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Full text of "Wiener klinische Wochenschrift"

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in  2019  with  funding  from 
University  of  Illinois  Urbana-Champaign 


https://archive.org/details/wienerklinischew241unse 


WIENER 


KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT 


ORGAN  OER  K.  K.  GESELLSCHAFT  DER  ÄRZTE  IN  WIEN 


BEGRÜNDET  VON  WEIL.  HOFRAT  PROF.  H.  v.  BAMBERGER 


HERAUSGEGEBEN  VON 


ANTON  FREIH.  v.  EISELSBERG,  ALEXANDER  FRAENKEL,  ERNST  FUCHS,  JULIUS  HOCHENEGG, 
ERNST  LUDWIG,  EDMUND  v.  NEUSSER,  RICHARD  PALTAUF,  CLEMENS  FREIH.  v.  PIRQUET,  GUSTAV  RIEHL 

UND  ANTON  WEICHSELBAUM 


REDIGIERT  VON  PROF.  Dr.  ALEXANDER  FRAENKEL 


XXIV.  JAHRGANG. 


WIEN  UNI»  LEIPZIG 

WILHELM  BRAUMÜLLER,  K.  U.  K.  HOF-  UND  UNIVERSITÄTS-BUCHHÄNDLER 

1911 T 


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Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

G.  Braun,  0.  Gniari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner.  S.  Exner,  E.  Finger.  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko.  H.  Meyer,  J,  Moeller, 
K.  v.  Noorden.  H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh,  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt,  J.  v.  Wagner,  E.  Wertheim. 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Theodor  Escherich,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig 

Edmund  v.  Neusser,  Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/i,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618 


XXIV.  Jahrg. 


Wien,  5.  Januar  1911 


Nr.  1 


INHALT: 


I.  Originalartikel:  1.  Aus  dein  institute  für  gerichtliche  Medizin 
der  k.  k.  Universität  Graz.  (Vorstand:  Prof.  Dr.  Julius  Kratter.) 
Zur  Kenntnis  der  photodynamischen  Wirkungen  fluoreszierender 
Stoffe.  Vorläufige  Mitteilung  von  Prof. I)r.  Hermann  P  f  ei  f  f  er.  S.  1. 

2'.  Erfahrungen  über  Tuberkulinbehandlung.  Von  Priv.-Doz.  Doktor 
Josef  Sorgo,  Chefarzt  und  Dr.  Erhard  Sueß,  gew.  Oberarzt 
der  Heilanstalt  Alland.  S.  3. 

3.  Tuberkulindiag'nostikund  ambulatorische  Tuberkulinbehandlung. 
Von  Dr.  M.  Laub.  S.  10. 

4.  Aus  dem  Ambulatorium  und  Krankenkrippe  in  Prag  (Vorstand: 
Prof.  Dr.  Raudnitz.)  Die  schulhygienische  Bedeutung  der 
lordotischen  Albuminurie.  Von  Ludwig  Diesen.  S.  12. 

5.  Aus  der  Abteilung  für  Hautkrankheiten  und  Syphilis  der 
Allgemeinen  Poliklinik  in  Wien.  Zur  Kenntnis  des  Herpes 
zoster  generalisatus.  Von  Priv.  Doz.  Dr.  G.  Nobl.  S.  14. 

6.  Aus  dem  bakteriologischen  Laboratorium  des  Infektionsspitals 
(Civico  ospedale  di  S.  M.  Maddalena)  in  Triest.  (Direktor: 
Prim.  Dr.  A  Marcovich.)  Zur  Verwendung  der  Blutplatten¬ 
methode  und  der  Komplementbindungsreaktion  in  der  Diagnose 
sporadischer  Cholerafälle.  Von  Dr.  M.  Gioscffi,  Assistenz¬ 
arzt  S.  16. 

7.  Diät  und  Küche  in  Chemie,  Physik  und  Physiologie.  Von  Doktor 
Wilhelm  Sternberg,  Berlin.  S.  18. 


8.  Bemerkungen  zur  Ehrliclidebatte.  Von  Prof.  Dr.  G.  Rieh],  S.  20. 

II.  Oeffentliclie  Gesundheilspflege :  Eine  sozialmedizinische  Kon¬ 
greßreise.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Ludwig  Teleky.  S.  21. 

III.  Referate:  Arbeiten  aus  dem  Institute  zur  Erforschung  der 
Infektionskrankheiten  in  Bern  und  den  wissenschaftlichen 
Laboratorien  des  Schweizer  Serum-  und  Impfinstituts.  Von 
Dr.  W.  Ko  Ile.  Studien  und  Fragen  zur  Entzündungslehre. 
Von  Dr.  Herman  Sch  rid  de.  Nouveau  traite  de  medecine 
et  de  tlierapeutique.  Von  A.  Gilbert  und  L.  Thoinol. 
Cancer.  Von  P.  Menetrier.  Deszendenz  und  Pathologie.  Von 
D.  v.  Hanse  mann.  Archivos  do  real  instituto  bacteriologico 
Camara  Pestana.  Die  ortsfremden  Epithelgewebe  des  Menschen. 
Von  Dr.  Hermann  Schridde.  Klinik  und  Biologie  der  Thymus¬ 
drüse  mit  besonderer  Berücksichtigung  ihrer  Beziehungen  zu 
Knochen-  und  Nervensystem.  Von  Dr.  Heinrich  Klose  und 
Prof.  Dr.  Heinrich  Vogt.  Ref. :  Jo  an  no  vies. 

IV.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

V.  Vermischte  Nachrichten. 

VI.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßbericlite. 


Aus  dem  Institute  für  geiichtliche  Medizin  der 
k.  k.  Universität  Gi  az. 

^  (Vorstand:  Prof.  Dr.  Julius  Kratter.) 

rl  Zur  Kenntnis  der  photodynamischen  Wirkungen 

fluoreszierender  Stoffe.  | 

Vorläufige  Mitteilung  von  Prof.  Dr.  Hermann  Pfeiffer. 

I 

In  Nummer  42  dieser  Zeitschrift,  Jahrgang  1910,  habe 
ich  darauf  hingewiesen,  wie,  während  des  durch  die  intra¬ 
peritoneale  Rednjektion  des  Eiweiß  der  Vorbehandlung 
ausgelösten,  anaphylaktischen  Shocks,  der  Harn  der  er¬ 
krankten  Tiere  eine  enorme  Zunahme  seiner  normalen  und 
immer  sofort,  nach  der  Gewinnung  auszuwertenden  Toxi¬ 
zität  erfährt.  Ich  konnte  zeigen,  daß  die  Einbringung  der¬ 
artigen  Urins  in- die  Bauchhöhle  von  unvorbehandelten  Meer¬ 
schweinchen  ein  Vergiftiuigsbild  erzeugt,  wie  es  dem  des  j 
protrahierten  anaphylaktischen  Shocks  entspricht  und  wie 
^  er  die  Subkulis  derselben  Spezies,  nicht  aber  die  der  weißen 
Maus  unter  Bildung  von  Nekrosen  zu  zerstören  vermag, 
die  sich  von  den  Arthusschen  Lokalreaklionen  in  ihrer 
äußeren  Erscheinung  und  in  ihrem  Verlauf  nicht  unter¬ 
scheiden  lassen,  während  die  Blutkörperchen  (hei  neutraler 
oder  schwach  alkalischer  Reaktion)  in  keiner  Weise  ge¬ 
schädigt  werden.  Ich  konnte  betonen,  daß  dieser  Körper 
in  seinem  biologischen  und  chemisch -physikalischen  Ver¬ 


halten  sich  deckt  mil  jenem,  welcher  als  Ausdruck  eines, 
durch  die  Hitzewirkung  bedingten  gesteigerten  und  par¬ 
enteralen  Eiweißzerfalles  im  Harne,  agonal  auch  oft  im 
Serum  verbrühter  Tiere  und  Menschen  erscheint  und 
welcher  die  als  „primären  Verbrühungstod“  bezeichnete 
Autotoxikose  bedingt. 

Es  zeigte  sich  schon  damals  und  hat  sich  weiterhin 
in  zahlreichen  parallel  gerichteten  Versuchen  bestätigt,  daß 
1.  dieses  Ansteigen  der  Toxizität  hei  fehlendem  anaphy¬ 
laktischem  Shock,  zum  Beispiel  hei  Reinjektion  eines  der 
Tiere  mit  andersartigem,  an  sich  unschädlichem,  also  inakti¬ 
viertem  Antigen,  nicht  beobachtet  werden  könnt«*,  ebenso 
wie  wenn  man  ein  unvor behandeltes  Tier  mit  an  sich 
unschädlichen  Dosen  einer,  durch  Erhitzen  ihres  giftigen 
Eigenvermögens  beraubten  'Serumart  spritzt.  2.  Daß  die 
Harngiftigkeit  im  anaphylaktischen  Shock  hei  sonst  gleichen 
Verhältnissen  (insbesonders  gleich  schwere  Tiere  voraus¬ 
gesetzt!)  um  so  größer  wird,  je  schwerer  das  V  ergiftungs- 
bild  des  harnspendenden  Tieres  ist.  3.  Daß  sie  bei  Rein- 
jektion  des  Eiweißes  der  Vorbehandlung  in  ein  vollständig 
antianaphylaktisches  Tier  fehlt,  bei  partieller  Antianaphy 
laxie  nach  Maßgabe  dieser  geringer  oder  stärker  ausge¬ 
sprochen  ist.  Mittlerweile  gelang  der  Nachweis,  daß  die¬ 
selben  Verhältnisse  obwalten,  wenn  die  Antianaphylaxie 
nicht  durch  eine  Reinjeklion  des  Eiweiß  der  Vorbehand¬ 
lung,  sondern  durch  eine  vorhergehende  Peptoninjeklion 
erzeugt  wurde. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  1 


Aehnliche  Verhältnisse  wurden  nach  der  Einverlei¬ 
bung  von  normalen,  artfremden  Hämolysinen  in  unvorbehan- 
delte  Tiere  beobachtet  und  auch  bei  ihnen  das  Auftreten 
eines,  ein  identisches  Vergiftungsbild  auslösenden  Ctiftkör- 
pers  im  Harne  wahrgenommen,  während  er  dann  im  Harne 
fehlte,  wenn  durch  Zerstörung  des  Komplementes 
(H.  Pfeiffer)  das  toxische  Eigenvermögen  derartiger  Seren 
zerstört  war.  Diese  Erfahrung  wurde  mittlerweile  insoferne 
noch  erweitert,  als  auch  bei  der,  von  H.  Pfeiffer  und 
S.  Mita  kürzlich  beschriebenen  Unterempfindlichkeit  von 
mit  .Normalseren  vergifteten  Meerschweinchen  gegen  die 
neuerliche  Einbringung  eines  präformierten  Hämolysins  das 
Auftreten  des  Giftes  im  Harne  fehlte.  Dabei  war  das  im 
Harne  von  mit  Hämolysin  vergifteten  Tieren  auftretende 
Gift  absolut,  von  derselben  biologischen  Wirkung  wie  jenes 
im  Harne  anaphylaktischer  Tiere,  verbrühter  Tiere,  sowie 
jenes  giftigen  Prinzipes,  welches  ich  schon  1904  und  1905 
hei  der  Verdauung  von  Eiweiß  sowie  hei  der  Extraktion 
normaler  tierischer  Organe  (nicht  aber  des  Blutes  und  Se¬ 
rums)  mit  Alkohol  erhalten  konnte,  ein  Gift,  welches  mir 
heute  wesensgleich  zu  sein  scheint  mit  dem,  später  von 
Abelous  und  Bar  di  er  beschriebenen  „Urohypotensin“ 
und  dem  „Vasodilatin“  Popielskis.  Es  läßt  sich  schon 
durch  seine  relative  Thermo s tabilitä't  (im  Harn!),  sein  che¬ 
misch-physikalisches  Verhalten,  sowie  durch  seine  heftigen 
nekrotisierenden  Eigenschaften  hei  fehlendem  hämolyti¬ 
schen  Vermögen  von  den  einverleibten  Hämolysinen  unter¬ 
scheiden. 

Weiterhin  konnte  mittlerweile  festgestellt  werden,  daß 
das,  im  Gegensatz  zu  dem  Serumeiweiß  im  Pepton  durch 
den  Verdauungsprozeß  präformierte,  aus  ihm  durch  Alko¬ 
holextraktion  gewinnbare,  also  auch  beim  Eiweißzerfall  in 
vitro  gebildete,  dem  anaphylaktischen  Gifte  wesensgleiche 
toxische  Prinzip  (das  Vasodilatin  Popielskis  und  seiner 
Schule)  gleichfalls  ein  harnfähiger  Körper  sei.  Es  löst  das 
Bild  des  anaphylaktischen  Shocks  aus  und  erzeugt,  wie 
ich  zuerst  festgestellt,  habe,  subkutan  beigebracht,  bei  Meer¬ 
schweinchen  Nekrosen,  ohne  hämolytisch  zu  wirken.  Der 
Harn  derartiger,  mit  präformiertem  Gifte,  also  mit  Pepton 
gespritzter  Tiere,  erwirbt,  wie  jener  von  anaphylaktischen, 
hämolysinvergifteten  und  verbrühten,  dieselben  toxischen 
Fähigkeiten,  das  heißt,  er  löst  1.  bei  unvorbehandelten 
Tieren  das  Bild  des  anaphylaktischen  Shocks  aus,  erzeugt 
in  großen  Dosen  Temperaturstürze,  in  kleinen  Fiebersteige¬ 
rung  (E.  Friedberger),  wirkt  2.  auf  die  Subkutis  der 
Meerschweinchen  nekrotisierend,  läßt  3.  die  Erythrozyten 
intakt  und  zeigt  dasselbe  chemisch -physikalische  Verhalten 
wie  der  Ham  von  Tieren,  die  einen  akuten  Eiweißzerfall 
durchmachen.  Daß  es  sich  hier  lediglich  um  die  Ausschei¬ 
dung  des  im  Pepton  präformierten  und  mit  ihm  einver¬ 
leibten  Giftkörpers  (meines  Verbrühungsgiftes,  welches  ich 
auch  bei  der  Verdauung  von  Eiweiß  erhalten  konnte,  des 
Vasodilatins  Popielskis)  handelt,  geht  aus  dem  identi¬ 
schen  \  erhalten  alkoholischer,  im  Vakuum  eingedickter  Aus¬ 
züge  der  Präparate  von  Witte-Pepton  hervor,  während  die 
Rückstände  aktiver  oder  inaktiver  Tierseren  selbst  nach 
unvollständiger  Ausfällung  mit  Alkohol  und  bei  schonender 
Einengung  im  Vakuum  stets  ein  negatives  Resultat  lieferten. 

Diese  Tatsachen,  sowie  der  mit  S.  Mita  geführte, 
mittlerweile  von.  E.  Friedberger,  bestätigte  Nachweis  des 
Auftretens  eines  proteolytisch  wirkenden  Körpers  im  Serum 
anaphylaktischer  Meerschweinchen,  zwangen  mich  damals, 
für  das  Krankheitsbild  des  anaphylaktischen  Shocks,  sowie 
für  die  Wirkung  der  normalen  Hämolysine  ein  und  dasselbe, 
durch  Eiweißabbau  im  Tierorganismus  sekundär  entstandene, 
im  Harne  aber  ausgeschiedene  toxische  Prinzip  verantwort¬ 
lich  zu  machen,  und  beide  Erkrankungszustände  auch  nach 
diesem  neuen  Kriterium  als  Eiweißzerfallstoxikosen  anzu¬ 
sprechen.  Dasselbe  gilt  für  Peptonvergiftung  und  Ver¬ 
brühungstod. 

Es  wären  demnach  alle  diese  Vergiftungsbilder  hin¬ 
sichtlich  des  dabei  in  Aktion  tretenden  Giftes  wesensgleich 
und  nur  hinsichtlich  seiner  Entstehung  verschieden  und 


zwar  die  Peptonvergiftung  als  rein  ektogene  Toxikose  (Ein¬ 
verleibung  präformierten,  in  vitro  gebildeten  Giftes),  die 
Hämolysinvergiftung  und  der  anaphylaktische  Shock  teils 
als  ektogene,  teils  als  endogene  Toxikosen  (im  ersten  Falle 
Einverleibung  des  wirksamen  Hämolysines,  welches  an  sich 
frei  von  präformiertem  Gift,  erst  bei  seiner  Einwirkung  auf 
das  Eiweiß  des  Tieres  dieses  abspaltet,  im  zweiten  Falle 
Einverleibung  des  unwirksamen  artfremden  Eiweiß  der 
Vorbehandlung,  Abbau  und  Giftentstehung  durch  das  im¬ 
munisatorisch  gebildete  und  im  Tiere  disponible  Antieiweiß), 
der  Verbrühungstod  als  rein  endogene  Toxikose  (Entstehung 
desselben  Giftes  durch  den  resorptiven  Abbau  des  durch 
die  Hitze  zerstörten  Eiweiß)  aufzufassen. 

Es  schien  weiterhin  wünschenswert,  zu  prüfen,  ob 
sich  denn  in  anderen  Fällen,  wo  Eiweißzerfall  vermutet 
oder  vorausgesetzt  werden  kann,  1.  die  in  die  Erschei¬ 
nung  tretenden  Krankheitsbilder  mit  jenen,  so  außerordent¬ 
lich  charakteristischen,  eines  durch  parenteralen  Eiwei߬ 
zerfall  geschädigten  Tieres  decken,  und  2.  zu  sehen,  ob 
auch  dort  als  Indikator  für  den  Eiweißzerfall  das  massen¬ 
hafte  Erscheinen  des  in  Rede  stehenden  Giftkörpers  im 
Harne  festgestellt,  werden  könne,  wie  bei  der  Peptonver¬ 
giftung,  bei  der  Verbrühung  und  beim  anaphylaktischen 
Shock,  sowie  hei  der  Hämolysinvergiftung. 

Dabei  rekurrierte  ich  auf  die  ältere,  in  Konsequenz 
der  Entdeckung  von  Tapp  einer  und  Jo  dl  bau  er  über 
die  photodynamische  Wirkung  fluoreszierender  Stoffe,  von 
mir  gleichzeitig  mit  Sacharoff  und  Sachs  gemachte, 
später  von  W.  Hausmann  bestätigte  und  erweiterte  Er¬ 
fahrung,  idaß  Erythrozyten  in  Lösungen  fluoreszierender 
Stoffe  (Eosin,  Hämatoporphyrin,  Chlorophyll,  tierische  Galle), 
suspendiert  unter  dem  Einfluß  des  Lichtes  sich  rasch  auf- 
lösen,  im  Dunklen  hingegen  ungeschädigt  erhalten  bleiben. 
Eine  Mitteilung  W.  Hausmanns  hatte  weiterhin  gezeigt, 
daß  weiße  Mäuse,  mit  fluoreszierenden  Stoffen  (Hämato¬ 
porphyrin)  gespritzt,  im  Lichte  akut  unter  schweren  tetani- 
schen  ^Erscheinungen  zugrunde  gehen,  während  sie  im 
Dunkeln  ungeschädigt  am  Leben  bleiben,  in  diffusem  Tages¬ 
lichte  hingegen  chronische  Erkrankungen  der  belichteten 
Organe  (Nekrosen,  Haarausfall)  erkennen  lassen. 

Es  waren  demnach  auch  bei  der  photodynamischen 
Wirkung  fluoreszierender  Stoffe  in  vitro  Zellzerfall,  in  vivo 
schwere  Schädigungen  gefunden  worden,  die  möglicher¬ 
weise  auf  einer  Intoxikation  mit  Zerfallsprodukten  der  im 
Lichte  zugrunde  gehenden  Zellen  und  Eiweißkörper  beruhen 
konnten.  War  dies  der  Fall,  so  mußte  in  Konsequenz  der 
oben  auszugsweise  mitgeteilten  Resultate  gefordert  werden, 
daß  1.  die  mit  fluoreszierenden  Stoffen  sensibilisierten  und 
belichteten  Tiere  a)  dieselben  Krankheitserscheinungen, 
b)  dieselben  pathologisch -anatomischen  Befunde  erkennen 
lassen  wie  Verbrühte,  oder  mit  dem  Harn  verbrühter  Tiere, 
durch  Hämolysine  Vergiftete,  bzw.  anaphylaktisch  Erkrankte 
und  2.  auch  in  ihrem  Harn  als  Kriterium  des  gesteigerten 
Eiweißzerfalles  das  massenhafte  Auftreten  desselben  toxi¬ 
schen  Prinzipes  nachweisbar  werden  wie  dort. 

Diese  Versuche,  über  die  hier  nur  auszugsweise  be¬ 
richtet  werden  kann,  wurden  bisher  an  weißen  Mäusen 
und  Meerschweinchen  im  wassergekühlten  Lichte  einer  30 
bis  40  Ampere -Bogenlampe  vorgenommen  und  als  Sensi¬ 
bilisatoren  teils  Eosin  in  1-0  bis  0-5%,  teils  reines  Hämato¬ 
porphyrin,  welches  ich  der  besonderen  Liebenswürdigkeit 
W.  Hausmanns  verdanke,  in  10  und  0-25°/oo>  schwach  al¬ 
kalischer  Kochsalzlösung  subkutan  verwendet.  Dabei  ergab 
es  sich  zunächst  in  voller  Bestätigung  der  Befunde  W.  Haus¬ 
manns,  daß  die  Tiere  im  Lichte  bei  entsprechender  Do¬ 
sierung  von  Sensibilisans  und  Licht  im  Gegensatz  zu  nicht 
gespritzten  normalen  Tieren  und  gespritzten,  im  Dunkeln 
gehaltenen  Kontrollen,  akut  eingehen  und  bei  nicht  allzu 
rapidem  Verlaufe  in  jenen  so  außerordentlich  charakte¬ 
ristischen,  mit  nichts  anderem  zu  verwechselnden  Tetanus 
der  Mäuseurämie  geraten,  wie  wenn  sie  mit  dem  hoch- 
I  toxischen  Harne  verbrühter  oder  anaphylaktischer  Tiere  ge- 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


spritzt  worden  wären.  Es  zeigte  sich  zweitens  im  Mittel 
punkte  des  ganzen  Vergiftungsbildes  ein  Temperaturabfall, 
der  je  nach  der  Dosis  der  schädigenden  Noxe  (sensibili¬ 
sierende  .Stoffe  und  Länge  und  Stärke  der  Belichtung) 
stärker  oder  schwächer,  bei  tödlichem  Verlauf  12  und  mehr 
Grade  unter  der  Aus  gan  g  s  temp  er  at  u  r  betragen  kann. 

Daß  es  sich  dabei  nicht  einfach  um  Kollapstempera¬ 
turen  handelt,  sondern  diese  schwere  Störung  im  Wärme¬ 
haushalte  das.  erste  und  feinste  Symptom  der  Schädigung 
des  belichteten  und  sensibilisierten  Tieres  ist,  geht  aus 
der  Tatsache  hervor,  daß  bei  subletalem  Verlaufe  je  nach 
der  Größe  der  Schädigung  verschieden  groß  auch  die  Hypo¬ 
thermie  eintritt,  so  daß  wir  in  ihr,  analog  wie  im  ana¬ 
phylaktischen  Shock,  direkt  einen  ziffernmäßig  verwertbaren 
Ausdruck  für  die  Schwere  des  Krankheitsbildes  haben. 
Unter  der  Einwirkung  diffusen  Tageslichtes  oder  aber  dann, 
wenn  im  Bogenlichte  belichtete  Tiere  die  dadurch  ausge- 
löste  akute  Erkrankung  überstanden  haben,  entstehen  nach 
Tagen,  wie  dies  W.  Hausmann  für  seine  Hämatoporphyrin- 
mäuse,  Lochte  und  Rauhit schek  für  mit  Mais  gefütterte 
und  belichtete  Tiere  zeigten,  an  den  belichteten  Stellen,  an 
den  Ohren,  am  Rücken,  am  Schwänze,  tiefgreifende  Ne¬ 
krosen  oder  ausgedehnter  Haarausfall.  Verwendet  man  an 
Stelle  der  Mäuse  Meerschweinchen  zu  diesem  Versuche, 
so  kommt  es  auch  bei  ihnen,  bei  entsprechend  intensiver 
Schädigung  (fluoreszierende  Stoffe  und  Licht)  zu  einer  im 
Mittelpunkte  des  Krankheitsbildes  stehenden  und  seine 
Schwere  anzeigenden,  hochgradigen  Hypothermie  (bis  28, 
27°  C  ante  mortem)  zu  Pruritus  cutaneus  und  Krämpfen.  Die 
Tiere  zeigen  die  so  charakteristischen  Paresen  der  Hinter¬ 
beine,  oft  blutige  Diarrhöen  und  Harnabgang,  gesträubtes 
Fell,  kurz  ein  Krankheitsbild,  wie  es  sich  von  dem  pro¬ 
trahiert  verlaufenden  anaphylaktischen  Shock  und  der  Hä¬ 
molysinvergiftung  nicht  unterscheiden  läßt.  Ueberstehen  sie 
die  Erkrankung,  so  entwickelt  sich  später  am  Orte  der  Licht¬ 
wirkung  eine  scharf  begrenzte  Nekrose,  die  in  ihrem  Aus¬ 
sehen  und  Verlauf  nicht  von  jenen  zu  trennen  ist,  wie  sie 
bei  der  anaphylaktischen  Lokalreaktion,  bei  der  subkutanen 
Einbringung  von  Hämolysinen,  Pepton  oder  toxischem  Harn 
entstehen.  AVählt  man  die  Noxe  entsprechend  groß,  so 
gehen  sie  ganz  akut  im  Lichte  unter  heftigen  Krämpfen  und 
Volumen  pulmonum  auctum  zugrunde.  Bei  ihnen,  sowie 
seltener  auch  bei  akut  zugrunde  gegangenen  weißen  Mäusen 
finden  sich  im  Magen  und  Darme  die  vom  anaphylaktischen 
Shock  und  von  der  Verbrühung  her  so  wohlbekannten  hä¬ 
morrhagischen  Erosionen,  bei  protrahiertem  Verlaufe  manch¬ 
mal  Degeneration  der  inneren  Organe.  Untersucht  man  den 
Harn  solcher  Tiere  am  Meerschweinchen,  so  besitzt  er  im 
Gegensatz  zu  Tieren,  welche  keinen  gesteigerten  parente¬ 
ralen  Eiweißzerfall  durchmachten,  eine  enorme  und  gleich¬ 
sinnige  allgemeine  und  lokale  Toxizität,  wie  jener  des  ver¬ 
brühten,  anaphylaktischen  oder  hämolysinvergifteten  Tieres 
und  wie  die,  als  Witte -Pepton  bezeiclmeten  Produkte  der 
fermentativen  Eiweißverdauung  bei  fehlendem  hämolyti¬ 
schen  Vermögen. 

Es  gestattet  demnach  schon  1.  das  Kriterium  der  oben 
nur  ganz  kurz  skizzierten  charakteristischen  und  identi- 
ßchietn  Krankheitserscheinungen  und  2.  jenes  bisher  hei 
dem  auf  die  verschiedensten  Arten 'herbeigeführten  parente¬ 
ralen  Eiweißzerfall  zu  beobachtende  und  dafür  spezifische 
Ansteigen  der  Harntoxizität,  zum  mindesten  die  akuten 
Krankheitserscheinungen,  wahrscheinlicherweise  aber  auch 
die  chronischen  bei  der  Einwirkung  von  Licht  auf,  mit 
fluoreszierenden  Stoffen  (Eosin,  liämatoporphyrin)  vorbehan¬ 
delte  Tiere  (Maus  und  Meerschweinchen)  als  wesensgleich 
mit  dem  Verbrühungstode  zu  bezeichnen  und  auch  sie  als 
Toxikosen  mit  einem  wirkungsgleichen  Giftprodukte  des  Ei¬ 
weißzerfalles  anzusehen,  welches  im  Pepton  Witte  unifor¬ 
miert  enthalten,  bei  der  Hämolysinvergiftung  und  bei  dem 
anaphylaktischen  Shock  im  Tiere  sich  bildend,  auch  diese 
Krankheitserscheinungen  bedingt.1) 


3 


Endlich  sei  noch  kurz  festgestellt,  daß  nach  ausge¬ 
dehnten,  kurz  dauernden  Säureverätzungen  der  Haut  von 
Meerschweinchen  in  tiefer  Narkose,  also  nach  einem,  durch 
grob  chemische  Einwirkungen  auf  die  Haut  bedingten  Zerfall 
von  (Eiweiß  die  Meerschweinchen  nicht  nur  unter  Sym¬ 
ptomen  erkranken  und  zugrundegehen,  die  den  oben  ge¬ 
schilderten  wesensgleich  sind,  sondern  sich  auch  in  ihrem 
Harne  das,  für  gesteigerten  Eiweißzerfall  charakteristische, 
toxische  Prinzip  auffinden  läßt.  Es  wird  nun  des  weiteren 
festzustellen  sein,  oh  und  welche  Rolle  diese  sekundären 
Toxikosen  des  Eiweißzerfalles  bei  der  Wirkung  von  Eiweiß 
zerstörenden  Giften  überhaupt,  von  deren  speziellem  toxi¬ 
schen  Eigenvermögen  abgesehen,  spielen. 

Eine  ausführliche  Wiedergabe  der  oben  nur  in  ihren 
Resultaten  wiedergegebenen  Versuche,  sowie  eine  Würdi¬ 
gung  der  über  die  einschlägigen  Themen  vorliegenden  Lite¬ 
ratur,  insbesonders  die  Arbeiten  von  W.  Weichhardt  und 
L.  Popielski,  soll  im  Frühjahre  in  der  Zeitschrift  für 
Irümunitätsforsöhung  erfolgen. 

Graz,  22.  Dezember  1910. 


Erfahrungen  über  Tuberkulinbehandlung. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Josef  Sorgo,  Chefarzt  und  Dr.  Erhard  Stieß, 
gew.  Oberarzt  der  Heilanstalt  Alland. 

Die  Zahl  der  Aerzte,  welche  Tuberkuliff  bei  der  Be¬ 
handlung  der  Lungentuberkulose  verwenden,  wird  von  Jahr 
zu  Jahr  größer  und  fast  unübersehbar  wird  die  Literatur, 
welche  der  Streit  über  die  Wertschätzung  dieses  Mittels 
erzeugt  hat.  Die  Stimmen  jener,  welche  den  Heilwert  des 
Tuberkulins  verteidigen  und  ihm  eine  größere  Zukunft  in 
der  Behandlung  der  Lungentuberkulose  prophezeien,  sind 
gegenwärtig  zahlreicher  und  vernehmlicher  als  die  der 
wenigen  Skeptiker,  welche  nicht  die  oft  gepriesenen  Erfolge 
der  Tuberkulinbehandlung,  sondern  nur  deren  Gefahren 
sehen  können. 

Inwieweit  ein  erzielter  Erfolg  auf  eine  Tuberkulin¬ 
behandlung  zurückzuführen  ist  oder  durch  andere  Faktoren 
bewirkt  wurde,  und  ob  im  Verlaufe  einer  längeren  Tuber¬ 
kulinbehandlung  die  Krankheit  auf  dem  Wege  der  Heilung 
überhaupt  fortgeschritten  ist,  ist  bei  dem  wechselvollen 
und  langwierigen  Verlaute  dieser  Krankheit  in  jedem  ein¬ 
zelnen  Falle  oft  gar  nicht,  oft  nur  mutmaßlich  und  nur  in  den 
seltensten  Fällen  mit  voller  Sicherheit  zu  entscheiden.  Da¬ 
her  ist  es  auch  dem  erfahrenen  Praktiker,  der  über  ein 
großes  Material  verfügt,  oft  erst  nach  jahrelanger  Erfah¬ 
rung  möglich,  aus  eigenem  sich  ein  sicheres  Urteil  über 
den  Heilwert  des  Tuberkulins  zu  bilden.  Es  darf  unter 
diesen  schwierigen  Verhältnissen  nicht  wundernehmen, 
wenn  die  Erkenntnis  über  den  wirklichen  Wert  dieser  Be¬ 
handlungsmethode  sich  nur  allmählich  Bahn  bricht  und 
bis  heute  noch  sich  divergierende  Anschauungen  gegen¬ 
überstehen. 

In  einer  übergroßen  Zahl  von  Fällan,  welche  sicher 
die  Mehrzahl  der  in  Heilstätten  aufgenommenen  Kranken 
ausmachen,  und  welche  bei  äußerst  chronischem  und  gut¬ 
artigem  Verlaufe  der  Krankheit  auch  keine  schweren  Stö¬ 
rungen  des  Allgemeinbefindens  erkennen  lassen,  ist  es  oft 
ganz  unmöglich,  den  Einfluß  der  Tuberkulinbehandlung 
überhaupt  oder  den  Grad  dieses  Einflusses  nachzuweisen. 
Solche  Fälle  zeigen  oft  nach  monatelanger  Behandlung  für 
die  physikalische  Untersuchung  einen  oft  gewiß  nur  schein¬ 
baren  Status  quo  ante,  und  auch,  wo  deutliche  Besserung 
klinisch  nachweisbar  ist,  ist  der  Einfluß-  anderer  konkur¬ 
rierender  Momente,  namentlich  in  Heilstätten  nicht  immer 
mit.  Sicherheit  abzuschätzen.  Nimmt  man  hiezu  das  ganz 
verschieden  geartete  Krankenmaterial,  welches  verschie¬ 
denen  Beobachtern  zur  Verfügung  stand  oder  zur  Behand¬ 
lung  ausgewählt  wurde,  die  ganz  verschiedenartigen  An¬ 
forderungen,  welche  die  einzelnen  Autoren  an  eine  Be- 


')  Wie  ich  einer  gütigen  brieflichen  Mitteilung  W.  Hausmanns 
entnehme,  neigt  auch  er,  der  Analogie  der  Krankheitsbilder  wegen,  zur 


Ansicht,  daß  der  Tod  sensibilisierter  Tiere  im  Lichte  wesensgleich  sei 
mit  dem  Verbrühungstode  und  einer  Toxikose  entspreche. 


4 


WIENER  KLINISCHE  WÖCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


handlungsmethode  stellen,  welche  als  Heilmethode  soll 
gelten  dürfen,  die  oft  kritiklose  Ueberschätzung,  welche  nicht 
verfehlen  kann,  wieder  eine  entsprechende  Opposition  her- 
vorzornfen,  unsere  Unfähigkeit,  die  Behandlung  indi\  idua- 
lisierend  durchzuführen,  so  daß  wir  fast  immer  gezwungen 
sind,  nach  einem  gegebenen  Schema  vorzugehen,  so  ist  die 
Uneinigkeit  in  den  Anschauungen  über  den  Wert  der  luber- 
kulinbehandlung  wohl  verständlich. 

WTie  schwierig  es  oft  im  einzelnen  Falle  sein  kann, 
ein .  Urteil  zu  gewinnen,  welche  Konsequenz  der  Be¬ 
handlung  und  welche  Zeitdauer  oft  nötig  ist,  um  doch  zu 
einem  guten  Resultate  zu  kommen,  möge  ein  Fall  beweisen, 
den  wir  seiner  Seltenheit  wegen  anführen  möchten. 

Ein  lVjähriges,  gut  genährtes  Mädchen,  wird  mit  einer 
Tuberkulose  der  rechten  Spitze  und  des  linken  Oberlappens,  die 
sich. langsam  entwickelt  hat,  aufgenommen.  Ueber  den  befallenen 
Partien  (der  rechten  Spitze  und  des  linkein  Oberlappens)  besteht 
Dämpfung,  abgeschwächtes,  aber  rauhes  Atmen  und  zahlreiche 
teils  trockene,  teils  feuchte  und  konsonierende  Rasselgeräusche. 
Viel  Husten  und  viel  Auswurf,  der  reichlich  Tuberkelbazilien 
enthält.  Kein  Fieber.  Nach  dreimonatiger  Anstaltsbehandlung 
ist  der  Befund  unverändert.  In  den  nächsten  drei  Monaten  31  In¬ 
jektionen  von  Alttuberkulin  0-0001  bis  0-4  mit  drei  leicht  febrilen 
Reaktionen: 

.Resultat:  .Die  Rasselgeräusche  über  der  rechten  Spitze 
geschwunden,  der  Befund  über  dem  linken  Überlappen  unver¬ 
ändert.  Husten  und  Auswurf  viel  geringer.  Der  Auswurf  noch 
reichlich  bazillenhaltig.  Niemand  kann  sagen,  ob  diese  deut¬ 
liche  Besserung  unter  dem  Einfluß  der  Tuberkulinbehandlung 
erfolgte,  oder  die  Folge  der  weiter  fortgesetzten  Anstaltsbehandlung 
war. ^ Wenn  die  Patientin  in  diesem  Stadium  nach  mehrmonatiger 
Anstaltsbeharidlung  entlassen  worden  wäre,  ließe  sie  sich  als 
Beweis  für  den  Wert  der  Tuberkulinbehandlung  gewiß,  nicht  ver¬ 
werten,  obwohl  die  Besserung  der  Erscheinungen  erst  in  den 
letzten  drei  Monaten  —  während  der  Tuberkulinbehandlung 
einsetzte;  denn  diese  Erfahrung  machten  wir  oft,  daß  auch  ohne 
Tuberkulinbehandlung  erst  nach  einer  mehrmonatigen  Anstalts¬ 
behandlung  die  Rückbildung  der  Tuberkuloseveränderungen  deut¬ 
lich  wurde,  wie  man  dann  anderseits  auch  oft  erst  nach  mehr¬ 
monatiger  Tuberkulinbehandlung  die  Besserung  ein  treten  sieht. 

Die  Tuberkulinbehandlung  wurde  nun  aus  äußeren  Gründen 
ausgesetzt.  Die  Patientin  blieb  noch  weitere  acht  Monate  in  der 
Anstalt,  ohne  Tuberkulinbehandlung  und  am  Ende  dieser  Zeit 
war  der  objektive  Befund  in  jeder  Hinsicht  unverändert.  Nun 
konnte  die  Tuberkulinbehandlung  wieder  aufgenommen  werden. 
Im  Verlaufe  von  vier  Monaten  erhielt  die  Patientin  29  Injek¬ 
tionen  von  0-00001  bis  1-0  g  mit  einer  Reaktion  bis  39°  nach 
der  zehnten  Injektion. 

Resultat:  Rechte  Spitze  normale  Verhältnisse.  Ueber  dem 
früher  stark  gedämpften  linken  Oberlappen  nur  mehr;  geringe 
Schallverkürzung  und  abgeschwächtes  Atmen,  die  reichlichen 
konsonierenden  Geräusche  sind  jetzt  vollständig  geschwunden, 
ebenso  der  Husten  und  Auswurf.  Seither  sind  fünf  Jahre  ver¬ 
strichen.  Vor  einem  Monate  stellte  sich  das  Mädchen  Wieder 
vor  und  bietet  gegenwärtig  bis  auf  etwas  schwaches  Atmen  über 
dem  linken  Oberlappen  normalen  Befund.  Husten  und  Auswurf 
sind  nicht  mehr  aufgetreten. 

Dieser  schöne  Fäll  von  vollständiger  luberkulose- 
heilung  ist  einwandfrei  und  der  Effekt  der  spezifischen  Be¬ 
handlung  gegen  den  der  reinen  Anstaltsbehandlung  leicht 
abzugrenzen.  Dadurch,  daß  (durch  ein  äußeres  Moment) 
die  Tuberkulinbehandlung  durch  acht  Monate  ausgeschaltet 
wurde,  ist  der  Einfluß  der  Tuberkulinbehandlung  so  deut¬ 
lich  zu  erkennen,  der  sonst  bei  der  Kranken,  die  .sich  im 
ganzen  18  Monate  in  der  Heilstätte  befand,  nicht  sicher 
nachweisbar  gewesen  wäre. 

Trotzdem  einwandfreie  Fälle,  solche,  die  nicht  nur 
dem  behandelnden  Arzte  etwas  sagen,  sondern  auch  ob¬ 
jektive  Beweiskraft  haben,  nach  unserer  Erfahrung  nicht 
allzu  häufig  sind,  hat  doch  eine  aufmerksame  und  verglei¬ 
chende  Beobachtung  einer  großen  Zahl  spezifisch  und  nicht¬ 
spezifisch  behandelter  Fälle  einen  ursächlichen  Zusammen¬ 
hang  zwischen  Heilerfolg  und  spezifischer  Behandlungs¬ 
methode  erkennen-  lassen.  Derart  gesammelte  Erfahrung 
läßt  sich  jedoch  nicht  statistisch  begründen,  sondern  eben 
nur  durch  gut  und  einwandfrei  beobachtete  Einzelerfah¬ 
rungen  dartun.  Ein  statistischer  Nachweis  wäre  nur  in 


der  Form  zu  erbringen,  wie  ihn  Löwenstein  an  der  Heil¬ 
stätte  Belzig  geführt  hat,  wo  der  Statistik  ein  einzelnes 
Symptom,  der  Bazillengehalt  des  Sputums,  zugrundegelegt 
wurde  und  an  einem  großen  Materiale  nachgewiesen  wurde, 
daß  von  den  mit  Tuberkulin  gehandelten  etwa  50%  der 
Fälle  die  Tuberkelbazillen  verloren  haben,  während  in  frü¬ 
heren  Jahren  ohne  systematische  Tuberkulinbehandlung  nur 
20%  Verschwinden  der  Bazillen  zeigten. 

Da,  wie  gesagt,  die  Verhältnisse  im  Einzelfalle  für  die 
Beurteilung  so  schwierig  liegen,  wurde  hier  Jahre  hindurch 
entsprechend  dem  Grundsätze  gehandelt,  nur  solche  Kranke 
der  Tuberkulinbehandlung  zu  unterziehen,  bei  welchen 
schon  eine  mehr  minder  lange  reine  Heilstättenbehandlung 
vorangegangen  war,  um  den  Einfluß  der  letzteren  mit  Sicher¬ 
heit  auszuschließen.  Wenn  auch  auf  diese  Weise,  wegen  der 
für  die  meisten  Kranken  aus  äußeren  Gründen  be¬ 
schränkten  Dauer  der  Anstaltsbehandlung,  viel  wertvolles 
Material  verloren  ging,  so  haben  wir  es  gewiß  (anderseits) 
diesem  Grundsätze,  den  auch  neuerdings  wieder  Pel  als 
eine  Forderung  für  den  Nachweis  einer  Tuberkulinheilung 
auf  gestellt  hat,  zu  verdanken,  daß  wir  über  genügend  viele 
Eigenbeobachtungen  verfügen,  welche  den  günstigen  Ein¬ 
fluß  des  Tuberkulins  auf  den  Krankheitsverlauf  in  geeig¬ 
neten  Fällen  dartun  und  uns  berechtigen,  dieser  Behand¬ 
lungsmethode  das  Wort  zu  reden  und  ihr  ausgedehnte  An¬ 
wendung  zu  geben. 

Die  Entscheidung  darüber,  welche  Methoden  der  Tuber- 
kuliHbehandlung  die  zweckmäßigsten  sind  und  welche 
Fälle  als  zur  Tuberkulinbehandlung  geeignet  bezeichnet 
werden  dürfen,  sollte  eigentlich  wesentlich  abhängen  von 
der  Entscheidung  der  Frage,  worin  die  Heilwirkung  des 
Tuberkulins  überhaupt  besteht  und  was  für  Veränderungen 
im  Kranken  sich  dabei  abspielen. 

Nach  unseren  heutigen  Anschauungen  erstreckt  sich 
die  Heilwirkung  des  Tuberkulins  nach  zwei  Seiten  hin.  l.Die 
Auslösung  immunisatorischer  Vorgänge.  2.  Die  direkt  ge¬ 
wollte  Beeinflussung  des  Krankheitsherdes,  die  sogenannte 
Herdreaktion. 

Die  Ansichten  darüber  sind  auch  heute  noch  sehr 
verschieden.  Unter  dem  Einflüsse  der  ersten  Auflage  der 
Sahli  sehen  Abhandlung  über  Tuberkulosetherapie  legte  man 
der  Erzielung  einer  Giftfestigkeit  des  Organismus  die  größte 
Bedeutung  bei  und  sah  darin  den  Hauptzweck  der  Tuber¬ 
kulosebehandlung:  Audi  bei  der  Drüsentuberkulose  der 
Kinder  galt  es  nach  Engel  und  Bauer,  eine  Unempfindlich¬ 
keit  gegen  hohe  Tuberkulindosen  zu  erreichen  und  die  ur¬ 
sprüngliche  Empfindlichkeit  gegen  Tuberkulin  zu  überwin¬ 
den.  Neuerdings  mehren  sich  nun  die  Stimmen,  welche  gerade 
in  der  Giftempfindlichkeit  den  stärksten  Schutz  gegen  die 
Propagation  des  Tuberkuloseprozesses  sehen  und  die  Erzeu¬ 
gung  einer  Herabsetzung  der  Tuberkulinempfindlichkeit  als 
eine  störende  Komponente  in  der  Tuberkulinbehandlung 
betrachten.  Und  während  Sahli  in  der  ersten  Auflage 
seiner  Abhandlung  noch  die  Herdreaktion  als  gefährlich  und 
ohne  jeden  therapeutischen  Wert  ansieht,  legt  man  heute  in 
Konsequenz  der  neueren  Anschauungen  über  die  Bedeu¬ 
tung  der  Ueberempfindlichkeit  für  die  Heilungsvorgänge 
auch  der  Herdreaktion  als  einer  Ueberempfindlichkeitsreak- 
tion  wieder  erhöhte  Bedeutung  zu  und  sieht  in  ihr  eine 
wesentliche  Komponente  derTuberuklinheilwirkung.  Die  auf 
Pirquets  Forschungen  sich  auf  bauenden  Arbeiten  über 
die  Verbreitung  der  Tuberkulose  und  die  mit  den  neueren 
Immunitätsreaktionen  auf  Tuberkulin,  sowie  durch  das  tier- 
experiment  gewonnenen  Erfahrungen  über  die  Immunitäts¬ 
vorgänge  im  Organismus  haben  zu  diesen  Anschauungen 
über  die  Anwendung  des  Tuberkulins  zu  Heilzwecken  .ge¬ 
führt.  Die  Untersuchungen  Hamburgers  an  tuberkulösen 
Kindern,  die  Tierexperimente  Römers  und  die  Theorien 
Wolf f -Eisners  haben  dieselben  im  wesentlichen  be¬ 
gründet. 

Es  ist  nicht  der  Zweck  dieser  Arbeit,  die  praktische 
Seite  der  Frage  in  den  Hintergrund  zu  drängen  zugunsten 
theoretischer  Erörterungen.  Aber  mit  der  Theorie  muß  sich 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


5 


der  Praktiker  irgendwie  abfinden;  denn  ans  der  Theorie 
wurden  Schlüsse  gezogen,  welche  die  praktische  Seite  der 
Frage  ganz  wesentlich  beeinflussen.  Ob  es  ein  Fehler  ist, 
durch  allmähliches  Erreichen  hoher  Tuberkulindosen  die 
Empfindlichkeit  gegen  Tuberkulin  herabzusetzen  und  es 
vielmehr  besser  wäre,  durch  kleine  Dosen  die  Tuberkulin¬ 
empfindlichkeit  zu  erhalten  oder  eventuell  zu  steigern  (die 
sogenannte  anaphylaktische  Methode  Escherichs),  das 
sind  Fragen,  die  für  den  Praktiker  von  großer  Bedeutung 
sind. 

Es ‘ist  ein  großes  Verdienst  der  einschlägigen  wissen¬ 
schaftlichen  Forschungen,  diese  Frage  aufgeworfen  zu 
haben,  aber  für  den  Praktiker,  der  sich  entscheiden  muß, 
welchen  Weg  er  gehen  soll,  werden  bis  auf  weiteres  wohl 
die  Erfahrungen  am  Krankenbette  eine  sicherere  Basis  für 
sein  Vorgehen  abgeben,  als  theoretische  Ueberlegungen. 

Was  sagen  uns  nun  darüber  die  klinischen  Erfahrun¬ 
gen?  (Und  wir  können  uns  da  nur  auf  unsere  eigene  Er¬ 
fahrung  stützen,  weil  für  uns  natürlich  die  eigene  Erfah¬ 
rung  die  maßgebendste  ist.) 

Jeder  Tuberkulintherapeut  ist  sich  heute  darüber  klar, 
daß  er  mit  der  Tuberkulinbehandlung  nur  die  natürlichen 
Vorgänge  der  Tuberkuloseheilung  imitieren  und  unter¬ 
stützen  kann.  Die  Beobachtung  der  Verhältnisse  an  nicht 
spezifisch  behandelten  Kranken  läßt  Schlüsse  zu  für  das 
Vorgehen  bei  der  Tuberkulinbehandlung. 

Da  sehen  wir  nun  vor  allem,  daß  die  Giftempfindlich¬ 
keit,  das  heißt  die  Empfindlichkeit  gegen  Tuberkulin,  bei 
verschiedenen  Fällen  von  Lungentuberkulose  sehr  verschie¬ 
den  ist  und  die  größten  Differenzen  zeigen  kann  und  es 
drängt  sich  die  Frage  auf,  welcher  Zustand  der  günstigere 
ist,  die  hohe  oder  die  geringe  Giftempfindlichkeit,  denn  mit 
der  Beantwortung  dieser  Frage  ist.  das  Problem  der  Tuber¬ 
kulinbehandlung  auf  das  innigste  verknüpft. 

Die  Feststellung  des  Grades  der  Tuberkulinempfindlich¬ 
keit  an  unserem  Krankenmateriale  mit  Hilfe  der  kutanen 
und  Ophthalmoreaktion  und  der  Stich-  und  Fieberreaktion 
nach  subkutaner  Impfung,  hat  uns  gelehrt,  daß.  der  Aus¬ 
fall  dieser  Reaktionen  keinen  Anhaltspunkt  gibt  für  die 
Wertung  des  Prozesses  im  günstigen  oder  ungünstigen  Sinne, 
ganz  schwere  Fälle  natürlich  ausgenommen,  welche  auch 
klinisch  den  nahen  Tod  deutlich  erkennen  lassen.  Nach 
Wolff -Eisner  z.  B.  hat  eine  negative  Ophthalmoreaktion 
beim  Fehlen  von  Tuberkelbazillen  eine  günstige,  beim  Vor¬ 
handensein  derselben  eine  ungünstige  Bedeutung.  Nicht 
reagierende  aber  sichere  Tuberkulosefälle  sind  nach  ihm 
entweder  nicht  aktiv  oder  progreß  und  prognostisch  un¬ 
günstig  und  beide  Formen  gehören  nach  Wolf f -Eisner 
nicht  in  Heilstätten.  Unsere  Erfahrungen  haben  uns  aber 
gezeigt,  daß  auch  unter  den  Kranken  mit  positiv  bazil¬ 
lärem  Befunde  die  Ophthalmoreaktion  fehlen  kann,  selbst 
bei  wiederholter  Prüfung  und  dennoch  die  Prognose,  wie 
der  weitere  Verlauf  zeigt,  sich  als  eine  durchaus  günstige 
darstellt.  Aehnliche  Erfahrungen  machten  wir  mit  den  an¬ 
deren  erwähnten  Reaktionen. 

So  können  wir  z.  B.  Wolff -Eisner  auch  darin  nicht 
zustimmen,  wenn  er  bei  sicherer  Tuberkulose,  bei  vor¬ 
handener  Ophthalmoreaktion  dem  Fehlen  der  Kutanreaktion 
größere  Bedeutung  im1  Sinne  ungünstiger  Prognosestellung 
zuerkennt.  Aus  unserem1  reichen  Materiale  sei  nur  ein  dies¬ 
bezügliches  Beispiel  erwähnt. 

Patientin  M.  B.,  18  Jahre  alt.  Vater  an  Tuberkulose  ge¬ 
storben.  Die  Patientin  ist  seit  einem  Jahre  krank  und  batte  seither 
wiederholt  Hämoptoe.  Der  physikalische  Befund  ergibt  beider¬ 
seitigen  Spitzenkatarrh.  Im  Auswurf  Tuberkelbazillen.  Die  Oph¬ 
thalmoreaktion  (l :  100)  ist  deutlich  positiv.  Die  kutanen  Impfun¬ 
gen  mit  konzentriertem  Tuberkulin  sind,  dreimal  im  Laufe  von 
vier  Wochen  vorgenommen,  stets  völlig  negativ.  Während  fünf¬ 
monatiger 'Anstaltsbehandlung  deutlicher  Rückgang  der  katarrhali¬ 
schen  Erscheinungen  über  beiden  Spitzen.  Keine  Tuberkel¬ 
bazillen  mehr  im  Auswurf.  Gewichtszunahme  14-30  kg.  In  diesem 
Jahre  Wiederaufnahme  durch  sechs  Monate.  Beim  Eintritt  reich¬ 
liche  katarrhalische  Geräusche  über  dem  rechten  Obeirlappen. 
Im  Sputum  Tuberkelbazillen.  Bei  der  Entlassung  nur  vereinzelte 


zähe  Ronclii  unter  der  rechten  Klavikula,  kein  Auswurf,  Gewichts¬ 
zunahme  6-5  kg. 

Es  ist  einfach  unmöglich,  aus  dem  Fehlen  oder  Vor¬ 
handensein  der  Reaktionen,  oder  aus  der  Stärke  derselben 
einen  Schluß  auf  die  Prognose  des  Falles  zu  ziehen.  Nach¬ 
dem  unter  den  prognostisch  günstig  verlaufenden  Fällen 
sich  sowohl  solche  befanden,  bei  welchen  der  Ausfall  so¬ 
wohl  der  Ophthalmö-,  wie  der  Kutan-  und  Fieberreaktion, 
hohe  Tuberkulinempfindlichkeit  anzeigte,  wie  solche,  bei 
denen  die  Tuberkulinempfindlichkeit  sich  als  sehr  gering 
oder  direkt  als  fehlend  erwies1,  kann  wohl  auch  für  die 
Tuberkulinbehandlung  nicht  ohne  weiteres  der  Grundsatz 
aufgestellt  werden,  daß  die  Erhaltung  oder  die  Steigerung 
der  Tuberkulinempfindlichkeit  den  Ausfall  der  Behandlung 
im  wesentlichen  bestimme.  Wir  möchten  beispielsweise  auf 
eine  klinisch  gut  charakterisierte  Tuberkuloseform  hin- 
weisen.  Das  sind  chronische  Oberlappenprozesse  mit  zum 
Teil  bereits  bindegewebiger  Umwandlung,  von  jahrelangem 
afebrilen  Verlauf  bei  gut  genährten  Individuen  (Dämpfung, 
Anomalien  des  Atmungsgeräusches,  mäßiges  konsonieren- 
des  Rasseln).  Wenn  Sputum  vorhanden  ist,  ist  dasselbe 
reichlich,  von  kavernösem  Charakter  und  bazillenhaltig.  Die 
Krankheit  ist  scheinbar  stationär.  Es  sind  Fälle,  die  nach 
jahrelanger  Dauer  mit  bindegewebiger  Schrumpfung  enden. 
Die  Tuberkulinempfindlichkeit  dieser  Kranken  ist  meist  eine 
sehr  geringe.  Wir  kennen  Kranke,  die  bei  probatorischer 
Injektion  auf  15  bis  20  mg  subkutan  noch  nicht  reagierten 
und  bei  denen  man  in  kürzester  Zeit  oft  ganz  reaktions¬ 
los  bis  zu  10g  reinen  Tuberkulins  ansteigen  konnte,  was 
bei  irgend  nennenswerter  Tuberkulinempfindlichkeit  ohne 
Störung  des  Allgemeinbefindens  und  ohne  üble  Beeinflus¬ 
sung  des  Krankheitsprozesses  nicht  möglich  gewesen  wäre. 

Auch  der  eingangs  zitierte  Fall  gehört  zum  Teil  in 
diese  Kategorie.  Wir  haben,  es  hier  mit  einer  Tuberkulin¬ 
unempfindlichkeit  als  Resultat  spontaner  Heilungsprozesse 
zu  tun  und  was  bei  der  spontanen  Heilung  als  Teilerscheinung 
eines  prognostisch  günstigen  Krankheitsbildes  auf  tritt,  das 
darf  wohl  auch  die  Tuberkulinheilung  zu  erzielen  suchen, 
die  ja  übrigens,  wie  gesagt,  nichts  anderes  tun  kann,  als 
spontane  Heilungsvorgänge  zu  unterstützen  oder  zu  imi¬ 
tieren. 

Unsere  Erfahrungen  decken  sich  diesbezüglich  mit 
den  von  Pickert  und  Löwenstein  gemachten,  die  über 
außerordentlich  günstigen  Verlauf  bei  hoher  natürlicher  Re¬ 
sistenz  gegen  subkutan  injiziertes  Tuberkulin  berichten. 
Auch  erlaubt  der  von  ihnen  erbrachte  Nachweis  der  gleichen 
Tuberkulin  neutralisierenden  Stoffe  im  Serum  der  spontan 
gegen  Tuberkulin  resistenten  Tuberkulose,  wie  im  Serum  der 
durch  Tuberkulininjektionen  giftfest  gemachten  Kranken, 
die  spontane  und  die  künstlich  erzeugte  Tuberkulinresi- 
stenz  als  wesensgleiche  Zustände  in  Betracht  zu  ziehen. 

Wenn  wir  anderseits  bei  mit  Tuberkulin  behan¬ 
delten  Kranken  das  Verhalten  der  Tuberkulinempfindlich¬ 
keit  an  der  Allgemeinreaktion  verfolgen,  so  können  wir 
auch  hier  bei  Verwendung  desselben  Behandlungsschemas 
den  größten  Differenzen  begegnen,  ohne  daß  uns  die  klinische 
Behandlung  erlauben  würde,  aus  diesem  differenten  Ver¬ 
halten  verschiedener  Kranker  prognostische  Schlüsse  zu 
ziehen. 

Man  beobachtet  Kranke,  welche  recht  bald  bei  fort¬ 
gesetzter  Steigerung  der  Dosen  eine  zunehmende  Tuber¬ 
kulinunempfindlichkeit  erlangen,  so  daß  es  nicht  schwer 
hält,  in  relativ  kurzer  Zeit  zu  hohen  Dosen  anzusteigen. 
Wieder  bei  anderen  zeigt  die  Tuberkulinempfindlichkeit 
keine  Tendenz  abzunehmen  und  ist  auch  bei  hohen  Dosen 
noch  deutlich  vorhanden  und  läßt  nur  bei  äußerster  Vor¬ 
sicht  ohne  Schädigung  für  den  Kranken  größere  Tuberkulin¬ 
dosen  erreichen.  Bei  manchen  Kranken  gelingt  es  über¬ 
haupt  nicht,  über  eine  bestimmte  niedere  Grenzdosis  reak¬ 
tionslos  hinwegzukommen  und  die  heute  übliche  vor¬ 
sichtige  Behandlungsmethode,  welche  mit  kleinsten 
Dosen  beginnend,  Wochen  und  Monate  lang  bei  den  kleinsten 
Dosen  bleibt,  hat  bei  manchen  Kranken  ein  Stadium  der 


6 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


Ueberempfindlichkeit  zur  Folge,  welches  bei  anderen 
Kranken  ausbleibt,  oder  wenigstens  nicht  erkennbar  in  Er¬ 
scheinung  tritt. 

Die  bei  hohen  Tuberkulindosen  auftretende  Tuberkulin¬ 
unempfindlichkeit  ist  wiederum  hinsichtlich  ihrer  Dauer 
bei  verschiedenen  Patienten  sehr  verschieden,  sie  kann 
schon  nach  Tagen  wieder  verschwinden  oder  aber  Wochen 
oder  Jahre  lang  andauern. 

Wir  haben  nicht  den  Eindruck  empfangen  können,  als 
würde  das  verschiedene  Verhalten  der  Tuberkulinempfind¬ 
lichkeit  im  Verlaufe  oder  nach  Beendigung  der  Tuberkulin¬ 
behandlung  sich  prognostisch  verwerten  lassen.  Daß  tuber¬ 
kulinüberempfindliche  Kranke  größere  Vorsicht  in  der  Do¬ 
sierung  erheischen,  das  ist  ja  selbstverständlich,  ebenso, 
daß  bei  solchen  Patienten  leichter  unerwünschte  Reak¬ 
tionen  oder  Tuberkulinschädigungen  auftreten  können. 

Nur  bei  solchen  Kranken,  bei  welchen  iin  Verlaufe 
der  Tuberkulinbehandlung,  nachdem  bereits  hohe  Dosen 
verwendet  wurden,  plötzlich  eine  große  Tuberkulinempfind¬ 
lichkeit  auftritt,  so  daß  auch  viel  niederere  Dosen  als  die 
schon  erreichten  nicht  mehr  reaktionslos  ertragen  werden, 
scheint  dieses  Symptom  von  prognostisch  ungünstiger  Be¬ 
deutung  zu  sein.  In  solchen  Fällen  genügt  oft  nicht  die 
Unterbrechung  der  Tuberkulinbehandlung,  sondern  die¬ 
se!  l)o  kann  oft  wegen  der  andauernden  Tuberkulinempfind¬ 
lichkeit  auch  nach  längerer  Unterbrechung  nicht  wieder 
weitergeführt  werden.  Die  weitere  Beobachtung  dieser  Fälle 
läßt  meist  die  Neigung  zu  rascher  Progredienz  erkennen. 
Auch  die  Resultate  der  Tuberkulinbehandlung  bei  Anwen¬ 
dung  dieser  oder  jener  Methode,  der  sogenannten  immuni¬ 
satorischen,  welche  hohe  Dosen  anstrebt  und  erreicht,  oder 
der  anaphylaktisiereiiden,  welche  durch  oftmalige  Wieder¬ 
holung  kleiner  Dosen  die  Ueberempfindlichkeit  zu  erhalten 
oder  zu  steigern  bestrebt  ist,  sprechen  in  demselben  Sinne, 
bezüglich  der  prognostischen  Verwertung  des  Grades  der 
Giftempfindlichkeit.  Heilerfolge  sind  auf  die  eine  und  auf 
die  andere  Weise  erreicht  worden  und  in  der  Literatur 
mitgeteilt. 

Man  kann  aus  alldem  nur  folgern,  daß  der  Grad  der  Tu¬ 
berkulinempfindlichkeit  für  die  Einleitung  der  Tuberkulinbe- 
andlung  keine  Indikation  oder  Kontraindikation  abgeben 
kann  und  daß  es  auf  Grund  der  Beobachtung  der  Beziehungen 
der  Empfindlichkeitsreaktionen  zum  Krankheitsverlauf  nicht 
gerechtfertigt  ist,  sich  prinzipiell  für  die  eine  oder  die 
andere  Methode  zu  entscheiden,  oder  durch  die  Methode 
der  Behandlung  prinzipiell  eine  Steigerung  oder  ein  Er¬ 
löschen  der  Tuberkulinempfindlichkeit  anstreben  zu  wollen 
oder  zu  verhüten,  von  der  Meinung  ausgehend,  daß  der 
Erfolg  der  Behandlung  im  wesentlichen  von  dem  Grade 
der  Tuberkulinempfindlichkeit  bestimmt  werde,  ebenso  wie 
aus  unseren  Erfahrungen  folgt,  daß  sich  der  Einfluß  der 
individuell  so  verschiedenen  Tuberkulinempfindlichkeit  auf 
den  Heilungsvorgang  nach  unserem  heutigen  Wissen  im 
einzelnen  Falle  noch  nicht  abschätzen  läßt,  da  wir  so¬ 
wohl  bei  vorhandener  Tuberkulinüberempfindlichkeit  als  bei 
ziemlich  hoher  Giftfestigung  gegen  Tuberkulin  die  Heilungs¬ 
prozesse  in  der  kranken  Lunge  vor  sich  gehen  sehen. 

Daher  ist  auch  der  Einfluß,  den  der  Grad  der  Tuber¬ 
kulinempfindlichkeit  auf  die  zweite  Komponente  der  Tuber- 
kulinwirkung  ausübt,  auf  die  sogenannte  Herdreaktion  im 
einzelnen  Falle  noch  dunkel.  Daß  den  durch  Tuberkulin 
im  Krankheitsherde  und  in  der  Umgebung  desselben  her¬ 
vorgerufenen  geweblichen  Reaktionen  ein  wesentlicher  Ein¬ 
fluß  auf  den  Heilungsvorgang  zukommt,  daß  sie  eine  der 
wichtigsten,  vielleicht  sogar  die  ausschlaggebende  Seite  der 
Tuberkulinwirkung  darstellen,  läßt  sich  kaum1  mehr  be¬ 
streiten.  Die  Reaktion  tuberkulöser  Herde,  die  der  Injektion 
zugänglich  sind,  klinische  Erfahrungen,  Tierexperimente 
und  Obduktionsbefunde,  alle  sprechen  in  demselben  Sinne, 
daß  es  unter  dem  Einflüsse  von  Tuberkulin  zu  entzünd¬ 
licher  Hyperämie  in  der  Umgebung  des  tuberkulösen  Herdes, 
zur  Erweichung  und  Auslösung  nekrotischer  Herde  und  zur 
Bindegewebsneubildung  kommt.  Ob  aber  zwischen  diesen 


Vorgängen  und  dem  Grade  der  durch  die  diagnostischen 
Methoden  mittels  Tuberkulins  und  der  Fieberreaktion  ge¬ 
messenen  Tuberkulinempfindlichkeit  ein  regelmäßiger  Pa¬ 
rallelismus  besteht,  das  steht  noch  dahin  und  wird  durch 
die  oben  mitgeteilten  klinischen  Erfahrungen  nicht  wahr¬ 
scheinlich  gemacht.  Jedenfalls  kann  man  Saathoff  nicht 
zustimmen,  wenn  er  einen  strengen  Parallelismus  zwischen 
der  Herdreaktion  und  der  Stichreaktion  annimmt;  denn  man 
müßte  sonst  folgerichtig  annehmen,  daß  ein  solcher  Paralle¬ 
lismus  auch  zwischen  der  Stichreaktion  und  der  Tuber¬ 
kuloseherdreaktion  in  anderen  Organen  als  der  Lunge  be¬ 
stehen  müsse,  was  aber  nachweisbar  nicht  der  Fäll  ist. 
Wir  haben  beispielsweise  bei  Kehlkopftuberkulose  trotz  in¬ 
tensivster  Stichreaktion  noch  nie  eine  deutliche  Herdreak¬ 
tion  beobachten  können.  Gegen  einen  solchen  Parallelis¬ 
mus  spricht  auch  die  klinische  Erfahrung,  daß  trotz  hoch: 
gradigster  Stichreaktion  jedes  Symptom,  welches  auf  eine 
stärkere  Herdreaktion  in  der  Lunge  schließen  würde,  voll¬ 
ständig  fehlen  kann.  Weder  der  physikalische  Befund,  noch 
andere  von  der  Lunge  abhängige  Erscheinungen,  wie  das 
Verhalten  des  Hustens  und  des  Auswurfes,  oder  subjek¬ 
tive  Brustbeschwerden  deuten  auf  erkennbare  stärkere  Herd¬ 
reaktion  hin.  Man  kann  auch  trotz  stärkster  Stichreaktion, 
wenn  keine  andere  Reaktion  als  Folge  der  Impfung  auf¬ 
trat,  Unbedenklich  mit  der  Dosis  steigen,  was  gewiß  nicht 
ohne  üble  Folgen  sein  würde,  wenn  die  Stichreaktion  immer 
der  Ausdruck  der  adäquaten  Herdreaktion  wäre. 

Die  Methode  der  Tuberkulinbehandlung,  welche  nun 
seit  fast  20  Jahren  bis  in  die  letzte  Zeit  fast  ausschließlich 
geübt  wurde,  ist  jene,  welche  allmählich  ansteigend,  von 
kleinen  zu  immer  höheren'  Dosen  zu  gelangen  strebt  und 
allmähliche  Gewöhnung,  Giftfestigung,  für  hohe  Dosen  zu 
erzielen  sucht.  Escherich  hat  diese  Methode  die  im!- 
munisato rische  genannt,  im  Gegensatz  zur  anaphylaktisie- 
renden,  welche  bei  kleinen  Dosen  bleibend,  die  Ueberem¬ 
pfindlichkeit  für  Tuberkulin  zu  erhalten  oder  zu  steigern 
strebt.  Beide  Bezeichnungen  sind  vielleicht,  soweit  sie  sich 
auf  die  Methode  der  Behandlung,  nicht  auf  den  beab¬ 
sichtigten  Endeffekt  beziehen,  vom  Standpunkte  der  prak¬ 
tischen  Erfahrung  nicht  ganz  zutreffend.  Zunächst  ist  die 
im  Eiuzelfalle  mit  der  immunisatorischen  Methode  erreich¬ 
bare  Dosis  bei  verschiedenen  Patienten  sehr  verschieden, 
von  mannigfachen,  in  der  Individualität  des  Kranken  und 
in  äußeren  Momenten  begründeten  Umständen  abhängig 
und  daher  im  vorhinein  nicht  bestimmbar;  und  auch  wenn 
man  zu  sehr  hohen  Dosen  kommt,  sind  nicht  in  jedem 
Falle  die  Pickert-Lö  w  enstein  sehen  Antikörper  im  Se¬ 
rum  der  Behandelten  nachweisbar.  Es  kann  —  eine  sehr 
gewöhnliche  Erscheinung  —  nach  sehr  hohen  Dosen  die 
Gewöhnung  an  diese  nach  kürzester  Zeit,  nach  Tagen  selbst 
wieder  verloren  gehen  und  einer  mehr  minder  großen  Tuber¬ 
kulinempfindlichkeit  Platz  machen.  Wie  schon  früher  er¬ 
wähnt,  sind  diese  Verhältnisse  von  größter  individueller 
Variabilität,  so  daß  es  eigentlich  den  klinischen  Tatsachen 
nicht  entspricht,  schlechterdings  von  einer  immunisatori¬ 
schen  Methode  der  Tuberkulinbehandlung  zu  sprechen,  wenn 
die  sich  abspielenden  immunisatorischen  Vorgänge  bei  ein 
und  derselben  Methode  sich  individuell  so  verschieden  ver¬ 
halten. 

Dasselbe  gilt  von  der  Bezeichnung  anaphylaktisierende 
Methode.  Wenn  man  mit  einer  kleinsten  Dosis  beginnt  und 
bei  derselben  bleibt,  sagen  wir  z.  B.  0-000001  oder  0-00001  g 
Alttuberkulin,  so  kann  man,  um  zwei  extreme  Fälle  zu 
erwähnen,  folgendes  beobachten.  In  dem  einen  Fälle  tritt 
nach  der  ersten  Injektion  deutliche  Stichreaktion  auf,  welche 
auch  die  folgenden  Injektionen  begleitet  und  dann  schwächer 
wird  und  bei  späteren  Injektionen  derselben  Dosis  nicht 
mehr  auftritt.  Oder  es  folgt  der  ersten  Injektion  eine  febrile 
Reaktion,  welche  auch  nach  der  zweiten  Injektion  im  ver¬ 
minderten  Grade  auftritt,  bis  endlich  die  Dosis  reaktions¬ 
los  vertragen  wird.  Also  —  und  das  ist  der  seltenere  Fäll  - 
Erzeugung  von  Unempfindlichkeit  gegen  kleinste  Tuber¬ 
kulindosen.  Es  kann  aber  auch  der  umgekehrte  Fall  ein- 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  l'Jil. 


7 


treten;  Stich-  und  Fieberreaktionen,  welche  anfangs  fehlten, 
treten  erst  nach  öfterer  Wiederholung  ein  und  derselben 
kleinsten  Dosis  auf.  Also  Steigerung  der  Tuberkulincmi- 
pfindliclikeit.  Man  kann  mithin  nicht  schlechtweg  von  einer 
anaphylaktisierenden  Methode  sprechen,  weil  der  Effekt 
derselben  im  wesentlichen  von  der  individuellen  Art  zu 
reagieren  und  nicht  allein  von  der  Methode  abhängt.  Um 
daher  nicht  die  Vorstellung  zu  erzeugen,  die  der  klini¬ 
schen  Erfahrung  nicht  kongruent  ist,  wird  es  vielleicht 
besser  sein,  von  einer  Methode  andauernder  kleinster  Dosen 
und  von  einer  Methode  der  allmählichen  Erzielung  großer 
Dosen  zu  sprechen. 

Diese  letztere  Methode  war,  wie  gesagt,  seit  etwa 
20  Jahren  bis  in  die  letzte  Zeit  fast  ausschließlich  in  Hebung, 
wenn  sie  auch  in  manchem  Detail  mannigfache  Acnde- 
rung  erfahren  hat.  Dieser  Methode  ist  es  auch  zu  verdanken, 
daß  die  bereits  verlassene  Tuberkulinbehandlung  allmäh¬ 
lich  wieder  Eingang  und  heute  einen  unbestreitbaren  Platz 
in  der  Therapie  der  Tuberkulose  errungen  hat.  Diese  Me¬ 
thode  ist  auch  heute  noch  die  am  meisten  geübte  und 
die  weitaus  überwiegende  Zahl  von  Tuberkulinheilungen 
sind  mit  dieser  Methode  errungen  worden.  Wenn  diese 
Methode  auch  mit  modernen  Theorien  in  Konflikt  geraten 
kann,  so  hat  sie  doch  die  praktische  Erfahrung  auf  ihrer 
Seite.  Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  diese  Methode,  die 
sich  praktisch  bisher  bewährt  hat,  sei  der  Weisheit  letzter 
Schluß.  Aus  den  früheren  Ausführungen  muß  im  Gegenteil 
die  Folgerung  gezogen  werden,  daß  die  schwache  Seite 
der  Tuberkulinbehamllung  darin  liegt,  daß  wir  nicht  im¬ 
stande  sind,  genügend  zu  individualisieren  und  uns  prak¬ 
tisch  an  ein  Schema  zu  binden.  Die  ungeheure  individuelle 
Vielgestaltigkeit,  welche  das  Krankheitsbild  der  Lungen¬ 
tuberkulose  zeigt  (in  allen  Seiten  ihrer  uns  bekannten  Er¬ 
scheinungen)  macht  es  wahrscheinlich,  daß  für  jede  in 
ihrem  individuellen  Verhalten  einheitliche  Gruppe  von 
Kranken  eine  ganz  bestimmte,  uns  noch  unbekannte  Be¬ 
handlungsmethodik,  die  richtige  und  beste  ist.  Diese  Gruppe 
klinisch  zu  definieren  und  die  heutige  mehr  schematische 
Methode  zu  individualisieren,  ist  eine  der  wesentlichsten 
Aufgaben  der  Tuberkulintherapeuten.  Solange  wir  das  nicht 
können,  sind  wir  an  ein  Schema  natürlich  gebunden.  Und 
wenn  ein  Schema  sich  als  ungefährlich  und  in  geeigneten 
Fällen  als  nützlich  und  heilbringend  erwiesen  hat,  dann 
liegt  eigentlich  kein  Grund  vor,  dieses  praktisch  bewährte 
Schema  durch  ein  anderes  zu  ersetzen.  Wenn  die  heute 
von  manchen  Autoren  geübte  Methode  der  kleinsten  Dosen 
ein  Versuch  sein  soll,  in  dem  Problem  der  individualisie¬ 
renden  Behandlung  einen  Schritt  vorwärts  zu  tun,  dann 
ist  sie  als  ein  wertvoller  Fortschritt  aufzufassen  und  wird 
uns  auch  praktische  Früchte  zeitigen.  In  dieser  Form  scheint 
uns  die  Arbeit  von  Es  che  rieh  wertvoll,  der  in  der  ersten 
Periode  des  Kindesalters  mit  dieser  Methode  bessere  Besul- 
tate  erzielt  hat  als  mit  der  Methode  der  Erzielung  großer 
Dosen.  Wenn  diese  Methode  sich  aber  das  alleinige  Bürger¬ 
recht  erwerben  und  als  ein  neues  Schema  an  die  Stelle 
des  alten  treten  will  und  der  alten  Methode  auf  Grund 
theoretischer  Ueberlegungen  vorwirft,  daß  es  ein  Fehler 
sei,  gegen  Tuberkulin  unempfindlich  zu  machen,  dann  hat 
der  Praktiker  auf  Grund  seiner  Erfahrung  die  ältere,  be¬ 
währte  Methode  in  Schutz  zu  nehmen. 

•Oft  ist  man  zu  dieser  Methode  der  kleinsten  Dosen, 
in  kürzeren  oder  längeren  Intervallen  injiziert,  einfach  durch 
die  Eigenart  des  Falles  gezwungen.  Es  ist  oft  nicht  möglich, 
mit  der  Dosis  zu  steigen  und  über  eine  niedere  Grenz¬ 
dosis  hinauszukommen,  wegen  der  großen  Tuberkuli nüber- 
empfindlichkeit  des  Kranken.  Jeder  Versuch,  mit  der  Dosis 
um  ein  geringes  zu  steigen,  wird  mit  unerwünschter  All¬ 
gemeinreaktion  beantwortet. 

Uebrigens  haben  wir  seit,  dem  Erscheinen  der 
Arbeit  Escherichs  diese  Methode  in  zahlreichen  Fällen 
angewendet  und  wenden  sie  weiter  noch  in  geeignet  schei¬ 
nenden  Fällen  an,  namentlich  bei  zarten,  durch  die  Krank¬ 
heit  heruntergekommenen  Personen  oder  bei  solchen,  bei 


welchen  erfahrungsgemäß  die  Dosensteigerung  entweder 
häufige  Reaktionen  auslösl  oder  mit  einer  Störung  des 
Allgemeinbefindens  einhergeht  —  oder  aus  wissenschaft¬ 
lichen  Gründen,  oder  nur  zur  Bereicherung  der  Erfahrung 
bezüglich  des  Effektes  dieser  Methode.  Trotzdem  können 
wir  jetzt  noch  kein  abschließendes  Urteil  darüber  fällen. 
Die  Schwierigkeiten  der  Beurteilung  des  Heilerfolges  sind 
liier  natürlich  ebenso  groß  als  mit  der  anderen  Methode 
und  ist  es  daher  schlechterdings  unmöglich,  in  einem  halben 
Jahre,  so  lange  ist  es  her  seit  der  Publikation  E sche¬ 
ine  hs,  ein  Urtjeil  über,  den  Heilwert  einer  neuen  Methode 
der  Tuberkulinbehandlung,  zu  gewinnen. 

Unsere  eigenen,  hier  mitgeteilten  Erfahrungen,  stützen 
sich  daher  fast  ausschließlich  auf  die  Methode  der  lang¬ 
sam  ansteigenden  Dosen. 

Die  Methode  als  solche  ist  allgemein  bekannt.  Nur  die  we¬ 
sentlichen  'Gesichtspunkte  und  einige  Detailproben  von  prak¬ 
tischer  Wichtigkeit  mögen  hier  besprochen  werden.  Daß  die 
Wafhl  des  Präparates  keinen  wesentlichen  Faktor  in  der 
Tuberkulinbehandlung  darstellt,  darüber  sind  die  Ansichten  heute 
wohl  übereinstimmend.  Unterschiede  bestehen  wohl,  aber  sie 
äußern  sich  nur  nach  der  quantitativen  Seite.  Wenn  wir  die  ge¬ 
bräuchlichsten  Präparate,  das  Alttuberkulin,  TR,  die  Koch  sehe 
Emulsion  und  Beraneks  Tuberkulin  mit  Hilfe  einer  Ueber- 
empfindlichkeitsreaktion  prüfen,  z.  B.  der  Kutanreaktion,  na 
türlich  nebeneinander  an  dem  gleichen  Patienten,  dann  erweist 
sich  das  Alttuberkulin  als  das  stärkste,  TR  in  Bazillenemulsion 
als  das  schwächste  Präparat.  Das  stimmt  auch  sonst  mit  der 
klinischen  Erfahrung.  Das  TR  und  die  Bazillenemulsion  werden 
von  empfindlichen  Kranken  namentlich  von  fiebernden,  besser 
und  reaktionsloser  vertragen  als  das  Alttuberkulin.  Nach  der 
Intensität  der  Stichreaktiön,  welche  man  bei  Beraneks  Tuber¬ 
kulin  auftreten  sieht,  im  Vergleich  zur  Stichreaktion  nach  kleinsten 
Dosen  von  Alttuberkulin  und  Bazillenemulsion  scheint  das  Be- 
raneksche  Tuberkulin  das  noch  schwächere  Präparat  zu  sein.  Das 
stimmt  auch  überein  mit  der  experimentellen  Prüfung  verschiede¬ 
ner  Tuberkuline  durch  Sigismund  nach  der  für  das  Frankfurter 
experimentell  -  therapeutische  Institut  ausgearbeiteten  Dönitz- 
schen  Methode  an  Meerschweinchen,  wonach  das  B  ej  r  a  n  o  Ir¬ 
sch  e  Tuberkulin  von  äußerst  geringer  Toxizität  ist.  Noch  geringer 
ist  die  Giftigkeit  zweier  anderer  Tuberkuline,  welche  wir  inAlland 
dargestellt  und  in  einer  größeren  Versuchsreihe  ausprobiert  haben, 
ein  Fischtuberkulin  und  ein  aus  einem  durch  Schlangenpassage 
mutierten  menschlichen  Tuberkulosestamm,  welchen  wir  als  Tuber¬ 
kulin  bezeichnet  haben.  Dieses  Tuberkulin  ist  etwas  stärker  als 
Fischtuberkulin  und  beide  haben  wir  mit  scheinbar  gutem  Erfolge 
angewendet  bei  Kranken,  welche  die  starken  Tuberkuline  nicht 
vertragen,  das  ist  besonders  bei  schwächlichen  Kranken,  ohne 
daß  wir  objektiv  beweisende  Fälle  anführen  können. 

Versuche  mit  den  Emulsionspräparaten  Spenglers  haben 
wir  bald  nach  Beginn  derselben  wieder  aufgegeben,  nachdem  bei 
Verwendung  der  humanen  und  bovinen  Bazillenemulsion  IE  und 
PTE  vereiternde  Infiltrate  an  den  Injektionsstellen  auftraten  und 
wir  m  dem  einen  Präparate,  PTE,  virulentes  Virus  nachweisen 
konnten. 

Bei  der  Inzision  zweier  Abszesse  an  der  Impfstelle  ent¬ 
leerte  sich  dickflüssiger,  weißgelber  Eiter,  in  dem  weder  mikro¬ 
skopisch  noch  durch  die  Kultur  Bakterien  gefunden  werden 
konnten.  vDurch  das  Tierexperiment  wurde  jedoch  in  einem  dieser 
Fälle  das  Vorhandensein  von  Tuberkelbazillen  im  Abszesse,  der 
sich  drei  Wochen  nach  der  Injektion  von  0-02  mg  PTE  an  der 
Injektionsstelle  gebildet  hatte,  zweifellos  nachgewiesen.  Ein  Ka¬ 
ninchen  mit  wässeriger  Emulsion  dieses  Eiters  subkutan  geimpft, 
ging  nach  110  Tagen  an  allgemeiner  Tuberkulose  zugrunde.  Daß 
es  sich  hier  um  die  Wirkung  lebender  Bazillen  handelte,  wurde 
durch  die  Reinkultur  von  Tuberkelbazillen  aus  der  Lunge  des 
Kaninchens  erwiesen. 

Lieber  die  Deutung  dieses  Befundes  könnte  ein  Zweifel  in 
Hinsicht  auf  die  Provenienz  der  virulenten  Tuberkelbazillen  im 
Abszeßeiter  bestehen.  Dieselben  konnten  mit  dem  Präparate  inji¬ 
ziert  worden  sein,  oder  von  der  Patientin  selbst  stammend,  sich 
in  dem  ursprünglich  sterilen  Infiltrate  lokalisiert  haben.  Die 
Resultate  unserer  Versuche  mit  PTE  an  Tieren  lassen  jedoch 
die  i  erster e  Annahme  gerechtfertigt  erscheinen.  Drei  Meer¬ 
schweinchen  und  ein  Kaninchen  wurden  mit  je  0-5  mg  PTE, 
das  ist  0-5  cm3  der  Originalflüssigkeit,  injiziert.  Aon  diesen  Tieren 
blieben  zwei  Meerschweinchen  gesund,  das  dritte  Meerschwein¬ 
chen 'starb  nach  6ß  Tagen  und  das  Kaninchen  nach  UP  s  Monaten 
an  Tuberkulose.  Mit  Drüsenemulsion  des  ersten  und  mit  Abszeß- 


8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


eiter  der  Impfstelle  des  zweiten  Tieres  geimpfte  Meerschweinchen. 

gingen  an  Tuberkulose  zugrunde.  ,  T,  .. 

Diese  Befunde  zeigen,  daß  in  dem  Spenglersehen  I ra- 
parate  PTE  virulente  Tuberkelbazillen  enthalten  sind  und  ist 
daher  von  der  Verwendung  desselben  abzusehen.  - 

Wenn  auch  die  Injektion  lebender  Tuberkelbazillen  boviner 
Provenienz  von  einzelnen  Autoren  für  ungefährlich  gehalten 
wird  (C.  Spengler,  Klemperer),  so  sind  doch  die  theore 
tischen  Grundlagen  einer  solchen  Medikation  noch  zu  umstritten 
und  die  praktischen  Erfahrungen  bisnun  nicht  so  ermutigend,  um 
dieses  gefährliche  Verfahren  in  die  allgemeine  Praxis  eimuhrcn 

Im  Sp  engl  ersehen  humanen  Tuberkclbazillenemulsions- 
präparate  TE  konnten  wir  auf  Nährböden  und  in  Tierversuchen 
keine  lebenden  Tuberkelbazillen  nach  weisen 

Es  wird  sich  trotzdem  empfehlen,  nicht  mir  aus  linde  - 
tuberkelbazillen,  sondern  auch  ans  menschlichen  Tuberkelbassulen 
hergestellte  Emulsionspräparate  lieber  nach  der  alten  bekannten 
Koch  sehen  Vorschrift  der  Herstellung  zu  verwenden. 

Fs  wird  sich,  wenn  man  nicht  die  Absicht  hat,  be¬ 
sondere  schwache  Tuberkuline  von  geringster  Toxizität  in 
dem  oder  jenem  Falle  zu  verwenden,  die  Wahl  des  Präparates 
in  der  Praxis  im  großen  und  ganzen  so  ziemlich  gleich 
lileiben,  zumal  man  es  ja  auch  bei  dem  stärker  toxischen 
Präparate  in  der  Hand  bat,  durch  starke  Verdünnungen  und 
kleinste  Dosen  die  Wirkung  herabzusetzen.  (Nur  daß  1K 
und  die  Bazillenemulsion  bei  fiebernden  Kranken  besser 
vertragen  wird,  scheint  auch  nach  den  hiesigen  ErtalA 
rangen  festzustehen.)  Ueber  die  gerühmte  Temperatur  her¬ 
absetzende  Wirkung  von  Emulsionspräparaten  soll  spater 
gesprochen  werden.  Nur  darauf  sei  aufmerksam  gemacht, 
daß  bald,  nachdem  Koch  seine  -Emulsionspräparate  m 
den  Handel  brachte,  von  Bandelier  Beobachtungen  mlt- 
geteill  wurden,  daß  Kehlkopfinfiltrate  im  Verlaufe  von  Emui- 
sionsbehandhingen  einen  akuten  Zerfall  zeigten.  Wir  waren 
deshalb  vorsichtig  in  der  Anwendung  dieses  Präparates 
bei  Kehlkopftuberkulose,  hatten  aber  bei  einigen  wenigen 
derart  behandelten  Kranken  keine  schlechten  Erfahrungen. 

gemacht.  .  ‘  ,  1  , 

Bis  auf  weiteres  wird  wohl  wie  bisher  das  Antuber- 

kulin  die  meiste  Verwendung  finden.  Emulsionspräparate 
erfordern  auch  eine  viel  größere  Exaktheit  in  der  Her¬ 
stellung  der  Verdünnungen,  um1  die  darin  suspendierten 
Bazillenleiber  zu  einer  gleichmäßigen  Verteilung  zu  bringen. 

Mit  welcher  Dosis  soll  man  nun  beginnen  und  wonach 
soll  man  die  Anfangsdosis  bestimmen?  Man  kann  sich  ent¬ 
weder  ein  gewisses  Schema  zur  Grundlage  machen  und 
beispielsweise  in  jedem)  Falle  mit  0  000001  oder  0-00001  g 
(Vioooo  oder  Vioo  mig)  Alttuberkulin  beginnen.  Das  wird 
sieb  empfehlen  für  den  Arzt,  der  zum  ersten  Male  die 
Tuberkulinspritze  selbständig  in  die  Hand  nimmt  und  noch 
keine  eigene  Erfahrung  hat.  W  enn  man  Erfahrung  hat,  kann 
man  schon  versuchen,  zu  individualisieren  und  der  ganze 
Krankheitsverlauf,  Aussehen  des  Kranken,  Gewicht,  Tem¬ 
peraturverhältnisse  und  viele  nicht  wiederzugebende  Ein¬ 
zelheiten  in  der  Physiognomie  des  Krankheitshildes  sagen 
dem  erfahrenen  .Praktiker  gar  manches.  Ist  es  auch  in 
vielen  Fällen  notwendig,  mit  kleinsten  Dosen  zu  beginnen 
und  nur  in  vorsichtigster  Weise  aufzusteigen,  so  kann  man 
auch  in  anderen  Fällen  mit  solchen  kleinsten  (Dosen  viel 
Zeit  verlieren.  Eine  jede  Tuberkulindosis  muß  wirken,  sonst 
ist  sie  wertlos.  Eine  Dosis,  die  unter  der  Reizschwelle  des 
Kranken  liegt,  ist  natürlich  als  solche  wirkungslos  und  da 
es  bei  der  langen  Dauer  dieser  Krankheit,  namentlich  bei 
Spitals-  und  Heilstättenbehandlung  von  größter  Wichtigkeit 
ist,  die  dem  Kranken  zur  Verfügung  stehende  Zeit  auszu- 
nützen,  ist  es  auch  nicht  gleichgültig,  ob  man  Wochen 
und  Monate  lang  mit  Dosen  operiert,  die  weit  unter  der 
Empfindlichkeitsgrenze  des  Kranken  liegen,  oder  oh  man 
vielleicht  durch  allzu  langes  Verweilen  bei.  kleinen  Dosen 
die  Empfindlichkeit  in  unerwünschter  Weise  steigert. 

Man  kann  den  Ausfall  der  kutanen  Reaktion  dabei 
zu  Rate  ziehen  und  z.  B.  bei  sehr  starker  kutaner  Reak¬ 
tion  mit  sehr  kleinen  Dosen,  etwa  0-001  mg,  bei  schwächerer 
mit  0-01  mg,  bei  fast  oder  ganz  fehlender  mit  0-1  mg  be 


ginnen.  Es  wurde  aber  schon  früher  darauf  hingewiesen, 
daß-  uns  der  Ausfall  der  kutanen  und  .Stichreaktion  keinen 
Anhaltspunkt  bietet  für  die  Beurteilung  der  im  oder  um 
den  Tuberkuloseherd  sich  abspielenden  reaktiven  Verände¬ 
rungen;  und  die  sind  zweifellos  das  wichtigste.  Es  ist 
daher  doch  zu  empfehlen,  sich  auf  den  Ausfall  der  kutanen 
Reaktion  nicht  zu  sehr  allein  zu  verlassen,  sondern  dabei 
immer  auch  alle  anderen  somatischen  Erscheinungen  des 
Kranken,  auch  sein  Temperament  und  eine  etwa  vorhan¬ 
dene  nervöse  Reizbarkeit  mit  in  Rechnung  zu  ziehen.  Be¬ 
stimmte  Normen  lassen  sich  da  selbstverständlich  nicht 
aufstellen,  das  alles  ist  vorläufig  noch  lediglich  Sache  der 
persönlichen  Erfahrung,  aber  wer  diese  Erfahrung  besitzt, 
der  handelt  im  Interesse  des  Kranken,  wenn  er  diese  Er¬ 
fahrung  sowohl  bei  der  Bestimmung  der  Anfangsdosis,  als 
bei  der  späteren  Dosierung  verwertet  und  sich  nicht  immer 
sklavisch  an  einen  vorgeschriebenen  Weg  bindet.  Löwen¬ 
stein  empfiehlt,  zunächst  durch  eine  probatorische  Im¬ 
pfung  die  Reaktionsdosis  festzustellen  und  diese  Dosis  als 
Anfangsdosis  zu  nehmen.  Hier  wurde  dieses  Verfahren 
schon  vor  .Jahren  angewendet  und  bei  vielen  Kranken  ohne 
Schaden  und  gewiß  mit  großer  Zeitersparnis  durchgeführt, 
ln  einigen  Fällen  traten  jedoch  effektive  Tuberkulinschädi¬ 
gungen  als  Resultat  dieses  Vorgehens  auf,  von  denen  sich 
die  Patienten  erst  nach  Monaten  erholten.  Wir  möchten 
dieses  Verfahren  daher  doch  nicht  als  Regel  gelten  lassen 
und  höchstens  für  sehr  chronische,  jahrelang  dauernde 
Phthisen  gelten  lassen.  Es  widerspricht  auch  dem  Grund¬ 
sätze,  stärkere  Reaktionen  zu  vermeiden,  denn  wenn  man 
mit  großen  iSteigerunlgen,  wie  es  bei  der  diagnostischen 
Impfung  üblich  und  notwendig  ist,  die  Reaktionsdosis  fest- 
steilen  will,  läuft  man  Gefahr,  eine  Reaktion  von  nicht 
gewollter  Stärke  zu  erzeugen. 

Wir  haben  früher  schon  erwähnt,  daß  die  nach  den 
Impfungen  auftretende  Stichreaktion  für  den  Zeitpunkt  der 
nächsten  Injektion  und  die  Dosierung  derselben  außer  acht 
gelassen  werden  kann.  Das  lieißt,  man  braucht  mit  der 
nächsten  Injektion  nicht  zu  warten,  bis  eine  Stiebreaktion 
abgeklungen  ist  und  man  kann  trotz  deutlicher  und  auch 
starker  Stichreaktion  anstandslos  mit  der  Dosis  steigen. 
Nur  in  zwei  Fällen  gibt  die  .Stichreaktion  einen  Anhalts¬ 
punkt  für  die  Dosierung:  1.  Wenn  bei  Kranken,  welche 
(ans  irgendeinem  Grunde)  mit  ein  und  derselben  kleinen 
Dosis  weiter  geimpft  werden,  die  anfänglich  vorhandene 
Stichreaktion  schwindet,  so  ist  das  wohl  als  ein  Zeichen 
aufzufassen,  daß  eine  Gewöhnung  an  diese  Dosis  (eine  Gitt- 
unempf  indl  ichkeit  für 'diese  Dosis)  eingetreten  ist.  In  solchen 
Fällen  gibt  uns  das  Fehlen  der  Stichreaktion  eine  Indi¬ 
kation,  mit  der  Dosis  zu  steigen.  2.  In  den  Fällen  ganz 
exzessiver,  über  den  halben  Arm  ausgebreiteter  Stichrea 
tion,  die  man  nicht  selten  bei  Kindern,  gelegentlich  auch 
einmal  bei  Erwachsenen  sieht  und  die  wohl  nicht  aui 
Begleitinfektionen  zurückzuführen  sind,  da  man  sie  eben 
immer  nur  an  denselben  Kranken  beobachtet.  In  solchen 
Fällen  ist  es  vielleicht  wohl  geraten,  vorsichtshalber  das 
Abklingen  der  Reaktion  abzuwarten  und  mit  der  Dosis 
nicht  zu  steigen. 

Neuma  nn  hat  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  daß  den 
Tuberkulinhautreaktionen  neben  ihrer  spezifischen  Kompo¬ 
nente  auch  eine  nicht  spezifische  zugrunde  liegen  dürfte, 
die  in  der  individuell  verschiedenen  Reaktionsfähigkeit  des 
vasomotorischen  Systems  gelegen  sei.  Wir  haben  seiner¬ 
zeit  schon  an  einen  solchen  Zusammenhang  gedacht  und 
waren  bestrebt,  festzustellen,  ob  sich  zwischen  der  Stärke 
der  Kutanreaktion  und  der  als  Dermograpliie  bezeu. mieten 
Erscheinung  Beziehungen  feststellen  lassen.  Wir  haben 
solche  Beziehungen  nicht  finden  können.  Hingegen  haben 
wir  in  einer  größeren  Anzahl  von  Fällen  auch  mit  1  epl  on- 
lö  sun  gen,  welche  mit  Spritzen  injiziert  wurden,  die  nie 
mit  Tuberkulin  in  Berührung  gekommen  waren,  Stichreak- 
tionen  .erhalten,  welche  sich  in  ihrem  Aussehen  und  Ver- 
laufe  oft  in  nichts  von  den  durch  Tuberkulin  erzeugten 
unterschieden.  Sie  traten  meist  erst  nach  stärkeien  Kon- 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


zentrationen,  0  001  bis  0  00b  g  einer  l°/oigen  Lösung  auf, 
mitunter  aber  auch  schon  bei  viel  geringeren  Konzentra¬ 
tionen  und  nur  bei  einer  beschränkten  Anzahl  der  biemit 
geprüften  Patienten.  Die  Reaktionen  verlaufen  meist  rascher 
als  die  Tuberkulinstichreaktionen,  dauern  aber  auch  mit¬ 
unter  tagelang  an  und  sind  öfters  auch  von  Fieberreak¬ 
tionen  begleitet.  Die  fiebererzeugende  Wirkung  des  Pep¬ 
tons  und  der  Albumosen  hat  schon  Matthe s  festgestellt 
und  man  mußte  damals  die  Frage  aufwerfen,  ob  die  Tuber¬ 
kulinwirkung  nicht  einfach  als  nicht  spezifische  Albumosen- 
reaktion  aufzufassen  sei.  Wir  wissen  heute  mit  evidenter 
Sicherheit,  daß. dem  nicht  so  ist  und  daß  die  Tuberkulinreak¬ 
tionen  spezifischer  Natur  sind  und  selbstverständlich  ist 
auch  die  mitgeteilte  Tatsache  von  Stichreaktionen  nach  In¬ 
jektion  reiner  Peptonlösungen  kein  Beweis  gegen  die  Spezifi¬ 
tät  der  durch  Tuberkulin  am  Orte  der  Injektion  hervorgerufe- 
nen  Entzündung;  aber  wir  'werden  doch  mit  der  ^ Mög¬ 
lichkeit  rechnen  müssen,  daß  namentlich  bei  höheren  Tuber¬ 
kulinkonzentrationen  neben  der  spezifischen  Reaktion  noch 
eine  nichtspezifische  Peptonreaktion  vorhanden  sein  kann, 
deren  gegenseitiges  quantitatives  Verhältnis  sich  nicht  eru¬ 
ieren  läßt.  Das  beeinflußt  natürlich  den  Wert  der  Slicb- 
reaktion  sowohl  als  diagnostischen,  wie  als  therapeutischen 
Behelf. 

Wenn  man  von  dem  Beranekschen  Tuberkulin 
absieht,  so  werden  bei  den  gebräuchlichen  Tuberkulinen  die 
einzelnen  Lösungen  nach,  dem  Verdünnungsfaktor  10  her¬ 
gestellt,  so  daß  jede  stärkere  Lösung  zehnmal  konzen¬ 
trierter  ist,  als  die  folgende  schwächere.  Die  unvermittelt 
starken  Steigerungen  der  Dosis,  welche  beim  Uebergang 
einer  Tuberkulinverdünnung  zur  nächst  höheren  eintreten, 
die  man  übrigens  im  Bedarfsfälle  durch  Verdünnung  der 
betreffenden  Lösungen  auf  die  Hälfte  oder  das  Vier¬ 
fache  leicht  mildern  kann,  haben  Beranek  veranlaßt,  bei 
seinem  Tuberkulin  den  Verdünnungsfaktor  2  einzuführen 
und  Neumann  veranlaßt,  für  alle  Tuberkuline  einen  an¬ 
deren  V.erdünnungsmodus  vorzuschlagen  und  ein  eigenes 
Schema  der  Dosierung  auf zusf eilen.  Das  läßt  sich  alles 
theoretisch  gut  rechtfertigen,  aber  wenn  man  die  praktische 
Erfahrung  in  Betracht  zieht  und  sieht,  daß  auch  mit  den 
bisher  immer  nach  dem  Verdünnungsfaktor  10  hergestellten 
Lösungen  nach  jahrelangem  Gebrauch  derselben  sich  alle 
jene  Abstufungen  durchführen  lassen,  welche  ein  gefahr¬ 
loses  Vorgehen  ermöglichen,  so  liegt  wohl  keine  zwin¬ 
gende  Notwendigkeit  vor,  an  dem  einfachsten  Verfahren 
der  Herstellung  der  Verdünnungen  des  Tuberkulins  etwas 
zu  ändern. 

lObwohl  das  Bestreben  aller  Tuberkulintherapeuten 
heutzutage  dahin  geht,  den  Verlauf  der  luberkulinbeliand- 
lung  möglichst  reaktionslos,  das  heißt  mit  Vermeidung  aller 
stärkeren  Steigerungen,  durchzuführen,  gelingt  es  doch  nur 
in  den  seltensten  Fällen,  die  Behandlung  ganz  ohne  Fieber¬ 
reaktionen  zu  Ende  zu  bringen.  Dieselben  beeinflussen 
jedoch,  wenn  sie  nicht  zu  hoch  sind,  den  Verlauf  der 
Krankheit  erfahrungsgemäß  nicht  ungünstig.  Man  wird  die¬ 
selben  am  ehesten  vermeiden  können,  wenn  man  den  Be¬ 
griff  der  Tuberkulinreaktion  möglichst  weit  faßt  und  alle 
zeitlich  im  Anschlüsse  an  die  Injektionen  auftretenden  Aen- 
derungen  im  Befinden  des  Kranken  als  möglicherweise 
durch  Tuberkulin  verursacht;  betrachtet  und  demgemäß  erst 
nach  völligem  Abklingen  derselben  die  letzte  Injektionsdosis 
wiederholt  oder  vorsichtig  steigt.  Insbesonders  erfordert 
die  Zeit  der  Menstruation  wegen  der  mit  ihr  verbundenen 
Neigung  zur  Fiebersteigerung  und  zu  Lungenblutungen  Vor¬ 
sicht.  und  ist  es  am  besten,  es  sich  zum  Prinzip  zu  machen, 
während  der  Dauer  der  Menstruation  mit  den  Injektionen 
völlig  zu  pausieren.  Kleinere  Lungenblutungen  geben  keine 
absolute  Kontraindikation  gegen  die  Tuberkulinbehandlung, 
ebensowenig  Herzleiden,  bei  welchen  jedoch,  falls  irgend 
erhebliche  muskuläre  Affektionen  bestehen,  subjektive  Be¬ 
schwerden  von  seiten  des  Herzens  nach  den  Injektionen 
die  weitere  Tuberkulinbehandlung  verbieten. 


Bei  fiebernden  f  ällen  verfolgten  wir  den  Grundsatz, 
zunächst  durch  Bettruhe  und  das  hygienisch -diätetisch 
Regime  eine 'Entfieberung  zu  erzielen  und  den  Kräftezustand 
des  Kranken  zu  heben  und' dann  erst  die  Tuberkulinbehand¬ 
lung  einzuleiten.  Wenn  sich  durch  Bettruhe  und  das  hy¬ 
gienisch-diätetische  Regime  eine  Entfieberung  nicht  er¬ 
zielen  läßt,  dann  ist  ein  Erfolg  auch  von  der  Tuberkulin¬ 
behandlung  nicht  zu  erwarten.  Wir  kennen  keinen  einzigen 
Fall,  der  unter  diesen  Umständen  durch  Tuberkulin  ge¬ 
rettet  worden  wäre.  Wenn  man  von  diesem  Grundsätze 
absieht,  dann  kann  man  wohl  auch  fiebernde  Kranke  unter 
der  Tuberkulinbehandlung  afebril  werden  sehen.  Aber  damit 
ist  der  Beweis  für  die  entfiebernde  Wirkung  des  Tuber¬ 
kulins  nicht  erbracht  und  man  schadet  eher  in  solchen 
Fällen,  als  ‘man  nützen  kann.  Insbesonders  sei  hervor¬ 
gehoben,  daß  wir  in  fiebernden  Fällen  auch  von  den  Emul¬ 
sionspräparaten  keine  besseren  Erfolge  gesehen  haben  und 
den  Temperatur  herabsetzenden  Einfluß  derselben  nicht 
haben  beobachten  können. 

Ob  die  Tuberkulinbehandlung  ausschließlich  an  Pa, 
lienten  durchgeführt  werden  soll,  welche  sich  in  Heil¬ 
stätten  oder  in  Krankenhäusern  befinden,  oder  ob  sie  auch 
bei  ambulatorischen  Kranken  und  von  seiten  der  prak¬ 
tischen  Aerzte  ausgeführt  werden  soll,  darüber  sind  die 
Ansichten  auch  unter  den  Verteidigern  der  Tuberkulin¬ 
behandlung  geteilt.  Um  nur  einige  der  ablehnenden  Stim¬ 
men  aus  jüngerer  Zeit  darüber  anzuführen,  so  hält  zum 
Beispiel  Roily  die  ambulatorische  Behandlung  nicht  für 
zweckmäßig,  Aufrecht  nur  in  solchen  Fällen,  welche  vor¬ 
her  ein  halbes  bis  ein  Jahr  ohne  sichtlichen  Erfolg  in 
Heilstätten  zugebracht,  haben;  Salt  mann  und  Ort  Hei¬ 
raten  ebenfalls  ab,  Kraus  ist.  nicht  dagegen,  möchte  aber 
vorher  über  Indikation  und  Kontraindikation  noch  eine 
Einigung  erzielt  wissen.  Im  ganzen  hüll  man  die  Tuberkulin¬ 
spritze  heute  noch  in  der  Hand  ties  Praktikers  für  etwas 
nicht  Ungefährliches.  Unser  Standpunkt  in  dieser  Frage 
ist  der  folgende:  Zunächst  muß  man  darüber  klar  sein, 
daß  es  Fälle  von  Lungentuberkulose  gibt,  die  sich  durch 
Tuberkulin  bessern  oder  heilen  lassen.  Für  den  Gegner 
der  Tuberkulinbehandlung  überhaupt  erledigt  sich  die  Frage 
der  ambulatorischen  Behandlung  von  selbst.  Wer  dieselbe 
diskutiert,  muß  dem  Tuberkulin  einen  Heilwert  zuerkennen. 
Wenn  aber  ein  Mittel  einmal  als  Heilmittel  erkannt  ist, 
dann  darf  man  seine  Anwendung  nicht  mehr  monopoli¬ 
sieren,  sondern  muß  für  die  weiteste  Verbreitung  desselben 
eintreten.  Die  Kranken,  welche  in  den  Spitälern  Aufnahme 
finden,  sind  zum  größten  Teile  keine  Objekte  mehr  für 
eine  Tuberkulihbehandlung  und  wie  viele  Heilstätten  wir 
in  Oesterreich  bisnun  haben,  ist  bekannt,  tausende  und 
Tausende  von  Kranken,  die  weder  in  Krankenhäusern,  noch 
in  Heilstätten  Aufnahme  finden  können,  von  einer  Behand¬ 
lungsmethode  ausschließen  zu  wollen,  die  man  als  gut  und 
nützlich  erkannt  hat,  das  widerspricht  dem  ärztlichen  Em¬ 
pfinden  und  Denken.  Wenn  Schwierigkeiten  bestehen  und 
sie  bestehen  ja  tatsächlich,  muß  man  dieselben  hervor¬ 
heben  und  die  Mittel  und  Wege  angeben,  wie  sie  sich  ver¬ 
meiden  lassen.  Die  erste  Schwierigkeit  besteht  in  der  Aus¬ 
wahl  der  für  die  ambulatorische  Tuberkulinbehandlung  ge¬ 
eigneten  Fälle.  Wenn  man  alle  Fiebernden  und  alle  in 
ihrem  Ernährungszustände  sehr  stark  herab  gekommenen 
Krannken,  sehr  nervöse,  die  mit  Herzaffektionen  behafteten 
und  mit  Rücksicht  auf  die  eigene  persönliche  Verantwor¬ 
tung,  auch  alle  Patienten,  die  zu  Blutungen  neigen,  aus¬ 
schließt,  so  wird  auch  der  praktische  Arzt  bei  sonst  gün- 
stigen  Bedingungen  die  übrigen  Fälle  von  Lungenlubei- 
kulose,  wenn  er  nur  über  die  Methoden  der  Behandlung 
genügend  informiert  ist,  ungefährdet  injizieren  können. 

Die  nicht  von  dem  Krankheitsbefunde  des  Patienten 
abhängigen  Bedingungen,  welche  zur  gedeihlichen  Durch¬ 
führung  ambulatorischer  Tuberkulinbehandlung  absolut 
nötig  sind,  sind  die  Verläßlichkeit  des  Kranken  bezüglu  t 
der  Gewissenhaftigkeit  und  Genauigkeit  seiner  lempeiatur- 


10 


WIENER  KLINISCHE  WUCHExNSCHlUEX.  1911. 


Ar.  i 


inessu ngen,  seiner  subjektiven  Beobachtungen  und  bezüg¬ 
lich  einer  nach  ^Möglichkeit  hygienischen  Lebensweise. 

Insbesondere  mtuß  jeder  Patient  vor  Beginn  der  Be¬ 
handlung  wissen,  daß  er  voraussichtlich  durch  Reaktionen 
zu  wiederholten  mehrtägigen  Arbeitspausen,  eventuell  ver¬ 
bunden  mit  Bettruhe,  gezwungen  sein  wird.  Es  ist  daher 
nötig,  daß  er  sich  dessen  versichert,  daß  nicht  seine  Stellung 
oder  seine  materiellen  Verhältnisse  dadurch  eine  Einbuße 
erleiden,  welche  durch  ihre  Folgen  einen  mehr  nachteiligen 
Einfluß  auf  das  Befinden  des  Kranken  üben  würden,  als 
ihm  mit  der  Tuberkulinbehandlung  geholfen  werden  kann. 
Geduld  und  Ausdauer  verlangt  dieselbe  ebenso  vom  Arzte 
wie  vom  Patienten,  beide  müssen  darüber  aufgeklärt  sein, 
daß  die  Behandlung,  soll  sie  von  dauerndem  Erfolg  sein, 
meist  Monate  in  Anspruch  nimmt  und  auch  dann  der  Effekt 
derselben  nicht  immer  ein  sinnfälliger  ist.  Gleichwohl  be¬ 
trachten  wir  das  Tuberkulin  als  ein  wertvolles  Hilfsmittel 
bei  der  Therapie  der  Lungentuberkulose  und  wir  sind  der 
Ansicht,  daß  dadurch,  daß  sich  die  Aerzte  mehr  mit  den 
Methoden  und  den  Indikationen,  dieser  Behandlungsweise 
vertraut  machen,  dieselbe  einer  viel  größeren  Zahl  von 
Kranken  zugänglich  gemacht  werden  sollte,  als  es  bisher 
der  Fall  ist.  Um  die  bei  praktischen  Aerzten  noch  viel¬ 
fach  eingewurzelte  Scheu  vor  einer  Tuberkulinbehandlung 
zu  beseitigen  und  die  Grundlage  zu  schaffen  für  jene  Kennt¬ 
nisse  und  Erfahrungen,  die  zu  einer  ersprießlichen  und 
gefahrlosen  Durchführung  der  Tuberkulinbehandlung  na¬ 
türlich  unerläßlich  sind,  wäre  aber  vor  allem  nötig,  diese 
Behandlungsmethode  im  klinischen  Unterrichte  aufzuneh¬ 
men  und  auch  in  den  klinischen  Lehrbüchern  ihr  die  ge¬ 
bührende  Beachtung  zu  widmen. 


Tuberkulindiagnostik  und  ambulatorische 
Tuberkulinbehandlung.*) 

Von  Dr.  M.  Laub. 

Langsam,  aber  unaufhaltsam,  bereitet  sich  in  den 
letzten  Jahren  ein  Umschwung  in  der  Bewertung  des  Tuber¬ 
kulins  als  Heilmittel  der  Tuberkulose  vor:  immer  mehr  ver¬ 
stummen  die  Zweifler  und  namentlich  diejenigen,  die  — 
oft  ohne  eigene  Erfahrung  —  nur  gestützt  auf  die  angeb¬ 
lichen  oder  wirklichen  Tuberkulinschäden  aus  den  Anfängen 
der  Neunzigerjahre  das  Tuberkulin  zu  diskreditieren  suchten. 
Die  reichen  klinischen  Erfahrungen,  die  mit  dem  Tuber¬ 
kulin  in  den  verschiedenen  Ländern  unter  den  mannig¬ 
faltigsten  Bedingungen,  in  den  Heilstätten,  in  den  Spitälern 
und  nicht  zuletzt  in  der  täglichen  Praxis  gesammelt  wur¬ 
den,  sowie  die  zahlreichen  experimentellen  Untersuchungen 
über  die  Immunität  bei  Tuberkulose,  haben  unsere  Er¬ 
kenntnis  über  das  Wesen  dieser  Krankheit  und  über  den 
Wert  des  Tuberkulins  derart  erweitert,  daß  derzeit  nicht  nur 
das  Feld  der  Wirksamkeit  des  Tuberkulins  gut  abgegrenzt 
werden  kann,  daß  sogar  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
mehr  Einblick  in  die  Wirkungsart  des  Tuberkulins  gewonnen 
wurde,  wenngleich  ihre  völlig  befriedigende  und  restlose 
Erklärung  noch  aussteht. 

Zwei  Jahrzehnte  sind  seit  der  Entdeckung  des  Mittels 
verstrichen,  eine  kaum  übersehbare  Zahl  von  Arbeiten  ist 
seither  geliefert  worden,  unsere  Kenntnisse  haben  sich 
durch  die  Entwicklung  der  Serologie  erweitert,  neue  Arbeits¬ 
und  Forschungsmethoden  sind  seither  erstanden  und  doch, 
wenn  man  heute  die  berühmt  gewordenen  ,, Mitteilungen 
über  ein  neues  Heilmittel  gegen  Tuberkulose“  liest,  ist  man 
voll  des  Bewunderns  jenes  Mannes,  der  schon  1890  in 
kühler  und  nüchterner  Voraussicht  die  Grenzen  seines  Heil¬ 
verfahrens  abgesteckt  hatte:  „Der  Schwerpunkt  des  neuen 
Heilverfahrens  liegt  in  der  möglichst  frühzeitigen  Anwendung 
....  Nur  beim  Anfangsstadium  der  Phthise  kann  das  Mittel 
seine  Wirkung  voll  und  ganz  entfalten.  Das  neue  Heilver- 

*)  Nach  einem  Vortrage,  gehalten  in  der  physikalischen  Gesell¬ 
schaft  am  23.  November  1910. 


fahren  wird  dann  erst  zu  einem1  Segen  für  die  leidende 
Menschheit  geworden  sein,  wenn  es  dahin  gekommen  ist, 
daß  möglichst  alle  Fälle  von  Tuberkulose  früh¬ 
zeitig  i  n  B  e  h  a  n  d  1  u  n  g  genommen  werden  und  es 
gar  nicht  mehr  zur  Ausbildung  der  vernachlässigten  schweren 
Formen  kommt,  welche  die  unerschöpfliche  Quelle  für  immer 
neue  Infektionen  bisher  gebildet  haben.“  Alle  jene  Autoren, 
die  über  eine  große  eigene  -  Erfahrung  in  der  Tuberkulin¬ 
behandlung  verfügen,  stimmen  diesem  Satze  Kochs  bei 
und  'Sahli  ist  sogar  der  Ansicht,  daß  die  nach  bestimmten 
Prinzipien  durchgeführte  Tuberkulinbehandlung  durch  die 
Möglichkeit  einer  gewissermaßen  prophylaktischen  Heran¬ 
ziehung  ganz  initialer  Falle  eine  sehr  große  Zukunft  hat 
und  eine  ähnliche  segensreiche  Rolle  zu  spielen  berufen  ist, 
wie  die  Kuhpockenimpfung  zur  Bekämpfung  der  Blattern. 

Es  ist  daher  zunächst  der  Frühdiagnose  der  Lungen¬ 
erkrankungen  die  größte  Aufmerksamkeit  zu  schenken,  damit 
das  Principiis  obsta  nicht  versäumt  werde.  Leider  stößt 
die  physikalische  Diagnose  der  beginnenden  Lungenerkran¬ 
kung  trotz  der  neuen  verfeinerten  Untersuchungsmethoden 
von  Goldscheider  und  Krönig  oft  auf  große  Schwierig¬ 
keiten,  die  sich  noch  vermehren,  wenn  es  sich  um  die 
Entscheidung  der  Frage  handelt,  ob  die  Veränderungen  im 
.gegebenen  Falle  auf  einen  aktiven  oder  bereits  ab  ge¬ 
laufenen  Prozeß  hinweisen.  Hier  setzt  die  biologische 
Diagnostik  ergänzend  ein.  Allerdings  versagen  bei  Er¬ 
wachsenen  die  v.  P  i  r  q u  e  t  sehe  Kutan-  und  die  Wolff- 
Eisnersche  Ophthalmoreaktion,  da  diese  Methoden  zu  fein 
sind,  indem  sie  uns  nur  die  veränderte  Reaktionsfähigkeit, 
die  Allergie  des  Organismus,  anzeigen.  In  dieser  Beziehung 
scheint  die  alte  Koch  sehe  M etiiode  der  s u  b  k  u  tane  n  Appli¬ 
kation  des  Tuberkulins  verläßlicher  zu  sein.  Doch  wie  aus 
den  Untersuchungen  speziell  des  Oberstabsarztes  Doktor 
Franz  an  den  bosnischen  Soldaten  hervorgeht,  kommt 
auch  diese  Reaktion  bei  nichtaktiven  Prozessen  vor.  Wenn 
man  sich  jedoch  mit  geringeren  Dosen,  als  Koch  an¬ 
gegeben  hat,  begnügt,  so  kann  man  meines  Erachtens  eher 
zum  Ziele  kommen.  Mit  großer  Wahrscheinlichkeit  kann 
auf  einen  aktiven  Prozeß  geschlossen  werden,  wenn  schon 
auf  subkutane  Injektionen  von  Hundertstel-,  eventuell  von 
Zehntelmilligrammen  allgemeine  und  lokale  (Herd-)Reak- 
tionen  beobachtet  werden.  Auch  die  von  Löwenstein 
und  Rappaport  angegebene  wiederholte  Applikation  von 
kleinsten  Dosen  (etwa  0-2  mg)  lassen  beim  Auftreten  einer 
Reaktion  den  Schluß  auf  einen  aktiven  Prozeß  gerecht¬ 
fertigt  erscheinen. 

Auch  die  Bestimmung  des  opsonischen  Index  ist 
zur  Diagnose  eines  aktiven  Prozesses  herangezogen  worden. 
Bekanntlich  hat  Wright  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß 
bei  öfterer  Bestimmung  des  opsonischen  Index  dieser  bei 
allgemeiner  Infektion  verschiedenen,  ganz  unregelmäßigen 
Schwankungen  unterworfen  ist,  während  er  bei  gesunden 
Individuen  'nahezu  konstant  bleibt  und  nur  bei  lokaler 
Tuberkulose  sehr  niedrig  zu  sein  pflegte.  In  einer  gemein¬ 
sam  mit  Dr.  Ba  edier  durchgeführten  Untersuchungsreihe 
konnten  im  allgemeinen  die  Resultate  Wrights  bestätigt 
werden,  doch  haften  dieser  Methode  sehr  viele  Fehlerquellen 
an,  auch  ist  sie  im  Hinblick  auf  die  Schwierigkeit  der 
Technik  für  die  Praxis  kaum  zu  verwerten. 

Die  Methode  der  Komplementbindung,  die  sich 
bei  der  Serodiagnose  der  Lues  so  außerordentlich  bewährt 
hat,  wurde  ebenfalls  zur  Erkennung  aktiver  Tuberkulosen 
angewandt,  wenngleich  komplementbindende  Substanzen  so¬ 
wohl  im  Serum  von  unbehandelten,  als  auch  insbesondere 
im  Serum  von  mit  Tuberkulin  behandelten  Tuberkulösen 
nachgewiesen  werden  konnten,  so  kommt  doch  dieser  Me¬ 
thode  -  wenigstens  vorläufig  —  keine  praktische  Bedeutung 
zu,  weil  einerseits  nach  den  Untersuchungen  von  Cohn, 
Weil  und  Strauß  das  Ergebnis  bei  initialen  Fällen  ein 
negatives  ist  und  anderseits  nach  Untersuchungen  von 
Wolff-Eisner,  La u b  und  N o v o t n y  die  Reaktion  bei 
Seren  von  Nichttuberkulösen  Vorkommen  kann. 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  l'Jli. 


11 


Ueberblickt  man  die  verschiedenen  biologischen  .Me¬ 
thoden,  die  für  die  Diagnose,  der  beginnenden  Lungen- 
erkrankung  [zur  Verfügung  stehen,  so  kann  leider  wohl 
keine  allein  mit  Sicherheit  den  Beginn,  bzw.  die  Aktivität 
des  Prozesses  erkennen  lassen,  sie  bilden  jedoch  in  zweifel¬ 
haften  Fällen  eine  wertvolle  Ergänzung  der  klinischen  Unter¬ 
suchungsmethoden,  denen  selbstverständlich  stets  die  erste 
Stelle  bei  der  Frühdiagnose  der  Lungenerkrankungen  zu¬ 
kommen  wird. 

Und  nun  zur  spezifischen  Behandlung  der  Tuberkulose. 
Fast  alle  Aerzte,  die  durch  längere  Zeit  sich  mit  der  Tuber¬ 
kulinbehandlung  befaßt  haben,  sind  in  ihrem  Urteile  über 
die  Zweckmäßigkeit  dieses  Verfahrens  einig.  Auch  Direktor 
Sorgo  hat  in  seinem  Vortrage  ausgeführt,  daß  eine  An¬ 
zahl  von  Patienten  sich  bei  der  gewöhnlichen  Heilstätten¬ 
behandlung  nicht  erholt  hat,  während  die  Erholung  sofort 
einsetzte,  als  mit  den  Tuberkulininjektionen  begonnen 
wurde.  Auch  von  vielen  anderen  Heilstättenärzten,  wie 
Götsch,  .Möller,  Weicker  u.  a.,  liegen  Berichte  vor, 
daß  sie  bei  Behandlung  mit  Tuberkulin  oft  um  20%  bessere 
Heilresultate  .erhalten  haben,  als  bei  Patienten,  die  bloß 
Heilstättenbehandlung  hatten.  Solche  Resultate  können  nicht 
außer  acht  gelassen  werden.  Nach  eigener,  auf  Beobachtung 
von  über  hundert  Fällen  gegründeter  Erfahrung  sind 
die  Erfolge  unter  dem  Einflüsse  der  Tuberkulinbehand¬ 
lung  oft  geradezu  überraschend.  Die  Patienten,  die 
sich  zumeist  aus  dem  Kreise  der  Handelsangestellten, 
den  Mitgliedern  der  Greinialkrankenkasse  der  Wiener  Kauf¬ 
mannschaft,  rekrutieren  und  sich  daher  nicht  in  den  gün¬ 
stigsten  Verhältnissen  befinden,  zeigen  auch  nach  dem  Ur¬ 
teil  der  Kollegen,  die  die  Kranken  zur  Behandlung  zu¬ 
wiesen,  Erfolge,  die  oft  nicht  bloß  Besserungen,  sondern 
Heilungen  gleichkommen.  Es  liegt  in  den  Verhältnissen,, 
daß  die  Kranken  ambulatorisch  behandelt  werden  und 
dabei  zumeist  ihrem  Berufe  nachgehen.  Bei  diesen  ambu¬ 
latorisch  Behandelten  habe  ich  auch  nicht  einmal  einen 
Schaden  gesehen.  Ich  glaube,  daß  parallel  zur  Abnahme 
der  Gegnerschaft  der  Tuberkulinbehandlung  überhaupt  eine 
Zunahme  der  ambulatorischen  Tuberkulinbehandlung  zu  ge¬ 
wärtigen  ist.  Selbstverständlich  müssen  die  Fälle  nach  dem 
Stadium  des  Krankheitsprozesses  ausgesucht  und  die  In¬ 
telligenz  und  Verläßlichkeit  der  Patienten  berücksichtigt 
werden.  Was  den  ersten  Punkt  anlangt,  so  wird  der  An¬ 
fänger  aufs  zweckmäßigste  zunächst  Patienten  mit  erst  be¬ 
ginnender  .Erkrankung  bei  womöglich  fieberlosem  Verlaufe 
in  Behandlung  nehmen.  Der  Erfahrene  wird  sich  nicht 
scheuen,  auch  Fälle  des  zweiten  oder  gar  des  dritten  Sta¬ 
diums  in  Behandlung  zu  nehmen,  da  bei  zweckmäßigem  und 
zielbewußtem  Vorgehen  es  eigentlich  nur  wenige  Kontra¬ 
indikationen  gibt.  Andrerseits  muß  man  sich  auf  die  Selbst¬ 
beobachtung  des  Patienten  bis  zu  einenr  gewissen  Grade 
verlassen  können,  insbesondere  ist  es  empfehlenswert,  diese 
auf  die  manchmal  so  geringen  Reaktionserscheinungen,  die 
sich  nicht  bloß  in  der  Erhöhung  der  Temperatur  äußern, 
sondern  oft  im  allgemeinen  Unbehagen,  Kopfschmerzen  usw. 
zum  Ausdrucke  kommen,  aufmerksam  zu  machen.  Die  Tem¬ 
peratur  muß  dreimal  täglich  gemessen  werden,  bei  Eintritt 
irgendeiner  Reaktion  muß  der  Patient  einen  Tag  zu  Hause 
bleiben.  Unter  diesen  Kautelen  kann  die  ambulatorische 
Tuberkulinbehandlung  aufs  wärnmste  und  eindringlichste 
empfohlen  Werden.  Sie  ist  sogar  als  eine  soziale  Indika¬ 
tion  für  so  viele  anzusehen,  die  nicht  in  der  Lage  sind, 
eine  Heilstätte  oder  sonst  einen  klimatischen  Kurort  auf¬ 
zusuchen. 

An  dieser  Stelle  sei  es  gestattet,  darauf  hinzuweisen, 
daß  meines  Erachtens  den  Krankenkassen  eine  viel 
wichtigere  Rolle  in  der  Bekämpfung  der  Tuber¬ 
kulose  als  Volkskrankheit  zufallen  sollte,  als  dies 
tatsächlich  der  Fall  ist,  da  ja  in  ihnen  das  Gros  der  arbei¬ 
tenden  Bevölkerung  vereinigt  ist,  in  der  die  Tuberkulose 
die  meisten  Opfer  fordert.  Einen  nicht  unwichtigen  Faktor 
in  der  Bekämpfung  der  Tuberkulose  stellt  jedoch  meines  Er¬ 
achtens  die  system'a  tisch  durch  geführte  ambula¬ 


torische  Tuberkulinbehandlung  dar,  die  die  im  Be¬ 
ginne  der  Erkrankung  Stehenden  ohne  Schädigung  ihrer 
Erwerbsfähigkeit  nicht  selten  zur  vollständigen  Heilung,  vor 
geschrittene  Fälle  zum  Stillstände,  eventuell  Riickbildm 
der  Erkrankung  und  Wiedererlangung  der  Erwerbsfähigkeii 
bringt.  Ich  habe  in  den  letzten  Jahren  bei  einer  größeren 
Zahl  von  Mitgliedern  der  Gremialkrankenkassa  die  ambula¬ 
torische  Tuberkulinbehandlung  durchgeführt.  Sämtliche  Be¬ 
handelten  haben  ihre  Erwerbsfähigkeit  zum  Teil  behalfen, 
zum  Teil  sie  wieder  voll  erlangt. 

In  der  Regel  wurden  Kranke  des  ersten  und  zweiten 
Stadiums  (T u rban-Ger h a r d)  in  Behandlung  genommen. 
Der  Verlauf  gestaltete  sich  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  in 
der  Weise,  daß  schon  nach  wenigen  Injektionen  manche 
subjektiven  Symptome,  wie  Seitenstechen,  Rückenschmer¬ 
zen  usw.,  schwanden,  nach  kurzer  Zeit  wurde  auch  der 
Husten  geringer,  oft  veränderten  sich  das  Aussehen  und 
die  Beschaffenheit  des  Sputums,  dieses  verlor  seinen  eitrigen 
Charakter  und  wurde  mehr  schleimig.  Bei  vielen  Patienten 
verlor  es  sich  schließlich  ganz. 

Einige  instruktive  Beispiele  seien  hier  mitgeteilt: 

M.  J.,  26  Jahre  alt  (zugewiesen,  von  Prim.  Dr.  Schur). 
Seit  einem  Jahre  krank,  Beginn  mit  Flämoptoe.  Bisher  klimatische 
Kuren.  Befund  am  29.  Oktober  1908 :  Rechts  vornei  Dämpfung  von 
der  Spitze  bis  zur  zweiten  Rippe,  von  da  abwärts  bis  zur  Leber¬ 
dämpfung  kürzerer  Schall,  hinten  Dämpfung  bis  zur  Mitte  der  Ska- 
pula.  Links  vome  kürzerer  Schall  über  dler  Fossa  supraclavicularis, 
ebenso  hinten  über  der  Fossa  supraspinata.  Auskultation:  Heber 
der  Fossa  supraclavicularis  dextra  und  unterhalb  der  Klavikula 
bis  zur  zweiten  Rippe  bronchiales  In-  und  Exspirium,  klingende 
Rasselgeräusche,  weiter  abwärts  über  der  ganzen  vorderen  Brust¬ 
seite  zahlreiche  Rhonchi,  untermischt  mit  feuchten  Rasselgeräu¬ 
schen;  rechts  hinten  oben  abgeschwächtes  bronchiales  Atmen  mit 
zahlreichen  Rasselgeräuschen ;  sonst  über  der  ganzen  Seite  feuchte 
Rhonchi.  Ueber  der  linken  Spitze  vorne  und  hinten  sehr  ver¬ 
schärftes  Inspirium,  abgeschwächtes  Exspirium.  Im  Sputum  zahl¬ 
reiche  Bazillen. 

Tuberkulinbehandlung  durch  neun  Monate,  in  der  ersten  Zeit 
Reaktionen  bis  38-4.  Befund  am  3.  August  1909:  Aussehen 
gut,  kein  Husten,  spärlicher  Auswurf  am  Morgen.  Rechts 
hinten  oben  Dämpfung  bis  zur  Spina  scapulae,  vorne  bis  zur 
zweiten  Rippe,  von  da  ab  Schall  heller,  untere  Lungengrenze  nicht 
verschiebbar.  Links  oben  kürzerer  Schall.  Auskultation:  Rechts 
vorne  oben  rauhes,  vesikuläres  Atmen  mit  vereinzelten  Rhonchi. 
Hinten  oben  bronchiales  Atmen,  keine  Rasselgeräusche.  Ueber 
der  linken  Spitze  verschärftes  Atmen. 

0.  K.,  32  Jahre  alt,  erkrankte  vor  sechs  Jahren  an  beider¬ 
seitiger  Lungenspitzeninfiltration,  die  bis  zur  zweiten  Rippe  hin¬ 
unterreichte.  Objektiver  Befund  (27.  März  1907) :  Dämpfung  beider 
Spitzen  mit  bronchialem  Atmen  und  zahlreichen,  klingenden 
Rasselgeräuschen.  Zahlreiche  Bazillen  im  Sputum.  Abendliche 
Temperaturen  bis  38-2.  Zweimaliger  Aufenthalt  in,  Meran  brachte 
wohl  eine  Gewichtszunahme,  jedoch  keine  wesentliche  objektive 
Besserung,  Nach  einjähriger  Tuberkulinbehandlung  vollständiges 
Verschwinden  des  Hustens  und  Auswurfes,  normale  Temperaturen. 
Nachuntersuchung  am  6.  Dezember  1910:  Beide  Spitzen  gedämpft, 
sehr  rauhes  und  verschärftes  Atmen,  keine  Rasselgeräusche. 

E.  IL,  22  Jahre  alt  (Dr.  Wehli),  krank  seit  einem  halben 
Jahre,  acht  Wochen  Meran.  6.  September  1909  rechtseitige  Lun- 
gehspitzeninfiltration  (Dämpfung  mit  bronchialem  Atmen  und  zahl¬ 
reichen  Rasselgeräuschen).  Nach  den  ersten  Injektionen  Tempe- 
ratu rs teiger u ngen  bis  38-1,  nachher  fieberloser  Verlauf.  19.  April 
1910  Behandlung  abgeschlossen;  Befund:  Dämpfung  vorhanden, 
kein  Rasseln,  kein  Husten,  kein  Auswurf.  Pät.  sieht  blühend  aus. 

Diese  drei  im  Auszuge  mitgeteilten  Fälle  stellen  einen  Typus 
zahlreicher  Beobachtungen  der  Tuberkulinbehandlung  dar,  es  er¬ 
scheint  daher  überflüssig,  weitere  im  einzelnen  anzuführen.  Bei 
einer  Minderzahl  von  Fällen  besserten  sich  die  subjektiven  Sym¬ 
ptome,  oder  sie  schwanden  gänzlich,  während  der  objektive  Be¬ 
fund  keine  Veränderung  erkennen  ließ.  Bei  einem  Falle  dritten 
Stadiums  (Lungen-  und  Kehlkopftuberkulose)  konnte  die  Tuber- 
kulinbehandlung  den  letalen  Ausgang  nicht  aufhalten.  Die  so¬ 
genannten  geschlossenen  Tuberkulosen  heilen  oft  unter  der  Luber- 
kulinbehandlung  in  relativ  kurzer  Zeit  klinisch  fast  vollständig  aus. 

Selbstverständlich  wäre  es  im  Hinblick  auf  die  relativ  kurze 
Zeit  der  Beobachtungen  gewagt,  von  einer  klinischen  oder  ear 
anatomischen  Heilung  zu  sprechen:  Aber  zumindest  ist  die  Besse¬ 
rung  der  objektiven  und  subjektiven  Symptome  ganz  bedeutend 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


und  die  Kranken  ihrem  Berufe  erhalten,  bzw.  wiedergegeben  wor¬ 
den.  Es  ist  daher  der  Widerstand  mancher  Aerzte  gegen  die  ambu¬ 
latorische  Tuberkulinbehandlung  ganz  ungerechtfertigt. 

Was  nun  die  Methodik  anlangt,  so  herrscht  gerade 
in  der  letzten  Zeit  eine  gewisse  Meinungsverschiedenheit 
bezüglich  der  Dosierung.  Die  Einen  bevorzugen  die  Injek¬ 
tionen  kleinster  Tuberkulinmengen,  während  andere  1  uber- 
kulosethcrapeuten  in  Analogie  der  gewöhnlichen  Immuni¬ 
sierung  immer  steigende  Dosen  von  Tuberkulin,  so  wie  es 
Koch  Ursprünglich  angegeben  hat,  zur  Anwendung  bringen. 
Wright  hat  als  erster  auf  die  Vakzination  mit  kleinsten 
Dosen  hingewiesen,  da  er  hei  der  Kontrolle  des  opsonischen 
Index  schon  auf  die  geringen  Dosen  die  Beeinflussung  des¬ 
selben,  die  sogenannte  negative  Phase  eintreten  sah,  eine 
Beobachtung,  die  ich  in  der  früher  erwähnten  Arbeit  mit 
Dr.  Baecher  bestätigen  konnte.  In  jüngster  Zeit  treten 
auch  zahlreiche  deutsche  Autoren  für  die  Behandlung  mit 
kleinen  Dosen  ein,  da  durch  diese  die  Giftempfindlichkeit 
des  Organismus  gegen  Tuberkulin  erhalten  bleibt,  ln  dieser 
erblicken  sie  ein  Zeichen  der  Immunität,  indem  sie  mit, 
Hamburger  lannehmen,  „daß  ein  Individuum,  das  auf 
Tuberkulin  reagiert,  eine  gewisse  Immunität  gegen  neuer¬ 
liche  Infektionen  mit  kleinen  Mengen  von  Tuberkelbazillen 
besitzt:  die  Tuberkulinreaktion  wird  zum  Indikator  einer 
relativen  Immunität  gegen  neue  Tuberkuloseinfektionen“. 
Escherich  hat  von  dieser  Methode,  die  er  als  anaphy- 
lakltisi  eilende  bezeichnet,  sehr  gute  Erfolge  bei  Kin¬ 
dern  gesehen,  im  Gegensätze  zur  immunisierenden  Me¬ 
thode,  die  mit  immer  steigenden  Dosen  eine  Unempfindlich¬ 
keit  des  Organismus  gegen  Tuberkulin  bewirkt.  Die  über¬ 
wiegende  Zahl  der  Erfolge  der  Tuberkulinbehandlung  bei 
Erwachsenen,  die  in  der  Literatur  niedergelegt  sind,  rühren 
von  der  immunisatorischen  Tuberkulinbehandlung  her.  Die 
Anhänger  dieser  Methode  weisen  insbesondere  auf  die  Bil¬ 
dung  von  gewissen  Stoffen  (Antitoxin,  komplementbindende 
Substanzen)  hin,  die  unter  dem  Einflüsse  größerer  Dosen 
im  Blutserum  entstehen,  deren  Bedeutung  zwar  noch  nicht 
geklärt  ist,  die  aber  vielleicht  doch  in  irgendeiner  Beziehung 
zur  Immunität  stehen.  Es  scheint,  daß  unter  Umständen 
jeder  dieser  Wege  zum  Ziele  führen  kann.  Ich  bevorzuge 
die  immunisatorische  Methode,  verfüge  aber  auch  über  sehr 
gute  Resultate  bei  Befolgung  der  sogenannten  anaphylakti- 
sierenden  Methode.  Doch  muß  ich  wahrheitsgemäß  gestehen, 
daß  es  für  mich  nicht,  die  Methode  der  Wahl  war,  sondern 
daß  ich  mich  ihrer,  durch  die  zu  heftigen  Reaktionen  bei 
großen  Dosen  gezwungen,  bedienen  mußte.  Man  stößt  näm¬ 
lich  zuweilen  auf  Fälle,  die  höhere  Dosen  überhaupt  nicht  ver¬ 
tragen,  auf  solche  sofort  mit  hohem  Fieber,  schweren  All- 
gemeinerscheinungen  usw.  reagieren.  Bleibt  man  hier  bei 
niedrigen  Dosen,  so  fühlen  sich  die  Kranken  wohl  und  doch 
wird  auch  bei  diesen  Patienten  der  objektive  Befund  besser. 
Es  ist  hier  die  kleine  Dose  die  optimale  für  den  betref¬ 
fenden  Patienten.  Andrerseits  sehen  wir  in  der  großen 
Mehrzahl  der  Fälle  sehr  viel  Günstiges,  wenn  wir  —  nach 
Art  der  gewöhnlichen  Immunisierung  —  zu  immer  höheren 
Dosen  ansteigen. 

Allerdings  darf  die  Behandlung  nicht  in  der  Weise 
erfolgen,  wie  dies  bei  von  Schröder2)  zur  Warnung  vor 
dieser  Methode  mitgeteilten  Fällen  geschehen  ist,  die  nach 
Angabe  des  Autors  von  „gewissenhaften  Tuberkulinthera¬ 
peuten  in  sprungweisem  Vorgehen  zum  größten  Teil  bis  zu 
großen  Dosen  ohne  wesentliche  Reaktionen  lege  artis  im¬ 
munisiert  und  wesentlich  gebessert,  zum  Teil  geheilt  ent¬ 
lassen  waren“.  Bei  deni  mitgeteilten  Fall  II  wurde  jeden 
zweiten  bis  dritten  Tag  Alttuberkulin  bis  10  mg  injiziert.  Im 
ganzen  erhielt  der  Patient  sechs  Injektionen,  also  nach  sechs 
Injektionen  10  mg!  Daß  nach  der  letzten  Injektion  die 
Temperatur  auf  40°  anstieg  und  die  Spitze  frisch  ange¬ 
schoppt  wurde,  ist  nur  zu  begreiflich.  Bei  Fall  XV  wurden 
vom  22.  April  bis  15.  Juni,  also  in  55  Tagen  35  Injektionen, 


in  steigenden  Dosen  verabreicht,  also  fast  täglich  eine  In¬ 
jektion!  Daß  solche  Methoden  jede  Tuberkulinbehandlung 
zu  diskreditieren  vermögen,  ist  selbstverständlich. 

Was  die  Häufigkeit  der  Injektionen  anlangt,  so  in¬ 
jiziert  die  Mehrzahl  der  Tuberkulosetherapeuten  zu  Beginn 
der  Behandlung  zwei-  bis  dreimal  wöchentlich,  um  die 
Injektionen  hei  höheren  Dosen  in  größeren  Intervallen  folgen 
zu  lassen.  Mit  Rücksicht  auf  den  durch  Wright  erbrachten 
Nachweis,  daß  die  nach  jeder  Injektion  auf  tretende  negative 
Phase  erst  nach  fünf  bis  sechs  Tagen  der  positiven  weicht, 
injiziere  ich  nur  alle  sechs  bis  acht  Tage.  Die  dabei  erzielten 
Erfolge  waren  derart  zufriedenstellend,  daß  diese  Methode 
aufs  beste  empfohlen  werden  kann. 

Zum  Schlüsse  nur  noch  einige  Worte  über  die  Wahl 
des  Tuberkulinpräparates.  Wenn  es  zweifellos  richtig  ist, 
daß  der  Kundige  mit  jedem  Tuberkulinpräparate  in  ge¬ 
eigneten  fällen  Erfolge  erzielt,  so  scheinen  nach  meiner 
Erfahrung  wie  auch  nach  der  anderer  gewisse  Indikationen 
für  idie  einzelnen  Präparate  sich  zu  ergeben.  Für  chro¬ 
nische,  indurative  Formen  der  Lungentuberkulose  bewährt 
sich  am  besten  Kochs  Alt  tu  berkul  i  n  in  immer  stei¬ 
genden  Dosen  (Immunisierungsmethode),  für  gewisse,  eher 
dem  Zerfalle  zuneigende  Eorixi  verwende  ich  die  Bazillen¬ 
emu  1  s  i  o  n  N  e, u  t  u  b  e  r  k  u  1  i  n  K  o  c  h .  Hier  erscheint  die 
Verwendung  kleiner  Dosen  (Escherichs  anaphylaktisie- 
rende  Methode)  von  größerem  Nutzen  zu  sein.  In  schweren 
Fällen  kann  der  Beginn  der  Behandlung  mit  dem  Bera- 
neckschen  Tuberkulin,  dem  mildesten  aller  Tuberkuline, 
versucht  werden.  Jedoch  weiche  ich  bei  der  Verwendung 
dieses  Präparates  insofern  von  Sahli  ab,  daß  ich  ohne 
Scheu  relativ  rasch  zu  größeren  Dosen,  bzw.  zu  den  höheren 
Nummern  der  Beran  eck  sehen  Skala  ansteige,  um  dann 
nach  einer  gewissen  Zeit  auf  ein  Kochsches  Tuberkulin¬ 
präparat  überzugehen. 

Lange  Zeit  hat  die  Scheu  vor  dem  Tuberkulin  die 
österreichischen  und  speziell  die  Wiener  Aerzte  im  Banne 
gehalten.  Hoffentlich  wird  die  Tuberkulindebatte  in  dieser 
Gesellschaft  hei  manchen  von  Ihnen  die  Abneigung  vor 
dem  Tuberkulin  verscheuchen  und  Sie  zur  eigenen  Arbeit 
anregen,  die  Ihnen  die  Ueberzeugung  bringen  wird,  daß 
Petrus c h  k  i,  der  begeisterte  Vorkämpfer  des  Koch  sehen 
Tuberkulins,  Recht  hat,  wenn  er  sagt:  „daß  das  Tuber¬ 
kulin  in  der  Tat  alles  leistet,  was  von  einem  dia¬ 
gnostischen  und  therapeutischen  Spezifikum 
gegen  Tuberkulose  billigerweise  verlangt  wer¬ 
den  kann.“ 


Aus  dem  Ambulatorium  des  Verein  es  Kinderambulatox  ium 
und  Krankenkrippe  in  Prag. 

(Vorstand:  Prof.  Dr.  Raudnitz.) 

Die  schulhygienische  Bedeutung  der  lordoti- 
schen  Albuminurie. 

Von  Ludwig  Pieseu. 

Gelegentlich  der  Untersuchungen  Lurys1)  in  unserem 
Ambulatorium  befragten  wir  mehrere  Schulkinder,  welche 
auf  fünf  Minuten  lordotischen  Stehens  mit  hochgradiger 
Albuminurie  antworteten,  ob  sie  in  der  Schule  eine  be¬ 
stimmte  Sitzhaltung  einnehmen  müssen.  Namentlich  waren 
es  die  Mädchen,  welche  angaben,  daß  sie  bei  allen  Gegen¬ 
ständen,  wo  sie  zuzuhören  hätten,  mit  über  das  Kreuz  ver¬ 
schränkten  Armen  sitzen  müßten.  Wir  ließen  nun  solche 
Kinder  durch  fünf  bis  zehn  Minuten  in  der  ihnen  von  den 
Lehrpersonen  vorgeschriebenen  Haltung  sitzen  und  richtig 
erschien  bei  den  meisten  von  ihnen  darauf  Eiweiß  im  Harn. 
Gewöhnlich  nicht  so  viel,  wie  nach  fünf  Minuten  lordotischen 
Stehens. 


i)  Adolf  Lury,  Zur  Lehre  von  der  lordotischen  Albuminurie 
Jahrbuch  für  Kinderheilkunde  1910,  Bd.  72,  S.  705. 


2)  Brauers  Beiträge,  Bd.  14,  H.  4. 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Bevor  ich  nun  daran  gehen  durfte,  einen  allgemeinen 
Kreuzzug  gegen  das  sogenannte  ,, Schulsitzen“  zu  eröffnen, 
mußte  ich  mich  überzeugen,  ob  dessen  zumindest  nicht 
gleichgültige  Folge  auch  hei  ganz  kräftigen  Schulkindern 
auftritt.  Denn  unser  Material,  wie  es  Lury  verwendet  hat, 
besteht  eben  aus  kränklichen  Kindern;  der  überwiegende 
Teil  derselben  stand  in  Tuberkulinbehandlung.  Gut  gefärbte, 
ganz  gesunde  Kinder  waren  überhaupt  nicht  darunter. 

Mit  Bewilligung  des  k.  k.  deutschen  Bezirksschulrates 
in  Prag  und  mit  freundlicher  Unterstützung  des  Herrn  Direk¬ 
tors  Margolius  nahm  ich  meine  Untersuchungen  an  drei 
Klassen  der  deutschen  Knaben-Volks-  und  -Bürgerschule 
vor.  Es  wäre  sicher  noch  schlagender  gewesen,  die  Unter¬ 
suchungen  an  einer  Mädchenschule  durchzuführen,  aber 
das  Auffangen  des  Harns,  die  zahlreichen,  dazu  notwen¬ 
digen  größeren  Gefäße,  die  bei  den  Mädchen  gesteigerte 
Scham,  all  dies  ließ  mich  im  vorhinein  davon  Abstand 
nehmen. 

Ich  ging  so  vor,  daß  sämtliche  Kinder  einer  Klasse  den 
Harn  in  mit  ihren  Namen  und  Nummern  bezeichnet©  Gläser 
entleerten.  Alle  Harne  wurden  sofort  untersucht.  Dann  ließ 
ich  sie  fünf  Minuten  lordotisch  stehen  und  untersuchte 
(mit  Lury,  Raudnitz,  Winter)  10  bis  15  Minuten  später; 
während  welcher  Zeit  die  Kinder  dem  Unterrichte  in  ge¬ 
wöhnlicher  Weise  folgten,  neuerdings  alle  Harne.  Die  Größe 
der  Lordose  blieb  dem  Ermessen  jedes  Kindes  überlassen. 
Da  nach  Verlauf  einer  Stunde  sehr  viele  Kinder  noch  Ei¬ 
weiß  im  Harne  hatten,  so  wurde  der  zweite  Versuch  auf 
einen  anderen  Tag  verlegt.  Wiederum  mußten  zuerst  alle 
Harne  auf  Eiweiß  geprüft  werden,  dann  ließ  ich  die  Kinder 
zehn  Minuten  mit  über  das  Kreuz  verschränkten  Armen 
sitzen  und  begann  abermals  nach  einer  Viertelstunde  die 
zweite  Harnuntersuchung.  Die  Harnuntersuchungen  wurden 
mittels  Essigsäure  und  Ferrozyankalium  vorgenommen.  War 
eine  Trübung  auf  getreten,  so  wurde  vor  allem  der  unver¬ 
setzte  Harn  damit  verglichen  und  die  Kochprobe  angestellt, 
so  daß  die  Möglichkeit  einer  Verwechslung  mit  Uraten  voll¬ 
kommen  ausgeschlossen  war.  Ich  habe  provozierte  lordo- 
tische  Albuminurien  jeden  Grades,  von  leichter  Opaleszenz 
bis  hinauf  zu  20%o  (nach  Aufrecht)  angetroffen. 

Am  dritten  Tage  wurde  die  Körperlänge  der  beschuhten 
Kinder  an  einem  Militärmaß  gemessen,  und  gleichzeitig  im 
Liegen  die  Tastbarkeit  und  Beweglichkeit  der  Nieren  geprüft. 
Da  an  diesem  Tage  nicht  immer  alle  Kinder  in  der  Schule 
waren,  andrerseits  manche  durch  Pressen  jede  Untersuchung 
der  Baucheingeweide  unmöglich  machten,  so  stimmt  die 
Summe  der  gemessenen  und  auf  Nierenbeweglichkeit  ge¬ 
prüften  nicht  überein  mit  der  Gesamtsumme  der  überhaupt 
untersuchten  Kinder  der  betreffenden  Klasse.  Um  jede  Sug¬ 
gestion  bei  der  Nierenuntersuchung  auszuschließen,  wurde 
diese  derart  eingerichtet,  daß  der  Untersucher  nicht  wußte, 
ob  das  betreffende  Schulkind  auf  Lordose  mit  Albumin¬ 
urie  geantwortet  hatte.  Immerhin  ist  die  Untersuchung  auf 
.Nierenbeweglichkeit  durch  so  viele  Umstände  beeinflußt, 
daß  ein  sicheres  Urteil  eine  viel  größere  Zeit  in  Anspruch 
nimmt,  als  sie  uns  zur  Verfügung  stand.  Um  49  Kinder  zu 
untersuchen,  brauchten  wir  z.  B.  2V2  Stunden. 

Bei  der  dritten  Bürgerschulklasse  haben  wir  den  Er¬ 
folg  des  ,,'Schulsitzens“  ausschließlich  bei  jenen  Kindern 
geprüft,  (welche  nach  fünf  Minuten  lordotischen  Stehens 
Eiweiß  entleerten.  Da  aber  in  den  anderen  Klassen  das 
„.Schulsitzen“  bis  auf  einen  Fall  auch  nur  bei  solchen  Kin¬ 
dern  Albuminurie  hervorrief,  welche  dieselbe  nach  lordo¬ 
tischem  Stehen  zeigten,  so  darf  ich  die  in  der  betreffenden 
Klasse  gefundenen  Zahlen  ohne  jeden  Fehler  auf  die  Ge¬ 
samtheit  der  untersuchten  Fälle  beziehen. 

Ich  bezeichne  in  den  folgenden  Tabellen  als  „posi¬ 
tive“  jene  Kinder,  welche  Albuminurie  nach  lordotischem 
Stehen  oder  „Schulsitzen“  zeigen,  im  Gegensatz  zu  den 
„negativen“. 


Ges  amttabelle. 


Klasse 

Alter 

Zahl  1  Positive  nach 
der  5  Minuten 

Schüler  :  lordotischem  Stehen 

Positive  nach 

10  Minuten 
Schulsitzen 

III. 

ßiirger- 

schul- 

klasse 

13  bis  15 
Jahre 

56 

26  =  46-57«, 

16  =  28-67« 

I. 

ßiirger- 

schul- 

klasse 

11  bis  14 
Jahre 

66 

27  =  4O'l°/0 

9  =  13' 6  7« 

IV. 

Volks¬ 

schul¬ 

klasse 

9  bis  13 
Jahre 

25 

8  =  327« 

3  (von  24)  —  12'5°/0 

Das  Alter  der  Kinder  in  den  einzelnen  Klassen  spielt 
keine  deutliche  Rolle,  was  folgende  Tabelle  zeigt. 


Klasse 

Alter 

Negative 

Positive  =  70 

III. 

15 

2 

6  =  75°/0 

Bürger- 

1 1 

13 

13 

7  =  35"/,, 

Schul¬ 

klasse 

15 

13  =  46'/ 0 

I. 

14 

1 

0 

Bürger- 

13 

13 

13  =  50«/„ 

schul- 

12 

13 

10  ==  437,1 

klasse 

11 

10 

6  =  37-57«, 

IV. 

13 

1 

0 

12 

3 

| 

0 

Volks- 

1 1 

1  =  50 7„ 

4  =  50", „ 

schul- 

10 

4 

klasse 

9 

8 

3  =  27-2'Vo 

Dagegen  sind  die  größeren  Kinder  in  den  einzelnen 
Klassen  —  und  es  kamen  in  einer  und  derselben  Klasse 
unabhängig  vom  Aller  Längenunterschiede  bis  44  cm  vor 
—  deutlich  für  die  lordotisch©  Albuminurie  prädisponiert. 
Nur  wo  in  den  einzelnen  Längenkategorien  bloß  wenige 
Fälle  vorhanden  sind,  kommt  dieses  Gesetz  nicht  zum  Aus¬ 
druck. 


Klasse 

Länge 

Negative 

Positive  =  °/0 

171 — 177  cm 

0 

3  =  100°/0 

III. 

161  170 

5 

5  =  50"'« 

Bürger- 

151  160  » 

10 

10  =  50"/0 

schul- 

1 41  -150  » 

9 

6  =  407« 

klasse 

133-140  „ 

4 

1  =  207„ 

I. 

151—164  cm 

3 

7  =  707 0 

Bürger- 

141-150  » 

13 

13  =  50°/„ 

schul- 

131-140  » 

16 

6  =  27-57« 

klasse 

125-  129  » 

1 

1  -  507« 

IV. 

140  —143  cm 

3 

0 

Volks- 

130—139 

5 

8  =  6L57«, 

Schul¬ 

klasse 

122—129 

5 

1  =  16-67« 

Die  Beweglichkeit  der  Nieren  als  Bedingung  für  das 
Auftreten  der  lordotischen  Albuminurie  geht  aus  Lurys 
Experimenten  (unzweifelhaft  hervor.  Meine  statistischen 
Untersuchungen  haben  lange  nicht  dieselbe  Beweiskraft, 
obzwar  auch  sie  für  die  gleiche  Tatsache  sprechen.  Einer¬ 
seits  war  ich  bei  der  Provozierung  der  Albuminurie  durch 
Lordose  auf  den  guten  Willen  der  Schüler  angewiesen, 
der  nicht  immer  vorhanden  war.  Ich  hätte  sonst  wahr¬ 
scheinlich  noch  mehr  positive  Fälle  gefunden.  Andrerseits 
ist  die  manuelle. Untersuchung  der  Nierenbeweglichkeit  trotz 
großer  Uebung  keine  vollkommen  verläßliche.  Es  ermüden 
auch  der  Untersucher  und  seine  Finger,  so  daß  vielleicht 
manche  Fälle  von  Nierenbeweglichkeit  nicht  erkannt  worden 
sind.  Ich  stelle  wieder  die  Ergebnisse  in  einer  Tabelle 
zusammen : 


n 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


Klasse 

Nieren 
tastbar  bei 

Davon  pos.  Fälle 

III. 

Bürger¬ 

schul¬ 

klasse 

35 

13  =  37"/0 

14 

9  =  643% 

ir 

Bürger¬ 

schul¬ 

klasse 

48 

19  =  39  6° '0 

8 

5  =  62-5% 

IvT 

Volks- 

schul- 

klasse 

17 

‘ 

7  =  41% 

5 

2  =  40% 

Ich  will  die  Ergebnisse  noch  in  folgender  Weise  for¬ 
mulieren. 


Klasse 

Positive 

Fälle 

Davon  Niere 
tastbar  bei 

Negative 
Fälle  I 

Davon  Niere 
tastbar  bei 

III. 

Bürger¬ 

schul¬ 

klasse 

22 

9  =  41u/0 

27 

5  =  18-5% 

I. 

Bürger¬ 

schul¬ 

klasse 

24 

5  =  20-8% 

32 

3  =  9-4% 

IV. 

Volks¬ 

schul¬ 

klasse 

9 

2  =  22% 

13 

3  =  23% 

Aus  meinen  Untersuchungen  folgere  ich: 

1.  Das  „Schulsitzen“  mit  auf  dein  Kreuz  ver¬ 
schränkten  'Armen  ist  schulbehördlich  zu  ver¬ 
bieten. 

2.  Die  Disposition  zur  Jordotischen  Albu¬ 
minurie  ist  im  selben  Lebensalter  um  so  größer, 
je  länger  das  Kind  ist.  Im'  übrigen  steigt  sie  mit 
d  e  m  Alte  r. 

3.  Auch  die  statistischen  Untersuchungen 
ergeben  die  Abhängigkeit  der  lordo tischen  Al¬ 
buminurie  von  der  Beweglichkeit  der  Nieren. 


Aus  der  Abteilung  für  Hautkrankheiten  und  Syphilis 
der  Allgemeinen  Poliklinik  in  Wien. 

Zur  Kenntnis  des  Herpes  zoster  generalisatus. 

Von  Priv.-Doz.  Di-.  GL  Nobl. 

Der  umgrenzten  Gruppe  von  Zosterformen,  deren  ur¬ 
sächliche  Momente  in  traumatischen  Nervenläsionen,  in 
Systemerkrankungen  und  entzündlichen  Veränderungen  der 
nervösen  Zentralorgane  und  ihrer  Hüllen,  sowie  in  toxischen 
und  medikamentösen  Einwirkungen  zu  erblicken  sind,  steht 
die  weitläufige  Kategorie  jener  meist  beobachteten  örtlichen 
Bläschenausbrüche  gegenüber,  für  welche  vorläufig  kein  ein¬ 
heitlicher  afferenter  Reiz  geltend  gemacht  werden  kann. 
Zur  ätiologischen  und  pathogenetischen  Aufhellung  dieser 
bald  sporadisch,  bald  gehäuft  auftretenden  spontanen  Erup¬ 
tionen,  sind  des  öfteren  Beobachtungen  herangezogen 
worden,  die  von  der  ursprünglichen  Begriffsbestimmung  des 
Prozesses,  in  vielfacher  Hinsicht  ein  abweichendes  Ver¬ 
halten  auf  weisen.  Obwohl  die  Definition  des  Herpes  zoster 
sich  nach  wie  vor  auf  Zustandsbilder  bezieht,  deren  Wesen 
in  dem  akuten  Aufschießen,  streng  halbseitig,  in  den  ku¬ 
tanen  Ramifikationsbezirken  des  Trigeminus  und  der  sen¬ 
siblen  Spinalnerven  lokalisierter,  wohl  charakterisierter, 
zyklich  ablaufender,  kolliquativer  Bläschengruppen  gegeben 
erscheint,  so  hat  die  vertiefte  klinische  Beobachtung  doch 
auch  die  morphologische  und  genetische  Zugehörigkeit  für 
vereinzelte  Vorkommnisse  erwiesen,  die  den  angeführten 
Kriterien  nur  teilweise  entsprechen.  In  dieser  Hinsicht  haben 
die  mitunter  registrierten  doppelseitigen  Zosterausbrüche, 
die  auf  ausgebreitete  Hautfelder  projizierten  Bläschen¬ 


schübe,  die  in  den  Dermatoinen  mehrere  benachbarter  oder 
dislozierter  Spinalganglien  auf  tretenden  Herpesaggregate, 
nicht  nur  die  Symptomatologie  bereichert,  sondern  auch 
für  den  neurogenen  Entstehungsmechanismus  des  Herpes 
zoster  allgemeinere  Erklärungsmöglichkeiten  geschaffen.  Die 
hei  den  gestreiften  atypischen  Erscheinungsformen  immer 
noch  deutlich  ausgesprochene  Wechselbeziehung  zwischen 
der  kutanen  Anordnung  der  Bläschenausbrüche  und  den 
durch  individuelle  Variation,  Anastomosen-  und  Ansabil- 
dungen  vielfach  variierenden  peripheren  Verteilungsbezirken 
der  Spinalnerven,  tritt  aber  völlig  in  den  Hintergrund  bei 
jenen,  bisher  nur  vereinzelt  beobachteten  Ausschlägen,  die 
in  regellosen  Einstreuungen  die  gesamte  Hautoberfläche 
übersäen. 

Von  der  charakteristischen  Erscheinungsweise  dieser 
e x a n I  h e m a t i s c h  disseminierten,  hämorrhagi¬ 
schen  und  gangränösen  .Zosterform  hat  sich  die  Ge- 
sellschafl  der  Aerzte  an  dem  Patienten  überzeugen  können, 
den  ich  im  Höhestadium  des  Ausbruches  am  2.  Dezember 
v.  J.  zu  demonstrieren  Gelegenheit  fand.  Die  genauere 
Beschreibung  dieses  einen  gut  entwickelten,  rüstigen  74jäh- 
rigen  Mann  betreffenden  Falles,  erscheint  um  so  eher  ge¬ 
rechtfertigt,  als  er  die  zum  Teil  mit  Recht  angezweifelte  uni¬ 
verselle  Zosterverbreitung  in  einwandfreier  Weise  zu  er¬ 
härten  geeignet  ist  und  gerade  Beobachtungen  dieser  Art 
immer  wieder  zur  Bekräftigung  des  infektiösen  Ursprungs 
der  Gürtelrose  herangezogen  werden. 

Die  weitläufige  Anamnese  des  Kranken  weist  keine  Daten 
auf,  denen  für  die  jetzige  Erkrankung  eine  disponierende  Be¬ 
deutung  beizumessen  wäre.  Chronische  Infektionskrankheiten  sind 
nicht,  vorausgegangen,  der  Patient  war  nie  dein  Potus  ergeben  und 
stand  niemals  unter  der  Einwirkung  andauernd  verabreichter 
Medikamente  (Arsen,  Morphium,  Salizyl,  Quecksilber,  Jod).  Fünf 
Tage  vor  der  Aufnahme  setzten  unter  leichten  Fiebererscheinun¬ 
gen  und  Frösteln  Abgeschlagenheit,  Halsschmerzen  und  Glieder¬ 
reißen  ein.  Trotz  Bettruhe  nehmen  die  Beschwerden  zu  und 
konzentrieren  sich  als  intensive,  das  Atmen  erschwerende 
stechende  Schmerzen  auf  die  linke  Rumpfhälfte,  um  von  hier 
aus  auf  das  Bein  und  den  Ami  auszustrahlen.  Der  hinzu¬ 
getretene  Ausschlag  bestimmt  den  Kranken,  am  1.  Dezember  die 
A  nstal  t  auf  zu  suchen . 

Bei  der  Demonstration  läßt  sich  auf  ein  Exanthem  lun- 
weisen,  das  in  dichteren  Einstreuungen  über  den  Rücken,  die 
Rauch-  und  Lendengegend  verbreitet  ist  und  in  mehr  schütteren 
Schüben  die  Brust,  den  Penis  und  die  Oberschenkel  einnimmt. 
An  allen  Standorten  prävalieren  hanf-  und  schrotkorngroße,  deut¬ 
lich  prominente,  von  breiten,  erythematösen  Höfen  umgebene, 
derbwandige  Bläschen,  deren  resistente,  in  der  Mitte  gedeihe 
Decke,  ein  spärliches,  molkig  getrübtes,  bis  blauschwarz  hämor¬ 
rhagisch  verfärbtes  Exsudat,  durchschimmern  läßt.  Ali I  diesen 
typischen,  varizellenähnlichen  Effloreszenzen  alternieren  auf  ery- 
thernatösem  Grunde  aufsitzende,  hirsekorngroße,  kaum  vorsprin¬ 
gende  Knötchen,  die  noch  keine  blasige  Abhebung  erkennen  lassen 
und  einzelne,  zu  nekrotischen,  graugrünen  bis  schwärzlichen,  fest¬ 
haftenden  Schorfen  eingetrocknete  Bläschen. 

Den  gangränösen  Charakter  haben  einzelne  Bläschen  an  der 
Stirnhaargrenze,  am  Kinn,  den  Genitokrnralfalten  und  in  der 
Lendengegend  angenommen.  Der  hämorrhagisch  imbibierte  Blasen¬ 
grund  ist.  vorzüglich  an  Effloreszenzen  der  seitlichen  Thorax¬ 
partien  anzutreffen,  während  die  dichter  gestellten  Einstreuungen 
der  mittleren  und  unteren  Rückengegend,  sowie  die  nur  vereinzelt 
auf  die  Streck-  und  Beugefläche  der  Oberschenkel  vorgeschobenen, 
neben  den  knötchenförmigen  Abortivformen,  hauptsächlich  den 
rothaloni erten,  grauopaken  Bläschentypen  angehören.  Diesen  re¬ 
gellos^  eingestreuten  Ausschlag  vervollständigt  ein  typisch  aus¬ 
geprägter  Herpes  zoster  gangraenosus  im  Ramifikations- 
bezirk  des  linken  dritten  Dorsalnerven,  dessen  nicht  gruppierte 
Bläschenschübe  am  Bücken  die  gangränöse  Umwandlung,  in  der 
Achselhöhle  den  sanguinolenten  Inhalt  und  nekrotischen  Cha¬ 
rakter,  an  der  Innenseite  des  Oberarmes,  neben  vollentwickelten 
Beständen,  auf  erythematösen  Flächen  sitzende  Abortivformen 

auf  weisen.  .  . 

Die  regionären  Lymphdrüsen  der  Achselhöhle  mäßig  lntumes- 
ziert,  kaum  druckempfindlich,  die  Lymphknoten  im  Bereich  des 
dispersen  Exanthems  unverändert.  Die  inneren  Organe  bieten 
keine  wesentlichen  Abweichungen  von  der  Norm.  Die  palpciblen 
Gefäße  sind  dem  Alter  entsprechend  sklerosiert.  Der  Harn  zeigt 
Spuren  von  Eiweiß  und  Indikan.  Im  Sediment  Kalkoxalate,  ein- 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  RILL 


zelne  Leukozyten.  Das  Blutbild  ergibt  eine  mäßige  Leukozytose 
und  geringen  Anstieg  der  eosinophilen  Zellen  (6%).  Von  einer 
zytologischen  Untersuchung  der  Zerebrospinalflüssigkeit  wurde 
Abstand  genommen.  Die  Temperatur  hält  sich  seit  dem  vollen 
Ausbruch  des  Exanthems  in  normalen  Grenzen.  Die  Sensibilitäts¬ 
prüfung  ergibt  ausschließlich  an  der  linken  oberen  Rumpfhälfte 
und  am  linken  Anne  eine  ausgesprochene  Hyperalgesie.  Line 
genauere  Abgrenzung  der  hyperästhetischen  und  hyperalgetischen 
Zonen  ist  bei  den  wechselnden  Angaben  des  Patienten  nicht  durch¬ 
zuführen.  Sensible  Reizerscheinungen  sind  im  Bereiche  der  exan- 
thematischen  Einstreuungen  nicht  nachzuweisen,  auch  sind  be¬ 
züglich  der  Empßndungsqualitäten  an  allen  übrigen  Hautgebieten 
der  Norm  entsprechende  Verhältnisse  festzustellen.  Die  Häut¬ 
end  Sehnenreflexe  sind  prompt  auslösbar. 

Der  Patient  klagt,  über  Heftige  neuralgische,  als  brennend 
und  reißend  bezeichnet©  Schmerzen,  die  er  in  die  weitere  Um¬ 
gebung  des  systemisierten  Zoster  verlegt  und  in  den  tieferen 
Texturen  zu  empfinden  glaubt. 

In  den  zwei  nächsten  Tagen  traten  noch  einzelne  neue 
Bläschen  an  der  rechten  Halsseite,  am  Thorax  rechts  und  an 
der  linken  Lendengegend  hinzu,  welche  Nachschübe  durchwegs 
das  typische  Aussehen  der  von  erytliematösen  Höfen  umgrenzten 
Zosterelemente  darboten.  In  der  Folge  ging  die  Schrumpfung 
prompt  vor  sich,  so  daß  nach  zwei  Wochen  nur  mehr  singu¬ 
läre,  schwarzbraune,  glatte  Börkchen,  scharfumgrenzte,  seichte 
Narben  und  rote,  schilfernde  Flecke  den  Sitz  der  Aussaat  an¬ 
zeigten.  Der  gleiche  Rückgang  war  im  Bereich  des  systemi- 
sierten  Zosters  festzustellen,  dessen  tiefreichende  brandige  Rücken¬ 
herde  jedoch  bisher  noch  innig  mit  dem  nekrotischen  Papillar¬ 
körper  verlötet  sind. 

Der  akute  Ausbrucli  des  aus  einzelstehenden,  ty¬ 
pischen  Bläschen  gebildeten  Ausschlages  im  Bereiche  des 
Gesichtes,  am  Hals,  dem  Stamm  und  den  Oberschenkeln, 
im  Anschluß  an  den  dorso- brachialen  Herpes  zoster,  ließ 
keinen  Zweifel  darüber  aufkommen,  daß  es  sich  hier  um 
Erscheinungen  eines  einheitlichen  Prozesses  handelt.  Die 
strenge  Zusammengehörigkeit  aller  Exanthemkomponenten, 
ging  überdies  überzeugend  aus  der  Uebereinstimmung  der 
verschiedenen  Entwicklungsforinten,  der  Wiederkehr  der 
gleichen  Evolutionsphasen  und  dem  analogen  Bau  der  Ef- 
floreszenzen  an  allen  Standorten  hervor.  Gleich  der  syste¬ 
misierten  Eruption,  setzt  sich  die-  regellos  über  den  Körper 
verbreitete  Aussaat  hauptsächlich  aus  wohlcharakterisierten 
schrotkorngroßen,  dickwandigen,  .gedeihen  Bläschen  zu¬ 
sammen,  die  von  erythtematösten  Höfen  umgeben  werden. 
Daneben  sind  singuläre  Erythemknötchen,  gleich  einzelnen 
auf  erytliematösen  Grund  erscheinenden  nodulären  Aggre¬ 
gaten  im  Verbreitungsgebiet  des  Herpes  zoster,  als  abortive 
Vorstufen  anzusprechen.  Des  weiteren  sieht  man  als  Aus¬ 
druck  der  intensiveren,  tiefdringenden  Gewebsschädigung, 
die  in  den  Zosterherden  vertretenen  hämorrhagischen  und 
gangränösen  Höhetypen,  auch  in  der  generalisierten 
Bläscheneruption  deutlichst  ausgebildet  und  auch  hier  zum 
Teil  mit  residualer  Narbenbildung  zum  Ausgleich  gelangen. 

Die  fdem  Zoster  zukommende  strukturelle  Eigenart  ist 
in  allen  kennzeichnenden  Merkm'alen  an  ausgehobenen  Bläs¬ 
chen  des  Stammes  wiederzufinden.  Der  in  den  tiefen  Rete¬ 
schichten  ablaufende  degenerative  Abbau  des  Epithels  zeigt, 
die  typische,  von  Unna  hervorgehobene  und  neuerdings1 
von  Kreibich  für  die  angioneurotische  Entzündung  als 
pathognostisch  erachtete  Form  der  Koagulationsnekrose. 
Unter  der  dickschaligen  Abhebung  ein  spärliches  fibrinöses 
Exsudat,  dem  die  aus  ihren  Verbindungen  getretenen 
vakuolisierten,  zu  vielkernigen  Schollen— verschmolzenen, 
abgerundeten  Epithelzellen  beigemengt  erscheinen.  An  die 
degenerierte  Epithelschicht  grenzt  der  leukozytär  infiltrierte 
Papillarkörper. 

Dieser  in  kürzester  Zeit,  vor  sich  gehende  ballonie- 
rende  Degenerationsvorgang  ist  sicherlich  geeignet,  die  Son¬ 
derstellung  der  einkämmerigen  Zosterbläschen  darzutun 
und  bei  der  Bestimmung  in  ihrer  Zugehörigkeit  fraglicher 
Exantheme  als  Direktive  zu  dienen.  Doch  ergeben  sich  im 
histologischen  Bilde  anderer  kolliquativer  Bläschenschübe 
mitunter  so  weitreichende  Analogien  in  der  Gerinnungs¬ 
form,  daß  es  kaum  ratsam  erscheint,  aus  dem  Gewebs- 


verhalten  allein,  die  Zosternatur  eines  Exanthem's  er¬ 
schließen  zu  wollen.  Das  Gleiche  gilt  für  die  makroskopisch- 
Wertung  der  diskret  stehenden  Körperblüten,  zumal,  wenn 
es  sich  nur  um  spärliche,  des  typischen  Aussehens  en!- 
ratende,  rudimentäre  Einstreuungen  handelt,  wie  dies  für 
eine  Reihe  der  in  der  Literatur  als  Exempel  der  Zoster¬ 
generalisierung  ausgewiesenen  Beobachtungen  zutrifft.  Daß 
in  dieser  Hinsicht  selbst  die  gründlichste  Schulung  mitunter 
nicht  vor  Irrtümern  zu  bewahren  vermag,  bezeugt  am  besten 
ein  Fall  von  De  Ami c'is,  der  bis  heute  noch  in  verschie¬ 
denen  Beiträgen  zur  Zosterpathologie,  als  klassisches  Bei¬ 
spiel  der  generalisierten  Eruption  angeführt  erscheint,  ob¬ 
wohl  der  Autor  selbst,  nach  fortgesetzter  Beobachtung  des 
Patienten,  zur  Ueberzeugung  gelangen  mußte,  daß  es  sich 
um  eine  Dermatitis  herpetiformis  bandelte  (Dermatologi¬ 
scher  Kongreß,  Paris  1889k  Riehl  weiß  sich  einer  Kranken 
der  Klinik  G.  Braun  zu  erinnern,  bei  welcher  ein  Exan¬ 
them  anfänglich  von  einem  Schüler  Auspitz’  als  univer¬ 
seller  Zoster  angesprochen  wurde,  während  es  sich  um 
Variola  handelte  (Wiener  dermatologische  Gesellschaft, 
28.  April  1909). 

Nach  den  bisherigen  Erfahrungen  muß  die  örtliche, 
systemi  sierte  Zostereruption  als  das  Kardinal¬ 
phänomen  des  Erscheinungskomplexes  hingestellt  wer¬ 
den,  dessen  typisch  entwickelte  Elementarläsionen  erst  die 
eindeutige  Einschätzung  der  generalisierten  Aussaat  ermög¬ 
lichen.  Der  regionäre  Zosterausbruch  ist  gleichsam  als  Pri¬ 
märaffekt  zu  betrachten,  von  dem  die  Verallgemeinerung 
den  Ausgang  nimmt  und  muß  der  Nachweis  desselben  vor¬ 
läufig  noch  als  unerläßliches  diagnostisches  Postulat,  ge¬ 
fordert  werden. 

Gleich  dem1  von  mir  demonstrierten  Fälle  scheinen  über¬ 
dies  die  wenigen  zur  allgemeinen  Kenntnis  gelangten  Beob¬ 
achtungen 'darauf  hinzudeuten,  daß  hauptsächlich  die  schwe¬ 
reren  Zosterkateigorien  zur  Disseminierung  neigen.  Li  pp, 
der  wohl  als  erster  .über  ein  Zosterexanthem  am  Stamm 
und  den  Extremitäten  berichtete  (Deutsche  dermatologische 
Gesellschaft  Prag  1889),  sprach  einen  schweren  pektoralen 
Herpes  als  Initialläsion  an.  In  einem  Falle  W asielewskis 
aus  der  Klinik  Leyden,  war  die  Aussaat  gleichfalls  an 
einen  fieberhaft  verlaufenden  Zoster  pectoralis  gebunden 
(Jena  1892).  Die  Beiträge  von  Pennetti  und  Pugliesi 
(Rif.  med.  1890,  1891)  verzeichnen  den  doppelseitigen  Zoster¬ 
ausbruch  als  Vorläufer  des  Ausschlags.  Bei  zwei,  in  die 
Jahre  1894  und  1899  fallenden  Beobachtungen  Haslunds 
(Festschrift  Kaposi  1900)  erscheinen  zunächst  gangrä¬ 
nöse  örtliche  Eruptionen.  Die  gangränöse  Ausgangsform 
sehen  wir  in  den  Beobachtungen  von  Beyer  (Zoster  inter- 
c.ostalis;  Archiv  für  Dermatologie  1906)  und  Weidenfeld 
(Zoster  cervicalis ;  Wiener  dermatologische  Gesellschaft, 
25.  Februar  1908)  wiederkehren.  In  letzterem  Falle  ist  die 
Disseminierung  nur  durch  vier  verkrustende  hämorrhagi¬ 
sche  Bläschen  an  verschiedenen  Körperstellen  angedeutet. 
K.  Ullmann  referiert  in  der  Wiener  dermatologischen  Ge¬ 
sellschaft,  (11.  März  1908)  über  die  Krankengeschichte  eines 
von  ihm  im  Jahre  1906  diagnostizierten  Falles,  bei  welchem 
die  exanthematische  Ausbreitung  typischer  Herpesbläschen 
einen  rechtseitigen  gangränösen  Zoster  dorso -pectoralis 
komplizierten.  In  prägnanter  Weise  illustriert  weiterhin  die 
Wechselbeziehung  des  Flauptherdes  und  des  Semimums, 
ein  von  Fasal  (Archiv  für  Dermatologie  1909)  beschriebener 
äußerst  'schwerer,  febril  verlaufender,  brandiger  Zoster  oph¬ 
thalmicus,  in  dessen  Verlauf  vielfach  auch  die  nekrotische 
Umwandlung  der  Körperherde  zu  verfolgen  war.  In  jüngster 
Zeit  noch  demonstrierte  Lip schütz  eine  56jährige  brau 
mit  bilateralem  Herpes  zoster  frontalis,  als  dessen  feil- 
phänomene  vier  papulo- vesikulöse  Effloreszenzen  des 
Stammes  angesprochen  wurden.  Bei  dieser  Gelegenheit 
(Wiener  dermatologische  Gesellschaft,  28.  April  1909)  wies 
Ehrmann  darauf  hin,  daß  bei  vier,  von  ihm  im  Laute 
der  Jahre  registrierten  Beobachtungen  stets  .  gangränöse 
Zosteren  (Trigeminus  lumbo-sacralis)  den  van  zellenförmi¬ 
gen  Exanthemschub  einleiteten. 


16 


Nr.  I 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1011. 


Für  die  Deutung  des  idiopathischen  Herpes  zoster  im 
Sinne  einer  akuten  spezifischen  Infektionskrankheit  ver¬ 
mochte  die  von  mir  verfolgte  Generalisierung  keine  ver¬ 
läßlicheren  Anhaltspunkte  zu  bieten,  als  welche  ge¬ 
wöhnlich  zugunsten  dieser  Auffassung  ins  Feld  geführt 
worden.  Obwohl  dieser  Ausbruch  von  mehreren  schweren 
Zosterfällen,  die  wir  in  den  letzten  Wochen  zu  sehen  Ge¬ 
legenheit  hatten,  zeitlich  nicht  allzuweit  getrennt  war,  so 
bestätigt  dies  nicht  mehr,  als  das  bekannte  häufigere  Auf¬ 
treten  der  Erkrankung  in  bestimmten  Zeitperioden.  Die 
bisher  ausgewiesenen  Epidemien  müssen  um  so  vorsichtiger 
bewertet  werden,  als  sich  dieselben  meist  nur  auf  in  aus¬ 
gedehnteren  Zeitläufen  (Kaposi,  40  Fälle  in  vier  Monaten, 
1888  bis  1889;  ,Sac.hs,  30  Fälle  in  fünf  Monaten,  1901) 
und  noch  dazu  an  dermatologischen  Zentralstationen  von 
Großstädten  verfolgte  Beobachtungen  beziehen  und  über¬ 
dies  noch  in  die  -Statistiken,  der  sicherlich  nicht  zuge¬ 
hörige  Herpes  simplex  einbezogen  wird  (Z  immer  lin 
1883).  Die  gleiche  Reserve  ist  jenen  Beobachtungen  gegen¬ 
über  geboten,  welche  die  Uebertragung  von  Person  zu  Per¬ 
son  und  hiemit  die  Kontagiosität  des  Zosters  erhärten  sollen 
(Erb  1882,  Pud  or  1900,  N  eis  set;  Sachs  1904). 

Von  Begleiterscheinungen  infektiöser  Exantheme 
machten  sich  im  demonstrierten  lalle,  neben  deutlichen 
Prodromalsymptomen  und  initialem  Fieber,  regionäre 
Drüsenschwellung  und  Leukozytose  geltend.  Namentlich 
die  einleitende  Mattigkeit,  die  neuralgischen  Schmerzen, 
sowie  der  präeruptive  Temperaturanstieg,  waren  sicherlich 
geeignet,  einen  Invasionszustand  nahe  zu  legen.  Zu  einer 
I ntumeszenz  der  Lymphdrüsen  in  palpatorisch  nachweis¬ 
barer  Größe,  war  es  jedoch  nur  im  Gebiete  des  systemi- 
sierten  Zosters  gekommen  und  auch  die  Vermehrung  der 
neutrophilen  und  eosinophilen  polymorphkernigen  Leuko¬ 
zyten  hielt  sich  in  den,  bei  örtlichen  Eruptionen  beobach¬ 
teten  Grenzen. 

Was  jedoch  die  Deutung  der  Generalisierung  des  Aus¬ 
schlages  betrifft,  so  gestattet  letztere,  abgesehen  von  der 
enormen  Seltenheit,  mit  welcher  sie  den  örtlichen  Zoster 
zu  komplizieren  pflegt,  keineswegs  eine  Gleichstellung  mit 
den  akuten  Exanthemen.  Für  diese  ist  wohl  mit  Sicherheit  an¬ 
zunehmen,  daß  die  supponierten  Krankheitserreger  auf  dem 
Wege  der  Blutbahn  die  Peripherie  erreichen  und  kapillare 
Hautembolien  die  Exantheme  provozieren.  Der  gleiche  Vor¬ 
gang  ist  aber  bei  der  längst  als  unhaltbar  erwiesenen  und 
widerlegten  hämatogenen  Theorie  L.  Pfeiffers  (1889), 
weder  für  den  lokalen  (Kaposi,  Weis,  B  lasch  ko)  noch 
für  den  exanthemäti sehen  Zoster  geltend  zu  machen. 

Nach  den  Ergebnissen  sorgfältiger  anatomischer  Unter¬ 
suchungen  v.  Baerensprung,  Head  und  Campbell, 
Marburg  (1902),  Dej  eri  ne -Thomas  (1907),  Schwarz 
(1909)  — ,  klinischer  Feststellungen  —  Rouget,  Re- 

gnaud,  Paget,  Thomas,  Cushing,  Jackson  und 
v.  a.  —  und  experimenteller  Prüfungen  —  Kreibidh 
kann  es  heute  keinem  Zweifel  mehr  unterliegen, 
daß  Zostereruptionen  ausschließlich  nur  durch  Ver¬ 
mittlung  des  Nervensystems  Zustandekommen  und  die 
an  der  Haut  sich  abspielenden  entzündlichen  und  nekro- 
biotischen  Phänomene  selbst,  keinen  infektiösen  Ursprung 
haben.  Hiebei  ist  für  den  idiopathischen  unkomplizierten 
Zoster  die  Annahme  keineswegs  von  der  Hand  zu  weisen, 
daß  die  auslösende  Noxe  der  nervösen  Störungen  von  einem 
bakteriellen  Virus  stammt,  dessen  primäre,  elektive  Angriffs¬ 
punkte  vorzüglich  in  die  Spinalganglien  und  das  Ganglion 
Gasseri  und  möglicherweise  auch  in  periphere  Vasomo¬ 
torenzentren  zu  verlegen  sind.  Der  engere  pathoge¬ 
netische  Zusammenhang  der  örtlichen  systemisierten 
und  der  allgemeinen  Bläscheneruption  aber  wird  dem 
Verständnis  näher  geführt,  wenn  man  die  im  de¬ 
monstrierten  Falle,  gleichwie  in  allen  bisherigen,  zuge¬ 
hörigen  Beobachtungen,  verfolgte  Abhängigkeit  der  Er- 
nährungs Störung  im  Bereiche  der  disseminierten 
Aussaat  von  den  intensiven  Schädigungen  (Ka¬ 
pillar-  und  Epithelnekrose)  im  Projektionsfeld 


eines  Spinal  ganglions,  in  Berücksichtigung  zieht.  Es 
erübrigt  sich  hiebei  vollkommen  zu  der  mehr  als  hypo¬ 
thetischen  Annahme  Zuflucht  zu  nehmen,  daß  gleichzeitig 
verschiedene  ungleich  empfindliche  nervöse  Zentren  in  wech¬ 
selnder  Intensität  erregt  und  geschädigt  werden,  wenn  man 
den  Herpes  zoster  als  vasomotorisches  Phänomen 
betrachtet,  das  ähnlich  der  neurotischen  Hautgangrän,  auf 
spätreflektorischem  Wege  zustande  kommt.  Zahlreiche 
neuere  Untersuchungen  —  Bruck  (1906),  Bettmann 
(1907)  _  haben  bewiesen,  daß  die  Frage  der  reflektori¬ 
schen  Voraussetzungen  für  eine  Reihe  von  Dermatosen  eine 
höhere  Berücksichtigung  rechtfertigt,  als  ihr  seit  der  ein¬ 
seitigen  Betonung  der  chemisch -toxischen  Zusammenhänge 
eingeräumt  wird.  Die  von  Eulenburg  auf  gestellte  und 
durch  die  experimentellen  Ergebnisse  Kreibichs  (1905; 
wesentlich  geförderte  Angioneurosenlehre,  hat  ja  ursprüng¬ 
lich  vom  Herpes  zoster  den  Ausgang  genommen  und  gestatten 
die  Weitreichenden  klinischen  und  anatomischen  Analogien, 
welche  sich  zwischen  dem  experimentell  bei  der  neuro¬ 
tischen  Hautgangrän  provozierten  Bilde  und  der  spontanen 
Erscheinungsform  ergeben,  den  Zoster  heute  wieder  als  vaso- 
dilatato rische  Veränderung  anzusprechen.  Als  Ausdruck  der 
sympathischen  Reflexneurose  ist  die  initiale  entzündliche 
angioneuro tische  Gefäßwandschädigung  in  den  Hautblüten  zu 
betrachten,  die  zunächst  ein  diktatorisches  Oedem  bedingt 
und  die  Epithelneurose  nach  sich  zieht.  Die  Erregung  der 
sympathischen  Vasodilatatorenzentren  wieder,  wird  durch 
sensible  Bahnen  vermittelt,  wobei  die  Erkrankung  des  Spinal¬ 
ganglions  den  afferenten  Reiz  des  Reflexes  bildet.  Von  hier 
langt  die  Erregung  aufsteigend  in  das  Rückenmark  und  wird 
auf  sympathische  Ganglien  übertragen.  Durch  Reizung  dieser 
entsteht  das  vasomotorische  Phänomen.  Die  Rückkehr  des 
Phänomens  in  die  Reizquelle  erklärt  die  intensiven  örtlichen 
Erscheinungen  im  Hautgebiet  der  zugehörigen  Nerven¬ 
bahn,  während  die  Generalisierung  nach  den  Befunden 
Kreibichs,  [mit  einer  gleichzeitigen  Fortleitung  des  abge¬ 
schwächten  vasomotorischen  Reizes  längs  des  Rückenmarks 
auf  weitere  sympathische  Zentren,  in  gute  Uebereinstim- 
mung  zu  bringen  wäre. 


Aus  dem  bakteriologischen  Laboratorium  des  Infektions¬ 
spitals  (Civico  ospedale  di  S.  M.  Maddalena)  in  Triest 
(Direktor:  Primararzt  Dr.  A.  Marcovich.) 

Zur  Verwendung  der  Blutplattenmethode  und 
der  Komplementbindungsreaktion  in  der  Dia¬ 
gnose  sporadischer  Cholerafälle. 

Von  Dr.  M.  Gioseffi,  Assistenzarzt. 

Im  Anschluß  an  Prof.  R.  K  r au  s’  Mitteilung x)  über  die 
gelegentlich  der  im  vorigen  Sommer  in  Wien  und  Spandau  auf¬ 
getretenen  sporadischen  Choleraerkrankungen  angestellten  wei¬ 
teren  Versuche  mit  der  Blutplattenmethode  möge  über  das  hä¬ 
molytische  Verhalten  des  aus  unserem  sporadischen  Cholera¬ 
falle  frisch  gezüchteten  Vibrio  berichtet  werden. 

Die  Untersuchungen,  welche  ich  auf  Anregung  meines  hoch¬ 
geehrten  Chefs,  des  Direktors  Dr.  A.  Marcovich,  im  bakterio¬ 
logischen  Laboratorium  des  Magdalenen.  Infektionsspitals  vor¬ 
zunehmen  Gelegenheit  hatte,  wurden  sowohl  auf  der  Bildplatte 
als  in  Blntbouillonkulturen  angestellt. 

Der  untersuchte  Vibrio  stammt  aus  dem  am  25.  Oktober 
von  Butigliano  hei  Bari  auf  einem  Dampfer  abgereisten  und  nach 
siebentägigem  Zwischenaufenthalte  in  Venedig  am  1 3.  Oktober 
zu  Schiff  nach  Triest  angekommenen  italienischen  Arbeiter  G.  P. 
Wegen  Raufhandel  am  14.  Oktober  verhaftet,  erkrankte  er  in  der 
Nacht  vom  14.  auf:  den  15.  Oktober  im  Polizeiarrest  in  Triest 
und  wurde  am  15.  Oktober  in  unser  Isolierspital  gebracht.  Uebei 
die  Herkunft  der  Infektion,  welche  offenbar  in  Italien  erfolgt 
sein  dürfte,  konnte  nichts  Näheres  in  Erfahrung  gebracht  werden. 
Sechs  Mithäftlinge  und  fünf  Wohnungsgenossen  des  Kranken, 
ebenso  14  Personen,  welche  gemeinsam  mit  dein  Kranken  zu 

-  ■  ■  (  i  ■  ;  1  I 

i)  R.  Kraus  und  Fr.  Müller,  Zur  Frage  der  Blutplalten- 
methode,  Agglutinabilität  und  Giftbildung  frischer  Choleravibrionen.  Wiener 
klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  44. 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


17 


Schiff  in  Triest  ankamen,  sind  weder  erkrankt,  noch  waren  sie  I 
Parasiten  träger. 

Der  Kranke  wurde  am  18.  November  geheilt  und  vibrionen¬ 
frei  entlassen. 

Mor  ph  ologi  sehe,  kul  tur  eile  und  biologische  Charak- 
t  e  re  des  gezüchteten  Vibrio. 

AI  ittelgroßer,  etwas  dicker,  mäßig  stark  gebogener,  lebhaft 
beweglicher  Vibrio  (lSstündige  Agarkultur). 

In  Gelatineplatten  bildet  der  Vibrio  nach  18  Stunden 
stark  lichtbrechende  Kolonien  von  granuliertem,  leukozytenartigem 
Aussehen,  mit  beginnender  Verflüssigung  nach  48  Stunden. 

Auf  (der  Agarplatte  sind  im  durchfallenden  Lichte  opales¬ 
zierende,  irisierende,  auf  der  D  rigalskyp  latte  schön  blau- 
gefärbte  Hache  Kolonien  zu  beobachten. 

Im  Ag ä r s  t  r  i  ch  nichts  Charakteristisches ;  keine  Phos¬ 
phoreszenz. 

Inf  Gel  at  inestich  beginnende  Verflüssigung  nach 
24  Stunden,  die  sich  später  trichterförmig  nach  unten  erweitert, 
mit  Bildung  einer  Luftblase  am  größten  Umfange  des  Trichters. 

ln  Bouillon  (auch  Ragitbouillon)  starke  Trübung  mit 
Bildung  eines  in  den  ersten  12  bis  24  Stunden  zarten  Häutchens, 
das  in  den  folgenden  Tagen  immer  dicker  und  konsistenter  wird 
und  sich  an  den  Wänden  des  Röhrchens  fortsetzend,  stark  acl- 
häriert. 

Cholera  rotreaktion  deutlich  positiv  in  Bouillon  und 
Peptonkulturen,  sowie  auf  dem  Agarbelag. 

Agglutinationsfähigkeit:  Der  Vibrio  wurde  mikro¬ 
skopisch  sofort  agglutiniert  bis  zum  Endtiter  1:2000  eines  vom 
Wiener  serotherapeutischen  Institute  bezogenen  Choleraimmun¬ 
serums, 'makroskopisch  bis  zur  Verdünnung  1:1000  nach  wenigen 
Minuten  im  Thermostaten  auf  37°,  nach  zehn  Minuten,  .a'ucjh 
in 'der  Verdünnung  1:2000.  Das .  Choleraimmunserum  war  einige 
Tage  vorher  mit  einem  von  Kral  bezogenen  Spandau  -  Stamm 
erprobt  und  dem  Titer  entsprechend  gefunden  worden.  Die  inner¬ 
halb  vier  W  ochen  wiederholt  gemachten  Passagen  auf  amtlichem 
Choleraagar  veränderten  das  Agglutinationsverhalten  gegenüber 
demselben  Immunserum  ins  of  erne,  als  die  makroskopische  Agglu¬ 
tination  zwar  bis  zur  Verdünnung  1:1000  innerhalb  drei  bis  sechs 
Minuten,  >in  jenen  von  1:2000  jedoch  diesmal  erst  in  einer  Stunde 
erfolgte,  was  mit  dem  von  Ha.endel  und  Worthed’)  fund 
Kraus  und  Müller  angegebenen  Verhalten  bei  frischen  Kulturen 
übereinstimmt.  Das  am  Ende  der  vierten  Krankheitswoche  ent¬ 
nommene  Patientenserum  beeinflußte  weder  den  eigenen,  noch 
den  Spandau-*  Stamm,  selbst  in  der  Verdünnung  1:20  nicht. 

Pfeifferscher  Versuch:  Von  den  vier  der  amtlichen 
Anweisung  gemäß  infizierten,  ca.  200  g  schweren  Meerschweinchen 
wies  das  Exsudat  der  zwei  ersten  mit  dem  fünffachen  (=-  0  001), 
respektive  dem  zehnfachen  (=  0-002)  Multiplum  des  .bakterio- 
ly tischen  Serums2  3)  versehenen  Tiere  nach  20  Min.  spärliche,  beweg¬ 
liche  ^Vibrionen,  wie  bei  dem  dritten  mit  dem  öOfachen  Multiplum 
von  normalem  Kaninchenserum  beschickten  und  bei  dem  vierten 
mit  einer  Viertel  Oese  einer  lSstündigen  Agarkultur  infizierten 
Meerschweinchen  auf;  nach  einer  Stunde  war  jedoch  im  Peri¬ 
tonealexsudat  der  zwei  ersten  Tiere  deutliche  Granulablildung 
zu  beobachten,  neben  vereinzelten  plumpen,  gequollenen,  un¬ 
beweglichen  Vibrionen,  während  im  Exsudate  des  dritten  und 
in  jenem  des  mit  einer  Viertel  Oese  infizierten  Meerschweinchens 
zwar  spärliche,  jedoch  wohlerhaltene,  sehr  stark  bewegliche,  das 
Gesichtsfeld  durchschießende  Vibrionen  zu  sehen  waren. 

Zur  V i r u len  z  best i m m  u n  g  wurden  vier  Meerschwein¬ 
chen,  ein  250  g  schweres  mit  Va  Oese,  ein  180  g  wiegendes  mit 
1.4,  ein  170  g  wiegendes  mit  Vö  und  ein  gleichfalls  170  g  wie¬ 
gendes  mit  Vio  Oese  einer  lSstündigen  Agarkultur  intraperi¬ 
toneal  infiziert.  Die  mit  Vr  und  mit  Vs  Oese  infizierten  Meer¬ 
schweinchen  gingen,  nachdem  sie  durch  30  Stunden  stark  un¬ 
wohl  waren  und  sich  allmählich  wieder  erholt  hatten,  am  fünften, 
das  mit  Vio  Oese  am  siebenten  Tage  ein;  das  250g  schwere 
war  durch  30  Stunden  matt,  ohne  Freßlust,  überlebte  jedoch 
die  Injektion. 

Hämolyseversuche:  Zur  Herstellung  der  Blutplatten 
kamen  Hammel-,  Pferde-,  Rinder-  und  Menschenblut  zur  \  er- 
wendung  u.  zw.  im  Verhältnisse  von  0-50  cm3,  1  cm3  und  2  cm3 
defibrinierten  Blutes  auf  10  cm3  amtlichen  Choleraagars. 

Ich  schicke  gleich  voraus,  daß  mir  auf  Grund  der  wieder¬ 
holt  angeführten  Versuche  die  Quantität  des  zur  Herstellung 

2)  Haendel  und  Wjjo  i  t  h  e,"  Arbeiten  aus  dem  kaiserl.  Gesund- 
heitsamte  1910,  Bd.  5;  ref.  in  der  Rivista  d’igiene  e  sanitä  publica  1910, 
Nr.  15  (Torino). 

3)  Das  Serum  vom  Titer  1:5000  wurde  vom  k.  Institut  für  In¬ 
fektionskrankheiten  in  Berlin  bezogen. 


der  Platte  verwendeten  Blutes  belanglos  erschienen  ist,  wenn  nur 
dessen  Verteilung  im  Agar  eine  schön  gleichmäßige  war.  Auch 
bei  der  Verwendung  der  verschiedenen  Blutarten  waren  keine 
wesentlich  verschiedenen  Verhältnisse  zu  konstatieren,  wenn  man 
von  der  Farbennuance  bei  Beginn  der  Auflösung  absieht.  Da  uns 
nicht  daran  lag,  die  Blutplatte  zur  Isolierung  von  Cholera 
Vibrionen  aus  den  Fäzes,  als  zur  Identifizierung  des  gezüchteten 
Vibrio  gegenüber  choleraähnlichen  hämolysinbildenden  Vibrionen 
zu  verwenden,  so  ist  in  dem  beiliegenden  Versuchsprotokoll  als 
Beginn  der  Hämolyse  auch  eine  Aufhellung  gemeint,  die  sich  an 
der  mit  der  Reinkulturaufschwemmung  dicht  belasten  Blutagar¬ 
platte  kundgab,  verstanden.  Bei  den  isolierten,  im  auffallenden 
Lichte  grau  bis  schiefergrauen,  undurchsichtigen,  auf  ihren  Vi 
brionencharakter  mikroskopisch  kontrollierten  Kolonien,  war  auch 
nach  drei  bis  vier  Tagen,  als  diese  in  den  Bereich  der  indessen 
diffus  aufgetretenen  Aufhellung  hereingezogen  wurden,  ein  heiler 
Hof  nicht  zu  bemerken. 


Verhalten  des  Vibrio  auf  der  Blutagarplatte. 


Mit 

. 

Nach 

12  Std. 

24  Std. 

36  Std. 

GO 

W 

2 

3  Tage  4  Tage 

Hammel- 

r*/s  cm3 

0 

0 

0 

Beginn 

Weiter- 

1  » 

0 

0 

0 

.  » 

schreiten  der.  Total 

blut  | 

[2  » 

0 

0 

0 

» 

Aufhellung 

P/g  cm3 

0 

0 

0 

Beginn 

Weiter- 

l  icrae-  j 

1  * 

0 

0 

0 

» 

schreiten  der:  Total 

DIU  l 

2  » 

0 

0 

0 

» 

Aufhellung 

. 

ri/2  cm3 

0 

0 

0 

Beginn 

Weiter- 

Rinder- 

1  » 

0 

0 

0 

» 

schreiten  der  Total 

DLUl 

2  » 

0 

0 

0 

» 

Aufhellung 

Menschen-}  ^cni  1  !! 

'  1  »  U 

0 


blut 


0 

0 

0 


0 

0 

0 


Beginn  Weiter- 
»  | schreiten  der 

»  !  Aufhellung 


Total 


In  Blutbouillonkulturen,  über  deren  Verhalten,  nachstehendes 
Versuchsprotokoll  Bericht  erstatten  soll,  war  gleichfalls  nach 
2,  12,  selbst  nach  24  Stunden  Thermostaten  auf  37°  in  keinem 
Röhrchen  eine  Hämolyse  zu  konstatieren. 


Verhalten  des  Vibrio  in  Bouillonkulturen. 


Nach 

Verhalten 
der  roten 
Blutkör- 

2  Std. 

12  Std. 

24  Std. 

perchen 
n.  24  Std. 
in  NaCl. 

Hammelblut  (1  cm3)  o-50 

0 

0 

0 

Spur 

5°/„ige  Blutkörperch.- ! 
Aufschwemmung)  J  0'10 

0 

0 

0 

Pferdeblut  (1  cm1  j  0\50 

0 

0 

0 

0 

5%ige  Blutkörperch.- 
Aufschwemmung)  )  '1' 

0 

0 

0 

Rinderblut  (1  cm3  \  0  50 

0 

0 

0 

5"/0ige  Blutkörperch.-. 
Aufschwemmung)  J  O'™ 

0 

0 

0 

0 

Menschenblut  (1  cm3 1  0'50 


O"/0ige  Blutkörperch. - 
Aufschwemmung) 


010 


0 

0 


0 

0 


0 

0 


Auch  für  unseren  Vibrio  bestand  zwischen  hämolytischem 
Verhalten  und  proteolytischem  Vermögen  ein  gewisser  Parallc- 
lismus. 

Dem  Vorstande  des  pathologisch -anatomischen  Institutes 
unseres  Ospedale  civico,  Dt.  E.  Ferrari,  tier  sich  auf  unsere 
Bitte  in  höchst  zuvorkommenderweise  der  Mühe  unterzog,  mit 
unserem' Vibrio  nachträglich  die  K o mplem  e n  t  b i n d  ungs re a k- 
tion  auszuführen,  verdanke  ich  den  beiliegenden  diesbezüglichen 
Versuchsbericht : 

„Zum  Komplementbindungsversuche  wurden  folgende  Kul¬ 
turen  herangezogen:  1.  ein  Stamm  Vibrio  Metschnikoff  als  Kon¬ 
trolle,  2.  ein  Stamm  Vibrio  Spandau  aus  Krals  Laboratorium, 
3.  ein  alter  Cholerastamm  aus  dem  Mailänder  sero - therapeuti 
sehen  Institut,  4.  der  Stamm  P.  . 

Das  Antigen  kam  in  Form  des  von  Altmann  (Handbuch 
Kollo -Wassermann,  Erg.-Bd.  2,  H.  3,  S.  512)  angegebenen  Anti 
formin extraktes  zur  Verwendung. 

Als  Sera  wurden  benützt:  1.  ein  normales  Kaninchenserum 
zur  Kontrolle,  2.  ein  agglutinierendes  Choleraimmunserum  aus 
dem  'k.  k.  sero  -  therapeutischen  Institut  in  Wien  vom  l  iier 
1:2000,  3.  ein  bakteriolytisches  Choleraimnnmserum  aus  dem 
k.  Institut  für  Infektionskrankheiten  in  Berlin  vom  Titer  1:5000. 


18 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  1' 


Alle  drei  Sera  wurden  kurz  vor  dem  Versuche  frisch  in¬ 
aktiviert. 

Die  Prüfung  der  Extrakte  ergab  für  alle  vier  gleichförmig 
als  'niederste  selbsthemmende  Dosis  0-10.  Es  wurden  daher  zum 
Versuche  0-05  und  0-025  jeden  Extraktes  genommen. 

Was  die  Sera  anbelangt,  so  zeigte  das  Normalserum  in 
den  Verdünnungen  1:10  und  1:20  noch  Selbsthemmung,  in  den 
Verdünnungen  1:250  und  1:2500  für  sich  jedoch  komplette 
Lösung,  das  agglutinierende  sowie  das  bakteriolytische  (Serum 
hemmten  für  sich  nur  in  der  Verdünnung  1:10. 

Der  eigentliche  Versuch  ergab  sodann  folgenden  Befund: 


insoferne  ein  Urteil  zur  Sicherstellung  der  Choleranatur  des  ge¬ 
züchteten  Vibrio  noch  möglich  war,  als  deutliche  rtranulabildung 
nur  in  den.  zwei  ersten  Tieren  zu  bemerken  war,  während  beim 
dritten  und  vierten  Meerschweinchen  die  Vibrionen  deutlich  be¬ 
weglich  waren.  Wäre  der  Versuch  ganz  negativ  ausgefallen,  so  hätte 
man  sich  nur  auf  das  positive  Agglutinationsphänomen  stützen 
können.  Das  Verhalten  auf  der  Blutplatte  und  die  Komplement- 
bindungsreaktion  wäre  demnach  für  solche  erste  spoiadischc 
Cholerafälle  zur  Sicherstellung  der  bakteriologischen  Cholera¬ 
diagnose  als  wertvolle  Ergänzung  der  biologischen  (Methoden 
zu  begrüßen,  falls  noch  weitere  Versuche  die  Konstanz  des 
Verhaltens  feststellen  sollten. 


Normales  Kanin¬ 
chenserum  in  der 
Verdünnung 

Agglutinierendes 
Choleraserum  in  der 
Verdünnung 

Bakteriolytisches 
Choleraserum  in  der 
Verdünnung 

Meerschweinchen  komplement 
1:20 

J3 

3 

^  O  I 

s™\ 

£  ^ 

cS 

Hämolytischer  Ambozeptor 

1 : 2000 

Versuchsergebnis  mit  Extrakt  aus 

Vibrio 

Metschnikoff 

Vibrio 

Cbolerae  Milano 

Vibrio 

Cbolerae  Spandau 

dem  Stamm 
Pappalepori 

005 

0'025 

1:250 

8 

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O 

CM 

O 

tO 

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O 

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CM 

O 

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O 

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0  05 

0025 

005 

0025 

005 

0-025 

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— 

—  ] 

— 

j 

—  05 

0, 

05 

komplette 1 
Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

0-5 

— 

— 

— 

— 

— 

05 

0-5 

05 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

— 

0-2 

— 

— 

— 

— 

05 

05 

05 

Spürchen 

Hemmg. 

komplette 

Lösung 

Spur 

Hemmg 

Spüreben 

Hemmg. 

starke 

Hemmg. 

(++) 

maß. stark. 
Hemmg. 
(~1~) 

komplette 

Hemmg. 

(+++) 

komplette 

Hemmg. 

(~i — 1 — 1~). 

— 

— 

05 

— 

— 

05 

05 

05 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

Spur 

Hemmg. 

Spürchen 

Hemmg. 

starke 

Hemmg. 

(++) 

mäßig 

starke 

Hemmg. 

_ (+) 

komplette 

Lösung 

— 

05 

— 

— 

-- 

0'5 

05 

0-5 

komplette 

Lösung' 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette  komplette 
Lösung  1  Lösung 

— 

— 

— 

— 

0-2 

— 

— 

05 

05 

05 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

komplette 
Hemmg. 
(++  +  ) 

komplette 

Hemmg 

(+++) 

komplette 

Hemmg. 

(+++) 

komplette 

Hemmg. 

(~f  ~h~b) 

i  komplette 

I  Hemmg. 
(+++) 

komplette 

Hemmg. 

(+++) 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

05 

— 

0-5 

0  5 

0-5 

komplette 

Lösung 

komplette 

Lösung 

mäßig 

starke 

Hemmg. 

Spur 

Hemmg. 

starke 

Hemmg. 

mäßig 

starke 

Hemmg. 

Spur 

i  Hemmg. 

Spürchen 

I  Hemmg. 

— 

— 

—  • 

— 

— 

0*5 

05 

05 

0-5 

komplette 

Lösung 

1  komplette 
i  Lösung 

1 

Spürchen 

Hemmg. 

komplette 

Lösung 

Spur 

Hemmg. 

Spürchen  komplette 
Hemmg.  Lösung 

komplette 

Lösung 

Wir  entnehmen  mithin  aus  diesem  Versuchsberichte,  daß 
während  der  nicht  zu  den  Choleravibrionen  zählende  Vibrio 
Metschnikoff  mit  allen  benützten  Seren  und  in  jeder  Verdünnung 
(außer  eines  Spürchens  Hemmung  mit  dem  konzentrierten  Ex¬ 
trakte)  durchwegs  eine  komplette  Lösung  ergab,  unser  frisch 
gezüchteter  Stamm  P.  sowohl  mit  dem  agglutinierenden,  ais  auch 
mit  dein  bakteriolytisehen  Serum  in  der  Verdünnung  1:20  das 
Komplement  vollständig  fixierte,  und  auch  in  der  Verdünnung  > 
1:250  noch  starke,  respektive  mäßig  starke  Hemmung  mit  dem  | 
agglutinierenden  und  eine  Spur,  respektive  ein  Spürchen  Hem-  i 
mung  mit  dem  bakteriolytisehen  Serum  aufzuweisen  hatte.  Die 
zwei  anderen  zur  Komplementbindungsreaktion  benützten  echten  | 
Cholerastämme  (Stamm  Milano,  Stamm  Spandau)  ergaben 'mit 
dem  bakteriolytisehen  Serum  in  der  Verdünnung  1:20  komplette, 
in  der  Verdünnung  1:250  eine  mäßig  starke,  der  Spandau  -  Stamm 
sogar  in  jener  von  1:2500  eine  Spur  Hemmung.  Mit  dem  agglu¬ 
tinierenden  Serum  war  die  Fixation  bei  diesen  Stämmen  weniger 
stark,  jedoch  beim  Spandau -Stamm  immer  noch  stark  genug  in 
der ! Verdünnung  1:20;  nur  der  lange  im  Laboratorium  gezüchtete 
Stamm  Milano  hatte  von  allen  benützten  echten  Cholerastämmen 
das  geringste  Fixationsvermögen  aufzuweisen. 

Unser  Stamm  eignet  sich  aus  den  vorgebrachten  Berichten, 
glaube  ich,  ganz  besonders  zur  Illustrierung  dessen,  welch  wich¬ 
tige  Ergänzung  der  biologischen  Methode  die  Verwendung  der 
Blutplattenmethode  und  eventuell  die  Komplementbindungsreak¬ 
tion  in  der  Diagnose  sporadischer  erster  Cholerafälle  mitunter 
bilden  kann. 

Die  Virulenz  unseres  Vibrio  war  nämlich  eine  so  geringe 
(was  bei  einem,  eigentlich  einer  erlöschenden  Epidemie  in  Apu¬ 
lien  angeliörigen,  durch  Zufall  in  Triest  vorgekommenen  Falle 
nicht  wundern  kann),  daß  aus  der  mikroskopischen  Beobachtung 
des  Pfeifferschen  Versuches  nach  Pfeiffers  Ausführungen1) 

4)  Zit.  v.  Böhme  im  Kraus  und  Levaditis  Handbuch  der  Technik 
und  Methodik  der  Immunitätsforschung,  Bd.  2. 


Diät  und  Küche  in  Chemie,  Physik  und 

Physiologie.  . 

Von  Dr.  Wilhelm  Sternberg,  Berlin. 

Indem  die  moderne  Ernährungslehre  bloß  die  Diät  unter¬ 
sucht  und  die  Küche  übergeht,  beschränkt  sie  sich  auf  Chemie 
und  Physik  und  vergißt,  auch  die  Sinnesphysiologie  des  Ge¬ 
schmacks  in  Betracht  zu  ziehen.  So  glaubt  die  „exakte1  Phy¬ 
siologie  der  Ernährung  die  ganzen  Fragen  der  Nahrung  spielend 
in  Chemie  und  Physik  auflösen  zu  können.  Und  das  iiihrt  zu 
mannigfachen  Einseitigkeiten. 

Denn  insofern  die  Diätetik  lediglich  die  Chemie  in  Betracht 
zieht,  beschränkt  sie  ihrerseits  sich  wiederum  auf  Nahmngs- 
stoff  und  Nahrungsmittel.  Nahrungsmittelchemiker  nennt  sie 
daher  mit  Recht  den  Fachmann  der  Spezialdisziplin.  Allein  der 
Nahrungsmittelchemiker  kann  wohl  über  die  Nahrungsmittel,  wie 
der  Name  ausdrücklich  bestimmt,  urteilen,  aber  doch  nicht  über 
das,  was  wir  zum  Munde  führen,  um  es  uns  munden  zu  lassen. 
Denn  nicht  Nahrungsmittel  und  nicht  Nahrungsstoffe  sind  cs, 
welche  die  fertige  Nahrung  ausmachen.  Bloßi  die  Diät  ist  es,  worauf 
sieh  Nahrungsstoff  und  Nahrungsmittel  erstrecken.  Das  hin¬ 
gegen,  was  wir  tatsächlich  in  den  Mund  nehmen,  ist  etwas  prin¬ 
zipiell  anderes.  Das  sind  die  fertigen  Speisen  der  „Garküche11 
sowie  die  Getränke  des  Mundschenks  und  des  Kellermeisters. 
Wie  ich1)  bereits  hervorgehoben  habe,  bestehen  ja  die  Genuß- 
mittel  in  Küche  und  Keller  nicht  bloß,  aus  dem  Nahrungsmittel 
des  Trinkwassers  oder  aus  dem  Nahrungsstoff  HsO,  Aqua  destil- 
lata  und  nicht  bloß  aus  der  chemischen  Verbindung  Alkohol 
C2II5OH.  Dazu  kommt,  daß  sich  der  Nahrungsmittelchemiker 
nicht  einmal  lediglich  auf  die  Nahrungsmittel  beschränkt,  sondern 


*)  Die  Uebertreibungen  der  Abstinenz.  Würzburg  1911,  2.  Aull., 
S.  73  u.  89. 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


19 


seine  Befugnis  auch  auf  die  Genußmittel  ausdehnt.  So  ist  die 
literarische  Stätte,  welche  bisher  einzig  und  allein  die  Genu߬ 
mittel  behandelt,  die  „Zeitschrift  für  Untersuchung  der  Nahrungs¬ 
und  Genußmittel“,  das  Organ  der  „Freien  Vereinigung  Deutscher 
Nahrungsmittelchemiker“.  Das  klassische  Werk  von  König  be¬ 
handelt  die  Chemie  der  menschlichen  Nahrungs-  und  Genu߬ 
mittel.  Es  ist  klar,  daß.  die  einseitige  Betrachtung  der  Genuß- 
mittel  vom  chemischen  Standpunkt  noch  fehlerhafter  wird  als 
die  einseitige  chemische  Betrachtung  der  Nahrungsmittel. 

In  gleicher  Weise  wie  die  reine  Chemie  geht  die  Bio¬ 
chemie  und  die  physikalische  Chemie  vor,  indem  sie  sich  ein¬ 
fach  auf  die  Diät  beschränken  und  die  Küche  übergehen.  iSo 
kommt  es,  daß  das  wissenschaftliche  Organ  für  die  medizinischen 
Untersuchungen  von  Spezialärzten  über  die  Diät  heutzutage  die 
biochemische  Zeitschrift  ist:  „Zeitschrift  für  Beiträge  zur  chemi¬ 
schen  Physiologie  und  Pathologie“,  eine  chemische  Zeitschrift, 
unter  Leitung  eines  Fachchemikers  stehend,  welcher  nicht  einmal 
Mediziner  ist,  sondern  das  „tierchemische“  Laboratorium  an  der 
„landwirtschaftlichen“  Hochschule  leitet! 

Insofern  dm  Gesetze  der  physikalischen  Chemie  auf  die 
Phänomene  der  Ernährung  in  der  modernen  Medizin  übertragen 
werden,  ist  es  bloß  die  Resorption  der  Diät,  auf  die  ihre  An¬ 
wendung  erfolgt,  aber  nicht  die  Ernährung  der  Mundküche.  So 
enthält  das  klassische  Handbuch  „Physikalische  Chemie  und 
Medizin“  von  Koränyi  und  Richter  ein  eigenes  Kapitel 
über  Resorption,  „Die  physikalische  Cheimie  in  der  Physiologie 
über  Resorption,  der  Lymphbildung  und  der  Sekretion.“  Dabei 
bleibt  die  Mundküche  und  die  Mundverpflegung  außerhalb  aller 
Betrachtungen. 

Die  reine  Physik  wird  in  der  Ernährungslehre  nur  insoweit 
angewandt,  als  der  physikalische  Brennwert  der  Diät  und  die 
energetische  Wirkung  der  Nahrungsstoffe  in  Betracht  kommen.  So 
erörtert  Ruh n er2)  in  dem  klassischen  Werk:  „Die  Gesetze  des 
Energieverbrauchs  bei  der  Ernährung“  die  spezifisch-dynamischen 
Wirkungen  der  Nahrungsstoffe.  Aber  die  Aufgaben  der  Küche,  Ge¬ 
schmack,  Schmackhaftigkeit,  Appetit,  Appetitlichkeit,  gewiß  nicht 
die  unwesentlichsten  Faktoren  der  eigentlichen  Ernährung,  bleiben 
unerwähnt. 

Und  doch  sind  es  gerade  physikalische  Faktoren  mehr 
noch  als  die  chemischen  Qualitäten  der  Nahrung,  welche-  für 
die  Mundküche,  für  die  Mundverpflegung  und  für  die  subjek¬ 
tiver  Empfindungen  der  Nahrungsbedürfnisse  eine  große  Rolle 
spielen.  Denn  die  Nahrungsbedürfnisse  richten  sich  zunächst 
nach  dem  physikalischen  Aggregatzustand.  Auf  den  Bedarf  an 
Nahrung  von  gasförmigem,  von  flüssigem  und  von  festem,  Ag¬ 
gregatzustand  ist  der  Lufthunger,  der  Durst  und  das  eigentliche 
Nahrungsbedürfnis  des  Hungers  angewiesen.  Vor  allem  ist  es 
der  physikalische  Aggregatzustand  der  Nahrung,  welcher  außer 
dem  chemischen  Nährwert  das  Hungergefühl  tatsächlich  beein¬ 
flußt.  Wie  ich3)  bereits  ausgeführt  habe,  ist  es  der  feste  Aggregat¬ 
zustand  des  Füllmaterials,  welcher  das  Hungergefühl  zu  beein¬ 
flussen  vermag.  . 

Ein  gewisses  Volumen  der  Nahrung  ist  ferner  unerläßlich, 
den  Schmerz  des  Hungers  zu  mildern.  Darauf  beruht  die  Lü- 
sache-,  daß  Vegetabilien  und  alle  wasserabsorbierenden  Nahrungs¬ 
mittel  leichter  und  schneller  sättigen  als  Fleisch  oder  gar  Fisch¬ 
speisen.  Hierauf  ist  gleichfalls  die  Tatsache  zurückzuführen, 
daß  bei  Magenerweiterung  das  Hungergefühl  zugleich  mit  dem 
Durstgefühl  vermehrt  ist. 

