaht (von Tänie zu Tänie) vor, welche zugleich auch einte
Verkürzung des Cökums mit sich bringt.
G oebell- Kiel : iZur chirurgischen Therapie der
durch Megasigmoideum und Houstonschen Klappen
v eru rs ach ten Obstipation.
Die Operation (Anlegung von Klemmen im Rektromanoskop)
führte zur Heilung von Obstipationen, welche sowohl der Fixation
nach Wilms, wie der Hormonalfixation widerstanden hatten.
Das Megasigmoideum (gewisisermaßen eine leichtere Form
der Hirschsprunfg sehen Krankheit) läßt sich radioskopisch
und romanoskopisch diagnostizieren.
Ri edel -Jena berichtet über einen Fall, welcher neunmal
laparotomiert wurde. Das erste Mal wegen dysenterischer Darm¬
blutung zwecks Ausschaltung des ganzen Kolons. Die Blutungen
bestanden fort, Störungen der Stuhlentleerung traten hinzu, die
weder durch Einschaltung noch durch wiederholte Ausschaltung
des Kolons beseitigt wurden. Die Patientin hat zurzeit eine Cökal-
fistel und es scheint nichts übrig zu bleiben, als die Exstirpation
des ganzen Kolons.
Körte- Berlin hat diese Operation in einem Falle mit
gutem Erfolg ausgeführt.
y. E is eis hier g - Wien hält es für, richtiger, das Kolon
auszuschalten, oben und unten zu verschließen und eine kleine,
als Ventil dienende Fistel anzulegen.
de Qu er vain -Basel: Die Resektion des ganzen Kolons
wird in England vielfach geübt. Ihre Mortalität ist 25°/o. Im
übrigen illustriert der Fall Riedehs seine Ausführungen über
d i e Di ckda rm aus s cha ltun g .
Friedrich-Marburg: Die Inkubationszeit der peri¬
tonealen Infektion.
Es gelten die gleichen Gesetze, welche Redner für die
Muskelinfektion festgestellt hat. Entfernung des infizierten Ma¬
terials, bis zu acht Stunden nach der Einbringung in die Bauch¬
höhle wirkt lebensrettend. Von da ab nicht mehr. Jedoch über¬
leben die bis zur zwölften Stunde relaparotomierten Tiere die
Peritonitis länger als die Myositis, nämlich bis zu fünf 'lagen;
alle jenseits dieser Zeit von dem infektiösen Fremdkörpermaterial
wieder befreiten Tiere gehen ausnahmslos und innerhalb 36 bis
00 Stunden ein.
A. Hoffmann- Offenburg : Erfahrungenüberdas Rov-
singsche* 1 Symptom.
Das Symptom besteht zu Recht. Seine Erklärung durch
Rovsing (Luftstauung in der Appendix) ist unhaltbar. Auch
besitzt es keinerlei p ath og n o m on is eben Wert für Appendizitis.
Fahr icilus- Wien: Zur offenen Behandlung der
Bauchhöhle bei Entfernung entzündlicher Tumoren.
Ho ohne- Kiel: Klinische Erfahrungen über die
Vorbehandlung des Bauchfells zum Schutze gegen
peritoneale Infektion.
Floehne berichtet über die Erfolge, die an der Kieler
Universitätsfrauenklinik mit den „unreinen“ Bauchhöhlenopera¬
tionen um mindestens 24 Stunden vorausgeschickten, also ante-
operativen Reizbehandlung des Peritoneums erzielt worden sind.
Als Reizmittel diente Kampferöl in verschiedenen Konzen¬
trationen.
Die Methode ist von Ho eh ne nach den klaren Ergeb¬
nissen seiner eingehenden „experimentellen Untersuchungen über
den Schutz des Tierkörpers gegen peritoneale Infektion“ auf den
Menschen übertragen und von Pfannen stiel auf dem Gynä¬
kologenkongreß in Straßburg 1909 als ein seiner „postoperativen
Oelung“ überlegenes Verfahren der Peritonitisprophylaxe em¬
pfohlen worden. Die anteoperative Reizbehandlung des Perito¬
neums bezweckt, durch Erzeugung eines unschädlichen abak-
teriellen fibrinösen Exsudates die Bakterienresorption aus der
Bauchhöhle aufzuheben und gleichzeitig durch die Exsudation
die bakteriziden Kräfte in der Bauchhöhle zu erhöhen. Gelangt
nun während der mindestens einen Tag, am besten mehrere
Tage später vorzunehmenden Operation infektiöses Material in
Verantwortlicher Redakteur : Earl Knbasta.
Druck ron Bruno Bartelt, V
die freie Bauchhöhle hinein, so werden die infolge der Vorbehand¬
lung im Peritonealraum festgehaltenen Keime binnen kurzer Zeit
vernichtet, ohne dem Körper gefährlich werden zu können.
Die Vorbehandlung des Peritoneums mit Kampferöl ist in
94 Fällen ohne Schaden zur Anwendung gekommen. Von den
94 Fällen dürfen 78 Fälle zur Bewertung der Methode heran¬
gezogen werden. Von den 78 Frauen ist keine an Peritonitis
gestorben, obwohl es sich größtenteils um Operationen handelte
(vor allem abdominale Karzinomoperationen), die sonst erfah¬
rungsgemäß mit einer hohen PeritonitisnVörtalität belastet sind.
Die Technik des Verfahrens wird genau beschrieben und das
sehr einfache Instrumentarium gezeigt.
Diskussion: Borchar dt- Posen empfiehlt die Injektion
von 100 cm3 sterilen Olivenöls in die. Bauchhöhle. Die nor¬
male Peristaltik setzt alsdann ein.
Mül ler -(Rostock hat nach Oelinjektionen keine Adhä¬
sionen ein treten sehen.
R eh n- Frankfurt a. M. : Wenn die Oelinjektion keine Ad¬
häsionen hervorruft, so kann sie auch kein fibrinöses Exsudat
veranlassen. Hier besteht ein Widersprach.
(Fortsetzung folgt.)
K. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Nächste Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
am 16. Juni 1. J.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale der
pädiatrischen Klinik Donnerstag den 8. Juni 191 1, um 7 Uhr abends,
statt.
(Vorsitz: Dr. Julius Drey.)
Programm:
1. Demonstrationen angemeldet: Priv.-Doz. Dr. Enönfelmacher,
Dr. Rud. Pollak.
2. Priv.-Doz. Dr. Hoclisinger: Ueber angeborenen Lückenschädel.
Das Präsidium.
Ophthalmologische Gesellschaft in Wien.
Programm der am Montag den 12. Juni 1911, 7 Uhr abends, im
Hörsaale der Klinik Fuchs stattfindenden Sitzung.
Meller: Ueber postoperative und spontane Chorioidealabhebung.
Dr. Richard Krämer, dz. Schriftführer.
- - —
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Einladung zu der am Dienstag, 18. Juni 1911 im Hörsaal der Klinik Hofrat
v. Wagner (Zugang durch die Borschkegasse, alte Landesirrenanstalt),
abends 7 Uhr, stattfindenden Vereinsversainmung.
Programm:
Demonstrationen: 1. Priv.-Doz. Dr. C. Strauß und Privatdozent
Dr. R. Löwy : Zur pathologischen Histologie der Meningealhirngefäße.
2. Dr. L. Dimitz: Myxödem mit Hypophysentumor.
3. Dr. Pötzl: Demonstrationen eines Gehirnes mit Balkenmangel.
4. Dr. H. Rauer und Dr. Leidler: Experimentelle Verletzungen
des zentralen Vestibularapparates.
5. Priv.-Doz. Dr. Bäräny.
6. Vortrag: Priv.-Doz. Dr. Otto Marburg: Zur klinischen Pathologie
der Myatonia congenita (Oppenheim).
Dr. Marburg, Schriftführer.
(Nach der Sitzung gesellige Zusammenkunft im »Riedhof«.)
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Dienstag den 18. Juni 1911, im Hörsaale der
II. Univ.-Frauenklinik. Beginn: Punkt 7 Uhr abends.
1. Weibel: Bericht über die Erfolge der vaginalen Operationen
wegen Retrodeviation des Uterus.
2. Ogorek (a. G.) : Funktionierendes Ovarium bei nie menstruierter
Frau.
3. G. A. Wagner: a) Zur Technik der Hystreuryse; b) Blasen¬
hernie nach Hebosteotomie; c) Intrauterine Skeletierung.
Kroph, Schriftführer. Wertheim, Vorsitzender.
Verlag von Wilhelm ßrnnmällor in Wien
i XV III., Theresiongaaso 8.
nnter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0. Chiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S.
H. Obersteiner, A. Politzer.
Exner. E. finger. M. Gruber. F. Hochstetter, A. Kolisko. H. Meyer. J. Moeller, K v.
A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler. Q. Toldt. J. v. Wagner. E. Wertheim.
Noorden,
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
»nlon Freih. v. Eiseisberg. Alexander Fraenkel. Ernst Fuchs. Julius Hochenegg. Ernst Ludwig, Edmund ». Neusser
Richard Paltauf. Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler. VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
. XXIV. Jahrg. Wien, 15. Juni 1911 Nr. 24
INHALT:
1. Originalartikel : 1. Die Lokalisation der Herztöne. Von Professor
Dr. M. Heitl er. S. 851.
2. Ueber tuberkulöse Exazerbation. (Zur Theorie der Phthiseo-
genese.) Von Priv.-Doz. Dr. Franz Hamburger. S. 859.
- 3. Aus der Prosektur (Vorstand: Hofrat Prof. Dr. Richard Paltauf)
und der Hautabteilung (Vorstand: Primarius Dr. Leo Ritter
v. Zumbusch) der k. k. Rudolfstiftung in Wien. Nachprüfung der
nach Angabe Müllers und Landsteiners modifizierten Methodik
der Wassermannschen Reaktion mit nicht inaktiviertem Serum
Von Dr. Emil Epstein und Dr. S. D e u t s c h. S. 860.
4. Aus der medizinischen Klinik der Universität Lemberg (Vor¬
stand: Prof. Dr. A. Gluzinski.) Alimentäre Glykosurie und
Adrenalinglykosurie. Mit besonderer Berücksichtigung der
Glykosurie in der Gravidität und der Zuckerkrankheit. Von
Dr.MarekReichenstein, gew. Asistenten der Klinik. S. 862.
II. Diskussion: Lichtschädigungen der Haut und Lichtschutzmittel
Von Prof. Dr. C. Mannich, Berlin. S. 869.
III. Referate: Ueber Psychoanalyse Von Prof. F r e u d. Die Diagnose
der Nervenkrankheiten. Von Stewart. Die jugendlichen Ver¬
brecher im gegenwärtigen und zukünftigen Strafrecht. Von
Prof. Schultz e. Leitfaden der experimentellen Psychopatho¬
logie. Von Priv.-Doz. Gregor. Beiträge zur Pathologie des
Stoffwechsels bei Psychosen. Von Dr. Max Kaufma n n. Etudes
sur la paralysie generale et sur tabes. Par S p i 1 1 m a n n et
Perrin. Die symptomatischen Psychosen im Gefolge von
akuten Infektionen und inneren Erkrankungen. Von Prof. K. Bon¬
höf f e r. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Von Prof. Freud.
Cesare Lombroso als Mensch und Forscher. Von Dr. Kurelia.
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Von Professor
Freud. Ludwig Türcks gesammelte neurologische Schriften.
\ on Prof. Neuburger. Die hereditären Beziehungen der
Dementia praecox. Von Dr. Josef B e r z e. Untermenschen oder
Narren ? Von N adastiny. Jahrbuch für psychoanalytische und
psychopathologische Forschungen. Von Prof. Bleuler und
Prof. Freud. Seele und Gehirn. Von Dr. Thoden van Ve 1 z e n.
Referent: E. Rai mann. — Pathologie des Zwerchfells. Von
Priv.-Doz. Dr. Eppinger. Hypophysis, Akromegalie und Fett¬
sucht. \on B. Fischer. Les sciatiques, leurs traitements. Par
Lortat-Jacob et G. Sabareanu. Diagnostik der Nerven¬
krankheiten. Von L. E. Bregmann. Ref.: M. Sternberg.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. l enilleton: Ist obligatorischer Seminarunterricht in der Geburts¬
hilfe notwendig? Von Prof. Peters. S. 881. — Sozialärztliche
Revue. Von Dr. L. S o f e r. S. 883.
VI. Vermischte Nachrichten.
t II. \ erliandlungeii ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Die Lokalisation der Herztöne.
Von Prof. Dr. M. If eitler.
L a e n n e c, welcher zuerst, die Herztöne hörte und den
ersten Ton durch Kontraktion des Ventrikels, den zweiten
Ton durch Kontraktion der Vorhöfe erklärte, hat zugleich
die Töne beider Herzhälften unterschieden. „Die Töne,
welche man am unteren Teile des Sternums hört“, sagt
Laennec, „gehören den rechten Höhlen, die Töne der linken
Höhlen hört man zwischen den Knorpeln der Rippen.“ Für
liese Annahme war nebst der Lage der Herzhöhlen der
Charakter der Töne maßgebend. „Im natürlichen Zustande
und die Töne der Herzkontraktionen ähnlich und gleich
semblable et egal) auf beiden Seiten ; in manchen patlio-
ogi sehen Fällen werden, sie, im Gegenteil, ganz unähnlich
nil beiden Seiten.“ Bouillaud, der die Theorie Roua-
jiets über die Entstehung der Herztöne, nach welcher
lieselben Klappentöne sind, mit geringen Modifikationen ak¬
zeptierte, hält die Unterscheidung der Töne der rechten
■ml linken Herzhöhlen trotz seiner vielfältigsten und auf-
nerksamsten Untersuchungen unter normalen Verhältnissen
ür sehr schwierig, in Wirklichkeit für unmöglich. Die zwei
■ one, welche man am unteren Teile des Sternums hört,
;agt Bouillaud, sind im allgemeinen heller als die¬
sigen, welche man in der Gegend der Knorpel der fünften und
ochsten Rippe hört, ob jedoch dieser Unterschied damit
•usammenhängt, daßi die Töne an der ersten Stelle diejenigen
i er rechten Höhlen und die Töne an der zweiten Steile
iiejenigen der linken Höhlen sind, wagt er nicht, zu he- |
hau p ten. Gendrin betont, daßi es von großer Wichtigkeit
für die Diagnostik sei, zu bestimmen, auf welche der zwei
Ventrikel die Modifikationen, welche in den Tönen eintreten,
zu beziehen seien; er meint, man könne hierzu durch die
Beziehungen, welche die Stellen des Thorax, an welchen
die Geräusche gehört werden, zu den Herzhöhlen haben, ge¬
langen1: W i 1 1 i a m s, der den ersten Herzton durch Span¬
nung der Klappen und der Ventrikelwände durch muskuläre
Kontraktion erklärt, bemerkt ebenso wie Laennec den
verschiedenen Charakter der Ventrikeltöne. „Die verschie¬
dene Dicke der Ventrikel verursacht es, daß der erste Ton
kürzer und heller ist am Sternum, welches über dem rechten
Ventrikel ist, dumpfer und länger, wo die Spitze des linken
Ventrikels zwischen der fünften und sechsten Rippe schlägt
und diese Unterschiede sind beträchtlicher, wo infolge von
Krankheit der Unterschied in der Dicke erhöht ist.“ Der
zweite Aorta- und der zweite Pulmonalton werden von
VV illiams nicht differenziert; beide Klappen produzieren
nur einen Ton.
Bemerkenswert ist, daß die Autoren, welche die Töne
nicht trennen konnten, die Geräusche richtig unterschieden.
Man kann, sagt B o u i 1 1 a u d, im abnormen Zustande, we¬
nigstens in einer guten Anzahl von Fällen, nicht nur ent¬
scheiden, ob ein bestimmtes Geräusch den rechten oder
linken Höhlen gehöre, sondern auch ob dasselbe in den
aurikulo-ventrikulären oder arteriellen Ostien der einen oder
anderen dieser Höhlen entstehe. Williams hat für die
Lokalisation der Geräusche Regeln angegeben, welche auch
heute gültig sind und IT o p e, der ebenfalls die Töne an beiden
852
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
Seiten des Herzens als gleich bezeichnet, hat. den ver¬
schiedenen Charakter der Geräusche an mehreren Stellen
der Herzgegend für die Diagnose der Erkrankung meh¬
rerer Klappen verwertet. Der prägnantere Charakter der
Geräusche hat ihre Unterscheidung erleichtert.
Die Trennung der Herztöne hat Skoda vollzogen.
In seiner berühmten Abhandlung „Uber den Herzstoßi und
die durch die Herzbewegungen verursachten Töne“ aus dem
Jahre 1837 x) stellte Skoda den Satz auf, daß die beiden
Herzkammern jede für sich sowohl den ersten als den
zweiten in der Herzgegend vernehmbaren Ton hervorbrin¬
gen ; er akzeptiert mit Ausnahme für den zweiten Kammer¬
ton die Erklärung Rouanets über die Entstehung der
Töne und bezeichnet folgende Auskultationsstellen : Die
Töne der linken Kammer werden an der am meisten nach
links gelegenen Stelle des Thorax, an welcher bei jeder Kam¬
mersystole die Hervortreibung der Zwischenrippenräume
fühlbar ist, gehört, die Töne des rechten Herzens am unteren
Teil des Sternums, die Töne der Aorta in der Mitte des
Sternums oder etwas höher hinauf, rechts von der Mittel¬
linie des Sternums, die Töne der .Pulmonalarterie einen
oder anderthalb Zoll links von der Mittellinie des Ster¬
nums etwas über der Brustwarze. Skoda bemerkt zu¬
gleich, daß diese zur Auskultation angegebenen Stellen nicht
in jedem Falle die gleichen sind, daß man die Verschieden¬
heiten in der Lage des Herzens und in der Größe der
Herzkammern berücksichtigen müsse ; so können die Töne
einer erweiterten rechten Kammer weil nach links und
die Töne einer erweiterten linken Kammer unter dem Ster¬
num gehört werden; man müsse, wenn man die Töne des
Herzens und der Arterien als diagnostische Momente be¬
nützen will, alle Stellen des Thorax untersuchen, wo sich
die Töne hören lassen und im Vorrücken von einer Stelle
zur anderen auf die Verschiedenheiten aufmerksam sein,
die sich in den Tönen wahrnehmen lassen. Doch sagt
Skoda weiter, sind alle diese Momente nicht hinreichend,
um in jedem Falle den Entstehungsort der Töne mit
Sicherheit bestimmen zu können und er schließt mit den
Worten: „Auf diese Art wird sich mit Berücksichtigung
der anderen Zeichen, welche zur Bestimmung der Lage
und Beschaffenheit des Herzens, der Aorta und Pul¬
monalarterie dienen, nicht in allen, doch in den meisten
Fällen angeben lassen, welche Kammer oder welche Arterie
die gehörten Töne hervorbringe.“ Diese Abhandlung Sko¬
das, wenn auch die Angaben in derselben weniger präzis
sind als in den späteren Abhandlungen, muß als die be¬
deutungsvollste und richtigste bezeichnet werden; sie weist
auf alle Momente hin, welche bei der Lokalisation der Töne
in Betracht gezogen werden müssen und die Schwierig¬
keiten der Lokalisation kommen in vollem Maße zum Aus¬
druck; wir sehen, auch der Schöpfer der physikalischen
Semiotik hat diese Schwierigkeiten nicht überwunden und
wir können hinzufügen, sie sind auch heute nicht über¬
wunden. In der zweiten Abhandlung „Untersuchungsme¬
thoden zur Bestimmung des Zustandes des Herzens“2) for¬
mulierte Skoda mit stärkerer Betonung der anatomischen
Verhältnisse genauer die Grundsätze für die Lokalisation
der akustischen Phänomene des Herzens. „Die Töne sowohl
als die Geräusche werden stets an jenen Stellen des Thorax,
welche der Erzeugungsstellc des Tones oder Geräusches am
nächsten gelegen sind, am deutlichsten und stärksten gehört,
die Fälle abgerechnet, wo der Ton oder das Geräusch sich
durch Resonanz verstärkt oder durch verminderte Schall¬
leitung gedämpft wird.“ Die Auskultationsstellen der Töne
sind mit geringer Modifikation dieselben wie in der ersten
Abhandlung; der Charakter der Töne, welcher für die Unter¬
scheidung derselben in der ersten Abhandlung betont wurde,
ist nicht hervorgehoben.
’) Medizinische Jahrbücher des k. k. österreichischen Staates.
Neueste Folge Bd. 13.
2) Medizinische Jahrbücher des k. k. österreichischen Staates
Neueste Folge, Bd. 18.
Die Abhandlungen Skodas, insbesondere die zweite
Abhandlung, bildete den Ausgang für die weitere Forschung
auf dem Gebiete der Lokalisationslehre; man bemühte sich,
auf Grundlage anatomischer Studien, welche das Lagever¬
hältnis der Ostien und der einzelnen Teile des Herzens zur
Brustwand klarlegten, die Auskultationstellen der Ostien
-genauer als dies durch Skoda geschah, festzustellen. Grund
legend war die Abhandlung von Joseph Meyer „Ueber diej
Lage der einzelnen Herzabschnitte zur Thoraxwand und über
die Bedeutung dieses Verhältnisses für die Auskultation des
Herzens.“3) Meyer bestimmte, Hope und G e u d r i n fol¬
gend, durch in die Brust eingestochene Nadeln die Pro¬
jektion der Ostien und Klappen gegen die Brustwand und
machte auf Grundlage der gewonnenen Ergebnisse folgende
Angaben über die Auskultation derselben: Der zweite Pul¬
monalton wird am besten gehört im zweiten und dritten
interkostalraum am linken Rande des Sternums, vorzugs-j
weise aber im zweiten Interkostalraum etwa einen halben)
Zoll vom linken Rande des Brustbeins, die Aortaklappen!
an der Sternalartikulation der dritten linken Rippe und
einem Teil des an diese stoßenden Brustbeinstückes, oder
etwas höher oder tiefer am Sternum im zweiten oder dritten
Interkostalraum, die Mitralis nicht genau entsprechend dei
anatomischen Lage der Klappe, sondern entsprechend der
weniger von der Lunge bedeckten oder der Brustwand un¬
mittelbar anliegenden Stelle des Herzens im vierten Inter¬
kostalraum, eineinhalb bis zwei Zoll vom linken Rande des
Sternums oder an der Stelle des Spitzenstoßes, die Tri
kuspidalis am Sternum zwischen den vierten Rippen. Auch
für die späteren Forscher waren die anatomischen Ver¬
hältnisse maßgebend. Wie streng man sich an diese hielt,
zeigt die Unterweisung Bambergers, man solle, da es an
einer bestimmten Stelle des Herzens stets zu einer ge¬
wissen Vermengung der gleichzeitig entstehenden Tönej
komme in der Weise, daßi die Töne jener Klappe, die dem
Stethoskop am nächsten liegt, überwiegen, die Stelle der zu,
untersuchenden Klappe möglichst genau mit der Oeffnung
des Hörrohrs bedecken; man müsse z. ß., um die Töne
der Aorta zu untersuchen, das Hörrohr so aufsetzen, daß;
seine Oeffnung die Artikulation der dritten linken Rippe,
das anstoßende Stück des Sternums und zugleich [dasj
unterste Ende des zweiten und das oberste Ende des:
dritten Interkostalraums bedecken, so daß auch bei etwas!
höherer oder tieferer Lage der Klappen dieselben sich doch
unter der bedeckten Stelle befinden. Bamberger be¬
trachtet gegenüber Skoda in Uebereinstimmung mit äl¬
teren Autoren den zweiten Tön in den Kammern als fort¬
geleiteten zweiten Arterienton, so daß in der Regel der
zweite Kammerton aus der der Kammer angehörigen Arterie i
kommt, nimmt aber an, daß, unter Umständen auch eine
Fortleitung aus der anderen Arterie stattfinden könne. Fried-
r e i c h, der Bambergers Anschauung akzeptiert, betont
für die Fortleitung des zweiten Arterientones in die der
Arterie angehörigen Kammer die innigen anatomischen Be¬
ziehungen, welche zwischen Arterie und Kammer bestehen.
Wie man im einzelnen Falle entscheide, ob der zweite
Kammerton aus der der Kammer angehörigen oder aus der
anderen Arterie fortgeleitet sei, wird von Bamberger und
F riedreich nicht angegeben.
Auch die Isolierung der Töne geschah auf anatomischer
Grundlage; man nahm an, daßi die Töne der Aorta- und
Pulmonalklappen entsprechend den einfachsten anatomischen
Beziehungen am besten in die Gefäße fortgeleitet werden.
So gab F r i e d r e i c h an, daß; man die Aorta am besten
im zweiten rechten Interkostalraum, die Pulmonalis irn
zweiten linken Interkostalraum unmittelbar am Sternum
auskultiert. Diese Angabe finden wir auch bei Gerhardt,
Rosen stein, Ei c h hors t und bei den jüngeren Auto¬
ren Sahli, Krehl, Romberg, Brugsch und Schii¬
ten heim. „Wir Aerzte“, sagt Krehl, „bezeichnen als
zweiten Pulmonalton das, was in der Diastole des Herzens?
3) Virchows Archiv, Bd. 3.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
853
links vom Sternum, als zweiten Aortenton das, was rechts
vom Brustbein im zweiten Interkostalraum gehört wird.“
Abweichend hiervon und auch etwas verschieden von seinen
früheren Angaben gibt Skoda in der sechsten Auflage
seines Werkes über Perkussion und Auskultation an, daß.
man die Töne aus der Pulmonalarterie im dritten links¬
seitigen Interkostalraum einen halben oder einen Zoll vom
Brustbeinrande entfernt am lautesten vernehme, die Töne
aus der Aorta an der Insertion der dritten linken oder rech¬
ten Rippe oder in dieser Höhe am Brustbein selbst oder
etwas höher längs dem rechten Rand des Brustbeins. Nur
Paul Niemeyer lokalisiert den zweiten Pulnronalton vor¬
zugsweise in den fünften Interkostalraum.
e Der erste Ton des linken Ventrikels wird in ziemlicher
Uebereinstimnmng an die Herzspitze oder in die Nähe der¬
selben, der erste Ton des rechten Ventrikels an die untere
Hälfte des Sternums, an die Mitte oder den untersten Teil
desselben gesetzt; es wird .angenommen, daß die Töne der
Mitralis und Trikuspidalis vollständig auf die Substanz der
Ventrikel übergehen und an den Stellen, an welchen die
' Ventrikel von den Lungen weniger bedeckt sind oder un¬
mittelbar der Brustwand anliegen, am besten gehört werden.
Die Uebereinstimmung über die Unterscheidung der
Töne ist jedoch nicht ohne Widerspruch. Der Lokalisation
der ersten Ventrikeltöne steht der Ausspruch Richard Gei-
■_ gels gegenüber: ,,Es ist zweifelhaft, ob man je den ersten
Ton des linken Ventrikels von dem des rechten Ventrikels
t wird unterscheiden können“,4) und über die Tren-
nung der Gefäßtöne sagt Stern, daß man einen
an der Aorten- von einem an der Pulmonalarterien¬
wurzel gebildeten Schall nur über dem aufsteigenden Teil
oder dem Arcus Aortae (d. i. am rechten Sternalrand im
zweiten oder dritten Interkostalraum und am linken Sternal¬
rand im ersten oder zweiten Interkostalraum) von einander
unterscheiden könne, wenn eine solche Unterscheidung über¬
haupt möglich ist.
Die Fixierung der Töne an bestimmte Stellen der Herz¬
gegend mit Zugrundelegung der anatomischen Verhältnisse,
die topisch-anatomische Lokalisation der Herztöne mult als
unrichtig bezeichnet werden. Das häufig verschiedene In-
- tensitätsmaximum der Töne bei verschiedenen Individuen
und (manchmal auch bei demselben Individuum unter norma¬
len \ erhältnissen, die Verschiebung der Intensitätsmaxima
bei Lageveränderung des Herzens, bei Vergrößerung der
einzelnen Herzabschnitte und der damit einher gehenden
Lageveränderung derselben, die durch Verstärkung und Ab¬
schwächung der Töne bedingte Erweiterung und Einengung
dires Verbreitungsgebietes auch mit gänzlichem Schwinden
einzelner Töne, die Vermengung der Töne an manchen Stel¬
len der Herzgegend, der an manchen Stellen auftretende
Wechsel der Töne, indem an derselben Stelle Töne ver¬
schiedenen Charakters, welche nicht als Abschwächung oder
Verstärkung desselben Tones gelten können, abwechseln,
schließen fixe Auskultationsstellen aus.
Es ist auffallend, daß die Autoren die große Mannig¬
faltigkeit des akustischen Bildes der Herzgegend, die große
Verschiedenheit der Töne, nicht nur bei Vergleich der oberen
und unteren Partien, sondern auch bei Vergleich der ein¬
zelnen Stellen der oberen und unteren Partien gegen ein¬
ander nicht hinreichend erfaßt haben. Skoda bemerkt,
daß die Töne an der Herzspitze, also die Töne des linken
Ventrikels von den Tönen in gleicher Höhe unter dem
Sternum, also von den Tönen des rechten Ventrikels zu¬
weilen in Stärke und Helligkeit differieren, in einigen Fäl¬
len habe er auch in der Schallhöhe Unterschiede ange¬
troffen; ebenso habe er gefunden, daß die Töne oberhalb
der Basis des Herzens am rechten Rande des Sternums,
also übci der Aorta, in Stärke und in Helligkeit und in
sehr seltenen Fällen auch in der Schallhöhe verschieden
sind von den Tönen in gleicher Höhe, aber etwa einen
Zoll links vom Brustbein und daß die Unterschiede der
töne viel deutlicher hervortreten hei Individuen, die an
\ erschiedenen krankhaften Zuständen des Herzens- leiden.
Auch Bamberger gibt an, daßi man bei Gesunden und
Kranken nicht selten die Töne an den verschiedenen
Stellen des Herzens der Stärke, der Dauer, dem
Schalltimbre nach, wesentlich verschieden voneinander
findet. Die Angaben der Autoren lauten im allgemeinen
dahin, daß der erste Ton über den Ventrikeln stärker,
dumpfer, länger, größer, der zweite1 Ton schwächer,
kürzer, heller sei und der Akzent auf den ersten Ton falle’
daß an der Basis des Herzens der erste Ton schwächer,
dei zweite Ton stärker sei und der Akzent auf den zweiten
Ton falle; die korrespondierenden Töne der Kammern und
der Gefäße werden als gleich oder nur in der Stärke in
geringem Grade verschieden bezeichnet. So sagt Ger-
har d t, daß man unter besonderen Umständen sowohl an
der Herzbasis als auch an der Herzspitze die Töne links von
anderem Klang, höher, tiefer, rauher oder sonst verändert
finde im Vergleich mit jenen rechts im zweiten oder fünf¬
te11 Interkostalraum und daß die zweiten Töne der großen
Gefäße normalerweise gleich stark seien. Nur Hermann
\ i e r o r d t ’) hat durch sorgfältige Messungen nachgewiesen,
daß. die einzelnen Töne an Stärke wesentlich differieren.
\ i e r o r d t hat sich bei den Messungen an die üblichen Aus¬
kultationsstellen gehalten, die Trikuspidalis auskultierte er
in der Höhe des fünften rechten Rippenknorpels und dem
angrenzenden Sternalteil.
Einige Fehldiagnosen, welche ich vor vielen Jahren
dadurch begangen, daß. ich traditionsgemäß den zweiten
Ion am Sternalrand des zweiten linken Interkostalraumes
als Pulmonal ton aufgefaßt, — - ein Fall von Schrumpfniere
mit anorganischer Mitralinsuffizienz als organische Mitral¬
insuffizienz mit konsekutiver Nephritis diagnostiziert, ein
lall von Arteriosklerose mit schwachem systolischen Ge¬
räusch an der Herzspitze als Mitralinsuffizienz — , zeigten
mir die Unrichtigkeit der topisch-anatomischen Lokalisation.
Ich richtete größere Aufmerksamkeit auf die Beschaffen¬
heit der Töne und fand bald, daß der prägnante Charakter
der unter pathologischen Verhältnissen verstärkten zweiten
Gefäßtöne auch unter normalen Verhältnissen hinreichend
ausgeprägt sei, um dieselben voneinander unterscheiden zu
können. In meiner Abhandlung6) „Die Lokalisation des
zweiten Aorta- und des zweiten Pulmonaltones“ habe ich
hierüber folgendes angegeben : „Der zweite Aortaton ist hell,
rein, im Vergleich mit dem zweiten Pulmonalton hoch, häufig
ein wirklicher Ton, dessen Höhe leicht bestimmt werden
kann, kurz, von geringem Umfange und scharf begrenzt;
der zweite Pulmonalton ist ein tiefer, dumpfer Schall, von
längerer Dauer, auf einen größeren Raum verbreitet und
ohne scharfe Begrenzung, diffus. Der zweite Pulmonalton
behält immer diese Eigenschaften ; er bleibt ein dumpfer,
tiefer Schall, auch wenn er noch so stark wird, er hat
nie Klang, er wird nie ein heller, hoher Ton. Der Unter¬
schied in der Stärke ist nicht so maßgebend wie die übrigen
Qualitäten der föne, gewöhnlich ist der Aortaton stärker,
manchmal macht jedoch der Pulmonal ton den Eindruck des
stärkeren tones.“ Ich habe dann das Verbreitungsgebiet
beider Töne bestimmt und es sei folgendes hervorgehoben.
Das Gebiet des Aortentones ist groß, das Gebiet des Puhnonal-
tones gering; am Sternalrand des zweiten linken Interkostal-
raumes ist immer der Aortaton, manchmal ist derselbe
auch im unteren Dritteil des Sternums; der Pulmonalton ist
im linken dritten und vierten Interkostalraum in geringer
Entfernung vom Sternalrand, in manchen Fällen ist der¬
selbe an keiner Stelle der Herzgegend.
Zu gleicher Zeit erschien von Ewart eine Studie
über Lokalisation der Herztöne. E war I bestimmte den
Entstehungsort der Töne auf Grundlage ihres Charakters,
wobei er hauptsächlich die Höhe verwertete und suchte
dann die anatomischen Bedingungen zur Erklärung ihrer
tortleitung festzustellen. Ewart hebt hervor, daß der
4) Leitfaden der diagnostischen Akustik. Stuttgart 1908.
6) Die Messung der Intensität der Herztöne. Tübingen 1885.
6) Wiener klin. Wochenschr. 1894, Nr. 50.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
Hauptunterschied zwischen allgemein angenommenen An¬
sichten und den seinigen die Fortleitung der zweiten Töne
betrifft, daß der über der rechten Ventrikulararea gehörte
Ton der Aortaton und nicht der Pulmonalton sei. Das
Intensitätsmaximum des zweiten Aortentones befindet sich
nach Ewart im zweiten rechten, das Intensitätsmaximum
des zweiten Pulmonal tones im zweiten linken Interkostal¬
raum.
Auch nach diesen Darstellungen halten die Autoren
an der Gleichheit der Töne beider Herzhälften fest. So
gibt K r e h 1 an, daß der zweite Ton der Aorta und iPul-
monalis gleich laut seien; er fügt die Bemerkung hinzu, daßi,
da Blutdruck und Druckunterschied zwischen Arterie und
Herzkammern an der Aorta viel stärker sei als an der Pul-
monalis, der Grund der Uebereinstimmung völlig unklar
erscheine und daßi es kaum möglich sei darüber eingehend
zu diskutieren, denn für eine physikalische Erörterung der
Dinge müßte man die Töne am Aorten- und Pulmonalostium
unter vollkommen gleichen Bedingungen auskultieren. Auch
Sahli sagt in der letzten Auflage seines Lehrbuches der
klinischen Untersuchungsmethoden, was das Stärke Verhält¬
nis der verschiedenen Herztöne unter physiologischen Ver¬
hältnissen betrifft, so nimmt man gewöhnlich an, daß jeder
Ton des linken Herzens mit dem entsprechenden Tön des
rechten Herzens paarweise gleich stark gehört werde. Nur
Brugsch und Schittenhel m bemerken, daß der zweite
Aortaton höher sei als der zweite Pulmonalton.
Obwohl ich mit der Lokalisation des zweiten Aorta-
und zweiten Pulmonaltones auf Grundlage ihres Charakters
zufrieden sein konnte, kam] es vor, daß ich an Stellen der
linken Herzarea nicht entscheiden konnte, ob der Ton da¬
selbst Aorta- oder Pulmonalton sei; die Entscheidung ist
dringend, wenn, wie dies manchmal der Fall ist, der
zweite Aortaton am rechten Sternairarid des zweiten
Interkostalraumes, wo derselbe meistens am stärksten
und reinsten ist und auch am linken Sternalrand
schwach ist und die Frage dahin gipfelt, ob der
zweite Aortaton oder der zweite Pulmonalton ver¬
stärkt sei. Auch die Unterscheidung der ersten Ven¬
trikeltöne bot manchmal Schwierigkeiten und ich gelangte
zur Ueberzeugung, daß die phonetische Lokalisation der
Herztöne keine absolute sei, daß man die Veränderungen,
welche die Töne durch die schalleitenden Medien erfahren,
kennen müsse, wenn man den Charakter derselben für
die Lokalisation verwerten will. Schon früher habe ich
die Tatsache kennen gelernt, daßi ein Geräusch, welches
an einem Ostium entsteht, an verschiedenen Stellen der
Herzgegend verschiedenen Charakter zeigen kann, daß also
die Lehre, daß der verschiedene Charakter ddr Geräusche
an mehreren Stellen der Herzgegend auf Entstehung der¬
selben an^ mehreren Ostien hinweise, nicht volle Gültig¬
keit habe.7)
Die Veränderung der Töne in der Herzgegend durch die
das Herz umgebenden Teile und die Veränderung derselben
an den vom Herzen entfernten Stellen als Veränderung
durch Schalleitung bezeichnet, drängte sich von Laennec
angefangen allen Beobachtern auf, sie wurde jedoch
nicht zum Gegenstand eingehenden Studiums gemacht. Daß
der Schall sich nach der verschiedenen Beschaffenheit der
Brustorgane verschieden in ihnen fortpflanze, ist eine un-
bezweifelbare Sache, sagt Skoda. Die Modifikationen der
Schalleitung sind noch lange nicht hinreichend bekannt,
bemerkt Bamberger, indem er Skodas Anschauung,
nach welcher der zweite Kammerton in der Kammer
selbst entstehe, weil in manchen Fällen der zweite Tön
an der Herzspitze deutlicher sei, als an der Herz¬
basis, bestreitet und dieser Ansicht schließt sich
auch F riedreich an. Bei Veränderung der Töne
durch Schalleitung berücksichtigen die Autoren bloß die
Intensität, die Verstärkung und Abschwächung der Töne,
die Veränderung der anderen Qualitäten werden kaum be-
7) Trikuspidalgeräusche ; Lokalisation des systolischen Mitralge¬
räusches. Wiener klin. Wochenschr. 1897, Nr. 7.
achtet. Bamberger gibt an, daß die mitgeteilte Erschüt¬
terung des Thorax in gewissen Fällen den ersten Ton ver¬
stärkt, sein Timbre abändert und Walsh e meint, daß der
verschiedene Charakter des ersten Tones des rechten und
linken Ventrikels durch die verschiedene Dicke der Kammern
und durch das verschiedene Schal lei tungsverhältnis bei bei¬
den Tönen bedingt sei. Die als cliquetis metallique bezeich-
nete Veränderung des ersten Tones des linken Ventrikels,
von Laennec, der die Erscheinung zuerst beschrieben,
von B o u i 1 1 aud, An d r a 1 und den meisten späteren Auto¬
ren durch Shock des Herzens gegen die ßrustwand er¬
klärt, ist ein eklatantes Beispiel für die Modifikation des
Tones durch Miterschütterung der Brustwand.
Die Töne in der Herzgegend und an den vom Herzen
entfernten Stellen sind die akustische Resultante der Vi¬
bration der die Töne erzeugenden Teile im Herzen und der
Mitvibration von Bestandteilen des Herzens, der Teile in
der Umgebung des Herzens und der Teile an den vom
Herzen entfernten Stellen; den mi (vibrierenden Teilen, oder
wie man sagt, den schalleitenden Medien muß ein wesent¬
licher Anteil an der Gestaltung der Töne sowohl in der
Herzgegend als auch an den vom Herzen entfernten Stellen
zugeschrieben werden. Die Medien bestimmen und ändern
nicht nur die Intensität der Töne, sondern auch die anderen,
an manchen Stellen alle Qualitäten derselben, so daß Töne,
welche am selben Ort entstehen, an verschiedenen Stellen
ganz verschiedenen Charakter zeigen und keine Qualität
auf den gemeinschaftlichen Ursprung hinweist. Da wir die
Töne überall, auch an allen Stellen der Herzgegend nicht
in ihrer Ursprünglichkeit, sondern durch die Medien ver¬
ändert hören, so handelt es sich bei Vergleich der Töne
an mehreren Stellen um Vergleich der durch die verschie¬
denen Medien bedingte Gestaltung derselben und in diesem
Sinne kann man die Bezeichnung Veränderung gelten lassen.
Um die Veränderung festzustellen, welche die Töne
durch Schalleitung erfahren, müssen Töne verglichen wer¬
den, über deren gemeinschaftlichen Ursprung kein Zweifel
besteht. Zweiter Aortaton und zweiter Karotiston können
in dieser Beziehung in erster Linie verwertet werden;
beide Töne entstehen unzweifelhaft am selben Ort, an den
Aortaklappen. Wenn man auch annnehmen wollte, daß
Aorta und Karotis während ihrer Systole, beim Uebergang
von größerer zu geringerer Spannung einen Ton erzeugen,
so müßte dieser bedeutend schwächer als der erste Ton
sein und sein Anteil am zweiten Ton, der mit Ausnahme
der Fälle, in welchen der erste. Ton des linken Ventrikels
in die Karotis fortgeleitet erscheint, wesentlich stärker
als der erste Ton ist, sehr gering, auch würde der Charakter
des zweiten Tones durch diesen Anteil an beiden Stellen
in gleicher Weise beeinflußt werden. Vergleicht man die
Töne und zwar den Aortaton im zweiten Interkostalraum,
den Karotiston über der Klavikel, so ergibt sich folgendes:
Der Aortaton ist hoch, hell, von geringem Umfang und
kurzer Dauer, scharf begrenzt, der Karotiston ist wesent¬
lich stärker, tiefer, sehr selten höher, dumpf, von größerem
Umfang und längerer Dauer, nicht scharf begrenzt, manch¬
mal mit metallischem Beiklang. Es sind demnach die Töne
in allen Qualitäten verschieden; dabei sind heim Karotiston
gegenüber dem Aortaton einzelne Qualitäten gesteigert, an¬
dere verringert. Da beide Töne in der Richtung des Blut-
slromes fortgeleitet werden, die Gefäßwandungen gleich sind,
so ist die Verschiedenheit der Töne bloß durch die Ver¬
schiedenheit der die Gefäße umgebenden Teile bedingt; der
metallische Beiklang des Karotistones hat offenbar seinen
Grund in Mitschwingung .der Luft in der Trachea.
Vergleicht man die zweiten Töne am Sternalrand des
zweiten und ersten rechten Interkostalraumes, so sind die¬
selben manchmal ähnlich, der Ton im ersten Interkostal-
raum zeigt den Charakter des Aortatones meistens schwä¬
cher, selten stärker ausgeprägt als der Ton im zweiten
Interkostalraum, häufig ist er tiefer, dumpfer, diffus, schwä¬
cher oder stärker, ganz unähnlich dem Ton im zweiten
Interkostalraum, mehr dem Ton über der Klavikel ähnlich.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
855
— Vergleicht man die zweiten Töne am Sternalrand und an
einer einige Zentimeter vom Sternalrand entfernten Stelle
im zweiten rechten Interkostalraum, so sind dieselben häufig
ziemlich gleich, manchmal ist der Ton an der äußeren Stelle
stärker, höher, heller, mehr begreim, oder er ist schwächer
und höher oder stärker und tiefer, in allen diesen Vari¬
anten begienzt, manchmal ist er schwächer, tiefer, dumpfer,
diffus. Vergleicht man die Töne an drei Stellen des zweiten
rechten Interkostalraumes, so ist manchmal der Ton am
Sternalrand stark, hoch, hell, scharf begrenzt, etwa zwei
Zentimeter nach außen ist der Ton schwächer, tiefer,
dumpfer, weniger begrenzt, um zwei Zentimeter weiter ist
der Ton wieder stark, hoch, hell, scharf begrenzt, manch¬
mal höher als der Ton am Sternalrand.
Die Analyse ergibt demnach folgendes: Töne, die am
selben Ort entstehen, sind manchmal an verschiedenen Stel¬
len in allen Qualitäten ziemlich gleich, oder es sind an
einer .Stelle gegenüber der anderen alle Qualitäten gesteigert
oder verringert, wobei eine Aehnlichkeit der Qualitäten be¬
steht, oder es sind einzelne Qualitäten der Töne verschie¬
de11- während andere gleich sind oder es sind alle Qualitäten
verschieden und die Töne ganz unähnlich, ferner sind manch¬
mal an vom Entstehungsort entfernteren Stellen einzelne
oder alle Qualitäten der Töne stärker ausgeprägt als an
dem Entstehungsort näheren Stellen. Die Analyse hat auch
ergeben, daß der Charakter des zweiten Aortentones im zwei¬
ten Interkostalraum seitlich vom Sternalrand, also an Stellen,
welche für die Fortleitung als weniger günstig bezeichnet
werden, meistens besser ausgeprägt ist als am Sternalrand
des ersten Interkostalraumes, an einer für die Förtleitung
als günstiger bezeichneten Stelle.
In manchen Fällen ist an der Herzspitze, über der
Aorta und über der rechten Karotis ein starker erster Ton.
Die Töne, welche unzweifelhaft am selben Ort, an der
Mitralis entstehen, sind in allen Qualitäten ungleich; an
der Herzspitze ist der Ton stark, tief, dumpf, von längerer
Dauer, nicht scharf begrenzt, im zweiten Interkostalraum
ist der Ton schwächer, höher, heller, von kürzerer Dauer,
scharf begrenzt, ähnlich dem zweiten Ton an derselben
. Stelle, über der Klavikel ist der Ton wieder stärker, tiefer,
dumpfer, von längerer Dauer, diffus, ähnlich dem zweiten
Ton an derselben Stelle und verschieden vom Tön an der
Herzspitze. Es ist demnach der Mitralton über Aorta und
Karotis dem zweiten Ton dieser Gefäße ähnlich gestaltet,
lieber die Verschiedenheit des Tones im zweiten Inter¬
kostalraum und an der Herzspitze ist folgendes zu bemerken.
Da man annehmen kann, daß Brustwand und Lungen an
beiden Stellen den Ton in gleicher Weise modifizieren, so
muß man für die Beschaffenheit des Tones an der Herz¬
spitze, für den dumpfen, tiefen, diffusen Charakter die durch
Erschütterung der Mitralis erregte Mitschwingung der Mus¬
kelsubstanz des Herzens in Anspruch nehmen.
Besonders günstig für das Studium der Modifikation
der Schallerscheinungen am Herzen durch die Medien ist
das durch seinen prägnanten Charakter ausgezeichnete dia¬
stolische Aortageräusch bei reiner Insuffizienz der Aorta¬
klappen, wo ein diastolisches Geräusch anderen Ursprungs
ausgeschlossen ist. Das Geräusch ist nicht selten am unter¬
sten Teil des Sternums stärker und höher als an der Herz¬
basis. Verfolgt man das Geräusch am Sternum von der
Herzbasis nach abwärts, so wird manchmal das an der
Basis starke und hohe Geräusch um Interkostalbreite nach
abwärts schwächer und tiefer, weiter unten wieder stärker
und höher. Am untersten Teil des Sternums ist das Ge¬
räusch meistens stärker und höher als an der Herzspitze,
wo es gewöhnlich sehr schwach, tief und dumpf
ist und sein Charakter fast ganz verwischt erscheint.
Den eigentümlichen Einfluß der Medien auf die Ge¬
staltung der Schallerscheinungen am Herzen zeigt die
Tatsache, daß das diastolische Aortageräusch in seiner
charakteristischen Prägnanz manchmal auf eine kleine
umschriebene Stelle, etwa von der Breite der Stethoskop¬
mündung beschränkt ist; entfernt man sich nur einige
Millimeter von dieser Stelle nach rechts oder links, nach
unten oder oben, so ändert das Geräusch vollständig seinen
( harakter, das starke, hohe, klangvolle, lange Geräusch wird
schwach, tief, dumpf, kurz. Diese Erscheinung beobachtet
man auch bei den Tönen, aber das diastolische Aorta¬
geräusch ist absolut verwertbar, weil der Charakter des Ge¬
räusches auch bei seiner Veränderung hinreichend ausge-
piägt erscheint, um es von anderen Geräuschen sicher zu
unterscheiden. Diese Tatsache wurde schon von Joseph
Meyer, Stern und Vier or dt hervorgehoben. Meyer
sagt, indem er die Auskultationsstelle des zweiten Pulmonal¬
tones angibt: ,,Bei der Verifizierung dieser Angabe achte
man darlauf, daß oft eine ganz geringe Verschiebung des
Stethoskops schon hinreicht, um den Charakter des Tones
in seiner Stärke und Höhe zu verändern, eine Regel, die
auch bei der Untersuchung abnormer Geräusche ihre An¬
wendung findet.“8)
Daß' die verschiedenen Medien die Töne in verschiei-
dener Weise modifizieren, kann nach obiger Darstellung
als feststehend gelten. Skoda hat angegeben, daß man
durch Knochen die Töne schlechter höre als durch die
Zwischenräume der Rippen und daß, je dichter das Brustbein
ist, desto mehr dämpfe es die Töne. Auch Stern sagt, daß
man über einem Interkostalraum viel lauter höre, als über
einer Rippe, daß auch über dem Sternum die Töne weitaus
schwächer seien. Das ist im allgemeinen nicht richtig.
Der zweite Aortaton ist manchmal am Sternum in der Höhe
des ersten und zweiten Interkostalraumes stärker und höher
oder auch schwächer und höher als am rechten .Sternal-
1 and dieser Interkostalräume, auch über den Rippen sind
die Töne manchmal stärker und höher, oder schwächer und
höher als über den Interkostalräumen. Ferner ist zu be¬
merken, daßi das Sternum die Töne anders modifiziert als
lie Rippen und der knöcherne Teil der Rippen anders als
der knorpelige Teil derselben. Von wesentlicher Bedeu¬
tung ist die Konfiguration der Knochen; stärkere Krüm¬
mung der Rippen verringert alle Qualitäten der Töne. Der
zweite Aortaton ist am Sternalrand des zweiten rechten
Intel kostalraumes bei stärkerer Krümmung der Insertion
dei Rippen manchmal sehr schwach, tief und dumpf, wäh¬
rend er nach außen stärker und höher ist ; 9) über dem
vertieften Sternum sind die Töne schwächer und dumpfer als
über dem flachen Sternum ; manchmal sind die Töne in der
ganzen Herzgegend infolge stärkerer Krümmung der Rippen
schwach und dumpf.
Die Veränderung der Töne durch die Medien kann
am Menschen auch experimentell dargetan werden. Aus¬
kultiert man über dem inneren Anteil der rechten Klavikel
entspiechend der Insertion des Sternokleidomastoideus
und läßt man den Kopf nach links und oben wenden,
so wird bei einer gewissen Spannung der Teile
der zweite Karotiston stärker und höher, bei weiterer Stei¬
gerung der Spannung wird der Ton schwächer und tiefer.
Dieselbe Veränderung des zweiten Tones kann auch über
der Subklavia unter der Klavikel bei Adduktion des Armes
nachgewiesen werden. Daß die Veränderung der Töne durch.
Spannungsänderung der die Gefäße umgebenden Teile und
nicht durch die infolge, der Bewegung hervorgerufene reflek¬
torische Beeinflussung der Herztätigkeit und die damit einher¬
gehende Veränderung der Töne bedingt sei, zeigt die Tat¬
sache, daß während des Versuches die Töne an den korre¬
spondierenden Stellen der anderen Seite unverändert sind.
8) Zur Erklärung der Tatsache, daß das an einem Ostium entstandene
Geräusch an verschiedenen Stellen der Herzgegend verschiedenen Cha¬
rakter darbieten kann, habe ich angenommen, daß das an einem Ostium
entstandene Geräusch ein Gemenge von Geräuschen darstellt, welches
sich nach verschiedenen Richtungen nicht als Ganzes fortpflanzt, sondern
es kommen an verschiedenen Stellen einzelne Teile des Geräusch¬
gemenges zur Erscheinung. Wenn ich auch diese Erklärungsweise jetzt
noch gelten lasse so ist es unzweifelhaft, daß für den verschiedenen
Charakter eines Geräusches an mehreren Stellen ebenso wie bei den Tönen
der Einfluß der Medien als wesentlicher Faktor betrachtet werden muß.
9) Vierordt bemerkt in einem Falle, bei welchem der Inten¬
sitätswert des zweiten Aorlatons sehr gering war: Thoraxgegend in zweiten
rechten Interkostalraum vorgewölbt.
856
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
In dem Unbehagen, nach so langer Erfahrung die Herz¬
töne doch nicht mit gewünschter Sicherheit lokalisieren,
d h. an jeder Stelle der Herzgegend die Töne auf ihren
Kntstehungsort beziehen zu können, kam mir Sukkurs von
meinen Studien über reflektorische Beeinflussung der Herz¬
tätigkeit. Ich habe gefunden, daß bei kurz dauernder me¬
chanischer Erregung verschiedener Körperteile die Energie
der Herztätigkeit erhöht und bei länger dauernder Erre¬
gung derselben Körperteile die Energie der Herztätigkeit
herabgesetzt wird.10) Bei zartem Streichen der Haut, bei
Beklopfen der Herz- oder Lebergegend, der Knochen, Mus¬
keln werden alle Herztöne stärker, der Puls wird größer,
die Herzdämpfung kleiner; bei länger anhaltendem Druck
auf die Herzgegend, auf Knochen und Muskeln, bei stär¬
kerem Drücken der Haut, der Muskeln zwischen den Fin¬
gern werden alle Herztöne schwächer, der Puls wird
kleiner, die Herzdämpfung größer. Bei stärkerem Druck auf
die Lebergegend zeigt das Herz ein anderes Verhalten.
Wird auf die Lebergegend ein stärkerer anhaltender Druck
ausgeübt, so werden die Töne des linken Ventrikels und
der Aorta schwächer und tiefer, die Töne des rechten Ven¬
trikels und der Puhnonalis werden stärker, manchmal auch
höher; es ist demnach die Energie des linken Ventrikels'
verringert, die Energie des rechten Ventrikels erhöht. Wenn
der zweite Pulmonalton wesentlich stärker geworden,
nimmt sein Verbreitungsgebiet zu und er erscheint an der
Herzspitze; da der erste Ton daselbst schwächer geworden,
fällt der Akzent, der früher auf dem ersten Ton war, auf
den zweiten Ton. Ich habe diese Erscheinungen in meiner
Arbeit : „Ueber Akzentwechsel der Herztöne“,11) ausführ¬
lich beschrieben und will hier nur bemerken, daßi die Er¬
scheinungen des Akzentwechsels auch spontan auftreten,
wenn größere und kleinere Puls-'e miteinander wechseln
oder wenn der Puls weicher wird, ohne an Größe zu ver¬
lieren. Bei mäßigem Druck auf die Lebergegend ist die
Stärkezunahme und Stärkeabnahme der Töne relativ gering
und ihre gegenseitigen Ortsbeziehungen bleiben unverändert.
Ich habe schon früher den Leber-Herzreflex zur Trennung
der Mitral- und Trikuspidalgeräusche, welche manchmal
große Schwierigkeiten bereitet, verwertet 12) und es lag nahe,
mit Hilfe dieses Reflexes auch die Töne des rechten und
linken Herzens zu trennen, resp. den Entstehungsort der
Töne zu bestimmen. Indem ich auf die Lebergegend, ge¬
wöhnlich auf den inneren Anteil des rechten Rippenbogens,
einen mäßigen Druck ausgeübt, habe ich die Herztöne
in den fünf oberen Interkostalräumen und zwar in
der Spitzenstoßlinie, in der linken Parasternallinie,
in der linken und rechten Sternallinie, über dem
Sternum, häufig auch über beiden Karotiden geprüft.
Wie aus der Darstellung ersichtlich, können durch den
Leber - Herzreflex nur die Töne des rechten und des
linken Ventrikels und die Töne der großen Gefäße
voneinander geschieden werden, die Trennung des
ersten Ventrikeltones vom ersten Tone des zum Ventrikel
gehörigen Gefäßes, also die Trennung des ersten Tones
des linken Ventrikels vom ersten Aortaton und des ersten
Tones des rechten Ventrikels vom ersten Pulmonalton, kann
auf diesem Wege nicht, bewerkstelligt werden.
Die Grundlage der Analyse bilden 153 Fälle, 120 nor¬
male Fälle, darunter einige mit leichter Arhythmie, 22 Mi¬
tralfehler, 8 Fälle von chronischer Nephritis, 3 Fälle Von
Arteriosklerose (Abteilung Prof. Päl im Allgemeinen
Krankenhause). Die Analyse hat folgendes ergeben:
Das Gebiet des zweiten Aortatones ist groß. Der
zweite Aortaton ist konstant am rechten Sternalrand, im
ganzen zweiten, fünften und ersten linken Interkostalraum
und am Sternum in der Höhe dieser Interkostalräume, mit
sehr geringen Ausnahmen auch in der Spitzenstoßhnie des
I0) lieber reflektorische Pulserregung. Zentralbl. für innere Me¬
dizin 1901, Nr. 11. — Ueber reflektorische Pulsdepression. Zentralbl.
für innere Medizin 1904, Nr. 1.
n) Zentralbl. für innere Medizin 1905, Nr. 8.
,2) Zur Klinik des Herzens. Unterscheidung von Mitral- und Triku-
spidalgeräuschen. Wiener med. Presse 1907, Nr. 36, 87.
dritten und vierten Interkostalraumes, so daß der ganze
Herzrand vom Aortaton eingesäumt ist. Häufig ist der
Aortaton am linken Sternalrand und in der Parasternallinie
des dritten und vierten Interkostalraumes und am Sternum
in der Höhe dieser Interkostalräume, so daß er manchmal
am ganzen Sternum oder im ganzen dritten oder im
ganzen vierten Interkostalraum ist. In manchen Fällen
ist der Aortaton konstant in der ganzen Herzgegend, nicht
nur, wenn er verstärkt, sondern auch, wenn er mäßig stark
oder schwach ist; in den normalen Fällen 12mal, in den
Fällen von Arteriosklerose 2mal, in den Fällen Von Ne¬
phritis 3mal; auch in drei Fällen von Mitralstenose war
überall der Aortaton. Bei vorübergehender Verstärkung des
Aortatones ist derselbe manchmal vorübergehend in der
ganzen Herzgegend.
Im Gebiete des Pulmonaltones ist manchmal der zweite
Aortaton mit dem zweiten Pulmonalton vermengt. Der
dumpfe, tiefe Pulmonalton hat hohen Beiklang; sicher wird
die Vermengung der Töne durch den Herz-Leberreflex er¬
kannt. Bei Druck auf die Lebergegend wird der Ton tiefer
und stärker; die aortische Komponente wird schwächer,
demzufolge verliert der Ton den hohen Beiklang und wird
tiefer, durch Verstärkung der pulmonalen Komponente wird
der Ton stärker; manchmal wird der Tön tiefer, ohne an
Stärke wesentlich zuzunehmen. Die Vermengung der Töne
wurde in 14 der normalen Fälle beobachtet; am häufigsten
und gleich häufig war dieselbe am linken Sternalrand, sel¬
tener und ebenfalls gleich häufig in der Parasternallinie des
3. und 4. Interkostalraumes, sehr selten am Sternum in
der Höhe dieser Interkostalräume. Meistens sind die Töne
an einigen oder nur an einer Stelle des Pulmonaltones ver¬
mengt, während an den übrigen der reine Pulmonalton ist. In
manchen Fällen sind die Töne konstant vermengt, in anderen
vorübergehend ; an der Stelle ' des vermengten Tones ist ;
zu anderer Zeit der Aortaton oder Pülmonalton allein. In
der größeren Anzahl der Fälle war der Puls regelmäßig, in
einigen Fällen wechselten größere und kleine Pulse. Die
richtige Beurteilung des vermengten Tones ist von Belang,
man könnte denselben als verstärkten Aortaton oder ver¬
stärkten Pulmonalton auffassen.
Ebenfalls im Gebiete des Pulmonaltones wechseln
manchmal an derselben Stelle Aorta- und Pulmonalton; es
erscheint bald ein hoher, heller Ton, der bei Druck auf
die Lebergegend schwächer wird — Aortaton, bald ein tiefer,
dumpfer Ton, der bei Druck auf die Lebergegend stärker
wird — Pulmonalton. Der Wechsel der Töne ist am häu¬
figsten im vierten Interkostalraum u. zw. am Sternalrand
häufiger als an den äußeren Stellen, weniger häufig
im dritten Interkostalraum, selten am Sternum in
der Höhe dieser Interkostalräume. Manchmal wechseln auch
die ersten Töne, so daß an derselben Stelle bald der erste
Ton des rechten Ventrikels und der zweite Pulmonalton,
bald der erste Ton des linken Ventrikels und der zweite
Aortaton ist. Manchmal sind die Töne auch vermengt, so daß
ein mannigfaltiges akustisches Bild entsteht; man hört in
kürzerer oder längerer Aufeinanderfolge den Pulmonalton,
Aorta- und Pulmonalton vermengt, beide Töne wechselnd,
dann den Aortaton. Der Wechsel der Töne ist nicht kon¬
stant, an den Stellen des Wechsels ist nach einiger Zeit
der Aortaton oder Pülmonalton allein. Der Wechsel der
Töne hängt mit Aenderung der Energie der Herztätigkeit
zusammen; er tritt auf, wenn der Puls kleiner und fre¬
quenter wird oder wenn größere und kleinere Pulse mit¬
einander wechseln; bei stärkerer Herztätigkeit schwindet
der Wechsel und es ist nur der Aortaton hörbar. In einem
Falle war an der Stelle der wechselnden Töne nach Be¬
streichen der Haut, wodurch der zweite Aortaton stärker
wird, nur der Aortaton. In einem Falle von Chorea wech- ,
selten die Töne aim linken Sternalrand des dritten und vierten
Interkostalraumes, es wechselten größere und kleinere Pulse
in längeren Intervallen und man konnte nachweisen, daß
der Aortaton mit den größeren Pulsen, der Pulmonalton mit
den kleineren Pulsen zusammenfiel.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
857
Der Charakter des zweiten Aortentones ist an den
verschiedenen Stellen seines Gebietes wesentlich Verschie¬
den. Am rechten Sternalrand ist der Ton hoch, hell, scharf
begrenzt, am stärksten meistens im zweiten Interkostal
raum; am linken Sternalrand ist der Ton im zweiten und
dritten Interkostalraum gleich dem Tone im zweiten rechten
Interkostalraum, häufig stärker und höher, in den drei
unteren Interkostalräumen meistens um ein Geringes tiefer,
weniger begrenzt; in der Parasternal- und Spitzenstoßdinie,
insbesondere im dritten und vierten Interkostalraum is!
der Ton meistens tiefer, dumpfer, nicht scharf begrenzt,
mehr ähnlich dem zweiten Pulmonalton und manchmal
von demselben nicht zu unterscheiden, in der Parasternal¬
linie gewöhnlich stärker als in der Spitzenstoßdinie ; an
der Herzspitze ist der Tön manchmal hoch und hell; über
dem Sternum ist der Ton meistens tief und dumpf, mäßig
stark, in der Höhe des ersten und zweiten Interkostal-
raumes manchmal ebenso hocdi und hell als am rechten
und linken Sternalrand, in der Höhe des fünften Inter-
kostalraumes häufig hoch und hell, von prägnantem aorti-
sehen Charakter. Besonders hervorzuheben ist der dumpfe,
tiefe Charakter des Tones in der Parasternal- und Spitzen¬
stoßlinie des dritten und vierten Interkostalraumes, der auch
am linken Sternalrand der drei unteren Interkostalräume
angedeutet ist; derselbe ist offenbar bedingt durch Mi t
vibration der , Muskelsubstanz des Herzens, wie sie durch
Erschütterung der Klappen hervorgerufen wird; der Ver¬
gleich der Töne am rechten und linken Herzrand in den
drei unteren Interkostalräumen zeigt in markanter Weise
den Einfluß des Herzmuskels auf die Beschaffenheit des
Tones.
In 76 Fällen wurde das Intensitätsmaximum des Aorta-
tones bestimmt. Zu bemerken ist, daß das Punctum maxi¬
mum der Stärke und Höhe nicht immer1 zusammenfallen.
In 65 Fällen, in welchen das Punctum maximum der Stärke
und Höhe sich an derselben Stelle befand,' war dasselbe
im zweiten
„ dritten
„ zweiten
„ ersten
„ fünften
„ dritten
„ vierten
„ vierten
fünfter
Interkostalraum,
rechter
linker
rechter
Sternalrand
linker „
Parasternallinie
„ Stelle des Spitzenstoßes
am Sternum, Höhe des ersten Interkostalraumes
im ersten Interkostalraum, linker Sternalrand
„ fünften „ Parasternallinie
zweiten
dritten
Spitzenstoßlinie —
am Sternum, Höhe des fünften Interkostalraumes
an der Insertion der dritten linken Hippe
» » » „ „ rechten
16 mal
13 „
8 „
5 7,
4 „
3 „
3 „
2 „
9
9
1 „
i „
i „
1 „
i „
i „
l
Bei Vergleich der Intensität des Aortatones an verschie¬
denen Stellen der Herzgegend war manchmal der Sternal¬
rand im zweiten rechten Interkostalraum an dritter oder
vierter Stelle.
In eil Fällen, in welchem das Punctum maximum der
Stärke und Höhe sich an verschiedenen Stellen befand,
war das Maximum
der Stärke der Höhe
in drei Fällen :
im dritten Interkostalraum, linker Sternalrand im zweiten Interkostalraum, rechter Sternalrand
in zwei Fällen:
im vierten Interkostalraum, linker Sternalrand am Sternum, Höhe des ersten Interkostalraumes
in je einem Falle:
im dritten Interkostalraum, linker Sternalrand
im ersten Interkostalraum, rechter Sternalrand
im ersten Interkostalraum, 'rechter Sternalrand
im zweiten Interkostalraum, Spitzenstoßlinie
am Sternum, Höhe des fünften Interkostalraumes
an der Insertion der dritten linken Rippe.
im ersten Interkostalraum, rechter Sternalrand
im dritten Interkostalraum, rechter Sternalrand
im zweiten Interkostalraum, rechter Sternalrand
im zweiten Interkostalraum, rechter Sternalrand
im zweiten Interkostalraum, rechter Sternalrand
im vierten Interkostalraum, rechter Sternalrand
ln einigen Fällen war das Punctum maximum des
Aortatones bei wiederholter Untersuchung an verschiedenen
Stellen; in einem Fälle bei der ersten Untersuchung ;am
Sternum Höhe des vierten Interkostalraumes, bei der zweiten
Untersuchung am Sternalrande des rechten zweiten Inter¬
kostalraumes.
Das Gebiet des zweiten Pulmonaltones ist gering; es
beschränkt sich auf den dritten und vierten linken Inter¬
kostalraum u. zw. Sternalrand, Parasternallinie, sehr selten
Spitzenstoßlinie und auf das Sternum in der Höhe dieser
Interkostalräume; im fünften und, was besonders hervor¬
gehoben werden muß, im zweiten linken Interkostalraum
und am untersten Teile des Sternums ist in normalen
Fällen kein zweiter Pulmonalton. In Fällen mit unregel¬
mäßiger Herzaktion, wenn größere und kleinere Pulse mit¬
einander wechseln und der Größenunterschied der Pulse
bedeutender ist, erscheint der Pulmonalton im fünften Inter¬
kostalraum, insbesondere an der Herzspitze, daselbst mit
dem zweiten Aortaton wechselnd. Die Häufigkeit des Pul¬
monaltones an den einzelnen Stellen seines Gebietes ist.
verschieden. In 35 Fällen mit reinem Pulmonalton war der¬
selbe
im 3. Interkostalraum und am
Sternum
Sternal¬
rand
Paraster- Spitzen -
nallinie st.oßlinie
angrenzenden Sternalstück =
im 4. Interkostalraum und am
7 mal
8 mal
11 mal
3 mal
angrenzenden Sternalstück =
29 „
25 „
18 „
1 „
Der zweite Pulmonalton ist demnach am häufigsten
am Sternum in der Höhe des vierten Interkostalraumes und
im vierten Interkostalraum u. zw. häufiger an den inneren
als an den äußeren Stellen; im dritten Interkostalraum und
am angrenzenden Sternalstück ist der Pulmonalton seltener
u. zw. hier häufiger an den äußeren als an den inneren
Stellen. Die Häufigkeit des Pulmonal tones an den einzelnen
Stellen gibt folgende Reihe : Sternum, Höhe des vierten
Interkostalraumes, Sternalrand, Parasternallinie im vierten
Interkostalraum, Parasternallinie, Sternalrand im dritten
Interkostalraum, Sternum, Höhe des dritten Interkostal¬
raumes, Spitzenstoßlinie im dritten und vierten Interkostal-
raum.
Die Kombination der Stellen, an welchen der zweite
Pulmonalton gehört wird, ist sehr mannigfaltig. Nur in
einem Falle war der Pulmonalton an allen Stellen des
Gebietes, gewöhnlich ist er an wenigeren, selten an sechs,
häufiger an fünf, vier, drei oder zwei Stellen, manchmal nur
an einer Stelle. Es seien einige Lokalisationen angeführt :
Sternalrand, Parasternallinie des dritten und vierten Inter¬
kostalraumes, Sternum, Höhe dieser Interkostalräume, diese
Kombination nicht häufig; Sternalrand, Parasternallinie im
vierten Interkostalraum, Sternum in dieser Höhe oder die¬
selbe Kombination im dritten Interkostalraum, erstere häu¬
figer; Sternum Höhe des dritten und vierten Interkostal-
raumes, Sternalrand des vierten Interkostalraumes; Sternal¬
rand oder Parasternallinie im dritten und vierten Inter¬
kostalraum. In sechs Fällen, in welchen der Pulmonalton
nur an einer Stelle sich befand, war derselbe je zweimal
am Sternum, Flöhe des vierten Interkostalraumes und in
der Parasternallinie des vierten Interkostalraumes, einmal
am Sternum, Höhe des dritten Interkostalraumeis und einmal
858
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
am linken Sternalrand des vierten Interkostalraumes. In
manchen Fällen war der Pulmonalton nirgends rein, son¬
dern überall mit dem Aortaton vermengt oder mit dem¬
selben wechselnd und in zwölf normalen Fällen, in drei
Fällen von Mitralstenose, in zwei Fällen von Arteriosklerose
und drei Fällen von Nephritis war der Pulmonalton an keiner
Stelle der Hergegend.
Der zweite Pulmonalton ist am stärksten am Sternal¬
rand und in der Parasternallinie, am Sternum ist derselbe
mit sehr geringer Ausnahme schwächer, tiefer und dumpfer.
Manchmal ist der Pulmonalton höher als der Aortaton an
der benachbarten Stelle. In 26 Fällen mit reinem Pulmonal¬
ton war das Intensitätsmaximum
im vierten Interkostalraum, Sternalrand = 12 mal
„ „ ,, Parasternallinie = 7 „
„ dritten , „ Sternalrand = 6 ,,
am Sternum, Höhe des vierten Interkostalraumes = 1 „
Punclutn maximum der Stärke und Höhe fallen nicht
immer zusammen. Das Punctum maximum ist nicht kon¬
stant; in einem Falle war dasselbe an einem Tage am
Sternalrande des dritten, am nächsten Tage am Sternalrände
des vierten Interkostalraumes.
Bei erhöhter Tätigkeit des rechten Ventrikels — wir be¬
trachten hier hauptsächlich die Verhältnisse bei Zirkulations¬
störungen am linken venösen Ostium — ist das Gebiet des
zweiten Pulmoiialtones häufig sehr ausgedehnt. Zu be¬
merken ist, daß die Größe des Gebietes nicht .von der
Stärke des Tones allein abhängt, manchmal hat ein schwä¬
cherer Ton ein größeres Gebiet als ein stärkerer. Bei mä¬
ßiger Zunahme, des Gebietes erscheint der Pulmonalton im
zweiten Interkostalraum u. zw. in der Parasternallinie und
am Sternalrand, dann am Sternum in der Höhe des fünften
und zweiten Interkostalraumes, an letzter Stelle seltener,
in der Spitzenstoßlinie des dritten und vierten Interkostal-
raumes, häufiger im dritten als im vierten; bei großer
Ausbreitung ist der Pulmonalton auch am Sternalrand und
in der Parasternallinie des fünften Interkostalraumes und
in der Spilzenstoßlinie aller Interkostalräume, an der Stelle
des Spitzenstoßes selten, so daß die ganze linke Herzgegend
und das ganze »Sternum vom Pulmonalton okkupiert ist;
sehr selten ist der Pulmonalton am linken Sternalrand des
ersten Interkostalraumes und am angrenzenden Teile des
Sternums. Auch bei großer Ausbreitung und großer Inten¬
sität überschreitet der Pulmonalton nie das Sternum in
der Höhe des zweiten und dritten Interkostalraumes, nur
zweimal war er am Sternalrand des rechten vierten und
einmal am Sternalrand des rechten fünften Interkostal-
raumes. Das Gebiet des Pulmonalton.es ist häufig in kür
zeren oder längeren Intervallen sehr wechselnd ; manchmal
ist derselbe in der ganzen linken Herzgegend und am; ganzen
Sternum, am anderen Tage oder auch nach kurzer Zeit
ist er aus dem fünften oder aus dem fünften und zweiten
Interkostalraum und von diesen Interkostalräumen angren¬
zenden Teilen des Sternums oder auch vom ganzen Ster
num geschwunden. Entsprechend der größeren Häufigkeit
der ursächlichen Verhältnisse ist häufig Wechsel und Ver¬
mengung des Aorta- und Pulmonal tones, beides an den¬
selben oder an verschiedenen Stellen. Das Punctum maxi¬
mum des Pulmoiialtones ist auch bei großer Verbreitung
desselben meistens im dritten und vierten Interkostalraum
und bei wechselndem Gebiet ebenfalls wechselnd; so war
in einem Falle das Punctum maximum bei großer Verbrei¬
tung am linken Sternalrand des vierten Interkostalraumes,
bei geringerer Verbreitung in der Spitzen stoßilinie des dritten,
und einmal in der Spitzenstoßlinie des zweiten Interkostal¬
raumes. ln manchen Fällen von Mitralfehlern ist der zweite
Pulmonalton auch bei wesentlicher Verstärkung auf das¬
selbe Gebiet, wie unter normalen Verhältnissen, beschränkt,
mit derselben Kombination der. Stellen, manchmal nur auf
eine Stelle. Das Fehlen des zweiten Pulmonaltones in man¬
chen Fällen von Mitralstenose ist schon früher angegeben; in
einem der Fälle war der Pulmonalton vorübergehend am
linken Sternalrand des vierten Interkostalraumes.
Ueber den Charakter des zweiten Pulmonaltones gegen¬
über dem zweiten Aortaton ist folgendes zu bemerken.
Die Verschiedenheit der Töne — der hohe, helle, begrenzte
Charakter des Aortatons und der tiefe, dumpfe, diffuse
Charakter des Pulmoiialtones — - kann nicht ihre Ursache
in den Klappen und in der Gefäßwand haben; dieselben
können mit Bezug auf die Tonbildung als gleich betrachtet
werden. Auch die durch den ungleichen Druck bedingte
verschiedene Stärke der Töne kann nicht die Ursache der
Verschiedenheit sein; der Aortaton ist an den Stellen, an
welchen er gewöhnlich schwach ist, wie am Sternalrand
der rechten drei unteren Interkostalräume hoch, hell, be¬
grenzt, er behält diesen Charakter auch bei wesentlicher ;
Abschwächung infolge herabgesetzter Energie des linken
Ventrikels, während der Pulmonalton auch bei bedeutender
Stärkezunahme tief, dumpf, diffus ist. Wenn man er- 1
wägt, daß der zweite Pulmonalton außerhalb des Bereiches j
des Herzmuskels hoch, hell, begrenzt, im Bereiche desselben
tiefer, dumpfer, weniger begrenzt, mehr dem Pulmonalton
ähnlich ist, daß ferner der erste Ton des linken Ventrikels
im Bereiche des Herzmuskels tiefer, dumpfer, diffus, außer-
halb dieses Bereiches, wie am Sternalrand der rechten i
oberen Interkostalräume höher, heller, begrenzt, mehr< ähn¬
lich dem zweiten Aortaton an diesen Stellen ist und wenn
man die tiefe, dumpfe, diffuse Beschaffenheit beider Töne
im Bereiche des Herzmuskels auf die Mitvibration des Herz
muskels, wie er durch Erschütterung der Klappen hervor¬
gerufen wird, bezieht, so liegt nichts im Wege, auch den
tiefen, dumpfen Charakter des Pulmonaltones1, dessen
Gebiet im Bereiche des Herzmuskels liegt, auf die
selbe Ursache zurückzuführen. Man kann demnach an¬
nehmen, daß die durch Erschütterung der Klappen her¬
vorgerufene Vibration der Muskelsubstanz des Herzens einen
wesentlichen Anteil an der Gestaltung der Töne hat und
es ist die weitere Amiahme berechtigt, daß durch dieselbe
die Töne tiefer, dumpfer, diffus werden. Auch der tiefe,
dumpfe Charakter des zweiten Karotistones ist hauptsächlich
auf die Mitvibration der Muskelmassen des Halses zurück¬
zuführen.
Bei Lokalisation der ersten Töne durch den Leber-IIerz-
reflex kann es sich nur um Unterscheidung der Töne beider
Ventrikel handeln, die Abgrenzung des ersten Tones 'des linken
Ventrikels gegen den ersten Aortaton und des ersten Tones i
des rechten Ventrikels gegen den ersten Pulmonalton kann
auf diesem Wege nicht vollführt werden. An den Stellen,
an welchen bei Druck auf die Lebergegend der zweite Ton
schwächer wird, wird mit sehr geringen Ausnahmen auch
der erste Ton schwächer und an den Stellen, an welchen
bei Druck auf die Lebergegend der zweite Ton stärker
wird, wird mit sehr geringen Ausnahmen auch der
der zweite Ton stärker; da die ersten Töne in der linken
Herzgegend und am Sternum auf Grundlage ihrer Stärke
als Ventrikeltöne betrachtet werden können, so ist in diesem
Gebiete der zweite Aortaton mit dem ersten Ton des linken
Ventrikels und der zweite Pulmonalton mit dem ersten
Ton des rechten Ventrikels vergesellschaftet oder mit
anderen Worten, die Stellen des zweiten Aortatones sind
in diesem Gebiete auch die Stellen des ersten Tones des
linken Ventrikels und die Stellen des zweiten Pulmonal¬
tones sind auch die Stellen des ersten Tones des rechten
Ventrikels und es muß hervorgehoben werden, daß unter nor¬
malen .Verhältnissen am Sternum in der Höhe des fünften
Interkostalraumes, also am untersten Teil des Sternums der
erste Ton des linken Ventrikels ist und daß auch im zweiten
linken Interkostalraum und am angrenzenden Teil des Ster¬
nums ein stärkerer erster Ton als Ton des linken Ventrikels
zu betrachten ist. Nur sehr selten ist der zweite Aortaton
mit dem ersten Ton des rechten Ventrikels und de! zweite ■
Pulmonalton mit dem ersten Ton des linken Ventrikels ver¬
bunden. Ist in der ganzen linken Herzgegend und am
Sternum der zweite AortaJon, so ist daselbst auch der erste
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
859
■ Tön des linken Ventrikels, bei Erweiterung des Gebietes
des zweiten 1 ulmönaltones ist in gleicher Weise auch das
Gebiet des ersten Tones des rechten Ventrikels erweitert und
ist in der ganzen linken Herzgegend und am Sternum der
zweite Pulmonalton, so ist daselbst auch der erste Ton des
rechten Ventrikels.
Die ersten lone der Ventrikel sind manchmal gleich,
meistens sind dieselben verschieden. Der erste Ton des
r!r«en Gkels 1 s't gewöhnlich stärker, höher, weniger
diffus, als der erste Ton des rechten Ventrikels. An den
verschiedenen Stellen ihres Verbreitungsgebietes sind die
Ventrikeltöne, insbesondere der Ton des linken Ventrikels
wesentlich verschieden, manchmal sind die Töne an ver¬
schiedenen Stellen gleich. Der Ton des linken Ventrikels ist
gewöhnlich am stärksten und höchsten an der Herzspitze,
doch ist er häufig im vierten oder auch im dritten und
zweiten tu terkostalraum stark und hoch, während er an
der Herzspitze schwach ist. Der Ton des rechten Ventrikels
, ist, am linken Sternalrand und in der Parasternallinie
meistens stärker und höher als am Sternum. Bei Wechsel
Ver zweiten Gefäßitöne wechseln manchmal auch die ersten
Ventrikeltöne ; nur einmal waren u. zw. in der Parasternal-
Iirne des vierten Interkostalraumes bei zweitem Pulmonal-
ton die ersten Töne vermengt.
Die ersten Töne im 'zweiten und ersten linken Inter¬
kostalraum werden auch, wenn sie schwach sind, bei Druck
auf die Lebergegend konstant schwächer; man muß dem-
uach annehmen, daß, ein erster Pulmonalton im klinischen
Sinne nicht, besteht; es ist unentschieden, ob die Töne an
genannten Stellen vom linken Ventrikel oder von der Aorta
stammen.
Durch richtige Lokalisation der Herztöne bekommen
wir Einblick in die schwierigsten Zustände des Herzens.
Bei Störung des Energiegleichgewichtes beider Herzhälften
können wir durch Bestimmung des Gebietes der Töne die
gegenseitigen Stärkebeziehunsgen der Ventrikel sicher ab¬
schätzen, den Wechsel derselben leicht verfolgen ; wir er¬
fahren, wie die Beobachtung eines Falles von Mitralstenose
nn Stadium schwerer Kompensationsstörung zeigte, daß
manchmal über der ganzen linken Herzgegend der erste
Ton des rechten Ventrikels und der verstärkte zweite Pul¬
monalton ist — erhöhte Tätigkeit des rechten Ventrikels
mit Schwächezustand des linken Ventrikels, daß: manchmal
die Töne beider Ventrikel und beider Gefäße verstärkt sind
erhöhte Tätigkeit beider Ventrikel, daß manchmal über
ner ganzen Herzgegend der erste Ton des linken Ventrikels
und der verstärkte zweite Aortaton ist — erhöhte Tätigkeil
des linken Ventrikels mit Schwächezustand des rechten Ven¬
trikels ; es sei hinzugefügt, daß: man mit Berücksichtigung
-der Größenverhältnisse des linken Ventrikels weiterhin fest-
slellen kaim, ob [die verstärkte Tätigkeit des Ventrikels durch
primär erhöhte Energie desselben oder sekundär durch ge¬
steigerten peripheren Widerstand bedingt ist, im letzteren
Falle Zunahme des Volums des Ventrikels. Es sei liier
nochmals betont, daß die Auffassung des zweiten Tones
am Sternalrand des zweiten linken Interkostalraums als
lulmonalton die Ursache schwerer diagnostischer Irr-
dimer ist.
In zwei Fällen wurde durch den Leber-Herzreflex die
Verdoppelung des zweiten Tones richtig gedeutet. In einem
lalle von Mitralstenose war an der Herzbasis ein verdop¬
pelter zweiter Ion; bei Druck auf die Lebergegend wurde
das erste [Moment der Verdoppelung stärker, das zweite
Moment wurde schwächer oder war geschwunden. Man
konnte schließen, daß der verdoppelte Ton nicht zwei stärkere
Momente des diastolischen Mitralgeräusches darstelle, da
Mitralgeräusche bei Druck auf die Lebergegend schwächer
werden, sondern, daß das erste Moment der Verdoppelung
an der Pulmonalis, das zweite an der Aorta entstehe, daß
demnach der verdoppelte Ton durch ungleichzeitigen Schluß
der Pulmonal- und Aortaklappen bedingt sei und daß der
Schluß der Pulmonalklappen früher erfolge als der Schluß
der Aortaklappen. In dem zweiten Fälle, in welchem ge¬
ringe Arhythmie bestand, war an der Herzbasis, mehr nach
mks, bald Spaltung, bald Verdoppelung des zweiten Tones,
der übrige Befund am Herzen normal. Bei Druck auf die
Lebergegend wurden beide Momente der Verdoppelung
s ,ai er , man konnte annehmen, daß die Verdoppelung an der
Pulmonahs entstehe, wahrscheinlich durch ungleichzeitigen
Schluß der Klappenzipfel.
. In Beiden Karotiden wurde der zweite Ton bei Druck
aut die Lebergegend auch bei großer Verbreitung und großer
Intensität des 1 uimonaltones konstant schwächer; der zweite
. on in den Karotiden stammt demnach immer aus der Aorta.
Ueber tuberkulöse Exazerbation.
(Zur Theorie der Phthiseogenese.)
Von Priv.-Doz. Dr. Franz Hamburger.
Gelegentlich tierexperimenteller Studien über Tuber-
uloseimmunität konnte ich einige Beobachtungen machen,
welche mir geeignet scheinen, einerseits das klinisch öfter
zu beobachtende Wiederaufflammen abgeheilter tuberkulöser
Herde, anderseits vielleicht auch die Phthise als tuber¬
kulöses Rezidiv zu erklären. Wie schon Koch gezeigt hat,
besitzt das tuberkulöse Meerschweinchen eine Immunität
gegenüber neueilicher Infektion. Diese Beobachtung wurde
zum leil auf Grund abweichender Tierexperimente bei-
stritten, zum Teil nicht genügend beachtet. Sie ist aber
zweifellos richtig und kann bei entsprechender Versuchs¬
anordnung immer leicht demonstriert werden, wie besonders
aus den eingehenden Untersuchungen von P. H. Römer
und auch von mir hervorgeht.
. B habe nun schon in meiner ersten diesbezüglichen
Mitteilung kurz erwähnt, daß die Immunität tuberkulöser
- leie gegenüber Reinfektionen nicht eine absolute, sondern
nur eine relative ist und habe — freilich nur kurz —
darauf hingewiesen, daß unter Umständen die längst
völlig verheilte Wunde an der Reinfektions¬
stelle nach vielen Wochen oder Monaten auf
einmal sich leicht infiltriert und sogar zu
G es c h w ü r b i 1 d ung führen k a n n. Ich habe seither
mehrere solche Beobachtungen machen können und möchte
aui ihre allgemeine pathologische Bedeutung ein wenig
näher eingehen.
Wenn wir sehen, daß die Reinfektionsstellen durch
längere Zeit hindurch, von eventuellen sofortigen Re¬
aktionserscheinungen abgesehen, scheinbar völlig intakt
bleiben, daß jedoch mehrere Wochen oder Monate später
genau an eben dieser Stelle der Reinfektion auf einmal
entzündliche Erscheinungen auft.reten, so müssen wir wohl
daraus schließen, daß. bei der Abwehrreaktion, wie
sie gleich nach der Reinfektion a u f t r i 1 1, die
Bazillen nicht völlig ab getötet, sondern nur
abgeschwächt w e r d e n. Wir müssen dann weiter an-
nehmen, daß diese Bazillen aus irgendeinem Grunde wieder
line Virulenz gewinnen und auf diese Weise zu einem
Wiederaufflammen der Reinfektionsstelle
geben.
Veranlassung
Waium werden nun die Bazillen oft erst nach mehreren
Wochen oder Monaten wieder virulent, nachdem sie an
Ort und Stelle so lcinge Zeit ctviruleiit waren? Wie aus einer
einfachen Ueberlegung hervorgeht,, ist die Virulenz von
Bazillen nur ein relativer Begriff, ein Begriff, der immer
in Verhältnis gesetzt werden muß zu der Immunität oder
Resistenz des infizierten Makroorganismus. Ist die Resistenz
des Makroorganismus groß, dann ist eben die Virulenz des
Mikroorganismus relativ klein und umgekehrt. Es braucht
also, wenn wir sagen, die Bazillen werden plötzlich virulent,
nicht wirklich eine Aenderung in der Virulenz des Ba¬
zillus, sondern nur eine Aenderung in der Resistenz des
Makroorganismus stattgefunden haben. Ist diese Resistenz
aus _ irgend einem _ Grunde herabgesetzt, so scheinen die
Bazillen plötzlich virulent geworden zu sein, was sich eben
in dem Wiederaufflammen der Reinfektionsstellen zeigt.
860
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
Wenn wir nun sehen, daß sich beim tuberkuloseinfizierten
Tier an den Reinfektiönsstellen durch lange /eil hindurch
keine Veränderungen zeigen, um dann plötzlich aufzu¬
flammen, so dürfen wir dies wohl mit einiger Wahrschein¬
lichkeit auf eine Resistenzverminderung, anders ausgedrückt,
auf eine Dispositionserhöhung zurückführen.
Versuchen wir nun diese tierexperimentellen Beob¬
achtungen und die liiefür gegebenen Erklärungen auf die
Verhältnisse beim Menschen zu übertragen. Wir wissen,
daß sich die meisten Menschen schon im Kindesalter tuber¬
kulös infizieren u. zw. höchstwahrscheinlich fast ausnahms¬
los durch Inhalation. Wir wissen ferner, daß sich bei den
meisten Menschen ein Primärherd in der Lunge entwickelt,
und daß sich dann meistens nach der Entwicklung dieses
Primärherdes eine gewisse Immunität entwickelt, was daraus
geschlossen werden kann, daß die meisten Menschen, obwohl
sie gewiß sehr häufig in ihrem Leben Tuberkelbazillen cin-
atmen, eben nur einen, zwei oder drei, nicht aber unzählige
entsprechende ,, Herde“ in den Lungen aufweisen. Eine Ent¬
wicklung weiterer tuberkulöser Herde wird eben durch
»die mittlerweile entstandene Immunität verhindert, aber die
Tuberkelbazillen werden an den Reinfektionsstellen nicht
immer abgetötet, sondern sie bleiben im abgeschwächtem
Zustand daselbst liegen. Es kann aber jederzeit, wenn aus
irgendeinem Grund die Resistenz oder Immunität herab¬
gesetzt, also die Disposition erhöht wird, zur Exazerbation
kommen. Vielleicht dürfen wir dann dementsprechend die
Lungenphthise als einen solchen Exazerba¬
tionsprozeß auf fassen, der an Reinfektions¬
stellen sich etabliert, an denen die Bazillen
nicht abgetötet, sondern nur abgeschwächt
worden waren.
Man darf sich dann weiter vielleicht vorstellen, daß
bei den längere Zeit in tuberkulöser PImgebung lebenden,
also sich oft und wiederholt infizierenden Individuen die
Reinfektionen nicht überall in gleicher Weise zur Abheilung
gelangen. Unter der Voraussetzung, daß die jeweiligen
,, Reinfektionsdosen“ ungefähr gleich groß sind und auch
der Immunitätsgrad zur Zeit der jeweiligen Reinfektionen
ungefähr gleich groß ist, so sind wohl auch die Abheilungs¬
bedingungen an den Reinfektionsstellen ungefähr gleich groß,
dürften aber doch immerhin noch von lokalen Momenten
beeinflußt werden. Die Reinfektion wird um so eher und
besser heilen, je stärker die Reaktion auf dieselbe .ist.
Die Intensität der Reaktion hängt aber wahrscheinlich unter
anderem auch von dem Grad der Durchblutung und viel¬
leicht auch von dem Grad der Durchlüftung der betreffenden
Lungenpartien ah. Unter dieser Voraussetzung wären dann
die Abheilungsbedingungen gerade an den Lungenspitzen
die schlechtesten. Man könnte sich dann vorstellen, daß die
gewiß oft stattfindenden Reinfektionen in den mittleren und
unteren Lungenpartien endgültig, an den Spitzen nur
temporär ausheilen. Wenn dann aus irgendeinem
Grunde die Immunität des Individuums sinkt, dadurch
die Virulenz der Tuberkelbazillen relativ steigt, so flammen
die temporär abgeheilten Reinfektionsstellen auf und es
kommt zur Tuberkulose der Lungenspitzen.
Ich bin mir wohl bewußt, daß die bisher gemachten
Beobachtungen über tuberkulöse Exazerbation bei Meer¬
schweinchen auch nicht annähernd genügen, um die hier
mitgeteilte Theorie der Phthiseogenese als richtig zu be¬
weisen. Wenn wir uns die Phthise des Menschen als ein
Wiederaufflammen alter temporär verheilter Tuberkulose¬
herde vorstellen, so ist das zweifellos Hypothese, die aller¬
dings mindestens ebenso gut gestützt erscheint als jede
andere Theorie über die Phthiseentstehung.
Sind die hier entwickelten Anschauungen richtig,
dann versteht man auch, wie zur Phthiseentstehung nicht
nur die Exposition, sondern auch die Disposition nötig ist.
Aus der Prosektur (Vorstand: Hofrat Prof. Dr. Richard
Paltauf) und der Hautabteilung (Vorstand: Primarius
Dr. Leo Ritter v. Zumbusch) der k. k. Rudolfstiftung
in Wien.
Nachprüfung der nach Angabe Müllers und Land¬
steiners modifizierten Methodik der Wasser-
mannschen Reaktion mit nicht inaktiviertem
Serum.
Von Dr. Emil Epstein und Dr. S. Deutsch.
Zahlreich sind bekanntlich die Vorschläge, die Technik
: der 'Komplementbindungsreaktion zu vereinfachen. So er-
■| setzt. Bauer das künstlich erzeugte Hammelblutimmun-
| serum vom Kaninchen durch den normaler Weise im Imensch-
: liehen Serum vorkommenden hämolytischen Ambozeptor
ü und bekommt dadurch feinere Ausschläge. Hecht geht 1
\ um einen Schritt weiter und benutzt den natürlichen Hammel-
\ blutambozeptor und den Komplementgehalt des Patienten- I
jj serums. Die Brauchbarkeit beider Methoden in der Praxis j
i wurde durch zahlreiche Nachprüfungen widerlegt, da der ;
| Ambozeptorgehalt in den verschiedenen Seris ein ganz ver- |
schiedener ist. M. Stern läßt die Benützung des Meer¬
schweinchenserums als Komplement weg und zieht unter
Beibehaltung von Hammelblutimmunserum den natürlichen
Komplementgehalt der zu untersuchenden Sera zur An- j
Stellung klier Reaktion heran. Da Sachs und Altmann
nach gewiesen haben, daß bei Anwendung aktiven Serums
in der ursprünglichen W a s s e r m a n n sehen Versuchst
anordnung die Reaktion auch in einer Reihe von nicht Lues¬
fällen positive Ausschläge ergibt, wendet Stern, um sich
vom schwankenden Komplementgehalt möglichst unabhängig
zu machen, einen beträchtlichen Ambozeptorüberschuß an,
da bekanntlich durch einen solchen das Komplement im
hämolytischen Systeme teilweise substituiert werden kann.
Die allein hemmende Wirkung des Organextraktes wird
dadurch ausgeschaltet, daß nur 2/s und Vs der Organextrakt¬
dosis zugefügt wurde, welche in der Versuchsanordnung
mit inaktiven Serum zur Verwendung gelangt. Stern er¬
hält mit dieser Methodik um ca. 15°/o mehr positive Aus- |
Schläge bei sicher luetischen Seris. Harold Boas unter¬
suchte ähnlich wie Sachs und Altmann das Serum j
Syphilitischer in relativ großer Dosis von 0-2 cm3 ohne zu
inaktivieren und kommt zu dem Resultate, daß die Reale- |
tion auf diese Weise feinere Ausschläge ergibt, zugleich
aber auch an Spezifität verliert. Der positive Ausfall trill
im Anfangstadium der Krankheit früher ein und bleibt
unter der anti luetischen Therapie weit länger bestehen als
mit inaktiviertem Serum. Der Vereinfachungsvorschlag von
T sehe r n ogubow geht, wohl am weitesten, indem er einer- ;
seits das Meerschweinchenserum als Komplement wegläßt,
anderseits an Stelle des Hammelblutambozeptors einen künst¬
lichen Menschenblutambozeptor vom Kaninchen und statt
der Hammelblutkörperchen direkt die roten Blutkörperchen
des zu untersuchenden Blutes anwendet. Diese Methode ;
gibt jedoch sicher falsche Resultate, so daß Tscherno-
gubow selbst von der Anwendung derselben abge¬
kommen ist.
W asser m a n n und Meier äußerten sich über sämt¬
liche bis 1910 veröffentlichte Modifikationen mit aktivem
Luesserum auf Grund eigener und zahlreicher anderer Unter¬
suchungen, daß sie sehr bedenklich seien und von ihrer
alleinigen Anwendung nicht dringend genug abzuraten sei; |
„denn hiebei trete im ausgesprochenen Maße das ein, was
in erster Linie vermieden werden müsse, eine geringere
Zuverlässigkeit“.
Wenn demnach die erwähnten Modifikationen für die
Praxis nicht zu verwenden sind, so sind sie doch in hohem
Maße interessant, indem sie dazu beitrugen, die theoreti¬
schen Anschauungen über die Mechanik der komplexen
Hämolyse zu festigen und zu vertiefen. Die Mehrzahl der
einschlägigen Arbeiten bezweckt in erster Linie eine Ver¬
einfachung der Methodik.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
861
Tin Gegensätze hiezu berichtet Müller auf der Ver¬
sammlung der deutschen Naturforscher und Aerzte in Salz¬
burg 1909 über eine Aenderung der Arbeitsweise, die Land¬
stein e r gemeinsam mit ihm ausarbeitete. Als erstes Ziel
schwebte ihnen vor Augen die Reaktion vor allem zu ihrer
Höchstleistung zu bringen. Dem berechtigten Einwand, daß
bei Anwendung aktiven Serums die Spezifität der Reaktion
leiden könne, wurde dadurch begegnet, daß das zu unter¬
suchende Serum in kleinen Mengen gegen relativ
große Mengen von Organextrakt, Immunserum und
Hammelblutkörperchen bei Verwendung von Meer¬
schweinchenserum als Komplement, auf ihre komplement-
bindende Eigenschaft geprüft wurde. Auf diese Weise konnte
einerseits die Schädigung der hemmenden Eigenschaft des
Serums durch das Erwärmen auf 56° C eliminiert werden,
Komplementwirkung geprüft. Da der natürliche Komplement¬
gehalt in diesen Verdünnungen nicht mehr zur Geltung ge¬
langte, so wurden sie unter Zusatz von 0-1 cm3 eines1
50%igen Meerschweinchenserums, sodann gegen verschie¬
dene Konzentrationen alkoholischen Organextraktes aus¬
gewertet. Rei den gewählten Serumdosen wurden als opti¬
male Organextraktverdünnungen Verdünnungen Von V3 und
/<; ermittelt. Die Dosierung ist aus den folgenden Tabellen
ersichtlich.
Die analoge Versuchsanordnung bei Luesserum zeigte
in einer Anzahl von fällen, daß geringere Serumdosen alsi
0-1 cm' einer fünffachen Verdünnung einen positiven Aus¬
schlag^ der Reaktion zum Umschlag bringen können.
Kontrollversuche ergaben, daß eine Anzahl Von Lues¬
seris, welche in einer Dosis von 0-1 cm3 einer fünffachen
anderseits wird durch die Verdünnung di. Fehlerquelle ruß - Verdünnung ini ÄjÄTCoÄ
Tabelle I und II. Versuche mit Normalserum.
I. Verdünnung
des Serums
1 : 10
II. Verdünnung
des Serums
1:5
Aufstellung mit
aktivem Serum
*) Bis 56°
Kontrolle
jmit inaktiviertem
Serum*)
durch eine halbe
Versuchsanordnung
Ablesungszeit
nach 30 Minuten
nach 2 Stunden
01 s. + 01 OE. e/J -1- o-l MS. + 015 IS. + OT Bltk.
o-l S. -F OT OE. (>/2) -P OT MS. + 0 15 IS. + OT Bltk
OT S. + OT OE. (V8) 4- 01 MS. + 015 IS. + 01 Bltk
1 OT S. + OT OE. (7,) + OT MS. + 015 IS. + OT Bltk.
1 OT S. + OT OE. 0/J + OT MS. -j- 0T5 IS. -LOT Bltk
i OT S. + OT OE. (>/0) + OT MS. + 0T5 IS. + OT Bltk.
Spur Lösung
Beginnende Lösung
»
»
inkomplett gelöst
Spur Lösung
»
fast gelöst
»
gelöst
j OT S. + OT OE. (3/4) 4- OT MS. + 0T5 IS. -j- OT Bltk.
! OT S. + OT OE. (7#) + OT MS. + 015 IS. + OT Bltk.
j OT S. + OT OE. (», ,) + OT MS. + 0T5 IS. 4- OT Bltk.
! OT S. 4- OT OE. (>/,) -f OT MS. 4- 015 IS. 4- OT Bltk.
: OT S. 4- OT OE. (74) + OT MS. + 0T5 IS. 4- OT Bltk
OT S. 4- OT OE. (7.) 4- OT MS. -f 0T5 IS. 4- OT Bltk.
0
0
Spur Lösung
inkomplett gelöst
fast gelöst
»
0
0
gelöst
»
01 S. -j- 01 OE. + 0-1 MS. + 015 IS. + 01 Bltk.
gelöst
Stunde auf dem Wasserbad erwärmt.
Tabelle III und IV. Versuche mit Luesserum A und B.
Serum¬
verdünnung
Versuchsanordnung
Ablesungszeit
nach 2 Stunden
III. A.
1:10
Aufstellung mit
aktivem Serum
OT S. 4- OT OE. (*/,) -1- 01 MS. -f OT IS. 4- OT Bltk.
OT S. 4- OT OE. (7,) 4- OT MS. + OT IS. + OT Bltk.
gelöst
»
1:5
Aufstellung mit
aktivem Serum
OT S. 4- OT OE. (7,) -f OT MS. -f 0T5 IS. -f 01 Bltk.
OT S. 4- OT OE. (7„) -f OT MS. 4- 0T5 IS. + OT Bltk.
0
0
•
a) Kontrolle mit in¬
aktiviertem Serum,
b) aufEigenhenimung
a) OT S. 4- OT ÖE. 4- OT MS. -f 0T5 IS. -f OT Bltk.
b) 0-2 S. 4- OT MS. 4- 0T5 IS. 4- OT Bilk.
0
gelöst
' IV. B.
.1:10
Aufstellung mit
aktivem Serum
OT S. 4- 01 OE. (7,) 4- 01 MS. 4- 015 IS. 4- 01 Bltk.
OT S. + OT OE. (l/6) 4- OT MS. 4- 015 IS. 4- OT Bltk.
inkomplett gelöst
1:5
Aufstellung mit
aktivem Serum
OT S. 4- OT OE. (7,) 4- OT MS. 4- 015 IS. 4- OT Bltk.
OT S. 4- OT OE. (70) 4- OT MS. 4- 0T5 IS. 4- OT Bltk.
0
0
a) Kontrolle mit in¬
aktiviertem Serum,
b) aufEigenhemmung
a) OT S. -f OT OE. 4- OT MS. 4- 0T5 IS. + OT Bltk.
b) 0-2 S. 4- OT MS. 4- 0T5 IS. -j- OT Bltk.
0
gelöst
großen Teile ausgeschaltet, „die jedes Serum durch seinen
behalt an hämolytischem Ambozeptor und Komplement in
sich birgt Die Reaktion wird in jedem Fälle mit zwei
verschiedenen Organextraktdosen angeistellt. Die Ergeb¬
nisse dieser Versuchsmethode in 600 Fällen sicherer Lues
zeigen nach der Mitteilung Müllers eine Verminderung
des Vorkommens negativer Ausfälle in dem Maße, daß ein
solcher gegen bestehende luetische Erscheinungen spricht.
Da somit die geänderte Versuchsanordnung in der Tat die
Leistung der Reaktion zu erhöhen schien, so wurden wir
aufgemuntert, die Landsteiner-Müllersche Me¬
lodik an einem umfangreichen Materiale nachzuprüfen.
Da der Vortrag Müllers die geänderte Versuchs-
inordnung nur im Prinzipe bringt, so arbeiteten wir nach
seinen Angaben eine Methodik aus, indem wir uns an die
Forderung einer streng quantitativen Auswertung halten,
vie sie Was is erman n, Neisser, Bruck und S c h u c h t
11 ihrer Originalarbeit in der Zeitschrift für Hygiene 1906
lufstellten.
Normalsera wurden zunächst mit physiologischer Koch-
>alzlösung zehnfach und fünffach verdünnt und auf ihre
dosen von Vs und V6 die Hämolyse hemmten, nach Inak¬
tivierung die Reaktion nicht mehr ergaben.
Tabelle V. Versuch mit inaktiviertem Luesserum.
Serumver- ; 0'2 S. (1
dimming 02 S. (1
1 : 10 ; 0-2 S. (1
E S
: 9)4-0 1 OE.(7,) + OT MS. + 015 IS. +01 Bltk.
: 9) 4- 0-1 OE.(7d + 0-l MS. +0-16 IS.+OT Bltk.
: 9) + 0T OE.p/d+OT MS.-j-OTö IS.-j-OT Bltk.
gelöst
wurden demnach in unserer Versuchs-
anordn u n g Dosen von 01 cm3 einer fünffachen
Verdünnung des Serums angewendet und in
jedem falle ,u n t e r Hinzufügung von 1 cm3
50(0/oa gen Meerschweinchenserums zwei Pro¬
ben mit Organ extraktverdünnungen IVon Tb und
/ 6 auf gestellt. Außerdem versäumten wir es selbstver¬
ständlich nicht, alle vorgeschriebenen Kontrollen zur Anwen¬
dung zu bringen.
Erläuterungen zu den Tabellen.
L S* = Patientenserum (bei 56" C durch eine halbe Stunde inaktiviert).
= Meerschweinchenserum: Es wurde stets '
tags zuvor entbluteten Meerschweinchens
Verdünnung angewendet.
MS.
das Serum eines
in einer 50°/Oigen
862
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
3. OE. = Meerschweinchen herzextrakt (1 g geschabtes Meerschweinchen¬
herz mit 50 cm3 95°/0igem Alkohol bei 60° C durch fünf
Stunden digeriert). Der Organextrakt wurde behufs Herstel¬
lung der entsprechenden Verdünnungen mit 95°/0igen Alkohol
und nicht mit physiologischer Kochsalzlösung versetz! .
4. IS. = Hammelblutimmunserum vom vorbehandelten Kaninchen.
015 cm3 dieses 500 fach verdünnten Serums löst 01 cm3
einer 20°/0igen Blutkörperchenaufschwemmung eben glatt.
Zu den Versuchen wurde die doppelte .Dosis also 01 cm3
einer 250 fachen Verdünnung herangezogen.
5. Bltk. = 20°/0ige Aufschwemmung von dreimal in isotonischer (0 '9°/0)
Kochsalzlösung gewaschenen Hammelblutkörperchen.
0. Die Zahlenangaben beziehen sich auf das Yolumenmaß in
Kubikzentimetern. Sämtliche Röhrchen wurden mit der iso¬
tonischen Kochsalzlösung auf l-5 cm3 Gesamtvolumen ergänzt.
7. Der Aufstellung der Versuche ging jedesmal eine Auswertung
des OE, und des hämolytischen Systems voran. Das Patienten¬
serum wurde zunächst mit OE., MS. und dem entsprechen¬
den Volumen Kochsalzlösung versetzt, auf eine halbe Stunde
in den Brutschrank gestellt und sodann IS. und Bltk. zugesetzt.
8. Die Ablesung erfolgte nach zweistündigem Verweilen der
Proben in dem auf 37 °C konstant erwärmten Brutschrank.
463 Sora ergaben übereinstimmende Resultate und zwar
waren 253 positiv, 220 negativ. Von den restlichen 152 Fällen
reagierten :
l. 1.
Inaktiv
negativ
aktiv
positiv
54 Sera
8-7°/o
2.
»
»
inkomplett
20 »
33%
3.
inkomplett
»
positiv
22 »
3-5'Vo
II. 4.
2>
positiv
»
negativ
28 »
4-5°/0
5.
»
»
inkomplett
14 *
2'2%
6.
»
inkomplett
»
negativ
14 »
2-2 "/„
In die erste Gruppe gehören 39 f r i s c h e Sklero¬
sen vor Ausbruch des Exanl h e m e s, z w ei Skle¬
rosen mit Exanthem, zwei Gummen, sieben Fälle
von Lues latens, eine Tabes, eine Atrophia nervi optici, eine
Keratitis parenchymatosa, ein Fall von wiederholtem
Abortus.
In der zweiten Gruppe figurieren zwei mit Dioxydiamido-
arsenobenzol, 17 mit Einreibungskur behandelte Fälle und
ein Fall, bei welchem die histologische Untersuchung die
Diagnose Carcinoma linguae ergab, und in der Anamnese
keine Anhaltspunkte für Lues zu finden waren.
Die Fälle von Gruppe drei sind sichere Luesfälle, die
mit Ausnahme von zwei mit Dioxydiamidoarsenobenzol be¬
handelten Fällen durchwegs merkurialisiert wurden.
In der vierten Gruppe finden sich sieben Fälle im se¬
kundären Stadium, sechs frisch behandelte Fälle, elf Fälle
von Lues latens, ein Fall von hereditärer Lues, ein Fall
von Otitis media Juetica, eine Iritis und ein Aneurysma der
Aorta laut Obduktionsbefund mit luetischen Veränderungen
derselben.
Die fünfte Gruppe enthält durchwegs früh behandelte
Fälle; die sechste Gruppe mehrere initiale Fälle vor Aus¬
bruch der Allgemeinerscheinungen, zwei mit Dioxydiamido-
arsenobenzol Behandelte und einen Fall von Tabes dorsalis.
Aus dieser Statistik geht hervor, daß bei Anwen¬
dung de r A k t i v in cthode ein Gewinn v,on 12-2 %
positiver Ausfälle, bei Fällen resultiert, bei denen
durch die klinische Beobachtung Lues siohergestellt
wurde. Dieser Gewimi rekrutiert sich analog den Erfah¬
rungen von Harald Boas vorwiegend aus rezenten und be¬
händ elteo Fällen (Gruppe 1 und 3). Demgegenüber bilden
die Fälle der Gruppe 4 und 5 zusammen 6-7%, bei welchen
die modifizierte Methode mit aktivem Serum ein negatives
Resultat, ergaben, während mit inaktiviertem Serum positive
Ausfälle erzielt wurden. Daraus gehl hervor, daß die Mc-
l bode nach Landsteiner und M ü 1 1 e r, teils als wert¬
volle Kontrolle, teils als Ergänzung der bewährten Aufstel¬
lung mit inaktiviertem Serum heranzuziehen ist. Selbstver¬
ständlich möchten wir nach unseren Erfahrungen letztere
niemals missen. In diesem Sinne wäre diese Methodik nicht
berufen „die ursprüngliche zu ersetzen oder gar zu ver¬
drängen“. Immerhin ist sie aber imstande, eine Anzahl
von „bisher negativen Fällen von sicherer Syphilis positiv
werden zu lassen, ohne zu labil zu werden“ und damit den
kritischen Forderungen wenigstens teilweise zu entsprechen,
die Wassermann und Meier in ihrer bereits zitierten
Arbeit (Münchner mediz. Wochenschrift 1910, Nr. 24) auf¬
stellten.
Literatu r.
W a s s e r in arm, N e i s s e r. Bruck und Schucht, Weitere
Mitteilungen über den Nachweis spezifischer luetischer Substanzen durch
Komplementverankerung. Zeitschr. f. Hygiene und Infektionskrankheiten
1906. J. Bauer, Deutsche med. Wochenschr. 1908, Nr. 16. —
Sachs, Des modifications du serum sanguin par le chauffage. La Se-
maine medicale 1908, Nr. 26. — - Groß und V o 1 k, Weitere serodia¬
gnostische I nlersuchungen bei Syphilis. Wiener klin. Wochenschr. 1908,
Nr. 44. Hecht, Eine Vereinfachung der Komplementbindungsreaktion
bei Syphilis. Wiener klin. Wochenschr. 1908, Nr. 50. Tscherno-
gubow, Eine einfache Methode der Serumdiagnose bei Syphilis. Ber¬
liner klin. Wochenschr. 1908, Nr. 47. Harold Boas, Die Wassor-
mannsche Reaktion bei aktiven und inaktiven Sera. Berliner klin.
Wochenschr. 1909, Nr. 9. M. Stern, Eine Vereinfachung und Ver¬
feinerung der serodiagnostischen Syphilisreaktion. Zeitschr. f. Immunitäts¬
forschung 1909. Müller, Ueber den technischen Ausbau der Wasser-
mannschen Reaktion. Wiener klin. Wochenschr. 1909, Nr. 40.
W assermann und Meie r, Die Serodiagnostik der Syphilis. Münchener
med. Wochenschr. 1910, Nr. 24.
Aus der medizinischen Klinik der Universität Lemberg.
(Vorstand: Prof. Dr. A. Gluzinski.)
Alimentäre Glykosurie und Adrenalinglykosurie.
Mit besonderer Berücksichtigung der Glykosurie in der
Gravidität und der Zuckerkrankheit.*)
Von Dr. Marek Iieiclieustein, gew. Assistenten der Klinik.
Seitdem Blum1) seine Beobachtungen über Neben- i
nierendiabet.es veröffentlichte, konstatierten fast sämtliche i
Autoren, welche sich mit der experimentellen Adrenalin- I
glykosurie befaßten, daß nach Injektion einer gewissen Menge
von Adrenalin bei Hunden und Kaninchen Zucker im Urin
erscheint tt. zw. nicht nur bei Fütterung mit Kohlehydraten, I
sondern auch bei Hungertieren und bei solchen, deren Leber
infolge von Konvulsionen nach einer Strychninintoxikation |
glykogenfrei gemacht wurde (Pollak2).
Beachtenswert sind auch die Beobachtungen von Ep-
p i n g e r, F a 1 1 a und R u d i n g e r,3) wie auch von Por ge s,4) j
nach welchen bei Morbus Addisoni, also bei Schwund,
respektive bedeutender Verringerung ,des chromaffinen Sy¬
stems im menschlichen Organismus, eine erhöhte Toleranz
für Kohlehydrate besteht und die Darreichung von 300 g
Traubenzucker, nüchtern, genügte nicht, um alimentäre Gly- !
kosurie herbeizuführen.
Die Toleranz für Kohlehydrate steigt mit dem Schwund
des Adrenalins im Organismus und vice versa bewirkt Adre¬
nalinzufuhr subkutan oder intraperitoneal, Hyperglykämie
und Glykosurie.
Trotz der theoretischen und praktisch - diagnostischen
Bedeutung der Adrenalininjektion bei Menschen, fand ich
in der mir zugänglichen Literatur nur wenige diesbezügliche
Anhaltspunkte.
v. Noorden5) führt einen Fäll an, betreffend einen
30jährigen Mann, welchem fast täglich, einen Monat hin¬
durch, Adrenalin in Mengen von 0-5 bis 2-0 mg, -infolge
eines chronischen Oedems des Unterschenkels, injiziert
wurde. Im ersten Monat trat der Zucker — bei ca. ,1 mg
Adrenalin — nur sporadisch in sehr kleinen Mengen auf,
später erschien er bei L5 bis 2-0 mg gewöhnlich IV2 Stunden
nach der Inejktion in Mengen von 1 bis 2°/o. Die Aus¬
scheidung dauerte zwei bis vier Stunden.
Pollak6) beobachtete bei verschiedenen Kranken,
welche über 1-5 mg Adrenalin erhielten, bei gemischter Kost,
das Auftreten von Zucker im Urin. Noel-Pathon7) be¬
merkte Steigen der Zuckermenge im Urin bei einem Dia¬
betiker nach Adrenalininjektion. Am zahlreichsten und aul
breiterer Basis durchgeführt sind die Experimente von E p-
p i n g e r und H e ß.8) Bei einer Dosis von 1 mg bei Männern
und 0-75 mg bei Frauen, bemerkten sie entweder keine
Wirkung oder es tritt bei manchen — ich entnehme der
Allgemeinwirkung nur einige Symptome — Vergrößerung
*) Vorgetragen in der Lemberger med. Gesellschaft am 21. Ok¬
tober 1910.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
863
der Harnmenge, Steigerung der Reflexe, Glykosurie und
so weiter ein.
Bei meinen Untersuchungen legte ich mir die Frage
voi, welches Verhältnis zwischen der alimentären Glykos-
une and Diabetes bei Menschen und der nach einer Adre¬
nalininjektion bei denselben Personen auftretender Glykos¬
urie bestehe.
Da ich mich durch Voruntersuchungen iiberzeugl habe,
daß die Glykosurie nach einer Injektion der von mir an¬
gewendeten Adrenalinmenge — höchstens bis zu 1 mg —
in hohem Maße von der Art der Ernährung abhängt, "das
heißt, sehr oft bei gemischter Kost auftritt, ging ich so
vor, daß ich hei einer streng kohlehydratfreien Diät, an
einem läge auf alimentäre Glykosurie untersuchte (durch
Verabreichung von 100 g Traubenzucker), dann eines an¬
deren Tages Adrenalin (Parke, Davis & Comp.) injizierte
und zwar gewöhnlich zweimal je 0-5 mg in halbstündigen
Abständen, endlich verabreichte ich auch Traubenzucker
(100 g in Limonade) und injizierte Adrenalin gleichzeitig.
t_ Iclilii eit dieselbe Reihenfolge der Untersuchungen nicht
Frauen, bei welchen — wie mich meine9) früheren Unter¬
suchungen belehrten — alimentäre Glykosurie nach Dar-
i eichung von 100 g I raubenzucker sehr leicht auftritt —
iu.(loiL Bereich meiner jetzigen I ntersuchimgen hinzu. Ich
injizierte Adrenalin in den oben angeführten Mengen ohne
schlimme Nebenwirkungen befürchten zu müssen, da diese
Dosis heute bereits in die klinische Therapie aufgenommen
wurde und nach dem Vorschlag von üossi10) auch in
dei Geburtshilfe bei Osteomalazie sich eingebürgert hat.
Ich bemerke im voraus, daß ich, bis auf rasch vor¬
übergehende, höchstens bis zu einer Stunde dauernder,
Symptome, wie Herzklopfen, allgemeines Unruhegefühl,
Zittern am ganzen Körper und zwar nur bei gewissen
Personen, niemals - auf zirka 250 Adrenalininjektionen
— Nebenwirkungen, welche die Gesundheil der Mutter oder
des Kindes schädigen, oder den Verlauf der Schwangerschaft
und der Geburt, wie auch den Gang der Krankheit beein-
I hissen könnten, beobachtete u. zw. ebensowenig bei den
Graviden, wie auch bei den in der Klinik auf Glykosurie
untersuchten Männern und nichtgraviden Frauen.
Männer
Name
Nr. und
Vorname
Diagnose
Nach
100 g
Dextr.
Nach
Injekt.
von
1 cm3
Adren.
Nach Injekt
von 1 cm5
Adrenalin
+ 100 g
Dextrose
1
2
3
I 4
; 5
6 j
7.
! 8
9
tu
II
: 12 !
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
j 23
! 24
25
Ch. Ba.
N. Ka.
S. Ra.
M. Br.
O. Ar.
A. Wo.
L. Ha.
F. Kn.
S. St.
J. Cz.
J. Ka.
N. Ki.
R. Pa.
A. Sch.
A. Dr.
J. Si.
F. Cz.
.1. Kü.
K. Ja.
N. Ch.
M. H.
J. Kr.
J. Po.
B. St.
Z Ma.
Sten. pyl. post. nie.
n
Ulcus ventr.
Neurasth. Hvperaciditas
,, Aton. intest.
Sine morbo
Icterus catarrh.
Cirrh. hep. atr.
Cirrh. hyper. Delir, trem.
Delir, trem.
Morbus Addison.
,, Basedow.
,, Thoms.
Vitium cord.
Tabes dorsal.
Tumor cerebr.
Mening. luet. sp.
Haematomyel.
Purpur, rheum.
Album, cycl. Neurasthenia
Hypert. prost.
Sclerodermia
0
0
0
0
023**
0
0
0
0
0
P51
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
284
10 78**
1066
2 54**
11-73
808
0-97
0
6-82
9 75
800
0
8- 77
4-70
1-48
9- 20
0
3-34
3-95
Fl¬
auen (nichtgravide)
Name
Nr. und
Vorname
Diagnose
Nach 1 Injekt
100 g von
Dextr. | 1 cm1
i Adren.
Naili Nach Injekt.
von 1 cm3
Adrenalin
+ 100 g
Dextrose
26
27
28
29
30
3t
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
M. J.
R. Ne.
K. Ka.
M. Sz.
J. Ch.
N. Be.
M. Kr.
A. Ki.
Z. Ku.
Z. Ro.
K. Gr.
P. Zi.
N. Du.
M. Cv.
R. Ka.
S. So.
H. Ko.
P. Ko.
S. Ma.
F. Pa.
J. Re.
N. No.
K. Hr.
A. Bu.
M. Tw.
P. Ku.
K. Mo.
M. Be.
N. Fe.
Sten. pyl. p. ulc.
Sarcoma pyl.
Ulcus ventr.
Neurosis ventr.
Carcinom. ovarii
Cirrh. hep. atr.
Hepatoplos.
Intox. phos.
Cholelith.
Leukaem. myel.
11 11
Fnteroptos.
Indur. apic.
Seleroderm.
Hysteria
Psych, climact.
Tumor cerebri
(?)
Scler. lateralis arriy.
Myop at h.
Ament, puer.
Myasthenia
Paral. oculomot. period.
Asthma bronch.
Periton. chron.
0
0
0
0
0
0
0
0-90
0
0
0
0
0
0
0
2-83
0
0
0
0
0
0
0
0 = keine Zuckerausscheidung.
— = nicht untersucht.
= Injektion von nur 05 cm3 Adrenalin.
** = wurde wiederholt.
Die Zeichen beziehen sich auf sämtliche Tabellen.
0
0
0
0
0-76
0*
0
0
0
0
0
0
0*
0
0
0
0
0
0-76
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
12-43
4-82
0
1-91
0-24
0
0
0
0
3- 49
4- 29
16-50
1003
1805
11-50*
4- 20
P73*
700
1368
7-98
0
5- 77
immer ein: einmal begann ich mit Adrenalin, ein anderes
Mal wieder mit der Untersuchung auf alimentäre Glykosurie,
um den eventuellen Einfluß der Diät in den der Unter¬
suchung vorangehenden Tagen auszuschließen.
Den Urin sammelte ich alle zwei Stunden und suchte in
jeder Harnportion nach Zucker, durch die Ny] and er¬
sehe oder Hai nes sehe Probe; bei positivem Ergebnis be¬
stimmte ich den Zuckergehalt quantitativ, polarimetrisch
und nach der Methode von Ivar Bang.
Wenn Zucker im Urin nach einer Adrenalininjektion
auftrat, so geschah es gewöhnlich nach zwei, manchmal
erst nach vier Stunden, nie aber vor Ablauf einer Stunde
nach der Injektion; die Ausscheidung dauerte bis zu sechs
Stunden.
Da es mir auf eine möglichst große Anzahl von Fällen
mit alimentärer Glykosurie ankam, zog ich auch schwangere
I.
M ä n n er u n d u i c h t gravi d e F r a u e n.
Nach Darreichung von 100 g Traubenzucker schied ein
Basedowkranker (15) und ein Neurastheniker (5) mit
Magensymptomen, Zucker aus. Der letztere war bei seinem
Eintritt in die Klinik, dank der sehr spärlichen Diät, welche
er seil längerer Zeit einhielt, bis aufs äußerste abgemagert.
Das Auftreten der alimentären Glykosurie kann in
beiden vorliegenden Fällen nicht erstaunlich sein. Alimen-
läre Glykosurie gehör! bei Morbus Basedowi zu den öfters
beobachteten Erscheinungen. Bei dein Kranken (5) könnte
die Glykosurie durch das lange Hungern erklärt werden,
analog zu den durch H o f m e i s t e r n) beobachteten Hunger¬
kuren. Für diese Annahme spricht auch der Umstand, daß
wir, als sich der Zustand des Kranken nach dreiwöchiger
864
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
Behandlung besserte und sein Körpergewicht im Laufe dieser
Zeit um 8 kg stieg, keine alimentäre Glykosurie bei Ver¬
abreichung derselben Zuckermenge, wie vordem, erhielten.
Das Auftreten der alimentären Glykosurie in der dritten
Woche nach einer Phosphorintoxikation (34) ist nicht er¬
staunlich, da Zucker in solchen Fällen, manchmal spon¬
tan, im Urin erscheint und daß Hysterie (43) zu den Er¬
krankungen gehört, bei denen alimentäre Glykosurie auf-
treten kann, ist uns aus fast allen einschlägigen Hand¬
büchern bekannt.
Auf diese vier Fälle von alimentärer Glykosurie trat
in einem Falle von schwerer allgemeiner Neurose (Hysterie
34) die Ausscheidung von Zucker auch nach einer Adre¬
nalininjektion bei streng kohlehydratfreier Diät auf und
ohne daß: gleichzeitig Zucker dargereicht worden wäre
— was notiert zu werden verdient. Endlich trat, in einem
Falle von Magenneurose (30) die Ausscheidung von Zucker
nur nach einer Adrenalininjektion ein; nach Verabreichung
von 100 g Dextrose war keine alimentäre Glykosurie in
diesem Falle eingetreten.
Nach Verabreichung von 100 g Traubenzucker und
Injektion von 1 cm3 Adrenalin erscheint Zucker oft, denn
in 68% sämtlicher, von uns untersuchter Fälle, ohne Rück¬
sicht auf die Art des Leidens.
In dieser Gruppe besteht kein markanter Unterschied
zwischen Männern und Frauen und auf 25 Frauen, denen
wir vor der Injektion Traubenzucker verabreichten, schieden
36% keinen Zucker aus, auf 20 Männer hatten 28% keinen
Zucker im Urin.
Deutlicher tritt der Unterschied hervor, wenn wir
alle Fälle in dieser Gruppe, welchen Dextrose ver¬
abreicht und Adrenalin injiziert wurde, nach der Art des
Leidens — ,, Erkrankungen des Nervensystems“ und,, andere“
— gruppieren werden. Der Unterschied ist hier so bedeu¬
tend, daß er sogar die Spärlichkeit der Fälle (45 Fälle) auf¬
wiegt.
Erkrankungen
des Nervensystems
Nr.
Diagnose
£ 60
§.S
N
Andere Krankheiten
Nr.
Diagnose
7
30
8
5
42
43
44
53
46
19
51
52
49
50
48
16
15
18
21
20
12
Atonia intest, et
Neurosis ventr.
Hysteria
j et Neurasthenia j
Asthma bronch.
| Tumor cerebr. -j
Myasthen.
Paral.oculom. period.
Myopath.
Amentia puer.
Scleros. amyo.
Morbus Thom.
Morbus Basedow.
Tabes dors.
Haematomyel.
Lues spin.
Delirium trem.
63
20
58
40
20
26
27
47
19
42
25
20
15
22
44
20
33
40
36
37
40
11-73
4-82
808
2-54
16-50
18-05
1003
0
11-50
4-70
13-68
7- 98
1-73
700
4-20
800
9-75
8- 77
9- 20
1-48
6-82
28
1
27
56
2
3
4
2!)
36
35
32
11
34
33
37
38
41
25
64
40
22
24
17
9
Sarcom. pyl.
Stenos. pylor.
post ulcus
Ulcus ventr.
Cholelithiasis
Cirrhosis hep at.
Intox. phos.
HepatoptQs.
Leukaemia myel.
Sclerodermia
Peri ton. chron.
Indur. apic.
Purp. rheum.
Hypertr. prost.
Vitium cord.
Sine morbo
20
18
23
53
50
55
31
40
42
45
46
43
17
38
26
46
48
34
44
22
20
55
33
54
0
0
0
0
2- 84
10-78
10-66
12-43
0
0
0
0
0-24
1 91
0
0
4- 29
3- 95
5- 77
3-49
0
3-34
0
0-97
Aus dieser Zusammenstellung erhellt, daß, wenn wir
sogar die Forderung von Eppinger und Heß8) berück¬
sichtigen, welche von einer „starken Adrenalinwirkung“ nur
dann sprechen, wenn der ausgeschiedene Zucker 5 g über¬
steigt, so finden wir in der Gruppe „Erkrankungen des Ner¬
vensystems“ noch 71-4% der, solcherart auf Darreichung
von Traubenzucker und Adrenalininjektion reagierenden
Fälle und in der Gruppe „Andere“ nur 16-7%.
Diese letzte Ziffer würde fast noch auf Null herunter¬
gehen, wenn wir aus der letzten Gruppe, Fall 4 und 29,
welche Symptome einer allgemeinen Neurasthenie auf¬
wiesen, ausscheiden würden und Fall 3, in welchem bei
zweimaliger Wiederholung desselben Experimentes, nach
einer längeren Behandlung, Zucker im Urin nicht mehr
auftrat, ln der Gruppe „Erkrankungen des Nervensystems“
schieden die Fälle von Hysterie die höchste Menge
Zucker aus.
II. i
Gravide Frauen.
Nr.
Name
Alter
Nach
100 g
Dextros.
Nach Injek¬
tion von 1 cm3
Adrenalin
1 cm3Adrenal.
4-
100 g Dextr.
55
M. Iw.
24
0
0
5-25
56
Z. Ob.
18
0-79
0-77
10-93
57
M. Na.
20
0
0
—
58
M. Ko.
33
0-58
0
1510
59
K. Ba.
26
0
0
—
60
M. Fe.
33
0
0
5'39*
61
S. Kl.
19
0
0
. -
62
J. St.
36
0
0
1-30
63
J. Mr.
25
0-22
0-72
—
64
M. Sa.
31
2-29
2-97
8-46
65
E. Za.
20
0
0
—
66
K. La.
37
1-90
Q**
616*
67
W. Ja.
30
0-71
0-59
24-94
68
M. Wo.
35
0-77
0
—
69
J. Ad.
28
0
Q**
16- 1 1
70
P. Ki.
31
0
0
4-62
71
Z. Ko.
25
0
0
6-80
72
Z. Mr.
30
0
0
—
73
A. Fo.
25
0
0
—
74
R. Mo.
41
0-73
109
7-80
75
A. St.
21
0-54
0
5-72
76
A. Ma.
40
0
0
1-36
77
F. Zy.
29
0
0
0-89
78
R. Su.
24
0-32
0
6-26
79
N. N.
30
0
0
- -
80
E. Ma.
19
0
0
—
81
K. Tr.
33
0
0
10-94
82
K. Wa.
22
2 -42**
0
6-75
83
P. Sg.
23
0-41
0-52
8-48
84
R. Su.
21
1-30
0T9
9-21
85
Ch. Zi.
22
0
0
0-56
86
S. Bl.
32
0
0
094**
87
K. Ro.
28
0
0
339*
88
J. Wy.
21
0
0
4-84
89
R. Ka.
30
0
0
0
90
I. Po.
19
0
0
—
91
S. Bi.
17
0-78
0-20*
4-62*
92
M. Ko.
20
0
0
0
93
A. Brz.
42
0
0
—
94
J. Ba.
37
030
0 62
436*
s
amtliche untersuchten Frauei
i befanden
sich in den
letzten vier Schwangerschaftsmonaten, vorwiegend in den
letzten drei.
Untenstehend die Ergebnisse meiner Untersuchungen:
Die Häufigkeit des Auftretens von alimentärer Glykos¬
urie nach Verabreichung von 100 g Traubenzucker (37-5%
der Falle) bei 40 Graviden, ist fast identisch mit der Ziffer
bei meinen früheren Untersuchungen.
Nach Injektion von 1 cm3 Adrenalin — die von mir
in der Einleitung erwähnten Vorsichtsmaßregeln wurden
beibehalten — trat Zucker im Urin in der Menge von 0-19
bis 2-97 g bei neun Graviden auf — auf 15 — welche nach
Verabreichung von Traubenzucker alimentäre Glykosurie auf¬
wiesen.
Ich stelle fest, daß: das Auftreten von Zucker weder
von dem Körpergewicht der Graviden — ich bemerkte Zucker
bei einer Graviden mit 49 kg Körpergewicht und einer mit
69 kg — noch von dem Alter abhängt.
Bei Verabreichung von Dextrose und einer gleichzei¬
ligen Adrenalininjektion, kam es bei 28 Graviden fast aus¬
nahmslos zur Glykosurie; nur 7-1% schieden keinen
Zucker aus.
Wie aus der unten stehenden Zusammenstellung er¬
sichtlich ist, schieden 57-2% der untersuchten Graviden
sogar über 5 g Zucker aus.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
865
Zuckermenge im Urin in Grammen
nach Adrenalin 4- Dextrose
•
0
0-1-2
21-5
51-10
10T u.
mehr
lieber
5 S
Zuckor
suchten
Fälle
Erkrankungen des
1
2
3
10
5
71-4%
Nervensystems
4-870
9-5%
14-3%
47Ü "/„
23-8%
21
Andere
12
50°/0
3
12-5 %
5
20-8'Vo
1
4'2'Vo
3
12-5'’/o
16-7°/,,
24
Gravide
2
17-1%
5
17-870
5
17r8°/o
11
39 3‘70
5
179 %
57-2'Y 0
28
Zahl
der
unter-
Bei den bisherigen Untersuchungen berücksichtigte ich
nur die eventuelle Verabreichung von Traubenzucker. Be¬
merkenswert ist jedoch auch die Art der Ausscheidung von
Lävulose bei gleichzeitiger Adrenalininjektion.
Versuche mit Lävulose.
Nr.
Diagnose
Nach
100 g
Lävulose
Lävulose
+
Adren.
Dextrose
~b
Adren.
18
Tabes dors.
0-27
0 88
8 77
1
Stern pyl.
Spur
0-41
0
11
Cirrhos. hep.
o-io
103
0
40
Indur. apie.
0
3-49
41
Scleroderm.
008
0-33
429
71
Graviditas
—
L94 □
6-80
73t
»
—
4-98 □
7-80
82
103
3-47
6-75
56
»
0-37
L70 □
10 93
78
»
0-25
0
6-26
86
0-76
2-55 □
094
87
- •
007
339
88
0-76
0-47
4-84
89
»
_
0
0
84
»
0-28
4-45 □
9-21
83
*
0-68
4-75 □
8-48
— Darin auch Dextrose (Differenz zwischen polarimetrischer und
titrimetr. Bestimmung der Zuckermenge).
Versuche, mit Saccharose bei Graviden.
Nach 100 g
Saccharose
Lävulose
Dextrose
Nr.
Saccharose
~b
~b
-f .
(Gereicht wurde)
Adren.
Adren.
Adren.
82
226
(150 g)
6-76
347
6-75
56
(150 g)
5-20
1-70
1093
86
0-22
(200 g)
4-50
255
0-94
86
0-31
(200 g)
4-39
0 47
4-84
Ich möchte die erhaltenen Ergebnisse vorläufig unbe¬
sprochen lassen. Jedenfalls fällt der bedeutende Unterschied
auf, zwischen der Menge des nach der Adrenalininjektion
ausgeschiedenen Traubenzuckers und des unter denselben
Umständen ausgeschiedenen Fruchtzuckers, trotzdem zum
Beispiel die Verabreichung von Fruchtzucker an Gravide
um vieles eher alimentäre Glykosurie bewirkt, als die Dar¬
reichung von Dextrose (93-1 °/o : 38-3 %).
Dieser Unterschied könnte durch die größere Resistenz
des bei Lävulosefütterung sich bildenden Glykogens im
Gegensatz zur Dextrosefütterung, dem Adrenalin gegenüber,
erklärt werden (Pollak2).
III.
Diabetes.
Ich war bestrebt, die Kranken durch eine streng
kohlehydratfreie Diät in ein aglykosurisches Stadium zu
versetzen ; bei zwei Kranken erwies sich jedoch diese Diät
als ungenügend (Fall III und IV) ; ich führte deshalb eine Ein¬
schränkung der Eiweißmenge und zeitweises Hungern an
den Tagen, an welchen Adrenalin injiziert wurde, ein,- selbst-
! verständlich bei Kontrolle mit Tagen, an welchen ich Adre-'
nalin nicht applizierte, der Kranke aber bei derselben Diät
verblieb.
fa.lt I. J. A., 52jähriger Steuereinnehmer. In der Klinik
vom 11. bis 26. Mai 1909. Körpergewicht 76 kg.
Diagnose: Diabetes mellitus in i n d i v. cum d i a-
thesi urica, et ar ter i o s c'le r. inc'ip-. Sarcoma idiopath.
cutis (Kaposi).
In den ersten Tagen seines Aufenthaltes in der Klinik schied
der Kranke — bei gemischter Kost — täglich ca. 40 g Zucker
aus. Nach drei Tagen einer strengen kohlehydratfreien Diät ver¬
schwand der Zucker vollständig aus dem Urin.
17. Mai: In dem alle zwei Stunden gesammelten Urin, bei
kohlehydratfreier Diät kein Zucker.
18. Mai: Um 8 Uhr und 8 Uhr 30 Min. früh eine Adre¬
nalininjektion. In den nächsten Stunden und Tagen, bei
derselben Diät: kein Zucker.
F all II. W. St., Landmann. In der Klinik vom 15. April
bis 6. Mai 1910. Körpergewicht 66 kg.
Seit acht Wochen riesiger Durst und starker Appetit, er
„ißt für vier und wird nicht satt“. Schwächegefühl. Der Arzt
sagte ihm vor sechs Wochen, er hätte ca. 7°/o Zucker im Harn.
Während seines Aufenthaltes in der Klinik schied er täglich
— bei gemischter Kost — ca. 3000 cm3 Urin aus, darin 250 g
Zucker.
Nach viertägiger kohlehydratfreier Diät, verschwand der
Zucker.
22. April : Um 9 Uhr früh 1 cm3 Adrenalin. Bis 3 Uhr nach¬
mittags kein Zucker im Urin. Seit 5 Uhr nachmittags bis 23. April
früh schied der Kranke 9-64 g Zucker aus.
23. bis 24. April: Urinmenge 2820 cm3. Zucker: 0-85% ;
23-9 g pro die, bei derselben Diät, welche vordem keine Glykos¬
urie herbeiführte.
Vom 24. bis 27. April kein Zucker.
28. April: Um 8 Uhr früh 0-5 cm3 Adrenalin. Weder an
diesem noch am folgenden Tage Zucker im Urin.