Auch  die  physikalische  Eigenschaft  der  Temperatur  be¬ 
stimmt  noch  die  Befriedigung  unserer  subjektiven  Empfindungen 
der  Nahrungsbedürfnisse  nach  fester  und  nach  flüssiger  Nahrung. 
Das  Durstgefühl  leitet  uns  nicht  allein  nach  Flüssigkeiten,  son¬ 
dern  nach  kalten  Getränken.  Dieselben  Getränke,  warm,  löschen 
den  Durst  nicht  so  wie  die  Eisgetränke.  Dagegen  wird  der  Hunger 
mehr  durch  die  warme  Küche  als  durch  kalte  Küche  gestillt. 
Von  Heißhunger  kann  man  auch  in  diesem  Sinne  sprechen.  Darauf 
macht  schon  Aristoteles4)  aufmerksam:  ,  (1 

üsiva  os  xal  86|>a  snibu|i:a.  y)  psv  rcstva  üt) poü  xac  iFepjioO, 

Sujia  i|iu)(poö  xat  OypoO. 

Diese  längst  gemachten  alltäglichen  Beobachtungen  sind  der 
modernen  Physiologie  u'hd  „exakten“  Pathologie  der  Ernährung  bis¬ 
her  fremd  geblieben.  Und  doch  ist  ihre-  Verwertung  für  die  diäte¬ 
tische  Therapie  ebenso  wichtig  wie  dankbar.  Denn  sie  erleich¬ 
tert,  wie  ich5 *)  hervorgehoben  habe,  die  Durchführung  von  Ent¬ 
fettungskuren  und  gleichermaßen  von  Mastkuren  wesentlü  h. 


2)  Leipzig  und  Wien  1902,  F.  Deuticke.  .  Q  im 

3)  Der  Hunger.  Zentralblatt  für  Physiologie,  Bd.  23,  Nr.  4,  b.  110. 

*)  De  anima.  Dept  Bd.  3,  414  b,  10. 

i>)  Nahrungsbedarf  und  Nahrungsbedürfnis.  Zeitschr.  tür  pnysüt. 

und  diätet.  Therapie,  Oktober  1910. 


Für  die  historische  Entwicklung  der  angewandten  Diätetik 
ist  es  nun  höchst  bezeichnend,  daß  das,  was  die  theoretischen 
Wissenschaften  der  Ernährungslehre  in  der  Medizin  übersehen  bei 
ihrer  Beschränkung  auf  die  Diät,  daß  das  die  Handels  Wissenschafter 
der  angewandten  Technik  doch  schon  längst  sehr  sorgfältig  be¬ 
achten.  Das  ist  deshalb  der  Fall,  weil  sie  eben  Küche  und  Keller 
pflegen.  So  ist  ein  Bericht  über  den  Stand  der  Kältetechnik 
in  der  Brauerei  auf  der  Tagesordnung.  Der  Umstand,  daß  die 
Herstellung  von  untergärigem  Bier  niedere  Temperaturen  erfor¬ 
dert,  war  der  Grund  dafür,  daßi  die  Brauerei  die  Veranlassung 
zur  Ausgestaltung  der  Kältetechnik  gegeben  hat.  ln  der  Spaten- 
Brauerei  in  München  war  es,  wo  Linde  in  den  Jahren  187  2 
bis  1876  die  erste  Kühlmaschine  aufgestellt  hat.  So  nahm  von 
der  Stadt  München  aus,  deren  bedeutendste  Industrie  die  Brauerei 
ist,  die  Kältetechnik  ihre  staunen-erregende  Entwicklung.  Eigene 
deutsche  Kältevereine  haben  sich  schon  gebildet,  Kältekongresse 
werden  abgehalten.  Internationale  Kältevereinigungen  beraten 
über  die  Technik  und  die  Industrie  der  Kälteerzeugung.  Dabei 
bezieht  sich  aber  diese  Technik  und  diese  Industrie  einzig  und 
allein  auf  Küche  und  Keller.  Sie  erstreckt  sich  nicht  etwa  auf 
die  Diät. 

Schließlich  kommt  noch  -ein  wesentlicher  physikalischer 
Faktor  für  die  Mundküche  in  Betracht.  Für  die  Mundverpfle¬ 
gung  sorgt  ein  eigener  physikalischer  Sinn.  Das  ist  der  Geschmack. 

Der  Geschmack  setzt  sich  nämlich  aus  dem  physikalischen 
Sinn  der  Tastempfindung  und  aus  dem  chemischen  Sinn  des 
eigentlichen  Geschmacks  zusammen.  Kein  einziger  Körperteil 
kann  in  der  Feinheit  der  Tastempfindung  mit  der  Zunge 
wetteifern.  .  i  i  ;  ! 

Der  Tastsinn  ist  aber  der  Sinn,  der  den  größten  Anteil 
an  der  Erregung  des  Allgemeingefühls  des  Kitzels  hat.  So  übt. 
er  einen  gewaltigen  Einfluß-  auf  den  Appetit  aus,  den  ich")  in 
seinem  eigentlichen  Wesen  gleichfalls  als  Kitzelgefühl  auffasse. 
Mit  dieser  Erkenntnis  erklären  sich  viele  bisher  unerklärte  und 
unerklärliche  Fragen,  wie  ich7)  bereits  angedeutet  habe.  Damit 
findet  auch  das  subjektive  Bedürfnis  nach  der  physikalischen 
Konsistenz  der  festen  Nahrung  seine  physiologische  Begründung. 
Es  entstehen  nämlich  die  Fragen:  Wie  kommt  es  denn  nur,  daß 
der  Appetit  des  gesunden  Erwachsenen  nicht  einmal  für  wenige 
Tage  mit  flüssiger,  nicht  einmal  mit  breiiger  Nahrung  befriedigt 
werden  kann,  selbst  wenn  diese  in  sonstiger  physikalischer, 
dynamischer,  energetischer,  thermischer,  chemischer,  physiologi¬ 
scher  und  psychologischer  Hinsicht  vollkommen  ausreichend  ist  v 
Warum  bevorzugen  wir  besonders  knusperige,  kroquante  Zuberei¬ 
tungen  und  haben  Appetit  besonders  auf  r-esche-,  frische  Bäckereien, 
also  Teile  von  festem  Aggregatzustand-ei,  die-  sich  nicht  sogleich 
im  Munde  auflösen?  Das  ist  um  so  auffallender,  als  wir  die 
frischen  Bäckereien  bevorzugen,  welche  im  Innern  gerade 
weich  sind  und  deren  feste  Kruste  einzig  und  allein  auf  die 
äußere  Oberfläche  beschränkt  bleiben  darf,  so  daß  die  Technik 
besondere  krause  harte-  Teile,  sogenannte  „Sträußel“  zum  Schluß 
auf  die  Oberfläche  der  fertigen  Backware  fügt.  Warum  haben 
manche  Tiere,  wie  z.  B.  die  Giraffen,  Appetit  besonders  auf  gewisse 
äußerst  spitzige  Pflanzenteile,  z.  B.  Akazienzweige,  welche  die 
stachlige  Oberfläche  bieten?  Warum  nehmen  sie  diese  Nahrung, 
ebenso  wie  Esel,  Pferde  die  Disteln,  geradezu  als  besondere 
Delikatesse  mit  sichtlichem  Behagen  auf,  während  der  unbefan¬ 
gene-  Zuschauer  befürchten  muß,  daß  diese  scharfen  und  spitzigen 
Teile-  ihnen  die  Speiseröhre-  aufs  empfindlichste  verletzen?  Warum 
bevorzugen  manche  Tiere  gerade  die  lebende  Beute  zum  Fressern 
so  daß  ihnen  das  Zappeln  im  Schlund  als  der  höchste  Genuß 
erscheint?  Warum  lockt  sie  dieselbe  Beute,  tot,  bloß  noch  bei 
größtem  Hunger,  während  sie  in  der  Krankheit  stets  verabscheut 
wird?  Denn  im  Krankheitsfall  kann  nur  die  lebende  Beute  den 
Appetit  noch  reizen. 

Aehnlich  wirken  auch  auf  uns  mittels  des  sogenannten 
„pikanten“  Geschmacks  die  „pikanten“  Vorspeisen,  welche  dazu 
bestimmt  sind,  den  Appetit  zu  erregen.  „Piquer“  heißt  auf  der 
Zunge  beißen,  den  Gaumen  kitzeln.  „ Pikant  nennen  wii  du.i 
scharfen  reizenden,  leicht  stichelnden  Geschmack.  Das  Wort 
„Sticheln“  ist  eine  Intensivbildung  von  „stechen“  und  bedeutet 
fortgesetztes  leichtes  Stechen.  Die  Wirkung  ist  nur  so  zu  er¬ 
klären,  daß  tatsächlich  -ein  mechanischer  leichter,  aber  wieder¬ 
holter  Reiz  und  Kitzel  im  Munde  ausgeübt  wird. 

In  gleicher  Weise  ist  der  prickelnde  Geschmack  der 
„spritzigen“,  moussierenden  Getränke,  die  angenehm  erfrischend  • 
und  Durst  löschende  Wirkung  sowie  das  Bedürfnis  nach  dem 

6)  Die  Küche  in  der  modernen  Heilanstalt  1909.  Stuttgart,  F  -  Enke,  S.  96. 

i)  Der  Appetit  und  die  Appetitlosigkeit.  Zeitschr.  für  klm.  Medizin 
1909,  Bd.  67,  S.  16.  —  Die  Kitzelgefühle.  Zentralblatt  für  Physiologie, 
Bd.  23,  Nr.  24. 


20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


prickelnden  Geschmack  zu  erklären.  Dieselben  Flüssigkeiten  genau 
ebenso  kalt,  aber  ohne  die  Kohlensäure,  also  abgestanden, 
schmecken  uns  nicht  erquickend.  Sic  sind  „schal  ,  „hohl  ,  ,,ab- 
schmeckig“,  „abgeschmackt“,  „abgestanden“  .  Sie  .„erfrischen, 
durchaus  nicht  im  gleichen  Maße  wie  die  kohlensäurehaltigen. 
Die  Gasbläschen  üben  eben  einen  leichten  mechanischen  Reiz 
aus  und  kitzeln  den  Gaumen,  wenn  sic  im  Munde  gegen  den 
Gaumen  mit  einer  gewissen  Gewalt  aufplatzen.  Diese  kitzelnde 
Wirkung  ist.  genau  dieselbe  im  Munde  wie  auf  der  äußeren  Haut 
im  Bade.  Daß  diese  physikalische  Kraft,  mit  welcher  die  Flüssig¬ 
keit  gegen  das  empfindende  Organ  gespritzt  wird,  für  die  Empfin¬ 
dung  durchaus  nicht  etwa  gleichgültig  ist  das  lehrt  die  Erfahrung 
bei  der  Kohäbitation.  Die  Empfindung  der  Frau  ist  eine  voll¬ 
kommen  andere,  je  nach  der  physikalischen  Kraft,  mit  dei  das 
Sperma  ins  Laquear  gespritzt  wird,  bei  sonst  vollkommen  gleichen 
physiologischen  Verhältnissen  und  genau  demselben  Vorgang  der¬ 
selben  Funktion.  In  der  gesamten  Literatur  scheint  nur  M ea¬ 
sing  a6 * 8)  hierauf  hinzuweisen. 

Dazu  kommt  dann  noch  der  eigentliche  Geschmack,  der 
chemische  Sinn.  Dieses  Sinneswerkzeug  findet  .nach  wie  vor 
in  der  Physiologie  der  Ernährung  und  allen  anderen  Disziplinen 
der  Medizin  wenig  Berücksichtigung.  Ich9)  habe  darauf  bereits 
hingewiesen.  Neuerdings  wiederholt  Frey  nochmals  längst  wider¬ 
legte  Irrtümer  über  eine  Geschmacksqualität,  die  es  überhaupt 
gar  nicht  gibt.  Auch  die  Klinik  und  Therapie  übergeht  die  neuesten 
Forschungen  über  den  Geschmack.  So  übersehen  Ad.  Schmidt 
und  H.  Lüthje10)  die  neuen  Methoden  der  Geschmacksprüfung 
und  beharren  bei  den  alten,  längst  überwundenen  Arten  der  Ge¬ 
schmacksproben.  In  gleicher  Weise  übergehen  Meyer  und  Gott¬ 
lieb11)  den  Geschmackssinn,  wiewohl  sie  dem  Auge  ein  eigenes 
Kapitel  widmen:  „V.  Pharmakologie  des  Auges.“  Das  ist  na¬ 
türlich.  Denn  sie  beschränken  sich  auf  die  Diät  und  übersehen 
die  Ernährung,  also  die  Mundyerpflegung  und  die  Mundküche, 
Indern  sie  der  Verdauung  einen  eigenen  Abschnitt  ein  räumen : 
VI  Pharmakologie  der  Verdauung“  und  ebenso  den  Stoffwechsel 
als  selbständiges  Kapitel  behandeln:  „XII.  Pharmakologie  des 
Stoffwechsels“,  beschränken  sie  sich  auf  die  Diät.  Da,  wo  sie 
aber  die  Aufgaben  der  Küche  erwähnen,  die  Erregung  des  Ap¬ 
petits,  gelangen  sie  zu  den  irrigsten  Vorstellungen  vom  Wesen  des 
Appetits. 

Fragt  man,  wie  es  nur  kommen  mag,  daß  gegenüber  der 
Physik  und  Chemie  die  Sinnesphysiologie  in  der  Ernährungs¬ 
lehre  auf  so  auffällige  Weise  zurücktritt,  so  kann  die  Beant¬ 
wortung  keine1  Schwierigkeiten  bereiten.  Die  Faktoren  dei  >dnnes- 
physiologie  sind  gegenüber  denen  der  Physik  und  Chemie  weit 
mannigfaltiger  und  verwickelter.  Ordnet  man  nach  v an  t Hof  f  ) 
die  Hauptdisziplinen  auf  dem  Gebiete  der  exakten  Wissenschaften 
nach  ansteigender  Komplikation  der  gestellten  Probleme  -  Ma¬ 
thematik,  Physik,  Chemie  und  Biologie  — ,  so.  liegt  die.  ein¬ 
fachere  Abteilung  auf  chemischem  Gebiete,  die  .  anorganische 
Chemie  der  Physik  am  nächsten,  die  organische  Chemie  jedoch 
der  Biologie.  So  wird  die  beregte  Reihenfolge:  Physik,  anorga¬ 
nische  Chemie,  organische  Chemie  und  Biologie*.  Also  am  äußer¬ 
sten  Ende  liegt  für  den  beregten  Fall  die  der  Biologie  zugehö¬ 
rige  Disziplin  der  Geschmackslehre.  Die  Diät  gehört  der  Physik 
und  Chemie  an;  die  Mundküche  dem  Gebiet  der  Sinnesphysio¬ 
logie.  Die  Wissenschaft  der  Küche  ist  ungleich  schwieriger,  ver¬ 
wickelter  und  komplizierter  als  die  Lehre  von  der  Diät.  Diese 
Disziplin  ist  bloß  angewandte  Physik  und  angewandte  Chemie, 
jene  aber  auch  angewandte  Sinnesphysiologie.  Deshalb  gebührt 
auch  der  wissenschaftlichen  Grundlage .  der  Kochkunst  und  zu¬ 
gleich  der  Erziehung  und  Ausbildung  des  Geschmacks  ebenso 
Beachtung  wie  den  Grundlagen  jeder  anderen  künstlerischen  Bil¬ 
dung  und  der  Erziehung  jedes  anderen  Sinnes,  z.  B.  des  Farben¬ 
sinnes,  über  welche  Gegenstände  Alfred  Licht wark13)  be¬ 
richtet. 


6)  Willküi  liebe  Beschränkung  der  Kinderzahl. 

#)  Die  Alkoholfrage  im  Lichte  der  modernen  Forschung.  Leipzig, 
Veit  &  Co.  1909,  S.  810. 

10)  Klinische  Diagnostik  und  Propädeutik  innerer  Krankheiten. 

Leipzig  1910,  F.  C.  W.  Vogel,  S.  492. 

11)  Lieber  die  zunehmende  Bedeutung  der  anorganischen  Chemie. 

Zeitschr.  für  anorg.  Chemie,  Bd.  18,  H.  1. 

12)  H.  Meyer  u.  R.  Gottlieb,  Die  experimentelle  Pharma¬ 
kologie  als  Grundlage  der  Arzneibehandlung,  1910. 

13)  Die  Grundlagen  der  künstlerischen  Bildung.  Erziehung  des 
Farbensinns.  Berlin  1905,  8.  Aull. 


Bemerkungen  zur  Ehrlichdebatte. 

Von  Prof.  Dr.  G.  Riehl. 


In  der  letzten  Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  ist 
die  Diskussion  über  Ehrlichs  Heilmittel  mit  einem  Schlußwort 
Fingers  beendet  worden. 

Die  jüngsten  Aeußerungen  des  Vortragenden  erscheinen  m 
vielen  Punkten  so  wenig  zutreffend,  daß  ich  mich  gezwungen 
sehe,  an  dieser  Stelle  wenigstens  auf  jene  Aussagen,  welche,  sich 
auf  meine  Angaben  beziehen,  zu  antworten,  resp.  sie  tatsächlich 
zu  berichtigen. 

Finger  lehnt  es  in  seinem  Schlußwort  ab,  die  von  mm 
im  ersten  Vortrag  angeführten  Schädigungen  der  Augen  und  Ohren 
bei  Arsen obenzolbehandlung  zu  erklären,  und  sagt:  „ich  möchte 
also  heute  jede  Deutung  als  unzeitgemäß  ablehnen"  und  später : 
„heute  ist  jede  Aeußerung  (Stellungnahme  zu  dem  Mittel)  un¬ 
bedingt  verfrüht“.  . 

Und  doch  hat  Fingers  erster  Vortrag  m  dem  oatze  kul¬ 
miniert,  „daß  das  Arsenobenzol  sich  vorläufig  zur  Anwendung 
in  der  Praxis  nicht  eignet“. 

Dieses  ablehnende  Urteil  hat,  weil  es  im  Widerspruch  mit 
den  Ergebnissen  der  meisten  früheren  Beobachter  steht,  einiger¬ 
maßen  überrascht,  um  so  mehr,  als  die  von  1  inger  angel  ihn  ten 
Fälle  von  Schädigung  keineswegs  als  erwiesene  Arsenwirkungen 

gelten  konnten.  .  , 

Bei  der  Beurteilung  eines  neuen  Heilmittels  beansprucht 
di©  Frage,  ob  es  zur  praktischen  Verwendung  empfohlen  werden 
kann,  das  Hauptinteresse;  gerade  gegen  diesen  Satz  der  die 
Schlußfolgerung  aus  Fingers  Erfahrungen  bildet,  mußte  in  der 
Diskussion  Stellung  genommen  werden,  weil  er  nach  dei  allge¬ 
meinen  Sachlage  für  Aerzte  und  Kranke  den  praktisch  wichtigsten 
Funkt  betraf.  Finger  vermeidet  es  in  seinem  Schlußwort  aut 
diesen  Ausspruch  zurückzukommen  und  erklärt,  diesmal  kein 
Urteil  abgeben  zu  wollen.  Dagegen  wendet  sich  Finger  kriti¬ 
sierend  gegen  verschiedene  in  der  Diskussion  gefallene  A eu Me¬ 


ningen.  .  .  ..  .  ,  , 

In  meiner  mit  Dr.  Kren  gemeinsam  publizierten  ersten 

vorläufigen  Milteilung  über  unsere  Erfahrungen  mit  Arsenobenzol 
wurde  auf  unangenehme  Nebenerscheinungen  und  Gefahren  der 
Arsenobenzollherapie  mit  Nachdruck  hingewiesen  und  auch  in 
der  Diskussion  habe  ich  hervorgehoben,  daß  die  Möglichkeit  be¬ 
steht,  daß  in  späterer  Zeit  noch  schädliche  Nebenwirkungen  des 
\rscnobenzols  bekannt  werden  könnten.  Ls  muß  liier  nochmals 
betont  werden,  daß  unter  den  bisher  publizierten  Fällen  kein 
Todesfall  und  keine  Erblindung  als  sichere  Folge  der  Arseno¬ 
ben  zoltherapie  beobachtet  worden -sind,  während  gerade  die  Lr- 
bliiidungsgefahr  nach  den  Erfahrungen  der  Atoxylanwendung  am 
meisten  gefürchtet  wurde  und  deshalb  ein  derartiger  Fall  sicher 

bekannt  geworden  wäre.  .  _ 

Finger  führt  in  seinem  einleitenden  Vortrage  eine  Beine 
von  Fällen  von  Augen-  und  Ohrenerkrankungen  an,  von  denen 
er  annimmt,  daß  sie  entweder  ganz  auf  das  Arsenobenzol  zu- 
rückzuführeii  sind  oder  durch  Kombinationswirkung  des  Arseno- 
benzols  mit  der  Lues  zustande  gekommen  sind. 

Auf  eine  eingehende  Prüfung  dieser  Fälle,  von  welchen 
kein  ungünstiger  Ausgang  bekannt  geworden  ist,  sowie  mehrerer 
aus  der  Literatur  im  Schlußworte  Fingers  herangezogener  Falle 
anderer  Autoren  kann  ich  hier  verzichten,  da  sie  durch  Irofessor 
Ehrlich  („Nervenstörungen  und  Salvarsanbehandlung  ,  Ber¬ 
liner  klinisch.  Wochenschrift  Nr.  51)  bereits  einer  kritischen  Be¬ 
sprechung  unterzogen  worden  sind.  Ehrlich  resümiert:  „Die 
beschriebenen,  meist  in  Knochenkanälen  eingeschlossene  Ilirn- 
nerven  betreffenden  Störungen  sind  nicht  toxischer  Natur,  son¬ 
dern  syphilitische  Manifestationen.  Sie  rühren  von  vereinzelten, 
hei  der  Sterilisation  der  Hauptmasse  übriggebliebenen  Spirochäten 
her  und  kommen  auch  nach  Quecksilberbehandlung  vor.  Die 
auffallenden  klinischen  Symptome  verdanken  sie  nicht  llnei 
Ausdehnung,  sondern  ihrem  anatomischen  Sitz.  Ihrem  geringen 
Umfang,  hzw.  Spirochätengehalt  entsprechend,  veranlassen  sie 
keine  Wassermann  -  Reaktion  und  sind  gewöhnlich  durch  erneute 
spezifische  Behandlung  prompt  zu  beseitigen.  Es  handelt  sieh 
also  um  keine  konstitutionelle  Rezidive,  sondern  um  letzte  Lebei- 
bleibsel  aus  der  vorhergegangenen  Sterilisation. ‘ 

Inzwischen  ist  durch  Igersheimer  aus  der  Klinik  Pro¬ 
fessor  Hippels  an  der  Hand  des  Tierexperimentes  und  klinisch 
die  toxikologische  Wirkung  des  Arsenobenzols  geprüft  und  ins¬ 
besondere  mit  den  Erscheinungen  der  Atoxylvergiftung  verglichen 
worden  (Münchner  mediz.  Wochenschrift  Nr.  51).  Das  Ergebnis 
seiner  Untersuchung  faßt  der  Autor  in  folgendem  Satz  zusammen : 

Es  darf  nach  allen  unseren  jetzigen  Kenntnissen  mit  Freude  kon¬ 
statiert  werden,  daß  das  Dioxydiamidoarsenobenzol  bei  uer  pao- 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


21 


montanen  Verwendungsweise  nicht  nur  keine  Augenerkrankung 
erzeugt,  sondern  in  vielen  Fällen  bereits  luetische  Affektionen 
des  Auges  in  ausgezeichneter  Weise  geheilt  hat.  Ja,  daß  sogar 
der  erkrankte  Sehnerv  nach  den  Erfahrungen  von  Schanz, 
Wechselmann  und  Seeligsohn  u.  a.,  anscheinend  unbe¬ 
schadet  mit  dem  Ehrlichschen  Mittel  behandelt  werden  kann.“ 

Wenn  ich  zur  Beurteilung  der  relativen  Gefährlichkeit  des 
Mittels  den  Vergleich  mit  der  Quecksilberinjektionstherapie  an¬ 
gestellt  und  mitgcteilt  habe,  daß  Todesfälle  nach  Quecksilber- 
injeklionen  in  größerer  Zahl  beobachtet  worden  sind,  während 
bei  der  Arsenobenzoltherapie  noch  kein  tödlicher  Ausgang  durch 
Arsenwirkung  festgestellt  worden  ist,  so  ist  der  von  mir  gezogene 
Schluß,  daß  „die  Arsenobenzoltherapie  sich  bisher  mindestens 
als  nicht  gefährlicher  erwiesen  hat,  als  die  Quecksilberinjektionen“ 
unzweifelhaft  richtig  und  es  ist  vollständig  irrelevant,  ob  20.000 
oder  30.GÖ0  oder  weniger  mit  Arsenobenzol  behandelte  Syphilis- 
fälle  bekannt  sind,  oder  auf  der  anderen  Seite  die  jedenfalls  über¬ 
triebene  Anzahl  von  Millionen  von  mit  Quecksilber  behandelten 
Fällen  angenommen  wird. 

Die  von  mir  zitierte  Zusammenstellung  von  Lassere  be¬ 
trifft  ja  nur  Fälle  einzelner  Autoren,  keineswegs  alle  überhaupt 
mit  Quecksilberinjektionen  behandelte  Kranken. 

Die  weitere  Ansicht  Fingers,  daß  wir  die  Arsenobenzol- 
wirkung  nur  nach  dem  Wiener  Material  beurteilen  sollen,  könnte 
ich  auch  dann  nicht  als  gerechtfertigt  akzeptieren,  wenn  Fin¬ 
gers  Fälle  als  sichere  Arsen  Wirkungen  erwiesen  wären. 

Finger  betont  weiters,  daß  nicht  nur  die  Zahl  der  Fälle, 
sondern  die  Dauer  detr  Beobachtung  von  Wichtigkeit,  sei 
und  behauptet,  daß  an  seiner  Klinik  seit  Juni,  an  der  uneinigen 
erst  seit  August  Arsenobenzol  verwendet  werde. 

Diese  Angabe  ist  unrichtig.  In  unserem  vorläufigen  ersten 
Berichte  sind  die  ersten  Injektionsfälle  nicht  einbezogen  und 
statistisch  verwertet  worden,  weil  wir  damals  -  wie  allgemein 
üblich  — -  nur  kleine  Dosen  des  Arsenobenzols  verwendet  hatten 
und  diese  Resultate  nicht,  mit  denen  der  späteren  mit  größerer 
Dosis  Behandelten  in  Vergleich  bringen  wollten.  Immerhin  zitiert 
Kren  in  der  Diskussion  (Wiener  klinisch.  Wochenschrift,  S.  1.733) 
ausdrücklich  zwei  Fälle,  die  am  15.  und  19.  Juli  injiziert  worden 

sind.  ....  . 

Die  erste  Injektion  an  meiner  Klinik  ist  am  7.  Juli  aus¬ 
geführt  worden. 

An  welchem  Tage  an  der  Klinik  Finger  die  erste  Injek¬ 
tion  gemacht  wurde,  ist  mir  nicht  genau  bekannt.  Finger  führt 
den  Juni  als  ersten  Beobachtung smonat  an,  eine  An¬ 
gabe,  welche  noch  der  Aufklärung  bedarf,  nachdem  mir  be¬ 
kannt  ist,  daß  die  erste  Sendung  von  Arsenobenzol  am 
1.  Juli  von  Ehrlich  an  die  Klinik  Finger  abgegeben  worden  ist. 

Finger  legt  dieser  zeitlichen  Differenz  besondere  Be¬ 
deutung  bei  —  im  Vergleich  zu  meinem  Material  —  weil  er 
selbst  erst  im  fünften  Monate  die  ersten  unangenehmen 
Nebenerscheinungen  wahrgenommen  habe.  Dieser  Ausspruch  be¬ 
ruht  demnach  nicht  auf  einem  Lapsus  calami  und  ist  doch  un¬ 
richtig,  denn  in  der  ersten  Mitteilung  gibt  Finger  selbst  in  den 
Krankengeschichten  genaue  Auskunft  über  die  Zeit,  welche 
zwischen  Injektion  und  „Schädigung“  verflossen  ist. 

Diese  Daten  lauten  für  die  Augenfälle:  1.  Fall  2  Monate  nach 
der  Injektion,  2.  Fall  3  Monate  nach  der  Injektion.  3.  Fall 
3  Monate  nach  der  Injektion,  4.  Fall  3  Monate  nach  der  Injektion; 
für  die  Ohrenfälle:  1.  Fall  1  Tag  nach  der  Injektion,  2.  Fall 
9  Wochen  nach  der  Injektion,  3  Fall  13  Wochen  nach  der  Injek¬ 
tion.  Also  nicht  im  5.  Monat  frühestens,  sondern  in  keinem  Falle 
später  als  3  Monate  nach  der  Injektion  sind  diese  Wahrneh¬ 
mungen  erfolgt.  . 

Ebenso  ist  die  Angabe  Fingers  irrig,  daß'  das  Material 
seiner  Klinik  mit  80%  Dauerbeobachtung  an  allererster  Stelle 
steht.  Von  unseren  bis  jetzt  171  injizierten  Kranken,  haben  sich 
nur  23  der  Beobachtung  entzogen,  was  einer  Dauerbeobachtung 
von  86%  entspricht. 

Es  wäre  überhaupt  empfehlenswert  gewesen,  die  Angaben 
anderer  Beobachter,  auch  wenn  ihre  Resultate  nicht  mit  den 
eigenen  übereinstimmen,  etwas  weniger  scharf  zu  beurteilen. 

Die  günstigen  Resultate  Do  errs  und  Früh  aufs,  die  si¬ 
cherlich  unter  Beachtung  aller  Kauteleh  festgestellt  worden  sind, 
namentlich  die  auffallend  geringfügigen  lokalen  Reizerschei¬ 
nungen  verdienen  wohl  eher  unsere  Anerkennung,  als 
den  Vermerk  „cum  grano  salis  aufzunehnien“,  denn  sie  sind 
offenbar  der  ganz  exakten  Ausführung  und  wahrscheinlich  auch 
der  Anwendung  völlig  gelöster  Präparate  zu  verdanken.  Für 
letztere  Annahme  spricht  der  Umstand,  daß  Genn  er  i  ch  -  Kiel, 
S  c  h  r  e  i  b  e  r  -  Magdeburg.  M  a  n.t  eg  a  z  z  a  u.  a.  Autoren,  die  mit 


Lösung  und  nicht  mit  Emulsion  gearbeitet  haben,  gleich  gute 
Resultate  erzielt  haben. 

Die  Behauptung  Fingers,  daß  das  Arsenobenzol  ein  so 
scharfes  Aetz'mittel  sei,  das  überall,  wo  es  hinkommt,  Nekrosen 
setzt,  kann  gleichfalls  nicht  als  allgemein  gültig  bezeichnet  werden. 
Die  Aetzwirkung  eines  Mittels  ist  ja  immer  eine  relative  und 
sinkt  bei  steigender  Verdünnung  auch  für  heftig  wirkende  Prä¬ 
parate  bis  auf  Null  herab.  Die  Erfahrung  zeigt  uns,  daß  seihst 
bei  so  konzentrierten  Präparaten,  wie  sie  bis  jetzt  bei  der  Arseno¬ 
benzoltherapie  verwendet  worden  sind,  weitaus  nicht  in  allen  in¬ 
jizierten  Fällen  es  zur  klinisch  konstali  abaren  Ntkrose  kommt. 
Bei  intravenöser  Injektion  z.  B.  ist  niemals.  Nekrose  der  Blut¬ 
gefäße  beobachtet  worden.  Die  mikroskopisch  nachweisbare  Ab¬ 
tötung  kleinster  Gewebsansteile  kommt  für  den  Kliniker  ebenso¬ 
wenig  in  Betracht,  wie  ähnliche  Nekrosen  bei  Sublimatinjektionen. 

Zum  Schluß  hat  mich  Finger  mit  dem1  persönlichen  Vorwurf 
der  Unwissenheit  bedacht,  weil  ich  unsere  Kenntnisse  über  die  Er¬ 
krankungen  der  Himnerven,  spez.  des  Optikus  und  Akustikus  im 
Frühstadium  der  Syphilis  als  noch  nicht  genügend  vorgeschritten 
bezeichnet  habe.  Ich  glaube,  daß  eis  keinen  anderen  Syphilido- 
logen  oder  Ophthalmologen  geben  wird,  der  meiner  Ansicht  nicht 
beipflichten  würde.  Die  meisten  Lehrbücher  verzeichnen  nur, 
wenn  sie  überhaupt  dieses  Thema  berühren,  daß.  im  Früh¬ 
stadium  Erkrankungen  der  Retina  und  des  Optikus,  so  wie  der 
Menieresche  Symptomenkomplex,  selten  beobachtet  worden 
sind.  Finger  gibt  an,  daß  er  unter  632  Syphiliskranken  seiner 
Klinik  nicht  einen  Fall  derartiger  Erkrankung  bei  Frühluetischen 
gesehen  habe.  Andere  Autoren  dagegen  geben  eine  viel  größere 
Frequenz  dieser  Syphiliserscheinungen  an.  So  z.  B.  Schnabel, 
der  unter  40  Patienten  im  frühem  Stadium  der  Syphilis  bei 
21  Netzhautreizung  und  bei  7  entzündliche  Veränderungen  der 
Netz-  oder  Aderhaut  oder  in  beiden  gefunden  hat. 

In  der  von  mir  zitierten  Arbeit  Beckers,  stehen  un¬ 
mittelbar  unter  der  Tabelle  Januszkiewics  aus  der  Klinik 
Hirschbergs,  die  auch  Finger  erwähnt,  die  Resultate  der 
Untersuchungen  Wilbrand  und  Staelins;  sie  fanden  Neuritis 
optica  im  Frühstadium  der  Syphilis  in  3  Fällen  6  Wochen  nach 
der  Infektion,  in  2  Fällen  13  Wochen  nach  der  Infektion  und 
je  einen  Fall  in  der  17.,  18.,  27.,  43.  und  53.  Woche.  Daraus 
ist  ersichtlich,  daß  die  Befunde  der  verschiedenen  Untersucher 
ganz  bedeutende  Differenzen  schon  hinsichtlich  der  Zeit  des 
Auftretens  und  der  Frequenz  der  frühluetischen  Augenerschei¬ 
nungein  verzeichnein.  Aber  auch  über  die  Form  dieser  Erkran¬ 
kungen  gehen  die  Ansichten  noch  weit  auseinander,  so  daß 
tdie  meisten  Autoren  die  Diagnose  luetische  Retinitis,  resp._  Pa¬ 
pillitis  usw.  nur  mit  Reserve  stellen.  Ueb'er  die  Anatomie  dieser 
Frühformen,  über  den  eigentlichen  Sitz  der  pathologischen  Ver¬ 
änderungen  liegen  kaum  irgendwelche  aufklärende  Befunde  vor. 

Es  ist  dies  sicher  ein  Gebiet,  in  dem  durch  systema,- 
tischo  Forschung  noch  eine  weitgehende  Bereicherung  unserer 
Kenntnisse  trotz  Fingers  Angaben  zu  erwarten  und  zu  er¬ 
hoffen  ist.  ' 

Die  von  Finger  erhobenen  Einwände  sind  demnach  als 
unbegründet  zurüdkzuweisefo. 

OEFFENTLICHE  GESUNDHEITSPFLEGE. 

Eine  sozialmedizinische  Konqreßreise. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Ludwig  Teleky. 

Es  ist  heute  schon  so  weit  mit  dem  Ansehen,  das  Kon¬ 
gresse  genießen,  gekommen,  daß  man  vielen  Leuten  gegenüber 
sich  förmlich  entschuldigen  muß,  wenn  man  an  einem  auswärts 
tagenden  Kongresse  teilgehommen  hat.  Die  großen  Kongresse,  die 
oft  einige  tausend  Teilnehmer  zählen,  haben  nicht  wenig  dazu 
beigetragen,  das  ganze  Kongreßwesen  in  unbegründeter  Weise  zu 
diskreditieren.  Unter  der  ungeheuren  Zahl  von  Teilnehmern,  die 
manche  Kongresse  vereinigten,  trat  die  natürlich  relativ  kleine 
Zahl  von  solchen,  denen  es1  um. die  Kongreßverhandlungen  ernst 
war,  allzusehr  zurück.  Glücklicherweise  blieb  der  größte  Teil 
jener  „Mitglieder“  ja  den  wissenschaftlichen;  Sitzungen  ferne, 
aber  um  so  eifriger  nahmen  sie  an  allen  Eß-  und  J  rinkgelegen- 
heiten  teil  und  es  kam  zu  beschämenden  Szenen  an  den  Büffets, 
zu  nicht  minder  beschämenden  Tischreden. 

Die  geselligen  Veranstaltungen,  äußeres  Gepränge  und  Zere¬ 
moniell  haben  überhaupt  allzusehr  überhand  und  auf  manchen 
Kongressen  einen  allzu  großen  Teil  der  verfügbaren  Zeit  m  -  n 

spruch  genommen.  ... 

Ueber  diesen  Mißständen  beginnt  man  heute  last  zu  unm 
sehen,  daß  den  Kongressen'  doch  nach  mannigfacher  Richtung  hm 
große  Bedeutung  zukommt  —  zunächst  haben  manche  von  ihnen 


9-> 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr. 


auch  einen  keineswegs  zu  unterschätzenden  agitatorischen  Wert:  | 
der  Berliner  Kongreß  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose  als  V olks- 
krankheit  (1899)  hat  der  ganzen  Bewegung  einen  mächtigen  _ An¬ 
stoß  gegeben,  die  Arbeiterversicherungskongresse  haben  Verständ¬ 
nis  für  die  Fragen,  ja  für  die  Notwendigkeit  der  Arbeiterveisiche- 
rung  in  weiteren  Kreisen  von  Fachmännern  und  bei  den  ma߬ 
gebendsten  Personen  mancher  Länder  erst  geweckt.  Bann  aber  ist 
die  Bedeutung  des  Sich-persönlich-kennen-lemen,  der  persönliche 
Kontakt  zwischen  den  Gelehrten  verschiedener  Länder  und  Na¬ 
tionen,  wie  er  sich  eben  nur  auf  Kongressen  einleiten  kann, 
keineswegs  zu  unterschätzen.  Auch  manches  Detail  hört  man, 
auf  manche  fremdländische  Einrichtung  wird  man  aufmerksam, 
nach  denen  in  der  Literatur  zu  suchen  und  die  dort  entsprechend 
dargestellt  zu  finden  kaum  möglich  wäre.  Ganz  abgesehen  davon, 
daß  man  von  Vorschriften  und  Einrichtungen  einen  ganz  anderen 
Eindruck  gewinnt,  wenn  man  nicht  nur  den  Wortlaut  des  Ge¬ 
setzes,  sondern  auch  jene,  die  an  seiner  Durchführung  mitzu¬ 
arbeiten  haben,  kennen  gelernt  hat. 

Aber  auch  die  theoretische  Erkenntnis  des  einzelnen  wird 
wesentlich  gefördert,  oft  vielleicht  weniger  durch  die  öffent¬ 
liche  Aussprache  während  der  Kongreßverhandlungen  selbs„,  als 
vielmehr  durch  die  private  Aussprache  von  auf  dem  gleicnen 
Wissensgebiete  Arbeitenden.  Manche  eigene  Beobachtung  die 
einem  ans  irgendwelchem  Grunde  nicht  vollkommen  verläßlich 
schien,  gewinnt  an  Bedeutung,  wenn  man  hört,  daß  auch  andete 
Aehnliches  erfahren,  mancher  Zweifel,  den  man  selbst  an  her¬ 
gebrachten  Meinungen  gehegt,  wird  noch  verstärkt,  wenn  man 
andere  ebenso  zweifeln  sieht. 

All  dies  kann  nns  die  Lektüre,  auch  die  der  LvongLeh- 
Protokolle,  nicht  bieten  und  auf  all  dem  beruht,  meiner  Meinung 
nach,  die  Bedeutung  internationaler  Kongresse  sowohl  tur  den 
einzelnen,  als  auch  für  die  \\  issenschaft. 

Die  Schattenseiten  des  Kongreßwesens  entspringen  zum  Teil 
aus  der  großen  Zahl  Unberufener,  für  die  ein  Kongreß  nur  der 
willkommene  Anlaß  zu  einer  Vergnügungsreise  auf  fremde  Kosten 
ist.  Ihre  Zahl  trägt  allerdings  wesentlich  zur  Tragung  der  KongieU- 
kosten  bei,  aber  doch  werden  die  Kongreßleitungen,  wenn  sie 
den  ernsten  Charakter,  der  einer  wissenschaftlichen  Versammlung 
zukommt,  wahren  wollen,  nicht  allzu  viel  Wert  auf  die  gioue 
Zahl,  auf  den  Massenbesuch  legen  dürfen. 

Jene  Kongresse  aber,  die  nicht  werbend  für  eine  bestimmte 
Idee  auftreten  wollen,  die  nicht  die  Aufmerksamkeit  weiter  Ge¬ 
lehrtenkreise  auf  ein  bestimmtes,  bisher  wenig  bearbeitetes  Ge¬ 
biet  lenken  wollen,  sie  werden  gut  daran  tun,  von  vornherein 
den  Kreis  ihrer  Teilnehmer  zu  beschränken.  Man  wird  auch 
manches  von  dem,  was,  dem  eigentlichen  Kongreßzweck  fremd, 
immer  mehr  an  Ausdehnung  zugenommen  hat,  ciheolich  ein 
schränken  müssen.  In  erster  Linie  denke  ich  da  an  die  vielen 
„Empfänge“  bei  staatlichen  und  städtischen  Würdenträgern,  die 
Diners  und  Soupers;  dann  aber  auch  an  die  unnützen  und 
lästigen  Eröffnungszeremonien,  mit  denen  ein  halber  Jag  von 
den  drei  bis  vier  Kongreßtagen  verbracht  wird. 


Die  i  n  t er  n  a  t  i  o  n  a  1  e  A  r  b  e  i  t  e  r  v  er  siche  r  u  n  s  k  o  n  f  e  r  e  n.  z 
in  Haag-Scheveningen,  6.  bis  8.  September  1910. 

Die  gerade  in  ernsten  Kreisen  bemerkbare  Abneigung  gegen 
Massenkongresse  war  es  wohl,  die  das  „Coniile  permanent  intei- 
national  des  Assurances  sociales“  veranlaßte,  für  dieses'  und  für 
die  nächsten  Jahre  nicht  mehr  große  Kongresse  einzuberufen, 
wie  solche  seit  1889  alle  zwei  bis  drei  Jahre  (1905  in  Wien,  1908 
in  Rom)  getagt  hatten,  sondern  nur  Konferenzen.  Einer  Propa¬ 
ganda  bedarf  die  Idee  der  Arbeiterversicherung  heute  kaum 
mehr.  Auf  dein  Kongresse  in  Rom  hat  selbst  diejenige  Finge, 
die  zu  den  umstrittensten  gehörte,  die  Frage,  qb  die  Kranken¬ 
versicherung  obligatorisch  sein  solle,  insofern©  ihre  Lösung  ge¬ 
funden,  als  diejenigen,  die  die  Wortführer  in  der  Bekämpfung 
der  Zwangsversicherung  gewesen  waren,  sich  nun  als  Anhänger 
derselben  bekannten.  Mabilleiau,  der  Präsident  des  Ver¬ 
bandes  französischer  freiwilliger  Kranken-  und  Unterstützungs¬ 
kassen  (Federation  Nationale  de  la  Mutuality  Franchise)  und  der 
bekannte  italienische  Finanzminister  Luzatti,  der  Schöpfer  der 
freien  Hilfskassen  Italiens,  erklärtem  sich  mit  Rücksicht  darauf, 
daß  trotz  aller  Propaganda  eine  große  Anzahl  von  der  Versicherung 
dringend  bedürftiger  Menschen  für  die  Idee  gegenseitiger  Versiche¬ 
rung  nicht  gewonnen  werden  können,  für  die  Notwendigkeit  der 
Zwangsversicherung  (ohne  Zwangskassen). 

Was  eine  „Konferenz“  von  einem  Kongreß  unterscheidet, 
ist  im  wesentlichen  der  Umstand,  daß  nicht  jeder  gegen  Zahlung 
cies  MiMicdsbeitrages  teilnehmen  kann.  Die  Sozialversicherungs- 
konferenzen  sollen  Zusammenkünfte  von  Fachleuten  sein,  zunächst 


von  den  Mitgliedern  der  in  den  einzelnen  Ländern  gebildeten 
nationalen  Komitees!  für  Sozialversicherung  und  von  solchen 
Personen,  die  diese  Komitees  zur  Zulassung  empfehlen;  vor  allem 
sollen  enger  begrenzte  Fragen  der  Arbeiterversicherung  hier  zur 
Beratung  kommen. 

Die  erste  solche  Konferenz  war  für  den  6.. bis  8.  September 
nach  dem  Haag,  oder  eigentlich  nach  Scheveningen,  das  vom 
Haag  in  ca.  20  Minuten  mit  der  Trambahn  zu  erreichen  ist, 
einberufen  worden.  Hauptthemen  waren:  Der  ärztliche  Dienst  m  uer 
Versicherung;  Versicherung  und  soziale  Hygiene;  ferner:  Beitrag 
des  Staates  zu  den  Altersrenten,  Versicherung  oder  Versorgung. 
Einen  nur  geringen  Raum  nahmen  die  übrigen  Punkte  der  Tages¬ 
ordnung:  Versicherung  der  Angestellten  und  der  selbständigen 
Arbeiter,  Witwen-  und  Waisenversicherung,  Versicherung  gegen 
Arbeitslosigkeit  ein.  Die  breiteste  Erörterung  fand  der  erste  Teil 
des  ersten  Punktes  der  Tagesordnung,  die  Frage  der  freien  Arzt¬ 
wahl.  Referate  zu  diesem  Thema  lagen  aus  allen  Ländern  Mittel¬ 
europas  vor  u.  zw.  war  in  Deutschland  und  Oesterreich  die  Ein¬ 
teilung  so  getroffen,  daß  aus  beiden  Ländern  auch  die  Vertretei 
der  ärztlichen  Organisationen  als  Referenten  fungierten. 

Ehe  ich  auf  den  Inhalt  dieser  Referate  und  der  Verhand¬ 
lungen  eingehe,  möchte  ich  nur  betonen,  daß  ich  im  folgenden 
kein  getreues  Protokoll  der  Verhandlungen,  keine  genaue  Inhalts¬ 
angabe  der  Referate  geben  will;  wer  sich  für  eine  solche  Dar¬ 
stellung  interessiert,  der  sei  auf  die  „Oesterreichische  Viertel¬ 
jahresschrift  für  Gesundheitspflege“  verwiesen,  die  im  letzten  Hefte 
dieses  und  im  ersten  des  kommenden  Jahres  solche  von  mir  ver¬ 
faßte  ausführliche  Berichte  über  die  im  folgenden  besprochenen 
Konferenzen  und  Kongresse  'bringt.  Hier  will  ich  nur  ein  Ge¬ 
samtbild  über  Verlauf  und  Inhalt  dieser  Veranstaltungen  geben 
und  außerdem  das  aus  den  Referaten  und  Diskussionsbemerkun- 
gen  hervorheben,  was  m  i  r  von  Wichtigkeit  erscheint. 

Aus  Deutschland  referierte  Dr.  Kaufmann,  Präsident  des 
Reichsversicherungsamtes,  über  den  ärztlichen  Dienst  in  der  Unfall- 
und  Invalidenversicherung.  Amtsgerichtsrat  Hahn  über  den  ärzt¬ 
lichen  Dienst  bei  den  Krankenkassen. 

In  einem  gemeinsamen  Referate  vertraten  Dr.  Mugdan- 
Rerlin  und  Prof.  Dr.  Lennhoff- Berlin  die  Ansichten  des  „Wirt¬ 
schaftlichen  Verbandes  der  Aerzte  Deutschlands“,  des  „Leipziger 
Verbandes.“  Aus  Oesterreich  referierte  Dr. F.  Schnitzler-Brünn. 
Direktorstellvertreter  der  Arbeiterunfallversicherungsanstalt  für 
Mähren  und  Schlesien  und  Dr.  Gottlieb  Pick- Aussig  über  den 
ärztlichen  Dienst  in  der  Sozialversicherung.  Während  uiese^  Re¬ 
ferate  (mit  Ausnahme  des  ersterwähnten)  vor  allem  die  Trage 
der  freien  Arztwahl  in  der  Krankenversicherung  behandelten, 
spielt  in  den  Berichten  aus  den  anderen  Ländern  — die  überhaupt 
keine  obligatorische  Krankenversicherung  haben,  sondern  nur 
eine  Haftpflicht  des  Unternehmers  für  die  Betriebsunfälle  der 
Arbeiter,  die  zu  einer  Form  der  Unfallversicherung  führt  —  die 
Frage  der  freien  Arztwahl  vor  allem  in  der  Unfallversicherung 
eine  Rolle.  So  kam  es,  daß  in  der  Diskussion  deutsche  (und  öster¬ 
reichische)  Redner  und  die  Redner  aus  anderen  Ländern  fast 
stets1  aneinander  vorbei  sprachen;  die  heftigste  Debatte  aber  ent¬ 
wickelte  sich  zwischen  den  deutschen  Rednern,  den  \  ertretern 
der  verschiedenen  Anschauungen  und  griff  in  diese  Debatte  nur 
selten  ein  Redner  einer  anderen  Nation  ein.  - 

Wir  wollen  zunächst  über  die  Verhandlungen  über  freie 
Arztwahl  in  der  Krankenversicherung  berichten  und  sei 
zuerst  kurz  auf  die  vorliegenden  Referate  eingegangen. 

Hahn -Berlin  referiert  in  objektiver  Weise  über  den  ärzt¬ 
lichen  Dienst  in  der  deutschen  Krankenversicherung  und  berück¬ 
sichtigt  ganz  besonders  den  gegenwärtig  dem  Reichstage  vor¬ 
liegenden  Entwurf  einer  Reichsversicherungsordnung:  „Als  völlig 
einwandfrei  muß  man  den  Grundgedanken  anerkennen :  daß  den 
Kassen  nicht  ein  bestimmtes  System  der  ärztlichen  Versorgung 
aufgedrängt  werden  darf,  daß  vielmehr  die  einzelne  Kasse  das 
ihren  besonderen  Verhältnissen  am  besten  entsprechende^  be¬ 
stem  zu  wählen  hat  und  daß  die  Bedingungen  zwischen  der  Kasse 
und  den  Aerzten  nach  angemessenen  und  billigen  Grundsätzen 
frei  zu  vereinbaren  sind.“ 

Schnitzler-Brünn  bringt  in  seinem  ausführlichen  Re- 
f orate  interessante  Daten  über  die  Zunahme  der  Zahl  der  Aerzte, 
ihre  Verteilung  auf  Stadt  und  Land  und  einige  Angaben  über 
kassen, ärztliche  Honorarverhältnisse.  Bei  Besprechung  des  So 
znil Versicherungsentwurfes  billigt  er  es,  daß  derselbe  die  beiden 
Parteien,  Kassen  und  Aerzte,  in  der  Vereinbarung  über  die  Wahl 
des  Arztsystems,  in  der  Vereinbarung  der  beiderseitigen  Rechte 
und  Pflichten  nicht  beschränkt,  aber  eine  vermittelnde  Einwirkung 
der  politischen  Verwaltung  zur  Anbahnung  solcher  Vereinbarun¬ 
gen,  sowie  die  Entscheidung  von  Streitfällen  aus  dem  Vertrags- 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


23 


Verhältnis,  unter  der  sachkundigen  Mitwirkung  von  Vertretern 
der  Kassen  und  Aerzte  vorsieht. 

Die  beiden  ärztlichen  deutschen  Referenten  Mugdan  und 
Len  n  hoff  besprechen  ebenfalls  sowohl  die  bestehenden  Ver¬ 
hältnisse,  als  auch  die  Bestimmungen  des  Entwurfes;  sie  sehen 
es  als  einen  Fortschritt  an,  daß  der  letztere  den  Kassen  das  Recht 
zu  prophylaktisch  -  hygienischer  Tätigkeit  gibt  und  verweisen  auf 
das,  was  auf  diesem  Gebiete  einzelne  Kassen,  darunter  beson¬ 
ders  die  Wiener  Krankenkassen,  geleistet  haben.  Sie  erörtern  die 
verschiedenen  Kassenarztsysteme,  schildern  den  von  beiden  Seiten 
mit  allen,  auch  recht  bedenklichen  Mitteln  geführten  Kampf;  sie 
fordern  die  gesetzliche  obligatorische  Einführung  der  freien  Arzt¬ 
wahl,  von  der  nur  unter  besonderen  Umständen  Ausnahmen 
zulässig  sein  sollen.  Wird  diese  obligatorische  Einführung  nicht 
gewährt,  dann  bleibt  ein  dauernder  Kriegszustand  bestehen. 

Auf  wesentlich  anderem  Standpunkt  steht  der  österreichische 
Arzt  Dr.  Pick.  Auch  er  schildert  die  Organisation  des  kassenärzt¬ 
lichen  Dienstes  und  tritt  für  eine  Aenderung  des  heute  bestehen¬ 
den  Zustandes  ein.  Auch  er  führt  eine  Reihe  von  Argumenten 
zugunsten  der  freien  Arztwahl  an,  die  ihm  als  das  einzig  rich¬ 
tige  System  erscheint.  Aber  für  ihn  ist  die  freie  Arztwahl  nicht 
conditio  sine  qua  non.  Als  solche  erscheint  ihm,  daß  das  ge¬ 
wählte  System  von  dem  guten  Willen  und  dem  gegenseitigen 
Vertrauen  beider  vertragschließender  Teile  getragen  und  daß  dem 
Arzte  in  seinem  Verhältnis  zum  Kassenvorstand  eine  standes¬ 
gemäße,  gegen  Willkür  geschützte  Stellung  gesichert  werde. 

Die  Debatte,  der  diese  Referate  teilweise  zur  Grundlage 
dienten,  ließ  an  Lebhaftigkeit  nichts  zu  wünschen  übrig.  Zu 
einem  praktischen  Ergebnisse,  zur  Gewinnung  neuer  Gesichts¬ 
punkte  führte  sie  natürlich  nicht.  Sie  bedeutet  aber,  nach  dem 
Eindruck,  den  die  meisten  Anwesenden  empfingen,  eine  taktische 
Niederlage  des  Leipziger  Verbandes.  Es  zeigte  sich,  daß  der  von 
ihm  vertretene  Standpunkt  von  allen  Seiten  Zurückweisung 
findet,  daß  die  Aerzte  heute  ganz  isoliert  stehen.  Wenn  einer 
der  Wortführer  des  Verbandes,  indem  er  diese  Tatsachen  kon¬ 
statiert,  sie  als  Beweis  dafür  anführt,  wie  recht  die  Gründer 
des  Leipziger  Verbandes  hatten,  da  sie  den  Aerzten  rieten,  sich 
auf  ihre  eigene  Kraft  zu  verlassen,  so  kann  man  dagegen  sagen, 
tlaß  dieser  Rat  zwar  gewiß  gut  war,  daß  aber  diese  Isolierung 
das  Bauen  auf  eigene  Kraft  muß  ja  eine  solche  Isolierung 
weder  zur  Voraussetzung  noch  zur  Folge  haben  -  eine  Folge 
der  Kampfesziele  und  der  Kampfestaktik  des  Leipziger  Verban¬ 
des  ist. 

Nicht  nur,  daß  die  Leiter  der  beiden  großen  Kassen  verbände, 
der  Sozialdemokrat  Fraeßdorf,  als  Leiter  des  Verbandes 
deutscher  Ortskrankenkassen  und  der  in  Arbeiterkreisen  be¬ 
rüchtigte  Führer  von  Arbeitgeberorganisationein,  Dr.  Guggen¬ 
heim  er,  im  Namen  des  Verbandes  deutscher  ßetriebskranken- 
kassen,  sich  heftig  gegen  die  Forderung  der  obligatorischen  freien 
Arztwahl  und  gegen  die  Ausführungen  der  Vertreter  des  Leipziger 
Verbandes  wandten;  auch  alle  deutschen  Fachmänner,  die  an 
diesen  Fragen  nicht  unmittelbar  beteiligten  Theoretiker  tier  Ar¬ 
beiterversicherung,  nahmen  zwar  in  milderer  Form,  aber  ebenso 
entschieden  Stellung  gegen  die  Forderungen  des  Leipziger  Ver¬ 
bandes. 

In  diesem  Sinne  sprach  Dr.  Freund,  der  Vorsitzende 
der  Lebensversicherungsanstalt  Berlin  (Invalidenversicherung), 
Dr.  G.  Zacher,  Direktor  im  kaiserlichen  statistischen  Amt,  einer 
der  angesehensten  Fachmänner  in  Fragen  der  Arbeitervcrsiche- 
rung,  der  statistisches  Material  zur  Arztfragei  beibrachte,  Pro¬ 
fessor  AI  a nes,  Generalsekretär  des  Deutschen  Veremes  für  Ver- 
sic heru ngsw issenschaft,  der  es  als  einen  Mißgriff  bezeichnete, 
daß  medizinische  Professorenkollegien  der  Universitäten  in  dieser 
wirtschaftlichen  Frage  das  Wort  ergriffen  haben.  Außer  den  bisher 
erwähnten  kam  eine  große  Zahl  von  Rednern  aus  den  beiden 
Lagern:  Krankenkassen  und  Leipziger  Verband,  sowie  Vertreter 
des  Reichs  verband  es  deutscher  Aerzte,  einer  ca.  -200  Mitglieder 
zählenden  G  egen  organisation  des  Leipziger  Verbandes  (ca.  23.000 
Mitglieder)  zum  Worte. 

Von  Interesse  waren  die  Ausführungen  Pollenders, 
des  Vorsitzenden  der  Ortskrankenkasse  Leipzig.  Er  erklärt,  daß 
sich  in  der  von  ihm  geleiteten  Krankenkasse  die  freie  Arzt¬ 
wahl  voll  bewährt  habe  -  auch  in  it  freier  Arztwahl  ist  es  möglich, 
relativ  Bestes  für  die  Versicherten  zu  leisten  —  aber  auch  er 
spricht  sich  gegen  eine  generelle  Lösung  der  Arztfrage  aus,  ent¬ 
scheidend  für  das  Arztsystem  müssen  die  lokalen  Verhältnisse 
und  die  besonderen  Verhältnisse  der  Kasse  sein. 

Dr.  Pick- Aussig  trat  in  der  Debatte  ebenfalls  für  gesetz¬ 
liche  Gleichberechtigung  der  Systeme  ein,  notwendig  sei  vor  allem 
die  Sicherung  der  Vertragsverhältnisse. 


Ich  <  'selbst  bin  der  Ansicht  —  und  gab  dieser 

auch  auf  der  Konferenz  Ausdruck  —  daß  die  Frage, 
welchem  Arztsystem  der  Vorzug  zu  geben  sei,  nur  von 
Fall  zu  Fall,  je  nach  Maßgabe  der  besonderen  Verhält¬ 
nisse  der  Krankenkasse  und  ihrer  Mitglieder  entschieden  werden 
könne.  Jedes  System  hat  seine  Vorzüge  und  seine  Schatten 
seiten,  jedes  braucht  deshalb  gewisse  Korrektivmittel.  Benötigt 
das  System  der  freien  Arztwahl  eine  besonders  strenge  Kon¬ 
trolle,  damit  Polypragmasie  und  allzu  großes  Entgegenkommen 
der  Aerzte  gegen  die  Wünsche  der  Patienten  vermieden  werden, 
so  ist  heim  System  fixierter  Kassenärzte  wieder  die  entgegen¬ 
gesetzte  Gefahr  da:  daß  die  Kranken  von  den  Aerzten  nicht  in  ent¬ 
sprechend  sorgfältiger  Weise  behandelt  werden.  Dieser  Gefahr  kann 
nur  dadurch  und  nur  dann  entgegengewirkt  werden,  wenn  die 
Kassenmitglieder  selbst  entscheidenden  Einfluß  auf  die  Kassen¬ 
verwaltung  haben.  In  einer  Beziehung  aber  ist  das  System 
fixierter  Kassenärzte  der  freien  Arztwahl  überlegen.  Eine  prophy¬ 
laktische  und  soziajhygienische  Tätigkeit  werden  die  Kassen  und 
ihre  Aerzte  viel  leichter  dann  entfalten  können,  wenn  von  einer 
beschränkten  Anzahl  von  Aerzten  jeder  viele  oder  einer  alle 
Kranke  eines  Berufes  oder  eines  Betriebes  sieht  und  wenn  so  die 
einzelnen  Aerzte  Gelegenheit  haben,  sich  genauere  Kenntnisse 
der  einschlägigen  Verhältnisse  und  durch  ausgedehnte  Praxis 
in  Arbeiterkreisen  überhaupt  Einblick  in  die  Lebensverhältnisse 
der  Arbeiterschaft  zu  verschaffen.  Wenn  dasselbe  Krankenmaterial 
bei  freier  Arztwahl  sich  auf  viele  Aerzte  verteilt,  wird  der  ein¬ 
zelne  nicht  die  Gelegenheit  haben,  «ich  derartige  Kenntnisse 
und  Erfahrungen  anzueignen  und  es  wird  so  niemand  imstande 
sein,  auf  bestehende  Mißstände  hinzuweisen  und  Alittel  zu  ihrer 
Abhilfe  anzugeben. 

Auch  noch  am  Vormittag  des'  zweiten  Tages  ging  die  De¬ 
batte  vor  allem  um  die  freie  Arztwahl,  obwohl  „Versicherung 
und  soziale  Hygiene“  auf  der  Tagesordnung  standen.  Unter¬ 
brochen  wurde  sie  nur  durch  die  Ausführungen  einiger  Redner 
über  den  Unterricht  in  sozialer  Medizin,  über  die  wir  noch 
später  kurz  berichten  werden. 

Nach  diesem  kurzen  Zwischenspiel  aber  ging  die  Debatte 
über  die  freie  Arztwahl  wieder  los,  um  dann  mit  einem  Mißklang 
zu  schließen. 

Gerade  bei  dieser  letzten  Auseinandersetzung  trat  deutlich 
vor  Augen,  wozu  Kampfmethode  und  Kampfmittel  des  Leipziger 
Verbandes  führen.  Wenn  Männer  wie  Lennhoff,  die  ja  nicht  auf¬ 
hören,  die  Wichtigkeit  der  Sozialversicherung  für  das  Volks¬ 
wohl  zu  betonen,  auf  der  anderen  Seite  in  der  heftigsten  Weise 
die  Schädlichkeit  der  Sozialversicherung  in  ihrer  jetzigen  Gestalt 
hervorheben,  da  ist  doch  —  besonders,  wenn  von  der  großen 
Mehrzahl  der  Wortführer  nur  immer  über  diese  Schädlichkeiten 
gesprochen  wird  -  es  schließlich  nicht  zu  verwundern,  wenn 
erst  einzelne  und  vielleicht  bald  die  Masse  der  Aerzte,  nur  mehr 
diese  Schädigungen  durch  die  Sozialversicherung  sieht  und  an 
den  großen  Nutzen  den  sie  der  Masse  des  Volkes  und  auch  den 
Aerzten  selbst  gebracht  hat  und  bringt,  vergißt.  Es  ist  nur  ein 
kleiner  Schritt  von  dem  Worte  Lennhoffs,  zu  dem  er  sich 
einmal  in  der  Hitze  des  Gefechtes  hinreißen  ließ:  „Wir  können 
die  Sozialversicherung  zur  Farce  machen“,  zu  dem  „wir  werden 
sie  zur  Farce  machen“,  das  ihm  seine  Gegner  in  den  Mund 
gelegt  und  zu  dem  „Wenn  einmal  von  der  sozialen  Fürsorge 
die  Fetzen  fliegen  und  die  Scherben  klirren“,  das  ein  anderer 
geschrieben. 

Prof.  B  i  o  n  d  i  -  Siena,  einer  der  wenigen  Nichtdeutschen  die 
in  dieser  Debatte  das  Wort  ergriffen,  führte  mit  Wärme  aus,  wie 
verderblich  es  sei,  einen  Gegensatz  zu  schaffen  zwischen  den 
Interessen  der  Aerzte  und  den  Interessen  des  Volkes. 

Wenn  man  so  manche  Auswüchse  in  diesem  wirtschaftlichen 
Kampfe  sieht,  so  manche  Folgeerscheinungen  desselben  beob¬ 
achtet,  dann  muß  man  sich  wohl  die  Frage  vorlegen,  ob  es  für 
einen  Stand  wie  den  A  er  z  test  and  nützlich  ist,  wenn  seinem 
Angehörigen  immer  wieder  und  wieder  in  zahllosen  Vereinen 
und  Zeitschriften  gesagt  wird,  daß'  sie  ihre  wirtschaftlichen  Inter¬ 
essen  auf  das  energischeste  und  mit  dep  äußersten  Mitteln  wahren 
müssen?  Ob  dadurch  das  moralische  Niveau  des  Standes  und 
sein  Ansehen  in  der  Bevölkerung  nicht  schwer  geschädigt  werden 
kann?  Aerzte  sind  eben  weder  Arbeiter,  noch  industrielle  Unter¬ 
nehmer,  noch  Landwirte  —  so  notwendig  auch  die  wirtschaft¬ 
liche  Organisation  der  Aerzte,  die  Vertretung  der  wirtschaftlichen 
Interessen  des  Aerztestandes  sind,  so  schneidig  im  gegebenen  Falle 
vorgegangen  werden  muß  —  ihre  Wortführer  im  wirtschaftlichen 
Kampfe  sollten  sich  doch  stets  vor  Äugen  halten,  daß  un¬ 
gleich  jenen  Klassen,  und  Berufen  —  die  Aerzte  innerhalb  der 
Gesamtheit  des  Volkes  oder  Staates  eine  andere  Rolle  als  nur 
eine  wirtschaftliche  zu  spielen  haben. 


2t 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


Daran  scheint,  man  in  Deutschland  manchmal  zu  veigessen , 
bei  uns  in  Oesterreich  tobt  —  bis  heute  wenigstens  der 

Kampf  noch  nicht  so  heftig.  . 

Da  die  Frage  der  freien  Arztwahl  in  der  Krankenversiche¬ 
rung  für  die  meisten  anderen  Länder  nur  geringe  Bedeutung 
hat,  ist  es  begreiflich,  daß  die  Angehörigen  der  übngen  Na¬ 
tionen  über  den  großen  Umfang,  den  eine  Debatte  über  eine  last 
ausschließlich  deutsche  Angelegenheit  angenommen  hatte,  keines¬ 
wegs  erfreut  waren;  und  man  kann  den  Wunsch,  dem  der  or- 
sitzende  in  seinem  Schlußworte  Ausdruck  gab,  daß  dieser  Gegen- 
stand  künftig  auf  einer  deutschen,  nicht  auf  einer  internationalen 
Konferenz  behandelt  werde,  vollkommen  begreiflich  finden. 

Franzosen,  Belgier  und  Holländer,  die  zu  diesem  1  unkte 
der  Tagesordnung  das  Wort  ergriffen,  sprachen  last  stets  über 
den  ärztlichen  Dienst  in  der  Unfall-  oder  eigentlich  in  der  Haft¬ 
pflichtversicherung.  ,  • 

In  Frankreich,  Belgien,  Holland  besteht  nämlich  keinerlei 
Gesetz,  das  die  Arbeitgeber  verpflichtet,  die  bei  ihnen  beschäf¬ 
tigten  Arbeiter  bei  einer  bestimmten  Anstalt  oder  auch  nur  ubei- 
liaupt  gegen  Unfall  zu  versichern.  Die  Arbeiter  haben  bei  Be¬ 
triebsunfällen  einen  rechtlichen  Anspruch  an  den  Unternehmer 
auf  Bezahlung  eines  Krankengeldes  und  der  Arzt-  und  Apo¬ 
thekerkosten  (meist  nur  in  einem  bestimmten  Umfange  bei  vor¬ 
übergehender  und  weiter  einer  Rente  bei  dauernder,  eil  weiser 
oder  vollständiger  Erwerbsunfähigkeit.  Der  Unternehmer  kann 
dies  Risiko  entweder  selbst  tragen  oder  sich  gegen  dieses  Risiko 
seine  Arbeiter  gegen  Unfälle  -  versichern  u  zw.  ausschließlich 
bei  privaten  Versicherungsgesellschaften  (Belgien,  Frankreich), 
bei  privaten  Gesellschaften  oder  einer  staatlichen  Anstalt  '.  Holland). 

Welche  Aerzte  sollen  nun  die  Verunfallten  behandeln  und 
begutachten  ?  Das  belgische  Gesetz  bestimmt,  daß  wenn  der 
Unternehmer  auf  seine  Kosten  einen  ärztlichen  Dienst  einge¬ 
richtet  hat,  den  Arbeitern  die  ihnen  andernfalls  zustehende  freie 
\rztwahl  nicht  zukommt.  Die  Industriellen  haben  von  dieser 
Bestimmung  reichlich  Gebrauch  gemacht  und  soll  der  so  ge¬ 
schaffene  ärztliche  Dienst  nach  dem  vorliegenden  Be¬ 
richte  zur  Zufriedenheit  funktionieren.  Aber  Berichterstatter 
auf  der  Konferenz  waren  der  Direktor  und  der  Chefarzt  der  Ver¬ 
sicherungskasse  der  Textilindustriellen  und  auch  sie  Können 
nicht  umhin,  darauf  hinzuweisen,  daß  von  gewissen  Aerztegruppen 
und  Arbeitervereinen  die  organisierte  freie  Arztwahl  verlangt 
wird  und  daß  gesetzliche  Maßregeln  zur  Kontrolle  der  ärztlichen 
Behandlung  bereits  in  Anregung  gebracht  wurden. 

Ganz  im  Gegensatz  zu  den  Bestimmungen  des  belgischen 
Gesetzes  stehen  die  des  französischen.  Dieses  bestimmt  ausdrück¬ 
lich,  daß  dem  Verunfallten  stets  die  Wahl  seines  Arztes  zu¬ 
steht  und  enthält  Bestimmungen,  die  den  Arbeiter  davor  schützen 
sollen,  daß  ihm  von  dem  Unternehmer  ein  bestimmter  Arzt, 
aufgedrängt  werde.  Die  Unternehmer  haben  die  Kosten  der  ärzt¬ 
lichen  Behandlung  nach  einem  vom  Minister  aufgestellten  I  am 

zu  bezahlen.  ,  ...  ,T  ,  ,, 

lieber  den  ärztlichen  Dienst  in  der  französischen  Unfall¬ 
versicherung.  liegt  ein  Bericht  von  Mayen',  dem  Direktor  einer 
privaten  Versicherungsgesellschaft,  vor.  Er  beklagt  sich  bitter 
über  die  Mängel  des  Systems,  die  Mängel  der  Kontrolle  und  nie 
Unzweckmäßigkeit  des  ministeriellen  Tarifs. 

Um  diese  letztere  zu  mildern  und  die  Streitigkeiten  zwischen 
Aerzten  und  Versicherungsgesellschaften  zu  verringern,  haben 
einzelne  Aerzteorganisationen  mit  einem  Verband  von  \  ersiche- 
rungsgesellsc'haften  sich  über  die  Schaffung  eines  Schiedsgerichtes 
geeinigt;  über  die  Erfolge  und  die  Tätigkeit  dieser  berichtet 
einer  ihrer  Präsidenten,  der  Vertreter  dieser  Versicherungsgesell¬ 
schaften  und  eines  ihrer  ärztlichen  Mitglieder.  Auch  hier  aber 
ebenso  wie  vielleicht  in  Belgien  —  geben  die  Berichte  und  Ver¬ 
handlungen  der  Konferenz  kein  richtigeis  Bild  der  bestehenden 
Verhältnisse  und  Anschauungen.  Lennhoff  hat  in  seiner  Zeit¬ 
schrift  (Halbmonatsschrift  für  soziale  Hygiene  und  Medizin, 
21.  Juli  1910)  zuerst  dem  Auslande  eine  Darstellung  der  liier  be¬ 
stehenden  Gegensätze,  des  erbitterten  Kampfes,  der  von  den  Ar¬ 
beitern  und  Aerzten  —  oder  wenigstens  Gruppen  derselben— - 
gegen  die  Uebergriffe  der  Versicherungsgesellschaften  geführt  wird, 

gegebe^  _  wj^  wjr  hier  nur  kurz  ausführen  möchten  — 

nur  begreiflich,  daß'  --  wenn  maü  in  der  Unfallversicherung  die 
materiellen  Interessen  beider  Teile :  des  Arbeiters,  der  eine  mög¬ 
lichst  hohe  Rente  erhalten  will,  und  der  die  Versicherung  als 
Geschäft  betreibenden  Aktiengesellschaft,  die  eine  möglichst  ge¬ 
ringe  Rente  zahlen  will,  unvermittelt  aufeinanderplatzen  läßt  und 
außerdem  noch  die  Streitfälle  auf  den  komplizierten  Veg  des 
gewöhnlichen  Rechtes  verweist  —  sich  daraus  die  unerquick¬ 
lichsten  Kämpfe  entwickeln  müssen.  Daß  die  wirtschaftlich 


weit  mächtigeren  Versicherungsgesellschaften  dabei  leichter  im¬ 
stande  sind,  das  Recht  zu  ihren  Gunsten  zu  beugen  (durch  Aus¬ 
nützung  der  Lücken  des  Gesetzes,  durch  wirtschaftlichen  Druck 
auf  Arbeiter  und  Aerzte),  liegt  wohl  auf  der  Hand.  Die  Leie 
Arztwahlfrage  ist  liier  eine  ganz  andere  als  m  der  Kranken¬ 
versicherung.  denn  es  sind  die  Interessengegensätze  zwischen 
Kranken  und  Krankenkassenverwaltung  lange  nicht  so  großes 
wie  zwischen  Verunfallten  und  Unfallversicherungsanstalt  und 
dann  haben  auch  —  abgesehen  von  einer  Anzahl  von  Betriebs 
krankenkässen  —  die  versicherten  Arbeiter  ein  gewichtiges  Wort 
in  der  Kassenverwaltung  und  bei  der  Anstellung  der  Aerzte  mit¬ 
zusprechen,  während  die  Verwaltungen  jener  privaten  /eisiclu- 
rüngsgesellschaften  von  den  versicherten  Arbeitern  vollkommen 
unabhängig,  von  den  Aktionären  und  Unternehmern  abhängig  sind 
und  nur  Aerzte  brauchen  können,  die  das  finanzielle.  Interesse 
der  Versicherungsgesellschaft  weitgehend  wahren.  Bei  solchem 
Stande  der  Versicherung  erscheint  die  freie  Arztwahl  notwendig, 
aber  auch  sie  kann  —  und  das  zeigt  eben  das  französische  Bei¬ 
spiel  nicht  zu  befriedigender  Gestaltung  der  Verhältnisse  führen. 
Eine  solche  kann  nur  erreicht  werden  durch  Ausschluß  aller  auf 
Gewinn  berechneten  Versicherungsanstalten  von  der  obligatorischen 
Arbeiterversichemng  und  durch  Durchführung  dieser  Versicne- 
rung  durch  öffentlich-rechtliche  Versicherungsinstitute,  aut  deren 
Gebarung  neben  den  Unternehmern  auch  die  Versicherten  und 
die  Staatsverwaltung  einen  weitgehenden  Einfluß  haben.  Dies  ist 
in  Oesterreich  bei  den  Arbeiter-Unfallversicherungsanstalten  der 
Fall.  Die  Einrichtung  der  deutschen  Berufsgenossenschaften  ent¬ 
spricht  schon  nicht  diesen  Anforderungen,  doch  ist  wenigstens 
bei  den  Schiedsgerichten  den  Versicherten  und  der  .Staatsver¬ 
waltung  ein  gewisser  Einfluß  gewahrt.  Ist  das  Versicherungs¬ 
wesen  sö  geregelt,  dann  scheint  uns  gerade  in  der  Unfallversiche¬ 
rung  die  freie  Arztwahl  wenig  am  Platze,  gerade  hier  ist  es 
von  größter  Wichtigkeit,  daß  baldmöglichst  eine  zweckmäßige 
Behandlung  durch  spezialistisch  geschulte  Aerzte  .stattfindet  und 
in  Chirurgie  und  Augenheilkunde  kommt  es  weit  weniger  aut 
das  „persönliche  Vertrauen“  des  Kranken  zürn  Arzte  als  aut 
dessen  gute  Ausbildung  an  und  über  diese  sich  ein  Urteil  zu 
bilden,  sind  die  Leitungen  der  Versicherungsanstalten  weit  mehr 
imstande,  als  die  einzelnen  Verunfallten. 

In  Deutschland  ist,  wie  hier  noch  kurz  erwähnt  sei,  den 
Trägern  der  Unfallversicherung,  den  Berufsgenossenschaften,  ein 
weitreichender  Einfluß  auf  die  Behandlung  der  Unfallverletzten 
gegeben  worden.  Die  Begutachtung  der  Verletzten  erfolgt  durch 
Vertrauensärzte  der  Berufsgenossenschaften  doch  muß  außei 
im  Falle  der  Zuerkennung  der  Vollrente  —  das  Gutachten  des 
behandelnden  Arztes  gehört  werden.  Daraus',  daß  den  Versicherten 
selbst  auf  die  Verwaltung  der  Berufsgenossenschaften  kein  Li 
fluß  gewahrt  ist  (sondern  nur  auf  die  Schiedsgerichte),  erklärt 
s  wohl  zum  Teil  das  Mißtrauen  der  Arbeiter  gegen  d.ese 
(nicht  auf  Gewinn  berechneten)  Institute  und  ihre  Anordnungen. 

In  Oesterreich  steht  den  Unfallversicherungsanstalten  deren  Vor¬ 
stand  zu  gleichen  Teilen  aus  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern 
und  vom  Ministerium  ernannten  Fachleuten  besteht,  derzeit  Ein¬ 
fluß  auf  die  Heilbehandlung  überhaupt  nicht  zu,  die  Beaut- 
achtung  erfolgt  zum  großen  Teile  durch  von  der  Anstalt  .un¬ 
bestellte  Aerzte.  Die  schweren  Nachteile,  die. sich  aus  dem  Feh  e 
mies  Einflusses  der  Anstalten  auf  die  Heilbehandlung  ergeben 
haben,  sucht  der  Sozialversicherungsentwurf  zu  beheben  indem 
er  _.  allerdings  in  unzureichender  Weise  —  den  Anstalten  (las 
Recht  auf  Eingreifen  in  das  Heilverfahren  gibt.  Die  Leitung  dei 
Anstalten  soll  künftig  zu  zwei  Drittel  aus  Arbeitgebern  zu  einem 
Drittel  aus  Arbeitnehmern  bestehen. 

Eine  interessante  Einrichtung  gerade  in  bezug  auf  Rege¬ 
lung  des  ärztlichen  Dienstes  hat  die  holländische  Gesetzgebung 
betroffen  und  scheint  sie  noch  weiter  ausbauen  zu  wolle  ' 
sehen  dem  haftpflichtigen  Unternehmer  ^d  dem  veranfa l  en 
Arbeiter  steht  die  „Reichsversicherungshank  .  Sie  zahlt,  die  Renten 
aim  ihre  Aerzte  überwachen  die  Behandlung,  begutachten  den 
Grad  der  Erwerbsunfähigkeit.  Die  Unternehmer  können  weh  bei 
dieser  Reichsversicherungsbank  versichern,  sie  können  sich  abe 
dami  begnügen,  ohne  Versicherung  ihr  direkt  die  Ausgaben  fm 
Renten  ln  eleeteen.  oäer  eich  bei 

Gesellschaft  versichern,  die  dann  gegenüber  der  ^eichsversiche 
rungsbank  die  Ersatzpflicht  hat.  Dem  Verunfallten  ^ht  (lie  fr^ 
\T7twMhl  unter  ienen  Aerzten  zu,  die  sich  in  die  Liste  der 

Reichs versicherungsbank  aufnehmen  Arz\  cfoeh 

nähme  in  diese  Liste  hat  jeder  zur  Praxis  berechtigte 
hat  die  Bank  das  Recht,  einen  Arzt  aus  -lei  Liste  zu  Miemhc n. 
Dem  Arzte  steht  der  Rekurs  an  den  Ministei  offen.  Die  Be  ln 
gungen  und  Verpflichtungen  sind  zwischen  der  Organisation  der 
Aerzte  und  der  Bank  vereinbart  worden. 


II  UV/l  '_/  J 

Das  Land  ist  in  zwölf 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Distrikte  geteilt,  in  deren  jedem  ein  Kontrollarzt  funktioniert. 
Dieser  darf  selbst  keinerlei  Praxis  ausüben,;  er  hat  die  Behaiul- 
lung  der  Verunfallten  zu  überwachen,  ec  kann  Zuziehung  eines 
Spezralarztes  oder  die  Ueberführung  ins  Spital  verlangen,  er  gibt 
die  Vollmacht  zur  Einleitung  medico -mechanischer  Behandlung; 
über  seinen  Vorschlag  kann  die  Leitung  der  Bank  bestimmen, 
daß  der  Kranke  sich  von  einem  bestimmten  Arzte  behandeln 
lasse.  Auch  die  Begutachtung  der  Verunfallten  obliegt  dem 
Konirollarzte. 

Bei  diesem  Verfahren  haben  sich  einzelne  Mi  ßs  tan  de  er¬ 
go  Iren  ;  der  eine  Berichterstatter,  Dr.  Sehre ve,  der  General¬ 
sekretär  der  holländischen  Aerzteven  inigung,  wünscht  Pauschal¬ 
bezahlung  der  Aerzte  statt  Bezahlung  nach  der  einzelnen  Visite 
und  Verschärfung  der  Kontrollmaßregeln  der  Bank,  'besonders 
in  der  ersten  Zeit  nach  dem  Unfall.  Der  zweite  Referent,  van 
Trooyen,  Kontrollarzt  der  Reichsversicherungsbank,  verlangt 
Einschränkung  der  freien  Arztwahl  zugunsten  einer  Behandlung 
durch  spezia listisch  geschulte  Aerzte.  Er  verlangt  weiter,  daß.  die 
Kontrollürzte  —  um  auch  nach  außen  vollkommen  unabhängig 
zu  erscheinen  -  vom  Staate  angestellt  und  direkt  dem  Ministerium 
unterstellt  werden. 

Kehren  wir  nach  dieser  Abschweifung,  die  auf  die  der 
Konferenz  vorliegenden  Berichte  und  einige  Diskussionsredner 
Bezug  genommen,  zu  den  Verhandlungen  der  Konferenz  wieder 
zurück,  so  hätten  wir,  wenn  wir  von  dem,  was  nur  für  den 
Volkswirtschaftler  von  Interesse,  absehen,  nur  noch  zu  be¬ 
richten,  daß  eine  Reihe  von  Referenten  (Kaufmann-Berlin, 
Schnitzler-Brünn  u.  a.)  die  Notwendigkeit  des  Unterrichtes 
aus  sozialer  Medizin  an  den  Universitäten  betonten.  [Jeher  die 
Art  dieses  Unterrichtes  legte  Priv.-Doz.  Kaufmann- Zürich  ein 
Referat  vor,  in  dem  er  vor  allem  die  Notwendigkeit  des  Unter¬ 
richtes  in  der  Begutachtung  für  Zwecke  der  Sozialversicherung 
betonte.  In  der  Diskussion  legte  ich  gegenüber  Kaufmann  dar, 
daß  sich  der  Unterricht  an  den  Universitäten  nicht  nur  auf  die 
soziale  Versicherungsmedizin  beschränken  dürfe,  daß  nicht  nur 
den  Anforderungen  der  Praxis  Rechnung  zu  tragen  sei,  sondern  auch 
theoretisches  Studium  gepflegt  werden  müsse.  Es  müsse  das  ganze 
große  Gebiet  der  sozialen  Medizin  Berücksichtigung  finden  und 
insbesondere  müßten  durch  Abhaltung  von  Seminaren  -  nach 
der  Art  der  an  den  juridischen  und  philosophischen  Fakultäten 
üblichen  —  den  Aerzten  und  Studenten  Gelegenheit  gegeben 
werden,  sich  die  Arbeitsmethoden  der  sozialen  Medizin  anzu- 
' eignen.  Lennhoff  und  Peyser  erklärten,  daß.  ein  Unterricht, 
in  dem  von  mir  geschilderten  Umfange  wünschenswert  sei  und 
verweisen  auf  die  Verdienste,  die  sich  der  Leipziger  \  er band 
durch  die  Abhaltung  von  Kursen  auf  dem  Gebiete  der  sozialen 
Medizin  erworben  habe. 

♦ 

Einen  der  Nachmittage,  in  dem  ein  mich  wenig  interessieren¬ 
des  Thema  verhandelt  wurde,  benützten  wir  (meine  Frau  und  ich) 
zu  einem  Ausflug  nach  Amsterdam;  Dr.  Heijermans,  Privat¬ 
dozent  für  Gewerbekrankheiten  an  der  Universität,  machte  in  liebens¬ 
würdigster  Weise  den  Führer  bei  Besichtigung  zweier  Diamant 
Schleifereien.  Die  Diamanten  werden  zunächst  gespalten,  wo¬ 
bei  es  die  Kunst  des  Spalters  ist,  bei  möglichst  geringem  Verlust 
an  Material  die  Verunreinigungen,  winzige  schwarze  Punkte,  aus 
dom  Steine  zu  entfernen  und  zugleich  den  verbleibenden  reinen 
Stücken  eine  zur  Weiterverarbeitung  passende  Gestalt  zu  geben. 
Den  zur  weiteren  Verarbeitung  bestimmten  Stücken  wird  zunächst 
durch  Bearbeiten  mit  anderen  Diamanten  eine  rundliche  Gestalt  ge¬ 
geben.  Bei  all  diesen  Arbeiten  wird  der  Diamant  in  einem  eigen¬ 
artigen  Zement  festgekittet.  Soweit  alle  diese  Arbeiten  von  Hand 
gemacht  werden,  sind  sie  sehr  anstrengend,  führen  zu  starker 
Entwicklung  der  Fingermuskulatur,  besonders  des  Daumenballens 
und  zu  charakteristischer  Deformitäten-  und  Schwielenbildung  an 
den  Fingern.  Die  in  beschriebener  Art  vorbereiteten  Diamanten 
werden  nun  geschliffen  :  In  einer  kupfernen,  mit  einem  Stiel  ver¬ 
sehenen  eichelbecherförmigen  Kappe  sitzt  ein  wie  eine  Eichel 
geformtes  Bleistück;  dieses  wird  an  einer  Gasflamme  etwas  er¬ 
wärmt  und  in  seine  Spitze  der  winzige  Diamantsplitter  einge¬ 
drückt  u.  zw.  in  der  Art,  daß  die  zu  schleifende  Fläche  die  rich¬ 
tige  Lage  erhält;  diese  Eicheln  nun,  die  an  der  Spitze  den 
Diamant  tragen,  werden  dann  in  eine  Vorrichtung  gesteckt,  durch 
die  sie  auf  eine  um  eine  vertikale  Achse  rotierende  gußeiserne 
Platte  aufgedrückt  werden.  Als  eigentliches  Schleifmittel  dient 
in  Oel  verriebener  Diamantstaub  (wie  er  bei  den  früheren  Ar¬ 
beiten  sich  entwickelt),  der  auf  die  Scheiben  aufgetragen  wird. 
Die  Fertigkeit  eines  Arbeiters  besteht  im  richtigen  Einsetzen 
des  Diamanten  in  die  Bleimasse,  sowie  im  richtigen  Aufsetzen 
auf  die  Drehscheibe,  wobei  in  Betracht  zu  ziehen  ist,  daß  der 
Stein  nur  nach  einer  bestimmten  Richtung  sich  schleifen  läßt. 


Man  hat  sich  bemüht,  die  Verwendung  des  Rleies  überflüssig 
zu  machen  und  so  das  Entstehen  von  Bleivergiftung  zu  verhüten  ; 
es  wurde  eine  Vorrichtung  konstruiert,  die  den  Diamanten  mittels 
eines  Schlüssels  einspannt;  diese  Vorrichtung  ist  für  große  Steine 
in  Verwendung,  für  kleinere  scheint  sie  nicht  geeignet. 

In  Amsterdam  sind  ca.  9000  Diamantschleifer  beschäftigt, 
von  denen  zwei  Drittel  Juden  sind.  Die  Arbeiter  sind  sehr  gut 
organisiert,  die  Löhne  betragen  in  den  meisten  Kategorien  30 
bis  50  fl.  wöchentlich,  die  Spalter  verdienen  100  bis  150  fl 
in  der  Woche. 

Aber  auch  in  dieses  so  hochqualifizierte  Handwerk 
man  denke  nur  an  die  zahllosen  winzigen  Facetten  eines  Steines 
dringt  die  Maschine.  Das  Spalten,  und  in  größerem  Umfange 
schon  das  Abrunden  des  gespaltenen  Steines,  geschieht  durch 
Maschinen.  Der  erste  von  uns  besichtigte  Betrieb  ist  ein  großes, 
schön  eingerichtetes,  modernes  Fabriksgebäude,  mit  hohen,  hellen 
Räumen,  das  seinen  Arbeitern  reichlich  Licht  und  Luft  und  alle 
jene  Einrichtungen  bietet,  die  große,  gut  eingerichtete  Betriebe 
überhaupt  bieten  können.  Der  zweite  Betrieb,  den  ich  ebenfalls 
durch  die  Liebenswürdigkeit  des  Priv.-Doz.  Heijermans  zu 
sehen  Gelegenheit  hatte,  war  ein  Kleinbetrieb,  im  letzten  Stockwerk 
eines  alten  Hauses  gelegen,  der  nur  über  eine  unglaublich  -enge 
und  schlechte  Holztreppe  zu  erreichen  war.  Die  Arbeitsräume 
nicht  sehr  hell  und  recht  unsauber. 

* 

Nach  Schluß  der  Konferenz  besichtigten  die  Teilnehmer 
an  derselben  über  Einladung  der  Rotterdamec  Handelskammer 
den  Hafen  von  Rotterdam.  Auf  einem  mittelgroßen  Flußdampfer, 
der  uns  zuerst  ein  Stück  stromabwärts  geführt  hatte,  um  uns 
den  Anblick  des  Meeres  zu  bieten,  ging  es  dann  stromaufwärts 
gegen  Rotterdam  zu.  Zunächst  in  den  noch  in  Entstehung  be¬ 
griffenen  „Waalhafen“.  Ein  ungeheures  Stück  Land  soll  da, 
auf  Kosten  der  Stadt  Rotterdam  in  einigen  Jahren  in  einen  Hafen 
umgewandelt  werden;  große  Baggermaschinen  sind  in  eifriger 
Arbeit;  dann  ging  es  weiter  stromaufwärts  an  einer  Unzahl  großer 
und  kleiner  Schiffe  vorbei  in  den  Maashafen.  Die  Maschine 
unseres  Schiffes  wurde  abgestellt  und  wir  ins  Schlepptau  eines 
kleinen  Dampfbootes  genommen,  vor  uns  fuhr  ein  Polizeiboot, 
das  für  die  Durchfahrt  Platz  schuf.  —  So  hatten  wir  Gelegenheit, 
das  Ein-  und  Ausladen  der  Schiffe,  vor  allem  der  gewaltigen 
Getreideschiffe,  aus  nächster  Nähe  zu  beobachten.  Auf  alte  und 
neue  Weise  sahen  wir  solche  Schiffe  entleert  werden.  Bis  vor 
wenigen  Jahren  erfolgte  das  Ausladen  hoch  ausschließlich  in  der 
Art,  daß  aus  dem  Schiffsraum  ein  dort  (von  Hand)  mit  Ge¬ 
treide  angefüllter  Korb  mittels  Kran  heraufgewunden  wurde, 
auf  Deck  wurde  das  Getreide  manchmal  noch  nach  einer  Zwi¬ 
schenstation  in  einem  anderen  Gefäße  —  in  einen  Sack  gefüllt 
und  dieser  dann  am  oberen  Ende  einer  Rutsche  entleert ;  über 
diese  Rutsche  läuft  das  Getreide  —  kleine  Mengen  in  kleinen 
Zwischenräumen  —  dann  in  das  darunterstehende  Schleppschiff, 
auf  dem  es  weiter  stromaufwärts  geführt  wird.  Auf  mehreren 
Schiffen  sahen  wir  noch  in  dieser  Art  die  Entleerung  vor  sich 
gehen,  auf  anderen  aber  erfolgte  die  Entleerung  mittels  Elevator. 
Ein  auf  einem  Schiff  aufmontierter  Elevator  wird  an  das  Getreide¬ 
schiff  herangefahren,  der  Elevator  hat  mehrere  große  Arme 
(Röhren),  einer  von  diesen  wird  in  den  Schiffsbauch  versenkt, 
das  Getreide  wird  nun  durch  Luftverdünnung  angesaugt,  bis  zur 
Höhe  des  Elevators  gehoben  und  läuft  dann,  durch  eine  andere 
Röhre  in  kontinuierlichem  dicken  Strahle  in  den  Schlepper.  Daß 
vor  mehreren  Jahren  die  Einführung  dieser  Elevatoren  unter  den 
Hafenarbeitern  die  größte  Aufregung  hervorrief,  ist  wohl  nur 
begreiflich.  Die  Maschine  verrichtet  hier  die  Arbeit  zahlreicher 
Menschen  in  einem  Bruchteil  der  Zeit,  den  diese  früher  dazu 
nötig  hatten. 

Die  schöne  Art  der  Gastfreundschaft,  die  die  Rotteiclamoi 
Handelskammer  übte,  indem  sie  uns  Gelegenheit  gab,  den  Hafen 
genauer  und  gründlicher  zu  sehen,  als1  es  einem  einzelnen  sonst 
trotz  aller  Mühe  möglich  gewesen  wäre,  wird  wohl  allen  Ted- 
nehmem  unvergeßlich  bleiben.  Aber  auch  aller  jener  hoiLindi- 
sehen  Teilnehmer  an  der  Fahrt  muß'  man  dankbar  gedenken, 
die  uns  unermüdlich  Aufklärung  über  das,  was  wir  sahen,  gaben 
und  uns  gar  vieles  interessante  über  die  holländischen  eigen¬ 
artigen  Einrichtungen  berichteten.  Ich  möchte  hier  besondeis 
Herrn  Dr.  van  Iierwerdens  gedenken,  des  Kontrollarztes  der 
Reichsversicherungsbank  in  Rotterdam,  dem  ich  die  Kenntnis 
mancher  Details  über  die  holländische  Unfallversicherungsgosetz- 
gebung  und  die  Stellung  der  Kontrollärzte  verdanke.  Auch  er¬ 
möglichte  er  mir  die  Besichtigung  einer  Rotterdamer  B  lei  weiß - 
fabrik,  der  einzigen  in  Holland,  die  noch  nach  dem  allen  im- 
ländischen  Verfahren  Bleistreifen  werden  in  irdenen  lopteu 
der  Einwirkung  von  Pferdemist  ausgesetzt  arbeitet.  Das  so 


t 


26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  i 


gewonnene  Blei  weiß  soll  sich  für  manche  Zwecke  besonders 

gilt  eignen.  .  .  ..  .  ' 

Noch  am  Abend  desselben  Tages  waren  wir  in  Brussel,  wo 
am  folgenden  Tage  die  Sitzungen  des  II.  internationalen  Kon¬ 
gresses  für  Gewerbekrankheiten  begannen. 

(Schluß  folgt.) 


Referate. 

Arbeiten  aus  dem  Institute  zur  Erforschung  der  In¬ 
fektionskrankheiten  in  Bern  und  den  wissenschaftlichen 
Laboratorien  des  Schweizer  Serum-  und  Impf  Instituts. 

Herausgegeben  von  Dr.  VV.  Kolie,  o.  Professor  der  Hygiene  und 
Rakteriologie  an  der  Universität  Bern. 

5.  Heft. 

Jena  1910,  Verlag  von  Gustav  Fischer. 

Eine  sehr  gründliche  Arbeit  von  Y.  Shimodaira  füllt 
das  vorliegende  Heft  und  hat  den  Zweck,  exakte  experimen¬ 
telle  Beiträge  zur  Wirkungsweise  der  Bierschen  Stau¬ 
ungstherapie  zu  liefern.  Auszugsweise  wurden  die  Resultate 
dieser  Untersuchungen  bereits  in  der  Deutschen  medizinischen 
Wochenschrift  1909  gebracht  und  nun  folgen  nach  einer  histori¬ 
schen  Einleitung  die  in  allen  ihren  Details  beschriebenen  Experi¬ 
mente,  aus  denen  hervorgeht,  daß  bei  der  in  Rede  stehenden 
Behandlungsmethode  allem  Anschein  nach  die  Phagozytose,  die 
durch  Opsonine  und  bakteriotrope  Substanzen  verstärkt  sein  kann, 
eine  Rolle  spielt,  wenn  auch  die  beobachtete  Phagozytose  neben 
der  Erhöhung  de«  Gehaltes  an  Opsoninen  und  bakteriotropen 
Substanzen  die  Heilwirkung  zu  erklären  nicht  vermöchte.  Es 
läßt  sich  aber  eine  auf  ein  Minimum  reduzierte  Menge  von  Kom¬ 
plementen  in  der  Oedemflüssigkeit  eines  entzündeten  oder  mit 
Infektionsträgern  beladenen  Teils  des  Kaninchenorganismus  Nach¬ 
weisen,  während  die  komplementbindenden  Stoffe  nicht  in  ver¬ 
mehrter  Menge  an  die  Oedemflüssigkeit  des  Stauungsgebietes  ab¬ 
gegeben  werden.  In  diesem  erfolgt  keine  Bakterienvermehrung, 
sondern  vielmehr  ein  Zugrundegehen  der  Infektionsträger.  Die 
aus  ihnen  stammenden  gelösten  Stoffe  werden  entweder  rasch  re¬ 
sorbiert,  oder  im  Stauungsödem  völlig  zerstört,  auch  spezifische 
Immunagglutinine  werden  nur  in  geringer  Menge  in  dieses  abge¬ 
geben.  Während  nun  die  Oedemflüssigkeit  aus  dem  gestauten 
Gebiete  eines  normalen  Kaninchens  in  vitro  annähernd  gleich 
bakterizid  wirkt  wie  das  Blutserum  desselben  Tieres,  zeigt  die 
Oedemflüssigkeit  aus  zuerst  infizierten  und  dann  gestauten  Teilen 
in  vitro  eine  deutliche  Herabsetzung  des  bakteriziden  Vermögens 
gegenüber  dem  Blutserum  desselben  Tieres  und  auch  gegenüber 
der  Stauungsflüssigkeit  eines  normalen  Kaninchens.  Die  Heil¬ 
wirkung  der  Stauungshyperämie  kommt  demnach  nicht  durch 
Steigerung  einer  einzelnen  entzündungswidrigen  Komponente  zu¬ 
stande,  sondern  durch  die  vereinte  Aktion  aller  hier  in  Betracht 
kommenden  Momente,  wobei  die  Steigerung  der  Wirksamkeit  des 
einzelnen  Faktors  eine  quantitativ  oft  nur  geringe  und  nur  schwer 
nachweisbare  sein  kann.  Hierin  dürfte,  wie  Verf.  annimmt,  auch 
der  Grund  gelegen  sein,  daß  so  häufig  bei  anscheinend  völlig 
gleichen  Verhältnissen  und  Bedingungen  die  therapeutische  Wir¬ 
kung  der  Bierschen  Stauung  so  ungleichmäßig  ausfällt. 

* 

6.  Heft. 

Kolles  einleitender  Artikel:  Das  Institut  für  Hygiene 
und  Bakteriologie  (Institut  zur  Erforschung  der  In¬ 
fektionskrankheiten)  der  Universität  Bern,  bringt  eine 
historische  Darstellung  der  Entwicklung,  sowie  die  ausführliche 
Beschreibung  des  neuen  Institutes,  welches  nicht  allein  dem 
Unterrichte  in  Hygiene  und  Bakteriologie,  sondern  auch  der  For¬ 
schung  auf  den  genannten  Gebieten,  wie  hinsichtlich  der 
Infektionskrankheiten,  ferner  der  antirabischen  Behandlung  von 
Menschen  nach  der  Pasteurschen  Methode,  sowie  der  diagno¬ 
stischen  Untersuchung  von  Hundeköpfen  auf  Wut,  dann  der  Her¬ 
stellung  von  Diphtherie-,  Tetanus-,  Meningokokken-  und  Strepto¬ 
kokkenserum  zu  therapeutischen,  sowie  von  Typhus-,  Pest-  und 
Choleraserum  zu  diagnostischen  Zwecken,  endlich  der  Bereitung 
von  Pest-,  Cholera-  und  Pockenimpfstoff  zu  dienen  hat.  Außerdem 
werden  im  Institute  sämtliche  bakteriologische  Untersuchungen 
der  Kantone  vorgenommen.  Der  mannigfachen  Arbeit,  welche 


in  dein  Institute  zu  leisten  ist,  entspricht  auch  die  räumliche 
Ausdehnung  desselben  und  erscheinen  Anlage  und  innere  Ein¬ 
richtung  desselben,  die  Kollo  an  der  Hand  von  Abbildungen, 
bespricht,  geradezu  mustergültig  und  den  modernsten  Anforde¬ 
rungen  entsprechend.  Da  das  Institut  aus  einem  bakteriologischen 
Laboratorium  der  chirurgischen  Klinik  hervorging,  war  es  zu¬ 
nächst  berufen,  diese  zu  fördern.  Darum  wählt  auch  Tavel  als 
Thema  für  diese  Festnummer  die  Frage:  Lieber  den  Einfluß 
des  bakteriologischen  Institutes  der  Universität 
Bern  auf  die  Fortschritte  der  Chirurgie  und  zeigt, 
wie  regen  Anteil  gerade  das  Berner  Institut  an  der  Entwicklung 
der  Anti-  und  Asepsis  genommen  hat.  Heller  und  Rot  her¬ 
mund  t  berichten  über  die  Verbreitung  und  Bekämpfung 
der  Hundswut  in  der  Schweiz  während  der  letzten 
zehn  Jahre  und  die  Ergebnisse  der  Schutzimpfung 
nach  Berichten  der  Pasteurabteilung.  Bei  der  nicht  be¬ 
sonders  hohen  Zahl  von  Impfungen,  welche  in  dem  Institute 
vorgenommen  werden  (154  Fälle  innerhalb  zehn  Jahren),  be¬ 
währte  sich  ganz  außerordentlich  die  von  Calmette  empfoh¬ 
lene  Konservierung  des  Impfmateriales  in  Glyzerin.  Eine  beson¬ 
dere  Befriedigung  gewährt  den  Leitern  dieser  Abteilung  das  Re¬ 
sultat  der  Impfungen,  welches  ihnen  gestattet,  den  Artikel  mit  den 
Worten  zu  schließen,  daß  sich  die  segensreiche  Einrichtung  zum 
Nutzen  der  Schweiz  und  ihrer  Bewohner,  zür  Sicherung  des  Ge¬ 
sundheitszustandes  praktisch  bewährt  und  ihre  Aufgabe,  die  Vei 
hütung  des  Wutausbruches  bei  verletzten  Personen,  erfüllt  hat. 
Von  nicht  geringerem  Interesse  ist  die  Beschreibung  und  Schil¬ 
derung  der  Tätigkeit  der  Lymphgewinnungsanstalt  durch  To¬ 
ni  a  rk  in  und  Carriere,  indem  die  beiden  Autoren  die  Gelegen¬ 
heit  ergreifen,  die  Entwicklung  des  Impfwesens  in  der  Schweiz, 
seine  Erfolge  und  den  gegenwärtigen  Stand  desselben  zu  skizzieren. 
Doch  dient,  wie  wir  weiter  erfahren,  die  Lymphegewin¬ 
nungsanstalt  des  Schweizer  Serum-  und  Impfinsti- 
tuts  am  Institut  zur  Erforschung  der  Infektions¬ 
krankheiten  nicht  allein  praktischen  Zwecken,  sondern  auch 
der  wissenschaftlichen  Forschung,  indem  daselbst  umfangreiche 
Untersuchungen  über  das  Vorhandensein  von  komplementbin- 
denden  Stoffen  im  Blute  mit  Vakzine  immunisierter  Tiere,  ferner 
über  die  Dauer  der  Immunität  bei  vakzinierten  Kaninchen  und 
über  die  Filtrierbarkeit  des  Vakzinevirus  angestellt  wurden.  Die 
ersteren  fielen  negativ  aus,  negativ  waren  auch  die  Versuche, 
durch  wiederholte  subkutane  oder  intravenöse  Injektion  selbst 
großer  Dosen  filtrierter  Vakzine  Kaninchen  gegen  die  nachträg¬ 
liche  Vakzination  refraktär  zu  machen.  Nicht  ohne  stillen  Neid 
wird  so  mancher  die  Schilderungen  von  Kolle,  Krumb  ein  und 
Scliürmann  über  die  Technik  der  Immunisierung 
größerer  Tiere  und  der  Serumgewinnung  in  den  La¬ 
boratorien  des  Schweizer  Serum-  und  Impfinstituts 
lesen  Denn  geradezu  fürstlich  sind  die  Einrichtungen  der  herr¬ 
lichen  Räume,  welche  diesem  Zwecke  dienen  und  in  denen  eine 
Fülle  zweckdienlicher  technischer  Neuerungen  Aufnahme  gefun¬ 
den  haben.  Außer  Immunsera  gegen  Diphtherie,  Tetanus,  Strepto¬ 
kokken,  Pest,  Pneumokokken,  Meningitis  und  Dysenterie,  werden 
hier  auch  Schutzimpfstoffe  gegen  Typhus,  Pest  und  Cholera,  sowoh 
in  flüssigem  Zustande,  als  auch  trockene,  nach  der  Methode 
von  Lustig-Galeotti,  speziell  gegen  Pest  und  Cholera,  her¬ 
gestellt.  Es  bedarf  wohl  keiner  besonderen  Erwähnung,  daß  die 
Heizungs-  und  Lüftungsanlage,  Warmwasserversor¬ 
gung,  Kühl  raum-  und  Verbrennungsofen,  in  diesem 
Musterinstitute  auf  der  Höhe  der  modernen  Technik  stehen.  Die 
Ausführung  der  Arbeiten  wurde  nach  Vorschlägen  des  Geheimen 
Regierungsrates  Prof.  Dr.  Rietschel  in  Berlin,  der  Zentral¬ 
heizungsfabrik  Bern  A.-G.  übertragen  und  erscheinen,  wie  aus 
den  Ausführungen  von  A.  A.  Beuttef,  Direktor  des  genannten 
Unternehmens,  hervorgeht,  die  oft  sehr  schwierigen  und  heiklen 
Probleme  in  geradezu  glänzender  Weise  gelöst.  Berücksichtigen 
wir  endlich  noch  das  diesem  Hefte  beigegebene  Verzeichnis  der 
Arbeiten,  welche  aus  dem  Berner  Institute  zur  Erforschung  der 
Infektionskrankheiten  hervorgegangen  sind,  so  gewinnen  wir  erst 
ein  vollkommenes  Bild  der  Tätigkeit  in  den  Räumen  dieser  muster¬ 
gültigen  Anstalt,  welche  nicht  allein  praktischen  Zwecken  zu 
dienen  berufen  ist,  sondern  auch  mit  Erfolg  die  Wissenscha  t 
zu  fördern  vermag. 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Studien  und  Fragen  zur  Entzündungslehre. 

Von  Dr.  Hermann  Schridde,  a.  o.  Professor  an  der  Universität 

Freiburg  i.  Br. 

.1  e  n'aÄ1910,  Verlagjvon  Gustav  Fische  r. 

Durch  eine  Reihe  von  Jahren  geführte  hämatologische  Stu¬ 
dien,  zusammen  mit  den  Ergebnissen  eingehender  histologischer 
Untersuchungen  des  Entzündungsprozesses1  veranlassen  den  Ver¬ 
fasser,  seine  umfassenden,  Kenntnisse  und  reichen  Erfahrungen 
auf  diesen  Gebieten  mit  Rücksicht  auf  das  noch  immer  nicht  voll¬ 
ständig  gelöste  Problem  des  Wesens  der  Entzündung  in  vor¬ 
liegender  Monographie  zu  hinterlegen.  Wenn  sich  nun  auch  Verf. 
gezwungen  sieht,  auf  Grund  seiner  eigenen  Befunde  sich  mit  den 
Ansichten  so  mancher  Forscher  in  Widerspruch  zu  setzen,  so  tut 
er  dies  immer  nur  nach  objektivster  Beurteilung  und  Kritik  des 
vorliegenden  Materiales  und  scheut  sich  nicht,  einmal  selbst  ge¬ 
zogene  Schlußfolgerungen  unumwunden  als  nicht  mehr  richtig 
hinzustellen,  sobald  ihn  neue  Tatsachen  zu  einer  anderen  .An¬ 
sicht  drängen.  So  sehen  wir  Schridde,  der  einst  Anhänger 
der  lokalen  Eosinophilie  gewesen  ist,  diesen  Standpunkt  aufgeben, 
ebenso  wie  er  beim  Fötus  jetzt  ein  perivaskuläres  Vorkommen 
von  Lymphozyten  außerhalb  des  eigentlichen  lymphatischen  Ge¬ 
webes  leugnet,  dagegen  ein  reichliches  Vorkommen  von  perivasku¬ 
lärem  myeloischen  Gewebe  zugibt.  Bezüglich  der  lymphozytären 
Zellanhäufung  in  Entzündungsherden  vertritt  Schridde  jetzt  den 
Standpunkt,  daß  sie  nur  aus  emigrierten  Lymphozyten  sich  ent¬ 
wickle,  indem  diese  Art  von  Zellen  sich  an  Ort.  und  Stelle  in 
hohem  Mäße  vermehren.  Es  ist  wohl  keine  Frage,  daß  Sehr  i d d e s 
besonders  scharfe  Beobachtungsgabe  ihn  in  den  Stand  setzte, 
sogar  auf  dem  schon  so  vielfach  bearbeiteten  Gebiete  der  Entzün¬ 
dung  neue  Tatsachen  aufzufinden,  die  selbst  wieder  zu  Aenderung 
der  Fragestellung  und  damit  zu  erneuter  Arbeit  Anlaß  gehen.  So 
bringt  Scluiddes  Zusammenstellung  vielfache  Anregung  und 
wenn  auch  einzelne  von  ihm  dermalen  vertretene  Ansichten  nicht 
ungeteilte  Aufnahme  finden  werden,  so  birgt  die  kleine  Mono¬ 
graphie  doch  so  manchen  Gedanken  in  sich,  bei  dessen  Verfolgung 
es  immer  Schriddes  Verdienst  bleiben  wird,  ihn  zuerst  aus¬ 
gesprochen  zu  haben. 

* 

Nouveau  traite  de  medecine  et  de  therapeutique. 

Public  on  fascicules  sous  la  redaction  de  MM.  A.  Gilbert,  Prof,  ä  la 
Faculte  de  mödecine  de  Paris,  Mddecin  de  l’höpital  Broussai,  Membre 
de  l’academie  de  medecine  et  L.  Tlioiuot,  Prof,  ä  la  Faculte  de  medecine 
de  Paris,  Mddecin  de  Phöpital  Laönnec,  Meinbre  de  l’acadenne  de  medecine. 

* 

Cancer. 

Par  P.  Meuetrier,  Professeur  agrögö  ä  la  Faculte  de  medecine,  .Medecin 

de  l’höpital  Teno. 

Paris  L909,  Librairie  J.  B.  Baillere  &  fits. 

Die  vorliegende  Zusammenstellung  unserer  Kenntnisse  nicht 
allein  über  den  Krebs,  sondern  über  die  bösartigen  Geschwülste 
überhaupt,  teilt  Menetrier  in  sechs  größere  Abschnitte,  deren 
erster  einer  kurzen  historischen  Studie,  der  Charakterisierung 
und  Definition  der  malignen  Tumoren,  gewidmet  ist.  Sehr  inter¬ 
essant  sind  dann  die  Ausführungen  über  Morphologie  und  Bio¬ 
logie  der  Tumorzelle,  ihrer  Funktion  und  sekretorischen  Tätig¬ 
keit.  Die  degenerativen  Veränderungen  der  Geschwulstelemente 
beschreibt  Verf.  als  kolloide,  pigmentöse,  schleimige,  fettige  und 
hyaline.  Bevor  Menetrier  auf  die  Versuche  der  experimentellen 
llebcrlragung  von  Tumoren  eingeht,  führt  er  den  Leser  in  die  Er¬ 
gebnisse  der  chemischen  Forschung  auf  diesem  Gebiete  ein  und 
schildert  die  Resultate  der  Transplantation'  normaler  Gewebe.  Bei 
Beschreibung  der  lokalen  und  allgemeinen  Ausbreitung  maligner 
Neubildungen  schildert  Verf.  die  Anfangsstadien  dieser  Prozesse, 
den  Verlauf  des  Wachstums  der  Primärgeschwulst  und  die  Ent¬ 
wicklung  von  Metastasen.  Uebergehend  auf  die  Allgemeinwir¬ 
kung  bösartiger  Tumoren  auf  den  Gesamtorganismus,  entwirft 
Menetrier  ein  anschauliches  Bild  der  Veränderungen  des  Blutes 
und  des  Harnes  bei  malignen  Neoplasmen  und  kommt  dann: 
auf  die  Kachexie  zu  sprechen.  Eine  sehr  klare  Schilderung  des 
klinischen  Bildes  und  der  für  die  Diagnose  der  bösartigen  Ge¬ 
schwülste  in  Betracht  kommenden  Momente  bildet  den  Schluß 
dieses  zweiten,  für  Praktiker  und  Theoretiker  gleich  lesenswerten 
Abschnittes.  In  dem  nun  folgenden  speziellen  Teile  geht  Verf.  auf 
die  einzelnen  Formen  des  Karzinoms  und  Sarkoms  näher  ein 


27 

und  schließt  daran  die  Besprechung  der  aus  Teratomen  und  Em¬ 
bryonen  sich  entwickelnden  bösartigen  Geschwülste.  Bei  der 
in  einem  eigenen  Abschnitte  erfolgenden  Erörterung  der  Aetiologie 
maligner  Tumoren  schildert  Menetrier  zuerst  die  Ergebnisse 
der  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  zusammengestellten  Sta 
tistiken,  um  dann  im  folgenden  Abschnitte  auf  die  parasitäre  und 
zelluläre  Theorie  der  Geschwulstpathogenese  kritisch  einzugehen, 
wobei  er  sich  als  Anhänger  letzterer  Richtung  bekennt.  Zum 
Schlüsse  widmet  Verf.  noch  einen  Abschnitt  der  Therapie,  welche 
heute  nicht  mehr  so  entmutigend  erscheint  wie  ehemals.  Können 
wir  einerseits  dank  den  Fortschritten  in  der  Chirurgie  sicher 
unter  Umständen  eine  völlige  Heilung  erzielen,  so  setzen  uns 
anderseits  neue  Methoden  in  den  Stand,  direkt  auf  die  Geschwulst¬ 
zellen  zerstörend  einzuwirken,  ohne  die  gesunden  Gewebe  dabei 
zu  schädigen.  Läßt  sich  schon  aus  dieser  kurzen  Inhaltsangabe 
des  Werkes  von  Menetrier  die  reiche  Fülle  des  in  demselben 
aufgestapelten  Stoffes  erkennen,  so  sei  noch  erwähnt,  daß 
neben  dem  aus  der  Literatur  sorgfältig  gesammelten  und  gründ¬ 
lich  durchgearbeiteten  Material  Verfasser  zahlreiche  eigene, 
höchst  wertvolle  Beobachtungen  in  seine  fließende  und  klare 
Darstellung  einflicht,  wodurch  der  großen  und  mühevollen  Arbeit 
der  Charakter  einer  kompilatorischen  genommen  und  der  Stempel 
von  Originalität  aufgedrückt  wird.  Diese  prägt  sich  jedoch  nicht 
allein  im  Texte,  sondern  auch  in  den  reichlich  beigegebenen, 
musterhaft  ausgeführten  Abbildungen  aus,  die  insgesamt  von 
Fällen  stammen,  die  Menetrier  selbst  beobachtet  und  stu¬ 
diert  hat. 

* 

Deszendenz  und  Pathologie. 

Vergleichende  biologische  Studien  und  Gedanken. 

Von  1).  v.  Hausemaun. 

Berlin  1909,  Verlag  von  August  H  i  r  s  c  h  w  a  1  d. 

■Zum  hundertsten  Geburtstage  Darwins  veröffentlichte 
v.  Hansemann  vorliegende  Studie,  welche  für  Kenner  der 
Deszendenzlehre  mit  mangelhaften  Voi»kenntnissen  in  der  Patho¬ 
logie  und  umgekehrt  für  Pathologen,  die  die  Lehren  der  Deszen¬ 
denztheorie  nicht  vollkommen  beherrschen,  bestimmt  ist.  Bisher 
haben  sich  fast  nur  Philosophen  im  engeren  und  weiteren  Sinne 
diesem  Studium  hingegeben,  während  gerade  die  vielleicht  hiezu 
Berufensten,  die  Pathologen,  mit  wenigen  Ausnahmen,  demselben 
ferne  geblieben  sind.  Zu  diesen  Ausnahmen  gehören  allerdings 
die  glänzendsten  Namen  deutscher  Pathologen,  Virchow,  Zieg¬ 
ler  und  v.  Bollinger;  ihnen  schließt  sich  nunmehr  v.  Ilanse- 
mann  an,  der  für  seine  an  tiefem  Wissen  und  ausgedehnter  Be¬ 
lesenheit  reichen  Monographie  den  gleichen  Titel  wählt,  den  \  i  r- 
c  h  o  w  einem  nur  kurz  gehaltenen  Aufsätze  über  das  gleiche 
Thema  gegeben  hat. 

Die  Ausführungen  des  Verfassers  beziehen  sich  auf  die 
Fragen  der  Präformation  und  Epigenese,  auf  die  Entstehung  von 
Arten  und  Varietäten,  sowie  auf  die  damit  im  Zusammenhang 
stehenden  Bedingungen  der  Konstanz,  auf  die  Bedeutung  von  Altru¬ 
ismus,  Zweckmäßigkeit  und  Orthogenese  für  die  belebte  Welt; 
ein  besonderes  Kapitel  wird  der  Besprechung  des  Lamarckismus 
gewidmet,  es  werden  dann  unsere  Kenntnisse  über  funktionelle 
Anpassungen  besprochen  und  schließlich  die  Epidemien  und  der 
physiologische  Tod  in  den  Kreis  der  Betrachtungen  gezogen. 
Namentlich  sind  es  v.  Hansemanns  geistreiche  Erörterungen 
über  Altruismus,  Regeneration  und  Transplantation,  die  einen 
nicht  zu  unterschätzenden  Fortschritt  bedeuten  und  neben  einer 
Anzahl  anderer  neuer  Tatsachen  neue  Stützen  für  die  Deszen¬ 
denztheorie  abgeben.  Und  wenn  auch  Verf.  zugibt,  daß  uns  jeg¬ 
liche  Kenntnis  über  das  erste  Entstehen  des  Lebens  fehlt,  so 
müssen  wir  doch  annehmen,  daßi  in  früheren  Zeiten  nicht  nur 
für  die  Entstehung  organischer,  sondern  auch  organisierter  Sub¬ 
stanzen  geeignete  Bedingungen  bestanden  haben.  Für  die  phylo- 
und.  ontogenetische  Entwicklung  der  Lebewesen,  für  ihre  Aus¬ 
breitung  und  die  Fixierung  ihrer  Formen,  waren  die  gegenseitigen 
Beziehungen  der  Lebewesen  untereinander  maßgebend,  wobei  das 
altruistische  Prinzip  eine  so  bedeutende  Rolle  spielt,  daß  es  voll¬ 
kommen  gerechtfertigt  erscheint,  für  alle  Lebewesen  neben  Er- 
nährungs-  und  Geschlechtstrieb  auch  den  Trieb  zum  Altruismus 
anzunehmen.  Muß  man  nun  auch  zugeben,  daß  ein  weiteres 
Auftreten  von  Varietäten  bei  den  Polyplastitiden  durch  die  ^  <*i 


28 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


teilung  der  Eigenschaften  an  die  einzelnen  Organe,  beziehungs¬ 
weise  Zellteile  erschwert  ist,  so  muß  doch  vom  theoretischen 
Standpunkte  aus  der  Mensch  nicht  als  die  ultima  ratio  in  der 
Tierentwicklung  aufgefaßt  werden,  obwohl  als  logisches  l  ostu  a 
an  zu  nehmen  ist,  daß  das  Leben  auf  der  Welt  nicht  ins  Unend¬ 
liche  weitergehen  kann. 

Mit  dem  vorliegenden  Werke  ist  ein  neuer  Beweis  dafür 
erbracht,  daß  die  moderne  Richtung  naturwissenschaftlicher  For¬ 
schung  auch  unter  den  Medizinern  sich  Bahn  gebrochen  nat, 
nachdem  die  Verachtung  gegen  die  Philosophie,  wie  sie  anfangs 
der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  herrschte,  geschwun¬ 
den  ist.  Erscheint  nun  schon  aus  diesem  Grunde  v.  Hanse¬ 
ln  an  ns  Monographie  ganz  besonders  lesenswert,  so  gewinnt  sie 
durch  ihren  reichen  Gehalt  an  interessanten  und  kritischen  Beob¬ 
achtungen  eine  besondere  wissenschaftliche  Bedeutung,  zum  a 
der  Autor  sich  nicht  verführen  läßt,  der  Phantasie  die  Zügel 
schießen  zu  lassen,  sondern  sich  vielmehr  darauf  beschrankt, 
nur  jene  Schlußfolgerungen  zu  ziehen,  welche  sich  aus  den  vor¬ 
handenen  Tatsachen  ergeben. 


Archivos  do  real  institute)  bacteriologico  Camara  Pestana. 

Tome  II,  fascicule  II.  Lisbonne,  Döcembre  1908. 


rotatorium  zwar  nahe  steht,  sich  aber  von  diesem  doch  soweit 
unterscheidet,  daß  man  ihn  als  eine  besondere  Spezies,  als 
Trypanosoma  hylae,  bezeichnen  soll.  Ueber  die  Resultate  der 
Wassermannschen  Reaktion  an  dem  Materiale  des  Institutes  be¬ 
richtet  Bettencourt.  Aus  seiner  Zusammenstellung  entnehmen 
wir,  daß  auch  dieser  Autor  der  genannten  Probe  eine  nicht  zu 
unterschätzende  Bedeutung  beimißt,  daß  aber,  um  zu  einem  defi¬ 
nitiven  Urteile  zu  gelangen,  noch  eine  größere  Untersuchungsreihe 
an  einem  anderen  Krankheitsmaterial,  namentlich  von  Scharlach 
und  Protozoenerkrankungen,  dringend  erwünscht  ist.  Auch  er 
fordert,  daß  das  Antigen  zur  Erzielung  verläßlicher  Resultate 
vorerst  mit  dem  Serum  sicherer  Syphilitiker  geprüft  sein  muß. 
Wenn  Bettencourt  auch  zugibt,  daß  eine  energische  Queck¬ 
silberkur  die  Reaktion  beeinflussen  kann,  so  ist  doch  sicherlich 
das  Verschwinden  der  Reaktion  als  ein  Zeichen  der  Heilung 
der  Erkrankung  anzusehen.  Schließlich  steht  Bettencourt  auch 
auf  dem  Standpunkte,  daß  die  verschiedenen  Modifikationen  und 
Vereinfachungen  der  Wassermannschen  Reaktion,  sich  mit 
den  Resultaten  der  ursprünglich  angegebenen  Methode  nicht  ver- 
gleichen  lassen. 

* 

Die  ortsfremden  Epithelgewebe  des  Menschen. 


In  einer  kurzen  Mitteilung:  Quelques  notes  sur  l’hae- 
mogreg a  r  i  n a  s p  1  en d  e n s  (L a b b  e),  veröffentlicht  C.  F r  a n c a 
den  interessanten  Befund  von  Kern  und  Blepharoblast  bei  dem 
genannten  Blutparasiten  des  Frosches.  Ueber  (lie  zoologische 
Stellung  eines  Trematoden  in  der  W  interschlafdrüse  des  Igo  s 
kann  sich  M  Athias  in.  seiner  Publikation:  Description  d  un 
ver  parasite  de  la  glande  de  l’hibernation  du  hens- 
son  nur  insoweit  äußern,  daß  es  sich  weder  um  das  von  Lm- 
stow  beschriebene  Distomum  caudatum,  noch  um  das  Distom um 
pusillum  Bronns  handelt,  zwei  Parasiten,  die  ebenfalls  beim 
Igel  gefunden  wurden.  Aus  der  statistischen  Zusammenstellung : 
Le  traitement  anticliphtheriq'ue  ä  l'ins'ti  tu  t  royal 
de  bacteriologie  Camara  Pestana,  von  C .  F r an Q a,  geht 
hervor,  daß  die  1907  erzielten  Erfolge  noch  günstigere  sind  als 
die  -des  vorangegangenen  Jahres.  Verf.  tritt  sehr  warm  für  die 
Methode  der  Intubation  als  Ergänzungsbehandlung  der  Sero¬ 
therapie  ein  und  empfiehlt  zur  Behandlung  der  Nephritis  bei  Di¬ 
phtherie  Tannin.  Eine  sehr  umfangreiche  Untersuchungsreihe  liegt 
der  Arbeit  von  Ferreira,  Horta  und  Paredes:  Recherches 
sur  le  Bacterium  coli  communis  de  l’intestin  de 
l’homme  vor;  die  Autoren  bestätigen  zunächst  die  Befunde 
von  Houston  und  Savage,  finden  aber  außerdem,  daß  der 
Koiibazillus  Laktose  vergärt  und  Indol  auf  Kosten  von  Pepton 
bildet.  In  einer  zweiten  Publikation :  Recherche  s  sur  le  Bacte- 
r  ium  coli  de  l’intestin  des  mami  feres  et  des  o  i  s  e  au  x, 
berichten  die  gleichen  Verfasser  über  Untersuchungen  an  einem 
großen  Material  verschiedenster  Tiere,  in  deren  Fäzes  sich  bei 
930/0  typische  Kolibazillen  nachweisen  ließen.  Sie  stimmen  daher 
Savage  und  Mac  Cordey  bei,  welche  angeben,  daß  die  mensch¬ 
lichen  und  tierischen  Bacterium  coli -Stämme  sich  weder  morpho¬ 
logisch,  noch  biologisch  oder  kulturell  voneinander  unterscheiden 
lassen.  Bettencourt  und  Borges  untersuchten  die  Stühle 
niederer  Wirbeltiere  und  fanden  bei  diesen  entweder  ein  vollstän¬ 


diges  Fehlen  oder  ein  nur  spärliches  Vorkommen  von  Bacterium 
coli.  In  ihrer  diesbezüglichen  Mitteilung:  Recherches  sur  le 
Bacterium  coli  des  vertebres  inferieurs  et  des  ce¬ 
real  es,  berichten  die  Verfasser  auch  über  bakteriologische  Unter¬ 
suchungen  der  verschiedenen  Getreide-  und  Gemüsearten  und 
kommen  zu  dem  Schlüsse,  daß  diese  keineswegs  einen  regel¬ 
mäßigen  Fundort  des  Bacterium  coli  abgeben,  so  daß  man  in 
dieser  Hinsicht  nicht  von  einer  Ubiquität  dieses  Mikroorganis¬ 
mus  sprechen  kann.  Mit  völlig  negativem  Resultat  versuchten  die 
beiden  Autoren,  wie  sie  in  einer  Publikation:  Peut  on  distin¬ 
gue  r  1  e  C o  1  i b  a c i  1 1  e  de  l’homme  de  c e  1  u i  des  unimaux 
au  moven  de  la  fixation  du  complement,  berichten, 
die  Komplementbindungsmethode  zur  Differenzierung  mensch¬ 
licher  und  tierischer  Kolistämme  heranzuziehen.  Im  Gegensätze 
zu  Wasielewski  betont  C.  Franca  in  einem  ganz  kurzen 
Aufsatze :  Encore  sur  1  e  Trypanosome  de  H y  1  a  a r b 0 r e a, 
daß  der  im  Laubfrosch  gefundene  Parasit  dem  Trypanosoma 


Untersuchungen  und  Betrachtungen. 

Von  Dr.  Hermann  Scliridde,  Priv.-Doz.  für  allgemeine  Pathologie  und 
pathologische  Anatomie  in  F  reiburg  1.  br. 

Heft  G  der  Sammlung  anatomischer  u.  physiologischer  Vorträge  u.  Aufsätze 
herausgegeben  von  Gaupp  &  Nagel. 

Jena  1909.  Verlag  von  Gustav  Fischer. 

Eigene  Erfahrungen  über  das  Vorkommen  von  ortsfremdem 
Epithelgewebe  faßt  Sehr  id  de.  mit  den  vorliegenden  Untersuchun¬ 
gen  anderer  Autoren  monographisch  zusammen  und  bespricht 
zunächst  als  formale  Akkomodation  jene  Epithelumgestaltungen, 
die  nur  die  äußere  Form  betreffen,  während  die  für  die  Gewebe 
eigentümliche,  funktionelle  Strukturbeschaffenheit  der  einzelnen 
Zellen  in  ihren  Grundzügen  unverändert  bleibt.  Im  Gegensatz 
hiezu  steht  als  Protoplasie  jene  pathologische  Epithelverände¬ 
rung,  die  in  einer  über  die  ortsgehörige  Ausdifferenzierungszone 
hinausschreitenden  Weiterdifferenzierung  besteht,  oder  mit  an¬ 
deren  Worten,  es  bedeutet  Protoplasie  die  Weiterbildung  des  orts¬ 
dominierenden  Merkmals  über  die  ortsgehörige  Differenzierungs¬ 
zone  hinaus.  Seine  frühere  Definierung  des  Begriffes  der  Hetero- 
nlasie  ändert  Scliridde  auf  Grund  neuerer  Erfahrungen  dahin 
ab,  daß  er  nunmehr  unter  Heteroplasie  jenen  Vorgang  versteht, 
daß  in  bestimmten  embryonalen  Zellen,  in  denen  nur  noch  die 
bleibenden  Organmerkmale  enthalten  sind,  das  ortsunterwertige 
durch  Prädestination  zum  ortsdominierenden  wird  und  mit  allen 
seinen,  ihm  eigentümlichen  Zellmerkmalen  zur  vollen  Ausbildung 
gelangt,  daß  somit  eine  Rückdifferenzierung  eintntt.  Aus  seinen 
interessanten  Beobachtungen  an  Geschwülsten  mit  ortsfremden 
Epithelbildungen  und  dem  Studium  der  Vorgänge  bei  der  in¬ 
direkten  Metaplasie,  wo  es  sich  nicht  um  eine  wirkliche  Trans¬ 
formation  einer  Zelle  in  eine  gänzlich  andere  handelt,  sondern 
wo  die  Umbildung  auf  einem  Umwege  erfolgt  gelangt 
Scliridde  zur  Anschauung,  daß  bei  der  Bildung  von  01  ts- 
fremdem  Epithel  im  extrauterinen  Leben  indifferente  Zellen,  wenn 
überhaupt,  nur  im  geringsten  Grade  in  Frage  kommen.  Mas 
nun  die  Metaplasiefähigkeit  der  Epithele  anlangt,  so  scheint 
für  dieselbe  die  Höhe  ihrer  Differenzierung  maßgebend  zu 
sein  indem  mit  der  höheren  strukturellen.  Differenzierung  die 
Metaplasiefähigkeit  abnimmt,  während  die  Regenerations  Iah  ig- 
keit  von  der  funktionellen  Wertigkeit  abhängig  ist.  Hinsicht¬ 
lich  der  Ursachen  für  die  Metaplasie  lehnt  Schridde  die  Vor¬ 
stellung  von  im  Keime  begründeten  oder  im  embryonalen  Lehen 
erworbenen  Anlagen  ab  und  nimmt  an,  daß  irgendwelche  äußere 
Momente  es  sein  müssen,  die  in  der  Weise  wirken,  daß  das 
ortsdominierende  zu  dem  ortsunterwertigen  Organmerkmal  wird. 
Diese  Frage  experimentell  anzugehen,  erscheint  Schridde  m- 
solange  verfrüht,  als  uns  die  entsprechenden,  genau  bestimm¬ 
baren  und  abwägbaren  Mittel  zur  Erfüllung  der  notwendigen 
Voraussetzungen  nicht  zur  Verfügung  stehen. 

* 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


29 


Klinik  und  Biologie  der  Thymusdrüse  mit  besonderer 
Berücksichtigung  ihrer  Beziehungen  zu  Knochen-  und 

Nervensystem. 

Von  Dr,  Heinrich  Klose,  I.  Assistenzarzt  der  Chirurg.  Klinik,  Vorstand 
des  Laboratoriums  und  der  Abteilung  für  Experimentalchirurgie  un- 
Prof.  Dr.  Heinrich  Vogt,  Nervenarzt  und  Abteilungsvorstand  am  neurod 
logischen  Institut  in  Frankfurt  a.  M. 

Tübingen  1 910,  Verlag  von  N.  Laup  p. 

Bei  dem  hohen  Interesse,  welches  den  Drüsen  mit  innerer 
Sekretion  entgegengebracht  wird,  erscheint  es  außerordentlich 
zweckmäßig,  daß  die  vorliegende  gründliche  Bearbeitung  der 
Biologie,  Pathologie  und  Klinik  der  Thymusdrüse  nach  ihrem 
Erscheinen  in  den  Beiträgen  zur  Chirurgie  (Bd.  69),  nunmehr  auch 
als  Monographie  weiteren  Kreisen  zugänglich  gemacht  wurde. 
Das  Werk  umfaßt  drei  größere  Abschnitte,  deren  weitaus  größter 
eigene  experimentelle  Untersuchungen  der  beiden  Autoren  be¬ 
trifft,  denen  speziell  bei  Festlegung  der  Resultate  über  Stoff¬ 
wechselstörungen,  bei  Ueberprüfung  der  Blutbefunde  sowie  bei 
der  Lösung  von  Fragen  über  Erscheinungen  des  allgemeinen  Che¬ 
mismus  Emden,  Schulz  und  Liesegang  hilfreich  zur  Seite 
standen.  Mehr  einleitend  sind  die  beiden  Abschnitte,  deren  erster 
die  Phylo-,  Ontogenese  und  Morphologie  sowie  die  Ergebnisse 
der  Experimentalforschung  auf  diesem  Gebiete  behandelt,  während 
der  zweite  die  Klinik  der  Thymuserkrankungen  zum  Vorwurfe 
hat  und  gleichzeitig  eine  historische  Schilderung  der  Entwick¬ 
lung  und  des  gegenwärtigen  Standes  unserer  Kenntnisse  über 
die  Biologie  und  Pathologie  der  Thymusdrüse  wiedergibt.  Da, 
wie  Verf.  zeigen,  die  phylogenetische  Entwicklungsreihe  der 
Thymus  noch  nicht  erforscht  ist,  läßt  sich  auch  nicht  entschei¬ 
den,  ob  in  der  Thymusanlage  phylogenetisch  Aequivalente  von 
nicht  mehr  zur  Ausbildung  gelangenden  Kiemensprossen  zu  er¬ 
blicken  sind.  Damit  fällt  auch  die  klinische  Möglichkeit  weg, 
aus  den  vergleichenden  Erscheinungsformen  zwischen  thymus- 
losen  und  -besitzenden  Tieren  Schlüsse  auf  Funktionen  zu  ziehen, 
die  bei  dem  einen  Tiere  beobachtet  werden,  bei  dem  anderen 
nicht.  Ontogenetisch  stellt  die  Thymus  ein  epitheliales,  bran- 
chiogenes  Organ  dar,  welches  Lymphozyten  nicht  ausschwemmt, 
sondern  als  Nukleinträger  anzieht.  Die  in  frühen  embryonalen 
Entwicklungsstadien  drüsenartige  Anordnung  des  Epithels 
schwindet  bald,  so  daß  bereits  im  dritten  Embryonalmonat  die 
Epithelmasse  aus  Ansammlungen  kleiner  rundlicher  Kerne  be¬ 
steht.  Aus  Unwandlungen  und  Degenerationen  der  Epithelien 
gehen  die  Sternzellen  und  die  H  as  sal  sehen  Körperchen  her¬ 
vor.  Die  aufsteigende  biologische  Phase  der  Thymus  reicht  beim 
Menschen  bis  an  das  Ende  des  zweiten  Lebensjahres,  nach 
dieser  Zeit  wächst  sie  nicht  mehr,  sondern  involviert  sich  lang¬ 
sam  bis  zur  Pübertät.  Von  da  an  persistiert  als  sogenannter  retro¬ 
sternaler  thymischer  Fettkörper  ein  Rest  der  Drüse  durch  das 
ganze  Leben.  Aus  den  experimentellen  Untersuchungen  bis  zum 
Jahre  1905  geht  nur  soviel  hervor,  daß  Entfernung  der  Thymus 
ein  für  Gesundheit  und  Entwicklung  der  Tiere  völlig  belang¬ 
loser  Eingriff  ^ei.  Aus  eigenen  Untersuchungen  der  Verfasser 
geht  hervor,  daß  die  maximalste  Entwicklung  der  Hundethymus 
in  die  Zeit  zwischen  10.  und  20.  Lebenstag  fällt.  Als  günstigsten 
Zeitpunkt  zur  Exstirpation  der  Drüse  empfehlen  Klose  und 
Vogt  den  10. Lebenstag.  Die  Folgen  der  Thymektomie  scheiden 
sich  in  3  Stadien:  in  den  ersten  4  Wochen  das  der  Latenz,  in  den 
folgenden  2  bis  3  Monaten  das  der  Adiposität,  an  das  sich  ein  über 
3  bis  14  Monate  erstreckende  Stadium  der  Cachexia  thymopriva 
schließt  und  im  Coma  thymicum  endet.  Somit  ist  die  Thymus  im 
Haushalte  des  Organismus  von  allgemeiner  lebenswichtiger  Be¬ 
deutung  und  hat  ihre  totale  Entfernung  zur  Zeit  ihres  maximalen 
physiologischen  Wachstums  den  Tod  zur  Folge.  Der  Thymus tod 
ist  dann  ein  chronischer,  allgemeiner  Gewebstod  mit  Vorherr¬ 
schen  der  Adynamie.  Die  Thymusexstirpation  erzeugt  ein  spezi¬ 
fisches,  thymektogenes  Knochenleiden,  welches  in  Hypoplasie 
des  Skelettsystems  sich  äußert;  die  Knochen  werden  atrophisch 
und  je  nach  der  Entwicklungsstufe  biegsam  oder  brüchig.  Die 
Ursache  hiezu  liegt  in  einem  Mangel  an  ungelöstem  Kalk  des 
Knochensystems,  wofür  als  Grundlage  eine  Säureüberladung  des 
Organismus  anzusehen  ist.  Als  Säure  kommt  die  Nukleinsäure 
in  Betracht,  mit  welcher  der  Organismus  durch  Ausschaltung 
ihrer  Synthese  nach  der  Thymusexstirpation  allmählich  ver¬ 


giftet.  wird.  Klinisch  zeigen  die  Tiere  bald  nach  der  Operation 
eine  gewisse  Unsicherheit  in  den  Bewegungen,  sie  ermüden  leicht, 
später  treten  leichte  Paresen  und  koordinatorische  Störungen  auf, 
die  mit  einer  anatomisch  nachweisbaren  Neuritis  in  Zusammen¬ 
hang  stehen.  Als  wichtigste  Veränderung  beobachtet  man  eine 
Erhöhung  der  Muskelerregbarkeit  vom  Nerven,  wie-  sie  schon 
von  Basch- festgestellt  wurde.  Während  diese  Erscheinungen 
von  seiten  des  Nervensystems  schon  bald  nach  der  Operation 
einsetzen,  treteln  erst  in  späteren  Stadien  der  Erkrankung  schwere 
psychische  Defekte  auf,  die  schließlich  zum  Bilde  schwerer  Ver¬ 
blödung,  Idiotia  thyreopriva,  führen.  Auf  die  Thymusexstirpation 
folgt,  wie  schon  eingangs  erwähnt,  ein  Stadium  der  Vermehrung 
des  Körperfettes,  welches  bei  Entwicklung  der  Cachexia  thymo¬ 
priva  mit  einer  richtigen  Hyperplasie  von  Milz,  Schilddrüse, 
Pankreas,  Ovarium  und  Hoden  sich  kombiniert. 

Aus  den  Versuchen  der  beiden  Verf.  geht  ferner  hervor, 
daß  Verabreichung  von  Thymuspräparaten  an  thymopriven  Tieren 
eine  Steigerung  der  Thymusausfallerscheinungen  bis  zur  höchsten, 
tödlichen  Toxizität  bewirkt.  Für  die  Therapie  der  nervösen  Stö¬ 
rungen,  welche  auf  eine  Säurevergiftung  sich  zurückführen  lassen, 
empfiehlt  es  sich,  Alkali  zu  verabreichen  und  den  Organismus 
zu  vermehrter  Alkalibildung  anzuregem;  chirurgisch  kommt  da¬ 
gegen  als  einzig  rationelle  Therapie  die  Autoplastik  in  Betracht. 
Eine  eingehendere  Bearbeitung  der  für  die  Therapie  richtung¬ 
gebenden  Resultate  ihrer  sehr  interessanten  Untersuchungen  be¬ 
halten  sich  Verf.  für  eine  demnächst  erscheinende  zweite  Publi¬ 
kation  vor.  Joannovids. 


Äus  verschiedenen  Zeitschriften. 

1.  Inversion  eines  Blasendivertikels  als  Kom¬ 
plikation  der  Prostatektomie.  Von  Priv.-Doz.  Doktor 
O.  Ehrhardt  in  Königsberg  i.  Pr.  Bei  einem  76  Jahre  alten 
Manne  bestand  seit  zwei  Jahren  infolge  Prostatavergrößerung  eine 
Ischuria  paradoxa,  dauerndes  Harnträufeln  bei  einer  großen,  bis 
zum  Nabel  reichenden  Blase.  Da  die  konservativen  Maßnahmen 
keinen  Erfolg  herbeiführten,  entschloß  man  sich,  die  Prostatek¬ 
tomie  zu  machen,  die  auch  in  typischer  Weise  suprasymphysär 
in  leichter  Aethernarkose  ausgeführt  wurde.  Der  leicht  narko¬ 
tisierte  Pat.  hustete  und  preßte  dabei  sehr  stark.  Als  nun  der 
Operateur  nach  der  Blaseninzision  die  Finger  in  die  Blase  ein¬ 
führte,  um  die  Prostata  abzutasten,  fühlte  er  im  Fundus  einen 
fast  faustgroßen,  weichen  Tumor,  der  nahezu  die  ganze  rechte 
Blasenhälfte  einnahm  und  breit  gestielt  war.  Versuchte  man, 
die  Geschwulst  einzudrücken,  so  fühlte  man  ein  lautes  Gurren, 
ähnlich  wie  es  über  darmhaltigen  Hernien  getastet  wird.  Es  war 
klar,  daß  hier  ein  Blasendivertikel  vorlag,  das  bei  der  plötzlichen 
Entleerung  der  überdehnten  Blase-  und  infolge  starken  Pressen* 
des  Pat.  sich  invertiert  hatte  und  jetzt  als  pilzförmiger  Tumor 
in  das  Blaseninnere  hervorragte;  in  das  invertierte  Divertikel 
wurden  Darmschlingen  hineingepreßt,  die  auch  durch  die  Wand 
des  Divertikels  abgetastet  werden  konnten.  Es  gelang  wohl,  die 
Darmschlingen  zurückzudrücken,  jedoch  gelang  es  nicht,  das  Di¬ 
vertikel  wieder  zurückzustülpen,  die  Resektion  des  Divertikels 
erschien  aber  zu  gefährlich.  Es  wurde  also  die  Prostata  rasch 
enukleiert,  die  Operationswunde  offen  gelassen,  ein  Verweil¬ 
katheter  bis  in  den  Blasenhals  eingelegt.  Günstiger  Verlauf,  das 
Divertikel  verkleinerte  sich,  bildete  aber  viele  Wochen  lang  ein 
arges  Hindernis  für  die  spontane  Harnentleerung,  indem  es  sich 
polypenartig  vorlegte  und  die  Urethra  abschloß.  Dieses  Symptom 
verschwand  endlich  auch,  die  Sectio  alta  heilte  zu.  Pat.  konnte 
vier  Monate  nach  der  Operation  den  Urin  unbehindert  halten, 
der  Harn  war  klar  und  eiweißfrei,  das  Divertikel  war  im  zystosko- 
pischen  Bilde  schätzungsweise  noch  walnußgroß.  Der  Fall  bietet 
zweifaches  Interesse:  einmal  durch  die  Inversion  des  Divertikels 
und  ihre  Behandlung  (oder  vielmehr  Nichtbehandlung)  und 
dann  durch  die  Indikationsstellung  zur  Prostatektomie  trotz  lang¬ 
bestehender  Ischuria  paradoxa.  Das  invertierte  Divertikel  war 
eigentlich  nichts  anderes  als  eine  Hernie,  bei  welcher  die  Lücko 
in  der  Blasenwand  die  Bruchpforte,  die  Blasenmuskulatur  den 
Schnürring,  die  Außenfläche  des  Divertikels  den  Bruchsack  dar¬ 
stellte.  Es  lag  sogar  die  Gefahr  einer  Inkarzeration  einer  Darm¬ 
schlinge  nahe,  doch  verkleinerte  sich  die  sogenannte  ., Bruch- 


30 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


pforte“  nach  Reposition  der  Darmschlingen,  so  daß  man  ruhig 
zuwarten  konnte.  Daß  es  sich  später  bei  der  Urinentleerung  vor 
das  Orificium  internum  legte  und  ein  Hindernis  für  die  Harn¬ 
entleerung  auf  natürlichem  Wege  abgab,  das  verzögerte  die  Heilung 
der  Blasenfistel  erheblich;  erst  mit  der  weiteren  Verkleinerung 
des  Divertikels  schwand  diese  lästige  Erscheinung.  Was  nun  die 
Indikationsstellung  zur  Prostatektomie  anbelangt,  so  sind  zwar 
hohes  Alter  und  eine  länger  bestandene  Ueberdehnung  der  Blase 
zwei  Kontraindikationen  und  tatsächlich  kontrahierte  sic.  i  m 
diesem  Falle  die  Blase  beim  Katheterismus  nicht  bis  zur  voll¬ 
ständigen  Entleerung,  der  Rest  des  Harnes  mußte  ausgepreßt 
werden;  doch  zeigt  der  Erfolg  (sechs  Monate  post  Operationen! 
entleerte  der  Mann  die  Blase  vollständig  ohne  Spur  von  Re¬ 
sidualharn),  daß  die  mangelnde  Kontraktilität  der  Blasenmuskula¬ 
tur  nicht  ohne  weiters  als  Kontraindikation  für  die  Prostatektomie 
gelten  sollte.  Die  Kontraktilität  der  Blasenmuskulatur  ist,  auch 
nach  jahrelanger  Ueberdehnung,  einer  weitgehenden  Regeneration 

fähig.  —  (Deutsche  medizin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  49.)  E.  1. 

* 

2.  (Aus  der  Universitätskinderklinik  in  .  Wien.  —  Vor¬ 
stand:  Hofrat  Prof.  Dr.  Es  eher  ich.)  Ueber  die  Bedeutung 
der  Kalksalze  für  den  Organismus  des  Kindes  unter 
physiologischen  und  pathologischen  Verhältnissen. 
Auf  Grund  klinischer  Bestimmungen  des  Blutkalkes  nach  V  right 
von  Dr.  Rudolf  Neurath.  Bei  gesunden  Kindern  finden  sich 
in  den  frühesten  Zeiten  des  Säuglingsalters  höhere  Kalkwerte, 
mit  fortschreitendem  Alter  gehen  im  allgemeinen  die  gewonnenen 
Kalkwerte  zurück.  Ein  Vergleich  nach  verschiedenen  Ernahrungs- 
methoden  ernährter  Kinder  läßt  einen  höheren  Gehalt  an  oxalat- 
fällbaren  Kalksalzen  im  Blute  von  Brustkindern  als  bei  künstlich 
ernährten  Kindern  erkennen.  Künstliche  Kalkanreicberung  der 
Nahrung  ruft  selten  eine  prompte  Steigerung  des  Blutkalkes 
hervor,  die  dann  auch  nur  ganz  vorübergehend  in  Erscheinung 
tritt;  es  läßt  sich  im  Gegenteil  in  einer  größeren  Anzahl  von 
Fällen  ein  Herabgehen  des  Kalkgehaltes  des  Blutes  nach  Kalk¬ 
zufuhr  konstatieren.  (Das  Tierexperiment  zeigt  bei  sehr  starker 
Kalkanreicherung  der  Nahrung  eine  leichte  Erhöhung  der  ge¬ 
wichtsanalytisch  bestimmten  Blutkalkmenge.)  Bei  Kindern  mit 
Tetanie  findet  sich  eine  relative  Annut  des  Blutes  an  oxalat- 
fällbaren  Kalziumverbindungen;  die  Bestimmung  des  Blutkalkes 
hei  einem  experimentell  der  Epithelkörperchen  beraubten  Tiere, 
das  titanische  Symptome  bot,  zeigte  ein  gleiches  Verhalten. 
Den  Epithelkörperchen  ist  also  neben  der  entgiftenden  Funktion, 
die  sich  beim  Wegfall  der  Organe  durch  das  Zustandekommen 
der  Tetanie  dokumentiert  (Es  eher  ich)  ein  fördernder  Einfluß 
auf  den  Kalkstoffwechsel  zuzuerkennen,  der  beim  Ausfall  dieses 
regulierenden  Organes  herabgesetzt  wird.  Die  Gleichsinnigkeit 
des  gestörten  Kalkstoffwechsels  beim  tetaniekranken  Menschen 
und  beim  parathyreodektomierten  Tiere,  kann  neben  der  _  Ähn¬ 
lichkeit.  der  klinischen  Symptome  als  weiterer  Beweis  für  die 
-  parathyreoprive  Natur  der  Tetanie  gelten.  Bei  sonstigen  Affek¬ 
tionen  fand  sich  kein  konstantes  oder  immer  gleichsinniges  Ab¬ 
weichen  der  Blutkalkwerte  von  den  Mittelwerten.  Die  Wriglit- 
sche  Methode  zur  klinischen  Blutkalkbestimmung  liefert  brauch¬ 
bare  Vergleichs  werte  nicht  der  gesamten  Blutkalkmenge,  sondern 
nur  der  oxalatfällbaren  Kalziumverbindungen,  die  wahrscheinlich 
den  „aktiven“  ionisierten  Kalk  repräsentieren.  Einige  gewichts¬ 
analytische  Bluikalkbcstimmungen  unter  physiologischen  und  pa¬ 
thologischen  Verhältnissen,  wobei  allerdings  der  Gesamtkalk 
(gleich  die  Summe  des  organisch  gebündelten  und  des  aktiven 
Kalkes)  festgestellt  wurde,  haben  ein  Parallelgehen  der  gewon¬ 
nenen  Resultate  mit  den  Werten  der  klinischen  Kalkbestim¬ 
mungen  ergeben.  --  (Zeitschrift  für  Kinderheilkunde,  Bd.  1, 

H.  1)  K'  S’ 


3  (Aus  der  Klinik  und  Poliklinik  für  Haut-  und  Geschlechts¬ 
krankheiten  zu  Würzburg  —  Vorstand:  Prof.  Dr.  K.  Zieler.) 
Ueber  die  praktische  Brauchbarkeit  der  Wasser¬ 
mann  s  c  h  e  n  Reaktion  mit  Berücksichtigung  d  e  l 
Sternschen  Modifikation.  Von.  Dr.  F.  Bayer  und  Doktor 
A.  Schmitt,  Assistenten  der  Klinik.  Die  beiden  Verfasser  teilen 
die  Untersuchungsergebnisse  ihres  Materiales  mit.  Dieses  ent¬ 
hält  innerhalb  eines  Jahres  (Juni  1909  bis  Juli  1910)  unter 


173  klinisch  diagnostizierten  Syphilisfällen  16  Primäraffekhv  mit 
positivem  Ausfall  der  Reaktion,  außer  in  zwei  Fällen  Bei  63 
Fällen  mit  Erscheinungen  der  Frühperiode  fiel  die  Reaktion  mit 
Ausnahme  eines  Falles  stets  eindeutig  positiv  aus.  Von  45  Fällen 
der  Frühlatenz  waren  11  bereits  vor  einer  neuen  Kur  negativ. 

Von  16  Fällen  mit  Erscheinungen  der  Spätperiode  reagierten 
13  positiv,  3  negativ.  Unter  19  Fällen  der  Spätlatenz  fiel  die 
Reaktion  bei  12  negativ  aus-.  5  Fälle  kongenitaler  Syphilis  rea¬ 
gierten  sämtlich  positiv ;  ebenso  4  gleichzeitig  untersuchte  Mütter. 
Außer  dem  Syphilismaterial  untersuchten  sie  282  dermatologische 
Fälle  welche  weder  anamnestisch,  noch  klinisch  einen  Anhalts¬ 
punkt.  für  Syphilis  gaben.  Alle  gaben,  mit  Ausnahme  von  elf 
Fällen,  einen  negativen  Ausfall  der  Reaktion.  Von  internen,  chi¬ 
rurgischen  und  ophthalmologischen  Erkrankungen  ergaben  ^die 
Seren  von  13  Fällen  eine  positive  Reaktion.  Von  17  klinischen 
Paralysefällen  reagierten  2  negativ;  von  17  Tabbsfällen  3  positiv. 

Ein  Fall  mit  der  Diagnose  Tumor  cerebelli  bei  negativer  Reaktion 
des  Serums  heilte  rasch  durch  eine  energische  Schmierkur.  Die 
günstigen  Resultate,  die  die  Verfasser  erhielten,  schreiben  sie 
dem  Umstande  zu,  daß  sie  sich  genau  an  die  Wassermann- 
sche  Vorschrift  hielten  und  in  subtilster  Weise  arbeiteten.  \  on 
allen  Modifikationen,  welche  die  Technik  zu  vereinfachen  und 
sie  womöglich  dem  praktischen  Arzte  _  zugänglich  zu  machen 
suchten,  hat  keine  in  serologischen  Instituten  die  alte  Wasser¬ 
mann  sehe  Methode  zu  verdrängen  vermocht.  Die  Verfasser 
haben  sich  auf  die  Nachprüfung  der  Sternschen  Methode  be¬ 
schränkt,  deren  technischer  Vorteil  in  dem  Wegfall  des  Vorver- 
suches  und  in  der  Benutzung  des  eigenen  Komplementes  des  zu 
untersuchenden  Serums  liegt.  Sie  haben  neben  der  Wasser¬ 
mann  Sehen  Methode  die  Stern  sehe  Modifikation  an  800  Seren 
untersucht.  Es  ergab  sich,  daß  in  weitaus  der  größten  Zahl  dei 
Ausfall  der  Sternschen  Modifikation  mit  dem  der  Wasser¬ 
mann  sehen  Methode  übereinstimmt.  Bei  sicher  syphilitischen 
Fällen  gibt  sie  einen  größeren  Prozentsatz  positiver  Resultate  a  s 
die  Wassermann  sehe;  sie  kann  jedoch  auch  bei  positiver 
Wassermannscher  Reaktion,  ja  selbst  bei  manifester  Syp  r 
lis  negativ  ausfallen.  In  anamnestisch,  klinisch  und  nach  der 
Wassermann  sehen  Reaktion  als  syphilisfrei  anzusehenden 
Fällen  gab  sie  in  8-9°/o  Hemmung  der  Hämolyse  trotz  Losung 
der  Kontrolle.  In  zweifelhaften  Fällen  deckt  sie  sich  oft  nicht 
mit  den  Resultaten  der  Was s  er m  an  n sehen  Reaktion  und  ist 
hier  auch  der  positive  Ausfall  vorsichtig  aufzufassen.  Die  Ver¬ 
fasser  ziehen  aus  ihren  Untersuchungen  folgende  Schlüsse:  1.  Die 
Wassermannsche  Reaktion  ist  ein  wichtiges  Unterstützungs¬ 
mittel  zur  Diagnose  der  Syphilis.  2.  Eine  frühzeitige  energische 
Quecksilberbehandlung  bei  Syphilis  ergibt  leichter  einen  Um¬ 
schlag  der  positiven  Reaktion  als  spatere  oder  fehlende  B 
handlung.  3.  Durch  chronisch  -  intermittierende  antisyphilitisc 

Behandlung  ist  eine  dauernde  negative  Reaktion  anzustreben. 

4  Eine  Prognosestellung  an  der  Hand  der  Wasser  man  n  sehen 
Reaktion  ist  bisher  unmöglich.  5.  Die  Wassermannsche 
Reaktion  kann  nur  in  gut  eingerichteten  Laboratorien  von  ge¬ 
schultem  Personal  angestellt  werden,  da  die  Sicherheit  der R  e¬ 
sultate  nur  durch  exakte  Ausführung  und  zeitraubende  Kontroll- 
versuche  gewährleistet  werden  kann.  Für  den  praktischen  Arz 
ist  sie  geradezu  unausführbar.  6.  In  klinisch  und  serologisch  mph 
einwandfrei  übereinstimmenden  Befunden  ist  der  Ausfal 
Wassermannschen  Reaktion  nur  mit  Vorsicht  zu  verwerten, 
zumal  sie  bei  positivem  Ausfall  keine  topische  Diagnose  steHL 
sondern  nur  das  Vorhandensein  einer  konstitutionellen  Syphi 
wahrscheinlich  macht,  bei  negativem  Ausfall  das  Vorhandensein 
syphilitischer  Infektion  nicht  ausschließt.  7.  Die  Stern  sehe  Modi¬ 
fikation  kann  die  Wassermannsche  Reaktion  nicht  ersetzen 
da  sie  nur  neben  dieser  verwendet  werden  darf.  Ihi  Weit,  ist 
deshalb  ein  auf  serologische  Laboratorien  beschrankter  und  sie 
ermöglicht  nicht  infolge  ihrer  scheinbaren  Vereinfachung  dem 
praktischen  Arzte  die  Anstellung  einer  ^verlässigen  Seroreak¬ 
tion.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1910,  Nr.  .,  t. 


4.  (Aus  der  psychiatrischen  Klinik  München.  -  Professor 
K  raepelin.)  Blutdruckmessungen  bei  Kranken  mit 

man) s cli- de p res  si v em  Irresein  »nd  Dement.»  P« 
cox.  Von  Paul  Weher.  Assistenzarzt.  Verf.  gibt  in  dci  voi- 


Nr.  I 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


liegenden  Arbeit  eine  Reihe  von  Blutdruckmessungen  in  Tabellen. 
Die  in  Betracht  gekommenen  Kranken  sind  in  acht  Gruppen  geteilt. 
Die  drei  ersten  Gruppen  umfassen  Dementia  praecox-Kranke,  die 
zwei  folgenden  Gruppen  depressive  Kranke,  eine  weitere  Gruppe 
betrifft  manisch-depressive  Stuporöse,  die  beiden  letzten  Gruppen 
beziehen  sich  auf  Manische.  Die  an  Dementia  praecox  leidenden 
Kranken  sind  im  allgemeinen  charakterisiert  durch  niedrige  Puls¬ 
zahl/kleinen  Pulsdruck  und  tiefe  Lage  des  diastolischen  und  systo¬ 
lischen  Druckes.  Die  manischen  und  depressiven  Kranken  zeigen 
in  höherem  oder  weniger  hohem  Grade  erhöhte  Pulszahlen,  Stei¬ 
gerungen  des  Pulsdruckes,  des  diastolischen  Druckes  und  in  stai- 
kerem  Grade  des  systolischen  Druckes.  Nur  bei  einem  ganz 
kleinen  Teile  der  Dementia  praecox-Krankem  finden  sich  ähnliche 
Blutdruckveränderungen  wie  bei  den  manisch-depressiven. 
(Archiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  H.  2.) 

S. 

* 

5.  (Aus  der  chemischen  Abteilung  des  Pathologischen 
Instituts  der  Universität  Berlin.)  Ueber  die  Verwertung  des 
Harnbefundes  zur  Karzinomdiagnose.  Von  Professor 
E.  Salkowski.  In  dieser  dritten  Mitteilung  berichtet  Yrerf.  über 
Versuche,  welche  Dr.  Ko  jo  aus  Tokio  ausgeführt  hat,  um  weitere 
chemische  Unterschiede  zwischen  dem  Harne  von  Gesunden  und 
Krebskranken  zu  eruieren.  Das  Prinzip  des  von  Ko  jo  gefun¬ 
denen  Verfahrens  besteht  darin,  daß  man  eine  100  cm3  Harn 
entsprechende  Quantität  Harnfiltrat  nach  genauer  Neutralisation 
mit  Essigsäure  mit  Bleiazetat  ausfällt,  den  Niederschlag  quanti¬ 
tativ  sammelt,  völlig  auswäscht  und  den  Stickstoffgehalt  des¬ 
selben  feststellt.  Dieser  Wert  wird  dann  zu  dem  Gesamtstickstoff 
in  100  ein3  Ham  in  Beziehung  gesetzt,  derart,  daß  man  berechnet, 
wieviel  Prozent  von  dem  Gesamtstickstoffgehalt  er  ausmacht.  Blei- 
subazetat  fällt  den  Harnstoff  nicht,  die  Phosphor-  und  Schwefel¬ 
säure  des  Harnes  wurden  früher  in  üblicher  Weise  durch  alkalische 
Chlorbaryumlösung  (2  Vol.  Barytwasser,  1  Vol.  10%ige  Chlor- 
baryumlösung)  entfernt.  Es  ergab  sich:  Im  Mittel  von  zehn 
Untersuchungen  betrug  der  Stickstoffgehalt  des  Bleisubazetatnic- 
derschlages  im  Harne  gesunder  Individuen  l-22%  des  Gesamt¬ 
stickstoffes,  dagegen  im  Harn  von  Karzinomkranke n  im  Mittel 
von  zehn  Untersuchungen  3-03°/o,  im  Maximum  (Magenkrebs) 
4-62°/o.  In  keinem  Falle  erreichte  der  Maximalwert  beim  Ge¬ 
sunden  den  in  einem  Falle  von  Kehlkopfkrebs  gefundenen  Minimal- 
wert  von  2-15°/o.  Ebenso  brauchbare  Resultate  ergab  die  Fällung 
mit  Zinkchlorid  oder  Zinksulfat  teils  direkt  im  Harne,  teils  nach 
vorangängiger  Entfernung  der  Phosphorsäure  mit  Chlorkalzium 
und  Kalziumhydrat  (Kalkmilch).  Die  direkte  Fällung  ergab  für 
Normalham  im  Mittel  l-75°/o,  für  Karzinomham  im  Mittel  von 
acht  Versuchen  3-26°/o  (Maximum  3-12%  bei  Magenkrebs,  Mini¬ 
mum  2-53 °/o  bei  Kehlkopfkrebs).  Aehnliche  Ergebnisse  lieferte 
die  Fällung  mit  Zinksulfat  oder  -chlorid  nach  Entfernung  der 
Phosphorsäure.  Verf.  möchte  noch  nicht  behaupten,  daß'  diese 
Proben  für  das  Karzinom  pathognomonisch  seien,  das  müßten 
weitere  Untersuchungen  an  vielen  und  verschiedenen  Kranken 
lehren;  diese  leicht  ausführbare  Harnuntersuchung  könnte  unter 
Umständen  die  Diagnose  erleichtern,  ja  in  manchen  Fällen  viel¬ 
leicht  von  entscheidender  Bedeutung  sein.  Das  genaue  Vorgehen 
sowie  sonstige  Einzelheiten  des  Verfahrens  sollen  an  anderer 
Stelle  veröffentlicht  werden.  —  (Berliner  klin.  Wochenschrift 

1910,  Nr.  50.)  E.  F. 

* 

6.  Ueber  das1  Frühauf  stehen  der  Wo  Clin  er 
rinnen.  Von  Prof.  Dr.  Th.  Wyder.  Obwohl  Wyder  keine 
eigenen  Erfahrungen  über  die  Zweckmäßigkeit  des  Frühapf- 
stehens  der  Wöchnerinnen,  wie  es  jetzt  moderner  Brauch  zu 
werden  scheint,  besitzt,  da  er  es  vor  seinem  Gewissen  nicht  ver¬ 
antworten  konnte,  in  der  ihm  anvertrauten  Klinik  einschlägige 
Experimente  zu  machen,  so  erlaubt  er  sich  doch,  sein  Urteil 
dahingehend  zu  fällen,  daß  er  das  von  verschiedenen  Seiten 
propagierte  Frühaufstehen  der  Wöchnerinnen  als  eine  beklagens¬ 
werte,  weil  höchstwahrscheinlich  zu  unvermeidbaren  Miß  Ver¬ 
ständnissen  beim  Publikum  führende  Neuerung  betrachte,  von 
der  man  sicher,  durch  Schaden  klug  geworden,  über  kurz  oder 
lang  wieder  zurückkommen  werde.  Es  ist  zwar  zuzugeben,  daß 
eine  gesunde  Wöchnerin  ohne  großes  Risiko  ein  paar  tage 


post  partum  das  Bett  verlassen  kann,  vorausgesetzt,  daß  sie  sich 
bis  zur  kompletten  Involution  der  Genitalien  in  des  Wortes 
richtiger  Bedeutung-  Schonung  auferlegt.  Denn  nicht  so  sehr  das 
Frühaufstehen  an  und  für  sich,  sondern  die  gegebene  Verleitung, 
sich  im  Wochenbette  nicht  zu  schonen,  ist  das  Bedenkliche 
an  der  Sache.  Aber  in  den  breitesten  Schichten  der  Bevölkerung 
wird  eben  Frühaufstehen  mit  Früharbeiten  identifiziert.  Und 
solange  das  Publikum  von  der  großen  Bedeutung  der  Schonung 
im  Wochenbette  nicht  allgemein  überzeugt  ist,  muß  man  größte 
Bedenken  tragen,  die  von  Küstner  so  warm  und  einleuchtend 
empfohlene  Wochenbettdiätetik  auf  den  Frauenkliniken  einzu 
führen.  Für  die  Privatpraxis  kann  man  dagegen  eine  allgemeine 
gültige  Norm  nicht  aufstellen  und  da  mag  man  individualisierend 
Vorgehen  und  kann  unter  den  von  Küstner  angegebenen  Kau 
teilen  mit  dem  Frühaufstehen  einen  Versuch  wagen.  Bei  unver¬ 
ständigen  und  wenig  belehrbaren  Wöchnerinnen  überlege  man 
es  sich  aber  doppelt  und  dreifach,  ob  man  mit  einem  derartigen 
modernen  Ratschlag  nicht  mehr  Schaden  als  Nutzen  stiften 
wird.  —  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerztc  1910,  40.  Jahr¬ 
gang,'  Nr.  30.)  K.  S. 

* 

7.  Ehrlicli-H  ata  bei  luetischen  Augenerkran¬ 
kungen.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  C.  Hirsch  in  Prag.  Erkrankungen 
des  Augenhintergrundes,  speziell  des  Sehnerven,  bilden  noch 
immer  eine  Kontraindikation  der  Anwendung  des  Ehrl  ich  sehen 
Mittels.  Dieser  bedauerlichen  Einschränkung  möchte  Verf.  auf 
Grund  des  eklatanten  Erfolges  dreier  Fälle,  die  er  detailliert  mit¬ 
teilt,  entgegentreten.  Der  erste  Fall  betrifft  einen  36jährigen  Mann, 
der  1896  luetis'ch  infiziert  wurde.  1898  Tritis  am  rechten  Auge, 
1906  partielle  Okulomotoriuslähmung  des  linken  Auges.  -Juli  1909 
Sehstörung  beider  Augen,  so  daß.  er  nicht  mehr  lesen  konnte. 
22.  September  1910,  unmittelbar  vor  der  Injektion,  war  der  Visus 
rechts'  Fingerzäblen  in  IV2  m,  links  in  14  m.  Die  Gesichts feld ei 
beider  Augen  konzentrisch  verengt.  An  beiden  Augen  große, 
zentrale  Skotome.  Am  26.  September  1910  Injektion  von  0-50 
Ehrlich  -Hata  in  die  linke  Glutäalgegend.  Ophthalmoskopisch 
wurde  eine  einfache,  genuine  Atrophie  des  Optikus  diagnosti¬ 
ziert.  Auffallend  an  dem  Verlaufe  des  Falles  nach  der  Injektion 
ist  zunächst  die  geringe  Zunahme  der  zentralen  Sehschärfe,  trotz 
der  ganz  wesentlichen  Verkleinerung  der  zentralen  Skotome.  Die 
merkwürdigste  Erscheinung  aber  ist  die  Veränderung  des  zentralen 
Skotoms  am  rechten  Auge,  welche  Verf.  als  Zerfall  des  Skotoms 
bezeichnen  möchte.  Dies  charakterisiert  die  spezifische  elektjve 
Wirkung  des  neuen  Heilmittels.  Die  Wiederkehr  der  Funktion 
in  einzelnen  so  kleinen  Bezirken  des  zentralen  Gesichtsfeldes 
weist  darauf  hin,  daß  die  dem  Skotom  entsprechenden  Fasern  nicht 
in  ihrer  Gesamtheit  degeneriert,  sondern  bloß  in  ihrer  Funktions¬ 
fähigkeit  geschädigt  waren.  Es  scheint  also,  daß  das  Mittel  kiat’t 
seiner  spezifischen  Wirkung,  die  zwischen  den  Faserbündeln  des 
Optikus  befindlichen  syphilitischen  Entzündungsprodukte  zum 
Schwinden  gebracht  hat.  Als  Ausdruck  dieser  lokalen  Reaktion 
möchte  Verf.  die  merkwürdige  subjektive  Rotempfindung  ansehen, 
die  der  Patient  fast,  unmittelbar  nach  der  Injektion  im  Bereiche 
des  Skotoms  wahrnahm.  In  der  raschen  Entfaltung  dieser  spe¬ 
zifischen  Wirkung  liegt  anscheinend  die'  Ueberlegenheit  dieses 
neuen  Mittels  über  alle,  bisherigen  Behandlungsmethoden.  Im 
zweiten  Falle  handelte  es  sich  um  einen  52jährigen  Mann,  der 
1906  luetisch  infiziert  wurde.  September  1909  hochgradige  Neu¬ 
ritis  optica  intraoeularis  am  rechten  Auge.  Ablauf  in  zwei  Mo¬ 
naten  mit  Ausgang  in  Atrophie  der  Papille  und  hochgradige 
Gefäßwanderkrankung  aller  Netzhautgefäße.  Der  Zustand  der  Ge¬ 
fäße  änderte  sich  trotz  äußerst  energischer,  antiluetischer  Kuren 
gar  nicht.  19.  September  eine  Injektion  von  >0-5  g  .,606“  m 
die  -linke  Glutäalgegend.  Von  da  ab  kontinuierliche  Besserung 
des'  Sehvermögens  bis  heute,  wo  er  Finger  über  2  rn  zählt.  Höchst 
merkwürdig  war  es  für  den  Verfasser,  mit  dem  Augenspiegel  zu 
verfolgen,  wie  parallel  dieser  allmählichen  Besserung  der  Funktion 
des  Auges  die  reparatorischen  Veränderungen  an  den  Blutgefäßen 
der  Netzhaut  langsam  fortschritten  und  auch  jetzt  noch,  sieben 
Wochen  nach  der  Injektion,  immer  noch  fortschreiten.  Im  dntbrn 
Falle  handelte  es  sich  um  einen’  34jährigen  Mann,  luetische  In¬ 
fektion  vor  elf  Jahren.  Seit  3Vs  Jahrein  eine  mäßige  Erweiterung 
und  reflektorische  Lichtstarre  der  linken  Pupille  mit  sogenannmv 


32 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1011. 


Nr.  1 


myotonischer  Reaktion.  Sonst  kein  'Zeichen  von  Tabes.  Am 
10  Oktober  Injektion  von  0-6  g  in  die  linke  Glutaalgegend.  Ac. 
Tage  nach  der  Injektion  zeigt  die  früher  vollkommen  starre  Pu¬ 
pille  eine  Spur  der  Erweiterung,  bei  Prüfung  in  der  Dunkelkammei 
eine  leichte,  aber  deutliche  Verengerung.  Am  27.  Oktober  ver¬ 
engt  und  erweitert  sich  die  Pupille  hei  intensiver  Beleuchtung 
und  nachfolgender  Beschattung  deutlich.  Verf.  erklärt  die  thera¬ 
peutischen  Erfolge  in  diesen  drei  Fällen  allerdings  als  mc  ^ 
bedeutend;  die  Besserungen  aber  sind  über  Je'c 
haben  und  sind  auch  die  offenbare  Folge  der  Injektion.  Denn 
alle  drei  Fälle  standen  Jahre  hindurch  in  ständiger  Beobach¬ 
tung  bei  ausgiebiger  Anwendung  der  alten  Behänd  ungsmetboden. 
Eine  Täuschung  ist  ausgeschlossen.  Der  erste  lall,  ein  schweres 
Sehnervenleiden,  zeigt  auch  in  eklatanter  W  eise  <iie  Unschäd¬ 
lichkeit  des  neuen  Mittels  für  den  Optikus  Auch  die  zweite »Kontra¬ 
indikation,  die  Gefäßerkrankungen,  wird  man  nach  ^  -  ^ 
Revision  und  Einschränkung  unterziehen  müssen.  (Mancher 

mediz.  Wochenschrift  1910,  Nr.  49.) 

* 

8  Schule  und  Rückgratsverkrümmung.  Von 
Dr  W  Sch  ult  her  s- Zürich.  Nicht  in  der  Fixierung  bestimmter, 
durch  die  Schule  veranlaßt«*  Stellungen,  sondern  in  der  durch 
das  Schulsitzen  gegebenen  Gelegenheit,  hei  schon  vorhandener 
Krümmung  und  bei  schwachem  Skelett  in  zusammengesunkener 
Haltung  stundenlang  zu  verharren,  in  der  durch  den  Bewegungs¬ 
ausfall  veranlaßt«*  Verkümmerung  des  Skeletts  und  der  Rumpf¬ 
muskulatur  ist  der  üble  Einfluß  des  Schulsitzens  zu  suchen.  Die 
Schule  ist  kein  ursächliches,  sondern  nur  mitwirkendes  (Mo¬ 
ment  bei  der,  Entwicklung  von  Rückgratsverkrümmungen.  - 
(Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg.,  Nr.  30.  ' 


9  Die  chronische  Behandlung  mit  „606“,  nach 
Erfahrungen  an  400  Fällen.  Von  Prof.  Kromayer  m 
Berlin.  Verf.  erörtert  vorerst,  daß  die  praktische  Erfahrung  die 
Hoffnung  einer  Therapia  magna  sterilisans  Ehrlichs  nicht  erfüllt 
habe-  ihre  theoretische  Begründung  sei  zum  Teil  anfechtbar, 
zum  Teil  stünden  ihr  wichtige  Bedenken  aus  der  Erfahrung  und 
aus  der  pathologischen  Anatomie  entgegen.  An  die  Stelle  der 
Therapia  magna  sterilisans  ist  eine  Therapia  chronica  zu  setzen. 

Im  Berliner  Ostkrankenhause  befindliche  Patienten  erhielten  jeden 
zweiten  Tag  0-2  g  bis  zur  Gesamtdose  von  1-2,  so  daß  also, 
wenn  keine  Zwischenfälle  eintraten,  die  Kur  in  zwölf  lagen  be¬ 
endet  war.  In  der  ambulanten  Praxis1  wurden  täglich  oder  zwoi- 
täglich  01  g  bis  zur  Gesamtdose  von  0-9  injiziert.  Es  wurde 
hiebei  die  vom  Verfasser  angegebene  Paraffinemulsion  ange¬ 
wendet  welche  sich  viele  Wochen  lang  hält.  Nachdem  bereits  mehr 
als  350  Kranke  in  dieser  Weise  chronisch  behandelt  worden 
sind,  ohne  daß  irgendwelche  schädliche  Nebenwirkungen  beob¬ 
achtet.  wurden,  darf  diese  Behandlungsmethode  in  dieser  Rich¬ 
tung  hin  als  einwandfrei  empfohlen  werden.  Gelegentlich  traten 
schon  bei  der  Einzeldosis  von  0-2,  besonders  bei  der  intravenösen 
Injektion,  Allgemeinerscheinungen,  wie  Erbrechen,  Kopfschmerzen, 
Fieber  (bis  zu  39°  und  darüber)  auf,  daher  wäre  die  EmzeldosiS 
nicht  zu  steigern;  doch  dürfte  die  Gesamtdosis  noch  einer  er¬ 
heblichen  Steigerung  fähig  sein,  was  erst  weitere  Versuche  lehren 
sollen.  Nur  mit  „606“,  ohne  Jod,  resp.  Quecksilber  vor  oder 
nachher,  wurden  ih  den*  letzten  Monaten  30  Kranke  behandelt, 
zumeist  wurde  alle  zwei  Tage  0-2  intramuskulär  oder  intravenös 
injiziert.  Das  Resultat  der  30  Fälle  war,  wie  Verf.  im  Detail 
ausführt,  daß  in  allen  Fällen  sich  im  Durchschnitte  von  2V* 
Wochen  das  Gros  der  Symptome  gut  zurückgebildet  hat,  daß 
aber  in  einigen  Fällen  eine  Beseitigung  aller  syphilitischen  Ver¬ 
änderungen,  also  eine  vorläufige  vollkommene  Heilung 
nicht  erreicht  worden  ist.  Ferner  hat  es  sich  gezeigt,  daß 
„606“  und  Quecksilber  sich  direkt  unterstützen,  daß  es  also 
angezeigt  sei,  beide  Mittel  kombiniert  anzuwenden,  entweder 
zuerst  „606“.  und  dann  Quecksilber,  oder  umgekehrt;  dann  waren 
die  Resultate  so  günstig  wie  möglich,  alle  sichtbaren  Erscheinun¬ 
gen  der  Syphilis  wurden  beseitigt.  Von  mehr  als  100  Fällen,  die 
chronisch  mit  „606“  und  Quecksilber  behandelt  wurden,  konnte 
keine  einzige  Rezidive  festgestellt  werden.  (Deutsche 
med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  49.)  B-  B. 


10  Die  Giftigkeit  des  Holzgeistes  (Methyl¬ 
alkohol)  Von  Dr.  Rudolf  Jak  sch,  k.  k.  Polizei- Oberbezirks¬ 
arzt  in  Wien.  Bei  der  vielseitigen  technischen  Verwendung 
des  Holzgeistes  und  der  Verfälschung  geistiger  Getränke  und 
der  Verwendung  desselben  sogar  in  Apotheken  zur  Herstellung 
innerer  und  äußerer  Heilmittel  (besonders  m  Amerika  sind 
Vergiftungen  wenigstens  im  Auslande  nicht  so  selten.  Das  ty¬ 
pische  Bild  der  Holzgeistvergiftung  ist  folgendes:  Nach  dem 
Genuß  eines  Gläschens  methylalkoholhaltigen  Likörs  tritt  zunächst 
Kopfschmerz,  Schwindel  und  Nausea  ein;  mitunter  kann  sich 
eine  Gastroenteritis  mit  Erbrechen  und  Diarrhoe  entwickeln. 
Diese  Symptome  können  alsbald  zurückgehen;  aber  nach  einem 
Intervalle,  welcher  manchmal  nur  wenige  Stunden,  zumeist  aber 
einen  bis  mehrere  Tage  dauert,  beginnt  die  Sehkraft  bis  zur 
vollständigen  Blindheit  abzunehmen.  Charakteristisch  ist  nun  der 
weitere  Verlauf.  Nach  einigen  Tagen  oder  Wochen  bessert  sic 
allmählich  die  Sehkraft  wieder;  aber  diese  Besserung  ist  nur 
vorübergehend  und  der  Endeffekt  ist  entweder  ein  bleibender 
Mangel  des  Sehvermögens  oder  eine  unheilbare  Erblindung  (  P 
tikusatrophie).  Diagnostisch  wichtig  ist,  daß  die  Pupi  en  vom 
Beginne  an  weit  und  reaktionslos  sind.  Bei  größeren  Dosen  erfolgt 
der  Tod  binnen  wenigen  Stunden  oder  Tagen  unter  Dehnen 
Bewußtlosigkeit  und  Kollaps.  Werden  Dämpfe  von  Methylalkohol 
eingeatmet,  so  kommt  es  zur  Entzündung  der  Schleimhäute 
und  Atmungswege  und  zur  Konjunktivitis;  in  einem  Falle  be¬ 
wirkte  die  Einatmung  den  Tod  durch  Lungenödem.  Als  letale 
Dosen  werden  im  allgemeinen  Mengen  von  120  bis  .40  g  an¬ 
gesehen,  während  Blindheit  schon  nach  Einnahme  von  8  bis 
201g  eintreten  kann;  bei  Idiosynkrasie  sind  die  gefährlichen 
Dosen  natürlich  noch  kleiner.  Die  Folgen  der  Holzgeistver¬ 
giftung  sind  also  Blindheit  und  Tod.  Unter  solchen  Um¬ 
ständen  erscheint  es  erforderlich,  daß  entsprechende  Maßregel 
betreffs  des  Verkehres  mit  Holzgeist  getroffen  werden  da  bis 
jetzt  in  Oesterreich  der  Holzgeist  nicht  als  gesundheitsgefahr- 
1  ich  es  chemisches  Präparat,  geschweige  denn  als  Gift  gilt.  Als 
solche  Vorsichtsmaßregeln  wären  vorzuschlagen:  1  llolzgeist 
ist  als  gesundheitsgefährlicher  Stoff  zu  eiklären  um  <  at  im 
Kleinverkehr  nur  in  wohlverschlossenen  Gefäßen  an  vertrauens¬ 
würdige  Personen  abgegeben  werden;  die  Geiaße  fame  . 
Aufschrift  „Holzgeist;  nicht  innerlich  einnehmen ;  auch  nie 
äußerlich  anwenden;  wirkt  giftig!“  zu  versehen  2.  Die  \e 
Wendung  des  Holzgeistes  zur  Bereitung  von  Genußmi  teln,  kos¬ 
metischen,  diätetischen  und  arzneilichen  Präparaten  ist  strengstens 
zu  verbieten.  3.  Die  Verwendung  des  Holzgeistes  zu  techmsch 
Zwecken  wäre  möglichst  einzuschranken;  auf  alle  Falle  ist  jede 
Benetzung  der  Hände  und  Einatmung  der  Dämpfe  zu  vermeiden 
4  Das  allgemeine  Denaturierungsmittel  für  Spiritus  erscheint 
vom  sanitären  Standpunkt  aus  wegen  des  Gehaltes  an  Holz¬ 
geist  bedenklich  und  sollte  durch  ein  anderes,  unschädliches 
keinen  Holzgeist  enthaltendes  Präparat  ersetzt  werden.  --  (Dei 
Amtsarzt,  Zeitschrift  für  öffentliches  Gesundheitswesen,  -^ahrg., 

Nr.  1.)  •  V'  .  ' 


11  (Aus  der  Universitätsfrauenklinik  zu  Straßburg.)  Zur 
Frace’der  physiologischen  puerperal  en  B  r  a  d  y  k  a  r- 
die.  Von  Dr.  med.  A.  Hamm.  Assistent  ^ 
durch  vergleichende  Untersuchungen  bei  ubei  100  ^auen 
Schwangerschaft,  Wochenbett  und  teilweise  auch  nach  -vollen¬ 
detem  Wochenbett  zeigen,  daß  zwar  in  der  Regel  weder  wa  neu. 
i  Schwangerschaft,  noch  im  Wochenbett  Änderungen  m  de 
Schlagfolge  des  Herzens  auf  treten,  die  außerhalb  der -allgemeinen 
physiologischen  Schwankungsbreite  gelegen  sind;  daß  Frauen  mi 
ÄSL»  langsamen  Puls«,  der  bei  absoluter  korperhehe 
und  geistiger  Ruhe  auf  55  bis  45  Schläge  sinken  kann  durchaus 
nicht  zu  den  Seltenheiten  gehören  und  daß  deratige  Trauen  n 
halnJen  langsamerem  Herzschlag  wohl  das 

als  puerperale  Bradykardie“  beschriebenen  Falle  ausmachen. 

Aber  Verf.  konnte  auch  nachweisen,  f /,“*"’inVwoche,.- 
viel  seltener,  eine  echte  Verlangsamung  cs  n  *  ‘  ,  ,  T  0 
hott  oibt  die  meist  nicht  vor  dem  vierten  bis  sechsten  -Lag., 
zu  weiten  sogar  erst  in  der  zweiten  Woche  deutlich  m  Ersehet- 
nung  tritt,  und  wohl  erst  nach  Wochen  und  Monaten  verschwmdet. 


Nr.  t 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


83 


Man  darf  also  weder  das  Vorkommen  der  „puerperalen  Brady¬ 
kardie“  ganz  leugnen,  wie  Mac  Clintock,  Aichel  und  andere 
es  tun  wollten,  noch  darf  man,  wie  Lewis ohn,  als  Charakter 
ristikum  für  die  „physiologische“  Wöchnerin,  eine  Verlangsamung 
des  Pulses  verlangen.  Verf.  war  bemüht,  die  Anschauung  Lewi- 
sohns,  daß  „infolge  des  geringen  Blutzuflusses  zum  Herzen 
nach  der  Geburt"  der  Puls  der  „physiologischen“  Wöchnerin  sich 
verlangsamt,  mit  Hilfe  des  „Phlebotonomeiters“  durch  direkte 
.Messung  am  Menschen  unzweideutig  klarzustellen.  Er  hatte  schon 
früher  durch  über  100  vergleichende  Messungen  an  15  verschie¬ 
denen  Frauen  in  Schwangerschaft,  Wochenbett  und  nach  vollen¬ 
detem  Wochenbett  nachgewiesen,  daß  „weder  in  der  Schwanger¬ 
schaft  noch  im  Wochenbett  eine  gesetzmäßige  Schwankung  des 
arteriellen  Blutdruckes  über  oder  unter  die  normale  Durchschnitts- 
höhe  zu  beobachten  ist“.  Die  Messungen  mit  dem  Phlebotonometer 
zeigen  nun,  daß  dasselbe  auch  für  den  Venendruck  gilt.  Verf.  hat 
außer  38  vergleichenden  Messungen  ah  zehn  Frauen  in  Schwanger¬ 
schaft  und  Wochenbett,  bei  zwölf  Schwangeren  und  sieben  Wöch¬ 
nerinnen,  im  ganzen  70mal,  den  Venendruck  bestimmt;  mit  Aus¬ 
nahme  der  Fälle  von  Schwangerschaftsnephritis  hat  er  dabei 
weder  abnorm  hohe,  noch  abnorm  niedere  Werte  feststellen 
können.  Wäre  die  Behauptung  Lewisohns  richtig,  daß  der 
Blutzufluß  zum  rechten  Vorhof  nach  der  Geburt  ein  geringerer 
ist,  so  müßte  wenigstens  ein  vorübergehendes  Sinken  des  Blut¬ 
druckes  in  den  oberflächlichen  Venen  nachweisbar  sein.  Die  Mes¬ 
sungen  des  Verfassers  zeigen,  daß  eine  derartige  Druckabnahme 
in  der  Regel  nicht  stattfindet.  Weder  während  der  Nachgeburts¬ 
periode,  noch  nach  Ausstoßung  der  Plazenta,  weder  im  Früh-,  noch 
im  Spätwochenbett,  nach  dem  ersten  Aufstehen,  konnte  er  ein 
gesetzmäßiges  Abfallen  des  Venendruckes  feststellen.  Ganz  und 
gar  muß  die  Auffassung  Lewisohns  von  der  „Arhythmie  des 
Pulses  der  Wöchnerinnen“  zurückgewiesen  werden.  Verf.  konnte 
seinerzeit  durch  250  sphygmographische  Aufnahmen  nachweisen, 
daß  es  sich  dabei  um  die  beim  gesunden  Menschen  allgemein 
zu  beobachtende  „respiratorische  Pulsarhythmie“  handelt.  Warum 
aber  bei  etwa  einem  Zehntel  aller  Wöchnerinnen  sich  eine  wirk¬ 
liche  Verlangsamung  des  Pulses  im  Wochenbett  einstellt,  diese 
Frage  läßt  sich  heute  noch  nicht  mit  Sicherheit  beantworten.  Es 
dürfte  die  von  Fehling  vertretene  Theorie,  daß  eine  Verände¬ 
rung  im  Vagustonus  das  auslösende  Moment  für  die  puerperale 
Bradykardie  darstellt,  auch  heute  noch  am  meisten  Berechtigung 
haben.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1910,  Nr.  49.)  G. 

* 

12.  (Aus  der  Klinik  für  Nerven-  und  Geisteskrankheiten 
am  Institute  für  höhere  Studien  in  Florenz.  —  Leitung:  Professor 
E.  Tanzi.)  Beiträge  zur  Kenntnis  der  pathologischen 
Anatomie  der  Meningoenzephalitis  des  Menschen. 
Von  Dr.  Ottorino  Rossi,  Oberarzt  der  Klinik,  Privatdozent  für 
Neurologie  und  Psychiatrie.  Verf.  berichtet  über  die  pathologische 
Anatomie  eines  Falles  von  Meningoenzephalitis,  den  er  klinisch 
zu  beobachten  in  der  Lage  war.  Der  Fall  betrifft  ein  14 jähriges 
Mädchen;  dasselbe  war  idiotisch,  litt  an  epileptischen  Anfällen 
und  starb  im  Status  epilepticus.  Die  Obduktion  ergab  Leptomenin¬ 
gitis  chronica  des  Gehirns,  besonders  in  der  Gegend  der  beiden 
Stirnlappen.  Die  Konsistenz  des  Hirngewebes  schien  beim  Tasten 
etwas  vermehrt  zu  sein.  Rossi  begnügt  sich  damit,  in  der  vor¬ 
liegenden  Arbeit  die  Veränderungen  der  einzelnen  anatomischen 
Bestandteile  des  Gehirns  und  der  Meningen  zu  analysieren,  wäh¬ 
rend  er  sich  die  Besprechung  des  ganzen  Symptomenkomplepceis, 
der  Krankheit  und  die  Beziehung  des  pathologisch-anatomischen 
Befundes  zu  demselben  für  eine  spätere  Arbeit  reserviert.  - 
(Archiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  Heft  2.) 

S. 

* 

13.  (Aus  der  Universitätskinderklinik  der  königlichen 
Charite  in  Berlin.  —  Direktor:  Geheimer  Medizinalrat  Professor 
Dr.  Heubner.)  Beitrag  zur  Wesenserklärung  der  phy¬ 
siologischen  Gewichtsabnahme  des  Neugeborenen. 
Von  Fritz  Rott.  Durch  Untersuchungen  mittels  der  refrakto- 
metrischen  Methode  auf  den  Wassergehalt  des  Blutes  bei  Neu¬ 
geborenen  konstatierte  Rott,  daß  der  Gewichtsverlust  des  Neu¬ 
geborenen  nicht  nur  teilweise,  sondern  wohl  in  der  Hauptsache 
durch  Wasserverlust,  bedingt  ist.  Als  Grund  für  die  Entstehung 


des  Gewichtsverlustes  braucht  keine  besondere  Stoffwechselano¬ 
malie  verantwortlich  gemacht  zu  werden,  sondern  es  kann  hie- 
für  lediglich  die  unzulängliche  Wasserzufuhr  der  ersten  Lebens¬ 
tage,  der  initiale  Hungerzustand,  als  ausreichend  angesehen  wer¬ 
den.  Die  Gewichtsabnahmen  erfolgen  regelmäßig,  scheinen  am 
dritten  bis  vierten  Tage  abgeschlossen  und  in  zeitlicher  Begren¬ 
zung  abhängig  vom  Beginn  der  Laktation  zu  sein.  Das  Repara- 
tionsstadium,  das  ist  die  Zeit  bis  zur  Wiedererlangung  des  Ge¬ 
burtsgewichtes  ist  verschieden  lang  und  in  erster  Linie  abhängig 
von  der  Ergiebigkeit  der  Brustdrüse,  in  zweiter  Linie  von  der 
Größe  des  Gewichtsverlustes.  In  normalen  Fällen  ist  die  Repa¬ 
ration  nach  sechs  bis  sieben  Tagen  abgeschlossen.  Als  prak¬ 
tische  Folgerung  aus  Rotts  Beobachtungen  ergibt  sich  die  erst, 
zu  beantwortende  Frage,  ob  es  möglich  ist,  das  neugeborene 
Kind  durch  zeitige  und  ausreichende  Zufuhr  von  Flüssigkeit  vor 
einem  größeren  Gewichtsverlust  zu  bewahren.  Auch  bleibt  es 
dahingestellt,  ob  bestimmte  Eigenschaften  (vielleicht  osmotischer 
Natur)  für  diese  Flüssigkeit  gefordert  werden  muß  oder  ob  zum 
Beispiel  die  Verbitterung  saccharingesüßten  Tees  zur  Erzielung 
des  gleichen  Resultates  genügen  würde.  —  (Zeitschrift  für  Kinder¬ 
heilkunde,  Bd.  1,  H.  1.)  K.  S. 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

14.  Bemerkungen  über  18  Fälle  von  Spinal¬ 

analgesie  mit  Strychnin  und  Stovain,  einschlie߬ 
lich  sechs  Fälle  von  hoher  Dorsalpunktion.  Von 
Lawry  Mac  Gavin.  Die  von  Jonescu  angegebene  Methode 
der  Spinalanalgesie  für  Eingriffe  am  Kopfe,  Halse  und  den  oberen 
Extremitäten,  besteht  im  Zusatz  von  neutralem  Strychninsulfat 
zur  Stovainlösung,  wodurch  die  Gefahr  der  Respirationslähmung 
bei  Injektion  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Brustwirbel  be¬ 
kämpft  werden  soll.  Die  Erfahrung  lehrt,  daß  bis  zur  Schlüssel¬ 
beinregion  Anästhesie  mit  Stovainlösung  allein  erzielt  werden 
kann,  ohne  daß  die  Gefahr  von  Respirationslähmung  besteht. 
Dia  Angabe,  daß  bei  hoher  Dorsalpunktion  durch  Strychnin¬ 
zusatz  die  Gefahr  der  Respirationslähmung  vollständig  beseitigt 
wird,  ließ  sich  nicht  durchaus  bestätigen,  da  in  einem  derartigen 
Falle  die  Einleitung  der  künstlichen  Respiration  notwendig  wurde. 
Die  angewendeten  Stovainmengen  betrugen  0-03  bis  0-1  g,  der 
Zusatz  0-0005  bis  0-001  g  neutralen  Strychninsulfates.  Wenn  sich 
auch  in  einzelnen  Fällen  von  hoher  Spinalanalgesie  die  Methode 
als  Ersatz  der  allgemeinen  Anästhesie  erwies,  so  waren  doch  im 
allgemeinen  die  Erfolge  unsicher  und  unvollständig,  so  daß  die 
Stovainstrychninanalgesie  derzeit  nicht  empfohlen  werden  kann. 
Bei  der  Lumbalanästhesie  hat  es  sich  gezeigt,  daß  der  Strych¬ 
ninzusatz  die  Dauer  der  Analgesie  eher  abkürzt.  Da  das  Stovain 
keine  herzdepressorische  Wirkung  besitzt,  sondern  nur  Gefäß- 
enveiterung  mit  leichter  Herabsetzung  des  Blutdruckes  bedingt, 
so  ist  der  Strychninzusatz  bei  tiefer  Anästhesie  überflüssig.  Als 
beste  Methode  ist  die  Anwendung  der  Stovain  -  Glykoselösung 
zu  empfehlen,  welche  hinsichtlich  der  Sicherheit  und  Raschheil 
der  Wirkung,  sowie  des  Fehlens  unangenehmer  Nebenwirkungen, 
die  anderen  Lösungen  übertrifft.  —  (Brit.  med.  Journ.,  17.  Sep¬ 
tember  1910.)  a-  e- 

* 

15.  Bemerkungen  über  akute  Arthritis  zwei¬ 
felhaften  Ursprungs.  Von  H.  D.  Rolleston.  Es  gißt 
Fälle,  die  zunächst  als  Gelenksrheumatismus  betrachtet,  auf  die 
Salizyltherapie  nicht  reagieren,  die  aber  auch  nicht  mit  Pyämie, 
Gonorrhoe  und  charakteristischen  Allgemeininfektionen  Zusam¬ 
menhängen.  Die  Reaktion  auf  Salizylpräparate  ist  diagnostic  li 
mit  Einschränkung  zu  verwerten,  da  es  Fälle  von  echtem  Rheu¬ 
matismus  gibt,  wo  die  Therapie  in  den  ersten  Tagen  noch  nicht, 
die  charakteristische  Wirkung  auf  Fieber,  Schmerzen  und  Ge¬ 
lenkserguß  entfaltet,  sondern  erst  später,  anderseits  energische 
S alizy lb  ehand  lung  auch  hei  nicht  rheumatischer  Arthritis  eine 
Wirkung  zu  entfalten  vermag.  Es  gibt  ferner  Fälle  von  mul¬ 
tipler  rheumatischer  Arthritis,  die  auf  Salizyltherapie  zuiück- 
gehen,  wobei  jedoch  einzelne  Gelenke  unbeeinflußt  bleiben  und 
sich  daselbst  allmählich  fibröse  Ankylose  entwickelt,  oder  die 
erste  Attacke  auf  Salizyltherapie  ganz  zurückgeht,  aber  sich  dann 
Rezidiven  einstellen,  die  auf  Salizylpräparate  nicht  mehr  rea- 


Kr.  J 


\\  1EJNEK  KLINISCHE  VYOCllLNSCiiilli'  i.  B)li. 


nieren  und  zu  fibröser  Ankylose  führen.  Diese  Fälle  legen  den 

Gedanken  der  Entwicklung  einer  Sekundär.,.  '  “t  lehrt 
Boden  einer  rheumatischen  Synovitis,  nahe.  Die  E  fahinug  lern 
daStd  Patienten  mit  septischen  Zuständen  der  Mundhöhle  to- 
position  für  Rezidive  des  Gelenksrheumatismus  besteht.  Die 
ukulen  nicht  rheumatischen  Arthritisformen  können  in  zwei 
tilüppen  geschieden  werden  u.  zw.  infektiöse  Formen  mit  posn 
tivem  Mikroorganismen  Befund  m  den  eikian  len  .re  c 
toxische  Formen  mit  negativem  bakterrologischen  DefuM;  ta  die 

erste  Gruppe  gehören  neben  den  durch  Gonok, okken  Pnemnol k 
Pen  Strepto.  und  ‘ 'Jlito 

rs  SÄ 

in  einzelnen  Fällen  würfen  Ko  baziUe^als  jn 

£ä52äSS^?£ 

Stellung  des  ^“^^““‘XgrSBerung  der  Milz  und 

dr  “0"  Ä  ^SSöiÄteitrige 

“  ^  DrtfkSia’und  ÄÄÄ  £ 

Fehlen  von  Eiterung  und  lleberspringen  bei  Entzundt  g  ^ 
Gelenk  zu  Gelenk  gekennzeichnet  —  (Bnt.  med.  Io  ., 
tober  1910.) 


erkrankung  in  den  ersten  24  Stunden  zu  operieren.  -  (The  Lancet, 
2.  Juli  1910.) 


Aus  französischen  Zeitschriften. 


a.  e. 


16.  Ueber  die  zugunsten  frühzeitiger  Olier.ti« 

fortsatzes  ist  sofortige  Operation  radiziert,  |r^ahiend  bei  ei  a 
rhaliscben  Erkrankung,  die  mit  Stenose -zusamm^gt  ^ 
häufig  wiederkehrende  kolikartige  Schmerzen  ’ 

LTue  so  unmittelbare  Indikation  der  .Operation  besteh  Wenn  man 

rnit  der  Operation  wartet,  bis  der  akute  Anfall  vorüber  ist,  so 
wird  dadurch  das  Krankenlager  oft  (beträchtlich  verengert  anc 
kann  in  dieser  Zeit  Perforation  |mit  anschheßendei * 
einstellen,  wodurch  der  Patient  verschiedenen  |Gefahren  ausge 
ist  Zugunsten  der  Operation  in  den  ersten  -4  Stunde  >P 
auch  der  Umstand,  daß,  zu  dieser  Zeit  noch  erne  energische,  Reak¬ 
tion  des  Organismus  auf  die  , Infektion  besteht  die  sich  u.  a.  a  > 
,ktive  Hyperämie  des  Wurmfortsatzes  äußert,  wählend  Adi 
tül  S,  nicht  ausgebildet  sind.  Sach  Exstirpation .des Wurnv 
fortsatzes  bestehen  zu  dieser  Zeit  (die  günstigsten  1  “  ° 

für  die  Heilung  des  Stumpfes,  (wobei  m  der  Regel  die  Drainag 
entbehrlich  ist.  Zugunsten  des  frühzeitigen  Emgnl  es  bPn 
auch  der  Umstand,  daß  der  Wurmfortsatz  bei  erst  beginnende 
und  sehr  milden  Symptomen  schon  'sehr  schwere  Veränderungen, 
zum  Beispiel  Perforation,  starke  Elteransammlung  w  der  U 
gebung,  hochgradigste  Distension  aufweisen  kann.  In  zwei  1  allen 
war  die  Distension  des  Wurmfortsatzes  so  hochgradig,  daß 
Beratung  mit  Erguß  des  Eiters  tin  die  Bauchhöhle^hoh  m  den 
nächsten  Stunden  hätte  erfolgen  müssen  und  nW  d “ 
vor  der  Perforation  rettend  wirkte.  Das  Fehlen  von  Adhäsionen 
gestaltet  in  diesen  Fällen  die  (Exstirpation  weniger  schwierig, 
wobei  die  Eröffnung  vom  Rektum  aus  am  meisten  zu  empiehlei 
ist  In  Fällen  von  virulenter  (Streptokokkeninfektion  ermöglicht 
dt  M*  Operation  auch  den  Nachweis  des  Infektion*, 
erregers  und  schafft  dadurch  die  Möglichkeit  eine  wirksame  Vak- 
•  ttprame  einzuleiten.  Alle  Faktoren  sprechen  in  gleicher  Meise 
ÄÄ  jeden  Fall  von  entzündlicher  Appendix- 


17  Ueber  End  oaneurysmorrhaphie.  Von  f.  Uarc 
ner  Als  Endoaneurysmorrhaphie  wird  die  Behandlung  der  Aneu¬ 
rysmen  durch  Naht  des  Sackes  von  innen  her  be.zelc^et-  ' 
wird  das  neueste  Prinzip  der  Gefäßchirurgie,  namlic  i  u  -  1 
mit  Wiederherstellung  der  Kontinuität  des  Gefäßes  angewende  , 
“ähtlrdäS  frühere  Prinzip  in  Ligatur  und  Unterbrechung  der 
Zirkulation  besteht.  Die  Ausführung  der  Operation  wm  dadurch 
ermöglicht,  daß  der  Aneurysmasack  eine  lebende  Membra  t  • 
und  daß  die  aneinandergelegten  Flächen  der  Intima  miteinander 
ebenso  rasch  und  vollständig  verwachsen,  wie  aneinandergelegte 
Peritonealflächen.  Die  Endoaneurysmorrhaphie  ist  eine  mehr¬ 
seitige  Operation,  deren  Stadien  die  provisorische  Blutstillung 
die  Freilegung  des  Aneurysmasackes  die  Inzrsion  des  Sackes  mt 
Entleerung  der  Gerinnsel,  die  Untersuchung  des  Sackes  u 
(Ut!  Verschließung  der  Unilateralen,  die  Wiederherstellung  her 
Kontinuität  der  Arterie  durch  Vernähung  der  Kommunikation 
mit  dein  Aneurysma,  eventuell  die  Obiiterierung  des  aneurys¬ 
matischen  Teiles  der  Arterie  durch  die  Naht,  schließlich  die  Nah 

des  Sackes  zur  Obhterierung  des  Hohlraumes  und  dm  Bantnaht 

sind  Es  wurden  bisher  149  Fälle,  davon  131  an  der  unteren 
Extremität  sitzende  Aneurysmen,  mit  der  angegebenen  i  e  oce 
behandelt,  unter  den  letztoperierten  64  Fällen  wurde  kein  Tode  - 
fall  keine  Rezidive,  keine  sekundäre  Blutung  und  nur  ein  Fall 
von  Gangrän  beobachtet.  Die  Endoaneurysmorrhaphie  ist  hin¬ 
sichtlich  ihrer  Wirkung  radikaler  als  die  Ligatur  und  die  Exs 
pation,  setzt  die  geringsten  Verletzungen,  so  daß  “ 
nahmsweise  zur  Gangrän  kommt,  beeinträchtigt  m  ke  nei  J  eise 
den  Kollateralkreislauf,  schaltet,  weil  der  Eingriff  1,n  ^ 
des  Sackes  vorgenommen  wird,  die  Gefahr  einer  Venenverletzung 
aus  und  kann  in  Fällen  angewendet  werden,  wo  die  Exstirpation 
nicht  mehr  durchführbar  ist,  auch  ist  die  Methode  eintac  u 
leicht  ausführbar.  Zur  Naht  wird  Chromkatgut  oder  Katgut  00, 
tventueh  feine  Seide,  wie  für  Augenoperationen,  verwendet 
Prinzipiell  ist  die  Operation  in  allen  Fällen  indiziert,  wo  die 
provisorische  Blutstillung  durchführbar  und  der 
tu  sanglich  ist.  Die  Wiederherstellung  der  Gefaßkontinuitat  is 

beSkfönnigen  Aneurysmen,  die ^  £ 

föimisen  Aneurysmen  und  ausreichendem  Kollateralkreisiaiu  n 

dizieri  Die  sogenannte  rekonstruktive  Operation  ist  bei  ’ 

ELZU.  mit  elastischen  und  resistenten  .Wanden 

dureSrhar!  wl  beide  Oriftzi«,  in  gleicl hem  »■£“£““  n- 

ander  liegen  und  leicht  zugänglich  sind.  Es  ist  in  jedem  i 
wichtig  Sh  von  Beginn  der  Operation  vom  Zustande  des  Kob 
lateralkreislautes  zu  überzeugen.  —  (&az.  des  hop.  1910,  ^ 

■y. 


18  Ueber  eine  neue,  durch  multiple  Slo1^ 
kalte  Abszesse  gekennzeichnete  For“  de'  hP°  d 
trichose  Von  de  Beurmann,  Gougerot  Bith  und 
B euyer.  Sporotrichosen  mit  Bildung  multipler  großer  ^szess 
„Wul  „ine  Seltenheit;  in  einem  derartigen  Falle,  wo  die  Abs  _ 
bis  500  g  Eiter  enthielten,  wurde  das  Sporotrrchum  on,  eine 
vom  Sporotnchum  Schert  und  Sporotrichum  Beurmannr  stark 
difterieren.de  Art  gefunden.  Bei  der  gummösen  Form  des  Sporo- 
trichum  Beurmanni  kommt  die  Umwandlung  m  große  Abszess 
to  n  Inem  Falle,  der  ausführlich  beschrieben  wird  domi¬ 
nierten  multiple  große  kalte  Abszesse  von  torpidem  Verlaut  im 

Ser  Phalange  ehm  PmioSis,  welche 

IT S  anf  dem  Objektträger  ausgebmtet.  getrocknet 
temperatur  Kulturen  erhalten,  ebenso  entwickelten  sich 


Kr.  I 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1‘Jll. 


o5 


siten  im  Eiter,  welcher  aseptisch  in  Tuben  aufgefangen  wurde. 
Weitere  Untersuchungen  zeigten,  daß  das  Serum  in  größerer  Ver¬ 
dünnung  Agglutination  gab  und  das  Komplement  besser  fixierte, 
als  der  Eiter.  Es  wurde  ferner  Intradermoreaktion  mit  iSporo- 
trichosin  und  mit  auf  100°  erhitztem  reinem  oder  verdünntem 
Eiter  erhalten.  Therapeutisch  bot  der  mitgeteilte  Fall  Interesse, 
weil  neben  allgemeiner  und  lokaler  .Todbehandlung  auch  lokale 
Behandlung  mit  Arsenpräparaten  angewendet  wurde.  Zwei  wei¬ 
tere  Fälle  von  Sporotrichose  boten  durch  die  Lokalisation  an 
der  Kopfhaut,  bzw.  im  Gesicht  und  Nacken  Interesse.  —  (Bull, 
et  Mem.  de  la  Soc.  med.  des  Hop.  de  Paris  1910,  Nr.  26.) 

a.  e. 

* 

Aus  italienischen  Zeitschriften. 

19.  Ueber  Kohlensäureschnee  als  Ersatz  des 
Chloräthyls  in  der  Lokalanästhesie.  Von  Guido  Malan. 
Der  Kohlensäureschnee  wurde  zur  Behandlung  von  Gefäßmälern, 
Lupus  erythematosus  etc.,  sowie  als  Ersatz  des  Chloräthyls  für 
die  Zwecke  der  Lokalanästhesie  versucht.  Man  setzt  an  die 
Kohlensäurebombe  ein  Metall-  oder  Holzrohr,  welches  einen 
weichen  Boden,  z.  B.  aus  Leder  zeigt,  so  daß  sich  der  bei  der 
Verdunstung  der  flüssigen  Kohlensäure  gebildete  Kohlensäure¬ 
schnee  ansammeln  kann.  Der  Schnee  wird  in  viereckige  Tuben 
gebracht  und  durch  Stempeldruck  auf  die  zu  anästhesierende 
Fläche  appliziert.  Die  Anästhesie  tritt  nach  fünf  bis  acht  Sekun¬ 
den  ein  und  ist  von  kurzer  Dauer,  so  daß  die  Inzision  schnell 
ausgeführt  werden  muß.  In  30  Fällen  von  Furunkel,  Anthrax, 
Abszeß,  Phlegmonen,  Inguinalbubonen,  wurde  für  die  Inzision 
ausreichende  Anästhesie  erzielt,  welche  wohl  flüchtig,  aber  tiefer 
als  die  durch  Chloräthyl  hervorgerufene  Anästhesie  ist.  Bei 
Furunkeln  entfaltet  der  Kohlensäureschnee  auch!  Heilwirkung, 
insofern  als  die  Ausstoßung  des  nekrotischen  Pfropfes  begünstigt 
wird.  Der  Heilungsprozeß  wird  auch  sonst  durch  den  Kohlen¬ 
säureschnee  nicht  verzögert,  Blasen-  und  Schorfbildung  werden 
nicht  beobachtet.  Die  .Methode  eignet  sich  nur  für  rasch  aus¬ 
zuführende  Inzisionen  im  entzündeten  Gewebe,  ist  aber  wegen 
der-  Härtung  der  Gewebe  und  der  Flüchtigkeit  der  Wirkung 
zur  Anästhesie  nicht  entzündeter  Territorien  wenig  geeignet. 
Der  Nachteil  gegenüber  dem  Chloräthyl  besteht  in  der  schwereren 
Transportabilität  des  Rezipienten;  Vorteile  sind  die  raschere 
Wirkung,  die  bessere  Dosierbarkeit  und  die  größere  Billigkeit, 
welche  die  Methode  besonders  für  die  Ambulanzen  größerer 
Spitäler  geeignet  erscheinen  lassen.  —  (Gaz.  degli  osped.  1910, 

Nr.  105.)  a.  e. 

* 

20.  Ue^er  Chloroformnarkose  bei  Kindern.  Von 
Vittorio  Brun.  Die  reine  Chloroformnarkose  entfaltet  leichter 
toxische  Wirkungen  wegen  der  erforderlichen  größeren  Mengen 
des  Narkotikums,  bei  Kombination  mit  Chloräthyl  fällt  das  Exzi¬ 
tationsstadium  weg  und  der  Chloroformverbrauch  wird  reduziert. 
In  gleichem  Sinne  wirkt  die  Injektion  von  xk  bis  1  cm3  einer 
Lösung,  die  pro  Kubikzentimeter  1  mg  neutrales  Atropinsulfat 
+  1  cg  Morphium  hydrochloricum  enthält,  15  bis  20  Minuten 
vor  Einleitung  der  Narkose.  Am  besten  bewährte  sich 
die  Kombination  der  Morphium  -  Atropininjektion  mit  der  Chloro¬ 
form  -  Chloräthylnarkose.  Man  muß  eine  Maske  anwenden,  welche 
die  Mischung  der  Chloroformdämpfe  mit  dem  Sauerstoff  der 
Luft  gestattet  und  das  Chloroform  tropfenweise  applizieren.  Es 
wird  dadurch  ein  minimaler  Verbrauch,  durchschnittlich  sechs 
Tropfen  pro  Minute,  bewirkt,  ohne  daß  die  Tiefe  der  Narkose 
beeinträchtigt  erscheint.  Im  Kindesalter  ist  die  Einschränkung 
des  Chloroformverbrauches  von  besonderer  Wichtigkeit,  da  die 
Empfindlichkeit  gegen  die  toxische  Wirkung  höher  ist.  Unter 
dem  Einfluß  des  Chloroforms  erfolgt  Abnahme  des  Hämoglobin¬ 
gehaltes  und  der  Erythrozytenzahl,  sowie  Leukozytose;  die  Schä¬ 
digung  der  Leber  gibt  sich  durch  alimentäre  Lävulosurie  und 
Urobilinurie,  die  Schädigung  der  Niere  durch  transitorische  Albu¬ 
minurie  und  Zylindrurie  kund.  Bei  der  Anwendung  der  kombi¬ 
nierten  Morphium  -  Atropin  -  Chloroform  -  Chloräthylnarkose  fällt 
die  Schädigung  des  Blutes  weg,  Leber  und  Niere  werden  nur  in 
geringfügiger  und  vorübergehender  Weise  affiziert.  Das  Allge¬ 
meinbefinden  nach  der  Narkose  ist  günstig,  Erbrechen  und  Ver¬ 
dauungsstörungen  werden  nicht  beobachtet.  Gegen  den  Durst 


gibt  man  zwei  bis  vier  Klystier©  von  je  100  g  einer  10 "cd gen 
lauwarmen  Lösung  von  Natrium  bicarbonicum  innerhalb 
24  Stunden.  Die  Spätintoxikation  durch  Chloroformnarkose  gibt 
sich  durch  Nekrose  und  fettige  Degeneration  der  Leberzellen 
kund;  sie  wird  fast  ausschließlich  bei  bereits  erkrankter  Leber 
oder  entsprechender  hereditärer  Belastung  beobachtet.  Die  be¬ 
schriebene  Narkose  ist  bei  Anwendung  des  Chloroform  „Roche“' 
selbst  bei  schweren  Eingriffen  ausreichend  und  bewirkt  voll¬ 
ständige  Muskelerschlaffung.  —  (Gaz.  degli  osped.  1910,  Nr.  118.) 

a.  e. 

* 

21.  Ueber  die  Viskosität  des  Blutes,  sowie  das 

Verhalten  der  eosinophilen  Zellen  bei  Epilepsie. 
Von  Giuseppe  Vidoni  und  Stefano  Gatti.  Die  Viskosität  ist 
eine  für  Nährflüssigkeiten  notwendige  und  vom  Eiweißgehalt  ab¬ 
hängige  Eigenschaft,  welche  auch  für  die  Geschwindigkeit  der 
Zirkulation  von  Bedeutung  ist.  Die  Viskosität  des  Blutes  ist 
der  Zahl  und  Größe  der  Erythrozyten,  sowie  dem  Kohlensäure¬ 
gehalt  des  Blutes  proportional.  Bei  Asphyxie  und  Kardiopathien 
ist  eine  Zunahme,  bei  Anämie,  nach  Schilddrüsenexstirpation, 
in  der  zweiten  Hälfte  der  Gravidität,  sowie  nach  Inhalation  von 
Sauerstoff,  eine  Abnahme  der  Viskosität  des  Blutes  nachweisbar. 
Einschlägige  Untersuchungen  bei  Psychosen,  wobei  das  Blut  zu 
einer  bestimmten  Zeit  entnommen  wurde,  ergaben  eine  Steigerung 
der  Viskosität  des  Blutes  bei  Pellagra,  Alkoholismus,  Amentia, 
demnach  bei  Psychosen  toxischer  oder  infektiöser  Natur;  in 
einer  Anzahl  von  Fällen  war  nur  eine  episodische  Steigerung 
der  'Viskosität  nachweisbar.  In  der  Literatur  finden  sich  Mit¬ 
teilungen  über  erhöhte  Viskosität  des  Blutes  beim  Status  epi- 
lepticus,  welche  auf  die  Asphyxie  zurückgeführt  wird.  Die  bei 
der  Epilepsie  beobachtete  Eosinophilie  ist  toxisch  bedingt;  die 
bisherigen  Untersuchungen  ergaben  Hypereosinophilie  in  den  an¬ 
fallsfreien  Intervallen,  welche  Angabe  durch  an  acht  Fällen  an- 
gestellte  Untersuchungen  bestätigt  wurde.  Während  des  Anfalles 
war  eine  Abnahme,  nach  dem  Anfall  rasche  Zunahme  der  eo¬ 
sinophilen  Zellen  nachweisbar;  die  Konstanz  dieses  Befundes 
läßt  ihn  zur  Aufdeckung  der  Simulation  von  Epilepsie  geeignet 
erscheinen. ' —  (Gaz.  degli  osped.  1910,  Nr.  120.)  a.  e. 

* 

22.  Ueber  fünf  Fälle  von  Schädelfraktur.  Von 
A.  Fontana.  Bezüglich  der  Behandlung  der  Schädelfrakturen 
sind  die  Ansichten  geteilt,  da  eine  Anzahl  von  Chirurgen  sofor¬ 
tiges  operatives  Eingreifen  für  indiziert  hält,  während  andere 
die  Indikation  für  die  Operation  nur  unter  ganz  bestimmten 
Verhältnissen  als  gegeben  betrachten.  Der  Verfasser  berichtet 
über  fünf  operativ  behandelte  Fälle  von  Schädelfraktur,  darunter 
vier  Fälle  von  offener  Fraktur,  mit  günstigem  Ausgang.  In  Fällen 
mit  beträchtlicher  Hämatombildung  der  Kopfhaut  kann  der  Nach¬ 
weis  der  Schädelfrakturen  Schwierigkeiten  bieten;  hier  empfiehlt 
es  sich,  durch  leichte  Massage  das  Hämatom  auf  eine  größere 
Oberfläche  zu  verteilen,  wodurch  eine  verläßlichere  Palpation 
ermöglicht  wird.  In  anderen  Fällen  weisen  abnorme  Beweg¬ 
lichkeit  und  Dislokation,  gelegentlich  auch  deutliche  Krepitation 
auf  das  Bestehen  der  Schädelfraktur  hin,  ferner  kann  die  Röntgen¬ 
untersuchung  verwertbare  Aufschlüsse  geben.  Die  frühzeitige 
Diagnose  der  Schädelfrakturen  ist  von  großer  Wichtigkeit,  ;da 
von  übersehenen  kleinen  Läsionen  tödliche  Gehirnkomplikationen 
ausgehen  können.  Es  wird  auf  die  spontane  Ausheilung  yon 
Schädelfrakturen  hingewiesen,  doch  sieht  man  in  solchen  Fällen 
nicht  selten  schwere  Gehirnsymptome  als  Spätfolgen  auftreten, 
so  daß  bei  sichergestellter  Schädelfraktur  unmittelbar  operatives 
Eingreifen  indiziert  erscheint.  Bei  den  komplizierten  Schädel¬ 
frakturen  stellt  die  Verhütung  der  Infektion  des  Gehirnes  und 
der  Meningen  die  Hauptaufgabe  dar.  Es  müssen  Haare,  Fremd¬ 
körper,  Knochensplitter,  nekrotische  Gewebspartikel  sorgfältig  ent¬ 
fernt  werden;  eine  vollständige  Vernähung  der  Wunde  ist  zu 
vermeiden.  Die  weiteren  operativen  Akte  bestehen  in  Naht  der 
verletzten  Meningen  und  Ligatur  der  blutenden  Gefäße.  T  on 
großer  Wichtigkeit  sind  die  Verletzungen  der  Gehirnsinus  wegen 
der  Gefahr  der  Verblutung  oder  der  Entwicklung  schwerer  Häma¬ 
tome;  bei  längs-  oder  schiefgerichteten  Sinusverletzungen  ist  die 
Naht,  bei  queren  Verletzungen  die  Gazetamponade  indiziert.  Von 
Wichtigkeit  ist  der  Ersatz  des  nach  Entfernung  der  Knochen- 


36 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  19U. 


Nr.  1 


fragments  zurückbleibenden  Defektes  der  Schädelhöhle,  für 
welchen  Zweck  verschiedene  Methoden,  zum  Beispiel  Bildung 
eines  gestielten  autoplastischen  Lappens. 

Knochen-  und  Periostlappens  von  der  tibia,  u 
Knochen,  Einlegung  von  Metall-  oder  Zellnloidlappen  usw^  mp 
gewendet  wurden.  Für  die  Regeneration  ist  gute  Anfrischung 
der  Ränder,  sorgfältige  Fixation  des  TransplanUrtionsmatendes 
und  strenge  Asepsis  von  Wichtigkeit.  Iler  Vertäte«  ™w“‘ ^ 
zur  Beförderung  der  Schließung  des  Deletes 
Knochenstücke  der  Frakturstelle,  welche  wahrend  der  Operation 
in  Kochsalzlösung  eingelegt  und  dann  zur  Ataull, mg  der  Lucke 
verwendet Svnrden,  -  (Gaz.  degli  osped.  1910,  Nr.  1-4.)  a.  e. 


Aus  russischen  Zeitschriften. 

23  (Aus  dem  Obuchow  sehen  Männerhospital  zu  Sankt 
Petersburg.)  Ueber  Wirkung  des  akuten  Alko^°^S“US 
auf  die  Magensaftsekretion.  Von  W  •  R-  btuhi,e^  ; 
Während  eine  Anzahl  von  experimentellen  Arbeiten  bezüglich  dei 
w“X  1  Alkohols  an  Tieren  -  meist  Pawl  o  w schon  Hunde  i 
_  vorliegt  (wobei  erst  Beförderung,  dann  Hemmung  der  Ver¬ 
dauungsarbeit  zu  konstatieren  war),  sind  solche  Untersuchungen 
unter  natürlichen  Bedingungen  bei  Menschen  in  nur  geringer  Zahl 
ausgeführt.  Die  Arbeit  des  Verfassers  füllt  nun  diese  Lucke  aus. 
Er  stellte  seine  Untersuchungen  an  126  Arbeitern  unter  den  Bi¬ 
ding  ungen  des  periodischen  akuten  Alkoholmißbrauches  („Quarta  - 
Sr)  hei  Gell  rauch  von  dOgradigem  Schnaps  an.  Die  HaupL 
ergebnisse  werden,  wie  folgt  zusammengefaßt  D^r  Mißbrauch 
mit  40gradigem  Schnaps,  sowohl  akut,  wie  chronisch  tuhi  - 
stark  ausgeprägter  Herabsetzung  der 

dischem  Alkoholismus  kommt  es  in  70°/o  dei  Falle  last  bis  z 
völligen,  jedoch  temporären  Hemmung  der  Sekretion.  Eintägige 
Alkoholismus  zeigt  bei  Leuten,  die  nicht  an  Alkohol  gewöhn  .  sind 
dieselben  Erscheinungen,  doch  sind  dieselben  kurzer  andauei  _ 
und  weniger  scharf  ausgeprägt.  Periodischer  Alkoholmißbrauch 
wirkt  weniger  schädlich  auf  die  Magensaftsekretion  als  kontinuier 
Ser,  selbst  wenn  derselbe  sich  in  mäßigen  Grenzen  bewegt 
Dies  gilt  jedoch  nicht  für  das  Bier,  welches  sowoh  nach  der 
vorliegenden  Literatur,  als  auch  nach  den  Beobachtungen  des 
Verfassers  die  Magensaftsekretion  eher  ein  wenig  steigert  Eine 
safttreibende  Wirkung  schwacher  Alkohollosungen  bei  manche 
Magenkrankheiten  (z.  B.  Achylie)  läßt  sich  nicht  feststellen. 
—  (Russkij  Wratsch  1910,  Nr.  46.)  •  L 


25.  (Aus  dem  Laboratorium  des  St.  Maria-Magdalena-HospF 
„u  /u  St  Petersburg.  -  Vorstand:  G.  S.  Kulescha.)  Zur 
Frage  der  Verbreitung  der  Choleravibrionen  im  Oi- 
„anismus  (nach  den  Obduktionsergebnissen).  Von 
L  P  Brjullowa.  Bei  der  bakteriologischen  Untersuchung  von 
Choleraleichen  läßt  sich  der  Choleravibrio  nicht  nur  aus  dem 
Inhalt  des  Magendarmkanals,  sondern  auch  aus  dem  M 
anderen  Organen  züchten.  Der  erste  fatz  gebührt  der  Zahl  und 
der  Häufigkeit  des  Vorkommens  nach  dem  Dumulaim  (62« «fund 
Diese  Zahl  sinkt  in  der  Richtung  gegen  das  Kolon  (62  a0  um 
ap_„n  den  Magen  (78°A>).  Die  Galle  hält  bezüglich  der  Häufigkeit 
des  Vorkommens  die  Mitte  zwischen  dem  Magen  und  dem  *'as- 
da  J  peT)  nimmt  jedooh  bezüglich  der  Reichlichtat  der  M- 
np  die  erste  Stelle  ein.  Von  anderen  Organen  werden  die  Cho- 
Sibten«  häufigsten  in  der  Pfortader,  den,  Herzen  und 
in  der  Harnblase  gefunden  (40  bis  38*);  in  dm  ubngen  Organen 

kommen  sie  weitaus  seltener  vor  (16*  u,id  dl“''“  ,  |  m 

dem  Tode  verstrichene  Zeit  (innerhalb  24  Stunden)  hat  keinen 
Einfluß  auf  die  größere  oder  geringere  Verbrmtu^  der  Vjbnene 
in  den  Organen,  sondern  nur  auf  den  Grad  der  Reinheit,  a 
CKolei aku ltu ren  und  dem  geringeren  Prozentsatz  rn  j  erd  £ 
bliebenen  Organen.  Man  muß  daher  annehmen  daß  ; 

vnn  Choleravibrionen  nicht  nur  auf  postmortale  Einwanderung 
“4  S»  ist,  sondern  auch  auf  vertebraler  Emwandermig 

derselben  in  den  Kreislauf  intra  «tan,  zu  beziehen  ist.  Aut 
('  1  ltor  bis  nun  vorliegender  Daten  müssen  wn  zu 

Swusse ^langen  daß  dircholera  zwar  keine  ausgesprochene 
Pyämie  ist,  daß  jedoch  die  Cholerav.br,onen  .m  Laufe  L  - 

krankung  in  den  Kreislauf  emdnngcn  und  über  den ganzen  LM 
nismus  hin  verschleppt  werden  kenn«.  -  (Russkij ^  «ratz 

1910,  Nr.  47.)1 


Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 


24.  (Aus  dem  Obuchow  sehen  Männerhospital  zu  Sankt 
Petersburg.)  Klinische  Wertung  der  wichtig  s  t  e  n  Met  ho- 
de  n  zur  Mottl itätsp rüfung  des  Magens  Von  D.  G.  läse 
son.  Verf.  wendete  an  einem  großen,  sorgfältig  beobachtete 
Krankenmaterial  gleichzeitig  die  wichtigsten  Methoden  der  J  o  i- 
litäts prüfung  des  Magens  an  unter  gleichzeitiger  Bestimmung  der 
Aziditätsverhältnisse.  Er  gelangte  zu  folgenden  Resultaten.  Bei 
Verdacht  auf  Hypersekretion  oder  Motilitätsstörung  muh  jeder 
Magenuntersuchung  nach  Probefrühstück  eine  Sondennntersuchung 
des  Inhaltes  bei  nüchternem  Magen  vorausgehen.  Die  Motilitats- 
verhältnisse  des  Magens  bedürfen  eines  ebenso  intensiven  Stu¬ 
diums  wie  die  Sekretionsverhältnisse.  Salol,  Jodopin  und  Jodo¬ 
form  sind  für  das  Studium  der  Motilität  nur  mit  allergrößter  V  or¬ 
sicht  verwertbar.  Bei  Benützung  der  Neutralrotmethode,  weist  dei 
Moment  des  ersten  Auftretens  der  Rotfärbung  des  Urins  aut  den 
Zeitpunkt  der  ersten  Eröffnung  des  Pylorus  hin.  Das  Probeabend¬ 
essen  von  Boas- Strauß  ist  die  beste  und  sicherste  Methode, 
um  grobe  Störungen  de't  Magenmotilität  infolge  Pylorusverengung 
nachweisen  zu  können.  Die  Methode  von  Elsner  (Bestimmung 
der  gesamten  festen  Rückstände)  ist  einfach,  für  klinische  Zwecke 
anwendbar  und  gewährt  uns  die  Möglichkeit  einen  Einblick  m 
die  Motilitätsverhältnisse  des  Magens  zu  gewinnen.  Die  Magen- 
sondieining  sieben  Stunden  nach  der  Leube- Riegel  sehen 
Prob  emahl  zeit  und  zwei  Stunden  nach  dem  Ewald-Boas- 
schen  Probefrühstück  kann  über  den  Grad  der  Motilitätsstörung 
Aufschluß  gewähren.  Die  Motilitätsbestimmung  nach  S  c h  1  aop  f  e r 
ist  nicht  genügend  genau  und  bei  Anwesenheit  von  Galle  und 
Blut  nicht  anwendbar.  Die  Perlenmethode  von  Einhorn  ist 
für  die  Praxis  schwer  anwendbar.  —  (Russkij  Wratsch  1910, 

Nr.  46.)  L  Sch- 


26  Die  Isolierung  des  Gonokokkus  u  n  d  s  e  i  n  c  Di  f 

i'  Nährbodens  von  der  größten  Bedeutung.  Zu  Fleischbiuhe 
des  Nährbodens  vo  ®  /N  iii>(),j  po/o  Pepton  und 

kommen  0-5 °/o  Dmatnumphosphat  UvasLLiUiL 
u°  Tvir  Diu  alkalische  Reaktion  entspricht  so  0-6  em>  Samo 

SSSSK. Ä*SÄ 

Immunserum  waren  gleichfalls  ,  verschieden,  ob- 

drei  genannten  Organismen  sind 2  (Joumal  of 
zwar  man  mitunter  auch  zweifelhafte  Falle  trutt. 

Pathology  and  Bakteriology  1910.  Bd.  15.  S.  76-) 


97  Die  Resistenz  der  roten  Blutkörperchen  bei 
„  “7  a  11Tirl  Kranken  gegenüber  der  Saponinhamo- 

Gesundenund  K ranken  ,  e  durch  Sapo- 

lyse  mit  einem  V.erg®  g  Yzlösun g.'  Von  C.  Moneil.  Der 
nin  und  hypotonische  <-  Wirkune  des  Saponins  auf 

Autor  untersuchte  dre  hamolyfts  ^  ^  Salzlös„„g 

gewaschene  rote  Blutkorpercn  ,  Hämolyse 

bei  37°  suspendiert  erhalten  ^r^c  \.enC  t  roter  Blutkörper¬ 
wurde  bestimmt  indem  emo  einheitliche  Mg-  Ende  des 

eben  (50,000.000)  zur  Verwendung  kam  t  ^ 

Versuches  noch  zurückgebliebenen  1  .  .  .  yn- 

1  Er  fand,  daß  die  Resiste^  TÄ  Ä 
ämie,  hohem  Fieber,  herabgesetzt  ist.  t  vermehrt 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


37 


höhte  Resistenz  gegenüber  hypotonischen  Lösungen  (042%  Na(  l) 
zeigten,  während  ihre  Resistenz  gegenüber  Saponin  unverändert 
blieb.  Die  erhöhte  Resistenz  bei  Ikterus  gegen  hypotonische  Lö¬ 
sungen  ist  darauf  zurückzuführen,  daß  das  Plasma  etwas  hyper¬ 
tonisch  ist,  die  geringe  Resistenz  gegenüber  Saponin  auf  die  gallen¬ 
sauren  Salze,  welche  sich  mit  den  Lipoiden  der  Wand  der  roten 
Blutkörperchen  vereinigt  haben.  —  (The  Journal  of  Pathology 

and  Bakteriology  1910,  Bd.  15,  S.  56.)  sz- 

* 

28.  Der  Mechanismus  der  anaphylaktischen  Sym¬ 
ptome  beim  Kaninchen.  Von  M.  Scott.  Kaninchen  können 
für  fremdes  Serum,  fremde  Blutkörperchen,  Milch,  Bakterien  oder 
vegetabilische  Proteine  überempfindlich  gemacht  werden.  Die  dazu 
erforderlichen  Mengen  sind  größer  als  bei  Meerschweinchen.  Der 
Zustand  der  Anaphylaxie  entwickelt  sich  nach  zehn  Tagen,  dauert 
weitere  zehn  Tage  und  fällt  dann  rasch  ab.  Wenn  das  i  iei  den 
anaphylaktischen  Shock  überlebt,  verhält  es  sich  durch  etwa 
vier  Tage  refraktär,  -am  siebenten  Tage  ist  es  wieder  vollständig 
überempfindlich.  Die  passive  Uebertragung  der  IJeberempfmd- 
lichkeit  erfolgt  am  besten,  wenn  das  Serum  des  überempfind¬ 
lichen  Tieres  und  das  fremde  Protein  gleichzeitig  dem  frischen 
Tiere  einverleibt  wird.  In  bezug  auf  den  Grad  der  Ueberempfind- 
lichkeit  herrschen  bei  Kaninchen  große  individuelle  Verschieden¬ 
heiten.  Dieser  Grad  variiert  mit  der  Menge  des  Präzipitins, 
welches  sich  in  ihrem  Serum  gebildet  hat.  Die  Hinfälligkeit  und 
die  Muskellähmung  während  des  anaphylaktischen  Shocks  sind 
auf  das  starke  Sinken  des  Blutdrucks  zurückzuführen.  Im  Ge¬ 
biete  der  Vena  portae  herrscht  starke  Stauung  infolge  der 
Lähmung  der  Arteriolen  und  Kapillaren.  Der  Atemstillstand  ist 
auf  das  beginnende  Oedem  der  Lungen  zurückzuführen.  Die 
Gerinnbarkeit  des  Blutes  erweist  sich  als  verzögert  und  die  Fibrin- 
bildung  ist  unvollkommen.  Es  besteht  ferner  deutliche  Leukopenie. 
Das  Präzipitin  verschwindet  vollständig  aus  dem  Sei  um  und 
das  Komplement  ist  stark  vermindert.  Die  bakteriolytische  und 
die  opsonische  Kraft  des  Serums  haben  abgenommen.  Die  Endo- 
thelien  der  Blutgefäße  scheinen  gelitten  zu  haben.  Der  Autor 
führt  das  anaphylaktische  Krankheitsbild  auf  die  V  echselwiikung 
zwischen  Antigen  und  Präzipitin  zurück.  Mehrere  Tage  nach 
der  Erholung  ist  kein  Präzipitin  nachweisbar;  sobald  es  erscheint, 
wird  das  Tier  wieder  überempfindlich.  Die  Rektaltemperatur  fällt 
während  der  Krankheit  und  der  Harnstoffwechsel  ist  um  etwa 
25%  vermindert.  —  (The  Journal  of  Pathology  and  Bakteriology 

1910,  Bd.  15,  S.  31.)  sz- 

* 

29.  Die  Ausscheidung  von  Bakterien  aus  dem 
Blute  durch  die  Darmwand.  Von  F.  Hess.  Daß  Bakterien 
durch  die  intakte  Darmwand  mit  dem  Lymphstrome  in  das  Blut 
gelangen  können,  ist  eine  bekannte  Tatsache.  Das  umgekehitc 
Phänomen,  daß  Bakterien  aus  dem  Blute  in  die  Darmwand  aus- 
geschieden  werden,  konnte  in  Experimenten  an  Hunden  gezeigt 
werden.  Durch  Unterbindung  des  Pylorus  und  der  Ausführungs¬ 
gänge  des  Pankreas  und  der  Gallenblase  wurde  jede  Fehler¬ 
quelle  ausgeschlossen.  Die  Darmwand  funktioniert  daher  als  ex- 
krotorisches  Organ  nicht  nur  bei  toxischen  Zuständen,  zum  Bei¬ 
spiel  Urämie,  sondern  auch  bei  Bakteriämien’,  z.  B.  bei  Typhus 
oder  'Sepsis.  —  (The  Archives  of  internal  Medicine,  15.  No¬ 
vember  1910.)  sz' 

* 

30.  Experimentelle  Lungenanthrakose.  Von 
L.  Sayre-Mace.  Durch  neuere  Arbeiten  von  Calmette  und 
seinen  Schülern  wurde  die  Frage  der  Anthrakose  wieder  auf¬ 
gerollt.  Calmette  behauptete  nämlich,  daßi  die  nach  Inhala¬ 
tionen  in  der  Lunge  gefundenen  Kohlepartikelchen  vom  Darme 
aus  durch  die  Lymphwege  dahin  gelangen.  Nachprüfungen  von 
verschiedenen  Seiten  haben  die  Behauptung  Calmettes  nicht 
bestätigt.  Da  Calmette  die  angebliche  Wanderung  der  Kohle¬ 
teilchen  vom  Darme  in  die  Lunge  als  Beweis  für  den  enteio- 
genen  Ursprung  der  Lungentuberkulose  ansieht,  so  hat  diese  frage 
eine  große  praktische  Bedeutung.  Nachdem  die  Wanderung  von 
Partikelchen  aus  der  Peritonealhöhle  gegen  das  Darmlumen  sicher- 
gestellt  ist,  hat  Autor  Talk  intraperitoneal  injiziert,  die  Tiere 
nach  einer  gewissen  Zeit  getötet  und  die  Lungen  auf  die  Anwesen¬ 
heit.  von  Talk  chemisch  untersucht.  Das  Ergebnis  war,  daß  Talk 


in  den  Lungen  solcher  Tiere  nicht  nachgewiesen  werden  konnte. 
Obgleich  die  Versuche  mit  Talk  für  die  Frage  der  Wanderung 
von  Kohlepartikelchen  und  von  Tuberkelbazillen  infolge  der  Ver¬ 
schiedenheit  der  Substanzen  nicht  absolut  beweisend,  sind,  so 
sprechen  sie  doch  mit  sehr  großer  Wahrscheinlichkeit  dafür, 
daß  der  Dannweg  bei  der  Entstehung  der  Anthrakose  keine  Holle 
spielt.  - —  (The  Archives  of  Internal  Medicine,  15.  November  1910.) 

sz. 

* 

31.  Kutanprobe  mit  Maishxtrakt  bei  Pellagra- 
kranken.  Von  D.  Hirschfelder.  Unter  der  Voraussetzung, 
daß  die  Ansicht  von  Lombroso  und  Babes,  wonach  die 
Pellagra  ätiologisch  auf  eine  chronische  Maisvergiftung  zurück¬ 
zuführen  ist,  richtig  ist,  durfte  man  bei  Pellagrösen  Ueberempfind- 
lichkeitserscheinungen  gegen  Maisextrakte  erwarten.  Es  wurde 
nach  der  Pir  quetschen  Methode  auf  Ueberempfindlichkeit  mittels 
Extrakten  von  gutem  und  verdorbenem  Mais  und  von  Mais,  der 
Aspergillus  fumigatus  enthielt,  geprüft.  Das  Resultat  war  aber 
immer  negativ.  Die  Analogie  zwischen  der  Pellagra  des  Menschen 
und  dem  Fagopyrismus  (Buch  weizen  Vergiftung)  bei  Tieren,  bei 
welch  letzteren  es  gelang,  anaphylaktische  Erscheinungen  mit 
Buchweizenextrakt  zu  zeigen,  hätten  einen  positiven  Ausfall  dieser 
Versuche  erwarten  lassen.  Das  gegenteilige  Ergebnis  macht  es 
unwahrscheinlich,  daß  die  Pellagra  auf  Ueberempfindlichkeit  gegen 
Maisprodukte  zurückzuführen  ist.  —  (The  Archives  of  Internal 

Medicine,  15.  November  1910.)  sz. 

* 


32.  U e b e r  einen  Fall  von  tödlicher  Chlor natriti m- 
v  erg  if  tun  g.  Von  H.  Brooks.  Bei  einer  Patientin,  die  wegen 
chronischer  Appendizitis  operiert  worden  war,  wurde  irrtüm¬ 
licherweise  von  einer  Wärterin  statt  physiologischer  eine  kon¬ 
zentrierte  Kochsalzlösung  zu  Klysmen  verwendet.  Die  Gesamt¬ 
menge  Chlornatrium,  welche  hiedurch  in  den  Körper  gelangte, 
betrug  neun  Unzen  (=  255  g).  Die  Patientin  zeigte  folgende 
Symptome :  Starke  Unruhe,  Durst,  reichlichen  Tränenfluß  und 
reichliche  Harnentleerungen,  sehr  erschwerte  und  beschleunigte 
Respiration,  schnellen  und  schwachen  Puls,  Temperatursteige- 
rung  bis  42-7°  C  (rektal),  Bewußtlosigkeit,  enge,  auf  Licht  nicht 
reagierende  Pupillen,  Konvulsionen,  wenige  Minuten  vor  dem 
Tode  blutige  Stuhlentleerungen.  Im  Harne  war  kein  Zucker  und 
kein  Albumen.  Der  Tod  erfolgte  etwa  acht  Stunden  nach  der 
Operation.  Die  Respiration  setzte  fünf  Minuten  früher  aus  als 
die  Herztätigkeit.  Die  Autopsie  konnte  nicht  vorgenommen  wer¬ 
den.  Auf  Grund  dieses  Falles  und  auf  Grund  von  im  Anschluß 
daran  vorgenommenen  Tierexperimenten  ist  die  Chlornatriumver¬ 
giftung  als  osmotische  Störung  aufzufassen.  Die  Chlornatiumdepots 
im  Organismus  entziehen  das  Wasser  in  erster  Linie  dem  Blute, 
welches  dadurch  so  eingedickt  wird,  daß  die  Ernährung  dei 
lebenswichtigen  Organe,  insbesondere  des  Gehirns,  eine  schwere 
Schädigung  erleidet.  In  den  Unterleibsorganen  bilden  sich  lokale 
Oedeme  aus,  dagegen  erleiden  die  Nieren  keine  nennenswerte 
Störung.  —  (The  Archives  of  Internal  Medicine,  15.  November 
1910.)  sz‘ 

t/ermisehte  flaehfiehtefi. 

Verliehen:  Dr.  Artur  Rebula  in  Monfalcone  das  Gol¬ 
dene  Verdienstkreuz  mit  der  Krone. 

* 

Gestorben:  Oberstabsarzt  i.  P.  Dr.  Emil  Della  Torre 


Wien. 

* 

Verordnungen  des  Ministeriums  des  Innern  vom  2i.  De¬ 
zember  ’  1910  a)  betreffend  die  Arzneitaxe  zur  öster¬ 
reichischen  Pharmakopoe,  Ed.  VIII.  Am  1.  Januar  1911 
tritt  an  Stelle  der  „Zweiten  Ausgabe  der  Arzneitaxe  zur  öster¬ 
reichischen  Pharmakopoe,  Ed.  VIII“  die  im  Verlage  der  k.  k.  Hot- 
und  Staatsdruckerei  erschienene  „Dritte  Ausgabe  der  Arznei- 
taxo  zur  österreichischen  Pharmakopoe,  Ed.  VIII“  in  .Krall 
b)  betreffend  Aenderungen  in  der  österreichischen 
Pharmakopoe,  Ed.  VIII.  Auf  Grund  des  §  7  des  Gesetzes 
vom  18.  Dezember  1906,  werden  nach  Anhörung  des  Obere  ten 
Sanitätsrates  folgende  Aenderungen  .in  der  österreichischen  har- 
mäkopöe,  Ed.  VIII  angeordnet:  Die  Heilmittel  Aloe,  Extractum 
Aloes,  Bismuthum  subgallicum,  Bismuthum  subsalicylicum  und 


38 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCllRH T.  1911. 


Nr.  1 


Phenylom  sali'cvlicum  sowie  Ltaimentom  saponatocamphoratnm 
com  opio  werden  als  in  Apotheken  frei  verkäufliche  Heilmittel 
erklärt.  Haerdtl  in.  p. 

r~r  .;j  +'v  ,  ",  ,  * 

Vom  Reichsverband  Oesterreichischer 
Organisationen.  An  alle  Organisationen !  Vor  B“«  ^ 
wurde  eine  nach  §  343  St,G.  angeklagter  und  uberluhiter  Zah 

techniker  vom  Bezirksgerichte  Vien -Favoriten  ^^7Bmtech- 
snrochen  weil  der  Richter  annahm,  alle  einzelnen  .^anntec 
nikern  im  Gnadenwege  ausnahmsweise  verliehenen  „erweiterte 

Befugnisse“  als:  Zahnziehen,  Plombieren  TISW'’  ^  “eder  voi 
keine  ärztlichen  Verrichtungen  sein,  da  sie  sonst  weder  v 
den  Ministerien  noch  von  der  Krone  auch  nm  an  emzelne  haUen 
verliehen  werden  können.  Das  Bezirksgericht  m  Gorz  sprac 
mehrere  Zahntechniker  mit  der  Begründung  vom  §  343 
frei  weil  von  einer  Verurteilung  eines  Zahntechnikers  nach 
diesem,  dem  Kurpfuscherparagraphen,  überhaupt  nicht  che  Rec  e 
'sein  könne,  solange  das  Verhältnis  der  Zahnärzte  zu  len  Zahn 
technikern  nicht  gesetzlich  geordnet  sei.  Das  Dr teil  des  xorze 
Richters  bezeichnet  in  seinen  Gründen  die  Zahntechniker  als  jene 
Personen,  welche  bei  der  Zahnheilkunde  den  Löwenanteil  von  Kunst 
und  Arbeit  leisten,  es  bezeichnet  die  Anzeigen  der  Aerzte  gege 
Zahntechniker  als  Brotneid  usw.  Dieses  Urteil  wurde  vom  Landes- 
gericht  in  Triest  bestätigt.  Die  geehrten  Organisationen 
werden  auf  diese  Tatsachen  aufmerksam  gemacht  und  aufgef ordert 
gegen  diese  Urteile  und  besonders  deren  Begründungen  enei- 
frisch  Stellung  zu  nehmen  und  diesbezüglich  Resolutionen  zu 
fassen,  welche  an  das  Ministerium  des  Innern  und  an  das  Justiz¬ 
ministerium  zu  leiten  wären.  Es  soll  dann  die  Bitte  an  la, 
Justizministerium  gerichtet  werden,  die  Generalprokuratur  aufzu¬ 
fordern  gegen  diese  Urteile  die  Nichtigkeitsbeschwerde  zur 
Wahrung  des  Gesetzes  einzubringen.  Mit  kollegialem  Giuße 
Dr.  Adolf  Gruß. 


Cholera.  Oesterreich.  Die  in  Galizien  zur  IJebei- 
wachung  des  Reiseverkehrs  aus  Ungarn  aktivierten  Grenzrevisions¬ 
stationen  wurden  mit  22.  Dezember  auf  ge  lassen,  -  bnga  n 
In  der  Zeit  vom  4.  bis  10.  Dezember  ist  in  Ungarn  keine  Cholera¬ 
erkrankung  vorgekommen.  Die  Woche  vom  11.  bis  17.  Dezember 
brachte  dagegen  einen  Zuwachs  von  6  neuen  Fallen  und  zwai 
in  dem  Komitate  Bäcs-Bodrog  3  und  in  dem  schon  als  choleia- 
frei  erklärten  Komitate  Baranya  3.  —  Italien.  Nach  amtlicher 
Mitteilungen  sind  in  Italien  in  der  Woche  vom  8  bis  14.  Dm 
zember  38  Neuerkrankungen  und  11  Todesfälle  an  Cholera  siche  - 
gestellt  worden  u.  zw.  in  den  Provinzen  Aquila,  Caltamsetta, 
Caserta  Lecce  Palermo,  Rom,  Salerno. -Rußland.  In  der  Woche 
vom  13.  bis  20.  November  wurden  in  Rußland  101  Erkrankungen 
und  47  Todesfälle  an  Cholera  festgestellt.  Hievon  entfiel  mehr 
als  die  Hälfte,  nämlich  Ö0  (25)  Fälle  auf  das  Gouvernement  Tarn, 
bow,  die  übrigen  Fälle  verteilten  sich  sporadisch  auf  die  anderen 
Verwaltungsgebiete.  In  der  Woche  vom  20.  Ins  26.  November 
ereigneten  sich  in  ganz  Rußland  79  Erkrankungen  und  34  lodes- 
fälle,  davon  in  der  Stadt  Petersburg  2  (0).  —  1  urkei.  Nach 
amtlichen  Ausweisen  haben  sich  seit  Beginn  der  Cholera  m 
der  Türkei  bis  Mitte  Dezember  in  der  Stadt  Konstan- 
tinopel  1074  (621),  in  den  Vilajets  Adrianopel  lo4  (104)  Salo¬ 
niki  40  (13),  Smvrna  75  (56),  Bagdad  782  (683),  im  Gebiete  von 
Zunguldak  102  (52)  Choleraerkrankungen  (Todesfälle)  ereignet. 
In  Trapezunt  sind  seit  Ausbruch  der  Epidemie  bis  Ende  Novem¬ 
ber  686  (367),  in  Erzerum  602  (415),  in  Bassorah  ‘-68  -06), 

in  Samsum  12  (12),  in  Tripolis  287  (232)  Erkrankungen  (Todes¬ 
fälle)  gemeldet  worden.  Die  Gesamtzahl  der  bisher  im  Gebiete 
des  ottomanischen  Reiches  vorgekommenen  Choleraerkrankungen 
kann  somit  auf  4082  veranschlagt  werden,  wovon  2761  tödlich 
endeten.  —  Madeira.  Verseucht  sind  gegenwärtig  che  Kreise 
Funchal,  Camara  de  Lobos,  Ponta  do  Sol,  Santa  Cruz,  Macbico, 
Porto  Santo. 

!  i  -  i  1  •"  :  ^  ’  1  * 

Der  Bau  des  ärztlichen  Erholungsheimes  in  Marien¬ 
bad  wurde  unter  Dach  gebracht  und  es  haben  die  Bauarbeiter 
das  sogenannte  Hebefest  (die  Bekrönung  des  Baues)  gefeiert. 

* 

Literarische  Anzeigen.  IV.  Guttmanns  Medizi¬ 
nische  Terminologie  bat  wieder  eine  neue  Ausgestaltung 
erfahren  welche  die  Ausgabe  einer  4.  Auflage  nötig  machte. 
Dieselbe’  ist  bei  Urban  und  Schwarzenberg,  Wien,  erschienen. 
Preis  22  K  80  h. 


.  .■ Schaft  “m  te..  TM  J« 

Genossenschafts-Krankenkassen  Wiens  und  <ler  f1 ^STein™ 

I unter- Kranken-  und  Unterstützungskasse  in  Wien  welche  einen 
Stand  von  310.000  Mitgliedern,  davon  280.000  in  Wmn  aufw  ei»e  , 
betrug  im  November  1910  die  Zahl  der  Erkrankungen  mit  Erweibs- 
SKit  üi  Wien  8995  (8884).  Davon  entfielen  auf  Tuber- 

“igTro  (35), MuS’.SM  @12),  Erkrankungen  der  Zirka- 

kulationscngane  287  (292),  Magen-  und 

(629),  rheumatische  Erkrankungen  803  (792),  » 

(Betriebsunfälle)  1766  (1909)  Erkrankungen.  Die  Zahl  der  lodes 
fälle  betrug  im  November  1910  258  (253).  Davon  entfielen  auf 
Tnbeikuloi  92  (85),  andere  Erkrankungen  der  Atmimgsorgane 16 
(14)  der  ZirknlatioLorgane  55  (37),  auf  Neubildungen  20  (16) 
Verletzungen  3(7),  auf  Selbstmorde  11  (10)  Todesfälle.  (Di 
Ziffern  in  d«,  Klammern  beziehen  sich  auf  den  November  1909.) 

* 

Vorläufiges  Ergebnis  der  Sanitätsstatistik  bei 
der  Mannschaft  des  k,  und  k  Heeres  im  Oktober  1910. 
Krankenzugang  83%«,  an  Hei  anstalten  abgegeben  47  U  Todes 
fälle  Ü-10%0  der  durchschnittlichen  Koplstarke. 

i  QnniHifghoricht  der  Stadt  Wien  im  e  r- 

Ans  d e, m  Baniuisueiioui.  w  ^  i- 

A  u  s  a  e  b .  e  t  &()  Jahres woche  (vom  11.  bis 

w  e  Herten  G  e  m  e ,  g  D  ^  ehelich  5y,  unehelich  234,  zusammen 

ÄÄWi?Ä  dÄdej 

Elscktypbas  °  Biadern  0  Masern  , 

Sr?UaaCh0  V“«! ,'ISS^'^. 

büdungen  43,  Wochenbettfieber  3.  Genickstarre  0  Angezeigte  Mek ■  mns 

krankbeiten.  An  Rotlauf «  (+10  ,  Woch^ettfi«^^«!).  Blatte 

6  .<-  1).  Ruhr  O  (Oh  Cholera  0 1(0  , 
Diphtherie  und  Krupp  65  (+  10),  Keuchhusten  35  (+  6),  Trachom  3  (+  ), 
Influenza  2  (+  2),  Poliomyelitis  0  (-  1).  


Freie  Stellen. 

Bei  dem  k.  k.  Landesgericht  Wien  gelangt  die  Stelle  eines  Ge¬ 
nii  t  dS  siehe  VeOHmdenlm  ^  WzD 

Gesuche  bis  längste  .  •  „  t  gcpmerlingplatz  (Justizpalast), 

*:  ft  ..»8p « h  sch« 

ReiseTtipendium  im  Betrage  von  3200K  zur  Verleihung.  Anspruch 
reiche  und  Länder  geboren  und  ihre  deutsche  Nationalität  nachzuweisen 

mmmmsrn 

das  Professorenkollegium  der  medizinischen  Faku ltät (Wien 

e.,,0  ripn  obigen  Daten  sich  ergebenden  legalen  l\acmveisen  ne 
legten  Gesuche  lis  15.  Januar  1911  beim  Dekanate  der  medizinischen 

Fakuttät  einbnngen^c^^  ßehörden  in  Mähren  gelangt  die  Stelle  eines 
o  >i..  1  l  .  7  i  d  i  g  t  p  n  der  X  Rangsklasse,  eventuell  auch  eine 

Sa»! U  asfistVntenstellJ  mit  einem  Adjutum  .  jährlicher 
?200  K  zir  Bese teung  Bewerber  haben  ihre  ordnungsmäßig  instruierten 
SeL  wetehe  Ss  der  noch  „ich.  im  Staatsdienste 
npnten  insbesondere  mit  dem  Nachweise  des  Alteis,  der  AustancngKei  , 
moralischen  Unbescholtenheit,  körperlichen  Eignung,  der  Sprachkennt- 

!“l;  trolptemfaer 

herigen  Verwendung  zu  belegen  sind,  bis  1  a n  g  s  tens  15.  Jan uar  Uli 
und  zwar,  insoferne  sie  bereits  im  öffentlichen  Dienste 
dor  Vorgesetzten  Behörde,  sonst  aber  unmittelbar  beim  Statthaltereipr.isi 
diuin  ln  Brünn  ehizubringen.  Vom  k.  1,  mähr.  Statthaltereipräsidium.  Brunn, 
am  27.  Dezember  1910. 


Nr  1. 


WIENER  KLINISCHE  .WOCHENSCHRIFT.  1911. 


39 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in  Wien.  Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte  in  Böhmen. 
Sitzung  vom  15.  Dezember  1910.  Sitzung  vom  30.  November  1910. 

Aerztliclier  Verein  in  Briinn.  Sitzung  vom  7.  und  21.  November  und  _ 

5.  Dezember  1910. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  15.  Dezember  1910. 

•  H.  Schlesinger  demonstriert  ein  13jähriges  Mädchen  mit 
Spondylitis  cervicalis  mit  ungewöhnlichem  Rück¬ 
gang  der  Erscheinungen.  Das  Mädchen  war  vor  mehr  als 
lVa  Jahren  unter  den  Erscheinungen,  der  Lähmung  aller  vier 
Extremitäten  und  der  Rumpfmuskulatur  erkrankt,  hatte  Nacken¬ 
steifigkeit,  Rustsches  Symptom,  Schwellung  der  Weichteile  des 
Nackens,  Muskelatrophie  an  der  Hahdmuskulatur,  zum  Teil  mit 
Entartungsreaktion,  mäßige  Sensibilitätsstörung  an  den  Händen 
und  Füßen,  Blasen-  und  Mastdarmlähmung,  Dekubitus  am  Kreuz¬ 
bein.  Die  Kranke  wurde  in  ein  Gipsbett  gelegt  und  symptomatisch 
behandelt,  namentlich  wurde  darauf  geachtet,  daß  sich  keine 
Kontrakturen  entwickeln,  und  daß  sich  der  Dekubitus  und  die 
bereits  bestehende  Zystitis  rückbilden.  Die  Lähmung  persistierte 
länger  als  ein  Jahr,  darauf  trat  ein  allmählicher  Rückgang  der 
Lähmungserscheinungen  ein,  welcher  zuerst  an  den  Füßen  be¬ 
merkbar  war,  dann  ging  allmählich  auch  die  übrige  Lähmung 
zurück,  so  daß  die  Patientin  jetzt  ohne  Unterstützung,  allerdings 
nur  im  Gipsmieder,  allein  und  ohne  Stock  herumgehen,  sogar 
herumlaufen  kann.  Der  außerordentlich  günstige  Verlauf  dieses 
Falles  zeigt,  daß  man  seihst  in  den  schwersten  Fällen  von  Spon¬ 
dylitis  nicht  die  Hoffnung  auf  einen  weitgehenden  Rückgang 
der  Erscheinungen  aufgeben  darf.  —  Ferner  stellt  Schlesinger 
einen  dritten  Fall  von  geheilter  eitriger  Pneumokokken¬ 
meningitis  vor.  Der  Patient  bekam  Mitte  Oktober  Ohren¬ 
sausen,  Kopfschmerz,  Erbrechen  und  Fieber,  er  zeigte  das  Kernig- 
s'c'he  Symptom  und  die  Untersuchung  ergab  Meningitis.  Die  Lumbal¬ 
punktion  lieferte  ein  eitriges  Exsudat,  in  welchem  Pneumokokken 
zu  finden  waren.  Der  Zustand  des  Patienten  verschlechterte  sich, 
er  wurde  bewußtlos  und  bekam  Opisthotonus.  Es  wurden  mehrere 
Spinalpunktionen  vorgenommen  und  Pneumokokkenserum  intra¬ 
spinal  injiziert.  Nach  einigen  Tagen  stellte  sich  eine  stetig  fort¬ 
schreitende  Besserung  ein.  Jetzt  ist  Pat.  afebril  und  geht  herum, 
er  zeigt  aber  noch  das  Kernigsche  Symptom  und  eine  Puls¬ 
frequenz  über  100.  Eine  Punktion  nach  der  Entfieberung  ergab 
einen  hohen  Druck  der  Zerebrospinalflüssigkeit  bei  der  letzten 
Punktion  kam  kein  Liquor;  es  entwickelte  sich  eine  Stauungs¬ 
papille,  wohl  infolge  Verschlusses  des  Foramen  Magendi.  In  der 
Literatur  ist  die  Ansicht  ausgesprochen,  daßi  die  Pneumokokken¬ 
meningitis  immer  letal  verläuft;  diese  Anschauung  muß  man 
einer  Revision  unterziehen,  da  Vortr.  in  seinen  drei  Fällen  Hei¬ 
lung  ein  treten  sah. 

Fr.  Tedesko  zeigt  das  anatomische  Präparat  eines  großen 
Aortenaneurysmas,  welches  intra  vitam  einen  Mediastinal¬ 
tumor  vortäuschte.  Das  Präparat  stammt  von  einer  44jährigen 
Frau,  welche  vor  sieben  Wochen  unter  Schwellung  des  Gesichtes 
und  der  oberen  Extremitäten  erkrankte.  Der  Körper  war  bis  zur 
unteren  Thoraxapertur  zyanotisch  und  ödematös  und  zeigte  mäch¬ 
tige  Venen  erweitere  ngen  in  der  Rückenhaut.  Nach  rechts  vom 
Sternum  reichte  in  die  ersten  vier  Interkostalräume  eine  Dämpfung 
hinein,  in  welche  die  Herzdämpfung  ohne  Intensitätsunterschied 
überging.  Der  Spitzenstoß  war  nicht  zu  fühlen,  die  Herztöne 
an  der  Spitze  waren  rein,  im  rechten  zweiten  Interkostalraum 
war  ein  leises  systolisches  Geräusch,  außerdem’  ein  diastolisches 
Von engeräsch  zu  hören.  Die  Komplementbindungsreaktion  war 
positiv.  Rechterseits  entwickelte  sich  ein  Hydrothorax.  Die 
Röntgenuntersuchung  sprach  für  einen  Mediastinaltumor,  welcher 
vielleicht,  von  den  Drüsen  des  Lungenhilus  ausging  und  die  obere 
Hohlvene  komprimierte.  Der  Tod  erfolgte  unter  Suffokations- 
erscheinungcn.  Die  Obduktion  ergab  eine  starke  Erweiterung  am 
Anfangsteile  der  Aorta,  daselbst  weiße  Verdickungen  bis  zur 
physiologischen  Enge  und  weiter  nach  abwärts  arteriosklerotische 
Plaques.  Nach  rechts  trug  die  Aorta  ascendens  ein  mannsfaust¬ 
großes,  mit  der  Vena  cava  descendens  durch  ein  großes  Loch 
kommunizierendes  Aneurysma,  welches  an  der  rechten  Lunge 
adhärent  war.  Die  Vena  cava  descendens  war  erweitert  und  setzte 


sich  direkt  in  die  Vena  anonyma  dextra  fort,  die  Vena  anonyma 
sinistra  war  obliteriert.  Das  Fehlen  einer  Pulsation  hatte  haupt¬ 
sächlich  die  Diagnose  eines  Tumors  gestützt. 

Mart.  Haudek  bespricht  den  Röntgenbefund;  der  Hydro¬ 
thorax,  die  Bronchostenose  und  das  Fehlen  einer  Pulsation  haben 
zur  Diagnose  eines  Tumors  geführt. 

H.  Schlesinger  bemerkt,  der  Fall  lehre,  daß  die  Röntgen¬ 
untersuchung  ein  ausgezeichneter  Behelf  ist,  daß  aber  auf  Grund 
derselben  allein  eine  Diagnose  nicht  gestellt  werden  dürfe.  Der 
Fall  zeigt  weiter,  daß  ein  großes  Aneurysma  dieselben  Symptome 
wie  ein  Tumor  bieten  kann. 

F.  Bauer  beschreibt  einen  Fall  von  luetischem  Media¬ 
stinaltumor;  ein  großes  Gumma  saß  zwischen  der  Aorta  und  der 
Vena  cava  und  komprimierte  letztere.  Die  Wass  errnan  nsche 
Reaktion  war  positiv. 

Fr.  Tedesko  weist  darauf  hin,  daß  der  Fall  ursprünglich 
für  ein  Aneurysma  angesehen  und  auch  antiluetisch  behandelt 
wurde.  '■  ii  I 

M.  Engländer  zeigt  Präparate  von1  Tierherzen,  welche 
die  Stellung  der  Atrioventrikularklappen  während 
der  Systole  demonstrieren.  Nach  der  bisher  geltenden  Ansicht 
legen  sich  die  Klappen,  nachdem  sie  durch  den  Blutstrom  von 
der  Herzwand  abgehoben  worde'n  sind,  mit  den  Blutstrom  anein¬ 
ander  an,  wo  sogar  Auszackungen  sich  aneinander  fügen  und  den 
Verschluß  verstärken  sollen.  Die  Präparate  zeigen  jedoch,  daß 
der  mediale  Klappenzipfel  nur  wenig  exkursionsfähig  ist,  und  daß 
von  einem  Aufstellen  desselben  bei  der  Systole  in  die  Höhe  durch 
den  Blutdruck  nicht  die  Rede  sein  kann.  Auch  beim  Menschen 
hat  der  mediale  Zipfel  dieselbe  geringe  Exkursionsfähigkeit, 
während  diejenige  des  Aortenzipfels  groß  ist.  Wenn  das  Blut 
in  die  Aorta  einschießt,  so  legt  sich  wahrscheinlich  der  Aorten¬ 
zipfel  an  den  lateralen  Zipfel  so  an,  daßi  ein  Verschluß  lläche 
auf  Fläche  entsteht. 

O.  Stöerck  bemerkt,  daß  zur  Klärung  des1  Klapnenver- 
schlusses  noch  Versuche  in  funktioneller  Hinsicht  notwendig 
sein  werden.  Das  Lumen  des  rechten  Ventrikels  legt  sich  wie 
ein-mondförmiger  Schlitz  um  den  linken  Ventrikel  herum,  dieses 
Verhältnis  ist  am  deutlichsten  bei  der  Systole  ausgedrückt.  Die 
drei  Klappenzipfel  können  nicht  gleichwertig  sein,  sie  müssen 
unter  verschiedenen  Verhältnissen  arbeiten;  niemals  gibt  es  drei 
gleich  große  Trikuspidalklappen,  es  kann  auch  keine  symmetrische 
Sternfigur  beim  Verschlüsse  derselben  entstehen.  Unsere  Vor¬ 
stellung  über  die  Suffizienz  und  Insuffizienz  der  Trikuspidal- 
k läppe  ist  sicher  nicht  richtig. 

S.  Kreuz  fuchs:  Symptomatologie  und  Häufig¬ 
keit  d e s  intrathorazischen  Kropfes.  Der  intrathorazische 
Kropf  wird  in  der  inneren  Medizin  nicht  nach  Gebühr  beachtet. 
Gründe  hiefür  sind  die  Leichtfertigkeit,  mit  der  mangels  greif¬ 
barer  Symptome  eine  nervöse  Erkrankung  angenommen  wird, 
und  die  Schwierigkeit,  ohne  Röntgenstrahlen  die  Diagnose  mit 
Sicherheit  zu  fällen.  Bezüglich  der  radiologischen  Diagnose  ver¬ 
weist  Vortr.  auf  die  Arbeit  Kienböcks  und  beschränkt  sich 
darauf,  die  klinischen  Symptome  an1  der  Hand  eines  typischen 
Beispieles  zu  skizzieren.  Die  häufigsten  Symptome  sind  Atem¬ 
not,  Herzklopfen  und  Schlingbeschwerden.  Daran  reihen  sich 
Stridor,  Heiserkeit,  Husten,  Rötung  und  Gedunsenheit  des  Ge¬ 
sichtes,  Zyanose  der  Lippen,  Dämpfunlg  über  dem  Manubrium 
sterni,  Venenerweiterung  am  Halse  und  an  der  vorderen  oberen 
Thoraxpartie;  Ungleichheit  der  Radialpulse  gehöre  zu  den  sel¬ 
teneren  Vorkommnissen.  Von  den  in  der  Literatur  verzeichneten 
sonstigen  Symptomen1  räumt  Vortr.  nur  dem  Tiefstände  des  Kenl- 
kopfes  eine  größere  Bedeutung  ein.  Bei  nicht  vergrößerter  Hals¬ 
schilddrüse  könne  das  Fehlen  eines  Schilddrüsenlappens  oder 
das  Bestehen  ausgesprochener  Basedows'ymptome  den  Arzt  auf 
die  richtige  Fährte  bringen.  Es  gebe  auch  symptomlose  substernale 
Strumen,  doch  seien  diese  nicht  bedeutungslos,  da  die  Präger 
derselben  durch  Hinzukommen  einer  Noxe  ganz  unvermittelt 
von  schweren  Erstickungsanfällen  befallen  werden  können.  Die 


40 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


substernale  Struma  kommt  in  zwei  Dritteln  der  Fälle  bei  Per¬ 
sonen  jenseits  des  40.  Lebensjahres  zur  Beobachtung,  ein  Drittel 
der  Fälle  gehört  relativ  jugendlichem  Alter  an.  Die  intrathora¬ 
zische  Struma  ist  keine  seltene  Erkrankung;  Vortr.  hat  in  17  Mo¬ 
naten  bei  einem  Material  von  1040  internen  Fällen  39mal  eine 
substernale  Struma  gesehen,  darunter  13  Fälle  ohne  Halsstruma. 
Mithin  ist  der  Brustkropf  in  einer  Häufigkeit  von  3-7 %  zur  Be¬ 
obachtung  gekommen.  Es  ist  daher  wünschenswert,  künftighin  der 
intrathorazischen  Struma  eine  erhöhte  Aufmerksamkeit  zu 
schenken. 


Aerztlicher  Verein  in  Brünn. 

Sitzung  vom  7.  November  1910. 

Prim.  Dr.  W.  Bittner  demonstriert  ein  fünf  Wochen  altes 
Kind,  das  von  ihm  im  Alter  von  fünf  Tagen  wegen  einer  großen 
M  eningocele  sacra  lis  (Spina  bifida  sacralis)  operiert 
worden  war.  Der  Sack  war  größer  als  der  Kopf  des  Kindes,  seine 
Oberfläche  stellenweise  verfärbt,  mit  beginnender  Nekrose.  Das 
Kind  war  sonst  normal,  es  zeigte  keinerlei  Symptome  eines  be¬ 
stehenden  oder  beginnenden  Hydrozephalus,  keine  Lähmung  der 
unteren  Extremitäten  oder  der  Blase  und  des  Sphincter  ani,  mit¬ 
hin  bestand  keine  Kontraindikation  zur  Vornahme  der  Operation: 
die  Haut,  die  sich  eine  kleine  Strecke  über  die  Geschwulst  hin¬ 
aufzog,  wurde  1  cm  vom  Ansatz  des  Tumors  zirkulär  inzidiert, 
abpräpariert,  der  Sack  vorsichtig  allseits  isoliert,  wobei  sich 
heräusstellte,  daß  sich  derselbe  zu  einem  fast  federkielstarken 
Stiel  sakralwärts  verjüngte. 

Die  Sakralwirbel  waren  breit  gespalten.  Der  Stiel  der  Ge¬ 
schwulst  wurde  im  Grunde  dieses  Spaltes  mittels1  einer  Durch 
stechungsligatur  abgebunden,  hierauf  die1  Geschwulst  distal  von 
der  Ligatur  abgetragen,  der  Stumpf  im  Sakralkanal  versenkt. 
Der  Spalt  wurde  durch  zwei  seitliche  Periostlappen  überdacht; 
hierauf  folgte  Hautnaht.  Die  Wunde  heilte  per  primam.  Das 
Kind  blieb  gesund  und  entwickelte  sich  normal. 

Die  histologische  Untersuchung  der  Sackwand  (durch  Herrn 
Pr'osektor  Prof.  Dt.  C.  Sternberg)  ergab  den  Befund  einer 
Men  ingokele. 

Der  Vortragende  hebt  die  relative  Seltenheit  eines  für  die 
Operation  günstigen  Falles  von  Spina  bifida  hervor,  da  die  über¬ 
aus  größte  Zahl  der  vom  Vortragenden  beobachteten  Fälle  Kon¬ 
traindikationen  gegen  die  Operation  aufwies  u.  zw.  Lebens- 
schwäche,  bestehender  oder  beginnender  Hydro z°phalus,  Lähmung 
der  unteren  Extremitäten,  des  Sphincter  vesicae  und  Sphincter 
ani.  Nur  bei  ganz  normalem  Kinde  hält  der  Vortragende  die 
Operation  für  indiziert.  Ja,  es  können  bestehende  leichte  Paresen 
oben  erwähnter  Organe  sich  durch  die  Exstirpation  des  Sackes 
verschlechtern,  da  in  solchen  Fällen  wichtige  Nervenbündel  des 
Rückenmarkes  im  Sacke  endigen,  die  bei  der  Entfernung  des¬ 
selben  leicht  verletzt  werden  können.  In  solchen  Fällen  ist  nach 
der  Ansicht  des  Vortragenden  die  konservative  Behandlung  die 
bessere  Therapie,  unter  der  der  Vortragende  manchen  Spina 
bifida- Sack  sieb  überhäuten  und  konsolidieren  sah.  Der  Vor¬ 
tragende  läßt  in  solchen  Fällen  eine  schützende  Pelotte  tragen. 

Prim.  Dr.  W.  Bittner  demonstriert  einen  sieben  Jahre 
alten  Knaben,  den  er  am  15.  Juni  1910  wegen  einer  akuten 
Perityphlitis  (mit  peritonealer  Reizung),  fünf  Tage  darauf 
aber  wegen  eines  Ileus  infolge  Abschnürung  des  Dünndarmes 
durch  einen  Adhäsiohsslrang  operiert  hatte. 

Der  Knabe,  der  vor  fünf  Jahren  einen  Scharlach  durch¬ 
gemacht  hatte,  erkrankte  am  14.  Juni  mittags  unter  Bauch¬ 
schmerzen.  Doch  ging  das  Kind  dabei  noch  herum,  nachtmahlte, 
ln  der  Nacht  steigerten  sich  die  Schmerzen,  früh  trat  Fieber,  Er¬ 
brechen  auf.  i  ' 

Mittags  — -  demnach  in  den  ersten  24  Stunden  —  wurde 
die  Operation  vorgenommen.  Sie  ergab  eine  schwer  erkrankte, 
an  der  Spitze  gangränöse,  perforierte  Appendix,  jauchigen  Eiter 
in  der  Umgebung  derselben  und  im  Douglas.  Die  Appendix 
wurde  abgetragen,  in  den  Douglas  ein  Drain  eingeführt,  der  Eiter 
entleert,  die  Peritoneal-  und  Rauchdeckenwunde  verkleinert  nach 
Einführung  eines  Jodoformgazetampons  in  die  Bauchhöhle.  Nach 
der  Operation  erholte  sich  das  Kind  sehr  rasch,  die  vor  der 
Operation  bestehende  Spannung  und  Druckschmerzhaftigkeit  der 
Bauchdecken  ging  schnell  zurück.  Am  Abend  des  20.  Juni  trat 
plötzlich  eine  Verschlimmerung  ein.  Das  Kind  veränderte  sich, 
verfiel  zusehends,  klagte  über  starke  kolikartige  Schmerzen  im 
Abdomen,  der  Abgang  von  Stuhl  und  Winden  sistierte,  der  Puls 
wurde  klein  und  sehr  frequent.  Das  Abdomen  war  in  seinen 
linken  und  oberen  Partien  aufgetrieben,  man  sah  deutliche  Darm¬ 
steifungen  unter  heftigen,  kolikartigen  Schmerzen  auftreten,  in 


den  abhängigen  Partien  der  linken  Bauchhälfte  war  durch  Per¬ 
kussion  freie  Flüssigkeit  nachweisbar  (Bayer,  Riedel!). 

Nachdem  trotz  hoher  Eingießungen  sich  der  Zustand 
zusehends  verschlimmerte,  entschloß  sich  der  Vortragende  zur 
Laparotomie,  die  am  21.  Juni  über  der  linken  Bauchhälfte  vor¬ 
genommen  wurde.  Sie  ergab  Inkarzeration  einer  Dünn¬ 
darmschlinge  durch  einen  Adhäsionsstrang,  wohl 
eine  Folge  der  abgelaufenen  Peritonitis.  Die  Wunde  wurde  ge¬ 
schlossen,  bis  auf  den  untersten  Wundwinkel,  durch  den  ein 
Drain  in  den  Douglas  eingeführt  wurde  und  heilte. auch  per 
primam,  trotz  der  rechts  in  inguine  noch  bestehenden  Eiterung; 
das  Drainrohr  wurde  nach  einer  Woche  entfernt.  Der  Kranke 
war  post  Operationen!  pulslos  und  kollabiert;  vor  der  Operation 
und  nachher  wurde  eine  Kochsalztransfusion  subkutan  appli¬ 
ziert,  dann  tropfenweise  Kochsalzlösung  mittels  Irrigator  und 
liegendem  Schlauch  ins1  Rektalrohr  infundiert  (nach  Katzen¬ 
stein),  eine  Methode,  die  sich  dem  Vortragenden  in  ähnlichen 
Fällen  stets  vorzüglich  bewährt  hat. 

Nun  machte  die  Genesung  des  Kindes  schnelle  Fortschritte, 
so  daß  das  Kind  nach  drei  Wochen  auch  von  seiner  perityphliti- 
schen  Wunde  vollkommen  hergestellt  war. 

Es  hat  sich  also  in  diesem  Falle  um  einen  postperitonitis'chen 
Ileus  gehandelt.  Der  Fall  lehrt,  daß  man  die  Prognose  solcher  Fälle 
mit  Vorsicht  stellen  und  auf  Ueberraschungen  vorbereitet  sein 
muß  und  daß  nur  die  rasche  Operation  den  Patienten  vor  dem 
sicheren  Untergange  retten  kann. 

Im  Anschluß  an  diesen  Fall  berichtet  Bittner  über  seine 
Operationen  bei  Appendizitis  und  die  dabei  gewonnenen  Erfah¬ 
rungen  über  die  Aetiologie,  Prognose  und  Therapie  dieses  Leidens. 
Bittner  hat  in  den  zehn  Jahren  des  Bestandes  der  chirurgischen 
Abteilung  des ■  Brünner  Kinderspitales  189  Fälle  von  Appendizitis 
beobachtet,  hievon  wurden  42  Fälle  nicht,  operiert. 

Von  den  147  operierten  Fällen  starben  13  Kinder  —  8-8% 
und  zwar  durchwegs  Fälle,  die  mit  eitriger,  diffuser  Peritonitis 
eingebracht  worden  waren.  Acht  Kinder  kamen  in  einem  hoff¬ 
nungslosen  Zustande  ins  Spital.  Nach  Abzug  dieser  Fälle  ergibt 
sich  eine  Mortalität  von  3-4%. 

Unter  den  134  genesenen  Kindern  waren  20  Fälle 
mit  diffuser,  eitriger  Peritonitis. 

Von  den  147  operierten  Fällen  waren  Frühopera¬ 
tionen  (in  den  ersten  drei  Tagen)  49  Fälle  (10  mit  eitriger 
Peritonitis)  mit  2  Todesfällen  (4-1%). 

Operationen  im  intermediären  Stadium  82  Fälle 
(23  mit  eitriger  Peritonitis)  mit  11  Todesfällen  (13-4%). 

Im  Intervall  16  Fälle  ohne  Todesfall. 

Bezüglich  der  klinischen  Einteilung,  wobei  der 
Vortragende  der  Einteilung  Nothnagels  folgt,  ergibt  sich: 

1.  Entzündungen  der  Appendix  allein  (Intervall- 
operationen  eingeschlossen,  demnach  akute  und  chronische  Ent¬ 
zündungen):  22  Fälle1  ohne  Todesfall. 

2.  Entzündungen  der  Appendix  und  deren  Um¬ 
gehung  (mit  Abszessen  in  der  Umgebung  und  im  Douglas  Peri¬ 
typhlitis):  92  Fälle  ohne  Todesfall. 

3.  Appendizitis  mit.  Peritonitis  acuta,  diffusa  und 
sonstigen  Komplikationen :  33  Fälle  mit  13  Todesfällen  39-4% 
(nach  Abzug  der  8  hoffnungslos  eingebrachten  Fällen  25  Fälle 
mit  5  Todesfällen  =  20%). 

Daraus  ergibt  sich,  daß  alle  Fälle,  wo  die  Entzün¬ 
dung  auf  die  Appendix  allein  oder  deren  näherle 
und  weitere  Umgebung  beschränkt  war,  genasen,  daß 
aber  die  Prognose  sofort  ernster  wird,  wenn  diffuse,  eitrige 
Peritonitis  oder  sonstige  schwere  Komplikationen  vorhanden  sind. 

Von  den  49  Frühoperationen  hatten  10  Kinder  eine  eitrige 
diffuse  Peritonitis  =  20-4%,  von  den  im  intermediären  Stadium 
operierten  82  Fällen  23  Fälle  =  28%,  demnach  um  8%  mehr. 
Die  gefährliche  Komplikation,  die  Peritonitis1,  droht  demnach 
um  so  mehr,  je  länger  der  Fall  dauert  und  gewiß  werden  viele 
Fälle,  die  in  den  ersten  zwei  bis  drei  Tagen  operiert,  werden, 
vor  dieser  Komplikation  bewahrt.  Demnach  ist  die  früheste 
Früh’operation  das  beste  Vorgehen.  Dies  zeigt  sich  auch  hei 
den  schon  mit  Peritonitis  komplizierten  Fällen,  indem  von  den 

10  im  Anfall  operierten  Peritonitisfällen  bloß!  2  =  20%  starben, 
dagegen  von  den  jenseits  des  dritten  Tages  operierten  23  Fällen 

11  starben  =  47-8%. 

Bezüglich  des  Geschlechtes  zeigt  sich  auch  hier 
das  Heber  wiegen  des  männlichen  mit  91  Knaben  gegen¬ 
über  von  56  Mädchen. 

Bezüglich  des  Alters  der  Kinder  ist.  eine  auffallende  Steige¬ 
rung  der  Fälle  mit  dem  Beginne  des  schulpflichtigen  Alters 
zu  konstatieren,  indem  in  den  ersten  fünf  Jahren  15  Fälle,  vom 


Nr.  1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


41 


5.  bis  lü.  Jahre  74,  vom  10.  bis  15.  Jahre  56  Fälle  festzu- 
s teilen  sind. 

Interessant  ist  ferner  die  steigende  Zahl  der  Fälle  im  Laufe 
der  zehn  Jahre  des  Bestandes  des  Brünner  neuen  Kinde rspi tales. 
Auch  das  Sterblichkeitsverhältnis  sinkt.  Daraus  folgt  nicht  etwa, 
dali  die  Appendizitis  häufiger  geworden  ist,  was  der  Vortragende 
negiert,  daß  vielmehr  im  Publikum  und  auch  in  den  ärmeren 
Schichten  die  Ueberzeugung  immer  mehr  heranreift,  daß  die 
früheste  chirurgische  Hilfe  bei  der  Appendizitis  die  beste  Behand¬ 
lung  sei.  Die  Fälle  kommen  daher  häufiger  und  in  einem  früheren, 
günstigeren  Stadium  der  Krankheit  ins  Krankenhaus. 

Vortr.  wird  über  seine  Erfahrungen  auf  dem  Gebiet  der 
Appendizitis  demnächst  ausführlich  berichten. 

Prof.  Sternberg  demonstriert  makroskopische  und  mikro¬ 
skopische  Präparate  der  verschiedenen  Formen  und  Stadien  der 
Appendizitis,  indem  er  hiebei  der  Einteilung  Aschoffs  folgt. 
Vortr.  bespricht  hierauf  die  neueren  Ergebnisse  der  pathologisch- 
anatomischen  Untersuchungen,  so  besonders  die  Frage  der  entero- 
genen  und  hämatogenen  Infektion,  sowie  die  Rolle  und  Bedeutung 
des  Kotsteines. 

Diskussion:  Prim.  M ä g er  bespricht  die  V erwertbarkei t 
einzelner  klinischer  Symptome  (Bauchdeckenspannung,  Schüttel¬ 
frost  etc.)  und  tritt  im  allgemeinen  für  die  chirurgische  Behand¬ 
lung  ein. 

Dr.  R.  Th.  Schwarzwald  verweist  auf  die  in  neuerer 
Zeit  bekanngewordenen  Frühsymptome  der  Appendizitis,  deren 
häufige  und  sorgfältige  Nachprüfung  erwünscht  sei:  Das  Bl  um¬ 
berg  sehe  Zeichen  (Schmerzhaftigkeit  nicht  sowohl  bei  Druck 
auf  die  Appendixgegend,  als  vielmehr  bei  Nachlassen  des  Druckes), 
dem  namentlich  differentialdiagnostische  Bedeutung  gegenüber 
rechtseitigen  Adnexerkrankungen  zukommen  soll;  das  Phänomen 
von  Rovsing  (Schmerz  in  der  Gegend  des  Wurmfortsatzes 
bei  rückläufigem  Verstreichen  des  Darminhaltes  vom  Colon  des- 
cendens  her,  wodurch  dieses  gegen  die  entzündete  Darmpartie 
angedrängt  würde)  und  schließlich  das  von  Plönies  angegebene 
Symptom  (perkutorische  Druckempfindlichkeit  der  Appendix¬ 
gegend),  welches  gerade  bei  vorhandener  starker  Abwehrspannung 
der  Bauchdecken  von  Wert  ist  und  gegenüber  der  palpatorischen 
Prüfung  den  Vorzug  der  Ungefährlichkeit  besitzt. 

Ferner  betont  Schwarzwald  den  Vorteil  der  primären 
Wundnaht  in  Fällen  von  zirkumskripter  Peritonitis  (mit  schweren 
Veränderungen  an  der  Appendix  und  freiem  Exsudat),  welche 
die  endgültige  Genesung  der  Patienten  schon  nach  zirka  ein¬ 
wöchigem  Krankenlager  ermöglicht.  Das  Verfahren  sollte  wohl 
in  allen  angängigen  Fällen  ängestrebt  werden,  wie  es  ja  auch 
an  der  Klinik  v.  Eiseisberg  mit  ausgezeichnetem  Erfolge 
geübt  wird. 

An  derselben  Klinik  sah  Schwarzwald  auch  einige  ver¬ 
zweifelte  Fälle  von  postappendizitischer  diffuser  Perforations¬ 
peritonitis,  mit  freiem  fibrinös  -  eitrigem  Exsudat  und  Belägen 
der  meteoristisch  geblähten  Darmschlingen,  welche  durch  die  Ope¬ 
ration  gerettet  werden  konnten.  In  solchen  Fällen  wurde  bei 
Fowler  scher  Hochlagerung  eine  Gegeninzision  in  der  linken 
Unterbauchgegend  angelegt  und  eine  durch  die  ganze  Zeitdauer 
der  Operation  fortgesetzte  Kochsalzspülung  der  Bauchhöhle,  zum 
Zwecke  der  mechanischen  Reinigung  von  den  Exsudatmassen, 
beziehungsweise  den  Infektionserregern,  durchgeführt.  Die  Wunden 
werden  nach  dem  Vorgänge  von  Rehn  und  Nötzel  zur  Wieder¬ 
herstellung  des  intraabdominellen  Druckes,  bis  auf  die  Drainage- 
offnungen  geschlossen,  hinterher  wurde  die  permanente  rektale 
Kochsalzeinträufelung  nach  M  u  r  p  h  y  etabliert. 

Zu  einem  Falle  aus  der  Bittner  sehen  Kasuistik,  in 
welchem  die  Differentialdiagnose  zwischen  Appendizitis  und 
Typhus  großen  Schwierigkeiten  begegnete,  bemerkt  Schwarz¬ 
wald,  daß  in  derartigen  Fällen  die  Leukozytenzählung  nicht 
verabsäumt  werden  sollte. 

Dr.  Schmie  dl  bespricht,  im  Anschlüsse  an  jene  von  Herrn 
Prof.  Sternberg  demonstrierten  exstirpierten  Appendizes,  bei 
welchen  die  histologische  Untersuchung  gar  keine  oder  fast  gar 
keine  Veränderung  aufwies,  die  Fälle,  die  wegen  vermeintlicher 
Appendizitis  operiert  werden  und  deren  Beschwerdeanfälle  nach 
der  Operation  unverändert  weiterbestehen.  Er  berichtet  über  zwei 
solche  Fälle,  deren  Behandlung  er  einige  Monate  nach  der  Ope¬ 
ration  übernahm  und  von  denen  sich  der  eine  als  Nierenstein¬ 
kolik  entpuppte,  der  andere  als  in  der  Ileocökalgegend  lokali¬ 
sierte  Kolitis  mit  Darmkoliken,  die  nach  Einleitung  des  entspre¬ 
chenden  diätetischen  Regimes  prompt  verschwanden.  Gerade  die 
Fälle  mit  negativem  histologischen  Befund  und  Weiterbestehen 
der  Anfälle  und  Beschwerden  nach  der  Operation,  sollten  durch 
genaueste  Untersuchung  und  Beobachtung  diagnostisch  geklärt 
werden,  weil  sie  das  lehrreichste  Material  zur  schwierigen  Diffe¬ 
rentialdiagnostik  der  Appendizitis  liefern. 


Prim.  Bittner  tritt  aut  Grund  zahlreicher  Beobachtungen 
für  den  innigen  Zusammenhang  zwischen  Angina  und  Appendizitis 
ein  und  ist  für  seine  Person  geneigt,  eher  eine  hämatogene  Infek¬ 
tion  anzunehmen.  Auch  er  empfiehlt  Kochsalzspülungen  der 
Bauchhöhle.  Bezüglich  der  Appendizes  ohne  anatomischen  Befund 
meint  er,  daß  nicht  selten  Knickungen  oder  Drehungen  vor¬ 
liegen,  die  zu  Koliken  Veranlassung  geben. 

* 

Sitzung  vom  21.  November  1910. 

Prim.  Mager  demonstriert  das  Röntgenbild  einer  Fraktur 
des  Os  naviculare  carpi. 

Dr.  Heller  demonstriert  eine  „künstliche  Tanzmaus'. 

Bei  Tierversuchen  Ehrlichs  zeigte  sich,  daß  weiße  Mäuse, 
denen  Arsazetin  subkutan  injiziert  worden  war,  nach  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  Tanzbewegungen  ausführten,  welche  denen  der 
japanischen  Tanzmaus  glichen.  Röthig  konnte  auf  Grund  seiner 
mikroskopischen  Untersuchungen  nachweisen,  daß  es  sich  bei 
den  so  behandelten  Tieren  um  Degenerationen  im  dorsalen  und 
ventralen  Akustikuskern,  im  Deitersehen  Kerne  und  Nervus 
vestibularis  handle. 

Vortr.  hat  die  Versuche  Röthig  s  im  pathologisch-bakterio¬ 
logischen  Institut  der  Krankenanstalt  (Prof.  Sternberg)  wieder¬ 
holt,  zuerst  nach  Vorschrift  Röthigs  mit  lem3  auf  20g  Maus, 
dann  aber,  als  alle  Tiere  rasch  eingingen,  mit  wiederholten  klei¬ 
neren  Gaben,  von  0-3  bis  0-5  Arsazetin.  Alle  Tiere  zeigten  anfangs 
eigentümliche  Orientierunsstörungen,  liefen  bald  nach  vorne,  dann 
wieder  nur  nach  rückwärts  und  drehten  sich  häufiger  als  eine 
normale  Maus.  Dabei  führten  sie  mit  dem  Kopfe  eigentümliche, 
wackelnde,  schnüffelnde  Bewegungen  aus.  Auch  diese  Tiere  gingen 
zugrunde,  ohne  daß  bei  ihnen  typische  Tanzbewegungen  beob¬ 
achtet  worden  wären.  Nur  eine  Maus,  der  zweimal  im  Zwischen¬ 
raum  einer  Woche  0-5  Arsazetin,  spjäter  noch  0-3  Arsazetin 
injiziert  worden  war,  zeigt  seit  dem  neunten  läge  nach  der  letzten 
Injektion  andauernd  rasende  Tanzbewegungen,  die  eine  überaus 
weitgehende  Aehnlichkeit  mit  jenen  einer  japanischen  Tanzmaus 
darbieten  (Demonstration).  Dabei  läßt  sich  aber  nachweisen, 
daß  bei  der  „künstlichen  Tanzmaus“  das  Gehör  erhalten  ist. 
Ueber  die  weiteren  Untersuchungen,  die  noch  im  Gange  sind,  soll 
spater  berichtet  werden. 

Diskussion:  Dr.  Schönfeld  berichtet  über  eine  in 
der  Landesirrenanstalt  in  Behandlung  stehende  Patientin,  die 
ein  ähnliches  Krankheitsbild  darbietet,  wie  diese  Tanzmäuse.  Sie 
steht  stundenlang  in  einem  Winkel  des  Zimmers  und  führt  dabei 
rasche  Tanzbewegungen  aus.  Sie  hört  und  sieht.  Redner  erörtert 
dieses  Krankheitsbild  an  Händen  der  vorliegenden  Literatur  und 
kommt  zu  dem  Schlüsse,  daß  Störungen  im  Bereiche  des  \  esti- 
bularapparates  oder  vielleicht  eine  Erkrankung  des  Kleinhirns 
(Pick)  vorliegen  könnten. 

Prim.  Dr.  Mager.:  Ueber  Wandlungen  in  der  Ihe- 

'  1  Vortr.  zeigt,  daß  für  die  Beurteilung  der  Heilmittel  heute 
ihre  experimentelle  Prüfung  und  ihre  Wirkung  auf  physiologische 
Vorgänge  im  Organismus  maßgebend  sind.  Er  führt  mehrere  Bei¬ 
spiele  hiefür  an  und  bespricht  sodann  die  antagonistische  Wirkung 
verschiedener  Medikamente,  ferner  einzelne  Arten  der  Therapie, 
wie  die  Substitutionstherapie  und  die  antiparasitäre  Therapie 
(Immuno-,  Sero-  und  Chemotherapie;  und  im  Anschluß  hieran 
die  Wirkung  der  Röntgen-  und  Radiumstrahlen. 

* 


Sitzung  vom  5.  Dezember  1910. 

Prim.  Mager  demonstriert:  1.  Eine  Dystrophia  muscu¬ 
lorum  progressiva  bei  einem  16jährigen  Mädchen. 

2.  Eine  Syringomyelie  von  humeroskapnlarem 
Typus  bei  einem  21jährigen  Manne. 

3.  Eine  Ischias  scoliotic a  bei  einem  45jahrigen  Manne; 
in  diesem  Falle  gelangen  epidurale  Injektionen  zur  Anwendung, 
der  Fall  soll  später  nochmals  demonstriert  werden. 

Prof.  Sternberg  demonstriert:  1.  Ein  myeloides  Sar¬ 
kom  des  Femurs  (von  einem  13jährigen  Mädchen).  Der  Unter¬ 
schenkel  und  Fuß  waren  durch  eine  mächtige  Schwellung  monströs 
vergrößert:  Umfang  des  Knies  71cm,  des  Unterschenkels  53  cm, 
des  Sprunggelenkes  34  cm.  Die  Schwellung  war  wen  i,  j  1  ' 
sich  schwappend  an.  Die  anatomische  Untersuchung  ergab,  Halt 
die  Schwellung  lediglich  durch  ein  enormes  ( ledern  der  W  eic n- 
teile  hervorgebracht  war,  während  der  Tumor  am  unteren  Ende 
des  Femurs  etwa  faustgroß  ist. 


42 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


2.  Ein  C  h  on  dr  o  -  0  s fco  s  ark  om  des  Femurs  von  einem 

1 7  j  ii  hrigen  Mädchen . 

Dr.  j.  Fried  j  ung- Wien  als  Gast:  Die  Pathologie  des 
ein zigen  Kindes. 

Die  Erfahrung  in  der  Privatklientel  lehrt,  daß  ein  gewisser 
Kindertypus  dem  Arzte  besondere  Schwierigkeiten  bereitet:  er 
erkrankt  oft  und  zeigt  organisch  schwer  deutbare  Dauersymptome, 
ist  oft  ungebärdig  und  interkurrente  Erkrankungen  verlaufen  .wirk¬ 
lich  oder  scheinbar  atypisch.  Es  sind  das  die  Lieblingskinder. 
Der  Vortragende  hat  sich  zur  Festlegung  dieses  Typus  aus  prak¬ 
tischen  Rücksichten  auf  die  Betrachtung  einziger  Kinder  be¬ 
schränkt  und  100  solche  Beobachtungen  gesammelt,  45  -Knaben 
und  55  Mädchen,  zumeist  im  Alter  von  zwei  bis  zehn  Jahren. 

Von  diesen  100  einzigen  Kindern  waren  nur  13  als  gesund, 

18  dagegen  als  ziemlich  schwer,  69  als  leichter  neuropathisch 
zu  bezeichnen.  Verglichen  damit  boten  100  Sprossen  mehrkinde- 
riger  Familien  69  Gesunde  und  nur  31  neuropathische  dar.  Die 
Neurose  der  einzigen  Kinder  zeigt  Züge  der  Neurasthenie  und 
der  Hysterie.  Abgesehen  von  einer  typischen  Charakter entwick- 
lung  von  mehr  pädagogischem  Interesse,  fällt  vor  allem  die 
Aengstlic  hkeit  dieser  Kinder  auf,  die  quantitativ  und  quali¬ 
tativ  wechselnd,  bei  75  von  den  87  neuropathischen  Kindern 
anzutreffen  war.  49  von  ihnen  litten  unter  einem  gestörten 
Schlafe,  bei  acht  traten  typische  Anfälle  von  Pavor  noc- 
turnus  auf.  Neben  einer  lästigen  Launenhaftigkeit  fiel 
fast  immer  ein  vorzeitig  entfalteter  Intellekt  auf. 

Für  den  Arzt  noch  bedeutsamer  ist  die  Entlarvung  gewisser 
somatischer  Störungen.  32  unter  den  87  Neuropathen  zeigten  eine 
auffällige  Unterernährung.  Sie  war  offenbar  abhängig  von 
einer  hartnäckigen  Anorexie,  die  außer  bei  diesen  32  noch 
bei  18  Kindern,  also  in  toto  bei  50  beklagt  wurde.  Oft  vergesell¬ 
schaftet  sie  sich  mit  habituellem  Erbrechen,  das  an  37 
von  ihnen  beobachtet  wurde.  Auch  an  die  Defäkation  knüpfen 
sich  abnorme  Erscheinungen  —  20  Kinder  litten  an  habitu¬ 
eller  Obstipation,  manchmal  bis  zur  Fissurenbildung,  andere 
an  rezidivierenden,  neuropathisch  scheinenden  Dickdarmka¬ 
tarrhen,  bei  einzelnen  wechselten  diese  Erscheinungen  ab  - 
so  daß.  der  Verdauungskanal  wohl  die  größte  Mannigfaltigkeit  an 
somatischen  Symptomen  bietet.  Daneben  scheint  Pollakis¬ 
urie  und  Enuresis  bedeutsam  zu  sein.  Die  Atmungsorgane 
bieten  wenig  Auffallendes.  48  von  den  Kindern  litten  am  Lichen 
urticatus,  davon  29  an  starkem  Juckreiz. 

Von  interkurrenten  Krankheiten  wurden  im  Sinne  einer 
Erschwerung  solche  wirklich  verändert,  welche  eine  nervöse  Kom¬ 
ponente  haben,  besonders  die  Pertussis,  scheinbar  solche, 
welche  die  Umgebung  oder  die  Kranken  alarmierten  (hochfieber¬ 
hafte  und  schmerzhafte  Erkrankungen,  Blutungen). 

Die  Causa  nocens  sieht  Fried  jung  in  dem  Uebermaß 
von  Zärtlichkeit,  das  sich  auf  das  eine  Kind  entlädt.  Die  Wege 
der  Symptombildung  müssen  erst  erforscht  werden;  vermutlich 
dürften  Freud  sehe  Mechanismen  im  Spiele  sein. 

Prophylaxe  und  Therapie  der  geschilderten  Neurose  ergibt 
sich  von  selbst  aus  der  Erkenntnis  ihrer  Ursachen.  (Die  ausführ¬ 
liche  Publikation  erfolgt  anderen  Ortes.) 

Diskussion:  Prim.  Engel  mann  hat  seine  Aufzeich¬ 
nungen  über  60  einzige  Kinder  durchgesehen  und  nicht  so  auf¬ 
fällige,  krasse  Veränderungen  an  ihnen  gefunden,  wenngleich 
ihr  Verhalten  oft  recht  eigenartig  ist.  Im  allgemeinen  dürfte 
wohl  für  Störungen  des  Nervensystems  der  Kinder  die  Heredität 
in  Frage  kommen;  neuropathische  Eltern  haben  oft  neuropathische 
Kinder.  Wenn  man  auf  die  Eltern  der  Kinder,  namentlich  auf 
die  Mutter,  bzw.  die  Großmutter,  entsprechend  einwirkt,  erreicht 
man  meist  die  besten  Erfolge.  Nach  seiner  Erfahrung  ist  die 
Mehrzahl  der  einzigen  Kinder  bei  normalen  Eltern  selbst,  völlig 
normal. 

Priv.-Doz.  Dr.  Schmeichler  erblickt  das  entscheidende 
Moment  für  die  Launenhaftigkeit  einziger  Kinder  und  für  die 
sich  daraus  ergebenden  Veränderungen  in  ungünstigen  pädago¬ 
gischen  Einflüssen. 

Dr.  Löw  betont  die  Bedeutung  des  Pflegepersonales. 

Dr.  Fried  jung  erkennt  den  Einfluß  der  Heredität  voll- 
/ständig  an,  betont  aber  daneben  die  von  ihm  vorgebrachten  Mo¬ 
mente.  Gerade  der  günstige  Einfluß  des  Wechsels  des  Milieus, 
den  man  oft  beobachtet,  beweist,  daß  liier  extrauterine,  respek¬ 
tive  postfötale  Momente  maßgebend  sind.  Daß  natürlich  die 
Umgebung  und  namentlich  das  Pflegepersonal  von  großer  Wich¬ 
tigkeit  sind,  steht  außer  Zweifel. 


Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte 

in  Böhmen. 

Sitzung  vom  30.  November  1910. 

Klein  ha  ns:  Demonstration  eines  33jühr.,  angeblich  weib¬ 
lichen  Hermaphroditen,  der  als  Mädchen  erzogen  worden  war 
und  erst  seit  dem  19.  Jahre  infolge  des  Bartwuchses  als  Mann 
sich  gelierte.  Angeblich  keine  sexuellen  Neigungen,  nie  Erek¬ 
tion  des  Gliedes  oder  Samenerguß.  Seit  dem  21.  Jahre  angeblich 
regelmäßig  menstruiert. 

Die  Untersuchung  ergab:  Gespaltenes  Skrotum,  beiderseits 
mit  Hoden  und  Nebenhoden,  die  sich  leicht  durch  den  Leisten¬ 
kanal  zurückschieben  lassen.  Hypospadia  penis-scrotalis ;  kurzes 
Glied  mit  Rinne  an  der  Unterseite.  Anus  anomalus  vestibularis. 
Bei  Untersuchung  per  rectum  keine  Spur  von  Uterus  oder  Ova¬ 
rien;  Menstruation  also  unmöglich. 

Der  Fall  ist  somit  als  Pseudohermäphroditismus  mascu- 
linus  zu  bezeichnen. 

Starkenstein:  Bedeutung  der  Inositphosp  hör¬ 
säure  für  den  wachsenden  Organismus. 

Bereits  früher  hatte  der  Vortragende  gefunden,  daß  die  Ge¬ 
webe  wachsender  Individuen  reichlichere  Mengen  dieser  Körper 
enthalten,  als  jene  Erwachsener.  Dies  ließ  vermuten,  daß  dem 
Inosit  heim  Wachstum  der  Zelle  eine  bedeutende  Rolle  zukomme. 
Der  Vortragende  konnte  nunmehr  feststellen,  daß  Inosit  in  der 
Form  der  Inositphosphorsäure  mit  der  Nahrung  in  den  Körper 
gelangt.  Wachsende  Individuen  vermögen  die  Verbindung  zu 
spalten,  die  Phosphorsäure  wird  retiniert  und  verwertet,  der  Inosit, 
der  im  Körper  zum  größten  Teile  unangreifbar-  ist,  wird  erst  in 
den  Geweben  abgelagert  und  gelangt  von  hier  aus  allmählich 
zur  Ausscheidung.  Dementsprechend  sind  sowohl  in  den  Ge¬ 
weben  als  im  Harne  wachsender  Individuen  reichlichere  Mengen 
von  Inosit  als  beim  Erwachsenen  und  im  Harne  von  gesunden 
Säuglingen  und  neugeborenen  Tieren  keine  Phosphorsäuren.  Er¬ 
wachsene  vermögen  die  Inositphosphorsäure  nur  partiell  zu 
spalten,  ein  Teil  der  resorbierten  Substanz  wird  unverändert  im 
Harne  ausgeschieden  und  es  gelang  auch  die  Inositphosphorsäure 
als  eine  normalerweise  im  Harne  Erwachsener  vorkommende 
Phosphorsäure  nachzuweisen.  Als  Phosphornährsubstanz  wird  die 
Inositphosphorsäure,  die  in  Form  ihres  Ca-Mg-Salzes  als  Pnytin 
in  den  Handel  kommt,  wohl  vorwiegend  für  den  Säugling  in  Be¬ 
tracht  kommen.  Dem  freien  Inosit  kommt  keine  physiologische 
Bedeutung  zu,  er  ist  vielfach  als  Abfallsprodukt  des  Phosphor¬ 
säurestoffwechsels  anzusehen.  Aus  obigen  Untersuchungen  stellten 
sich  weiters  eine  Reihe  analytisch  wichtiger  Tatsachen  heraus, 
die  zur  Ermittlung  der  Konstitution  der  Inositphosphorsäure 
gewisse  Anhaltspunkte  boten  und  für  die  Ermittlung  ähnlicher 
Verbindungen  und  die  Bestimmung  organischer  Phosphorsäuren 
überhaupt  von  Bedeutung  sind.  (Originalarbeit  erscheint  in  der 
Biochemischen  Zeitschrift.)  _ Dr.  Pribram. 

Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  (len  9.  Januar  1911,  7  Ulli  abends,  im 

Sitzungssaale  des  Kollegiums,  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz 
des  Herrn  Dr.  V.  Läufer  stattfindenden  wissenschaftlichen  Ver¬ 
sammlung. 

Priv.-Doz.  Dr.  L.  Freund:  Kasuistisches  zur  Röntgendiagnostik  in 
Wort  und  Bild.  ■ 

Wiener  laryngologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Mittwoch  den  11.  Januar  1911. 

Programm: 

Demonstrationen  Der  Sekretär. 

Geburtshilflich-gynäkologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Dienstag  deu  10.  Januar  1911,  im  Hörsaale  der 
II.  Univ. -Frauenklinik.  Beginn:  Punkt  7  Uhr  abends. 

Tagesordnung : 

1.  Schauta :  Ureterbauchdeckenfistel. 

2.  Richter:  Karzinom  der  Flexur  und  der  Ovarien. 

3.  Schauta:  Ueber  Antefixationsoperationen. 

H.  Thaler,  II.  Schriftführer.  Schauta,  Vorsitzender. 

Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie. 

Programm  der  Dienstag  den  10.  Januar  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Hörsaal  v.  Wagner  stattfindenden  wissenschaftlichen  Sitzung. 

1.  Demonstrationen:  Dr.  Biacli:  Klinischer  Fall.  Dr.  J.  Bauer: 
Körnerzellen  des  Kleinhirns  bei  Gewichtsschätzung. 

2.  Diskussion  zum  Vortrage  des  Priv.-Doz.  Dr.  W.  Falta.  Zum 
Worte  gemeldet:  Dr.  l’ötzl  und  Dr.  Stransky. 

3.  Vortrag  Dr.  G.  Holzknecht:  Ueber  Röntgenbefunde  bei  nervösen 

Schlingbeschwerden.  Dr.  Marburg,  Schriftführer. 

Nach  der  Sitzung  gesellige  Zusammenkunft  im  Riedhof. 


Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Kubasta.  Verlag  von  Wilhelm  Braumöller  in  Wien. 

Druck  von  Bruno  Bartelt.  Wien  XVIII.,  Theresiengasse  3. 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

G.  Braun,  0.  Chiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S.  Exner,  E.  Finger,  M.  Gruber,  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko,  H.  Msyac  j,  Moeller, 
K.  v.  Noorden.  H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Theodor  Escherich,  Alexander  Fraenkel.  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig, 

Edmund  v.  Neusser.  Richard  Paltauf.  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/i.  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618 

XXIV.  Jahrg.  Wien,  12.  Januar  1911  Nr.  2 


INHALT: 


1.  Originalartikel :  1.  Aus  der  Wiener  Universitäts-Kinderklinik 
(Vorstand:  Ilofrat  Prof.  Dr.  Escherich).  Ueber  '„Fettkinder.“ 
(Hypophysäre  und  eunuchoide  Adipositas  im  Kindesalter.)  Von 
Dr.  Rudolf  Neurath.  S.  43. 

2.  Zur  Kenntnis  der  Lungendistomumkrankheit.  Von  Doktor 
Y.  Tanaka,  Professor  an  der  medizinischen  Hochschule  zu 
Osaka  in  Japan.  S.  49. 

3.  Ueber  die  Ursachen  des  Flimmerskotoms  und  seine  Behand¬ 
lung.  Von  Dr.  Alexius  Pichler,  Augenarzt  in  Klagenfurt.  S.  51. 

4.  Aus  der  I.  chirurgischen  Universitätsklinik  in  Wien.  (Vorstand: 
Prof.  A  Freih.  v.  Eiseisberg.)  Zur  Frage  der  zirkumskripten, 
chronisch-adhäsiven  Peritonitis.  Von  Dr.  Wolfgang  Denk, 
Operateur  der  Klinik.  S.  57. 

5.  Die  differentielle  Diagnose  der  Hysterie  und  verwandter  organi¬ 
scher  Nervenkrankheiten.  Von  Z.  Bychowski,  Oberarzt  am 
Krankenhaus  Praga  in  Warschau.  S.  60. 

6.  Bemerkungen  zur  Ehrlich-Debatte.  Von  Prof.  E.  Finge  r.  S.  65. 
II.  Oeflentliclie  Gesuudheitspllege :  Eine  sozialmedizinische  Kon- 

greßreise.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Ludwig  Telekv.  (Schluß.)  S.  66 


III.  Referate:  Ueber  Scharlach.  (Der  Scharlacherkrankung  zweiter 
Teil.)  Von  Primararzt  Dr.  Dyonis  Pospischill  und  Dr.  Fritz 
Weiß.  Ueber  eine  eigenartige  familiär-hereditäre  Erkrankungs¬ 
form  (Aplasia  axialis  extracorticalis  congenita).  Von  Priv.-Doz. 
Dr.  L.  Merz  ha  eher.  Säuglingsschutz  durch  Staat,  Gemeinden 
und  Private  innerhalb  des  deutschen  Sprachgebietes.  Von 
Prof.  Dr.  B.  S  a  1  g  e.  Oxypathie.  Von  Prof.  Dr.  Wilhelm 
Stöltzner.  Ref. :  Carl  Lein  er.  —  Die  Erkrankungen  des 
Blinddarmanhanges  (Processus  vermiformis.)  Die  Gewächse  der 
Nebennieren.  Von  Prof.  Dr.  Karl  Winkler  Ref.  H.  Albrecht. 
—  Mikroskopie  und  Chemie  am  Krankenbett.  Von  Professor 
Dr.  H.  Lenhartz.  Die  Zuckerkrankheit  und  ihre  Behandlung. 
Von  Prof.  Dr.  Carl  v.  No  orden.  Ref.  M.  St  ernberg. 

IV.  Aus  verschiedeneu  Zeitschriften. 

V.  Vermischte  Nachrichten. 


Aus  der  Wiener  Universitäts-Kinderklinik  (Vorstand : 

Hofrat  Professor  Dr.  Escherich). 

Ueber  „ Fettkinder“. 

(Hypophysäre  und  eunuchoide  Adipositas  im  Kindesalter.) 

Von  Dr.  Rudolf  Neural h. 

Von  den  ursächlichen  Momenten,  die  beim  Erwach¬ 
senen  für  die  Entstehung  der  Fettsucht  in  Betracht  kom-  I 
men,  sind  für  die  Fettleibigkeit  des  Kindesalters  nicht  alle  ! 
als  maßgebend  anzuerkennen.  Vor  allem  entfallen  so  ziemlich  ! 
sämtliche,  durch  gewisse  Lehensgewohnheiten  und  Beschäfti-  j 
gungen  zu  erklärenden  Mißverhältnisse  zwischen  Nährungs-  ! 
Aufnahme  und  Energieverbrauch,  die  beim  Erwachsenen  I 
eine  hedeutende  Bolle  spielen  können,  denn  im  Kindesalter  1 
dürfte  die  Aktivität  und  der  Kraftverbrauch  durch  Muskel- 
Übung  doch  nur  in  engen  Grenzen  schwanken.  Auch  die 
hereditäre  Fettsucht  kommt  beim  Kinde  kaum  in  Betracht, 
denn  jnach  v.  Noorden  beginnt  die  erbliche  Fettsucht 
seilen  im  zweiten,  häufiger  erst  im  dritten  Dezennium,  er¬ 
reicht  aber  erst  später  einen  erheblichen  Grad  und  ist  es 
wahrscheinlich  nicht  eine  hereditär  verminderte  Zersetzungs¬ 
energie  des  Protoplasmas,  also  nicht  eine  endogene  Anlage 
zur  Fettleibigkeit,  sondern  ererbte  Lebensgewohnheiten,  die 
zur  Fettaufstapelung  führen.  Für  diese  Anschauung  spricht, 
daß  wir  bei  ganz  jungen  Kindern  so  gut  wie  nie  eine 
sichere  Abhängigkeit  der  Körperfettmasse  von  der  Fett¬ 


leibigkeit  oder  Fettarmut  der  Eltern  zu  sehen  gewohnt  sind. 
Die  Fettleibigkeit  im  Kfndesalter  scheint  in  ihren  reinen 
Formen  immer  insoferne  einem  Mißverhältnis  zwischen  Ein- 
nahimle  und  Ausgabe  zuzuschreiben  zu  sein,  als  es  die  unver- 
hällnismäßig  große  Einnahme,  die  Leberfütterung,  ist,  die 
als  kausales  Moment  nie  fehlt.  Nach  Hutinel  und  Ti xi ei¬ 
lst  es  das  Alter  zwischen  7  und  10  und  besonders  zwi¬ 
schen  10  und  14  Jahren,  wo  sieh  Fettleibigkeit  im  Kindes¬ 
alter  findet.  Angeborene  Fettleibigkeit  ist  relativ  noch  sel¬ 
tener.  Klinisch  äußert  sich  die  reine  Fettsucht  durch  die 
charakteristische  gleichmäßige-  Volumsvermehrung  des  Kör¬ 
pers,  Weichheit  der  Formen,  Verwaschensein  des  Knochen¬ 
reliefs,  oft  auch  durch  relative  Blässe. 

Von  (diesen  reinen  Formen  der  Fettleibigkeit  unter¬ 
scheiden  sich  die  gewissen  Typen  pathologischen  Fett¬ 
ansatzes  einerseits  durch  die  lokale  Präponderanz  der 
Fettansammlung  im  Unterhautzellgewebe,  andrerseits  durch 
die  Kombination  mit  charakteristischen  wichtigen  soma¬ 
tischen  Eigentümlichkeiten.  Hieher  gehören  jene  „Fett¬ 
kinder“,  deren  Kisc'h  gedenkt,  die  oft  femininen.  Typus 
zeigen,  ,mit  kleinen  Testikeln  oder  Kryptorchie.  Auch 
A.  Schüller  beobachtete  solche  Kinder  und  faßt  sie  als 
primär  disgenitale  Individuen  auf.  Wir  finden  die  mannig¬ 
fachsten  Bezeichnungen  für  solche  abnorme  Körperbesdiaf- 
fenheit :  Disgenitalismus,  Infantilisme  avee  gigantisme,  Dys¬ 
trophia  adiposo-genitalis,  Ilypothyreoidie,  Eunuchoidismus 
—  Titel,  die  die  vielfachen,  zur  Erklärung  dieser  Formen  auf- 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


gestellten  Theorien  erkennen  lassen.  Besonders  die  An¬ 
nahme  einer  genitalen  und  die  einer  hypophysären  Aetio- 
loo'ie  stehen  in  reger  Diskussion.  Einige  Beobachtungen,  die 
in  den  Rahmen  dieser  Krankheitsbilder  passen  möchte  ich 
unter  der  provisorischen  grobklinischen  Bezeichnung  ,,rett- 
kinder“  zur  Mitteilung  bringen.  Klinik  und  pathologische 
Anatomie,  sowie  der  Vergleich  mit  kastrierten  Tieren  und 
Menschen,  lassen  gewisse  Drüsen  mit  innerer  Sekretion  an 
dem  Zustandekommen  solcher  Krankheitsbilder  beteiligt  er- 
S  dl  C 1 116  ü  • 

Schon  früher  war  vereinzelt  auf  auffallenden  Fett¬ 
wuchs  bei  Hypophysiserkrankungen  hingewiesen  worden 
(v  F rankl-Hoch w a r t).  Aber  erst  seit.  Fröhlich  aus  der 
Schule  von  Frankl -Hoch  warts  als  klinische  Symptome 
eines  Falles  von  Hypophysentumor  neben  den  Tumor¬ 
erscheinungen  rasch  eintretende  Fettleibigkeit  und  Unter¬ 
entwicklung  der  Keimdrüsen  hervorhol)  und  als  diagnostisch 
verwertbar  erkannte  (Bartels:  Dystrophia  adiposo-gemtalis 
oder  hypophysäre  Fettsucht),  wurde  dieser  bröhl  ich  sehe 
Typus  der  Hypophysenaffektion  öfter  beobachtet  und  ana¬ 
tomisch  oder  während  der  Operation  (S  c h  1  o f  f  e r,  v.  E i  s  e  1  s- 
berg)  verifiziert.  Die  Fettablagerungen  bevorzugen  die 
Bauchwand  und  die  Gesäßgegend,  öfters  finden  sich  i rocke n- 
heit  der  Haut,  verminderte  Schweißsekretion,  Dystrophie 
der  Nägel  und  Haare,  abnorme  Körpertemperatur,  Blasse, 
psychische  Veränderungen  angegeben.  Außer  dem  hypo- 
plastischen  Genitale  ist  eine  Hemmung  m  der  Entwicklung 
der  sekundären  Geschlechtszeichen  und  infantiler  Habitus 
die  Regel.  Diese  hypophysäre  Aetiologie  wurde  von  Ercl- 
heim  angezweifelt  und  das  Zentrum,  dessen  Läsion  bei 
Hypophysentumoren  ohne  und  mit  Akromegalie  zur  Adi¬ 
positas  führt,  an  einer  uns  unbekannten  Stele  herllrrn- 
basis  vermutet,  welche  indirekt  mitaffiziert  wnd,  e 
Theorie,  die  Marburg  mit  Erfolg  zu  entkräften  versucht 
hat.  Tierexperimente,  welche  die  Entstehung  pathologischen 
Fettansatzes  nach  Hypophysenexstirpation  erzielt  haben, 
liegen  vor  von  Cushing,  Biedl  und  As  Clin  er.  Es  kam 
hiebei  auch  zu  exzessivem  Fettansatz  im  Innern  des 
Körpers. 

Auf  (Grund  ihrer  Enter suchungen  an  bkopzen  und 
kastrierten  Tieren  kommen  Tandler  und  Grosz,  nachdem 
schon  Schüller  einen  primären  Disgemtahsmus  als  Er 
sache  der  geschilderten  Krankheitsbilder  (Genitalhypoplasie, 
Fettsucht,  Infantilismus)  angesprochen  hatte,  zur  Annahme, 
daß  eine  angeborene  Unterentwicklung  des  Zwischengewebes 
der  Genitaldrüsen  (Ley  dig  sehe  Zellen  des  Hodens,  zu  einer 
eunuchoiden  Entwicklungsstörung  des  Körpers  führe  aus 
der  eine  an  den  Kastratenhabitus '  erinnernde  Korperkonti- 
guration,  daneben  aber  auch  eine  sekundäre  Hyperplasie 
der  Hypophyse  resultiere,  welch  letztere  immer  die  Folge 
einer  ^ Unterentwicklung  oder  Unterfunktion  der  Gemtal- 
drüsen  sei  (Kastration,  Gravidität,  Klimakterium;. 

Wenn  man  aber  weiters  bedenkt,  daß  zu  einem  kon¬ 
stanten  [Symptom  der  mangelnden  Schilddrüsenfunktion 
(Biedl),  der  mangelhaften  endochrondalen  Verknöcherung 
noch  eine  mangelhafte  Entwicklung  der  Geschlechtsorgane 
und  eine  Vergrößerung  und  Degeneration  der  Hypophyse 
tritt,  dann  haben  wir  in  der  Thyreoidea  einen  weiteren  An¬ 
griffspunkt  auf  das  sich  gegenseitig  fordernde  oder  hem 
mende  Abhängigkeitsverhältnis  der  Drusen  mit  innerer  Sekre¬ 
tion.  Auch  von  der  Schilddrüse  aus  konnte  es  zu  einer  Hem¬ 
mung  der  Genitalentwickiung  und  zur  Beeinflussung  der 
Hypophysenentwicklung  kommen.  Klinisch  ist  allerdings 
nach  den  bisher  vorliegenden  Erfahrungen  eine  auf  Hypo- 
thvreoidie  zurückzuführende  Adipositas  nur  ex  juvantibus 
erkennbar.  Was  das  Ivindesalter  anbelangt,  lenkt  i  lu¬ 
ll  i  er  ge  die  Aufmerksamkeit  auf  Fettsucht  als  ein  hervor¬ 
ragendes  und  unter  Umständen  einzig  vorhandenes  Zeichen 

gesteigerter  Schilddrüsenfunktion. 

Auch  im  Anschlüsse  an  Zirbeldrüsenerkrankungen 
kommt  es  zu  vermehrtem  Fettwuchs.  Marburg  ist  ge¬ 
neigt  diese  Adipositas  auf  einen  Hyperpineahsmus  zuruck- 
zuführen,  während  B.  Fischer  eine  sekundäre  Schädigung 


der  Hypophyse  durch  den  begleitenden  Hydrozephalus  als 
kausales  Moment  betrachtet.  Im  Vordergründe  des  Inter¬ 
esses  stehen  jedoch  bei  ätiologischer  Beurteilung  der  „endo¬ 
krinen  Fettsucht“  zwei  Drüsenparenchyme,  me  Hypophyse 

und  die  Genitaldrüsen,  i  .  . 

Die  Schwierigkeit  der  Entscheidung,  welche  Druse 
primär  geschädigt  oder  in  ihrer  Funktion  gehemmt  ist,  ob 
die  Hypophyse  oder  die  Geschlechtsdrüse,  die  Trage,  ob 
positive  Tierexperimente,  welche  nach  Exstirpation  des 
Vorderlappens  der  Hypophyse  Krankheitsbilder  erzielten, 
die  an  die  Dystrophia  adiposo-gemtalis  erinnerten  (Asch¬ 
ner,  Cushing,  Biedl),  mit  den  pathologischen  Erfah¬ 
rungen  am  Menschen  identifiziert  werden  können,  lassen 
die  skizzierten  Probleme  noch  immer  als  ungelöst  er¬ 
scheinen.  Tandler  und  Grosz  bringen  die  vorhandenen 
Möglichkeiten  des  pathogenetischen  Zusammenhanges  in 

folgender  Reihe:  ,  „ 

a)  Primäre  Erkrankung  der  Hypophyse,  konsekutive 
Erkrankung  des  Genitales,  dieser  koordiniert,  also  ebenfalls 
direkt  von  der  Hypophyse  ausgehend,  Fettwuchs ;  —  in  sel¬ 
tenen  Fällen  könnte  nur  eine  der  beiden  Konsequenzen 
sich  ausbilden,  die  andere  ausbleiben. 

b)  Primäre  Erkrankung  der  Hypophyse,  konsekutive 
Erkrankung  des  Genitales,  durch  die  letztere  bedingt  Fett- 

wii  ch  s  ^ ^  .*  1 

c)  Primäre  Erkrankung  deF  Keimdrüse,  konsekutive 

Fettsucht  und  hypophysäre  Veränderung  koordiniert.  Auch 
hier  könnte  einer  der  beiden  konsekutiven  Prozesse  aus- 

bleiben  \  1  1  •  • — ^  ^ 

d)  Primäre  Erkrankung  der  Keimdrüse,  konsekutive 

Veränderung  der  Hypophyse,  welche  den  Fettwuchs  bedingt. 

Biedl  versucht  die  günstigen  Operationsresultate  bei 
hypophysärer  Fettsucht  (Schloff  er,  v.  Eiseisberg, 
v.  F  r  a nk  1  -  H  o  c h  w  a  r  t)  und  erfolgreiche  Hypophysenmedi¬ 
kation  zugunsten  der  Annahme  eines  primären  Hypopitui- 


tarismus  zu  verwerten  ohne  jedoch  die  &chwieng . . 


zu  verkennen,  die  bei  den  vielfachen  Wechselbeziehunge 
der  innersekretorischen  Organe  und  bei  der  Seltenheit  iso¬ 
lierter  Erkrankungen  einzelner  Organe  dieser  Gruppe  einei 
Erkennung  der  primäraffizierten  Drüsen  mit  innerer  Se¬ 
kretion  unausbleiblich  sind.  Führte  doch  die  intime  gegen¬ 
seitige  Beeinflussung  der  endokrinen  Drüsen  zur  Aufstellung 
des  Typus  pluriglandulärer  Syndrome. 

Es  überschritte  den  Rahmen  dieser  klinischen  Albert, 
wollte  ich  die  derzeit  schon  unermeßliche  Literatur  über 
die  skizzierten  Fragen  lückenlos  berücksichtigen  Die  Ar¬ 
beiten  Von  Borchardt,  Tandler  und  Grosz,  ß.  Fischer 

und  Marburg,  ganz  besonders  aber  das  jüngste,  aber  be¬ 
reits  unentbehrliche  Uebersichtswerk  Biedls  über  die  innere 
Sekretion,  wo  die  Literatur  vollständig  berücksichtigt  er¬ 
scheint,  erübrigen  auch  einen  solchen  Versuch. 

In  der  Mehrzahl  der  bisher  vorliegenden,  für  die  Er¬ 
kenntnis  der  Funktion  der  in  Betracht  kommenden  Drusen 
verwertbaren  Erfahrungen,  waren  es  auffallende,  die 
gemeinen  Hirntumorsymptome  begleitende,  dystrophische  Er¬ 
scheinungen  einerseits,  lokale,  auf  Zentren  oder  Nerven¬ 
bahnen  zu  beziehende  Ausfallserscheinungen  andrerseits, 
die  auf  endokranielle  Drüsen  hinwiesen.  Für  die  prirnar- 
disgenitalen  Fälle  schien  deutliche  Entwich  ungshemmung 
der  Genitaldrüsen  von  Wichtigkeit  (A.  Schuller)  Welches 
immer  die  letzte  pathogene  Ursache  der  im  Gefolge  von 
sichtbaren  organischen  Krankheiten  (Tumoren)  der  endo¬ 
krinen  Drüsen  auftretenden  Krankheitsbilder  sein .mag,  dar¬ 
über  hat  bisher  weder  die  Anatomie,  noch  das  Experiment 

sicheren  Aufschluß  gebracht.  f 

Im  folgenden  sei  eine  kleine  Reihe  von  ballen  aut- 

fallender  Fettleibigkeit  im  Kindesalter,  sogenanntei  ,, 
kinder“  gebracht,  deren  einen  (Fall  I)  ich  an  der  Wiener 
Kinderklinik  zu  sehen  Gelegenheit,  hatte  und  dessen  V  - 
wertung  mir  Herr  Hofrat  Es  eher  ich  mit  gewohnter  Gute 
gestattete.  Die  anderen  Fälle  entstammen  meiner  Abteilung 
am  I.  öffentlichen  Kinder-Krankeninstitut. 


1 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Fall  1. 1.  St.,  10  Jahre  alt,  aufgenommen  7.  Juni  1910.  Drittes 
Kind,  normale  Geburt,  Brustkind  gewesen,  bei  der  Geburt  normale 
Größe  und  Entwicklung.  Mit  anderthalb  Jahren  gehen  gelernt, 
mit  zwei  Jahren  Dentition.  In  frühester  Kindheit  Masern,  vor 
drei  Jahren  Scharlach.  Angeblich  begann  zwei  Monate  nach  der 
Scharlachinfektion  (mit  sieben  Jahren)  der  früher  normale  Knabe 
plötzlich  immer  dicker  zu  werden,  wobei  die  Größe  seither  immer 
dieselbe  geblieben  ist.  Die  Ernährung  war  immer  eine  normale, 
er  aß  nicht  mehr  oder  weniger  als  andere  Kinder,  auch  jetzt 
nimmt  er  gemischte  Kost  von  Durchschnittsquantunx  zu  sich. 
Das  subjektive  Befinden  des  Knaben  ist  ungestört.  Nur  ein-  bis 
zweimal  täglich  treten  Kopfschmerzen  im  Vorderkopf  auf,  an¬ 
geblich  in  Begleitung  von  Kongestionen.  Sonst  ist  der  Bursche 
nach  Angabe  des  Vaters  sehr  intelligent.  Bewegungsfähigkeit 
ungestört.  In  der  Familie  kein  Fall  von  Adipositas.  Die  übrigen 
Kinder  normal. 

109  cm  langer,  mäßig  muskulöser,  überaus  fetter-  Knabe. 
Recht  intelligent,  folgsam,  still.  Kopfumfang  53  cm,  Bauchumfang 
in  Nabelhöhe  83  cm,  Mitte  des  Oberarmes  23-5  cm,  Mitte  des 
Oberschenkels  42  cm,  Mitte  des  Unterschenkels  29  cm,  Körper¬ 
gewicht  36-80  kg,  Pirquet  positiv.  Gesicht  gut  gefärbt,  Haut  sonst 
ohne  Besonderheiten,  nur  an  Ober-  und  Unterschenkel  beider¬ 
seits  frische  Striae,  Intertrigo  in  den  Schenkelbeugen,  in  beiden 
Achselhöhlen  und  in  der  Halsbrustfalte.  Das  Skelett  ziemlich 
kräftig,  wohlgeformt.  Keine  Drüsenschwellung.  Die  Reflexe  nor¬ 
mal,  Papillen  gleich  weit,  reagieren  prompt.  Augen  rein,  Trommel¬ 
felle  blaß.  Geringe  Koryza,  Lippen  lebhaft  rot,  Zunge  dünn 
milchig  belegt,  Rachen  ohne  Beisonderheit.  Lungenbefund  normal. 
Herzgrenzen  infolge- des  dicken  Fettpolsters  nicht  zu  bestimmen, 
Töne  rein,  begrenzt,  Herzaktion  rhythmisch.  Abdomen  hochgradig 
vorgewölbt.  Stuhlgang  unregelmäßig.  Leber  und  Milz  nicht  nach¬ 
weislich  vergrößert.  Der  Penis  im  Fettpolster  bis  auf  die  Glaus 
verschwunden.  Spärliche  Behaarung  de®  Mons  veneris.  Die 
Testes  von  dem  Alter  entsprechender  Größe. 

Augenbefund:  Patient  klagt  über  undeutliches  Sehen  am 
Abend,  ferner  über  Schwindel.  Fundus  normal,  hypermetropi- 
scher  Astigmatismus. 

23.  Juni.  Seit  gestern  Kalbschilddrüse  in  Saft,  täglich 
einmal.  ■  ,  ,  ;  j 

25.  Juni.  Seit  zwei  Tagen  zeitweise  Kopfschmerz,  leichte 
Temperatursteigerung  bis  37-4°,  Puls  132. 

4.  Juli.  Allgemeinbefinden  recht  gut,  kein  Fieber,  keine 
Störungen  von  seiten  des  Zirkulationsapparates. 

6.  Juli.  Fieberfrei.  Gestern  heftige  Kopfschmerzen,  die  auf 
kalte  Umschläge  schwanden.  Puls  heute  140. 

Patient  bekommt  täglich  entweder  Kalbschilddrüse  oder 
eine  Thyreoidintablette  (0-1).  Appetit  und  Stuhl  in  Ordnung. 

9.  Juli.  Kein  Kopfschmerz.  Puls  144  (Thyreoidiu  ?) 

14.  Juli.  Körpergewichtsabnahme  um  400  g  in  der  letzten 
Woche.  Puls  noch  immer  frequent. 

18.  Juli.  Temperatur  37-7  bis  37-9°.  Mundhöhle  rein.  Rachen 
leicht  gerötet,  kein  Exanthem.  An  Fingern  und  Zehen  zeigt  die 
Haut  eine  leichte  Schuppung. 

22.  Juli.  Fieberfrei.  Wohlbefinden.  Wegen  Tachykardie  und 
zeitweiser  Kopfschmerzen  wird  die  Thyreoidintherapie  ausgesetzt. 
In  den  letzten  Wochen  Gewichtsabnahme  von  1-3  kg. 

4.  August.  Im  Monat  August  täglich  Schilddrüse  vom  Kalb 
in  Saft.  Pat.  hat  im  ganzen  um  6-8  kg  abgenommen,  fühlt  sich 
wohler,  ist  besser  beweglich,  kann  besser  laufen. 

Bauchumfang  75  cm,  Oberschenkel  38V2  cm,  Unterschenkel 
27V2,  Oberarm  22V2,  Körpergewicht  30-25  kg.  Striae  an  den 
Oberschenkeln  deutlich.  Pulsfrequenz  hoch  (Thyreoidinwirkung). 

Eine  in  den  ersten  Tagen  des  Spitalsaufenthaltes  von  Privat¬ 
dozenten  Dr.  A.  Schüller  vorgenommene  Röntgenaufnahme 
des  Schädels  ergab :  Schädeldach  auffällig  breit,  die  Wanddicke 
wechselnd,  an  den  breitesten  Stellen  (Scheitelbein)  5  mm,  an  den 
dünnsten  Stellen  (Schläfegegend  und  Pacchionische  Gruben) 
1  bis  2  mm.  Die  Innenfläche  des  Schädels  ist  glatt,  die  Nähte 
sind  vorhanden.  Die  Basis  normal  konfiguriert.  Sella  klein, 
Sattellehne  und  Processus  clinoideus  anterior  auffallend  plump. 

Es  handelt  sich  im  vorliegenden  Falle  um  einen  zehn¬ 
jährigen,  auffallend  kleinen  —  109  cm  gegenüber  130  cm 
der  Norm  —  und  auffallend  dicken  Knaben,  dessen  Größe 
dem  Alter  von  sechs  Jahren,  dessen  Gewicht  dem  eines 
13  Jahre  alten  Kindes  entspräche.  Besser  als  die  Schilde¬ 
rung  illustriert  die  Abbildung  (Fig.  l)  den  enormen  Fett¬ 
wuchs,  das  ballonförmige  Gesicht  mit  dem  starken  Doppel¬ 
kinn,  die  mammenartigen  Wülste  am  Thorax,  das  kugelig 
vorspringende,  durch  eine  tiefe  Querfurche  gegen  die  Sym¬ 
physengegend  abgegrenzte  Abdomen,  die  dicken,  fettgepol¬ 


sterten  Extremitäten.  Das  schnelle  Wachstum  des  Fett¬ 
polsters  wird  auch  durch  die  frischeren  Slriae,  Zeichen  der 
Dehnung  der  Hautdecke,  deutlich.  Außerdem  imponiert  im 
Bilde  die  Größe  des  Schädels,  dessen  Umfang  um  ca.  5  cm 
die  Norm  übertrifft. 


Als  zweiter-  Punkt,  der  ein  Interesse  verdient,  ist  die 
Entwicklung  des  Genitales  zu  beachten.  Der  Penis  ist  zum 
größten  Teil  im  Fettpolster  der  Genitalgegend  geborgen,  der 
Mons  veneris  ist  spärlich  behaart,  die  Hoden  Aveichen  in 
ihrer  Form  und  Größe  nicht  von  der  Norm  ab. 

Endlich  ist  auch  der  Nervenbefund,  das  attackenmäßige 
Auftreten  von  Stirn-Kopfschmerzen  und  von  Schwindel  und 
als  wichtiges  negatives  Symptom  der  normale  Augenhinter¬ 
grund  hervorzuheben.  Zu  betonen  ist  noch  die  anamnestische 
Angabe,  daß  der  plötzlich  einsetzende  Fettansatz  bei  dem 
in  puncto  Fettsucht  weder  hereditär,  noch  familiär  bela¬ 
steten,  quantitativ  und  qualitativ  normal  ernährten  Kinde 
auf  einen  vor  drei  Jahren  überstandenen  Scharlach  zeitlich 
zu  beziehen  ist.  Auf  Schilddrüsendarreichung  wurde  ein 
Zurückgehen  der  Adipositas  erzielt  (Fig.  2). 

Wenn  die  skizzierten  wichtigen  Symptome  des  Krank¬ 
heitsbildes  zur  ätiologischen  Deutung  des  Falles  verwendet 
werden  'sollen,  so  spricht  wohl  die  normale  Größe  der 
Genitaldrüsen  gegen  eine  genitale  Adipositas,  gegen  pri¬ 
mären  Disgenitalismus,  der  direkt  oder  infolge  indirekt  ver- 
anlaßter  Hypophysenhypertrophie  den  Fettwuchs  verursacht 
haben  könnte.  Hingegen  Aveisen  die  Vergrößerung  des  Schä¬ 
dels  und  die  röntgenologisch  nachweisbare  Verdünnung 
seiner  Wände,  die  Anfälle  von  Kopfschmerz  und  Schwindel 
und  vielleicht  auch  die  frühzeitige,  spärliche  Behaarung 
der  Schamgegend  auf  eine  Funktionsstörung  einer  endo- 
kraniellen  Blutdrüse,  der  Hypophyse  oder  der  Epiphyse  hin. 
Es  ist  nicht  leicht,  mit  Sicherheit  in  diesem  Punkte  eine 
Entscheidung  zu  treffen.  Falls  wir  eine  Zirbeldrüsenerkran- 


•IG 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  iUll. 


Ni.  ‘2 


kung  in  Erwägung  ziehen,  so  stoßen  wir  au 


eine 


recht. 


unvol 


ständige  Symptomatologie  im  Vergleiche  zu  den  ms- 
-  --  •  >  •  ™  - 1 . -  -  F  rank  1- 


her  bekannten  fällen,  die 


bei  Marburg,  v. 


H ochw a r t ,  R ay in o n d  und  Claude,  Pelliz z  i  berück¬ 
sichtigt  sind  und  in  denen  die  Tumprsymptome  und  sonstige 
nervöse  Erscheinungen  stark  hervortraten  um  m  eren 
Mehrzahl  (Ogle,  Gut  zeit,  0  ester  reich-Slavyk  und 
v.  Frankl-Hoch  wart),  soweit  sie  Knaben  betrafen,  die 
genitale  Frühentwicklung  hervorgehoben  wird 

Die  Bedeutung  der  Adiposität  bei  Zirbeltumoren  wür¬ 
digt  besonders  Marburg.  Er  faßt  sie  als  Ausdruck  des 
Hvperpinealisinus  auf.  Wenn  v.  Frajikl- Hochwart  den 
diagnostischen  Satz  versucht  :  Wenn  sich  bei  einem  seh 
jugendlichen  Individuum  (Knabe,  neben  den  Allgemei 
t.umorsymptomen,  sowie  neben  den  Symptomen  Mer  Vier- 
hügelerkrankung  (Augenmuskel-  und  Blicklabmung,  Ataxie, 
abnormes  Längenwachstum,  ungewöhnlicher  Haarwuchs, 
Verfettung,  Schlafsucht,  prämature  Genital-  und  Sexuatenl- 
wicklung,  eventuell  geistige  Frühreife  findet,  hätte  mail  an 
einen  Zirbeldrüsentumör  zu  denken,  so  tritt  aus  dieser  Reihe 
von  positiven  Momenten  am  deutlichsten  hervor,  wie  vie 
unserem  Falle  zur  Symptomatologie  einer  Epiphysen¬ 
geschwulst  fehlt.  Die  Annahme,  daß  -eventuell  ein  solcher 
Tumor  dy strophische  Erscheinungen  veranlassen  könnte,  be¬ 
vor  sein  Wachstum  zu  einer  Massenzunahme  geführt  hat, 
diu  zui'  Auslösung  mechanischer  Tumorsymptome  von  no  en 
ist,  wird  durch  die  bisher  beschriebenen  Fälle  mcht  gestutzt. 

In  allen  Fällen  koinzidierten  die  dystrophischen  Erschei¬ 
nungen  mit  den  Tumorsymptomen  oder  folgten  diesen  nach. 

Durch  Schädigungen  der  Hypophyse  lassen  sich  die 
Fettsucht  und  die  nervösen  Erscheinungen  des  vorliegen¬ 
den  Falles  nicht  nur  erklären,  Fälle  der  jüngeren  Literatur 
bieten  sogar  in  gewissen  Grenzen  eine  Analogie  zu  den 
Einzelheiten  unserer  Beobachtung.  Solche  Falle  haben  sich 
seil  F röh lieh s  Arbeit  in  der  Literatur  gemehrt,  Allerdings 
fehlen  in  unserem  Falle  im  Vergleiche  zu  analogen  oder 
ähnlichen  Beobachtungen  von  ausgesprochen  hypophysärer 
Fettsucht,  die  sicheren  Tumorsymptome,  es  fehlen  vor  allem 
Erscheinungen  von  seiten  des  Optikus  und  die  interessanten 
Veränderungen  der  , Sella  turcica  im  Röntgenbild,  die  aller¬ 
dings  nicht  als  obligate  Konsequenzen  einer  Hypophysis¬ 
affektion  zu  gelten  haben.  Auf  intrakranielle  Drucksteige¬ 
rung  sind  wohl  die  Anfälle  von  Kopfschmerz  und  Schwindel 
zu  beziehen.  Diese,  zusammengehalten  mit  dem  großen 
Schädelumfang  und  mit  den  im  Röntgenbilde  deutlichen 
Verdünnungen  der  iSchädelknochen,  legen  den  Gedanken 
an  einen  Hydrozephalus  nahe,  wobei  es  sich  um  einen 
sekundären  Wasserkopf,  sei  es  als  Folge  eines  Blut-  odei 
Lymphbahnen  drosselnden  Tumors,  sei  es  als  Folgezustand 
einer  diffusen  Meningitis,  handeln  könnte.  Wir  hätten  uns 
vorzustellen,  daß  eine  hydrozephalische  Drucksteigerung  m 
den  Ventrikel  höhlen  zu  einer  Dehnung  des  dritten  Ventrikels, 
zu  einer  Vorbauchung  des  Bodens  desselben  und  so  zu 
einem  Druck  des  Infundibulums  auf  die  Hypophyse  geführt 
hätte,  wodurch  eine  Funktionsschädigung  dieses  Organes 
zustande  gekommen  wäre.  Für  die  Möglichkeit  eines  sol¬ 
chen  Mechanismus  sprechen  nach  Kurt.  Gol  d  stein  anato¬ 
mische  Erfahrungen  von  exzessiver  \  orwölbung  des  In¬ 
fundibulums  bei  stärkerem  Hydrozephalus.  NachB.  Fische r 
sind  experimentelle,  chirurgische  und  anatomische  Erfah¬ 
rungen  dafür  verwertbar,  daß  es  Schädigungen  oder  Zer¬ 
störung  des  Hinterlappens  und  des  Infundibularteiles  clei 
Hypophyse  sind,  die  zur  Dystrophia  adiposo-genitalis  führen, 
während  nur  das  typische  Adenom  des  Vorderlappens  für 
die  Akromegalie  verantwortlich  zu  machen  ist,  eine  An¬ 
nahme,  die  wohl  noch  nicht  allgemein  anerkannt  ist.  Die 
Adipositas  könnte,  wie  Fischer  betont,  auch  durch  Tu¬ 
moren  von  anderem  Sitz  hervorgerufen  werden,  wenn  die¬ 
selben  einen  starken  Hydrozephalus  zur  Folge  haben.  Bei 
solchen  Fällen  pflegt  sich  der  Recessus  infundibuli  blasen¬ 
förmig  auszubuchten  und  den  Trichter  vorzuwölben.  Dadurch 
mag  wohl  ein  erheblicher  Druck  nicht  nur  auf  das  Chiasma, 
•sondern  auch  auf  die  Hypophyse  selbst  entstehen. 


Was  nun  die  Genese  des  supponierten  Hydrozephalus 
in  unserem  Falle  anbelangt,  so  läßt  sich  ein,  wenn  auch 
kleiner,  Tumor  zwar  nicht  mit  Sicherheit  ausschließen. 
Fischer  hebt  hervor,  daß  man  gerade  bei  kleinen  Ge¬ 
hirngeschwülsten  besonders  schweren  Hydrozephalus  und 
vor  allem  die  stärkste  Erweiterung  gerade  des  dritten  Yen- 
trikels  beobachtet,  wodurch  das  häufige  Vorkommen  der 
zerebralen  Adipositas  bei  kleinen  Tumoren  zu  erklären  sei 
Doch  spricht  der  anfallweise  auftretende  Kopfschmerz  und 
besonders  der  Schwindel  (‘her  für  einen  stärkeren  Hydro¬ 
zephalus,  für  dessen  Entstehung  wir  in  der  Anamnese  einen 
ätiologischen  Hinweis  finden.  Die  auffallenden  klinischen 
Erscheinungen  traten  in  engem  Anschlüsse  an  einen  über- 
standenen  'Scharlach  auf.  Nun  wissen  wir,  daß  meningitische 
Reizungsprozesse,  die  sich  im  klinischen  Bilde  als  zere¬ 
brale  Störungen  von  der  Art  des  vagen  „Meningismus“  ana¬ 
tomisch  als  Meningealödem,  histologisch  als  Schwellung, 
Zellinfiltration  und  Hämorrhagien  der  Pia  erkennen  lassen, 
nach  allen  Infektionskrankheiten  sich  finden  (Typhus,  1  neu- 
monie,  Scharlach,  Keuchhusten)  und  ich  selbst  verfüge  unter 
anderen  'Beobachtungen  von  postskarlatinösen  Zerebralattek- 
tionen,  über  die  ich  mir  demnächst  zu  berichten  erlauben 
will  über  einen  Fäll,  in  welchem!  sich  im  Anschluß  an 
Scharlach  das  vollkommene  Bild  einer  schweren  Hydro¬ 
zephalie  mit.  Kleinhirnsymptomen  eingestellt  hatte;  anato¬ 
misch  ergab  sich  Hydrozephalus  nach  abgelaufener  Menin¬ 
gitis  mit  Verschluß  des  Foramen  Magendi. 

Der  Genitalbefund  weicht,  wie  erwähnt,  bis  auf  che 
reichliche  Fettansammlung  nicht  von  der  Norm  ab.  Dieses 
Verhalten  entspricht  der  von  Tandler  und  Grosz  skiz¬ 
zierten  Möglichkeit  der  primären  Hypophysenerkrankung, 
als  deren  Folgen  Genitalatrophie  und  Fettwuchs  als  koordi¬ 
nierte  Konsequenzen  anzusprechen  wären.  In  unserem  Falle 
wäre  nur  die  Adipositas  zur  Entwicklung  gekommen  wah¬ 
rend  die  Genitalatrophie  ausgeblieben  ist.  Auch  Biedl  fand, 
daß  unter  32  Fällen  hypophysärer  Fettsucht  nur  12  Genital¬ 
atrophie  zeigten  und  daß  andrerseits  im  Beginne  des  Lei¬ 
dens  eine  genitale  Involution  nicht  immer  festzustellen  ist. 
Also  könnte  es  möglicherweise  in  unserem  Falle  noch  zu 
einer  solchen  kommen.  Im  Gegensalz  zu  solchen  Erlah- 
r u ngen  glaubt  B.  Fischer,  daß  die  Genitalstörungen  bei 
hypophysärer  Fettsucht  immer  viel  früher  auftreten,  als  die 
Adipositas  und  daß  schon  eine  leichte  Schädigung  des 
Hinterlappens  der  Hypophyse  zur  Störung  der  Gemtallunk- 
tion,  eine  schwere  erst  zur  Adipositas  führe.  . 

Die  leichte  Behaarung  der  Genitalgegend  ist  m  un¬ 
serem  Falle  mit  der  angenommenen  Hypophysenuntertunk- 
tion  nicht  recht  in  Einklang  zu  bringen.  Vielleicht  handelt  es 
sich  um  eine  nicht  zu  seltene  individuelle  Abnormität.  End¬ 
lich  verlangt  noch  die  Kleinheit  der  Körperhöhe  hervor¬ 
gehoben  zu  werden.  Die  Höhe  von  109  Cm!  entspricht  unge¬ 
fähr  dem  6.  bis  7.  Lebensjahre  und  läßt  an  einen  Stillstand  im 
Höhenwachstum  um  die  Zeit  der  Scharlacherkrankung 
denken.  Die  Röntgenogramme  der  Verknöcherungszonen  der 
Extremitätenknochen  zeigen  nichts  Abnormes.  Doch  ist  ein 
Stillstand  im  Wachstum  als  Folge  von  Hypophysen¬ 
unterfunktion  bekannt  (M  armes  c  o  -  G  o  1  d  s  t  ei  n,  Kurt 
Goldstein,  Babonneix-Paisseau).  Im  Tierexpenment 
fand  Aschner  neben  den  Symptomen  der  Dysplasia  adi¬ 
poso-genitalis,  wobei  auch  im  Körperinnern  Fettansammlung 
auftrat,  ein  Stehenbleiben  im  Wachstum  als  Folge  der  Hypo- 
physenexstirpation. 

Die  jüngere  Literatur  bringt  einige  Falle,  die  mannig¬ 
fache  Analogien  zu  unserer  Beobachtung  und  seiner  Deutung 
bringen.  Marinesco  und  Goldstein  berichten  über  zwei 
Fälle  mit  Hydrozephalus  und  allgemeiner  Adipositas.  Im 
ersten  Falle  handelt  es  sich  um!  einen  lojähngen,  links¬ 
bündigen 'Knaben,  der  vor  zwei  Jahren  plötzlich  unter  memn- 
<o tischen  Symptomen  und  Paresen  erkrankt  war.  Es  handel  e 
sich  um  einen  kleinen,  sehr  dicken  Jungen,  mit  großem 
Kopfe,  Lähmungserscheinungen  der  Beine,  Atrophia  nervi 
optici,  spastisch-ataktischem  Gang,  Hypoplasie  der  Genital¬ 
organe,  einseitiger  Kryptorchie,  Mangel  der  Behaarung  am 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Genitale  und  den  Achselhöhlen;  im  ganzen  ein  infantil- 
femininer  Typus.  Bei  der  Autopsie  fand  sich  starker  Hydro¬ 
zephalus  und  zystischer  Kleinhirntumor.  Hypophyse  und 
Testikeln  Waren  histologisch  alteriert.  Im  zweiten  Fallef  han¬ 
delte  es  sich  um1  ein  sechzehnjähriges  Mädchen  mit  sehr 
großem  Kopf,  starkem  Fettpolster,  besonders  am  Abdomen 
und  Hüften,  enormen  Brüsten,  Flexionsstellung  der  Beine, 
Reflexsteigerung,  sehr  geringer  Intelligenz,  spärlicher  Be¬ 
haarung  bei  normalem  äußeren  Genitale.  Bei  der  Obduktion 
fand  sieb  starker  Hydrozephalus  ohne  jedes  Neoplasma. 

Kurt  Gold  st  ein  teilt  drei  Fälle  von  Meningitis  serosa 
unter  dem  Bilde  hypophysärer  Erkrankung  mit.  Ein  18jäh- 
riger  Mann,  der  im  fünften  Lebensjahre  ein  Stehenbleiben 
im  Wachstum  zeigte,  mit  14  Jahren  an  Kopfschmerz  litt, 
seither  links  schlechter  sah.  Jetzt  für  sein  Alter  klein,  sehr 
reichliches  Fettpolster,  stark  entwickelte  Brüste,  Fettreich¬ 
tum  besonders  des  Abdomens,  des  Mons  veneris  und  am 
Becken,  kein  Haarwuchs  am  Körper,  rudimentär  entwickeltes 
Genitale,  großer  Schädel,  Pupillendifferenz,  Strabismus,  leb¬ 
hafte  Sehnenreflexe,  Atrophia  Nervi  optici.  —  Der  zweite 
Fall  betrifft  einen  zwölfjährigen  Knaben  mit  großem  Schädel ; 
vor  drei  Jahren  öfters  Erbrechen,  vor  zwei  Jahren  Sturz 
vom  Pferde  und  Zeichen  einer  Gehirnerschütterung.  Seit¬ 
her  Abnahme  der  psychischen.  Tüchtigkeit,  Zunahme  des 
Schädelumfanges,  Anfälle  von  Schwindel,  Dickenzunahme 
des  Gesichtes,  Vermehrung  des  Fettansatzes,  Verkleinerung 
des  Genitales,  im  ganzen  ein  femininer  Habitus.  Rechts 
Stauungspapille,  links  blasse  Papille  und  Abduzens1- 
schwäche.  Druckschmerzhaftigkeit  der  Wirbelsäule.  Nach 
Schmierkur  Besserung.  Röntgenologisch  keine  Veränderung 
der  Sella  turcica.  Wenn  auch  der  Gedanke  an  einen  Hirn¬ 
tumor  nahelag,  plädiert  Autor  doch  für  die  Diagnose  Menin¬ 
gitis  serosa.  —  Im  dritten  Fälle  handelt  es  sich  um  einen 
17jährigen  Jüngling,  der  als  Kind  oft  Kopfschmerzen  hatte, 
ein  sehr  kleines  und  fettreiches  Individuum  von  kindlichem 
Charakter,  mit  großem  Kopf,  ln  den  letzten  zwei  Jahren 
häufiger  Kopfschmerz  und  Abnahme  der  Sehkraft,  jetzt  sehr 
klein,  sehr  fettreich,  Gesicht  auffallend  breit,  infantil-femi¬ 
niner  Habitus,  geringe  Behaarung,  Atrophie  der  Hoden. 
Beiderseits  Atrophia  nervi  optici.  —  Für  alle  drei  Fälle 
nimmt  Goldstein  die  Diagnose:  hypophysäre  Fettsucht 
nach  Meningitis  serosa  in  Anspruch.  Es  handelt  sich  um 
geringe  (Erscheinungen  von  seiten  der  gestörten  Hypophysen¬ 
funktion  bei  gleichzeitigem  Bestehen  von  Zeichen  starken 
Hirndruckes.  Die  von  Gold  stein  diagnostisch  verwertete 
lange  Dauer  der  tSymlptome  beweist  allerdings  nichts  gegen 
das  eventuelle  Bestehen  eines  Tumors  (v.  Frankl -Hoch¬ 
wart). 

Ueber  Adipositas  universalis  bei  zwei  Geschwistern, 
einem  15jährigen  Jungen,  168  Pfund  Gewicht  und  168  cm 
Körperhöhe,  Kopfumfang  58  Cm  und  einem  9jährigen  Mäd¬ 
chen  von  100  Pfund  Gewicht,  149  cm  Höhe  und  56  cm 
Kopfumfang,  berichten  K  rück  mann  und  Meyer.  Es  be¬ 
stand  Optikusatrophie  und  konzentrische  Gesichtsfeldein¬ 
schränkung,  beim  Mädchen  auch  Retinitis  pigmentosa,  der 
Türkensattel  war  unverändert.  Diagnostisch  wurde  ein  me- 
ningitischer  Prozeß  in  Erwägung  gezogen,  der  gleichzeitig 
zu  einer  Druckatrophie  des  Sehnerven  und  zu  atrophischen 
Prozessen  in  der  Hypophyse,  etwa  zu  einem1  Hydrozephalus 
geführt  haben  konnten.  Der  Genitalbefund  wird  nicht  er¬ 
wähnt. 

Endlich  bringen  Babonneix  und  Paisseau  eine 
Reihe  von  sechs  Fällen  infantiler  Adipositas,  deren  einige 
an  unseren  Fall  erinnern.  Es  finden  sich  darunter  auffallend 
kleine  Individuen,  deren  manche  eine  bedeutende  Größe 
des  Kopfes  aufweisen.  In  einem  Falle  hatte  sich  der  ge¬ 
steigerte  Fettansatz,  wie  in  unserer  Beobachtung,  an  eine 
Scharlacherkrankung  angeschlossen. 

Schließlich  sei  noch  eines  Falles  gedacht,  den  ich 
vor  wenigen  Monaten  in  der  Wiener  Gesellschaft  für  Neuro¬ 
logie  und  Psychiatrie  demonstriert  habe  und  in  welchen! 
ein  unter  dem  Bilde  eines  Kleinhirntumors  verlaufender 
Fall  von  Hydrozephalus,  der  schließlich  zum  Rückgang, 


respektive  Stillstand  der  Symptome  gekommen  war,  sich 
bei  einem  4V2  Jahre  alten  Kinde  mit  plötzlich  einsetzend*  r 
Vermehrung  des  Fettansatzes  kombinierte.  Ich  bezog  auch 
in  diesem  Falle  das  Fetterwerden  des  Kindes  auf  eine 
Dehnung  der  Infundibulargegend  durch  den  hydrozephali- 
schen  Druck  und  auf  die  Druckläsion  der  Hypophysengegend. 

Solche  Beobachtungen,  zusammengehalten  mit  dem 
klinischen  Bilde  unseres  4  alles,  lassen  an  eine  Funktions- 
hemmung  der  Hypophyse  denken  u.  zw.  nach  B  Fischers 
Hypothese  des  nervösen  Anteiles  der  Drüse,  deren  Ursache 
wir  in  einer  hydrozephaiisohen  Ausweitung  des  Ventrikels 
und  speziell  des  dritten  Ventrikels,  in  einem  Druck  nach 
unten  und  Kompression  des  Hirnanhanges  zu  sehen  hätten. 
Daß  es  gerade  der  Boden  des  dritten  Ventrikels  ist,  der 
beim  Hydrozephalus  ausgeweitet  wird,  dafür  ziliert  Hold¬ 
ste  i  n  die  anatomischen  Befunde  von  K  u  p  f  e  r  b  e  r  g  -  B  ä  u  m- 
ler,  Finkelnburg  und  Oppenheim1.  Allerdings  ist  die 
sichere  Exklusion  von,  unter  Umständen  sehr  langsam  wach¬ 
senden  Tumoren,  nicht  immer  leicht,  selbst  wenn,  wie  in 
unserem  Falle,  sonstige  Druckerscheinungen  von  seiten  der 
basalen  Hirnnerven  fehlen.  Aber  gerade  die  Attacken  von 
Kopfschmerz  und  Schwindel,  der  Mangel  eines  Fortschreitens 
im  'objektiven  Befunde  und  die  Analogie  mit  ähnlichen 
Fällen  anderer  Beobachter  sprechen  für  die  Annahme  eines 
Hydrozephalus  ohne  primären  Tumor. 

Ich  möchte  noch  der  eklatanten  Wirkung  der  Schild¬ 
drüsendarreichung  auf  den  Rückgang  der  Fettsucht  ge¬ 
denken.  Wie  bereits  einleitend  erwähnt,  scheinen  manche 
Autoren  geneigt,  die  Wirkung  der  Thyreoidinpräparate  auf 
die  Fettleibigkeit  als  Kriterium1  thyreogener  Adipositas  gelten 
zu  lassen.  Wenn  mlan  jedoch  die  Beeinflussung  des  Wachs¬ 
tums  und  der  Funktion  der  Hypophyse  durch  die  Steige¬ 
rung  oder  Verringerung  der  Schilddrüsenfunktion  bedenkt, 
wenn  (man  berücksichtigt,  daß  die  Thyreoplasie  zur  Vo¬ 
lumsvermehrung  des  Hirnanhanges  führt,  so  fügt  sich  eigent¬ 
lich  die  Wirkung  der  Schilddrüsenpräparate  auf  die  Folgen 
der  geschmälerten  Hypophysenfunktion  ganz  logisch  in  die 
Kette  des  gegenseitigen  Abhängigkeitsverhältnisses  beider 
Drüsen. 

Wir  dürfen  also  vermuten,  daß  unter  Umständen 
infolge  von  Druckläsion  der  Hypophyse  durch 
einen,  den  dritten  Ventrikel  dehnenden  liydro- 
zephalischen  Erguß  ISy nip  t o men  b i  1  der  hypo¬ 
physärer  Adipositas  zustande  kommen,  wobei 
sich  Fettansammlung,  besonders  am  Abdomen,  ad  nates, 
als  mammenartige  Wülste  am  Thorax,  häufig  bei  Klein¬ 
bleiben  des  Körpers,  mit  Hirndrucksymptomen  kombinieren. 
Hiebei  kann  es,  muß  es  aber  —  wenigstens  anfänglich 
nicht  zur  ausgesprochenen  Genitalatrophie  kommen. 

Ich  möchte  nun  zwei  Fälle  zur  •Besprechung  bringen, 
in  welchen  es  sich  um  adipose  Kinder  handelt,  ohne  daß 
sichere  Erscheinungen  von  Fünktionsschädigung  der  Hypo¬ 
physe  zu  finden  waren. 

Fall  II.  Das  11  jährige  Mädchen  K.  H.,  ist.  das  zweite  Kind, 
das  ältere  ist  eher  mager.  Mit  zwei  Jahren  hatte  es  eklamp tische  An¬ 
fälle,  seit  jetzt  2V2  Jahrein  häufige  typische  epileptische  Attacken, 
die  auch  nachts  kommen,  mit  universellen  klonisch-tonischen 
Zuckungen  und  Bewußtseinsverlust.  Manchmal  zeigen  die  An¬ 
fälle  angeblich  eine  Bevorzugung  der  rechten  Seite.  Das  Kind 
ist  intellektuell  kaum  zurückgeblieben  uinld'  soll  in  der  Schule, 
die  es  bis  vor  einem  Jahr  besuchte,  leidlich  entsprochen  haben. 

Wir  finden  (Fig.  3  und  4)  ein  ribenausl  fettes  und  die  Älters- 
größe  überragendes  Mädchen,  4414  kg  schwer,  also  um  die  Hälfte 
schwerer,  als  es  seinem  Alter  entspricht.  Es  ist  135  cm  hoch 
(130  entspräche  in  der  Norm).  Alle  Körperpartien  erscheinen  volu¬ 
minöser,  fetter,  am  größten  sind  die  Fettdepots  am  Bauche,  den 
Flanken  und  am  Gesäß.  Das  Gesicht  ist  Maß,  etwas!  gedunsen, 
besonders  in  der  Gegend  der  oberen  Lider,  der  Gesichtsausdruck 
.ernst.  Deutlich  läßt  sich  eine  größere  Unterlänge  des  Körpers 
konstatieren.  Es  bestehen  weiters  Genua  valga.  In  der  nervösen 
Sphäre  findet  sich  eine  rechtsseitige  Parese  des  Mundfazialis  und 
eine  leichte  Deviation  der  vorgestreckten1  Zunge  nach  links. 
Bei  Untersuchungen  knapp  nach  einem  Anfall  war  eine  Steige¬ 
rung  des  rechten  Pätellarsebnenreflexes  und  des1  linken  Bauch  - 
decken  reflexes  festzustellen.  Weiters  wäre  hervorzuheben,  daß 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


seit  mehreren  Monaten  Achsel  haare  und  kurze  Schamhaare 
sprossen.  Wir  sehen  auch  stärkere,  allerdings  vollständig  paren- 
chvmfreie  Brüste.  Bei  Untersuchung  des  Genitales  per  'anum 
konnte  Kollege  Dir.  Josef  Botndi  ein  deutliches  rechtes  Ovarium 
und  einen  sehr  kleinen,  jedoch  nicht  pathologisch  kleinen  Uterus 
finden.  Der  Hämoglobingehalt  beträgt  61°/o,  Der  Augenbefund 
(Dr.  R.  Hitschmann)  ergab:  Visus  rechts  g/g,  links  6/s,  Hyper¬ 
metropic  von  0-5  Dioptrien,  Spiegelbefund  und  Gesichtsfeld  beider¬ 
seits  normal.  Der  Röntgenbefund  des  Schädels  (Priv.-Doz.  Doktor 


Fig.  3,  Fig.  4. 

Schüller)  lautete:  Hydrozephalischer,  ziemlich  dünner  Schädel, 
ohne.  Zeichen  von  Usur  der  Innenfläche.  Hypophysengrube  ge¬ 
räumig,  aber  nicht  pathologisch  vergrößert.  Brompräparate  hatten 
keinen  deutlichen  Einfluß  auf  die  Epilepsie,  ihre  Kombination  mit 
Schilddrüsenpräparaten  wirkte  überraschend  deutlich  bessernd 
auf  die  Zahl  der  Anfälle,  die  darauf  oft  eine  Woche  lang  zessierten, 
während  die  Fettleibigkeit  kaum  beeinflußt  wurde. 

Fall  III.  Der  6jährige  Knabe  (Fig.  5),  Fritz  ß.,  hatte  schon 
mit  drei  Jahren  ein  Gewicht  von  25  kg,  in  den  ersten  zwei  Lebens¬ 
jahren  öfters  „Fraisen“.  Er  ist  jetzt  118  cm  groß:  und  wiegt 
31-2  kg.  Sein  Bauchumfang  beträgt  75  cm,  sein  'Brustumfang 
71  ein.  Wir  finden  an  dem  intellektuell  normal  entwickelten, 
monströs  erscheinenden  Kinde  ein  dickes,  besonders  an  der  un¬ 
teren  Körperhälfte  enormes  Fettpolster,  eine  mammaartige  sub¬ 
kutane  Fettschichte  am  Thorax,  ein  Ueberwiegen  der  Unterlänge 
gegenüber  der  Oberlänge,  leichte  Genua  valga  und  sekundären 
Plattfuß.  In  der  nervösen  Sphäre  bestanden  früher  Absenzen, 
Plötzlich  einsetzendes  verlorenes  Hirnstarren  ohne  deutlichen 
Bewußtseinsverlust  und  eine  auch  jetzt  leicht  erkennbare  Parese 
im  rechten  Mundfazialis.  Als  wichtiges  Symptom  ist  die  auf- 
fallende  Kleinheit  der  Testikel  zu  betonen.  Die  Hoden  sind  etwas 
größer  als  eine  Erbse.  Von  Hypophysendarreichung  war  kein 
Erfolg  zu  sehen.  Der  Röntgenbefund  des  Schädels  ließ  keine  pa¬ 
thologischen  Verhältnisse  erkennen.  Auf  Schilddrüsendarreichung 
Schwinden  der  Absenzen. 

Die  beiden  Fälle  zeigen  in  einigen  Punkten  eine  ge¬ 
wisse  Aehnlichkeit,  in  anderen  fehlt  eine  solche.  Die  reich¬ 
liche  Fettansammlung  im  Unterhautgewebe  mit  Bevorzugung 
jener  Regionen,  die  Tandler  und  Grosz  an  der  Hand 
eines  reichlichen  Materiales  als  typische  Lokalisationen  des 
eunuchoiden  Fettwuchses  bezeichnen,  die  größere  Unter¬ 
länge  des  Körpers  und  schließlich  die  epileptischen  Zustände 
sind  beiden  Fällen  gemeinsam.  Die  Beobachtungen  weichen 
\  oneinander  ab  darin,  daß  wir  im  dritten  Falle  eine  mani¬ 


feste  Unterentwicklung  der  Genitaldrüsen  finden,  die  im 
zweiten  Falle  nicht  festzustellen  ist  und  daß  wir  im  Röntgen¬ 
befunde  des  dritten  Falles  positive  pathologische  Verände- 


Fig.  5. 

rungen  vermissen,  während  im  zweiten  Falle  die  Dünnheit 
der  Schädelknochen  und  die  geräumige  Hypophysengrube, 
allerdings  fragliche,  Folgezustände  eines  Hydrozephalus  sein 
könnten. 

Die  hervorgehobenen,  beiden  Beobachtungen  gemein¬ 
samen  somatischen  Befunde  sprechen  mit  Sicherheit  für  das 
Vorliegen  jenes  dystrophischen  Symptomenkomplexes,  den 
Tandler  und  Grosz  zum  Unterschied  vom  eunuchoiden 
Hoch  wuchs  als  eunuchoiden  Fett  wuchs  bezeichnen.  Dieser 
dystrophischen  Körperkonfiguration  liegt  eine  Funktions¬ 
schädigung,  eine  Hypoplasie  des  interstitiellen  Gewebes  der 
Genitaldrüsen  zugrunde,  welches  als  Parenchym1  mit  eigener 
innerer  Sekretion  die  Entwicklung  der  sekundären  Ge¬ 
schlechtscharaktere  und  den  Ablauf  der  normalen  Ossi¬ 
fikation  regelt.  Ein  lebhaftes  biologisches  Interesse  verdie¬ 
nen  solche  nicht  gar  zu  seltenen  (Bahonn eix-Paisseau, 
Variot,  Apert)  Fälle  von  Eunuchoidismus  im  Kindes¬ 
alter  schon  aus  dem  Grunde,  weil  sie  die  evolutionäre  und 
funktionelle  Unabhängigkeit  dieses  interstitiellen  Gewebes 
von  der  Entwicklung  des  im  Kindesalter  noch  funktions¬ 
losen  generativen  Anteiles  der  Geschlechtsdrüsen  beweisen. 
Haben  wir  im  dritten  Falle  in  der  manifesten  Kleinheit 
der  Hoden  und  in  dem  Fehlen  eines  direkten  Hinweises  auf 
andere  Drüsen  mit  innerer  Sekretion  einen  deutlichen  An¬ 
haltspunkt  für  die  Annahme  eines  „primären  Disgenitalis¬ 
mus“,  so  fehlt  uns  ein  solcher  im  zweiten  Falle,  in  welchem 
wir  keine  positiven  Anhaltspunkte  für  eine  primäre  Genital¬ 
hypoplasie  finden.  Hier  spricht  jedoch  die  typische  Form 
der  Fettleibigkeit  und  die  anderen  genannten  Erscheinungen 
mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  für  dieselbe  ätiologische  Ur¬ 
sache. 

Tandler  und  Grosz  bezeichnen,  wie  es  scheint,  mit 
vollem  Rechte,  den  Eunuchoidismus  als  nicht  zu  seltene 
Affektion.  Dadurch,  daß  nach  ihrer  Erfahrung,  abweichend 
von  den  Resultaten  experimenteller  Erfahrungen,  die  Wech¬ 
selbeziehung  zwischen  Hypophyse  und  Keimdrüse  insoferne 
klinisch  nicht  nachweisbar  ist,  als  eine  Vergrößerung  der 
Hypophyse  (wenigstens  im  Röntgenogramme)  eunuchoider 
Individuen  nicht  festgestellt  werden  kann,  gewinnt  das 
Krankheitsbild  des  echten  (disgenitalen)  Eunuchoidismus 
eine  schärfere  Abgrenzung  gegenüber  den  durch  Hypophy¬ 
senschädigung  zustande  gekommenen  Fällen  von  Adipo- 
silas.  Auch  in  diesem  Punkte  erscheint  unser  zweiter  Fall 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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nicht  vollständig  geklärt,  denn  der  Befund  der  geräumigen 
Hypophysengrube  läßt  immerhin  an  eine  primäre  Schädi¬ 
gung  des  Hirnanhanges  denken  und  das  Fehlen  eines  solchen 
Befundes  schließt  diese  nicht,  aus. 

Größere  (Bedeutung  erheischen  unsere  beiden  Fälle  mit 
Bezug  auf  die  nachweisbaren  Symptome  der  nervösen 
Sphäre.  Es  handelt  sich  in  beiden  Fällen  um1  epileptische 
Zustände,  im  zweiten  um  typische  große  epileptische 
Attacken,  mit  Bewußtseinsverlust,  im  dritten  um  Absenzen 
ohne  motorische  Reizerscheinungen.  Außerdem  bestanden 
in  beiden  Fällen  Halbseitenerscheinungen,  die  sich  bei  dem 
Mädchen  neben  der  Fazialisparese  in  Reflexdifferenzen 
äußerte,  indem  analog  den  Beobachtungen  Redlichs  knapp 
nach  dem  Anfall  eine  Steigerung  der  tiefen  Reflexe  auf  der 
einen,  eine  Steigerung  des  Bauchdeckenreflexes  auf  der  än¬ 
deren  Seite  nachweisbar  war,  während  bei  dem  Knaben 
lediglich  eine  einseitige  Parese  des  Mundfazialis  bestand. 

Auf  die  Kombination  von  Epilepsie  mit  gesteigertem 
Fettwuchs  wies  als  einer  der  ersten  R.  Stern  (Ambula¬ 
torium  v.  Frankl -Hoch  warts  an  der  Noordenschen 
Klinik)  hin.  Er  erwähnt  lange  dauernde,  epileptische  Er¬ 
krankungen 'bei  einer  Gruppe  von  Fällen,  die  allerdings  nicht 
in  ihrem  weiteren  Verlauf  studiert  werden  konnten.  Es  waren 
Fälle,  die  durch  ihren  Habitus  an  den  adiposogenitalen 
Typus  bei  Hypophysentumoren  erinnerten  (Typus  Fröh¬ 
lich),  ohne  daß  aber  der  Nachweis  dieses  Leidens  geführt, 
werden  konnte  und  die  über  größere  Zeiträume  hin  an 
seltenen  und  dann  meist  serienweise  auf  tretenden  Anfällen 
litten.  Es  handelte  sich  um  sechs  Fälle  dieser  Art.  Alle 
waren  auffallend  adipose  Menschen  mit  einem  Gewicht  über 
100  kg  oder  nahe  daran,  mit  geringer  Behaarung  der  Achsel¬ 
und  Schamgegend,  alle  steril,  mit  etwas  gedunsenem  Ge¬ 
sicht  und  trockener  Haut;  die  männlichen  Kranken  mit 
einer  Andeutung  von  Gynäkomastie.  Augenstörungen  fehlten 
ganz,  ebenso  irgendwelche  andere  Tumorsymptome.  Hie 
Röntgenuntersuchung  der  Sella  turcica  konnte  nur  an  zwei 
Fällen  vorgenommen  werden  und  ergab  keine  merklichen 
Veränderungen.  Diese  Patienten  hatten  nun  ganz  selten, 
drei  bis  viermal  im  Jahre,  typische,  zumeist  serienweise 
auftretende  Anfälle.  Aetiologisch  schienen  diese  Fälle,  mit 
Rücksicht  auf  die  Adipositas  und  das  serienweise  Auftreten 
der  Anfälle,  auf  eine  Stoffwechselstörung  unbestimmter  Na¬ 
tur  hinzuweisen.  In  bezug  auf  den  Verlauf  konnte  man 
einen  lange  beobachteten  Fall  entschieden  als  gutartig  auf¬ 
fassen,  in  zwei  ähnlichen  Fällen  hatte  Thyreoidin  ganz 
günstig  auf  die  Anfälle  eingewirkt. 

In  jüngster  Zeit  finden  wir  bei  P  e  ri  t  z  einen  52jährigen 
typischen  'Eunuchoiden  erwähnt,  der  erst  seit  zwei  bis 
drei  Jahren  Anfälle  von  petit  mal,  in  letzter  Zeit  schwere 
epileptische  Anfälle  hatte.  Der  Patient  hatte  ein  sehr  kleines 
Genitale,  keine  nachweisbaren  Hoden,  keine  Behaarung. 

Es  fällt  wohl  schwer,  einen  pathogenetischen  Zusam1- 
menhang  zwischen  der  eunuchoiden  Entwicklungsstörung 
und  dem  Auftreten  epileptischer  Symptome  zu  konstruieren. 
In  unseren  Fällen  liegt  es  nahe,  nicht  an  eine  genuine 
Epilepsie  zu  denken,  sondern  das  Bestehen  halbseitiger 
motorischer  Ausfallerscheinungen  für  die  Annahme  organi¬ 
scher  Affektionen  des  Gehirnes  zu  verwerten.  Inwieweit 
die  Annahme  eines  identischen  ätiologischen  Momentes 
einerseits  der  supponierten  zerebralen  Veränderungen,  an¬ 
derseits  der  gestörten  Entwicklung  oder  Funktion  der  Geni¬ 
taldrüsen  (Zwischenzellen)  oder  des  Hirnanhanges  berech¬ 
tigt  erscheinen  könnte,  dafür  fehlen  bisher  Anhaltspunkte 
der  Klinik  und  der  Anatomie.  Die  epileptischen  Symptome 
der  Genital-,  resp.  der  Hypophysenfunktion  oder  die  Adipo¬ 
sitas  der  Epilepsie  kausal  unterzuordnen,  auch  hiefür  haben 
wir  bisher  keine  Anhaltspunkte  oder  Analogien. 

Bei  der  relativen  Häufigkeit  des  Eunuchoidismus 
(Hypopituitarismus)  beanspruchen  unsere  Fälle  insofern  ein 
Interesse,  als  es  sich  um  Entwicklung  des  eunuchoiden 
Habitus  vor  der  Pubertät,  also  um  eine  Funktionsstörung 
des  interstitiellen  Gewebes  vor  Funktionsbeginn  des  gene¬ 
rativen  Parenchyms  handelt  und  weiters,  insofern  sie  durch 


Kombination  des  Eunuchoidismus  mit  epileptischen  Sym¬ 
ptomen  (wahrscheinlich  organischer  Natur)  neue  ungelöste 
Probleme  mit  Bezug  auf  die  Pathogenese  aufwerfen. 

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schlechtsdrüsen  etc.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910;  über  den  Einfluß 
der  Kastration  auf  den  Organismus,  III.,  »Eunuchoide«.  Arch.  f.  Entwick- 
lungsmech.  1910,  Bd.  29.  —  Thibierge  bei  Hutinel-Tixier.  —  V  a- 
ri  ot  G.,  Dystrophie  orchidienne  etc.  Bull,  de  la  Soc.  de  pediatrie  de 
Paris  1901,  Bd.  3. 


Zur  Kenntnis  der  Lungendistomumkrankheit. 

Von  Dr.  Y.  Tanaka,  Professor  an  der  medizinischen  Hochschule  zu 

Osaka  in  Japan. 

I.  Zur  Frage  über  das  Wesen  der  wurm  haltigen 
Höhlen  i  n  '  d  e  r  Lu  n  g  e. 

Revor  ich  meine  Reobachtungen  über  die  vorliegende 
Frage  mitteile,  will  ich  zunächst  die  allgemeine  Reschaffen- 
heit  der  in  Retraclit  kommenden  Höhlen  kurz  besprechen. 

Wie  bekannt,  ist  die  Lungendistomumkrankheit,  die 
in  Japan  sehr  viel  herrsdht,  durch  die  Höhlenbildung  in 
der  Lunge  mit  einem  wurmeierhaltigen,  blutigen  Auswurf 
charakterisiert  und  kann  nicht  nur  die  Menschen,  sondern 
auch  clie  Säugetiere,  insbesonders  Tiger  (Kerb er t),  Katzen 
und  Hunde  (Wald,  Inoue  und  Katsurada)  befallen. 
Die  Sektion  der  mit  Würmern  behafteten  Individuen  ergibt 
die  eigentümliche  Höhlenbildung  in  der  Lunge.  Die  Höhlen 
von  verschiedener  Größe  (Erbsen-  bis  Kleinfingerspitizen- 
größe)  existieren  gewöhnlich  im  oberflächlichen  Teile  der 
Lunge  und  haben  in  der  Regel  rundliche  Form.  In  denselben 
befinden  sich  Würmer  und  eine  zähflüssige,  blutig-schleimige 
Masse,  in  welcher  Eier,  Charkot-Ley densche  Kristalle 
und  mehr  oder  weniger  reichliche  eosinophile  Leukozyten 
vorhanden  sind.  Eine  Höhle  enthält  in  der  Regel  einen 
Wurm,  indessen  gibt  es  auch  Fälle,  wo  sich  in  einer  Höhle 
zwei  oder  drei  Exemplare  des  Parasiten  erkennen  lassen. 
Inoue  u nd  Katsurada  hatten,  wie  früher  Kerber t  in 
der  Lunge  des  Tigers  beobachtete,  bei  Katzen  und  Hunden 
immer  zwei  Würmer  in  einer  Höhle  beisammen  liegen  ge¬ 
sehen.  Die  Wand  der  Höhlen  besteht  aus  einem  verhältnis¬ 
mäßig  entwickelten  Rindegewebe,  das  mit  kleinzelliger  In¬ 
filtration  durchsetzt  ist.  Die  Innenfläche  derselben  isl  meist 
glatt. 


Nr.  2 


50  WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nun  entsteht  die  Frage,  auf  welche  Weise  die  Höhlen 
gebildet  werden  können.  Hie  Beantwortungen  dafür  sind 
verschieden.  Otani  sah  die  Höhle  für  eine  Erweiterung 
der  kleinen  Gefäße  in  der  Lunge  an.  Yamagiwa  schrieb, 
daß  sie  durch  Erweichung  des  Lungengewebes,  durch  Ein¬ 
wirkung  des  Wurmes  entstände.  Leuc'kart  leugnete  die 
Entstehung  der  Höhle  aus  den  Bronchien  und  sagte,  „jeden¬ 
falls  stimmen  die  Angaben  darin  überein,  daß  es  nicht  die 
Wand  oder  Höhle  der  Bronchien  ist“,  im  Gegensatz  dazu 
behaupteten  Katsurada  und  Inoue,  daß  die  Bronchien 
die  Grundlage  für  die  Entstehung  der  Höhle  bilden.  Sie 
hatten  eine  gewisse  Zahl  von  Lungen  mit  Würmern  unter¬ 
sucht  und  kamen  zum  Resultat,  daß  die  Höhlen  häufig 
mit  den  Bronchien  kommunizieren  und  daß  die  Innenfläche 
der  Wand  derselben  mit  geschichtetem  Zylinderepithel  oder 
Plattenepithel  ausgekleidet  ist. 

Zur  Entscheidung  der  so  noch  nicht  sichergestellten 
Frage  über  das  Wesen  der  Höhlen  habe  ich  zwei  Fälle 
von  Lungendistomumkrankheit,  die  vor  wenigen  Jahren, 
zur  Zeit  meines  Aufenthaltes  auf  der  Insel  Formosa,  in  der 
dortigen  medizinischen  Hochschule  von  mir  seziert  wurden, 
einer  eingehenden  Untersuchung  unterworfen  und  folgendes 
Resultat  erhalten. 

Fall  I.  Ein  männlicher  Hund  von  ziemlich  abgemagertem 
Zustande  wurde  wegen  einer  experimentellen  pathologischen  Prü¬ 
fung  getütet.  Bei  der  Sektion  fand  ich  zufällig  in  der  rechten 
Lunge  drei  Höhlen  mit  lebendigen  Würmern.  Eine  etwa  erbsen¬ 
große,  rundliche  Höhle  befand  sich  an1  einer  3  mm  von  der  Pleura 
entfernten  Stelle  der  unteren  Partie  des  Oberlappens.  Eine  zweite 
Höhle  von  Bohnengröße  lag  im  subpleuralen  Teile  der  oberen' 
Partie  des  Mittellappens.  Jede  Höhle  war  außer  von  zwei  Würmern 
mit  einer  rotbräunlichen  schleimig-blutigen  Flüssigkeit  gefüllt  und 
mit  einer  dünnen,  grauweißlichen  bindegewebigen  Membran  ver¬ 
kapselt.  Eine  dritte  Höhle  von  Kleinfingerspitzengröße  befand  sich 
in  der  Nähe  der  zweiten.  Sie  war  mit  einer  grauweißlichen,  kä¬ 
sigen  Masse  (abgestorbener  Wurm)  gelullt  und  durch  eine  ziemlich 
derbe  bindegewebige  Substanz  begrenzt.  Nach  einer  genaueren 
Untersuchung  gelang  es  mir,  nachzuweisen,  daß  alle  Höhlen 
mit  den  kleinen  Bronchien  kommunizieren. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  von  Wurmherden  an¬ 
gefertigten  histologischen  Präparate  ergab  folgendes : 

Die  Wand  der  ersten  und  zweiten  Höhle  bestand  aus  einem 
verhältnismäßig  zellreichen  Bindegewebe.  Die  Zellen  hatten  teils 
rundliche,  teils  spindelförmige  Gestalt.  Die  neugebildeten  Ka¬ 
pillaren  waren  ziemlich  reich.  Im  Bindegewebe  ließen  sich  die 
langspindelförmigen  Zellen  mit  stäbchenförmigem  Kerne  überall 
erkennen.  Hie  und  da  wurden  auch  die  elastischen  Fasern  in 
geringer  Menge  nachgewiesen.  Außerdem  konnte  ich  nicht  selten 
im  Bindegewebe  stellenweise  kleine  Schleimdrüsen  finden. 

Die  Innenfläche  der  bindegewebigen  Wand  war  mit  dem 
unregelmäßig  angeordneten  Zylinderepithel  ausgekleidet.  An  den 
Kommunikationsstellen  der  Höhlen  mit  den  Bronchien  wurde 
ein  kontinuierlicher  Uebergang  zwischen  den  teilweise  in  glatte 
Formen  umgewandelten  Zylinderepithelien  an  der  Innenfläche 
der  Wand  und  dem  Epithelüberzug  an  der  Schleimhaut  der 
Bronchien  beobachtet. 

Die  Wand  der  dritten  Höhle  bestand  aus  einem  dichten, 
zellarmen  fibrösen  Bindegewebe  und  spärlichen  glatte)) 
Muskelzellen.  Die  Bindegewebsfasern  zeigten  zum  Teile  hyaline 
Degeneration.  Die  elastischen  Fasern  waren  fast  ganz  verschwun¬ 
den.  An  einigen  Stellen  kamen  die  kleinen  Schleimdrüsen  nur 
in  sehr  geringer  Zähl  vor.  Die  Innenfläche  der  Höhlenwand  war 
auf  große  Strecken  mit  abgeplatteten  Epithelzellen  ausgekleidet. 

Die  angegebenen  histologischen  Tatsachen,  nämlich, 
das  Vorkommen  der  glatten  Muskelzellen  und  der  kleinen 
Schleimdrüsen  in  der  Höhlenwand  und  die  Auskleidung 
der  iEpithelschicht  an  der  Innenfläche  der  Wand,  sowie 
die  direkten  Beziehungen  der  Höhlen  zu  den  Bronchien, 
weisen  mit  Sicherheit  darauf  hin,  daß  die  Höhlen  im  obigen 
Falle  ihre  Entstehung  den  Erweiterungen  der  kleinen  Bron¬ 
chien  verdanken. 

Aber  ich  kann  nicht,  auf  der  Behauptung  bestehen, 
daß  die  wurmhalligen  Höhlen  jedenfalls  durch  Erweiterung 
der  Bronchien  entstehen  können,  denn  es  gibt  auch  Höhlen, 
bei  denen  man  einen  Zusammenhang  mit  Bronchien  und 
an  der  Innenfläche  der  Wand  den  Epithelüberzug  nicht 


nachweisen  kann.  So  hat  Katsurada  geschrieben,  daß 
er  in  einer  verhältnismäßig  großen  Zahl  von  Wurmhöhlen 
der  'menschlichen  Lunge  keine  direkten  Beziehungen  zu 
den  Bronchien  gefunden  hat  und  daß  die  Höhlen  entweder 
durch  'Erweiterungen  von  Bronchien  oder  durch  Zysten¬ 
bildungen  des  Lungengewebes  verursacht  werden  können. 
Zum  Beweis  für  die  letzte  Entstehungsart  der  Höhlen  führe 
ich  den  folgenden  Fäll  an. 

Fall  II.  Ein  37 jähriger,  schlecht  genährter  Mann  starb 
am  Magenkrebs.  Bei  der  Sektion  der.  Brustorgane  fand  ich  un¬ 
erwartet  zwei  Wurmherde  in  der  rechten  Lunge. 

Im  oberflächlichen  Teile  der  Lungenspitze  befand  sich  eine 
erbsengroße,  spaltförmige  £averne,  ferner  ein  ebensolcher  Herd 
in  der  Mitte  des  Oberlappens.  Jede  Höhle  enthielt  einen  Wurm 
und  wurde  durch  eine  ziemlich  derbe  bindegewebige  Kapsel  um¬ 
schlösse)).  Eine  Kommunikation  mit  den  Bronchien  wurde  nicht 
konstatiert. 

Der  mikroskopische  Befund  ist  folgender: 

Die  Kavernenwand  bestand  aus  einem  dichten  fibrösen 
Bindegewebe  mit  spärlicher  Zelleninfiltration.  Nirgends  konnte 
man  glatte  Muskelzellen  und  kleine  Schleimdrüsen  linden.  An 
der  Innenfläche  der  Wand  fehlten  ganz  und  gar  die  Epithel¬ 
zellen. 

Der  vorliegende  histologische  Befund  stimmt  offen¬ 
bar  'mit  demjenigen  vom  ersten  Fälle  nicht  überein.  Die 
Abwesenheit  der  glatten  Muskelzellen  und  der  kleinen 
Schleimdrüsen  in  der  Höhlenwand,  sowie  das  Fehlen  des 
Epithelüberzugs  an  der  Innenfläche  derselben  weisen  darauf 
hin,  daß  die  Höhlen  in  diesem1  Falle  ihren  Ursprung  nicht 
in  den  Erweiterungen  der  kleinen  Bronchien  haben  und 
es  sich  wahrscheinlich  um  die  durch  die  Erweichungen 
des  Lungengewebes  hervorgerufenen  Zystenbildungen  han¬ 
delt.  Berücksichtigt  man  die  Möglichkeit,  daß  das  Lungen- 
distomum  in  verschiedenen  anderen  Geweben,  wie  Gehirn, 
Hodensack,  Augenlider,  seröse  Haut  u.  a.,  eine  Erweichungs¬ 
zyste  erzeugen  kann,  so  liegt  es  nahe,  anzunehmen,  daß 
die  Wurmhöhlen  in  der  Lunge  auch  durch  die  Gewebs- 
erweichungen  gebildet  werden  können. 

II.  Zur  Kasuistik  der  parasiteneierhaltigen  tu- 
b erkelartigen  Neubildungen  im  P e r i t o n e u m. 

Obwohl  das  Lungendistomum  vorzugsweise  die  Lunge 
zu  seiner  Wohnung  wählt,  so  ist.  es  doch  nicht  auf  dieses 
Organ  beschränkt.  Daß  es  nicht  nur  die  Lunge,  sondern 
auch  verschiedene  Gewebe  anzugreifen  und  pathologische 
Veränderungen  hervorzurufen  vermag,  ist  von  einer  Reihe 
von  japanischen  Forschern  festgestellt,  worden.  Otani  und 
Katsurada  fanden  in  einigen  Fällen,  die  durch  den  Pa¬ 
rasit  verursachten  Erweichungszysten  im  Gehirn.  Miyake 
sab  in  einem  Falle  einen  durch  Wurm  hervorgerufenen 
Erweichungsherd  im  Augenlide,  ferner  Taniguchi  einen 
ebensolchen  Herd  in  dem  Hodensack  und  der  Augenhöhle. 
Tsuge  beobachtete  einen  freiliegenden  Wurm  in  der  Bauch¬ 
höhle. 

Bemerkenswert  ist  ein  von  M.  Mlura  gefundener  Fall 
von  Fremdkörpertuberkulose,  bedingt  durch  die  Distomum- 
eier.  Er  fand  bei  der  Sektion  eines  an  der  Beriberikrankheit 
gestorbenen  Mannes  zufäliig  zahlreiche  miliartuberkelartige 
Neubildungen  in)  Omentum  major.  Nach  der  mikroskopi¬ 
schen  Untersuchung  gelang  es  ihm,  nachzuweisen,  daß  sich 
in  diesen  Knötchen  die  Wurmeier  befänden.  Wenn  er  aber 
auch  'die  Muttertiere  in  den  Lungen  und  sonstigen  Organen 
nicht  finden  konnte,  so  war  er  doch  der  Meinung,  idaß 
diese  Wberkelartigen  Knoten  durch  die  von  irgendeiner 
Stelle  aus  in  die  Saftkanäle  iml  Peritoneum  eingeschleppten 
Parasiteneier  verursacht  waren. 

ln  neuerer  Zeit  habe  ich  einen  ähnlichen  Fall  beob¬ 
achtet.  Da  dieser  Fall  .mir  mehr  oder  weniger  interessant 
zu  sein  scheint,  möchte  ich  darüber  kurz  Mitteilung  machen. 

Es  handelte  sich  um  eine'n  47jährigen,  kräftig  gebauten 
Mann,  der  infolge  einer  größeren  Blutung  in  der  Bauchhöhle 
durch  die  Perforation  eines  sackförmigen  Aneurysmas  der  Aorta 
abdominalis  plötzlich  starb.  Bei  der  Sektion  bemerkte  ich  zu¬ 
fällig  folgende  Veränderungen  an  dem  Peritoneum:  Am  Mesente¬ 
rium  befänden  sich  stellenweise  mehrere  grauweißliche,  miliare 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


51 


und  reiskörnergroße  Knötchen.  An  der  Mitte  des  Netzes  befand 
sich  ein  zystenartiger  Herd  von  Bohnengröße-.  Seine  Wand  be¬ 
stand  aus  einem  derben,  gpauweißlichen  Bindegewebe,  an  welchem 
sich  die  miliaren  Knötchen  zerstreut  erkennen  ließen.  Der  Hohl¬ 
raum  war  mit  einer  getrockneten,  käsigen  Masse  ausgefüllt. 
Ein  ebensolcher,  aber  erbsengroßer  Herd  lag  auch  an  der  oberen 
Partie  des  Netzes.  In  den  sonstigen  Organen  wurden  außer  hoch¬ 
gradiger  Anämie  keine  nennenswerten  Veränderungen  wahrge¬ 
nommen. 

Die  mikroskopischen  Untersuchungen  des  oben  erwähnten 
pathologischen  Materials  ergaben  folgendes: 

1.  Die  tuberkelartigen  Knötchen  weisen  alle  das  Bild  des 
fibrösen  Tuberkels  auf:  jedes  Knötchen  besteht  aus  den  spär¬ 
lichen  spindelförmigen  epithelioiden  Zellen  und  Bindegewebs¬ 
fasern  von  größerer  Zahl.  Die  letzteren  sind  zum  großen  Teile 
in  hyaline  Homogensubstanz  degeneriert.  An  den  Stellen,  die 
der  hochgradigen  hyalinen  Degeneration  anheimfallen,  kann  man 
gleichzeitig  eine  Kalkablagerung  sehen.  Die  Umgebung  jedes 
Knötchens  zeigt  mehr  oder  weniger  Kleinzelleninfiltration.  Im 
Zentrum  jedes  Knötchens  befindet  sich  ein  eigentümliches  Wurmei. 
Die  Eier  haben  meist  ovale  Gestalt  und  eine  dünne,  gelbbräun¬ 
liche  Schale,  die  eine  deutliche  Doppelkontur  zeigt.  Ein 
Deckelchen  ist  an  einem  Ende  zu  bemerken.  Der  Inhalt  ist  meist 
feinkörnig.  Indessen  ist  eine  gewisse  Anzahl  von  Eiern  häufig 
verkalkt  und  schließlich  ganz  zerfallen  und  verschwunden.  Uin 
die  Eier  kommen  häufig  die  vielkörnigen  Riesenzellen  zum  Vor¬ 
schein.  Eine  gewisse  Anzahl  dieser  Riesenzellen  dringt  in  die 
Eischalen  ein  und  scheint  den  Inhalt  zu  fressen.  Die  Größe  der 
Eier  beträgt  durchschnittlich  0-08  mm  in  der  Länge  und  0-045  mm 
in  der  Quere. 

2.  Die  zystenartigen  Herde.  Die  bindegewebige  Wand  der¬ 
selben  besitzt  mehrere,  nebeneinander  liegende  submiliare  Knöt¬ 
chen,  die  im  histologischen  Bild  mit  den  oben  erwähnten  ganz 
identisch  sind.  Ebenfalls  umschließt  jedes  Knötchen  ein  Ei. 
Eine  gewisse  Anzahl  der  Eier  ist  mit  Riesenzellen  ausgefüllt  und 
sogar  verkalkt.  Zwischen  jedem  Knötchen  bildet  sich  Granula¬ 
tionsgewebe,  in  welchem  neben  Lymphozyten  und  Fibroblasten 
auch  mehr  oder  weniger  reichliche  eosinophile  Leukozyten  aul¬ 
treten.  Der  Inhalt  im  Hohlraum  besteht  aus  einer  feinkörnigen, 
strukturlosen  Masse,  in  welcher  sich  zahlreiche  Eier  zerstreut 
erkennen  lassen. 

Auf  Grund  der  angegebenen  histologischen  Befunde 
habe  ich  das  Recht,  die  Auffassung  auszusprechen,  daß 
diese  tuberkelartigen  Neubildungen  durch  Lungendistomum- 
eier  ihervorgerufen  sind,  obwohl  ich  kein  Muttertier  ge¬ 
funden  habe.  Was  die  Entstehungsart  der  zystenartigen 
Herde  betrifft,  so  kann  ich  mit  Wahrscheinlichkeit  sagen, 
daß  die  durch  Wurmeier  verursachten  Gewebsneubildungen 
durch  ungenügende  Ernährung  zum  großen  Teile  der  Ne¬ 
krose  anheimfielen  und  infolgedessen  es  zur  Bildung  der 
Erweichungszysten  kam  und  nachher  der  Inhalt  in  den¬ 
selben  durch  allmähliche  Resorption  des  flüssigen  Bestand¬ 
teils  in  eine  getrocknete,  käsige  Masse  umgewandelt  wurde. 

Wie  traten  nun  die  Lungendistomumeier  in  das  Peri¬ 
toneum  ein?  Diese  Frage  kann  ich,  mich  auf  die  Kenntnis 
des  Infektionsmodus  des  Muttertiers  stützend,  beantworten. 
Es  ist  mit  Recht  von  vielen  japanischen  Forschern  ange¬ 
nommen  worden,  daß  der  Wurm  im  jugendlichen  Zustande 
mit.  dem  infizierten  Trinkwasser  zuerst  in  den  Verdauungs¬ 
kanal  des  Menschen  und  Tieres  Übertritt,  dann  die  Darm¬ 
wand  durchbohrt,  in  das  Peritoneum  übergeht  und  von 
dort  aus  aufwärts  durch  die  Gewebsspalten  wandert  und 
schließlich  in  die  Lungen  gelangt,  wo  er  sich  für  immer 
seine  Wohnung  nimmt.  Daraus  geht  hervor,  daß  der  V  urm 
während  seines  Wanderns  im  Peritoneum  dort  Eier  aus¬ 
streut  und  daß  sich  die  so  vom  Muttertier  ausgeschiedenen 
Eier  weiter  vermittels  der  Lymphbahn  und  der  Kapillaren 
auf  große  Strecken  des  Bauchfells  ausbreiten  können.  Aus 
diesem  Grunde  nehme  ich  an,  daß  die  tuberkelartigen 
Knötchen  in  meinem  Falle  durch  die  sich  auf  solche  Weise 
im  Peritoneum  ausbreitenden  Eier  verursacht  sind. 

Literatur: 

Inoue,  Lehrbuch  der  inneren  Medizin  1909,  Tsiba,  Japan.  — 
Kotsurada,  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Distomum  Westermanni.  Zieglers 
Beiträge  1900,  Bd.  28;  Lehrbuch  der  allgemeinen  Pathologie  1896,  Okayama, 
Japan.  —  M  i  u  r  a,  Fibröse  Tuberkel,  verursacht  durch  Parasiteneier.  Vir¬ 
chows  Archiv  1889,  Bd.  116.  —  Yamagiwa,  Ueber  die Lungendistomum- 
krankheit  in  Japan.  Virchows  Archiv  1892,  Bd.  127. 


Ueber  die  Ursachen  des  Flimmerskotoms  und 
seine  Behandlung. 

Von  Dr.  Alexius  Pichler,  Augenarzt  in  Klagenfurt. 

Die  Kenntnis  jener  Veränderungen  und  Umstände,  die 
zur  Entstehung  des  Flimmerskotoms  führen,  hat  nicht  nur 
eine  theoretische,  sondern  auch  eine  hervorragend  prak 
tische  Bedeutung.  Beim  Flimmerskotom  versagt  die  me.li 
kamentöse  Therapie  in  den  meisten  Fällen  nahezu  völlig 
Das  Günstigste,  was  wir  durch  Arzneien  erreichen  können 
ist  eine  Abkürzung  oder  Linderung  des  nachfolgenden 
Schmerzes.  Nur  in  Vermeidung  der  zum  Anfalle  führen¬ 
den  Schädlichkeiten  und  in  der  Hebung  der  Widerstands¬ 
fähigkeit  gegen  dieselben  findet  der  Kranke  dauernden 
Nutzen.  Voraussetzung  für  die  erfolgreiche  Behandlung 
dieses  hartnäckigen  und  oft  recht  quälenden  Leidens  ist  also 
die  genaue  Kenntnis  von  dessen  Ursachen. 

Es  war  mir  dies  um  so  mehr  ein  Ansporn  zum  ein¬ 
gehenden  .[Studium1  dieser  Krankheit,  als  ich  selbst  an 
Flimmerskotom  leide.  Ueber  das  Ergebnis  meiner  Nach¬ 
forschungen  nach  den  Anlässen  und  Ursachen  dieser  Seh¬ 
störung  will  ich  in  den  folgenden  Zeilen  berichten. 

Da  aber  der  Symptomenkomplex,  den  wir  unter  diesem 
Namen  zusammenfassen,  sehr  wechselnd  geschildert  wird, 
muß  ich  vorher  kurz  darlegen,  was  wir  in  diesem  Auf¬ 
sätze  darunter  verstehen  wollen. 

Es  ist  eine  zentral  bedingte,  vorübergehende,  aber 
meist  in  kürzeren  oder  längeren  Pausen  wiederkehrende 
Sehstörung,  die  sich,  wenn  typisch,  in  folgender  Weise 
abzuspielen  pflegt.  Der  Ausfall  beginnt  mit  einem  kleinen 
zentralen  oder  parazentralen  Gesichtsfeldausfall,  der  von  den 
Kranken,  wenn  nicht  eine  genaue  Anleitung  zur  Selbst¬ 
beobachtung  voranging,  niemals  als  solcher  erkannt,  sondern 
als  unbehagliche,  nicht  näher  zu  beschreibende  Störung  im 
Sehen  bezeichnet  wird.  Diesem  Ausfälle  schließt  sich  gleich 
darauf  eine  Behinderung  des  Sehens  in  der  einen  Gesichts¬ 
feldhälfte  beider1)  Augen  an,  die  von  einer  ebenfalls  in 
gleichnamigen  Gesichtsfeldhälften  beider  Augen  gelegenen 
Lichterscheinung  begleitet  wird.  Diese  wird  meist  als  leuch 
tende  und  in  flimmernder  Bewegung  sich  befindliche,  zackige 
Bogenlinie  beschrieben.  Dieser  Bogen  erweitert  sich,  in¬ 
dem  er,  im  Zentrum  beginnend,  gegen  die  Peripherie  vor¬ 
schreitet  und  das  Zentrum  langsam  wieder  freigibt  (zentri¬ 
fugale  Form),  oder  er  beginnt  an  der  Peripherie  und 
verkleinert  sich,  indem  er  dem  Gesichtsfeldzentrum  sich 
nähert,  wo  er  schließlich  verschwindet,  es  ist  dies  die  viel 
seltenere  zentripetale  Form.  So  möchte  ich  diese  beiden 
F ormen,  deren  letztere  Dianoux  und  J o  1 1  y lu)  beschrieben 
und  auch  ich  wiederholt  an  mir  selbst  beobachtet  habe,  be¬ 
nennen. 

Die  eben  geschilderte  Erscheinung  kann  manchmal 
auch  im  ganzen  Gesichtsfelde  oder  zuerst  in  der  einen  und 
gleich  darauf  auch  in  der  anderen  Hälfte  desselben  sich  ab¬ 
spielen.  Der  optischen  Erscheinung  pflegt  in  den  typischen 
Fällen  meist  halbseitiger  Migränekopfschmerz  zu  folgen,  der 
am  häufigsten  in  jene  Kopfhälfte  verlegt  wird,  die  der  Seite 
der  Sehstörung  entgegengesetzt  ist. 

Es  handelt  sich  also  erstens  um  einen  Gesichtsfeld¬ 
ausfall,  zweitens  um  einen  Erregungsvorgang  in  Form  einer 
Lichterscheinung  and  drittens  um  einen  Schmerzanfall. 

Von  diesem  eben  geschilderten  Typus  gibt  es  aber 
mannigfache  Abweichungen ;  so  kann  in  manchen  Fällen 
der  Kopfschmerz  sehr  unbedeutend  sein,  ja  ganz  fehlen, 
bei  anderen  Kranken  wieder  bleibt  die  eigentliche  Flimmer¬ 
erscheinung  rudimentär  oder  fehlt.  Der  Umstand,  daß  bei 
einem  und  demselben  Individuum  typische  und  rudimentäre 
Formen  nebeneinander  Vorkommen  können,  beweist  die  Zu- 

')  Nahezu  ausnahmslos  erzählen  die  Kranken  anfangs,  cs  sei 
nur  ein  Auge  von  der  Erscheinung  befallen;  erst  durch  Belehrung 
kommt  ihnen  die  Erkenntnis,  daß  das  Sehen  beider  Augen  beeintiäch- 
tigt  ist. 

*a)  Jolly,  Berliner  klm.  Wochenschr.  1902,  Nr.  42  u.  43. 


52 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


gehörigkeit.  dieser  unvollständigen  Anfälle  zum  Flimmer- 
skotoin. 

Es  wird  dadurch  allerdings  in  manchen  Fällen  sehr 
schwer,  zu  entscheiden,  oh  eine  Sehstörung  als  Flimmer¬ 
skotom  aufzufassen  ist  oder  nicht,  so  daß  es  zur  Entschei¬ 
dung  oft  längerer  Beobachtung  bedarf.  Aber  auch  dann 
werden  manche  Fälle  strittig  bleiben.  Wir  müssen  ja  be¬ 
denken,  daß  die  Schilderungen  der  Kranken,  auf  die  wir 
meist  allein  angewiesen  sind,  sehr  unvollkommen  und  min¬ 
destens  anfangs  wenig  brauchbar  sind.  Für  die  folgende 
Betrachtung  habe  ich  alle  zweifelhaften  Fälle,  deren  Zuge¬ 
hörigkeit  zum  Flimmerskotom  nicht  feststand,  ausgeschaltet, 
weil  eine  Vermehrung  des  Materiales  durch  Fälle  von  un¬ 
sicherer  Zugehörigkeit  den  Wert  der  Statistik  nicht  erhöhen, 
sondern  im  Gegenteil  vermindern  würde. 

Die  Kranken,  auf  die  sich  diese  Aufzeichnungen  beziehen, 
entstammen  erstens  der  Ambulanz  der  deutschen  Augenklinik  in 
Prag  (damaliger  Vorstand:  weil.  Prof.  Czermak)  und  zweitens 
meiner  gegenwärtigen  Privatpraxis;  einzelne  Fälle  sind  dem 
Krankenmateriale  meines  Bruders  (Primararzt  Dr.  Karl  Pichler) 
entnommen.  Ferner  habe  ich  noch  die  Selbstbeobachtungen  einer 
größeren  Anzahl  von  Kollegen  und  anderweitigen  persönlichen 
Bekannten,  die  an  Flimmerskotom  litten  und  mir  ihre  darüber 
gemachten  Aufzeichnungen  zur  Verfügung  stellten,  benützt. 

Nicht  alle  auf  diese  Weise  gesammelten  Krankengeschichten 
enthalten  genaue  und  zuverlässige  Angaben  über  die  unser  Leiden 
herbeiführenden  Ursachen-;  ich  habe  daher  auch  hier  eine  Auslese 
gehalten  und  die  unvollständig  erforschten  Fälle  von  der  nach¬ 
stehenden  Betrachtung  ausgeschieden.  Trotzdem  verbleiben  noch 
53  Fälle,  die  ich  nunmehr  mit  Rücksicht  auf  diese  Seite  der 
Krankheit  besprechen  will. 

Ordnen  wir  unsere  Kranken  zunächst  nach  ihrem  Berufe, 


so  finden  wir  unter  ihnen : 

Mittelschüler2)  (Gewerbeschüler)  .  7 

Hochschüler . 6 

Kaufleute3) . 6 

Beamte . ■  .  .  .  .  4 

Aerzte . 11 

Offiziere . 1 

Schriftsetzer . 1 

Schlosser  .  1 

Eisendreher . 1 

Schuster .  1 

Lehrerinnen . 1 

Hausfrauen . 9 

Näherinnen . 3 

Wärterinnen . 1 


Wir  erkennen  aus  dieser  Uebersicht,  daß  es  sich  hier 
in  der  großen  Mehrzahl  um  Leute  handelt,  die  sich  berufs¬ 
mäßig  und  anhaltend  mit.  ieiner  Nahearbeit  zu  beschäf¬ 
tigen  pflegen. 

Zu  bemerken  ist.  nämlich,  daß  von  den  Kau  heulen 
alle  bis  auf  einen  in  der  Schreibstube  beschäftigt  waren,  daß 
nahezu  alle  ärztlichen  Kollegen  als  klinische  Aerzte  mit  Schreib¬ 
arbeit  und  anderer  Nahearbeit  (z.  B.  Mikroskopie)  überreichlich 
zu  tun  hatten,  daß  ferner  die  Beamten,  einen  einzigen  ausge¬ 
nommen,  in  der  Kanzlei  tätig  waren,  ebenso  wie'  der  einzige 
Offizier  meiner  Zusammenstellung.  Was  die  Hausfrauen  an¬ 
langt,  so  habe  ich  bei  allen  bis  auf  eine  vielfache  und  anhaltende 
Beschäftigung  mit  feiner,  anstrengender  Nahearbeit  notiert.  Von 
den  Handwerkern  haben  wir  zweifellos  die  Näherinnen  und  den 
Schriftsetzer  zu  den  Nahearbeitern  zu  zählen;  ob  man  den.  an 
der  Maschine  arbeitenden  Schuster  und  den  Eisendreher  hi  eher 
rechnen  darf,  erscheint  zweifelhaft. 

Diesem  Ueberwiegen  der  Nahearbeiter  entspricht  auch 
das  weitere  Ergebnis  meiner  Nachfrage,  daß  von  diesen 
53  Kranken  39  anhaltende  und  anstrengende  Nahe¬ 
arbeit.  als  die  unmittelbare,  den  Anfall  auslösende  Ur-_ 
saehe  angaben. 

In  keinem  einzigen  Falle  konnte  man  aber  nach  den 
Schilderungen  der  Kranken  die  geleistete  Nahearbeit  als 
eine  ungewöhnliche  bezeichnen.  Es  war  eben  Nahearbeit, 
welche  beim  Durchschnittsmenschen  wohl  E  r  m  ii  d  u  n  g, 
aber  nicht  Erkrankung  zu  erzeugen  pflegt.  Wir*  müssen 


2)  Darunter  eine  weibliche  Schülerin. 

3)  Darunter  eine  weibliche  Kranke. 


nun  daran  denken,  daß  vielleicht  besondere,  in  der  einzelnen 
Persönlichkeit  gelegene  Umstände,  die  an  sich  nicht  über¬ 
mäßige  Anstrengung  zu  einer  krankheitserregenden 
U eberanstre n g;u n g  gestalteten.  Ein  abnormer  Bau  des 
peripheren  Sehorganes,  der  die  Entstehung  guter,  deut¬ 
licher  Bilder  verhindert,  oder  zu  deren  Erlangung  besondere 
Muskelanstrengungen  nötig  macht,  wäre  hier  ins  Auge  zu 
fassen.  In  der  Tat  wurde  auf  solche  Ueberanstrengung, 
besonders  infolge  von  Astigmatismus  (Martin4)  bereits 
wiederholt  hingewiesen.  Die  Untersuchung  meiner  Fälle 
zeigte : 


Astigmatismus . 

.  19 

Hypermetropie  (über  2  D.) 

.  4 

Presbyopie . , 

6 

Akkomodationslähmung  . 

2 

Akkomodationsschwäche  .  . 

2 

Insuffizienz  der  Konvergenz  . 

.  11 

Unter  Presbyopie  habe  ich  nur  jene  Fälle  eingerechnet, 
hei  welchen  zur  Zeit  des  Auftretens  der  Sehstörung  eine  solche 
bestand  oder  wahrscheinlich  schon  bestanden  hatte.  Auf  die 
Bedeutung  der  Presbyopie  für  unser  Leiden  komme  ich  noch 
später  ausführlich  zu  sprechen.  Bemerkt  sei  noch,  daß  die  In¬ 
suffizienz  der  Konvergenz  in  vier  von  den  elf  Fällen  als  sehr 
hochgradig  bezeichnet  werden  mußte. 

Alle  diese  Abweichungen  von  der  Norm1  sind  ge¬ 
eignet,  bei  anhaltender  Nahearbeit  Beschwerden  (ak¬ 
kommodative  oder  muskuläre  Asthenopie)  zu  er¬ 
zeugen,  reichen  aber  nicht  zu  einer  völlig  befriedigenden 
Erklärung  der  Entstehung  des  Flimmerskotoms  hin,  da  die 
Asthenopie,  selbst  hochgradige,  sehr  häufig  ohne  Flimmer- 
skotom  und  anderseits  dieses  nicht  selten  ohne  die  er¬ 
wähnten  Anomalien  im  Augenbau  vorkommt. 

Wir  könnten  nun  allerdings  die  Asthenopia  ner¬ 
vosa,  das  heißt,  jene  pathologisch  gesteigerte  Ermüdbar¬ 
keit  des  Sehorganes,  die  auf  allgemeiner  nervöser 
Erschöpfbarkeit  beruht,  heranziehen.  Bei  Durchsicht 
unserer  Krankengeschichten  findet  man  39  Patienten,  die 
als  Neurastheniker  bezeichnet  werden  mußten.  Aber  auch 
damit  können  wir  uns  noch  immer  nicht  ganz  zufrieden 
gehen,  denn  wir  finden  in  der  Praxis  nicht  selten  Fälle 
schwerer  Neurasthenie  mit  ausgesprochener  Asthenopie,  die 
trotz  anhaltender  und  anstrengender  Nahearbeit  kein  Flim¬ 
merskotom  bekommen.  Krankhafte  Ermüdbarkeit 
u n d  Ueberanstrengung  des  Sehorganes  spielen 
sicherlich  bei  der  Entstehung  des  FT  immer  s  ko¬ 
to  ms  eine  Rolle,  genügen  aber  allein  nicht  zu  seiner 
Erklärung. 

In  dieser  Erkenntnis  bemühte  man  sich  schon  seit 
langem,  in  verschiedenen  Allgemeinerkrankungen  ein  ur¬ 
sächliches  Moment  für  das  Fiimmerskotom  und  die  Migräne5) 
zu  finden.  Epilepsie,  Hysterie,  progressive  Paralyse,  Neur¬ 
asthenie,  Tabes,  Arteriosklerose  und  verschiedene  Nerven¬ 
krankheiten  werden  hier  angeführt.6)  Gowers,  Charcot, 
Osler- Hoke  und  Oliver  es  erblicken  in  der  Gicht  eine 
Grundlage  unserer  Krankheit.  Sihle7)  und  andere  sehen 
in  einer  Autointoxikation,  wozu  auch  die  Gicht  zu  zählen 
wäre,  die  Ursache  der  Anfälle.  Von  verschiedenen  Seiten 
wird  auf  die  Beziehungen  zwischen  Migräne  und  Men¬ 
struation  hingewiesen.  Es  mag  dieser  kurze  und  keines¬ 
wegs  vollständige  Hinweis  genügen.  Untersuche  ich  mein 
Krankheitsmaterial  nach  Allgemeinerkrankungen  oder  nach 
anderen  Störungen,  die  zur  Zeit  des  ersten  Auftretens  des 
Flimmerskotoms  bestanden  hatten,  so  bekomme  ich  fol¬ 
gende  Zahlen : 


4)  Siehe  Wilbrand  u.  Sänger,  Neurologie  des  Auges.  1906, 

Bd.  3,  Abt.  2,  §  74-9. 

6)  Eine  Berücksichtigung  der  Literatur  ist  ohne  Heranziehung  der 
Migräne  gar  nicht  möglich,  da  diese  beiden  Krankheiten  meist  gemeinsam 
abgehandelt  werden.  Ich  will  später  in  kurzen  Worten  auf  die  Bezie¬ 
hungen  zwischen  beiden  zurückkommen. 

6)  Siehe  A  n  t  o  n  e  1 1  i  u.  Nieser,  Die  Amblvopie  transitoire. 
Halle  1897. 

7)  Sihle,  Zur  Pathologie  und  Theorie  der  Migräne.  Wiener  klin. 
Wochenschr.  1901.  14.  Jahrg.,  13.  H. 


Nr.  2 


53 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Neurasthenie8)  . 
Anämie  .  .  . 

Tuberkul.  pulmon. 
Nephritis  chron. 
Diabetes  mellitus 
Gicht  .... 


Arthritis  deform. 

Akuter  Gelenkrheumatismu 
Influenza 
Malaria  .  .  . 

Lues  ...» 


Tabes  (?) 


Hysterie . 

Rackendiphtherie  .  . 

Chron.  Magenleiden  . 
Obstipation  .  ,  .  . 

Nasenaffektionen. 
Arteriosklerose  (  ?)  .  . 
Menstruationsstörungen 
Gravidität . 


Peritonitis  gonorrh.  .  . 

Uebermäßiger  Tabakgenuß 


39  Fälle 
5  » 

4  » 

1  » 

1  » 

2  » 

1  » 

2  » 

1  * 

1  » 

3  » 

1  » 

2  » 

1  »> 

5  » 

7  » 

4  » 

1  » 

3  » 

1  » 

L  » 

2  » 


In  einer  größeren  Zahl  von  Fällen  wurde  Dermographie 
der  Hautdecken  festgestellt,  in  manchen  sogar  sehr  aus¬ 
gesprochene.  Eine  bestimmte  Ziffer  gehe  ich  hier  nicht  an, 
da  auf  dieses  Krankheitszeichen  in  einzelnen  Fällen  nicht 
geachtet  worden  ist. 


Höchst  beachtenswert  ist  die  hohe  Zahl  der  Neurasthe¬ 
niker  und  wir  können  kaum  zweifeln,  daß  dieses  Leiden  die 
Entstehung  des  Flimmerskotoms  sehr  begünstigt.  Hie  Zahlen 
der  anderen  Krankheiten  sind  hingegen  so  niedrig,  daß  man 
mit  Schlüssen  sehr  vorsichtig  sein  muß.  ln  der  Tat  zeigt  mir 
das  -Studium  meiner  Krankengeschichten  nahezu  überall 
nur  einen  indirekten  Zusammenhang;  meist  ist  das 
Zwischenglied  eine  durch  das  Allgemeinleiden  hervor¬ 
gerufene  Neurasthenie;  dies  möchte  ich  bei  zwei  Fällen 
von  Tuberkulose,  dem  einen  Rheumatiker,8 9)  hei  der  Ar- 
thritis  deformans,  der  Influenza  und  wohl  auch  der  Malaria 
als  nahezu  sicher  annehmen. 

Bei  dem  einen  Falle  von  Lungentuberkulose  konnte  man 
allerdings  vielleicht  auch  an  einen  unmittelbaren  Zusammenhang, 
etwa  an  eine  innere  Intoxikation,10)  denken.  Es  handelte  sich  um 
einen  38jährigen  Arzt,  der  an  schwerer  Lungentuberkulose  litt 
und  in  den  allerletzten  Wochen  vor  seinem  Tode-  Anfälle  von 
Flimmerskotom  bekam,  die  er  bisher  nie  gehabt  hatte.  Es  be¬ 
stand  große  allgemeine  Schwäche  und  hochgradige  Atemnot. 

Ebenso  könnte  man  in  dem  Falle  mit  Diabetes  mellitus  neben 
der  konsekutiven  Neurasthenie  auch  eine  direkte  zerebrale  .Gift¬ 
wirkung  ins  Auge  fassen.  Ich  habe  keine-  Anhaltspunkte  für  eine 
Entscheidung  in  diesem  oder  jenem  (Sinne. 

In  zwei  Fällen  erzeugte  das  Allgemeinleiden  (Diphtherie, 
Lues)  eine  Akkomodationslähmung  und  bewirkte  dadurch 
eine  Asthenopie,  welche  die  Entstehung  des  bald  danach  ein¬ 
setzenden  Flimmerskotoms  sicher  sehr  gefördert  hat.  Wenn  in 
dem  Falle  mit  der  luetischen  Lähmung  später  reflektorische 
Pupillenstarre  nachgewiesen  und  damit  mit  einiger  Wahrschein¬ 
lichkeit  auf  eine  beginnende  Tabes  dorsalis  geschlossen  werden 
konnte,  so  berechtigt  uns  dies  noch  nicht,  das  Flimmerskotom' 
in  diesem  Falle  für  ein  tabisches  Frühsymptom  zu  erklären. 

Zwei  meiner  Fälle-  hatten  sicher  Hysterie,  boten  aber  außer¬ 
dem  gleichzeitig  eine  Reihe  von  Momenten,  die-  erfahrungsgemäß 
das  Entstehen  des  Flimmerskotoms  sehr  begünstigen  und  min¬ 
destens  der  eine  auch  erbliche  Anlage  zur  Augenaffektion. 

Ein  anderer  Fall  hatte  neben  den  typischen  Symptomen 
des  Flimmerskotoms  auch  schwere-  Allgemeinerscheinungcn,  so 
Parästhesien  und  Anästhesien,  die  sich  langsam  über  die  eine 
Körperhälfte  ausbreiteten,  Sprachstörungen,  ja  sogar  leichte  Be¬ 
wußtseinsstörungen.  Später  trat  die  Augenstörung  in  der  zweiten 
Gesichtsfeldhälfte  auf  und  die  Sensibi litätsstö rangen  griffen  dem¬ 
entsprechend  auch  auf  die  andere  Körperhälfte-  über.  Es  ist  also 
ein  Fall,  den  Charcot  in  seiner  Einteilung  unserer  Krankheit 
zur  „Migrain©  ophthalmique  associee“  rechnen  würde. 
Antone  11  i  (spricht  hier  von  einer  „partiellen  Epilepsie" 
(C  har  cot). 

8)  Darunter  viermal  sexuelle  Neurasthenie. 

°)  Die  beiden  anderen  Tuberkulösen  und  der  eine  Rheumatiker 
erkrankten  an  diesem  Allgemeinleiden,  nachdem  sie  schon  lange  vorher 
an  der  Augenkrankheit  gelitten  hatten. 

10)  Retentionstoxikose  (endogene  Kohlensäuretoxikose),  v.  Jak  sch, 

Die  Vergiftungen.  2.  Au  fl.  Holder,  Wien  1910. 


Bei  einem  Herrn,  der  seit  vielen  Jahren  an  Flimmerskotom 
(erbliche  Anlage)  litt,  traten  um  das  55.  Lebensjahr  Schwindel. 
Augenmuskelstörungen  und  heftige  Kopfschmerzen  auf,  es  besteht 
sein  begründeter  Verdacht  auf  Sklerose  der  Gehirngefäße.  Nach 
meiner  Ueberzeugung  liegt  aber  hier  gar  kein  Grund  vor,  auch 
das  Flimmerskotom,  das  in  einer  wesentlich  früheren  Lebens¬ 
periode,  die  sich  allerdings  nicht  mehr  genau  feststellen  läßt, 
entstanden  war  und  jetzt  in  den  Hintergrund  trat,  auf  dieses 
Leiden  zu  beziehen. 

ln  einem  anderen  Falle-,  in  welchem  die  S-ehstöruugen  erst 
im  fünften  Lebensdezennium  auftraten,  die  Arteriosklerose  ziem¬ 
lich  sicher  schien  und  außerdem  26  Jahre  vorher  eine  luetische 
Infektion  stattgefunden  hatte,  so  daß  die  Augenaffektion  wohl 
auf  die  organische  Gehirnveränderung  bezogen  werden  muß, 
boten  die  Sehstörungen  und  die  begleitenden  Umstände  nicht 
das  ganz  charakteristische  Bild  des  Flimmerskotoms,  so  daß 
ich  diesen  Fall  von  Amblyopia  transitoria  in  diesem  Aufsatze 
nicht  weiter  berücksichtigt  habe. 

Unter  jenen  Fällen  von  angeblichem  Flimmerskotom,  die 
nach  Literaturberichten  später  in  ein  organisches  Nervenleiden 
übergingen,  scheinen  sich  manche  zu  befinden,  die  dem  Typus  des 
Flimmerskotoms  mehr  oder  minder  ferne  stehen  und  vielleicht 
besser  nicht  dazu  gezählt  worden  wären. 

In  betreff  der  Gicht  sei  bemerkt,  daß-  in  dem  einen  der 
beiden  Fälle  dieselbe  sicher,  in  dem  anderen  wahrscheinlich  vor¬ 
handen  ist.  Im  letzteren  Falle,  dessen  Krankengeschichte  ich 
später  ausführlich  bringe,  hat  die  Gicht  kaum  etwas  mit  der 
Augenstörung  zu  tun,  für  den  ersteren  kann  eine  solche  Be¬ 
ziehung  bestehen. 

In  zwei  Fällen  traten  die-  Anfälle  stets  zur  Zeit  der  M  eases 
auf,  wobei  hervorzuheben  wäre,  daß-  in  dem  einen  eine  Peri¬ 
tonitis  gonorrhoica  zunächst  zu  Menstruationsstörungen  geführt 
hatte,  an  die  sich  dann  das  Augenleiden  anschloß-.  In  einem 
dritten  Falle  trat  zur  Zeit  des  Klimakteriums  eine  auffallende 
Häufung  der  Anfälle  auf.  Der  Zusammenhang  zwischen  Menses 
und  Flimmerskotom  und  Migräne  überhaupt  dürfte  wohl  als 
sichergestellt  zu  betrachten  sein.  Bei  einer  anderen  Patientin 
waren  die  ersten  Anfälle-  während  der  ersten  Gravidität  aufge¬ 
treten,  hatten  danach  vollständig  aufgehört,  um  erst  um  das 
45.  Lebensjahr  ohne  ersichtliche  Ursache  (vielleicht  Presbyopie) 
sich  wieder  einzustellen. 

Auf  irgendeinen,  wenn  auch  wahrscheinlich  nur  losen  und 
fernen  Zusammenhang  mit  der  Geschlechtssphäre  weist  ja  auch 
die  Tatsache  hin,  daß  sich  unser  Leiden  sehr  häufig  in  der  Pu¬ 
bertätszeit  zu  entwickeln  pflegt.  Unter  meinen  Patienten  erkrankte 
einer  im  zehnten  Lebensjahre,  25  im  zweiten  Lebensdezennium, 
14  im  dritten,  3  im  vierten,  5  im  fünften  und  1  im  siebenten 
Lebensdezennium.  Also  auch  hier  ein  Ueberwiegen  der  Puber¬ 
tätszeit. 

Zur  Nas-en-erkränkung  übergehend,  sei  hervorgehoben,  daß 
zw-eiii  meiner  vier  Nasenkranken,  darunter  ein  Arzt,  die  Beob¬ 
achtung  gemacht  haben,  daß  bei  ihnen  das  Flimme-rskotom  stets 
im  Anschluss-©  an  einen  akuten  Schnupfen  der  Nase  auftrete,  eine 
Wahrnehmung,  die-  sich  mit  anderweitigen  Mitteilungen  über  die 
Migräne  deckt. 

Einen  ähnlichen  zeitlichen  Zusammenhang  zwischen  Seh¬ 
störung  und  Stuhlverstopfung  wußten  zwei  Kranke  anzugeben, 
während  bei  fünf  anderen,  an  Obstipation  Leidenden  ein  solches 
Zusammenfallen  nicht  aufgefallen  war,  ohne  daß  man  aber  des¬ 
halb  den  Einfluß  der  Obstipation  auf  das  Augenleiden  für  diese 
Fälle  ausschließen  könnte.  Die  sorgfältigen  und  langdauernden 
Beobachtungen  Siegrists11)  haben  diese  Beziehungen  als  sehr 
wichtig  klargelegt. 

Interessant  schien  mir  ferner  die  Mitteilung  der  Mutter 
eines  an  •Flimmerskotoins  leidenden  Gymnasiasten  (die  Mutter 
hat  dieselbe  Augenstörung),  daß  ihr  Sohn  jedesmal  nach  dem 
Genüsse- von  Käse  Verdauungsstörungen  und  einen  Anfall  seines 
Augenleidens  bekomme;  eine  ähnliche  Idiosynkrasie  u.  zw.  in 
bezug  auf  Zwiebeln,  will  noch  ein  zweiter  meiner  Kranken 
an  sich  beobachtet  haben.  Derartige-  Beobachtungen  finden  sich 
bereits  in  der  Literatur  der  Migräne. 

Auf  Grund  dieser  Zusammenstellungen 
können  wir  in  Ueber  ein  Stimmung  mit  früheren 
Bearbeitern  dieses  Gebietes  die  Meinung  a  u  s- 
sprechen,  daß  A 1 1  g  e  m  e  i  n  e  r  k  r  a  n  k  u  n  g  e  n  v  er  s  c  h  i  e- 
clener  Natur  imstande  sind,  das  Entstehen  des 
Flimmer skotoms  zu  begünstigen.  Zunächst  darf 
man  allerdings  nur  an  eine  indirekte,  durch  Ver- 

")  Siegrist,  Mitteil.  a.  d.  Klin.  u.  med.  Inst,  der  Schweiz.  1894. 

I.  Reihe,  10.  H. 


54 


WIENER  KLINISCHE 


mil  tlung  einer  Neurasthenie  entstandene  Beein¬ 
flussung  denken;  doch  kann  man  die  Möglichkeit  einer 
direkten  Auslösung  hei  manchen  Krankheiten  nicht  in  Ab¬ 
rede  stellen.  Auch  meine  Krankengeschichten  enthalten  Be¬ 
lege  für  die  wahrscheinliche  ätiologische  Bedeutung  ein¬ 
zelner  Krankheiten,  so  der  Menstruationsstörungen,  der 
Magen-  und  Darmleiden,  der  Nasenaffektionen. 

Ziehen  wir  bei  der  Aufnahme  der  Anamnese  auch 
die  Familie  des  Kranken  in  den  Kreis  unseres  Interesses, 
so  hören  wir  nicht  selten,  daß  eines  der  Eltern  oder  Gro߬ 
eltern,  meist  der  weibliche  Teil,  von  einem  ähnlichen  Leiden 
geplagt  worden  sei.  21  meiner  Kranken  berichteten  von 
Migräne  oder  migräneähnlichen  Anfällen12)  ihrer  Vorfahren; 
einige  betonten  ganz  ausdrücklich,  daß  die  Krankheit  der 
Mutter  der  ihren  ganz  ähnlich  gewesen  sei  und  durch  die 
gleichen  Gelegenheitsursachen  ausgelöst  worden  sei.  Den 
hohen  Zahlen,  die  andere  Autoren  (so  Mo e bins  bei  der 
Migräne  90°/o)  in  dieser  Hinsicht  erreichten,  komme  ich 
nicht  nahe,  aber  immerhin  ist  auch  meine  Zahl  für  die  Be¬ 
deutung  der  erblichen  Anlage  sehr  bezeichnend. 

■  Wenn  man  aber  bedenkt,  daß  das  Flimmerskotom  auch 
mit  Ueberspringung  der  Eltern  von  den  Großeltern  auf  die 
Enkel  übergehen  kann  und  daß  ältere  Leute  meist  viel  we¬ 
niger  darüber  zu  klagen  pflegen,13)  müssen  wir  mit  der 
Wahrscheinlichkeit  rechnen,  daß  eine  ganze  Zahl  von 
Kranken  in  gutem  Glauben  Heredität  in  Abrede  stellen,  trotzr 
dem  sie  vorhanden  ist.  und  dürfen  unsere  Zahl  nur  als 
eine,  sicherlich  zu  kleine,  Minimalzahl  ansehen. 

Es  sind  ,ja  alle  von  mir  gebrachten  Zahlen  —  die  den  Beruf 
betreffenden  ausgenommen  —  als  M  i  n  i  m  a  1  z  a  h  1  e  n  anzusehen ; 
wir  können  nicht  annehmen,  daß  alle  Kranken  wahrheitsgetreue 
und  offene  Antworten  über  sexuelle  Fragen,  Geschlechtskrank¬ 
heiten,  ja  selbst  andere  Krankheiten  geben  werden. 

Weit  reichlicher  fließen  aus  den  Krankengeschichten 
die  Angaben  über  die  Ereignisse  und  Erscheinungen,  die 
dem  einzelnen  Anfalle  vorauszugehen  pflegen,  die  ihn  ein¬ 
leiten,  auslösen.  Wenn  man  sich  einige  Zeit  mit  den  hieher- 
gehörigen  Angaben  der  Kranken  beschäftigt,  ihnen  bei  ihren 
Selbstbeobachtungen  mit  den  eigenen  Erfahrungen  geholfen 
hat,  so  findet  man  allerdings,  daß  sich  die  große  Menge 
der  verschiedenen  Angaben  leicht  übersichtlich  in  zwei 
große  Gruppen  ordnen  läßt.  Sie  beziehen  sich  nämlich 
einerseits  auf  den  All  gemein  zustand  und  anderseits 
auf  das  Auge  selbst. 

Die  Berichte  über  den  Allgemeinzustand  gliedern  sich 
in  solche  über  die  Psyche,  den  Schlaf,  die  Ernährung 
(Hungerzustand)  oder  das  körperliche  Wohlbefinden  im 
allgemeinen.  Aufregung,  Sorge,  Aerger,  anstrengende  gei¬ 
stige  Arbeit  können  Anfälle 'auslösen.  Besonders  oft  wird 
nach  meiner  Erfahrung  Aerger  als  den  Anfall  auslösende 
Ursache  angeschuldigt.  Der  Schlaf  ist  für  den  an  Flimmer¬ 
skotom  Leidenden  von  sehr  großer  Bedeutung;  unruhiger 
Schlaf,  Verkürzung  desselben  durch  ungewöhnlich  frühes 
Aufstehen,  plötzliches  Erwachen,  besonders,  wenn  es 
sogleich  von  Arbeit  gefolgt  ist,  sind  sehr  häufig  der  Anlaß  für 
einen  Anfall.  In  bezug  auf  die  Ernährung  ist  jede  Un¬ 
regelmäßigkeit,  vor  allem  aber  große  Pausen  in  der  Nah¬ 
rungsaufnahme  zu  vermeiden. 

Als  Störungen  des  Allgemeinbefindens  wären  die  schon 
oben  erwähnten  Magen-  oder  Darmstörungen,  der  Schnupfen, 
ja  'selbst  ein  Katzenjammer  zu  nennen.  Ein  Koitus  löst  eben¬ 
falls  öfters  (in  meiner  Statistik  bei  vier  Kranken)  einen 
Anfall  aus. 

>-)  Bei  derartigen  anamnestischen  Erhebungen  läßt  sich  reine  Mi¬ 
gräne  und  Flimmerskotom  mit  nachfolgendem  Migränekopfschmerz  wohl 
nur  relativ  selten  sicher  auseinanderhalten.  In  der  Frage  der  hereditären 
Belastung  wird  aber  gegen  die  Zusammenfassung  dieser  so  nahestehen¬ 
den  Symptomenkomplexe  überhaupt  kaum  ein  Bedenken  obwalten. 

j3)  Ich  finde  den  Grund  für  diese  Beobachtung  in  verschiedenen 
Umständen.  Erstens  kann  das  Leiden  mit  den  Jahren  an  Heftigkeit  ein¬ 
büßen,  ja  sich  manchmal  ganz  verlieren,  zweitens  lernen  sehr  viele 
Kranke  durch  Erfahrung,  die  zum  Anfalle  führenden  Gelegenheitsursachen 
vermeiden  und  diese  dadurch  immer  seltener  zu  machen;  bei  vielen  mag 
auch  eine  gewisse  Gewöhnung  und  geduldige  Ergebung  eintreten. 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Plötzliche,  starke  Abkühlung  oder  große  Hitze  sollen 
nach  den  Erzählungen  mancher  Leidenden  ebenfalls  aus¬ 
lösend  auf  den  Anfall  wirken.  Allerdings  muß  man  der¬ 
artige  Mitteilungen,  ehe  man  sie  glaubt,  sehr  kritisch  be¬ 
trachten.  -  ... 

So  erwiesen  sich  mir  einmal  die  „kalten  hiiß-e",  welche  die 
Ursache  des  Anfalles  sein  sollten,  als  das  erste  Symptom 
desselben,  der  stets  mit  vasomotorischen  Störungen  in  den  Ex¬ 
tremitäten  begann.  Ich  will  aber  nickt  bezweifeln,  daß,  starke 
Abkühlung  des  Kopfes,  z.  B.  durch  länger©  Fährt  in  starker 
Winterkälte,  hei  einem  verwöhnten  Stubenhocker,  wenn  sonst 
die  Bedingungen  vorhanden  sind,  Abstoß  zu  einer  Flimmerattacke 

geben  kann.  ’  TT.  .... 

Noch  schwieriger  ist  es,  die  Rolle  der  Hitze  richtig  ein¬ 
zuschätzen.  Oft  mag  neben  der  Hitze  die  schlechte,  verbrauchte 
Luft  eines  überfüllten  Versammlungsraumes  oder  die  Blendung 
durch  die  Mikroskopierlampe  (nicht  bloß  deren  strahlende  Wärme) 
schädlich  wirken,  ja  vielleicht  mit  geistiger  Anstrengung  und 
ähnlichen  Umständen  die  Hauptrolle  spielen. 