Die Verabreichung von 50 g Semmel, bei bisheriger Diät,
drei Tage, bevor der Kranke die Klinik verläßt, bewirkt die Aus¬
scheidung von 20 g Zucker, welcher, trotz Entziehung der Kohle¬
hydrate, bis zum Verlassen der Klinik nicht verschwindet.
Fall III. M. R., 19jähr. Handlungsgehilfe. In der Klinik vom
13. Februar bis 4. Juli 1910. Körpergewicht 56 kg.
Im Vorjahre wurde er durch einige Wochen infolge eines
mittelschweren Diabetes behandelt. Nach langanhaltender Ent¬
ziehung der Kohlehydrate und nachheriger, sukzessiver Verab¬
reichung, besserte sich die Toleranz und der Kranke schied sogar
bei 100 g Kohlehydrate keinen Zucker aus. Seit einem Monat
bemerkte er — trotz Einhalten der bisherigen Diät — daß die
Urinmenge größer und das Hunger- und Durstgefühl stärker
wurden. Die Urinmenge beträgt bei gemischter Kost ca. 5000 cm3,
die mit dem Urin täglich ausgeschiedene Zuckermenge ca. 360 g.
Bei Einhalten einer streng kohlehydratfreien, eiweiß- und fett¬
haltigen Diät verringerte sich die Urinmenge bis ca. 2300 cm3
mit einem ca. 60 g betragenden Zuckergehalt.
Da wir den Kranken bei strenger Diät nicht entzückern
konnten, beschränkten wir an gewissen Tagen seine Nahrung auf
250 g Fleisch, 35 g Butter und 1 Ei. Bei dieser, nur um 12 Uhr
mittags eingenommenen, einzigen Mahlzeit schied der Kranke
keinen Zucker aus (am 11., 22. und 31. März). Dieses Vorgehen
hatte auch die therapeutische Wirkung, daß die Urinmenge, nicht
nur an den Hungertagen, auf i800 cm3 sank, mit einem sich täglich
verringernden Zuckergehalt bis auf 20 g.
16. März : 1 cm3 Adrenalin um 7 Uhr früh. Im Laufe von
vier Stunden 11-16 g Traubenzucker ausgeschieden.
25. März : Dieselbe Injektion um dieselbe Zeit. 11-28 g
Zucker im Urin in vier Stunden.
14. April : 0-5 cm3 Adrenalin ; 6-18 g Zucker.
22. April : 0-25 cm3 Adrenalin ; 1-4 g Zucker.
Bei oben angeführtem Vorgehen wurde nach Ablauf von vier
Stunden kein Zucker ausgeschieden.
An dem der Injektion folgenden Tage war die Zuckermenge
geringer als durchschnittlich vorher, was auf die gebesserte Tole¬
ranz infolge des Hungerns und der beschränkten Eiweißmenge
zurückzuführen ist.
Fall IV. M. B., 38jähriger Landmann. In der Klinik vom
23. April bis 13. Juli 1910. Körpergewicht 50 kg.
Nimmt seit sechs Monaten an Gewicht ab. Schwächegefühl.
Schmerzen in den Beinen. Starker Durst, Appetit schwächer. Uri¬
niert viel. Der klinischen Beobachtung entnehme ich folgendes:
866
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
Anfangs Juni trat bei dem Kranken eine leichte, aber sicht-
. bare Schwellung des Gesichtes ein, ohne daß im Urin oder in den
inneren Organen irgendwelche Veränderungen, wodurch diese
ödematöse Schwellung erklärt werden könnte, wahrgenommen
worden wären. Sella turcica erweitert und tiefer; andere, für
eine eventuelle Ak romegal ie sprechende Symptome fehlen. Die
Schwellung des Gesichtes schwand anfangs Juli, ebenso die den
Kranken um diese Zeit quälenden Kopfschmerzen.
Bei gemischter Kost beträgt die Urinmenge durchschnittlich
-400 cm3, der Zuckergehalt 165 g. Bei strenger, kohlehydratfreier,
eiweiß- und fetthaltiger Diät sank die Urinmenge auf 1800 cm*
mit einem Durchschnittsgehalt von 40 g Zucker täglich.
30. Mai: Hungert von 8 bis 12 Uhr. Schied im Laufe
dieser Zeit 2-99 g Zucker aus.
7. Juni: Hungert von 8 bis 12 Uhr. Schied im Laufe
dieser Zeit 1-87 g Zucker aus.
17. Juni: Hungert von 8 bis 12 Uhr. Schied im Laufe
dieser Zeit 0-56 g Zucker aus.
20. Juni: Hungert von 8 bis 12 Uhr. Schied im Laufe
dieser Zeit 0-78 g Zucker aus.
(Um 8 Uhr früh 1 cm3 Adrenalin subkutan.)
26. Juni: Der alle zwei Stunden gesammelte Urin enthält
— bei kohlehydratfreier Diät — keinen Zucker.
27. Juni: Um 8 Uhr früh 1 cm3 Adrenalin. Der wie am
vorangehenden Tage gesammelte Urin enthält keinen Zucker.
Wir bemerkten also weder an dem Tage der Injektion, noch
in den nachfolgenden Tagen einen Einfluß auf die Ausscheidung
von Zucker. 4
Fall V. A. Fl., 64jähr. Brauer. In der Klinik vom 8. Juli
bis 15. August 1910. Körpergewicht 72 kg.
Diagnose: Diabetes mellitus in indiv. cum mye-
litide chronica (post trauma) et arter i os cl er os i uni¬
versal i.
Vor zwei Jahren stürzte er in voller Fahrt aus einem Wagen
und verlor das Bewußtsein. Als er nach dreimonatigem Tri egen
auf stand, überzeugte er sich, dajß es ihm nicht möglich war zu
gehen, Schwächegefühl in den Beinen, Kribbeln, uriniert oft mit
Anstrengung und in kleinen Mengen. Seit zwei Wochen zahlreiche
Furunkeln am Rücken, an den Armen und am Skrotum. Urin¬
menge bei gemischter Kost 1800 cm3, . enthält 75-6 g Zucker..
Nach viertägiger, kohlehydratfreier Diät fiel die Urinmenge auf
1200 cm3 herunter, der Zucker ist verschwunden, die Furunkeln
heilen sehr rasch.
15. Juli: Um 9 Uhr früh I cm3 Adrenalin. Von 10 bis
2 Uhr nachmittags 0-98 g Zucker ausgeschieden.
An den folgenden Tagen, bei derselben Diät, kein Zucker.
Fall VI. S. F., 32jährige Kaufmannsgattin. Stand vor drei
Jahren infolge Diabetes in Behandlung. Sie magerte damals ab,
hatte starken Durst, schied viel Urin a ns.
Am 11. Juli 1907 3-2°/o Zucker. Eiweiß 0-1°/Oo. Spezifisches
Gewicht 1 036. Im Sediment vereinzelte Blutkörperchenschatten,
hyaline, granulierte Zylinder.
18. August 1908: Bei strenger Diät kein Zucker.
Aufgenommen auf die Abteilung für Nervenkrankheiten mit
der Diagnose: Manisches Irresein. Dekubitus. An dem
Tage, an welchem sie ins Spital aufgenommen wurde, enthielt
der Urin Zucker.
Nach strenger Diät: kein Zucker.
8. August: Deutliche alimentäre Glykosuric. Eine Injek¬
tion von 1 cnr Adrenalin bewirkt keine Zuckerausscheidung.
Fall VII. A. Al., 64jährige Zimmepmannsgattin. In der
Klinik vom 18. Juni bis 14. Juli 1910. Körpergewicht 56 kg.
Seil vier Monaten Pruritus an den äußeren Genitalien. Seit
einigen Jahren gesteigertes Durstgefühl, uriniert viel, magert ab.
Bei gemischter Kost Urinmenge ca. 2500 cm3, Zucker ca. 125 g.
Nach viertägiger kohlehydratfreier Diät verschwand der Zucker.
23. Juni: Der alle zwei Stunden untersuchte Urin enthält
keinen Zucker.
24. Juni: Um 8 Uhr früh 1 cm3 Adrenalin. Schied bis
12 Uhr mittags 1-3 g Traubenzucker aus. Von 12 Uhr mittags bis
1 Uhr nachmittags kein Zucker. Von 4 Uhr desselben Tages bis
25. Juni früh 6-5 g Zucker, bei derselben kohlehydratfreien Diät,
bei welcher sie früher keinen Zucker ausschied.
25. und 26. Juni: Bei denselben Diät 17 g Zucker.
Vom 27. Juni bis 4. Juli kein Zucker, wie vor der Adre¬
nalininjektion.
4- Juli: I m 9 Uhr früh bei derselben Diät 1 cm3 Adrenalin.
I!is 2 Uhr wurde 1-8 g Traubenzucker ausgeschieden.
In den folgenden I rinproben kein Zucker, doch wurde im
Banfe der Nacht bis zum 5. Juni früh 113 g Zucker ausge¬
schieden.
5. bis 6. Juli: 5-2 g Zucker.
In den folgenden Tagen kein Zucker, auch als die Kranke
vom 10. Juli an 50 g Weißbrot als Zusatz erhielt.
Fall VIII. M. M., 37 jähriger Arbeiter. In der Klinik vorn
10. Oktober bis 22. Oktober 1910. Körpergewicht 51 5 kg.
Diagnose: Diabetes mellitus in indiv. cum in¬
duration© apicum et bronchitide chronica.
Fiel vor fünf Jahren von bedeutender Höhe herab. Erlitt
starke Kontusionen, hauptsächlich an der rechten Thoraxseite;
verlor das Bewußtsein. Nach sechs Wochen des Zubetteliegens
besserte sich sein Zustand allmählich und der Kranke kehrte
zu seiner Arbeit zurück, wobei er nur von Zeit zu Zeit über
Rückens chmerzen und Schmerzen in den Beinen klagte. Vor zwei
Jahren fand er Beschäftigung in einer Zuckerfabrik. Bereits nach
einigen Wochen begann er zu kränkeln; es traten Schmerzen im
Kopfe, Bücken und Beinen auf. Stechen an verschiedenen Stellen
des Thorax, Durst- und Hungergefühl verstärkten sich derart,
daß er oft nachts aufstehen mußte, um den Hunger zu stillen.
Die Urinmenge steigerte sich gleichfalls. Seit fünf Monaten trat
zu diesen Symptomen auch Hautjucken hinzu. Magerte stark ab.
Bei gemischter Kost betrug die Urinmenge über 3000 cm3
mit ca. 250 g Zucker. Nach fünftägiger strenger, kohlehydratfreier,
eiweiß- und fetthaltiger Diät fiel die Urinmenge auf ca. 2000 cm3
im Durchschnitt herunter und der Zucker verschwand völlig aus
dem Urin.
16. Oktober: lem3 Adrenalin. Bis zu acht Stunden
nach der Injektion kein Zucker. Bis zu dem Tage der Aufnahme
in die Klinik hielt der Kranke einigermaßen die vorgeschriebene
Diät ein, doch beging er häufige Diätfehler und verzehrte kohle-
hydrathältige Speisen, Avas auf seinen Diabetes derart einwirkte,
daß Avir im Laufe seines zweiwöchigen Aufenthaltes in der Klinik
keine vollkommene Entzuckerung erzielen konnten, trotz strengster
eiweiß- und fetthaltiger Diät, während welcher der Kranke immer¬
hin noch 10 bis 15 g Zucker in 24 Stunden ausschied. Nichts¬
destoweniger behielt der Kranke das Nichtreagieren auf Adre¬
nalininjektionen bei: trotz einer Injektion von 1 cm3 Adrenalin
trat keine Vergrößerung der Zuckermenge ein, was durch die
Ziffern des ausgesteh iedenen Zuckers Vor und nach der Adre¬
nalininjektion bestätigt wird (13-03, 15-16, 12-33 und — am Tage
der Injektion — 12-73 g).
Fall IX. J. M., 57jährige Richterswitwe. Körpergewicht
55-6 kg. In die Klinik aufgenommen am 18. Oktober 1910.
Im Vorjahre wurde sie vom 23. Oktober bis 22. Dezember
behandelt. Diagnose: Diabetes mellitus levioris gra-
dus in indiv. nervo so.
Ich entnehme der Anamnese folgendes : Im Jahre 1889
Ischias. Im 30. Lebensjahre und vor neun Jahren durch einige
Wochen hartnäckige Furunkeln auf dem Gesäß und Schenkeln,
sie traten auch später zeitAveise auf. Seit Juli 1909 stärkeres
Durstgefühl. Damals magerte sie um 9 kg ab und der Urin enthielt
Zucker. Während des vorjährigen Aufenthaltes der Kranken in
der Klinik betrag die tägliche Menge des ausgeschiedenen Zuckers
bei gemischter Kost — bis zü 81 g. Bei Verlassen der Klinik
besserte sich hei der Kranken die Toleranz für Kohlehydrate,
so daß bei 100 g noch kein Zucker auftrat.
Bis März 1910 fühlte sich die Kranke wohl und bei vor-
geschri ebener Diät trat kein Zucker auf. Ende März1 erkrankte der
Sohn der Kranken, wodurch sie sehr bekümmert war. Am nächsten
Tage fühlte sie sich nicht wohl, es traten Wadenkrämpfe usw. auf,
der Urin wies 2°/o Zuoker auf; im April 3%.' Ende dieses Monats
machte sie eine ziemlich schwere Influenza durch. Ende Mai
6°/o Zucker. Im Juli, nach einer Karlsbader Kur, enthält der
Urin 3V2°/o Zucker.
Auch diesmal schwand der Zucker : — beim zweiten Auf¬
enthalt in der Klinik hei strenger, kohlehydratfreier, eiweiß-
und fetthaltiger Diät; das bei gemischter Kost auftretende Azeton
verbleibt auch weiterhin. Subjektives Befinden gut.
Sechs Tage nach vollständiger Entzuckerung scheidet die
Kranke nach einer Injektion von 1 cm3 Adrenalin 1-95 g Zucker
im Laufe von vier Stunden aus. Weder an diesem Tage, noch
später Avird der Zucker — bei derselben Diät wie vor der In¬
jektion — ausgeschieden. Nach längerem Einhalten derselben
Diät konnte dennoch die Toleranz für Kohlehydrate nicht ge¬
bessert werden und die geringste Menge Kohlehydrate genügt,
um Zuckerausscheidung zu bewirken.
Also auf 9 Fälle von Diabetes, darunter drei schwere
mit Azeton- und Azetessigsäure (Fall III, IV und Vf II), zwei
mittelschwere (Fall II und IX) und vier ziemlich leichten
Grades (Fall 1, V, All und IX), reagieren vier auf eine
Adrenalininjeklion mit Ausscheidung von Zucker von 0-98 g
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHEN SCHRIET, mi.
867
bis 11-28 g. Vier andere (Fall I, IV, VI und VJII) Reagierten
unter denselben Verhältnissen überhaupt nicht. Ein Fall
endlich (Fall 11) schied zwar unmittelbar nach der Injektion
keinen Zucker aus, jedoch wies der Urin acht Stunden später
und sogar noch am nächsten Tage 23-9 g Zucker auf und
zwar bei einer Diät, bei welcher vor der Injektion Zucker
nicht aulgetreten ist. Dieselbe Verschlimmerung der Toleranz
liir Kohlehydrate — - obwohl dieser Ausdruck hier nicht
ganz am I latze ist, da die Kranken keine Kohlehydrate
bekamen — respektive eine leichtere Umbildung des Eiweiß-
moleküls in Zucker, sehen wir auch im Falle VII (A. Ma.)
und zwar in deutlicherer Abhängigkeit von der Adrenalin-
injektion. In der Zeit nämlich (nach sechs Stunden), nach
welcher die glykosurische Wirkung des Adrenalins aufzu¬
hören pflegt, tritt der Zucker im Urin auf und behauptet
sich ca. 36 Stunden.
Eine ähnliche, in diesem Falle aber wirkliche Ver¬
schlimmerung der Toleranz für Kohlehydrate sehen wo¬
bei zwei Graviden (67 und 68); am nächsten Tage nach
dei Adrenhlininjektion, als die Zuckerausscheidung bereits
beendet war, scheiden beide Gravide noch Zucker aus
(5-9 und 5 0 g) und zwar solche Gravide, welche trotz der
gemischten Kost vor der Injektion keinen Zucker aus¬
schieden.
Ich würde diesen Fällen keine besondere Aufmerksam¬
keit schenken — da die Graviden oft ohne sichtbare Ur¬
sache ,, spontan Zucker ausischeiden — - wenn nicht die
vorerwähnten Fälle von Diabetes wären, in welchen die
„verspätete Reaktion sehr rein zum Vorschein kommt.
*
Aus den bisherigen Untersuchungen ergibt sich also:
1. Adrenalin bewirkt das Auftreten von Zucker im
Urin bei einer gewissen Anzahl von Graviden u. zw. nur
bei solchen, welche nach Verabreichung von Traubenzucker
alimentäre Glykosurie aufweisen. Der Zucker tritt auf, sogar
wenn kein entsprechendes Material (Zucker, Stärke usw.)
verabreicht wird.
2. Aehnlich verhallen sich auch gewisse Fälle von
Diabetes.
3. Ebenso manche schwere, funktionelle Neurosen.
4. Lieberhaupt wirkt das Adrenalin bei Erkrankungen
des Nervensystems unvergleichlich stärker gl ykosu risch,
als bei anderen Erkrankungen, bei welchen es, in den. von
mir injizierten Mengen, entweder gar keinen sicht baren, oder
einen nur sehr unbedeutenden Einfluß ausübt.
5. Das nach Verabreichung von Lävulose injizierte
Adrenalin beeinflußt im geringeren Grade die Ausscheidung
von Lävulose als Dextrose; im ersten Falle wird auch
manchmal Dextrose ausgeschieden.
*
Bevor wir an die Erklärung dieser Tatsachen lieran-
Ireten, lassen wir einige kurze Bemerkungen über die Wir¬
kung des Adrenalins auf den menschlichen und tierischen
Organismus, speziell hinsichtlich des Auftretens der Glykos-
ure, vorangehen.
Die treffendste Erklärung dieser Tatsachen linden wir,
\\ enn wir unseren Untersuchungen die Anschauungen von
L an gl e y 12) und seiner Schule über die Wirkung des Adre¬
nalins auf das vegetative Nervensystem zugrunde legen.
Elliot !) konnte nämlich die Behauptung aufstellen, „das
drenalin wirke immer gerade so, wie die Reizung des
Sympathikus wirken würde. Man kann also sagen, daß die
eriegende Wirkung des Adrenalins aus den gesamten Endi¬
gungen der vegetativen Fasern nur diejenige n h e r-
n u s g r e i 1 1, welche dem sympathischen System
a ngehöre n“.*)
Diese sozusagen elektive Einwirkung des Adrenalins
auf die Endverzweigungen des sympathischen Nerven¬
systems benützten Eppinger und Heß:14) als diagnosti¬
*) Zit. nach R. G o 1 1 1 i e b,
systems in M e, v e r und G o 1 1 1 i
1910, S. 123.
Pharmakologie des vegetativen Nerven-
eb: Die experimentelle Pharmakologie
sch es Merkmal für gewisse Krankheitszustände, um einen
höheren Tonus im sympathischen System nach zu weisen,
un Gegensatz zur Einwirkung der Physostigmingruppe (Pilo¬
karpin), welche die Endverzweigungen des kranial - sakral¬
autonomen Systems (Vagus, P^lvikus) reizt und der Wir-
kung des Atropins, welches dieselben Elemente- lähmt.
In ihren bisherigen Untersuchungen fanden E p p i n-
gei und Heß-1 ) keine Krankheitsfälle — abgesehen von
manchen Fällen von Morbus Basedowi, in welchem Leiden,
wie es scheint, ein höherer Tonus in beiden Systemen zu
verzeichnen ist, dem autonomen und dem sympathischen
und die eines näheren Eingehens auf dieses Thema harren —
m welchen sie einen, gleichzeitig in beiden Systemen be¬
stehenden, stärkeren Tonus nachweisen konnten. Wenn näm¬
lich die sogenannten vagotonischen Fälle stärker auf vago-
tonische, pharmakologische Agentien reagieren : auf Piio-
kaipin (0-01, resp. 0-0075) durch starke Schweißabsonde¬
rung und auf Atropin (0-001, resp. 0-00075) durch beschleu¬
nigten I uls bis zur doppelten Höhe, so bestehen im Gegen¬
sätze zu diesen auch andere Fälle, welche auch klinisch
manchmal ein anderes Bild ergeben — ein anderes Ver¬
halten des Blutes (Fehlen der Eosinophilie) niedrigere Salz¬
säurewerte des Mageninhalts, länger anhaltende Akkomoda¬
tionslähmung nach Einträufeln von Atropin ins Auge usw. —
die stark auf Adrenalininjektion reagieren u. ,/w. durch
vergrößerte Urinmenge und Glykosurie über 5 g.
*
Vrenn wir von diesem Standpunkte aus unsere Fälle
betrachten, so wird sich der Unterschied zwischen den ein¬
zelnen Gruppen — vorläufig lassen wir die Fälle von Dia¬
betes beiseite — deutlich bemerkbar machen.
W ir sehen nämlich einen nicht wegzuleugnenden Unter¬
schied zwischen den „Erkrankungen des Nervensystems“
und den „anderen“ Leiden.
Ich will mich an dieser Stelle nicht in Einzelheiten,
welche übrigens aus den Zusammenstellungen leicht ersicht¬
lich sind und später bei erweiterten Untersuchungen von
mir verwendet werden können, einlassen. Ich möchte nur
auf einige Fälle von Magenkrankheiten hinweisen, in welchen
nach den Ergebnissen der „pharmakologischen Funk¬
tionsprüfungen“, wie sich Eppinger und Heß14) aus-
drücken, zu schließen — einmal starke Diurese und Glykos-
urie nach Adrenalininjektion, also ein gewisser Tonus
S \ m p a t h i c i besteht, dann wieder nach dem negativen
Ergebnis der Prüfung zu schließen — umgekehrt u. zw. bei
fast allen Fällen von Magenektasie infolge eines Ulcus ad
partem pyloricam — ein stärkerer Tonus vagi; ein in
therapeutischer Hinsicht vielleicht wichtiger Umstand, wenn
wir die günstigen Resultate der Behandlung von Hyper¬
azidität mit Atropin berücksichtigen.
Im Einklang mit den Anschauungen über die Patho¬
genese des Asthma bronchiale als Neurose der Endigungen
des Lungenvagus, sehen wir in der Gruppe der „Erkran¬
kungen des Nervensystems“ als einzigen Fall auf 21
— welcher auf Adrenalin nicht reagierte, Fall 5ä — keine
Glykosurie nach \ erabreichung von Traubenzucker und einer
Injektion von 1 cm3 Adrenalin, während des Anfalles.
r Ich hebe noch einmal hervor, daß die größten Ziffern
des Zuckergehaltes und die stärkste Allgemeinreaktion in der
Gruppe „Erkrankungen des Nervensystems“, gewöhnlich bei
funktioneller Neurose zu finden waren.
Die Schwangerschaft u. zw. die normale, ohne bedeu¬
tende, pathologische Begleiterscheinungen, wie Salivation,
Hyperemesis usw. — solche Fälle wurden zu den Unter¬
suchungen nicht hinzugezogen — verhält sich nach den
Adrenalininjeklionen bei kohlehydratfreier Kost, ähnlich wie
Erkrankungen des Nervensystems. In Hinsicht auf die Menge
des ausgeschiedenen Zuckers nach Verabreichung von
Zucker und Acirena.liniujeklion bei kohlehydratfreier Kost,
ergeben sich bei der Gravidität durchschnittlich etwas nie-
diigere Ziffern als bei den Nervenkrankheiten, bedeutend
unterscheidet sie sich jedoch in dieser Hinsicht von der
Gruppe „andere Leiden“.
868
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr.- 24
Ich glaube, daß, es sich aus unseren bisherigen
Darstellungen, aus dem Einblick in die Tabellen und aus
dem Vergleich, zum Beispiel der Fälle mit schweren Erkran¬
kungen des Nervensystems (42, 43 usw.), abgesehen schon
von dem ganz anderen vV erhalten der Graviden in ^Hinsicht
auf die alimentäre Glykosurie, zur Genüge ergibt, daß .dieser
hier notierte Zustand weder bei den Männern, noch bei den
nichtgraviden Frauen, als normal angesehen werden kann.
Wenn die nach Adrenalininjektion auftretenden Sym¬
ptome infolge Reizung der Endausbreitungen des sympathi¬
schen Nervensystems entstanden sind, respektive wenn im
Hinblick auf die kleine Dosis des Adrenalins und vdie starke
Reaktion, von einem stärkeren Tonus in diesem System
gesprochen werden kann, so befindet sich die Gravide
im Zustand eines größeren Sympathikotonus, als
irgendeine andere — von den in dieser Richtung -unter¬
suchten Kranken — mit Ausnahme gewisser Fälle von Hy¬
sterie. Sie scheidet nämlich sogar bei kohlehydratfreier Kost
nach einer Adrenalininjektion Zucker aus, ohne daß Zucker
verabreicht gewesen wäre.
Dieser im Urin auftretende Zucker ist nicht als Folge
der stärkeren Produktion des Milchzuckers und seiner Aus¬
schwemmung aus den Milchdrüsen - infolge des injizierten
Adrenalins — zu beobachten. Wir beobachteten nämlich
das Auftreten von Zucker nur nach einer Adrenalin¬
injektion in einem Falle von schwerer Hysterie (44) und
Magenneurose (30), welche so lange unter klinischer Beob¬
achtung standen, daß Gravidität mit Sicherheit aus¬
geschlossen werden konnte und außerdem wurde Dextrose,
nicht Laktose, ausgeschieden. Möglich, daß die von Schi-
rokauer16) bei trächtigen Meerschweinchen beobachtete
Vergrößerung der Diastasemenge zur leichteren Mobilisie¬
rung des Glykogens, zur Hyperglykämie und in weiterer
Folge zur Glykosurie führt.
Tatsache bleibt es, daß auf 40 untersuchte Gravide
15 nach Dextrose alimentäre Glykosurie ergaben, 9 und
zwar nur solche, bei denen gleichzeitig alimentäre Glykos-
urie auftrat, schieden nach einer Adrenalininjektion Zucker
aus, bei kohlehydratfreier Diät, bei welcher auf 53 Kranke
nur zwei Frauen (30 und 44), auf 29, Zucker auf Adre¬
nalin ausschieden und auf 28 Gravide, welche gleichzeitig
Traubenzucker und Adrenalin erhielten, schieden nur 7-1 °/o
keinen Zucker aus, 57-2% Mengen bis über 5 g und eine
Gravide sogar 25 g im Laufe von vier Stunden.
Die bei denselben Graviden auftretende alimentäre und
Adrenalinglykosurie weisen zumindest in einer gewissen
Anzahl von Fällen darauf hin, daß in der -Schwangerschaft
keine Hypofunktiön des chromaffinen Systems besteht, wenn
nicht schon diese Beobachtungen für eine — während der
Gravidität noch nicht nachgewiesene Hyperfunktion sprechen
können.*) Die Reaktion von Meltzer-Ehrmann genügt
nicht, um Hyperadrenalinämie während der Gravidität nach-
zuweisen, wovon ich mich schon früher an zwölf Fällen
überzeugen konnte.
Um das häufige Auftreten von Adrenalinglykosurie bei
Graviden zu erklären, sind wir übrigens nicht gezwungen,
auf die Hypothese einer Hyperfunktion des chromaffinen
Systems zurückzugreifen, es genügt, wenn wir annehmen,
daß bei sonst normaler Sekretion der Nebennieren, das
Sekret der — während der Gravidität vergrößerten — -Schild¬
drüse auf das sympathische System als Stimulans wirke.
Eppinger, Falt a und R tiding er17) sahen näm¬
lich das Verschwinden der experimentellen Adrepalinglykos-
urie nach Exstirpation der Schilddrüse.
Damit sich also der Einfluß des injizierten Adrenalins
geltend mache, müssen wir nicht nur normale Nebennieren
*) Für eine solche, vielleicht nur relative Hyperfunktion der
Nebennieren während der Gravidität, welche nach der Entbindung ver¬
schwindet, spricht der Fall von Po llak8), in welchem eine, Symptome
von Morb. Addisoni aufweisende Kranke, Zucker nach einer Injektion
von 1 mg Adrenalin ausschied. Einige Wochen nach der Entbindung
trat er nicht einmal nach 2 mg Adrenalin auf. Ich erfuhr von dieser
Beobachtung als meine Arbeit nahezu beendigt war.
voraussetzen, sondern auch eine normale, respektive stärker
sezernierende Schilddrüse. Diese Annahme wird durch
die Kranke 28 bestätigt, welche nach Verabreichung von
100 g Dextrose und einer Adrenalininjektion, keinen Zucker
ausschied. Bei dieser Kranken nämlich ergab die Obduk¬
tion — außer anderen Veränderungen — eine bedeutende
Hypertrophie der Nebennieren bei Atrophie der Schilddrüse.
Bei dem Kranken 17 isahen wir ausgedehnte Pigmentationem
der Schleimhaut der Mundhöhle, wie bei Morbus Addisoni
— sonst fehlten jede weiteren Symptome, welche diese
Diagnose bestätigen könnten, besonders fehlten alle An¬
zeichen einer allgemeinen Asthenie — und die Schilddrüse
war stark bindegewebig entartet. Auch in diesem Falle
hatten wir eine negative Adrenalinreaktion. Wenn wir diese
Beobachtungen berücksichtigen werden, wie auch die häu¬
fige Hypertrophie der Schilddrüse während der Gravidität!
und die, auf ihre Hyperfunktion — in diesem (Zustande — j
hinweisenden Symptome, dann werden wir die Erklärung
für die alimentäre und die Adrenalinglykosurie während der
Gravidität finden. *r
Die „spontane“ und alimentäre Glykosurie während
der Gravidität ist — unserer Ansicht nach — nur mittelbar
bewirkt durch eine Disposition zu „Nervenleiden“, wie'
H i r s c h f e 1 d l8) glaubt. Sie hängen von dem Zustand der
Organe mit innerer Sekretion ab, welche während der Gra¬
vid i täl solchen Veränderungen unterliegen, daß der „ner-j
vöse“ Einfluß auf dem Wege des sympathischen Systems
sich offenbaren kann. Derselbe nervöse Einfluß besteht ver¬
mutlich bei Glykosurie der Frauen mit Uterusfibromen. Fs
genügt, wenn ich auf die Veränderungen in der Schilddrüse
und im Herzen bei diesem Leiden hinweise.
Wenn wir das Auftreten von Adrenalinglykosurie wäh¬
rend der Gravidität auf die Hemmung der inneren Sekretion
des Pankreas infolge der Adrenalininjektion beziehen wollten,
so würde das, speziell in Hinsicht auf die Gravidität, ein
Außerachtlassen der klinischen Symptome bedeuten.
Die Loewi sehe19) Reaktion: Erweiterung der Pu¬
pillen nach Adrenalininstillation, welche auf eine Hypofunk-
lion des Pankreas schließen ließe, fiel bei ca. 20 Graviden
negativ aus.
Die Darreichung der Sahli sehen Glutoidkapseln,
zur Prüfung der Funktion des Pankreas, wie auch die quanti¬
tative Bestimmung der Diastase im Stuhl, nach der Methode
von Wohlgemuth,20) welche Versuche wir — in einigen
Fällen von Gravidität — zusammen mit Roll. N. Schneider
anstellten, ergaben gleichfalls keine eindeutigen Resultate.
Wir könnten aber auch die gleichlautenden Ergebnisse nicht
zu unseren Zwecken verwenden, da sowohl die Glutoid-
methode, wie die quantitative Bestimmung der Diastase nur
auf die äußere Sekretion des Pankreas Bezug haben können,
über die innere jedoch keinen Aufschluß geben.
*
Unsere neun Fälle von Diabetes, welche verschieden
auf Adrenalin reagierten, wiesen nicht alle klinische Unter¬
schiede auf, welche eine Erklärung dieser Verschiedenheit
der Reaktion auf Adrenalin ergeben würden. Die Loewi-
sche Reaktion klärte diesen Unterschied nicht auf und auch
sonst ergab weder die Anamnese noch die klinische Beob¬
achtung irgendwelche Anhaltspunkte für die Annahme eines
gewissen ätiologischen Momentes in dem gegebenen Falle
von Diabetes. Gestützt auf die bisherigen Ausführungen,
könnten wir eben das Verhalten des Diabetes gegenüber
dem Adrenalin in verschiedenen Fällen benützen, um eine
ätiologische Einteilung zu schaffen.
Das bescheidene Material und die Kürze der Beobach
tungsdauer lassen ein endgültiges Urteil in dieser Angelegen¬
heit nicht zu. Aus einer in der Arbeit von Eppinger und
Heß8) (S. 351) enthaltenen Bemerkung, ersehen wir, daß
auch anderen Autoren die Tatsache, daß nur einige Fälle
von Diabetes auf Adrenalin reagieren, bekannt war, sie
hielten sich jedoch bei dieser Tatsache nicht weiter auf.
In Hinsicht jedoch auf die glykosurischen Eigenschaften des
Adrenalins und seine Bedeutung als syinpathikotonisches
F
Nr. 24-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
869
Mittel, können fünf der von uns beobachteten Fälle (11, ITI,
V, VII und IX), s y m p a t b i k o 1 o n i s c h, vier andere (I, IV,
\l und VIII) in Anbetracht des Antagonismus zwischen dem
sympathischen und dem autonomen System, als vag o to¬
il i s c h bezeichnet werden.
Der sympathikotonische Reiz könnte auf dem ganzen
Wege einwirken u. zw. von dem den Zuckersto ff Wechsel
regulierenden, im verlängerten Mark gelagerten Zentrum
(Claude Berna r d) durch Vermittlung des Grenzstranges,
den linken Nervus splanchnicus (Nishi21) und die Neben
nieren his zur Leber, der vagotonisehe Reiz über den Nervus
vagus bis zum Pankreas. Der auf Adrenalin nicht reagie¬
rende Diabetes wird also vermutlich entweder durch -eine
Schwächung oder Funktionslähmung, oder auch durch ana¬
tomische Veränderungen des Pankreas bewirkt, während
der sympathikotonische Diabetes auf eine Hyperfunktion
der Nebennieren, respektive der Schilddrüse, oder auch der
Hypophyse, schließen ließe.
Eine Einteilung der Diabetesfälle nach diesen Gesichts¬
punkten — wenn wir uns überhaupt schon jetzt an eine
Erklärung und Beleuchtung des Unterschiedes
zwischen der einen und der anderen Gruppe der Diabetiker
heranwagen können — erscheint mir richtiger zu sein als
die Annahme, daß gerade umgekehrt die Fälle von Diabetes
. — in denen Zucker nach einer Adrenalininjektion erscheint
— als Pankreasdiabetes zu betrachten wären.
Erstens besitzen wir nämlich in der Gravidität, welche
sich hinsichtlich des Adrenalins ähnlich wie Diabeles ver¬
hält, keine für eine Hypofunklion des Pankreas sprechen¬
den Symptome, hingegen weist eine ganze Reihe von Er¬
scheinungen auf Hyperthyreoidismus hin, zweitens wären
große Adrenalinmengen vonnöten, um nach einer Injektion
auf die Sekretion des Pankreas hemmend zu wirken und
leichtere Zuckerausscheidung zu bewirken, während wir
höchstens bis zu 1 mg Adrenalin subkutan applizierten.
Weniger detailliert äußert sich Falta22) über dieses
Thema in einer seiner Abhandlungen : ,,Es läßt sich _
jede diabetischle S tk) ff w e c’h s el s tö r u ng defi¬
nieren als ein Ueberwiegen sympathis c h e r
Impulse über die a u to n omen. Liegt die Ur¬
sache hiefür mehr in einer Insuffizienz des
Pankreas, so können wir von einem pankre-
atogenen, liegt sie mehr in einer Ueberfunk-
t i o n des zirkulären Systems, so können wir v o n
einem adrenalinogenen Diabetes sprechen.“
Für die Therapie des Diabetes dürfte in Zukunft ein
gewisser Nutzen aus diesen Beobachtungen erwachsen. Es
wäre nicht ohne Belang, wenn es gelingen sollte, jene Sub¬
stanz aufzudecken, welche elektiv hemmend auf jenen Teil
des sympathischen Systems einwirkt, das heißt auf die End¬
verzweigungen des sympathischen Systems, analog zu der
paralysierenden Wirkung des Atropins auf die Endverzwei¬
gungen des autonomen Systems.
Eine solche Substanz wäre angeblich Cholin, jedoch
sind die Anschauungen über seine physiologischen Eigen¬
schaften noch nicht endgültig -geklärt, da nicht alle Autoren
mit unzersetztem und reinem Cholin experimentierten, wie
Modrako wski23) und dann wirkt es zu stark toxisch,
als daß es in der Therapie angewendet werden könnte.
Die von S tu d z i n s k i 24) aus den Nebennieren iso¬
lierte, den Blutdruck erniedrigende, hinsichtlich ihrer Wir¬
kung mit dem P o p i e 1 s k i s c h e n V a s o d i 1 a t i n 25) 26)
identische Substanz lenkt unsere besondere Aufmerksamkeit
auf sich, speziell hinsichtlich ihrer eventuellen Hemmungs¬
fähigkeit der Adrenalinglykosurie. Um so mehr, weil
eine ganze Reihe von die Adrenalinglykosurie hemmenden
Faktoren, als welche Biedl und Offer27) Duktnslymphe
und Hirudin, Gautrelet und Thomas28) Blutserum,
Zuelzer29) Pankreasextrakt usw. bezeichnen, mil dem
Vasodilalin manche gemeinsamen Eigenschaften besitzen.*)
*) Aus äußeren Gründen wurde die Veröffentlichung dieser
Arbeit verzögert. Weitere Fälle von Diabetes, die ich inzwischen nach
meinem Vortrage in der Lemberger med. Gesellschaft am 21. Oktober 1910
Literatur:
. .') Blum, lieber Nebennierendiabetes. Deutsches Archiv für klin.
Medizin 1901, Bd. 71. — a) Pollak, Experimentelle Studien über
Adrenahndiabetes. Archiv für exper. Path, und Pharm. 1909, Bd. 61.
8. 166. — 3) E p p i n g e r, Falta und Rudinger, lieber die Wechsel¬
wirkung der Drüsen mit innerer Sekretion. (II. Mitteilung.) Zeitschr. für
u f11' ^efßzin 1909, Bd. 67, S. 380. - 4) Borges, lieber Hypoglykämie
bei Morbus Addisoni usw. Zeitschr. für klin. Medizin, Bd. 69, S. 340:
Zur Pathologie des Morbus Addisoni. Zeitschr. für klin. Medizin, Bd. 70,
‘ ?,43' I’’ ' S)j- Noorden, Handbuch der Pathologie des Stoffwechsels
-g Aufl., S. 43. — 8) Pollak, Untersuchungen bei Morbus
Addisoni. Wiener med. Wochenschr. 1910, S. 866. — 7) D. No öl-Pathon,
Ihe influence of adrenalin and thyroid extraxt on the metabolism in
diabetes mellitus. Scott. Med. and Surg. Journ., Dez. 1904. (Zitiert nach
, O' baemat., Bd. 2, S. 206.) — *) Ep ping er und Heß, Zur Pathologie
des vegetativen Nervensystems. (I. Mitteilung.) Zeitschr.
1909, Bd.67, S.345. — 9) Reichenstein, Glykosurie
schaff. Wiener klin. Wochenschr. 1909, Nr. 42. - I0)
nieren und Osteomalazie. Zeniralbl. für Gynäkol. 1907,
u) Hofmeister, Ueber Resorption und Assimilation'
Lieber Hungerdiabetes. Archiv für exper. Path, und Pharm. 1890, Bd. 26,
S. 355. I2) Langley, Das sympathische und verwandte nervöse
System dei Wirbeltiere, (autonomes nervöses System.) Ergebnisse der
Physiologie von Asher-Spjro 1903, II. Jahrg., 2. Abt., S. 818. -- l8) Elliott,
für klin. Medizin
und Schwanger-
B o s s i, Neben-
Nr. 3 u. 4. —
der Nährstoffe.
Journ. of Physiol. 1905, Bd. 32.
4) u. I5) Eppinger und Heß, Zur
Pathologie des vegetativen Nervensystems. (IF Mitteilung.) Zeitschr. für
kün. Medizin 1909, Bd. 68, S. 205; Zur Pathologie des vegetativen Nerven¬
systems. (III. Mitteilung.) Zeitschr. für klin. Medizin 1909, Bd. 68, S. 231.
I6) Schi r ok au er, Das Verhalten des diätetischen und antitrypti-
schen Fermentes in der Schwangerschaft. Archiv für Gyn. 1910, Bd.' 91,
S. 143. — ,r) Eppinger, Falta und Rudinger, Ueber die
Wechselwirkung der Drüsen mit innerer Sekretion. (I. Mitteilung.) Zeitschr.
lür klin. Medizin, Bd. 66, S. 1. — ls) Hirschfeld, Schwangerschaft
und Zuckerkrankheit. Berliner klin. Wochenschr. 1910, S. 1056. —
19) Loewi, Ueber eine neue Funktion des Pankreas und ihre Be¬
ziehung zum Diabetes mellitus. Archiv für exper. Path, und Pharm. 1908,
Bd. 59, S. 83. — 20) Wohlgemuth, Beitrag zur funktionellen Diagno¬
stik des Pankreas. Berliner klin. Wochenschr. 1910, S. 92. — 21) Nishi,
Ueber den Mechanismus der Diuretinglykosurie. Archiv für exper. Path'
und Pharm. 1909, Bd. 61, S. 401. — J2) Falta, Ueber die Bedeutung
der Blutdrüsen in der Pathogenese des Diabetes. Prager med. Wochenschr.
1910, Nr. 7. — 23) Modrakowski, Ueber die physiologische Wirkung
des Cholins. Pflügers Archiv 1908, Bd. 124, S. 601. — ' 24) Studzinski,
Zur physiologischen Wirkung des Nebennierenextraktes. Lwowski’
Tygodnik lekarski 1910, Nr. 18 bis 21. (Polnisch.) 2ä) u. 28) P o p i e 1 s k i.
Ueber die physiologischen und chemischen Eigenschaften des Peptons
Witte. Pflügers Archiv 1909, Bd. 126, S. 483; Ueber die physiologische
Wirkung von Extrakten aus sämtlichen Teilen des Verdauungskanals usw.
Pflügers Archiv 1909, Bd. 128, S. 191. 2?) Biedl und Offer, Ueber
Beziehungen der Duktuslymphe zum Zuckerhaushalt. Wiener klin.
Wochenschr. 1907. — *8) Gautrelet et Thomas, Le serum nor¬
mal neutralise lä glycosurie adrenalique. Revue de la Sociöte de Biol.,
Bd. 60, S 438. (Zit. Fol. serolog 1909, Bd. 3, S. 75.). 29) Zuelzer,
Ueber Versuche einer spezifischen Fermenttherapie des Diabetes. Zeit¬
schrift für exper. Path, und Ther., Bd. 5, S. 305.
Diskussion.
Uchtschädigungen der Haut und Lichtsehutz-
mittel.
Bemerkungen zu dem Artikel des Herrn Priv.-Doz. Dr. L Freund in
Nr. 19 dieser Wochenschrift.
Von Prof. Dr. C. Maniiich, Berlin.
lu Nr. 19 dieser Wochenschrift hat Freund, verschiedene
Lichtschulzmittel einer vergleichenden Untersuchung unterzogen,
insbesondere Vaselin, Lanolin, Karamel und auch die von mir
angegebenen und von Prof. Unna- Hamburg empfohlenen Zeo-
z on- Präparate; als neues Lichtschutzmittel führt er Aeskulin-
Glyze-rin (mit 2 bis 4% Aeskulingehalt) ein. Freund kommt
zu dem Schlüsse, daß Vaselin, Lanolin und Karamel nur wenig
wirksam sein können (was ja auch praktisch lange bekannt ist),
da sie nur wenig ultraviolette Strahlen absorbieren. Als brauchbar
befunden werden dagegen die Zeozon- Präparate und Aes-
kulin-Glyzerin; hierüber heißt es: ,,Die Schutzwirkung des
Aeskulins übertrifft sogar diejenige des sonst ganz vortrefflichen
Ultrazeozons ganz merklich.“.
Hiezu seien einige Bemerkungen gestattet.
Daß Aeskulin ein ganz ausgezeichnetes Absorptionsmittel
für ultraviolette Strahlen darstellt, ist längst bekannt. Trotzdem
untersucht habe, wie auch die mittlerweile erschienenen Publikationen,
hauptsächlich zwei wichtige, dasselbe Thema behandelnde Arbeiten von
Falta, Newburgh und Nobel (Zeitschr. für klin. Medizin 1911,
Bd. 72, H. 1 u. 2) und Cristofoletti (Gynäkologische Rundschau 1911,
H. 4 u. 5) wurden nicht mehr berücksichtigt.
870
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 4911.
Nr. 24
kann es für eine praktische Verwendung, an die ich natürlich
auch gedacht habe, nicht ernsthaft in Frage kommen. Zunächst
ist das Mittel zu teuer (l g in der Rezeptur etwa 1 M. 50 Pf.).
Ferner ist. das Aeskulin für den vorliegenden Zweck zu wenig
löslich; diese Schwierigkeit glaubt Freund allerdings dadurch
überwunden zu haben, daß er das Präparat in ein kolloidales
Milieu (Unguentum Glycerini) einbettet. Allein ich habe mich
mit Hilfe des Mikroskops überzeugt, daß das Aeskulin auch aus
der 3% igen Glyzerinsalbe binnen drei Tagen reichlich aus¬
kristallisiert, wodurch natürlich die Schutzwirkung bedeutend
sinkt. — Gerade weil weder das Aeskulin - aus den eben an¬
geführten Gründen - noch das von Freund ebenfalls genannte
Chinin — über das sieh bereits Unna geäußert hat — sich
zur Darstellung von medizinisch, bzw. kosmetisch wirklich taug¬
lichen Lichtfiltern eignen, hatte ich mich bemüht, in den Zeozon-
Präparaten etwas Brauchbares zu schaffen.
Freund hat seine Versuche durch ausgezeichnete Photogra¬
phien der Absorptionsspektren belegt und dadurch eine objektive
Grundlage für die Beurteilung geschaffen. Aus den Abbildungen
('(■gibt sich, daß das Ultraviolett von 2°/oigem Aeskulin in 0-2 mm
dicker Schicht gut, von 4 %igem Aeskulin und von Ultrazeozon voll¬
ständig absorbiert wird. Man darf daraus aber nicht folgern, daß
4%iges Aeskulin und Ultrazeozon an Absorptionsfähigkeit gleich
sind. Das Ultrazeozion übertrifft vielmehr das 4%ige Aes¬
kulin an Absorptionsfähigkeit ganz bedeutend, es entspricht etwa
einem 7 bis 8% igen Aeskulin ; das Zeozon einem 3%igen. Es ist
zu bedauern, daß das Ultrazeozon von Freund nicht einer
schärferen spektralanalytischen l'ntersuchung unterworfen worden
ist. Beiläufig sei bemerkt, daß bei genügender Verdünnung die
Zeozon - Präparate zwischen X 300 bis 250 bb dieselbe Lücke
im Absorptionsspektrum aufweisen, wie das Aeskulin. Ueber-
haupt sind die Spektren des Aeskulins und des Zeozons sehr
ähnlich. Eine spätere Veröffentlichung der Spektrogramme des
Zeozons und verwandter Körper behalte ich mir vor.
Wenn somit das Ultrazeozon bei der objektiven Prüfung
durch den Spektralapparat ein 4%iges Aeskulin-Glyzerin an Ab¬
sorptionsfähigkeit für ultraviolette Strahlen übertrifft, so ist nicht
verständlich, daß das Ultrazeozon bei der physiologischen Prüfung
— gleiche Dosierung vorausgesetzt — weniger leisten
soll, als die Aeskulinsalbe.
Da überdies, wie oben erwähnt, der hohe Preis und die
schwere Löslichkeit des Aeskulins der Verwendung dieses Prä¬
parates in weiterem Umfange hinderlich sein dürfte, so liegt
kein Grund vor, dasselbe den von Unna warm empfohlenen
Zeozon - Präparaten vorzuziehen.
Nachschrift bei d er K o r r e k t. u r . Inzwischen habe ich
mich nochmals durch den Versuch überzeugt, daß die Zeozon-
präparate bei richtiger Anwendung einen vollständigen Lichtschutz
gewähren und auch der Aeskulinsalbe, zum mindesten, wenn
sie 14 Tage alt ist, überlegen sind. Ich gebe den Versuch so an,
daß er leicht nachzuprüfen ist: mit Hilfe einer Schablone wurden
an dem sehr weißen Oberarm eines Mannes drei Querstreifen
von je 18 cm2 Fläche mit je 0-1 g (genau gewogen) folgender Prä¬
parate imprägniert; oben Ultrazeozon, in 1cm Abstand dar¬
unter 30/oige A esku li n- Gly zeri ns albe (14 Tage alt), wieder
1 cm, darunter Zeozon. Nach dem Verreiben mit der Fingerspitze
war vom Zeozon nichts zu sehen, die Aeskulinsalbe glänzte. Der
Arm wurde dann 214 Stunden intensivster Sonnenstrahlung (am
6. Juni von 1411 bis l) ausgesetzt. Nach zwei Tagen präsentiert
sich der Arm krebsrot, die mit den beiden Zeozonpräparaten be¬
handelten Stellen sind völlig weiß, der mit Aeskulinsalbe im¬
prägnierte Streifen ist zwar gerötet, läßt aber eine Schutzwirkung
ebenfalls deutlich erkennen.
Referate.
Ueber Psychoanalyse.
Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20jährigen Gründungsfeier der Clark
University in Worcester Mass. September 1909.
Von Prof. Signi. Freud.
Leipzig und Wien 1910, Franz Deu ticke.
Einem der Mehrzahl nach nichtärztlichen Auditorium .setzt
Freud die Geschichte der Entstehung und Weiterbildung seiner
Psychoanalyse auseinander.
*
Die Diagnose der Nervenkrankheiten.
Von Purves Stewart, London.
Nach der zweiten Auflage ins Deutsche übertragen von Dr. Karl Hein.
Leipzig 1910, F. C. W. Vogel.
Wie ein der deutschen Ausgabe vorgedrucktes Geleitwort
Prof. Müllers besagt, unterscheidet sieb das vorliegende Lehr¬
buch vor anderen durch weise Beschränkung im Stoffe auf
das Wesentlichste, stete Betonung der praktisch wichtigen Ge¬
sichtspunkte, durch Klarheit, und Anschaulichkeit, knappe und
originelle Ausdrucksweise. Die schöne Ausstattung mit 208 instruk¬
tiven Abbildungen und zwei Tafeln, der große, sehr gut lesbare
Druck und der mäßige Preis (10 M.) werden diese Diagnostik
im Kreise der Studierenden und Aerzte gewiß beliebt machen.
«»
Die jugendlichen Verbrecher im gegenwärtigen und zu¬
künftigen Strafrecht.
Von Prof. Ernst Schnitze.
Wiesbaden 1910, J. F. Bergmann.
Ein Vergleich der jetzigen Rechtslage der Jugendlichen mit
der durch den Vorentwurf zum deutschen Strafgesetz geschaffenen
künftigen. Wiewohl auf den deutschen Gesetzestext zugeschnitten,
gelten die Erörterungen des Verfassers in analoger Weise für
österreichische Verhältnisse, wo ja namentlich die Jugendlichen¬
frage zur Reform drängt.
*
Leitfaden der experimentellen Psychopathologie.
Von Priv.-Doz. Dr. Adalbert Gregor.
Berlin 1910, S. Karger.
16 Vorlesungen, gehalten an der Universität Leipzig und
dem Gehirnanatomen Flechsig gewidmet, zuan1 Danke dafür,
daß er auch der experimentellen Psychopathologie eine würdige
A rbeitsstätte einräumte.
Veirf. kommt dem zunehmenden Interesse für seine Disziplin
entgegen, erklärt ihre Notwendigkeit, ihre Beziehungen zur psy¬
chiatrischen Klinik; er führt die von der experimentellen Psycho¬
pathologie verwendeten Hilfsmittel vor, bespricht ihre Methoden
und bringt deren wesentlichste Resultate. Ueber den reichen
Inhalt des Buches orientieren die Schlagworte: Psychopathologie
des Zeitsinnes, Reaktionsversuche, Pathologie der Auffassung,
Assoziationsreaktion, Assoziationsversuche an Geisteskranken,
Untersuchungsmethoden des Gedächtnisses, Pathologie des Ge¬
dächtnisses, Psychologie der Aussage, Aussageversuche an Geistes¬
kranken, Psychologie und Pathologie der Aufmerksamkeit, Unter¬
suchungsmethoden der Aufmerksamkeit, experimentelle Unter-
. suchung der äußeren Willenshandlung, körperliche Aeußerungen
psychischer Zustände, formale Verhältnisse geistiger Arbeit, Unter¬
suchungsmethoden der Intelligenz.
Das Tatsachenmaterial des Verfassers entstammt vielfach
eigenen Untersuchungen, so daß in dem Werke, wie übrigens
bei psychologischen Forschungen unvermeidlich, eine persönliche
Note anklingt. Sie wird hier nicht, zum Nachteile, da der Ver¬
fasser überall als kritischer Kopf sich bewährt.
*
Beiträge zur Pathologie des Stoffwechsels bei Psychosen.
Dritter Teil: Funktionelle Psychosen.
Von Priv.-Doz. Dr. Max Kaufmann.
Jena 1910, Gustav Fischer.
Eine Weiterführung ; über den Untertitel, funktionelle Psy¬
chosen, greift aber der Verfasser etwas hinaus.
In den einleitenden Kapiteln finden sich allgemeine Betrach¬
tungen über dieE dingersche Auf b rauch s theorie-, den Einfluß des
Zentralnervensystems auf den Stoffwechsel, die vegetativen Funk¬
tionen der Großhirnrinde. Dann folgt die eingehende Beschrei¬
bung der Versuchsanordnung, sowie der Arbeitsmethoden des
Verfassers. — - Er untersucht drei Fälle von Angstpsychose. Das
hier wichtigste Symptom, die zuweilen forcierte Atmung, ist nicht
immer psychisch bedingt oder willkürlich erzeugt, so daß Kauf¬
mann an eine Erkrankung der Atemzentren im Gehirn denkt. Er
untersucht weiters drei akinetische-, zwei hyperkinetische
und einen kombinierten Zustand. Scheinbarer Bewegungsluxus
bei Hypotonie kann sogar eine Verminderung der normalen Ver¬
brennungsvorgänge bewirken. Manche Resultate von Verminde¬
rung des Gaswechsels1 bei Akinesen können ungezwungen auf die
oberflächliche Atmung bezogen, doch muß auch eine Herab¬
setzung des Oxydationsbedarfes angenommen werden. Drei Fälle
von Manie zeigen bezüglich des N - Stoffwechsels mehr der Norm
j gleiche Verhältnisse, daneben Hyperoxydation, starke Störung der
Wasserbilanz, Temperaturstörungen.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
871
Ein eigener Abschnitt ist dem Salzstoffwechsel gewidmet
auf Grund von Untersuchungen über CI-, P-, Mg- und Ca- Aus¬
scheidung.
Resümee: Auffallende Schwankungen der Ausscheidung
von CI und P wären in Zusammenhang zu bringen mit Stö¬
rungen das Blutdruckes und der Nierentätigkeit, diese wiederum
zentral oder durch intermediäre Zwischenprodukte bedingt, be¬
züglich der Indikanurie meint Verl'., daß die Darmfäulnistheorie
bei Geisteskranken völlig versage, schon aus dem Grunde, da
die Indigozahlen hier größer seien als bei Ileus. Eine intestinale
Autointoxikation hält Verf. überhaupt für vollkommen unbewiesen.
Seinen Ausführungen nach würde Indikanurie in letzter Linie
auf Freisein des Dünndarmes von Kohlehydraten, auf die des¬
halb intensivere Zersetzung von Eiweiß durch Bakterien zurück¬
zuführen sein.
Mit, Rücksicht auf den Untertitel wundert man sich nun,
zu erfahren, daß Kaufmann vergeblich versucht hat, aus dem
Harne von Epileptikern toxische Basen zu gewinnen, ebenso
daß er in der Lumbalflüssigkeit von Paralytikern, Epileptikern
und anderen Geisteskranken Cholin vermißt hat. Es folgt der Be¬
richt über Untersuchungen thermischer Störungen. Nach Kauf¬
mann ist notwendige Vorbedingung zu einer normalen Wärme¬
regulierung intakter Wasserhaushalt. Ein eigener Abschnitt ist
neurogenen (?) Stoffwechsel- und Organstörungen gewidmet. Die
zahlreichen Details und Behauptungen des Verfassers entziehen
sich einem zusammenhängenden Referate, fordern vielfach aber
wieder zu einer Stellungnahme heraus, so wenn Kaufmann
die Albuminurie der Alkoholdeliranten als eine physiologische
Albuminurie infolge Muskelarbeit erklärt.
Unter der Ueberschrift, ,,Zur Stoffwechselpathologie einiger
Psychosen“, läßt Kaufmann wiederum Paralyse, Epilepsie und
Alkoholdelirium aufmarschieren. Mit therapeutischen Aus¬
blicken, wobei Verf. sich als Verächter der gegenwärtigen Be¬
handlungsmethoden, überhaupt als Pessimist vorstellt, schließt
die großangelegte, eine reiche Fülle an Tatsachen und Meinungen
vermittelnde, aus der Hallenser Klinik stammende1 Arbeit.
*
Etudes sur la paralysie gönerale et sur tabes; etiologie —
clinique — traitement.
Par Paul Spillmami et Maurice Perrin.
Paris 1910, A. P o i n a t.
Zu dem Büchlein hat Fournier ein Vorwort geschrieben.
Die Verfasser stellen Betrachtungen an über den Zusammenhang
von Lues mit Paralyse und Tabes; sie teilen einen Fäll von
Paralyse mit, der eine luetische Affektion gleichzeitig aufwies
— wozu zu bemerken, daß die Paralyse nur kurz beobachtet und
nur klinisch diagnostiziert erscheint. Ebenso einen Fäll von Tabes
mit gleichzeitigem Hautsyphilid. Die spezifische Behandlung er¬
gibt bei Paralytikern in einer verschwindenden Minderzahl vor¬
übergehende Besserungen, niemals einen Dauererfolg. Bei Tabes
sahen Verf. allerdings Besserungen, sogar vereinzelte Heilungen,
so daß eine methodische und genaue Quecksilber- Jodbehandlung
der Tabiker empfohlen werden kann.
*
Die symptomatischen Psychosen im Gefolge von akuten
Infektionen und inneren Erkrankungen.
Von Prof. K. Bonliöffer.
Leipzig und Wien 1910, Franz D e u t i c k e.
Eine sehr gute und übersichtliche Durchführung des schwie¬
rigen Themas der symptomatischen Geistesstörungen. Ein IJeber-
blick über die einzelnen Infektionskrankheiten : Typhus, Ery¬
sipel, Rheumatismus, Skarlatina, Variola, Malaria, Cholera und
Sepsis ergibt Unterschiede nur in der Richtung, daß einzelne
Erkrankungen leichter und öfter zu psychischen Schädigungen
führen, daß aber qualitative Unterschiede nicht bestehen. Eine
gewisse Sonderstellung nehmen nur die Meningitis, die Lyssa
und die infektiöse Chorea ein. Man unterscheidet aber zweck¬
mäßig zwei Krankheitsphasen, die Zeit der Infektion und des
Infektionsfiebers einerseits, die der Deferveszenz anderseits. Unter
Beigabe kurzer Krankheitsskizzen werden Verlauf, Diagnose und
namentlich die Differentialdiagnose der symptomatischen Psy¬
chosen besprochen, wobei der katatone Syinptomenkomplex als
Leitsymptom an Wert bedeutend verliert.
Ein zweiter Abschnitt ist den Psychosen bei Allgemein¬
erkrankungen und Erkrankungen vegetativer Organe gewidmet
und behandelt die Erschöpfungspsychosen, Geistesstörungen bei
Herzerkrankungen, Urämie, Diabetes, harnsaurer Diathese, Base¬
dow, Tetanie, Myxödem, gastrointestinalen Erkrankungen. Auch
hier ergibt sich mit besonderer Deutlichkeit, daß der Mannig¬
faltigkeit der Grunderkrankungen eine große Gleichförmigkeit der
psychischen Bilder gegenübersteht, so daß man exogene typische
Reaktionsformen annehmen muß, die von der spezifischen Noxe
sich verhältnismäßig unabhängig zeigen.
*
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.
Von Prof. Sigm. Freud.
Zweite Auflage.
Leipzig und Wien 1910.
Ein im Wesen unveränderter Abdruck der ersten Auflage,
mit einigen neuen Fußnoten. Die Freud -Gemeinde mag an
Zahl wachsen; außerhalb dieser Gläubigen aber werden alle
extremen Thesen des Meisters unverändert abgelehnt werden.
*
Cesare Lombroso als Mensch und Forscher.
Von Dr. Hans Kurella.
Wiesbaden 1910, J. F. Bergmann.
Ein literarisches Denkmal für den Mann, der als Persönlich¬
keit, als Forscher und als Reformator auf dem Gebiete der
Kriminalogi© und Kriminalsoziologie gewürdigt wird. Der über¬
zeugte Anhänger Lombrosos, Kurella, weist mit besonderem
Nachdruck darauf hin, daß die Lehren der Kriminalanthropologie
und Kriminalpsychologie gerade von den Gegnern Lombrosos
am wenigsten gekannt, meistens mißverstanden werden; sie stellen
eine positive Weltanschauung dar: „Eine großartige Totalanschau¬
ung von der Notwendigkeit und den kausalen Zusammenhängen,
welche durch die Heredität von den nächsten und den entfern¬
teisten Ahnen her die Natur des Individuums beim Eintritte: in
die Welt determinieren und von dein unentrinnbaren Wirkungen,
die das All als Einheit, als Ganzes, wie in den einzelnen Kräften
der organisierten Materie und der hochorganisierten Gesellschaft
auf das Individuum ausübt, so daß es1 handeln muß, wie die
Angriffsart dieser Kräfte es erzwingt, während es1 doch zugleich
glauben muß, es wolle so handeln und könne schuldig werden.“
IJe'ber Lombrosos spiritistische Bestrebungen gleitet Kurella
in einem Nachwort hinweg : „Wir wollen uns mit der Geisteswelt
des der Ewigkeit und Unendlichkeit zurückgegebenen Forschers
genügen lassen und auf die Geisterwelt verzichten; wir über¬
lassen den Feinden den alten, für uns aber behalten wir den
jungen, den ewig jungen Lombroso.“
*
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.
Von Prof. Sigm. Freud.
Leipzig und Wien 1910.
Leonardo berichtet an einer Stelle seiner Schriften: „Es
scheint, daß es mir vorher bestimmt war, mich so gründlich
mit dem Geier zu befassen, denn es komlmt mir als eine ganz
frühe Erinnerung in den Sinn, als ich noch in der Wiege lag,
ist ©in Geier zu mir herabgekommen, hat mir den Mund mit
seinem Schwanz geöffnet und viele Male mit diesem seinem
Schwanz gegen meine Lippen gestoßen.“ — Leonardo nun hat
mancherlei geschrieben; es ist eigentlich wunderbar, daß ge¬
rade jener Satz den Schöpfer der Psychoanalyse zu einem Buche
begeistert; denn er ist doch nicht schwer zu deuten. Schwanz,
das versteht in Wien und am Lande jedes Kind ; Ref. bittet um
Verzeihung, daß er noch mehr von den Gedankengängen des
Buches wiedergibt: Der Geier ist ein Vogel, das davon abgeleitete
Zeitwort ist ebenso verständlich. Zum Ueberfluß noch das Be¬
nehmen des Geiers, das je nach seiner Phantasie jeder sich
deuten mag. Wozu also das Buch ? Aus ihm leijnjt män L. da V in ci
nicht kennen. Das scheint Freud seihst zu empfinden, darum
wohl leuchtet uns gleich eingangs eine Wiedergabe von Leo¬
nardo da Vincis heil. Anna selbe! ritt aus dem Louvre ent¬
gegen.
*
872
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 24
Ludwig Türcks gesammelte neurologische Schriften.
Herausgegeben und eingeletet von Prof. Max Neuburger.
Leipzig und W i e n 1910, Franz D e u t T c k e.
Ein Separatabdruck aus den Jahrbüchern für Psychiatrie.
Zu Ehren des 100. Geburtstages Türcks sind hier in pietät¬
voller Weise dessen neurologische Schriften gesaimmelt. Dazu hat
in der Verflossenen Jahressitzung des Wiener psychiatrischen Ver¬
eines Prof. Neuburger eine schwungvolle Gedenkrede gehalten,
die der Würdigung Türcks als Neurologen dient, der Sammlung
seiner Schriften als Einleitung vorgedruckt erscheint. Man kann
unseren raschlebigen Zeitgenossen nicht genug empfehlen, in
diesem Bande zu blättern, sie werden aus dem Erstaunen nicht
herauskommen über das, was Türck mit seinen unzulänglichen
Methoden, bei dem Mangel jeder Vorarbeit, als Kliniker, Mikro-
skopiker und Experimentalforscher alles geleistet hat.
«
Die hereditären Beziehungen der Dementia praecox.
Beitrag zur Hereditätslehre.
Von Primär. Dr. Josef Berze.
Leipzig und W i e n 1 910, Franz Deuticke.
Verf. stellt aus dem großen Material der niederösterreichi¬
schen Landesanstalten für Geisteskranke Hereditätsgruppen zu¬
sammen, aber nur insoweit, als er für alle sie bildenden Indivi¬
duen Krankengeschichten erbringen kann. Er beschränkt sich
bei seinen Untersuchungen weiter auf die unmittelbar direkte
und die unmittelbar kollaterale Heredität.. Berze weist mit Recht
darauf hin, daß statistisch, wenn man nach der Psychosen¬
belastung der Dementia praecox- Kranken prüft, etwas ganz anderes
herauskommt, als wenn man sich die Aszendenz und die Ge¬
schwister dieser Kranken auf ihre abnormalen Charakterzüge
hin ansieht.
Bezüglich der Zeit des Einsetzens der Erkrankung hei Ge¬
schwistern gibt es größere Differenzen, wenn es sich um die
paranoiden Formen handelt; bei den Eltern pflegt die Psychose
geradezu in der Regel in einem reiferen Alter einzusetzen als
bei den Kindern. Was die Ausgänge der Erkrankung bei den
einzelnen Familienmitgliedern betrifft, so ist eine allgemein gültige
Regel nicht zu erkennen.
Die in 38 Gruppen eingeordnete’ Kasuistik illustriert die
gleichartige Heredität, die hereditäre Beziehung zu tardiven De¬
menzformen, zu Alkoholismus, wo Verf. zum Schlüsse kommt, daß
nur die mit Dementia praecox belasteten oder daran leidenden
Alkoholiker ihre Deszendenz im Sinne der Anlage zu Dementia
praecox belasten, während es dahingestellt bleiben muß, ob der
Alkoholismus eines rüstigen Gehirns die gleiche Folge haben
kann. 1 ' 1 : ’ _J f
Berze verkennt auch nicht die Häufigkeit der Dementia
praecox in der Deszendenz der Paralytiker, warnt aber vor Ueber-
schätzung. Er zitiert mit kurzen Worten ein Beispiel, geradezu
ein Experiment des Zufalls, das die gebräuchlichen statistischen
Zusammenstellungen einfach widerlegt. Frau X. war zweimial
verheiratet, der erste Gatte star!) an progressiver Paralyse, der
zweite an Fettherz. Vom ersten hat sie eine Tochter mit aus¬
gesprochener Hehephrenie, vom zweiten einen Sohn mit De¬
mentia paranoides. Bei näherer Betrachtung kann man nun an
Fra.u X. allerlei pathologische Züge konstatieren, wie näher aus-
gefiihrt wird; sie kann sich sozial nur deshalb halten, weil sie
ausnehmend gut situiert ist. Es ist wohl in der statistisch nicht
zu erfassenden Mutter die Belastung der Deszendenz gelegen,
während die Paralyse des einen Mannes vielleicht gar keine Rolle
spielt.
Rascher werden ablgetan die Beziehungen zwischen Demen¬
tia praecox und manisch-depressivem Irresein, den großen
Neurosen, zirkumskripten Zerehropathien, Idiotie. Im Resürhee
betont Verf. nochmals die große Häufigkeit der direkten Heredität
der Dementia praecox, die um so ersichtlicher wird, je mehir
man die unausgesprochenen psychopathischen Zustände, chroni¬
scher Alkoholismus, tardive Demenzformen, degenerative Psycho¬
sen, welche als Ausdruck einer Dementia praecox-Anlage zu
erkennen sind, mit berücksichtigt. Zwischen der Anlage zu pro¬
gressiver Paralyse und Dementia praecox besteht sicher kein
Antagonismus. Vielleicht ist neben der Hauptgruppe Dementia
praecox, deren endogener Charakter sicher zu stehen scheint, noch
eine kleine Nebengruppe anzunehmen, die unter den exogenen
Psychosen ihren Platz hätte. Berze gibt die Möglichkeit eines
hereditären Polymorphismus innerhalb der einer bestimmten An¬
lage entsprechenden Gruppen von geistigen Störungen zu. Von
solchen Anlagen lassen sich abgrenzen, die Verblödungsanlage,
die zyklothyme, die der fixen konstitutionellen Verstimmung,
der psychogenen Disposition; das Vorkommen einer eigenen de-
generativen Anlage bestreitet Berze. Die vielen Ausblicke,
welche sich an die interessanten Zusammenstellungen und die
Schlußfolgerungen des Autors knüpfen, versprechen der weiteren
Forschung reichen Gewinn.
★
Untermenschen oder Narren?
Eino kriminalpsychologische Kritik der klinischen Lehre vom Verbrechcr-
seetenleben.
Von Franz Nadastiny.
Wien 1910, Karl Kon egen (Ernst Stülp naget).
Wenn man, von dem rüden Tonje nicht angewidert, das
vorliegende. Buch zur Hand nimmt, so findet man wesentlich
eine ermüdende Polemik gegen Cramers gerichtliche Psychiatrie.
Es ist natürlich merkwürdig, daß ein k. k. Strafanstaltsober-
direktor so genau weiß, was im Erfahrungskreise eines Natur¬
wissenschaftlers, Psychiaters enthalten zu sein hat; wir Mediziner
würden uns nicht verstatten, über die Tätigkeit eines Anstalts¬
beamten so selbstbewußt abzuurteilen. Darüber soll nicht über¬
sehen werden, daß ein Körnchen Wahrheit auch in Beschimpfungs¬
und Entrüstungsaushrücben enthalten ist. Nadastinys Buch
macht den Kritiker darauf aufmerksam, daß es psychiatrischer
Kenntnisse und Vorstudien bedarf, um ein bestimmtes Lehrbuch
der forensischen Psychiatrie zu verstehen ; kommt ein solches,
so wie es abgefaßt, einem Laien in die Hände, dann richtet
es Unheil an. Schließlich hat Nadastiny auch recht, wenn
er individuelle Eigenheiten, Humanitätsdusel, Leichtgläubigkeit,
logische Fehler einzelner psychiatrischer Sachverständiger geißelt.
Wenn aber auch, nicht durch die Schuld der Wissenschaft, der
eine oder andere, es Herrn Nadastiny gar zu leicht gemacht
haben mag, einen wissenschaftlichen Fortschritt bahnen derart
persönliche Polemiken nicht an und wenn sie noch so prätentiös
in wissenschaftlichem Gewände auf treten.
*
Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathoTo-
gische Forschungen.
Herausgegeben von Prof. Bleuler und Prof. Freud.
Bd. 2, I. Hälfte.
Leipzig und Wien 1910, Franz Deuticke.
Der starke Band enthält folgende Arbeiten: Karl Abra¬
ham-Berlin: Ueber hysterische Traumzustände. Der Verfasser
bemüht sich, durch Analyse in den Tagträumen die alles be¬
lie naschende Bedeutung der Sexualphantasie zu erkennen; er meint,
dieselben Faktoren, welche hysterische Anfälle auslösen, wirken
auch bei Entstehung der Traumznstände.
C. G. Jung: Ueber Konflikte der kindlichen Seele. Jung
will ein Pendant bringen zu Freuds kleinem Hans. Auf die
Fragen der aufgeweckten vierjährigen kleinen Anna wird nach
einigem Zögern seitens der Eltern die richtige Aufklärung gegeben
und dadurch vollständige Beruhigung erzielt. Auf einige psycho¬
analytische Deutungen folgt der höchst reservierte Schluß: „Das
Kind bedarf einer Aufklärung, wenn sich bei ihm das Problem
meldet. . . . Man sehe die Kinder an, so wie sie wirklich sind
und nicht, wie wir sie zu haben wünschen und man folge bei
der Erziehung den Entwicklungslinien der- Natur, nicht toten
(Präskriptionen“ (natürlich auch nicht den Präskriptionen' der
Psychoanalytik, Ref.).
J. Sadger: Ein Fall von multipler Perversion mit hysteri¬
schen Absenzen. Auf 75 Seiten die Ergebnisse einer auf zwei
Jahre veranschlagten, dann aber unfreiwillig auf fünf Monate
restringierten Sexualanalyse eines Falles von Homosexualität,
Autoerotismus wie Onanie, Narzismus, einer Art von Selbstkoitus,
Schautrieb, Exhibitionismus, Analerotik, Statuenliebhaberei, ma¬
sochistischen und sadistischen Zügen, pyromanischen Antrieben
und einer Dysuria psychica. Man kann dem Autor die Begeiste¬
rung über so einen Casus pulcherimus nachfühlen.
Oskar Pfister: Analytische Untersuchungen über die Psy¬
chologie des Hasses und der Versöhnung. Von einem Pfarrer
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
873
augenscheinlich als Therapie gedachte, dann aber rein wissen¬
schaftlich ausgefallene Psychoanalyse; denn „wir begegnen somit
auch noch einige Monate nach der Analyse den Ausläufern der
einst quälenden Phantasien. Dies fällt um so mehr auf, als Max
erklärte, die früheren Bilder vergessen zu halben. . . . Bevor die
Analyse durchgeführt werden konnte, verreiste Max für immer".
Siegln. Freud: Ue'ber den Gegensinn der Urworte. Referat
über die gleichnamige Broschüre von Karl Abel, 1884. Freud
konstatiert Uebereinstimmung zwischen der durch ihn behaup¬
teten Freiheit des Traumes, ein beliebiges Element durch seinen
\\ unschgegensatz darzustellen und der vom Sprachforscher auf¬
gedeckten Eigentümlichkeit der ältesten Sprachen, des antitheti¬
schen Doppelsinnes, sowie der Lautumdrehung (Metathesis), die
in der Umkehrung des Traummateriales ihre Analogie hätte.
A. Maeder: Psychologische Untersuchungen an Dementia
praecox- Kranken. Eingehende und sehr verdienstliche Beschäf¬
tigung mit zwei Patienten der Züricher psychiatrischen Klinik
zeigt, daß- der Inhalt der Psychose streng individuell determiniert
ist, daß aber die Mechanismen bei den Patienten die gleichen
sind. Die beiden paranoiden Kranken hatten eine lebhafte geistige
Tätigkeit konstruktiven Charakters, die Zerfahrenheit wurde bloß
vorgetäuscht, von Verblödung im eigentlichen Sinne konnte nicht
die Rede sein. Die Tätigkeit der Patienten war an die Außen¬
welt nicht genügend angepaßt, ging von innen heraus, erfuhr
die Korrektur nicht, welche die Fühlung mit der Außenwelt
mit sich bringt. Soweit sind die Schlußfolgerungen des Verfassers
zu unterschreiben. Es ist Gemeingut der Wissenschaft, daß der
Uebergang des Normalen in das Pathologische nicht scharf ab¬
gegrenzt ist, daß die Psychose nicht nach prinzipiell neuen Me¬
chanismen arbeitet, daß sie aus der früheren Erfahrung schöpft,
daß die Triebkräfte des normalen Handelns fortwirken. Ueber die
von Maeder behauptete entscheidende Rolle der Komplexe ist
allerdings eine Diskussion möglich und zur Erklärung der Psy¬
chose selbst hat die psychologische Forschung nichts beigetragen.
W enn wir uns darüber auch keiner Täuschung hingeben dürfen,
so wird die Bedeutung dieser Richtung der Anatomie oder der
Chemie gegenüber keineswegs herabgesetzt.
F. Riklin: Aus der Analyse einer Zwangsneurose. Die
Geheimnisse einer unverstandenen und vereinsamten Seele, Pro¬
dukte wundersamer Tagträumerien und Phantasien werden hier
vor uns ausgebreitet.
C. G. Jung: Randbemerkungen zu dem Buche von Wittels,
Die sexuelle Not. Jung stellt sich als begeisterter Leser dieses
Buches vor, das durch sein Motto ja vollkommen charakterisiert
ist.: „Die Menschen müssen ihre Sexualität ausleben, sonst ver¬
krüppeln sie.“ Daß auch eine andere Weltanschauung den’ bar
ist, erfährt man von Jung nicht; er sagt nur ahnungsvoll von
der Freudschen Psychologie: „Es werden sich viele Unberufene
herzudrängen und die größtmöglichen Tollheiten damit an¬
stellen . . . .“ und trennt vorsichtig Erkenntnis und Vorschläge
der Praktiker. Noch vorsichtiger ist es, daß er schließlich nur
empfiehlt, Wittel s Buch zu lesen.
Ernest J ones -Canada: Bericht über die neuere englische
und amerikanische Literatur zur klinischen Psychologie und Psy¬
chopathologie.
In analoger Weise berichten J. Neiditsch -Berlin über den
gegenwärtigen Stand der Freudschen Psychologie in Rußland,
Roberto G. A ssagioli -(Florenz über die Freudschen Lehren
in Italien. C. G. Jung referiert über psychologische Arbeiten
schweizerischer Autoren (bis Ende 1909). Schließlich erfahren
wir, daß Ende März 1910 zu Nürnberg die internationale psycho¬
analytische Vereinigung gegründet wurde.
*
Seele und Gehirn.
Von Dr. S. K. Thoden van Velzen.
Ein Verleger ist nicht angegeben; anderseits heißt es dritte
vermehrte Auflage. Das Buch stellt sich als ein psychiatrisches
Problem dar und kann in dieser Zeitschrift kritisch nicht beur¬
teilt werden. Leseprobe: „Wo, so fragt mich ein Kollege, meinen
Sie denn, daß der Geist sitzt? — Ich antworte: ln den Vien
bügeln. — In den Vierhügeln soll auch alles liegen, meinte er
zustimmend ...“ (S. 129). Ja freilich, wenn auch dieses Buch
mit den Vierhügeln geschrieben worden ist? E. Rai mann. I
Allgemeine und spezielle Pathologie des Zwerchfells.
\ on Priv.-Doz. Dr. Haus Eppinger in Wien.
Supplemente zu H. Nothnagels spezieller Pathologie und Therapie
Herausgegeben von Prof. Dr. L. v. Frankl- Hoch wart. I.
8", 266 Seiten.
Wien und Leipzig 1911, Alfred II older.
F r a n k 1 - H o c h w a r t gibt eine Reihe von Ergänzungs¬
bänden zu dem großen Handbuch der inneren Medizin Noth¬
nagels heraus. Hie vorliegende, ausführlich geschriebene Mono¬
graphie der Krankheiten des Zwerchfelles leitet diese Reihe ein.
Der Verfasser hat damit eine ungemein dankenswerte Arbeit
geliefert, die nicht nur zum ersten Male, eine umfassende Zu¬
sammenstellung der anatomischen, physiologischen, pathologischen
und klinischen Tatsachen über das Diaphragma bildet, die bisher
in den verschiedenen Werken und Abhandlungen zerstreut waren,
sondern auch eine große Zahl eigener wertvoller Beobachtungen
enthalt. Das gilt insbesondere von dem Kapitel über die Zwerchfell-
h er nie, dem besten und interessantesten des ganzen Buches.
Hier wären wohl auch einige Skizzen der Röntgenbefunde er¬
wünscht gewesen.
Bei der Durchsicht des Buches ist dem Referenten eine
Angabe aufgefallen, mit der sich wohl kaum jemand einverstanden
erklären wird: Daß nämlich beim Singultus das Geräusch in der
Mundhöhle unter Zurückziehung der Zunge vom Gaumengewölbe
gebildet werde. Flier dürfte wohl die alte Erklärung der Physio¬
logen, daß es durch Verschluß der Stimmritze zustande komme
ebenso wie das Seufzen -— die richtigere sein.
*
Hypophysis, Akromegalie und Fettsucht.
Von B. Fischer.
Erweiterter Abdruck aus der Frankfurter Zeitschrift für Pathologie V.
154 Seiten. Mk. 6'60.
Wies b<a d e n 1910, J. F. Berg ni a n n.
„Die Beziehungen zwischen Akromegalie und Hypophysis¬
tumor sind für die allgemeine Pathologie und insbesondere für
die Geschwulstlehre von sehr großem Interesse. An der Akro¬
megalie zwingt uns die Natur selbst, das Problem der Wachstunrs-
koordinationen aufzuwerfen“ — sagt der Verfasser in der Ein¬
leitung. ln der Tat führt das Studium dieser Fragen, wenn man
sie konsequent durchdenkt, zu den Grundproblemen der Patho¬
logie. Die vorliegende Arbeit darf demnach auf allgemeines Inter¬
esse rechnen. An der Hand einer umfassenden Durcharbeitung
der Literatur — der Referent, der sie selbst vor zwölf Jahren
durchgea, rheitet hat, kann die Genauigkeit des Verfassers be¬
zeugen und unter Hinzuziehung eigener Fälle werden die
oben genannten Beziehungen erörtert. Die Akromegalie wird als
F olge einer Hypersekretion der Adenome des vorderen Lappens
der Hypophyse, die Dystrophia adiposo-genitalis (Typus Fröhlich)
als Folge der Schädigung des hinteren Lappens und des Infundi-
bulums aufgefaßt. Der Beweis wird durch breite Erörterung des
anatomischen Befundes, wobei insbesondere die in der Literatur
angeführten Fälle von „Akromegalie ohne II yp op h y senerk ranku n g “
einer vernichtenden Kritik unterworfen werden, durch das Tier¬
experiment (mit besonderer Betonung der Befunde Asehners)
und durch die Operationserfolge am Menschen geführt.
*
Les sciatiques, leurs traitements.
Par L. Lortat- Jacob et G. Sabareauu.
16", 218 Seiten.
Paris 1910, Masson & Cie.
Den Kernpunkt der vorliegenden Monographie bildet die
Unterscheidung der radikulären und der trnnkulären Ischias,
welche von den Autoren seit 1904 durchgeführt worden ist und
auf der genauesten Untersuchung der Sensibilitätsstörungen beruht.
Je nachdem diese der Verteilung der Wurzeln oder der peripheren
Hautnerven entsprechen, hat die Erkrankung die Wurzeln der
Lumbalnerven oder den Stamm des Ischiadikus getroffen. Die
übrige Darstellung ist ziemlich ungleichmäßig, zum Teil etwas
flüchtig; bei der Besprechung der Therapie wird beispielsweise
der Behandlung der luetischen Form neun Seiten gewidmet, die
Narkotika werden auf acht Seiten abgehandelt, der Hydrothera¬
pie sind nur 14 kurze Zeilen gewidmet. Dabei ist das Wichtigste
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 24
874
Über die Therapie der Ischias nicht gesagt, daß nämlich ein
frischer Fall unbedingt ins Rett gehört und daß man mit Bett¬
ruhe und Bettwärme, frühzeitig angewendet, in der Regel die
Entstehung schwerer Formen verhindern kann.
*
Diagnostik der Nervenkrankheiten.
Yon L. E. Breguianu in Warschau.
Mit einem Geleitwort von Hofrat Prof. Dr. H. Obersteiner.
8°, 535 Seiten.
Mit 193 Abbildungen und 2 Tabellen.
Berlin 1911, S. Karger.
Ein recht gutes und praktisches Buch. Der erste Abschnitt
bespricht den allgemeinen Untersuchungsplan, dann werden die
motorischen Störungen, die Ataxie, Mitbewegungen und Zittern,
die motorischen Reizerscheinungen, die Sensibilitätsstörungen, die
Störungen der Reflexe, die Pupillenstörungen, die Störungen im
Gebiete der Sinnesorgane, die Aphasie, Alexie, Agraphre, Apraxie,
die psychischen Störungen, die vasomotorischen, trophischen und
Temperaturstörungen, die Störungen der inneren Organe, die Unter¬
suchung des Schädels und der Wirbelsäule, zuletzt Lumbal¬
punktion und Hirnpunktion erörtert. Im Anschlüsse an die ein¬
zelnen Störungen wird die Diagnose und Differentialdiagnose jener
Erkrankungen dargestellt, deren hervorstechendste Symptome eben
diese Störungen sind. Die Illustrationen sind zum größten Teile
sehr gut, die meisten der Spitalsabteilung des Verfassers ent¬
stammend.
Bei den schematischen Abbildungen wäre ein größerer Ma߬
stab allerdings wünschenswert. Allzu kurz sind wohl die Degene¬
rationszeichen und die angeborenen Mißbildungen überhaupt be¬
handelt, beispielsweise hätten die Differentialdiagnose der Muskel-
defekte und der Muskelatrophien oder der Kamptodaktylie und
der Kontraktur nach Ulnarislähmung Erwähnung verdient. Im
allgemeinen aber kann man nur dem Geleitworte Obersteiners
beistimmen, der es dem praktischen Arzte als verläßlichen Be¬
rater empfiehlt. M. Sternberg.
Aus versehiedcnen Zeitschriften.
598. Zur Frage der Ausscheidung von diastati-
schem Ferment im Urin. Von Dr. A. Rosenthal in Karls¬
bad. Lieber Anregung des Prof. H. Strauß hat Verfasser an dem
Krankenmaterial des jüdischen Krankenhauses in Berlin an einer
Reihe von Urinen von Kranken die Frage des quantitativen Fer¬
mentgehaltes des Urins studiert. Er bediente sich hiebei der von
Wohlgemuth angegebenen Technik, nur seine Art der Berech¬
nung der gefundenen Werte war eine andere, nämlich eine prozen¬
tuale. Verf. beschreibt seine Art der Berechnung und vindizieirt
ihr größere Vorteile. Er untersuchte die Harne von 5(5 Fällen in
160 Einzeluntersuchungen auf ihre diasta tische Kraft. Er ging
dabei vom Gesunden aus und fand bei vier Fällen in zwölf Einzel¬
untersuchungen im gesamten Tagesurin einen Wert, der nahezu
konstant war und dessen relative diastatische Konzentration etwa
500% betrug. Die wesentlichen Ergebnisse seiner Untersuchungen
faßt Verfasser in folgendem zusammen: 1. Der gesunde Mensch
entleert einen Urin, dessen diastatische Kraft in den einzelnen
Tagesportionen schwankt, dessen Gesamturin aber eine konstante
diastatische Fermentwirkung zu haben scheint. Diese entspricht
einer diastatischen Kraft von etwa 500%. 2. Eine Aenderung, be¬
ziehungsweise Verminderung der Durchlässigkeit der Nieren, wie
sie namentlich bei Diabetes insipidus und gewissen Formen
jier chronischen interstitiellen Nephritis zu verzeichnen sind,
läßt häufig eine verminderte Fermentausscheidung entstehen.
3. Eine Steigerung der Durchlässigkeit der Niere, wie sie bei fieber¬
haften Infektionskrankheiten verursacht wird, kann e.ne Steige¬
rung der Fermentausscheidung bedingen u. zw. kann in einem
solchen Falle ein Urin, der unter gewöhnlichen Verhältnissen
gar kein diastatisches Ferment enthält, eine diastatische Kraft
zeigen, die derjenigen des Urins von Gesunden entsprechen kann.
4. Boi Diabetes melitus scheint die diastatische Kraft des Urins
meistens — wenn nicht immer — vermindert zu sein. Bei allen
Fällen von Diabetes melitus fand Verf. verminderte Werte, sie I
schwankten von 166 bis 333%. In vier Fällen von Diabetes! i
melitus wurde ein vollständiges Fehlen des diastatischen
Fermentes festgestellt. Auch in sieben Fällen von chronischer
interstitieller Nephritis fanden sich durchwegs niedrige Werte,
die obere Grenze überstieg selten 166%. Niedrige Werte wurden
noch gefunden in zwei Fällen von Magenkrebs, in je einem
Falle von Carcinoma peritonei, Nephrolithiasis u. a. Ein Uebeir-
schreiten des Wertes von 500% ließ sich konstatieren bei allen
Infektionskrankheiten mit fieberhaftem Zustand (Skarlatina, Mor¬
billi, Pneumonie, Typhus abdominalis). Nur in den Fällen, wo
gleichzeitig eine interstitielle Nephritis vorlag, waren die Werte
niedrig. In einem Falle von Scharlach, wo kein Albuinen im Urin
war, war die relative Konzentration 1000 bis 1428%, aber an den
Tagen, wo Albumen auftrat, waren die Werte nur 250%. Bei einem
Falle von ausgesprochener Stauungsalbumiinurie fanden sich in
sieben Tagen Werte, die sich zwischen 1000 bis 1666% bewegten
Nach alledem glaubt Verf. mit Recht schließen zu dürfen, daß die
Fermentausscheidung im Urin in hohem Grade bedingt wird durch
das Verhalten der Nieren, u. zw. in dem Sinne, daß gewisse
anatomische Veränderungen, wie sie namentlich durch die chro¬
nische interstitielle Nephritis bedingt werden, imstande zu sein
scheinen, die Durchlässigkeit der Nieren für das amylolytische
Ferment herabzusetzen. Aber schon eine Leistungsunfähigkeit der
Niere ohne nachweisbare anatomische Veränderung (Diabetes in¬
sipidus) bedingt eine Unfähigkeit der Niere, amylolytisches Fer¬
ment durchzulassen. Dem Urin dart schließlich kein Blut bei¬
gemengt. sein, weil das zu Täuschungen Veranlassung gibt.
(Deutsche medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 20.) E. F.
*
599. U e b e r V e r h ü tung u n d Behandlung von
Mückenstichen. Von Dr. Karl Friedrich Hoffmann, Spezial-
arzt für Hautleiden in Koblenz. Verf. beschäftigt sich mit den
wirksamen Mitteln zur Verhütung und Behandlung der Mücken¬
stiche. Die üblichen Mittel zur Verhütung sind meist solche,
die auf die Haut aufgetragen, durch ihren intensiven Geruch
die Insekten fernhalten sollen. Hieher gehören : Kampfer, Floh¬
krautöl, Pfefferminzöl, Zitronensaft, Essig- oder Teeröl, Eukalyptus¬
öl, Karbolvaselin, Lavendelöl, Tinktur von Ledum palustre, Knob¬
lauchöl und Kreosot. Boerschmann nennt sie alle wenig wirk¬
sam. Verf. hat mit Kampfer und Oleum Caryophyllorum aus
gedehnte Versuche angestellt. Das Oleum camphoratu m ist wenig
wirksam. Besser das Nelkenöl, am besten in Salbenform : Oleum
caryophyll. 5-0 bis 10-0, Lanolin 30-0, Ungu. Glycerini ad 100 0.
Abends aufgetragen, laßt sie oft morgens noch den charakteri¬
stischen Geruch erkennen. Die Wirkung ist dementsprechend
nachhaltig. Diese Mittel werden aber alle an Wirksamkeit, an
Am: hmlichkeit im Gebrauch und, was nicht zu vergessen ist,
an Billigkeit von zwei anderen bei weitem übertroffen. Lewv
empfahl die „Tinctura Pyrethri rosei“, einen Auszug aus per¬
sischem Insektenpulver. Die Tinktur hat eine braune Farbe,
färbt die bestrichenen Körperstellen kaum merklich, reizt selbst
bei längerem Gebrauch nicht und schützt vier Iris fünf Stunden
so gut wie vollständig. Verf. selbst hat über diese Tinktur keine
Erfahrung. Dagegen hat er mannigfache Versuche mit einem
alkoholischen Extrakte aus dem bekannten Zacherlin gemacht.
Die Herstellung ist sehr einfach. In einer Flasche wird der
Boden etwa 1 cm hoch mit Zacherlin überschüttet, die Flasche
dann mit 70%igem Spiritus gefüllt und im Laufe von ein bis
zwei Stunden mehrfach durchgeschüttelt. Dann wird abfiltriert.
Der erhaltene Auszug ist schwach braun gefärbt. Auf der Haut
verursacht er eine schwache Gelbfärbung. Kein auffälliger Geruch.
Reizung der Haut selten. Diese Zacherlintinktur erwies sich für
die meisten als vorzüglich wirksam. Leute, die vorher nachts
ganz zerstochen worden waren, blieben von Stichen Lei. Be¬
sonders bei Kindern waren die Resultate sehr gut. Also ein aus¬
gezeichnetes Prophylaktikum. Bei frischen Stichen werden die
alten Hausmittel, Seife, Salmiakgeist und Kalilauge angewendet.
Letztere reizt die Haut empfindlich. Bei alten Stichen sind dann
die Quaddeln zu behandeln. Hier ist sehr gut Menthol und Thymol,
am besten als 3 bis 5%ige Tinktur. Der Stich wird damit betupft,
das Jucken hört bald auf, eventuell betupft man nach einiger
Zeit nochmals. Man kann die beiden Mittel außer als Tinktur
noch in Kollodium geben u. zw. nach folgender Rezeptfonnel;
Menthol 0-2, Therebinth. laricis, Ol. Ricini ana T0, Collod.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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dupl. 18-00 Noch besser als diese Tinkturen, namentlich nach-
haltiger in der Wirkung, ist das Naftalan. Es stellt eine dunkel¬
braune Masse von salbenartiger Konsistenz dar. Auf der Haut
verrieben färbt es sich ganz leicht gelb, verschwindet völlig
m ihr, schmiert und klebt nicht. Seine Wirkung ist ziemlich
rasch, energisch und meist sicher. Sie ist eine direkt entzüm
< lungs widrige. Es ist das beste Mittel gegen Insektenstiche. —
(Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 20.) G
*
. (j0°* Prä disposition der Lungenspitzen und In ha¬
lations tuberkulöse. Von Prof. Gustav Huguenin. Nach
Huguenin beginnt die Mehrzahl der Lungentuberkulosen nicht
in der Spitze, wie es die herrschende Ansicht ist. Nur die echte
direkte Inhalationstuberkulose beginnt daselbst während die tuber¬
kulösen Erkrankungen der Lunge anderer Provenienz (Hals-,
Thoraxdrüsen) in anderen Regionen der Lunge beginnen. Wahr
t bleibt aber: Bemerkt wird die Lungenerkrankung in der größten
i MelT\aW der Fälle zueret in der Spitze und man hat burner
noch das Recht von einer Bevorzugung der Spitze zu reden. Die
Prädisposition der Lungenspitze für die Tuberkulose findet durch
die Betrachtung des MechanisPrus beim Husten, welcher die An¬
sammlung von fremden Substanzen verhindern soll, seine Erklä-
[ lung dadurch, daß die Spitze von allen Lungenteilen die geringste
muskuläre exspiratorische Komponente hat, wogegen sie hei der
initialen Inspiration in einer ungleich besseren Lage ist. Indes
unter normalen Verhältnissen genügt diese Einrichtung doch noch,
die Spitzenbronchien genügend zu entleeren, insbesonders wenn
die Bildung des Thorax eine normale ist, ebenso wie die der
konstituierenden Elemente, Muskeln, Knochen, Knorpel: wenn
ferner die Spitzen bis dahin durch keine Krankheit verändert
, worden sind und die Lungenspitzen und Bronchien keine ange¬
borene Anomalien zeigen. Anders ist es aber, bei abnormer Körper-
und Thoraxbildung. Der sogenannte paralytische Thorax mit Aper¬
turstenose stellt nach Huguenin eine Krankheit und eines
. dei schwersten Stigmata der tuberkulösen Heredität dar, wobei
folgendes hervorzuheben ist: Wenn ein an Körper und Thorax
normal geformter Mensch der tuberkulösen Infektion nur einen
. ganz geringen Widerstand entgegenzusetzen imstande ist, so
stammt seine normale Körperbeschaffenheit ganz gewöhnlich’ von
1 einem seiner Eltern her, zum Beispiel von seinem Vater, seine
geringe Resistenz aber ganz gewöhnlich von seiner Mutter; sehr
[ viele Kinder einer tuberkulösen Mutter haben demnach eine ganz
ordentliche Körperbeschaffenheit und dennoch sterben sie an
\ Tuberkulose, ohne mit der Krankheit einen erfolgreichen Kampf
führen zu können. Häufiger aber ist noch der andere Fall, in
welchem die gesunde Mutter dem Kinde eine genügende Resi-
- stenz, der Vater aber einen schwächlichen Körper und einen
: paralytischen Thorax mitgibt, ein Fall, der sehr viel besser ist
als der zuerst erwähnte. Wenn somit die Sache- nicht stimmen
wall, wenn e-in Mensch mit paralytischem Thorax obstinat gesund
bleibt oder umgekehrt, so studiere man reicht sorgfältig die here¬
ditären Verhältnisse. Man wird die Lösung manches scheinbaren
— Rätsels finden. Der paralytische Thorax hat zur Folge, daß die
Lungenspitze die aus der Atmosphäre importierten Substanzen
entweder gar nicht oder nur höchst ungenügend wieder weg¬
schaffen kann. Ja, es kommt soweit, daß Staub und Bazillen
heim Husten direkt von unten in die Spitze geworfen werden,
weil diese am Hustenakt sich überhaupt nicht beteiligen kann,
weil sie nicht die Mittel besitzt, den von unten erhaltenen Schleim
wieder los zu werden. Aehnlieh liegen die Verhältnisse, wenn
die Lungenspitzen selbst nicht normal sind, indem Adhärenzen
und zirrhotische Schrumpfung vorliegen, die abermals der Weg¬
schaffung der in die Lungenspitzen hineingeschafften Schädlich¬
keiten hinderlich sind und ferner, wenn die Lungenspitze durch
die ungenügend im Wachstum fortgeschrittene erste Rippe förm¬
lich abgeschnürt und damit beim Husten völlig lahmgelegt ist
und die Aeste des Bronchus apicalis eine auffallende Zusammen-
drängung und Verbiegung zeigen, welche eine konsekutive Atro¬
phie des zwischenliegenden Lungengewebes einschließt. Alles
zusalmhien kann man die individuelle Disposition der Lunge
nennen, welche aber durchaus noch nicht das ist, was als Dispo
sition dos ganzen Individuums zu betrachten ist. Bei dieser tritt
noch eine unbekannte Größe hinzu, die noch wichtiger ist als1 das
anatomise he Moment, nämlich die individuelle Resistenz gegen den
I u berkelbazi 1 lu s , dessen Virulenz wiederum eine variable Größe
darstellt. 1 nd so wird es verständlich, wenn trotz individueller,
scheinbar gleicher Disposition der Lunge, die Krankheit mit ver¬
schiedener Intensität beginnt und in hundert Abstufungen verläuft
Die direkte Inhalationstuberkulose ist nach Huguenin kein
allzutaghches Ereignis. Man muß sich nämlich vor Augen halten
daß bei gewöhnlicher, nicht forcierter Inhalation einer ruhigen
staubhaltigen Luft der Staub (+ Bazillen) nicht über die Bronchien
zweiter Ordnung hinäbgelangt; weiter hinab geht er bei offenem
lunde, ganz hinab- aber nur bei forcierter Inspiration und hei
v md bewegter Atmosphäre. Es ist aber anzunehmen, daß hei
normalen Flimmerepithel und also normalem Schleimstrom, bei
normalem Hustenrnechanismus (normaler Muskelkraft, normaler
Lungene a-stizität, normalem Gefüge der Bronchialwände- und nor¬
maler Elastizität der Rippen und Knorpel) diese Einrichtungen
genügen zur Entfernung von Staub- und Bazillengemischen, wenn
auch die Alveolen und Alveolar-gänge diesbezüglich etwas im
Nachteil sind gegenüber den größeren Bronchien und der Trachea
wo die Bewegungsenergie am größten ist. Es müssen also nicht
bloß eine Reihe von mechanischen Ursachen für e-ine direkte
Inhalationstuberkulose Zusammentreffen, sondern die Infektion
muß auch geschehen an einem Orte, wo wieder eine Summe von
Bedingungen erfüllt werden müs'sen (trockene Staubanfwirbelung,
viel Staub, viele Bazillen, recht virulente- Bazillen) und endlich
muß die Resistenzfähigkeit des Opfers noch eine geringe sein,
wenn eine direkte Inhalationstuberkulose zustande kommen soll!
Man begreift daher-, daß viele Aerzte erklären, sie hätten von
einer solchen noch nie einen überzeugenden Fall gesehen. Daß
die Lungenspitze auch für die direkte Inhalationstuberkulose prä¬
disponiert ist, ergibt sich wohl von selbst aus den Ausführungen
von vorhin. — Die häufigste Form der Lungentuberkulose ist
evident diejenige, die vermittelt wird durch die Infektion der
lymphatischen Organe am Halse. Das Infektionsfeld ist die Mu¬
kosa, von den Orifizien der Mundhöhle und Nase bis hinab '
zm Bifurkation, wobei die Infektion durch bazillenhältige In¬
halationsluft und wahrscheinlich noch häufiger durch bazillen¬
haltige Nahrung erfolgt. Warum auch hei dieser Form der Lungen¬
tuberkulose die Spitze prädisponiert erscheint, ist nur zum Teil
durch anatomische Verhältnisse zu erklären, zum anderen Teile
aber noch unbekannt (wahrscheinlich Besonderheiten in den
Lymphwegen der Lunge). — Der- Tröpfcheninfektion gedenkt
Huguenin mit keinem Worte, da er keinen einzigen Fäll ge¬
sehen bat, der auch nur mit einem Schimmer von Wahrschein¬
lichkeit auf eine solche hätte bezogen werden können. — (Korre¬
spondenzblatt für Schweizer Aerzte 1911, 41. Jahrg., Nr. 5, ß, 7. 8.)
K. S.
601, (Aus dem pathologischen Institut der Kölner Akademie
lür praktische Medizin. Abteilung: Augusta-Hospital.) lieber
Wechselbeziehungen zwischen Lunge und Thorax
bei Emphysem. Von Prosektor Dr. H. Loeschke. Während
man früher glaubte, daß der Thorax emphysem-atosus (Hebung
der Rippen, Inspirationsstellung1, Faßform) eine Folge des
Lungenemphysems sei, hat W. A. Freund 1901 gelehrt, daß die
Starre des Thorax das Primäre ist, wobei die Thoraxstarre
duich Auffaserung, Degeneration, Verkalkung und Verknöcherung
der Rippenknorpel bedingt werde. So bestechend die Lehre war,
so blieb sie doch den Beweis schuldig, daß diese Knorpeldegenera¬
tion mit einer Verlängerung der Rippen kn orpe-I einhergeht, die
von Thoraxstarre. Die primäre Ursache für die Starre des Thorax
zu bedingen. Um nun die eigenartige Fixation des emphysemati-
sehen Thorax zu erklären, hat Verf. eine eigene Untersuchungs¬
methode solcher Leichen eingeschlagen, dabei auch die Röntgen¬
untersuchung der Brustkörbe heran gezogen -und gelangte hiebei
zu ganz anderen Anschauungen, welchen er unter Beigabe meh¬
rerer lehrreicher Abbildungen mit folgenden Schlußworten Aus¬
druck gibt: Lungenblähung und Emphysem sind meist eine Folge
von Thoraxstarre'. Die primäre Ursache für die Starre des Thorax
liegt gewöhnlich in einer Erkrankung der Wirbelsäule.
Die Brustwirbelsäule wird durch spondylarth ri I is che Prozesse
kyphotisch abgeknickt und in dieser Lage fixiert. Bei dieser Ab¬
knickung senkt sich die obere Thoraxhälfte als Gauzes vornüber
876
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und drückt die unteren Rippen infolge deir gemeinsamen Fixation
am Sternum in Exspirationsstellung, während eine gleichzeitige
kompensatorische Hebung der Rippen deis sich senkenden Thorax¬
abschnittes erfolgt. Je stärker die Abknickung der Wirbelsäule
und der Ausgleich durch Hebung, bzw. Senkung von Rippen ist,
desto geringer wird die Testierende Exkursionsbreite der Rippen
am Kyphosenthorax; schon bei Kyphosen mäßigen Grades kommt
es zu totaler Fixation. Je nach dem Sitze der Abknickung ändert
sich die Form des starren Thorax. Bei oberflächlicher Betrach¬
tung wird die Kyphose der Brustwirbelsäule häufig verdeckt durch
eine kompensatorische Hals- und Lendenlordose. Bei starrem
Thorax treten infolge Zwerchfellkompensation die Symptome der
Lungeninsuffizienz häufig erst bei erhöhter Inanspruchnahme auf
(larvierte Emphyseme). Auf dem Sektionstisch findet sich bei
kyphotisch fixierter Brustwirbelsäule jedesmal ein starrer Thorax
und Lungenblähu ng. Vikariierende und akute Emphyseme zeigen
beweglichen Thorax und veränderte Wirbelsäule. — (Deutsche
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 20.) E. F.
•
602. (Aus dem Frauenspital Basel -Stadt. — Direktor: Pro¬
fessor Dr. 0. v. Herff.) Ein Beitrag zu den Mißerfolgen
mit Antimeristem. (Kankroidin Schmidt.) Von Doktor
Karl Kolb, stellvertretendem Assistenzarzt. Die Berichte der
Autoren über die Erfolge mit Antimeristem1 bei inoperablen Krebs¬
end Sarkomfällen lauten sehr widersprechend. Um sich selbst
ein Urteil zu bilden, wandte Verf. dasselbe bei einer 55jährigen
Patientin mit einem inoperablen Zervixkarzinom1 an. Am 15. Juni
1910 wurde mit der Antimeristemkur begonnen; am 17. Sep¬
tember war sie mit der 54. Injektion beendet. Schmerz wurde
seitens der Patientin nur bei der stärksten Konzentration ge¬
äußert. Die Reaktion trat gewöhnlich acht bis elf Stunden nach
der Injektion ein. Siebenmal wurde die Kur unterbrochen. Das
Mittel hatte nicht den geringsten Einfluß auf den Tumor. Nicht
einmal den Durchbruch der Neubildung in die Blase konnte die
Behandhmg verhindern. Das Allgemeinbefinden verschlechterte
sich zusehends. Durchfälle, wie sie von Ewald und Winckler
berichtet wurden, konnte Verf. nicht beobachten. Auffallend ist,
daß die Patientin die Kur nicht so schmerzhaft fand, wie die
meisten Autoren (Winckler, B a i s c h, Czerny) berichten.
Welche Irrtümer bei der Beurteilung der Antimeristembehandlung
eventuell unterlaufen können, zeigt Verf. an einem Fälle, den
er mit Antimeristem zu behandeln vor hatte, es aber nicht
ausführte. Eine 37jährige Frau war am 20. September 1909
wegen Portiokarzinom im Spitale operiert worden. Nach sechs
Wochen geheilt entlassen. Vier Monate war sie ganz beschwerde-
frei. Seit März 1910 Schmerzen im Unterleihe. Starke Abmage¬
rung. Bei ihrer neuerlichen Aufnahme am 6. August 1910 war
die Gegend der Flexura sigmoidea s c lim er ze'i nj > f i n d lieh. Links
vom Maistdarm war ein gänseeigroßer Tumor, fast an der Becken¬
wand adhärent. Verf. dachte natürlich an eine Karzinom rezidive.
Die Folge zeigte aber, daß es ein entzündlicher Prozeß war. Der
Tumor war Ende September gänzlich verschwunden. Wäre die
Antimeristembehandlung eingeleitet worden, so würde natürlich
derselben der glänzende Heilerfolg zugeschrieben worden sein.
Der Preis einer vollständigen Antimeristemkur bis zur Konzen¬
tration liftOO beträgt nach Verf. 106 M. Dieser hohe Preis
setzt der Anwendung des Mittels ohnehin bestimmte Grenzen.
— (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 20.) G.
*
603. Spät diagnose einer gummösen Le her lues. Von
Artur Klei n in München (Inauguraldissertation). Klein berichtet
über einen sehr merkwürdigen Fall von Leberlues. Ein 51jähriger
Bauführer, der bei einem Gerüsteinbruch einen sehr gefährlichen
Sturz getan, wurde im Anschlüsse daran von einer Reihe mannig¬
facher, ernster Krankheitsattacken heimgesucht. Die Beschwerden
lokalisierten sich besonders in der Magen- und Lebergegend. Zu¬
nächst wurde ein Gallensteinleiden angenommen. Später, als
der Kranke immer mehr herabkam und in der stark vergrößerten
Leber einige derbe Knoten fühlbar wurden, wurde Karzinom an¬
genommen. Bei der Laparotomie fanden sich im‘ linken Leber1-
lappen zirkumskripte, weißliche, die Oberfläche der Leber über¬
ragende Stellen, die sich als derbe Knoten anfühlten. Adhäsionen
an der Kuppe, mit der Gallenblase und Magen; Gallensteine,
entlang den großen Gefäßen eine Kette vergrößerter Drüsen. Es
schien ein bereits inoperables Karzinom vorzuliegen, welches
wohl auf dein Boden der Narben von der seinerzeitigen Leher-
verletzung sich entwickelt hatte. Zwei Wochen nach der Probe¬
laparotomie "wurde Patient entlassen, natürlich als unheilbar.
Die erwartete Krebskachexie trat aber nicht ein, Patient befand
sich sogar besser und nahm an Gewicht zu. Nach Jahresfrist
traten wieder Krämpfe und Erbrechen (selbst des Kotes) ein,
welche wieder zessierten und nach Monaten wiederkehrten, dies¬
mal mit Ikterus, Schwindel, Schlaflosigkeit, starken Schmerzen.
Früher war schon einmal die Eventualität, daß dem ganzen
Krankheitsprozeß syphilitische Ursachen zugrunde liegen könnten,
erwogen worden, obwohl kein Grund vorlag, der strikten Negierung
einer vorausgegangenen Infektion des durchaus glaubwürdigen
Patienten Zweifel entgegenzusetzen, zumal Patient schon Jodkali
in größeren Dosen eine Zeitläng ohne jeden sichtbaren Erfolg
genommen hatte. Trotzdem tauchte jetzt, wo die Diagnose Kar¬
zinom hinfällig geworden war, der Gedanke an Lues neuerdings
auf. Diesmal wurde die Wassermannsche Serum reakti on vor¬
genommen. Sie fiel positiv aus. Es wurde sodann eine ener¬
gische antisyphilitische Kur vorgenommen, worauf eine unver¬
kennbare Besserung eintrat, derart, daß begründete Aussicht be¬
steht, den Patienten in absehbarer Zeit wieder herzustellen. Die
Wassermannsche Serumreaktion hat also hier noch zu guter
Letzt zur Klärung eines höchst rätselhaft erscheinenden Krank¬
heitsprozesses beigetragen und ihr Wert auch in chirurgischen
Fällen geht aus den geschilderten Tatsachen hervor! K.S.
*
604. Zur Be hand luhg der perniziösen Anämie.
Von Dr. Muktedin-Effendi in Konstantinopel. In das Güi-
hane- Lehrkrankenhaus wurde ein 30jähr. Mann in elendem Zu¬
stande aufgenommen. Der , Blutbefund ergab : Erythrozyten
1,280.000, Poikilozytose, Megalozyten, Mikrozyten, Normoblasten,
Leukozyten 4800, Hämoglobin 38%. Körpergewicht 42 kg. D:a
Lues bestanden hatte, wurde vorerst Jodkali und Quecksilber (sub¬
kutan und als Einreibung) verabfolgt. Nach zehntägiger erfolg¬
loser Behandlung (der Zustand des Kranken verschlechterte sich)
ging man mit der Eisen- und Arsenbehandlung vor. Auch das
half nichts, der Mann würde wachsbleich, der Puls klein, eine
subkutane Kochsalzinfusion brachte' vorübergehende Besserung.
Die Zahl der Erythrozyten sank, ebenso der Hämoglobingehalt
(200/o) und das Körpergewicht (38 kg), der Exitus erschien bevor¬
stehend Da erinnerte sich Prof. Wieting der Angabe von Tall-
quist (Münchener medizinische Wochenschrift 1909), daß Gly¬
zerin (dreimal täglich einen Eßlöffel) einen glänzenden Erfolg
gehabt habe. Patient wurde also in derselben Weise und mit dem¬
selben außerordentlichen Erfolge behandelt. Er erhielt anfangs
dreimal täglich einen Eßlöffel, später 70 g Glyzerin. Nach vierzehn
Tagen lautete der Blutbefund: Erythrozyten 1,640.000, Hämoglobin
50%, nach weiteren 14 Tagen, in denen für kurze Zeit wegen
Durchfalls das Glyzerin ausgesetzt wurde, Erythrozyten 4,200.000,
Leukozyten 5200, Polynukleäre 77%, Mononukleäre 1%, Lympho¬
zyten 22%, Hämoglobin 100%. Das Körpergewicht stieg auf 52 kg.
Keine Poikilozytose, keine Megalo- und Normoblasten. Patient ver¬
ließ nach vier Wochen das Spital, weil er sich völlig kräftig und
arbeitsfähig fühlte. Er wird das Glyzerin weiter gebrauchen. Nach
14 Tagen stellte er sich gesund vor, ebenso einige Wochen später,
mit 62 kg Körpergewicht. Vielleicht wirkt das Glyzerin nur in den
Fällen intestinaler Genese. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1911, Nr. 20.) E. F.
*
605. (Aus dem kgl. Institut für experimentelle Therapie. —
Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ehrlich — Und dem Sencken-
b er gischen pathologischen Institut — Direktor: Professor Doktor
Fjischer — in Frankfurt a. M.) Heber Todesfälle nach
S al vars an in je k ti o n en bei Herz- und Gefäßkrank-
h ei ten. Von Oberarzt Dr. K. Martius, kommandiert zum1
Senckenbe rig i s c h e n Institut. Die Resultate bei vielen Tausend
Injektionen haben durchwegs bestätigt., daß die Anwendung des
Salvarsans bei gesunden Herzen ganz unbedenklich ist. und daß
eine Schädigung des gesunden Herzmuskels auch bei intravenöser
Injektion nicht eintritt. Es sind nur gewisse Vorsichtsmaßregeln
notwendig. Zunächst sollen intravenös nur kleine Dosen an-
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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gewendet werden (0-3), dann soll das Mittel langsam und in
reichlichem Lösungsmittel injiziert werden. Besonders wichtig
ist die Reaktion der Lösung, da sich herausgestellt hat, daß die
stark saure Lösung mit dem Blute einen flockigen, schlammigen
Niederschlag gibt, der wegen Gefahr der Verstopfung zahlreicher
Gefäße der Lunge und wegen der Ueberlaistung des Kreislaufes
überhaupt, als äußerst gefährlich angesehen werden muß. Vor
Anwendung des Mittels bei Herzkranken hat Ehrlich von vorn¬
herein gewarnt. Verf. hat nun alle Todesfälle aus der Literatur
und direkten Berichten zusammengestellt, die der Anwendung
des Salvarsans zur Last gelegt werden. Es1 sind im ganzen
18 Fälle. Aus der kritischen Sichtung derselben ergibt sich nun:
1. Unter sämtlichen bekannt gewordenen Todesfällen nach Salv-
arsanan Wendung sind nur sieben auf schädigende Wirkung des
Mittels auf das Herz zu beziehen. 2. Bei fünf von diesen sieben
Fällen ergab die Sektion die Trias: Aortitis luetica, Koronar¬
sklerose, Myokarditis, respektive Myodegeneratio cordis. Bei einem
Falle fand sich nur eine Hypoplasie des Herzens und der Aorta
und bei einem Falle, bei dem der Tod im Kollapszustande ein¬
trat, fanden sich schwere Veränderungen verschiedener Organe,
die den Tod an und für sich erklären. 8. Bei vier von diesen
sieben Fällen konnten klinisch objektive Veränderungen am
Herzen oder an den Gefäßen nicht nachgewiesen werden, bei
drei, bestanden auch subjektiv keinerlei Beschwerden. 4. Aortitis
luetica, kompliziert mit Herzmuskelerkrankungen, besonders die
Trias: Aortitis luetica, Koronarsklerose, Myokarditis, bilden eine
absolute Kontraindikation gegen Anwendung von Salvarsan. 5. An¬
gina, pectoris ohne Komplikation von seiten des Herzmuskels,
wird durch Salvarsan in günstiger Weise beeinflußt. — (Mün¬
chener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 20.) G.
*
606. Ueber die Ursachen der natürlichen Pneumo¬
kokkenimmunität. Von Dr. E. Ungermann, wissenschaft¬
licher Hilfsarbeiter im Kaiserlichen Gesundheitsamte, ln einer
fiüheren Untersuchung über die Bedeutung der opsonischen Se¬
rumkörper für die normale Tuberkuloseresistenz kam fing er¬
mann zu dem Schlüsse, daß die Opsonine bei dieser Immunität
keine Rolle spielen dürften, wies aber darauf hin, daß bei manchen
anderen Infektionserregern, so besonders bei den Pneumokokken,
enge Beziehungen zwischen den phagozytären Kräften des Nor¬
malserums und der natürlichen Immunität wahrscheinlich seien,
ohne daß jedoch die Opsonine als die einzige Ursache der nor¬
malen Immunität gegen die Pneumokokken bei allen Tierarten
aufzufassen wären. In der nun vorliegenden Arbeit berichtet
nun Ungermann über seine diesbezüglichen weiteren Unter¬
suchungen, aus denen in der Tat hervorgeht, daß die normale Pneu¬
mokokkenresistenz wenigstens in den von ihm untersuchten Fällen
auf der phagozytären Kraft des frischen Normalserums beruht
und daß das Serum zur Entfaltung dieser Kraft in vitro mit¬
unter der homologen Leukozyten bedarf. — (Arbeiten aus dem
Kaiserlichen Gesundheitsamte 1911, Bd. 36, H. 3.) K. S.
*
607. (Aus der k. k. deutschen Universitätsklinik für Hauf¬
und Geschlechtskrankheiten in Prag. — Prof. C. Kreibich.)
Ueber neuere Gonorrhoebehandlung. Von H. Hecht
und E. Klausner. 1. Gonorrhoebehandlung nach
Schindler (Berliner klinische Wochenschrift 1910, Nr. 40). Der
Kranke bekommt, ohne Rücksicht auf die Dauer und Schwere
der Erkrankung, täglich 2 bis 3 mg Atropin, in Hohlsupposi-
torien, deren jedes 1 cm3 einer l%0igen Atropinlösung enthält.
Die konstante Atropindarreichung soll „die automatischen und
reflektorischen Muskelbewegungen der Sexualorgane“ unter¬
drücken. Kombiniert wird die anale Applikation mit der endo-
ureth ralen. Bei Akkommodationsstörungen, Trockenheit im’ Halse,
und so weiter (zwei Beobachtungen) wurde mit dem Atropin
ausgesetzt. Die genauere Technik ist im Aufsatz Schindlers
enthalten, die Verfasser erwähnen nur, daß die akute Gonorrhoe
der Pars anterior unter A tropin dlarrei chung mit stark konzen¬
trierten Protargollösungen (3 bis 5%) behandelt wird. Dem Pro¬
targol wird zur Vermeidung von Schmerzen etwas Kokain hin¬
zugefügt. Protargol wird am besten frisch verwendet; die Auf¬
lösung erfolgt in der Kälte; solche Protargollösung reizt die
Schleimhäute nicht. In überraschend kurzer Zeit verschwinden
Eitersekretion und Gonokokken, doch soll noch einige Tage lang
die Behandlung fortgesetzt und die Heilung durch einen provo¬
katorischen Eingriff (Applikation von 5°/oigem Protargol) sicher-
gestellt werden. In neun Fällen von Urethritis gonorrhoica anterior
haben die Verfasser nur einmal im Anschluß an den provo¬
katorischen Eingriff trotz des Atropins eine Progression in die
1 osterior beobachtet. Ist die ganze Harnröhre erkrankt, so kann
unter Atropindarreichung auch die Behandlung der Posterior sofort
eingeleitet werden. Mit der gewöhnlichen Tripperspritze werden
unter leichtem Drucke ein bis drei Spritzen 14 bis l^/oigen
Protargols eingespritzt, bei Schmerzen wird etwas Kokain hin¬
zugefügt. Intelligentere Patienten machen selbst diese Einspritz¬
ungen. Auch Lösungen von Argentum nitricum können benützt
werden. 30 Fälle von Urethritis gonorrhoica posterior, zum Teile
durch Erkrankungen anderer Organe kompliziert, zeigten bald
Klarwerden der zweiten Harnportion (ein bis acht Tage-, seltener
später), sechsmal mußte die Behandlung teils wegen Komplika¬
tionen, teils wegen Mangels einer Besserung abgebrochen werden.
Auch wenn die zweite Harnportion klar geworden ist, behandle
man weiter, da sonst eine Rezidive folgt. Die Behandlungsdauer
schwankte zwischen elf Tagen und acht Wochen, auch in einigen
schon monatelang in anderer Weise behandelten Fällen führte
die S ch i nd ler sehe Behandlung in kurzem zur Ausheilung.
Sicher ist, daß sie für einen Teil der Fälle eine beträchtliche
Verkürzung der Behandlungsdauer bedeutet. — 2. Vakzine¬
behandlung der Komplikationen (nach Wright). Zu¬
meist wurde Brucks Arthigon, in einigen FLüllen auch von
Rei te r- Berlin bezogene Vakzine angewendet. Tn dieser Weise
wurden 16 Fälle (nach Abschluß der Arbeit weitere zwölf Fälle)
behandelt. Bei Arthigon wurden nach Bruck nur fieberfreie
Fälle gewählt und steigende Dosen der Vakzine (0-5 cm3 bis zur
Erzielung kräftiger Fieberwirkung bei Mengen von 2 Cm3, diese
eventuell mehrere Male) angewendet; die Injektionen erfolgten
intra glutäal und verursachten kaum nennenswerte lokale Be¬
schwerden. In sieben kurz beschriebenen Fällen (Urethritis go-
norrhoicia mit Arthritis, Epididymitis, Prostataerkrankungen usw.)
wurden glänzende Erfolge erzielt, wogegen die Vakzinebehandlung
vollkommen versagte in drei weiteren Fällen (Prostatitis, Poly¬
arthritis). Die Verfasser sind der Ansicht, daß wir in der Vak¬
zinetherapie (Injektion abgetöteter Gonokokken, Produktion von
Antistoffen, nach Beck) einen äußerst, wertvollen Heilbehelf ge¬
wonnen haben. Die Vakzine wirkt spezifisch auf den Erfcrankungs-
herd ein, führt zu einer Verkürzung der Heilungsdauer, zu einer
bedeutenderen Verringerung der Schmerzen und vielleicht auch
zur vollkommenen Restitution der erkrankten Organe. (Befunde
bei Epididymitiden.) Speziell in dem Arthigon besitzen wir ein
sehr, brauchbares Heilmittel, wenn es auch in einzelnen Fällen
( A n tik ö ipeitaa nge 1 solcher Individuen) völlig versagt. — (Berliner
klin. Wochenschrift 1911, Nr. 20.) E. F
*
608. Ueber Digitalis Winckel. Von Heinrich Ehlers,
approbierter Arzt in München. Die alten Folia Digitales sind
bekanntlich ein sehr labiles Medikament. Schon nach einem halben
Jahre verringert sich der Titer auf die Hälfte seiner Wirksamkeit,
auch ist die letztere je nach Standort der Pflanze, der Zeit der
E ms amm lung und des Jahrganges und dem' Orte der Aufbewah¬
rung sehr variabel. Bekannt, sind leider auch die üblen Einwir¬
kungen auf den Magendarmkanal durch die starke Schleimhaut¬
reizung. Die Ursache dieser Uebelstände sieht Robert in dem
Vorhandensein von mehreren Enzymen, welche sich neben den
wirksamen Stoffen in den Blättern der zweijährigen Pflanze finden
zti Beginn der Blütezeit, wo die Blätter gesammelt werden sollen.
Diese Enzyme wirken beim Trocknen und nach demselben spaltend
auf alle vorhandenen Glykoside, Digitoxin, Digitalin, Digitalein
weiden zersetzt und daher wirkungslos und es scheint sogar
durch die Spaltung zur Entstehung von krampferregenden Spal¬
tungszwischenprodukten zu kommen. Schmiiedeberg konnte
solche wenigstens künstlich erzeugen. Dr. Max Winckel gelang
die folgerichtig angestrebte Herstellung einer enzym freien Digitalis
(Digitalis Winckel). Diese besteht nicht aus einzelnen Tnhalts-
bes tan d teilen der Digitalisdroge und stellt auch nicht einen Ex¬
trakt der wirksamen Digitalisstoffe dar, sondern es sind die frisch
geernteten, durch Zerstörung der Fermente konservierten, ge-
l
878
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trockneten und in Tablettenform gebrachten Digitalisblätter, deren
nunmehr gleichbleibender Titer im Tierexperiment von Winckel
festgcslellt wurde. Er fand nicht bloß, daß das neue Präparat allen
Anforderungen, die an die gute frische Digitalisdroge gestellt
werden kann, entspricht, sondern daß es auch den Ersatzmitteln
der Droge sich überlegen zeigt. Sehr wichtig erscheint aber die
gemachte Erfahrung, daß die Digitalis Winckel ausnahmslos gut
vertragen wurde und deshalb auch dauernd verabreicht werden
konnte. Keinerlei ungünstige Nebenwirkungen auf den Verdauungs-
li aktus ließen sich nachweisen. Es scheint also, daß die Ansichten
Kobers und Schmiedebergs über die störende Wirkung der
Enzyme in der alten Folia Digitalis ganz richtige sind. — (In¬
auguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde in der ge¬
samten Medizin, verfaßt und einer hohen medizinischen Fakultät
der kgl. bayr. Maximilian-Universität in München vorgelegt.)
K. S.
*
(509. (Aus der Frauenklinik des städtischen Krankenhauses
zu Frankfurt a. M. — Direktor: Prof. Walthard.) Uolber
funktionelle Hy per sek re ti on der Blasenschleim-
hautdrüsen. Von Dr. Rudolf Oppenheimer. Verf. beschreibt
eine funktionelle Blasenerkrankung, welche im Gegensatz zu an¬
deren funktionellen Blasenstörungen durch ein ausgesprochenes
Symptomenbdld charakterisiert ist. Die Patienten klagen über
Brennen in der Harnröhre, meist während der Miktion. Am
Tage gesteigerte Miktionsfrequenz. Urin klar, im Sediment zahl¬
reiche Epithelien, etwas Schleim, vereinzelte Leukozyten. Unter
fünf Fällen war der Harn viermal steril, in einem Falle
wurde Staphylococcus albus und eine Sarzine gezüchtet. Zysto-
skopisch fanden sich am Boden der Blase, deren Kapazität nicht
vermindert war, dicht hinter dem Sphinkter, in den vorderen
Partien des Trigonums, deutlich erkennbare Schleimmässeo,
welche bald klumpenartig zusammengeballt waren, bald in Form
kleinster, locker aufsitzender Schleimablagerungen, über den vor¬
deren Teil des Trigonums zerstreut lagen. Diese Schleimmassen
wurden selbst durch ausgiebige Blasenspülungen nicht entfernt,
hafteten also der Schleimhaut fest an. Gegen die Annahme
einer Cystitis trigoni oder eines fast ausgeheilten Blasenkatarrhs
sprach nach Verf. das Hervortreten vollkommen intakter Schleim-
hautpartien zwischen den Schleimauflagerungen, sowie das Fehlen
einer nennenswerten Leukozytenzahl im Urin. Es handelt sich
dabei ausnahmslos um sehr nervöse Individuen, welche Störungen
der Drüsentätigkeit aufweisen, wie Schweißausbrüche und Hyper¬
sekretion innerhalb des Magendiarmkanals, vermehrte Absonde¬
rung innerhalb der Genitalsphäre, gesteigerte Tätigkeit der B ar¬
thol inischen und Uterusdrüsen. Als eine Hypersekretion auf
nervöser Basis möchte Verf. das hier beschriebene Blasenbild
auffassen. Die Therapie ist eine kausale. Vor allem sind der¬
artige Kranke über die Bedeutungslosigkeit ihres Leidens auf¬
zuklären. Zu verwerfen ist jede lokale Behandlung. Wenn die
geschilderte Erkrankung bisher nur bei Frauen beobachtet wurde,
so spricht nichts gegen deren Vorkommen beim männlichen Ge¬
schlecht, um so mehr, als Verf. zweimal bei Männern eine ana¬
loge Hypersekretion der Harnröhrendrüsen konstatieren konnte.
— (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 20.) G.
*
010. U n Bereue. huhgen an d en S ekreten und Ex-
kreten des Verd auu ngstraktus mit Hilfe der biologi¬
schen Methoden. Von Dr. Heinrich Citron, früherer frei¬
williger Hilfsarbeiter im Kaiserlichen Gesund belts amte. Während
die Diagnostik der Verdauungskrankheiten bekanntlich den physi¬
kalischen, chemischen und physikalisch- chemischen Unter¬
suchungsmethoden die größte Förderung verdankt, so haben bisher
trotz mancher Bemühungen die rein biologischen Methoden in
dieser Beziehung vollkommen versagt. Auch Citrons neuer¬
liche Untersuchungen lieferten nicht viel Positives. So fand auch
er, daß die Methode der Anaphylaxie bei der Untersuchung des
Magensaftes und Stuhles für die klinische Diagnose in keiner
Weise zu verwerten ist. Und nicht viel günstiger liegen die Ver¬
hältnisse bei der Komplementablenkung. Einzig die Präzipitin¬
methode, welche zudem durch relativ einfache Technik und
relative Resultate sich auszeichnet, erscheint beachtenswert für
die Diagnose des blutenden Duodenalgeschwürs auf Grund der
Stuhluntersuchung. Für den Magensaft ist sie bei vorhandener
freier Salzsäure ohne Wert Bei fehlender Salzsäure hingegen
liefert sie wertvolle Aufschlüsse über nervösen oder organischen
Säuremangel und über das Vorhandensein von Magenkarzinom,
falls Citrons Fntersuchungsergebnisse auch weiterhin sich be¬
stätigen sollten. (Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheits¬
amte, 1911, Bd. 36, H. 3.) K. S.
♦
611. U e he r Nie re ns c h ä d i g u n g e n d u rch S al v a r s a n.
Von Dr. R. Mohr, Assistenten der medizinischen Klinik des
Prof. v. Strümpell in Leipzig. Ernstere Nierenschädigungen im
Anschluß an den Gebrauch von ,,606" sind schon, wie Verf. aus¬
fühl t, von mehreren Klinikern (Gerönne, Weiler, Wert her,
Seilei u. a.) mitgeteilt worden. Mohr selbst hat in letzter Zeil
drei Fälle von Nicrenaffektionen nach Salvarsaninjektionen be¬
obachtet und beschreibt diese Fälle eingehend. Eine 23 Jahre
alte Kontoristin wurde durch Baunscheidtismus an der linken
Thoraxseite luetisch infiziert. Sie machte vier Schmierkuren durch,
bekam dann Salvarsan (0-5) in alkalischer Lösung. Vor der
Injektion war der Urin frei von Eiweiß, Pat. war niemals früher
nierenkrank gewesen. Nach achttägiger Beobachtung entlassen,
bemerkte sie einige Tage später eine leichte Anschwellung der
Augenlider, später auch der Füße. An der Klinik konstatierte
man einen etwas unreinen ersten Herztou, die Harnmenge auf
ca. 700 cm3 vermindert; der Harn enthielt 6%o Eiweiß, Blut,
ferner reichlich hyaline, zum Teil mit Leukozyten besetzte Zy¬
linder, spärliche granulierte und Epithelialzylinder und freie
Nierenepithelien. Arsen war im Urin chemisch nicht nachweisbar.
Der Zustand der Kranken verschlimmerte sich: 400 bis 800 cm3
Urin, reichlich Blut, 10 bis 12%o Eiweiß, Wachszylinder und
total verfettete Nierenepithelien, dann Transsudate in die Pleura¬
höhle und ins Abdomen, schwere Neuroretinitis mit zahlreichen
kleinen Nctzhautblutungen usw. Wassermann ist negativ. Der
zweite Fall betraf einen 37 Jahre alten Mann, der wegen Lues
eine Schmier- und Injektionskur durchmachte, trotzdem Rezidive
in Gestalt schwerer ulzerierter Gummata an Kopf und Extremi¬
täten usw. bekam. Er erhielt 0-75 g Salvarsan nach Alt in
beide Glutäen. Danach starke Durchfälle, die erst nach drei
Wochen aufhörten, häufiger Harndrang. Der vor der Injektion
eiweißfreie Urin wies nach mehr als 14 Tagen 2%o Albumen und
vereinzelte hyaline Zylinder auf, zeigt jetzt — nach Monaten
einen Eiweißgehalt zwischen 1 bis lV2%o, die Tagesmenge
beträgt 900 bis 1400 cm3. Der Mann bekam außerdem 21h Wochen
nach der Injektion eine Polyneuritis mit hochgradiger Parese
des linken Fußes und leichterer Parese des rechten Peroneus-
gebiete« usw. Der dritte Fall ist der lehrreichste. Ein öljäh¬
riger Mann zeigte zerebrale Symptome, die bei positivenf Wasser¬
mann als beginnende- progressive Paralyse aufgefaßt wurden. Er
bekam 0-48 g Salvarsan intravenös in alkalischer Lösung. So¬
fort danach Schüttelfrost, wässerige Stühle, hohes Fieber, bis
40-8", Erbrechen und schwerer Kollaps, weshalb er eine Koch¬
salzinfusion bekam. Der Urin ist vor der Infusion völlig normal.
An der Klinik zeigt der durch Urate getrübte Harn kein Blut,
wohl aber Eiweiß (l%o). Auffallend war dabei der reichliche
Gehalt des Sedimentes an Formbestandteilen: ausgesprochen wach¬
sige, opake, scharf konturierte Zylinder, denen mitunter körnige,
zum Teile verfettete Nierenepithelien anlagen. Zahlreiche Zylinder
bestanden vollkommen aus veränderten, zum Teil auffallend glasig
aussehenden Nierenepithelien. Auch freiliegend fanden sich reich¬
liche:, glasige oder mehr körnige Nierenepithelien, dabei spär¬
liche hyaline Zylinder, keine roten Blutkörperchen, vereinzelte
Leukozyten. Strophantin- und reichliche Kampfer- und Koffein¬
injektionen. Pat. erholte sich, wurde am nächsten Morgen ziem¬
lich klar. Harnmenge während der ersten drei Tage- stark ver¬
mindert (ca. 4041 cm3), stieg sodann auf normale Mengen, wurde
vom fünften Tage- eiweißfrei, gleichzeitig verschwanden die Form?
b-eistand teile. Der Zustand seitens der Nieren war auch später
normlal, die 'beginnende Paralyse wurde nicht beeinflußt. Im
letzten Falle bestand sicher keine Nephritis im eigentlichen Sinne,
sondern eine akute Parenchymdegeneration, wie man sie bei der
Sublimatniere zu sehen gewohnt ist. Die NiePenerscheiuungen
sind rasch vorübergegangen, da bei der intravenösen Einver¬
leibung des Salvarsans die Arsenwirkung auf die Nieren eine
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
879
sehr kurze Zeit andauernde wax. Anderer Art sind die in den
ersten zwei Fällen nach intramuskulärer Salvarsaninjektion auf¬
getretenen Nierenveränderungen, es sind echte Nephritiden, im
ersten ('alle eine äußerst schwere hämorrhagische Nephritis. In
beiden Fällen mögen die Nieren sehr wenig widerstandsfähig
gewesen sein, die Erkrankung war aber sicherlich eine Folge
der Salvarsaninjektion. Bei der intramuskulären Injektion ist
die Arsenausscheidung von sehr langer Dauer (17 bis 25, sogar
Ins zu 50 Tagen dauernd), dann findet in den Depots durch De¬
duktion oder Oxydation eine Veränderung des Präparates unter
Bildung giftiger Arsenverbindungen statt, die eventuell noch
weiterhin die Nieren schädigen (Gerönne). Vielleicht spielen
bmm Zustandekommen der Nephritis die nach der Salvarsan¬
injektion Jrei werdenden größeren Mengen Endotoxins eine Rolle,
wie andere Kliniker glauben. Jedenfalls - so schließt der Ver¬
fasser müssen uns die gemachten Erfahrungen entschieden
dazu auf fordern, besonders nach intramuskulären Salvarsaninjek-
tionen noch auf längere Zeit hinaus genaue Urinkon¬
trollen vorzunehmen, da es, wie der erste und zweite Fall
zeigt, noch nach längerer Latenz zu Nierenerkrankungen kommen
kann. Vielleicht ließe sich dann die rechtzeitig erkannte Nephritis
durch chirurgische Entleerung des etwa noch vorhandenen intra¬
muskulären Arsendepots günstig beeinflussen. — (Medizinische
Klinik 1911, Nr. 16.) E. F.
612. (Aus der ersten medizinischen Klinik in Wien. -
Vorstand : Prof. C. v. Noofden.) Kreislauf und Zwerch¬
fell. Von Hans Eppinger und Ludwig Hofbauer. Hochstand
des Zwerchfells veranlaßt verbesserten Blutabfluß aus den unteren
Extremitäten dadurch, daß das Foramen quadrilaterum möglichst
weit wird. Beim Tiefstand des Zwerchfells hingegen veranlassen
die sehnigen Ausstrahlungen der Zwerchfellschenkel eine Ab¬
klemmung desselben, mithin eine Beeinträchtigung des Blutab¬
flusses. Nützlich aber wird das inspiratorische Tiefertreten des
Zwerchfells für den Blutabfluß aus den Bauchorganen durch
Druckwirkung auf die Leber und Lebervenen. — (Zeitschrift
für klinische Medizin 1911, Bd. 62, H. 1 und 2.) K. S.
*
Aus ungarischen Zeitschriften.