Ein  Schlosserlehrling  von  16  Jahren  klagte  in  der  Ambu¬ 
lanz  unserer  Klinik,  daß  er  seit  einigen  Wochen  jeden  Tag  um 
11  Uhr  vormittags  bei  der  Arbeit  am  heißen  Feuer  vom  Flim¬ 
mern  befallen  werde.  Ich  untersuchte  den  Burschen  an  mehreren 
aufeinanderfolgenden  Vormittagen  sehr  eingehend.  Am  ersten  Tage 
wurde  er  vor  die  Feuerungsöffnung  der  Zentralheizung  unserer 
Klinik  gebracht  und  dort  sehr  bald  von  der  typischen  Sehstörung 
befallen;  am  nächsten  Tage  verblieb  er  in  den  kühlen  Räumen 
des  Ambulatoriums  und  war  anfallsfrei,  während  am  dritten 
Tave  ein  neuerlicher  Aufenthalt  am  Ofen  wieder  rasch  den  Anfall 
hervorrief.  Ich  hatte  es  aber  versäumt,  die  Möglichkeit  emer 
Blendung  durch  die  Flamme  auszuschließen  (da  der  Kranke 
nicht  wieder  erschien,  war  eine  Verbesserung  dieses  Fehlers 
nicht  mehr  möglich),  weshalb  wir  hieraus  keine  sicheren  Schlüsse 
ziehen  dürfen;  wir  werden  ja  sofort  die  große  Bedeutung  der 
Blendung  für  die  Entstehung  des  Flimmerskotoms  erörtern. 

Um  die  Bedeutung  der  wichtigeren  Schädlichkeiten 
zu  zeigen,  so  sei  erwähnt,  daß  von  meinen  Kranken  14 
ungenügenden  oder  gestörten  Schlaf,  13  Aerger,  11  geistige 
Arbeit,  6  körperliche  Anstrengung,  9  Hunger,  als  die  Ur¬ 
sache  ihrer  Sehstörungen  ansehen. 

Nun  seien  auch  noch  jene  auslösenden  An  ässe  kurz 
besprochen,  welche  das  Sehorgan  unmittelbar  angreifen.  Da 
steht  die  Nah  ear  beit  an  der  Spitze,  indem,  wie  schon 
gesagt  wurde,  39  Kranke  sich  über  ihren  üblen  Einfluß 
auf  das  Leiden  beklagten.  Sehr  schädlich  wirkt  sie  natürlich 
dann,  wenn  sie  unter  besonders  ungünstigen  Umständen, 
zum  Beispiel  bei  schlechter  Beleuchtung,14)  geübt 
wird.  Frauen  klagen  besonders  über  das  Schwarznähen. 
Manche  fürchteten  besonders  die  Nahearbeit  bei  leerem 
Magen,  während  zwei  Patienten  beobachteten,  daß  sie  nach 
reichlicher  Mahlzeit  sich  jeglicher  Nahearbeit,  besonders 
aber  solcher,  die  mit  geistiger  Anstrengung  verbunden  ist, 
enthalten  müssen,  wollen  sie  nicht  sofort  einen  Anfall  her- 
vorrufen.  Es  ist  übrigens  nicht  nur  Nahearbeit,  sondern 
auch  Anstrengung  des  Auges  überhaupt,  für  unser  Leiden 
gefährlich.  So  wird  von  einzelnen  Kranken,  angegeben,  daß 
das  Bemühen,  eine  ferne  Person  zu  erkennen  oder  eine 
größere,  aber  ferne  Inschrift  zu  entziffern,  den  Anfall  aus¬ 
löse.  ...  .  .  „ 

Die  zweithäufigste  Schädlichkeit  ist  nach  meinen  kr- 

fahrungen  die  Blendung,  das  heißt  der  plötzliche  Einfall 
grellen  oder  verhältnismäßig  grellen  Lichtes  ins  Auge.  Dieses 
Ereignis  pflegt  bei  19  meiner  Kranken  den  Anfall  zu 


Eine  an  einem  okulistischen  Kollegen  gemachte  Beobach¬ 
tung  sei  als  charakteristisches  Beispiel  hiehergesetzt.  Derselbe 
war  an  einem  dämmerigen  Morgen  bei  einer  bakteriologischen 
Arbeit  und  glühte  eben  einen  Metallgegenstand  aus,  als  er  eine 
Sehstörung  bemerkte.  Eine  sofort  vorgenommene  Untersuchung 
ergab  an  beiden  Augen  das  Vorhandensein  eines  absoluten  Sko¬ 
toms,  (las  in  Größe,  Form  und  Lage  dem  Lichtbildo  entsprach. 
An  diesen  Gesichtsfeldausfall  schloß  sich  dann  die  charakteri¬ 
stische  Erscheinung  des  Flimmerskotoms  an. 


u)  v.  Reuß  (Arch.  f.  Augenheilk.  1905,  Bd.  53,  H.  1)  hat  auf 
Grund  eigener  Erfahrung  die  schädliche  Wirkung  der  ungenügenden  Be¬ 
leuchtung  hervorgehoben  und  ich  habe  sie 
Kranken  wiederholt  wahrgenommen. 


an  mir 


und  verschiedenen 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1011. 


Interessant  und  ins  Kapitel  der  Blendung  gehörig  ist 
die  Beobachtung,  daß  das  Betrachten  von  weiß  und  schwarz 
gestreiften  oder  karrierten  Stoffen  zu  unserer  Sehstörung 
führen  kann.  Drei  Patienten  (darunter  zwei  Aerzfe)  bestä¬ 
tigten  mir  diese  Beobachtung,  die  ich  auch  seihst  an  mir 
gemacht  habe;  hiehe-r  gehört  wohl  auch  die  Erregung  des 
Flimmerns,  wenn  der  dazu  Disponierte  an  einem  von  der 
Sonne  beleuchteten  Lattenzaune  vorübergeht,  so  daß  das 
Auge  in  raschem  Wechsel  von  Hell  in  Dunkel  und  wieder 
in  Hell  kommt.  Auch  dies  haben  drei  Kranke  an  sich  wahr¬ 
genommen. 

Diese  letzteren  Beobachtungen  scheinen  mir  für  das 
Studium  der  Pathogenese  nicht  ohne  Bedeutung  und  das 
Sammeln  solcher  Mitteilungen  daher  nicht  ganz  wertlos 

zu  sein. 

Ehe  ich  aber  diesen  Abschnitt  schließe,  will  ich  mit, 
Hilfe  einiger  Krankengeschichten  den  Nachweis  erbringen, 
daß  auch  die  Presbyopie  eine  wichtige  Rolle  in  der 
Entstehungsgeschichte  des  Flimmerskotoms  spielt,  worauf 
ich  ja  schon  im  Beginne  meiner  Arbeit  hinwies. 

Fall  I.  Am  22.  Oktober  1909  suchte  mich  ein  tl  jäh¬ 
riger  Offizier  auf,  der  seit  Jahren  im  Kanzleidienste  tätig  ist. 
Sein  Augenleiden  begann  vor  vier  Jahren  mit  anfallsweisem  Aus¬ 
fall  der  linken  Gesichtsfeldhälfte ;  die  Grenzlinie  des  erhaltenen 
Gesichtsfeldes  gegen  des  ausgefallene  ist  stets  eine  vertikale 
Gerade,  die  durch  den  Fixationspunkt  geht.  In  der  rechten,  er¬ 
haltenen  Gesichtsfeldhälfte  sieht  der  Kranke  einen  feurigen  Bogen, 
aus  sich  bewegenden  Funken  bestehend.  Der  Ausfall  des  Ge¬ 
sichtsfeldes  scheint  ein  absoluter  zu  sein  und  hat  eine  Dauer 
von  ungefähr  fünf  Minuten,  worauf  ihm  ein  etwa  zehn  Minuten 
anhaltender  Schmerzanfall  folgt,  der  im  Gebiete  des  linken  Nervus 
supraorbitalis  sieh  abspielt. 

Erst  nach  eingehendem  Befragen  des  Kranken  stellt  sich 
heraus,  daß  als  den  Anfall  unmittelbar  hervorrufendes  Moment 
zunächst  anstrengende,  anhaltende  Nahearbeit  in  Betracht 
kommt,16)  besonders  wenn  vormittags  mit  leerem  Magen  in  der 
Kanzlei  gearbeitet  wird;  Blendung  und  das  Vorbeigehen  an  einem 
hellerleuchteten  Lattenzaune  wirken  ähnlich.  Die  Mutter  des 
Patienten  hatte  an  ähnlichen  Anfällen  gelitten,  die,  wie  sich 
Patient  erinnert,  durch  fast  gleiche  Momente  zur  Auslösung 
gekommen  waren  und  von  der  Kranken  gewöhnlich  durch  raschen 
Genuß  einer  Speise  bekämpft  wurden.  Der  Patient  gibt  ferner 
an,  daß  ihn  in  der  letzten  Zeit  die  Kanzleiarbeit  sehr  angestrengt 
habe;  er  habe  sich  die  mit  dieser  Nahearbeit  verbundene  An¬ 
strengung  auf  alle  mögliche  Weise  zu  erleichtern  gesucht.  Auf 
ärztlichen  Bat  nahm  er  einen  Urlaub  zum  Besuche  eines  Bades. 
Dort  verlor  er  die  Sehstörungen  vollständig  (nachdem  er .  sich 
jeglicher  Nahearbeit  enthalten  hatte).  Nach  seiner  Rückkehr  in  die 
Kanzlei  kehrten  sie  aber  sofort  wieder.  Von  den  sonstigen  Mit¬ 
teilungen  des  Kranken  will  ich  nur  erwähnen,  daß  er  ein  starker 
Raucher  ist,  doch  fehlen  alle  Zeichen  einer  Tabakvergiftung  voll¬ 
ständig.  Patient  ist  aber  leicht  nervös  und  litt  in  der  letzten 
Zeit  an  einer  sehr  hartnäckigen  ischiatischen  Affektion.  Von  dem 
Kollegen,  der  die  Behandlung  dieser' -letzteren  Erkrankung  über¬ 
nommen  hatte,  erfuhr  ich  außerdem,  daß  an  den  Fußsohlen 
einige  anästhetische  Stellen  bestehen  und  außerdem  wiederholt 
leichte  Gelenksschwellungen  sich  gezeigt  hatten,  die  als  gicht- 
verdächtig  bezeichnet  werden  mußten. 

Die  Untersuchung  der  Augen  ergab  vollständig  normalen 
Befund  mit  vorzüglicher  Sehschärfe  0%) ;  das  rechte  Auge  zeigte 
eine  manifeste  Hypermetropic  von  0-5  Dioptrien,  das  linke  eine 
solche  von  0-25  Dioptrien,  der  Nahepunkt  war  bereits  auf  94  cm 
hinausgerückt  und  Zeitungsdruck  konnte  erst  mit  +0-75  Dioptrien 
bequem  gelesen  werden.  Dieses  Glas  verordnet©  ich  zur  Nahe¬ 
arbeit  und  stellte  dem  Kranken  beim  Gebrauche  desselben  das 
Verschwinden  des  Flimmerskotoms  in1  Aussicht.  Ich  ging  dabei 
von  dem  Gedanken  aus,  daß  das  Flimmerskotom  bei  einem 
erblich  disponierten  und  durch  eine  leichte  Neurasthenie 
etwas  beeinträchtigten  Manne  infolge  der  beginnenden  Pres¬ 
byopie  zum  Ausbruch  gekommen  sei. 

Daß  diese  Annahme  richtig  war,  bewies  der  Erfolg;  denn 
nach  Jahresfrist  erfuhr  ich  durch  Vermittlung  des  Kollegen,  daß 
mit  dem  Tragen  des  verordn eten  Glases  die  Augenstörungen  voll¬ 
ständig  und  dauernd  geschwunden  sind. 

In  dieser  Annahme  kann  mich  weder  das  Vorhandensein  der 

vorübergehenden  Gelenksschweü urigen  und  der  dadurch  gegebene 

_ '  -  '[  :  1 

l5)  Der  Patient  hielt  die  Augenstörung  für  die  Teilerscheinung 
eines  nervösen  Allgemeinleidens. 


Verdacht  auf  Gicht,  noch’ die  Anästhesien  an  den  Füßen,  die  in 
Verbindung  mit  den  ziemlich  hartnäckigen  ischiatischen  Schmer 
zen  vielleicht  auf  den  bevorstehenden  Ausbruch  eines  ernst- m 
Nervenleidens  deuten  könnten  (Pupille i  und  Krtiesehnenrefh'.x 
sind  übrigens  völlig  normal),  wankend  machen.  In  diesem  Falle 
die  Auge« Störung  auf  Gicht  oder  eine  höchstens  vermutete  Tabes 
zurückführen  zu  wollen,  erschiene  mir  in  keim-r  Weise  gerecht¬ 
fertigt. 

Fall  II.  öijähriges  Fräulein,  Lehrerin,  leidet  seit  , lugen;  ! 
äii  Kopfschmerzen;  auch  die  Mutter  hat  an  solchen  gelitten.  Dir 
Erscheinungen  des  Flimmerskotoms  traten  erst  in  verge  ruck;  -• 
Alter  auf;  den  Zeitpunkt  kann  die  Kranke  nicht  genau  angele  n. 
doch  versichert  sie,  daß  sie  bestimmt  nicht  vor  dem  10.  Lebens¬ 
jahre,  wahrscheinlich  erst  einige-  Jahre  später,  aufgetreten  seien. 
Die-  Anfälle  treten  stets  im  Herbste,  im  Beginne  des  Schuljahres, 
gehäuft  auf  und  werden  im  weiteren  Verlaufe  des  Schuljahres 
wieder  seltener,  um  in  den  Sommerferien  nahezu  ganz  zu  ver¬ 
schwinden. 

Die  Untersuchung  der  Augen  ergibt: 

R.A.:  —  4  5  D.  —  cvl  -  05  D.  Achse  35°  10,/lü. 

L.  A.:  --  3  5  D.  o  cyl  —  05  Achse  90 '  10/12. 

Die  Patientin  trägt  für  die  Ferne  -3-5  D.  (sphär.)  und 
trug  dieses  Glas  bis  vor  wenigen  Jahren  ständig,  d.  h.  auch 
für  die  Nähe.  In  ihrem  Berufe  als  Lehrerin  muß  sie  nämlich 
von  ihrem  Platze  aus  die  Schüler  der  ganzen  Klasse  überblicken 
und  anderseits  auch  häufig  im  Buche  lesen  oder  schreiben.  Gerade 
in  der  Zeit,  in  welcher  das  Flimmerskotom  einsetzte,  trug  die 
Kranke  noch  ständig  für  Ferne  und  Nähe  das  gegenwärtige 
Fernglas,  welches  das  linke  Auge  ziemlich  voll  korrigiert  und 
am  rechten  nur  eine  schwache  Kurzsichtigkeit  übrig  läßt.  Erst 
einige  Jahre  später  merkte  sie  die-  Unmöglichkeit,  mit  diesem 
Glase  in  der  Nähe  zu  lesen,  und  sie  nahm,  diesem  Zwange 
langsam  weichend,  immer  schwächere  Konkavgläser  für  den 
Schulgehranch,  so  daß-  sie  gegenwärtig  bei  1-0  D1.  angelangt 
ist.  Als  eine  Hauptursa.ehe  ihrer  Anfälle  gibt  die  Kranke  Arbeit 
am  Schreibtisch  an,  der  nach  ihrer  Meinung  „zu  hoch“  war.  Tu 
den  letzten  Jahren  wurden  mit  dem  Tragen  der  schwächeren  Brille 
die  Anfälle  seltener. 

Es  besteht  eine  leichte,  allgemeine  Nervosität,  Anzeichen 
eines  ernsten  Nervenleidens  organischer  Natur  fehlen. 

Verordnung:  Pantoskopische  Brille  mit  — 3-5  D.  für  die 
Ferne-  in  der  oberen  Hälfte.  Dadurch  ist  es  der  Patientin  möglich, 
durch  das  Glas  in  die  Ferne-  blickend,  ihre  Schule  zu  über¬ 
wachen  und  anderseits,  unter  dem  Glase  wegschauend,  im 
Buche-  zu  lesen  oder  zu  schreiben. 

Uebe-r  das  weitere  Ergehen  der  Kranken  habe  ich  nichts 
mehr  gehört. 

Unsere  Patientin  hat  eine  ererbte  Disposition  zu  Migräne 
und  litt  seit  Jugend  gelegentlich  an  migräneähnlichen  Schmerz¬ 
anfällen.  ( 

Da  sie  trotz  der  beginnenden  Alterssichtigkeit  ihres  Be¬ 
rufes  wegen  das  Fernglas  auch  in  der  Nähe  trug  und  so  dasl  Auge 
überanstrengte,  entwickelte  sich  ein  typisches  Flimmerskotom. 
Ich  glaube,  daß  jede  andere  Erklärung  dieser  gegenüber  sein- 
gesucht  erscheinen  müßte. 

Fall  III.  öOjähriges  Fräulein,  Inhaberin  und  Leiterin  eines 
Kaufladens.  Die-  Patientin  leidet  seit  Jugend  an  Kopfschmerzen, 
bald  halb-,  bald  doppelseitig;  früher  bestanden  keinerlei  .Augen¬ 
störungen.  Seit  zwei  Jahrein  presbyopische  Beschwerden  und 
fünf  oder  sechs  typische  Anfälle  von  Flimmerskotom. 

Die  Sehprüfung  ergibt: 

R:  T0./9. ,  —  0’5  D.  dasselbe. 

L.:  10. /12.  ?,  Gläser  werden  abgelehnt. 

Reide  Augen:  Snellen  0’5  in  32  cm,  -4-  0  75  D.  Snellen  O'i  in  26  cm. 

Das  linke  Auge  zeigt  beginnende  Startrübung;  im  Harn 
findet  sich  Eiweiß. 

V  er  Ordnung:  +0-75  D. 

Fall  IV.  48jährige  Hausfrau,  leidet  seit  Jugend  an  Migräne 
(aber  ohne  Augensymptome),  ihre-  Mutter  litt  ebenfalls  an  Mi¬ 
gräne.  Seit  dem  Herbst  des  vorigen  Jahres  begannen  die  Schmerz- 
anfällo  häufiger  zu  werden  und  sich  mit  typischem  Flimmern 
zu  vergesellschaften.  Nach  Weihnachten  wurden  die  Anfälle 
seltener  und  hörten  im  Sommer  nahezu  ganz  auf,  um  im  letzten 
Herbste  gehäuft  wiederzukehren.  Die  totale  Hypermetropie  be¬ 
trägt  1-0  Dioptrie,  für  die  Nähe  wird  gelegentlich,  aber  durch 
aus  nicht  ständig,  +1-25  D.  getragen.  Die  Patiehtin  selbst  weist 
auf  die  eigentümliche  Verteilung  ihrer  Arbeit  nach  den  Jahres 
zeite-n  hin  und  gibt  so  eine  ausreichende  Erklärung  für  die  Häufung 
der  Anfälle  im  Herbste.  Sie  beschäftigt  sich  im  Sommer  vor¬ 
zugsweise  im  Garten  und  pflegt  erst  im  November  sich  wieder 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


feineren  Handarbeiten  zuzuwenden,  die  besonders  vor  Weih¬ 
nachten  viel  Zeit  in  Anspruch  nehmen.  Mit  beginnendem  Frühjahr 
widmet  sie  wieder  einen  großen  Teil  ihrer  Zeit  ihrem  Garten. 

Auch  in  diesen  beiden  Fällen  kann  an  dem  Einflüsse  der 
Presbyopie  nicht  gezweifelt  werden.  Die  Disposition  ist.  wie 
bei  Fall  I  und  II.  ererbt  und  hat  schon  früher  Migräneanfälle 
ausgelöst,  die  sich  im  späteren  Alter  infolge  der  Augenanstrengung 
zum  charakteristischen  Flimmerskotom  umwandelten. 

Es  mag  vielleicht  überraschen,  daß  ich  der  Alters¬ 
sichtigkeit  und  ihrer  Beziehung  zum  Flimmerskotom  einen 
so  großen  Platz  eingeräumt  habe,  da  doch  an  der  Möglich¬ 
keit,  einer  solchen  Auslösung  der  Anfälle  durch  presbyo- 
pische  Ueberanstrengung  des  Sehorganes  nach  unseren 
Kenntnissen  von  diesem  Leiden  gar  nicht  gezweifelt  werden 
kann.  Ich  habe  dies  getan,  weil  nach  meiner  Meinung 
dieses  Moment  in  den  Lehrbüchern  und  Abhandlungen  nicht 
die  ihm  gebührende  Hervorhebung  gefunden  hat,  während 
sich  meist  der  Hinweis  findet,  daß  das  Auftreten  oder  die 
Häufung  bisher  seltener  Anfälle  von  Flimmerskotom  in  vor¬ 
gerückterem  Alter  den  Verdacht  auf  ein  beginnendes  orga¬ 
nisches  Nervenleiden  begründe. 

Es  liegt  mir  nichts  ferner,  als  diesen  Gedanken  ganz 
zu  verwerfen,  ich  rate  aber  dringend,  gleichzeitig 
an  die  Möglichkeit  einer  nicht  korrigierten  Pres¬ 
byopie  z u  denken  und  zunächst  in  dieser  Rich¬ 
tung  zu  prüfen. 

Ich  will  hier  noch  die  Bemerkung  einschalten,  daß  auch 
in  jenem  meiner  Fälle,  in  welchem  das  Flimmerskotom  u.  zw.  in 
durchaus  typischer,  vollentwickelter  Form,  sich  erst  im  siebenten 
Lebensdezennium  eingestellt  hat,  nach  nunmehr  mehrjähriger 
Beobachtung  jedes  organische  Nervenleiden  mit  Sicherheit  aus¬ 
geschlossen  werden  kann.  Arthritis  deformans,  durch  Schmerzen 
bedingte  Schlaflosigkeit,  Neurasthenie,  anhaltende  und  anstren¬ 
gende  Nahearbeit,  manchmal  in  unzureichender  Beleuchtung,  viel¬ 
leicht  auch  leichte  kardiale  Störungen  sind  die  mir  bekannten 
ursächlichen  Momente  dieses  Falles. 

Da  man  in  statistischen  Zusammenstellungen  meist  die 
Kranken  auch  nach  dem  Geschlechte  zu  ordnen  pflegt,  so  will 
ich  schließlich  noch  hervorheben,  daß  37  meiner  Kranken  männ¬ 
lichen,  16  weiblichen  Geschlechtes  waren.  Ich  möchte  aber  diesem 
Zahlenverhältnis,  gar  keine  Bedeutung  beilegen,  denn  ich  ver¬ 
mute,  daß  bei  weiterer  Fortsetzung  meiner  Statistik  sich  dieses 
Verhältnis  wesentlich  ändern  dürfte,  u.  zw.  im  Sinne  einer  Ver¬ 
mehrung  der  weiblichen  Kranken.  Zunächst  fällt  mir  nämlich 
auf,  daß  unter  den  dem  klinischen  Materiale  entnommenen  Kranken 
das  weibliche  Element  nur  mit  10°/o  vertreten  ist,  während  unter 
den  Patienten  der  Privatpraxis  der  Prozentsatz  aut  52  ge¬ 
stiegen  ist. 

Weiters  bemerkte  ich,  daß  weibliche  Patienten  auffallend 
häufig  nur  in  ganz  unbestimmten,  sehr  allgemein  gehaltenen  Aus¬ 
drücken  von  Augenbeschwerden  sprechen,  so  daß  erst  nach  ein¬ 
gehendem  Befragen  das  Bild  des  Flimmerskotoms  sich  ergab. 
Aüelleicht  ist.  dies  teilweise  darin  begründet,  daß  Frauen  in  ihrer 
gewohnten  häuslichen  Umgebung  von  der  bald  vorübergehenden 
Sehstörung  nicht  allzu  sehr  belästigt  werden,  während  Männer, 
wenn  sie  auf  der  Gasse,  in  der  Kanzlei,  kurzum  im  lebhaften 
Verkehre  des  öffentlichen  Lebens  von  dem  Anfalle  überrascht 
werden,  sich  dadurch  sehr  empfindlich  behindert  fühlen. 

Jedenfalls  hat  sich  in  der  letzten  Zeit,  wahrscheinlich  durch 
die  Aenderung  der  Kreise,  aus  denen  sich  mein  Krankenmaterial 
rekrutiert  und  durch  eingehenderes  Nachfragen,  die  Verhältnis¬ 
zahl  der  Geschlechter  so  wesentlich  verschoben,  daß  ich  auf 
die  oben  angeführte  Zahl  gar  kein  Gewicht  legen  kann. 

Fassen  wir  nunmehr  die  Erfahrungen,  die  sich  aus 
meiner  kleinen  Beobachtungsreihe  ergeben,  zusammen,  so 
finden  wir  eine  weitgehende  Uebereinstimmung  mit  jenen, 
welche  frühere  Bearbeiter  des  Fliiümerskotoms  uns  mit¬ 
geteilt  haben.16)  Wir  müssen  annehmen,  daß  sich  dieses 
Leiden  auf  Grund  einer  in  ihrem  Wesen  uns  unbekannten 
Disposition  entwickelt,  die  wohl  wahrscheinlich  meist 
ererbt  sein  dürfte.  Diese  Disposition  wird  durch  alle  jene 
Umstände,  die  zu  einer  Schwächung  des  Nervensystems 
führen  können  (schwächende  Krankheiten,  Ausschweifun¬ 
gen,  Ueberarbeitung,  Gemütsaffekte  usw.),  sowie  durch  Nei¬ 
gung  zu  vasomotorischen  Störungen  erhöht.  In  den  meisten 

l6)  So  schon  v.  Reuß,  Kasuistische  Beitr.  z.  Kenntn.  d.  Flimmer¬ 
skotoms.  Winer  med.  Presse  1876,  17.  Jahrg.  und  zahlreiche  Neuere. 


Fällen  liegt  auch  eine  andauernde,  erhöhte  Inanspruch¬ 
nahme  des  Sehorganes  vor,  die  manchmal  auf  mus¬ 
kulärer  oder  akkomodativer  Asthenopie  beruht. 

Besondere  Steigerung  und  Häufung  der  erwähnten 
Schädlichkeiten  oder  das  Eintreffen  anderer  Noxen  pflegen 
dann  als  Gelegenheitsursachen  in  der  disponierten 
Person  den  einzelnen  Anfall  auszulösen. 

Die  inneren  Vorgänge,  die  dem  Anfalle  vermutlich 
zugrunde  liegen,  zu  erörtern,  will  ich  absichtlich  unterlassen 
und  nur  darauf  hinweisen,  daß  die  Pathogenese  wahrschein¬ 
lich  keine  einheitliche  ist;  doch  dürften  wir  kaum  fehlgehen, 
wenn  wir  die  große  Mehrzahl  aller  Fälle  in  eine  Gruppe 
zusammenfassen,  die  genetisch  der  Migräne  sehr  nahesteht, 
ja  einfach  als  eine  bestimmte  Erscheinungsform  derselben, 
als  Augenmigräne,  aufzufassen  wäre.  Nach  Ausscheidung 
der  atypischen  und  zweifelhaften  Fälle  werden,  wie  ich 
glaube,  nur  mehr  relativ  Avenige  Fälle  unserer  Krank¬ 
heit  außerhalb  des  Rahmens  der  Migräne  verbleiben  müssen. 
Freilich  ist  damit  für  die  Erkenntnis  der  Entstehung  noch 
wenig  gewonnen,  denn  auch  die  Entwicklung  der  Migräne 
ist  nicht  vollständig  geklärt  und  vielleicht  ebenfalls  nicht 
einheitlich. 

Schließlich  seien  noch  einige  Worte  der  Behand¬ 
lung  des  uns  interessierenden  Leidens  gewidmet.  Der 
Grundlage  des  Leidens,  der  Disposition,  können  wir  schon 
deshalb  nicht.  Herr  werden,  weil  wir  sie  in  ihrem  Wesen 
nicht  kennen.  Wohl  aber  können  wir  durch  Hebung  und 
Kräftigung  des  nervösen  Allgemeinzustandes  dieser  Dispo¬ 
sition  entgegenarbeiten.  Selbstverständlich  werden  wir  dies 
Ziel  nicht  durch  Medikamente,  sondern  durch  vernünftige 
Regelung  der  Lebensweise  zu  erreichen  suchen,  ein  the¬ 
rapeutisches  Beginnen,  dem  der  Kranke  leider  oft  den 
größten  Widerstand  entgegensetzt.  Die  Anwendung  der  Hy¬ 
drotherapie  wird  uns  dabei  oft  fördern.  Einen  Wegweiser 
für  unser  Handeln  finden  wir  in  den  zahlreichen  Abhand¬ 
lungen  über  die  Migräne,  deren  allgemeine  Therapie  wir 
vollständig  für  unser  Leiden  übernehmen  können. 

Die  größte  Sorgfalt  haben  wir  den  Gelegenheit.sur- 
sachen  des  Flimmerskotoms  zu  widmen.  Ihre  Vermeidung 
setzt  aber  ihre  Kenntnis  voraus.  Wir  seihst  müssen  unsere 
Kranken  auf  die  verschiedenen  Möglichkeiten  aufmerksam 
machen.  Warum  sollen  wir  den  Kranken  nötigen,  sich  erst 
durch  eine  größere  Zahl  von  Anfällen  quälen  zu  lassen, 
bis  er  seihst  die  zur  Prophylaxe  nötige  Erfahrung  gesammelt, 
hat?  Wir  können  ihm  durch  unsere  eigenen  Erfahrungen 
nicht  'selten  den  Leidensweg  verkürzen  und  erleichtern. 
Schädlichkeiten  soll  der  Kranke  wo  möglich  völlig  meiden; 
sind  sie  aber  unvermeidlich,  zum  Beispiel  durch  den  Beruf 
bedingt,  dann  ist  die  Anleitung  zu  ihrer  Bekämpfung  unsere 
ärztliche  Aufgabe. 

ln  dieser  Beziehung  ist  die  Regelung  der  Nahe- 
arbeif  eine  unserer  häufigsten  Pflichten.  Möglichste  Er¬ 
leichterung  derselben,  Sorge  für  gute,  aber  nicht  zu  grelle 
Beleuchtung,  häufige  Einschaltung  von  Pausen  oder  Wechsel 
in  der  Art  der  Nahearbeit,  sind  zu  empfehlen. 

Niemals  vergesse  man  eine  genaue  Untersuchung  des 
Sehorganes  auf  Refraktion,  Akkomodation  und  Muskelver¬ 
hältnisse  und  verordne,  wenn  nötig,  eine  entsprechende 
Brille.  Man  glaube  aber  ja  nicht,  daß  mit  der  Verordnung 
eines  Korrektionsglases  alles  getan  sei.  Ein  solches  ist 
oft  ein  wichtiger,  ja  unentbehrlicher  Heilfaktor,  wird  aber 
allein  selten  helfen. 

Gegen  Blendung  beim  Aufenthalt  im  Freien  (bei 
Schnee,  an  größeren  Wasserflächen,  auf  sonnenbeschie'ne- 
nen  Straßen  usw.)  wird  die  Verordnung  eines  schwach 
grau  gefärbten  Glases  zweckmäßig  sein. 

Natürlich  wünschen  die  Kranken  stets  auch  ein  Mittel, 
welches  den  Anfall  beheben  soll.  Hier  versagt  unser  Können 
wohl  immer.  Ist.  die  Sehstörung,  insbesonders  das  Flim¬ 
mern,  einmal  aufgetreten,  dann  geht  sie,  unbekümmert  um 
alle  Medikamente,  ihren  regelmäßigen  Weg.  Anders  ver¬ 
hält  es  sich  mit  dem  nachfolgenden  Kopfschmerz;  hier 
!  können  Nervina  —  dieselben,  die  bei  der  Migräne  üblich 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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sind  —  abkürzend  und  erleichternd  wirken.  Abhaltung 
äußerer  Reize,  möglichste  Ruhe,  horizontale  Lage,  Genuß 
von  Speise  und  Trank  bringen  oft  auch  ohne  jedes  arznei¬ 
liche  Mittel  etwas  Erleichterung. 

Wichtig  ist  ferner  die  genaue  Regelung  der  Ernäh¬ 
rung.  Hungergefühl  darf  nicht  übersehen,  anderseits  aber 
der  Magen  auch  nicht  überfüllt  werden,  besonders,  wenn 
gleich  darauf  wieder  gearbeitet  werden  soll.  Vielen  Kranken 
nützt  die  Einschaltung  einer  kleinen  Mahlzeit  zwischen  Früh¬ 
stück  und  Mi  tagessen.  Das  moderne  Bestreben,  das  Mittag¬ 
essen  immer  mehr  in  den  Nachmittag  hinein  zu  verlegen, 
halte  ich  vom  ärztlichen  Standpunkte  aus  für  ganz  ver¬ 
werflich. 

Achtung  auf  die  Darmfunktionen! 

Niemals  versäume  man  es,  dem  Kranken  Sorge  für 
regelmäßigen,  ruhigen  Schlaf  einzuschärfen.  Ordentliches 
Ausschlafen  am  Morgen  ist  wichtig. 

An  mir  selbst  habe  ich  folgende  für  die  Behandlung 
sehr  wichtige  Beobachtung  gemacht.  Meinen  Anfällen  pflegt 
meist  —  aber  nicht  immer  —  eine  ganz  charakteristische 
Prodromalerscheinung  voranzugehen;  sie  besteht  in  einem 
wenig  auffallenden  Lichtbilde,  das  in  Form  eines  kleinen, 
hellen  Funkens  langsam  und  genau  horizontal  nahe  vor 
meinen  Augen  vorbeizuschweben  scheint  u.  zw.  nur  ein¬ 
mal.  Bemerke  ich  diesen  Funken,  so  pflege  ich  sogleich 
jede  Arbeit  einzustellen  und  strebe  vollständige  Ruhe,  ins- 
besonders  des  Sehorganes,  an.  Dieses,  sowie  der  Genuß  von 
etwas  Speise,  stellen  mich  meist  soweit  wieder  her,  daß 
ich  nach  ungefähr  einer  Viertel-  bis  einer  halben  Stunde 
die  frühere  Beschäftigung  (allerdings  mit  vorsichtiger  Scho¬ 
nung)  wieder  aufnehmen  kann,  ohne  daß  es  zum  Ausbruch 
des  Anfalles  oder  zu  Kopfschmerzen  kommt. 

Kann  ich  aber  diesem  Mahner  nicht  sogleich  Folge 
leisten,  sondern  setze  meine  Arbeit  fort,  so  pflegt  schon 
in  den  nächsten  Minuten  die  typische  Sehstörung  sich  zu 
entwickeln. 

Die  Kenntnis  dieses  warnenden  Krankheitszeichens 
hat  mir  im  Laufe  der  letzten  Jahre  wesentlich  genützt  und 
mich  oft  vor  Anfällen  bewahrt  ;  ich  bedauere  es  sehr,  daß  es 
mir  bis  jetzt  nicht  gelang,  auch  bei  anderen  Kranken  ein 
so  sicheres  und  so  rechtzeitiges  Prodromalsymptom 
aufzudecken.  Das  anfangs  dieses  Aufsatzes  erwähnte 
zentrale  Skotom  stellt  bereits  den  Beginn  des  Anfalles  dar, 
mit  dessen  Auftreten  sich,  nach  meinen  Erfahrungen,  um 
Ablauf  der  Sehstömng  nichts  mehr  ändern  läßt.  Vage  Be¬ 
schwerden  beim  Lesen,  worin  sich  übrigens  bei  den  meisten 
Kranken  auch  das  erwähnte  Skotom  verbirgt,  sind  kein 
genügend  sicheres  Prodromalzeichen,  weil  sie  bei  von  asthe- 
nopischen  und  neurasthenischen  Beschwerden  geplagten 
Kranken  zu  häufig  sich  finden. 

"Es  ist  selbstverständlich  und  bedarf  wohl  kaum  der  Er¬ 
wähnung,  daß  gleichzeitig  bestehende  anderweitige  Leiden,  wie 
Gicht,  Tuberkulose,  Hysterie,  Tabes  usw.,  ebenfalls  zu  behandeln 
sind  u.  zw.  auch  dann,  wenn  man  einen  direkten  Zusammenhang 
derselben  mit  dem  Flimmerskotom  nicht  als  gegeben  auseben 
sollte. 

Die  Vorbedingung  unseres  therapeutis c h e n 
Handelns  muß  aber,  wenn  wir  nicht  gleich  von  vorn¬ 
herein  unter  der  Flagge  des  Zufalles  segeln  wollen,  wohl¬ 
wollendes  A  n  h  ö  r  e  n  und  Abwägen  der  vielfachen 
Klagen  und  (genaues  Studium  jedes  einzelnen 
Falles  sein,  wozu  ich  insbesondere  sorgfältige  Prüfung 
der  Refraktion  der  Augen  und  ihrer  Funktionen  rechne. 


Aus  der  I.  chirurgischen  Universitätsklinik  in  Wien. 
(Vorstand :  Prof.  A.  Freih.  v.  Eiseisberg.) 

Zur  Frage  der  zirkumskripten,  chronisch¬ 
adhäsiven  Peritonitis. 

Von  Dr.  Wolfgang;  Denk,  Operateur  der  Klinik. 

In  den  folgenden  Zeilen  soll  kein  neues  Krankheits¬ 
bild  aufgestellt,  sondern  im  Gegenteil  gezeigt  werden,  daß 
eine  Reihe  von  anatomischen  Veränderungen  in  der  Bauch¬ 


höhle,  die  jede  für  sich  als  ein  typischer  Krankheitsprozeß 
hingestellt  wurde,  sich  zwangslos  in  dem  vielseitigen  Gebiei 
der  chronisch-adhäsiven  ■Peritonitis  unterbringen  läßt. 
Nachdem  Rokitansky  auf  diese  Form  der  Peritonitis 
hingewiesen  hat,  gab  Virchow  1853  ein  umfassendes 
Bild  jener  Krankheit,  von  der  er  in  der  Einleitung  des  be¬ 
ireffenden  Kapitels  sagt:  „Diese  chronische,  partielle  Peri¬ 
tonitis  halte  ich  für  eine  der  wichtigsten  Krankheiten  und 
kann  sie  nicht  genug  der  Aufmerksamkeit  der  Aerzte  em¬ 
pfehlen.  Sie  kann  an  allen  Punkten  des  Bauchfelles  auf 
treten,  zeigt  sich  bald  nur  an  einem  einzigen,  gewöhnlich 
aber  an  mehreren  gleichzeitig  und  bedingt  nicht  bloß  Ad¬ 
häsionen  mehrerer  Baucheingeweide  untereinander,  sondern 
auch  allerlei  flache  oder  zottige  Auflagerungen  der  Flächen.“ 

Virchow  unterschied  drei  Formen:  Die  Perito¬ 
nitis  chronica  mesenterialis,  die  partielle  hypo¬ 
chondrische  Peritonitis  und  die  peritonitis  chro¬ 
nica  omentalis.  Die  erste  Form  hat  ihren  Sitz  an  der 
Wurzel  des  Mesenteriums,  am  häufigsten  auf  der  linken 
Seite  des  Gekröses  der  Flexura  sigmoidea.  Die  partielle 
hypochondrische  Peritonitis  findet  sich  an  der  Flexura  coli 
hepatic'a  und  lienalis,  die  dritte  Form  endlich,  die  Perito¬ 
nitis  chronica  omentalis  ist  auf  das  große  Netz  lokalisiert. 
Nach  Virchow  'machte  noch  eine  Reihe  von  anderen 
Autoren  auf  dieses  Krankheitsbild  aufmerksam,  so  beson¬ 
ders  Lauenstein,  Riedel,  Nothnagel  und  in  etwas 
spezialisierterer  Form  Gersuny,  Payr  und  v.  Habere r. 

Anatomisch-klinisch  bestehen  alle  diese  patho¬ 
logischen  Prozesse  in  schleichenden,  oft  völlig  symptomlos 
■verlaufenden  Entzündungen  des  Bauchfelles  mit  vorwiegen¬ 
der  Tendenz  zur  Bildung  von  Adhäsionen,  welche  all¬ 
mählich  -schrumpfen  und  oft  erst  dadurch  sich  klinisch  be- 
merklich  machen.  Denn  durch  diese  Schrumpfungsprozesse 
kommt  es  zu  Lageveränderungen  der  Baucheingeweide, 
Fixation  benachbarter  Teile  untereinander,  zu  abnormen 
Knickungen  des  Darmes,  namentlich  an  der  Flexura  coli 
lienalis  und  sigmoidea  und  zu  partiellen  Verengerungen 
desselben.  Die  Symptome  all  dieser  Veränderungen  sind 
'so  wechselvoll  und  so  wenig  charakteristisch,  daß  es  nur 
selten  gelingt,  eine  richtige  Diagnose  zu  stellen,  was  auch 
von  den  meisten  Autoren  betont  wird. 

Als  Aetiologie  dieser  Krankheit  sind  die  verschie¬ 
densten  Momente  angegeben  worden.  Aeußerliche  Ver¬ 
letzungen,  Erkrankungen  der  Bauchwand,  innere,  mecha¬ 
nische  Einwirkungen  von  den  Kanälen  der  Bauchhöhle  aus, 
zu  häufige,  namentlich  gewaltsame  Ausübung  des  Koitus 
können  nach  Virchow  durch  Ausdehnung  eines  entzünd¬ 
lichen  Reizes  auf  das  Peritoneum1  zu  Adhäsionsbildung 
führen.  Auch  die  Stagnation  von  Kotmassen,  beson¬ 
ders  im  Dickdarm  könne  nach  Virchows  Ansicht  einen 
chronischen  Reiz  auf  die  Serosaflächen  ausüben  und  ge¬ 
rade  dadurch  seien  die  so  häufig  am  Cökum,  an  der  Flexura 
hepaticä,  lienalis  und  sigmoidea  zu  beobachtenden  Adhä¬ 
sionen  zu  erklären,  da  an  diesen  Punkten  die  Kotstauung 
am  stärksten  sei.  Für  diese  von  Virchow  so  genial  er¬ 
dachte  Hypothese  wurde  später  durch  die  exakten  Unter¬ 
suchungen  Roiths  der  Beweis  erbracht.  Als  weitere  Ur¬ 
sache  der  Adhäsionsbildung  wird  von  L au  en  s  t  ei n,  R i  e d  1, 
Nothnagel,  Payr  und  v.  Haberer  das  Uebergreifen  eines 
entzündlichen  Reizes  vom1  Magen,  Darm,  Gallenblase,  Ap¬ 
pendix  durch  die  verschiedensten  pathologischen  Prozesse 
in  diesen  Organen  auf  das1  Peritoneum  angegeben. 

Eine  wichtige  ätiologische  Quelle  sieht  außer  Vir¬ 
chow  besonders  Lau  enstein,  Nothnagel  und  Ger¬ 
suny  im  weiblichen  Genitale  und  in  der  Tat  zeigt 
sich,  daß  ein  auffallend  großer  Prozentsatz  Frauen 
von  dieser  Krankheit  befallen  wird.  Gersuny  beobachtete 
die  nach  ihm  benannte  Adhäsionsbildung  an  der  Flexura 
sigmoidea  unter  21  Fällen  18mal  bei  Frauen  und  nur 
dreimal  bei  Männern.  Unter  den  zehn  Fällen  Lauen¬ 
steins  finden  sich  neun  Frauen  und  nur  ein  Mann.  Bei 
der  Menstruation  könne  infolge  der  offenen  Kommunikation 
des  weiblichen  Genitales  mit  der  Bauchhöhle  Blut  in  letztere 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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austreten,  welches  durch  die  Dünndarmperistaltik  weg¬ 
geschafft  wird  und  an  Stellen  verminderter  Peristaltik,  in 
der  Ileocökalgegend  und  an  der  Flexura  sigmoidea  liegen 
bleibt  und  organisiert  wird  (Gersuny). 

In  folgendem  sollen  zwei  Krankengeschichten  mitge¬ 
teilt  werden,  #aus  denen  die  Entstehung  der  chronisch- 
adhäsiven  Peritonitis  als  eine  Folge  der  Kotstauung  recht 
ersichtlich  ist. 

Fall  I.  C.  G.,  23jährige  Magd,  aufgenommen  am  2o.  Ok¬ 
tober  1910.  . 

Anamnese:  Eltern  der  Patientin  gesund,  ein  Bruder  ist  an 
Lungentuberkulose  gestorben,  ein  zweiter  litt  vor  kurzei  Zeit 
an  einer  Rippenfellentzündung,  die  übrigen  Geschwister  sind 

gesund.  •  .  ,  .  ..  .  ,  .,  , 

Patientin  war  bisher  nie  krank.  Seit  zirka  drei  Jahren  leidet 

sie  an  sehr  häufigen,  fast  jeden  zweiten  Tag  auftretenden  kolik- 
artigen  Schmerzen,  die  quer  über  die  Mitte  des  Bauches  hei- 
überziehen.  Diese  Anfälle  treten  meist  nachmittags  oder  abends 
auf  und  halten  mehrere  Stunden  an.  Sonst  keinerlei  Beschwerden. 
Der  Stuhl  ist  stets  hart,  zeitweise  angehalten,  seit  drei  Viertel¬ 
jahren  mit  weißlichen  Fetzen  und  Schleimbeimengungen  versehen, 
Seit  sieben  Monaten  bedeutende  Verschlechterung  des  Zustandes 
mit  vorwiegenden  Magensymptomen.  Zirka  eine-  Stunde  nach 
der  Nahrungsaufnahme  treten  krampfartige  Schmerzen  ml  Magen 
auf,  die-  nach  zirka  halbstündiger  Dauer  zum  Erbrechen  führen; 
dabei  besteht  Aufstoßen  von  bitterem  Geschmack.  Nach  dem  Er-  | 
brechen  Erleichterung,  doch  besteht  ein  gewisses  Unbehagen  noch 
weiter.  Unter  Milchdiät  und  Bettruhe  besserte  sich  der  Zustand 
nach  einem  Monat.  Vor  fünf  Wochen  neuerlich  Verschlechte¬ 
rung,  ohne  daß  es  diesmal  zum  Erbrechen  kam.  Infolge  der  In¬ 
toleranz  der  Patientin  gegen  Aufnahme  konsistenter  Nahrung 
magerte  sie  beträchtlich  ab.  Weder  im  Erbrochenen,  noch  im 
Stuhl  soll  Blut  beigemengt  gewesen  sein. 

Status  praesens:  Mittelgroße,  zi  mlich  kräftige,  etwas 
blasse  Patientin.  Herz  und  Lungen  non  iah  Im  Harn  keine 
pathologischen  Bestandteile.  Temperatur  37,  Puls  87. 

Abdomen  flach  und  weich,  keine  Peristaltik  sichtbar,  Iieo- 
zökalgegend  ausgesprochen  druckempfindlich,  ebenso  eine  zir¬ 
kumskripte  Stelle  rechts  oberhalb  des  Nabels.  Nirgends  eine  ab¬ 
norme  Resistenz  tastbar,  kein  Plätschern.  Probefrüh  stück: 
Reaktion  sauer,  Gesamtazidität  24,  freie  Salzsäure-  positiv,  Milch¬ 
säure  negativ.  ,  , 

Die 'Röntgen  Untersuchung  des  Magens  für.  llaudekj 
ergab  einen  leicht  längsgedehnten,  mäßig  quergedehnten  Magen 
mit  ausgesprochener  Motilitätsstörung.  Da  ein  gröberer  Füllungs¬ 
defekt  oder  ein  penetrierendes  Ulkus  nicht  zu  sehen  war,  wurde 
vom  Röntgenologen  die  Diagnose  auf  eine  Narbe  oder  ein  florides 
Ulkus  am  Pylorus  gestellt.  Die  klinische  Diagnose  blieb  in  sus¬ 
penso,  möglich  Appendicitis  chronica  adhaesiva. 

Operation:  28.  Oktober  1910  (Dr.  v.  Habe  rer).  Mediane 
Laparotomie  zwischen  Processus  xiphoideus  und  Nabel.  Der  Magen 
stark  ptotisch,  ziemlich  schlaff,  mäßig  dilatiert.  Kardia  und  Py- 
lorusanteile  stark  aneinander  genähert.  Pylorus  zart,  weit,  wäh¬ 
rend  der  Untersuchung  sich  vorübergehend  spastisch  kontra¬ 
hierend.  An'  der  Vord-erfläch-e  desselben  einte  glanz  zarte  Adhäsion, 
Serosa  nicht  injiziert,  keine  Narben.  Derselbe  Befund  auf  der 
Rückseite  des  Pylorus.  Beim  Emporschlagen  des  Magens  fällt 
auf,  daß-  die  hintere  Platte  des  großen  Netzes  mit  dem  Mesocolon 
transversum  nicht  zusammenhängt,  sondern  in  Formt  eines  spinn¬ 
webenähnlichen  Gewebes  die  Hinterfläche  des  Magens  überzieht. 
|>as  Colon  transversum  bildet  in  der  Mitte  eine  bis  ins  kleine 
Becken  reichende  Schlinge  mit  doppelflintenlaufähnlich  neben¬ 
einander  liegenden  Schenkeln,  die  durch  zarte  Adhäsionen  mit¬ 
einander  verwachsen  sind,  in  denen  sich  zahlreiche,  weiße,  strali- 
lige  Narben  befinden.  Flexura  coli  hepatica  und  lienahs  voll- 
kommen  normal,  ohne  jede  Adhäsionsbildung.  yVgl.  die  Ab- 

bildung.)  .  '  i  -.  1  ‘  '  1 

Wegen  der  hochgradigen  Ptose  wird  am  tiefsten  1  unkt  des 
Magi  ns  eine  Gastroenterostomia  retroc'olica  posterior  angelegt. 
Der  Mesokolonschlitz  wird  nach  Lösung  der  Narben  zwischen  den 
Schenkeln  der  Kolonschlinge  sehr  -exakt  an  der  Gastroenterostomie- 
s teile  fixiert  und  auf  diese  Weise  eine  Art  Kolopexie  hergestellt. 
Schluß  der  Bauchwunde  in  drei  Etagen. 

Wegen  der  Druckschmerzhaftigkeit  in  der  Ileocökalgegend 
wird  diese  durch  einen  Lennander-Schnitt  freigelegt.  Ziemlich 
reichlich  freie  Flüssigkeit  in  den  abhängigen  Partien  des  Ab¬ 
domens.  Cökum  nicht  fixiert,  Appendix  10  bis  12  cm  lang,  blaß, 
nicht  verdickt,  flächenhaft  durch  zarte  Adhäsionen  an  der  late¬ 
ralen  Cökumwand  fixiert,  in  der  Mitte  spitzwinkelig  nach  abwärts 
geknickt  und  gleichzeitig  um  zirka  90°  torquiert.  Typische  Am¬ 
putation  des  Appendix,  Etagennaht  der  Bauchdecken. 


In  der  Rekonvaleszenz  stellten  sich  noch  vorübergehende 
kolikartige  Schmerzen  im  Bauche  ein.  14  Tage  nach  der  Opera¬ 
tion  wurde  Patientin  beschwerdefrei  entlassen. 

Dieser  Fall  bietet  in  klinischer  und  anatomischer  Hin¬ 
sicht  manches  Interesse.  Was  die  Diagnose  anlangt,  so 
mußte  mit  Rücksicht  auf  den  Röntgenbefund  eine  Pylorus¬ 
stenose  angenommen  werden,  obwohl  die  klinischen  Sym¬ 
ptome  nicht  damit  übereinstimmten,  sondern  eher  für  eine 


Fig.  2. 


chronische  Appendizitis  sprachen.  Der  Operations befund 
aber  ergab  absolut  keinen  Anhaltspunkt  weder  für  ein 
frisches  noch  für  ein  altes  oder  vernarbtes  Ulkus.  Selbst 
eine  kleine  Erosion  am  Pylorus  hätte  bei  dem  langen  Be¬ 
stehen  der  Erkrankung  (zirka  3/r  Jahre)  irgend  welche 
anatomische  Veränderungen  am  Pylorus  erzeugen  müssen. 
Es  war  also  offenbar  die  Motilitätsstörung  durch  die  Gastro- 
ptose  und  den  intermittierenden  Pylorospasmus  bedingt. 

Besonders  auffallend  war  die  enorme  Schlingenbildung 
des  Colon  transversum.  Auf  die  Bedeutung  und  die  Häufig- 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


59 


keil  derartiger  Schlingenbild  ungen  hat  schon  li.  Braun 
hingewiesen,  sie  sind  im  allgemeinen  nicht  selten  und  hin¬ 
länglich  bekannt.  Aber  eine  derartig  ausgeprägte  und  ich 
möchte  fast  sagen,  architektonisch  schöne  Lageanomalie 
des  Colon  transversum  dürfte  nicht  allzu  häufig  Vorkommen. 
Es  scheint  mir  nicht  unmöglich,  daß  das  Ausbleiben  der 
Verwachsung  des  großen  Netzes  mit  dem  Mesocolon  trans- 
versmn,  ein  ebenfalls  seltenes  Vorkommen,  diese  abnorme 
Lagerung  verursachte,  die  ihrerseits  wieder  zu  Störungen 
und  Erschwerung  der  Kotpassage  und  chronischer  Kolitis 
führte.  Uie  Adhäsionen  wiederum,  die  sich  zwischen  den 
Schenkeln  der  Schlinge  allmählich  ausgebildet  hatten,  sind 
die  Folgen  des  chronischen  Reizes,  der  infolge  der  Kot¬ 
stauung  und  chronischen  Kolitis  von  der  Darmschleimhaut 
auf  die  Serosa  Übergriff. 

Schwieriger  sind  die  Adhäsionen  um  den  Appendix 
zu  erklären.  Die  histologische  Untersuchung  ergab  eine 
Hyperplasie  der  Follikel  und  vereinzelte  lymphoide  Stroma¬ 
infiltrate,  aber  an  keiner  Stelle  eindeutige  entzündliche 
Veränderungen.  Ob  es  sich  hier  um  eine  chronisch-adhä¬ 
sive  Appendizitis  (v.  Hab  er« r)  oder  um  eine  angeborene 
Adhäsionsbildung  im  Sinne  Albrechts  handelt,  oder  oh 
die  Adhäsionen  eine  Teilerscheinung  der  chronisch-adhä¬ 
siven  Peritonitis  infolgeHKotstauung  bilden,  kann  ich  nicht 
mit  Sicherheit  entscheiden.  Bei  dem  Fehlen  von  entzünd¬ 
lichen  Veränderungen  scheint  mir  jedoch  die  letztere  An¬ 
nahme  die  wahrscheinlichste. 

Fall  II.  M.  K.,  53jährigei  Hilfsarbeiterin,  aufgenommen 
am  29.  Oktober  1910. 

Anamnese:  Familienanamnese  ohne  Belang.  Als  Kind 
Masern,  Scharlach  und  Lungenentzündung.  Bis  vor  einem  Monat 
war  Patientin  vollständig  gesund.  Dann  traten  Schmerzen  im 
Magen,  Uebelkeit.  und  saures  Aufstoßen  auf,  besonders  nach  der 
Nahrungsaufnahme.  Zeitweise  erfolgte  Erbrechen.  Allmählich  stei¬ 
gerten  sich  diese  Beschwerden,  die  bald  auch  bei  leerem  Magen 
auftraten.  Dabei  hatte  Patientin  oft  das  Gefühl,  als  ob  sich  im 
Bauche  etwas  aufstellte.  Der  Appetit  ließ  vollständig  nach,  gegen 
Fleisch  bestand,  eine  direkte  Abneigung.  Im  Erbrochenen  war 
nie  Blut  vorhanden. 

Der  Stuhl  war  bis  vor  einem  Monat  regelmäßig,  seit  Be¬ 
ginn  des  Leidens  aber  besteht  eine  hartnäckige  Obstipation,  so 
daß  in  letzter  Zeit  nur  auf  Klysmen  Stuhl  zu  erreichen  ist.  Blut, 
Schleim  oder  Eiter  wurden  in  den  Fäzes  nie  beobachtet.  Seit 
einem  Jahre  allmähliche  Abmagerung. 

Status  praesens:  Kleine,  grazil  gebaute,  magere  Frau. 
Herz,  Lungen  normal,  Harn  ohne  pathologische  Bestandteile. 
Afebril,  Puls  84,  regelmäßig.  Unterbauchgegend  vorgewölbt,  zeit¬ 
weise  deutliche  Peristaltik  sichtbar.  Cökum  stark  gebläht,  da¬ 
selbst  lautes  Plätschern,  in  der  Medianlinie,  zeitweise  etwas 
links  davon,  ein  nußgroßer,  harter,  nicht  druckschmerzhafter 
Tumor  tastbar.  Das  Probefrühstück  ergab  normale  Werte.  Lied 
Aufblähung  des  Kolon  füllten  sich  Colon  descendens,  aseendens 
und  Cökum  deutlich,  das  Colon  transversum  weniger  gut.  Der 
Tumor  rückte  dabei  nach  rechts  von  der  Mittellinie,  lleklal- 
hefund  negativ. 

Operation:  31.  Oktober  1910  (Dr.  v.  Hab  er  er).  Mediane 
Laparotomie  oberhalb  und  unterhalb  des  Nabels.  In  der  linken 
Hälfte  des  Colon  transversum  ein  nußgroßer,  nabelförmig  oinge- 
zogener,  das  Dannlumen  maximal  stenosierender,  harter  Knoten. 
Der  zuführende  Kolonabschnitt,  besonders  das  Cökum  stark  ge¬ 
bläht,  der  abführende  Kolonabschnitt  leer.  Serosa  ziemlich  leb¬ 
haft  injiziert.  Am  Colon  aseendens  eine  Schlingenbildung  mit 
beinahe  parallel  gelagerten  Schenkeln,  welche  durch  straffe,  gefä߬ 
reiche  Adhäsionen  miteinander  verbunden  sind.  Die  Flexura 
hepatica  spitzwinkelig  geknickt,  an  der  Leberunterfläche  durch 
feste,  stark  injizierte  Verwachsungen  fixiert  (vgl.  die  Abbildung). 
Nach  doppelter  Ligatur  des  Mesokolon  wird  die  primäre  Resek¬ 
tion  des  untersten  Ileum.  Cökum,  Colon  aseendens  und  trans¬ 
versum  ausgeführt  und  die  Passage  durch  eine  laterale  Ileokolo- 
stomie  wieder  hergestellt.* 1) 

Nach  einem  vollkommen  fieberlosen,  unkomplizierten  Heil¬ 
verlauf  wurde  Patientin  geheilt  entlassen. 

Die  Pathogenese  der  Verwachsungen  läßt  sich  in 
diesem  Fall  leicht  erklären.  Durch  das  stark  stenosierende 

*)  Bezüglich  der  Indikationsstellung  und  Technik  der  einzeiligen 
Dickdarmresektion  wird  dieser  Fall  und  mehrere  andere,  die  an  der 

I.  chirurgischen  Klinik  zur  Operation  .kamen,  von  v.  II  ab  er  er  an 

anderer  Stelle  ausführlich  mitgetcilt  werden. 


Karzinom  war  es  oberhalb  desselben  zu  einer  Kotslauung, 
Dilatation  und  Hypertrophie  des  Darmes  gekommen.  Auch 
die  Schlingenbildung  am  Col  asc.  ist  mit  großer  Wahrschein¬ 
lichkeit  auf  dieselbe  Ursache  zurückzuführen.  Die  stagnieren¬ 
den  Kotmassen  übten 'einen  chronischen  Reiz  auf  die  Darm¬ 
schleimhaut  aus,  der  auf  die  Serosa  Übergriff  und  zur 
Adhäsionsbildung  führte,  die  naturgemäß  in  erster  Linie 
an  solchen  Stellen  zustandekam,  die  der  Kotpassage  am 
ehesten  ein  gewisses  Hindernis  bieten,  nämlich  an  der 
Flexura  hepatica  und  der  abnormen  Schlingenbildung  am 
Colon  aseendens.  Daß  die  Adhäsionen  relativ  jungen  Datums 
waren,  erkannte  man  aus  der  noch  ziemlich  lebhaften  In¬ 
jektion,  wie  denn  auch  die  Stenosenerscheinungen  noch 
nicht  sehr  lange  bestanden. 

Die  in  diesem  zweiten  Falle  gefundenen  Adhäsionen 
hatten  eine  große  Aehnlichkeit  mit  der  von  Payr  beschrie¬ 
benen  typischen  Adhäsion  an  der  Flexura  lienalis.  Auch 
hier  war  die  Flexur  hoch  hinaufgezogen  und  spitzwinkelig 
geknickt,  nur  die  Lokalisation  war  infolge  des  Sitzes  der 
Stenose  eine  andere.  Aber  der  Prozeß,  der  all  diesen  Formen 
von  Adhäsionsbildung  zugrunde  liegt,  ist  sicher  der  gleiche, 
eine  schleichend  verlaufende  zirkumskripte  Peritonitis  aus 
den  verschiedensten  oben  angeführten  Gründen. 

Mit  einigen  Worten  möchte  ich  noch  auf  die  Gersuny- 
sche  Adhäsion  an  der  Flexura  sigmoidea  zu  sprechen 
kommen.  Wie  schon  v.  Habe  rer  gelegentlich  der  Demon¬ 
stration  eines  Falles  von  Payr  scher  Adhäsion  in  der  k.  k. 
Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien  hervorgehoben  hat,  kommt 
die  von  Gersuny  beschriebene  Strangbildung  sowohl  für 
sich  allein,  aber  auch  kombiniert  mit  Payr  scheu  Adhä¬ 
sionen  und  Verwachsungen  in  der  Ileocökalgegend  vor. 
Riedel  beschreibt  in  seiner  Arbeit  über  Peritonitis  chro¬ 
nica  non  tuberculosa  das  Vorkommen  von  weißglänzenden 
Narben  und  Adhäsionen  im  Peritoneum  des  Mesenteriums 
und  der  hinteren  Bauchwand,  am  Colon  aseendens,  der 
Flexura  lienalis,  mit  dem  häufigsten  Sitz  aber  am 
Sigma  ro  man  um.  Es  ist  also  wohl  anzunehmen,  daß 
auch  die  Gersu  ny  sche  Adhäsion  eine  Teilerscheinung  der 
chronisch-adhäsiven  Peritonitis  ist,  die  sich  aus  anatomi¬ 
schen  und  physiologischen  Gründen  gerade  an  der  Flexura 
sigmoidea  am  häufigsten  ausbildet. 

Damit  sollen  aber  keineswegs  die  Verdienste  Ger- 
sunys,  Payrs  und  v.  Hab  er  er  s  geschmälert  werden, 
welche  hauptsächlich  darin  bestehen,  daß  sie  auf  solche 
Lokalisationen  der  chronischen  Peritonitis  hingewiesen 
haben,  welche  sekundär  zu  schweren  Krankheitserschei¬ 
nungen  führen  können  und  eine  dringende  Abhilfe  er¬ 
heischen. 

Ich  glaube,  daß  es  mir  mit  obigen  Zeilen  gelungen 
ist,  einen  neuen  nicht  uninteressanten  Beitrag  dafür  ge¬ 
liefert  zu  haben,  daß  die  verschiedensten  Strang-  und  Ad¬ 
häsionsbildungen  in  der  Bauchhöhle,  die  auch  immer  einen 
mehr  minder  charakteristischen  Sitz  haben,  durch  die  ver¬ 
schiedensten  pathologischen  Prozesse  hervorgerufen  werden, 
aber  schließlich  zu  einem  anatomisch  recht  einheitlichen 
Bild  führen  können.  Wenn  die  Richtigkeit  dieses  Satzes 
schon  aus  dem  kritischen  Studium  der  einschlägigen  Lite¬ 
ratur  der  letzten  Jahre  erhellt,  so  geben  eben  die  der  vor¬ 
liegenden  Publikation  zugrunde  gelegten  Fälle  sehr  schöne 
Beispiele  dafür.  -Sie  zeigen  nämlich,  wie  verschiedenartige 
Prozesse  in  der  Kette  ihrer  .Symptome  als  Endglieder  aus¬ 
gedehnte  Adhäsionsbildungen  hervorrufen ;  daraus  muß 
der  Kliniker  folgern,  derartige  Fälle  unbedingt 
der  Probelaparotomie  zu  unterziehen. 

Literatur: 

*)  Albrecht,  lieber  angeborene  Lageanomalien  des  Wurmfort¬ 
satzes  und  angeborene  Disposition  für  Appendizitis.  Wiener  kiin.  \\  ochen- 
sehrift  1909,  S.  1B59.  —  2)  H.  Braun,  Ueber  den  durch  Lage-  und 
Gestaltsveränderung  des  Kolon  bedingten  vollkommenen  und  unvoll¬ 
kommenen  Darmverschluß.  Deutsche  Zeitschr.  für  Chirurg.  1905,  Bd.  76. 
—  3)  R.  .Gersuny,  Ueber  eine  typische  peritoneale  Adhäsion.  Archiv 
für  klm.  Chirurgie  1899,  Bd.  59.  —  *)  II.  v.  II  ab  er  er,  Appendizitis 
chronica  adhaesiva.  Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten  1907,  Bd.  18; 
Sitzungsbericht  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien  vom  5.  No- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


vember  1909.  —  5)  K.  Lauenstein.  Verwachsungen  und  Netzstränge 

im  Leibe  als  Ursache  andauernder,  schwerer  Koliken.  Archiv  lur  klm. 
Chirurg.  1893.  Bd.  15.  —  «)  Nothnagel.  Spezielle  Pathologie  und 

Therapie.  Wien  1898.  Bd.  17.  -  7)  E.  Payr.  Leber  eine  eigentümliche 
Form  chronischer  Dickdarmstenose  an  der  Flexura  coli  sinistra.  Arctm 
lur  klin.  Chirurg.  1905.  Bd.  77.  —  «)  Riedel,  l'eber  AdhäsiventzQndungen 
in  der  Bauchhöhle.  Archiv  für  klin.  Chirurgie  1894.  Bd._4/  ;Leber  Perito¬ 
nitis  chronica  non  tuberculosa.  Ebenda  1898.  Bd.  57:  Ileus  etc.  Mn 
teilungen  aus  den  Grenzgebieten  1897.  Bd.  2  —  Znr  be- 

deutung  der  Flexura  coli  sinistra.  Beiträge  zur  klin.  Chirurgie  19  /.  Bi .  o  . 
—  lu)  Rokitansky,  Handbuch  der  path.  Anatomie,  Wien.  Bd.  3.  — 

“)  Virchow,  Historisches,  Kritisches  und  Positives  zur  Lehre  der 
Lnterleibsaffektionen.  Virchows  Archiv  1853,  Bd.  5.  S.  335  ff. 


Oie  differentielle  Diagnose  der  Hysterie  und 
verwandter  organischer  Nervenkrankheiten.  ) 

Von  L .  Bychowski,  Oberarzt  am  Krankenhaus  Praga  in  Warschau. 

Meine  Herren!  So  oft  die  Wissenschaft  noch  nicht 
imstande  ist  eine  exakte  Bestimmung  irgendeiner  Erschei¬ 
nung  oder  einer  Gruppe  von  Erscheinungen  zu  geben,  ist 
sie  gezwungen,  zu  verschiedenen  mehr  oder  weniger  bild¬ 
lichen  Vergleichungen  und  Analogien,  die  doch  das  Wesen 
der  Sache  keineswegs  erläutern,  ihre  Zuflucht  zu  nehmen. 
So  haben  sich  auch  die  großen  Meister  des  vergangenen 
Jahrhunderts,  deren  Genie  und  enormer  Arbeitsaufwand  so 
sehr  unser  Wissen  über  die  Hysterie  erweitert  und  vertieft 
haben,  oft  solcher  Analogien  bedient,  wo  sie  nicht  imstande 
waren,  alle  Symptome  der  Hysterie  in  einer  einzigen  Formel 
zusammenzufassen,  sie  auf  einen  gemeinschaftlichen  Nenner 
zu  bringen,  auf  welchen  sie  all  die  verschiedenen  Sym¬ 
ptome  hätten  zurückführen  können.  So  verglich  man  die 
Hysterie  mit  einem  seine  Farben  beständig  wechselnden 
Chamäleon,  einer  Sphinx  mit  geheimnisvollem  und  verän¬ 
derlichem  Antlitz,  einem  Kaleidoskop,  bei  jeder  Umdrehung 
dessen  ein  neues  mosaikartiges  Muster  entstehe  und  weiteres 
mehr.  All  diese,  an  das  Wesen  der  Sache  gar  nicht  heran¬ 
reichenden  Vergleichungen,  hatten  zweifellos  ihre  gute  Seite, 
indem  sie  die  engen,  prokrustischen  Rahmen,  in  welche  seit 
so  vielen  Jahrhunderten  die  Lehre  von  der  Hysterie  ge¬ 
zwängt  wurde,  gesprengt  haben.  Anderseits  aber  steckte  in 
all  diesen  allgemeinen  Analogien  kein  geringes  Uebel,  wofür 
die  Lehre  von  der  Hysterie  eine  lange  Zeit  gebüßt  hat,  und 
teilweise  noch  jetzt  büßen  muß.  Denn,  wenn  das  charak¬ 
teristische  Zeichen  der  Hysterie  in  jenen  verschwommenen 
in  der  Ferne  verschwindenden  Grenzen  bestehen  sollte,  so 
nimmt  es  nicht  Wunder,  daß  man  angefangen  hat,  zur 
Hysterie  alle  Fälle  und  Krankheitsbilder  zu  rechnen,  welche 
vorläufig  in  keines  von  den  damals  bekannten  nosographi- 
schen  Bilder  unterzubringen  waren.  Und  so  kam  es,  daß 
nicht  nur  jede  halbseitige  Lähmung,  welche  nicht  allen  zur 
Zeit  für  sogenannte  organische  Lähmungen  gestellten  Be¬ 
dingungen  entsprach,  als  eine  hysterische  betrachtet  wurde, 
sondern  auch  alle  Kopfschmerzen,  alle  Störungen  des  Ge¬ 
sichtes,  für  welche  in  der  damaligen  Pathologie  keine  ma¬ 
terielle  Grundlagen  zu  finden  waren,  auf  Rechnung  der 
Hysterie  geschoben  wurden.  Sogar  Störungen  anderer  Or¬ 
gane,  soweit  sie  von  keinen  manifesten  anatomischen  Ver¬ 
änderungen  begleitet  waren,  sind  der  Hysterie  angerechnet 
worden.  So  kam  es  schließlich  dahin,  daß  jedes  Krankheits- 
symptom  sein  hysterisches  Gegenbild  hatte  (hysterisches 
Blut  spucken,  hysterische  Diarrhoe,  hysterische  Brand¬ 
wunden  usw.).  Dies  war  offenbar  eine  sehr  bequeme  Art 
das  uns  allen  innewohnende  Kausalitätsbedürfnis  zu  be¬ 
friedigen  und  manchmal  befreite  es  geradezu  von  einer 
eingehenden  Analyse  und  längerer  Beobachtung  diagnostisch 
schwierigerer  Fälle.  Und  wenn  wir  uns  die  ältere  in  Be¬ 
tracht  kommende  Kasuistik,  oder  —  was  ich  jedem  raten 
würde  —  unsere  eigenen  früheren  „interessanten“  Fälle 
der  Hysterie  im  Lichte  der  heutigen  Untersuchungsmethoden 
anschauen,  so  merken  wir  mit  Verwunderung,  daß  viele 
Fälle,  in  welchen  wir  so  leichten  Herzens  Hysterie  diagno- 


*)  Referat,  gehalten  am  4.  Oktober  in  der  neurologischen  Sektion 
der  Warschauer  medizinischen'  Gesellschaft. 


stiziert  haben,  ganz  anderswohin  gehören.  So  wird  immer 
lebhafter  das  Bedürfnis  nach  einer  genaueren  Demarkations¬ 
linie  für  die  Hysterie  empfunden. 

Wonach  aber  sollen  wir  uns  richten?  Kennen  wir  etwa 
Symptome  oder  Gruppen  von  Symptomen,  w  eiche  nur  der 
Hysterie  eigen  wären?  Sind  wir  auf  Grund  der  Entwick¬ 
lung  der  Lehre  von  der  Hysterie  schon  zu  diesem  positiven 
Stadium  vorgedrungen,  um  nicht  nur  infolge  des 
Fehlens  gewisser  Symptome,  sogenannter  organischer 
Leiden,  sondern  auch  auf  Grund  des  \  orhandenseins 
gewisser  nur  der  Hysterie  eigener  Symptome,  diese  Krank¬ 
heit  diagnostizieren  zu  können?  Ich  will  versuchen,  so¬ 
weit  es  in  meinen  bescheidenen  Kräften  liegt,  auf  alle 
diese  Fragen  zu  antworten,  obwohl  ich  Sie,  geehrte  Herren, 
von  vornherein  darauf  aufmerksam  mache,  daß  wir  auch 
jetzt  von  einer  entscheidenden  Antwort  weit  entfernt  sind. 

Obgleich  kein  Geschlecht,  kein  Alter  und  keine  Klasse 
von  Menschen  von  der  Hysterie  verschont  wird,  und  wir 
unter  den  Hysteropathischen  ebenso  geistig  beschränkte, 
wie  hervorragend  intelligente,  ebenso  gute,  welche  ihr 
Leben  für  andere  zu  opfern  bereit  sind,  wie  grausame 
Egoisten,  ebenso  heitere,  alles  von  der  guten  Seite  auf¬ 
fassende  Optimisten,  wie  düstere,  immer  verstimmte  Pes¬ 
simisten,  ebenso  empfindsame,  erotische,  wie  kalte  der 
sexuellen  Bedürfnisse  entbehrende  Naturen  finden,  so 
können  wir  doch  trotz  dieser  Mannigfaltigkeit  der  „Cha¬ 
raktere“  und  der  „Temperamente“  gewisse,  allen  Hystero¬ 
pathischen  gemeinsame  psychische  Eigenschaften  fest¬ 
stellen,  welche  sie  bei  längerer  Beobachtung  von  anderen 
Menschen  unterscheiden.  Die  Hysteropathischen  sind  zu¬ 
nächst  durch  den  Mangel  an  Proportion  zwischen  Reiz  und 
der  darauffolgenden  Reaktion  gekennzeichnet.  Die  alltäg¬ 
liche  Erfahrung  lehrt,  daß  auch  gewöhnliche  Menschen  ) 
nicht  immer  auf  gleiche  Weise  auf  ein  und  dasselbe  Erlebnis 
reagieren  und  daß  liier  verschiedene  Umstände  des  Milieus, 
der  Zeit  usw.  mit  in  Betracht  kommen.  Es  existiert  aber 
im  allgemeinen  immer  eine  gewisse  Kongruenz  zwischen 
der  Intensität  des  Reizes  und  der  auf  ihn  folgenden  Reak¬ 
tion.  Diese  Kongruenz  vermissen  wir  bei  den  Hystero¬ 
pathischen.  Nicht  nur,  daß  die  Intensität  der  Reaktion  in 
keinem  Verhältnis  zur  Intensität  des  Reizes  steht,  sondern 
wenn  man  so  sagen  darf,  wird  der  Reiz  im  Ich  des  Hystero¬ 
pathischen  anders  gebrochen,  er  geht  nicht  die  gewöhnlichen 
Entwicklungsstadien  durch  und  dauert  manchmal  unbegrenzt 
lange.  Und  wenn  gewöhnlich  der  Reiz  und  die  Reaktion, 
als  Ursache  und  Wirkung,  durch  eine  gerade  Linie  verbun¬ 
den  sind,  so  nimmt  sie  bei  den  Hysteropathischen  eine  so 
verschlungene,  arabeskenarlige  Form  an,  daß  es  überhaupt 
schwer  fällt,  ihren  Ausgangspunkt  zu  finden.  Nehmen  wir 
an,  um  ein  Beispiel  aus  dem  alltäglichen  Leben  anzuführen, 
ein  gewöhnlicher  Mensch  ritzt  sich  den  Schlund  mit.  einer 
Fischgräte  beim  Essen.  Er  geht  in  diesem  Falle  zum  Arzt, 
um  den  Schlund  untersuchen  zu  lassen  und  die  Gräte  zu 
entfernen,  falls  sie  dort  steckengeblieben  ist.  Der  Neurasthe¬ 
niker,  Hypochonder  wird  nicht  beruhigt  durch  eine  ein¬ 
malige  Versicherung  nur  eines  Arztes,  daß  ihm  keine  Gefahr 
drohe.  Im  Gegenteil,  jetzt  fängt  die  Wanderung  von  einem 
zum  anderen  Arzt  an,  es  wird  ihm  beständig  scheinen,  es 
fehle  ihm  etwas,  man  verheimliche  etwas  vor  ihm;  ihm 
fängt  an,  die  Angst  vor  der  Möglichkeit  einer  unheilbaren 
Krankheit  zu  quälen.  Die  Reaktion  des  Hysteropathischen 
ist  dagegen  ganz  verschieden.  Die  Tatsache,  daß  mit  seinem 
Schlund  etwas  Ungewöhnliches  passiert  ist,  ruft  i  n  seinem 
Unbewußten  eine  ganze  Reihe  von  verschiedenartigsten 
Assoziationen  hervor,  welche  in  irgendwelchem  entfernten 
äußerst  formellen  Zusammenhang  mit  dem  Schlund  stehen, 
und  unter  welchen  sich  dies  oder  jenes  rasch  fixiert  und 
realisiert.  Und  so  kommt  ein  solcher  Patient  zum  Arzt  mit 
einer  fertigen  Aphonie  oder  mit  dem  so  charakteristischen, 
hvsterischen  Husten.  Ein  wichtiger  Umstand  besteht  noch 
darin,  daß  der  Neurastheniker  sich  immer  an  den  Ausgangs¬ 
punkt  des  ganzen  Vorfalles  erinnert  und  in  seiner  Er¬ 
zählung  keine  auch  nicht  die  geringste  Einzelheit  übergeht, 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


61 


während  der  Hysteropathische  oft  seinen  gegenwärtigen 
Zustand  in  keinen  Zusammenhang  mit  dem  auslösenden 
Moment  bringt,  als  ob  er,  —  bewußt  —  die  ganze  Sinn¬ 
losigkeit  der  Verknüpfung  einer  so  nichtssagenden  Ursache 
mit  so  schweren  Folgen  verstehen  würde.  Noch  ein  Bei¬ 
spiel.  ln  einer  mir  gut  bekannten  nervösen  Familie  erkrankt 
jemand  an  einer  zum  Tode  führenden  Blinddarmentzündung. 
Einige  von  den  neuras thenisciien  Verwandten,  welche  den 
Verlauf  der  Krankheit  beobachtet  haben,  werden  von  der 
Angst  um  ihre  eigene  Gesundheit  heimgesucht.  Es  fängt 
jetzt  mehrmals  am  Tage  das  Betasten  des  Bauches,  das  An¬ 
schauen  der  Zunge,  das  Beobachten  des  Stuhles,  die  Wan¬ 
derung  zu  den  Spezialisten  usw.  an.  Allein  eine  Tante  des 
Kranken,  bei  der  ich  verschiedene  hysterische  Symptome 
(Krämpfe,  Lähmung  der  Extremitäten  u.  a.),  beobachtet 
habe,  bekommt,  paar  Tage  nachdem  sie  den  Kranken  be¬ 
sucht  hat,  in  der  Nacht  einen  so  heftigen  Anfall,  daß  ein 
in  der  Eile  herbeigerufener  Arzt  eine  akute  und  schwere 
Blinddarmentzündung  diagnostiziert,  welche  jedoch  am 
nächsten  Tage  unter  energischer,  suggestiver  Einwirkung 
meinerseits  gänzlich  verschwindet. 

Man  findet  gleichfalls,  oder  besser  im  Zusammenhang 
mit  dieser  Disproportion  bei  den  Hysteropathischen  eine 
außerordentliche  Suggest ibilität  und  Neigung  zur  Auto¬ 
suggestion,  jedoch  hauptsächlich  nur  in  einer  Richtung, 
und  zwar,  wo  es  sich  um  eine  besondere  Auszeichnung  des 
lehs  des  Patienten,  um  sein  noch  stärkeres  sich 
Abheben  von  dem  Boden  des  grauen  Alltagslebens 
handelt.  Bekannte  Autoren,  wie  Liebaul t  und  andere, 
betonen  die  Wiederstandsfähigkeit  der  Hysteropathischen 
gegen  die  Suggestion.  Tatsächlich,  wie  viel  Redekunst  und 
Energie  wird  oft  erfolglos  vergeudet,  wenn  es  sich  um  die 
Beseitigung  irgend  eines  hysterischen  Symptomes  handelt. 
Nicht  selten  sind  aber  anderseits  die  Fälle,  wo  ein  unvor¬ 
sichtiges  Wort,  welches  der  Arzt  oder  jemand  aus  der  Um¬ 
gebung  des  Kranken  fallen  ließ,  oder  irgend  eine  Notiz 
in  der  Zeitung  schon  genügt  haben,  um  eine  scheinbar 
schwere  Störung  hervorzurufen.  Es  kommt  daher,  daß 
Hysteropathische  gewöhnlich  sich  nur  von  solcher  Sug¬ 
gestion  beeinflussen  lassen,  welche  sie  interessanter  macht 
und  auf  sie  die  Aufmerksamkeit  der  Umgebung  und  des 
Arztes  zieht,  dagegen  zeigen  sie  sich  widerspenstig  solcher 
Suggestion  gegenüber,  die  ihren  individuellen  Wert  ver¬ 
ringern  und  deren  Ziel,  sozusagen,  in  der  Beseitigung 
dieses  oder  jenes  Symptoms  bestehen  würde.  Dies  er¬ 
klärt.  auch  den  Umstand,  aus  welchem  man  in  der  be¬ 
kannten  Sitzung  der  Pariser  neurologischen  und  psych¬ 
iatrischen  Gesellschaft,  welche  speziell  der  Besprechung  der 
Hysterie  gewidmet  war,  mit  Unrecht  gegen  Babins ki  den 
Einwand  gezogen,  daß  es  nicht  immer  dem  Arzt  gelinge 
Symptome,  welche  er  früher  selbst  ansuggeriert  hatte,  durch 
Suggestion  aufzuheben. 

Und  hier  begegnen  wir  dem  dritten  charakteristischen 
Zug  der  Hysterie,  der  Egozentrizität,  welche  oft  mit  Un¬ 
recht  mit  dem  Egoismus  mancher  Neurastheniker  identifi¬ 
ziert  wird.  Hier  muß  ich  mich  gegen  die  Ansicht  einiger 
Autoren  verwahren,  daß  diese  Egozentrizität  eine  be¬ 
wußte  Taktik  ist.  Dies  alles  geschieht  im  Unbewußten 
des  Kranken.  Es  ist  kein  böser  Wille,  eher  kein  Wille 
überhaupt.  Zieht  man  in  Betracht  diese  psychischen  Merk¬ 
male  der  Hysterie,  welche  ich  hier  nur  flüchtig  streifen 
konnte,  so  ist.  es  nicht  schwer,  eine  Differenzialdiagnose 
der  Hysterie  und  der  Neurasthenie  zu  stellen.  Auch  beim 
Neurastheniker,  wie  wir  gesehen  haben,  besteht  eine  Dis¬ 
proportion  zwischen  dem  Reiz  und  seinen  Folgen,  aber 
bei  ihm  verbleibt  alles  im  Gebiete  der  Vorstellungen  (Furcht 
vor  dem  Krebs,  der  Schwindsucht  u.  a.)  und  es  kommt  nie 
zur  körperlichen  Realisation,  wie  es  bei  der  Hysterie  der 
Fall  ist.  Der  Neurastheniker,  erfüllt  mit  Angst  von  der 
schrecklichen  ihn  erwartenden  Krankheit,  beobachtet  und 
analysiert  sich  beständig,  notiert  eifrig  auch  die  geringsten 
Einzelheiten,  welche  irgendeinen  Zusammenhang  mit  seinem 
Leiden  aufweisen  könnten  (Notizbuch!),  quält  sich  selbst, 


seine  Umgebung  und  seine  Aerzte  mi  seiner  Anist  und 
Ungewißheit.  Der  Hysteropathische  dagegen  hegt  nie  einen 
Zweifel  in  betreff  seines  Zustandes.  Er  weiß,  er  sei  ge¬ 
lähmt,  weil  er  nicht  gehen  kann.  Er  hat  keine  Angst  voi¬ 
der  Blinddarmentzündung,  er  hat  sie  schon.  Darin  besteht 
der  geistige  Kontrast  zwischen  der  Hysterie  und  der  Neur¬ 
asthenie.  Es  bleibt  noch  zu  erwähnen  die  leichte  Er 
schöpfbarkeit  und  Ermüdbarkeit  der  Neurastheniker,  welche 
zum  Krankheitsbild  der  reinen  Hysterie  nicht  gehören.  Im 
Gegenteil,  bei  der  letzteren  fällt  oft  die  außergewöhnliche 
Ausdauer,  welche  sie  beim  Vollzug  verschiedener  kombi¬ 
nierter  Akte,  wie  Schlucken,  Gähnen,  Husten  und  anderer 
entfalten. 

Indem  ich  jetzt  zur  Differentialdiagnose  der  Hysterie 
und  der  sogenannten  organischen  Leiden  des  Nervensystems 
übergehe,  will  ich  mich  hauptsächlich  an  die  Störungen 
seiner  elementaren  Funktionen  und  an  ihren  spezifischen 
resp.  vermeintlichen  spezifischen  Charakter  bei  der  Hysterie 
halten.  Ich  fange  mit  den  Sensibilitätsstörungen  an.  Wir 
erinnern  uns  alle,  welch  eine  große  Rolle  die  Sensibilitäts¬ 
störungen  in  den  früheren  Schilderungen  der  Hysterie,  be¬ 
sonders  der  S  alp  e t  r i e rischen,  gespielt  haben.  Sie  wurden 
fast,  bei  jedem  Hysteropalhischen  (95°/o  nach  Pitres)  ge¬ 
funden.  Das  charakteristische  Zeichen  dieser  Sensibilitäts¬ 
störungen  sollte  hauptsächlich  in  deren  topographischen  Ver¬ 
breitung  bestehen;  sie  unterschied  sich  in  hervorragendem 
Maße  von  den  zur  Zeit  bekannten  Gefühlsstörungen,  welche 
durch  die  Beschädigung  anatomischer  Zentren  und  Bahnen 
bedingt  waren.  Die  hysterischen  Sensibilitätsstörangen, 
sagte  man  damals,  sind  eher  an  gewisse  Organe  und  ihre 
Teile,  als  an  Nerven  und  Bahnen  gebunden.  So  fand  man 
Anästhesien,  welche  nur  die  Hand  in  Form  eines  Hand¬ 
schuhes,  den  Fuß  und  Unterschenkel  in  Form  eines 
Strumpfes,  den  Rumpf  in  Form  einer  Weste,  das  Gesicht 
und  den  Kopf  in  Form  eines  Helmes  u.  a.  m.  umfaßten. 
Und  darin  erblickte  man  das  spezifische  Merkmal  der  Sen¬ 
sibilitätsstörungen  hysterischer  Herkunft.  Diese  Ansichten 
bedürfen  jetzt  einer  Korrektur  nach  zwei  Richtungen.  Es 
unterliegt  vor  allem  keinem  Zweifel,  womit  auch  in  der 
oben  erwähnten  Diskussion  in  Paris  fast  alle  mehr  oder 
weniger  einverstanden  waren,  daß  hysterische  Sensibilitäts¬ 
störungen  jetzt  viel  seltener  als  früher  beobachtet  werden. 
Man  muß  sich  aber  anderseits  klar  machen,  in  welchem 
Maße  sich  seit  Charcot  unser  Wissen  über  Sensibilitäts¬ 
störungen  bei  organischen  Leiden  verändert  hat.  Zur  Zeit 
wo  die  Charcot  sehe  Lehre  von  den  hysterischen  Sensi¬ 
bilitätsstörungen  ausgearbeitet  wurde,  waren  eigentlich  nur 
Sensibilitätsstörungen  bei  der  Beschädigung  der  peripheren 
Nerven  und  bei  der  Querläsion  des  Rückenmarks  bekannt. 
Die  Lehre  von  den  Sensibilitätsstörungen,  die  bei  einer 
Beschädigung  des  Gehirns  entstehen,  wie  bei  Herden  im 
hinteren  Teile  der  inneren  Kapsel  (Carrefour  sensitiv)  be¬ 
fand  sich  in  den  ersten  Anfängen  ihrer  Entwicklung.  Zur 
Zeit  Charcots  waren  entweder  gar  nicht  oder  fast  gar 
nicht  bekannt  solche  Formen  von  Störungen  organischer 
Herkunft,  wie:  Sensibilitätsstörungen  von  Rindenherkunft, 
Sensibilitätsstörungen  radikulärer  Herkunft,  Sensibilitäts¬ 
störungen  bei  der  Syringomyelie,  welche  Lälir  und  S öl  der 
am  Gesicht  und  Rumpf  beschrieben  haben,  Sensibilitätsstö¬ 
rungen  schon  in  den  ersten  Stadien  der  Tabes  dorsalis 
(beschrieben  von  Förster  und  Frenkel),  Veränderungen 
der  Empfindungen,  welche  bei  der  Läsion  des  unteren  Teiles 
des  Rückenmarks  entstehen  (Minor,  Mii  Iler),  weiter  Unter¬ 
suchungen  von  Muskens  über  Sensibilitätsstörungen  bei 
der  Epilepsie,  die  Lehre  von  Brissaud  über  Sensibilitäts¬ 
störungen  metamerischen  Charakters  und  -  the  late  but 
not.  the  least  —  die  gesamte  Lehre  von  Head  über  Sen- 
sibilitätsstönmgen  bei  Erkrankungen  der  inneren  Organe. 
Nun  hat  sich  gezeigt,  daß  alle  diese  „Typen“  von  Sensibi¬ 
litätsstörungen,  welche  ehemals  nur  als  der  Hysterie  eigens 
gegolten  haben,  ihre  Analogien  in  den  Sensibilitätsstörungen 
organischer  Herkunft  haben.  Ich  bin  leider  durch  die  Di¬ 
mensionen  meines  Referates  verhindert,  meine  Behauptung 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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dokumentarisch  zu  beweisen.  Ich  würde  aber  raten,  die 
Zeichnungen,  welche  sich  in  den  Arbeiten  der  oben 
genannten  Autoren  finden,  mit  denjenigen  Zeichnungen  zu 
vergleichen,  welche  die  vom  Char  cot  sehen  Geist  durch¬ 
drungenen  Monographien  von  Gilles  de  1  a  To u rette  und 
Pitres  enthalten,  und  man  wird  sich  leicht  überzeugen, 
von  dei  auffälligen  Aehnlichkeit,  welche  zwischen  den 
beiden  Arten  von  Sensibilitätsstörungen  besteht.  Was  die 
Qualität  der  hysterischen  Sensibilitätsstörungen  betrifft,  so 
ist  sie  durch  nichts  besonders  Charakteristisches  gekenn¬ 
zeichnet,  weil  auch  bei  den  organischen  Erkrankungen 
die  mannigfaltigsten  Empfindungsdissoziationen  stattfinden 
können. 

.Aus  alledem  folgt,  daß  allein  auf  Grund  der  Sensibi- 
litätsstöru ngen  im  gegebenen  Moment  die  Hysterie  von  den 
organischen  Leiden  nicht  mit  voller  Entschiedenheit  unter¬ 
schieden  werden  kann.  Dagegen  bei  längerer  Beobachtung 
derselben  dürften  auch  diese  Sensibilitätsstörungen  wert¬ 
volle  diagnostische  Fingerzeige  ergeben.  Die  Sensibilitäts¬ 
störungen  hysterischer  Herkunft  unterscheiden  sich  zwar 
nicht  immer  —  von  den  organischen  durch  ihre  Unbeständig¬ 
keit  und  Veränderlichkeit.  In  einem  gewissen  Grade  ge¬ 
schieht  dies  auch  bei  den  organischen  Leiden,  jedoch  mit 
dem  Unterschied,  daß  sich  bei  letzteren  die  Sensibilitäts¬ 
störungen  allmählich  und  in  einer  bestimmten  Richtung. ver¬ 
ändern,  was  sich  am  besten  an  den  Veränderungen  der  Sen¬ 
sibilität  beim  Verlauf  halbseitiger  Lähmungen  von  Rinden¬ 
herkunft  beobachten  läßt;  während  bei  der  Hysterie  die 
Sensibilitätsstörungen  plötzlich  und  gänzlich  verschwinden 
oder  auf  die  gegenüberliegende  Seite  übertragen  werden 
können  (sogenannter  Transfer!) ,  eine  Erscheinung,  welche 
übrigens  jetzt  viel  seltener  als  früher  beobachtet  wird. 

Die  Behauptung  einiger  Autoren,  daß  organische  An¬ 
ästhesien  mehr  die  Kranken  stören  als  hysterische,  ent¬ 
spricht  nicht,  wie  es  scheint,  dem  wirklichen  Sachverhalt. 
So  weit  es  sich  nicht  um  ausgesprochene  stereognostisclie 
Störungen  oder  Störungen  der  Gelenkempfindungen  handelt, 
so  wissen  oft  die  von  Sensibilitätsstörungen  organischer 
Herkunft  Betroffenen  nichts  davon  und  klagen  nie  darüber. 
Viel  sicherere  Anhaltspunkte  bietet  für  die  Differential¬ 
diagnose  der  Hysterie  der  Zustand  der  Reflexe.  Hier  haben  wir 
es  mit  Erscheinungen  zu  tun,  welche  fast  ganz  unabhängig 
von  unserem  Willen  sind,  und  es  kann  hier  keine  Rede 
weder  von  Simulation  noch  Suggestion  sein.  Der  Zustand 
der  Reflexe  bei  der  Hysterie  besitzt  schon  seine  ganz  be¬ 
trächtliche  Literatur,  die  ich  aber  hier  nicht  anführen  kann. 
Die  ganze  Frage  kann  eigentlich  auf  zwei  Punkte  reduziert 
werden : 

1.  Können  bei  Hysteropathischen  jene  Sehnen-  und 
Hautreflexe  ausgelöst  werden,  welche  bei  normalen  Men¬ 
schen  fehlen  und  welche  regelmäßig  bei  der  Beschädigung 
gewisser  Bahnen  des  Nervensystems  auftreten? 

2.  Ob  bei  Hysteropathischen  solche  Reflexe  fehlen, 
welche  bei  normalen  Menschen  immer  vorhanden  sind? 
Was  den  ersten  Punkt  betrifft,  so  müssen  zunächst  einige 
Worte  über  die*  gesteigerten  Sehnen-  und  besonders  Patellar- 
reflexe,  über  den  Fußklonus  bei  der  Hysterie  gesagt  werden. 
B  ab i  ns  ki  versichert,  daß  er  nie  bei  der  Hysterie  gesteigerte 
Patellarreflexe  beobachtet  hat,  was  der  allgemein  unter 
den  Aerzten  und  in  den  Lehrbüchern  vertretenen  Ansicht 
widerspricht.  Es  muß  zugegeben  werden,  daß  der  Streit 
um  die  Existenz  gesteigerter  Patellarreflexe  bei  der  Hysterie 
eher  ein  Wortspiel  als  eine  wissenschaftliche  Frage  bildet; 
denn  so  lange  wir  keine  feste  numerische  Skala  für  den 
Schwung  des  Unterschenkels  besitzen,  haben  alle  Bemer¬ 
kungen  über  normale,  lebhafte,  gesteigerte  u.  a.  Reflexe 
keinen  Wert,  weil  ein  Reflex,  der  für  den  einen  noch  als 
normal  gilt,  vom  anderen  als  lebhaft,  gesteigert  beurteilt 
werden  kann,  et  vice  versa.  Man  merkt  oft  bei  der  Unter¬ 
suchung  der  Patellarreflexe  bei  nervösen  Leuten,  daß,  noch 
ehe  der  Hammer  auf  die  Sehne  des  Knieapfels  aufschlägt, 
der  Kranke  den  Unterschenkel  ohne  es  deutlich  zu  wissen,  ein 
wenig  in  die  Höhe  hebt.  Hier  kommt  also  außer  der  wirk¬ 


lichen  Reflexe  noch  ein  willkürlicher  motorischer  Beitrag 
mit  ins  Spiel,  welcher  den  Reflexen  ihren  lebhaften,  ge¬ 
steigerten  Charakter  verleiht.  Mein  persönlicher  Eindruck  ist 
der,  daß  es  ebenso  bei  der  Hysterie  wie  bei  der  Neurasthenie 
ziemlich  oft  „gesteigerte“  Beflexe  gibt.  Dagegen  habe  ich 
nie  bei  der  Hysterie  einen  wirklichen  Fußklonus  beob¬ 
achten  können,  obgleich  sich  in  der  Literatur  solche  ver-  1 
einzelte  Fälle  finden.  Und  man  kann  mit  noch  größerer 
Entschiedenheit  sagen,  daß  das  sogenannte  positive  Sym¬ 
ptom  von  Babinski,  wie  das  Oppenheimsche  Symptom, 
welche  immer  bei  einer  Läsion  der  Pyramidenbahnen  auf¬ 
treten,  bei  einer  reinen  Hysterie  nicht  Vorkommen,  und 
daß  die  Anwesenheit  eines  von  ihnen  ein  organisches  Leiden 
vermuten  läßt. 

Auch  der  zweite,  oben  aufgestellte  Punkt  war  und  ist 
noch  heute  Gegenstand  einer  lebhaften  Diskussion,  beson¬ 
ders  in  betreff  der  Frage,  ob  bei  der  Hysterie  Patellarreflexe 
fehlen  können.  Mir  scheint,  daß  diese  Frage  nicht  von 
allen  Autoren  exakt  formuliert  wird.  Denn  es  kommt 
eigentlich  gar  nicht  darauf  an,  ob  es  solche  Hysteropathisc'he 
gibt,  bei  welchen  die  Patellarreflexe  fehlen.  Der  Schwer¬ 
punkt  der  Sache  liegt  darin,  ob  es  jemanden  geben  kann, 
der  die  Patellarreflexe  früher  besessen  hätte,  sie  während 
des  Anfalles  oder  bei  gesteigerter  Intensität  des  hysterischen 
Zustandes  verloren  und  nach  dem  Anfall  sie  wieder  zu¬ 
rückerlangt  hätte.  Nur  solche  genaue,  während  längerer 
Zeit  beobachtete  f  älle  können  den  Beweis  für  die  unmittelbare 
Abhängigkeit  des  Fehlens  der  Reflexe  von  dem  hysterischen 
Vorgang  erbringen.  Einstweilen  aber  haben  wir  nur  sehr  we¬ 
nige,  eigentlich  gesprochen  nur  ein  paar  Fälle  von  Nonne, 
welche  diesen  Anforderungen  entsprechen,  wo  parallel  den 
Schwankungen  in  der  Stärke  des  hysterischen  Prozesses 
selbst,  auch  Schwankungen  in  der  Intensität  der  Patellar¬ 
reflexe,  bis  zu  ihrem  gänzlichen  Fehlen  auf  der  Höhe 
des  Anfalles  auftreten  (es  waren  Fälle  sogenannter  großer 
Hysterie).  Im  allgemeinen  aber  sind  Fälle  solcher  Art  so 
wenig  zahlreich,  daß  man  sich  immer  ins  Gedächtnis  den 
Rat  Oppenheims  rufen  sollte,  „mit  einer  so  außergewöhn¬ 
lichen  Erscheinung,  wie  der  Mangel  an  Sehnenreflexen  bei 
der  Hysterie  nie  in  der  Praxis  zu  rechnen“.  Man  muß 
hinzufügen,  daß  fälle  beschrieben  sind,  wo  bei  reinen 
Hysteropathischen  ohne  Patellarreflexe,  nach  einiger  Zeit 
Symptome -eines  organischen  Leidens  auftraten,  was  ver¬ 
muten  läßt,  daß  das  Fehlen  der  Reflexe  diesmal  nicht  von. 
der  Hysterie  abhängig,  sondern  ein  Vorbote  des  herannahen¬ 
den  organischen  Leidens  war.  Zu  derselben  Kategorie  muß 
jener  auf  Nonnes  Abteilung  beobachteter  Fall  von  Hysterie 
mit  dem  Mangel  an  Pateharreflexen  gerechnet  werden,  wo 
keine  Symptome  irgendeines  organischen  Leidens  zu  ver¬ 
zeichnen  waren,  wo  jedoch  das  Liquorpunktat  das  Bild  einer 
Lues  ergab.  All  dies  beweist,  mit  welch  großer  Vorsicht 
vom  Fehlen  der  (Sehnenreflexe  infolge  der  Hysterie  ge¬ 
sprochen  [werden  sollte. 

Noch  einige  Worte  über  die  Bauchreflexe  bei  der 
Hysterie.  Wir  stehen  auf  den  Standpunkt  Strümpells 
und  seiner  Schule,  daß  bei  gesunden  Menschen  Bauch¬ 
reflexe  immer  vorhanden  sind,  ausgenommen  bei  Frauen  mit 
großem  Hängebauch  und  überhaupt  bei  Menschen  mit  sehr 
starkem  Fettpolster,  auch,  wie  ich  nachgewiesen  habe,  oft. 
bei  den  Neugeborenen  in  den  ersten  Lebensmonaten.  Beim 
Fehlen  der  Reflexe,  besonders  auf  einer  Seite,  empfiehlt 
es  sich  immer  nach  einem  organischen  Leiden  zu  forschen. 
Hauptsächlich  kommt  hier  in  Betracht  die  multiple  Skle¬ 
rose,  denn  bei  diesem1  Leiden,  wie  Strümpells  Schule 
auf  Grund  eines  umfangreichen  Materials  nachgewiesen  hat, 
verschwinden  die  Bauchreflexe  schon  in  den  ersten  Stadien 
der  Erkrankung.  Ueberhaupt  sind  Fälle,  wo  man  nicht 
sofort  entscheiden  kann,  ob  sie  zur  Hysterie  oder  zur  mul¬ 
tiplen  Sklerose  gehören,  nicht  sehr  selten,  um1  so  mehr, 
da  man  auch  bei  der  Hysterie  jenes  für  die  Sklerose  so 
charakteristische  Intentionszittern,  den  unsicheren  Gang 
und  anderes  vorfindet,  ebenso  wie  die  Sklerose  unzweifel- 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


6B 


haft  ganz  ohne  Zittern  verlaufen  kann.  Gestatten  Sie  mir 
bei  dieser  Gelegenheit,  Sie  an  einen  Kranken  zu  erinnern, 
welchen  ich  vor  einigen  Jahren  in  unserer  Sektion  demon¬ 
striert  habe,  und  welcher  auf  den  ersten  Blick  den  Eindruck 
eines  an  multipler  Sklerose  Erkrankten  machte  (mit.  dieser 
Diagnose  wurde  er  auf  meine  Abteilung  geschickt),  wo  aber 
mich  eine  eingehende  Analyse  zur  Diagnose  der  Hysterie 
nötigte.  Indem  ich  bei  diesem  Kranken  trotz  des  starken 
Zitterns,  des  spastischen  Ganges  und  verlangsamter  Sprech¬ 
bewegungen  Hysterie  diagnostiziert  habe,  richtete  ich  mich 
hauptsächlich  danach,  daß  trotz  lebhafter  Patellarreflexe,  die 
Bauchreflexe  erhalten  waren,  und  daß  man  den  Fußklonus 
und  das  Symptom  von  Babinski  nicht  erzielen  konnte. 
Ich  habe  mir  die  Sache  folgendermaßen  überlegt:  Wenn 
das  Zittern  und  Störungen  des  Ganges  von  der  multiplen 
Sklerose  abhängig  wären,  so  wäre  zu  vermuten,  daß  wir 
es  mit  einem  schon  weit  vorgeschrittenen  pathologisch-anato¬ 
mischen  Prozeß  zu  tun  haben  und  in  diesem  Falle  müßten 
wahrscheinlich  die  von  der  Erkrankung  der  Pyramiden¬ 
hahnen  abhängigen  Symptome,  der  Fußklonus  und  das 
Symptom  von  Babinski,  vorhanden  sein.  Auch  würden 
die  Bauchreflexe  fehlen.  Die  Anwesenheit  oder  das  Fehlen 
der  Empfindungsstörungen  kann  keine  entscheidende  Be¬ 
deutung  haben,  weil  einerseits  die  Hysterie  ohne  diese 
verlaufen  kann  und  anderseits  auch  bei  der  Sklerose  Sen¬ 
sibilitätsstörungen  sehr  wohl  Vorkommen  können.  Ich 
wiederhole,  daß,  wo  bedeutende  Bewegungsstörungen,  zu 
welchen  ich  auch  das  Zittern  rechne,  vorhanden  sind, 
dort  das  Fehlen  des  Symptoms  von  Babinski  und  das 
Vorhandensein  der  Bauchreflexe  entschieden  für  die  Hy¬ 
sterie  spricht  (die  postvitale  Besichtigung  des  oben  er¬ 
wähnten  Kranken  —  er  ist,  an  einer  Dysenterie  gestorben  — 
ergab  trotz  einer  genauen  einstweilen  nur  makroskopischen 
Untersuchung'  keine  Veränderungen  im  Nervensystem).  In 
zweifelhaften  Fällen  muß  besonders  auf  Störungen  des  Seh¬ 
apparates  geachtet  werden,  weil  sie,  wie  bekannt,  schon 
in  den  ersten  Stadien  der  multiplen  Sklerose  Vorkommen. 
Es  kommt  hier  offenbar  nicht  so  sehr  der  Nystagmus,  wie 
gewisse,  charakteristische  Veränderungen  im  Gesichtsfelde 
und  auf  dem  Hintergründe  in  Betracht.  Schließlich  muß  noch 
daran  erinnert  werden,  daß  auch  bei  der  multiplen  Skle¬ 
rose  nicht  selten  ziemlich  lang  dauernde  Perioden  einer 
Sistierung  des  Krankheitsprozesses  oder  einer  Besserung 
eintreten.  In  solchen  Fällen  kann  der  Gedanke  an  die 
Hysterie  um  so  näher  liegen  und  doch  sich  als  trüglich 
erweisen. 

Die  Bewegungsstörungen  bei  der  Hysterie  können 
mannigfaltigster  Art  sein;  von  vollständigen  Lähmungen 
bis  zu  den  fremdartigsten  Kontrakturen  und  Zuckungen. 
Was  die  Lähmüngen  betrifft;  so  kann  von  ihnen  ungefähr 
dasselbe  wie  von  den  Anästhesien  gesagt  werden,  das 
heißt  Lähmungen  hysterischer  Herkunft  enthalten  an  und 
für  sich,  ohne  daß  man  auf  ihren  Verlauf  und  auf  die 
sie  begleitenden  Symptome  Rücksicht  nimmt,  nichts  Spezi¬ 
fisches.  Bei  der  Hysterie  sind  auch  Lähmungen  der  inneren 
und  äußeren  Augenmuskeln  beobachtet  worden.  Dies  ist 
ein  Punkt  von  grundsätzlicher  Bedeutung.  Unter  dem 
Einfluß  der  Mo ebius sehen  Lehre,  daß  bei  der  Hysterie 
nur  solche  krankhafte  Erscheinungen  auftreten,  welche 
willkürlich  hervorgerufen  werden  können,  wurde  die  Möglich¬ 
keit  hysterischer  Lähmungen  der  Augenmuskeln  geleugnet, 
da  ja  niemand  seine  Pupille  willkürlich  erweitern  und  ver¬ 
engern  kann.  Doch  beweist  eine  Sichtung  der  betreffen- 
Kasuistik,  daß  während  eines  hysterischen  Anfalles  auch 
die  Augenmuskel  ganz  gelähmt  sein  können.  Auf  eine  aus¬ 
führliche  Besprechung  dieser  Frage  muß  ich  hier  wegen 
des  Platzmangels  verzichten.  Ich  will  rtur  noch  hinzufügen, 
daß  die  Lähmung  eines  Augenmuskels  manchmal  durch 
die  Kontraktur  (Spasmus)  eines  anderen  Muskels  (die  so¬ 
genannte  Pseudoptosis  bei  der  Kontraktur  des  Orbicu¬ 
laris  oculi)  vorgetäuscht  wird,  was  offenbar  von  der  wirk¬ 
lichen  Lähmung  unterschieden  werden  muß.  Besonders 
wichtig  ist  der  Umstand,  daß  während  des  reinen  hysteri¬ 


schen  Anfalles  das  Fehlen  von  Pupillenreaktion  von  Wesl- 
phal,  Karplus  und  anderen  entschieden  beobachtet  wurde. 
Die  Bedeutung  dieser  Tatsache  wird  nochmals  bei  der  Be¬ 
sprechung  der  Differentialdiagnose  der  Hysterie  und  der 
Epilepsie  hervorgehoben  werden. 

Was  die  Lähmungen  der  Extremitäten  betrifft,  so  hat 
die  Charcotsche  Schule  gelehrt,  daß  das  c liarakteris tische, 
nur  der  Hysterie  zukommende  Merkmal  darin  bestehe,  daß 
sie  sich  nicht  nach  den  anatomischen  Zentren  und  Bahnen, 
sondern  dem  gewöhnlichen  Gebrauch  der  einzelnen  Teile 
der  Extremitäten  entsprechend  verbreiten.  So  soll  es  bei 
der  Hysterie  nur  Lähmungen  der  Hand,  des  Fußes  usw. 
geben.  Auch  dieser  Punkt  hat  gegenwärtig  viel  von  seinem 
differentialdiagnostischen  Wert  eingebüßt.  Bei  geringen  und 
oberflächlichen  Bindenherden  werden  eben  solche  isolierte 
nur  einen  Extremitätenteil  oder  eine  Gruppe  von  synergi- 
sc.hen  Muskeln  umfassende  Lähmungen  beobachtet.  Darüber 
hat  übrigens  schon  vor  langem  Wernicke  gesprochen  und 
in  den  letzten  Zeiten  sind  solche  Beobachtungen  von 
Foerster  beschrieben  worden.  Besonders  oft  sieht  man 
solche  beschränkte,  isolierte  Lähmungen  bei  den  apoplek- 
tischen  Anfällen,  nachdem  die  allgemeinen  Symptome 
geschwunden  sind.  In  einem  von  meinen  Fällen  war  nur 
die  Fähigkeit  zum  Strecken  des  Daumens  an  einer  Hand, 
im  zweiten  Falle  die  der  dorsalen  Flexion  eines  Fußes 
aufgehoben  u.  a.  m.  Selbst  Charcot  ist,  auf  einem  seiner 
Dienstagvorträge,  von  der  Behauptung,  daß  die  hysterischen 
Lähmungen  immer  von  Anästhesien  in  derselben  Extremität 
begleitet  werden,  zurückgetreten.  Am  meisten  aktuell  ist 
die  Frage,  wie  halbseitige  Lähmungen  hysterischer  Her¬ 
kunft  von  sogenannten  organischen  unterschieden  werden 
sollen,  denn  es  gibt  Fälle,  wo  eine  endgültige  Diagnose  tat¬ 
sächlich  mit  enormen  Schwierigkeiten  verbunden  ist. 
Charcot  hat  am  Anfang  gelehrt,  daß  bei  hysterischen  halb¬ 
seitigen  Lähmungen  die  Gesichtsmuskeln  auf  der  gelähmten 
Seite  nicht  betroffen  werden,  und  die  auftretende  Asym¬ 
metrie  des  Gesichtes  von  einer  Kontraktur  der  gegenüber¬ 
liegenden  Gesichtsmuskulatur  hervorgerufen  wird.  Doch  am 
Ende  seines  Lebens  hat  Charcot  selbst  Fälle  beschrieben, 
welche  dieser  Regel  nicht  entsprechen.  Anästhesien,  welche 
die  hysterischen  halbseitigen  Lähmungen  immer  begleiten 
sollen,  können  auch  nicht  als  maßgebend  gelten,  weil  hyste¬ 
rische  Lähmungen  auch  ohne  Anästhesien  verlaufen  können, 
und  anderseits  bilden  die  letzteren  auch  bei  den  organi¬ 
schen,  halbseitigen  Lähmungen  —  besonders  in  den  ersten 
Stadien  —  keine  Seltenheit. 

Die  wertvollsten  Fingerzeige  gibt  uns  auch  hier  der 
Zustand  der  Sehnen-  und  Hautreflexe.  Der  Fußklonus,  po¬ 
sitiver  Babinski,  das  Oppen  heim’sche  Symptom,  das 
Fehlen  der  Bauchreflexe  auf  der  gelähmten  Seite  deuten 
mit  einer  großen  Wahrscheinlichkeit  auf  eine  organische 
Herkunft  der  halbseitigen  Lähmung  hin.  Ich  sage  nur  -„mit 
großer  Wahrscheinlichkeit“,  weil,  wie  ich  seinerzeit  her¬ 
vorgehoben  habe,  das  Symptom  von  Babinski  bei  halb¬ 
seitigen  Lähmungen  infolge  oberflächlicher  Rindenherde 
negativ  ausfallen  kann.  Selbstverständlich  aber,  wo  wir  es 
mit  einer  langdauernden,  vollständigen,  halbseitigen  Läh¬ 
mung  zu  tun  haben,  dort  kann  das  Fehlen  von  Babinski 
für  die  Hysterie  entscheiden,  besonders  wenn  noch  eine 
halbseitige  Anästhesie  vorhanden  ist,  weil  organische  halb¬ 
seitige  Lähmungen  solcher  Art  auf  einen  tief  im  Bereich 
der  Capsula  interna  liegenden  Herd  hinweisen  würde,  und 
in  diesem  Falle  wäre  auch  das  positive  Symptom  von  Ba¬ 
binski  vorhanden.  Seitdem  Babinski  das  nach  ihm 
benannte  Symptom  der  großen  Zehe  beschrieben  hat,  ist 
noch  eine  ganze  Reihe  anderer  Symptome,  welche  zur  Diffe¬ 
rentialdiagnose  der  hysterischen  und  der  organischen,  halb¬ 
seitigen  Lähmungen  dienen  sollen,  beschrieben  worden 
(Oppenheim,  Mendel,  Gras  set,  Bychowski,  R-ai- 
mist,  Lh  er  mitte  u.  v.  a.).  Es  würde  zu  viel  Zeit  bean¬ 
spruchen,  wenn  ich  sie  hier  alle  anführen  wollte.  In  typi¬ 
schen  Fällen,  wo  die  Diagnose  leicht  ist,  lassen  sich  alle 
diese  differentialdiagnostischen  Symptome  sehr  schön  fest- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


stellen,  in  den  atypischen  können  auch  sie  sich  als  trüge¬ 
risch  erweisen.  Jedenfalls  gibt  das  Fehlen  dieser  Symptome 
noch  kein  Recht,  die  Hysterie  auszuschließen.  Wertvolle 
Winke  bei  der  Differentialdiagnose  der  halbseitigen  Läh¬ 
mungen  kann  auch  der  Typus  der  Lähmung  selbst  erbringen. 
Bei  den  sogenannten  organischen  halbseitigen  Lähmungen 
tritt  gewöhnlich  früher  oder  später  das  sich  konstant  wieder¬ 
holende  Uebergewicht  gewisser  Muskelgruppen  auf,  infolge 
dessen  die  obere  und  die  untere  Extremität  ihr  in  solchen 
Fällen  stereotypes  Aussehen  annehmen:  die  obere  Ex¬ 
tremität  scheint  verkürzt,  die  untere  verlängert  (Typus  von 
Wernicke  und  Mann).  Bei  der  Hysterie  dagegen  sind 
die  Lähmungen  ganz  schlaff  und  wenn  Kontrakturen  auf- 
treten  —  Kontrakturen  kommen  hei  der  Hysterie  ja  ziemlich 
oft  vor  —  so  zeigen  sie  nie  diese  stereotype  Verbreitung 
wie  bei  organischen,  halbseitigen  Lähmungen.  Dies  erklärt 
auch,  warum  die  infolge  einer  organischen  Erkrankung 
Hemiparetischen  immer  denselben  typischen  Gang  haben, 
welcher  eben  mit  der  Verlängerung  der  unteren  Extremität 
zusammenhängt,  während  hei  den  Hemiparetischen  infolge 
der  Hysterie  der  Gang  sehr  mannigfaltig  sein  kann;  jeden¬ 
falls  zeigt  er  keine  für  die  organische  Lähmung  so  charak¬ 
teristische  Zirkumduktion  der  gelähmten  Extremität,  weil  die 
oben  erwähnte  Verlängerung  der  Extremität  fehlt. 

Eine  eingehende  Berücksichtigung  des  Zustandes  der 
Reflexe  klärt  meist  das  Wesen  der  Erkrankung  auch  bei 
einer  Lähmung  der  beiden  Extremitäten  (Paraplegia  inferior) 
auf.  Hier  ist  das  Symptom  von  Babinski  von"  entscheidender 
Bedeutung.  Wichtig  ist  auch  in  analogen  Fällen  der  Funk- 
tionszustand  der  Blase  usw.  . 

Die  größte  Mannigfaltigkeit  bietet  die  Hysterie  im 
Gebiete  der  Hyperkinesen,  vom  leichten  nur  einen  oder  ein 
paar  Finger  betreffenden  Zittern,  bis  zu  den  großen  An¬ 
fällen  und  krampfhaften  Posen,  welche  Riehe  t  in  seinem 
bekannten  Buche  verewigt  hat.  Was  das  Zittern  im  eigent¬ 
lichen  Sinne  des  Wortes  betrifft,  so  haben  seineizeit 
Charcot  und  seine  Schüler  Dutil  und  Souques  eine 
sehr  reichhaltige  Klassifikation  desselben  gegeben,  aus 
welcher  folgt,  daß  bei  der  Hysterie  die  verschiedensten 
Arten  des  Zitterns  Vorkommen,  was  offenbar  seinen  diagno¬ 
stischen  Wert  verringert.  Am  öftesten  jedoch  hat  das  hyste¬ 
rische  Zittern  einen  rhythmischen,  stereotypen  Charakter, 
wodurch  es  sich  vom  Zittern  bei  dem  Veitstänze,  bei  der 
multiplen  Sklerose  bei  der  Parkinsonschen  Krankheit 
und  anderen  unterscheidet. 

Indem  wir  zu  den  tonischen  und  klonischen  Zuckungen 
übergehen,  begegnen  wir  zunächst  der  vom  praktischen 
Standpunkt  ungemein  wichtigen  Frage,  der  Differential¬ 
diagnose  der  Hysterie  und  der  genuinen  Epilepsie.  Die  so¬ 
genannten  großen  hysterischen  Anfälle  mit.  den  sonder¬ 
barsten  Posen  (Contorsions  et  grands  mouvements.  Clow- 
nism)  stellen  keine  diagnostischen  Schwierigkeiten  dar. 
Uehrigens  gehören  diese  „Posen“  schon  zur  Vergangenheit 
und  sogar  in  Paris  sollen  sie  seit  20  Jahren  nicht  mehr 
beobachtet  werden.  Es  kommt  uns  hier  auf  die  kleinen 
zuckungsartigen  Anfälle  mit  oder  ohne  Bewußtseinsverlust 
an,  welche  den  beiden  Krankheiten  gemein  sind.  Es  ist  ver¬ 
hältnismäßig  noch  nicht  lange  her,  daß  wir  in  dieser  Hin¬ 
sicht  ziemlich  feste  diagnostische  Anhaltspunkte  besessen 
haben.  Man  berichtete  über  die  spezifisch  epileptischen  An¬ 
fälle,  daß  sie  immer  und  überall  Vorkommen  —  auf  der 
Straße,  bei  Nacht,  bei  vollkommener  Isolierung  des  Kranken 
— ;  dagegen  von  den  hysterischen  Anfällen  meinte 
man,  daß  sie  nur  bei  Tag  und  in  der  häuslichen  Umgebung 
stattfinden  können.  Der  Epileptische,  sagte  man,  fällt 
plötzlich,  wie  ein  Block,  und  verletzt  sich  infolgedessen 
oft.  Der  Hysterische  dagegen  fällt  vorsichtig,  wie  ein  Schau¬ 
spieler  auf:  der  Bühne  und  kommt  gewöhnlich  zu  keinem 
Schaden.  Was  den  Anfall  selbst  betrifft,  so  hat  man  bis 
vor  kurzem  vermutet,  daß,  im  Gegensatz  zur  Hysterie,  der 
Pupillenreflex  hei  der  Epilepsie  immer  fehlt  und  oft  ein 
unwillkürlicher  Harnabgang  und  der  Zungenbiß  erfolgt. 
Ebenso  hat  mian  betont,  daß  während  der  epileptischen 


Anfälle  die  Zuckungen  gewöhnlich  einen  gleichförmigen 
Charakter  an  sich  (ragen  im1  Vergleich  zu  jener  Mannig¬ 
faltigkeit,  die  für  den  hysterischen  Anfall  charakteristisch 
ist,  welcher  außerdem  von  Wein-  und  Lachausbrüchen  oft 
begleitet  wird.  Auch  drückt  manchmal  das  Gesicht  der 
Hysteriker  während  des  Anfalls  Zorn,  Entzücken  und 
so  weiter  aus.  Ebenso  war  m'an  der  Meinung,  daß  die 
dem  Anfall  nachfolgende  Periode  hei  der  Hysterie  ver¬ 
schieden  von  der  hei  der  Epilepsie  ist.  Hier  fühlt  sich 
der  Kranke  gebrochen,  deprimiert,  müde,  schläfrig,  dort 
frisch,  leicht  usw.  Schließlich  meinte  man,  daß  der  hyste¬ 
rische  Anfall  fast  immer  durch  das  Drücken  dieses  oder 
jenes  hys’terogenen  Punktes  (Ovarie  usw.)  unterbrochen 
werden  kann,  während  hei  der  Epilepsie  dies  nicht  der 
Fäll  sein  kann.  Es  muß  zugegeben  werden,  daß  in  der 
großen  Mehrzahl  der  Fälle  diese  Merkmale  für  eine  end¬ 
gültige  Diagnose  vollkommen  genügen.  Doch  gibt  es  Anfälle, 
wo  alle  diese  Kriterien  einigermaßen  versagen.  Wie  ich 
schon  oben  erwähnt  habe,  gibt  es  erfahrene  Autoren, 
welche  unzweifelhaft  hysterische  Anfälle  (arc  du  cercle 
und  so  weiter)  beobachtet  haben,  während  welcher  die 
Pupillen  aufs  Licht  nicht  reagierten  (Westplial,  Bins- 
w  anger,  Kar  plus,  Steffen  u.  a.)  und  umgekehrt  spe¬ 
zifische,  epileptische  Anfälle,  wo  die  Pupillenreaktion  er¬ 
halten  blieb.  Es  sind  auch  hysterische  Anfälle  mit  Ver¬ 
letzung  der  Zunge,  unwillkürlichem  Harnabgang,  vollstän¬ 
diger  Amnesie  beschrieben  worden  (Nonne  und  andere). 
Bekannt  sind  jetzt  auch  Fälle  von  untrüglicher  Epilepsie, 
wo  die  Anfälle  gar  nicht  nach  der  typischen,  klassischen 
Formel  verlaufen,  wo  statt  der  gewöhnlichen  Zuckungen 
verschiedenartigste,  scheinbar  sogar  zweckmäßige  Bewe¬ 
gungen  auftreten  (Aufknöpfen  der  Kleidung,  sich  Herum¬ 
treiben,  Herumrennen).  Uebrigens  ist  auch  eine  ganze 
Reihe  von  Aequivalenten  der  epileptischen  Anfälle  ohne 
Bewegungssymptome  bekannt. 

Mit  einem  Worte,  es  gibt  kein  Stadium  im  epilepti¬ 
schen  Anfalle,  das  auch  bei  der  Hysterie  nicht  Vorkommen 
würde  und  umgekehrt;  und  jeder  von  uns  war  wohl  mehr¬ 
mals  Zeuge  solcher  Anfälle,  über  deren  Wesen  er  zunächst 
nichts  Entschiedenes  sagen  konnte.  Anfälle  solcher  Art 
haben  übrigens  schon  längst  die  Aufmerksamkeit  des 
Meisters  von  der  Salpetriere  auf  sich  gezogen  und  ihn 
seinerzeit  veranlaßt  zur  Aufstellung  einer  neuen  nosogra- 
phischen  Form  der  Hysteroepilepsie.  Charcot  unter- 
.scheidete  eine  Hysteroepilepsie  ä  crises  mixtes  und  ä  crises 
distinctes.  Zur  letzteren  Form1  rechnete  er  solche  Fälle,  wo 
hysterische  und  epileptische  Anfälle  einander  ablösen.  Hier 
kommt  es  nicht  auf  eine  neue  entite  morbide  (der  Lieblings¬ 
ausdruck  von  Charcot)  an,  sondern  es  handelt  sich  um 
eine  Kombination  der  Hysterie  mit  der  Epilepsie.  Zur 
Hysteroepilepsie  ä  crises  mixtes  rechnete  Charcot  Fälle 
von  setnverer  Hysterie  mit  langdauernden  Anfällen  sui 
generis,  welche  weder  ausschließlich  zur  Hysterie  noch  zur 
Epilepsie  gehören,  weswegen  er  sie  in  eine  besondere  noso- 
graphische  Klasse  zusammenfaßte. 

Auch  diese  Lehre  von  Charcot  ist  gegenüber  ande¬ 
rer  ins  Schwanken  .geraten.  Indem  sie  sich  auf  ein  enormes, 
während  langer  Zeit  sorgfältig  gesammeltes  Material  der  Ber¬ 
liner  epileptischen  Anstalt  in  Wuhlgarten  berufen,  leugnen 
Bratz  und  Falkenberg  die  Existenz  der  Hysteroepi- 
lepsie  überhaupt.  Bins w a nger  scheint  zwar  die  Hystero¬ 
epilepsie  prinzipiell  anzuerkennen,  doch  kommt  sie  nach 
ihm  nicht  so  oft  vor,  wie  man  früher  vermutet  hat.  Für 
einige  Autoren  sind  übrigens  die  Grenzen  zwischen  der 
Hysterie  und  der  genuinen  Epilepsie  so  verschwommen  und 
wenig  faßbar,  daß  sie  die  beiden  Krankheiten,  in  ihren 
typischen  Formen  —  als  Endglieder  derselben  nosogra- 
phi  sehen  Einheit,  welche  Hysteroepilepsie  zu  benennen 
wäre,  auffassen  (Steffens,  Apelt).  Jedentalis  sehen  wir, 
daß  die  Lehre  von  der  Hysterie  auch  in  dieser  Hinsicht 
noch  nicht  ganz  geklärt  ist. 

Betrachtet  man  die  ganze  Entwicklung  der  Lehre  von 
der  Hysterie  aus  der  Entfernung  der  historischen  Perspek- 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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tive,  so  kann  man  sich  des  Eindruckes  nicht  erwehren, 
daß  die  Schule  der  Saipetriere  die  ganze  Hysterie  von 
einem  sozusagen  streng  morphologischen,  rein  symptoma- 
tologischen  Standpunkt  behandelt  hatte,  ohne  in  den  Prozeß 
der  Entstehung  und  Entwicklung  dieser  Symptome  beim 
gegebenen  Individuum  tiefer  einzudringen.  Von  einem 
solchen  zu  engem  Standpunkt  betrachten  leider  auch  jetzt 
noch  viele  die  ganze  Frage  der  Hysterie,  was  besonders 
kraß  in  den  Arbeiten  von  Steffens  und  anderer  zum  Vor¬ 
schein  kommt,  welche  ausschließlich  nur  auf  Grund  äußerer 
Merkmale  die  Hysterie  mit  der  Epilepsie  identifizieren.  Dies 
erinnert  einigermaßen  an  das  künstliche  Einteilungssystem 
von  Lin  ne  in  der  Botanik  oder  an  einige  frühere  Klassifi¬ 
kationen  der  Hautkrankheiten.  Wie  jede  psychische  Krank¬ 
heit  —  Und  Hysterie  ist  eine  Krankheit  der  Seele  —  kann 
und  darf  sie  nicht  auf  Grund  einer  oder  einiger  Moment¬ 
aufnahmen  diagnostiziert  werden.  Mein  Referat  hat  sich 
eben  die  Aufgabe  gestellt,  zu  beweisen,  daß,  es  kein  einziges 
somatisches  Symptom  gibt,  welches  nur  der  Hysterie  eigen 
wäre  und  für  sie  den  Wert  eines  pathognomonisdhen  Sym¬ 
ptoms  haben  könnte.  Nur  aus1  der  Berücksichtigung  der 
Allgemeingestalt  der  [Symptome  und,  was  vielleicht  noch 
wichtiger  ist,  aus  ihrem  Entstehungsmechanismus,  chrono¬ 
logischer  Entwicklung  und  aus  den  Schwankungen,  welchen 
sie  unterliegen,  kann  die  Diagnose  der  Hysterie  gefolgert 
werden.  Kommt  man  allen  diesen  Forderungen  nach  und 
berücksichtigt  allseitig  alle  derzeit  zugänglichen  Unter¬ 
suchungsmethoden,  besonders  die  Ophthalmoskopie,  Peri¬ 
metrie,  den  Zustand  der  Reflexe  usw.,  dann  —  und  das  ist 
meine  Ueberzeugung  und  wahrscheinlich  auch  vieler  von 
Ihnen,  meine  Herren  —  wird  die  Hysterie  viel  seltener 
in  unserem  kasuistischen  Inventar  figurieren;  allein,  wo  sie 
aber  diagnostiziert  werden  wird,  wird  auch  ihre  Behand¬ 
lung  eine  leichtere,  rationellere  und  erfolgreichere  sein. 


Bemerkungen  zur  Ehrlich-Debatte. 

Von  Prof.  E.  Finger. 

Riehl  hat  in  Nr.  1  der  Wiener  klinischen  Wochenschrift 
dieses  Jahres  unter  diesem  Titel  einen  Aufsatz  veröffentlicht, 
der  ausschließlich  eine  Polemik  zu  meinen  Ausführungen  im 
Vortrage  und  im  Schlußwort:  „Zur  Behandlung  der  Syphilis 
mit  Arsenobenzol“  enthält.  Da  mir  vor  dem  Erscheinen  des¬ 
selben  ein  Einblick  und  die  sofortige  Stellungnahme  nicht  mög¬ 
lich  wär'  muß  ich  den  Leser  ersuchen,  zum  besseren  Verständnis 
meiner  Aeußerungen  sich  nochmals  der  Mühe  zu  unterziehen, 
die  Aeußerungen  Riehls  durchzulesen. 

Auf  dem  Standpunkte,  daß  das  Arsenobenzol  vorläufig  zur 
Verwendung  in  der  Praxis  sich  nicht  eignet,  stehe  ich  auch  heute 
noch  und  glaube,  das  Recht  zu  haben,  die  praktischen  Aerzte 
vor  Anwendung  eines  Mittels,  das,  was  Technik,  Dosierung  und 
Indikationen  betrifft,  noch  absolut  nicht  genügend  studiert  ist,  zu 
warnen,  um  so  mehr,  als  ja  von  mir  und  mehreren  anderen  Seiten 
Mitteilungen  über  Nebenerscheinungen  gebracht  wurden  und 
es  für  den  Praktiker  gap z  gleichgültig  ist,  in  welcher 
Weise  diese  Nebenerscheinungen  gedeutet  werden 
können,  wenn  er  in  die  unangenehme  Lage  käme,  bei 
seinen  Patienten  derartige  Beobachtungen  anzustellen.  Es  genügt 
nicht,  den  Praktiker  damit  zu  beruhigen,  daß'  die  erwähnten  Er¬ 
scheinungen  und  Todesfälle  ja  noch  nicht  mit  Sicherheit 
auf  das  neue  Mittel  zurückzuführen  sind,  man  muß  vielmehr 
meiner  Auffassung  gemäß,  dem  Praktiker  die  Beruhigung  geben 
können,  daß  sie  sicher  nicht  mit  dem  Mittel  Zusammen¬ 
hängen,  wenn  man  ihm  das  Mittel  zur  Anwendung,  empfiehlt. 
Uebrigens  wird  von  den  nach  Arsenobenzol  beobachteten  Todes¬ 
fällen  einer  von  Ehrlich  selbst  als  direkte  Folge  des  Mittels 
angesehen. 

Wenn  ich  vorläufig  eine  Deutung  der  von  mir  und  anderen 
beobachteten  Nebenerscheinungen  und  es  sind  zu  den  bisher 
beobachteten  weitere  neue  hinzugekommen,  die  so  ziemlich  allo 
unter  denselben  typischen  Bildern  verlaufen,  ablehne,  so  ge¬ 
schieht  es  in  dem  Bestreben,  einem  Mittel  gegenüber,  das  auf 
der  einen  Seite  unleugbare  Vorzüge  besitzt,  möglichst  objektiv 


zu  verbleiben  und  auch  jene  Nebenerscheinungen  lieber  vom 
Standpunkt  des  Optimismus  als  des  Pessimismus  zu  beurteilen. 
Wie  sehr  ich  bemüht  war,  objektiv  zu  bleiben,  beweist,  daß  ich 
bei  dem  Patienten  A.  K.  mit  Lues  maligna,  der  vorher  mit 
30  Arsazetininjektioneii und  69  (nicht  wie  irrtümlich  abgedruckt  18) 
Eriesolinjektionen  behandelt  wurde,  selbst  darauf  hinwies,  daß 
in  diesem  Falle  die  vorangegangenen  Arsazetin-  und  Enesolinjek- 
txonen  eine  Prädisposition  für  die  nach  Arsenobenzol  aufgetretene 
Optikusatrophie  schaffen  konnten.  Riehl  selbst  geht  einer  Er¬ 
klärung  dieser  Fälle  aus  dem  Wege  und  zitiert  statt  dessen  einen 
Deutungsversuch  Ehrlichs,  dessen  geistreiche  Hypo¬ 
thesen  aber  wohl  jeder  tatsächlichen  Grundlage  ent¬ 
behren. 

Riehl  zitiert  bei  dieser  Gelegenheit  einen  Trugschluß 
Igersheimers,  dem  ich  deshalb  begegnen  möchte,  weil  an¬ 
läßlich  der  Ehrlich-Debatte  in  der  Gesellschaft  der  Aerzte  dieser 
Trugschluß  von  mehreren  Seiten  gemacht  wurde  und  zu  Ver¬ 
wirrung  Anlaß  geben  könnte. 

Heilung  eines  syphilitisch  erkrankten  Sehnerven  in  einem 
Falle,  Schädigung  eines  gesunden  in  einem  anderen,  sind  Erschei¬ 
nungen,  die  miteinander  nicht  Zusammenhängen  und  man  darf 
deshalb  aus  der  Tatsache,  daß  mit  Arsenobenzol  Fälle  von  syphi¬ 
litischen  Augenerkrankungen  geheilt  wurden,  doch  keineswegs 
schließen,  daß  das  Mittel  für  den  Sehnerven  überhaupt  un¬ 
schädlich  sein  müsse.  Zweifellos  hängt  ja  hier  ebenso  wie 
überall,  die  Erkrankung  mit  einer  gewissen  Disposition  des  be¬ 
treffenden  Organes  zusammen.  Uebrigens  ist  Riehls  An¬ 
führung  Igersheimers  durchaus  nicht  erschöpfend,  nachdem 
dieser  Autor  (Münchner  mediz.  Wochenschrift  Nr.  51,  S.  2674) 
selbst  als  auffallend  hervorhebt,  daß  bei  seinen  Tierversuchen 
in  den  Bulbis  reichliche  Mengen  von  Arsen  vorgefunden  wurden 
und  dies  auf  eine  Verankerung  des  Arsens  im  Auge  zurückgeführt 
werden  könne,  was  wiederum  mit  der  Annahme  einer  besonderen 
Affinität  des  Präparates  zum  Bulbus  erklärt  wird. 

Was  die  Häufigkeit  der  Nebenerscheinungen  be¬ 
trifft,  so  habe  ich  zweifellos  das  Recht,  zu  behaupten,  daß,  ein 
Vergleich  zwischen  der  seit  langen  Jahren  geübten  Quecksilber- 
und  der  kurzdauernden  Arsenobenzolhehandlung  nicht  am  Platze 
ist,  da  bezüglich  der  schädlichen  Wirkungen  ersterer  unsere  Er¬ 
fahrungen  als  völlig  abgeschlossen  betrachtet  werden  können, 
während  bezüglich  des  Arsenobenzols  jeder  neue  Tag  neue  Schä 
digungen  bringen  kann.  Daß  ich  mit  meiner  Schätzung,  die  Zahl 
der  bisher  mit  Quecksilber  behandelten  Syphilitischen  betrage 
Millionen,  recht  habe,  wird  mir  jeder  Kenner  der  Verbreitung  der 
Syphilis  ohne  weiteres  zugeben. 

Wenn  Riehl  die  von  mir  mitgeteilten  Schädigungen  durch¬ 
aus  auf  das  ganze  behandelte  Material  bezogen  wissen  will,  so 
muß  er  zunächst  sämtliche  in  Wien  zur  Beobachtung  gekommenen 
Fälle  heranziehen,  deren  Zahl  während  der  Diskussion  immer 
größer  wurde  —  hat  ja  Riehl  selbst  durch  Kren  einen  Fall 
von  Akustikusschädigung  mitteilen  lassen  —  und  sind,  auch 
in  der  Diskussion,  kaum  alle  in  Wien  beobachteten 
F allem i t ge t ei lt  worden.  Riehl  müßte  auch  alle  in  Deutsch¬ 
land  zur  Beobachtung  gelangten  Fälle  heranziehen,  deren  Zahl 
nach  meinem  Vortrage  ständig  größer  wird. 

Die  Ausführungen  Riehls  bezüglich  der  Beobacht  u  n  g  s- 
dauer  und  derZeit  des  Auftretens  der  N e b e n  e r s c h e i - 
n ungen  beruhen  auf  einem  Trugschluß.  Meine  Angaben,  daß 
die  ersten  Fälle  von  Nebenerscheinungen  erst  im  fünften  Monat 
der  Anwendung  des  Mittels  zu  unserer  Kenntnis  gelangten, 
hatte  den  Zweck,  hervorzuheben,  daß  diejenigen,  welche 
mit  dem  Mittel  sich  längere  Zeit  beschäftigen,  eher  in 
die  Lage  kommen  können,  solche  Beobachtungen  zu  machen, 
es  hat  diese  Zeitangabe  aber  gar  nichts  damit  zu  tun, 
in  Welchem  Zeitpunkte  nach  der  Injektion  die  Erscheinung  beim 
einzelnen  Patienten  auftreten  kann.  Diese  Daten  habe  ich  in 
meinem  Vortrage  ja  ganz  besonders  angegeben.  Kren  gibt  in 
seiner  Mitteilung  „Ueber  die  Syphilisbehandlung  mit  Ehrlichs 
Heilmittel“  (diese  Wochenschrift  1940,  Nr.  45)  wörtlich  an:  „Von 
den  123  Fällen,  welche  seit  12.  August  mit  „606“  behandelt  worden 
sind“  und  sagt  weiter  in  der  Diskussion  (ebenda  Nr.  48) „Die 
Untersuchungen  wurden  hauptsächlich  an  den  zuerst  injizierten 
Patienten  der  Monate  August  und  September  vorgenommen.  In 
den  Krankengeschichten  zweier  Fälle  erwähnt  er  allerdings  den 
15.  und  19.  Juli.  Ich  fühlte  mich  der  Aufgabe,  diese  Widersprüche 
zu  erklären,  nicht  gewachsen  und  mußte  wohl  der  zweimal  ge¬ 
gebenen  Versicherung,  im  August  begonnen  zu  haben,  Glauben 
schenken.  Nachdem  nun  Riehl  die  den  August  als  Beginn  an¬ 
führenden  Daten  seines  Assistenten  richtig  gestellt  hat  und  den 


66 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


7.  Juli  als  Datum  der  ersten  Injektion  verriet  —  ich  habe 
mich  nicht  in  Frankfurt  erkundigt,  wamin  die  erste  Sen¬ 
dung  von  dort  an  die  Klinik  Riehl  abging  —  ist  ohne 
weiteres  zuzugeben,  daß  keine  wesentliche  zeitliche:  Diffe¬ 
renz  gegenüber  dem  Beginne  unserer  Injektionen  besteht.  Denn 
die  erste  Injektion  wurde  von  meinem  Assistenten  Dr.  Müller 
mit  einem  meiner  Klinik  gehörigen  Präparate,  gemeinsam  mit 
Dr.  Stoerk,  an  einem  Tabiker  der  Klinik  Strümpell  Ende 
Juni  aüsgeführt. 

Wenn  nun  also  eine  wesentliche  zeitliche  Differenz 
zwischen  dem  Beginn  der  Salvarsanbehandlung  an  beiden  Kli¬ 
niken  nicht  besteht,  so  ist  doch  zu  betonen,  daß  auf  meiner  Klinik 
bis  zum  12.  August  —  vor  Welchem  Datum  die  Klinik  Riehl  eine 
immerhin  recht  geringe  Zahl  von  Injektionen  ausgeführt  haben 
mag,  so  daß  sie  dem  Assistenten  nicht  genügend  in  Erinnerung 
geblieben  waren  —  54  einmalige  und  eine  zweimalige  Salvarsan- 
injektionen  ausgeführt  worden  waren.  Dabei  sind  einige  von 
uns  für  andere  Kliniken  gemachte  Injektionen  nicht  mitgerechnet. 

Daß  die  Dauerbeobachtungeln  der  Klinik  Riehl  in  letzter 
Zeit  bis  auf  86°'o  gestiegen  sind,  ist  gewiß  im  Interesse  der 
Wissenschaft  freudigst  zu  begrüßen;  Kren  sprach  in  seinem 
Vortrage  vom  3.  November,  daß  er  von  123  Patienten  27,  das 
ist  22°A>,  wiedergesehen  hat  und  in  seiner  Diskussionsbemerkung 
zu  meinem  Vortrage  am  26.  November,  daß  er  89  von  140,  das 
:st  64°o,  wieder  beobachten  konnte,  wobei  er  angab,  daß  diese 
Revision  des  Materiales  durch  meinen  Vortrag  bedingt  worden  war. 
Daß  mo;n  Material  mit  80°'o  Dauerbeobachtungen  an  allererster 
Stelle  steht,  war  daher  eine  wohlmotivierte  Behauptung. 

Was  die  Frage  der  Nekrosen  betrifft,  so  genügt  es,  auf 
die  Befunde  von  Martins  aus  dem  S  en  ck  e  nhe  r  g  sehen  In¬ 
stitute  in  Frankfurt  hinzuweisen,  der  Gelegenheit  hatte,  zwölf 
Patienten,  die  zwei  bis  drei  Wochen  nach  der  Injektion  mit  Ar¬ 
sen  oben  zol  verstorben  waren,  zu  untersuchen,  und  der  auf  Grund 
dieser  Studien  zu  einem  Ergebnis  kommt,  dessen  erste  zwei 
Punkte  folgendermaßen  lauten  (Münchner  mediz.  Wochenschrift 
1910,  S.  2769): 

1.  In  jedem  Falle  von  subkutaner  oder  intramuskulärer 
Injektion  des  Arsenobenzols  Ehrlich  -Hata  ,,606“,  gleichgültig  in 
welcher  Lösung,  Form  oder  Dosis,  fanden  wir  ausgedehnte  Ne¬ 
krosen  im  Bereiche  der  Injektionsstelle. 

2.  Alle  mit  dem  Mittel  in  direkte  Berührung  kommende 
Gewebe,  Bindegewebe,  Fettgewebe,  Muskel,  Gefäße  und  Nerven 
werden  vollständig  nekrotisch. 

Es  scheint  daher  mein  Vermerk  cum  grano  salis,  an  dem 
sich  Riehl  stößt,  vollauf  berechtigt. 

Den  Bemerkungen  Riehls  über  Zeit  und  Häufigkeit  des 
Auftretens  von  Optikuserscheinungen  bei  Syphilis  ohne  Arseno- 
benzol  gegenüber,  möchte  ich  einen  Satz  von  Wil brand  und 
Staelin  anführen,  den  Becker  in  der  von  Riehl  des  öfteren 
angeführten  Arbeit  erwähnt.  Becker  sagt,  daß  die  genannten 
Autoren  darauf  aufmerksam  machen,  „daß  man  sehr  wohl  unter¬ 
scheiden  müsse  zwischen  der  Häufigkeit  der  Syphilis  als  Ursache 
der  Augenerkrankungen  und  der  Häufigkeit  der  Augenerkrankungen 
im  Verlauf  der  Syphilis,  lieber  diese  habe  der  Syphilidologe,  über 
jene  der  Ophthalmologe  leichter  ein  Urteil“. 

Dieser  Ansicht  möchte  ich  insofern  beipflichten,  als  es  sich 
bei  dem  Vergleich  der  Fälle  nur  um  Schädigungen  handeln  darf, 
auf  die  der  Syphilidologe  durch  subjektive  Angaben  der  Patienten 
aufmerksam  gemacht  wurde  und  nicht  um  Veränderungen,  die 
erst  durch  genaue  ophthalmologische  Untersuchung  aufzudecken 
sind  und  sonst  dem  behandelnden  Arzte  entgangen  wären. 

Ueber  das  Vorkommen  von  Veränderungen  letzter  Art  bei 
Lues,  auch  ohne  Salvarsanbehandlung.  war  ich,  wie  ich  schon 
in  meinem  Schlußworte  betonte,  durch  die  Untersuchungen  Elsch- 
nigs  an  meiner  Klinik,  völlig  unterrichtet.  Vollkommen  anderer 
Art  sind  jedoch  die  von’  'mir  und  seither  auch  von  anderen  beob¬ 
achteten  Symptnmoukomplexe,  welche  die  Patienten  selbst  als 
Krankheitssymptome  an  sich  entdeckten,  derentwegen  sie  meine 
Klinik  wieder  aufsuchten,  diei  meist  nebst  dem  Optikus  auch  an¬ 
dere  Nerven,  Fazialis,  Abduzens,  Vestibularis  betrafen  und  in 
dieser  Art  als  Luesrezidive  als  Raritäten  zu  bezeichnen  sind. 
Rechnet  doch  Becker  selbst  die  primäre  Sehnervenstörung  im 
Frühstadium  der  Syphilis  zu  den  so  seltenen  Formen  der  Lues- 
rezidive  :  „daß  es  wohl  erlaubt  ist,  einen  derartigen  Einzelnfall 
zu  veröffentlichen“.  Ich  kann  also  der  Ansicht  Riehls  nur  inso- 
ferne  zustimmen,  als  es  überhaupt  kein  Gebiet  der  gesamten 
Medizin  gibt,  in  dem  nicht  durch  systematische  Forschung  noch 
eine  weitgehende  Bereicherung  unserer  Kenntnisse  zu  erhoffen 


wäre  und  daß  von  diesem  Satze  auch  die  Dermatologie  und 
Syphilis  keine  Ausnahme  macht. 

Die  von  Riehl  vorgebrachten  Einwände  gegen  meine 
Aeußerungen  sind  daher  durchaus  unstichhältig. 


OEFFENTLICHE  GESUNDHEITSPFLEGE. 

Eine  sozialmedizinische  Kongreßreise. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Ludwig  Teleky. 

(Schluß.) 

III.  Internationaler  Kongreß  für  Gewerbekrank¬ 
heiten. 

Brüssel,  ID.  bis  14.  September  1910. 

Der  I.  internationale  Kongreß  für  Gewerbekrankheiten  bat 
im  Juni  1906  in  Mailand  stattgefunden.  Nach  mehrjährigen  Vor¬ 
arbeiten,  um  die  sich  vor  allem  Mailänder  Aerzte,  Senator 
De.  ("hristof oris,  Prof.  Devoto,  gegenwärtig  der  Vorstand 
der  Klinik  für  Berufskrankheiten  in  Mailand  und  sein  Assistent 
Prof.  Carozzi,  sowie  Prof.  P  i  e  r  r  a  c  in  i  -  Florenz,  verdient  ge¬ 
macht  hatten,  fand  dieser  Kongreß  unter  zahlreicher  Beteiligung 
italienischer  Aerzte  statt;  ans  dem  Ausland  war  kaum  ein  Dutzend 
Vertreter  erschienen.  Der  Kongreß,  der  sechs  Tage  dauerte,  war 
fleißigster  wissenschaftlicher  Arbeit  gewidmet,  vor-  und  nach¬ 
mittags  wurden  vierstündige  Sitzungen  abgehalten,  mit  südlicher 
Lebhaftigkeit  platzten  die  Meinungen  aufeinander.  Für  die  italie¬ 
nischen  Aerzte  waren  die  auf  dein  Kongreß  empfangenen  An¬ 
regungen  in  hohem  Grade  fruchtbringend  gewesen.  Eine  große 
Anzahl  italienischer  Aerzte  widmet  sich  mit  Eifer  dem  Studium 
der  Gewerbekrankheiten,  1907  fand  ein  nationaler  Kongreß  für 
Gewerbekrankheiten  in  Palermo,  1909  ein  zweiter  in  Florenz 
statt  Die  einzige  existierende  Zeitschrift  für  Gewerbekrankheiten 
erscheint  in  italienischer  Sprache.  A'on  den  italienischen  Aerzten, 
die  sich  mit  besonderem  Eifer  und  Erfolg  dem  Studium  der 
!ewerbekrankheiten  gewidmet,  haben,  seien  hier  Devoto, 
Carozzi- Mailand,  Pierr acini- Florenz,  Giglioli  Florenz, 

Monti -Pavia,  Bi  o  n  d  i  -  Siena,  genannt.  Durch  einen  Umstand 
wird  das  Aufblühen  des  Studiums  der  Gewerbekrankheiten,  sowie 
sozialmedizinischer  Stadien  überhaupt  in  Italien  sehr  gefördert; 
die  italienischen  Aerzte  stehen  in  ihren  politischen  und  sozialen 
Anschauungen  der  Arbeiterschaft  viel  näher,  als  z.  B.  die  deutschen 
Aerzte  den  deutschen  Arbeitern. 

Auf  dem  Mailänder  Kongresse,  der  zur  Zeit  der  Weltaus¬ 
stellung  aber  ganz  fern  von  ihr  tagte,  wurde  eine  permanente 
internationale  Kommission  zum  Studium  der  Gewerbekrankheiten 
geschaffen,  ihr  die  Veranstaltung  regelmäßig  sich  wiederholender 
internationaler  Kongresse  übertragen  und  Brüssel  als  Ort  des 
nächsten  Kongresses  in  Aussicht  genommen. 

Dieser  Kongreß  fand  dort  vom  9.  bis  14.  September  v.  J. 
wieder  also  im  Zusammenhänge  mit.  einer  Weltausstellung,  statt. 
Zweifellos  wird  durch  die  Wahl  solchen  Ortes  und  solcher  Zeit 
für  die  Tagung  eines  Kongresses  die  Quantität  der  Kongreßteil¬ 
nehmer  vermehrt,  natürlich  sind  es  nicht  die  wirklichen  Inter¬ 
essenten,  die  eines  solchen  Lockmittels  bedürfen.  Auf  das  Arran¬ 
gement  des  einzelnen  Kongresses  wirkt  auch  die  bei  solchen 
Anlässen  übliche  Massenveranstaltung  von  Kongressen  nicht 
immer  günstig  ein.  Tagten  doch  in  Brüssel  im  vergangenen 
Sommer  69  Kongresse:  Botaniker  und  Friseure,  Baumwollspinner 
und  Vegetarianer,  Alkoholhändler  und  Friedensfreunde,  Hand¬ 
lungsreisende  und  Touristen,  Psychiater  und  Kleingewerbetrei¬ 
bende  usw.  usw.  Der  Brand  der  Ausstellung  hatte  auch  zur 
Folge,  daß  das  für  d’e  Kongresse  bestimmte  Gebäude  zur  Wieder¬ 
aufstellung  der  engbschen  Ausstellung  umgebaut  wurde,  so  daß 
eine  glückliche  Lösung  der  Lokalfrage  nicht  möglich  war.  Der 
unermüdliche  und  aufopfernde  Sekretär  des  Kongresses,  Doktor 
Gilbert,  den  schweres  persönliches  Unglück  gerade  in  den 
Wochen  kurz,  vor  der  Eröffnung  des  Kongresses  traf,  leistete  das 
Menschenmöglichste. 

An  dem  Kongresse,  der  diesmal  im  vollsten  Sinne  ein 
internationaler  war,  nahmen  609  bis  700  Personen  teil,  vor  allem 
Aerzte,  dann  Gewerbeinspektoren,  auch  einzelne  Techniker.  Die 
meisten  Regierungen,  auch  die  österreichische,  hatten  Vertreter 
entsendet.  Auffallend  gering  war  die  Beteiligung  jüngerer  öster¬ 
reichischer  Amtsärzte  und  Gewerbeinspektoren;  vielleicht  wäre 
es  doch  zweckmäßig,  wenn  neben  den  berufenen  Vertretern  der 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


zuständigen  Aemter,  auch  mehrfach  jüngeren  Herren  Ge¬ 
legenheit  geboten  würde,  mit  den  ausländischen  Fachmännern 
in  Fühlung  zu  treten  und  fremde  Verhältnisse  aus  eigener  An¬ 
schauung  kennen  zu  lernen 

ln  der  Eröffnungssitzung  sprachen:  Hubert,  der  belgische 
Minister  für  Industrie  und  Arbeit,  De  Christof  or  is,  der  Prä¬ 
sident  der  permanenten  Kommission  zum  Studium  der  Gewerbe¬ 
krankheiten,  Moeller,  der  Präsident  des  Organisationskomitees, 
dann  noch  ein  Belgier  und  dann  nicht  weniger  als  13  Vertreter 
fremder  Staaten ;  diese  Zeremonien  nahmen  den  Vormittag  in 
Anspruch.  Nachmittags  begannen  die  sachlichen  Verhandlungen. 
Zu  jedem  Thema  der  Tagesordnung,  das  meist  in  eine  ganze 
Reihe  von  miteinander  nur  lose  zusammenhängenden  Themen 
zerfiel,  war  eine  große  Anzahl  von  Referaten  eingelangt.  Wie 
ja  auf  den  meisten  internationalen  Kongressen,  erhielten  zu¬ 
nächst  die  Referenten  das  Wort,  um  einen  .Auszug  aus  ihren 
Arbeiten  vorzutragen.  Die  Verschiedenheit  der  unter  einem 
Punkt  der  Tagesordnung  zusammengefaßten  Themen,  machte 
diesen  Vorgang  noch  insofern©  erträglich,  als  es  dadurch  nicht 
zu  allzu  häufigen  Wiederholungen  kam,  führte  aber  anderseits 
mehrmals  zu  einem  Neben-  statt  Miteinanderreden.  Noch  stö¬ 
render  hat  sich  dieser  Vorgang  —  zahlreiche  Referenten 
über  einen  Gegenstand,  von  denen  jeder  das  Wort  ergreift  — 
auf  dem  internationalen  Kongreß  für  Hygiene  und  Demographie 
1907  geltend  gemacht,  wo  es,  wenigstens  in  einzelnen  Sektionen, 
zur  ermüdenden  Wiederholung  derselben  Ansichten  durch 
mehrere  aufeinanderfolgende  Redner  kam..  Da  die  meisten  Redner 
sich  an  ihr  Referat  halten,  manche  auch  nicht  genügend  geübte 
Debattier  sind,  um  im  Rahmen  ihrer  Ausführungen,  auf  das 
von  den  Vorrednern  gesagte,  polemisch  einzugehen,  so  werden 
bei  solcher  Einleitung  der  Diskussion,  die  Gegensätze,  die  ein¬ 
zelnen  Streitpunkte  häufig  nicht  scharf  genug  herausgearbeitet. 
Unserer  Meinung  nach  sollten  die  für  den  Kongreß  bestimmten 
Arbeiten  schon  mehrere  Monate  vorher  allen  Teilnehmern  zu¬ 
gehen,  um  ihnen  so  ein  Studium  derselben  zu  ermöglichen; 
auf  dem  Kongresse  selbst  aber  sollten  nur  ein  bis  zwei  General¬ 
referenten  über  alle  vorliegenden  Referate  und  Arbeiten  berichten 
und  zwar  kurz  und  unter  scharfer  Hervorhebung  der  Verschieden¬ 
heit  der  Ansichten,  der  für  jede  Auffassung  vorgebrachten  Ar¬ 
gumente  und  Tatsachen.  Auf  Grund  solcher  Generalreferate 
hätte  dann  die  Debatte  geführt  zu  werden,  in  der  natürlich 
jeder,  der  ein  Referat,  oder  besser  gesagt,  einen  Beitrag  einge- 
sandt,  seinen  Standpunkt  noch  ausführlicher  begründen,  neuge¬ 
machte  Beobachtungen  ausführlich  darlegen  könnte.  Durch 
solche  Generalreferate,  wie  sie  z.  B.  auf  dem  ersten  österreichi¬ 
schen  Kinderschutzkongreß  erstattet,  oder  wie  sie  gedruckt  der 
Arbeiterschutzkonferenz  im  Haag  Vorlagen,  würde  das  Aneinander- 
vorbeireden  gemindert,  manches  geklärt  werden  und  außerdem 
würde  durch  Abkürzung  der  Einleitung  für  die  Diskussion  selbst 
mehr  Zeit  gewonnen,  und  die  eine  wissenschaftliche  Debatte  so 
schwer  schädigende  Beschränkung  der  Redezeit  zum  Teile  wenig¬ 
stens  vermieden  werden  können. 

,Zum  zweiten  Punkt  der  Tagesordnung,  der  als  erster  zur 
Verhandlung  gelangte,  lagen  einige  Referate  über  die  Mitwir¬ 
kung  der  Aerzte  bei  der  Gewerbeaufsicht  sowie  über  die 
Gewerbeaufsicht  überhaupt  vor.  Von  besonderem  Interesse  ist  ein 
Referat  Deardens  über  die  Tätigkeit  der  englischen  „Certifying 
surgeons“.  Diese  Institution  geht  bis  auf  das1  Jahr  1844  zurück 
und  war  ihr  ursprünglicher  Zweck  —  von  dem  auch  ihr  Name 
herrührt  —  Zeugnisse  über  Alter  und  Tauglichkeit  der  zur 
Fabriksarbeit  verwendeten  Kinder  auszustellen;  seit  1895  ob¬ 
liegt  ihnen  außerdem  die  Aufgabe,  Erhebungen  über  die  ihnen 
zu  meldenden  Unfälle  und  gewerblichen  Vergiftungen  anzu¬ 
stellen;  seit  1901  haben  sie  das  Recht,  die  Ausstellung  eines 
Tauglichkeitszeugnisses  an  Bedingungen  zu  knüpfen;  seit  1906 
fällt  ihnen  auch  die  Aufgabe  zu,  an  gewerblichein  Vergiftungen 
Leidenden,  das  für  Erlangung  einer  Entschädigung  nach  dem  Haft 
pflichtgesetz  notwendige  Zeugnis  auszustellen.  Auch  haben  sie 
die  Verpflichtung,  in  bestimmten  gesundheitsgefährlichen  In¬ 
dustrien  periodische  Untersuchungen  der  Arbeiter  vorzunehmen. 
Für  die  Erhebungen  bei  Unfällen  und  Vergiftungen  werden  sie 
vom  Staate,  für  alle  anderen  Verrichtungen  von  den  Beteiligten  — 
Arbeitern  oder  Unternehmern  —  nach  einer  staatlich  festgesetzten 
Taxe  bezahlt.  Das  Vereinigte  Königreich  ist  gegenwärtig  in  etwa 
2000  Distrikte  geteilt,  für  deren  jeden  vom  Zentralgewerbe¬ 
inspektor  ein  Certifying  surgeon  ernannt  wird,  der  allein 
in  seinem  Distrikte  zur  Ausübung  der  obenerwähnten  Funktionen 
und  Ausstellung  der  Zeugnisse  berechtigt  ist.  Nur  in  zirka^  200 
Distrikten  hat  diese  Tätigkeit  einen  etwas  größeren  Umfang, 
in  einer  Anzahl  der  industriereichsten  Distrikte  einen  so  großen, 
daß  der  Certifying  surgeon  keinerlei  andere  Eiligkeit  ausübt, 


in  einer  Anzahl  anderer  ist  er  zugleich  Gesundheitsbeamtei 
(Medical  officer  of  Health).  Auch  zwei  ärztliche  Gewerbeinspek¬ 
toren  hat  England. 

In  Deutschland  haben,  nach  dem  Bericht  Dr.  med.  llolz- 
manns,  des  badischen  ärztlichen  Gewerbeinspektors,  Bayern 
und  Baden  Aerzte  als  Mitglieder  der  Geworbeinspektion,  in 
Württemberg  und  Elsaß-Lothringen  ist  ein  Mitglied  des  Medi¬ 
zinalkollegiums  der  Gewerbeinspektion  im  Nebenamt  zugeteilt. 
Holland  hat  einen  „ärztlichen  Sachverständigen  der  Arbeitsinspek¬ 
tion“.  Auch  Belgien  verfügt  über  ärztliche  Gewerbeinspektoren 
(1  Chefinspektor  und  4  Inspektoren)  sowie  „medecins  agrees'  , 
deren  Aufgabe  in  mancher  Hinsicht  der  der  Certifying  surgeons 
ähnlich.  Leider  lag  über  deren  Tätigkeit  dem  Kongresse  kein 
Bericht  vor,  hingegen  haben  die  ärztlichen  Inspektoren  Btiyse 
Thiesquen  und  Vandermierden  einen  interessanten  Be¬ 
richt  über  die  sanitären  Verhältnisse  in  belgischen  Fabriken  ver¬ 
öffentlicht.  Auch  die  österreichische  Gewerbeinspektion  verfügt 
seit  kurzem  über  einen  Arzt  als  „Sanitätskonsulenten“  und  ist 
damit  ein  erster  zaghafter  Schritt  zur  Heranziehung  von  Aerzten 
zur  Gewerbeinspektion  auch  bei  uns  geschehen.  Leber  die  ge¬ 
werbehygienische  staatliche  Fürsorge  in  Oesterreich  berichtete 
in  einem  ausführlichen  Elaborat  Dr.  med.  A.  Horst,  Sanitäts- 
konzipist  im  Ministerium  für  öffentliche  Arbeiten. 

Ueber  Bedeutung  und  Wert  von  Tauglichkeitszeugnissen 
und  periodischen  “ärztlichen  Untersuchungen  berichteten  Hahn- 
München,  Gien  Park -South  Bolton.  Gien  Park  berichtet 
über  die  vom  englischen  Gesetz  vorgeschriebene  Ausstellung  von 
Tauglichkeitszeugnissen  für  jugendliche  Arbeiter  auf  Grund  seiner 
Erfahrungen  in  der  Baumwollindustrie  und  tritt  für 
Hinaufsetzung  des  Schutzalters  und  periodische  Unter¬ 
suchung  der  jugendlichen  Arbeiter  ein.  Hahn  gibt  einen 
Ueb erblick  über  die  in  verschiedenen  Ländern  geltenden 
Bestimmungen,  tritt  ebenfalls  für  Hinaufsetzung  des  Schutzaiters 
jugendlicher  Arbeiter  und  deren  periodische  ärztliche  Ueber- 
wachung  ein  und  berichtet  über  das  Resultat  von  Untersuchungen 
an  Bäcker-  und  Gärtnerlehrlingen.  Die  ersteren  zeigten  häufiger 
Abnormitäten  des  Knochensystems,  häufiger  schwerere  Herz-  und 
Lungenerkrankung,  die  letzteren  waren  schlechter  genährt.  Ver¬ 
fasser  verlangt  die  Einführung  schulärztlichen  Dienstes  an  ge¬ 
werblichen  Fortbildungsschulen. 

Ueber  die  praktische  Durchführung  dieser  von  Professor 
Hahn  für  notwendig  erklärten  Einrichtung  berichtete  Ober 
sanitätsrat  Dr.  Kriz,  Sanitätskonsulent  im  Ministerium  für  öffent¬ 
liche  Arbeiten,  in  einem  interessanten  Referate  :  Einführung  eines 
schulärztlichen  Dienstes  an  den  gewerblichen  Fortbildungsschulen 
Oesterreichs.  Im  Jahre  1910  ist  zunächst  probeweise  an  26  Wiener 
gewerblichen  Fortbildungsschulen  Wiens  (darunter  vier  Lehr¬ 
mädchenschulen)  schulärztliche  Untersuchung  und  hygienischer 
Unterricht  eingeführt  worden. 

Ueber  die  auf  Krankenkassenstatistik  sich  stützende  be¬ 
rufliche  Morbiditäts-  und  Mortalitätsstatistik  liegen  Berichte  von 
Ros  enfold -Wien,  K  au  p-  Berlin  vor;  der  erstere  erörtert  in 
interessanter  und  ausführlicher  Weise,  wie  eine  Krankenkassen¬ 
statistik  beschaffen  sein  soll  und  auf  welche  Momente  bei  ihrer 
Durchführung  und  Verwertung  Rücksicht  genommen  werden  muß. 
Kaup  weist  auf  eine  Reihe  wertvoller  Ergebnisse  derartiger 
Statistiken,  besonders  der  großen  Statistik  der  Leipziger  Orts¬ 
krankenkasse  hin  und  bespricht  den  großen  Wert  derartiger 
Untersuchungen  für  den  Gewerbehygieniker  und  für  die  Allge¬ 
meinheit.  •  *  1  l.i.L- 

Ueber  den  durch  private  Initiative  des  Unternehmers  einge¬ 
richteten  ärztlichen  Dienst  in  Fabriken  und  Bergwerken,  die  Für¬ 
sorge  für  erkrankte  Arbeiter,  liegen  eine  große  Anzahl  von  Re¬ 
feraten  über  die  Einrichtungen  in  französischen  und  belgischen 
Großbetrieben,  in  einzelnen  anderen  ausländischen  Betrieben  sowie 
auf  holländischen  und  englischen  Eisenbahnen  vor.  Die  letzteren 
bringen  manch  interessantes  über  Tauglichkeitsprüfung,  besonders 
der  Sehschärfe  und  des  Farbensinnes;  alle  zeigen  im  Grunde 
genommen  nur,  daß  selbst  als  hervorragend  angesehene  der¬ 
artige  Einrichtungen  —  über  andere  wird  doch  natürlich  nicht, 
berichtet!  —  selbst  innerhalb  ihres  beschränkten  Tätigkeits¬ 
gebietes  bei  weitem  nicht  das  leisten,  was  durch  die  obliga¬ 
torische  Krankenversicherung  in  Deutschland  und  Oesterreich 
für  die  gesamte  Arbeiterschaft  geleistet  wird. 

Die  Debatte  drehte  sich  vor  allem  um  die  Hinaufsetzung 
des  Schutzalters  kindlicher  Arbeiter  und  um  Wert  und  Notwendig¬ 
keit  von  ärztlichen  Tauglichkeitsattesten,  ohne  daß  hierüber 
weiters  Material  beigebracht  wurde.  Ich  selbst  bin  der  An¬ 
sicht,  die  auch  im  wesentlichen  von  Prof.  Hahn-Müncnen 
vertreten  wurde,  daß  nämlich  möglichste  Hinaufsetzung  des 
Schutzalters  für  Kinder  und  Jugendliche  und  deren  Ausschluß 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


aus  gesundheitsgefährlichen  Betrieben  wünschenswert  sind;  je  | 
besser  so  dafür  gesorgt  ist,  daß  im  allgemeinen  Kinder  erst  in 
einem  Alter,  in  dem  sie  zur  Arbeit  tauglich  sind,  zur  Arbeit 
herangezogen  werden,  um  so  weniger  besteht  ein  Bedürfnis,  die 
Beschäftigung  des  einzelnen  erst  von  Beibringung  eines  t'augiich- 
keitszeugnisses  abhängig  zu  machen.  Dieses  wäre  dann  nur  bei 
bestimmten,  besonders  anstrengenden  oder  gesundheitsschäd¬ 
lichen  Berufen  zu  fordern. 

Zum  Punkt  der  Tagesordnung:  Anthropologische  Unteasu- 
ch ungen  über  junge  Arbeiter  während  ihrer  Lehrzeit,  lag  außer 
den  erwähnten  Untersuchungen  Hahns  nur  noch  eine  kleine 
Skizze  von  Elias-  Rotterdam,  über  die  verlangsamte  Körper¬ 
entwicklung  jugendlicher  Typographen  vor. 

Die  Tagesordnung  des  folgenden  Tages  (11.  September)  ent¬ 
hielt  den  ursprünglich  ersten  Verhandlungsgegenstand :  Die  Trage 
der  VersieherungderBerufsk  rank  beiten  und  ihre  Gleich¬ 
stellung  mit  den  Unfällen.  Daneben  sollte  die  Trage,  ob  oder 
unter  welchen  Bedingungen  einzelne  Erkrankungen:  Lumbago, 
Hernie,  ITitzschlag,  Anthrax  als  Unfall  anzusehen,  erörtert  werden. 

Ueber  die  Versicherung  der  Berufskrankheiten  lagen  eine 
Anzahl  von  Referatenf  vor  und  wurde  eine  lebhafte  Debatte  ge¬ 
führt.  Vor  allem  sei \ hier  ein  Bericht  des  englischen  ärztlichen 
Fabriksinspektors  T.  M.  Legge  erwähnt,  der  über  die  in  der 
englischen  Workmens  Compensation- Act  19U6  durchgeführten 
Gleichstellung  der  Berufskrankheiten  mit  den  Unfällen  berichtet. 
Durch  dieses  Gesetz  sowie  durch  eine  auf  ihm  fußende  Ver¬ 
ordnung  wurde  bestimmt,  daß  die  in  eine  Liste  aufgenommenen 
Gewerbekrankheiten,  wenn  sie  in  dem  zugehörigen  Berufe  Vor¬ 
kommen,  wie  Unfälle  zu  entschädigen  sind.  Diese  Liste  wurde 
nach  eingehender  Beratung  einer  besonderen  Kommission  fest¬ 
gestellt  und  enthält  nur  solche  Erkrankungen,  die  so  eng  mit 
der  Berufstätigkeit  Zusammenhängen,  daß  in  jedem  einzelnen 
Talle  der  Beruf  als  Ursache  angesehen  werden  kann  ^spezifische 
Gewerbekrankheiten).  Als  Grundlage  für  die  Anspruchsberechti¬ 
gung  wird  ein  Zeugnis  des  „Certifying  surgeon“  angesehen,  das 
das  tatsächliche  Vorliegen  einer  solchen  Erkrankung  bestätigt. 
Gegen  dessen  Ansicht  steht  der  Rekum  an  einen  anderen  vom 
Staatssekretär  ernannten  Arzt  „medical  referee"  offen.  Die  Liste 
umfaßt  neben  einer  größeren  Anzahl  gewerblicher  Vergiftungen 
auch  Anthrax,  Chromgeschwüre,  Rotz,  Schornsteinfeger-  und 
Teerkrebs,  Glasmacherstar,  Telegraphistenkrampf,  Gewerbe¬ 
ekzeme  und  eine  Anzahl  von  Bergmannskrankheiten  “Nystagmus, 
Ankylostomiasis  und  einige  charakteristische,  wie  es  scheint  dem 
englischen  Bergbau  eigentümliche  Entzündungen  an  Hand,  Knie 
und  Elbogen).  Im  Jahre  1908  wurden  wegen  Nystagmus  und 
den  letztgenannten  chirurgischen  Bergmannskrankheiten  1249  Ent¬ 
schädigungsansprüche  gestellt,  wegen  sämtlicher  übriger  gewerb¬ 
licher  Erkrankungen  nur  348,  von  denen  278  auf  Bleivergiftung 
entfielen  —  diese  geringe  Zahl,  obwohl  jede  länger  als  eine 
Woche  dauernde  Erkrankung  zu  entschädigen  ist. 

Ich  selbst  trat  in  meinem  Referate  für  Gleichstellung  der 
spezifischen  Gewerbekrankheiten  mit  den  Unfällen  ein;  es  solle 
eine  Liste  der  gewerblichen  Erkrankungen  nach  englischem  Muster 
in  jedem  Lande  aufgestellt  und  diese  Erkrankungen  ebenso  wie 
Unfälle  entschädigt  werden.  Die  Schwierigkeit  der  Diagnosenstel¬ 
lung  macht  sich  in  erster  Linie  bei  leichten  und  rasch  vorüber¬ 
gehenden  Fällen  geltend  und  kommen  in  Ländern  mit  obligato¬ 
rischer  Krankenversicherung  gerade  diese  Fälle,  da  sie  noch 
innerhalb  der  ja  recht  langen  Karenzzeit  ausheilen,  in  Wegfall. 
Für  England,  wo  die  Entschädigung  vom  achten  Tage  an  beginnt, 
erscheint  der  getroffene  Ausweg  (die  Diagnosenstellung  durch 
bestimmte  Aerzte)  nicht  unzweckmäßig. 

Einen  im  wesentlichen  ganz  gleichen  Standpunkt  vertreten 
die  holländischen  Referenten:  Hei  j  er  mans  und  K  operberg. 

Razo us -Paris  bespricht  die  der  französischen  Kammer  vor¬ 
liegenden  Gesetzentwürfe  über  Entschädigung  der  Gewerbekrank¬ 
heiten;  auch  er  tritt  für  rechtliche  Gleichstellung  der  spezifischen 
Gewerbekrankheiten  mit  den  Unfällen  ein.  Von  der  Regierung  ist 
eine  Liste  dieser  Gewerbekrankheiten  aufzustellen;  wenn  der  Arzt 
des  Arbeiters  und  der  des  Unternehmers  sich  über  die  Diagnosen¬ 
stellung  nicht  einigen  können,  sollen  die  Entscheidung  die  — 
nach  dem  Wunsche  des  Verfassers  erst  zu  ernennenden  —  ärzt¬ 
lichen  Gewerbeinspektoren  fällen. 

Haben  sich  diese  Referenten  auf  die  „spezifischen  Gewerbe¬ 
krankheiten“  beschränkt  und  sind  für  diese  —  trotz  der  Ver¬ 
schiedenheit  der  Verhältnisse  in  ihren  Ländern  —  zu  den  gleichen 
Forderungen  gekommen,  so  kommt  Biondi- Siena  zu  einer  ab¬ 
weichenden  Anschauung;  er  fürchtet,  daß  bei  Aufstellung  einer 
Liste  entschädigungspflichtiger  Gewerbekrankheiten  doch  immer 
einzelne  weniger  gut  charakterisierte  Gewerbekrankheiten  keine 
Berücksichtigung  finden  würden;  bei  der  einzelnen  Gewerbe¬ 


krankheit  selbst,  sei  es  fraglich,  wie  weit  der  Begriff  zu  fassen 
und  die  Gefahr  vorhanden,  daß  nur  die  Fälle  mit  besonders  ekla¬ 
tanten  und  auffallenden  Symptomenkomplexen  zur  Entschädigung 
gelangen  würden.  Da  so  die  Abgrenzung  gegen  die  übrigen  Krank¬ 
heiten  etwas  konventionelles  und  willkürliches  habe,  so  sei 
ein  anderer  Ausweg  zu  suchen;  es  sei  die  allgemeine  Kranken¬ 
versicherung  einzuführen  und  die  Unternehmer  sollten  einen  dem 
Einfluß  der  Berufsschädlichkeit  in  jeder  Industrie  entsprechen¬ 
den  Teil  der  Krankenkosten  tragen.  Ich  bin  der  Meinung,  daß 
bei  Bestimmung  dieses  Beitrages  auch  manch  konventionelles 
und  willkürliches  unterlaufen  würde,  habe  aber  selbst  bereits  dar¬ 
auf  hingewiesen,  daß  der  Einfluß  des  Berufes  auf  Morbidität  und 
Mortalität,  die  in  Ländern  mit  obligatorischen  Krankenversiche¬ 
rung  eingeführten  Unternehmerbeiträge  rechtfertigt.  Der  Forde¬ 
rung  Bi  on  dis  nach  allgemeiner  obligatorischer  Krankenversi¬ 
cherung  unter  Beitragsleistung  der  Unternehmer  eben  mit  Rück¬ 
sicht  auf  die  Einwirkung  der  Berufstätigkeit  auf  den  Gesundheits¬ 
zustand  der  Arbeiter  ist  wohl  unbedingt  beizustimmen,  doch  wäre 
eben  darüber  hinaus  noch  eine  besondere  Entschädigung  spezi¬ 
fischer  Gewerbekrankheiten  notwendig  und  möglich. 

Andere  Referenten  sind  auf  die  Frage  der  Versicherung  der 
spezifischen  Gewerbekrankheiten  nicht  eingegangen,  haben 
den  Begriff  Gewerbekrankheit  in  einem  weiten  Umfang  gefaßt 
und  auf  diesem  fußend  dann  ihre  Schlußfolgerungen  gezogen. 
Van  H  as  s  ei-  Belgien  nimmt,  indem  er  die  spezifischen  Ge¬ 
werbekrankheiten  mit  wenigen  Worten  streift,  eine  ganz  weite 
und  unbestimmte  Definition  der  Gewerbekrankheiten  überhaupt 
als  richtig  an  (und  dies,,  obwohl  er  in  einem  andern  dem  Kongreß 
vorliegenden  Referate  selbst  eine  recht  gute  Definition  der  spezi¬ 
fischen  Gewerbekrankheiten  gibt  und  sich  dort  auf  diese  Definition 
stützt!)  und  folgert  weiters  ganz  logisch,  daß  man  auf  einer  so 
unbestimmten  und  vagen  Definition  kein  Gesetz  aufbauen  könne. 

Anders  Dr.  TI  an  au  er- Frankfurt.  Von  der  Tatsache  aus¬ 
gehend,  daß  durch  die  deutsche  Rechtsprechung  der  Begriff 
„Unfall“  eine  Erweiterung  erfahren  und  die  Grenze  zwischen 
„Unfall“  und  im  Betrieb  erworbener  Krankheit  nicht  immer 
leicht  zu  ziehen,  gelangt  er  zu  der  Forderung  nach  rechtlicher 
Gleichstellung  der  „Gewerbekrankheiten“  mit  den  Unfällen,  und 
dies,  obwohl  ja  sein  Begriff  „Gewerbekrankheit  ein  ganz  weiter 
und  uferloser  ist;  scheidet  er  doch  nicht  einmal  Gewerbekrank¬ 
heiten  von  im  Beruf  erworbenen  Krankheiten. 

Sprechen  alle  diese  Referenten  de  lege  ferenda,  so  hat 
eine  Reihe  anderer  de  lege  lata  gesprochen  und  die  —  wie 
fast  allgemein  zugegeben  —  nach  dem  geltenden  Gesetze  im¬ 
mögliche  Einreihung  der  Gewerbekrankheiten  unter  die  Unfälle 
(Prof.  Querton-Brüssel)  dargelegt,  oder  (M  ug d an -Berlin)  auf 
die  Möglichkeit  ihrer  Einreihung  hingewiesen  u.  zw.  auf  Grund 
der  nach  meiner  Ansicht  unhaltbaren  Anschauungen  Lew  ins. 

In  der  Diskussion,  die  sich  sehr  lebhaft  gestaltete  und  die 
zwei  Sitzungen  ausfüllte,  wurden  im  wesentlichen  nur  die  in 
den  Referaten  dargelegten  Anschauungen  vertreten. 

Für  die-  besondere  Entschädigung  der  spezifischen  Gewerbe¬ 
krankheiten  und  ihre  Gleichstellung  mit  den  Unfällen  sprach 
sich  eine  große  Anzahl  von  Rednern  aus,  so  Prof.  Hahn-München, 
Prof.  Devoto-Mailand,  Prof.  Le nnh off- Berlin,  Dr.  Ram¬ 
bo  usek- Prag,  der  mitteilte,  daß-  die  österreichischen  Indu¬ 
striellen  mit  dieser  Gleichstellung  einverstanden  seien.  Doktor 
Schwerin  wrnist  darauf  hin,  daß  die  deutschen  Anilinfabri¬ 
kanten  den  an  ßlasenkrebs  Erkrankten  freiwillig  Entschädigungen 

geben.  . 

Biondi  verficht  seinen  Standpunkt  und  wird  ciabei  von 
B  er  n  a  c  c  h  i  -  Mailand  und  Gigli  o  1  i  -  Florenz,  unterstützt,  auch 
Razous  macht  nun  einen  der  Anschauung  ßiondis  ents» re¬ 
chenden  Vorschlag. 

Der  Verlauf  der  Debatte  war  ein  solcher,  daß  der  Vor¬ 
sitzende  in  seinem  Schlußworte  betonte,  daß  die  Notwendigkeit 
der  Entschädigung  der  Berufskrankheiten  allgemein  aneixannt 
wurde;  was  die  Ausführung  dieses  Gedankens  anbelangt,  so  stünde 
das  englische  System  (Liste  spezifischer  Berufskrankheiten)  dem 
von  Biondi  und  Razous  vertretenen  (allgemeine  Krankenver¬ 
sicherung  mit  besonders  hoher  Belastung  der  Unternehmei  ge 
sundheitsgefährlicher  Betriebe)  einander  gegenüber. 

Die  Verschiedenheit  der  Ansichten  erklärt  sich  —  wie  ich  hin¬ 
zufügen  möchte —  ungezwungen  aus  dem  verschiedenen  Stande  der 
Gesetzgebung  in  den  verschiedenen  Ländern.  Allgemein  verlangt  das 
Rechtsgefühl  eine  besonders  ausreichende  Fürsorge  für  die  Opfer 
ihres  Berufes.  In  Ländern  ohne  obligatorische  Krankenversiche¬ 
rung  erscheint  das  Fehlen  einer  jeden  Fürsorge  für  infolge  der 
Berufstätigkeit  Erkrankte  als  besonders  hart.  Es  ist  nur  sehr 
wünschenswert,  daß  in  diesen  Ländern  der  Widerstand,  der 
gegen  Einführung  einer  obligatorischen  Krankenversicherung  be- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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sieht,  eben  durch  Hinweis  auf  die  Gewerbekrankheiten  und  die 
Hern f sschäd igungen  überwunden  werde  —  aus  diesem  Gesichts¬ 
punkte  können  wir  die  Anschauungen  Hi  on  dis  (und  den  Bei¬ 
tritt  Razous  zu  diesen)  vollkommen  begreifen.  Der  Rechts¬ 
theorie  aber  —  und  auch  dem  Rechtsgefühl  —  widerspricht  es, 
daß  die  Gewerbekrankheiten  nicht  in  demselben  Maße  ent¬ 
schädigt  werden  wie  die  Unfälle.  Der  Italiener  Dev  o  to  hat  dieser 
Anschauung  klaren  Ausdruck  gegeben,  indem  er  vorschlägt,  beide 
unter  dem  Ausdruck  „Schädigungen  durch  Arbeit"  zusammen¬ 
zufassen.  Nach  der  Rechtstheorie  sind  eben  die  Gewerbekrank¬ 
heiten  den  Unfällen  und  nicht  den  anderen  Krankheiten 
gleichzustellen ;  daß  dies  aber  auch  medizinisch -praktisch 
möglich,  beweist  das  von  England  gegebene  Beispiel. 

Den  dritten  Punkt  der  Tagesordnung  bildete  die  Frage  der 
Ankylostomiasis. 

Theoretisch  Neues  ist  über  dieses  Thema,  seitdem  die  Loos¬ 
sehe  Behauptung  von  der  Aufnahme  der  Ankylostomalarven  durch 
die  Haut  als  eines  wenigstens  möglichem  Aufnahmsweges  allge¬ 
meine  Anerkennung  gefunden,  wohl  kaum  mehr  zu  sagen.  Interesse 
erweckten  vor  allem  die  Angaben  Prof.  Bruns,  daß  unter  5400 
Untersuchten  durch  das  von  Loos  angegebene  Kulturverfahren 
fast  2V2mal  soviel  Wurmträger  festgestellt  werden  konnten,  als 
durch  die  gewöhnliche  Fäzesuntersuchung. 

Was  die  bisherigen  Resultate  im  Kampfe  gegen  die  Anky¬ 
lostomiasis  und  deren  gegenwärtigen  Stand  anbelangt,  so  hat 
es  in  Oesterreich  niemals  eine  nennenswerte  Anzahl  von  Wurm- 
kranken  (79  gelangten  zur  Kenntnis  der  Behörden)  gegeben;  ein 
Bericht  über  die  bei  uns  ergriffenen  Maßnahmen  von  Oberbezirks¬ 
arzt  Dr.  Wolff -Dux  liegt  vor.  In  England  konnte  nur  in  den 
Zinnbergwerken  Cornwalls  eine  allerdings  sehr  starke  Verseu¬ 
chung  festgestellt  werden  (Berichte  Boycotts  und  Olivers). 

In  Italien  (Bericht  von  Prof.  Monti- Pavia)  sind  die  Schwe¬ 
felgruben  Siziliens  stark  verseucht,  die  Bergwerke  Sardiniens 
sind  frei  von  Ankylostomiasis,  was  von  Biondi  auf  den  Salz¬ 
gehalt  ihrer  Grubenwässer  zurückgeführt  wird.  Unter  den  Ziegel¬ 
arbeitern,  den  Reisarbeitern,  sowie  überhaupt  unter  der  Land¬ 
bevölkerung  vieler  Gegenden  ist  die  Ankylostomiasis  sehr  häufig. 
Auch  der  Necator  americanus  ist  aus  Amerika  nach  Italien  ein¬ 
geschleppt  worden.  Zu  ihrer  Bekämpfung  ist  bisher  fast  nichts 
geschehen. 

Was  die  Erfolge  der  Bekämpfung  der  Ankylostomiasis  in 
den  anderen  Ländern  anbelangt,  so  kann  nur  Deutschland  auf 
einen  fast  vollen  Erfolg  hinweisen.  Hier  ist  auf  allen  Gruben  die 
Zahl  der  Wurmbehafteten  (Feststellung  mittels  Fäzesuntersuchung) 
auf  einige  wenige  Prozent  gesunken.  Recht  gute  Erfolge  Hatte  die 
Bekämpfung  auch  im  Kohlenbecken  von  Lüttich,  trotzdem  die 
Bedingungen  für  diesen  Kampf  viel  ungünstiger  waren  als  in 
Deutschland.  Denn,  wie  die  belgischen  Autoren  (Malvoz  und 
Delbastai  Ile)  selbst  anführen,  es  fehlt  —  im  Gegensatz 
zu  Deutschland  —  an  Aufklärung  der  Arbeiterschaft  — 
über  20%  sind  Analphabeten  —  an  einer  Organisation,  wie  sie 
die  deutschen  Versicherungseinrichtungen  darbieten,  an  Disziplin 
und  an  Geld.  Trotzdem  gibt  es  1909  nur  mehr  eine  kleine  Grube 
(mit  ca.  300  Arbeitern),  in  der  mehr  als  20%  der  Arbeiter  wurm- 
behaftet  sind,  während  1902  noch  fast  12.000  Arbeiter  in  so 
stark  verseuchten  Gruben  arbeiteten. 

Mit  Recht  konnte  Dr.  B  u  c  h  h  o  1  z-Berlin  den  Triumph  feiern, 
den  in  der  Ankylostomiasisbekämpfung  die  Wissenschaft  errungen 
und  konnte  gerade  die  in  Deutschland  erzielten  Erfolge  rühmend 
hervorheben. 

Den  vierten  Punkt  der  Tagesordnung  bildete  die  Hygiene 
der  Beleuchtung  und  die  beruflichen  Augenerkran¬ 
kungen.  Ueber  Hygiene  der  Beleuchtung  lagen  zum  Teil  sehr 
ausführliche  Referate  von  Broca-Paris,  Gas  t er- London,  Ter¬ 
ri  en- Paris  und  Mas a  r  eil i- Italien  vor.  Der  erstgenannte  kommt 
in  seinem  sehr  umfangreichen  Referate  zur  Fixierung  einer 
größeren  Anzahl  von  Forderungen;  er  verlangt  bei  diffuser  Be¬ 
leuchtung  mindestens  20  Lux  bei  Verrichtung  gröberer,  40  bis 
50  Lux  bei  Verrichtung  feinerer  Arbeit.  Bei  langandaueruder 
Arbeit  soll  die  Beleuchtung  eine  solche  sein,  daß  die  Details 
auf  die  der  Arbeiter  seine  Aufmerksamkeit  richten  muß,  noch  auf 
1-4  m  sichtbar  sind. 

Weiter  wollen  wir  hier  auf  diese  sehr  interessanten  Aus¬ 
führungen  nicht  eingehen,  erwähnt  sei  nui\  daß  Holland  das 
einzige  Land  ist,  daß  zahlenmäßig  die  Stärke  der  in  Gewerbe¬ 
betrieben  notwendigen  Beleuchtung  vorschreibt:  10  bis  15  Meter¬ 
kerzen,  je  nach  der  Art  der  Beschäftigung.  Bemerkenswert  ist 
auch,  daß  Massarelli  und  Terrien  übereinstimmend  be¬ 
richten,  daß  die  Quecksilberdampflampe  —  trotzdem  ihr  Licht  so 
reich  an  ultravioletten  Strahlen  —  zur  Zufriedenheit  von  Unter¬ 
nehmern  und  Arbeitern  in  einer  größeren  Anzahl  von  Fabriken 


in  Gebrauch  ist  —  unter  anderem  auch  1600  solche  Lampen  in 
der  Staatsdruckerei  zu  Washington.  Irgendwelche  Schädigungen 
der  Augen  sollen  nicht  vorgekommen  sein. 

Eine  zusammenhängende  Darstellung  über  die  Berufskrank¬ 
heiten  des  Auges  haben  Nuel  und  W  eek  er  s  -  Lüttich  gegeben, 
HankeAVien  eine  über  die  Berufskrankheiten  der  Hornhaut, 
Gal leng a- Parma  vor  allem  über  die  Einwirkung  von  Ueber- 
anstrengung  und  Staub. 

Ueber  Nystagmus  der  Bergleute  liegen  eine  Anzahl  von 
Arbeiten  vor;  Romiee  und  Thib  ert- Lüttich  führen  ihn  in 
ihren  Referaten  ausschließlich  auf  mangelhafte  Beleuchtung  zu¬ 
rück,  während  Nuel -Lüttich  betont,  daß  diese  allein  nicht  die 
Ursache  des  Nystagmus  sein  könne,  und  M  o  r  e  t  -  Charleroi  neben 
mangelhafter  Beleuchtung  auch  die  Ueberanstrengung  durch  ab¬ 
norme  Blickrichtung  als  ätiologisches  Moment  ansieht,  ln  der 
Diskussion  betonen  Roger-Houdeng,  R  u  t  ten- Lüttich,  S' fas¬ 
sen -Lüttich  den  Einfluß  der  anormalen  Haltung  der  Augen  bei 
der-  Arbeit.  Giglioli- Florenz  berichtet  über  Nystagmus  bei 
einem  Anstreicher  und  einem  Kesselschmied,  die  in  sehr  un¬ 
günstiger  Position  und  bei  sehr  schlechter  Beleuchtung  arbeiteten. 

Mir  scheint  es,  als  würde  die  große  Häufigkeit  des  Nystagmus 
bei  den  Häuern,  seine  relative  Seltenheit  bei  den  übrigen  Unter¬ 
tagarbeitern  mit  zwingender  Beweiskraft  für  die  Bedeutung  der 
abnormen  Blickrichtung  in  der  Aetiologie  des  Nystagmus  sprechen. 

Sind  die  Angaben  über  die  Häufigkeit  des  Nystagmus  sehr 
verschieden  und  schwanken  zwischen  5%  der  Belegschaft  in 
Westfalen  (Lindemann)  und  21%  in  Belgien  (Romiee  und 
Thibert)  —  wobei  es  allerdings  sehr  darauf  ankommt,  wie  groß 
unter  den  untersuchten  Bergleuten  die  Zahl  der  Häuer  —  denn  von 
diesen  sind  unter  Umständen  39%  nystagmisch  —  so  gellt  doch 
die  allgemeine  Auffassung  dahin,  daß  nur  ein  sehr  kleiner  Bruch¬ 
teil  der  Erkrankten  durch  sein  Leiden  arbeitsunfähig  wird. 

Eine  sehr  instruktive  Arbeit  von  W.  Robinson-Sunderland 
bespricht  die  Verbreitung  des  Staues  unter  den  Glasmachern  spe¬ 
ziell  unter  bestimmten  Gruppen  der  Flaschenmacher  und  legt  auch 
ausführlich  dar,  durch  welche  Eigenheiten  (vor  allem  Beginn 
am  hinteren  Linsenpol)  sich  Glasmacherstar  von  der  Cataracta 
senilis  unterscheidet.  Auch  Berichte  über  Augenerkrankungen 
bei  Hasenhaarschneidern  (Haas  und  Heim-Paris)  und  Pech- 
iairbeitem  (More t- Charleroi)  liegen  vor. 

Ueber  Arbeit  in  komprimierter  Luft,  dem  V .  Punkt  der 
Tagesordnung,  wurde  eine  Anzahl  ausführlicher  Berichte  erstattet. 
Cats  aras- Athen  gibt  eine  Darstellung  der  ganzen  Hygiene  der 
Druckluftarbeit;  seine  reichen  Erfahrungen  hat  er  an  Tauchern, 
den  griechischen  Schwammfischern,  gesammelt;  eine  große  Be¬ 
deutung  für  die  Entstehung  krankhafter  Erscheinungen  mißt  er 
der  Ermüdung  und  Erschöpfung  am  Ende  der  Tauchsaison  bei; 
W  aller- Amsterdam,  berichtet  über  die  niederländischen  Vor¬ 
schriften,  die  «auf  den  Arbeiten  von  Heller,  Mager  und 
Schrott  er  fußen  und  über  seine  Erfahrungen  beim  Bau  hollän¬ 
discher  Eisenbahnen.  Als  die  zweimal  in  24  Stunden  geleistete 
Vierstundenschicht  durch  eine  einmalige  Achtstundenschicht  er¬ 
setzt  wurde,  hat  sich  die  Zahl  der  Erkrankungen  mehr  als  ver¬ 
doppelt.  Lan  gloi  s- Paris  bespricht  die  —  nach  meiner 
Meinung  —  ungenügende  französische  Verordnung.  Schrott  er 
Wien  empfiehlt  den  Gebrauch  von  Sauerstoff  in  Prophylaxe  und 
Therapie.  Born  stein -Hamburg,  der  beim  Bau  des  Elbetunnels 
reiche  Erfahrungen  gemacht,  hält  die  Sauerstoffeinatmung  für 
nützlich,  besonders  aber  leichte  körperliche  Arbeit  während  der 
Dekompression. 

Dam a nt,  der  Taucherinspektor  der  englischen  Kriegs¬ 
marine,  berichtet  über  die  guten  Erfolge  der  stufenweisen  Der 
kompression.  Bei  dieser  erfolgt  die  Ausschleusung  nicht  gleich¬ 
mäßig  langsam,  sondern  man  geht  rasch  auf  die  Hälfte  des  ur¬ 
sprünglichen  Druckes;  unter  diesem  bleibt  dann  der  Arbeiter  so 
lange,  bis  man  annehmen  kann,  daß  der  Sättigungsgrad  seines 
Körpers  mit  Stickstoff  diesem  Drucke  entspricht,  dann  wird  der 
Druck  wieder  um  die  Hälfte  vermindert  usw.  In  der  Debatte, 
die  kaum  neue  Gesichtspunkte  oder  Tatsachen  brachte,  wurde 
die  Notwendigkeit  des  Vorhandenseins  einer  Rekompressions- 
schleuse  bei  mehr  als  anderthalb  Atmosphären  Ueberdruck  und 
die  Notwendigkeit  einer  permanenten  Ueberwachung  durch  un¬ 
abhängige  Aerzte  betont. 

Eine  große  Anzahl  von  Referaten  beschäftigte  sich  mit 
den  gewerblichen  Vergiftungen  (VI.  Punkt  der  lages- 
ordnung).  Auf  die  zahlreichen  und  zum  Teil  sehr  ausführlichen 
Arbeiten  hier  einzugehen,  ist  wohl  unmöglich,  nur  einzelnes  sei 
hervorgehoben. 

Der  englische  ärztliche  Fabriksinspektor  I  .  M.  Legge  be¬ 
richtet  über  die  Ergebnisse  der  Anzeigepflicht.  Aus  der  Vertei¬ 
lung  der  Formen  der  Bleivergiftung  auf  die  einzelnen  Industrie- 


70 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


zweige,  zieht  er  den  Schluß,  daß  Staub  von  leicht  resorbier¬ 
baren  Bleiverhind ungen  zu  rascher'- Erkrankung  führe  und  mehr 
Koliken  und  Enzephalopathien  als  Lähmungen  erzeuge,  während 
Bleistaub,  Bleidämpfe  und  langdauernde  Einatmung  ganz  kleiner 
Mengen  von  Bleiverbindungen  viel  langsamer  zur  Erkrankung  und 
zwar  zu  Lähmung,  Arteriosklerose  und  Nephritis  führe.  Von  großem 
Interesse  sind  zwei  Arbeiten,  die  sich  mit  der  Frühdiagnose  der 
Bleivergiftung  beschäftigen:  Prof.  Sternberg -Wien  und  King- 
A 1  c  o  ck  -  London  betonen  beide  die  Wichtigkeit  des  charakteristi¬ 
schen  Gesamtaussehens  der  Bleikranken,  ihres  Gesichtsausdruckes, 
der  eigenartigen  Bleiblässe  für  die  Diagnosestellung ;  auch  der 
französische  Berichterstatter  M ei  11  Öre  betont  die  Wichtigkeit 
gerade  dieser  Momente  und  auch  ich  schloß  mich  in  der  Diskus¬ 
sion  dieser  Anschauung  an. 

Außerdem  spricht  Stern  b  erg  über  Hämatoporphyrinurie, 
alimentäre  Glykosurie,  Ausscheidung  von  Blei  durch  Harn  und 
Stuhl.  King-Alcock  weist  daraufhin,  wie  ernst  die  nervösen 
Symptome,  auch  schon  der*  Kopfschmerz,  genommen,  werden 
müssen.  Bemerkenswert  ist,  daß  alle  Autoren,  mit  Ausnahme 
von  Agasse-Lafont  und  Heim,  die  ein  gemeinsames  Referat 
erstatteten  und  Ruelens  die  basophilen  Granula  in  ihrer  diagno¬ 
stischen  Bedeutung  nicht  allzu  hoch  anschlagen  und  vor  allem 
auf  ihr  häufiges  Fehlen  auch  bei  sichergestellter  Bleivergiftung. 

In  der  Diskussion  berichtete  B  i  o  n  d  i  über  Versuche  zur 
Feststellung  der  Giftigkeit  des  Bleisulfids.  Die  Versuchstiere 
schieden  Blei  im  Urin  aus  und  erkrankten  an  Bleivergiftung. 

Ich  führte,  nachdem  ich  mich  in  bezug  auf  Diagnosenstellung 
den  Ausführungen  Sternbergs  und  King-Alcock  ange¬ 
schlossen  hatte,  weiter  aus,  daß  im  medizinischen  Unterricht 
den  gewerblichen  Erkrankungen  mehr  Bedeutung  beigemessen 
werden  sollte.  Auch  exakte  klinische  Arbeiten  wären  dringend 
notwendig.  Die  Literatur  über  Bleivergiftung  sei  leider  oft  un¬ 
verläßlich  und  falsche  Angaben  pflanzen  sich  durch  Generationen 
von  Lehr-  und  Handbüchern  fort. 

Dr.  Van  E m b den- Holland  brachte  sehr  interessante  Ta¬ 
bellen  über  die  Häufigkeit  der  Hämatoporphyrinurie  bei  ßlei- 
arbeitern. 

Interessantes  und  Neues  brachten  mehrere  Arbeiten  über 
andere  gewerbliche  Vergiftungen. 

Dr.  C  u  r  s  c  h m  a  n  n,  Fabriksarzt  der  Grepp inw erke,  be¬ 
richtet  in  einer  umfangreichen  Arbeit  über  die  Vergiftungen  bei 
der  Anilinfahrikation.  Wir  können  hier  nur  auf  einzelne  Details 
hinweisen.  Benzol  macht  neben  den  akuten  auch  chronische  Er¬ 
krankungen  ähnlich  dem  Morbus  Werlhofii  und  veranlaßt  bei 
jugendlichen  weiblichen  Personen  profuse  Menstruationsblutungen. 
Die  Nitro-  und  Amidoderivate  des  Benzols  spielen  toxikologisch 
die  größte  Rolle;  Alkoholgenuß  selbst  nach  Aufnahme  des 
Giftes,  bringt  oft  die  Vergiftungserscheinungen  zum  Ausbruch. 
Blasentumoren  und  Hauterkrankungen  werden  bei  Anilinarbeitern 
relativ  häufig  gefunden. 

Prophylaktisch  wird  unter  anderem  ein  Verbot  des  Alkohol¬ 
konsums  und  toxikologische  Prüfung  der  Präparate  vor  ihrer 
fabriksmäßigen  Herstellung  gefordert. 

Prosser  White  und  Seilers  berichten  einen  Fall 
von  gewerblicher  Anilinvergiftung  und  ihre  Versuche  über  die 
Aufnahme  von  Anilin  durch  die  Haut;  im  Gegensatz  zu  den  meisten 
anderen  Autoren  messen  sie  der  Aufnahme  durch  die  Haut  nur 
geringe  Bedeutung  bei. 

Rambo us ek-Prag  berichtet  über  34  der  Literatur  ent¬ 
nommene  Fälle  von  Benzolvergiftung  und  von  ihm  vorgenommene 
Tierversuche. 

Ueber  chronische  Schwefelkohlenstoffvergiftung  berichteten 
C  ons  tens  oux  und  Heim -Paris;  trotz  erheblicher  hygienischer 
Verbesserungen  in  der  von  ihnen  studierten  Fabrik  zeigten  doch 
57%  der  dort,  beschäftigten  Arbeiter  polyneuritische,  21°/o  genitale, 
43°/o  Gehirnerscheinungen.  Heim  und  Haas  berichten  über 
Amblyopie  bei  Schwefelkohlenstoffvergiftung.  Glaister  be¬ 
richtet  über  Vergiftungen  mit  Arsenwasserstoff :  zwei  Arbeiter 
hatten  einen  Kessel  zu  reinigen,  in  dem  sich  Schlamm  befand, 
der  Salzsäure  und  Arsensäure  enthielt;  da  sie  sich  hiebei 
eines  verzinkten  Kübels  und  eiserner  Schaufeln  bedienten,  ent¬ 
wickelte  sich  Arsenwasserstoff;  einer  der  Arbeiter  starb.  Der 
Verfasser  bespricht  dann  die  Vergiftungen  durch  Ferrosilizium, 
das  in  der  Feuchtigkeit  Arsenwasserstoff  und  Phosphorwasserstoff 
abgibt;  der  größte  Teil  der  Vergiftungen  kam  dadurch  zustande, 
daß  aus  den  Laderäumen  von  Schiffen,  die  Ferrosilizium  geladen 
hatten,  die  Gase  in  Passagierkajüten  eindrangen  und  die  Passagiere 
töteten. 

Ich  gab  ein  kurzes  Resümee  meiner  Erhebungen  über 
die  Quecksilbervergiftung  in  Oesterreich  und  sprach  dann 
einige  Worte  über  die  Notwendigkeit  des  Weißphosphorverbotes. 


Von  den  Mitteilungen,  die  in  der  letzten  Sitzung  des  Kon¬ 
gresses  gemacht  wurden,  seien  die  Ausführungen  Garozzis- Mai¬ 
land  über  die  Verhältnisse  in  der  Seidenindustrie  erwähnt,  ferner 
desselben  Autors  Untersuchungen  über  den  Inhalationsmilzbrand, 
die  ihn  zu  der  Ansicht  führten,  daß  dieser  nicht  durch  direkte 
Inhalation,  sondern  durch  Allgemeininfektion  von  Trachea  oder 
Verdauungstrakt  aus  zustande  komme. 

Eine  eigenartige  gutartig  verlaufende  entzündliche  Schwel¬ 
lung  einzelner  Finger  beobachtete  De  Mar  h  aix-  Antwerpen  bei 
mit  der  Erzeugung  von  Beinknöpfen  beschäftigten  Arbeitern. 

T  er n  i  -Mailand  will  dieselbe  Erkrankung  bei  der  Holzknopferzeu¬ 
gung  beobachtet  haben. 

Zwei  Arbeiten,  die  eigentlich  zu  diesem  Punkte  der  Tages¬ 
ordnung  gehören,  aber  in  einen  früheren  eingereiht  worden  waren, 
seien  hier  noch  erwähnt.  Dr.  med.  A.  Peyser- Berlin  sprach 
über  gewerbliche  Erkrankungen  des  Gehörs.  Die  Taubheit  der  j 
Kesselschmiede  wird  nach  ihm  weniger  durch  den  auf  dem 
Luftleitungswege  ans  Ohr  dringenden  Lärm  verursacht,  als  durch 
die  Fortpflanzung  der  Erschütterung  durch  den  Boden  (Kessel¬ 
wand)  auf  den  Körper  und  damit  auch  auf  das  Gehörorgan. 

Petr  of -Sofia  berichtet  über  Milzbrandinfektionen,  die 
durch  das  Tragen  von  Sandalen  aus  der  ungegerbten  Haut  milz¬ 
brandgefallener  Binder  entstehen.  Er  beschreibt  zwölf  auf  eine 
solche  Haut  zurückzuführende  Erkrankungen  (sechs  Karbunkeln, 
fünf  Pneumonien,  ein  Oedem). 

Während  der  Tagung,  des  Kongresses  selbst  hatten  m  dem 
„Aerztehaus“  an  zwei  Abenden  vom  Kongreß  veranstaltete  Vor¬ 
träge  stattgefunden.  Am  11.  September,  an  dem  auch  ein  bel¬ 
gischer  Kongreß  für  Unfallheilkunde  tagte,  sprach  Dr.  Jerusa¬ 
lem-Wien  über  typische  Verletzungen  der  Industriearbeiter.  Er 
zeigte  mittels  Skioptikon  eine  große  Anzahl  von  Photo¬ 
grammen  und  Röntgenaufnahmen  von  solchen  Verletzungen  und 
führte  auch  stets  die  Maschine,  die  die  Verletzung  veranlaßt,  im 
Bilde  vor. 

Am  13.  September  schilderte  unter  Vorführung  zahlreicher 
Bilder  Prof.  Devot o  die  Einrichtung  der  von  ihm  geleiteten 
Klinik  für  Berufskrankheiten  in  Mailand,  auf  die  wir  noch  später, 
zu  sprechen  kommen  werden. 

Dr.  H.  v.  Sehr  öfter- Wien  zeigte  mit  Skioptikon  eine  An¬ 
zahl  mikroskopischer  Präparate,  Rückenmarkschnitte  mit  Ver¬ 
änderungen  infolge  Caissonkrankheit. 

Prof.  Hahn -München  demonstrierte  seine  Apparate  zur 
Gasanalyse. 

Eine  Sitzung  der  permanenten  internationalen  Kommission 
zum  Studium  der  Gewerbekrankheiten  hatte  während  der  Tagung 
des  Kongresses  stattgefunden  und  war  entsprechend  einer  bereits 
im  Frühjahr  1910  von  mir  gegebenen  Anregung  beschlossen 
worden,  den  nächsten  Kongreß  1914  in  Wien  abzuhalten. 

In  der  am  14.  September  nachmittags  abgehaltenen  Schlu߬ 
sitzung  gab  der  Präsident  Moeller  einen  kurzen  Ueberblick  über 
die  Arbeiten  des  Kongresses  und  deren  Ergebnisse  und  gelangt 
dabei  zu  folgenden  Forderungen:  Obligatorischer  Unter¬ 
richt  an  den  medizinischen  Fakultäten  über  Patho¬ 
logie  der  Arbeit  und  Gew  erbe  krankh  eiten  und  obli¬ 
gatorischer  Unterricht  über  Gewerbehygiene  an  den 
technischen  Hochschulen.  Aerztliche  Ueber  wa  c  h- 
ung  aller  g es u n d h e i t s g e f äh r  1  i eh en  Gewerbebetriebe 
und  ihrer  Arbeiter.  Aerztliche  Ueberwachung  kind¬ 
licher,  jugendlicher  und  weiblicher  Arbeiter.  Anzei¬ 
gepflicht  für  die  wichtigsten  Gewerbekrankheiten 
und  Entschädigung  der  an  ihnen  Erkrankten. 

Senator  De  Chris  tof  o r i s - Mailalhd  teilte)  als  Präsident  der 
permanenten  Kommission  mit,  daß  der  nächste  Kongreß  1914  in 
Wien  stattfinden  wird. 

Obersanitätsrat  v.  Britto -Wien  dankte  den  Organisatoren 
des  Brüsseler  Kongresses  und  versichert  die  Kongreßteilnehmer 
eines  herzlichen  Empfanges  in  Wien. 

Ich  dankte  für  die  Wähl  Wiens  zum  Orte  des  nächsten 
Kongresses  und  legte  die  vorläufige  Tagesordnung  dieses  Kon¬ 
gresses  vor:  Ermüdung,  Elektrizität,  Arbeit  in  heißer  und 
feuchter  Luft,  gewerbliche  Erkrankungen  des  Ohres,  Pneumono- 
koniosep,  Milzbrand,  gewerbliche  Vergiftungen. 

* 

Am  15.  September  fand  eine  Exkursion  der  Kongreßteilneh¬ 
mer  nach  Willebroeck  und  Antwerpen  statt.  In  Willebroeck  wurden 
die  Einrichtungen  der  großen  Papier-  und  Maschinenfabrik  de 
Naeyer  besichtigt.  Wir  sahen  ein  großes  Haus,  das  als  Krippe 
und  Kinderbewahranstalt  für  350  Kinder  der  Fabriksarbeiter 
dient,  wir  sahen  eine  Unzahl  Wiegen  mit  blendend  sauberen 
Deckchon  und  Vorhängen,  eine  Menge  kleiner  Kinderstühlchen, 

V 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Schulbänke,  eine  Küche,  in  der  Milch  und  andere  Speisen  für 
diese  Kinder  zubereitet,  werden  können,  alles  sehr  hübsch  und 
sauber  —  aber  wir  sahen  nirgends  auch  nur  ein  einziges  Kind. 
Auf  die  Frage  nach  den  Kindern  erhielt  ich  zur  Antwort,  sic 
seien  auf  Ferien,  einmal  im  Jahre  müsse  ja  doch  gründlich 
gesäubert  werden. 

Auch  durch  einen  Teil  der  großen  Papierfabrik  wurden 
wir  dann  geführt  u.  zw.  durch  jenen  Saal,  in  dem  das  zur 
Papiererzeugung  dienende  Holz  maschinell  zerkleinert  wird. 

An  rasch  rotierende,  mit  Messern  versehene  Scheiben  wird 
das  Holz  angedrückt  und  so  die  äußerste,  stark  beschmutzte 
Schicht  entfernt;  ein  automatisch  bewegtes,  meißelartiges  Instru¬ 
ment  spaltet  die  größten  Klötze;  in  gut  umschlossenen  Maschinen 
werden  die  Scheite  schnell  zu  kleinen  Holzschnitzeln  zerkleinert, 
diese  dann  automatisch  nach  Größe  sortiert.  Wie  diese  dann 
weiter  durch  Sulfitlauge  zu  Holzzellstoff,  zu  Papiermasse,  umge-. 
wandelt  werden  bekamen  wir  nicht  zu  sehen,  hingegen  dann  wieder 
den  letzten  Abschnitt  der  Papiererzeugung. 

Am  nächsten  Tage  begannen  Besichtigungen  belgischer  Fa¬ 
briken,  die  —  unter  Führung  von  Gewerbeinspektoren  —  von  der 
Kongreßleitung  arrangiert  wurden.  Ich  konnte  an  denselben  nicht 
teilnehmen,  denn  schon  lange,  ehe  die  Kongreßleitung  von  ihren 
diesbezüglichen  Plänen  Mitteilung  gemacht  hatte  —  was  erst 
einige  Wochen  vor  Eröffnung  des  Kongresses  geschehen  war 
hatte  ich  mich  durch  Vermittlung  liebenswürdiger  Freunde  an 
eine  Anzahl  großer  Firmen  in  Holland  und  Rheinland- Westfalen 
gewandt  und  um  die  Erlaubnis,  ihre  Betriebe  besichtigen  zu 
dürfen,  angesucht,  um  so  die  Zeit  zwischen  dem  Brüsseler  Kon¬ 
greß  und  der  Versammlung  in  Lugano  möglichst  nutzbringend  aus¬ 
zufüllen.  Allen,  die  mich  bei  diesem  meinem  Bestreben  in  liebens¬ 
würdiger  Weise  unterstützten,  denen,  die  mir  die  Erlaubnis  zur 
Besichtigung  erwirkten,  denen,  die  sie  erteilten  und  denen,  die 
mir  bei  den  Besichtigungen  als  Führer  dienten,  sei  hier  mein 
herzlichster  Dank  ausgesprochen. 

Am  nächsten  Tage  besuchte  ich  in  Gesellschaft  zweier 
deutscher  Herren  die  große  Bleihütte  und  Entsilberungsanstalt 
in  Hoboken  bei  Antwerpen,  einen  Riesenbetrieb,  der  ca.  1100 
Arbeiter  beschäftigt.  Die  sanitären  und  die  technisch -hygienischen 
Einrichtungen  dieses  Betriebes  zu  schildern,  würde  wohl  zu  weit 
führen.  Daß  ein  Teil  der  gefährlichsten  Verrichtungen  maschinell 
geschieht,  daß  infolge  zweckmäßiger  Vorkehrungen  die  Hoch¬ 
ofengicht  rauchfrei  ist,  daß  die  Ofenarbeiter  täglich  u.  zw.  während 
der  Arbeitsschicht,  andere  Gruppen  von  Arbeitern  zweimal 
wöchentlich  baden  müssen,  daß  die  Arbeiter  von  der  Fabrik  Milch 
und  Kaffee  unentgeltlich  erhalten,  hingegen  das  Schnapsverbot 
aufs  strengste  durchgeführt  wird,  sei  hier  nur  kurz  erwähnt. 

Der  folgende  Tag  war  der  Besichtigung  Brüssels  und  der 
Weltausstellung,  von  der  ich  erst  recht  wenig  gesehen  hatte, 
gewidmet.  Von  der  letzteren,  einem  gewaltigen  Jahrmarkt,  impo¬ 
nierend  durch  das  rege  Leben,  das  ständig  in  ihr  herrschte,  die 
Tausende  von  Menschen,  die  an  allen  halbwegs  schönen  Tagen 
und  Abenden  sich  auf  ihrem  weiten  Baume  versammelten,  schien 
mir  am  interessantesten  die  Heimarbeiterausstellung,  die  in 
einem  ein  wenig  abseits  gelegenen  Teile  des  Aussfcellungsplatzes 
untergebracht,  nicht  nur  Produkte  der  Heimarbeit  mit  Angabe  der 
darauf  verwandten  Arbeitszeit  und  des  erzielten  Lohnes  vor¬ 
führte,  sondern  uns  Typen  belgischer  Heimarbeiter  und  belgischer 
Heimarbeiterverhältnisse  zeigte.  In  einer  kleinen,  den  tatsächlich 
bestehenden  derartigen  Behausungen  nachgebildeten  Hütte,  sah 
man  eine  Hasenhäarschneiderin  hei  ihrer  gesundheitsgefährlichen 
Arbeit  an  den  mit  Quecksilberbeize  imprägnierten  Fellstückchen, 
eine  andere  Hütte  zeigte  einen  Nagelschmied,  ein  weiterer  kleiner 
Raum  ehre  Jutespinnerin  und  so  wurden  noch  mehrere  andere 
Zweige  belgischer  Heimarbeit  vorgeführt. 

In  diesen  Tagen  (15.  und  16.  September)  fand  auch  der 
I.  internationale  He  im  arb eiterkongr  eß  in  Brüssel  statt,  der  — 
erst  sehr  spät  einberufen  — •  nur  wenig  Teilnehmer  zählte,  dessen 
Schriften  aber  neben  Ausführungen  über  Fragen  allgemeiner  Be¬ 
deutung  auch  eine  Anzahl  interessanter  Monographien  über  ver¬ 
schiedene  Zweige  belgischer  Heimarbeit  enthalten.  Leider  machten 
mir  die  Ausflüge  nach  Willbroek  und  Hoboken  die  Teilnahme 
an  den  Verhandlungen,  sowie  an  der  Exkursion,  die  nach  einem 
der  Hauptsitze  belgischer  Heimarbeit  veranstaltet  wurde,  un¬ 
möglich,  doch  konnte  ich  wenigstens  an  dem  Besuch  des  „Institut 
'de  Sociologies  teilnehmen.  In  diesem  Institut  wird  alles,  was 
auf  dem  ganzen  Gebiete  der  Sozialwissenschaften  erscheint,  ge¬ 
sammelt  und  sorgfältig  katalogisiert.  Der  Gelehrte,  der  hieher 
kommt,  um  zu  arbeiten,  findet  hier  alle  Unterstützung,  die  eine 
wohlgeordnete  Bibliothek  bieten  kann,  er  findet,  nach  Sohlag- 
w  orten  geordnet,  nicht  nur  alle  Bücher  verzeichnet,  die  für 
seine  Arbeiten  von  Interesse  sein  können,  sondern  auch  alle  über 


das  betreffende  Thema  erschienenen  Aufsätze  und  Artikel  ans 
Zeitschriften.  Auch  auf  Anfragen  auswärtiger  Gelehrter  wird  be¬ 
reitwilligst  Auskunft  erteilt. 

Am  19.  September  morgens  verlief’"  n  wir  Brüssel  und  fuhren 
zunächst  nach  Maastricht,  einer  holländischen,  nahe  der  belgischen 
und  der  deutschen  Grenze  gelegenen  Stadt,  deren  keramische 
Fabriken  ich  besichtigen  wollte.  Am  Bahnhof  erwartete  uns 
Dt.  van  Eijk,  ein  Chemiker,  der  —  obwohl  nicht  Staatsbeamter 
—  von  der  holländischen  Regierung  beauftragt  worden  war, 
Untersuchungen  über  bleifreie  Glasur  anzustellen  und  den  Fabri¬ 
kanten  bei  Versuchen  mit  bleifreier  Glasur  behilflich  zu  sein.  :  r 
führte  mich  nicht  nur  in  liebenswürdigster  Weise  in  zwei  grofii 
Fabriken,  sondern  das  anregende  Gespräch  mit  dem  alle  Detail 
fragen  beherrschenden,  theoretisch  gebildeten  und  praktisch  er¬ 
fahrenen  Manne,  machte  diesen  Tag  für  mich  zu  einem  der 
interessantesten  der  ganzen  Reise. 

Jede  der  beiden  Fabriken,  die  ich  zu  sehen  Gelegenheit  hatte 
und  von  denen  die  eine  ca.  1200,  die  andere  ca.  3500  Arbeiter 
davon  aber  nur  je  zirka  zwei  Drittel  bei  der  Fließen-,  respek¬ 
tive  Steingutfabrikation  —  beschäftigt,  arbeitet  zum  Teile  mit 
bleifreier  Glasur,  die  sie  in  zunehmendem  Maße  verwenden. 
Das  Auf  spritzen  bleihaltiger  Glasur  auf  Fließen  erfolgt  maschinell 
und  automatisch.  Auch  sonst  sind  bei  den  verschiedenen  staub- 
oder  bleigefährlichen  Verrichtungen  entsprechende  Schutzvorrich¬ 
tungen  angebracht.  Die  eine  der  Fabriken  arbeitet  mit  Bleiglasur¬ 
massen,  die  da  sie  an  0-25%  Salzsäure  (Magensäure)  höchstens 
20,o  ihres  Gewichtes  an  Bleioxyd  abgeben  (Thorpesche  Regel) 
als  weniger  gefährlich  anzusehen  sind  und  darf  deshalb  Ar¬ 
beiterinnen  beschäftigen,  während  bei  dieser  Bedingung  nicht 
entsprechenden  Glasurmassen  die  niederländische  Verordnung 
Frauenarbeit  untersagt.  Die  hei  Bleiarbeit  Beschäftigten  müssen 
alle  drei  Monate  von  einem  Arzte  untersucht  werden.  Ein  glück¬ 
licher  Zufall  machte  es  mir  möglich,  bei  einer  solchen  Unter¬ 
suchung  anwesend  zu  sein.  Das  Untersuchungsforrnular  ist  recht 
ausführlich.  Was  aber  das  Bedeutungsvollste  an  dieser  Einrichtung 
und  wodurch  sie  sich  auf  das  vorteilhafteste  von  allen  ähn¬ 
lichen  Einrichtungen  anderer  Länder  unterscheidet:  ein  von  der 
Regierung  angestellter  und  von  ihr  bezahlter  Arzt  nimmt  diese 
Untersuchungen  vor  und  wird  hiezu  —  damit  vollste  Unabhängig¬ 
keit  des  Arztes  verbürgt  ist  —  stets  nur  ein  solcher  Arzt  an 
gestellt,  der  im  Orte  keine  Privatpraxis,  allenfalls  höch¬ 
stens  K  ons  i  1  iarp  raxis  treibt;  also  ein  Militärarzt,  oder  der 
Primarius  des  Spitals.  Ist  in  einem  Orte  ein  solcher  nicht 
Privatpraxis  treibender  Arzt  nicht  vorhanden,  dann  wird  der 
Arzt,  eines  ziemlich  entfernt  gelegenen  Ortes  mit  der  Untersuchung 
beauftragt.  Schon  aus  dieser  Vorsicht  bei  der  Auswahl  des 
überwachenden  Arztes  mag  man  ersehen,  wie  ernst  es  der  hollän¬ 
dischen  Gewerbeaufsicht  mit  der  Durchführung  der  Arbeiterschutz- 
hestimmungen  ist  und  ebenso  trat  in  den  Fabriken  überall  die 
Wirkung  ziel  bewußter  und  ernst  arbeitender  Gewerbeaufsicht  zu¬ 
tage.  Das  günstige  Vorurteil,  daß  diejenigen  Herren,  die  die 
holländische  Gewerbeaufsicht  auf  den  internationalen  Kongressen 
zu  vertreten  pflegen,  das  insbesondere  de  Voojs  durch  sein 
Auftreten  hervorzurufen  verstand,  fand  hier  seine  volle  Be¬ 
stätigung.  i 

Erwähnt  sei  hier,  daß  diejenigen  Erzeugnisse  keramischer 
Industrie,  die  infolge  des  hohen  Bleigehaltes  der  Glasuren  die 
gefährlichsten  und  bei  uns  die  Quelle  zahlreicher  Vergiftungen 
sind,  in  Holland  kaum  eine-  Rolle  spielen.  Ordinäres  Ibpfergeschirr 
wird  nur  wenig  erzeugt  und  wo  es  fabriziert  wird,  wird  dazu  meist 
der  nur  sehr  wenig  giftige  Bleiglanz  verwendet;  Ofenkacheln 
werden  in  Holland  —  das  kaum  mehr  Kachelöfen  kennt  —  fast 
nicht  mehr  erzeugt.  Sehr  bedeutend  hingegen  ist  die  Erzeugung 
von  Steingut  und  von  Wandfließen  und  geht  in  großen  Fabriks¬ 
betrieben  vor  sich. 

In  endloser  Fahrt,  mit  mehrmaligem1  Umsteigen,  legten  wir 
die  kurze  Entfernung  Maastricht  -Duisburg  zurück.  In  letzterer 
■Stadt  kamen  wir  um  12  Uhr  nachts  an',  um  6  Uhr  früh  sollte 
ich  in  einer  Zinkhütte  heim  „Manöver",  dem  Herauslassen  des 
frisch  gewonnenen,  flüssigen  Zinkes,  anwesend  sein.  Ich  hatte 
mir  Duisburg  vorgestellt  —  wie  man  es  sich  eben  in  Vien  voi 
stellt.  —  als  eine  mittelgroße  Stadt  mit  viel  Industrie,  daß  dort 
so  weite  Entfernungen  zurückzulegen  sind,  das  hatte  ich  nie Iri 
erwartet  —  und  so  kam  ich,  trotzdem  ich  mich  um  J46  1  hr  auf 
den  Weg  machte,  erst  lange  nach  der  festgesetzten  Zeit  bei  der 
Zinkhütte  an,  die  zu  den  allerbest  eingerichteten  Deutschlands  ge¬ 
hören ’soll  und  die  bemüht  ist,  die  bereits  bestehenden  sanitären 
Einrichtungen  —  vor  allem  handelt  es  sich  um  Abzug  der  Metall¬ 
dämpfe  —  -  immer  mehr  zu  verbessern.  Aber  nicht  nur  an  r ä i im 
1  idler  Ausdehnung  hatte  ich  Duisburg,  das  mit  den  Aachbrn- 
orten  Ruhrort  und  Meiderich  zu  einer  Stadtgemeinde  vereinigt 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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ist,  unterschätzt,  auch  die  Größe  der  von  mir  zu  besichtigen¬ 
den  Industrieunternehmungen  und  die  demnach  zu  ihrer  Besich¬ 
tigung  notwendigen  Zeit,  hatter  ich  zu  gering  veranschlagt;  wo  ich 
einige  hundert  Arbeiter  beschäftigt  dachte,  waren  es  einige  Tausend. 
Das  eine  Hochofenwerk,  das  ich  sah,  beschäftigt  gegen 
5000  Arbeiter.  Wodurch  es  sich  von  den  Witkowitzer  Werken 
vor  allem  unterscheidet,  ist  die  größere  Geräumigkeit  der  ganzen 
Anlage  und  die  weitergehende  Verwendung  mechanischer  Kraft 
zu  Transportzwecken  —  beides  Momente,  die  die  Unfallsgefahr 
herabzusetzen  geeignet  sind.  Noch  günstigere  Verhältnisse  nach 
diesen  Richtungen  hin  sah  ich  in  einem  zweiten  Werke,  das 
neben  12.000  Grubenarbeitern  ca.  6000  Hochofen-  und  Hütten¬ 
arbeiter  beschäftigt.  Hier  interessierten  mich  besonders  die  Neben¬ 
betriebe,  die  Brikettfabrik,  die  Benzolgewinnung  und  vor  allem 
die  Thomasschlackenmühle.  Die  Thomasschlacke,  ein  phosphor¬ 
säurereiches  Nebenprodukt  der  Flußeisengewinnung,  ist  ein  wert¬ 
volles  Düngemittel,  muß  aber,  um  als  solches  dienen  zu  können, 
aufs  feinste  vermahlen  werden.  Die  feingemahlene,  staubförmige 
Thomasschlacke  übt  eingeatmet  einen  derartigen  Einfluß  auf  die 
Lunge  aus,  daß  es  häufig  zur  Entstehung  von  Lungenentzündung 
bei  den  mit  Zerkleinern  und  Mahlen  der  Thomasschlacke  beschäf¬ 
tigten  Arbeitern  kommt.  In  dem  von  uns  besichtigten  Betriebe 
findet  deshalb  der  ganze  Mahlprozeß  in  staubdicht  ummantelten 
Maschinen  statt  und  die  gemahlene  Schlacke  fließt  durch  ein 
Rohr  in  den  diesem  vorgebundenen  Sack,  hinter  dem  noch  als 
weitere  Schutzmaßregel  eine  Staubabsaugung  angebracht  ist. 

Am  Hittag  des  zweiten  Tages  fuhren  wir  von  Duisburg 
über  Köln-  Mühlheim  nach  Leverkusen,  wohin  die  bekannte  Firma 
Fried r.  Bayer  &  Comp,  einen  großen  Teil  ihrer  Fabrikation 
verlegt  hat.  Neben  der  weiträumigen  Anlage  des  ganzen  Werkes 
ist  hier  imponierend  die  Fülle  sozialer  Fürsorgeeinrichtungen, 
die  das  Werk  geschaffen:  Beamten-  und  Arbeiterwohnungen,  eine 
geradezu  musterhaft  eingerichtete  Entbindungsanstalt,  eine  Haus¬ 
haltungsschule  für  Mädchen,  eine  Gartenbauschule,  ein  Gesell¬ 
schaftshaus  für  Arbeiter  und  eines  für  Beamte,  Bibliotheken, 
ärztliche  Ordination  in  der  Fabrik,  Fürsorge  für  Lungenkranke 
und  vieles  andere  mehr.  Ein  Beamter  ist  ausschließlich  mit  der 
Leitung  dieses  ganzen  Fürsorgewesens  betraut  und  ihm  steht 
seit  neuester  Zeit  ein  ..Sozialsekretär“  und  eine  „Sozialsekretärin“ 
zur  Seite. 

Am  folgenden  Page  besichtigte  ich  noch  zwei  Blei  hü  t ten, 
die  eine  an  einem  der  schönsten  Punkte  des  Rheintales  gelegen, 
die  andere  in  unmittelbarster  Nähe  von  Bad  Ems.  Diese  letzt¬ 
erwähnte  Hütte  wird  von  Ing.  R.  Müller,  dem  Verfasser  eines 
ausgezeichneten,  von  der  internationalen  Vereinigung  für  gesetz¬ 
lichen  Arbeiterschutz  preisgekrönten  Werkes  über  die  Bekämpfung 
der  Bleigefahr  in  Bleihütten  geleitet.  Es  ist  ihm  hier  mit  relativ 
geringen  und  einfachen  Mitteln  gelungen,  den  Gesundheitszustand 
der  Arbeiter  zu  einem  befriedigenden  zu  gestalten. 

Am  nächsten  Abend  kamen  wir  in  Lugano  an,  wo  am 
folgenden  Morgen  die  Vorbereitungen  für  den  Delegiertentag  der 
internationalen  Vereinigung  für  gesetzlichen  Arbeiterschutz  be¬ 
ginnen  sollten. 

* 

D e r  D  elegiert e n t a g  der  internationalen  V  ereinigung 
für  gesetzlichen  Arbeiterschutz.  Lugano,  26.  bis 
28.  September  1910. 

Die  Delegiertentage  dieser  Gesellschaft,  die  gegenwärtig 
14  Landessektionen  (u.  zw.  Deutschland,  Oesterreich,  Belgien, 
Dänemark,  Spanien,  Frankreich,  Holland,  England,  Italien,  Ungarn, 
Schweden,  Norwegen,  Schweiz,  Amerika)  zählt,  treten  alle  zwei 
•Tahre  auf  Schweizer  Boden  zusammen.  Außer  den  Delegierten 
der  einzelnen  Sektionen  sind  Regierungsvertreter  aus  den  ge-' 
nannten  Ländern,  außerdem  noch  Vertreter  einzelner  deutscher 
Bundesstaaten,  ein  Vertreter  des  heiligen  Stuhles  und  einer  Luxem¬ 
burgs  anwesend.  Es  ist  eine  Versammlung  wirklicher  Fachleute, 
die  hier,  ca.  200  an  der  Zahl,  Zusammenkommen,  um  über  Fragen 
praktischen  Arbeiterschutzes  zu  beraten.  War  ursprünglich  Haupt¬ 
zweck  der  Vereinigung  internationale  Vereinbarungen  über  Ar¬ 
beiterschutzgesetze  vorzubereiten  und  für  sie  Propaganda  zu 
machen  —  die  internationalen  Vereinbarungen  über  das  Verbot 
gewerblicher  Nachtarbeit  der  Frauen  und  über  das  Weißphosphor¬ 
verbot  sind  zum  größten  Teile  ihr  Werk  -  so  ist  die  Vereinigung 
jetzt  über  diesen  ihren  ursprünglichen  Zweck  hinausgewachsen 
und  berät  heute  auch  über  solche  Arbeiterschutzimaßnahmen, 
die  zu  ihrer  Durchführung  keiner  internationalen  Verträge  be¬ 
dürfen.  Sie  will  darauf  hinweisen,  wo  ein  Eingreifen  der  Gesetz¬ 
gebung  oder  der  Behörden  besonders  wichtig  ist  und  will  an¬ 
geben,  welche  Mittel  zur  Behebung  bestehender  Mißstände  not¬ 
wendig  und  praktisch  durchführbar  sind.  Das  von  der  Vereinigung 


geschaffene,  unter  Leitung  von  Prof.  Stephan  Bauer  stehende 
„Internationale  Arbeitsamt“  in  Basel  sammelt  alles  aut  den  gesetz¬ 
lichen  Arbeiterschutz  bezügliche  Material  und  iührt  die  umfang¬ 
reichen,  für  jede  Tagung  notwendigen  Vorarbeiten  aus.  Jede  Lan¬ 
dessektion  legt  dem  Delegiertentage  Berichte  und  Untersuchungen 
zu  den  auf  der  Tagesordnung  stehenden  oder  sonst  wichtigen 
Fragen  des  Arbeiterschutzes  vor.  Die  österreichische  Sektion  (Ge¬ 
sellschaft  für  Arbeiterschutz)  legte  heuer  vor:  Arbeiten  über  die 
Regelung  der  Heimarbeit  (Dr.  Else  C  ronbach,  Piof.  Di  exel  . 
Lohnwucher  (Kienböck),  über  die  Aktion  der  österreichischen 
Regierung  zur  Bekämpfung  der  Bleigefahr  (Ministerialsekretär 
Dr.  jur.  Ehrenfeld),  über  Quecksilber  (Teleky). 

Der  Schwerpunkt  der  Verhandlungen  ruht  nicht  in  den 
Plenarsitzungen,  sondern  in  den  Beratungen  der  Kommissionen, 
die  für  die  einzelnen  Hauptthemen  gebildet  werden  und  in  die 
jede  Landessektion  ihre  entsprechenden  Fachleute  entsendet:  Die 
gewerbehygienische  Kommission  hatte  diesmal  eine  reiche  lages- 
ordnung  zu  erledigen;  es  galt,  die  Grundzüge  zur  Regelung  der 
hygienischen  Verhältnisse  in  einer  Reihe  von  gesundheitsgefähr¬ 
lichen  Industrien,  über  die  schon  in  früheren  Zusammenkünften 
beraten  würden  war,  nun  endgültig  auszuarbeiten  und  außer¬ 
dem  die  Beratungen  über  eine  Liste  der  gewerblichen  Gifte  weiter¬ 
zuführen.  Auf  der  Versammlung  von  Luzern  waren  Subkommis¬ 
sionen  eingesetzt  worden,  die  sich  mit  den  einzelnen  Themen  be¬ 
schäftigen  und  Entwürfe  für  solche  Grundzüge  ausarbeiten  sollten. 
Diese  Subkommissionen  traten  zwei  Tage  vor  Beginn  der  Dele¬ 
giertenversammlung  zusammen  und  ihrer  Vorarbeit  ist  es  zu 
danken,  daß  die  Kommission  dann  Grundzüge  für  die  Regelung 
der  hygienischen  Verhältnisse  in  keramischen  Betrieben,  in  Drucke¬ 
rei-  und  Schriftgießereibetrieben  und  Grundzüge  betreffend  Lais- 
sonarbeit,  beschließen  konnte.  Diese  Grundzüge,  die  dann  mit  einei 
kleinen  Aenderung  von  der  Plenarversammlung  angenommen 
wurden,  sollen  im  Wege  einer  Petition  den  Staatsregierungen  als 
Grundzüge  für  zu  erlassende  Verordnungen  empfohlen  werden. 

And  ere  Kommissionen  hatten  über  die  Fragen  der  Kindei - 
arbeit,  der  Nachtarbeit  der  Jugendlichen,  des  Maximalarbeitstages, 
der  Heimarbeit  zu  beraten. 

Auf  den  Inhalt  dieser  Beschlüsse  hier  weiter  einzugehen, 
ist  wohl  nicht,  am  Platze,  erwähnt  sei  hier  nur  noch,  daß  die 
Delegiertenversammlung  in  Erneuerung  ihres  Beschlusses  von 
1906* es  für  notwendig  erklärte,  daß  durch  die  Gesetzgebung  den 
zuständigen  Behörden  das  Recht  gegeben  werde,  für  Verrichtungen 
und  Berufe  mit  besonderer  Gesundheitsgefährdung  die  tägliche' 
Arbeitszeit  festzusetzen. 

Da  es  sich  bei  diesen  Beratungen  fast  stets  um  Detailiragen 
handelt,  so  können  nur  wirkliche  Fachleute  hier  mit  Erfolg 
mitsprechen  und  in  der  Tat  finden  sich  bei  diesen  Delegierten¬ 
tagen  Fachleute  nicht  nur  aus  allen  Ländern  sondern  auch  aus 
den  verschiedensten  Berufen  und  aus  allen  Parteilagern  zusam¬ 
men :  Universitätsprofessoren,  höchste  und  hohe  Staatsbeamte, 
die  Vorstände  der  arbeitsstatistischen  Aernter  der  verschiedenen 
Länder,  die  Chefgewerbeinspektoren  und  Gewerbeinspektoren,  Ge¬ 
werbehygieniker,  Privatgelehrte  und  Parlamentarier  aller  Partei¬ 
richtungen.  1  '  .  ri 

Dieses  Zusammenarbeiten  theoretisch  und  praktisch  erlali- 
rener  Männer,  von  denen  jeder  gerade  auf  seinem  Gebiete  mit¬ 
arbeitet,  verbürgt  nicht  nur  wertvolle  Ergebnisse,  sondern  es 
macht  auch  die  Beratungen  selbst  für  jeden  interessant  und  lehr¬ 
reich. 

*  i 

Nach  Schluß  der  Versammlung  (28.  September)  gönnten 
wir  uns  einige  Tage  Ruhe ;  auf  der  Heimreise  besuchten  wir  die 
erste  Klinik  für  Berufskrankheiten,  die  „Clinica  del  La- 
voro“  in  Mailand.  Diese  Klinik,  eines  der  Institute  für  ärztliche 
Fortbildung  in  Mailand,  ist  von  der  Stadt  Mailand  über  Beschluß 
vom  20.  November  1902  errichtet  worden.  Die  Eröffnung  der 

Klinik  erfolgte  am  20.  März  1910. 

Es  ist  ein  schönes,  ganz  modern  gebautes  Krankenhaus  mit 
hellen  luftigen  Krankensälen,  die  Platz  für  90  Kranke  bieten 
und  mit  schönen  Ambnlanzräumen.  Ungemein  reichlich  ist 
es  mit  Laboratorien  ansgestattet,  es  besitzt  gut  eingerichtete 
Laboratorien  für  chemische  Untersuchungen,  für  physikalisch-che¬ 
mische  und  physikalisch -klinische  Untersuchungen  und  ein  ge¬ 
radezu  prachtvoll  eingerichtetes  Röntgenlaboratorium,  große  Bi¬ 
bliotheksräume,  einen  Seziersaal  und  einen  Hörsaal.  Die  Klinik 
soll  nicht  nur  Kranke  heilen  sie  soll  nicht  nur  praktischen  Zwecken 
dienen  von  diesen  sei  noch  die  periodische  Ueberwachung  von 
Arbeitern  .in  gesundheitsgefährlichen  Betrieben  erwähnt  sondern 
sie  soll  auch  die  Ursachen  der  Berufskrankheiten  und  überhaupt 
die  gesamte  „Pathologie  der  Arbeit“  studieren,  unsere  Erkenntnis 


Nr  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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auf  diesen  Gebieten  vertiefen  und  diese  Kenntnisse  durch  Ertei¬ 
lung  von  Unterricht  an  junge  Aerzte  verbreiten.  Allen  diesen 
Studien  und  Forschungen  —  und  wie  viel  ist  hier  noch  zu  er¬ 
forschen!  —  dienen  die  großen  und  schön  eingerichteten  Labo¬ 
ratorien,  dient  der  große  Stab  von  Aerzteri  (zehn  Aerzte),  an 
deren  Spitze  Prof.  Devoto,  der  geistige  Schöpfer  dieser  Klinik, 
ihr  Direktor  und  Leiter,  steht.  Prof.  Devoto  und  sein  bewährter 
Assistent,  Prof.  Carozzi,  führten  uns  voll  berechtigten  Stolzes 
durch  alle  Räume  des  weitläufigen  Hauses. 

In  der  Klinik  hat  auch  die  „Permanente  internationale  Kom¬ 
mission  zum  Studium  der  Gewerbekrankheiten“  ihren  Sitz,  Ca¬ 
rozzi  ist  ihr  Schriftführer.  Mit  ihm,  Prof.  Devoto  und  Senator 
De  Christ  of  oris  besprach  ich  noch  manches  über  die  Aus¬ 
gestaltung  des  111.  internationalen  Kongresses  für  Gewerbekrank- 
h 0iten,  der  im  Herbst  1914  in  Wien  stattfinden  soll. 

Dann  ging  es  heimwärts. 


Heferate. 

Ueber  Scharlach. 

(Der  Scharlacherkrankung  zweiter  Teil.) 

Yd  Primararzt  Dr.  Dionys  Pospischill  und  Dr.  Fritz  Weiß. 

Berlin  1911,  S.  Karge  r. 

Erstaunlich  ist  das  große  Material,  das  den  Autoren  zur 
Verfügung  stand;  zirka.  3000  Fälle,  sind  in  einem  Zeitraum  von 
drei  Jahren  zur  Beobachtung  gekommen,  als  deren  Resultat  eine 
Summe  interessanter  Tatsachen  iti  fesselnder  Weise  dargestellt 
wird.  Das  Thema  behandelt  nicht  die  initialen  scharlach- 
erscheinungen,  sondern  jenen  Komplex,  der  nach  einem  sym- 
ptomenfreien  Intervall  gewöhnlich  anfangs  der  dritten  Woche 
oder  auch  später  sieh  einstellt,  dessen  Mittelpunkt  recht  häufig 
die  Nephritis  bildet,  um  die  sich  eine  Reihe  anderer  Erschei 
nungen  zu  gruppieren  pflegt.  Die  Gleichartigkeit  der  Symptome 
bis  auf  die  Nephritis  —  mit  jenen  des  primären  Scharlachs, 
bestehend  in  Fieber,  Drüsenschwellung,  Nephritis,  Rachenerkran¬ 
kung  und  Herzerscheinungen,  bestimmen  die  Autoren  von  einem 
„zweiten  Kranksein“  bei  Scharlach  zu  sprechen.  Das  klinische 
Bild  kann  durch  Hinzutreten  eines  neuerlichen  Exanthems  noch 
vervollständigt  werden^Nicht  immer  ist  mit  dieser  ersten  Attacke 
das  zweite  Kranksein  erschöpft;  nach  einem  Intervalle  kommt 
es  neuerdings  zu  Anfällen,  die  der  ersten  Attacke  völlig  gleichen 
können,  oder  auch  nur  aus  einzelnen  Symptomen  —  zum  Gruppen¬ 
bild  des  zweiten  Krankseins  gehörig  —  bestehen  können.  Die 
Temperaturkurve  — -  Intervall,  Anfall  —  läßt  sich  am  besten  mit 
jener  der  Febris  recurrens  vergleichen,  das*  klinische  Bild  er¬ 
innert  an  die  Serumkrankheit.  Das  zweite  Kranksein  ist  nicht 
als  Folgekrankheit  des  Scharlachs,  nicht  als  Streptokokkenwirkung 
anzusehen,  sondern  als  Effekt  dels  noch  virulenten  Scharlach¬ 
erregers  aufzufassen.  Es  liegt  im  Wesen  der  Infektion,  ob  ein 
„zweites  Kranksein“  sich  einstellt  oder  ausbleibt  und  nicht  in 
unserer  Macht,  dasselbe  zu  verhüten  oder  herbeizuführen. 

Die  einzelnen  Symptome  des  „zweiten  Krankseins“  werden 
von  den  Autoren  in  eingehendster  Weise  besprochen.  Wir  hören, 
daß  mit  dem  nephritischen  zweiten  Kranksein  bisweilen  Lung-en- 
crsehein ungen,  Pneumonie1,  Pleuritis  oder  auch  pyämische  Pro¬ 
zesse,  eitrige  Perikarditis,  Gelenkseiterungen  usw.  sich  kombi¬ 
nieren  können.  Die  Nephritis  leitet  sich  mitunter  mit  abdomi¬ 
nellen,  an  Appendizitis  erinnernden  Schmerzen  ein  (Pseudoappen¬ 
dizitis  scarlatinosa).  Mit  Ausnahme  von  septikopyämischen  Endo¬ 
kardveränderungen,  die  immer  letal  .enden,  soll  es  während  des 
Scharlachs  zu  keinen  anderen  anatomischen  Veränderungen  am 
Endokard  kommen,  so  daß  nach  der  Ansicht  von  Pospischill 
und  Weiß  dem  Scharlach  in  der  Aetiologie  der  Vitien.  keine 
Rolle  zuzuschreiben  ist.  Therapeutisch  leugnen  die  Autoren  auf 
Grund  ihrer  großen  Erfahrung  jede  Berechtigung  einer  strengen 
Milchdiät,  durch  die  der  Ausbruch  einer  eventuellen  Nephritis 
nicht  verhindert  werden  kann. 

Auch  der  Serumtherapie  gegenüber  verhalten  sie  sich  völlig 
ablehnend.  Ihre  Maßnahmen  sind  streng  konservativ;  einen  wirk¬ 
lichen  therapeutischen  Erfolg  sahen  sie  nur  hei  der  l  ramie 
durch  Digitalis,  Schwitzbäder  und  Venäsektio'n,  Seihst  hei  den 
eventuellen  eitrigen  Metastasen,  insbesondere  bei  der  Mastoiditis 


raten  sie  von  jedem  chirurgischen  Eingreifen  ab.  Die  Mortalität 
stieg  nicht  höher  als  5-5%. 

Abgesehen  von  der  Schilderung  ries  zweiten  Krankseins 
enthält  die  Broschüre  noch  manch  Wissenswertes  über  Heimkehr 
fälle,  Herz-  und  Gelenkerscheinungen,  über  Befunde  des  nicht 
nephritischen  Scharlachharns,  über  portale-  Drüsenschwellungen 
hei  mit  Ikterus  einhergehenden  schweren  Sclia rlacherkranku ngen 
und  anderes  mehr. 

Alles  in  allem  enthält  die  lesenswerte  Abhandlung  eine 
Fülle  interessanter  Tatsachen,  die  lediglich  das  Result  t  eim  r 
exakten  klinischen  Beobachtung  genannt  werden  können. 

* 

Ueber  eine  eigenartige  familiär-hereditäre  Erkrankungs¬ 
form  (Aplasia  axialis  extracorticalis  congenita). 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  L.  Merzbaclier. 

Berlin  1910,  Jul.  Springer. 

Die  klinischen  Erscheinungen  der  hier  monographisch  ab¬ 
gehandelten  familiär-hereditären  Erkrankung  setzen  in  den  ersten 
Lebensmonaten  ein,  zeigen  eine  rasche  Progression  bis  zum 
sechsten  Lebensjahr,  dann  eine  langsamere  Entwicklung.  In 
ihrer  vollen  Entwicklung  ist  die  Krankheit  klinisch  charakterisiert 
durch :  Nystagmus  horizontalis,  Bradylalie,  Erschwerung  in  der 
Verbreitung  motorischer  Impulse  (Störung  der  Sukzession  und 
Koordination  der  Bewegungen,  Ataxie,  Intentionstremor,  Mitbewe¬ 
gungen,  maskenhaften  Gesichtsausdruck),  Paresen  der  Rücken-, 
Becken-  und  Bauchmuskulatur,  Lähmungen  und  spastische  Kon¬ 
trakturen  der  unteren  Extremitäten,  Steigerung  der  Patellarreflexe. 
Bialbinski,  Fehlen  der  Bauchdeckeinreflexe.  Dazu  kommen  als 
häufige  Begleiterscheinungen  trophische  Störungen  der  Knochen, 
vasomotorische  Störungen  im  Gebiete  der  unteren  Extremitäten, 
Abnahme  der  geistigen  Fähigkeiten.  Die  Kranken  können  ein 
hohes  Alter  erreichen  und  sterben  an  einer  interkurrenten  Er¬ 
krankung.  Die  neun  Fälle,  die  Verf.  beschreibt,  gehören  alle 
einer  Familie  an  u.  zw.  —  wie  er  konstatieren  konnte  —  der¬ 
selben  Familie,  der  die  im  Jahre  1885  (Arch,  für  Psych.,  Bd.  X\  I) 
von  Pelizaeus  beschriebenen  Fälle  derselben  Erkrankung  ent¬ 
stammen.  Es  ist  eben  ein,  exquisit  hereditär-familiäres  Leiden, 
das  sich  bereits  in  der  vierten  Generation  ausgebreitet  hat.  Die 
Vererbung  erfolgt  nach  einem  bestimmten  Schema,  das  bisher 
keine  Ausnahme  zugelassen  hat.  Gesund  bleibende  Mütter  über¬ 
tragen  die  Krankheit  auf  ihre  Kinder,  u.  zw.  vorwiegend  auf  die 
Söhne;  von  den  14  Kranken  sind  nur  zwei  weiblichen  Geschlechts. 

Verf.  hatte  nur  Gelegenheit  einen  Fall  pathologisch-anato¬ 
misch  zu  untersuchen  und  auch  von  diesem  nur  Gehirn  lund 
Medulla  oblangäta.  Er  fand  ein  in  allen  Dimensionen  verklei¬ 
nertes  Gehirn  von  äußerlich  normaler  Beschaffenheit,  namentlich 
Kleinhirn,  Poris'  und  Medulla  oblangata  stark  verkleinert,  Balken 
und  Fomix  verkümmert.  Die  Verkleinerung  der  Hemisphären 
ist  auf  hochgradige  Atrophie-  der  weißen  Substanz  allein  zurück¬ 
zuführen.  Histologisch  fanden  sich  schwere  Veränderungen  der 
Markscheiden  und  Achsenzylinder,  in  denen  Verf.  den  Ausdruck 
einer  Mißbildung  der  betreffenden  Teile  sieht  und  die  er  deshalb 
nach  ihrer  charakteristischen  Erscheinungsform  als  Aplasia 
axialis  extracorticalis  congenita  bezeichnet. 

* 

Säuglingsschutz  durch  Staat,  Gemeinden  und  Private 
innerhalb  des  deutschen  Sprachgebietes. 

Von  Dr.  A.  Würtz. 

Stuttgart  1910,  Ferd.  E  n  k  e. 

Eine  eingehende1  kritische  Besprechung  aller  im  Deutschen 
Reiche  bereits  bestehenden  oder  wenigstens  vorbereiteten  Ma߬ 
nahmen  und  Institutionen,  deren  Endzweck  die  Bekämpfung  der 
Säuglingssterblichkeit  sein  soll.  Die  wichtigsten  in  Betracht  kom¬ 
menden  Faktoren,  die  vom  Verf.  in  treffender  Weise  erörtert 
worden  sind:  eifrigste  Propaganda  des  Selbststillens,  Wohnungs¬ 
hygiene,  Bekämpfung  der  Geschlechtskrankheiten,  weiters  ma¬ 
terielle  Unterstützung  Gravider  in  den  letzten  Schwangerschalts- 
wochen,  Aufnahme  in  Entbindungs-  und  Wöchnerinnenheimo, 
Stillprämien,  Milch-  und  Stillkassen  usw.  Damit  ist  aber  Ji  s 
soziale,  volkswirtschaftlich  so  wichtige  Frage  keineswegs  er¬ 
schöpft;  der  Säuglingsfürsorge  muß  die  Fürsorge  für  das  altere 
I  Kind  folgen.  Staat,  Gemeinde  •  und  private  Vereine  sollen  in 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


allen  ihren  dasselbe  Ziel  verfolgenden  Bestrebungen  gemeinsam 
vorgeben,  dann  wird  nicht  nur  die  Sterblichkeit  der  Säuglinge 
bedeutend  zurückgehen,  sondern  auch  der  beste  Weg  zur  Heran¬ 
bildung  einer  gesunden  Generation  gefunden  sein. 

* 

Einführung  in  die  moderne  Kinderheilkunde. 

Ein  Lehrbuch  für  Studierende  und  Aerzte. 

Von  Prof.  Dr.  T5.  Snlge. 

Zweite,  vermehrte  Auflage. 

Berlin  1910,  Jul.  Springer. 

Schon  das  Erscheinen  der  zweiten  Auflage  dieses  Lehr¬ 
buches  kurz  nach  der  ersten  beweist,  daß-  es  im  allgemeinen 
seinen  Zweck  erfüllt  und  einem  tatsächlich  vorhandenen  Be¬ 
dürfnis  nach  einer  kompendiös  gefaßten  Einführung  in  die-  mo¬ 
derne  Kinderheilkunde  nachgekommen  ist. 

Besonders  hervorhebenswert  erscheint  die  klare  und  über¬ 
sichtliche  Fassung  der  wichtigsten  Tatsachen  der  Säuglings¬ 
physiologie,  denen  sich  eine  leicht  verständliche  und  doch  recht 
kurz  gefaßte  Darstellung  der  Säuglingspathologie  und  -Therapie 
anschließt.  Im  Kapitel  der  Verdauungs-  und  Ernährungsstörungen 
des  Säuglings  erscheinen  die  neuesten  Forschungsergebnisse,  die 
sich  an  die  Namen  Czerny- Ke  11er,  Fink  eiste  in  und  andere 
knüpfen,  verwertet.  Von  Mängeln,  die  dem  Ref.  bei  der  Durchsicht 
ins  Auge  fielen,  seien  heryorgehoben :  die  Nichterwähnung  der 
doch  heute  schon  recht  ermutigende  Erfolge  auf  weisenden  Serum¬ 
therapie  der  Meningitis  cerebrospinalis,  die  Abhandlung  der 
M  ü  1  her- B  a  r  1  o  w  sehen  Krankheit  im  Kapitel  Rachitis,  sowie 
die  des  Myxödems  unter  den  Erkrankungen  des  Nervensystems, 
wozu  nach  Ansicht  des  Ref.  doch  keinerlei  Berechtigung  vorliegt. 

Im  übrigen  wird  zweifellos  auch  die  vorliegende  zweite 
Auflage  dieses  Lehrbuches  unter  Aerzten  und  Studenten  ver¬ 
diente  Verbreitung  finden. 

* 

Oxypathie. 

Von  Prof.  Dr,  Wilhelm  Stöltzner. 

Berlin  1911,  S.  Karger. 

In  der  ganzen  Abhandlung  wiederholt  sich  gewissermaßen 
ein  Leitmotiv,  die  chronische  Säureintoxikation  als  Ursache  einer 
großen  Reihe  von  pathologischen  Zuständen,  deren  Aetioloaie 
bisher  recht  unklar  war.  Was  als  Arthritismus,  Lithämie,  exsuda¬ 
tive  Diathe-se  beschrieben  wurden,  will  Stoeltzner  als  „Oxy¬ 
pathie“  zusammenfassen. 

Das  Wesen  der  „Oxypathie“  beruht  in  einer  alimentär 
oder  konstitutionell  bedingten  Insuffizienz  der  Fähigkeit,  unver¬ 
brennbare  Säuren  unter  so  weitgehender  Schonung  des  Bestandes 
an  fixen  Alkalien  aus  dem  Körper  auszuscheiden,  daß  eine  ge¬ 
sundheitliche  -Schädigung  nicht  zustande  kommt. 

In  allen  Lebensaltern  kann  die  Oxypathie  entweder  die 
direkte  Ursache  für  gewisse  Krankheitsbilder  und  Anomalien 
abgeben  oder  wenigstens  die  Disposition  für  dieselben  schaffen. 
Schon  im  frühen  Säuglingsalter  kann  sie  —  künstliche  Nahrung 
vorausgesetzt' —  die  Ursache  des  Nichtgedeihens  sein.  Die  Kuh 
milch  ist  im  Gegensatz  zur  Frauenmilch  gleichzeitig  reich  an 
Kalk  und  Phosphorsäure  und  an  Fett.  Durch  Zusammentreffen 
des  phosphorsäuren  Kalkes  mit  dem  Fett  kann  eine  Schädlich¬ 
keit  entstehen.  Das  eine  Spaltungsprodukt  des  Fettes,  das  Gly¬ 
zerin,  kann  sich  mit  phosphorsäurem  Kalk  nicht  so  umsetzen, 
daß  ein  schädliches  Produkt  entsteht.  Die  durch  die  Fettspal¬ 
tung  freiwerdende  Fettsäure  dagegen  kann  den  bis  dahin  an  Phos¬ 
phorsäure  gebundenen  Kalk  an  sich  reißen  und  dadurch  Phosphor- 
saure,  also  eine  unverbrennbare  Säure,  freimachen.  Durch  Bin¬ 
dung  des  Kalkes  an  die  an  sich  verbrennbare  also  unschädliche 
Fettsäure  und  Ausscheidung  der  entstandenen  Kalkseife,  bleibt 
der  Kalk  der  Resorption  entzogen,  während  die  unverbrennbare 
Phosphorsäure  nunmehr  resorbiert  wird  und  die  pathogene 
Säurewirkung  entfalten  kann.  Das  mangelhafte  Gedeihen,  das  sich 
als  Folge  der  Ernährung  mit  Kuhmilch  bei  so  vielen  Säuglingen 
einstellt,  bezeichnet  Stoeltzner  als  oxypathische  Atrophie. 

Das  Problem  der  künstlichen  Säuglingsemährung  soll  darauf 
beruhen,  der  Kuhmilch  ihre  oxypathogenen  Eigenschaften  zu 
nehmen;  dies  geschieht  am  besten  und  einfachsten  durch  Zusatz 
von  Natriumzitrat  zur  Kuhmilch  (4  g  auf  1  1  Kuhmilch). 


Auch  die  Allgemeinerscheinungen  der  Rachitis  (Blässe  der 
Haut,  Schwitzen  usw.),  das  bronchitische  Asthma,  der  Lichen 
urticatus,  das  periodische  Erbrechen  u.  a.  haben  ihre  eigentliche 
Ursache  in  der  chronischen  Phosphorsäurevergiftung.  Für  das 
Ekzem,  die  Skrofulöse  schafft  die  Oxypathie  nur  den  geeigneten 
Boden.  Der  einheitlichen  Auffassung  aller  dieser  Zustände  ent¬ 
spricht  auch  eine  einheitliche  Therapie  Stoeltzners. 

Zitronensaures  Natron  und  vegetarische  Diät,  wirken  am 
besten  der  Oxypathie  entgegen.  Carl  Deiner. 

* 

Die  Erkrankungen  des  Blinddarmanhanges  (Processus 

vermiformis.) 

Mit  10  Tafeln  und  22  Abbildungen  im  Text. 

* 

Die  Gewächse  der  Nebennieren. 

Von  Prof.  Dr.  med.  Karl  Winkler,  Privatdozent,  I.  Assistent  am  patbol. 

Institut  der  Universität  Breslau. 

Mit  26  Abbildungen  auf  4  Tafeln. 

Jena  1909/10,  Verlag  von  Gustav  Fische  r. 

Beide  Bücher  sind  von  der  Verlagsbuchhandlung  in  jeder 
Hinsicht  sehr  gut  ausgestattet.  Inhaltlich  enthalten  sie  kaum 
neue  Tatsachen  oder  neue  Gesichtspunkte.  Der  Referent  will 
sich  daher  gar  nicht  auf  eine-  Kritik  von  Einzelheiten  cinlassen, 
sondern  hält  es  für  das  Beste,  nur  die  wichtigsten  Sätze  aus 
Einleitung  und  Vorwort  und  zusammenfassend  die  Inhaltsangabe 
zu  referieren: 

In  der  ersten  Schrift  (334  Seiten)  hat  der  Verfasser  den 
Versuch  gemacht,  die  Erkrankungen  des  Blinddarmes  ,,im  Zu¬ 
sammenhänge“  auf  Grund  des  Breslauer  Materiales  zu  schildern. 
Er  beschäftigt  sich  außer  mit  den  gewöhnlichen  entzündlichen 
Veränderungen  und  ihren  Folgen,  insbesondere  mit  der  Tuber¬ 
kulose,  den  periappendizitischen  Abszessen,  den  Beziehungen 
des  Wurmfortsatzes  zum  Bauchfell,  den  Beckenorganen,  sowie 
auch  den  Blut-  und  Lymphgefäßen  und  am  Schlüsse  der  Arbeit 
mit  den  Gewächsen.  „In  meiner  Arbeit  war  ich  bemüht,  die 
krankhaften  Veränderungen  stets  im  engsten  Anschluß  an  die 
anatomischen  Präparate  und  die  mikroskopischen  Bilder  zu 
schildern.“  Doch  sind  die  insbesondere  auf  den  Tafeln  beige¬ 
gebenen  Abbildungen  zum  Teil  weder  instruktiv  noch  über¬ 
haupt  verständlich. 

In  der  zweiten  Arbeit  (197  Seiten)  hat  der  Verfasser  eben¬ 
falls  „den  Versuch  gemacht,  die  Gewächse  der  Nebennieren 
im  Zusammenhang  zu  schildern“ ;  u.  zw.  in  -erster  Linie  diejenigen 
Neubildungen,  die  als  sogenannte  Hypernephrome  nicht  nur  be¬ 
züglich  ihres  anatomischen  Baues  großes  Interesse  erweckt,  son¬ 
dern  zugleich  .auch  -eine  hohe  klinische  Bedeutung  erlangt 
haben.  Es  standen  ihm  dazu  die  innerhalb  der  letzten  zehn 
Jahre  im  Breslauer  Institute  zur  Beobachtung  gekommenen  Ge¬ 
schwülste  zur  Verfügung  u.  zw.  27  1  Fälle  von  „suprarenalen“ 
Neoplasmen.  Der  Verfasser  teilt  die  Formen  in  „autochtbonc 
und  „aberrierte“  Nebennierengewächse  ein  und  stellt  sich  damit 
in  die  Reihe  jener,  welche  alle  di-ese  Geschwülste  von  Neben¬ 
nieren  und  nicht  vom  Nierengewebe  ableiten.  Er  ist  der  Mei¬ 
nung,  daß  ihr  biologisches  Verhalten,  ihre  Verbreitung  im  Or¬ 
ganismus,  die  Wege  und  Formen  ihrer  Metastasierung  genügen, 
um  ihnen  eine  besondere  Stelle  in  der  Aetiologie  einzuräumen. 

Doch  ist  es  von  Interesse,  daß  er  vier  Fälle  beobachten 
konnte,  wo  die  Erscheinungen  der  Geschwulstbildung  unmittel¬ 
bar  nach  einem  Trauma  auftraten,  so  daß  an  einen  Zusammen¬ 
hang  dieser  Dinge  gedacht  werden  muß.  Zum  Schlüsse  wird 
auch  auf  die  Beziehungen  der  Nebennierengeschwülste  zum 
Morbus  Addisoni  kurz  eingegangen.  TI.  Al  brecht. 

* 

Mikroskopie  und  Chemie  am  Krankenbett. 

Von  Prof.  Dr.  H.  Lenliartz. 

Sechste  Auflage. 

Klein  8°,  417  Seiten. 

Berlin  1910,  Julius  Springer. 

Nach  dem  Tode  des  Autors  ist  die  neue  Auflage  seines  be¬ 
liebten  Lehrbuches  erschienen.  Das  Titelbild  gibt  die  Züge  des 
Verewigten  wieder.  Das  Buch  hat  alle  Vorzüge  der  früheren  Auf¬ 
lagen,  Handlichkeit,  leicht  faßliche  Ausdrucksweise,  ausführliche 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


75 


Darstellung  der  in  den  klinischen  Laboratorien  üblichen  Tech¬ 
niken  mit  Ausscheidung  der  eigentlichen  rein  chemischen  Arbeit, 
sorgfältige  Erörterung  der  diagnostischen  Bedeutung  der  Befunde, 
zahlreiche  und  gute  Abbildungen.  Besonders  eingehend  ist  die 
Mikroskopie  der  nativen  Sekrete  und  Exkrete  .bearbeitet,  ein 
Lntersuchungsverfahren,  das  heute  leider  vielfach  zugunsten  der 
umständlicheren  und  nicht  selten  weniger  ergebnisreichen  Unter¬ 
suchung  des  konservierten  und  gefärbten  Objektes  vernachlässigt 
wird.  Nur  wenige  neuere  Untersuchungsmethoden  fehlen  (Anti¬ 
trypsin,  Essigsäurefällung  in  Punktionsflüssigkeiten;  die  Wasser¬ 
mann  sehe  Reaktion  wird  als  nicht  in  den  Rahmen  des  Buches 
gehörig,  auf  S.  396  nur  erwähnt,  aber  nicht  beschrieben).  Im 
ganzen  genommen,  wird  auch  die  neue  Auflage  dem  Studie¬ 
renden,  dem  Spitalsarzte  und  dem  Praktiker,  der  sich  mit  mikro¬ 
skopischen  und  chemischen  Untersuchungen  beschäftigen  kann, 
ein  treuer  Ratgeber  und  Führer  sein. 

* 

Die  Zuckerkrankheit  und  ihre  Behandlung. 

Von  Prof.  Dr.  Carl  v.  Noorden. 

Fünfte,  vermehrte  und  veränderte  Auflage. 

8°,  449  Seiten. 

Berlin  1910,  A.  Hirsch  w  aid. 

Die  neue  Auflage  des  vortrefflichen  Buches  ist  in  mehreren 
Abschnitten  ein  neues  Werk  geworden.  So  ist  insbesonders  die 
Theorie  des  Diabetes  vollständig  neu  bearbeitet  u.  zw.  zum 
Teile  auf  den  Arbeiten  aus  der  Klinik  des  Verfassers  neu  be¬ 
gründet,  die  Physiologie  und  Pathologie  des  Zuckerhaushaltes 
umgearbeitet.  Das  wichtige  Kapitel  über  die  Behandlung  des 
Diabetes  umfaßt  jetzt  144  Seiten,  während  es  in  der  ersten 
Auflage  67  Seiten  zählte.  Ganz  besonders  eingehend  ist  die 
diätetische  Behandlung  erörtert  und  hier  zeigt  sich  auf  jeder 
Seite  die  überragende  praktische  Erfahrung  des  Verfassers.  Die 
Nahrungsmitteltabellen  sind  sehr  erweitert.  Es  ist  unnötig,  zu 
sagen,  daß  die  Eigenschaften  der  früheren  Auflagen,  die  übersicht¬ 
liche  Anordnung  des  Stoffes  und  die  musterhaft  klare  Daistellung 
auch  in  vorliegender  Bearbeitung  erhalten  sind.  V  ei  immei 
das  Buch  zur  Hand  nimmt,  ob  selbständiger  Forscher  oder  prak¬ 
tischer  Arzt,  wird  es  mit  Vergnügen  lesen  mul  reiche  Belehrung 
daraus  schöpfen.  kl.  S t er n b e r g. 

Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

33.  Fortschritte  in  der  gynäkologischen  Praxis. 
Von  Prof.  Dt.  Hammerschlag  in  Berlin.  Neue  Gesichtspunkte 
in  technischer  und  medikamentöser  Beziehung  in  der  sogenannten 
kleinen  Gynäkologie,  die  häufig  in  der  Hand  des  praktischen 
Arztes  liegt,  sollen  hervorgehoben  werden.  Um  seine  Hände 
möglichst  frei  zu  halten  von  infektiösen  Keimen  und  um  sich 
vor  einer  spezifischen  Fingerinfektion  zu  bewahren,  gehe  dei 
Praktiker  so  vor,  daß  er  prinzipiell  jede  g  y  n  ä  k  o  1  o  g  i  s  e  h  e 
Exploration  nur  mit  der  mit  einem  Gummihandschuh  be¬ 
kleideten  Hand  unternimmt  oder  wenigstens  einen  Gummischutz 
anwendet,  der  die  explorierenden  Zeige-  und  Mittelfinger  be¬ 
deckt  und  mit  einer  kleinen  Manschette  sich  vor  den  Ramm 
legt.  Die  Feinheit  des  Tastgefühls  wird  bei  einiger  Uebung  fast 
gar  nicht  verringert.  In  der  Behandlung  der  Katar  i  he 
spielten  früher  die  Spülungen  der  verschiedenen  Art  eine  große 
Rolle;  sie  wurden,  ebenso  wie  die  Behandlung  mit  Auswischen 
und  Austupfen  der  Vaginalwand  mit  Wattepinseln  (in  adstringie¬ 
rende  oder  desinfizierende  Lösungen  getaucht)  als  wenig  oder 
'erst  nach  langdauernder  Behandlung  erfolgreich  erkannt.  Die 
von  Landau  empfohlene  Hefebehandlung  des  Fluors  hat  sich, 
wenn  auch  ihre  theoretische  Begründung  sich  nicht  bestätigte, 
als  wirkungsvoll  bewährt;  die  Hefe  wirkt  in  hohem  Grade  bak¬ 
terizid,  sie  wird  daher  bei  infektiösen  Vaginülkatarrhen  mit  Vor¬ 
teil  angewandt.  Es  gibt  da  zahlreiche  Präparate,  die  sterile  Dauer¬ 
hefe,  das  Zymin.  das  Rheol  u.  a„  die  Xerase,  neuerdings  von 
Abraham  empfohlen,  in  Pulverform  unld  in  Kapseln.  Xerase 
besteht  aus  Hefe,  Bolus,  Zucker  und  Nährsalzen,  Verf.  kann  die 
günstigen  Erfahrungen  Abrahams  durchaus  bestätigen.  Nach 
Reinigung  und  Austrocknung  der  Vagina  werden  2  bis  o  g  i  cs 
Pulvers  eingeblasen,  resp.  wird  eine  Kapsel  vor  die  Portio  gelegt 


und  mit  einem  Wattetampon  fixiert;  nach  24  bis  48  Stunden  wird 
der  Tampon  entfernt,  darnach  Spülung  und  eventuell  Wien 
holung  der  Behandlung.  In  vielen  Fällen  von  vaginalem  Pluoi 
genügt  die  Einbringung  eines  indifferenten  Pulvers  (Lenicet,  eine 
pulverisierte  essigsaure  Tonerde,  oder  pulverisierte  Bolus  a Iba, 
oder  pulverisierter  Gips),  welche  Pulver  mit.  einem  Pulverbläser 
(von  Nassauer  angegeben)  oder  mit  einem  Wattepinsel  im 
Milchglasspekulum  in  die  Vagina  eingebracht  werden.  Vor  Appli¬ 
kation  des  Pulvers  soll  die  Vaginalwand  vom  vorhandenen  Sckr 
befreit  weiden.  In  ähnlicher  Weise  wirkt  übrigens  die  wieder¬ 
holte  Einbringung  von  Jodoform-  oder  Vioformgaze.  Ein  Nachteil 
dieser  Methode  ist,  daß  nach  etwas  längerdauemder  Anwen¬ 
dung  ein  gewisser  Reizzustand  mit  kleinen  Blutungen  resultiert. 
In  frischen  Fällen  von  Gonorrhoe  (Erkrankung  der  Urethra, 
eventuell  des  Introitus)  verordne  man  nur  Bettruhe  und  geeignete 
Diät;  in  subakuten  oder  chronischen  Fällen  vermeide  man  Spü¬ 
lungen,  bringe  vielmehr  die  Urethral-Gonorrhoe  durch  mehr¬ 
faches  Einlegen  von  Protargol-  oder  Isuralstäbchen  zur  Heilung, 
während  man  gleichzeitig  eine  Pulverbehandlung  der  Vagina 
(neben  oberwähnten  Mitteln  noch  Isoform,  von  Asch  warm  em¬ 
pfohlen)  einleitet.  Hat  die  Gonorrhoe  die  Zervixschleimhaut  er¬ 
reicht,  so  lege  man  öfters  Aetzstäbchen  ein  (aus  Protargol  oder 
Zink  und  Alaun  ana  p.,  im  Simon  sehen  Spekulum  alle  fünf 
bis  acht  Tage  einzuführen);  ist  die  Gonorrhoe  über  den  inneren 
Muttermund  hinaus  und  hat  sie  das  Corpus  uteri  ergriffen,  so 
behandle  man  nicht  mehr  lokal,  um  das  Uebergreifen  auf  Tuben 
und  Bauchfell  zu  vermeiden,  sondern  allgemein,  etwa  mit  Hei߬ 
luft,  Badekuren  usw.  Entzündliche  Vorgängern  d  er  U  m- 
gebung  des  Uterus  werden  in  jüngster  Zeit,  in  der  Weise 
behandelt,  daß  man  Arzneimittel  mit  Vasogen  mischt,  da  dann 
die  Resorption  in  vollkommener  Weise  vor  sich  geht,.  Das  Va¬ 
sogen  soll  vor  der  Applikation  erwärmt  werden  (kleine  Termo- 
phore),  da  es  nur  so  zur  Imprägnierung  der  Wattetampons  ver¬ 
wendet  werden  kann.  Bei  chronischen  Entzündungen  der  Um¬ 
gebung  des  Uterus,  insbesondere  der  Parametrien,  kommt  viel¬ 
fach  die  Massagebehandlung  (manuelle,  besser  instrumenteile,  elek¬ 
trische  Vibrationsmassage)  mit  Nutzen  zur  Verwendung.  Für 
die  Behandlung  chronischer  Adnexerkrankungen  und  älterer  ent¬ 
zündlicher  Exsudate  in  der  Umgebung  des  Uterus  empfiehlt  Ver¬ 
fasser  neben  dein  älteren  Methoden  (Bettruhe,  Diät,  Prießnitz- 
umschläge,.  Bäder,  Ichthyol),  die  neueren  Verfahren  in  Form 
von  Heißluftbehandlung  (Heißluftkasten  oder  elektrischen  Licht¬ 
bogen),  die  Moor-  u,nd  Fangoumschläge,  die  Belastung  durch 
einen  mit  Schrot  gefüllte^  Beutel,  eventuell  Einführung  eines 
mit  Quecksilber  gefüllten  Kolpeurynters  in  die  Scheide,  wenn 
das  Exsudat  tief  unten  sitzt.  Bezüglich  der  Einführung  eines 
Laminaria  s  ti  ft  es  zur  Erweiterung  der  Zervix  empfiehlt  Ver¬ 
fasser  nach  dem  Vorschläge  von  Stolz  stets  zwei  Stifte  neben¬ 
einander  einzuführen,  da  sie  leichter  als  ein  einzelner,  staik  ge¬ 
quollener  Stift  zu  entfernen  sind,  zumal,  wenn  man  sie  noch  dreht. 
Das  Vaginalende  des  Stiftes  gestalte  man  scheibenförmig,  damit 
er  nicht,  in  Iden  Uterus  hineinschlüpfe.  Verf.  verwendet  gern  der 
Länge  nach  völlig  durchbohrte  Stifte,  die  fest  und.  sicher  mit 
einem  starken  Seidenfaden  armiert  sind.  Zum  Schlüsse  bespricht 
Verf.  die  Behandlung  der  Zustände,  die  sich  durch  Störungen 
der  Menstruation  geltend  machen.  Ein  großer  Teil  der  Men¬ 
struationsstörungen  beruht  nicht  auf  Endometritis,  eine  verstärkte 
Blutung  z.  B.  ist  vielfach  der  Ausdruck  einer  allgemeinen  Er¬ 
krankung,  bei  welcher  Veränderungen  der  Ovarialfunktion,  Sto¬ 
rungen  des  Stoffwechsels,  der  Blutbeschaffenheit  und  Blutver¬ 
teilung  im  Körper  in  Betracht  kommen.  In  solchen  Fällen  leglo 
man  die  Diät,  die  körperliche  Bewegung,  empfehle  Luft-  oder 
Sonnenbäder,  reiche  Nährpräparate,  lasse  eine  rationelle  hvdro- 
pathisebe  Behandlung  oder  Badekur  durchmachen.  Hat  eine  Frau, 
sonst  normal  menstruiert,  gelegentlich  eine  längere  Periodenblu¬ 
tung,  so  versuche  man  Salipyrin  (drei-  bis  viermal  täglich  0-50 g  i 
oder’  wende  ein  Styptikum  an  (sehr  zu  empfehlen  auf  Grund 
eigener  Erfahrungen  das  Secacomin,  fünf  Tropfen  drei-  bis  viermal 
täglich  oder  Styptizintabletten  ä  0-05  viermal  täglich).  Bei  dys- 
menorrhoischen  Beschwerden  erforsche  man  nach  Möglichkeit 
die  Ursache  (nicht  selten  Tuberkulose,  Tuberkulinreaktion.i  und 
beseitige  sie;  kann  man  keine  Ursache  eruieren  oder  handelt 
es  sich  um  eine  Virgo,  so  mache  man  einen  Versuch  mil  dei 


76 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


Kokainisierung  der  Nase  (drei  bis  vier  Tropfen  einer  10°, eigen 
Lösung  auf  die  Schwellkörper  und  die  Schleimhaut  des  Septums 
zu  pinseln),  da  es  in  einer  Anzahl  von  Fällen  damit  tatsächlich 
gelingt,  die  lästigen  Symptome  zu  beseitigen  oder  wenigstens  zu 
verringern.  - —  (Deutsche  mediz.  Wochenschrift  1910,  Nr.  50.) 

E.  F. 

*  » 

34.  Die  Stellung  der  Hydrotherapie  in  der  Be¬ 
handlung  akuter  Infektionskrankheiten.  \  on  Doktor 
Alois  Strasser,  Privatdozent  an  der  Universität  in  Wien.  Die 
durchaus  empirische,  aber  in  ihrer  weiteren  Entwicklung  nach¬ 
träglich  wissenschaftlich  festgesetzte  Hydrotherapie  wird  so¬ 
lange  ihren  Platz  in  der  Therapie  der  infektionskrankheitein 
behaupten,  als  nicht  für  jede  dieser  Krankheiten  das  erwünschte 
spezifische  Heilmittel  gefunden  sein  wird.  Aber  auch  dann  noch 
wird  für  ihre  Anwendung  genügend  Raum  übrig  bleiben,  da  ein 
Kampf  gegen  die  Infektion,  ob  er  nun  durch  den  angegriffenen 
Organismus  allein  durchgekämpft  oder  durch  künstlich  einge¬ 
führte  Antitoxine  unterstützt  wird,  immer  Schädigungen  des 
Kampfplatzes  zurückläßt,  für  deren  Reparatur  die  hydrothera¬ 
peutischen  Prozeduren  stets  werden  herbeigezogen  werden 
müssen.  —  (Jahreskurse  füc  ärztliche  Fortbildung  1910,  11.  8.) 

K.  S. 

* 

35.  (Aus  dem  Marien-Hospital  auf  dem  Venusberg  in  Bonn.) 
Seltene  Verengerungen  des  Kehlkopfes.  Von  Prof.  Doktor 
11.  Graff.  Verf.  beschreibt  zwei  merkwürdige  Fälle  von  Kehlkopf¬ 
stenosen.  Die  Ursache  im  ersten  Falle  ist  bisher  nirgends  erwähnt. 
Ein  GOjähriger  .Mann  klagte  seit  zwei  Jahren  über  zunehmende 
Atembeschwerden,  die  durch  hinzutretende  Katarrhe  der  Luft¬ 
wege  außerordentlich  heftig  wurden.  Er  wurde  von  verschiedenen 
Seiten,  auch  von  Spezialisten,  ohne  Besserung  behandelt.  Endlich 
wurde  er  zum  Verfasser  zu  einem  eventuellen  operativen  Eingriff 
geschickt.  Der  Einblick  in  den  Kehlkopf  war  schwierig,  doch 
wurden  keine  krankhaften  Veränderungen  im  Kehlkopfinnern  sicht¬ 
bar.  Bei  Inspektion  des  Hachens  zeigte  sich  ein  rundlicher  Tumor, 
der  sich  von  der  hinteren  Rachenwand  abhob  und  vor  den  Kehl¬ 
kopfeingang  legte;  dadurch  wurde  der  Kehlkopf  nach  vorne  um¬ 
gekippt.  Die  Halswirbelsäule  war  deutlich  lordotisch.  Bei  der 
Röntgendurchleuchtung  zeigte  sich  eine  starke  Biegung  der  Wirbel¬ 
säule,  aber  keine  Anhaltspunkte  für  eine  Neubildung.  Verf.  hielt 
aber  doch  einen  Knochentumor  der  Wirbelsäule  für  möglich  und 
entschloß  sich  zu  einem  Probeeinschnitt.  Er  ging  vom  vorderen 
Rande  des  Sternokleidomastoideus  direkt  auf  die  Wirbelsäule  los, 
legte  die  Vorwölbung  frei  und  löste  die  hintere  Rachenwand  in 
einer  Ausdehnung  von  10  cm  Länge  ab.  Die  Vorwölbung  war  glatt, 
gehörte  direkt  der  Wirbelsäule  an.  Verf.  meißelte  in  der  Höhe 
des  vierten  bis  sechsten  Halswirbels  eine  cm  dicke  Knochen¬ 
schicht  von  der  vorderen  Wand  der  Wirbelsäule  ab.  Das  abge¬ 
meißelte  Stück  erwies  sich  mikroskopisch  als  normaler  Knochen. 
Die  Vorwölbung  war  jetzt  viel  geringer.  Verf.  war  von  der 
Operation  nicht  befriedigt.  Der  Erfolg  war  aber  ein  überraschend 
guter.  Am  dritten  Tage  nach  der  Operation  konnte  Patient  besser 
atmen  und  schlucken  und  am  zehnten  Tage  verließ  er  das 
Spital.  Verf.  hat  zwei  Monate  nach  der  Operation  noch  einmal 
untersucht;  die  Beschwerden  waren  dauernd  verschwunden.  Der 
Einblick  in  den  Kehlkopf  war  vollkommen  frei.  Es  handelt  sich 
in  diesem  Falle  um  eine  kolossal  starke  Lordose  der  Halswirbel¬ 
säule.  deren  höchste  Konvexität  den  fünften  oder  sechsten  Hals¬ 
wirbel  betrafen,  die  sich  vor  den  Kehlkopfeingang  vorgelegt  und 
so  die  Atem-  und  Schluckbeschwerden  verursacht  hatten.  Noch 
interessanter  ist  die  zweite  Krankengeschichte.  Die  Diagnose  wurde 
hier  so  spät  gestellt,  weil  die  Anamnese  vollkommen  versagte. 
Ein  25jähriger  junger  Mann  erwachte  im  Februar  190S  eines 
Morgens  nach  einem  Tanzvergnügen  mit  Halsschmerzen  und 
Schluckbeschwerden,  die  ärztlicherseits  auf  eine  Angina  und 
Laryngitis  zurückgeführt  wurden.  Auf  entsprechende  Behandlung 
keine  Besserung.  Die  Beschwerden  wurden  stärker.  Ein  Spezialist 
konstatierte  eine  entzündliche  Schwellung  des  ganzen  Ivehlkopf- 
innem  und  behandelte  ihn  unter  der  Diagnose  Larynxtuberkulose. 
Nach  sechs  Wochen  war  die  Dyspnoe  so  stark,  daß  tracheoto- 
miert  werden  mußte.  Wiederholte  Dekanulementversuche  mußten 
wegen  intensiver  Dyspnoe  aufgegeben  werden  und  nach  mehreren 


Monaten  wurde  Pat.  mit  der  Kanüle  als  unheilbar  aus  dem 
Krankenhause  entlassen.  Die  Diagnose  war  zweifelhaft  geworden, 
man  hatte  auch  inzwischen  eine  antiluetische  Therapie  eingeleitet, 
aber  ohne  Erfolg.  Sieben  Monate  nach  seiner  Erkrankung  kam 
Patient  ins  Bonner  Krankenhaus.  Verf.  konstatierte  eine  chronische 
Entzündung  im  Kehlkopfinnern.  Epiglottis  ödematös  und  verdeckte 
den  Einblick  in  den  Kehlkopf.  Als  eine  mehrmonatige  Bougier- 
bchandlung  absolut  keinen  Erfolg  hatte,  entschloß  sich  Verfasser 
zu  einer  Laryngofissur.  An  der  hinteren  Wand  des  Larynx  fand 
sich  eine  5  cm  lange  Narbe,  die  exstirpiert  wurde.  Es  wurde  eine 
Dupuissche  Kanüle  eingelegt,  die  aber  wegen  unstillbaren  Husten¬ 
reizes  schon  nach  einer  Stunde  entfernt  werden  mußte.  Es  wurde 
eine  erneute  Dilatationsbehandlung  von  der  Tracheotomiewunde 
aus  mit  Thostschen  Bolzen  versucht.  Kein  Resultat.  Nun  ließ 
Verf.  eine  Röntgenaufnahme  machen.  Da  zeigte  sich  auf  der 
Röntgenplatte  in  der  Höhe  des  fünften  Halswirbels  ein  großer 
Fremdkörper  in  Form  einer  Olive.  Es  wurde  versucht,  den 
Fremdkörper  zu  entfernen  durch  einen  Schnitt  am  hinteren  Rande 
des  Musculus  sternocleidomastoideus.  Die  vordere  W  and  der 
Wirbelsäule  wurde  freigelegt,  der  Fremdkörper  aber  nicht  ge¬ 
funden.  Nach  einigen  Tagen  ging  Verf.  wieder  mit  dem  Finger 
in  die  Wunde,  konnte  aber  erst  nach  langem  Herumsuchen  den 
Fremdkörper  finden  und  extrahieren.  Es  war  ein  markstückgroßer 
Metalldeckel  einer  Mineralwasserflasche.  Jetzt  erst  entsann  sich 
Pat.,  daß  er  auf  dem  Tanzfeste  Mineralwasser  getrunken  und  daß 
er  das  Gefühl  hatte,  als  sei'  ihm  etwas  im  Halse  stecken  geblieben. 
Der  Verlauf  war  noch  recht  kompliziert.  Verf.  machte  noch  ver¬ 
schiedene  operative  Versuche,  die  Stenose  zu  beheben.  Erst  eine 
Knochenplastik  nach  Mangold  hatte  Erfolg.  Patient  kann  jetzt 
laufen  und  bergsteigen.  Es  besteht  nur  noch  eine  kleine  Fistel. 
Nach  21üjährigen  Bemühungen  ist  es  gelungen,  den  Patienten  von 
seiner  Kanüle  zu  befreien.  Die  späte  Diagnose  ist  nach  Verfasser 
nur  dadurch  zu  erklären,  daß  die  Anamnese  versagt  hat.  Sonst 
wäre  zweifellos  schon  früher  eine  Röntgenaufnahme  gemacht 
worden.  Eine  Seltenheit  ist  in  diesem  Falle,  daß  dieser  Fremd¬ 
körper  die  Trachealwand  durchwandert,  auf  der  Wirbelsäule  liegen¬ 
bleibt,  ohne  die  Speiseröhre  zu  verletzen.  —  {Münchener  medi¬ 
zinische  Wochenschrift  1910,  Nr.  50.)  G. 

* 

36.  (Aus  der  psychiatrisch-neurologischen  Klinik  [Professor 

Siemerling]  und  der  dermatologischen  Klinik  in  Kiel  [Pro¬ 
fessor  Klingmülle  rj.  Die  Wassermann  sehe  Reaktion 
in  der  Psychiatrie  und  Neurologie  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Paralyse,  Tabes  und  Lues 
cerebri,  bzw.  cerebrospinalis.  Von  Dr.  Wassermeyer 
und  Dr.  Bering.  Die  beiden  Verfasser  fanden  in  manchen  Fällen 
von  progressiver  Paralyse  die  Wassermann  sehe  Reaktion  im 
Blut  und  noch  viel  häufiger  im  Liquor  (rund  50uo)  negativ.  Da¬ 
durch  sinkt  der  diagnostische  Wert  dieser  Reaktion  bei  pro¬ 
gressiver  Paralyse.  Viel  zuverlässiger  ist  die  chemische  und 
mikroskopische  Untersuchung  der  Spinalflüssigkeit.  Das  Haupt¬ 
gewicht  bei  der  Diagnostellung  ist  auf  das  klinische  Bild 
zu  legen.  Der  Hauptwert  der  Wasser  man  n  sehen  Reaktion 
liegt  in  der  Klärung  der  Aetiologie  der  Paralyse  und  der  Tabes, 
dem  Beweis  des  Zusammenhanges  dieser  Erkrankungen  mit  der 
Lues,  ferner  in  ihrer  therapeutischen  Bedeutung.  Die  dauernd 
negative  Seroreaktion  schützt  vor  Paralyse  (nicht  aber  vor 
Tabes  0  und  man  kann  bei  einem  Luetiker  die  positive  Reak¬ 
tion  machen  und  erhalten.  Bei  allen  mit  Lues  nicht  zusammen¬ 
hängenden  Erkrankungen  des  Zentralnervensystems  fanden  die 
Verfasser  negative  Reaktion.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und 
Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  H.  2.)  S. 

* 

37.  Pathologie  und  Therapie  der  Lungenentzün¬ 
dung.  Von  Prof.  C.  Hirsch  in  Göttingen.  In  einem  klinischen 
Vortrage  besprach  Hirsch  vorerst  eingehend  die  Pathogenese 
und  das  Wesen  der  akuten  Pneumonie,  er  erörterte  den  \  erlauf 
und  die  Diagnose  der  Krankheit  und  gab  sodann  die  Grundlinien 
für  ihre  Behandlung.  Eine  kausale  Therapie,  wie  bei  Malaria, 
Diphtherie,  Lues,  gibt  es  noch  nicht,  da  wir  noch  weit  entfernt 
sind  von  einer  sicher  wirkenden  Serumtherapie.  In  einer  großen 
Zahl  der  Fälle  heilt  die  Pneumonie  „von  selbst“  und  der  Kranke 
bedarf  keines  therapeutischen  Eingriffes.  Das  Fieber  ist  eine 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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natürliche  Reaktion  des  Organismus  gegen  den  Infekt;  wenn 
keine  Hyperpyrexie  besteht,  so  ist  die  Darreichung  von  Anti- 
febrilien  zwecklos,  ja  in  größeren  Dosen  geradezu  schädlich. 
Eindringlich  zu  warnen  ist  von  der  Anwendung  forcierter  Schwitz¬ 
kuren  bei  der  Pneumonie  (z.  B.  durch  Darreichung  von  Aspirin), 
man  riskiert  dadurch  lediglich  einen  Kollaps.  Ein  Aderlaß  ist 
heute  nur  bei  Herzschwäche  mit  ersichtlicher  Ueberladung  des 
rechten  Ventrikels  (Zyanose)  in  ganz  vereinzelten  Fällen  ange¬ 
zeigt.  Man  lasse  200  bis  300  cm3  Blut  aus  der  Armvene  ab. 
Die  brüske  Wärmeentziehung  durch  kühle  Bäder  von  15  bis 
20° C  ist  nicht  nötig,  ja  in  vielen  Fällen  schädlich;  der  Orga¬ 
nismus  mit  einer  Bluttemperatur  von  39  bis  40°  wird  viel  scho¬ 
nender  in  einem  Bade  von  32  bis  25ü  abgekühlt  (v.  Ziemssen). 
Der  Vortr.  badet  ganz  ausnahmsweise  —  wie  beim  Typhus 
nur  bei  bei  einem  Falle  mit  exzessiv  hohem  Fieber  und  'schweren 
Erscheinungen  von  seiten  des  Zentralnervensystems  (aber  ohne 
meningitische  Symptome  und  ohne  Herzschwäche!),  nach  dem 
Bade  Kampfer  und  Wein.  Eine  gewöhnliche  Pneumonie  bedarf 
keiner  Bäderbehandlung,  welche  unbedingt  kontraindiziert  ist 
bei  schlechtem  Puls,  bei  Säuferpneumonien  und  bei  ausgedehntem 
Affekt  (Dreilappenpneumonien).  Gibt  man  schon  Bäder,  so  beginne 
man  mit  32  bis  30  °C  und  kühle  langsam  auf  28  bis  27°  ab, 
bei  höchstens  15  Minuten  Dauer.  Besser  sind  zumeist  öfters 
erneute  laue  oder  kühle  Einpackungen  und  Abwaschungen 
(25  bis  28°),  das  feuchte  Tuch  soll  mit  einer  Flaneldecke  bedeckt 
werden.  Auch  kühle,  spirituöse  Abwaschungen  (Zusatz  von  Ros- 
raarinspiritus,  Franzbranntwein  zum  Wasser)  wirken  oft  wohl¬ 
tuend.  Die  von  Ortner  empfohlenen  heißen  Bäder  (bis  44°  C !) 
bedeuten  nach  Otfried  Müllers  exakten  Untersuchungen  eine 
direkte  Herzanstrengung,  Verf.  hat  sie  niemals  angewendet.  Bei 
Bronchopneumonien  der  Kinder  ist  den  Heubner  sehen  heißen 
Senfeinpackungen  das  Wort  zu  reden.  Bei  schwerer  atypischer 
Pneumonie  macht  Verf.  gerne  von  Chinin  Gebrauch,  das  er  in 
kleinen  fraktionierten  Dosen  (0-2  g  drei-  bis  fünfmal  in  24  Stunden) 
gibt.  Zunächst  ist  eine  leicht  verdauliche,  nahrhafte  Diät  zu  ver¬ 
ordnen:  kräftige  Suppen,  Milch,  Eier,  Breie,  Fleischbrühen  mit. 
Reis,  Gries,  gekochtes  Obst.  Die  Hauptsache  bei  der  Behand¬ 
lung  der  Pneumonie  ist  die  sorgfältige  Ueberwachung  d e s 
Kreislaufes.  Kranken  mit  einem  nicht  intakten  Herzen  (Herz¬ 
fehler,  Arteriosklerotiker,  Fettleibige,  Kyphoskoliotiker,  Potatoren) 
gebe  man  von  Anfang  an 'Digitalis  (dreimal  täglich  1  cm3  Digalen 
oder  Digipurum  zwei-  bis  dreimal  eine  Tablette  oder  Pulver  von 
Fol.  Digitalis  0-1,  zwei-  bis  dreimal  täglich,  bis  1  bis  2  g  Digi¬ 
talissubstanz,  bzw.  ihre  Aequivalente  verbraucht  sind).  Bedarf 
man  einer  schnellen,  momentanen  Wirkung,  dann  injiziere  man 
Digalen  intramuskulär  (3  bis  5  bis  10  cm3  pro  die),  wobei  man 
genau  auf  das  Eintreten  von  Vergiftungssymptomen  (sehr  starke 
Pulsverlangsamung,  Erbrechen)  ,achte.  Strophantin  intravenös 
%  cm3,  nur  einmal  in  24  Stunden,  kurz  vorher  sollen  nicht  schon 
größere  Digitalismengen  gegeben  worden  sein.  Bei  Kollapsgefahr: 
Kampfer  in  großen  Dosen  (ein-  bis  zweistündlich  eine  Spritze) 
oder  Coffein,  natrio -benzoic,  subkutan,  zwei-,  drei-  bis  viermal 
täglich  je  0-1  bis  0-15  g,  oder  auch  starken  schwarzen  Kaffee. 
Boi  akut  einsetzender  Herzschwäche  Adrenalin  in  Dosen  von 
1  bis  12  Pravazspritzen  pro  die  intramuskulär  oder  ein-  bis 
fünfmal  0-5  cm3  der  l%oigen  Lösung  intravenös.  Bei  Leuten, 
die  an  Alkohol  gewöhnt  sind,  gebe  man  guten  Wein  oder  die 
Mixtura  Stokesii ;  bukettreiche  Weine  regen  den  Kreislauf  ent¬ 
schieden  an,  die  Zufuhr  großer  Alkoholmengen  (Schnaps  usw.) 
ist  schädlich.  Bei  zähem  Schleim  und  schlechtem  Aus  husten 
wirkt  die  Mixtura  solvens  dadurch  lösend,  daß  das  Chlorammo¬ 
nium  durch  Bildung  von  Ammoniumkarbonat  auf  der  Bronchial¬ 
schleimhaut .  das  Muzin  verflüssigt  und  die  Ziliarbewegung  an¬ 
regt.  Aehnlich  wirken  auch  die  Karbonate  der  Alkalien  und  Emser 
Wasser  (Hans  Meyer).  Ipekakuanha  (Inf.  rad.  o  0-5  ad  150; 
davon  zwei-  bis  dreimal  täglich,  eventuell  öfter  einen  Eßlöffel) 
wirkt  sekretionsvermehrend  und  die  Peristaltik  der  Brohchial- 
muskulatur  verstärkend.  Man  sorge  für  feuchte  Luft  im  Kranken¬ 
zimmer  durch  Aufstellen  eines  Dampfsprays,  gebe  bei  quälendem 
Husten  und  Seitenstechen  Kodein  oder  Dionin,  bei  heftigen 
Pleuraschmerzen  eine  Morphiuminjektion,  resp.  versuche  Eis¬ 
blase  oder  Prießnitzumschlag,  hei  Delirium  tremens  das  Ve¬ 
ronal  (0-3  bis  0-5  bis  1-0)  oder  Morphin  usw.,  ja  nicht  Chloral- 


hydrat,  wegen  seiner  blutdrucksenkenden  Wirkung.  Bei  verzö¬ 
gerter  Krisis,  Andauern  einer  massiven  Dämpfung,  blassem  Aus¬ 
sehen  des  Kranken  denke  man  an  die  Möglichkeit  eines  Em¬ 
pyems  und  mache  rechtzeitig  eine  Probepunktion.  Die  pneumo 
nische  Dyspnoe  wird  durch  Sauerstoffinhalationen  günstig  be¬ 
einflußt,  die  Og-Zufuhr  geschehe  lange,  bzw.  häufig,  doch  nicht 
mittels  Maske,  man  lasse  vielmehr  den  aus  dem  Schlauch  ent¬ 
weichenden  Sauerstoff  vor  dem  Gesichte  vorbeiströmen.  Nach 
völliger  Entfieberung  bleiben  die  Kranken  noch  2  bis  21  Wochen 
im  Bette,  ältere  Leute  kommen  früher  auf  den  Sessel;  systema¬ 
tische  Atemübungen,  speziell  Liegen  auf  der  gesunden  Seite,  sind 
zu  empfehlen.  Man  hüte  sich  vor  allem  vor  einer  kritiklosen 
Polypragmasie  am  Krankenbette,  sie  kann  noch  gefährlicher 
werden  als  ein  öder  Nihilismus.  —  (Deutsche  mediz.  Wochenschrift 
1910,  Nr.  50.)  E.  F. 

* 

38.  Zykloform  —  ein  neues  Wünda.nästhetikum. 
Von  Dr.  Max  Strauß,  Spezialarzt  für  Chirurgie  in  Nürnberg. 
Verf.  hat  das  Zykloform  auf  seine  Verwendbarkeit  für  die  Wund¬ 
behandlung  geprüft.  Das  Präparat  ist  ein  weißes  kristallinisches 
Pulver  und  stellt  den  Isobutylester  der  p- Amidobenzoesäure  dar, 
der  in  Wasser  wenig,  in  Alkohol,  Aether,  Benzol  leicht  löslich 
ist.  Diese  Schwerlöslichkeit,  des  Mittels  in  Wasser  bedingt  die 
relative  Ungiftigkeit  desselben.  Das  Anästhesierungs  vermögen  der 
Verbindung  ist  ein  sehr  großes.  Die  gesättigte  wässerige  Lösung 
macht  nach  zwei  Minuten  die  Hornhaut  des  Kaninchenauges 
unempfindlich.  Die  0-011  Edge  Lösung  bedingt  noch  Vnästhesie, 
so  daß  die  anästhesierende  Kraft  des  Präparates  dem  des  Kokains 
gleichzustellen  ist.  Das  Zykloform  hat  auch  desinfizierende  Eigen¬ 
schaften,  die  sich  bei  Versuchen  mit  Bacillus  pyocyaneus  und 
Staphylococcus  aureus,  sowie  bei  Zusatz  zu  Harn-  und  Albu- 
mosenlösungen  ergaben,  die  im  Brutschrank  dauernd  klar  blieben, 
während  Kontrollflüssigkeiten  in  Fäulnis  übergingen.  Das  Mittel 
wird  in  Salben-  und  Pulverform  angewendet.  Verf.  gebrauchte  das 
Präparat  zunächst  als  Streupulver  für  kleine  frische  Wunden,  die 
durch  Tamponade  offen  gehalten  werden  mußten.  Dabei  wurde 
eine  Anästhesie  erst  nach  relativ  langer  Zeit  erzielt,  so  daß  diese 
Anwendungsweise  nicht  ganz  allen  Ansprüchen  genügte.  Der 
Verbandwechsel  gestaltete  sich  jedoch  schmerzloser.  Bei  schmerz¬ 
haften  Brandwunden  ließ,  sich  durch  5%ige  Salbe  eine  vollkom¬ 
mene  Anästhesie  erzielen.  Die  relative  Ungiftigkeit  des  Zykloforms 
erlaubte  die  Verwendung  auch  bei  ausgedehnten  Verbrennungen. 
Ebenso  günstig  wirkte  die  5°/oige  Salbe  bei  schmerzhaften  Rha¬ 
gaden  der  Zwischenzehenhaut,  bei  stark  juckenden  und  bren¬ 
nenden,  intertriginösen  Ekzemen,  die  mit  großen  Schmerzen  ein¬ 
hergingen.  Sehr  prompt  war  die  Anästhesie  bei  entzündeten 
Hämorrhoiden,  wo  die  Salbe  mit  Adrenalin  in  Zäpfchenform  ver¬ 
abreicht  wurde.  Ebenso  wurden  schmerzhafte  Ulcera  cruris  sehr 
günstig  beeinflußt.  Besonders  gut  wirkte  die  Salbe  bei  einem 
sehr  ausgedehnten  Hautkarzinom,  das  von  der  Vulva  ausging,  nach 
beiden  Inguinalfalten  fortgewuchert  war  und  intensive  brennende 
Schmerzen  verursachte,  die  trotz  Morphium  erst  bei  reichlichem 
Gebrauch  der  Salbe  wichen.  Dieser  Fall  bewies  gleichzeitig  die 
Ungiftigkeit  der  Salbe,  die  monatelang  in  großen  Mengen  ver¬ 
wendet  wurde.  Ueber  die  Verwendung  des  Zykloforms  als  Schleim- 
hautanästhetikum  fehlt  dem  Verfasser  jede  Erfahrung.  Zur  sub¬ 
kutanen  Verwendung  kann  es  wegen  seiner  Schwerlöslichkeit 
überhaupt  nicht  kommen.  5°A>ige  Salben  lassen  sich  einfach  her- 
steilen  durch  Auflösen  der  Substanz  in  amerikanischem  Vaselin 
bei  gelinder  Wärme  (40  bis  50°  C).  10°/oige  Salben  müssen  so 
zubereitet  werden,  daß  die  Substanz  zunächst  im  doppelten  Quan¬ 
tum  Olivenöl  bei  gelinder  Wärme  gelöst  und  die  Lösung  dann  in 
daä  gehörige  Quantum  Vaselin  verrührt  wird.  Der  Preis  des 
Mittels  entspricht  ungefähr  dem  des  Anästhesins.  Verf.  betont 
zum  Schlüsse,  daß  das  Zykloform  vor  allem  als  5-  oder  10’oige 
Salbe  verwendet,  ein  durchaus  unschädliches,  reizloses,  die  Hei¬ 
lung  nicht  verzögerndes  Wundanästhetikum  darstellt,  das  ins¬ 
besondere  bei  schmerzhaften  \\  unden,  bei  Brandwunden,  Ulcus 
cruris  und  bei  oberflächlichen  Karzinomen  eine  vorzügliche  V«  ir- 
kung  entfaltet.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1910, 

Nr.  50.)  G> 

* 


78 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


39.  Mitteilung  aus  der  Praxis.  Von  Dr.  med.  Haase. 
Am  Resten  bewährt  sich  hoch  bei  schweren  Trigeminusneuralgien 
Migränin  (Höchst).  Bedingung  ist  allerdings,  daß  das  Mittel  in 
Pulverform  auf  leerem  Magen  in  der  Dosis  von  l-l  g  genommen 
wird,  worauf  man  sich  einige  Zeit  ruhig  zu  verhalten  hat  (vor 
allem  nicht  lesen!).  Bei  ganz  schweren  Neuralgien  wird  /eine 
bedeutend  schnellere  und  sichere  Wirkung  noch  erzielt,  wenn 
beim  Abklingen  der  Neuralgie  noch  1-0  g  Trigemin  gegeben  wird. 
Irgendwelche  unangenehme  Nebenwirkungen  hat  II aase  nie  be¬ 
obachtet.  -  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  40.) 

K.  S. 

* 

40.  Feber  seltene  Formen,  von  traumatischen 

und  1  n  tox  i  k  ationsp'sychosen,  insbesondere  über 
aphasische,  agnostisehe  und  apraktische  Störungen 
bei  denselben,  zugleich  ein  Beitrag  zur  Pathologie 
des  Gedächtnisses.  Von  A.  Westphal  (Bonn).  Verf.  ist  in 
der  vorliegenden  umfangreichen  Arbeit  bemüht  zu  zeigen,  daß  es 
bestimmte  Formen  von  traumatischen  und  Intoxikationspsychosen 
gibt,  in  denen  aphasische,  agnostisehe  und  apraktische  Erschei¬ 
nungen  in  dem  Krankheitsbild  eine  wesentliche  Rolle  spielen. 
Die  angeführten  Erscheinungen  charakterisieren  in  diesen  Fällen 
das  Krankheitsbild  zum  Unterschied  von  anderen  Fällen,  die 
sich  auf  der  gleichen  ätiologischen  Grundlage  entwickeln.  Trotz 
der  Uebereinstimmung  der  angeführten  Symptome  variiert  das 
Krankheitsbild  durch  dio  Unterschiede  der  quantitativen  und 
qualitativen  Ausbildung  eben  dieser  Symptome.  So  kommt  es 
zu  verschiedenartigen  Krankheitsbildern.  Verf.  versucht,  die¬ 
selben  auf  allgemeine  psychische  Störungen,  zumal  auf  solche 
des  Gedächtnisses  zurückzuführen  und  zu  zeigen,  daß  die  von 
ihm  geschilderten  Symptom  enkomplexe  nicht  als  Herderkran¬ 
kungen  aufzufassen  sind.  Feinere  histologische  Veränderungen 
sind  zu  vermuten,  aber  nicht  nachzuweisen.  Psychische  Erkran¬ 
kungen,  in  bezug  auf  Symptomatologie  und  Verlauf  einander 
nahestehend  und  doch  ätiologisch  auf  so  verschiedenartigen 
Schädlichkeiten  beruhend,  wie  Kopftraumata  und  Intoxikationen 
sind  merkwürdig.  Das  hervorstechendste  gemeinsame  Symptom 
der  mitgeteilten  Fälle  liegt  in  den  amnestischen  Störungen.  Ihre 
Erwägung  von  einheitlichen  Gesichtspunkten  aus  •  stößt  auf 
Schwierigkeiten.  Mit  den  hysterischen  Gedächtnisstörungen  auf 
traumatischer  Grundlage  sind  sie  nicht  ohneweiters  zu  identifi¬ 
zieren.  Gemeinsam  ist  beiden  Arten  von  Amnesien  ihre  Ent¬ 
stehung  im  Anschluß  an  Bewußtseinstrübungen  oder  an  Zu¬ 
stände  von  Bewußtlosigkeit.  Verf.  hält  sich  für  berechtigt,  unter 
den  traumatischen  und  Intoxikationspsychosen  „amnestische 
Formen“  abzugrenzen.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Nerven¬ 
krankheiten,  Bd.  47,  H.  1  und  2.)  S. 

* 

41.  Indikationen  zur  künstlichen  Unterbrechung 
der  Schwangerschaft.  Von  Prof.  Dr.'  Hammerschlag  in 
Berlin.  Bevor  der  Arzt  sich  zu  einer  künstlichen  Unterbrechung 
der  Schwangerschaft  entschließt,  muß  er  auf  das  allerpeinlichste 
und  sorgfältigste  die  Indikationen  prüfen  und  feststellen.  Ver 
fasser  erörtert  eingehend,  wann  sie  im  allgemeinen  geboten  er¬ 
scheint,  ohne  auf  rein  geburtshilfliche  Gründe  oder  Raritäten 
Rücksicht  zu  nehmen.  Er  bespricht  die  Hyperemesis  gravi¬ 
darum  und  ihre  Behandlung:  Bettruhe,  Aenderung  der  Diät, 
zum  Beispiel  häufigere  Darreichung  flüssiger  Kost,  Verordnung 
von  Brom  oder  Aspirin,  in  schwereren  Fällen  Entfernung  der 
Kranken  aus  ihrer  gewohnten  Umgebung  (Anstaltsbehandlung) 
und  so  weiter.  Die  meisten  Fälle  heilen  in  dieser  Weise.  Ist 
es  nicht  der  Fall,  so  gebe  man  das  Wasser  in  Form  von  Rektal¬ 
instillationen  oder  Dauereinläufen  und  verabfolge  Nährkly stiere, 
wonach  man  bald  zur  Ernährung  per  os  zurückkehren  kann. 
Nur  die  allerseltensten  Fälle  erweisen  sich  gegen  diese  Behand¬ 
lung  refraktär.  Es  kommt  zu  Temperatursteigerungen,  der  Puls 
zeigt  eine  steigende  Frequenz  und  Verschlechterung  der  Qualität, 
trotz  der  Flüssigkeitszufuhr  sinkt  die  Quantität  des  Urins,  es 
tritt  Albumen  auf,  Veränderungen  der  Psyche  werden  beobachtet, 
Ist  damit  der  Anfang  des  sehr  bedrohlichen  I nt oxat  i  o  n  s sta¬ 
diums  konstatiert,  dann  ist  die  strikte  Indikation  zur  sofortigen 
Unterbrechung  der  Schwangerschaft  gegeben.  Unter  49  Fällen 


von  Hyperemesis,  die  er  in  Königsberg  beobachtet,  wurde  17mal 
der  Zustand  durch  allgemeine  Behandlung  geheilt,  nur  2mal 
mußte  die  Schwangerschaft  künstlich  unterbrochen  werden;  eine 
Kranke  starb  trotzdem,  da  sie  zu  spät  eingebracht  wurde.  Herz¬ 
fehler  mit  Kompensationsstörungen  sollen  während  der 
Schwangerschaft  sorgfältig  behandelt  werden.  Gelingt  es  jedoch 
nicht,  die  Störungen  zu  beseitigen,  nehmen  die  Erscheinungen 
(Dyspnoe,  Pulsarhythmie,  Oedeme)  zu,  so  ist  die  Unterbrechung 
der  Schwangerschaft  indiziert.  Am  besten  tut  man  dies  in  den 
ersten  Monaten  der  Gravidität,  da  die  später  vorgenommenen 
Unterbrechungen  schon  mit  den  Gefahren  der  Geburt  belastet  sind. 
Unter  Umständen  ist  es  zweckmäßig,  eine  die  Frau  sterilisierende 
Operation  der  Unterbrechung  folgen  zu  lassen.  Besonders  gefahr¬ 
voll  sind  immer  die  Erkrankungen  des  Herzmuskels.  Unter 
40  Patientinnen  mit  einem  Herzfehler  der  Königsberger  Klinik 
war  lSmal  der  Herzfehler  kompensiert,  22mal  waren  Kompen¬ 
sationsstörungen  vorhanden,  6mal  mußte  die  Schwangerschaft 
unterbrochen  werden,  3mal  trat  der  Exitus  ein.  Die  Kombination 
von  Schwangerschaft  und  Lungentuberkulose  ist  als  außer¬ 
ordentlich  ungünstiges  Ereignis  anzusehen,  geradezu  unheilvoll 
ist  die  Larynx  tuberkulöse  in  der  Schwangerschaft.  Zeigt 
ilie  stetige  Beobachtung,  daß  die  physikalischen  Symptome  zu¬ 
nehmen,  dabei  Abnahme  des  Körpergewichtes,  erstmaliger  posi¬ 
tiver  Bazillenbefund,  Einsetzen  einer  Hämoptoe  oder  Pleuritis 
und  so  weiter  die  Progredienz  des  tuberkulösen  Prozesses  be¬ 
weisen,  so  muß  man  die  Unterbrechung  der  Schwangerschaft  in 
Erwägung  ziehen.  Eine  positive  Tuberkulin-  und  eine  negative 
Ophthalmoreaktion  sind  im  Sinne  der  ungünstigen  Prognose  zu 
verwerten,  wiewohl  die  Resultate  dieser  Hilfsmittel  nicht  immer 
einwandfrei  sind.  Nur  bei  Kranken  ersten  und  zweiten  Grades 
ist  mit  Aussicht  auf  Erfolg  einzuschreiten,  die  Fälle  dritten 
Grades  im  Sinne  Turbans  sind  aussichtslos,  da  muß  vielmehr 
auf  das  Leben  des  Kindes  Rücksicht  genommen  werden.  Be¬ 
findet  sich  die  Schwangerschaft  in  der  ersten  Hälfte,  so  kann 
von  der  Unterbrechung  in  geeigneten  Fällen  Gebrauch  gemacht 
werden.  Uebersteht  die  Frau  die  künstliche  Unterbrechung  der 
Schwangerschaft,  so  erwäge  man  die  Frage  der  Sterilisierung 
der  Frau.  Bei  Larynxtuberkulose  unterbreche  man  unbedingt 
die  Gravidität,  falls  es  sich  nicht  schon  um  einen  Lungemstatus 
dritten  Grades  handelt.  Bei  60  Schwangeren  mit  meist  schon 
vorgeschrittener  Tuberkulose  aus  der  Königsberger  Klinik  wurde 
23mal  die  Schwangerschaft  unterbrochen,  16  Kranke  kamen  mehr 
oder  weniger  kurze  Zeit  p.  p.  ad  exitum,  von  diesen  hatten  13 
eine  Larynxtuberkulose.  Bei  der  Schwager  schaftsnephritis 
regle  man  die  Diät  und  halte  Schädlichkeiten  ferne.  Stellen 
sich  hydropische  Ergüsse  in  den  serösein  Höhlen  ein,  dauernde 
Kopfschmerzen,  Erbrechen,  Appetitlosigkeit  und  Unterernährung, 
kommt  es  zu  zerebralen  Schädigungen  mit  häufig  rein  funktio¬ 
neilen  Erkrankungen  der  Sehfunktion,  so  muß  eine  energische, 
gegen  die  Nephritis  gerichtete  Therapie  (Bettruhe,  Milchdiät, 
Schwitzkur  durch  Bäder,  Packungen)  eingeleitet  werden.  Tritt 
keine  Besserung  ein,  zeigt  sich  vielmehr  Retinitis  albuminurica, 
so  ist  die  Unterbrechung  der  Schwangerschaft  meist  als  künst¬ 
liche  Frühgeburt  indiziert.  Bei  chronischer  Nephritis,  die 
schon  früher  bestand,  sich  während  der  Gravidität  verschlech¬ 
terte,  ist  die  frühzeitige  künstliche  Schwangerschaftsunterbrechung 
indiziert,  dagegen  gibt  eine  in  der  Gravidität  auftretende  akute 
Nephritis  keine  Indikation  ab.  Eine  Pyelitis  gibt  nur  beim 
Versagen  der  üblichen  Therapie  und  beim  Auftreten  von  bedroh¬ 
lichen  Symptomen  (dauernden  Schüttelfrösten  und  Kräfteverfall) 
die  Indikation  ab,  die  Schwangerschaft  zu  unterbrechen.  Unter 
112  Schwangeren  mit  Nephritis  wurde  lOmal  die  Schwangerschaft 
unterbrochen,  7mal  wegen  chronischer  Nephritis,  dabei  zwei 
Todesfälle  (Apoplexie  und  Schrumpfniere).  Unter  17  Fällen  von 
Pyelitis  wurde  einmal  die  Gravidität  unterbrochen.  Die  nicht 
häufige  Komplikation  von  Schwangerschaft  und  Diabetes  ist 
als  ernste  zu  bezeichnen.  Man  versuche  stets,  unter  geeigneter 
Diät,  die  Gravidität  zu  Ende  zu  führen.  Die  Anzahl  der  Kalorien 
ist  dabei  zu  vermehren.  Schreitet  der  Diabetes  vor,  nimmt  die 
Zuckerausscheidung  zu,  treten  Azeton,  Azetessigsäure,  Albumen 
und  Oxybuttersäure  im  Ham  auf,  dann  ist  die  Unterbrechung  der 
Schwangerschaft  indiziert.  Unter  drei  vom  Verf.  beobachteten 
Fällen  kam  es  einmal  trotz  Unterbrechung  zum  Coma  diabeticum 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  l'Jli. 


und  Exitus.  Die  während  der  Gravidität  akut  einsetzende 
Chorea  mit  äußerst  heftiger  Muskelunruhe  kann  zur  schweren 
Intoxikation  und  völliger  Erschöpfung  führen.  Diuretika,  Lia- 
phoretika  eventuell  Nervi  na  führen  manchmal  Besserung  herbei, 
wo  nicht,  so  unterbreche  man  die  Gravidität,  am  besten  in  den 
ersten  Monaten.  Der  praktische  Arzt  tut  gut,  schon  aus  juristi¬ 
schen  Gründen,  die  Entscheidung  im  Konsilium  mit  einem 
Internisten  und  Gynäkologen  zu  treffen.  —  (Berliner  klinische 
Wochenschrift  1910,  Nr.  49.)  E.  F. 

* 

42.  Das  Vioform  in  der  Chirurgischen!  Praxis. 

Von  Prof.  Dr.  E.  Tav'al-Bern.  Thellung  in  Winterthur  hat 
e(inen  Fall  veröffentlicht,  welchen  er  als  Yioformintoxikation 
aufgefaßt  hat.  Obwohl  Tavel  (die  Ueberzeugung  hatte,  daß  es 
sich  nicht  um  eine  solche,  sondern  um  eine  postoperative  Psy¬ 
chose  gehandelt  hat,  so  stellte  er  doch  eine  Rundfrage  an  alle 
schweizerischen  Aerzte  über  ihre  persönlichen  Erfahrungen  über 
das  Vioform.  Die  Sammelforschuüg  ergab,  daß  Vioform  sehr 
viel  verwendet  wird.  Trotzdem  wurden  nie  Schwerere  Intoxika¬ 
tionserscheinungen  beobachtet  und  wurde  überhaupt  über  das 
Vioform)  nichts  Ungünstiges  berichtet,  vielmehr  wird  berichtet, 
daß  Vioform  eine  gute  antituberkulöse  Wirkung  hat.  Die  Ansicht 
Tavels,  daß  es  sich  bei  Thelling  nicht  um  eine  Yiofomr- 
intoxikation  gehandelt  hat,  wird  durch  dieses  Ergebnis  der  Rund¬ 
frage  gestützt.  —  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte, 
40.  Jahrg.,  Nr.  28.)  K.  S. 

* 

43.  Ueber  primäre  epitheliale  Geschwülste  des 
Gehirnes.  Zugleich  Untersuchungen  und  Betrach¬ 
tungen  über  das  Ependymepithel.  Von  Dr.  Karl  Hort- 
Prosektor  am  Augusta-  Viktoria  -  Krankenhaus  in  Schöneberg-Ber¬ 
lin).  Das  Studium  der  rein  primären  epithelialen  Geschwülste 
des  Gehirns  eignet  sich  sehr  gut  zur  Klärung  einer  Reihe  von  auf 
das  Ependymepithel  der  Ventrikel  Bezug  habenden  Fragen,  so 
die  nach  der  Gleichwertigkeit  oder  Verschiedenheit  des  Ependym- 
epithels  an  den  einzelnen  Wandabschnitten  der  Ventrikel  und 
der  Plexus  chorioidei,  ferner  die  Frage  nach  der  epithelialen 
Selbständigkeit  der  Ependymepithelien  oder  ihrer  Fähigkeit,  den 
Charakter  als  Deckzellen  zu  verlieren,  dann  die"  Frage  nach 
der  Beziehung  der  Ependymepithelien  zu  epithelialen  und  gliösen 
Neubildungen,  eine  Frage,  deren  Beantwortung  geeignet  ist,  im 
allgemeinen  die  Frage  der  Geschwulstbildung  im  Gehirne  zu 
beleuchten.  Zu  all  diesen  Fragen  nimmt  der  Verfasser  in  seiner 
Arbeit  Stellung.  Bezüglich  der  Resultate  seiner  Untersuchungen, 
gewonnen  aus  eigenen  Beobachtungen  und  teilweise  auch  ge¬ 
schöpft  aus  der  Literatur,  muß.  auf  das  Original  verwiesen  werden. 

(Archiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  11.  2.) 

S. 

* 

44.  Ueber  den  Tu  b  er  kelbaz  ill  engehalt  ver¬ 
kalkter  Her  d  e.  Von  Priv.-  Doz.  Dr.  Karl  W  e  g  e  1  i  n,  erstem 
Assistenten  am  pathologischen  Institut  in  Bern.  Bisher  wurde 
angenommen,  daß  in  den  verkalkten  Herden,  wenigstens  in  den 
härteren,  die  Tuberkelbazillen  abgestorben  und  völlig  zugrunde 
gegangen  seien.  Neuere  Untersuchungen  haben  gezeigt,  daß  dies 
keineswegs  für  alle  Fälle  zutrifft.  Die  Infektiosität  bloß  ver¬ 
käster  Herde  mit  partieller  Verkalkung  haben  schon  v.  Baum¬ 
garten,  Kurlow  und  Lubarsch  nachgewiesen.  Weber,  Ra- 
bi  no  witsch  und  E.  Schmitz  in  jüngster  Zeit  haben  aber 
auch  an  verkalkten  und  verkreideten  Herden  öfters  mikroskopisch 
Tuberkel  bazillen  nachweisen  können  und  noch  öfter  im  Tier¬ 
versuche  die  Infektiosität  aller  Herde,  besonders  der  verklei¬ 
deten,  weniger  der  verkalkten.  In  den  meisten  Fällen  aber  fielen 
die  Resultate  positiv  aus,  wenn  die  verkalkten  und  verkrei¬ 
deten  Herde  nicht  von  (Menschen,  sondern  von,  Rindern  stammten 
oder  von  Schweinen,  so  daß  Schjmitz  den  Schluß  zog,  daß 
„dem  Verkalkungsvorgange  beim  Menschen  eine  heilsamere  Wir¬ 
kung  zukommt  als  beim  Rinde  und  Schweine“.  Wegelin  unter¬ 
nahm  es,  das  neueste  Verfahren  zum  Nachweise  von  Tuberkel¬ 
bazillen,  das  Antiformin  bei  der  Untersuchung  verkalkter  Herde 
anzuwenden  und  vermochte  in  einer  relativ  großen  Zahl  von 
verkalktem  Herden  und  in  den  meisten  verkreideten  Herden 
Tuberkelbazillen  nachzuweisen.  Es  ist  also  so  gut  wie  sicher, 


daß  verkalkte  Herde  mit  vorausgegangenen  tuberkulös  u 
z essen  in  Verbindung  gebracht  werden  dürfen,  wobei  aber  ; 
mferkt  werden  muß,  daß  hiebei  nur  verkalkte  Herde  in  d  n 
Lungen  oder  Lymphdrüsen  zu  verstehen  sind,  denn  bei  Kalk¬ 
herden  in  anderen  Organen  bleibt  die  tuberkulöse  Natur  ,iu 
vielen  Fällen  fraglich.  Schlmitz  ist  der  Meinung,  daß  ver¬ 
kalkte  Herde  für  den  Träger  immer  noch  gefährlich  sind,  da 
durch  verschiedene  Momente  die  Tuberkel  bazillen  wieder  mo¬ 
bilisiert  werden  könnten.  Wegelin  schätzt  diese  Gefahr  nicht 
s!o  hoch  ein,  da  es  sich  zumeist  nur  um  eine  geringe  Anzahl 
von  Bazillen  (die  Zahl,  resp.  Menge  der  Bazillen  spielt  ja  b  im 
Zustandekommen  einer  Infektion  auch  eine  Rolle)  handelt,  deren 
Virulenz  zudem  manchmal  auch  noch  eine  Abschwächung  er¬ 
fahren  haben  dürfte.  Tatsächlich  dürfte  also  wohl  in  den  meisten 
Fällen  die  Verkalkung  als  klinisch  günstiger  Ausgang  eines  tuber¬ 
kulösen  Prozesses  auch  fernerhin  betrachtet  werden  können, 
wenngleich  vom  biologischen  Standpunkte  nicht  von  einer  völligen 
Heilung  gesprochen  werden  kann,  ■  (Korrespondenzblatt  für 
Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg.,  Nr.  29.)  K.  S. 

* 

45.  (Aus  der:  chirurgischen  Abteilung  zu  Heidelberg.  Di¬ 
rektor  :  Prof.  Dr.  M.  W  i  1  m  s.)  Die  k  1  i  n  i  s  c  h  e  Bed  e  u  t  u  n  g  des 
sogenannten  Pagetschen  Brustkrebses  (Krebsekzem 
der  Brust).  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Georg  Hirschei.  Paget  hat 
bekanntlich  die  Beobachtung  gemacht,  daß  es  gewisse  chro¬ 
nische  Formen  von  Ekzem  der  weiblichen  Brustwarze  und  des 
Warzenhofeis  gab,  die  jeder  Therapie  trotzten  und  schließlich  in 
Karzinom  ausarteten,  das  sich  in  gar  nichts  von  dem  gewöhnlichen 
Mammakarzinom  unterschied.  Er  huldigte  der  Ansicht,  daß  das 
chronische  Ekzem  den  Reiz  zu  dem  sich  später  entwickelnden 
Karzinom  abgab.  Auch  die  späteren  Autoren)  betrachteten  den 
Pagetschen  Brustkrebs  geradezu  als  typisches  Beispiel  für  das. 
Entstehen  eines  Karzinoms  aus  primär  umgewandeltem  Epithel. 
Diese  Ansicht  hat  sich  als  falsch  erwiesen.  Durch  die  Untersuchun¬ 
gen  des  Verfassers  u nd  anderer  (Jacobaeus,  Ri b b e r t,  Sw  h a m- 
b ach  er  u.  a.)  wurde  nachgewiesen,  daß  das  Ekzem  erst  sekundär 
auf  dem  Boden  eines  Karzinoms  entstanden  ist,  das1  vom  Drüsen¬ 
epithel  der  Milchgänge  seinen  Ausgangspunkt  nimmt.  Die  Kar 
zinomzellen  wandern  nach  oben,  dringen  in  die  Epidermis*  ein 
und  verändern  dieselbe  derartig,  daß«  klinisch  das  Bild  eines 
Ekzems  entsteht.  Man  weiß  also  heutzutage,  daß  das  Karzinom 
bereits  vorhanden  ist  und  daß  das  Ekzem  als  eine  sekundäre 
Folgeerscheinung  desselben  aufzufassen  ist.  Die  Therapie  ist  daher 
möglichst  rasche  und  gründliche  chirurgische  Entfernung  der 
erkrankten  Mamma.  Wichtig  ist  also  das  frühzeitige  Stellen  der 
richtigen  Diagnose.  Yerf.  berichtet  über  zwei  vor  kurzem  beob¬ 
achtete  und  operierte  Fälle.  Der  eine  bei  einer  60jährigen  Frau 
vom  Lande,  die  vor  2Va  Jahren  heben  der  rechten  Brustwarze 
einen  kleinen  Hautausschlag  bemerkte.  Der  erst  spät  hinzu¬ 
gezogene  Arzt  schickte  die  Patientin  sofort  auf  die  Klinik.  Hier 
wurde  die  Amputation  der  Mamma  mit  Achselhöhlenausräumung 
vorgenommen.  Die  mikroskopische  Untersuchung  ergab  einen  typi¬ 
schen  Paget-Krebs.  Im  zweiten  Falle  bemerkte  eine  52jährige  Frau 
vor  etwa  14  Monaten  zwei  rote  Pustelchen  oberhalb  der  rechten 
Brustwarze.  Hier  wurde  erst  mehrfache  Salbenbehandlung  ver¬ 
ordnet.  Bei  fortschreitendem  Leiden  wurde  ein  Dermatologe  kon¬ 
sultiert,  der  sofortige  Operation  anriet.  Bei  der  Untersuchung 
zeigte  sich  das  typische  Bild  eines  Paget-Krebsies  der  rechten 
Brust.  Direkt  unter  den  erkrankten  Hautpartien  konnte  man  einen 
kleinhühnereigroßen,  harten  Tumor  abtasten,  der  mit  der  Mamilla 
zusammenzuhängen  schien,  ln  der  rechten  Achselhöhle  barte 
Drüsen.  Das  Karzinom  machte  einen  prognostisch  ungünstigen 
Eindruck.  Bald  nach  der  Operation  an  der  Haut  multiple  Rezi¬ 
dive;  Röntgenbestrahlungen.  Auch  hier  das  typische  mikrosko¬ 
pische  Bild.  Die  Anfänge  des  Karzinoms  sind  in  der  Mamilla 
zu  suchen.  Man  sieht  die  Karzinomzellen  in  den  teilweise  er¬ 
weiterten  Milchgängen  emporwuchern,  teils  der  Haut  der  Mamilla 
sich  nähern.  Letztere  brechen  dann  in  die  Epidermis  ein  und 
zwar  zunächst  in  das  Stratum  Malpighi,  das  sie-  oft,  in  Reihen 
angeordnet,  durchsetzen  und  weiter  nach  oben  gegen  die  Horn¬ 
schicht  der  Haut.  Unter  dieser  Schicht  sieht  man  neben  den 
Krebszellen  eine  ausgedehnte  kleinzellige  Infiltration.  Schließlich 
wird  auch  diese  Hornschicht  durchdrungen,  abgehoben  und  zer- 


80 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2 


stört  und  ein  klinisch  ekzemartiges  Bild  hervoi'gebracht.  Die 
Mamilla  bildet  den  Mittelpunkt  dieses  Zerstörungsprozesses.  Sie 
sinkt  später  ein  und  ist  nicht  mehr  zu  erkennen.  Unterdessen 
breitet  sich  das  Krebsekzem  strahlenförmig  im  Warzenhofe  aus 
und  bildet  eine  teils  borkige,  teils  nässende,  der  Epidermis  be¬ 
raubte  Fläche.  Auch  in  der  Tiefe  hat  sich  das  Karzinom  ausge¬ 
dehnt,  vergrößert  und  Tauben-  bis  Hühnereigröße  erreicht.  Auch 
Drüsenmetastasen  sind  jetzt  schon  nachweisbar.  Hier  in  diesen 
beiden  Fällen  verstrich  Ins  zu  diesem  Stadium  einmal  ein  Zeit¬ 
raum  von  14  Monaten,  das  andere  Mal  von  über  zwei  Jahren. 
Beim  ersten  Falle  des  Verfassers  datierte  das  Leiden  ein  Jahr 
zurück.  Die  Krankheit  schreitet  also  verhältnismäßig  langsam  vor¬ 
wärts.  Bis  jetzt  sind  über  hundert  Fälle  in  der  Literatur  bekannt. 
Verf.  möchte  durch  Veröffentlichung  seiner  beiden  Fälle  darauf 
hinweisen,  jedes  chronische  Ekzem  der  Brustwarze  und  des' 
Warzenhofes  mit  möglichster  Sorgfalt  zu  behandeln  und  zu  beob¬ 
achten  und  bei  unsicherer  Diagnose  eine  Probeexzision  auszu¬ 
führen  in  der  Erkenntnis,  daß  in  der  Mamma  eventuell  schon  ein 
kleines  Karzinom  besteht,  das  sekundär  das  Ekzem  verursacht 
und  das  bei  frühzeitiger  Exstirpation  eine  Dauerheilung  erwarten 
läßt.  In  den  beiden  mitgeteilten  Fällen  wurde  der  bösartige  Cha¬ 
rakter  erst  spät  erkannt.  Nach  Verf.  dürfte  die  Bezeichnung  „Krebs¬ 
ekzem  der  Brust“  für  diese  Art  Mammakarzinom1  zutreffender 
erscheinen,  als  „Pag  et  scher  Brustkrebs“,  zumal  auch  Paget  der 
Ansicht  war,  daß  das  Karzinom  auf  dem  Boden  des  Ekzems  ent¬ 
steht,  während  in  Wirklichkeit  das  Karzinom  als  primär  zu  be¬ 
trachten  ist.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1910, 
Nr.  50.)  G. 

* 

46.  Zur  Diagnose  der  Anämie.  Von  Dr.  Rh  einer  (f) 
in  St.  Gallen.  Bleiches  Aussehen  und  Nonnengeräusche  ge¬ 
nügen  nicht  für  die  Diagnose  Anämie,  da  beides  auch  bei  nor¬ 
malem  Hämoglobingehalt  Vorkommen  kann.  Es  ist  daher  ge¬ 
radezu  notwendig,  daß  auch  der  praktische  Arzt  die  Ilämo- 
globinbestimmung  vornimmt,  zumal  dieselbe  mit  dem  Gower- 
S ah li sehen  Instrument  ausgeführt,  eine  rasche  und  bequeme 
Untersuchungsmethode  darstellt.  Es  zeigt  sich  insbesondere,  daß 
bei  fast  sämtlichen  grazilen,  oberflächlich  als  blutarm  imponie¬ 
renden  Menschen  mit  nervösen  Klagen  das  Blut  nicht  an  Hämo¬ 
globin  verarmt  ist.  Eisentherapie  ist  natürlich  in  solchen  Fällen 
nicht  nur  nutzlos,  sondern  sogar  schädigend,  dagegen  erzielen 
möglichste  Ausschaltung  der  die  Nerven  schädigenden  Faktoren 
in  Verbindung  mit  seelischer  Behandlung  usw.  gute  Resultate. 
Wirkliche  Anämie  und  Nervosität  sind  nicht  häufig  kombiniert. 
Bei  ausgesprochener  Anämie  findet  sich  regelmäßig  sogar  im 
Gegensätze  zu  den  scheinbar  blutarmen  Nervösen  ein  stabiler, 
mehr  oder  weniger  ausgesprochener  Torpor  in  der  motorischen 
und  sensoriellen  Sphäre,  der  Inur  bei  besonders  heftigen  phy¬ 
sischen  oder  psychischen  Reizen  zu  strohfeuerartigen  Explo¬ 
sionen  führt.  Jedenfalls  besteht  kein  notgedrungener  und  häu¬ 
figer  Zusammenhang  zwischen  Anämie  und-  Nervosität,  wie  es 
so  vielfach  angenommen  wird.  Allerdings  so  „höchst  selten“  wie 
Dubois  annimmt,  dürfte  die  Kombination  auch  nicht  sein. 
Warum  Sollen  denn  Nervöse  [nicht  auch  anämisch  sein  können  und 
umgekehrt?  Man  kann  doch  nicht  gut  annehmen,  daß  Anämie 
einen  gewissen  schützenden  Einfluß  gegen  die  sonst  so  enorm 
verbreitete  Nervosität  ausüben  kann  und  warum  sollte  ein  ner¬ 
vöser  Mensch  bei  komplikatorischer  Erkrankung  an  Anämie  seine 
Nervosität  plötzlich  verlieren?  Die  vielfache  Erfahrung  aber, 
daß  nach  dem  Verschwinden  der  Anämie  die  Nervosität  oft 
unverändert  oder  selbst  in  verstärktem  Maße  weiterspielt,  dürfte 
wohl  zugunsten  obiger  Annahme  sprechen,  daß  der  Zusammen¬ 
hang  von  Anämie  und  Nervosität  kein  häufiger  und  notgedrun- 
gencr  ist.  —  (Fortschritte  (der  Medizin,  28.  Jahrg.,  Nr.  39.) 

K.  S. 

* 

47.  Ist  die  Landkartenzunge  erblich?  Von  Sanitäts¬ 
rat  Dr.  W.  Lublinsky  in  Berlin.  Man  bezeichnet  mit  dem 
Namen  Landkartenzunge  eine  eigentümliche,  flüchtige  und  ver¬ 
änderliche  Affeklion,  die  meist  aus  mehreren  runden  oder  ovalen 
Flecken  besteht,  welche  zunächst  in  ihrem  ganzen  Umfange,  im 
weiterem  Verlaufe  nur  teilweise  von  einem  grauweißen  bis  grau¬ 
gelblichen,  ein  wenig  erhabenen,  scharfen  Rande  umgeben  sind. 


Diese  Flecken  sind  nicht  entzündet  und  zeigen  eine  deutliche 
Anschwellung  der  Papillae  fungiformes,  während  die  Papillae 
filiformes  nicht  mehr  zu  erkennen  sind.  Die  Flecken  gehen  von 
der  Zungenoberfläche  auf  die  Ränder  und  die  Spitze  über,  sie 
durchschneiden  einander,  fließen  ineinander  über,  daher  die  eigen¬ 
tümliche  Zeichnung,  welche  zur  Bezeichnung  der  Landkarten¬ 
zunge  geführt  hat.  Sie  verschwindein  ziemlich  rasch,  so  daß 
die  Zunge  normal  aussieht,  kehren  wieder,  zeigen  stets  denselben 
Charakter.  In  ungefähr  der  Hälfte  kombinieren  sie  sich  mit  der 
sogenannten  Faltenzunge,  bei  welcher  die  Zunge  Furchen  zeigt, 
die  vom  Zungengrunde  bis  zu  den  Rändern  reichen,  die  Zunge 
in  Lappen  zerlegen,  bei  geringen  Reizen  schon  leichtes  Brennen 
und  Speichelfluß  hervorrufen.  Auch  die  Faltenzunge  hat  nichts 
mit  der  Syphilis  zu  tun.  Die  Landkartenzunge  (mit  und  ohne 
Faltenzunge)  besteht  zumeist  schon  seit  der  Kindheit.  Ueber  ihre 
Ursache  ist  nichts  Sicheres  bekannt,  die  verschiedenen  Autoren 
haben  die  hereditäre  Lues,  die  Tuberkulose,  intestinale  Stö¬ 
rungen  usw.  als  Ursache  beschuldigt.  Verf.  sah  mehr  als  50  Fälle, 
deren  einzelne  er  viele  Jahre  lang  beobachtete.  Immer  kehrten 
wieder  Heredität  und  Familiarität,  es  gab  Fälle,  wo  Gro߬ 
mutter,  Mutter  und  Kind  das  Symptom  zeigten,  in  einem  Falle 
zeigte  sogar  schon  der  Urgroßvater  diese  Veränderung  der  Zunge. 
Verf.  glaubt  mit  Benard,  daß  es  sich  hiebei  um  eine  angeborene 
Schwäche  des  Schleimhautepithels  der  Zunge  handle.  Eine  eigent¬ 
liche  Therapie  gibt  es  nicht,  man  wende  keine  ätzenden 
oder  adstringierenden  Mittel  an,  spüle  höchstens  mit  leichten 
alkalischen  Wässern,  mit  dünnen  Wasserstoffhyperoxydlösungen, 
besonders  nach  den  Mahlzeiten  und  schränke  den  Alkohol-  und 
Tabakgenuß  bei  Erwachsenen  ein.  Eine  reizende  Behandlung 
könnte  zur  Bildung  von  tiefen  und  zahlreichen  Spalten  Veran¬ 
lassung  geben.  —  (Deutsche  medizinische  Wochenschrift  1910, 
Nr.  50.)  E.  F. 

* 

48.  Die  Behandlung  der  Prostatahypertrophie. 
V on  Priv.- Doz.  Dr.  Georg  Axhause n- Berlin.  Die  Behandlung 
der  Prostatahypertrophie  ist  verschieden,  je  nach  den  Erschei¬ 
nungsformen  der  Erkrankung,  resp.  je  nach  den  Etappen  in  der 
Entwicklung  des  Leidens.  Man  hat  diesbezüglich  zu  unterscheiden : 
1.  ein  prämonitorisches  Stadium,  2.  die  inkomplette  Retention 
ohne  wesentliche  Distension,  3.  die  inkomplette  Retention  mit 
Distension,  4.  die  komplette  Retention,  5.  die  komplizierte  Pro¬ 
statahypertrophie,  kompliziert  durch  Infektion  der  Harnwege  und 
durch  Blutungen.  Die  Beschwerden  im  prämonitorischen  Sta¬ 
dium  sind  einer  sachgemäßen  Therapie  durchaus  zugänglich  und 
gleichzeitig  dient  diese  Therapie  prophylaktisch  gegen  die  wei¬ 
tere  Entwicklung  der  Erkrankung.  Sie  besteht  in  einer  Rege¬ 
lung  der  Lebensführung  und  in  diätetisch -physikalischen  Ma߬ 
nahmen,  welche  auch  den  Patienten  anzuraten  ist,  die  sich 
schon  im  zweiten  und  dritten  Stadium  befinden,  wo  dann  der 
Katheterismus  den  therapeutischen  Hauptfaktor  darstellt  (zwei- 
bis  dreimal  täglich),  wodurch  der  Patient  öfters  wieder  in  das 
zweite  oder  gar  erste  Stadium  zurückgebracht  werden  kann. 
Als  Hilfsmaßnahmen  kommen  hydriatische  und  andere  in  Be¬ 
tracht,  welche  auf  Beseitigung  der  Kongestion  der  Prostata  hin¬ 
zielen.  Bei  der  geringsten  Trübung  des  Urins  wird  nach  jedem. 
Katheterisieren  eine  Blasenspülung  vorgenommen,  entweder  mit 
Borlösung  oder  Solut.  hydrargyr.  oxycyanat.  1:5000.  Gleich¬ 
zeitig  wird  Salol  oder  ähnliches  intern  gegeben.  Stellt  sich  spon¬ 
tane  Miktion  nach  dem  Katheterismus,  z.  B.  bei  akuter  Retention, 
nicht  wieder  her,  so  müß  man  einen  Dauerkatheter  c inlegen. 
Gelingt  der  Katheterismus  in  keiner  Weise,  so  bleibt  nur  die 
Blasenpunktion  übrig,  die  aber  nicht  ganz  ungefährlich  ist,  wenn 
die  Blase  nicht  ad  maximum  gefüllt  ist,  da  dann  das  Peritoneum 
leicht  verletzt  wird.  Die  Punktion  ist  kaum  jemals  zu  wieder¬ 
holen,  da  nach  den  Beobachtungen  Axhausens  in  allen  Fällen 
am  nächstem  Tage  der  Katheterismus  möglich  ist.  S*oi  sehr 
der  Katheterismus  in  vielen  Fällen  von  Prostatahyper¬ 
trophie'  ein  vorzüglich  wirkendes  Palliativ-  und  bei  der 
akuten  Retention  ein  glänzendes  Hilfsmittel  darstellt,  so 
kommen  doch  Eälle  vor,  wo  die  Besserung  nicht  eintreten  will 
oder  nur  kurze  Zeit  anhält  oder  wo  dauernde,  respektive  immer 
wiederkehrende  Blutungen  die  Folge  sind;  in  diesen  Fällen  muß 
operativ  Hilfe  geschaffen  werden.  Als  Operation  der  Wahl  gilt 


Nr.  2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


heute  nur  die  Prostatektomie.  Nur  wo  sie  verweigert  wird,  kommt 
die  Anlegung  einer  Blasenfistel,  die  Zystotomie,  in  Frage.  Für 
die  Prostatektomie  dürfte  das  suprapubische  Verfahren  das  nor¬ 
male  sein.  Was  die  akute  Zystitis  oder  Pyelitis  anbelangt;, 
welche  während  der  Katheterbehandlung  einsetzen  kann,  so  wird 
sie  nach  den  allgemeinen  Grundsätzen  behandelt.  Hier  stehen 
ebenfalls  physikalisch -diätetische  Behandlungsmethoden  obenan, 
insbesonders  heiße  Sitzbäder  und  schottische  Duschen.  Zystitis 
und  Pyelitis  bilden  keine  Kontraindikation  für  operative  Eint 
griffe.  Anders  steht  es  bei  den  schweren  Infektionen  der  Harn¬ 
wege,  bei  vorgeschrittenen  oder  verschleppten  Fällen.  In  diesen 
Fällen  ist  der  Dauerkatheterismus  mit  mehrmaligen  Blasen¬ 
waschungen  am  Tage  vorzuziehen  und  daneben  Allgemeinbehand¬ 
lung  einzuleiten,  wodurch  die  Patienten  manchmal  doch  noch 
für  die  Operation  vorbereitet  werden  können.  Allenfalls  kann  die 
Vornahme  der  kleinen  Operation  der  Vasektomie  nach  He  1  Le¬ 
ri  ch  große  Vorteile  bringen.  Verharren  jedoch  trotz  zweck¬ 
mäßiger  Behandlung  die  Patienten  in  ihrem  chronischen  urä¬ 
misch-pyämischen  Zustand,  so  ist  die  radikale  Operation  über¬ 
haupt  nicht  mehr  am  Platze.  Nur  die  Zystotomie  vermag  noch 
einen  erträglichen  Zustand  zu  schaffen.  —  (Fortschritte  der 
Medizin  1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  38  und  39.)  K.  S. 

* 

Aus  russischen  Zeitschriften. 

49.  (Aus  der  therapeutischen  Hospitalklinik  der  Tomsker 
Universität.  —  Vorstand:  Prof.  N.  N.  Alexandro  witsch-Dot- 
schewskij.)  Zur  Frage  der  Phagozytose  bei  Blut¬ 
armut.  (Vorläufige  Mitteilung.)  Von  J.  A.  Kalatschnikow. 
Bei  Chlorose  und  bei  Anämie  nach  Blutverlusten  sinkt  die  Phago¬ 
zytose  stark.  Zwei  Kaninchen  haben  bei  ungefähr  gleichen  Be¬ 
dingungen  und  ungefähr  gleicher  Blutzusammensetzung  gleiche 
phagozytäre  Energie,  sowohl  bei  Verwendung  des  eigenen  Blut¬ 
serums,  als  auch  bei  wechselseitigem  Austausch.  Wird  einem 
Kaninchen  Blut  entnommen,  so  sinkt  seine  phagozytäre  Energie 
im  Vergleiche  zum  Kontrolltiere.  Das  Serum  des  (infolge  Blut¬ 
entnahme  anämischen)  Kaninchens  ist  imstande,  die  phagozytäre 
Energie  der  Leukozyten  des  Kontrolltieres  bedeutend  zu  steigern, 
so  daß  dieselben  nicht  nur  energischer  phagozytieren,  als  die 
des  anämischen  Kaninchens,  sondern  auch  energischer,  als  sie 
es  früher  —  unter  dem  Einflüsse  des  eigenen  Serums  —  getan 
hatten.  Das  Blutserum  des  normalen  Kaninchens  beeinflußt  die 
Phagozytose  des  anämischen  weder  in  positivem  noch  in  nega¬ 
tivem  Sinne.  Das  (durch  Erhitzen  auf  56  bis  56-5°  durch  30  Mi¬ 
nuten)  inaktivierte  Serum  des  anämischen  Kaninchens  vermindert 
die  phagozytäre  Kraft,  sowohl  der  eigenen  Leukozyten,  als  auch 
derjenigen  des  Kontrolltieres.  Wird  jedoch  hiezu  natives  Serum 
des  anämischen  Kaninchens  zugefügt,  so  tritt  wieder  die  Erhöhung 
der  phagozytären  Kraft  ein.  Die  thermolabile  Substanz  des  Serums 
wirkt  hauptsächlich  auf  die  Leukozyten  selbst,  dabei  hängt  der 
Grad  der  Phagozytose  davon  ab,  ob  die  Leukozyten  injröherem 
oder  geringerem  Maße  von  der  erregenden  Substanz  beeinflußt 
werden.  Wir  sehen  daher,  daß  bei  Blutarmut  die  phagozytäre 
Kraft  der  Leukozyten  sinkt,  die  Fähigkeit  des  Serums,  Phagozytose 
zu  erregen,  dagegen  steigt.  —  (Russkij  Wratsch  1910,  Nr.  30.) 

J.  Sch. 

* 

50.  (Aus  dem  physiologischen  Laboratorium  von  Professor 

S.  P.  Pawlow  an  der  milit.-med.  Akad.  in  Peter's  bürg.)  lieber 
die  Kernprobe  von  Prof.  Schmidt.  Von  N.  N.  v.  Westen- 
rijk.  Die  Kernprobe  Schmidts  hält  in  der  Form,  wie  sie  vom 
Verfasser  vorgeschlagen  worden  ist,  einer  strengen  wissenschaft¬ 
lichen  Kritik  nicht  stand.  Es  hat  keinen  besonderen  Wert,  die 
Muskelstückchen  mikroskopisch  auf  das  Vorhandensein  von 
Muskelkernen  zu  untersuchen,  es  genügt  vielmehr  die  makro¬ 
skopische  Inspektion  des  Tüllsäckcheninhaltes  nach  Beendigung 
der  Probe.  Die  Unveränderlichkeit  der  Größe  des  Fleischwürfel- 
chens  (i.  e.  die  Abwesenheit  von  Myolyse)  bei  Achylie  des  Magens 
oder  bei  Neutralisation  des  normalein,  bzw.  an  saurem  Katarrh 
erkrankten  Magens  spricht  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  für  eine 
Erkrankung  der  Bauchspeicheldrüse.  Der  Darmsaft  hat  ähnliche 
Wirkungen  bezüglich  des  Fleischwürfelchens  wie  der  Magen¬ 
saft..  (Russkij  Wratsch  1910,  Nr.  21.)  .1.  Sch. 

* 


51.  (Aus  der  therapeutischen  Hospitalklinik  des  Professors 

K.  E.  W  ag  n  er  der  Universität  in  Kiew.)  Z  u  rFrage  d  er  B  a  u  c  h- 
massage  bei  Herzkrankheiten.  Von  .1.  B.  Studzinski. 
Auf  Grund  sorgfältiger  klinischer  Beobachtungen  und  unter  Be¬ 
rücksichtigung  der  einschlägigen  Literatur  './  ’langt  Verf.  zu  fol¬ 
genden  Ergebnissen.  Die  Bauchmassage  ist  1  i  allen  Herzkrank¬ 
heitenanwendbar.  Gefäß  Verdickungen  sind  m-V  als  Gegenanzeige 
der  Bauchmassage  anzusehen.  Die  Bauchmassage  übt  im  all 
gemeinen  einen  günstigen  Einfluß  auf  das  Subjekt  ive  Vilgemeie 
befinden  der  Patienten  aus,  beseitigt  recht  oft  verschiedene  un¬ 
angenehme  subjektive  Empfindungen,  wie  Atemnot,  Herzklopfen, 
Schmerzen  in  der  Herzgegend  usw.  Auch  bei  Fällen  mit  gestörter 
Kompensation  scheint  die  Bauchmassage  günstig  zu  wirken.  Der 
Gefäßtonus  hat  die  Tendenz,  unter  dem  Einflüsse  der  Massage 
eher  zu  sinken  als  zu  steigert,  so  daß  nach  dieser  Richtung 
die  Bauchmassage  an  die  Wirkung  von  kohlensauren  Bädern 
erinnert.  —  (Russkij  Wratsch  1910,  Nr.  44.)  J.  Sch. 

* 

52.  (Aus  der  physiotherapeutischen  Abteilung  des  klinischen 
Instituts  des  Großfürstin  Helena  Pawlowna.)  Zur  Frage  der 
Temperaturkrisen  bei  Tabikern.  Von  W.  A.  Stange  und 
S.  A.  Brust  ein.  Die  Verfasser  beschreiben  einen  Fall,  bei  dem 
es  sich  um  die  seltene  Form  von  tabischen  Krisen  —  „Temperatur- 
krisen“  —  handelte.  Diese  Krisen  waren  durch  periodische  Tem¬ 
peratursteigerungen  charakterisiert.  Als  auslösende  Ursache  mußte 
ein  Trauma  angenommen  werden.  Daneben  bestand  eine  Anzahl 
anderer  tabischer  Symptome.  —  (Russkij  Wratsch  1910,  Nr.  21.) 

J.  Sch. 

* 

Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

53.  Die  Diagnose  und  Behandlung  der  Gelenks¬ 
entzündungen  gastrointestinalen  Ursprungs.  Von 
W.  Marshall.  Im  Anschluß  an  Typhus  und  Dysenterie  werden 
nicht  selten  Gelenksaffektionen  beobachtet,  die  mit  der  Grund¬ 
krankheit  verschwinden.  Aber  auch  sonst  beobachtet  man  Ge¬ 
lenkserkrankungen,  die  ätiologisch  auf  den  Magen  -  Darmkanal 
zurückzuführen  sind.  Die  giftigen  Abbauprodukte  des  Eiweiß, 
deren  Bildung  durch  eine  reichliche  Bakterienflora  gefördert  wird, 
Stauung  des  'Darminhaltes,  abnorme  Durchlässigkeit  der  Darm¬ 
wand  für  die  Fäulnisprodukte  und  eine  gewisse  Empfindlichkeit 
der  Gelenke  kommen  für  die  Entstehung  der  arthritischen  Affek¬ 
tionen  gastrointestinalen  Ursprungs  in  Betracht.  Die  Entwicklung 
der  Fäulnisbakterien  kann  durch  Darreichung  von  Milchsäure¬ 
bazillen  enthaltenden  Substanzen  gehemmt  werden.  Durch  Ver¬ 
minderung  des  Eiweißgehaltes  der  Nahrung  wird  der  Bildung  der 
Fäulnisprodukte  desselben  vorgebeugt.  Spülungen  des  Dickdarms 
und  Regelung  des  Stuhles  beseitigen  die  Kotstauung.  In  einem 
Falle  verschwand  durch  regelmäßige  Darmspülungen  neben  der 
Arthritis  auch  eine  sie  begleitende  Psoriasis.  Bei  allen  Gelenks¬ 
störungen,  deren  Ursprung  okkult  ist  und  welche  der  gewöhn¬ 
lichen  Therapie  Widerstand  leisten,  soll  man  an  die  Möglich¬ 
keit  eines  gastrointestinalen  Ursprunges  denken.  —  (The  Journal 
of  the  Arner.  Med.  Association,  26.  November  1910.)  sz. 

* 

54.  Die  Wirkung  des  Alkohols  auf  Psychoneu- 
rosen.  Von  A.  Gordon.  Pathologische,  klinische  und  experi¬ 
mentelle  Daten  beweisen  mit  fast  mathematischer  Sicherheit,  daß 
die  Wirkung  des  Alkohols  auf  den  menschlichen  Körper  eine 
verhängnisvolle  ist.  Die  Beobachtungen,  über  welche  der  Ver¬ 
fasser  berichtet,  illustrieren  die  Tatsache,  daß-  Individuen,  die  mit 
Psychoneurosen  behaftet  sind,  ein  besonders  günstiges  Feld  für 
die  schädliche  Wirkung  des  Alkohols  ders  teilen.  Schon  geringe 
Mengen  alkoholischer  Getränke  haben  auf  psychasthenische,  hypo¬ 
chondrische  und  hysterische  Personen  eine  schlechte  \1  irkung. 
Da  schon  das  moderne  Leben  mit  seinen  nervenaufreibenden 
Schädlichkeiten  die  Zahl  der  Psychoneurotiker  außerordentlich 
anwachsen  läßt,  so  muß  alles,  was  ihre  Zahl  noch  vermehren  und 
ihre  Beschwerden  steigern  kann,  vermieden  werden.  Alkohol 
befördert  die  Entstehung  von  Geisteskrankheiten  auf  psychoneu- 
rotischer  Grundlage,  was  Verf.  an  einer  Reihe  von  einschlägigen 
Beobachtungen  darlegt.  Da  schlechte  Gewohnheiten  von  Indivi¬ 
duen  mit  neuropathischer  oder  degenerative!'  Anlage  rasch  an- 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT,  1911. 


Nr.  2 


82 


genommen  werden,  so  muß  sich  die  Prophylaxe  selbst  auf  die 
.medizinale  Verordnung  von  Alkohol  erstrecken.  —  (Monthly  Cy- 
klopaedia  and  Med.  Bulletin,  November  1910.)  sz. 

* 

55.  lieber, ei  nen  v,a  r i olaähn liehen  Hautaus1  schlag 
bei  einer  Mumie  aus  der  20.  Dynastie  (1200 — 1100  vor 
Christi).  Von  A.  Ruffer  und  R.  Ferguson.  Auf  der  Haut 
einer  ägyptischen  Mumie  wurde  eine  den  Blattern  ähnliche 
Eruption  gefunden.  Die  histologische  Untersuchung  ergab  ein 
bullöses  Exanthem  innerhalb  der  Epidermis  mit  zahlreichen  Bak¬ 
terien  in  der  Haut.  —  (Journal  of  Pathology  and  Bakteriolgy 
.1910,  Bd.  15,  S.  1.)  sz.  ' 

* 

5Ö.  Beobachtungen  über  die  Veränderungen, 
w eiche  im  Blute  und  i m  K n o c h e n m a r k e  d u r c h  Hä m o r- 
rhagien  und  Blutzerstörungen  h ervorg eiruf en  wer¬ 
den.  Von  J.  Price.  Der  Autor  gibt  eine  Beschreibung  und 
Klassifikation  der  Knochenmarkzellen.  Er  leitet  sowohl  die  Ery¬ 
thro-  wie  die  Leukoblasten  von  einer  primitiven  lymphoiden  Zelle 
ab,  die  durch  Knospung  aus  dein  Riesenzellen  entsteht.  Von  in 
10 °/o igem  neutralem  Glyzerin  emulgiertem  frischen  Knochenmark 
kann  man  Ausstriche  an  fertigen.  Diese  zeigen,  nach  Jenner 
gefärbt,  viele  Details,  die  man  an  Schnitten  nicht  beobachten 
kann.  Kaninchen  wurde  Blut  entzogen.  ,Sie  wurden  nach  ver¬ 
schiedenen  Zeiträumen  getötet  und  ihr  Knochenmark  untersucht. 
Auf  diese  Weise  kann  main  die  ErythroMastenreaktion  des  Knochen¬ 
markes  sehr  gut  zur  Anschauung  bringen.  In  demselben  Maße, 
wie  die  kernhaltigen  Zellen  des  Knochenmarkes  sich  vermehren, 
vermehren  sich  auch  die  lymphoiden  Zellen,  von  denen  sie  ab¬ 
stammen.  —  (Journal  of  Pathology  and  Bakteriology  1910, 
Bd.  15,  S.  4.)  sz. 

* 

57.  Die  O  x  yd  a  s  ereakti  o  n  in  myeloiden  Ge¬ 
weben.  Von  S.  Dünn.  Die  Indophenolsynthese  aus  a - Naphthol 
und  Dimethylparaphenylendiamin  wird  durch  eosinophile  und 
neutrophile  Leukozyten  und  weniger  rasch  durch  große  hyaline 
Leukozyten  und  durch  die  Myelozyten  im  Knochenmark  und  im 
Blute  des  Leukämikers  hervorgerufen.  Mastzellen  geben  die  Re¬ 
aktion  langsamer  als  manche  Myeloblasten  (nicht  gekörnte  Myelo¬ 
zyten).  Die  Reaktion  wird  nicht  gegeben  von  Lymphozyten  oder 
roten  Blutkörperchen,  noch  von  den  normalen  Gewebselementon 
außer  dem  Epithel  der  Parotis  und  der  Tränendrüse.  Die  Oxydase 
in  den  myeloiden  Zellen  wird  nicht  zerstört  durch  den  Paraffinie¬ 
rungsprozeß.  Schnitte  werden  am  besten  in  Wasserglas  aufbe¬ 
wahrt.  Die  Oxydase  wird  bald  zerstört  durch  Salz-  und  Oxal¬ 
säure,  durch  Sublimat,  Pikrinsäure  und  Phenol,  aber  nicht  durch 
Formalin,  Blausäure,  Osmiumsäure,  Resorzin  usw.  Die  Reaktion 
ist  von  großer  Wichtigkeit  zur  Veranschaulichung  der  Verteilung 
des  myeloiden  Gewebes.  (Journal  of  Pathology  and  Bakterio¬ 
logy  1910,  Bd'.  15,  S.  20.)  '  sz. 

Vermisehfce  Naehriehten. 

Ernannt:  Br.  Dustin  zum  a.  o.  Professor  der  Histologie 
in  Brüssel. 

* 

Verliehen:  Priv.-Doz.  Dr.  Ludwig  Sc'hmeic  h  1  er,  Augen¬ 
arzt  in  Brünn,  der  Titel  eines  a.  ,o.  Professors.  —  Den  Privat¬ 
dozenten  Dr.  K.  Baisch  und  Dr.  R.  Hacker  in  München  der 
Titel  und  Rang  eines  Professors.  -  Dem  Privatdozenteni  für 
Frauenheilkunde  in  Breslau  Dr.  W.  Hannes  der  Professortitel. 

Dein  Röntgenologen  Dr.  Go.cht  in  Halle  der  Profess ortitel. 

Den  Privatdozenten  Dr.  E.  Schlesinger  (Kinderheilkunde), 
Dr.  H.  Fuchs  (Anatomie);  Dr.  G i  Idem  e i s ter  (Physiologie) 
in  Straßburg  der  Charakter  als  Professor. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Erich  Baumgartner  und  Dr.  Eduard 
U  r  ban  ts  c  h  i  ts  ch  für  Zahnbeilkunde  in  Graz.  —  Dr.  Eugen 
Joseph  für  Chirurgie  in  Berlin.  —  Dr.  B rodmann  für  Ner¬ 
venkrankheiten  in  Tübingen.  In  Padua:  Dr.  Carletti  und 
Dr.  Sic  card  i  für  interne  Pathologie,  0.  Dedin  für  Kinder¬ 
heilkunde.  —  In  Palermo:  Dr.  Barba  und  Dr.  Salvatore 
für  interim  Pathologie,  Dr.  Sulli  für  gerichtliche  Medizin. 

* 


ln  Mödling  bei  Wien,  seit  seinem  vor  mehreren  Jahren  er¬ 
folgten  Uebertritt  in  den  Ruhestand  sein  ständiger  Wohnsitz, 
wo  er  in  beschaulicher  Zurückgezogenheit  den  Rest  seines  Lebens 
zu  verbringen  gedachte,  ist  Hofrat  Prof.  Dr.  Johann  Csokor, 
nach  langer  und  schwerer  Krankheit,  am  7.  d.  M.  gestorben. 
Während  seiner  Aktivität  versah  er  an  der  Wiener  tierärztlichen 
Hochschule  das  Lehramt  für  pathologische  Anatomie  und  tradierte 
gleichzeitig  an  der  Universität  Tierseuchenlehre.  Er  war  wissen¬ 
schaftlich  immer  darauf  bedacht,  in  seinem  Fache  den  verglei¬ 
chend  anatomischen  Standpunkt  und  die  vielfachen  Beziehungen 
der  Menschen-  und  Tierpathologie  möglichst  festzuhalten,  gewiß 
zum  Nutzen  beider  Disziplinen.  In  diesem  Bestreben  hat  er  auch 
durch  häufige  Vorträge  und  Demonstrationen  in  der  Gesellschaft 
der  Aerzte  stets  anregend  und  belehrend  gewirkt  und  sich  den 
Dank  der  Aerzteschaft  verdient.  Auch  sonst  hat  Csokor  durch 
seine  stets  kollegiale  Bereitwilligkeit  und  die  Freundlichkeit  seines^ 
Wesens  die  Sympathien  weiter  Kreise  genossten  und  sich  ein  dau¬ 
erndes,  liebe-  und  ehrenvolles  Andenken  über  das  Grab  hinaus 
gesichert. 


Programm 

der  am 

Freitag  den  13.  Januar  1911«  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Hofrat  Dr.  Sigm.  Exner  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

I.  Administrative  Sitzung: 

Dr.  Armin  Cziner :  Rechenschaftsbericht  über  1910  und  Vor¬ 
anschlag  1911. 

II.  Wissenschaftliche  Sitzung: 

1.  Prof.  A.  Pilez :  Zur  Prognose  und  Therapie  der  progressiven 
Paralyse. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Hofrat  Weichselbanm, 
Prof.  Härtner,  Hecht  und  Kollier,  Clairinont  und  llaudek,  S.  Federn. 

Bergmeister,  Paltauf. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  pädiatrischen  Sektion  findet  im  Hörsaale  der  Klinik 
Escherich  I)onner«taa:  den  12.  Januar  1911,  um  7  Uhr  abends,  statt. 
(Vorsitz:  Dr.  Julius  Drey.) 

1.  Demonstrationen. 

2.  Dr.  A.  v.  Iteuss :  Ueber  Eiweißmilch.  Das  Präsidium. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  16.  Januar  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Sitzungssaale  des  Kollegiums,  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz 
des  Herrn  Dr.  E.  Jalioda  stattfindenden  wissenschaftlichen  Ver¬ 
sammlung. 

Prim.  Priv.-Doz.  Dr.  II.  Schur:  Hyperaziditätsschmerzen  und  Ulcus 
ventriculi. 


Ophthalmologische  Gesellschaft  in  Wien. 

Programm  der  am  Wontag’,  den  16.  Januar  1911,  7  Uhr  abeuds,  im 

Ilörsaale  der  Klinik  Fuchs  staufindenden  Sitzung. 

1.  Salzmann:  a)  Streptotrichie  des  Tränenröhrchens;  b)  Ueber 
Tuberkulose  der  Chorioidea  unter  dem  Bilde  des  Tumors. 

2.  Marburg:  Zur  subkortikalen  Blicklähmung. 

3.  Sachs :  Zur  Untersuchung  der  hemianopischen  Pupillenreaktion. 

4.  Krämer :  Ergänzung  zur  letzten  Demonstration. 

Dr.  Richard  Krämer,  dz.  Schriftführer. 


Einladung 

zu  der  Donnerstag,  den  19.  Januar  1911,  um  7  Uhr  abends,  im 
Sitzungssaale  der  Witwen-  und  Waisen-Sozietät  des  Wiener  Mediz.  Doktoren¬ 
kollegiums,  I.,  Rotenturmstraße  19,  stattfindenden 

General  Versammlung 

des  Unterstützungsvereines  für  Witwen  und  Waisen  jener  Mitglieder  des 
Wiener  Mediz.  Doktoren-Kollegiums,  welche  in  die  Witwen-  und  Waisen- 
Sozietät  nicht  einverleibt  waren.  (Viszänik-Vivenot- Verein). 


Das  statutenmäßige  Konzert  des  „Wiener  Aerzteorchesters“ 

(Dirigent  Priv.-Doz.  Jagie)  findet  am  Dienstag  den  17.  d.  M., 
um  V28  Uhr  abends,  im  großen  Saale  der  Wiener  „Urania"  statt. 
Zur  Aufführung  gelangen:  Cherubini,  „Anacreion“-Ouvertürc ; 
Mozart,  Violonkonzert,  D-Dur  (Frl.  Kennedy);  Gadei,  Nach¬ 
klänge  von  „Ossian“ ;  Dr.  Hermann  Marschik,  „Fürchf  dich 
nicht“  (Gesang  Frl.  Holeczek,  Dirigent  der  Komponist);  Michael 
Haydn,  Symphonie  in  C-Dur.  —  Der  Reingewinn  dieses  Kon¬ 
zertes  ist  für  arme  Rigorosanten,  bestimmt.  Kartenverkauf  hei 
Rose,  [.,  Kärntnerring  11. 


Verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Kubasta.  Verlag  von  Wilhelm  Braumüller  in  Wien. 

Druck  von  Bruno  Bartelt,  Wien  XVIIU,  Theresiengasse  3. 


Wiener  klinische  Wochenschrift 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

G.  Braun,  0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S.  Exner,  E.  Finger,  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko,  H.  Meyer,  J.  Moeller, 
K.  v.  Noorden.  H.  Obersteiner,  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta,  J.  Tandler.  G.  Toldt,  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 

Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Theodor  Escherich,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs,  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig, 
Edmund  v.  Neusser,  Richard  Paltauf.  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 


Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  you  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/i,  Wiokenburggasse  13.  Telephon  17.618 


XXIV.  Jahrg. 


Wien,  19.  Januar  1911 


Nr.  3 


INHALT: 


1.  Onginalartikel :  1.  Aus  der  II.  Abteilung  für  Haut-  und  Ge¬ 
schlechtskrankheiten  des  allgein.  Krankenhauses.  Erfahrungen 
über  die  Behandlung  der  Syphilis  mit  Arsenobenzol.  Von 
Prof.  Dr.  S.  Ehrmann.  S.  83. 

2.  Aus  dem  Röntgenlaboratorium  des  Wiener  Allgein.  Kranken¬ 
hauses.  (Leiter:  Priv.-Doz.  Dr.  Holzknecht.)  Röntgenologische 
Studien  zur  Resorption  von  Quecksilber-  und  Arsenobenzol- 
injektionen.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Karl  Ul  1  mann  und  Assistent 
Dr.  Martin  Haudek.  S.  85. 

3.  Untersuchungen  über  die  praktische  Bedeutung  der  Meiostagmin- 
reaktion  von  Ascoli  bei  malignen  Geschwülsten  des  Verdauungs- 
traktus  und  vergleichende  Untersuchungen  über  die  Meiostagmin- 
reaktion  und  die  heterolytisehe  Blutkörperchenreaktion.  Von 
Prof.  Dr.  med.  Keil  in  g,  Dresden.  S.  90. 

4.  Die  Behandlung  des  ulcus  cruris  varicosum  mittels  Pflaster¬ 
strumpfbandes.  Von  K,  B  ü  d  i  n  g  e  r.  S.  93. 

5.  Eine  ökonomische  Modifikation  des  elektrolytischen  Epilations¬ 
verfahrens.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  St.  Weiden  fei  d.  S.  94. 

6.  Aus  der  Kinderklinik  des  städt.  Krankenhauses  Frankfurt  a.  M. 
(Direktor  Dr.  v.  Mettenheimer.)  Zur  Untersuchung  des  Liquor 
cerebrospinalis  nach  Mayerhofer.  Von  Dr.  G.  S  i  m  o  n,  Assistenz¬ 
arzt.  S.  94. 

IF.  Referate:  Internal  Secretions  from  a  physiological  and  thera¬ 
peutical  standpoint.  Von  Isaak  Ott.  Phases  of  Evolution  and 


Heredity.  Von  Berry  Hart.  La  fonction  du  sommeil,  physiologie, 
Psychologie,  pathologie.  Von  Albert  Salmon.  Naturwissenschaft 
und  Gehirn.  Von  Prof.  J.  P.  Pawlow.  Handbuch  der  bio¬ 
chemischen  Arbeitsmethoden.  Von  E.  Abderhalden.  Ref. : 
Durig.  —  Handbuch  der  vergleichenden  Physiologie.  Von 
H.  Winter  stein  Lieber  Lokalisation  der  Hirnfunktionen. 
Von  C.  v.  Monakow.  Fortschritte  der  naturwissenschaftlichen 
Forschung.  Von  Prof.  Dr.  E.  Abderhalden.  Gedanken  zur 
allgemeinen  Energetik  der  Organismen.  Von  C.  Lüde  ritz. 
Die  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes.  Ein  Vortrag  von 
M.  Verworn.  Geschlechtstrieb  und  echt  sekundäre  Geschlechts¬ 
charaktere  als  Folge  der  innersekretorischen  Funktion  der  Keim¬ 
drüsen  Von  E.  Steinach.  Die  Gesundheitskontrolle  durch 
den  Organsinn.  Von  Dr.  A.  Brosch.  Lehrbuch  der  Physiologie 
des  tierischen  Organismus  im  speziellen  des  Menschen.  Von 
Prof.  Dr.  J.  Bernstein.  Die  Fermente  und  ihre  Wirkungen. 
Von  Prof.  Carl  Oppenheimer.  Der  elektrochemische  Betrieb 
der  Organismen  und  die  Salzlösung  als  Elektrolyt.  Von 
G.  Hirth.  Das  System  der  Biologie  in  Forschung  und  Lehre. 
Von  Dr.  phil.  S.  Tschulock.  Ref.:  Durig.—  Ergebnisse  der 
Chirurgie  und  Orthopädie.  Von  Erwin  Payr  und  Hermann 
Küttner.  Ref.:  Alex.  Fraenkel. 

III.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

IV.  Vermischte  Nachrichten. 

V.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Aus  der  II.  Abteilung  für  Haut-  und  Geschlechtskrank¬ 
heiten  des  allgem.  Krankenhauses. 

Erfahrungen  über  die  Behandlung  der  Syphilis 
mit  Arsenobenzol*). 

Von  Prof.  Dr.  S.  Ehrmann. 

Meine  Herren!  Gestalten  Sie  mir,  über  die  auf  meiner 
Abteilung  im  Allgemeinen  Krankenhause  und  in  der  Privat¬ 
praxis  gemachten  Erfahrungen!  über  die  Behandlung  mit 
dem  Ehrl  ich  sehen  Mittel  zu  berichten  und  daran  einige 
Bemerkungen  allgemeiner  Natur  zu  knüpfen. 

Zunächst  bemerke  ich1,  daß  ich  weniger  auf  die  große 
Zahl  a.usgegangen  bin,  als  vielmehr  darauf,  daß  die  Fälle 
gut  gewählt  und  sehr  genau  beobachtet  werden.  Der  am¬ 
bulatorischen  Behandlung  kann  ich  derzeit  nicht  das  Wort 
reden.  Unsere  Beobachtungszeit  beträgt  jetzt  fünf  Monate 
und  die  Zahl  der  behandelten  Fälle  80.  (Seit  der  Debatte  in 
der  Gesellschaft  der  Aerzte  sind  noch  45  Fälle  hinzuge- 
ireten.)  Ich  will  in  der  Betrachtung  mit  den  Inilialsklerosen 
beginnen.  Eine  Reihe  der  Initialaffekte  zeigte,  wie  wir  schon 
auf  der  Naturforscherversammlung  in  Königsberg  berich¬ 
teten,  rasche  Reinigung  und  Ueberhäutung,  sowie  baldige 

*)  Diskussionsbemerkungen  zum  Vortrag  Prof.  Fingers  in  der 
Gesellschaft  der  Aerzte.  6.  Dezember  1910. 


Erweichung,  andere  blieben  längere  Zeit  resistent.  Ausge¬ 
dehnte  initiale  Indurativödeme  mit  Phimose  und  Paraphi¬ 
mose  gingen  auf  die  erste  Injektion  nicht  vollstän.  oder 
erst  in  einiger  Zeit,  dann  aber  vollständig  zurück,  ozn  be¬ 
merkt.  werden  muß,  daß  jede  lokale  Behandlung  unterblieb. 

Die  Drüsen  zeigen  wohl  im  allgemeinen  geringe  Ten¬ 
denz  zur  Rückbildung,  einige  Fälle  von  erweichten  Lympli- 
drüsen  resorbierten  sich  ohne  Inzision  rasch  und  vollstän¬ 
dig,  wie  wir  es  sonst,  nur  bei  lokaler  Quecksilber-  und  Tod 
hehandlung  beobachten.  Auch  eine  Reihe  einfach  indurierter 
Drüsen  involvierte  sich  ganz  gut. 

Auf  den  Ausbruch  des  sekundären  Exanthems  wirkte, 
die  Arsenobenzolinjektion  in  einer  Reihe  von  Fällen  retar¬ 
dierend,  d.  h.  hinaussdhiebend,  von  anderen  aber  können 
wir  mit  Sicherheit  sagen,  daß.  Syphilide,  die  noch  nicht 
deutlich  in  Erscheinung  getreten  waren,  durch  die  Injektion 
in  wenigen  Stunden  zu  Gesicht  gebracht  wurden,  ln  drei 
Fällen  von  Präventivinjektion,  vier  bis  fünf  Wochen  post 
infec'tionem,  sind  noch  vier  Monate  später  keine  Allgemein¬ 
erscheinungen  aufgetreten  und  die  Was?  r  mann  sehe  Re¬ 
aktion  blieb  negativ.  In  einigen  K  okheitsfällen  dieser  Art 
war  das  Exanthem  wohl  in  der  Froruptionszeit  nicht  er¬ 
schienen,  wir  konnten  aber  etwas  sehr  Merkwürdiges  sehen: 
dienadhkommenden  Syphilide  nahmen  eine  n  Charak  ter 
an,  der  nicht  der  Froruptionszeit,  so  nd  orn  einem 


84 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


li u r  stellenweise  entwickelten  S p ä t r e z i d i v  ent¬ 
sprach,  welche  erfahrungsgemäß  erst  nach  dem  sechsten 
Monate  auf  tritt;  es  waren  dies  regionär  gruppierte  anulläre 
makulöse  Syphilide.  Es  war  mithin  eine  wesentliche 
Beeinflussung  des  Syphilisprozesses  im  Sinne  einer 
Umstimmung  des  Organismus  gegenüber  dem  syphi¬ 
litischen  Virus  wahrnehmbar. 

In  der  sekundären  Periode  selbst  war  der  Einfluß  auf 
die  makulösen  Syphilide,  die  doch  eine  günstige  Form  der 
Lues  darstellen,  bezüglich  der  endgültigen  Rückbildung  am 
geringsten.  Dagegen  war  das  Arsenobenzol  auf  das  maligne 
ulzeröse  Syphilid  der  Haut  und  der  Schleimhäute  äußerst 
wirksam,  namentlich  bei  Individuen,  die  zugleich  manifeste 
Tuberkulose  hatten.  In  einem  Falle,  wo  ein  tuberkulöses 
Geschwür  der  Rachenschleimhaut  lange  Zeit  bestanden 
hatte  und  wo  zugleich  hereditäre  latente  Lues  durch  deutlich 
positive  Wassermann  sehe  Reaktion  bei  beiden  Eltern 
und  dem  22  Jahre  alten  Patienten  nachgewiesen  wurde,  ist 
auch  das  durch  etwa  ein  Jahr  bestehende  tuberkulöse  Ge¬ 
schwür  (mit  positivem  Tuberkelnachweis)  geschwunden. 

In  allen  Kombinationsfällen  von  Lues  und  Tuberkulose 
konnten  wir  ein  rasches  Schwinden  der  spezifischen  Er¬ 
scheinungen,  eine  Steigerung  des  allgemeinen  Wohlbefin¬ 
dens  und  wesentliche  Gewichtszunahme  feststellen.  Die  so 
rasch  um  sich  greifenden  ulzerösen,  malignen  Syphilis¬ 
formen  der  Mundschleimhaut  kamen  überraschend  schnell 
zur  Ueberhäutung. 

Die  papulösen  Syphilide  wurden  in  einer  Reibe  von 
Fällen  rasch  und  schön  zur  Resorption  gebracht,  während 
in  einer  anderen  Reste  zurückblieben,  die  erst  durch  eine 
zweite  Injektion  oder  durch  nachfolgende  Quecksilberbe¬ 
handlung  ziun  Schwinden  gebracht  wurden.  In  einer  ge¬ 
ringen  Zahl  solcher  Fälle  war  die  Beeinflussung  derartiger 
Syphilide  ganz  gering. 

Auffallend  günstig  war  der  Einfluß  auf  kleinpapulöse, 
krustöse  und  pustulöse  Syphilide,  die  so  häufig  bei  Tuber¬ 
kulösen  beobachtet  wurden,  am  günstigsten  vielleicht  auf 
das  tuberöse  Spätsyphilid  und  auf  das  gruppierte  serpi- 
ginöse  tertiäre  Syphilid. 

Eine  Reihe  von  tieferen  Weichteilgummen  und  eine 
beiderseitige  Sarcöcele  syphilitica  zeigte  in  einigen  Tagen 
sehr  rasche  Verkleinerung  bis  etwa  auf  ein  Drittel,  die 
weitere  Resorption  erfolgte  sehr  langsam. 

Periostanschwellungen  wurden  rasch  schmerzlos,  akute 
involvierten  sich  vollständig. 

Die  schuppenden  Formen  der  Flachhand  und  Fu߬ 
sohlen  verhielten  sich  ziemlich  refraktär,  doch  verfügen 
wir  im  Gegensatz  hiezu  auch  über  Beobachtungen  über  stark 
ausgebildete  psoriasiforme  Syphilide  der  Flachhand  und 
Fußsohle,  die  sich  restlos  und  schnell  zurückbildeten. 

Ehe  ich  über  die  Vor-  und  Nachteile  des  Arsenobenzols 
spreche,  möchte  ich  noch  die  sehr  auffällige,  von  mir  schon 
in  einem  Artikel  der  medizinischen  Wochenschrift  im  Sep¬ 
tember  v.  J.  besprochene  Frage  der  Jarisch-Herx- 
heim ersehen  Reaktion  erörtern.  Man  beobachtet  sie  in 
Form  einer  oft  unter  Fieber  auftretenden  gesteigerten  Rö¬ 
tung  und  quaddelartigen  Schwellung  der  makulösen  Sy¬ 
philide  und  als  einen  ebensolchen  Hof  um  papulöse  Formen, 
oder  als  ein  Anschwellen  der  tuburösen,  tertiären.  Was 
die  quaddelförmige  Rötung  betrifft,  so  kann  man  sie  oft 
ganz  spontan,  am  häufigsten  jedoch  bei  Beginn  einer  in¬ 
tensiven  Quecksilberkur,  besonders  häufig  bei  löslichen 
Quecksilbersalzen  und  am  allerhäufigsten  bei  Arsenobenzol- 
injektionen,  wie  mein  Assistent  Dr.  König  stein  beob¬ 
achten.  Darüber  habe  ich  schon  im  September  berichtet. 
Auch  im  Verlaufe  einer  Quecksilberkur  in  den  verschie¬ 
densten  Zeiten  derselben  an  großmakulösen  konfluierenden 
Syphiliden,  selbst  in  Form  der  Urticaria  porzellana. 

Die  Reaktion  tritt  auch  an  verschiedenen  Stellen  nach¬ 
einander  auf,  ich  bezeichnete  sie  als  wandernden  Herx- 
heimer.  Die  verschiedenen  Attacken  können  immer  wieder 


von  Fieber  eingeleitet  werden,  ebenso  wie  die  mit  Beginn 
einer  Therapie  einsetzende  H erxheimersche  Reaktion. 
Diese  beobachtete  ich  auch  bei  einer  Phlebitis  syphilitica 
der  Vena  saphena,  so  daß  der  Venenstrang  einige  Sekunden 
nach  der  Injektion  an  Dicke  zunahm,  dabei  aber  weniger 
scharf  abgegrenzt  erschien;  zugleich  beobachtete  man  an 
zwei  kleineren  Venenästen,  an  denen  früher  nichts  be¬ 
sonderes  zu  bemerken  War,  1  bis  2  cm  lange  Verdickungen, 
die  zugleich  mit  dem  Ablauf  der  Reaktion  an  dem  Haupt¬ 
ast  sich  vollständig  resorbierten. 

Diesem  Vorgänge  ähnlich  war  die  Anschwellung  des 
Periosts  über  den  Maleoien  einer  Frau,  die  erst  sechs 
Stunden  nach  einer  Injektion  erschien  und  am  dritten  Tage 
nach  der  Injektion  schwand.  Die  betreffende  Patientin  hatte 
ein  großmakulöses  Syphilid  breite  Kondylome  am  Genitale 
und  Anus,  Papeln  der  Mundschleimhaut,  dies  alles  invol¬ 
vierte  sich  im  Laufe  von  acht  Tagen,  vier  Wochen  später 
trat  eine  leichte  Rezidive  nur  am  Genitale  auf.  Das  auf¬ 
fallende  Schwinden  der  Schleimpapeln  in  der  erodierten 
Form  ist  eine  gewöhnliche  Erscheinung  bei  der  Ehrlicli- 
H ata -Injektion.  Die  sogenannten  organisierten  Papeln 
von  Lang  leisten  der  Rückbildung  bedeutenden  Wider¬ 
stand. 

Aus  dem  ganzen  ergibt  sich,  daß.  die  zellreichen,  na¬ 
mentlich  die  an  Riesenzellen  reichen  Syphilome  sich  am 
raschesten  und  vollständigsten  nach  der  Ehrli ch-Hata- 
Injektion  involvieren. 

Was  die  toxischen  Wirkungen  betrifft,  die  von  an¬ 
deren  Beobachtern  mitgeteilt  wurden  und  die  auch  wir 
beobachtet  haben,  möchte  ich  vor  allem  auf  die  rasch  vor¬ 
übergehenden  toxischen  Erytheme  hinweisen,  von  denen  wir 
einen  Fall  gesehen  haben.  Für  Erklärung  der  toxischen 
Wirkung  überhaupt,  möchte  ich  folgenden  Fall  anführen: 

S.  Br.,  34  Jahre  alt,  in  Ungarn  wohnhaft,  akquirierte  im 
Juni  1910  Lues,  bekam  Injektion;  sechs  Wochen  .später  Schwindel 
und  Kopfschmerzen.  Am  4.  Oktober  stellte  er  sich  Kollegen  Gom- 
p  erz  und  mir  vor.  An  diesem  Tage  teilte  er  mit,  daß  er  morgens 
ein  Gefülil  habe,  als  wäre  er  rechts  lahm  geworden.  Er  hatte 
einen  solchen  Schwindel,  daß  er  sich  kaum  aufrecht  erhalten 
konnte.  Im  linken  Ohr,  das  seit  18  Tagen  schwerhörig  ist,  em¬ 
pfindet  Patient  seitdem  heftiges  Sausen,  dabei  fürchterliche  Kopf¬ 
schmerzen.  Der  von  Prof.  Dr.  Gomperz  erhobene  Befund  ist 
folgender:  Trommelfell  r.  normal,  1.  hyper  ämisch,  Uhr  r.  35cm 
(normal  120  cm),  1.  3  cm,  Weber  unbestimmt,  1.  Rinne  +  (aQ 
ai  30  Sekunden  Verkürzung,  untere  Tongrenze:  e.  Beim  Schauen 
nach  der  Seite,  sowohl  nach  r.  als  auch  nach  1.  Nystagmus 
horizontal! s,  nach  links  mit  rotatorischen  Komplementen.  Beim 
Blick  geradeaus  kein  Nystagmus.  Bei  elektrischer  Reizung  tritt 
bei  drei  Milliampere  kein  Nystagmus  auf. 

Wasser  m  a  n  n  ergibt  geringe  Komplementablenkung.  Bei 
Untersuchung  der  Haut  fand  sich  in  der  linken  Lenden¬ 
gegend  eine  mit  fast  guldenstüokgroßer  Oeffnung 
nach  außen  p  e  r  f  o  r  i  e  r  t  e  H  a  u  t  g  a  n  g  r  ä  n.  Die  Ränder  waren 
weit  unterminiert,  bei  Druck  entleerte  sich  Eiter.  Der  Patient 
bekam  zunächst  Jod  intern. 

Unmittelbar  nach  Mein  Ausdrücken  des  Eiters  war  der 
Kopfschmerz,  das  Schwächegefühl  und  der  Schwindel  geringer. 
Dieses  wiederholte  sich  zweimal,  so  daß  ich  mich  ent¬ 
schloß,  die  ganze  gangränöse  Partie  zu  exstirpieren.  Im 
Aetherrausch  konnte  ich  eine  über  hühnereigroße,  ziem¬ 
lich  leicht  ausschälbare  graue  Masse  aus  dem  subkutanen 
Gewebe  ansschälen;  die  Wände  des  Hohlraumes  zeigten  bereits 
Granulation.  Darauf  besserten  sich  die  Zustände  auffällig,  der 
Kopfschmerz  und  der  Schwindel  waren  tags  nachher,  zum 
großen  Teil  geschwunden  und  am  6.  Oktober  hörte  Patient  rechts 
auf  90  cm,  links  auf  6  cm.  Der1  Kranke  befand  sich  wohler  und 
ließ  sich  nicht  mehr  in  Wien  halten.  Am  24.  November  be¬ 
richtet  er,  daß  er  auf  meine  Empfehlung  die  Schmierkur  macht. 
Die  Kopfschmerzen,  die  Patienten  hier  quälten,  dauerten  etwa 
noch  14  Tage  und  verschwanden  dann  gänzlich.  Das  Gehör  am 
linken  Ohr  hat  von  Tag  zu  Tag  so  zugenommen,  daß  er  darauf 
beinahe  so  gut  zu  hören  glaubt,  wie  am  rechten,  dagegen  haben 
die  subjektiven  Geräusche  nicht  aufgehört,  sie  sind  nur  in  ihrer 
Intensität  schwächer.  Auch  an  Schwindel  leidet  er  noch  hie  und 
da,  aber  bezieht  diesen  auf  die  täglich  konsumierten  acht  bis 
zehn  Zigarren,  von  denen  er  nicht  lassen  kann. 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


85 


Das  Resümee  Prof.  Gomperz’  lautet  also:  Es  bestand  eine 
A  ff ek lion  des'  Akustikus,  some  beiden  Teile  betreffend,  sowohl 
den  Kochlearis  als  auch  den  Vestibularis,  dessen  Reizsymptome 
eine  Woche  später  auftraten  als  die  Schädigung  des  Nervus 
cochlearis.  Diese  Akustikusaffektion  ist  zirka  vier  Monate  nach 
der  Erkrankung  mit  Lues1  und  zwei  Monate  nach  der  ,,606“-ln- 
jektion  aufgetreten.  Oh  es  sich  dabei  um  eine  rein  luetische  oder 
Arsenaffektion  handelt,  läßt  sich  nicht  mit  Sicherheit  bestimmen. 
Prof.  Gomperz  möchte  sich  nach  dem  Verlauf  und  dem  Effekt 
der  antiluetischen  Therapie  der  Ansicht  hinneigen,  daß  es  sich 
um  eine  rein  luetische  Affektion  handle,  wobei  auch  \busus 
tabaci  mit  einwirkte. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  erwähnen,  daß  in 
5-69  g  der  von  mir  aus  dem  subkutanen  Gewebe  exstirpierten 
gangränösen  Masse  0-0032  Arsen  (Inst.  Urban  und  He  li¬ 
man  n)  nach  gewiesen  wurde.  Die  Masse  in  einem  Partikel 
auf  Tiere  übertragen,  erwies  sich  als  steril.  Ich  schließe 
daran  die  Vermutung,  dab  im  gangränösen  Gewebe 
eine  Umsetzung  des  im  übrigen  nicht  toxischen  Mittels 
stattgefunden  hatte.  Vielleicht  sind  auch  bei  einzelnen  von 
anderer  Seite  beobachteten  Intoxikationserscheinungen  ähn¬ 
liche  Umstände  maßgebend,  ln  dieser  Annahme  werden 
wir  durch  den  Umstand  bestärkt,  daß  in  sehr  vielen  Fällen 
Infiltrate  nach  der  Injektion  Zurückbleiben,  in  welchen 
wahrscheinlich  zersetzliche  Arsenverbindungen  zurückge- 
halten  werden.  Es  ist  mir  auch  aufgefallen,  daß  bei  Re¬ 
zidive,  welche  wir' sowohl  bei  unseren  Patienten,  wie  auch 
bei  anderen  sahen,  Infiltrate  bestanden.  Gangrän  haben 
wir  bei  unseren  Fällen  nicht  gesehen. 

Die  Affektionen  des  Gehörorganes,  welche  gewöhnlich 
als  toxische  aufgefaßt  werden,  haben  wir  bereits  im  August 
1910  bei  einem1  “Patienten  beobachtet,  der  das  Herxh  ei  mor¬ 
sche  Phänomen  in  deutlicher  Weise  zeigte  und  ich  habe 
schon  damals  diese  Erscheinung  sofort,  mit  diesem  Phä¬ 
nomenin  Verbindung  gebracht.  Ich  habe  auch  schon  früher 
zuletzt  in  zwei  Fällen  des  verflossenen  Jahres,  Schwerhörig¬ 
keit  mit  Ohrensausen  beobachtet,  wo  nur  Quecksilber- 
behandlung  eingeleitet  war.  Diese  Erscheinungen  sind  nach 
längerer  Zeit,  beiläufig  nach  1  bis  1 V2  Jahren,  bei  weiterer 
konsequenter  intermittierender  Quecksilberbehandlung  ge¬ 
schwunden.  Besonders  einer  dieser  Fälle  ist  insofeme  inter¬ 
essant,  als  er  nach  einer  Schmierkur  eine  vollständige  Oku¬ 
lomotoriuslähmung  bekam,  die  nach  zwei  Hydrargyrum  sali- 
cylicum-Injektionen  von  je  Vs  cm3  einer  10°/oigen  Emulsion 
in  wenigen  Tagen  schwand.  Es  hatten  vorher  und  nachher 
wiederholt  Periostitiden  des  Schädels  bestanden,  so  daß 
ich  geneigt  bin,  auch  die  Okulomotoriuslähmung  auf  solche 
zu  beziehen.  Ein  tagelang  dauernder  Schwindel  ging  hei 
demselben  Patienten  auf  Jothionbehändlung  zurück"  und 
kehrte  nicht  wieder  nach  neuerlicher  Injektion  von  Hydrar¬ 
gyrum  salic'ylicum. 

Wenn  wir  die  Möglichkeiten  erwägen,  wodurch  die 
Schädigung  des  Hömerven  im1  ganzen  oder  in  einem  seiner 
Teile  besteht,  so  möchte  ich  mich  der  Ansicht  zuneigen,  daß 
eine  Anzahl  dieser  Fälle  als  eine  Teilerscheinung  der 
Herxheim  ersehen  Reaktion  aufzufassen  ist,  und  viel¬ 
leicht  mit  rasch  einsetzenden  Periostanschwelhmgon  zu¬ 
sammenhängt,  daß  ein  Teil  luetischer  Natur  ist  und  bei 
Quecksilberbehandlung  ebenso  vorkommt,  wie  hei  Arseno- 
benzol,  bei  letzterem  vielleicht  häufiger,  wenn  es  in  von 
Infiltrat  oder  von  gangränösem  Gewebe  eingeschlossenen 
Depots  eine  chemische  Umsetzung  erfährt.  In  beiden  Fällen 
ist  es  höchstwahrscheinlich,  daß  eine  bereits  vorausge¬ 
gangene  Schädigung  des  Nerven  ein  Punctum  minoris  re- 
sistentiae  bildet. 

Bei  unserem1  oben  ausführlicher  erwähnten  Kranken 
ist.  die  prädisponierende  Schädigung  wohl  in  einem  ganz 
außergewöhnlichen  Mißbrauch  von  Tabak  gelegen  und  hei 
der  nachträglichen  Schädigung  konkurrierten  wohl  beide 
Hauptschädigungen,  nämlich  die  Syphilis  und  die  toxische 
Eigenschaft  des  im  .gangränösen  Gewebe  zersetzten  Arseno- 
benzols.  Dies  wird  im  besonderen  dadurch  erhärtet,  daß 
nach  der  Exstirpation  der  gangränösen  Masse  sich  die  Er¬ 
scheinungen  auffallend  rasch  besserten,  jedoch  nicht,  völlig 


zurückgingen,  daß  aber  ein  wesentlicher  Rückgang  nach¬ 
träglich  durch  die  Quecksilberschmierkur  erreicht  wurde. 

Ueber  die  Technik  hat  schon  mein  Assistent  Doktor 
Koni  gstein  berichtet. 

Wenn  ich  den  Eindruck  wiedergeben  soll,  welchen  die 
bisherigen  Erfahrungen  in  mir  hervorgerufen  haben,  von 
einem  definitiven  Urteil  kann  ja  noch  nicht  die  Rede  sein, 
so  muß  ich  sagen,  daß  wir  hei  der  malignen  Lues,  bei  welcher 
absolute  Intoleranz  gegen  Quecksilber  besteht,  im  Ehrlich- 
scheu  Präparat  ein  Mittel  besitzen,  welches  die  Erschei¬ 
nungen  schnell  zurückbildet  und  dabei  den  Allgemein¬ 
zustand  nicht  nur  nicht  schädigt,  sondern  hebt.  Wir  haben 
in  ihm  ein  Mittel,  welches  in  den  meisten  Fällen  die  Syphi- 
lome  der  sekundären  und  tertiären  Stadien  rasch  zur  Re¬ 
sorption  bringt;  wir  wollen  einstweilen  unentschieden  lassen, 
ob  in  Fällen  unvollständiger  Wirkung  oder  in  Rezidivfällen 
eine  zweite  Injektion  oder  nachträgliche  Quecksilberbehand¬ 
lung  angezeigt  ist.  Wir  wollen  auch  noch  kein  Urteil  über 
die  Abortivbehandlung  mit  ,,606“  im  primären  Stadium  und 
über  die  definitive  Heilung,  nach  Schwund  der  Erscheinungen 
fällen.  Wir  können  aber  sagen,  daß  wir  an  dem  Arseno- 
benzol  ein  Mittel  haben,  mit  welchem  man  in  verzweifelten 
Fällen,  in  denen  das  Quecksilber  im  Stiche  läßt,  ganz  über¬ 
raschende  Erfolge  erzielt  und  daß  wir  ferner  in  ihm  ein 
Mittel  besitzen,  welches  wir  nicht  wiederum  missen  möchten, 
ganz  unabhängig  von  der  Erwägung,  oh  es  allein  oder  in 
Kombination  mit  Quecksilber  wird  verwendet  werden 
müssen.  Dies  wird  eine  der  Aufgaben  der  künftigen  thera¬ 
peutischen  Forschungen  sein,  so  wie  eine  Verbesserung 
der  Applikationsform)  in  der  Richtung,  daß  das  Mittel 
rascher,  vollständiger  und  ohne  chemische  Umsetzung  re¬ 
sorbiert  wird. 

Nachtrag.  Bisher  haben  wir  40  intravenöse  Injek¬ 
tionen  ausgeführt,  sie  wurden  von  den  Kranken  vortrefflich 
vertragen;  außer  vorübergehendem  Fieber  bis  39°  in  einem 
Teil  der  Fälle,  Erbrechen  in  einem1  einzigen  Falle,  waren 
keine  unangenehmen  Erscheinungen  zu  beobachten. 


Aus  dem  Röntgenlaboratorium  des  Wiener  Allgem. 

Krankenhauses. 

(Leiter:  Priv.-Doz.  Dr.  Holzknecht.) 

Röntgenologische  Studien  zur  Resorption  von 
Quecksilber-  und  Arsenobenzolinjektionen.*) 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Karl  Ullmaim  und  Assistent  Dr.  Martin  Handel«. 

Die  Resorptionsvorgänge  gewisser  in  den  Körper  inji¬ 
zierter  Heilstoffe  wurden  bisher  zumeist  auf  chemischem 
und  auf  anantomisch- histologischem  Wege  studiert.  Bei 
ersterer  Methode  wurde,  um  den  Umsatz  festzustellen,  die 
Quantität  der  aus  dem1  Körper  ausgesohiedenen  Original¬ 
substanzen  oder  deren  Derivate  bestimmt  und  daraus  ein 
Schluß  auf  die  Menge  der  noch  im  Organismus  befindlichen 
Substanzen  gezogen. 

Das  zweite  Verfahren  konnte  auf  lebenden  Menschen 
wohl  nur  ausnahmsweise  angewendet  werden.  Gerade  bei 
Quecksilber-  und  Arseninjektionen  aber  gaben  die 
sonst  auftretenden  chronischen  Infiltrate  und  Nekrosen  hie¬ 
zu  Anlaß  und  Gelegenheit. 

Die  genannten  schwermetallischen  Körper  in  gewissen 
nicht  wasserlöslichen  Verbindungen  eignen  sich  nun  durch 
ihr  hohes  spezifisches  Gewicht  in  ausgezeichneter  Weise 
auch  zum  röntgenologischen  Nachweise'  u.  zw.  sowohl  un¬ 
mittelbar  nach  der  Injektion,  als  auch  noch  zu  einer  Zeit,, 
zu  der  nur  mehr  ein  kleiner  Teil  der  eingebrachten  Substanz 
an  der  Injektionsstelle  selbst  vorhanden  ist. 

Der  radiologische  Nachweis  von  metallischen  Fremd¬ 
körpern  gelingt  bekanntlich  sehr  leicht,  selbst,  dort,  wo  sich 
die  letzteren  auf  Knochen  projizieren  oder  in  diesen  selbst. 

*)  Nach  der  am  2.  Dezember  in  der  Diskussion  zu  Prof.  Fingers 
Vortrag  »Die  Behandlung  rder  Syphilis  mit.  Arsenobenzol«  gehaltenen 
Demonstrationen  und  Bemerkungen. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  3 


zu  liegen  kommen.  So  sind  Jodoformplomben,  Projektile,. 
Metallsplitter  auf  der  Röntgenplatte  sehr  gut  sichtbar.  Das 
Quecksilber,  mit  welchem  wir  etwa  vor  einem  Jahre  un¬ 
sere  Versuche  aufnahmen,  eignet  sich  hiezu  durch  sein 
besonders  hohes  spezifisches  und  Atomgewicht  (199), 
welches  fast  an  das  des  in  der  Magenradiologie  so  erfolg¬ 
reich  verwendeten  ’Wismuts  (A.  G.  206)  heranreicht,  beson¬ 
ders  gut  für  den  genannten  Zweck.  Die  in  der  Syphilo- 
therapie  derzeit  meist  gebräuchlichen,  schwerlöslichen 
Quecksilberpräpärate,  Kalomel,  graues  Oel  und  Hydrargyrum 
salicylicum  geben  einen  sehr  dichten  Schatten  auf  der 
Rönlgenplatte. 

Mit  letzterem'  Präparate  hat  L.  Freund  schon  1907 
Untersuchungen  über  die  Resorption  der  Normalinjektions¬ 
dosis  von  0-1  g  unternommen  und  gelangte  hiebei  zu  fol¬ 
genden  Ergebnissen:  Die  Resorption  vollzog  sich  in  to  to  in 
neun  bis  zehn  Tagen  u.  zw.  in  den  ersten  vier  Tagen 
schneller  als  in  den  letzten.  In  der  Umgebung  des  Haupt- 
schal'  rs  sah  er  bald  (nach  ein  bis  drei  Tagen)  kleine 
punkii  rmige  Schatten  auftreten,  die  er  als  abtranspoitierte 
Oueck  dberpartikelchen  deutete,  doch  glaubte  er  außerdem 
an  eine  chemische  .Umwandlung  in  eine  für  Röntgenstrahlen 
durchlässige  Form  im  Depot,  da  ihm  die  Menge  der  abge¬ 
lösten  Partikelchen  zur  Erklärung  des  Verschwindens  der 
Präparate  nicht  genügend  erschien. 

Nach  Abschluß  unserer  Untersuchungen  vor  dem  Phy¬ 
siologenkongreß  und  noch  in  völliger  Unkenntnis  von  dieser 
Arbeit  L.  Freunds1),  wurden  wir  von  ihm  selbst  auf  die¬ 
selbe  aufmerksam  gemacht.  Unsere  Untersuchungen  gingen 
allerdings  von  anderen  Gesichtspunkten  aus,  da  wir  die 
Möglichkeil  des  radiologischen  Nachweises  von  Quecksilber 
im  Körper,  selbst  in  kleinen  Mengen,  als  selbstverständlich 
voraussetzten  und  uns  lediglich  damit  beschäftigen  wollten, 
die  schon  nach  der  klinischen  Erfahrung  wahrscheinlichen 
Differenzen  der  Resorptionsgeschwindigkeiten  an  verschie¬ 
denen  Stellen,  bzw.  in  verschiedenen  Geweben,  zu  studieren 
und  radiologisch  zu  verfolgen. 

Bei  der  Zusammenfassung  unserer  Arbeiten  und  dem 
Studium  einschlägiger  Literatur,  sind  wir  noch  auf  eine 
weitere,  denselben  Gegenstand  betreffende  Studie  Professor 
Wel anders2)  in  Stockholm  gestoßen,  der  mit  dem  be¬ 
kannten  Radiologen  Gösta  Forssell  schon  inr  November  j 
1908,  ebenfalls  offenbar  in  Unkenntnis  der  Freundschen 
Untersuchungen,'  verschiedene  Quecksilberpräparate  subku¬ 
tan  injizierte  und  deren  Resorption  auf  radiologischem  Wege 
zu  studieren  sich  bemühte.  W eland  er  verwendete  sub¬ 
kutane  Injektionen  von  Oleum  mercurioli,  Kalomel,  Hydrar¬ 
gyrum  aceto-thymolicum,  Hydrargyrum  salicylicum  und 
konnte  dabei  die  Beobac'hiung  machen, 'daß  die  Resorption 
der  injizierten  Präparate  sich  bei  dem  Salizylquecksilber 
schon  innerhalb  längstens  zehn  bis  elf  Tagen,  bei  allen 
übrigen  Präparaten  erst  nach  23  Tagen  und  auch  da  nur 
zum  Teile,  vollzogen  hatte.  Auf  einen  Unterschied  zwischen 
Muskel-  und  subkutanem  Zellgewebe  nimmt  auch  Wel  an¬ 
der  keinen  Bezug;  wie  lange  es  aber  bis  zum  völligen 
Verschwinden  gedauert  hat,  darüber  fehlen  die  Angaben. 

Das  Ziel  unserer  Untersuchungen  war  dahin 
gerichtet,  die  Schnelligkeit  der  Resorption  von 
subkutanen  Injektionen  mit  derjenigen  von  in¬ 
tramuskulär  gesetzten  der  gleichen  Quantität 
und  fies  gleichen  Präparates  zu  vergleichen.  Wir 
verwendeten  hiebei  die  drei  früher  genannten  Quecksilber¬ 
präparate  in  den  üblichen  Volldosen  von  0  05  bis  010  g. 
Jeder  Patient  wurde  bald  nach  der  Injektion  und  dann  in 
entsprechenden  Intervallen  neuerlich  untersucht,  bis  völliges 
Verschwinden  oder  doch  eine  nennenswerte  Verminderung 
des  Depots  konstatiert  werden  konnte. 

Da  bei  der  Durchleuchtung  der  Schatten  leicht,  über¬ 
sehen  werden  konnte,  wurde  nur  von  der  Röntgenographie 
Gebrauch  gemacht.  Der  Patient  wurde  derart  gelegt,  daß 

')  Wienei  klin.  Woehenschr.  1907,  S.  251. 

2)  Archiv  für  Derm,  und  Syphilis  1909,  ßd.  96,  S.  163. 


die  injizierte  Körperregion  (subkutan:  Rücken,  intramusku¬ 
lär:  Gesäß  oder  Oberschenkelregion)  auf  die  Platte  zu  liegen 
kam.  In  Zeiträumen  von  zwei  Zehntel-  bis  einer  Sekunde 
wurde  im  Atemstillstande  die  Aufnahme  gemacht,  wobei 
ein  Verstärkungsschirm  (Gehlerfolie)  verwendet  wurde, 
welcher  die  Expositionszeit  um  mindestens  das  fünffache 
verkürzen  ließ  und  so  gestattete,  bei  ein  und  demselben  Pa¬ 
tienten  an  der  gleichen  Hautregion  mehrere  Aufnahmen 
hintereinander  zu  machen,  ohne  eine  Röntgenschädigung 
zu  riskieren.  Doppelplatten  mußten  nicht  genommen  wer¬ 
den,  da  die  erhaltenen  Bilder  so  charakteristisch  und  ein-' 
deutig  waren,  daß  Verwechslungen  der  Quecksilberschatten 
mit  Plattenfehlern  nicht  leicht  unterlaufen  konnten. 

Die  Depotphotographien  hatten  verschiedenes  Aus¬ 
sehen.  Bald  ergäben  sich  klobige,  kleinherdige  Schatten, 
bald  solche  von  größerer  Ausdehnung,  entweder  kreisrund 
mit  dichteren  Punkten  oder  langgestreckt  und  gefiedert.  Diese 
ungleichmäßige  Konfiguration  und  Struktur  der  Schatten, 
die  auch  Freund  erhalten  hatte,  führte  dieser  auf  mehr¬ 
fache  Umstände  zurück,  so  auf  den  Druck  der  Einspritzung, 
die  Schwere,  die  Muskel  Tätigkeit,  die  Beschaffenheit  des 
Gewebes  (die  Spaltrichtung),  die  Beschaffenheit  des  Präpa¬ 
rates,  die  Feinheit  der  Emulsion. 

Unsere  Untersuchungen,  die  sich  durch  mehrere  Mo¬ 
nate  erstreckten,  wurden  an  einem  großen  Patientenmaterial 
(über  60)  und  an  Kaninchen,  denen  wir  Dosen  von  0  005  g 
(V20  der  Volldosis)  bis  0  02  g  injizierten,  ausgeführt. 

Lieber  die  Resultate  derselben  haben  wir  am  Physio¬ 
logenkongreß  vorigen  Jahres  berichtet;  sie  seien  hier  kurz 
wiedergegeben : 

1.  Die  Resorption  der  genannten  Präparate 
und  Dosen  erfolgt  in  weit  längeren  Zeiträumen, 
als  man  dies  bisher  angenommen  hat. 

2.  Die  subkutanen  Injektionen  werden  im 
Durchschnitt  etwa  dreimal  so  langsanj  resor¬ 
biert  wie  die  intramuskulären. 

3.  Die  verschiedenen  Präparate  werden  ver¬ 
schieden  schnell  resorbiert  u.  zw.  weitaus  am 
s  c  h  n  o  1 1  s  I  e  n  Q  u  e  c k  s  i  1 b  ers  al i z  y  1  at,  dan  n  K  a  1  o  m  e  1, 
am  langsamsten  graues  Oel. 

4.  M i  I  d e m  al  1  m ä h  1  i c h  e n  S c h wi n d e n  d es  R ö n t- 
gensc  hat  tens  /des  Quecksilberdepots  ist.  ein 
gleichzeitiges  Auftreten  von  kleinen  körnchen¬ 
artigen  S  c  h  a  1 1  e  n  i  n  d  e  r  U  m  g  e  b  u  n  g  des  ers  t  e  n  auf 
dem  Bilde  nicht  wahrzunehmen.  Wir  konnten  also 
diesen  Teil  der  Befunde  Freunds  nicht  bestätigen  und 
müssen  der  Ansicht  zuneigen,  daß  die  Umwandlung 
in  für  Röntgenlic'ht  durchlässige  Substanz  im 
Depot  selbst  erfolgt. 

Das  unter  1.  angeführte  Ergebnis  ist  von  großer  prak- 
I  i  scher  Bedeutung.  Es  zeigt  neuerlich,  was  auch  schon 
die  Untersuchungen  der  exzidierten  oder  abgestoßenen  Ne¬ 
krosen  gelehrt  hat,  daß  die  Resorption  der  injizierten  Queck¬ 
silberpräparate  nicht  in  dem  raschen  Tempo  und  ir  1er  Voll¬ 
kommenheit  erfolgt,  wie  cs  sich  der  dermatologische  Thera¬ 
peut.  meist  vorstellt.  Gerade  der  vermeintliche  Haupt  vorteil 
der  Injektionstherapie  gegenüber  der  Inunktionstherapie,  die 
exakte  Dosierungsmöglichkeit  erscheint  namentlich  für  die 
subkutanen  Injektionen  in  Frage  gestellt.  Es  wird  wohl 
ein  Depot  gesetzt,  das  allmählich  zur  Resorption  gelangen 
und  nachhaltige  Wirkung  erzielen  soll ;  wenn  jedoch  die 
Resorption  eine  allzu  protrahierte  ist,  wenn  zur  Zeit,  da  der 
Arzt  in  der  Meinung,  das  erste  Depot  sei  bereits  aufge¬ 
braucht,  die  Injektionen  wiederholt,  während  doch  noch  grö¬ 
ßere  Mengen  von  Quecksilber  vorhanden  sind,  wenn  wir  zum 
Beispiel  bei  mehreren  Patienten  das  gleichzeitige  Vorhan¬ 
densein  von  vier  oder  gar  fünf  subkutanen,  in  Abständen 
von  je  einer  Woche  gesetzten  Quecksilberdepots  nachweisen 
konnten,  dann  erscheint  ein  solcher  Befund  wohl  für 
manchen  geradezu  als  Ueberraschung.  Die  Exaktheit 
d e  r  Dosierung  b e z i eh I  sich  also  nu r  a ul  die  Größe 
der  Injektionsdosis,  nicht  aber  auf  die  Größe 
der  zur  Resorption  g e  1  a n g e n d e n  Teile  derselben, 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


87 


also  gerade  darauf  nicht,  worauf  es  bei  der  Therapie  in 
erster  Linie  ankomm!.  Der  Eintrit  t  unliebsamer  toxi- 


Fig.  1. 

Zwei  zarte  streifige  Röntgenschatten  als  Residuen  von  606  in  nativer 
saurer  Oelemulsion,  je  0  2,  10  Wochen  alt,  Oberschenkelmuskulatur. 


Fig.  3- 

Ein  langer  bandförmiger  Streifen  einer  7  Wochen  alten  Oelemulsion  mit 
03  von  606  Hyp.  subkutan,  als  Tumor  fühlbar. 


Fig.  5. 

zeigt  den  intramuskulären  nekrotischen  tnjektionsherd  nach  0\1  natur¬ 
saurer  Lösung,  stark  konzentriert,  2  Monate  nach  der  Injektion. 

scher  Ueberschreitungen  der  Maximaldosen  wird 
nun  vollkom'men  begreiflich,  wenn  man  bedenkt, 


daß  aus  einer  großen  Zahl  von  Depots  später 

noch  gleichzeiti  g  Quecksilber  resorbiert  wird. 

Das  Ehrlidhsche  Verfahren  hat  die  Injektion»- 
t.herapie  noch  mehr  in  den  Vordergrund  gestellt.  Die  intra- 


Fig.  2. 

Ein  dichter  bandförmiger  Röntgenschatten  als  Residuum  einer  7  Wochen 
vorher  gemachten  sauren  Emulsion  von  ca.  0  4  606  Hyp.  im  Glutäus. 


Fig.  4. 

Schatten  des  Arsenobenzolrestes  von  Hyp.  0’5  in  neutraler  Suspension, 
3  Monate  10  Tage  alt,  in  einem  dorsalen  Hautinfiltrate. 


Fig.  6. 

zeigt  durch  die  Schambeinknochen  durch  zarte  Streifchen  intramuskulär 
injizierter  grauer  Oelinjektionen,  3  und  4  Wochen  alt,  0'07  in  Metall. 

venösen  Injektionen  werden  nur  selten  ausgeführt,  die  sub¬ 
kutanen  und  intramuskulären  wohl  bei  weitem  häufiger.  Wir 


88 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  3 


haben  bei  den  Versuchen,  Arsenobenzolinjektionen  im 
menschlichen  Körper  zu  photographieren,  zunächst  keinen 
Erfolg  gehabt,  wofür  uns  das  Atomgewicht  74  des  Arseno- 
benzols  keine  genügende  Erklärung  geben  konnte,  da  das¬ 
selbe,  wenn  auch  viel  niedriger  als  das  Quecksilber,  doch 
immer  noch  höher  ist  als  das  des  Kalziums,  welches  dem 
Knochen  sein  hohes  Absorptionsvermögen  für  Röntgen- 
licht.  gibt. 

Nach  der  Einführung  von  Oel-  und  Paraffinemul¬ 
sionen  zur  Applikation  des  Ehrl  ich  sehen  Mittels  hatten  wir 
die  Genugtuung,  einwandfreie  Bilder  auch  der  Arsenobenzol¬ 
injektionen  zu  erhalten.  Die  Größe  der  Dosen  betrug  0-3 
bis  0-4  g.  Sowohl  bei  den  intramuskulären  als  bei  den 
subkutanen  Injektionen  erhielten  wir  sehr  deutliche,  homo¬ 
gen  dichte,  bandförmige  Schatten,  welche  vielleicht  noch 
prägnanter  auf  der  Röntgenplatte  hervortreten  (Fig.  1,  2, 
3,  4,  5),  als  die  der  Quecksilberpräparate  (Fig.  6,  7,  8). 

Auch  über  diese  Tatsache  berichteten  wir  am  Physio¬ 
logenkongreß,  ohne  indessen  damals,  wegen  der  Kürze  un¬ 
serer  Untersuchungen,  Angaben  über  die  jeweilige  Resorp¬ 
tionszeit,  unter  den  verschiedenen  Bedingungen  der  Injek¬ 
tion,  machen  zu  können.  Gerade  aber  die  Erforschung 
dieser  mußte  bei  dem  neuen  Mittel  von  besonderem  Inter¬ 
esse  sein,  denn  man  stellte  sich  wohl  allgemein  vor,  daß 
mit  der  so  energischen,  symptomatischen  Wirkung  des  Prä¬ 
parates  ,,606“  eher  eine  schnellere  Aufsaugung  des  Depots 
einhergehe,  als  bei  den  bekannten  Quecksilbermitteln.  Mit 
dieser  Annahme  stimmten  jedoch  zu  unserer  Ueberraschung 
die  Ergebnisse  unserer  Untersuchungen  gleich  anfangs  ab¬ 
solut  nicht  überein. 

Wir  hatten  schon  im  September  y.  J.,  in  der  Erwar¬ 
tung,  bald  Veränderungen  des  bezeichneten  Schattens  zu 
sehen,  die  ersten  zur  Untersuchung  kommenden  Patienten 
täglich  photographiert,  da  aber  solche  Veränderungen  nicht 
auftraten  und  die  Wiederholungen  infolgedessen  sehr  zahl¬ 
reiche  wurden,  kamen  wir,  um  nicht  trotz  Verwendung 
des  Verstärkungsschirmes  und  der  Momenttechnik,  den  Pa¬ 
tienten  eine  Röntgenverbrennung  zuzufügen,  dazu,  die 
Wiederholung  nur  nach  mehrtägigen  Zwischenräumen  vor¬ 
zunehmen.  Im  Verlaufe  unserer  weiteren  Beob¬ 
achtungen  ergab  sich  n u n  f ast  ausn ahm sl  o s  meh r- 
wöchige  bis  mehrmonatige  Verweildauer  der  ge¬ 
setzten  Arsendepots  bei  der  (sauren)  Emulsion. 
Die  Resorptionszeiten  für  das  native  emulgierte 
Arsenobe  nzoldi  c  h  1  or  h  y  d  ra  t  übertr  offen  also 
vielfach  noch  die  der  vorgenannten  Quecksilber¬ 
präparate,  denn  bei  diesen  hatten  wir  im  Muskel  zumeist 
nach  zwei  bis  drei  Wochen,  in  der  Subkutis  mindestens 
nach  ebensovielen  Monaten,  meist  aber  auch  weit  früher 
das  Verschwinden  der  Schatten  konstatieren  können;  Fälle, 
in  denen  subkutane  Depots  noch  nach  vier  bis  fünf  Mo¬ 
naten  nachweisbar  waren,  gehörten  zur  größten  Seltenheit 
und  dürften  wohl  auf  Lagerung  der  Depots  im  Fettgewebe 
zurückzuführen  sein.  (Fig.  7  und  8.) 

Auch  die  Tierversuche  mit  Injektionen  von  0-05  bis 
0-2  g  subkutan  oder  intramuskulär,  die  übrigens  von  den 
Kaninchen  in  bezug  auf  allgemein  toxische  Symptome  gut 
vertragen  wurden,  örtlich  jedoch  Nekrosen,  wie  beim  Men¬ 
schen  herbeiführten,  bestätigten  unsere  früheren  Beobach¬ 
lungen.  Bei  einem  der  Tiere  z.  B.  hatten  sich  bis  zum  Ende 
des  zweiten  Monates  nach  der  subkutanen  Injektion  von 
0-1  Hyp.  nur  geringe  Veränderungen  des  intensiven  Schat¬ 
tens  ergeben.  Das  anatomische  Präparat  des  getöteten 
Tieres,  welches  anderwärts  genauer  beschrieben  werden 
wird  und  wie  die  übrigen  Präparate  auch  histologischer 
Untersuchung  unterzogen  wurde,  zeigte  große  Mengen  von 
rotbraunen  teils  kristallinischen,  teils  körnigen  Massen,  die, 
umgeben  von  nekrotischem  Gewebe,  jedoch  ohne  eigent¬ 
liche  Eiterung  nur  in  braunen  Zerfallsmassen  und  in  grau¬ 
weißen  Schwielen  eingebettet,  die  Röntgenschatten  bil¬ 
deten.  Stellenweise  waren  diese  Körnchen  mit  dem 
Detritus  innig  vermischt.  So  bestätigen  diese  Befunde, 
welche  bei  mehreren  Tieren  in  verschiedensten  Modifika¬ 
tionen  vorgefunden  wurden,  auch  die  zahlreich  erhobenen 


klinischen  Befunde  von  Hautnekrosen  mit  Einschluß  von 
restlichem  Arsenobenzol  insbesondere  die  letzthin  erho¬ 
benen  und  ausführlich  beschriebenen  Leichenbefunde  von 
Marlins  in  Frankfurt  a.  M.3) 

Da  von  mehreren  Seiten  Zweifel  darüber  ausge¬ 
sprochen  wurden,  ob  die  beschriebenen  Schatten  auf  un¬ 
seren  Röntgenbildern  tatsächlich  von  metallischen  Bestand¬ 
teilen  des  injizierten  Mittels  und  nicht  etwa  von  schwieligen 
Entzündungsprodukten,  Nekrosefetzen,  dem  Infiltrationswall 
oder  von  anderem  herrührten,  sei  hier  nachdrücklich  hervor¬ 
gehoben,  daß  eine  derartige  Verwechslung  mit  vollster 
Sicherheit  auszuschließen  ist.  Wer  von  den  physikalischen 
Prinzipien,  auf  denen  das  Röntgenverfahren  beruht,  das 
ist  von  der  durchaus  verschiedenen  Röntgenlicht-Durch- 
lässigkeit  spezifisch  schwerer  Körper  gegenüber  den  nor¬ 
malen  oder  pathologischen  Haut-  oder  Muskelgeweben  nur 
einigermaßen  Kenntnis  hat,  wird  an  einer  guten  Röntgen¬ 
platte  die  Schattenintensitäten  einerseits  von  lufteriullten, 


Fig.  7. 

Fig.  7  zeigt  z.  B.  solche  Reste  feiner  Hg-Körnchen  in  4  Gruppen  subkutan 
in  der  Rückengegend  injizierter  Depots  bei  Patienten  Z.  u.  zw.  13,  14, 
15  bez.  17  Woeben  post  injectionem  von  je  007  Hg-Metall  in  Form  von 

grauem  Oel  20 %• 


Fig.  8.  I 

Fig.  8  zeigt  3  Hg-Depots,  2  bis  2'/2  Monate, .alt,  bei l’Patienten  S.  nach  . 
subkutaner  Injektion  von  20'70igen  Oleum  cinereum  in  Dosen  von  007.  1 

weichteildichten,  selbst  kalkdichten  (z.  B.  Knochen,  Nieren-  1 
steine)  und  anderseits  schwermetallischen  Körpern  ohne  fl 
weiteres  voneinander  differenzieren  können.  Die  Queck-  J 
silber-  und  Arsenobenzolschatten  auf  unseren  Bildern  über-  , 
treffen  an  Dichte  bei  weitem  die  der  Knochensubstanz  und  . 
selbst  dort,  wo  sie  sich  auf  die  letzteren  projizieren,  sind 
sie  noch  ganz  deutlich  zu  erkennen. 

Weichteildichte  Körper  kann  man  sehr  gut  gegenüber 
gasförmigen  oder  kalkdichten  Nachbarorganen  differenzie¬ 
ren.  Differenzen  zwischen  weichteildichten  Körpern  von 
verschiedener  Gewebsart  lassen  sich  am  Röntgenbilde  nur 

ä)  Münchener  med.  Wochenschr,  1910,  Nr.  61. 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


89 


ausnahmsweise  erheben.  So  läßt  sich  bei  Aufnahmen  mil 
weichen  Röhren  ganz  gut  Fettgewebe  von  Muskeln  und 
Sehnen  unterscheiden ;  man  kann  ausnahmsweise  selbst 
Hautvenen  als  zarte  Bänder  bei  sehr  weichen  Extremitäten- 
Au [nahmen  erkennen  und  man  kann  schließlich  die  ödema- 
löse  oder  entzündliche  Infiltration  von  Weichteilen  durch 
die  Verwischung  der  früher  genannten  Differenzen,  eventuell 
auch  nach  der  Knochenstruktur,  namentlich  auf  gelungenen 
Vergleichsaufnahmen  erkennen,  doch  kann  und  darf  man 
wohl  niemals  einen  Weichteilschatten  mit  dem  Schatten 
eines  metallischen  Körpers  verwechseln. 

Wir  haben  es  also  in  unseren  Fällen  mit  der  eindeu¬ 
tigen  Wiedergabe  von  Depots  metallischer  Substanzen  im 
Körper  zu  tun,  wobei  es  röntgenologisch  wohl  weder  bei 
Quecksilberverbindungen  noch  bei  Arsenobenzol  (Salvarsan) 
zu  unterscheiden  ist,  ob  das  injizierte  Präparat  seine  ur¬ 
sprüngliche  chemische  Zusammensetzung  behalten  oder  ver¬ 
ändert  hat. 

Auch  in  jenen  wenigen  Fällen,  bei  denen  wir  uns 
mangels  entsprechender  Wirkung  zu  Reinjektionen  mit  „606“ 
veranlaßt  gefühlt  hatten,  konnten  wir  von  da  ab  verfolgen, 
daß  beide  selbst  um  viele  Wochen  zeitlich  voneinander 
verschieden  gemachte  Injektionsdepots  noch  lange,  ja 
einzelne  bis  zu  drei  Monaten  und  noch  darüber,  im 
Gewebe  wenig  verändert  nachweisbar  waren  und  auch 
dort,  wo  eine  lokale  Anschwellung  durch  die  Mus¬ 
kulatur  oder  die  darüber  liegende  Haut  nicht  palpierbar 
und  kaum  mehr  druckempfindlich  war.  So  fand  man  bei 
einem  20jährigen  jungen  Manne  (A.N.),  der  Ende  September 
0-5  „606“  in  die  Muskulatur  des  Oberschenkels  und  etwa 
fünf  Wochen  später  in  den  Glutaeus  maximus  erhalten  hatte, 
beide  Arsenobenzoldepots  noch  bei  der  letzten  Aufnahme 
am  12.  Dezember  in  deutlichen  Streifen  ausgeprägt  vor, 
wenngleich  sich  gegenüber  den  früherliegenden  Photogra¬ 
phien,  insbesondere  in  der  Muskulatur  des  Oberschenkels 
eine  beträchtlich  schwächere  Schattenbildung  konstatieren 
ließ.  Patient  befand  sich  dabei  vollkommen  wohl,  hatte  ein 
kaum  palp  ables  unerhebliches  Infiltrat  und  auch  niemals 
besonders  starke  Schmerzen  gehabt.  (Fig.  1  und  2.) 

ln  einem  anderen  Fälle  (Fr.  P.)  ließ  sich  das  Depot  als 
schmaler  Streifen  (Fig.  3)  weit  über  sechs  Wochen  im  sub¬ 
kutanen  Zellgewebe  des  Rückens  und  fast  fünf  Wochen  in 
dem  Glutäalmuskel  radiologisch  nachweisen.  Auch  dieser 
Patient  hatte  kaum  jemals  erhebliche  Schmerzen  und  keine 
starke  Infiltratbildung  an  den  Injektionsstellen  darge¬ 
boten.  Die  Depotbildung  der  nativen  (sauren)  Emul¬ 
sion  erwies  sich  demnach  als  eine  durch  min¬ 
destens  zwei  aber  auch  drei  Monate  und  noch 
weit  darüber  währende  u.  zw.  ganz  unabhängig 
von  dem  Vorhandensein  starker  manifester  In¬ 
filtrationen  oder  gar  Nekrosen.  Wir  heben  hervor, 
(laß  diese  Tatsache  von  uns  bereits  vor  mehreren  Monaten 
testgelegt  und  bekanntgegeben,  offenbar  nicht  genügend  be¬ 
rücksichtigt  wurde,  da  man  bei  mangelnder  Wirkung,  Ver¬ 
sagen  oder  Rezidiven  doch  immer  noch  in  den  letzten  Mona¬ 
ten  geneigt  war,  die  Injektion  in  plena  dosi  in  Emulsionsform 
oder  auch  in  neutraler  Suspension  nach  Wechselmann- 
jBlaschko  eines  zweites,  ja  ein  drittes  Mal  zu  wiederholen. 
|N ei ss er,  Wechselmann  u.  a.  empfahlen  Reinjektionen 
bei  mangelnder  Wirkung  der  früheren.  Daß  nun  auch  die 
neutrale  Suspension,  insbesondere  subkutan  injiziert,  zu 
denselben  ungemein  langdauernden  Depotbildungen  Veran¬ 
lassung  gibt,  zeigten  ja  schon  die  zahlreichen  und  sich  immer 
mehrenden  klinisch  erhobenen  Befunde  von  schmerzhaften 
Infiltraten  und  Nekrosen  viele  Monate  nach  der  Injektion. 
Allerdings  gelang  es  uns  nicht  immer  in  solchen  Fällen  gleich 
nach  der  Injektion  der  neutralen  Suspension  auch  bei  vorhan¬ 
dener  Infiltratbildung,  die  Anwesenheit  des  Präparates  durch 
^c'hattenbildung  und  die  Verzögerung  der  Resorption  fest¬ 
zustellen,  indes  im1  Verlaufe  des  Monates  November  und 
Dezember  ist  uns  auch  dies  zuerst  an  Tieren  später  an 
Menschen  wiederholt  in  deutlicher  und  schlagender  Weise 
gelungen.  So  zeigt  Fig.  4  einen  derartigen  dichten,  scharf 


umschriebenen  Schatten  drei  Monate  und  zehn  Tage  nach 
Injektion  einer  ganz  neutralen  Suspension  in  der  Dosis 
von  0-5  g  Hy. , 

Die  Ergebnisse  unserer  röntgenologischen  Untersu¬ 
chungen  standen  demnach  in  voller  Uebereinslimmung  zu 
dem,  was  die  Klinik  sowie  die  bisherigen  pathologisch-anato¬ 
mischen  Befunde  (O r t h,  M a r t i u s,  A 1  b r e c h t,  unsere  eige¬ 
nen)  über  die  lokale  Wirkung  des  Ehrlichschen  Mittels 
berichteten.  Fast  allerorts  wurde  das  Auftreten  von  Infil¬ 
traten  und  Nekrosen  nach  den  emulgierten  oder  suspendierten 
Injektionen  konstatiert.  In  den  Injektionsherden  wurde, 
wenn  sie  sich  abgestoßen  hatten  oder  exzidiert  worden 
waren,  nicht  selten  noch  ein  Teil  des  injizierten  Arseno- 
benzols  gefunden,  das  also  seine  kurative  Wirkung  offenbar 
nicht  entfaltet  hatte.  Die  histologischen  Untersuchungen  er¬ 
gaben  nahezu  übereinstimmend  lokale  Nekrosen  mit  schmalem 
Infiltrationswall  und  Gefäßthrombosen.  Aber  auch  uner¬ 
wünschte  Allgemeinwirkungen  auf  hochempfindliche  Or¬ 
gane  wie  das  Auge  und  Ohr,  wurden,  ja  wie  bekannt,  beob¬ 
achtet.  Finger  berichtete  erst  kürzlich  über  Störungen 
des  Hör-  und  Sehnerven,  bezüglich  deren  er  zum  mindesten 
Verdacht  hegt,  daß  sie  die  Folge  einer  spezifisch  toxischen 
Wirkung  des  Arsens  seien.  Es  liegen  auch  vereinzelte  ähn¬ 
liche  Beobachtungen  von  anderen  Autoren  vor,  was  bei  der 
kurzen  Zeit,  während  der  das  Mittel  bisher  in  Verwendung 
steht,  unbedingt  zur  Vorsicht  und  objektiver  Ueberprüfung 
der  Resorptions-  und  Wirkungsweise  des  Mittels  mahnen 
muß.  Besonders  interessant  sind  die  in  allerjüngster  Zeit 
erschienenen  Mitteilungen  von  Martius- Frankfurt,  dessen 
anatomisch -histologische  Beobachtungen  sich  mit  un¬ 
seren  und  denen  der  meisten  Autoren  decken,  in¬ 
sofern  dieselben  darin  gipfeln,  daß  hauptsächlich 
bei  subkutaner  Injektion  in  neutraler  Suspension  oder 
nach  den  konzentrierten  sauren  Emulsionen  schwere  Ne¬ 
krosen  auftreten.  Auch  er  fand  in  diese  neingeschlos¬ 
sen  Teile  der  injizierten  Substanz  von  „606“ 
und  glaubt,  schließen  zu  können,  daß  durch  die 
eingreifenden  U m Wandlungen  des  Gewebes  nicht 
nur  die  kurative  Wirkung  des  Depots  verhindert 
werde,  sondern  eine  Umwandlung  des  Mittels 
in  der  Weise  stattfinde,  daß  Arsenderivate  ent¬ 
stünden,  die  auf  irgend  eine  Weise  in  die  Zirku¬ 
lation  gelangt  eine  toxische  Wirkung  entfalten 
k  ö  n  nten. 

Man  könnte  nach  unseren  Beobachtungen  vielleicht 
glauben,  daß  es  ausschließlich  die  Injektionsmethode  mittels 
nativer  Emulsion  ist,  welche  die  Verzögerung  der  Aufsau¬ 
gung  des  Depots  verschuldet.  Dieser  Schluß  wäre  jedoch  ein 
F ehlschluß,  denn  einerseits  stimmen  die  klinischen,  patho¬ 
logisch-anatomischen  Beobachtungen  hi  emit  nicht  überein, 
andrerseits  dürfen  wir  aus  negativ  röntgenologischen  Beob¬ 
achtungen  keinerlei  bestimmte  Folgerungen  ziehen. 

Wir  konnten  übrigens  in  der  letzten  Zeit  auch  bei 
Ehrlichschen  Injektionen,  die  nicht  in  Emulsionsform  ein¬ 
gebracht  worden  waren,  metallische  Schatten  erhalten,  so  bei 
einem  Patienten,  der  drei  Monate  und  zehn  Tage  vor  der 
Röntgenuntersuchung  an  einer  Abteilung  des  Wiener  All¬ 
gemeinen  Krankenhauses  eine  Ehr  lieh  sehe  Injektion  von 
„606“  0-5  in  neutraler  Suspension  subkutan  unter  die 
Rückenhaut  erhalten  hatte.  Der  Schatten  entsprach  seiner 
Lage  nach  der  Stelle  eines  mächtigen  Hautinfiltrates. 

Auch  saure  Lösungen,  die  wir  in  konzentrierter 
form  einem  Kaninchen  injizierten,  ließen  sich  radio¬ 
logisch  feststellen.  Eine  der  Ursachen,  daß  unsere  ersten 
Versuche  zum  Nachweis  von  Lösungen  mißlangen,  mochte 
vielleicht  darin  liegen,  daß  die  zur  Lösung  oder  Aufschwem¬ 
mung  verwendeten  Flüssigkeitsquantitäten  von  20  bis  30  cm3 
relativ  sehr  große  waren,  also  eine  unverhältnismäßige  Di- 
luierung  des  Mittels  herbeiführten.  Bei  Oelemulsionen 
werden  bekanntlich  gewöhnlich  nur  4  bis  5  g  injiziert. 

Nach  diesen  Beobachtungen  sind  also  unsere  Ergeb¬ 
nisse  bezüglich  der  Resorptionszeiten  von  Arsenobenzol 
wohl  für  sämtliche  subkutane  und  intramuskuläre  Applika- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  3 


tionsformeu  zu  verallgemeinern,  mit  Ausnahme  der  di- 
1  ui  er  len  schwachsauren  Solutionen  in  kleinen  Dosen,  bei 
denen  wir  keine  Röntgensdhalten  sahen  und  wofür  die 
überaus  rasche  und  vollständige  Resorption  ohne  später 
folgende  Infiltratbildung  spricht  (siehe  auch  die  Diskussions¬ 
bemerkungen  U 11  mahn  s  zu  diesem  Vortrage). 

Wollten  wir  es  versuchen,  praktische  Schlüsse  aus 
unseren  Befunden  zu  ziehen,  so  würden  wir  zunächst  dazu 
gelangen,  daß  das  Injektionsverfahren  mit  schwerlöslichen 
Substanzen  in  der  Syphilidologie  überhaupt  einer  Revision 
zu  unterziehen  sei,  da  die  genaue  Dosierung  nach  den  ge¬ 
machten  Erfahrungen  wohl  ernstlich  in  Frage  gestellt  er- 
scheint.  Für  die  hiezu  nötigen  Studien  verdient  das  Röntgen- 
verfahren  in  erster  Linie  herangezogen  zu  werden,  da  eine 
Reihe  von  Fragen,  insbesondere  auch  die  der  sogenannten 
Remanenz  mittels  desselben  der  Lösung  zugeführt  werden 
könnte.  Gerade  hierüber  sowie  über  das  Verhältnis  der 
Arsenausscheidungen  (Urin,  Kot),  sowie  auch  dei  Arsen¬ 
speicherung  in  den  Organen  wird  von  dem  einen  von  uns 
in  nächster  Zeit  an  anderem  Orte  ausführlich  berichtet 
werden. 

Im  besonderen  scheint  es,  als  ob  das  ein¬ 
malige  Injizieren  größerer  Quantitäten  in  oben 
bezei  ebneten  Formen  —  und  als  solche  muß  auch 
Salvarsan  0-67g  angesehen  werden  —  sich  nicht 
e m p f e  1 1 1  e n  dürfte,  da  offenbar  von  der  injizier¬ 
ten  Dosis  nur  ein  kleiner  Teil  zur  raschen  Re¬ 
sorption  und  kurativen  iW  i  r  k  u  n  g  gelang  t,  z  u  i 
symptomatischen  Wirkung  wohl  auch  genügt, 
während  größere  Mengen  im  Körper  unver¬ 
braucht  Zurückbleiben  oder  gar  schädigend 
wirken  könnten.  Will  man  an  der  intramusku¬ 
lären  oder  gar  subkutanen  Injektionsmethode 
von  606  festhalten,  so  dürfte  sich  die  Applika¬ 
tion  mehrerer  kleiner  Dosen  gleichzeitig  oder 
in  zeitlichen  Intervallen  am  ehesten  em¬ 
pfehlen.  Hiedurch  wird  die  Gefahr  leichter 
vermieden,  daß  große  Depots  geschaffen  werden, 
von  denen  eine  unbeabsichtigte  Wir k u n g  frühe r 
oder  später  aus  gehen  könnte. 