613. lieber drei erfolgreich mit intravenöser
Sublimatinjektion behandelte Sepsisfälle berichtet
Dr. Karl Hochhalt in Budapest. Im ersten Falle entstand die
Sepsis infolge Senkung eines appendikulären Abszesses und als
jeder chirurgische Eingriff aussichtslos war, ist sie mit Sublimat¬
injektionen in die Venen geheilt worden. Es sind insgesamt
sechs Einspritzungen zu je 29 mg Sublimat vorgenommen wor¬
den. Im zweiten, ebenfalls mit Sublimat prompt zur Heilung ge¬
brachten Falle, handelt es sich um wochenlang bestandene, den
Typus eines Intermittens nachahmende Fieberattacken, als deren
Ursache man notgedrungen, da die Blutuntersuchung auf Plasmo¬
dien negativ war, kryptogenetische Sepsis annehmen mußte. Der
dritte Fall betraf eine Wöchnerin, bei der durch zurückgebliebene
Plazentareste Sepsis entstand und bei der trotz der vollständigen
Entfernung der zersetzten Plazentaresiduen 14 Tage hindurch
Puerperalfieber bestand. Nachdem sechs Sublimatinjektionen in
die Venen gemacht wurden, trat am sechsten Tage vollständige
Afebrilität ein. Hochhalt hebt ausdrücklich hervor, daß in allen
diesen Fällen es sich um schwere Sepsis, um deren sogenannte
toxinämische Form handelte und nach dem1 günstigen Erfolge,
den ex von den intravenösen Süblimatinjdktionen sah, glaubt
er diese Behandlungsweise aufs nachdrücklichste empfehlen zu
können. — (Gyögyäszat 1911, Nr. 6.) — ch —ch.
*
614. Die Liste der gewerblichen Gifte, deren Fest¬
setzung bekanntlich, über Wunsch der Internationalen Vereinigung
des Arbeiterschutzes, in allen Kulturstaaten vorgenommen werden
soll, beschäftigte am 27. April d. J. auch den Landessanitätsrat
in Ungarn. In seinem Gutachten führt Prof. Dr. Lieb ermann
unter anderem folgendes aus: „Die vollständige Liste der in den
verschiedenen Gewerbezweigen teils als Rohprodukte verwendeten,
teils als Nebenprodukte, bei den mannigfaltigen Prozeduren und
Reaktionen gewonnenen oder als Abfälle auftretenden, giftigen
Stoffe zu bestimmen, ist. ein mit großen Schwierigkeiten verbun- !
dones, um nicht zu sagen unmögliches I nternehmen. Schon des¬
halb, weil die unausgesetzt sich weiter entwickelnde Technik
täglich neue Rohstoffe und Bearbeitungs verfahren erfindet, so
daß eine heute abgegebene Liste, so vollständig sie auch wäre,
schon morgen in gewissem Sinne als unzulänglich und veraltet
gelten würde. Aber abgesehen hievon, muß man bezweifeln,
ob eine derartige Liste einen ernsten Zweck und vom Standpunkte
des Arbeiterschutzes auch irgendwelchen Nutzen hätte? Nach
unserer Ansicht, würde der mit den Gewerbekrankheiten sich be¬
fassende Arzt von dieser Liste kaum irgendeinen Gebrauch machen
können, weil er den Arbeiter nur dann vor den gesundheitswidrigen
Schädlichkeiten bewahren, im gegebenen Falle nur dann die
richtige Diagnose machen und sein Augenmerk nur dann auf ein
bestimmtes Gift richten könnte, wenn er den betreffenden Ge¬
werbezweig, bzw. jede Produktionsphase desselben genau kennen
würde. Es ist selbst die Vorstellung unmöglich, daß der Arzt
bei der Untersuchung des kranken Arbeiters zunächst die Gift¬
liste durchstudieren und aus ihr erforschen wollte, welche Sym¬
ptome des Kranken den in der Giftliste angegebenen entsprächen.
Was der Arzt benötigt, ist also nicht eine Giftliste, ergänzt mit der
kurzen Aufzählung der den Giften anhaftenden schädlichen Wir¬
kungen oder Angabe, wo diese Gifte benützt werden, sondern
es sollte ihm eine gute Technologie, eine Gewerbehygiene und
Toxikologie zur Verfügung gestellt werden. Aber auch dem Arbeiter
würde eine derartige Liste wenig frommen, denn abgesehen davon,
daß viele Rohstoffe unter den verschiedensten Synonymen im
Handel zirkulieren, so daß er kaum in der Lage wäre, jene Sub¬
stanz in der Liste aufzufinden, die eben ihn interessiert, wird er
überdies auch oft kaum in der Lage sein zu entscheiden, ob in
der Fabrik, in der er arbeitet, dieser oder jener Stoff überhaupt
zur Verwendung gelangt. Wir glauben vielmehr, daß eine der¬
artige Liste, wenn sie der Arbeiter lesen würde, mehr Schaden
als Nutzen anrichten würde, weil der Arbeiter sich dann Ver¬
giftungserscheinungen suggerieren würde, die er nicht hat und die
Zahl der eingebildeten Krankheiten nur zunehmen wird ( ? Ref.).
Auch dem Unternehmen würde eine derartige Zusammenstellung
der Gifte von keinem Nutzen sein. Auch er kann sich besser
orientieren, wenn er eine gute, ausführliche Gewerbehygiene oder
Technologie- zur Einsicht hat. Ja, wenn der Unternehmer cs nicht
als Aufgabe betrachtet, die Gesundheit seiner Arbeiterschaft zu
schützen, sondern vielmehr, wenn er gar das Bestreben hätte, die
gesetzlichen Vorschriften zu umgehen, so wäre gerade diese Gift¬
liste sehr geeignet, um diesem schädlichen Vorhaben Vorschub
zu leisten, weil ja, wie bereits betont, die Anfertigung einer voll¬
ständigen Giftliste derzeit ausgeschlossen ist und deshalb der
Unternehmer sich damit verteidigen könnte, daß dieser oder jener
Stoff, der eventuell sich als schädlich -erwies, in der Giftliste
nicht enthalten sei. Schließlich besteht noch eine große Schwierig¬
keit darin, daß der Begriff „Gift“ derzeit überhaupt noch nicht
genau umschrieben werden kann. Da spielt die individuelle Em¬
pfänglichkeit eine große Rolle und neben der Idiosynkrasie noch
die Art der Anwendung und Einverleibung. Ein Stoff erweist sich
unter bestimmten Umständen als Gift, unter anderen nicht, wes¬
halb man auf diesem Gebiete nicht schematisieren kann und darf.“
Mit dem Hinweis darauf, daß in Deutschland bereits Professor
Sommerfeld eine derartige Giftliste zusammengestellt habe
und daß der Gewerbeinspektor Fischer, sowie das Institut
für G ewer b e h y g i en-e diese Liste abfällig beurteilt haben,
empfiehlt der Landessanitätsrat der Regierung, derzeit von der
Zusammenstellung einer Giftliste äbzusehen. — (Közegeszseg 1911,
Nr. 10.) -ch -ch.
*
615. Ueber einige Nebenwirkungen von Salv-
arsan. Von Dr. Josef Sei lei, Budapest. Verf. hat in drei
Fällen Erkrankungen des Gehörorganes nach Salvarsan¬
injektion beobachtet. Die kurzen Krankengeschichten der drei
Fälle sind folgende: 1. A. B., 19jährige Pu-ella publica, hat im
Februar 1909 Lues akquiriert und wurde Ende Juli des selben
Jahres mit Plaques linguae und Roseola auf die Klinik auf¬
genommen. Nach zweimaliger Injektion einer 2%igen Sublimat¬
lösung bekam sie. am 6. August 1910 0-6 Salvarsan (in neutraler
Emulsion) intramuskulär eingespritzt. Am 28. November 1910
kam sie mit der Klage, daß sie seit eipigen Wochen heftige Kopf-
880
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
schmerzen habe und auf dem linken Ohne schlecht höre. Der
otologisclie Befund lautete: Hypaesthesia acustica wegen
Erkrankung des Nervus cochlearis. 2. A. R., 36jähriger
Zuckerbäcker, erkrankte an Lues 1909, wurde öfters mit Queck¬
silber behandelt und erhielt am 20. September 1910, als er
Plaques oris und Roseolen hatte, eine Salvarsaninjektion (0-55 g)
subkutan. Anfangs Dezember 1910 bekam er die zweite Salv¬
arsaninjektion subkutan (0-25 g) intravenös. Am darauffolgenden
Tage Klagen über rechtseitiges Ohrensausen. Es wurde ihm
Jodkalium verordnet, worauf das Ohrensausen rechts nachließ, -
aber linkseitig auftrat und überdies auch Schwerhörigkeit auf
diesem Ohre sich bemerkbar machte. Der otologisclie Befund
ergab ein älteres Leiden, das anscheinend aufSalv-
arsan exaz er hiel te. 3. A. J., 34jährj;ger Eisenbahn¬
beamter, mit Sklerose, Roseola und Papulae syphiliticae,
Polyadenitis. Hat vorausgehend 15 Sublimateinspritzungen (2°/o)
erhalten. Am 20. Oktober 1910 bekam, er 0-6 g Salvarsan subkutan
und erscheint 04 Tage nach der Injektion (am 22. Dezember 1910)
mit der Klage, daß er seit vier Tagen am rechten Ohre Sausen
habe und auch schlecht höre. Auf dem Kopfe treten typische
syphilitische Papeln auf ! Der otologisclie Befund ergab den Be¬
stand eines Mittelohrkatarrhs. — Verf. hebt hervor, daß
in allen diesen drei Fällen es sich um frische Erkrankungen
handelte, was mit der Ansicht Ehrlichs, der derlei Komplika¬
tionen als H e rx h ei m er sehe Reaktion, resp. rezidivierende
Neuritiden deklarierte, übereinstimme. Seilei hat auch eine
Erkrankung des Okulornotorius und zugleich des Abduzens
nach einer intramuskulären Salvarsaninjektion beobachtet. Zwei
Monate nach der Einspritzung trat Doppeltsehen und Schwach¬
sehen auf dem rechten Auge dieses Patienten auf. Nachdem der
Kranke vier Wochen hindurch mit Kalomelinjektionen, Zittmann-
dekokt und Schwitzkuren behandelt wurde, verschwand die Okulo¬
motoriuslähmung gänzlich, der linke Abduzens retardiert noch ein
wenig. Verf. kommt zu dem Schlüsse, daß die nach Salvarsan-
injektionen auftretenden Gehirnnervenerkrankungen nicht toxi¬
schen Ursprunges seien und daß in den Frühstadien der Syphilis
sowohl die intramuskuläre, als auch die subkutane Einverleibung,
weil die Resorption des Salvarsans eine ungenügende sei, eine
deplacierte wäre. In den Frühstadien soll nur intravenös
injiziert werden! In einem anderen Falle wurde die Ab¬
nahme der Albufninurie bei einer auf luetischer Grundlage
stehenden Nierenerkrankung vermerkt und hervorgehoben
soll noch werden, daß sich auch nach intravenöser Injektion des
Salvarsans, etwa 14 Tage nach der Injektion, eine allgemeine
Ueberempfindlichkeit, Gliederschmerzen, Kopfweh und auch leich¬
tere Temperatursteigerungen einzustellen pflegen. — (Gyögyäszat
1911, Nr. 20.) — ch — ch.
*
616. Ueber die Wirkung und Anwendungsweise
von Pantopon bei Geisteskranken. Von Dr. Andor 0 1 ä h,
Hausarzt im Schwartz ersehen Sanatorium für Gemüts- und
Nervenkranke in Budapest. Das Pantopon kann mit Erfolg bei
Geisteskranken als Sedativum und Hypnotikum auf Grund fol¬
gender Indikationen angewendet webten : 1. Als Sedativum,
bei Reizzuständen der psychischen Sphär|e, bei Depressiöns-
unruhen, bei psychomotorischer Unruhe, bei psychischen Störun¬
gen, die mit veränderten Körpergefühlen (Parästhesien, Globus,
lanzinierende Schmerzen, Neuralgien, Kopfschmerzen, sexuellen
Reizzuständen) oder motorischen Störungen (Wein- und Lach¬
krämpfe, vasomotorische Störungen) verbunden sind. 2. Als
Hypnotikum in all den Fällen, in denen die Anwendung
eines milderen Schlafmittels oder die Abwechslung eines bereits
angewandten Schlafmittels, bzw. die Verstärkung seiner schlaf¬
bringenden Wirkung angestrebt wird. Mit anderen Hypnotika
vereint, wirkt das Pantopon auch in den schwereren Fällen von
Schlaflosigkeit, die bei größeren Reizzuständen der psychomoto¬
rischen Sphäre auftreten. Verfasser will nie unliebsame Neben¬
erscheinungen des Mittels beobachtet haben. Auch die ahtidiar-
rhoische V irkung des Pantopons kann vermieden werden, wenn
man es in größeren Dosen und auf ganz nüchternen Magen
verabfolgt. Verf. hat es als Sedativum, sowohl in Tabletten, als
auch in Lösung (0 02 g pro dosi und 0-06 g pro die) gegeben.
Um eine intensivere beruhigendere Wirkung zu erzielen, kombi¬
nierte er das Pantopon mit Natrium bromatum nach folgender
Rezeptformel: Rp. Natrii bromati 15-0, Pantopon 0-15, Aquae de-
stillata.e 200-0. MDS. Täglich drei bis vier Eßlöffel. Auch gegen
die Schlaflosigkeit wurde es in Tabletten, resp. in Form von
Lösungen angewandt. Das gelöste Pantopon wurde in der Regel
subkutan injiziert, allein (0-02 bis 0 03 g pro dosi) oder mit Mor¬
phium, Hyoszin vereint. Also nach folgender Formel: Morphini
hydrachlor. 0-005 bis 0-01 g + Pantopon 0-01 bis 0-02 g pro dosi
oder Ilyoscini hydrochlorici 0-0005 bis 0-Üülg + Pantopon 0-01
bis 0-02 g pro dosi. — (Gyögyäszat 1911, Nr. 17 u. 18.)
— ch — ch.
*
Aus russischen Zeitschriften.
617. (Aus dem Laboratorium des Prof. J. J. Metschnikow
im Pasteurschen Institut zu Paris.) Zur Frage der Ein¬
wirkung des Bacterium coli ;auf den Organismus der
Tjiere. (Vorläufige Mitteilung.) Von J. B. Studs ins'k/ij.
Wurden Kaninchen und Meerschweinchen intravenös lebende und
äbgetötete Kulturen von Bacterium coli (Loive) wiederholt ein-
gespritzt, so ergaben sich Veränderungen in den parenchymatösen
Organen und im Blutgefäßsystem. Die Veränderungen in der
Leber bestanden im wesentlichen in kleinzelliger Infiltration und
in der Entwicklung jugendlichen Bindegewebes, hauptsächlich
längs der Zentralvenen. Aehnliche parenchymatöse und intersti¬
tielle Veränderungen zeigten auch die Nieren. An der Aorta konnte
man Veränderungen beobachten, welche denen bei experimenteller
Arteriosklerose analog waren. Darreichung der gleichen Stämme
per os blieb wirkungslos. — (Russkij Wratsch 1911, Nr. 6.)
J. Sch.
*
1
618. Ueber ein bisher unbeachtetes Symptom hei
rezidivierender Appendizitis. Von Prof. N. M. Wolko-
witsch-Kiew. Verf. teilt — im Sinne einer vorläufigen Mit¬
teilung — folgendes Symptom bei chronischer rezidivierender
Appendizitis mit. Die Muskulatur der kranken Seite — in erster
Linie den Musculi obliqui abdominis entsprechend — zeigt eine
Anzahl von Erscheinungen, die wahrscheinlich auf eine Art von
Atrophie derselben zurückzuführen sind, das ist leichtere Ein-
drückbarkeiit, schlaffere Konsistenz, leichtere Möglichkeit, die
Bauchdecke an der erkrankten — rechten Seite — als ganzes
zu falten. Als Ursache glaubt Verf. den Umstand ansehen zu
können, daß im Verlaufe der akuten Attacken die Bauchmusku¬
latur auf dem Wege der Lymphbahnen an der Affektion der
Appendix mitbeteiligt ist. Zum Teil handelt es sich auch um
iedne Airt Inaktivitätsatrophie, entsprechend der Schonung der
Bauchdecken über der erkrankten Appendix. Das Symptom wurde
bis jetzt ausnahmslos bei 30 bis 40 Fällen beobachtet. — (Russkij
Wratsch 1911, Nr. 14.) J. Sch.
*
619. (Aus der geburtshilflich - gynäkologischen Klinik des
Prof. \\\ N. Orlow der Universität Odessa.) Ueber Mom-
burgsche Blutleere der unteren Körpeirhälf te. Von
B. K. G ogo’b er i d ze. Die Momburgsohe Blutleere bestellt
bekanntlich darin, daß um die Taille eine elastische Esmarch-
scho Gummibinde in einigen Touren gelegt wird, mit einer In¬
tensität, deren Grenze durch das Verschwinden des Femoral-
pulses gekennzeichnet ist. Auf diese Weise wird eine Unter¬
brechung der Blutzirkulation in der unteren Körperhälfte er¬
reicht. Vez-f. kommt nun bezüglich der Anwendbarkeit dieses
Verfahrens auf Grund eigener Beobachtung und unter Berück¬
sichtigung der einschlägigen Literatur zu folgenden Schlußfolge¬
rungen: Die Momburgsche Blutleere ist wohl allen ähnlichen
Methoden gegenüber die sicherste und einfachste. Sie ist be¬
sonders bequem in solchen Fällen, wo einige Zeit vergehen
muß, bevor der Arzt sich behufs Vornahme des betreffenden
Eingriffes entsprechend desinfiziert hat und ebenso dann, wenn
Gebärende mit schweren Blutungen in Gebärhäuser usw. trans
portiert werden müssen. Doch darf dabei auf keinen Fall die
entsprechende Vorsicht außer Acht gelassen werden, besonders
in bezug auf den Zustand des Herzens, der Gefäße und der
Nieren. Besonders gilt, dies für stark ausgeblutete Individuen.
Das Anwendungsgebiet ist ein mehr chirurgisches als geburts-
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
881
hilflicbeB. Keineswegs darf das Verfahren den Hebammen über¬
lassen werden. Die Nachteile liegen darin, daß leicht die Unter¬
bindung eines kleinen Gefäßchens vergessen werden kann, wo¬
durch nach Abnahme der Binde die? Gefahr einer Nachblutung
gegeben ist. — (Russkij W ratsch 1911, Nr. 13.) .1. Sch.
*
G20. (Aus der therapeutischen Klinik von weiland Professor
S. S. Botkin der milifcärinedizinischen Akademie.) Ueber che¬
mische Veränderungen in der Leber bei Phosphor-
vergiftung. Von B. J. S 1 o w z o w - Saratow. Bei Phosphor¬
vergiftung nimmt das Gewicht der Leber im Vergleich zum
Körpergewicht ab. Bei dieser Atrophie nimmt die Menge der
Eiweißkörper ab und die Menge des Fettes zu. An der Ver¬
minderung der Eiweißkörper nimmt die Menge des wasser¬
löslichen Nukleoproteides der Leber in besonders scharf aus¬
geprägtem Maße teil. Die zurückbleibenden Eiweiißkörper der
Leber enthalten mehr Phosphor und Xanthinkörper; daraus läßt
sich der bcliluß ziehen, daß bei der gelben Leberatrophie die
Xanthin- und Nukleingruppen der zerstörenden Wirkung des
Giftes länger widerstehen. Bei akuter gelber Leberatrophie bleibt
die Menge des proteolytischen Enzyms unverändert, die Menge
der Peroxydase sinkt, die Menge des amylolytischen Ferments
erfährt eine Vermehrung. — (Russkij Wratsch 1911, Nr. 4.)
J. Sch.
*
621. (Aus dem Prinz Olden burgs eben Kinderspital und dem
Institut für experimentelle Medizin zu St. Petersburg.) Ueber
aktive Immunisierung von , Kindern gegen Diphthe-
r i e, nach dem Prinzip© von S . K . Dser'schgowskij.
Von N. K. Blumen au. Es gelang dem Verfasser, bei einer
Reihe von Kindern durch systematische Einführung von Tampons
— die mit unverdünntem oder verdünntem Diphtherietoxin ge¬
tränkt waren — in die Nase, eine beträchtliche Immunität gegen¬
über Diphtherie zu erzielen (bis zu zehn Immunitätseinheiten in
1 cm' Blut). Die Tampons wurden abwechselnd in das linke
und rechte Nasenloch eingeführt und verblieben dort eine halbe
Stunde. Diese Prozedur wurde zwischen 4 und 20mal ausgeführt,
entsprechend einem Zeitraum von 7 bis 40 Tagen. Die lokale
Reizung war bei Anwendung verdünnten Toxins (1:2 physio¬
logischer Kochsalzlösung) gering. Der Verfasser hält das Ver¬
fahren für eine wertvolle Bereicherung unseres prophylaktischen
Rüstzeuges gegenüber Diphtherieepidemien in den Fällen, wo
es nicht auf rasche Immunität ankommt. Im letzteren Falle
schlägt er vor, erst eine prophylaktische Seruminjektion zu
machen, um Zeit zu gewinnen und unterdessen die aktive Im¬
munisierung durchzuführen. — (Russkij Wratsch 1911, Nr. 5.)
J. Sch.
*
622. (Aus dem klinischen geburtshilflich - gynäkologischen
Institut zu St. Petersburg.) Ueber Skopolamin-Morphin-
Narkose in der GeburtshilhiTfe (auf Grund von 67 Fällen).
Von Th. N. 1 1 j in. Die Skopolamin - Morphin - Narkose ist bei
Einhaltung gewisser Regeln und bei strenger Aufsicht seitens
des Arztes für Mutter und Kind ungefährlich, ln den meisten
Fällen übt sie sowohl auf die Schmerzhaftigkeit während der
Geburt, als auch auf das Allgemeinbefinden der Gebärenden
eine günstige Wirkung aus. Eine Anwendung der Skopolamin-
Morphin- Narkose auf breiter Basis und bei allen Gebärenden
in einem Gebärinstitut ist nicht ungefährlich, da unter diesen
Umständen eine individuelle Kontrolle sich schwer durchführen
läßt. Dieser Umstand fällt um so mehr in die Wagschale, als
das Verhalten der einzelnen Frau zur Skopolamin -Morphin -Nar¬
kose ein innerhalb weiter Grenzen verschiedenes ist. Es kommen
bei dieser Narkose — freilich ' selten — unerwünschte Neben- •
erscheinungen vor: Erbrechen, Uebelkeiten, Schwäche, Trocken¬
heitsgefühl irn Halse, Irrereden, welches an Delirium grenzt und
hauptsächlich Schwächung der Geburtstätigkeit — ein Ereignis,
welches zur Einstellung der Narkose zwingt. Am leichtesten
läßt sich die Skopolamin -Morphin -Narkose dort durchführen, wo
der Arzt in der Lage ist, fortwährend die Wirkung der Anästhesie
auf die Patientin vom Beginn bis zum Ende der Geburt zu
beobachten. — (Russkij Wratsch 1911, Nr. 12.) ,T. Sch.
*
623. (Aus der propädeutischen therapeutischen Klinik des
Plot. A. M. Lew in des medizinischen Fraueaiinstituts zu Sankt
Petersburg.) Ueber Störungen der Fettverdauung bei
Erkrankungen der Leber und des Pankreas. Von Doktor
E. K. Tauber. Bei jeder Leberzirrhose muß an eine Störung
der Pankreassekretion gedacht werden, wenn die Resorption,
Spaltung und Verseifung des mit der1 Nahrung eingeführten Fettes
mehr oder minder deutlich gestört ist. Eine solche Störung der
Fettverdauung findet sich bei Leberzirrhose nicht selten als
pathologisch - anatomische Veränderungen in der Bauchspeichel¬
drüse. Das Pankreon verbessert in schweren Fällen von gestörter
Pettverdauung sowohl die Fettspaltung, als auch die Fettresorp¬
tion. — (Russkij Wratsch 1911, Nr. 10.) • • j. Sch.
Feuilleton.
Ist obligatorischer Seminarunterricht in der
Geburtshilfe notwendig?
Von Prof. Peters.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß von Glück und Geschick
begleitete geburtshilfliche Tätigkeit für den jungen praktischen
Arzt das Fundament seiner Position bildet; ein günstig ver¬
laufener operativer Fall im Beginn seiner Praxis sichert ihm die
Stellung und sein Renommee, ein unglücklicher untergräbt sie.
ln der Geburtshilfe gilt eben wie in keinem anderen praktischen
Gebiete der Medizin der alte Satz „hic Rhodus, hic salta"!
Sind unsere derzeitigen Studieneinrichtungen geeignet, den
Studenten der Medizin die Grundlage zu bieten für; die spätere
Betätigung des Gelernten? Leider müssen wir dieses verneinen.
Die übergroße Anzahl der Studenten, die von Jahr zu
Jahr steigt, verhindert es, daß der einzelne in diesem eminent
praktischen und nur durch Anschauung und Selbsterfahrung zu
erlernenden Fache bei den bestehenden Einrichtungen mit den
nötigen Kenntnissen in die Praxis hinausgehe. Nur diejenigen,
denen es ihre Mittel erlauben und die bei der mächtigen Kon¬
kurrenz das Glück haben, Stellen als Hilfsärzte (Operations¬
zögling©) an einer Klinik zu bekommen und von diesen auch
nur die, welche über ein Jahr an der Klinik tätig waren, können
von einer solchen genügenden Vorbildung reden. Wenn auch
das Material der Wiener gebur ts hi 1 f 1 i che n Kliniken ein sehr großes
ist (zirka jährlich 3000 Gehurten auf jeder der beiden Kliniken),
so kommt dieses doch nur zum geringen Teil den Studenten
zugute.
Nur wenn der Student oft Schwangere, aber insbesonders
Gebärende äußerlich und innerlich untersuchen kann, nur wenn
er eine Reihe von normalen und pathologischen Geburten vom
Anfang bis zum Ende selbst verfolgen und beobachten kann,
wenn er es lernt, Prognosen zu stellen und therapeutisch richtige
Dispositionen zu treffen, wenn er den Verlauf des Puerperiums,
sowie die Entwicklung des Säuglings selbst kontrollieren kann,
nur dann kann er, die übrigen Erfahrungen durch das Kolleg,
durch Hebungen am Phantom und durch theoretisches Studium
eingerechnet, als für den Doktor halbwegs geeignet betrachtet
werden. Heute leihen alle Studenten nur für das Rigorosum
und lassen sich, wenn sie nahe daran sind, durch ein bis zwei
Kurse einpauken. Daraus resultiert aber kein bleibendes Wissen
und Können. V arum fordert man denn von den Hebammen, daß
sie selbständig eine Reihe von Geburten absolviert haben müssen,
bevor sie zur Prüfung zugelassen werden, warum nicht vom
Arzte? Wahrlich, der junge, unerfahren© Arzt spielt oft genug
gegenüber der gut vorgebildeten Hebamme am Krankenbette eine
recht traurige Rolle!
Hiebei ist wohl auch der Umstand zu berücksichtigen, daß
die kosmopolitische Stellung der Wiener Universität eine solche
Menge anderssprachiger Studenten herbeizieht, daß die Zahl der
letzteren die der deutschen weit übersteigt und daß der ein¬
heimische Student dadurch wesentlich benachteiligt wird. Viele
ziehen es vor, während der Studienzeit kleinere Provinz- oder
ausländische Universitäten zu beziehen, wo sie weniger in Hör-
und Seziersälen, in Institutsarbeitsräumen, am Krankenbette um
ihre Plätze kämpfen müssen. Nicht jedem ist ausgiebige Ellbogen¬
tätigkeit gegeben und mancher distinguiertere Student weicht prä-
potenten, sich vordrängenden Elementen.
Im Hinblick auf die sich stets steigernde Ueherproduktion
von Medizinern und die vorerwähnte Ueherfüllung der Wiener
medizinischen Schule sollten schon längst die alten Einrichtungen
882
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
des klinischen Unterrichtes einer Reorganisation unterzogen
worden sein und ist es hoch an der Zeit, daß diesbezüglich einmal
ein offenes Wort sine ir.a et studio erschalle.
Von vornherein muß yöra/usgcschickt werden, daß damit
die klinischen Chefs kein Vorwurf treffen kann, denn diese sind
wohl immer redlich bemüht gewesen, ihren Pflichten nachzu¬
kommen. Ja, Hofrat Schauta hat vor nicht langer Zeit versucht,
den Anfang zu einer Reorganisation des Unterrichtes zu machen,
indem er Extraordinarii und Privatdozenten wenigstens zu theo¬
retischen Vorlesungen heranzuziehen bestrebt war. Diese folgten
mit Eifer und Begeisterung dem Rufe. Leider fand die Art
dieser Neuerung nicht allgemeinen Anklang und alles verlief
wieder im Sande. Diesen theoretischen Vorlesungen hätte sich
ganz leicht auch eine Verwendung der Hilfslehrkräfte zu prak¬
tischen Uebungen angliedern lassen. Diese Bestrebungen llol-
rat Schauta s, der in vieler Hinsicht schon den geburtshilf¬
lichen Unterricht gegen früher verbessert ha,t, sind nicht hoch
genug zu schätzen; schade, daß er so mißverstanden wurde
und es ihm nicht geglückt ist, in das alte System eine Bresche
zu schießen. ^
Also nicht die Vorstände der Kliniken trifft die Schuld,
sondern die veraltete Organisation. Diese war schon von
altensher nicht viel wert und wenig für den praktischen
Unterricht der, Studenten berechnet. Immerhin fand man
mit ihr bei der geringen Frequenz das Auslangen. Durch
die Errichtung des Operationszöglingsinstitutes durch v. Braun
und Spaeth wurden zwar klinische Hilfskräfte und eine Reihe
gut durchgebildeter Geburtshelfer geschaffen, für den Unterricht
der Studenten jedoch blutwenig erreicht. Die hiezu befähigten
Assistenten waren damals noch mehr als jetzt mit Arbeiten über¬
häuft und konnten sich dem Studenten drill ebensowenig widmen
wie jetzt, obwohl seither die Zahl der Assistenten vermehrt wurde.
Nachdem solche Reorganisationen nicht ohne Herbeiziehung
von mehr Lehrkräften und infolgedessen auch nicht ohne Mehr¬
belastung des Unterrichtsbudgets einherzugehen pflegen, ist mei¬
stens ein jeder Versuch einer solchen in Oesterreich bei der;
finanziellen Misere obgenannten Budgets ein totgeborenes Kind.
Baß sich aber speziell in dem geburtshilflichen Unterrichte auch
ohne finanzielle Mehrbelastung Besserung schaffen ließe', mögen
diese Zeilen den maßgebenden Faktoren vor Augen führen.
Gerade in der Geburtshilfe muß, wie erwähnt, der zu pro¬
movierende Arzt nicht nur wissen, sondern auch Erfahrungen
besitzen, und es genügt nicht, daß. er sich durch das Belegen
des offiziellen Kollegiums und den Besuch des Internates aus-
weisen kann ; das Studium darf nicht mehr so wie bisher dem
freien Ermessen des einzelnen Studenten überlassen werden, die
Studenten müssen gezwungen werden, Erfahrungen zu sammeln.
Mit Recht sind die Examinatoren entsetzt über die oft krasse
Unwissenheit und das Nichtkönnen beim Rigorosum und nur zu
oft gerät der Prüfer mit seinem Gewissen in Konflikt, wenn er
schließlich derartig Minderwertige in die Praxis und aufs Publi¬
kum loslassen muß. Die meisten Examinatoren fordern ohnedies
ein Minimum und können auch unter den derzeitigen Verhältnissen
nicht viel mehr fordern. Wenn sie äber in ihrer Empörung über
die frivole Art, wie heute, oft von manchen Studenten zur strengen
Prüfung geschritten wird, einige Kandidaten, reprobieren, so ris¬
kieren sie, wie erst kürzlich wieder ein Beispiel lehrte, Skandal
im Hörsaale, ja bei der um sich greifenden Organisation der
Massen Streik und Boykott. Das würde ganz anders werden,
wenn die Studenten gezwungen würden, seminari¬
stischen Unterricht mit schon während desselben
abzulegenden Kolloquien am Krankenbette vor der
Zulassung zum Rigorosum nachzuweisen. Dann wäre
es möglich, aus den Leistungen während der Seminartäfigkeit
und aus dem Erfolge beim Rigorosum ein Schlußkalkül zu ziehen
und von diesem dann die Approhierung abhängig zu machen.
Derzeit sind sowohl der klinische Chef, als auch die Assi¬
stenten durch die operative Aufarbeitung des großen gynäkologi¬
schen Materials, durch die große Ambulanz, durch das offi¬
zielle Kolleg, durch die Krankenvisiten, durch wissenschaftliche
Untersuchungen und Arbeiten und1' schließlich durch administra¬
tive Angelegenheiten vollauf beschäftigt, ja zeitweise überlastet.
Die Bezahlung der Assistenten ist außerdem noch immer eine
derart ungenügende, daß es ganz natürlich ist, wenn sie sich
durch Kurse für Ausländer einen Nebenverdienst schaffen.
Die offiziellen Kurse für Studenten werden zwar auch ge¬
halten, werden aber überhaupt nicht regelmäßig belegt; zum
Teil wohl deshalb, weil die Assistenten nicht die nötige Zeit
aufbringen, die Kurse zu lesen. Das heute schon obligate Internat
wird zwar von den fleißigen Studenten besucht, könnte aber,
wenn es mit dem obligaten Seminar verbunden und die Zulassung
zur Prüfung von dem Besuche dos letzteren abliängig wäre, viel
erfolgreicher organisiert werden. So geht denn heute: ein großer
feil des Materiales, das zum Unterricht ausgenützt werden könnte
für diesen Zeck verloren.
Damit soll beileibe nicht gesagt sein, daß derzeit nicht
mit vollem Eifer der Unterricht betrieben weide. Das sei weit
von mir! Aber der geburtshilfliche Unterricht erfordert den Drill
des einzelnen und dazu mangelt absolut die Zeit.
Hiezu kommt noch der Umstand, daß in den letzten Jahren
die Geburtshilfe wesentliche Wandlungen erfahren hat; sie ist
nicht nur ein streng chirurgisches Fach geworden, das erhöhte
manuelle Fertigkeit und eingehenderes Studium erfordert, son¬
dern durch die wesentliche Verschiebung der Indikationsgrenzen
(selbst für den, der konservativ nicht gleich jede Modeneuerung
mitmacht) ist eine solche Umwälzung entstanden, daß sich heute
die Geburtshilfe des praktischen, speziell des Landarztes nicht
mehr deckt mit der an Kliniken, resp. der in Städten, wo Opera¬
tionssäle die Möglichkeit geben, nach modernen Prinzipien vor¬
zugehen. Dadurch ist auch der geburtshilfliche Unterricht —
ähnlich wie der der gesamten Gynäkologie durch den mächtigen
Aufschwung der operativen Gynäkologie — ein ganz anderer
geworden. Derselbe hat heute die Aufgabe, dem angehenden
Arzte die weitestgehende Wertschätzung des kindlichen Lebens
klar zu machen und muß anstreben, auch für den praktischen
Arzt die Vorbildung so zu gestalten, daß er: den idealen Forde¬
rungen der Klinik nach Tunlichkeit nahekommt. Ist für den
erfahrenen Kliniker die richtige Indikationsstellung in manchen
Fällen schon schwer, um wieviel schwieriger: ist sie für den
praktischen Arzt, der oft unter den prekärsten äußeren Verhält¬
nissen den modernen Förderungen gerecht werden soll ! Er muß
es lernen, die Fälle, in denen eine wahrscheinliche schwere Be¬
drohung des kindlichen Lebens prognostiziert werden kann, recht¬
zeitig zu erkennen, um sie, wenn möglich, unter günstigere Gebär-
verhältnisse zu bringen. Es mfuß ihn gelehrt werden, wie er
unter diesen und anderen Verhältnissen vorzugehen habe. Dieser
Widerstreit muß durch einen sorgfältigen Unterricht klar gemacht
und dadurch verhindert werden, daß Unsicherheit in Wissen und
Handeln beim Arzte Platz greife. Dabei ist es von außerordent¬
licher Wichtigkeit, daß der Lehrer bei dem Hin- und Herschwanken
der Indikationsgrenzen das Festgewordene von den unsicheren
Modeschwankungen nach Tunlichkeit scharf trenne, um dem Stu¬
denten ein möglichst solides Wissen auf seinen Weg mitzugeben.
Es ist, wie gesagt, der Unterricht in der Geburtshilfe gegen früher
komplizierter geworden und darin liegt auch mit ein Grund,
warum für .einen erweiterten Unterricht plädiert werden muß.
Ein solcher erhöhter Unterricht wäre, nur durchführbar,
wenn auf den beiden Kliniken je ein oder zwei Se¬
minare errichtet würden, mit deren Leitung Extra¬
ordinarii oder Privatdozenten zu betrauen wären.
Diese Lehrkräfte würden wohl über Vorschlag der klinischen Vor¬
stände durch die Unterrichtsbehörde zu ernennen sein und könnten
mit einem diesbezüglichen Lehrauftrage betraut werden. Da mil.
dem Lehrauftrage auch ein Gehalt oder wenigstens eine Remune¬
ration verbunden zu sein pflegt, könnte, damit die Reorganisation
an dem selbstverständlichen Widerstand© der Finanzbehörde nicht
scheitere, für das Seminar von den Studenten ein eigenes, even¬
tuell auch ein erhöhtes Kollegiengeld -eingehoben werden und
wäre, da der Besuch des Seminars obligat würde, dieses Kolle¬
giengeld, welches ausnahmsweise nicht dem Staate, sondern in
Form einer Remuneration dein Lehrer zufiele, eine, wenn auch
geringe Entschädigung für die viele Zeit und Mühe, die diese
Lehrkräfte der Aufgabe widmen müßten.
Unbesoldete Extraordinarii und l ’ri\ratdozenten, die ihre Lehr¬
tätigkeit mit mühsam zusammengestoppelten Kursen am Phantom
fristen, gibt es bekanntlich genug und jeder würde mit Freuden
diese Gelegenheit, sich didaktisch betätigen zu können, ergreifen.
Es ist ja leider ein schon von vielen Seiten hervorgehobener
Uebelstand, daß so manchem Extraordinarius und Privatdozenten
eine solche Möglichkeit überhaupt fehlt oder wenigstens in ganz
ungenügender Weise geboten ist* Die Frage der Kreierung von
Lehrpersonen, der Erteilung der Venia legendi, ohne gleichzeitige
Bietung von Krankenmaterial, an dem gelehrt werden könnte,
gehört auf ein anderes Gebiet und soll hier nicht angeschnitten
werden.
Diese Extraordinarii oder Privatdozenten wären also den
Seminaren vorzustellen, sie. wären verpflichtet, dort täglich zwei¬
mal das sich bietende Material mit den Studenten durchzunehmen,
lieber jeden Fall, sei es Schwangere oder Gebärende, müßte der
betreffende Seminarist (bei Ueberfüllung des Seminars zwei Stu¬
denten zu jedem Falle) ein genaues Krankenprotokoll führen
und die Fälle müßten unter Leitung des Seminarvorstandes ähn-
Nr. 24
WIMNER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191 1.
883
lieh besprochen werden, wie dies Liepmann1) in seinem Buche
durchgefuhrt hat.
t S0lc!f Seminare sind in Wien schon abgehalten worden
J.rof- v‘ Posthorn und Hofrat Schaut a haben sich selbst
dieser Muhe unterzogen, K ermann er pflegt ein solches anzu
kundigen. Es handelt sich aber daium, daß sie offiziell in
1 1 e n S t u d l e n p 1 a. n als obligataufg e n o m m e n: u n d e i g e n e
Lein ki, äfte dazu bestellt werden, die sich nur dieser
Aufgabe zu widmen hätten. Dann werden' sich auch die Studenten
mehr als bisher in den Internaten 'aufhalten und — natürlich
jo nach Lehrbefähigung des betreffenden Seminarvorstandes _
auch mehr wirkliches oder erzwungenes Interesse an dem Fache
zeigen. , , , „
Es ist dies keine umstürzleriscbe Neuerung, sondern etwas
was an vielen deutschen Universitäten längst eingeführt ist und
sich gut bewährt hat.
Natürlich müßte der Kompetenzkreis dieser neuen Lehr-
oiganei gegenüber dem Chef der Klinik und gegenüber den angc-
stellten Assistenten und Hilfsärzten genau fixiert werden — ein
lunkt, dessen Lösung mir nicht unmöglich erscheint. Die Macht¬
sphäre des klinischen Chefs würde durch eine solche Neuerung
keineswegs geschmälert, ja, es würde ihm das Recht der Ober¬
aufsicht über den seminaristischen Unte rieht und insofern eine
Art Kontrolle darüber gewahrt werden müssen, als der betreffende
Seminarvorstand sich nicht nur, was die Materialverteilung an¬
langt, ihm zu subordinieren hätte, sondern sich auch seiner
Lehrmethode und se.nen Prüfungsanforderungen akkommodieren
müßte. Dies setzt ein harmonisches Zusammenarbeiten in didak-
tischen Hinsicht voraus, das eine conditio sine qua non und
dann nicht zu bezweifeln ist, wenn der Direktor und Chef der
Klmik m dem Seminarvorstande eine schätzenswerte Hilfskraft
erblickt, der er gern einen Teil des Materiales abzutreten sich
verpflichtet.
Zwischen den Assistenten und den Seminarvorständen be¬
stünde natürlich keinerlei Dienstes- oder Subordinationsverhältnis,
da erster© nach wie vor nur dem klinischen Vorstande unter¬
stehen können. Beim Schwangereinmateriale kann es wohl auch
nicht zu Kollisionen kommen. Anders bei Gebärenden. Da, wäre
es denkbar, daß bei jenen Gebärenden, die aus dem dem Seminare
zugewiesenen Schwangere mnateriale stammen, dem Seminar'vor-
stand das Recht zukäme, diese Falle unter Assistenz der Hilfs¬
ärzte in einem eigenem KreißzimmeJ zu erledigen. Nur bei Ab¬
wesenheit des Vorstandes hätte der diensthabende Assistent die
Pflicht der 1 ndikatiomsstellung und der Ausführung der Opera¬
tion vor Augen des Seminars. Außerdem müssen die Assi¬
stenten verpflichtet werden, zu allen auf dem Kreißzimmer
stattfindenden Geburten die internieren Seminaristen rufen zu
lassen. Dem Seminarvorstande müßte die Einsicht in alle Geburts¬
protokolle freistehen, damit er in den Seminarstunden die während
seiner Abwesenheit oder in der Nacht erfolgten Geburten; respek¬
tive Operationen epikri tisch besprechen kann. Ferner könnten
in jedem Semester einzelne, vom Chef der Klinik zu bestim¬
mende, besonders lehrreiche Fälle in das Seminar-Kreißzimmer
gelegt werden, damit, die daran zu haltenden Seminarvorträge
nicht, durch den Trubel und Lärm im allgemteinen Kreißsaale
gestört werden und damit auch das Seminar nicht störend auf
die Disziplin im Kreißsaale einwirke und die Assistenten un¬
geniert ihres Amtes walten können. Letztere können dann ihrer¬
seits ungestört den Unterricht für derzeit nicht im Seminar be¬
findliche Studenten und anwesende Aerzte am Kreißsaal abhalten.
Einer Kollision zwischen Seminarvorständen und Assistenten kann
eine durch die -klinischen Chefs erlassene, alle Eventualitäten be¬
rücksichtigende, genaue Dienstespragmatik sicher vorhauen.
. F s dürften also bei dieser Erweiterung des Unter¬
richtes keinerlei tiefgreifende, resp. den bisherigen
Usus clinic.us umstürzende, administrative \ en do¬
rn n gen, geschweige denn hei der großen Ausdehnung
d 0 1 neuen Kliniken, von d e n e n j 0 d e mehr 0 r e K r 0 i ß-
zimmer und S c h w a nger en z i m me r besitzt, irgend¬
welche bauliche Maßnahmen notwendig werden. Die
zeitliche Einteilung für das Kurszimmer behufs Phantomübungen
läßt sich wohl leicht ohne Kollis'onsgefa.hr zwischen Assistenten
und Seminar machen.
So sprächen denn nach meiner Ansicht keiner¬
lei wesentliche Hindernisse gegen eine derartige Re¬
organisation des geburtshilflichen Unterrichtes,
die durch einen einfachen Erlaß der Unternichts¬
behörde, dahingehend, daß Seminare zu errichten
und für die Studenten als obligat in den Studienplan
a 11 fzn nehmen seien, daß ferner zur Leitung dieser
*) Liepmann, Das geburtshilfliche Seminar. Berlin 1910.
Seminare H 1 1 f s lehr k räf te ernannt werden, zu er¬
möglichen ware. Es ist wohl kein Zweifel, daß
solche Reorganisation
tragen, kann.
nur die besten
eine
Früchte
Sozialärztliche Revue.
Von Dr. L. Sofer.
Bei langdauernde Streit zwischen freiwilliger und Zwangs-
IiSnZ r, SOZia1lein ,Gebiote ist von der Wissenschaft zu¬
gunsten dei letzteren, dem deutschen System, entschieden worden
U mil T‘ , T nf,traI™ B°den der Wissenschaft ist dieses
nfindorwl anc'1,kannt worden, nicht in dem verschiedenen Em-
pfmdon der Volker selbst. So fehlte bis jetzt in Frankreich die
staatliche Sozialversicherung; als Anfang führte man nun die
A Uersversicherung ein (Retraites ouvrieres et paysannes).
f ft! ua? • ZWv G™ppen: die der obligatorisch und die der
fakultativ Versicherten. Zur ersteren gehören alle über
Id Jahre alten Arbeiter und Angestellten des Gewerbes, des Han¬
dels, der Landwirtschaft und der öffentlichen Körperschaften
sowie die Dienstboten und Taglöhner bis zu einem Jahreseinkom¬
men von 3000 Franken, zur zweiten die Angestellten bis zu
einem Gehalt von 5000 Franken, die Pächter, kleinen Landwirte
und gewerblichen Unternehmer, die nur einen einzigen Arbeiter
beschäftigen. Die Kosten der obligatorischen Versicherung werden
getragen: 1. durch den Beitrag des Versicherten, 2. durch der
Beitrag des Unternehmers, 3. durch einen Zuschuß des Staates.
Der Beitrag des Arbeiters und des Unternehmers ist gleich Er
betragt 9 Franken jährlich (3 Centimes für den Arbeitstag) für
die erwachsenen männlichen Arbeiter, 6 Franken für die Arbei¬
terin, 4,2 kranken für jugendliche Arbeiter unter 18 Jahren. Der
Abzug des Unternehmerbeitrages vom Lohne ist verboten, im
rr t/01? Krankheit und Arbeitslosigkeit entfällt die Beitrags-
ptlicht, aber die Rente wird entsprechend vermindert. Der Bei-
i ?t; “ates bcträgt 60 Franken- Der Rentenbezug beginnt mit
dem 65. Jahre kann aber auch schon mit 55 Jahren, beansprucht
vlerden. Die Versicherung kann erfolgen hei der staatlichen
Versicherungskasse (Caisse nationale de depots et consignations),
bei A rhoitgeberkassen, Gewerkschaftskassen und den freien Ver-
srcherungsgeseHschaften auf Gegenseitigkeit. Dieses gewiß sehr
wohltätige Gesetz soll am 3. Juli d. J. in Kraft treten; es soll,
denn es droht an einer passiven Resistenz der Kreise für die
es eigentlich bestimmt ist, zu scheitern. Bis jetzt haben sich
erst ungefähr 5«/o der Versicherten gemeldet. Es sind ganz ver¬
schiedene Widerstände, die sich hier geltend machen, großkapitali¬
stische einerseits, anarchistische anderseits und in der Mitte
die große Masse derer, die noch nicht für das Verständnis für
soziale Einrichtungen erzogen worden sind, die mit Schlag¬
worten, wie „Totenversicherung“, irregeführt sind.*) Es nützt eben
mchts wenn man gute Gesetze macht, wenn nicht das Volk
auch über ihren Inhalt und Zweck aufgeklärt wird. Das muß
man in der französischen Republik nachholen.
Wie wir seinerzeit meldeten, sollte im Mai in Paris eine
Internationale San itätsk.onferenz stattfinden, nachdem
eine Vorkonferenz im April diejenigen Fragen festgeistellt hatte
die den Gegenstand der Hauptverhandlungen hätten bilden sollen’
Die verfügbare Zeit hat sich jedoch als nicht ausreichend er¬
wiesen, um die Durchberatung der Gegenstände vorzunehmen
Die Konferenz ist daher auf den 10. Oktober d. .1. vertagt worden!
Dagegen soll noch in der Junisession der Schweizer
Bundesversammlung die Vorlage, betreffs die Kranken
und TJ n f a 1 1 ve r s i c h eru n g nach SVsjährigen Vorverhandlungen
verabschiedet werden. Die kritischen Fragen waren zuletzt die
Beitragspflicht der T nternehmer an die Krankenversicherung für
^re Arbeiter und die Einbeziehung der Nichtbetriebsunfälle in die
staatliche Unfallversicherung, die die Unternehmer lieber den
privaten Versicherungsgesellschaften überlassen hätten. Die erste
Frage ist nun in dem Sinne geregelt worden, daß die Kantonle
und die Gemeinden das Recht erhalten, die Unternehmer zu Bei¬
trägen an die obligatorische Krankenversicherung ihrer Arbeiter
zu verpflichten; aber jeder derartige Beschluß bedarf der Zu¬
stimmung der Bundesversammlung; wenn sie diese verweigert
so fallen alle bezüglichen Beschlüsse. Diese Regelung zeigt, wie
schwankend die Volksstimmung in der Schweiz noch in^hezim
auf die Zwangsversichernng ist; auch hier wird die Zeit ihre
erzieherische Wirkung mcht verfehlen. Die Nichtbetriebsunfälle
*) Wie unberechtigt dieses Schlagwort ist, beweist die einschlägige
Rcstimmung des deutsc. heiA'Gesetzes, die das Bezugsrecht erst vom
70. Jahre gelten läßt. Anm. d. Aut.
884
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
verbleiben der staatlichen Unfallversicherung; die Prämie hat zu
drei YicrLleilen der Versicherte', zu einem Viertel der Bund zu
tragen. An die Krankenversicherungsbeiträge soll der Bund für
jeden Versicherten mit nicht über 3000 Franken Jahreseinkommen,
einen Beitrag von I2V2 °/o der Versicherungsprämie leisten. Der
gesamte jährliche Bundesbeitrag an die Versicherung ist auf
7,000.000 Franken berechnet.
Im Deutschen Reiche ist allen pessimistischen Prophezei¬
ungen zum Trotz die Reform der Red chjs'ver1 Sicherungs¬
ordnung vom Reichstage erledigt worden. Sie enthält einige
einschneidende Neuerungen für den Aerzteistand. So wird die
Versicherungspflicht und Versicherungsberechtigung nach oben
bis zu einem regelmäßigen Jahresverdienst von 2500 Mark (statt
früher 2000 Mark) erstreckt. Die Aerzte haben ihre alten Ver¬
träge mit den Krankenkassen unter der Voraussetzung abge¬
schlossen, daß nur Personen mit einem Jahreseinkommen von
2000 Mark z w a n gs ver sicher t seien. Ferner ist der Kreis der Ver¬
sicherten durch Aufnahme neuer Gruppen (land- und forstwirt¬
schaftliche Arbeiter, Dienstpersonal© usw.) außerordentlich erwei¬
tert. worden,, iso daß m!an in Zukunft mit 20 Millionen Versicher¬
ten gegen 12 Millionen bisher rechnen niuß. Es wird daher bei
der unnachgiebigen Haltung, den die Kassen im allgemeinen
den Aerzten gegenüber einnebmen, nicht an Zwistigkeiten fehlen,
wenn die Aerzte der neuen Sachlage gegenüber mit berechtigten
neuen Forderungen auftreten. lieber raschend schnell wurden die
Paragraphen erledigt, die das Verhältnis der Kassen zu den
Aerzten, Zahnärzten und Krankenhäusern behandeln. lieber diese
Bestimmungen wurde in der Komlmission sehr viel gestritten,
manchmal drohte sogar das ganze Gesetz daran zu scheitern,
weil man sich nicht einigen konnte. Es bleibt im wesent¬
lichen bei dem Kommissionsbeschlusse, den wir in Nummer 14
mitteilten. Die Beziehungen zwischen den Kassen und Aerzten
müssen durch einen schriftlichen Vertrag geregelt werden. Tn
der Regel soll ein Kassenmitglied die Auswahl zwischen minde¬
stens zwei Aerzten haben. Wenn ein Vertrag zwischen der Kasse
und den Aerzten nicht zustande kommt, weil über die, Bedin¬
gungen keine Einigung erzielt werden konnte, oder weil die Aerzte
ihre .Stellen niederlegen, dann soll die Kasse durch das Ober¬
versicherungsamt. widerruflich ermächtigt werden, statt, der
Krankenpflege oder sonstiger ärztlicher Behandlung eine bare
Leistung bis zu zwei Dritteln des Durchschnittsbetrages des gesetz¬
lichen Krankengeldes zu gewähren. Wenn der Versicherte die
Mehrkosten selbst übernimmt, steht ihm die Auswahl unter den
von der Kasse gestellten Aerzten frei. Durch Satzung wird be¬
stimmt, daß der Kranke nur mit Zustimmung des Vorstandes
den Arzt wechseln kann. Betreffs der Aufnahme der Kranken in
die Krankenhäuser hatten die Sozialdemokraten beantragt, daß
die Krankenhäuser nur aus einem wichtigen Grunde ablehnen
dürfen. Ein Streit der Kassen mit den Aerzten gilt nicht als
wichtiger Grund. Dieser Antrag wurde abgelehnt.
Betreffs der Verhältnisses zu den Apothekern wurde fol¬
gendes bestimmt: Die Satzung kann den Vorstand ermächtigen,
innerhalb des K as sen berede he s oder mit Genehmigung
des V 0 rs i che ru n g s am tes darüber hinaus wegen Lieferung von
Arzneien mit einem Apothekenbesitzer oder -Verwalter oder auch
mit anderen Arzneimittelhändlern Vorzugsbedingungen^ zu verein¬
baren. 1 ; | '
Die Altersgrenze für die Altersversicherung verbleibt bei
70 Jahren. Es wurde nur für das Jahr 1915 eine Denkschrift
in Aussicht gestellt, über die Möglichkeit der Herabsetzung auf
65 Jahre.
Was nun die Wochenpfle g 0 betrifft, bleibt die Gewährung
von Hebammendienst, freier ärztlicher Geburtshilfe und Schwan-
gersc'haftsbehandlung nur fakultativ, den Beschlüssen der’ be¬
treffenden Kassen überlassen. Die Förderung der Zentralstelle
für Säuglingsfürsorge' nach einer ausgedehnten obligatorischen
'Wöchnerinnen- und Säuglingsfürsorge, die von der linken Seite
des Hauses unterstützt, wurde, wurde nicht berücksichtigt. Die
Rechte drückte auch eine, Verschlechterung insoweit durch, als das
Wochengeld, das in städtischen Kassen für acht. Wochen gewährt,
wird, in den ländlichen nur vier 'Wochen ausgezahlt. wird.
Die Regierung hat der Oeffentlichkeit den Entwurf eines
V e r s i ch e ru ng s g e seizes für Pr ivatanges teilte für den
Fall der Invalidität und des Alters unterbreitet, das ferner, im Falle
des Todes, den Hinterbliebenen der Versicherten die Bezüge
einer Witwen- und Waisenrente gewähren sollte. Aehnlich wie
das österreichische Gesetz - das aber bereits in Kraft ist, ein
seltenes Beispiel, daß die österreichische Sozialpolitik in einem
Punkte dem Nachbarn voraus ist — hat es gerade bei den Inter¬
essenten wenig Beifall gefunden. Die Versicherung soll sich auf
rund 1,800.000 Personen im Handelsgewerbe, auf Techniker, Be¬
triebsbeamte und Werkmeister, auf Bureau beamte, Lehrer, Er¬
zieher, Bühnen- und Orchestermitglieder, Offiziere der Schiffs¬
besatzung erstrecken, soweit der Gehalt der Betreffenden 5000 AI.
nicht übersteigt. Die Versicherung wird nach Gehaltsklassen ab-
gestuft :
Gehaltsklasse
A
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s zu
550 Mk.
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von mehr als
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Nach diesen
Gehaltsklassen
regelt
sich
der Beitrag,
zur Hälfte vom Unternehmer und dem Angestellten zu leisten
ist. Der Monatsbeitrag wird für alle Versicherten, derselben ,
Gehaltsklasse gleich hoch bemessen. Er beträgt in der
Gehaltsklasse
yy
j >
A
B
C
D
E
F
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H
I
. 1‘60 Mk.
. 3‘20 „
. 4'80 „
. 6'80 „
. 9‘60 „
. 1320 „
. 16‘60 „
■ 20- „
. 26'60 „
Zu berücksichtigen ist idabei, daß die Handlungsgehilfen,
die Betriebsbeamten, Techniker und Werkmeister, sofern ihr Ge¬
halt, unter 2000 Afark beträgt, außerdem als Pflichtversicherte der
allgemeinen Invalidenversicherung angeboren und dort Beiträge
zahlen müssen. Als Unterstützung wird ein Ruhegeld bei Voll¬
endung des 65. Lebensjahres gewährt.. Ferner wird das Ruhegeld
für den Fall der Invalidität dem Versicherten dann zugesprochen,
wenn seine Erwerbsfähigkeit für seinen Beruf unter die Hälfte
sinkt und wenn das Ruhegeld und der Gehalt des Versicherten den
in den letzten fünf Jahren durchschnittlich bezogenen Gehalt nicht
übersteigen. Das Ruhegeld beträgt nach Zahlung von 120 Bei¬
tragsmonaten ein Viertel dieser Beiträge; die darüber hinaus¬
gehenden Beiträge werden mit einean Achtel in Anrechnung ge¬
bracht. Bei weiblichen Versicherten kann die Rente nach 60 Bei- :
tragsmonaten bezahlt werden; sie beläuft sich dann auf ein
Viertel der gezahlten Beiträge. Für die Witwen, die ohne Rück¬
sicht auf ihre Hilfsbedürftigkeit eine Rente erhalten, beträgt diese
Rente zwei Drittel des Ruhegeldes. Die Waisen erhalten bis zum
18. Jahre je ein Fünftel, Doppelwaisen je ein Drittel des Betrages
der Witwenrente. Witwen- und Waisenrente dürfen zusammen den
Betrag des Ruhegehaltes nicht übersteigen, das der Ernährer
zur Zeit seines Todes bezog oder bei seiner Berufsunfähigkeit be¬
zogen hätte.
Ein sehr verdienstvolles Wirken entfaltet der deutsche
Verein für Volks hygiene. Der Verein zählt jetzt 36 Orts¬
gruppen mit 4100 Mitgliedern. Er steht in Verbindung mit den
Zweigvereinen des deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung
der Tuberkulose, der deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten, des deutschen Vereines zur Bekämpfung
des Mißbrauches geistiger Getränke, mit den Vereinen für Schul¬
gesundheitspflege, zur Förderung der Volks- und Jugendspiele,
und zur Bekämpfung des Kurpfuschertums. Er gründet Volksbäder
Arbeiterküchen und befaßt sich mit Säuglingspflege und Mutter¬
schutz.
Das „Reichs-Arbeitsblatt“ bringt einen lehrreichen Artikel
über die Lebensdauer und- di© Kindersterblichkeit der
reichsdoutschen Bevölkerung. Die mittlere Lebensdauer ist in
Deutschland in den letzten Dezennien gestiegen. Die Absterbe-
ordnung (d. h. der Vergleich der Sterblichkeitsverhältnisse in den
einzelnen Altersklassen untereinander) ergab in den Siebziger¬
jahren für das männliche Geschlecht eine mittlere Lebensdauer
von 35-58 Jahren, in den Achzigerjahren von 37-17 und in den
Neunzigerjahren von 40-56 Jahren; Die entsprechenden Zahlen
für das weibliche Geschlecht waren etwas höher: 38-45, 40-25
und 43-97. Die mittlere Lebensdauer hat also im Laufe von
20 Jahren hei dom männlichen Geschlechte um 5, bei dem weib¬
lichen um 5V2 Jahre zugenommen. Zum Vergleiche diene fol¬
gendes: In Schweden beträgt die mittlere Lebensdauer des
männlichen Geschlechtes 50-94, und die des weiblichen 53-63
Jahre; hier herrschen besonders günstige Verhältnisse. Um etwa
fünf Jahre überragt uoch Belgien und die Niederlande und um
etwa vier Jahre Frankreich und England das Deutsche Reich.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nur in Oester reich und Italien ist die mittlere Lebensdauer
geringer wie in Deutschland.
In der italienischen Kammer wurde ein Gesetzentwurf
oiiigehracht, womit die Lebensversicherung als Staatsmonopol
c'lvlait und die Pflege dieses Versicherungszweiges einem zu
gi imdenden staatlichen Institut mit dem Sitze in Rom übertragen
wird Der Entwurf bedroht die Abschlüsse von Lebensasseküran-
y.eu bei nicht italienischen Unternehmungen mit Gefängnisstrafen
Man vergleiche damit unsere Mitteilungen in Nummer 20.
t/ermisehte Naehriehten.
Ernannt: Der außerordentliche Professor der Kinderheil¬
kunde in Innsbruck, Dr. Johann Loos, zum ordentlichen Professor
dieses laches an derselben Universität.
+
Dr. Bernhard Sperk wurde zum Direktor und Primar¬
ärzte des St. Anna - Kinderspitales gewählt.
r Verliehten: Dem außerordentlichen Professor der Oto-
und Laryngologies Dr. Georg Juf finger und dem außerordent¬
lichen Professor der Dermatologie und Syphilis, Dr. Ludwin
Merk in Innsbruck, der Titel und Charakter eines ordentlichen
l mversitätsprofessors. — Dem Oberbezirksarzte Dr. Nathan
■w olf enstein in Znaim, der Titel eines Landessanitätsinspektors.
*
Habilitiert: Dr. Hans Meyer für Röntgenkunde in Kiel.
P Gestorben: Generalstabsarzt d. R. Dr. Franz Jaeggle
in Wien. — Dr. A. Valentin, Professor. der Oto- Rhino- Laryngo-
logie- in Bern.
*
Der k. k. österreichischen Gesellschaft zur Er¬
forschung und Bekämpfung der Krebskrankheit wurde
aus einem Legate der Frau Josefa Mittermayer eine Mill iou
Kronen zur Errichtung eines Krebsspitales, dem St. Josef Kinder
spitale eine halbe Million Kronen zur Errichtung eines Schar¬
lachpavillons überwiesen.
*
As» ^er konstituierenden Sitzung der Aerztekammer für
Niederösterreich mit Ausnahme von Wien, am 9. Juni, wurde
neuerdings Obersanitätsrat kais. Rat Dr. Josef List, praktische!
Arzt in Retz, zum Präsidenten der Kammer gewählt.
*
• Am 11 ' c1' M' 1>eging hier Dr. Hermann Teleky die fünfzig¬
jährige V lederkehr seiner Promotion. Rektor und Dekan über¬
brachten aus diesem feierlichen Anlasse mit dem erneuten Doktor¬
diplom die Glückwünsche der Universität, wissenschaftliche,
humanitäre und ärztliche Stand es vereine entsandten ihre Ver¬
treter und die Schar dankbarer Patienten, denen der Jubilar
durch all die Jahrzehnte der allzeit hilfsbereite Freund und Be-
later war, bekundete ihre Verehrung in der wohlangepaßten
Form einer den Namen des Jubilars tragenden Stiftung. Mil auf¬
richtiger Teilnahme und Genugtuung begleiten alle, die Doktor
Hermann Teleky kennen, diese mannigfachen ehrenden Kund¬
gebungen als redlichst verdienten Lohn eines nach jeder Richtung
geradezu vorbildlichen beruflichen Wirkens. Red.
*
Donnerstag den 29. Juni 1911 findet um 10 Uhr vormittags
im Gemeinderatssitzungssaale, Wien L, Neues Rathaus, die kon¬
stituierende Versammlung des nieclerösterreichi-
■i c h e n Sa m ariterhande 's verbandes' statt.
*
Im ungarischen Kultus- und Unterrichtsministerium fanden
vor kurzem Verhandlungen wegen Errichtung einer dritten un¬
garischen I niversität statt. Der Standort der neuen Hoch¬
schule ist noch nicht bestimmt.
*
In Oberösterreich hat der erste Zweigverein für
Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit
<gn 7. Mai seine konstituierende , Versammlung abgehalt.cn, bei
welcher der Präsident des Hauptvereines in Wien, Hofrat
v- Eiseisberg die Festrede hielt. In der am 1. Juni stattge-
Umdenen Ausschußsitzung wurde Regierungsrat Prim. Doktor
Alexander Brenner zum Präsidenten des Vereines gewählt.
*
Anläßlich des V. Internationalen Kongresses für Meeres¬
heilkunde, der unter dem Protektorate Sr. kgl. Hoheit des Gro߬
herzogs von Mecklenburg-Schwerin vom 5. bis 8. Juni in Kolberg
getagt hat ist vom Organisationsausschuß eine Festschrift, be¬
titelt „Deutsche Ostseebäder am Anfang des 20. Jahrhunderts“
rei ausgegeben worden. Dieselbe wird gegen Rückerstattung des
iortos, smveit der Vorrat reicht, vom Organisationsausschuß;
Berlin W., Potsdamerstraße 134b, auf Ansuchen
gelangen.
zur Versendung
, ,®|n gewerbehygienisches Ambulatorium wird
demnächst m den Räumen der Landeskrankenkasse in
Budapest eröffnet werden. Es ist dies die logische Folge jenes
m fi eu liehen Beschlusses, den die bekanntlich paritätisch aus
Unternehmern und Arbeitern zusammengesetzte Generalversamm¬
lung der Landeskrankenkasse bereits im Dezember 1910 faßte
und demzufolge in Ungarn alle gewerblichen Erkrankungen und
Vergiftungen, insofern deren Entstehen ursächlich mit dem Be-
w 'n m Verbindung gebracht werden kann, fürderhin gleich den
Unfällen entschädigt werden sollen. Da die Landeskrankasse ge¬
rade jetzt ihre Unfallbegutachtungsabteilung mit allen modernen
Roheiten der wissenschaftlichen Untersuchung ausrüstet, so wird
es den dort angestetlten Aerzten sehr gut möglich sein, exakte
Untersuchungen durchzuführen. Es wird geplant, dieses Ambula¬
torium zunächst dreimal wöchentlich den Arbeitern zugänglich
zu machen, u. zw. Sonntag vormittags und an zwei Wochen¬
tagen in den Abendstunden. Ueberdies werden demnächst um¬
fassende Untersuchungen betreffend die gewerbliche Bleivergif¬
tung unter den Buchdruckern und Anstreichern Budapests ge¬
plant, damit man die notwendigen Belege zur Veranlassung von
gesetzlichen Schutzmaßnahmen erhalte. _ ch -— ch.
Der Jahresbericht der kgl. ung. Hebammenanstalt
in Szegedin (Ungarn! für das Jahr 1910 veranschaulicht die
segensreiche Tätigkeit dieses unter der Leitung des Prof. Doktor
Mann stehenden Institutes. Aufgenommen wurden während des
Jahres 1910 insgesamt 019 Schwangere und Gebärende. 572 Frauen
wurden entbunden und 14 Wöchnerinnen wurden nach der außer¬
halb der Anstalt erfolgten Entbindung aufgenommen. Von den
586 Wöchnerinnen starben 7. In drei Fällen war Sepsis
post abortum, in je einem Falle Ruptura uteri, Eclampsia, Vitium
toi dis und Osteomalacia die Todesursache. Die an Osteomalazie
Verstorbene war bloß zwei Tage in der Anstalt, das Kind wurde
mittels Sectio caesarea entwickelt und dem staatlichen Kinderasyle
überwiesen. In der Anstalt selbst kam auch im Berichtsjahre kein
Fall von endogener Infektion vor. Die Zahl der Verpflegstage be¬
trug 7458, die der beendeten Aborte 126. Bei 285 Entbindungen
'mußte operativ eingegriffen werdlen u. zw. wurden ausgeführt die Epi-
siotomia 3mal, Blasensprengung 4mal, künstlicher Abort 1 1 mal
(wegen hochgradiger Lungenschwindsucht und Herzfehler, sowie
auch wegen unstillbaren Erbrechens je 3mal, wegen Osteomalazie
Im al), künstliche Frühgeburt wegen engen Beckens 4mal, Wendung
aul den Fuß und Extraktion 17mal, Zange 31mal, Kraniotomie
-mal, E\ iszeratio 5mal, Sectio caesarea classica und vaginalis
je l.mal, Plazentalösung 15mal, Scheiden- und Dammnaht 95mal,
Beendigung von Abortus incompletus 88mal, Ausstopfen der Gebär¬
mutter nach Dührssen 6mal. Die poliklinische Hilfe der An¬
stalt wurde in 162 Fällen in Anspruch genommen. Hiebei war
kein einziger Todesfall zu verzeichnen. Auf der gynäkologi¬
schen Abteilung wurden zusammen 180 Kranke wegen ver¬
schiedener Leiden, während 2877 Tagen verpflegt. Auf dieser
Abteilung wurden 20 Laparotomien, ohne Todesfall, vollzogen.
Im Ambulatorium der Anstalt wurde 925 Kranken ärzt¬
licher Rat und Behandlung zuteil. Endlich muß erwähnt
werden, daß im Berichtsjahre 122 Hebammenzöglinge aus-
gebildet wurden. Das ärztliche Personal besteht nebst dem Leiter
noch aus fünf Aerzten. _ ch _ ch
*
Cholera. Oesterreich. Durch die am 1. Juni d. J. ab¬
geschlossene bakteriologische Untersuchung wurde bei der Kaffee¬
schenkerin Marie Lebinger in Graz, einer Schwägerin des an
( holera verstorbenen Anton Franzki, asiatische Cholera festge¬
stellt. Die Genannte, die am 27. Mai bei Anton F ranzki vor
seiner Ueberführung ins Isolierspital zu Besuch gewesen war,
stand deshalb in ärztlicher Beobachtung. Sie wurde, da sich
am 31. Mai nachmittags betreffende Krankheitserscheinungen
zeigten, in der Nacht vom 31. Mai bis 1. Juni in das Grazer
Isolierspital gebracht. Bezüglich des in der vorigen Nummer
dieses Blattes gemeldeten Cbolerafallcs sei noch nachgetragen,-
daß Anton Franzki am 19. Mai bei vollem Wohlsein von Graz
nach Adelsberg abreiste. Von dort wurde die Fährt nach Triest
fortgesetzt, wo er sich vom 1,9. Mai abends bis zum 21. Mai
früh aufhielt. Sodann fuhr er auf einem Dampfer nach Venedig,
886
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
wo er bis 22. Mai verblieb. Hier erkrankte Franzki, nachdem
er am Lido Muscheln und Austern gegessen hatte, an Erbrechen
und Abführen. Vom 22. bis 23. Mai hielt sich Franzki in Görz
auf, war dann während der Fahrt von Görz über Klagen furt und
Marburg nach Graz vollständig beschwerdefrei; erst ;un 24. Mai
stellten sich wieder Diarrhöen ein, die zuerst als Durchfälle nach
Genuß von Austern, dann als Cholera nostras gedeutet wurden.
Am 27. Mai fand die Isolierung im städtischen Infektionsspitale
in Graz statt. Die Entstehung der Erkrankung in Venedig ist
nach obigem als sicher anzunehmen. Durch die am 7. Juni d. J.
vormittags abgeschlossene bakteriologische Untersuchung wurde
in Triest, bei einem ungarischen Zwischendeckreisenden des
Dampfers „Saxonia“, namens Sand or Dersi, asiatische Cholera
festgestellt. Dersi, der auf dem genannten Schiffe der „Cunard-
Line“ am 5. Juni d. J. abends nach Triest gelangte, wurde bei
der Schiffsrevision noch vor der Landung für krank befunden und
als choleraverdächtig am Dampfer isoliert; das Schiff wurde
zum freien Verkehr nicht zugelassen. Der Dampfer „Saxonia“
hatte, mit hauptsächlich ungarischen Rückwanderen an Bord,
am 18. Mai d. J. New York verlassen und unterwegs die Häfen
von Gibraltar (28. Mai), Algier (30. Mai), Genua (1. Juni) und
Neapel (2. bzw. 3. Juni) angelaufen. Dersi erkrankte auf der
Fahrt am 4 Juni und ist am C. Juni d. J. früh gestorben.
Bei den Mitreisenden, sowie bei der Mannschaft waren bei der
Schiffsrevision in Triest choleraverdächtige Erscheinungen nicht
zu beobachten. Während der Seereise sind 29 Erkrankungen
an Masern und 4 Todesfälle (3 Masern, 1 Le ben s'sch w ächie)
aufgetreten. Die Erhebungen über die Her'künfte der Infektion
sind noch nicht, abgeschlossen. - Türkei. In Smyrna sind in
der Zeit Vom 8. bis 17. Mai eine Neuerkrankung und .'drei
Todesfälle an Cholera vorgekommen. Die Gesamtzahl der bisher
konstatierten Erkrankungen beträgt somit 10, die der Sterbe¬
fälle 7. Da seit. 12. Mai kein neuer Fäll sich ereignete, wurden
die Maßnahmen gegen Provenienzen aus Smyrna auf die ärzt¬
liche Visite beschränkt. Am 20. Mai wurde jedoch neuerlich
ein Cholerafall in der genannten Stadt bakteriologisch sicher-
gestellt, dem sich am 22. Mai zwei weitere Erkrankungen an-
schlossen. Provenienzen aus Smyrna wurden daher abermals
einer 24stiindigen Observation und der Desinfektion unterworfen.
In Samsum am Schwarzen Meere wurden am 30. Mai 2 (2),
am 31. Mai 14 (5), am 1. Juni 9 (8) Cholerafälle (Todesfälle)
konstatiert. In Konstantinopel ereignete sich am 26. Mai ein
Cholerafall, der einen aus Trapezunt kommenden Soldaten betraf,
am 31. Mai erkrankten zwei aus Rizeh eingetroffene Soldaten,
am 2. Juni ein Passagier eines aus Ordou eingelangten Dampfers.
Die ganze Küste des Schwarzen Meeres wurden als cholera-
verdächtig erklärt, alle Truppentransporte aus dem Schwarzen
Meere der Desinfektion und ärztlichen Visite, jene aus offiziell
verseuchten Häfen überdies einer fünftägigen Quarantäne unter¬
worfen.
*
Die Gesundheitsverhältnisse der Wiener A r-
b e i terse, h a f 1 i m April 1911. Bei dem Verbände der Genossen¬
schaftskrankenkassen Wiens und der Allgemeinen Arbeiter-
Kranken- und -Unterstützungskasse, in Wien, welche einen Stand
von 310 000 Mitgliedern, davon 280.000 in Wien aufweisen, betrug
im April 1911 die Zahl der Erkrankungen mit Erwerbsunfähig¬
keit, in Wien 9240 (9506). Davon entfielen auf Tuberkulose der
Atmungsorgane 963 (918), andere Erkrankungen der Atmungs-
ortgane 1124 (1342), Anginen 506 (450), Lungenentzündungen 60
(56), Influenzen 439 (564). Erkrankungen der Zirfculationsorgane
298 (312), Magen- und Darmerkrankungen 479 (593), rheumatische
Erkrankungen 845 (913), auf Verletzungen (Betriebsunfälle) 1710
(1742). Die Zahl der Todesfälle betrug im April 1911 312 (297).
Davon entfielen auf Tuberkulose 126 (127), andere Erkrankungen
der Atmungsorgane 20 (28), der Zirkulationsorgane 52 (44), auf
Neubildungen 24 (14), Verletzungen (Betriebsunfälle) 7 7), auf
Selbstmorde 14 (13) Todesfälle. (Die Ziffern in den Klammern
beziehen sich auf den April 1910).
-. *
Literarische Anzeigen. Die fleischlose Küche.
Eine theoretische Anleitung und ein praktisches Kochbuch, von
Dr. J Marcuse und B. Woerner. Preis 3M. Verlag: E. Rein¬
hardt-München. Enthält im ganzen über 1315 Rezepte.
Das vorliegende Buch soll der fleischlosen Küche neuen Boden ge¬
winnen. Dasselbe zerfällt in einen theoretischen und einen prak¬
tischen Teil. In dem erste ren werden in populärer Form Ergebnisse
der modernen Ernährungswissenschaft dargelegt. Der praktische
Teil bringt in vielen Hunderten von Kochrezepten die genaue
Herstellungsweise der einzelnen, für die fleischlose Küche in
Frage kommenden Gerichte, sowie im Anschluß daran Zusam¬
menstellungen von Speisefolgen für fast alle Jahreszeiten und
zwar sowohl für die feinere Küche wie für den einfachen Haushalt.
Aus d e m W e r d e g ä n g der M e n s c h h e i t. Der Urmensch
vor und während der Eiszeit in Europa. Von Dr. H. v. Buttel-
Heepen. Mit 109 Abbildungen und drei Tabellen. Verlag von
G. Fischer in Jena. Preis 1 M. 80 Pf. Die vorliegenden Aus¬
führungen sind ein erweiterter Abdruck aus dem X. Bande der
Naturwissenschaftlichen Wochenschrift und sind bestimmt, wei¬
teren Kreisen in all ge mein verständlicher Form das
vorzuführen, was die Wissenschaft heute über den Urmenschen
auf Grund neuer Funde lehrt.
Von dem bekannten Roman II. v. Schullern „Aerzte“
ist im Verlage von C. Konegen in Wien das neunte und
zehnte Tausend herausgegeben worden. Der Roman ist auch
mehrfach übersetzt worden. Preis 3 M. 50 Pf.
Vom Handbuch der gesamten Therapie, heraus-
gegeben von Prof. P e n z o 1 d t und Prof. S t i n t z i n g, ist die
20. Lieferung der vierten Auflage bei G. Fischer in Jena er¬
schienen. Das Heft bringt die Behandlung der Erkrankungen
des Auges.
Die von Prof. Dt. Heinrich Pas'chkis im Verlage von
A. Holder in Wien herausgegebene Kosmetik für Aerzte
ist in vierter Auflage erschienen.
Fletcher: Die Eßsucht und ihre Bekämpfung.
Deutsche Ausgabe von Dt. A. v. Borosini, 8°, 240 Seiten,
3 M. 50 Pf. Verlag von Holze & Pahl in Dresden.
*
Berichtigung. In Nr. 21, S. 754, soll es in der Tabelle
(l. Spalte) in der zweiten Kolonne statt: Infic. durch Ratten per
100 der Untersuchten, richtig heißen: „Infizierte Ratten*
per 100 der Untersuchten.“
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 21. Jahreswoche (vom 21. bis
27. Mai 1911). Lebend geboren, ehelich 667, unehelich 229, zusammen
896. Tot geboren, ehelich 45, unehelich 18, zusammen 63. Gesamtzahl der
Todesfälle 605 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
15'4 Todesfälle) an Bauchtyphus 1, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 13,
Scharlach 2, Keuchhusten 2, Diphtherie und Krupp 1, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 2, Lungentuberkulose 118, bösartige Neu¬
bildungen 56, Wochenbettfieber 4, Genickstarre 0. An gezeigte Infektions¬
krankheiten: An Rotlauf 41 ( — 7), Wochenbettfieber 3 (— 3), Blattern 0
(0), Varizellen 73 (— 18), Masern 252 (— 69), Scharlach 103 (— 19)
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 5 (=), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0)
Diphtherie und Krupp 29 ( — 23), Keuchhusten 29 ( — 2), Trachom 3 (— 8)
Influenza 0 (0), Poliomyelitis 0 (— 1).
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle in Helfenberg, Bezirk Rohr¬
bach (Oberösterreich), mit 1. August 1911 zu besetzen. Die genannte
Sanitätsgemeinde besteht aus den Gemeinden Afiesl, Ahorn, Helfenberg,
St. Stephan und Teilen der Gemeinde Schönegg mit insgesamt zirka
3600 Einwohnern. Gehalt 624 K, Landessubvention 1000 K. Um die Be¬
willigung zur Forlführung der Hausapotheke ist anzusuchen. Gesuche
sind an die Sanitätsgemeindevertretung zu richten. Auskünfte erteilt die
k. k. Bezirkshauptmannschaft Rohrbach.
Zwei Primararztesstellen am städtischen Frauen-
spitale in Görz (Küstenland) mit einem Jahresgehalte von je 2400 K,
u. zw. a) für die medizinische, pädiatrische und dermosyphilidologische
Abteilung, b) für die chirurgische und geburtshilflich-gynäkologische Ab¬
teilung. — Zwei Sekun dararztessteilen am städtischen
F rauenspitale in Görz für a) die medizinische, b) die chirurgische
Abteilung mit einem .Jahresgehalte von 2000 K. Einer dieser Sekundar-
ärzte muß im Spitale wohnen und erhält Wohnung nebst Beheizung und
Beleuchtung, sowie die Verpflegung beigestellt. Derselbe hat ferner gegen
eine Entschädigung von 400 K jährlich auch den Dienst im benachbarten
Versorgungshause zu versehen. Die Gesuche sind zu belegen mit dem
Doklordiplom, den Nachweisen der österreichischen Staatsbürgerschaft
und der Kenntnis der italienischen Sprache; für die Primararztesstellen
sind außerdem die Verwendung an einer Klinik oder Abteilung für innere,
bzw. chirurgische Krankheiten nachzuweisen. Gesuche bis 20. Juni l.J.
an den Stadtrat von Görz; nähere Auskünfte erteilt das Görzer Stadt-
physikat.
Distriktsarztesstelle für den Sanitälsdistrikt IV mit dem
Amtssitze in Donawitz (Böhmen). Der Sanitätsdistrikt hat ein Flächenausmaß
von 5815 km2 und eine Einwohnerzahl von 5315. Mit diesem Diensf-
posten sind fixe Jahresbezüge von 2520 K verbunden; außerdem die Be¬
rechtigung zur Führung einer Hausapotheke und für einen Teil des
Distriktes die krankenkassenärztlichen Funktionen. Der Landesverband
der Aerzte Deutschböhmens hat diese Distriktsarztesstelle ausdrücklich
als eine existenzfähige erklärt. Bewerber um diese Dienstesstelle, die
deutscher Nationalität sein müssen, haben außer ihrer hinreichenden
physischen Eignung die. österreichische Staatsbürgerschaft, die Berechti¬
gung zur ärztlichen Praxis und moralische Unbescholtenheit nachzu¬
weisen und ihre dementsprechend instruierten Gesuche bis zum 20. Juni
191 1 beim Bezirksausschüsse in Karlsbad zu überreichen.
Nr. 24-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
887
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Wiener laryugo-rliinologische Gesellschaft. Sitzung vom
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin.
5. April 1911. j 40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin.
Wiener laryngo-rhinologische Gesellschaft.
Sitzung vom 5. April 1911.
Vorsitzender: Hofrat Prof. Chiari.
Schri ftführer : Dr. J . Neu m a n n.
Der \ orsitzende hält dem Verstorbenen Vincenzo C o z z o-
lino in' Neapel einen Nachruf.
Dr. 0. Hirsch demonstriert einen Patienten, bei dein die
Untersuchung vor etwa drei Jahren ein© akute Laryngitis und
ein akutes Empyem der linken Nebenhöhlen ergab. Punktion
der Kieferhöhle. Beim Durchpres sen von Luft zeigt© sich ein
-Widerstand und es erfolgte ein Knall und aus der Nase kam
ein Eßlöffel seröser glitzernder Flüssigkeit zum Vorschein. Die
Ausspülung mit Wasser ging schwer, erst beim Vorziehen der
Nadel kam Eiter und Schleim in gewundenen Fäden zum Vor¬
schein. Beim Schneuzen förderte Pat. eine walnußgroße, schlappe
Zyste, mit abgerissenem Stiele zutage. Es scheint, daß die Nadel
anfangs in die Zyste geriet, die beim Einpressen von Luft platzte;
beim Zurückziehen der Nadel kam die Nadelspitze in die Kiefer¬
höhle zu liegen und beim Durchspülen wurde der Stiel durch¬
gerissen und die Zyste durch das in diesem Falle sehr weife
Ostium in die Nasenhöhle gepreßt. Ueber einen analogen Fall
berichtet Redner, den er etwas später beobachtete, nur wurde
dann der Balg einer zirka pflaumengroßen Zyste mit der Pin¬
zette aus der Nase herausgeholt, das Ostium max. war eben
falls sehr weit.
Dr. Weil und Dr. Kofi er meinten, es dürfte sich um
gewöhnliche Nasenpolypen gehandelt haben (mit einem zysti¬
schen Anteile), die in die Kieferhöhle hineingewachsen waren.
Priv.-Doz. Dr. Kahler zeigt das Präparat einer am Boden
des Antrum aufsitzenden, breitbasig inserierten Zyste.
' Priv.-Doz. Dr. Glas stellt drei seltene Formen von Schleim¬
hauttuberkulose vor: einen Fall mit zwei isolierten Infiltraten
am Zungenrücken bei einem Patienten mit verheilter Apizitis
und tuberkulösen Granulationen auf der Interarytänoidalfalte; dann
ein Lippenulkus und schließlich eine klinisch primäre Tuber¬
kulose des Zahnfleisches und des Processus alveolaris. Wieder¬
holte innere Untersuchung negativ. Ueber ein tuberkulöses Lippen¬
geschwür berichtet auch Dr. F. Neumann.
Dr. Kotier zeigt einen Patienten, der vor mehreren Wochen
einen akuten Katarrh der oberen Luftwege, nach einiger Zeit
Schmerzen und starkes Tränen im rechten Auge bekam. Hofrat
Fuchs fand außer der Konjunktivitis einen Konnex zwischen
der zweiten Augenaffektion und einer Nasenerkrankung. Fine
weitere Untersuchung nach etwa zwei Wochen ergab Oedjem
des unteren Lides und Bewegungseinschränkung des rechten Auges
nach innen und oben. Bei Eröffnung des hinteren Sieb bei us
stürzte ein Teelöffel einer honiggelben, schleimigen, fadenziehen¬
den Flüssigkeit hervor, die fast den ganzen Hohlraum des Sieb¬
beines ausfüllte. Es handelte sich um eine nach einem Schnupfen
entstandene Mukokele des Siebbeines mit Augenstörungen, die
am Tage der Vorstellung, das heißt fünf Tage nach der Ope¬
ration, bedeutend gebessert waren.
Dr. Menzel stellt einen Patienten mit isoliertem primären
Lupus vulgaris des Rachens vor. Vor fünf Jahren ergab die
histologische Untersuchung exzidierter Stücke Tuberkulose. Jetzt
ist breite Verwachsung beider Arcus palato - pharyngei mit der
hinteren Rachenwand vorhanden. An der Umrandung der steno¬
tischen Partie und am Velum erhabene feine Granulationen.
Die von Prof. Joannovics vorgenommene histologische Unter¬
suchung ergab Lupus. Dann zeigt er eine angeborene Asymmetrie
beider Nasenhöhlen hei einem 18jährigen Mädchen, das im Alter
von vier Monaten an einer Hasenscharte operiert wurde. Es
ist eine Höhendifferenz der Nasenböden von 0-5 cm vorhanden,
ebenso inseriert die untere Muschel der betreffenden Seife etwas
tiefer herab; der harte Gaumen ist etwas abgeflacht; und schlie߬
lich zeigt er einen Fall mit rhythmischen zuckenden Bewegungen
in beiden Seitenteilen des Rachens, die sich auf den Larynx
lortsetzen und rhythmische Zuckungen der Epiglottis, der Ary-
knorpel und Stimmbänder bedingen. Es könne sich um arterielle
Pulsationen handeln, ausgehend von einer abnorm gelagerten
Carotis interna, wobei je einer Pulsation zwei sichtbare Zuckun¬
gen entsprechen, die zweite Bewegung würde die Rückstoßele-
vation vorstellen ; allerdings habe eine von Prof. L. Braun vor-
genommene sphygmographische Untersuchung den Mangel einer
Ruckstoßelevation ergeben. Dann könnte es sich um Muskel¬
zuckungen handeln Pat. hat vor einem Jahre eine apoplektische
Zungemtahmung erlitten, doch spreche dagegen namentlich die
zu jeder Zeit wahrnehmbare Rhythmik der Bewegungen • und es
bleibe nur noch als dritte Möglichkeit die* Annahme eines Venen-
pulses übrig. Eine gründliche Untersuchung des Falles sei aller¬
dings noch nicht vorgenommen worden.
pr°i- Rethi spricht sich gegen die Abhängigkeit der sicht¬
baren Stöße von der Blutzirkulation aus, denn schon eine ober-
t lächliche Untersuchung ergibt, daß die Zahl der Stöße nicht
genau das Doppelte des Arterienpulses beträgt; klonische Zuckun¬
gen sind um so wahrscheinlicher, als ähnliche Erscheinungen
auch in anderen Muskeln (Masseter) zu sehen sind.
Dr. Marschifk Imeint, die Erscheinung müßte auch an
anderen venenreichen Stellen des Kopfes zu sehen sein, Avenn es
sich um einen Venenpuls handeln würde.
Dr. Marsch ik zeigt histologische Präparate von zwei Neo¬
plasmen der oberen Luftwege: 66jährige Frau, vor fünf Monaten
Carcinoma mammae, Operation. Ausräumung der Achselhöhle.
Seit zwei Monaten Verstopfung der rechten Nasenhälfte. Die Rhi-
noskopie ergibt einen von der lateralen Nasenwand ausgehenden,
die Nase voirne bis zum Vestibulum und hinten bis zur Choane
obturierenden Tumor, dessen histologische Untersuchung (Pro¬
fessor Stoerk) ein kleinzelliges Spindelzellensarkom ergab. Die
bereits ausgeführte Ausräumung der Drüsen ergab denselben
Befund. Die Röntgenaufnahme ergab Verdunkelung der rechten
Kieferhöhle und des rechten Siebbeines. Der zweite Fall betrifft
eine 21jährige Patientin; lVs Jahre Halsbeschwerden ; drei Monate
schmeizhafte Geschwulst außen am Halse, später erschwerte Atmung,
Oedern des rechten Aryknorpels; Recessus piriformis verstrichen;
Glottis verengt. Die Hypopharyngoskopie zeigte einen höckerigen
ulzeiierten Tumor au der Hinterfläche des rechten Aryknorpels,
übergreifend auf die hintere Raehenwand. Die Probeexzision
ergab Plattenepithelkarzinom.
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin
vom 19. bis 22. April zu Wiesbaden.
(Fortsetzung.)
Referent: K. Reicher -Berlin.
P r y m - Bonn : M i 1 z u n d V erd au u n g.
Als Resultat seiner ausgedehnten Versuche ergibt sich, daß
sich kein Einfluß der Milzexstirpation auf die Magenverdauung
erweisen läßt. Ebensowenig ist in der Milz seihst Pepsin nach"
weisbar. Trotzdem ist nicht zu leugnen, daß bei der Verdauung
eine Anschwellung stattfindet und hei entmilzten Tieren eine auf¬
fallende Freßlust eintritt. Die Messung der unter der Haut ver¬
lagerten Milz vor, während und nach dem Fressen hat aber
kein exaktes Maß für die Größenbestimmungen ermöglicht. Prym
will daher die Frage der Anschwellung der Milz während der
Verdauung noch offen lassen.
H o 1 z k n ©ic h t - Wien und 0 1 b e r t - Marienbad : M 0 r p h i n
u n d M ag e n m o t i 1 i t ä t.
Magengeisunde Menschen aßen an einem Tage einen Teller
voll mit Bismutum carbonicum, am anderen Tage dasselbe mit
ganz geringiügigen Morphiumdosen (0 01). Die Austreibungszeit
wurde in letzterem Fälle gegenüber der Norm (3 bis 3‘/i Stun¬
den) um das Drei- bis Vierfache verlängert. Als Ursache kommt
weder muskuläre Lähmung noch erhöhte Azidität in Betracht.
Dagegen ist ein primärer Pylorusspasmus als ätiologisches Moment
an zu sprechen. Denn bei gleichzeitiger Morphin- und Atropin¬
verabreichung ist der Spasmus tatsächlich aufgehoben und damit
auch die Motilitätsstörungen verschwunden.
Gustav Singer -Wien und Karl Glaessner- Wien: Die
Wirkung der Gallensäuren auf die Darmperistaltik.
Singer berichtet über experimentelle und klinische Ver¬
suche, welche er gemeinsam mit Glaessner über die abführende
Wirkung der Gallensäuren angestellt hat. Bereits in einer vor-
888
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
läufigen Mitteilung (vor einem Jahre) wurde von den genannten
Autoren eine merkwürdige, die Peristaltik des Dickdarms fördernde
Funktion der (falle nachgewiesen, indem hei Hunden, später
uu' li in ausgedehnten Versuchsreihen hei Menschen beobachtet
" tu'de, daß in das Rektum eingespritzte Galle nach zehn Minuten
bis einer halben Stunde eine prompte und ausgiebige Uefäkation
hervorruft. Als Träger dieser Wirkung wurde von den Autoren
die Cholsäure isoliert, welche in Form von Zäpfchen und Klysmen
besonders per. rectum — in ganz exquisiter und charak¬
teristischer Weise wirkt.
Die Verfasser haben nun weiterhin den Beweis erbracht,
daß der Hauptangriffspunkt dieser Wirkung im Dickdarm ge¬
logen ist, was sie sowohl durch klinische Wahrnehmung, als
durch rektoskopische Kontrolle erweisen. Singer berichtet über
die Experimen tal versuche bei Katzen, bei welchen die Röntgen¬
durchleuchtung nach der von Magnus geübten Methode, ebenso
wie Durchleuchtungsversuche bei mit Cholsäure behandelten Men¬
schen eine prägnante und spezifische, zur Defäkation führende
Kontraktionswirkung auf den Dickdarm deutlich erkennen lassen.
Der Vortragende bespricht die Indikationen für die Gallensäure¬
darreichung, von welchen neben der habituellen Obstipation
namentlich der paralytische Ileus und die postoperative Darm-
pareise hervorzuheben sind und die Dosierung per rectum und
per os. Neben der überraschend schnellen und prompten Wirkung
auf die Dickdarmperistaltik sind zwei Eigenschaften der Chof-
säurewirkung eigentümlich, u. zw. das Fehlen jeder- Transsuda¬
tion und die auffallend mäßigen und kompakten Stuhlentleerungen,
so daß der physiologische Defäkationsakt förmlich nachgeahmt
erscheint.
Diskussion zu den V orträgen W i n t e r n i t z bis Singe r.
Ad. Schmidt-Halle: Es gibt zweifellos Pankreaserkran¬
kungen funktioneller und organischer Natur, bei denen die Se¬
kretion einseitig verändert wird, insofern als entweder bloß die
Kettverdauung oder bloß die Eiweißverdauung gestört ist. Be¬
sonders angenehm bei der Probe des Herrn Winternitz ist der
I instand, daß sie sich auf die Spaltung des Fettes aufbaut. Was die
Kernprobe betrifft, so besteht sie trotz der in letzter Zeit erfolgten
scharfen Angriffe zu Recht. Der Magensaft bewirkt sicher nicht
die Auflösung der Keine. In letzter Zeit gelang es, die Kernprobe
durch Färben der isolierten Kerne mit Alaun-Hämaloxylin zu
vereinfachen. Man kann sie dann namentlich nach Mischungen
mit Lykopodium im Stuhl sehr leicht wiederfinden. Fehlen sie in
den feilen, wo Lykopodium vorhanden ist, dann sind sie verdaut.
Um her -Altona: Wie verhält sich der von Winternitz
verwendete Ester gegenüber dem Volhardschen Magensteapsin
und gegenüber ’den Lipasen der Leber?
Von den Velden -Düsseldorf: Vortr. und Loch fanden,
daß eine Anzahl normaler Menschen mit normalen Sekretions-
Verhältnissen im Darm nach Verabreichung von Di jodfettkörpern
im nüchternen Zustande einen Kotverlust bis zu 50°/o hatten. Bei
gleichzeitiger Darreichung mit Fett war die Ausnützung wieder
eine bessere, bei Ueberlastung mit Fett dagegen die Kotverluste
wieder größer. Die Resultate von Olbert und“ Holzknecht
bezüglich des Verhältnisses von Morphin und Magenmotilität
stimmen vollständig mit den vom Vortragenden im vergangenen
Jahre an derselben Stelle mitgeteilten Ergebnissen überein.
Gr oß- Greifswald hat bei einem zweiten Menschen mit Milz¬
exstirpation die erwähnten Versuche wiederholt, konnte aber da im
\ orjahre keine Veränderung der Pepsinproduktion finden.
Ewald -Berlin hat schon in den Siebzigerjahren nachge-
wiesen, daß ein Einfluß der Milzexstirpation auf die Pepsin¬
sekretion nicht besteht.
Breuer -Wien möchte angesichts der Verwendung von Bis¬
mutum carbonicum einwenden, daß die Verabreichung eines Kar¬
bonats wegen der Möglichkeit einer starken Salzsäurebildung
nicht gleichgültig sei. Der Engländer Herz schlägt aus diesem
Grunde statt der Kohlensäureverbindung ein basisches Salzsäure»-
salz Vor.
v. Ta bora hat bei den Versuchen mit Bismutum carbonicum
und subnitricum sowie Zirkonoxyd keine Differenzen in den
Resultaten gefunden.
V inter nitz (Schlußwort): Die Magenlipase wirkt nicht
spaltend auf den verwendeten Aethylester, ebensowenig die Darm¬
lipase. Dagegen kann er die spaltende Wirkung der anderen Ge-
webslipasen nicht ausschließen.
Sitzung vom 21. April 1911, nachmittags.
Referent: K. Reiche r- Berlin.
D e m o n s t r a t i o n s s i t z u n g.
Nicolai-Berlin : Zur Lehre der Extrasystole.
Vortr. unterscheidet dried Formen von Extrasystolen, von
denen die eine ihren Ursprungsort in der Nähe der Basis, die
zweite in der Nähe der Spitze und die dritte in dem Zentrum des
Herzens hat. Dabei lallt die erste Form mit den Extrasystolen
des rechten, die dritte mit denen des linken Ventrikels zusammen.
Diese Ansicht, welche Kraus und Nicolai, auf Hundeexperi-
mente gestützt, schon lange vertreten, ist jüngst durch die Unter¬
suchungen von Rothberger und Winterberg bestätigt worden.
Elektrokardiographische Untersuchungen am Menschen haben
neben diesen Formen noch eine vierte auffinden lassen, bei
der das Elektrokardiogramm von, mehr oder weniger normalem
Typus ist. Eine einheitliche Erklärung dieser klinischen Beob¬
achtungen scheint nur auf Grund der Vorstellungen möglich, die
sich der Vortragende über die gebahnte und ungebahnte Reiz¬
ausbreitung im Herzen gebildet hat. Nach ihm bietet das ana¬
tomisch nachgewiesene, vollkommen diffus verbreitete Nerven-
netz die eine Möglichkeit der Reizausbreitung, außerdem aber
gibt es prädisponierte Bahnen, welche die Erregung leichter leiten.
Beim normalen Schlag wird die Erregung nur auf diesen prä¬
disponierten Bahnen geleitet, bei den Extrasystolen aber breitet
sich die Erregung im Anfang diffus aus und erst wenn sie zufällig
auf irgendeiner Stelle auf die prädisponierten Bahnen trifft, läuft
sie von nun ab auf diesen weiter. Deshalb läßt sich auch das
Elektrokardiogramm bei manchen Tieren (Frosch und Schild¬
kröte) nur im Anfangsteile verändern, während der zweite Ab¬
schnitt unter allen Umständen identisch ist. Beim Menschen
treffen beide Möglichkeiten zu. Da die Grundlagen dieser Auf¬
fassung früher von Hering bekämpft worden sind, und da es
für die gesamte Entwicklung der Elektrophysiologie des Her¬
zens wichtig ist, ob diese Grundlagen zutreffen oder nicht, so
richtet der Vortragende an Hering die Frage, ob er nunmehr
noch immer an seinem früheren Standpunkte festhalte oder sich
inzwischen, wenn auch stillschweigend, zu den Anschauungen
der Berliner Schule bekehrt habe? Vortragender betont aus¬
drücklich, daß es sich um keine Prioritätsfrage, sondern um
eine sachliche Feststellung handle.
Diskussion: Ru p p er t * Salzuflen-Düsseldorf : R u p p er t
versucht durch vergleichende Aufschreibung des Elektrokardio¬
gramms in Verbindung mit dem Spitzenstoß, Herztönen und Ka-
rotispuls den Beziehungen der Herz- und Gefäßtätigkeit zum
Elektrokardiogramm beim gesunden und beim1 herzkranken Men¬
schen näher zu treten und benützt dazu ein nach Art des Tele- .
phons gebautes Instrument von Cr einer. Aus den Versuchen
geht hervor, daß das Auftreten der Gruppe R in pathologischen
Fällen nicht im gleichen Zeitintervall dem Auftreten von Spitzen¬
stoß, Karotis- und Herztönen vorausgeht wie beim Gesunden,
daß also eine gewisse zeitliche Unabhängigkeit zwischen dem
Beginne des K a in merelek t r o gramms und der Kammerkontraktion
besteht.
Beim A d ams-Stokes sehen Symptomenkomplex war das
Elektrokardiogramm um1 cä. 20% länger als die Dauer des Spitzen¬
stoßes. A eheliche Differenzen in dem zeitlichen Ablaufe zeigten
sich bei Extrasystolen und bei Arhythmien
H o f f m a n n - Düsseldorf : Man muß mehrfache Ableitungen
beim Elektrokardiogramm vornehmen, weil unter bestimmten Um¬
ständen die Vorhofzacke hei der dritten Ableitung negativ wird,
während dies bei der ersten Ableitung nicht der Fall wäre. Die
Größe der Initialzacke ist unabhängig von der Herzgröße, denn
sie bleibt z. B. gleich bei der Bowd ich sehen Treppe und auch,
wenn man die Kontraktionsmöglichkeit des Herzens durch An¬
füllung mit Paraffin aufhebt.
S trabe 11- Dresden: Durch das Elektrokardiogramm ist das
Studium der Arhythmie bedeutend gefördert und erleichtert wor¬
den. Die Versuche von Eppinger und Rothberger haben
gezeigt, daß nach Durchschneidung des linken Tawaraschenkels
rechtseitige Extrasystolie, des rechten linkseitige Extrasystolie
auftritt. Dadurch sind von Strub eil schon früher beobachtete,
wenn auch anders gedeutete Erscheinungen aufgeklärt worden.
Im Gegensätze zu allen bisherigen Fällen hat Strubeil in. einem
Falle mit negativer Nachschwankung nach sieben Monate langer,
sorgfältiger Behandlung eine deutliche Besserung eintreten ge¬
sehen. Es ist da bei einer Leitungsaufhebung des linken Tawara¬
schenkels die rechtzeitige Extrasystolenform allmählich ver¬
schwunden und das typische Elektrokardiogramm wiedergekehrt,
allerdings ohne Nachschwankung.
Hering-Prag: Das Elektrokardiogramm äußert sich je nach
Ableitung und Lage. Eine bestimmte Lagerung läßt sich nicht
immer verwenden. Die Kontraktionsstärke bringt das Elektro¬
kardiogramm nicht zum Ausdruck, dagegen ist es ein ausgezeich¬
netes Hilfsmittel für die Analyse der Herzunregelmäßigkeiten.
Nicolai- Berlin: Das Elektrokardiogramm gibt uns Aus¬
kunft über den Erregungsablauf, aber auch über die Kontraktions¬
größe. In Kurven von etwa 1000 Elektrokardiogrammen konnte
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
889
Nicolai immer einen Zusammenhang zwischen Initialzacke und
Herzgröße finden, sie ist ziemlich proportional (abgesehen von
A r teri osk 1 er otikern und Syphilitikern) der Muskelmasse des Her¬
zens. Bedauerlich ist, daß Hering hier seine Ansichten nicht
präzisiert hat.
L. R. Müller-Augsburg: Anatomische und physio¬
logische Studien über die Darminnervation.
Schilderung des A u er bachschen , Nervengeilech ts und des
Meissner sehen Plexus und deren Ganglienzellen an vorzüg¬
lichen Mikrophotogrammen und äußerst instruktiven Zeichnungen.
Der Mesenterialnerv 'besteht aus fast lauter marklosen Fasern.
Die para vertebra len Ganglien (Ganglion coeliacum) haben breit
ansetzende Dendriten und sind von einer Kapsel eingehüllt, der
Nervus splanc'hnicus enthält nur markhaltige, hauptsächlich dünne
Nerven. Jakobsohn und Langley haben nachgewiesen, daß
die bimförmigen, unipolaren Ursprungszellen desselben im Rücken
mark an der Spitze des Seiten horns liegen. Die größeren Ganglien¬
zellen an der Grenze zwischen Ring- und Längsmuskulatur schei¬
nen sensibler Natur zu sein. Bestätigt sich der Befund, daß von
diesen Zellen Fasern bis zu den Epithelzellen gehen, SO' wäre
dies der sensible Teil des die Bewegungen auslösenden Reflex¬
bogens. Aehnlich wie am Herzen entstehen also im Darm die
Bewegungsimpulse in der Organwand selbst, denn nach Durch¬
schneidung der Mesenterialnerven wird die Darmperistaltik nicht
wesentlich beeinträchtigt Der Splanchnikus und die- Mesenterial¬
nerven üben lediglich antagonistisch einen hemmenden oder an¬
regenden Einfluß auf den Ablauf des Reflexes aus. Die den Darm¬
bewegungen vorstehenden Ganglienzellen reagieren auf Stoffe,
wie Atropin, Pilokarpin u. a., die auch auf die übrigen Zellen des
vegetativen Nervensystems eine Einwirkung haben.
Determann-St. Blasien-Freiburg: Demonstration eines
Viskosimeters, das eine Vereinigung des Determan nsclien
und des Heßsc'hen Apparates darstellt, jedoch den prinzipiellen
Fehler des H eß sehen Apparates, nämlich Anwendung hoher und
wechselnder Drucke, vermeidet.
E. Schlesinger-Berlin und E. Fuld-Berlin: Ein Ver¬
fahren zur H äm o g 1 o b i n ometr i e, sowie- zur Kol cri¬
me trie im allgemeinen auf Grund eines neuen Priu-
zip-es.
Anstatt wie bisher die Kalorimetrie auf die Schätzung der
Farbengleichheit zwischen Test- und Untersuchungsobjekt zurück¬
zuführen, gelingt es, die Aufgabe beinahe mit der Präzision einer
Titration zu lösen, wenn man das Untersuchungsobjekt hinter
eine in einem Hohlkeil enthaltene Hilfsfarblösung schaltet, die bei
jeder Objektfarbe ganz bestimmte Eigenschaften besitzen muß.
Durch Verschiebung des Keiles erreicht man plötzlich einen
Farbenumschlag und diese Stelle gibt ein direktes Maß für die
Färbungsintensität des Untersuchungsobjektes ab. Der ganz vor¬
zügliche Apparat wird von der Firma C. Zeiß hergestellt.
Hess-Posen: Ueber das Kardiogramm und den zen¬
tralen Puls des Menschen. (Projektion von Kurven, die
mit dem Frank sehen Herztonapparat aufgenommen sind.)
Die Reproduktion der Herztöne scheitert an der Schwierig¬
keit, die Brustwanderschütterungen zu eliminieren. Es gelingt
nun, die Töne durch einen Glaskonus, der entfernt vom Pa¬
tienten aufgestellt wird, aufzufangen. Sie werden durch eine
Messingkapsel, welche in der Mitte durch eine dünne, überall
luftdicht anschließende Membran von Geigenholz geschieden
ist, weiter geleitet und so die Brustwanderschütterungen abge¬
halten.
Engel -Düsseldorf: Ueber die mechanische Dispo¬
sition zur Pneumonie.
Im Säuglingsalter lokalisieren sich die Pneumonien in den
hinteren, para vertebralen Lungenabschnitten u. zw. beginnen sie
in denjenigen Teilen, welche die geringsten respiratorischen Vo¬
lumschwankungen haben, nämlich in einem paravertebralen Be¬
zirke, dessen größte Ausdehnung sich im überlappen befindet.
Diese Anordnung ist der hypostatischen geradezu entgegengesetzt,
um Hypostase kann es sich also in diesen Fällen nicht handeln.
(Fortsetzung folgt.)
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie zu Berlin
vom 19. bis 22. April 1911 (im Langenbeckhause).
Referent: Dr. M. K at z en steirf- Berlin.
(Fortsetzung.)
S ti er 1 i n- Basel : Die radio -graphische Diagnostik
der 11-eocök altuberku lose und anderer ulzerativer
und indurierender Dickdarmprozesse.
* , Infiltrierende, indurierende, sowie ulzeröse Prozesse des
( ökums und Colon ascendens äußern sich, nach Beobachtungen
des \ ortr;agenden im Radiogramm, regelmäßig durch ein Fehlen
des nach fünf bis sechs Stunden physiologischen Schattens in
diesem Kolonabschnitt. Sowohl für Anfangs-, sowie für fort¬
geschrittene Stadien der Cökaltuberkulose ist deshalb im Skia-
gramm das Fehlen des Cökum-, respektive Cökum - Colon ascen¬
dens - Schattens zwischen unterem Ileum- und Colon transversum-
S chatten typisch. Mit Hilfe der Radiographie gelingt so die Dia¬
gnose auch in Fällen, wo sie klinisch nicht zu stellen ist.
Yortr. verfügt bis jetzt über sechs Fälle von radiographisch
untersuchter Ileocökalluberkulose, von denen er vier mit je einem
Röntgenbild demonstriert. Bei allen wurde hei der Operation
der Befund sichergestellt. Auch in eine-ni durch Autopsie kon¬
trollierten Falle von Colitis ulcerosa gelang es Stierlin, die
radiögraphisehe Lokalisationsdiagnose zu stellen. Auch hier
fehlten die erkrankten Kolonpartien im Skiagrannn zu allen Zeiten
der Untersuchung, im Gegensatz zu den gesunden (Cökum und
Colon ascendens), die einen tiefen Schatten aufwiesen.
H -e n 1 e - Dortmund : Bekämpfung der D a r m parese m i I
Hormonal.
Im Gegensatz zum Physostigmin ruft eine Hormonalinjektion
keine Kontraktur, sondern eine peristaltische Welle hervor, welche
binnen einer Stunde zum Abgang von Flatus, binnen drei bis
fünf Stunden zur Stuldentleenmg führt. Es hat sich bei post-
operativer Darmlähmung bewährt, jedoch kommt ihm eine Dauer¬
wirkung hiebei (im Gegensatz zur habituellen Obstipation) nicht
zu. Oe-fters tritt eine Welle aut, macht aber an einer bestimmten
Stelle halt, so daß eine neue Injektion erforderlich ist.
Auch prophylaktisch kann man Hormonal injizieren. Aller¬
dings besser mit Pantopon, als mit Morphium kombiniert. Da das
des Hormonais warm empfehlen zu können. In einem Falle von
bis zu 39° herbeiführt, allerdings ohne bleibende Schädigungen,
so bleibt die Frage der Einzeldos-en, sowie die Wiederholung der
Dosen noch zu studieren.
D en ck s - Rixdorf hat das Hormonal in einer großen Anzahl
chirurgischer Fälle angewendet. Er fand die Hauptmasse des Ilor-
monals in der Milz, ln den meisten Fällen wirkte es günstig,
ausnahmsweise jedoch blieb die Wirkung aus. Schädliche Ein¬
wirkungen konnten vom Hormonal nicht beobachtet werden.
Bore h a r d t - Berlin ist ebenfalls- in der Lage, die Anwendung
des Hormonais warm empfehlen zu können. In einem Falle von
Peritonitis führte er die Rettung des Patienten auf seine Anwen¬
dung zurück.
Heu sn er -Bannen empfiehlt außer dem Hormonal die An¬
wendung elektrischer Heißluftbäder des Bauches.
Zuelzer -Berlin empfiehlt die Anwendung des Hormonais
auch heim Ileus, ehe man zur Operation .schreitet und hat in
solchen Fällen Heilung ohne Operation gesehen.
Gold mann -Berlin berichtet über günstige Resultate bei
Anwendung des Hormonais auf der Rotter sehen Abteilung.
Reh n- Frankfurt a. M. warnt vor der Anwendung dieses
Mittels hei Ileus.
Nendorf ei -Hoh-en-Ems: Ueber Ulcus du öden i.
Vortragender berichtet über sein eigenes Material. Er hat
in 100 Fällen von Erkrankungen des Magens operiert. Darunter
waren 73 Ulkusfälle. Von diesen waren 8 Duodenalgeschwüre.
Diese Zahl stimmt genau mit -einer Arbeit von Schmitt überein,
welcher unter 63 Fällen ebenfalls 8 Duodenalgeschwüre gesehen
hat. Aus diesen Beobachtungen schließt Vortragender, daß das
Duodenalgeschwür auch in unseren Gegenden viel häufiger ist,
als allgemein angenommen wird. Auch die Diagnose- ist in den
meisten Fällen am Krankenbett möglich, so hat er seine letzten
fünf Fälle vor der Operation diagnostiziert. Nach seiner
Meinung sind die Symptome cl-eis Ulcus duodeni sehr präzis
und nicht leicht mit einer anderen Erkrankung zu verwechseln.
Es gibt zwei Typen; zuerst solche-, bei denen die- Schmerzen
vorherrschen. In diesen Fällen treten die Schmerzen niemals
vor drei Stunden, spätestens sechs Stunden nach den Hauptmahl¬
zeiten ein, also gewöhnlich zweimal des Tages, gegen 6 Uhr
abends und nach Mitternacht. Dabei besteht ausgesprochen Perio¬
dizität der Beschwerden, mit und ohne Behandlung, so daß
monatelange freie Intervalle vorkominlen. Der zweite Typus
ist charakterisiert durch periodisch auf treten de Blutungen, welche
manchmal sich nur in Ohmnachtsanfällen äußern. Hämateme-sis
ist selten. Objektiv findet sich keine nachweisbare Veränderung
des Magens, weder in seiner Größe, noch in seiner Funktion.
Fast immer besteht Hyp-erchloridie, -ein Schmerzpunkt rechts und
über dem Nabel, unter der Mitte des rechten Musculus rectus.
Sehr charakteristisch ist die reflektorische Spannung des Mus¬
culus r-ectus im Schmerzanfall.
890
WIEN EH KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 24
Differentialdiagnostisch kommen nur die Cholezystitis und
gewisse Erkrankungen des Darmes in Betracht, jedoch ist die
Art des Schmerzes verschieden von der der Cholezystitis. Die
Therapie ist, da die interne Behandlung fast immer versagt, eine
chirurgische u. zw. die Gastroenterostomie mit Verengerung
des Pylorus.
V ortragender gibt den Rat, bei jedem Fall von Schmerzen
im oberen Bauchabschnitt, die sich regelmäßig wiederholen, an
das Ficus duodeni zu denken und daraufhin zu untersuchen.
Er ist überzeugt, daß es sich dann heraussteilen wird, daß das
„Ulcus duodeni“ bei uns eine durchaus nicht seltene Krankheit
ist, und daß viele Kranke so einer rationellen Therapie zugeführt
weiden können.
Diskussion: H au d e c k - Wien war in der Lage, in den
letzten fünf Monaten elfmal die Diagnose auf Ulcus duodeni
durch Röntgenuntersuchung zu stellen. Sechsmal wurde sie durch
die Operation bestätigt. Charakteristisch ist das abnorme Liegen¬
bleiben einer kleinen Wismutqua.itität an umschriebener Stelle
im Bereiche des Duodenums. Zur Differentialdiagnose von Ulcus
pyloricum ergibt sich folgender Unterschied: Bei diesem ist in¬
folge des Spasmus pylori oder einer narbigen Stenose stets eine
Motilitätsstörung vorhanden, die beim Ulucs duodeni fehlt. Die
Röntgendiagnose wird ermöglicht 1. durch das JMischensymptom,
2. durch die Lokalisierbarkeit eines umschriebenen Druckpunktes,
bzw. einer Resistenz im Duodenum, 3. durch die im1 Verhältnis zur
Magenstörung nur unwesentliche Störung der Magenmotilität.
v. E ise 1 s hier g- Wien ist der Meinung, daß das Ulcus
duodeni häufiger vorkommt, als man bisher annehmen konnte.
Es ist seihst bei der Operation jedoch die Entscheidung schwierig,
ob es diesseits oder jenseits des Pylorus gelegen ist.
Bezüglich der Behandlung weist v. Eiseisberg darauf hin,
daß die Gastroenterostomie nur bei Stenosen erfolgreich ist. Sonst
empfiehlt er seine Pylorusausschaltung, mit der er ausgezeichnete
Resultate hat.
Bier- Berlin hat 13mal mit Bestimmtheit vor der Opera¬
tion die Diagnose auf Ulcus duodeni stellen können.
Bei einem Falle von Duodenalstenose hatte die Gastro¬
enterostomie zunächst einen guten Erfolg, später aber traten
wieder Beschwerden auf, da die Stenose sich wieder erweitert
hatte.
Durch den dann vorgenommenen Pylorusverschluß wurde
vollständige Heilung erzielt.
H e nie- Dortmund hat sechs Fälle von Ulcus duodeni ge¬
sehen und durch die Pylorusausschaltung viermal vollkommene
Heilung erzielt. Den Mißerfolg in den beiden anderen Fällen
führt er darauf zurück, daß er mit der Ausschaltung nicht nahe
genug an das Ulkus herangegangen ist.
Melchior- Breslau berichtet über die auf der Küttner-
schen Klinik beobachteten fünf Fälle von Ulcus duodeni.
Kümmel 1 Hamburg bezweifelt, daß das Ulcus duodeni
so häufig vorkommt, es läßt sich oft die Grenze nicht bestimmein
und entscheiden, ob es sich um ein Ulcus pylori oder duodeni
handelt.
En dollen- Würzburg hat einen Fall nach Ausschaltung
des Pylorus an Blutung verloren.
de Quer vain -Basel weist auf den Unterschied zwischen
tief im Duodenum und nahe dem Pylorus gelegenem Ulkus hin.
P o 1 y a - Budapest erinnert an den Ausfall des sogenannten
Säurereflexes auf die Absonderung des Pankreassaftes und der
Galle nach Pylorusverschluß und teilt technische Veränderungen
der Gastroenterostomie mit.
Girard -Genf: In den Fällen, wo wegen starker Verwach¬
sungen die Pylorusausschaltung nicht möglich ist, macht Girard
zwecks Verlängerung des Pylorus die umgekehrte M i k u 1 i c z sehe
Plastik (Längsschnitt wird quer vernäht) zwecks Verengerung
des Pylorus. Zur Ausschaltung des im Magenkörper gelegenen
Ulcus ventriculi empfiehlt er, durch Verengerung die künstliche
Schaffung eines Sanduhrmagens.
Katzenstein-Berlin: Zur Vermeidung des Circu¬
lus vitiosus nach Gastroenterostomie wendet Katzen¬
stein eine Seitennaht an, die eine Abschnürung des zuführen-
den und eine Erweiterung des abführenden Schenkels zum Zwecke
hat. Demonstration von Bildern, welche das Verfahren er¬
läutern.
Seit der Anwendung dieses Verfahrens (seit 1904) hat Kat¬
zen stein keinen Circulus vitiosus oder Erbrechen nach der
Gastroenterostomie gesehen.
Weiterhin empfiehlt Katzenstein die Resektion des
Magens ohne Klemmen zwischen Tabaksbeutelnähten aus¬
zuführen, ein Verfahren, das ebenso einfach und sicher in der
Ausführung ist. (Demonstration von Bildern.)
Kürschner und Mang old- Königsberg: Die motori¬
sche Funktion des Sphincter pylori und des Antrum
pylori nach der queren Durchtrennüng des Magens.
Die bisherigen Beobachter, die den Nervus vagus in seinem
Verlaufe von seinem Austritt aus dem Schädel bis zu seinem
Durchtritt durch das Zwerchfell reizten oder durchtrennten, be¬
richten zumeist über Motilitätsstörungen verschiedener Art von
seiten des Magens. Da bei der queren Resektion des Magens
die sämtlichen auf der Oberfläche des Magens verlaufenden Vagus¬
fasern durchschnitten werden, so muß man schon unter Berück¬
sichtigung dieser Versuche mit funktionellen Störungen der ab¬
getrennten Teile des Sphinkters und des Antrum pylori rechnen.
Kürschner und Mangold haben deswegen die Motilität dieser
Gebilde nach der queren Resektion des Magens experimentell
beim Hunde untersucht.
Sie gingen derartig vor, daß sie den Magen quer durch¬
trennten, die beiden Magenlumina entweder wieder miteinander
vereinigten oder blind verschlossen und am zentralen Teile eine
Gastroenterostomie anlegten. Am Antrum pylori legten sie eine
Magenfistel an, dicht hinter dem Pylorus eine Duodenali'istel,
oder sie durchtrennten das Duodenum quer und vernähten den
zentralen Stumpf nach außen.
Füllt man in das Antrum pylori Wasser, entweder dadurch,
daß man es saufen läßt oder daß man es unter .einem kon¬
stanten Druck in die Magenfistel einläüfejn läßt, so setzen un¬
mittelbar hinterher rhythmische Güsse aus der Duodenalfistel
ein. Die Güsse erfolgen alle 12 bis 14 Sekunden, ein Beweis,
daß sich der Sphincter pylori in diesen Zeitabständen regelmäßig
öffnet und schließt, und daß das Antrum pylori eine regelmäßige
Arbeit leistet. Ein in den Pylorus eingeführter Finger vermag
überdies die Kontraktionen und Oeffnungen dieses Muskels
deutlich zu fühlen.
Führt, man einen Registrierballon in das Antrum ein und
verbindet ihn mit einem Tambour und einem Schreibhebel, so
zeichnen sich die Bewegungen der Antrummuskulatur als eine
absolut regelmäßige Kurve auf. Der Druck im Antrum steigt bis
zu 45 mm Hg.
Beobachtet man die Duodenalgüsse und die Antrumkontrak¬
tionen auf der Kurve gleichzeitig, so kann man feststellen, daß
jeder Antrumkontraktion eine Oeffnung des Sphincter pylori ent¬
spricht, ein Beweis, daß die Koordination dieser beiden wich¬
tigen Magenbewegungen in keiner Weise gestört ist.
Bei einem normalen Magen sistiert die Entleerung in dem
Augenblick, wo die Reaktion im Duodenum sauer wird. Auch
diesen „Chemoreflex ex duodeno“ konnten sie bei ihren Hunden
nachprüfen. Bringt man in die Duodenalfistel verdünnte Salz¬
säure, so hören die Antrumbewegungen augenblicklich auf und
setzen erst wieder ein, wenn die alkalische Reaktion wieder
eingetreten ist. Diese Versuche erbringen zum erstenmal den
Beweis, daß das Aufhören der Magenentleerungen durch ein
Aussetzen der Antrumkontraktionen bedingt ist und nicht lediglich
durch einen reflektorischen Krampf des Sphincter pylori, wie
man bisher irrtümlich allgemein angenommen hat.
Die angeführten Versuche berechtigen zu dem Schlüsse:
Beim Hunde behält der Sphincter pylori und das Antrum pylori
seine normale Tätigkeit nach der queren Resektion unverändert
bei, in einem Zustande also, wo diese Gebilde von der nor¬
malerweise durch die Nervus vagi hergestellte Verbindung mit
dem Zentralnervensystem abgetrennt sind und wo der funk¬
tionelle Zusammenhang mit der Muskulatur des Kardiamagens
unterbrochen ist.
Dieses Ergebnis stimmt mit den bisherigen, klinischen Er¬
fahrungen überein : Bei Patienten mit querer Magenresektion ge¬
hören Motilitätsstörungen von seiten des Magens in der ersten
Zeit nach der Operation durchaus zu den größten Seltenheiten.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag den 16. Juni 1911, um 7 IJlir abends,
unler dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. Ludwig Unger slattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. Marschik: Krankendemonstration.
2. Prof. y. Fürtli und Dr. E. Lenk: Ueber das Wesen der Toten¬
starre und ihre Lösung.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Prof. 31. Sternberg.
Dr. Haus Bah.
Bergmeister, P a 1 1 a u f.
Um die rechtzeitige Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöjliohen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer noch am SitzmiKsabend zu übergeben.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Kubasta. Verlag von Wilhelm Brauntiiller iu Wi«n
Druak ron Bruno B artet t, Wien XV HL. Thoreaienna««' ä
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
roZÄ.VÄ«. «ÜÄ f. sÄ I: ÄÄtäÄJÄ«. iS K' ’• Noorden’
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
*nton Freih. v. Eiseisbarg. Alexander Fraenkel. Ernst Fuchs. Julius Hochenegg. Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Praenkel
Verlag von Withelm BraumüHer, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIIW, Wickenburggasse 13. Teiephon 17.618.
INHALT:
Von
I. Onginalartikeij 1 Zür Mechanik der Lungenblähung.
Priv.-Doz. Dr med. M. S 1 h 1 e, Odessa. S. 891.
‘ ?ewLeTber und des Ma»ens und der Vibrations¬
druck. Von Prof. W. Javvorski in Krakau. S. 897
'• p,U;l Cf' p ^•der“atlol«fT- Universitätsklinik in Prag. (Vorstand:
Piof. Dr. IvarlKreibich.) Ueber Prostatasekretion. Von Dr. Richard
Pi sehe 1 Bad Hall und Prof. Karl Kreibich. S 901
■ SlnnTwra|U,erhOSFiVn Wien- (Vorstand: Primarius Doktor
Ldmund Waidstein.) Beitrag zur Behandlung von Eihaut-
retention. Von Dr. Max Steinsberg, Assistenten. S. 906.
o. Kinematographie im Dienste der Elektropathologie. Von
Priv.-Doz. Dr. S. Je 1 1 i n e k. S. 909.
6. Bemerkung zu meiner Abhandlung: Ueber „Lokalisation der
Herztöne betreffend die Verdoppelung des zweiten Tones. Von
Prof. Dr. M. H.e 1 1 1 e r. S. 911.
IL A h V Pdthol081sch-anatomische Tafeln. Tlieodor R u m p e 1
Alfred Käst Eugen Fraenkel. Ref.: E. Kaufmann-
Gottingen — Der Schwindel. Von Hitzig. L’ipofisi cerebrale
fanngea e la glandola pineale in patologia. Von Alfonso Pop n i
EdwSd A Scnh äT G6hnnaphan,fS (Apophysis cerebri). Von
Edward A. Schäfer. Die Pupillenstörungen bei Geistes- und
Nervenkrankheiten Von Oswald Bnmke. Technik der mikro¬
skopischen Untersuchung des Nervensystems. Von W. Spiel-
mey er Kompendium der topischen Gehirn- und Rückenmarks¬
diagnostik. Von Robert Bing. Ref.: Otto Marburg
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte
Zur Mechanik der Lungenblähung.
Von Priv.-Doz. Dr. med. M. Sihle, Odessa.
ln cIghi seit Dezennien währenden Widerstreit, der
einungen ob eine Lnngenblähüng inspiratorisch oder
cspiratorisch oder durch beides bedingt sei — ist noch
mier keine Einigung erzielt. In allerjüngster Zeit sind
ersuche gemacht worden, die Inspirationstheoiie als die
lein berechtigte hinzustellen, d. h. man will den Grund
r eine Lungendehnung auf eine einzige mechanische Ur-
che zurückführen.
Die alleinige Betonung des forcierten Inspiriums ist
i dingt durcli die Beobachtung, daß eine infolge verstärkten
spiriums gedehnte Lunge bei der nachfolgenden Exspiration
pht gleich auf die Ausgangsstellung zurückkehrt, sondern
a ein Weniges gedehnt bleibt. r
Auf die Erage, warum die Dehnung anhält, gelingt es
p jetzt nicht eine hinreichende Antwort zu finden. Man
ncht von „elastischer Nachwirkung“, infolge welcher
genschaft die Lunge allmählich und zwar erst bei einge-
i'tener ruhiger Atmung wieder die Ausgangsstellung ein-
1 hme- Letztere Auffassung wird nun augenscheinlich vielen
■i ein Absurdum erscheinen, denn es müßte doch recht
liecht mit der Funktion der Lunge bestellt, sein, wenn ihre
xstizität eine so unvollkommene wäre, daß jeder tiefere
emzug, d. h. jede stärkere Spannung des elastischen
wehes genügen sollte, sofort eine Ueberdehnung dieses
ben Gewebes und mithin eine Veränderung seiner Be-
tiaktionsfahigkeit herbeizuführen. Die Lunge wäre unter
diesen Umständen einem Gummibande schlechtester Sorte zu
vergleichen untauglich irgendwie erhöhten Ansprüchen zu
genügen. Es ist demnach offenbar, daß die Ursachen einer
nach verstärktem Inspirmm zu beobachtenden nachhaltigen
Lungendehnung in anderen Momenten, als in einer direkten
Verminderung der Retraktionskraft des elastischen Lungen¬
gewebes zu suchen sind.
Welche Arten von Lungendehnung, die mit einem Vo-
u men pulmonum auctum einhergehen, kommen zur ßeobach-
U? A ul ;glh\derei! -1 Arten : eine ^ute- resp. subakute -
c as Asthma bronchiale, eine chronische — das Lungenem-
physem und schließlich eine Lungendehnung, die nach jeder
liefen Inspiration in die Erscheinung tritt, um hei normaler At¬
mung alsbald wieder zurückzugehen, wie das neuerdings
WührV I101 Un1 l[o1lzk nech t') nachgewiesen haben.
\V ahrend nun aber die beiden ersten Lormen zwei selb¬
ständige Krankheitsbilder darstellen, haftet an der dritten
oim nichts I athologisches, vielmehr ist die letztere als eine
physiologische Erscheinung zu betrachten, die offenbar
zweckmäßig ist, da sie nach tieferen Inspirationen fast
immer aufzutreten pflegt.
erst
wenn
Kim ist es eine alte Erfahrung, daß wir das Pathologische
dann richtig einzuschätzen imstande sein werden,
^es uns gelangen ist den entsprechenden physiolo-
l) Hofbauer und H
Atemvertiefung. Mitteilungen
Diagnostik und Therapie im
olzknecht, Ueber den Mechanismus der
aus dem Laboratorium für radiologiscbe
k. k. allgem. Krankenhaus in Wien, 1907.
892
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 25
gischen. Vorgang näher kennen zu lernen. Nachher haben
;i dann zu untersuchen, durch welche Ursachen, eine zweck-
äßige Erscheinung zu einer unzweckmäßigen wird.
V eiui wir daher zunächst die Erscheinungen betrach¬
ten, wie sie an 'der Lunge als Ganzes bei der physiologischen
Tiefatmung zu Tage treten, so ist dabei vor allem eine be¬
tleutende Vergrößerung des Organs zu konstatieren. Es
strömt ein vermehrtes Quantum Luft in die -Alveolen, weil
durch den Inspirationszug und das durch denselben be¬
dingte Anwachsen des intrathorakalen negativen Druckes
die Lungen gedehnt werden. Von dieser Dehnung werden
am stärksten naturgemäß die zartesten Gewebe betroffen,
d. h. die Alveolen und bis zu einem gewissen Grade auch
die kleinsten Bronchiolen, deren Wandung kein starres Ge¬
webe besitzt. Doch nicht durch vermehrte Luftfüllung allein
ist die inspiratorische Lungenvergrößerung bedingt; es
kommt noch hinzu die inspiratorische Hyperämie des Or¬
gans. Nicht nur mehr Luft, sondern auch mehr Blut wird
angesaugt.
Nun fragt es sich, ob die beiden Vorgänge — Luft- und
Blutanfüllung — ganz parallel vor sich gehen. Es scheint
mir diese Frage nicht bedeutungslos zu sein. Während
des ganzen Inspirationsaktes begegnet das Einströmen von
Luft in den erweiterten Alveolarraum keinen Hindernissen
und in schneller gleichmäßiger Weise erfolgt, die Füllung
der Alveolen. Für das Bluteinströmen in die Alveolarkapil¬
laren dürften die Verhältnisse jedoch nicht so gleichmäßig
günstig liegen. Die Kapillaren liegen stark geschlängelt und
gewunden in der Alveolarwand; während des Inspirations¬
aktes werden sie allmählich mehr gerade gerichtet und bis
zu einem Grade auch geweitet, als Folge des sinkenden in¬
trathorakalen Druckes. Die günstigsten Bedingungen für eine
Alveoiarkapillaranfüllung werden daher erst zu Ende des
Jnspiriums erreicht, während die Luftfüllung der Alveolen
während des ganzen lnspiriums in leichtester Weise von¬
statten geht. Es ist demnach anzunehmen, daß die in¬
spiratorische Blutfüllung der Luftfüllung sozusagen etwas
nachhinkt. Dieser Vorgang scheint auch röntgenoskopisch
beobachtet werden zu können. Flin und wieder ist mir
nämlich bei der Durchleuchtung folgendes aufgefallen: Läßt
man tief inspirieren, so beobachtet man, wie bekannt, häufig,
daß die Lungenfeldrandzone vorn und unten viel heller
erscheint, als das übrige Lungenfeld. Bei genauer Betrach¬
tung dieser Randzone bemerkt man nun zuweilen, daß bei
einzelnen Individuen über die helle Zone nach Schluß der
Inspiration plötzlich ein ganz leichter Schatten hinwegfährt,
den ich als vermehrte Kapillarfüllung zu deuten geneigt bin.
Setzt nun nach forciertem Inspirium der Exspiralions-
akt ein, so ist auch hierbei zu ^überlegen, ob bei der Entledi-
gung von Luft und' Blut nicht eine Verspätung von seiten
der Zirkulation statthat. Da mit dem Sistieren des In¬
spirationsaktes sofort die elastische Retraktion der Lunge in
Aktion tritt, so steigt sofort der Seitendruck. Die zatrt-
wandigen kleinsten Bronchiolen haben daher die Tendenz
sich zu verengen, wodurch der Luftaustritt eine bedeutende
Verzögerung erleiden könnte, wenn das Hindernis nicht
durch den als vis a tergo wirkenden Ueberdruck im Infundi-
bularraum wieder wettgemacht werden würde. Was die
Alveolarkapillaren betrifft, so muß der bei Beginn des Ex-
spiriums plötzlich einsetzende erhöhte Lungendruck sich
auch in ihnen äußern und eine gewisse (Verzögerung der
vorher beschleunigten Zirkulation veranlassen. Andrerseits
nehmen die auf der Höhe des lnspiriums gioch mehr weniger
gerade gerichteten und geweiteten Kapillarschlingen im Ver¬
laufe der Exspiration wieder eine stärker geschlängelte
Form an, welcher Umstand seinerseits auch gewiß nicht
förderlich sein kann einer beschleunigten Zirkulation. Ziehen
wir schließlich noch in Betracht die Konsistenz des Blutes,
ihre Zähflüssigkeit, so erscheint es nur natürlich, daß der
Abfluß der Lungenluft schneller und leichter erfolgt, als
der Abfluß des angesaugten Lungenblutes, welcher dank der
eben genannten Verhältnisse beim Exspirium eine Verzöge¬
rung erfahren muß. Es entsteht ein gewisses Mißverhältnis
zwischen Luft- und Blutzirkulation, das eines Ausgleiches
bedarf. Dieser Ausgleich vollzieht sich in der Atempause,
während welcher, wenn sie genügend lange dauert, der
Lunge Zeit gegeben wird, sich ihres Ueberschusses an Blut
zu entledigen.
Was eben über die vertiefte Atmung gesagt wurde,
hat ceteris paribus auch Geltung für die Normalatmung,
nur in geringerem Grade. Am Ende der (Inspiration ist
die Lunge am blutreichsten, während der Exspiration ent¬
ledigt sich die Lunge von dem aspirierten iLuftquaniuin
schneller als vom angesaugten Blutquantum. Die Verspätung
von seiten der Blutzirkulation wird ausgeglichen während
der Atempause. Am Ende der Atempause ist das normale
Verhüll uiss zwischen Luft- und Blutgehalt wieder her-
gestellt.
Betrachten wir jetzt die Atempause unter dem Ge¬
sichtswinkel der verspäteten Blutentleerung. In der Atem¬
druckkurve stellt sich die Atempause nicht, als eine hori¬
zontale, sondern meist als eine mehr weniger schräg an¬
steigende Linie dar. Das beweist, daß auch in der Atem¬
pause noch ein geringer Abfluß von Lungenluft statthat, frei¬
lich im Verhältnis zum eigentlichen Exspirium in sehr
langsamer Weise. Wenn wir nun berücksichtigen, daß nach
dem oben Gesagten zu Beginn der Atempause die Lunge,
noch um ein weniges blutreicher sein muß, als am Ende
derselben, so drängt sich von selbst die Frage auf, ob nicht
in der noch während der Atempause andauernden Blutge¬
haltverminderung die Ursache gegeben ist. für das weitere,
wenn auch verringerte und verzögerte Abströmen der
Lungenluft. Wenn dem so ist, so wäre damit gesagt, daß
eine blutreichere Lunge der exspiratorischen Verkleinerung
des Organes einen größeren Widerstand entgegensetzt, als
eine blutarmere, oder — r- mit anderen Worten — daß die ih-
Iraktionskraft der elastischen Gewebe durch Blutreichtum
leidet. Tatsächlich ist es so, wie wir uns leicht überzeugen j
können. Klemmt man z. B. die Arteria pulmonalis ab, so fällt
die Lunge bis zu einem gewissen Grade zusammen.
\Nun konnte man aber einwenden, daß zu Beginn
des Exspiriums die Lunge am blutreichsten ist und daß
nichtsdestoweniger während der eigentlichen Exspirations- 1
phase die Lungenverkleinerung am schnellsten vonstatten
geht. Dieser Einwand, falls er überhaupt erhoben werden
sollte, ist jedoch ganz hinfällig. Beim Uebergang vom In¬
spirium zum Exspirium wird der Druck im Alveolarräum (wie
weiter unten gezeigt werden wird) plötzlich positiv. Da nun
unserer Ueberzeugung nach das inspirierte Luftquantum die
Lunge schneller zu verlassen vermag, als das angesaugte
Blutquantum, so entweicht dank dem Ueberdruck im Alveo¬
larraum natürlich vor allem der Ueberschußi an Luft und
zwar bis zu dem Grade, wo der Atmosphärendruck in den
Alveolen wieder hergestellt ist, das ist am Ende des Ex¬
spiriums. Die weitere geringe und langsame Erhebung der
Atmungsdruckkurve erfolgt dann nicht mehr durch den
eigentlichen Exspirationsakt, sondern ist bedingt durch das
verspätete Entweichen des Restüberschusses des angesaug¬
ten Lungenblutes, woraus dann noch eine weitere geringe
Verkleinerung der Lunge resultieren muß und zwar während
der Atempause.
Wenden wir uns jetzt wieder der Tiefatmung zu.
Nehmen wir zunächst den Fall, daß nach ruhiger, normaler
Atmung ein einzigesmal tief inspiriert wird, um. darauf
wieder die vorherige Normalatmung eintreten zu lassen.