Untersuchungen  über  die  praktische  Bedeutung 
der  Meiostagminreaktion  von  Ascoli  bei  malignen 
Geschwülsten  des  Verdauungstraktus  und  ver¬ 
gleichende  Untersuchungen  über  die  Meiostag¬ 
minreaktion  und  die  heterolytische  Blutkör¬ 
perchenreaktion.*) 

Von  Prof.  Dr.  med.  G.  Kelliug,  Dresden. 

Die  Ascoli  sehe  Meiostagminreaktion1 *)  wird  bekanntlich 
mit  dem  alkoholisch-ätherischen  Extrakt  aus  malignen  Geschwül¬ 
sten  des  Menschen  angestellt.  Bei  der  Herstellung  des  Extraktes 
müssen  gewisse  Bedingungen  innegehalten  werden  (vgl.  de  Ago¬ 
stini,  Medizinische  Klinik  1910,  Nr.  29,  S.  1143).  Wir  selbst 
benutzten  dazu  primäre  Karzinome  des  Magens,  welche  direkt 
nach  der  Resektion  frisch  verarbeitet  wurden.  Die  zerkleinerte 
Geschwulst  wird  erst  in  Alkohol  mehrfach  extrahiert,  wobei 
die  Temperatur  nicht  über  50°  gehen  darf.  Dann  wird  der  Tumor 
fein  pulverisiert  und  dann  mit  Aether  bei  etwa  30°  mehrfach  ex¬ 
trahiert.  Der  Alkoholextrakt  wird  später  bei  48°  bis  zur  Trockne 
eingeengt  und  dann  der  Aetherextrakt  zugegeben.  Der  Aether 
wird  nun  verjagt  und  der  trockene  Rückstand  in  wasserfreiem 
Aether  gelöst  und  der  letzte  Rückstand  möglichst  Konzentrier t 
gemacht.  Der  Aetherextrakt  darf  nicht  geschüttelt  werden.  Wir 
haben  den  Aetherextrakt  in  wasserdicht  verschlossenen,  dun¬ 
keln  Glasflaschen  bei  kühler  Zimmertemperatur  aufbewahrt.  Die 
vorgeschriebenen  Bedingungen  sind  von  meinem  Mitarbeiter, 


*\  War  zum  Vortrag  auf  der  Naturforscherversammluug  in  Königs¬ 
berg  angemeldet,  konnte  aber  aus  äußeren  Gründen  nicht  gehalten 

i)  Die  Literatur  ist  angegeben  bei  Michel i  und  Cottreti,  Wiener 
klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  44/1556. 


Herrn  Dr.  Paul  Illing  genau  innegehalten  worden.  Enrige 
\utoren  welche  sich  mit  der  Meiostagminreaktion  beschäftigt 
haben,  schreiben,  daß  die  Herstellung  des  Extraktes  schwierig 
sei  und  daß  meist  unrichtiges  Vorgehen  an  dem  Mißlingen  der 
Reaktion  Schuld  sei.  Wir  können  nicht  sagen,  daß  irgendwelche 
besondere  Schwierigkeiten  bei  der  Herstellung  des  Extraktes 
vorhanden  sind.  Die  Sache  ist  etwas  langwierig,  aber  sie  bietet 
nichts,  was  nicht  jeder  gewissenhafte  Arbeiter  leisten  konnte. 
Schwieriger  scheint  es  dagegen  zu  sein,  immer  gut  geeignete  tu-  i 
moren  zu  finden.  Von  vier  Magonkarzmomen,  welche  wir  be¬ 
nutzten,  gaben  drei  gleichmäßig  gute  Ausschläge.  Der  vierte  I 
Tumor  hingegen  schien  weniger  geeignet  zu  sein.-)  Für  die  vor-  - 
liegende  Tabelle  habe  ich  die  Extrakte  aus  zwei  Tumoren  benutzt.  I 
Der  eine  Extrakt  geht  bis  Nr.  117,  der  zweite  Extrakt  von  Nr.  118  J 
an.  Der  erste  Extrakt  wurde  in  einer  Verdünnung  von  1 : 1360  ver-  i 
wendet  u  zw.  berechnet  auf  den  Trockenrückstand  des  Aetnci-  ^ 
extraktes;  der  zweite  Extrakt  in  einer  Verdünnung  von  l:2o00  m 
gleicher  Weise  berechnet.  So  große  Ausschlage  wie  von  Ascoli 
(fünf  bis  sechs  und  mehr  Tropfen)  konnten  bei  uns  niemals  . 
erzielt  werden.  Der  größte  Ausschlag,  betrug  drei  Tropfen,  \iel-  I 
leicht  ist  für  die  Größe  des  Ausschlags  von  Einfluß,  ob  cue  he-  . 
treffenden  Patienten  nüchtern  untersucht  werden,  oder  nach  Mahl-  1 
Zeiten,  oder  gar,  wenn  sie  Medikamente  eingenommen  haben. 
Patient  Nr  15  mit  Rektumkarzinom  ergab  sechs  Tropfen  Aus-  | 
schlag ;  ich  forschte  aus,  was  er  zu  sich  genommen  habe;  er  j 
gab  an,  gegen  die  Vorschrift  Pankreatin  genommen  zu  haßen.  I 
Patient  wurde,  nachdem  er  acht  Tage  das  Pankreatin  weggelassen 
hatte,  nochmals  wieder  bestellt  und  dann  betrug  der  Ausschlag 
nur  noch  drei  Tropfen  mit  demselben  Karzmomextrakt.  Für  die 
in  der  Tabelle  angegebenen  Untersuchungen  muß  noch  bemerkt« 
werden  (laß  wir  die  Patienten  meist  nüchtern  untersucht  haben ; 
nur  solchen  Patienten,  welche  ambulant  kamen,  wurde  ein  kleines  I 
Frühstück  gestattet,  bestehend  aus  ein  bis  zwei  lassen  dünnen  I 
Tees  mit  etwas  Zucker  und  einer  trockenen  bemmel.  In  bezug 
auf  die  Technik  der  Reaktion  haben  wir  uns  nach  Ascoli  ge-  • 
richtet.  Der  Tumorextrakt  wurde  mit  der  Pipette  m  der  notwen- 
digen  Menge  entnommen,  in  ein  Reagenzglas  getan,  dann  der» 
Aether  im  Wasserbad  verjagt;  schließlich  wurde  mit  physiologi-  I 
scher  Kochsalzlösung  die  notwendige  Verdünnung  hergestellt. 
Das  Blutserum  wurde  1:20  mit  physiologischer  Kochsalzlösung 
verdünnt.  Zu  9  cm3  des  verdünnten  Blutserums  wurde  1  cm  . 
der  verdünnten  ätherfreien  Antigenemulsion  zugesetzt;  bei  der 
Kontrollprobe  statt  dessen  1  cm3  physiologischer  Kochsalzlosung.  I 
Dann  kamen  beide  Proben  bei  37-5°  auf -  zwei  Stunden  m  clenl 
Brutofen.  Darauf  wurde  die  Tropfenzahl  mit  dein  t  rau  oe sehen 
Stalagmometer  bestimmt  und  es  wurde  dann  berechnet,  wie-  1 
viel  Tropfen  und  Tropfenteile  die  Probe  mit  der  Emulsion  Zu¬ 
nahme  zeigte,  gegenüber  der  Probe  mit  dem  verdünnten  Blut- j 
serum  allein.  In  meiner  Tabelle  habe  ich  die  Troptenzunalinie  J 
ausgerechnet.  Ist  z.  ß.  in  der  Tabelle  angegeben:  L  1-6,  so  heiß« 
dhs  daß  die  Tropfenzunahme  1-6  Tropfein  ausmacht,  welchen 
Betrag  nämlich  die  Probe  mit  der  Antigenemulsion  mehr  zeigt, 
als  die  Probe  des  allein  mit  der  Kochsalzlösung  verdünnten  Blut¬ 
serums.  Da  man  bestimmen  kann,  wieviel  Teilstriche  des-  Sta- 1 
lagmometers  auf  einen  Tropfen  kommen,  so  lassen  sich  die  Rennte  I 
leicht  berechnen,  und  die  Tabelle  wird  dadurch  sehr  viel  uoe  -  I 
sichtlicher.  Man  erkennt  aus  der  Tabelle,  daß,  wir  unsere  Emul¬ 
sionen  so  eingestellt  haben,  daß  normale  Blutsera  etwa  einem.; 
halben  Tropfen  Ausschlag  zeigen;  dann  geben  manche  kachek-1 
tische  Kranke  schon  Ausschläge  von  einem  Tropfen  und  etwas 
mehr  Die  angegebenen  Untersuchungstage  sind  voneinander  durch 
Absätze  getrennt;  die  Fälle  desselben  Untersuchungstages  sind, 
gleichzeitig  mit  demselben  Reaktionsmatenal  untersucht  worden.! 

Wenn  man  nun  die  Meiostagminprobe  zur  Diagnose j 
mit  heranziehen  will,  so  darf  man  den  Maßstab  ja  nie  i 
za  fein  anlegen.  Man  würde  dann  zwar  viel  mehr  positive 
Resultate  bekommen,  dafür  aber  auch  eine  ganze  Anzahl 
Fehler  Ich  habe  bei  dieser  Einstellung  ungefähr  die  Grenze, 
von  der  die  Probe  diagnostisch  zu  gebrauchen  ist, 
hei  iVjj  Tropfen  festgestellt,  da  ergab  sich,  daß  von  451 
malignen  Geschwülsten  21,  also  47%,  solche  Ausschlägej 
o-eben.  Die  Tabelle  enthält  außerdem  noch  85  andere  Falle, 
von  denen  eine  sehr  große  Anzahl  Tuberkulosen,  chro¬ 
nische  Ulzera  mit  Anämie,  Kachexie,  Gallensteine,  chro¬ 
nische  Darmkatarrhe  usw.,  kurz  eine  Anzahl  Krankheiten^ 
betreffen,  die  klinisch  häufig  als  karzinomatös  verdächtig 

i)  Neuerdings  haben  wir  noch  einen  fünften  Extrakt  aus  Leber¬ 

metastasen  eines  Magenkarzinoms  verwendet  Dieser  war  in  Verdunnun0 

1:1000  geeignet,  gab  aber  auch  nicht  über  3  lropfen  Ausschlafe. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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erscheinen,  die  sich  aber  dann  im  weiteren  Verlauf  als  nicht 
mit  malignen  Geschwülsten  behaftet  herausstellten.  Bei 
diesen  85  Fällen  hatten  wir  nur  drei  positive  Reaktionen. 
Das  Resultat,  zeigt,  daß  die  Reaktion,  auf  diese 
Weise  ausgeführt,  im  hohen  Grade  sp-ezifisöli  i s I . 
Sie  ergibt  ungefähr  in  der  Hälfte  der  Fälle  von 
Krebsen  deutlich  positive  Reaktionen  und  die 
Gefahr,  eine  Fehldiagnose  zu  machen,  ist  sehr 
gering.  Die  Fehlerquelle  beträgt  nur  3-5 °/o.  Von 
Fällen,  wo  das  Karzinom  nicht  palpabel  war  und  sich  erst 
später  diagnostizieren  ließ,  enthält  unsere  Tabelle  sechs, 
von  denen  drei  positiv  waren.  Die  Reaktion  ist  also 
auch  für  die  Frühdiagnose  mit  verwendbar.  Die 
As  coli  sehe  Reaktion  ist  ferner  theoretisch  sehr  inter¬ 
essant.  Sie  stellt  jedenfalls  eine  neue  Reaktion  dar,  die 
nach  unseren  Erfahrungen  weder  mit  der  Präzipitinbildung, 
noch  mit  der  Komplementbindung,  noch  mit  der  anaphy¬ 
laktischen  Reaktion  parallel  geht.  Infolgedessen  haben  wir 
uns  veranlaßt  gesehen,  uns  noch  weiter  mit  der  Meiostag- 
minreakfion  zu  beschäftigen,  indem  wir  aus  sehr  verschie¬ 
denen  Geweben  unter  verschiedenen  Umständen  Extrakte 
hergestellt  und  an  Krebsfällen  geprüft  haben.  Auch  hier 
zeigte  sich  eine  hohe  Spezifizität  des  Karzinomgewebes. 
Die  Resultate  sollen  in  einer  zweiten  Abhandlung  später 
veröffentlicht  werden,  da  unsere  Arbeiten  noch  nicht  ganz 
abgeschlossen  sind. 

* 

Gleichzeitig  mit  der  Meiostagminreaktion  habe  ich  in 
einer  Anzahl  von  Fällen  die  hämolytische  Reaktion  an¬ 
gestellt  u.  zw.  nach  dem  von  mir  angegebenen  Verfahren 
mit  Hühnerblutkörperchen.  Die  Kautelen,  welche  ich  inne¬ 
gehalten  habe,  sind  von  mir  in  der  Wiener  klinischen 
Wochenschrift  1909,  Nr.  38,  erörtert  worden.  Das  Blut 
wurde  den  Patienten  meist  in  nüchternem  Zustande  ent¬ 
zogen,  oder  es  wurde  ihnen  höchstens  ein  kleines  Probe¬ 
frühstück  (eine  Tasse  dünnen  Tee  mit  Zucker  und  ein 
wenig  trockene  Semmel)  gestattet.  Blut  von  narkotisierten 
Patienten,  wie  es  bei  Operationen  gewonnen  wird,  wurde 
nicht  verwendet;  solches  Blut  zu  verwenden  ist  unzweck¬ 
mäßig.  Außerdem  darf  man  zu  diesem  Zwecke  nicht  Blut 
von  Patienten  verwenden,  welche  Urämie  haben,  oder  im 
Koma  liegen,  oder  an  fieberhaften  Infektionskrankheiten 
leiden.  Die  Patienten  dürfen  auch  nicht  seit  mindestens 
24  Stunden  Medikamente  genommen  haben,  auch  keine 
Seifenwasser-  oder  Oelklystiere  usw.  bekommen  haben. 
Außer  den  alten  Reaktionen,  die  ich  mit  Ha  und  II b  be¬ 
zeichnet,  habe,  habe  ich  noch  eine  neue  Reaktion  (III)  a,n- 
gewendet,  welche  noch  manchmal  Ausschläge  gab,  wenn 
die  beiden  anderein  versagten.  Probe  II  a  (vergleiche 
Wiener  klinische  Wochenschrift  1909,  Nr.  38  und  Langen- 
becks  Archiv,  Bd.  80)  bedeutet: 0-1  Patientenserum  auf  1  cm3 
5%iger  Hühnerblutkörperchenaufschwemmung  in  0-85°/oiger 
Kochsalzlösung  in  den  Brutofen  bei  37°  so  lange  gestellt, 
bis  die  Kontrollen  mit  dem  normalen  Menschenserum  sich 
eben  deutlich  gerötet  haben.  II b  bedeutet:  01  Menschen¬ 
serum  und  1  cm3  5°/oiger  Hühnerblutkörperchenaufschwem¬ 
mung,  erst  eine  Stunde  bei  15°  im  Wasserbad  gehalten, 
dann  die  Blutkörperchen  mit  0-85°/oiger  Kochsalzlösung 
rasch  zweimial  hintereinander  gewaschen  und  sofort  ab¬ 
zentrifugiert.  Das  Sediment  wird  mit  physiologischer  Koch¬ 
salzlösung  auf  1  Cm3  gebracht  und  01  Hühnerserum  hin¬ 
zugegeben.  Die  Blutproben  kommen  jetzt  alle  halben  Stunden 
umgeschüttelt  so  lange  in  den  Brutofen  bei  37°,  bis  die 
Proben  mit  den  normalen  Sera  sich  eben  gerötet  haben. 
Das  dauert  bei  den  verschiedenen  Proben  II  a,  II  b  und  III 
eineinhalb  bis  drei  Stunden,  je  nach  der  Löslichkeit  der 
Blutkörperchen.  Dann  werden  sie  abzentrifugiert  und 
der  Hämoglobininhalt  austitriert,  wie  ich  das  früher 
angegeben  habe  (vgl.  Langenbecks  Archiv,  Bd.  80).  Innige 
Kollegen  haben  an  mich  geschrieben,  warum  ich  die  Probe 
II b  verwende  und  welche  Bedeutung  sie  im  Verhältnis 
zur  Probe  TT  a  hat.  Der  Effekt  der  Probe  II a  hängt  nicht 
nur  vom  Immunkörper,  sondern  auch  von  einem  be¬ 


stimmten  Ferment  ab.  Die  Probe  kann  positiv  ausfallen, 
ohne  daß  der  Immunkörper  vermehrt  zu  sein  braucht.  Hin¬ 
gegen  hängt  ein  deutlicher  Ausfall  der  Probe  II b  von  der 
Vermehrung  des  Immunkörpers  ab,  weil  derselbe  in  der 
Kälte  eher  gebunden  wird  als  das  Ferment.  Letzteres  wird 
durch  Auswaschen  beseitigt  und  als  passendes  neues  Fer¬ 
ment  Hühnerserum  hinzugesetzt  u.  zw.  zu  allen  Proben 
dieselbe  Fermentmenge. 

Ich  habe  mehrfach  in  der  Literatur  -  zuletzt  in  dem  Buche 
von  Leuchs  und  Wassermann  „Hämolysine,  Zy toi y. sine  und 
Präzipitine",  S.  65  —  gelesen,  daß  es  sich  bei  meiner  Reaktion 
wahrscheinlich  nicht  um  einen  Antikörper,  sondern  „um  einen 
einfachen,  thermolabilen,  von  den  Geschwulstzellen  gebildeten 
Stoff  handle“.  Dieser  Schluß,  gründet  sich  auf  einen  einzigen 
Versuch,  den  Wideroe  angestellt  hat,  indem  er  nämlich  bei 
einem  Krebsserum,  welches  nur  Probe  II  a  gab,  durch  Kälte¬ 
trennung  versuchte,  ob  sich  ein  spezifischer  Immunkörper  an 
Hühnerblutkörperchen  binden  ließe.  Dieser  Versuch  liel  negativ 
aus.  TSr  hätte  aber  leicht  eine  ganze  Anzahl  Krebskranker  finden 
können,  bei  denen  der  Versuch  positiv  ausgefallen  wäre;  es  sind 
dies  nämlich  diejenigen  Krebsfälle,  bei  denen  auch  die  Probe  If  b 
deutlich  positiv  ausfällt.  Man  kann  nämlich  diese  Probe  auch 
so  ausführen,  daß  man  sie,  anstatt  eine  Stunde  bei  15°,  zwei 
bis  drei  Stunden  bei  0°  hält,  dann  die  Erythrozyten  abzentri¬ 
fugiert.  und  auswäscht,  und  nun  kann  man  sowohl  mit  Hühner¬ 
ais  auch  mit  Menschenserum  komplettieren.  Bei  einem  ent¬ 
sprechenden  Karzinomserum  erzielt  man  so  einen  deutlichen 
Ausschlag,  den  normale  Sera  und  Sera  bei  anderen  Krankheiten 
nicht  zeigen.  Es  gibt  also  eine  ganze  Anzahl  von  Karzinomfällen, 
bei  denen  das  Plämolysinkomplex  (im  Sinne  Ehrlichs)  zu¬ 
sammengesetzt  ist.  Darauf  habe  ich  schon  in  meiner  Antwort 
an  v.  Düngern  hingewiesen  (Zeitschrift  für  Krebsforschung, 
Bd.  6)  und  auch  in  meiner  Arbeit  in  der  Wiener  klinischen  Wochen¬ 
schrift  1909,  Nr.  38.  Der  Schluß  von  Leuchs  und  Wasser¬ 
mann,  daß  sie  keine  Ursache  hätten,  sich  mit  meinen  Versuchen 
näher  zu  befassen,  da  durch  Wideroe  der  Nachweis  erbracht 
sei,  daß  es  sich  bei  meinem  Hämolysin  nicht  um  einen  kom¬ 
plexen  Körper  handle,  ist  nicht  richtig.  Auch  der  andere  Schluß, 
daß  der  Stoff,  welcher  sich  im  Patientenserum  findet,  wahr¬ 
scheinlich  von  den  Geschwulstzellen  abgesondert  sei,  läßt  sien 
für  eine  Anzahl  Krebskranker .  widerlegen.  Nämlich  1.  wenn  die 
Geschwulst  entfernt  ist,  läßt  sich  der  hämolytische  Stoff  noch 
einige  Zeit  (zwei  bis  drei  Wochen)  nachweisen.  2.  Die  Ge¬ 
schwulst  kann  wachsen,  und  die  hämolytische  Reaktion,  welche 
anfangs  vorhanden  ist,  kann  bei  Kachek tischen  unter  Umstanden 
verschwinden.  Das  wäre  aber  unmöglich,  wenn  es  sich  allein  um 
einen  Stoff  handelte,  welcher  von  den  Geschwulstzellen  abge¬ 
sondert  wird.  3.  Es  besteht  kein  Zusammenhang  zwischen  der 
Größe  des  Tumors  und  der  Stärke  der  Reaktion. 

Die  neue  Probe  III  mit  Hühnerblutkörperchen  wird 
folgendermaßen  ansgeführt :  Das  Menschenserum  wird 
eine  halbe  Stunde  bei  55°  inaktiviert  Zu  1  cm3  5%iger 
Hühnerblutkörperchenaufschwemmung  in  0-85%iger  Koch¬ 
salzlösung  bringt  man  0-5  inaktiviertes  Patientenserum.  Die 
Proben  werden  eine  Stunde  bei  37°  stehen  gelassen  und 
dann  rasch  zweimal  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  aus¬ 
gewaschen  und  abzentrifugiert.  Das  Sediment  wird  mit  phy¬ 
siologischer  Kochsalzlösung  wieder  aufgefülll  auf  1-5  cm 
und  umgeschüttelt  und  dann  werden  0-05  cm3  aktives  nor¬ 
males  Menschenserum  hinzugefügt,  natürlich  zu  jeder  Probe 
einer  Versudhsserie  das  gleiche  Serum  ;  die  Proben  kommen 
so  lange  in  den  Brutofen,  bis  sich  die  Kontrollproben  mit 
dem1  inaktivierten,  normalen  Menschenserum  deutlich  röten, 
dann  werden  sie  durchgeschüttelt,  abzentrifugiert  und  aus¬ 
titriert.  Die  Werte,  welche  man  mit  dieser  Probe  erhält, 
sind  in  der  Tabelle  unter  III  angegeben;  so  bedeutet  zum 
Beispiel  60,  daß  60%  des  gesunden  Hämoglobins  der  Probe 
gelöst  worden  sind. 

Leuchs  und  Wassermann  sagen  in  ihrem  Buche,  daß 
die  Bestimmung  der  Isolysin-e  nach  Crile  für  den  Krebs  etwas 
größere  praktische  Bedeutung  zu  haben  scheine,  als  die  Hete¬ 
rolyse.  Derselben  Ansicht  sind  offenbar  verschiedene  Autoren 
gewesen,  denn  die  Isolysinprobe  ist  vielfach  nachgeprüft  worden. 
Wir  sind  jedoch  hei  unseren  Untersuchungen  wieder  von  ihr 
abgekommen.  Sie  gibt  weniger  positive  Resultate  und  hat  mehr 
Fehlerquellen,  als  die  heterolytischen  Proben.  Ich  hatte  das 
schon  in  einer  früheren  Arbeit  (Wiener  klinische  Wochenscniut. 
1909,  Nr.  38)  gesagt,  und  unsere  weiteren  Untersuchungen  haben 


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Nr.  3 


es  bestätigt,  so  daß  wir  diese  Proben  überhaupt  nicht  mehr 
ausführen,  da  es  uns  nicht  gelungen  ist,  den  Isolysinproben  eine 
brauchbare  Form  zu  geben. 

Die  Resultate,  die  wir  mit  den  heterolytisohen  Proben 
Ha,  Ilb  und  III  auf  Hühnerblutkörperchen  im  Vergleich 
mit  der  As  coli  sehen  Meiostagminreaktion  gehabt  haben, 
waren,  kurz  zusammengefaßt,  folgende:  Von  45  malignen 
Geschwülsten  obiger  Tabelle  gaben  die  Meio¬ 
stagminreaktion  21,  die  h e ter o ly ti s chen  Proben 
30.  Von  den  Testierenden  15  gaben  noch  2  bei  Wiederholung 
des  Versuches  zu  anderer  Zeit  eine  positive  heterolytische 
Reaktion,  also  im  ganzen  32.  Von  den  30,  die  schon 
bei  der  ersten  Prüfung  positive  heterolytische 
Reaktionen  zeigten,  gaben  15  keine  deutliche 
Meiostagminreaktion  nach  Ascoli,  woraus  her¬ 
vorgeht,  daß  die  heterolytischen  Proben  trotz 
der  Ascolischen  Meiostagminreaktion  ihre  Exi¬ 
stenzberechtigung  besitzen.  Hingegen  ergänzte 
wieder  die  Ascolische  Reaktion  die  heterolyti¬ 
schen  Reaktionen  zum  Teil,  denn  von  den  15  ma¬ 
lignen  Geschwülsten,  die  keine  heteroly  tische 
Reaktion  gaben,  zeigten  6  eine  deutliche  Meio¬ 
stagminreaktion  nach  Ascoli.  Beide  Reaktionen 
gleichzeitig  zeigten  von  45  malignen  Geschwül¬ 
sten  17.  Irgendeine  von  den  drei  h e t e r o  1  y  t i s Ch e n 
Reaktionen  oder  die  Ascolische  Reaktion  gaben 
von  diesen  45  malignen  Fällen  36  (ein  37.  Fall  zeigte 
erst  beide  negativ  und  dann  beide  positiv  —  Fall  17). 
Keine  von  beiden  Reaktionen  aber  fand  sich  nur 
bei  8,  so  daß  von  sämtlichen  malignen  Geschwül¬ 
sten  80%  mit  irgendeiner  der  Reaktionen  schon 
bei  der  ersten  Untersuchung  deutliche  Aus¬ 
schläge  gaben.  Dabei  sind  die  Fehler  im  ganzen  nicht 
sehr  groß.  Zieht  man  die  Fälle  von  fieberhaften  Eiterungen 
ab,  worauf  ich  schon  früher  hingewiesen  habe  (das  spielt 
aber  für  die  Diagnose  keine  große  Rolle,  da  die  Differential¬ 
diagnose  meist  nicht  so  gestellt,  wird,  ob  es  sich  um  Kar¬ 
zinom  oder  fieberhafte  Krankheiten  handelt,  sondern  um 
Karzinom  oder  eine  chronische  fieberlose  Erkrankung), 
so  haben  wir  auf  82  Fälle  von  anderen  Krank¬ 
heiten  der  Tabelle  nur  drei  Fehldiagnosen  auf 
die  heterolytischen  Reaktionen;  das  ergibt  für 
jede,  die  Ascolische  und  die  heterolytischen 
Reaktionen,  3  Fehler  und  für  beide  zusammen 
6  Fehler  =  7-5%,  bei  etwa  80%  positiven  Resul¬ 
taten.  Hingegen  waren  beide  Reaktionen  positiv 
bei  über  ein  Drittel  der  malignen  Geschwülste; 
bei  85  anderen  Fällen  aber  nur  in  einem'  Fälle. 
Hier  betrug  also  der  Fehler  nur  1-2%.  Das  Resul¬ 
tat  zeigt,  daß  man  beide  Reaktionen  zur  Dia¬ 
gnose  eines  nicht  palpablen  Karzinoms  mit  Er¬ 
folg  heranziehen  kann. 

Obwohl  die  Blutserumdiagnose  des  Karzinoms  unver¬ 
kennbare  Fortschritte  gemacht  hat,  so  finden  sich  doch 
immer  noch  wenig  Mitarbeiter.  Das  liegt,  wohl  daran,  daß 
viele  Aerzte  sich  die  Sache  zu  schwierig  vorstellen  und 
daß  sie  außerdem  zu  viel  von  den  Reaktionen  verlangen. 

Letztere  sollen  absolut  spezifisch  sein,  was  wir  bei 
biochemischen  Reaktionen  nur  sehr  selten  finden  und  sie 
sollen  möglichst  100%  Ausbeute  geben,  was  bei  bioche¬ 
mischen  Reaktionen  überhaupt  nicht  vorkommt.-  Ich  glaube, 
es  ‘werden  praktisch  die  besten  Resultate  erzielt,  wenn 
verschiedenartige  Reaktionen  zusammengenommen  werden, 
wie  ich  dies  zum  Beispiel  in  dieser  Arbeit  mit  zwei  Reak¬ 
tionen  versucht  habe  und  in  einer  früheren  Arbeit  (Wiener 
klinische  Wochenschrift  1909,  Nr.  38)  mit  der  Heterolyse 
und  der  Komplementbindung  durchgeführt  habe.  Solche 
Versuche  sind  noch  mehrfacher  Erweiterung  fähig;  man. 
denke  nur  an  die  Reaktionen  von  Brieger,  von  Freund 
und  Kamin  er,  von  Grafe  und  Rohm  er  usw.  Die  eine 
Reaktion  vermag  unter  Umständen  die  andere  zu  ergänzen 
und,  wenn  beide  Reaktionen  positiv  ausf allen,  stützen  sich 
die  Resultate  gegenseitig. 


g 

Ha  | 

Ilb 

III 

Name 

E  § 

ÖL).  rH 

1 

— 

Diagnose 

Ge¬ 

und 

Diagnose  : 

SS 

Hämolytische 

durch 

schlecht 

Alter 

C/2  05 

O  C> 

Reaktion 

mit  !  * 

Operation 

w 

e 

3  ^ 

— i 

Hühnerblut 

la  F.  I 

4.  D„ 

32 

Choledochusstein,  Ikt. 

0-4 

10 

_ 

io ! 

2  F.  !l 

1.  P., 

44 

Anämie,  Macies 

0-75 

5 

— 

0 

3a  M.  1 

3.E., 

55 

Carcin.  ventr.  (nicht 

palpabel) 

1-2 

60 

— 

5 

Operation 

4  F.  1 

7.  K., 

45 

Ulcus  callos.,  Gallen¬ 

steine,  Macies 

0-8 

5  ! 

— 

10 

Operation 

5  F.  L 

\.  H., 

64 

Carcin.  hepatis 

11 

60 

— 

100 

6  M.  G.E., 

30 

Ulcus  ventr.,  Macies 

06 

20 

—  ■ 

40 

7  M.  E.  R., 

58 

Carcin.  cardiae 

2  0 

75 

— 

10  1 

8  F.  E.J., 

50 

Gallenst.,  Pankreatitis 

0-45 

30 

— 

io ! 

9  F.  H.K., 

18 

Ulkus,  Anämie 

0-8 

30 

— 

30  I 

10  M.  1 

L  S., 

70 

Carcin.  ventr.,  Diab. 

16 

20 

— 

30 

11  M.  i 

dH., 

50 

Carcin.  coli 

2  5 

20  ; 

— 

30 

12  M.  J.  E., 

44 

Neurasthenie 

0-5 

10 

— 

10 

13  F.  1 

H.  A„ 

31 

Gastritis  chron. 

0-6  1 

15 

— 

30 

14a  F.  |M.  R., 

53 

Drüsensarkom 

15 

100 

— 

100 

Operation 

15  M.  . 

E.  L., 

63 

Carcin.  recti 

2  3 

50 

—  1 

20  | 

16  F.  . 

A.  H., 

22 

Ulcus  ventr. 

035 

10 

— 

20  i 

17a  F.  ' 

E.  Sch., 

56 

Carcin.  hepatis 

05 

40 

— 

20  i 

Operation 

18a  M. 

E.B., 

66 

Carcin.  pylori 

15 

80 

— 

20 

Operation 

19  M. 

B.  G„ 

49 

Gallensteine 

00 

20 

— 

20  ! 

20a  M. 

A.  St., 

42 

Ulcus  callos.  ventr. 

04 

20 

— 

20 

Operation 

21  F. 

G.  K., 

25 

Anämie 

02 

40 

— 

40 

22  M. 

A.R., 

60 

Carcin.  ventr.  (nicht 

palpabel) 

20 

100 

100 

Operation 

23  M. 

P.M., 

27 

Lungentuberkulose, 

Kachexie 

1-3 

30 

— 

10 

tNS 

L.  Sch. 

,49 

Chron.  Gastritis,  Myo¬ 

ma  uteri 

03 

10 

— 

10 

25  M. 

O.B., 

40 

Carcin.  oesoph. 

06 

95 

— 

20 

26  F. 

F.  L., 

30 

Neurasthenie 

025 

30 

— 

10 

3b 

14  T.  nach  3a  (nicht 

reseziert) 

06 

20 

— 

10 

27  M. 

F.  R., 

50 

Lues-,  Arteriosklerose  | 

03 

30 

— 

15  j 

28a  F. 

A.  Z., 

32 

Carcin.ventr.  (Gastro¬ 

1 

enterostomie) 

(nicht  palpabel) 

01 

100 

— 

40 

Operation 

29  M. 

E.  M., 

57 

Gastritis  chron.,  Rheu¬ 

matismus 

0-2 

10 

— 

15 

30  F. 

!m.  h., 

42 

Lungentuberkulose 

01 

10 

— 

15 

31  M. 

G.  Sch. 

,  50 

Chron.  Gastritis,  Mac. 

1-3 

10 

— 

15 

20b 

10  T.  nach  20a 

04 

30 

— 

25 

32  M. 

G.  M., 

77 

Magen-  und  Leber- 

karzin. 

10 

30 

— 

15 

33  M. 

F.  A., 

56 

Carcin.ventr.  (Gastro¬ 

enterostomie) 

075 

5 

— 

40 

;  Operation 

34  F. 

A.G., 

35 

Anämie 

025 

10 

— 

10 

35  F. 

E.  St., 

27 

Großer  typhlit.  Abszeß 

1-0 

60 

— 

' 

10 

Operation 

36  M. 

A.  K., 

60 

Lungentuberkulose 

10 

10 

10 

37  F. 

H.  Sch. 

, ,  3o 

Darmadhäsionen 

04 

10 

— 

15 

Operation 

38  F. 

H.  H. 

62 

Gastritis  chron.,  Mac. 

15 

20 

— 

5 

39  M. 

B.  B., 

56  Carcin.  coli  (nicht 

palpabel) 

2  0 

100 

— 

25 

Operation 

40  F. 

E.  R., 

33 

Ulcus  ventr.,  Macies 

08 

20 

— 

5 

41  M. 

W.  M., 

64 

Carcin.  renis 

0-2 

50 

— 

5 

42a  M. 

A.  R., 

66 

.  Carcin.  cardiae 

11 

60 

— 

100 

43  a  M. 

E.  K., 

61 

Carcin.  oesophagi 

11 

100 

— 

100 

17b 

30  T.  nach  17a 

2  5 

65 

— 

75 

44  M. 

E.  G., 

31 

.  Ulkus,  Anämie 

03 

5 

— 

5 

45  M. 

G.  Sch 

•i  4C 

i  Carcin.  coeci 

15 

65 

_ 

10 

Operation 

46  M. 

R.  G., 

56 

i  Ulcus  ventr. 

05 

10 

10 

47  F. 

F.  W., 

6C 

•  Carcin.  ventr. 

10 

10 

— 

95 

48  M. 

K.  E., 

54 

-  Carcin.  pylori 

10 

,  25 

— 

30 

49  M. 

M.  M., 

27 

'  Colitis  chron. 

0-75 

»  10 

— 

15 

50  F. 

E.  G„ 

4C 

i  Ulcus  carc.  ventr.fnuß- 

groß,  nicht  palpabel) 

11 

I  30 

— 

20 

Operation 

14b 

37T.  nach  14a 

1-3 

100 

— 

70 

51  F. 

J.  K., 

5E 

>  Oesophago-Spasmus 

01 

15 

_ 

30 

52  M. 

H.  6., 

66 

)  Carcin.  ventr.  u.  he¬ 

patis,  Kachexie 

2  6 

25 

— 

20 

■  53  M. 

W.  1)., 

3t 

.  Appendic.  chron. 

03 

10 

— 

30 

54  F. 

E.  U., 

3C 

)  Drüsentuberkulose, 

Macies 

0-9 

'  10 

— 

15 

55  M. 

P.  R., 

4f 

>  Colitis  chron. 

10 

20 

— 

15 

43b 

21.  T.  nach  43a 

04 

65 

30 

56  M. 

G.  L., 

5t 

3  Chron.  Colitis,  Macies 

04E 

)  30 

— 

15 

57  F. 

B.  H, 

2( 

3  Drüsentuberkulose, 

.  - : 

Macies 

05 

20 

— 

1  15 

58  M. 

E.  H., 

5t 

1  Carcin.  recti 

1-3 

20 

15 

1 

Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


93 


Name 

und 

Alter 

I 

g 

Ifa 

Hb  j 

III 

Diagnose 

durch 

Operation 

Ge¬ 

schlecht 

Diagnose 

§3.2 

O  O) 

Hämolytische 
Reaktion  mit 
Hühnerblut 

59  M. 

C.Z..  59 

Ulcus  ventr.  chron. 

045 

5 

0 

3 

60  M. 

E.  N..  62 

Carcin.  oesophagi 

P2 

35 

15 

60 

61a  M. 

L.  R..  60 

Carcin.  oesophagi 

15 

35 

15 

15 

42  b 

24  T.  nach  42a 

175 

80 

60 

55 

62  F. 

N.  R.,  42 

Ulcus  ventr. 

04 

5 

0 

3 

63  M. 

V.  Sp..  34 

Ulcus  callos.  ventr. 

1  0 

15 

15 

20 

Operation 

61a  M. 

A.  F.,  53 

Lues  u.  Carcin.  reel 

2  0 

100 

100 

70 

Operation 

65  M. 

E.  II..  48 

Ulcus  ventr.  chron. 

0-75 

25 

10 

60 

66  M. 

L.  W..  58 

Starke  Kachexie  unbe- 

kannter  Ursache 

2  0 

25 

10 

20 

67  M. 

H.  V.,  42 

Lungentuberkulose, 

chron.  Gastritis 

055 

25 

15 

20 

68  F. 

F,  W.,  40 

Ulcus  ventr.,  Anämie 

06 

25 

10 

20 

69  M. 

F.  W.,  50 

Carcin.  coeci,  Diabet. 

10 

70 

40 

20 

70  F. 

M.W..  17 

Appendic.  chron. 

06 

30 

20 

20 

71  F.* 

L.  G.,  53 

D  arm  tub  erk  u  lose 

06 

30 

20 

20 

72  F. 

L.  R,  18 

Ulcus  ventr.,  Anämie 

045 

30 

20 

20 

73  M. 

F.  G.,  25 

Neurasthenie 

035 

5 

10 

20 

641) 

10  T.  nach  64a 

30 

90 

90 

100 

lb 

57  T.  nach  la  (kein 

Ikterus) 

08 

10 

10 

20 

74  M. 

L.  R,  42 

Darmtuberkulose 

06 

15 

10 

20 

75  F. 

F.  P.,  33 

Ulcus  ventr. 

05 

15 

10 

20 

76  F. 

F.  M.,  60 

Macies,  Diabetes 

0-75 

10 

5 

20 

77  M. 

H.  G.,  40 

Gastritis  chron. 

0-6 

10 

5 

20 

78a  F. 

A.  R,  61 

Carcin.  coli 

18 

90 

60 

70 

Operation 

79  M. 

W.R.,  55 

Neurasthenie 

0-4 

25 

20 

20 

SO  M. 

R.  11..  55 

Carcin.  ventr. 

1'2 

25 

20 

20 

81  M. 

M.  P„  25 

Narbenstenose  des 

Pylorus,  Macies 

07 

30 

30 

20 

Operation 

61b 

19  T.  nach  61a 

1-3 

30 

20 

55 

82  M. 

G.  S.,  36 

Carcin.  oesophagi 

16 

90 

60 

0 

83a  M. 

G.  K..  43 

Carcin.  ventr.  (nicht 

palpabel) 

1-5 

25 

15 

5 

Operation 

84a  M. 

A.  R..  18 

Narbenstenose  des 

Oesophagus 

0-7 

10 

15 

5 

85  F. 

F.  N..  42 

Ulcus  pvlori 

0-4 

5 

5 

5 

86  M. 

0.  R.  53 

Ulcus  ventr. 

10 

25 

25 

40 

87  M. 

H.  S.,  34 

Atonia  ventr.,  Anämie 

02 

0 

5 

5 

88  M. 

II.  J..  50 

Schwere  Sepsis 

10 

70 

15 

50 

89  M. 

P.  M.,  59 

Carcin.  ventr. 

2  2 

15 

5 

30 

90  M. 

W.  II.,  20 

Icterus  catarrh. 

03 

10 

10 

10 

91  M. 

F.  N..  43 

Choledochusstein, Ikter. 

04 

5 

5 

0 

Operation 

92  M. 

A.W.,  35 

Drüsensarkom 

1-8 

90 

30 

50 

Operation 

18b 

68  T.  n.  d.  Resektion 

09 

5 

5 

0 

93  M. 

H.  K.,  19 

Anämie 

0-4 

0 

5 

10 

94  F. 

C.  V..  34 

Darmtuberkulose 

0-5 

5 

10 

10 

28b 

59  T.  nach  28a 

01 

100 

50 

90 

95  M. 

0.  P.,  53 

Ulcus  ventr.,  Macies 

0’7 

35 

30 

30 

96  M. 

M.  F..  62 

Carcin.  hepatis  und 

ventr. 

16 

100 

5 

70 

97  M. 

M.  G.,  44 

Appendic.  chron.,  Dia- 

1  •  - 

betes 

04 

35 

5 

15 

98  M. 

H.  L„  55 

Carcin.  oesophagi 

0-4 

25 

5 

10 

99  M. 

0.  Sch.,  53 

Arteriosklerose,  Mac. 

0-65 

5 

5 

10 

100  M. 

II.  W..  10 

Anämie,  Neurasth. 

05 

5 

5 

10 

101  M. 

R.  E..  29 

Colitis  chron. 

055 

20 

5 

10 

84b 

14  T.  nach  84a 

09 

5 

5 

10 

83b 

14  T.  nach  83a  (nicht 

reseziert) 

1  35 

30 

20 

20 

17  Tage  nach  78a  (nicht 

78b 

reseziert) 

17 

50 

90 

100 

102  M. 

L.  11,  39 

Alte  Lues,  Macies 

0-7 

5 

5 

10 

103  M. 

E.  Sch..  52 

Gallensteine 

05 

20 

0 

10 

101  M. 

E.  S.,  45 

Carcin.  ventr. 

1-5 

60 

10 

60 

105  F. 

H.  M.,  39 

Lungentuberkulose 

0-6 

20 

0 

15 

106  M. 

R  L.  37 

Fieberhafte  Lungen- 

tuberkulöse 

0-65 

30 

20 

60 

107  M. 

F.  F..  26 

Carcin.  recti 

U25 

60 

25 

80 

LOS  M. 

G.  E..  37 

Gastritis  chron. 

055 

15 

5 

!  25 

109  M. 

R.  M.,  54 

Gastritis  chron.,  Macies 

0-4 

20 

10 

20 

110  F. 

J.  G..  39 

Lungentuberkulose, 

Kachexie 

0-85 

0 

10 

20 

Ill  F. 

J.  J..  17 

Darmadhäsion. 

Appendizitis 

0-4 

15 

20 

25 

Operation 

112  M. 

11.  Sch.,  47 

Carcin.  ventr. 

11 

90 

20 

|  20 

113  M. 

R.  W.,  23 

Typhlitischer  Abszeß 

0-8 

20 

30 

20 

114  F. 

R  G„  60 

Neurasthenie,  Anämie 

0-6 

20 

I  30 

15 

- 

115  F. 

L.E.,  69 

Gastritis  chron. 

0-9 

10 

10 

I  20 

g 

a  - 

Ha 

Ilb 

III 

Diagnose 

durch 

Operation 

Ge¬ 

schlecht 

IN  ctlllC" 

und 

Alter 

Diagnose 

to  o 

CS  — 

.2  £ 
CD  tH 

Hämolytische 
Reaktion  mit 
Hühnerblut 

116  F. 

E.  K., 

60 

Darmkrisen  bei  Tabes 

0-6 

10 

10 

30 

117  F. 

W.N., 

54 

Myocarditis,  Macies 

065 

0 

10 

20 

118  F. 

M.  K., 

28 

Carcin.  recti 

IT 

80 

70 

70 

119  M. 

E.  R.. 

29 

Carcin.  ventr. 

IT 

35 

30 

20 

120  F. 

M.  L., 

25 

Ulcus  ventr. 

055 

10 

5 

10 

121  M. 

M.  G., 

52 

Carcin.  renis 

2  5 

80 

60 

75 

122  M. 

H.  W„ 

40 

Ulcus  callos.  ventr. 

15 

45 

0 

15 

öpaiei 

123  M. 

E.  B.. 

56 

Carcin.  cardiae 

T3 

50 

40 

0 

124  M. 

E.  S„ 

56 

Carcin.  recti 

17 

50 

20 

0 

125  M. 

R.R., 

40 

Ulcus  ventr. 

05 

10 

10 

10 

126  M. 

11.  W., 

61 

Carcin.  ventr. 

10 

10 

10 

5 

127  M. 

K.  D., 

36 

Darmtuberkuiose 

04 

30 

5 

5 

128  F. 

A.R., 

36 

Ulcus  callos.  ventr. 

05 

20 

10 

20 

Operation 

129  M. 

H.  R, 

50 

Hämorrhoiden 

06 

10 

10 

5 

130  M. 

K.  R., 

42 

Gastritis  chron. 

04 

30 

20 

5 

Zum  Schlüsse  danke  ich  noch  Herrn  Dr.  Paul  Illing, 
der  die  Reaktionen  ausgeführt  hat,  für  seine  Mitarbeit  und 
Herrn  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Ellenberger,  in  dessen  In¬ 
stitut  die  Untersuchungen  angestellt  worden  sind,  für  seine 
Erlaubnis. 


Die  Behandlung  des  ulcus  cruris  varicosum 
mittels  Pflasterstrumpfbandes. 

Von  K.  Büdinger. 

Die  rationelle  Therapie  des  Ulcus  cruris  varicosum 
beruht  auf  der  Erkenntnis,  daß  es  hauptsächlich  darauf 
ankommt,  die  Rückstauung  des  Blutes  in  die  ihres  Klappen¬ 
apparates  verlustig  gewordenen  Venen  zu  verhindern. 
Diesem  Zwecke  dienen  die  verschiedenen  komprimierenden 
Verbände,  deren  ausgebildetster  Typus  durch  Unnas  Heft¬ 
pflasterverband  dargestellt  wird.  Allen  Verbänden  dieser 
Art  ist  [gemeinsam,  daß  sie  nahezu  den  ganzen  Unter¬ 
schenkel  zirkulär  umfassen,  entweder  mit  oder  ohne  Aus¬ 
sparung  der  Geschwürsfläche.  Sie  haben  sich  in  sehr  vielen 
Fällen  trefflich  bewährt,  jedoch  hängen  ihnen  gewisse  Nach¬ 
teile  an,  welche  es  mit  sich  bringen,  daß  sie  zwar  von  zahl¬ 
reichen  Spezialisten  als  Methode  der  Wahl  gehandhabt,  vom 
Gros  der  Praktiker  aber  kaum  verwendet  werden.  Die  Haupt¬ 
schwierigkeit  —  speziell  auch  für  den  Zinkleim  verband 
liegt  darin,  daß  zur  Erlernung  der  Technik  immerhin  einige 
Uebung  und  Interesse  gehört  und  daß  sich  Fehler  in  der 
Anlegung  recht  unangenehm  bemerkbar  machen  können. 

Es  ist  nun  die  Frage,  ob  es  denn  überhaupt  not¬ 
wendig  ist,  die  ganzen  Venenkomplexe  zu  komprimieren, 
wenn  nicht  anderes  damit  erzielt  werden  soll,  als  ihre 
Anfüllung  mit  Blut  zu  verhindern. 

Auf  diese  Frage  gibt  die  moderne  chirurgische 
Therapie  der  Varizen,  resp.  des  Ulcus  varicosum  des  Unter¬ 
schenkels  eine  unzweideutige  Antwort.  Die  Erfolge  der 
Unterbindung  der  Vena  saphena  magna,  bzw.  die  Exstir¬ 
pation  dieses  Gefäßes  (welche  von  mir,  Avie  von  den  meisten 
Chirurgen  bevorzugt  wird)  lehren,  daß  die  Unterbrechung 
der  rückläufigen  Blutzufuhr  proximal  vom  Gebiete  der  ek- 
tatischen  Venen  ausreicht,  um  dieselben  in  annähernd  nor¬ 
malem  Füllungszustand  zu  erhalten,  so  lange  nicht  auf 
(collateral  em  Wege  eine  neue  Möglichkeit  der  Rückstauung 
entsteht.  Wenn  die  ßaplienaresektion  unter  strenger  In¬ 
dikation  gemacht  wird,  nämlich,  wenn  die  Saphena  magna 
als  einziger,  starker  Gefäßstrang  unter  der  Haut  des  Ober¬ 
schenkels  fühlbar  und  das  Gebiet  der  Saphena  parva  nicht 
ektasiert  ist,  darf  man  nach  ihrer  Entfernung  auf  prompte 
Heilung  der  Ulzera  rechnen,  solange  sie  keine  übermäßige 
Größe  haben.  Dabei  ist  es  nicht  einmal  notwendig,  durch 
Liegenlassen  des  Patienten  ein  Plus  bezüglich  der  Regu- 
gulierung  der  Zirkulation  hinzuzufügen,  die  Heilung  geht 


94 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  3 


ebenso  schnell  vor  sich,  wenn  der  Operierte  vom  ersten 
Tage  an  herumlgehit. 

Das  Ulkus  kann  aber  auch  dann  nach  demselben 
Prinzip  —  das  heißt  durch  Unterbrechung  der  venösen 
Rückstauung  proximlal  von  der  Geschwürsfläche  —  ope¬ 
rativ  zur  Heilung  gebracht  werden,  wenn  nicht  nur  die 
Saphena  magna  allein,  sondern  der  gesamte  subkutane 
Venenapparat  insuffizient  ist.  Für  solche  Fälle  hat  man  den 
einfachen  oder  mehrfachen  Zirkelschnitt  oder  den  Spiral¬ 
schnitt  gemacht,  um  derart  rund  um!  den  Schenkel  herum 
alle  erweiterten  Venenfreilegen  und  unterbinden  zu  können. 
Von  diesen  Operationen  bin  ich  aus  Gründen,  welche  nicht 
hieher  gehören,  wieder  abigekohnmen,  aber  es  unterliegt 
keinem  Zweifel,  daß  sie  imstande  sind,  ihren  Zweck  zu 
erfüllen,  zur  Beseitigung  der  Varizenbeschwerden  und  des 
Ulchs  cruris  zu  führen. 

Der  Gedanke,  das  Prinzip  der  Venenunterbindung  in 
einer  unblutigen  Behandlungsart  zum  Ausdruck  zu  bringen, 
liegt  nahe.  Es  wurden  auch  schon  mancherlei  Methoden 
vorgeschlagen,  welche  eine  isolierte  Kompression  der  Sa¬ 
phena  magna  bezwecken;  sie  sind  aber  zu  kompliziert  und 
in  ihrem  Erfolg  zweifelhaft. 

Dagegen  läßt  sich  die  zirkuläre  Kompression  sämt¬ 
licher  ektatischer  Hautvenen  proximal  von  Ulkus  sehr 
leicht  durchführen.  Ich  übe  dieselbe  mittels  des  „Pflaster¬ 
strumpfbandes“  in  folgender  Weise  aus: 

Nach  Ausstreichen  des  Blutes  aus  den  ektatischen 
Venen  vom  Fuß  bis  zum  Knie  wird  am  elevierten  JBein 
unterhalb  der  Kniebeuge  eine  zirka  10  dm1  breite  Kaliko¬ 
binde  mit  mäßigem  Zug  in  zwei-  bis  vierfacher  Tour  zir¬ 
kulär  glatt  angelegt.  Darüber  wird  ein  zirka  4  dm  breiter 
Pflasterstreifen  in  drei  bis  vier  Touren  zirkulär  derart  ge¬ 
führt,  daß  sich  die  Streifen  nicht  vollkommen  decken,  son¬ 
dern  zusammen  ein  zirka  6  c'm  breites  Band  bilden. 

Die  unterlegte  Kalikobinde  hat.  den  Zweck,  die  Be¬ 
rührung  des  Pflasters  mit  der  Haut  zu  verhindern  und 
dadurch  die  Gefahr  eines  Ekzems  und  auch  die  Gefahr  des 
Einschneidens  einer  Kante  des  steifen  Pflasters  auszu- 
Ischalten;  ferner  soll  sie  die  Abnahme  des  Verbandes  er¬ 
leichtern  und  die  bekannten  Unannehmlichkeiten  der 
Pflasterablösung  ersparen. 

Sie  muß  daher  beiderseits  um  Fingerbreite  über  den 
Rand  des  Pfla.sterverba.ndes  vorragen.  Dieser  selbst  besteht 
aus  irgend  einem',  auf  starker  Unterlage  angebrachten 
Pflaster,  Kautschukheftpflaster,  Ueukoplast  o.dgl.;  die  Binde 
wird  energisch  angezogen,  so  daß  eben  noch  keine  Stauung 
zustande  kommt,  die  oberflächlichen  Venen  aber  sicher 
komprimiert  sind.  Die  Stärke  der  Umschnürung  ist  natür¬ 
lich  das  Punktum  saliens  der  Behandlungsart  und  es  bedarf 
einer  gewissen  Uebung,  um  den  richtigen  Grad  zu  finden. 
Man  beachte  dabei,  daß  die  Binde  ohne  Stauung  so  fest 
anliegt,  daß  man  darunter  auch  mit.  einem  dünnen  Gegen¬ 
stand  nicht  mehr  hindurchkommt.  Um  diese  Festigkeit  zu 
erzielen,  genügt  eine  einfache  Tour  nicht,  es  müssen  drei 
bis  vier  Touren  verwendet,  werden;  dieselben  sollen  deshalb 
in  einer  ganz  flachen  Spirale,  nicht  vollkommen  zirkulär, 
angelegt  sein,  weil  sie  sich  sonst  an  der  Kniekehlenseite 
in  kurzer  Zeit  strickartig  zusammenschieben  und  trotz  der 
Unterlage  einschneiden. 

Im  Verlauf  von  etwa  zehn  Tagen  wird  der  Verband 
lockerer,  so  daß  er  seinen  Zweck  nicht  m'ehr  erfüllt.  Es 
rührt  dies  daher,  daß  die  komprimierten  Weichteile  an 
Volurhen  verlieren  und  wohl  auch  die  Elastizität  des  Pflaster¬ 
streifens  nachläßt.  Man  kommt  dann  mit  einem  Scherenblatt 
unter  der .  Kalikobinde  hindurch  und  kann  den  Verband 
behufs  Entfernung  bequem  durchschneiden.  Er  wird  als¬ 
bald  von  neuem  angelegt  und  etwa,  jede  Woche  erneuert., 
das  heißt  so  oft  er  wieder  locker  geworden  ist. 

Einmal  hat  eine  alte  Frau,  deren  Haut  besonders 
empfindlich  war,  trotz  sorgfältiger  Unterlegung  mittels  der 
Kalikobinde  einen  kleinen  Dekubitus  durch  den  Rand  des 
Pflasters  bekommen.  In  diesem  Falle  wurde  dann  der  Ver¬ 
band  oberhalb  des  Knies  angelegt  und  hat  denselben  guten 


Erfolg  erzielt,  (wie  der  sonst  verwendete  unterhalb  des 
Knies.  Letzterer  ist  aber  vorzuziehen,  weil  er  bequemer 
anzulegen  ist  und  beim  Gehen  nicht  geniert. 

Die  Patienten  verspüren  meist  gleich  nach  dem  An¬ 
legen  des  Verbandes  eine  merkliche  Erleichterung,  weil 
eben  die  Spannung  durch  die  pralle  Venenfüllung  aufhört. 
Das  Geschwür,  welches  nebenher  lokal  mit  indifferenten 
Mitteln  behandelt  wird,  pflegt  sich  schnell  zu  reinigen  und 
zu  verkleinern.  Die  Zeitdauer  des  ganzen  Heilungsprozesses 
hängt  natürlich  von  den  speziellen  Verhältnissen  ab,  sie 
ist  ungefähr  dieselbe,  wie  nach  der  operativen  Behandlung; 
mit  dieser  kann  die  Strumpfbandmethode  bezüglich  des 
unmittelbaren  Erfolges  in  Konkurrenz  treten,  während  der 
Dauererfolg  selbstverständlich  ausbleibt.  Dafür  ist  das 
Pflasterstrumpfband  in  sehr  vielen  Fällen  anwendbar,  in 
welchen  die  Operation  aus  anatomischen  oder  individuellen 
Gründen  unterbleiben  muß. 

Es  gibt  keine  Behandlung  des  Beingeschwüres,  welche 
für  alle  Fälle  passend  wäre,  auch  die  hier  mitgeteilte  ist  hei 
weitem  keine  Panadee,  aber  sie  bringt,  in  sehr  vielen  Fällen 
eklatante  Erfolge,  ist  technisch  äußerst  einfach  und  macht 
—  was  gerade  bei  der  Behandlung  des  Ulchs  cruris  oft 
in  die  Wagschale  fällt  —  sehr  geringe  Kosten. 


Eine  ökonomische  Modifikation  des  elektro¬ 
lytischen  Epilationsverfahrens. 

Vom  Priv.-Doz.  Dr.  St.  Weidenfeld. 

Bekanntlich  setzt  sich  die  Epilation  aus  drei  Akten :  Ein¬ 
führung  der  Nadel,  Einwirkung  des  elektrischen  Stromes  und 
Extraktion  des  Haares  zusammen,  von  denen  die  Durchleitung 
des  Stromes  die  längste  Zeit  in  Anspruch  nimmt;  da  diese  Mani¬ 
pulation  mit  jedem  einzelnen  Haare  einzeln  gemacht  werden 
muß,  kommt  die  große  Gesamtdauer  wesentlich  auf  Rechnung  der 
Stromdurchleitu  ng . 

Daher  war  es  naheliegend,  ein  Verfahren  zu  suchen,  welches 
die  Einwirkung  des  elektrischen  Stromes  auf  viele  Haare  gleich¬ 
zeitig  möglich  macht,  wodurch  der  Akt  der  Stromdurchleitung 
nur  einmal  für  viele  Haare  in  Rechnung  kommt.. 

Zu  diesem  Zwecke  verfahre  ich  in  folgender  Weise:  Ein 
Areal  der  zu  epilierenden  Haut  wird  umgrenzt  und  in  jeden 
Follikel  dieser  Haut  eine  feine  Nadel  eingeführt.  Man  kann  auf 
diese  Weise  leicht  im  Laufe  einer  Viertelstunde  150  Nadeln  ein¬ 
führen.  Um  all  diese  Nadeln  mit  dem  elektrischen  Strome  zu 
verbinden,  habe  ich  einen  Becher  konstruiert,  dessen  Boden 
mit,  dein  elektrischen  Strome  leitend  verbunden  ist.  In  den  Becher 
wird  eine  Kochsalzlösung  geschlittet  und  sämtliche  Nadeln  durch 
entsprechende  Neigung  des  Kopfes  in  die  Flüssigkeit  getaucht.  Der  . 
Strom  wird  so  in  ähnlicher  Weise  geschlossen  wie  beim  alten 
Verfahren.  Die  Dauer  der  Einwirkung  schwankt  in  verschie¬ 
denen  Fällen  von  4—7—10  Minuten,  je  nach  der  Dicke  der 
Haare,  wobei  man  durch  Verschiebung  des  Rheostaten  auf  zwei 
bis  drei,  selbst  sieben  Milliampere,  den  Strom  einstellen  kann. 
Nach  der  angegebenen  Zeit,  findet  man,  um  jedes  Haar  ©ine  , 
anämische  Zone,  öfters  quaddelartig  erhoben  und  einen  feinen  . 
weißen  Schaum  an  der  Follikelmündung.  Die  Haare  lassen  sich 
dann  mit  Leichtigkeit  mittels  der  Pinzette  extrahieren. 

Auf  diese  Art  gelingt  es,  in  einer  Stunde  150  bis  .300 
Haare  zu  entfernen,  je  nach  dem  Sitz©  und  der  Zartheit  der 
Haare  und  der  Geschicklichkeit  des  Operierenden.  Ich  füge  noch 
hinzu,  daß  das  Verfahren  in  der  Regel  fast  schmerzlos  ist,  da  die 
Dosierung  des  elektrischen  Stromes  dabei  sehr  leicht  ist. 

lieber  den  genauen  Verlauf  und  die  Erfolge  der  Methodik 
verweise  ich  auf  eine  demnächst  erscheinende  weitere  Mitteilung. 


Aus  der  Kinderklinik  des  städt.  Krankenhauses  Frank¬ 
furt  a  M.  (Direktor  Dr.  v.  Mettenheimer.) 

Zur  Untersuchung  des  Liquor  cerebrospinalis 
nach  Mayerhofer. 

Von  Dr.  G.  Simon,  Assistenzarzt. 

Im  Mai  1910'  hat  Mayerhofer  eine  neue  Methode  an¬ 
gegeben  zur  Differenzierung  von  Lumbalflüssigkeiten. 

Ich  habe  am  Material  unserer  Klinik  eine  Nachprüfung 
dieser  Angaben  vorgenommen  und  die  Bestimmung  nach  Mayer- 


Nr. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


95 


hofer  an  74  Lumbalflüssigkeiten  bei  den  verschiedensten  Er¬ 
krankungen  ausgeführt.  Leider  kann  ich  seine  Resultate  nicht 
in  allem  bestätigen,  was  um  so  mehr  zu  bedauern  ist,  als  uns  bis¬ 
her  immer  noch  eine  schnelle,  einfache  Methode  fehlt,  um  inner¬ 
halb  kurzer  Zeit  Fälle  von  tuberkulöser  Meningitis  von  Pneumonien 
mit  schwereren  meningi tischen  Symptomen  zu  unterscheiden. 

Betreffs  Ausführung  der  Methode  möchte  ich  betonen,  daß 
ich  mich  genau  an  die  Vorschriften  Mayerhofers  gehalten  habe, 
nur  habe  ich  es  vorgezogen,  wegen  des,  wenn  auch  in  kleinen 
Grenzen  schwankenden  Reduktionswertes  der  Vio-Permanganat- 
lösung  einer  jeden  Titrierung  eine  Kontrollbestimmung  voraus¬ 
gehen  zu  lassen,  auf  die  die  sogleich  folgende  Titrierung  der 
Lumbalflüssigkeit  ausgerechnet  wurde.  Meist  entsprachen  10'2  bis 
10'3  cm3  Permanganatlösung  10  ein3  der  ‘flo-Oxalsäure. 

Betrachten  wir  zuerst  die  Werte  bei  Patienten  mit  normalem 
Liquor,  die  aus  rein  experimentellen  Gründen  lumbalpunktiert 
wurden  und  bei  denen  entweder  durch  Autopsie  oder  baldige 
völlige  Genesung  eine  Meningitis  ausgeschlossen  werden  konnte. 
Ich  bemerke  hierzu,  daß  Mayer  hofer  die  Grenze  zwischen 
Transsudat  und  Exsudat  bei  2'0  bis  2'3  zieht. 

1.  M.  L.,  3  Jahre,  Paracoli-Enteritis. 

12.  Juli  1910,  2  9. 

Sektion  am  26.  Juli  ergibt  Gehirn  und  Meningen  frei. 

II.  P.  W.,  8  Jahre.  Anämie,  Hydrocephalus  chronicus,  Wassermann 
negativ. 

20.  Juli  1910.  37.  Flüssigkeit  klar,  steril,  Albuinen  negativ, 
Saccharum  Spur.  Keine  meningitischen  Symptome. 

28.  November  1910. 1-8  I.  Fraktion,  19  II.  Fraktion,  2  0  111.  Fraktion. 
Albuinen  negativ,  Saccharum  negativ. 

Am  30.  November  gesund  entlassen. 

III.  M.  B.,  5  Monate.  Lues  congenita,  Dyspepsie,  Wassermann  positiv. 

20.  September  1910.  3T  II.  Fraktion,  2-8  IV.  Fraktion.  Albuinen 
Spur,  Saccharum  negativ.  Steril.  Klare  Flüssigkeit.  Lymphozyten  im 
Sediment  nicht  vermehrt. 

Sektion  am  21.  September  ergab  Meningen  und  Gehirn  völlig  frei. 

IV.  G.  N.  3  Jahre.  Enteritis,  mäßiger  Meningismus,  Pirquet  negativ- 

4-.  Oktober  1910.  2-7  I.  Fraktion,  2  5  II.  Fraktion.  Klare  Flüssig¬ 
keit,  Druck  190  mm,  Albumen  negativ,  Saccharum  negativ. 

Am  19.  Oktober  geheilt  entlassen. 

V.  G.  R.  12  Jahre.  Angina. 

3.  August  1910.  2  3.  Klar,  steril,  Albumen  negativ,  Saccharum 
negativ. 

Nach  12  Tagen  geheilt  entlassen. 

VI.  H.  H.  3  Monate.  Idiotie. 

21.  September  1910.  2  0  I.  Fraktion,  1:5  III.  Fraktion.  Albumen, 
Saccharum,  steril. 

VII.  K.  M.  10  Jahre.  Hysterie. 

30.  September  1910.  19  I.  Fraktion,  21  III.  Fraktion.  Klare 
Flüssigkeit,  Albumen  negativ,  Saccharum  negativ,  Druck  IGO  mm. 

In  einem  Teil  der  Fälle  erhielt  ich,  wie  ersichtlich,  ganz 
normale  Werte,  in  mehreren  anderen  jedoch  Zahlen,  die  ganz 
den  von  Mayerhofer  bei  Meningitis  tuberculosa  erhaltenen  ent¬ 
sprechen.  (z.  B.  Fall  IV.) 

Normale  Zahlen  erhielt  ich  endlich  noch  in  einem  Fall, 
den  ich  besonders  hervorheben  möchte. 

VIII.  Ph.  L.  9  Monate.  Bronchialdrüsentuberkulose,  exspiratorisches 
Keuchen,  geringe  Nackensteifigkeit,  Verdacht  auf  Meningitis.  Pirquet 
positiv. 

26.  Mai  1910.  185.  Normaler  Druck,  klar,  Albumen  negativ, 
Saccharum  negativ,  Kein  Fibrinnetz,  keine  Tuberkelbazillen  in  Sediment. 

2.  September  1910.  P65.  Gleicher  Befund. 

Hat  sich  weiter  gut  entwickelt,  keine  Nackensteifigkeit  mehr,  Lungen¬ 
prozeß  nahezu  ausgeheilt.  Wird  am  31.  Oktober  1910  geheilt  entlassen. 

Wie  verhalten  sich  nun  die  Reduktionswerte  bei  Meningitis 
tuberculosa?  Mayer  hofer  betont  hierbei,  abgesehen  von  der  Höhe 
des  Wertes,  noch  das  regelmäßige  Absinken  bei  den  einzelnen 
Fraktionen  derselben  Punktion  und  erklärt  dies  mit  dem  höheren 
Gehalt  der  ersten  Portion  an  zelligen  Elementen. 

IX.  J.  .1.  3  Jahre.  53.  In  der  Lumbalflüssigkeit  wurden  Tuberkel¬ 
bazillen  nachgewiesen.  Sektion  ergibt  Meningitis  tuberculosa. 

X.  N.  H.  4  Jahre.  Meningitis,  Tuberkulose. 

25.  Juli  1910.  265  I.  Fraktion,  225  IV.  Fraktion.  Albumen 
Spur,  Saccharum  negativ.  Im  Fibrinnetz  Tuberkelbazillen  positiv. 

26.  Juli  1910.  38  II.  Fraktion,  38  III.  Fraktion.  Albumen 
Spur,  Saccharum  negativ.  Im  Fibrinnetz  Tuberkelbazillen  positiv. 

28.  Juli  1910.  3T5  I.  Fraktion,  3  0  III.  Fraktion,  3  0  V.  Fraktion. 
Albumen  Spur,  Saccharum  negativ.  Im  Fibrinnetz  Tuberkelbazillen  positiv. 

Sektion  ergibt  tuberkulöse  Meningitis. 

XI.  M.  M.  7  Wochen.  Diagnose:  Pneumonia  caseosa,  Meningitis 

tuberculosa. 

14.  September  1910.  2'6  I.  Fraktion,  2T  III.  Fraktion,  2T 

V.  Fraktion.  Albumen  Spur,  Saccharum  negativ,  Tuberkelbazillen  im 
Fibrinnetz  nachgewiesen. 


16.  September  1910.  2T  I.  Fraktion,  1'9  III.  Fraktion.  Albumen 
Spur,  Saccharum  negativ,  Tuberkelbazillen  im  Fibrinnetz  nachgewiesen, 

17.  September  1910.  4T  I.  Fraktion,  3  4  III.  Fraktion.  Albumen  Spur, 
Saccharum  negativ,  Tuberkelbazillen  im  Fibrinnetz  nachgewiesen. 

Sektion  bestätigt  die  klinische  Diagnose. 

XII.  E.  H.  5  Jahre.  Seit  8  Tagen  erkrankt,  vor  3  Tagen  Erbrechen, 
Opisthotonus,  Kernig  positiv. 

24.  September  1910.  3'2  I.  Fraktion.  31  IV.  Fraktion.  Albumen 
negativ,  Saccharum  negativ.  Im  Fibrinnetz  reichlich  Lymphozyten  und 
Tuberkelbazillen. 


Sept. 

1910. 

1-75 

1-6 

1-7 

II.  Fraktion, 

III.  Fraktion, 

V.  Fraktion. 

Albumen  negativ,  Sacch. 
negativ.  Im  Füwinnetz  reich¬ 
lich  Lymphozyten  u.  Tuber- 
kelbazillen. 

Sept. 

1910. 

40 

37 

I.  Fraktion, 

III.  Fraktion. 

Albuinen  negativ,  Sacch. 
negativ.  Im  Fibrinnetz  reich¬ 
lich  Lymphozyten  u.  Tuber¬ 
kelbazillen. 

Sept.  1910. 

41 

3-4 

I.  Fraktion, 

III.  Fraktion. 

Albumen  negativ,  Sacch. 
negativ.  Im  Fibrinnetz  Lym¬ 
phozyten,  sehr  reichlich 
Tuberkelbazillen. 

Sektion  verweigert. 


Man  beachte  hier  die  auffallend  niedrigen  Zahlen  der 
zweiten  Punktion. 

XIII.  R.  K.  Seit  14  Tagen  erkrankt,  seit  heute  Nackensteifigkeit 
und  Pulsus  irregular.,  Kernig  positiv. 

14.  November  1910.  2  7  II.  Fraktion,  2  9  IV.  Fraktion.  Albumen 
Spur,  Saccharum  negativ.  Im  Fibrinnetz  Tuberkelbazillen  gefunden. 

15.  November  1910.  295  I.  Fraktion,  26  II.  Fraktion,  25 

III.  Fraktion.  Albuinen  Spur,  Saccharum  negativ.  Im  Fibrinnetz  Tuberkel¬ 
bazillen  gefunden. 

17.  November  1910.  2'9  I.  Fraktion,  30  III.  Fraktion,  30 

IV.  Fraktion.  Albumen  Spür,  Saccharum  negativ.  Im  Fibrinnetz  Tuberkel¬ 
bazillen  gefunden. 

19.  November  1910.  30  I.  Fraktion,  30  II.  Fraktion.  30 

IV.  Fraktion.  Albumen,  Spur,  Saccharum  negativ.  Im  Fibrinnetz 
Tuberkelbazillen  gefunden. 

23.  November  1910.  2'85  l.  Fraktion,  30  II.  Fraktion,  33 

IV.  Fraktion.  Albumen,  Trübung,  Saccharum  negativ,  Moritz  negativ. 
Im  Fibrinnetz  Tuberkelbazillen  gefunden. 

Sektion:  Meningitis  tuberculosa. 

XIV.  G.  O.  7  Jahre.  Familie  völlig  frei  von  Tuberkulose.  Kind  war 
erkrankt  mit  Erbrechen  und  Nackensteifigkeit,  Pirqüet  negativ. 

7.  Dezember  1910.  265  1.  Fraktion,  255  II.  Fraktion,  2  34 
III.  Fraktion,  245  IV.  Fraktion,  am  nächsten  Tag  im  Fibrinnetz  ganz 
spärliche  Tuberkelbazillen  nachgewiesen.  Albumen  Spur,  Saccharum  negativ 

Hier  konnte  die  Reduktionsbestimmung  keinen  sicheren 
Ausschlag  geben,  da  ich  ähnliche  nur  wenig  über  die  Norm  an¬ 
steigende  Werte  auch  des  öfteren  bei  normalem  Liquor  gefunden  hatte, 
zumal  man  nach  der  Anamnese  eine  Tuberkulose  nicht  annehmen 
konnte.  Erst  die  Untersuchung  des  Fibrinnetzes  am  nächsten  Tag 
ergab  den  Nachweis  von  Tuberkelbazillen. 

10.  Dezember  1910.  Die  nächste  Punktion  ergab  im  Gegensatz  zu 
der  Behauptung  May  er  ho  fers  deutlich  ansteigende  Werte. 

265  I.  Fraktion,  2  95  II.  Fraktion,  3T5  III.  Fraktion.  Auch  hier 
am  nächsten  Tag  reichlich  Tuberkelbazillen  im  Netz.  Albumen  positiv, 
Saccharum  negativ. 

Betrachten  wir  die  angeführten  Resultate  bei  Fällen  von 
tuberkulöser  Meningitis,  so  ergeben  sich  bei  18  Lumbalflüssigkeiten 
mit  45  einzelnen  Untersuchungen  fast  stets  üb  er  normale 
Werte,  die  meist  zwischen  2'6  und  41  liegen.  In  einzelnen 
Portionen  waren  die  Zahlen  jedoch  normal,  bzw.  unter  2'0; 
diese  auffallenden  niedrigen  Werte  habe  ich  stets  einer  noch¬ 
maligen  Kontrolle  unterzogen.  Aber  auch  das  von  May  er  hofer 
als  besonders  charakteristisch  angegebene  Sinken  der  Zahlen 
in  den  einzelnen  Portionen  konnte  bei  17  Reihenbestimmungen 
nur  neunmal  gefunden  werden,  vielmehr  konnte  ich  in  einer 
Reihe  von  Fällen,  ein  deutliches  Ansteigen  des  Wertes  beobachten. 

Ich  möchte  hier  kurz  einfügen,  daß  es  mir  im  Gegensatz 
zu  Fischer,  der  in  25  Punktionen  nur  einmal  Tuberkelbazillen 
fand,  in  allen  Fällen  gelang,  im  nach  24  Stunden  abgesetzten 
Fibrinnetz  Tuberkelbazillen  unter  Beobachtung  aller  Kautelen 
nachzuweisen.  Einzelne  Punktate  habe  ich  mit  der  von  Moritz 
angegebenen  Essigsäureprobe,  die  vor  kurzem  wiederum  von 
Popper  und  Zack  warm  empfohlen  wurde,  untersucht  und  in 
zwei  Fällen  von  Meningitis  tuberculosa  negativen  Ausfall  erhalten. 

Die  Resultate  bei  eitriger  Meningitis  will  ich  hier  nur  kurz 
streifen,  da  uns  in  diesen  Fällen  die  einfache  mikroskopische 
Untersuchung  der  Lumbalflüssigkeit  oder  ihres  Zentrifugates 
meist  leicht  und  schnell  zu  einer  sicheren  Diagnose  kommen 
läßt.  Es  wurden  im  ganzen  23  einzelne  Punktate  von  4  Fällen 
epidemischer,  3  Pneumokokken-  und  1  Influenzameningitis  in 
44  Portionen  untersucht  und  stets  waren  die  Zahlen  mehr  oder 
weniger  weit  über  der  Normalzahl. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  3 


9<i 


Mit  besonderem  Interesse  machte  ich  die  Untersuchung  bei 
Fällen  von  Pneumonie,  sowohl  kruppöser,  als  auch  (einzelnei) 

Bronchopneumonien.  .  ,.  p.,Ion 

Es  kam  mir  darauf  an,  festzustellen,  ob  in  diesen  lallen, 
die  alle  mehr  oder  weniger  meningeale  Reizsymptome  zeigten 
und  zum  Teil  auch  schwer  tuberkulös  belastet  waren,  die  Luniba  - 
flüssigkeit  normale  Werte  und  Ansteigen  der  einzelnen  Fraktionen 
aufwies.  Ich  möchte  hier  bemerken,  daß  wir  fast  stets,  ähnlich 
wie  Quincke,  stark  erhöhte  Druckwerte,  wohl  infolge  Hyperämie 
der  Meningen,  beobachten  konnten,  die  oft  die  bei  tuberkulösen 
Meningitiden  weit  übertrafen.  Ich  werde  weiter  unten  noch  au 
einige  besonders  interessante  Fälle  eingehen. 

Nicht  unterlassen  möchte  ich  noch  darauf  hinzuweisen,  daß 
ich  stets  bei  diesen  Fällen  eine  wesentliche  Besserung  des 
Allgemeinbefindens  nach  dem  Ablassen  von  10  bis  30  cm  Liquoi 
feststellen  konnte,  so  daß  ich  den  bei  einiger  Vorsicht  so  gut  wie 
gefahrlosen  Eingriff  in  allen  Fällen  von  Pneumonie  mit  schweren 
meningealen  Symptomen  nur  empfehlen  kann. 

XV  H  S  5  Monate.  Bronchopneumonie,  Starker  Opisthotonus. 

11.’ April  1910.  2  05  1.  Fraktion,  2  55  IV.  Fraktion.  Klare,  sterile 

Flüssigkeit,  Sediment  spärliche  Lymphozyten. 

Nach  1  Tagen  abgefiebert.  Später  geheilt  entlassen.  Wesentliche 
Besserung  des  Allgemeinbefindens  nach  der  Punktion. 

XVI  H.  K ,  7  Jahre.  Kruppöse  Pneumonie,  Erbrechen,  Nacken¬ 
steifigkeit,  Benommenheit.  T,i  u  i  *■ 

14.  Mai  1910.  2  55  I.  Fraktion,  2T5  III.  Iraktion. 

Am  nächsten  Tage  kritische  Entfieberung,  nach  zehn  1  agen  gehei 

entlassen.  » 

XVII.  H.  Pr.  D/4  Jahre.  Bronchopneumonie,  Erbrechen,  Nacken¬ 
steifigkeit.  „„  _  ... 

4.  Juni  1910.  2-3  I.  Fraktion,  235  III.  Iraktion. 

Nach  acht  Tagen  geheilt  entlassen. 

Will.  II.  H.  2  Jahre.  Tetanie,  Meningismus,  Bronchopneumonie. 

9.  September  1910.  2  8  I.  Fraktion,  2  6  II.  Fraktion.  Klare  Massig¬ 
keit,  steril,  keine  Tuberkelbazillen,  Albuinen,  Saccharum. 

10.  September  1910.  21  1.  Fraktion,  2;2  II.  Fraktion,  2  6 

III.  Fraktion.  Klare  Flüssigkeit,  steril,  keine  1  uberkelbazillen,  Albumen, 

Sal  i  h  arum. Qu  ^  n  geptember  ergab  Bronchopneumonie,  Meningen 

XIX.  M.  Fr.  10  Jahre.  Schwer  tuberkulös  belastet,  Habitus  phthisicusr 
Erbrechen  und  Verstimmtheit  seit  einer  bis  zwei  Wochen,  hochgi adige^ 
Opisthotonus.  Kernig  stark  positiv.  Geringe  Erscheinungen  über  de 
linken  Lunge.  Rechte  Pupille  größer  als  linke.  Lichtreaktion  links  prompt 
rechts  verlangsamt.  Augenhintergrund  beiderseits  normal,  Ohren  Iren 

1  ll(lue^P°^ember  1Q10  Druck  190  mm  Albumen,  Saccharum  schwach 
positiv.  28  I.  Fraktion,  2'7  II.  Fraktion,  2  7  III.  Fraktion.  Klar,  am 
nächsten  Tage  keine  Fibrinnetzbildung,  steril. 

19.  November  1910.  Im  Bereich  des  ganzen  linken  Oberlappens 
lautes  Bronchialatmen  und  feinblasige  Rasselgeräusche. 

20.  November  1910.  Auch  über  dem  rechten  Oberlappen  Bronchiai- 
atmen  und  Knisterrasseln.  Allgemeinbefinden  wesentlich  gebessert.  Nacken¬ 
steifigkeit  nicht  mehr  vorhanden.  Pupillenreaktion  normal,  Kernig  negativ. 

24  November  1910.  Druck  150  mm.  23  I.  Iraktion,  2'4 

II.  Fraktion,  25  III.  Fraktion.  Klare  Flüssigkeit,  Albumen  negativ, 
Saccharum  schwach  positiv,  steril,  keine  Netzbildung. 

Patient  ist  cntfiebert.  Nach  zehn  Tagen  geheilt  entlassen.  Diagnose: 
Oberlappenpneumonie  mit  starken  meningealen  Reizerscheinungen. 

Es  handelte  sich  um  einen  Fall  der  anamnestisch,  sowohl 
wie  bei  dem  objektiven  Befund  das  typische  Bild  einer  tuber¬ 
kulösen  Meningitis  zeigte.  Gerade  hier  aber,  wo  uns  die  Unter¬ 
suchung  zur  schnellen  Orientierung  hätte  dienen  können,  gerade 
hier  ließ  sie  uns  im  Stich.  Die  mangelnde  Fibrinnetzbildung  ließ 
bereits  am  nächsten  Tage  Zweifel  an  der  Richtigkeit  der  mit 
Wahrscheinlichkeit  gestellten  Diagnose  auf  Meningitis  tuberculosa 
auftauchen,  die  durch  den  weiteren  Verlauf  bestätigt  wuiden. 

In  der  Mehrzahl  der  Untersuchungen  bei  Pneumonie  konnte 
ich  Werte  finden,  die  übernormal  waren,  oder  hart  an  der  Grenze 
des  Normalwertes  standen.  In  drei  Fällen  fielen  die  Werte, 
ähnlich  wie  es  Mayerhofer  als  charakteristisch  füi  tuberkulöse 
Meningitis  angegeben ;  dreimal  stiegen  sie  deutlich  an  und  zwei¬ 
mal  blieben  sie  ganz  oder  annähernd  gleich.  Also  auch  hier  wie 
bei  der  tuberkulösen  Meningitis  war  kein  absolut  typisches  \  er¬ 
halten  zu  erkennen. 

Mein  Urteil  über  die  M  ay  er  h  o  f  er  sehe  Probe  mochte  ich 
auf  Grund  meiner  Beobachtungen  dahin  zusammenfassen,  daß  sie 
nicht  die  von  dem  Autor  angegebenen  Vorzüge  besitzt.  Im  Gegen¬ 
teil  kann  sie,  wie  im  Fall  XIX,  zu  erheblichen  Irugschlüssen  Ver¬ 
anlassung  geben.  .  , 

Als  beste  und  sicherste  Methode  zur  Feststellung  der  tuber¬ 
kulösen  Meningitis  bleibt  immer  noch  die  Bildung  des  Fibrin¬ 
netzes  und  der  bei  genügender  Technik  wohl  stets  gelingende 
Nachweis  von  Tuberkelbazillen  in  ihm. 


Literatur. 

Mayerhofer,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  18,  S.  651. 
—  Pieper,  Münchener  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  1.  —  Fischer, 
Münchener  med.  Wochenschr.  1910,  S.  1061.  -  P  o  p  p  e  r  und  Z  ac  k, 
Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  21.  Quincke,  Deutsche 

Zeitschr.  für  Nervenheilkunde  Bd.  36  und  40. 


Heferate. 

Internal  Secretions  from  a  physiological  and  thera¬ 
peutical  standpoint. 

Von  Isaak  Ott. 

Easton  P  a.,.  E.  Vogel. 

Der  Autor  gibt  in  Form  von  Vorlesungen  eine  Uebersicht 
über  einige  Organ©  mit  innerer  Sekretion.  Es  werden  die  Ana¬ 
tomie,  die  Physiologie  der  Organe,  die  Wirkung  des  Organaus¬ 
falles, '  der  Organextrakte  und  der  Organpräparate  an  der  Hand  der 
Literatur  erörtert  und  auch  die  Resultate  eigener  Kontrollver- 
s uche  des  Verfassers  zur  Sprache  gebracht  und  durch  wieder¬ 
gegebene  Kurven  belegt.  Ohne  Stellung  zu  nehmen,  werden  auch 
sich  widersprechende  Angaben  aus  der  Literatur  angeführt.  Ein 
Hauptabschnitt  behandelt  die  Parathyreoidea,  ein  weiterer  die 
Hypophyse.  Das  Schlußkapitel  gibt  eine  Darstellung  der  Wechsel¬ 
beziehungen  der  Organe  mit  innerer  Sekretion  untereinander. 
Auch  die  Pathologie  und  die  Organotherapie  werden  ausführlich 
erörtert. 

* 

Phases  of  Evolution  and  Heredity. 

Von  Berry  Hart. 

London,  Rebman  Limited. 

Der  Verfasser  behandelt  in  zwangloser  Form  die  verschie¬ 
denen  Lehren  von  der  Evolution  und  Vererbung.  Ohne  ins  Detail 
einzugehen,  werden  die  Anschauungen  Darwins  teilweise  klar¬ 
gelegt,  den  Anschauungen  Weismanns  gegenübergestellt  und 
die  Schwächen  der  verschiedenen  Theorien  erörtert.  Es  folgt 
eine  ausführliche  Darstellung  der  Forschungsergebnisse  Men¬ 
dels,  dessen  Lehre  und  Persönlichkeit  der  Autor  in  einer  bio- 
graphischen  Skizze  groß©  Anerkennung  zollt.  Nun  piäzisieit  der 
Verfasser  seine  Auffassung  der  Men  del  sehen  Theorie  und  be¬ 
schreibt,  wie  er  deren  Ergebnisse  mit  den  Weis  mann  sehen 
Anschauungen  in  Einklang  bringt.  Es  werden  auch  die  Ei-  i 
gebnisse  der  Biometrie  erörtert  und  die  Sem  on  sehen  Theo- 
rien  gestreift.  Im  Anschluss©  daran  wird  die  Entwicklung  der 
Lehre  von  den  Variationen  und  Mutationen  besprochen  und  deren 
Verhältnis  zur  \\  ahrscheinlichkeitsrechnung  präzisiert,  schlie߬ 
lich  eine  Darstellung  gegeben,  wie  Verfasser  sich  das  Zustande¬ 
kommen  der  Vererbung  erklärt.  Nun  folgen  einige  Kapitel,  deren 
Inhalt,  mehr  in  feuilletonistischem  Tone  gehalten,  Fragen  berührt, 
die  im  Zusammenhang  mit  den  anfangs  erörterten  Lehren  stehen. 
So  werden  die  Vererbung  von  Krankheiten  und  Krankheitsdisposi¬ 
tion  behandelt,  die  Vererbungsfragen  besprochen,  die  sich  bei 
Beobachtung  des  Bienenstaates  aufdrängen.  Erörterungen  über 
di©  Evolutionisten  und  ihre  Gegner,  über  den  Wettkampf  der 
beiden  Geschlechter  und  die  Frauenfrage,  über  die  Evolution 
in  den  religiösen  Anschauungen  und  endlich  in  einem  wenig 
verständlichen  Zusammenhang  der  Wert  guter  Selbstbiographien 
beschließen  die  Schrift. 

* 

La  fonction  du  sommeil,  physiologie,  Psychologie, 

pathologie. 

Von  Albert  Salmon. 

Paris  1910,  Vi  got  fr  er  es. 

Verf.  bespricht  in  bezug  auf  das  Problem  des  Schlafes  zuerst 
die  Rolle,  die  der  Schlaf  im  Leben  der  Pflanzen  spielt  und  dessen 
Aehnlichkeit  mit  dem  Schlafe  der  Tiere,  dann  die  Verbreitung 
des  Schlafes  bei  den  Tieren  und  dessen  allgemein©  biologische 
Bedeutung.  Im  Anschlüsse  werden  die  Phänomene  des  Schlafes 
geschildert  und  die.  in  demselben  auftretenden  physiologischen 
Veränderungen.  Auch  die  Psychologie  des  Schlafes,  des  Traumes 
wird  erörtert  und  zu  einer  eingehenden  Schilderung  der  mit 
dem  Schlaf  verwandten  Zustände,  Hypnose,  hysterische  und  epi¬ 
leptische  Lethargie,  elektrischer  Schlaf,  Koma,  Narkose  usw., 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


übergegangen.  Dabei  kommt  Verfasser  zu  dem  Schlüsse,  daß 
man  den  Schlaf  als  eine  positive  vegetative  Funktion  und  nicht 
nur  als  einen  psychischen  passiven  Zustand  ansehen  mußt.  Schlaf 
und  vegetative  Funktionen  einerseits,  Wachen  und  Prädominieren 
der  psychischen  Funktionen  andrerseits  stehen  einander  gegenüber. 
Nun  wird  der  Schlaf  mit  den  verschiedensten  sekretorischen 
Tätigkeiten  in  den  Organismen  in  Parallele  gestellt  und  nachdem 
eine  Darstellung  der  Veränderung  in  den  Ganglienzellen  der  Tiere 
während  des  Schlafes  gegeben  ist,  werden  die  sich  in  den 
Ganglienzellen  im  Schlafe  abspielenden  Veränderungen  als  Aus 
druck  einer  Sekretion  der  Zellen  gedeutet.  Verf.  ist  der  Mei 
nung,  daß  der  Schlaf  also  durch  eine  innere  Sekretion  innerhalb 
der  Nervenzellen,  die  durch  das  Funktionieren  anderer  Organe 
beeinflußt  wird,  zustande  kommen  soll. 

* 

Naturwissenschaft  und  Gehirn. 

Vortrag  gehalten  in  der  allgemeinen  Versammlung  des  NIL  Kongresses 
russischer  Naturforscher  und  Aerzte  in  Moskau. 

19  Seiten. 

Von  Prof.  J.  P.  Pawlow.  Deutsch  von  Volberth. 

Wiesbaden  1910,  Bergmann. 

Das  Wesen  ist  der  Reflex,  dessen  wichtigste  Grundlage 
sind  die  Analysatoren.  Der  Analysator  ist  ein  komplizierter 
Nervenmechanismus,  welcher  mit  dem  äußeren  rezipierenden 
Apparat  beginnt  und  im  Gehirn  endigt  u.  zw.  bald  in  dessen 
niedrigsten,  bald  in  dessen  höchsten  Abschnitten,  .letter  peri¬ 
phere  Apparat  stellt  einen  Transformator  der  gegebenen  äußeren 
Energie  in  dem  Nervenprozeß  vor.  Daraus  leiten  sich  die  wei¬ 
teren  Probleme  ab,  die  sich  hauptsächlich  auf  die  Untersuchung 

des  „Analysators“  zu  erstrecken  haben. 

* 

Handbuch  der  biochemischen  Arbeitsmethoden. 

Von  E.  Abderhalden. 

4  Bd.,  1527  Seiten. 

Berlin  1910,  Urban  und  Schwarzenberg. 

Dieser  Band  umfaßt  die  allgemeinen  chemischen  Methoden, 
bearbeitet  von  Friedmann  und  Kempf,  das  Oxydieren,  Re¬ 
duzieren,  Azetylieren,  Halogen  isieren  und  Dehalogenisieren,  Sul¬ 
fonierern,  Nitrieren,  Amidieren,  Diazotieren,  Alkylieren,  Acylieren, 
Äzetalisieren  und  Esterisieren.  Gewaltig  ist  der  Stoff  und  gewaltig 
die  Arbeit,  die  geleistet  wurde.  Es  ist  selbstverständlich, 
daß  auch  dieser  Band  in  keinem  biochemischen  oder  organisch- 
chemischen  Laboratorium  fehlen  darf.  Die  Verfasser,  wie  der 
Herausgeber  und  die  Verleger  haben  sich  durch  die  monumen¬ 
tale  Leistung  unzweifelhaft  den  aufrichtigsten  Dank  aller  Fach¬ 
männer  gesichert.  Der  Wert  dieses  einzig  dastehenden  Werkes 

bedarf  daher  wohl  nicht,  dels  besonderen  Lobes. 

* 

Handbuch  der  vergleichenden  Physiologie. 

Herausgegeben  von  H.  Wintersteiu. 

Lieferung  7,  8,  9  und  10. 

Jena  1910,  Fischer. 

Jede  neue  Lieferung  des  Winter  stein  sehen  Handbuches 
ist  eine  helle  Freude  für  den  Leser  und  Ref.  kann  das  beson¬ 
ders  günstige  Urteil,  das  er  anläßlich  des  Berichtes  über  die  ersten 
Lieferungen  des  Werkes  ausgesprochen  hat,  nur  neuerlich  wieder¬ 
holen  und  das  Handbuch  aufs  allerwärmste  für  die  Anschaffung 
empfehlen.  In  Lieferung  7  und  9  setzt  Biedermann  seinen 
Abschnitt  über  Aufnahme,  Verarbeitung  und  Assimilation  der 
Nahrung  fort;  er  liefert  darin  eine  ganze  Ueberfülle  von  Tat¬ 
sachen  in  geradezu  bewunderungswürdig  schöner,  echt  biologi¬ 
scher  Darstellung;  dabei  ist  der  Riesenstoff,  dem  eine  an  Tausend 
grenzende  Zahl  von  Literaturangaben  beigefügt  ist,  in  ungemein 
übersichtlicher,  klarer  Form  gruppiert,  wozu  nicht  bloß:  die 
Gliederung  der  Kapitel,  sondern  auch  die  ausgiebige  Verwertung 
verschiedenen  Druckes-  besonders  beiträgt.  Uneingeschränktes  Lob 
verdient  aber  der  Autor,  wie  der  Verlag,  auch  für  die  Aus¬ 
stattung  des  Abschnittes  mit  Hunderten  mustergültig  klarer  Ab¬ 
bildungen.  Jedem  Biologen  und  Naturforscher  dürfte  es  ein  wahres 
Vergnügen  bereiten,  die  Wunderwelt  der  mannigfaltigsten  Uebems- 
erscheinungen  in  der  Tierwelt,  die  doch  immer  wieder  auf  ein¬ 
heitlichen  Grundziigen  aufgebaut  ist,  in  so  vollendeter  Form 
dargestellt  zu  sehen. 


Lieferung  8  'beginnt,  mit  dem  Kapitel  „Wärmehaushalt“,  das 
von  J  igerstedt  bearbeitet  ist;  die  Konstatierung  dieser  Tat¬ 
sache.  genügt  wohl  an  und  für  sich,  schon  die  Güte  der  Be¬ 
arbeitung  des  Stoffes  zu  kennzeichnen.  Der  Richtung  der  meisten 
vorliegenden  Untersuchungen  entsprechend,  steht  in  diesem  Ab¬ 
schnitte  das  Verhalten  des  Menschen  und  der  höheren  Tiere  im 
Vordergründe  der  Darstellung.  Die  Produktion  von  Elektrizität 
ist  von  Garten  behandelt.  Bef.  glaubt,  an  diesem  Kapitel  ganz 
besonders  die  mustergültige  Knappheit  und  Klarheit  hervorhebm 
zu  sollen.  Das  ungeheure  Material  ist  vollkommen  ausreichend 
auf  120  Seiten  bearbeitet,  der  ganze  Abschnitt  ist  durchaus  modern 
gehalten,  nichts  Wichtiges  ist  ausgeblieben  und  eine  Scheidung 
zwischen  Wesentlichem  und  Unwesentlichem  getroffen,  die  den 
Meister  kennzeichnet,  der  den  ganzen  Stoff  vollständig  über¬ 
sieht.  In  überaus  glücklicher  Weise  ist  der  Verfasser  gerade  hier, 
wo  die  Gefahr  besonders  nahe  lag,  in  Detailzeichnung  zu  geraten, 
in  der  Darstellung  kurz,  präzise,  klar  und  dabei  doch  vollständig 
geblieben.  Der  letzte  Teil  der  10.  Lieferung  enthält  noch  den 
Beginn  des  Abschnittes  „Produktion  von  Licht“,  der  in  einer 
späteren  Lieferung  fortgesetzt  werden  soll.  Die  Art  der  Darstellung 
und  die  Behandlung  des  Inhaltes  schließt  sich  eng  an  jene 
von  Biedermann  an.  Es  ist  begreiflicherweise  unmöglich, 
auf  Einzelnheiten  im  Inhalte  der  vorliegenden  Lieferungen  einzu¬ 
gehen,  die  Ausführungen  des  Referenten  sollen  aber  ein  orien¬ 
tierendes  Bild  liefern,  das  dazu  beitragen  möge,  daß  das  vor¬ 
zügliche  W  in  I. erste  i  nsehe  Handbuch  eine  weiteste  Verbrei¬ 
tung  finde. 

* 

Ueber  Lokalisation  der  Hirnfunktionen. 

84  Seiten. 

Von  C.  v.  Monakow. 

Wiesbaden  1910,  Bergmann. 

Es  ist  der  Vortrag,  welchen  Monakow  auf  der  Natur¬ 
forscherversammlung  in  Königsberg  gehalten  hat.  Die  klare  und 
geistvolle  Art  der  Darstellung  in  Monakows  Schriften  ist  zu 
bekannt,  als  daß  es  nötig  wäre,  sie:  in  diesem  Vortrage  neuerlich 
zu  betonen.  In  wenigen  Strichen  wird  die  Entwicklung  der 
phylogenetisch  älteren  und  jüngeren  Anlage  des  Zentralnerven¬ 
systems  gezeichnet  und  dargestellt,  wie  das  ältere  und  neuere' 
Funktionssystem  im  Zentralnervensystem  nebeneinander  sich  aus¬ 
baut  und  zu  zweckdienlichster  Wirkung  gelangt.  Insbesondere  am 
Beispiel  der  optischen  Bahnen  und  Zentren  wird  die  Verlagerung 
dargetan,  die  die  Sehzentren  durch  das  Steigen  der  Anforderungen 
an  das  sich  höher  entwickelnde  Lebewesen  erfahren  mußten.  Im 
weiteren  erstreckt  sich  die  Diskussion  auf  die  Bedeutung  der 
Ausfallserscheinungen  und  die  Frage  nach  den  Schlüssen,  die 
aus  der  Rückbildung  temporärer  Himsymptome  gezogen  werden 
dürfen;  hiebei  erörtert  Monakow  insbesondere  die  Bedeutung 
vorübergehender  Shock-  und  Hemmungswirkungen  und  nament¬ 
lich  die  Bedeutung  der  Diaschisis  —  der  Spaltung  der  Funktion— 
im  Hinblick  auf  die  Erforschung  von  Lokalisationen.  Nicht  uner¬ 
wähnt  soll  auch  das  besonders  schöne  und  klare,  angeheftete 
Schema  des  Zentralnervensystems  bleiben,  das  sich  für  den 
Unterricht  vorzüglich  eignet. 

* 

Fortschritte  der  naturwissenschaftlichen  Forschung. 

Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  E.  Abderhalden. 

I.  und  II.  Bd. 

Berlin  1910,  Urban  und  Schwarzenberg. 

Es  ist  eine  ganz  ausgezeichnete  Idee,  zu  der  Herausgeber 
wie  Verleger  nur  aufs  wärmste  beglückwünscht  werden  können, 
der  dieses  neue  Werk  sein  Entstehen  verdankt.  Staunend  müssen 
wir  dabei  der  unerreichten  und  einzig  dastehenden  Schaffens¬ 
kraft  Abderhaldens  gedenken,  der  auch  dieses  Unternehmen 
zu  seiner  ganzen  sonstigen  Arbeitsbürde  noch  auf  sich  geladen 
hat  und  dabei  in  mustergültiger  Weise  für  einen  außerordent¬ 
lich  interessanten,  gediegenen  Inhalt  aus  den  mannigfaltigsten 
naturwissenschaftlichen  Gebieten  Sorge  trägt.  Die  „Fortschritte“ 
beabsichtigen,  jedem  naturwissenschaftlich  Gebildeten  verständ¬ 
liche  Aufsätze  zu  liefern,  die  zur  Einführung  in  die  neuesten 
Errungenschaften  der  einschlägigen  Gebiete  dienen  sollen.  Es 
muß  auf  das  dankbarste  begrüßt  werden,  daß  es  dadurch  auch 


98 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


einem  Femestehenden  ermöglicht  wird,  Einblick  in  die  inter¬ 
essantesten  Probleme  neuester  Forschung  zu  gewinnen,  ln  diesem 
Sinne  können  die  von  den  berufensten  Fachmännern  geschno¬ 
benen  Kapitel  geradezu  als  Erhol ungslektüre  bezeichnet  werden. 

Ref.  konnte,  bislang  in  den  beiden  Bänden  erst  blättern  und 
möchte  sich  die  eigentliche  Lektüre  auf  die  Ferien  a  s 
wilkommenen  Genuß  versparen,  nichtsdestoweniger  glaubt 
er  aber,  auf  Grund  des  Einblickes  in  einzelne  Ab¬ 
schnitte,  bereits  heute  schon  die  Aufmerksamkeit  auf  das 
Erscheinen  der  „Fortschritte“  lenken  zu  sollen  und  diese  zu¬ 
gleich  aufs  wärmste  zu  empfehlen.  Der  erste  Band  enthalt 
die  Farbenphotographie,  von  Mi  et  he,  in  dem  die  theoretischen 
und  praktischen  Grundlagen  der  verschiedenen  Verfahren  und 
deren  geschichtlicher  Werdegang  erörtert  werden.  Ref.  hatte 
gerade  in  bezug  auf  die  Herstellung,  auf  Mängel  und  auf  Neue¬ 
rungen  beim  Dreifarbenverfahren  etwas  weiteres  Eingehen  für 
erwünscht  gehalten.  Es  folgt  ein  Aufsatz  über  schlagwetter¬ 
sichere  Sprengstoffe  (Brunswig),  in  dem  die  Theorie  der  Pro¬ 
zesse,  die  photographische  Beobachtung  der  Flammenbildung  bei 
der  Explosion  verschiedener  Sprengstoffe  und  die  experimentelle 
Forschung  auf  diesem  Gebiete  besonders  interessieren  dürfte. 

A.  Bach  in  Genf  liefert  einen  Aufsatz  über  langsame  Ver¬ 
brennung  und  Oxydationsfermente,  der  im  Hinblick  auf  die  Oxy¬ 
dationsvorgänge  im  Tier-  und  Pflanzenkörper,  wie  au  0  0 
Synthese  und  Kohlensäureassimilation  besonderes  Interesse  be¬ 
ansprucht  und  eingehenden  Studiums  bedai  f. 

Methoden  und  neuere  Ergebnisse  der  Schweremess ungen 
von  Niethammer  führt,  djis  folgende  Kapitel  vor,  m  dem  wir 
über  die  Genauigkeit  der  Resultate  und  über  die  Tatsache  unter¬ 
richtet  werden,  daß  an  räumlich  recht  wenig  entfernten  Orten  merk¬ 
würdige  Unterschiede  in  bezug  auf  die  Gravitation  beobachtet 
werden,  die  z.  B.  den  Schluß  auf  Massendefekte  und  deren  Vertei¬ 
lung  gestatten.  Im  Zusammenhänge  mit  geologischen  Kartenskizzen 
führt  der  Verfasser  in  überaus  anschaulicher  Weise,  auch  dem 
Laien  verständlich,  unter  anderrn  die  Defekte  im  Gebiete  der 

einzelnen  Gegenden  der  Alpen  vor. 

Der  bekannte  Erfinder  der  Fernphotographie  —  Korn  • 
hat  einen  hochinteressanten  Aufsatz  über  die  Entwicklung  der 
Bildtelegraphie  geliefert,  ihm  folgt  ein  nicht  minder  fesselnc  ei 
Abschnitt  von  P.  Guthnick,  der  uns  in  die  Spektrographie  und 
in  die  Ergebnisse  der  spektrographischen  Untersuchungen  ein  führt. 
Zahlreiche  Abbildungen  dienen  der  Erläuterung.  Fast  mochte  Re¬ 
ferent  sagen,  man  steht  starr  vor  Bewunderung  und  Staunen 
Über  die  beispiellosen  Erfolge  der  Sonnenphotographie  und  -For¬ 
schung  und  kann  sich  der  Freude  über  einen  derartigen  Triumph 
menschlichen  Scharfsinnes  nicht  erwehren.  An  weiteren  Kapi¬ 
teln  enthält  dieser  Band  den  Aufsatz  von  W.  Pa  11  ad  in  über 
Fermentarbeit  in  Pflanzen,  sowie  jenen  von  Engl  er  über  die 
Entstehung  des  Erdöls.  Der  Preis  für  den  Band  mit  10  Mark  ist 
bei  dem  Umfange  (300  S.)  und  der  Gediegenheit  des  Inhaltes 
gewiß  außerordentlich  nieder  bemessen. 

Band  II  umfaßt  die  Abhandlung  von  Sem  on  über,  die  Ver¬ 
erbung  erworbener  Eigenschaften,  aus  der  hervorgeht,  daß  die 
so  lange  Zeit  strittige  Frage  im  Sinne  eines  Bestehens  der  Ver¬ 
erbung  erworbener  Eigenschaften  entschieden  ist.  Ungemein  wert 
voll  ist  in  der  Zusammenstellung  die  kritische  Sichtung  der  vor¬ 
liegenden  Tatsachen  und  der  für  und  gegen  vorgebrachten  Be¬ 
weise.  Es  dürfte  kaum  in  einer  der  vielen  einschlägigen  Publi¬ 
kationen  der  Stoff  auch  nur  in  annähernd  so  übersichtlicher 
und  klar  gedachter  Form  behandelt  worden  sein,  wie  in  der 
vorliegenden.  Ein  reichhaltiges  Literaturverzeichnis  ist  dem  Ka¬ 
pitel  angeschlossen.  E.  Stromer  (München)  behandelt  auf 
32  Seiten  neue  Forschungen  über  fossile,  lungenatmende  Meeres¬ 
bewohner.  Ueber  den  gegenwärtigen  Stand  der  Vulkanforschung 
berichtet  K.  Sapper,  über  Ionen  und  Elektronen  Mie  in  Greils¬ 
wald.  Die  aktuelle  Frage  der  Nutzbarmachung  des  Luftstickstoffes 
hat  in  C.  Frenzei  (Brünn)  ihren  Bearbeiter  gefunden,  der  in 
einem  umfangreichen,  80  Seiten  starken  Abschnitt  die  wirtschaft¬ 
liche  Bedeutung  der  Fragen  über  die  Methode  der  Stickstoff¬ 
gewinnung  aus  der  Luft  behandelt.  An  der  Hand  von  klaren  Ab¬ 
bildungen  werden  wir  in  die  Technik  der  Ueberführung  des  Stick¬ 
stoffes  in  Verbindungen  im  Flammenbogen  eingeführt.  Auch  der 
Theorie  des  Prozesses  ist  für  den  Liebhaber  hinreichend  Raum 


zugewiesen.  Es  folgt  hierauf  ein  sehr  lesenswerter  Abschnitt 
über  Kropf  und  Kretinismus  von  E.  Birc'her  und  endlich  das 
Kapitel  über  Muskelatrophien  von  Bing.  Aus  Raummangel  kann 
in  dem  ohnehin  etwas  weit,  gedehnten  Rahmen  des  Referates 
auf  letzteren  Abschnitt  nicht  näher  eingegangen  werden,  so  ver¬ 
lockend  dies  wäre,  das  Gesagte  dürfte  aber  hinreichen,  die  Ge¬ 
diegenheit  und  Mannigfaltigkeit  des  Inhaltes  der  beiden,  bisher 
■erschienenen  Bände  hinreichend  zu  kennzeichnen  und  das  ruck¬ 
haltslose  Lob,  wie  die  warmen  Empfehlungen,  die  Ref.  den 
beiden  Bänden  mit  auf  den  Weg  gibt,  zu  stützen. 

Zum  Schlüsse  möchte  Ref.  aber  nochmals  den  Heraus¬ 
geber,  wie  den  Verleger  zur  neuen  Schöpfung  Wärmsten«  beglück¬ 
wünschen. 


Gedanken  zur  allgemeinen  Energetik  der  Organismen. 

Von  C.  Lüderitz. 

Berlin  19 10,  Hirschwal  d. 

Die  Schlußsätze  charakterisieren  den  Inhalt  der  Schrift  am 
besten:  „Wir  gelangen  somit  zu  folgendem  Resultat:  Die  von  den 
lebenden  Menschenhirnen,  speziell  die  von  den  nervösen  Ele¬ 
menten  de  .  selben  erfüllten  Räume  zeichnen  sich  von  allen  anderen 
uns  bekannten  Räumen  dadurch  aus,  daß  sie  im  Verhältnis  zu  den, 
durch  dir  Dichtheit  des  Gefüges  hier  vorhandenen  Widerständen, 
also  im  Verhältnis  zur  relativen  Energiearmut  der  Umgebung,  ein 
Maximum  von  Energie  absorbieren.  Hier  sind  die  Stätten  höchsten 
Gleichgewichtes.  Dies  also  wäre,  auf  einen  einfachen  Ausdruck 
gebracht,  das  physiologische- Korrelat  zu  dem  unentwirrbar  kom¬ 
plizierten  Bau  des  Gehirns,  mit  dem  verglichen  der  Bau  des 
Sternenhimmels  ein  sehr  einfacher  ist.  Und  hiedurch  nimmt  dci 
Mens  h  eine  zentrale  Stellung  im  Weltall  ein.“ 


Die  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes. 


Ein  Vortrag  von  M. 


Verworn. 

52  Seiten. 

Jena  1910,  G.  Fischer. 

Die  Rede  Verworn  s'  klingt  in  den  Versuch  aus,  die  Etappen 
der  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes  zu  entwerfen.  V  er- 
worn  teilt  in  ein  Zeitalter'  des  sinnlich  impressionistischen 
Geistes  (eölithische  Kultur),  ein  Zeitalter  des  naiv  praktischen 
Geistes  (archäolithische  und  paläolithische  Kultur)  und  das 
Zeitalter  des  theoretisierenden  Geistes  ein,  das1,  bis  zur  Gegenwart 
reicht.  Die  neuere  Entwicklung  des  Geisteslebens  wird  zergliedert 
in  die  Stufe  des  dogmatisch  -  spekulativen  Denkens  und  jene 
des  kritisch- experimentellen  Denkens.  Die  interessanten,  sich 
daran  anschließenden  Ausführungen,  wie  die  Grundlagen,  die 
Verworn  zu  der  Aufstellung  dieser  Etappen  führten,  können 
leider  im  Rahmen  des  Referates  nicht  wiedergegeben  werden. 


Geschlechtstrieb  und  echt  sekundäre  Geschlechtscharak¬ 
tere  als  Folge  der  innersekretorischen  Funktion  der 

Keimdrüsen. 

Von  E.  Steinach. 

18  Seiten. 

Wien  1910,  Deu  ticke. 

Verf.  beschreibt  interessante  Versuche  an  Fröschen  und 
Ratten,  durch  die  bewiesen  wird,  daß  die  Entwicklung  der 
Männlichkeit  und  die  Auslösung  des  Umklammerungsreflexes  vbei 
Fröschen)  auf  Grund  der  Wegschaffung  von  Hemmungen  durch 
die  chemische  Wirkung  des  inneren  Hodensekretes  (ausi  dem 
Zwischengewebe  stammend)  herbeigeführt  wird. 


. 


Die  Gesundheitskontrolle  durch  den  Organsinn. 

Für  Gebildete  verständlich  dargestellt  von  Dr.  A.  Brosch. 

40  Seiten. 

Wien  1910,  Deuticke. 

Unangenehme  Daseinserscheinungen,  wie  sie  besonders 
häufig  um  das  vierzigste  Lebensjahr  auftreten,  sind  vielfach 
durch  Drucksteigerungen  in  der  Bauchhöhle  herbeigeführt.  Ver¬ 
fasserempfiehlt  zur  Beseitigung  solcher  Störungen  die  Anwendung 
des  von  ihm  angegebenen  subaqualen  Innenbades. 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


9  9 


Lehrbuch  der  Physiologie  des  tierischen  Organismus 
im  speziellen  des  Menschen. 

Von  Prof.  Dr.  J.  Kernst  ein* 

Dritte  Auflage. 

Stuttgart  1910,  Enke. 

Als  eine  der  wenigen  Säulen  aus1  großer  physiologischer 
Vergangenheit  ragt  die  Person  Bernsteins  noch  immer  kern¬ 
gesund  empor.  Die  Rüstigkeit  und  Frische  des  Geistes  spiegelt 
sich  auch  in  der  Neuauflage  des  Lehrbuches  wider,  der 
man  unverkennbar  ansieht,  daß  dessen  Verfasser  an  der 
Wiege  der  großen  Schöpfungen  der  Physiologie  gestanden  hat. 
Das  Buch  ist  darum  besonders  wertvoll,  weil  es!  vieles  ent¬ 
hält,  was  man  in  dear  neueren  Lehrbüchern  nicht  mehr  findet. 
Vorzügliche  Abbildungen,  sonst  selten  oder  gar  nicht  abgebil¬ 
deter  Versuchsanordnungen  und  Apparate  bilden  eine  sehr  er¬ 
wünschte  Ausstattung. 

* 

Die  Fermente  und  ihre  Wirkungen. 

Von  Prof.  Karl  Oppenheimer. 

Dritte  Auflage  nebst  einem  Sonderkapitel:  Physikalische  Chemie  der 
Fermente  und  Fermentwirknngeu. 

Von  Prof.  II.  Herzog. 

Allgemeiner  Teil. 

282  Seiten,  Bibliographie  und  Namensregister.  110  Seiten. 

Leipzig  1910,  Vogel. 

Ref.  hat  schon  beim  Erscheinen  des  speziellen  Teiles  die 
Bedeutung  der  „Fermente  von  Oppenheimer“  hervorgehoben 
und  kann  bei  Besprechung  des  neuerlich  erschienenen  Teiles  nur 
nochmals  auf  die  Güte  und  den  Reichtum  des  Inhaltes,  wie  auf 
die  vorzügliche  und  klare  Behandlung  der  Materie  hinweisen 
und  das  Buch,  das  in  seiner  Art  als  Standardwerk  in  keinem' 
physiologischen  oder  biochemischen  Laboratorium  fehlen  darf, 
aufs  wärmste  empfehlen. 

* 

Der  elektrochemische  Betrieb  der  Organismen  und  die 
Salzlösung  als  Elektrolyt. 

Eine  Programmschrift  für  Naturforscher  und  Aerzte. 

Von  Georg  Hirlli,  Verfasser  von  Kunstphysiologie,  Lokalisations¬ 
psychologie,  Das  plastische  Sehen,  Energetische  Epigenesis,  Merksysteme 
und  plastische  Spiegelungen,  Eutropie  und  Keimsysteme,  Die  Mutter¬ 
brust  etc. 

M  ü  nchen  1910,  Hirt  h. 

Der  Titel  sagt  eigentlich  genug.  Wir  lesen  aber  in  dem 
bekannt  guten  Witzblatt  „Die  Jugend“,  Nr.  46  vom  Jahre  1910, 
einen  Auszug  aus  der  Schrift  von  Hirth,  den  der  Verfasser  mit 
den  Worten  schließt,  er  glaube,  daß  die  Leser  der  „Jugend“  ein 
Recht  darauf  besitzen,  von  dem  Inhalt  der  Broschüre  Kenntnis 
zu  erlangen.  Der  Verfasser  erklärt  auch,  daß  er  allen  Wißbegie¬ 
rigen  das  Heft  gerne  umsonst  zukommen  lassen  wolle.  Diesem 
Ansporn  scheinen  auch  zahlreiche  Interessenten  nachgekommen 
zu  sein,  da  bereits  eine  dritte  Auflage  der  Broschüre  vorliegt. 
Ref.  kann  es  auf  alle  Fälle  nur  als:  zweckmäßig  bezeichnen, 
daß  die  Ideen  des  Verfassers  in  der  „Jugend“  einem  weiteren 
Leserkreis  zugänglich  gemacht  wurden,  doch  hat  der  Inhalt  durch 
die  auszugsweise  Wiedergabe  hiebei  leider  viel  an  Heiterkeit 
eingebüßt;  darum  einige  Proben.  „Der  Zeugungsakt  ist  nicht  nur 
beim  Menschen,  sondern  auch  schon  bei  höheren  Tieren  ein 
elektrisches  Briilantfeuerwerk.  Die  zentrifugalen  Erregungen  der 
Partes,  die  Ejaculatio  seminis,  die  Erscheinungen  des  Orgas¬ 
mus,  die  Eigenbewegungen  der  Spermatozoen  und  ihr  Eindringen 
in  das  Ei  —  dieser  ganze  große  Komplex  von  revolutionären 
Vorgängen  und  Entladungen  muß  im  letzten  Grunde  elektrischer 
Natur  sein.  Das  fühlt  sich  sozusagen  schon  durch  Selbstbeob¬ 
achtung  makroskopisch.“  „Auch  Erinnerungen  und  Phantasien 
aller  unserer  Sinne  und  Triebe  kann  ich  mir  nur  als  allerletzte 
Glanzleistungen  einer  durch  Tausende  von  Generationen  orga¬ 
nisch-chemisch  gezüchteten  Elektrizität  vorstellen.  Hier  im  Rah¬ 
men  einer  vorwiegend  energetischen  Epigenesis  können  wir  uns 
das  Spermatozoon  und  den  Kern  des  Eies  aus  allen  Organen 
und  elektrischen  Feldern  der  beiden  Eltern  innerviert  denken, 
ohne  daß  präformatorische  Einschachtelungen  stattfänden.  Eine 
Einwirkung,  die  vielleicht  weniger  in  stofflichen  Veränderungen 
der  Keime  sich  äußert  —  obschon  auch  diese  nicht  ganz  aus¬ 


geschlossen  sind  Sehr  nett  sind  die  Ausführungen  übel 

den  Alkohol,  so  wie  folgendes  Beispiel:  „Die  Kardinalfrage,  um 
die  es  sich  hier  handelt,  betrifft  das  Prinzip  der  Elektrizität,  nicht 
aber  die  Art  und  Geschwindigkeit  des  Stromes.  Wenn  dieser 
im  tierischen  oder  menschlichen  Körper  nur  ca.  30  bis  40  m 
in  der  Sekunde  zurücklegt,  so  liegt  darin  kein.  Grund,  an  seiner 
elektrischen  Natur  zu  zweifeln.  Auf  ein  bißchen  Geschwindigkeit, 
mehr  oder  weniger  kommt  es  dabei  nicht  an  Bloße  \  erlang- 
samungen  des  Stromes  gehen  uns  nicht  das  Recht,  seine  elektrische 
Natur  in  Abrede  zu  stellen.  Verlangsamungen  begegnen  wir 
massenhaft  auch  in  der  Elektrotechnik,  z.  B.  bei  der  Beleuchtung 
mit  Glühlampen,  wo  wir  den  Eintritt,  noch  mehr  das  Ybkliugen 
des  Stromes  (!)  makroskopisch  beobachten  können.  Eine  gewisse 
Verlangsamung  ist  aber  geradezu  biologisches  Erfordernis  und 
hängt  mit  dein  natürlichen  Bedingungen  der  Auffassung  und  Auf¬ 
merksamkeit,  der  Vorstellung  und  Erinnerung,  der  Assoziation 
und  des  Denkens,  ja  des  Bewußtwerdens  zusammen. 

* 

Das  System  der  Biologie  in  Forschung  und  Lehre. 

Eine  historisch-kritische  Studie  von  Dr.  phil.  S.  Tschnlok. 

Jena  1910,  G.  Fischer. 

Verf.  will,  wie  er  im  Vorwort  sagt,  eine  Kritik  der  gebräuch¬ 
lichen  biologischen  Begriffe  geben  und  nicht  neue  Versuche  an¬ 
führen  oder  Theorien  aufstellen.  Hiebei  handelte  es  sich  ihm 
um  die  historische  Genese  des  Begriffes  in  der  Biologie  und  die 
Wandlung,  die  der  Inhalt  der  Begriffe  im  Laufe  der  Zeiten  erfahren 
hat.  Die  vorliegende  Arbeit  soll  nur  ein  Vorläufer  einer  wei¬ 
teren  Kritik  über  die  Theorien  der  Biologie  und  der  Logik  der 
Deszendenztheorie  sein.  Verf.  will  vorerst  zeigen,  wie  Aufgabe 
und  System  der  Botanik  und  Zoologie  in  verschiedenen  Zeiten 
aufgefaßt  wurden,  dann  sollen  die  Probleme  kritisch  beleuchtet 
werden  und  die  Möglichkeit  ihrer  Lösung  erörtert  werden  und 
endlich  soll  an  den  gegenwärtig  gang  und  gäben  Auffassungen  ent¬ 
schieden  werden,  ob  sie  von  der  richtigen  Auffassung  abweichen 
und  ob  ihr  Zustandekommen  auf  Abwege  hinweist,  die  auf  Grund 
traditioneller  Vorurteile  eingeschlagen  wurden.  Es  ist  also  eine 
gewaltige  Arbeit  und  ein  gewaltiges  Richteramt,  das  der  Ver¬ 
fasser  sich  zugesprochen  hat,  das  dann,  wenn  es  klaglos  gut 
und  rein  objektiv  ausgeübt  werden  soll,  so  daß  es  nicht  auf 
Widerspruch  stößt,  wohl  eine  Kenntnis  auf  dem  Gebiete  bio¬ 
logischer  Forschung  voraussetzt,  die  sicherlich  die  Grenzen  der 
Leistungsfähigkeit  eines  menschlichen  Gehirns  erreicht  oder  wohl 
wahrscheinlich  überschreitet.  V  ie  schon  die  Inhaltsübersicht  er¬ 
gibt,  neigt  sich  die  Betrachtungsweise  des  Verfassers  fast  aus¬ 
schließlich  der  Botanik  zu,  wodurch  die  Grenzen  allerdings  be¬ 
reits  wesentlich  enger  gezogen  werden.  Auf  dem  ihm  ferne- 
lietgenden  Gebieten  möchte  Ref.  in  der  Sache  keinerlei  Urteil 
abgeben,  was  jedoch  die  Behandlung  der  tierischen  Biologie  be¬ 
trifft,  glaubt  Ref.  trotz  der  recht  lesenswerten  Ausführungen  des 
Verfassers,  daß  nicht  das  System,  Klassifizieren,  Einteilen,  die 
Nomenklatur  —  die  ja  oft  Geschmacksachei  sein  mag  —  oder  die 
Gliederung  des  Stoffes  den  Fortschritt  bedeuten.  Die  alten  Sprich¬ 
wörter  :  Quod  verum  semper  simplex,  und :  Die  Natur  läßt  sich 
keinen  Zwang  antun,  bewahrheiten  sich  ja  doch  immer  wieder. 
Sowie  ein  biologisches  Problem  richtig  geklärt  ist,  wird  es  fast 
immer  einfach.  Nomenklatur  und  Einteilung  geben  sich  dann 
aus  sich  selbst;  darum  liegt  wohl  der  Hauptvorteil  der  möglichst 
genauen  und  folgerichtigen  Abgrenzung  der  Begriffe  mehr  auf  dem 
didaktischen  Boden  und  auf  philosophischer  Seite,  als  auf  dem 
Boden,  von  dem  aus  die  Grundlagen  für  die  experimentelle  For¬ 
schung  gegeben  werden.  Für  diese  hat  die  freie  Phantasie  oft 
scheinbar  in  Widerspruch  mit  der  geltenden  Lehre  und  Einteilung 
—  die  ja  doch  vielfach  nur  eine  zeitweilig  geltende  sein 
kann  — -  mehr  geleistet  und  neuere  Bahnen  gezeigt,  als  das 
Weiterforschen  im  Rahmen  vorgezeichneter,  momentan  gültiger 
Systeme.  Es  soll  dadurch  an  der  Wichtigkeit  und  Notwendigkeit 
der  klaren  Definition  von  Begriffen  und  an  der  Schulung  des 
Biologen  in  logischem  Denken  gewiß  nicht  gerüttelt  werden,  ja 
Ref.  möchte  das  Buch  auch  dem  Tierbiologen  als  Schulung 
im  logischen  Denken  empfehlen,  unter  rückhaltsloser  Anei  Nen¬ 
nung  der  Geistesarbeit  des  Verfassers.  Der  Definition  des  \  1 
fassers  z.  R.  für  die  Physiologie  alb  Gesichtspunkt  der  biologi- 


100 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  3 


sehen  Forschung  vermag  sich  Ref.  aber  nicht  anzuschließen. 
Physiologie  ist  nach  dem  Verfasser  die  Betrachtung  vom  „Ge¬ 
sichtspunkte  der  Veränderungen  im  Zustande  der  Lebewesen 
aus.  Dieser  Stoff  ist  nach  dem  Verfasser  nur  in  zwei  Haupt¬ 
teile  zu  gliedern :  „in  Stoffwechsel  und  in  Energiewechsel  .  V  ii 
werden  wohl  nicht  fehlgehen,  wenn  wir  den  ersten  Teil  der 
Definition  als  zu  weit,  den  letzteren  als  zu  eng  für  die  I  hysio- 
logie  auffassen,  sowie  an  das  Ineinandergreifen  desl  btoff-  und 
Energiewechsels  denken,  während  wir  damit  allein  doch  eine 
Zuteilung  von  sinnesphysiologischen  Vorgängen,  z.  B.  entopti- 
schen  Erscheinungen  u.  a.  m„  nur  sehr  gezwungen  ausführen 
können.  Ref.  glaubt  auch  kaum,  daß  die  Definition,  daß  die 
Histologie  eine  „biotaktische“  Disziplin  ist,  sich  allzu  schnell 
Bahn  brechen  wird,  auch  dürfte  der  Satz,  daß  eine  experimen- 
telle  Histogenese  kaum .  angebahnt  ist  und  daß  wir  heute  das 
Verhältnis  der  Form  der  Zelle  zu  ihrer  Funktion  ausschließlich 
in  einem  teleologischen  Zusammenhang  darstellen,  nicht  ganz 
unwidersprochen  bleiben.  Im  übrigen  gesteht  Ref.  sein  gerne 
bescheiden  zu,  daß  er  an  gar  mancher  Stelle  dem  Gedanken- 
gange  des  Verfassers  anscheinend  nicht  zu  folgen  vermochte, 
es  möge  unentschieden  bleiben,  ob  dies  auf  eine  Schwei fällig¬ 
st  im  Denken  des  Referenten  oder  auf  mangelnde  Lust  und 
Liebe  zur  Vertiefung  in  den  Inhalt  des  Buches  zurückzuführen 
ist,  das  sich  auf  409  Seiten  eigentlich  nur  in  der  kritischen 
Besprechung  von  Einteilungsprinzipien,  Nomenklaturen  und  Be¬ 
zeichnungen  ergeht.  Dung. 


Ergebnisse  der  Chirurgie  und  Orthopädie. 


Herausgegeben  von  Erwin  Payr,  Greifswald  und  Hermann  Küttner, 

Breslau. 

1.  Band. 

Mit  148  Textabbildungen  und  4  Tafeln. 

Berlin  1910,  Julius  Springer. 

Die  Herausgeber  faßten,  nach  ihren  eigenen  Worten,  den 
Plan,  auch  in  der  Chirurgie  „Kristallisationszentren“  zu  schaffen, 
deren  Zweck  darin  bestehen  soll,  dem  Leser  mit  besonderer 
Berücksichtigung  des  Praktikers  möglichst  rasch  und  kurz  ein 
klares  Bild  von  dem  gegenwärtigen  Stande  der  betreffenden 
Frage  auf  Grund  der  neueren,  möglichst  vollständig  gebrachten 
und  kritisch  verarbeiteten  Literatur  zu  verschaffen.  Eine  Reihe 
der  berufensten  Mitarbeiter  wurde  dem  nützlichen  und  will¬ 
kommenen  Unternehmen  gesichert.  Schon  der  Inhalt  des  ersten 
Bandes  wird  gewiß  den  Bedürfnissen  und  den  Interessen  eines 
großen  Leserkreises  gerecht,  durch  abgerundete  Bearbeitung  einer 
Anzahl  von  Themen  von  allgemeiner  theoretischer  und  praktischer 
Bedeutung;  SO'  das  Referat  von  Stich  über  Gefäß-  und  Oigan- 
transplantati onen ,  Bardenheu  ers  instruktive  Uebersicht  übei 
die  Behandlung  von  Frakturen,  die  kritische  Zusammenfassung 
des  gegenwärtigen  Standes  des  Druckdifferenzverfahrens  aus 
Sauerbruchs  gerade  auf  diesem  Gebiete  so  zuständiger  Feder. 
Martin  Kürschners  Bearbeitung  der  operativen  Behandlung 
der  Brüche  des  Nabels,  der  Linea  alba  und  der  postoperativen 
seitlichen  Bauchbrüche  fördert  besonders  durch  die  sehr  in¬ 
struktiven  und  zahlreichen  Abbildungen  das  Verständnis  der 
Technik  der  so  mannigfaltigen,  einschlägigen  operativen 
Methoden.  Im  ganzen  enthält  der  erste  Band  zwölf  Uebersichts- 
referate  aus  den  verschiedensten  Gebieten  des  Faches  und  es 
darf  wohl  jetzt  schon  gesagt  werden,  daß  mit  diesen  „Ergeb¬ 
nissen“  die  richtige  literarische  Form  gefunden  wurde,  um  die 
Aerzte  über  die  Entwicklung  der  modernen  Chirurgie  jeweilig 
im  laufenden  zu  erhalten.  Alex.  Fraenkel. 


(keine  sonstigen  schweren  Organveränderungen  aufwiesen),  hatten 
alle  Lipämie.  21  Fälle  sind  im  Koma  zugrunde  gegangen  unc 


(X  I  1  t?  Jul UcUlllC.  u  x.  x  - - 

von  diesen  21  haben  16  Lipämie  gehabt,  o  Komatose  hatten 


Aus  versehiedenen  Zeitschriften. 


keine  Lipämie,  dagegen  sämtlich  schwere  °  ^Veränderungen 
(akute  Osteomyelitis,  schwere  Gangrän,  tuberkulöse  Menmgdi», 
Basedow,  resp.  perniziöse  Anämie),  welche  die  eigentliche  lodes- 
Ursache  darstellten.  Das  Coma  diabeticum  scheint  also  in  der 
überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  mit  Lipämie  einherzugehen, 
Die  Lipämie  kann  auch  zurückgehen,  wenn  die  Azidosis  infolge 
der  Behandlung  schwindet,  sie  tritt  wieder  auf,  wenn  die  Azidose 
wieder  erscheint.  Um  Lipämie  zu-  diagnostizieren,  genügt  anch 
das  Blut  eines  Schröpfkopfes,  Neißer  hat  sie  sogar  an  wenigen 
Blutstropfen  erkannt,  die  er  in  Kapillaren  auffing  und  ste  en 
ließ.  Im  Augenspiegel  sieht  man  das  milchweiße  Aussehen  der 

Netzhautgefäße  und  die  schokoladebraune  Verfärbung  der  ia 

pill©  ein  charakteristisches  Bild  für  die  Lipämie.  Eine  Rei  e  von 
Berufschemikern  hat  seit  1906  solches  Blut  untersucht,  sie  haben 
dabei  konstatiert,  daß  bei  diabetischer  Lipämie  das  Blut  nu 
wenig  reines  Fett  enthält,  daß  der  größte  Teil  des  Aethen 
extraktes  vielmehr  aus  Cholesterin  und  Lezithin  besteh  ,  daß 
es  sich  also  um  eine  Lipoidämie  handle.  Verf.  gibt  eine 
tabellarische  Zusammenstellung  der  Normalwerte  und  dei  bei 
schwerer  diabetischer  Lipämie  gefundenen  Zahlen  für  reines 
Fett,  Cholesterin  und  Lezithin  und  erörtert  eingehend  an  der 
Hand  der  aufgestellten  Theorien  die  Ursache  dieses  hohen  Inpoid- 
gehaltes  im  Blute  der  diabetischen  Azidotiker.  Er  zeigt,  daß 
das  Cholesterin  und  Lezithin  nicht  dem  Unterhautfett  entstamme; 
es  bestehe  auch  keine  verminderte  Fettzersetzung  infolge  Fehlens 
eines  fettzersetzenden  Fermentes  im  Blute  (ein  solches;  Fermen 
existiert  überhaupt  nicht);  endlich  stammen  dm  im  Blute  krei¬ 
senden  Lipoide  nicht  von  einer  Verarmung  der  inneren  Organe 
(speziell  des  Gehirns)  an  Lipoiden,  was  alles  behauptet  wurde. 
Die  Lipoide  kreisen  vielmehr  deswegen  in  vermehrter  Menge 
im  Blute,  weil  beim  schweren  Diabetes  ein  vermehrter  ZelL- 
abbau  und  Wiederaufbau  stattfindet.  Beim  Zellabbau  gelangen 
die  Lipoide  ins  Blut,  aus  welchem  sie  für  den  Wiederaufbau  ent¬ 
nommen  werden  D  i  e  d  i  a  b  e  t  i  s  c  h  e  L  i  p  ä  m  i  e  b  e  d  e  u  t  e  t  e  i  n  e 
Mobilisierung  der  Zellipoide  zum  Aufbau  neuer 
Z  ellen.  Infolgedessen  sind  trotz  langer  Hyperlipoidamie  dim 
Organe  am  Ende  nicht  lipoidarm  gefunden  worden.  Ein  schwerer 
Diabetiker  kann  nur  so  lange  sein  Leben  fristen,  als  er  seiner 
gesteigerten  Zellzersetzung  einen  vermehrten  Zellaufbau  gegen¬ 
überstellen  kann.  Die  Praxis  stützt  diese  Theorie.  Verkleinerung 
der  Eiweißzufuhr  durch  Hunger  und  Gemüsetage  wirkt  höchst 
wohltätig  auf  schwere  Diabetiker  ein.  Rubner  hat  uns  gelehit, 
daß  Eiweißzufuhr  die  Eiweißspaltung  anregt,  geben  wir  also  dem 
Diabetiker  weniger  Eiweiß,  so  vermindern  wir  den  Abbau  und 
Wiederaufbau  der  Zellsubstanz,  d.  h.  wir  dämpfen  den  inneren 
Kampf,  dessen  Spuren  wir  in  der  Lipämie  erkannt  haben.  - 
(Deutsche  medizinische  Wochenschrift  1910,  Nr.  51.)  E.F. 


58.  Ueber  diabetische  Lipämie.  Von  Professor  Doktor 
G.  Klemperer  in  Berlin.  Unter  diabetischer  Lipämie  verstehen 
wir,  daß  das  Blut  des  Diabetikers  von  milchiger  Beschaffen¬ 
heit  erscheint  und  ein  milchig-trübes  Serum  abstehen  läßt.  Ver¬ 
fasser  hat  in  den  letzten  IVa  Jahren  im  ganzen  92  Diabetiker 
zu  Ader  gelassen.  Unter  diesen  Diabetikern  waren  42  der  leichten 
Form,  ohne  Azidosis,  und  bei  diesen  ist  niemals  Lipämie  zu  sehen 
gewesen.  Unter  den  50  Patienten  mit  Azidosis  haben  39  Lipämie 
gehabt,  die  schweren  Azidotiker,  welche  nur  an  Diabetes  litten 


59.  Die  Pylorusstenose  im  Säuglingsalter  (an¬ 
geborener  Pyloro  spaslnus).  Von  Dr.  E.  Wieland-Basel. 
Habituelles  Erbrechen  ohne  Gallenbeimengung,  Stuhlmangel  und 
Hyperkinase,  diese  Symptomentrias,  läßt  auf  ein  Passagehindernis 
schließen,  das  am  Uebergang  des  Magens  in  das  Duodenum, 
oberhalb  der  Einmündungsstelle  des  Ductus  choledochus  gelegen 
sein  muß.  Hiezu  kommt  ein  viertes,  freilich  nicht  ganz  kon¬ 
stantes  und  bestenfalls  nur  von  kundigster  Hand  einwandfrei 
zu  erhebendes  KardinalsyhTptom  der  Pylorusstenose,  nämlich 
der  manuelle  Nachweis  einer  rundlichen,  zirka  kleinfingerkuppen¬ 
großen  verschieblichen  Geschwulst  rechts  vom  Nabel,  der  ver¬ 
dickte  und  in  bezug  lauf  seine  Lage  und  Konsistenz  öfteren 
Schwankungen  unterworfene  Pylorus.  Bei  der  Sektion  präsentiert 
sich  die  Pylorusgegend  als  ein  derbes,  2  bis  4  cm  langes, 
zapfenartiges  Gebilde  von  1-5  bis  2  cm  Dicke,  mit  feiner,  zen¬ 
traler  Oeffnung  und  scharfer  Begrenzung  nach  beiden  Seiten. 
Auf  dem  Durchschnitt  zeigt  sich  die  Längs-  und  Ringmuskulatur 
beträchtlich  verdickt  und  von  derben  Bindegewebssträngen 
durchzogen,  während  die  Schleimhaut  des  Lumens,  welches  bald 
nur  für  feinste  Sonden,  bald  noch  für  dünne  Katheter  oder  gar 
Pinzetten  durchgängig  ist,  in  hohe  Längsfalten  gelegt  ist.  Ein  ab¬ 
soluter  Verschluß  wurde  bisher  nie  beobachtet.  Die  in  vivo.. 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE' WOCHENSCHRIFT.  1911. 


101 


sowie  bei  künstlicher  Flüssigkeitsanfüllung  des  ausgeschnittenen 
Magens  regelmäßig  zu  konstatierende,  absolute  Undurchlässig¬ 
keit  der  stenosierten  Partie  wird  allgemein  auf  Fältelung  der 
Schleimhaut  im  Innern  der  starren  verdickten  Pyloruswandung 
bezogen.  Der  übrige  Magen  ist  in  der  Regel  nicht  diktiert,  da¬ 
gegen  die  Muskulatur  abnorm  stark  entwickelt  und  infolgedessen 
das!  ganze  Organ  auffallend  derb,  was  von  einigen  als  Kom¬ 
pensationsvorgang,  von  anderen  als  eine,  der  Pylorushypertrophic 
koordinierte  gleichartige  Hypertrophie  der  übrigen  Magenmusku¬ 
latur  aufgefaßt  wird.  Dieses  charakteristische  Krankheitsbild  ist 
keineswegs  so  selten,  wie  immer  noch  vielfach  angenommen  wird. 
Vielleicht  hängt  dies'-  zum  Teile  zusammen  mit  der  verschie¬ 
denen  Beurteilung  der  Affektion  von  den  verschiedenen  Beob¬ 
achtern  in  den'  verschiedenen  Ländern.  So  nehmen  fast  alle 
Franzosen  einen  funktionellen,  vorübergehenden  Krampfzustand 
der  Magenmuskulatur  an,  da  sich  bisher  die  wenigsten  Autoren 
in  Frankreich  von  einer  organischen  Grundlage  zu  überzeugen 
vermochten,  während  dies  in  Deutschland  und  England  wohl 
der  Fall  ist,  wenn  noch  diesbezüglich  wieder  zweierlei  Auf¬ 
fassungen  herrschen  (Mißbildung  einerseits,  primärer  funktio¬ 
neller  Spasinus  des  Pylorus  und  konsekutiver  Arbeitshypertro¬ 
phie  der  Pylorusmuskulatur  anderseits).  Die  Behandlung  dieser 
Krankheit  kann  eine  interne  oder  chirurgische  sein.  Natürlich 
wird  man  mit  der  letzteren  ziemlich  zurückhaltend  sein,  da 
eine  sichere  Entscheidung,  ob  bloßer  Spasmus  oder  eine  echte 
Hypertrophie  vorliegt,  welch  letztere  allein  Gegenstand  eines  Ein¬ 
griffes  sein  darf,  am  Lebenden  oft  gar  nicht  zu  treffen  ist 
und  zudem  die  Erfolge  nicht  so  günstige  sind  wie  bei  interner 
Behandlung.  Die  Aufgaben  dieser  lassen  sich  in  folgenden  drei 
Sätzen  zusammenfassen:  1.  Beseitigung  des  Erbrechens;  2.  Ge¬ 
wöhnung  des  Magens  an  kleinste,  ganz  allmählich  steigende  Nah¬ 
rungsmengen  bis  zur  Erreichung  der  für  die  Gewichtszunahme 
nötigen  Kalorienmenge;  3.  reichliche  Wasserzufuhr  und  lokale, 
krampfstillende  Maßnahmen.  In  vielen  Fällen  gelingt  es  so, 
die  Kinder  am  Leben  zu  erhalten  und  sie  speziell  über  das  am 
meisten-  gefährdete  Alter  (erstes  Lebenstrimester)  hinüberzu¬ 
bringen.  Nach  diesem  Termin  pflegt  sich  ein  zum  Teil  spon¬ 
taner  Umschwung  in  der  Schwere  des  Krankheitsbildes  einzu¬ 
stellen,  der  wahrscheinlich  mit  der  physiologischen  Abnahme 
der  gesteigerten  Reflexerregbarkeit  zusammenhängt  und  der  die 
diätetische  Behandlung  auf  das  wirksamste  unterstützt.  —  (Korre¬ 
spondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg.,  Nr.  27.) 

K.  S. 

* 

60.  (Aus  der  Akademie  für  praktische  Medizin  in  Köln.  - 
Innere  Klinik:  Prof.  Dr.  Matth  es.)  Ueber  Wirkung  und 
Dosierung  des  Adrenalins  bei  subkutaner  Injektion. 

-  Von  Dr.  med.  Kirch  heim,  Sekundararzt.  Verf.  plädiert  sehr 
warm  für  die  Adrenalintherapie  bei  Herzschwäche  im  Verlaufe 
der  verschiedenen  Infektionskrankheiten,  da  letztere  nach  den 
Untersuchungen  von  Kauert  und  Liebermeister  die  eigent¬ 
liche  Domäne  dieser  Therapie  u.  zw.  in  subkutaner  Form  sind. 
Verf.  konstatiert  nach  seinen  Erfahrungen,  daß  das  Adrenalin 
bei  subkutaner  Anwendung  ein  gänzlich  ungefährliches  Mittel 
ist,  im  Gegensätze  zur  intravenösen  Anwendung  und  daß  es  in 
sehr  großen  Dosen  gegeben  werden  kann.  Lieber  m  e  i  s  tjetr 
und  Kauert  schlagen  1  bis  6  mg  Adrenalin  subkutan  pro  die 
vor,  Kraus  6  mg  und  mehr  in  Einzeldosen  von  0-5  bis  1  mg, 
Eckert  drei-  bis  viermal  täglich  2  bis  3  mg,  d.  .h.  maximal 
12  mg  Adrenalin,  welche  Dosis  er  bei  diphtheriekranken  Kin¬ 
dern  gegeben' hat.  Aus'  einer  Zahl  von  über  70  Beobachtungen 
teilt  Verf.  acht  ausgesucht  schwere  Fälle  mit,  bei  denen1  die 
übliche  Therapie  erschöpft  war.  Einige  Kranke  waren  direkt 
sterbend.  Hier  wurde  das  Adrenalin  in  Einzeldosen  von  0-5  bis 
1  mg  stündlich  bis  zweistündlich  gegeben,  bei  allerschwerstem 
Kollaps  wurden  2  Ibis  3  mg  auf  einmal  injiziert.  Es  waren  Fälle 
von  Pneumonie  und  schwerster  Scharlachinfektion.  Daran 
schließen  sich  drei  Fälle  von  Scharlach  und  Typhus  abdomi¬ 
nalis  zur  Illustration,  daß  man  bei  dieser  Therapie  über  die 
genannten  Dosen  beträchtlich  hinausgehen  kann.  Was  die  verab¬ 
reichte  Gesamtmenge  des  Adrenalins  anlangt,  ist  Verf.  häufig  auf 
60  bis  80  mg,  oft  auch  über  100  mg  gekommen.  Er  hat  sich 
nicht  gescheut,  gelegentlich  300  bis  400  mg  anzuwenden  und 


zwar  mit  Erfolg.  Diese  hohen  Dosen  wurden  auch  gegeben  bei 
einer  Reihe  schwerster  Scharlachfälle  mit  Angina  necroticans,  die 
unter  dem  Bilde  der  schwersten  Sepsis  verliefen  und  natürlich 
nicht  am  Leben  erhalten  werden  konnten.  Aber  auch  bei  diesen 
aussichtslosen  Erkrankungen  ließ  die  Herzwirkung  des  Mittels 
niemals  im  Stich.  Nebenerscheinungen  unerwünschter  Art,  wie 
sie  andere  Autoreh  bei  der  intravenösen  Adrenalintherapie  beob¬ 
achteten,  sind  hier  nicht  gesehen  worden.  Verf.  möchte  dies 
dem  Umstande  zuschreiben,  daß  bei  subkutaner  Anwendung  des 
Mittels  plötzliche  und  bedeutende  Blutdrucksteigerungen  nicht 
Zustandekommen.  Auch  Glykosurie  wurde  nicht  beobachtet,  wäh¬ 
rend  Eckert  bei  seinen  mit  Adrenalin  behandelten  Diphtherie- 
kranken  sie  fast  regelmäßig  konstatiert  hat.  Verf.  hat  bei  den  letal 
endigenden  schweren  Scharlachfällen  auch  den  Zustand  der  Aorta 
und  anderer  großer  Gefäße  untersucht;  es  fanden  sich  weder 
makro-  noch  mikroskopisch  Veränderungen,  die  der  experimentell 
beim  Tiere  erzeugten  Arteriosklerose  entsprochen  hätten.  Die 
Erfahrungen  des  Verfassers  in  der  subkutanen  Behandlung  der 
Infektionskrankheiten  mit  Adrenalin  gehen  kurz  dahin,  daß  man 
bei  Kollapszuständen,  wenn  die  üblichen  Exzitantien  versagt 
haben,  Adrenalin  bis  zur  Wirkung  geben  soll,  ohne  bei  kleinen, 
hiebt  genügenden  Gaben  stehen  zu  bleiben,  daß  man  diese 
Therapie  nötigenfalls  tagelang  fortsetzen  soll.  Adrenalin  ist  sub¬ 
kutan  zu  geben  wie  Kampfer.  Verf.  fühlt  sich  aber  auch  nach 
seinen  ausgedehnten  Erfahrungen  berechtigt,  das  Adrenalin  pro¬ 
phylaktisch  anzuwenden.  Auf  die  Wichtigkeit  dieses  Verfahrens 
weist  Kauert  mit  vollem  Rechte  hin.  Verf.  hat  oft  am  Kranken¬ 
bett  den  Eindruck  gehabt,  daß  er  mit  einigen  frühzeitigen  Adre- 
nalinjgaben  einen  drohenden  Kollaps  verhütet  hat,  was  mit  der 
bisher  üblichen  Therapie  nicht  gelungen  wäre.  —  (Münchener 
medizinische  Wochenschrift  1910.  Nr.  51.)  G. 

* 

61.  (Aus  dem  Ludwigspital  „Charlottenhilfe“  zu  Stuttgart. 

—  Professor  Dr.  Hofmeister.)  Ueber  künstliche  Blut¬ 
leere  der  unteren  Körperhälfte  nach  Momburg.  Von 
Dr.  W.  Burk.  Von  drei  mit  Momburg  scher  Blutleere  ope¬ 
rierten  Fällen  ging  einer  unter  den  Erscheinungen  schwerer  Peri¬ 
tonitis  zugrunde.  Die  Sektion  zeigte  an  mehreren  Dünndarm¬ 
schlingen  Suffusionen  von  so  charakteristischem  Aussehen,  daß 
man  sie  nur  als  Strangulationswirkung  des  umschnürenden  Schlau¬ 
ches1  ansprecheü  konnte.  Das  Cökum  an  einer  2  cm  breiten, 
4  Cm  langen  Stelle  gangränös,  in  seinen  übrigen  Anteilen  das  Bild 
der  Nekrose  in  verschiedenen  Stadien  zeigend.  Diese  Wirkung 
des  Schlauches  war  verschuldet  durch  die  bedeutende  Mager¬ 
keit  und  Herabgekommenheit  der  Patientin.  Verf.  normiert  als 
Kontraindikationen  gegen  das  Momburg  sehe  Verfahren:  1.  Hö¬ 
heres1  Alter,  Arteriosklerose,  Herzerkrankunigen  jeder  Art.  2.  Zu 
großer  Fettreichtum,  wobei  vollkommene  Abschnürung  bis  zum 
Verschwinden  des  Femora  lispulses  nicht  zu  erzielen,  daher  Ver¬ 
blutungsgefahr  vorhanden  ist.  3.  Uebergroße  Magerkeit  oder  Vor¬ 
handensein  von  Darmaffektionen,  wegen  der  Gefahr  schwerer 
Darmschädigungein,  durch  direkte  oder  indirekte  Druckwirkung 
des  abschnürenden  Schlauches.  —  (Beiträge  zur  klinischen  Chi¬ 
rurgie,  Bd.  68.)  ab- 

*  ( 

62.  Zur  Frage  der  Beziehung  zwischen  Status 
lymphatic  us,  bzw.  thymolymphaticus  und  Morbus 
Addis  on i.  Von  Dr.  Felix  v.  Wer  dt,  I.  Assistent  am  patho¬ 
logisch-anatomischen  Institut  der  Universität  Basel  (Direktor: 
Prof.  E.  Hedinger).  Eine  32jährige  Frau  litt  an  typischem 
Addison  mit  «deutlich  brauner  Pigmentierung  von  Haut  und 
Schleimhäuten,  Myasthenie  usw.  Die  IO3/*  Stunden  post  mortem 
vorgenommene  Autopsie  ergab  als  Hauptbefund  eine  völlige  Ver¬ 
käsung  beider  Nebennieren,  eine  chronische  Tuberkulose  des 
'reichten  Eileiters,  vereinzelte  miliare  Tuberkel  in  der  Leber, 
außerdem  einen  ausgesprochenen  Statue  lymphaticus 
mit  Vergrößerung  der  meisten  Lymphdrüsen,  der  Zungenbalg¬ 
drüsen,  Gaumentonsillen,  der  Solitärfollikel  und  Pey  er  sehen 
Haufen  im  Darm.  Am  Herzen  fand  sich  Dilatation  des  linken 
Ventrikels1  und  braune  Atrophie.  Sonst  fanden  sich  keinerlei 
bemerkenswerte  Organveränderungen.  Die  mikroskopische  Unter¬ 
suchung  ergab  eine  typische  Tuberkulose  beider  Nebennieren 
mit  ausgedehnter  Verkäsung.  Die  Marksubstanz  war  völlig  zer- 


102 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  3 


stört,  die  Rinde  bis  auf  ganz  vereinzelte,  unbedeutende  Reste.  Der 
Sympathikusgrenzstrang,  sowie  der  Plexus  solaris  wurden  an 
einigen  Stellen  auf  chromaffine. Zellen  durchmustert,  doch  konnten 
nur  ganz  vereinzelte  kleine  braune  Zellen  nachgewiesen  werden, 
welche  am  ehesten,  aber  nicht  ganz  sicher,  chromaffinen  Zellen 
entsprachen.  Gruppen  von  chromaffinen  Zellen  fanden  sich  nir¬ 
gends.  Es  liegt  also  hier  wieder  eine  deutliche  Hypoplasie 
des  chromaffinen  Systems  vor.  Die  Thymus  wies  etwas 
breite  Markstränge  auf,  war  aber  schon  stark  von  Fettgewebe 
durchwachsen.  Die  Läppchen  waren  ziemlich  klein,  weit  aus¬ 
einanderliegend.  Der  Fall  stützt  die  Ansichten  von  Wiesel, 
Bartel,  Hedinger  u.  a.  in.,  betreffend  die  Kombination  von 
Morbus  Addisoni  mit.  Status  lymphaticus,  resp.  thymolvmpha- 
ticus  und  mit  Hypoplasie  des  chromaffinen  Systems.  Verf.  teilt 
noch  mit,  daß.  während  der  Drucklegung  dieser  Arbeit  im  Basler 
Institut  ein  weiterer,  ganz  analoger  Fall  von  Morbus  Addisoni, 
kombiniert  mit  Status  lymphaticus,  zur  Sektion  gekommen  sei. 
—  (Berliner  klinische  Wochenschrift  1 910,  Nr.  52.)  E.  F. 

* 

63.  (Aus  der  Akademie  für  praktische  Medizin  in  Köln. 

I.  chirurgische  Abteilung:  Geh.  Med. -Rat  Prof.  Dr.  Barden¬ 
heuer.)  Ein  Fall  von  Knochenregeneration  nach  einer 
einmaligen  Injektion  von  Ehrlich-Hata  606.  Von  Assi¬ 
stenzarzt  Dr.  T  her  s  tap  pen.  Verf.  schildert  einen  Fall  von 
ziemlich  weit  vorgeschrittener  kariöser  Knochenlues,  bei  dem 
nach  der  Applikation  des  Ehr  lieh  sehen  Mittels  in  kurzer  Zeit 
eine  ganz  erstaunliche  Knochenregeneration  eintrat,  deren  Ver¬ 
lauf  durch  Röntgenbilder  verfolgt  werden  konnte.  Ein  junger 
Mann  hat  seit  vier  Jahren  eine  Wunde  am  rechten  Fußballen,  die 
ihm  bisher  keine  Schmerzen  verursachte.  Seit  14  Tagen  An¬ 
schwellung  und  Geschwürsbildung  an  mehreren  Zehen  des  linken 
Fußes.  Die  Besichtigung  ergibt  an  der  linken  großen  Zehe  zwei 
schmierig  belegte,  scharf  begrenzte  Hautgeschwüre  mit  wallartigen 
Rändern.  Ein  gleichbeschaffenes  Geschwür  an  der  zweiten  rechten 
Zehe.  Außerdem  ein  tiefes,  kraterförmiges  Geschwür  in  der  Mitte 
des  rechten  Fußballens.  Das  Röntgenbild  zeigt  eine  ausgedehnte 
Knochenkaries  an  beiden  Füßen.  Wassermann  sehe  Reaktion 
positiv.  Am  11.  September  1910  wurden  0-5  g  von  ,,606"  jeder- 
seits  in  die  Glutäalgegend  eingespritzt.  Am  fünften  Tage  haben 
sich  die  Geschwüre  gereinigt,  die  Geschwürsränder  sind  bedeutend 
abgeflacht.  Zwischen  der  ersten  und  zweiten  linken  Zehe  eine 
Oeffnung ;  eine  eingeführte  Sonde  führt  zum  zweiten  Mitteltußr 
knochen  in  eine  geräumige  Abszeßhöhle.  Spaltung  des  Abzesses, 
Entleerung  des  Eiters.  Am  24.  September  sind  die  Geschwüre 
bis  auf  eine  erbsengroße  Stelle  verheilt.  Schwellung  der  linken 
großen  Zehe  fast  verschwunden.  Allgemeinbefinden  gut,  Wasser¬ 
mann  negativ.  Am  29.  September  ist  der  Abszeßi  verheilt.  Der 
Gang  ist  gut  und  sicher.  Am  5.  Oktober  Röntgenaufnahme  beider 
Füße,  die  von  Interesse  ist.  Man  sieht  an  der  großen  Zehe  des 
linken  Fußes  eine  auffallende  Knochenregeneration  beider  Pha¬ 
langen.  Es  ist  eine  knöcherne  Vereinigung  beider  Phalangen  ein¬ 
getreten.  Auch  am  Köpfchen  des  zweiten  Metatarsus  links  hat 
eine  Knochenneubildung  stattgefunden.  Vergleicht  man  dagegen 
die  Röntgenbilder  des  rechten  Fußes  vor  und  nach  der  Einsprit¬ 
zung,  so  erkennt  man  ein  Fortschreiten  des  kariösen  Prozesses 
sowohl  an  dem  zweiten  Metatarsus,  als  an  der  ersten  Phalanx 
der  dazugehörigen  Zehe.  Auch  die  Periostwucherungen  haben 
an  beiden  Knochen  zugenommen.  Nach  Verfasser  jedenfalls  ein 
auffälliger  Befund.  Auf  der  einen  Seite  eine  Knochenneubildung 
bei  einer  schon  ziemlich  weit  vorgeschrittenen  Knochenkaries, 
dazu  Ausheilung  der  umfangreichen  Weichteilzerstörungen  in 
einem  ungewöhnlich  kurzen  Zeiträume.  Um  so  merkwürdiger  ist 
das  Fortschreiten  der  Knochenzerstörung  am  rechten  Fuß.  Wenn 
man  also  das  gute  Heilresultat  am  linken  Fuße  der  Einwirkung 
des  Präparates  „606“  zuschreiben  will,  so  lehrt  in  diesem  Falle 
der  Befund  des  rechten  Fußes,  daß,  trotzdem  die  W  as  ser¬ 
in  a  n  n  sehe  Reaktion  nach  der  Einspritzung  zweimal  negativ 
war,  an  einer  anderen  Körperstelle  der  luetische  Prozeß  weiter 
fortschreiten  kann,  daß  man  also  vorsichtig  sein  muß,  will  man 
von  der  Heilung  eines  lokalen  luetischen  Prozesses1  Rückschlüsse 
ziehen  auf  den  Rückgang  der  luetischen  Allgemeininfektion.  — 
(Münchener  medizinische  Wochenschrift  1910,  Nr.  5t.)  G. 

* 


64.  (Aus  der  chirurgischen  Klinik  zu  Tübingen.  —  Direktor 
Prof.  v.  Bruns.)  Die  Taxisrupturen  des  eingeklemmten 
Bruchdarms.  Von  Dr.  F.  Sänger.  Unter  165  in  den  letzten 
31/2  Jahren  auf  der  v.  Bruns  sehen  Klinik  operierten  inkarze- 
rierten  Hernien  finden  sich  fünf  durch  Taxis  v  e  r  u  r  s  a  c  h  te 
Darmrupturen;  sämtliche  Fälle  betrafen  Frauen,  viermal  han¬ 
delte  es  sich  um  Sehenkelhemien,  einmal  um  inkarzerierte 
Leistenhernie  neben  freiem  Schenkelbruch.  Verf.  hält  jedoch 
das  sich  hier  ergebende  Prozentverhältnis  (3%)  für  viel  zu 
niedrig  gegenüber  dem  wirklichen.  Die  Sichtung  des  eigenen  wie 
des  aus  der  Literatur  zusammengestellten  Materials1  ergibt  nun, 
daß  zwischen  der  Dauer  der  Einklemmung  und  der  Wahrschein¬ 
lichkeit  einer  Taxisverletzung  kein  unbedingter  Zusammenhang 
besteht,  da  auch  schon  eine  5,  ja  selbst  2Va  Stunden  nach  erfolgter 
Inkarzeration  erfolgte  Taxis  zu  Ruptur  geführt  hatte,  so  daß  man 
annehmen  muß,  daß  auch  ein  vollständig  gesunder  Bruch¬ 
darm  durch  Repositionsversuche  zum  Rupturieren 
g  e  b  r  a  c  h  t  w  e  r  d  e  n  k  a  n  n .  Besonders  groß;  ist  diese  Gefa  hr 
bei  Schenkelhernien  wegen  deren  praller  Füllung,  Fixation  und 
oberflächlicher  Lage.  Die  meiste  Neigung  zur  Ruptur  zeigen 
die  Kuppe  und  die  Mesenterialansatzstelle  des  Bruchdarm. es 
Berstungsruptur),  in  dritter  Linie  die  Stelle  der  Schniirfurche 
(Rißruptur).  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  zieht  sich 
ungünstigerweise  -  der  rupturierte  Darm  in  die  Bauchhöhle 
zurück;  ist  er  an  der  Bruchpforte  oder’  im  Bruchsack  fixiert,  so 
schützt  dieses  Verhalten  vor  der  allgemeinen  Peritonitis.  Meist 
ist  das  Ileum  befallen.  Unter  den  subjektiven  Symptomen  ist 
das  wichtigste  das  Fehlen  der  Erleichterung  nach  der 
Reposition,  ja  eher  noch  eine  Steigerung  der  Strangu¬ 
lationserscheinungen,  unter  den  objektiven  das  Persistieren  eines 
als  Bruch  anzusprechenden,  irreponiblen,  druckempfindlichen  .tu¬ 
mors,  dem  jedoch  die  pralle  Spannung  fehlt.  Der  weitere  V  er¬ 
lauf  richtet  sich  zunächst  danach,  ob  der  Bruchsack  gegen  die 
Bauchhöhle  zu  abgeschlossen  ist  oder  nicht;  im  letzteren  Falle 
werden  die  Erscheinungen  der  Perforationsperitonitis  rapid  auf- 
treten,  im  ersteren  längere  Zeit  auf  sich  warten  lassen.  Diagno¬ 
stische  Schwierigkeiten  ergeben  sich,  wenn  eine  Bruchgeschwulst 
fehlt  und  der  Bruchsack  leer  ist,  dagegen  wird  die  Unterschei¬ 
dung  der  en  bloe-Reposition  meist  leicht  gelingen.  Die  Pro¬ 
gnose  ist  bei  sich  selbst  überlassenen  Rupturen  absolut  letal, 
die  Heilungsziffer  der  Operierten  beträgt  45°/o.  —  ^Beiträge  zur 
klinischen  Chirurgie,  Bd.  68.)  ab- 

* 

65.  Ueber  die  Wirkung  der  schwefeligen  Säure 
auf  das  überlebende  War  mb  lii  t  er  herz.  Von  Regierungs¬ 
rat  Dr.  med.  E.  Rost,  Mitglied  des  Kaiserlichen  Gesundheitsamtes 
und  Dr.  Fritz  Jürss,  früherem  wissenschaftlichen  Mitarbeiter  im 
Kaiserlichen  Gesundheitsamte  Die  im  pharmakologischen  Labo¬ 
ratorium  im  Kaiserlichen  Gesundheitsamte  ausgeführten  verglei¬ 
chenden  Untersuchungen  über  die  organisch  gebundenen  schwefe¬ 
ligen  Säuren  (formaldehyd-,  azetaldehyd-,  glukose-,  azeton¬ 
schwefligsaures  Natrium)  und  das  neutrale  schwefligsaure  Natrium 
haben  bei  Einspritzung  dieser  Stoffe  in  die  Blutbahn  ergeben,  daß 
die  Salze  sowohl  der  freien,  als  auch  der  gebundenen  schwefeligen 
Säure  auf  Herz  und  Gefäße  ein  in  allen  wesentlichen  Punkten 
gleiches,  im  übrigen  nur  quantitativ  verschiedenes  Wirkungsbild 
entfalten.  An  der  Einwirkung  auf  Herz-  und  Gefäßsystem  konnten 
drei  Stadien  unterschieden  werden,  ein  Stadium  der  Blutdruck¬ 
senkung,  ein  Stadium  der  Verlangsamung  und  des  diastolischen 
Charakters  der  Pulse  bei  niedrig  stehendem  Blutdruck  und  ein 
Stadium  der  Arhythmie  bei  fast  ungeschwächter  Herzkraft,  das  in 
Lähmung  des  Herzmuskels  und  Stillstand  in  Diastole  ausklingt. 
Durch  geeignete  Versuchsgestaltung  hatte  sich  nachweisen  lassen, 
daß  die  anfängliche  Wirkung  der  schwefligen  Säure,  Blutdruck¬ 
senkung  und  Aenderung  der  Pulsfrequenz,  ohne  Beteiligung  des  | 
Herzens,  allein  durch  die  Beeinflussung  der  Gefäße  und  des 
Gefäßnervenzentrums  entsteht  und  daß  sie  erst  bei  fortschreitender 
Vergiftung  auf  das  Herz,  auf  die  automatischen  Apparate  und 
schließlich  auf  den  Herzmuskel  selbst  übergreift.  Rost  und  Jürss 
untersuchten  nun  den  Einfluß  der  schwefligen  Säure  auf  das  vom 
Gefäßnervenzentrum  und  von  den  übrigen  Kreislauforganen  los- 
!  gelöste,  isolierte  und  künstlich  gespeiste  Warmblüterherz.  Auch 

I  hier  war  Abnahme  des  Tonus  und  Schlagverlangsamung  als  Gif t- 

' 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


10 


Wirkung  auf  das  Herz  wahrzunehmen.  Die  Wirkung  ist  aber  sehr 
flüchtig  und  bei  Ersatz  der  Giftlösung  durch  die  Ring  ersehe 
Flüssigkeit  erholt  sich  das  Herz  rasch  wieder.  Erst  bei  Steigerung 
der  Dosis,  d.  h.  durch  große  Mengen  der  Verbindungen  der  schwef¬ 
ligen  Säure  und  hohe  Konzentration  ihrer  Lösungen  ei  lischt  in¬ 
folge  Herzmuskellähmung  die  Herztätigkeit.  Aus  der  raschen  Rück¬ 
kehr  des  Tonus,  der  Kontraktionsgröße  und  der  Zahl  der  Herz¬ 
schläge  zum  anfänglichen  Zustand  kann  auf  die  schnelle  und 
fast  vollständige  chemische  Umwandlung  der  schwefligsauren 
Salze  in  das  Sulfat  beim  Strömen  durch  die  Gefäße  des  Herzens 
geschlossen  und  der  Oxydationsverlauf  aus  der  Herzkurve  ab¬ 
gelesen  werden.  Die  Eigenart  der  Verbindungen  der  schwefligen 
Säure  in  freier  und  ■gebundener  Form,  hei  Berührung  mit  Geweben 
und  Flüssigkeiten  des  Organismus  rasch  in  das  pharmakologisch 
fast  indifferente  Oxydationsprodukt  überzugehen,  hat  sich  also 
auch  bei  diesen  Versuchen  am  isolierten  Kaninchenherzen  über¬ 
zeugend  dartun  lassen.  —  (Arbeiten  aus  dem  Kaiserlichen  Ge¬ 
sundheitsamte  1910,  Bd.  34,  H.  4.)  K.  S. 

* 

66.  Lepra  und  Karzinom.  Von  Dr.  Munch  Süc- 
gaard  in  Norheimsund,  Norwegen.  In  einem  Aufsatz  „The  Study 
of  the  Etiology  of  Cancer  based  on  Clinical  Statistics“  in  Annals 
of  Surgery,  Juni  1910,  schrieb  der  amerikanische  Arzt  Dr.  Isaac 
Lewin:  Kein  einziger  Fall  von  Karzinom  ist  unter  den  Leprösen 
gefunden  worden,  obgleich  eine  besondere  Untersuchung  des  Ver¬ 
hältnisses  stattgefunden  hat.  Dies  kann  aber  vielleicht  von  dem 
Umstande  herrühren,  daß  die  Leprösen  in  U.  S.  zum  über¬ 
wiegenden  Teil  zu  nicht  kaukasischen  Rassen  gehören.  Verfasser 
hat  es  unternommen,  die  bezüglichen  Verhältnisse  irr  Norwegen 
zu  studieren  und  bringt  aus  den  Statistiken  der  letzten  De¬ 
zennien  von  fünf  Spitälern  2269  Todesfälle  zusammen,  von  wel¬ 
chen  nur  19  —  0-84 °/o  Krebsfälle  betrafen.  Nun  stirbt  frerlrch 
ein  großer  Teil  der  Leprösen  schon  im  jugendlichen  Alter,  noch 
ehe  er  das  krebsreife  Alter  erreicht  hat.  Schaltet  man  also  aus  den 
Tabellen  die  Todesfälle  unter  40  Jahren  aus,  so  ergeben  sich  her 
1204  Personen,  welche  älter  als  40  Jahre  waren,  17  Todesfälle 
an  Krebs  ==  1-4%.  In  Norwegen  ergibt  die  Krebsmortalität  sonst 
folgende  Zahlen:  Im  Jahre  1865  3-5%  ;  im  Jahre  1880  5-1%,  im 
Jahre  1897  7-5°/o  und  im  Jahre  1906  8-5°/o  von  den  ärztbch  ge¬ 
meldeten  Todesfällen.  Im  gleichen  Zeitraum  (1857—1905)  sind 
außerhalb  der  Spitäler  3469  Lepröse  gestorben,  durchwegs 
chronische,  wenig  ansteckungsfähige  Fälle.  Hier  fehlt  eine  offi¬ 
zielle  Statistik,  Umfragen  ergeben  aber,  daß  Lepra  und  Krebs 
selten  zusammen  Vorkommen.  Ein  ausgezeichneter  Kenner  doi 
Verhältnisse,  Dr.  Armauer  Hansen;  der  viele  Hunderte  Lepröse 
gesehen  und  untersucht  hat,  schrieb  dem  Verfasser:  „Ich  kann 
mich  nicht  erinnern,  daß  ich  jemals  bei  den  außerhalb  der 
Hospitäler  verpflegten  Leprösen  Krebs  beobachtet  habe.  Doktoi 
Nielsen  sagt:  „Ich  kenne  keinen  sicheren  Fall  von  Krebs 
bei  Leprösen.“  Verf.  schließt  recht  vorsichtig,  es  sei  möglich, 
ja  sogar  sehr  wahrscheinlich,  daß  seine  obigen  Zahlen  für 
eine  herabgesetzte  Empfänglichkeit  der  Leprösen  für  Krebs  spre¬ 
chen.  —  (Berliner  klinische  Wochenschrift  1910,  Nr.  51.) 

E.  F. 


67.  (Aus  dem  städtischen  Siechenhaus  zu  Frankfurt  am 
Main.  —  Direktor:  Prof.  Dr.  Knoblauch.)  Ueb er  klinische 
Erfahrungen  mit  einem  neuen  Schlafmittel  dem 
Adalin.  Von  Dr.  med.  P.  Schaefer.  Verf.  berichtet  über  das 
Adalin,  ein  neues  Schlafmittel.  Es  stellt  eine  Verbindung  des 
Harnstoffes  mit  einer  Azetylgruppe  dar,  in  der  die  Wasserstoff¬ 
atome  durch  zwei  Aethylgruppen  und  ein  Bromatom  ersetzt 
sind;  es  ist  also  Diäthylbromazetylhartxstoff.  Das  Adalm  ist 
am  leichtesten  in  Chloroform,  Methylalkohol,  Aether  und  Alcohol 
absolutus,  viel  schwerer  in  Wasser  löslich.  Als  Medikament  kommt 
es  in  Form  einer  weißen,  fast  vollständig  geruch-  und  geschmack¬ 
losen,  außerordentlich  fein  pulverisierten  Masse  in  Gebrauch. 
Das  Einnehmen  des  Mittels  hat  bei  den  Patienten  keine  Schwierig¬ 
keiten  gemacht;  es  wurde  meist  in  Substanz  auf  die  Zunge  ge¬ 
nommen  und  mit  einem  Schluck  Wasser  hinuntergespült.  A ui 
selten  war  die  Anwendung  von  Oblaten  'nötig.  Auftreten  von 
Brechreiz,  Aufstoßen,  Magenschmerzen,  Uebelkeit  od.  dgl.  ist 
bei  keinem  der  Kranken  beobachtet  worden.  Die  Wirkung  des 


Mittels  äußert  sich  in  einem  nach  30  bis  60  Minuten  auftretenden, 
mehrere  Stunden  anhaltenden,  ruhigen,  gleichmäßigen  Schlaf. 
Puls  und  Atemfrequenz  sind  während  des  Schlafes  herabgesetzt. 
Der  Puls  bleibt  aber  ruhig,  gleichmäßig,  voll  und  kräftig;  die 
Atemzüge  sind  tief  und  ruhig.  Der  Blutdruck  deutlich  herab¬ 
gesetzt.  Nach  dem  Aufwachen  wurde  nie  über  Kopfschmerzen 
oder  unangenehme  Sensationen  geklagt.  Brechreiz,  Schwindel  und 
andere  Symptome  einer  Intoxikation  sah  Verf.  auch  bei  den,  größten 
Dosen  nicht.  Die  Ausscheidung  des  Mittelst  erfolgt  im  Urin.  Was 
nun  die  Dosierung  des  Mittels  anlangt,  so  hat  die  kleinste  Dosis 
von  0-25  g  in  keinem  der  Fälle  des  Verfassers  genügt.  Einfache 
Fälle  von  Neurasthenie  mit  Schlaflosigkeit  standen  ihm  nicht 
zur  Verfügung.  Für  alle  stärkere|n  Fälle  von  Asomnie  ist  die 
typische  Dosis  0-5  g;  dabei  ist  es  empfehlenswert,  je  0-25  g 
am  Abenid  und  in  den  ersten  Nachtstunden  zu  geben.  Als  Seda¬ 
tivum  ist  bei  einmaliger  Verordnung  0-75  bis  1-0  zu  geben,  ln 
Fällen  von  fortgesetzter  motorischer  Unruhe,  bei  häufig  auf¬ 
tretenden  paranoischem  Erregungszuständen  hat  Verf.  dreimal 
durch  tägliche  Gaben  von  zweimal  0-5  g  Adalin  eine  Beruhigung 
erzielt,  die  mit  dreimal  0-5  g  Trional  und  verschiedenen  anderen 
Mitteln  nicht  zu  erreichen  war.  Es  ist  ganz  besonders  zu  be¬ 
achten,  daß  man  mit  der  Dosis  allmählich  sinken  muß;  man 
gibt  dann  nach  14  Tagen  je  zweimal  0-4,  nach  weiteren  acht 
Tagen  je  zweimal  0-3  oder  0-25  g.  Auch  dabei  hat  \  erfasser 
keine  Intoxikationserscheinungen  gesehen.  Die  größte  Dosis 
wandte  Verf.  in  denjenigen  Fällen  an,  wo  die  Schlaflosigkeit 
durch  erhebliche  meningeale  oder  neuritische  Reizerscheinungen 
bedingt  war.  In  einem  Falle  von  Tabes  mit  außerordentlich  hef¬ 
tigen  Gürtelschmerzen  führte  anfangs  nur  zweimal  1-0  g  (je  1-0  g 
abends  und  nachts)  Schlaf  herbei.  Am  folgenden  läge  hatte  dei 
Kranke  eine  ziemlich  bedeutende,  fast  den  ganzen  Tag  anhal¬ 
tende  Schläfrigkeit  und  schon  für  die  zweite  Nacht  reichte  er 
mit  1-0  g  aus.  Bei  dieser  Dosis  blieb  Pat.  acht  Tage  lang,  jetzt 
bekommt  er  jeden  Abend  0-75  g  und  reicht  damit  vollkommen 
aus.  Intoxikationserscheinungen  fehlten  auch  hier  vollständig. 
Auch  bei  starken  Schmerzen  konnte  Verf.  mit  1-0  oder  höheren 
Dosen  Schlaf  erzielen.  Aber  in  solchen  Fällen  ist  auch  heute 
noch  das  Morphium  das  einzige  Medikament,  das  sicher  Schlaf 
herbeiführt.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1910, 

Nr.  51.)  G- 

* 

68.  Die  medikamentöse  Behandlung  der  Impo- 
tentia  coeundi.  Von  Dr.  Erhard  Lustweck,  Landmann¬ 
schaftsarzt  in  Selenie  Toksowo.  Unter  den  vielen  zui  medika¬ 
mentösen  Behandlung  im  Gebrauch  befindliehen  Präparaten,  die 
die  Impotentia  coeundi  bekämpfen  sollen,  bewährte  sich  dem  \  er¬ 
fasser  in  seiner  Praxis  das  Muirazithin  (die  bekannte  Kombina¬ 
tion  von  Lignum  muirae  und  Ovolezithin)  ganz  besonders,  so 
daß  er  von  der  Wirksamkeit  des  Präparates  vollkommen  über¬ 
zeugt  ist.  Mißerfolge  verzeichnete  er  nur  dort,  wo  die  Krankheit 
auf  anatomischer  Basis  beruhte.  Verordnet  wurden  dreimal  täglich 
drei  Pillen,  worauf  in  längstens  drei  bis  vier  Wochen,  manchmal 
schon  auch  früher,  normale  Erektionen  eintraten  und  bei  Flauen 
die  Anaphrodisie  und  Apathie  verschwanden.  Verf.  empfiehlt 
wärmlstens,  in  geeigneten  Fällen  das  Muirazithin  zu  versuchen. 

—  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  41.)  K.S. 

* 

69.  Zur  Theorie  der  Halluzinationen.  Von  Professor 
Dr.  Anton  H  ever  och  in  Prag.  In  einer  überaus  interessanten 
und  eingehenden  Arbeit  entwickelt  H  ever  och  seine  Gedanken 
über  das  Wesen  und  die  Entstehung  der  Halluzinationen.  Letztere 
definiert  er  als  „krankhaft  auftretende  Wahrnehmungen  oder 
Sinnesempfindungen,  welchen  das  Individuum  volle  Realität  bei¬ 
mißt,  trotzdem  keine  entsprechende  physiologische  Erregung  bei 
ihnen  vorhanden  ist“.  Man  muß  Wahrnehmung  und  Vorstellung 
ganz  voneinander  getrennt  halten;  jeder  dieser  beiden  psychischen 
Vorgänge  hat  seinen  eigenen  psychologischen  Charakter.  Mährern 
in  der  normalen  Psyche  die  Assoziation  oder  Reproduktion  von 
der  Wahrnehmung  oder  Vorstellung  nur  zur  Vorstellung  geht, 
findet  bei  psychopathologischen  Zuständen  die  Assoziation,  m 
dieser  und  noch  in  einer  zweiten  Reihenfolge  statt:  von  der  V  ahi- 
nehmung  oder  Vorstellung  zur  Wahrnehmung.  Bei  normalen 
Menschen  spielen  sich  alle  psychischen  Vorgänge  in  dem  Bewußt- 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1011. 


Nr.  ,8 


UM 


sein  ab,  daß  sie  zur  eigenem  Persönlichkeit  gehören,  sie  besitzen 
den  lebcharakter.  Bei  den  Halluzinationen  geht  die  Assozia¬ 
tion  von  der  Idee  zur  Wahrnehmung  und  dieser  Assoziation  fehlt 
der  lchchai  akter.  Die  Halluzinationen  sind  für  den  Patienten 
reell,  objektiv,  wahr,  weil  eine  Wahrnehmung  in  der  Hegel  für 
das  Subjekt  von  der  Ueberzeugung  der  Realität  des  betreffenden 
Gegenstandes  begleitet  ist.  Der  Vorgang  der  Halluzinationen  ent¬ 
wickelt  sich  in  der  Psyche  selbst  (transkortikal).  Die  Halluzina¬ 
tionen  auf  Erregung  oder  Hyperästhesie  der  Sinneszentren  zurück¬ 
zuführen,  ist  durchaus  falsch.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und 

Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  H.  2.)  S. 

* 

70.  (Aus  dem  Kaiserin  Auguste -Viktoria -Haus  zu  Char¬ 
lottenburg.  —  Direktor:  Prof.  Dr.  Keller.)  Beiträge  zur  Phy¬ 
siologie  des  neugeborenen  Kindes.  I.  Mitteilung:  Ueber 
den  Nah  rungs  bedarf  frühgeborener  Kinder.  Von 
W.  Birk.  Nach  Czerny-Keller  sind  die  Autoren  darüber 
einig,  daß  Frühgeborene  mehr  Nahrung  haben  müssen.  Cm  wie¬ 
viel  ihr  Nahrungsbedarf  größer  ist,  das  ist  allerdings  bisher 
nicht  festgestellt,  ebensowenig,  bis  zu  welchem  Zeitpunkte  diese 
erhöhte  Nahrungszufuhr  notwendig  ist.  Birk  gelangt  nach  seinen 
zahlreichen  systematischen  Untersuchungen  zu  einem  anderen 
Urteil  und  konstatiert,  daß  der  Nahrungsbedarf  frühgeborener 
Kinder  bei  geeigneter  Nahrung  (Frauenmilch,  allenfalls  auch 
Buttermilch)  keineswegs  höhere  Werte  erreicht  als  die  des  nor¬ 
malen  Kindes.  Denn  die  Nahrungsmengen,  die  eine  Frühgeburt 
an  der  Brust  trinkt,  entsprechen  nicht  dem  durchschnittlichen 
Bedarf,  sondern  bilden  das  Maximum  der  Nahrungsmenge.  Es 
findet  in  der  Regel  eine  Ueberernährung  statt.  Der  tatsächliche 
Bedarf  liegt  viel  t|iefer.  Man  kann  ihn  nur  bestimmen,  wenn 
die  Brust  einer  Mutter  so  wenig  ergiebig  ist,  daß  dem  Kinde 
nur  sehr  knappe  Nahrungsmengen  zur  Verfügung  stehen,  oder 
wenn  man  das  Kind  mit  dosierten  Mengen  Frauenmilch  aus  der 
Flasche  ernährt  oder  schließlich,  wenn  man  es  künstlich  ernährt. 
In  jedem  dieser  Fälle  zeigt  es  sich,  daß  Mengen  von  etwa  100 
bis  110  Kalorien  ausreichend  sind,  um  ein  physiologisches  Ge¬ 
deihen  des  Kindes  zu  garantieren.  Der  Wert  von  100  bis  110  Ka¬ 
lorien  ist  als  Durchschnittswert  aufzufassen,  der  innerhalb  ge¬ 
wisser,  aber  nicht  sehr  weiter  Grenzen  schwankt.  —  (Monatsschrift 
für  Kinderheilkunde  1910,  Bd.  9,  Nr.  5  und  6.)  K.  S. 

* 

71.  Ueber  das  chronische  Duodenalgeschwür. 
Von  Dr.  E.  Melchior,  Assistent  an  der  Breslauer  chirurgischen 
Klinik  des  Prof.  H.  Küttner.  Das  chronische  Duodenalgeschwür 
ist  eine  ausgesprochene  Erkrankung  des  männlichen  Geschlechts, 
sitzt  meist  im  obersten  Abschnitt  des  Duodenums,  dicht  unter 
dem  Pylorus  und  kommt  durch  die  peptische  Einwirkung  des 
sauren  Magensaftes  zustande,  wenn  besondere  lokale  Vorbedin¬ 
gungen  vorhanden  sind.  Die  Geschwüre  sind  ferner  vorzugsweise 
an  der  Vorderwand  gelegen,  sie  kommen  auch  multipel  vor,  öfter 
mit  Geschwüren  im  Magen  vergesellschaftet.  Mayo  unterscheidet 
indurierte  und  nichtindurierte  (rein  muköse)  Ulzera,  letztere  sind 
ungleich  seltener.  Man  hat  Duodenalgeschwüre  beobachtet  nach 
Bauchoperationen  (durch  thrombotische  oder  embolische  Prozesse 
in  der  Darmwand  angeregt),  zumal  nach  größeren  Eingriffen  am 
Netze  (v.  Eiseisberg))  man  hat  sie  (zuweilen  erst  bei  der 
Sektion)  angetroffen  nach  Amputationen,  besonders  bei  folgender 
Infektion  (septische  Geschwüre  nach  Billroth),  auch  gelegentlich 
ohne  Operation  bei  septischen  Prozessen,  Verbrennungen  usw. ; 
diese  Geschwürsformen  haben  aber  nichts  zu  tun  mit  den  chroni¬ 
schen  Duodenalgeschwüren,  die  nicht  auf  einer  derartigen  Aetio- 
logie  beruhen.  Wir  müssen  uns  einstweilen  mit  der  Annahme 
begnügen,  daß  ihnen  eine  gewisse,  nicht  näher  bekannte  Dis¬ 
position  oder  Diathese  zugrunde  liegt,  welche  einhergeht  mit  einer 
Herabsetzung  der  vitalen  Resistenz  der  Duodenalwand  gegenüber 
der  peptischen  Einwirkung  des  Magensaftes.  Es  scheint  —  zumal 
nach  den  von  den  englischen  und  amerikanischen  Chirurgen  ge¬ 
machten  Erfahrungen  —  daß  das  Symptomenbild :  später 
Schmerz  nach  der  Nahrungsaufnahme  („Hungerschmerz“,  nicht 
vor  anderthalb  Stunden,  öfters  drei  bis  vier  Stunden  danach, 
häufige  Milderung  des  Schmerzes  durch  erneute  Nahrungsauf¬ 
nahme)  be  i  fehlendem  E  r  brechen,  bei  N ach  weis  okkulter 
Blutungen  und  vor  allem,  wenn  die  Anamnese  eine  gewisse 


Periodizität  ergibt  (monatelanges  Freisein  infolge  spontaner 
Heilungsvorgänge,  dann  neuerliche  Schmerzanfälle)  bei  gut  er¬ 
haltenem  Appetit,  soweit  keine  Komplikation  vorliegt,  ausreicht, 
um  die  Diagnose  auf  chronisches  Ulcus  duodeni  zu  stellen.  Fehl¬ 
diagnosen  (Geschwür  im  Magen,  Affektion  der  Gallenblase)  wurden 
beobachtet.  Es  ist  kein  harmloses  Leiden,  vielmehr  drohen 
schwere  innere  Blutungen  und  Perforationsperitonitis,  erstere  in 
einem  Drittel  der  Fälle,  leztere  in  50%  der  Fälle,  nicht  selten 
entstehen  subphrenische  Abszesse,  Duodenalfistel  usw.  Die  Pro¬ 
gnose  ist  also  eine  ernste,  zum  mindesten  ist  das  Leiden  gefähr¬ 
licher  als  das  Magengeschwür;  auch  bei  zweckentsprechender 
interner  Behandlung  erlebt  die  Hälfte  der  Patienten  spätere  Rezi¬ 
diven  oder  es  stellen  sich  Stenosen  ein,  weshalb  die  chirur¬ 
gische  Therapie  hier  an  erste  Stelle  gesetzt  werden  sollte. 
Verf.  bespricht  die  einzelnen,  hiefür  vorgeschlagenen  oder  geübten 
Operationsmethoden  und  hält  für  den  besten  Weg  den,  das 
Duodenum  durch  eine  Gastroenterostomie  auszuschalten.  Ist  der 
Pylorus  schon  verengt,  dann  sind  die  Bedingungen  für  eine  radikale 
Heilung  gegeben,  wo  nicht,  führe  man  diese  künstlich  herbei 
(nach  Moynihan),  indem  man  das  Ulkus  durch  Uebemähung 
einfaltet  und  so  eine  Verengerung  des  Pylorus  hervorruft.  An  der 
Breslauer  Klinik  wurden  vier  Fälle  mittels  Gastroenterostomie 
behandelt  und  geheilt,  zwei  Fälle  stammen  noch  von  Garre. 
Verf.  berichtet  eingehend  über  diese  vier  Fälle,  deren  günstiger 
Verlauf  mit  den  Erfahrungen  englischer  und  amerikanischer  Chi¬ 
rurgen,  dann  von  Barth -Danzig,  Zum  B  u  sch-  London,  überein¬ 
stimme.  Die  Methode  leistet  auch  Ausgezeichnetes  zur  Behand¬ 
lung  von  Blutungen,  nur  bei  ganz  foudroyanten  Blutungen  unter¬ 
lasse  man  jeden  operativen  Eingriff.  In  jedem  Falle  sollte  die 
Operation  empfohlen  werden,  wenn  es  sich  um  starke,  dauernd 
rezidivierende  Beschwerden  handelt;  strenge  indiziert  ist  sie 
natürlich  bei  Stenosenbildung.  Man  vergesse  schließlich  nicht, 
daß  über  jeden  Patienten  mit  Ulcus  duodeni  —  wenn  das  Leiden 
im  Einzelfalle  auch  noch  so  hannlos  aussehen  mag  —  das 
Damoklesschwert  in  Gestalt  einer  Perforationsperitonitis  oder 
schweren  Blutung  schwebt.  Es  muß  ja  nicht  dazu  kommen, 
man  sieht  es  aber  den  Fällen  niemals  von  vornherein  an,  wie 
sie  verlaufen  werden.  Die  Operation  bewahrt  sie  aber  mit 
menschenmöglicher  Wahrscheinlichkeit  dauernd  von  derartigen 
Zufällen.  —  (Berliner  klinische  Wochenschrift  1910,  Nr.  51.) 

E.  F. 

* 

72.  Ueber  eine  neue  Senkgrubenentleerungs¬ 
anlage  „System  Stoinschegg“.  Von  Dr.  Adolf  Horst, 
k.  k.  Sanitätskonzipist  im  Ministerium  für  öffentliche  Arbeiten. 
In  kleinen  Landgemeinden  ist  man  des  Kostenpunktes  wegen 
angewiesen,  auf  die  Beseitigung  der  Abfallstoffe  mittels  Senk¬ 
gruben-  oder  Tonnensystems,  oder  bei  besonderer  Wasserarmut 
mittels  des  Trockenklosettsystems.  Natürlich  stehen  alle  diese 
Systeme  in  hygienischer  Beziehung  der  Kanalisation  nach  und 
der  Betrieb  ist  durch  die  Notwendigkeit  der  periodischen  Reini¬ 
gung  verteuert.  Für  solche  Fälle  empfiehlt  Horst  das  „System 
Stoinschegg“,  welches  im  wesentlichen  darin  besteht,  daß  die 
Ueberfallwässer  der  Senkgrube  an  Ort  und  Stelle  nach  dem 
biologischen  Verfahren  gereinigt  werden,  indem  eine  anaerobe 
Filteranlage,  die  in  eine  der  Faulkammern  eingebaut  ist,  die  Ex¬ 
kremente  zersetzt,  welche  dann  im  Oxydationsfilter  des  Kanales 
rein  filtriert  werden,  um  als  unschädliche  Flüssigkeit  selbst  in 
kleine,  wasserarme  Wasserläufe  eingeleitet  zu  werden,  ohne  daß 
eine  Verunreinigung  des  Flußlaufes  gewärtigt  werden  müßte. 
Die  Reinigung  der  Anlage  und  Erneuerung  der  Filtermassen 
braucht  im  allerungünstigsten  Falle  höchstens .  einmal  im  Jahre, 
gewöhnlich  nur  alle  zwei  bis  drei  Jahre,  vorgenommen  zu 
werden,  am  besten  in  der  kalten  Jahreszeit.  —  (Der  Amtsarzt, 
Zeitschrift  für  öffentliches  Gesundheitswesen,  1910,  2.  Jahrg., 

Nr.  4.)  K.  S, 

* 

73.  Ein  Beitrag  zum  Krankheitsbild  der  Chorea 
chronica  progressiva.  Von  Dr.  R.  F  r  o  t  s  c  h  e  r,  Oberarzt 
an  der  Landes-Heil-  und  Pflegeanstalt  Weilmünster.  Wenn  der 
Verfasser  einleitend  bemerkt,  daß  bezüglich  der  Aetiologie  und 
pathologischen  Anatomie  der  Hunting  to  n  sehen  Chorea  noch 
Meinungsverschiedenheiten  herrschen,  so  werden  letztere  auch 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


IU5 


durch  seine  Arbeit  leider  nicht  geklärt.  Kr  bringt  drei  Fälle  von 
Chorea  chronica  progressiva,  den  ersten  zwar  mit  Obduktions¬ 
befund,  doch  ohne  mikroskopische  Untersuchung  des  Zentral¬ 
nervensystems.  ln  den  beiden  anderen  Fällen  dauert  das  Leiden 
seit  fünf,  resp.  zwölf  Jahren,  noch  an.  Zwei  der  Fälle  betreffen 
Mitglieder  einer  Choreafamilie.  Im  übrigen  bringt  Verf.  nur  Zitate 
aus  der  Literatur,  die  sich  besonders  auf  Aetiologie,  pathologische 
Anatomie  und  Therapie  der  H  unting  to  n  schein  Chorea  beziehen. 
—  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  II.  2.) 

S, 

* 

74.  (Aus  dem  Krankenhausei  der  Diakonissenanstalt  Neu- 
münster-Zürich.)  Ueber  gefährliche  intrauterine  Blu¬ 
tungen  bei  Uterusm y o m e n.  V on  Dr .  F riedric h  B r u n ner, 
Chefarzt  der  chirurgischen  Abteilung.  Das  Leben  bedrohende 
intraperitoneale  Blutungen  bei  Myomen  scheinen  äußerst  selten 
zu  sein;  denn  obwohl  sie  schon  Rokitansky  bekannt  waren, 
so  findet  man  in  der  Gesamtliteratur  nur  13  mehr  weniger  genau 
beschriebene  Fälle  und  einige  wenige  kurze  Angaben  bei  Spen¬ 
cer,  Schar  lieb,  Ämarnn  und  D  öderlein.  Es  mag  io  des 
sein,  daß  die  Beobachtungen  von  solchen  Fällen  sich  mehren 
werden,  wenn  die  Praktiker  auf  das  Vorkommen  solcher  Blu¬ 
tungen  aufmerksam  gemacht  werden.  Brunner  beschreibt  in¬ 
folgedessen  seinen  Fall,  den  er  erlebte,  (ausführlich,  zumal  es 
der  erste  Fall  überhaupt  ist,  wo  die  Diagnose  intra  vitam,  aller¬ 
dings  nicht  sofort,  aber  doch  noch  rechtzeitig,  gemacht  wurde 
und  die  Patientin  durch  die  Operation  gerettet  werden  konnte. 
Die  Symptome  der  intraperitonealen  Myomblutung  sind  natürlich 
dieselben,  wie  bei  anderen  plötzlichen  Blutungen  ins  Peritoneum, 
speziell  wie  bei  Beratung  einer  Tubenschwangerschaft:  plötz¬ 
licher,  heftiger  Schmerz  im  Abdomen,  rasch  auftretende  Anämie, 
beschleunigter,  kleiner  werdender  Puls  usw.  Differentialdiagno¬ 
stisch  kommt  dann  in  Betracht,  ob  diese  Symptome  bei  ledigen 
Personen  oder  bei  Frauen  jenseits  des  Klimakteriums  oder  bei 
Frauen,  von  denen  man  von  früheren  Untersuchungen  her  weiß, 
daß  sie  mit  einem  Fibroid  behaftet  sind,  aufgetreten  sind.  Bei 
jüngeren  Frauen  muß  auch  das  Verhalten  der  Menstruation  be¬ 
achtet  werden,  da  bei  diesen  Fällen  sonst  Verwechslung  mit  ge¬ 
platzter  Tubarschwangerschaft  vorkommt.  Die  intraabdominellen 
Blutungen  bei  Uterusmyomen  stammen  in  der  Regel  aus  einer 
an  der  Oberfläche  geplatzten  Vene,  seltener  Arterie  und  Vene. 
Die  Blutung  entsteht  aber  nicht  immer  gerade  durch  Platzen  der 
Gefäße,  etwa  wie  bei  den  Krampfadern  am  L  nterschenkel,  son¬ 
dern  durch  ein  außerhalb  des  Tumors  liegendes  Moment,  die 
Venen  werden  durchscheuert  oder  durchrissen,  indem  sie  sich 
bei  Bewegungen  an  der  Umgebung  reiben  (daher  Sitz  der  Ver¬ 
letzung  meist  an  einer  Insulten  besonders  ausgesetzten  Stelle, 
wie  auf  der  Kuppe  der  Geschwulst).  Die  Prognose  ist  selbst¬ 
verständlich  sehr  ernst,  wenn  auch  nicht  immer  der  Tod  sofort 
eintritt.  Möglicherweise  kommen  auch  leichtere  Blutungen  ins 
Peritoneum  bei  Myomen  vor.  Jedenfalls  darf  man  aber  im  ge¬ 
gebenen  Falle  nicht,  auf  diesen  glücklichen  Ausgang  rechnen, 
sondern  muß  sich  vergegenwärtigen,  daß  ohne  rasche  chirurgische 
Hilfe  der  Tod  an  Verblutung  wohl  die  Regel  ist,  während  recht¬ 
zeitige  Operation  (Myom-,  resp.  Uterusexstirpation  per  laparoto- 
miam)  große  Aussicht  auf  Rettung  des  Lebens  der  Patientin  gibt. 
—  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg., 

Nr,  30.)  K-  S. 

* 

75.  (Aus  der  medizinischen  Poliklinik  der  Universität 
München.  —  Vorstand:  Prof.  R.  May.)  Das  Absinken  der 
Kern-  (speziell  der  Magen-)  Temperatur  bei  äußer¬ 
licher  Kälteapplikation.  Von  Dr.  M.  Riehl.  Daß  Wärme 
wie  Kälte  bei  Applikation  auf  die  Bauchhaut  in  die  Tiefe  des 
Magens  zu  dringen  vermögen,  ist  erwiesen.  V  einiger  bekannt  ist 
dagegen,  wie  weit  die  Temperatur  im  Mageninnern  durch  der¬ 
artige  Prozeduren  erhöht  oder  erniedrigt  werden  kann.  Zur 
exakten  Konstatierung  der  Kältewirkung  im  Körperinnern  müßte 
man  eigentlich  ein  Minimum  thermometer  verwenden.  Die  Her¬ 
stellung  eines  solchen  ist.  aber  technisch  unmöglich.  Eine  noch 
empfindlichere  Methode  wäre  die  Benützung  einer  elektrischen 
Temperaturmessungseinrichtung  mit  Widerstandsthermometer.  Ein 
solcher  Apparat  wäre  zu  kostspielig.  Verf.  begnügte  sich  daher, 


ein  ca..  9-5  cm  langes  und  0-5  cm  breites  Maximalthermometer 
zu  benützen,  das  am  unteren  Ende  eine  Quecksilberkugel  von 
0-7  ein  Durchmesser  trägt.  Die  Skala  reicht  von  32-0  bis  40-0:'C 
und  ist  mit  Zehntelgraden  versehen.  Das  Thenn oineter  wurde 
vor  den  Untersuchungen  in  das  Auge  eines  unten  offenen  Magen- 
schlauehes,  der  dem  Thermometer  fest  angepaßt  war,  in  der 
Weise  eingeschoben,  daß  .die  Quecksilberkugel  uißerhalb  des 
Schlauches  frei  lag.  Verf.  ist  sich  darüber  klar,  daß  diese  Me¬ 
thode  der  Messung  nicht  ohne  Mängel  ist.  Die  Magentemporat m 
wurde  vor  wie  während  der  Untersuchungen  festgestellt  und 
zwar  so,  daß  das  auf  32°  C  eingestellte  Maximalthermometer 
innerhalb  einer  Zeitdauer  von  10  bis  25  Sekunden  bis  auf  die 
Magenwand  eingeführt  und  nach  Ablauf  von  zehn  Minuten  inner¬ 
halb  drei  bis  vier  Sekunden  aus  dem  Magen  wieder  entnommen 
wurde.  Irgendwelche  Gefahr  war  bei  vorsichtiger  Art  des  Ver¬ 
fahrens  ausgeschlossen.  Gleichzeitig  mit  der  Magentemperatur 
wurde  immer  die  Rektaltemperatur  festgestellt.  Das  Ergebnis 
der  Untersuchungen  des  Verfassers  ist  kurz  folgendes :  Das  nie¬ 
derste  Temperaturminimum  betrug  im  Magen  35-7n  C,  im  Rek¬ 
tum  36-7°  C.  Es  sank  also  die  Kerntemperatur  im  Magen  bis 
zu  1-8°  C,  im  Rektum  bis1  zu  1-1°  C.  Es  ist  aber  sehr  wahr¬ 
scheinlich,  daß  mit  einem  Minimumthermometer  noch  tiefere 
Kerntemperaturein  verzeichnet  worden  wären.  Dabei  ist  es  nicht 
gleichgültig,  ob  das  Thermometer  bei  Kontrolle  der  Kältewirkung 
der  hinteren  oder  der  vorderen  Wand  des  Magens  anliegt.  Die 
Frage,  ob  die  konstatierte  Kältewirkung  in  therapeutischer  Hin¬ 
sicht,  z.  B.  bei  einer  Magenblutung,  eine  nennenswerte  ist,  be¬ 
antwortet.  Verf.  dahin,  daß  zweifellos  die  Abnahme  der  Kern¬ 
temperatur  um  2°  C  eine  ziemlich  beträchtliche  ist.  Es  ist  dem¬ 
gemäß  anzunehmen,  daß  die  Blutgerinnung  teils  durch  die  im 
Kältebezirk  vorhandene  Oligämie1,  teils  durch  die  reflektorische 
Kältewirkung  auf  die  Vasokonstriktoren  rascher  eintritt.  —  (Mün¬ 
chener  medizinische  Wochenschrift  1910,  Nr.  52.)  G. 

* 

70.  (Aus  der  psychiatrischen  Klinik  zu  Königsberg  i.  Pr. 

Direktor:  Prof.  Dr.  E.  Meyer.)  Beiträge  zur  Unter¬ 
suchung  des  Liquor  cerebrospinalis  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  zelligen  Elemente.  Von  Doktor 
Ludwig  Andernach,  Assistenzarzt  der  Klinik.  Aus  den  von 
Andernach  mitgeteilten  Fällen  ergibt  sich  zunächst  die  Tat¬ 
sache,  daß  Lymphozytose  u.  zw.  in  der  Regel  sehr  reichliche, 
bei  Paralyse  auch  schon  im  Beginn  der  Erkrankung  so  gut  wie 
konstant  vorkommt.  Hingegen  fand  Andernach  in  Fällen  von 
Neurasthenie  mit  Lues  in  der  Anamnese  und  in  anderen  Fällen 
von  Erkrankung,  welche  bei  der  Abgrenzung  gegen  Paralyse  oft 
Schwierigkeiten  machen,  Lymphozytose  so  gut  wie  nie,  die  von 
N  on  ne  seinerzeit  angegebene  Eiweißreaktion  des  Liquor  (N  on  ne, 
Phase  I)  war  immer  negativ,  was  also  in  differentialdiagnostischer 
Beziehung  von  großer  Bedeutung  ist.  In  derselben  Weise  läßt 
sich  die  Differentialdiagnose  zwischen  progressiver  Paralyse  und 
Alcoholismus  chronicus  und  zwischen  Pseudotabesi  alcoholica 
und  Tabes  sicherstellen,  mit  einem  Worte,  die  Kombination  von 
Phase  I  und  Lymphozytose  ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
für  die  syphilogenen  Erkrankungen  des  Nervensystems  charakte¬ 
ristisch.  Das  Studium  der  histologischen  Beschaffenheit  der 
Zellen  des  Liquors  ergab  kein  in  differentialdiagnostischer  Be¬ 
ziehung  verwertbares  Resultat.  Verf.  neigt  zu  der  Ansicht,  daß 
die  Zellen  hämatogenen  Ursprunges  seien,  denn  man  findet  im 
Liquor  alle  die  Zellelemente  wieder,  die  wir  auch  im  Blutbilde 
zu  sehen  gewöhnt  sind.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Nerven¬ 
krankheiten,  Bd.  47,  H.  2.)  S. 

<  *  [ 

77.  Die  Behandlung  der  Balggeschwülste  mittels 
Elektrolyse.  Von  Dr.  M.  Horowitz  in  Wien.  Es  gibt  Fälle, 
bei  welchen  die  Exzision  eines  Atheroms  nicht  zulässig  ist  oder 
nicht  gestattet  wird.  Für  solche  Fälle  schlägt  Horowitz  ein 
von  ihm  15mal  mit  gutem  Erfolge  geübtes  Verfahren  vor;  es 
ist  dies  die  elektrolytische  Behandlung  der  kleinen  Geschwülste. 
Eine  feine,  sehr  spitze,  gut  polierte  Elektrode  von  Platin,  Platin¬ 
iridium  oder  von  Stahl  wird  mit  dem  negativen  Pol  der  ßatteiic 
verbunden,  eine  breite,  gut  durchfeuchtete  Plattenelektrode'  mit 
dem  positiven  Pol,  die  Nadel  sodann  eingestochen,  die  Platten¬ 
elektrode  auf  eine  beliebige  indifferente  Stelle  gelegt  und  nun 


10G 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  B 


erst  der  galvanische  Strom  (Galvanometer,  drei  bis  vier  Milliam¬ 
pere)  eingeleitet.  In  einer  Sitzung,  die  15  bis  20  Minuten  dauert, 
können  durch  Wechsel  der  Einstichstelle  zehn  Stiche  gemacht 
werden,  man  kann  aber  auch  den  negativen  Pol  mit  drei  bis  fünf 
Nadeln  verbinden  und  durch  passende  Anordnung  im  Nadelhalter 
fixieren,  um  gleichzeitig  fünf  Stiche  zu  machen.  Bei  sehr  em¬ 
pfindlichen  Personen  benützt  man  vor  dem  Einstechen  Chlor¬ 
äthyl,  im  allgemeinen  ist  der  Schmerz  ein  geringer.  Der  Erfolg 
war  stets  ein  guter,  die  Geschwülste  schwanden  radikal,  der  kos¬ 
metische  Effekt  war  ein  tadelloser.  Selbst  da,  wo  es  sich  um 
taubeneigroße,  entzündete  und  mit  der  Haut  verlötete  Balg¬ 
geschwülste  handelte,  hat  die  Elektrolyse  nicht  versagt.  In  gleicher¬ 
weise  wurden  auch  zwei  Fälle  von  entzündeten  Schleimbeuteln 
in  der  Gegend  des  Ellbogengelenkes,  ein  Mastdarmpolyp  (Anästhe¬ 
sierung  des  ganzen  Terrains)  erfolgreich  behandelt.  —  (Medizi¬ 
nische  Klinik  1910,  Nr.  49.)  E.  F. 

* 

78.  (Aus  der  Provinzialheilanstalt  Grafenberg.  —  Direktor: 

Geh.  Sanitätsrat  Dr.  Peaetti.)  Ueber  Entwicklungsstö¬ 
rungon  des  Gehirns  bei  juveniler  Paralyse  und  ihre 
Bedeutung  für  die  G  ein  ese  dieser  Kr  an  k  hei  t.  Von  Doktor 
Artur  Trap  et.  Derselbe  Verfasser  hat  schon  einmal  über  das¬ 
selbe  Thema  geschrieben  und  nun  berichtet,  er  neuerdings  über 
sechs  Fälle  von  juveniler  Paralyse.  Diesen  Fällen  sind  Ent¬ 
wicklungsstörungen  des  Gehirns  gemeinsam,  meist  nur  des  Klein¬ 
hirns  (zwei-  auch  drei  Kerne  in  den  Purkinjeschen  Zellen, 
Teilungsvorgänge  in  diesen  Zellen,  Verlagerungen  derselben),  in 
einem  Falle  bot  auch  das  Großhirn  Entwicklungsstörungen.  Viel¬ 
leicht  weisen  diese  Entwicklungsstörungen  darauf  hin,  daß.  die 
hereditäre  Lues  durch  ihre  entwicklungshemmende  Wirkung  auf 
das  Organ  für  die  später  sich  entwickelnde  Paralyse  einen  gün¬ 
stigen  Boden  schafft.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Nerven¬ 
krankheiten,  Bd.  47,  H.  3.)  S. 

* 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

79.  Ueber  das  Schaf  als  Verbreiter  des  Malta¬ 
fiebers.  Von  Darbois  und  Vergnes.  Ein  besonders  aktiver 
Maltafieberherd  besteht  im  südlichen  Frankreich,  von  wo  aus 
die  Erkrankung  sich  nach  verschiedenen  Richtungen  ausbreitet, 
ln  einem  Distrikt,  wo  sich  zahlreiche  Schafherden  befinden, 
wurde  Uebertragung  der  Erkrankung  auf  Schäfer  und  Melker 
beobachtet.  Die  Einimpfung  des  Maltafieberkokkus  auf  Schafe 
ruft  ein  Krankheitsbild  hervor,  welches  durch  Hinken,  Mattig¬ 
keit  und  häufigen  Abortus  gekennzeichnet  ist.  Harn  und  Milch 
der  erkrankten  Tiere  enthalten  den  spezifischen  Mikroorganismus, 
während  derselbe  im  Speichel  nicht  nachweisbar  ist.  ln  einer 
500  Schafe  umfassenden  Herde  gab  sich  die  Epidemie  durch  ge¬ 
häuftes  Auftreten  von  Fehlgeburten  kund  und  es  erkrankten 
später  die  mit  dem  Melken  der  Mutterschafe  beschäftigten  Per¬ 
sonen,  wobei  die  Infektion  auf  subkutanem  Wege  durch  Be¬ 
rührung  der  meist  wunden  Hände  der  Melker  mit  der  infizierten 
Milch,  bzw.  Harn  der  Tiere  zustande  kam.  Die  ersten  zwei  Er¬ 
krankungen,  welche  Potatoren  betrafen,  nahmen  letalen  Aus¬ 
gang  und  wurden  als  schwere  Grippe  diagnostiziert;  im  weiterem 
Verlauf  erkrankten  noch  mehrere  Melker,  sowie  zwei  bei  der 
Reparatur  des  Schafstalles  beschäftigte  Arbeiter.  Die  Symptome 
bestanden  in  Dyspepsie.,  Erbrechen,  Obstipation,  Fieber  von  dis¬ 
kontinuierlichem  Verlauf,  welches  sich  gegen  Antipyretika  re¬ 
fraktär  verhielt,  heftigen  Gelenksschmerzen,  Rachialgie,  reich¬ 
lichem  Schweiß,  hochgradiger  Abgeschlagenheit ;  in  zwei  Fällen 
entwickelte  sich  schmerzlose  Orchitis.  Während  der  Rekonvales¬ 
zenz  erfolgte  Abschuppung  der  Haut  der  Hände  und  Füße,  sowie 
Haarausfall.  In  allen  Fällen  erfolgten  mehrere  Rückfälle  und 
es  bestand  durch  mehrere  Monate  hochgradigste  Asthenie.  Bei 
allen  darauf  untersuchten  Fällen  wirkte  das  Serum  auf  Micro¬ 
coccus  melitensis  agglutinierend.  Unter  429  untersuchten  Schafen 
gaben  49  positive  Agglutinationsreaktion.  Di©  Epidemie  ging  be¬ 
stimmt  von  den  Schafen  aus,  da  sich  keine!  Ziege  in  der  Gegend 
befand  und  die  Serumreaktion  aller  anderen  Haustiere  negativ 
ausfiel.  Bei  den  Melkern  ist  die  Infektion  wahrscheinlich  sub¬ 
kutan  erfolgt,  doch  besteht  auch  die  Möglichkeit  einer  Infektion 
des  Intestinaltraktes  durch  Einfühnem  von  Speisen  mit  verun¬ 
reinigten  Händen.  Die  Infektion  der  mit  der  Reparatur  des  Schaf¬ 


stalles  beschäftigten  Arbeiter  dürfte  durch  Einatmung  infizierten 
Staubes  oder  subkutan  von  den  Händen  aus  erfolgt  sein.  — 
(Journ.  de.  Prat.  1910,  Nr.  46.)  a.  e. 

* 

80.  Ozäna  und  Atemgymnastik.  Von  Marcel  Nation 
Die  Ozäna,  welche  sich  gegenüber  der  gebräuchlichen  Therapie 
oft  sehr  resistent  verhält,  wird  in  ihrer  essentiellen  Form  durch 
Atemgymnastik  sehr  günstig  beeinflußt,  wie  aus  einer  vom 
Verfasser  mitgeteilten  Beobachtung  hervorgeht.  Diese  Beobach¬ 
tung  bezieht  sich  auf  einen  achtjährigen  Knaben,  welcher  im 
ersten  Lebensjahre  eine  Dysenterie  durchgemacht  hatte,  welche 
auf  die  weitere  Entwicklung  einen  ungünstigen  Einfluß,  aus¬ 
übte;  es  stellten  sich  mannigfache  Verdauungsstörungen  und 
in  deren  Gefolge  häufige  Zustände  von  Autointoxikationen  ein, 
welche  zu  Störungen  in  verschiedenen  Organen  Anlaß  gaben. 
Auch  die  Ozäna  stellt  keine  autonome  Erkrankung  dar,  sondern 
eine  lokale  Manifestation  der  von  früher  her  bestehenden  Störung 
des  Allgemeinzustandes.  Daraus  lassen  sich  auch  Folgerungen 
für  die  Therapie  ableiten.  In  frischen  Fällen  kann  man  die  Ozäna 
durch  die  Behandlung  des  Grundleidens  zum  Schwinden  bringen, 
wie  dies  bei  einem  vierjährigen  Kinde,  der  Fall  war,  wo  die 
Behandlung  bestehender  gastro-intestinaler  Störungen  auch  die 
Ozäna  beseitigte.  Es  kommen  auch  Fälle  vor,  wo  die  Ozäna 
scheinbar  spontan  verschwindet,  nachdem  sie  den  verschiedensten 
Behandlungsmethoden  hartnäckigen  Widerstand  entgegengesetzt 
hat.  Dieses  Verschwinden  ist  auf  beträchtliche  Veränderungen 
dos  Allgemein zustandes  zurückzuführen.  Man  sieht  die  Ozäna. 
im  Anschluß,  an  schwere  Erkrankungen  plötzlich  verschwinden, 
aber  auch  bei  günstiger  Modifikation  des  Allgemeinzustandcs, 
z.  B.  bei  Ausheilung  von  Anämie  und  Chlorose,  sieht  man  die 
Ozäna  zurückgehen.  In  Fällen,  wo  die  Ozäna  schon  seit  langer 
Zeit  besteht,  lassen  sich  durch  Atemgymnastik  noch  hervorragende 
Erfolge  erzielen,  welche  sich  durch  den  günstigen  Einfluß  auf 
Nervensystem,  Kreislauf  und  Blutbildung  erklären  lassen. 

(Gaz.  des  hop  1910,  Nr.  128.)  .  a.  e. 

* 

81.  Ueber  Arsen  ob.enzol  (Präparat  Ehrlich-Hata 
606)  bei  der  Behandlung  der  Syphilis.  Von  A.  Bayet 
(Brüssel).  Das  Arsenobenzol  wurde  in  10%iger  Natronlauge  auf: 
gelöst  und  die  Lösung  mit  einigen  Tropfen  Eisessig  neutralisiert; 
die  Quantität  der  Injektion  soll  4  bi'si  5  cm3  nicht  übersteigen. 
Die  mittlere  Dosis  betrug  für  Frauen  0-5  g,  für  Männer  0-6  g, 
bei  sehr  robusten  Männern  wurden  auch  Dosen  von  0-7  bis  0-8  g 
angewendet.  Es  scheint,  daß.,  je  frischer  die  Syphilis,  um  so 
größer  die  erforderliche  Dosis  ist.  Die  für  Kinder  geeignete 
Dosis  beträgt  0-007  bis  0-008  g  pro  Kilogramm  Körpergewicht. 
Die-  Injektion  wurde  subkutan  zwischen  Schulterblatt  und  Wirbel¬ 
säule  vorgenommen.  Eine  mäßige  Lokalreaktion  Stellt  sich  am 
zweiten  oder  dritten  Tag  nach  der  Injektion  ein,  in  einigen 
Fällen  wurde  Gangrän,  bzw.  zentrale  aseptische  Erweichung  an 
der  Injektionsstelle,  beobachtet.  Als  allgemeine  Reaktionserschei- 
nungen  wurden  vereinzelt  Hautexanthem  und  Fieber,  in  einem 
Falle  anschließend  an  das  Hautexanthem  ein  an  subakuten  Ge¬ 
lenksrheumatismus  erinnerndes  Bild  beobachtet.  In  der  Mehr¬ 
zahl  der  Fälle  wurde  Besserung  des  Allgemeinzustandes  und 
Zunahme  des  Körpergewichtes  verzeichnet.  Im  ganzen  wurden 
100  Fälle  von  Syphilis  der  verschiedensten  Stadien  der  Be¬ 
handlung  unterzogen.  Im  Primärstadium  wurde  rasche  Rück¬ 
bildung  der  Sklerose  öfter  beobachtet,  dagegen  verhielten  sich 
die  begleitenden  Lymphdrüsenschwellungen  resistent.  Unter  elf 
behandelten  Fällen  fanden  sich  drei,  wo  die  Roseola  trotz  des 
Ablaufes  des  entsprechenden  Zeitraumes  noch  nicht  aufgetreten 
ist.  Von  den  Sekundärerscheinungen  gehen  Roseola,  papulöse 
Exantheme,  lichenoide  Syphilide,  Schleimhautpapeln  und  Kondy¬ 
lome  rasch  zurück,  während  di©  allgemeine  Drüsenschwellung 
nur  wenig  beeinflußt  wird.  Am  entschiedensten  werden  die  Ge¬ 
schwüre  und  Gummen  der  tertiären  Periode  beeinflußt  und  zwar 
auch  dort,  wo  Jod  und  Quecksilber  versagt  haben;  beträchtlich 
waren  -die  Erfolge  bei  den  tertiär-syphilitischen  Erkrankungen 
der  Zunge,  unter  anderm  bei  Glossitis  interstitialis  mit  akuten 
Nachschüben.  In  einem  Falle  von  hereditärer  Syphilis  mit  ter¬ 
tiären  Läsionen  war  der  Erfolg  gleichfalls  beträchtlich.  Bei  Tabes 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


107 


und  Paralyse  bleiben  die  definitiven  Symptome  unbeeinflußt,  am 
ehesten  ist  ein  Erfolg  bei  den  lanzinieremden  Schmerzen  und 
den  Augenmuskellähmungen  bei  Tabes  zu  erwarten.  Die 
Was  s  erm  an  n  sehe  Reaktion  wird  durch  die  Arseoobonzol- 
behandlung  um  so  deutlicher  beeinflußt,  je  älter  die  Syphilis 
ist.  Rezidive  wurden  bisher  in  drei  Fällen  beobachtet.  Das 
Arsenobenzol  stellt  ein  mächtiges  Agens  gegenüber  der  Spiro¬ 
chäte  "und  den  syphilitischen  Läsionen  dar,  welches  Quecksilber 
und  Jod  an  Raschheit  der  Wirkung  übertrifft  und  sich  in  Fällen, 
wo  diese  beiden  Mittel  versagen,  noch  wirksam  erweist.  In  ein¬ 
zelnen  Fällen  primärer,  sekundärer  und  tertiärer  Syphilis  hat 
das  Mittel  versagt,  auch  vermag  es  nicht  immer  den  Eintritt 
von  Rezidiven  zu  verhüten.  Die  Frage  nach  der  Dauerheilung 
läßt  sich  noch  nicht  beantworten.  Das  rasche  Verschwinden 
der  Spirochäten  aus  den  Primäraffdkten  und  Papeln  ist  hiefür 
nicht  beweisend,  die  geringe  Beeinflussung  der  Lymph- 
drüsensch well u rigen ,  sowie  der  Seroreaktion  in  frischeren  Fällen, 
sowie  das  Vorkommen  von  Rezidiven  spricht  vorläufig  eher  gegen 
eine  Dauerwirkung.  —  (Joum.  med.  de  Bruxelles  1910,  Nr.  41.) 


Aus  englischen  Zeitschriften. 