[Unbewußt tut es jeder von uns häufig und man kann dabei
konstatieren, daß die Atempause nach einem tiefen Atem¬
zug viel länger dauert, als in der Periode der ruhigen Respi¬
ration. Während der längeren Atempause wird eben der
Lunge Zeit gegeben, sich von dem Plus des durch den
stärkeren Inspirationszug angesaugten Lungenblutes zu ent-
tedigen. Diese Verlängerung der Atempause geschieht un¬
bewußt, unabhängig vom Willen. Nun kann durch den
Willensakt die Atempause verkürzt werden. Läßt . man
z. B. mehrere Male hintereinander tief einatmen, bei Ver¬
meidung einer Atempause und bei Vermeidung einer ak-
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
liven Exspiration (Bauchpresse), so beobachten wir nach
den Tiefatmungen eine noch 'größere Atempause, als
nach nur einmaligem tiefen Inspirium. Da nach dem ersten
tiefen Atemzug das angesaugte Blut wegen Fehlens der
Atempause nicht vollständig entweichen kann und da bei
jeder neuen tiefen Inspiration dasselbe Mißverhältnis sich
nicht nur wiederholt, sondern offenbar noch um einen gewis¬
sen Grad sich verstärkt, so wird die Lunge durch den ver¬
mehrten Blutgehalt noch voluminöser. Auch der Thorax hat
sich dann dabei auf einen größeren exspiratorischen Umfang
eingestellt. Erfolgt darauf nun der Uebergang zur normalen
Atmung, so kann die Lunge und somit auch der Thorax
wegen des vermehrten Blutgehaltes und der dadurch be¬
dingten Behinderung der elastischen Retraktionskraft nicht
sofort auf die exspiratorisclie Normalstellung zurückkehren.
Diese Rückkehr zur Norm erfolgt erst bei entsprechend ver¬
längerter Atempause, oder auch allmählich im Verlauf
mehrerer immer mehr abnehmender Respirationsausschläge.
Bei verstärkter Inspiration leistet die Lunge vermehrte
Arbeit. Stärkere Beanspruchung des Organs bedingt ver¬
mehrten Blutgehalt. Das ist ein physiologisches Gesetz, wie
es auch physiologisch ist, daß nach Aufhören der stärkeren
. Inanspruchnahme eines Organs die Hyperämie noch eine
; Zeitlang andauert. Durch verstärkten Inspirationszug wird
die Lunge nicht nur luftreicher, sondern auch blutreicher
und da der Blutreichtum dem elastischen Zuge entgegen¬
wirkt, so muß die Lunge noch so lange' gebläht und der
Thorax erweitert bleiben, bis die durch die verstärkte Inspi¬
ration bedingte Hyperämie noch andauert. Das ist eine
physiologische Blähung und die sogenannte „elastische
j • Nachwirkung“ stellt sich somit zum großen Teil als eine
Hyperämiewirkung dar. i '
Es ist nun von vornherein klar, daßi eine Lungenhyper¬
ämie nicht nur an der Vergrößerung des Organvolumens
beteiligt ist, sondern daß sie auch dazu angetan ist, den Druck¬
ablauf im Alveolar- und Pleuraraum zu beeinflussen. Eine
richtige Würdigung dieser beiden Momente ist unentbehr¬
lich, da wir hierdurch Aufschluß erhalten über einige Fragen, {
die bei der Mechanik der Lungenblähung mitzuberücksich¬
tigen sind.
Wenden wir uns zunächst dem Alveolardruck zu und
suchen wir zu eruieren, wie sein Verhalten bei der Normal¬
atmung ist. Direkt zu messen ist der Alveolardruck nicht.
Aber auf indirektem Wege können wir dazu gelangen,
seinen Druckablauf, freilich nur annährend, abzuschätzen ;
das genügt für die uns eben interessierende Frage voll¬
kommen. Es ist eben gar nicht notwendig, daß wir die
absoluten Druckwerte kennen, vielmehr kommt es hierbei
nur auf den Charakter, resp. die Form des Druckablaufs an.
Nach einer von Prof. W e r i g o ersonnenen Methode habe
ich 2) vor sieben Jahren dieser Frage näher zu treten gesucht.
Der Alveolardruck ist uns eine unbekannte Größe,
; — x. Um für ihn eine Formel zu finden, gehen wir von einer
bekannten Größe aus und wählen dazu den Pleuradruck =P.
Der letztere ist gleich dein Druck im Alveolarraum minus der
Lungenelastizität (E). Also ist: P = x — E. Daraus folgt,
daß x = P + E sein muß. Während der Respiration sind
aber P und E beständigen Schwankungen unterworfen. Um
also eine Vorstellung vom Ablauf des Alveolardrucks zu
erlangen, müssen wir imstande sein, diese Schwankungen
kontinuierlich zu registrieren und zu messen. Was die De¬
tails dieser äußerst komplizierten und umständlichen Mes¬
sungen und Berechnungen betrifft, so verweise ich auf die
Originalarbeit, in der zwei Berechnungskurven für den Alveo¬
lardruck abgebildet sind, eine bei intakten Vagis, die andere
nach einseitiger Vagusdurchschneidung. Die Berechnungs¬
kurven weisen nun folgenden Charakter auf: Während der
Atempause entspricht der Alveolardruck so ziemlich dem
Atmosphärendruck. Mit Beginn des Inspiriums sinkt der
Alveolardruck nicht plötzlich ab, wie man es vielleicht er-
2) Experimentelle Studien über den Alveolardruck der Lungen und
über den Druck im Pleuraraum. Archiv für (Anatomie und) Physiol.
1905, Suppl.
893
warten könnte,, sondern ganz allmählich, um beim Ende
des Inspiriurps den tiefsteu negativen Druckwert zu er¬
reichen. Hierbei ist zu konstatieren, daß ein direkter Pa¬
rallelismus zwischen dem Alveolardruck und dem Pleura¬
druck zu existieren scheint. Je größer beim Inspirium der
negative Pleuradruck wird, desto mehr sinkt auch der Alveo¬
lardruck. Da,s ist nun an und für sich ganz selbstverständ¬
lich und weist darauf hin, daß eine erfolgreiche irnd tiefe
Luftaspiration in den Alveolarraum in Zusammenhang steht
mit der Fähigkeit den Pleuradruck ausgiebig zu erniedrigen.
Beginnt nun das Exspirium, so steigt der Druck in den
Alveolen nicht allmählich, sondern er schnellt plötzlich
empor und wird positiv. Er beträgt nach der Berechnungs¬
kurve bei mittelgroßem Hunde zu Beginn des Exspiriüms
| einige Zentimeter Wasserdruck. Gleich darauf fällt aber
der Druck unter spitzem Winkel bedeutend ab, um während
j der weiteren Exspirationsphase allmählich sich dem Atmo-
j Sphärendruck zu nähern. Es entsteht also nach der Berech-
J nungskurve zu Begiim des Exspiriüms ein plötzlicher, aber
gleich danach jedoch ebenso plötzlich nachlassender
[ Ueberdruck in den Alveolen. Bei adliger Atmung eruierten
j wir bei den untersuchten Kurven als maximalen positiven
Wert beim Einsetzen der Exspirationsphase ca. 7 cm
I Wasserdruck.
In bezug auf die eben geschilderte Form der Exspirations¬
druckkurve, die nach unserer Berechnung zu Beginn des
Exspiriüms einen spitzen Winkel mit einem steil aufschie¬
ßenden und fast ebenso steil abfallenden Schenkel darstellt,
ist eine gewisse Reserve am Platz. Man kann nämlich anneih-
men, daß unter normalen Verhältnissen beim Beginn des
Exspiriüms keine so plötzliche und keine so hohe Druck¬
steigerung im Alveolarraum entsteht, wie es die Berech¬
nungskurve zeigt, und zwar aus folgenden Gründen : Zwecks
Eruierung des Alveolardruckes mußten kontinuierlich regi¬
striert werden der Pleuradruck und der Druck in der Trachea.
Zugleich war es auch notwendig, das Atemvolumen zu
kennen, welches jedem beliebigen Respirationsmoment ent¬
spricht. Zu dem Belüfte respirierten die Tiere aus einem
50 Liter fassenden Behälter. Die Daten zu diesen Messungen
lieferte das lebende Thier. Die Lungenelastizitätsbestim¬
mungen mußten dagegen am eben getöteten Tier vorgenom¬
men werden. (Die Methodik dieser Messungen ist in der
oben zitierten Originalarbeit beschrieben.) Die Elastizitäts¬
werte, welche man durch graduierte Lufteintreibungen und
und -aussaugungen an der Lunge des eben getöteten Tieres
erhält, müssen auf der Höhe des Inspiriums, resp. zu Be¬
ginn des Exspiriüms um ein Geringes von den Werten bei
spontaner Atmung abweichen, d. h. die ersteren müssen
größer lausfallen als die letzteren. Beim eben getöteten Tiere
fehlt vor Beginn des Exspiriüms die Aspirationshyperämie
wegen Sistierens der Zirkulation. Nun wissen wir aber,
daß eine blutreichere Lunge der exspiratorischen Zusammen¬
ziehung einen größeren Widerstand setzt, als eine blutärmere.
Wenn auch der Unterschied in der Blutfülle der Lungen
zwischen Inspiration und Exspiration bei ruhiger spontaner
Atmung kein großer sein kann, so ist er doch vorhanden.
Bei künstlicher Lufteintreibung ist die Lunge auf der Höhe
der jeweiligen Entfaltung nicht blutreicher als zuvor, wäh¬
rend es die Lunge des spontan atmenden Tieres auf (der
Höhe des Inspiriums wohl ist. Da nun der vermehrte Blut¬
gehalt dem Elastizitätszug einen größeren Widerstand bietet,
so ist vorauszusetzen, daß zu Beginn des Exspiriüms die
Lunge des lebenden Tieres sich weniger energisch
zusammenziehen wird, als die künstlich aufgeblähte des
toten. Daraus folgt, daß beim lebenden Tier der Alveo¬
lardruck zu Beginn des Exspiriüms nicht ganz die Höhe
erreicht, wie es die Berechnungskurve demonstriert und
ferner, daiß die Druckkurve unter einem weniger spitzen
Winkel verläuft.
Trotz dieser Einschränkungen kann es nichtsdestowe¬
niger als feststehend betrachtet werden, daß mit dem Ein¬
setzen der Exspirationsphase der Druck in den Alveolen
plötzlich positiv wird, d. h. den Atmosphärendruck über-
894
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 25
ragt. Zugleich ist es einleuchtend, daß die Höhe des posi¬
tiven Druckes keinem konstanten Werte entsprechen kann,
ein eine variable Größe darstellen muß und abhängig
' ein wird davon, ob die Exspiration schnell oder langsam,
stark oder schwach einsetzt. Doch offenbar nicht von der
vis a tergo allein hängt die Höhe des exspiratorischen Al¬
veolardruckes ab. Alles, was den Abfluß der inspirierten
Lungenluft behindert, müßi den exspiratorischen xllveolar-
druck noch weiter steigern. Hierbei käme vor allen Dingen
in Betracht eine Schwellung der Bronchiolenschleimhaut,
von welcher man annimmt, daß sie imstande sei, insbeson¬
dere die Exspiration zu erschweren.
Bei dieser Gelegenheit mußi ich auf eine aprioristische
Schlußfolgerung hinweisen, welche von vielen Autoren in
dieser Frage gezogen wird. Man stellt sich vor und das
mit Recht, bei tiefsitzender Bronchitis beeinträchtige die
Schleimhautschwellung die Luftzirkulation freilich in beiden
Atemphasen, aber die Hindernisse seien im Exspirium größer.
Auf dieser Annahme fußend, folgert man nun weiter, es
müsse bei den genannten Schwellungszuständen eine im
Verhältnis zur Inspiration bedeutend verlängerte Exspiration
zutage treten. Den Grund für diese Verlängerung sucht
man also einzig und allein in einem rein mechanischen
Moment. Wenn wir uns jedoch fragen, ob es schon bewiesen
ist, daß eine Schleimhautschwellung an und für sich die
direkte l'rsache bildet für eine Verlängerung des Exspiriums,
so ist darauf mit Nein zu antworten. Bei der kapillaren
Bronchitis der Kinder haben wir eine Schwellung der
Schleimhaut der kleinsten Bronchien und es ließe sich er¬
warten, daß bei dieser verhältnismäßig nicht seltenen Er¬
krankung der At.mungsmodusi und seine Ursachen schon
längst klargestellt sein müßte. Das ist jedoch nicht der
Fall. Zur Illustration seien hier die Ansichten zweier zu¬
verlässiger Kliniker, Bi er m er und F. A. Hoffmann,3)
erwähnt, (zil. nach Hoffmann): „Die Atmung dieser Kran¬
ken ist vielfach verschieden gefunden worden; es ist sicher,
daß eine Erschwerung der In- und Exspiration besteht ....
dabei ist das Verhältnis beider zu einander nicht wesent¬
lich geändert. Biermer erwähnt zwar, daßi auch ein
Atemrhythmus mit vorwiegender Exspirationsnot beobachtet
wurde, wie er bei Asthma vorkommt. Hierüber kann ich nur
sagen, daß mir auch öfter bei größerer Verbreitung des
Katarrhs die Exspiration sehr verlängert erschienen ist.
Aber solche Kinder atmen überhaupt, solange sie wach
sind, sehr unregelmäßig; man muß sie im Schlafen beobach-
len und hier habe ich eine auffallende Verlängerung nicht
konstatieren können.“ — Da nun bei den genannten Bron¬
chialschwellungen die Erschwerung des Gasaustausches auch
in der Nacht fortbesteht und dabei trotzdem oft kein im Ver¬
hältnis zum Inspirium besonders verlängertes Exspirium
zu konstatieren ist, so haben wir Grund zu zweifeln, ob nur
das mechanische Moment der Schleimhautschwellung allein
genügt die Exspiration zu verlängern. Ich habe daher zur
Orientierung über diese Frage das Experiment herangezogen.
Experimentell läßt sich eine Schleimhautschwellung
durch Ammoniak erzeugen. Freilich ist unter solchen Um¬
sländen (keine Möglichkeit vorhanden den Ablauf des Alveo¬
lardruckes auch nur annähernd zu bestimmen. Wir kön¬
nen über diese Frage trotzdem zu gewissen Schlußfolge¬
rungen gelangen, wenn wir die Verhältnisse, die dabei die
Lunge als Ganzes darbietet, in Betracht ziehen und vor
allen Dingen den Pleuradruck und die in- und exspirierten
Luftvolumina messen. Bei den Versuchen waren beide Vagi
durchschnitten. Die näheren Daten sind in meiner Arbeit
über den Alveolardruck (siehe oben) nachzusehen. Hier
sei nur darauf hingewiesen, daß entsprechend der raschen
Entwickelung einer hochgradigen Bronchialschleimhäut¬
schwellung, welche akustisch sich als ausigebreitetes Gie¬
men, Pfeifen und feinblasiges Rasseln äußert, zugleich auch
der Verlauf der Atem- und Pleuradruckkurve sich intensiv
3) F. A. Holtmann, Die Krankheiten der Bronchien. Nothnagels
Sammelwerk, S. 99.
ändert. Auf der Höhe der Schleimhautschwellung beobachtet
man eine Verlängerung sowohl des In- wie auch des Ex¬
spiriums, als Ausdruck einer erschwerten Passage durch
die Bronchiolen. Durch Vergleichen der Atemdruckkurve
mit der entsprechenden Kurve des Pleuradruckes kann man
konstatieren, daß zuweilen, trotz Einsetzen des Inspirations-
zuges (Sinken des Pleuradruckes), während der ersten Phase
der Inspiration noch keine Luft in die Lunge dringt (Horizon¬
talbleiben der Atemdruckkurve) und andererseits, daß um¬
gekehrt in der letzten Phase der Exspirationsbewegung keine
Luft der Lunge mehr entweicht (Horizontalbleiben der
Atemdruckkurve, trotz weiteren Anstieges des Pleura¬
druckes). Dabei kann der Pleuradruck ein so hoher sein,
daß er nicht nur in der Exspirationsphase, sondern, auch
während des größten Teiles der Inspirationsdauer den At¬
mosphärendruck überragt. Die Kurven geben aber gar keinen
Anhaltspunkt dafür, daß das Exspirium im Verhältnis zum
Inspirium bedeutend verlängert wäre. Freilich kann man
die eben geschilderten Verhältnisse nicht direkt auf die
menschlichen Verhältnisse übertragen, denn eine so hoch¬
gradige und ausgebreitete Schleimhautschwellung, wie sie
im Experiment durch Ammoniakinhalation in die Erschei¬
nung tritt, dürfte schwerlich auch beim akutesten Bron¬
chialkatarrh des Menschen Vorkommen. Trotzdem ist die
Tatsache belehrend, indem sie uns zeigt, daß auch die
hochgradigste Schleimhautschwellung die Exspiration nicht
stärker zu erschweren braucht als die Inspiration. Die
Hindernisse der Luftpassage sind für beide Atemphasen
annähernd die gleichen. Im Experiment sieht man nun
auch weiter, daß das Verhältnis von Inspirium zum Exspi¬
rium sich nicht wesentlich ändert, wenn das Tier von dem
Ammoniakreize sich zu erholen beginnt, wenn also die
Schleimhautschwellung etwas nachläßt und demnach die
Situation dem menschlichen akuten Bronchialkatarrh -ähneln
dürfte. In diesem Stadium sind immer noch beide Respi¬
rationsphasen bis zu einem gewissen Grade erschwert,
freilich die Exspiration vielleicht etwas mehr als die In¬
spiration, aber von einer ausgesprochenen Verzögerung, resp.
Verlängerung des Exspiriums im Verhältnis zum Inspirium
ist auch liier nichts zu bemerken.
Wir (haben daher volle Veranlassung zu behaupten, daß
das mechanische Moment der Schleimhautschwellung an
und für sich den Gasaustausch in den Lungen freilich be¬
deutend erschwert, wie es auch zu erwarten war; in der
Schleimhautschwellung allein kann jedoch nicht der Grund
zu suchen sein für die Verlängerung des Exspiriums, welche
wir beim Menschen so häufig beobachten.
Es taucht daher die Frage auf nach der Rolle der
Innervation der Bronchial-, resp. Bronchiolenmuskulatur, wo¬
bei zu prüfen ist, wie die letztere bei schon bestehender
Schwellung der Schleimhaut die Respiration beeinflußt, wem
man die Vagi reizt. Auch über derartige V ersuche ist in meiner
vorher zitierten Arbeit über den Alveolardruck Mitteilung
gemacht. Bei den narkotisierten und doppelseitig vagoto-
mierten Hunden wurde eine mehrere Minuten dauernde In¬
halation mit Ammoniakdämpfen eingeleitet bis zu dem Mo¬
ment, wo ein ausgebreitetes Rasseln und Giemen über beiden
Lungen konstatiert werden konnte. Darauf wurden beide
Vagi gereizt. Auf Kurventafel G der genannten Arbeit siebt
man, daß der Reiz über eine ganze Respirationsphase sich
erstreckt und zwar während der Respirationspause einsetzt
und über die Inspiration und Exspiration bis zur nächst¬
folgenden Atempause andauert. Die Inspiration wird dabei
durch eine sehr in die Länge gezogene schräge Linie dar¬
gestellt und ist ungefähr doppelt so lang, als die vorher¬
gehenden Inspirationen. Die Exspirationslinie bildet eben¬
falls einen schräger aufsteigenden Bogen, als die vorher¬
gehenden Exspirationen, doch ist sie bedeutend kürzer als
die Inspirationslinie. Die Vagusreizung hat also in diesem
Falle vorzugsweise das Inspirium erschwert und verlängert,
Falls sich nun hierbei die Bronchialmuskeln kontrahiert
haben, so haben sie dem Lufteinströmen größere Hindernisse
geselzl, als dem Abströmen. Wir sehen demnach, daß auch
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
895
diese Versuche nicht dazu angetan sind uns darüber aufzu¬
klären, warum bei Schwellung der Bronchialschleimhau I
so häufig die Exspiration verlängert erscheint.
Im Jahre 1903 4) habe ich über Untersuchungen berich-
let, deren Resultate uns der Lösung dieser Frage näher
bringen. Während in den oben geschilderten Versuchen die
Tiere (Hunde) narkotisiert waren und bei allen die Ammo¬
niakinhalation erst vorgenommen wurde, nachdem beide
. Vagi durchschnitten waren, verfuhr ich in diesen Versuchen
anders. Statt an Hunden, wurde an Kaninchen experi¬
mentiert, welche letzteren weniger empfindlich sind 7 so daß
von einer Narkose Abstand genommen werden konnte. Auch
die Vagi wurden zunächst intakt gelassen. Um zu prüfen,
welche Aenderungen einerseits eine mäßige, andrerseits eine
hochgradige Schleimhautschwellung im Atmungsablauf her¬
vorruft, dauerte die Inhalation von Ammoniakdämpfen zu¬
nächst nur 1 '• bis 2 Minuten, später dagegen 10 bis 20 Mi¬
nuten. Registriert wurde in allen Fällen mit dem Ph'reno-
graphen, in einigen Fällen außerdem noch mit dem Thorako-
graphen. Bei den meisten Tieren entwickelte sich nach einer
etwa zwei Minuten dauernden Inhalation eine Verlangsa¬
mung, resp. \ ertiefung der Atmung, die besonders deutlich
wurde nach xAussetzen der Inhalation. In einigen Fällen sah
man, nachdem sechs bis sieben Minuten lang kein Ammoniak
mehr inhaliert war, daß die Exspiration im Verhältnis zum Tn-
spirium sich um ein ganz Bedeutendes verlängerte; doch
nicht in allen Atemphasen war die Exspiration verlängert.
Ließ man nun die Tiere zehn bis zwanzig Minuten ununterbro¬
chen inhalieren, so trat jedesmal ohne Ausnahme eine bedeu¬
tende Verlangsamung und Erschwerung der Respiration ein,
doch in keine m Fall kam es zu einer, Im Verhältnis zur In¬
spiration, bedeutender verlängerten Exspiration. Im Gegen¬
teil, die Inspiration war häufig verlängert. Das nämliche
Bild entwickelte sich bei doppelseitiger Vagotomie, d. h. die
Respiration war durch die Wirkung der Ammoniakdämpfe be¬
deutend erschwert, doch eine Verlängerung des Exspiriums
kam nicht zum Ausdruck und, worauf besonders hinzuweisen
ist, auch nicht in den Fällen, wo die Inhalation nur eine
kurze Zeit (ein bis zwei Minuten) gedauert hatte.
Wir stehen hier vor einem scheinbar paradoxen Ver-
hältnis. Hochgradige Schwellung der Bronchialschleimhaut
verlängert trotz hochgradiger Erschwerung der Respiration
die Exspiration nicht mehr, als das Inspirium, gleichviel,
ob die Vagi durchschnitten sind oder nicht. Mäßige Schleim¬
hautschwellung dagegen kann das Exspirium verlängern,
aber nur dann, wenn die Vagi heil bleiben. Der Grund für
ein derartiges Verhalten ist meines Erachtens in der Am¬
moniakwirkung zu suchen. Ließ man nämlich die vagoto-
mierten Tiere lange Zeit die Dämpfe einatmen, so trat schlie߬
lich jedesmal eine Zwerchfelllähmung ein5), ein Beweis,
daß Ammoniak ins Blut übergetreten war. Es ist daher
auch nicht von der Hand zu weisen, daß durch intensive
Ammoniakwirkung der Vagus geschädigt wird. Falls dem
so ist, so würde dieser Umstand einer doppelseitigen Vago¬
tomie gleich zu erachten sein und zugleich eine Erklärung
abgeben dafür, daß: die Atmungskurven nach langdauernder
Ammoniakinhalation bei heilen Vagis analog sind den Kur¬
ven, wo die Inhalation nach Vagotomie erfolgte. War Am¬
moniak aber erst eine kurze Zeit inhaliert worden, die Vagi
daher noch funktionstüchtig, so unterschied sich die Kurve
wesentlich von der Kurve nach Vagotomie. Nur im ersten
Fall kam eine deutliche Verlängerung des Exspiriums zum
Ausdruck. Es ist daher anzunehmen, daß die Verlängerung
des Exspiriums, wie wir sie bei Bronchostenose durch
Schleimhautschwellung häufig beobachten, an das Funktio¬
nieren des Vagus gebunden ist. .Sie stellt einen Regulations¬
mechanismus dar, der zweckmäßig ist. '
4 Experimenteller', Beitrag zur Physiologie des Brustvagus nebst
Bemerkungen über akute Lungenblähung. Wiener klin. Wochenschr.
1903, Nr. 43.
6) S i e h 1 e, Ueber Zwerchfellähmung nach Ammoniakinhalation.
Zentralbl. für Physiologie 1903, H. 9.
Diese Annahme findet ihre völlige Begründung in den
Resultaten der Untersuchungen von He r i ng und Breue r,
die die Autoren Veranlaßte, seinerzeit die Theorie von der
Selbststeuerung der Atmung aufzustellen. L u c i a n i 6) sagt
darüber: „Wenn man den Gummischlauch, der an der
Trachealkanüle eipes Tieres angebracht wird (das intakte
Vagi besitzt und regelmäßig atmet), in dem Momente ver¬
engert oder verschließt, in welchem die Exspiration aufhört
und die Inspiration einsetzt, so beobachtet man, daß diese
eine viel längere Dauer annimmt. Wenn man hingegen die
Trachea nach Vollendung einer Inspiration und bei Beginn
der Exspiration verengert oder verschließt, so beobachtet
man, daß das f'jcr die letztere in die Länge zieht, und
länger in Exspirationsstell ring verharrt. Diese Erscheinun¬
gen hören nach Durchschneidung der Vagi auf.“
Der Unterschied zwischen diesen und unseren Am¬
moniakversuchen besteht nur darin, daß in den letzteren
die Verengerung nicht in der Trachea, sondern in den kleinen
Bronchien entsteht. Warum bei Bronchostenose infolge
Schl eimhau (schwell 11 ng und durch die durch dieselbe be¬
dingte Erschwerung beider Atemphasen die Inspiration weni¬
ger verlängert wird als die Exspiration, das liegt wohl an
der größeren Nachgiebigkeit der Bronchiolenwände. Wenn
öi<' liachea durch mechanischen äußeren Druck verengt
wird, so wird auch der stärkste Inspirationszug keine Er¬
weiterung derselben zustande bringen und sowohl In- wie
Exspiration werden länger werden. Bei Schwellung der Bron¬
chiolenwand wird ein kräftiger Inspirationszug durch1 Er¬
weiterung der Lunge auch die kleinen Luft führenden Wege er¬
weitern, den Luftzutritt daher erleichtern ; eine forcierte
Exspirationsbewegung würde dagegen durch Verstärkung des
Seitendruckes eine plötzliche und maximale Verengerung
der durch den Inspirationszug vorher erweiterten kleinsten
Luftwege bewirken und die Ventilation stören; sind die
Vagi dabei durchschnitten, so wird die Störung den höheren
Zentren nicht vermittelt und die Ventilation bleibt unzweck¬
mäßig. Bei intakten Vagis dagegen erfolgt dank der zen-
tripetalen Meldung die einzig mögliche Regulation dieser
Störung, nämlich die Verlängerung des Exspiriums. Diese
letztere Erscheinung ist also ein reflektorischer Regulations¬
vorgang, der deutlich in sich den Charakter des Zweck¬
mäßigen trägt.
Zu den Faktoren, welche die regulate rische Verlän¬
gerung des Exspiriums vereiteln und damit zugleich den
Luftaustritt aus dem Alveolarraum behindern können, ge¬
hören nun ,alle Momente, die den Seitendruck der Bron¬
chiolenwand maximal erhöhen. Das eine Moment ist be¬
gründet in dem soeben erwähnten Vorgang (Ter forcierten
Exspirationsbewegung. Ist dabei die Schleimhaut der Bron¬
chiolen geschwollen und mit Sekret bedeckt, so muß man mit
der Annahme rechnen, daß bei heftiger Ausatmung die am
stärksten angegriffenen kleinsten Luftwege ganz geschlossen
werden. In den zu den betreffenden Bronchiolen gehörenden
Alveolargebieten muß es in solchem Falle zu einer starken
Drucksteigerung kommen, wobei diejenigen Alveolarpartien,
die dem Druck ausweichen können (das sind die Lungen¬
randpartien), am meisten gedehnt werden. Das zweite Mo¬
ment für eine Verstärkung des Seitendruckes ist in der
verstärkten Kontraktionstätigkeit der Bronchialmüskulatur
zu suchen, bedingt durch erhöhte reflektorische Reizbar¬
keit der zentrifugalen Vagusäste. Eine Berechtigung zu
dieser Behauptung geben mir die weiteren Untersuchungen,
welche in dem oben zitierten „Experimentellen Beitrag zur
Physiologie des Brustvagus etc.“ geschildert sind. Es wurden
unter anderem zahlreiche Versuche mit Luftaussaugungen
aus der Lunge vorgenommen und zwar nur ans einer Lunge,
nachdem ein Obturator in einem Hauptbronchus befestigt
war. Die Tiere waren vagotomiert und die nicht obturierte
Lunge wurde zur künstlichen Atmung benutzt. Der Ob¬
turator stand durch ein verschließbares Ventil mit einem
8) Luciani, Physiologie des Menschen. Deutsch von Baglion i
I und Winter stein 1905, Bd. 1, S. 387.
896
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
250 era5 fassenden Zylinder in Verbindung. Vor der Luft¬
ansaugung wurde während der Apnoe ein je nach Wunsch
rsv, hied enes Quantum Luft in die zu obturierende Lunge
eingetrieben und darauf gleich die Luftaussaugung vorge¬
nommen. Die letztere wurde dadurch bewirkt, daß im Zy¬
linder durch eine einfache Vorrichtung ein andauender nega¬
tiver Druck geschaffen werden konnte, wodurch die Lungen-
luft, nachdem das Ventil zwischen Obturator und Zylinder
geöffnet war, beständig nach dem Zylinder zu gesaugt wurde.
Die künstliche Respiration der anderen Lunge wurde stets
nach beendigter Inspirationsphase unterbrochen. Es ist nun
klar, daß beim Oeffnen des Ventils die im Obturator und in
den Bronchien befindliche Luft mit einer gewissen Plötzlich¬
keit in den Zylinder strömte. Dadurch mußte eine
Druckdifferenz zwischen dem Bronchial- und Alveoiar-
raurri entstehen. Hierbei konnte man die Beobachtung
machen, daß hin und wieder das Luftabströmen plötzlich
sistierte, nachdem erst, nur 'ein Bruchteil der vorher in die
Lunge getriebenen Luft abgeflossen war. Der beim Luft¬
abfluß plötzlich in Aktion tretende Seitendruck hatte die
Bronchiolen zum Verschluß gebracht. Höchst bezeichnend
für die Rolle der Innervation der Bronchialmuskulatur
war nun die Tatsache, daß bei peripherer Vagusreizung diese
Sistierung des Luftaustrittes überaus häufig in die Erschei¬
nung trat, ohne Reizung dagegen nur einigemal. Wir haben
daher volles Recht zu behaupten, daß Vagusreizungen den
Tonus der Bronchialmuskulatur bedeutend erhöhen und da¬
mit die Exspiration, falls nicht Regulation eintritt, bedeu¬
tend erschweren können.
Bei dieser Gelegenheit müssen wir die Lehre vom
Bronchospasmus streifen. — Daß die glatte Muskulatur der
Bronchien bei peripherer Vagusreizung sich kontrahieren
kann, ist schon in den Vierzigerjahren des. vorigen Jahr¬
hunderts von Longet, später von Bert, Schiff, G e r-
lach u. a. behauptet worden. Noch später haben Eint¬
hoven und Beer diese Theorie auf experimentellem Wege,
jeder mit anderer Methode, zu begründen gesucht. Beide
Autoren konstatierten bei peripherer Vagusreizung vermittels
Registrierapparaten eine Erhöhung des intratrachealen
Druckes, woraus auf Bronchospasmus geschlossen wurde.
Einthoven beobachtete' bei seinen Versuchstieren außer¬
dem eine Vergrößerung des Brustumfanges’ und deutete dieses
Ergebnis als durch Lungenblähung bedingt, während Beer
eine Lungenblähung auf phrenographischem Wege nachge¬
wiesen zu haben glaubte. Auf Grund dieser Untersuchungs¬
resultate betrachten nun die meisten Autoren den Brochial-
krampf als Ursache der asthmatischen Lungenblähung für
vollkommen erwiesen (unter anderen auch Krehl [Patho¬
logische Physiologie]). Dem ist nun durchaus nicht so
und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die durch Vagus¬
reizung hervorgerufenen Erscheinungen, d. i. Steigerung des
intratrachealen Druckes einerseits, Vergrößerung des Brust¬
umfanges resp. Niedrigertreten des Zwerchfells anderseits —
vor allen Dingen Folgen einer durch den Vagusreiz be¬
dingten Lungenhyperämie sind, wie ich das in drei Arbeiten 7)
nachgewiesen habe. Denn läßt man die Tiere aus einem
von der Zimmerluft abgeschlossenen Atemgefäß respi¬
rieren, so sieht man, daß die Lunge nach Vagusreiz nicht
lufthaltiger, sondern im Gegenteil luftärmer wird. Von einer
Lungenblähung ist also dabei keine Rede und folglich wer¬
den die Resultate von Einthoven und Reer ganz irrtüm¬
lich als Beweis dafür herangezogen, daß durch periphere
Vagusreizung (resp. durch Bronchialkrampf) eine Lungen¬
blähung entstehen könne. Um wirklich zu beweisen, daß
eine periphere Vagusreizung die Bronchialmuskulatur zur
7) M. Sihlc, a) Experimentelle Untersuchungen über Ver¬
änderungen des Lungenvolumens und der Lungenkapazität bei Reizung
der Nasenschleimhaut. Archiv für (Anatomie und) Physiologie 1906,
Supp!.; b) lieber den Einfluß von Dünndarm- und Ischiadikusreizung
auf die Luft- und Blutkapazität der Lungen. Archiv für (Anatomie und)
Physiologie 1907, Suppl. ; c) Experimentelles und Kritisches zur Lehre
von der Lungenschwellung und Lungenstarrheit«, Zeitsehr. für klin.
Medizin 1908, Bd. 66, H. 1 u. 2.
Nr. 25
Kontraktion bringt, muß vor allen Dingen bei den Versuchen
die Wirkung des Vagusreizes auf die Zirkulation ausgeschlos¬
sen werden, was nach Durclisohneidung der Herzäste des
Vagus der Fall ist. Derartige Versuche habe ich in der oben
zitierten Arbeit „Experimenteller Beitrag zur Physiologie
des Brustvagus etc.“ veröffentlicht. In diesen Versuchen
waren die Rami cardiaci dextri durchschnitten (ohne Eröff¬
nung der Pleurahöhle) und es wurde bei Apnoe in die rechte
Lunge sowohl bei Vagusreizung wie auch ohne dieselbe
Luft eingetrieben, wobei es sich zeigte, daß in den Ver¬
suchen mit Vagusreizung dem Lufteinströmen meistenteils
größere Widerstände erwuchsen als ohne Reiz. Es ist daher
mit der Annahme zu rechnen, daß Vagusreizung tatsächlich
die Bronchialmuskulatur zur Kontraktion bringt; doch in
keinem Versuche, wo die Herzäste erhalten waren und
wobei die Tiere andauernd atmeten, konnte durch Vagus¬
reizung eine Vermehrung der Lungenluft beobachtet werden.
Im Gegenteil! In allen Fällen, ohne Ausnahme, wurde die
Lunge durch Vagusreizung luftärmer und dabei blutreicher.
Also : Bronchospasmus an und für sich erzeugl noch keine
Lungenblähung, doch kann er als mitwirkender Faktor bei
der Schleimhauthyperämie eine nicht zu unterschätzende
Rolle spielen.
*
Wenn wir alles bisher Erörterte berücksichtigen, so
verstehen wir, welche Konstellation von Bedingungen zur
Entwicklung des Volumen pulmonum auctum erforderlich
ist. Jede Theorie ist abzulehnen, die nur ein Hauptmoment
als ätiologischen Faktor hinstellt. Weder die Inspirations¬
theorie, noch auch die Exspirationstheorie — jede für sich
allein — kann eine zureichende Erklärung aller bei der
Lungenblähung zu beobachtenden Erscheinungen geben. Als
wesentlichstes Gegenargument für die ausschließliche In¬
spirationstheorie hat zu gelten die Auftreibung der Lungen¬
spitzen, die bei vielen Asthmatikern während eines schweren
Anfalles, wie auch bei mehreren chronisch Emphysematosen
zu beobachten ist. Keinerlei Inspirationsanstrengung, auch
nicht der stärkste Inspirationszug, vermag die Lungenspitzen
derart vorzuwölben. Dazu gehört unbedingt ein Druck von
innen und das ist schon ein exspiratorisches Moment. Frei¬
lich spielt dabei das inspiratorische Moment auch eine
gewisse Rolle. Läßt man bei geschlossener Glottis eine
maximale Exspirationsbewegung machen, so sieht man, daß
die Supraklavikulargruben sich zwar heben, aber nicht be¬
deutend. Wiederholt man nun den Exspirationsversuch,
nachdem vorher maximal inspiriert worden war, so wird die
Vorwölbung der Spitzen schon deutlicher. Also zunächst
verstärkte Inspiration, darauf verstärkte und zugleich durch
Widerstände gehemmte Exspiration, d. h. beide Momente
haben ihren Anteil an der Blähung der Spitzen.
Nun fragt es sich, ob man die Verhältnisse an den
Lungenspitzen ohne weiteres auf die ganze Lunge übertragen
kann. Offenbar nicht ganz, denn die Spitzen unterscheiden
sich von den tieferen Lungenpartien in einer Hinsicht sehr
wesentlich, nämlich im Blutgehalt. Das Alveolargcbiel der
Spitzen ist blutärmer und seine Alveolarwände setzen daher
dem Druck von innen einen geringeren Widerstand ent¬
gegen, als die blutreicheren, tieferen Partien. Eine Son¬
derstellung nehmen auch die Randpartien ein, welche der¬
artige Bedingungen aufweisen, daß sie einerseits durch Zug
stärker sich weiten, andrerseits aber auch dem Innendruck
besonders leicht nachgeben, dank ihrer Ausweichmöglich¬
keit in den Komplementärraum.
Als Ursache der Lungenblähung, resp. des Emphysems,
gelten mit Recht Rronchitis und Asthma. Bei der Bronchitis
befindet sich die Bronchialschleimhaut in einem beständigen
Reizzustande. Dieser Reizzustand bedingt zugleich eine ge¬
steigerte Reizbarkeit des Vagus, wodurch, entsprechend den
oben dargelegten Untersuchungen, eine gewisse ständige
Hyperämie im Lungenkreislauf unterhalten wird. Am blut¬
reichsten sind naturgemäß] die unteren und hinteren Lungen -
Partien. Mit dem Blutreich! um geht Hand in Hand eine
gewisse Verminderung der Lungenelastizität, resp. Retrak-
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
tionsmöglichkeit, der Pleuradruck steigt. Der Reizzustand
im Vagusgebiet erleidet periodisch Exazerbationen, wodurch
es zu Hustenstößen kommt. Der Reiz, welcher den Husten¬
stoß auszulösen im Begriff steht, erzeugt z.unächsl in der
hyperämischen Lunge eine erneute Hyperämiewelle, zugleich
aber erfolgt unmittelbar vor dem Hustenstoß eine tiefe Inspi¬
ration, wodurch in die Lunge außer Luft ein weiteres Blut¬
quantum gesaugt wird. Durch den tiefen Inspirationszug
werden die Alveolen über die Norm geweitet, wobei der
Druck in ihnen bedeutend unter den Atmosphärendruck
sinkt. Beim Einsetzen des Hustenstoßies ändern sich dann
plötzlich die Verhältnisse. Durch den heftigen Exspiralions-
itoß, der im Beginn gegen die geschlossene Glottis erfolgt,
steigt der Intrapulmonal-, resp. der Alveolardruck gewaltig
an, zugleich wird auch der Pleuradruck positiv. Der Blut-
reichtum und der positive Pleuradruck tragen den Cha¬
rakter einer Schutzvorrichtung gegen eine Ueberdehnung
der Alveolen, nur ist dieser Schutz für alle Alveolargebiete
nicht der gleiche. Diejenigen Bezirke, welche blutärmer
sind, wie die Spitzen, oder welche in den Komplementärraum
äusweichen können, wie die Lungenränder — diese Gebiete
müssen durch die Steigerung des Alveolardruckes am meisten
gedehnt und vorgetrieben werden. Die Tatsache, daß die
vorderen Lungenränder gewöhnlich stärker emphysematos
werden, als die unteren, erklärt sich aus dem größeren Blut¬
gehalt der letzteren, wodurch sieder Dehnung einen größeren
Widerstand leisten als die höher gelegenen vorderen
Randpartien. Die Dehnung der Alveolen ist nur eine kurz¬
dauernde, das heißt entsprechend der letzten Phase des
Inspiriums und vornehmlich der ersten des Exspiriums1,
da im weiteren Verlauf des Hustenstoßes nach Oeffnung
der Glottis ein freier Abfluß) der Alveolarluft gesichert ist.
Liegen die Verhältnisse aber derart, daß nach verstärktem
fnspirium und ungehinderter vermehrter Füllung der Alve¬
olen Ider Luftaustritt erschwert oder in einzelnen Bronchial¬
verzweigungen gar gänzlich behindert ist (welche Möglich¬
keit nach den obigen Ausführungen durchaus gegeben ist),
so kann die Alveolardehnung nicht wie im vorher erwähnten
Falle sofort rückgängig werden, sondern sie muß einen
mehr dauernden Charakter annehmen u. zw. ausschließlich
nur dank der pathologischen exspiratorischen Kom¬
ponente. Die Bedingungen für die Entstehung dieser
Blähung liefern im genannten Falle die Inspiration und
Exspiration zusammen; die Dauer des Blähungszustandes
ist dagegen abhängig nur von der Dauer des pathologischen
exspiratorischen Momentes.
Anders gestalten sich die Verhältnisse beim kompen¬
satorischen Emphysem. Dieses ist in der Hauptsache ein
Inspirationsemphysem, solange nicht Hustenstöße und Be¬
hinderung des Luftaustrittes in Betracht, kommen. Die ver¬
stärkte iVentilation der einen Lunge bei ausgedehnter Störung
derselben in der andern, dehnt den Alveolarraum in der
letzten Phase des Inspiriums beständig über die Norm, wo¬
durch aber in die Alveolarkapillaren auch mehr Blut an¬
gesaugt wird. Die Lunge wird größer und blutreicher, sie
trägt den Charakter der Hypertrophie in sich und mil Recht
nennt man diesen Zustand einen kompensatorischen, weil
er die Folge ist eines Reparationsbestrebens, die gestörte
Atmung auf die für den Organismus notwendige Höhe zu
treiben.
Zug und Druck, Traktion und Pulsion kombinieren
sieb in mannigfaltigster Weise als mechanische Faktoren
bei der Entwicklung der Lungenblähung, resp. des Emphy¬
sems und dementsprechend gestaltet sich auch der Alveolar-
druck in Exspirationsphase verschieden. Bei denjenigen Zu¬
ständen, welche in der Folge zu einer reinen Traktions¬
blähung führen, das heißt in welchen nach verstärktem In¬
spirationszug ein ungestörter Luftabfluß gesichert ist, er¬
reicht der intraalveolare Exspirationsdruck positive Werte
von nur einigen Zentimetern Wasser. Treten jedoch Exspi¬
rationshindernisse ein, wie bei gewissen bronchitischen Zu¬
ständen oder beim Asthma und kommt es dabei zu Husten¬
stößen, so kann der intrapulmonale Druck (und somit auch I
der intraalveolare) auf das 20- bis 30fache steigen. Dieser
eminent hohe Druck muß sich, wie schon vorhin ausein-
andergesetzt wurde, am intensivsten in den Lungenspitzen
und den Rändern äußern und dieselben vortreiben.
Die ätiologische \\ ürtligung von Traktion und Pulsion
vermag auch den Streit beizulegen, der die Frage betrifft,
ob stark emphysematose Lungen nach Eröffnung des Thorax
vorquellen oder nicht,. Liegen ätiologisch Bedingungen vor,
die zu einem Traktionsemphysem geführt haben, so fehlt
dei Grund zum Vorquellen, während er beim Pulsionsemphy¬
sem in hochgradiger Weise vorhanden sein kann. Die Lun¬
genblähung, insofern sie sich als Folge von Asthma oder
Bronchitis entwickelt hat, ist Traklions- und Pulsionsemphy-
sem zugleich. Die Blähung der Spitzen und der Landpar¬
tien Verdankt ihre Entstehung überwiegend der Pulsion. Das
kompensatorische Emphysem, wie auch das Emphysem bei
der dilatativen Thoraxstarre ist vorwiegend ein Traktions¬
emphysem. Beim vikariierenden Emphysem dürften sich
dagegen Pulsion und Fraktion wiederum in der Wirkung
teilen.
A\ ir haben also bei der Mechanik der Lungenblähung
die Traktion und Pulsion streng voneinander zu scheiden
und sollten in Zukunft die Termini technici — Emphysema
e tractione und Emphysema e pulsione — akzeptieren. Bio¬
logisch unterscheiden sich die beiden ätiologischen Faktoren
grundsätzlich voneinander. Die verstärkte Traktion bedingt
eine Lungendeh nung plus Lungenhyperämie; im Beginn der
Exspirationsphase weicht der intraalveolare Druck nicht we¬
sentlich vom Druck bei normaler Atmung ab. Die Zirkulation
ist in den gestreckten Alveolarkapillaren eher erleichtert als
erschwert. Das Ganze trägt für die Respiration und Zirkula¬
tion bis zu einem gewissen Grade den Charakter eines Aus¬
gleiches, einer physiologischen Kompensation. Bei der Pul¬
sion steigt, der Innendruck der Alveolen bedeutend, die Al¬
veolargefäße werden gedrückt und somit die Zirkulation
direkt gehemmt. Für die Alveolarwand und seine Ernährung
trägt daher die Pulsion den Charakter eines hochgradig de-
struierenden Momentes.
Das Beklopfen der Leber und des Magens
und der Vibrationsdruck.
Von Prof. W. Jaworski in Krakau.
Um den Krankheitsherd lokalisieren zu können, bedient
man sich bei der Kranken Untersuchung in vielen Fällen des
Druckes. Man übt auf gewisse Körperstellen mit den Finger¬
spitzen einen Druck aus, nicht nur um Konsistenz und Resi¬
stenz der einzelnen Organe zu prüfen, sondern auch um
Schmerze m p f i n d u n gen auszulösen. Denn di e
meisten Organe, in welchen sich entzündliche Vorgänge ab¬
spielen, reagieren bei Anwendung eines viel geringeren
Druckes mit Schmerz, als wenn dieselben normal sind. Durch
den Druck sucht man z. B. die Interkostalneuralgie, Inter¬
kostalrheumatismus, Pleuritis sicca zu erkennen und diffe¬
renzieren. Der Druck ist ein sehr wichtiges und dazu ein¬
faches Hilfsmittel für die topische Diagnostik der Erkran¬
kung oberflächlicher Organe, besonders peripherer Nerven
und Muskeln. Nur muß man dabei kritisch Vorgehen und
nicht jede gefundene schmerzhafte Stelle, als direkt er¬
krankt ansehen, • denn es können projizierte Druckpunkte
II e a d sehe Schmerzregionen sein, welche durch Erkrankung
fernliegender Organe hervorgerufen werden.
Von den inneren Organen sind dem Drucke nur die
der Oberfläche näher liegenden zugänglich. Die anderen,
wie Herz, Milz, Nieren, der größte Teil der Leber, falls sie
normale Lage haben, können vom Fingerdruck nicht erreicht
werden. Es kann sich aber auf dieselben die E r s c h ü 1 1 e-
rung fortpflanzen, wenn man senkrecht zur Oberfläche
des Organes einen rasch intermittierenden Druck (Schläge),
d. h. das Beklopfen, ausführt. Die dabei entstehenden Er¬
schütterungen bringen, falls die betreffenden Organe er¬
krankt sind, Schmerzomplindungen hervor. Es wurde schon
898
WIENER KLINISCHE
Von mehreren Seiten aufmerksam gelmacht, daß man sich
der Erschütterung der Lumbalgegend zur Diagnostik der
Nierensteine bedienen kann. Goldflam (Medycyna 1900,
Vr. 25) führt zu diesem Zwecke in aufrechter Stellung des
Patienten Stöße mit der Ulnarseite der rechten Faust gegen
die Lendengegend aus. Auch C. A. E w a 1 d (E u 1 e nburgs
Realenzyklopädie, Bd. 10, S. 780). gibt an, daß der Stoß
gegen die Lumbalgegend bei Nierensteinen Schmerz ver¬
ursacht.
Ich will in dem vorliegenden Aufsatze meine Erfah¬
rungen, welche ich mit dem Beklopfen der Leber, welches
Organ sich sehr dazu eignet, sowie des Magens gemacht
habe, milteilen.
Man muß beim Beklopfen der Leber unterschei¬
den deren hinteren, seitlichen und vorderen Teil der Ober¬
fläche. Die hintere Leberoberfläche wird ganz vom Brust¬
körbe bedeckt, u. zw. ist ihr oberer Teil außerdem voml
Lungenparenchym bis' zur zehnten Rippe umgehen, während
nur der untere Rand von der zehnten bis zwölften Rippe
frei von der Lunge ist und unmittelbar dem Brustkasten
anliegt und zugleich die obere Spitze der rechten Niere über¬
lagert, was beim Beklopfen der rechten Niere von Bedeutung
ist und unten noch Erwähnung findet. Eben dieser untere
Teil der hinteren Leberoberfläche (zehnte bis zwölfte Rippe)
ist für das Beklopfen geeignet. Auch die seitliche Leberober¬
fläche ist in der Axillargegend von der Lunge bedeckt und
nur mit ihrem unteren Rande (achte bis zehnte Rippe) un¬
mittelbar dem Brustkorb anliegend und in diesem Raume
für das Beklopfen zugänglich. Die vordere Leberoberfläche
ist bis zur sechsten Rippe auch durch die Lunge überlagert.
Von der sechsten bis achten Rippe liegt sie unmittelbar
dem Brustkasten an und kann auf diesem Raume beklopft
werden, ln der Herzgrube liegt, die Leber unmittelbar unter
den Bauchdecken und ihre Oberfläche kann hier palpiert
werden, ist jedoch für das unmittelbare Beklopfen nicht
geeignet. Das Beklopfen der Leber in der Magengegend mit
der Hand (siehe unten) ist auch hei gesunden Individuen
empfindlich, es ruft aber sehr leicht das Plätschergeräusch
hervor und ist nach Imeiner Erfahrung die feinste M e th'o d e,
um das P lätscherger ä u s c h im Magen hervorzurufen
und wird von mir bei der Untersuchung der Magengegend
regelmäßig angewendet.
Behufs der Ausführung des Beklopfens der
Leber oder des Magens nimmt der Untersuchte horizontale
Lage an, u. zw. heim Beklopfen der vorderen Fläche der
Leber die horizontale Rückenlage, der Seitenfläche die linke
Seitenlage, der hinteren Fläche der Leber und des Magens
die Bauchlage. Das Beklopfen selbst, wird durch sehr
rasche Schläge mit der Ulnarseite der rechten gestreckten
Handfläche, parallel den Rippen, am besten auf die Inter¬
kostalräume, wobei man mit der Stärke der Schläge ab¬
wechselt, ausgeführt. Zur Kontrolle werden sowohl die Lum¬
balgegenden, als auch die symmetrischen Regionen der
linken Seite mit derselben Stärke beklopft. Der Kranke em¬
pfindet die Schläge, falls das Organ entzündlich erkrankt
ist, als „inneren Schmerz“. Der unterhalb des Brustkorbes
hervorragende, unter den Bauchdecken liegende Teil der
Leber, wird auf einem kleinen elliptischen, gut angedrückten
Plessimeter durch stärkere Schläge mittels Fingers oder
Hammers, wie keim Perkutieren, also mittelbar beklopft. Man
kann sich auch des Finger-Fingcrbeklopfens bedienen.
Das Beklopfen des Magens wird noch unten besprochen.
Das Beklopfen der Leber wurde von mir bei der Unter¬
suchung aller Fälle ausgeführt, wo es sich um Verdacht
auf die Anfälle von Cholelithiasis handelte. Fast in allen
Fällen, wo iclie klinischen Kardinalsymptome der Gallenstein¬
kolik (Gelbsucht, Gallenfarbstoffe im Urin, Vergrößerung
und Schmerzhaftigkeit des Leberrandes, Vergrößerung oder
Schmerzhaftigkeit der Gallenblase) vorhanden waren, war
auch das Beklopfen der Leber empfindlich. In vielen un¬
klaren und der Cholelithiasis verdächtigen Fällen habe* ich
den Klopfversuch ausgeführt und derselbe hat mich oft auf
die richtige Fährte geführt. Zunächst sind es hier Fälle
WOCHENSCHRIFT. 1911.
von Cholelithiasis, bei welchen man bloß unsichere An¬
haltspunkte oder rudimentäre Symptome des Anfalles, ent¬
weder durch Anamnese oder durch Untersuchung, gewinnen
konnte: Mehrfache Geburten, vages Schmerzgefühl, flüch¬
tige, geringfügige Temperaturerhöhungen, dunkle Harnfär¬
bung, Brechneigung oder Erbrechen, unbestimmte Druck¬
schmerzen in der Lebergegend, aber noch keine Gelbfärbung
der Skleren. Derlei einzeln auftretende Symptome erlauben
besonders bei nervösen Personen, noch keinen Schluß auf
das Vorhandensein der Gallensteinkrankheit zu machen.
Erst das positive Ergebnis des Klopfversuches kann, wie
aus den unten angeführten Fällen sich ergibt, die Diagnose
auf Cholelithiasis sichern.
Es gibt eine Unzahl von Schmerzanfällen, welche von
der Gallensteinkolik herrühren, aber wegen atypischem Sym-
ptomenverlauf anders gedeutet werden. Die Gallensteinkolik
kann nämlich ganz andere Krankheitszustände vortäuschen
und zwar :
In manchen Fällen sind die Gallensteinkolik- und
stenokarditische Sc h merzen in ihren Anfängen
nicht zu unterscheiden, besonders wenn die ersteren ihren
Sitz unter dem Sternum haben oder gar mehr nach der
linken Brusthälfte auslstrahlen und keine Symptome von
seiten des Herzens zu finden sind. Es gibt aber auch Fälle
mit Anomalien am Herzen, bei welchen atypische Anfälle Von
Gallensteinkolik irrtümlich mit dem Herzen in Verbindung
gebracht werden. Das positive Ergebnis des Leberbeklopfens j
klärt erst den Sachverhalt auf.
Ebenso ist es mit Enteralgien, welche infolge der;
Atherose der Bauchaorta oder der Mesenterialgefäße (Dys-
pragia intermittens angiosclerotica intestinalis nach 0 r t- i
ner) oder mit den Fällen von gastroenteritis che n
Krisen, welche noch ohne bemerkbare tabetische Sym¬
ptome aaiftreten. Da gibt es die größten diagnostischen Vex- |
legenbeiten, welche durch den positiven Leberklopfversuch :
entschieden werden können.
Jedem Praktiker sind Fälle, meist bei Frauen, bekannt, I
wo die Diagnose zwischen Cholelithiasis und Ü 1 c u s’ r o t u n-
dum jahrelang schwankt. Ein positiver Ausfall des Leber¬
klopfversuches ist hier dem Arzte sehr willkommen. Das- 1
selbe gilt für nervöse Kardialgien bei Frauen, worüber *
näheres noch unten.
Manchmal wird man eine C o 1 i c a a p p e n d i c u-
laris, welche atypisch nach der Leber hin oder in die |
Magengegend irradiert, durch den Klopfversuch zu ontschei- *
den haben.
Endlich sind die' vielen Fälle von Gastro ent ero- j
und besonders Nephroptose hier anzuführen, bei wel¬
chen die Anfälle von Schmerzen recht oft hervortreten und
nicht selten ganz den Charakter der Gallensteinkoliken an¬
nehmen. Ein positives Ergebnis der Leberbeklopfung er¬
gibt aber in manchen Fällen, daß nicht die Senkung der
Organe, sondern die Cholelithiasis die Ursache der Schmerz¬
anfälle sei.
W as das Beklopfen d er unte r en hinteren 1 i n k e n
Brustgegen d anbelangt, so habe ich auf dieser Seite viel
seltener Schmerzempfindungen hervorrufen können, als auf
der rechten. Falls sich links eine Schmerzhaftigkeit zeigte, ,
rechts jedoch nichts gefunden wurde-, auch keine Druck¬
punkte, noch Druckeinpfindlichkeit der einzelnen Schichten
der Brustwandung zu eruieren war, so habe ich das Schmerz¬
gefühl hier auf offenes U lcus rotu n d umderhinteron
Magen wand bezogen, wenn darauf Verdacht war, Beim
Geschwür der vorderen Magenwand habe ich beim Beklopfen ;
der Rückseite kein Schmerzgefühl auslösen können.
Fall I. K. M., Lehrer, 26 Jahre alt. Der Kranke bekommt ,
in unregelmäßigen Intervallen Sodbrennen und dabei „Krämpfe”,
wenn er sich überess-en bat; -die „Krämpfe“ dauern entweder
nur kurze Zeit oder einige Stunden, fangen in der Magengrube an,
strahlen etwas nach rechts aus, gleichzeitig wird es sauer im
Munde, welchen Geischmack der Kranke durch Kauen von Kreide
mildert. Hastiges Essen, besonders von Brot, soll die Krämpfe
hervorrufen. Der letzte Schmerzanfall vor zwei Wochen. Der
Nr. 25
wieder klinische Wochenschrift. iyn.
899
Harn soll nach dem Anfall dunkel gewesen sein. Kein Aikohol-
m iß brauch, keine Syphilis durchgemacht.
I ,. tDie Unters ufc hung ergibt: Ziemlich gute Ernährung,
Habitus paralyticus, keine Gelbfärbung, Sch merz re ü exe gestei¬
gert, Pupillenweite normal, Pupillenspiel lebhaft; weder vorne
noch hinten schmerzhafte Druckpunkte, nur das Beklopfen
[ *~er hinteren Leberoberfläche ruft „innere Schmerzhaftigkeit'1
hervor. Der Urin hell, albuminfrei. Die Diagnose schwankte
zwischen Kardialgie und Cholelithiasis. Der Klopfversuch auf
die Leber entschied für das letztere Leiden.
Fall II. D. K., Baumeister, 54 Jahre alt. Seit zehn Jahren
antallsweise auftretendes Gefühl von „Auseinanderreißen“ unter
dem Sternum, das nach allen Seiten, besonders nach oben und
links, ausstiahlt. Die Anfälle kommen in unregelmäßigen Inter¬
vallen ohne jede bekannte Ursache, bald nur kurz, bald einige
Stunden dauernd. Manchmal endet der Anfall plötzlich mit einem
Gefühl, als wenn sich etwas in der Brust abgerissen hätte;
niemals war Gelbsucht beobachtet, aber der Urin wird nach den
Anfällen als dunkel angegeben. Stuhlgang regelmäßig. Der letzte
Anfall vor drei Tagen.
Die Untersuchung ergibt: Gut ernährter und wohl¬
gebauter Mann, die Sehnenreflexe normal, Pupillenweite normal,
kein Pupillenspiel ; Puls 66, normal ; die Herztöne, besonders
in der Aortagegend, dumpf, sonst ist nichts A)bnormes am Herzen
zu finden , keine Druckpunkte, nur in der Gallenblasengegend
eine unbestimmte Druckempfindlichkeit. Dagegen erweist das
Rückenbeklopfen der Leber von der zehnten bis zwölften Rippe,
sogar ^ bei Plessimeterbeklopfen, empfindliches Schmerzgefühl.
Der Urin ist dunkelgelb, albuminfred. In diesem Fälle schwankte
die Diagnose zwischen den stenokardi tischen Anfällen und chro¬
nischer Gallensteinkolik. Der Klopfversuch und die Dunkel¬
färbung des Harnes entschied für das Vorhandensein des Reiz¬
zustandes des Ductus choledochus durch Gallenkonkremente.
FMU UL P. K.. 40 Jahre alt, verheiratet, zweimal geboren.
Seit fünf \\ ochen ein Druckgefühl in der Magengegend nüchtern
früh, das sich nach den Mahlzeiten verstärkt und von Aufstoßen
begleitet wird; der Magendruok tritt selbst nach Genuß von Tee
oder Kaffee ein und weckt die Kranke in der Nacht. Auch Karls¬
bader Wasser soll den Magendruck vergrößern. Der Stuhlgang
normal.
Die Untersuchung ergibt: Mäßig ernährt, blaß, Pätellur-
reflex normal, Skleren weiß, Pupillen normal, Ovariengegend
druckempfindlich; Druck und 4 inger-Fingerbeklopfen der Magen¬
grube' empfindlich ; das Beklopfen der beiden Lumbalgegenden
negativ; das Rückenbeklopfen der Leber verursacht „inneren
Schmerz“. Der Urin gelbbraun, albuminfrei mit Uraten gesättigt.
Hier schwankte die Diagnose zwischen sensitiver Magenneurose
und Cholelithiasis. Der Klopfversuch und die Dunkelfärbung des
Harnes führte zur richtigen Diagnose der Gallenstein-
krank hei t.
Fall IV. P. P., 40 Jahre alt, verheiratet und mehrmals
geboren ; iseit einigen Monaten in unregelmäßigen Intervallen kurz¬
dauernde Schmerzhaftigkeit in der rechten Rippengegend ohne
Temperaturerhöhung, aber mit Dunkelfärbung des Harnes. Die
letzten Schmerzen vor einer Woche. Bei der Untersuchung
ist nirgends eine Abnormität zu finden, selbst der Urin ist blaß
und normal, keine schmerzhaften Druckpunkte, nur das B e-
klopfen der rechten Rückengegend löst innere Schmerzempfin-
dung hervor, und bestätigt die Vermutung einer inzip Dented
Gailenteteinkolik.
lall V. K. Z., 54 Jahre alt; zwei Geburten; klagt über
Magendruck, der seit zwei Jahren in mehrwöchigen Intervallen
hervortritt, dabei keine Temperaturerhöhung, noch Dunkelfärbung
des Harnes.
Die Untersuchung der gut ernährten Frau ergibt keine
Abnormitäten ; der Harn normal gefärbt, albuminfrei ; keine
schmerzhaften Druckpunkte, nur das Beklopfen der Leber auf
dem Rücken ruft innere Schmerzhaftigkeit hervor. Dieses Sym¬
ptom läßt den anfalls weise auf tretenden Magendruck als ein von
chronischer Gallensteinkolik abhängiges Schmerzgefühl
erscheinen.
Wie die angeführten Fälle belehren, ist das positive
Ergebnis des Leberbeklopfens ein erwünschtes Hilfsmittel bei
der Untersuchung, das dem Arzt oft aus der Klemme hilft.
Leider tritt es nicht in jedem Falle von Gallenstein¬
kolik ein, denn es ist ein Symptom der lokalen Reizung
oder Entzündung des Organes. Dieselben können aber rasch
vorübergehen, so daß nach dem Abklingen des Kolikanfalles
keine Schmerzempfindung beim Beklopfen mehr vorhanden
ist. Es können auch Konkremente in den Gallengängen oder
in der Gallenblase vorhanden sein und doch keine Reiz¬
erscheinungen Hervorrufen, dann tritt auch keine Schmerz¬
empfindung beim Beklopfen der Leber auf. Wann das Be¬
klopfen nach einem Kolikanfall ein negatives Resultat er¬
gibt, kann ich nicht sagen. Ich habe abe-r Fälle beobachtet,
in welchen noch nach zwei Wochen nach einem' charakteri¬
stischen Gallensteinkolikanfall, wo schon sämtliche objek¬
tiven und subjektiven Symptome verschwunden waren, durch
das Beklopfen der rechten Rückengegend noch Schmerz¬
empfindung ausgelöst und der durchgemaohte Kolikanfall
bestätigt werden konnte. Aus den vorhergehenden Erörte¬
rungen ist zu ersehen, daß ein negativer Befund beim Be¬
klopfen der Leber nicht gegen die Anwesenheit der Gallen¬
steine spricht. Nur in dem Falle wäre der negative Befund
gegen die Anwesenheit der Gallensteine zu verwerten, wenn
der Kranke über stärkere Schmerzen in der Lebergegend
klagt und dieselben .beim Beklopfen der Leber weder hervor¬
gerufen, noch Verstärkt werden können.
Nicht jeder Schmerz, der durch Beklopfen entsteht, ist
als Leber-, eventuell als: Magenschmerz zu deuten. Man muß
sich bei der Beurteilung zuerst vergewissern, ob wir nicht
schmerzhafte Stellen an dem Brustkasten beklopfen, wie
etwa schon vorhandene Druckpunkte bei Ulcus: rotundum,
Cholelithiasis, Hysterie, Interkostalneuralgie, ferner schmerz¬
hafte Stellen bei Interkostalrheumatismus, Periostitis, Pleu¬
ritis, Lumbago. Findet man neben der Wirbelsäule Druck¬
punkte oder schmerzhafte Stellen, so sind dieselben beim
Beklopfen zu meiden. Am seltensten findet man schmerz¬
hafte Stellen beim Beklopfen der Brustgegend in der mittleren
Axillarlinie, daher ergibt das Beklopfen dieser Stelle die
zuverlässigsten Resultate.
Das Beklopfen läßt uns im Stiche, wenn zwischen der
Steinkolik der rechten Niere und der Leber zu unter¬
scheiden ist und keine anderen Symptome außer Schmerz¬
empfindung vorhanden sind. Die Schmerzhaftigkeit beim
Beklopfen der rechten Lumbalgegend spricht meist für
Nierenschmerz; derselbe kommt auch öfters bei Gallen¬
steinen vor, was aus der topographischen Lage beider Or¬
gane zu erklären ist. Man kann sich in solchen zweifelhaften
Fällen noch durch Beklopfen der Seitenoberfläche der Leber
helfen. Denn die Schmerzempfindung beim Beklopfen dieser
Gegend spricht mehr zugunsten des Leber-, als des Nieren¬
schmerzes.
Das Beklopfen der Leber in der Rückengegend gibt die
sichersten Resultate und deutet an, daß eine Reizung oder
Entzündung der Gallengänge besteht. Das Beklopfen der
unteren rechten Seitengegend bringt Schmerzempfindung bei
Reizzuständen sowohl der Gallengänge, als auch der Gallen¬
blase hervor. Das Beklopfen der untersten vorderen rechten
Rippengegend bringt selten Schmerzempfindung hervor, am
meisten noch in der Mamillarlinie und dann ist dieselbe
auf die Gallenblase zu beziehen. Das starke Beklopfen des
vorderen rechten Leberrandes auf stark eingedrücktem
kleinen Plessimeter (auch das Finger-Fingerbeklopfen) kann
entscheidende Resultate geben. Entweder ist der ganze
Leberrand beim Beklopfen schmerzhaft oder nur eine um¬
schriebene Stelle, welche zwischen Parasternal- und Ma¬
millarlinie bis zur Nabelhöhe reichen kann, und diese Stelle
entspricht der gereizten oder entzündeten Gallenblase, wenn
dieselbe auch nicht palpabel wäre.
Man muß aber bei der Schmerzhaftigkeit dieser Gegend
beim Plessimeterbeklopfen an die Möglichkeit des Pylorus-
geschwüres, gerade wo man die Gallenblase vermutet,
denken. Ebenso muß man beim Beklopfen der Herzgrube
das Vorhandensein des runden Magengeschwüres an der
kleinen Kurvatur berücksichtigen. Zwar ist die kleine Kur¬
vatur von der Leber überlagert, aber die starke Erschütterung
beim Beklopfen der Herzgrube pflanzt sich durch das ge¬
sunde Leberparenchym auf die Magenwand fort und bringt
in derselben im Falle von Ulcus rotundum Schmerzem!pfin-
dung hervor. Man kann daher irrtümlich annehmen, daß
nicht der Magen, sondern die Leber schmerzhaft sei. Man
kann die gefundene Schmerzhaftigkeit in dieser Gegend nur
900
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
daun auf die Leber beziehen, wenn auch irgendwo anders
der Leberrand eine Schmerzhaftigkeit aufweisl und Kardinal-
Symptome des Magengeschwüres fehlen.
Ich habe, wie oben bereits erwähnt, das Beklopfen
der Leber und des Magens nur in Fällen, welche der Chole¬
lithiasis, eventuell des Ulcus rotundum verdächtig waren,
angewendet. Wie sich die Verhältnisse bei anderen Erkran¬
kungen dieser Organe gestalten, kann ich noch nicht be¬
richten. Ich muß aber bemerken, daß- das Beklopfen der
Leber ein sehr einfaches und bei der Untersuchung der
Kranken aut Gallensteine wichtiges Hilfsmittel darbietet, da
es in manchen, nicht allem, Fällen eine erwünschte Ent¬
scheidung der Diagnose bringen kann.
Das B e k 1 o p f e n d e r N i e r e n wird in derselben Art
und Lage des Kranken ausgeführt, wie das Beklopfen der
Lückenfläche der Leber. Man beklopft dabei vorzüglich die
beiden Lumbalgegenden. Die Bedeutung dieser Unter¬
suchungsart illustriert folgende Krankengeschichte:
Fall Vf. M. R, 41 Jahre alt. Keine Geburten, noch Krank¬
heiten durchgemacht; seit acht Jahren Schmerzen in der unteren
linken ßmslhällte, an der Seite und hinten. Die Schmerzen wurden
mit der Zeit intensiver und strahlten in die unteren linken Rippen¬
gegenden nach vorne und hinten, bis sie endlich den Charakter von
Schmerzanfällen annahmen, die sich in Intervallen von mehreren
Tagen wiederholten. Während der Anfälle erbricht die Kranke
stark sauer schmeckende Massen, ln der* letzten Zeit sind die
Schmerzen so stark, daß sie nur durch Morphiumiiijektionen,
gestillt werden können. Die Schmerzen werden auch hervor¬
gerufen durch Erschütterung beim Wagenfähren. Der Urin soll
vor und nach den Schmerzanfällen hell und blaß sein. Die Kranke
wurde in verschiedenem Sinne von den Aerzten behandelt, als
magen-, dann-, nerven- oder nierenleidend. Der letzte Schmerz¬
anfall vor zwei Wochen dauerte 24 Stunden lang.
Die Untersuchung ergab: Gut ernährt und gebaut; das
Verhalten der Pupillen normal, die Sehneureiiexe ein wenig ge¬
steigert.; Milz und Nierein nicht palpabel, im Magen schwaches
Plätschergeräusch; der Dickdarm als glatter elastischer Strang von
geringer Empfindlichkeit durchfühlbar; sonst sind am Abdomen
weder schmerzhafte Punkte noch Empfindlichkeit zu finden. Sen¬
sitive oder motorische Abnormitäten sind an den unteren Ex¬
tremitäten nicht vorhanden; die Rückenwirbel nicht schmerzhaft
bloß der letzte linke Interkostatraum druckempfindlich, die Haut
darüber nicht ischmerzhait ; das Beklopfen dieses Interkostal¬
raumes und der linken Lumbalgegend auf dem Plessimeter ruft
Schmerzempfindung hervor, rechts aber keine. Das Beklopfen
mit der Hand verursacht „inneren Schmerz“ nur zwischen dem
linken 11. bis 12 Rippenraume und in der linken Lumbalgegend,
rechts ist das Ergebnis des Beklopfen« negativ.
Die Anamnese, das U ntersu chungse rgobiys und das Nieren-
beklopfen lassen Magen - Darm - Spinalerkrankung sowie Neubil¬
dung ausschließen und. Nierenleiden, trotz Mangel einer Harn¬
veränderung, annehmen. Da liier vor der Nierencrkrtnkung
keine Nephroptose, Tuberkulose, Neubildung, nep britischer noch
paranephritischer Abszeß, noch Pyelitis vorliegt, so muß man den
Fall als Nierenkolik betrachten, die höchstwahrscheinlich
durch Nierensteine hervorge rufen wird. Die Diagnose ist in diesem
Falle -ziemlich sicher, dagegen ist sie in Fällen, wo das Beklopfen
der rechten Lumbalgegend positives Resultat ergibt, unsicher, denn
auch die Leberkolik gibt oft Schmerzhaftigkeit nicht nur auf
Beklopfen der 11. bis 12. Rippe, sondern auch der rechten Lumbal¬
gegend.
Der V i b r a t i o n s d r u c k.
Im Zusammenhang mit dem Auslösen der Schmerz-
empfindung beim Beklopfen der Leber, besonders in dessen
Bauchanteil, steht das Differenzieren der organischen und
der sogenannten nervösen Schmerzen in der oberen Bauch¬
gegend. Ich will an dieser Stelle nur über Sclnnerzempfin-
dungen in der Herzgrube und in der Gallenblasengegend
Näheres ausführen. Die Druckschmerzhaftigkeit wird an
diesen Stellen für die Leber durch den Plexus hepaticus
und für den Magen durch den Plexus coronarius superior
und Plexus gastricus anterior vermittelt. Drückt man an
diesen beiden Stellen mit der Fingerkuppe an und bringt
eine stärkere Schmerzempfindung hervor, so wird, wenn
kein Ausnahmefall vorliegt, auf dreierlei Krankheitszustände
gedacht: nervöser Schmerz (Kardialgie, Pyloruskrampf),
Ulcus rolundum (Erosion), eventuell beginnende Krebswuche-
rung an der kleinen Kurvatur oder Pylorus, und endlich
Cholelithiasis. Fehlen die Kardinalsymptome' eines Magen¬
geschwürs oder der Cholelithiasis und gibt auch das Be¬
klopfen der Leber kein positives Resultat, so ist die
Entscheidung zwischen den drei Krankheitszuständen recht
schwierig, inan neigt sich aber zur Annahme eines nervösen
Druckschmerzes. Man sucht diese Annahme durch Ana¬
logieschlüsse u. zw. durch Auffinden anderer nervöser Sym¬
ptome im Organismus, zu stützen: Globus, Singultus, D ermo -
graphic, Tachykardie, Tachypnoe, Rachialgie, Lokalasphyxie
der Finger und Zehen, gesteigerte Sehnenreflexe usw. Vor
allem ist aber das schon längst bekannte Verhalten der
Pupillen, das als diagnostisches Hilfsmittel zu wenig ge¬
würdigt wird, zu berücksichtigen. Bei vielen sogenannten
nervösen, mit irritativer Nervosität behafteten Personen be¬
obachtet man eine große weite Pupille; entweder sind beide
Pupillen gleich weit erweitert oder ihr Durchmesser isl
verschieden. Diese Verschiedenheit gleicht sich oft während
der Krankenuntersuchung aus oder wechselt sogar —
„springende Pupille“, „springende Mydria¬
sis“. Auf das Licht reagieren solch erweiterte Pupillen
sehr lebhaft und intensiv; man bekommt ein rasch wech¬
selndes reflektorisches S p i e 1 der Pupillen beim Ver¬
dunkeln des einen Auges durch rasche Handbewegungen.
Auch ohne Lichtänderung bemerkt man rasch aufeinander
folgende Oszillationen der Pupillen, die „Pupillen¬
unruhe“, bestehen. Alle die Pupillenerscheinungen be¬
kunden die leichte Erregbarkeit des (vegetativen) Nerven-
systems und die Veränderlichkeit des psychischen Gleich¬
gewichtsuzstandes (Hirnrinde). Ein aufmerksam beobach¬
tender Arzt liest, einem schon beim Betreten des Ordinations¬
zimmers aus den Pupillen den Charakter seines Leidens
heraus.
1st der Untersuchte nicht allgemein nervös, sondern
leidet an einer organischen Erkrankung, Cholelithiasis oder
Magengeschwür, so ist kein Spiel der Pupillen und keine
Pupillenerweiterung zu beobachten; erst beim starken Druck
aut eine schmerzhafte Stelle erweitern sich die Pupillen,
manchmal beträchtlich, durch welches Symptom man den
wirklichen vom simulierten Schmerz oft unterscheiden kann
(Löwy). ■ i
Man soll sich auch der Empfehlung L e u b e s bedienen,
daß der nervöse Schmerz unter Anwendung des galvanischen
Stromes schwindet, der organische (Ulkusschmerz) unver¬
ändert bleibt.
Trotz aller dieser Maßnahmen bleiben Fälle übrig, in
welchen man im Zweifel ist, ob der Druckschmerz nervöser
oder organischer Natur ist. Es wird die Diagnose der Krank¬
heit. der weiteren Beobachtung Vorbehalten, bis ein anderes
für die Erkennung charakteristisches Symptom auftritt.
Es ist mir bei meinen Krankenuntersuchungen öfters
aufgefallen, daß die Sclmierzpunkte beim Druck sich ver¬
schieden verhalten. Man beobachtet z. B., daß bei nervösen
Personen durch länger ausgeübten Druck auf den empfind¬
lichen Druckpunkt der Schmerz schwächer wird oder gar
schwindet; während an organischen Schmerzpunkten, der
Schmerz durch Druck gesteigert wird. Das Schwinden der
nervösen Schmerzen beim Druck tritt meist auf, wenn man
den Druck 'mit Vibration kombiniert. Dies wird in
der Weise ausgeführt, daß man den betreffenden Schmerz¬
punkt. mit der Kuppe des Zeigefingers in die Bauchhöhle
eindrückt und zugleich Vibrationen mit der Hand ausführt,
ohne den Finger von den Bauchdecken zu entfernen. Der
Untersuchte nimmt dabei horizontale Lage ein. Nach einem
eine Viertel- bis eine Minute dauernden, richtig ausgeführten
Vibrationsdruck geschieht es in den meisten Fällen, daß der
Schmerz schwächer wird und endlich geschwunden ist. Bei
Wiederholung der Probe kann öfters der Kranke nicht einmal
die Stelle angeben, wo der Schmerzpunkt war. Haben die
Schmerzpunkte eine anatomische Grundlage (Ulkus, Chole¬
lithiasis), so schwindet der Schmerz unter dem Vibrations¬
druck nicht, sondern -wird oft stärker, so daß der Kranke
vor der Wiederholung des Versuches sich sträubt.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
901
Indem ich gleichzeitig andere differentialdiagnostische
Symptome in Erwägung gezogen hatte, habe ich öfters das
Ergebnis des Vibrati onsdruckes für die Differentialdiagnose
der Kardialgie einerseits und des Magengeschwüres und der
Cholelithiasis anderseits herangezogen. Ich muß aber be-
merken, daß für diese Probe sich nur aufmerksame und
intelligente Patienten eignen. Folgende, kurz angeführte
Fälle mögen es näher erläutern:
f all VII. L. K., Kleriker, 24 Jahre alt, seit zwei Jahren
krank, soll sich angeblich durch die schlechte Kost in der
| Seminarküche den Magen verdorben haben; fühlt einen Magen-
diuck, der durh Sich-aufrichten verstärkt wird; nach Genuß saurer
oder scharfer Speisen bekommt er Mägenschmerzeii ; nach den Mahl¬
zeiten oft Sodbrennen, Nausea und Brechreiz, bricht aber nicht,
Stuhlgang verstopft. Außerdem klagt der Kranke über Kopf¬
schmerzen, Schlaflosigkeit, Augemflimmern, Kältegefühl; studiert
viel.
Die Untersuchung ergibt: Gute Ernährung und starken
Körperbau, Dermographie, beide Pupillen sehr weit, lebhaftes Pu-
i pdlenspiel, Sehnenreflexe gesteigert, Puls SS, das Beklopfen der
Leber überall mit negativem Resultat, in der Magengrube um¬
schriebener Druckschmerz beim Beklopfen und Drücken; bei Aus¬
führung des \ i b r a t i o n s d r u c k e s s c h win d e t d e r S c h m e r z,
so daß der Kranke bei Wiederholung des Versuches nicht mehr
angeben kann, wo er das Schmerzgefühl hat. Harn trübe von
Phosphaten, alkalisch, albuminfrei.
Die stark hervortreteuden Mägenbeschwerden, der um-
: schrie bene Druckschmerz ließen das Vorhandensein eines Magenge-
' schwüles vermuten, jedoch das Schwinden des Druckschmerzes
unter dem Vibrationsdruck lenkten die Aufmerksamkeit auf den
nervösen Charakters des Schmerzes, was durch das Verhalten
der Pupillen und Anwesenheit der Phosphate im Urin stark ae-
stützt wurde, daher die Diagnose: Neurasthenia visceralis, car-
dialgiae, pyrosis, phosphaturia, angenommen wurde.
Fall VIII. K. F., 35 Jahre alt., verheiratet, fühlt seit längerer
Zeit einen Druck „wie einen Stein“ im Magen, der nach den Mahl¬
zeiten stärker wird;, kein Sodbrennen, kein Brechen, dreimal
ausgeführtes Magenspülen war ohne Erfolg, Stuhlgang täglich,
Urinabgabe reichlich, der Urin blaß.
Die Untersuchung ergibt: Mäßig ernährt, halbmond¬
förmiger Raum verringert, Magenplätschern nach dem1 Mittagessen
in geringer Ausdehnung und über der Nabelhöhe, keine Druck¬
punkte; das Beklopfen der Leber nicht schmerzhaft.. Druck und
Erschütterung auf die Magengegend schmerzempiindlich, der
Druckschmerz schwindet na c.h läng e re m A u s f ü hren des
Vibrationsdruckes. Das Pupillenspiel sehr lebhaft. Die Dia¬
gnose schwankte zwischen Ulcus rotundum curvaturae minoris
lind nervöser Dyspepsie. Das Verhalten gegen den Vibra¬
tionsdruck entschied für die letztere Annahme.
Fall IX. R. H., Kaufmann, 33 Jahre alt, bisher gesund,
seit drei Monaten Sodbrennen, Brennen im Magen, vermehrter
Durst; klagt über Magenschmerzen, welche nüchtern nicht vor¬
handen, dagegen am Tag nach dein Mahlzeiten den Kranken plagen,
und in der Nacht den Schlaf stören; uriniert sehr oft, der Harn
blaß, der Stuhlgang verstopft.
Die Untersuchung ergibt: Körperbau gut, Ernährung
mäßig, Sehnenreflexe normal, Verhalten der Pupillen normal,
die Zunge belegt. In der Magengrube eine umschriebene
Druckempfindlichkeit von der Größe eines Kronenstückes; die
Empfindlichkeit steigert sich beim Beklopfen dieser Stelle?, bei
Ausübung des Vibrations druckes wird diese Stelle
g schmerzhaft und der Schmerz schwindet nicht, sondern wird hei
Wiederholung des Versuches stärker. Auf der linken Seite der
Wirbelsäule auf der Höhe der zwölften Rippe schmerzhafter
Druckpunkt; das Beklopfen der Leber negativ. Dagegen das Be¬
klopfen der linken Rückenseite von der zehnten Rippe
bis nach unten löst inneren Schmerz aus. Der Urin blaß, normal.
Die Magenuntersuchung ergibt nüchtern: 20cm3 grünlicher
Flüssigkeit von der Azidität 16 und ohne Speisereste, aspiriert.
I Nach dem Probefrühstück beträgt die Azidität 72, von IIC1 50.
Weder im Mageninhalt noch im Stuhl okkultes Blut. Es wurde
bei der Differentialdiagnose Gallensteinkolik und Magenneurose
ausgeschlossen und das Leiden als Ulcus ventriculi ange-
. nommen u. zw. sowohl auf Grund des umschriebenen Schmerzes
in der Magengrube und des Druckpunktes neben der Wirbelsäule
als auch auf Grund des positiven Ergebnisses der Beklopfung
der linken Rückenseite sowie des Vibrationsdruckes auf den
Schmerzpunkt in der Magengrube, wenn auch kein okkultes BiuL
im Mageninhalte und im Stuhl zu konstatieren war.
Aus der k. k. dermatolog. Universitätsklinik in Prag.
(Vorstand: Prof. Dr. Karl Kreibich.)
Ueber Prostatasekretion.
Von Dr. Richard Fiscliel, Bad Hall und Prof. Karl Kreibich.
I. Untersuchung des Prostata sekretes.
Exprirniert man bei einem geischleeihtsreifen prostata¬
gesunden Individuum die Vorsteherdrüse, so findet man
regelmäßig bei der Untersuchung im hängenden Tropfen
mit Außerachtlassung der zelligen Elemente folgende Typen
von Gebilden niehlzeiliger Natur (Björling):
1. Durch ihren scharfen doppelten Kontur und leuch¬
tenden Glanz auffallende Tropfen, die den Eindruck von
Fettsubstanzen machen, teils einzeln, teils agglomeriert,
manchmal von einer fein granulierten Hülle umgeben oder
durch sie zusammengehalten.
2. Rundliche oder ovale Gebilde, mit unebener, rauher
Oberfläche.
3. Helle, durchscheinende, schwach lichtbrechende, ein¬
fach konferierte Gebilde, tropfenartig, die alle Uebergänge
vom glasigen Aussehen bis zum satten Weiß zeigen.
Die Größe wechselt von ca. 1 ß bis zur ein- und ein¬
halbfachen Größe eines' roten Blutkörperchens, die Be¬
ziehungen der Mengenverhältnisse untereinander zeigt eben¬
falls eine große Variabilität.
Die geschichteten Körper (Corpora amylacea) erfahren
als inkonstante Beimengung zum Prostatasekret keine Be¬
rücksichtigung.
Setzt man nun einem Sekrettröpfchen eine kleine Menge
alkoholischer Sudan Hl - Lösung zu und verreibt dann ein
Stäubchen Brillantkresylblau und untersucht supravital im
hängenden Tropfen (B j ö r 1 i n g), so sieht man :
Die unter 1 . genannten Gebilde rosa, orange, die unter
2. genannten Gebilde rosa, rotviolett und metachromatisch rot
gefärbt, die unter 3. genannten Gebilde bleiben ungefärbt
oder zeigen nur einen violetten Hauch.
Es finden also die morphologischen Differenzen durch
die Farbstoffaffinitäten der Körperchen eine gleichsinnige
Differenzierung.
Die verdienstvollen . Untersuchungen Björlings
haben entgegen den bisher ohne Widerspruch überlieferten
und schon fest eingewurzelten Anschauungen festgestellt :
1. Die Prostata enthält nicht bloß eine einzige Art von
Körnern (Lezithinkörnern, Posner, Für b ringer).
2. Die Prostatakörner bestehen nicht aus Lezithin.
W enn P o sner und F ü r b r i n g e r die Richtigkeit
des ersten Satzes zageben müssen, so wenden sie sich auf
Grund der Ueberprüfung von Björlings Resultaten gegen
seine zweite Behauptung.
B j ö r 1 i n g untersucht nur in Leukozyten eingeschlos¬
sene, sich stark brechende Körperchen auf die Lösungs¬
verhältnisse im Azeton und 70°/oigen Alkohol. Die im nor¬
malen .Prostatasekrete vorkommenden einzelnen, frei lie¬
genden Kugeln und Agglomerate werden den chemischen
Reaktionen nicht unterworfen, wegen Spärlichkeit ihres Vor¬
kommens und der dadurch erschwerten vergleichenden
Untersuchung (S. 12 bis 14). .
Posner konnte nun ,an den stark lichtbrechenden
freien Körperchen, als auch an Körnchenkugeln vom Pro¬
statasafte vollständig genitalges'under Individuen Doppel¬
brechung konstatieren und so im Sinne von K a i s e r 1 i n g
und 0 r g 1 e r ihren Lipoidcharakter feststellen.
Er versteht unter Lipoidsubstanzen Stickstoff- oder
phosphorhaltige fettähnliche Verbindungen, die sich von
den eigentlichen Fetten (Triglyzeriden) durch ihre chemische
Konstruktion und ihre optischen Eigenschaften unterschei¬
den, während sie in vielen Löslichkeits- und Färbungs¬
verhältnissen mit ihnen mehr oder weniger vollkommen
übereinstimmen.
Unsere eigenen Untersuchungen ergaben, daß im Pro-
statasekrele eines älteren Mannes unzweifelhaft bei ge¬
kreuzten Nikols hell leuchtende, mit Sudan sich rot für-
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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bende Kugeln vorhanden sind, daß es also sudanophile dop-
pelbrecheude Kugeln gibt, die bei gewöhnlicher Beleuch¬
tung vollkommen den Eindruck normaler Fettkügelchen
machen, so daß die von Björling angewendeten chemi¬
schen Lösungsmethoden der optischen Untersuchung nach¬
stehen.
■> Auch Posner fällt es auf, daß bei morphologisch
gleicher Struktur Differenzen in der Doppelbrechung be¬
ständen, besonders an den Lipoidzylindern. Im Hellfelde
sieht man im Zylinder Kugeln und Tropfen von anschei¬
nend ganz gleichen Lichtbrechungsverhältnissen, bei ge¬
kreuzten Nikols leuchten nur einige, namentlich die größeren
auf, während ein Teil verschwindet. Aus dem negativen
Befunde könne man nicht ohne weiteres schließen, daß
ein solches Körnchen nicht lipoider Natur sei. Anscheinend
ist eine gewisse Größe, auch eine gewisse Konzentration
der Lipoidsubstanz, als eine Vorbedingung für die optische
Reaktion anzusehen.
Aus diesen Beobachtungen ergibt es sich, wie schwierig
es für den Praktiker ist, bestimmte Angaben über Lipoid¬
oder Fettgehalt im Prostatasekret zu machen. Wir schlagen
daher vorläufig für diese Körnchenform die Bezeichnung
sudanophile Korpuskula vor. Der Ausdruck Körner,
Granula, Granulationen ( ! ) möge entfallen, da anatomisch
unter Granula viel kleinere Gebilde, unter Granulationen,
aber Gefäßknospungen verstanden werden.
Korpuskula anstatt Corpora sei zur Scheidung yon
den Corpora amylacea gebraucht, um Verwechslung der
Begriffe durch Namensgleichheit zu steuern.
Bezüglich der sub 2. angeführten Körperchen gibt
Posner in (seiner letzten Mitteilung zu, daß sie nicht
lipoider, sondern albuminöser Natur sind, hält aber die
von Björling angegebenen mikrochemischen und färbe¬
rischen Reaktionen nicht für eindeutig und möchte in
dieser Beziehung weitere Untersuchungen abwarten.
Björling bezeichnet die in Rede stehenden Körper¬
chen als „granulierte“, da sie nach seinen Reobachtungen,
vom Granulaplasma der Leukozyten abstammen sollen
(S. 18).
Es ergeben unsere eigenen Beobachtungen, daß hin¬
sichtlich der Form Granula, wie wir sie oft selbst an ge¬
quollenen Leukozyten noch zu unterscheiden .vermögen, nie¬
mals zur Anschauung kamen. Diesem Umstand, der auch
Björling bei seiner histogenetischen Erklärung Schwierig¬
keiten bereitet, sucht er dadurch die Kraft eines Einwands
zu nehmen, daß er das Protoplasma durch Veränderungen
oder Mazeration degenerieren läßt, wodurch die Granulie¬
rung verschwindet. Dann hat aber nach unserer Meinung
Björling nicht mehr die Berechtigung, von Granulierung
zu sprechen.
Die Oberfläche der fraglichen Körperchen scheint un¬
eben, rauh, chagräniert; doch gibt es auch Gebilde mit
ganz glatter Oberfläche, die sich mit basischen Anilin¬
farben färben. Solcherweise bereitet die Differentialdiagnose
in ungefärbtem Zustande, dem Typus 3 gegenüber, oft
Schwierigkeiten.
Wie wir aber später ersehen werden, sind auch ihrer
Entstehung nach diese glatten basophilen Körperchen dem
Typus 2 zuzurechnen.
Wir glauben daher nach unseren Untersuchungen, daß
nicht die rein morphologische Betrachtung für die Zuge¬
hörigkeit zu dieser Gruppe 2 maßgebend ist, sondern ihre
Affinität zu Farbstoffen und bezeichnen diese Körperchen
als philochrome, da sie nicht nur basische, sondern
auch saure Farbstoffe anzunehmen imstande sind.
Bei der dritten Gruppe, durchsichtige Körperchen
mit blassen, zarten Konturen, zeigt die Form oft zahlreiche
Schwankungen, bald oval, rund, bald Bim-, Biskuit- und
Hantelform, in mannigfachen Uebergängen. Diese Gestalt¬
veränderungen (äußere Einflüsse, Druck) deuten auf ihren
Charakter als Sekrettropfen hin.
Eine Färbung durch basische oder saure Färben findet
in ihren typischen Formen nicht statt.
Björling hat nun in der Annahme ihrer Abkunft
vom Hyaloplasma des Leukozytenleibes diese Gebilde hya-
1 i n bezeichnet. Es haben unsere Untersuchungen ergeben,
daß hier eine irrtümliche Deutung seiner interessanten Beob¬
achtungen vorliegt. Aber auch abgesehen von diesem ur¬
sächlichen Standpunkt können wir aus sprachlichen Gründen
diesen Gebilden die von Björling gewählte Bezeichnung
nicht zubilligen, da hyalin ein für eine beikannte patho¬
logische Degenerationsform reservierter Ausdruck ist.
So möchten wir diese Sekretgebilde, entsprechend ihrem
Verhalten zu Farbstof/en, aphilochrom benennen, so
daß wir folgende Haupttypen nichtzeiliger Elemente im Pro¬
statasekret unterscheiden :
1. Sudanophile (Lipoide und Fette umfassend, mit
Fettfarbstoffen, als deren Repräsentanten wir das Sudan III
anführen, sich färbend. Die Fettprostatakörner, freie Fett¬
körnchen B j ö r 1 i n g s.)
2. P h i 1 o c h r o m e. Färben sich mit basischen und
sauren Farbstoffen im hängenden Tropfen.
3. Aphilochrom e. Nehmen Farbstoffe nicht an,
höchstens bloß eine schwache Tönung. Die hyalinen Pro¬
statakörner B j ö r 1 i n g s.
Außer diesen drei Grundformen führt Björling noch
vier Uebergangstypen an:
4. hyaline - granulierte,
5. granulierte mit Fettkörnchen,
6. hyaline mit Fettkörnchen,
7. hyaline - granulierte mit Fettkörnchen und
8. formlose (Zelldetritus?).
Auf die hyalinen-granulierten sei hier noch näher ein¬
gegangen und bezüglich der Form 5 bis 7 auf den fol¬
genden Abschnitt verwiesen. Nach Björling geben sie
mit Brillant - Kresylblau besonders charakteristische Bilder.
Sie erscheinen als ungefärbte Kugeln, an denen mehrere
stark blau gefärbte Körnchen sitzen : Oft sind diese Körnchen
in einer baumzweigähnlichen Zeichnung angeordnet, welche
zuweilen halbmondförmig auf der Kugel sitzt usw. (S. 29
und 30).
Unterzieht man diese hyalinen, granulierten Körper¬
chen einer genauen Beobachtung auf deren Entstehungs¬
modus hin, so sieht man, daß die intensiv blau gefärbten
Körnchen, welche auch frei im Sekrete schwimmend vor¬
handen sind, wahrscheinlich infolge der Klebrigkeit der
aphilochromen Körperchen sich diesen anlegen. Auch
macht eine längere Betrachtung im hängenden Tropfen den
Eindruck, als ob sich die aphilochromen Gebilde immer
reichlicher mit den basophilen Körnchen beladen würden,
während an den philochromen derartige Körnchen nicht
haften bleiben. Würde es sich aber um direkte Leuko¬
zytenabspaltungen handeln, wäre dieser Vorgang nicht ver¬
ständlich. Die Körnchen scheinen dem als Detritus be¬
schriebenen Anteil des Sekretes anzugehören.
Die philochromen Körperchen können nach Aus¬
waschung mit physiologischer Kochsalzlösung mit Zuhilfe¬
nahme der Zentrifuge unter Formalindämpfen sehr gut kon¬
serviert werden. Sie behalten monatelang ihre Färbbarkeit
und Form bei.
Selbstverständlich müßten die pathologischen Verhält¬
nisse (Befunde bei Prostatitis) einer neuerlichen Revision
unterzogen werden. So konnten wir in mehreren Fällen
konstatieren, daß nicht die Lezithinkörper schwechtweg
fehlten, sondern nur die philo- und aphilochromen in ihrer
Zahl beträchtlich vermindert waren. Man muß auch darauf
achten, daß im hängenden Tropfen eine Schichtung eintritt,
indem die sudanopliilen die obere, die übrigen Elemente
die tiefere Schicht einnehmen.1)
’) Alle bisher erwähnten Untersuchungen sind ausschließlich
im hängenden Tropfen oder an nativen Objektträgerdeckglas¬
präparaten vorgenommen worden, da Trockenpräparate, wie Björling
gang richtig hervorhebt, für derartige mikroskopische Untersuchungen
nicht brauchbar sind.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
903
II. Anatomische Untersuchungen.
1. Untersuchungsmaterial. 2. Histogenese der Prostata¬
körperchen.
Um über den Ort der Entstehung der oben beschrie¬
benen Körperchen klar zu werden, muß natürlich' von phy¬
siologischen Verhältnissen der Ausgang genommen werden.
Wir haben daher bloß Männer, welche bisher noch nicht,
koitiert oder noch nie eine gonorrhoische Infektion durch¬
gemacht haben, zu diesem Zwecke herangezogen ; sexuelle
Neurasthenien, die oft die bekannten Erscheinungen der
aseptischen Prostatitis bieten, haben wir ausgeschlossen. Die
Angabe Björlings, daß unter 26 Fällen ohne Symptome
von seiten der Urogenitalorgane bei sechs das Sekret nur
in geringer Menge exprimiert werden konnte, trifft für unser
Material nicht ganz zu. Wir konnten die Beobachtung
machen, daß wohl in einem Teile (der aber einen geringeren
Prozentsatz betrifft) der Fälle das Sekret nicht ausgedrückt
werden kann, doch waren bei einem und demselben Indi¬
viduum die Resultate zu verschiedenen Zeiten verschieden,
so daß dem negativen Resultat nach einiger Zeit ein posi¬
tives folgte, worauf bei nach dieser Richtung anzustellen¬
den Untersuchungen Rücksicht zu nehmen ist.
Es muß festgestellt werden, daßi in normalem Pro¬
statasekret Leukozyten nur ausnahmsweise beobachtet wer¬
den. (Ein bis zwei Leukozyten im Präparat.) Doch wäre
noch immer erst zu erweisen, daß mit allen Kanteten (die
Beimengung von Leukozyten zum Sekret von außen ver¬
hindert worden ist.
Wir können daher auf Grund unserer Untersuchungen
und in Uebereinstimmung mit früheren Autoren behaupten,
daß normales Prostatasekret so gut wie leukozytenfrei ist.
(Bezüglich der Literatur sei auf W aelsclis Zusammen¬
stellung im Handbuch für venerische Krankheiten hinge¬
wiesen.)
Björling hat den gegenteiligen Befund an Indivi¬
duen erhoben, die „wegen anderer Krankheiten in Kranken¬
häusern behandelt wurden und welche keine Symptome
von seiten der Prostata hatten“. Es ist überflüssig, darauf
hinzuweisen, daß die chronische gonorrhoische und asep¬
tische Prostatis ohne Symptome verlaufen können.
Die überaus häufig zu konstatierende Beimengung von
Spermatozoen zum exprimierten Prostatasekret (besonders
im Zentrifugat erweisbar) ließ es uns notwendig erscheinen,
reines vom Samenblaseninhalt freies Prostata, sekret zu ge¬
winnen und zu Untersuchungen an anatomischen Präpa¬
raten überzugehen.
Wir haben nach Schlitzung der Prostata den Ductus
ejaculatorius freigelegt und unterbunden, den Prostatasaft
exprimiert, mit einer Kapillare aufgesaugt und im hängen¬
den Tropfen untersucht.
Es zeigen sich nun nebst zahlreichen Drüsenepithelien
alle drei Körperchentypen. In manchen Fällen scheint es
fast, als ob hier sich netzartig verschlingende Züge zweierlei
Gewebes vorlägen, aphilochrome Tropfen dicht aneinander
gereiht, die sich durch ihren leuchtenden Glanz weiß vom
blau oder metachromatisch gefärbten Grunde, der aus dem
albumösen Prostatasafte besteht, abhoben.
[Macht man von meridionalen Schnitten durch die
Drüsensubstanz Abstrichpräparate, so lassen sich auch hier
die oben beschriebenen Elemente in großer Zahl unter
Glyzerineinschluß beobachten.
Niemals aber sahen wir an 15 daraufhin untersuchten
anatomischen Präparaten Leukozyten im exprimierten Se¬
krete oder Drüsenabstrich.
I) araus g e h t ei n w a n d f r e i hervo r, d a ß die
fraglichen Elemente unter physioTogischen
Verhältnissen Sekretionsprodukte der Pro¬
statadrüsen sein müssen.
Ob unter pathologischen Bedingungen und unter solchen
hat, wie die reichlichen Leukozyten im Sekrete beweisen,
Björling gearbeitet, Plasmaabschnürungen von den Leuko-
zytenleibern stattfinden, wie sie sich, falls dies der Fäll
sein sollte, zu den normalen Sekretprodukten verhalten,
müßte Sache einer speziellen Untersuchung werden.
Auffallend ist aber, daß, wie schon Casper betont,
und wir bestätigen können, gerade bei den schwereren Pro¬
statitisformen die granulierten Körperchen Björlings,
unsere philochromen und auch die hyalinen, das ist aphilo-
chromen, wesentlich an Zahl zurücktreten, ja fast ganz Ver¬
schwinden können, was bei der großen Menge von dem
entzündlichen Prozeß entstammenden Leukozyten auch für
pathologische Bejdingungen gegen Björlings Ansicht
spricht.
2. Um nun die Drüsenepithelien in ihren Beziehungen
zu den Prostatakörperchen zu studieren, wurden Drüsen¬
epithelabstrichpräparate 24 Stunden lang an der Luft ge¬
trocknet und Formolgefrierschnitte, desgleichen Paraffin¬
schnitte nach Formolfixierung untersucht. Die Färbung ge¬
schah an den Trockenpräparaten und Formolgefrierschnitten
mit Sudan III alk. durch einige Minuten, Methylenazur
15 bis 30 Sekunden. Außerdem kam eine kombinierte Fär
bung mit beiden Farbstoffen, bei welcher dem mehrere Mi¬
nuten langen Aufenthalt in Sudanlösung kurzes Abspülen
in Wasser und Nachfärbung mit Methylenazur bis zu einer
halben Minute folgte, zur Anwendung. Besichtigung unter
Glyzerin; die erhaltenen Bilder sind außerordentlich in¬
struktiv. Es eignet sich das Methylenazur zur Nachfärbung
von Sudanpräparaten nach unserer Erfahrung ausgezeichnet.
Schon im, ungefärbten Präparat (Abstrich und Gefrier¬
schnitt) fällt auf, daß in einzelnen Alveolen eine ganze Reihe
von Zellen von glänzenden Körnchen in mehr oder minder
großer Zahl erfüllt erscheinen. Methylenazurfärbung zeigt
nun teils in ihrer Totalität gefärbte rundliche Einschlüsse
mit scharfen Konturen von hellblaßblauer bis zu intensiv
dunkelblauer Nuance, auch metachromatisch von dunkel-
violett bis leuchtend rot gefärbte, teils halbmondförmige
Bildungen von verschiedener Dicke und Längendurchmesser
und ungefärbten hell erscheinenden im konkaven Mond¬
ausschnitt befindlichen Zentrum.
Verwendet man bloß Sudan, so kann man ebenfalls
kompakte Körperchen, die sich gelb bis gelborange färben,
halbmondförmige Bildungen, deren Zentrum farblos er¬
scheint, orangefarbene Ringe von verschiedener Dicke, die
bald aus zwei Halbmonden zusammengesetzt sind, bald
nur auf einer Seite eine dunklere Kappe tragen, unter¬
scheiden.
Auffallend ist es, daß die mit Sudan gefärbten Sekret¬
einschlüsse gelb bis orange, niemals aber so leuchtend,
wie das subkutane Fett oder der Talgdrüseninhalt der Haut
erscheinen. Mit Osmium nehmen sie nur eine bräunliche
Farbe an.
Färbt man in der oben angegebenen Weise mit Sudan
und Methylenazur, dann erhält man .nebst, rein azurophilen
and sudanophilen Sekreteinschlüssen Körperchen, in denen
azürophile und sudanophile Substanz in
innige und mannigfaltige Verbindung treten.
Bald ein blauer Halbmond auf einem orangefarbenen
Zentrum oder umgekehrt ein Orangehalbmond auf azurener
Kugel, zwei durch einen farblosen Raum getrennte Halb¬
monde, der eine orange, der andere blau, manchmal nur
orangefarbene Granula in einem oder um ein blaues kreis¬
förmiges Gebilde, kurz die mannigfachsten Kombinationen
der Mengung azurophiler und sudanophiler Substanz bald
in loserem Nebeneinander, bald in inniger Vermischung.
Die Größe schwankt von der eines Kokkus bis zu der
Größe eines roten Blutkörperchens und darüber, nimmt oft
die Größe eines Drüsenzellkernes an. Hämatoxylin färbt
die Einschlüsse nicht.
Sie können in großer Zahl in einer Zelle Vorkommen,
his zu 15 haben wir sie gezählt u. zw. sowohl jeder Typus
für sich allein, als auch alle drei Typen nebeneinander, bald
nur über oder unter dem Kerne gelagert, bald ihn, wenn
sie reichlich Vorkommen, verdeckend. Ungefärbte Voll¬
granula kommen nach dieser Farbprozedur nicht zu Gesicht.
Was nun die basophilen Granula betrifft, so handelt es sich
904
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 25
um die von Weski zuerst beschriebenen „Sekret¬
kugeln“, die dieser als von vollkommen homogener
Struktur und von einem dunkel gefärbten scharfen Rand
umgrenzt beschreibt. Petersen hat neben vollstän lig baso¬
philen auch Körnchen gefunden, die gleichsam angenagt er¬
scheinen, in der Mitte hellere Partien haben, so daß das
ursprünglich homogene Körnchen oft die Form eines Ringes
oder eines unregelmäßigen Halbmondes einnimmt. Färbt
man mit Hansens Chromhämatein-Säurerubin, so erweist es
sich, daß das Körnchen „aus zwei Teilen besteht, aus einem
azidophilen, der der erwähnten helleren Partie entspricht
und einem basophilen, der meistens um den ersteren herum¬
liegt.“ (S. 660.)
Neben diesen beschreibt Petersen noch kleinere
azidophile Körnchen, welche entweder für sich allein oder
mit Weskis Kugeln gemeinsam in den Zellen sich befinden.
Unseren sudanophilen Körnchen, die Petersen nur
an Abstrichtrockenpräparaten untersuchte, widmet er nur
eine kurze Bemerkung.
„Die dritte Art von Körnchen, die ich konstant in den
Zellen fand, erwies sich nach Färbung mit den obgenannten
Anilinfarben und Jod - Jodkalium als ungefärbte kleinere
Körnchen, die meist basal in den Zellen lagen, so daß sie
in den spitz ausgezogenen Zylinderzellen als eine einzelne
Reihe von Körnchen erscheinen konnten, während sie oft
außerhalb des Kernes mehr oder weniger mit \V eski sehen
Körnchen untermischt lagen ; in den basalen kubischen Zellen
fand ich sie sehr häufig über das ganze Protoplasma zer¬
streut, so daß die ganze Zelle von denselben angefüllt zu
sein schien.“
Es unterliegt keinem Zweifel (die Reaktionen werden
angeführt), daß sie fettiger Natur sind (S. 667).
Nach P o sner und Rapoport (Förmolgefrierschnitte,
Scharlachrot) ist das Lezithin (unsere sudanophile Sub¬
stanz) in den Epithelien reihenweise um den Kern ange¬
ordnet. Sie haben keine Prostata untersucht, mit Ausnahme
kindlicher Drüsen,2) in welcher nicht eine lebhafte Lezithin¬
bildung in den Drüsenepithelien sich gefunden hätte.
Es sind also bisher Sudanhalbmonde und Ringelchen
in den Prostataepil heben nicht beschrieben worden, wohl
aber ähnliche Bildungen in den Organen mit innerer Sekre¬
tion, z. B. von Plecnik in den Markzellen der Nebenniere,
von Erdheim in Hypophysis und Epithelkörperchen und
hypothetisch mit der inneren Sekretion in Zusammenhang
gebracht worden. Wir haben gleiche Bildungen in den Epi¬
thelien der Schweißdrüsen beobachtet und möchten mit aller
Reserve diesen Befund gegen die innersekretorische Bedeu¬
tung der Bildungen vermerken, da die Schweißdrüsen nach
unseren jetzigen Kenntnissen nur sekretorische Eigenschaften
besitzen.
Die Alkoholosmiumreduktion fiel nicht eindeutig aus.
Ebenso wie Erd heim aus den Befunden von Zupfpräpa¬
raten schließt, daß es sich nicht um durch Fixation ent¬
standene Kunstprodukte handelt, können wir den Befund
an Zellen exprimierten Leichensekretes für ihre natürliche
Herkunft verwerten.
Auch an Gefrierschnitten früher nicht mit Formel
fixierter Organe konnten wir die verschiedenen Arten der
Körnchen konstatieren.
Granula, die eine so innige Beziehung zwischen baso¬
philen und fettartigen Substanzen (Lipoiden) orgelten, sind j
unseres Wissens in der Prostata noch nicht beschrieben !
worden. In anderen Organen: Schilddrüse, Nebenniere, |
Hypophysis, Milchdrüse des Mannes, Speicheldrüse, i
Parotis, Tränendrüse, Ileum, und Jejunum, Samenblase sind '
uns derartige Einschlüsse nicht begegnet, während sich mit
Sudan färbbare Granula immer fanden. Von allen obge-
genannten Organen kam allerdings nur eine beschränkte
Zahl zur Untersuchung. Immerhin glauben wir, solange nicht
gegenteilige Befunde vorliegen, berechtigt zu sein, diese
2) Hl der l’rostata eines 5 Wochen alten Kindes fanden wir reich¬
lich sudanophile Körnchen irn Innern des Äusführungsganges, • in den
Drüsenepithelien dagegen nicht.
Form von Sekretgranulis als für die menschliche Prostata
charakteristisch zu halten. (Die Prostata von Tieren haben
wir außer acht gelassen.)
Es wird also von den Drüsenzellen eine basophile und
fettartige Substanz produziert, welche jede für sich allein
befähigt ist Zellgranula zu bilden. Es kommt aber auch noch
mehr oder weniger eine innige Vermengung beider Sub¬
stanzen zustande, wofür noch folgende Beobachtung spricht.
Wir haben entsprechend den von der Tuberkelbazillen¬
färbung ausgehenden Theorien, die sich auf einer innigen
Mischung zwischen Fett- und Eiweißsubstanzen aufbauen,
mit Eiweiß aufgekleble Paraffinschnitte 24 Stunden in der
Kälte mit Karbolfuchsin behandelt mit 33% HNO3 und
96%igen Alkohol sehr ausgiebig entfärbt und sahen nun
rubinrote Granula in verschiedenen Formen auf blaßrosa ge-
färbtem Grunde auf leuchten. Eine Nachfärbung mit
Löffler schein Methylenblau ergab : vorwiegend blaue '
Halbmonde um rote, also säurebeständige Körperchen und
sonst noch, um eis kurz zu sagen, die verschiedensten Kom¬
binationen in der Mischung der basophilen und säurebestän¬
digen Substanzen; doch waren auch rein basophile blaue
Vollgranula in wechselnder Menge vorhanden.
Auch in der Samenblase ließen sich die mit der Pu- *
bertät auftretenden Pigmentkörnchen (Akut zu, Peter- (
s e n) mit Methylenazur deutlich grün färben und auch hier
erfährt durch die von uns nachgewiesene Säurebeständig¬
keit der Körnchen, welche sehr deutlich zutage trat, der
schon erbrachte Beweis ihres Fettcharakters eine nach
anderer Richtung interessante Bestätigung.
In Formolgefrierschnitten läßt sich mit Vorteil die v
Zieh 1-N i 1 s o 11 sehe Reaktion erzielen, wenn man nur einige -
Minuten in der Kälte färbt und dann mit schwacher HNO3. 1
(»der HCl - Lösung entfärbt. Längeres Verweilen der Schnitte ■
in Karbolfuchsinlösung im Brutschrank bereitet der nach- -
fraglichen Entfärbung große Schwierigkeiten.
Während sich weiters die Einschlüsse der Prostata bei ,
Gramfärbung jodfest erweisen, sind die Samenblasen- 3
körnchen G ram-unbeständig.
Es ähneln die Pigmentkörnchen der Vesicula seminalis 1
in gewisser Beziehung den säurefesten Körnchen in den
Schweißdrüsen und Achseldrüsen (Fick, Talke), welche
ebenfalls pigmentiert, aber nicht Gram -fest sind, während ■
die Prostatagranula nicht pigmentiert, was wir in Ueber- 1
einstimmung mit Petersen konstatieren können, sich aber
als säure- und jodfest präsentieren.
Ol» nun diese durch Alkohol und Nylol nicht ausziehbare
säurefeste Substanz in der sudanophilen enthalten ist, also
ein Gemenge zweier Substanzen vorliegt, oder nur den
restlichen, wegen inniger Imprägnation nicht extrahierbaren
Teil derselben darstellt, ließ sich bei der Schwierigkeit, mit
der solche Untersuchungen verbunden sind, nicht feststellen. '
Ueber das erste Auftreten der beschriebenen Körnchen
können wir leider keine Angaben machen, da uns anatomi¬
sche Präparate des Kindesalters und der Pubertätsperiode
nicht zur Verfügung standen. Von der Geschlechtsreife bis
zum G reisenalter (über 70 Jahre) haben wir sie beobachtet,
doch in mehr oder minder großer Menge, bald nur in we- I
lugen Zellen einzelner Alveolen, bald in sämtlichen Zellen
eines Alveolus.
Noch eines Nebenbefundes sei hier gedacht. In der
glatten Muskulatur der Prostata, der Samenblasen, in welcher
Pigmentdegeneration so häufig vorkommt (A k u t z u), konnte
die Säurebeständigkeit der Pigmentkörnchen nachgewiesen
werden. Fick hat an der Schweißdrüse Zellen mit gleicher
Eigenschaft beobachtet, sich aber mit großer Reserve be¬
züglich der Identifizierung derselben mit glatten Muskel¬
zellen ausgesprochen, frn Zusammenhang' mit unseren Be¬
funden gewinnt die von ihm beschriebene Tatsache eine
sichere Grundlage. Der Vollständigkeit halber seien noch
im Epithel sitzende große Zellen erwähnt, in welcher sich
eine sudanophile Substanz in kristalloider Form findet..
Wenn wir nun die Bedeutung aller eben beschriebenen
Gebilde erörtern wollen, so drängt sich die Frage auf, ob
Nr. 25
WIENER KLINISCHE
wir es liier mit Fimktions trägem oder Sekretionsprodukten
in der Zelle zu tun haben, ob sich eine Beziehung zwischen
den im Sekret gefundenen Körperchen und den in den
Zellen eingeschlossenen konstatieren läßt.
Im Lumen der Alveolen finden wir nur chagrinierl
aussehende Gebilde, die wir der Form nach den im ersten
Teil der Arbeit beschriebenen p h i I o ch r o m en Korpus-
kula zurechnen müssen, die allerdings die Farbe nicht so
intensiv annehmen als im hängendem Tropfen oder im Aus¬
strichpräparate des Prostal asek rotes. Sie ähneln ungemein
den in den Zellen ein geschlossenen basophilen Granulis,
bei welchen alle Uebergänge von intensiver Färbung bis
zur bloßen schwachen Nuance in der Zelle vorfind lieh sind
(deutlicher an Paraffin- als an Formolgefrierschnitten).
Oh diese schwach gefärbten Granula mit den „azido¬
philen“ Petersens identisch sind, der die azidophilen
Granula aus den basophilen hervorgehen läßt, können wir
mangels einer Nachuntersuchung nicht sagen.
Jedenfalls verführen Pet er sen s Bilder zur Annahme,
daß eine Abstoßung der fraglichen Gebilde aus der Zolle
ins Alveolarlumen statt hat. Da der eine von uns gezwungen
ist, die Arbeit abzubrechen, so können wir eine Entscheidung
in dieser Frage nicht, geben.
Es steht aber nichts im Wege, die in den Zellen vor¬
bildlichen rein sudanophilen Körnchen, mit denen des
Sekretes zu identifizieren und sie als direkte Sekretions¬
produkte der Drüsenzellen anzusehen.
Bezüglich der Genese der aphilochromen Kor-
puskula muß betont werden, daß wir ähnliche Tropfen in den
Zellen nie gesehen, auch nicht Bilder, vakuolenartige Lücken,
die eine Ausstoßung derselben verraten könnten. Wir sind
also gezwungen anzunehmen, daß ein flüssiges Sekret in
die Alveole abgesondert wird, welches in der albumösen
Abscheidung aus uns vorläufig unbekannten Ursachen sich
zu Tropfen emulgiert.
Die sudano-azuroph i 1 e n, das heißt gemischten
Granula der Drüsenepithelien, die entsprechenden säure¬
beständigen Sekretkugeln haben wir im Alveolarlumen oder
Sekret nicht gefunden. Was die unter 5 bis 7 von B jör¬
ling beobachteten Ilebergangstypen betrifft, so ist die Er¬
klärung für die Entstehung der „hyalinen mit Fettkörnchen“
als eine einfache Anlehnung von Fettkügelchen an die
klebrige aphflochrome Substanz, naheliegend, während die
granulierten mit Fettkörnchen entweder ebenfalls durch An¬
lehnung oder eventuell durch eine fettige Degeneration ent-
s lohen mögen. Auch eine direkte Abschnürung derselben
aus dem Drüsenepithel, wäre in das Bereich der Kombination
zu ziehen.
Handelt es sich bei den sudano - azurophil en Granulis
um Vorstufen der Sekretbildung oder nur um rein funk¬
tionelle Produkte, sind diese Granula mixta bestimmt der
inneren Sekretion zu dienen?
Wir wollen uns nicht in müßige Hypothesen verlieren.
III. B e o b a c h t u n g i m D u nk e 1 f e 1 d.
. Untersuchungen des Prostatasekretes im Dunkelfeld
sind schon von Posner vorgenommen worden, ohne
irgendwelche Befunde zu ergeben, die nicht auch im Hell¬
felde gemacht worden wären. Wiener hat. im Ejakulat
Gebilde als Spermatokonien beschrieben, die nach König¬
stein nur der Prostataahscheidung zukommen.
Wir fanden nun im exprimierten Prostatasekret der
Leiche (IV. Okular, Spezial objektiv für den Kardioidkonden-
sor, Zeiß) intensiv schwarze Kugeln, sehr viele
von der Größe eines roten Blutkörperchens', manchmal über
die Größe desselben hinaus gehend, manche vielleicht doppelt
so groß, manche die bedeutend kleiner sind und auch weniger
schwarz erscheinen. Sie sind oft von einer anscheinend
stark glänzenden Hülle umgeben, die durch Anlagerung
kleinster, flimmernder Teilchen bedingt, ist. Durch diese
kleinsten Teilchen ist auch die scheinbar nicht ganz runde
WOCHENSCHRIFT. 1911.
Begrenzung bedingt. In Wirklichkeit sind die Kugeln rund
und haben keine glänzende Hülle.
Im Sekret von Lebenden sieht man die Kugeln ebenso
schwarz, aber an Zahl geringer als im exprimierten Saft
der Leiche. In dem erste ren sind sie manchmal sehr spärlich,
hingegen sieht man oll insbesondere bei schwacher Ver¬
größerung weitaus weniger schwarze, vielleicht graue Stellen,
die wohl den gleichen Körperchen aber mit anderen Licht¬
brechung sv erhäl tn i sis en entsprechen mögen, was vielleicht
den verschiedenen Aggregatzuständen (Quellung?) im Se¬
krete zuzuschreiben ist.
Um Zellhaufen herum sieht man nicht selten dunkel-
schwarz e unregelmäßig begrenzte, land kartenförmige, mit
streifigen Ausläufern versehene Flecke, die sich bei Druck
des Deckglases bewegen und verschieben lassen und oft
kleine Gebilde gleicher Art abspalten. Doch getrauen wir uns
nicht aus den Lichtbrennungsverhällnissen allein zu
schließen, daß die oben beschriebenen Körperchen einfach
tropfenförmige Abspaltungen dieser letzbeschriebenen
Masse wären.
Die oben beschriebenen Körperchen sind viel inten¬
siver schwarz als die im Dunkelfeld schwarz hervortretenden
Kerne der Leukozyten.
Die Auffindung dieser Gebilde, welche unseres Wissens
bisher noch nicht beschrieben sind, ist nicht auf den Ge¬
brauch des Kardioidkondensors zurückzuführen, sondern auf
das seltene Vorkommen in manchen Prostatasekreten.
Nur in einer Erklärung zu einer Abbildung Posners
(Berliner klinische Wochenschrift. 1909, S. 255) findet sich
(>ine Bemerkung, daß in der Zeichnung schwarz sich re¬
präsentierende Gebilde, Silbersalze darstellen. Die Zeich¬
nung ist zu undeutlich, um zu erkennen, oh es sich um die
eben von uns beschriebenen Bildungen handelt.
S c h 1 u ß s ä t z e.
1. Insolange nicht mikrochemische Analysen die Kon¬
stitution der Prostatakörperchen, aufklären, schlagen wir die
Einteilung in s u d a n o p h i 1 e, p h i 1 o c h r o m e, a p h i lo¬
ch r o m e Kor p u s k u 1 a. vor.
2. Sie stammen unter physiologischen Verhältnissen
sicher nicht, wahrscheinlich aber auch nicht, in patholo¬
gischen Verhältnissen von den Leukozyten ab, sondern sind
ein direktes Sekretionsprodukt der Drüsenepithelien.
3. In diesen kann man unterscheiden sudano phile
Granula (aus Feit oder Lipoiden bestehend?), basophile
Granula und eine durch innige In- und Aneinanderlagerung
entstandene Mi sch form dieser beiden, welch letztere
bisher noch nicht beschrieben wurde.
4. Es gibt s ä ureb.est ä n d i ge und j o d f e s t e Gra¬
nula unter diesen.
5. Tn der glatten Muskulatur sind Körnchen, die durch
Pigmentdegeneration hervorgehen, s ä u r e b e s t ä n d i g.
6. Ob die Granula der Drüsenepithelien schon Produkte
der Sekretion darstellen oder Funklionsträger sind, die erst
die Körperchen produzieren, bleibt vorläufig noch dahin¬
gestellt.
7. In einigen Fällen (häufiger im exprimierten Sekret
der Leiche als der Lebenden) finden sich im Dunkelfeld
schwarze K u g e 1 n, die aphilochromen Körperchen ent¬
sprechen.
Herrn Prof. Ghon, Vorstand des pathologisch - anato¬
mischen Institutes, sagen wir für die Ueberlassung des'
Leiehenmateriales unseren besten Dank.
Literatur:
Akut zu, Beiträge zur Histologie der Samenblase etc. Virchows-
Archiv 1902, Nr. 168, S. 467. — Björling, Woraus bestehen die
Prostatakörper? Archiv für Dermal. 1910, Bd. 153, S. 3. — Erdheim,
Zur normalen und pathol. Histologie der Gland, thyr. etc. Beiträge zur
pathol. Anatomie 1903, Bd. 33. S. 158. Fick, Zur Kenntnis der in
den Knäueldrüsen vorkommenden Körnchen Monatsh. für prakt. Dermal.
1907, 45, S. 536, 594, daselbst Literatur. - Fürbringer, Zur Kennt¬
nis der Natur der Prostatakörner. Zeitschr. für Urologie 1911, Bd. 5.
S. 169. — König st ein, Untersuchungen über die männlichen Ge¬
schlechtsdrüsensekrete. Wiener klin. Wochenschr. 1910, Bd. 23, Nr. 15
906
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 25
— Petersen, Beiträge zur mikroskopischen Anatomie der Yesic. sem.
etc. Anatomische Hefte, Bd. 34, Nr. 102—104, S. 237; Beiträge zur
Histologie der Prostata. Anatomische Hefte, Bd. 34, Nr. 117—119, S. 653.
— Posner und R apoport, Prostatasekret und Prostatitis. Deutsche
med. Wochenschr. 1905, Nr. 13. — Posner, Die Verwendbarkeit der
Dunkelfeldbeleuchtung in der klin. Mikroskopie. Berliner klin. Wochenschr.
; 908, Nr. 31, S. 1444. — Posner und Scheffer, Beiträge zur
klin. Mikroskopie und Mikrophotographie. Berliner klin. Wochenschr. 1909,
Nr. 6. — Posner, Bemerkungen über das Prostatasekret. Zeitschr’
für Urologie 1911, Bd. 5, S. 161. — PleCnik, Zur Histologie der
Nebenniere der Menschen. Archiv für mikroskopische Anatomie 1902,
Bd. 60. — Falke, Ueber die großen Drüsen der Achselhöhlen bei den
Menschen. Archiv für mikroskopische Anatomie 1902, Bd. 61. — Wälsch,
Ueber Prostatitis. Handbuch der Geschlechtskrankheiten 1910 (Separat¬
abdruck). — Wes k i, Beiträge zur Kenntnis des mikroskopischen Baues
der menschlichen Prostata. Anatomische Hefte 1903, Bd. 21, H. 66—67.
— Wiener, Sperm atokonien. Wiener klin. Wochenschr. 1908, S. 91o!
Aus dem Frauenhospiz in Wien.
(Vorstand: Primarius Dr. Edmund Waldstein.)
Beitrag zur Behandlung retinierter Eihautreste.
Von Dr. Max Steinsberg, Assistenten.
Auf Anregung meines Chefs Prim. Dr. W a 1 d s t e i n will
ich im folgenden an der Hand Vlon 32 sorgfältig beobachteten
Fällen von Eihautretention die bei unserer Behandlung er¬
zielten Resultate mitteilen, um so zur Klärung dieser noch
immer offenen Frage beizutragen.
Daß man größere Plazentareste, besonders, wenn die¬
selben zu stärkeren Blutungen den Anlaß geben, unver¬
züglich entfernen soll, darüber sind die meisten Autoren
einig; bezüglich der zurückgebliebenen Eihautreste ist man
noch immer nicht zu einer einheitlichen Ansicht gelangt.
E|ie Frage steht offen, ob man, bzw. wann man aktiv
eingreifen und die zurückgebliebenen Eihautreste entfernen
soll, oder ob man ein zuwartendes Verhalten beobachten soll.
Als ursächliche, solche Retentionen begünstigende Mo¬
mente werden angesehen; deziduale Verwachsungen (Hof¬
meier1), abnorme Entwicklung der Chorionzotten, Blu¬
tungen in die Dezidua, Verwachsungen infolge Endome-
I iitis, tiefer .sitz der Plazenta (Laz are witsch2); ferner
wird behauptet, daß bei exspektativer Leitung der Nach¬
geburtsperiode Retentionen ein. seltenes Ereignis seien
(Riß mann3), bei gegenteiligem Vorgehen ein häufiges.
Bezüglich der Rolle des künstlichen Blasensprunges'
für das Zustandekommen der Retention der Eihäute stehen
sich ganz gegenteilige Meinungen gegenüber: die einen
machen den künstlichen Blasensprung dafür verantwortlich
(Engelhorn4 5), während die anderen dazu recht früh¬
zeitig raten (Schräder ^ u. zw. in der Annahme, daß
dadurch der Eihautriß bis hoch hinauf Vermieden und der
Störung des normalen Verlaufes der Lösung von Eihäuten
vorgebeugt werde.
Endlich wird das häufigere Vorkommen von Reten¬
tionen gerade bei I - paris betont.
Wenn es auch schwer erklärlich ist, warum als Folge
von Eihautretention bei Fehlen sonstiger Ursachen eine
Puerperalsepsis aufteten sollte, so wird dies doch des öfteren
behauptet.
Während die einen in ihr eine in den meisten Fällen
belanglose Sache sehen und sich dementsprechend zuwar¬
tend verhalten, erblicken die anderen in ihr eine für die
Wöchnerin ernste Komplikation und verlangen die sofort^e
Entfernung der Reste.
Das zuwartende Verhalten wird mehr von den
deutschen, das aktive von französischen und englischen
Autoren geübt.
') Hofmeier, Deutsche Aerztezeitung 1902, H. 15
) Lazarewitsch, Zentralblatt für Gyn. 1887, S 43
) Riß mann, Monatsschrift für Geb. und Gyn., Bd. 24, S 581
4i Engelhorn, Zentralblatt für Gyn. 1908, S. 509.
5) Schrader, Zentralblatt für Gyn. 1887, S. 787.
Autoren, wie Winter,6)7) v. Herff8) u. a. räumen
der Retention von fötalen Eihäuten fast gar keinen Einfluß
auf das Wochenbett ein, sehen dieselbe als nicht für in¬
fektionsbegünstigend an und warnen vor der operativen
Entfernung, da dadurch erst recht schwere Puerperalerkran¬
kungen provoziert werden können; sie rechnen damit, daß
die retinierten Eihäute im Verlaufe des Wochenbettes sich
spontan ablösen und mit den Lochien ausgestoßen werden;
insbesondere soll man sich am infizierten Uterus, der hämo¬
lytische Streptokokken enthält vor intrauterinen Eingriffen
hüten, ausgenommen, wenn durch die Retention schwere
Blutungen ausgelöst werden. In solchen Fällen müßte man
die Ablösung der Eihäute vornehmen — dies jedoch ohne
Instrumente.
Straß mann9)10) tritt gleich Fehling11)12) für
ein abwartendes Verhalten ein; er sieht es aus dem Grunde
als großen Vorteil an, wenn keine Eingriffe gemacht werden,
weil die Eihautreste bei festem Zusammenhänge mit der
Uteruswand lange frisch ohne Spuren von Zersetzung
bleiben. Sogar bei Endometritis puerperalis, erzeugt durch
zurückgehaltene Eihautreste, wird Zuwarten empfohlen; Kü-
rettements in der ersten Woche könnten bedrohliche Blu¬
tungen und Perforationen des Uterus zur Folge haben.
Einen ähnlichen konservativen Standpunkt nehmen, so-
ferne keine Blutungen oder gleichzeitig Retention von Pla¬
zentateilen besteht, H o f m e i e r,13) Fromm e,14) Zwei¬
fel15) ein.
Insbesondere sahen jene Autoren, welche Reihen von
Eihautretentionsfällen beobachteten, die zum Teil durch so¬
fortiges Entfernen, zum Teil abwartend behandelt wurden,
diejenigen Fälle günstiger verlaufen, bei denen nichts getan
wurde (Lab in,16) Chazan,17) R. Pup pel,18) Lazare¬
witsch 19).
Die Gefährlichkeit der Eingriffe wird aber wieder¬
holt betont (Enge 1 h o r n 20). Selbst Veränderungen in dem
Verhalten der Lochien — wie Stauung des Lochialsekretes,
Vermehrung des Ausflusses, blutige Färbung, putride Be¬
schaffenheit — führen zu keinen ernsten Komplikationen
und machen nach S c h n e i d e r - G ei g e r,21) keine Ein¬
griffe notwendig.
Sollte aber ein solcher zur Entfernung von Eihaut-
rosten unvermeidlich geworden sein, so soll er nach
olff2“) nur nicht frühzeitig vorgenommen werden.
Soweit die Ansichten jener Autoren, welche einen mehr
exspektativen Standpunkt einnehmen.
Ganz im Gegensatz zu diesen tritt ein Teil der Autoren
für das aktive Verfahren ein, von der Ansicht ausgehend,
daß die Eihautretention als solche, eine Gefahr für dieWöch-
nerin in sich birgt. Es sollen schlechte Erfahrungen infolge
Retention von Eihäuten gemacht worden sein ; R i ß m a n n23)
sah häufig Blutungen auftreten, die Involution des Uterus
verzögerte sich häufig (Knapp24), der Lochienfluß war
vermehrt und längere Zeit hindurch blutig.
,, WinUr, Verhandlungen der deutschen Gesellschaft für
Gyn., Bd. 13.
7) Winter, Zentralblatt für Gyn. 1910, S. 1497.
8) v. Herff, In Winckels Handbuch für Geb., Bd. 3/2, S. 725.
®) straß m a n n, In Winckels Handbuch für Geb., Bd. 3/1, S. 848.
°) Straßmann, Zentralblalt für Gyn. 1906, S. 489.
) Fehling, Wochenbett.
,2) Fehling, Zentralblatt für Gyn. 1881, S. 608.
13) Ilofmeier, Deutsche Aerztezeitung 1902, H. 15.
14) Fromm e, Wochenbett.
15) Zweifel, Zentralblatt für Gyn. 1907, S. 153.
16) Lab in, Zentralblatt für Gyn. 1879, S. 278.
17) Chazan, In Winckels Handbuch für Geb.. Bd. 2 2, S 1363.
S 475 5 R' Puppe1’ Zeitschr- für Geb. und Gyn., Bd 64, H. 2 bis 3,
■9) Lazarewitsch, Zentralblatt für Gyn. 1887, S. 43
-°) Engelhorn, Zentralblatt für Gyn. 1908, S. 509.
ir i ( Schneider-Geiger, Beiträge zur Geb. und Gyn., Bd. 11,
11. 1 bis 2.
“) W o 1 f f, Ref. im Zentralblatt für Gyn 1909, S. 1653.
,) Riß mann, Monatsschr. für Gyn und Geb., Bd. 24, S. 581.
4) Knapp, Archiv für Gyn. 1898, S. 414.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
907
Von diesen Gesichtspunkten aus tritt Bollenhagen25)
prinzipiell für die sofortige Entfernung post partum ein,
Rißmann dann, wenn Blutungen auftreten. Freilich nuiß>
;mcl) Bollenhagen zugeben, daß die Entfernung der
Eihäute unmittelbar post partum viel Schwieriger ist als
später.
Besondere Gefahr bergen angeblich infizierte Eihaut-
resle in sich (C o r t e j e r e n a 2(;) ; die Entfernung diesen'
soll womöglich vollständig sofort manuell geschehen
(Louros“'), sobald durch Fieber, Blutung und übel¬
riechende Lochien die Retention festgestellt ist.
Nach Meinung der Verfechter der aktiven Therapie
geht das Wochenbett bei Eihautretention nur in seltenen
Fällen ohne Gefährdung der Wöchnerinnen ab, insbesondere
dann, wenn ein größerer Teil zurückblieb. So vierlangen
ßc h e f f z e c k ~s) und C li a r 1 e s 29) die Entfernung, wenn
mehr als Vs der Eihäute retiniert wurde. Bei bestehendem
Heber verlangt Hui lot30) sogar Kürettage, da die Eihaut¬
retention — wie W o r m s e r 31) auch meint — das Ein¬
dringen und die Aszendierung der Keime sonst begünstigt.
In unserer Anstalt wird in Fällen von Eihautretention
das exspektative Verfahren geübt.
Unser Material, über das ich berichten will, umfaßt
677 Wöchnerinnen, an denen 32mal (4.7%) Eihautretention
beobachtet wurde.
ln dieser Hinsicht sind unsere Resultate als recht gün¬
stige zu bezeichnen, da -- wie beifolgende Tabelle*) zeigt
U— Eihautretentionen anderwärts vielfach häufiger Vor¬
kommen.
Autor
Geburten
Retention
Prozente
Völker ......
5100
47
1
Reihlen .
3534
152
4
Cr<§d<5 .
2000
91
5
Bericke ....
1700
44
3
Beaucamp .
500
102
20
v. Winckel .
3199
73
2
Maygried .
1939
142
7
Velits .
4333
228
5
Nippold .
1004
4
Stadtfeld ....
1780
2
Hofmeier
6000
57
I
Fischer .
682
6
Halpern .
4115
102
9
v. Winkel .
1019
3
Martin .
390
14
4
Fehling .
90
6
Newis .
1058
7
Huber .
5930
187
3
Huber .
1582
84
5
Dohorn .
1000
13
Schneider-Geiger . . .
5410
558
10
Von unseren Frauen mit Verhaltung von Eihäutei
I-
para
21
Frauen
II-
?>
7
III-
1
Frau
IV-
»
1
V-
j?
l
VIII-
n
1
Bei 5 Frauen sind Anahltspunkte vorhanden, welche auf
Erkrankungen des Endometriums hinweisen u. zw. bestanden
bei einer Frau (Fall I, siehe Krankengeschichten) während
der Gravidität Genitalblutungen als Ausdruck eines tiefen
Sitzes der Plazenta (Placenta praevia part.); bei derselben
*5) Rollenhagen, Zentralblatt für Gyn. 1907, S. 151.
-6) Corte jere n a, Monatsschr. für Geb. und Gyn , Bd. 17, S. 157.
27) Louros, Zentralblatt für Gyn. 1908, S. 217.
■b) Sehe ff zeck, Zentralblatt für Gyn. 1909, S. 57.
■a) Charles, Ref. Zentralblatt für Gyn. 1909, S. 420.
30) II ullot, Ref. Zentralblatt für Gyn. 1909, S. 822.
31) W o rmse r, Korrespondenzblatt für Schweiz. Aerzte 1902, S. (118.
*) Schneider-Geiger, In Beiträge zur Geb. und Gyn.,
Bd. 11, S. 279.
Frau mußte bei der vorhergegangenen Entbindung die Lö¬
sung dei retinierten Plazenta vorgenommen werden; bei
zwei weiteren Frauen bestanden bei früheren .Schwanger¬
schaften durch längere Zeit Blutungen (Fälle 20 und 26);
endlich haben zwei von diesen Frauen kurz vor Beginn
der letzten Gravidität abortiert (Fälle 4 und 29).
Bei sechs Frauen zeigte der Uterus geringe Neigung
zur Kontraktion schon während der Geburt (Fälle 14, 20, 22,
25, 26, 32), bei anderen auch nach derselben; von den
ersteren mußten zwei mittels Forzeps wegen Wehenschwäche
entbunden werden (Fälle 14 und 32).
Zwei Frauen litten infolge Hydramnion an Ueber-
dehnung der Gebärmutter, was Wehenschwäche und Atonie
zur Folge hatte (Fälle 8 und 15).
Eine weitere Kategorie von Frauen litt an Organerkran¬
kungen, die ihrerseits für ein abnorm festes Haften der
Sccundineae beschuldigt werden können und zwar: drei
Frauen an Nephritis (Fälle 6, 8, 11), zwei an Vitium
cordis (Fälle 9 und 26), zwei an weit vorgeschrittener
Phthisis pulmonum (Fälle 23 und '29).
Die künstliche Blasensprengung, die Engel horn32)
liii die Retention von F, i häuten verantwortlich macht, wurde
bei 7 (21-8%) Von unseren Frauen vorgenommen, während
bei den übrigen 25 (78-2%) Frauen die Fruchtblase spontan
gesprungen ist.
In sechs Fällen (18-7i°/o) erfolgte der Blasensprung
Vorzeitig, davon in zwei Fällen noch vor dem Einsetzen von
schmerzhaft empfundenen Wehen.
Nur in zwei Fällen mußte die Geburt künstlich mittels
Forzeps beendet werden, sonst ging sie spontan vor sich.
Die Nachgeburt ging in 26 Fällen (81-2%) spontan
ab n. zw. innerhalb Von fünf Minuten bis 14/4 Stunden nach
der Geburt des Kindes.
ln sechs Fällen (18-8 °/o) mußte wegen Post partuni-
Blutungen die schon gelöste Nachgeburt durch leichten
Druck auf den Uterus exprimiert werden.
Manuelle Plazentalösung fand in unseren Fällen nie¬
mals statt. *
Dies stellt im Einklang mit dem in unserer Anstalt
geübten außerordentlich exspektativen Verhalten, während
der dritten Geburtsperiode, Von dem wir nur dann Abstand
nehmen, wenn strikte Indikationen uns dazu zwingen.
Hinsichtlich des weiteren Schicksales der Frauen mit
Retention von Eihäuten sei erwähnt, daß in 21 Fällen
(65-6%) die Eihäute spontan abgingen, in 3 Fällen (9-3%)
gingen die Lihäute teilweise spontan ab, zum Teil wurden
sie entfernt, in 8 Fällen (25-1,%) wurden sie im Wochen¬
bette in toto künstlich gelöst und herausbefördert.
^ Prinzipiell gestaltet sich unser Verhalten folgender¬
maßen: solange weder Fieber, noch Blutungen, noch auf¬
fallend schlechte Involution des Uterus feststellbar waren,
vei hielten wir uns zuwartend. Sobald jedoch die ange¬
führten Momente einzeln oder gehäuft sich geltend machten,
wurde eine Austastung des UteruskaVums vorgenommen und
bei \ orhandensein Von Eiteilen die digitale Entfernung an¬
geschlossen.
ln jenen Fällen, in denen man die Gewißheit hatte,
alles Pathologische entfernt zu haben, wurde entweder gar
nichts weiter vorgenommen oder die Uterushöhle mit Jod-
tinktur ausgepinselt.
Nachträgliche Uterusspülungen wurden tunlichst ver¬
mieden — bis auf Fall 6 und 8 — da wir mit Winter
auf dem Standpunkte stehen, daß die Uterusausspülung nach
der Entfernung mehr oder weniger, wenn auch nur sapro-
phytisch infizierter Massen eher schaden als nützen kann;
eine desinfizierende Wirkung kommt der Uterusausspülung
im Sinne der Abtötung der bereits in den Organismus über¬
getretenen Keime sicherlich, nicht zu, daher ist eine solche
lieber zu unterlassen.
Dort, wo kein Anlaß zu Uterusexploration gegeben war,
verhielten wir uns bis zum 8., ja bis zum 10. Tage zuwartend
3 ) Engelhorn, Zentralblatt für Gyn. 1908, S 509.
908
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 25
und nahmen erst dann eine innere Untersuchung vor, um
sicher zu sein, daß wir keine Frau mit retinierten Eihäuten
aus unserer Beobachtung entlassen. Bei dieser Untersuchung
zeigte es sich, daß in der großen Mehrzahl der Fälle die
Eihäute spontan in toto abgegangen waren, nur in der
Minderzahl waren solche noch vorhanden; die Entfernung
dieser gelang anstandslos, indem die Massen mit dem Finger
von der Gebärmutterwand weggedrückt und hierauf mit dem
Finger oder mit einer Korn-, hzw. Löffelzange gefaßt und
herausbefördert wurden.
Solange als möglich waren wir bestrebt, die Entfer¬
nung von Eihautresten hinauszuschieben, erstens weil durch
jeden intrauterinen Eingriff im Wochenbette pathogene
Keime ins Uteruskavum eingeführt werden können und diese
Gefahr um so geringer wird, je weiter die Thrombosierung
der Uteringefäße vorgeschritten und die Plazentarwunde
in Ausheilung begriffen ist; zweitens weil je später die
Entfernung von Eihautresten vorgenommen wird, sich diese
um so leichter gestaltet.
Von diesem unseren prinzipiellen Standpunkte waren
wir in einem Falle durch Fieber veranlaßt worden Abstand
zu nehmen u. zw. mußten wir in diesem Falle frühzeitig
die Eihautreste entfernen. Nach der Entfernung schwand
das Fieber.
Der Wochenbettverlauf war bei unseren 32 Frauen
25mal (78-1 °/o) ein vollkommen glatter und afebriler, in
7 Fällen (21-9 %) trat Fieber über 38° (Axillarmessung)
auf u. zw. in 1 Falle VOr der Ausräumung, in 3 Fällen, in
denen bis zur Ausräumung kein Fieber bestand, trat nach
der Ausräumung Eintagfieber auf, in 3 weiteren Fällen, in
denen keine Ausräumung vorgenommen wurde und sich
die Ausstoßung der Eiliautreste spontan abspielte, haben
noch 3 Frauen im Beginne des Wochenbettes leicht ein
bis zwei Tage gefiebert.
Sämtliche 32 Frauen sind von ernsten Wochenbett¬
erkrankungen verschont geblieben und so konnten 29 Frauen
am 11., 1 Frau am 12., 1 Frau am 14. und 1 Frau am
17. Tage post partum die Anstalt gesund verlassen.
Betrachtet man unsere Fälle von Eihaut-
retention in ihrem Verlauf und Ausgang, so
kom m t 'm an zur Ueberzeugung, daß bei ex-
spektativer Behandlung die Eihautretention
eine belanglose Sache darstellt, daß das zu-
wartende V er ha.ltenErfolge- zeitig t, diesic he r-
lich durch kein anderes Verfahren übertrof¬
fen werden können.
Diese Behandlung bedeutet wieder einen Erfolg der
exspektativen Therapie und wir können, gestützt auf un¬
sere günstigen Resultate dieses' Verfahren als richtig hin¬
stellen. Hiemit wäre wieder ein Kapitel polypragmatischer
Betätigung im Wochenbette, welche schon so viel Schaden
angerichtet hat, zu streichen.
*
Fall I. Prot.- Nr. 11/1910. 30jährige Vl-para. Beim letzten
Partus Plazentalösung. Diesmal Placenta praevia partial. Geburt
spontan. Geburtsdauer 25 Stunden. Blaseinsprung knapp ante
partum. Kind frühgeboren. Mäßige Blutung. Spontaner Abgang
der Plazenta. Drei Tage post partum teilweise Abgang von Eihaut-
resten. Sechs Tage post partum digitale Entfernung der letzten
Reste mit teilweiser Zuhilfenahme der Kürette unter Leitung des
Fingers. Nach der Entfernung Temperatur 38-7°. Wochenbett sonst
afebril. Gute Involution des Uterus.
Fall II. Prot.- Nr. 23/1910. 19jährige l-para. Geburtsdauer
20 Stunden, Blasensprung eine halbe Stunde ante partum. Geburt
und Abgang der Plazenta spontan. Fünf Tage post partum Ab¬
gang der retinierten Eihäute. Temperatur am ersten Tage 3 < -5,
sonst unter 37.
Fall III. Prot.- Nr. 39/1910. 21jährige I-para. Geburtsdauer
sechs Stunden, Blasensprung 45 Minuten ante partum. Tem¬
peratur am dritten und vierten Tage post partum 38 bis 38-2.
Am fünften und sechsten Tage Abgang der Eihäute.
Fall IV. Prot.- Nr. 71/1910. 30jährige II-para. Vor einem
Jahre Abortus. Geburtsdauer 47 Stunden; Blasensprung 1 5Va
Stunden ante partum. Geburt und Plazentaabgang spontan. Am
dritten Tage post partum Abgang der retinierten Eihäute.
Fall V. Prot. -Nr. 111/1910. 26jährige I-para. Geburts¬
dauer 16 Stunden, Blasensprung zwei Stunden ante partum.
Geburt spontan. Am fünften Tage post partum Abgang der reti¬
nierten Eihäute.
Fall VI. Prot.;Nr. 114/1910. 24jährige I-para. Schwanger¬
schaftsniere. Geburtsdauer 21 Stunden, Blasensprung künstlich
drei Viertelstunden ante partum. Geburt spontan. Kind tot.
Blutung. Durch acht Tage post partum Temperatur bis 38-8.
Am achten Tage post partum digitale Lösung von Eihautresten;
von da ab kein Fieber mehr.
Fall VII. Prot.-Nr. 117/1910. 26jährige I-para. Geburts¬
dauer 50 Stunden, Blasensprung fünf Stunden ante partum. Geburt
spontan. Am dritten Tage post partum Abgang von Eihaut¬
resten.
Fall V 1 1 1 . Prot.-Nr. 118/1910. 22jährige I-para. Schwan¬
gerschaftsniere. Hydramnion. Geburtsdauer 18 Stunden, Blasen-
sprung zwei Stunden ante partum. Geburt spontan. Am zweiten
Tage post partum teilweiser Abgang von Eihautresten. Am vierten
Tage post partum Ausräumung von nekrotischen Deziduamassen.
Am achten Tage Temperatur 39-2.
Fall IX. Prot.-Nr. 122/1910. 24jährige I-para. Vitium cordis.
Geburtsdauer zwölf Stunden, Blasensprung 20 Minuten ante par¬
tum. Frühgeburt. Geburt und Nachgeburt spontan. Am sechsten
Tage Abgang von Eihautresten.
Fall X. Prot.-Nr. 133/1910. 21jährige I-para. Geburts¬
dauer 36 Stunden, Blasensprung IV2 Stunden ante partum. Geburt
und Abgang der Plazenta spontan. Am zweiten Tage post partum
Abgang von Eihäuten.
Fall XI. Prot.-Nr. 153/1910. 19jährige I-para. Nephritis.
Geburtsdauer 6 Vs Stunden, Blasensprung fünf Stunden ante par¬
tum. Geburt spontan. Am sechsten Tage post partum Lösung
der fast vollständig im Uterus fest anhaftenden Eihäute.
Fall XII. Prot.- Nr. 159/1910. 30jährig© I-para. Geburts¬
dauer 14 Stunden, Blasensprung eine Stunde ante partum. Tem¬
peratur 38-4 sub partum. Geburt spontan. Am zweiten Tage
Abgang der retinierten Eihäute.
Fall XIII. Prot.- Nr. 162/1910. 38jährige V-para. Geburts¬
dauer 8V2 Stunden, Blasensprung zehn Minuten ante partum.
Geburt spontan. Am fünften und siebenten Tage Abgang von
retinierten Eihautresten.
Fall XIV. Prot.-Nr. 168/1910. 19jährige I-para. Blasen-
sprung 7V2 Stunden ante partum. Wehenschwäche. Forzeps. Blu¬
tung. Am siebenten Tage Abgang von Eihautresten.
Fall XV. Prot.-Nr. 198/1910. 29jährige I-para. Hydrarn-
nion. Geburtsdauer 20 Stunden, Blasensprung künstlich 3V2 Stun¬
den ante partum. Geburt spontan. Am dritten Tage Abgang der
retinierten Eihäute.
Fall XVI. Prot.-Nr. 218/1910. 24jährige I-para. Einfach
plattes rachitisches Becken. Geburtsdauer 38 Stunden. Blasen¬
sprung drei Stunden ante partum. Geburt spontan. Am achten
Tage digitale Entfernung von Deziduaresten.
Fall XVII. Prot.-Nr. 221/1910. 25jährige II-para. Geburts¬
dauer 3V2 Stunden, Blasensprung 69V2 Stunden ante partum.
Geburt spontan. Am dritten Tage Abgang von Eihäuten.
Fall XVIII. Prot.-Nr. 231/1910. 20jährige II-para. Geburts¬
dauer 2OV2 Stunden, Blasensprung zehn Minuten ante partum.
Geburt und Abgang von Plazenta spontan/ Am achten Tage
digitale Entfernung eines kleinen Deziduarestes und übelriechen¬
der Blutgerinnsel.
Fall XIX. Prot.-Nr. 258/1910. 23jährige I-para. Geburts¬
dauer 31 Stunden, Blasensprung eine Stunde ante partum. Geburt
spontan. Am fünften Tage Abgang der retinierten Eihäute.
Fall XX. Prot.-Nr. 270/1910. 35jährige II-para. Nach dem
letzten Partus durch drei Monate Blutungen. Geburtsdauer zwei
Stunden, Blasensprung knapp ante partum. Blutung post partum.
Expression der Plazenta.
Fall XXL Prot.-Nr. 322/1910. 28jährige I-para. Geburts¬
dauer 8V2 Stunden, Blasensprung 6V2 Stunden ante partum. Geburt,
spontan. Frühgeburt. Am dritten Tage Abgang von Eihäuten.
Fall XXII. Prot.-Nr. 339/1910. 19jährige I-para. Gebuits-
dauer sieben Stunden, Blasensprung künstlich eine Viertelstunde
ante partum. Blutung post partum. Expression der teilweise ge¬
lösten Plazenta. Am zweiten Tage Abgang retinierter Eihäute.
Am 6. Tage Temperatur . 38-4.
Fall XXI II. Prot.-Nr. 345/1910. 37jährige 111-para. Latar-
rhus pulmonum. Geburtsdauer 49 Stunden. Blasensprung künst¬
lich, knapp ante partum. Geburt spontan. Am1 vierten Tage pus
partum Abgang von Eihäuten.
Fall XXIV. Prot.-Nr. 363/1910. 22jährige I-para. GeburL-
dauer 8V2 Stunden, Blasensprung künstlich eine Stunde ante
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
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partum. Gehurt spontan. Am dritten Tage post partum Tempe¬
ratur 38-2. Am vierten tage post partum Abgang von Eihäuten.
Fall XXV. Prot.- Nr. 387/1910. 26jährige 1-para. Geburts¬
dauer 24 Stunden, Blasensprung vier Stunden ante partum. Ge¬
burt spontan. Blutung. Expression der schon teilweise gelösten
Plazenta. Am achten Tage post partum digitale Ausräumung
von großen Eihautresten.
Fall XXVI. Prot.- Nr. 425/1910. 38jährige Vlll-para. Vitium
cordis. Nach dem letzteir Partus Blutungen. Geburtsdauer 2OV2
Stunden, Blasensprung künstlich zehn Minuten ante partum. Ge¬
burt spontan. Leichte Blutung. Expression der schon gelösten
Plazenta. Am zehnten Tage post partum digitale Lösung der
leicht adhärenten Eihäute.
Fall XXVII. Prot.-Nr. 464/1910. 24jährige 1-para. Geburts¬
dauer 14 Stunden, Blasensprung 1 V 4 Stunden ante partum. Ge¬
burt spontan. Leichte Blutung. Expression der Plazenta. Am
fünften Tage post partum Abgang von Eihäuten. Am sechsten
Tage post partum Entfernung von größeren Eihautresten, nach¬
her Temperatur 39-2, sonst afebril.
Fall XXVIII. Prot.-Nr. 137/1911. 22jährige '1-para. Ge¬
burtsdauer 14 Stunden, Blasensprung 14 Stunden ante partum.
Geburt spontan. Am siebenten Tage post partum durch leichten
Zug Entfernung von größeren’ Eihautresten, welche aus der Uterus¬
höhle in die Zervix hineinragen.
Fall XXIX. Pi-ot.-Nr. 174/1911. 23jährige Ilpara. Häufig
Hämoptoe. Vorletzte Geburt Abortus. Geburtsdauer 15V2 Stunden.
Am dritten Tage Abgang von Eihäuten.
Fall XXX. Prot.-Nr. 189/1911. 25jährige Il-para. Geburts¬
dauer 20 Stunden, Blasensprung 25 Stunden ante partum. Geburt
spontan. Am dritten und vierten Tage post partum Abgang von
Eihäuten.
Fall XXXI. Prot.-Nr. 195/1911. 25jährige Il-para. Blu¬
tungen aus dem Genitale während der Gravidität. Geburtsdauer
15x/2 Stunden. Geburt spontan, leichte Blutung. Am dritten Tage
post partum Abgang von Eihäuten.
Fall XXXII. Prot.-Nr. 197/1911. 31jährige 1-para. Geburts¬
dauer 17 Stunden, Blasensprung drei Stünden ante partum. Se¬
kundäre Wehenschwäche, Forzeps. Atonische Blutung. Expression
der Plazenta. Tamponade. Am zehnten Tage post partum digitale
Entfernung eines gelösten großen Eihautstückes. Nachher Tempe¬
ratur 38-5. Sonst afebril.
Kinematographie im Dienste der Elektro-
pathologie.
Von Priv.-Doz. Dr. S. Jellinek.
Als im Herbst 1909 die wissenschaftliche Kommission der
Internationalen Hygieneausstellung in Dresden an das k. k. Uni¬
versitätsinstitut für gerichtliche Medizin in Wien die Einladung
hatte ergehen lassen, die elektropathologische Musealsammlunc
im Jahre 1911 nach Dresden zu schicken und die Zusage erfolgt
war, begannen wir sofort mit den Vorbereitungen.
Die geplante Vorführung der elektropathologisehen Samm¬
lung in der Allgem. wissenschaf tl. Abt. wurde aber ubgeänderi.
als im Herbste 1910 Oesterreichs offizielle Teilnahme an der
Internationalen Hygieneausstellung beschlossen wurde und seitens
der k. k. Ausstellungskommission an das Universitätsinstitut für
gerichtliche Medizin eine Einladung zur Ausstellung im öster¬
reichischen Pavillon erfolgte. Im Einverständnis mit dem Ge¬
neralsekretariat der Wissenschaftlichen Abteilung (Geh. Regie¬
rungsrat Dr. Wutzdorff und Geh. Regierungsrat Dr. Weber)
wurde dem Wunsche der k. k. Regierungskommission entsprochen
und die Neuanmeldung für den österreichischen Pavillon durch¬
geführt.
Die elektropathologische Sammlung, an deren Ausbau und
Vergrößerung in dem Wiener gerichtlichen Institut seit dem Jahre
1906 ununterbrochen gearbeitet wird, ist in den allerletzten Jahren
durch Einfügen zahlreicher und geeigneter Objekte zu einer statt¬
lichen gediehen; isie umfaßt derzeit mehr als 250 Musealgegen¬
stände. Von den neu sich ereignenden Unfällen, welche auf die
I. medizinische Universitätsklinik (Prof. Dr. C. v. Noorden)
zur Behandlung oder in das gerichtlich- medizinische Institut
(Prof. Dr. A. Kolisko) zur Obduktion kommen, werden Mou¬
lagen, anatomische Präparate und photographische .Aufnahmen
angefertigt, die dazugehörenden Materialschäden, die Kleidungs¬
stücke, Gebrauchsgegenstände, elektrotechnische Apparate, Kabel,
Sicherungen, Isolationsträger, Schaltstücke usw. gesammelt und
der Sammlung einverleibt. Doch nicht nur von elektrischen Un¬
fällen herrührendes Material, auch sonstige lehrreiche und durch
Seltenheitswert sich auszeichnende Materialbeschädigungen und
Objekte aus Elektrizitätswerken und Betrieben mit elektrischer
Energiebenützung, ferner Modelle, Typen usw. trachten wir füi die
Musealsammlung des k. k. Universitätsinstitutes für gerichtliche
Medizin zu gewinnen.
Besonders wertvolle Zuwendungen verdanken wir dem
freundlichen Entgegenkommen der Herren Direktoren und Be¬
triebsleiter der Elektrizitätswerke der Städte Wien, Prag, Brünn,
Krakau, Linz, Bozen -Meran, Deutsch -Feistritz Peggau und der
größeren Elektrizitätsfirmen, wie Oesterreichische Siemens-
Schuckert - Werke, Felten & Guillaume, Allgemeine Elektrizitäts-
gesellschaft Union u. a. m.
Doch nicht nur durch technische Elektrizität verursachte
Materialschäden, sondern auch solche, hervorgerufen durch Ein¬
wirkung atmosphärischer Elektrizität, Blitzschlag, werden ge¬
sammelt und bilden eine besondere Abteilung (gemeinsam mit
den durch Blitzschlag verursachten Organschäden) der Sammlung.
Die Zusammenstellung und Anordnung der Objekte erfolgte
kasuistisch, das ist nach Unfällen. Für jede dieser kleinen Gruppe
von Objekten, wie da sind Moulagen, anatomische Präparate,
Photographien, Kleidungsstücke, Kabel, Sicherungen, Apparate
und so weiter, die alle von einem elektrischen Unfall herrührten,
wurde eine Unfallskizze angefertigt, das ist die Situation des
Betroffenen während des Unfalles ; dadurch sollte dem Beschauer
eine Vorstellung und rasche Orientierung über die Entstehung
und den Verlauf des elektrischen Unfalles vermittelt werden. Die
auf jedem Musealstücke befindlichen Etiketten, auf welchen das
Bemerkenswerte des Falles aufgediuckt ist, erleichtern den ange¬
strebten Zweck. Und so vermag nicht nur Gesundheitstechniker
und Elektrotechniker, sondern jeder aufmerksame Beschauer sich
leicht über die Entstehungsweise elektrischer Unfälle Aufklärung zu
verschaffen und Einsicht zu gewinnen, wie eine wirksame Pro¬
phylaxe in Räumen und Betrieben mit elektrischer Licht- und
Kraftverwendung durchzuführen ist.
Das Studium der elektropathologisehen Sammlung lehrt,
daß in den meisten Fällen Unaufmerksamkeit, Unterschätzen der
Gefahr und Nichtbeachten der Sicheiheitsvorschriften die Ursache
des Unglückes gewesen; nur in weinigen Ausnahmefällen waren
böse Zufälligkeiten und Unzulänglichkeiten der elektrotechnischen
Installationen und anderer Einrichtungen der Ausgangspunkt des
Unfalles gewesen.
Wenn auch die Sammlung großes und lehrreiches Material
für das Studium der Unfallverhütung enthält, so erschien
es mit Rücksicht auf die in der elektrischen Unfallspräxis ge¬
machten ernsten Erfahrungen wünschenswert, noch für zwei
weitere Aufgaben der Elektrohygiene eine anschauliche
und gemeinverständliche Darstellungsmethode zu finden: gemeint
sind die der Befreiung des Verunglückten aus dem
Stromkreise dienenden Vorbereitungen, Handgriffe und Be¬
helfe, endlich geeignete Anleitung für lege artis auszuführende
Erste Hilfeleistung .((Wiederbelebung elektrisch
V e run glückt er).
Bei Erwägung dieser Aufgabe kamen wir auf die Idee, alle
diese für die alltägliche Praxis wichtigen Momente durch kinemuto-
graphische Aufnahmen zur Vorführung zu bringen.
Zunächst sollten Arbeiten und Verrichtungen in elektrischen
Betrieben gezeigt werden, wie sie vorschriftsmäßig sind, den
Sicheiheitsvorschriften entsprechen und vollkommene Betriebs¬
sicherheit verbürgen. Im Gegensätze dazu sollten solche Arbeiten
vorgeführt werden, welche unter Außerachtlassung der Sicher¬
heitsvorschriften duTchgeführt werden und dadurch zu elektri¬
schen Unfällen Anlaß geben ; im sofortigen, Anschluß an eine solche
Unfallsituation die Mittel und Wege, um den Verunfallten rasch
und sicher aus dem Stromkreise zu befreien. Gleichzeitig war
darauf hinzuweisen, wie sich der Retter seihst zu isolieren und
vor Elektrizitätsübergang zu schützen habe. Die dritte Aufgabe
bestand darin, den eingehenden Vorgang der Ersten Hilfeleistung
in ihren Einzelheiten und insbesondere die künstliche Atmung in
ihren Phasen zu demonstrieren. Die in den letzten Jahrein auf
dem Gebiete des elektrischen Unfallwesens gemachten Erfah¬
rungen haben die bedauerliche Tatsache festgestellt, daß die an
durch Elektrizität Verunglückten unternommenen Wiederbelebungs¬
versuche weder zeitgemäß noch kunstgerecht ausgeführt werden:
es wird mit der künstlichen Atmung in der Regel zu spät be¬
gonnen und die ganzen Bemühungen auch viel zu früh aufgegeben.
Auf die verschiedenen Befreiungsmöglichkeiten
und den richtigen Vorgang bei der künstlichen At¬
mung und der Wiederbelebungsversuche überhaupt
war daher das Hauptgewicht zu legen.
Der Ausführung der Idee stellten sich große technische
Schwierigkeiten entgegen, zu deren Ueberwindung wir in Herrn
Dr. Wogrinz, k. k. Oberinspektor des k. k. Gewerbeförderungs-
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amtes (k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten) einen Mitarbeiter
fanden, welcher keine Mühe und Zeitopfer scheute und dem es
auch gelang, daß die österreichisch- ungarische Kino¬
in du s trie (Generaldirektor Dr. Kühnei t) in Wien es auf sich
nalnn, die kostspieligen photographischen Kinoaufnahmen für
eigene Rechnung durchzuführen und auch einen Projektions¬
apparat rnit den dazugehörenden Behelfen in Dresden aufzustellen.
Als schließlich die k. k. österreichische Ausstel¬
lung s k o m m i s s i o n (Sani tät sdepa rtemen t des k. k. Ministeriums
des Innern), welche sich von allem Anfang für die Idee der kino¬
matographischen Vorführungen interessierte, den Beschluß faßte,
I ür die Demonstration der lebenden Bilder einen besonderen Raum
bauen zu lassen, da konnten wir an die Realisierung des Pro¬
jektes schreiten.
. Nach mehreren gemeinsam mit Herrn Prof. Dr. Kolisko und
Dr. \\ ogrinz abgehaltenen Beratungen schritten wir an die
Ausarbeitung eines Szenariums, welches als Grundlage und
Leitfaden für die vor den photographischen Kinoaufnahmen vorzu¬
nehmenden Uebungen diente. Der Versuchsraum desk. k. Gewerbe¬
förderungsamtes und dessen durchaus moderne Einrichtungen
lieferten Raum und Behelfe für die gewünschten Studien, Uebungen
und Aufnahmen. Die nötigen Adaptierungen ließ Herr Dr. VYo-
grinz, welcher die photographischen Kinoaufnahmen mitleitete,
ras ehest durchführen.
Zu den Aufnahmen waren acht Personen nötig, von denen
vier die Rolle von „Schauspielern“, welche den Verunfallten
und die Retter darstellten, zu übernehmen hatten. An
der Hand des Szenariums wurden die verschiedenen Verrich¬
tungen, wie sie den Sicherheitsvorschriften entsprechen, oder
nicht entsprechen, Unfallsituationen, eine ganze Reihe von Be¬
freiungsmöglichkeiten, di© erste Hilfeleistung mit den „handelnden
Personen“ genau eingeübt; Arbeit, Handgriffe, Gesten, zustim¬
mende und abwehrende Bewegungen waren prägnant zum Aus¬
druck zu bringen. Die Vorübungen für die künstlichen Atem¬
bewegungen wurden im physiologischen Institut des Herrn Pro¬
fessors Dr. A. v. Tschermak durchgeführt. Das Szenarium,
welches als text für die kinematographischen Vorführungen dem
offiziellen Katalog des österreichischen Pavillons beigefügt ist,
hat folgenden Wortlaut:
L Den S i c h er h ei ts v o r s ch r i f ten entsprechende
Manipulationen an elektrischen Starkstromein-
r i c h tu nge n.
1. Ein ruhendes Drehstromaggregat in einer Zentralstation
für elektrische Beleuchtung. Der Maschinist tritt heran, ölt, führt
die letzten Handgriffe aus und läßt die Maschine angehen.
1. Ein Arbeiter am Schaltbiett schaltet einen Maschinensatz
au f A kkuinu la torenlad ung.
3. Ein Hochspannungsversuchsraum, die Ausführung von
D urchschlagsversu chen.
4. Ein Obermonteur wartet bei der Arbeitsstelle. Ein junger
Monteur kommt, in der Hand trägt er Isolierhandschuhe und ein
nicht isoliertes Werkzeug. Er legt es beiseite und zieht zunächst
die mitgebrachten Isolierhandschuhe an. Sie sind zu kurz. Der
Obermonteur macht ihn darauf aufmerksam, nimmt ihm die
Handschuhe ab und schickt ihn weg, wobei er gleichzeitig auf die
Füße des Arbeiters hinweist. Der Monteur geht fort und kehrt
nach kurzer Zeit mit anderen Handschuhen und Gummischuhen
zurück. Er legt sie an, greift nach dem früher beiseite gelegten,
nicht isolierten Werkzeug und will nun zu arbeiten beginnen.
Der Obermonteur hindert ihn neuerlich daran, nimmt ihm das
nicht isolierte Werkzeug ab, reicht ihm dafür ein entsprechend
isoliertes und erst jetzt beginnt der junge Monteur zu arbeiten.
;>. Das Einregulieren einer Bogenlampe unter Verwendung
von Isoherhandschuhen und Schutzbrillen.
IL Entstehung elektrischer Unfälle und verschiedene
Befreiungs arten.
1. Ein Monteur arbeitet in knieender Stellung ohne Hand¬
schuhe an einem Motor u. zw. bei offenem Schalter der Motor¬
schalttafel. Ein Kollege kommt herein und schließt aus Versehen
den Si halter, worauf der am Motor tätige Arbeiter Strom bekommt
und mit der Hand heftige Abwehrbewegungen macht. Sein Kollege
" a ul ihn zueilen, in dem Augenblick springt der Obermonteur
herbei, stößt ihn beiseite und öffnet rasch den Schalter, worauf
sich der Verunglückte aus der knieenden Stellung erhebt und zu
einem Sessel geleitet 'wird. Nun macht der Obermonteur den
beiden Monteuren heftige Vorwürfe, zeigt ihnen, daß bei heraus-
genommeneri Sicherungen, die er jetzt entfernt, der Unfall nicht
möglich gewesen wäre und weist den verunglückten Arbeiter
auf die Isolierhandschuhe hin, die unbenutzt am Boden lagen.
2. Lm Monteur kommt in einen Raum, in dem an der
Wand neben einem eisernen Ofen, eine Kipplampe mit Steck¬
kontakt hängt, an welcher eine Reparatur auszuführen ist. Statt
zuerst den Steckkontakt zu lösen, steigt der Arbeiter gleich auf
einen Sessel, schraubt die Birne aus der Fassung und beginnt
1 a!(.1,1,. auch ^en fün^ellanring herauszudrehen, wobei er °sich
zufällig mit der anderen Hand auf den eisernen Ofen stützt.
Ei bekommt Strom. Der hereineilende Obermonteur löst rasch
den Steckkontakt, hilft dem Verunglückten vom Sessel und deutet
ihm an, daß das Mißgeschick bei gelöstem Steckkontakt nicht
möglich gewesen wäre.
3. Ein Arbeiter kommt zu einer Schalttafel, um neue Glüh¬
lampen in die Schalttafel — - Wandarme — einzusetzen. Er stellt
sich dabei auf die Zehen und stützt sich mit der freijen linken
Hand auf die Marmorfläche der Schalttafel. Beim Einschrauben
der ersten zwei Lampen geht die Arbeit glatt vonstatten, wie
er aber die dritte Birne eindrehen will, gleitet der Monteur
unglücklicherweise mit der linken Hand auf einen Schalter. Die
Lampe aus seiner rechten Hand fällt und er macht heftige Abwehr-
bewegungek, ohne jedoch die auf dem Schalter verkrampften
finger öffnen zu können. Der Retter springt hinzu, zieht rasch
Isolierhandschuhe an, löst die verkrampfte Hand unter Einschieben
von Putzlappen, und führt den Verunglückten zu einem Sessel.
4. Die gleiche Unfallsituation. Der Retter sucht vergeblich
nach irgendeinem Behelf, greift schließlich nach einem Sessel,
kniet darauf und löst die verkrampfte Hand wie vor.
ö. Die gleiche Unfallsituation. Der Retter hüllt seine Hände
m mehrere Putzlappen. Weiteres wie vor.
ß. Die gleiche Unfallsituation. Der Retter zieht rasch seinen
Leberrock aus, steckt seine Hände in die Aermel und hebt den
Verunglückten vom Boden in die Höhe.
7. Die gleiche Unfallsituation. Der Verunglückte rettet sich
selbst durch Emporspringen vom Boden, wie es ihm ein Kol¬
lege vormac'ht.
3. Ein Arbeiter will zwei Drähte von einer Probierschalt¬
tafel zu einer Bogenlampe führen, die einreguliert werden soll.
Li nimmt die beiden Drähte in die Hand, ohne zu beachten, daß
dm Schaltei geschlossen ist, nähert sich der Bogenlampe und
bekommt plötzlich Strom. (Er befreit sich, indem er die
Enden der beiden Drähte zur Berührung bringt.) Der
herbeigeeilte Obermonteur geleitet ihn zu einem Sessel, weist
a nl den geschlossenen Schalter, öffnet ihn zunächst, schraubt
dann die durchgebrannten Sicherungen heraus, wirft sie beiseite,
fordert jetzt einen anderen Arbeiter auf, die Drähte an die Bogen¬
lampe zu klemmen, um neue Sicherungen einzuschrauben und
endlich den Schalter zu schließen, worauf die Arbeit an der
Bogenlampe beginnt.
9. Von einer Freileitung hängt ein gerissener Draht herunter,
ohne den Boden zu berühren. Ein vorübergehender Monteur
bemerkt dies und eilt rasch hinweg, um sein Werkzeug zu holen.
Er kehrt mit der Isolierzange in der Hand zurück, begleitet von
einem Kollegen; während die beiden Monteure ein wenig Halt
machen, um sich eine Zigarre anzuzünden, erscheint ein Spazier¬
gänger, der den Draht neugierig anfaßt. Sofort bricht er zusammen
und wälzt sich auf dem Boden, bis die rasch herbeigeieilten
Monteure den Draht abgekniffen haben.
HL Wiederbelebung elektrisch Verunglückter.
Der Verunglückte wird, mit dem Gesicht nach oben, auf
den Boden gelagert, wobei sein Kopf nach rückwärts überfällt.
Einer der zwei Helfer deutet an, daß der Kopf hoch zu legen sei,
was nun durch Unterschieben eines zusammengefalteten Rockes,'
den der andere Helfer rasch ausgezogen hat, geschieht. Nun
entfernt sich der eine Helfer, um einen Arzt zu holen, während
der andere, der schon während des Hochlagerns des Kopfes
die Kleider des Verunglückten aufgerissen hat, aus dessen Munde
eine Zahnprothese entfernt und hierauf die künstliche Atmung
einleitet. Nachdem er eine Weile gearbeitet hat, kehrt der weg-
geschickte Helfer zurück, deutet an, daß der Arzt ihm gleich
folgen werde und hilft dann seinem Kameraden bei der Weiter¬
führung der künstlichen Atmung. Endlich kommt der Arzt, ein
Helfer setzt die künstliche Atmung fort, während der andere
einen Augenblick rastet. Der Arzt nimmt die notwendigen Unter¬
suchungen vor und weist den rastenden Helfer an, dem Verun¬
glückten die Schuhe auszuziehen und ihm die Sohlen mit einem
Tuche abzureiben. Während dies geschieht, peitscht der Arzt
mit einem neuen Tuche die Herzgegend des Verunglückten und
zieht ihm dann, zur Unterstützung der künstlichen Atmung,
rhythmisch die Zunge vor.
Eine hinzugetrelene Person will dem Verunglückten Wasser
einflößen, was der Arzt ablehnt.
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1 lötzlich deutet er an, daß die künstliche
stellen sei, der Verunglückte erwacht.
*
Atmung einzu-
a ^m^^-l^'her .Hinsicht wäre noch zu erwähnen, daß
der größte 1 eil der Aufnahmen in den Räumten des k. k Ge-
werbcförd era ngs am tes und der Rest der Bilder in den Fabriks¬
raumen der Oesterreichischen Siemens - Schlickert- Werke durch-
gefuhrt wurde.
Die Freilichtaufnahmen gelangen ohne weiteres; hingegen
mußten die ersten Interieuraufnahmen, trotzdem sehr intensive
Lichtquellen — - so wurde z. B. der Raum eines gewöhnlichen
\\ ohnzimmers mit drei großen Quecksilberdampflampen (Cooper-
Hewitt) und zehn starken Bogenlampen erleuchtet — verwendet
wurde, als lichtschwach wiederholt werden. Herr Dr. Wog rin z
ließ rasch in einem Hofraume eine geeignete elektrische Arbeits-
statte improvisieren, die nötigen elektrischen Behelfe herbei¬
schaffen und so wurde die Interieuraufnahme durch eine Frei¬
lichtaufnahme ersetzt.
Einige innerhalb der Fäbriksräume der Siemens - Schuckert-
Werke angeführten Interieuraufnahmen gelangen deshalb, weil
gutes Oberlicht vorhanden war und die Kinoaufnahmen in
sehr verlangsamtem Tempo (vier Aufnahmen statt 16 in der
Sekunde) gemacht wurden ; nicht nur die Aufnahme (das Kurbeln
der Films), sondern auch die Bewegungen der handelnden Per¬
sonen hatten sich hiebei in sehr verlangsamtem Tempo zu voll¬
ziehen.
Für den flotten, ununterbrochenen Gang der „Handlung“
anläßlich der photographischen Aufnahmen hatte die „Rerte-
leitung“ zu sorgen.
Bei den Aufnahmen in den Siemens -Schuckert- Werken,
deren Direktion uns alle nötigen Behelfe in freundlichster Weise
zui Verfügung stellte, waren uns die Herren Oberingenieur V o r-
bach und Ingenieur Holzner behilflich. Mit Ausnahme des
Bildes „Einregulieren einer Bogenlampe unter Verwendung von
Isolierhandschuhen und Schutzbrillen“, wurden alle übrigen Bilder
der Gruppe I in den Schuckert - Werken aufgenommen; daselbst
wurde noch das Bild „Unfall durch einen von der Freileitung
herabhängenden Draht“ der Gruppe II angefertigt.
Alle übrigen Bilder, ein Teil der Gruppe I, die überwiegende
Mehrzahl der Gruppe II und sämtliche Bilder der Gruppe 111
stammen aus dem k. k. Gewerbeförderungsamt. Es sei gestattet,
Herrn Dr. Wogrinz, k. k. Oberinspektor des Gewerbeförderungs
amtes, nochmals an dieser Stelle für die außerordentliche Mühe¬
waltung zu danken.
Nachdem die Aufnahmen beendet waren, wurde ein kurzer
Text in Schlagworten verfaßt und ebenfalls kinematographisch
aufgenommen und derart in den Filmrollen verteilt, daß jedem ein¬
zelnen Bilde der erwähnten Gruppen I, II, III, einige wenige
orientierende Worte vorauseilen und solcherart bei der Aufführung
die Anwesenheit einer erklärenden, sprechenden Person üben
flüssig machen.
Die k. k. österreichische Ausstellungskommission, an deren
Spitze die Herren k. k. Sektionschef Dr. Simonelli, k. k. Mini¬
sterialrat Dr. R. v. Haber ler und k. k. Landesregierangsrat
Dr. Stadler standen, ließ für diese kinematographischen Vorfüh¬
rungen einen besonderen u. zw. 14 m langen und 4 m breiten,
Raum mit einer Kinokammer bauen und weitere geeignete Ein¬
richtungen, wie Vorhänge, Nottüren, elektrische Leitungen und
so weiter treffen, damit dieser Raum, der gleichzeitig einen Ver
bindungsgang zwischen dem großen österreichischen Ausstellnngs-
pavillon und einem kleinen, die vorerwähnte elektropalhologische
Sammlung fassenden Pavillon darstellt, rasch und leicht zu ver¬
finstern und zu erhellen sei. Eine große Zahl von Zuschauern
kann auf diese Weise bequem den Vorführungen beiwohnen.
Am 8. Mai 1911, dem Tage der feierlichen Eröffnung der
Internationalen Hygieneausstellung, wurden die kinematographi¬
schen Bilder (drei Films in der Gesamtlänge von beiläufig 600 m)
zum ersten Male vorgeführt.
Bemerkung zu meiner Abhandlung:
lieber „Lokalisation der Herztöne“ betreffend
die Verdoppelung des zweiten Tones.*)
Von Prof. Dr. M. Heitler.
Bei Erklärung der Verdoppelung des zweiten Tones an der
Herzbasis in einem Falle von Mitralstenose habe ich angenom¬
men, daß das zweite, bei Druck auf die Lebergegend schwächer
1 t - , i -
gewordene Moment der Verdoppelung an den Aortaklappen ent¬
stehe. Diese Bemerkung bedarf einer Ergänzung. Die Abschwä¬
chung des Momentes kann nicht absolut für die Entstehung
desselben an der Aorta verwertet werden. Bei Druck auf die
Lebergegend werden die Schallphänomene, welche an der Aorta
und an der Mitralis entstehen, schwächer und man muß an
die Möglichkeit denken, daß der zweite Teil der Verdoppelung
ein an der Basis hörbares stärkeres Moment des diastolischen
Geräusches an der Herzspitze darstelle. Dies wurde mit größter
Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, so daß die Annahme, daß
das Moment an den Aortaklappen entstehe, als richtig betrachtet
werden kann.
Referate.
Pathologisch-anatomische Tafeln.
Theodor Rumpel (Hamburg), Alfred Käst (f ), Eugen Eraeukel (Hamburg).
Nach frischen Präparaten, mit erläuterndem anatomisch-klinischen Text.
26 Lieferungen. 5 M. pro Lieferung, einzelne Tafeln 1 M. 50 Pf.
Leipzig 19 10, W. Klinkhardt.
1 (Vor 18 Jahren begann dieses prächtige Werk, das nun
Vollendet vor uns liegt, mit der Herausgabe pathologisch -ana¬
tomischer Tafeln durch Theodor Rumpel und den in der Blüte
der Jahre dahingeschiedenen Alfred Käst. Die damals erschie¬
nenen, noch in der Wansbecker Kunstanstalt meisterlich gedruckten
Tafeln bedeuteten einen großen Fortschritt in technisch- repro¬
duktiver Hinsicht und boten eine Anzahl meist recht instruk¬
tiver Bilder von zum Teil selteneren, zum Teil mehr alltäglichen,
aber in ihrer Mehrzahl durch charakteristische Ausprägung aus¬
gezeichneten pathologisch -anatomischen Präparaten. Diese Tafeln
sollten mit der Zeit vermehrt werden und sich allmählich zu einem
Atlas der wichtigsten pathologisch- anatomischen Veränderungen
organisch vereinigen. Doch schien die Erreichung dieses Zieles
in weite Ferne gerückt, als mit Kasts Tode die Weiterführang
des Werkes gänzlich ins Stocken geriet. Viele der prachtvollen
Instruktiven Tafeln behielten zwar einen dauernden Wert und
hatten sich nicht nur als Hilfsmittel beim Unterricht in den
Kliniken und pathologischen Instituten, sondern, was Ref. zu
seiner Freude wiederholt konstatieren konnte, auch zum privaten
Studium und zur Auffrischung pathologisch -anatomischer Vor¬
stellungen in den Händen praktischer Aerzte vortrefflich bewährt.
Aber der Atlas war doch nur ein Torso geblieben.
Erst als dann ein pathologischer Anatom von der großen
Erfahrung eines Eugen Fraenkel der Fortführung des Werkes
seine bewährte Kraft zur Verfügung stellte, wurde dessen mühe¬
voller Ausbau und straffere organische Gestaltung in einer, wie
wir nun sehen, überaus gediegenen Weise fortgesetzt und zum
glücklichen Ende geführt. Dadurch entstand eigentlich erst ein
systematisch ausgearbeiteter, wirklich brauchbarer pathologisch¬
anatomischer Atlas, das Meisterwerk, das wir jetzt bewundern
und welches uns die wichtigsten pathologisch - anatomischen Be¬
funde der meisten Organsysteme in natürlicher Größe und Farbe
vortrefflich vor Augen führt, so daß die Betrachtung nicht nur
einen wissenschaftlichen Gewinn bedeutet, sondern auch dem
künstlerisch gebildeten Auge des Fachmannes und des Prak¬
tikers einen ästhetischen Genuß zu bereiten geeignet ist.
Aber mehr noch. Durch den knappen, aber inhaltreichen
Text zu den Bildern wird der Wert des Werkes noch in beson¬
derem Maße erhöht. So erleben wir den klinischen Verlauf
der Fälle mit und der Atlas bringt uns die naturgemäße inni.se
Korrelation von klinischer Beobachtung und Sektionsbefund auf
Schritt und Tritt in packender Weise zum Bewußtsein.
Diese pathologisch -anatomischen Täfeln sind, was die
Schönheit der Bilder anlangt, zurzeit unübertroffen.
Die Kritik an wenigen Einzelheiten, die vielleicht hier und
da zu beanständen wären, muß angesichts dieser großen soliden
Arbeit verstummen. Wir zollen den Autoren Dank, welche dieses
klassische Werk schufen, das gleich geeignet zum Zwecke des
Unterrichts wie zum privaten Studium sich sicherlich zu den vielen
alten Verehrern, die es' bereits in der medizinischen Welt besitzt,
viele neue Freunde erobern wird, um so eher, als sich der ge-
*) Nr. 24 dieser Wochenschrift.
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diegene Text in drei lobenden Sprachen an einen internationalen
Leserkreis wendet. Und ein solches Werk verdient in der Tat
die weiteste Verbreitung. E. Kaufmann -Göttingen.
*
Der Schwindel.
Von Hitzig.
Zweite Auflage.
Herausgegeben und neu bearbeitet von J. Ricli. Ewald und Robert
Wollenberg.
Nothnagels spez. Pathologie. 1911.
Wien 1911, A. Holder.
Es isl ein großes Verdienst des Herausgebers von Noth¬
nagels monumentalem Werke, dasselbe in dessen Geist fort¬
zuführen und stets zeitgemäß um- und auszugestalten. — Am
besten kommt dies in dem vorliegenden Abschnitt zum Aus¬
druck, wo sich zwei um den Gegenstand hervorragend verdiente
Forscher zusammenfanden, um bei pietätvoller Wahrung der Dar¬
stellung Ilitzigs, doch alles Neue aufzunehmen und kritisch
zu gestalten. Wir finden hier die ganze Lehre vom Labyrinth¬
schwindel kurz und übersichtlich dargestellt ; die schwierige Ny¬
stagmusfrage erscheint in klarer und objektiver Form wieder¬
gegeben und auch der klinische Teil bringt zahlreiche neue und
instruktive Beobachtungen, aus denen sich allgemeine Sätze
zwangslos a Weiten lassen. So wird dem Praktiker und Spezialisten
das Buch in gleicher Weise gerecht.
*
L’ipofisi cerebrale faringea e la glandola pineale in
patologia.
Von Alfonso Popp!.
Bologna 1911, Neri.
Vor einigen Jahren hat Pineies in einer hochbedeutsamen
Arbeit den inneren Zusammenhang der Blutdrüsen erwiesen und
deren funktionelle Korrelationen aufgezeigt. Wäre dem Autor
diese Arbeit nicht entgangen, . so hätte er sich viel Mühe er¬
spart und vielleicht etwas mehr Objektivität gewonnen. Er fügt
nämlich in diesen Kreis von Blutdrüsen, deren Korrelationen
er nachweist, auch das adenoide Gewebe des Rachendachs, wobei
man sich nicht immer klar ist, oh er letzteres als solches oder
als Träger der Bachendachhypophyse meint. Jedenfalls stellt
er anatomisch die innigsten Beziehungen der Rachendachdrüsen
mit der Hypophyse und letzterer wieder mit der Epiphyse fest,
zeigt, daß Anomalien, wie sie nur bei schweren Blutdrüsenaffek¬
tionen Vorkommen, auch bei adenoiden Vegetationen sich finden
(zum Beispiel die Blutzusanimensetzung betreffend) und kommt
zu dem Schlüsse, daß die Rachendachtonsille, wenn sie hyper-
tröphiert, die Funktionen der Rachendachhypophyse stören kann
und so störend in die Funktionen der anderen Drüsen eingreift.
Es erscheint jedoch als zu weit gegangen, anzunehmen, daß
die adenoiden Vegetationen, die immerhin, infolge der Beziehungen
zur Hypophyse, eine beachtenswerte Affektion geworden sind,
in den Mittelpunkt der Blutdrüsenerkrankung zu stellen, da dies
zu bedenklichen Folgerungen Anlaß geben kann. So hat der
Autor bei einem sicher festgestellten Hypophysen tumor nach Ent¬
fernung von Resten adenoiden Gewebes des Rachendaches Besse¬
rung gesehen, freilich vom Auge nicht und meint, daß der schwere
Eingriff der Hypophysenoperation nicht mehr Vorteil bringe, als
der leichte der Entfernung des adenoiden Gewebes. Dem ist
entgegenzuhalten, daß gerade die Störungen des Sehvermögens
den schweren Eingriff bestimmen und die Resultate der letztem
Zeit, die Indikation auch gerechtfertigt haben.
*
Die Funktionen des Gehirnanhanges (Hypophysis cerebri).
Von Edward A. Schäfer.
Bern 1911. Akademische Buchhandlung von Max Drexel.
Schäfer, der bekannte Darsteller der chemischen Eigen¬
schaften der Hypophysis, faßt hier seine Ergebnisse kurz zusam¬
men und ergänzt und erweitert dieselben. Man hat nach ihm drei
Abschnitte der Drüse zu unterscheiden, den drüsigen, den ner¬
vösen und zwischen beiden jenen Abschnitt, der das Kolloid
der Drüse liefert. Er bespricht die Blutdruck steigernde und
herabsetzende Wirkung der Drüsenextrakte als einer direkten
peripheren Einwirkung, wie denn auch das Sekret direkt reizend
auf die sekretorischen Zellen der Niere wirkt. Er vertritt die
allerdings durch As ebner s Experimente unwahrscheinlich ge¬
wordene Ansicht, daß eine Totalentfernung der Hypophyse ähn¬
lich wirke wie die der Thyreoidea. An neuen Experimenten
zeigt er, daß man durch Verfütterung des Vorderlappens hei
Ratten Gewichtszunahme erzielen könne. Implan tationsversuche
gaben keine sicheren Resultate. Bei Einnahme des Extraktes
vom Hinterlappen stieg die Urinmenge (Versuche auch an Kindern)
sichtlich, während Transplantations versuche keine so deutlichen
Resultate lieferten. Heizungen der Hypophyse zeigten gleichfalls
vermehrte Diurese, was auf Zunahme des Kolloids zurückgeführt
wird.
Man sieht aus diesen kurzen Angaben, wie interessant und
richtunggebend Schäfers Versuche sind, - aus denen erst die
große Bedeutung der Hypophyse resultiert.
*
Die Pupillenstörungen bei Geistes- und Nervenkrank¬
heiten.
Von Oswald Bmnke.
Zweite, vollständig umgearbeitete Auflage.
Jena 1911, Gustav Fische r.
Erschöpfend, dabei äußerst übersichtlich und klar in Dispo¬
sition und Diktion, die Mehrzahl der einschlägigen Arbeiten, -unter
denen die eigenen vielfach zu den wichtigsten gehören, berück¬
sichtigend, kritisch und dabei doch subjektiv genug, ohne die
eigene Ansicht aufdrängen zu wollen, stellt Bumkes Buch das
Beispiel einer guten Monographie dar.
Das Unbefriedigende unserer anatomisch -physiologischen
Kenntnis, die für die alltäglichsten Erscheinungen noch keine
sicheren Grundlagen besitzt, wird hier weniger fühlbar dadurch,
daß aus dem Wust der Neuerungen das Sicherstghendste oder
Plausibelste scharf herausgearbeitet wird. So kommt der Autor
zur Negation eigener Pupillenfasern, stellt sich auf' den Stand¬
punkt, daß die ganze Sehschicht der Retina auch für die Pu¬
pille in Frage kommt, yerlegt die zentrale Uebertragung des
Lichtreizes auf den Okulomotorms, den empfindlichsten Mecha¬
nismus der Nervenphysiolo-gie, trotz vieler gegenteiliger Behaup¬
tungen in die Okulomotoriuskerngegend und betrachtet als
Sphinkterkern Zellen am vorderen Pole des lateralen Haupt¬
kernes.
Dei- Schwerpunkt des Buches liegt aber in jenem Teile, in
dem die einzelnen Pupillenphänomene ihrem Wesen nach be¬
wertet und ihrer klinischen Valenz nach erörtert werden.
Es versteht sich von selbst, daß das Hauptaugenmerk der reflek¬
torischen Pupillenstarre zugewendet wird, deren einseitiges Vor¬
kommen die gleiche diagnostische Bedeutung hat, wie das doppel¬
seitige und bei der die Miosis- — vielleicht von der Tabes abgesehen
keine häufige Begleiterscheinung darstellt. Sehr wertvoll er¬
scheint die neuerliche Fixierung des 'Satzes, daß die Feststellung
des Argyll- Roberts on sehen Phänomens mit der Diagnose
•von Tabes und Paralyse oder Hirnsyphilis identisch ist (9i-7°/o
der Fälle). Nur bei schweren Alkoholikern ist sein gelegentliches,
aber seltenes Auftreten nicht ausgeschlossen.
Sehr wichtig ist ferner die Feststellung, daß die Ursache
der Ophthalmoplegia interna (absolute Pupillenstarre und Akkom¬
modationslähmung) in der Mehrzahl der Fälle im Nervus oculo-
motorius zu suchen ist. Ihr Vorkommen spricht, wenn Lues
vorliegt, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit gegen eine metaluc-
tische, für eine einfach luetische Affektion, dagegen ist die un¬
komplizierte absolute Pupillenstarre (ohne Akkommodatiönsläh-
mung) wenig bedeutungsvoll für die Entscheidung der Frage
Lues oder Metalues. L . -
Sehr interessant sind die Forschungen über Kipillenstörun-
gen hei Dementia praecox, die von Rumke seihst inauguriert und
vielfach in letzter Zeit bestätigt wurden. Es scheint bei dieser
-Psychose u. a. das Fehlen- vier reflektorischen Erweiterung, au/
sensible Reize hei erhaltener Lichtroaktion charakteristisch zu
sein, doch findet sich dies meist erst in vorgeschritteneren Sta¬
dien des Leidens.
Die Verhältnisse bei den Neurosen, eine kurze Anleitung
zum Prüfen der Reaktionen und ein über 1000 Nummern um¬
fassendes Literaturverzeichnis schließen das für Neurologen, Psy¬
chiater und Okulisten hervorragend wertvolle Buch.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
913
Technik der mikroskopischen Untersuchung de3 Nerven¬
systems.
Von W. Spielmeyer.
Berlin 1911, Springer.
Die großen Fortschritte auf dem Gebiete der Neurohisto-
logie werden durch dais vorliegende Buch aufs eindrücklich« tei
zum Bewußtsein gebracht. Es begiigt sich nicht mit der ein¬
fachen Darstellung der Färbemethoden, sondern sucht, in deren
chemische Mechanismen einzudringen, deren Grundlagen nach
den Forschungen der Frankfurter Schule Ehrlichs einleitend
dargestellt werden. Von großem Wert sind auch die allgemein
gehaltenen Ausführungen über die Bedeutung der einzelnen Färbe¬
methoden, ihr Leistungsgebiet, ihre Anwendungsmöglichkeiten.
Dabei beschränkt sich der Autor nicht nur auf das zentrale
und periphere Nervensystem; er gibt auch die Anweisungen zur
Darstellung der Abbauprodukte, der zytologisc'hen Untersuchung
der Zerebrospinalflüssigkeit und der Meningen und Hirngefäße.
Dabei ist alles knapp und klar- dargestcllt, so daß das Büchlein
seinen Zweck vollauf erfüllen wird.
*
Kompendium der topischen Gehirn- und Rückenmarks¬
diagnostik.
Von Robert Bing.
Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage.
Wien 1911, Urban und Schwarzenberg.
In dem bekannten und mit Recht hochgeschätzten Werke
Edingens über den. Bau der nervösen Zetntralorgaue finden
sich im Anhänge zu. den anatomisch -physiologischen Erörterun¬
gen der einzelnen Gehimab'schnitte Skizzen, die die Lokalisation
einzelner wichtiger Syndrome wiedergeben. Es ist dies dort un¬
gemein anregend und didaktisch von großem Werte. Offenbar
davon ausgehend, hat Bing. seine topische Diagnostik angelegt,
indem er eine mitunter recht flüchtige anatomische Skizze der Sym¬
ptomatologie unterlegte und so die Töpik zu schemalisch dars tollt.
Vielleicht ist daran das Bestreben schuld, so einfach als möglich
zu sein, um dem Verständnis der Anfänger entgegenzukommen.
Aufgabe der topischen Diagnostik erscheint es aber, wie ich dies
ausführte, in erster Linie, zu untersuchen, ob die Symptome
bei bestimmten Lokalisationen bestimmte Charaktere besitzen
und die Bedingungen zu ermitteln, unter welchen sic zustande
kommen; erst dann sind jene Zentren und Bahnen zu suchen,
deren Läsion die Erscheinungen zeitigt.
Es muß zugegeben werden, daß einzelne der Schemata
Bings ganz ausgezeichnet sind, so die die periphere Inner¬
vation betreffend. Andere dürften eine Verbesserung erfahren, so
das zweite Schema aus dem verlängerten Mark (Fig. 3t), wo
der Ifypoglossus und Akzeissorius an falscher Stelle eingezeichet
sind. Auch eine tbalamospinale direkte Bahn ist beim Menschen
ebensowenig erwiesen, wie die Funk lion des E ding e r - W e s t-
p ha Ischen Okulom otoriuskems als Pupillenzentrum.
Ein Satz wie „das reine Konussyndrom ist absolut nicht
zu verkennen“, wird kaum die Zustimmung eines erfahrenen
Klinikers finden, ebensowenig der. Satz, die durch einseitige
Unterbrechung der Schleife entstandenen Sensibilitätsausfälle sind
natürlich kontralateral (vornehmlich in Form gekreuzter Hemi-
ataxie), da gerade diese Frage 'bisher durch keinen Fall entschieden
ist. Das ßenediktsche Syndrom umfaßt nicht nur Tremor,
sondern auch Chorea und Athetoso und ist wohl zweifellos der
Pödunkulushaubenläsion zuzuschreiben. Syndrome do F ci¬
vil le ist nichteine gekreuzte Abduzens - Fäzialis - Extremitäten¬
lähmung, sondern Blick - Fazialis - Extremitätenparese, während
erste res (meist, ohne Fazialis) als Syndrome de Raymond
der Franzosen gilt. Differentiell wichtig für Traktusläsionen er¬
scheint die Berücksichtigung des überschüssigen Gesichtsfeldes,
das Bing nicht anführt. Die Aphasie, wie überhaupt die kor¬
tikalen Läsionen, die doch für die chirurgische Therapie zumeist
iu Frage kommen, erscheinen nur kurz oder gar nicht behandele j
der in deutschen Büchern glücklicherweise seltene Irrtum, die |
Hyphosis als Zirbel zu bezeichnen, findet sich hier in der zweiten
Auflage wieder.
Ich führe diese Dinge nur an in der Voraussetzung einer ,
bald nötig werdenden dritten Auflage; denn die knappe Durch- !
fiihrung, die stets klare, übersichtliche Darstellung, die das We¬
sentlichste enthält, empfiehlt das Buch bestens zur Einführung
in das trotz Bings Negation sehr schwierige Gebiet der to¬
pischen Diagnostik. Otto Marburg.
Aus uersehiedenen Zeifcsehriften.
624. U eher Nierentuberkulose. Von Prof. Dr. Barth
in Danzig. Die Erfahrungen des Verfassers beziehen sich auf
40 Nephreklomierte, deren späteres Schicksal er bis auf drei Ver¬
schollene feststellen konnte. Eine etwa gleiche Anzahl von Nieren¬
tuberkulosen, die er zu untersuchen Gelegenheit hatte, kam nicht
zur Operation ; deren Schicksal war, soweit er feststellen konnte,
stets ungünstig. Verf. bespricht eingehend die einzelnen Formen der
Nierentuberkulose, hebt die Tuberkelbazillenausscheidung durch eine
Niere ohne eitrigen Zerstörungsprozeß hervor (Leedham - Green
beobachtete drei Mädchen von 10 bis 12 Jahren, welche voll¬
kommen genasen), hält die hämatogene Entstehung der Nieren¬
tuberkulose für die Mehrzahl der Fälle für gesichert und spricht
den Lymphwegen für die Verbreitung der Tuberkulose innerhalb
der Lymphwege eine unbestrittene Bedeutung zu. Nach seinen Er¬
fahrungen müßte er die spontane Heilung der Nierentuberkulose,
wenn man von den erwähnten Tuberkelbazillenausscheidnngen und
von der knötchenförmigen (geschlossenen) Nierentuberkulose absieht,
bezweifeln, aber die Möglichkeit einer solchen Heilung von Tuberkeln
in der Niere wie in anderen Organen sei nicht zu bestreiten. Daß
die tuberkulöse Eiterung der Niere zur Heilung gekommen
sei, dafür sei bis heute kein stichhaltiger Beweis erbracht worden.
Durch Harnleiterverschluß kann eine Scheinheilung Zustandekommen,
durch Verkalkung tuberkulöser Pyonephrosen kann gelegentlich ein
solcher Prozeß zum Stillstände gelangen, darauf sei aber nicht zu
rechnen. Sodann stellt Verf. mit Genugtuung fest, daß die Operation
der Nierentuberkulose (Nephrektomie) unter Anwendung der mo¬
dernen funktionellen Untersuchungsmethoden so gut wie ungefähr¬
lich geworden ist. Seine 26 Fälle, in denen er die funktionelle
Untersuchung gemacht und die andere Niere als funktionsfähig fest¬
gestellt hatte, haben den Eingriff sämtlich glatt überstanden, während
er unter 14 Fällen, die noch ohne diese Untersuchungsmethoden zur
Operation kamen, zwei Todesfälle hatte, einen an Sepsis, einen an
Urämie, infolge akuter Nephritis. (Nachträglich erfuhr er, daß der
zweite Kranke bereits vier Wochen früher eine Nierenentzündung
mit urämischem Anfall durchgemacht hatte !) Von seinen 40 Fällen
liegen über 37 Nachrichten vor und von diesen sind 12 geheilt,
12 gebessert oder in Behandlung und 13 gestorben. Die Unter¬
suchung der Geheilten fand von nach 1 Jahr 4 Monaten bis nach
19 Jahren statt. Der Verfasser sagt: Solange die Erkrankung auf
eine Niere und ihren Harnleiter beschränkt ist, gibt die Nephrektomie
durchaus günstige Aussichten für eine Dauerheilung der Tuberkulose
innerhalb der Harnwege. Ist die Blase bereits erkrankt, so ist eine
völlige und dauernde Heilung des tuberkulösen Prozesses nur in
einem Bruchteil der Fälle (schätzungsweise l/i) zu erwarten. Un¬
gefähr ebensoviel gehen im ersten Jahre an Tuberkulose zugrunde,
für die übrigen ist eine wesentliche und länger dauernde Besserung
zu erwarten (bei seinen Operierten in fünf Fällen nach 1 1/4, 1 1/.2;
l»/4, 2 und 9 Jahren festgestellt, während 5 Kranke nach 2, 3x/2,
5, 5 und 91/« Jahren an Nieren- oder anderweitiger Tuberkulose
gestorben sind). Die Blasentuberkulose hinterläßt auch nach völliger
Ausheilung dauernde Beschwerden in Gestalt häufigen Harndranges,
der besonders des Nachts sehr störend ist; deshalb ist jede offene
Nierentuberkulose mit Nephrektomie zu behandeln u. zw. nach
Möglichkeit zu einer Zeit, in der die Blase noch nicht ergriffen ist.
Die offene Nierentuberkulose ist im Beginn und in den Eruhstadien
nur mit Hilfe des Harnleiterkatheters zu erkunden, da die Cbromo-
zystoskopie nur bei vorgeschrittener Zerstörung einer Niere Auf¬
schluß über den Sitz der Erkrankung gibt. Der Harnleiterkatheteris¬
mus ist deshalb grundsätzlich ebenso wie die bakterioskopische
Untersuchung des Harnes für jede ätiologisch nicht aufgeklärte
Pyurie (»Blasenkatarrh«) zu fordern. — (Deutsche med. Wochen¬
schrift 1911, Nr. 21.) F. E.
*
625. (Auis der Frauenklinik der Universität Tübingen. —
Direktor: Prof. Seilheim.) Ueber die therapeutische An-
914
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
wondung von Pituitrin (Hypophysenextrakt) mit be¬
sonderer Berücksichtigung seiner blutd'ru ck stei¬
gernden Komponente. Von Dr. Rudolf Klotz, Assistent der
Klinik. \erf. machte mit den englischen sterilen Hypophysen¬
präparaten zunächst Tierversuche, um sich von der blutdruck¬
steigernden Wirkung zu überzeugen und hat dann 18 Frauen mit
intramuskulärer Pituitrin ein Spritzung bei atonischer Uterusblutung
behandelt. Er kann sich bezüglich der Wirkung jenen Autoren,
die es an Stelle von Ergotin empfehlen, nur anschließen. Der
Verfasser hat, in zwei Fällen, wo Ergotin Denzel, das wirksamste
Sekalepräparat, ohne Erfolg war, durch eine Pituitrininjektion
nach zirka drei Minuten kräftige Kontraktionen einsetzen sehen,
die länger anhielten und sich häufig einstellten. Was die Blut¬
drucksteigerung anlangt, so wurde wohl der Füllungszustand des
Arterienrohres deutlich besser, aber eine merkliche Drucksteige¬
rung kam zunächst nicht zustande. Erst wenn man die ver¬
lorene Blutmenge durch ein langsam einlaufendes Wasserklysma
oder in schweren Fällen durch eine subkutane Kochsalzinfusion
wenigstens teilweise ersetzt, kann man ein Ansteigen des Blut¬
druckes um 15 bis 20 mm oder zur normalen Höhe konstatieren.
Frauen mit dem Zeichen akuter Anämie erholten sich nach einer
intramuskulären Pituitrininjektion auffallend rasch. Wie lange
die Pituitrinwirkung anhält, ist schwer zu sagen. Das wichtigste
ist nach Verf., daß man 'mit der im Tierexperimient nachgewiesenen,
eine Stunde lang anhaltenden Blutdrucksteigerung die akute Blut¬
drucksenkung, resp. Verblutung ins Splanchnikusgebiet, bekämpft,
bis der Gleichgewichtszustand im Gefäßsystem wieder eingetreten
ist. Die Dosis für eine erwachsene Person ist 0-2 g frische Drüsen¬
substanz. Dieselbe ist in einer Ampulle ä 1 Cm3 von Burroughs
W. & €. enthalten. Eine_ Maximaldosis ist bisher nicht bekannt.
Die GOfache Dosis wurde vom Tiere anstandslos vertragen. Die
Injektion geschieht intramuskulär. Verf. hat das Pituitrin nie vor
dem Erscheinen der Nachgeburt gegeben und möchte dies auch
dem praktischen Arzte dringend anempfehlen. Er betont weiter,
daß das Hypophysenextrakt keineswegs ein ganz harmloser, un¬
schädlicher Stoif ist, daher bei schon bestehender Blutdrucksteige-
rung (Nephritis, Kropfherz, Arteriosklerose) gar nicht oder nur
in entsprechend kleinen Dosen angewendet werden soll. Jeden¬
falls dürfte die glückliche Vereinigung von Uterus-, Gefäß- und
Herztonikum, verbunden mit der außerordentlich schnellen Wir¬
kung hei einfacher intramuskulärer Applikation dem Pituitrin nach
Ansicht des Verfassers einen dauernden Platz in der Therapie
der atonischen Uterusblutungen im besonderen und der akuten
Anämien im allgemeinen sichern. Verf. versuchte dann auch
den postoperativen Shock, dessen Ursache, zum Teil wenigstens,
in einer akuten Blutdrucksenkung zu suchen ist, sowie eine medi¬
kamentös erzeugte Blutdrucksenkung wirksam zu beeinflussen.
Nachdem es ihm gelungen war, auch eine günstige Beeinflussung
der toxischen Blutdrucksenkung im Tierexperiment nachzuweisen,
wandte er sich speziell der therapeutischen Behandlung der Peri¬
tonitis zu. Hier war bisher das dominierende Mittel das' Adre*-
nnlm, trotz seiner Mängel. Denn seine blutdrucksteigernde Kraft
ist brüsk und vorübergehend, es wirkt hemmend auf die Peri¬
staltik und vermindert die Urinausscheidung. Dagegen ruft -das
Pituitrin eine mäßige Blutdruckerhöhung, mit geringer Anfor¬
derung an das Herz, von stundenlanger Dauer hervor. Daneben
wird die Herzkraft gehoben. Gleichzeitig wird die Darmperi¬
staltik angeregt, die Unnausscheidung vermehrt und eine erregende
V irkung auf die Blase ausgeübt. Die klinischen Versuche der Peri¬
tonitisbehandlung werden derzeit noch fortgesetzt. Auch bei Pneu¬
monie, Diphtherie, sowie bei allen infektiösen Krankheiten mit
toxischer Blutdrucksenkung scheint dem Verfasser ein therapeu¬
tischer Versuch mit Pituitrin sehr empfehlenswert. Hier könnte
man die Merck sehen Hypophysen tabletten per os .anwenden.
Eine Schädigung des menschlichen Organismus durch längere
Hypophysenmedikation ist nicht zu befürchten. Wohl führen beim
Tiere exzessiv hohe Gaben intravenös appliziert zu degenerativen
Prozessen im Lebergowebe und den Tubuli c.ontorti der Niere,
sowie zu einer Hypertrophie der Nebennieren und des Herzens.
Derartige Dosen kommen aber bei der therapeutischen Behandlung
des Menschen nicht in Frage. — (Münchener mediz. Wochen¬
schrift 1911, Nr. 21.) G
Nr. 25
62G. Ueber Pankreatitis haem or rhagica acuta. Von
Dr. E. Monn i er, Privatdozent für Chirurgie in Zürich. Das
typische Bild der Pankreatitis haemorrhagica. acuta beschreibt
Mo nnier folgendermaßen: Anscheinend gesunde, gewöhnlich
korpulente Leute empfinden mehr oder weniger plötzlich auf¬
tretende heftige Schmerzen im Epigastrium. Oft als Krämpfe
beschrieben, können dieselben so intensiv werden, daß sie zum
Kollaps oder zur Ohnmacht führen, auch größere Dosen von
Morphium bringen kaum eine Linderung derselben. Der Schmerz
zieht meist um die linke Seite herum!, strahlt in die linke
Schulter oder in die linke Unterbauchgegend aus, zuweilen wird
er aber auch rechts lokalisiert oder wie in seinem Fälle, in
der Blinddarmgegend. Zu gleicher Zeit stellt sich meist Er¬
brechen und Uebelkeit ein, der Leib wird nach und nach auf-
getrieben, der Darm wird bald gelähmt, so daß zu gleicher Zeit
Symptome von Ileus und Peritonitis auftreten. Verschiedene Be¬
gleiterscheinungen treten in mehr oder weniger ausgesprochener
Weise auf: das schlechtere Aussehen, das oft von einer eigen¬
tümlichen, gelbgrauen Verfärbung des Gesichtes begleitet wird,
da:s Erbrechen meist galligen Charakters, die fast regelmäßige
Pulsbeschleunigung, mäßige Temperatursteigerung, große Unruhe,
allgemeiner Kräfteverfall. Häufig sammelt sich ein durch die
(Perkussion deutlich nachweisbares Exsudat in der Bauchhöhle.
Der Verfall nimmt rasch zu, meist ist eine rapide Verschlech¬
terung der Herzaktion zu verzeichnen, der Puls wird kleiner
und kleiner und unter den Erscheinungen der Peritonitis und
Ileus erfolgt der Exitus. In schweren Fällen verläuft die Krank¬
heit. in zwei bis drei Tagen. Die richtige Diagnose ist nicht
allzuschwer, besonders wenn differentialdiagnostisch folgendes
beiachtet wird. Tn den ersten Stadien der Pankreatitis haemor¬
rhagica acuta sind die Bauchdecken leicht eindrückbar, die re¬
flektorische Spannung der Bauchdecken der Perforationsperito¬
nitis fehlt. Gegenüber der Darmokklusion beachte man die eigen¬
tümlich fahlgelbe Hautfarbe, den hartnäckigen Schmerz im Epi¬
gastrium und die meist höhere Temperatur; ferner ist es1 ge¬
wöhnlich möglich, mehrere Liter Wasser in den Darm einlaufen
zu lassen. Schwer ist die Unterscheidung von der so polymorph
verlaufenden Appendizitis, immerhin ist der appendikuläre
Schmerz lange nicht so intensiv und anhaltend als die in den
Rücken ausstrahlenden Krämpfe bei Pankreatitis. Die Aehnlich-
keit dieser mit einem Anfall von Cholezystitis oder einer Gallen¬
steinkolik ist auch eine große, um so mehr, als' diese Krank¬
heiten meist da,s auslösende Moment für die Entzündungen der
Bauchspeicheldrüse darstellen. Die protrahierte Dauer des
Schmier zes, tiie ausgesprochenen I leasers che i m i n ge n und die
rasche Verschlimmerung des Allgemeinzustandes erwecken Ver¬
dacht auf eine Mitbeteiligung des Pankreas. — Da die akute! Pan¬
kreatitis eigentlich eine Phlegmone des Organes darstellt, so ist
Spaltung und Drainage möglichst frühzeitig vorzunehmen. Auch
wenn Patienten das akute Stadium ohne Operation überstanden
haben, so entgehen sie dieser doch nicht, weil die Zeichen von
Abszeßbildung eintreten und immer1 deutlicher werden. Treten
dann noch Schüttelfröste, Milz- und Leberschwellung auf, so
ist die Prognose dann schon eine sehr1 schlechte geworden. —
(Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1911, 41. Jahrg., Nr. 7.)
K. S.
*
627. Zur Pathogenese der Purpura haemor¬
rhagica. Von Dr. S. Gannata, Assistenzarzt an der Universitäts-
Kinderklinik des Prof. Jemma in Palermo. Der Verfasser erörtert
die herrschenden Lehren über die Pathogenese dieses Leidens und
zeigt, daß sie nicht allgemein befriedigend sind. In einem Falle
seiner Beobachtung fand er neben den hämorrhagischen Flecken
der Haut bei der Autopsie in fast sämtlichen Organen schwere
tuberkulöse Veränderungen. Speziell weist er darauf hin, daß in
diesem Falle die Nebennieren sowohl in der Rinden- wie in
der Markzone alteriert waren. In der Rindenzone fand sich Vakuoli¬
sierung der Zellen, in der Markzone punktförmige hämorrhagische
Herde, körnige Zellen mit verblaßten Kernen und stark vakuoli-
siertem und körnigem Protoplasma. Auch von anderen Klinikern
sind bei der Purpura haemorrhagica schwere Alterationen der Neben¬
nieren gefunden worden, häufig hämorrhagische Herde ; Melchiorri
fand destruierende Läsionen mit kleinzelliger Infiltration in der
Mr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Stunden ausgedehnte langsame Instillation der Heidenhain-
Maikzone. Nun weiß man, daß das von den Nebennieren ausge¬
schiedene Adrenalin eine anregende’ Wirkung auf die Muskulatur
dei Gefäße und des Herzens übt, wodurch diese Organe in einem
für ihre physiologische Funktion notwendigen Tonus erhalten
werden. Eine Störung in der normalen Funktion der Nebennieren
führt infolgedessen zu einer Störung in der Blutzirkulation. Auch
im Falle des Verfassers wurden durch die auf Tuberkuloseinfektion
beruhenden Läsionen die normale Sekrelionsfunktion der Neben¬
nieren alteriert, es ist somit eine Aenderung in dem Gefäßtonus
(Hypotonie) eingetreten, welche den Austritt der Blutelemente aus
den Kapillaren begünstigt haben kann ; da auch die antitoxische
Wirkung des Adrenalins fehlte, so wurden die tuberkulösen Toxine
nicht neutralisiert, sie übten ihre deletäre Wirkung auf Kosten der
Gefäße aus, alterierten stark ihre Struktur. Auch die durch andere
Toxine (Diphtherie-, Typhusinfektion) stark geschädigten Neben¬
nieren erleiden Alterationen in der Struktur und Funktion, der
pathogenetische Mechanismus für das Entstehen einer Purpura
haemorrhagica in Fällen von Typhus, Diphtherie, Cholera etc. wäre
sodann der gleiche wie in den Fällen von Tuberkulose. Wir können
auch dann erklären, warum die Purpura keine häufige Komplikation
bei den verschiedenen Infektionen ist ; zu ihrer Entstehung müssen
eben die Nebennieren durch die betreffende Infektion oder Intoxi¬
kation schwer geschädigt sein. — (Deutsche med. Wochenschr
1911, Nr. 21.) E F ’
*
628. (Aus dem pharmakologischen Institut und der Frauen¬
klinik in Tübingen.) D i e p h a, r m a k o 1 o g i s c h e n G r u n d 1 a g e n
für eine' intravenöse Adr enalin t h er ap i e bei der Peri¬
tonitis. Von Priv.-Doz. Dr. Emst Ilolzbach in Tübingen.
Verb hat es sich zur Aufgabe gemacht, möglichst unbeeinflußt
durch die widersprechenden Resultate der 'Praxis experimentell
die Frage der Adrenalinwirkung’ auf den gesunden und kranken
Organismus, auf den Organismus in seiner Gesamtheit und auf
die aus ihm isolierten Organe zu studieren. Auf diese Weise konnte
er zunächst am isolierten gesunden Herzen nachweisen, daß
das Adrenalin, auch nur in Spuren der Nährlösung zugesetzt,
durchaus keinen günstigen Einfluß auf die Herzarbeit ausübt.
Es kommt eine ausgesprochene Giftwirkung zustande, die- mit stei¬
gender Dosis rasch zum Herzstillstand führt. Ebenso schnell wie
die Vergiftung erfolgt, läßt sich das Herz durch Zuleitung nor¬
maler, also giftfreier Nährlösung auch wieder entgiften, ohne
daß sich an der Herzarbeit eine dauernde Schädigung erkennen
läßt. Die Wirkung ist also nicht nachhaltig. Umgekehrt läßt sich
am Tiere1 ohne Herz dieselbe starke und bei kontinuierlicher Zu¬
fuhr auch kontinuierliche Blutdrucksteigerung erzielen, wie am
intakten Tiere. Das beweist also, daß die intensive Wirkung
des Adrenalins' am gesunden Tiere' mit dem Herzen nichts zu
tun hat. Auch die Pulsverlangsamung kommt indirekt zustande.
Auch die direkte Adrenalinwirkung auf das Vasomotorenzentrum,
wenn sie überhaupt besteht, kann nur: sehr gering sein. Denn am
Tiere ohne Hirn und ohne Rückenmark und ohne' Herz beobachtete
Verfasser genau die gleiche Blutdrucksteigerung durch das Adre¬
nalin. Sie kann also nur durch direktes Angreifen des Mittels
an den peripheren Gefäßen bedingt sein. Was’ die Wirkung des
Adrenalins auf den kranken Organismus anlangt, machte Verfasser
folgende Beobachtung. Bei Einwirkung von Adrenalinlösung auf
ein vergiftetes isoliertes Herz werden die schwachen Systolen
kräftiger und schneller, Blutdruck und geleistete- Arbeit werden
größer und nähern sich in kurzer Zeit der Norm. Läßt man das
Adrenalin weiter wirken, kommt es allmählich zur Adrenalin-
Vergiftung. Setzt man das Adrenalin aus, so ist das Herz in kür¬
zester Zeit gerettet. Dasselbe gilt für den Gesamtorganismus.
Vergiftet man ein Kaninchen mit Arsenik und injiziert ihm im
Moment, wo die Erschlaffung der Gefäße des Splanchnikusgebietes
und die des Herzens so hochgradig geworden ist, daß der Blutdruck
fast zur Nullinie absinkt, Adrenalin in die Vene, so bekommt
man bald eine gewaltige Blutdrucksteigerung. Die Wirkung ist
aber nur flüchtig. Nach ihrem Abklingen geht die Arsenikwirkung
weiter. Die Wirkung wird aber konstant und lebensrettend, wenn
man die gleiche Adrenalin menge wie vorher, in entsprechend
größerer Verdünnung und kontinuierlich zufließen läßt. Verfasser
hat Gelegenheit gehabt, die Ergebnisse seiner Tierversuche in die
Praxis umzusetzen und an Peritonitiskranken durch über viele
sehen Aidionctlinkochsalzlösnng stundenlang den Blutdruck hoch-
gehalten, ohne eine Schädigung des Organismus dabei zu beob¬
achten. Die Schlüsse des Verfassers lauten: Das Adrenalin ist
tin Mittel, mit dein nran die peritonf tische Blutidrucksenkung,
die Blutdpucksenkung überhaupt, wie auch bestimmte Formen
drohender Herzlähmung wirksam bekämpfen kann. Eine einmalige
Infusion der Adrenalinkochsalzlösung muß in vielen, jedenfalls
in allen vorgeschrittenen Fällen von Peritonitis versagen, weil
die Adrenalinwirkung flüchtig ist und weil das Mittel peripher,
nicht auf dem Umweg über das Vasomotorenzentrum angreift.
Je konzentrierter die Lösung ist, desto gefährlicher muß sie sein.
Denn sie schafft plötzlich zu große Widerstände in der Blut¬
hahn, an denen sich das Herz tot arbeitet und das: Adrenalfn
ist noch dazu ein Herzgift. Hieher gehören die Fälle von plötz¬
lichem Tod nach intravenöser Injektion konzentrierter Adrenalin-
lö'sung, die wiederholt beobachtet wurden. Durch die dauernde
intravenöse Zufuhr verdünnter Adrenalinkochsalzlösung kann man
dagegen auch bei schweren Peritonitisfällen den Blutdruck noch
stundenlang hochhalten und man kann die so gewonnene Zeit
zum Eingriff, zur eventuellen Entfernung des septischen Giftes
und damit zur Rettung des Individuums benützen. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 21.) G.
*
* )
629. Die Behandlung des Ulcus corneae serpens.
Von Dr. W. Gilbert, Privatdozent und 1. Assistenzarzt der
kgl. Universitäts-Augenklinik in München. In kausaler Hinsicht
ist zunächst dem Zustand der tränenableitenden Wege vollste Auf¬
merksamkeit zu schenken. An Stelle der früher geübten Expression
des Tränensackes und der Durchspülung der Tränenwege mit
Adstringenden ist die Exstirpation des Tränensackes' bei Dakryo-
zystoblennorrhoe indiziert, eventuell die Däkryozystorhino-
stomie nach 1 oti. Bei der eigentlichen Behandlung des geschwü-
rigen Hornhautprozesses unterscheidet man konservative Methoden
von den operativen Eingriffen. Kleine Geschwüre heilen bisweilen
spontan oder können durch Applikation von Wärme, antiseptischen
Umschlägen und Pulvern, sowie von Mydriatizis dem Heilungs¬
prozeß zugeführt werden. Zweckmäßig wird auch der Grund und der
infiltrierte Rand des Geschwüres mit Tinct. jodi fort. par. bis zur
intensiven Braunfärbung betupft und dies täglich wiederholt, wo¬
durch es gelingt, manches Geschwür zu schnellem Stillstand zu
bringen. Die Jodtinktur hinterläßt nur zarte Trübungen und die an¬
grenzenden Hornhautpartien werden nicht geschädigt. Bei größeren
Geschwüren gelingt es nur ausnahmsweise gleich zu Beginn durch
Jod einen günstigen Erfolg zu erzielen. Man geht dann zur Gal¬
vanokauterisation über oder noch besser zur Iveratotomie nach
Saemisch, wobei aber die von Sae misch angegebenen Regeln
genau beachtet werden müssen, damit vordere Synechie und
Leukoma adhaerens vermieden werden. Die Behandlung des Ulcus
corneae serpens bleibt am besten dem Augenarzt im Kranken¬
hause selbst Vorbehalten; nur dann wird der Prozentsatz der
Erblindungen an den Folgen des Ulcus serpens erheblich zurück¬
gehen können. Die Nachbehandhmg (Aufhellung der Narben-
ti Übung durch Massage mit Vs bis l°/oiger gelber Salbe, 2 bis
10°/oigen Dionin, Tinct. opii inspissata) kann wieder der Praktiker
übernehmen, sofern nicht Iridektomie aus optischen oder anderen
Gründen noch gemacht werden muß. Prophylaktisch hat der Prak¬
tiker die arbeitende Bevölkerung auf die Gefahren eines eitern¬
den Tränensackes und auf die Notwendigkeit der operativen Be¬
seitigung dieses Leidens hinzuweisen. — (Fortschritte der Me¬
dizin 1911, 29. Jahrg. Nr. 12.) K. S.
*
630. Doppelseitige Thrombose derVenae fe mo¬
rales nach schwerem D i c k da r m k at ar r h. Von Professor
Riedel in Jena. Es werden zwei Beobachtungen mitgeteilt. Ein
20jähriges Mädchen erkrankte mit Leibschmerzen und Durchfällen,
hatte am nächsten Tage Erbrechen, abends 38'6. Da das Krank¬
heitsbild ein sehr schweres war, entschloß sich der Assistent der
Klinik zur sofortigen Operation. Die Appendix war obliteriert !
Post Operationen! Ikterus mittelstark, noch acht Tage lang Durchfälle.
Sodann Schmerzen und Schwellung oben im rechten Oberschenkel,
bald deutliche Thrombose ; nach weiteren 18 Tagen Schmerzen in
der linken Unterbauchgegend, taubeneigroßer schmerzhafter Tumor
916
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr 25
oberhalb des Ligamentum Poupartii; nach zwei Monaten sind noch beide
Beine geschwollen, stärker das linke Bein. Der zweite Fall betraf
eint n 63 Jahre alten Arzt, der wegen Verlegung der Arteria tibialis
ant. d. nach Gritti amputiert wurde. Fieberloser Verlauf, Wunde
in 18 Tagen abgeheilt. Im Verlaufe der nächsten Wochen chronische
Stuhlverstopfung, durch die es zu einer schweren Vergiftung mit
Faulstoffen kommt. (Appelilmangel, Auftreibung des Leibes, Ent¬
leerung exzessiv stinkender Kotballen, dann Fieber). Nach Wochen
starke Schwellung des rechten Oberschenkelstumpfes über das Liga¬
mentum Poupartii hinaus, auch der linke Oberschenkel und die linke
Hü ft- und Beckengegend wurden ödemalös. Die Oedeme schwanden
bald, Pat. erholte sich langsam. Die Thrombose stand gewiß nicht
mit der Amputation in einem kausalen Zusammenhänge, da fast
drei Monate seit dem Eingriffe vergangen waren. Verf. erörtert an
der Hand dieser zwei Fälle die drei Fragen: 1. Auf welchem Wege
führt das Darmleiden zur Thrombose der Schenkelvenen ? 2. Waren
die Thromben infiziert oder nicht ? 3. Warum verlief die Thrombose im
Fall I in ziemlich typischer Weise, während im Fall II sich die ganze
Krankheit in zwei bis drei Wochen abspielte. Er glaubt, daß in
seinen beiden Fällen die • primäre Ursache der Thrombenbildung
Infektion mit Bacterium coli war, daß aber die Thromben selbst
entweder ganz aseptisch oder wenigstens nur minimal infiziert
waren, sonst wären wohl beide Kranke zugrunde gegangen. Daß
der Arzt nach zwei bis drei Wochen wieder gesund war, darf nicht
überraschen, man hat ähnliches im Tierversuche gesehen, auch hat
Verf. eine gleiche Beobachtung bei einem 70jährigen Operierten
gemacht, bei welchem 16 Tage p. o. ohne Temperatursteigerung
und ohne daß ein Strang fühlbar war, das linke Bein stark an¬
schwoll, welche Schwellung nach 14 Tagen wieder schwand. Soll
man annehmen, daß in diesem Falle und beim operierten Arzte
nur klappenständige Thromben bestanden, auf denen sich vorüber¬
gehend Blutplättchen niederschlugen ? Sind diese Blutplättchen) nach
neueren Forschungen, die eigentlichen Bildner der Thromben, viel¬
leicht einer raschen Resorption fähig? Alle diese Fragen könnten
nur durch gemeinschaftliche Arbeit von Klinikern und Vertretern
der pathologischen Anatomie beantwortet werden. Verf. gelangt zu
folgenden Schlüssen: 1. Thrombose der Schenkelvenen kann infolge
schweren Dickdarmkatarrhs entstehen. 2. Diese Thromben bilden
sich vielleicht dadurch, daß Kolibazillen aus dem kranken Darm
in mesenteriale Lymphdrüsen einwandern und dort in die Wände
kleinster Venen geraten ; von diesen setzt sich die Thrombose eventuell
auf dem Wege der Vena hypogaslrica in die Vena femoralis fort.
3. In den beiden bis jetzt beobachteten Fällen waren die Thromben
anscheinend ganz aseptisch oder doch sehr wenig infiziert. 4. Eine
Kranke halte typische obturierende Thrombose, der zweite Kranke viel¬
leicht nur klappenständige mit vorübergehender Auflagerung von
Blutplättchen. — (Deutsche med. Wochenschr. 1911, Nr. 21.)
E. F.
*
631. (Aus der Volksheilstätte Loslau 0. S. — Chefarzt:
Dr. Schräder.) Zur Eisen-Arsen-Therapie. Von Heinrich
Eckhard, Assistenzarzt. Die vielen Begleiterscheinungen der
Lungentuberkulose brachten den Verfasser auf den Gedanken ein
Eisen-Arsen Präparat in Anwendung zu bringen, das sich ihm
außerordentlich bewährt hat, in Aerztekreisen aber viel zu wenig
bekannt ist: Ferrum arseniato- citricum ammoniatum. Es ist dies
ein wasserlösliches Doppelsalz mit l-4°/oiger arseniger Säure und
15 bis 18°/ojgem Eisen und Ammonzitrat. Für innerliche Anwen¬
dung wird die Dosierung mit . 0-03 bis 0-07 g angegeben. Als
Maximaldose 0-3 pro dosi, 1-0 pro die. Verfasser wendet es je¬
doch nicht innerlich, sondern nur subkutan an; er injiziert unter
die Haut der Brust, Peroni intraglutäal. Folgende Anwendungs¬
weise hat sich bestens bewährt : Das in Phiolen zu 0-5 g ent¬
haltene Gemenge wird in 10 g Aqua dest. steril, aufgelöst und
filtriert. Verf. injizierte als Anfangsdose sechs Teilstriche der
Pravazspitze, jetzt aber nur 15 Teilstriche. Bei der ersten Injek¬
tion gibt er 1 cm3 der Injektionsflüssigkeit. An drei Tagen in der
Woche wird injiziert. An der Injektionsstelle entwickelt sich eine
kleine Geschwulst, die geringe Schmerzen verursacht, ohne je¬
doch das Allgemeinbefinden zu beeinflussen. Als Indikation
für die Anwendung der kombinierten Eisen-Arseninjektions¬
methode kommen in Betracht die anämischen Begleiterscheinungen
der tuberkulöse, die nervösen Erschöpfungszustände und Near
asthenic, Hysterie, Skrofulöse und andere Erkrankungen des lym¬
phatischen Apparates. Verfasser erörtert an der Hand Von 50
Krankengeschichten die guten Erfolge dieser Therapie, welche
stets mit bedeutender Gewichtszunahme einherging. Das Präparat
wurde selbst bei protrahierter Verwendung ohne lästige Neben¬
wirkung vertragen. Von seiten des Magens und des Darmtraktes
niemals unangenehme Erscheinungen. Der Kräfteverfall bei Tuber¬
kulose in schweren Fällen wurde zum Stillstände gebracht,
wenigstens für einige Zeit. Auf Blutbildung und Stoffwechsel
zeigte sich eine anregende Wirkung. Der Hämoglobingehalt des
Blutes stieg mindestens um 10°/o. Natürlich müssen die blut¬
bildenden Organe noch einen entsprechenden Grad von Reaktions¬
fähigkeit haben. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911,
Nr. 22.) G.
*
632. (Aus Dr. Georg Müllers Privatheilanstalt für Unfall¬
kranke.) Ueber Radiusfrakturen und ihre Schicksale.
Nach den Erfahrungen, welche Müller an Radiusfrakturen, die
ihm zumeist nach der 13. Woche zur Nachbehandlung überwiesen
worden waren, gemacht hat, wird es zumeist versäumt, den Bruch
zu reponieren, was wohl darauf zurückzuführen ist, daß durch
Unterlassung einer Röntgendurchleuchtung die richtige Diagnose
nicht gemacht und der Unfall als Distorsion oder Kontusion be¬
handelt. wurde, was um so begreiflicher ist, als das Gelenk un¬
mittelbar nach dem Unfall stark geschwollen und so schmerz¬
haft ist, daß eine Abtastung der Skeletteile oft geradezu unmöglich
ist. Ferner bleiben die fixierenden Verbände oft viel zu lange
liegen, so daß das Gelenk versteift. Ein weiterer Fehler wird
damit gemacht, daß die Finger in den Verband einbezogen werden,
was wieder Versteifung der Fingergelenke zur Folge hat. Weiters
wird übersehen, daß auch Ellbogen- und Schultergelenk steif
werden, weil sie längere Zeit außer Funktion gesetzt worden,
obwohl der Fixationsverband regelmäßige aktive und passive
Bewegungen gestatten würde. Bemerkenswert ist, daß in einer
Reihe von Fällen die Patienten sich der kassenärztlichen Be¬
handlung entzogen, wenn die Verletzung einigermaßen geheilt
war, dann so gut es ging unter Schonung der verletzten Hand
arbeiteten, die Hand versteifen und die Muskel atrophieren ließen,
um sich nach Ablauf der Karenzzeit mit Rentenansprüchen bei
der Berufsgenossenschaft zu melden. Im Durchschnitt ergab sich
als Behandlungsdauer ein Zeitraum von 180 Tagen (hievon 88
aul die Nachbehandlung), trotzdem waren nach dieser Zeit noch
immer 7°o im Erwerbe beeinträchtigt. Bei frischen, in seine Be¬
handlung gelangten Fällen erzielte Müller in durchschnittlich
48 Tagen Ausheilung mit völliger Erwerbsfähigkeit. Allerdings ließ
er die Fixationsverbände nur ein bis zwei Wochen liegen, um
dann zu täglicher Massage, Bewegungen und Dampfbädern über¬
zugehen. — (Monatsschrift für Unfallkunde und Invalidenwesen
1911, 18. Jahrg. Nr. 1.) K. S.
*
633. Ueber Impfungen von Affen mit maligner
Syphilis. Von Prof. Dr. E. Tornas czevvski, Oberarzt der
Universitätspoliklinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten in
Berlin (Prof. Dr. Lesser). Während Buschke und Fischer
in den typischen Herden der malignen Syphilis keine Spirochaetae
pallidae nachweisen konnten und auch später bei Impfungen auf
Affen (in zehn Fällen neunmal Erfolg) bei keinem einzigen Tiere
in den Impfläsionen Spirochäten konstatierten, habein andere Kli¬
niker (Nobel, Dolutrelepo n t) bei der malignen Lues im
Ausstrich und im Gewebe typische Pallidae gefunden. Der Ver¬
fasser selbst hat in sieben Fällen auch im Dunkelfeld nur einmal
Spirochäten nachgewiesen, auch II er x hei m er und C oh n fanden
in drei Fällen mit hochgradiger Nekrose keine Spirochäten. Der
Verfasser hat nun neuerdings drei Versuche mit dem Materiale
von Lues maligna angestellt. Im erstell Falle (multiple, große
Geschwüre) fand er in einem exzidierten Gewebe im Dunkelfeld in
zahlreichen Präparaten auch bei längerer Untersuchung keine
Spirochäten; hingegen bei Ueberi|mpfung auf Affen im Gewebssaft
eines Infiltrates im Dunkel feld ziemlich viele Spirochäten, nach
1 orm, Art der Bewegung und dem geringen Lichtbrechungsver-
mögen typische Spirochaetae pallidae. Nach zehn Tagen war
der Befund schon negativ. Zwei weitere Versuche ergaben das¬
selbe Resultat: in dem von den Kranken herrührenden Materiale
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
917
keine, in dem von den geimpften Affen stammenden Materiale
im Dunkelfeld zahlreiche, im (iiemsa- Ausst'ich vereinzelte, ganz
typische Pallidae. Auf Grund dieser Experimente, schließt der
Verfasser, kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß auch
anscheinend spirochätenfreies . Ausgangsjnaterial von maligner
Syphilis ln i niederen Affen nach einem mohrwöehenUichen lnku-
bationsstadium Impfeffekte hervorruft., die hei Untersuchung im'
Dunkelfeldc wie im gefärbten Ausstrich typische Spirocliaatae
pallidae enthalten. — (Berliner klinische Wochenschrift 191 i,
Nr. 20.) ■ E. F.
*
634. (Aus der medizinischen Klinik zu Straßhurg. Direk¬
tor: Prof. Dr. Moritz.) Zur Methodik des Nachweises
sehr k leine r pathologischer Ei w e i ß m e n gen i m 1 1 a r n .
Von Dr. Glaesgen jun. in Bad Münster a. St. Verf. beschreibt
eine wenig bekannte Methode zum Nachweis kleinster Eiwei߬
mengen im Harn. 20 cm3 Harn werden mit fünf Tropfen einer
• 20°/o «gen Essigsäure versetzt, durch Umgießen in ein zweites
gleich große« Reagenzrohr gut durchmischt und dann auf beide
Gläser gleich verteilt. Die eine Probe wird gekocht, die andere
dient zum Vergleich. Auch kleinste Trübungen werden auf diese
Weise sichtbar. Der Harn muß vor der Untersuchung klar sein,
sonst muß er durch Filtrieren geklärt werden. Trübt sich der
Harn bei Zusatz der Essigsäure schon in der Kälte, so wird er
ebenfalls filtriert. Ist der Harn alkalisch, so kann, der angegebene
Essigsäurezusatz ungenügend sein, um das Ausfallen von Phos¬
phaten zu verhindern und Spuren von Eiweiß zur Yusscheidung
zu bringen. Der Harn muß dann mit der verdünnten Essigsäure
gegen blaues Lackmuspapier auf eben schwachsaure Reaktion
gebracht und dann noch mit der angegebenen Menge Essigsäure
versetzt weiden. Kommt es zu starker Phosphattrübung, wie etwa
nach reichlicher Mahlzeit, so wird der Zusatz einiger weiterer
Tropfen verdünnter Essigsäure das Phosphat zur Lösung bringen
und vor Verwechslung schützen. Denn bereits ausgefälltes Eiweiß
wird durch einen geringen Mehrzusatz von, Essigsäure nicht wieder
gelöst. Diese Probe ist nach Verf. nicht identisch mit der gewöhn¬
lichen Kochprobe und nachfolgendem Zusatz von Essigsäure; sie
ist viel empfindlicher. Verf. hat zum Vergleich mit dieser Methode
die gewöhnliche Kochprobe mit nachfolgendem Essigsäurezusatz,
ferner die Essig säure-Ferrozyankaliumprobe und die Hell ersehe
Schichtprobe auf konzentrierte Salpetersäure herangezogen. Die
beigegebenen Tabellen zeigen, daß die Kochproben mit voraus¬
gehendem Essigsäurezusatz eine Empfindlichkeit bis etwa
1:180.000 hat, während die gewöhnliche mit nachfolgendem Essig-
säurezusatz bis etwa 1:130.000, die Ferrozyankaliumprohe
1 : 70.000, die H e 1 1 er sehe Probe aber nur 1 : 35.000 ging. Die Me¬
thode zeigt also eine erhebliche Ueherlegenheit, die noch größer
wild, wenn man nur den alsbald erfolgenden positiven Ausfall
als. maßgebend ansieht. Dies ist für klinische Zwecke sehr bequem.
Die Probe wird unsicher werden, wenn der Salzgehalt des Harnes
ganz abnorm tief liegt. Dieser Fäll tritt nach des Verfassers Er¬
fahrungen nur bei Polyurie hei gleichzeitiger ausschließlicher
Milchdiät ein. Man tut daher gut, in Fällen reiner Milchdiät beide
Proben anzuwenden. Was die klinische Brauchbarkeit anlangt,
fand Verf. hei der Untersuchung von 50 Urinen von Hyper¬
tonikern mit der gewöhnlichen Kochprobe in 15 Fällen, mit der
Kochprobe mit vorausgehendem Essigsäurezusatz aber in 36 Fäl¬
len, also mehr als der doppelten Anzahl, Spuren von Eiweiß.
Ebenso gelang es unter zehn Fällen von Sälizyldarreiohung hei
Polyarthritis in vier Fällen ein bis zwei Tage früher mit der
oben beschriebenen Methode Eiweiß nachzuweisen, als es mit
der gewöhnlichen Kochprobe möglich war. Es wurden ferner bei
50 gesunden Frauen je eine spontan und eine gleich darauf mit
dem Katheter entleerte Portion untersucht. In zehn von diesen'
Fällen zeigte die spontan entleerte Portion mit des Verfassers Me¬
thode Spruen von Eiweiß, die in der katheterisierten Portion
fehlten. Mit der gewöhnlichen Kochprobe erhielt man nur in zwei
Fällen ein positives Resultat. Auf Grund dieser Resultate glaubt
Verfasser, die Kochprobe mit vorausgehendem Essigsäurezusatz
als eine sehr empfindliche und zuverlässige uhd dabei sehr be¬
queme Probe empfehlen zu können. — (Münchener medizinische
Wochenschrift 1911, Nr. 21.) G.
*
635. Knieei len bogen läge hei Ptosis gewisser
Bauchorgane. Von Dr. Rudolf v. Fellerrberg, Frauenarzt
in Bern. Die prompte Wirkung der Bauch-, resp. Knieelleubogen-
lage hei postoperativem Duodenalileus (Schnitzler) legte den
Gedanken nahe, auch andere Affektionen, bei denen die Be¬
schwerden durch die veränderte Lage eines Organes, meist wohl
ein Sinken nach unten, hei vorgerufen werden, in analoger Weise
zn behandeln, um, wenn schon nicht eine Heilung, so doch ein
momentanes Aufhören der Symptome zu erlangen, v. Fellen
borg hatte Gelegenheit, sich von der Richtigkeit dieser U Über¬
legung zu überzeugen. Eine Patientin mit Ren mobilis litt an
Schmerzen, welche besonders' nach clem Essen und körperlichen
Anstrengungen auf hüten und mit Brechneigung und Erbrechen
einhergingen, v. Fellenberg riet ihr jedesmal, wenn die
Schmerzen sich zeigten, die Knieellenbogenlage einzunehmen und
in dieser Stellung ein paar Minuten ziT verharren. Der Erfolg
dieser Maßnahmen war ein prompter und ausgezeichneter. Viel¬
leicht. ließe Isich dieses Mittel, welches momentan die Beschwerden
des Patienten unterdrückt, bevor noch kausal eingegriffen werden
kann, auch bei Senkung des Magens, Gallensteinkoliken, mecha¬
nischem Ileus, Hydronephrose, mit Vorteil an wenden. Umher
berichtet übrigens auch von einem Falle von Ulcus duodeni, wo
der Patient auf der: Höhe des Schmerzanfalles spontan die Knie¬
ellenbogenlage mit dem Erfolge ein nahm, daß der Schmerz ge¬
lindert wurde. Bei methodischer Anwendung dieser Lage bei
Ulcus duodeni könnte sogar eine Begünstigung der Heilung zu
erwarten sein. Nimmt man doch an, daß eine Rückstauung des
alkalischen Duodmalinhaltes durch eiben arteiio mesenterialen Ver¬
schluß des Duodenums gegen die Pylorusgegend zu die Entstehung
des Ulkus begünstigt. Die Lösung der Kompression also durch
die Knieellenhogenlage könnte wieder die spontane Heilung unter¬
stützen. — (Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte 1911*.
41. Jalirg., Nr. 7.) K. S.
*
636. Die geographische Verbreitung der Pest um
die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts, Von Rudolf
Pöch. Für die Verbreitung der Pest kommen heute drei Zentren
in Betracht, jn welchen diese Seuche endemisch herrscht. Der
erste Pestherd war wahrscheinlich Hongkong, von wo
die Pest auf dem Seewege nach Vorderindien eingeschleppt
wurde. In der letzten Zeit kam die Mandschurei als drittes
Pestzentrum hinzu. Die Annahme, daß die Pest ursprünglich eine
Nagetierseuche war und erst später auf das Menschengeschlecht
übergegriffen hat, hat sehr viel Wahrscheinlichkeit. Ihr Ursprung
dürfte in den Hochländern Zentralasiens zu suchen sein. Bei
der Verbreitung der Pest spielen Nagetiere jedenfalls eine große
Rolle. Die Pest folgt den Linien des Eisenbalm- und Schiffs¬
verkehres. Sie trat innerhalb der letzten Jahrzehnte in den zivili¬
sierten Ländern immer nur sporadisch auf. Der hoch entwickelten
europäischen Hygiene gelang es immer, die Seuche zu lokalisieren.
Zwei Karten illustrieren die geographische Verbreitung der Pest.
— (A. Petermanns geographische Mitteilungen 1911, Bd. 1,
Heft 4.) sz.
*
Aus französischen Zeitschriften.
637. lieber die Masso-Lavage des Dick dar ms. Von
J. Bau mann. Die Waschung und auch die wiederholte Waschung
des Darmes geben den Patienten nicht immer das Gefühl
der Erleichterung und bewirken bei sehr hochgradiger oder
spastischer Obstipation nur eine minimale Stuhlentleerung.
Als Masso-Lavage bezeichnet der Verfasser die Kombina¬
tion von Massage mit zweimaliger Auswaschung des Dar¬
mes. Zunächst werden 400 bis 500 g in gewöhnlicher Weise ein¬
gegossen und sofort wieder abfließen gelassen, dann folgt eine
Eingießung von 700 bis 800 g, maximal ein Liter. Der Patient
wird in Rückenlage gebracht und die Massage dreizeitig durch¬
geführt. Zunächst wird die in der Ampulle des Mastdarmes,
bzw. im S romaiium 'ängesammelt© Flüssigkeit in den Dickdarm
hinauf befördert. Zu diesem Zwecke werden beide Hände in die
Gegend der linken Fossa iliaöa mit auf das Schambein gestützten
Fingerspitzen schief gegen die Bauchwand appliziert und die
Bauchwand tief eingedrückt, wobei durch sukzessiven Druck und
Gleiten in der Richtung von unten nach oben die Flüssigkeit
918
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT.
Nr. 25
in das Colon desoendcns befördert wird. Man fühlt ein Gurgeln
an spastisch kontrahierten Stellen, wobei namentlich unmittelbar
oberhalb der Ampulle und am oberen Ende der Portio iliaca
des S romannm ein W iderstand gegen die Passage der Flüssig¬
keit wahrgenommen wird. Falls sich an diese Stellen Empfind¬
lichkeit zeigt, wird die Massage für kurze Zeit ausgesetzt. Aus
dem Colon descendens wird die Flüssigkeit in das Querkolon
dirigiert, wobei die Passage an der Uebergangsstelle oft eine
Schwierigkeit bietet, der Uebei’gang in das Colon ascendens ge¬
schieht spontan und gibt sich durch Plätschern am Blinddarm
kund ; die Massage des Blinddarms in der Richtung von oben
nach unten ist nicht ratsam. Das zweite Tempo der Massagie
besteht in Effleurage des Kolons in der dem Weg der Fäzes ent¬
gegengesetzten Richtung, um die Fäzes von der Schleimhaut los¬
zulösen, schließlich erfolgt oberflächliche Effleurage des Kolons
dem Wege der Fäzes entsprechend. Gewöhnlich erfolgt sofort
nach der Massage eine sehr ausgiebige Entleerung erweichter
Fäzes. In chronischen Fällen ist eine zu häufige, z. B. tägliche
Applikation des Verfahrens nicht angezeigt. Das Verfahren be¬
wirkt Entleerung hochsitzender Kotmassen, es gestattet die voll¬
kommene Reinigung der Schleimhaut, wodurch die wirksame Appli¬
kation medikamentöser Lösungen bei Geschwürsprozessen er¬
möglicht wird, ebenso die rasche Bekämpfung der an die Kopro-
stase sich anschließenden Gärungs- und Fäulnisvorgänge. Die
Methode kann auch bei den verschiedenen Formen der gastro¬
intestinalen Autointoxikation und Infektion, bei Urämie usw. an¬
gewendet werden. — (Progres. med. 1911, Nr. 6.) a. e.
*
638. Ueber einen Fall von Sklerodaktylie. Von
G. Ranzier (Montpellier). Die 51jährige Patientin zeigt seit
4V2 Jahren trophische Störungen u. zw. vorwiegend an den oberen
Extremitäten, welche durch Atrophie der Finger mit Retraktion
der Haut und starke Einschränkung der Bewegungsfähigkeit
charakterisiert sind; daneben besteht leichter Tremor. Leichte
trophische Störungen sind auch im Gebiet des Gesichtes vor¬
handen. Raynaudsche Krankheit, Erythromelalgie, fibröser
Rheumatismus, Poliomyelitis des Typus Aran-Duchenne, amyo-
trophische Lateralsklerose, Syringomyelie und Lepra lassen sich
differentialdiagnostisch leicht ausschließen, so daß die Diagnose
der Sklerodaktylie, das ist einer lokalen Form der Sklerodermie
übrigbleibt. Die durch Induration, bzw. fibröse Umwandlung der
Haut charakterisierte Sklerodermie, welche bei stärkerer Ent¬
wicklung auch das subkutane Gewebe und selbst innere Organe
in Mitleidenschaft zieht, ist eine relativ seltene Erkrankung,
welche meist in der Zeit vom 20. bis 40. Lebensjahr und mit
überwiegender Häufigkeit beim weiblichen Geschlecht auftritt.
Bezüglich der Pathogenese wurde Zusammenhang mit Gicht,
Rheumatismus, akuten und chronischen Infektionen, namentlich
Tuberkulose angenommen und auf die häufige Vergesellschaftung
mit Hysterie, Migräne, Neuralgien, Morbus Basedowi, Paralysis
agitans, Akromegalie, Myxödem usw. hingewiesen. Man unter¬
scheidet drei Hauptformen u. zw. die diffuse generalisierte, die
umschriebene und die progressive Form. Die umschriebene Form
tritt in zweifacher Weise auf u. zw. als Morphaea, welche zu
umschriebener Entfärbung der Haut mit Bildung eines glatten
narbenartigen Gewebes führt und die disseminierte Form, wo
die narbenartigen Veränderungen der verschiedenen Stellen dem
Verteilungsgebiet der Hautnerven entsprechend, in Form von
Plaques older Bändern auftreten. Die progressive Form wird
auch als Sklerodaktylie bezeichnet, weil die Veränderungen zu¬
nächst an den Fingern auftreten und hier die größte Intensität
erreichen. D|ie Affektion beginnt mit Parästhesien und vaso¬
motorischen Störungen, woran sich Induration der Haut und
Verdünnung der Finger anschließt; Ulzerationen und Knochen¬
atrophie können zu Verstümmlung durch Abstoßung von Pha¬
langen führen. Die Sklerodermie greift auf die Arme, Thorax,
Hals und Gesicht über, welches maskenartige Starre infolge der
Atrophie und Induration der Haut zeigt, seltener werden die
unteren Extremitäten befallen. Als Begleiterscheinungen werden
Hautpigmentation und Muskelatrophie beschrieben. Nach meist
chronischem Verlauf entwickelt sich Kachexie; der Exitus er¬
folgt durch hinzutretende Infektionen oder Komplikationen von
seiten innerer Organe. Differentialdiagnostisch kommen Ray¬
naudsche Krankheit, Erythromelalgie, chronischer fibröser Rheu¬
matismus, amyotrophische Lateralsklerose, Syringomyelie und
Lepra in Betracht. Als Ursache der Sklerodermie wird gegen¬
wärtig eine Funktionsstörung verschiedener Blutdrüsen ange¬
nommen. In der Therapie werden Salizylpräparate, Belladonna,
Jodkalium, Fibrolysin, bzw. Thiosinamin, ferner Schilddrüsen-
präparate verwendet, welch letztere bei der Sklerodaktylie wenig
leisten. Die externe Therapie besteht in Wärmeapplikation, even¬
tuell in Form von Thermalbädern, Elektrizität, Röntgen- und
Radiumbehandlung. — (Gaz. des höp. 1911, Nr. 25.) a. e.
♦
639. Uebe,r einen Fall von akuter aufsteigender
Lähmung bei einem elfjährigen Kinde. Von A. Coyon
und L. Babonneix. Noch vor kurzem wui’de die akute auf¬
steigende Lähmung als autonome Erkrankung mit einheitlicher
Ursache und gleichartigen anatomischen Veränderungen und kli¬
nischen Symptomen betrachtet. Gegenwärtig wird die Landry-
sche Lähmung als Symptomenkomplex betrachtet, welcher durch
verschiedene Ursachen, vor allem Intoxikation und Infektion her¬
vorgerufen werden kann. Bei dem elfjährigen Patienten hatte
die Erkrankung mit heftigen Schmerzen in der Wirbelsäule be¬
gonnen. Es stellte sich rasch schlaffe Lähmung der unteren Ex¬
tremitäten, der Thoraxmuskulatur und der oberen Extremitäten
bei erhaltener Funktion der Sphinkteren und Aufhebung der
behnenreflexe ein. Abgesehen von lebhafter Schmerzhaftigkeit
bei jeder Berührung bestanden keine Sensibilitätsstörungen. Sen-
sorium und Intelligenz waren normal; die Lumbalpunktion ergab
eine klare Flüssigkeit. Es bestand Fieber, beschleunigte Respi¬
ration und der Exitus trat plötzlich am vierten Krankheitstage
ein. Die Untersuchung des Nervensystems ergab hauptsächlich
eine starke embryonale Infiltration der grauen Substanz des
Rückenmarkes, namentlich in den Vorderhörnern, wo stellen
weise die großen Ganglienzellen ganz verschwunden waren, auch
im verlängerten Mark und in der Gehirnrinde waren Infiltra¬
tionsherde nachweisbar. Die arteriellen Gefäße zeigten starke
Blutüberfüllung, auch an den Meningen war streckenweise In¬
filtration mit embryonalen Zellen nachweisbar; Mikroorganismen
wurden im Zentralnervensystem nicht vorgefunden. Es lag eine
Poliomyelitis acuta anterior vor, welche sich unter dem Bilde
einer aufsteigenden Lähmung entwickelte. Fälle dieser Art sind
in der Literatur wiederholt beschrieben worden. Es handelt sich
um eine kontagiöse Erkrankung, die auch epidemisch auftreten
kann, wo aber der Nachweis des Krankheitserregers bisher nicht
gelungen ist. Auf das Vorhandensein eines lebenden Erregers
weist die Möglichkeit der Ueberimpfung auf Affen durch Rücken¬
markspartikel hin. Zu den Lähmungserscheinungen, welche auch
den Typus der akuten aufsteigenden Lähmung annehmen
können, gesellen sich oft typische Meningitissymptome, ferner
Symptome, die auf Beteiligung der Seitenstränge, der Nerven¬
wurzeln, der peripheren Nerven und der Gehirnrinde hinweisen.
Am meisten betroffen ist die graue Substanz, doch können auch
die anderen Teile des Nervensystems Sitz kongestiver, hämor¬
rhagischer und entzündlicher Läsionen sein. Die großen Vorder¬
hornzellen können durch Histolyse und Neuronophagie bis auf
einige Rudimente verschwinden, während die Clark eschen
Säulen in der Regel wenig beteiligt sind ; an den peripheren.
Nerven sind wegen der Raschheit des Verlaufes in der Regel
keine Läsionen mit Osmiumfärbung nachweisbar. Es gibt auch
Fälle mit langsamem: Verlauf und vieldeutigen Symptomen, welche
zum Teil an Hirntumor, zum Teil an Meningitis cerebrospinalis
denken lassen. Beide Formen gehören in den Rahmen der Heine-
M e d in ischen Krankheit, welche durch ein noch imbekanntes
Virus hervorgerufen wird, vorwiegend Läsionen an den Vorder-
hörnern setzt, aber auch alle anderen Teile des Zentralnerven¬
systems bis zur Hirnrinde in Mitleidenschaft ziehen kann und
hauptsächlich motorische Störungen hervorruft, die große Varia¬
bilität zeigen. — (Gaz. des hfop. 1911, Nr. 16.) a. e.
*
640. Ueber das Urotropin bei der Behandlung der
akuten Gallen i n fekti one n und des Abdominal ty p hu s.
Von A. Chauffard. Während früher der Typhus als Darm¬
infektion und die typhöse Erkrankung der Gallenwege als Fölge-
zustand der Darminfektion aufgefaßt wurde, herrscht gegenwärtig
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
die Anschauung vor, daß die Typhusinfektion und die Erkran¬
kungen der Gallenwege hämatogener Natur sind. Diese Auffassung
läßt das Suchen nach einem wirksamen Gallenantiseptikum ge¬
rechtfertigt erscheinen; das Urotropin entspricht den Anforde¬
rungen an ein solches Mittel hinsichtlich der Ausscheidung durch
die Galle, der Unschädlichkeit und anti septischen Wirksamkeit
in höherem Maße, als zum Beispiel die bei Infektionen der Gallen¬
wege vielfach angewendeten Salizylpräparate. Es wurde an
Gallenfistelhunden, sorvie an Gallenfisteln Operierten der Nach¬
weis erbracht, daß das Urotropin durch die Galle in ebenso
konstanter, rascher und ausgiebiger Weise eliminiert wird, als
durch den Harn. Us wird angegeben, daß nach Urotropindarrei¬
chung Typhus- und Kolibazillen aus der Galle vollständig ver¬
schwinden können. Als Indikationen der Urotropinanwendung
sind neben der akuten Cholezystitis und der Sterilisation der
infizierten Gallenblase vor Operationen auch alle akuten und
subakuten Infektionen der Gallen wege und des Leberparenchyms
anzuführen. Beim Abdominaltyphus wurde das Urotropin in Tages¬
dosen von 2 g zunächst zur Bekämpfung der Bakteriurie, dann
zur prophylaktischen Sterilisierung der Gallenblase angewendet.
Die neuen Anschauungen über die Pathogenese des Abdominal¬
typhus w'eisen auf die Anwendung des Urotropins zur kausalen
ryphusbehandlung hin. Experimentelle und klinische Untersuchun¬
gen sprechen für den Darm als Eingangspforte der Typhusinfek¬
tion; vom Darme aus gelangen die Keime in das Blut, so daß
die Typhusinfektion eine Septikämie darstellt; aus dem Blute
gelangen die Keime in die Gallenwege und durch deszendierende
Infektion in den Darm, zunächst in das Duodenum, dann erst irr
die tieferen Darmabschnitte, häufig auch in die Harnwege, womit
die Bakteriurie, das heißt die Elimination der Typhusbazillen
mit dem Harne zusammenhängt. Durch von den Gallenwegen
ausgehende neue Infektion des Darmes kann man die Rückfälle,
durch andauernde Infektion die prolongierten Formen des Ab¬
dominaltyphus erklären. Während man früher den Abdominal¬
typhus als infektiöse und ulzeröse Enteritis auffaßte und erfolg¬
los mit Darmantiseptizis behandelte, weist die gegenwärtige Auf¬
fassung der Pathogenese auf die Notwendigkeit hin, die Infektion
der Gallenwege zu bekämpfen. Diesem Postulat entspricht das
Urotropin, welches auch gegen die Bakteriurie wirksam ist, dem¬
nach die Wirksamkeit der Kaltwasserbehandlung, die in diese
Gebiete nicht hinüberreicht, ergänzt. Die Einwirkung des Uro¬
tropins auf die Dann- und Blutinfektion ist nicht sichergestellt,
wohl aber die Einwirkung auf die Gallen- und Harninfektion.
Die Dosis des Urotropins, welches als das diffusionsfähigste und
wirksamste innere Antiseptikum betrachtet werden kann, wobei
die Wirkung wahrscheinlich auf Abspaltung von Formol beruht,
beträgt bei Erwachsenen 2 bis 3 g pro die in Einzel dosen von
0-5 bis 1-0 g ; die Darreichung einmaliger mlassiver Dosen, zum
Beispiel von 5 g, zur vollständigen Sterilisierung der Galle, er¬
scheint derzeit noch nicht ratsam. — (Sem. m'ed. 1911, Nr. 10.)
a. e.
*
Aus amerikanischen Zeitschriften.
641. Wanderung von Sarkomzellen in vitro durch
amöboide Bewegungen. Von A. Lambert und F. Hanes.
An den Zellen von Ratten- und Mäusesarkomen, die in vitro
kultiviert wurden, konnten amöboide Bewegungen nachgewiesen
werden. Das Phänomen der amöboiden Bewegungen von Sarkom¬
zellen erklärt am besten das Eindringen maligner Gebilde in
Lymphispalten, Lymph- und Blutgefäße und ihre Ausbreitung in
den Geweben. — (The Journal of the American medical Asso¬
ciation, 18. März 1911.) sz.
*
642. Die Behandlung des Krebses mit Körper¬
flüssigkeiten, insbesonders der Aszitesflüssigkeit.
Von E. Risley. Untersuchungen bei 65 Fällen, welche sowohl
was die Art des Krebses, als die angewandte Flüssigkeit betrifft,
genügende Versuchs Variationen ermöglichten, hatten folgendes Er¬
gebnis : Die Injektion von verschiedenen Trans- und Exsudaten
des Körpers, ob krebsiger oder nicht krebsiger Art, hat keine ver¬
langslamende Wirkung auf das Wachstum des “Mäusekrebses. Die
Verwendung der Aszitesflüssigkeit von Krebskranken, die eine ge¬
wisse Resistenz gegen die Krankheit zeigten, hatte keinen dauern¬
den Eipfluß auf das Wachstum des Krebses. Andere nicht karzino-
matöse Körperflüssigkeiten sind noch unwirksamer. Symptoma¬
tische Besserung konnte bei einer Reihe Patienten erzielt werden,
indem die Schmerzen nachließen, die Ernährung und der Allgemein¬
zu.- tand sich besserte. In manchen Fällen ist eine Verlangsamung
des Krebs Wachstums durch einen ein- bis sechsmonatigen Zeit¬
raum zu beobachten gewesen. Aszitesflüssigkeit dürfte den Prozeß
m fast allen Fällen von Mund- und Knochenkrebs beschleunigen.
— (The Journal of the American medical Association, 13. April
1911d sz.
648. Die intestinale Bakteriologie. Von A. Ken¬
dall. Die Lebensäußernngen der intestinalen Bakterienflora sind
von dei zugeführten Nahrung abhängig. Die Darmbakterien können
entweder Eiweiß oder Kohlehydrate spalten. Sie greifen jedoch
das Eiweiß erst dann an, wenn sie keine Kohlehydrate zur Ver¬
fügung haben. Die Bildung der toxischen Eiweißabbauprodukte
kann daher durch die Ernährung beeinflußt werden. Zu diesem
Zwecke eignet sich Laktosezufuhr besonders gut. — (The Journal
of the American medical Association, 15. April 1911.)
sz.
644. Dde Behandlung eitriger Otitis media nach
Skarlatina mit Bakterienprodukten (Bakterine). Von
P. Weston und J. Kol'm er. Hundert Fälle eitriger Otitis
media wurden mit Bakterin behandelt. Auf Grund ihrer Erfah¬
rungen kommen die Autoren zu folgenden Schlüssen: Die beste
Zeit zum Beginn der Bakterinbehandlung liegt zwischen dem
8. und 16. Tage, nachdem der Ohrenfluß angefangen hat. Konti¬
nuierlich hohes Fieber, Nephritis, Toxämie und andere inter¬
kurrente Krankheiten sind Kontraindikationen. Unter der Bak¬
terinbehandlung wurden dreimal soviel Patienten innerhalb von
30 Tagen geheilt entlassen, als unter der gewöhnlichen Behand¬
lungsweise* Die durchschnittliche Dauer des Spitalsaufenthaltes
wurde hiedurch beträchtlich herabgesetzt. Fälle von Otitis media
bieten ein fruchtbares und ermutigendes Feld für die Anwendung
der Vakzinetherapie. — (The Journal of the American medical
Association, 15. April 1911.) sz.
♦
645. Ae Biologie und Behandlung der Furunku¬
lose. Von H. Gas kill. Furunkulose ohne Nierenkomplikationen
kann erfolgreich durch Eröffnung mittels in Phenol eingetauchter
Instrumente, nachträgliche Injektion eines polyvalenten Staphy-
lokokkenvakzines und Anwendung einer 5 bis 15%igen Salizyl-
salbe behandelt werden. Da die Aerzte aus Mangel an den nötigen
Erfahrungen und Einrichtungen nicht in der Lage sind, autogene
Vakzine herzustellen, so empfiehlt sich die Anwendung der von
verläßlichen Firmen hergestellten Standardvakzine. Der Schmerz
bei der Eröffnung des Fürunkels ist gering, weil das Phenol
schmerzlindernd wirkt. Die Reaktion nach der ersten Injektion
des Bakterins ist in der Regel schwach. Es ist nicht notwendig,
den opsonischen Index festzustellen, da die klinische Beobach¬
tung zur Beurteilung der Reaktion ausreicht. — (The Journal
of the American medical Association, 15. April 1911.) sz.
*
646. Die Beziehung prämenstruellen Fiebers zur
Lungentuberkulose. Von L. Kessel. Bei 100 Fällen von
Lungentuberkulose in allen Stadien der Krankheit wurden nur
zweimal prämenstruell Temperatursteigerungen beobachtet. Die
von Voornweldt beschriebene intermenstruelle Temperatur-
Steigerung, welche 14 Tage nach der Menstruation auftreten soll,
wurde in keinem Fälle gesehen. Von den zur Erklärung des prä¬
menstruellen Fiebers a.ufgestellten Theorien hat die von Ric-
bold, welcher die Ovulation als ursächliches Moment ansieht,
am meisten für sich. — (The Journal of the American medical
Association, 24. April 1911.) sz.
\/ermisehte flaehriehten.
Hofrat Prof. Dr. Ernst Ludwig wurde für das kommende
Studienjahr zum Dekan der medizinischen Fakultät in Wien ge¬
wählt. Prof. F. Höchste tier wird als Prodekan fungieren.
*
920
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 25
Ernannt: Der außerordentliche Professor Dr. Fritz Hart
mann zinn ordentlichen Professor der Psychiatrie und Neuro¬
pathologie in Graz. — Der mit dem Titel eines außerordent¬
lichen Universitätsprofessors bekleidete Privatdozent Dr. Franz
K t z y s zital ow i cz zum außerordentlichen Professor der Der¬
matologie und Syphilidologie an der Universität in Krakau.
!>r. Perrariido zujm ordentlichen Professor der gerichtlichen
Medizin in Genua.
*
Zum Primarärzte des Rudolfinerhauses wurde neben Pri¬
marius Dr. Moszkowicz vom 1. Oktober an der Privatdozent
Dr. Otto Pi. v. Frisch, derzeit Assistent an der chirurgischen
Klinik v. E i s e 1 s b e r g, ernannt.
*
Dei' Primararzt der Irrenabteilung des bosnisch-herzegovi-
nischen Landesspitals, Regiernngsrat Dr. Karl Bayer wurde über
sein Ansuchen in den dauernden Ruhestand versetzt.
*
Verliehen: Dem Privatdozenten für interne Medizin an
der Universität in Krakau Dr. Erwin Miesowicz der Titel eines
außerordentlichen Universitätsprofessors. Dem Privatdozenten
für innere Medizin in Budapest Dr. L. Ketly der Titel eines außer¬
ordentlichen Professors. — Dem Regimentsarzte im Verhältnis
a. D. Dr. Alois B i 1 e 1 1 i - C a p p u s der Titel und Charakter eines
Stabsarztes.
*
Habilitiert: Dr. Tarsia in Neapel für chirurgische Ana¬
tomie. — Dr. d’Amato für Dermatologie und Syphilis in Rom.
Dr. Cignozzi für Chirurgie in Siena. — Dr. Ott für interne
Pathologie in Sassari. - In St. Petersburg: Dr. Philos ophow
für innere Medizin, Dr. Vetrogradow für gerichtliche Me¬
dizin an der mili't. med. Akademie.
*
Gestorbe’n: Der Professor der Hygiene Dr. Fallot in
Marseille.
*
Die diesjährige Generalversammlung des „Viribus uni tis“-
Hilfsvereines für Lungenkranke fand vor einigen Tagen
im Vereinsbureau, I. Bez., Wallfischgasse Nr. 8, unter dem Vor¬
sitze des Präsidenten Dr. Hans Grafen L arisch statt. Dem
Tätigkeitsbericht ist zu entnehmen, daß sich ein „Oesterreichisches
Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose“, dem alle
großen Tuberkulosevereine Oesterreichs angehören und ein
„Oesteireichisches Komitee zur Vorbereitung internationaler Tuber¬
kulose-Konferenzen und -Kongresse“ konstituiert haben. Wie in
den Vorjahren, wurde das Merkblatt „Verhaltungsmaßregeln zum
Schutze gegen Tuberkulose“ verschiedenen amtlichen Stellen,
Schulen und industriellen Unternehmungen kostenfrei zugesendet,
ln den zehn von Aerzten geleiteten Vereinshilfsstellen befanden
sich 640 Familien mit 3379 Personen in Aufsicht und Pflege,
sie wurden mit Milch, Brot, Fleisch und Wohnungsbeihilfen unter¬
stützt, es wurden z. B. 100.974 Liter Milch verteilt. Im Kinder¬
heim des Vereines befanden sich 135 Kinder in unentgeltlicher
Pflege. In den Erholungsstätten der Kinderschutzstationen waren
124 Kinder mit 4115 Verpflegstagen auf Kosten des Hilfsvereines
untergebracht. Die Einnahmen des Vereines betrugen im Berichts¬
jahre 59.060 Kronen, die Ausgaben 83.699 Kronen. Die statuten¬
mäßig austretenden Kuratoren wurden wieder- und als neues
Mitglied des Kuratoriums Prof. Chvostek gewählt.
*
In diesem Jahre wird eine Universität auf Island und
zwar in Reykjavik entstehen. Die Gründung der isländischen
Universität erfolgt in der Weise, daß» die bisherigen Hochschulen
liir Gesetzeskunde, Theologie und Medizin in Fakultäten umge¬
wandelt werden. Zu den genannten drei Fakultäten wird eine
vierte, die philosophische, hinzutreten, die vollständig neu ge¬
gründet wird. Von den drei Hochschulen, welche die übrigen
drei Fakultäten bilden werden, ist die geistliche Hochschule
die älteste; sie besteht schon seit dem Jahre 1847; 1876 kam
die medizinische und 1907 die juristische Hochschule hinzu. An
der isländischen Universität werden vorläufig im ganzen neun
Professoren und zwölf Dozenten wirken. Künftig werden auf
Island keine höheren Beamten angestellt werden, die nicht an
der Universität zu Reykjavik ihre Staatsprüfung bestanden haben.
*
Preisausschreiben, betreffend die Herstellung einer in
den Betrieben auszuhängenden Tafel für erste Hilfeleistung.
Der Verband der Deutschen Berufsgenossenschaften erläßt hiemit
ein Preisausschreiben für die Herstellung einer in den Betrieben
der gewerblichen Berufsgenosscnschaflen auszuhängenden Tafel,
auf der die Maßnahmen für erste Hilfeleistung bei Betriebsunfällen
(insbesondere auch solchen, die durch elektrischen Strom ver¬
ursacht worden sind), gemeinverständlich dargestellt und durch
Zeichnungen erläutert werden sollen. Die Tafel soll höchstens
50 70 cm groß sein; der. Text nur so umfangreich, daß er auf
der Tafel in deutlich lesbarer Druckschrift wiedergegeben werden
kann. Für die geeignetsten Ausarbeitungen sind drei Preise von
insgesamt 600 M. vorgesehen. Das Preisrichteramt haben die
Herren Direktor Wenzel, Direktor D. Spiecker, Vorsitzender
des Verbandes der Deutschen Berufsgenossenschaften, Kommer¬
zienrat Faber, Fabriksbesitzer in Stuttgart, Witowski, Direktor
im Reichsversicheruhgsamt, Prof. Dr. ing. Konrad Hartmann,
Senatsvoi sitzender im Reichs versicherungsamte, Regierungs rat
Dr. v. Schack, Prof. Dr. K i mni l e, 'Generalsekretär der Deutschen
Vereine vom Roten Kreuz, Dr. Paul Frank, ärztlicher Direktor
der Berliner Unfallstationen vom Roten Kreuz, Dr. Paul Zander,
Vertrauensarzt der nordöstlichen Eisen- und Stahlberufs¬
genossenschal t, Dr. Max Bayard, Fabriksarzt der Firma Ludwig
Loewe & Co., A.-G., Berlin, übernommen. Einsendungen sind
mit einem Kennwort zu versehen. Auf einen der Bewerbung bei¬
zufügenden verschlossenen Briefumschlag, in dem die .genaue
Adresse des Einsenders enthalten ist, ist dasselbe Kennwort zu
schreiben. Einsendungen sind bis zum 15. Oktober 1911 an
die Geschäftsstelle des Verbandes der Deutschen Berufsgenossen¬
schaften, Berlin W., Kronenstraße 75, mit der Aufschrift „Preis¬
bewerbung für erste Hilfeleistung“ zu richten.
*
Cholera. Oesterreich. In Graz wurde bei der bakterio¬
logischen Untersuchung der Stuhlentleerungen der Kontuma¬
zierten und des Wartepersonals eine geistliche Krankenpflegerin,
die Anfangs mit dem cholerakranken Franzki in Berührung ge¬
kommen war, nls gesunde Bazillenträgerin erkannt. Ebenso wurde
in Triest bakteriologisch festgestellt, daß ein Mitreisender des
an Cholera verstorbenen Deri (nicht: Dersi) als gesunder Ba¬
zillenausscheider anzusehen ist. Dem Dämpfer „Saxonia“ wurde
am 11. Juni 1. J. die libera pratica erteilt. — Türkei Am 4. Juni
wurde in Stambul ein weiterer choleraverdächtiger Fall konsta¬
tiert. Die Patente erhalten den Vermerk „Vereinzelte isolierte
Cholerafälle wurden in der Stadt konstatiert seit 26. Mai“. Pro¬
venienzen aus Konstantinopel unterliegen ärztlicher Visite bei
Abfahrt und bei der Ankunft im ersten ottomanischen Hafen. In
Samsun wurden am 3. Juni 17, am 4. Juni 20 Fälle konstatiert.
In Smyrna wurden vom1 20. bis 23. Mai 7 Cholerafälle, dar¬
unter 3 (mit tödlichem Ausgange offiziell konstatiert. Die Ma߬
regeln gegen Bassorah wurden aufgehoben.
Pest. Persien. In Buschir sind vom 1. bis 6. Mai 5(5),
vom 7. bis 13. Mai 12 (13) Pestfälle (Todesfälle) sichergestellt
worden. Die Gesamtzahl der Pesterkrankungen beläuft sich bisher
auf 24, von denen 18 tödlich ausgingen. — Bri ti sch-Indie n.
Im Uindostan ereigneten sich in der Zeit vorn 19.- März bis
8. April 1911 nachstehende Pesterkrankungen (Todesfälle): in der
1. Woche 45.251 (39.380), in der 2. Woche 47.029 (41.070),
in der 3. Woche 48.023 (42.770).
*
Richtigstellung. In dem Sitzungsberichte des Vereines
der Aerzte von Oberösterreich vom1 6. April 1911 (Wiener klin.
Wochenschrift Nr. 21) ist in der Diskussionsbemerkung zur Dick¬
darmresektion in der 11. und 18. Zeile statt Billroth : Brenner
zu lesen. . '• ' >
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle für den Sanitätssprengel Steinach
am Brenner ('Tirol'). Der Sanitätssprengel besteht aus den Gemeinden :
Steinach, Trins, Gschnitz, Gries am Brenner, Obernberg, Schmirn und
Vals mit dem Wohnsitze zweier Aerzte in Steinach. Der Sprengel hat
eine Ausdehnung von 35'420 ha, zählt 4307 Einwohner und dürfte die
Einwohnerzahl nach der letzten Volkszählung um zirka 200 zugenommen
haben. Außerdem findet in den Sommermonaten im Sprengel ein sehr
reger Fremdenverkehr statt. Die Haltung einer Hausapotheke ist er¬
forderlich. Die fixen Bezüge des Gemeindearztes betragen 1200 K jährlich
und erfolgt die Anstellung nach den Grundsätzen des neuen Landes¬
gesetzes vom 27. Dezember 1909, L.-G.- u. V.-Bl. Nr. 4 ex 1910 und
der Durchführungsverordnung des k. k. Statthalters vom 31. Dezember
1910, Z. 84.240, L.-G.- u. V.-Bl. Nr. 8 u. 9 ex 1911. Die ordnungsmäßig
instruierten Gesuche sind bis 30. Juni 1911 bei der k. k. Bezirkshaupt-
mannschaft in Innsbruck einzureichen, woselbst auch weitere Auskünfte
erteilt werden.
Gemeindearztesstelle für den Sanitätsdistrikt V ö 1 1 a u ,
politischer Bezirk Znaim (Mähren!. Der Sanitätsdistrikt umfaßt 6 Ge¬
meinden mit 1700 Einwohnern deutscher und böhmischer Umgangs¬
sprache. Gehalt 800 K. Fahrpauschale 200 K. Verpflichtung zur Haltung
einer Hausapotheke. Doktoren der gesamten Heilkunde wollen ihre
im Sinne des §11 des mährischen Landes-Sanitätsgesetzes vom 27. De¬
zember 1909, L.-G. -Bl. Nr. 98, instruierten Gesuche bis 15. Juli 1. J.
an den Obmann Franz Weidenthaler in Vöttau einsenden.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
921
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll (1er k. k. Gesellschaft <ler
Sitzung vom 16. Juni 1911.
Aerzte in Wien. | 28. Deutscher Kongreß für innere Medizin.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 16. Juni 1911.
Vorsitzender: Prof. Dr. L. Unger.
Schriftführer: Dr. R. Paschkis.
Der Vorsitzende Fbof. Dt. Ludw. U mg e r teilt mit : 1. Eine Ein¬
ladung der Oesterr. Gesellschaft für Gesundheitspflege zu der
Mittwoch den 21. Juni 1911, nachmittags, stattfindenden
Besichtigung des städt. Strandbades „Gänsehä uf el“. Zu¬
sammenkunft vor dem Bade selbst um 5 Uhr nach¬
mittags.
2. Eine Einladung des „Vorbereitenden Komitees
zur Gründung eines niederösterreichischen Sama¬
riter-Landesverbandes“ am Donnerstag, den 29. Juni 1911,
um 10 Ihr vormittags, im Gemeinderatssitzüngssaale, Wien L,
Neues Rathaus.