82.  Ueber  drei  prognostisch  ungünstige  Sym¬ 

ptome  bei  Eklampsie.  Von  William  Fletcher  Shaw.  Gegen¬ 
wärtig  wird  fast  allgemein  die  toxämische  Natur  der  Eklampsie 
anerkannt,  wenn  auch  über  Ursprung  und  Wesen  des  Toxins 
noch  Unklarheit  herrscht.  Die  klinische  Beobachtung  lehrt,  daß 
drei  Symptome  bei  Eklampsie  eine  prognostisch  ungünstige  Be¬ 
deutung  besitzen,  nämlich  geringer  Eiweißgehalt  des  Harns,  hohe 
Temperatur  und  Einsetzen  der  Erscheinungen  post  partum.  Unter 
46  Eklampsiefällen  zeigten  21  einen  Eiweißgehalt  unter  l°/o,  18 
einen  Eiweißgehalt,  über  l°/o,  während  bei  den  anderen  Fällen 
der  Eiweißgehalt  nicht  bestimmt  worden  war;  die  Mortalität  betrug 
bei  den  Fällen  mit  geringerem  Eiweißgehalt  61-9%,  bei  den 
Fällen  mit  höherem  Eiweißgehalt  16-6%.  Unter  den  46  Eklam¬ 
psiefällen  zeigten  26  eine  Temperatur  von  über  38°,  während  bei 
den  17  übrigen  Fällen  die  Temperatur  unter  38°  blieb ;  die  Mor¬ 
talität  der  Fälle  der  ersten  Gruppe  betrug  5 7 - 7 °/o ,  die  der  zweiten 
Gruppe  5-1%.  Bei  Ausschaltung  solcher  Fälle,  die  dem  Grenz¬ 
wert  entsprachen  oder  Komplikation  zeigten,  weisen  die  Morta- 
litätsziffem  der  beiden  Gruppen  eine  noch  größere  Differenz  auf. 
Bei  der  Mehrzahl  der  letalen  Fälle  stieg  die  Temperatur  bis 
zum  Exitus  an,  welches  Verhalten  eine  ganz  besonders  ungün¬ 
stige  prognostische  Bedeutung  hat.  Ganz  besonders  ungünstig  ist 
die  Prognose  bei  Kombination  von  niederem  Eiweißgehalt  und 
hoher  Temperatur,  wo  die  Mortalität  100%  beträgt,  während  bei 
einem  Eiweißgehalt  über  1%  und  einer  Temperatur  unter  38° 
die  Mortalität  =  0  war.  Ueber  die  Mortalität  der  Fälle,  wo 
die  Anfälle  erst  nach  Beginn  des  Geburtsaktes  einsetzen,  gehen 
die  Angaben  der  Autoren  weit  auseinander.  Unter  den  46  Fällen 
fanden  sich  acht  bei  denen  die  Konvulsionen  zu  dem  genannten 
Zeitpunkt  eintraten,  wobei  nur  in  einem  Falle  Genesung  erfolgte. 
—  (Brit.  meid.  Joum.,  29  Oktober  1910.)  a.  e. 

* 

83.  Ueber  Radiumbehandlung  bei  Augenkrank¬ 
heiten.  Von  Arnold  Lawson  und  J.  Mackenzie  Davidson. 
Das  Radium  hat  sich  sowohl  bei  äußeren  Erkrankungen  des 
Auges,  als  auch  bei  Lidaffektioneh  vielfach  bewährt.  Die  Appli¬ 
kation  erfolgte  nach  vorhergehender  Kokainisierung,  danach  wurde 
das  in  verschlossenem  Glasröhrchen,  welches  nur  die  Beta-  und 
Gammastrahlen  passieren  ließ,  befindliche  Radium  direkt  auf 
die  erkrankte  Region  appliziert.  Es  wurden  bei  Anwendung  des 
Radiums  niemals  unangenehme  Nebenwirkungen  beobachtet,  na¬ 
mentlich  wurde  niemals  eine  Steigerung  der  Entzündung  oder  Ver¬ 
schlimmerung  der  Erscheinungen  und  nur  in  einem  Falle  vor¬ 
übergehende  Schmerzhaftigkeit  beobachtet.  Die  Applikationsdauer 
betrug  durchschnittlich  fünf  Minuten,  die  Dosis  richtete  sich 
nach  der  Schwere  der  Affektion  und  war  bei  oberflächlichen  um¬ 
schriebenen  Läsionen  geringer,  als  bei  virulenten  oder  Progres¬ 
sionstendenz  zeigenden  Krankheitsprozessen.  Eine  Dosis  von 
20  mg  Radium  erwies  sich  für  die  Behandlung  äußerer  Augen¬ 
affektionen  durchwegs  als  ausreichend.  Die  Zahl  der  Sitzungen 


und  die  Intervalle  richteten  sich  nach  der  Schwere  des  Krank¬ 
heitsprozesses ;  so  wurden  z.  B.  bei  Hypopyon  die.  Applika¬ 
tionen  in 'kurzen  Intervallen  wiederholt,  während  in  leichten  Fällen 
manchmal  eine  Sitzung  zur  Erzielung  des  Heilerfolges  genügte. 
Bei  Anwendung  größerer  Dosen  wurde  ein  Intervall  von  min¬ 
destens  einer  Woche  eingehalten,  wenn  nicht  der  Krankheits- 
verlauf  eine  raschere  Wiederholung  der  Applikation  erforderlich 
machte.  Unmittelbar  nach  der  Applikation  des  Radiums  sind 
keine  besonderen  Erscheinungen  zu  konstatieren,  nach  einigen 
Stunden  wurden  in  einer  Anzahl  von  Fällen  Schmerzen,  die  nur 
selten  von  größerer  Intensität  und  Dauer  waren,  angegeben;  in 
einem  Falle  kam  es  zu  subjektiven  Lichterscheinungen.  In  der 
Regel  stellt  sich  bald  eine  deutliche  Besserung  der  subjektiven 
Beschwerden  bei  den  auf  die  Behandlung  reagierenden  Fällen  ein; 
die  Narben  nach  Radiumbehandlung  sind,  wie  sich  dies  zum 
Beispiel  bei  Frühjahrkatarrh  zeigt,  glatt,  zart  und  blaß.  Zur 
Behandlung  kamen  Hornhaütgeschwüre,  nichtulzerative  Entzün¬ 
dungen  der  Hornhaut  und  Sklera,  Lidaffektionen  und  Ilornhaut- 
narben.  Trachom  wurde,  weil  durch  Röntgenstrahlen  heilbar, 
nicht  der  Radiumbehandlung  unterzogen,  doch  ist  auch  mit  Rück¬ 
sicht  auf  die  Heilwirkung  bei  Frühjahrkatarrh  eine  günstige 
Radiumwirkung  zu  erwarten.  Unter  17  Fällen  von  Hornhaut¬ 
geschwür  zeigten  16  rasche  Vernarbung,  darunter  manche  Ge¬ 
schwüre  schon  nach  ein-  bis  zweimaliger  Applikation  von  5  mg 
Radium.  Auch  bei  akuter  interstitieller  Keratitis,  sowie  in  je  einem 
Falle  von  Episkleritis,  Keratitis  profunda  und  rezidivierendem 
entzündlichen  Pterygium  waren  günstige  Erfolge  zu  verzeichnen. 
Unter  den  Bindehauterkrankungen  wurde  bei  Frühjahrskatarrh 
eine  geradezu  spezifische  Wirkung  des  Radiums  beobachtet,  bei 
Hornhauttrübungen  läßt  die  wiederholte  Applikation  größerer 
Dosen  Erfolge  erwarten.  —  (Brit.  med.  Joum.  12.  November 
1910.)  a.  e. 

* 

84.  Ueber  die  Anwendung  des  farad  is  eben  Stro- 
m  e  s  zur  Behandlung  der  persistierenden  Aphonie 
nach  Laryngitis;  Mitteilung  von  zwei  Fällen.  Von 
Francis  Hernaman-Johnson.  Die  erste  Beobachtung  bezieht 
sich  auf  eine  nach  Erkältung  aufgetreitene,  seit  zwölf  Jahren 
bestehende,  mit  verschiedenen  Mitteln  erfolglos  behandelte 
Aphonie,  welche  schon  nach  zweiwöchiger  Anwendung  leichter 
faradischer  Ströme  sich  deutlich  besserte  und  nach  sechswöchiger 
Behandlung  wesentlich  gebessert,  wenn  auch  nicht  vollständig  ge¬ 
heilt  erschien.  Im  zweiten  Falle,  wo  die  Aphonie  im  Anschluß 
an  Laryngitis'  sich  entwickelt  hatte,  aber  auch  Vergrößerung 
der  Tonsillen  und  adenoide  Vegetationen  bestanden,  war  der 
Erfolg  der  Faradisation  zunächst  wenig  ausgesprochen ;  es  wurden 
die  Wucherungen  entfernt  und  die  Nasenatmung  wieder  hergestellt, 
worauf  die  anschließende  Faradisation  eine  wesentliche  Bes¬ 
serung  der  Stimme  bewirkte.  Bei  der  Behandlung  der  Aphonie 
wird  gewöhnlich  nur  das  Verhalten  der  Schleimhaut  berücksichtigt, 
während  für  die  Stimmbildung  der  Zustand  der  Kehlkopfmuskeln 
und  der  Nerven  von  größerer  Wichtigkeit  ist.  Bei  chronischem 
Katarrh  werden  die  Muskeln  sekundär  in  Mitleidenschaft  gezogen 
und  es  verfallen  wahrscheinlich  auch  die  motorischen  Nerven¬ 
endigungen  einer  entzündlichen  Degeneration.  Oft  gehen  die 
Schleimhautveränderungen  wesentlich  zurück,  während  die  Lä¬ 
sion  der  Nerven  und  Muskeln  bestehen  bleibt.  Unter  diesen  Ver¬ 
hältnissen  ist  die  Anwendung  der  Faradisation  indiziert;  da  man 
nicht  die  einzelnen  Muskeln  faradisieren  kann,  so  müssen  leichte 
Ströme  angewendet  werden,  um  keine  starke  Kontraktion  der 
gesunden  Muskeln  zu  erzeugen.  Bei  genügend  langer  Anwendung 
übt  die  milde  Faradisation  eine  elektive  Wirkung  auf  die  er¬ 
krankten  Muskeln  und  fördert  die  Wiederherstellung  des  Tonus. 
Bei  nachweisbarer  starker  Veränderung  der  Schleimhaut  ist  die 
gebräuchliche  Lokalbehandlung  indiziert,  doch  stellt  auch  in 
diesen  Fällen  die  Faradisation  ein  wertvolles  Unterstützungsmittel 
dar.  Von  Wichtigkeit  für  den  Erfolg  ist  die  entsprechende  Be¬ 
handlung  gleichzeitig  bestehender  Affektionen,  des  Nasenrachen¬ 
raumes.  Ein  Objekt  der  faradischeln  Behandlung,  bilden  nur  die 
auf  Erkältung  und  Ueberanstrengung  zuriiekführbaren  Aphonien. 
—  (The  Landet,  5.  November  1910.)  a- 


108 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  3 


\/ermisehte  r4aehriehten. 

Ernannt:  Der  mit  dem  Titel  eines  außerordentlichen 
Universitätsprofessors1  bekleidete  Privatdozent  Dr.  Lothar  von 
Frankl-Ho  chwart  und  der  Priv.-Doz.  Dr.  Karl  Land  stein  er 
zu  außerordentliche!!  Professoren  an  der  Universität  in  Wien 
u.  zw.  ersterer  für  Neuropathologie,  letzterer  für  pathologische 
Anatomie.  —  Der  Privatdozent  für  Haut-  und  Geschlechtskrank¬ 
heiten  Dr.  Bodo  Spiet  hoff  und  der  Privatdozent  für  Psychiatrie 
Dr.  W.  Strohmayer  zu  außerordentlichen  Professoren  in  Jena. 
—  Priv.-Doz.  Dr.  Reinmöller  zum  a.  o.  Professor  der  Zahn¬ 
heilkunde  in  Rostock.  —  Dr.  Dobromyslow  zum  Professor 
der  operativen  Medizin  in  Kiew.  —  Dr.  De  j  er  ine  zum  Pro¬ 
fessor  für  Neurologie  in  Paris.  —  Dr.  Dionisi  zum  ordentlichen 

Professor  der  pathologischen  Anatomie  in  Palermo. 

* 

Verliehen:  Den  Privatdozenten  an  der  Universität  in 
Wien,  Primararzt  Dr.  Rudolf  Frank,  Dr.  Alois  Strass e r,  Doktor 
Hans  Koschier,  Primararzt  Dr.  Gustav  Singer,  Dr.  Josef 
Adolf  Hirse  hl,  Dr.  Ludwig  Braun,  Stabsarzt  Dr.  Karl  Biehl. 
Primararzt  Dr.  Wilhelm  Latz  ko,  Adjunkten  am  serotherapeu- 
schen  Institute  in  Wien  Dr.  Ernst  Pick,  Dr.  Emil  Rai  mann  und 
Dr.  Julius  Schottländer  der  Titel  eines  außerordentlichen  üni- 
versitätsprofessors. 

* 

Habilitiert:  In  Breslau:  Dr.  Lothar  Dreyer  für  Chi¬ 
rurgie,  Dr.  W.  Oettinger  für  Hygiene.  —  Dr.  De  Lange  für 

mikroskopische  Anatomie  des  Nervensystems  in  Amsterdam. 

* 

40 jähriges  Doktorjubiläum.  Einer  der  ältesten  Bade¬ 
ärzte  Karlsbads,  Herr  kais.  Rat  MUDr.  Hans  PT  es  ebner,  be¬ 
ging  am  14.  d.  M.  sein  lOjähriges  Doktorjubiläum.  Er  ließ  sich 
1875  als  Badearzt  in  Karlsbad  nieder,  leitete  hier  durch  17  Jahre 
das  Allgemeine  Krankenhaus  und  bekleidete  durch  23  Jahre 
die  Stelle  eines  Stadtphysikus. 

* 

Dem  Institute  für  Krebsforschung  in  Heidelberg  ist  von 
Dr.  phil.  K.  Beit  in  Hamburg  ein  Legat  von  100.000  Mark  ver¬ 
macht  worden.  Außerdem  sind  vom  1.  November  1909  bis  eben¬ 
dahin  1910  10.000  Mark  Zuwendungen  an  das  Institut  erfolgt. 

* 

Vom  Reichsverband  österreichischer  Aerzte- 
Organisationen  erhalten  wir  folgenden  Aufruf  an  die  Aerzte- 
schaft  Oesterreichs  zur  Veröffentlichung: 

Den  Mitmenschen  die  verlorene  Gesundheit  und  damit  die  Lehens¬ 
und  Schaffensfreude  wieder  zu  gewinnen,  ihre  Schmerzen  zu  lindern, 
ihnen  Trost  in  Leiden  zu  spenden,  ist  eine  Aufgabe  des  ärztlichen 

Berufes.  .  . 

Den  Mitmenschen  zu  raten,  sie  zu  lehren,  wie  sie  sich  ihre  Ge¬ 
sundheit  bewahren  können,  Krankheiten  von  ihnen  abzuwehren,  ist  die 
hehrste  Bestimmung  des  ärztlichen  Berufes,  deren  Erfüllung  ihn  weit 
über  alle  anderen  Berufe  emporhebt. 

In  seinem  Walten  in  der  Gesundheitspflege  erklimmt  der  Arzt  den 
Gipfel  des  Altruismus  und  der  Humanität. 

In  dieser  Betätigung  wehrt  der  Arzt  von  seinen  Mitmenschen  ab, 
was  ihm  selbst  Gewinn  bringt.  Krankheiten  !  Er  gleicht  darin  dem 
Manne,  der  den  Ast  absägt,  auf  dem  er  sich  niedergelassen  hat.  Im  Voll¬ 
bewußtsein,  sich  zu  schädigen,  ist  er  selbstlos  bestrebt,  den  anderen 
zu  nützen.  Und  doch  ist  es  gerade  dieses  selbstlose,  aufopferungsfreudige, 
uneigennützigste  Bestreben  des  Arztes,  welches  so  oft  unverstanden 
bleibt,  und  verkannt  wird. 

Gar  mancher  Arzt,  insbesondere  mancher  Landarzt,  mußte  schon 
seine  Seligkeit  darin  finden,  Verfolgung  zu  leiden  um  der  Ge¬ 
sundheitspflege  willen. 

Dr.  Richard  Franz  in  Riedau  ist  dem  Unverstände  und  der 
Bosheit  jener  erlegen,  für  deren  gesundheitliches  Wohl  er  bedacht  war. 

Die  Anzeige  eines  Typhusfalles,  zu  welcher  er  bei  Straf¬ 
fälligkeit  verpflichtet  war,  der  er  sich  nur  mit  schwerer  Belastung 
seines  Gewissens  hätte  entziehen  können,  diese  Typhüsanzeige  entfesselte 
den  Haß  und  die  Verfolgungswut  der  sich  durch  diese  Anzeige  geschädigt 
erachteten  Gemeinde-  und  Heimatsgenossen. 

Die  Behörden  vermochten  Dr.  Fran  z  gegen  die  maßlosen  Ver¬ 
folgungen  und  Umtriebe  nicht  zu  schützen. 

So  mußte  er  seine  und  der  Seinen  Existenz  gefährdet  sehen. 
Er  sah  den  Augenblick  kommen,  wo  er  mit  ihnen  den  Wanderstab  er¬ 
greifen  und  aus  seinem  Geburts-  und  Heimatsort  von  seinen  eigenen 
Mitbürgern  verdrängt  und  preisgegeben  in  die  Fremde  werde  ziehen 
müssen. 

Diesen  endlosen  Aufregungen  und  Kränkungen,  diesen  schweren 
Sorgen  war  sein  krankes  Herz  nicht  gewachsen.  Am  6.  Jänner  1911, 
vormittags  9  Uhr,  ist  Dr.  Franz  an  einem  Herzschlage  gestorben. 

Er  hinlerläßt  eine  tiefgebeugte  Witwe,  die  selbst  mittellos,  für  den 
mit  ihr  hinterbliebenen  20  Monate  alten  Sohn  nicht  zu  sorgen  ver¬ 
mag,  eine  greise  Mutter,  die  mit  ihrer  kleinen  Oberleutnantswitwen¬ 
pension  selbst  kaum  ein  dürftiges  Auskommen  findet. 


Das  Präsidium  des  Reichsverbandes  österreichischer  Aerzteorgani- 
sationen  hat  nach  genauer  Untersuchung  und  Erwägung  aller  Umstände 
beschlossen,  die  Aerzteschaft  0  e  s  t  e  r  r  e  i  c  h  s  und  A  e  r  z  t  e- 
freunde  aufzufordern,  nach  dem  Muster,  wie  für  die  nach  Dr.  J  a- 
neczek  hinterbliebenen  Waisen  gesorgt  wurde,  auch  die  Sorge  für  den 
nach  Dr.  Franz  hinterbliebenen  Sohn  zu  übernehmen. 

Das  Präsidium  bittet  daher  an  die  Anschrift  des  Vizepräsidenten 
und  Kassiers  vom  Reichsverbande,  Herrn  Dr.  Ludwig  Skorschebän 
(Wien  VIII.,  Kochgasse  16)  Beiträge  einzusenden,  damit  diese  ihrer  Be¬ 
stimmung  zugeführt  werden. 

Die  eingelaufenen  Spenden  werden  in  den  medizinischen  Zeitungen 
fortlaufend  bestätigt  werden. 

Wir  sind  überzeugt,  daß  wir  in  dem  tieftraurigen  Falle  Franz 
mit  unserem  Aufrufe  an  alle  Aerzte  und  Aerztefreunde  keine  Fehlbitte  tun. 

Dr.  Adolf  G  r  u  ß, 

Pi  äsident. 

Dr.  R.  Koralewski,  Dr.  L.  Skorschebän, 

Vizepräsident.  Vizepräsident  und  Kassier. 

Wien,  am  13.  Jänner  1911. 

* 

Cholera.  Italien..  Nach  amtlichen  Mitteilungen  sind  in 
Italien  in  der  Woche  vom  22.  bis  28.  Dezember  24  Neuerkran¬ 
kungen  und  19  Todesfälle  in  Cholera  vorgekommen,  u.  zw.  in  den 
Provinzen  Caserta,  Lecce,  Palermo  und  Salerno.  —  Türkei. 
Aus  Büjük  Tschekmedsche,  Brussa,  Konia,  Demotika  und  den 
Dardanellen  werden  vereinzelte  Cholerafälle  gemeldet,  die  fast 
immer  durch  Soldaten  oder  Rekruten  eingeschleppt  wurden.  Auch 
unter  der  Garnison  von  Sinope  sind  neuerdings  Erkrankungen 
vorgekommen.  In  Adrianopel  wurde  die  Cholera  für  erloschen 
erklärt,  dagegen  scheint  sie  sich  in  Monastir  etabliert  zu  haben. 
Dort  sind  im  .Tu  den  viertel  zwischen  dem  20.  und  25.  Dezember 
drei  Cholerafälle:  vorgekommen.  Auch  in  Mekka  hat  die  Seuche 
seit  Ende  Dezember  Eingang  gefunden  und  bis  2.  Jänner  zu 
14  Erkrankungsfällen  geführt. 

Pest.  Rußland.  Im  Gebiete  des  russischen  Reiches  haben 
sich  seit  dem  neuerlichen  Auftauchen  der  Pest  bis  Mitte  No¬ 
vember  59  (55)  Pesterkrankungen  (Todesfälle)  ereignet  u.  zw.  im 
Gouvernement  Astrachan,  im  Transbaikalgebiete  28  (25).  In  Baturn 
wurde  am  10.  Dezember  bei  einem  grusinischen  Knaben  Pest 
konstatiert.  —  Türkei.  Mitte  Dezember  wurden  in  Sinope  zwei 
Fälle,  in  Djeddah  eine  Erkrankung  an  Pest,  gemeldet.  —  China. 
In  der  Mandschurei  sind  seit  13.  Oktober  bis  Mitte  November 
468  (466)  Chinesen  und  11  (10)  Russen  an  Pest  erkrankt,  be¬ 
ziehungsweise  gestorben,  u.  zw.  in  den  Stationen  der  Ostchine- 
sischen  Bahn  Mandschuria,  Tschalantun,  Charbin,  Buchedu, 
Chajlar,  Fudjadjan,  Tnrtschicha  und  in  den  Gruben  von  Tscha- 
lajnor. 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Ge  me  in  de  gebiet.  52.  Jahreswoche  (vom  25.  bis 
31.  Dezember  1910).  Lebend  geboren,  ehelich  584,  unehelich  213,  zusammen 
797.  Tot  geboren,  ehelich  58,  unehelich  38,  zusammen  96.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  684  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
16-7  Todesfälle)  an  Bauchtypbus  1,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  11, 
Scharlach  2,  Keuchhusten  3,  Diphtherie  und  Krupp  1,  Influenza  1. 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  5.  Lungentuberkulose  113,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  48,  Wochenbettfieber  2,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  39  (+3),  Wochenbettfieber  4  .(—  2),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  70  (—  4),  Masern  143  (—  2),  Scharlach  53  (—  8). 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  4  (+  4),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0). 
Diphtherie  und  Krupp  62  (+  13),  Keuchhusten  20  (—  12),  Trachom  0  (+  4), 
Influenza  1  (—  0),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Bei  dem  k.  k.  Landesgericht  Wien  gelangt  die  Stelle 
eines  Gerichtspsvchiaters  für  Zivil-  und  Strafsachen  zui  Be¬ 
setzung.  Die  mit  dieser  Stelle  verbundenen  Bezüge  werden  im  Wege 
eines  besonderen  Uebereinkommens  festgestellt.  Bewerber  haben  ilne  mit 
dem  Nachweise  ihrer  wissenschaftlichen  Befähigung  und  bisherigen  Verwen¬ 
dung  belegten  Gesuche  bis  längstens  20.  Jänner  1911  bei  dem  liasi- 
dium  des  k.  k.  Eandesgerichtes  Wien  in  Z.-R.-S.,  I.,  Schmerlingplatz 
(Justizpalast),  zu  überreichen,  welches  zu  weiteren  mündlichen  Auskünften 

bereit  ist.  . 

Gemeindearztesstelle  für  das  Stadtgebiet  1  reistaclt 
(Oberösterreich).  Entlohnung  jährlich  1200  K.  Bewerber  deutscher  Natio¬ 
nalität,  welche  ihr  Doktordiplom  an  einer  österreichischen  Universität 
erlangt  haben  und  bereits  mehrjährige  Praxis  nach  weisen  können,  wollen 
ihre  Gesuche  bis  1.  F  e  b  r  u  a  r  1911  bei  der  Stadtgemeinde  Freistadt. 

einbringen.  . 

Mehrere  Sanitätsassistentenstellen  im  Sanitätsdienste 
der  politischen  Verwaltung  Niederösterreichs  zu  besetzen.  Gesuche  mit 
Nachweisungen  über  Alter,  Heimatszuständigkeit,  absolvierte  Mittel-  und 
Hochschulstudien,  wenigstens  einjährige  Spitalspraxis,  mit  Erfolg  be¬ 
standene  'Physikatsprüfung,  physische  Eignung  für  den  Staatsdienst  und 
allfällige  Militäreigenschaft  sind  beim  k.  k.  niederösterreichischen  Statt- 
haltereipräsidiüm  in  Wien  bis  28.  Jänner  1911  einzubringen. 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


109 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 

Offizielles  Protokoll  (1er  k.  k.  Gesellschaft  (1er  Aerzte  in  Wien.  |  Verein  für  Psychiatrie  mid  Neurologie  iu  Wien.  Sitzung  vom  13.  Be¬ 
sitzung  vom  13.  Januar  1911.  zember  1910. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  13.  Januar  1911. 

Vorsitzender:  Hofrat  S.  Exner. 

Schriftführer :  Hofrat  Richard  Paltauf. 

A.  Administrative  Sitzung. 

Der  Präsident  erinnert,  daß.  die  Gesellschaft  seit  ihrer  letzten 
Versammlung  den  Tod  eines  ihrer  hervorragenden  Mitglieder 
zu  beklagen  hat,  die  des  Herrn  Hofrates  Cs okor.  Die  Gesell¬ 
schaft  verliert  an  ihm  ein  Mitglied,  welches  durch  Jahre  eifrig 
bestrebt  war,  uns  mit  interessanten  Befunden  und  Beobachtungen 
in  der  pathologischen  Anatomie  und  der  Parasitologie  der  Tier¬ 
medizin  bekannt  zu  machen.  Wir  verlieren  an  ihm  aber  nicht 
nür  den  hervorragenden  Vertreter  dieser  Disziplinen  an  der  tier¬ 
ärztlichen  Hochschule,  sondern  auch  einen  wissenschaftlichen 
Freund,  einen  bewährten  Fachmann,  der  manchen  von  uns  auf 
dem  Gebiete  seiner  Lieblingsforschung,  der  tierischen  Parasito¬ 
logie.  zuverlässigen  Rat  und  Auskunft  gegeben  hat.  Hofrat  Cs  okor 
hat  bis  in  die  letzten  Jahre  für  seine  Wissenschaft  noch  Reisen 
an  die  Küsten  des  mittelländischen  Meeres  unternommen  und 
bis  in  die  letzten  Monate  sich  wissenschaftlich  beschäftigt.  Wir 
werden  dem  verschiedenen  Kollegen  stets  eine  dankbare  Erinne¬ 
rung  bewahren.  Ich  sehe,  daß  sich  die  Kollegen  bereits  von  den 
Sitzen  erhoben  haben,  ich  danke  Ihnen  für  den  Ausdruck  Ihres 
Beileids. 

Vermögens  Verwalter  Dt.  Cziner  trägt  den  Rechnungs¬ 
abschluß  für  das  Jahr  1910  vor  und  legt  das  Präliminare  pro 
1911  vor.  Dem  Rechnungsabschlüsse,  der  von  den  Revisoren, 
Prof.  Föderl,  Dr.  Teleky  sen.  und  Dr.  Aug.  Schwarz  richtig 
befunden  worden  ist,  wurde  das  Absolutorium  erteilt;  dem  Präli¬ 
minare  wurde  zugestimmt.  Der  Präsident  spricht  sowohl  dein 
Herrn  Vermögensverwalter,  als  den  Herren  Revisoren  im  Namen 
der  k.  k.  Gesellschaft  den  Dank  für  ihre  Mühewaltung  aus. 
(Beifall.) 

B.  Wissenschaftliche  Sitzung. 

Hofrat  v.  Eiseisberg  demonstriert  einen  geheilten  Fall  von 
komplizierter  Fraktur  des  linken  Oberschenkels  mit 
Kompression  der  Arteria  poplitea  durch  das  distale  Fragment. 
Wegen  Gangrängefahr  wurde  bei  demselben  sofort  nach  Ein¬ 
lieferung  in  die  Unfallstation  die  Nagelextension  nach  S  te  in¬ 
mann  durch  die  Femurkondylen  ausgeführt,  wodurch  unmittelbar 
nach  Einsetzen  des  Zuges  der  Puls  in  der  Arteria  dorsalis  pedis 
tastbar  und  die  Gangrängefahr  beseitigt  wurde.  Dr.  Ehrlich 
wird  diesen  Fall  ausführlich  mitteilen. 

Dr.  Oskar  Hirsch:  Meine  Herren!  Ich  erlaube  mir,  über 
drei  weiter p  Fälle  von  Hypophysentumoren,  welche 
ich  nach  der  von  mir  angegebenen  Methode  operiert 
habe,  zu  berichten  und  zwei  derselben  zu  demonstrieren. 

Die  erste  der  demonstrierten  Patientinnen  ist 
57  Jahre  alt,  litt  seit  7  Jahren  an  Schwindelanfällen  und  seit  4  Jahren 
an  Sehstörungen  (Abnahme  der  Sehschärfe  und  Einschränkung 
des  Gesichtsfeldes),  woraus1  Herr  Priv.-Doz.  Dr.  Sachs  schon 
frühzeitig  die  Diagnose  auf  Hypophysistumor  stellte.  Diese  Dia¬ 
gnose  wurde  durch  das  von  Priv.-Doz.  Dr.  Schüller  autgenom- 
mene  Röntgenbild,  welches  eine  starke  Erweiterung  der  Sella  turcica 
zeigte,  bestätigt.  Da  die  Sehstörungen  bis  zum  Oktober  1910 
so  weit  vorgeschritten  waren,  daß  Patientin  am  rechten  Auge 
nur  noch  Finger  erkannte,  am  linken  6/i«  Sehschärfe  hatte,  em¬ 
pfahl  ihr  Herr  Hofrat  v.  Wagner  die  Operation. 

Nach  zwei  kleinen  Vor  Operationen  nahm  ich  am  16.  No¬ 
vember  1910  die  Hypophysenoperation  in  Lokalanästhesie  vor. 
Nach  submuköser  Resektion  des  Septums,  nach  Eröffnung  beider 
Keilbeinhöhlen  und  nach  Aufmeißelung  des  Hypophysenwulstes 
kam  der  von  der  Dura  bedeckte  Hypophysentumor  zum  .Vor¬ 
schein.  Als  ich  die  Dura  inzidierte,  stürzte  sofort  eine 
blutig  tingierte.  an  der  Oberfläche  glitzernde  Flüs¬ 
sigkeit  hervor.  Die  Menge  dürfte  zirka,  zwei  Eßlöffel  betragen 
haben.  Nach  Abfluß  der  Flüssigkeit  blieb  nur  eine  zarte,  von 


I  der  Dura  gebildete  Hülle  zurück.  Von  Tumorgewebe  war  nichts 
j  zu  sehen  •  es  dürfte  zumindest  der  intrasellare  Teil  des  Hypo¬ 
physentumors  durch  regressive  Veränderungen  vollständig  ge¬ 
ständig  geschwunden  sein.  Ich  exzidierte  daher  bloß  den  Zysten¬ 
sack  in  Ausdehnung  der  Operationsöffnung ;  zu  einem  weiteren 
Eingriff  war  kein  Anlaß. 

Der  Verlauf  war,  von  unbedeutenden  Temperatursteigerungen 
in  den  ersten  Tagen  abgesehen,  fieberlos ;  die  Patientin  verließ 
nach  einer  Woche  die  Heilanstalt. 

Schon  während  des  Aufenthaltes  daselbst  besserte  sich  die 
Sehkraft  so  weit,  daß  die  Patientin,  welche  früher  nur  einsilbige 
Worte  lesen  konnte,  fließend  las  und  auch  gut  schrieb. 

Die  letzte  Augenuntersuchung  vom  9.  Januar  1911  ergab,  daß 
die  Sehschärfe  des  linken  Auges  von  6/is  (vor  der  Operation) 
auf  6/i2  gestiegen  ist;  das  rechte 'Auge,  welches  vor  der  Operation 
Finger  auf  einen  Meter  Entfernung  erkannte,  zählt  jetzt  auf 
zwei  Meter  Entfernung. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  (Dr.  Erd  heim)  des  ex- 
zidierten  Gewebsstückes  ergab,  daß  nur  Duragewebe  vorliege; 
von  Tumortgewebe  war  nichts  vorhanden.  Die  Flüssigkeit  enthielt 
Cholestearink  rist  alle. 

Ich  möchte  noch  einzelne  interessante  Beobachtungen  der 
Patientin  anführen,  daß : 

1.  der  Hals  schlanker  wurde, 

2.  die  Fettwülste  in  den  Hypogastrien  geschwunden  sind, 

3.  die  Haare,  welche  früher  struppig  waren,  jetzt  weich 
wurden, 

4.  der  Haarausfall  sistierte,  und 

5  Verdickungen  einzelner  Fingergelenke  schwinden. 

Die  zweite  Patientin  ist  29  Jahre  alt,  leidet  an  Akyo- 
megalie,  die  sich  in  einer  Vergrößerung  der  Nase  und  der  Hände 
äußert.  Diesei  Veränderungen  waren  jedoch  nicht  die  Veran¬ 
lassung  zur  Operation,  sondern  Kopfschmerzen,  welche  so  heftig 
waren,  daß  Pat.  nicht,  schlafen  konnte,  während  der  Nächte  auf 
und  ab  gehen  mußte,  bis  sie  gegen  früh  vor  Erschöpfung  auf 
einige  Stunden  einschlief.  Herr  Priv.-Doz.  Pineies  stellte  fest, 
daß  die  Beschwerden  auf  eine  Akromegalie  zurückzuführen  seien 
und  veranlaßte  die  Patientin,  sich  röntgenologisch  untersuchen 
zu  lassen.  Die  von  Herrn  Priv.-Doz.  Schüller  gemachte  Röntgen¬ 
aufnahme  ergab  mäßige  Ausweitung  der  Sattelgrube  und  be¬ 
stätigte  die  Diagnose.  Die  Augenuntersuchung  (Herr  Priv.-Doz. 
Meller)  stellte  eine  Einschränkung  des  Gesichtsfeldes,  insbe- 
sonders  für  rot,  fest.  Auch  Herr  Hofrat  v.  Wagner  schloß  sich 
der  Diagnose  einer  Akromegalie  an  und  stimmte  der  Vornahme 
eines  operativen  Eingriffes  zu.  Ich  führte  die  Hypophyseiioperation 
vor  zirka  sieben  Wochen  aus  und  entfernte  einen  etwa  haselnuß- 
großen  Teil  des  Tumors.  Dieser  war  breiig-weich,  es  gelang 
mir  daher,  nur  ein  kleines  Gewebsstück  aufzufangen  und  zu  kon¬ 
servieren.  Die  Heilung  verlief  ohne  Fieber  und  die  Patientin 
verließ  nach  zehn  Tagen  die  Heilanstalt. 

Die  Kopfschmerzen  haben  sich  bedeutend  gebessert,  die 
Patientin  erfreut  sich  wieder  eines  normalen  Schlafes  und  ist 
wieder  berufsfähig. 

Lieber  die  Beeinflussung  der  akromegalischen  Symptome 
durch  die  Operation  ist  zu  berichten,  daß  die  Umgebung  der 
Patientin  eine  deutliche  Besserung  der  Physiognomie  beobachtet 
hat.  Nach  meiner  Beobachtung  ist  wohl  die  Nase  etwas  kleiner 
worden,  doch  sind  die  Aenderungen  des  Gesichtes  usw.  keine 
auffallenden.  Dagegen  wurde  der  Hals  schlanker.  Die  Patientin 
nimmt  in  letzter  Zeit  stark  zu. 

Das  exzidierte  Gewebsstück  erwies  sich  bei  der  mikro¬ 
skopischen  Untersuchung  (Dr.  Erdheim)  als  Adenom. 

Der  dritte  Fall,  über  den  ich  mir  hier  zu  berichten  erlaube, 
starb  am  achten  Tage  nach  der  Operation.  So  sehr  vielleicht 
mancher  geneigt  wäre,  wegen  des  kurzen  Zeitraumes  zwischen 
Operation  und  Exitus  einen  ursächlichen  Zusammenhang  zwi¬ 
schen  beiden  Tatsachen  zu  konstruieren,  so  wenig  würde  diese 
Annahme  der  Wirklichkeit  entsprechen.  Deshalb  will  ich  gleich 
vor  weg  nehmen,  daß  der  Patient  während  der  Rekonvaleszenz 
einer  Lobulärpneumonie  (Diplokokken)  erlag. 


110 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr. 


Es  handelte  sich  um  einen  36jährigen  Patienten  vom  Typus 
adiposo-  genitalis,  dessein  Krankheit  im  Jahre  1903  begann.  Der 
Patient  litt  an  Schläfrigkeit,  Fettsucht  und  hauptsächlich  an 
Sehstörungen,  welche  in  letzter  Zeit,  so  hochgradig  waren,  daß 
Patient  auf  beiden  Augen  Finger  nur  noch  auf  zirka  zwei  Meter 
erkannte  und  auf  der  Straße  geführt  werden  mußte.  Wegen 
der  Sehstörungen  (bitemporale  Hemianopie  und  Optikusatrophie 
mit  progredienter  Abnahme  des  Visus)  wurde  dem  Patienten 
vom  Herrn  Prof.  v.  Frankl- Hochwart  die  Operation  em¬ 
pfohlen.  Der  Patient  selbst  entschied  sich  für  die  endonasale 
Methode. 

Am  11.  Dezember  1910  nahm  ich  die  Hypophysenoperation 
in  Lokalanästhesie  vor.  Sie  ging  ziemlich  leicht  vonstatten  und 
ich  konnte  einen  zirka  kleinwalnußgroßen  Teil  des  sehr  blut¬ 
reichen  Tumors  entfernen.  Tn  den  ersten  Tagen  nach  der  Opeia- 
tion  fühlte  sich  der  Patient  vollkommen  wohl,  am  vierten  Tage 
klagte  er  über  leichte  Schlueksehmerzem,  die  in  einer  Schwel¬ 
lung  der  Seitenstränge  ihren  Grund  hatten,  am  fünften  Tage  trat 
Bronchitis  auf,  aber  das  Allgemeinbefinden  blieb  bis  zum  sechsten 
Tage  ungestört  und  auch  die  Temperatur  erreichte  während  der 
ganzen  Zeit  nur  zweimal  37-8°. 

Der  Patient  konnte  während  dieser  Zeit  im  Zimmer  herum¬ 
gehen,  fühlte  sich  insbesondere  am  sechsten  Tage  ganz  wohl, 
als  plötzlich  innerhalb  weniger  Stunden  die  Temperatur  auf 
39-5°  emporschnellte,  der  Patient  soporös  wurde  und  innerhalb 
36  Stunden  verschied. 

Die  Sektion,  die  Herr  Dr.  Erdheim  vorzunehmen  die 
Güte  hatte,  und  für  deren  sorgfältige  Durchführung  ihm  auch 
an  dieser  Stelle  der  beste  Dank  abgestattet  sei,  ergab  beider¬ 
seitige  Lobulär p n e u m  o n i e und  linkseitig  ganz  frische 
Pleuritis.  Das  Herz  war  außerordentlich  schlaff  und 
zerreißlich,  infolge  hochgradiger  parenchymatöser 
Degeneration.  Es  ist  somit  der  Tod  durch  Heiz 
schwäche  infolge  der  fieberhaften  Erkrankung  cinge- 
treten.  Meningitis  oder  sonstige  Eiterung  war  nicht  vorhanden. 
Dagegen  fand  sich  ein  Hypophysentumor  von  ganz  ungewöhn¬ 
licher  Größe,  der  vorwiegend  interkraniell  entwickelt  und  bereits1 
in  den  Sinus  cavernosus  hineingewachsen  war  und  der  nach 
keiner  der  bisherigen  Methoden  hätte  radikal  operiert  werden 
können.  (Demonstration  des  Präparates.) 

Die  mikroskopische  Untersuchung  des  durch  die  Operation 
gewonnenen  Tumorgewebes  wurde  im  Institut  des  Herrn  Hof¬ 
rates  Obersteiner  durchgeführt  und  ergab,  daß  es  sich  um 
Plattenepithelkarzinom  handle. 

Die  Komplikation  der  Pneumonie  ist  eine  ganz  zufällige 
und  nicht  in  eine  Reihe  zu  stellen  mit  einer  Aspirationspneumonie, 
wie  sie  bei  der  Schl  off  er  sehen  Methode  -Vorkommen  kann 
und  auch  bereits  einmal  vorkam.  Denn  weder  während  der 
Operation,  noch  nachher  erfolgte  eine  Blutung  gegen  den  Rachen. 
Eine  solche  Blutung  ist  auch  hei  einer  richtig  durchgeführten 
submukösen  Hypophysenoperation  nicht  recht  möglich.  ^ 

Es  muß  daher  konstatiert  werden,  daß  der  infauste  Ausgang 
in  diesem  Falle  weder  der  Operation  im  allgemeinen,  noch  der 
angewendeten  Methode  im  besonderen  zur  Last  fällt. 

IcV"hTb’e  somit  bis  zum  heutigen  Tage  sieben  Hypophysen¬ 
tumoren  operiert,  davon  sechs  mit  Erfolg,  der  siebente .  starb  in. 
der  Rekonvaleszenz  an  einer  interkerrierenden  Krankheit.  Leber 
die  ersten  drei  Fälle  referierte  ich  im  Archiv  für  Laryngologie 
(Bil.  24),  die  restlichen  drei  sind  die  heute  besprochenen. 

Diskussion:  Prof.  v.  Frankl-Hochwart:  Meine  Herren! 
Da  Sie  nun  den  ungewöhnlich  großen,  von  Herrn  Kollegen  Doktor 
Hirsch  demonstrierten  Tumor  gesehen  haben,  wird  es  Sie 
vielleicht  auch  interessieren,  einen  Blick  auf  das  Gehirn  zu  werfen, 
dessen  Beschreibung  ich  aus  dem  von  Herrn  Dr.  Erdheim 
verfaßten  Obduktion sprofokolle  entnehme.  ,.Bei  Besichtigung  der 
II irn basis  sieht  man  eine  große  median  gelegene  tiefe  Grube, 
welche  vorne  bis  nahe  an  den  Bulbus  olfactories  reicht,  seitlich 
von  den  zur  Seite  gedrängten  Schläfelappen  begrenzt  wird,  hinten 
vom  komprimierten  Pons.  Am  Boden  dieser  Grube  erblickt  man 
durch  den  fehlenden  Boden  des  dritten  Ventrikels  in  den  letz¬ 
teren  hinein,  wobei  die  intakte  Mässa  intermedia  frei,  zutage  liegt; 
der  linke  Großhirnstiel  ist  total  abgeplattet  und  seine  Konsistenz 
stark  herabgesetzt.  Die  Impression  an  der  medialen  Fläche  des 
linken  Schläfenlappens  ist  bei  weitem  tiefer  als  die  des  rechten; 
die  H irn suhstanz  ist  daselbst  erweicht.  Auch  der  Pons  ist,  vor¬ 
wiegend  auf  der  linken  Seite,  erweicht.  Auf  dem  Grunde  der 
Vertiefung  sieht  man  ferner  die  beiderseits  stark  auf  die  Seite 
gedrängte  laterale  Wand  des  dritten  Ventrikels  rot  erweicht,“ 

Da  heute  die  Frage  der  Hypophysisoperation  gar  nicht  zu 
den  seltenen  gehört,  wäre  es  a  priori  immer  wichtig,  die  Größe 
des  Tumors  abschätzen  zu  können.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade 


gibt  die  radiologische  Untersuchung  Aufschluß:  Aus  der  Zerstöiung 
der  Sella  kann  man  oft  schließen,  daß  der  Tumor  nicht  klein 
sein  kann ;  wieweit  seine  intrazerebrale  Verbreitung  reicht,  kann 
man  nicht  daraus  folgern.  Da  müßten  die  übrigen  Symptome  heran¬ 
gezogen  werden.  In  unserem  Falle  fanden  wir  nebst  den  Hypopn,ysen- 
symptomen  (Verfettung,  gleichgültige  Stimmung,  Impotenz,  Blässe, 
Schlafsucht,  subnormale  Temperaturen)  nur  noch  die  Optikussym¬ 
ptome  (Atrophie,  bitemporale  Hemianopsie) ;  wir  hörten  noch 
von  einer  transitorischen  Augenmuskelparese  sonst  zeigten 
sich  keine  weiteren  Herdsymptome;  Kopfschmerz  war  kaum  an¬ 
gedeutet.  Uebrigens  fand  ich  ein  ähnliches  Mißverhältnis  zwischen 
Tumorgröße  und  Herdsymptome'n  in  manchen  Fällen  der  Lite¬ 
ratur  nachgewiesen.  Man  erklärt  sich  diese  Erscheinung  durch 
das  langsame  Wachstum  vieler  Hypophysentumoren:  wir  können 
in  unserem  Fälle  zirka  siebenjährigen  Bestand  supponieren. 

Die  Größe  des  Tumors,  sowie  die  Kompressionserscheinungen 
trugen  wahrscheinlich  viel  dazu  bei,  die  Resistenz  des  Patienten 
gegenüber  der  Pneumonie  herahzusetzen.  Ein  direkter  Einfluß 
der  Oneration  auf  den  Exitus  ist  wohl  nicht  anzunchmen. 

Wenn  man  die  durch  den  Leichenbefund  aufgehellte  Sach¬ 
lage  betrachtet,  so  muß  man  wohl  klar  sein,  daß  der  Fall  weder 
bei  der  Anwendung  der  Methode  von  Sc’hloffer,  noch  nach 
der  von  Hirsch  wesentliche  Chancen  geboten  hätte.  Das  be¬ 
deutet  natürlich  keine  Kritik  an  den  genannten  Methoden.  Meine 
drei,  nach  der  Methode  von  Schloffer  von  Herrn  Hofrat. 
v.  Eiseisberg  operierten  Fälle  befinden  sich  dauernd  gut. 
Von  den  Erfolgen  der  Methode  Hirsch  haben  Sie  sich  heute 
wieder  überzeugt.  Ich  konnte  im  letzten  Falle  der  Operation 
assistieren  und  konnte  konstatieren,  daß  sie  schmerzlos  verlief 
und  dem  Patienten  nur  wenig  Beschwerden  verursachte. 

Priv.-Doz.  Dr.  Artur  Schüller:  Das  Röntgenbild  des 
Schädels  giht  bezüglich  der  Größe  von  Hypophysentumo¬ 
ren  nicht  bloß  in  jenen  Fällen  Aufschluß,  wo  der  Tumor  noch 
innerhalb  des  Türk  einsatteis  liegt,  sondern  auch  dann,  wenn  der 
Tumor  gegen  das  Gehirn  zu  gewuchert  ist.:  hiebei  finden  sich 
nämlich  die  für  Hirndrucksteigerung  charakteristischen  IJsuren 
der  Schädelinnenfläche'  außer  der  völligen  Destruktion  des  Keil- 
beinkürpers.  -  Was  die  In  dikati  ons  Stellung  zur  Opera¬ 
tion  von  Hypophysentumoren  betrifft,  so  kommt  außer  den  oku¬ 
lären  Symptomen  und  dem  Kopfschmerz  auch  die  Gefahr  der 
Schädigung  des  Herzens  durch  die  Gifte  des  Hvpophysentumors 
in  Betracht,  Die  Beobachtung,  daß  hei  längerer  Dauer  von  Hypo- 
phvysentumoren  die1  inneren  Organe  schwere  Veränderungen  auf- 
weisen,  drängt  zu  einer  frühzeitigen  Inangriffnahme  der  Hypo¬ 
physenoperation. 

v.  Eiseisberg  erkennt  die  Verdienste  des  Dr.  Hirsch 
um  die  Ausbildung  der  endonasalen  Operationsmethode,  sowie 
deren  günstige  Resultate  vollkommen  an,  bei  neckt  aber,  daß  vom 
Standpunkte  des  Chirurgen  aus  ein  Todesfall,  der  innerhalb1  drei 
Wochen  nach  der  Operation  eintritt  auf  jeden  Fall  als  mit  dem 
Eingriff  im  Zusammenhänge  zu  betrachten  ist.  Der  von  Doktor 
Hirsch  zuletzt  erwähnte  Fall  mit  letalem  Ausgange  wurde  ihm 
seinerzeit  von  Prof,  v .  Frankl-Hochwart  vorgestellt.  E r 
machte  den  Patienten  auf  die  Gefahren  der  Operation  nach 
Schloffer  aufmerksam,  worauf  sich  der  Kranke  für  die  endo- 
nasale  Methode  entschied. 

Für  das  Zustandekommen  der  Pneumonie  in  diesem ^ Falle 
dürften  ähnliche  Momente  in  Betracht  kommen,  wie  sie  A.Frän- 
kel  für  die  von  den  Nebenhöhlen  der  Nase  ausgehenden  Spät¬ 
infektionen  (Diplokokken)  hei  Schädelbasisfrakturen  be¬ 
schrieben  hat. 

Dr.  Oskar  Scheuer:  Demonstration  eines  Falles  von  Trüh- 
reife  und  Hypertrichosis  hei  Hermaphroditismus 
und  Wachstumsstörung. 

Ich  erlaube  mir.  einen  Fall  zu  demonstrieren,  den  ich 
in  Herrn  Priv.-Doz.  Kienböcks  Röntgeninstitut  einer  genauen 
Untersuchung  unterzogen  habe.  Es  handelt  sich  um  ein  Indi¬ 
viduum,  welches  derzeit  in  Wien  als  „achtjähriges  Mädchen 
mit  Männerbart“  öffentlich  zur  Schau  gestellt  wird. 

In  gewisser  Beziehung  ist.  eine  derartige  Bezeichnung  des 
Individuums  gerechtfertigt,  dieselbe  bedarf  aber  bedeutender 
Korrekturen. 

Es'  ist  ein  120  cm  langes,  kräftiges,  mit  starker  Musku¬ 
latur  versehenes  Individuum.  Der  Kopfumfang  beträgt  5 UV  cm. 
Das  Benehmen  entspricht,  etwa  dem  achten  Lebensjahre,  viel¬ 
leicht  sogar  einem  noch  jüngeren  Kinde  u.  zw.  weiblichen  Ge¬ 
schlechtes.  Es  ist  ein  ziemlich  langes  blondes  Kopfhaar  vor¬ 
handen  und  im  Gesicht  ein  starker  schwarzer  Backen  b  a  r  t. 
und  ein  leichter  Schnurrbart,  wie  er  etwa  einem  18jährigen  Bur¬ 
schen  zukommen  würde.  Er  besteht  seit,  dem  dritten  Lebensjahr. 
Der  Kehlkopf  ist  groß,  die  Stimme  männlich.  Es  ist  ein  blei- 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


11 


Wndos  Gebiß  vorhanden  mit  Durchbruch  der  zweiten  Mahlzahne. 

Die  Schilddrüse  ist  vorhanden. 

Die  Haut  des  Rumpfes  und  der  Extremitäten,  zeigt  eine  aus¬ 
gesprochene  Hypertrichosis. 

Der  Oberkörper  hat  männlichen  Habitus,  es  fehlt  jede  Spui 
von  Mammen.  Die  Schamhaare  sind  sehr  dicht,  und  ihre.  Fort¬ 
setzung  reicht  am  Bauche  nach  oben  bis  über  den  Nabel  hinaus. 

Die  Schamgegend  selbst  sieht  auf  den;  ersten  Hink  weib¬ 
Die  nähere  Untersuchung  des  Genitales  ergibt  aber  den 
überraschenden  Befund  eines  Hermaphroditismus;  es  sind 
(rioße  und  kleine  Labien,  eine  weite  , Scheide  und  ein  kleiner 
Uterus  vorhanden.  Selbst  in  tiefer  Narkose  weder  Ovarien  noch 
Hoden  tastbar  (keine  Menstruation).  Statt  einer  Klitoris  ist  ein 
hypospadi  scher,  sonst  gut  geformter  Penis  vorhanden,  der 
in  seiner  Größe  etwa  dem  eines  vierjährigen  Knaben  entspricht, 
er  ist  einer  gewissen  Erektion  fähig  (Prof.  Hal  ban). 

Die  Körperlänge  von  120  cm  entspricht  dem  Alter  des  In¬ 
dividuums.  Es  ist  aber  keineswegs  ein  proportionierter  \\  uchs, 
vielmehr  durch  unrichtige  Proportionen  der  einzelnen  Teile  eine 
ausgesprochene  Wachstumsstörung  vorhanden.  Der  Kopf  ist 

zu  groß,  die  untere  Rumpf  hälfte  im  Verhältnis  zur  oberen  zu 
klein,  daher  der  Nabel  sehr  tief  gelegen,  die  Arme  und  Beine 
viel  zu  kurz.  Diese  Verhältnisse,  sowie  der  ganze  Eindruck  ues 
Körperbaues  entspricht  einer  Chondrodystrop  h  l  e,  also  ein  em 
chondrodystrophischen  Zwergwuchs;  nur  ist,  die  gesamte  Korpci- 
länge  heute,  im  achten  Lebensjahre,  noch  nicht  zurückgeblieben, 
vielmehr  sind  nur  die  Extremitäten  kürzer  als  es  dem  Alter 
entspricht,  der  Rumpf  ist  sogar  länger.  Es  ist  also  kein  typi¬ 
scher  Fall  von  Chondrodystrophie. 

Von  Wichtigkeit  ist  der  radiologischei  Befund  am 
Skelett,  den  Herr  Priv.-Doz.  Kienböc'k  erhoben  hat. 

Die  Sella  turcica  ist  klein.  Das  Skelett  des  Rumpfes  und 
der  Extremitäten  ist  zu  plump,  die  Schenkelhälse  sind  sehr  kurz, 
die  Knochenformen  sind  nicht  die  für  Chondrodystrophie  typi 
sehen  Der  Ossifikationszustand  der  Hand  entspricht  dem 
IG  Lebensjahre,  die  Epiphysenfugen  an  den  Handknochen 
sind  geschlossen,  an  den  Vorderarmknochen  noch  offen  aber 
schmal.  Die  Darmbeinkämme  tragen  bereits  Knochenleisten.  I 
Reifezustand  des  Skelettes  und  der  Bartwuchs  entsprechen  also 

derselben  Entwicklungsstufe.  ,  , 

Wir  können  Voraussagen,  daß  das  Individuum  höchst. 
noch  wenige  Zentimeter  wachsen  und  sich  daher  zu  einem 
Zwerge  herausbilden  wird. 

Der  Fall  stellt  eine  große  Seltenheit  dar;  es  sind  bekam  - 
lieh  in  der  Literatur  bereits  Fälle  von  frühzeitiger  Gescnleehts- 
reife  niedergelegt,  aber  eine  derartige  Kombination  von  Storungen 
habe  ich  nicht  gefunden.  Auch  der  Fall  von  Lesser  aus  dem 
Jahre  1900  ist  nicht  vollkommen  analog.  .  • 

Bekanntlich  denkt  man  heute  daran,  daß  die  Aetiolo  c 
dieser  Erkrankungen  in  einer  Störung  der  Glandula  pinea  s 
liegen  könne  und  wir  werden  diesbezüglich  noch  weitere  Studien 
bei  unserem  Falle  .anstellen.  . 

Diskussion ;  Prof.  P as  c  h k i s :  Ich  habe  das  Individuum  schon 
früher  gesehen  und  es  bei  einer  flüchtigen  Besichtigung  R 

und  des  Oberkörpers  sofort  für  einen  männlichen  Zwerg  „ 
halten.  Dadurch  entfällt  auch  eine  Klassifikation  der  Behaaiung, 
welche  weder  Heterochronre,  noch  Heterogenie,  noch  Iletcio 
topic  im  Sinne  Bartels  ist.  Die  Behaarung  ist  durchwegs 
von  männlichem  Typus.  Die  Barthanre  sind,, obgleich  Kr°^enteil& 
Spitzenhaare,  grob,  hart  und  straff.  Was  das  Erschemen  de, 
Bartes  nach  einer  angeblichen  Erkrankung  betrifft,  >o  khk  1 
bei  den  in  der  Literatur  ver zeichneten  Fallen  von  nach  Geinla 
erkrankungen  aufgetretener  weiblicher  HyPertr^h°^ *  S|C^  ‘ 
gaben  darüber,  ob  diese  nicht  schon  vorher  bestanden  habt. 

Priv-Doz  Dr.  L.  Teleky  stellt  drei  Arbeiterinnen  einer 
Glühlampenfabrik  vor.  Alle  drei  Arbeiterinnen  zeigen  eine  mehr 
oder  weniger  weit  vorgeschrittene  Atrophie  der  Interossei  ue 
linken  Hand.  Bei  den  zwei  schwer  Erkrankten  begann  das  Leiden 
mit  Parüsthesien  an  der  Ulnarseite  des  Vorderarmes  und  du 
Hand,  bei  einer  von  diesen  ist  auch  die  Atrophie  des  Museuhu 

fteX°1D?edieänaEre£nimgen  zugrunde  liegende  Neuritis  nervi 
ulnaris ist  durch  direkten  Druck  auf  den  Nerven  ^o,*eruto 
worden.  Die  am  leichtesten  Erkrankte  stutzt  die  Hand  mit  JL 
Gegend  des  Os  piriforme  an  die  Kante  eines  Brettes,  wodmd 
ein  Druck  auf  den  Ramus'  profundus  nem  ulnans  j * 

wird,  die  zwei  schwer  Erkrankten,  die  auch  deutliche  L uc  ei 
nungen  von  Mitbeteiligung  des  Ulnans  am  Unterarm  dm 
arbeiten  dauernd  mit  auf  dem  Tisch  aufgestutzten  Ellbogen  des 
Unken  Amms  wobei  ein  Druck  auf  den  Nerven  im  Sulcus  ulnans 


des  Epikondylus  des  Oberarmes  ausgeübt  wird.  Bei  einer  dieser 
Patientinnen  ist  der  Ulnaris  dort  deutlich  verdickt  und  sehr 
druckempfindlich. 

Diese  letzterwähnte  Arbeiterin  ist  bereits  nach  litagiger 
Arbeit  erkrankt.  Bei  zwei  der  Patientinnen  ist  wahrscheinlich 
die  Gravidität  als  prädisponierendes  Moment  anzusehen. 

Diskussion;  Prof.  Dr.  Maximilian  Sternberg  hat  eimai 
ganz  gleichartigen  Fall,  ein  löjähriges  Mädchen  betreifend,  eben 
in  seiner  Spitalsabteilung.  Dasselbe  hat  in  einer  anderen  GLili- 
lafnpenfabrik  als  die  von  Dr.  Teleky  vorgestellten  Patientinnen 
gearbeitet.  Nach  der  Angabe  dieser  Kranken,  leiden  noch  zahl 
reiche  andere  Arbeiterinnen  aus  ihrem  Betriebe  an  einer  solchen 
Veränderung  der  linken  Hand.  Es  handelt  sich  demnach  in  der 
Tat  um  eine  typische  Berufskrankheit  bei  der  Giün- 
lamp  enf  ab  rikatioji. 

Prof.  J.  Tandler:  Ueber  Aufforderung  des  Herrn  Kollegen 
Teleky  möchte  ich  in  Kürze  einen  Fall  von  weitgehender  Atro¬ 
phie  aller  jener  Muskeln  demonstrieren,  welche  vom  Ramus 
profundus  Nervi  ulnaris  versorgt  werden.  Da  solche  Talle  irn 
präparierten  Zustande  nicht  häufig  sind,  wird  das  hier  herum¬ 
gereichte  Präparat  eines  gewissen  Interesses  nicht  entbehren. 
Man  sieht  an  ihm  die  totale  Atrophie  sämtlicher  Musculi  in¬ 
terossei,  des  Musculus  adductor  pollicis  und  der  Hypotnenar- 
muskulatur,  sowie  des  ulnarein  Lumbnkalis,  wahrend  der.  Mus- 
culus  carpi  ulnaris,  als  vom  Stamme  des  Nervus  ulnaris  mner- 
vlert  vollkommen  normal  ist.  In  dem  hier  präparierten  Taue 
saß  unmittelbar  oberhalb  des  Handgelenkes  ein  mächtiges  Neurom 

am  Nervus  ulnaris.  .  ,  r.  . 

Bezüglich  der  Verletzbarkeit  der  Nerven  an  der  Beuge¬ 
seite  des  Handgelenkes  möchte  ich  kurz  folgende,  praktisch  nicht 
unwichtige  Bemerkung  machen:  Bei  Volarflexion  der  Hand  ruckt 
der  Medianus  in  die  Tiefe,  während  der  Nervus  ulnans  an  der 
Radialseite  der  Sehne  des  erschlafften  Musculus  flexor  carpi 
ulnaris  leicht  zugänglich  wird.  Bei  starker  Dorsal  tlexion  ver¬ 
schwindet  der  Nervus  ulnaris,  natürlich  mit  der  gleichnamigen 
Arterie,  unter  der  gespannten  Sehne  des  Musculus  llexor  carpi 
ulnaris,  während  der  Nervus  medianus  an  der  ulnaren  bene  der 
vorspringenden  Sehne  des  Musculus  palmans  longus  direkt  unter 
die  Haut  zu  liegen  kommt.  Es  genügt  m  dieser  Stellung 
der  Hand  eine  Verletzung  der  Haut,  um  Läsion  ries  Nervus 
medianus  herbei  zuführen.  Mir  selbst  sind  zwei  Talle  bekannt,  m 
welchen  eine  bei  dieser  Handstellung  erworbene-,  anscheinend 
nur  die  Haut  durchsetzende  Schnittwunde  Lähmung  des  Nervus 
medianus  zur  Folge  hatte.  Einer  dieser  beiden  Talle  wurde 
seinerzeit  vorn  Kollegen  Hirse  hl  demonstnert. 

Priv-Doz.  Dr.  Max  Herz:  demonstriert  einen  Mann,  der  es 
erlernt  hat,  eine  Reihe  von  Bewegungen  auszuführen,  die  sonst 
der  Willkür  entzogen  sind.  Er  kontrahiert  isoliert  den  Musculus 
biceps  triceps,  das  Platysma  myoides,  den  Musculus  rectus  ab¬ 
dominis  in  toto  und  seine  einzelnen  Abschnitte,  den  Musculus 

obliciuus  extemus  usw.  .. 

^  Er  scheint  sein  Herz  willkürlich  verlagern  zu  können,  so 
'daß  sich  die  Herzdämpfung  nach  rechts,  links  oder  unten  ver¬ 
schiebt,  wahrscheinlich  durch  verschiedene  Kontraktionen  c 

Zwerchf^  ^  kann  er  verlangsamen  und  sein  Herz  sogar  einige 

Sekunden  Stillstehen  lassen.  , 

Die  Pupille  kann  einseitig  nach  Belieben  erweitert  ode 

verengt  werden.  Schließlich  gelingt  es  dem  Betreffenden  aui 
V«££en  eil*'  Cutis  ansenna  an  seinem  Arme  sowie  eine 
Rötung  und  Schwellung  einer  bestimmten  Hautstelle  hervorzu- 

rufen.  dieser  phän0menen  ist  der  Umstand  interessant, 

daß  sie  unter  Zuhilfenahme  einer  Autosuggestion  erstehen  Die 
Gänsehaut  stellt  sich  ein,  wenn  das  Individuum  .ich  embilde  , 
in  einem  ungeheizten  Raume  zu  frieren;  zum  Zustande-kommet 
der  HaSrötung  und  Schwellung  ist  die  Vorstellung  eines  chirur¬ 
gischen  Eingriffes  an  der  betreffenden  Stelle  notwendig  und  das 
Herz  schlägt  langsamer,  wehn  es  Pat.  gelingt,  sich  einzureden, 

68  ^  R-of ' Vzeißl :  M .  H. !  Ich  erlaube  mir  die  Abbildungen  eines 
Pat  zu  zeigen  die  angeferligt  wurden,  bevor  und  nachdem  er  mit 

nnrl  Tod  behandelt  weil  die  Lueserscheinungen  Schlag  aut  bc  a„u 
n  t  f  schon  im  Februar  1906  entstanden  Gummen,  die  reich- 
uÄÄsiLÄ  die  Extremitäten  verteilt  waren,  trotz 
fortgesetzter  , antiluetischer  Behandlung  kam  cs  uac  t  d 

zn  einer  kolossalen  Verdickung  der  Nasenhant,  Je.  Ober  und 


112 


WIENER'  KLINISCH!'.  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  3 


Unterlippe  sowie  der  Zunge,  so  daß  letztere  im  Munde  kaum 
Platz  hatte.  Die  Zunge  zeigte  vier  tiefe  Furchen,  zwischen 
welchen  die  weißgrau  gefärbte  Zungenoberfläche  in  Wül¬ 
sten  emporragte.  Es  handelte  sich  also  um  eine  Eues  diffusa 
hypertrophica  oder  wie  man  sie  früher  nannte,  um  Leontiasis 
syphilitica.  Da  sich  der  Zustand  trotz  energischer  Behandlung 
mit  löslichen  und  unlöslichen  Quecksilberpräparaten,  Jod  und 
Decoctum  Zittmanni  nicht  besserte,  die  Entstellung  vielmehr 
immer  ärger  wurde,  injizierte  ich  dem  Kranken  am  25.  Juli 
1910  0-5  g  ,,606“  in  monazider  Lösung  intramuskulär.  Sehen 
wenige  Tage  nach  der  Injektion  begannen  sich  die  geschilderten 
Erscheinungen  zurückzubilden  und  nach  zirka  drei  Wochen  ist 
das  Aeußere  des  Kranken,  wie  die  Photographie  mit  geschlossenem 
Munde  zeigt,  ein  vollständig  normales  geworden.  Nur  die  Zunge, 
die  auch  fast  zur  Norm  zurückgekehrt  ist,  zeigt  noch  eine  tiefe 
Furche  in  der  Mitte  und  vereinzelte  epitheliale  Trübungen. 

Ich  habe  bisher  167  Patienten  mit  Salvarsan  behandelt. 
Bei  einem  derselben  trat,  einige  Tage  bevor  ein  Rezidiv  an 
der  Haut  in  Erscheinung  kam,  Ohrenklingen  auf,  das  aber  unter 
einer  eingeleiteten  Quecksilberkur  gleichzeitig  mit  dein  Rezidiv- 
exanthem  schwand.  Erwähnen  will  ich  noch,  daß  in  der  Lite¬ 
ratur  nicht  nur  die  von  Prof.  Riehl  schon  erwähnten  Queck¬ 
silberschädigungen  von  Lasserre  enthalten  sind,  sondern  daß 
auch  Bartsch  42  Todesfälle,  davon  34  durch  Injektion  meist 
unlöslicher  Quecksilberpräparate  und  8  durch  Einreibungen  ver- 
anlaßte,  mitteilt.  Die  Dosen  waren  normal.  Schwarz  berichtet 
gleichfalls  über  einen  Todesfall  nach  einer  Injektion  mit  0-05  sali- 
zylsaurem  Quecksilber  im  Württembergschen  Korrespondenzblatt 
(1909).  Auch  Nekrosen  wurden  vielfach  sowohl  nach  löslichen, 
als  nach  unlöslichen  Quecksilberpräparaten  beobachtet.  In  der 
französischen  Literatur  —  ich  werde  in  späterer  Zeit  eine  aus¬ 
führliche  Zusammenstellung  derselben  liefern  --  finden  sich  zahl¬ 
reiche  Mitteilungen  aus  der  Zeit  vor  dem  Salvarsan  über  Op¬ 
tikus-  und  Akustikuserkrankungen,  sowie  Erkrankungen  anderer 
Nerven,  nur  durch  Syphilis  bedingt.  Gustave  Lagneau  be¬ 
richtet  im  Jahre  1860  in  seinem  Buche:  Syphilis  du  system 
nerveaux,  über  14  leichtere  und  schwerere  Fälle  von  Ohren 
erkrankungen  bei  Syphilis,  Mauri  ao  im  ersten  Band,  S.  642, 
im  Jahre  1883  über  Labyrintherkrankungen  infolge  von  Syphilis 
und  im  Jahre  1890  im  zweifeln  Bande,  S.  1038 — 1071,  über 
Nervensyphilis  überhaupt.  Wenn  ich  auch  gerne  zugebe,  daß 
Millionen  und  Millionen  Menschen  mit  Quecksilber  behandelt 
wurden,  darf  man  doch  nicht  vergessen,  welche  schweren  Schädi¬ 
gungen  im  15.,  16.,  17.  und  18.  Jahrhundert  durch  Merkur 
veranlaßt  wurden  und  vergessen  sind  wohl  die  Klagen  U 1 1- 
richs  von  Hutten  über  das,  was  er1  unter  der  Merkurbehand- 
lung  litt  nicht.  Aber  selbst  zu  Anfang  dels  19.  Jahrhunderts  hatte 
der  Mißbrauch  mit  Quecksilber  noch  kein  Ende  gefunden  und 
daher,  namentlich  in  Wien,  zur  Absurdität  des  Antimerkurialis¬ 
mus  geführt.  Es  ist  das  große  Verdienst  Siegmund s,  die 
Schmierkur  in  rationelle  Bahnen  geleitet  zu  haben.  Es  ist  gewiß 
Unrecht,  irgendein  Präparat  auf  einmal  in  den  Himmel  zu  heben, 
aber  ebenso  Unrecht  ist  es,  nach  einer  kurzen  Behandlungsdauer 
von  kaum  sieben  Monaten  über  dasselbe  schon  allgemein  gül¬ 
tige  Schlußfolgerungen  zu  ziehen.  Bei  gewissenhafter  vollständiger 
klinischer  Untersuchung  und  Anwendung  monazider  Lösungen 
wird  sicher  keine  Schädigung  der  Patienten  statthaben.  Uebrigens 
hat  Wechsel  mann  2400  Patienten  mit  seiner  Emulsion  be¬ 
handelt  und  bei  den  letzten  600  Behandelten  keine  Nekrosen  ge¬ 
sehen.  Doerr  hat  272,  ich  selbst  165  mit  monaziden  Lösungen 
intramuskulär  behandelt  und  bei  diesen  437  Fällen  kam  es  weder 
zu  Nekrosen  noch  zu  irgendeiner  anderen  Schädigung.  Drei  Fälle, 
die  Mitte  Juli,  bzw.  Anfang  August  und  30.  September  bei 
alleinigem  Bestand  des  Primäraffektes  mit  monaziden  Lösungen  von 
,,606“  von  mir  behandelt  wurden,  bieten  bis  heute  unter  konstanter 
Beobachtung  keinerlei  Allgemeinerscheinungen.  Beim  dritten  Pa¬ 
tienten,  der  im  September,  bevor  er  injiziert  wurde,  eine  Frau 
mit  Syphilis  infiziert  hatte,  ergab  die  Blutuntersuchung  durch 
Dr.  E.  Epstein  am  30.  Dezember  1910  negativen  Wasser¬ 
mann.  Diese  drei  Fälle  lassen  uns  hoffen,  daß,  die  Möglich¬ 
keit  einer  Dauerheilung  nicht  ausgeschlossen  ist. 

Dr.  H.  Fasal:  stellt  aus  der  Charite  eine  62jährige  Frau 
vor;  bei  welcher  vor  4V2  Jahren  eine  Amputatio  mammae  nebst 
Ausräumung  der  Lymphdrüsen  der  linken  Achselhöhle  vorge¬ 
nommen  wurde.  Zwei  Jahre  später  trat  mäßige  Anschwellung 
des  linken  Armes  auf,  die  längere  Zeit  konstant  blieb  und  erst 
in  der  letzten  Zeit  stark  zunahm.  Seit  fünf  bis  sechs  Wochen 
bemerkt  Pat.  das  Auftreten  zahlreicher  Flecken  und  Knötchen 
am  Stamm  und  am  linken  Arm.  Der  ganze  linke  Arm  erscheint 
von  der  Achselhöhle  an  bis  zu  den  wulstig  aufgetriebenen  Hand¬ 
gelenken  und  Fingern  außerordentlich  vergrößert.  Die  Vergröße¬ 


rung  bezieht  sich,  wie  das  Röntgenbild  zeigt,  nur  auf  die  Weich¬ 
teile.  An  Stelle  der  linken  Mamma  befindet  sich  eine  Narbe, 
die  sich  bis  in  die  Achselhöhle  hineinzieht  und  an  der  Innen¬ 
seiten  des  Oberarmes  unter  der  Achselhöhle  tief  cingezogen  endet. 
Sowohl  am  Sternal-  wie  am  oberen  Teil  der  Narbe  sehen  wir 
zahlreiche,  flache,  braunrote  linsenförmige  und  größere  Infil¬ 
trate.  Außerdem  sehen  wir  aber  eine  ganze  Aussaat  von  ver¬ 
schiedenartigsten  Karzinommetastasen  der  Haut  in  Form  kleinster 
hirsekorn-  bis  stecknadelkopfgroßer  Knötchen,  die  teils  im  Niveau 
der  Haut  liegen,  teils  über  dasselbe  prominieren,  nach  oben  an 
Größe  zunehmen  und  über  die  Klavikula  hinausreichen.  Die 
Form  der  Knötchen  ist  sehr  mannigfaltig.  Sie  sind  teils  isoliert, 
papulös,  teils  plan,  wachsglänzend,  teils  subkutan  liegend  von 
unveränderter  Haut  überzogen. 

Ebenso  sehen  wir  am  linken  Oberarm  zahlreiche  derbe, 
braunrote,  scharf  begrenzte  Knötchen,  welche  in  gesunder  Haut 
teils  isoliert  liegen,  teils  zu  serpiginöson  Formen  angereiht  er¬ 
scheinen.  Das  histologische  Bild  —  das  Präparat  ist  mikrosko¬ 
pisch  eingestellt  —  eines  exzidierten  Knotens  zeigt  die  karzino- 
matöse  Infiltration  in  den  Getwebs spalten  der  Haut.  Dabei  ist 
die  Struktur  der  Haut  nicht  verändert,  da  die  epitheloiden  Zellen 
und  Zellstränge  die  vorhandenen  Gewebsspalten  und  Lymph- 
bahnen  benützen,  im  Gegensatz  zu  den  anderen  Karzinomen  der 
Haut,  bei  denen  die  eindringenden  Epithelien  sich  neue  Wege 
bahnen.  Die  Abgrenzung  der  Epidermis  erfolgt  scharf  durch  die 
vollständig  erhaltene  Basalzellenschicht.  Sowohl  im  Bereich  des 
Stratum  papillare  wie  auch  des  Stratum  reticulare  finden  sich 
epitheloide  Zellen,  welche  stellenweise  zu  Strängen  unge¬ 
ordnet  sind. 

Während  gewöhnlich  die  lokalen  Hautmetastasen  bei  Brust¬ 
krebs  nur  die  das  primäre  Karzinom  überziehende  Haut  mit 
Knötchen  und  flachen  linsenförmigen  Verdickungen  durchsetzen, 
sehen  wir  hier,  wie  in  kurzer  Zeit  die  Hautmetastasen  in  exanthem¬ 
artiger  Ausbreitung  auftreten. 

Ueber  ähnliche  Fälle  erschien  vor  einem  Jahre  eine  Arbeit  aus 
der  Klinik  Riehl  von  Eitner.  und  Reitmann.  Herr  Professor 
Riehl  stellte  hier  einen  Fall  vor  mit  Wäschen-  und  knötchen¬ 
artigen  Bildungen.  Gewöhnlich  sind  die  primären  Tumoren  schon 
sehr  vorgeschritten,  wenn  es  zur  Metastasenbildung  kommt.  Es 
kann  aber  wie  Velpeau  hervorhebt,  die  Entwicklung  des 
Primärtumors  unter  so  unscheinbaren  Symptomen  einhergehen, 
daß  erst  die  Hautmetastasen  in  Form  einzelner  isolierter  Knötchen 
die  Aufmerksamkeit  auf  das  Vorhandensein  eines  primären  Kar¬ 
zinoms  lenken  können.  Da  es  nicht  häufig  vorkommt,  daß  kar- 
zinomatöse  Hautmetastasen  in  dieser  Mannigfaltigkeit  und  Aus¬ 
dehnung  isoliert  zu  sehen  sind,  erlaube  ich  mir  diesen  Fall 
hier  vorzustellen. 

Diskussion:  Priv.-Doz.  Dr.  Leopold  Freund:  Bei  einem 
Fälle,  welcher  dem  demonstrierten  sehr  interessanten  Falle  des 
Herrn  Kollegen  Fasal  ähnlich  war,  ergab  mir  die  Röntgenunter¬ 
suchung  der  geschwollenen  oberen  Extremität  hochgradigste 
Ytrophie  aller  Knochen.  Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich  er¬ 
wähnen,  daß  sich  durch  die  Röntgenuntersuchung  bei  Patientinnen 
mit  Mammakarzinom,  welche  über  rheumatoide  Schmerzen 
klagen,  oft  schon  frühzeitig  atrophische  Stellen  in  den  Knochen 
(ich  sah  solche  wiederholt  in  den  Vorderarmknochen,  in  Wirbeln 
und  im  Kreuzbein)  nachweisen  lassen,  wo  sonst  keine  Anzeichen 
der  Metastasierung  des  Tumors  vorhanden  sind.  Es  sollte  des¬ 
halb  in  Fällen,  wo  über  solche  rheumatoide  Schmerzen  ge¬ 
klagt  wird,  eine  Röntgenuntersuchung  der  betreffenden  Knochen 
nicht  unterlassen  werden,  weil  im  Falle  des  Nachweises  von 
derartigen  Kn ochenmetastasier urigen,  die  Amputation  der  Mamma 
besser  zu  unterbleiben  hätte. 

Dr.  Finsterer  (aG.):  M.  H. !  Vor  2V2  Monaten  stellte  ich  hier 
einen  zwölfjährigen  Knaben  mit  einer  Luxation  der  rechten 
Beckenhälfte  aus  der  Unfallstation  der  Klinik  Höchen  egg  vor. 
Heute  kann  ich  den  Pat.  als  vollkommen  geheilt  neuerlich  demon¬ 
strieren.  Obwohl  bereits  vier  Wochen  seit  der  Verletzung  ver¬ 
gangen  waren,  gelang  es  dennoch,  durch  einen  bis  über  den 
Darmbeinkamm  hinaufgreifenden  Extensionsverband  und  Kontra¬ 
extension  kreuzförmig  über  Brust  und  Rücken  die  verrenkte 
Beckenhälfte  vollkommen  herabzuziehen.  Da  eine  veraltete  Ver¬ 
letzung  vorlag,  mithin  eine  feste  Verheilung  unwahrscheinlich 
war,  wurde  nach  drei  Wochen  die  Symphyse  durch  eine  Alu¬ 
minium-Bronzed  rahtnaht  genäht,  hierauf  ein  Beckengurt  mit  seit¬ 
lichen  Zügen  angelegt,  damit  auch  die  Articulatio  sacroiliaca 
möglichst  genähert  werde.  Vorsichshalber  wurde  dann  Patient 
neuerlich  sechs  Wochen  im  Bette  gelassen,  um  jede  Belastung 
des  Beckens  zu  vermeiden. 

Die  Verletzung  ist  vollkommen  geheilt  u.  zw.  sowohl  in 
anatomischer  Hinsicht  --  das  Röntgenbild  zeigt  nur  ein  Höher- 


Nr.  3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


113 


stehen  des  Schambeines  um  einige  Millimeter  —  als  auch  funk-  | 
tionell,  da  Hat.  wieder  vollkommen  normal  und  ohne  die  geringsten 
Schmerzen  gehen  kann. 

Unter  den  wenigen  Fällen  von  totaler  Becken  Verschiebung 
einer  Seite,  die  geheilt,  wurden,  finden  sich  nur  je  eine  Mit¬ 
teilung  von  Hallo  well  und  Grimbach,  wo  eine  vollkommene 
Heilung  erzielt  worden  war;  beide  Fälle  kamen  aber  unmittelbar 
nach  der  Verletzung  in  Behandlung,  während  in  unserem  Falle 
bereits  mehr  als  vier  Wochen  seit  dem  Trauma  verstrichen  waren. 
Daß  derartige  Verletzungen  auch  ohne  besondere  Behandlung 
schließlich  ausheilen  können,  allerdings  mit  einer  Verkürzung 
wie  eine  schlecht  geheilte  Ober-  oder  Unterschenkel  Irak  tu  r, 
zeigen  je  einen  Fall  von  Kolisko  und  Sternberg,  wo  der 
Befund  gelegentlich  der  Sektion  zufällig  erhoben  worden  war. 

Prof.  v.  Fürth  und  Priv.-Doz.  C.  Schwarz:  lieber  Hem¬ 
mung  der  A  d  renalin-Gl  y  k  ö-sur  i  e  durch  Pankroas- 
präparate.  (Erscheint  ausführlich.) 


Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien. 

Sitzung  vom  13.  Dezember  1910. 


Vorsitzender: 
Schriftführer : 


Hof  rat  Oberstein  e  r . 
Eaimann. 


Zu  neuen  Mitgliedern  werden  gewählt:  Prof.  1.  Dimmer, 
Regimentsarzt  Milan  Bcchtali,  Regimentsarzt  Otto  Glaser, 
Dr.  Julius  Bauer,  Dr.  Hans  E  pp  in  g  er,  Dr.  Siegfried  Gellis, 
Dr.  Robert  Löwy,  Dr.  August  Redlich,  Dr.  Zdislaw  Reich. 

D  e m  o  ns  t  r  a  t  i  o nie n : 

a)  Dr.  Egon  Fries:  Ä.  B.,  46  Jahre,  Lichtdrucker,  wurde  im 
Jahre  1910  im  Juli-August  von  der  Polizei  der  psychiatrischen 
Klinik  (Hofrat  v.  Wagner- Ja ur egg)  wegen  eines  postepilep¬ 
tischen  Dämmerzustandes  eingeliefert.  Er  selbst  und  seine  1  rau 
konnten  zur  Anamnese  folgende  Daten  geben : 

Pat.  war  bis  vor  sechs  Jahren  vollkommen  gesund.  Da¬ 
mals  traten  Anfälle  von  Jackson-Typus  auf.  Sie  begannen  nnt 
Ameisenlaufen  im  rechten  Beine,  worauf  sich  klonisch-tonische 
Krämpfe  in  den  rechten  Extremitäten  und  im  rechten  Fazialis- 
gebiet  ohne  Bewußtseinsverlust  einstellten.  Von  diesem  lypus 
traten  innerhalb  sechs  Monaten  zwei  Anfälle  auf,  dann  trat  eine 
Aenderung  im  Typus  ein.  Die -Krämpfe  begannen  im  linken  Fuß, 
stiegen  links  aufwärts  und  wenn  die  Sensation  die  Herzgegem 
erreichte,  trat  Bewußtlosigkeit  ein  und  die  Krämpfe  wurden  all¬ 
gemein.  Seit  nun  vier  Jahren  treten  die  Anfälle  aus  dem  bchlate 
heraus  auf  und  gehen  mit  allgemeinen  Krämpfen  und  Bewußtlosig¬ 
keit  einher.  Slie  wiederholten  sich  zirka  dreimal  im  Monat. 
In  letzter  Zeit  sind  die  Anfälle  häufig  von  mehr  weniger  lang 
dauernden  Verwirrtheitszuständen  gefolgt,  welche,  wie  schon 
eingangs  erwähnt  wurde,  bereits  zweimal  seine  Einlieferung  in 
die  psychiatrische  Klinik  notwendig  machten.  Anfangs  Oktober 
dieses  Jahres  hatte  Patient  zwei  Anfälle,  die  er  folgendermaßen 
beschreibt.  Sie  wurden  eingeleitet,  von  einer  eigentümlichen  Sen¬ 
sation  im  Unterkiefer,  er  konnte  nicht  sprechen  oder  brachte  ein 
falsches  Wort  heraus.  Dann  drehte  sich  der  Kopf  nach  rechts, 
während  es  den  Mund  nach  links  verzog,  worauf  Bewußtlosigkeit 
eintrat  Während  der  Bewußtlosigkeit  sollen  dann  Zuckungen 
in  der  linken  Hand  aufgetreten  sein,  während  die  rechte  Seite 
vollkommen  ruhig  blieb.  Einmal  soll  der  Anfall  auch  im  Halse 
begonnen  haben  und  Pat.  will  durch  vier  Stunden  außerstande 
gewesen  sein,  zu  sprechen.  Am  8.  November  hatte  L  at.  eimii 
Anfall  ohne  Krämpfe,  in  dem  er  zwar  Zusammensturz  e,  jedoch 
nicht  vollkommen  bewußtlos  war.  In  den  letzten  Monaten  tragen 
auch,  zirka  einmal  die  Woche,  rudimentäre  Anfalle  ein,  in  denen 
Pat  für  eine  halbe  Minute  starken  Schwindel  fühlte  und  em 
Nebel  vor  Iden  Augen  hatte.  Vor  drei  Jahren  wurde  ein  Bandwurm 
abgetrieben.  —  Die  Frau  hat  viermal  abortiert.  —  Lues  geleugnet. 

Die  körperliche  Untersuchung  ergibt :  Großer,  kräftiger  Mann. 
Schädel  nichts  Abnormes.  Innere  Organe  und  Nierenbefund  not¬ 
mal.  Ophthalmoskopischer  Befund  normal.  Serumreaktion  nach 
Wassermann  negativ.  Mäßige  Fazialisparese-  rechts.  I  n- 
nerven  sonst  frei.  Geringe  Differenz  der  motorischen  Kiatt  dei 
Hände  zuungunsten  der  rechten  Seite  (Dynamometer). 

Die  Reflexe  der  oberen  Extremitäten  zeigen  keine  Diü^rcnz. 
Hatellarsehnenreflex  rechts  lebhafter  als  links.  Achillessehnen- 
reflex  links  eine  Spur  lebhafter  als  rechts  Kein  Fußphanomem 
Kremaster-,  Fußsohlenstreich  und  Bauchhautreflex  rechts  wemgei 
lebhaft  als  links.  Kein  Babinski.  Nadelstiche  werden  am  rechten 

Fuße  etwas  stumpfer  empfunden. 

Ueber  den  ganzen  Körper  verstreut,  (rechte  Bauchbelt®’  ,an 

Rücken,  an  der  Hinterseite  des  Oberarmes,  m  der  Haut  der  1  nken 


Wade  usw.),  unmittelbar  unter  der  Haut,  zum  Teil  über  bohnen¬ 
große  beinharte  Knötchen.  Probexzision:  Zystizerkus.  Das  Auf¬ 
treten  von  Epilepsie  im  höheren  Alter  muß  an  und  für  sich  schon 
Veranlassung  geben,  an  andere  Ursachen,  als  es  die  gewöhnlichen 
sind.,  zu  denken.  Kommt  Hoch  dazu,  daß  die  Anfälle  Jacksontypus 
zeigen,  so  ist  die  Annahme  einer  symptomatischen  Epilepsie  sehr 
naheliegend,  ln  unserem  Kalle  zeigen  die  Anfälle  einen  Wechsel 
des  Typus.  Zuerst  wies  ihre  Form  auf  einen  Herd  in  der  linken, 
der  spätere  Verlauf  auf  eine  Erkrankung  der  rechten  Hemisphäre 
bin.  Multiple  Ge  webstumorein  sind  nicht  häufig,  es  sei  denn, 
daß  es  gerade  Gummen  sind.  Die  lange  Dauer  aber  und  die 
negative  Blutserumreaktion,  wenn  die  letztere  auch  nicht  als 
ein  absolutes  Kriterium  gegen  Lues  anzusehen  ist,  sprechen  gegen 
eine  solche  Annahme.  Dagegen  finden  wir  in  der  Haut  zahl¬ 
reiche  kleine  Geschwülste  und  wir  konnten  uns  durch  Exstir¬ 
pation  und  Inspektion  eines  solchen  Knötchens  überzeugen,  daß 
es  sich  um  Zystizerken  handelt,  womit  die  Wahrscheinlichkeit, 
daß  die  multiplen  Herde  im  Gehirn  dieselbe  Natur  haben,  sehr 
groß  wird.  Lumbalpunktion  und  Hirnpunktion  konnten  uns  even¬ 
tuell  vollkommene  Klarheit  verschaffen  und  wir  erinnern  hier, 
daßi  eis  Pfeif  fei-  in  einem  Falle  gelungen  ist,  mit  beiden  Me¬ 
thoden  Partikelchen  eines  Zystizerkus  zutage  zn  fördern  und 
die  Lokalisation  des  Herdes  für  die  spätere  Operation  zu  sichern. 
Wir  glauben  in  unserem  Falle;  von  einem  solchen  Eingriff  absehen 
zu  können,  da  wir  eine  Operation  nicht  für  indiziert  hielten. 
Unser  Patient  hat  sicher  multiple  Herde,  denn  ein  Wandern  dei 
Zystizerken,  wie  es  ja  Mr  den  Wechsel  der  Herderscheinungen 
angenommen  wurde,  kommt  wohl  nicht  in  Betracht.  Es  scheint 
nun,  daß  die  eine  Blase  in  der  linken  Hemisphäre  zur  Ruhe  ge¬ 
kommen  ist  (Verkalkung  konnten  wir  durch  Röntgenographie  nicht 
nac h weisen)  und  in  den  letzten  Monaten  war  die  Intensität  und 
die  Häufigkeit  der  Anfälle  nicht  so  bedrohlich,  daßi  man  un¬ 
bedingt  zu  einem  Eingreifen  gedrängt  wurde,  wenn  auch  die 
psyyi  hischen  Störungen  im  letzten  Jahre  eine  Verschlimmerung 
bedeuten.  Es  bleibt  auch  sehr  die  Frage,  oh  die  Exstirpation 
eines  Herdes  die  epileptischen  Anfälle  beeinflußt,  die  Falle  von 
Pfeiffer  und  Fischer  lassen  dies  jedenfalls  nicht  hoffen. 


b)  Dr.  Fries  und  Dr.  0.  Pötzl:  Ein  Fall  von  reiner 

tlexie.  (Erscheint  ausführlich.)  '  . 

c)  Dr.  C.  Econom o  (Klinik  v.  Wagner)  demonstriert  das 
Jehim  eines  Falles  von  Akustikus  tumor,  dessen  klinisches 
Wmptoinenbild  die  Diagnose  dadurch  erschwert  hatte,  daß  neben 
inkseiliger  Taubheit  und  Unerregbarkeit  des  Vestibularapparates 
md  linkseitiger  leichter  Parese  der  übrigen  Hirnnerven  sich 
uich  noch  eine  linkseitige  Parese  der  oberen  Extremitäten 
md  unteren  Extremitäten  mit  leichter  Reflexsteigerung  und  Ba¬ 
nnski  vorfand,  sowie  eine  linkseitige  Hypästhesie  für  lem- 
mratnr-  und  Schmerzreize.  Trotzdem  wurde  die  Diagnose  lmk- 
ktiger  Akustikustumor  gestellt  und  der  Fall  zur  Operation  uber- 
v  lesen.  Bei  derselben  wurde  tatsächlich  ein  walnußgroßer  links¬ 
seitiger  Akustikustumor  (Fibroin)  gefunden  und  entfernt;  doch 
starb  die  Patientin  einige  Stunden  nach  dem  Eingriff.  Die  Unter¬ 
teilung  nach  March!  von  Präparaten  aus  verschiedenen  Hohen 
('Vierhügel,  Pons,  Oblongata,  Rückenmark)  ergab  bloß,  eine  iliLMse 
Verteilung  von  Degenerationsschollen  entsprechend  der  allgemei¬ 
nen  leichten  Schädigung  durch  dein  vom  Tumor  ausgeub ten  Druck 
über  den  ganzen  Querschnitt,  doch  keinerlei  Strangdegeneration 
und  keinerlei  ausgesprochene  stärkere  Schädigung  der  rechten 
oder  linken  Seite.  Es  können  infolgedessen  die  Symptome  von 
seiten  der  linken  oberen  Extremitäten  und  unteren  Extremitäten, 
sowie  die  linkseitige  Sensibilitätsstörung  nicht  etwa  in  einem 
nicht  aufgefundenen  Herde  ihre  Ursache  haben,  sondern  es 
müssen  trotz  der  Gleichseitigkeit  auch  diese  Symptome  als  un¬ 
mittelbare  Folge  des  vom  Tumor  ausgeübten  Druckes  angesehen 
werden.  Am  nächstliegenden  ware  es,  die  Parese  durch  e 
Schädigung  der  gleichzeitigen  Klemhirnhemisphare  -u 
klärten  doch  bliebe  dadurch  die  gleichseitige  Sensi- 
b i  1  i  tä  ts  8  tö  r u  n  g  unerklärt.  Infolgedessen  erschein  die j  Deu- 
tung  am  plausibelsten,  die  Oppenheim  bei  emem  dentibchen 
Falle  von  Akustikustumor  mit  gleichseitiger  Extremitatenpaiese 
gegeben  hat,  daß  nämlich  manchmal  infolge  der  Kompre® ision  d 
vom  Tumor  verdrängten  Brückenpartien  die  gegen  die  harte  Fels 
beinpyramide  gepreßte  Gegenseite  mehr  geschad  g 

Seite  auf  die  der  Tumor  unmittelbar  selbst  druckt.  Auen  eine 
ischämische  Wirkung  auf  die  Gefäße  der  Geg^ite  konnte  Mese 

Erscheinung  erklären,  ebenso  wie  man  into  ge  u  ("  erfährt  an 
Krümmung,  die  die  Ponsgegend  beim  Akustikustumor 
die  Möglichkeit  einer  Ueberdehnung  der  Nervenfasern  der  , 
vorgewölbten  Gegenseite  denken  kann.  G MichgulRg für  welche 
Deutung  man  sich  entscheidet,  dieser  Fall  zeigt  ge  a 
dem  Oppenheim  sehen,  daß  bei  Akustikustumoren  ment  so 


114 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  3 


selten  auch  eine  gleichseitige  Extremitätenparese  Vorkommen  kann,  | 
ja  daß  sogar  dieselbe,  wie  in  unserem  Falle,  das  erste  vom  Pa¬ 
tienten  selbst  beobachtete  Symptom  bilden  kann. 

Prof.  Hermann  Schlesinger  berichtet  im  Anschlüsse  an 
die  Demonstration  über  zwei  Fälle  von  operierten  Akustikus- 
t  um  or  en.  Im  ersten  hatte  der  positive  Ausfall  der  Wasser¬ 
mann  sehen  Reaktion  und  der  Rückgang  mehrerer  Symptome 
unter  antiluetischer  Behandlung  an  eine  syphilitische  Erkrankung 
m  der  Gegend  des  Kleinhirnbrückenwinkels  denken  lassen.  Erst  als 
neuerliche  Progression  eintrat  und  Erblindung  drohte,  wurde 
operiert  (Hofrat  Eiseisberg).  Leider  erlag  der  Kranke  schon 
dem  ersten  Eingriffe.  Bei  der  Autopsie  wurde  ein  großer,  gut  ab¬ 
gegrenzter  Tumor  des  Akustikus  gefunden;  keine  Zeichen  einer 
Hirnlues.  Dieser  Fall  mahnt  im  Vereine  mit  anderen  Erfahrungen 
und  der  eben  mitgeteilten  Beobachtung  Economos  zur  Vorsicht, 
wenn  bei  sonst  gut  fundierter  Diagnose  eines  Akustikustumors  die 
Frage  einer  Lues  aufgerollt  wird. 

Der  zweite  Fall  bestätigt  die  Angabe  Economos,  daß  in 
Wien  im  Krankenhause  seltener  typische  Fälle  von  Akustikus1- 
tumoren  beobachtet  werden.  Das  junge  Mädchen  hatte  schon  drei 
Jahre  lang  Erscheinungen  u.  zw.  von  seiten  des  Gehörs.  Zur 
Zeit  der  Spitalsaufnahme  bestand  linkseitige  Taubheit,  doppel¬ 
seitige  Stauungspapille,  Areflexie  der  linken  Kornea.  Späterhin 
gesellte  sich  noch  eine  bilaterale  homonyme  Hemianopsie  hinzu, 
welche  erst  durch  die  Operation  ihre  Erklärung  fand.  Sonst  fehlten 
alle  Symptome,  namentlich  zerebellare,  vollständig.  Die  Ope¬ 
ration  (Priv.-Doz.  Clairmont  —  Klinik  v.  Eis  eis  borg)  zeigte 
schon  beim  ersten  Akte  ein  derartiges  Vorquellen  des  Okzipital¬ 
lappens,  daß  dadurch  die  Hemianopsie  erklärt  schien.  Der  Tumor 
ging  vom  linken  Akustikus  aus,  war  derb  und  gut  abgegrenzt  und 
hatte  sich  in  die  Felselnbeinpyramide  geradezu  eingegraben.  Er 
war  weit  über  haselnußgroß.  Die  Patientin  verließ  das  Kranken¬ 
haus  geheilt,  jedoch  war  die  Optikusatrophie  weiter  fortge¬ 
schritten. 

d)  Priv.-Doz.  Dr.  Bäräny  demonstriert  das  Gehirn  eines  in 
der  Klinik  v.  Wagner  verstorbenen  57jährigen  Patienten,  bei 
welchem  die  von  Bäräny  auf  Grund  der  Untersuchung  des 
Vestibularapparates  gestellte  Diagnose  Tumor  cerebelii  (vermis 
sinistri)  durch  die  Obduktion  bestätigt  wurde.  Zur  Zeit  der 
Stellung  der  Diagnose,  am  1.  September  1910,  war  der  sonstige 
neurologische  Befund  negativ,  es  war  keine  Stauungspapille  vor¬ 
handen,  jedoch  bestanden  psychische  Störungen.  Die  Ohrunter¬ 
suchung  ergab:  Trommelfell  beiderseits  normal.  Gehör  für  akzen¬ 
tuierte  Flüstersprache  rechts  2  m,  links  lm,  Rinne  positiv, 
Knochenleitung  etwas  verkürzt,  hohe  und  tiefe  Töne  (C,  c*)  eben¬ 
falls  verkürzt,  also  Befund  einer  Läsion  des  schallperzipie- 
renden  Apparates  derzeit  mäßigen  Grades.  Die  Untersuchung  des 
Vestibularapparates  ergab:  kein  spontaner  Nystagmus.  Anschei¬ 
nend  etwas  Einschränkung  des  Blickes  nach  aufwärts.  Fallen 
nach  hinten  und  links  bei  allen  Kopfstellungen.  Kein  Vorbeizeigen 
befm  Zeigeversuch.  Kein  Nystagmus  bei  raschen  Kopfbewegungen. 
Ausspülung  rechts  kalt,  ergibt  starken  typischen  Nystagmus,  kein 
subjektiver  Schwindel,  keine  Uebelkeiten.  Fällen  typisch  nach 
rechts,  bei  entsprechender  Aenderung  der  Kopfstellung  nach  vorne 
und  rückwärts.  Zeigt  typisch  während  der  Dauer  der  Reaktion 
mit  beiden  Händen  vorbei.  Ausspülung  links,  kalt,  ergibt  starken 
typischen  Nystagmus,  typisches  Vorbeizeigen  beider  oberen  Extre¬ 
mitäten,  fällt  jedoch  bei  allen  Kopfstellungen  nach  links  und 
hinten.  Ein  Fallen  nach  vorn  nicht  zu  erzielen,  selbst  wenn  man 
versucht,  ihn  nach  vorne  zu  ziehen. 

Aus  dem  Ausbleiben  der  Fallreaktion  beim  Ausspritzen  des 
linken  Ohres  schloß  ich,  daß  die  linken  Vestibularisfasern,  die 
zur  Rinde  des  Wurmes  derselben  und  der  Gegenseite  ziehen,  unter¬ 
brochen  sind.  Ich  konnte  nicht  an  eine  Zerstörung  der  Rinde 
des  Wurmes  denken,  weil  sonst  auch  von  der  anderen  Seite 
her  kein  Fallen  nach  vorwärts  hätte  erzielt  werden  dürfen.  Tat¬ 
sächlich  hat  die  allerdings  erst  drei  Monate  später  vorgenommene 
Obduktion  nach  einem  langen  Krankheitsverlaufe,  der  wieder¬ 
holt  Bedenken  an  der  Richtigkeit  der  ursprünglich  gestellten 
Diagnose  hervorrief,  meine  zuerst  gestellte  Diagnose  bestätigt. 

Der  Obduktionsbefund  (Dr.  Erdheim)  lautet:  Ueber  walnußr 
große,  glattwandige  Zyste  im  Oberwurm,  etwas  mehr  nach  links 
sich  erstreckend  Blutungen  in  die  Zystenwand  und  bräunliche 
Verfärbung  des  serösen,  klaren  Zysteninhalts.  Der  Tumor  ist 
nach  oben  von  den  Windungen  des  Oberwurms  überzogen,  der 
Zystenboden  wird  durch  das  Dach  des  vierten  Ventrikels  gebildet. 
Eine  Kommunikation  der  Zyste  mit  dem  vierten  Ventrikel  besteht 

Vpti.i  wörtlicher  Redakteur:  Karl  Kn  basta 


nicht.  Mäßige  Erweiterung  beider  Seitenventrikel.  Geringgradige 
Abplattung  der  Windungen  beider  Großhirnhemisphären.  Somati¬ 
scher  Befund  belanglos.  Eine  genauere  Würdigung  des  Falles 
auf  Grund  des  histologischen  Befundes  ist  beabsichtigt. 

e)  Vortrag  Priv.-Doz.  Dr.  W.  Falta:  Uebter  U  eberf  u  nk- 
tion  und  Konstitution.  (Erscheint  ausführlich.) 


Programm 

der  am 

Freitag  den  20.  Januar  1911,  um  7  Utir  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Prof.  Ferd.  Hochstetten  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Prof.  A.  Pilcz :  Zur  Prognose  und  Therapie  der  progressiven 
Paralyse. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Hofrat  Weichselbaum, 
Prof.  Gärtner,  Dr.  Hecht  und  Köhler,  Clairmont  und  Haudek, 
S.  Federn. 

Bergmeister,  Paltauf. 

Um  die'reclitzeitige  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen, 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerkungen 
dem  Schriftführer  noch  am  Sitzungsabend  zu  übergeben. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  findet  im  Hörsaale  der  Klinik  Strümpell  Donnerstag 
den  1!).  Januar  1911,  um  7  Uhr  abends,  statt. 

(Vorsitz:  Prof.  Dr.  Schlesinger.) 

Programm: 

1.  Demonstrationen  (angemeldet:  Dr.  Förster,  Dr.  Liclitenstern, 
Dr.  Goldschmied). 

2.  Dr.  G.  Schwarz:  Krankenverstellung  zum  Reich  eschen 
Röntgenbefund  bei  tiefgreifendem  Ulcus  ventriculi. 

3.  Dr.  Marlin  Haudek:  Zur  Frage  der  Antiperistaltik.  (Vorläufige 

Mitteilung).  Das  Präsidium. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  28.  Januar  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Sitzungssaale  des  Kollegiums,  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz 
des  Herrn  Hofrates  Prof.  Cliiari  stattfindenden  wissenschaftlichen 

Versammlung. 

Prof.  Dr.  G.  Singer:  Diagnose  und  Theraphie  der  Erkrankungen 
des  unteren  Darmabschnittes. 


Gesellschaft  für  physikalische  Medizin. 

Programm  der  am  Mittwoch  den  25.  Jänner  1911,  um  7  Uhr  abends,  im 

Hörsaale  der  Klinik  Noorden,  unter  dem  Vorsitze  von  Priv.-Doz.  Dr.  Max 
Herz  stattfindenden  Sitzung. 

1.  Schluß  der  D  i  s  k  u  s  s  i  o  n  zu  den  Vorträgen  über  die  Diagnose 
und  Therapie  der  Tuberkulose. 

2.  Kurze  administrative  Sitzung  (Bericht  über  die  wissenschaftliche 
Tätigkeit  und  den  Kassastand,  Neuwahlen). 

Kollegen  als  Gäste  willkommen. 

Dr.  Max  Kahane,  I.  Sekretär.  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz,  Präsident. 


Einladung 

zu  der  Donnerstag  den  19.  Januar  1911,  um  7  Uhr  abends,  im 
Sitzungssaale  der  Witwen-  und  Waisen-Sozietät  des  Wiener  Mediz.  Doktoren¬ 
kollegiums,  I.,  Rotenturmstraße  19,  stattfindenden 

General  Versammlung 

des  Unterstützungsvereines  für  Witwen  und  Waisen  jener  Mitglieder  des 
Wiener  Mediz.  Doktoren-Kollegiums,  welche  in  die  Witwen-  und  Waisen- 
Sozietät  nicht  einverleibt  waren.  (Viszänik-Vivenot-Verein). 

Verlag  von  Wilhelm  Braumttller  in  Wien 


Druck  von  Bruno  Rartelt.  Wien  XV HL.  Theresien nasse  3. 


Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

G.  Braun,  0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner.  S.  Exner.  E.  Finger,  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko,  H.  Meyer,  J,  Moeller, 
K.  v.  Noorden.  H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 

Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Theodor  Escherich.  Alexander  Fraenkel.  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg.  Ernst  Ludwig 
Edmund  v.  Neusser,  Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumöller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuohhändler,  VIII/i,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618 


XXIV.  Jahrg. 


Wien,  26.  Januar  1911 


Nr.  4 


INH 

1.  Originalartikel :  1.  Ueber  die  Hemmung  der  Adrenalingiykosurie 
durch  Pankreaspräparate.  Von  Otto  v.  Fürth  und  Carl 
Schwarz.  S.  115. 

2.  Ueber  die  Entstehung  des  melanotischen  Hautpigments.  Von 
Prof.  Dr.  K  reib  ich,  Prag.  S.  117. 

3.  Aus  Professor  Wullsteins  chirurgischer  und  orthopädischer 
Privatkiinik,  Halle  a.  S.  Genickstarre  und  Heilserum.  Von 
Dr.  Emil  Schepelmann.  Assistenzarzt  der  Klinik.  S.  118. 

4.  Aus  der  Unfallstation  der  I.  chirurgischen  Klinik.  (Vorstand: 
Prof.  Freih.  v.  Eiseisberg.)  Nagelextension  aus  dringlicher 
Indikation.  Von  Dr.  Hans  Ehrlich,  Assistenten  der  Klinik. 

S.  132. 

II.  Referate :  Ueber  die  Natur  und  die  Herkunft  des  Trachom¬ 
erregers  und  die  bei  seiner  Entstehung  zu  beobachtende  Er¬ 
scheinungen  des  Gonokokkus  Neisser.  Von  H.  Herzog.  Mikro- 
skopiske  Undersogelser  over  Bugspyt  kirtelens  normale  og 


Ueber  die  Hemmung  der  Adrenalingiykosurie 
durch  Pankreaspräparate.*) 

Von  Otto  v.  Fürth  und  Carl  Schwarz. 

Die  Lehre  von  den  B  e  z  i  e h  ungen  der  B a n c'h- 
speicheldrüse  zu  ml  Kohl  eh  y  dratstof  f  wechse  1  ge¬ 
hört  heute  sicherlich  zu  den  bestfundierten  Besitztümern 
der  physiologischen  Chemie.  Es  gibt,  aber  noch  ein  anderes 
Organ,  dessen  innersekretorische  Tätigkeit  mit  dem  Kohle- 
hydratstoff Wechsel  in  unmittelbare  Beziehung  gebracht  wird. 
Es  ist  dies  die  Nebenniere.  Seitdem  Blum  in  Frankfurt 
vor  etwa  zehn  Jahren  die  Beobachtung  gemacht  hat,  daß 
die  Injektion  des  blutdrucksteigernden  Bestandteiles  der 
Nebenniere  imstande  ist,  eine  Glykosurie  auszulösen,  hat 
diese  Erscheinung  immer  und  immer  wieder  das  Interesse 
sowohl  der  Kliniker,  als  auch  der  Physiologen  in  Anspruch 
genommen.  Heute  steht  namentlich  die  Frage  im  Vorder¬ 
gründe  des  Interesses,  oh  die  innere  Sekretion  der 
Nebenniere  (also  der  Uebergang  des  Adrenalins  oder 
Suprarenins  in  den  allgemeinen  Kreislauf)  mit  der  Mobili¬ 
sierung  der  Kohlehydrate,  also  mit  dem  Uebergange 
von  Glykogen  in  Zucker  unter  normalen  physiologischen 
Bedingungen  in  unmittelbarer  Beziehung  stehe. 

Die  Annahme,  daß  die  innere  Sekretion  eines  Organes, 
des  Pankreas,  die  Kohlehydratmobilisierung  hemmt,  die¬ 
jenige  eines  anderen  Organes,  der  Nebenniere,  dagegen 


*)  Vortrag,  gehalten  in  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  am 

13.  Januar  1911. 


L  T: 

patologiske  Anatomi  hoorunder  forholdene  ved  en  del  Tilfaelde 
af  Sukkersyge.  Von  K.  A.  Heiberg.  Das  Virulenzproblem 
der  pathogenen  Bakterien.  Von  Edv.  Laurent.  Atlas  und 
Grundriß  der  Bakteriologie  und  Lehrbuch  der  speziellen  bak¬ 
teriologischen  Diagnostik.  Von  K.  B.  Lehmann  und 
R.  0.  Neumann.  Zur  Frage  über  den  Erreger  der  echten  und 
Schutzpocken.  Von  M.  Rabinowitsch.  Kompendium  der 
praktischen  Bakterienkunde.  Von  E.  Küster  und  A.  Geisse. 
Praktikum  der  Bakteriologie  und  Protozoologie.  Von  k  iß  kalt 
und  Hart  mann.  Ref. :  A.  Ghon. 

III.  Aus  verschiedeueu  Zeitschriften. 

IV.  Vermischte  Nachrichten. 

V.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


die  Kohlehydratmobilisierung  fördert,  mußte  naturgemäß  zu  • 
der  Vorstellung  hinleiten,  daß  zwischen  Pankreas  und 
Nebenniere  ein  physiologischer  Antagonismus  be¬ 
stehe  und  hat  es  nicht  an  Versuchen  gefehlt,  den  direkten 
Beweis  für  einen  solchen  zu  erbringen. 

Diese  Versuch e  schienen  zu  einem:  greifbaren  Resultate 
geführt  zu  haben,  als  Zuelzer1)  aus  Berlin  am  Internisten¬ 
kongresse  des  Jahres  1907  durch  die  Mitteilung  Aufsehen 
erregte,  daß  es  gelinge,  durch  Injektion  von  Pankreaspräpa¬ 
raten  die  Adrenalingiykosurie  zu  hemmen.  Die  Glykosurie, 
welche  die  natürliche  Folge  einer  Adrenalininjektion  zu  sein 
pflegt,  bleibe  aus,  wenn  man  dem  Tiere  vorher  etwas  Pan¬ 
kreassubstanz  injiziert,  habe 

Die  Wahrnehmung  Zuelzers  wurde  von  zahlreichen 
Beobachtern  bestätigt,  so  von  Biedl  und  Offer,2)  Fru- 
goni,3)  Makaroff,4)  Gautredet,5 *)  Forschbach0)  und 
namentlich  auch  von  Glaessner  und  Pick.7)  An  der  Er¬ 
scheinung  als» solcher  ist  also  sicherlich  nicht  zu  zweifeln. 
Die  Letztgenannten  haben  auch  festgestellt,  daß  die  Adre- 
nalinglykosurie  ebenso  wie  durch  Pankreasextrakt,  auch 


J)  Zuelzer,  Verhandlungen  des  Kongresses  für  innere  Medizin 
1907,  S.  258.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1907,  S.  474. 

2)  Biedl  und  Offer,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1907,  S.  1530. 

3)  Frugoni,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1908,  Nr.  35,  S.  1606: 
Archiv  ital.  de  Biol.  1908,  Bd.  4,  S.  209. 

4)  Makaroff,  La  Presse  medicale,  8.  Juli  1908,  S.  434. 

6)  Gau tr eiet,  C.  R.  Soc.  de  Biol.  1908,  Bd.  68,  S.  173  u.  174. 

8)  Forschbach,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1909,  Bd.  35, S. 2053. 

7)  Glaessner  und  Pick,  Zeitschr.  für  exper.  Pathologie  und 
Therapie  1909,  Bd.  6,  S.  313. 


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Nr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


du r cli  subkutane  Injektion  von  Pankreassaft  gehemmt  wer¬ 
den  könne. 

Der  Vorstellung  folgend,  daß  das  innere  Sekret  des 
Pankreas,  welches  den  Kohlehydratstoffwechsel  so  mächtig 
beeinflußt,  in  die  aus  den  Unterleibsorganen  abströmende 
Lymphe  übergehen  könne,  haben  Biedl  und  Offer  die 
Lymphe  des  Duc'tus  Ihoracicus  geprüft  und  gelang 
es  ihnen  tatsächlich  durch  Injektion  entsprechend  großer 
Dosen  derselben,  die  Adrenalinglykosurie  herabzusetzen 
oder  auch  ganz  zu  verhindern. 

Zuelzer* * 8)  bemühte  sich  nun  weiterhin,  seine  Beob¬ 
achtung  der  Therapie  des  menschlichen  Diabetes 
dienstbar  zu  machen.  Dieses  Bemühen  wurde  durch  die 
hochgradige  Giftigkeit  von  Pankreaspräparaten,  die  wohl  in 
erster  Linie  durch  ihren  Trypsingehalt  bedingt  ist,  sehr 
erschwert.  Zuelzer  glaubte  aber  doch,  durch  ein  Ver¬ 
fahren,  das  er  geheim  hält,  seine  Pankreashormone  (also 
den  wirksamen  Bestandteil  des  Pankreassekretes)  so  weit 
entgiftet  zu  haben,  daß  er  den  Versuch  wagte,  dasselbe  Dia¬ 
betikern  intravenös  zu  injizieren.  Er  teilt  nun  mit,  daß  es 
ihm  so  gelungen  sei,  in  einer  Reihe  von  Diabetesfällen  die 
Ausscheidung  des  Zuckers,  resp.  der  Azetonkörper  vorüber¬ 
gehend  zu  unterdrücken.  Es  muß  jedoch  dazu  bemerkt 
werden,  daß  die  intravenösen  Injektionen  von  „Pan¬ 
kreashormon“  oft  von  Schüttelfrost,  mehrtägigem  Fieber 
und  schlechtem  Befinden  gefolgt  waren. 

Die  Zu elz ersehen  Versuche  sind  auch  von  Eppin- 
ger,  Falt  a  und  Ru  ding  er9)  bei  ihren  Untersuchungen 
über  die  Wechselwirkung  der  Drüsen  mit  innerer  Sekre¬ 
tion  herangezogen  worden,  um  die  Auffassung  zu  stützen, 
daß  zwischen  Pankreas  und  chromaffinem  System  eine 
wechselseitige  Hemmungswirkung  bestehe.  Sie  deuten 
die  Zu  elz  ersehen  Versuche  in  der  Art,  daß  der  durch 
die  Adrenalininjektion  im  Uebermaße  mobilisierte  Zucker 
deswegen  nicht  mit  dem  Harne  ausgeschieden  werde,  weil 
die  gleichzeitige  künstliche  Ueberschwemmung  des  Körpers 
mit  Pankreasprodukten  eine  abnorm  intensive  Zuckerver¬ 
brennung  zur  Folge  habe. 

Alle  in  dieser  und  ähnlicher  Richtung  aus  den  Zuel¬ 
zer  sehen  Versuchen  gezogenen  Schlußfolgerungen,  eben¬ 
so  wie  die  Versuche  einer  therapeutischen  Anwendung  des 
Pankreashormons  basieren  selbstveiständlicherweise  auf  der 
Vorstellung,  daß  wir  es  bei  der  Aufhebung  der  Adrenalin¬ 
glykosurie  durch  Injektion  von  Pankreaspräparaten  mit  einer 
spezifischen  Organwirkung  zu  tun  haben,  die  mit 
der  normalen  physiologischen  Funktion  des  Pankreas  un¬ 
mittelbar  zusammenhängt. 

Zweifel,  welche  gerade  in  bezug  auf  diesen  wesent¬ 
lichen  Punkt  in  uns  rege  geworden  sind,  haben  uns  nun 
dazu  geführt,  der  Frage  nachzugehen,  ob  wir  es  hier  den 
wirklich  mit  einer  ganz  spezifischen  Organwirkung 
des  Pankreas  zu  itun  haben. 

Gelegentlich  einer  früheren  Untersuchung  hatten  wir 
uns  mit  dem  Einflüsse  infraperitonealer  Injektionen  von 
Trypsin  und  Pankreasgewebe  auf  den  Eiweißzerfall  beschäf¬ 
tigt.  Wir  hatten  dabei  vielfach  Gelegenheit  gehabt,  uns 
davon  zu  überzeugen,  daß  derartige  Injektionen  im  hohen 
Grade  toxisch  wirken,  vor  allem  aber  einen  sehr  heftigen 
perionealen  Reiz  ausüben.  Es  lag  nun  ziemlich  nahe, 
daß  wir  uns  die  Frage  vorlegten,  ob  denn  nicht  etwa  auch 
ein  peritonealer  Reiz  als  solcher  eine  Hemmung  der'  Adre¬ 
nalinglykosurie  herbeiführen  könne. 

Wir  gingen  nun  zunächst  derart  vor,  daß  wir  die 
allgemein -toxische  Wirkung  der  Pankreasinjektionen  durch 
immunisatorische  Vorbehandlung  der  Tiere  mit  steigenden 
Trypsindosen  nach  Achalmes  Vorgang  abschwächten.  Je¬ 
doch  auch  nach  einer  solchen  Vorbehandlung  gelang  es 
stets,  die  Adrenalinglykosurie  glatt  zu  hemmen,  wenn  wir 

e)  Zuelzer,  Zeitschr.  für  exper.  Pathologie  und  Therapie  1809, 

Bd.  5,  S.  306.  —  Zuelzer,  Dohrn  und  Marx  er,  Deutsche  med. 

Wochenschrift  1908,  Nr.  32,  S.  1380. 

9)  Epp  in  ge  r,  Falt  a  und  Ru  dinger,  Zeitschr.  für  klin.  Medizin 

1908,  Bd.  66,  S.  27. 


dem  Tiere  5  bis  10  g  lein  zerkleinerten,  sterilen  Pankreas¬ 
gewebes  intraperitoneal  injiziert  hatten.  Soweit  vermochten 
wir  also  die  Zu  elz  ersehen  Befunde  durchaus  zu  bestätigen. 

Da  wir  aber  die  intraperitoneale  Injektion  von  Pan¬ 
kreasgewebe  meist  von  exsudativen  und  adhäsiven  Entzün¬ 
dungen,  oft  verbunden  mit  Fettgewebsnekrose,  gefolgt  sahen, 
ersetzten  wir  dieselbe  durch  intraperitoneale  Injektionen 
von  Terpentinöl  oder  Aleuronat,  um  so  eine  peritoni- 
tische  Reizung  durchaus  unspezifischer  Natur  zu  erzielen.  Es 
gelang  so  bei  den  meisten,  wenn  auch  nicht  bei  allen  Ver¬ 
suchen,  die  Adrenalinglykosurie  ebenso  prompt  zu 
hemmen,  wie  durch  eine  P  a  n  k  r  e  a  s  i  n  j  e  k  ti  o  n. 

Als  wir  nun  über  die  Ursache  dieser  Hemmungswir¬ 
kung  Klarheit  zu  erlangen  suchten,  wurden  wir  durch  eine 
wichtige  Untersuchung,  welche  Leo  Po llak10)  kürzlich  im 
hiesigen  pharmakologischen  Institut©  ausgeführt  hatte,  auf 
den  richtigen  Weg  gelenkt.  Aus  derselben  geht  hervor,, 
daß  der  Eintritt  und  das  Ausbleiben  einer  Adrenalinglykos¬ 
urie  in  hohem  Grade  von  der  Intensität  der  gleichzeitig  be¬ 
stehenden  Diurese  abhängt.  Eine  mäßige  Erhöhung  des 
Blutzuckerniveaus  durch  die  Adrenalinwirkung  führt  nicht 
unter  allen  Umständen  zu  einer  Glykosurie,  sondern  nur 
dann,  wenn  gleichzeitig  eine  kräftige  Diurese  besteht. 

Wir  erwarteten  nun  zunächst,  daß  bei  der  peritonealen 
Reizung  eine  durch  einen  Krampf  der  Nierengefäße 
bedingte  Diuresenhemmung  ausgelöst  werde;  um  so  mehr, 
als  Roy  und  Bradford  Kontraktionen  der  Niere  nach  Rei¬ 
zung  des  zentralen  Ischiadikus-  und  Vagusstumpfes  beob¬ 
achtet  hatten.  Doch  war  dies  nicht  der  Fall.  Selbst  heftige 
peritoneale  Reize  brachten  eine  Salzdiurese  nicht  zur  Ab¬ 
nahme  und  auch  die  normale  Harnsekretion  eines  nicht, 
narkotisierten,  in  einem1  Pawlow sehen  Gestelle  fixierten 
Blasenfistelhundes  nahm  nach  einer  intraperitonealen  Ter¬ 
pentininjektion  nicht  wesentlich  ab. 

Die  Sachlage  klärte  sich  erst  auf,  als  wir  uns  nicht 
damit  begnügten,  die  Menge  der  Harnflüssigkeit  zu 
messen,  sondern  auch  ihren  Stickstoff-  und  Chlorid- 
g  e  h  a  1 1  bestimmten. 

Nunmehr  zeigte  sich  als  Folge  einer  intraperitonealen 
Injektion  von  Terpentinöl  oder  Pankreassubstanz  ein  sehr 
greifbarer  Effekt :  Während  die  Menge  des  ausgeschiedenen 
HarnWassers  in  wenig  auffallender  Weise  oder  auch 
gar  nicht  vermindert  sein  mußte,  sank  die  Menge  des  Harn¬ 
stickstoffes  und  in  noch  höherem  Maße  die  Menge  des 
Kochsalzes  im  Harne  jäh  ab,  meist  auf  einen  Bruchteil 
des  normalen  Wertes,  der  durch  entsprechend  angeordnete 
Kontrollversuche  ermittelt  worden  war. 

Wir  glauben,  in  diesen  Beobachtungen  den  Schlüssel 
zum  Verständnis  der  Tatsache  in  Händen  zu  halten,  wieso 
ein  peritonealer  Reiz  (er  möge  nun  durch  die  Injektion  von 
Pankreasgewebe,  von  Terpentin,  Aleuronat  a.  dgl.  bedingt 
sein)  eine  Hemmung  der  Adrenalinglykosurie  hervorzurufen 
vermag.  Die  Niere,  welche  infolge  desselben  in  bezug  auf  die 
Kochsalzausscheidung  insuffizient  wird,  versagt  eben  auch 
in  bezug  auf  den  an  sich  weniger  harnfähigen  Zucker. 
Die  Niere  wird  daher  auf  eine  Erhöhung  des  Blutzuciker- 
niveaus,  die  unter  normalen  Verhältnissen  zur  Glykosurie 
führen  würde,  nicht  mit  einer  solchen  reagieren,  vielmehr 
den  Zucker  im  Blute  zurückhalten,  bis  er  schließlich  der 
Verbrennung  in  den  Geweben  anheimgefallen  ist.  Daß  aber 
eine  solche  Blutzuckererhöhung  beim  Zuelzerschen 
Versuche  wirklich  stattfindet,  daß  also  das  Adrenalin  trotz 
der  Ueberschwemmung  des  Körpers  mit  Pankreasprodukten 
in  normaler  Weise  zu  einer  Zuckermobilisierung  führt,  haben 
wir  durch  Blutzuckeranalysen  festgestellt. 

Es  sei  bei  dieser  Gelegenheit  auf  die  den  Klinikern 
wohlbekannte  Tatsache  hingewiesen,  daß  Schädigungen 
der  Nierentätigkeit,  wie  sie  insbesondere  im  Verlaufe 
von  Nierenerkrankungen  auftreten,  die  Zuckerausscheidung 
bei  Diabetikern  herabzusetzen  vermögen.11) 

10)  L.  Pollak,  Archiv  f.  exper.  Pathologie  1909,  Bd.  61,  S  149 

n)  Vgl.  v.  Noorden,  Handbuch  der  Pathologie  des  Stoffwechsels 
1907,  Bd.  2,  S.  67. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Unsere  Versuche  haben  uns  also  zu  der  Schlußfolge¬ 
rung  geführt,  daß  die  Hemmung  der  Adrenalinglykosurie  in¬ 
folge  einer  intraperitonealen  Injektion  von  Pankreasgewebe 
durch  den  peritonealen  Reiz  bedingt  ist,  welcher  die 
Nierentätigkeit  schädigt.  Wir  können  so  die  Erscheinung  in 
ungezwungener  Weise  erklären,  ohne  zu  der  Annahme  eines 
geheimnisvollen  Antagonismus  zwischen  den  „Hormonen“ 
des  Pankreas  und  der  Nebenniere  greifen  zu  müssen. 

Diese  Erklärung  gilt  zunächst  für  jene  Versuche,  bei 
denen  das  Pankreas  intraperitoneal  verabreicht  worden 
ist,  nicht  aber  ohneweiters  für  jene  Versuche,  bei  denen  es 
auf  subkutanem^,  bzw.  intravenösem  Wege  beige¬ 
bracht  wurde. 

Bei  objektiver  Betrachtung  der  Sachlage  wird  mlan 
sich  aber  folgendes  zu  vergegenwärtigen  haben: 

Aus  zahlreichen  Literaturangaben  geht  hervor,  daß 
Schädlichkeiten  der  verschiedensten  Art  befähigt 
sind,  die  Adrenalinglykosurie  zu  hemmen;  so  Fieber,  Nieren¬ 
schädigungen  und  Diuresenhemmung,  ferner  (wie  aus  den 
Untersuchungen  von  Biedl  und  Offer,  sowie  Glaessner 
und  Pick  u.  a.  hervorgeht)  Injektion  von  Witte-Pepton, 
Hirudin  und  anderer  Lymphagogis  usw. 

Daß  aber  auch  die  subkutane  Applikation  von  Pan¬ 
kreasgewebe,  Pankreassaft  oder  Trypsin  eine  Schädlichkeit 
sehr  ausgesprochener  Art  ist,  unterliegt  keinem  Zweifel. 
Achalme  sah  z.  B.  bei  Meerschweinchen  nach  subkutaner 
Injektion  von  Pankreatinlösungen  ausgedehnte  Nekrosen  auf- 
treten  und  v.  Bergmann  sah  Hunde,  denen  er,  ohne  im¬ 
munisatorische  Vorbehandlung,  ein  ganzes  Pankreas  eines 
anderen  Hundes  implantiert  hatte,  stets  innerhalb  zwanzig 
Stunden  zugrunde  gehen.  Man  spricht  daher  mit  Recht  von 
einer  Toxizität,  welche  das  Pankreas  von  anderen  Or¬ 
ganen  unterscheidet  und  die  es  seinem!  Trypsingehalte  ver¬ 
dankt. 


Also  auch  bei  -subkutaner  und  intravenöser  Appli¬ 
kationsweise  von  Pankreaspräparaten  könnte  die  Hemmung 
der  Adrenalinglykosurie  sehr  wohl  durch  derartige  Schäd¬ 
lichkeiten,  die  mit  „Hormonen“  nicht  das  geringste  zu  tun 
haben,  erklärt  werden.  Jedenfalls  würde  es  eingehender 
und  sorgfältiger  Untersuchungen  bedürfen,  um  den  Einfluß 
derartiger  Fehlerquellen  auszuschließen. 


Vorderhand  aber,  solange  derartige  Untersuchungen 
nicht  vorliegen,  können  wir  Beobachtungen  über  die  Hem¬ 
mung  der  Adrenalinglykosurie  durch  Pankreaspräparate 
nicht  als  vollen  Beweis  für  einen  Antagonismus  zwischen 
den  „Hormonen“  des  Pankreas  und  der  Nebenniere  gelten 
lassen. 

Um  Mißverständnissen  vorzubeugen,  betonen  wir,  daß 
uns  nichts  ferner  liegt.,  als  den  mächtigen  und  zweifellosen 
Einfluß  des  lebenden  Pankreas  auf  den  Kohlehydratstoff¬ 
wechsel  in  Diskussion  ziehen  zu  wollen.  Es  handelt  sich 
vielmehr  um  die  Frage,  ob  es  bereits  ganz  oder  teilweise 
gelungen  sei,  das  wirksame  Agens,  'welches  diese  mäch¬ 
tige  und  geheimnisvolle  Wirkung  auf  die  Zuckerverbrennung 
im  Organismus  übt,  das  „Pankreas -Hormon“  auf  prä- 
paratorischem  Wege  extra  corpus  zu  bereiten.  In  dieser  Hin¬ 
sicht  vermögen  wir  uns  allerdings  gewichtigen  Zweifeln  nicht 
zu  verschließen;  —  vor  allem-  aber,  was  die  praktische  Seite 
der  Frage  betrifft,  halten  wir  die  Versuche,  den  menschlichen 
Diabetes  durch  intravenöse  Injektion  von  sogenanntem  Pan¬ 
kreashormon  therapeutisch  beeinflussen  zu  wollen,  für  phy¬ 
siologisch  ungerechtfertigt  und  —  angesichts  ihrer  Gefähr¬ 
lichkeit  —  für  unstatthaft. 

Schließlich  möchten  wir  darauf  hinweisen,  daß  man 
fortan  bei  jeder  den  Kohlehydratstoffwechsel  betreffenden 
‘  Untersuchung  mit  dem  Umstande  zu  rechnen  haben  wird, 
daß  Schädlichkeiten  und  Eingriffe,  welche  die  Ausscheidung 
des  Harnwassers  nicht  einmal  merklich  beeinflussen  müssen, 
dennoch  eine  Schädigung  der  Nierenfunktion  im 
Sinne  einer  Hemmung  der  Zuckerausscheidung  her- 
beiftihren  können.  Wie  leicht  eine  solche  Sekretions  hem¬ 


mung  grobe  Täuschungen  hinsichtlich  der  Vorgänge  des 
Kohlehydratstoffwechsels  veranlassen  kann,  hegt  auf  der 
Hand. 


Ueber  die  Entstehung  des  meianotischen 
Hautpigments, 

Von  Prof.  Dr.  Kreibicli,  Prag. 

Studien  über  das  Vorkommen  lipoider  Substanzen  bei 
Hauterkrankungen  führten  zu  einem  Befund,  über  den  im 
folgenden  vorläufig  berichtet  werden  soll,  während  die  brei¬ 
tere  Darstellung  des  Gegenstandes  einem  Fachblatte  Vor¬ 
behalten  bleiben  (muß. 

Untersuchungsmaterial  waren  die  Vegetationen  eines 
Pemphigus  vegetans,  bei  welchem  sich  nach  Salvarsan 
eine  rasch  auftretende  (Arsenmelanose  entwickelte.  Die  Unter¬ 
suchung  wurde  an  Gefrierschnitten  von  unfixiertem  oder  in 
Förmol  fixiertem  Gewebe  vorgenommen. 

Im  Sinne  Meirowskys  finden  sich  im  Epithel  zwei 
Arten  von  Pigment,  das  Pigment  der  Chromatophoren 
und  das  der  Melanoblasten.  Ersteres  hegt  in  einge¬ 
wanderten  Kutiszelle-n,  ist  durch  größere  runde  Körner, 
durch  intensivere  Eigenfarbe,  durch  seine  große  Affinität  zu 
Silbernitrat  und  zu  blauen  Anilinfarben  gut  charakterisiert. 
Von  größerer  Bedeutung  für  die  Frage  ist  folgender  Befund : 

Zwischen  den  Basalzellen  finden  sich  weitverzweigte 
Zellen,  die  ihre  Ausläufer  in  das  Rete  und  weit  unter  die 
Basalzellen  erstrecken.  Sie  sind  leicht  als  Melanoblasten 
zu  erkennen.  Ausschließlich  diese  Zellen  enthalten  in  ihrem 
Zelleib  deutliche  Kristalle,  die  wir  der  Einfachheit  halber  als 
Lipoidkristalle  bezeichnen,  da  sie  Affinität  zu  Sudan  III 
zeigen  und  sich  damit  gelbrot  färben.  Ihre  Größe  geht  oft 
über  die  des  Tuberkelbazillus  hinaus  und  ihr  Kristallcha¬ 
rakter  Lommt  am  besten  in  dem  vollständig  unbehandelten 
Gefrierschnitt  zum  Vorschein,  wobei  es  gleichgültig  ist,  ob 
das  Gewebe  in  Formol  fixiert  ist  oder  nicht.  Die  sich  viel¬ 
fach  überkreuzenden  Nadeln  lagern  sich  im  Zelleib  um 
den  großen  Kern,  steigen  in  Längsreihen  oder  Querstellung 
in  die  Fortsätze  hinauf,  liegen  daselbst  schon  vielfach  neben 
Kristallen,  die  eine  dünklere  Eigenfarbe  zeigen,  oder  neben 
kürzeren,  immer  noch  kristallinischen  Gebilden,  die  an¬ 
scheinend  schon  Pigment  sind.  Ob  die-  Enden  der  Fortsätze 
auch  kömehenförmiges  Pigment  enthalten,  oder  ob  diese 
Körnchen  ebenfalls  Kristalle  sind,  deren  Kristallcharakter 
wegen  der  Kleinheit  der  Gebilde  nicht  mehr  zu  erkennen 
ist,  muß  einstweilen  dahingestellt  bleiben.  Legt  man  die  Ge¬ 
frierschnitte  bei  Tageslicht  auf  kurze  Zeit  in  eine  5°/oige 
Argentum  nitrieüm-  Lösung,  so  zeigen  die  Kristalle  eine 
vom1  Zelleib  geigen  die  Förtsatzenden  zu  sich  steigernde 
Affinität  zu  Silber  und  färben  sich  bei  Erhaltung  des  kri- 
stalloiden  Charakters  braun  bis  dunkelschwarz.  Umgekehrt 
verhält  sich  die  Affinität  zu  Sudan,  sie  nimmt  gegen  die 
Fortsätze  ab  und  gegen  den  Kern  hin  zu.  Dazwischen 
liegen  Kristalle,  die  einen  aus  Sudan  und  Eigenfarbe  ge¬ 
mischten  Färbenton  zeigen.  Je  jünger  der  Melanoblast  (an 
schwach  pigmentierten  Stellen)  ist,  desto  mehr  mit  Sudan 
gefärbte  Kristalle,  an  dünkler  pigmentierten  Stellen  mehr 
silberimprägnierte  Kristalle,  schließlich  Pigmentzellen,  deren 
Pigment  durchaus  silberimprägniert  ist.  Dazwischen  aber 
imirner  noch  Zellen,  die  eine  Doppelfärbun-g  in  der  Art  anneh¬ 
men,  daß  im  Zelleib  mit  Sudan  gefärbte  Kristalle,  in  den  Fort¬ 
sätzen  silberimprägnierte  Stäbchen  und  dazwischen  beide 
nebeneinander  liegen.  Es  gelang,  solche  schöne  Präparate 
nach  kurzer  Alkoholanwendung  auch  in  Balsam  zu  fixieren, 
wobei  allerdings,  wie  überhaupt  auch  schon  durch  lange 
Sudanfärbung  (alkoholische  Lösung),  die  Kristallform  leidet, 
hingegen  der  Unterschied  zwischen  rotem  Zelleib  und 
schwarzen  Ausläufern  deutlich  in  Erscheinung  tritt. 

Daß  das  Oberhautpigment  in  Form  von  Kristallen  auf- 
treten  kami,  deutet  auch  Meirowsky  an,  nur  kann  er 
sich  wegen  der  Kleinheit  des  Objektes  nicht  mit  Bestimmt¬ 
heit  darüber  äußern,  woran  wohl  das  verschiedene  Unter- 


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suchungsobjekt,  hier  akute  Arsenmelanose,  dort  Pigmenta¬ 
tion  nach  Finsenbestrahlung,  Schuld  trug. 

Die  oben  geschilderten  Einlagerungen  landen  sich 
nur  in  den  Mel  an  oblas  ten,  in  schwach  pigmentierten 
Hautpartien  sind  letztere  erst  in  größeren  Zwischenräumen 
zwischen  den  Basalzellen  zu  treffen,  an  pigmentierten  Stellen 
rücken  sie  dicht  aneinander,  scheinen  Netze  zu  bilden 
und  geben  Pigment  an  die  anderen  Basal-  und  Retezellen 
ab.  Die  Beschränkung  der  kristalloiden  Einlagerungen  auf 
die  Melanoblasten  trat  noch  deutlicher  hervor  bei  Gefrier¬ 
schnitten  eines  unbehandelten  Falles  von  spitzen  Kon¬ 
dylomen,  woraus  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  hervor¬ 
geht,  daß  der  Vorgang  sich  überall  dort  wird  konstatieren 
lassen,  wo  Melanoblasten  in  gesteigerter  Tätigkeit  zu  beob¬ 
achten  sind. 

Die  beschriebenen  Einlagerungen  in  den  Melanoblasten 
sind  nicht  zu  verwechseln  mit  Lipoidsubstanzen,  die  sich 
mit  Sudan  in  den  höheren  Epidermislagen  dann  nachweisen 
lassen,  wenn  die  Epidermis  über  entzündeter  Ivutis  unter 
besonderen  Ernährungsbedingungen  steht,  wie  unter  Partien, 
wo  sich  Parakeratose  findet,  in  der  Nähe  der  Follikel  oder  in 
Kankroiden.  In  ersteren  Fällen  sahen  wir  tropfenförmige  rote 
Körnchen  um  den  Kern,  bei  letzteren  größere  schollige  und  in 
älteren  Formalinschnitten  eines  Kankroids  auch  kristalli¬ 
nische  Lipoidmassen  in  der  Nähe  des  Kernes.  In  obigen 
beiden  Fällen  waren  diese  Körnchen  oder  tropfenartigen. 
Lipoideinlagerungen,  dort,  wo  sie  vorhanden  waren,  immer 
von  den  basal  gelegenen  Melanoblasten  durch  mehrere  Lagen 
lipoidfreier  Retezellen  getrennt.  Aus  diesem  Befunde  geht 
aber  hervor,  daß  zu  Pigmentstudien  nicht  aus  dem  Zu¬ 
sammenhang  gerissene  Zellen  über  entzündeter  Unterlage 
herangezogen  werden  können,  wie  dies  Prowazek  ge¬ 
tan,  der  nach  Aufstrichpräparaten  von  „Konjunktivazellen“ 
einer  Keratitis  parenchymatosa  mit  Giemsa-Färbung  das 
Pigment  auf  den  Kern  zurückführt. 

Unser  oben  wiedergegebener  Befund  läßt  wohl  mit 
der  für  die  Mikroskopie  gegebenen  Sicherheit  den  Schluß 
zu,  daß  in  den  Melanoblasten  b’ei  gesteigerter 
Funktion  eine  Lipoide  Substanz  auftritt,  die  iin 
engster  Beziehung  zur  Pigmentbildung  stellt.  Ob 
die  Substanz  schon  im  Körper  kristallinisch  vorhanden  ist, 
oder  erst  durch  Abkühlung  kristallisiert,  bleibt  einstweilen  da¬ 
hingestellt.  Ist  obiger  Schluß  richtig,  d  a  n  n  i  s  t  d  a  s  M  e  1  a  ni  n 
den  fetthaltigen  Pigmenten  zuzurechnen,  wie  dies 
bereits  von  Lübars Ch  für  die  „Abnützungspigmente“  in 
Leber,  Niere,  Nebenniere,  Herzmuskulatur,  von  Ober- 
s feiner  und  später  von  Rosin  für  das  Ganglienpigment, 
von  Oberndorfer  für  das  Pigment  der  Samenbläsdhen 
und  von  Rößle  für  das  Pigment  der  Hodenzwischenzellen 
naohgewiesen  ist. 

Unser  Befund  erinnert  am  meisten  an  eine  Beobach¬ 
tung  .von  H.  Joseph,  der  am  Amphioxus  vom  Juni  in  den 
Epidermiszellen  große  Kristalloide  fand,  während  Amphioxus 
vom  Februar  neben  wenigen  Kristallen  vorwiegend  Körn¬ 
chen  aufwies.  Vielleicht  verbirgt  sich  hinter  diesem  Befund 
ein  von  der  Jahreszeit  abhängiger  PigmJentvorgang. 

Der  oben  in  den  Melanoblasten  gefundene  Lipoidkörper 
fließt  in  alkalischer  Sudanlösung  zu  Tropfen  zusammen, 
löst  sich,  soweit  er  Sudanreaktion  gibt,  in  starkem. Alkohol. 
Letztere  Tatsache  erklärt,  warum  er  bisher  am  Zelloidin-  und 
Paraffinschnitt  nicht  gesehen  wurde. 

Prag,  den  17.  Januar  1911. 


Aus  Professor  Wullsteins  chirurgischer  und  ortho¬ 
pädischer  Privatklinik,  Halle  a.  S. 

Genickstarre  und  Heilserum. 

Von  Dr.  Emil  Schepehnann,  Assistenzarzt  der  Klinik. 

Wenn  ich  trotz  der  in  den  letzten  Jahren  so  gewaltig 
angewaohsenen  Genickstaireliteratur  einen  einzigen  Fall  vor 
die  Oeffentlichkeit  bringe,  so  geschieht  es  einmal  wegen 
seines  Auftretens  in  Mitteldeutschland,  an  einer  Stelle,  die 


sonst  seit  den  letzten  Epidemien  von  der  im  Volke  so 
gefürchteten  Krankheit  verschont  blieb,1)  anderseits  aber 
wegen  der  geradezu  frappanten  Beeinflussung  durch  Anti¬ 
meningokokkenserum ;  da  dessen  therapeutischer  Wert 
jedoch  nur  durch  eine  große  Zahl  von  Veröffentlichungen 
sichergestellt  (werden  kann,  so  müssen  auch  vereinzelte 
Fälle  —  wer  in  Mitteldeutschland  wird  auch  wohl  größere 
Erfahrungen  machen  können  - —  publiziert  werden. 

Es  handelt  sich  nun  hier  um  eine  26jährige  Patientin  F.  K. 
aus  München,  welche  am  8.  Juli  1910  zur  Sommerfrische  in  ihre 
- —  angeblich  etwas  feuchte  —  Villa  in  Oberhof  (Thüringen) 
übergesiedelt  war.  Früher  sei  sie  nie  ernstlich  krank  gewesen, 
speziell  in  letzter  Zeit,  habe  sie  keine  Infektionskrankheiten  oder 
Halsentzündungen  durchgemacht.  Am  22.  Juli  1910  erwachte  sie 
morgens  mit  einer  gewissen  Steifheit  des  Nackens,  wie  wenn  sie 
sich  erkältet  hätte,  doch  verschwand  im  Laufe  des  Tages  diese 
Bewegungsbehinderung  wieder.  Nachmittags,  auf  einer  Spazier¬ 
fahrt,  wurde  sie  aus  vollem  Wohlsein  heraus  von  Kopfschmerzen, 
Uehelsein,  dann  Schüttelfrost  und  Erbrechen  befallen.  Auf  eigene 
Initiative  nahm  sie  zweimal  1  g  Pyramidon,  worauf  Kollaps 
und  Abfall  der  vorher  fieberhaft  erhöhten  Temperatur  auf  35-6° 
eintrat.  Abends  wurde  sie  somnolent,  dann  vollständig  bewußt¬ 
los  bis  zum  Morgen  des  25.  Juli  1910.  An  diesem  Tage  kehrte 
das  Bewußtsein  so  weit  zurück,  daß  sie  auf  Anruf  reagierte  und 
richtige  Auskunft  gab.  In  diesem  Zustande  ward  sie  am  Abend 
des  25.  Juli  hier  in  unserer  Klinik  eingeliefert,  wo  folgender 
Befund  erhoben  wurde: 

Die  26jährige  Patientin  ist  eine  mittelgroße  Frau  in  gutem 
Ernährungs-  und  Kräftezustand.  Das  Gesicht  ist  fieberhaft  ge¬ 
rötet,  Lippen  und  Zunge  sind  trocken,  letztere  stark  belegt. 
Die  Atmung  ist  —  entsprechend  der  Temperatur  von  39-5°  — 
etwas  beschleunigt,  während  der  Puls,  "der  in  seiner  Irerruenz 
oft  wechselt,  durchschnittlich  nur  68  Schläge  pro  Minute  hat; 
er  ist  mäßig  gefüllt  und  gespannt  und  setzt  hin  und  wieder  aus. 
Der  Brustkorb  ist  gut  gebaut;  die  Herzdämpfungen  zeigen  keine 
Besonderheit;  der  Spitzenstoß  ist  nicht,  fühlbar,  die  föne  sind 
etwas  unrein.  Lungengrenzen,  Klopfschall,  Atemgeräusch  sind 
normal,  ebenso  Bauchdecken  und  Bauchorgane;  speziell  die  Milz 
ist  weder  palpatorisch  noch  perkutorisch  nachweisbar  vergrößert. 
Der  Urin  ist  klar,  enthält  weder  Zucker,  noch  Eiweiß,  noch 
Diäzokörper,  noch  mikroskopische  Formelemente;  die  Chloride 
sind  nicht  vermindert. 

Die  Patientin  liegt  ganz  apathisch,  mit  etwas  nach  hinten 
gebeugtem  Kopfe,  da,  zuweilen  unruhig  sich  hin-  und  herwerfend 
und  über  äußerst  heftige  Kopfschmerzen  klagend;  auf  Anruf  erhält 
man  richtige  Antworten.  Die  Sprache  klingt  nasal,  der  Mund 
wird  offen  gehalten.  Uvula,  Rachen,  Nasenmuscheln  sind  eine 
Spur  gerötet.  Die  Pupillen  sind  —  scheinbar  vom  Morphium 
—  sehr  eng,  so  daß  der  Augenhintergrund  erst  nach  Atropini- 
sieren  untersucht  werden  kann;  hier  sowohl,  wie  an  den  Trommel¬ 
fellen  Bietet  sich  jedoch  normaler  Befund.  Die-  Augäpfel  können 
nach  allen  Seiten  —  ohne  Nystagmus  —  bewegt,  die  Lider 
gesenkt  und  gehoben  werden,  doch  besteht  beiderseits  eine 
leichte  Schwäche  des  Levator  palpebrae.  Das  Gesicht  ist  sym¬ 
metrisch  innerviert,  die  Zunge  wird  gerade  u.  zw.  —  ebenso 
wie  die  Hände  —  ohne  Zittern  vorgestreckt.  Arme  und  Beine 
zeigen  keine  Störungen  der  Motilität,  keine  Ataxie,  doch  ist 
die  Streckung  der  Unterschenkel  bei  gebeugtem  Oberschenkel 
nur  unter  heftigen  Schmerzen  möglich  (Kernigsches  Symptom); 
alle  Muskeln,  besonders  die  der  Beine,  sind  mäßig  rigide.  Der 
linke  Nervus  occipitalis  ist  auf  Druck  sehr  empfindlich,.  in  ge¬ 
ringerem  Grade  auch  der  linke  erste  und  zweite  rrigeminusast. 
Bauchdecken-,  Knie-  und  Achillessehnen-,  sowie  Fuß-sohle-nreflexe 
sind  erloschen;  hin  und  wieder  läßt  sich  an  den  Füßen  das 
B  ab  ins  ki  sehe-  Phänomen  auslösen. 

26.  Juli :  Nach  einer  unruhigen  Nacht  klagt  Patientin  heute 
über  unerträgliche  Kopfschmerzen,  beiderseits  findet  sich  deut¬ 
licher  Babinski,  sonst  Status  idem.  Im  Rachenabstrich  werden 
im  hiesigen  kgl.  hygienischen  Institut  von  Herrn  Dr.  Hans  Käthe, 
der  auch  alle  späteren  bakteriologischen  Untersuchungen  aus¬ 
führte  und  die  Proben  am  Krankenbette  persönlich  entnahm, 
Pneumokokken  fast  in  Reinkultur,  daneben  einige  Gram-negative 
Diplokokken  gefunden. 

27.  Juli :  Obwohl  das  subjektive  Befinden  gestern  Abend 
besser  gewesen  war,  klagt  Frau  K.  heute  morgen  wieder  über 
heftigste  Kopfschmerzen;  die  Nackenstarre  ist  deutlicher.  Um 
5  Uhr  nachmittags  wird  -eine  Lumbalpunktion  in  horizontaler 
Seitenlage  ausgeführt;  es  entleeren  sich  70  cm3,  unter  210  mm 

')  1864  waren  auch  Hannover  und  Thüringen  befallen  gewesen 


Nr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Druck  stehender,  deutlich  getrübter  Liquor  cerebrospinalis,  etwa 
von  der  Farbe  dünnen  Seifenwassers.  N_ach  längerem  Stehen 
setzt  sich  ein  Fibringerinnsel  ab;  sowohl  hierin,  als  in  dem 
Zentrifugat  der  Flüssigkeit,  deren  Eiweißgehalt  l%o  nach  Esbach 
beträgt,  finden  sich  polynukleäre  Leukozyten,  im  frischen  Prä¬ 
parat  keine  Bakterien,  wohl  aber  in  der  Kultur  einige  Granr- 
uegative  intrazelluläre  Diplokokken.  Gegen  Schluß  der  Punktion 
treten  die  heftigsten,  einige  Stunden  anhaltenden  Kopfschmerzen 
auf,  denen  allerdings  später  subjektive  Erleichterung  folgt.  Uei 
Puls  betrug  unmittelbar  vor  der  Punktion  76,  die  Temperatur 
38-7° ;  zehn  Minuten  nach  der  Punktion  56,  resp.  39-0°. 

28.  Juli:  ln  der  zweiten  Hälfte  der  vergangenen  Nacht 
wieder  furchtbare  Kopfschmerzen,  die  erst  gegen  Mittag  weichen ; 
jetzt  aber  ist  Pat.  vollständig  klar  und  interessiert  sich  für  die 
Vorgänge  in  ihrer  Umgebung.  Die  Sprache  ist  weniger  stark 
basal,  der  Rachen  zeigt  keine  Besonderheit  mehr.  Der  Ba- 
binskische  Reflex  ist  rechts  verschwunden,  die  Nackenstarre 
gering ;  Trigeminus  und  Okzipitalis  sind  kaum  noch  druck¬ 
empfindlich.  Der  vorher  gänzlich  mangelnde  Appetit  wird  besser, 
als  heute  zum  erstenmal  durch  mehrere  Einläufe  Stuhl  erzielt 
ist.  Sonst  bleibt  der  Befund  unverändert. 

30.  Juli:  Auf  die  gestrige  Besserung  folgt  heute  ein  ent¬ 
schiedener  Rückschlag;  der  linke  Okzipitalis  ist  wieder  sehr 
empfindlich,  der  Kopfschmerz  hochgradig,  die  Nackenstarre  deut¬ 
licher;  hin  und  wieder  unterlaufen  einige  ruhige  Stunden.  Das¬ 
selbe  Bild  zeigt  sich  am  31.  Juli. 

1.  August :  Da  seit  gestern  Abend  kaum  erträgliche  Kopf¬ 
schmerzen  bestehen,  wird  heute  morgen  die  Lumbalpunktion 
wiederholt  und  in  horizontaler  Seitenlage  55  cm3,  unter  120  mm 
Druck  stehenden,  etwas  weniger .  getrübten  Liquors  von  VV/oo 
Eiweißgehalt,  aus  dem  sich  nach  einigen  Stunden  wieder  ein 
Fibringerinnsel  absetzt,  entleert.  Mikroskopisch  finden  sich  im 
Zentrifugat  eine  ziemliche  Menge2)  polynukleäre  Leukozyten  und 
typische  intrazelluläre,  Gram-negative  W  ei  c h selb  au m  sehe  Me¬ 
ningokokken,  die  in  Bouillon  gut  wachsen.  Die  Punktion  bringt 
keine  wesentliche  Besserung  mit  sich,  und  trotz  Morphiumeinsprit¬ 
zung  dauern  die  Kopfschmerzen  während  der  Nacht  in  heftigster 
Weise  an. 

2.  August:  Patientin  ist  heute  sehr  apathisch,  klagt  über 
Schmerzen  im  Kopf  und  im  Kreuz.  Die  erst  vor  der  Erkran¬ 
kung  stattgehabten  Menses  treten  wieder  auf.  Abends  erfolgt 
Temperaturabfall  und  im  Anschlüsse  hieran  Besserung  der 
Schmerzen. 

-3.  August:  Das  subjektive  Befinden  ist  etwas  besser  als 
gestern,  die  Nackenstarre  geringer;  dagegen  ist  das  Kernig  sehe 
Symptom  noch  deutlich  vorhanden. 

Dea‘  bisherige  Verlauf  der  Krankheit  war  also  ein  sehr 
wechselvoller  gewesen :  bald  größere  Prostration,  Apathie,  Som¬ 
nolenz,  dann  wieder  kurzdauerndes  Wohlbefinden,  das  aber  von 
der  Therapie  fast  unabhängig  war;  nach  der  ersten  Lumbalpunk¬ 
tion  trat  zwar  ein  48stündiger  Temperaturabfall  ein,  bei  der 
zweiten  fehlte  er.  Subjektiv  fühlte  sich  Pat.  am  wohlsten  nach 
1-5  bis  2  cg  Morphium  subkutan.  Außerdem  wurden  die  ver¬ 
schiedensten  Medikamente  angewandt,  welche  bald  mehr,  bald 
weniger  Erleichterung  verschafften,  sämtlich  aber  übertroffen 
wurden  durch  die  Wirkung  von  Eisblasen  auf  Scheitel  und  Nacken, 
ohne  welche  Patientin^  überhaupt  nicht  auskommen  konnte. 
Weniger  angenehm  wurde  die  Leiter  sehe  Kühlkappe  für  den 
Kopf  und  der  Chap  man  sehe  Schlauch  für  die  Wirbelsäule 
eimpfunden.  Einen  günstigen  Einfluß  auf  das  subjektive  Be¬ 
finden  hatte  die  Darreichung  von  1-0  Pastae  Guaranae  (einer 
schokoladeähnlichen  Masse  aus  dem  gepulverten  koffeinhaltigen 
schwarzen  Samen  der  brasilianischen  Paullinia  sorbilis) ;  sonst 
wurden  noch  angewendet:  Blutegel  am  Warzenfortsatz,  Salo- 
phen-Phenacetin,  Codein,  Dionin,  Pyramidon,  Chinin,  Veronal. 
Der  Stuhlgang  wurde  vom  1.  August  ab  durch  tägliche  Glyzerin¬ 
einläufe  erzielt.  Die  Temperatur  hatte  sich  vorwiegend  zwischen 
38  und  39-7°  bewegt,  die  Pulsfrequenz  zwischen  60  und  80. 
Ein  totaler  Umschwung  im  Krankheitsbild  trat  in 
dem  Moment  ein,  als  35cm3  Jochmannschen  Anti¬ 
meningokokkenserums  (E.  Merck)  Tntralumbal  ap¬ 
pliziert  wurden.  Zu  diesem  Zwecke  ward  die  Patientin 
(am  3.  August  1910)  in  horizontale  Sieitenlage  gebracht,  der 
Rücken  desinfiziert,  Knie  und  Kopf  einander  genähert  und  nun 
die  Nadel  des  Bier  sehen  Besteckes  zwischen  dem  dritten  und 
vierten  Lendenwirbeldornfortsatz  —  nach  vorherigem  Auf- 

2)  Koplik  (1908)  weist  darauf  hin,  daß  bei  der  ersten  Punk¬ 
tion  oft  normale  Flüssigkeit  entleert  wird;  man  solle  aber  an  einen 
solchen  Befund  keinerlei  klinische  Folgerungen  knüpfen,  da  oft  erst 
die  Wiederholung  der  Punktion  einen  kokkenreichen  Liquor  zu  Ge¬ 
sicht  bringt. 


119 


spritzen  von  Chloräthyl  —  median  eing «stochen.  Es  entleerten 
sich  nur  geringe  Mengen  leicht  getrübten  Liquor  cerebrospinalis, 
in  dem  gleichfalls  Weichselbau  msclm  intrazelluläre  Gram- 
negative  Diplokokken3)  mikroskopisch  und  kulturell  aufgefunden 
wurden.  Mit  geeigneter  größerer  Spritze,  die  durch  einen  4  cm 
langen  Gummischlach  mit  der  Kanüle  zu  verbinden  war,  wurden 
nun  die  35cm3  des  auf  Körpertemperatur  eruäiml-m  Antimeningo¬ 
kokkenserums  eingespritzt,  doch  ließen  sich  die  letzten  Kubik¬ 
zentimeter  nur  unter  Anwendung  stärkeren  Druckes  injizieren 
Gegen  Schluß  der  Punktion  traten  mäßige  Kopfschmerzen  am, 
die  sich  noch  steigerten,  als  Patientin  für  zwölf  Stunden  in 
Beckenhochlagerung  gebracht  wurde;  während  dieser  Zeit  klagte 
die  Kranke  auch  über  starke  Kreuzschmerzen  und  Atembe¬ 
schwerden.  Die  Beckenhochlagerung  ward  angewendet,  um  das 
Zufließen  des  Serums,  dessen  spezifisches  Gewicht  ( 1  -03)  nach 
Gutter  mann  höher  ist  als  das  der  Spinalflüssigkeit  (0-999), 
zum  Gehirn  zu  begünstigen.  Nach  dein  Ergebnis  der  Leichen¬ 
versuche  Jochmanns,  in  denen  Methylenblaulösung  wenige 
Stunden  nach  der  Injektion  in  den  Lumbalsack  des  Rückenmarks 
am  Olfaktorius  erschien,  kann  man  mit  einer  Verteilung  des  Se¬ 
rums  über  das  ganze  Zentralnervensystem  rechnen. 

4.  August.  In  den  Morgenstunden  ist  Frau  K.,  die  noch 
an  sehr  starken  Kopfschmerzen  leidet,  apathisch;  im  Urin,  der 
sich  bisher  bei  täglicher  Untersuchung  als  normal  erwies,  finden 
sich  Spuren  Eiweiß,  keine  Formelemente.  Aber  schon  abends 
ist  das  Eiweiß  verschwunden  und  die  Temperatur  abgefallen; 
die  Kranke  fühlt  sich  sehr  wohl,  hat  nur  noch  wenig  Kopf¬ 
schmerzen,  interessiert  sich  lebhaft  für  die  Umgebung  und  hebt 
auch  zum  ersten  Male  den  Kopf  auf,  der  "sonst  immer  unbe¬ 
weglich  in  den  Kissen  ruhte;  ja,  die  nächste  Nacht  verbringt 
sie  zum  ersten  Male  ohne  Medikamente  und  ist  auch  am  anderen 
Morgen  (5.  August)  —  von  unbedeutenden  dumpfen  Kopfschmerzen 
abgesehen  —  munter.  Der  Kopf  ist  völlig  frei  beweglich,  Ider 
Trigeminus  gar  nicht,  der  Okzipitalis  etwas  empfindlich.  Die 
Pupillen  sind  fast  mittelweit,  reagieren  ein  wenig;  die'  Ptosis 
ist  noch  vorhanden.  Beide  unteren  Bauchdeckenreflexe  sind 
deutlich;  während  beim  Beklopfen  der  Kniesehnen  die  Reak¬ 
tion  gestern  nur  an  den  Sehnen  selbst  zu  erkennen  war,  wird 
jetzt  auch  schon  der  Fuß  etwas  gehoben;  die  Fußsohlenreflexe 
sind  beiderseits  normal.  Den  ganzen  Tag  über  transpirierte  Pa¬ 
tientin  stark. 

6.  August  bis  8.  August.  Im  allgemeinen  völliges  Wohl¬ 
befinden;  hin  und  wieder  vorübergehender  Kopfschmerz,  der 
durch  1-0  Pasta  Guarana  oder  0-01  Morphium  beseitigt  wird. 
Appetit  sehr  gut;  nie  mehr  Nackensteifigkeit. 

9.  August.  In  vergangener  Nacht  bricht  eine  überaus  heftig 
juckende  Urtikaria  (Serumexanthem)  aus;  der  ganze  Körper  ist 
übersät  mit  großen,  erhabenen,  blassen  Quaddeln;  Abwaschungen 
mit  Essigwasser,  Bepüdern  mit  Mentholpulver  bringen  keine  ge¬ 
nügende  Linderung,  so  daß  zur  Morphiumspritze  gegriffen  werden 
muß.  Gegen  Mittag  wird  der  Puls  klein,  fast  unfühlbar,  sehr 
frequent  und  macht  Injektion  von  Digalen  und  Kampfer  sowie 
Darreichung  von  Sekt  nötig,  worauf  aber  die  normale  Herztätig¬ 
keit  bald  wieder  hergestellt  ist.  Abends  verschwinden  die  Quad¬ 
deln;  es  treten  nun  Kopfschmerzen  sowie  Neuralgie  beider  Okzi¬ 
pitales  und  des  rechten  Supraorbitalis  ein. 

10.  August.  Vergangene  Nacht  und  heute  Morgen  völliges 
Wohlbefinden,  das  gegen  10  Uhr  von  neuem  durch  eine  ausge¬ 
dehnte,  quälende  Urtikaria  unterbrochen  wird;  Augenlider  und 
Lippen  sind  geschwollen :  Puls  120  bis  130.  Schon  nachmittags 
blaßt  das  Exanthem  unter  Zurücktreten  aller  Beschwerden  ab. 

11.  August.  Im  Laufe  des  Vormittags  tritt  wieder  eine 
allgemeine,  aber  jetzt  weite  Hautstrecken  freilassende  i  rtikaria 
auf,  die  nachmittags  abklingt. 

12.  August.  Vorige  Nacht  erscheint  nach  anfänglichen  ge¬ 
ringen  Kopfschmerzen  zum  letzten  Male  eine  weniger  stark 
jnckemle  Urtikaria,  die  morgens  schon  völlig  verschwunden  ist. 
Pat.  fühlt  sich  aber  wohl  und  hat  großes  Schlafbedürfnis.  Seit 
9.  August  hat  die  Temperatur  37-2°  nicht  überschritten. 

Der  Puls  ist  trotz  täglicher  Darreichung  von  30  Tropfen 
Digalen  noch  beschleunigt;  die  Herztöne  sind  rein,  die  Däm¬ 
pfungen  nicht  verbreitet.  Die  Austrittspunkte  der  Nerven  sind  nicht 
mehr  druckempfindlich,  der  Nacken  nicht  steil.  Das  Kernig  sehe 
Symptom  sowie  die  Ptosis  des  rechten  Auges  sind  noch  ango 
deutet;  im  übrigen  ist  der  neurologische  Befund  ganz  normal. 


3)  Eine  Weiterzüchtung  der  Reinkulturen  auf  festem  Nährboden  ge¬ 
lang  nicht,  wie  ja  bei  Meningokokken  --  nach  Traut  mann  und 
Fromme  (1908)  —  überhaupt  eine  recht  geringe  Resisten/.  (Unkultmer- 
barkeit)  öfters  mit  einer  großen  Widerstandskraft  gegenüber  Aufbewahrung 
in  der  Kälte  wechselt. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  4 


120 


speziell  die  Pupillen  sind  mittelweit  und  reagieren  prompt.  Vom 
13.  August  ab  ist  Frau  K.  völlig  beschwerdefrei  und  klagt  nur 
hin  und  wieder  einmal  über  geringes  Eingenommeinsein  des 
Kopfes.  Digalen  wird  fortgelassen.  Am  14.  August  verschwinden 
Ptosis  und  Kern ig sches  Symptom,  am  16.  August  kann  Pa¬ 
tientin  zum  ersten  Male  kurze  Zeit  außer  Bett  sein  und,  am 
18.  August  völlig  geheilt  entlassen  werden.  Weder  in  ihrem 
Nasenrachenraum  noch  in  dem  des  Mannes  und  der  Schwäger  in, 
von  der  sie  anfangs  gepflegt  wurde,  lassen  sich  Meningokokken 
auffinden. 

Um  nochmals  kurz  zusammenzufassen,  handelt 
es  sich  um  eine  26jährige,  bis  dahin  gesunde,  klüf¬ 
tige  Frau,  die  am  22.  Juli  1910  nach  vorübergehender 


Form  einer  quälenden  Urtikaria,  die  am  eisten 
Tage  sogar  mit  einer  mehrstündigen,  mit  Digalen 
und  Kampfer  leicht  zu  beeinflussenden  Herz- 
s c h w ä c h e e i  n h e rg i n g.  A m  15.  Tage  nach  dei  I  ujektion, 
also  am  28.  Krank  heitstage,  konnte  Pat.  geheilt  und 
beschwerdefrei  entlassen  werden.  Wesentliche 
Krankheitserscheinungen  waren  aber  schon  24  Stun¬ 
den  nach  der  Injektion  (das  heißt  am  14.  Krapkheits< 
!  tage)  nicht  mehr  nachweisbar.  Am  spatesten  von 
allen  Symptomen  verschwand  das  Kernigsche  Phä¬ 
nomen  (elf  Tage  nach  der  Injektion). 

Im  Anschluß  an  diesen  Fall,  der  in  ganz  auffallender 
Weise  durch  das  Serum  beeinflußt  wurde,  möchte  ich  die 


1910 

Monatstag 

Juli 

22  |  23  24 

25 

26  27  28 

29  30  !  31 

August 

1  I  2  |  3 

4 

5  6 

7  !  8  9 

10  11 1 12 

13  1 14  1 15  1 16  1 17  |  18 

Kvankheitstag 

I  1  2  3 

1  l  1 

4 

6  1  6  7 

8  1  9 

10 

11 

12  13 

14 

15  ;  16 

17  |  18  19 

20  j  21  |  22 

23  j  24 1  26  |  26  1 27  |  28 

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Nackensteifigkeit  ganz  akut  unter  Kopfschmerzen, 
Schüttelfrost,  Uebelsein,  Erbrechen,  schließilieh 
Somnolenz  an  Meningitis  cerebrospinalis  epide¬ 
mica  erkrankte;  sowohl  im  Nasenrachenraum  als 
auch  zweimal  im  L u m b a  1  p u n k t a t  wurden  typische 
Meningokokken  von  authentischer  Seite  nachgewie¬ 
sen.  Von  den  Symptomen  der  Genickstarre  fanden 
sich  bei  der  am  25.  Juli  1910  erfolgten  Aufnahme 
in  unsere  Klinik:  quälender  Kopfschmerz,  Kreuz¬ 
schmerz,  Somnolenz,  Nackensteifigkeit,  Fieber,  ver¬ 
langsamter  Puls,  Rötung  der  Nasenmuscheln  und 
des  Rachens,  Neuralgie  des  Trigeminus  und  Okzipi- 
talis,  Ptosis,  Muskelrigidität,  Kernigsches  Symptom, 
Fehlen  der  Haut-  und  Sehnenreflexe,  Babinskiseher 
Zehenreflex.  Die  Zerebrospinalflüssigkeit  stand 
unter  210mm  Druck,  enthielt  3/4  bis  l°/oo  Eiweiß,  war 
trübe  und  setzte  nach  längerem  Stehen  ein  Fibrin¬ 
gerinnsel  ab. 

Die  anfängl ich  antipyretische  und  aqtineuralgi- 
g  if  che  Behandlung  hatte  keinen  Erfolg;  nur  große 
und  oft  wiederholte  subkutane  Morphiumdüsen 
konnten  die  unerträglichen  Kopfschmerzen  lindern. 
Auch  zweimalige  Lumbalpunktion  blieb  ohne  we¬ 
sentlichen  Einfluß  auf  den  Krankheits verlauf,  der 
erst  eine  entscheidende  Wendung  erfuhr,  als  am 
3.  August,  dem  13.  Krankheitstage,  35  ein3  Jochmann- 
sches  Antimeningokokkenserum  intralumbal  inji¬ 
ziert  wurden.  Es  folgte  nochmals  ein  etwa  halb¬ 
tägiger  (wohl  wegen  der  Einspritzung  unter  Druck), 
mit  starken  Kopfschmerzen  einhergehender  Fieber¬ 
anstieg,  dann  aber  fiel  die  Temperatur  innerhalb 
24  Stunden  kritisch  und  unter  Schweiß  auf  36-9°  her¬ 
unter  (5.  August)  und  hielt  sich  vom  10.  August  ab 
dauernd  unter  37°,  nachdem  vorher  nur  noch  einige 
Zacken  bis  37-7°  aufgetreten  waren.  Als  einzige 
N  e b e n w  i r k  u n g  des  S  e r u ms  fand  sich  eine  me h r- 
stündige  Albuminurie  am  4.  August  (dem  'tage 
nach  der  Injektion)  und  ein  vom  9.  bis  11.  August 
in  täglichen,  stets  harmloser  werdenden  Rezidi¬ 
ven  erscheinendes  heftiges  Serumexanthem  in 


Erfolge  der  spezifischen  Therapie  etwas  eingehender  schil¬ 
dern,  vorher  jedoch  einen  kurzen  Rückblick  auf  die  Patho¬ 
logie  und  die  eigenartige  Verbreitungsweise  dieser 
gefürchteten  Krankheit  werfen 

Die  Genickstarre,  die  erst  durch  die  letzten  großen 
deutschen  Epidemien  von  1904/05  bei  Aerzten  und  Laien, 
größere  Beachtung  fand,  ist  immerhin  schon  seit  mehr  denn 
100  Jahren  bald  hier,  bald  da  in  Europa  herdweise  auf¬ 
geflackert.  Die  große  Furcht,  die  sich  bei  ihrem  Ausbruch 
allenthalben  der  Bevölkerung  bemächtigt,  ist  viel  weniger 
der  allgemeinen  Morbidität,  als  der  Schwere  der  einzelnen 
Erkrankungen  zuzuschreiben,  die  nur  von  wenigen  glück¬ 
lich  überstanden  wird;  die  Genickstarre  ist  in  dieser  Be¬ 
ziehung  gerade  das  Gegenteil  der  Influenza,  welche  gleich 
in  verheerender  Weise  über  ein  ganzes  Volk  hereinbricht,, 
von  der  sich  aber  die  große  Mehrzahl  der  Befallenen  in 
kürzester  Zeit  zu  völliger  Gesundheit  wieder  erholt,  während 
Nachkrankheiten  oder  gar  Todesfälle  in  Anbetracht  der 
großen  Morbiditätsziffer  doch  nicht  allzu  häufig  sind.  Auch 
hinsichtlich  der  Art  der  Ausbreitung  steht  die  Genickstarre 
der  Influenza  gegenüber;  diese  schreitet  von  Ort  zu  Ort, 
gewissermaßen  per  cöntinuitatem  weiter  vor,  jene  sprung¬ 
haft,  regellos,  nicht  nur  innerhalb  eines  Landes  in  bezug 
auf  die  Ortschaften,  sondern  auch  regellos  innerhalb  eines 
ganzen  Erdteiles.  ... 

Die  erste  verbürgte  Genickstarreepidemie  wird  180o 
aus  Genf  berichtet  und  schon  im  nächsten  Jahre  aus  Massa¬ 
chusetts;  hier  in  Nordamerika  gelangt  sie  in  den  folgen¬ 
den  Dezennien  zu  allgemeiner  Verbreitung,  während  sie 
in  Europa  nur  vereinzelte  Herde  an  den  verschiedensten 
Punkten  bildet.  1837  bis  1842  und  1846  herrschte  sie  in 
Frankreich,  in  dessen  Süden  beginnend  und  hauptsächlich 
die  Küstenstriche  befallend ;  1839  bis  1845  in  Italien,  1839 
bis  1847  in  Algier,  wohin  sie  durch  französische  Soldaten 
verschleppt  war,  1844  in  Gibraltar,  1845  bis  1848  in  Däne¬ 
mark,  wo  sie  als  hjernfeber  bezeichnet  wurde.  Von  nun 


Nr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


1-21 


an  beginnt  eine  weite  Ausbreitung  über  ganz  Europa:  1854 
bis  1861  ist.  Schweden  -  Norwegen  betroffen,  1860/61 
Holland,  1861/62  Portugal.  Erst  1863  bis  1865  erscheint 
sie  zum  ersten  Male  in  Deutschland  u.  zw.  anfangs  in  den 
östlichen  preußischen  Provinzen,  später  in  Mittel-  und  Süd¬ 
deutschland,  von  wo  sie  auf  Oesterreich- Ungarn  und  Rus¬ 
sisch-Polen  übergreift.  1842  wird  Nordamerika  ziemlich 
stark  von  der  Volksseuche  befallen,  die  hier  seitdem!  ge¬ 
radezu  einheimisch  ist  und  während  des  Sezessionskrieges 
eine  besondere  Akme  erreicht.  Nach  1866  kommen  in 
Deutschland  nur  ganz  vereinzelte  f  älle  zur  Beobachtung, 
während  die  Genickstarre  1867/68  in  Rumänien,  in  der 
Krim  und  1868/69  in  Griechenland  einen  größeren  Um¬ 
fang  gewinnt.  Kleinere  und  eng  begrenzte  Epidemien  werden 
1866/67  aus  Pola  und  Triest  gemeldet,  1869  bis  1872  aus 
Kleinasien  und  Palästina,  1870/71  aus  Bern,  1873  bis  1876 
aus  Mittel-  und  Unteritalien,  1875/76,  1879/80,  aus  Dront- 
heim,  1882  aus  Cherbourg  (nur  Marinehospital),  1885/86 
aus  Helsingfors,  Finnland  und  Kopenhagen;  in  letzterer 
Stadt  trat  sie  in  wachsender  Stärke  nochmals  1891  und 
1898  auf.  1898  herrschte  in  Trifail  (Steiermark)  eine  Epi¬ 
demie  mit  ca.  200  Erkrankungen,  in  der  von  Albrecht 
und  Ghon  (1901)  die  ätiologischen  Untersuchungen  W eich- 
s  elb  au  ms  nachgeprüft  und  bestätigt  wurden. 

Von  1876  an  zog  sich  die  Krankheit  ein  Dezennium 
hindurch  auf  enge  Grenzen  zurück,  so  daß  sie  kaum  noch 
irgendwo  den  Charakter  einer  Volksseuche  hatte.  In  den 
Tropen,  in  Australien,  in  Japan,  soll  die  epidemische 
Meningitis  nach  Angaben  Hirschs  (1886),  Heubners 
(1897)  usw.  unbekannt  sein,  doch  liegen  neuere  gegen¬ 
teilige  Berichte  vor.  So  beobachtete  Newdill  (1906)  in 
den  heißesten  Monaten  Juni  bis  August  1905  in  Nubien 
eine  Epidemie  von  22  Fällen,  von  denen  13  starben,  ln 
den  gleichen  Monaten  des  nächsten  Jahres  brach  die  Seuche 
von  neuem  aus.  Castell a ni  sah  1905  zwei  Singhalesen 
an  Genickstarre  erkranken  und  bestätigte  die  Diagnose  durch 
den  Befund  von  Weich  sei  bäum  sehen  intrazellulären 
Diplokokken.  Ueber  eine  kleine  bakteriologisch  gesicherte 
Genickstarreepidemie  in  Batavia  berichtet  de  Haan  (1909). 
Nach  Jaffe  (1907)  starben  in  den  nördlichen  Bezirken 
von  Togo,  wo  die  Seuche  mit  Beginn  der  Nordwinde  Ende 
Januar  oder  im  Februar  auf  tritt,  1906/07  zahlreiche  Ein¬ 
geborene  an  Genickstarre  u.  zw.  1906  im  Bezirk  Sansanne- 
Mangu  500,  1907  in  Sokode  200  bis  300  Menschen.  An 
der  Goldküste  erlagen  1905  bis  1908  nach  A.  E.  Horn 
(1909)  Tausende  von  Menschen  der  Seuche,  die  immer 
zur  Zeit  der  Harmattanwinde  in  der  trockenen  Zeit  auf- 
tritt,  in  der  die  Neger  leicht  an  katarrhalischen  Affektionen 
leiden. 

In  Deutschland  trifft  man  die  Genickstarre  in  den 
letzten  Jahrzehnten  fast  nur  in  Schlesien  und  im1  Rhein¬ 
lande  an.  In  Scjhiesien  herrschte  sie  zum  ersten  Male 
während  der  großen  Epidemie  der  Sechzigerjahre,  1879  in 
Reichenbach,  1886  im  Industriebezirk  von  Kattowitz, 
Beruhen,  Königshütte,  Gleiwitz,  Zabrze  (356  Fälle);  1896  im 
Kreise  Pleß,  von  , wo  sie  sich  bis  1898  auch  über  die  Kreise 
Kattowitz,  Beuthen,  Tamowitz  erstreckte.  Wiederum:  nach 
mehrjähriger  Pause  häufen  sich  1904  die  Fälle  in  Königs¬ 
hütte,  1905  in  den  Kreisen  Beuthen,  Kattowitz,  Zabrze, 
Pleß,  Tarnowitz ;  aber  auch  die  übrigen  Kreise  Schlesiens 
hatten  mehr  oder  minder  unter  der  Genickstarre  zu  leiden; 
in  der  ganzen  preußischen  Monarchie  kamen  1905  3764 
fälle  zur  Anmeldung;  hievon  entfallen  3317  auf  die  Provinz 
Schlesien  (u.  zw.  3149  auf  den  Regierungsbezirk  Oppeln). 
1906  sank  die  Morbiditätsziffer  in  Preußen  auf  2029  Er¬ 
krankungen  mit  1275  Todesfällen  ab  u.  zw.  werden  im  Re¬ 
gierungsbezirk  Oppeln  811  Erkrankungen  (mit  504  Todes¬ 
fällen)  gemeldet,  im  Regierungsbezirk  Breslau  176  Erkran¬ 
kungen  (gegen  146  im  Vorjahre),  während  sich  in  demselben 
Jahre  in  Posen  (Stadt-  und  Landkreis)  nur  kleinere  Epide¬ 
mien  finden,  Um  diese  Zeit  brach  aber  —  eingeschleppt 
durch  '.österreichisch -ungarische  Bergarbeiter  aus  Ober¬ 
schlesien  —  im  rheinisch- westfälischen  Industriebezirk  die 


Seuche  aus  u.  zw.  befiel  sie  in  erster  Linie  die  Gruben¬ 
arbeiter.  Im  Regierungsbezirk  Düsseldorf  wurden  im  ganzen 
320  Erkrankungen  mit  225  Todesfällen  ermittelt,  im  Re¬ 
gierungsbezirk  Arnsberg  223  Erkrankungen  mit  139  Todes¬ 
fällen.  1907  stieg  die  Zahl  aller  Genickstarreerkrankungen 
auf  2591,  wovon  mehr  als  die  Hälfte  auf  den  rheinisch- 
westfälischen  Indus triebezirh  entfällt  (1059  Westfalen,  692 
Rheinprovinz) ;  auch  hier  wurden  vorzugsweise  die  Familien 
der  Grubenarbeiter  betroffen,  während  jetzt  in  Schlesien 
mehr  die  Landbevölkerung  heimgesucht  war.  Im  Regie¬ 
rungsbezirk  Oppeln  wurden  294  Erkrankungen,  im  Regie¬ 
rungsbezirk  Posen  116  Erkrankungen  gemeldet.  Sonst  kamen 
in  Deutschland  nur  ganz  vereinzelte  kleine  Herde  zur  Beob¬ 
achtung;  so  in  Langenbielau  (Schlesien),  Altona,  Elmshorn, 
Lüneburg. 

Die  Eigentümlichkeit  der  Krankheit,  an  ganz  verschie¬ 
denen  Orten  gleichzeitig  aufzutreten  und  sich  dann  sprung¬ 
haft,  nicht  strichförmig  oder  radiär  zu  verbreiten,  wird 
unter  anderem  besonders  auch  von  Hirsch  (1886)  hervor¬ 
gehoben.  An  einem  bestimmten  Platze  pflegt  sie  dann  wäh¬ 
rend  mehrerer  .lahre  oder  Jahrzehnte  haften  zu  bleiben, 
ja  sich  hier  wieder  auf  ganz  bestimmte  Volksklassen  zu 
beschränken  (Bergarbeiter,  Kasernen,  Arbeitshäuser,  Waisen¬ 
anstalten  usw.). 

Interessant  ist  die  Zerebrospinalmeningitis  auch  hin¬ 
sichtlich  der  zeitlichen  Verteilung,  indem  sie  vorwiegend 
eine  Frühjahrserkrankung  darstellt,  die  in  den  Winter¬ 
monaten  beginnt,  im  Sommer  abfallt  und  im  Herbst  fast 
gänzlich  erlischt.  Diese  Tatsache  ist  schon  den  ältesten 
Autoren  aufgefallen  und  hat  viele  dazu  bestimmt,  die  Ge¬ 
nickstarre  als  eine  Erkältungskrankheit  anzusehen.  Eine 
Zeitlang  beschuldigte  man  auch  die  Bodenverhältnisse,  da 
die  Seuche  vorwiegend  feuchte  und  sumpfige  Gegenden 
heimzusuchen  schien ;  nach  den  Erfahrungen  der  späteren 
Epidemien  konnte  jedoch  diese  Hypothese  nicht  aufrecht 
erhalten  werden.  Die  Genickstarre  befällt  (wie  schon 
Schönlein,  1841  erwähnt),  der  die  Seüche  „Hydrocephalus 
acutus“  bezeichnet,  hauptsächlich  das  Kindesalter,  doch 
sind  die  Erwachsenen  keinerwegs  immun,  was  aus 
den  in  manchen  Epidemien  besonders  deutlich  hervortreten¬ 
den,  zuweilen  sogar  alleinigen  Erkrankungen  von  Soldaten 
—  bei  denen  wohl  das  enge  Zusammenwohnen  eine  große 
Rolle  spielt  —  ersichtlich.  Wie  beim  Militär,  sind  auch  bei 
der  Bergwerksbevölkerung  unhygienische  Wohnungs-  und 
Arbeiterverhältnisse  als  ätiologische  Momente  zu  berück¬ 
sichtigen.  Wenn  dem  Geschlecht  überhaupt  ein  großer  Ein¬ 
fluß  zugesprochen  werden  soll,  so  beruht  das  wohl  nur 
auf  der  für  Männer  infolge  beruflicher  Schädlichkeiten  er¬ 
höhten  Infektionsgefahr.4)  Die  Mortalitätsziffer  schwankt  in 
den  verschiedenen  Epidemien  außerordentlich  (zwischen 
20  und  80%),  oft,  auch  schon  in  den  einzelnen  Epide¬ 
mien  selbst,  indem  (sie  zu  Anfang  viel  höher  ist  als  gegen 
Schluß  der  Seuche.  Kinder  und  Greise  sind  weniger  resi¬ 
stent  als  Erwachsene  in  mittleren  Lebensjahren.  Hirsch 
(1886)  berechnete  aus  15.632  Kranken  eine  Mortalität  von 
37%,  doch  sind  in  den  neueren  Epidemien  viel  höhere 
Zahlen  erreicht:  1905  in  Oberschlesien  67%,  im  Stadt¬ 
kreis  Posen  64-5%,  im  Regierungsbezirk  Breslau  60-29%, 
in  Duisburg  und  Rulmort  73-2%.  Noch  höhere  Zahlen  werden 
aus  Nordamerika  (73-5%),  aus  Belfast  (85-2%),  aus  Leith 
(74-7%)  berichtet. 

Hinsichtlich  der  Frage  nach  der  Aetiologie  wird 
heute  allgemein  angenommen,  daß  die  Zerebrospinalmenin- 
.gitis  durch  Infektion  mit  dem  1887  von  Weichselbauni 
entdeckten  Diplococcus  intracelluläris  meningitidis  entsteht ; 
nur  eine  Zeitlang  herrschte  ein  Streit  darüber,  ob  der 
Kokkus  stets  Gram -negativ  sei,  wie  Weich  sei  bäum  be¬ 
tonte,  oder  —  nach  Jägers  Angaben  —  bald  Gram -negativ, 
bald  Gram -positiv.5)  Die  Eintrittspforte  bildet  der  Nasen- 

4)  Balduz  zi  (1907)  fand  sogar  das  männliche  Geschlecht  in 
76’27rt/o,  das  weibliche  nur  in  23'73%  der  Fälle  beteiligt. 

5)  Knäuth  (1909)  steht  der  ätiologischen  Bedeutung  der  Diplo¬ 
kokken  überhaupt  noch  skeptisch  gegenüber  und  hält  die  Genickstarre 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  4 


rachenraum,  von  wo  aus  die  Kokken  nach  Ansicht  dei 
einen  Autoren  per  conlinuitatem,  nach  Ansicht  der  anderen 
auf  dem  Bhitwege  zu  den  Meningen  gelangen.  Die  Ueber- 
tragung  geschieht  weniger  durch  die  ans  Bett  gefesselten 
Kranken,  als  durch  gesunde  Kokkenträger  u.  zw.  durch 
Versprühen  der  Bakterien  beim  Sprechen,  Husten,  Niesen 
und  so  weiter,  nicht  aber  durch  V  erstäuben,  da  sie  gegen 
Eintrocknung  und  direktes  Sonnenlicht  außerordentlich  em¬ 
pfindlich  sind. 

lieber  die  praktische  Bedeutung  der  Infektionsgefahr 
sind  die  Meinungen  noch  sehr  geteilt,  ßordoni- üff  re¬ 
duz  zi  (1907)  zum  Beispiel  äußern  sich  dahin,  daß  wegen 
der  geringen  Widerstandsfähigkeit  der  Bakterien  die  An¬ 
steckung  nur  direkt  und  vermittels  des  feuchten  Nasen-  oder 
Rachensekretes  erfolgen  kann,  also  tatsächlich  nur  innerhalb 
sehr  bescheidener  Grenzen  zustande  kommt,  weshalb  be¬ 
sondere  Isolierungsmaßregeln  zum  Schutze  der  Gesunden 
nicht  erforderlich  sind.  Tritt  doch  auch  die  Lungenentzün¬ 
dung  oft  epidemieartig  auf  (ersichtlich  aus  seiner  Statistik 
von  Mailand),  ohne  daß  irgend  jemand  daran  denken  würde, 
vom  einer  epidemischen  Pneumonie  zu  reden. 

In  gleicher  Weise  ist  P  lüg  ge  (1908)  der  Ansicht,  daß 
der  Kranke  selbst  bei  der  Ausbreitung  der  Seuche  in  den 
Hintergrund  tritt;  in  erster  Linie  seien  vielmehr  die  „Kokken¬ 
träger“  beteiligt,  welche  teils  gar  keine  Erscheinungen 
bieten,  teils  mit  einer  leichten  Pharyngitis  behaftet  sind  und 
noch  drei  Wochen  im  Rachen  Kokken  nachweisen  lassen. 
Nach  Bruns  (1908)  sind  95°/o  der  Familienangehörigen 
der  Genickstarrekranken  Kokkenträger,  weshalb  Flatten 
und  Kirchner  Untersuchung  der  mit  Kranken  m  Berüh¬ 
rung  gekommenen  Personen  fordern,  eventuell  sogar  Iso¬ 
lierung,  falls  sich  Diplokokken  bei  ihnen  finden.  Aber  auch 
für  (die  Kranken  selbst  verlangen  diese  beiden  Autoren 
strenge  Absonderung  und  laufende  Desinfektion  der  Um¬ 
gebung.6) 

Nach  der  Uebertragung  erzeugen  die  Kokken  bei  der 
Mehrzahl  der  Infizierten  nur  eine  leichte,  als  Schnupfen 
oder  Rachenkatarrh  gedeutete  Erkrankung;  die.  Infektion 
der  Meningen  findet  vielleicht  nur  bei  besonders  Dispo¬ 
nierten  oder  aus  noch  anderen,  unbekannten  Gründen  statt. 
Es  vergeht  dann  vom  Momente  der  Infektion  bis  zum  Auf¬ 
treten  der  ersten  Erscheinungen  ein  Inkubationsstadium  von 
durchschnittlich  zwei  bis  vier  Tagen;  die  Prodrome  währen 
nur  sehr  kurze  Zeit,  alterhöchstens  ein  bis  zwei  Tage  und 
bestehen  in  Kopfschmerzen,  Mattigkeit,  Verstimmung, 
leichtem  Frösteln.  Oft  aber  bricht  die  Krankheit  wie  ein 
Blitz  aus  heiterem  Himmel  unter  Schüttelfrost,  hohem  l  ieber, 


für  keine  spezifische  Krankheit,  sondern  tür  eine  J  eilerscheinung  dei 
sonst,  als  Lungen-,  Rippenfellentzündungen,  Influenza,  Tonsillitis,  Ge- 
lenksrheumatismus  zutage  tretenden  spezifischen  Winterinfektionen  der 

Kasernen.  .  „  .  . .  . 

a)  Mor  v  a  v  beobachtete  1905  eine  Meningitisepidemie  unter 

Pferden,  die  jedesmal  einen  akuten  Nasenkatarrh  hatten;  direkte  An¬ 
steckung  von  Tier  zu  Tier  war  nicht  festzustellen,  auch  verliefen  Leber- 
tragungsversuebe  an  Hunden  und  Katzen  resultatlos.  Nach  Kol  e- 
Hetsch  (1908)  kommt  jedoch  die  typische  epidemische  Zerebrospinal- 

meningitis  spontan  ausschließlich  beim  Menschen  vor;  ja  die  meisten 

Versuchstiere'  sind  auch  für  die  experimentelle  Infektion  mit  Meningo¬ 
kokken,  die  direkt  vom  kranken  Menschen  gezüchtet  sind,  fast  völlig 
•  refraktär;  allenfalls  lassen  sich  noch  junge  Meerschweinchen  durch  Ein¬ 
führung  von  Kult urm engen  in  die  Pleura-  oder  Peritonealhöhle  tödlich 
infizieren,  doch  machen  sich  auch  hier  starke  Schwankungen  in  der 
Virulenz  der  Kulturen  und  der  Empfänglichkeit  der  einzelnen  Tiere  be¬ 
merkbar.  Es  ,1'ehLt  bis  jetzt  noch  an  Methoden,  die  Infektion  so  zu  ge¬ 
stalten,  daß  sie  bei  jedem  Meerschweinchen  von  bestimmter  Körpergröße 
und  bei  einer  bdstimmten  Dosis  der  Kulturmasse  tödlich  endet.  Die  Ver¬ 
suche  einiger  Forscher,  Ziegen  und  Allen  vom  Rückenmarksack  her 
tödlich  und  mit  -einer,  ,der  menschlichen  Genickstarre  ähnlichen  Erkran¬ 
kung  zii  infizieren,  bedürfen  noch  der  Nachprüfung.  Dagegen  ist  durch 
Ruppel  und  Diehl  festgestellt  (ihre  Resultate  wurden  allerdings  von 
anderen  Autoren  nicht  bestätigt),  daß  die  _  langdauernde  Züchtung  der 
Meningokokken  auf  Bouillon,  der  natives  I  ierblut  zugesetzt  ist,  zui  Li¬ 
hgting  der  Virulenz  für  Mäuse  führt,,  indem  die  Kokken  gegen  Tierblut 
gewissermaßen  immunisiert,  »fest«  geworden  sind  und  sich  jetzt  nicht 
nur  in  der  Bauchhöhle,  sondern  auch  in  den  inneren  Organen  ver¬ 
mehren.  Aber  selbst  diese  für  Mäuse  virulent  gemachten  Kulturen  ver¬ 
lieren  oft  rasch  wieder  ihre  Virulenz  und  sterben  in  den  Tierkadavern 
schnell  ab. 


Kopf-  und  Kreuzsehmerzen,  Erbrechen  und  den  hervor¬ 
stechendsten  Symptomen,  der  Genicksteifheit,  über  die  Per¬ 
son  herein.  Ein  Stadium  der  Reizung  und  der  Lähmung 
wie  bei  der  tuberkulösen  Meningitis,  ist  selten  2u  differen¬ 
zieren,  dagegen  hat  die  Einteilung  Hirschs  (188b)  viele 
Freunde  gefunden;  er  unterscheidet: 

1.  Die  f  oud  roy  ante  oder  apoplektif  orme  F  or  in, 
welche  besonders  zu  Beginn  einer  Epidemie  beobachtet 
wird  und  bei  der  die  Betreffenden  mitten  im  Wohlbefinden 
von  rapid  sich  steigernden  Kopfschmerzen  befaLen  werden, 
denen  dann  Konvulsionen,  Erbrechen,  Genickstarre,  Be¬ 
wußtlosigkeit,  Kollaps,  kleiner 'Puls  und  schließlich  nach  .1 
(i  bis  36  Stunden  der  Tod  folgen. 

2.  Die  abortive  Form,  charakterisiert  durch  mehr 
oder  minder  ausgeprägte  Genickstarre,  Nackenschmerzen, 
Kopfschmerzen;  nach  neueren  Forschungen  findet  sich  m 
der  Mehrzahl  der  Fälle  eine  Meningokokkenangina ;  die 
Kranken  sind  oft  nur  wenige  Tage,  auch  wohl^gar  nicht, 

bettlägerig.  ,  ,  ,  j 

3.  Als  gewöhnliche  Form  die  akute  und  subakute 
Form.  Hier  ist  der  Kopfschmerz  ein  konstantes  und  hervor¬ 
stechendes  Symptom,  welches  die  Kranken  in  furchtbarer  j 
Weise  peinigt  und  die  Morphiuminjektionen  unentbehrlich 
macht.  Ferner  findet  sich  Schwindel,  Erbrechen,  besonders  • 
beim  Aufrichten  der  Kranken  als  Zeichen  der  V agusioizung, 
Abflachung  oder  Eingezogensein  des  Abdomens  durch  Kon¬ 
traktion  der  Därme;  bei  Paralyse  der  letzteren  —  so  m 
schweren  Fällen  -  findet  sich  umgekehrt  aui getriebener 
Leib;  Koprostase,  selten  Diarrhoe;  Nackensteifigkeit,  )  «; 
Nackenschmerzen  u.  zw.  ist  besonders  die  Beugung  des« 
Kinnes  auf  die  Brust  behindert;  der  Kopf  ist  weit  nach  v 
hinten  in  die  Kissen  gebohrt,  beim  Anheben  desselben  kann 
man  den  ganzen  Rumpf  mit  auf  richten.  Wie  die  zerebrale 
Meningitis  den  Kopfschmerz,  so  bedingt  die  spinale  den 
Rückenschmerz  längs  der  ganzen  Wirbelsäule,  besonders 
im  Kreuz  und  macht  oft  jede  Bewegung  unmöglich.  Die 
Dornfortsätze  sind  auf  Druck  sehr  empfindlich;  längs  der 
Extremitätennerven  finden  sich  ausstrahlende,  oft  blitz-^ 
artige  Schmerzen,  ferner  auch  Schmerzen  im  Epigastrium.  ' 
Leichter  Druck  auf  die  Muskeln  und  peripheren  Weichtet le 
ist  gleichfalls  sehr  schmerzhaft  (Hyperalgesie,  Myalgie); 
selbst  gegen  Licht,  Schall  usw.  sind  die  Kranken  hyper-  ; 
ästhetisch.  Nicht  nur  die  Nacken-,  auch  die  Rumpf-  und  ■, 
Gesichtsmuskeln  sind  spastisch  kontrahiert;  hieher  genört] 
unter  anderen  das  Kernig  sehe  Symptom,  das  heißt,  das 
Auftreten  einer  Flexionskontraktur  der  Kniegelenke  bei  Beu¬ 
gung  der  Oberschenkel  gegen  den  Rumpf.  Zu  diesen  mehr  j 
oder  [weniger  konstanten  Zeichen  kommen  noch  Schlaf- 
losigkeit,  Aufregung  oder  Depression,  Verlust  der  Sprache, 
Krampferscheinungen,  die  sich  bis  zu  allgemeinen  epileptl-j 
formen  Konvulsionen  steigern  können,  Nystagmus;  ferner 
—  besonders  in  später  Periode  der  Krankheit  •—  Läh-| 
mttngen,  wie  Pupillenerweiterung,  Strabismus,  Pto  is,  Fazi¬ 
alislähmung  (selten  Hemiplegie,  Paraplegie,  Monoplegie), 
Verlust  oder  Steigerung  der  Reflexe,  Babinski,  Glieder- 
zi Ilern,  Anosmie,  Ageusie,  unregelmäßige  oder  Chey ne-' 
Stokes  sehe  Atmung,  Schwerhörigkeit,  Taubheit.  Auch  nach) 
Abfall  des  Fiebers,  wenn  eine  objektive  und  subjektive 
Besserung  in  dem  Befinden  schon  die  Genesung  erhoffen 
läßt,  kann  eine  weitere  Komplikation  in  Gestalt  des  Hydro¬ 
zephalus  hinzutreten,  auf  den  schon  in  der  Fieberperiode 

7)  Nach  Busse  (1910)  entsteht  die  Nackenstarre  nicht  reflektorisch, 
durch  Reizung  der  sensiblen  Nerven  der  Häute  im  Bereich  dei-  hinteren 
Schädelgrube  und  des  oberen  Halsmarkes,  sondern  in  Analogie  zu  der 
Defense  musculaire  bei  zirkumskripter  Peritonitis  oder  zu  der  charakte¬ 
ristischen  Stellung  der  Gliedmaßen  bei  Gelenksentzündungen,  wo  sich  das 
Glied  immer  so  einstellt,  daß  die  Gelenkskapsel  so  weit  als  möglich  ent¬ 
spannt.  ist.  Auch  bei  der  Meningitis  cerebrospinalis  epidemica  steht  der 
Liquor  unter  einem  erheblich  gesteigerten  Druck  und  füllt  den  Duralsack 
abnorm  an:  die  Genickstarrekranken  nehmen  nun  —  nach  Busse 
eine  Stellung  ein,  die  diesen  erhöhten  intraduralen  Druck  herabsetzt,- 
sie  beugen  daher  den  Kopf  und  die  Wirbelbelsäule  nach  hinten  über 
und  fixieren  diese  Lage  krampfhaft,  genau  wie  das  Bein  hei  der 
Koxitis  durch  tetanische  Muskelkontraktion  in  typischer  Stellung  lest- 
gehalten  wird. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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gewisse  Symptome  hindeuteten.  Es  kommen  aber  Genick¬ 
starrefälle  zur  Beobachtung,  ohne  solche  prämonitorische 
Zeichen,  Fälle,  bei  denen  bereits  eine  vollkommene  Heilung 
eingetreten  ist  und  die  Kranken  in  blühender  Gesundheit, 
nachdem  sie  die  schwere  Infektion  überstanden  hatten,  das 
Krankenhaus  verlassen,  dann  aber  nach  Monaten  mil  den 
ersten  Symptomen  des  chronischen  Hydrozephalus  er¬ 
kranken. 

Während  des  Fieberstadiums  beobachtet  man  zuweilen 
Konjunktivitis,  Chorioiditis,  Panophthalmie,  Neuritis,  Amau¬ 
rose,  Kieferhöhlenerkrankungen  und  •  Luftröhrenkatarrhe. 
Herzerkrankungen  (Peri-,  Myo-  und  Endokarditis)  sind 
selten.  Die  Hals-  und  Nackendrüsen  sind  oft  geschwollen. 
Auf  der  Haut  trifft  man  als  wichtiges  differentialdiagnosti¬ 
sches  Symptom  den  Herpes,  meist  an  Lippen  und  Nase; 
nach  Einhorn  (1907)  ist  es  charakteristisch,  daß  die  Erup¬ 
tion  schubweise  auftritt,  derart,  daß  neben  eingetrockneten 
noch  frische  Bläschen  stehen,  während  bei  anderen  akuten 
Infektionskrankheiten  die  Herpeseruption  mit  einem  Male 
auftritt  und  damit  dann  abgeschlossen  erscheint.  Auffallend 
ist  ferner  die  ungewöhnliche  Mächtigkeit,  die  langsame 
Heilung  und  die  atypische  Lokalisation  an  den  Ohrmuscheln, 
den  Augenlidern ;  m  einem  Fälle  beobachtete  Einhorn  den 
Herpes  sogar  am  Daumen.  Curt  ins  (1905)  sah  einige  Male 
Petechien  der  Brust-  und  Bauchhaut,  sowie  ein  masern- 
ähnliches  Exanthem;  bei  Kindern  wird  eine  lebhafte  Haut¬ 
rötung  lei.cht  Anlaß  zu  Verwechslung  mit  Scharlach  oder 
Erysipel  geben.  Selten  sind  Urtikaria,  Oedeme  im  Gesicht 
und  am  Handrücken,  Gelenkaffektionen,  Thrombosen  beob¬ 
achtet.  Der  Harn  wird  reichlich  sezerniert  und  enthält  zu¬ 
weilen  Zucker  (Laiguel-Lavastine,  1909),  Eiweiß  und 
Diazokörper.  Die  Milz  ist  aber  gewöhnlich  sehr  klein,  nur 
in  16%  der  Fälle  vergrößert,  im  Gegensatz  zum  üblichen 
Milztumor  bei  Streptokokken-  und  Pneumokokkenmeningitis 
(Charlotte  Müller,  1908).  Gegenüber  der  tuberkulösen 
Form  pflegt  der  Puls  frequent,  manchmal  irregulär  zu  sein; 
hochansteigende  Pulszahl  läßt  auf  Vaguslähmung  sch'ießen 
und  ist  ein  schlechtes  Zeichen.  Das  Fieber  ist  meist  un¬ 
regelmäßig  remittierend,  oft  von  längeren  fieberfreien  Inter¬ 
vallen  unterbrochen,  während  deren  man  den  Patienten 
irrtümlicherweise  schon  gerettet  glaubt. 

Als  'bleibende  Folgen  der  Krankheit  finden  sich  am 
häufigsten  Blindheit  oder  Verlust  des  Hörvermögens,  welch 
letzteres  bei  Kindern  Taubstummheit  bedingt;  ferner  pri¬ 
märer  Verlust  der  Sprache,  Geistesschwäche,  chronischer 
Kopfschmerz,  Lähmungen,  Rückfälle  sind  außerordentlich 
selten  beobachtet  worden,  so  z.  B.  einer  von  A.  Monte- 
fusco  (1907)  und  mehrere  von  Flexner  (1908);  H  i  1  s  u  m 
und  Monchy  (1903)  sahen  einige  Male  Rezidive,  welche 
günstiger  und  schneller  verliefen  als  die  eigentliche  Krank¬ 
heit. 

Bei  Sektionen  Genickstarrekranker  ergibt  sich  als 
Sitz  der  Entzündung  und  Eiterbildung  ausschließlich  die 
Pia;  äußerst  selten  zeigt  die  Dura  einen  leichten  Belag; 
am  stärksten  ist  die  Eiteransammlung  auf  den  Stirn-  und. 
Scheitellappen,  wo  sie  als  „grüne  Haube“  imponiert  und 
an  der  Hirnbasis,  am  Chiasma,  am  Infundibulum,  während 
die  Fossa  Sylvii  (im  Gegensatz  zur  tuberkulösen  Form)  so 
gut  wie  gar  nicht  beteiligt  ist.  Die  Hirnventrikel  enthalten 
meist  etwas  trübe,  purulente  Flüssigkeit,  namentlich  bei 
längerem  Bestehen  der  Affektion.  Im  letzteren  Falle  trifft 
man  auch  starken  Hydrozephalus  mit  Atrophie  und  Oedem 
des  Hirns,  Trübung  und  Verdickung  der  weichen  Hirnhäute. 
Am  Rückenmark  ist  besonders  die  Pia.  der  Dorsalseite  be¬ 
fallen,  wo  die  Dura  fibrinösen  Relag  zeigt.  Bei  foudroyanten, 
in  wenigen  Stunden  tödlichen  Fällen,  ist  der  Obduktions¬ 
befund  vielfach  negativ. 

Zur  Sicherung  der  Diagnose  Genickstarre  isl  von 
allergrößter  Bedeutung  das  Ergebnis  der  Quincke  sehen 
Lumbalpunktion,  besonders  zur  Trennung  der  tuberkulösen 
von  den  eitrigen  Formen,  indem  sich  bei  ersteren  über¬ 
wiegend  Lymphozyten  in  der  Spinalflüssigkeit  finden,  bei 
letzteren  polynukleäre  Leukozyten.  Die  Bildung  eines  Fi¬ 


brinhäutchens  im  Punktat  soll  mehr  auf  Pneumokokken 
infektion  hindeuten,  das  Fehlen  eines  solchen  auf  Meningo 
kokkeninfektion.  Entscheidend  bei  der  l  ntcrsuchung  des 
Punktats  ist  natürlich  der  Befund  von  Gram- negativen 
intrazellulären  Diplokokken  im  frischen  Präparat  und  be¬ 
sonders  in  der  Kultur  (Aszitesbouillon,  Aszitesagar,  Blut¬ 
agar);  Rachenabstriche  dagegen  führen  seifen  zu  einwand 
freiem  Resultat.  Der  Grad  der  Trübung  der  Lumbalflüssig 
keit  ist  nicht  immer  beweisend  für  den  Grad  der  Eiterung: 
zur  Begründung  weist.  Busse  (1910)  auf  den  Unterschied 
hin,  der  zwischen  Zerebrospinalflüssigkeit  und  eigentlichem 
Exsudat  besteht;  ers teres  .  braucht  nur  leicht,  getrübt  zu 
sein,  während  dicker,  rahmiger  Eiter  in  den  Maschen  der 
Pia  liegt.  Diagnostisch  brauchbar  könnte  auch  die  Bestim¬ 
mung  des  Agglutinationstiters  sein ,  wenn  deren  Aus¬ 
führung  nicht  so  häufig  an  dein  Mangel  geeigneter  Meningo¬ 
kokkenkulturen  scheitern  würde;  auch  tritt  die  Agglutination 
nicht  gleich  im  Anfang  der  Erkrankung  auf.  Vorläufig  rein 
theoretischen  Wert  haben  die  Untersuchungen  Böhmes 
(1908)  über  Opsonine:  Auf  einen  Meni ngokokkenstamm, 
der  frisch  aus  Lumbalflüssigkeit  eines  Genickstarrekranken 
gezüchtet  war,  wirkte  inaktives  normales  Menschenserum 
nur  sehr  schwach  ein;  demgegenüber  zeigte  das  aktive 
und  inaktive  Serum  des  Kranken  selbst  eine  sehr  verstärkte 
opsonische  Wirkung,  die  im  Verlauf  der  Krankheit  zunahm 
(vielleicht  infolge  der  therapeutischen  Semmeinsprilzungen) 
und  daneben  agglutinierende  Kraft.  Das  zu  den  Einspritzun¬ 
gen  verwendete  Serum  wirkte  allerdings  weder  für  sich 
noch  mit  verdünntem  Menschenserum  vermischt,  opsonisch. 

Die  Behandlung  war  früher  eine  rein  symptoma¬ 
tische  und  befaßte  sich  vorwiegend  mit  der  Bekämpfung 
der  Schmerzen;  einen  wahrhaft  entscheidenden  Einfluß  auf 
den  Krankheitsverlauf  jedoch  hat  man  bei  kritischer  Prü¬ 
fung  wohl  weder  von  externen  noch  internen  Mitteln  ge¬ 
sehen.  Vorübergehend  günstig  wirken  antifebrile  und  anti¬ 
phlogistische  Maßnahmen:  Aderlaß  bei  starker  Kongestion 
des  Gesichtes;  lokale  Blutentziehungen,  mit  Schröpfköpfen 
oder  Blutegeln  an  den  Schläfen,  den  Warzenfortsätzen,  dem 
Nacken,  längs  der  Wirbelsäule  (bei  Kopf-  und  Rücken¬ 
schmerzen,  Somnolenz  und  Hirndrucksymptomen).  Sehr  an¬ 
genehm  empfinden  die  Kranken  lokale  Kälte  in  Form  von 
Eisbeuteln  auf  Stirn  und  Nacken,  Chapman  schein  Wirbel¬ 
säulenschlauch,  Leiterschen  Kühlröhren  in  Kappenform  für 
den  Kopf.  Von  Einreibungen  mit  grauer  Salbe,  Crede- 
scher  Salbe,  Kollargol  (Hecht.  1905 8),  Sehrwald  1905, 
täglich  7-5  g,  Voisiu  1909,  Leick  19091  sieht  man  kaum 
einen  Vorteil;  auch  lassen  die  Antipyretika,  wie  Phen 
azetin,  Salophen,  Pyramiden,  Aspirin,  Antipyrin,  Migränin, 
Salipyrin,  Chinin  usw.,  oft  jede  Wirkung  auf  den  Kopf¬ 
schmerz  vermissen  (wie  z.  B.  in  meinem  Falle).  Mit  der¬ 
selben  Aussicht  kann  man  Pasta  Guarana,  Kalium  nitricum, 
Formaldehyd  (Curtius  1905,  Leick  1909)  Limonaden 
versuchen.  Nach  Arnold  (1908)  läßt  sich  durch  Verab¬ 
reichung  von  Salzsäure  in  einer  Reihe  von  Fällen  das 
im  Gefolge  der  Meningitis  (besonders  in  protrahierten 
Fällen)  auftretende  Erbrechen,  welches  jede  Nahrungsauf¬ 
nahme  aufs  äußerste  erschwert  oder  vereitelt,  sowie  in 
leichteren  Fällen  die  Appetitlosigkeit  der  Kranken  erfolg¬ 
reich  bekämpfen.  Durch  epidermal ischp  Anwendung  von 
Guajakol  will  Arnold  mehrmals  in  wenigen  Tagen  Rück¬ 
gang  des  Fiebers  und  der  meningilischen  Krankheitserschei¬ 
nungen  und  binnen  kurzer  Zeit  definitive  Heilung  erzielt 
haben  (?). 

Bei  den  oft  unerträglichen  Kopfschmerzen  sind  Nar¬ 
kotika  meist  unentbehrlich;  doch  reicht  man  mit  interner 
Ordination  von  Kodein,  Dionin,  Heroin,  Opium,  Sulfonal, 
Trional,  Amylenhydrat,  Chloral,  Veronal,  Atropin  usw. 
kaum  aus,  sondern  wird  bald  zur  Morphiumspritze  fl  bis 
2  cg)  greifen  müssen.  Bei  Kollaps  und  Koma  werden  Exzi- 
tantien,  wie  Kampfer,  Aether,  Moschus,  Sekt,  Kaffee,  Di- 
galen,  kalte  Uebergießungen  an  gewendet.  Zu  Anfang  der 

8)  Hecht  spritzte  Kollargol  auch  intravenös  erfolgreich  ein. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Krankheit,  zumal  wenn  sie  mit  Obstipation  einhergeht,  em¬ 
pfiehlt  sich  Ableitung  auf  den  Darm1  mit  salinisclien  oder 
vegetabilischen  [Mitteln,  eventuell  auch  mit  Kalomel 
(Leyden). 

Ueber  den  Nutzen  der  Bäder  sind  die  Ansichten  ge¬ 
teilt;  die  einen  wollen  Vorteil  gesehen  haben,  andere  leugnen 
sie,  z.  B.  Bloch  (1905);  wenn  überhaupt,  so  kommen  nur 
heiße  Bäder  in  Betracht,  wie  sie  von  Westenhöffer 
(1906),  Voisin  (1909,  mehrmals  täglich,  39  bis  40  wann), 
Cur tiu s  (1905,  warme  Bäder  mit  nachfolgenden  Ein¬ 
packungen),  Dornblüth  (1905),  Hecht  (1905),  Quen- 
stedt  (1908)  empfohlen  werden;  kalte  Bäder  dagegen 
hierin  stimmen  alle  Autoren  überein  —  können  nur  schäd¬ 
lich  wirken.  Aus  theoretischen  Erwägungen  heraus  werden 
von  verschiedenen  Seiten  Diuretika  und  tägliche  Kochsalz- 
klystiere  (Grawitz,  1905)  oder  Kochsalzinfusionen 
(Hecht,  1905)  angeraten.  Ruhe  mann  (1905)  tritt  für  Jod¬ 
natrium  (2-5/1500,  dreimal  täglich  xk  Eßlöffel)  ein,  das 
sein  Jod  in  statu  nascendi  rasch  abgeben  und  allen  an¬ 
deren  Jodpräparaten  überlegen  sein  soll.  Mit  10  g  habe  er 
einen  13jährigen,  schon  mehrere  Wochen  erfolglos  behan¬ 
delten  Knaben  geheilt.  Auch  Bloch  (1905)  will  günstige 
Erfahrungen  mit  Jodnatrium  gemacht  haben.  Ebenso  opti¬ 
mistisch  ist  Foucaud  (1908)  in  der  Beurteilung  der  Wir¬ 
kung  künstlicher  Abszesse  nach  Rochier,  die  er  durch 
Einspritzen  von  Terpentingeist  erzeugte.  Stursberg  (1908) 
rühmt  den  günstigen  Einfluß  der  Bi  ersehen  Stauung;  Ver¬ 
suche  an  Hunden  hatten  ihiml  nämlich  gezeigt,  daß  beim 
Umlegen  einer  Stauungsbinde  um  den  Hals  der  Druck  so¬ 
gleich  steil  ansteigt,  vor  allem  infolge  starker  Ausdehnung 
der  venösen  Gefäße  der  Schädelhöhle,  weniger  infolge  ver¬ 
mehrter  Abscheidung  von  Liquor.  Bei  Hirnhautentzündun¬ 
gen  wird  durch  venöse  Stauung  ein  noch  stärkerer  und 
länger  [dauernder  Druckanstieg  eintreten ;  es  darf  datier 
die  Stauung  nur  in  geringem  Grade  und  erst  dann  iaus- 
gefülirt  werden,  wenn  durch  Lumbalpunktion  der  Druck 
ausreichend  erniedrigt  ist.  Vor  ihm  wendete  schon  Vor¬ 
schütz  (1907)  die  Stauung  an;  sie  vermindere  die  Kopf¬ 
schmerzen,  verhüte  Komplikationen  und  bekämpfe  die  Ent¬ 
zündung,  indem  Stauung  und  regelmäßige  Punktionen  im 
Lumbalsacke  eine  Strömung  hervorrufen,  durch  welche  die 
Eritzün dun gsk ei m e  aus  den  Nischen  und  Falten  fortge- 
schwerrimt  werden. 

Ausgehend  von  dem  Gedanken,  daß  die  Eintrittspforte 
der  Infektion  der  Nasenrachenraum  ist,  bläst  Hecht  (1905) 
ein  Gemisch  von  Sozojodolnatrium  und  Acidum  boricum  ana, 
Es  Che  rieh  (1906)  Pyozyanase  in  den  Epipharynx;  letz¬ 
terer  wies  experimentell  nach,  daß  durch  Behandlung  mit 
Pyozyanase  die  Zahl  der  Meningokokken  im  Nasenschleim 
so  vermindert  werden  kann,  daß  sie  in  den  nach  der  Ein¬ 
blasung  vorgenominenen  Impfungen  nicht  mehr  gefunden 
werden.  Hiedurch  schützt  män  nicht  nur  den  Infizierten 
vor  der  Meningitis,  sondern  auch  die  Umgebung  des  Kranken 
vor  Ansteckung  und  verhütet  die  Verbreitung  der  Seuche 
durch  Zwischenträger.  Ganz  ähnliche  Erfahrungen  will 
Huber  (1908)  gesammelt  haben;  eine  vorbeugende  Verab¬ 
reichung  soll  jedoch  keinen  Erfolg  versprechen.  Wasser¬ 
mann  und  Leuchs  (1908)  verreiben  eingelrocknetes  Anti¬ 
meningokokkenserum  zu  gleichen  Teilen  mit  Milchzucker 
und  bringen  es  dann  mittels  Pulverbläser  in  die  Gegend 
der  Rachentonsille.  Seibert  (1907)  empfiehlt,  sowohl  beim 
Patienten  selbst,  um  weitere  Absorption  und  Expektoration 
von  Kokken  zu  verhindern,  als  auch  direkt  prophylaktisch, 
hei  der  Umgebung  des  Kranken  Behandlung  des  Nasen¬ 
rachenraumes  mit  einer  Lösung  von  Resorzin  in  heißem 
Alkohol  1:1.  Die  Applikation  geschieht  mit  einem  Watte- 
träger,  dessen  abgebogenes  Ende  lang  genug  ist,  um  das 
RaChendach  zu  erreichen;  die  Behandlung  muß  alle  48 
Stunden  wiederholt  werden  und  ist  auch  von  kleinen  Kin¬ 
dern  zu  ertragen;  der  Magen  soll  dabei  leer  sein.  Den 
gleichen  Zweck  —  besonders  im  Inkubations-  und  Prodro¬ 
malstadium  —  verfolgt  Dornblüth  (1905)  mit  der  opera¬ 
tiven  Entfernung  der  als  Bakterienherd  fungierenden  Rachen¬ 


mandel;  Curtius  (1905)  sah  jedoch  in  acht  so  operierten 
Fällen  keine  Wirkung. 

Mit  Interesse  muß  man  die  Versuche  von  Hiß  und 
Zinsser  (1908)  verfolgen;  sie  hatten  schon  früher  fest- 
gestellt.,  daß  Leukozytenextrakte,  die  sie  durch  Aleuronat- 
injektionen  in  die  Pleura  von  Kaninchen  gewannen,  be¬ 
sonders  bei  intraperitonealer  Einspritzung  eine  ausgespro¬ 
chene  Heilwirkung  auf  mit  Staphylo-,  Strepto-,  Pneurno-, 
Meningokokken  und  Typhusbazillen  infizierte  Kaninchen  aus¬ 
übten.  Auch  beim1  Zusammenbringen  von  Leukozyten-  und 
Bakterienextrakten  in  vitro  konnten  sie  das  Auftreten  von 
Niederschlägen  beobachten.  Auf  Grund  der  günstigen  Er¬ 
gebnisse  der  Reagenzglas-  und  Tierversuche  wandten  sie 
Leukozytenextrakte  auch  heim  Menschen  an  u.  zw.  führten 
bei  22  Genickstarrefällen  mehrfache  Injektionen  von  5  bis 
20c'm3  Extrakt  aus  mit  dem  Erfolg,  daß  63-6%  geheilt 
wurden;  aber  ,  auch  bei  den  letal  endenden  Fällen  zeigte 
sich  ein  günstiger  Einfluß  der  Extrakte  durch  den  län¬ 
geren  Verlauf.  (Bei  acht  Fällen  von  Pneumonie  sank  nach' 
jeder  Einspritzung  stets  dm  Temperatur  ab.) 