3. Eine Einladung zur Teilnahme an der „Feier zum
50j ä h r i g e n D o k to r j u b i 1 äu m ,W i 1 h e 1 m W a 1 d e y e rs“
(Berlin). Anmeldungen sind bis (spätestens) zum 1. Juli an
Herrn Prof. Hans Virchow, Berlin W. 62, Keiths traße 4,
zu richten.
Prof. v. Eiseisberg: Besprechung eines Falles von mul¬
tiplem, unter dem Bilde v on T r o mm e 1 s c h 1 e g e 1 f i n g e r n
einhergehenden Lymphangio m der End p h a 1 a n g e n.
Ich möchte über einen 35jährigen Bahnbeamten aus Ser¬
bien berichten, welcher wegen einer doppelseitigen Contractura
genus, die im Anschluß an einen Gelenksrheumatismus, der im
28. Lebensjahre sich abgespielt hatte und eine folgende Gonorrhoe
allmählich im Laufe der Jahre entstanden war, in die Klinik
kam. Das Leiden hatte sich im. Laufe der letzten Jahre derart
verschlimmert, daß Pat. nur ganz mühsam mehr gehen konnte.
Am Herzen und der Lunge des Patienten fand sich nichts Beson¬
deres. In letzter Zeit War eine brettartige Spannung der Bauch¬
decken, welche beim Versuch, sich zu erheben oder das Bein
passiv zu bewegen, immer wieder auftrat, auffallend. Vermehrte
Sensibilität der Nerven der unteren Extremitäten. Das Röntgen¬
bild zeigt ein Verschwommensein der beiden Hüftgelenke, sonst
keine besondere Veränderung in den erkrankten Gelenken. Ich
wollte den Patienten vorstellen, er ist jedoch durch wiederholt
über die Nacht angelegte Extension mit nassen Binden gebessert,
so daß er sich nicht bewegen ließ, länger zu warten. Ich bitte
daher, mit der Moujage und den Röntgenbildern vorlieb zu nehmen.
Als nebensächlichen Befund bot der Patient eine Veränderung dar,
die ich hier 'besprechen will. Nach Angabe des Patienten hatte der
Großvater, Onkel und eine Schwester des Patienten dieselben
Veränderungen, von den vier Kindern des Patienten bietet in¬
dessen keines eine Veränderung dar. Diese Deformität soll von
Geburt an bestanden haben und im Laufe der Zeit nur unerheb¬
lich zugenommen haben . Die E n d g 1 i e d e r d e r zehn Finge r
und der Zehen sind ko 1 big aufgetrieben, so daß sie
im ersten Augenblick an Trommels'chlegelfi nger er¬
innern. Doch fiel dabei sofort auf, daß sich das Endglied wie
ein Kautschukballen anfühlt und anscheinend die Knochen voll¬
kommen oder nahezu vollkömmen fehlen. Derselbe Zustand war
auch an den Endgliedern der Zehen ausgeprägt. Das Röntgenbild
ergibt in Uebereinstinnnung mit der objektiven Untersuchung,
daß die Endphalangen am vierten und fünften Finger der rechten
Hand und am fünften Finger der linken Hand vollkommen fehlen,
während sie an den anderen Fingern sehr rudimentär entwickelt
sind. Dort bieten die Phalangen das Bild, als ob sie zugespitzt'
und dadurch verkürzt wären, etwa wie man einen Bleistift spitzt.
An einer Phalange ist bloß die Grundepiphyse vorhanden.
Mit Rücksicht auf diesen Befund mußte natürlich von der
Deutung dieses Befundes als Trommelschlegelfinger, wie sie im
Verlauf von chronischer Lungenerkrankung Vorkommen, vollkom¬
men abgesehen werden, vielmehr erachte ich es als das wahr¬
scheinlichste, daß es sich hier um multiple, angeborene Lymph¬
angiome im Knochen handelt, wie sie, wenn auch selten, schon
beobachtet sind.
Ich erinnere an den klassischen Fall von Katholicky,
welcher vor Jahren in dieser Gesellschaft vorgestellt wurde, wobei
sämtliche Gebilde einer Extremität von Lymphe ersetzt wurden.
Ferner an den von Preindelsberger operierten, in welchem
die Lymphangiome nur allmählich wuchsen, ebenso an mehrere
von Wrede kürzlich aus der Lexerschen Klinik mitgeteilte
Fälle. Mit Recht wirft Wrede die Frage auf, ob nicht manche
Fälle von bisher unaufgeklärten Knochenzysten als Endausgang
solcher Lymphangiome hinzustellen wären.
Prof. v. Eiseisberg: Vorstellung von zwei Patienten, bei
Welchen ein fast dreijähriger Aufenthalt in Leysin eine ausge¬
dehnte multiple Knochentuberkulose sehr günstig be¬
einflußt hat.
Ich möchte mir erlauben, zwei Patienten kurz zu zeigen,
welchen dank der Munifizenz einer hochherzigen Dame der Wiener
Gesellschaft ein dreijähriger Aufenthalt in Leysin in der West¬
schweiz ermöglicht wurde und bei welchen ausgezeichnete Er¬
folge erzielt wurden. Im ersten Falle handelt es sich um einen
dreijährigen Jungen Rudolf, welchen ich über Anregung der ge¬
nannten Dame aus meiner Ambulanz als einen besonders
schlechten Fall ausgesucht hatte. Derselbe zeigte nebst einer
Dämpfung der rechten Lungenspitze und zahlreichen großen
Lymphdrüsen in der linken Axilla, der Schlüsselbeingrube, eine
Reihe von Fisteln der Knochen und Gelenke, welche wohl keinen
Zweifel über die Art des Leidens ließen. Ueber die Lokalisation
der Fisteln gibt wohl am besten die Photographie, die seinerzeit
angefertigt wurde, Auskunft. Wir sehen einen armen Lazarus
mit zahlreichen typischen, tuberkulösen, skrofulösen Fisteln und
Gelenks Schwellungen an beiden Händen, dem rechten Vorder-
uiid Oberarm, an beiden Füßen, dem! linken Ober- und Unter¬
schenkel. An dem Patienten wurden im Laufe der drei Jahre
keinerlei Eingriffe vorgenommbn, sondern bloß, die Insolation
möglichst intensiv ausgeführt. Dabei nicht viel Fleischnahrung,
hauptsächlich Mehlspeisen und Gemüse. Ein Blick auf den Zu¬
stand des Kranken zeigt uns den ausgezeichneten Erfolg. Inter¬
essant ist, daßi der Junge in den drei Jahren seine Muttersprache
deutsch ganz verlernt hat und nur mehr französisch spricht.
Im zweiten Fälle sehen wir -ein sechsjähriges Mädchen,
abstammend von einer tuberkulös belasteten Familie, Schwester
an Tuberkulose gestorben, eine an Spondylitis leidend. Dieses
Mädchen wurde ebenfalls im Juli 1908 aus der Ambulanz von
Prof. Es cherich nach Leysin gesandt: keine wesentlichen
Drüsenschwellungen und keine besondere Veränderung an der
Lunge. Typischer Fungus des rechten Ellbogengelenkes mit einer
Fixationsstellung von 160°, am linken Unterschenkel zwei aus¬
gedehnte Fisteln. Auch hier wurde Bettruhe und Insolation an¬
gewandt. Spontane Abstoßung von Sequester, fast vollkommene
Beweglichkeit: 60 bis 140°.
Dritter Fall : 38jähriges Mädchen, welches dreimal einen
längeren Aufenthalt in Leysin durchgemacht hat und welches ich
heute gesehen habe. Das Mädchen konnte sich nicht entschließen,
sich hier vorstellen zu lassen. Der Vater ist im 42. Jahre an
Lungentuberkulose gestorben. Im 24. Lebensjahre erkrankte das
Mädchen an Schmerzen in der Hüfte. Entwicklung einer Koxitis
mit zahlreichen Fisteln mit reichlicher Sekretion und vollständiger
Gelenksversteifung.
1. Aufenthalt erzeugte schon wesentliche Besserung; aber
eintretende Herzschwäche ließ einen geringeren Höhenaufenthalt
wünschenswert erscheinen.
2. Aufenthalt von Oktober 1909 bis Juni 1910. Heilung
^'on allen Fisteln bis auf zwei.
3. Aufenthalt: Alle Fisteln geheilt. Pat. kann bis zu zwei
Stunden ohne Ermüdung gehen, das Hüftgelenk zeigt vollkommene
Bewegungsfreiheit, nur die Rotation ist ein wenig eingeschränkt.
Leysin liegt 1400 m hoch. Die Behandlung von chirur¬
gischer Tuberkulose, das heißt Tuberkulose der Knochen, wird
dort vorwiegend der Sonne überlassen. Den ganzen Tag
über, auch im Winter, liegen die Kranken auf dem Balkon und
zwar möglichst nackt; dabei bekommen sie durchaus nicht viel
Fleisch zu essen. Auf den Wert der Bestrahlung bei der Wund¬
behandlung, der im Altertum schon hoch eingeschätzt wurde, hat
922
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 25
neuerdings Bernhard (Samaden) aufmerksam gemacht. In Leysin
führt diese Kuren Dr. Rolli er durch.
Meine Herren! Wir wissen alle, wieviel Luftveränderung,
! I' i auskommen aus d,en schlechten Allgemeinverhältnissen Besse-
mm zu erzielen vermag; wir wissen, was der Gebrauch von Meer-
hädern, von Jodsalzbädern — ich erinnere an die ausgezeich¬
neten Resultate, welche in Bad Hall gezeitigt werden, indem
gerade dort die nicht seltenen luetischen Komponenten ganz be¬
sonders günstig beeinflußt werden ■ — ausmacht. Immerhin
scheinen mir die Resultate, die dort mit der Sonnenbehandlung
erzielt werden, so bemerkenswert, daß ich es für interessant er¬
achtet habe, Ihnen dieselben vorzuführen, nachdem beide Fälle
liier in Wien untersucht waren und wirklich eine glänzende
\ erbesserung, bzw. Heilung konstatiert werden konnte.
Diskussion: Hofr. Höchen egg: Lieber Einladung der schon
von Hofrat v. Eiseisberg erwähnten Menschenfreundin begab
ich mich voriges Jahr nach Leysin, um mir an Ort und Stelle
die von Dr. Rollier behandelten Fälle von Knochentuberkulose
und die bei diesen erzielten Heilerfolge zu besichtigen. Es wurden
mir nahe an 50, teils noch in Behandlung stehende, teils be¬
reits geheilte Fälle vorgestellt und die eingeleitete Behand¬
lung demonstriert. Ich kann nur bestätigen, daß die mir von
Dr. Rollier gezeigten Fälle meine vollste Bewunderung er¬
regten. A\ ir sehen ja in unseren Stationen auch hie und da an
elenden Kindern mit multipler Karies ein Besserwerden des
kariösen Prozesses und eine Hebung des Allgemeinbefindens, das
wir durch die Verbesserung der Leben'sbedingungen, also nament¬
lich durch Aenderung der Kost, Wohnung und Wartung uns un¬
gezwungen erklären. V ir sind aber froh, wenn so ein Gelenks-
iungus endlich mit totaler Gelenks Verödung ausheilt. Die Behand¬
lung Dr. Rolli ers isl aber meistens imstande, die Ausheilung mit
Erhaltung der Beweglichkeit, zu erzielen, ein Resultat,
das mir am meisten imponierte. Dabei ist die Behandlung in
Leysin eine ungemein einfache. Chirurgische Eingriffe werden nur
in den seltensten Fällen vorgenommen; so behandelt Dr. R oi¬
lier die sich bildenden kalten Abszesse nur mit Punktion, wobei
er immer nur so viel Eiter abläßt, als dies zur Erhaltung der
den Abszeß bedeckenden Hautschichten absolut nötig ist und wo¬
durch er eine Spontanperforation und die Etablierung der ge¬
samten Fistelbildung verhindert. Der wichtigste Heilfaktor ist
die Sonne; solange diese scheint, sind die Kranken meist voll¬
kommen nackt oder nur mit Leinenwäsche bedeckt auf ent¬
sprechend angebrachter Veranda dem Sonnenlichte ausgesetzt.
Der Anblick der kaum bekleideten Kranken in der tiefen Winter¬
landschaft, in der sich die gesunde Begleitung mit Schlittschuh¬
laufen, Ski- und Eislaufsport zerstreut, wirkt auf den Beschauer
ganz eigentümlich ein. Aehnliche glänzende Resultate der Aus¬
heilung tuberkulöser Herde habe Ich auch bei einigen von mir
nach Leysin geschickten Privatpatienten, sowie bei einer jungen
Dame mit Wirbelkaries, bei einem achtjährigen Kinde mit Karies
der Hand und bei einem jungen Manne mit Lymphdrüsentuber-
kulose beobachtet, so daß ich hicht lanistehe, die Behandlung solcher
Prozesse nach der Methode Dr. Rolli er s als die mir bei weitem
am wirksamste bei chirurgischer Tuberkulose zu bezeichnen.
Dr. M or auf: Die beiden Fälle, die Herr Hofrat v. Eisels-
berg gezeigt und besprochen, sind treffliche Beispiele für die
Sonnenbehandlung bei chirurgischer Tuberkulose in Leysin. Wer
solche Erfolge' nur vom Hörensagen kennt, ist kaum1 geneigt, an
dieselben zu glauben. Hier muß uns der Augenschein von einer
überraschenden Tatsache überzeugen. Ich habe es sehr gerne
unternommen, die weite Reise nach Leysin zu miachen, und dort
eine Woche zu bleiben, um mich mit eigenen Augen von den
Erfolgen der Sonnenkur zu überzeugen. Und in der Tat-, die¬
selben müssen als glänzende, vollendete bezeichnet werden..
Leysin ist ein Höhenkurort bei Aigle im Rhonetal in der Nähe
des Genfersees, in einer Höhe von 1200 bis 1400 m, und hietet
für eine ganzjährige Sonnenbehandlung ohne Unterbrechung
außerordentlich günstige klimatische Verhältnisse. Auch mitten
im Winter erreicht die Temperatur in der Sonne bis 40° C und
sleigt, an besonders günstigen Tlagen bis 50° C. Von 10
bis 11 Uhr vormittags bis gegen 4 Uhr nachmittags können*
die Patienten mit unbedecktem Körper der Sonnenstrahlung aus-
gesetzt weiden. Die Bedeutung der Sonnenkur liegt nicht nur
darin, daß es zu einer vollkommenen Ausheilung des örtlichen
Prozesses kommt, sondern, daß es sich auch um1 eine Allgemein¬
behandlung des ganzen Organismus handelt, die, wie keine andere
bisherige Behandlungsmethode geeignet ist, einen siechen Körper
in einen gesunden Menschen umzuformen. Besonders auffallend
günstig sind, wie bereits betont wurde, die funktionellen Re¬
sultate, die bei keiner anderen Behandlungsmethode bisher in
so vollkommener Weise und so regelmäßig erzielt werden. Auch
Ankylosen nach ausgeheilten Prozessen, die schon jahrelang be¬
stehen, können, wie in Leysin gezeigt wurde, durch Sonnenkur
wieder mobil gemacht werden. Dr. Rollier hat das Verdienst,
diese Behandlungsmethode in Leysin seit acht Jahren systema¬
tisch durchgeführt zu haben und verfügt derzeit über 350 ge¬
heilte Fälle. Darunter befindet sich eine außerordentlich große
Zahl schwerer und schwerster Fälle. Eine der schwersten Er¬
krankungsformen bot eine 40jährige Frau mit beiderseitiger vor¬
geschrittener Beckentuberkulose und Spondylitis der Lenden¬
wirbelsäule, kombiniert mit ausgebreiteten kalten Abszessen nach
vorne und rückwärts. Nach dreijähriger Kur in Leysin konnte
uns diese Frau als geheilt vorgestellt. werden. Diesen und die
anderen Heilerfolge bestätigte auch eine Autorität auf dem Ge¬
biete der Chirurgie, Geheimrat Barden he u e r aus Köln. Derselbe
weilte zur Zeit, als ich in Leysin war, zur Erholung in Montreux
und kam eines Tages nach Leysin, um Fälle Dr. Rolli ers zu
besichtigen. Geheimrat Bar den heuer war begeistert von dem,
was er gesehen, beglückwünschte die Patienten und Dr. Rollier
zu diesen Erfolgen und erklärte: Wenn man diese Resultate ge¬
sehen hat, dann muß man zur Ueber zeugung kommen, daß die
Behandlung dieser Fälle in Hinkunft nicht mehr die bisher übliche
sein kann, sondern daß man diese Kränken der Sonnenbehandlung
zuführen müsse.
Dr. Jerusalem: Im Herbste vorigen Jahres habe ich
Leysin besucht und gleichfalls die geradezu verblüffenden Heil¬
erfolge der Sonnenlichtbehandlung chirurgischer Tuberkulose be¬
wundert. In einem Vortrage in der pädiatrischen Sektion der
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde (2. März d. J.)
sowie des ersten österreichischen Tuberkulosetages habe ich die
Technik und die Resultate der Heliotherapie näher besprochen.
Doch glaube ich, noch einen Schritt weiter gegangen zu sein.
Von der Annahme ausgehend, daß die Höhenlage von 1200 bis
1400 m keine unerläßliche Bedingung darstellt, wie übrigens
Rollier selbst bemerkt, habe ich einige Fälle aus meiner
Praxis dem Sanatorium Grimmenstein bei Wien empfohlen,
das 760 m hoch gelegen, ebenfalls günstige klimatische Verhältnisse
für die Heliotherapie bietet.
Die Patienten, unter denen drei ganz schwere, den von
Herrn Hofrat v. Eiseisberg demonstrierten ähnliche sich be¬
finden, werden dort genau nach der in Leysin geübten Methode
behandelt und sind alle derzeit — nach fünf bis sechs Monaten
— der Heilung nahe.
Ich behalte mir vor, diese Fälle im Herbste hier zu demon¬
strieren.
Prof. v. Eiselsb'erg (Schlußwort): Ich möchte nur noch
bemerken, daß selbstverständlich die kranken Gelenke, ob mit,
ob ohne äußere Fistel, direkt der Sonnenbestrahlung in Leysin
ausgesetzt werden, also den größten Teil des Tages ohne Verband
belassen werden. Das mag mit ein Grund sein, daß die Heilung
auch gut bewegliche Gelenke zeitigt, wie Sie das heute hier ge¬
sehen haben; denn daß die Verbände die Ankylosierung begün¬
stigen, wissen wir ja alle zur Genüge.
Priv.-Doz. Dt. O. v. Frisch stellt , aus der Klinik v. Eiseis¬
berg zwei Fälle von operierter Eli bogen gelenk s Verstei¬
fung vor.
Im ersten Falle handelt es sich umi einen 12jährigen Schüler,
welcher durch einen Sturz eine Gelenksfraktur (Absprengung des
ganzen Capitulum humeri) mit Starker Dislokation des Frag¬
mentes erlitten hatte. Der Kranke kam drei Wochen nach der
Verletzung mit fast vollkommener Versteifung in Behandlung der
Klinik. Bei der Operation fand sich das, beinahe die halbe Ge¬
lenksfläche tragende, nur mehr durch eine Periostbrücke am
Humerusschaft in Verbindung stehende Fragment durch einen
Kapselriß durchgeschlüpft und um einige Zentimeter zentralwärts
unter die Haut verschoben. Es wurde reponiert und in anatomisch
richtiger Stellung durch zwei Nägel Äxiert. Heilung per primam.
Das jetzt, nach einem Jahre aufgenommene Radiogramm (Demon¬
stration) zeigt wieder normale Verhältnisse; auch die Funktion
des Gelenkes ist in vollem Maße wiedergekehrt.
Der zweite Fall betrifft einen, jetzt 23 Jahre alten Musiker,
welcher vor drei Jahren im Anschluß an eine Gonorrhoe eine
Arthritis des linken Ellbogens bekam, die mit fibröser, voll¬
kommen fester Versteifung ausheilte. E,s gelang nur mit An¬
strengung, ohne Zuhilfenahme des Meißels, eine Trennung in
der Gegend der alten Gelenksfläche zu erzielen; die Knorpel-
Bächen aller drei Knochen waren fest miteinander verwachsen,
der Knorpel mußte vollkommen entfernt werden. Hierauf wurde
eine freie Periosttransplantation von der Tibia des Patienten
in folgender Weise ausgeführt: Durch einen großen „Stimm¬
gabelschnitt“ wurde die vordere Schienbeinfläche des rechten
Beines in weiter Ausdehnung freigelegt und ein ca. 15 cm langer,
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
923
3 bis 4 Cm breiter Streifen Penosts vorsichtig entfernt. Der¬
selbe wurde entsprechend zugeschnitten und zur Deckung der
Trochlea, des Capitulum humeri und des Radiusköpfchens ver¬
wendet. Um ein genaues und festes Anliegen des transplantierten
Periosts zu erreichen und weiters die Gefahr einer etwaigen Ver-
. Schiebung der Läppchen bei den ersten Bewegungen zu ver¬
meiden, wurden dieselben durch eine größere Reihe von Katgut-
nähten, welche zum Teil mit Hilfe feiner Bohrlöcher durch den
Knochen geführt wurden, exakt fixiert. Die Knochen wundfläche
der iü Ina wurde möglichst geglättet, aber nicht mit Periost gedeckt.
• ^ Leider ließ sich der Kranke nicht nachbehandeln; als nach
■ Verheilung der Wunde (per primam) mit Bewegungen begonnen
werden sollte, verließ er das Spital.
Ich zeige Ihnen den Kranken jetzt, 2 lh Jahre nach der
Operation. Es ist, trotzdem der Arm' durch Wochen in der Schlinge
getragen wurde und jede mobilisierende Gymnastik unterblieben
war, die Gelenkspalte erhalten geblieben (Röntgenbild).
f _ Patient hat eine zwar geringe (ca. 25°) aber freie Beweg¬
lichkeit des Scharniergelenkes, eine fast vollkommene Wieder¬
herstellung der Pro- und Supination.
Wie am Röntgenbild ersichtlich, ist die Ursache der be-
l schränkten flexion im Periostkallus zu suchen, welcher sich in
der unmittelbaren Umgebung des Gelenkes gebildet hat und viel¬
leicht vom eingepflanzten, vielleicht auch von Resten des lo¬
kalen Periostes herrührt. Leider bilden sich gerade im Ellbogen¬
gelenk, das wegen seines besonders exakten Mechanismus da-
( durch eher als andere Gelenke Funktionsstörungen erleidet, nach
offenen (Operation) wie stumpfen Traumen sehr leicht Wuche¬
rungen der Beinhaut, welche allen Bestrebungen der Mobilisierung
hartnäckig Widerstand leisten.
Im vorliegenden Falle bin ich davon überzeugt, daß bei
; entsprechender Behandlung ein weit besseres Resultat erzielt
worden wäre. Mit voller Bestimmtheit aber kann ich behaupten,
' daß dieses Gelenk, wenn das Periast nicht in vollem Umfang
angeheilt wäre, jetzt knöchern" ankylosiert wäre.
Was endlich die Stelle betrifft, von welcher das Periost
entnommen wurde, so linden wir dort erfahrungsgemäß späterhin
keine wesentlichen Veränderungen. Wohl wird der Knochen ab
und zu etwas nauh oder ein wenig vorgetrieben (Hof mann),
doch haben sich niemals Schädigungen irgendwelcher Art be¬
merkbar gemacht.
Von der Vorstellung ausgehend, daß vielleicht die Entfer¬
nung eines größeren Periostbezirkes speziell am jungen Individuum,
lokale Störungen des Wachstums zur Folge haben könnte, ent¬
nahm ich ganz jungen Kaninchen die ganze Beinhaut des einen
Femurs, von der oberen bis zur unteren Epiphysenfuge, tötete
die Tiere erst, als sie vollkommen erwachsen waren. Es zeigte
sich dabei, daß das dem Knochen anliegende Binde- und Muskel¬
gewebe am operierten Femur fest mit der Kortikalis verwachsen
war. Am mazerierten Knochen fand sich außer leichten Rauhig¬
keiten und Unregelmäßigkeiten der Oberfläche nichts Abnormes ;
insbesondere waren die Dimensionen jenen des Kontrollknochens
gleich.
Dr. Jerusalem demonstriert einen 20jährigen Hilfsarbeiter,
der sich Mitte Mai im chirurgischen Ambulatorium der Wiener
Bezirkskrankenkassa mit der Angabe meldete, er habe sich im
Januar d. J. durch Sturz in eine Glastüre am rechten Oberarm
verletzt und könne seither den Arm nicht recht bewegen. Die
Untersuchung ergibt eine hellergroße strahlige Narbe, entsprechend
dem Sulcus bic’ipitalis int., distal von dieser eine undeutliche
Resistenz in der Tiefe unter dein' Bizeps tastbar. Der Ami wird
im Ellbogengelenk gestreckt gehalten, der passiven Beugung mus¬
kulärer Widerstand entgegengesetzt. Daumen, zweiter und dritter
Finger sind an der Dorsal- und Volarseite anästhetisch, die An¬
ästhesie setzt sich über den Handrücken bis zum Handgelenk
hin fort. Beim Faustschluß gehen Daumen und- Zeigefinger nur
unvollkommen mit.
Es besteht also eine Läsion im Gebiete des Nervus me-
dianus und radialis, offenbar durch Druck eines Fremdkörpers
hervorgerufen. Das Röntgenbild zeigt einen solchen, schräg über
dem Ellbogengelenke liegend. Operation am 15. Mai. Vom
Sulcus bicipitalis int. aus wird ein ff cm langer, 3 cm breiter
Glassplitter entfernt, der unterhalb des Lacertus fibrosus, schräg
über das Gelenk verlaufend, mit dem zugespitzten Ende in der
Gruppe der Radialmuskeln liegt. (Demonstration des Röntgen¬
bildes und einer schematischen Zeichnung.)
Offenbar hat das mediale Ende den Nervus medianus, das
distale den Nervus radialis gedrückt und der ganze Fremdkörper
die Beugung des Ellbogengelenkes mechanisch gesperrt.
Die Beweglichkeit des Gelenkes war selbstverständlich nach
der Operation sofort wieder hergestellt; die nervösen Symptome
bestehen jedoch zurzeit noch unverändert fort.
Reaktionslose Einheilung von Fremdkörpern ist gewiß kein
seltenes Vorkommnis. Daß jemand jedoch indolent genug ist, fünf
Monate lang einen Fremdkörper zü Ragen, der durch Seine Lage die
Beweglichkeit eines großen Gelenkes mechanisch aufhebt, dürfte
nicht häufig Vorkommen und ist auch vom Standpunkte der Un¬
fallsbegutachtung nicht ohne Interesse.
Dr. Oskar Hirsch: Meine Herren! Ich erlaube mir einen
33jährigen Patienten mit Akromegalie zu demonstrieren, bei
dem ich vor 19 Tagen die Hypophysenoperation auf endo-
nasalem Wege in Lokalanästhesie ausführte.
Die Erkrankung datiert seit dem Jahre 1905 und führte zur
Vergrößerung der Nase, der Lippen, der Zunge, des Unterkiefer¬
knochens und dessen Weichteilen, der: Ohren, der Hände und
der Füße. Weiters besteht abnorme Behaarung der Arme, der
Beine und der Brust. Die Libido sexualis ist erloschen. Zeit¬
weise traten Kopfschmerzen auf. In letzter Zeit hat die Merkfähig¬
keit deutlich abgenommen.
Der Röntgenbefund (Priv.-Doz. Dr. Schüller) zeigte ziem¬
lich starke Ausweitung der Sella turcica und Verdünnung der
Sattellehne.
Die Augenuntersuchung (Priv.-Doz. Dr. Sachs) ergab un¬
bedeutende Herabsetzung der Sehschärfe und Einschränkung des
Gesichtsfeldes.
Interner Befund und Nervenbefund weist nichts Abnormes auf.
Die Indikation zur Operation war in diesem Falle keine
zwingende ; dies wurde auch dem Patienten vom Herrn Hofrat
v. Wagner auseinandergesetzt und dem Kranken selbst die Ent¬
scheidung betreffs der Operation überlassen. Er entschied sich
für die Operation.
Nach zwei kleinen Vor Operationen nahm ich arU 29. Mai
1911 die Hypophysenoperation vor. Nach submuköser Resektion
des Septums kam ich leicht zu den beiden Keilbeinhöhlen und
nach deren Eröffnung zum Hypophysenwulsi. Ich meißelte diesen
auf und entfernte jenen Teil des Tumors, der sich in der Sella
turcica befand, so daß eine Höhle entstand, die meiner Schätzung
nach ca. 2V2 cm im sagittalen und IV2 cm im vertikalen Durch¬
messer betrug. Einige relativ große Gewebsstücke fing ich für
die histologische Untersuchung auf.
Die Rekonvaleszenz verlief — abgesehen von subfebrilen
Temperaturen und Kopfschmerzen in den ersten Tagen — voll¬
kommen ungestört, so daß Patient nach einer Woche aus der
Heilanstalt entlassen werden konnte.
Das Resultat der Operation ist ein sehr günstiges. Die
Zunge des Patienten, die in ganzer Ausdehnung plump und
fleischig war, ist im vorderen Abschnitt so dün n geworden,
daß die Zun gen spitze nahezu als normal bezeichnet
werden darf. Der Kopf umfang beträgt heute um 12min weniger
als vor der Operation. Auch der Halsumfang ist. um ca. 2 cm
kleiner. Die V erdickungen der Haut um den Augen Haben ab¬
genommen; die Haut in der Nähe der Haargrenze ist dünn und
glatt geworden. Die Füße des Patienten sind etwas kleiner, so daß
ihm die Schuhe zu weit sind. Für die Verkleinerung der
Hände habe ich einen sicheren Beweis. Ich bestimmte vor der
Operation das Volumen der Hände, indem ich sie bis zum Pro¬
cessus styloideus ulnäe et radii, die ich markiert hatte, in einen
mit Wasser gefüllten Meßzylinder eintauchen ließ. Die Wasser¬
verdrängung betrug 700 cm3. Heute beträgt sie 600 cm3. Auch
die Merk fäh igk eit nahm schon acht Tage nach der Operation
zu, Avas für den Patienten am wichtigsten ist. Der Patient ist
Lehrer der Mathematik. Er konnte sich in gesunden Tagen von
zwölf in Abständen von 10 Sekunden vorgesagten Zahlen alle
merken. Während der Krankheit konnte er nur noch sieben Zahlen
behalten. Schon Ende der zweiten Woche nach der Operation
konnte er von den zwölf ihm vorgesagten Zahlen regelmäßig
elf wiederholen.
Die histologische Untersuchung (Dr. Erd heim) der ex-
zidierten Tümorteile ergab, daß es sich um einen adenomatösen
Tumor handle, dessen Gut- und Bösartigkeit mikroskopisch nicht
diagnostiziert, werden kann.
Ich habe bis zum heutigen Tage neun Hypophysenopera¬
tionen durchgeführt, sieben mit gutem Ausgang, zwei mit Exitus
letalis. Der erste Todesfall, über den ich in der Sitzung vom
13. Januar 1911 referierte, betraf einen Patienten mit einem un¬
gewöhnlich großen Karzinom der Hypophyse. Der Tod trat eine
Woche nach der Operation an Pneumonie und Herzschwäche
ein. Der zweite Todesfall betraf eine Patientin, welche ich be¬
reits einmal mit Glück operiert hatte, bei der ich jedoch auf
Wunsch des Herrn Hofrates v. Wagner den Tumor nicht entfernte.
924
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 25
UnmiUoIbar nach der feisten Operation trat eine Besserung des
Vises von 6/60 ins 6/18 ein. Die Besserung ging jedoch inner¬
halb acht Monaten wieder zurück. Bat. entschloß sich zu einer
zweiten Operation, bei der ich den intrasellaren Teil des Hypo¬
physentumors entfernte. Leider hatte die Geschwulst, wie die
Obduktion zeigte, einen sehr ungünstigen, Sitz. Sie war in den
dritten Ventrikel hineingewachsen. Durch den operativen Ein¬
griff w urden zahlreiche Gefäße des sehr blutreichen Tumors er¬
öffnet, er schoppte sich mit Blut an und Blutflüssigkeit trat durch
den sehr verdünnten Ventrikelboden in die Himkammer aus.
Die Patientin starb wenige Stunden nach der Operation. Die Ob¬
duktion ergab, daß es sich um ein .sehr blutreiches, malignes
Adenom handle. Es war keinerlei Nebenverletzung zu
finden.
Es sind somit die Resultate der Hypophysenoperation nicht
nur von der Methode, sondern auch von den topographisch-ana¬
tomischen Beziehungen der Tumoren zur Nachbarschaft abhängig,
die vor der Operation derzeit noch nicht bestimmt werden
können.
Diskussion: Dr. Hermann Teleky: Ich erlaube mir einige
Bemerkungen, die auf die Frage hinauslaufen: Soll jeder Fall
von Hypophysentumor operiert werden und wenn die Frage bejaht
wird, wann soll operiert werden?
Ich beobachte seit 3 Jahren eine 35jähr. Frau, bei der zunächst
Akromegalie, dann Parästhesien, in den Händen auch Schmerzen,
Kopfschmerzen, endlich schlechtes Sehen sich einstellten. Durch
Wochen fortgesetzte Pituitrininjektionen blieben ohne Effekt.
Thyreoidintabletten jedoch brachten auffallende Besserung, die
wochenlang anhielt. Ja, ich konnte sogar eine Verkleinerung der
Extremitäten konstatieren. Die Thyreoidinkur wird wieder ein-
gcleitet, wenn die Schmerzen in den Händen und im Kopfe die
Kranke belästigen. Bisher war sie immer wirksam, so daß die
Patientin arbeiten konnte und besser sah.
Die Diagnose auf intrasellaren Sitz eines Hypophysen tumors
wurde auch röntgenologisch bestätigt.
Pat. und ich wären mit dem Zustande zufrieden; ich hätte
nicht, daran gedacht, ihr jetzt den Rat zu geben, sich einer Opera¬
tion zu unterziehen. Doch hat uns hier Priv.-Doz. Schüller
mitgeteilt, daß bei lange bestehenden Hypophysentumoren Ver¬
änderungen am Herzen sich einstellen, welche dann den günstigen
Ausgang eines operativen Eingriffes beeinträchtigen. Wenn dies
zu trifft, dann könnte ja das Zuwarten wirklichen Schaden bringen.
Bisher hatte ich die Anschauung, daß nur die drohende Gefahr
der Erblindung oder sehr heftige, durch kein Mittel zu bannende
Kopfschmerzen eine strikte Indikation für die Operation geben.
Ist es nach Kollegen Schüllers Mitteilung notwendig, diese An¬
schauung dahin zu ändern, daß jeder Hypophysentumor möglichst
bald auf operativem, vorläufig noch lebensgefährlichem Wege
entfernt wrnrde, ehe das Herz Schaden leidet? Diese Frage zu
beantworten, bitte ich jene Herren hier, welches ein maßgebendes
Urteil abzugeben berechtigt sind und deren auf Erfahrung be¬
ruhendes .Urteil uns richtunggebend ist.
Hofr. Chiari: Meine Herren! Ich will nicht zu dem vom
Kollegen Teleky vorgebrachten Thema sprechen, sondern
nur mitteilen, daß ich vor acht Tagen einen Hypophysentumor
teilweise exstirpiert habe u. zw. nach der S c h 1 o f f e r sehen
Methode, aber ausgehend von dem Killianschen Schnitt zur
Freilegung des Siebbeins, ohne Aufklappung der Nase. Es wird
dabei der Processus frontalis des Oberkiefers reseziert, die Nase
eröffnet, mittlere Muschel und Siebbein entfernt ; hierauf bietet
sich mit Hilfe des Reflektors ein sehr schöner Einblick auf die
vordere Keilbeinhöhlenwand. Diese wird eröffnet, mit Stanzen
die Oeffnung erweitert, bis man an den hinteren Anteil des
Septum nasi gelangt, welches nur zum kleinsten Teil entfernt
zu werden braucht, um auch das Septum der Keilbeinhöhle zu¬
gänglich zu machen. Derart gelingt leicht die Freilegung der
hinteren Keilbeinhöhlen wand. Wie Ihnen erinnerlich, hat schon
vor einigen Monaten Dr. Marschik auf die Vorzüge dieser
Methode hingewiesen. Die Blutung in meinem Falle war gering,
weil wir die Vorsicht gebrauchten, vor der Operation alle Gebilde
derselben Nasenseite mit Kokain und Adrenalin gründlich zu
bepinseln. Ich entfernte einen höhnen großen Anteil der Ge¬
schwulst. in mehreren Stücken, der sich als Epitheliom erwies.
Der Patient fieberte am Tage der Operation bis über 39°, war
aber schon am nächsten Tage entfiebert und ist seitdem dauernd
afebril. Gegenüber der endonasalen Operation besteht der Vorzug,
die Operation sicher in einer Sitzung beenden zu können; auch
ist der Weg vom Hautschnitt bis zur Keilbeinhöhle bedeutend
kürzer als von der vorderen Nasenöffnung.
Priv.-Doz. Dr. Artur Schüller bemerkt zu der von Herrn
Dr. Teleky angeregten Frage, daß man hinsichtlich der Indi-
l
kation für die Operation von Hypophysentumoren nicht einen
prinzipiellen Standpunkt der Zustimmung oder Ablehnung ein¬
nehmen könne, daß man vielmehr nach der Art des* einzelnen
Falles die Entscheidung treffen müsse. Die Fälle von Hypo¬
physentumor verhalten sich recht verschiedenartig in ihrem klini¬
schen Verlauf. So gibt es Hypophysentumoren, die jahrzehntelang
bestehen, ohne andere Symptome zu erzeugen, als zum Beispiel
‘‘ine stationäre bitemporale Hemianopsie; es scheint, daß ein
derartiger Verlauf den Hypophysentumoren älterer Leute eigen¬
tümlich ist. Ferner gibt es Hypophysentumoren, die auf innere
Medikation (Jod, Schilddrüse) sehr günstig reagieren. Sodann
beobachtet man eine Art Selbstheilung von Hypophysentumoren
zystischer Natur; die Zyste kann spontan oder unter dem Einfluß
eines Kopftraumas (Hirsch) platzen, worauf die Sehstörung rapid
zurückgeht. — Im Gegensatz zu diesen günstig verlaufenden
Geschwülsten der Hypophyse gibt es andere, welche rasch fort
schreitende Symptome erzeugen oder Allgemeinerkrankungen (Dy¬
strophia adiposogenitalis, Myxödem, Blutveränderungen, Degene¬
rationen innerer Organe) hervorrufen.
Für derartige Fälle ist die operative Therapie zu reser¬
vieren. Die Operation kann insoweit vei’einfacht werden, als
inan bloß die knöcherne Schale (lets' iTumors zu entfernen braucht,
diesen selbst aber, falls seine Punktion keine zystische Be¬
schaffenheit erweist, mit Radium! oder Röntgenlicht bestrahlt
(entsprechend dem Vorschläge französischer Autoren).
Prof. v. Eiseisberg: Auf die Anfrage des Herrn Kollegen
Teleky möchte ich antworten, daß wir gewiß eine sehr sorgfältige
Auswahl unter den Fällen von Hypophysentumoren zu treffen
haben, um die richtige Indikations'stellung für operative Ein¬
griffe bei diesem Leiden zu treffen. ' Die operativen Resultate sind
doch durchaus nicht so günstig, um jeden Fall der Operation
zuzuführen. Wir haben unter zwölf operierten Fällen fünf Todes¬
fälle im Anschluß an die Operation. Ueber die ersten vier Todes¬
fälle wurde gelegentlich schon berichtet, der, letzte, also der fünfte,
betraf eine Patientin, bei der zweizeitig operiert wurde. Bei
der ersten Operation (Aufklappung der Nase nach Schleifer)
sahen wir, daß der Tumor bereits in die Keilbeinhöhle durch¬
gebrochen war, und konnten, da die Blutung eine sehr beträcht¬
liche war, uns um so leichter zum Abbrechen der Operation
entschließen. Die Patientin hatte sich nach drei Wochen voll¬
kommen erholt, die Wunde war so gut verheilt, daß ich den
zweiten Akt, die Entfernung des Tumors durch die Laryngologen
auf endonasalem Wege vornehmen ließ. Da kam es im Anschluß
an den Eingriff zu einer starken Blutung, der die Patientin erlag.
Der Tumor hatte sich bei der Obduktion als inoperabel gezeigt.
Ich stehe auf dem Standpunkt, daß für mich zunehmende Augen¬
symptome bei Hypophysentumoren den operativen Eingriff indi¬
zieren.
Dr. Oskar Hirsch (Schlußwort): Zur Anfrage des Herrn
Dr. Teleky will ich bemerken, daß ich vorläufig die Entschei¬
dung betreffs der Operation denjenigen Kollegen überlasse, die
aus eigener, mehrjähriger Erfahrung den Verlauf dieser Krank¬
heit kennen.
Den Ausführungen des Herrn Hofrates Chiari kann ich in
jenem Teile nicht beipflichten, wo er die von ihm angewendete
Methode, welche er als Modifikation der Schloff ersehen be¬
zeichnet, gegenüber der meinigen als vorteilhafter hervorhebt.
Schon darin, daß sie in Narkose ans geführt wird,
steht sie der endonasalen Methode nach. Daß der Weg
zur Hypophyse durch das Siebbein von einem Schnitt im media¬
len Augenwinkel kürzer ist als bei meiner Methode, ist zuzu¬
gehen; doch beträgt der Unterschied zirka. 2 bis 3 cm, eine
Differenz, welche nicht ins Gewicht fällt. Wir haben bei der
Bronchoskopie auf Entfernungen von 30 cm und darüber zu
operieren gelernt: Es kann daher dem Rhinologen nicht schwer
fallen, das rhinologische Operationsgebiet auf eine etwas größere
Distanz, als jetzt- üblich, auszudehnen. Dagegen ist als weiterer
Nachteil der von Herrn Hofrat Chiari geschilderten Methode
anzuführen, daß sie eine größere Blutung verursacht und eine
äußere Verletzung setzt. Der Schöpfer der endolaryngealen
Chirurgie, V. v. Bruns, schrieb in seiner Monographie „Die
erste Ausrottung eines Polypen in der Kehlkopfhöhle ohne blutige
Eröffnung der Luftwege: „Ich nehme keinen Anstand, diese Opera¬
tion als einen wesentlichen Fortschritt der operativen Technik
im Sinne und Geiste der heutigen Chirurgie anzusprechen, die
jeden blutigen Eingriff in die Gewebe des menschlichen
Körpers auf das kleinste Maß zu beschränken und jede
nicht a b Is o 1 u t gebotene blutige Trennung auf das
eifrigiste zu vermeiden bestrebt ist.“ In diesem Sinne
darf die von mir angegebene und praktisch erprobte endonasale
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
925
Hypophysenoperation vor allen bisher vorgeschlagcneu Methoden
den Vorzug beanspruchen.
Dr. Marschik demonstriert eine 28jährige Frau, bei der
ein Sarkom der Stirnhöhle radikal entfernt worden ist,
welches bereits in das Gehirn eingebrochen war. Am dritten
Tage nach der Operation trat. Meningitis auf, welche durch
Urotropin innerhalb drei Wochen geheilt worden ist. (Er¬
scheint ausführlich.)
Vortrag der Herren Prof. v. Fürth und Dr. Emil Lenk:
Lieber das Wesen der Totenstarre und ihre Lösung.
(Erscheint ausführlich in dieser Wochenschrift..)
Die Diskussion wurde wegen vorgerückter Stunde auf
die nächste Sitzung verschoben. Zur Diskussion gemeldet Pro¬
fessor W. Pauli.
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin
vom 19. bis 22. April zu Wiesbaden.
(Fortsetzung.)
VI.
Sitzung vom 21. April 1911, nachmittags.
Referent: K. Reicher- Berlin.
Rautenberg - Groß - Lichterfelde : Die k ü n s 1 1 i c h e
Durc h wärmung innerer Organe.
Mit der Diathermie lassen sich bei einer Reihe von inneren
Erkrankungen sehr gute Effekte erzielen, so bei Herzkrankheiten
ein Zurückgehen der hydropischen Anschwellung und plötzliches
Eintreten starker Diurese, Eintreten von vorher ausbleibender
Digitaliswirkung, Seltenerwerden und Verschwinden von Angina
pectoris- Anfällen. Bei Bronchitiden und Bronchopneumonien stellt
sich auffällige Erleichterung der Expektoration ein. Sehr günstig
beeinflußt werden Pleuritiden. Bei letzteren traten manchmal
Reibegeräusche von auffälliger Ausdehnung im Verlaufe der Be¬
handlung auf, was mit einer zunehmenden Resorption des Ex¬
sudates zu erklären ist.— Mit Hilfe der Diathermie kann man die
Körpertemperatur zwischen den beiden Elektroden auf 40 bis 4L0
erhöhen. Am Kehlkopf kann man im Spiegelbild nach 20 Mi¬
nuten dauernder Thermopenetration bereits Rötung der Stimm¬
bänder und außerdem Heiserwerden der Stimme beobachten. Die
Patienten empfinden die Erwärmung außerordentlich angenehm.
Unter Diathermiewirkung findet ferner eine enorme Ausschwem¬
mung morphotischer Elemente statt, während eine gesunde Niere
ihre Elemente festhält.
Stein- Wiesbaden : M i 1 1 e i 1 u n g e n zur D i a t h e r m i e-
b e h a n d 1 u n g.
Während bei der Hochfrequenz gedämpfte Schwingungen
zur Anwendung kommen, benutzt die Diathermie ungedämpfte
Schwingungen. Die wichtigsten Indikationen für die Diathermie
geben die akute gonorrhoische Gelenkentzündung, der akute Gicht¬
anfall und Rheumatismus ab. Durch Kombination der Radium¬
emanationsbehandlung mit Diathermie ist eine Sensibilisierung
der erkrankten Gelenke für die Radiumemanation in höherem
Grade zu erwarten. Die Behandlung der intraabdominalen Or¬
gane ist nur mit* größter Vorsicht zu üben.
Diskussion: Schi t ten heim- Erlangen : Mit der Dia¬
thermie kann man tatsächlich eine Hyperthermie erzeugen, und
vielleicht wird diese Möglichkeit zur Lösung der wissenschaft¬
lichen Frage der Hyperthermie beitragen. Man kann bei großen
Jagdhunden im Verlauf von Va bis 1 Stunde die Temperatur
außerordentlich hoch hinauf treiben. Beim Menschen wird die
Wänneregulierung durch intensivere Durchblutung der Hautober¬
fläche durchgeführt, wie man an plethysmographischen Kurven
ersieht. Bei Anwendung der Diathermie konnte S dritten heim
keine Blutdruckerniedrigung, sondern umgekehrt eine Blutdruck¬
steigerung finden.
R e i ß - Frankfurt : Dje hochfrequenten sinusoidalen Ströme
werden vom Körper deshalb nicht perzipiert, weil ihre Frequenz
außerordentlich hoch ist.
Benn ecke -Jena lobt auch die guten Erfolge der Dia¬
thermiebehandlung bei gonorrhoischen Gelenkerkrankungen. Bei
chronischem Gelenkrheumatismus wirkt sie nur subjektiv an¬
genehm, zeigt dagegen objektiv keine Erfolge. Das Auftreten der
Reibegeräusche bei Pleuritis ist Bennecke geneigt auf direkte
Wärmeschädigungen zurückzuführen. In ähnlicher Weise hörte
er bei Pneumonie nach Diathermiebehandlung ausgesprochene
perikardiale Reibegeräusche. Interessant ist die Abhängigkeit der
Durchdringung der Wärme von der elektrischen Leitfähigkeit der
Haut.
Reicher- Berlin : Es wäre wohl als Indikation für die
Diathermie noch die Leihe jener Blutkrankheiten aufzustellen,
welche auf Torpidität des Knochenmarkes mit mehr oder weniger
Recht zurückgeführt werden. Man sollte annehmen, daß in diesen
Fällen durch intensive Durchwärmung des Knochenmarkes die
Blutregeneration eine kräftige Anregung erfahren kann.
Warburg- Köln kann (sich dem allgemeinen Lobe der
Diathermiebehandlung nicht anschließen. Er sah weder eine Er¬
niedrigung des Blutdruckes, noch bessere Erfolge als sonst bei
Gelenkrheumatismus. Bei Lupus setzt die Diathermiebehandlung
sogar sehr schlecht heilende Wunden mit entstellenden Narben.
Außerdem sei wegen der sehr schlecht heilenden Verbrennungen
vor der Diathermie überhaupt zu warnen. Günstige Erfolge sah
Warburg nur bei Neuralgien.
S ch i tten he 1 m - Erlangen : Wenn mit der Thermopenetra¬
tion Verbrennungen gesetzt werden, so liegt das nur an der an¬
gewendeten Methode. Ihm selbst ist noch nie etwa Derartiges
passiert. Uebrigens wird jetzt ein Kondensatorbett von Reiniger,
Gebbert, und Schall zur Diathermiebehandlung geliefert, auf
dem keine Verbrennung mehr möglich ist.
Rau te n b er g (Schlußwort) : Die Ströme wählen nicht immer
den kürzesten Weg, sondern sicher auch den Weg des geringsten
Widerstandes. Bei der Wahl zwischen Leberund Darm geht also
der Strom sicherlich größtenteils durch die Leber. Blutdruck¬
erhöhungen hat Rautenberg nie beobachten können. Wäre
das bei der Diathermie entstehende Reibegeräusch direkt Wärme¬
wirkung, so müsse es an den den Elektroden entsprechenden
Stellen am stärksten auffreten. Rautenberg hat das Geräusch
dagegen auf der ganzen kranken Seite gefunden.
Stein (Schlußwort) kann entgegen Warburg angesichts
seiner großen Erfahrung bei Lupus die Diathermie nur bestens
empfehlen.
W eintraüd -Wiesbaden : Zur Wirkung der 2-PhenyI-
chinolin 4-Karbonsäure (Atophan) bei der Gicht.
Nicolaier und Dohm haben die interessante Tatsache
gefunden, daß bei Verabreichung von % bis 3 g Atophan innerlich
bei purinfreier Nahrung die Harnsäureausscheidung sich um das
Drei- Vierfache über den normalen Wert erhebt, sofort wieder
zurückgeht, wenn das Mittel ausgesetzt wird und schließlich unter
die Norm herabsinkt. Dabei handelt es sich nicht um vermehrten
Nukleinzerfall im Körper und wohl überhaupt nicht um eine
primäre Vermehrung der Harnsäurebildung, sondern um eine
Wirkung auf die Niere, deren eine genau umschriebene Funktion,
nämlich die Harnsäureausscheidung, elektiv durch das Mittel ge¬
steigert wird. Dieser Mechanismus erscheint deshalb wahr¬
scheinlich, weil die Stärke der Ausscheidung gar nicht von der
Menge des verabreichten Mittels abhängt. Wird Atophan bei
gleichzeitig zugeführten exogenen Pürinen, z. B. nukleinsaurem
Natron, verabreicht, so wird auch die Harnsäureausscheidung
bedeutend vermehrt. Beim Hunde wird in analoger Weise die
Allantoinausscheidung gesteigert. Angesichts seiner speziellen
Eigenschaft erscheint das Atophan hervorragend zur Behand¬
lung der Gicht geeignet, erweist aber gleichzeitig durch seine
Wirkuiig beim Gichtanfall, daß die Harnretention beim Gichtiker
renalen Ursprungs sein muß. Der Gichtiker zeigt von seiner In¬
suffizienz gegenüber exogenem verabreichten Nuklein unter Ato¬
phan nichts mehr, es wird vielmehr die Harnsäure, wenn man
sie ihm intravenös injiziert, prompt ausgeschieden. So sehen wir
in einem Fälle einen Anstieg der endogenen Harnsäure von 0-65
nach Injektion von 0-5 Harnsäure auf TI 7 während Umber
im vorigen Jahre über gegenteilige Befunde bei Gichtikern be¬
richtet hat. Vielleicht wird sich auch für die chronische Gicht
eine ebenso gute Anwendungsweise des Mittels finden lassen wie
für den akuten Gichtanfall .
Diskussion: Minkowski -Breslau möchte betonen, daß
die Auffassung des Vortragenden über die Wirkungsweise des
Atophans nur eine Vermutung ist. Ebenso berechtigt wäre die
Vorstellung,' daß die Ausscheidung der Harnsäure durch die
Nieren abhängig ist von der Zusammensetzung des Blutes und
dem Bindungsvermögen des Blutes für Harnsäure. Es könnte dann
durch die Einführung irgendeiner Substanz, z. B. des Atophans,
die Harnsäure frei gemacht und zur Ausscheidung befähigt werden.
Gudzent -Berlin: Die Harnsäure tritt nach Fischer in
zwei tautomeren Formen auf, von . n allerdings nur die eine
bisher, isoliert ist. Merkwürdigerweise fiiriet man aber bei der
Aufschließung der Urate (des Mononatronurats) bis zu Kohlen¬
säure unter den intermediären Abbauprodukten nach Krüger-
Schmidt manchmal keine Harnsäure mehr, obwohl die Murexid¬
probe noch immer positiv ist. Vielleicht versteckt sich dahinter
die zweite, noch nicht bekannte tautomere Form der Harnsäure.
Die Isolierung derselben ist aber Gudzent, noch nicht gelungen.
92G
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 25
Lichtwitz -Göttingen: Die Arbeit gegen eine höhere Kon-
/enti.iti,,i) fuhrt sicher 7U einer Ermüdung und Lähmung der Fer¬
men tfal igkeit. In diesem Sinne scheint die Brugsch-Schitten-
he 1,1 sehe Giehttheone zu stimmen. Minkowski kann Licht-
V.l.z ,lu;ht recht geben, daß eine elektive Schädigung der Niere
irn ht Vorkommen kann, und führt diesbezüglich seinen im vorigen
iahre erwähnten Fall von Diabetes insipidus an.
Neu bau er- München: Der Bildung der Harnsäure aus den
in m basen liegt ein gewisser Gleichgewichtszustand zugrunde
\\ eim man aber eine Kolatur von Rindermilz mit sehr viel Harn¬
säure stehen läßt so geht die Oxydation der Purinbasen ebenso
gut \ or .sich wie ohne Harnsäure. In diesem speziellen Falle hätten
vir also keinen Anhaltspunkt, eine derartige Gleichgewichts¬
reaktion anzünehmen.
Sitzung
vom 22. April 1911.
v.
satzes
Es
E e l gm an n- Berlin : Steigerung des Energieum-
nach Hautreizen.
außerordentlich schwer, beim Menschen die chemische
Regulierung des Wärmeumsatzes zu fassen, da die physikalische
Regulation außerordentlich prompt reagiert. Es gelingt dies nur
bei \ ennehrter \\ armeabgabe nach außen, z. B. durch llyperämi-
si erring der Haut. Untersucht man vor einem Senfbad das Ver-
halten der Oxydationen im Pe t ten kof ersehen Apparat, so er¬
gibt die 24stundige Bilanz bei 2350 Iris 2400 Kalorieneinnahmen
eine Retention von 56 C und 64 C in 24 Stunden, ln einem
Versuch nach dem Senfbad dagegen findet man nur eine Re¬
tention von 38 C. Setzt man die Kalorien auf 2000 herunter
so srnht inan ohne Senfwirkung noch immer einen Nutzen von
32 O beim Senfbad dagegen ein Minus von 5 C. Es spielt also
(las bent bad nicht nur in kurzdauernden Z u n t z versuchen (W in¬
te mit z), sondern auch in 24stündigen Versuchen eine Rolle.
mner ersieht man, wenn nian alle chemischen Reizungen elimi¬
niert, auch bei der Hochfrequenzapplikation, bei der die Vaso-
mo ,oi en gelähmt, die Haut krebsrot wird, also innerhalb dessen,
was kühner als Behaglichkeitsgrenze bezeichnet hat, ein An¬
steigen des Sauerstoffbedarfes pro Minute von 224, bzw. 293 cm3
auf 373, bzw. 356 cm3.
Diskussion: B ü rk e r - Tübingen möchte als Beitrag zur
chemischen Regulation mitteilen, daß nach seinen Höheversuchen
der Hamoglobmgehalt des Blutes im Gebirge drei Tage konstant
blieb dagegen mit dem Moment, wo ein Wettersturz eintrat
der Hämoglobingehalt des Blutes anstieg.
\. Beigmann (Schlußwort): Für die Energiezersetzung ist
der Hämoglobingehalt praktisch ohne Bedeutung. Bei ausge-
(.lohnten Versuchen an Leuten mit Polyglobulie konnte v. Berg-
mann z. B. keine Aenderung der Sauerstoffwerte pro Kilogramm
Körpergewicht und Minute finden.
Re tzl aff -Berlin: Blutzerfall, Gallenbildung und
l r o bili n. (Nach gemeinsamen Untersuchungen von B rüg sch
und Retzlaff.)
Bei den systematischen Bestimmungen wurde Urobilin durch
Fäulnis in Urobilinogen übergeführt, Skatol durch Ligroin ent¬
fernt Zur Bestimmung des Urobilinogens würde Dirnethyiamido-
benzaldehyd nach Charn as verwendet mit der Vereinfachung,
daß das Urobilinogen kolorimetrisch mittels des Pie sch sehen
Kolbenkeil-Chromophotometers mit einer 0-1 prom. Bordeaux¬
rotlosung als Testlösung bestimmt wurde. Bei der Genese der
Urobilinurie kann man die histogene und enterogene über Bord
weilen doch kann parenteral, bzw. aus Blut Urobilin entstehen.
Diese Formen treten aber gegenüber der bei der Leberzirrhose,
btauungszustäiiden und fieberhaften Erkrankungen entstehenden
Urobilinurie völlig in den Hintergrund. Die einen halten die
Urobilinurie nur für eine enterogene Funktion, bzw. Ausdruck
einer vermehrten Gallenbildung, die anderen für die Fbke einer
hepatischen Insuffizienz. Die Tatsache, daß bei Lebererkran¬
kungen vermehrte Urobilinurie auftreten kann und daß bei Leber¬
erkrankung mit Abschluß des Ductus choledochus jede Urobilin¬
urie fehlt, läßt keine andere Deutung zu als die, daß zum Zu¬
standekommen einer Urobilinurie die Funktion des Darmes eine
notwendige Rolle spielt, ln fortlaufenden Untersuchungen wurde
(lie Menge des Ham- und Koturobilins vergleichsweise bestimmt.
Auch bei Leberkranken ist die Menge des Koturobilins eine
auffallend hohe, bei Leberzirrhose und Cholangitis erreicht sie
die höchsten Werte. Bei einzelnen Patienten zeigte sich ein auf¬
fallender Parallelismus zwischen Harn- und Koturobilin. Da¬
neben finden sich auch Stühle ohne jedes Urobilin, namentlich
bei \ egetabilischer Diät. Statt dessen finden sich in diesen Stühlen
Bilirubin und höhere Oxydationsstufen desselben, aus denen
durch Nachfäulnis eine Urobilinbildung zu erzielen ist. Da in
sich selbst überlassenen Stühlen Urobilin wie Urobilinogen eine
Verantwortlicher Redakteur : Karl Knbasta.
Druck
Zerstörung erfährt, so ist keine Frage
hängig sein kann, von der Menge
daß eine Urobilinurie ab
„ ,, , - der in dem Darin ausgeschie¬
denen Galle, von der Art der Bakterien und von der Größe der
Zerstörung. Es ist so erklärlich, daß angesichts der antiseptischen
Kraft der Galle ein eventuelles Plus an Galle die Urobilinbildung
hemmt. Was die Funktion der Leber gegenüber dem Urobilin
betrifft, so wird sicher das Urobilin in kleinen Mengen mit der
Galle in den Darm wieder ausgeschieden. Stellt man Leberbrei
und Urobilin, unter Luftzuleitung auf, so vermag die Leber Uro¬
bilin zu zerstören, nicht aber zu Bilirubin aufzubauen. Da aber
die sich überlassene Leber aus Bilirubin Urobilin bildet, so wäre
eine Umkehrung des Prozesses nicht von der Hand zu weisen.
Die Leber scheint also einen Teil des ihr zugeführten Urobilins
durch die Galle auszuscheiden, einen Teil zu zerstören und
einen dritten in den Kreislauf durchzulassen. Ueber die Schick¬
sale dieses letzteren Anteiles im großen Kreislauf entscheiden
folgende Versuche: Verabreichung von 0-1 Urobilin per os oder
subkutan bewirkt keine Mehrausscheidung von Urobilin im Urin,
ebensowenig intravenöse Injektionen von Urobilin beim Hund.
Daraus geht hervor, daß die Gewebe die Fähigkeit besitzen,
I robilin zu zerstören. Daß normalerweise ein Teil des Urobilins
durch den Harn wieder ausgeschieden wir'd, liegt daran, das dieser
Anteil beim Passieren der Niere der Zerstörung durch die Ge¬
webe entgeht. Die Urobilinurie ist daher im allgemeinen
komplexer Vorgang. Wenn täglich ca. 2 g Gallenfarbstoff in
Dann entleert werden und wir im Urin 1 bis 2 cg oder
Urobilinurie 1 bis 2 deg im Urin wiederfinden, so ist die
Sache dafür teils auf günstige Urobilinbildung, teils auf schlechte
Zerstörung seitens der Leber oder anderer Organe zurückzuführen.
Ls ist also kein Wunder, wenn Fleisch- und Eiergenuß oder Zir¬
kulationsstörungen zur Urobilinurie führen. Man kann sie daher
nicht generell als hepatische Insuffizienz deuten, sondern es
muß ihr eine Störung eines komplexen Vorganges zugrunde liegen.
Demgegenüber steht die Entstehung der parenteralen und para¬
hepatischen Urobilinurie aus Blutfarbstoff auf einer anderen
Linie.
Kraft- Weißer Hirsch : H a r n b e f u nde b ei hämorr h a g i-
scher D i a t h e s e.
Kraft teilt zwei kasuistisch interessante Fälle von Hämo¬
philie mit.
(Fortsetzung folgt.)
ein
den
bei
Ur-
abends,
stattfindenden
Programm
der am
Freitag; den 23. Juni 1911, um 7 Uhr
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. E. Wer Ui ei 111
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
L Hofrat Prof. Dr. 0. Cliiari: Demonstration.
2. Diskussion zum Vorträge der Herren Prof. v. Fürth und
Di L. Lenk: I eher das Wesen der Totenstarre und ihre Lösung. Zum
Worte gemeldet: Prof. Dr. W. Pauli.
l’1'0*- Dr. Sternberg: Zur Diagnose des chronischen
partiellen Herzaneurysmas. •
Einen Vortrag hat angemeldet Herr Dr. Hans Bah.
Bergmeister, P a 1 1 a u f.
„,Um äje rechtzeitijre Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
item Vch* H f tf ü hr ’nr3«« 6 f 6 r 3 * ^Vertrage, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer ltocli am Sitzung.sabend zu übergeben.
Gesellschaft für
innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Am Donnerstag, <lcn 22. Juni 1911, lindet Keine Sitzung statt.
Das Präsidium.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
.wWvnT 3r°ut;lfh ,le“ 2(i< Juui 1911> 6 Uhr abends, im Hörsaal
ei Klinik Urbantschitsch stattfindenden wissenschaftlichen Sitzung.
* Demonstrationen. Angemeldet die Herren: Prof. Urbantschitsch,’
ou t any, ltuttin, Deck.
„orc , -2\ Vortrag von J. Hauer und R. Leidler: Ueber die Ausschaltung
Augenreüexe!' mtte Und ihren Eillfluß auf die vestibulären
Boudy, Schriftführer.
von Bruno Bartelt, .Wien XVIII., Theresien nasse 8.
Verlag von Wilhelm BraumUller in Wien.
Dr. EMIL G. BECK: Ueber die konservative Behandlung kalter Abszesse.
t’ig. 1.
Fig. 2 (Stereoskop).
Wiener klinische Wochenschrift, Nr. 26, 1911.
Verlag von Wilhelm B r a u m ü 1 1 e r, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, Wien.
. .. ... - . ___ .
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren DDr.
0. Ghiari, F. Dimmer, V. R. v. Ebner, S. Exner, E, finger, M. Gruber, F. Hochstetter, A. Kolisko, H. Meyer, J, Moeller, K. v. Noorden,
H. Obersteiner. A. Politzer. A. Schattenfroh. F. Schauta. J. Tandler, G. Toldt, J. v. Wagner, E. Wertheim.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Alexander Fraenkel, Ernst Fuchs, Julius Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser.
Richard Paltauf, Gustav Riehl und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- u. Universitätsbuchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13. Telephon 17.618.
XXIV. Jahrg. Wien, 29. Juni 1911 Nr. 26
INHALT:
1. Originalartikel : 1. Aus der medizinischen Klinik in Graz.
Vorstand: Prof. H. Lorenz.) Mikroskopische Untersuchung der
Galle zu diagnostischen Zwecken. Von Dr. Eugen P e t r y,
Privatdozenten und Assistenten der Klinik. I. Mitteilung. S. 927.
2. Aus der medizinischen Abteilung für Kinderkrankheiten und
der Prosektur des k. k. Wilhelminenspitales in Wien. Ein
Beitrag zur Kenntnis der durch tierpathogene Bazillen der
Influenzagruppe hervorgerufenen eitrigen Meningitis (Meningite
cerebrospinale septicemique Cohen.) Von Dr. Emil Prasek und
Dr. Tullio Z a t e 1 1 i. S. 932.
3. Ueber die konservative Behandlung kalter Abszesse. Von
Dr. G. Beck, Chirurg am North Chicago Hospital. S. 934.
4. Aus der chirurgischen Abteilung des städtischen Krankenhauses I
in Graz. (Vorstand: Priv.-Doz. Dr. Hertle.) Zur Chirurgie des
Choledochuskrebses. Von Dr. Spin dl er, Assistenten. S. 936.
5. Aus der III. medizinischen Abteilung des allgemeinen Kranken¬
hauses in Wien. (Vorstand: Prof. Dr. Hermann Schlesinger.)
Ein neuer Stickstoffapparat zur Behandlung der Lungenl uberkulose
und anderer nicht tuberkulöser Erkrankungen der Lungen. Von
Dr. Oskar Frank, k. u. k. Regimentsarzt im k. u. k. Garnisons¬
spital Nr. 1 in Wien S. 940.
Redaktionelle Mitteilung. S. 941.
II. Referate: Ueber Ermüdungsstoffe. VonDr. WolfgangWeichardt.
Praktische Anleitung zur Ausführung des biologischen Eiwei߬
differenzierungsverfahrens. Von Prof. Dr. P. Uhlen huth und
Dr. 0. Weid an z. Allgemeine Mikrobiologie. Von Dr. med. Walther
Kruse. Ref. : E P. Pick. — Die Therapie der Magen- und Darm¬
erkrankungen. Von Dr. Karl Wegele. Stoffwechsel und Stoff¬
wechselkrankheiten. Von Prof. Dr. Paul Friedrich Richter.
Theorie und Praxis in der Beurteilung der Gicht auf Grund einer
Erfahrung in 6000 Fällen. VonDr.Gemmel. Ref : K. Glaessner.
— Untersuchungen über tuberkulöse Infektionen im Kindes¬
alter. Von Dr. Rothe. Schutzpockenimpfung und Impfgesetz
Von Prof Dr. Martin Kirchner. Pflege und Ernährung des
Säuglings. Von Dr. M. Pescatore. Die Wohlfahrtseinrichtungen
für Kinder in großen Städten. Von Geh. Med. -Rat Professor
Dr. A. Baginsky. Ref. : C. Le in er.
III. Ans verschiedenen Zeitschriften.
IV. Sozialärztliche Revue. Von Dr. L. Sofer. S. 951.
Y. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Aus der medizinischen Klinik in Graz.
(Vorstand: Prof. H. Lorenz.)
Mikroskopische Untersuchung der Galle zu
diagnostischen Zwecken.* *)
Von Dr. Eugen Petry, Privatdozenten und Assistenten der Klinik.
I. Mitteilung.
Im Jahre 1904 machte Pawlows Schüler B o 1 d y-
reff1) die Beobachtung, daß bei Hunden, denen man Fette
in den Magen einbringt, sich der Pylorus öffnet und eine
Menge mit Pankreassekret vermischter Galle in den Magen
Übertritt; er bemerkte gleich, daß dies für die Gewinnung
dieser Sekrete beim Menschen verwertbar wäre.
Tatsächlich wurde diese Beobachtung Boidyreffs
auch der Ausgangspunkt klinischer Untersuchungen. V o 1-
hard2) hat als erster 1907 beim, Menschen durch Verab¬
folgung von 200 g Oel und nachträgliche Ausheberung ex¬
perimentell Galle zur Untersuchung gewonnen; die ausge¬
heberte Masse bestand aus zwei Schichten: die obere wird
vom Oel gebildet, die untere, grünlich gefärbte, vom vereinten
Sekret der Leber und des Pankreas.
Volhard selbst und einige spätere Untersucher ver¬
werteten die Methode lediglich zur Erforschung der Pankreas¬
*) Ueber die Befunde beim Falle I habe ich bereits am 17. Fe¬
bruar d. J., über die übrigen hier mitgeteilten Ergebnisse am 12. Mai im
Vereine der Aerzte in Steiermark kurz berichtet.
*) Internationaler Physiologenkongreß Brüssel.
*) Münchener med. Wochenschr. 1907, S. 403.
funktion. Für die Kenntnis der Zusammensetzung der Galle
Kranker wurde dieselbe nur zu bakteriologischen Zwecken
nutzbar gemacht. Als nämlich die Untersuchungen über
Typhusträger und Typhusausscheider unter Försters
Führung gezeigt hatten, daß gerade die Gallenblase der Auf¬
enthaltsort der Bazillen sei, verwendete Weber3) 1908
die B o 1 d y r e f f - V o 1 h a r d sehe Methode zum Nachweis
des Bazillengehaltes der Galle und konnte so bei einschlä¬
gigen Fällen tatsächlich reichlichen Gehalt derselben an
Typhus- und Paratyphusbazillen nachweisen, während die
gleichzeitigen Stuhlproben negativ waren.
Es erschien mir nun sehr aussichtsvoll, diese Methode
der Gallengewinnung für die histologische Unter¬
suchung der Galle beim Kranken auszunützen.
Denn es liegt nahe, anzunehmen, daß Erkrankungen der
Leber und der Gallenwege zur Beimengung pathologischer
(vielleicht auch charakteristischer) morphotischer Bestand¬
teile zur Galle führen müssein, ganz analog den einschlä¬
gigen Verhältnissein bei Harn und Sputum. Und zwar er¬
schien mir als naheliegendster Ausgangspunkt für derartige
Untersuchungen die Cholelithiasis und Cholezystitis, Er¬
krankungen, die sich vornehmlich im Innern der Gallen¬
wege abspielen : ich durfte hier also am ehesten erwarten,
auf eine pathologisch veränderte Galle zu stoßen.
I.
Ich führte daher seit September v. J. bei jedem mir
zur Beobachtung kommenden, auf Gallensteine verdächtigen
3) Münchener med. Wochenschr. 1908, S. 2443.
Mr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
I' alle systematisch das Oelfrühstück durch; die Kranken er¬
hielten nüchtern 200 cm3 Oleum olivarum von Zimmer¬
temperatur und wurden eine halbe bis drei Viertelstunden
danach ausgehebert. Die Zwischenzeit brachten sie im Bette
liegend zu.
Die ersten vier untersuchten Fälle, bei denen, allerdings
auch nur vage, uncharakteristische Schmerzen im Abdomen be¬
standen hatten, gaben ein negatives Resultat: ich vermochte in
der ausgeheberten Galle auch beim Sedimentieren keine patholo¬
gischen Gebilde nachzuweisen; einmal fand ich stark peptisch
■ verdaute Leukozyten (Kemreste) offenbar von verschlucktem
Sputum herrührend.
Durch die Güte des Herrn Prof. v. Hacker, dem
ich auch au dieser Stelle meinen Dank ausisprechen möchte,
war ich endlich in der Lage, eine Kranke mit ausgesproche¬
ner Cholelithiasis untersuchen zu können.
Dieselbe war eine 26jährige Frau, die vor zehn Jahren
Typhus überstanden hatte. Im April v. J. erkrankte sie plötzlich
an anlallsweisen heftigen Schmerzen in der Magengegend und
Erbrechen; am nächsten Tage gesellte sich dazu Gelbfärbung
der Haut. Nach drei lagen besserten sich die Beschwerden je¬
doch wieder und traten nach vollkommen freier Pause im De¬
zember 1910 neuerlich auf und dauerten nunmehr acht Tage;
auch jetzt bestand wieder Gelbsucht.
Bei der Untersuchung zeigte sich, daß die grazile, ziem¬
lich gut genährte Patientin, deren Sensordum ganz frei war, intensiv
ikterisch gefärbt war. Temperatur 37°. Puls .80, gut gespannt und
gefüllt. In der linken Achselhöhle eine kleine Lymphdrüse tastbar.
Knochen, 1 upillen, Rachengebüde ohne Befund. Parenchymatöse
Struma. Am 1 horäx außer einer Retraktion der linken Lungenspitze
kein pathologischer Befund. Die Leberdämpfung beginnt an der
vierten Rippe und reicht nach abwärts (Mamjllarlinie) bis zur
Nabelhöhe. Das Organ verursacht eine sichtbare, inspiratorisch
abwärts steigende Vorwölbung; ihre Oberfläche war glatt, weich,
recht druckempfindlich. Die Gallenblase war als nach abwärts
gerichteter, gut umgreifbarer Fortsatz der Leber mit stumpfem,
glatten unteren Pol tastbar. Abdomen sonst ohne Befund. Der
Stuhl war cholisch und gab Gallenreaktionen.
Bei der Patientin wurde am 4. und 7. Februar' eine Oelaus-
heberung in der beschriebenen Weise durchgeführt. Beide, Male
war die vom Oel bedeckte Flüssigkeit smaragdgrün gefärbt. Die
Proben gaben beim Zentrifugieren einen mäßig reichlichen Boden¬
satz von schleimiger Beschaffenheit und intensiver Griintärbung.
Bei der eine' halbe Stunde nach der Entnahme durchgeführten
mikroskopischen Untersuchung envies sich derselbe zusammen¬
gesetzt aus Schleim und Leukozyten gleichenden Zellen verschie¬
dener Größe, welche sämtlich gelbgrün gefärbt waren ; die kleineren
hatten die Größe von Lymphozyten und zeichneten sich durch sehr
starke grünlichgelbe Färbung aus; die größeren, welche die Größe
von Leukozyten etwas überragten, waren weniger intensiv und
mehr zitronengelb gefärbt. Die Färbung betraf dabei nicht den
ganzen Zellinhalt, sondern ließ den Kern frei. Sie war auch
am Plasma meist nicht diffus gleichmäßig, sondern in Form von
teilweise verbackenen Granulis und Schollen, zwischen denen
ab und zu ungefärbtes Plasma lag und welche besonders an den
kleinen Zellen starkes Lichtbrechungsvermögen aufwiesen. Der
Kern ivar an einzelnen Zellen als aus zwei Segmenten zusammen¬
gesetzt zu erkennen. Neben diesen Zellen fanden sich noch grün¬
lich gefärbte Spindelzellen und größere blasig -polygonale Zellen
mit zahlreichen braunschwarzen Pigmentkörnchen. Sämtliche Zell¬
arten fanden sich auch im Innern der Schleimmassen eingebettet.
Außer diesen Zellen wies aber das Sediment noch einen
bemerkenswerten Bestandteil auf : mikroskopische Körnchen von
kristallinisch - scholliger Begrenzung, nach Art von Globuliten,
welche teils einzeln lagen, zumleist aber als knorrig- warzige
Drusenaggregate nach Art der Fig. I,4) angeordnet waren ; seltener
fanden sich mosaikartig oder perlschnurartig aneinandergereihte,
kleine rundliche Körnchen.
Ihre Farbe war zumeist gelbrot, wie die hellen Kolophoniums ;
vereinzelte Körnchen waren jedoch dunkler braun bis .schwarz¬
braun. Alle Körner, besonders- die hellen, zeigten einen starken
Glanz, letztere ein bedeutendes Lichtbrechungsvermögen.
Es konnte wohl keinem Zweifel unterliegen, daß hier kleinste
Bilirubinkalkkonkretionen Vorlagen.
Die am 8. Februar ausgeführte Laparotomie ergab,
daß die Blase erweitert war und im Ductus choledochus,
diesen nicht ganz verschließend, ein nußgroßer, dunkel-
4) Bei der Anfertigung der mikrophotographischen Abbildungen
erfreute ich mich der Unterstützung Herrn Priv.-Doz. Hesses.
brauner Stein steckte. Die Blase wurde exstirpiert und sie
zeigte sich erfüllt von dünnflüssiger, braungelber Galle,
mit streifigen Blutbeimengungen und einzelnen glasigen,
durchsichtig weißlichen Schleimfäden. Auch die Oberfläche
war von Schleim bedeckt.
Ich untersuchte nun sowohl die Galle-, als Abstriche
von der Schleimhaut mikroskopisch und dabei zeigten sich
reichliche Konkremente von ganz gleicher Form und Färbe
wie die vorhin beschriebenen. In Schleimhautabstrichen
zeigten sich überdies reichlich neutrophile und spärlich
eosinophile Leukozyten ; sie waren jedoch durchaus un¬
gefärbt.
Die Untersuchung des in den nächsten Tagen aus der
bei der Operation angelegten Gallenfistel sich entleerenden
Sekrets ergab das Vorhandensein von den beschriebenen
gleichenden Konkrementen, sowie einen reichlichen Gehalt
an grüngefärbten Zellen analog den im Oelfrühstück ge¬
fundenen.
Die Untersuchung dieses Falles ergab
also eine prinzipielle Bestätigung meiner
eingangs ausgesprochenen Erwartung: in der
Galle waren neben dem Stein noch mikrosko¬
pische Kennzeichen der Steinkrankheit nach¬
weisbar und es gelang, dieselben bereits in
der mittels Oelfrühstück gewonnenen Galle
nachzuweisen.
Schwieriger gestaltet sich jedoch eine genaue diagno¬
stische Bewertung der einzelnen Symptome. Daß gallig
tingierte Leukozyten als sicher pathologischer Befund
gelten dürfen, steht zwar fest; ob sie aber stets den Gallen¬
wegen entstammen müssen, erscheint zweifelhaft (Duo¬
denum!). Der Befund des Gallenblaseninhalts läßt weiter¬
hin bei einfacher Cholezystitis überhaupt ungefärbte
(also bezüglich ihrer Provenienz vollkommen uncharakteri¬
stische) Zellen erwarten.
Der weitaus bedeutsamere Befund sind jedenfalls die
mikroskopischen Konkremente. Es wird Aufgabe
eigener Untersuchungen sein, zu ermitteln, ob die normale,
steinlose Galle vollkommen frei von mikroskopischen Nieder¬
schlägen ist. Immerhin ist dies sehr wahrscheinlich und
sprechen auch meine Ausheberungsergebnisse bei nicht
sicher Steinkranken in diesem Sinne.
Schwieriger dürfte es sein, die Beziehung dieser
Konkremente zur klinisch manifesten Stein¬
krankheit einzuschätzen. Es kann, unter Berücksichti¬
gung ihrer Form, sowie ihres: Vorkommens (an der Innen¬
fläche der keinen Stein enthaltenden Blase, im Fistelsekret
nach Entfernung des Steines), keinem Zweifel unterliegen,
daß es sich hier nicht um Bruchstücke eines großen Kon¬
krements, sondern um selbständige Konkretionen
handelt. Sie sind also wohl nur der Ausdruck einer ge¬
wissen Stein disposition; ja, sie könnten vielleicht nur
der Effekt des bestehenden Katarrhs sein. Es ergibt sich
daraus, daß ihr Nachweis keineswegs als zwin¬
gender Beweis des Vorh an den seins eines grö¬
ßeren Konkrementes aufzufassen ist; da es aber für
die Therapie ganz hauptsächlich darauf ankommt, festzu¬
stellen, ob ein solches vorliegt oder nicht, so mußte ich erst
nach weiteren, gerade diese Feststellung ermöglichenden
Momenten suchen.
II.
Die beste Lösung der Frage nach dem Vorhandensein
eines Steines würde durch den Nachweis mikroskopi¬
scher Bruchstücke desselben geliefert werden.
Bedenkt man, wie weich manche Steine sind und wie
reichlich — besonders bei multiplen Steinen — Gelegenheit
zum Abschleifen kleinster Partikelchen gegeben ist, so wird
man es nicht für unmöglich halten, daß sich neben massiven
Steinen auch Splitterchen derselben vorfinden. Ich ver¬
suchte daher zunächst festzustellen, wie solcher Schleif¬
sand mikroskopisch aussieht und ob er sich von den bei
unserem Falle gefundenen Konkretionen unterscheiden läßt.
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
929
Zu diesem Zwecke versuchte ich mit einem armierten
Glasstabe leicht über die Oberfläche des bei der Operation
gewonnenen Steines zu streichen und untersuchte die so ge¬
wonnenen krümeligen Massen mit großer Vorsicht mikro¬
skopisch. ihre Farbe und ihr Glanz war durchwegs, ihre
Form bei vielen dieser Körnchen die gleiche, wie bei den
spontan in der Galle vorbildlichen. Daneben waren aber un¬
zweifelhaft Gebilde nachweisbar, deren Begrenzung sie als
Splitter mit winkeligen Bruchflächen erkennen ließ und zwar
sowohl kleinste, unregelmäßig rhomboedrische Splitterchen
als auch die Größe der abgebildeten „Druse“ bedeutend über¬
steigende, ganz solide Massen mit eckiger und zum Teil
geradliniger Begrenzung.
Es ergab sich nunmehr als allernächste Aufgabe, zu
untersuchen, ob derartige Gebilde, welche sich durch ihr
Aussehen unter dem Mikroskop als sichere Partikel eines
massiven Steines erkennen lassen, auch in der Galle stein¬
haltiger Blasen anzutreffen sind. Das Entgegenkommen des
Herrn Dr. Schmerz, Assistenten der chirurgischen Klinik,
ermöglichte es mir, zwei weitere steinhaltige Blasen darauf¬
hin zu untersuchen.
Fig. 1.
Deren erste entstammte einer 39jährigen Hauptmanns¬
frau, die seit längerer Zeit wegen unklarer Schmerzanfälle
in Behandlung stand.
Die Blase wurde unmittelbar nach der operativen Ent¬
fernung untersucht; sie beherbergte 13 haselnußgroße tetra-
edrische, scharfkantige, rein weiß gefärbte Cholesterinsteine.
Ich entleerte den Inhalt derselben Vorsichtig und goß
die dünnflüssige, etwas fadenziehende, lichtgrüne, nicht ge¬
trübte Galle von den Steinen ab, ohne diese zu quetschen
oder aneinander zu reiben. In dieser Flüssigkeit fanden
sich mm reichlich Cholesterintafeln,5) welche auch bei Vor¬
sichtigster Behandlung des Präparates (leichtes Auflegen des
Deckglases) sich als gesplittert und zerbrochen erwiesen,
indem sich neben wohlerhaltenen solche, die außer den
charakteristischen treppenförmigen Winkeln noch schiefe
Bruchflächen hatten, sowie auch ganz spitzwinkelige, direkt
an Glassplitter erinnernde Trümmer solcher Täfeln vom
selben sonstigen optischen Verhalten zeigten. Das Zustande¬
kommen dieser unregelmäßig spitzwinkeligen Bruchstücke
kann wohl nur durch gegenseitiges Abschleifen von Steinen
erklärt werden.
Eine weitere Bestätigung ergab die Untersuchung der
Gallenblase einer 46jährigen Frau, welche am 28. Mai d. J.
mit drohender Gallenblasenperforation auf die chirurgische
Klinik aufgenommen wurde und bei der das erkrankte Organ
sofort operativ entfernt wurde. Die unmittelbar darauf von
mir vorgenommene Untersuchung ergab folgendes:
6) Auf Wiedergabe einer Abbildung verzichtete ich, da in kurzem
charakteristische Cholesterinsplitter aus einem Oelfrilhstück Mitteilung
finden sollen.
Das 12-5 cm lange und 6 cm breite Organ entleert
beim Anschneiden zuerst eine wasserklare, helle, kaum gelb¬
lich (wie Blutserum) gefärbte fadenziehende, aber dünn¬
flüssige Masse, sodann einen graugelblich - eitrigen Brei, in
dem neun gleich große, tetraedrische, scharfkantige, dunkel¬
grau gefärbte Steine liegen.
Eine mikroskopische Untersuchung der Eitermassen
ließ in diesen als einzige zellige Bestandteile Leukozyten
nachweisen. Daneben zeigten sich hellgelbbraune bis rot¬
gelbe Schollen von starkem Lichtbrechungsvermögen und
zwar ähnelten dieselben in ihrer Form den beim Reiben
des Steines mit dem Glasstabe artefiziell erhaltenen Splittern.
Einige derselben waren mit Cholesterintafeln vermengt und
zwar trugen sie dieselben teils an der Oberfläche, teils waren
dieselben (s. Fig. 2) in die braunen Massen eingebettet.
Diese Konkretionen waren nun in der Eitermasse ganz auf¬
fällig ungleichmäßig verteilt; in den von den Steinen ent¬
fernt liegenden Randpartien waren sie so spärlich, daß ihr
Nachweis nur nach längerem Suchen gelang ; in den unmittel¬
bar zwischen den Steinen gelegenen Partien konnte man in
jedem Gesichtsfeld fünf bis sechs solcher Gebilde finden,
ja es ließen sich sogar makroskopisch rotbraune Streifen
in der Eitermasse nachweisen, die an fein verteilten auf-
Fig. 2.
gestreuten Zimt erinnerten und mikroskopisch sich als
dicht liegende derartige Konkretionen erwiesen.
Es wäre wohl mehr als gezwungen, derartig gelagerte
rotbraune Kronkremente in einer farblosen Eitermasse als
eben in Abscheidung begriffene selbständige Gallenkonkre¬
mente anzusprechen.
Die eben geschilderten Befunde erscheinen mir im
Gegenteile als ausreichend, um die Frage nach dem Vor¬
kommen echten Schleifsandes in steinhaltigen .Gallenblasen
bejahend zu beantworten. Um so notwendiger erscheint es
mir jetzt, an einem größeren Ausmaß von Fällen durch ver¬
einte klinische und anatomische Untersuchung festzustellen,
ob die beschriebenen Formunterschiede ausreichen, um im
Oelfrühstück mit Sicherheit Stein splitter zu erkennen.
Dabei wird sich auch die diagnostisch - semiotische Bedeu¬
tung der als freie Konkretionen angesprochenen Gebilde klar¬
stellen lassen. Derartige Untersuchungen sind bereits im
Gange. Trotzdem möchte ich schon hier kurz mitteilen, daß
ich seit dem eingangs geschilderten Fälle bereits 3mal in der
Lage war, in der ausgeheberten Galle Kranker das Vorhan¬
densein mikroskopischer Konkretionen nachzuweisen. Wenn
diese drei Fälle auch zwar der Kontrolle durch die Operation
entbehren, so sei ihr Befund doch wiedergegeben als Bestäti¬
gung, daß die Nachweisbarkeit solcher kleinster Konkretionen
im Oelfrühstück nicht einen singulären Befund darstellt.
Der erste Fäll betraf eine 23jährige Frau, die wegen
UlkusVerdacht im Ambulatorium der medizinischen Klinik
ein Probefrühstück erhalten hatte, bei der aber der Magen
zur Zeit der Ausheberung sich leer erwies und erst nach
längerem Pressen einige Kubikzentimeter dicker grüner Galle
930
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
gewonnen wurden. Dieselbe war reich an Leukozyten und
kubischen, mit tiefgrünen, stark lichtbrechenden Einschlüs¬
sen erfüllten Zellen ganz nach Art der im ersten Falle be¬
schriebenen Zellen. Daneben fanden sich bernsteingelbe,
glänz end e Ko nkremente.
Ein zweiter Fall betrifft einen 57jährigen Sattlermeister,
der am 28. Februar wegen eines Fungus am Fuße auf die
chirurgische Abteilung aufgenommen wurde. Im Laufe seiner
Behandlung trat ein intensiver Kolikanfall auf und Patient
wurde ikterisch, die Leber wurde tastbar und überragte den
Rippenbogen als sehr schmerzhafter Tumor. Die Anamnese
ergab nunmehr, daß Patient seit seiner Jugend oft an kolik¬
artigen Schmerzen litt, welche sich besonders durch Trinken
kalten Wassers auslösen ließen. Der stärkste Anfall bestand
im Jahre 1909. Die Anfälle beginnen in einem Punkte der
Parasternallinie und breiten sich zum Rippenbogen und bis
zur rechten Schulter aus. Einzelne Anfälle waren mit Er¬
brechen verbunden.
Bei diesem Kranken wurde am 8. März nach Abklingen
des Kolikanfalles eine Oelausheberung gemacht und dieselbe
förderte ca. 50 cm3 grüner Galle zutage, welche im Sedi¬
ment reichliche, mikroskopische Konkremente von der glei-
Fig. 3.
chen rotbraunen Farbe und derselben Durchsichtigkeit und
ebensolchem Glanze wie die Bilinrubinkalkkonkremente des
ersterwähnten Falles enthielten.
Dabei fiel auf, daß ein Teil derselben sich durch das
Vorhandensein derartiger scharfkantiger (s. Fig. 3) Ränder
und unregelmäßiger Ecken auszeichnete, daß es nach dem
vorhin Mitgeteilten wohl gerechtfertigt erscheint, in den¬
selben Splitter eines größeren Konkrementes zu erblicken.
Der letzte Fall betrifft eine 35jährige Hebamme, die
wegen Steinbeschwerden das Ambulatorium der medizini¬
schen Klinik auf suchte.
Patientin, welche fünf gesunde Kinder geboren hat, litt
bereits vor vier Jahren in der Zeit zwischen 7. März bis
13. Juni an etwa alle zehn Tage wiederkehrenden krampf¬
haften Kolikanfällen, welche den ganzen Tag über dauerten
und weitaus heftiger waren, als Wehenschmerzen und mit
Erbrechen verbunden waren. Seither war sie gesund. Seit
etwa acht Monaten traten diese Schmerzen abermals ,auf
und zwar regelmäßig, wenn die Patientin abends Nahrung
zu sich nimmt. Sie bemerkte jetzt auch während der An¬
fälle das Hervortreten eines harten, glatten und runden
Gegenstandes unter dem rechten Rippenbogen.
Aus dem Befunde der sehr gut genährten, kräftigen Frau
sei erwähnt, daß dieselbe zur Zeit der Untersuchung nicht ikterisch
war, daß auch im Harne kein Gallenfarbstoff nachweisbar war;
der Befund an den Thoraxorganen ergab nichts Pathologisches.
Puls war rhythmisch, 84 in der Minute. Das Abdomen ragte über
das Thoraxniveau vor, die Bauchdecken waren weich, ausgeweitet,
nicht druckempfindlich. Der Schall am Abdomen tympanitisch. Die
Leberdämpfung reichte von der 6. Rippe bis zum Rippenbogen.
Druck unterhalb des rechten Rippenbogens ist außerordentlich
schmerzhaft. Bei Inspiration tastet man dabei den unteren Leber¬
rand als schmalkantigen, deutlich leicht bogenförmig verlaufenden,
harten Rand. Die Berührung desselben und das Vorbeigleiten
unter den Fingern verursacht der Patientin unerträgliche
Schmerzen. Ein der Gallenblase angeh oRger Tumor ist auch
in linker Seitenlage nicht nachweisbar.
Bei der am 19. April aus geführten Oelausheberung
wurde eine sich vom Oel deutlich absetzende schmutzig-
grüne, wässerige Flüssigkeit von 50 cm3 gewonnen, die einen
reichlichen, schleimigen, gelblichgrün gefärbten Bodensatz
enthält, auf Lackmus deutlich sauer reagiert und im mikro¬
skopischen Bilde reichliche, dunkelbraune, knorrig-warzige
Konkremente enthielt, deren Form ganz den in dem ersten
Falle beschriebenen ähnelte, die jedoch bezüglich der Färbe
auffallende Unterschiede zeigten: sie waren viel dunkler,
fast schwarzbraun gefärbt und wesentlich opaker und ließen
auch das starke Lichtbrechungsvermögen vermissen.
Am Boden des Zentrifugenrohres fanden sich nun vier
bis zu Hirsekorngröße reichende runde Pünktchen von
schmutzig - ziegelroter Farbe. Um über die Natur derselben
Aufklärung zu bekommen, brachte ich eines dieser Körner
Fig. 4.
zwischen Objektglas und Deckglas, wobei sich zunächst
zeigte, daß es eines besonderen Druckes bedurfte, um das¬
selbe unter deutlich wahrnehmbarem Knirschen zu zer¬
drücken. Das Von der zerquetschten Masse dargebotene
mikroskopische Bild ist auf Fig. 4 wiedergegeben. Wie man
sieht, handelte es sich hier um dieselben Massen, wie sie
die mikroskopischen Konkretionen dargestellt hatten. Es war
also geglückt, durch die Oelmethode makroskopisch
sichtbare Konkremente zu gewinnen.
Wiewohl es durch das physikalische Verhalten zweifel¬
los war, daß es sich hier um einen festen Körper handelt,
hatte ich anfangs wegen der dunklen Färbe und stark opa¬
ken Beschaffenheit gezweifelt, ob es sich hier wirklich um
Bilirubinkalk handle. Dieser Zweifel schwand jedoch, als
ich versuchte, ein solches mikroskopisches Konkrement durch
Verreiben zwischen Deckglas und Objektglas noch weiter zu
zerkleinern. Dabei erhielt ich Splitter von genau dem glei¬
chen optischen Verhalten, wie es die erstbeschriebenen
echten Bilirubinsteine gezeigt hatten: demselben Glanz und
Lichtbrechungsvermögen, der gleichen Durchsichtigkeit, der
gleichen Farbe.
Diese Feststellung war um so wertvoller, als die Unter¬
suchung mit dem Polarisationsmikroskop 6) sich nicht als
zureichendes Hilfsmittel zur Erkennung der Steinnatur
eines mikroskopischen Gebildes erwiesen hatte : es zeigte
6) Deren Durchführung ich Herrn Assistenten Hennicke (histolog.
Institut) verdanke.
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
931
sich nämlich, daß Quetsehpräparate von echten Bilirubin¬
steinen (der Stein von Fall l) in der Hauptmasse sich nicht
als doppeltbrechend verhalten.
Fasse ich die gefundenen Resultate zusammen, so er¬
gibt Isich vor allem, daß Steine beherbergende
Blasen (u. zw. auch empyematös veränderte) reichlich
kleinere Konkretionen enthalten, welche sich zum
Teil als freie Niederschläge, zum Teil als Bruchstücke der
großen Steine erkennen lassen. Es zeigte sich weiter in vier
Fällen d i e N a c h w e i s 0 a r k e i t s o 1 c h e r, t e i 1 s mikro¬
skopischer, teils makroskopischer Konkre¬
mente in der ausgeheberten Galle. In einem der
Fälle war es durch die Operation ermöglicht, die volle
Uebereinstimmung im Befunde der Oelgalle
und der Blasengalle zu erweisen.
Wie groß das Bedürfnis nach einer objektiven Begrün¬
dung der Diagnose Cholelithiasis sei, zeigt am besten das
große Interesse, welches man allseits den — leider Vergeb¬
lichen — Versuchen entgegenbrachte, die Steine im Röntgen¬
bilde zur Darstellung zu bringen. Die hier mitgeteilten Re¬
sultate berechtigen zur Hoffnung, daß sich durch die
systematische Untersuchung des 0 e 1 früh¬
st ü c k s ein neuer Anhaltspunkt zur Beurtei¬
lung unklarer Schmerzattacken in der Ober¬
bauchgegend gewinnen lassen wird.
Um so wichtiger erscheint es mir, bereits im Anschlüsse
daran einen Fall mitzu teilen, bei dem ich bei dreimaliger Aus¬
heberung niemals pathologische Beimengung in der Galle
nachweisen konnte, trotzdem der klinische Verlauf auf ein
Leiden der Gallenwege schließen ließ.
Es handelte sich um einen 79jährigen Diener, der seit
seiner Jugend wiederholt anfallsweise krampfartige Schmerzen
in der Leibergegend hatte und nun in hochgradig ikterischem
Zustande die Klinik aufsuchte (20. März d. J,). Sein Ernährungs¬
zustand war ein guter, der Puls 68, kräftig ; er war in den ersten
Tagen fieberfrei. Lymphdrüsen, Knochen und Brustorgane ohne
Befund. Die Leber war unter dem Rippenbogen mit ihrem' glatten,
harten und scharfen Rande tastbar, unempfindlich. Der Stuhl
war cholisch. Der Ikterus verschwand innerhalb acht Tagen.
Am 31. März trat jedoch plötzlich Schüttelfrost und rascher Tem¬
peraturanstieg auf 38-2 ein, tags darauf bestand zwar wieder
normale Temperatur, jedoch, es war wieder Ikterus aufgetreten
und Pat. klagt über heftige Schmerzen in der Leber. Ein ähn¬
licher Anfall wiederholte sich am 4. April. Die Gallenblase, war
niemals tastbar.
Die Oelausheberung (am 23. und 29. März, sowie am ö. April)
ergab stets Galle, in der jedoch weder Konkremente noch Zellen
nachgewiesen werden konnten. Der Kranke verließ am 7. April
die Klinik.
Da in diesem Falle die Diagnose einer Affektion der
Gallenwege nur auf klinische Beobachtung gestützt
ist, wird man erst dann einen Schluß über die Bedeutung
dieses negativen Ergebnisses für den Wert der Oelmethode
ziehen dürfen, wenn in ähnlichen späteren Fällen patho¬
logisch-anatomische Befunde vorliegen werden ; solche Be¬
obachtungen werden zu erweisen haben, ob ein derartig
negativer Untersuchungsbefund für eine Gallenwegaffektion
ohne Stein charakteristisch ist, oder oh es besondere Formen
der Steinkrankheit gibt, die sich der Diagnose mit der Oel¬
methode entziehen.
III.
Bei der zuerst ins Auge gefaßten Erkrankung, der Chole¬
lithiasis, hatten somit meine in die Oelmethode gesetzten
Erwartungen vollauf Bestätigung gefunden; um so wahr¬
scheinlicher erschien es mir nunmehr, daß dieselbe auch
für Erkrankungen des Leberparenchy m s man¬
cherlei Aufschlüsse bringen könne. Um zu prüfen, ob es
unter pathologischen Bedingungen überhaupt gelingt, histo¬
logische Elemente der Gallenwege und der Leber selbst
in der Galle anzutreffen, untersuchte ich die Galle Von sechs
Hasen, die ich mit Phosphor vergiftet hatte.
Die Untersuchung fand derart statt, daß bald (ein bis fünf
Stunden) nach eingetretenem Tode die Leber freigefegt, die Gallen¬
blase sorgfältig vom Stil aus herauspräpariert und nun mit zwei
Haken am Fundus über ein Glas gehalten und mit einem Bistouris
cingestochen wurde. Die im Strahle herausspritzende Galle ge¬
langte nach vorherigem Zentrifugieren zur mikroskopischen Unter¬
suchung.
Ich fand nun hei allen Tieren lange, zum Teil zylin¬
drische, zum Teil keulenförmige Zellen, welche teilweise
noch zu ganzen Lamellen zusammengebacken waren. Bei
einem 2700 g schweren Hasen, der am 19. Mai 20 cm3
Ol. phosphorat. per Schlund sonde erhielt und am 22. Mai
starb und bei dem die Sektion typische Phosphorleber zeigte,
fand ich in der derartig gewonnenen Galle daneben auch
Zellen, die bezüglich ihrer Form, Größe, ihres Kernes und
des verfetteten Inhalts weitgehende Uebereinstimmung mit
den in Gefrierschnitten dargestellten Leberzellen desselben
Tieres zeigten (s. Fig. 5).
Fig. 5.
Leuzin- und Tyrosinkristalle waren in den Gallen nie¬
mals nachweisbar.
Das Ergebnis dieser Versuche läßt es gewiß berechtigt
erscheinen, auch Lebererkrankungen in den Bereich der
mikroskopischen Gallendiagnostik einzubeziehen.
Leider waren meine bisherigen darauf gerichteten Ver¬
suche Vollkommen erfolglos. Denn es gelang mir bei zwei
Zirrhotikern (Laennec), die ich je viermal zu verschie¬
denen Zeiten ihres mehrwöchigen Spitalsaufenthaltes aus¬
heberte, niemals, wirkliche Galle mit dem Oelfriihstück zu
gewinnen.
Die ausgeheberten Massen waren farblos oder leicht
gelblich gefärbt, gaben zumeist saure (Kongo-) Reaktion und
eine Probe derselben gab bei Berührung mit Jodtinktur oder
rauchender Salpetersäure am Filter keine Ringe.
Da eine Prüfung auf Trypsin bisher unterlassen wurde,
so ist es allerdings nicht ganz ausgeschlossen, daß es
sich hier um ein Versagen der Gallensekretion handelt;
das weitaus Wahrscheinlichere ist jedoch, daß die reflek¬
torische Oeffnung des Pylorus ausgeblieben war, wie dies
ja bei manchem meiner Steinkranken ab und zu vorkam,7)
wenn auch mehrmaliges Versagen der Methode nur
bei diesen beiden Kranken zu verzeichnen war. Dieser Be¬
fund erscheint um so auffälliger, als dies die beiden einzigen
Fälle von diffuser Lebererkrankung waren, die ich unter¬
suchte. Weitere Untersuchungen werden zeigen müssen,
ob in diesem Zusammentreffen mehr als ein Spiel des Zu¬
falls zu erblicken ist. Vor allem werde ich aber versuchen,
ob es mit Hilfe verschiedener Variationen der Oelmethode8)
gelingt, doch auch bei Zirrhotikern eine Gallengewinnung
zu erzwingen, sonst wäre die mikroskopische Gallendiagno¬
stik von einem aussichtsvollen Gebiete vollkommen ausge¬
schaltet.
7) Siehe auch Molnar, Zeitschr. für klin. Med., S. 67.
s) Glaessner, Ergebnisse der inneren Medizin und Kinder¬
heilkunde, Bd. 6.
982
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Aus der medizinischen Abteilung für Kinderkrank¬
heiten und der Prosektur des k. k. Wilhelminenspitales
in Wien.
Ein Beitrag zur Kenntnis der durch tier¬
pathogene Bazillen der Influenzagruppe her¬
vorgerufenen eitrigen Meningitis.
(Meningite cerebrospinale septicemique Cohen.)
Von Dr. Emil Prasek und Dr. Tullio Zatelli.
C o h e n 1 2) teilte im Jahre 1909 einige Fälle eigen¬
artiger Meningitis mit, als deren Erreger er einen liämo-
philen, dem der Influenza sehr nahe verwandten Bazillus
beschrieb.
Nach seinen Angaben gleicht dieser in morphologischer
Hinsicht dem Pfeifferschen Influenzabazillus, unter¬
scheidet sich aber im folgenden:
1. Er ist im Gegensätze zum Pfeiffer sehen Bazillus
für Tiere (Kaninchen, Meerschweinchen, Mäuse) hoch¬
pathogen ;
2- Der Bazillus ließ sich in allen beobachteten Fällen
im Blute der Patienten nachweisen und verursacht im
menschlichen Organismus häufig entzündliche Affektionen
der serösen Häute;
3. Auch durch die Agglutination und Konglutination
(Bordet und Streng) unterscheidet er sich vom In¬
fluenzabazillus.
In einer neuen Arbeit teilten Cohen und Fitz¬
gerald“) weitere, teils eigene, teils von anderen Autoren
beobachtete Fälle mit, bei denen sie die früher erhobenen
Befunde bestätigen konnten.
Da Fälle dieser Art bis heute nur in Frankreich, Belgien,
Amerika und England zur Beobachtung kamen, so erscheint
es uns wichtig, durch eine von uns im Wilhelminen-Spitale
gemachte Beobachtung auf das Vorkommen solcher Fälle
auch hierzulande aufmerksam zu machen. Die Kranken¬
geschichte des von uns beobachteten Falles war folgende:
R. W., 18 Monate alt, anfgenomtoen an der Abteilung
des Herrn Primarius Foltanek am 8. Januar 1911. Flaschom
land ; war bis zu der jetzigen Erkrankung stets gesund, Die gegen¬
wärtige Krankheit begann plötzlich vor sieben Tagen mit stürmi¬
schen Erscheinungen: Fieber, Erbrechen, „Zittern“ am ganzen
Körper. Bald stellte sich bei erhaltenem Bewußtsein auch Schielen
ein. Seit der Zeit fiebert das Kind ununterbrochen, ist seht
unruhig und schreit sehr viel. Nahrungsaufnahme schlecht. Es
besteht Obstipation.
Die Mutter ist gegenwärtig angeblich wegen einer Herz¬
beutelentzündung bettlägerig.
Status am 9. Januar 1911: Gut genährtes, sehr blasses
Kind. Haut und Muskulatur schlaff. Fontanelle geschlossen. Ziem¬
lich hochgradige rachitische Veränderungen am ganzen Skelett.
An den unteren Extremitäten und am Stamme Reste von kra-
stosem Ekzem. Intertrigo am Genitale, Bewußtsein frei. Der
Gesichtsausdruck starr, die Lippen trocken, Zunge etwas belegt.
Rachen blaß, Nase trocken. Die Pupillen eng, gleich weit, reagieren
piompt auf Licht. (Ihren frei. Es besteht eine ausgesprochene
Nackenstarre. Die Gehirnnerven frei. Die Hände werden zeitweise
nach vorne gestreckt, wie um etwas zu fassen. Tiefe Reflexe
gesteigert, Hautreflexe prompt. Babinski, Kernig negativ. Ueber
beiden Lungen rauhes Vesikuläratmen mit etwas Schnurren. Ueber-
all heller Lungenschall. Herzbefund nonnal. Puls 150, klein,
regelmäßig. Abdomen etwas vorgewölbt, weich. Die Leber über¬
ragt den Rippenbogen um einen Querfinger. Milz eben tastbar.
Ein breiiger spontaner Stuhl. Urin ohne pathologischen Befund
Temperatur 38-7 bis 39°.
Dekursuls: Bei der Lumbalpunktion werden ca. 8 cm3
eines unter mäßigem Drucke sich entleerenden, leicht getrübten
Liquors abgelassen. Die Essigsäure-Feirrozyankaliprobe stark
positiv.
10. Januar: In der Nacht ziemlich ruhig, gegen früh einige
Male aufgeschrien. Kein Erbrechen. Kernig heute angedeutet
Nackenstarre. Temperatur bis 40-3°, Puls 150.
') Annal.* Pasteur 1909, Bd. 28, S. 273.
2) C. f. Bakt. Orig. 1910, Bd. 56, S. 464.
Nr. 26
11. Januar: Häufiges Aufschreien, starke Unruhe. Bewußt¬
sein ungestört. Kernig positiv. Nackenstarre. Temperatur 38 bis
39°. Puls 150.
12. Januar: Bis 3 Uhr früh sehr unruhig, dann ruhiger
Schlaf. Keine Krämpfe, kein Erbrechen. Pupillen gleich, klein,
reagieren prompt. Bewußtsein ungestört. Ueber beiden Lungen
hinten basal etwas krepitierendes Rasseln. Lockerer Husten. Tem¬
peratur 37-5 bis 38-8°, Puls 140 bis 146. — Zweite Lumbalpunk¬
tion : Stärkerer Druck, Liquor weniger trüb, als bei der ersten
Punktion. Lie abgelassene Menge beträgt 5 Cm3.
13. Januar : Das Kind ist sehr unruhig. Fortwährendes
Aufschreien. Temperatur 37-8 bis 38-8°. Nackenstarre. Kernig deut¬
lich. Das Bewußtsein erhalten.
14. Januar: In der Nacht auffallend ruhig. Bewußtsein ge¬
schwunden. Die Stirne von Zeit zu Zeit korrugiert. Pupillen
stark myotisch, reaktionslos. Keine Krämpfe. Kernig, Nacken-
starre geschwunden, rapide Abmagerung. Ueber den Lungen
beiderseits hinten unten krepitierendes Rasseln. Temperatur 38-5
bis 39°. Puls 150 bis 160.
15. Januar : Bewußtlosigkeit anhaltend. Pupillen klein, reak¬
tionslos. Rechts hinten unten, neben der Wirbelsäule bronchiales
Atmen mit krepitierendem Rasseln. Temperatur 38-6 bis 39-4°.
Puls 160.
16. Januar: In der Nacht allgemeine klonische' Krämpfe,
die nach einer halben Stunde zum Exitus führen.
Das klinische Bild bot also keine wesentliche Ab¬
weichung von dem einer gewöhnlichen eitrigen Meningitis.
Auffallend war vielleicht die verhältnismäßig geringgradige
Trübung des Liquor cerebrospinalis. Für diese Erschei¬
nung fanden wir hei der Sektion anscheinend eine Er¬
klärung in der festen Beschaffenheit des Exsudates sowohl
auf der Hemisphärenoberfläche, als auch im Duralsacke
des Rückenmarkes.
Die am 9. Januar und 12. Januar durch Lumbal¬
punktion gewonnene Flüssigkeit war leicht trüb, ohne Fibrin¬
gerinnsel.
Zum Anlegen von Kulturen und Ausstrichpräparaten
wurde der durch scharfes Zentrifugieren gewonnene Boden¬
satz verwendet.
Bei Färbung mit Karbolfuchsin (1 : 9) findet man sehr
zahlreiche polynukläre Leukozyten und eine große Menge
von teilweise länglichen, teilweise kurzen Stäbchen, die
das Aussehen von Influenzabazillen haben. Recht häufig
sind sie intrazellulär anzutreffen. (Fig. 1.) Bei vielen färben
sich die Pole stärker als die Mitte des Bakterienleibes. Bei
der Färbung imit Methylenblau nehmen die Bazillen die
Farbe schwer an. Die Färbung nach Gram, bei der sich
die Bazillen als Gram - negativ erweisen, ergibt ähnliche
Bilder.
Kulturelle Untersuchung :
Agar- und Menschenserumagar-Kulturen blieben voll¬
ständig steril. Ein Wachstum erzielten wir nur auf hämo¬
globinhaltigen Nährböden.
Auf Agarplatten, die mit sterilem Kaninchenblut be¬
strichen waren, wachsen nach 24 Stunden ausschließlich
kleinste, scharf begrenzte, durchscheinende, tautropfen-
artige Kolonien, die denen der Influenza vollkommen ähnlich
sehen. Auf Pferdeblutplatten (zwei Teile verflüssigtes Agar
mit einem Teil defibriniertem Pferdeblut gemischt) er¬
scheinen die Kolonien zart, flach, von leicht grauer Farbe,
j Fei Lupenvergrößerung sind sie durchscheinend, ohne
wahrnehmbare Struktu r.
Das beste Wachstum erreichten wir auf dem von
Cohen angegebenen Nährboden.3)
Auf diesem Nährboden wachsen die Stäbchen sehr
üppig und bilden ziemlich dicke, graue Basen. Die Aus- ;
striche von allen Nährböden gaben übereinstimmende
Bilder : Kleine Gram-negative zarte Stäbchen, häufig zu zwei
liegend, die dem Influenzabazillus völlig gleichen, wie in
den Ausstrichpräparaten der Lumbalflüssigkeit (vgl. Fig. 2). ]
3) In ein geschmolzenes auf 60° abgekühltes Agarröhrchen setzt
man 1 cm3 defibriniertes steriles Kaninchenblut; nach erfolgter inniger
Mischung erwärmt man durch 3‘ auf 80'. Der Nährboden wird dabei
schokoladefarben. So hergestellte Röhrchen kann man nach Abkühlung
auf 45° entweder zu Platten gießen oder schief legen. Dieser Nährboden
eignet sich auch ausgezeichnet für Influenzabazillen.
Nr. 26
933
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Um die Tierpathogenilät dieses aus dem Liquor cerebro¬
spinalis rein gezüchteten Stammes zu prüfen, wurden sechs
Oesen der Bazillen (zweite Passage auf Cohenschen Agar)
in zirka 2 cm3 steriler 1% NaCl - Lösung aufgeschwemmt,
so daß sie eine homogene Emulsion bildeten; diese wurde
dem Kaninchen Nr. 187 (Gewicht zirka 1000 g) intravenös
injiziert. Parallel wird eine Maus mit gleichartiger Emulsion
von drei Oesen in 0-5 cm3 Kochsalz intraperitoneal geimpft.
Kaninchen und Maus sterben nach 14 Stunden.
Sektionsbefund vom Kaninchen Nr. 187 :
Im Oavum peritonei eine mäßige Menge von leicht trüber
Flüssigkeit. Im Peritoneum parietale spärliche kleine Hämor-
rhagien. Das Peritoneum viscerale zeigt zahlreiche punktförmige,
stellenweise konfluierende Hämorrhagien, namentlich am Cökiun
und Ileum.
Im Ausstrich von Blut des Kaninchens Nr. 187 waren
typische, kurze Grant-negative influenzaähnliche Stäbchen in
sehr großer Menge nachweisbar. Auch in den Ausstrichen
vom Peritonealexsudat waren, wenn auch in nicht so großer
Menge, gleichartige Bakterien zu finden. Aus dem Herzblut
erhielten wir leicht auf Cohens und gewöhnlichem Blut¬
agar die im Ausstrich nachgewiesenen Bazillen in Reinkultur.
In einigen Fällen beobachteten wir, daß die Bakterien im
Tierkörper (Kaninchen, Maus) eine längliche Form annehmen,
manchmal auch ziemlich lange Fäden bilden. Ein Beispiel
dieser Formen gibt Fig. 3.
Mit drei Kapillartropfen des Herzblutes von Kaninchen
Nr. 187 wird eine Maus intraperitoneal geimpft (Maus I).
Parallel mit ihr erhält eine zweite Maus eine Aufschwem¬
mung von drei Oesen Kultur (Lumbalstamm, dritte Gene¬
ration, Cohenscher Agar) ebenfalls intraperitoneal (Maus II).
Maus I stirbt nach weniger als 12 Stunden.
Maus II stirbt nach 14 Stunden.
Die Sektion der Mäuse ergibt reichliches, leicht trübes
Exsudat im Peritoneum^ starke Hyperämie der Lungen und
bei Maus I auch ein reichliches Exsudat in beiden Pleura¬
höhlen. Die Ausstriche von Blut, Peritoneal- und Pleura¬
exsudat und Kulturen auf C o h e n - Agar geben positiven
Bazillenbefund (Reinkultur).
In den Blutausstrichen von Maus I zahlreiche lange
Bazillenformen. Die erhaltenen Reinkulturen aus dem Blute
von Kaninchen Nr. 187, Maus I und II und dem Pleura¬
exsudat von Maus I wurden auf ihr Wachstum auf gewöhn¬
lichen und hämoglobinhaltigen Nährböden geprüft. Auf
hämoglobinhaltigem Agar war Idas Wachstum stets üppig, auf
gewöhnlichem Agar wuchsen die Bakterien niemals.
Wir bemühten uns noch intra vitam den Ausgangs¬
punkt der Infektion festzustellen und untersuchten das
Nasen- und Rachensekret auf influenzaartige Bakterien. Es
gelang uns auch aus dem Nasensekret die gesuchten Bak¬
terien zu isolieren und mit denen aus der Lumbalflüssigkeit
gewonnenen zu identizieren.
Obduktionsbefund; zwei “Stunden post mortem (Obduzent:
Dr. Pra§ek):
Die Leptomenir.gen eitrig infiltriert „u. zw. derart, daß an
der Basis in der Umgebung von Chiasma, Medulla und Unteir-
wurm große Mengen eines starren, grünlic'ligelben Exsudates ein¬
gelagert sind. Im übrigen finden sich an der Basis des Stirn¬
lappens eigenartige, scharf umschriebene, fleckig angeordnete Ex¬
sudatmassen und in derselben Anordnung, wenn auch zum Teil
konfluierend, präsentiert sich das den größten Teil der Lepto-
meningen der vorderen Hälfte des Gehirns inklusive des Hirn¬
spaltes einnehmende, hier mehr gelb gefärbte Exsudat. Die er¬
wähnte umschriebene Ablagerung des Exsudates spricht sich hier
dadurch aus, daß innerhalb der flächenhaft ausgebreiteten Exsudat¬
massen scharf umschriebene Stellen frei geblieben sind. Nach
hinten zu demarkiert sich die Eiterablagerung ziemlich scharf in
einer Linie, die etwa den Zentralwindungen entspricht, so daß
die Meningen der hinteren Anteile der Hemisphären zwar hyper¬
ämisch, aber nicht eitrig infiltriert sind. Im Längsblutlei tea* be¬
findet sieb ein lockerer, teils schwarz, teils grauroter Thrombus,
in den Pialvenen heller rote Thromben. Die Thromben haften
den Gefäßwänden nicht an. Der Thrombus des Sinus ist zentral
zum Teil in eine rötlichgraue, dickliche Flüssigkeit umgewandelt.
Die Thrombose erstreckt sich auch auf die Vena magna.. Der ab¬
fließende Liquor ist ziemlich stark getrübt. Die Ventrikel sind »mäßig
erweitert, die Wandungen, namentlich entsprechend den Hinter¬
hörnero, stark erweicht ; im Mark der Hemisphären, besonders aber
der Sehhügel, befinden sich punktförmige Blutungen. Die Rinden¬
substanz ist allenthalben hyperämisch, das Hemisphärenmark und
die Stammganglien sind weich und stark durchfeuchtet. Im. Dural¬
sack, besonders reichlich in der Geigend der Cauda equina des
Rückenmarkes, befindet sich reichliches, dickes, grüngelbes,
eitriges Exsudat. Die Leptomeningen sind hyperämisch.
In den Halsorganen mit Ausnahme von geringer Schwellung
der lymphatischen Apparate des Zungengrundes und der Tonsillen
keine auffallende Veränderung. In den Lungen kleine lobulär-
pneumonische Herde in den Unterlappen und in den hinteren
Partien des rechten Ober lap pens. Aus den Durchschnitten aller
kleinen Bronchien entleert sich dicker, weißer Eiter. Die Milz
ist mäßig vergrößert: 7X4X2-8 cm. Die Pulpa fest, graurot, nicht
vorquellend, die Follikel deutlich sichtbar. Das Herzfleisch blaß,
gelbrot. Die Klappen ohne Abnormitäten. Leber leicht geschwellt,
Zeichnung etwas verwischt, Färbe rötlichgrau bis rötlichgelb.
Die Nieren embryonal gelappt, von heller, graugelber Farbe,
guter Konsistenz.
Magenschleimhaut blaß. Die Schleimhaut des Colon ascen-
dens leicht geschwellt und gerötet.
Sektion der Nasenhöhle (Freilegung nach Hecker):
Die Nasenmuscheln und die Schleimhaut des Septums, be¬
sonders linkerseits vielfach mit gelbem geronnenem» Exsudate
bedeckt. Die Schleimhaut blaß.
Untersuchung des Sektionsmateriales:
Meningealeiter: Ausstrich nach Gram gefärbt,
Nachfärbung mit Karbolfuchsin 1:10.
Zwischen Fibrinfäden reichliche Leukozyten, sehr zahl¬
reiche, Gram-negative, kurze Bakterien vom Typus der In¬
fluenza. Einige intrazellulär gelagert.
Naseneiter: Ausstrich wie oben gefärbt : reichliche
Pseudodiphtheriebazillen neben Gram - negativen und Gram¬
positiven Kokken; diese sind teilweise Diplokokken. Da¬
neben in ziemlich großer Zahl Gram - negative, kleine
Stäbchen, die dem Influenzabazillus ähnlich sind.
Ausstriche von Bronchialeiter und dem Gewebs-
saft der lobulärpneumonischen Herde: Gram-
positive Diplokokken, teils Von Typus des Diplococcus lan-
ceolatus, Gram - negative Diplokokken, relativ spärliche in¬
fluenzaartige Stäbchen.
Kulturelle Untersuchung:
Meningealeiter: Auf Cohenschem Nährboden
nach 24 Stunden Reinkultur von influenzaartigen Mikro¬
organismen.
Nas'eneiter: Neben zahlreichen Staphylokokken¬
kolonien wachsen auf hämoglobinhaltigen Nährböden kleine,
sehr zarte Kolonien die teilweise aus dem Diplococcus lan-
ceolatus, teilweise aus influenzaartigen Stäbchen bestehen.
Diese konnten rein auf Cohenschen Nährböden gezüchtet
werden, auf gewöhnlichem Agar wuchsen sie nicht. Ein
gleiches Ergebnis hatten wir bei der Kultur des Bronchial¬
eiters. Einen positiven Befund ergab auch die Kultur des
bei der Sektion steril aus dem Herzen entnommenen
Blutes: Dieses wurde auf Cohen schem Agar (zirka 1 cm3
Blut auf eine Platte) ausgestrichen.
Nach 24 Stunden entwickeln sich in nicht sehr großer
Menge, jedoch ausschließlich durchscheinende, zarte, scharf
begrenzte Kolonien, die aus influenzaartigen Bakterien be¬
stehen.
Die Platten, auf denen Milzpulpa in geringer Menge
angestrichen wurde, blieben steril.
Die Stämme, die aus dem Naseneit.er und dem1 Herzblut
reingezüchtet wurden, prüften wir auf die Tierpathogenität.
Stamm Naseneiter, dritte Goneration auf
Cohen-Agar: Kaninchen Nr. 117 (zirka 1000 g schwer)
erhält sechs Oesen Kultur in 2 cm3 Kochsalzlösung intra¬
venös. Tod nach sechs Stunden. Im Herzblut eine sehr
große Menge Gram - negativer, kleiner Bazillen. Die Lunge
hochgradig hyperämisch.
Blutstamm zweite Generation auf Cohen-
Agar: Dem Kaninchen Nr. 159 (zirka 1000 g schwer) wurde
nur eine Oese in 1 cm3 Kochsalzlösung intravenös injiziert.
Das Tier verendete, der kleinen % inijzierten Menge ent¬
sprechend nach sieben Tagen. Im Herzblut mikroskopisch
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
931
und kulturell ausschließlich und in großer Menge influenza¬
artige Bazillen. Reichliche Mengen eines serösen Exsudates
in allen serösen Höhlen.
Die Kultur aus dem Pleuraexsudat ergab den erwähnten
Bazillus in Reinkultur.
F'g- !• Fig. 2. Fig. 3.
Histologische Untersuchung der Schnitte:
Gehirn: Die inneren Hirnhäute sind von fibrinös¬
eitrigen Exsudatmassen durchsetzt. Das Fibrinnetz enthält
in seinen Maschenräumen reichliche Mengen polynukleärer
Leukozyten, die größtenteils zerfallen sind.
Die Blutgefäße der Leptomeningen sind stark er¬
weitert und prall gefüllt.
In den Schnitten, die nach der P f e i f f e r sehen Methode
gefärbt sind, findet man eine große Anzahl kleiner, stellen¬
weise etwas längerer Stäbchen die häufig intrazellulär liegen.
Nasenschleimhaut: Das Epithel leicht aufge¬
lockert, stellenweise stark verschleimt. Das subepitheliale
Bindegewebe von Leukozyten durchsetzt. Die Blutgefäße
stark gefüllt. Bei der Färbung der Schnitte nach der
Pfeifferschen Methode ließen sich, wenn auch spärliche,
mfluenzaartige Bazillen nachweisen. In Schnitten nach
Gram färbten sie sich nicht.
Die Lunge zeigt das Bild der Bronchopneumonie
mit vorwiegend eitriger Exsudation. Die zentralen Partien
der Herde und die Septa sind eitrig eingeschmolzen.
Das Epithel der Bronchien stellenweise fehlend, stark
gelockert, das Lumen der Bronchien an vielen Stellen Voll¬
gefüllt mit polynukleären Leukozyten. Auch hier waren
bei der Bakterienschnittfärbung influenzaähnliche Stäbchen
neben zahlreichen anderen Bakterien zu finden.
Es handelt sich also in dem von uns beobachteten Fälle'
um eine eitrige Meningitis, bedingt durch ein dem fnfluenza-
bazillus ähnliches Stäbchen, das sich vom Pfeifferschen
Influenzabazillus namentlich durch seine tierpathogenen
Eigenschaften unterscheidet. Wie Cohen auf Grund eines
f alles, bei dem gleichzeitig ein Empyem der Hyghmorshöhle
\ oi hand en war, annimmt, dürfte wohl die Eintrittspforte
der Infektion sich in den oberen Respirationsorganen be¬
finden. Auch unsere Beobachtungen sprechen für diese
Annahme; u. zw. der Nachweis und die Reinzüchtung des
Bazillus aus dem Nasensekret intra vitam, der Sektions¬
befund der Nasenhöhle und endlich der klinische Verlauf.
Daß die Pneumonie den Ausgangspunkt gebildet hätte
ist wenig wahrscheinlich, da sie erst später bei bereits voll
ausgeprägten und schon einige Tage bestehenden Sym¬
ptomen der Meningitis hinzugetreten ist.
Auch war die größere Bazillenzahl im Nasensekret
auffallend gegen die viel kleinere Menge im Bronchialsekret.
Diesen Infektionsmodus kann man mit dem bei der epide¬
mischen Genickstarre ausführlich studierten in Analogie
bringen, um so mehr, als es sich in den von Cohen und
uns beobachteten Fällen immer und bei den früher als
Influenzameningitis beschriebenen Affektionen in über¬
wiegender Anzahl um Kinder gehandelt hat.4)
• w4r.e ^aher angezeigt, zur Stütze dieser Annahme
bei Meningitisfällen die durch den erwähnten Bazillus be-
Wochelhr0 Ä A""- l>a5,e"r’ '• C’; VgL *»* G h ° »• I
dingt, sind, auch in der Umgebung des Kranken nach diesem
Erreger in der Nasenschleimhaut zu fahnden.
Wie Cohen annimmt, ist es nicht unwahrscheinlich,
daß zum mindesten ein Teil der früher als Influenzamenin¬
gitis beschriebenen Fälle durch den Cohen sehen Bazillus
bedingt war. Unserer Ansicht nach sollte auch in
anderen Fällen von anscheinend durch Influenzabazillen
bedingten Eiterungen auf die von Cohen angegebenen
Kriterien geprüft werden. Inwieweit die Tierpathogenität
ausreicht, den Cohen sehen Bazillus völlig vom Influenza¬
bazillus abzutrennen, muß weiteren Untersuchungen Vor¬
behalten werden, die sich in erster Linie auf die Unter¬
suchung zahlreicher, bei gewöhnlichen Influenzaaffektionen
gefundener Bazillenstämme, auf ihre Tierpathogenität und
ihr Verhalten bei der Agglutination erstrecken sollten.
Ueber die konservative Behandlung kalter
Abszesse.
Von Dr. Emil Q. Reck, Chirurg am North Chicago Hospital.
(Hiezu eine Tafel.)
Die meisten Chirurgen sind der Ansicht, daß ein kalter
Abszeß womöglich nicht eröffnet oder drainiert werden soll.
Solange derselbe uneröffnet bleibt, ist er verhältnismäßig
harmlos, wenn er eröffnet ist, wird er sofort eine Quelle
der Gefahr: Sekundäre Infektion ist die fast regelmäßige
folge, Sepsis und Tod keine Seltenheit. Durch keinerlei
Behandlungsmethode des einmal eröffneten Abszesses kann,
diese Gefahr beseitigt werden. Entsprechend den jeweilig
herrschenden Ansichten über die Pathologie des kalten Ab¬
szesses wechselten im letzten Jahrhundert auch die Me¬
thoden, nach welchen derselbe behandelt wurde. In der vor-
antiseptischen Zeit war die Behandlung natürlich irrationell.
Dupuytren, Larrey u. a. eröffneten noch mit großen
Inzisionen die kalten Abszesse, aber schon David war ein
Gegner dieser Art der Behandlung; er schreibt: „Ich habe
immer beobachtet, Idaß Patienten sterben, welchen man
einen kalten Abszeß eröffnet.“ Die Sterblichkeit bei Hüft¬
gelenks- und Wirbelkaries betrug nach Follin zu jener
Zeit ca. 60% bis 70%. Nach unseren heutigen Erfah¬
rungen weiß man, daß, diese hohe Sterblichkeit auf unvoll-
kommener Immobilisierung, schlechter Hygiene und Sekun¬
därinfektion zurückzuführen ist.
Mit der Einführung der Asepsis auch in der Behandlung
der Gelenks- und Knochentuberkulose durch Männer, wie
K ö n i g und Lannelongu e, erhielt die Indikationsstellung
zu chirurgischen Eingriffen bei diesem Leiden eine gewal¬
tige Erweiterung und Umgestaltung.
L an nelongue zeigte, daß der kalte Abszeß die Folge
< inei primären tuberkulösen Infektion ist und Vertrat daher
die Idee der frühzeitigen radikalen Entfernung des
primären Herdes. Dies war gewiß an sich eine rationelle
Behandlung, doch gab es eine erschreckend große Anzahl
\ on Todesfällen an Shock im Anschluß an ausgedehnte Re¬
sektionen der Hüfte und Wirbel; die überlebenden Fälle
aber boten infolge der resultierenden Deformität ein trauriges
Bild der Verstümmelung.
Ls ist darum begreiflich, wenn diese Methode bald
an Popularität Verlor und vor einer viel weniger radikalen
zurückweichen mußte. Man beschränkte die Behandlung
allein auf die Abszesse, die Knochenaffektion aber, von
welcher diese ausgingen, ignorierte man. Es wurde mit
anscheinend günstigem Erfolge das Kürettement oder die
Exzision der Abszeßwand der Entfernung des Eiters ange¬
schlossen und mit peinlichster Beachtung der Asepsis durch¬
geführt. Die Wunden heilten rasch per primam und die
Kranken genasen.
Das Urteil der Zeit erschütterte aber die Hoffnungen,
welche die Verfechter dieser Methode in sie gesetzt hatten:
die Heilung war nur selten eine dauernde.
Die Ui Sache der Rezidiven bei dieser halbradikalen
Methode ist naheliegend, wenn man folgende Tatsachen be¬
denkt: Wir wissen, daß der Inhalt eines kalten Abszesses
Nr. 26
935
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
zwar meist steril ist, seine Wandung aber lebende Bakterien
beherbergt. Nun ist die Abszeßwand gleichzeitig ein Schutz¬
wall, der das Ausbreiten der Keime in die gesunde Um¬
gebung Verhindert und letztere vor der Infektion schützt.
Kann es Ida vorteilhaft sein, diese natürliche Barriere nieder¬
zureißen und den in der Abszeßwand eingebetteten und
dadurch relativ unschädlichen Bakterien Tür und Tor zu
öffnen ?
Weiters: Wenn wir auch die pyogene Membran des
kalten Abszesses und seine ganze Wand entfernen, bleibt
doch das ursprüngliche Leiden bestehen ; was hätte demnach
die Exzision für einen Vorteil? Ehe der primäre Herd nicht
ausgeheilt oder wenigstens die Virulenz der Bakterien wesent¬
lich herabgesetzt ist, kann das Kürettement oder die Exstir¬
pation des Abszesses nur von geringem Nutzen sein.
Tatsächlich bestätigen die Erfahrungen diese Ueber-
legung. Die momentanen Erfolge in vielen der so operierten
Fälle scheinen ausgezeichnet und ohne Zweifel sind auch
einige Dauerresultate zu verzeichnen. Meist aber füllt sich
die Abszeßhöhle abermals mit Eiter und Detritus. Die Wunde
öffnet sich wieder und in der Regel kommt eine sekundäre
Infektion dazu. Dieselbe ist zwar selten so heftig, daß das
Leben des Kranken dadurch bedroht wird, aber der Zustand
wird chronisch, die Eiterung versiegt nicht, es bilden sich
Fisteln.
Diese in bezug auf den Prozeß allein radikale Methode
wird heute nur mehr wenig verwendet, sie ist überholt durch
die konservative Behandlung des kalten Abszesses,
welche darin besteht, demselben die Resorption zu er¬
leichtern. Dies geschieht durch vollkommene Bettruhe, Im¬
mobilisierung der erkrankten Gelenke und schließlich da¬
durch, daß man dem Kranken alle jene Vorteile angedeihen
läßt, welche die natürliche Widerstandskraft des Organismus
gegen das Leiden zu erhöhen imstande sind.
Die konservativen orthopädischen Chirurgen haben weit
mehr Geduld mit diesen Fällen als die aggressive, ruhelose
Generation unserer Gilde und sie haben zweifellos Hunderte
von Kindern durch das konservative Verfahren gerettet;
freilich hinkt anderseits wieder mancher Krüppel mit ewig
eiternden Fisteln Von Klinik zu Klinik, dem dieses Elend
hätte erspart bleiben können, wenn er zur rechten Zeit
chirurgisch behandelt worden wäre.
C a 1 o t gibt zur Behändlung des Abscessus frigidus
folgende Regeln :
1. Es ist v e r b o t e n, Abszesse zu eröffnen, wenn diese
nicht leicht erreichbar sind; in diesen Fällen besteht keine
Gefahr einer etwaigen spontanen Ruptur.
2. Es ist erlaubt, Abszesse zu öffnen, die leicht er¬
reichbar sind, auch wenn keine spontane Ruptur droht.
3. Es ist dringendePflich t, Abszesse zu eröffnen,
wenn die Gefahr der spontanen Ruptur besteht. In diesen
Fällen sind sie leicht zugänglich.
Die Behandlung besteht in der Aspiration des Absze߬
inhaltes und darauffolgender Injektion einer Substanz, die
eine heilende Wirkung ausüben soll.
Ich unterschreibe ohne weiteres die Sätze 1 und 3,
kann aber Calots zweiter Regel nicht beipflichten, da
ich der Ueberzeugung bin, daß hier das nichtoperative Ver¬
fahren so lange als möglich beibehalten werden soll. So¬
lange der Patient nur geringe Schmerzen und kein hohes
Fieber hat, trachte man, ohne chirurgischen Eingriff aus¬
zukommen; dabei muß aber der Abszeß fortwährend beob¬
achtet werden, um im Falle einer drohenden Ruptur sofort
eröffnet werden zu können. Treten Symptome von Pyrexie
auf oder nimmt das Allgemeinbefinden des Kranken konti¬
nuierlich ab, dann hat man Grund, anzunehmen, daß der
Abszeß reinen Eiter enthält und darf nicht nur, sondern
soll inzidieren. Der Eingriff selbst soll nicht zu radikal
sein, Kürettement oder Irrigation der Abszeßhöhle ist nicht
angezeigt. Man aspiriere den Eiter und injiziere hierauf
eine leicht antiseptische Lösung. Dieses Verfahren wird
heute ziemlich allgemein angewandt und wurden die ver¬
schiedensten Mittel Verwendet mit ziemlich gleich günstigen
Resultaten.
So injizierte man Silbernitrat, Jodtinktur, Alkohol, Subli¬
mat, Milchsäure, Aether, Jodoform, Kampfer - Naphthol,
Trypsin, Guajakol, Formalin, verschiedene Sera und noch
manch andere Mittel. Außer dem Jodoform-Glyzerin und
Kampfer-Naphthol wurde in letzter Zeit vielfach die von
Calo t empfohlene Mischung (Ol. olivar. 50, Aether sulf. 50,
Kreosot 2, Jodoform 5) und Murphys 2°/oige Formalin-
Glyzerinlösung mit gutem Erfolg verwendet.
Einige Chirurgen vermeiden die Injektion von ent¬
leerten Abszessen und behaupten, gute Erfolge auch mit
der einfachen Aspiration zu haben; sie wiederholen dieselbe
so oft, als sich der Abszeß wieder füllt (G a n g o 1 p h e). Diese
einfache Aspiration läßt sich mit der Punktion von tuber¬
kulösen Pleuraexsudaten vergleichen; sie heilt selten das
Grundleiden, bringt aber dem Kranken temporäre Erleichte¬
rung. Aber die Notwendigkeit öfterer Wiederholung der Aspi¬
ration birgt in sich die Gefahr der Sekundärinfektion, welche
durch die Injektion desinfizierender Lösungen wesentlich
verringert wird.
Im Januar 1908 prüfte ich den Wert der Wismut¬
pasta als fäulniswidrige Substanz und da mir dieses Mittel
auch bei der Behandlung kalter Abszesse gute Dienste xu
leisten schien, verwendete ich es seither in einer großen
Anzahl von Fällen. Jetzt, nach Ablauf von mehr als drei
Jahren, zögere ich nicht, dasselbe als eine wertvolle Be¬
reicherung unserer therapeutischen Mittel zur Behandlung
der kalten Abszesse zu empfehlen.
Applikationsweise.
Ist ein Abscessus frigidus nahe der spontanen Perfora¬
tion, so wird er unter Wahrung der Asepsis durch eine
zirka 1 bis 2 cm lange Stichinzision eröffnet und entleert,
wobei das Kneten und Drücken zu vermeiden ist. Dann
wird durch die Inzisionswunde eine Menge Von h ö c h-
s t e n s 100 g einer 10 % i g e n Wismut-Vaselin¬
paste injiziert, die Wunde nicht vernäht, nicht drainiert,
leichte Massage über der ganzen Abszeßgegend unterstützt
die Ausbreitung der Paste in den Buchten und Falten der
Höhle. Ein gut sitzender steriler Gazeverband, welcher täg¬
lich zu wechseln ist, schützt vor Verunreinigung und Infek¬
tion. Durch die nun eintretende allmähliche Schrumpfung
und Retraktion der Abszeßmembran werden in der folgenden
Zeit kleine Mengen der eingedickten Paste langsam aus der
Inzisionswunde herausgedrückt und abgestoßen, ein Vor¬
gang, der vielleicht einen Schutz gegen das Eindringen von
Keimen durch die Wunde bietet. Sammelt sich später neben
der injizierten Masse doch wieder Eiter an, so kann derselbe
durch abermalige Eröffnung der alten Inzisionswunde ab¬
gelassen werden; eine Wiederholung der Wismutinjektion
ist nicht nötig. Ich machte den ersten Versuch mit dieser
Behandlungsmethode am 17. Januar 1908 am North Chicago
Hospital an einem 2V2jährigen Knaben, der einen tuber¬
kulösen Abszeß ungefähr in der Mitte der Tibia hatte. Durch
eine einzige Injektion war derselbe innerhalb einer Woche
verödet und blieb geschlossen. Dieses günstige Resultat er¬
mutigte mich, die gleiche Behandlung bei folgendem Falle
zu versuchen :
Ein Knabe von RA Jahren hatte einen großen Psoasabszeß,
der über das Poupartsche Band reichte und auf seiner Höhe
einen erweichten Bezirk aufwies. Ich entleerte aus demselben
DA Liter Eiter und injizierte 120 g einer 10%igen Wismutpaste.
Während früher hohe Temperaturen bestanden, blieb Patient von
der Injektion an fieberfrei. Die Wunde schloß sich nach vier
Tagen, wurde aber, da sich abermals Eiter angesammelt hatte,
drei Tage später wieder eröffnet, das Sekret entleert und diesmal
60g einer 33°/oigen Wismut- VaselinpjLste injiziert. Drei Tage
später war die Inzisionsöffnung wieder geschlossen und blieb
es ; von da ab besserte sich das Befinden des Patienten rasch.
(Fig. 1) illustriert die Ausdehnung des Abszesses nach der Wismut¬
injektion.
Ein anderer Fall: lSjähriger Patient, hatte im Alter von
acht Jahren wegen Kniegelenkstuberkulose eine Operation durch-
936
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
gemacht, die zur Heilung mit starker Verkürzung des Beines
geführt hatte.
Seither war der Patient anscheinend gesund, bis vor vier
Monaten, da sich eine Schwellung im Bereiche des linken Ell¬
bogens zu bilden begann. Dieselbe wurde anfangs als Rheuma¬
tismus angesprochen, vergrößerte sich aber und führte zur Sper¬
rung des Gelenkes.
Ich fand im Bereiche des Ellbogens drei fluktuierende Be¬
zirke, welche ich an den weichsten Stellen inzidierte und mit
33°/oiger Wismutpaste injizierte. Ich benützte in dem Falle die
stärkere Lösung (sonst meist eine 10°/oige), weil die gebrauchten
Quantitäten nur klein waren. Das nach der Injektion aufge¬
nommene Radiogramm (Tafel, Fig. 2) zeigt deutlich die Aus¬
dehnung jedes Abszesses und bestätigt die Tatsache, daß die¬
selben untereinander nicht kommunizieren, doch hatten sie alle
ihren Ursprung in einem tuberkulösen Herde am Condylus externus
humeri.
Schon 24 Stunden nach der Injektion wurde das ursprüng¬
lich flockige Sekret klar und serös und versiegte allmählich
vollkommen. Die Schwellung im Ellbogen ging zurück, das Gelenk
erhielt wieder seine normale Konfiguration und heilte — aller¬
dings mit eingeschränkter Beweglichkeit — vollkommen aus.
Seit jener Zeit habe ich diese Methode, kalte Abszesse
zu behandeln, an fast allen Körperteilen angewendet, dieselbe
auch auf eiternde Lymphdrüsen und pararektale Abszesse
ausgedehnt und niemals eine Sekundärinfektion oder eine
höhere Temperatursteigerung daraufhin beobachtet.
Und was die Heiiresultate betrifft, wurden meine Er¬
wartungen übertroffen: Von den nächsten 26 Patienten,
welche ich auf diese Art behandelte, heilten alle aus bis
auf einen, bei welchem die Fistel bestehen blieb (schwerer
Fall von Koxitis). Seither behandle ich keinen kalten Abszeß
mehr mit der einfachen Aspiration, sondern verwende in
jedem Falle die Wismutinjektion. Meine Methode wurde von
anderen Chirurgen bald aufgegriffen und bereits im Juni
1909 berichteten R id Ion und Blanchard über acht
Fälle, die erfolgreich mit Wismut behandelt worden waren.
. Legt man sich die Frage vor: Warum sind die Chi¬
rurgen im Laufe der Jahre von den verschiedenen Injek¬
tionsmitteln immer wieder abgekommen, warum werden stets
neue Lösungen zur Einspritzung in kalte Abszesse vorge¬
schlagen, wo doch die Erfolge ziemlich gleich günstig waren,
so ist die Antwort leicht darin zu finden, daß man die jedem
der angewendeten Mittel anhaftenden Mängel (giftige, rei¬
zende oder schmerzende Nebenwirkung) zu beseitigen trach¬
tete, bzw. bestrebt war, eine in erster Linie desinfizierende
Substanz zu finden, welche neben den gewünschten Vor¬
zügen möglichst geringe Nachteile besitzt.
Ich habe in mehreren 100 Fällen die Wirkung der
Wismutpaste auf die Sekretion der kalten Abszesse zyto-
logisch untersucht und habe Beobachtungen gemacht, welche
den günstigen Einfluß dieses Mittels durchaus erklärlich
erscheinen lassen. Der Inhalt tuberkulöser Abszesse ist in
der Regel steril, er besteht hauptsächlich aus Detritus, zum
geringeren Teil aus weißen Blutzellen.
24 Stunden nach der Injektion von Wismutpaste findet
man im Abszeßinhalt eine große Menge polymorphkerniger
Leukozyten, zugleich mit spärlichen roten Blutzellen, meist
eingebettet in einem Netzwerk fibrinöser Fasern. Diese Ver¬
änderungen, welche auf eine entzündliche Reaktion zurück¬
zuführen sind, wurden von anderen Autoren nach der In¬
jektion anderer desinfizierender Mittel in Abszeßhöhlen eben¬
falls beobachtet.
Coyon und Fiesengen haben eine Theorie aufge¬
stellt, nach welcher die Einwirkung der verschiedenen Lö¬
sungen auf den Abszeßinhalt auf chemische Vorgänge zurück¬
zuführen ist. Sie haben gezeigt, daß in den Fällen, wo ein
akuter Abszeß vorliegt, ein proteolytisches Ferment ent¬
steht, analog dem tryp tischen Ferment des Pankreas, welches
Albumine koaguliert und sie in Säuren und Peptone verwan¬
delt. Dieses Ferment bildet sich beim Zerfall der polymorph¬
kernigen Leukozyten.
Im Gegensatz dazu fehlt das proteolytische Ferment in
tuberkulösen Abszessen infolge des Umstandes, daß hier auch
keine polymorphkernigen Leukozyten vorhanden sind. Diese
treten jedoch auf, wenn eine jener desinfizierenden Lösun¬
gen mit der Abszeßwand in Kontakt tritt.
Bald nach der Entdeckung des Tuberkelbazillus wurde
angenommen, daß die heilende Wirkung desinfizierender
Injektionen nur den antiseptischen Kräften der gebrauchten
Mittel zuzuschreiben sei. Demgegenüber fand man, daß
einige dieser Substanzen in vitro eine nur sehr geringe
bakterizide Kraft haben, während ihre Wirkung auf die
im Abszeß des lebenden Körpers florierenden Bakterien eine
sehr mächtige ist. Am deutlichsten läßt sich diese Erschei¬
nung am Jodoform beobachten, dessen Einfluß auf das
Wachstum der Bakterien außerhalb des Körpers nur sehr
gering ist, das aber im lebenden Gewebe, insbesondere gegen¬
über den Tuberkelbazillen eine stark wachstumhemmende
Wirkung ausübt. Auch der bakterizide Einfluß der Wisrnut-
paste beruht nicht auf seiner antiseptischen Kraft, sondern
auf dem Prinzip, das allen diesen Substanzen und Lösungen
zukommt : die Erzeugung einer Leukozytose. Es
hat demnach auch das Wismut eine chemotaktische Wir¬
kung, ist also indirekt für die Phagozytose verantwortlich
zu machen.
folgendes sind die Vorteile der Wismutpaste gegen¬
über anderen desinfizierenden Lösungen:
Ich vermeide den Troikart, entleere den Abszeß stets mit
einer Inzision; zunächst deshalb, weil die Gefahr, den Abszeß
zu verfehlen oder darunter liegende Organe zu verletzen, geringer
ist. Ferner können etwa vorhandene größere Fibrinflocken oder
Gewebsfetzen durch eine Inzisionsöffnung leichter nach außen
gelangen, während sie den Troikart verstopfen.
1. Die dicke Konsistenz der Paste gestattet, dem noch
vorhandenen oder sich wieder bildenden Sekret der Abzeß-
wand entlang den Ausweg zu finden, verhindert aber (di©
sekundäre Infektion von außen.
2. Injektionen mit anderen desinfizierenden Lösungen
müssen in der Regel wiederholt werden, während eine ein¬
malige Wismutinjektion meist ausreicht, den Abszeß zur
Ausheilung zu bringen.
d. Die Wismutinjektion ist weder schmerzhaft, noch
reizend. Die Paste wird in warmem halbflüssigen Zustand
eingespritzt und bleibt lange in Kontakt mit der Abszeßwand.
Die Gefahr einer Vergiftung mit Wismut ist nur gering, jeden¬
falls nicht größer als jene mit Jodoform.1) Das Vaseline, in
welchem die wirksame Substanz suspendiert ist, mazeriert
die Abszeßwand nicht.
Diese Vorteile und die praktischen Resultate, welche
bei Anwendung der Wismutpaste zur Behandlung des kalten
Abszesses erzielt wurden, lassen die Frage aufkommen:
V arum kann das Mittel nicht zu intraartikulären Injektionen
(analog der Jodoform emulsion) verwendet werden? Ich habe
dies auch in mehreren Fällen versucht, wurde aber später
sehr vorsichtig und zurückhaltend, nachdem ich einen Mi߬
erfolg erlebt hatte (B e c k. Transactions of 6. internat. Con¬
gress on Tuberculosis, V., IT).
In letzter Zeit habe ich die Wismutinjektion in tuber¬
kulöse Gelenke wieder aufgegriffen, doch wäre es verfrüht,
aus meinen diesbezüglichen Erfahrungen Schlüsse zu ziehen.
Erst wenn ich über eine größere Reihe von Beobachtungen
und günstigen Erfolgen berichten kann, werde ich auch die
intraartikuläre Wismutinjektion empfehlen können.
Aus der chirurgischen Abteilung des städtischen
Krankenhauses in Graz.
(Vorstand: Priv.-Doz. Dr. Hertle.)
Zur Chirurgie des Choledochuskrebses.
Von Dr. Spin <11 er, Assistenten.
Die primären Karzinome der großen Gallengänge ge¬
hörten bis vor wenigen Jahren wohl mehr in das Gebiet der
pathologischen Anatomen als in das der Chirurgen und
selbst Kehr war einst der Ansicht, man solle bei Tumor-
okklusion der Gallengänge die Operation möglichst ein-
9 cf., Sitzungsprolokoll, Wiener klin. Wochenschr. 1911, Nr. 19.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
937
Nr. 26
schränken, da der Erfolg doch mangelhaft sei und dadurch
leicht die Gallensteinchirurgie in Mißkredit komme.1)
Doch bald verwarf Kehr diese Ansicht, als er ein-
sehen gelernt hatte, daß die chronische Pankreatitis, ein
dankbares Objekt der chirurgischen Therapie, dieselben Er¬
scheinungen machen kann, wie ein Krebs dieser Gegend und
der erste u. zw. von ihm durch Resektion des krebsigen;
Ductus choledochus radikal operierte Fall, rechtfertigte diese
Ansichtsänderung in jeder Beziehung.
Trotzdem ist bisher Kehrs Fall ziemlich vereinzelt
geblieben und Publikationen ähnlicher, wenn auch nicht
geheilter Fälle, sind nur hie und da aufgetaucht, ein Um¬
stand, der wohl ebenso wohlbegründet im Wesen der Er¬
krankung als in der diagnostischen Beurteilung und schwie¬
rigen operativen Technik zu suchen ist.
Wie die meisten Karzinome innerhalb der von ihnen
ergriffenen Organe besondere Prädilektionsstellen haben, so
gilt dies auch von den Gallengangkarzinomen; und diese
typischen Lokalisationen in Verbindung mit der jeweils ver¬
schiedenen chirurgischen Technik führten zu einer Trennung
der Gallengangkrebse, in solche, welche dem Ductus chole¬
dochus in seinem duodenalen Anteil (Papilla Vateri) ange¬
hören (und vielfach zu den Darmkrebsen gerechnet werden)
und solche im zentralen Anteil des Choledochus und an
den übrigen Gallengängen, Karzinome im sogenannten freien
Teile der Gallengänge, deren Prädilektionsstelle wieder ins-
besonders die Teilungsstelle der drei Gallengänge ist.2) (ln
Uebereinstimmung mit dem allgemeinen Auftreten der Kar¬
zinome an Uebergangs- und Teilungsstellen.)
Zur zweiten Gruppe gehört nun ebenso wie der K e h r-
sche, auch der von mir zu besprechende Fall, zu dessen
Mitteilung uns einerseits die Seltenheit eines operierten
Choledochuskarzinomes an sich, anderseits aber der Um¬
stand veranlaßt, daßi eine Entfärbung der gestauten Galle
stattfand und daß die Stauung zu Oberflächenzysten der
Leber führte.
Anamnese: Frau H., 55 Jahre alt, leidet seit drei Monaten
an schwerer Gelbsucht. Die Frau war früher stets gesund, hatte
namentlich nie an Magenkrämpfen oder Gallensteinkoliken gelitten
und war früher nie ikterisch gewesen.
Die Gelbsucht kam ohne alle Vorboten, sozusagen über
Nacht; die Kranke batte, auch nachher, keine Schmerzen und
war anfänglich selbst in ihrer Eßlust nicht sehr gestört.
Die Gelbsucht nahm immer zu, die Kranke magerte sicht¬
lich ab, fühlte sich auch schwächer und wurde stark durch Haut¬
jucken gepeinigt.
Die Stühle waren andauernd grau bis weiß.
Sechs Wochen nach Beginn der Erkrankung suchte die
Patientin einen auswärtigen Arzt auf, der sie zum Zwecke einer
Mastkur- wieder in ihre Heimat schickte; da sie aber trotz dieser
Mastkur immer mehr abmagerte, konsultierte sie nach weiteren
sechs Wochen einen anderen Arzt, der sie dem Chirurgen über¬
antwortete.
Befund: Abgemagerte Frau; die gelbgrüne Haut zeigt
allenthalben Kratzeffekte, die Skleren sind tiefgelb.
Die Untersuchung des Abdomens ergibt eine den Rippen¬
bogen etwa um drei Querfinger überschreitende Leber, im übrigen
aber einen belanglosen Befund. Nirgends kann ein Schmerz¬
punkt festgestellt, nirgends ein Tumor oder eine Resistenz ge¬
tastet werden.
Diagnose: Angesichts der mangelnden Steinanamnese wird
ein Tumor der Leber, bzw. der Gallenwege angenommen, jedoch
ein Stein nicht ganz ausgeschlossen.
Operation: Die am 8. Dezember 1909 in Morphiumather-
narkose vorgenommene Operation (Prim. Priv.-Doz. Dr. Her tie)
ergab folgendes :
Der Kehrsche Wellenschnitt legt die große Leber frei,
die ein auffallendes Bild bot; ihre Oberfläche war
mit vielen kleinen aneinandergereihten Bläschen
von Erbsen- bis Bohnengröße bedeckt, die sich weich
anfühlten, eindrückbar waren und den Eindruck
äußerst dünnwandiger, vielleicht gasgefüllter Zvst-
chen machten. Auf Inzision entleerten die Bläschen
eine wasserhelle Flüssigkeit.
Die Gallenblase war dünnwandig, klein, wenig gefüllt und
enthielt keine Steine. Bei Verfolgung der Gallenwege stieß
man bald auf einen sehr harten, etwa nußgroßen Tumor,
der, wie sich bei sorgfältiger Präparation zeigte, an
der Vereinigungsstelle der drei großen Gallengänge
saß. Der Ductus hepaticus war auf Klein fingerdicke
erweitert, während Ductus choledochus und cysti-
cus von normaler Dicke waren. Bei einer In¬
zision des Ductus hepaticus floß in reichlicher Menge dieselbe
fast farblose Flüssigkeit ab, wie aus den Zystcheu
an der Leberoberfläche.
Der Tumor wurde in toto mit Gallenblase und Ductus
cysticus, sowie mit je 1 biis- 2 cm gesundem Ductus hepaticus
und choledochus exstirpiert. Die Wiedervereinigung von Hepa¬
ticus und choledochus war ohne besondere Spannung möglich ; es
wurden die hinteren Wände der beiden Stümpfe durch Katgut
vferednigt und vorne 'eine Oeffnung gelassen, in die ein am
hinteren Ende in der Längsachse geschlitztes Drainrohr so ein¬
gelegt wurde, daß das eine Läppchen des Rohres im Choledochus
und das andere im Hepatikus lag. Das Rohr wurde durch eine
Naht am Hepatikus fixiert und zugleich mit den lang gelassenen
Nähten nach außen geleitet. (Siehe Abbildung.)
Die Nahtumgebung wurde mit mehreren Gazestreifen (nach
Kehr) tamponiert, die Bauchwunde bis auf die Drainöffnung in
drei Etagen geschlossen. Das Präparat zeigte den schon oben
beschriebenen Tumor, der die Wand des Hepatikus und Chole¬
dochus auf eine Strecke von etwa 2 cm Länge zirkulär einnahm.
(Siehe Abbildung.)
Adhärentes Netz Vesica D. hepatic.
•Bemerkenswert war, daß eine 3 mm dicke Zinn¬
sonde die Stenose leicht passierte. Die Schleimhaut war
glatt und nicht wesentlich verändert. Die histologischeUnter-
suchung (Priv.-Doz. Dr. Materna, pathologisch-anatomisches
Institut) ergab Karzinom. Der weitere Krankheitsver-
lauf war anfangs sehr günstig, die Temperaturen in den ersten vier
Tagen stets unter 37°, der Puls 70 bis 76. Es bestand kein Er¬
brechen, die Nahrungsaufnahme war genügend.
Am ersten Tage entleerte sich aus dem Drainrohr fast
keine, am Zweiten wenig, am dritten reichlich und schon
ziemlich dunkel gefärbte Flüssigkeit, die alle wich¬
tigen Bestandteile der Galle enthielt (untersucht vom
Herrn Prof. Dr. Pregl). Am fünften Tage trat eine Temperatur¬
steigerung auf 37-5° auf und war ein pleurales Exsudat rechts
nachweisbar.
Nach zwei weiteren Tagen erfolgte unter Erscheinungen
von Herzschwäche der Exitus letalis.
Wenn 'jnan die Anamnese unseres Falles mit der anderer
publizierter Fälle vergleicht, findet sich viel Gemeinsames.
Auch wir hatten es mit einer bis zum Eintritte der Gelb-
938
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
sucht gesunden Frau zu tun, die seit verhältnislmäßig kurzer
Zeit (drei Monate) krank ist; in der Tat ist in den meisten
Fällen die Erkrankungsdauer mit nur Vz bis 1 Jahre ange¬
geben, mit wenigen Ausnahmen, in denen der Beginn zwei
Jahre zurückliegt. (Borelius und Brenner je ein
Fall.3) 4) ' -
Das ziemlich unvermittelte Einsetzen der Erkrankung
ist wohl damit zu erklären, daß der zumeist kleine Krebs¬
herd an und für sich ja überhaupt weder subjektiv noch
objektiv, sondern erst in dem Momente Erscheinungen
macht, indem er die Fas sage der Galle behin¬
dert. Das pflegt nun ziemlich frühzeitig einzutreten, wie
die meisten Autopsien in vivo et mortuo beweisen, in denen
sämtlich die Kleinheit der Tumoren gegen¬
über den Gallenstauungserscheinungen beson¬
ders betont wird.
Der schwere Ikterus, die Kachexie, der
Kranken stehen bei der verhältnismäßig kurzen Erkrankungs¬
dauer auch in unserem Falle im Vordergrund des Krank¬
heitsbildes; sie sind das Auffallendste der Erkrankung, die
sich ja meist schmerzlos einzuschleichen pflegt, und
müssen in solchen Fällen wohl unbedingt die
Operation indizieren. Wer da erst auf die
Tastbarkeit eines Tumors warten wollte,
käme ganz sicher zu spät, ja Brenner4) erklärt
sogar, daß die verheerenden Wirkungen der Gallenstauung
dem Tumor nicht einmal Zeit lasse, zu wachsen und jzu
metastasieren, er isagt : „Die Tatsache, daß die im Orga¬
nismus durch die Gallenstauung angerichteten Verände¬
rungen schon den Tod herbeiführen, ehe der Tumor eine
erhebliche Größe erreicht hat, kann uns das Ausbleiben
der Metastasen erklären.“
Koliken oder kolikartige Schmerzen finden sich in
unserer Vorgeschichte nicht; die Literaturangaben in dieser
Beziehung sind wechselnd, meist wird jedoch das. Fehlen
solcher Schmerzen betont. Jedenfalls kommt diesen
Schmerzen, wenn sie einmal bei Gallengangkarzinomen vor¬
handen sein mögen, keine diagnostische Bedeutung auch für
ein etwa begleitendes Steinleiden zu, denn die meisten
Autorenliebea im Gegenteil dasF ehlend erSteine
bei Gangkrebsen besonders her.vor.
So waren z. B. im! Falle 12 der Zusammenstellung von
Borelius3) schwere typische Gallensteinkoliken vor¬
handen, die sich durch Wochen hindurch wiederholten;
bei der Operation fanden sich keine Steine, aber ein Krebs
Ductus hepaticus.
Borelius selbst zählt zwar in der kritischen Replik
seiner Fälle „auffallend oft einsetzende anfallsweise auf¬
tretende Schmerzen mit scheinbarem Rückgang zu voller
Genesung“ unter die klinischen Initialsymptome der Gallen¬
gangkrebse, betont aber, daß sie in „ihrer Dauer oder in
anderer Hinsicht kein charakteristisches Bild böten“. K e h r
hebt das Fehlen der Schmerzen hervor.1)
Die konstant grauen und weißen Stühle kennzeichnen
die schwere Okklusion des Choledochus, im Gegensätze
zum Steinverschluß, der — ausgenommen sind die Papillen¬
steine und einzelne Fälle von großen Solitärsteinen im
Choledochus — meist zeitweise wenigstens auch größere
Gallenmengen durch treten läßt.
Der Choledochus war für eine 3 mm dicke Zinnsonde
durchgängig, eine auffallende Tatsache bei den schweren
Stauungserscheinungen; doch was bedeutet wohl eine den
stenosierten Gang vielleicht nur tropfenweise passierende
Gallenmenge gegen die normal produzierte Menge derselben,
die sich doch trotzdem bei nicht entsprechender Entleerung
nach aufwärts zu anstauen muß?
Ein obturierender Choledochusstein schlüpft wohl hin
und wieder in den sich hinter ihn stauenden Gallen;see
zurück und läßt damit zeitweise größere Gallenmengen in
den Darm austreten, eine krebsige Stenose ändert sich nicht.
Der klinische Befund ergab in unserem Falle eine
bedeutende Vergrößerung der Leber, als Folge der Gallen¬
stauung und der damit einhergehenden Erweiterung der
intrahepatischen Gallengänge, ein konstantes Symptom, daß
von den meisten Autoren erwähnt wird.
Beim ersten der von Borelius gesammelten Fälle
finden wir folgende Sektionsangabe: „Lebergallengänge
kolossal erweitert, in der Leber mehrere hühnerei- bis faust¬
große Höhlen bildend, welche dünne Galle enthielten.“
Wir fanden bei der Operation, wie erwähnt, d i e
Leberoberfläche übersät mit kleineren und
größeren dünnwandigen Bläschen, die nichts
anderes als die durch die Stauung der Galle
starker weite rtenletztenAusläuferderintra-
hepatischen Gallengänge d a r s t e 1 1 1 e n.
Diese Zystenbildung auf der Oberfläche der Leber bot
ein überraschendes Bild, zumal die in den Zysten enthaltene
Flüssigkeit wasserklar war. Die Deutung dieses Befundes
war erst möglich, als in dem erweiterten und gestauten
Ductus hepaticus dieselbe wasserklare Flüssigkeit ange-
troffen wurde. Es ist daher für den Chirurgen von Wichtig¬
keit, von diesem Vorkommnis unterrichtet zu sein. Leider
wurde die bei der Operation durch Punktion des Ductus
hepaticus gewonnene Flüssigkeit chemisch nicht untersucht;
sie war, wie gesagt, fast wasserklar und dünnflüssig. Von
besonderem Interesse ist, daß am ersten Tage nur sehr wenig
Flüssigkeit aus dem Hepatikusrohr abtropfte, daß jedoch
die Flüssigkeit schon vom Anfänge an gefärbt war. Am
zweiten Tage war die Menge größer und die Untersuchung
dieser Flüssigkeit ergab sämtliche Bestandteile der nor¬
malen Galle.
Die ante Operationen! nicht tastbare Gallenblase erwies
sich auch tatsächlich bei der Operation als klein, sehr dünn¬
wandig, fast leer und enthielt keine Steine. Wir müssen
annehmen, daß das Karzinom, in unserem Falle wahr¬
scheinlich vom Hepatikus ausgehend auf den Choledochus
übergegriffen hat, d. h. die Stenosierung begann oberhalb
der Zystikusmündung zuerst. Beim primären Krebs des
Choledochus soll nach dem C o u r v o i s i e r sehen Gesetze
die Gallenblase gespannt sein, und das trifft in der Tat in
denjenigen Fällen fast immer zu, in denen der stenosierende
Choledochu stumor unterhalb der Zystikusmündung lag (Pa¬
pillen krebse).
Geht [der Krebs höher hinauf, gegen die Zystikus¬
mündung, gegen den Hepatikus zu, so wird das Verhalten
der Gallenblase bereits variabel. Kehr nimmt in 75% der
Fälle eine Bestätigung des C o u r v o i s i e r sehen Gesetzes
an °) und 0 e h 1 e r sagt verallgemeinernd in seiner Arbeit :
„Man kann mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, daß das
Hindernis im Choledochus um so tiefer, d. h. mehr duodenal-
wärts sitzt, je größer die Gallenblase ist.“2)
Steine fanden sich in unserem Falle weder in der
Blase noch in den Gängen ; auch darin liegt eine gemein¬
same Eigenschaft der meisten Gallengangkarzinome.
Während der Krebs der Gallenblase meist mit Steinen kom¬
biniert vorkommt, so daß man diesen sogar eine ursächliche
Bedeutung zuschreibt, fällt der Steinmangel bei den
Gallen gangkrebsen auf.
Borelius findet unter 14 Fällen zweimal Steine und
zitiert Schüller und. Don a ti, die in ihren großen Sta¬
tistiken nur 15% und 10% Steinbefunde bei Karzinom
der Gallengänge feststellen konnten.
Hervorzuheben wären am besprochenen Fälle noch
die Kleinheit des Turnons und das Fehlen der
Metastasen; zum Unterschiede von anderen Organ¬
krebsen führt am Gallengangsystem eben auch schon
ein kleiner Tumor schwere Folgeerscheinungen herbei und
läßt durch diese den Tod des Kranken eintreten, bevor der
Tumor selbst sich entwickeln und metastasieren konnte.
In den meisten Fällen der Literatur war der Tumor klein,
ja so klein, daß er gewiß einmal selbst am Operationstische
übersehen werden kann, speziell, wenn schwere entzünd¬
liche Veränderungen der Gallenblase und ihrer Umgebung
das Krankheitsbild komplizieren.
Die pathologisch-anatomische Untersuchung ergab Kar¬
zinom. Nach Kraus, den ich hier aus der Ke hr sehen1)
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
939
„Technik der Gallensteinoperationen“ zitiere, gehen diese
Karzinome von den Drüsen der Gallengänge aus, die sich
hauptsächlich im zentralen Teile der Gänge, am reich¬
lichsten im Hepatikus vorfinden; gewöhnlich kommt cs zu
reichlicher Stromabildung, zur Entwicklung von Skirrhen, die
die Wand der Gallengänge infiltrieren, ohne die Schleim¬
haut zu durchbrechen.
Die Wahrscheinlicthkeits1 diagnose „T u m o r
mit Okklusion der groben Gallengänge“ stützte
sich also in unserem Falle bei dein Alter der Patientin
auf die fortschreitende Kachexie, auf den chronischen Ik¬
terus, die konstant ungefärbten Stühle, das Fehlen von Ko¬
liken und die verhältnismäßig kurze Erkrankungsdauer.
Differentialdiagnostisch kamen in Be¬
tracht:
I. Die Cholelithiasis; doch fehlte jede Stein¬
anamnese, Koliken waren nie aufgetreten, der Stuhl war
konstant ungefärbt, der Ikterus immer gleich oder besser
gleichmäßig zunehmend; Fieber und Schüttelfröste fehlten.
Es gibt allerdings Fälle, wo große Solitärsteine den
Choledochus verschließen, die ganz ohne Koliken verlaufen,
während Tumoren, wie wir in einzelnen Fällen von B o r e-
lius sahen, ab und zu auch Schmerzen machen. Eine
sichere Entscheidung ist demnach nicht zu treffen.
Die Gallenblase, die sonst als differentialdiagnostisches
Moment in Betracht kommt, war in unserem Falle nicht
tastbar, und hätte als nicht palpabel eher für Steine ge¬
sprochen, da wie oben erwähnt, in 75% der Gangkrebse,
die Blase groß und gespannt angetroffen wird.
II. Erkrankungen des Pankreas.
a) Die chronische Pankreatitis. Für die ent¬
zündliche Erkrankung der Bauchspeicheldrüse haben wir
wenig Unterscheidungsmerkmale gegen das Gallengangkarzi¬
nom und gerade dieser Punkt hat ja Kehr veranlaßt, seine
Zurückhaltung vor der Encheirese beim Tümorverschluß der
Gallengänge fallen zu lassen, als er sah, wie häufig und
leicht die entzündlichen Erkrankungen des Pankreas, durch
Palliativmaßnahmen selbst nur gegen ihre Folgeerschei¬
nungen (Ikterus) zu beeinflussen seien.
Die klinischen Erscheinungen der chronischen Pan¬
kreatitis als : gastrische Störungen, Obstipation oder
Diarrhöe, Abmagerung, Kräfteverfall, Ikterus und Stenosen¬
erscheinungen von seiten des Duodenums, bieten ja an 'sich
nichts charakteristisches, man kann höchstens in den Stuhl-
und Harnuntersuchungen (Fettstühle, unverdaute Fleisch¬
fasern, Cammidgereaktion) Anhaltspunkte für das Pankreas
suchen.
Jedenfalls lohnt sich eine Laparotomie wegen Gallen¬
gangkarzinom um so mehr, wenn man statt dessen manchmal
eine Pankreatitis oder einen Stein finden wird.
b) Die Zysten des Pankreas differenzieren sich
gewöhnlich schon durch die Tastbarkeit, da sie meist schon
Palpationsbefunde geben, bevor sie zu den Erscheinungen
führen, die eine Verwechslung mit einem Tumorverschluß
der Gallengänge Veranlassung geben kömiten.
Immerhin gibt es Fälle, in denen die Lage der Zyste
frühzeitig zur Kompression des Ductus choledochus führt.
Ein derartig interessanter Fall, der von uns beobachtet
wurde, sei hier kurz erwähnt:
Es handelte sich um einen Mann in den 20iger Jahren,
der seit acht Wochen an einem intensiven Ikterus litt;
ein Tumor der Gallenblasengegend war nicht tastbar,
auch die Lebervergrößerung im Verhältnis zum Ikterus
gering, Schmerzen oder Kolikanfälle waren in der Anamnese
nicht vorhanden. Der Operationsbefund ergab eine hühnerei¬
große Zyste am Pankreaskopf, durch welche der Ductus
choledochus vollkommen komprimiert war.
Im allgemeinen stützt sich die Diagnose der Pankreas¬
zysten auf die Anamnese (Entstehung nach Trauma und
Entzündung), auf die Druckerscheinungen auf Magen and
Darm und auf ihre Tastbarkeit und Lage.
c) Auch das Karzi nom des Pankreas wird die
Kachexie, resp. die Erscheinungen des Primärtumors wahr¬
scheinlich in seinem Verlaufe in den Vordergrund rücken
gegen die frühzeitigen Folgeerscheinungen bei Gallengang¬
karzinomen; wenn es auch nicht immer von diesen wird
unterschieden werden können, so tritt die Kompression des
Choledochus nach Körte0) doch gewöhnlich erst bei vor¬
geschrittenem Wachstum ein (im Gegensätze zum Krebs des
Choledochus). Leibschmerzen im Epigastrium, Kachexie und
Tumornachweis werden einzig als diagnostische Anhalts¬
punkte genannt.
III. Aneurysma der Arteria hepatica.
Bei diesem gleichen die Symptome mehr denen der
Cholelithiasis (Koliken, Ikterus), so daß man wahrscheinlich
eher diese als ein Karzinom der Gallenwege diagnostizieren
wird und selbst Kehr sagt von jenen Aneurysmen, die
ohne Blutung nach dem Intestinaltrakt hin verlaufen, daß
ihre richtige Diagnose unmöglich ist, da man immer an
Gallensteine denken wird !
Endlich wären noch IV. die narbigen S t r i k-
turen des Choledochus! anzuführen, die bei entzündlichen
Prozessen der Nachbarschaft eintreten können.
Sie führen seltener zu Ikterus, tun sie es aber, so
können sie gewiß ähnliche Erscheinungen hervorrufen, wie
ein Karzinom der Gallengänge, besonders dann, wenn der
langbestehende ‘Ikterus seine bereits schweren Folgeerschei¬
nungen nach sich gezogen hat.
Die Anamnese (Cholelithiasis, Ulcus ventriculi, duodeni)
kann uns hier Anhaltspunkte geben; ist die Operation aber
indiziert, so werden wir nach der eyentuellen Annahme
einer Tumorokklusion auch in diesem Falle in therapeu¬
tischer Hinsicht freudig überrascht sein, in diagnostischer
aber uns sagen können: „ultra posse nemo tenetur“.
Was nun die chirurgische Therapie des be¬
sprochenen Falles betrifft, so handelte es sich dabei um eine
partielle Resektion des Ductus hepaticus und choledochus
in einem mit der Resektion von Blase und Ductus cysticus,
mit nachfolgender fast zirkulärer Vereinigung der beiden
Stümpfe und nach außen geleiteter Drainage derselben.
Außer der zirkulären Naht käme im entsprechendem
Fälle noch die Hepatikoenterostomie nach Verschließung des
duodenalen Endes des Choledochus oder eine Zystenentero-
anastomose, nach Verschließung des peripheren und zentralen
Gallengangstumpfes in Betracht.7)
Im allgemeinen sieht es in den Literturangaben über
diese besprochene Gruppe der Gallengangkrebse oberhalb
des Duodenums ungünstig aus. In den meisten dieser Publi¬
kationen (der mir zugänglichen Literatur) finden sich nur
palliative Eingriffe und Probelaparotomien in der Therapie
angeführt; wirkliche Resektionen des Ductus choledochus
wegen Krebses sind nach Eichmeyer7), von K e h r,
Mayo, Jabulay, Riese (zweimal), Verhoogen und
Doberauer, ausgeführt worden.
Anschließend daran führe ich einiges aus der Arbeit
0 eh 1 e r s über die Gallengangkrebse im unteren Abschnitte,
über die Papillenkrebse, an.
0 e h 1 e r sagt von diesen Karzinomen des distalen Chole-
dochusendes, daß sie sich im Gegensätze, zu den anderen
Gallengangkrebsen „verhältnismäßig günstig für eine opera- #
tive Entfernung verhalten“, besonders, wenn sie sich nicht
aufsteigend nach den Gallengängen, sondern absteigend nach
dem Darme hin entwickelt haben.
Aber selbst in der Literatur dieser Fälle zählt 0 e h 1 e r
nur zwölf Fälle u. zw. von H a 1 s t e d (1), Gebrüder Mayo
(2), Körte (3), Czerny (2), Cordua (l), Morian (l),
Kausch (l) und Kraske (1 Fäll).
Bei den Operationen dieser Geschwülste handelt es
sich technisch um Querresektionen des Duodenums oder
transduodenale Exstirpationen der Karzinome mit nachfol¬
gender Cholezystenterostomie oder Choledochoenteroanasto-
mose.
Unter den zwölf Operierten finden sich acht Dauer¬
heilungen im Maximum bis zu 33/r Jahren ; ein gewiß schönes
Resultat 1
940
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
Wenn nun auch beim Karzinom im oberen Abschnitte
der Gallengänge die Resultate bisher nicht so günstig waren
und der Kehr sehe Fall von Heilung vereinzelt dasteht,
so ist doch zu hoffen, daß bei der Art des Leidens und bei
Zunahme der Operationen in Zukunft auch in diesen Fällen
bessere Ergebnisse erzielt werden. Unser Fall und der gegen¬
wärtige Stand unserer Kenntnisse der Erkrankungen, welche
mechanisch die tiefen Gallengänge verlegen und dadurch zum
Ikterus führen, lassen uns zu dem Schluß kommen, daßi
alle Fälle von schwerem Ikterus, auch solche, bei denen
ein Tumor nicht zu tasten ist, der Operation zuzuführen sind.
Außerdem möchten wir nochmals auf den interessanten Be¬
fund einer Anfüllung des ganzen Gallensystems mit einer
wasserklaren Flüssigkeit und der Stauung, die zur Ausbil¬
dung der Zysten an der Leberoberfläche führte, hinweisen.
Anmerkung: Nach Fertigstellung dieser Arbeit
kamen wir auch zur Kenntnis des von Kausch13) in
jüngster Zeit publizierten Falles, der dem unseren ähnlich
ist und Kausch zu weiteren Ausführungen über den un¬
gefärbten Inhalt der Gallenwege Veranlassung gab.
Literaturangaben:
*) Kehr, Technik der Gallensteinoperationen 1905. — 2) 0 eh ler,
Beitrag zur Kasuistik und Diagnose des primären Karzinoms der Papilla
Vateri. — 3) B o r e 1 i u s (Lund), Ueber das primäre Karzinom in den
Hauptgallengängen. Beiträge zur klinischen Chirurgie 1909, Bd. 61. —
*) Brenner, Ueber das primäre Karzinom des Duct, choledochus.
Virchows Archiv, Berlin 1899, Bd. 158, S. 253. — 5) Kehr, Chirurgie
der Leber und der Gallengänge, Handbuch der praktischen Chirurgie
von Bergmann und Bruns 1907, Abschnitt VIII, S. 666. — «) Körte,
Chirurgie des Pankreas, Handbuch der praktischen Chirurgie, Bergmann
und Bruns 1907. — 7) Eichmeyer, Beitrag zur Chirurgie des Chole¬
dochus und Hepatikus, Archiv für klin. Chirurgie 1910, Bd. 94, H. 1. —
8) Fischer, Ueber Gallengangkarzinome, Virchows Archiv, Bd.’l74, H. 3.
— 9j Wohlwill, Zystikuskarzinome, Münchner med. Wochenschr. 1901,
Nr, 21, — 10) Gutowitz, Zur Kenntnis der primären Karzinome der
großen Gallengänge, Wiener klin. Rundschau 1910, Nr. 23, — > ) Volmer,
Adenomyofibrom in der Wand des Ductus choledochus, Inaugurat.-Disser-
tation, Berlin 1908. — >2) Gleiß, primäre Krebse des Duct, choledochus
Inaugural-Dissertation, Kiel 1904. — 13) Kausch, Hydrops des ge¬
samten Gallensystems bei chronischem Choledochusverschluß. Mitteilungen
aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie, Bd. 23, H. 1.
Aus der III. medizinischen Abteilung des allgemeinen
Krankenhauses in Wien.
(Vorstand: Prof. Dr. Hermann Schlesinger.)
Ein neuer Stickstoffapparat zur Behandlung
der Lungentuberkulose und anderer nicht
tuberkulöser Erkrankungen der Lungen.
Von Dr. Oskar Frauk, k. u. k. Regimentsarzt im k. u. k. Garnisons¬
spital Nr. 1 in Wien.
Angespornt durch die epochemachenden Arbeiten von
Brauer, f orlanini, B e e r und Kraus, Saugmann
und so weiter, sowie ermutigt durch meine eigenen, seit
ca. IV2 Jahren gewonnenen Erfahrungen bei Behandlung der
Lungentuberkulose und anderer nicht tuberkulöser Erkran¬
kungen der Lungen durch Erzeugung eines künstlichen Pneu¬
mothorax mittels Stickstoffeinblasungen, bemühte ich mich,
einen Apparat zu konstruieren, der gegenüber den bereits
bestehenden sich vor allem durch seine Kompendiosität
auszeichnet, ferner eine am Apparat selbst angebrachte
\\ ärmevorrichtung besitzt, welche die Erwärmung des zur
Insufflation nötigen Stickstoffes^ auf Körpertemperatur in ein¬
fachster Weise ermöglicht. Ein weiterer Vorteil des von mir
angegebenen Apparates besteht darin, daß der für den Stick¬
stoff bestimmte Zylinder (das ist der innere der beiden
Zylinder), abwechselnd von innen und außen mit der des¬
infizierenden Lösung (ich gebrauche eine 3°/oige Lysoform-
lösung) bespült wird und somit jede Verunreinigung aus¬
geschlossen erscheint. Schließlich sei noch erwähnt, daß
sich der komplette Apparat in einem Holzkästchen befindet
und bequem transportiert werden kann.
Beschreibung des Apparates.
Derselbe besteht aus zwei ineinander geschmolzenen Glas¬
zylindern, von denen der innere graduierte (l) zur Aufnahme
des Stickstoffs, der äußere (2) zur Aufnahme der desinfizierenden
Lösung (3°/oige Lysoformlösung) dient. Voneinander getrennt sind
beide Zylinder durch Versteifungen (3 und 4) aus Fibersloff.
5 stellt den Raum zwischen den Zylindern dar. Dpr innere Zy¬
linder ist oben und unten offen. Die untere Oeffnung (6) stellt die
Verbindung des Innenraumes beider Zylinder her. Die obere
Oeffnung^ (7) durchdringt mittels des Ansatzröhrchens (,8) den
äußeren Zylinder, von da führt ein Gummischlauch (9) zum Drei¬
weghahn (10) des inneren Zylinders (J). Durch diesen Dreiweg¬
hahn wird einerseits die Verbindung mit dem Wassermanometer
(11), andrerseits durch den Gummischlauch (12) die Verbindung
mit der Wärmeschlange (13) hergestellt. Das Wassermanometer
wird, der Deutlichkeit halber, mit irgendeinem Farbstoff gefärbt
und bis zur Marke 0 gefüllt. Die Wärmeschlange (ca. 3 cm lang)
befindet sich in einem Gefäß (15), das zur Aufnahme von warmem
Wasser vor dem Gebrauch an die Seitenwand des Kastens neben
dem Manometer aufgehängt wird. Zur Kontrolle der Temperatur
des V assers dient ein passendes Thermometer mit einer roten
Marke, eingeätzt bei 37° C (16). An das zweite Ende der Wärme¬
schlange wird ein längerer Schlauch befestigt, der in Verbindung
mit dem S a.l om onschen Katheter steht. Der äußere Zylinder,
der unten geschlossen ist und in einem Holzbett ruht, hat oben
zwei Durchbohrungen. Die Durchbohrung (17) führt mittels eines
Schlauchstückes zu dem zweiten Dreiweghahn (18), auch der
äußere Dreiweghahn (A) genannt. Durch diesen Dreiweghahn
wird einmal die Verbindung mit der Außenluft durch einen kurzen
Gummischlauch hergestellt, das andere Mal stellt derselbe die
Verbindung mit einem Gummigebläse (20) her. Dieses Gummi¬
gebläse dient sowohl dazu, um die im Zwischenraum beider
Zylinder befindliche desinfizierende Lösung durch die Oeffnung
(6) in den inneren Zylinder zu treiben, als auch anderseits den
ausströmenden Stickstoff unter größerem Drucke in den Pleura¬
raum einblasen zu können.
Bei der Füllung des Apparates geht man, wie folgt, vor :
Dev die Oeffnung (21) im Zylinder verschließende Glas¬
stöpsel (22) wird herausgenommen und die beiden Dreiweghähne
wie folgt gestellt: A 9, 1 9, hierauf gießt man mittels eines
kleinen Glastrichters die desinfizierende Flüssigkeit (3°/oiges Lyso*-
form) ein. Es füllen sich sukzessive beide Zylinder mit derselben.
Hat das Flüssigkeitsniveau im Zwischenraum (5) beider Glas¬
zylinder die an der rückwärtigen Seite des äußeren Zylinders
befindliche Marke (19) erreicht, so wird bei der Stellung der
Dreiweghähne A3, J 0 , der innere Zylinder, nachdem man
noch zuvor die Oeffnung (21) wieder geschlossen hat, durch das
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
941
in Tätigkeit gesetzte Gebläse vollständig mit der desinfizierenden
Lösung gefüllt und stellt die Dreiweghähne so: A ££ , J ©;
nun ist der innere Zylinder mit der desinfizierenden Lysoform-
lösung gefüllt, im äußeren Zylinder ist Luft. Ist man so weih
so verbindet man das Ende des Schlauches (12), das man voi¬
der Millung des Apparates von der Verbindung mit der Wärme¬
schlange abgenommen hat, mit dem1 Reduzierventil der Stickstoff¬
bombe und bringt, wenn alles sicher schließend verbunden ist,
die beiden Dreiweghähne in folgende Stellung: A 0, J ®.
Hierauf öffnet man vorsichtig und langsam (Druck am Mano¬
meter die Bombe genauester^ beobachten!) das Reduktions- und
Hauptventil der Stickstoffbombe. Es treibt nun der ausströmende
Stickstoff die im Innern befindliche Lysoformlösung im Maße
seines Einströmens durch die Oeffnüng 6 in den Zwischen¬
raum 5. Ist der innere Zylinder mit Stickstoff gefüllt, d. h. ist
die Flüssigkeit im Innenzylinder bis zur Marke 0 verdrängt,
dann ist der Apparat gebrauchsfähig und wird durch die Stel¬
lung der Dreiweghähne A ©, J © abgesperrt. Es wird der
Schlauch 12 mit der Wärmeschlange verbunden, das Gefäß 15
mit auf ca. 40° C erwärmtem Wasser gefüllt und das andere
Ende derselben, das durch einen längeren Schlauch zur Verbin¬
dung mit dem S al omon sehen Katheter führt, knapp hinter der
Olive des Katheters mit einer Sperrklammer versehen.
Es folgt nun der bereits allgemein bekannte Eingriff (Me¬
thode Brauer) und befindet sich nach Sprengung der Pleura
der Salomonsche Katheter in derselben, so wird die Sperr¬
klammer geöffnet und man stellt die Dreiweghähne wie folgt:
A 3 , J © , d'. i. -die Verbindung mit dem Manometer. Hat man
sich vom Druck überzeugt, so beginnt man nun, den Stickstoff
langsam in den Pleuraraum einströmen zu lassen und stellt die
Dreiweghähne so: A 3, J 3. Währenddem der Stickstoff in
die Pleurahöhle einströmt, überzeugt man sich öfters vom Druck
durch Verbindung des Dreiweghahnes I mit dem Manometer-
J ©.
Will man mit der Stickstoffeinblasung aufhören, so sperrt
man wieder das System ab: A ©, J und schließt den
Katheterschlauch mit der Klammer.
Es empfiehlt sich, den Apparat öfters mit der Lysoform¬
lösung durchzuwaschen und die Lösung hie und da zu erneuern.
Die Nickelwärmeschlange wird vorteilhaft vor jedem Gebrauch
mit Aether-Alkohol durchspült.
Der eben beschriebene Apparat steht auf obiger Ab¬
teilung seit zirka drei Monaten in Verwendung und konnte
nur immer konstatiert werden, daß derselbe vollkommen
exakt funktioniert und nie zu irgendwelchen Klagen Ver¬
anlassung gegeben bat.
Da dieser Apparat sehr einfach zu handhaben und
infolge seiner Kompendiosität äußerst leicht zu transpor¬
tieren ist (das Kästchen ist um ein Weniges größer als das
eines Mikroskopeis), so dürfte derselbe nicht nur in größeren
Krankenhäusern und Sanatorien sich Eingang verschaffen,
sondern auch so manchem Arzte in der Provinz, der sich
speziell mit der Pneumothoraxtherapie befaßt, gute Dienste
leisten.
Zum Schlüsse möge es mir gestattet sein, Herrn Pro¬
fessor Dr. Hermann Schlesinger und Herrn Assistenten
Dr. Ted es ko für die freundliche Ueberlassung des Ma¬
teriales, söwie für die Erlaubnis, mit meinem Apparat die
Pneurhothoraxtherapie ausführen zu dürfen, meinen gezie¬
menden Dank zum Ausdruck zu bringen.
Die Herstellung des unter gesetzlichen Schutzes stehenden
Apparates hat die Firma Paul Haack, Wien IX., Garelligasse über¬
nommen.
Redaktionelle Mitteilung.
Herr Dr. Oskar Sem eie der hat in Nummer 9 der Wiener-
klinischen Wochenschrift 1911 unter dem Titel: ,,Ein Beitrag zur
Frage der Funktion des quadrizepslahmen Beines“ eine Erwide¬
rung auf die in der Sitzung der k. k. Gesellschaft, 'der Aerzte
vom 9. November 1910 von Herrn Priv.-Doz. Dr. Max Reiner
vorgebrachten Diskussionsbemerkungen (s. Wiener klin. Wochen¬
schrift 1910, Nr. 47) veröffentlicht.
Durch diesen Artikel wurde Herr Priv.-Doz. Dr. Max Reiner
zu einer sehr eingehenden Gegenschrift veranlaßt, welche die
Redaktion pflichtgemäß Herrn Dr. Semeleder noch vor der
Veröffentlichung zur Ansicht und eventuellen Gegenäußerung vor¬
gelegt hat. Herr Dr. Semeleder hat seinerseits von dem Rechte
des Schlußwortes in nicht minder ausgiebiger Weise Gebrauch
gemacht, so daß schließlich die Aeußerungen der beiden Herren
Gegner zu einer polemischen Auseinandersetzung von ganz un¬
gewöhnlichem Umfange gediehen sind.
Ueberzeugt, daß weder das Thema als Ganzes, noch die
Einzelheiten in den Ausführungen der beiden Autoren genügend
allgemeines Interesse darbieten, um ihnen einen so breiten
Raum in unserer Wochenschrift opfern zu dürfen, ist die Redak¬
tion an Herrn Priv.-Doz. Dr. Reiner mit der Bitte heran¬
getreten, in dieser Form auf eine Fortsetzung der Diskussion
an dieser Stelle zu verzichten.
Herr Dr. Reiner hat dieser Bitte in dankenswerter Wreise
stattgegeben und wir erklären gerne in seinem Namen, daß
er mit diesem Verzicht durchaus nicht zugleich seinen, von Herrn
Dr. Semeleder angefochtenen Standpunkt in meritorischer Hin¬
sicht irgendwie preisgibt, daß er vielmehr seine Ausführungen in
ganzem Umfange aufrecht hält und sich vorbehält, die zwischen
ihm und Herrn Dr. Semeleder schwebende Angelegenheit ander¬
weitig auszutragen. Die Red.
{Referate.
Ueber Ermüdungsstoffe.
Von Dr. Wolfgang- Weicliardt, Privatdozent an der Universität Erlangen.
Mit 5 Kurven.
Stuttgart 1910, Verlag von Ferd. Enke.
66 Seiten.
Der bekannte Erlanger Immunitätsforscher faßt die Resultate
seiner zahlreichen, diesem Gegenstände gewidmeten, recht mühe¬
vollen Untersuchungen in einer Monographie zusammen, welcher
als Anhang die genaue Beschreibung der Technik seiner
Experimente beigegeben ist. Dieselben hatten das Ziel,
die bis dahin von zahlreichen Forschern supponierten Ertnüdungs-
stoffe des tierischen Organismus darzustellen und mit Hilfe der
biologischen Methoden der Immunitätslehre näher zu charakteri¬
sieren.
Die Darstellung erfolgte zunächst aus dem' Muskelpreßsaft
von im Ertnüdungssopor verendeten Meerschweinchen; er ent¬
hält bereits den Ermüdungsstoff und ist imstande, anderen Tieren
injiziert, hei diesen alle Stadien der Ermüdung herbeizuführen.
Dieser äußerst labile Stoff, der in seiner Wirkung nach intra-
peritonealer oder subkutaner Injektion hauptsächlich durch eine
starke Schädigung des Atmungszentrums hei Fortbestehen der
Herztätigkeit und durch Absinken der Temperatur charak¬
terisiert ist, kann merkwürdigerweise durch Einwirkung einer
Reihe sowohl reduzierender (schwefligsaures, salpetrigsaures
Natron, Phenylhydrazin, naszierender Wasserstoff, Aluminium-
amalgam, Elektrolyse) als auch oxydierender Agentien (Wasser¬
stoffsuperoxyd, verdünnte Salpetersäure und Cblorwasser) auf die
verschiedenartigsten Eiweißkörper, wie Muskelpreßsaft, nicht er¬
müdeter Tiere, Hühnereiklar, Milch, erzeugt werden, wiewohl diese
Darstellungsart doch wohl für die sonst bekannten Toxine als
recht eingreifend bezeichnet werden muß. Es gelingt mit Hilfe
dieses als „Kenotoxin“ hozeichneten Giftes, Tiere aktiv zu immu¬
nisieren ; in ähnlicher Weise werden jedoch auch Tiere gegen das
Kenotoxin resistent, die mit kolloidalem Palladium, Zyankalium.
Blausäure vorbehandelt sind. (Protoplasmaaktivierung nach
Weichardt.) Durch intravenöse Vorbehandlung von Pferden mit
dem Kenotoxin erhält Verf. ein gegen das Ermüdungsgift gerichtetes
.Antiserum, welches Meerschweinchen seihst gegen hochgradige Er¬
müdung widerstandsfähig macht. Doch gelingt es überraschender¬
weise, ähnlich schützend wirkende Präparate, vom Verf. als ,,Hor-
migen“ bezeichnet, auch derart zu gewinnen, daß ein Gemisch von
Eiweißlösnng, Natronlauge und Wasserstoffsuperoxyd kurz gekocht
und das eingedunstete Dialysat mit Azeton extrahiert wird. Diese
wesentlichen Ergebnisse der Kenotoxinforschung Weichardt s,
welche durch eine Reihe von Kymographionkurven illustriert
werden und in weiteren Kapiteln in ihren Beziehungen zur Ana¬
phylaxieforschung, zu gewissen pathologischen Vorgängen (Tuber¬
kulose, Karzinom) und zu physiologischen Prozessen (Leistungs¬
beeinflussung mittels des Antikenotoxins beim Menschen) be¬
handelt werden, bieten eine Reihe interessanter Fragestellungen
für den Fachmann und machen die Lektüre der Kenotoxinstudien,
942
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
welche in ihrer weiteren Entwicklung mannigfachen Wandel der
Auffassung der gefundenen Tatsachen wohl erfahren dürften,
zu einer anregenden.
Das Schlußkapitel bildet die Beschreibung einer interessanten
Reaktion in vitro, welche die Prüfung gewisser Gleichgewichts¬
störungen kolloidaler Systeme auf kolorimetrischem Wege gestattet ;
der Monographie ist ein technischer Teil mit genauer Beschreibung
der Methodik des Verfassers beigegeben.
*
Praktische Anleitung zur Ausführung des biologischen
Eiweißdifferenzierungsverfahrens
mit besonderer Berücksichtigung der forensischen Blut- und Fleisch¬
untersuchung, sowie der Gewinnung präzipitierender Sera.
\on Prof. Dr. P. T lilenhntli, Geheimer Regierungsrat und Direktor der
bakteriologischen Abteilung und Dr. 0. Weidanz, Kreisarzt in Bremen
früherem wissenschaftlichen Hilfsarbeiter im Kaiserl. Gesundheitsamt.
Mit 38 Figuren im Text.
Jena 1909, Verlag von Gust. Fischer.
246 S.
In dem vorliegenden Buche hat U h 1 e n h u t h, der Schöpfer
der biologischen Eiweißdifferenzierungsmethode, welche sowohl
für physiologische und pathologische Probleme, als auch für
den praktisch - forensischen Nachweis eine eminente Wichtigkeit
erlangt hatte und wohl zu den schönsten Errungenschaften der
Immunitätslehre zu zählen ist, gemeinsam mit seinem Mitarbeiter
Weidanz die theoretischen Grundlagen und die praktischen Er¬
gebnisse auf dem Gebiete des forensischen Blutnachweises, der
behördlichen Fleischbeschau und der Nahrungmittelkontrolle auf
Grund eines großen eigenen Beobachtungsmateriales zusammen¬
gestellt. ; ' ;[{''!!
Die Fülle des in dem Buche enthaltenen sowohl für den Theo
retiker, wie für den Praktiker gleich interessanten Materials zeugt
von der vielseitigen Anwendbarkeit der ausgezeichneten Methode,
wie sie dieser hervorragende Immunitätsforscher mit einer großen
Zahl von Mitarbeitern auf den verschiedensten Gebieten so er¬
folgreich geübt hat. Ein Vergleich mit den üblichen physikalisch¬
chemischen Methoden des Blutnachweises, die ja stets neben
der biologischen Differenzierungsmethode geübt werden, spricht
für die große LIeberlegenheit der letzteren. Im Anschlüsse an
diese, auf der Präzipitinreaktion beruhende Methode, wird weiters
der Eiweißnachweis mittels der Komplementbindungsmethode er¬
örtert, welcher jedoch für die Praxis nur ein mehr unterstützender
Wert (insbesondere für gekochtes Material) zukommt. Von beson¬
derem Interesse sind die Ergebnisse der durch die Anaphylaxie¬
reaktion erhaltenen Eiweißdifferenzierung, welche in manchen
Fällen die Präzipitinreaktion an Empfindlichkeit noch übertrifft;
so gelang es Uhlen huth und Haendel mit Hilfe der Ana¬
phylaxie bei mehreren tausendjährigen Mumien den Nachweis
der menschlichen Herkunft mit Sicherheit zu erbringen, während
bekanntlich die Präzipitinmethode bei Verwendung derartigen Ma¬
terials völlig versagt. Zahlreiche instruktive Abbildungen ver¬
vollständigen das schöne, der weitesten Verbreitung empfohlene
Werk.
*
Allgemeine Mikrobiologie.
Die Lehre vom Stoff- und Kraftwechsel der Ivleinwesen für 4erzte und
Naturforscher dargestellt von Dr. med. Walther Kruse, ord. Professor
und Direktor des hygienischen Instituts an der Universität Königsberg
in Preußen.
Leipzig 1910, Verlag von F. C. W. Vogel.
1184 Seiten.
Das dem Altmeister C. Flügge gewidmete Werk stellt einen
Teil der völlig umgearbeiteten vierten Auflage des alten F lüg ge¬
sehen Werkes „Die Mikroorganismen“ dar; nichtsdestoweniger
muß der an 1200 Seiten umfassende stattliche Band als ein völlig
neues und durchaus selbständiges Werk Kbus es aufgefaßt werden,
welches sich als ein Standard work allerersten Ranges erweist.
In dem Zeitalter der Massenproduktion der von zahlreichen Mit¬
arbeitern gemeinsam herausgegebenen Handbücher muß das vor¬
liegende \\ erk eines Einzelnen um so mehr Bewunderung er-
i egen, als der reiche Inhalt des Buches nicht nur überall von
einer souveränen Beherrschung der allgemeinen Mikrobiologie
Zeugnis gibt, sondern allenthalben die gründliche und kritische
Erkenntnis der Nachbargebiete der Physiologie, physio¬
logischen Chemie, Pharmakologie, allgemeinen und experimen¬
tellen Pathologie und der Immunitätslehre zutage tritt. Dadurch
ist das Werk weit mehr, als ein Lehrbuch für Aer'zte; es ist
vielmehr ein Nachschlagebuch für jeden Naturforscher, der sich
über Tatsachen und Probleme, die irgendwie mit dem Leben der
Mikroorganismen Zusammenhängen, orientieren will. Er wird auf
allen einschlägigen Gebieten hier einen ausgezeichneten Lehrer
finden, der von bestem naturwissenschaftlichen Geiste beseelt,
frei von jeglicher Schulmeinung kritisch das ungeheure Material
bearbeitet, welches die mächtig aufstrebende mikrobiologische
Forschung zutage gefördert hat; dabei sind allenthalben die mo¬
dernsten Fortschritte berücksichtigt. Es darf nicht wundernehmen
und ist ein Zeichen der Gründlichkeit des Verfassers, daß acht
Jahre über die Vollendung des Buches hinweggegangen sind.
Das Werk ist vorwiegend nach chemischen und physiologischen
Prinzipien gegliedert und zerfällt in 18 Kapitel, in denen zunächst
Bau, chemische Zusammensetzung, die Nährstoffe, Bedingungen
der Ernährung und die Stoffwechselvorgänge der Kleinwesen ab¬
gehandelt werden; hierauf folgen die durch die Mikroorganismen
bedingten Umwandlungen der Kohlenhydrate, Alkohole, Fette, Fett¬
säuren, der Glykoside und aromatischen Körper, der Eiweißkörper,
die Wandlungen der einfachen Stickstoffkörper, des Schwefels
und anderer anorganischen Stoffe, die Wege des Sauerstoffes,
die Atmung, der Stoffaufbau und Umbau, die Fermentprozesse,
die Farbstoffe, Gifte, Angriffs-, Reiz- und Impfstoffe der Klein¬
wesen und die die Stammesgeschichte der Mikroroganismen be¬
rührenden und verändernden Prozesse. Die reichhaltige überall
angeführte Literatur ermöglicht an jedem' Punkte das Studium
der einschlägigen Originalarbeiten.
Zusammenfassend läßt sich von der allgemeinen Mikro¬
biologie sagen, daß sie ein klassisches Werk deutscher Gründlich¬
keit darstellt, dem die -dankbare Anerkennung aller Fachgenossen
sicher ist. E. P. Pick.
*
Die Therapie der Magen- und Darmerkrankungen.
Von Sanitätsrat Dr. Karl Wegele,
Besitzer einer Anstalt für Magenkranke in Bad Königsborn (Westfalen).
Vierte, umgearbeitete Auflage.
Mit 11 Abbildungen im Texte.
Jena 1911, Verlag von G. Fischer.
Wegele, der über eine ausgedehnte praktische Erfahrung
auf dem Gebiete der Stoffwechseltherapie verfügt, hat diese vierte
Auflage seines diätetischen Werkes in neuer Bearbeitung erscheinen
lassen und es unterliegt keinem Zweifel, daß er ebenso reüssieren
wird wie mit den früheren Auflagen seiner Diätetik. Es haben u. a.
das Kapitel über Chirurgie des Ulcus ventriculi, Uber Appendizitis,
über Atonie, Gastroptose, Obstipation, Kolitis, Sigmoiditis etc. eine
den neuesten Forschungen entsprechende Neubearbeitung erfahren.
*
Stoffwechsel und Stoffwechselkrankheiten.
Einführung in das Studium der Physiologie und Pathologie des Stoff¬
wechsels für Aerzte und Studierende.
Von Prof. Dr. Paul Friedrich Richter,
Privatdozent an der Universität Berlin.
2. Auflage.
Berlin 1911, Verlag von A. Hirschwald.
Schon nach wenigen Jahren hat sich das Bedürfnis geltend
gemacht, eine zweite Auflage dieses gehaltvollen Buches zu veran¬
stalten, ein Beweis, daß sich diese modernste Seite der inneren
Medizin steigender Wertschätzung erfreut und daß Richter durch
seine übersichtliche Darstellung, seine Vertrautheit mit dem schwie¬
rigen Stoff, durch die Weglassung alles überflüssigen Ballastes es
verstanden hat, viele Freunde seines Buches sich zu erwerben, ob¬
zwar größere und eingehendere Monographien dieses Gebietes
existieren.
Nur ein Wort sei dem Referenten gestattet, das mit dem
rein Stofflichen des Buches nichts zu tun hat, aber unseren Kol¬
legen im Deutschen Reiche einmal gesagt werden muß: Hier und
in vielen anderen von reichsdeutschen und namentlich Berliner
Autoren veröffentlichten Mitteilungen werden die innerhalb der
schwarzgelben Grenzpfähle publizierten Arbeiten mit Vorliebe ignoriert
und der ganze Literaturbedarf bei den Zitierungen im Inlande ge-
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
deckt. Im Interesse der Gerechtigkeit in bezug auf viele Fragen der
Priorität wäre es dringend zu wünschen, daß dieser Uebelstand
einmal von berufener Seite abgeschafft und in den Literaturangaben
nur die historische Gerechtigkeit ohne jeden lokalpatriotischen Ein¬
schlag zu ihrem Recht komme.
*
Theorie und Praxis in der Beurteilung der Gicht auf
Grund einer Erfahrung in 6000 Fällen.
Von Sanitätsrat Dr. Gemmel, Badearzt in Bad Salzschlirf.
J e n a 1911, Verlag von Gustav Fischer.
Es ist immer mißlich, neue Theorien aufzustellen, wenn man
dafür gar keine experimentellen Beweise Vorbringen kann ; an diesem
Fehler krankt das vorliegende Büchlein, dessen Leitsätze sich in
folgende drei Bekenntnisse zusammenfassen lassen: »Gicht ist ohne
Annahme eines noch unbekannten Stoffes, der die Entzündung ver¬
anlaßt, undenkbar ; gegen die Harnsäure als causa peccans sprechen
auch praktische Erfahrungen. Die Gicht ist eine unter dem Einfluß
des Sympathikus stehende Stoffvvechselerkrankung. Es ist unmöglich,
die Gicht von dem chronischen Rheumatismus zu trennen.« Ob die
unbekannte Noxe zu Gicht oder zum Rheumatismus führt, ist nach
des Verfassers Ansichten davon abhängig, wie die Konstitution des
befallenen Organismus beschaffen ist. Durch solche theoretische
Betrachtungen gewinnen wir leider gar nichts und mit Philosophie
kann man auch im Zeitalter der experimentellen Untersuchungen
über Krankheitsursachen wohl kaum weiterkommen ; das Wesen der
Gichtfrage wird durch derartige Expektorationen nicht rascher ge¬
klärt werden. K. GJaessner.
*
Veröffentlichungen <ler Robert Koch-Stiftung zur Bekämpfung der
Tuberkulose. Heft 2.
Untersuchungen über tuberkulöse Infektionen im Kindes¬
alter.
Von Stabsarzt Dr. Rothe.
Leipzig 1911, Georg Thi e m e.
Die Untersuchungen Rothes stellen eine Fortsetzung und
Ergänzung von Untersuchungen dar, über die Gaffky seinerzeit
berichtet hat. (Tuberculosis vol. 6, 1907.) Sie erstrecken sich
auf die Prüfung kindlicher Mesenterial- und Bronchialdrüsen hin¬
sichtlich des Vorhandenseins von Tuberkelbazillen und auf die
b eststellung, ob die durch Verimpfung auf Meerschweinchen in
den Drüsen nachgewiesenen und in Reinkultur gewonnenen Tu¬
berkelbazillen dem Typus humanus oder dem Typus bovinus
angehören. Im ganzen wurden 400 Kinderleichen untersucht.
Unter den konstatierten 76 tuberkulösen Fällen handelte es sich
nur einmal um eine Infektion mit dem Typus humanus, in
allen übrigen Fällen (75) um eine bovine Infektion.
Dieses Resultat bestätigt in vollem Umfange die Ansicht
R. Kochs, daß auch für das Kindesalter die Bedeutung der
Rindertuberkelbazillen erheblich zurücktritt gegenüber der ihm
von menschlichen Tüberkelbazillen drohenden Gefahr.
*
Schutzpockenimpfung und Impfgesetz.
Unter Benutzung amtlicher Quellen bearbeitet von Prof. Dr. Martin
Kirchner.
Berlin 1911, Richard Schoetz.
Fast jedes Jahr werden im deutschen Reichsrat von den
Impfgegnern Eingaben um Aufhebung des Impfgesetzes einge- |
bracht. Der Verfasser, der im Jahre 1910 Mitglied der Kommis¬
sion war, [die über eine derartige Eingabe zu referieren hatte,
weist an der Hand vergleichender Tabellen auf die großen Ge¬
fahren hin, die eine Aufhebung des Impfgesetzes für den Staat
bringen möchte. Die Impfung muß mit der bisherigen Gewissen¬
haftigkeit durchgeführt werden, will Deutschland nicht an sich
selbst die traurige Erfahrung anderer Staaten machen, in denen
durch laxeres Handhaben des Impfgesetzes der Ausbruch von
Blatternepidemien heraufbeschworen wurde. Die Schädigungen,
von denen die Impfgegner sprechen, sind in Wirklichkeit nicht
vorhanden; sie sind nichts anderes als eine Verkennung oder
falsche Auslegung von zufälligen Störungen. Die Impfung, wie sie
heute mit animaler Lymphe vorgenommen wird, bringt keinen
Schaden, sondern nur Schutz gegen die gefährliche Blattern¬
erkrankung.
948
Pflege und Ernährung des Säuglings.
Ein Leitfaden für Pßegerinnen und Mütter.
Von Dr. M. Pescatore.
Diitte, veränderte Auflage bearbeitet von Prof. Dr. Leo Laugstein.
Berlin 1911, Julius Springer.
Jeder Pflegerin, jeder Mutter kann dieses Büchlein, das
in kurzer Zeit in der vierten Auflage erschienen ist, dringend
zur Lektüre empfohlen werden. Es enthält alles, was eine tüchtige
Pflegerin zum Wohle ihres Pfleglings wissen soll, nämlich die
\\ ich tigs ten Vorschriften, betreffend die Pflege des gesunden und
des kranken Säuglings. Hier liegt das eigentliche Arbeitsfeld einer
guten Pflegerin und nicht, wie wir es nur allzu häufig antreffen,
in dem ehrgeizigen Streben, die Krankheiten auch diagnostizieren
und behandeln zu können, worunter oftmals die gute Pflege des
Kindes leidet.
Als Anhang bringt das Buch von Dr. Eff ler, dem be¬
kannten Ziehkinderarzt in Danzig, abgefaßte Anweisungen für
Helferinnen von Fürsorgeanstalten und Ziehkinderorganisationen.
*
Die Wohlfahrtseinrichtungen für Kinder in großen Städten.
Von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Bagiusky.
Nach einem am 6. Dezember 1910 in der Gesellschaft für öffentliche
Gesundheitspflege zu Berlin gehaltenen Vortrag.
Berlin 1911, August Hirschwald.
Baginsky findet in seinem Vortrage warme, fürsprechende
Worte für die Säuglings- und Jugendfürsorge. Wenn auch in der
Säuglingsfürsorge in den letzten Jahren schon Vieles geleistet
wurde, so bleibt doch zum völligen Ausbau des herrlichen Ge¬
bäudes noch manches zu tun übrig; vornehmlich die Jugend¬
fürsorge ist bisher vernachlässigt worden ünd ihr muß Staat,
Kommune und private Vereinigung mehr Aufmerksamkeit zu¬
wenden. Die Fürsorge darf sich nicht, soll der eigentliche Zweck
derselben erfüllt werden, nur auf Wochen erstrecken und
etwa mit einem Seeaufenthalt für imtner beendet sein, sondern
sollte in der Säuglingszeit beginnen und in öontinuo mindestens
bis zur Pubertätszeit reichen. Um diese ständige Kontrolle und
Beobachtung durchzuführen, müßte in jeder größeren Stadt ein
Z entral Wohlfahrtsamt geschaffen werden. Sind wir ein¬
mal so weit, so wird der eigentliche Zweck der Fürsorge: die
Heranziehung einer gesunden Generation, verwirklicht werden.
C. Le in er.
Aas \zersehiedenen Zeitsehriften.
647. Die Salvarsantherapie bei Lues des Zentral¬
nervensystems bei Tabes und Paralyse. Von Professor
Dr. G. Treupel in Frankfurt a. M. Unter Hinweis auf frühere
Publikationen berichtet Verfasser über 62 Fälle von Lues des
Zentralnervensystems (Tabes und Paralyse), welche er mit ins¬
gesamt über hundert, teils subkutanen oder intramuskulären, teils
intravenösen Injektionen von Salvarsan behandelt hat. Fälle
frischer Hirnlues — mit oder ohne Vorbehandlung mit Quecksilber
und Jod — reagierten auf Salvarsaninjektionen gut. Lähmungs¬
erscheinurigen bildeten sich in den nächsten Tagen ganz oder teil¬
weise zurück; Bewußtseinstrübungen, beginnende Stauungspapille,
Kopfschmerzen usw. gingen zurück. Bemerkenswert war es, daß
das Salvarsiajn auch dort Wirkungen aufwies (fünf Fälle), wo
Quecksilber- und Jodkuren bis dahin versagt hatten. In ganz
veralteten Fällen von Lues des Zentralnervensystems, bei welchem
schon ausgesprochene und vorgeschrittene Degeneration im
Nervensystem sich vermuten ließen, blieben nicht nur Queck¬
silber- und Jodkuren, sondern auch Salvarsan wirkungslos, wir
dürfen eben nicht erwarten, durch die spezifische Therapie die
Ausfallserscheinungen beseitigen zu können. In solchen Fällen
wäre mit den Salvarsaninjektionen höchstens die etwaige Ver¬
nichtung noch vorhandener Spirochäten und damit vielleicht ein
Stillstand der Krankheit zu erreichen. Bei Tabes wurde nach
Salvarsaninjektionen eine Vermehrung der nervösen Reizungs-
erscheinungen nur ganz vereinzelt beobachtet (Analogie zu der
LIerxheimerschen Reaktion bei frischer Lues), Schmerzanfälle
klangen aber nach zwei bis drei Tagen allmählich ab, damit auch
stärkere, lanzinierende Schmerzen. Außer der Herabsetzung, be-
944
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911
Nr. 26
Ziehung -weise Beseitigung der Schmerzen für längere Zeit hat
Verf. Besserungen der Ataxie, der Parästhesien gelegentlich beob¬
achten können, ferner vermehrtes Kraftgefühl und Gewichts¬
zunahme. Die im wesentlichen subjektiven Besserungen
.eilen zwar wochen- und monatelang an, waren aber nicht
von dauerndem Bestände. Dann hatten die vorgenommenen
Reinjektionen wiederum den gleichen Erfolg wie das erste Mal.
Eine nachweisbare unzweideutige Besserung der tabischen Aus¬
fallserscheinungen wurde in keinem der Fälle, auch nach mehr¬
maligen Injektionen in Dosen von 0-3 bis 0-6 g erzielt. Ver¬
fasser bespricht das Verhalten der Wassermann sehen Reak¬
tion in solchen Fällen und betont nochmals die durch Injektionen
erzielten subjektiven Besserungen. Selbst in geeignet- erschei¬
nenden Fällen sei man mit der intravenösen Injektion sehr vor¬
sichtig. Ein Patient starb zwei Tage nach einer intravenösen In¬
jektion von 04g unter meningealen Reizerscheinungen. Die Auto¬
psie ergab neben einer ausgedehnten, bis weit hinaufreichenden
Degeneration der Hinterstränge eine diffuse ältere Pachymenin¬
gitis haemorrhagica interna mit großerr frischen Blutungen und
kleine punktförmige frische Blutungen im verlängerten Mark und
Verfasser sagt, es sei nicht ausgeschlossen, daß die frischen Blu¬
tungen im verlängerten Mark irr umnittelbarem Zusammenhang mit
der Injektion zir bringen seien. Im weiteren berichtet Verf. über
die Erfolge bei 22 Fällen von progressiver Paralyse. Etwa
ein Drittel der injizierten Fälle konnte als gebessert bezeichnet
werden, insofern als eine Milderung des vorher häufigeren
schroffen Stimmungswechsels, Besserung der Sprache und Schrift
und in allen Fällen eine nicht unwesentliche Gewichtszunahme
konstatiert wurden. Die Wasser mann sehe Reaktion im Blut
vor der Injektion war ISmal unter 22 Fällen (82%) positiv, 16mal
davon stark positiv. Die Salvarsanbehandlung in der Form intra¬
venöser Injektionen ist bei Tabes und Paralyse erlaubt, wenn
die Zeit zwischen dem Beginne der Erkrankung und der ur¬
sprünglichen Infektion nicht allzu lang und die Erkrankung selbst
noch im Beginne ist. — (Deutsche medizinische Wochenschrift
1911, Nr. 22.) E. F,
*
648. (Aus der medizinischen Klinik in Freiburg i. B.)
Schilddrüsen Veränderungen und Hämoglobingehalt
des Blutes bei Chlorose. Von Dr. Ernst Handmann,
Assistenten der Poliklinik. Die Fälle des Verfassers, 44 im
ganzen, stammen aus dem letzten Halbjahre. Die Diagnose wurde
nach den bekannten subjektiven und objektiven Symptomen ge¬
stellt und der Hämoglobingehalt genau bestimmt. Außerdem
wurden an dem Krankenmaterial, das vorwiegend aus den kropf¬
reichen Landbezirken Oberbadens stammt, Untersuchungen über
das Vorkommen von Schilddrüsenveränderungen bei Chloroti-
schen angestellt. Die Therapie beschränkte sich ausschließlich
auf die interne Verordnung von Eisen. Von den 44 Fällen sind
7 genauer mitgeteilt, während die anderen 37 in einer Tabelle
übersichtlich dargestellt sind. Die Durchsicht dieser Kranken¬
geschichten zeigt, daß in allen Fällen die Diagnose Bleichsucht
vollkommen gerechtfertigt war. Die charakteristischen Befunde
am Herzen und an den Gefäßen fehlten nur in 8 Fällen, typisches
Nonnensausen war bei 24 Kranken zu hören. Menstruations¬
störungen waren fast bei allen vorhanden. Was die Therapie be¬
trifft, wurden nur bei zwei Patienten neben der Eisenmedika¬
tion noch andere Hilfsmittel angewendet. Ueber 12 kann derzeit
noch kein abschließendes Urteil abgegeben werden. Bei 13 Fällen
wurzle durch ausschließliche interne Eisentherapie eine ausge¬
sprochene Besserung ihres Zustandes erzielt, bei 17 trat voll¬
kommene Heilung ein. Das Resultat spricht also eindeutig zu¬
gunsten einer spezifischen Wirkung des Eisens bei Chlorose.
Was nun die Kombination von Basedow und Chlorose betrifft,
wurde das Vorkommen schon von Wunderlich beschrieben.
Von den 44 Kranken des Verfassers hatten 25 eine Vergrößerung
der Schilddrüse, also über die Hälfte, wovon einige Patienten
nicht aus Kropfg eg enden stammten. Meist handelte es sich um
kleine parenchymatöse oder Kolloidstrumen. Große zystische,
knotige oder vaskulöse Stimmen befanden sich nicht darunter.
Basedowsymptome neben typischer Chlorose boten drei Patienten.
No orden, der viel häufiger Basedowsymptome beobachtete, ist
trotzdem nicht geneigt, einen engen Zusammenhang zwischen
Bleichsucht und Morbus Basedow anzunehmen, sondern er ver¬
tritt den Standpunkt, daß es sich um getrennte Stoffwechsel¬
erkrankungen handelt. Nachdem aber durch die Untersuchungen
der letzten Jahre vielfache Beziehungen der Drüsen mit innerer
Sekretion zueinander festgestellt worden sind, wäre zu bedenken,
ob diese scharfe Trennung aufrecht erhalten werden kann oder
ob auch bei der Bleichsucht nicht 'Wechselwirkungen irgend¬
welcher Art angenommen werden sollen. Verfasser kann auf
Grund seines Materiales nur darauf hinweisen, daß bei 25 von
44 Chlorotischen eine Struma bestand. Nach diesen Tatsachen
wäre also denkbar, daß Strumen eine Erkrankung an Bleich¬
sucht begünstigen können, so daß sie in kropfreichen Gegenden
als prädisponierendes Moment für die Chlorose in Betracht
kommen. Was den Hämoglobingehalt betrifft, so hatten 6 unter
80°/o, in 15 Fällen schwankte er zwischen 80 und 90°/o und in
23 Fällen war er normal (100%). Es ergab sich daraus' die inter¬
essante Tatsache, daß über die Hälfte der Chlorotischen hin¬
sichtlich ihres Blutfarbstoffgehaltes keine oder nur sehr gering*
fügige Störungen aufwiesen, trotzdem sie sonst die charakteristi¬
schen Symptome der Bleichsucht darboten. An der Richtigkeit
der Diagnose war nach Verf. nicht zu zweifeln. Ein Blick auf die
Tabelle lehrt, daß nur 3 von 23 Patienten die typischen Men¬
struationsanomalien vermissen lassen ; nur 4 zeigten keine cha¬
rakteristischen Zirkulationsstörungen. Ferner kann auch hier auf
den Erfolg der Eisentherapie hingewiesen werden. Die spezi¬
fische Wirkung des Eisens bei chlorotischen Zuständen ist so
allgemein anerkannt, (.laß sie zur Sicherstellung der Diagnose ex
juvantibus dienen kann. In letzter Zeit wurde erst wieder von
Dubnikoff und Seiler darauf aufmerksam gemacht. Sie be¬
obachteten bei 30 Fällen von Bleichsucht 17 mit fast normalem
Hämoglobingehalt, die ebenso gut wie die anderen auf Eisen
reagierten. Es bestätigte sich somit die von Morawitz mitge¬
teilte Erfahrung, daß es typische Fälle von Bleichsucht gibt, die
ohne nennenswerte Veränderung des Blutes verlaufen. Für den
Mechanismus der Eisenwirkung bei Chlorose,, über den trotz
vieler Untersuchungen noch keine Uebereinstimmung der An¬
sichten erzielt worden ist, eröffnen sich damit neue Gesichts¬
punkte. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 22.)
G.
*
649. (Aus dem Institut zur Erforschung der Infektionskrank¬
heiten in Bern. — Direktor: Prof. Dr. W. Ko Ile.) Neuere Er¬
fahrungen über die Anwen dungsweise des Di¬
phtherieheilserums. Von Dr. F. Krumb ein und Doktor
E. Tomarkin. Die moderne Forschung und Beobachtung am
Krankenbett fordert eine möglichst frühzeitige Anwendung des
Serums, zumal das Diphtherieserum vollkommen unschädlich ist,
auch wenn es, zweifelhafter Weise, bei irgendeiner anderen Er¬
krankung angewendet werden sollte. In jedem, Falle von Diphtherie¬
verdacht soll ohne Zeitverlust Serum eingespritzt werden, es
ist. ein Fehler erst auf das Resultat der bakteriologischen Unter¬
suchung zu ‘warten und dann erst auf Grund der bakteriologischen
Diagnose zu handeln. Wertlos ist letztere indessen nicht, da sie
für die prophylaktischen Maßnahmen (Schulbesuch, Isolierung
und so weiter) die notwendigen exakten Grundlagen verschafft.
Aber nicht bloß frühzeitig soll das Serum injiziert werden, son¬
dern man muß auch dem Modus der Serumapplikation, welchem
nach Dönitz und von Berghans eine hervorragende Bedeu¬
tung zukommt, genügende Beachtung schenken. Die intravenöse
Einverleibung des Serums wirkt nämlich 500mal stärker als die
subkutane und 80 bis 90mal besser als die intraperitoneale In¬
jektion. Die subkutane Applikation wirkt am langsamsten, denn
wenn d!as Serum auch schon nach zwei Stunden im Blute nach¬
weisbar wird, so findet es sich doch erst nach 24 Stunden in
erheblicher Menge. Die Resultate der intravenösen Serumappli¬
kation sind sehr ermutigend, sie ist in der Hand des Geübten voll¬
kommen unschädlich trotz des Karbolzusatzes zum Smum (im
Eiweiß verankerte Phenole sind viel weniger giftig als Phenole
in wässeriger Lösung). Bei intramuskulärer Injektionsmethode
ist eine fünf bis siebenmal stärkere Wirkung des Diphtherieanti¬
toxins erreichbar. Für den Erfolg der Serumtherapie ist es we¬
sentlich, hochwertige Präparate zu benützen und die Dosis über¬
haupt zu erhöhen. Nicht nur am Tiere (Dönitz, Marx und von
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
945
Berg ha ns) ist es gelungen mittels Einführung sehr großer Dosen
des Serums (intravenös namentlich) selbst bereits eingetretene
Vergiftungssymptome rückgängig zu machen, also durch große
Gaben von Antitoxin das an die Körperzellen verankerte Toxin
loszusprengen und die Tiere am Leben zu erhalten, sondern es
berichten auch schon verschiedene Kliniker über günstige Re
sultate bei der Behandlung von postdiphtheritisc'hen Lähmungen
mittels Diphtherieserum, wobei ganz exzessive Dosen bis zu 80.000
Immunitätseinheiten ohne besonderen Schädigungen verwendet
wurden (Comby, Mauriac, Middleton, Cairns, Bankier,
Heubner). Bei wiederholter Injektion auch hochwertiger Sera
braucht man die Auslösung anaphylaktischer Erscheinungen
der sogenannter TJeberempfindlic'hkeit nicht zu fürchten, da
solche Reaktionen erst dann zustande kommen, wenn die Wieder¬
holung der Injektion durch einen Zeitraum von mehr als zwölf
Tagen von der ersten Serumeinverleibung getrennt ist, also wenn
es sich um eine eigentliche Reinjektion handelt. Im übrigen sind
anaphylaktische Zustände beim Menschen meist relativ harmloser
Natur und können sehr wohl in den Kauf genommen werden,
wenn es gilt lebensrettend vorzugehen. Sie unterscheiden sich von
der Serumkrankheit dadurch, daß sie oft wenige Stunden nach
der Einspritzung und dann stürmisch eintreten (die Inkubations¬
zeit der Serumkrankheit verkürzt sich also von acht bis zwölf
Tagen auf Stunden und die Reaktion ist eine verstärkte; eine
sofortige verstärkte Reaktion, dann allerdings mit Shocksymptomen,
erfolgt am häufigsten, wenn die Reinjektion drei bis acht Wochen
nach der Einspritzung großer Dosen von Serum geschehen ist).
Beim Auftreten von stärkeren Exanthemen und Oedemen, von
Schwindel und Herzschwäche, wie sie in seltenen Fällen nach
der Seruminjektion beobachtet werden, soll man es nicht unter¬
lassen zu untersuchen, ob das Phänomen auf Serumidiosynkrasie
eines Erstinjizierten oder auf Serumkrankheit eines Reinjizierten
beruht und dementsprechend von vorneherein z. B. Herzschwäche
bekämpfen. Trotzdem wäre es verkehrt die Serumkrankheit
als eine große Gefahr für Reinjizierte hinzustellen, denn un¬
glücklich verlaufene Fälle beim Menschen, die mit Sicherheit
auf die Seruminjektion zurückzuführen wären, sind bis jetzt trotz
Verwendung großer Serummengen nicht vorgekommen. Immer¬
hin wäre größte Vorsicht bei der intravenösen Seruminjektion
Reinjizierter geboten. Die Behandlung der Serumkrankheit kann
nur eine symptomatische sein. — (Korrespondenzblatt für
Schweizer Aerzte 1911, 41. Jahrg. Nr. 9.) K. S.
*
650. Seltene Widerstandsfähigkeit des Perito¬
neums. Von Dr. S. S. Cholm ogorof f. Der Verfasser teilt fol¬
genden Fall mit: Am Abend nach der am selben Tage vorge¬
nommenen Nahtabnahme der Laparotomiewunde einer vor neun
Tagen vorgenommenen Sectio caesarea, platzte, ohne daß man
es bemerkte, die Bauchdecke in der Narbe, so daß, als man am
nächsten Morgen darauf kam, die Darmschlingen wenigstens zwölf
Stunden außerhalb der Bauchhöhle gelegen haben. Die Serosa
der Darmschlingen war bereits eingetrocknet. Stellenweise sind
Verlötungen zwischen denselben entstanden und Watte-, be¬
ziehungsweise Gazefasern, sowie Heftpflasterstückchen klebten
daran. Bei der Reposition der Darmschlingen platzte die ganze
Wunde der Bauchwand auf. Die vorerwähnten Verlötungen
wurden zerstört. Mit großer Mühe und zweifellos mit ziemlich
bedeutendem Trauma gelang es, die Darmschlingen zu reponieren
und die Bauchhöhle wieder zu vernähen. Trotzdem ist weder
Peritonitis noch Ileus eingetreten und Pat. konnte nach 19 Tagen
entlassen werden. — (Zentralblatt für Gynäkologie 191.1, Nr. 20.)
E. V.
*
651. (Aus der III. medizinischen Klinik der Universität
in Budapest. — Prof. Baron A. v. Koränyi.) Ueber einen
nach Gebrauch einer Radiumemanationskur wesent¬
lich gebesserten Fall von Sklerodermie. Von Dr. Ju¬
lius v. Bene zur. Es dürfte der erste Fall von Sklerodermie
sein, bei welchem mit der Radiumemanation ein Erfolg erzielt
wurde. Bei der 18jährigen Magd begann das Leiden im Winter
1907. Außer einer chronischen Arthritis der Finger- und Fu߬
gelenke (Krallenstellung der steifen Finger) bestand eine ausge¬
sprochene Sklerodermie der Gesichtshaut, der Hände, Unter¬
schenkel und Brusthaut. Eine Fibrolysinkur (im Herbste 1910
mußte nach fünf Injektionen abgebrochen werden, hatte daher
gar keinen Erfolg. Am 27. Februar wurde eine Radiumemanations
trinkkur eingeleitet, welche die K ranke bis 1 . April derart ge¬
brauchte, daß sie täglich drei Flaschen der von der Charlotten¬
burger Radiogen-Gesellschaft in den Handel gebrachten Radium
emanation trank, also täglich 116.000 Volt, d. i. 1000 Mache-
Einheiten, zu sich nahm. Sonst keine andere Behandlung. Die
Schmerzen steigerten sich anfangs, wurden von der zweiten Woche
an geringer, um gegen Ende der Kur ganz zu verschwinden. Die
Kranke, welche sonst nicht zu schwitzen pflegte, schwitzte be¬
sonders im Anfang der Kur, jedoch auch später ganz beträchtlich.
Die Fingerspitzen wurden auch — seltener als vor der Kur -
plötzlich! zyanotisch und kalt. Sie nahm während der fünf¬
wöchigen Radiumkur um 1 kg zu. Die verhärtete Haut wurde
von Tag zu Tag weicher, so daß sie nach einem! Monate die Stirne
bereits in Längs- und Querfalten ziehen, ihren Mund verziehen
und auch lächeln konnte.. Die vorher harten Augenlider, überhaupt
der ganze Gesichtsausdruck wurde geschmeidiger. Die Verhärtung
der Brusthaut, der Unterarme, der Handrücken und Füße ist gänz¬
lich verschwunden; die der Finger besteht noch, aber in viel
geringerem Grade. Die Kranke kann die vorher ganz steifen Finger
nun in beschränktem Maße bewegen. Gegen Ende der fünften
bis sechsten Woche trat eine leichte Hämoptoe auf (über der
rechten Lungenspitze war der Perkussionsschall etwas gedämpft,
zeitweise waren daselbst Rasselgeräusche hörbar), weshalb die
Kur unterbrochen wurde. Seither sind nun sechs Wochen ver¬
gangen, die Kranke spürt seit einigen Tagen wieder ein geringes
Spannen in der Gesichtshaut. Ob die durch die Kur erreichte
Besserung beständig sein wird, kann erst die weitere Beobachtung
lehren; wir besitzen aber wahrscheinlich in der Radiumemana¬
tion ein Mittel, das neben dem oft wirksamen Fibrolysin
vielleicht in Verbindung mit demselben in der Therapie der
Sklerodermie versucht werden sollte. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1911, Nr. 22.) E. F.
*
652. (Aus der II. medizinischen Abteilung des Allgemeinen
Krankenhauses Hamburg-Eppendorf. - Oberarzt: Dr. Rumpel.)
Zur Frage der Behandlung de r Anämiemit S a 1 v a r s an.
Von Dr. C. Lee de. Verfasser bespricht zunächst die Beeinflussung
der Anämien durch ,,606“ an der Hand des früheren Materials.
Was nun die Erfahrungen über ,,606“ bei den verschiedensten
Formen der Leukämie betrifft, so fand Verfasser ebenso wie Mi¬
chaelis nicht die geringste günstige Beeinflussung des Pro¬
zesses. Von der echten Bierrn er sehen perniziösen Anämie,
das heißt einer Anämieform, für die außer dem bekannten Blut¬
bilde auch das Fehlen jeder erkennbaren Aetiologie charakte¬
ristisch ist, wurden fünf Fälle mit ,,606“ intramuskulär und
intravenös behandelt. Vier davon sind in kurzer Zeit (36 Stunden
bis 14 Tage) gestorben. Es wurde die Injektion als ultimum
refugium gemacht. Immerhin hatte Verf. den Eindruck, daß der
ungünstige Ausgang durch das Mittel eher noch beschleunigt
worden war. Noch deutlicher ist dies im fünften Falle. Patient
hatte bei seiner Aufnahme 40% Hämoglobin, 1,400.000 Erythro¬
zyten. Er erhielt 0-4 Salvarsan. In den nächsten 17 Tagen nahm
die Anämie derart zu, daß Patient nur noch 900.000 Erythrozyten
und 25% Hämoglobin hatte, dabei traten ausgedehnte Netzhaut¬
blutungen auf, Schwindel, Ohrensausen, Erbrechen und rapider
Verfall. Es wurde sofort mit der gewohnten Arsen -Eisen-Medi¬
kation und Freiluftbehandlung begonnen, so daß Patient nach
drei Monaten mit 80% Hämoglobin entlassen wurde. Nach vier
Monaten Rezidive. 0-5 Salvarsan, doch ohne Erfolg, im Gegen¬
teil, es trat eine auffallende Verschlimmerung des Zustandes ein,
die nach Verfasser zum Teil auf Rechnung des Mittels zu setzen
ist. Nach 20 Tagen Exitus. Nach diesen Erfahrungen sah sich
Verf. veranlaßt, von der Behandlung weiterer Fälle von echter
perniziöser Anämie mit „606“ Abstand zu nehmen. Anders ver¬
hielten sich schwere Anämien nach Malaria. Hier beobachtete
Verfasser sehr schnelle Besserung des Blutbildes, sobald die
Anfälle ausblieben, was durch eine Injektion auf längere Zeit
erreicht wurde. Besonders fiel der günstige Einfluß des Salv-
arsans auf den Ernährungszustand dieser Kranken auf. Bei ein¬
zelnen Fällen von starker Anämie bei florider Lues konnte er
946
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26 ' l
ebenfalls sehr schnelle Zunahme des Hämoglobins beobachten.
In einem vom Verfasser mitgeteilten Falle handelte es sich eben¬
falls um eine schwere Anämie auf luetischer Basis; sonst aber
imponierte sie durchaus als perniziöse Anämie. Wegen des
ti.uk positiven Ausfalles der Wassermannseben Reaktion be¬
kam Patient 04 Salvarsan, gleichzeitig Arsen-Eisen. Nach zwei
Monaten eine zweite Salvarsaninjektion. Interessant war das Ver¬
halten der Temperatur. Rumpel legt großen Wert auf das Ver¬
halten der lemperatur für die Prognosestellung bei der perniziösen
Anämie. Im Stadium der Verschlimmerung treten oft erhebliche
Temperatursteigerungen auf, die, wenn sich der Fall bessert,
zur Norm zurückkehren, oft das erste Zeichen der Besserung.
Sub finem treten natürlich Kollapstemperaturen auf. Auch in
diesem Falle konnte Verfasser mit zunehmender Besserung des
Blutbildes Rückkehr der Temperatur zur Norm beobachten, ln
diesem Falle von hochgradiger Anämie hat sich das Salvarsan
glänzend bewährt. Es handelte sich hier um einen jener Fälle
von schwerer Anämie, die sehr große Aehnlichkeit mit der echten
perniziösen Anämie haben, die aber auf konstitutionelle Lues
zurückzuführen sind. Der Begriff der perniziösen Anämie wird
nach Verf. nicht genügend scharf umschrieben und vieles dazu¬
gerechnet, wate nach Aetiologie und Verlauf nicht hieher zu
rechnen ist. Erst wenn die Differentialdiagnose der Anämie eine
möglichst feine sein wird, dann wird man auch die richtige
Auswahl jener Formen treffen können, bei denen Salvarsan im¬
stande ist, die Ursache der Anämie zu beseitigen und Besserung,
ja Heilung zu bringen. Für die Behandlung der echten perniziösen
Anämie scheint dem Verfasser das Salvarsan direkt kontraindiziert
zu sein. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 22.)
G.
*
653. Zur Pathologie und Therapie der laktieren¬
den Mamma. Von Dr. A. Schiller (Karlsruhe). Die Mastitis
der Stillenden beginnt nach den Erfahrungen Schillers immer
als S t auu n g s m a s t i t i s, von ganz seltenen Fällen abgesehen,
ist also verursacht durch ungenügende Entleerung der Brust.
Die Infektion des gestauten Sekretes eines Milchdrüsenlappens
geschieht durch Bakterien, die in der Mehrzahl der Fälle sonst
unschädlich in den Milchausführungsgängen vegetieren (Analogie
mit den Infektionen bei Sekretstauung in Talgdrüsen, Blase,
Nierenbecken, Gallenwegen usw.). Würde die Infektion in der
Regel von Rhagaden ausgehen, wie gelehrt wird, so müßte man
mehr kutane Entzündungen, Phlegmonen, Erysipel der Brusthaut
sehen. Aber sogar lokale Erscheinungen eitriger Entzündungen
um die Rhagaden herum sind sehr selten. Daß die Mastitis sich
sehr häufig bei Brüsten findet, deren Warzen Rhagaden trugen
oder noch tragen, ist an sich richtig, spricht aber nicht gegen
die Auffassung Schillers. Die Mastitis puerperalis entwickelt
sich auch hier aus einer Stauungsmastitis infolge der bei Rha¬
gaden so sehr häufigen ungenügenden Entleerung der Brust.
Therapeutisch steht in erster Linie die Saugbehandlung der
Mastitis puerperalis (nach Bier), die im Stadium der Stauung
prompte Heilung bringt. Die Vereiterung kann sicher verhütet wer¬
den. War es zur Eiterung gekommen, so stellt Schiller als wich¬
tiges therapeutisches Prinzip die Forderung auf, die Laktation
auf der gesunden Seite unbedingt, auf der kranken Seite aber
auch bei günstiger Lage des Abszesses (so daß der Warzenhof
vom Verband freibleiben kann) fortzusetzen! Der Abszeß selbst
wird durch große Schnitte und Drainage besser behandelt als
wie mit Stichinzisionen und Saugbehandlung. Sobald es möglich
ist, legt man das Kind wieder an die erkrankte Seite an und
es gelingt in der Regel die Laktation wieder in Gang zu bringen
(auch nach mehreren Wochen). Betreffs der Rhagadenbildung
an der Warze erscheint als beste Behandlung jene, welche am
raschesten die ihres Epithels beraubten wunden Stellen der
Brustwarze zur Ueberhäutung bringt, ohne die Brust auch nur
zeitweilig außer Funktion zu setzen, weil sonst die Milchstauung
mit allen schädlichen Folgen droht. Schiller benützt zu diesem
Zwecke seit Jahren mit außerordentlich zufriedenstellendem Er¬
folge eine Naphthalansalbe (Acid, boric. 5-0, Zinc. oxyd. 10 0,
Naphthalan, Adip. Ian. aa. 25-0), welche auf die Mammilla auf¬
getragen wird, wobei die Schrunden möglichst zu entfalten sind.
Vor jedem Trinken wird die Warze mit Oel und Watte gereinigt,
hierauf etwas Milch expriiniert und das Kind direkt angelegt
Nach beendigter Mahlzeit wird die Salbe wieder aufgetragen
Ua Schiller grundsätzlich vierstündige Nahrungspausen durch¬
fuhrt und dann jedesmal nur eine Brust reichen läßt, so macht
m den achtstündigen Zwischenpausen die Ueberhäutung immer
wieder genügende Fortschritte, so daß in zwei bis drei Tagen
die Schrunden geheilt sind. Nur bei sensiblen oder psychopathi¬
schen Frauen, bei denen die Schrunden außerordentlich schmerz¬
halt sein können, muß man bisweilen auf das Warzenhiitchen
zur iickgreifen. Anästhesierende Salben sind nicht zu empfehlen,
wohl wirken isie auf die Schmerzen günstig ein, aber der Heilungs¬
prozeß geht relativ langsam vor sich. Da das Säughütchen eine
Entleerung der Brust entschieden erschwert, so muß man täglich
die Brustkonsistenz und Körpertemperatur beobachten, um der
Gefahr einer Milchstauung mit nachfolgender Mastitis recht¬
zeitig zu begegnen. — (Monatsschrift für Kinderheilkunde 1911
Bd. IX, Nr. 11.) K g ’
654. Zur operativen Behandlung des Karotis-
aneuiysmas. Von Dr. F. Weber. Die 56jährige Patientin be¬
merkte seit drei Monaten eine rasch wachsende Geschwulst hinter
dem rechten Kieferwinkel, die vor der Operation fast faust¬
groß, als ein Aneurysma des oberen Teiles der Arteria carotis
communis diagnostiziert wurde; außerdem war noch ein Pseudo¬
aneurysma vorhanden, das sich fast bis zur Klavikula erstreckt.
L^ gelang V eber bei der Operation, den ganzen Aneu-
lysmasack, der sich tief in die Fossa retromaxillaris bis1 zur
Schädelbasis erstreckte, radikal zu entfernen. Nachdem Weber
den unteren Teil des Sackes mit großer Mühe abgelöst hatte, legte
er auf den übrig gebliebenen oberen Teil des Sackes sieben breite
Arterienklemmen an, die drei Tage lang in der Wunde liegen
blieben. Dieser Teil des Aneurysmasackes gangränisierte und
stieß sich im Laufe von zehn Tagen ab. Der postoperative Verlauf
war ein glatter. Gehirnerscheinungen wurden gar nicht beob¬
achtet. Die Klemmen wurden am sechsten Tage anstandslos
entfernt. I rotz Entfernung der Vena jugularis interna und der
Aiteria carotis communis mit ihren oberen Verzweigungen, fühlte
sich Pat. ausgezeichnet. Heilung. — (Zentralblatt für Chirurgie
1911, Nr. 16.) E yK
*
655. Zur Behandlung des Bronchialasthma und
asthmaähnlicher Zustände mit Vibrati o n s mas s ag e.
\ on Di. \\ . Siegel, Bad Reichenhall. Der Verfasser wendet
bei den genannten Zuständen die elektrische Vibrationsmassage
an zwei ganz bestimmten, miteinander korrespondierenden Punkten
des Rückens an. Die beiden Punkte findet man zirka zwei
Querfinger unterhalb des unteren Endes der Skapula etwas me¬
dian wärts ; sie liegen in der Höhe des siebenten bis neunten Brust¬
wirbels. Die Angaben der Kranken sind in dieser Hinsicht mit
geringen Ausnahmen sehr präzis und übereinstimmend ; nur beim
Ansetzen des \ ibrators an diesen Stellen empfinden die Kranken
eine wesentliche Erleichterung. Man kann die Wirkung auch
objektiv konstatieren; der Thorax erweitert sich in allen seinen
Durchmessern, die Rippen heben sich mächtig, die vorher krampf¬
hafte Tätigkeit der Hilfsmuskeln fällt weg, die Atmung vollzieht
sich automatisch, passiv, der Lufthunger ist geschwunden, die
Kranken atmen leicht und frei. Die gute Wirkung hält verschieden
lange an. Beim starren Thorax ist der Effekt natürlich geringer.
Die manuelle Vibrationsmassage, in schweren Asthmafällen in
der Wohnung des Kranken angewandt (mit der geschlossenen
Taust wurden an den zwei Punkten durch kurzes Klopfen Er¬
schütterungen hervorgerufen), steht an Wirksamkeit weit zurück;
es wurden nur kurze, vorübergehende Besserungen des Zustandes
erzielt. Die \\ irkung der elektrischen Vibrationsmassage ist nicht
leicht zu erklären. Vielleicht liegt eine direkte Zwerchfellwirkung
vor (?), ist es reflektorisch der Vagus, vielleicht entsprechen
diese Punkte sogenannten Headschem Zonen. — (Medizinische
Klinik 1911, Nr. 20.) £ p
*
656. (Aus der medizinischen Klinik Heidelberg.) Ueber
die Typhlatönie und verwandte Zustände (chroni.
sehe Appendizitis, sogenanntes Coecum mobile,
lyphlektasie, sowie habituelle Cökum torsi on). Von
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
947
Priv.-Doz. Dr. Fis chi er. Die chronischen Reiz und Schmerz¬
zustände in der Blinddarmgegend sind vielfach noch ungeklärt.
Hausmann und Wilms haben zuerst die Erscheinungen des
„mobilen Cökums“ beschrieben. Damit ist auch der Begriff der
chronischen Appendizitis nähergerückt. Die meisten Autoren cha¬
rakterisieren das klinische Krankheitsbild durch folgende drei
Kennzeichen: 1. Schmerzen in 'der Cökalgegend, die teils spontan,
häufig kolikartig auftreten, teils nur auf Palpation auslösbar sind
und intermittieren. 2. Ein luftkissenartig sich anfühlender Tumor
in der Cökalgegend, der deutliches Ileocökalgurren und meist
erheblichen Schmerz bei tiefer Palpation auslösen läßt. 3. Stuhl¬
unregelmäßigkeiten, hochgradige Obstipation allein, oder abwech¬
selnd mit Diarrhöen, oder Diarrhöen allein. Verfasser hebt noch
das Fehlen jener Symptome hervor, welche speziell eine Appen¬
dizitis anzeigen, wie die Defense musculaire, Veränderungen der
Zunge, die hohe Pulsfrequenz, die Leukozytose und endlich das
Fieber. Skiagraphische Untersuchungen von Klose und Sti erlin
haben besonders zur Kenntnis der lokalen Veränderungen beige¬
tragen. Sie zeigen, zunächst eine mangelhafte Fortbewegung des
Chymus, resp. seine abnorme Verweildauer im Cökum und Colon
ascendens, ferner Vergrößerungen des Cökums und endlich ab¬
norme Beweglichkeit. Die Meinungen über die Aetiologie diver¬
gieren sehr. Viele sehen in einer abnormen Beweglichkeit des
Cökums die Ursache aller Beschwerden; Wilms hält die Obsti¬
pation für die Ursache der Ausbildung eines mobilen Cökums.
Auch Klose sieht in den mechanischen Momenten einer „primären
oder sekundären Kotstauung“ die Ursache der Schmerzattacken,
also der Ausbildung des klinischen Bildes. Verfasser hat seit
langer Zeit unabhängig von allen Autoren die Fälle sogenannter
chronischer Appendizitis näher verfolgt und kam zu ganz ab¬
weichenden Resultaten. Weder eine besondere Mobilität, noch
die Obstipation ist die Ursache der genannten Cökalbeschwerden,
sondern ein auf das Cökum lokalisierter Katarrh, der seinerseits
eine motorische Insuffizienz dieses Darmlabschnittes zur Folge
hat, woraus eine Atonie des Cökums resultiert. Verfasser glaubt
mit vollem Rechte an dem von ihm1 aufgestellten Bild der
Typhlatonie (Dilatatio coeci) als selbständigen Krankheitsbegriffes
festhalten zu sollen. In dieser Ansicht unterstützt ihn auch die
Arbeit Stier lins. Als therapeutische Maßnahmen empfiehlt
Verfasser: 1. Beschränkung »■der Nahrungszufuhr, speziell ein¬
seitiger Kohlehydrat-Fett- oder Eiweißüberemährung. 2. Leichte
Massage der Cökalgegend in der Richtung' der Peristaltik, körper¬
liche Uebungen in den anfallsfreien Zeiten. 3. Vermeidung stär¬
kerer Abführmittel, damit die Reizzustände des Darmes nicht
erhöht werden, zeitweise Verabfolgung folgenden Wismutgemi¬
sches : Bismuth, subnitr., Magn. ustae. aa : 15-0, Bismuth, sub-
salicylicum, Pülv. rad. rhei aa. : 10-0. M. f. T. S. Dreimal täglich
einen halben bis einen Kaffeelöffel voll in Wasser nach dem Essen.
4. Feuchtwartne Umschläge über Nacht in der Cökalgegend.
5. Keine flatulenzerregende oder unbekömmliche Nahrung. Bei
stärkeren Schmerzenfällen kleine Morphiumdosen. Zur Erklärung
der Schmerzattacken greift Klose zur Torsionstheorie, Wilms
und Sti er bin treten für eine starke Wirkung der Antiperistaltik
des Colon ascendens ein. Verfasser möchte den wechselnden
Zustand der katarrhalischen Veränderungen im Typhlon zur Er¬
klärung heranziehen. Er faßt seine Beobachtungen zusammen:
1. Es gibt Schmerz- und Reizzustände in der Blinddarmgegend,
die nicht von der Appendix ausgehen, sondern im Cökum lo¬
kalisiert sind. 2. Diese Zustände hängen ab von einer funktio¬
neilen Insuffizienz seiner motorischen Fünktion und führen zur
Typhlatonie, die somit ein wohlbegründetes, selbständiges Krank¬
heitsbild darstellt, worauf Verfasser zuerst hinwies. 3. Eine ab¬
norme Mobilität des Cökums hat als solche nichts mit diesen
Zuständen zu tun, doch bedingt die anatomische Abnormität mög¬
licherweise ein leichteres Zustandekommen derselben. 4. Die Be¬
zeichnung der oben geschilderten Beschwerden als solche eines
„mobilen Cökums“ ist eine irrige und wird richtiger durch
Typhlatonie“ ersetzt. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911,
Nr. 23.) G.
*
657. Die Bedeutung der Pi r quetschen Reaktion
für die Diagnose der Tuberkulose. Von Dr. Blümel
Halle a. S. Die Pir quetsche Reaktion, die wohl im allge¬
meinen eine spezifische ist, kann für die Diagnose meist nur im
ersten older zweiten Lebensjahr entscheidend sein. Denn im
späteren Kindesalter und bei Erwachsenen zeigt, sie schon soviel
inaktive, geheilte Tuberkulosen an, daß der positive Ausfall nicht
mehr für die Diagnose maßgebend sein kann und nur unter
Beobachtung des klinischen Befundes mit allergrößter Vorsicht
zu verwerten ist. Auch die Qualität der Reaktion steht durch¬
aus nicht im'mer in so geradem Verhältnis zum Krankheits¬
prozeß, als daß man aus der Intensität allein auf die Aktivität
oder Inaktivität einer Tuberkulose schließen könnte. Immerhin
ist die Pir quetsche Impfung für die Prophylaxe der Tuber¬
kulose im klinischen Sinne von Wert, z. B. bei Schulkindern,
wo sie eventuell auf die Infektionsquelle in der Familie hinweist,
wenn schon das Kind selbst in klinischem Sinne nicht tuber¬
kulös ist. Die Pirquetislierung der Schulkinder liegt nach
Blümel im Interesse einer weitgehenden Tübeihulosebekäm'pfung.
— (Fortschritte der Medizin 1911, 29. Jahrg. Nr. 11.) K. S.
*
658. Zystoskopisc'he Diagnose der Blasensyphi¬
lis. Von Priv.-Doz. Dr. Jonathan Paul Haberern. Dem Ver¬
fasser gelang es bei einer 41jährigen Patientin, zystoskopisch
ein Gumma der Blase festzustellen. Zystoskopisch fand sich:
Blasenwand glatt, glänzend, Ureterenmündung normal. Sphinkter¬
wand gewellt, uneben, man sieht knapp dahinter eine rundliche,
reichlich walnußgroße, von der linken Seite ausgehende, um¬
schriebene, an vier bis fünf Stellen höckerig emporspringende,
mit Schleimhaut bedeckte Geschwulst, deren prominenteste Ober¬
fläche an einzelnen Stellen teils ulzeriert, teils eitrig bedeckt
ist. Eine Salvarsaninjektion (0-45) brachte Heilung. 35 Tage
nach der Injektion zeigt das Zystoskop das Gumma am' Sphinkter
bis auf eine kleine, glatte Erhabenheit verschwunden. — (Zen¬
tralblatt für Chirurgie 1911, Nr. 19.) E. V.
*
659. Ueber einen Harn be fund bei Karzinoma-
tösen. Von Priv.-Doz. Dr. Oskar Groß, Oberarzt und Doktor
Max Reh, Volontärassistent der medizinischen Klinik des Pro¬
fessor Dr. Steyrer in Greifswald. Es wird vorerst auf die
Untersuchungsergebnisse von Töpfer, von As coli und Grazia,
von Salomon, Saxl und Falk hingewiesen, auf die neueren
Versuche von Salkowski, die er mit einfacheren Methoden
erzielte. Die Verfasser machten vorerst 16 Versuche an Kranken
mit verschiedener Diagnose mit einer früher angegebenen Methode
Salkowskis und gelangten zu dem Ergebnisse, daß sie eine
gerade für Karzinom spezifische Vermehrung des alkoholfällbaren
Stickstoffes nicht nachweisen konnten. Inzwischen erschien
eine dritte Veröffentlichung Salkowskis, in welcher wieder
eine geänderte und einfachere Untersuchungsmethode angegeben
wurde. Die Verfasser untersuchten nun 35 Falle (neben Krebs
viele andere Krankheitszustände) und resümieren die Ergebnisse
ihrer Untersuchungen mit folgenden Worten: Nach diesen Unter¬
suchungen möchten wir über diese Methode Salkow¬
skis noch kein abschließendes Urteil abgeben. Wir glauben
vielmehr, daß die Untersuchungen an einem sehr zahlreichen
Material wiederholt werden müssen, wobei vielleicht zu berück¬
sichtigen wäre, daß bei pathologischen Harnen die Ernährungs¬
weise doch eine Rolle spielen könnte. Schon heute aber können
wir jedenfalls sagen, daß die Vermehrung der durch Alkohol
oder Schwermetalle fällbaren stickstoffhaltigen Substanzen des
Harnes für Karzinom nicht pathognomonisch, vielmehr
von gewissen, nur gelegentlich das Karzinom begleitenden Stoff¬
wechselstörungen abhängig zu sein scheint, wie sie bei schweren
Kachexien, anderseits mit starkem Eiweißzerfall einhergehenden
Erkrankungen und Leberschädigungen in oft höherem Maße Vor¬
kommen. Vielleicht ist bei Magenkrebsen eine gewisse Vermeh¬
rung vorhanden, die der Differentialdiagnose unter gewissen Be¬
schränkungen nutzbar gemacht werden könnte. — (Medizinische
Klinik 1911, Nr. 20.) E. F.
*
660. (Aus der chirurgischen Klinik zu Kiel. — - Direktor: Pro¬
fessor Dr. An schütz.) Melanurie ohne melanoti sehen
Tumor. Von Dr. H. Zoeppritz, Assistenzarzt der Klinik. Es
handelte sich um einen 69jährigen Mann, der am1 28. Juni 1909
in die chirurgische Klinik in Kiel aüfgenommen wurde, seit fünf
948
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 9 6
Wochen an anfänglich leichten, später allmählich zunehmenden
ileusartigen Beschwerden litt und schließlich an Perforations-
peritonitis starb. Der Kranke entleerte während des dreitägigen
Amenthaltes in der Klinik einen sauren, zunächst gelbbraunen
dann im Laufe von :U bis 1 Stunde sich von oben herab bis zu
tiefer Schwärze und Undurchsichtigkeit verdunkelnden Urin, der
chemisch die für Melanin charakteristischen Reaktionen gab. Bei
dci Autopsie fand sich ein kleines stenosierendes Karzinom dos
S lOmanum mit Metastasen in Netz und Mesocolon sigmoideum
ohne abnorme Pigmentation. Eine melanotische Geschwulst konnte
nicht gefunden werden, auch war nirgends eine wesentliche Zu¬
nahme der normalen und autochthonen Pigmentierungen fest¬
zustellen. Ob das vom Kranken ausgeschiedene Melanin völlig
identisch ist mit dem Farbstoff der Melanosarkome oder diesem1
nm sehr ähnlich, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden.
Die chemischen Reaktionen ergaben jedenfalls ein Melanin,
welches die dem Farbstoff der melanotischen Tumoren eigen¬
tümlichen Eigenschaften hatte. Schwarzfärbung des Urins durch
andere pathologische Farbstoffe ist nicht selten. Gallenfarbstoff,
starker Urobilingehalt sind leicht auszuscheiden. Indikan täuscht
mitunter Melänogen vor. Die üblichen Proben ergaben keinen
staik i ermehrten Indikangehalt des Urins. Bei Alkaptonurie dun¬
kelt der Urin bis zu schwärzlicher Verfärbung nach, in solchen
U einen ist die Tr ommer sehe Probe positiv, bei Zusatz dünner
Eisenchloridlösung entsteht eine grüne, schnell wieder verschwin¬
dende Färbung. Endlich kommen Dunkelfärbungen des Urins
durch medikamentöse Färbstoffe, wie Karbolsäure, Salole, Teer¬
präparate in Betracht, die alle in das Verfassers Fäll ange¬
schlossen werden könnten. Wirkliche Melanurie ohne melano¬
tischen Tumor scheint ganz außerordentlich selten vorzukommen.
Tn der Literatur werden mehrere Fälle mit Schwarzfärbung des
Urins angeführt (Litten, Senator, Pollak, Leube, Hanse¬
mann). Die üblichen Reaktionen auf Melanin fielen aber negativ
aus. Nur in dem von Gnezda beschriebenen Fäll von Darm¬
tuberkulose mit Schwarzfärbung des Urins lag zweifellos eine
echte Melanurie vor. Senatofc hat seinerzeit darauf hingewiesen,
daß in den Fällen, in denen Melanurie ohne melanotischen Tumor
angenommen wurde, in Wirklichkeit Indikanurie Vorgelegen haben
dürfte. Er stellt sich mithin auf den Standpunkt jener Autoren,
die die Möglichkeit des Vorkommens echter Melanurie ohne me¬
lanotischen Tumor verneinen. Zu diesen gehört auch Gar rod,
der nach Prüfung einer großen Zahl pathologischer Harne auf
Melänogen zu dem Ergebnis1 kömmt., daß echte Melanurie nur bei
Gegenwart melanotischer Tumoren vorkommt, ja sogar annimmt,
daß es erst dann zum Auftreten von Pigment im Urin kommt,
wenn die inneren Organe, vor allem die Leber, affiziert sind.
Den gleichen Standpunkt nimmt Moorehe ad ein. Daß die
Garrodbche Annahme nicht richtig ist, geht aus dem Gnezda-
schen und des Verfassers Fall hervor. Nicht mit voller Bestimmt¬
heit möchte Verfasser das Vorhandensein eines vielleicht nur
kleinen, lokal symptomlos verlaufenden Melanoms an einer der
Obduktion aus äußeren Gründen nicht zugänglichen Stelle aus¬
schließen. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 23.)
G.
*
661. Fall von Cholangiozys totomie. VonjJ. E. Lohse.
Bei einem cholämischen Patienten mit Stenose des Ductus hepato-
choledochus (maligne Neubildung) wurde eine Cholangiozystoto-
mie angelegt, die imstande gewesen ist, den Patienten über den
gefährlichen cholämischen Zustand hinüber zu bringen. Daß im
vorliegenden Falle spontan eine Passage der Galle zum Darme
entstanden ist, kann die Annahme nicht, ändern und darf solcher¬
weise erklärt werden, daß die normale starke Gallensekretion
imstande gewesen ist, die Stenose zu forcieren. Unter anderen
Umständen (gutartige Stenose) hatte man später durch eine Cysto-
duodenostomie die Galle in den Darm zurückleiten können. Aus¬
geführt wurde die Operation in folgender Weise: Eine lange
Zange wird in die Gallenblase und durch deren Adhäsion mit
der Leber in letztere so hoch eingebohrt., daß sie durch die kon¬
vexe Oberfläche der Leber sichtbar ist ; in den solcherweise ge¬
bildeten Kanal wird ein drittes Drainrohr eingeführt und die
Gallenblase wird am untersten Wundwinkel festgenäht Die Bauch¬
höhle wird geschlossen und das Drainrohr mit Heber verbunden.
Beim Eingriff fand nur geringe Blutung statt. — (Zentralblatt für
Chirurgie 1911, Nr. 19.) E. V.
*
662. Zur Klinik des Plattfußes und der Zehen¬
deformitäten. Von San. -Rat Dr. Georg Müller in Berlin.
In einer großen, wenn nicht in der überwiegenden Anzahl von
Plattfußfällen ist eine Ursache des Leidens nicht zu eruieren.
Sieht man die Füße genauer an, so geben sie einen charakteristi¬
schen Befund: die Hautfarbe ist auffallend blaß, der Fuß sieht
fast wie ein Leichenfuß aus, fühlt sich auch kalt und klebrig
an und zeigt, reichliche Schweißabsonderung. Auf dem Fußrücken
sieht man zuweilen leichtes Oedem und die Fußsohle ist auf¬
fallend weich. Druck auf die letztere ist überall außerordentlich
empfindlich. Die Zehen sind schwer beweglich, die Streckung
gelingt noch leidlich gut, jedoch ist die aktive Beugung derselben
stark beschränkt oder ganz aufgehoben. Versucht man die Zehen
passiv zu beugen, -so löst man damit zumeist eine laute Schmerz¬
äußerung aus. Verf. analysiert nun diese Erscheinungen. Die
blasse und kalte Haut des Fußes beruht auf Anämie (ungenügende
Blutversorgung der Peripherie infolge Herzschwäche, mangel¬
hafte Durchblutung infolge Arteriosklerose, oder mechanischer
Druck auf die Hautkapillaren durch zu enge Strümpfe oder
Schuhe). Die Ernährungsstörung führt zur Entartung der Füß-
muskulatur u. zw. sind es vorwiegend die am Fuße selbst be¬
findlichen Zehen beuge r (die komplementäre Streck kraft der
Zehen ruht in der Unterschenkelmuskulatur), welche in höherem
Mäße betroffen werden als die Zehen s trecke r. Die weitere Folge
ist, daß die schwächeren Antagonisten erschlaffen und überdehnt
werden, während die stärkeren sich nutritiv verkürzen. Dadurch
streckt sich der Fuß und das Fußgewölbe sinkt ein, da auch
die Faszien und Bänder unter der schlechten Ernährung leiden
Daraus erklärt es sich, warum die aktive Zehenbeugung teilweise
oder ganz aufgehoben und weshalb die passive Zehenbeugung
schmerzhaft ist. Verf. führt entwicklungsgeschichtlich aus, wie
der aufrechte Gang des Menschen der Ausbildung des Platt
fußeis Vorschub leistet, wie sich aus denselben Ursachen Defor¬
mitäten der Zehen (Hammerzehen) bilden, wie auch der Hallux
valgus auf den gestörten Muskelantagonismus zurückzuführen ist.
Sodann bespricht Verf. eingehend die Prophylaxe und Therapie.
Die Blutversorgung des Fußes und damit die Ernährung sollen stets
eine gute sein : also allgemeine Gymnastik zur Stärkung des
Herzens, gutes Schuhwerk, speziell breite vordere Partie, <1 iß
die Zehen im Schuh sich beugen und strecken können. Der Ver¬
fasser verwirft alle starren Plattfußeinlagen, heißt solche Leute
häufig barfuß gehen (möglichst im Sande oder im nachgiebigen
Ackerland), wo der Fuß wieder zum „Greiffuß“ werden kann.
Das Gehen, Turnen, Klettern, wobei die Fußsohlen auf den Kletter-
ba.um angesetzt, werden, das Springen usw., ist also warm zu
empfehlen, die Füße sollen frottiert werden, um besseren Blut¬
zufluß zu bekommen, Zehenbeugen und -strecken, Füßheben und
-senken, Pronation, Supination und Fußkreisen sollen geübt wer¬
den; dazu kommen Massage des Unterschenkels und Fußes, be¬
sonders der plantaren Fußmuskeln, dann heiße und auch Wechsel¬
bäder (heiß und kalt), endlich — bei Verkürzung der Zehen¬
strecker — passive und später auch aktive Beugung derselben.
Bei eingesunkenem Fußgewölbe elastische Einlagen, welche
die plantare Muskulatur in ihrer Funktion nicht hemmen, bei
sekundären Knochenveränderungen ein chirurgischer Eingriff.
Gegen Hallux valgus und Hammerzehen empfiehlt Verf. dasselbe
Vorgehen, bei starker Deformierung geeignete Bandage, welche
er in seiner „Orthopädie des praktischen Arztes“ beschrieben
hat. und welche darin besteht, daß die einzelnen Zehen mit
Bändern an eine Ledersandale gezogen, dadurch gestreckt und
die große Zahl abduziert wird. Diese Sandale wird anstandslos
im Schuh getragen. — (Mediz. Klinik 1911, Nr. 14.) E. F.
*
663. Ueber Pan top o n-S k opo lami nnärk os e. Von
Dr. Theo. Johannsen. Der Verfasser injizierte anfangs den
Patienten IV2 Stunden vor der Operation 002 Pantopon und
eine halbe Stunde vorher noch 0-02 Pantopon + 0 0006 Skopo¬
lamin, später 0 04 Pantopon -j- 0-0004 Skopolamin auf einmal
zwei Stunden vor der Operation. Wenn Johannsen auch in
keinem Falle ganz ohne Aether auskam, so war die gebrauchte
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
949
Aethermenge stets eine geringe: Zusammenfassend sagt Johan Il¬
sen folgendes: 1. Die kombinierte Pantopon - Skopolamin -Aether-
narkose versetzt die meisten Patienten vor Beginn der Operation
in einen apathischen, somnolenten Zustand und benimmt so den
letzten Schrecken vor der Operation. 2. Die Dauer des Annarkoti-
sierens und die dabei meistens verbrauchte Aethermenge wird
bedeutend herabgesetzt. 3. Mit Pantopon -Skopolamin allein, ohne
Zuhilfenahme des Aethers, ließen sich gynäkologische Opera¬
tionen nicht ausführen. 4. Bei vaginalen Operationen genügt es,
die Patienten einmal durch Aether bis zum Erlöschen der Korneal-
reflexe zu bringen. Später sind nur ganz minimale Mengen oder
unter Umständen auch gar kein Aether mehr nötig. 5. Bei Laparo¬
tomien verbraucht man während der Operation durchschnittlich
ebensoviel Aether wie zum Annarkotisieren. 6. Der Schlaf wäh¬
rend der Narkose ist tief, ruhig und ohne Salivation. Puls und
Atmung stets ungestört. 7. In der postoperativen Periode ist
während fast 24 Stunden die Schmerzempfindlichkeit herab¬
gesetzt. Erbrechen findet nur in Ausnahmsfällen statt. Stuhl
und Winde werden durch Pantopon nicht verzögert. (Zentral¬
blatt für Gynäkologie 1911, Nr. 19.) E. V.
* . •
664. (Aus der Klinik für Kinderkrankheiten des medizinischen
Instituts für Frauen und dem Laboratorium des Peter- Paul-
Hospitals in St. Petersburg.) Lipanin als Ersatzmittel des
Lebertrans bei Rachitis. S rin Einfluß auf den Stoff¬
wechsel. Von J. A. Schabad, unter Mitarbeit von Erl. Doktor
R. F. S o ch or o w i ts c h. Die Lehre Von der Bedeutung der freien
Fettsäuren im Lebertran und folglich auch die Anwendung von
Lipanin (d. i. Olivenöl +6%iger Oleinsäure) als Ersatzmittel des
Lebertrans basiert auf sehr schwacher „Grundlage. Schabad ent¬
schloß sich deshalb, die Frage von der therapeutischen Bedeutung
des Lipanins bei Rachitis als Ersatzmittel des Lebertrans auf dem
Wege der Erforschung seines Einflusses auf den Mineralstoff¬
wechsel zu untersuchen. Hiebei wurde festgestellt, daß zwar Li¬
panin und Olivenöl die Resorption des Stickstoffes und des
F ettes verbessern (wobei aber das Lipanin vor dem Olivenöl keinen
Vorzug besitzt), nicht aber die Kalkretention bei Rachitis. Dem¬
gemäß kann das Lipanin, ebensowenig wie die anderen Fette,
den Lebertran bei der Behandlung der Rachitis ersetzen. —
(Monatsschrift für Kinderheilkunde 1911, Bd. 9, Nr. 12.)
K. S.
*
Aus ungarischen Zeitschriften.
665. Die Begutachtung der Ohrverletzungen
nach Unfällen, die Simulation und Aggravation der
0 h r eny e r 1 e tzu ng e n. Von A. Neubauer. Mit Einführung der
obligatorischen Unfallversicherung in Ungarn (Ges.-Art. XIX vom
Jahre 1907) mehren sich die Fälle, in denen Ohrenleiden auf
Unfälle zurückgeführt werden. Eben deshalb gibt Verfasser die
üblichen und zum Ziel führenden Untersuchungsmethoden ,an und
bespricht auch das Attestwesen. Auf traumatische Perforation
ist zu schließen, wenn die sofort nach dem Unfall gemachte
Untersuchung, bei sonst normal aussehendem1 Trommelfell einen
blutig und unregelmäßig geränderten Substanzverlust, hinter dem
die blasse Trommelhöhlenschleimhaut zu sehen ist, ergibt. Die
traumatischen Trommelfellperforationen entstehen am häufigsten
im vorderen oder hinteren unteren Tromlmelfellquadranten und
haben auffallend oft eine dreieckige Form. Die Labyrinthver¬
letzung kann, abgesehen von den basalen Schädelbrüchen,
nur dann entstehen, wenn das Trommelfell auch verletzt ist.
Die Blutung aus dem Ohlre ist kein absoluter Beweis für die La¬
byrinthverletzung, es muß noch Bewußtlosigkeit, Schwindel, Brech¬
reiz und Erbrechen, Ohrensausen bestehen oder bestanden haben.
Klagt der Verletzte über „Vertigo auralis“, daß also die Gegen¬
stände sich um ihn oder sein, eigener Kopf sich im: Kreise drehen,
oder daß er nur auf dem Rücken, resp. auf einer Seite liegen kann,
so ist die Labyrinthverletzung anzunehmen. Eingehend bespricht
Verf. die durch Ohrenverletzungen bedingte Arbeitsunfähigkeit
und deren prozentuelle Feststellung. Einseitige Taubheit ist bei
jenen Berufen, die auf ein gutes Gehör angewiesen sind (Eisen¬
bahner, Musiker, Sänger), zumindest auf 15 bis 30% zu schätzen.
Beiderseitige Taubheit mit höchstens 50% weil der Verletzte,
auch dann noch einen anderen Beruf ergreifen kann. Nur
wenn nebst der Gehörstörung sich noch heftiger Kopfschmerz,
Schwindel, Sausen, Geräusche usw. einstellen und es ausschließen,
daß der Verletzte seine Arbeitskraft irgendwie verwerte, ist auf eine
■Erwerbsverminderung bis 100% zu erkennen. Die Untersuchung
soll immer mit flüsternder Sprache und bei verbundenen Augen
des Untersuchten vor sich gehen. — (Gyögyaszat 1911, Nr. 12.)
ch.
*
666. Die Aetiologie der diabetischen Li pämie. Von
Wilhelm Menyhert. Die diabetische Lipöimiie ist exogenen
Ursprunges und stammt immer aus dem alltäglich mit der Nahrung
aufgenommenen Fette. Nur sub finem kann hiezu in kleiner Menge
der lipoide Stoff der zerfallenen Zellen kommen. Verf. wirft
die Fragen auf: „Wann kann der Diabetiker lipämiseh werden
und wann •nicht?“ und „Warum ist ln beiden Fällen die Äzeton-
Autointoxikation die Todesursache?“ Der Diabetiker wird lipä-
misc'h, weil dessen Organismus nicht genügend lipoides Ferment
zur Spaltung des in großer Menge aufgenommenen Fettes in Gly¬
zerin und Fettsäure, besaß. In diesen Fällen macht allein die
Fähigkeit der Galle zu emulgieren, die Resorption des Fettes
möglich. Diese Emulsion, gelangt durch die Lymphgefäße in den
Blutstrom und behält alle Eigenschaften des freien Fettes. Das
Blut erhält eine weißgraue, opaleszierende Farbe: es tritt die
Lipämie auf. Verfügt in diesen Fällen der Darm nicht über die
nötige Alkaleszenz und nach dem Verf. habe er nie bei den hierauf
untersuchten, an Koma Verstorbenen eine alkalische Reaktion des
Darmes vom Duodenum bis zum Anus gefunden, wie auch der
Chylus des herauspräparierten Ductus thoracicus das gleiche Ver¬
halten aufgewiesen haben soll, so entsteht infolge des inter¬
mediären Chemismus als weiteres Spaltungsprodukt des Fettes,
das Aceton. Wenn aber bei mangelnder Alkaleszenz des Darmes;
genügend lypolitisches Ferment des Pankreas vorhanden ist, so
daß die Spaltung des Fettes dennoch im Darmtrakte vor sich gehen
kann, so wird die opaleszierende Verfärbung des Blutes, die Li¬
pämie ausbleiben. Da aber das nicht verseifte Fett resorbiert
wird, so kann es doch zur Azetonbildung auch in diesen Fällen
kommen. — (Budapesti Orvosi-Ujsäg 1911, Nr. 16.) ch.
*
667. Vollständige Taubheit nach Salvarsaninjek-
tion. Von Adolf Neubauer. Ein 25jähriger Fleischhauergeselle
klagt beim Erscheinen in der Poliklinik (am1 21. Februar d. J.),
daß er Seit zehn Tagen schlecht höre, Ohrensausen und Schwindel
habe, mit seiner Umgebung sich kaum mehr verständigen könne.
Ueber schriftlich an ihn gestelltes Befragen gibt er an, daß er
in der linken Leiste eine öfters auftretende schmerzlose Geschwulst
hatte, die er — Aveil er während seines Militärdienstes sah, daß
derlei Geschwülste auf das Ehrl Feh sehe „606“ zurückgehen --
auf dieselbe Art loswerden wollte. Er will keine Lues gehabt
haben. Am 13. Januar 1911 wurde ihm über sein Verlangen
— ohne vorausgegangene Blutuntersuchung — 0-5 g von 0-60
Salvarsan ämlhula,n;t eingespritzt. Drauf blieb er acht Tage
zu Hause, die Geschwulst verschwand, er fühlte sich wohl. Nach
vier Wochen traten zuerst am linken, dann auch auf dem rechten
Ohre starkes Sausen, Schwindel und Abnahme des Hörvermögens
auf. Am 21. Februar wird folgender Ohrenbefund erhoben:
Beiderseits Trommelbefund negativ, vollständige Taubheit, so daß
er direkt ins- Ohr geschriene Worte nicht perzipiert. c1 256-Stimm-
gabeltöne werden auf keinem Ohre gehört, Knochenleitung auf
dem linken Mastoideus bloß ein bis zwei Sekunden, Rinne und
Weber, beiderseits spontaner rotatorischer Nystagmus. Augen¬
hintergrund normal, Wassermann negativ, nirgends luetische
Symptome. Diagnose: Beiderseitige totale Labyrinth¬
taubheit. Der Kranke hat seit damals 20mal 5 g Hydrargyrum-
salbe eingeschmiert bekommen und 20 g JK eingenommen und
ist auch elektrisiert worden. Er weist mm insoferne eine Bes¬
serung auf, daß er, in das rechte Ohr geschriene Worte hört,
links besteht völlige Taubheit. Sollte in einiger Zeit Wassermann
noch immer negativ bleiben und die Taubheit nicht verschwinden,
so wäre nach Neubauer diese Taubheit auf den toxischen
Einfluß des Salvarsans zurückzuführen. Durch diesen Fall ge¬
witzigt, rät Neuba'luer die Salvarsan injektion prinzipiell erst
nach Ausstellung eines Reverses seitens der Patienten zu geben.
— (Budapesti Orvosi-Ujsäg 1911, Nr. 18.) ch.
950
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
Aus italienischen Zeitschriften.
668. (Aus dem physikalisch -chemischen Institut der1 Uni¬
versität in Neapel. — Direktor: Prof. Mal erb a.) Die Wirkung
der Chlorof ormierung auf das Muskelglykogen. Von
P. Colace. Während der Chloroformierung vermehrt sich all
mählich das Muskelglykogen, dagegen findet eine Verminderung
des Leberglykogens statt, welche sicherlich zur Vermehrung des
Zuckers im Blute beiträgt. Die Verminderung des Leberglykogens
ist als Chloroformwirkung aufzufassen. Wenn man die Erfah¬
rungen über die Wirkung des Chloroforms auf den Stoffwechsel
der Fette (Azidose) der Wirkung desselben Körpers auf den Stoff¬
wechsel der Kohlehydrate gegenüberstellt, so kann man eine
Analogie zwischen Chloroformnarkose und Säureintoxikation.
(Koma von ,Kußmaul) feststellen. — (La Rifonna medica,
24. April 1911.) sz.
*
669. (Aus der chirurgischen Klinik der Universität in Pavia,
— Direktor: Prof. Tonsini.) Ueber zwei Fälle primärer
Tuberkulose in quergestreiften Muskeln. Von
G. Spelta. Die Symptomatologie der Muskeltuberkulose ist im
allgemeinen sehr wenig ausgesprochen. Am wichtigsten sind die
objektiven Zeichen : Schwellung unter der Form eines soliden
oder fluktuierenden Tumors. Sich selbst überlassen, bricht der
Tumor entweder durch die Haut durch — dann entsteht eine
Fistel oder bei starker lokaler bindegewebiger Reaktion tritt all¬
mählich Resorption ein und der verkäste Inhalt des Tumors kann
verkalken. Die Differentialdiagnose der Muskeltuberkulose kann
einige Schwierigkeiten bieten, wenn nicht sonst Zeichen von
Tuberkulose vorhanden sind. Differentialdiagnostisch kommt
hauptsächlich syphilitisches Gumma in Betracht. Eine genaue
Anamnese und die biologischen Proben können ein Hilfsmittel
abgeben. In den beiden Fällen des Autors waren Ophthalmo-
und Kutanreaktion negativ. Die Muskeltuberkulose ist eine höchst
seltene Affektion. Für das seltene Vorkommen der tuberkulösen
Erkrankung des Muskels gibt es noch keine genügende Erklärung.
— (La Riforma medica, 24. April 1911.) sz.
*
670. (Aus dem Institute für klinische Medizin der Universität
in Genua. — Direktor: Prof. Maragliano.) Ueber den Wert
der Lumbalpunktion bei zerebralen Hämorrhagien.
Von A. Rossi. Alle zerebralen Hämorrhagien, bei denen das
Lumbalpunktat blutig gefärbt ist, müssen als sehr schwere be¬
trachtet werden. Ein Teil dieser Fälle bietet sofort schwerste
Erscheinungen dar, denen in kurzer Zeit der Tod folgt. Es sind
jene Fälle, ,in denen die ungünstige Prognose durch die Aus¬
dehnung des Blutergusses bedingt ist. Das Blut überschwemmt
auch die Gehirnkammern und gelangt aus diesen in die Zere¬
brospinalflüssigkeit. Der andere Teil der Fälle mit blutigem Lum¬
balpunktat kann anfänglich geringe zerebrale Erscheinungen dar¬
bieten, während der weitere Verlauf sich immer ungünstiger
gestaltet. Zur primären Läsion des Gehirnes gesellt sich der
Reiz, den das ergossene Blut auf die Meningen ausübt. Der
Nachweis von Blut im Lumbalpunktat ist in jenen Fällen von
großer Bedeutung, welche anfangs nur geringe Störungen zeigen,
weil er zur Vorsicht in der Prognosestellung mahnt. Differential-
diagnostisch kann dieser Nachweis gegenüber apoplektiformen
Erscheinungen bei Embolie, Epilepsie, Enzephalitis, urämischem
oder diabetischem Koma, für zerebrale Hämorrhagie verwertet
werden. — (La Riforma medica, 17. April 1911.) sz.
*
671. Betrachtungen über die Autoserotherapie.
Von C. Garmagnamo. Die Autoserotherapie nach Gilbert
ergibt gute Erfolge bei frischen Pleuraergüssen tuberkulöser Art.
In einem Falle rheumatischer Pleuritis erwies sich die Auto-
serotberapie als wirkungslos. Ein gutes Zeichen für das Gelingen
des Eingriffes ist die Zunahme des arteriellen Druckes. — (Gaz-
zetta degli Ospedali e delle Cliniche, 13. April 1911.) sz.
*
672. Ein Beitrag zum Studium der trophischen
Störungen der Haut hysterischen Ursprungs. Von
C. Coniglio. Die Hysterie kann in der Haut ebenso wie in
anderen Geweben organische Störungen verschiedener Form her-
vorrufen. Der Autor berichtet über einen Fall symmetrischen
Erythems auf beiden Ohren bei einem hysterischen 18jährigen
Mädchen. Die Aetiologie war im Zusammenhang mit Furcht vor
Ansteckung durch eine kranke Freundin. Hauterkrankungen infolge
psychischer Alterationen muß man sich durch Vermittlung des
vasomotorischen Systems entstanden denken. Die Uebertragung
der Reize aus der psychischen Sphäre auf die Vasomotoren ist
bei hysterischen Personen viel leichter als bei Gesunden. —
(Gazzetta degli Ospedali e delle Cliniche, 20. April 1911.) sz.
*
Aus amerikanischen Zeitschriften.
673. Der diagnostische Wert der Buttersäure¬
probe von Noguchi in zerebrospinalen Flüssigkeiten.
Von S. -St rouse. Prüfungen auf vermehrten Globulingehalt in
der spinalen Flüssigkeit sind leichter auszuführen als die Aus¬
zählung der Zellen und haben praktisch die gleiche diagnostische
Bedeutung. Die Buttersäureprobe von Noguchi ist bequem und
genau. Die Anwendung dieser Reaktion ist von beträchtlichem
diagnostischen Werte. Die Reaktion ist positiv bei progressiver
Paralyse und zerebrospinaler Lues, negativ bei Gehirntumoren,
zerebraler Arteriosklerose und Psychosen. Eine positive Reaktion
in einem zweifelhaften Nervenfalle ist im Sinne einer syphiliti¬
schen oder parasyphilitischen Erkrankung des Nervensystems auf¬
zufassen. Bei Tabes dorsalis ist die Reaktion bloß in 33V3°/o der
Fälle positiv. Die Reaktion ist in allen Fällen akuter Meningitis
positiv und negativ bei meningealer Reizung ohne wirkliche
Entzündung. Sie ist immer vorhanden bei tuberkulöser Meningitis
und ihre Anwesenheit daher ein diagnostisches Hilfsmittel bei
dieser Krankheit. Das Fehlen der Reaktion in Fällen, die auf
tuberkulöse Meningitis v<*dächtig sind, ist von großem Werte
für den Ausschluß dieser Krankheit. — (The Journal of the
American medical Association, 22. April 1911.) sz.
*
674. Die Verhinderung industrieller Phosphor¬
vergiftung. Von Robert H. Ivy. Die angeführten Tatsachen
beweisen, daß der Phosphor durch schlechte Zähne in die Kiefer¬
knochen eindringt. Auf Grund von Beobachtungen an 177 in
Zündhölzchenfabriken angestellten Personen ist der Schluß ge¬
rechtfertigt, daß die zur Verhütung der Phosphomekrose getrof¬
fenen Maßnahmen, welche in regelmäßigen monatlichen Unter¬
suchungen der Zähne und in der Behandlung der kariös befun¬
denen besteht, zur Verhütung dieser Krankheit vollkommen aus¬
reichen. — (The Journal of the American medical Association,
8. April 1911.) sz.
*
675. Der prognostische Wert des Arnethschcn
Blutbildes bei der Lungentuberkulose. Von C. Minor
und P. Ringer. Die Keimzahl der weißen Blutkörperchen erlaubt
nach Arneth prognostische Schlüsse bei der Lungentuberkulose.
Bei schweren Formen findet sich eine Verschiebung des Ar-
nethschen Blutbildes nach links, das heißt, die ein- und zwei-
kernigen Leukozyten überwiegen gegenüber den mehrkernigen.
Aus der Aufstellung eines aus den Kernzahlen gewonnenen Index
ergeben sich Anhaltspunkte für die Prognose. Die Verfasser
konnten iin mehrjährigen Untersuchungen die Arneth sehen
Schlüsse bestätigen. Doch war der Index für die Norm (48-5)
niedriger als bei Arneth (60-5). Die bei schweren Formen von
Lungentuberkulose gefundenen Werte der Autoren schwankten
zwischen 80 bis 90. In mehreren Fällen konnte bei der ein¬
getretenen Besserung ein Herabgehen des Index, bei der Ver¬
schlimmerung ein Ansteigen desselben beobachtet werden. In
der großen Mehrzahl der Fälle war die Aufstellung des Index
von ausgesprochenem Werte für die Prognose. — (The American
Journal of the medical Sciences, Mai 1911.) sz.
*
676. Die Vakzinebehandlung der Pyorrhoea al-
veolaris. Von W. Willi a ms. Die Alveolarpyorrhoe, welche
eine chronische, umschriebene eitrige Entzündung darstellt, schien
sich zur Behandlung mit bakteriellen Vakzinen besonders zu
eignen. In acht Fällen wurden aus der Alveolartasche von an
dieser Krankheit Leidenden Bakterien entnommen, kultiviert und
aus der überwiegenden Art ein Vakzin hergestellt. Die Erfolge,
welche auf diese Weise erzielt wurden, sind um so bemerkens-
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
951
werter, als die lokale zahnärztliche Behandlung bei dieser Krank¬
heit meist nicht ausreicht, um das Leiden definitiv zu heilen. —
(The American Journal of the medical Sciences, Mai 1911.) sz.
«
677. Das Resultat der medikamentösen Behand¬
lung in 1106 Fällen von Delirium tremens. Von W. Ran-
son und G. Scott. Die medikamentöse Behandlung des Delirium
tremens ist im ersten Stadium wirksamer als im zweiten. Bei
inzipienten Fällen empfehlen sich die Hypnotika in großen Dosen,
insbesonders das Veronal. Alkohol soll regelmäßig verabreicht
werden und Ergotin in häufigen Intervallen, entweder per os
oder intramuskulär. Von dieser Medikation soll man nur allmäh¬
lich und erst dann abgehen, wenn alle Zeichen von Unruhe und
Tremor geschwunden sind. Der delirierende Kranke soll Veronal
regelmäßig erhalten. Alle anderen Hypnotika, insbesonders Mor¬
phin und Hyoszin sind ihm vorzuenthalten. — (The American
Journal of the medical Sciences, Mai 1911.) sz.
*
678. Die Ursache und die Besserung der
Schmerzen beim Duodenalgeschwür. Von J. Taft Pil¬
cher. Die Ursache der Schmerzen beim Ulcus duodeni ist die
Salzsäure des Magens, welche bei ihrem Uebertritt in das Duo¬
denum mit der Oberfläche des Geschwüres in Berührung kommt.
Das Ulkus des Duodenums ruft reflektorisch Hyperazidität des
Magensaftes hervor. Das Nachlassen der Schmerzen beim Duo¬
denalgeschwür folgt der Einbringung von Speisen in den Magen,
indem die eingeführte Nahrung reflektorisch eine Absonderung
des alkalischen Duodenalsekretes bewirkt, welches die Salzsäure
des Magensaftes neutralisiert. — (The American Journal of the
medical Sciences, Mai 1911.) sz.
*
679. Der G esundheitszustand von Kindern, welche
tuberkelbazillenhaltige Milch getrunken haben. Von
A. Heß. Von 18 Kindern, welche tuberkelbazillenhaltige Milch
tranken, blieben alle bis auf eines frei von aktiver Tuberkulose
durch eine Beobachtungsperiode von drei Jahren. Bei einem
Kinde entwickelte sich Tuberkulose der Halslymphdrüsen, aus
denen der bovine Tuberkelbazillus gezüchtet werden konnte. Aus
Tierexperimenten ergibt sich, daß die Wahrscheinlichkeit der In¬
fektion durch Milch nicht allein von der Zahl der mit ihr aufgenom1-
menen Tuberkelbazillen abhängig ist, sondern auch von der
Häufigkeit der Gelegenheit zu kleinen Infektionen. Demi eine
Quantität von Tuberkelbazillen, welche nicht ausreichte, um bei
Meerschweinchen in einmaliger Dosis Tuberkulose zu erzeugen,
war imstande, diese Krankheit hervorzurufen, wenn sie auf
25 bis 30mal verteilt an ebensovielen Tagen aufgenommen wurde.
Tüberkelbazillen in der Milch bedeuten eine Gefahr für die Ge¬
sundheit kleiner Kinder, ebenso Tüberkelbazillen in der Butter.
Für bazillenfreie Milch und Butter muß daher Vorsorge getroffen
werden. — (The Journal of the American medical Association,
6. Mai 1911.) sz.
i • *
680. Familiäre perniziöse Anämie. Von A. Patek.
Der klinische Verlauf und der Blutbefund ergab bei zwei Brüdern,
einer Schwester, einem Vetter und Onkel väterlicher Seite per¬
niziöse Anämie. In zwei Fällen war sie sekundär. Die von
Hunter vertretene Theorie, daß septische Prozesse im Munde
— Stomatitis, Glossitis usw. — die ätiologischen Faktoren bei
dieser Krankheit wären, fand in diesen Fällen keine Stütze,
da bei keinem der Patienten derartige Veränderungen nachweis¬
bar waren. Das Auftreten dieser Krankheit in einzelnen Familien
und die Kenntnis von der stetigen, relativen und absoluten
Zunahme dieser Krankheit, legt den Gedanken nahe, daß wir es
hier mit einem noch unerkannten, sich imlmer mehr ausbreiten¬
den hämolytischen Prozeß zu tun haben. — (The Journal of the
American medical Association, 6. Mai 1911.) sz.
Sozialärztliche Revue.
Von Dr. L. Sofer.
Wir haben bereits über den großzügigen Entwurf des eng¬
lischen Schatzkanzlers Lloyd George berichtet. Es erübrigt
noch die Rückwirkung der geplanten Sozialversicherung
auf den Aerztestand zu erwägen. Vor allem fällt die hohe
Grenze für die Verpflichteten auf; 160iPfund = 3840 K Eürkommen
bilden die Grenze der Versicherungspflicht. Nicht genug daran,
keimt der englische Entwurf, wie leider auch das österreichische
Gesetz die freiwillige Versicherung; er unterscheidet zwei
Gruppen. Die erste Gruppe läßt wenigstens noch einen sozialen
Gedanken erkennen. Es sind dies Leute, die eigene Unternehmer
sind, aber weniger als 160 Pfund verdienen. Diese haben für ihre
Versicherung den Beitrag des Arbeiters (4 Penny, 1 Penny = 10 h),
wie den des Arbeitgebers zu entrichten, dagegen trägt der Staat
auch für sie 2 Penny bei. Die zweite Gruppe läßt aber jeden
sozialen Gedanken vermissen; wird sie Gesetz, so wäre dies
einfach ein Raubzug auf die Taschen der Aerzte und eine Prämie
für schmutzige Knickerei. Dafür scheint dem,1 englischen Minister
das Verständnis zu fehlen. So erklärte er einem Ausfrager, daß
sich auch der Gouverneur der Bank von England (!)
und jeder andere reiche Mann in die Versicherung aufnehmen
lassen könne und auch für ihn bezahle der Staat 2 Penny wöchent¬
lich; er Wolle auch seine eigene Kinder (!) versichern, damit
sie, wenn sie einmal krank werden, ihre RerRe von 10 Schilling
(l Schilling = 1 K 20 h) bekommen. Wir brauchen wohl nicht
des Näheren auszuführen, wie verwerflich diese Gedanken von
sozialärztlichem Standpunkt sind; aber auch von rein versiche¬
rungstechnischem Standpunkt ist nicht einzusehen, wie die Ver¬
sicherung in erschwinglichen Grenzen für den Staat sich bewegen
kann, wenn alle Einwohner sich versichern.
Die englischen Aerzte sind aber durch die trüben Erfah¬
rungen ihrer Kollegen auf dem Festlande bereits gewitzigt; sie
lassen den Entwurf nicht wie wir seinerzeit in Oesterreich wie
ein unabänderliches Geschick über sich ergehen. Sie steilen fol¬
gende Forderungen auf: 1. Abschaffung der oben skizzierten, mon¬
strösen freiwilligen Versicherung; der Gouverneur der Bank von
England dürfe sich also nicht versichern lassen. 2. Die Erhöhung
des vorgesehenen Aerztepauschals von vier Schilling auf den
Kopf der Versicherten auf das Doppelte. 3. Volle Vertretung der
Aerzte in der Verwaltung der Kassen. '4. Freie Arztwahl, während
der Entwurf das uns so vertraute System der fix angestellten
Kassenärzte voraussieht. Um dieses Minimalprogrammi durch¬
zusetzen, sollen alle Aerzte einen Revers , unterzeichnen, daß alle
Honorarfragen durch die Kommissionen der British med. Asso¬
ciation zu regeln sind; sollte wider Erwarten das Gesetz in der
ursprünglichen Fassung durchgehen, so werden die Aerzte ein¬
fach ihre Mitwirkung verweigern.
Die großen Grubenkatastrophen, die sich gerade in
den letzten Jahren in England häuften, damit zusammenhängend
die steigende Zahl der tödlichen Grubenunglücke machten
eine Revision des britischen Berggesetzes vom Jahre 1887 not¬
wendig. Das neue Gesetz bestimmt unter anderem folgendes :
Um Unfälle bei der Förderung der Belegschaft zu vermeiden,
sollen die Seile alle 3V2 Jahre inspiziert werden; auch sollen
bessere technische Einrichtungen zum Bremsen und Messen der
Fahrgeschwindigkeit gefordert werden. Die Förderung von Ma¬
terial und Werkzeug während der Ein- und Ausfahrt soll unter¬
sagt werden. Zur Verhütung von Unfällen auf der Förderstrecke
schreibt das Gesetz einen genügenden Raum' zwischen den Wagen
und den Seitenwänden, wie auch eine genügende Anzahl von
Zufluchtsstätten vor. Ferner verlangt das Gesetz, daß jede Grube
einen zweiten Ausgang neben der Strecke, auf der die mit, Gasen
geschwängerte Luft zurückkehrt, besitzen muß. Bei neuen Gruben
müssen zwei Schächte angelegt werden, einer für die Konlen-
fördenmg und ein anderer für die Ein- und Ausfahrt der Beleg¬
schaft. Die Steiger müssen in Zukunft eine strengere Prüfung
bestehen, als es bis jetzt der Fall war. Kem Bergarbeiter soll
künftig an Stellen arbeiten dürfen, wo das Hängende (Gestein)
nicht gestützt ist. Keinem Steiger darf ein größeres Revier an¬
gewiesen werden, als er mit Gründlichkeit inspizieren kann.
Niem, and darf an einem Orte arbeiten, wo sich mehr als 2V2°/o
schlagender Wetter befinden. An allen Zechen müssen Wasch
kannen vorhanden sein, die die Bergarbeiter benützen müssen
Kin delr dürfen inlZukunft an der Oberfläche nicht unter 13 Jahren
und unterirdisch nicht unter 14 Jahren beschäftigt werden.
Die Festsetzung dieses niedrigen Alters zeigt nicht gerade
von sozialpolitischem Verständnis; die Kinderarbeit ist über¬
haupt ein wunder Punkt der englischen Sozialversicherung, in
dem sie weit hinter dein Festland zurück ist. In Großbritannien,
also auch in den schottischen Spinnereien, dürfen Kinder unter
12 Jahren nicht beschäftigt werden, dagegen ist es immer noch
erlaubt, Kinder über 12 Jahren nach dem Halbzeitsystem in den
Textilfabriken zu beschäftigen u. zw. entweder abwechselnd jeden
Tag, oder in Morgen- und Nachmittagschichten. Nach der Ge¬
werbeordnung des Deutschen Reiches dürfen Kinter unter
952
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
13 Jahren nicht beschäftigt werden. Kinder , über 13 Jahren dürfen
nur beschäftigt werden, wenn sie nicht mehr zum Besuche der
Volksschule verpflichtet sind. Die Beschäftigung von Kindern
untei ii Jahren darf die Dauer von sechs Stunden täglich nicht
überschreiten. England hat bereits 1890 auf der Internationalen
■.rbeiterschutzkonferenz das Versprechen gegeben, die Kinder¬
arbeit auf ziiheben. Bis heute hat England sein Versprechen nicht
eingelost. Diese Saumseligkeit wäre nicht zu erklären, wenn
der englischen Regierung nicht leider auch das Unverständnis
iu citei Aibeiterschichten zur- Seite stünde, von Eltern, die auf
den Ertrag der Kinderarbeit nicht verzichten wollen. Hoffentlich
" . J0^ och der Druck der öffentlichen Meinung bald so stark
sein, diese Rückständigkeit auszumerzen. Es ziemt England
schlecht, sich über die Kinderarbeit in den bengalischen
Spinnereien zu entrüsten, wie es geschehen pst, wenn es zu Hause
U ebelstände, wenn auch nicht so krasser Natur, duldet.
Emen Fortschritt bedeutet der Entwurf Lloyd Georges
bezug auf die Mutterschafts Versicherung. Wie wir in
^i.24 ausführten, keimt das angenommene reformierte deutsche
Sozialversicherungsgesetz nur eine fakultative Fürsorge für die
nicht versicherten krauen von Versicherungspflichtigen; dagegen
bestimmt der englische Entwurf, daß jede Arbeiterin, oder Frau
eines Versicherten, wenn sie Mutter wird, 30 Schilling be¬
kommt. Der Staat fragt nicht, ob sie verheiratet ist oder nicht,
dagegen macht er zur Bedingung, daß sie während des Renten¬
bezuges nicht arbeitet.
Bis nun war in England, wie noch heute in Frankreich
■tie Mutters chafts Versicherung das Arbeitsgebiet freiwilliger Ver¬
sicherung. Die französischen Vereine, Mutualities mater-
11 eil es genannt, werden aber vom Staate mit 500.000 Frank unter¬
stützt. Jede Wöchnerin erhält während vier Wochen eine Ent¬
schädigung von 12 Frank wöchentlich unter der Bedingung, daß
sie sich jeder Arbeit während dieser Zeit enthält. °Jedes
unterstützte Mitglied muß seit mindestens neun Monaten einge¬
schrieben sein und seinen Jahresbeitrag von, 3 Frank gezahlt haben.
Der Deutsche Bund für Mutterschutz hielt Mitte Mai
seme dritte Generalversammlung in Breslau ab. Prof. O. Spann
(Biünnj sprach über „Schicksale und Sterblichkeit der unehelich
^el:)^ei^en .• Er führte die hohe Zahl der Totgeburten, die große
Sterblichkeitsziffer der unehelichen Säuglinge und die spätere
’ erwahrlosung auf die schlechte wirtschaftliche Lage der ledigen
Mutter zurück. Der Tod der Mutter sei bei solchen Verhältnissen
- so paradox es klingt — zumeist von günstigem Einfluß auf
(fas Geschick des unehelichen Kindes, da sich dann die öffent-
iiche Wagenpflege seiner annimmt; das private Schutzinstitut,
üie Vormundschaft, solle überall in die öffentliche berufliche
Vormundschaft umgewandelt werden. Der Vorsitzende, Justizrat
Rosenthal, berichtete über die vorbereitenden Schritte zur
Gründung einer Internationalen Vereinigung für Mutter s chutz
und über die Einberufung eines Internationalen Kongresses für
Mutterschutz und Sexualrefonn in Dresden (28. bis 30. September).
Die Stadt C har hott enburg, die in sozialpolitischer Be-
ziehung sehr rege ist, hat beschlossen, da die Tätigkeit der Süug-
hngsfüi sorgestelle bisher, abgesehen von Ausnahmefällen, auf
Kinder im ersten Lebensjahr beschränkt war, eine gesundheit¬
liche Uebeiwachung der Kinder durch die Schulärzte aber erst mit
dem vollendeten sechsten Lebensjahr eintritt, daher für das
Alter zwischen dem ersten und sechsten Lebensjahr es an ärzt¬
licher üeberwachung fehlt, in jeder Säuglingsfürsorgestelle eine
besondere Wochensprechstunde für Kinder vom ersten bis
sechsten Jahr einzurichten ; zu gelassen werden Kinder dieses
Alters, auch wenn sie die Säuglingsfürsorgestelle vorher nicht
besucht haben. Mütter und Pflegemütter erhalten in den Sprech¬
stunden unentgeltlich spezialärztlichen .Rat, eine Behandlung
findet aber ebensowenig, wie in den Säuglingsfürsorgestellen
odei durch die Schulärzte statt. Für jedes die Fürsorgestellen
besuchende Kind wird mit vollendetem ersten Lebensjahr ein
Gesundheitsschein angelegt werden, der das Kind bis zum voll¬
endeten sechsten Lebensjahr begleitet und an den Schularzt weiter¬
gegeben werden soll. Der Magistrat Charlottenburg hat ferner
beschlossen, die Aufsicht über die städtischen Kostpflegekinder.
Haltekinder und unter Generalvormundschaft stehenden Mündel
durch die Säuglingsfürsorgestellen bis zum vollendeten zweiten
Lebensjahr auszudehnen. An die Stelle der Waisenpflegerinnen
treten daher bis zum zweiten Jahr die Schwestern der Säug-
hngsfüi sorgestelle. Schließlich soll mit einer Säuglingsfürsorge¬
stelle eine für zelm Kinder bestimmte Säuglingskrippe verbunden
werden. In ihr werden Kinder solcher ledigen Mütter Aufnahme
finden, die tagsüber auf Arbeit gehen und ihr Kind selbst stillen.
Die Zahl der Krippen beträgt in Deutschland 164, davon
entiallen auf Preußen etwa zwei Drittel. In Berlin sind acht vor-
handen. Heime für Säuglinge bestehen in Deutschland 74 in
Berlin vier nämlich eine Heimstätte, ein Kinderasyl und zwei
städtische V aisenhäuser. Milchküchen bestehen in Deutschland
5b, davon entfallen auf Preußen gleichfalls zwei Drittel.
Im Jahre 1909 sind im Deutschen Reiche 335.436 Kinder
gestorben, im vorangehenden 359.022, im Jahre 1907 daueren
r! im’!ah\er 1906 374.636; der Rückgang beträgt somit
«ooron L tfrr d®n Verstorbenen waren 282.202 ehelich, gegen
308.630 im Vorjahre und 47.228 unehelich gegen 50 742 im Vor¬
jahre. Auf 100 Lebendgeborene kamen 1909 17-0 im ernten Lebens¬
jahre gestorben, gegen 17-8 im Jahre 1908, 17 im Jahre 1907
und 4 8-5 im Jahre 1906. Bei den ehelichen betrug der Anteil 16-0
gegen 16-8, 16-6 und 17-5, bei den unehelichen 26-8 gegen 28-5
-.8 0 und 29-4. Es starben auf 100 Geborene berechnet von Knaben
18-4 (im Jahre 1908 19-4), von Mädchen 15-4 (16-2). Am un¬
günstigsten steht hinsichtlich der Säuglingssterblichkeit Bayern
mit 21-7 Um Jahre 1908 ebenfalls 21-7) auf 100 Geborene, am
Lippe mit 10-5 (11-1). In Sachsen betrug die Ziffer
18-8 (20-1), in Baden 17-2 (16-8), in Würtenberg 17-2 (18-4) in
Preußen 16-4 (17-3). Von den preußischen Provinzen stelit'am
günstigsten Hessen-Nassau mit 10-3 (10-8); dann folgen Hannover
mit 121 (13-1), Westfalen mit 13-0 (14-4) und Schleswig-Holstein
mit 13-2 (14-9), während die Ziffer am ungünstigsten ist in Ost¬
preußen mit 19-1 (18-1), Westpreußen mit 20-4 (20-5) und Schlesien
mit -1-6 (20-8). Ostpreußen und Schlesien zeigen eine wesent¬
liche Zunahme der Säuglingssterblichkeit. Diese Verhältnisse
kamen auch im deutschen Reichstag zur Sprache, weil gerade
die Vertreter der östlichen und bayerischen agrarischen Bezirke,
m denen die Säuglingssterblichkeit am größten ist, gegen jede
Ei Weiterung des Mutterschutzes waren. In Berlin lauten die
betreffenden Zahlen 15-6 gegen 16-8, 16-3 und 17-7.
Im Jahre 1907 wurde in Berlin ein Landpflege verband
ms Leben gerufen. Während die Haushaltungsschulen auf dem
Lande das Ziel verfolgen, den Töchtern des Mittelstandes Anleitung
m allen häuslichen Verrichtungen zu geben, will der Landpflege¬
verband den Hausfrauen der Arbeiter und Kleinbesitzer auf dem
Lande in allen Fragen des häuslichen und wirtschaftlichen Lebens,
sowie in der Kinderpflege und Erziehung mit Rat und Tat zur
Seite stehen. Diese Aufgabe sollidufch Landpflegeschwestern gelöst
werden, die hiezu eine besondere Ausbildung bedürfen. In Öber-
schönfeld bei Bunzlau (Preuß.-Schlesien) ist nun die erste
Land pflege rinnenschule errichtet worden. Die Lehrzeit
dauert ein Jahr mit 44 Unterriohtswochen. Aufgenommen werden
Mädchen und Frauen im Alter von 20 bis 30 Jahren mit guter
Allgemeinbildung ; den Abschluß der Ausbildung bildet eine Prü¬
fung vor einer staatlichen Kommission, daran schließt sich eine
einjährige praktische Ausbildung in einem Krankenhaus. Nach
kurzer Probezeit wird die Landpflegeschwester in einer Station
fest angestellt.
1/ermisehte flaehriehten.
Ernannt: Der ordentliche Professor an der Universität
m Breslau Dr. Klemens Freiherr v. Pirquet zum ordentlichen
I rofessor. der Kinderheilkunde an der Universität in Wien. —
Die Abteilungsvorsteher am Hygienischen Institut in Hamburg
Di. phil. Lendrich und Dr. med. R. Heine zu Professoren.
*
Der in einer silbernen Medaille und 1000 M. bestehende Preis
aus der Rin eck er sehen Stiftung in Würzburg wurde Professor
v. Pirquet für seine Arbeiten über Diagnose der Tuberkulose
zuerkannt.
Habilitiert: Dr.
nische Chemje in Wien.
Emil Zdarek für angewandte medizi-
¥
In der Plenarversammlung des Aerztevereines in Marienbad
wurde Herr Dr. Alois Grimm anläßlich der Vollendung des Baues
des Aerzteheimes zum Ehrenmitgliede des Marienbader Aerzte-
Vereines ernannt.
*
Gestorben: Der a. o. Professor und Assistent am patho¬
logisch - anatomischen Institut in Innsbruck, Dr. E. v. Hi bl er,
infolge einer Leicbeninfektion. t- — Dr. E. Remak, außerordent¬
liche! I rofessor der Neurologie in Berlin. — In Lausanne der
Professor der pathologischen Anatomie, Dr. H. Stilling.
*
A™ 17- Juni 1 914 fand je eine Sitzung des Fachkomitees
des Obersten Sanitätsrates für Angelegenheiten der Volks¬
emährung sowie des Fachkomitees für Ausbildung der Amtsärzte
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911,
953
und Besetzung amtsärztlicher Stellen statt. Das Fachkomitee für
Angelegenheiten der Volksernährung hat folgende Gegenstände
beraten: 1. Entwurf eines Gesetzes über Absinthverbot. (Re¬
ferent: Hofrat Horbacze wski.) 2. Beimengung von Bilsen¬
krautsamen zum Mohne. (Refer „nt: Prof. Josef Moeller.) Im
Fachkomitee für Ausbildung der Amtsärzte und Besetzung amts¬
ärztlicher Stellen wurden Vorschläge für die Ernennung eines
Landessanitätsreferenten sowie eines Spitalsdirektors erstattet.
(Referent: Ministerialrat R. v. Haberl er.)
♦
Der Internationale Gynäkologenkongreß in Sankt
Petersburg 1910 hat Berlin als Ort seiner nächsten Tagung 1912
und Herrn E. Bumm als Vorsitzenden bestimmt. Herrn
Bumm steht ein Organisationskomitee zur Seite, bestehend
aus den Herren Döderlein, Mangiagalli, A. Martin und
v. Ott. Zum Generalsekretär ist E. Martin, Berlin N, Artillerie-
straße 18, gewählt. Während ihrer jüngsten Tagung in München
hat die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie die Einladung
zu diesem Kongreß angenommen und ihre Mitwirkung zugesagt.
Das Organisationskomitee hat beschlossen den Kongreß auf den
31. Mai bis 2. Juni 1912 nach Berlin einzuberufen. Als Dis¬
kussionsthema ist die peritoneale Wundbehandlung aufgestellt
worden. Die weiteren Arbeiten sind im vollen Gange. Es sind
schon alle nationalen gynäkologischen Gesellschaften zur Mit¬
arbeit aufgefordert, so daß zu hoffen ist, es werde die Anregung
zur Beteiligung in die weitesten Kreise dringen.
*
Die Ausdehnung der ungarischen Gewerbeauf¬
sicht auf sämtliche Sackverleihungsanstalten hat die
Regierung soeben in einem Erlasse angeopdnet. Bisher waren
nämlich nur diejenigen Sackverleiihungsbetriebe der Gewerbe¬
aufsicht unterworfen, in denen entweder 20 Arbeiter beschäftigt
waren oder eine motorische Kraft verwendet wurde. Nunmehr
fällt diese Beschränkung fort, alle diesbezüglichen Betriebe
werden fürderhin von den Gewerbeinspektoren revidiert werden.
Hiebei ist nach dem Erlaß zu beachten : Die Säcke dürfen nur gut
ausgestäubt in die Räume gelangen, resp. (sind Entstäubungsmaschi¬
nen zu beschaffen und erst nach deren Passieren können die
Säcke eingelagert werden. Die Entstäuber sind ,mit einem Exhaus¬
tor zu verbinden und der Staub in eine Staubkammer abzuleiten.
Der die Entstäubungsmaschine bedienende Arbeiter muß mit einem
Respirator versehen sein. Womöglich ist den Betriebsinhabern
die Verwendung von Vacuum Cleaner - Apparaten zu empfehlen.
Die Räume, in denen die Sortierung, Ausbesserung der Säcke vor
sich geht, müssen geräumig, licht und gut ventilierbar sein; sie
müssen täglich zweimal besprengt oder naß aufgewaschen werden.
In diesen Betrieben dürfen Kinder unter 16 Jahren nicht beschäf¬
tigt werden. Alle Beschäftigten sind auf Kosten der Unternehmer
mit Arbeitskleidern und Kopfbedeckung zu versehen und müssen
selbe während ihrer Arbeit t'.v; n. Auch müssen Waschvorrich¬
tungen zur Verfügung der Arbeiter gestellt werden. Der Unter¬
nehmer ist verpflichtet darüber zu achten, daß die Arbeiter,
vor dem Essen oder dem Weggehen von der Arbeitsstätte, sich
der Waschvorrichtungen wirklich bedienen. — eh.
♦
Der VI. Landeskongreß der ungarischen Irren¬
ärzte wird Ende Oktober dieses Jahres in Budapest abgehalten
werden. Zur Besprechung gel iw::: folgende Themen: 1. Welche
sind die durch das Gesetz aufzählbaren Fälle der beschränkten
Zurechnungsfähigkeit? 2. Welche Ergebnisse weisen die in Eng¬
land und in den Vereinigten Staaten für die Degenerierten errich¬
teten Kolonien auf? 3. Kann und muß man im Privatrechte einen
der beschränkten Zurechnungsfähigkeit entsprechenden Begriff ein¬
stellen? 4. Die Psychopathie und Sozialhygiene der verwahrlosten
Kinder. D;a als Referenten für die erwähnten Themen durchwegs
Koryphäen der entsprechenden Disziplinen gewählt wurden, so
wird fraglos dieser Kongreß vieles zur Klärung der angeschnit¬
tenen Fragen beitragen und stark besucht sein. — ch.
*
In der Lungenheilstätte Budakeszi-ßudapest
wurden im Jahre 1910 insgesamt 564 Tuberkulöse (326 Männer
und 238 Frauen) behandelt. 281 Pfleglinge waren auf Stiftungs¬
plätzen, also unentgeltlich, verpflegt worden. 72°/o der Fälle wiesen
bei der Entlassung eine bedeutende Besserung auf. Im Berichtsjahre
gelangte auch als Zubau des Sanatoriums eine Lungenheilstätte
für Kinder zum Abschluß. Die Baukosten dieses Traktes allein
betrugen 1,129.198 K. Diese Lungenheilstätte wurde über Anre¬
gung des Hofrates Prot. Dr. Koränyi, errichtet und ist Eigen¬
tum des „Budapester Lungenheilstättenvereines für arme Lungen¬
kranke“. In [dem von dem genannten Vereine erachteten und
erhaltenen Dispensaire erhielten im vorigen Jahre zusammen
11.378 Kranke ärztlichen Rat und Hilfe, selbstverständlich auch
Geldunterstütz ong, Milch und Medikamente. — ch.
*
Cholera. Oesterreich. Die cholerakrank gewesene
Marie Lebinger in Graz, sowie die als Bazillenträgerin ermittelte
geistliche Krankenpflegerin sind auf Grund wiederholter negativ
ausgefallener Untersuchungen auf Cholerabazillen als gesund und
nicht 'mehr infektionsgefährlich aus der Isolierung entlassen
worden Ungarn. Die ungarische Regierung hat die fünftägige
Ueberwachung des Gesundheitszustandes der aus Venedig oder
Konstantinopel kommenden Reisenden, sowie die Anzeigepflicht
aller choleraverdächtigen Erkrankungen verfügt. — Italien. Amt¬
lichen Nachrichten zufolge sind in Lungro, Provinz Cosenza und
in Serrastretta, Provinz Catanzaro, Choleraerkrankungen vorge¬
kommen. — Bulgarien. Die Stadt Samsun (asiatische Türkei)
wurde für choleraverseucht erklärt und wurden für dortige Pro¬
venienzen, Reisende und Schiffe die gewöhnlichen Sanitätsma߬
regeln angeordnet. — Türkei. Gegen Provenienzen aus Neapel
wurde ärztliche Visite und Desinfektion verfügt. —
Pest. Italien. Mit Verordnung Nr. 21 vom 5. Juni d. J.
wurden gegen Provenienzen aus Alexandrien die Bestimmungen
der See-Sanitätsordnung Nr. 10 ex 1907 gegen Pest in Kraft
gesetzt. — Aegypiten. In der Woche vom 12. bis 18. Mai 1911
ereigneten sich in Aegypten 27 (17) Pestfälle (Todesfälle) und
zwar in der Stadt Alexandrien 1 (0), in den Provinzen AssViout
2 (1), Fayourn 4 (3), Keneh 13 (11), Menoufieh 0 (l), Minieh
6 (0), Guirgueh 1 (l); in der Woche vom 19. bis 25. Mai 33 (15)
Pestfälle (Todesfälle) u.zw. in der Stadt Alexandrien 1 (0), in den
Provinzen Assiout 3 (l), Benisouef 1 (0), Dakahlieh 4 (2), Fa-
youm 6 (4), Galioubieh 1 (0), Gharbieh 2 (0), Keneh 9 (7),
Minieh 6 (l). Die Zahl der seit Jahresbeginn bis 20. Mai gemel¬
deten Pesterkrankungen beträgt 1403 gegenüber 595 in der ent¬
sprechenden Zeitperiode des Vorjahres.
*
Literarische Anzeigen. Chemie für Zahnärzte.
Von Dr. Friedr. Sch oen beck. Verlag der D>yk sehen Buch¬
handlung in Leipzig. Preis 4 M. 80 Pf. Das vorliegende Werk
stellt den ersten Band eines von Hofrat Pf aff in Leipzig be¬
sorgten Sammelwerkes „Handbibliothek des Zahnarztes“ dar,
welches in etwa 15 Bändern erscheinen soll.
*
Aus dem Jahresbericht des Vereines zur Errich¬
tung und Erhaltung eines ärztlichen Erholungs¬
heimes in Marienbad ist zu entnehmen, daß für den Verein
eine eifrige Propaganda ins Werk gesetzt worden war. Der Erfolg
zeigt sich in der Zunahme der Mitgliederzahl, die von L33 auf
228 gestiegen ist und eine Zunahme des Vermögensstandes von
6027 K aufweist, so daß das Barvermögen 22.848 K -)- 1000 JK
Außenstände, ,im Ganzen 23.848 K beträgt. Die Zahl der Anmel¬
dungen für Freiplätze betrug im Jahre 1910 24, für diesen Sommer
sind bereits 36 Anmeldungen eingelaufen. Das wichtigste Er¬
eignis des abgelaufenen Vereins jahres ist der Bau desl Aerzte-
heimes das am 1. Juli seiner Besthnmjung übergeben werden soll.
Aus der Betriebs- oder Hausordnung wäre zu erwähnen : Fest¬
setzung, daß nur Frauen in Begleitung der Kollegen oder bei
Schwerkranken oder Pflegebedürftigen eine Pflegerin, sonst keine
anderen Familienangehörigen im Aerzteheim Aufnahme finden
und daß die Vergebung der Plätze nur vom Ersten eines Monates
für vier Wochen — nicht während des Monates (im allgemeinen
gültig) erfolgen kann. Der Regiebeitrag wird mit 7 K pro Kopf
und Woche festgesetzt, dafür die Bedienung, Kleiderreinigung und
Beheizung geboten. In der darüber geführten Diskussion wird der
Antrag angenommen, daß die Anmeldungen erst vom Beginn des
Jahres zu gelten haben und daß bei Erwähnung des Regiebeitrages
in der Hausordnung der Zusatz zu machen sei: „Jede weitere
Verpflichtung entfällt.“
*
Berichtigung. Im Artikel „Die Lokalisation der Herz¬
töne“ von Prof. Dr. M. Hei tier in Nr. 24, S. 858, zweite Spalte,
T9. Zeile van oben soll es statt „ider zweite Pulmonalton“
richtig heißen: „der zweite Aortaton“.
A
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 22. Jahres woche (vom 28. Mai bis
3. Juni 1911). Lebend geboren, ehelich 488, unehelich 266, zusammen
754. Tot geboren, ehelich 59, unehelich 27, zusammen 86. Gesamtzahl der
Todesfälle 703 (d. i. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17 8 Todesfälle) an Bauchtyphus 1, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 16,
Scharlach 5, Keuchhusten 3, Diphtherie und Krupp 4, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 4, Lungentuberkulose 115, bösartige Neu¬
bildungen 62, Wochenbettfieber 2, Genickstarre 0. Angezeigte Infektions-
954
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
krankheiten: An Rotlauf 34 (— 7), Wochenbettfieber 2 (— 1), Blattern 0
(0), Varizellen 82 (+ 9), Masern 265 (+ 13), Scharlach 117 (+ 14)
Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 7 (+ 2), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0)
Diphtherie und Krupp 47 (+ 18), Keuchhusten 22 (—7), Trachom 0 (—3)
Influenza 4 (-J- 4), Poliomyelitis 0 (0).
23. Jahreswoche (vom 4. bis 10. Juni 1911). Lebend geboren,
ehelich 596, unehelich 243, zusammen 839. Tot geboren, ehelich 66,
unehelich 13, zusammen 79. Gesamtzahl der Todesfälle 586 (d. i. auf
1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden 14'9 Todesfälle), an
Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 13, Scharlach 2, Keuch¬
husten 2, Diphtherie und Krupp 6, Influenza 1, Cholera 0, Ruhr 0, Rot¬
lauf 4, Lungentuberkulose 88, Bösartige Neubildungen 45, Wochenbett¬
fieber 1, Genickstarre 0. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf
35 (-)- 1), Wochenbettfieber 5 (-f- 3), Blattern (0), Varizellen 61 (— 21),
Masern 292 (-j- 27), Scharlach 104 (— 13), Flecktyphus 0 (0), Bauch¬
typhus 5 ( — 2), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie u. Krupp 38 (— 9),
Keuchhusten 32 '(+ 10), Trachom 5 (+ 5), Influenza 1 (— 4), Polio¬
myelitis 0 (0).
Eingesendet.
Vom Gauverband der deutschen Aerzte Böhmens
zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen erhalten wir folgende
Mitteilung:
In Erfüllung der Aufgabe, die für die Prager praktischen Aerzte so
hochwichtige
Ambulatorienfrage
zu revidieren, hat der Vorstand des Gauverbandes Prag die derzeit
gültige Ordnung für die klinischen Ambulatorien eingesehen." Dieselbe be¬
stimmt, daß die ärztliche Behandlung daselbst nur Bedürftigen, die ein
Mittellosigkeitszeugnis vorweisen können, zusteht, ferner Kassenpatienten
nur — wie allen — zwecks erster Hilfeleistung, ferner bei notwendiger
spezialistischer Behandlung, wenn der Kassenarzt dies schriftlich an¬
fordert.
Was die Kassenpatienten betrifft, so ist der Vorstand des Gauver¬
bandes der' Ansicht, daß deren unentgeltliche Behandlung durch die
Ambulatorien eine Schädigung der wirtschaftlichen Interessen der Aerzte
bedeutet, da die Kassen nach § 6, Punkt 1 des Krankenkassengesetzes
ihren Mitgliedern die ärztliche Behandlung zu gewähren, den Arzt beizu¬
stellen und zu bezahlen haben. Durch die unentgeltliche Behandlung
dieser Kranken ersparen die Ambulatorien den Kassen das Arzthonorar
und bringen die Aerzte darum.
Bei dem heutigen vorwiegenden Pauschalierungssystem erleichtern
wohl die Ambulatorien dem Kassenarzt die Arbeit, sie ermöglichen aber
damit eine Uebernahme dieser Stellen für ein geringes Entgelt und
schädigen damit die Existenzbedingungen der Gesamtärzteschaft, der sie
durch Gewinnung eines großen Lehrmaterials während der Ausbildungs¬
zeit dienen wollen.
Durch die Gewährung der spezialärztlichen Hilfe jedoch wird die
sonst notwendige Anstellung von Spezialärzten bei den Kassen über¬
flüssig gemacht und wiederum zwar für die Ausbildung von Spezialisten
gut gesorgt, deren Fortkommen im praktischen Leben aber beeinträchtigt.
Der Gauverband Prag, dessen Mitglieder bloß etwa 12.000 Kassen¬
angehörige zu behandeln haben, von welchen noch dazu etwa 5000 Wahl
des Arztes (bei Selbstbezahlung), sowie Kassenspezialisten zur Verfügung
stehen, sieht sich gegenwärtig nicht in der Lage, in Prag allein und
primär irgendeine Aktion bezüglich der Behandlung der Kassenkranken
in den öffentlichen Ambulatorien einzuleiten, behält sich aber Schritte
für einen geeigneten Zeitpunkt vor.
Wohl aber hält der Vorstand des Gauverbandes Prag die übliche
mißbräuchliche Benützung der Ambulatorien durch zahlungsfähige Kranke
für dringend abstellungsbedürftig, da hiedurch die wirtschaftlichen Inter¬
essen aller Aerzte aufs empfindlichste berührt werden. Hiebei kam zur
Sprache, daß vielfach von den praktischen Aerzten selbst in unzweck- j
mäßiger Weise gehandelt wird, indem diese zahlungsfähigen Kranken, I
welche ihnen Honorare zahlen, zum Aufsuchen der Ambulatorien raten.
Die Aerzte fordern damit ihre Kranken direkt zur Verletzung der Vor- !
Schriften auf, welche bestimmen, daß die Ambulatorien nur für arme |
Kranke dienen sollen, um diese Patienten als Lehrmaterial nutzbar zu
machen. Falls ein Kranker aber auf die Behandlung durch einen be¬
stimmten, als Ambulatoriumleiter fungierenden Arzt Gewicht legt, dann
wird durch die Verweisung des Kranken in das Ambulatorium anstatt in I
die Privatordination der betreffende Ambulatoriumsvorstand um das
Honorar gebracht. Bei dem heutigen Vorhandensein aller Einrichtungen
auch außerhalb der Kliniken ist durchaus kein Bedürfnis mehr vor¬
handen, daß bemittelte Kranke die für Arme bestimmten Ambulatorien
aufsuchen.
Es wurde daher beschlossen, in obigem Sinne alle deutschen
Aerzte Böhmens aufzufordern, in Hinkunft bemittelte Patienten nicht mehr
den unentgeltlichen Ambulatorien für Arme zuzuweisen: zur Aufklärung
des Publikums über diese unzulässigen Verhältnisse werden in der
Tagespresse entsprechende Notizen erscheinen, welche auch dazu dienen
sollen, das selbständige Aufsuchen der Ambulatorien durch das zahlungs¬
fähige Publikum zu vermindern.
Der Vorstand des Gauverbandes Prag ist sich bewußt, daß die
strenge Handhabung der Ambulatorienordnung durch die Vorstände und
deren Stellvertreter wegen der praktischen Durchführbarkeit auf
Schwierigkeiten stößt. Immerhin hielt man das Ersuchen an die einzelnen
Ambulatoriumsvorstände, strenge auf die Einhaltung der ministeriellen
Vorschriften sehen zu wollen, als die einzige mögliche Intervention. In¬
dem der Gauverband die dahingehenden Schritte bei praktischen Aerzten
und Publikum einleitet, hofft er auch auf die tatkräftige Unterstützung
der Ambulatoriumleiter zwecks Besserung der materiellen Verhältnisse
der Aerzte. Im besonderen soll um die Abstellung der Gewährung solcher
unentgeltlicher Leistungen an Bemittelte ersucht werden, welche heut¬
zutage leicht zu erlangen sind, wie Harnuntersuchungen, Röntgenauf¬
nahmen, Brillenbestimmungen, Behandlung vermögender Sportverletzter
und ähnliches.
Bei diesem Anlasse kam auch die Privatbehandlung durch die sub¬
alternen Krankenhausärzte zur Sprache. Nach einem jüngst erflossenen
Erlasse des Unterrichtsministeriums kann zwar den Assistenten etc. die
Ausübung der Privat- und kassenärztlichen Praxis nicht verwehrt werden,
soweit hiedurch die Dienstesverpflichtungen nicht Nachteil erleiden; es
wurde aber gleichzeitig strenge verboten, in den Räumen der Klinik und
mit Benützung von klinischem Material Privatpraxis auszuüben. Den
Gauverband Prag interessiert die Privatpraxis der Krankenhausärzte nur
insoforn, als sie etwa unter dem vereinbarten Minimaltarif ausgeübt
würde, wozu gerade die günstige Lage der Aerzte — keine erhebliche
Regie, Steuern etc. — verleiten würde und wodurch eine erhebliche
Schädigung der Interessen der praktischen Aerzte zustande käme. Es
wurde beschlossen, die Krankenhausärzte, welche alle der Organisation
angehören und auf den Tarif verpflichtet sind, einzeln auf dessen
strenge Einhaltung aufmerksam zu machen, insbesondere, daß die
spezialärztlichen Tarifsätze zu berechnen sind. Im Falle der Unter¬
bietung müßte der Gauverband hingegen zu den schärfsten Maßregeln
schreiten.
Schließlich wurde beschlossen, die tschechische Prager Aerzte-
organisation anzugehen, eine parallele Aktion in ihren Kollegenkreisen
einzuleiten.
Dr. 0. Klaub er, dz. Schriftführer. Dr. A. Bandle r, dz. Obmann.
Freie Stellen.
Sanitätskonzipistenstelle mit den systemmäßigen Be¬
zügen der X. Rangsklasse im Stande der Sanitätsbeamten der politischen
Verwaltung Kärntens. Bewerber um diesen Dienstposten haben ihre
diesfälligen Gesuche mit den Nachweisen über die nach dem Gesetze
vom 21, Mai 1873, R.-G.-Bl. Nr. 37, erforderliche Befähigung und ihre
bisherige Verwendung, wenn sie bereits im öffentlichen Staatsdienste
stehen, im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde, sonst aber unmittelbar
beim Präsidium der k. k. Landesregierung für Kärnten bis 10. Juli 1911
einzubringen. Noch nicht im Staatsdiensle stehende Bewerber haben
ihren Ansuchen überdies auch den Tauf- oder Geburtsschein, den
Heimatsschein, sowie ein amtsärztliches Zeugnis über ihre physische
Eignung beizuschließen.
In dem neuen, seit 1 '/„ Jahren im Betriebe stehenden, modernst
ausgestalteten Allgemeinen öffentlichen Bezirkskrankenhause in Mistel¬
bach, Niederösterreich a. d. Staatsbahn, kommt eine Sekundararztes-
stell e zur Besetzung. Mit dieser Stelle ist ein Jahresgehalt von 1600 K,
freie Wohnung, vollständig freie Verpflegung, inklusive Licht, Heizung
und Bedienung im Anstaltsgebäude, verbunden. Bei Verpflichtung auf
drei Jahre eine Zulage von 600 K. Bewerber um diese Stelle, welche
Doktoren der gesamten Heilkunde und deutscher Nationalität sein müssen,
wollen ihre Anträge an den Verwaltungsrat des allgemeinen öffentlichen
Bezirkskrankenhauses in Mistelbach, Niederösterreich, richten. Auskünfte
erteilt Primararzt Dr. Fritz Höllrigl.
Dr. Emanuel Bunzel sehe Witwen- und Waisen¬
stiftung in Wien. Aus den Interessen dieser Stiftung sind für das
Jahr 1911, 28 Stiftplätze ä 200 K (14 an Christen, 14 an Israeliten) zu
verleihen. Diese Stiftplätze können nur an arme Witwen, resp. Waisen
(bis zum 16. Jahre 100 K) nach in Wien promovierten Doktoren der
Medizin, welche österreichische Staatsbürger und deutscher Nationalität
waren, verliehen werden. Bewerberinnen um einen Stiftplatz haben ihre
mit dem Tauf- oder Geburtsscheine, dem Doktordiplom ihres verstorbenen
Gatten, resp. Vaters und dem Nachweise der deutschen Nationalität,
welcher erbracht erscheint, wenn die Unterstützungsbewerberin, bzw. bei
Waisen die Eltern bei der letzten Volkszählung die deutsche Sprache
als Umgangssprache angegeben haben, belegten Gesuche bis längstens
1. Oktober 1. J. beim Wiener medizinischer Doktorenkollegium zu
überreichen. Nicht vorschriftsmäßig belegte oder nach dem 1. Oktober
1911 einlangende Gesuche können nicht berücksichtigt werden.
Dr. Emanuel Bunzel sehe Aerztestiftung in Wien,
Aus den Interessen dieser Stiftung sind für das Jahr 1911, 28 Stiftplätze
a 200 K (14 an Christen, 14 an Israeliten) zu verleihen. Diese Stiftplätze
können nur an solche in Wien promovierte Doktoren der Medizin deutscher
Nationalität verliehen werden, welche österreichische Staatsbürger sind
und infolge von Alter oder Kränklichkeit ihre Praxis nicht ausüben
können oder infolge von Unglücksfällen in eine unverschuldete vorüber¬
gehende Notlage geraten sind. Notorische Antisemiten sind nach dem
Stiftbriefe ausgeschlossen. Bewerber um einen Stiftplatz haben ihre mit
dem Tauf- oder Geburtsscheine, dem Doktordiplome, der Bestätigung der
Kränklichkeit oder der hilfsbedürftigen Lage und dem Nachweise der
deutschen Nationalität, welcher erbracht erscheint, wenn der Bewerber
bei der letzten Volkszählung die deutsche Sprache als Umgangssprache
angegeben hat, belegten Gesuche bis längstens 1. O k t o b e r 1. J., 12 Uhr
mittags, beim Wiener medizinischen Doktorenkollegium, I., Rotenturm-
straße 19 (van Swietenhof), zu überreichen. Nicht vorschriftsmäßig be¬
legte oder nach dem 1. Oktober 1911 einlangende Gesuche können
nicht berücksichtigt werden.
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
955
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 23. Juni 1911.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 1. Juni 1911.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 23. Juni 1911.
Vorsitzender : Prof. Dr. Ernst Wertheim.
Schriftführer: Priv.-Doz. Dr. Heinrich Reichel.
Der Vorsitzende Prof. Dr. E. Wert heim bringt ein. Schreiben
des Herrn Dr. Hermann .Teleky zur Verlesung, in dem der¬
selbe dem Präsidium der k. k. Gesellschaft der Aerzte für die
Beglückwünschung zum 50jährigen Doktorjubiläum dankt.
Hofrat Prof. Dr. 0. Chiari: Meine , Herren ! Ich erlaube mir,
Ihnen heute den Patienten vorzustellen, welchen ich in der vorigen
Sitzung erwähnte. Er wurde mir von Herrn Hofrat Fuchs
gütigst überwiesen. Ich habe ihm am 9. Juni nach Tamponade
beider Choanen in Narkose einen über bohnengroßen Teil eines
Hypophysentumors entfernt. Die Operation wurde wegen Seh-
störungen vorgenommen. An der Klinik Fuchs wurde am 2. Juni
konsltatiert, daß das rechte Auge mit +3 Dioptrien Jäger 3
lesen konnte und eine Sehschärfe bis 5/8 hatte ; das linke Auge
konnte nur Finger in 3 m Entfernung exzentrisch zählen. Am
21. Juni, also zwölf Tage nach der Operation, war rechts die
Sehschärfe 6/9, links die Sehschärfe 6/24 und Jäger 11 konnte
mit einem Glas von -j-3 Dioptrien in 30 cm Entfernung gelesen
werden. Perimetrisch ließ sich beiderseits eine bedeutende Er¬
weiterung des Gesichtsfeldes nachweisen, also jedenfalls eine be¬
deutende Besserung infolge der Operation.
Ich begann die Operation mit einem Hautschnitt ober dem
inneren Augenwinkel, entlang dem äußeren Rande des rechten
Nasenbeines bis zur Mitte des Processus frontalis des Ober¬
kiefers. Ich wählte die rechte Nasenseite, weil daselbst die Scheide¬
wand bis hinten etwas konkav war. Dadurch war ein besserer
Einblick auf das Keilbein möglich. Nach Zurückschieben des
Periosts über dein Processus frontalis und längs der inneren Or¬
bitalwand wurde ein großer Teil des Processus frontalis ent¬
fernt, sodann die Nasenschleimhaut eingeschnitten, die mittlere
Muschel reseziert und das Siebbein ausgeräumt und schließlich
der größte Teil der Lamina papyracea entfernt und der Bulbus
nach außen gezogen.
Die Blutung in der Nase war sehr gering, weil vor der
Operation die rechte Nasenhöhle 'mit Kokain und Adrenalin sorg¬
fältig betupft worden war. Hierauf gelang es leicht, unter Leitung
des elektrischen Reflektors die rechte Keilbeinhöhle an der Vorder¬
wand zu eröffnen, von hier aus den hintersten Teil des Septum
nasi, sowie das Septum sphenoidale zu entfernen und die ganze
vordere Wand der Keübeinhöhle weit zu eröffnen.
Die Eröffnung des Hypophysenwulstes im Umfange eines
Quadratzentimeters erfolgte anstandslos mit Meißel und Knochen¬
stanzen. Sofort trat der Tumor pulsierend zutage. Ein Duraüber-
zug fehlte. Die Entfernung der Tumorstücke geschah mit dem
scharfen Löffel und Pinzetten. Heilungsverlauf anstandslos. Fieber
nur am 9. abends und 10. früh.
Der Tumor ist nach der Untersuchung Prof. Stoerks eine
epitheliale Geschwulst, wahrscheinlich malignen Charakters.
Die Vorzüge dieses Operationsüaethode sind folgende:
1. Kleiner Hautschnitt und dementsprechende keine nennens¬
werte Entstellung.
2. Es 'werden bloß ein Teil des Processus frontalis des
Oberkiefers, die mittlere Muschel, die Siebbeinzellen und der
größte Teil der Lamina papyracea und nur der hinterste Anteil
des knöchernen Septum nasi entfernt.
3. Der Weg von der Hautwunde bis zu der vorderen Keil¬
beinwand ist um 3 Cm kürzer und viel breiter als vom vorderen
Nasenloch. Deswegen ist das Operationsfeld leichter zugänglich.
4. Die Operation läßt sich in einer Sitzung ohne Voroperation
vornehmen.
5. Die Gefahr einer Infektion der Schädelhöhle ist nicht
größer, als bei den anderen extra- oder intranasalen Methoden.
Speziell möchte ich erwähnen, daß auch bei dem Eingehen,
zwischen den Weichteilüberzügen des Septum nasi in die Keil¬
beinhöhle kein völliger Abschluß dieser Höhle gegen die Nasen-
28. Deutscher Kongreß fdr innere Medizin.
4D. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin.
höhle besteht, weil ja die Keilbeinhöhlen durch die Ostia sphenoi-
dalia mit der Nase kommunizieren.
Prof. Dimmer : Demonstration eines Falles von Tuber¬
kulose der Sklera.
Bei der Patientin, einem 10jährigen, sonst gesunden Mau¬
chen, entwickelt sich seit Mitte März eine Verdickung im äußeren
Teil der Sklera, die, als die Patientin Ende Mai zur Beobachtung
kam, zirka fünf bis sechs Millimeter vom lateralen Kornealrand
begann und nach außen und oben so weit peripher reichte, als
der Bulbus der Untersuchung zugänglich ist. In vertikaler Rich¬
tung maß sie ca. 15 mm. Mit dem Augenspiegel konstatierte man
eine ausgebreitete Abhebung der Chorioidea von der Sklera und
in dem hintersten Teil derselben zirka drei bis vier Päpillendurch-
messer lateral von der Fovea eine starke Netzhauttrübung. Der
Glaskörper war rein, die Sehschärfe = 1, im Gesichtsfelde war
nasal ein Skotom, das genau der getrübten Partie der Retina
entsprach. Die Diagnose konnte nur zwischen Lues und Tuber¬
kulose schwanken. Die Wassermann-Reaktion war negativ, dagegen
ergaben diagnostische Alttuberkulininjektionen Temperaturerhö¬
hung und Herdreaktion an der veränderten Partie der Sklera,
dagegen keine wesentliche Veränderung des Augenspiegelbildes.
Mitte Juni trat an einer kleinen Stelle eine Perforation ein und
im Ausstrich konnten Tuberkelbazillen nachgewiesen werden. Es
handelt sich also um eine Tuberkulose der Sklera in Form
einer tuberkulösen Geschwulstbildung. Die Ablatio chorioi-
deae erklärt sich wohl durch die Behinderung des Abflusses
aus dem suprachorioidealen Raum durch Kompression der um
die Vortexvenen gelegenen perivaskulären Lymph räume. Eine
tuberkulöse Erkrankung der Chorioidea kann man, im Hinblick
auf das Ausbleiben jeder Herdreaktion im Innern des Auges
nicht gut annehmen. Die Erklärung ergibt sich aus einem vom
Emanuel 1902 publizierten Falle, wo die .tuberkulöse Masse sich
am hinteren Augenpol derart in der Sklera entwickelt hatte, daß
sie ringsum, auch gegen das Augeninnere, von Skerallagen um¬
schlossen und also abgekapselt war. Ueber dem Gipfel der Pro¬
minenz gegen das Augeninnere waren Sklera, Chorioidea und
Retina miteinander verwachsen.
So dürfte es sich auch in diesem Falle verhalten. Die wenigen
bisher bekannten Fälle von sicherer, Tuberkulose der Sklera zeigten
entweder normalen Befund der inneren Membranen (wie im Falle
von L. VI ü 1 1 e r) oder man fand Ablatio retinae (wie Köhler,
Zirm, Emanuel). Jedenfalls besteht die Möglichkeit einer Aus¬
heilung, die auch Calderaro beobachtet hat, der eine exogene
Infektion annimmt. Es dürfte angezeigt sein eine chirurgische Be¬
handlung mit Auskratzung, eventuell Kauterisation vorzunehmen,
zugleich aber auch Injektionen von Tuberkelbazillenemulsion zu
machen. (Der Fall wird später ausführlich publiziert werden.)
Priv.-Doz. Dr. Scherber demonstriert aus dem1 Ambula¬
torium für Haut- und Geschlechtskrankheiten im
Wilhelminen spital zwei Mädchen, Geschwister, mit Favus,
deren Erkrankung bezüglich Klinik und Aetiologie Interesse bietet.
Vor einigen Tagen erschien das jüngere, sieben Jahre alte Mädchen,
mit der seit kurzem bestehenden Affektion; das Kind zeigte
zwei kleinere im Entstehen begriffene Herde am Hals, am Rücken
drei distinkt stehende bis kronengroße Effloreszenzen, die nach
ihrem Aufbau aus typischen, schwefelgelben, im Zentrum einge¬
sunkenen Skutula, die klinische Diagnose des Favus sofort ge¬
statteten. Die teils konfluierenden, teils isolierten Skutula ritzen
einer Scheibe mäßig geröteter Haut auf. Um die Herkunft der
Erkrankung aufzuklären, fragte ich vor allem nach erkrankten
Haustieren und gestern erschien auch die 13jährige Schwester
mit der erkrankten Katze. Diese ältere Schwester zeigte klinisch
ein etwas differentes, aber wohl fixiertes Bild der Favusinfektion..
Man sieht auf den oberen Brustpartien vier distinkt stehende
bis kronengroße, scharf begrenzte runde, leicht elevierte Herde
stärker entzündlich geröteter Haut, die im Zentrum mit wei߬
lichen Schuppen bedeckt sind, während die stärker elevierte,
mehr sukkulente Randpartie hirsekorngroße, mit klarem und
weißlichem Inhalte gefüllte Bläschen aufweist. Diese Herde, wie
ein solcher am linken Oberarm, stellen das sogenannte herpeti¬
sche Vor stadium der Infektion dar und weitere Herde am
956
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
rechten Vorderarm zeigen schon eine weitere Entwicklung des
Krankbeüsbildes, indem einzelne typische schwefelgelbe Skutula
in den Scheiben auftreten. Der behaarte Kopf ist bei beiden Kin-
f; i irei. Die Katze zeigte typische Favusskutula in der linken
Achselhöhle und am Halse, während die Effloreszenzen an den
i loten, wo das Pier sich die Skutula abgebissen, sich als haar;-
lose mit Schuppen bedeckte Stellen erweisen. Es sei nur noch
hervorgehoben, daß das bereits infizierte Tier am 1. Juni in die
Familie kam und daß bereits nach 14 Tagen bei den Kindern,
die ersten Erscheinungen von Favus auftraten.
Dr. Lindenfeld: Ich erlaube mir aus der II. med. Abteilung
des Roth'schild-Spitales (Prof. Braun) eine Patientin zu de¬
monstrieren, deren Krankheitszustand infolge der Konkurrenz
zweier Symptomenkomplexe bemerkenswert erscheint. Es handelt
sich um den Fall einer 33jährigen aus einer gesunden Familie
stammenden Frau, die bis vor acht Jahren vollständig gesund
war. Vor acht Jahren Istand sie mit einem leichten Lungenspitzen-
kafarrh bei uns in ambulatorischer Behandlung, seit sechs Jahren
leidet sie an Herzklopfen, das bald stärker, bald schwächer ist,
die Patientin jedoch in ihrer Arbeit — sie ist Maschinnäherin —
nicht gestört hat. Seit vier Monjaten fühlt die Patientin zunehmende
Schwäche und Mattigkeit, die oft einen derartigen Grad erreichte,
daß sie mitten im Masc'hinnähen einschlief; das Herzklopfen
nahm zu, dazu kamen permanenter Schwindel, starke Abmage¬
rung, grobwelliger Tremor in den Händen sowie seit zwei Mo¬
naten auffälliges Schwitzen; auch bemerkt sie seit dieser Zeit
ein Anwachsen des Halses und Größerwerden ihrer Augen und
starkes Glänzen derselben.
Der bisher geschilderte Sympto'menkomplex, der im1 ganzen
das Bild einer Basedowerkrankung darstellt, ist an und für sich
betrachtet, gewiß keine Seltenheit. Wenn unser Fall ein beson¬
deres Interesse verdient, so dankt er dieses dem gleichzeitigen
Bestehen von Symptomen, die man auf eine Erkrankung des
chromaffinen Systems zu beziehen hat.
Der Kranken ist nämlich vor vier Monaten plötzlich aufge¬
fallen, daß ihre Haut eine braunere Farbe aufwies, eine Färbung,
die später wieder abblaßte, um vor etwa sieben bis1 acht Wochen
wieder aufzutreten. Dieser Pigmentwechsel vollzieht sich nun
unter unseren Augen in welchselnder Weise : es treten bald diffuse
Punkeifärbungen ganzer Körperteile auf, die wieder blaß werden,
bald wiederum schießen Tintenspritzer -ähnliche Pigmentflecke
und -fleckchen an den verschiedensten Körperstellen auf, ebenso
wie die ausgebreiteten Pigmentierungen von nur flüchtigem
Bestand.
Es wäre nun naheliegend, unseren Fall als einen Fall von
Basedow mit Hautpigmentationen zu bezeichnen, dem Fall des
älteren Ohvostok analog, den v. Neuss er und Wiesel in
ihrem Buche: Erkrankungen der Nebennieren, hervorheben. Schon
als solcher würde er, namentlich durch das eigentümliche Ver¬
halten der Pigmentationsentwicklung eine Seltenheit sein. Zweifel¬
los kommen bei Basedow und Basedow - ähnlichen Erkrankungen
Dunkelfärbungen der Haut vor, doch haben sie niemals den
fharokter der Pigmentierung unseres Falles und Pigmentanhäu¬
fungen der Mundschleimhaut bei einfachem Basedow wurden nie¬
mals beobachtet.
Ich möchte nun binzufügen, daß bei' unserer Patientin phy¬
sikalische Zeichen einer Affectio pulmonalis bestehen — ich
erlaube mir das diesbezügliche Röntgenbild zu zeigen (eine pro-
batorische Tuberkulininjektion verlief positiv) — es besteht ferner
namhafte Druckschmerzhaftigkeit beider Nierengegenden, beson¬
ders der linken Seite, während ein epigastrischer Druckschmerz
nicht vorhanden zu sein scheint. Unter der einen Niere ist eine
nicht deutliche abgrenzbare Resistenz zu tasten. Der Blutdruck
ist schwankend, nicht sehr niedrig, das Gewicht der Patientin
ist in Abnahme begriffen, sie hat in den letzten Tagen aus zu¬
nächst nicht erklärlichen Gründen ziemlich hoch gefiebert, die
Adynamie nimmt ebenfalls zu.
Aus den letzerwähnten Momenten scheint min hervorzugehen,
daß wir es hier möglicherweise nicht mit einem pigmentierten
Basedow zu tun haben, d. h. nicht mit Hyperfunktion des Adre-
nalsystems bei Basedow, sondern um eine Kombination von
Erkrankung des Schilddrüsen- und des Nebennierenapparates.
Der Blutzuckergehalt unserer Patientin ist normal und die Ehr¬
mann sehe Adrenalinprobe im Blutserum ist negativ ausgefallen.
Ich möchte schließlich noch hervorhoben, daß bei unserer Pa¬
tientin kein Anhaltspunkt für einen Status thymicus lymphaticus
vorhanden ist, dessen Vorkommen in Kombination mit Basedow¬
oder Addisonerscheinungen bekannt ist. Ich behalte mir vor,
die physiologischen Beziehungen zwischen chromaffinem
System und Schilddrüse, soweit sie unser Fall beleuchtet, in einer
ausführlichen Publikation zu erörtern.
Prim. Dr. Knoepfelmacher : Ich stelle Ihnen hier zwei Kinder
vor, welche Ihnen durch ihre eigenartigen Körperformen auf¬
fallen. Es sind Geschwister, das Mädchen ist neun Jahre, der
Knabe sieben Jahre alt. Sie sind wesentlich im Wachstum zurück¬
geblieben, das Mädchen ist 112, der Knabe 105 cm lang. Beide
haben einen verhältnismäßig langen Rumpf, plumpe Extremitäten,
breite Hände und besonders breite, plumpe Füße mit Plattfuß,
Der Knabe hat überdies eine Poly- und Syndaktylie, .an allen
vier Extremitäten sechs Finger oder Zehen (dabei sind Finger
und Zehen auffallend kurz). Die Kinder sind sehr dick und durch
das Ansammeln des Fettes an den Mammae, der Unterbauch¬
gegend, den Hüften, Nates und Oberschenkel bekommen die Kinder
jenen Habitus, welchen Tandler und Grosz als für eunu¬
choide Menschen für charakteristisch halten. Die Geschlechts¬
organe der Kinder sind auch in der Tat wenig entwickelt. Der
Knabe hat einen kleinen Penis, bohnengroße Testikel, das Mädchen
einen Uterus, den Kollege Fog es für kleiner hält, als dem Alter
entsprechen würde. Bemerkenswert ist, daß bei dem Mädchen
spärliche Krines vorhanden sind. Die Haut der Kinder ist durch¬
feuchtet, zeigt Neigung zu Cutis marmloratä; an Händen und
Füßen besteht reichlich Schweißbildung. Die Kinder haben
trockenes, dichtes Haar, niedrige Stirne, bei dem Mädchen ist
der Gesichtsausdruck älter als er ihren neun Jahren entsprechen
würde. Beide Kinder sind imbezill. Der Augenhintergrund ist
normal, die Zähne dem Alter entsprechend, der Hals kurz, eine
Schilddrüse nicht tastbar. Körpergewicht des Mädchens 35 kg,
des Knaben 30 kg. Um die Frage, worauf die Fettsucht dieser
beiden Kinder beruht, zu studieren, haben wir die Röntgenunter¬
suchung herangezogen. Es hat sich gezeigt, daß die Handwurzel¬
knochen dem Alter entsprechende Ossifikation zeigen (Privat-
dozent Dr. H o 1 z k nec'h t). Die Röntgenuntersuchung des Schädels
war bei dem Knaben gar nicht, beim Mädchen wegen Unruhe
des Kindes nur schwer durchführbar. Im Institute des Herrn
Prof. Tandler Wurde die Sella turcica von normaler Konfigu¬
ration und Größe gefunden. Von Wichtigkeit ist der Versuch, in
welchem gezeigt werden konnte, daß die Assimilationsgrenze
für Zucker bei beiden Kindern abnorm hoch liegt. Bei Ver¬
abreichung von 130 g Traubenzucker am nüchternen .Magen haben
beide Kinder nur Spuren von Zucker ausgeschieden. In dieser
Beziehung verhalten sich beide Kinder so, wie ich es an Kindern
mit Thyreoaplafiie und wie es Aschner an Tieren nach Exstir¬
pation der Hypophyse gefunden hat.
Wir wissen, meine Herren, daß eine Reihe von Drüsen mit
innerer Sekretion auf Wachstum und Fettansatz großen Einfluß
nimmt und es wäre wichtig zu entscheiden, welche Drüsen hier
Einfluß genommen haben. Die Ansatzstellen des Fettpolsters,
das Zurückbleiben der Genitalorgane in der Entwicklung weisen
darauf, daß die Keimdrüsen dabei beteiligt sind. Die Intel¬
ligenzstörung, der plumpe Bau der Hände und Füße, endlich
die hohe Assimilationsgrenze für Zucker berechtigen uns zur An¬
nahme, daß noch andere Blutdrüsen (vielleicht die Hypophyse,
die Thyreoidea) in ihrer Funktion geschädigt sein müssen. Mög¬
licherweise werden Fütterungsversuche mit Organpräparaten, die
wir einleiten wollen, weitere diagnostische Aufklärung bringen.
Hofrat Hochenegg demonstriert zunächst einen Herrn, an
dem er vor 15 Monaten die sakrale Exstirpation eines hohen
Rektumkarzinoms vorgenommen hatte. Bei der Operation
erwies sich das Karzinom als schwer exstirpierbar und auch
die anatomische Untersuchung ergab, daß die karzinomatöse In¬
filtration in das retroproktale Zellgewebe vorgedrungen war. Es
wurde zunächst ein provisorischer Anus sac.ralis angelegt und
der Patient in seine Heimat entlassen. Erst in einer zweiten
Sitzung wurde der After durch Plastik geschlossen, so daß Patient
jetzt kontinent ist. Prof. Hochenegg fährt nun weiter folgender¬
maßen fort:
Ich würde Ihnen den Fall, die 285. sakrale Rektumexstirpa¬
tion, die ich persönlich ausführte, nicht vorgestellt haben, da er
nichts Besonderes darstellt, wenn nicht ein anderer Umstand
von Interesse wäre : Schon seit längerer Zeit habe ich mir die
Vorstellung gebildet, daß wir bei unseren Operationen wegen ma¬
lignen Neoplasmen mit unseren Operationen nur einer Indi¬
kation genügen ; wir entfernen, so gut es eben geht, das Neo¬
plasma, alterieren aber nicht die das Neoplasma ermöglichende
Disposition, die in einer bisher unbekannten Alteration des Orga¬
nismus und dessen Stoffwechsels zu liegen scheint. Da nach
der Operation die Disposition für Neoplasmabildung fortbesteht,
kommt es eben so häufig zu abermaliger Erkrankung, die män
dann mit dem landläufigen Ausdrucke „Rezidive“ bezeichnet,
unter denen aber eine Reihe von Fällen nach meiner Vorstellung
als zweite, von der ersten Erkrankung unabhängige Erkrankung
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
957
bei einem zur Neoplasmabiklung disponierten Individuum richtiger
gedeutet würde.
In dieser Vorstellung entwickelte sich bei mir die Gepflogen¬
heit., den von mir wegen malignen Neoplasmen Operierten eine
Nachkur zu verordnen, von der ich mir eine Umstimmung des
Chemismus im Organismus erhoffen konnte. Ich habe schon vor
sieben Jahren unter dem Titel: Notwendigkeit prophylaktischer
Maßnahmen bei erwiesener Karzinomdisposition, dieser meiner
Ansicht Ausdruck verliehen und kann auf Grund meiner damaligen
und seither gesammelten Beobachtung an den von mir nament¬
lich wegen Karzinom operierten Patienten versichern, daß in so
manchen dieser Fälle das Gesundbleiben der Operierten mit durch
seine Nachkur bedingt zu sein scheint.
Bisher hatte ich nun kein Mittel, um diese meine Ansicht
wissenschaftlich zu stützen. Erst die bekannte Karzinomreaktion
nach Freund, von der hier in dieser Gesellschaft schon zu
wiederholten Malen die Rede war, erschien mir geeignet, hier
aufklärend und beweisend zu wirken, indem ich bei positivem
Ausfall der Reaktion das Vorhandensein einer bestehenden Krebs¬
disposition als erbracht erachte. Ich veranlaßte nun den ge¬
wesenen Operateur meiner Klinik, Herrn Dr. Arzt, bei den von
mir wegen Karzinom Operierten entweder vor der Operation oder
bald nach dieser die Freund sehe Reaktion durchzuführen und
dann nach Ablauf verschieden langer Zeit zu wiederholen, um
so das Fortbestehen oder Erlöschen der Disposition mit Hilfe
dieser Reaktion zu konstatieren. Ich will den natürlich noch
nicht abgeschlossenen Untersuchungen von Herrn Dr. Arzt nicht
vorgreifen, sondern will nur, auf den demonstrierten Fäll zurück-
kommend, mitteilen, daß bei ihm1 zweimal die Freundsche Re¬
aktion durchgeführt wurde u. zw. das erstemal Ende Februar
dieses Jahres, 'also elf Monate nach der Operation. Diese war
noch dezidiert positiv, obwohl sich Püt. sehr erholt und an Ge¬
wicht (8 kg) zugenommen hatte und ich bei genauester Unter¬
suchung keine Anhaltspunkte für eine Rezidive finden konnte.
Auf Grund der noch positiven Reaktion riet ich dem Patienten
zu einer energischen Sonnen- und Lichtkur, die Pat. auch jetzt
durch mehrere Monate am Lido absolvierte. Ich ließ nun aber¬
mals die F reundsche Reaktion von Dr. Arzt durchführen, wobei
eine Veränderung der Reaktion gegen das erstemal konstatiert
wurde, insofern, als nur mehr eine Zellveränderung knapp unter
50°/o nachzuweisen war, was 'mir ein allmähliches Erlöschen
der Disposition anzuzeigen scheint und so den vorteilhaften Ein¬
fluß der durchgeführten Nachkur erhellt.
Ich bitte, meine heutige Ausführung als eine vorläufige Mit¬
teilung zu betrachten, indem ich mir Vorbehalte, in einem spä¬
teren Zeitpunkte über weitere Beobachtungen zu berichten oder
berichten zu lassen, welche die Resultate der von mir als' so not¬
wendig erachteten Nachkur nach Geschwulstexstirpationen näher
demonstrieren sollen.
Diskussion zum Vortrage der Herren Prof. v. Fürth und
Dr. Emil Lenk: lieber das Wesen der Totenstarre und
ihre Lösung.
Prof. Pauli: Die überaus aufklärenden Untersuchungen
der Herren v. Fürth und Lenk stehen in zweifacher
Hinsicht in Berührung mit unseren eigenen Arbeiten: Erstens,
indem den Vorgängen bei Eintritt und Lösung der Totenstarre
Ouellung und Gerinnung, also kolloide Zustandsänderungen von
Eiweißkörpem zugrunde gelegt werden und zweitens durch ge¬
wisse Ärmlichkeiten der Totenstarre mit der Muskelkontraktion.
Gerade die Frage nach den inneren Vorgängen bei der Muskel¬
kontraktion hat uns in den letzten Jahren immer mehr beschäftigt
und die Ergebnisse neuerer Versuche an unserem Institute haben
schließlich zu einer Theorie der Muskelkontraktion geführt, welche
gegenüber den bisherigen Anschauungen einen Fortschritt be¬
deuten dürfte.
Abgesehen von diesen besonderen Beziehungen ist es das
Bedürfnis, in diesem Kreise auf die immer zunehmende Bedeu¬
tung der Kolloidchemie für Fragen der Medizin hinzuweisen,
welches mich veranlaßt hat, das Wort zu ergreifen. Seit dem
Jahre 1905, wo ich die Ehre hatte, in der Jahressitzung die Wich¬
tigkeit, der Kolloidchemie für die Pathologie, z. B. für die Kenntnis
der Immunreaktionen und der Konkrementbildung näher dar¬
zulegen, ist dieses Uebergangsgebiet. bedeutend gewachsen und
insbesondere in der Lehre von derAVasserbindung im Organismus
beim (Jedem, Glaukom und der Nephritis1 ist durch die Arbeiten
Martin H. Fischers eine kolloidchemische Auffassung im Vorder¬
gründe der Diskussion.
In allen diesen Fällen spielt nun die Säurebildung in den
Geweben eine eminente Rolle, sie ist beteiligt an der ödemätösen
Schwellung der Organe, sie ist nach den Ausführungen des Herrn
Vortragenden die Ursache für jene Quellung der Muskelfibrillen,
welche als Totenstarre in die Erscheinung tritt. Ich möchte des¬
halb, isoweit es in aller Kürze möglich ist, zunächst ausführen,
wie wir uns das Zustandekommen von Quellung und Fällung von
Eiweißkörpern durch Säuren zu denken haben und gleich hinzu¬
fügen, daß es sich hier nicht um bloße Hypothesen, sondern,
um ein reiches, auf verschiedenen unabhängigen Wegen gewon¬
nenes Beweismaterial handelt, das in einer Reihe von Arbeiten
aus unserem Institute niedergelegt ist.
Zur besseren Uebersicht sei vorausgeschickt, daß Eiweiß
sowohl in Form unelektrischer als auch in Form von ionischen
oder elektrischen Teilchen vorkommt und daß in erster Linie
der elektrische Zustand des Eiweiß seine kolloiden Eigenschaften,
Quellung, Koagulation durch Hitze und Alkohol usw., in erster
Linie bestimmt.
Ein sorgfältig gereinigtes Eiweiß besteht nahezu nur aus
unelektrischen Teilchen und wird durch Alkohol und Hitze koa¬
guliert. Durch Zusatz von etwas Säure wird das Eiweiß elektro-
positiv, indem es wie eine Base mit der Säure unter Salzbildung
reagiert. Wie etwa das Kochsalz gelöst in positive Natrium- und
negative Chlorionen zerfällt, so gibt auch Eiweiß' mit Salzsäure
positive Eiweiß- und negative Chlorionen. Die nähere Unter¬
suchung hat nun gezeigt, daß die Eiweißionen mit einer mäch¬
tigen Wasserhülle umgeben, also stark gequollen oder hydratisiert
sind. Diese Hydratation verrät sich einerseits durch die Wir¬
kungslosigkeit wasserentziehender Eingriffe. Ein ionisches Eiweiß
ist durch Alkohol oder Hitze nicht zu koagulieren. Anderseits
zeigt sich die Quellung der Eiweißteilchen durch eine gewaltige
Zunahme der inneren Reibung der Lösung .an. Ist das Eiweiß in
Form einer festen Gallerte vorhanden, so wird die Entstehung
der ionischen Eiweißteilchen durch Säurezusatz in einer starken
Wasseraufnahme zum Ausdrucke kommen. Jede Umwandlung von
ionischem Eiweiß in unelektrisches, verrät sich je nach den Um¬
ständen durch Wiederauftreten der Alkohol- und Hitzekoagulier¬
barkeit, durch Reibungsabnahme, Entquellung usf.
Wie wirkt nun ein Ueberschuß von Säure? Am besten sind
diese Verhältnisse zu übersehen an einer Reibungskurve von
Eiweiß, welche durch ihren Anstieg die Zunahme, durch ihren
Abfall die Abnahme der Zahl ionischer Eiweißteilchen anzeigt.
Sie sehen wie die anfängliche Vermehrung der ionischen Teilchen
mit steigendem Säurezusatz wieder einer Verminderung Platz
macht und schließlich kommen wir zu einer Säurekonzentration,
in der das Eiweiß ausgefällt wird.
Diese Fällung ist in vieler Hinsicht analog etwa der Koch¬
salzverdrängung aus einer Lösung durch Zusatz von Salzsäure.
Während aber das ausgefällte Kochsalz bei Verdünnung wieder
iii Lösung geht, ist das beim- Säureeiweiß nicht mehr der Fall.
Hier hat zugleich eine Denaturierung des Eiweiß, eine nicht
mehr umkehrbare oder irreversible Zustandsänderung stattge¬
funden. In einer Untersuchung gemeinsam! mit R. Wagner konnte
gezeigt werden, daß die Säuren genau in derselben Ordnung,
in der sie im Ueberschusse Reibungsabnahme, also Entquellung
der Eiweißteilchen bewirken, auch in bezug auf ihr Fällungsver¬
mögen für Eiweiß aufeinander folgen.
Der Uebergang einer reversiblen Quellung in eine irrever¬
sible Gerinnung ist nach unseren Untersuchungen etwas so typi¬
sches für eine Säurewirkung, daß ich nicht anstehen möchte, den
Vorgang der Lösung der Totenstarre als eine durch den Milch¬
säureüberschuß hervorgerufene irreversible Entquellung und
schließlich Gerinnung der in niedrigere Säurekonzentrationen zur
Quellung gebrachten Fibrillen anzusprechen. Alle bisher vor¬
liegenden Beobachtungen über die Bedingungen für das Auftreten
und die Lösung der Totenstarre und auch die schönen Versuche
von Kollegen v. Fürth, sind mit dieser Ansicht zu vereinen. Man
darf eben nicht übersehen, daß jene Berechnungsweise der Kon¬
zentration der Milchsäure im Muskel, wie sie bisher geübt wurde,
für eine tiefere Einsicht in die Vorgänge vollständig wertlos
ist, weil die Säure nur an eng begrenzten Stellen im Muskel
gebildet wird, so daß deren Gehalt gar nicht auf die ganze Masse
des Muskels bezogen werden kann. Ueberhaupt wurde die Kon¬
zentration der im Muskel gebildeten Säure bisher zweifellos stark
unterschätzt und damit komme ich zu dem zweiten Teil meiner
Ausführungen, auf die Beziehungen zwischen Totenstarre und
der Muskelkontraktion.
Indem ich mir Vorbehalte, ausführlich auf die Einzelheiten
unserer Versuche und Argumente zurückzukommen, möchte ich
von unserer Theorie der Muskelkontraktion folgendes anführen:
Die durch Verbrennungs- bzw. Spaltungsprozesse an der Grenze
von Sarkoplasma und Fibrillen gebildeten Säuren, in erster Reihe
Kohlensäure und Milchsäure, bringen die Fibrillen zur Quellung
und damit zur Verkürzung. Diese Anschauung ist nicht nur
durch unsere Erfahrungen über Thermodynamik und den Stoff-
958
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
Wechsel des Muskels gestützt, sie entspricht auch den Messungen
über Quellungs- und Entquellungsgeschwindigkeit. Ferner, was
uns ven besonderer Wichtigkeit erscheint, ist es uns gelungen,
auf dieser Grundlage mit entsprechenden Modellen die bioelek-
tri sehen Erscheinungen am Muskel, die Strombildung in den
elektrischen Organen gewisser Fische zu demonstrieren und
theoretisch zu erklären. Die gleichzeitige Aufklärung der Kon¬
traktion und der sie begleitenden elektrischen Phänomene scheint
uns eine Forderung, der eine Theorie der Muskelzuckung ent¬
sprechen muß.
Sie ersehen aber zugleich, daß unsere Theorie der Muskel¬
kontraktion mit der auf anderem Wege gewonnenen Anschauung
parallel geht, nach der die Zusammenziehung bei der Totenstarre
an die Milchsäurebildung in der Grenzschichte von Fibrille und
Sarkoplasma geknüpft ist. Unseres Erachtens besteht somit nur
ein Unterschied des Grades zwischen der Kontraktion eines ge¬
reizten ausgeschnittenen Muskels in sauerstoffreiem Medium,
die nach den Untersuchungen Fletchers nicht zur Bildung
von Kohlensäure, sondern nur von Milchsäure führt und der Zu¬
sammenziehung in der Totenstarre. Diese erscheint uns in der
Tat. als die letzte wahre Lebensäußerung des Muskels. Dagegen
wäre die Lösung der Starre in keiner Beziehung mit der Er¬
schlaffung des kontrahierten Muskels zu vergleichen, denn sie
ist ein irreversibler Prozeß, während die Erschlaffung des
Muskels naturgemäß ein reversibler Prozeß bleiben wird.
Es würde zu weit führen, hier näher auf die Diskussion
der zahlreichen speziellen Beobachtungen über die Rolle von
Sauerstoff, Salzen und verschiedenen Substanzen bei der Toten¬
starre und der Muskelkontraktion einzugehen, gewiß ist, daß wir
durch die Verwendung der Kolloidchemie gelernt haben, uns mit
größerer Sicherheit auf jenem schwierigen Gebiete bewegen zu
können, das den Biologen und und den Arzt stets in hohem Maße
fesseln wird, an der Grenze von Leben und Tod.
Dr. E. Pribram: Das interessante Problem der
Muskelkontraktion ist, wie Sie soeben aus dem Munde des Herrn
Prof. Pauli gehört haben, durch die Fortschritte der Kolloid¬
forschung in ein neues Stadium gerückt und es gelten hier
zweifellos ähnliche Betrachtungen, wie sie Herr Prof. v. Fürth
für die Totenstarre des Muskels ausgeführt hat. Vielleicht haben
wir es hier nur mit wichtigen Begleiterscheinungen zu tun, a.ber
manches scheint dafür zu sprechen, daß Quellungserscheinungen
ein wesentliches Moment im Phänomen der Muskelkontraktion
ausmachen.
Schon Th. Engel mann, der bekannte Physiologe, wurde
auf Grund histologischer Beobachtung (1878) zu dieser Schlu߬
folgerung gedrängt, als er die Wahrnehmung machte, daß die
anisotrope Schicht der Muskelfibrille während der Kontraktion
der quergestreiften Muskelfaser schwächer, die isotrope stärker
lichtbrechend wird. Die isotrope Schicht verkleinert sich während
der Kontraktion viel rascher als die anisotrope, woraus Engel¬
mann schloß, daß bei der Kontraktion Flüssigkeit aus der iso¬
tropen in die anisotrope Schicht Übertritt. Aehnliche Quellungs¬
erscheinungon findet man, wie Wag en er gezeigt hat, in der
glatten Muskulatur.
V oher ersetzt nun die isotrope Substanz ihren Wassergehalt?
Die Antwort auf diese Frage finden wir in neueren Arbeiten von
B^trl'a und Bottazzi. Diese Autoren zeigen, daß der Muskel
wie 1: in arideres Gewebe imstande ist, Wasser aus der Um¬
gebung an sich zu ziehen, wobei die molekulare Konzentration
des Muskelsaftes nach Muskelarbeit auffallend niedrige Werte
an nimmt. Ein Gegenstück zu diesen Arbeiten bilden jene von
A. Jappelli und G. Jappelli und G. Errico, aus denen her¬
vorgebt, daß die Lymphe des Ductus lymphaticus brachialis des
Hundes nach aktiver Bewegung im Gelenke wasserarmer wird,
also offenbar Wasser in den Muskel abgegeben hat.
Diese Aeriderungen in der Wasserverteilung in den Ge¬
weben ist wohl zweifellos die Folge der bei der Muskelkontraktion
entstehenden Reaktionsprodukte, besonders der sauren (Kohlen¬
säure, Phosphorsäure, Milchsäure), die als quellungsfördernde
Agentien das Muskelkolloid zur Quellung bringen. Daß das im
Muskel vorhandene Wasser tatsächlich in zwei verschiedenen
Phasen, als „physiologisch gebundenes“ (Quellungswasser) und
„freies Wasser“ vorhanden ist, zeigen insbesondere Arbeiten von
H. W. Fischer und P. Jensen.
(Bezüglich der etwas komplizierten Frage über den mög¬
lichen Zusammenhang zwischen Quellungsdruck und Muskel¬
zuckung [Ver Wandlung potentieller in kinetische Energie], sowie
die Erklärung der Volumverminderung bei der Muskelkontraktion
verweise ich auf meine Monographie „Die Bedeutung der Quel¬
lung und Entquellung für physiologische und pathologische Er¬
scheinungen“. Kolloidchemische Beihefte, II, 1. Februar 1910.)
Prof. Dr. v. Fürth verzichtet auf das Schlußwort.
Vortrag des Herrn Prof. Dr. Max Sternberg: Die Diagnose
des chronischen partiellen Herzaneurysmas. (Vortrag
erscheint ausführlich.)
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 1. Juni 1911.
R. Beck stellt eine 28jährige Pat. mit einer wahrschein¬
lich auf luetischer Basis b e r u h en d e n T a c h y k a r d ie aus
der III. medizinischen Klinik vor. Pat. leidet seit drei Jahren
an Herzklopfen und Schwindelanfällen und zeigt Symptome einer
Neurose (gesteigerte Patellarreflexe, herabgesetzten Rachenreflex,
Dermographismus), anderseits hat sie Erscheinungen manifester
Lues (Papeln in der Mundhöhle). Die Herzschlagfrequenz ist
manchmal sehr hoch (über 200), manchmal normal; es besteht
zeitweise geringe Arhythmie, ein andermal ist sie hochgradig.
Die Perküssion und Auskultation ergeben einen normalen Befund;
der erste Ton über der Herzspitze ist gespalten, der Blutdruck ist
herabgesetzt (90 bis 100 Riva-Rocci). Schon geringe Körperarbeit
läßt die Pulsfrequenz stark in die Höhe gehen. Nach Atropin¬
injektion tritt infolge Vaguslähmung eine bedeutende Zunahme
der Unregelmäßigkeiten der Schlagfolge auf, nach Pilokarpininjek¬
tion bleibt die Arhythmie unverändert. Das Orthodiagramm ergab
normale Gefäße und Form des Herzschattens, das Elektrokardio¬
gramm zeigte, daß die Unregelmäßigkeiten in der Herzaktion aus
lauter aurikulären Extrasystolen bestehen. An einem Elektro¬
kardiogramm, welches in einem tachykardischen Anfall aufge¬
nommen wurde, sieht man im Anfang aurikuläre Systolen, dann
aber ein Bild wie beim Vorhofflimmern. Es ist in dem vorlie¬
genden Fälle an die Möglichkeit einer luetischen Schädigung des
Zirkulationsapparates zu (denken; eine antiluetische Therapie
wurde bereits eingeleitet. Vortragender weist darauf hin, daß er
bei der Zeitausmessung am Elektrokardiogramm' die Herzschlag¬
frequenz während des tachykardischen Anfalles gerade doppelt
so hoch fand (166) wie vor dem Anfalle (83), und bemerkt,
daß schon A. Hoffmiann in einer Anzahl von Fällen während des
Anfalles genau die doppelte Frequenz der Herzschläge beobachtet
hat, wie sie der betreffende Pat. in der Norm auf weist.
F. Falk stellt aus der I. (medizinischen Klinik zwei Männer
mit allgemeiner Hämochromatose und Bindegewebs¬
neubildung i n "d e n inneren Organen vor. Der 38jährige
Pat. hat Schmerzen in der Lebergegend und eine allgemeine
braune Pigmentation der Haut; letztere ist glatt, derb und atro¬
phisch. Der Herzschatten ist etwas verbreitert und die Aorta
etwas dilatiert. Die Leber reicht bis handbreit unter den Nabel,
ist derb und zeigt Unebenheiten., die'Milz ist vergrößert und derb.
Im Harn findet sich Urobilin, Pat. zeigt alimentäre Lävulosurie,
früher hatte er l1/2°'o Zucker im Ham, Polydypsie und Polyurie.
Außerdem besteht eine Erkrankung des Pankreas; die Libido
sexualis hat nachgelassen. Der zweite Pat. ist 53 Jahre alt, leidet
an krampfartigen Schmerzen im linken Musculus sartorius. Die
übrigen Symptome sind fast dieselben wie im ersten Falle. Die
histologische Untersuchung eines exzidierten Hautstückchens er¬
gab Ablagerung von dunkelbraunem Pigment in der Epidermis
und Kutis, ferner zöllige Infiltration und reichliche Bindegewebs¬
neubildung. Beide Patienten zeigen hochgradigen Schwund der
früher bestandenen reichlichen Behaarung des Körpers. Wahr¬
scheinlich handelt es sich ätiologisch um eine primäre Leber¬
erkrankung.
Frau Herrn. Lieh Fenstern berichtet aus der Abteilung
Schleisinger über einen Fall von akutem Dekubitus nach
V e r on,a 1 v er g i f tung. Eine Frau nahm in selbstmörderischer
Absicht 8g Veronal und 6g Pyramidon. Etwa 10 Stunden später
trat eine kronenstückgroße, schwarzblau verfärbte Stelle über dem
Steißbein auf, die sich zu einem fünfkronenstückgroßen und bis
6 cm tiefen Dekubitus entwickelte, welcher die Glutäalmuskuhtur
unterminierte. Im Wasserbett reinigte sich die Wunde rasch und
die Frau war in vier Wochen geheilt. In der Umgegend des De¬
kubitus war eine Sensibilitätsstörung nachweisbar.
H. Schleis inger bemerkt, daß der Dekubitus sich so akut
entwickelte, wie man dies bei schweren Spinalaffektionen be¬
obachten kann. Vier Stunden nach dem Auftreten der ersten
Symptome war der Dekubitus schon voll ausgebildet.
H. Epp inger stellt einen 34jährigen Mann mit Extre¬
mitäten lähmung infolge Neuritis bei Leberzirrhose
vor. Pat. war seit dem 14. Lebensjahre mit Bleifarben beschäftigt,
hatte aber nie Erscheinungen von Bleiintoxikation. Erst vor
drei Monaten bekam er schmerzhafte Koliken, Erbrechen nach
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
959
jeder Mahlzeit, so daß er beträchtlich (abmagerte. Anämie (3,200.000
rote, 4000 weiße Blutkörperchen), einen Bleisaum, subikterisehe
Verfärbung. Im Blute fanden sich granulierte Blutkörperchen und
im Ham Urobilin. Die Pulsfrequenz schwankte um 100 herum,
der Blutdruck war nicht erhöht, der zweite Aortenton ist mäßig
akzentuiert. Einmal wurde geringe Glykosurje beobachtet. Pa¬
tient hatte längere Zeit ein Schwächegefühl und Zittern in den
Händen und Füßen. Nach k urz ein K rank e n hausan f e n t h al t besserten
sich die Symptome. Vor 20 Tagen konnte Pat. beim Erwachen in
der Früh die Arme nicht bewegen und kaum gehen. Die Finger
und die Handgelenke sind vollkommen beweglich, er kann die
Arme nicht bis zur Horizontalen erheben und den Arm nicht
rotieren. Die Musculi infra- und supraspinatus, Rhomboidei, Ku-
kullaris und Pektoralis, Bizeps und Trizeps, ferner auch die Bauch¬
muskulatur sind mehr oder weniger geschädigt, manche Muskeln
auch atrophisch und ihre galvanische und faradische Erregbarkeit
ist erloschen. Das rechte Stimmband bewegt sich etwas schlechter
als das linke. Pat. 'hatte eine 'Zeitlang auch Dyspnoe, das Zwerch¬
fell macht nur schwache Bewegungen, welche durch Phrenikus¬
reizung nicht verstärkt werden. Der Bauchdecken- .und Kremaster¬
reflex fehlen, der Patellarreflex ist gesteigert. An den Beinen sind
die Adduktoren und die Glutaei rechts ziemlich geschädigt. Vor¬
tragender hat an der Klinik N oord.en bei Leberzirrhose in einigen
Fällen plötzliche Lähmung infolge Neuritis beobachtet und auch
in dem vorgestellten Falle liegt eine schwere Schädigung der
Leber vor, der Pat. hat Urobilin im Harne. Dieses ist mine
fluoreszierende Substanz, welche in Gegenwart von Licht für
Bakterien ein heftiges Gift darstellt und höher organisierte Tiere
schädigt. Bei Versuchstieren fand Vortr. Schwäche der hinteren
Extremitäten und sogar Lähmung, an den Nerven typische De¬
generation nach Injektion von Urobilin und .Belichtung der Tiere.
Bei Unterbindung der Arteria hepatica kommt eine schwere Leber¬
degeneration zustande, in mehreren Fällen wurde auch Erbrechen
beobachtet. Bei dem Pat. kontrahierte sich beim Erbrechen die
untere Hälfte des Magens fast röhrenförmig und die Speisen
wurden so herausgeschleudert. Vortr. stellt sich vor, daß infolge
krisenartiger Kontraktionen der Arteria hepatica und deren Magen¬
astes die Leberschädigung und das Erbrechen hervorgerufen sein
könnten und daß ferner die Lähmungen auf eine Neuritis infolge
der Leberaffektion zurückzuführen sind.
Politzer möchte einen solchen Zusammenhang der Läh¬
mungen mit der Leberschädigung nicht annehmen. Die Urobilin-
urie braucht nicht die Folge einer Leberschädigung zu sein,
H. Eppinlger bemerkt, daß bei der genau vorgenommenen
funktionellen Prüfung der Leber sich eine Schädigung der letzteren
ergab. Die Urobilinurie ist fast immer ein Symptom einer Leber¬
schädigung.
F. Falk stimmt Eppinger bei. Symptome der Leberschä¬
digung sind Urobilinurie, alimentäre Glykosurie und eine Vermin¬
derung des Harnstickstoffes.
H. König st ein sah einen Knaben mit einem gangränösen
Herd im Gesichte und Lebersyphilis, im Ham fand sich Hämato-
porphyrin. Als infolge antiluetischer Behandlung die Leberaffek¬
tion zurückging, heilte auch die Gangrän aus.
G. Schwarz zeigtauf demRöntgenschir mepulsie-
rende Lüngenvenen bei einer Frau mit Mitralstenose und
-Insuffizienz. Die Pulsation war in überraschender Weise deutlich
sichtbar, sie ist ein Analogon des positiven Jugularvenenpulses
bei Insuffizienz der Trikuspidalis. Die Hilusschatten sind beider¬
seits auf das Doppelte vergrößert und zeigen in allen Aesten
deutliche herzsystolische Pulsation. Vortr. hat bereits 19 der¬
artige Fälle beobachtet.
28. Deutscher Kongreß für innere Medizin
vom 19. bis 22. April zu Wiesbaden.
(Fortsetzung.)
VI.
Sitzung vom 21. April 1911, nachmittags.
Referent: K. Reich er -Berlin.
E. Pfeiffer- Wiesbaden: Wasserretention durch
Natronsalze.
Javal und Widal hatten bei Nephritikern und Herzkranken
durch Entziehung von Chlornatron Oedeme vermindert und durch
neuerlichen Zusatz von Kochsalz dieselben wieder auf treten
sehen. Sie bezogen daher die auch bei Gesunden beobachtete
Zunahme des Körpergewichtes nach Kochsalzdarreichung und die
Verringerung desselben bei Kochsalzentziehung auf Wasserreten¬
tion, bzw. auf vermehrte Wasserabscheidung. Das darauf be¬
gründete Verfahren wurde daher Dechlorination, Chlorentziehung
genannt. Pfeiffer stellte nun fest, daß Natrium bicarbonicum
sowohl bei Gesunden als bei Kranken das Körpergewicht bedeutend
steigert, Aussetzen desselben das Körpergewicht wieder zusehends
vermindert. Reine Salzsäure mul die Chlorsalze von anderen
Basen als Natrium (Chlorkalium und Chlorkalzium) zeigen diese
Wirkung auf Körpergewicht und Urinmenge nicht. Jedenfalls
müßte der Ausdruck Chlorentziehung durch das Wort Natrium-
entziehung ersetzt werden.
Diskussion: Heubner- Göttingen: Die Versuche von
Pfeiffer wie von L. Meier scheinen dafür zu sprechen, daß
das Natriumion im Körper in besonderer Weise die Wasser
aufnahme befördert. Bei den Versuchen von Pfeiffer wäre
allerdings zu berücksichtigen, ob bei der Zufuhr von Karbonat
die Wasserstoffionenkonzentration der Gewebe nicht auch eine
Rolle spielt. Am Nackenband des Rindes zeigte sich, daß das
Natriumion ein wenig mehr als die anderen die Wasseraufnahme
im Bindegewebe befördert. Doch ist damit die Frage wegen der
geringen Ausschläge noch nicht vollkommen entschieden.
Roily- Leipzig : Ueber den Stoffwechsel im Fieber
und in der Rekonvaleszenz.
Vortragender beschreibt einen neuen, nach dem Regnault-
Re is et sehen Prinzip für klinische Untersuchungen gebauten Re-
spirationsapparat, welcher die Fehlerquellen, die bei Atmungen
im Zuntz sehen Apparat bei schwerkranken Personen unver¬
meidlich sind, beseitigt. Bei den Untersuchungen mit diesen)
neuen Apparat erhielt Vortragender nicht mehr die abnorm nied¬
rigen respiratorischen Quotienten von 0-6 bei Fieber mit negativer
Stickstoffbilanz, die ihn früher [an eine qualitative Aenderung
des Eiweißstoffwechsels denken ließen, sondern als niedrigsten
Wert 0-7. Tötet man Kaninchen, nachdem sie längere Zeit ge¬
fiebert haben und analysiert man die Eiweißkörper auf den
Stickstoff- und Kohlenstoffgehalt, so ergibt sich keine Aende¬
rung des Verhältnisses von N zu C in dem Körpergewebe des
Kaninchens. Auch damit ist erwiesen, daß die Annahme, es
könnte bloß [die kohlehydrathaltige Komponente des Eiwei߬
körpers verbrennen und die kohlehydrathaltige Zurückbleiben,
eine irrige war.
Stae hei in- Berlin hat ähnlich wie Roily im Fieber und
wie Reicher und Stein beim Hungern auffallend niedrige respi¬
ratorische Quotienten gefunden. In einer achttägigen Radium¬
periode wurde bei gleichbleibender Ernährung ein auffallendes
Ansteigen des respiratorischen Quotienten beobachtet. Das könnte
nur durch die vollständige Aufzehrung des Glykogengehaltes er¬
klärt werden, was aber unwahrscheinlich wäre, oder durch eine
noch unwahrscheinlichere chemische Entartung des Körpers. Es
bleibt also nur übrig, an eine Veränderung in dem eigentlichen
Ablauf der Zersetzungen oder an Retention einzelner Stoff¬
wechselprodukte zu denken.
Sch icke le- Straßburg : Die Rolle des Ovariums
unter den innersekretorischen Drüsen.
In geeigneter Weise aus dem Ovarium hergestellte I’reß-
säfte verzögern die Blutgerinnung wesentlich oder heben sie
sogar in vitro auf. Intravenös injiziert setzen sie den Blutdruck
auf längere Zeit herab. Setzt man Tiere durch Adrenalin auf
einen hohen Blutdruck und verabreicht nun eine starke Dosis
Ovariumextrakt intravenös, so wird die Adrenalinkurve plötzlich
unterbrochen. Tiere mit wesentlicher Blutdrucksenkung unter
Ovariumwirkung lassen keine oder fast keine Adrenalinwirkung
mehr am Blutdruck erkennen. Diese Befunde werfen auf verschie¬
dene, klinisch bekannte Tatsachen ein neues Licht. So ist be¬
kanntlich der Blutdruck nach Kastration und in der Menopause
erhöht, ebenso bei funktioneller Amenorrhoe. Ferner ist das
bei der Menstruation abfließende Blut schwer oder gar nicht
gerinnbar. Anderseits ist der Blutdruck während der Menstrua¬
tion erniedrigt. Aus dem Menstrualblut läßt sich ferner ein Extrakt
herstellen, der den Blutdruck herabsetzt und die Gerinnbarkeit
des Blutes aufhebt. Was die chemische Natur dieser Substanzen
betrifft, so handelt es sich um Lipoide, u. zw. Lezithine. Ob es
die spezifischen Substanzen des Ovariums sind, welche zu den
sekundären Geschlechtscharakteren in Beziehung stehen, läßt sich
vorläufig nicht entscheiden.
P. Lazarus-Berlin: Radiumemanation.
Um die Konzentrationen des Radiums im1 Blut zu erhöhen,
hat Vortragender ein neues System ausfindig gemacht, das nicht
auf der Aktivierung von Wasser, sondern auf der direkten Ak¬
tivierung eines respirablen komprimierten Gases beruht. In einem
Stahlzylinder befinden sich Racliumsalz und 1500 1 komprimierter
Sauerstoff. Nach vier Tagen ist ungefähr die Emanationskonstante
erreicht. Gewöhnlich wurden 100 Macheeinheiten pro Liter ver¬
wendet, SO' daß der Zylinder 150.000 Macheeinheiten enthält.
Außerdem werden durch positive Ladung des ganzen Stahl-
960
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
Zylinders die positiven Zerfallsprodukte des Radiums vom Zy- |
linder abgestoßen und der Inhalation zugeführt. Ferner ist es
möglich, das für den Purinstoff Wechsel bedeutungsvolle Radium
isodert aufzufangen und isoliert in den Organismus zu bringen.
Durch einen sinnreich konstruierten Kreislauf kann man die aus¬
geatmete Emanationsluft zur Anreicherung der pinatmungsluft
immer wieder verwenden. Im gesamten Blut befinden sich dann
nach einer Stunde Inhalation 500 Macheeinheiten. Man hat so
die Möglichkeit, das Blut in dosierter Weise mit Emanation zu
beladen und auch die einzelnen Zerfallsprodukte des Radiums
zuzuführen. Per os aufgenommene Emanation diffundiert durch
Magen- und Darmwand. Bei der Einatmung ist das arterielle
Blut reicher an Emanation, bei der Verabreichung per os das
venöse. Das Bl u Ls e nun enthält mehr Emanation als der Kruor.
Durch Anwendung von aktiver und passiver Hyperämie kann
man an einzelnen Gliederabschnitten die Radiummenge erhöhen.
Schreiber- Magdeburg : Rückblicke und Ausblicke
über den heutigen Stand der Sälvarsantherapie.
Die nach Salvarsan angeblich beobachteten Nervenerkran¬
kungen lassen sich fast alle als typische Nervenrezidive auffassen.
Der von Finger angegebene Fall von Optikuslähmung gab
eigentlich infolge der vorhergehenden Arsenbehandlung eine
Kontraindikation gegen die Anwendung von Salvarsan ab. Eine
negative Wassermannsche Reaktion im Blute ist noch nicht
gleichbedeutend mit Ausheilung der Infektion, denn man findet
dann in manchen Fällen noch eine positive Wassermannsche
Reaktion in der Spinalflüssigkeit. Eine spezifische neurotoxisehe
Komponente ist vorläufig bei Salvarsan nicht anzunehmen, da
auch im Tierversuch jegliche neurotoxisehe Erscheinungen fehlen.
Ferner sind derartige nervöse Erscheinungen, wie sie bei Salv-
arsanbehandlung der Syphilis angegeben werden, bei Malaria¬
kranken, also nicht Syphilitischen, niemals nach ^alvarsanver-
abreichung beobachtet worden. Die nervösen Erscheinungen sind
auch meist entzündlicher Natur oder Reizungen,. nicht atrophische
Zustände, wie man sie sonst bei der Syphilis zu sehen gewöhnt
ist. Bei frischen Fällen von Lues rät Schreiber mit einer intra¬
venösen Injektion von Salvarsan zu beginnen, dann eine energische
Quecksilberkur vorzunehmen und zum Schlüsse wieder eine Salv-
ars ankur.
L. Lichtwitz- Göttingen: Ueber chemische Gleich¬
gewichte im Stoffwechsel.
Chemische Reaktionen verlaufen nicht vollständig, sondern
es bleiben die Ausgangsstoffe neben dem neuen Körper bestehen.
Es stellt sich ein chemisches Gleichgewicht ein. Bei reversiblen
Reaktionen ist das chemische Gleichgewicht sowohl durch den
Abbau eines höhermolekularen Körpers als durch eine Synthese
aus den Spaltprodukten zu erreichen. Für die Beziehungen der
ß - Oxybuttersäure zur Azetessigsäure hat 0. Neubauer bereits
das Prinzip des chemischen Gleichgewichts aufgestellt. Deni Vor¬
tragenden ist es nun gelungen, sowohl beim gesunden Hunde, als
beim diabetischen Menschen durch Harnstoffzulage die Armnonia.k-
und Aminosäurenausscheidung bedeutend zu erhöhen und die
Harnstoffmenge herabzudrücken.
Diskussion: N eu bau er- München : Man muß zwischen
Neutralisationsammoniak unterscheiden, welcher die Säuren zu
neutralisieren hat und dem Restanimoniak, der durch diese F unk-
tion nicht erklärt werden kann. Uebereinstimmend mit Licht¬
witz’ Versuchen konnte auch Neubauer den Restammoniak
nicht vermehren durch Harnstoffzufuhr, wenn man den Neutrali¬
sationsammoniak durch Natrium bicarbonicum ausschaltet. Aus¬
zusetzen hätte Neubauer bloß das Fehlen von Azeton- und Azi-
ditätsbestimmüngen, denn Harnstoff steigert die Azidität immer,
Verhindert man dies, so steigt der Amlmoniakgehalt nicht.
Stäliedin-Berlin: Von E. Friedmann- Berlin in der
H i s sehen Klinik ausgeführte Versuche demonstrieren das Vor¬
handensein von chemischen Gleichgewichten in zwei anderen
Reaktionen. Bei der Durchströmung einer überlebenden Vogel¬
leber mit arteigenem Blute findet eine erhebliche Anhäufung von
Harnsäure in der Durchs trömungs fl üssigkeit statt, welche nicht
durch Substanzen gesteigert werden kann, die im Stoffwechsel¬
versuche sich einwandfrei als Harnsäurebildner erwiesen haben,
wohl aber durch Zusatz von Purinbasen. Für die Bildung der
Harnsäure in der Vogelleber gibt es also zwei Arten von chemi¬
schem Gleichgewicht, ein synthetisches und ein oxydatives. Beim
Studium der Hippursynthese konnte feiner, E. Fried mann zeigen,
daß die Kaninchenleber ein Ort mächtiger Hippursäuresynthese
ist, daß sich die gebildeten Mengen aber nicht wesentlich unter¬
scheiden, ob die Durchströmung mit Benzoesäure allein oder
mit Zusatz von Glykokoll, resp. Glykokollbildnern stattfindet. Es
hat offenbar innerhalb der geprüften Zeit die chemische Reaktion
mit dem Endprodukte Hippursäure zum Gleichgewicht geführt.
In der Gesamtmenge der im Harne ausgeschiedenen Hippursäure
kommt angesichts der Möglichkeit, im Stoffwechselversuche die
Hippursäuresynthese durch Glykokollzusatz weiter zu steigern,
eine zweite Gleichgewichtsreaktion zum Ausdruck.
Lichtwitz (Schlußwort) glaubt angesichts der verwendeten
Kautelen seine Werte als Vergleichs werte gelten lassen zu dürfen.
F riedmanns Befunde stimmen zu L i ch t w i t z’ Anschauungen
sehr gut, um so mehr, als die Harnsäurebildung der Vögel der
Harnstoffbildung beim Menschen entspricht.
Frl. Dr. Rahel Hirsch- Berlin: Zur Adrenalinwirkung.
Injiziert man 1 cm3 Adrenalin in Nebenniere, Pankreas
oder Leber, so fällt die Temperatur im Verlaufe von vier bis
fünf Stunden auf 34, 32, ja 30°, weit weniger ausgesprochen ist
der Temperatursturz nach Injektionen von Adrenalin in die Niere
oder in die Schilddrüse. Diese Temperaturerniedrigung ist nicht
als Ausfallserscheinung zu deuten, indem etwa die injizierten
Organe durch die relativ große Adrenalinmenge zerstört wer¬
den, denn bei den anatomischen Untersuchungen zeigen sich alle
Organe bis auf geringe Veränderungen an der Injektionsstelle
intakt. Bloß |in der Niere entstehen diffuse entzündliche Pro¬
zesse neben Verkalkungen u. zw. um so ausgedehntere, je später
nach der einmaligen Injektion man die Untersuchung vornimmt.
Die der Adrenalinwirkung folgende Blutdrucksenkung ist auch
nicht an der Abkühlung schuld, denn der Temperatursturz geht
der Blutdrucksenkung zeitlich voraus und ist ihr an Intensität
nicht parallel zu setzen. Man muß also an einen unmittelbaren
Einfluß des Adrenalins auf die Wärmeproduktion denken, oder
an die Ausschaltung eines Hormons durch das Adrenalin. Weder
Pituitrin noch Thyreoidin zeigen eine ähnliche Wirkung. Glykos-
urie und Hyperglykämie bleiben dagegen aus bei Injektionen in
Leber, Nebennieren und Nieren. i
E. Gr afe- Heidelberg und Graham- Otranto : Zur Frage
der Luxuskonsumption.
Der 107 Tage währende Versuch an einer Hündin zerfällt
in sieben Perioden. 1. Zunächst nahm das Tier in 21jähriger
Hungerperioide um 513 kg ab, dann erhielt es sieben Tage
280°/o des Minimalbedarfs, N - Zufuhr 17 g, N- Retention 12
Gewichtszunahme 5 kg. 3. Weitere starke Ueberernährung (300°/o
des Minimalbedarfs,' täglich 19-7 g N- Zufuhr, davon 7-6 retiniert),
Dauer 29 Tage, Gewichtszunahme 700 g usw. Als Abschluß eine
Hungerperiode. Der Hund hat also bei kolossaler Ueberernährung
schließlich kaum mehr an Gewicht zugenommen, so in der fünften
19tägigen Periode mit 130% Nahrung des Minimalbedarfs bloß
um 100 lg ; es ist daher der tatsächliche Ansatz, selbst wenn
man alle Einwände rechnerisch berücksichtigt, weit hinter dem
berechneten zurückgeblieben, was nur möglich ist, wenn die
Verbrennung weit über den Minimalbedarf gestiegen ist, wenn
also eine Luxuskonsumption vorliegt. Tatsächlich ist bei etwa
gleichbleibendem Körpergewicht in nüchternem Zustande (30 bis
36 Stunden nach der Nahrungsaufnahme) die Kalorienproduktion
in dieser Luxusperiode von 1028 auf 1400, also um ca. 40%
gestiegen. Das ist aber der klare Beweis für ein erhöhtes Nah¬
rungsbedürfnis, welches indirekt durch die Ueberernährung her¬
vorgerufen wird. Es ist also hier ausnahmsweise die Zelle allein
nicht maßgebend für die Größe der Verbrennungen, denn auf
der Höhe der Ueberernährung wurden 150% des Minimalbedarfs
glatt verbrannt. Diese Ergebnisse sind wohl teilweise auf den
Menschen übertragbar und erklären vielleicht, daß die Mast in
den meisten Fällen bald ihr Ende erreicht, trotzdem der Appetit
des Patienten eine weitere Fortsetzung gestatten würde.
W ar hur g- Heidelberg : Beziehungen zwischen Kon
stitution und physiologischer Wirkung.
Die Wirkung auf die chemischen Zersetzungen in der Zelle
hängt weniger von den retraktionsfähigen Gruppen ab, als von
den physikalischen Eigenschaften derselben. So wird der Sauer¬
stof fverbrauch bei der Sauerstoffatmung lebender roter Blutkör¬
perchen von Vögeln durch lipoidähnliche Stoffe, wie Salze, Trau¬
benzucker, Glykogen und Alanin nicht geändert. Dagegen sehen
wir, daß er durch die außerordentlichen lipoidlöslichen Stoffe,
wie Azeton und Azetonitryl, bedeutend gesteigert wird. Je mehr
OH -Ionen eine Base bei gleicher Konzentration dissoziiert, um
so wirksamer beeinflußt sie den Oxydationsprozeß. So wirkt
das am schwächsten dissozierte Nikotin tatsächlich auch bei der
Sauerstoffatmung lebender Zellen am wenigsten.
Diskussion: Heubner- Göttingen kann im Gegensatz zu
Warburg speziell bei der Hämolyse nachweisen, daß die Doppel¬
bindung von großer Wichtigkeit ist. So hat Faust ftiC die Seifen
gezeigt, daß eine Substanz, wenn sie eine doppelte Bindung ent¬
hält, sehr wirksam ist, dagegen weniger oder gar nicht, wenn
die doppelte Bindung fehlt. So wirkt in der Terpentinreihe Mentan,
Menten, Terpinen und Parazymol nur das Mentan hämolytisch,
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 191L
961
das eine einzige Doppelbindung enthält, während das Terpinen
mit zwei Doppelbindungen zum Beispiel nicht wirksam ist.
Warburg (Schlußwort) wollte die bei der Wirkung auf
die Oxydationsprozesse festgestellten Grundsätze nicht für alle
biologischen Vorgänge verallgemeinern.
Michaud-Kiel: lieber den Kohlehydratstoff¬
wechsel de's Hundes mit Eckscher Fistel.
Mich atu d findet nach Ausschaltung der Leber aus dem
Stoffwechsel einen normalen Blutzuckergehalt. Nach reichlicher
Verabreichung der Glykose steigt der Blutzuckergehalt auf die
obere Grenze der Norm. Führt man zum Beispiel einem Hunde
mit Eckscher Fistel 100 bis 150 g Traubenzucker zu, so bleibt
der Blutzucker in einzelnen Fällen normal, in anderen steigt er
auf 1-1, nur einmal erheblicher auf 0-174. Die Untersuchungen
wurden stets l3/r Stunden nach der Aufnahme der Glykose vor¬
genommen. Das Pankreas kann also seine Aufgabe der Zucker¬
verbrennung auch durchführen, wenn das Depot nicht vorhanden
ist. Nach Adrenalininjektion tritt beim normalen Hunde typische
Hyperglykämie und Glykosurie ein. Beim' Hunde mit Eck scher
Fistel finden sich dagegen nach Adrenalininjektion ganz normale
Blutzuckerwerte. Die Versuche zeigen, daß das Adrenalin nur
dann wirken kann, wenn die Leber zur Verfügung steht. 1st sie
ausgeschaltet, so vermag das Adrenalin nicht mehr Kohlehydrate
auszuschütten. Glykosurie und Hyperglykämie bleiben aus. Das
ist eine Analogie zu den Versuchen an mit Phosphor vergifteten
Kaninchen von Frank und Isaack. Das Pankreashormon wirkt
nach diesen Versuchen außerhalb der Leber, das Hormon des
chromaffinen Systems hingegen greift zum großen Teile die
Leber an.
Diskussion: Minkowski -Breslau: Die Eck sehe Fistel
mit Unterbindung der Pfortader bedeutet keine vollkommene Aus¬
schaltung der Leber. Minkowski hat vor vielen Jahren hei
Versuchen an Vögeln gefunden, daß trotz Ausschaltung des Pfort¬
adersystems die Leber nicht eliminiert wird. Denn er hat nach
Loslösung der Leber von sämtlichen Verbindungen und alleiniger
Aufrechterhaltung des .Zuflusses durch den Arterienast noch Ab¬
lagerungen bis zu 15% an Glykogen in der Leber nach Kohle¬
hydratfütterung erhalten.
Mich arid (Schlußwort): Leider ist eine vollständigere Aus¬
schaltung der Leber als durch die Eck sehe Fistel bei Säugetieren
nicht durchführbar.
Bürker-Tübingen: Die physiologischen Wirkungen
des Höhenklimas.
Vortr. hat unter allen erdenklichen Kautelen und nach sorg¬
samster und eingehendster Vorbereitung drei Tübinger Versuchs¬
personen und eine vierte Vergleichsperson in Schatzalp oberhalb
von Davos zum Studium der physiologischen Wirkung des Höhen¬
klimas benützt. Es wurde die Thoma-Z eißsche Kammer, weil
sie zu hohe Werte im Gebirge liefert, durch die Bürkersche
ersetzt, der Melangeur durch getrennte Zeißsche Pipetten, der
Hämoglobingehalt quantitativ spektroskopisch nach dem Extink¬
tionskoeffizienten gemessen, ferner die mittlere Größe der roten
Blutkörperchen bestimmt. Die Ergebnisse dieser mühevollen
Untersuchungen lauten: Das Höhenklima hat eine entschiedene
Wirkung auf das Blut, sie ist aber nicht so groß, wie gewöhnlich
angegeben wir'd. Im Mittel betrug die Vermehrung der Blut¬
körperchen 5%, die des Hämoglobingehaltes 7%. Also der Uämo-
globingehalt ist etwas stärker vergrößert als die Blutkörperchen-
zahl. Die Reaktionsweise ist bei verschiedenen Personen sehr
verschieden. Bei kleinen und leichten Personen vermehrt sich
ungefähr in gleicher Weise die Zahl der roten Blutkörperchen
und das Hämoglobin, bei schwereren und größeren Personen
steigt der Hämoglobingehalt schließlich stärker an als die Zahl
der roten Blutkörperchen. Unmittelbar nach der Ankunft in Davos
war schon die Vermehrung der roten Blutkörperchen vorhanden,
was nur durch Mobilisierung vorhandener Reserven zu erklären
ist. Bei der Rückkehr nach Tübingen sank sofort die Blutkörper¬
chenzahl rascher als der Hämoglobingehalt. Ein Einfluß der elek¬
trischen Leitfähigkeit, des elektrischen Potentials und der Inten¬
sität der Sonnenbestrahlung auf die untersuchten Verhältnisse,
ließ sich nicht nachweisen. In der kälteren Zeit besteht eine
Tendenz zur Vermehrung des Hämoglobins im Blute. Die ganze
Reaktion ist als ein Anpassen des sauerstofftragenden Apparates
an die verdünnte Luft aufzufassen.
Diskussion: Schmincke - Bad Elster hat in einem
exakten Selbstversuche in St. Moritz nach zehntägigem Aufent¬
halte eine Zunahme der Masse der Erythrozyten mittels des
Hämatokriten um 8% gefunden.
Kuhn- Biebrich a. Rh. bemängelt bei Bürkers Unter¬
suchungen die Blutentnahme aus der Fingerkuppe, ein Vorgehen,
bei dem man die Temperaturschwankungen nicht ausschalten
kann, ferner daß Beobachtungen an bloß vier Personen zu so
weitgehenden Schlüssen verwertet werden. Bei anämischen Per¬
sonen, die in eine 700 m hoch gelegene Heilstätte geschickt wurden,
konnte Kuhn eine bedeutende Zunahme an roten Blutkörperchen
nachweisen.
S tau bl l- St. Moritz: Wir müssen zweierlei Arten von Ver¬
mehrung der roten Blutkörperchen im Hochgebirge unterscheiden,
die eine, welche sofort nach der Ankunft auftritt, beruht auf ver¬
se ie enei Verteilung, vielleicht auch erhöhter Ausschwemmung
yorgebildeter Erythrozyten und eine spätere, welche auf wirk"
heil vermehrte Neubildung zurückzuführen ist.
Kr ehP- Heidelberg hebt gegenüber Kuhn hervor, daß er¬
wiesenermaßen die Untersuchung des Fingerblutes bei langdau¬
ernden Versuchen keine anderen Resultate gibt als die des Venen¬
blutes, desgleichen ist durch eine ganze Reihe von Untersuchern,
zuletzt auch von Morawitz u. a. festgestellt worden, daß die
absoluten Zahlen der Vermehrung der roten Blutkörperchen keine
so hohen sind als anfangs geglaubt wurde.
Tornai-Pest: Ueber erfolgreiche Behandlung der
Stauung im Pf ortadersysteml durch systematische
Abbindung der Glieder.
Tornai wendet bei Stauungen im Pfortadersystem, also
bei Vergrößerungen von Leber und Milz, Abbindung der Glieder
mit einem Patentrohrdrain an und hat dabei auffallendes Kleiner¬
und Weicherwerden der genannten Organe erzielt.
Schief fer-St. Blasien: Aerztliche Erfahrungen
über Aegypten.
Diskussion: Sch acht- Assuan: Pathologisch erhöhter
Blutdruck geht durch den Einfluß von Aegyptens Klima herunter.
Bei Nephritikern lassen sich, abgesehen von ganz verzweifelten
Fällen, stets Besserungen nachweisen.
K r eh 1- Heidelberg: Beim Publikum' und bei vielen Aerzten
steht Aegypten im Rufe eines Landes, wo Nierenkrankheiten ge¬
heilt werden. Es wäre doch wünschenswert, daß endlich Kranken¬
geschichten von Nephritiden publiziert werden, die bei uns vor¬
aussichtlich nicht geheilt wären, in Aegypten jedoch geheilt
wurden.
Schi eff er (Schlußwort): Chronische parenchymatöse Ne¬
phritis und Schrumpfniere heilen in Aegypten ebensowenig wie
anderswo, nur Nephritiden nach Diphtherie und Scharlach werden
zur Heilung gebracht. In Fällen von Blasen- und Nierentuberkulose
werden in einzelnen Fällen definitive Heilungen erzielt. Dagegen
sind für Lungentuberkulose die Staubverhältnisse derartig un¬
günstig, daß sich Vortr. von dem ägyptischen Klima keinen Erfolg
vorstellen kann.
Eichhlolz-Bad Kreuznach: Ueber die Resorption der
Radium emanation. (Siehe Vortrag auf denn Balneologen-
kongreß 1911 zu Berlin.)
Diskuission: Gudz ent- Berlin: Die Methode des Nach¬
weises der Emanation in der Atemluft gibt uns keinen quantita¬
tiven Aufschluß über den Emanationsgehalt ird Blute. Gudz ent
hat nun ganz exakte Messungen im Venenblut von Personen im
Emanatorium vorgenommen und zum Beispiel im Liter Blut bereits
nach einer Viertelstunde etwa zehn Macheeinheiten gefunden,
wenn im Liter Luft zehn Macheeinheiten vorhanden waren. Blieb
der Patient lim Emanatorium1, so war nach drei Stunden der
siebenfache Wert des Emanationsgehaltes der Luft im Venenblute
nachzuweisen. Verließ der Patient den Raum, so war nach einer
Stunde keine Emanation mehr im Blute vorhanden.
Engelmann-Kreuznach hat experimentell angelegte Harn¬
säuredepots bei Kaninchen nach Emanationstrinkkuren viel
rascher schwinden sehen als ohne dieselben.
Ne nadioviöz- Franzensbad: Die Bedeutung der ra¬
dioaktiven Gasquelle von Franzensbad für den In¬
ternisten.
In Franzensbad besteht eine readioaktive Quelle von Kohlen¬
säuregas. Ein darüber befindlicher Bau wurde schon früher als
Inhalationsraum benutzt und soll gegenwärtig in erweiterter Form
zur Behandlung der verschiedenen Krankheiten, bei. denen Ema¬
nationsinhalationen indiziert sind, verwendet werden.
40. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie zu Berlin
vom 19. bis 22. April 1911 (im Langenbeckhause).
Referent: Dr. M. K at z en s tei n -Berlin.
(Fortsetzung.)
Katzenstein: Zur Pathogenese des Ulcus ven-
t r i c u 1 i.
Erste Bedingung der Entstehung des Ulcus ventriculi ist die
durch eine Zirkulationsstörung hervorgerufene Nekrose und ein
9G2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1911.
Nr. 26
Schleimhautdefekt. Hierduch allein jedoch kann das Ulkus nicht
entstehen, da solche Schleimhautdefekte, wie schon Körte 1875
nachgewiesen hat, rasch heilen.
Als zweiter Faktor kommt eine Störung ijm; normalen Wechsel¬
spiel zwischen Pepsin und Antipepsin in Betracht. Durch Herab¬
setzung des Antipepsingehaltes des Blutes, sowie der Magen¬
wand ist es Katzenstein gelungen, typische progrediente
zur Perforation führende Ulzera hervorzurufen, wie an zahl¬
reichen Präparaten und Bildern gezeigt wird. Im Vergleichs¬
versuchen konnte Katzenstein feststellen, daß gewöhnliche
Schleimhautdefekte im Magen in etwa acht Tagen heilen, Schleim¬
hautdefekte in deren Umgehung das Antipepsin zerstört war,
nahmen aber die Gestalt und die Form des typischen Ulkus an.
Sprengel -Braunschweig: Erfahrungen über den
Gleitbruch des Dickdarms.
Dieser Bruch kommt fast nur als äußerer Leistenbruch vor.
Die Bedingung seines Entstehens ist, daß sein Inhalt aus Dick¬
darm mit fehlendem oder zu kurzem Mesenterium besteht. Er
entspricht dem „Sac incomplet“ der Franzosen. Seine Behand¬
lung besteht in intraperitonealer Verlagerung- des Sackinhalts.
M a nasse berichtet über zwei Pylorusresektionen wegen
Pylorospasmus .
W e n d e 1 - Magd eburg h a t s e e h s Fälle p r i m ä r er Lebe r-
tumoren operiert. Es handelte sich u,m drei zystische Ge¬
schwülste, ein Angiom, ein Sarkom, ein Adenom. Bei letzterem
Falle wurde nach Unterbindung eines Astes der Arteria hepatica
der rechte Leberlappen reseziert.
Wullstein-Halle empfiehlt ein neues Operationsverfahren
zur Freilegung der Leberoberfläche. Es besteht im wesentlichen
darin, daß perpleural das Zwerchfell nach unten gedrückt wird,
wodurch die Leber vollkommen vor die Bauchwunde luxiert
werden kann.
Löbker- Bochum hält dieses Verfahren, bei dem die Pleura
verletzt wird, für überflüssig, da es auch ohnedies gelingt, die
Leber zu luxieren und ihre Oberfläche vollkommen freizulegen.
Tietze- Breslau hat in zwei Fällen von Leberruptur Re¬
tinitis beobachtet, die nach Ansicht der Augenärzte eine Folge
der durch die Leberverletzung bedingten Anämie ist.
Marquard-Hagen beobachtete ebenfalls Augenstörungen
nach Leberverletzungen.
Finsterer -Wien berichtet über zwei Fälle von Leber¬
ruptur.
Heß- St. Petersburg hat in den letzten zehn Jahren 87 Ver¬
letzungen der Leber beobachtet. Bei 77 Fällen, die in der üblichen
Weise behandelt wurden, wurde eine Mortalität von 40% fest¬
gestellt. Bei den in dem letzten zwei Jahren beobachtetem zehn
Fällen wurde die isolierte Netzplastik, kombiniert mit der Naht,
angewandt und von diesen Fällen ist keiner gestorben.
v. lla be rer, dessen Experimente durch die Mitteilung des
Herrn Wendel bestätigt werden, hatte ebenfalls Gelegenheit
die experimentell gewonnenen Erfahrungen gelegentlich der Ex¬
stirpation einer großen kongenitalen Leberzyste beim Menschen
zu erproben. Die Zyste ließ sich nämlich scheinbar vollständig
glatt aus dem linken Leberlappen ausschälen, als es im letzten
Augenblick zu einer Verletzung des linken Astes der Arteria
hepatica propria kam, der deshalb unterbunden werden mußte.
In diesem Augenblick stand nicht nur die Blutung aus dem Leber-
paranchym vollständig, sondern der linke Leberlappen verfärbte
sich in wenigen Minuten derart, daß seine Resektion vorgenommen
werden mußte.
Rehn- Frankfurt a. M. hat in der gewöhnlichen Weise die
Leberoberfläche bei Echinokokkus freigelegt und hiedurch Heilung
erzielt.
Narkose.
v. F ed o r o f f- Petersburg : Ueber die intravenöse II e-
donalnarkose.
Unter mehr als 500 intravenösen Hedonalnarkosen kam
kein ernster Zwischenfall vor. Achtmal Zyanosen, aber nie so
schwere, wie bei Chloroformnarkosen. Man verwendet eine s/4°/°ig©
Lösung und verbraucht 400 bis 600 cm3 davon, entsprechend
4 cg Hedonal pro Kilogramm Körpergewicht. Je schwächer der
Patient, desto langsamer läßt man einströmen. Der Blutdruck
bleibt hoch, der Puls wird sogar kräftiger. Erbrechen und Uebel-
keit tritt nicht ein.
Kümmell-Hamburg: Ueber die intravenöse A ;r-
narkose.
Wegen des geringen Aetherverbrauch.es und der prompten
Ausscheidung des Narkotikums durch die Atmungsluft ist das
Verfahren geeignet bei elenden und schwachen Patienten, Kar-
zinomatösen usw., um so mehr, als die üblichen Beschwerden
z. B. Erbrechen u. dgl. nicht auftreten. Die Narkose wird in
zehn Minuten oder noch weniger erreicht. Man verbraucht etwa
Vi 1 einer 5°/oigen Aetherlösung. Thrombosen traten am Ort der
Infektion besonders anfänglich auf, sind aber unbedenklich und
konnten durch Verbesserung der Technik (Nachfließenlassen von
Kochsalzlösung) immer mehr vermieden werden.
v. B run n- Tübingen : Ueber Injektionsnarkose mit
Pantopon - Skopolamin.
Sehr günstige Erfahrungen an mehr als 500 Patienten. Der
Puls wird beschleunigt, Atmung verlangsamt, der Blutdruck bleibt
unbeeinflußt. Mit 4 cg Pantopon und 4 dmg Skopolamin konnte
in Vs der Fälle ein© ausreichend© Narkose erreicht we. den.
In einem weiteren Fünftel genügte die Verkleinerung des Kreis¬
laufs (von der niemals etwas Uebles zu verzeichnen war), um
dies Ziel zu erreichen. Besonders bei Strumen empfiehlt sich
dies Verfahren.
In den übrigen Fällen war eine kleine Dosis Aether er¬
forderlich. Das Chloroform ist wegen seiner Wirkung auf das
unter Skopolamineinfluß stehende Herz kontraindiziert.
Brüst lein -Biel: Ueber die Sk op ol am i n- Pa n t op 0 n-
nark ose.
Sehr günstige Resultate an 200 Fällen. Redner rühmt dem
Pantopon eine Reihe von Vorzügen gegenüber dem Morphium
nach. Nach Lösung der Stauung, der Verkleinerung des Kreis¬
laufes erlebte er eine bedrohliche Lähmung des Atmungszentrums.
V. E. Mertens-Zarbze (Oesterr.-Schles.) : Isopral-Chlo-
roformnarkose.
Der Kranke wird am Vorabend der Operation gewogen und
erhält ein Reinigungsklystier mit Wasser, ein gleiches am nächsten
Morgen. Dann wird durch ein 20 cm tief eingeführtes Darmruhr
folgende Lösung eingespritzt: sovielmal 0-1 g Isopral (Färber
fabriken vorm. Friedrich Bayer & Co.-Elberfeld), als der Patieu:
Kilo wiegt, werden in soviel Aether gelöst, als Gramm Isopral
genommen wurden. Diese Lösung wird mit 50%igen Alkohol auf
50 cm3 aufgefüllt, bei Kindern bis 25 cm3. (Patient wiegt 55 kg,
also 5-5 g Isopral + 5-5 cm3 Aether ad 50 cm3 Alkohol.) Eine
Stunde nach der Injektion beginnt die Narkose mit Chloroform.
Die Vorteile [dieses Vorgehens, bei dem die Berechnung der
Quantität des .Narkotikums nach dem Körpergewicht des Kranken
das wesentlich Neue ist, sind: 1. Die Patienten schlafen nach
der Injektion ein und bemerken nichts von dem folgenden.
2. Es kommt auch bei den heftigsten Potatoren nicht zu Ex¬
zitation. 3. Der Chloroformver'brauch ist sehr gering. 4. Die
Patienten erbrechen nicht und 5. schlafen gewöhnlich den Tag
durch ; sie brauchen so gut wie gar nicht beaufsichtigt zu werden.
Es bleiben ihnen die Unannehmlichkeiten des ersten post-
operativen Tages erspart. Die Methode hat sich auch bei Ab¬
dominaloperationen bewährt, es tritt kein Meteorismus auf. Einmal
kam es zu fünf Tage dauernder Proktitis bei einem Patienten,
der die Lösung ohne vorherige Reinigung bekommen mußte.
Sonst hat sich d,ie Lösung als ungefährlich erwiesen. Die Dosis
wird noch erheblich zu steigern sein. Zu erstreben ist bei dem
weiteren Ausbau der Methode die völlige Beseitigung der In¬
halation durch Einführung einer neuem Substanz.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag: den 30. Juni 1911, um 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Regierungsrates Prof. Dr. A. Kreidl
statttindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Priv.-Doz. Dr. Rauzi : Demonstration.
2. Dr. Hans Bab (als Gast): Die Verwendung von Hypophysen¬
extrakt in der Gynäkologie.
Bergmeister, Paltauf.
Um die rechtzeitige Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer noch am Sitzungsabend zu übergeben.
Verantwortlicher Redakteur : Karl Kubasta. Verlag von Wilhelm Bramnilller in Wien.
Druck von Bruno Bartelt, Wien XVIII., Theresion zasso 8.
UNIVERSITY OF ILLINOIS-URBANA
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