Unter  allen  nicht  spezifischen  Mitteln  scheint  die  Lum¬ 
balpunktion  aber  bei  weitem  die  erste  Stelle  zur  Be¬ 
kämpfung  der  Genickstarre  einzunehmen;  sie  wirkt  sym¬ 
ptomatisch  durch  Entlastung  des  Zentralnervensystems  vom. 
Druck,  gibt  dadurch  dem  Kranken  Erleichterung  seiner 
Schmerzen  und  fördert  somit  vorübergehend  die  Nahrungs¬ 
aufnahme.  Es  ist  jedoch  unerläßlich,  sie  möglichst  oft  zu 
wiederholen.  In  gewisser  Weise  wirkt  sie  auch  kausal, 
indem  sie  einen  Teil  der  Kokken  mit  fortschwemmt;  prak¬ 
tisch  koihmt  das  aber  bei  der  Uebersäung  der  Häute  mit 
Keimen  kaum  in  Frage.  Bei  meiner  Patientin  ließ  sich  im 
Anschluß  an  die  Punktionen  weder  objektiv  noch  subjek¬ 
tiv  eine  wesentliche  Aenderung  des  Zustandes  erkennen. 
Rad  mann  (1905)  sah  an  seinem  großen  oberschlesischen 
Material  keinen  Erfolg  von  planmäßigen  Spinalpunktionen, 
Stursberg  (1908)  seihst  nicht,  bei  ein-  bis  zweimal  täg¬ 
lich  ausgeführter  Punktion;  auch  Kr o eher  (1906)  und 
Schultz  (1907)  können  nur  negative  Resultate  mitteilen 
und  Göppert  erklärt  auf  Grund  seiner  reichen  Erfahrung 
in  der  oberschlesischen  Epidemie,  daß  es  (bis  damals)  keine 
Behandlung  der  Genickstarre  gebe,  welche  imstande  sei, 
die  Mortalität  in  wesentlicher  Weise  zu  beeinflussen.  Etwas 
mehr  versprechen  sich  Broer  (1906),  Westenhöffer 
(1906),  Huber  (1908),  v.  Bökay  (1907)  vom  Lumbalstich; 
nach  letzterem  Autor  können  zwar  nur  wenige  Prozent 
gerettet  werden,  doch  sind  heilende  Wirkungen  unverkenn¬ 
bar;  der  Hirndruck  wird  verringert,  die  Krankheitserreger 
und  Toxine  werden  entfernt.  In  schweren  Fällen  ist  bei  er¬ 
neuter  K ran kh eits versöhl i m'm e r u ng  der  Einstich  in  kurzen 
Fristen  von  1 — 2 — 3  Tagen  zu  wiederholen,  doch  sollen 
bei  Kindern  nicht  mehr  als  30  cm3  abgelassen  werden. 
Tritt  nur  wenig  und  besonders  dickflüssiger  eitriger  Liquor 
aus,  so  sind  weitere  planmäßige  Einstiche  aussichtslos.  Die 
begleitende  Anwendung  der  Bi  ersehen  Stauung  beruht  nach 
v.  Bökay  auf  unrichtigen  Annahmen  und  habe  an  den 
Erfolgen  keinen  Anteil.  Koch  (1907)  hält  die  Spinalpunktion 
für  ein  gutes  Mittel  zur  Verminderung  starker  Drucksym¬ 
ptome;  leider  sei  der  Einfluß  der  Punktion  nicht  von  langer 
Dauer,  so  daß  man  alle  ein  bis  zwei  Tage  den  Eingriff 
wiederholen  müsse.  Ob  aber  nur  subjektive  Besserung  oder 
auch  eine  objektive  erreicht  wird,  ist  fraglich;  jedenfalls 
darf  man,  solange  nicht  bewiesen  ist,  daß  durch  die  plan¬ 
mäßige  Spinalpunktion  die  Mortalitätsziffer  herabgedrückt 
wird,  derselben  keinen  besonderen  therapeutischen  Wert 
beilegen.  Diesen  Anschauungen  Kochs  stehen  gegenüber 
die  günstigen  Resultate,  welche  von  Grawitz  (1905),  Dorn¬ 
blüth  (1905),  Hecht  (1905),  Hilsum  und  Monchy 
(1903),  Curtius  (1905),  Cohn  (1908),  Voisin  (1909)  und 
zahlreichen  anderen  publiziert  werden.  Kopliks  (1908) 
spinalpunktierte  Kranken  wiesen  eine  Mortalität  von  38°/o 
auf;  Kob  (1905)  beobachtete  nach  jeder  Punktion  einen 
Temperaturabfall,  Bloch  (1905)  einen  schnellen  Rückgang 
der  bedrohlichen  Zustände.  Die  Empfehlung  v.  Drigal- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


skis  (1905),  die  Lumbalpunktionsnadel  als  Dauerkanüle,  in 
C  redesehe  Silbergaze  mündend  und  durch  ein  entspre¬ 
chendes  Ringpolster  gegen  Druck  geschützt,  liegen  zu  lassen, 
ist  wohl  aus  leicht  verständlichen  Gründen  nicht  in  die 
Praxis  umzusetzen.  Lenhartz  (1905)  kommt  auf  Grund 
der  Erfahrungen  an  45  Kranken  zu  der  Ueberzeugung,  daß 
häufige  Anwendung  der  ganz  ungefährlichen  Lumbalpunk¬ 
tionen  einen  günstigen  Einfluß  auf  den  Krankheitsverlauf 
sowohl  im  akuten  (Stadium,  als  auch  während  der  Ent¬ 
wicklung  des  Hydrozephalus  habe.  Dem  ist  allerdings  gegen¬ 
über  zu  halten,  daß  bei  Hydrozephalus  die  Kommunikationen 
zwischen  Him-  und  Rückgratshöhlen  oft  erschwert  oder 
aufgehoben  sind,  so  daß  der  Liquor  Cerebri  aus  dem1  Lumbal¬ 
stichkanal  nicht  abfließt.  Westenhöf  f er  (1906)  schlug 
daher  vor,  zur  Vermeidung  des  Hydrozephalus  von  einer 
Trepanationsstelle  1  Cml  oberhalb  des  Ansatzes  des  Pro¬ 
cessus  zygomlaticus  an  das  Schläfenbein  durch  Einstoßen 
eines  Troikarts  das  Unter-  und  Hinterhorn  zu  drainieren  und 
eventuell  nach  Eröffnung  der  Ventrikel  von  der  Okzipital  - 
region  aus  eine  Durchspülung  zu  bewerkstelligen;  über  die 
Ausführbarkeit  dieser  Methode  überzeugte  er  sich  an  Leichen. 
W.  Schultz  (1907)  punktierte  in  der  Tat  mit  dem  Neis- 
s  er  sehen  Bohrapparat.  an  der  von  Kocher  angegebenen 
Stelle  des  Schädels  und  sah  danach  Aufhellung  des  Be¬ 
wußtseins,  Hebung  des  Appetits,  Besserung  von  Krämpfen, 
Schlaflosigkeit  und  Erbrechen,  konnte  jedoch  den  Exitus 
nicht  aufhalten.  Auch  Radmann  (1907)  empfiehlt  die  Tam¬ 
ponade  der  Seitenventrikel  bei  sekundärem:  Hydrozephalus, 
hält  allerdings  die  Gefahr  einer  Infektion  für  sehr  groß. 

Um  bei  einer  Lumbalpunktion  nicht  nur  physikalisch 
durch  Druckentlastung  und  Keimlverminderung  zu  wirken, 
sondern  gleichzeitig  den  Krankheitsherd  chemisch  zu  beein¬ 
flussen,  wurde  z.  B.  von  Es  Che  rieh  (1906)  Pyozyanase, 
-allerdings  ohne  sicheren  Erfolg,  injiziert;  Curtius  (1905) 
versuchte  —  ebenfalls  resultatlos  —  Durchspülungen  des 
Rückenmlarkskanales  mit  l°/oiger  Lysollösung;  mit  letzterer 
will  nämlich  Franc  a  (1905)  bei  der  portugiesischen  Ge¬ 
nickstarreepidemie  günstige  Erfahrungen  gemacht  haben,  in¬ 
dem  er  täglich  25  bis  50  cm3  jener  Lösung  intralumbal 
einspritzte,  bis  sich  die  Lumbalflüssigkeit  steril  zeigte.  Bei 
dickem  Eiter  wird  vor  Einspritzung  des  Lysols  mit  physio¬ 
logischer  Kochsalzlösung  durchgewaschen.  Von  58  so  bei- 
handelten  Fällen  starben  nur  17  (gegen  36  von  56  anders 
behandelten).  Leic'k  (1909)  sah  von  den  verschiedentlich 
gerühmten  Injektionen  von  1  bis  2  Cm3  2  Urigen  Kollargols 
in  den  Rückenmarkskanal  keine  Besserung. 

* 

Eine  ganz  neue  A  era  begann  für  die  Genickstarrebe¬ 
hand  lung  mit  der  Herstell ung  des  Antim en-ingokokke h- 
serurns.  Jochmann  (1906''  hatte  in  der  schlesischen  Epi¬ 
demie  1904/05  durch  zahlreiche  Beobachtungen  die  Erfah¬ 
rung  bestätigt  gefunden,  daß  nur  der  W  eich  sei  bau  mische 
Meningokokkus  ätiologisch  in  Betracht  kommen  kann  und 
bemühte  sich  nun,  mit  diesem  ein  Immunserum  herzu¬ 
stellen.  Durch  systematische  Virulenzprüfungen  an  etwa 
30  Stämmen  gewann  er  eine  Anzahl  Stämme,  von  denen 
1  Oese  (3  mg),  bei  Mäusen  intraperitoneal  injiziert,  nach 
12  bis  24  Stunden  den  Tod  herbeiführte.  Von  diesen  Kokken 
nun  legte  er  Massenkulturen  auf  Aszitesagar  an  und  spritzte 
Pferden,  Hammeln,  Ziegen  anfangs  subkutan,  später  intra¬ 
venös,  mit  1  Oese  beginnend,  bei  60°  abgetötete  Kulturen 
ein;  alle  acht  Tage  wurde  die  Dosis  verdoppelt  und  so  bis 
drei  Kolleschalen  vorgeschritten.  Nach  mehreren  Monaten 
wurde  die  gleiche  Behandlung  mit  lebenden  Kulturen  aus¬ 
geführt,  wobei  der  Agglutinationstiter  eines  Pferdes  schlie߬ 
lich  auf  1:1500,  eines  Hammels  auf  1:500  stieg.  Solche 
hoch  agglutinierenden  Sera  gestatten  übrigens  eine  sichere 
Unterscheidung  echter  Stämme  von  unechten;  sie  erweisen 
ferner  die  Artdifferenz  des  Jäger  sehen  Gram -positiven 
Diplokokkus  und  des  Weich  sei  bau  mischen  Gram -nega¬ 
tiven. 

Während  mm  bei  Pneumokokkenseris  die  Immunkörper 
oft  so  spezifisch  sind,  daß  sie  nur  gegen  den  zur  Tmmuni- 


125 


sierung  verwendeten  Stamm  Schutzwirkung  entfalten,  ist 
das  von  Joc'hrbann  angegebene  (jetzt  von  E.  Merck, 
Darmstadt  fabrizierte)  Serum  polyvalent.  \  ersuche  an  Meer¬ 
schweinchen  und  Mäusen  zeigten,  daß  prophylaktische  oder 
gleichzeitige  subkutane,  resp.  intraperitoneale  Seruminjek¬ 
tion  vor  der  zwei-  bis  sechsfach  tödlichen  Dosis  schützt. 
Die  Virulenz  der  (Stämme  muß  immer  wieder  von  neuem 
geprüft  werden,  da  oft  plötzlich  ein  starker  oder  völliger 
Virulenzabfall  eintritt,  der  den  Stamm  zur  Immunisierung 
unbrauchbar  mlaöht. 

Fragt  man  nun,  worauf  die  Sohutzwirkung  des  Anti¬ 
meningokokkenserums  beruht,  so  ergeben  die  Versuche 
Joc'hmanns,  daß  eine  wesentliche  Virulenzabschwä- 
c'hung  der  Kokken  durch  das  Serum  nicht  bedingt  wird. 
Meningokokkenstämme,  welche  24  Stunden  der  Einwirkung 
des  Serum's  ausgesetzt  waren  und  nachher  weiter  gezüchtet 
wurden,  führten  stets  noch  in  derselben  Dosis  wie  vor 
der  Serumeinwirkung  den  Tod  der  Versuchstiere  herbei ; 
auch  die  antitoxische  Wirkung  ist  gering,  die  Dosis 
letalis  'minima  einer  bei  56°  abgetöteten  Kultur  ist  nur 
zwei-  bis  dreimal  größer  als  die  einer  lebenden  Kultur. 
Mehrere  Experimente  zeigten  jedoch,  daß  im  Serum  passiv 
immunisierter  Meerschweinchen  bakterizide  Kräfte 
kreisen,  die  ihre  Wirkung  unabhängig  von  den  mit  bak- 
teriotropen  Substanzen  beladenen  Leukozyten  ent¬ 
falten  können.  Durch  subkutanes  Einspritzen  von  2  cm3 
.  steriler,  2  Uriger  nukleinsaurer  Natronlösung  läßt  sich 
beim  Meerschweinchen  eine  ganz  enorme  Leukozytose  er¬ 
zeugen,  welche  die  tödliche  Dosis  um  das  Dreifache  er¬ 
höhen  kann;  leider  ist  bei  genickstarrekranken  Menschen 
diese  Leukozytose  gering  und  nur  von  kurzer  Dauer,  so 
daß  ein  Heilerfolg  damit  nicht  zu  erzielen  ist.  Im  Gegen¬ 
satz  zu  Jochmann  spricht  0.  Orth  (1908)  dem  Serum 
jegliche  bakterizide  Kraft  ab;  denn  wenn  auch  bei  fort¬ 
währenden  Punktionen  und  Seruminjektionen  die  Bakterien 
aus  dem  Punktat  verschwinden,  so  sind  sie  post  mortem 
doch  in  den  Gewebskapseln  der  Durabasis  nachweis¬ 
bar;  auch  wäre  es  unverständlich,  daß  sich  noch  in  der 
siebenten  Woche  der  Rekonvaleszenz  aus  der  Lumbalflüs¬ 
sigkeit  Meningokokken  züchten  lassen.  Gerade  der  Umstand, 
daß  in  diesen  Fällen  trotz  der  Anwesenheit  der  Krank¬ 
heitserreger  dieselben  keine  verderbliche  Wirkung  mehr 
hervorriefen,  spricht  nach  Orth  wohl  für.  die  Annahme  einer 
paralysierenden  Kraft  des  Serums.  Mit  ihr  gelingt  es, 
künstlich  den  Bakterien  eine  größere  Menge  der  Abwehr¬ 
stoffe  entgegenzuwerfen,  so  daß  sie  ihrerseits  nicht,  schnell 
genug  die  nötigen  Abfallstoffe  produzieren  können,  um  jene 
ersteren  aufzuheben. 

Das  Kolle-Wassermlannsche  (oder  Berliner)  Se¬ 
rum1  wird  in  folgender  Weise  hergestellt  (Wassermann 
und  Leuchs,  1908):  Ein  Pferd  wird  subkutan  zuerst  mit 
abgetöteten,  dann  mit  lebenden  Kulturen  behandelt,  ein  an¬ 
deres  in  gleicher  Weise,  aber  intravenös;  ein  drittes  Pferd 
erhält  erst  subkutan,  dann  intravenös  gelöste  toxische  Sub¬ 
stanzen  der  Meningokokken,  die  dadurch  gewonnen  werden, 
daß  frische  Meningokokkenkulturen  bei  Zimmertemperatur 
mit  destilliertem  Wasser  (5  cm3  auf  eine  K  olle  sehe  Schale) 
acht  (Stunden  lang  geschüttelt  und  daun  bis  zur  vollstän¬ 
digen  Klärung  zentrifugiert  werden.  Zu  den  verschiedenen 
Immunisierungsarten  werden  je  mehrere  Pferde  genommen, 
die  mil  verschiedenen  u.  zw.  biologisch  möglichst  diffe¬ 
renten  Meningokokkenkulturen  vorbehandelt  sind.  Die  Sera 
aller  nach  den  drei  verschiedenen  Methoden  immunisierten 
Pferde  werden  alsdann  gemischt,  so  daß  ein  multipartiales 
Serum  entsteht,  das  seiner  Herstellungsweise  nach  nicht 
nur  ein  antiinfektiöses,  sondern  auch  ein  anti toxisches  ist. 
Zur  Immunisierung  der  Pferde  werden  nur  solche  Giff- 
lösungen  verwendet,  welche  in  einer  Dosis  von  0-1  ein:’ 
ein  Meerschweinchen  von  150  g  Gewicht  innerhalb  12  bis 
24  Stunden  töten. 

Fl  ex xi er  stellte  1907  erfolgreiche  Versuche  an,  Ein¬ 
spritzungen  von  Meningokokkenkulturen  bei  Meerschwein¬ 
chen  und  Affen  durch  Behandlung  mit  Antiserum  von  Ziegen, 


126 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  4 


Kaninchen  und  großen  Affen  unschädlich  zu  machen.  Da¬ 
mals  warnte  er  noch  davor,  Injektionen  von  artfremden 
Seren  in  den  Rückenmarkskanal  eines  Menschen  vorzu¬ 
nehmen,  ehe  nicht  ihre  physiologische  Wirkung  an  Affen 
erprobt  sei.  Er  glaubte  ferner,  daß  die  Gefahr  einer  Seruml- 
intoxikation  bei  Anwendung  von  Affenserum  beim  Menschen 
geringer  wäre  als  bei  Anwendung  von  Seren  niederer  Tiere. 

Im  folgenden  Jahre  (1908)  berichtet  er  zusammen  mit  Job- 
ling  über  weitere  Experimente  und  auch  schon  über  Er¬ 
folge  an  Menschen.  Er  erhält  sein  Serum  durch  abwech¬ 
selndes  subkutanes  Einspritzen  von  lebenden  Kulturen  und 
Kulturautolysaten  in  Zwischenräumen  von  sieben  Tagen 
und  zwar  werden  Gemische  verschiedener  Kulturen  ver¬ 
wendet. 

Außer  den  obengenannten  Seren  gibt  es  noch  ein 
Ruppelsches,  ßorrough-Welcome,  Dopter,  Ber¬ 
ner,  Wiener  Serum  und  andere  mehr. 

Von  großer  Bedeutung  für  die  Therapie  ist  natürlich 
zwecks  richtiger  Dosierung  die  Wertbestimmung  des  Se¬ 
rums,  wie  sie  z.  B.  so  exakt  für  das  Diphtherieheilserum 
ausgeführt  wird.  Hier  besteht  aber  für  das  Genickstarre- 
heilserum  noch  eine  große  Lücke.  Es  wäre  nämlich  das 
Naheliegendste,'  das  Tierexperiment  zu  benutzen,  wie  .es 
z.  B.  Kraus  (Wien)  schon  vor  Jahren  vorschlug.  Nun  ist 
aber  der  Schutzversuch  an  der  Maus  nur  möglich,  wenn 
man  frische,  virulente  Kulturen  besitzt,  was  nicht  immer  der 
Fall  ist ;  auch  aus  anderen  Gründen  gelingt  die  Austi¬ 
trierung  des  Serums  nach  Art  des  Pfeifferschen  \  er- 
suches  nicht ;  letzterer  wird  zudem  von  neueren  Autoren 
nicht  für  maßgebend  für  den  Heilerfolg  ihrer  Seren  am 
Menschen  .angesehen,  da  fast  ausschließlich  ein  einziger 
der  in  diesem  Serum  vorhandenen  Antikörper,  nämlich  der 
bakteriolytische  Ambozeptor,  zur  Geltung  kommt.  Ottos 
Ansicht,  wie  er  sie  in  der  „staatlichen  Prüfung  der  Heil¬ 
sera“  ausspricht,  daß  von  vornherein  gegen  alle  Serum1 
prüfungen  in  vitro  Bedenken  beständen,  da  nur  im!  Tier¬ 
versuch  alle  Faktoren,  welche  die  Bakterien  bekämpfen 
und  vernichten,  in  Aktion  treten  und  gleichzeitig  zur  Wir¬ 
kung  gelangen,  ist  nach  NeufeTd  (1910)  unzutreffend, 
nach  diesem  Forscher  treten  auch  im  Tierkörper  je  nach 
der  Versuchsanordnung  die  verschiedenen  Antikörper  in 
ganz  verschiedenem  Maße  in  Wirkung,  weil  eben  auch 
die  infektiöse  und  toxische  Wirkung  der  Mikroorganismen 
sich  je  nach  der  Tierart,  dem  Applikationsmodus  eventuell 
in  ganz  verschiedener  Weise  äußert  u.  zw.  stets  ganz 
anders  als  bei  der  menschlichen  Erkrankung,  die  wir  mit 
unserem  Serum  bekämpfen  wollen.  Es  gibt  also  auch  der 
Tierversuch  keineswegs  ohne  weiteres  einen  sicheren  Ma߬ 
stab  für  die  Auswertung  eines  Serums.  Wenn  man  von 
der  einfachen  Antitoxinprüfung,  wo  der  Tierkörper  in  der 
Hauptsache  nur  als  Indikator  für  das  Vorhandensein  freien 
Toxins  dient,  absieht,  so  werden  wir  den  im  Tierversuch 
erhaltenen  Wert  nur  dann  als  unmittelbaren  Maßslab  für 
die  therapeutische  Wirkung  beim  Menschen  ansehen  dürfen, 
wenn  entweder  heim  Versuchstier  dasselbe  Krankheitsbild 
wie  beim  Menschen  ^erzeugt  werden  kann,  oder  wenn  so¬ 
wohl  beim  Menschen  wie  beim  Versuchstier  für  die  Heil-, 
bzw.  Schulzwirkung  eines  Serums  ein  und  derselbe  Anti¬ 
körper  ausschließlich  oder  doch  ganz  überwiegend  in  Be¬ 
tracht  kommt  (Neufeld,  1910). 

Schon  1908  benutzten  Wassermann  und  Leuchs 
die  Bordet-Gengo u sehe  Komplementablenkungsmethode 
nach  der  Modifikation  von  Wassermann-Bruck.  Als 
Endtiter  diente  diejenige  geringste  Menge  Serum  be¬ 
ziehungsweise  Extrakt,  welche  noch  völlige  Hemmung  der 
Hämolyse  ergibt.  Nun  bietet  die  Komplementbindung  zwar 
einen  Anhaltspunkt,  beweist  jedoch  keineswegs  den  Gehalt 
an  heilenden  Faktoren.  Zivei  verschiedene  Sera  können 
gleichen  Heilwert  und  doch  verschiedene  ablenkende  Kraft 
haben;  letztere  ist  z'.  B.  im  Merck  sehen  Serum  gering 
bei  hoher  Agglutinationskraft,  während  die  Sera  des  Ber¬ 
liner  und  Berner  Instituts  für  Infektionskrankheiten  an¬ 
nähernd  gleich  hohe  Agglutinationswerte  und  gleich  hohen 


Gehalt  an  komplementverankernden  Stoffen  haben.  Nach 
Kraus  und  Bächers  (1909)  Ansicht  gelingt  übrigens  die 
Komplementbindung  nicht  mit  jedem  Meningokokkenstamm. 

Flexner  und  Job  ling  (1908)  beklagen  gleichfalls 
die  geringe  Verläßlichkeit  ihrer  Methoden:  Bestimmung  des 
Titers  nach  dem  Komplementbindungsvermögen  und  nach 
der  Schutzwirkung  gegenüber  Kulturautolysaten  beim  Meer¬ 
schweinchen.  Kraus  und  Doerr  (1908)  lehnen  sogar  die 
K o  1 1  e  -  W asser  m  a n n sehe  Methode  als  Prüfungsart  für 
kurative  Sera,  völlig  ab;  auch  lebende  Meningokokken,  Agglu- 
tinine,  Ambozeptoren  sollen  sich  nicht  als  Maßstab  der 
Serumwirkung  eignen;  hingegen  könne  man  aus  Meningo¬ 
kokken  giftige  Substanzen  gewinnen,  welche  antigen  wirken 
und  als  Testobjekte  Verwendung  finden  dürfen.  Krunr 
bein  und  Diehls  (1908)  Untersuchungen  über  che  Wert¬ 
bestimmung  ergaben  durch  Experimente  mit  Extrakten  und 
Bakterienemulsionen,  die  von  neun  verschiedenen  Meningo- 
kokkenstämmen  gewonnen  waren,  daß  die  Emulsionen  in  1 
bezug  auf  die  Ausprüfung  der  einfach  tödlichen  Dosis  viel 
konstantere  Resultate  liefern  als  die  Extrakte.  Die  mit  diesen 
Giften  in  der  vier-  bis  achtfach  tödlichen  Dosis  angestellten 
Serumprüfungen  von  Höchster,  Merckschem  und  Berner 
Serum  lieferten  schwankende  und  ungleichmäßige  Resul¬ 
tate,  so  daß  die  Auswertung  des  Meningokokkenserums 
durch  den  Tierversuch,  bzw.  der  Neutralisationskraft  toxi¬ 
scher  Substanzen  als  praktisch  nicht  brauchbar  bezeichnet 
werden  muß.  Der  giftneutralisierende  Wert  geht  eben  nicht 
parallel  dem  Gehalt  an  Agglutininen  und  komplementbinden- 
den  Stoffen,  ja  selbst  letztere  sind  in  dem  Serum  einander 
nicht  proportional.  So  erhält  man  denn  auch  nach  Krum- 
bein  und  Diehls  Ansicht  bis  jetzt  die  besten  Resultate 
bei  der  Wertbestimmung  des  Meningokokkenbeilserums  mit 
der  von  Kolle-Wassermann  in  Ermangelung  einer  an¬ 
deren  Tos  (basis  vorgeschlagenen  Methode  der  Komplement-  , 
Verankerung.  Diese  zeigt  jedoch,  wie  erwähnt,  nicht  ohne 
weiteres  den  Gehalt  an  bakteriolytischen  Schutzstoffen  an, 
wie  sie  durch  den  Pfeifferschen  Versuch  festgestellt 
werden;  Unbeständigkeit  in  der  Wärme,  geringe  Haltbar¬ 
keit  der  ablenkenden  Stoffe  sowie  ihr  Fehlen  in  dem  in 
Höchst  an  gefertigten  agglutinierenden  und  nach  Ruppe  1 
schützenden  und  heilenden  Serum  sollen  darauf  hinweisen, 
daß  diese'  ablenkenden  Stoffe  keine  echten  Ambozeptoren, 
sondern  spezifische  Körper  sind.  .  ’ 

Nun  ist  neuerdings  durch  die  von  Neufeld  (1910)- 
ausgearbeitete  Methode  des  Nachweises  der  Bakterien-- 
tropine  zusammen  mit  dem  Nachweis  der  giftneu fralisie- - 
renden  Eigenschaften  des  Meningokokkenserums  eine  Basis 
geschaffen,  auf  welcher  man  zu  einer  allgemein  anerkannten 
Wertbestimmung  des  Serums  gelangen  dürfte  (Kraus  und 
Bäche r,  1909).  Auch  Jobling  äußert  sich  dahingehend, 
daß  von  allen  Antikörpern,  die  man  bei  der  Prüfung  des 
Genickstarreserums  herangezogen  hat,  bisher  nur  die  Tro¬ 
pine  die  beiden  Bedingungen  erfüllen,  die  man  wohl  als 
unerläßlich  (bezeichnen  darf:  Sie  sind  erstens  nach  all¬ 
gemeiner  Ansicht  an  der  Heilwirkung  des  Serums  hervor- 
.  ragend  beteiligt  und  sie  sind  zweitens  quantitativ  meßbar. 
Die  Untersuchung  auf  Tropine  ist  nicht  durch  die  Bestim¬ 
mung  des  Agglutinins  oder  der  Bordetschen  Antikörper  zu 
ersetzen,  da  diese  Körper  ganz  unabhängig  voneinander 
auftreten  (s.  oben);  allerdings  ist  bei  lange  fortgesetzter 
Immunisierung  und  Verwendung  großer  Dosen  Antigens 
mit  Wahrscheinlichkeit  darauf  zu  rechnen,  daß  sich  schlie߬ 
lich  alle  Antikörper  und  somit  auch  die  Tropine  und  Anti¬ 
toxine  reichlich  im  Serum  anhäufen;  daraus  erklärt  sich 
auch,  daß  von  verschiedenen  Stellen,  die  ihre  Seren  von 
ganz  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  bewerten,  ähnliche 
therapeutische  Erfolge  berichtet  werden. 

Indes  fordert  Neufeld  (1910)  selbst,  die  Wertbestim- 
mung  nicht  ausschließlich  nach  den  Tropinen  vorzunehmen. 
Sie  sind  eben  nicht  die  einzigen  Heilfaktoren  des  Serums, 
sondern  es  müssen  auch  die  Antitoxine  dazu  gezählt  werden, 
ferner  muß  mit  der  Möglichkeit  des  Vorhandenseins  noch 
anderer  Heilkomponenten  gerechnet  werden,  die  uns  in 


I 


Nr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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ihrer  Wirksamkeit  bis  jetzt  nicht  näher  bekannt  sind.  Man 
erhöht  daher  die  Wahrscheinlichkeit,  auch  die  übrigen  thera¬ 
peutisch  wirksamen  Stoffe  in  dem  Serum  anzutreffen,  wenn 
man  auf  weitere  Mengen  anderer  Antikörper  untersucht; 
als  solche  müssen,  solange  eine  brauchbare  Methode  des 
quantitativen  Antitoxinnachweises  fehlt,  die  komplement- 
bindenden  Antikörper  dienen. 

Was  die  Haltbarkeit  des  'Serums  betrifft,  so  soll  nach 
Angabe  einiger  Autoren  die  Wertigkeit  flüssiger  karboli- 
sierter  Sera  verhältnismäßig  rasch  heruntergehen,  nicht  in 
Uebereinstimmung  mit  der  Abnahme  der  Agglutinationskraft ; 
im  trocknen  Serum  gehe  das  Absinken  langsamer  vor  sich. 
Es  dürfte  daher  kein  Meningokokkenheilserum  angewendet 
werden,  das  älter  als  drei  Monate  ist.  Da  schon  mehrstündige 
Erhitzung  auf  60°  die  ablenkenden  Stoffe  erheblich  schädigt, 
wird  geraten,  das  bei  den  Verankerungsversuchen  störende 
Komplement  des  Serums  nicht  durch  dessen  Erwärmung, 
sondern  durch  Lagerung  (für  acht  Tage)  zu  entfernen.  Da¬ 
gegen  seien  sowohl  die  Ambozeptoren  des  Cholera-  und 
Typhusserums  als  auch  des  *Meningokokkenextraktes  recht 
haltbar.  Obige  Annahme  über  die  geringe  Haltbarkeit  des 
Genickstarreserums  wird  bestritten  von  Neufeld,  Händel, 
Dächer,  welche  im  Verlaufe  eines  Jahres  keine  Abschwä¬ 
chung  des  Titers  nachweisen  konnten. 

Bevor  ich  jetzt  nach  Erörterung  der  Grundlagen  auf 
die  Erfolge  der  spezifischen  Serumtherapie  ein¬ 
gehe,  möchte  ich  vorweg  einen  im  weiteren  Sinne  in  dies 
Gebiet,  fallenden  Versuch  B  a  1  d  u  z  z  i  s  (1907)  kurz  erwähnen. 
Balduzzi  knüpfte  an  die  Arbeiten  Centannis  und 
Bruschettinis  über  die  Vielwertigkeit  der  Seren 
an,  welche  zweierlei  Eigenschaften  besitzen  sollen,  die 
von  zweierlei  Fermenten  ausgehen.  Die  einen,  die  allge¬ 
meinen  Eigenschaften,  wirken  besonders  kraft  des  in  allen 
normalen  Seren  enthaltenden  Komplements  auf  viele  In¬ 
fektionen  ein,  die  anderen  dagegen  sind  den  besonderen  von 
der  Natur  gegebenen  Eigentümlichkeiten,  den  Immunisie¬ 
rungsvornahmen  und  ganz  besonders  dem  Zwischenkörper 
oder  Fixationskörper  zuzuschreiben.  Balduzzi  hatte  nicht 
die  Absicht,  eine  spezifische  Serumtherapie  vorzunehmen, 
sondern  die  allgemeine  Wirksamkeit  des  Serums  auszunützen 
zwecks  Reizung  des  Organismus  zur  Produktion  neuer,  in 
ihm  enthaltener  Verteidigungsmittel ;  es  erkläre  sich  so  auch 
die  absolute  Wirkungslosigkeit  bei  den  fulminanten  Fällen, 
bei  denen  dem  Organismus  nicht  die  Zeit  gelassen  werde, 
die  reizende  Wirkung  des  Serums  zu  fühlen  und  die  Schutz¬ 
stoffe  auszuarbeiten.  Zum  Schluß  regt  Balduzzi  die 
Frage  an,  ob  es  beim  Fehlen  eines  spezifischen  Serums  nicht 
zweckmäßig  sei,  die  Widerstandsfähigkeit  des  Organismus 
mit  heterogenem  Serum  za  heben.  Seine  bisherigen  Er¬ 
folge  in  der  Behandlung  von  Genickstarre  mit  Diphtherie¬ 
serum  und  Streptokokkenserum  ermuntern  allerdings  nicht 
in  diesem  Sinne.  Lemoine  und  Gaehlinger  (1909) 
nahmen  diese  Versuche  wieder  auf  und  behandelten  einen 
30jährigen  Genickstarrekranken  mit  mehrmaliger  intradu¬ 
raler  Einverleibung  von  insgesamt  90  cm3  Diphtherjeserum. 
Das  Allgemeinbefinden  besserte  sich,  die  Kokken  nahmen 
im  Liquor  ab.  Am  achten  Tage  trat,  unter  Temperaturanstieg 
(ohne  daß  Kokken  gefunden  wurden)  eine  Anaphylaxie  auf, 
die  eine  Fortsetzung  der  Versuche  vereitelte. 

Eine  originelle  spezifische  Therapie  leitete  Radmann 
(1907)  in  der  Weise  ein,  daß  er  zwei  Patienten  ihre  eigene, 
steril  aufgegangene  Lumbalfliissigkeit  (8  cm3)  unter  die  Haut 
spritzte,  worauf  die  Krankheit  ohne  örtliche  Reaktion  ab¬ 
heilte;  Huber  (1908)  verwendete  aus  ähnlicher  Ueberlegung 
bei  zwei  Kindern  den  Lumbalsaft  Genesender  und  sah  nach 
wiederholter  subkutaner  Einspritzung  ebenfalls  eine  gün¬ 
stige  Wirkung. 

Die  ersten  Versuche  mit  dem  Jochmann-Mer  ck- 
schen  Serum  am  Menschen  wurden  im  Stadtkrankenhause 
Ratibor  mit  30  Patienten  (meist  Kindern).  vorgenommen 
(Schöne,  1906).  Anfangs  erhielten  sie  in  einem  zeitlichen 
Abstand  von  zwei  und  mehr  Tagen  das  Serum  in  Mengen 
von  10  bis  40  cm3  subkutan  oder  intramuskulär  eingespritzt, 


später  bekamen  sie  die  gleiche  Menge,  meist  mit  öfterer 
Wiederholung,  in  sitzender  Stellung  in  den  Wirbelkanal 
injiziert,  teils  mit,  teils  ohne  vorheriges  Ablassen  von  Spinal- 
flüssigkeit.  Die  Erfahrung  lehrte  ihn  jedoch,  daß  Injektionen 
ohne  vorheriges  Ablassen  von  Liquor  nicht  unbedenklich 
sind.  Das  Punktat  war  selten  klar,  meist  trübe  und  setzte 
nach  kurzem  Stehen  'fast  immer  leichte  Fibrinflocken  ab; 
es  en! hielt  mikroskopisch  Leukozyten  und  Diplokokken.  Von 
Nebenwirkungen  wurde  nur  in  drei  Fällen  kurzdauernde 
Albuminurie  mit  höchstens  V2°/oo  Eiweiß,  in  vier  Fällen 
Urtikaria  und  Gliederschmerzen  beobachtet.  Zwecklos  ist 
nach  SLchöne  die  Serunianwendung  im  Stadium  hydro- 
cephalicum,  sonst  aber  soll  man  es  auch  bei  längerer  Krank¬ 
heitsdauer  noch  versuchen  u.  zw.  immer  in  möglichst  großen 
Dosen,  da  besonders  seine  ersten  Fälle  das  Versagen  klei¬ 
nerer  Mengen  bewiesen.  Von  außerordentlicher  Bedeutung 
ist  sodann  die  int ra lumbale  Injektion,  die  zuerst  von 
E.  Levy  in  Essen  (1908)  mit  ganz  besonderem  Nachdruck 
betont  wurde.  Von  Schönes  30  Kranken  reagierten  21 
überhaupt  günstig  auf  das  Serum  u.  zw.  13  unbedingt  mit 
sofortiger  Genesung,  6  mit  sofortiger  Genesung  auf  größere 
oder  intralumbale  Injektionen,  2  mit  vorübergehender 
Fieberfreiheit.  Von  5  Kranken,  welche  nicht  reagierten,  be¬ 
fanden  sich  3  im  Stadium  hydrocephalicum,  1  erhielt  nur 
zweimal  20  cm3  subkutan  in  einem  Abstande  von  sieben 
Tagen  und  1  war  ein  foudroyant  verlaufender  Fall.  Von  den 
66  im  Jahre  1906  im  Stadtkrankenhause  zu  Ratibor  aufge¬ 
nommenen  Genickstarrekranken  betrug  die  Mortalität  bei 
den  mit.  Serum  behandelten  27%,  bei  den  nicht  behan¬ 
delten  53%. 

1907  veröffentlichte  Kovaricek  einen  mit  Jo  ch¬ 
in  an nschem  [Serum  behandelten  Fall  (22jähriger  Dra¬ 
goner)  von  epidemischer  Genickstarre,  dem  am  siebenten 
Tage  nach  Ablassen  von  25  cm3  trüber  Zerebrospinalflüssig¬ 
keit  von  5°/oo  Eiweißgehalt  20  Cm3  Serum  intraspinal  in¬ 
jiziert  wurden;  es  trat  entschieden  Besserung  der  subjek¬ 
tiven  und  objektiven  Symptome,  aber  keine  Entfieberung 
ein,  so  daß  nadh  weiteren  sieben  Tagen  die  Dosis  wieder¬ 
holt  wurde ;  in  dem  vorher  abgelassenen  26  cm3  klarer  ge¬ 
wordenen  Liquor  cerebrospinalis  fanden  sich  nur  wenige 
Kokken  und  geringe  Mengen  Eiweiß.  Als  auch  jetzt  trotz 
subjektiver  Erleichterung  keine  Entfieberung  eintrat,  wurden 
sechs  Tage  später  (also  am  20.  Krankheitstage)  nochmals 
10  cm3  intraspinal  appliziert,  worauf  innerhalb  einer  Woche 
Entfieberung  und  bald  völlige  Heilung  erfolgte. 

Quenstedt,  (1908)  wendete  in  18  Fällen  (davon  12 
unter  15  Jahren)  Jo  c  hm  an  n  sch  es  und  Wassermann- 
sches  Serum  systematisch  an  und  sali  stets  Besserung  der 
subjektiven  Symptome.  Eine  rasche  Heilung  im  Anschluß 
an  die  Seruminjektionen  trat,  jedoch  bloß  in  der  Minderzahl 
der  B  älle  ein,  während  vier  Patienten  starben. 

Jehle  (1909)  injizierte  mehrmals  10  bis  20  cm3  Joch¬ 
mann  sehen  oder  Wiener  Serums  intralumbal,  nachdem 
vorher  einige  Tropfen  Liquor  cerebrospinalis  abgelassen 
waren.  Die  Mortalität  der  so  Behandelten  betrug  45%,  die 
der  Unbehandelten  80%.  Auch  O.  Mayer  (1909)  und 
R.  V  o  i  s  i  n  (1909)  sprechen  sich  günstig  über  die  intra¬ 
durale  Einverleibung  des  Jo  chm  a  nn,- Merck  sehen  Se¬ 
mins  aus,  ebenso  Arnold  (1908),  der  letzteres  vorwie¬ 
gend  lumbal  und  das  Ruppelsche  subkutan  benützte.  Er 
spritzte  nämlich  seinen  vier  Kranken  (einem  unter  15  Jahren) 
in  zweitägigen  Zwischenräumen  zweimal  intralumbal  mit. 
20  Cm3  Jochmannschem  und  —  abgesehen  von  dem  kri 
tisch  zur  Heilung  kommenden  dritten  Falle  —  vor  oder 
nachher  noch  in  kurzen  Abständen  subkutan  mit  Ruppel- 
schem  iSerum.  In  allen  Fällen  trat  mehr  oder  weniger 
rasche  Heilung  nach  zwei-  bis  siebenfacher  Serumanwen¬ 
dung  ein.  Arnold  führt  die  Differenzen  im  Urteil  ver¬ 
schiedener  Autoren  über  die  Serumbehandlung  auf  die  Art 
und  Weise  der  Einführung  des  Serums  in  den  Organismus, 
sowie  auf  die  Dosierung  desselben  zurück.  Indes  wendet 
er  selbst  viel  zu  geringe  Mengen  an.  Stephanie  W  eiß- 
Edler  (1908)  spritzte  21  Kinder  mit  Wiener  Serum, 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr..  4 


zwei  )mil.  Jochmannscliem  und  beobachtete  eine  für 
Kinder  auffallend  geringe  Mortalität  von  39%.  Negative 
Resultate  erzielte  Raczynski  (1907)  mit  dem  Jochmann- 
schen  Serum,  das  er  in  neun  lallen  intraspinal  nach  vor¬ 
herigem  Ablassen  von  25  cm3  Liquor  cerebrospinalis,  einige 
Male  in  mehrfacher  Wiederholung,  applizierte ;  die  Einzel¬ 
dosis  betrug  10  bis  20  cm3.  Sechs  Fälle  00%  endeten 
letal  und  Raczynski  konnte  einen  wesentlichen  Einfluß 
weder  auf  den  Gesamtverlauf,  noch  auf  die  einzelnen  Krank- 
heitserscheinungen  (Fieber,  Nackenstarre)  feststellen,  auch 
nicht  eine  Herabsetzung  des  Gehaltes  der  Zerebrospinal¬ 
flüssigkeit  an  Meningokokken;  nun  ist  dem  aber  gegenüber¬ 
zuhalten,  daß  Raczynski  zum  Teil  ganz  akut  verlaufende 
Fälle  behandelte,  welche  nur  bei  raschester  Injektion  einer 
Beeinflussung  noch  zugänglich  sind,  außerdem  drei  Kinder 
von  fünf  bis  acht  Monaten,  die  sich  ja  1  nfektionskrank- 
beiten  gegenüber  ganz  besonders  widerstandsunfähig  er¬ 
weisen. 

Das  K  oll  e  -  Was  serml'ann  sehe  Serum  ist  neben  dem 
Jochmannschen  das  älteste  der  Antimeningokokkenseren. 
Wassermann 'selbst  teilt  1907  die  Berichte  über  57  Kranke 
mit,  die  mit  seinem  Serum  behandelt  waren  urtd  über 
welche  genaue  Krankengeschichten  Vorlagen. 

Es  starben  von  diesen  Patienten  27  :  -  47-3%.  L eher¬ 
einstimmend  wurde  von  den  Autoren  angegeben,  daß  das 
Serum  sowohl  bei  subkutaner,  wie  intravenöser,  wie  bei 
der  allen  anderen  vorzuziehenden  intralumbalen  Anwen¬ 
dung  selbst  bei  länger  fortgesetztem  und  täglichem  Gebrauch 
von  je  10  ein3  unschädlich  sei.  Auch  Wassermann  em¬ 
pfiehlt,  um  die  Drucksteigerung  im  Rückenmarkskanale  zu 
vermeiden,  etwas  mehr  Liquor  abzulassen  als  Serum  ein¬ 
gespritzt  [werden  soll.  Für  Kinder  in  den  ersten  beiden 
Lebensjahren  müssen  jedesmal  10  cm’  injiziert  werden. 

H.  Schmidt  (1907)  spritzte  bei  einem  ziemlich  schwer 
verlaufenden  Fälle  von  bakteriologisch  einwandfrei  fest- 
gestellter  Genickstarre  am  Tage  nach  einer  Lumbalpunktion, 
bei  der  40  cm3  Liquor  cerebrospinalis  abgelassen  wurden, 
10  Cm3  Koll  e-  W  as  s  er  man  nsches  Serum  ein;  nach 
einer  anfänglichen  Besserung  verschlimmerte  sich  das 
Leiden  ,am  dritten  Tage,  aber  schon  nach  einer  zweiten 
Injektion  setzte  unter  kritischem  Fieberabfall  und  starkem 
Schweiße  die  Rekonvaleszenz  ein.  —  Die  Erfolge  Ce  saris 
(1907)  erscheinen  auf  den  ersten  Blick  wenig  ermutigend, 
starben  doch  drei  von  seinen  fünf  behandelten  Patienten. 
Die  Erklärung  ergibt  stich  jedoch  leicht,  wie  er  selbst  ge¬ 
steht,  aus  den  viel  zu  geringen  Dosen  und  der  zu  spät 
einsetzenden  Therapie.  Immerhin  beobachtete  er  in  allen 
Fällen  ein  deutliches  Sinken  der  Temperatur  nach  jeder 
Injektion  und  eine  beständige  Abnahme  der  Keime  im  Exsu¬ 
dat,  so  daß  er  persönlich  den  günstigsten  Eindruck  von 
der  Serumwirkung  hatte.  —  Ueber  reiche  Erfahrung  verfügt 
Kr  oh  ne  (1908),  der  auf  Grund  seines  umfangreichen  Ma¬ 
terials  zu  dem  Resultat  kommt,  daß  das  Genickstarreheil- 
seruni  unter  bestimmten  Voraussetzungen  wohl  imstande 
sei,  den  Krankheitsprozeß  der  allen  anderen  Behandlungs¬ 
methoden  trotzenden  epidemischen  Genickstarre  wirksam 
aufzuhalten,  bzw.  zur  Heilung  zu  bringen.  Während  die 
Gesamtmortalität  der  im  Regierungsbezirk  Düsseldorf  ge¬ 
meldeten,  nicht  mit  Heilserum  behandelten  Erkrankungen 
66%  betrug,  starben  von  den  Injizierten  nur  47-6%,  ja 
von  den  in  den  ersten  drei  bis  vier  Krankheitstagen  Ge¬ 
spritzten  33V3%-  Wichtig  ist.  nach  K  roh  ne  die  möglichst 
frühzeitige  und  eventuell  öfters  wiederholte  Anwendung 
großer  Dosen;  der  intralumbalen  Methode  gibt  er  vor  der 
subkutanen  entschieden  den  Vorzug,  während  hingegen 
Többen  (1907)  ebenso  wie  Watt  (1908)  beide  für  gleich¬ 
wertig  halten,  sicher  im  Gegensatz  zu  der  heute  allgemein 
gültigen  Anschauung.  Ist  es  doch  leicht  verständlich,  daß 
das  Serum  hei  lokaler  Applikation  am  Zentralnervensystem 
infolge  der  Konzentrierung  besser  wirken  muß  als  in  der 
starken  Verdünnung  nach  subkutaner  Einspritzung;  nach 
Klapp  kommt  auch  noch  die  schnellere  Resorption  in 
Betracht,  die  er  an  der  stärkeren  toxischen  Wirkung  intra¬ 


spinal  injizierter  Giftlösungen  demonstrieren  konnte. 
Többen  verlor  von  57  nur  mit  Punktion  behandelten 
Kranken  56-7%,  von  29  mit  Koll  e-Wass  er  mann  schein 
Serum  behandelten  34-5%.  Sehr  wertvoll  für  die  Dosierung 
sowohl  wie  für  die  Wahl  der  Applikationsstelle  sind  die 
verschiedenen  Berichte  Levys  (1908)  über  seine  Lifajr- 
rungen  mit  dem  Kolle-\\  assermann  sehen  Serum  in 
Essen.  Von  14  nicht  behandelten  Fällen  starben  11  — 
78-57%,  von  23  Serumfällen  5=  21-47%;  16  Fälle,  bei 
denen  frühzeitig  mit  intralumbaler  Einverleibung  großer 
Dosen  begonnen  wurde,  wiesen  eine  Mortalität  von  nur 
6-25%  auf,  bei  5  subkutan  Behandelten  war  ein  Erfolg 
nicht  zu  erkennen.  Die  Behandlungsdauer  kürzte  sich  von 
33-28  Tagen  der  Unbehandelten  auf  14-9  Tage  der  Serum- 
fälle  ab.  Eine  Reihe  von  Patienten  entfieberten  sofort  nach 
der  Injektion  und  genasen  alsbald;  bei  anderen  blieb  das 
Fieber  bestehen,  während  die  subjektiven  Symptome  schwan¬ 
den;  wieder  andere  ließen  den  Einfluß  dei  t50i umtherapie 
erst’ spät  zutage  treten.  Da  die  Erfolge  zum  Teil  auch  von 
der  Art  und  Weise  der  Applikation  des  Serums  abhängen, 
so  rät  Levy  zu  folgender  Behandlung:  Als  erste  Dosis 
bei  Kindern  über  ein  Jahr  und  hei  Erwachsenen  in  leichten 
Fällen  sollen  20  cm3,  bei  Erwachsenen  mit  schweren  Sym¬ 
ptomen  30  cin°  intralumbal  injiziert  werden,  frill  eine  Besse¬ 
rung  des  Fiebers  oder  anderer  Symptome  ein,  so  warte  man, 
bis  die  Besserung  nicht  mehr  fortschreitet  oder  sich  gar 
eine  Verschlechterung  bemerkbar  macht;  dann  wird  die¬ 
selbe  Dosis  nochmals  intralumbal  eingespritzt.  Zeigt  sich 
jetzt,  innerhalb  24  Stunden  keine  Besserung,  so  ist  die 
Einspritzung  großer  Dosen,  eventuell  40  cm3,  in  den  nächsten 
Tagen  täglich  zu  wiederholen.  Je  früher  die  Serumtherapie 
einsetzt,  um  so  eher  ist  ein  Erfolg  zu  erhoffen. 

Zu  den  gleichen  Resultaten  gelangen  Charlotte  Müller 
(1908  mit  14  Fällen),  Ko  tschenreut.her  (1909)  und 
Leick  (1909),  doch  sind  die  gewählten  Dosen  —  20  cm3, 
selten  30  Cm3  —  meines  Erachtens  noch  recht  niedrig. 
Immerhin  sinkt  die  Mortalität  von  67-7%  der  62  unbehan¬ 
delten  Kranken  auf  32-4 %  der  34  Serumfälle  (elfmal  letaler 
Ausgang) ;  ja  nach  Abzug  von  fünf  moribund  eingelieferten 
Patienten  bleibt  eine  Mortalität  von  nur  20-7%.  Die  Heilung 
der  Gespritzten  war  meist  eine  vollkommene,  nur  wenige 
behielten  Schwerhörigkeit,  Paresen,  Intelligerrzdefekte  usw. 
F  ür  große  intralumbale  Dosen  bis  zu  40  cm3  pro  Tag,  nach 
vorherigem  Ablassen  von  Liquor,  plädiert  Nieter  (1909), 
der  es  auch  noch  einige  Tage  nach  eingetretener  Besserung 
eingespritzt  wissen  will.  Treupel  (1909)  behandelte  zwei 
Fälle  von  Genickstarre  mit  Lumbalpunktion  und  subku¬ 
taner  und  intralumbaler  Einspritzung  von  Ruppelschem 
Serum  (Höchst)  und  sah  nach  jeder  Injektion  Temperat.ur- 
abfall  und  Schweiß.  Beide  Patienten,  von  denen  der  eine 
125  Cm3  in  fünf  Rationen,  der  andere  145  cm3  in  sechs 
Rationen  erhielt,  kamen  zur  vollständigen  Heilung.  Nach 
Huber  (1908)  hingegen  kann  man  mit  großen  Dosen  des 
Ru  p  pel  sehen  Serums  zwar  die  Infektion  brechen,  nicht 
aber  Genesung  erzwingen. 

Gegenüber  jenen  augenfällig  günstigen  Resultaten 
stehen  auch  eine  Reihe  negativer.  Lange  (1909)  erklärt 
den  Widerspruch  zwischen  seinen  und  Levys  Ergebnissen 
der  Behandlung  mit  Berliner  Serum  aus  der  Verschieden¬ 
heit  des  Genius  epidemicus.  Matth  es  (1908)  verwendete 
Höchster,  Mercksches  und  Berliner  Serum,  anfangs  subkutan, 
später  ausschließlich  subdural  u.  zw.  Dosen  von  10 — 30  bis 
40  Cm3.  Er  will  jedoch  weder  an  den  objektiven  noch  den  sub¬ 
jektiven  Symptomen  eine  nützliche  Wirkung  gesehen  haben. 
Gleiches  berichten  auch  Hochhaus  (1908),  Cohn  (1908, 
80  Fälle  in  Posen),  Radmann  (1907,  ohne  es  allerdings 
genügend  zu  begründen)  und  Schultz  (1907),  der  1906/07 
in  Posen  64  Genickstarrekranke  behandelte  u.  zw.  23  mit 
Kolle  - Wasser m a n n schein  Serum ;  von  letzteren  starben 
53-7%,  von  den  41  nicht  Gespritzten  56-5%.  Wenn  man 
aber  liest,  daß  er  nur  5  cm3  bei  Kindern  und  10  cm3  bei 
Erwachsenen,  noch  dazu  subkutan  und  im  Einzelfalle  höch¬ 
stens  viermal  verwendet,  so  sind  die  Mißerfolge  durchaus 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


verständlich,  ja,  Erfolge  würden  geradezu  wunderbar  er¬ 
scheinen.  v.  Wyß  i(l908)  konnte  bei  seinen  20  ballen 
kein  endgültiges  Urteil  über  die  Serumbehandlung  gewinnen. 

Bei  der  allgemeinen  Verbreitung  der  Zercbrospinal- 
meningitis  in  Amerika  nimmt  es  nicht  wunder,  daß  ge¬ 
rade  hier  sehr  große  Erfahrungen  über  Serumwirkung  ge¬ 
sammelt  werden;  man  benutzt  dort  fast  ausschließlich  das 
von  F  lexner  und  Jobling  hergestellte,  kurzweg  als  b  1  e  \- 
nerseruml  bezeidhnete  Serum.  Die  Erfolge  sind  hier  durch¬ 
schnittlich  bessere  als  in  Deutschland,  sei  es,  daß  größere 
Dosen  verwendet  wurden,  sei  es,  daß  das  Serum  der  Art 
seiner  Herstellung  gemäß  besser  wirkt,  oder  sei  es  endlich, 
daß  es  in  Amerika  leichter  ist,  verschiedene  frische  viru¬ 
lente  Stämme  als  Antigene  zu  erhalten. 

Anfang  1908  veröffentlichte  Flexner  die  Resultate 
über  die  ersten  27,  mit  seinem  Serum  behandelten  Fälle. 
Es  starben  13  =  27-6%,  nach  Abrechnung  von  vier  mori¬ 
bund  eingelieferten  Fällen  201%.  Von  18  in  den  ersten  drei 
Krankheitstagen  Behandelten  starben  2  =  11-1%.  Dem  gegen¬ 
über  stellt  eine  Mortalität  von  70-4%  unter  230  Fällen  einer 
Epidemie,  die  nicht  injiziert  waren;  einzelne  kleinere  Epide¬ 
mien  wiesen  höhere  Zahlen  auf.  In  einer  Reihe  von  Fällen 
hatte  die  -Serumeinspritzung  eine  unmittelbare  Besserung 
zur  Folge  und  auch  bei  vereinzelten  später  auftretenden. 
Rezidiven  zeigte  sich  der  gleiche  prompte  Erfolg.  Die  In¬ 
jektionen  wurden  fast  ausschließlich  intralumbal  vorgenom¬ 
men,  auf  Grund  der  Ueberlegung,  daß  der  Stoffaustausch 
zwischen  Blut  und  Spinalflüssigkeit  sehr  träge  verläuft  und 
daher  auch  die  Schutzstoffe  nur  schwer  an  die  Krankheits¬ 
herde  gelangen ;  auch  hat  die  subkutane  Darreichung  weniger 
eine  antibakterielle  als  antitoxische  Wirkung  (Staden, 
Knox,  Cushing,  1909).  Mikroskopisch  zeigte  sich  eine 
Abnahme  der  extrazellulär  liegenden  Kokken,  Steigerung 
der  Phagozytose,  Degenerationsprozesse  an  den  Diplokokken, 
schwere  Färbbarkeit  und  Kultivierbarkei t  derselben,  Ab¬ 
nahme  der  Leukozyten  und  des  Eitergehaltes,  Aufhellung 
des  Liquor  cerebrospinalis;  Vergiftungserscheinungen  durch 
Endotoxin  wurden  nicht  beobachtet.  Noch  im  selben  Jahre 
konnte  Flexner  mit  einer  Beobachtungsreihe  von  393  inji¬ 
zierten  Fällen  aufwarten;  hievon  genasen  270  -  69%  und 

zwar  endeten  209  Fälle  lytisch,  61  Fälle  kritisch.  Die  Krank¬ 
heitsdauer  betrug  durchschnittlich  elf  Tage.  1909  waren 
Berichte  älter  712  mit  seinem  Serum  behandelte  Fälle  ein¬ 
gelaufen,  deren  Gesamtmortalität  31-4%  betrug;  sie  war 
am  höchsten  bei  Kindern  in  den  ersten  Lebensjahren 
(42-3%),  hoch  auch  bei  Leuten  über  20  Jahre  (39-4%), 
am  geringsten  bei  Kindern  zwischen  fünf  und  zehn  Jahren 
(15-9%).  Wurde  innerhalb  der  ersten  drei  Tage  gespritzt, 
so  betrug  die  Mortalität  nur  25-3%,  während  sie  nach  dem 
siebenten  Tage  auf  42-1%  stieg.  Daß  aber  noch  in  einem1 
späteren  Krankheitsstadium  Heilung  möglich  ist,  geht  zum 
Beispiel  aus  einer  Mitteilung  Mo  eile  rs  (1908.)  über  einen 
elfjährigen  Knaben  hervor,  der  schon  24  Tage  unter 
unsicherer  Diagnose  (Gelenkrheumatismus  oder  Malaria) 
behandelt  war.  Als  dann  im  Lumbalpunktat  Grain -negative 
Weichselbaum  sehe  Diplokokken  gefunden  wurden, 
konnte  durch  zwei  intraspinale  Injektionen  des  Flexner- 
serums  ein  prompter  Erfolg  erzielt  werden. 

Robb  stellte  1908  275  Fälle  von  Genickstarre  zu¬ 
sammen,  die  in  den  Krankenhäusern  von  Belfast  auf  ver¬ 
schiedene  Weise,  unter  anderem1  auch  mit  subkutanen 
Injektionen  von  Kölle- Wassermann,  Ruppel,  Bor- 
rough  and  Welcome- Serum  behandelt  worden  waren 
und  eine  Mortalität  von  72-3%  aufwiesen.  Von  weiteren 
Fällen,  in  denen  die  intraspinale  Injektion  von  Flexner- 
serum  angewendet  wurde,  starben  nur  8  =  26-6%  zu  einer 
Zeit,  wo  in  Belfast  die  Mortalität  der  nicht  spezifisch  Be¬ 
handelten  85-2%  betrug.  Robb  rät  daher  dringend  zur 
intraspinalen  Therapie  u.  zw.  soll  man  bei  schweren 
Fällen  drei  Tage  lang  täglich  eine  Injektion  von  30  cm3 
des  auf  Körpertemperatur  erwärmten  Serums  machen  (Ro  b  b 
spritzte  einmal  bei  ein  und  demselben  Patienten  insgesamt 
210  cm3  ein);  bei  weniger  schweren  Fällen  warte  man 


m 


zweckmäßig  zwei  Tage  oder  länger  mit  der  zweiten  Injek¬ 
tion;  in  einigen  Fällen  genügte  schon  eine  einzige  Injektion, 
um  dauernde  Heilung  zu  erzielen.  Zu  ähnlichen  Ergeb¬ 
nissen,  bzw.  des  Modus  der  Behandlung,  gelangt  Dünn 
(1908),  der  an  vier  aufeinander! olgenden  Tagen  injiziert. 
Anfangs  hatte  er  nur  soviel  Flexner  serum  eingespritzt, 
als  Liquor  cerebrospinalis  ablief,  später  jedoch  verwendete 
er  stets,  unbekümmert  um  den  ausfließenden  Liquor,  30  cm3 
und  konnte  auf  diese  Weise  von  seinen.  40  Boston  er  Fähen 
29  vollkommen  heilen,  zweien  noch  das  Leben  retten,  wenn¬ 
gleich  der  eine  das  Sehvermögen,  der  andere  Hör-  und 
Sehvermögen  dabei  einbüßte.  Die  Sterblichkeit  betrug  also 
22-5%  (gegen  70  bis  80%  in  früheren  Jahren).  Dasselbe 
Resultat,  22-2%  Heilungen,  erzielt  Churchill  (1908)  bei 
Behandlung  von.  neun  Genickstiarrefällen  mit  Flexner- 
serurn  in  Chicago,  von  denen  zwei  starben  (darunter  ein 
Moribunder).  1909  verfügte  Churchill  schon  über  eine 
Reihe  von  29  Serumfällen  und  hatte  sich  zur  Regel  ge¬ 
macht.,  vier  Tage  lang  hintereinander  je  30  cm3  zu  injizieren 
und  diese  Dosen  zu  wiederholen,  sobald  nach  einer  Pause 
von  zwei  bis  drei  Tagen  eine  Heilung  nicht  eingetreten 
war.  Rosewarne  (1909)  heilte  ein  Kind  mit  vier  intra- 
duralen  t Injektionen  von  Flexn erserum1.  Miller  und 
Barker  (1908)  verloren  von  vier  Serumfällen  einen  und 
zwar  infolge  Serummangels;  in  derselben  Epidemie  starben 
ihnen  jedoch  von  zwölf  Unbehandelten  elf. 

Die  schon  von  Dünn  anfangs  beobachtete,  später  aber 
mit  Recht  verlassene  Regel,  nur  soviel  Serum  einzuspritzen 
als  Liquor  abfließt,  höchstens  jedoch  30  cm3,  behält  Sla- 
d  e  n  (1908)  in  Baltimore  dauernd  bei.  Von  21  so  behan¬ 
delten  Kranken  starben  ihm  3  (14%),  welche  aber  von 
vornherein  in  hoffnungslosem  Zustande  waren.  Hin  und 
wieder  genügt  eine  einzige  Einspritzung  zur  Heilung,  in 
anderen  Fällen  sind  zwei  bis  sieben  nötig,  die  an  aufein¬ 
anderfolgenden  Tagen  appliziert,  werden  sollen,  so  lange, 
bis  die  akuten  Symptome  verschwunden  sind.  Mit  dem 
kritischen  oder  lytischen  Abfall  des  Fiebers  bessern  sich 
auch  die  subjektiven  Beschwerden.  An  dem1  so  häufigen 
Fehler,  oft  wiederholte  kleine  Dosen  zu  verwenden,  leidet 
auch  La  cid  (1908),  welcher  anfangs  nur  fünf  bis  zehn,  später 
wenigstens  15  bis  30  cm3  intralumbal  einspritzt  uncT 
zwar  täglich,  ja  manchmal  zweimal  täglich,  so  lange, 
bis  die  akuten  Symptome  schwinden  und  die  Spinalflüssig¬ 
keit  klar  wird.  Von  15  unbehandelten  Fällen  starben  12 
=  80%,  von  31  Serumfällen  11  =  35-5%.  Hierunter  waren 
jedoch  20  sehr  schwere  Kranke  mit  Koma  oder  Bewußt¬ 
losigkeit  und  vier  Moribunde;  ein  Fall  dauerte  schon  vier 
Monate,  ein  anderer  39  Tage  (chronischer  Hydrozephalus) ; 
nach  Abrechnung  dieser  letzten  sechs  von  vornherein  aus¬ 
sichtslosen  Fälle  bleibt  eine  Mortalität  von  5  =  20%.  Bis 
auf  drei  Kranke  gelangten  alle  zur  restlosen  Ausheilung 
und  zwar  elf  kritisch,  neun  lytisch.  Die  Krankheitsdauer 
wurde  um  so  mehr  abgekürzt,  je  früher  L-add  spritzte. 
Die  Prognose  der  sporadischen  Fälle  soll  nach  Koplik 
(1908)  trotz  der  gleichen  Symptome  wesentlich  günstiger 
sein;  verlor  er  doch  in  den  Jahren  1899  bis  1903  von 
21  sporadischen  -  mit  Lumbalpunktion  behandelten  Fallen 
—  nur  38%  (und  13%  von  den  Kranken  über  zwei  Jahre), 
während  die  Mortalität  in  den  beiden  Epidemie jahren 
1904/05  53%,  re-sp.  48%  betrug,  oder  nach  Abrechnung 
der  Kinder  unter  zwei  Jahren  34,  resp.  31%.  Daß  aber 
doch  für  die  Erfolge  der  Serumtherapie  nicht  etwa  der 
Genius  epidemicus  verantwortlich  zu  machen  ist,  sondern 
die  tatsächliche  Heilkraft  des  Antimeningokokkenserums,  er¬ 
hellt  daraus,  daß  von  13  sporadischen  von  Koplik  mit 
Flexnerserum  behandelten  Fällen  nur  zwei  starben 
(15%),  sieben  aber  restlos  geheilt  wurden. 

Ueber  günstige  Erfolge  mit  anderen  Seris  liegen  mir 
Publikationen  vor  von  -Silvay  und  Terriern  (1909),  15 cm 3 
intralumbal,  Laiguel-Lavastine  und  Bauffe  (1909), 
Vetter  und  Dobre  (1909),  Currie  und  MaCgregor 
(1908),  welch  letztere  von  1906  bis  1908  330  Fälle  aus 
Glasgow  sammelten,  die  mit  deutschem  oder  englischem 


130 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  ijj 


Serum  behandelt  waren;  die  Injektionen  geschahen  aber 
teils  subkutan,  teils  intravenös,  teils  intradural  und  e- 
gaben  somit,  kein  einheitliches  Bild';  auch  war 


die  Dosie¬ 
rung  sehr  niedrig  bemessen,  da  die  Maximaldosis  nur  2ocm 
betrag,  ln  einem  der  Fälle  wurden  21  Injektionen  aus- 
aeführt.  Orth  (1908)  behandelte  zwei  Kranke  mit  an  tangs 
subkutanen,  später  intralumbalen  Injektionen  von  je  2cm 
Aronsonschem  Serum  und  beobachtete  jedesmal  en - 
peraturabfall  und  Besserung  des  Allgemeinbefindens,  ln 
Frankreich  wird  vielfach  mit  dem  Copter-Serum  gear-, 
beitet,  mit  dem  z.  B.  Menetrier  und  Mali  et  (1909)  einen 
elfmonatigen  Säugling  vom  vierten  Krankheitstage  ab  ac 
mal  intralumbal  spritzten  und  darauf  Heilung  erzielten. 
Salebert  (1909)  behandelte  vier  Soldaten  mit  Dopt ei- 
Serum;  alle  vier  genasen,  während  von  14  anderen  n- 

behandelten  10  starben.  . 

Zum  Schlüsse  noch  eine  Bemerkung  über  die  Be¬ 
handlung  des  meningitischen  Hydrozephalus;  wahrend 
Schöne  (1906)  und  zahlreiche  andere  Autoren  hier  die 
spezifische  Therapie  für  zwecklos  halten,  ist  1.  0.  von 
Staden,  Knox  und  Cushing  ein  Fall  veröffentlicht,  wo 
sie  beim  Punktieren  der  Seitenventrikel  eines  Genickstarre^ 
kranken  W  eich  sei  b  a  tim  sehe  Meningokokken  fanden  und 


nach 


nun 


IVUIi  >  V  Cir  11  O  W  W  W  —  ~  w  •  1- 

durch  lokale  Applikation  des  Serums  Heilung  erzielten. 


finden  nämlich  in  den  Seitenventrikeln 


Die  Krankheitserreger  - -  0 

oft  lange  Zeit  einen  Schlupfwinkel,  zu  dem  das  Serum 
nicht  in  der  Konzentration  gelangen  kann,  wie  sie  nach 
Flexner  zur  Entfaltung  seiner  bakteriziden  Eigenschaften 
erforderlich  ist.  Haben  die  Kokken  nun  ers!  einen  entzund- 


so  kann  mangels  hinred - 


Mitteilungen  von  Dünn  (1908),  Hochhaus  (1908), 


iVllLLcllUUg'-.u  *  \  |  j  i  i 

.lebte  (1909)  in  leicht  zu  behebendem  Kollaps;  Hochhaus 
(1908)  erwähnt  ferner  Kopfschmierzen,  Schöne  (19  '6)  Albu- 
minurie,  K,.vafi6ek  (1907)  Taehykardie,  Arnold  (1908) 
vorübergehende  Lähmung  der  Blase  und  des  Mastdarmes  Er¬ 
schwerung  des  Urinierens,  Leick  (1909)  Harnretention; 
am  meisten  werden  juckende,  oft  rezidivierende,  manchmal 
erst  nach  6-  10  16  Tagen  ausbrechende,  hin  und  wieder 

fieberhafte  Serumexantheme  beobachtet;  sie  boten  das  Aus¬ 
sehen  von  Urtikaria,  Roseola,  Masern,  Scharlach  oder  der¬ 
gleichen  (Leick  1909,  Treupel  1909  Schone  1906. 
Albuminurie  wurde  dreimal  von  Schöne  (1906)  beobachtet, 
sie  begann  wenige  Stunden  nach  der  Injektion  und  ver¬ 
schwand  wieder  im  Laufe  des  Tages.  Levy  (1908)  sah  in 
wenigen  Fällen  nach  der  Seraminjektion  Erbrechen,  Exan¬ 
theme,  Gelenkschmerzen,  auch  einmal  Schüttelfrost;  m 
zwei  Fällen  stellten  sich  18,  resp.  23  Tage  nach  der  ersten 
Serumeinspritzung  leichte  Bewußtseinsstörungen  ein,  wahr¬ 
scheinlich  (nach  Levy)  auf  Grund  einer  als  Reaktion  aut 
das  Serum  erfolgten  ödematösen  Durch trankung  der  äuße¬ 
ren  Schichten  des  Gehirns  und  Rückenmarks  infolge  von 
Ueberempfindlichkeit  im  Sinne  von  Pirquet  und  Schick 
(1905)  Flexner  und  Job  ling  (1908)  achteten  stets  auf 
das  Eintreten  von  anaphylaktischen  Erscheinungen,  da  ihnen 
aus  Tierversuchen  die  besonders  heftigen  Wirkungen  wieder¬ 
holter  intraduraler  Serumeinspritzung  bekannt  waren.  Aber 
trotz  der  oft  mehrfachen.  Seruminjektionen  waren  nur  in 
einem  Fälle  Erscheinungen  zu  beobachten,  welche  als  ana¬ 
phylaktische  gedeutet  werden  mußten.  Ich  selbst  sah  bei 


liehen  Hydrozephalus  veranlaßt,  — 

ehender  Kommunikation  mit  dem  Subduralraume  des 
Rückenmarkes  das  liier  applizierte  Serum  nicht  in  die  Seiteu- 
ventrikel  gelangen,  so  daß  dann  die  Ventnkelpunktion  und 
Injektion  die  einzige  rationelle  Theraxüe  darstellt. 

Trotz  vereinzelter  pessimistischer  Anschauungen  übei 
die  Bedeutung  der  Serumtherapie  bei  Genickstarre,  herrscht 
bei  den  meisten  Autoren  aller  Kulturländer  eine  völlige 
Uebereinstimmung  darin,  daß  bei  zweckmäßiger  Anwendung 
des  Antimeningokokkenserums  eine  günstige  Wirkung  aut 
den  Verlauf  der  Seuche  zu  erzielen  ist.  Es  fragt  sich  nur, 
ob  dieser  Nutzen  nicht  auf  Kosten  anderer  Schädigungen 
der  Gesundheit  erreicht  wird,  oder  ob,  selbst  wenn  eine 
Beeinflussung  des  Krankheitsprozesses  ausbleiben  sollte, 
wenigstens  schädliche  Nebenwirkungen  des  Serums  aus¬ 
geschlossen  sind  und  der  oberste  Grundsatz  dei  Theiapie  . 
Nil  nocere,  gewahrt  bleibt.  Ich  erinnere  da  zum  Beispiel 
an  die  Gefahren  der  Verwendung  verschiedener  Arsenprä¬ 
parate,  die  erst  mit  großem  Enthusiasmus  aufgenommen 
wurden,  bis  eine  Reihe  von  medizinalen  Vergiftungen  das 
erste  Feuer  der  Begeisterung  dämpfte;  an  die  hin  und  wieder 
beobachteten  schweren  Intoxikationen  mit  Extraction  filicis 
mails  usw.  Aber  aus  der  ganzen  Literatur  sind  mir  keine 
so  schwerwiegenden  Folgen  der  Serumeinspritzung  bekannt 
geworden,  daß  sie  Anlaß  zu  Besorgnis  oder  zur  Einschrän¬ 
kung  der  Indikationsstellung  geben  könnten.  Ja,  nach  Kolle- 
Hetscli  (Lehrbuch  der  experimentellen  Bakteriologie,  1908) 
sind  auch  bei  der  lege  artis  ausgeführten  Serumbehandlung 
anderer  Infektionskrankheiten,  die  doch  nun  schon  seit 
1894  in  großem  Umfange  am  Menschen  erprobt  ist,  me 
Unglücksfälle  beobachtet  worden.  Deshalb  nimmt  Sladen 
(1908)  schon  bei  bloßem  Verdacht  auf  Zerebrospinalmenin- 
gitis  intralumbale  Seruminjektionen  vor,  von  denen  er  auch 
dann  keine  üblen  Folgen  sah,  wenn  sich  später  heraus¬ 
stellte',  daß  es  sich  nicht  um'  Genickstarre,  sondern  um 
irgendeine  andere  Krankheit  handelte.  Currie  und  Mac¬ 
gregor  (1908)  machten  bei  einem  Patienten  im  ganzen 
21  Injektionen  (größte  Einzeldosis  25  cm3,  also  ca.  300 
bis  400  ein3) ;  Laiguel-Lavastine  und  Bauffe  (1909) 
spritzten  ohne  anaphylaktische  Erscheinungen  einem 
Kranken  480  cm3  Serum  ein,  Robb  (1908)  210  cm  ,  Treu¬ 
pel  145c-m3;  auch  Charlotte  Müller  (1908),  sowie  E.  Ce- 
sari  (1907)  wollen  nie  unangenehme  Nebenwirkungen  ge¬ 
sehen  haben;  wo  solche  jedoch  Vorkommen,  bestehen  sie 


meiner 


Patientin  am  Tage  nach  der  intralumbalen  Injektion 


von  35  ein3  Merckschem  Serum  eine  zwölf  Stunden  an¬ 
haltende  Albuminurie  und  am  siebenten  Tage  eine  vier  läge 
währende,  schubweise  aüftretende  Urtikaria;  letztere  wurejg, 
im  Anfang  von  einer  mehrstündigen,  durch  Analeptika  bald 
zu  beseitigenden  Herzschwäche  begleitet. 

Bei  Tieren  ist  es  ja  schon  längst  bekannt,  daß  intra¬ 
venöse  Einverleibung  artfremden  Blutes  schwere  Krank- 


VC1IUÖC  JJlUVCilv.iwu^t,  -  ..  n 

heitserscheinn ngen  und  bei  Verwendung  größerer  Mengen 


den  Tod  durch  Thrombosen,  Embolien  und  Hamorrhagien 
herbeiführen  kann ;  auch  bei  den  früher  am  Menschen  häufig 
zu  therapeutischen  Zwecken  vorgenommenen  Lammblut¬ 
transfusionen  waren  von  den  Aerzten  mehrfach  unan¬ 
genehme  Zufälle  beobachtet  worden.  Es  handelte  sich  hier 
aber  um  Mengen,  wie  sie  bei  der  Serumtherapie  nie  und 
nimmer  erreicht  werden.  Worauf  diese  Serumkrankheit  be¬ 
ruht,  ist  noch  unsicher ;  jedenfalls  führt  artfremdes  Eiweiß 
zur  Bildung' von  Präzipitinen.  Auf  eine  zweite  Injektion 
des  gleichen  Serums  reagieren  dieselben  Individuen  nach 
wesentlich  kürzerer  Inkubationszeit  und  mit  stärkerer  Anti¬ 
körperbildung,  aber  auch  mit  schwereren  Allgememerschei- 
nungen  (Arthus’  spezifische  Anaphylaxie,  1903). 
Während  nun  bei  den  Erstinjizierten  die  Symptome  der 
Serumkrankheit  zwischen  dem  achten  und  zwölften  Tage 
auszubrechen  pflegt,  ohne  Rücksicht  auf  die  Dosierung, 
tritt  sie  bei  Reinjizierten  in  Form  von  Oedemen  und  Exan¬ 
themen  oft  nur  wenige  Stunden  nach  der  Serumeinspritzung 
und  dann  in  stürmischer  Weise  auf.  Diese  sofortige  und 
verstärkte  Reaktion  findet  sich  nach  v.  Pirquet  vor  allem: 
dann,  wenn  die  Reinjektion  drei  bis  aüht  Wochen  nach! 
der  Einspritzung  großer  Dosen  von  Serum  erfolgt.  Wird 
die  zweite  Serumeinverleibung  nach  einem  längeren  Inter¬ 
vall  vorgenommen,  so  stellt  sich  die  Serumkrankheil 
zwischen  dem  fünften  und  siebenten  Tage  als  beschleunigte 
Reaktion  ein.  Eine  Seramüberempfindliöhkeit  höchsten 
Grades  erzielt  man  bei  Tieren  durch  kombinierte  Anwen 
dung  von  Serum  und  loxin;  beim  typischen  Verlauf  dieses 
von  Otto  (1907)  beschriebenen  Phänomens  stellt  sich  bale 
nach  der  Seraminjektion  eine  schwere  Prostration  ein,  de 
rasch  Dyspnoe,  Kollaps  und  Tod  innerhalb  einer  halber 
bis  einer  Stunde  unter  Krampferscheinungen  folgen.  Auel 
beim  Menschen  kann  sich  eine  Ueberempfindlichkeit  gegei 
die  Serumtherapie  zeigen,  wenn  Toxine  im  Blute  kreisen 
sie  ist  wohl  zu  unterscheiden  von  der  Serumidiosynkrasn 


Nr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


131 


erstmals  Injizierter  und  von  der  spezifischen  Anaphylaxie 
Reinjizierter.  Für  die  Praxis  ergibt  sich  hieraus,  die 
Serumtherapie  nicht  zu  lange  fortzusetzen  und  stets  auf 
anaphylaktische  Erscheinungen  zu  achten,  um  bei  ihrem 
ersten  Auftreten  sofort  aussetzen  zu  können;  einmalige 
große  Dosen  werden  besser  ertragen  als  mehrmalige  kleine. 
„Trotzdem  wir  noch  über  kein  wirksames  Mittel  zur  Ver¬ 
hütung  der  Serumkrankheit  verfügen“,  schreibt  Kolle- 
Hetsch  (1908),  „wird  sich  doch  kein  Therapeut  heut¬ 
zutage  durch  die  geschilderten  Nebenwirkungen  des  Se¬ 
rums  veranlaßt  sehen,  die  heilsamen  Wirkungen  der  Serum¬ 
therapie  unausgenützt  zu  lassen,  denn  schwere  Krankheits¬ 
erscheinungen  sind  selbst  bei  sehr  großen  Serumdosen  nur 
.sehr  selten  und  ungünstig  verlaufene  Fälle,  die  mit  Sicher¬ 
heit  auf  die  Seruminjektion  zurückzuführen  wären,  sind, 
wie'  gesagt,  noch  nicht  bekannt  geworden.  Die  Seruni- 
krankheit  ist  eine  vorübergehende,  off  allerdings  unange¬ 
nehme  Reaktion  des  Körpers,  welche  indes  bleibende  Organ¬ 
schädigungen  nie  hinterläßt.“ 

Fasse  ich  nochmals  alles  das  kurz  zusammen,  was 
sich  aus  der  .Beobachtung  meines  Falles  und  besonders 
der  Durchsicht  der  Literatur  über  die  Genickstarre  ergibt, 
so  hat.  jedwede  medikamentöse  und  hydropathische  Be¬ 
handlung  der  Genickstarre  lediglich  symptomatischen  Werl ; 
nicht  ohne  günstigen  Einfluß  erweist  sich  manchmal  die 
wiederholte  Lumbal-  oder  Ventrikel punktion.  Die  einzig 
ratio  n eile  Heilmethode  indes  ist  heute  die  spe¬ 
zifische  Serumtherapie,  wie  sic  in  Deutschland  be¬ 
sonders  mit  dem  Berliner,  H  ö c'h s t er  und  D a r ms  t.ä  d  t e r 
Serum  vorgenommen  wird.  Ihr  Erfolg  wird  von  wenigen  ge¬ 
leugnet,  von  den  meisten  uneingeschränk!  anerkannt;  sinkt 
doch  die  Mortalität  auf  2/3  bis  xk  der  jeweiligen  Sterblich¬ 
keitsziffer  der  Epidemie  herab  und  ist  der  Krankheitsverlauf 
ein  weit  rascherer  und  milderer.  Während  hin  und  wieder 
eine  einzige  Injektion  zur  dauernden  Restitutio  ad  integrum 
führt  (wie  z.  B.  bei  meiner  Patientin),  verlangen  andere 
Fälle  öftere  Wiederholung.  Je  früher  injiziert  wird,  um  so 
günstiger  ist  die  Prognose,  aber  es  sind  selbst  in  weil  vor¬ 
geschrittenen  (Stadien  noch  günstige  Wirkungen  mit  der 
Serumtherapie  zu  erzielen,  gewesen.  Die  zur  Verwendung 
gekommenen  Dosen  waren  sehr  oft  viel  zu  klein  und  liegt, 
hierin  mit  ein  Hauptgrund  für  die  Mißerfolge  mancher 
Autoren.  Mit  20  bis  25  dm2,  wie  Currie  und  Mac  g  res 
gor,  mit  15  cm3  wie  Silvay  und  Terriern  oder  gar  mit 
5  bis  10dm3  wie  La.dd  und  Schultz  ist  natürlich  kein 
Resultat,  zu  erwarten.  Die  Erfahrung  lehrte,  daß  für  Erwach¬ 
sene  ein  bis  mehrmals  40  dm3  Serum  inlralumbal  (respek¬ 
tive  bei  Hydrocephalus  intracraniell)  appliziert  werden 
müssen;  subkutan  und  intravenös  sind  die  Resultate  we¬ 
sentlich  schlechter.  Ein  weiterer  Grund  für  Mißerfolge  er¬ 
gibt  sich  hin  und  wieder  aus  dem’  Fehlen  geeigneter  Me¬ 
ningokokkenstämme  zur  Herstellung  hochwertiger  polyva¬ 
lenter  Immunsera  und  ferner  aus  dem  Mangel  einer  ex¬ 
akten  Methode  zur  Bestimmung  des  therapeutischen  Titers 
des  Serums. 

Unglückliche  Ausgänge  der  Genickstarre  sind  als  f  olge 
der  Serumfherapie  ebensowenig  wie  bei  anderen  Infektions¬ 
krankheiten  beobachtet;  die  zuweilen  auftretenden  anaphy¬ 
laktischen  Erscheinungen,  wie  Kopfschmerz,  Herzschwäche, 
Albuminurie,  Exantheme,  Blasen-  und  Mastdarmstörungen, 
Fieber,  Gelenkschmerzen,  Oedeme  gehen  bald  vorüber,  ohne 
die  geringsten  dauernden  Schädigungen  zu  hinterlassen. 
Nicht  nur  zur  Erzielung  eines  raschen  Erfolges, 
auch  mit  R  ü  c  k  s  i  c  h  t  a  u  f  d  i  e  S  e  r  1 1  m  k  r  a  n  k  h  e  i  I  is  t 
die  sofortige  Anwendu n  g  ein  er  großen  Dosis  vo  r¬ 
teilhafter  als  vieler  kleinerer.  Sch  altet  man  die 
■  fehlerhaften,  der  Neuh'eit  der  Methode  zur  Last 
zu  legenden  therapeutischen  Versuche  verschie¬ 
dener  Autoren  aus  und  betrachtet  man  nur  die 
allein  richtig  behandelten  Fälle,  welche  früh¬ 
zeitig  große  Dosen  S e ru m1  i n tralumbal  erhalt e n, 
dann  'muß  man  mit  E.  Neufeld  (1910)  das  Anji- 
meni n  g o ko k k ens e r u m  mit  Recht  neben  dem  Di- 


p hlherieser u m  als  das  erfolgreichste  aller  Seren 
ü  b  e  r  h  au  p  t  ans  eh  e  n. 

Literat  ur. 

.[.  L.  Schönte  in,  Pathologie  und  Therapie  1841.  August 
Hirsch,  Die  Organkrankheiten  vom  historisch-geographischen  Stand¬ 
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behandlung  der  Zerebrospinalmeningitis.  British,  med.  Journ.  1906;  - 
G.  Joch  mann,  Versuche  zur  Serodiagnostik  und  Serotherapie  der  epi¬ 
demischen  Genickstarre.  Deutsche  med.  Woehenschr.  1906.  Kröber,  lieber 
sieben  Fälle  von  epidemischer  Genickstarre  im  niederrheinischen  Industrie¬ 
bezirke.  Münch,  med.- Woehenschr.  1906.  —  L.  New  di  11,  Zerebrospinal-, 
meningitis.  Lancet  1906.  Chr.  Schöne,  lieber  die  Behandlung  von, 
30  Gen  ick  s  t  arrekr  anken  mit  Joch  m  a  n  n  schein  Meningokokkenserum. 
Inaug. -Dissert.  Darmstadt  1906.  Westenhöffer,  Pathologisch-ana¬ 
tomische  Ergebnisse  der  oberschlesischen  Genickstarreepidemie  von  1905. 
Klin.  Jahrb.  1906;  Heber  den  gegenwärtigen  Stand  unserer  Kenntnisse 
von  der  übertragbaren  Genickstarre.  Bert.  klin.  Woehenschr.  1906 ;  lieber 
perihypophvseale  Eiterung  bei  Genickstarre.  Deutsche  med.  Woehenschr. 

1906.  A .  Bald u  z  z i,  Brevi  cenni  particolarmente  di  lerapia  intorno  ad  un 
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Kovar  ire  k,  lieber  einen  mit  Meningokokkenserum  (.1  o  c  h  m  a  n  n)  be¬ 
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V.  A  mol  d,  Ueber  die  Behandlung  der  übertragbaren  Genickstarre  mi 


132 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  4 


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klinische  Differentialdiagnose  und  den  Erfolg  der  Serumtherapie.  Korre¬ 
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heitsamt,  Bd.  34.,  1910. 


Aus  der  Unfallstation  der  I.  chirurgischen  Klinik. 

(Vorstand:  Prof.  Freih.  v.  Eiseisberg.) 

Nagelextension  aus  dringlicher  Indikation. 

Von  Dr.  Haus  Ehrlich,  Assistenten  der  Klinik. 

Wenn  wir  auch  Co  di  villa  als  den  Begründer  der 
Vageiextension  anerkennen,  so  ist,  es  doch  zweifellos  ein 
bleibendes  Verdienst  von  Steinmann,  die  von  ihm  erst 
1907  wieder  als  neu  beschriebene  Methode  in  die  deutsche 
(  hinirgie  ein, geführt  und  zu  einem  integrierenden  Hilfs¬ 
mil  toi  für  die  moderne  Frakturbehandlung  ausgebildet  zu 
haben. 

A  on  Co  di  villa  zuerst  zur  Korrektur  von  traumati¬ 
schen  Deformitäten  der  unteren  Extremität  in  der  Form  der 
Fersen t lagelung  angewendet,  fand  das  Verfahren  unter  den 
italienischen  Chirurgen  rasch  Ausbreitung,  wobei  an  der 
Methode  der  Fersennagelung  auch  bei  Frakturen  des  Ober¬ 
schenkels  im  allgemeinen  festgehalten  wurde  (Anzoletti, 
Rossi),  während  deutsche  Chirurgen  (Wilrns,  Becker, 
Anschütz),  welche  nach  dem  Vorgang  von  St  ein  mann 
die  Methode  nachprüften,  vorwiegend  das  der  Fraktur  zu¬ 
nächst  liegende  periphere  Fragment  zum  Angriffspunkte 
wählten. 

\  on  untergeordneter  Bedeutung  erscheinen  gegenwärtig 
nach  den  Berichten  aus  der  Literatur  geringfügige  technische' 
Varianten  in  der  Form  des  Nagels  (Wilms  verwendet  zum 
Beispiel  elliptische  Nägel,  deren  quere  Durchschnittsachse 
zur  Zugsrichtung  senkrecht  steht),  ferner  in  der  Art  der 
Applikation,  ob  zwei  seitliche  Nägel  eingeschlagen  werden 
oder  ein  durchgehender  Nagel  mit  dem  Drillbohrer  oder  dem 
elektrischen  Motor  durchgebohrt  wird;  sind  doch  Locke¬ 
rungen  des  Nagels  als  Folge  der  nekrotisierenden  Wirkung  ö 
des  drückenden  Fremdkörpers  bei  länger  dauernder  Einwir¬ 
kung  in  den  meisten  Fällen  beobachtet  worden.  Es  dürfte 
die  Häufigkeit  dieses  Vorkommens  wohl  am  ehesten  inner¬ 
halb  der  f  cstigkeitsgrenzen  des  jeweils  durchnagelten  Kno¬ 
chens  und  der  Höhe  der  zur  Extension  verwendeten  Ge¬ 
wichte  variieren.  Immerhin  sind  Verbesserungen  der  Technik 
mir  zu  begrüßen.  Der  gegen  den  durchgehenden  Nagel  er¬ 
hobene  Einwand,  daß  bei  seiner  Entfernung  ein  nicht  ver¬ 
läßlich  sterilisierbarer  Teil  durch  den  Wundkanal  gezogen 
wird,  wird  hinfällig  durch  Berichte  über  zahlreiche,  nach 
diesem  Verfahren  behandelte  Fälle,  bei  welchen  eine  nach¬ 
trägliche  Infektion  ausgeblieben  ist,  andrerseits  zeigen  Unter¬ 
suchungen  von  Schwarz,  der  in  sechs  untersuchten  Fällen 
die  Nagelfistel  regelmäßig  mit  Strepto-  oder  Staphylokokken 
infiziert  fand,  daß  wir  wohl  mit  der  Schutzwirkung  des  das 
Nagelbetl  umgebenden  Granulationsgewebes  rechnen 
können,  wenn  der  Bobrungskanal  im  Bereiche  des  gesunden, 
nicht  von  Hämatom  umspülten  Knochens  angelegt  wird, 
daß  es  daher  (weniger  von  Bedeutung  ist,  ob  der  Nagel 
aus  einem  Stücke  besteht  oder  bei  der  Entfernung  nach 
beiden  Richtungen  hin  auseinandernehmbar  ist. 

Wenn  Schwarz  unter  18  scheinbar  ohne  irgendeine 
Auswahl  mit  Nägelextension  behandelten  Oberschenkel* 
lu ilchen  einmal  einen  Lodosfail  an  Sepsis,1)  in  einem  zweiten 
falle  Durchbruch  des  Nagels  in  die1  Epiphysenfuge  zu  ver¬ 
zeichnen  hat,  so  beweist  das  nichts  gegen  die  Methode,  doch 
würden  wir  die  Indikation  nicht  so  weit  stellen.  Diese  Miß- 

)  Subkutane  suprakondyläre  Spirallraktur  des  Oberschenkels  bei 
einem  erwachsenen  Mann,  Nagelung  am  2.  Tage  quer  durch  beide 
Kommen  nahe  an  der  Frakturstelle.  Infektion  des  Hämatoms.  Tod  an 
Sepsis  vier  Wochen  nach  der  Nagelung. 


Nr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


13: 


erfolge  lehren,  daß  die  Nagelung  außerhalb  des  Hämatoms 
im  normalen  Knochen  vorzunehmen  ist.  und  bei  jagend  liehen 
Individuen  wohl  am  besten  unterbleiben  sollte. 

Trotz  der  verschiedenen  gegenwärtig  gebräuchlichen 
Modifikationen  wird  bei  allen  Autoren  die  technische  Ein¬ 
fachheit  und  außerordentliche  Leistungsfähigkeit  des  Ver¬ 
fahrens  hervorgehoben,  indem  bei  relativ  geringen  Gewicht  en 
die  Dislocätio  ad  longiludineui  so  rasch  behoben  werden 
kann,  wie  dies  bei  keiner  anderen  Extensionsmethode  der 
Fall  ist,  ja  sogar  Ueberkorrektur  beobachtet  worden  ist 
(Wilms).  Doch  wäre  es  gerade  im  Hinblick  auf  die  Un- 
gefährliclikeit  der  Heftpflasterextension  sehr  erwünscht,  die 
Indikation  zur  Anwendung  der  Nagelextension  schärfer  zu 
präzisieren  als  dies  bisher  bei  der  Mehrzahl  der  Autoren 
geschehen  ist.  Bei  dem  reichlichen  Frakturenmaterial  der 
Unfallstation  der  ersten  chirurgischen  Klinik  hätten  wir 
vielfach  Gelegenheit,  die  Nagelextension  zu  erproben.  Doch 
sehen  wir  uns  in  allen  Fällen,  in  welchen  die  Heftpflaster¬ 
extension  voraussichtlich  zum  Ziele  führt,  dazu  nicht  ver¬ 
anlaßt. 

Unsere  Indikationsstellung  deckt  sich  in  dieser  Rich¬ 
tung  bisher  im  allgemeinen  mit  der  von  Anschütz,  der 
in  der  Nagelextension  nur  eine  wertvolle  Ergänzung  der 
anderen  Extensionsmethoden  sieht  und  sie  in  Verwendung 
zieht,  in  Fällen,  die  mit  der  Heftpflasterextension  kein  zu¬ 
friedenstellendes  Resultat  geben,  bei  komplizierten  Frak¬ 
turen,  ferner  bei  veralteten  Frakturen  mit  starker  Schrum¬ 
pfung  der  Muskulatur,  bei  interkurrenten  Erkrankungen  und 
schließlich  zur  Verlängerung  verkürzter  Extremitäten  nach 
treppenförmiger  Osteotomie. 

Einen  besonderen  Wert  gewinnt  die  Methode  durch  die 
Beobachtungen  von  Anschütz,  Hirschberg  u.  a.,  daß 
man  mit  der  Anlegung  des  Nagels  nicht  leicht  zu  spät 
kommt,  indem  gerade  in  Fällen,  hei  welchen  andere  Ver¬ 
fahren  bereits  versagt  haben,  noch  brauchbare  Resultate  zu 
erreichen  sind. 

Bei  komplizierten  Frakturen  ist  es  gewiß  außerordent¬ 
lich  verlockend,  die  Nagelextension  anzuwenden,  weil  die 
Weichteilwunden  einer  Behandlung  zugänglich  bleiben.  Doch 
wird  auch  hier  die  Indikation  wesentlich  eingeschränkt  durch 
die  guten  Resultate,  die  in  neuerer  Zeit  gerade  bei  kom¬ 
plizierten  Frakturen  mit  dem  Z  upping  ersehen  Apparat 
(Wilms)  erzielt  worden  sind. 

Bei  unkomplizierten  Frakturen  hatten  wir  bisher  keine 
Gelegenheit,  die  Nagelextension  anzuwenden,  da  wir  zum 
Beispiel  unter  21  Oberschenkelfrakturen  des  letzten  Jahres 
nur  in  einem  Fälle  eine  bedeutendere  Verkürzung  (-1  cm) 
zu  verzeichnen  haben,  weil  wegen  Heftpflasterekzems  der 
Extensionsverband  frühzeitig  entfernt  werden  mußte  und 
gerade  dieser  Patient  die  Zustimmung  zu  jedem  operativen 
Eingriff  verweigerte. 

Wohl  aber  gibt  es  Fälle,  bei  welchen  wegen  störender 
Druckwirkung  der  Fragmente  auf  die  Weichteile  eine  rasche 
Korrektur  dringend  erwünscht  ist.  In  diesen  Fällen  wird 
man,  bevor  man  sich  zu  einem  anderen  operativen  Eingriffe 
entschließt,  in  erster  Linie  zur  Nagelextension  seine  Zu¬ 
flucht  nehmen.  Zu  dieser  letzteren  Indikation  möge  der  in 
folgendem  zu  beschreibende  Fäll  einen  Beitrag  liefern. 

Am  11.  November  1910  wurde  der  37jährige  Ziegeldecker 
L.  M.,  in  schwer  betrunkenem  Zustand  in  die  Unfallstation  ein¬ 
geliefert.  Er  war  eine  halbe  Stunde  vor  Einlieferung  durch  den 
Dachstuhl  eines  Hauses  durchgebrochen  und  hatte  beim  Sturz 
aus  6  in  Höhe  den  Oberschenkel  gebrochen. 

Status  praesens:  Schwere  Trunkenheit,  Rißguetsch- 
w unde  der  Stirne,  keine  Symptome  einer  zerebralen  Läsion, 
innere  Organe  normal. 

Nach  Abnahme  der  provisorischen  Schiene  werden  die 
stark  durchbluteten  Kleidungsstücke  entfernt.  Der  linke  Ober¬ 
schenkel  hochgradig  deformiert,  3  cm  kürzer  als1  der  rechte,  an 
der  vorderen  lateralen  Seite  ragt  handbreit  oberhalb  des  Knie¬ 
gelenkes  von  Periost  entblößt  das  periphere  Ende  eines  oberen 
Femurfragmentes,  2  cm  lang,  durch  die  Haut  hervor.  Heftige  Blu¬ 
tung  aus  der  Hautwunde,  an  dem  vorragenden  Knochen  kleben 
zahlreiche  abgerissene  Haare.  Muskulatur  des  linken  Ober¬ 


schenkels  krampfhaft  gespannt,  Hat.  hat  keine  Schmerzen  und  be¬ 
wegt  die  gebrochene  Extremität,  wobei  dm  pathologische  Stellung 
noch  vermehrt  wird.  Unterschenkel  stark  einwärts'  rotiert,  wird 
aktiv  nicht  bewegt.  Keine  Sensi bi  1  i tätsstöm  ngen  daselbst. 

Im  Gegensatz  zur  gut  gefärbten  rechten  Extremität  ist  der 
linke  Unterschenkel  blaß,  fühlt  sich  deutlich  kühler  an  und  ist 
weder  in  der  Poplitea-'noöh  in  der  Tibialis  posterior 
und  Dorsalis  pedis  der  Puls  zu  tasten.  Tn  der  Fossa 
poplitea  kein  nennenswertes  Hämatom. 

Die  Haut,  der  Umgebung  der  Wunde  wird  rasiert,  mit 
Jodbenzin  gereinigt  und  mit  Jodtinktur  gepinselt.  Das  hervorragende 
Knochenfragment  wird  durch  Abwischen  mit  einem,  sterilen  Tupfer 
von  den  angeklebten  Haaren  befreit,  von  einer  Desinfektion  der 
Wende  selbst  wird  vollkommen  abgesehen  und  ein  Verband  mit 
steriler  Gaze  angelegt. 

Das  sofort  in  zwei  Ebenen  aufgenommene  llöntgenbild 
zeigt  einen  mehrfachen  suprakondylären  Splitterbruch  des  Ober¬ 
schenkels  mit  Dislokation  des  oberen  Fragmentes-  nach  vorn  außen. 
Die  Kondylen  außerdem  durch  eine  sagittate  bis1  ins  Kniegelenk 
reichende  Bruchlinie  voneinander  getrennt  und  in  der  Sagittal- 
ebene  'gegeneinander  gedreht,  so  daß-  nebst  mehrfachen  Knochen¬ 
splittern  das  gabelförmig  geteilte  untere  Femurdrittel  nach  rück¬ 
wärts  in  die  Kniekehle  hinein  ragt. 

Da  die  Versuche  durch  Zug  an  dem  gebeugten  Unterschenkel 
die  pathologische  Stellung  und  Zirkulationsstörung  zu  beseitigen, 
an  dem  ganz  abnormen  Muskel  widerstand  scheiterten,  wurde  der 
Patient  narkotisiert,  die  Haut  des  Kniegelenkes  nochmals  mit 
Jodbenzin  und  Jodtinktur  desinfiziert  und  die  Nagelextension  am 
Kondylus  fenmris  angelegt. 

Stiebinzision  mit  dem  Skalpell  bis  auf  den  Knochen  dicht 
oberhalb  des  lateralen  Kondylus  in  der  Mitte  der  Distanz  zwischen 
Bizeps-  und  Quadrizepssehne  (mit  sorgfältiger  Vermeidung  einer 
Verletzung  des  oberen  Kieg-elenkrez-essus  l).  Nun  wird  mit  einem 
suitzen  Nagel  die  Kortikalis  des  Knochens  durchschlagen,  der 
Nägel  entfernt  und  der  in  dem  Stilleschen  Drillbohrer  montierte 
25  cm  lange,  4  nun  dicke  Knocheinnagel  in  streng  frontaler  Rich¬ 
tung  durch  den  Knochen  gebohrt,  bis  durch  die  durchgedrungene 
Spitze  des  Nagels  die  gegenüberliegende  Haut  vorgewölbt  er¬ 
scheint.  An  dieser  Stelle  abermals  Stichinzision,  der  Drillbohrer 
wird  abmontiert  und  der  Navel  mit  dem  Hammer  durchgeschlagen 
bis  die  Enden  auf  beiden  Seiten  des  Knochens  gleichweit  her¬ 
vorragen.  Dicht  an  der  Haut  werden  die  beiden  Nagelenden  mit 
fsoform-gaze-  umwickelt  und  letztere  wird  mittels'  zweier  kreis¬ 
runder  im  Zentrum  durchbohrter  Schusterspanplättchen,  die 
beiderseits  über  den  Nagel  geschoben  werden,  durch  einen  sterilen 
Verband  gegen  die  Wunden  angedrückt. 

Der  Patient  wird  nun  ins1  Bett  gebracht,  die  Extremität 
im  Hüft-  und  Kniegelenk  leicht  gebeugt  auf  ein  doppelt  geneigtes 
Kissen  'gelagert,  die  beiden  Enden  des  Nagels  werden  mit  Schutz¬ 
kappen  versehen,  an  welchen  mittels  dünner  Messingdrähte  je 
5  kg  Zuggewicht  zur  Wirkung  gelangen. 

Sofort  nach  Anlegung  der  Extension  stellt  sich  hei  dem 
noch  narkotisierten  Pat.  die  Korrektur  der  pathologischen  Stel¬ 
lung  ein,  die  Verkürzung  ist.  vollkommen  beseitigt  und  der  Puls 
in  den  Arterien  des  Fußes  deutlich  zu  tasten. 

Vom  weiteren  Verlauf  ist  hervorzuh-eben,  daß  die  Tem¬ 
peratur  niemals  mehr  als  37-5°  erreichte,  trotz  der  großen  Un¬ 
ruhe  des  Patienten,  der  in  einem  Anfalle  von  Delirium  einem 
der  beiden  Extensionsdrähte  ablöste,  wodurch  vorübergehend 
eine  starke  seitliche  Dislokation  zustande  kam. 

Im  Verlauf  von  14  Tagen  wurde  der  Längszug  auf  je  2  kg 
vermindert,  außerdem  ein  seitlicher  Zug  nach  Bardenheucr 
zur  Hebung  des  unteren  Fragmentes  hinzugefügt. 

Die  abnorme  Unruhe'  des  Patienten  dürfte  wohl  auch  dazu 
beigetragein  haben,  daß  am  20.  Tage  der  Nagel  am  lateralen  Kon¬ 
dylus  durchzu schneiden  begann  und  entfernt  werden  mußte. 

Die  ursprüngliche  Weichteil  wunde  war  bis  dahin  voll¬ 
kommen  geheilt,  die  Nagelfisteln  sezernierten  sehr  wenig,  so 
daß  nun,  als  sich  ohne  Extension  wieder  eine  Verkürzung  von 
1  ein  einstellte,  ein  Extensions  verband  nach  Bardenheuer  an¬ 
gelegt  werden  konnte,  der  die  Fragmente  dauernd  in  eine  gute 
Stellung  brachte.  _  . 

Der  Extensionsverband  wurde-,  als  die  Fragmente  in 
federnder  Fixation  standen,  durch  eine  einseitige  Gipshose  mit 
Gehbügel  -ersetzt. 

In  der  neunten  Woche-  nach  der  Verletzung  wurde  cier  Gips- 
verbaud  abgenommen,  die  Fraktur  ist  fest  konsolidiert.-)  Die 
noch  bestehende  Versteifung  des  Kniegelenkes  ist.  auf  den  teilweise 

2)  Der  Patient  wurde  am  13.  Januar  in  der  k.  k.  Gesellschafl  dm 
Aerzte  von  Prof.  v.  Eiseisberg  demonstriert. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  4 


134 


intraartikularen  Verlauf  der  Bruchlinien  zurückzuführen  und 
dürfte  bei  mechanischer  Nachbehandlung  noch  verbesserungs¬ 
fähig  sein. 

Zusammenfassend,  hatten  wir  es  in  diesem  Falle  mit 
einer  komplizierten,  gesplitterten,  suprakondylären  Ober¬ 
schenkelfraktur  zu  tun,  bei  welcher  vermutlich  infolge  der 
gabeligen  Teilung  des  peripheren  Fragmentes  und  der  außer¬ 
ordentlich  starken  Dislokation  gegen  die  Kniekehle  eine  Kom¬ 
pression  der  Arteria  poplitea  zustande  gekommen  war. 

Die  Diagnose,  daß  keine  Zerreißung  des  Gefäßes, 
sondern  nur  Kompression  vorlag,  konnte  nahezu  mit  Sicher¬ 
heit  aus  dem  Fehlen  eines  stärkeren  Hämatoms  in  der 
Kniekehle  gestellt  werden.  In  ersterem  Falle  hätte  auch  die 
Blutung  aus  der  ausgedehnten  Weichteilwunde  wohl  eine 
stärkere  sein  müssen. 

Mit  der  Diagnose  war  nun  auch  die  Therapie  gegeben, 
die  Arterie  so  rasch  als  möglich  aus  ihrer  Bedrängnis  zu 
befreien,  weniger  wegen  der  momentanen  Gefahr  einer  Gan¬ 
grän,  da  ja  bekanntlich  eine  bis  zu  sechs  Stunden  fort¬ 
geführte  Unterbrechung  der  Zirkulation  einzelner  Extremi¬ 
täten  bei  jüngeren  Individuen  schadlos  vertragen  werden 
kann,  als  vielmehr  unter  der  Befürchtung,  daß  der  tief 
alkoholisierte  und  schwer  zu  beruhigende  Patient  bei  seinen 
unkoordinierten  Bewegungen,  die  er  unablässig  auch  mit 
dem  gebrochenen  Bein  ausführte,  noch  nachträglich  die 
Arterie  an  den  vorspringenden  Knochenzacken  verletzen 
könnte. 

Das  Extensionsverfahren  nach  Bardenheuer  kam 
hier  kaum  in  Betracht*  weil  die  Anlegung  des  Verbandes' 
wegen  der  großen  Weich  teilwunde  auf  Schwierigkeiten  ge¬ 
stoßen  wäre,  und  andrerseits  die  Wirkung  nicht  genug  rasch 
zur  Geltung  gekommen  wäre.  Wissen  wir  doch  aus  der  viel¬ 
fachen  Erfahrung,  daß  es  wertlos  ist,  früher  als  am  dritten 
Tage  den  Erfolg  eines  frisch  angelegten  Heftpflasterexten¬ 
sionsverbandes  am  Röntgenbild  kontrollieren  zu  wollen,  da 
das  Maximum  der  Wirkung  gewöhnlich  erst  nach  Ablauf 
von  48  Stunden  erzielt  wird. 

Die  Anlegung  eines  zirkulären  Gipsverbandes,  so  wenig 
derselbe  auch  bei  Behandlung  der  Oberschenkelfraktur 
gegenwärtig  in  Gebrauch  ist,  wäre  ausnahmsweise  gerade 
in  unserem  Falle  diskutabel.  Wenn  Aussicht  bestanden 
hätte,  Fragmente  mit  annähernd  quer  verlaufender  Bruch¬ 
linie  durch  Reposition  in  Narkose  so  aneinander  zu  bringen, 
daß  durch  Verzackung  der  Bruchflächen  ein  stabiles  System 
zu  erhoffen  gewesen  wäre  und  dem  nachträglichen  Gips¬ 
verband  nur  die  Aufgabe  zugefallen  wäre,  die  Fragmente 
in  korrigierter  Stellung  ruhig  zu  stellen,  in  dem  Faile  wäre 
gegen  die  Anwendung  des  Gipsverbandes  nur  der  Einwand 
zu  erheben,  daß  die  Wiederkehr  einer  eben  behobenen  Zir¬ 
kulationsstörung  im  zirkulären  Verband  durch  nachträgliche 
Hämatombildung  begünstigt  werden  könnte. 

Das  Röntgenbild  belehrte  uns  eines  anderen.  Bei 
dem  ausgedehnten  Splitterbruch  war  an  die  Erzielung 
einer  Stabilität  durch  Reposition  in  Narkose  nicht  zu  denken. 
Es  wäre  gewiß  gelungen,  bei  vollkommen  erschlaffter  Mus¬ 
kulatur  durch  Zug  am  gebeugten  Unterschenkel  die  Längs¬ 
verschiebung  bis  zur  Behebung  der  Zirkulationsstörung  aus¬ 
zugleichen.  Der  wiederkehrende  Müskeltonus  hätte  aber 
ebenso  rasch  die  alte  Dislokation  herzustellen  versucht, 
indem  das  untere  Fragment  durch  den  Zug  des  Triceps  surae 
abermals  seine  Drehung  nach  hinten  erfahren  hätte  und 
so  wäre  die  Arterie  zwischen  Gipsverband  und  den  Zacken 
des  unteren  Fragmentes  um  so  sicherer  komprimiert  worden. 

Es  mußte  demnach  ein  Verfahren  eingeschlagen 
werden,  das  den  Muskelzug  rasch  und  dauernd  bekämpft, 
bei  welchem  jeder  Druck  in  der  Fossa  poplitea  ausgeschaltet 
ist  und  das  [war  in  diesem  Falle,  wohl  allein  die  Nagel¬ 
extension,  die,  wie  der  Erfolg  lehrte,  auch  tatsächlich  zum 
Ziele  geführt  hat. 

Nach  Kenntnis  des  von  Schwarz  mitgeteilten  Todes¬ 
falles  muß  man  wohl  nachträglich  sagen,  daß  die  Nage¬ 
lung  durch  die  beiden  Femurkondylen  hei  Bestehen  einer 
T-förmigen,  bis  ins  Kniegelenk  reichenden  Fraktur  als  ge¬ 


wagt  zu  bezeichnen  ist,  doch  rechtfertigt  die  Gefährdung 
der  Arteria  poplitea  in  unserem  Fälle  auch  außergewöhn¬ 
liche  Mittel.  Immerhin  zeigt  der  schließlich  gute  Ausgang, 
daß  von  dem  im  Knochen  selbst  gelegenen  Teil  des  Boh¬ 
rungskanals  nicht  leicht  eine  Infektion  zur  Ausbreitung 
kommt,  weil  wenigstens  in  den  ersten  kritischen  Tagen 
der  Nagel  wohl  noch  steril  ist  und  dicht  im  Knochen  steckt, 
sonst  wäre  das  Kniegelenksempyem  gewiß  nicht  ausge¬ 
blieben.  Gefährlicher  scheinen  wohl  die  Fälle  zu  sein,  bei 
welchen  an  der  Außenfläche  des  Knochens  das  Hämatom  bis 
an  den  Nagel  heranreicht  und  durch  die  Nagelfisteln  mit  der 
äußeren  Haut  in  Kommunikation  gesetzt  wird,  weil  immer 
längere  Zeit  vergehen  müßte,  bis  durch  Organisation  eines 
ausgedehnteren  Hämatoms  die  von  der  Hautwunde  ein- 
wandernden  Bakterien  dauernd  von  der  Frakturstelle  fern¬ 
gehalten  sind.  In  Zukunft  wird  man  der  Ausbreitung  des 
Hämatoms  besondere  Beobachtung  schenken  müssen,  um, 
wenn  die  Nagelung  überhaupt  indiziert  ist,  den  Ort  der¬ 
selben  danach  zu  bestimmen  und  eventuell  auch  bei  Frak¬ 
turen  des  Oberschenkels  den  Fersennagel  anzulegen. 

Resümierend  können  wir  auf  Grund  des  mit¬ 
geteilten  Falles  die  Nagelextension  bei  stren¬ 
ger  Indikationsstellung  durchaus  empfehlen. 
Wir  sehen  darin  die  Methode,  die  zwar  nicht  be¬ 
rufen  ist,  die  Heftpflasterextension  zu  verdrän¬ 
gen,  wohl  aber  zu  ergänzen.  Es  dürfte  sich  auch 
fernerhin  die  Kombination  von  Nagel  extension 
mit  seitlichen  Heftpflasterzügen  nach  Barden¬ 
heuer  ganz  besonders  bewähren. 

Die  bereits  von  Anschütz  festgelegten  Indi¬ 
kationen  wären  noch  dahin  zu  erweitern,  daß  in 
dringlichen  Fällen  von  Kompression  wichtiger 
Gefäße  oder  Nerven  durch  dislozierte  Fragmente 
der  Extremitätenknochen  die  Nagelextension 
jedem  anderen  operativen  Eingriff  vorangehen 
soll. 

Literatur: 

Anschütz,  Ueber  die  Frakturbehandlung  mit  Nagelextension. 
Münchener  med.  Wochenschr.  1909,  Nr.  33;  Demonstration  zur  Ver¬ 
längerung  verkürzter  Extremitäten.  Verhandlungen  der  deutschen  Gesell¬ 
schaft  lür  Chirurgie.  Berlin,  4.  Sitzungstag,  2.  April  1910. —  Anzoletti, 
Zur  Codivi Haschen  Methode  der  Nagelextension  am  Knochen.  Zentral¬ 
blatt  für  Chirurgie  1909,  Nr.  28.  —  Becker,  Ein  zerlegbarer  Bohrer 
zur  Extension  am  Knochen.  Zentralblatt  für  Chirurgie  1909,  Nr.  36; 
Extension  am  quer  durchbohrten  Knochen.  Zentralblatt  für  Chirurgie 
1908,  Nr.  48.  —  Codiviila,  Sulla  corregione  delle  deformitä  da  frattura 
del  femore.  Bull,  delle  scienze  med.  die  Bologna  1903,  Serie  8,  Bd.  3.  — 
Hirschberg,  Die  Codivillasche  Nagelextension  ein  zweckmäßiges  Be¬ 
handlungsverfahren  bei  Knochenbrüchen.  Münchener  med.  Wochenschr. 
1910,  Nr.  1.  —  Schwarz,  Zur  Nagelextensionsbehandlung  der  Ober¬ 
schenkelbrüche.  Med.  Klinik  1909,  S.  885.  ' —  Steinmann,  Eine  neue 
Extensionsmethode  in  der  Frakturbehandlung.  Zentrallblatt  für  Chirurgie 
1907,  Nr.  32;  Eine  neue  Extensionsmethode  in  der  Frakturbehandiung. 
Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1908,  Nr.  1;  Zur  Extension  mit 
perforierendem  Nagel.  Zentralblatt  für  Chirurgie  1909,  S.  519;  Fortschritte 
der  Nagelextension.  Schweizerische  Rundschau  für  Medizin  1909,  April; 
Diskussion  zu  An  schütz,  Verhandlungen  der  deutschen  Gesellschaft 
für  Chirurgie.  Berlin,  i.  Sitzungstag,  2.  April  1900. —  Wilms,  Extension 
am  quer  durchnagelten  Knochen.  Zentralblatt  für  Chirurgie  1909,  Nr.  3; 
Ueberkorrektur  bei  Nagelextension.  Deutsche  Zeitschr.  für  Chirurgie, 
Bd.  92,  Nr.  32;  Moderne  Behandlung  der  Diaphysenbrüche  der  unteren 
Extremitäten.  Med.  Klinik  1910,  S.  1395.  ' 


Hefsrate. 

Ueber  die  Natur  und  die  Herkunft  des  Trachomerregers 
und  die  bei  seiner  Entstehung  zu  beobachtende  Er¬ 
scheinung  der  Mutierung  des  Gonokokkus  Neisser. 

Von  H.  Herzog. 

Mit  zwei  lithographischen  Tafeln. 

Berlin  u.  Wien  1910,  Urban  u.  Schwarzenberg. 

Auf  Grund  seiner  Untersuchungen,  die  a.uf  der  Augen¬ 
klinik  in  Budapest  ausgeführt  wurden,  kommt  Herzog  zu  dem 
Schlüsse,  daß  die  als  Trachomkörper  (Chlamydozoen)  bezeich- 
neten  Gebilde  nur  besonders  modifizierte  Wachstumsformen  des 
Gonokokkus  (Neisser)  darstellen.  Die  Beweise  für  diese  An- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


135 


nähme  wären  nach  Herzog  zunächst  die  Tatsache,  daß  in 
den  Kulturen  des  Gonokokkus  mit  Hilfe  der  Färbung  nach  G  i  e  m  s  a 
Formen  nachgewiesen  werden  könnten,  die  sich  in  Form,  Größe, 
Lagerung  und  Färbung  genau  so  wie  die  Elemente  der  Trachom- 
körper  verhielten  und  daß  die  ursprünglich  nur  für  Protozoen 
als  charakteristisch  angesehenen  sogenannten  Hantelformen  auch 
bei  den  Involutionsformen  des  Gonokokkus  vorkämen ;  daß  ferner 
in  einem  Falle  einwandfreier  gonorrhoischer  Konjunktivitis  dem 
Trachomkörper  gleiche  Einschlüsse  (Mikrogonokokken  nennt  sie 
Herzog),  die  ursprünglich  vollständig  fehlten,  auftraten  und 
die  Gonokokken  vollends  verdrängten;  und  daß  umgekehrt  in 
einem  frischen  Trachomfalle  neben  den  Trachomkörperein¬ 
schlüssen  noch  Zelleneinschlüsse  nachweisbar  waren,  die  sich 
zwar  der  Größe  nach  wie  Mikrogonokokken  verhielten,  in  Form, 
Lagerung  und  Färbeverhalten  aber  den  typischen  Gonokokken 
gli e hen  (Ueberg an  g  s f o  raren ) . 

Diese  Involutionsformen  des  Gonokokkus  entstehen  nach 
Herzog  aus  Jugendfurmen  dieses  Kokkus,  extrazellulär  und 
ihre  Einwanderung  und  Anhäufung  in  den  Epithelzellen  stellt 
einen  sekundären  Prozeß  dar;  die  Möglichkeit  einer  intra epi¬ 
thelialen  Entstehung  kann  aber  nicht  ausgeschlossen  werden. 
Der  Mangel  der  Fähigkeit  bei  den  Leukozyten,  Chromatinsub¬ 
stanzen  von  der  Art  des  Plastins  abzuscheiden  und  die  Ver¬ 
dauung  der  in  die  Leukozyten  aufgenommenen  Mikrokokken  durch 
proteolytische  Fermente,  erklärte  das  Fehlen  dieser  Einschlüsse 
in  den  Leukozyten. 

Das  Trachom  entstehe  nach  Herzog  durch  Uebertragung 
des  normalen  Gonokokkus,  wenn  seine  baldige  und  vollständige 
Eliminierung  von  der  Schleimhaut  verhindert  oder  verzögert 
werde,  ebenso  durch  Uebertragung  des  in  seiner  Virulenz  abge¬ 
schwächten  Gonokokkus,  weil  dann  die  für  die  Eliminierung 
notwendige  entzündliche  Reaktion  unterbleibt,  sowie  durch  Ueber¬ 
tragung  der  modifizierten  und  dem  intraepithelialen  Zellpara¬ 
sitismus  angepaßten  Wachstumsform  des  Gonokokkus,  die  der 
Verfasser  als  Mikrogonokokken  bezeichnet  hat. 

Für  die  Erklärung  der  ausschließlich  lokalen  Pathogenität 
des  Mikrogonokokkus  genüge  es,  anzunehmen,  daß  sich  die  Wirk¬ 
samkeit  dieses  abgeschwächten  und  an  spezielle  Verhältnisse 
angepaßten  Keimes ,  mit  seiner  Tätigkeit  in  der  Konjunktiva  er¬ 
schöpfe. 

Die  Tatsache,  daß  die  eigenartige  Wachtunisform  des  Gono¬ 
kokkus  auch  in  der  Urethra  und  Vagina  angetroffen  werden 
könne  (Einschlußblennorrhoe  der  Autoren),  beweise,  daß  die  Mu¬ 
tierung  beim  Gonokokkus  eine  ihm  regelmäßig  zukonrmende 
Eigenschaft  sei. 

* 

Mikroskopiske  Undersogelser  over  Bugspyt  kirtelens 
normale  og  patologiske  Anatomi  hooruuder  forholdene 
ved  en  del  Tilfaelde  af  Sukkersyge. 

Von  K.  A.  Heiberg. 

Kobenhavn  1910,  A.  Fr.  Host  u.  Son. 

Die  Monographie,  die  in  dänischer  Sprache  abgefaßt  und 
200  Seiten  stark  ist,  behandelt  ausführlich  die  normale  und 
pathologische  Anatomie  des  Pankreas.  Die  Ergebnisse  der  Unter¬ 
suchungen  von  Heiberg  über  die  pathologische  Anatomie  des  Dia¬ 
betes  mellitus  bei  35  Fällen  dieser  Erkrankung  sind  dem  Werke 
auszugsweise  in  deutscher  Sprache  angeschlossen.  Daraus  sei 
folgendes  angeführt ; 

Abgesehen  von  qualitativen  Veränderungen  der  Langer- 
hans sehen  Inseln,  konnte  Vexf.  auch  in  den  Fällen  von  Dia¬ 
betes,  die  nach  Ansicht  der  meisten  Autoren  kein  Inselleiden 
vermuten  ließen,  konstant  eine  viel  geringere  Anzahl  von  Inseln 
als  unter  normalen  Verhältnissen  nachweisen.  Dazu  bediente 
sic  h  Heiberg  einer  besonderen  Zähltechnik  mit  75facher  Ver¬ 
größerung,  die  er  als  wichtig  betrachtet.  Durchschnittlich  fand 
er  so  in  der  Kauda  des  Pankreas,  die  für  diese  Untersuchungen 
den  geeignetsten  Teil  darstellt,  bei  normalen  Menschen  ungefähr 
130  Inseln  pro  50  mm2,  bei  Diabetikern  des  genannten  lypus 
dagegen  nur  30  bis  40. 

Die  pathologisch-anatomische  Diagnose  auf  Diabetes  mellitus 
läßt,  sich  nach  Verf.  mit  dieser  Methode,  die  den  Insel  defekt 
mit  Sicherheit  feststellen  läßt,  bei  der  mikroskopischen  Unter¬ 


suchung  des  Pankreas  so  auch  dort  stellen,  wo  man  früher  den 
pankreatischen  Ursprung  nicht  erkannte. 

Den  Schlüssel  zum  Verständnisse  für  die  Entstehung  der 
Inselverminderung  gab  ein  Fall  eines  in  drei  Monaten  tödlich 
verlaufenen  Diabetes;  während  sich  makroskopisch  keine  Ver¬ 
änderungen  des  Pankreas  nachweisen  ließen,  fand  sich  mikro¬ 
skopisch  folgendes:  die  Anzahl  der  L  an  g  erh  an  s  sehen  Inseln 
war  gering,  einige  davon  waren  normal,  andere  von  einem  ein¬ 
kernigen  Zelleninfiltrat  umgeben,  das  auch  längs  der  Gefäße  in 
die  Inseln  hineingriff;  außerdem  fanden  sich  Gebilde,  teils  ne¬ 
krotisch,  teils  in  nekrotischer  Umwandlung,  die  sich  noch  mit 
Sicherheit  als  Inselgewebe  deuten  ließen.  Dort,  wo  Rundzellen¬ 
infiltration  vorhanden  war,  sahen  die  Inseln  gewöhnlich  noch 
gut  erhalten  aus;  wo  sie  Nekrose  zeigten,  war  Rundzellen¬ 
infiltration  nicht  nachweisbar.  Im  lienalen  Teile  variierte  die 
Zahl  der  Inseln  von  17  bis  37  pro  50  mm2.  Nur  wenige  der 
zerstörten  Inseln  hinterließen  ein  erkennbares  Residuum  in  Form 
einer  bindegewebigen  Verdickung,  doch  ist  diese  Veränderung  nach 
Verf.  später  nicht  mehr  imstande,  die  Form  der  Inseln  zu  be¬ 
halten,  so  daß  diese  Stellen  dann  vom  Rindegewebe  in  den  Inter- 
stitien  nicht  mehr  unterschieden  werden  können. 

Verf.  glaubt,  daß  dieser  Fall  wahrscheinlich  das  Anfang¬ 
stadium  in  der  Entstehung  des  Inseldefektes  darstelle. 

Verf.  bekennt  sich  damit  als  Anhänger  der  Inseltheorie  für 
den  Diabetes  und  schließt  sich  damit  der  Auffassung  an,  die 
A.  Weichselbaum  auf  Grund  eingehendster  Untersuchung  von 
183  Fällen  dieser  Erkrankung  vertritt. 

* 

Das  Virulenzproblem  der  pathogenen  Bakterien. 

Epidemiologische  und  klinische  Studien  von  der  Diphtherie  ausgehend. 

Aron  Edv.  Laurent. 

Mit  7  Kurven  im  Text  und  7  Tafeln. 

Jena  1910,  Verlag  von  G.  Fischer. 

Die  Untersuchungen,  deren  Resultate  Verf.  in  dem  umfang¬ 
reichen  Ruche  von  850  Seiten  mitteilt,  wurden  durch  Beobach¬ 
tungen  veranlaßt,  die  der  Autor  in  der  Diphtherieepidemie  in 
Danderyd-Djursholm  (Umgebung  Stockholms)  1898  bis  1900 
machen  konnte. 

Diese  Epidemie,  die  im  ersten  Abschnitt  eingehend  erörtert 
wird,  zeichnete  sich  durch  auffallenden  Parallelismus  der  gleich¬ 
zeitigen  Krankheitsfälle  aus  und  durch  einen  ausgeprägten  Formen¬ 
wechsel  in  den  verschiedenen  Perioden;  die  erste  dieser  Perioden 
war  durch  das  Auftreten  von  schwerem  Krupp  und  Rhinitis  cha¬ 
rakterisiert,  die  zweite  durch  den  Mangel  dieser  Erscheinungen 
und  durch  das  Vorherrschen  von  Anginen,  die  dritte  wieder 
durch  Knipp  und  Rhinitis  und  die  vierte  Periode,  die  Nach¬ 
epidemie,  durch  schleichendes  Hervortreten,  atypischen  Verlauf 
und  großen  Formenreichtum  der  Fälle  mit  reichlichem  Bazillen¬ 
befund  in  der  Umgebung  der  Kranken. 

Zur  Erklärung  dieser  Erscheinungen  nimmt  Verf.  an,  daß 
eine  Epidemie  als  Organismus  zu  betrachten  sei,  der  entsteht, 
wächst,  altert  und  stirbt,  also  den  Gesetzen  des  Lebens  folgt  und 
entsprechenden  Veränderungen  unterliegt. 

Weitergeführt  wurden  diese  Beobachtungen  an  dem  großen 
Diphtheriemateriale  des  Epidemiekrankenhauses  in  Stockholm 
(über  10.000  Fälle);  dabei  hat  ex  zur  Grundlage  seiner  Beob¬ 
achtungen  die  Fieberkurven  benützt,  die  verschiedene  Typen 
zeigten  und  wobei  gewisse  dieser  Typen  regelmäßig  miteinander 
abwechseln,  so  da.ß  beim  Maximum  des  einen  der  andere  sein 
Minimum  erreicht  und  umgekehrt.  Darnach  unterschied  Verfasser 
drei  verschiedene  Arten  von  Diphtherieformen:  die  erste  be- 
zeichnete  er  als  Grundform  und  war  dadurch  charakterisiert, 
daß  sie  immer  zahlreich  vorkam  und  keinen  Wechsel  zeigte; 
die  zweite  bezeiehnete  er  als  Flutform  und  entsprach  dem  Steigen 
und  der  Ausbreitung  der  Epidemie;  und  die  dritte,  die  er  Ebbe¬ 
form  nannte,  fiel  mit  der  Abnahme  der  Epidemie  zusammen. 

Das  dritte  Kapitel  ist  der  Virulenz  der  Diphtheriebazillen 
gewidmet  unter  eingehender  Berücksichtigung  der  Literatur.  Aus 
der  Tatsache,  daß  die  Virulenz  der  Bazillen  eine  variable  sei,  daß 
Diphtheriebazillen  auch  an  den  Schleimhäuten  gesunder  Indi¬ 
viduen  Vorkommen,  daß  ihre  Lehensbedingungen  eine  Vermehrung 
außerhalb  des  Organismus  eigentlich  ausschließen,  daß  im  Blute 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  4 


gesunder  Personen,  die  nie  an  Diphtherie  gelitten  haben,  Schutz¬ 
körper  gegen  diese  Krankheit  vorhanden  seien,  daß  sie  sich  bei 
den  meisten  akuten  und  chronischen  krankhaften  Veränderungen 
der  Schleimhäute  der  oberen  Luftwege  finden,  daß  pseudomem¬ 
branöse  und  andere  Formen  von  Diphtherie  ineinander  über¬ 
gehen  und  daß  die  Diphtherieepidemien  gewisse  Eigentümlich¬ 
keiten  zeigen,  die  kaum  anders  als  durch  Virulenzverschieden- 
heiten  dös  Erregers  erklärt  werden  können,  nimmt  Verf.  an, 
daß  die  Diphtherie  aus1  einer  Virulenzsteigerung  der  avirulenten 
oder  schwachvirulenten  Diphtheriebazillenformen,  die  normal  auf 
den  menschlichen  Schleimhäuten  vegetieren,  entstehe. 

Im  vierten  Kapitel  bespricht  Verf.  die  Frage  der  Sporen¬ 
bildung  der  Diphtheriebazillen  und  die  verschiedenen  Krankheits¬ 
symptome  der  Diphtherie,  die  durch  Bazillengenerationen  ihre 
Erklärung  finden,  wobei  Verf.  zum  Schlüsse'  kommt,  daß  die 
Diphtheriebazillen  in  ungefähr  einer  Woche  eine  typische  Ent¬ 
wicklung  durchlaufen,  die  durch  Bildung  von  Sporen,  an  welche 
die  Kontagiosität  in  erster  Linie  gebunden  ist,  abgeschlossen 
wird. 

Im  fünften  Kapitel  wird  zunächst  die  Frage  der  Immunität 
und  Kontagiosität  der  Diphtherie  besprochen,  sodann  die  ver¬ 
schiedenen  Formen  der  Erkrankung,  die  im  Zusammenhänge  mit 
dem  V  irulenzwechsel  der  Bazillengenerationen  stehen  und  in¬ 
einander  übergehen:  die  Grundformen  in  die  Flutformen  und 
diese  in  die  Ebbeformen.  Die  Ursache  dafür  liegt  nach  Verfasser 
in  dem  Virulenzgesetz,  das  alle  diese  Phänome  beherrscht  und 
für  die  Diphtherie  so  formuliert  wird,  daß'  die  täglichen  Schwan¬ 
kungen  der  Virulenz  des  Diphtheriebazillus,  der  die  niedrigste 
organische  Einheit  bei  der  Diphtherie  darstelle,  in  sukzessiv  ver¬ 
größerter  Skala  aufs  neue  wiederholt  werden  und  so  bestimmend 
wirken  für  das  Auftreten  der  Krankheit  in  einzelnen  Fällen  oder 
Gruppen  von  Fällen,  in  Epidemien  oder  Epidemieserien  niederer 
oder  höherer  Ordnung. 

Dieses  Gesetz  kann  auch  allgemein  formuliert  werden  und 
lautet  dann  so,  daß  jeder  Organismus  aus  anderen  Organismen 
bestehe  und  selbst  ein  Teil  von  'höheren  Organismen  sei,  die  alle 
den  Gesetzen  des  Lebens  unterliegen  und  entsprechenden  Ver¬ 
änderungen  unterworfen  sind,  was  Verf.  im  sechsten  Kapitel  für 
die  anderen  pathogenen  Bakterien  zu  zeigen  versucht. 

Das  siebente  Kapitel  endlich  bringt  eine  Zusammenfassung 
der  Resultate  und  auf  diese  will  Verf.  eine  moderne  epidemiolo¬ 
gische  Wissenschaft  aufgebaut  wissen  mit  neuen  Definitionen, 
Arbeitsmethoden.  Zeitbestimmungen  für  die  Epidemien  und  der 
Möglichkeit  epidemiologischer  Prognose.  Und  Aufgabe  der  Hy¬ 
giene  muß  es  sein,  die  Lebensbedingungen  der  pathogenen  Bak¬ 
terien  ungünstiger  zu  gestalten,  die  des  Menschen  dagegen  zu  er¬ 
höhen,  so  daß  die  Gleichgewichtslage  zugunsten  des  Menschen 
verrückt  wird. 

Das  Buch  ist  sicher  interessant,  nur  zu  breit  angelegt,  dürfte 
aber  kaum  in  allen  Punkten  Zustimmung  erfahren. 

* 

Atlas  und  Grundriß  der  Bakteriologie  und  Lehrbuch 
der  speziellen  bakteriologischen  Diagnostik. 

Von  K.  B.  Lehmann  und  R.  0.  Neumann. 

I.  Teil: 

Atlas. 

Fünfte,  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage. 

Preis  kompl.  20  Mk. 

München  1910,  Verlag  von  .1.  F.  Lehmann. 

Der  im  Jahre  1907  erschienenen  vierten  Auflage  des  be¬ 
kannten  Lehrbuches  aus  den  medizinischen  Handatlanten  von 
Lehmann  ist  1910  die  fünfte  gefolgt,  die  im  vorliegenden  ersten 
Teile  (Atlas)  gegenüber  der  letzten  Auflage,  keine  Aenderung  er¬ 
fahren  hat. 

Die  rasche  Folge  der  Auflagen  dieses  Werkes  zeugt  von!  der 
Wichtigkeit,  die  es  erlangt  hat;  seine  Vorzüge  sind  auch  hier 
schon  mehrmals  besprochen  worden.  Das  Bestreben  der  Autoren, 
ihr  Werk  zu  einem  möglichst  vollkommenen  zu  machen,  ist 
immer  und  überall  anerkannt  worden;  gerade  deshalb  wäre  es 
■erwünscht,  daß  die  kleinen  Mängel,  die  ihm  noch  anhaften, 
ausgemerzt  würden.  So  wirkt  es  beispielsweise  störend,  das 
auch  im  Atlas  eingehaltene  System  der  Einteilung  dadurch  durch¬ 
brochen  zu  sehen,  daß  der  Micrococcus  meningitidis  iutracellu- 


laris  Weich  seih  aubi  noch  immer  unter  der  Gattung  Strepto¬ 
kokkus  zu  finden  ist  und  nicht  dort,  wohin  er  seiner  Stellung 
nach  gehört.  Das  gleiche  gilt  für  das  Bacterium  dysenteriae.  Da 
Lehmanns  Handatlanten  in  erster  Linie  für  den  Mediziner 
bestimmt  sind,  erscheint  auch  die  Forderung  keine  unbeschei¬ 
dene,  gewissen  wichtigen  menschenpathogenen  Bakterien  mehr 
Platz  in  einer  folgenden  Auflage  einzuräumen,  als1  es  bisher  ge¬ 
schehen  ist.  Dies  gilt  vor  allem  für  die  Gruppe  der  Paratyphus- 
und  Dysenteriebakterien,  bei  denen  die  neuen,  heute  allgemein 
anerkannten  differentialdiagnostischen  Merkmale  auch  bei  den 
Abbildungen  berücksichtigt  werden  könnten.  Aehnliches  wäre 
.  auch  für  die  Gruppe  des  Gonokokkus  und  seiner  Verwandten 
(Meningokokkus  und  Micrococcus  catarrhalis)  erwünscht.  Abbil¬ 
dungen  des  Bacterium  scleromatis  fehlen  vollständig.  Der  Dank, 
den  die  Autoren  und  der  Verleger  durch  Berücksichtigung  dieser 
Wünsche  erfahren  würden,  wäre  ein  allgemeiner. 

* 

Zur  Frage  über  den  Erreger  der  echten  und  Schutz¬ 
pocken. 

Von  1»I.  Babinowitsch. 

Mit  6  Tafeln. 

Wiesbaden  1910,  Verlag  von  J.  F.  Bergmann. 

Dem  Verf.  gelang  es  in  einer  Reihe  von  Poekenfällen,  die  er 
bei  der  Epidemie  in  Kiew  im  fWi'nter  1909  und  im  Frühjahre  1910 
zu  untersuchen:  Gelegenheit  hatte,  sowohl  aus  dem  Pustelinhalte 
und  Venen  blute  der  Kranken,  als  auch  aus  dem  Herzblute  und  den 
Organen  der  Leichen  mikroskopisch  und  kulturell  einen  Angehö¬ 
rigen  der  Gattung  Streptokokkus  nachzuweisen,  den  er  als  einen 
„Strepto-Diplokokkns“  bezeichnet  und  der  bei  jungen  Ratten,  Ka¬ 
ninchen  und  weißen  Mäusen  nach  kutaner  Einverleibung  angeblich 
Pusteln  erzeuge,  die  den  Pockenpusteln  des  Menschen  mehr 
oder  weniger  ähnlich  sein  sollen.  Den  gleichen  Kokkus  konnte 
Verf.  auch  aus  den  untersuchten  Kuhpockenlymphen  züchten. 

Verf.,  der  seine  Untersuchungen  selber  noch  nicht  für  ganz 
abgeschlossen  bezeichnet,  glaubt,  daß  dieser  „eigenartige  Parasit“ 
in  irgend  einer  engen  Beziehung  zu  den  echten  und  Schutzpocken 
stehen  müsse. 

Die  Wichtigkeit  der  Frage  erfordert  einwandfreiere  Beweise 
als  die  vom  Verf.  gebrachten. 

* 

Kompendium  der  praktischen  Bakterienkunde. ' 

Für  Studierende  der  Medizin  und  praktische  Aerzte. 

Von  E.  Küster  und  A.  Geisse. 

Mit  26  Abbildungen  und  18  farbigen  Tafeln. 

S  t  r  a  ß  b  u  r  g  i.  E.  u.  Leipzig  1911,  Verlag  von  J.  Singer. 

Ein  handliches,  klar  geschriebenes  Büchlein,  das  für  den 
Mediziner  bestimmt  ist,  um  ihm  in'  knapper  Form  die  notwen¬ 
digsten  und  zugleich  praktisch  wichtigsten  Kenntnisse  in  der 
Bakteriologie  und  Protistenkunde  zu  verschaffen.  Diesen  Zweck 
erfüllt  das  Kompendium,  nur  wäre  es  richtiger  gewesen,  wenn  das 
für  die  Differentialdiagnose  der  meisten  unserer  pathogenen  Bak¬ 
terien  mit  Recht  als  wichtig  hervorgehobene  Verhalten  zur  Me¬ 
thode  von  Gram  auch  hei  den  Abbildungen  berücksichtigt  und 
wenn  gerade  von  den  praktisch  wichtigen  Bakterien  (Meningo¬ 
kokken,  Diphtberiebazillen,  Anthraxbazillen  usw.)  nicht  Abbil¬ 
dungen  von  Reinkulturen,  sondern  solche  von  Ausstrichpräpa¬ 
raten  aus  ihren  pathologischen  Produkten  gebracht  worden  wären. 
Warum  den  pathogenen  Kokken  als  Anhang  der  Bacillus  pyo- 
cyaneus  und  die  Kapselbazillengruppe  —  diese  noch  dazu  so 
stiefmütterlich  behandelt  —  abgeschlossen  werden,  ist  unver¬ 
ständlich.  Sicher  wertvoll  wäre  ©s,  in  der  Gruppe  des  Gono¬ 
kokkus  und  seiner  Verwandten  das  Verhalten  zu  den  differential- 
diagnostisch  wichtigen  Zuckerarten  hervorzuheben.  Einer  Kor¬ 
rektur  bedarf  die  Angabe  über  das  Verhalten1  des  Bacillus  oede- 
maiis  maligni  zur  Färbungsmethode1  von  Grami  und  überflüssig 
ist  für  den  Mediziner  die  Besprechung  des  Erregers  der  Hühner- 
eholera.  j:  ,  !  j  j  •  :  ‘  ■ 

Gegen  den  Standpunkt,  die  Serologie  nur  zu  berücksich¬ 
tigen,  insoweit  sie  praktisch  Bedeutung  hat,  ist  nichts  einzu- 
wenden,  die  Reaktion  von  Wassermann  aber  müßte  wegen 
ihrer  Bedeutung  für  die  Luesdiagnose  hei  der  Besprechung  der 

Spirochaete  pallida  kurze  Erwähnung  findein. 

* 


Nr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


137 


Praktikum  der  Bakteriologie  und  Protozoologie. 

Von  Kißkalt  und  Hartmann. 

Zweite,  erweiterte  Auflage. 

Zweiter  Teil: 

Protozoologie. 

Von  M.  Hartmann. 

Mit  76,  teils  mehrfarbigen  Abbildungen  im  Text. 

Jena  1910,  Verlag  von  G.  Fisch  e  r. 

Das  Praktikum  der  Bakteriologie  und  Protozoologie  von 
Kißkalt,  und  Hartlmahn  hat  in  seiner  zweiten  erweiterten 
Auflage  dadurch  eine  Aenderung  erfahren,  daß  beide  Teile  ge¬ 
trennt  herausgegeben  wurden.  Der  erste  Teil  der  neuen  Auf¬ 
lage  ist  in  dieser  Zeitschrift  schon1  besprochen  worden.  Der 
vorliegende  zweite  Teil,  der  ein  Kapitel  über  allgemeine  Technik 
der  Protozoenuntersuchung  neu  aufgenommen  und  in  den  übrigen 
Kapiteln  Ergänzungen  und  Verbesserungen  erfahren  hat,  ist  in 
allgemeine,  technische  und  spezielle  Abschnitte  eingeteilt,  in 
denen  pathogene  und  nichtpathogene  Vertreter  der  Ordnungen 
Amoebina,  Myxosporidia,  Sarcosporidia,  Flagellata,  Koccidia, 
Gregarinida  und  Oiliata  behandelt  werden.  Die  Darstellung  ist 
übersichtlich  und  klar,  die  Abbildungen,  die  bedeutend  vermehrt 
wurden,  sind  durchaus  gut.  Den  speziellen  Abschnitten  sind  in 
der  neuen  Auflage  auch  Literaturangaben  zugefügt. 

A.  Ghort. 


Aus  versehiedenen  Zeitsehriften. 

■85.  Lieber  den  Darmwandbruch.  Von  Professor  Doktor 
Riedel  in  Jena.  In  einem  klinischen  Vortrage  besprach  Verfasser 
diese  partielle  Darmeinklemmung,  die  viel  häufiger  beobachtet 
wird,  als'  man  bisher  annahm.  Auf  experimentellem  Wege  läßt 
sich  der  Vorgang  der  Einklemmung  nicht  nachahmen,  ein  so 
scharfer  Beobachter,  wie  Roser,  wollte  daher  den  Darmwand¬ 
bruch  nicht  anerkennen;  daß  er  aber  existiert,  daß  also  ein 
Teil  einer  ganz  intakten  Darmschlinge  eingeklemmt  werden  kann, 
das  hat  Verf.  zum  ersten  Male  mit  voller  Sicherheit  bewiesen. 
Hundertfache  Beobachtungen  an  Menschen  haben  es  seither  be¬ 
stätigt.  Eine  solche  Einklemmung  kommt  da  zustande,  wo  die 
Bruchpforte  eng  ist;  den  geringsten  Durchmesser  pflegen  die 
Pforten  von  Kruralbrüchen  zu  habein,  deshalb  wird  der  Darm¬ 
wandbruch  dort  am  häufigsten  beobachtet;  dann  folgt  die  Ein¬ 
klemmung  im  Leistenkanale  (meist  im  Bruchsackhalse),  noch 
seltener  die  am  Foramen  obturatorium  oder  im1  Nabel.  Als  letzte 
Ursache  der  Einklemmung  müssen  wir  in  allen  Fällen  Anstren¬ 
gungen  der  Bauch prefese  (Hustenstoß,  Pressen  etc.)  annehmen. 
Bald  ist  nur  ein  Drittel  der  Zirkumferenz  des  Darmes  eingeklemmt, 
häufiger  sind  es  zwei  Drittel,  oft  genug  läuft  aber  auch  die!  Schnür- 
furche  hart  am  Mesenterialrande  entlang,  was  Verf.  durch  drei 
schematische  Zeichnungen  versinnlicht.  Gewöhnlich  ist  der  genau 
dem  Mesenterialansatze  gegenüberliegende1  Darmabschnitt  einge¬ 
klemmt,  gelegentlich  ist  es  die  vordere  oder  hintere  Wand  des 
Darmes  (He ums,  seltener  des  Jejunums  oder  Dickdarms).  Der 
Verfasser  bespricht  sodann  die  klinischen  Erscheinungen  (zumeist 
Erbrechen,  fehlender  Stuhlgang  und  Mangel  an  Winden,  deutlich 
sichtbare  peristaltische  Bewegungen),  welche  die  Diagnose  ermög¬ 
lichen,  welche  aber  hei  Schenkel-  und  Leistenbruch  Schwierig¬ 
keiten  macht,  wetan  nur  wenig  Darm  eingeklemmt  und  der  Patient 
sehr  indifferent  gegen  Schmerzen  ist.  Ist  der  Bruch  versteckt, 
zum  Beispiel  bei  der  Hernia  obturatoria  oder  bei  einem  ins  Cavum 
peritonei  dislozierten  Bruchsackhalse,  so  kann  sich  die  Diagnose 
schon  schwierig  gestalten.  Zum  Glück  sind  solche  Fälle  selten. 
In  Vielen  Fällen  fehlt  leider  die  richtige  Behandlung,  auch  ver¬ 
schieben  die  Kranken  öfters  die  Operation,  weil  die  Erscheinungen 
leicht  sind,  Stuhl  und  Winde  noch  abgehen.  Von  des  Verfassers 
63  Fällen  mit  Darmwandbrüchen  sind  nicht  weniger  als  24  ‘  39°<> ' 
gestorben,  während  er  hei  Totaleinklemmung  von  Därmen,  respek¬ 
tive  Netz  nur  15°/o  Verlust  hatte  (letzte  Serie).  Jeder  Repositions¬ 
versuch  ist  kontraindiziert;  der  Bruch  muß  möglichst  frühzeitig 
operativ  angegriffen  werden.  Ein  pfropfartig  in  den  Bruchsack 
hineinragender,  geschwollener,  fest  durch  den  Bruchsackhals  mn- 
schnürter  Darmabschnitt,  sagt  der  Verfasser,  kann  überhaupt  gar 
nicht  so  reponiert  werden,  wie  eine  in  toto  eingeklemmt '■  Darm- 
si  hlinge.  Der  leichte  Repositionsversue-h  wird  stets  ohne  Erfolg 


bleiben,  brüske  Manipulationen  werden  zur  Sprengung  des 
Darmes  führen.  Unter  den  oberwähnh u  24  Todesfällen  sind 
zwei  Kranke  derartigen  brüsken  Bcpositi- msversuchen.  erlegen, 
welche  von  dein  behandelnden  Aerzten  zwei  Stunden,  respektive 
fünf  Tage  nach  der  Einklemmung  gemacht  wurden.  Solche  Vor¬ 
kommnisse  sind  wahrscheinlich  noch  häufiger,  der  \  rzt  muß 
also  beherzigen,  daß  die  Reposition  so  außerordentlich  gefährlich 
ist.  Tritt  Gangrän  ein  und  erfolgt  die  Perforation  des  gangränösen 
Darmabschnittes  nach  außen,  so  kann  der  Kranke  nach  einem 
späteren  Eingriff  genesen ;  man  warte  aber  diesen  Vorgang  nicht 
ab,  da  die  Majorität  solcher  Fälle  an  Peritonitis  usw.  zugrunde 
geht.  In  frischen  Fällen  macht  man  die  Operation  und  da  erlebt 
man  es'  öfters,  daß  der  Darin  nach  Spaltung  des  Bruchsackhalses 
sofort  in  die  Bauchhöhle  zurückrutscht.  Das  ist  dann  bedeutungs¬ 
los,  nicht  aber  in;  verschleppten  Fällen,  wenn  die  Schnürfurche 
schon  gangränös  ist.  Da  muß  man  vor  Spaltung  des  Bruchsack¬ 
halses  unbedingt  den  vorliegenden  eingeklemmten  Darmabschnitt 
mit  der  Schieberpinzette  fassen',  damit  er  nicht  in  die  Tiefe  sinkt. 
Ist  vollends  der  ganze  eingeklemmte  Darmteil  brandig,  so  schneide 
man  den'  Bruchsack  auf,  warte  die  Bildung  der  Kotfistel-  ab  und 
und  beseitige  diese  später.  —  (Deutsche  medizin.  Wochenschrift 

1910,  Nr.  52.)  E.  F. 

* 

86.  Das  bakterizide  Prinzip.  Von  Hans  Much. 
Während  man  bei  den  rein  durch  Giftabsonderung  krankmachen¬ 
den  Bakterien  den  Bekämpfungsplan  vor  allem  gegen  die  Gifte 
zu  richten  hat  (Toxin  -  Antitoxin  hei  Diphtherie,  Tetanus  und 
wahrscheinlich  auch  bei  Dysenterie),  so  liegen  die  Verhältnisse 
bei  einer  zweiten  Gruppe  von  Bakterien,  die  durch  giftige  Be¬ 
standteile  krankmachend  wirken  (Endotoxine)  anders.  Hier  muß 
man  sich  vor  allem  -gegen  die.  Bakterien  seihst  wenden,  ihre 
Lebensfähigkeit  vernichten,  um  eine  Vermehrung  des  gifttragen- 
den  Agens  zu  vermleiden.  Gleichzeitig  muß  man  aber  auch 
das1  Augenmerk  auf  die  Unschädlichmachung  der  Endotoxine 
richten,  die  ja  durch  den  Zerfall  der  getöteten  Bakterien  gerade¬ 
zu  erst  frei  gemacht  Werden,  soweit  sie  nicht  ohnehin  schon 
irrt  Körper  kreisen.  Die  Bekämpfung  dieser  zweiten  Gruppe  von 
Bakterien  gestaltet  sich  bedeutend  schwieriger.  Insbesondere  ist 
die  Darstellung  von  Substanzen  gegen  Endotoxine  in  für  die 
Praxis  irgendwie  brauchbarer  Weise  noch  nicht  gelöst.  Offenbar 
liegen  die  Verhältnisse  keineswegs  so  einfach  wie  beim  anti¬ 
toxischen  Schutz-  und  Heilprinzipe  und  ist  die  Wirkung  des 
bakteriziden  Schutz-  und  Heilprinzipes  von  den  verschiedensten 
Faktoren  abhängig  und  seine  Wirkung  tritt  nur  innerhalb  be¬ 
stimmter  Grenzen  auf.  Außerhalb  dieser  Grenzen  tritt  überhaupt 
keine  Wirkung  auf  oder  sie  schlägt  gar  ins  Gegenteil  um,  indem 
z.  B.  durch  zu  schnelle  Auflösung  einer  großen  Menge  von  In¬ 
fektionsmaterial  durch  die  im  immunisierten  Organismus  vor¬ 
handenen  spezifischen  abtötenden,  auflösenden  Kräfte  der  Körper 
plötzlich  mit  Giften  überschwemmt  wird.  In  einem  solchen  Falle 
ist  der  immunisierte  Körper  schlechter  daran  als  der  nicht  im¬ 
munisierte.  Jedenfalls  ist  aller  auf  bakteriziden  Kräften  beruhen¬ 
der  Schutz  immer  ein  ‘zweischneidiges'  Schwert.  Trotzdem  mm 
das  bakterizide  Prinzip  in  seiner  Wirkungsweise  und  Wirksam¬ 
keit  von  dem  antitoxischen  sehr  verschieden  ist,  so  kann  es  als' 
Schutzprinzip  auf  aktivem  und  passivem  Wege  angewendet  wer¬ 
den  und  bewährt  sich  beim  Tiere  trotz  seiner  Zweischneidigkeit 
recht  gut  und  wenigstens  zum  Teil  nicht  schlecht  beim  Menschen, 
soweit  es  sich  um  aktiv  erworbenes  Schutzprinzip  handelt.  Als 
Heilmittel  hat  sich  jedoch  das  bakterizide  Prinzip  wenigstens 
beim!  Menschen  als  absolut  unzulänglich  erwiesen;  gleichwohl 
sind  bereits  Erfolge  im  Tierversuche,  betreffend  die  Heilung 
durch  bakterizide  Sera,  also  auf  passivem'  Wege,  erzielt  worden. 

(Fortschritte  der  Medizin,  28.  Jahrg.,  Nr.  40.)  K.  S. 

* 

87.  Salvarsan  hei  80  Syphilisfällen.  Von  Dr.  Carlo 
Ravasini  in  Triest.  Verf.  hat  alle  80  Fälle  nach  Wechsel 
mann  behandelt,  während  er  jetzt,  nur  die  Methode  von  Kro 
may  er  anwendet.  In  zehn  Fällen  handelte  es1  sich  um  Initial¬ 
sklerosen,  in1  sechs  Fällen  um  sekundäre  Syphilis;  alle  waren 
früher  nie  behandelt  worden.  Das1  UlduS  durum  heilte  in  einem 
Falle  nach  48  Stunden,  in  den  anderen  drei  bis1  eli  Tage  nach 
der  Injektion.  Die  Condylomata  lata  und  die  makulösen  Syphilide 


13b 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  4 


schwanden  nach  zwei  bis  fünf  Tagen  und  in  einem  Falle  waren 
schon  nach  24  Stunden  heftige  periostale  Schmerzen  verschwun¬ 
den.  Die  papulösen  Syphilide  heilten  erst  12  bis  15  Tage  nach 
der  Injektion.  Ein  interessanter  Fall  von  phagedänischem,  hartem 
Schanker  mit  ulzeröser  maligner  Syphilis,  heilte  mit  ungewöhn¬ 
licher  Schnelligkeit,  so  daß  acht  Tage  nach  der  Einspritzung 
der  harte  Schanker  und  die  Geschwüre  ganz  vernarbt  waren. 
In  35  Fällen  handelte  es  sich  um  schon  vorher  behandelte 
Patienten  mit  sekundärer  Lues.  Auch  hier  schwanden  die  Oön- 
dylomata  lata,  die  Syphilide  der  Haut,  die  schmerzhaften  Perio¬ 
stitiden  in  sehr  kurzer  Zeit.  In  drei  Fällen  schwand  sofort  der 
Kopfschmerz,  in  einem  eine  hartnäckige  linkseitige  Trigeminus¬ 
neuralgie.  Sechs  Fälle  von  Plaques  der  Mundschleimhaut,  welche 
durch  Kalomelinjektionen  unberührt  blieben,  heilten  glänzend 
in  acht  bis  zehn  Tagen.  Hartnäckig  waren  vier  Fälle  von  Psoriasis 
palmaris.  Interessant  war  ein  Fall  von  Arthralgie  des  linken 
Fußgelenks  bei  einer  26jährigen  Frau,  welche  drei  Jahre  vorher 
luetisch  infiziert  worden  war  und  die  Quecksilbereinspritzungen 
schlecht  vertrug,  wegen  heftiger  Stomatitis.  Sie  lag  bereits  vier 
Wochen- im  Bette.  Verf.  injizierte  0-45  Salvarsan;  vier  Tage 
später  Heilung.  Bei  einem  Patienten  mit  Laryngitis  luetica  ver¬ 
sagte  die  Behandlung.  Wahre  Wunder  berichtet  Verf.  bei  der 
tertiären  Lues,  von  welcher  er  neun  Fälle  behandelte.  Alle  heilten 
in  drei  bis  sechs  Tagen.  In  vier  Fällen  von  parasyphilitischen 
Affektionen  konnte  keine  Besserung  erzielt  werden.  16mäl  wurde 
Salvarsan  bei  Luetikern  angewendet,  die  zwar  keine  Phäno¬ 
mene,  jedoch  positive  Was  s  ermann  sehe  Reaktion  zeigten; 
darunter  bei  zwei  schwangeren  Frauen.  Einen  dieser  Fälle  be¬ 
spricht  Verf.  wegen  des  besonderen  klinischen  Interesses  ge¬ 
nauer.  Ein  38jäliriger  Mann  hatte  vor  fünf  Jahren  Syphilis; 
Behandlung  drei  Jahre  lang.  Seit  2V2  Jahren  keinen  Tag  fieber- 
los.  Er  wurde  von  verschiedenen  Seiten  wegen  Lungenspitzen¬ 
katarrh,  Herzfehler,  Rheumatismus  behandelt.  Wassermann  po¬ 
sitiv.  Am  21.  August  11)10  0-5  Salvarsan.  Sieben  Tage  nach 
»  der  Injektion  Arsenexanthem,  Temperatur  39-6.  Am  fünften  Tage 
sank  die  Temperatur  auf  36-8  und  stieg  nie  mehr  an.  Der 
Patient  nahm  um  8  kg  zu.  Wassermann  am  26.  Oktober  noch 
positiv.  Verf.  hat  bis  jetzt  drei  Rezidiven  beobachtet.  Die  In¬ 
jektion  wurde,  abgesehen  von  den  lokalen  Beschwerden,  immer 
sehr  gut  vertragen.  Drei  Patienten  mit  Herzaffektion  und  ein 
Tuberkulöser  hatten  keine  üblen  Nachwirkungen.  Verf.  hat  auch 
eine  Frau,  die  im  achteln  Monat  gravid  war  und  acht  Früh¬ 
geburten  gehabt  hatte,  mit  0-45  Salvarsan,  behandelt,  trotzdem 
schon  Augenläsionen  bestanden.  Nach  zehn  Wochen  Besserung 
der  Augenstörungen.  Die  gebrauchten  Dosen  waren:  3-15,  0-4, 
0-5,  0-6,  0-7,  0-8.  In  der  größten  Mehrzahl  der  Fälle  bildeten 
sich  Infiltrate;  in  drei  Fällen  abszedierten  sie.  Verf.  bat  den 
Eindruck,  daß  das  Präparat  das  mächtigste  Antisyphilitikum  ist, 
das  derzeit  existiert.  -  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1910, 
Nr.  52.)  q. 

* 

88.  Die  Bahnen  des  “  Ges  i  cli  ts  au  sdr  u  ck  es.  Von 
Prof.  Dr.  Kirchhof f,  Direktor  der  Provinzial-Irrenanstalt  bei 
Schleswig.  Verf.  reproduziert  in  der  vorliegenden  Abhandlung 
einen  Abschnitt  aus  einer  größeren  Arbeit  über  den  Gesichtsaus¬ 
druck  beim  Gesunden  und  Kranken  und  über  seine  Bahnen.  Er 
vertritt  die  Berechtigung,  einheitliche  Bahnen  für  den  Gesichts¬ 
ausdruck  aus  Gehirn,  Rückenmark  und  Nervensystem  auszulösen, 
wie  dies  tier  Fall  ist  für  eine  einheitliche  Sprachbahn.  Selbst¬ 
verständlich  konnte  diese  Studie  nicht  dazu  führen,  mit  Sicher¬ 
heit  eine  mimische  Bahn  als  etwas  besonders  Abgegrenztes  fest¬ 
zustellen.  Die  hypothetische  mimische  Bahn  wird  in  der  Be¬ 
trachtung  des  Verfassers  in  die  zwei  Strecken  einer  zentri¬ 
petalem  und  einer  zentrifugalen  Leitung  zerlegt,  welche  durch  die 
Bulbuskerne,  Stammganglien  und  Hirnrinde  hin  und  zurück  ver¬ 
laufen.  Als  typischer  Vertreter  der  zentripetalen  Beeinflussungen 
des  Gesichtsausdruckes  wird  die  Trigeminusbahn,  angeführt,  wäh¬ 
rend  als  typische  zentrifugale  Leitungen  die  Fazialisbahnen  an¬ 
gesehen  werden,  obwohl  hier  auch  andere  Leitungen,  wie  vor  allem 
die  Okulomotoriusbahn  den  Gesichtsausdruck  vermitteln.  Die  Be¬ 
ziehungen  des  letzteren  zu  anderen  Augenmuskelnerven  wurden 
beiseite  gelassen,  um  die  ganze  Sache  nicht  allzu  sehr  zu  ver¬ 
wickeln.  Verf.  prüft  dann  noch  seine  Anschauungen  an  der 


Hand  der  pathologischen  Anatomie  und  unterzieht  schließlich, 
von  der  Rinde  ausgehend,  die  zentrifugalen  Bahnen  einer  Betrach¬ 
tung.  Vieles  in  der  sehr  interessanten  Arbeit  ist  und  bleibt 
Hypothese,  manches  ist  willkürlich  ausgelegt,  manches  Neben¬ 
gebiet  auch  wohl  absichtlich  vernachlässigt.  Dennoch  muß  cin- 
geräumt  werden,  daß  in  der  Arbeit  einige  neue  Gesichtspunkte 
zur  Erkenntnis  des  Gesichtsausdruckes  enthalten  sind,  die  viel¬ 
leicht  zu  weiteren  Studien  anregen.  —  (Archiv  für  Psychiatrie 
und  Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  H.  3.)  S. 

* 

89.  Eine  einfache  Methode  zur  Herstellung  von 

Emulsionen  des  D  i  oxy  d  i  am i d  0  ars  enob  en z  ols.  (Ehr¬ 
lich).  Von  Dr.  S.  Jessner  in  Königsberg  i.  Pr.  In  einem 
kleinen  sterilen  Mörser  wird  die  betreffende  Hatamenge  fein 
verrieben,  dann  die  vierfache  Menge  einer  sterilen,  gesättigten 
(zirka  8%igen)  Lösung  von  Natron  bicarbonicum  übergossen. 
Die  Mischung  braust  unter  Kohlensäureentwicklung  auf  und  wird 
bei  fernerem  sorgsamen  Reiben  zu  einer  feinsten  Emulsion,  die 
neutral  oder  spurweise  alkalisch  ist.  Sodann  füllt  man  noch 
sterile  physiologische  Kochsalzlösung  in  der  fünffachen  Menge 
des  Heilmittels  auf  und  hat  eine  fertige  10°/oige  Emulsion.  Bevor 
man  sie  in  die  Spritze  aufzieht,  verreibt  man  die  Mischung  noch 
einmal.  Die  Formel  würde  demnach  zu  lauten  haben:  Arseno- 
benzol  (Ehrlich)  1-0,  tere  exactissime  cum  Solut.  Natr.  bicarb, 
satur.  steril.  4-0,  ut  fiat  emulsio;  dein  adde:  Solut,  Natr.  chlorat. 
physiol,  steril.  5-0.  Wenn  man  diese  Formel  als  Magistralformel 
dem  Apotheker  in  die  Hand  gibt,  dann  verschreibt  der  Arzt  ein¬ 
fach :  Rp.  Emulsio  Arsenobenzol  (Ehrlich)  form,  magistr.  0-6: 6-0, 
recenter  para;  iS.  Zur  Injektion.  Der  Verf.  rät  dringlich,  von 
dieser  außerordentlich  einfachen  Herstellungsweise  nicht  abzu¬ 
weichen,  nicht  etwa  Natr.  biearb. -Lösung  und  Kochsalzlösung 
gleichzeitig  zuzusetzen,  die  Emulsion  wird  dann  nicht  so  fein. 
Die  Schmerzhaftigkeit  während  und  nach  der  Injektion  (auch 
am  vierten  bis  fünften  Tage)  ist  keine  große,  zumal  wenn  der 
Pat.  im  Bette  bleibt.  Ausnahmsweise  treten  stärkere  Schmerzen, 
derbere  Infiltrationen  usw.  auf.  Die  Wirkung  ist  die  bekannt  gute. 
Ehrlich  sprach  die  Befürchtung  aus,  diese  Emulsion  könnte 
toxischer  wirken,  da  sie  eine  ganz  kleine  Spur  weniger  hell¬ 
gelb  ist  als  die  nach  Wechselmann  verarbeitete.  Aber  diese 
Befürchtung  hat  sich  bei  der  Anwendung  am  Krankenbett  als 
grundlos  erwiesen,  ln  einem  mit  Watte  verschlossenen  Reagenz¬ 
glas  hält  sich  diese  Emulsion  viele  Tage  lang  tadellos.  —  (Me¬ 
dizinische  Klinik  1910,  Nr.  49.)  E.  F. 

* 

90.  Festrede, 'gehalten  am  19.  Oktober  1910  zur 
1.00jährigen  Jubiläumsfeier  der  Gesellschaft  der 
Aerzte  des  Kantons  Zürich.  Vom  Präsidenten  der  Gesell¬ 
schaft  Dr.  C.  Hauser  in  Stäfa.  Ein  Gang  durch  die  Geschichte 
der  von  Dr.  Joh.  Heinrich  Rahn  am  7.  Mai  1810  begründeten 
Gesellschaft  der  Aerzte  des  Kantons  Zürich  zeigt  bemerkenswerter¬ 
weise,  daß  nicht  diejenigen  Perioden  der  Gesellschaft  die  höchste 
Blüte  gebracht  haben,  wo  sie  ausschließlich  mit  rein  medizini¬ 
schen  Fragen  sich  beschäftigte,  sondern  jene,  wo  sie  sich,  von 
Einseitigkeit  fernhaltend,  mit  der  Wissenschaft  und  den  Anforde¬ 
rungen  der  Zeit  befaßte.  Die  Geschichte  der  Gesellschaft  fordert 
die  Züricher  Aerzte  geradezu  auf,  auch  heute  und  fernerhin 
alle  Fragen,  die  den  Aerztestand  angehen,  in  den  Kreis  ihrer 
Verhandlungen  zu  ziehen.  Und  so  gibt  denn  Hauser  der 
Zürcher  Aerztegesellschaft  zum  Antritt  des  zweiten  Jahrhunderts 
folgende  Wünsche  auf  den  Lebensweg:  Sie  möge  stets  die  Wissen¬ 
schaft  bochhalten  und  stets  ihre  Aufgabe  darin  erblicken,  ihren 
Mitgliedern  alles  das  zu  bieten,  was  sie  befähigen  kann,  auf  der 
Höhe  ihrer  Aufgabe-  zu  bleiben.  Sie  möge  die  Kollegialität  unter 
ihren-  Mitgliedern  fördern ;  der  Arzt  soll  in  seinem  Kollegen 
nicht  den  Konkurrenten,  sondern  den  Mitarbeiter  in  seinem 
schönen  Berufe  erblicken.  Sie  möge  die  Interessen  des  A erz te¬ 
stend  es  überall  wahren,  wo  immer  es  nötig  ist  und  für  ihre 
Mitglieder  einen  Halt  bilden  in  den  äußeren  Schwierigkeiten  des 
Berufes.  Vor  allem  aber  möge  sie  die  Interessen  der  leidenden 
Menschheit  bochhalten ;  jedes  einzelne  Mitglied  möge  seine  ganze 
Kraft  daran  setzen,  für  die  Verhütung  der  Krankheiten,  die  Hilfe¬ 
leistung  bei  Kranken  und  Unglücklichen,  Hebung  der  Volks¬ 
wohlfahrt,  Aufklärung  und  Belehrung  des  Volkes  zu  wirken. 


Nr.  4 


189 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Diese  schönen,  aber  schweren  Aufgaben  zu  lösen  durch  ein 
treues  Zusammenarbeiten  des  ganzen  Standes,  dies  zu  ermög¬ 
lichen,  ist  der  Zweck  der  Gesellschaft  der  Aerzte  des  Kantons 
Zürich.  Sollten  nicht  auch  andere  Gesellschaften  von  ’  Aerzten 
den  gleichen  Zweck  verfolgen?  —  (Korrespondenzblatt  für 
Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg.,  Nr.  30.)  K.  S. 

* 

91.  G  eber  eine  Flexnerdy  se-nterie-epidiem  ie  in 
einem  Spitale,  bei  welcher  die  Uebertragung  der 
Keime  von  der  Spitalsküche  mitt  eis  der  E ßgesch  ir  in¬ 
ert'  o lg te.  Von  Dr.  phil.  et  mod.  Bruno  Bussow,  Assistent 
am  hygienischen  Institut  in  Graz.  Zwei  kleine  Geschwister  im 
Alter  von  vier  und  sieben  Jahren  wurden  in  die  Isolierabteilung 
eines  Grazer  Krankenhauses  wegen  Dysenterieverdacht  einge¬ 
liefert.  Wegen  der  Jugend  der  Patienten  wurde  die  Mutter  mit 
aufgenommen.  Da  nach  den  klinischem  Befunden  berechtigter 
Verdacht  auf  Dysenterie  vorlag,  wurde  der  Stuhl  des  erster 
krankten  Kindes  ins  hygienische  Institut  behufs  bakteriologi¬ 
scher  Untersuchung  eingeschickt.  Es  wurde  das  Bacterium  dysen- 
teriae  FJexner  isoliert.  Dieselben  Bazillen  wurden  auch  im 
Stuhle  des  zweiten  Kindes  nachgewiesen.  Nun  wurde  auch  der 
Stuhl  der  Mutter  untersucht  mit  dem  interessanten  Ergebnis,  daß 
in  demselben  enorme  Mengen  von  Flexner  sehen  Dysenterie¬ 
bazillen  gefunden  wurden.  Nach  14tägigem  Spitalsaul  enthalt 
wurden  die  Stühle  aller  drei  Patienten  neuerdings  untersucht 
und  da  der  Befund  ein  negativer  war  und  auch  klinisch  keine 
Krankheitssymptome  mehr  bestanden,  wurden  die  Patienten  einige 
Tage  darauf  gesund  aus  der  Spitalsbehandlung  entlassen.  Zwölf 
Tage  später  erkrankten  plötzlich  2  Patienten  der  Männerabteilung 
und  eine  Frau  unter  den  ausgesprochensten  Symptomen  der  Dysen¬ 
terie.  Es  war  dies  um  so  auffallender,  als  sämtliche  Patienten 
sich  bereits  seit  mehreren  Wochen  wegen  anderer  Leiden  im 
Spitale  befanden  und  sowohl  untereinander  als  auch  mit  der 
Außenwelt  nicht  verkehrten.  In  allen  Stühlen  wurde  Bacterium 
dysenteriae  Flexner  nachgewiesen.  Verf.  bemerkt  noch,  daß-  die 
Männer-  und  Frauenabteilungen  vollkommen  voneinander  getrennt 
sind,  ihr  eigenes  Wartepersonale  besitzen,  so  daß  eine  direkte 
Kontaktinfektion  mit  Sicherheit  ausgeschlossen  werden  konnte. 
Durch  die  eingeleite-ten  Nachforschungen  stellte  sich  heraus,  daß 
eine  Spitalköchin  vor  14  Tagen  an  heftigen  Diarrhöen  gelitten, 
jetzt  sich  aber  wieder  wohl  fühle.  Diese  Köchin  und  die  Wär¬ 
terin,  welche  kurz  vorher  die  Dysenteriekranken  gepflegt  hatte, 
wurden  isoliert  und  ihre  Stühle  zur  Untersuchung  ins  hygieni¬ 
sche  Institut  gesandt.  Aus  dem  Stuhle  der  Spitalsköchin  -wurde 
das  Bacterium  dysenteriae  Flexner  isoliert,  der  Stuhl  der  V  äl¬ 
terin  lieferte  ein  negatives  Resultat.  Die  weiteren  Nachforschungen 
ergaben  nun,  daß  die  betreffende  Köchin,  die  sonst  nur  Mehl¬ 
speisen  für  die  zweite  Klasse  bereitete,  zu  jener  Zeit  ausnahms¬ 
weise  für  die  später  an  Dysenterie  erkrankten  Patienten,  welchen 
eine  leichtere  Kost  verordnet  worden  war,  gekocht  hatte-,  deren 
Eügeschirre  in  die  Hand  nehmen  und  füllen  mußte.  Ueberdies 
war  sie  auch  mit  dem  Geschirre  der  Isolierabteilung  in  Be¬ 
rührung  gestanden.  Es  kam  also  hier  im  unmittelbaren  An¬ 
schlüsse  an  von  außen  eirige-brachte  Dysenteriefälle  zu  einer 
Hausepidemie,  deren  einzige  erkennbare  Kontaktmöglichkeit  durch 
die  Eßgeschirre  in  die-  Küche,  und  von  hier  aus  wieder  durch 
Eßgeschirre  in  die  einzelnen  sonst  vollkommen  voneinander  ge¬ 
trennten  Abteilungen  führt.  Diese  Kette  der  Kontakte-  wird  ge¬ 
schlossen  durch  jene  Köchin,  welche  mit  dem  Eß-geschirr  der 
Isoli-erabteilung  in  Berührung  kam,  sich  wahrscheinlich  an  diesem 
infizierte  und  ebenfalls  auf  dem  Wege  der  Eßgeschirre-  die  In¬ 
fektion  weiterverbreitete.  Für  die  Richtigkeit  dieser  Annahme 
spricht,  daß  zu  jener  Zeit  in  Graz  keine  Dysenterieepidelmie 
herrschte-,  demnach  -eine  andere  Infektionsquelle  für  die  Erkran¬ 
kung  der  Köchin  kaum  anzunehmen  ist,  ferner  daß  mit  der 
Isolierung  dieser  erkrankten  Köchin  auch  die  Hausepidemie  im 
Spitale  mit  einem  Schlage  erloschen  war,  und  keine  neuen  Fälle 
im  Verlaufe  mehrerer  Monate  zur  Beobachtung  gekommen  sind. 
Aus  diesem  Grunde  erscheint  dem  Verf.  die  Forderung  nach 
einer  eigenen,  nur  für  das  Isolierhaus  dienenden  Küche  für 
alle  größeren  Spitäler  eine  nur  zu  berechtigte  zu  sein.  (Mün¬ 
chener  mediz.  Wochenschrift  1910,  Nr.  52.)  ß. 

* 


92.  Neue  klinische  und  anatom  o-kli  irische  Stu¬ 

dien  über  Hirngeschwülste  und  Abszesse.  Von  Pro¬ 
fessor  G.  Mingäzzini  in  Rom.  Verf.  hatte  in  den  letzten  vier 
Jahren  Gelegenheit,  einige  zwanzig  Fälle  von  Hirntumoren  und 
-abszessen  zu  studieren  und  bis  auf  einen  Fall  bis  zum  Tode 
zu  verfolgen.  Diese  Fälle  finden  nun  ausführliche  Beschreibung 
und  nach  jeder  Krankengeschichte-  sind  epikritische  Erwägungen 
angeschloss-en.  Der  Zweck  der  Arbeit  ist,  zu  zeigen,  wie  schwierig 
die  Frage  der  genauen  Lokalisierung  einer  Neubildung  im  Gehirne 
ist;  und  doch  ist  diese  Frage  von  solcher  Wichtigkeit!  ln  mehreren 
der  Fälle  Mingazzinis  hatte  der  chirurgische  Eingriff  ein  nega¬ 
tives  Resultat,  weil  die  Trepanationsstelle  mit  dem  Sitze  der 
Geschwulst  nicht  vollkommen  korrespondierte.  Unter  den  49  be¬ 
schriebenen  Tumoren  finden  sich  acht  Schläfenlappentumoren, 
was  -den  Verfasser  in  die  Lage  setzte,  der  Symptomatologie  der 
Schläfenlappentumoren  näher  zu  treten.  — -  (Archiv  für  Psy¬ 
chiatrie  und  Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  H.  3.)  S. 

* 

93.  Ueber  die  Wirkung  intravaskulärer  Injek¬ 

tionen  frischen,  defibrinierten  Blutes  und  ihre  Be¬ 
ziehungen  zur  Frage-  der  Transfusion.  Von  Dr.  J.  Mol¬ 
dovan,  k.  u.  k.  Regimentsarzt.  Mehrere  Tierversuche,  welche 
der  Verfasser  im  Bakteriologischen  Laboratorium  des  k.  u.  k. 
Militärsanitätskomitees  in  Wien  (Vorstand:  Privatdozent  Regi¬ 
mentsarzt  Dr.  R.  Doerr)  anstellte,  führten  zu  folgenden  Ergeb¬ 
nissen  :  Die  intravenöse  Injektion  frischen,  defibrinierten  Blutes 
vermag  bei  Tieren  derselben  oder  einer  anderen  Art  sofortigen 
Tod  unter  anaphylaxieähnlichen  Erscheinungen  (hochgradigste 
Dyspnoe,  heftige  Krämpfe  usw.)  hervorzurufen.  Die-  Todesursache 
ist  eine  intrakardiale,  i-esp.  intravaskuläre  Blutgerinnung.  Vor¬ 
behandlung  mit  Hirudin  wirkt  antagonistisch.  Dieselbe  Wirkung 
wie  frisches  defibriniertes  Blut  haben  unter  bestimmten  Ver¬ 
hältnissen  frisches  Serum  oder  serumfreie,  frische  Erythrozyten. 
Die  gerinnungserregende  Wirkung  ist  labil  und  verschwindet  nach 
etwa  einer  halben  Stunde.  Die  Transfusion  defibrinierten,  homo¬ 
logen  Blutes  ist,  zu  kurze  Zeit  nach  der  Blutentnahme  ausgeführt, 
als  ein  gefährlicher  Eingriff  zu  bezeichnen.  —  (Deutsche  medi¬ 
zinische  Wochenschrift  1910,  Nr.  52.)  E.  F. 

* 

94.  (Aus  dem  Waisenhaus  und  Kinderasyl  der  Stadt  Berlin. 

Oberarzt:  Prof.  Dr.  Finkeis  t-ein.)  Zur  Frage  des  Koch- 

saLzf ieb-ers  beim  Säugling.  Von  Dr.  H.  Nothmann,  Mün¬ 
chen.  Die  zuerst  von  F  inkeis  tein  und  L.  F.  Meyer  gemachte 
Angabe,  daß  orale  Zufuhr  von  Kochsalz  beim  Säugling  Fieber 
hervorruft,  ist  seither  von  allen  Autoren  bestätigt  worden,  die  sich 
mit  der  notwendigen  Gründlichkeit  und  Objektivität  mit  dem 
Gegenstände  befaßt  haben,  wie  Schloß,  Rietschel,  Koppe, 
Schloßmann  u.  a.  Meinungsverschiedenheiten  bestehen  nur  be¬ 
treffs  der  Häufigkeit  und  Gesetzmäßigkeit  dieser  Erscheinung. 
Offenbar  sind  in  diesen  Meinungsverschiedenheiten  Unterschiede 
in  der  Methodik  und  des  Materiales  schultragend.  Nothmann 
unternahm  es  infolgedessen  abermals,  Studien  darüber  anzustellen, 
unter  welchen  Bedingungen  das  Salzfieber  eigentlich  auftritt. 
Hiebei  fand  er,  da,ß  die-  Kochsalzreaktion  an  seinem  Unter¬ 
suchungsmaterial  bei  -einer  Gabe  von  3  g  auf  100  g  Wasser  sich 
nicht  auf  die  ersten  drei  Lebensmonate  beschränkt,  sondern  dar¬ 
über  hinaus  vorkommt,  bis  zum  Ende  des  ersten  Lebensjahres 
und  darüber,  allerdings  in  fallender  Häufigkeit.  Zu  den  Sym¬ 
ptomen  der  Kochsalzreaktion  gehört  nicht  allein  die  am  meisten 
beachtete  Temperaturerhöhung  (selten  Temperaturerniedrigung), 
sondern  auch  eine  Aenderung  der  Darmfunktion  und  bei  tetani- 
sehen  Kindern  auch  eine-  Beeinflussung  des  Nervensystems. 
Sichergestellt  ist  der  Einfluß-  des  Alters,  des  Zustandes  des’  Darm¬ 
kanales  und  des  Nervensystems  auf  das-  Zustandekommen  der 
Reaktion.  Außerdem  bedingen  sicherlich  noch  andere  unbekannte 
individuelle  Faktoren  die  Reaktionsfähigkeit.  Die  Art  dei  Li- 
nährung,  die  Schnelligkeit  der  Resorption  sind  in  ihrer  Mitwii- 
kung  bei  der  Erzeugung  des  Salzfiebers  nicht  aufgeklärt.  Jedenfalls 
ist  die  Kochsalzreaktion  nicht  zu  allen  Zeiten  unveränderlich, 
sondern  schwankt  nach  dem  Zustande  des  Kindes  zur  Zeit  dei 
Prüfung,  dah-er  auch  die  Unterschiede  in  den  Reaktionsstati- 
stik-e-n.  —  (Zeitschrift  für  Kinderheilkunde  1910,  Bd.  1,  H.  1.) 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  i 


140 


9ö.  (Aus  dev  medizinischen  Klinik  zu  Leipzig.) -Beitrag 
zur  Klinik  der  durch  den  Bazillus  Friedländer  er¬ 
zeugten  Sepsis.  Von  Fr.  Roily.  Verl,  berichtet  über  die 
in  der  Leipziger  medizinischen  Klinik  in  der  letzten  Zeit  vor¬ 
gekommenen  Fälle  von  Allgemeininfektion  durch  den  Fried- 
Lind  ersehen  Bazillus.  Die  meisten  bis  jetzt  veröffentlichten 
Lalle  gehen  von  pneumonischen  Herden  aus.  Es  sind  18  Fälle. 
Sieben  in  der  Literatur  beschriebene  Fälle  von  Friedländersepsis 
sind  kryptogenetischen  Ursprungs.  Fünf  Fälle  gingen  von  Erkran¬ 
kungen  der  Leber  und  Gallenwege  aus.  Zwei  Fälle  von  Erkran¬ 
kungen  des  Urogenitalsystems.  Den  Fällen  von  W eichsclbaum 
und  Brunner  ging  eine  Otitis  media  voraus.  Im  lebenden  Blute 
ist  der  Friedländerbazillus  im  ganzen  nur  in  zwölf  von  den  ge¬ 
nannten  Fällen  nachgewiesen  worden.  Bei  den  übrigen  Fällen 
hat  erst  die  Sektion  den  Nachweis  erbracht.  Von  den  vier 
detailliert  mitgeteilten  Fällen  des  Verfassers  sind  drei  zweifel¬ 
los  Fälle  von  Friedländersepsis,  da  die  Blutuntersuchung  während 
des  Lebens  positiv  war.  Da  aber  auch  im  vierten  Falle  im 
Schleim  des  Uterus  und  in  den  erkrankten  Lungenpartien. reichlich 
Friedländerbazillen  nachgewiesen  wurden,  so  nimmt  Verf.  auch 
in  diesem  Falle  eine  Allgemeininfektion  mit  dem  Bacterium  Fried¬ 
länder  an.  Als  Ausgangspunkt  der  Sepsis  im  ersten  Falle  ist  der 
Uterus  zu  betrachten,  indem  die  Patientin  am  26.  Februar  1910 
einen  fieberhaften  Abort  mit  starkem  Blutverluste  durchmachte', 
am  1.  März  fieberfrei  war,  sich  aber  von  da  ab  nicht  mehr 
wohl  fühlte,  bis  am  23.  März  Ikterus  auftrat,  wahrscheinlich 
durch  Verschleppung  der  Friedländerbazillen  aus  dem  Uterus 
oder  den  Parametrien.  Als  Ausgangspunkt  der  Allgemeininfektion 
im  zweiten  Falle  kommt  ein  Ulkus  in  der  Damm-  und  Kreuz¬ 
beingegend  in  Betracht,  in  dessen  Eiter  vorwiegend  Friedländer¬ 
bazillein  gefunden  wurden.  Hervorzuheben  ist  noch,  daß  in  diesem 
Falle  auch  eine  rezente  Endokarditis  der  Mitralklappe  durch  die 
Friedländerbazillein  hervorgerufen  wurde.  Dies  ist  um  so  sicherer, 
als  das  Herz  hei  der  Krankenhausaufnahme  völlig  normal  be¬ 
funden  wurde.  Da  auch  im  ersten  Falle  eine  Endokarditis  mi- 
tralis  bestand,  so  nimmt  Verf.  an,  daß  der  Friedländerbazillus 
für  sich  allein  eine  Endokarditis  mitralis  erzeugen  kann.  Damit 
befindet  sich  Verf.  im  Gegensätze  zu  Weltmann.  Zu  betonen 
ist  noch,  daß  die  Friedländersepsis  im  ersten  Falle  in  Heilung 
überging,  was  insofern  sehr  wichtig  ist,  als  alle  bis  jetzt  in  der 
Literatur  beschriebenen  Fälle  von  sicherer  Friedländersepsisi  mit 
dem  Tode  geendigt  haben.  Als  Ausgangspunkt  der  Sepsis  im 
dritten  Falle  ist  die  Otitis  media  anzusehen,  welche  zu  einer 
eitrigen  Meningitis  und  zu  einer  Allgemeininfektion  führte.  Im 
vierten  Falle  gelangten  die  Friedländerhazillen  offenbar  vom 
puerperalen  Uterus  aus  in  den  Organismus,  führten  zu  para-  und 
pcrimetritischen  Entzündungen  und  gleichzeitig  zu  einer  Infil¬ 
tration  des  rechten  Unterlappens  der  Lunge.  Die  Unterscheidung 
von  anderen  Sepsisfällen  ist  selbstredend  nur  auf  bakteriologi¬ 
schem  Wege  möglich.  Wie  bei  den  anderen  septischen  Erkran¬ 
kungen  treten  auch  hier  Metastasen  in  der  Leber,  in  den  Nieren 
und  Hirnhäuten,  in  Gelenken,  im  Ohr  auf.  Auch  eine  hämor/- 
rhagische  Form  scheint  vorzukommen  (Etienne,  Banti,  von 
Düngern).  Zur  Stellung  der  Diagnose  am  Krankenbette  bleibt 
also  nichts  anderes  übrig,  als  eine  größere  Menge  Blutes1  den 
Patienten  steril  aus  einer  Körpervene  zu  entnehmen  und  dasselbe 
zu  untersuchen.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  1.) 

G. 

* 

96.  (Aus  der  lrrenabteiluug  des  Bürgerhospitales  Stutt¬ 
gart.  —  San. -Rat  Dr.  Fauser.)  Zur  Frage  des  induzierten 
Irreseins,  nebst  einem  kasuistischen  Beitrag  von  S.  Leibo- 
witz,  Assistenzarzt.  Nach  einer  historischen  Einleitung  bringt 
Verfasser  in  seiner  Dissertationsschrift  einen  Fall  von  induziertem 
Irresein,  beobachtet  au  der  Irrenabteilung  des  Stuttgarter  Bürger- 
hospitales.  Verf.  kommt  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  Uebertragung 
eines  psychotischen  Symptomcnkomplexes  von  einer  Person  auf 
eine  andere  nur  hei  angeborener  oder  erworbener  Prädisposition 
des  sekundär  Erkrankten  und  unter  begünstigenden  Bedingungen 
(enges  Zusammenleben,  Seelen harmonie  usw.)  möglich  ist,  wobei 
zu  bemerken  ist,  daß  die  Prädisposition  durch  den  Primär'- 
erkrankten  selbst  geschaffen  werden  kann.  Bei  echtem,  indu¬ 
ziertem  Irresein  erfolgt  eine  Transplantation  der  Wahnideen, -deren 


Korrekturmöglichkeit  von  dem  Intelligenzgrade  des  sekundär  Er¬ 
krankten  und  von  äußeren  Bedingungen  (besonders  rechtzeitige 
Trennung)  abhängt.  Leidet,  der  primär  Erkrankte  an  Dementia 
praecox  paranoides,  so  werden  gewisse  Symptome,  wie  Marii- 
riertheit,  Stereotypien,  höchstens  temporär  übertragen,  häufiger 
entsteht  beim  sekundär  Erkrankten  das  Bild  der  Paranoia  chro¬ 
nica.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Neurologie,  ßd.  47,  H.  3.) 

S, 

* 

97.  (Aus  der  experimental  -  biologischen.'  Abteilung  des 
kgl.  Patholog.  Instituts  der  Universität  Berlin.)  Ueber  Heilungs¬ 
versuche  bei  einem  Rattens a r k o m.  Von  Prof.  Doktor 
F.  Blumenthal.  Unter.  Hinweis  auf  eigene  und  fremde  Ver¬ 
suche,  bei  welchen  durch  Impfung  von  Tieren,  resp.  von  Men¬ 
schen  mit  deren  eigenen  oder  gleichartigen  Geschwulstmassen 
einige  Erfolge  erzielt  wurden,  berichtet  Verf.  über  zahlreiche 
neuere  Versuche,  welche  er  an  Ratten  mit  einem  Spindeizellen¬ 
sarkom  von  großer  Virulenz  und  Uebertr a gungsfäh i gkei t  anstellte. 
Ein  solcher  Tumor  geht  hei  Ratten  fast  ausnahmslos  auf,  wächst 
in  drei  bis  vier  Wochen  zur  Größe  eines  Hühner-  bis  Gänse- 
eins  heran,  perforiert  schließlich  die  Haut,  wird  nekrotisch,  so 
daß  die  Ratten  sterben.  Er  zeigt  wenig  Neigung  zur  Metastasen¬ 
bildung.  Da  Ratten  mit  einem  hühnerei-  bis  gänseeigroßen  Sarkom 
noch  wochenlang  leben  können,  schienen  sie  zu  Heilversuchen 
geeignet  zu  sein,  zumal  spontaner  Rückgang  bei  dieser  Größe 
der  Tumoren  nicht  beobachtet  wurde.  Er  ging  dabei  in  folgender 
Weise  vor:  Die  frisch  entnommene  Tumormasse  wurde  mit 
einer  Schere  zerschnitten  und  dann  in  einem  Mörser  mit  Leitungs- 
wasser,  das  mit  Chloroform  gesättigt  war,  so  gut  wie  es  ging, 
zerrieben.  Es  wurden  immer  nur  kleine  Mengen  Chloroform¬ 
wasser  genommen  und  mit  dem  Tumor  verrieben,  so  lange,  bis 
sie  mit  Tumormasse  gesättigt  erschienen,  und  dann  in  ein  Gefäß 
gegossen;  im  ganzen  wurde  so  der  Tumor  mit  seinem  drei- 
bis  fünffachen  Volumen  Chloroformwasser  zerrieben  und  schlie߬ 
lich  die  Flüssigkeit  mit  der  Tumormasse  in  ein  Glasgefäßi  ge¬ 
bracht,  auf  je  100  cm3  Flüssigkeit  noch  zehn  Tropfen  Chloro¬ 
form  zugesetzt,  die  Flasche  mit  einem  Glasstöpsel  verstopft  und 
mit  der  Hand  kräftig  geschüttelt;  dann  wurde  das  ganze  in 
einen  Brutschrank  von.  39°  C  gestellt,  täglich  ein-  bis  zweimal 
kräftig  geschüttelt  und  so  drei  Tage  lang  dort  stehen  gelassen. 
Durch  die  auf  diese  Weise  im  Brutschrank  vor  sich  gehende 
Autolyse  des  Tumors  wird  die  Ue  bertragungsfähigkei  t 
mit  absoluter  Sicherheit  aufgehoben.  Das  Autolysat 
(die  von  dem  Rückstand  abgegossene  Flüssigkeit)  ist  trüb  und 
enthält  Flocken,  welche  miteingespritzt  werden.  Aus  seinen  14, 
kurz  mitgeteilten  Versuchen  geht  hervor:  1.  Das  dreitägige  Auto¬ 
lysat  eines  Spindelzellemsarköms  der  Ratte  besitzt  nicht  die  Fähig¬ 
keit,  Tumoren  zu  erzeugen.  2.  Dieses  Autolysat  ist  imstande, 
durch  eine  einzige  Einspritzung  gleichartige  Tumoren  von  der 
Größe  eines  Tauben-  bis  Hühnereies  zum  Rückgang  zu  bringen. 
8  bis  14  Tage  nach  der  Einspritzung  ist  der  Tumor  auf  ein 
Drittel  seines  früheren  Volumens  oder  noch  stärker  zurück¬ 
gegangen.  Der  weitere  Rückgang  erfolgt  dann  meistens  langsamer. 
Harte  Tumoren  scheinen  widerstandsfähiger  als  weiche  zu  sein. 
(In  einzelnen  Fällen  schwand  der  Tumor  ganz,  in  anderen  Fällen 
war  aber  keine  Veränderung  desselben  zu  konstatieren.)  3.  Ein 
erneutes  Wachstum  eines  einmal  zurückgegangenen  Tumors  ist 
bisher  nicht  beobachtet  worden.  4.  Die  Autolysata  verloren 
bereits  nach  achttägigem  Stehen  auf  Eis  an  Wirksamkeit,  nach 
drei  Wochen  war  ihre  Wirksamkeit  völlig  erloschen.  Die  Unter¬ 
suchungen  werden  fortgesetzt,  über  die  histologischen  Befunde 
soll  später  berichtet  werden.  Da  wiederholte  Einspritzungen 
auch  leicht  anaphylaktisch©  Erscheinungen  mit  Eingehen  der 
Versuchstiere  erzeugen  können,  so  legt  Verf.  großen  Wert  dar¬ 
auf,  daß  er  schon  durch  eine  einzige  Einspritzung  autolysierter 
Tumoren  erhebliche  Rückgänge  der  Geschwülste  erzeugen  konnte. 
Er  ist  schließlich  bemüht,  die  Methodik  noch  zu  verbessern. 
—  (Mediz.  Klinik  1910,  Nr.  50.)  E.  F. 

* 

98.  Der  Blutdruck  im  Kindesalter.  Von  Doktor 
Walter  Kaupe,  Spezialarzt  für  Kinderkrankheiten  in  Bonn.  Die 
Bestimmung  des  Blutdruckes  im  Kindesalter  ist  ein  praktisches 
Hilfsmiltel  (sowohl  in  der  Sprechstunde  als  im  Krankenhaus) 


Kr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


zur  Differentialdiagnose  der  Nephritis  und  der  orthotischen  Albu¬ 
minurie,  da  nach  Lang  st  ein  in  keinem  Falle  or  Lliostatischer 
Albuminurie  der  Blutdruck  erhöht  ist.  Welcher  Blutdruck  ist 
aber  iin  Kindesalter  als  erhöht  und  anderseits  als  normal  an¬ 
zusehen?  Diesbezüglich  stellte  nun  Kaupe  an  144  Kindern 
über  drei  Jahren  Untersuchungen  an.  Von  den  Untersuchungen 
jüngerer  Kinder  mußte  er  absehen,  da  wegen  Unruhe  derselben 
die  Beobachtungen  nicht  exakt  angestellt  werden  konnten.  Die 
Kinder  waren  gesund,  jedenfalls  litten  sie  nicht  an  den  Blut¬ 
druck  verändernden' Krankheiten.  Zunächst  zeigte  sich  bei  den 
Bestimmungen  des  Blutdruckes,  daß  bei  aufgeregten  Kindern 
der  erhaltene  Wert  den  bei  anderen  Kindern  üblichen  oft  ganz 
erheblich  übertrifft,  was  bei  der  Diagnose  natürlich  in  Rechnung 
zu  setzen  ist.  Ja,  einzelne  Kinder  mußten  förmlich  erst  an  die 
Untersuchung  gewöhnt  werden,  da  der  Blutdruck  zunächst  um 
20  bis  30  mm  höher  gefunden  wurde  als  nachher,  wenn  die 
Aufregung  sich  gelegt  hatte.  Im  großen  und  ganzen  schwankten 
die  Durchschnittswerte  zwischen  80  und  100  mm,  wobei  zu  be¬ 
merken  ist,  daß  der  Blutdruck  nach  dein  siebenten  bis  achten 
Jahre  allmählich  zu  steigen  scheint.  Merkwürdigerweise  zeigen 
aber  zwölfjährige  Mädchen  wieder  einen  auffallend  niedrigen 
Blutdruck.  Sonst  konnte  eine  nennenswerte  Differenz  zwischen 
beiden  Geschlechtern  nicht  gefunden  werden.  Die  Blutdruck¬ 
messungen  wurden  mit  dem  Riva- Rocci- Apparat  nach  der 
Methode  von  Strasburger  vorgenommen.  —  (Monatsschrift 
für  Kinderheilkunde  1910,  Bd.  9,  H.  5  und  6.)  K.  S. 

* 

99.  (Aus  der  Pflegeanstalt  Rheinau.  —  Direktor:  Dr.  Ris.) 
Zur  Kasuistik  der  juvenilen  Form  der  amaurotischen 
Idiotie,  mit  h  i  st  op  at.h ol  og  i s ehern  Befund.  Von  Doktor 
J.  Rogalski,  Assistenzarzt.  Ein  in  keinerlei  Weise  belastetes 
Mädchen  bleibt  vom  siebenten  Lebensjahre  ab  ohne  sichtlichen 
Grand  geistig  zurück.  Ungefähr  vor  dem  zehnten  Lebensjahre 
beginnt,  die  Sehschärfe  abzunehmen,  es  wird  Atrophia  nervi 
optici  konstatiert  und  eine  eigentümliche  Makulaaffektion  mit  Pig¬ 
menteinwanderung  in  die  Retina.  Gegen  das  13.  Jahr  Störung  an 
Sprache  und  Gang,  ein  Jahr  später  epileptische  Krämpfe,  dann 
Nystagmus.  Allmähliche  Zunahme  der  angeführten  Symptome,  bis 
die  Kranke  blind,  blöde,  spastisch  gelähmt,  stumm  geworden 
ist.  Allmählich  zunehmender  Marasmus,  Exitus  im  Alter  von 
26  Jahren.  Makroskopisch  läßt  sich  aus  dem  Zustande  des  Ge¬ 
hirns  das  klinische  Bild  nicht  erklären.  Die  mikroskopische 
Untersuchung  hingegen  läßt  einen  elektiven  Schwellungsprozeß 
der  Ganglienzellen  der  Rinde  aller  Gehirnlappen  und.  aller 
Schichten  erkennen,  wodurch  festgestellt  ist,  im  Zusammenhang 
mit  den  klinischen  Symptomen  und  Verlauf  der  Krankheit,  daß 
bei  dem  Falle -diei  juvenile  Form  der  amaurotischen  Idiotie  vor¬ 
lag.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Neurologie,  Bd.  47,  14.  3.) 

S. 

* 

100.  Die  operative  und  spezifische  Behandlung 
der  Nieren-  und  Blasentuberkulose.  Von  Prof.  Doktor 
Hermann  Kümmel  in  Ilamburg-Eppendorf.  Der  Verf.  bespricht 
eingehend  die  Pathologie,  Diagnose  und  den  Verlauf  dieser  Er¬ 
krankungen  und  bekennt  sich  in  therapeutischer  Hinsicht  als 
ein  Anhänger  der  aktiven  chirurgischen  Therapie  bei  der  Nieren¬ 
tuberkulose.  An  der  ersten  chirurgischen  Abteilung  des  Allge¬ 
meinen  Krankenhauses  Hamburg-Eppendorf  wurden  125  Opera¬ 
tionen  wegen  tuberkulöser  Erkrankung  der  Nieren  ausgeführt, 
davon  wegen  Erkrankung  beider  Nieren  7  Nephrotomien,  bei 
einer  Patientin  eine  doppelseitige  Nephrotomie.  Nephrektomien 
wurden  bei  Erkrankung  der  einen  Seite  118  vorgenommen  und 
zwar  vor  Einführung  der  neuen  Untersuchungsmethoden  12  mit 
3  Todesfällen  (Peritonitis,  Embolie,  angeborener  Defekt  einer 
Niere),  nach  Anwendung  des  Ureterenkatheterismus  und  der 
Funktionsprüfungen  106  mit  4  operativen  Todesfällen  (2  Pneu¬ 
monie,  Sepsis,  Myokarditis,  Miliartuberkulose).  Innerhalb  der 
ersten  16  Monate  starben  18,  von  den  überlebenden  84  sind  in 
den  folgenden  zwei  bis  vier  Jahren  9  gestorben,  nach  10  und 
13  Jahren  je  einer,  nach  unbekannter  Zeit  3,  Nachrichten  fehlen 
von  4.  Die  übrigen  leben  und  erfreuen  sich  eines  guten, 
resp.  sehr  guten  Befundes.  Bei  3  Patientinnen  trat  Gravi¬ 
dität  und  Partus  ein,  3  sind  noch  in  Behandlung.  Erste  Nephrek¬ 


tomie  wegen  Nierentuberkulose  1888,  Patientin  lebte  vollkommen 
gesund  noch  vor  wenigen  Jahren,  spätere  Nachrichten  fehlen. 
Verf.  bespricht  sodann  unter  Zugrundelegung  eigener  und  fremder 
Beobachtungen  die  Frage,  ob  die  spontane  Heilung  der  Nieren- 
tuberkulose  möglich  und  einwandfrei  beobachtet  sei  und  zeigt, 
daß  eine  solche  Ausheilung  stets  mit  einer  schv.  eren  Zerstörung 
des  ganzen  Organs,  welche  meint  dem  Verla:  :i<-  desselben  gleich¬ 
kam,  einherging.  Es  entstanden  pyonephritische  Säcke,  in  denen 
wohl  bei  der  Mischinfektion  die  Tuberkelbazillen  durch  die  am 
deren  Bakterien  vernichtet  wurden,  es  blieb  aber  jedenfalls  in 
allen  Fällen  ein  krankes  Organ,  welches  mehrfach  die  Blase 
infizierte,  den  Organismus  als  solchen  schädigte  und  erst  nach 
der  Entfernung  die  Patienten  definitiv  gesunden  ließ.  Diese  Fälle 
lehren  uns  auch,  daß  ein  tuberkelfreier  Urin  nicht  immer  auf 
eine  Gesundheit  beider  Nieren  schließen  läßt,  es  kann 
auch  der  eine  Ureter  verschlossen  und  hinter  dieser 
Striktur  eine  schwer  veränderte  tuberkulöse  oder  jedenfalls 
pyonephritische  Niere  verborgen  sein.  Die  subjektiv  und  objektiv 
zu  konstatierende  Besserung  kann  recht  trügerisch  sein,  mithin 
die  Spontanheilung,  falls  eine  solche  eintritt,  langsam  und  un¬ 
vollkommen  vor  sich  gehen  und  oft  mit  der  gleichzeitigen  In¬ 
fektion  der  Blase  verbunden  sein.  Anderseits  wird  durch  eine 
rechtzeitige  Beseitigung  des  erkrankten  Organs  eine  raschere, 
Heilung  herbeigeführt  als  durch  das  unsichere  Warten  auf  eine- 
scheinbare  und  trügerische  Spontanheilung.  Verf.  bespricht  sodann 
die  medizinische  Behandlung  der  Nierent.uberkulose,  weist  auf 
die  ungünstige  Statistik  Dr.  Blums  aus  der  v.  Pritschen  AU 
teilung  hin  und  berichtet  eingehend  über  die  Tuberkulintherapie 
der  Nrerentuberkulose.  Bei- Kindern  scheinen  die  Resultate  (L  eod- 
h  am -Green,  Karo)  recht  gute  zu  sein,  doch  dürfe  man  nicht 
vergessen,  daß  die  Nierentuberkulose  im  Kindesalter  im  allge¬ 
meinen  relativ  leicht  verlaufe  und  selten  schwere  Erscheinungen 
mache.  Es  gibt  schon  eine  Menge  Fälle,  bei  welchen  Tuberkulin 
genügend  lange  sachgemäß  injiziert  wurde  und  die  später  nephrek- 
tomiert  und  anatomisch  genau  untersucht  werden  konnten 
(Kr  a  einer,  Wildholz).  Verf.  selbst  hat  derartige  Nieren 
viermal  untersucht  und  zeigt,  daß  in  drei  Fällen  von  einer 
Heilung  keine  Rede  war.  Ueberhaupt  ist  der  objektive  wissen¬ 
schaftliche  Nachweis  einer  wirklichen  Heilung  der  Nierentuber¬ 
kulose  durch  die  Tuberkulinbehandlung  in  keinem  Falle  erbracht. 
Den  vorübergehenden  Besserungen,  fast  stets  zu  Beginn  der  Be¬ 
handlung,  folgten  meist  wesentliche  Verschlimmerungen,  bei  der 
späteren  Nephrektomie  sah  man  keine  Anzeichen  einer  beginnen¬ 
den  oder  der  an  einzelnen  Stellen  schon  abgeschlossenen  Hei¬ 
lung,  stets  handelte  es  sich  um  schwerkranke,  tuberkulöse  Nieren. 
Manche,  später,  aber  nicht  rechtzeitig  operierte  Kranke  gingen 
allmählich  unter  großen  Beschwerden  zugrunde.  Tritt  also  nicht 
rasch  ein  deutlich  wahrnehmbarer  Fortschritt  der  anfänglichen 
trügerischen  Besserung  nach  Tuberkulininjektionen  ein,  so  ent¬ 
ferne  man  das  kranke  Organ;  je  früher  es  geschieht,  um  so  gün¬ 
stiger  sind  die  operativen  Resultate,  um  so  zahlreicher  auch  die 
definitiven  Dauerheilungen.  —  (Die  Therapie  der  Gegenwart,  De¬ 
zember  1910.)  E.  F. 

* 

101.  (Aus  der  Kinderpöliklinik  des  Barmherzigenspitales 
in  Budapest.)  Ein  Beitrag  znr  Theorie  des  Salzfiebers. 
Von  Priv.-Doz.  Dr.  P.  Heim  und  Dr.  K.  John.  Nach  zahl¬ 
reichen  Untersuchungen  ist  zurzeit  unwiderleglich  dargetan,  daß 
Natriumsalze  in  ihrer  enteralen  oder  parenteralen  Anwendung 
pyrogen  wirken  können.  Der  pyrogene  Effekt  ist  allerdings  ver¬ 
schieden,  je  nachdem  die  Salze  dem  Organismus  oral  oder  sub¬ 
kutan  zugeführt  werden,  da  im  ersteren  Falle  bei  normalen 
jungen  Säuglingen  meist  3  g  Chlornatrium  in  100  Teilen  Wasser 
zur  Erzeugung  von  Fieber  benötigt  werden,  während  eine  deut¬ 
liche  Fieberreaktion  schon  bei  subkutaner  Einverleibung  von 
20cm3  einer  l%igen  Lösung  erfolgen  kann.  Heim  und  John 
versuchten  experimentell  das  Wesen  und  die  Ursache  des  Salz¬ 
fiebers  zu  klären.  Sie  fanden,  daß  das  Salzfieber  wahrschein¬ 
lich  als  eine  Wärmestauung  aufzufassen  ist,  welche  durch  eine 
vorübergehende  Insuffizienz  der  Hautoberflächen- Wasserverdam- 
pfung  bedingt  ist.  Bestätigung  findet  diese  Annahme  in  den 
Versuchen  von  Schloß.  Gleichzeitig  oral  eingeführtes  Wasser 
wirkt  zweifellos  wieder  temperaturerniedrigend.  Wenn  aber  dem 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


14a» 


Körper  nicht  genügende  Mengen  exogenen  Wassers  zur  Ver¬ 
fügung  stehen  und  er  dazu  gezwungen  wird,  sein  eigenes  Oxy¬ 
dationswasser  zurückzubehalten  und  damit  eine  Herabsetzung 
der  Perspiratio  zustandekommt,  so  bewirkt  der  hydropigene  Ein¬ 
fluß  des  Natriums  dann,  auch  indirekt  eine  Wärmestauung.  Dem 
Kochsalz  antagonistisch  wirkt  Ca  CE,  welches  eine  Zunahme  der 
Perspiratio,  Abnahme  des  Körpergewichtes  und  Hypothermie  zur 
folge  hat.  Vergleichsweise  sei  daran  erinnert,  daß  während 
des  Fiebers  bei  der  kruppösen  Pneumonie  im  Harne  sehr  wenig 
Kochsalz  ausgeschieden  wird.  Als  Vorbote  der  Krisis  erscheint 
aber-  das  Kochsalz  wieder  im  Urin  und  bald  darauf  tritt  unter 
Schweißausbruch  Entfieberung  ein.  —  (Monatsschrift  für  Kinder¬ 
heilkunde  1910,  Bd.  9,  Nr.  5  und  6.)  K.  S. 

* 

102.  Nervenstörungen  und  Salvarsan  beh  and  lung. 

\on  Prof.  Paul  Ehrlich.  Die  Frage  nach  den  neurotoxischen 
Eigenschaften  des  Mittels  steht  im  Vordergründe  des  Interesses. 
Verf.  stellt  fest,  daß  im  Falle  Fingers,  in  welchem  ein  vorher 
gesundes  Auge  nach  einer  Injektion  von  Salvarsan  von  beginnender 
Sehnervenatrophie  befallen  wurde  (der  einzige  Fall  unter  25.000 
bis  30.000  bisher  behandelten),  der  Kranke  früher  Arsenkuren 
durchmachte  und  es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  daß  diese  eine 
Ueberempfindlichkeit  des  Auges  hervorgerufen  haben.  Die  an  der 
Klinik  Ur  bants  ch  its  ch  nach  Behandlung  mit  „606“  beob¬ 
achteten  Fälle  von  plötzlich  aufgetretenen  transitorischen  Störun¬ 
gen  des  Nervus  vestibularis  sind  nur  als  Analogon  der  Herx- 
heim  er  sehen  Reaktion  anzusehen,  es  handelt  sich  also  nicht 
um  eine  toxische  Schädigung  der  Nerven  (Dr.  Beck  in  der  Medi¬ 
zinischen  Klinik  1910,  Nr.  50).  Bei  den  früher  von  Wechsol- 
mann  und  Buschke  und  neuerdings  besonders  von  Finger 
und  Rille  beschriebenen  Erkrankungen  des  Nervensystems  nach 
Injektion  von  „606“  (Akustikus  und  Fazialis,  seltener  die  Retina) 
zeigtees  sich,  daß  im  allgemeinen  —  mit  Ausnahme  der  Fing  er¬ 
sehen  Fälle  die  Nachbehandlung  mit  Quecksilber  Heilung  her¬ 
beigeführt  hat.  Da  die  Heilung  solcher  Fälle  sogar  mit  wieder¬ 
holter  Injektion  von  Salvarsan  erzielt  wurde,  was  unmöglich  wäre, 
wenn  es  sich  um  eine  durch  das  Mittel  hervorgerufene  toxische 
Einwirkung  handeln  würde,  da  ferner  in  vielen  Fällen  von  spon¬ 
taner  syphilitischer  Akustikuserkrankung  „606“  in  frischen  Fällen 
sehr  schnelle  Heilerfolge  auslöste,  da  endlich  dieselbe  Erscheinung 
bei  früher  Syphilis  nach  Anwendung  von  Quecksilberpräparaten 
vorgekommen  ist  (Benario  hat  in  einem  kleinen  Teil  der  ein¬ 
geschickten  Krankengeschichten  allein  acht  derartige  Fälle  nach 
Quecksilberbehandlung  eruiert),  so  handelt  es  sich  gewiß  nicht 
um  eine  neurotoxische  Wirkung  des  Mittels.  Verf.  führt  dies  weiter 
aus  und  schließt  mit  folgenden  Worten:  Die  beschriebenen,  meist 
in  Knochenkanälen  eingeschlossenen  Himnerven  betreffenden  Stö¬ 
rungen  sind  nicht  toxischer  Natur,  sondern  syphilitische 
Manifestationen.  Sie  rühren  von  vereinzelten,  bei  der  Steri¬ 
lisation  der  Hauptmasse  übrig  gebliebenen  Spirochäten  her  und 
kommen  auch  nach  Quecksilberbehandlung  vor.  Die  auffallenden 
klinischen  Symptome  verdanken  sie  nicht  ihrer  Ausdehnung,  son¬ 
dern  ihrem  anatomischen  Sitze.  Ihrem  geringen  Umfange,  be¬ 
ziehungsweise  Spirochätengehalt  entsprechend,  veranlassen  sie 
keine  V  assermann-Reaktion  und  sind  gewöhnlich  durch  erneute 
spezifische  Behandlung  prompt  zu  beseitigen.  Es  handelt  sich 
also  um  keine  konstitutionelle  Rezidive,  sondern  um  letzte  Ueber- 
bleibsel  aus  der  vorhergegangenen  Sterilisation.  —  (Berliner 
klinische  Wochenschrift  1910,  Nr.  51.)  E.  F. 

* 

103.  Ueber  ein  Abführ-  und  die  Darmperistaltik 
regulierendes  Mittel.  Von  Dr.  Szereszewski,  Warschau. 
Die  gebräuchlichsten  Abführmittel,  deren  es  im  Ueberfluß  gibt, 
haben  vielfach  Uebelstände  oder  unangenehme  Nebenwirkungen, 
wie  schmerzhafte  Reizung  des  Darmes,  Koliken,  zu  heftige  Wir¬ 
kung  mit  Tenesmus,  nachfolgende  Obstipation  (Rizinusöl),  Ge¬ 
wöhnung  mit  Nötigung  zu  Steigerung  der  Dosis,  unangenehmer 
Geschmack  usw.  Nach  den  Erfahrungen  Sieresze wslkis  ist 
das  Aperitol  (=  Phenolphthalein  +  Isovaleriansäure,  Abführmittel 
~b  Sedativum)  so  gut  wie  frei  von  irgendwelchen  Nebenwirkungen. 
Gewöhnlich  acht  bis  zehn  Stunden  nach  der  Einnahme  tritt 
weicher  Stuhl  ohne  Schmerzen  und  Drängen  ein.  Die  mittlere 
Dosis  beträgt  bei  Kindern  ein  bis  zwei  Bonbons,  bei  Erwachsenen 


zwei  bis  vier  Tabletten  zu  0-2  und  hat  gewöhnlich  nur  ein- 
Itis  zweimaligen  Stuhlgang  zur  Folge.  Eine  Gewöhnung  an  das 
Mittel,  welche  etwa  zur  permanenten  Steigerung  der  Dosis  hätte 
nötigen  können,  wurde  auch  bei  chronischer  Obstipation  nicht 
beobachtet.  Die  Aperitolbönbons  werden  von  den  Kindern  sehr 
gerne  eingenommen.  Geradezu  unersetzbar  erwies  sich  das  Mittel 
dem  Verfasser  bei  der  Behandlung  von  Hämorrhoiden,  Fissura 
ani,  chronischer  Kolitis  und  den  Tenesmen  bei  Dysenterie. 
(Fortschritte  der  Medizin  1910.  28.  Ja.hrg.,  Nr.  43.)  K.  S. 

* 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

104.  Ueber  Herpes  zoster  mit  multipler  Lokalisa¬ 

tion  und  Immunisierung  bei  Herpes  zoster.  Von 
H.  Gougerot  und  H.  Salin.  Der  Herpes  zoster  ist  eine  durch 
Lokalisation  innerhalb  eines  bestimmten  Nervengebietes  gekenn¬ 
zeichnete  Infektionskrankheit,  doch  sprechen  die  zur  Zeit  des 
Prodromalstadiums  und  der  Eruption  bestehenden  Allgemein¬ 
symptome  für  eine  Allgemeininfektion.  Multiple  Lokalisation 
des  Herpes  zoste#  ist  selten,  die  generalisierte  Form  der  Er¬ 
krankung  kommt  nur  ganz  ausnahmsweise  vor.  Gelegentlich  findet 
inan  neben  einer  typischen  Eruption  Gruppen  kleiner  Bläschen 
auch  an  anderen  Körperstellen.  Die  strenge  Lokalisation  der 
Bläschen  eruption  legt  den  Gedanken  einer  fortschreitenden  Auto¬ 
immunisierung  nahe.  Es  gibt  Fälle,  wo  die  multiplen  Lokalisa¬ 
tionen  des  Herpes  zoster  in  einem  Schube  auftreten;  in  den 
von  den  Verfassern  mitgeteilten  Fällen  erfolgten  die  verschiedenen 
Lokalisationen  in  mehrtägigen  Intervallen,  wobei  es  auffiel,  daß 
die  folgenden  Schübe  von  geringerer  Intensität  waren.  So  ent¬ 
wickelte  sich  in  einem  Falle  unter  schweren  Allgemeinsymptomen 
ein  Herpes  zoster  im  Gebiete  der  dritten  rechten  Lumbalwurzel, 
welcher  den  typischen  Verlauf  mit  ausgeprägter  Bläschenbildung 
zeigte.  Mehrere  Tage  später  erfolgte  eine  Eruption  an  beiden 
Vorderarmen,  dem  Gebiete  der  achten  Zervikal-  und  ersten  Dorsal¬ 
wurzel  entsprechend.  Bemerkenswert  war  das  Fehlen  von  All¬ 
gemeinerscheinungen,  die  kurze  Dauer  der  Eruption  und  die  nur 
stellenweise  Entwicklung  von  Bläschen.  Die  Abheilung  dieser 
Eruption  erfolgte  zu  einer  Zeit,  wo  die  zuerst  aufgetretene  Erup¬ 
tion  sich  in  voller  Entwicklung  befand.  Der  Unterschied  in  der 
Intensität  zwischen  der  ersten  und  den  späteren  Eruptionen  spricht 
entschieden  für  die  Annahme  einer  Autoimmunisierung.  Der  Um¬ 
stand,  daß  der  Zoster  meist  auf  ein  Nervengebiet  beschränkt 
bleibt,  spricht  für  rasche  und  vollständige  Immunisierung,  wie 
sie  in  analoger  Weise  bei  der  Kuhpockenimpfung  beobachtet 
wird.  Bei  unvollständiger  Immunisierung  kann  noch  an  anderer 
Stelle  eine  Eruption  stattfinden,  welche  jedoch  in  der  Regel 
von  geringerer  Intensität  ist  u.  zw.  um  so  schwächer,  je  größer 
der  seit  der  ersten  Eruption  verflossene  Zeitraum  ist.  Aehnliche 
Verhältnisse  werden  bei  der  Kuhpockenimpfung  beobachtet,  wo 
neue  Impfungen  nur  in  den  ersten  Tagen  haften,  am  zehnten 
Tage  nach  der  ersten  Impfung  die  Inokulation  nicht  mehr  gelingt. 
W  enn  bei  Zoster  sich  die  Infektion  in  den  ersten  drei  Tagen  des 
präeruptiven  Stadiums  oder  am  ersten  Tage  der  Eruption  aus- 
b reitet,  so  erfolgt  multiple  Lokalisation,  erfolgt  die  Ausbreitung 
am  dritten  Tage  der  Eruption  oder  später,  so  sind  die  wei¬ 
teren  Eruptionen  abgeschwächt,  bei  noch  späterer  Diffusion  erfolgt 
keine  weitere  Eruption,  weil  inzwischen  alle  Nervenwurzeln  im¬ 
munisiert.  sind.  Für  die  Ausbreitung  der  Immunität  von  der  pri¬ 
mären  Eruptionsstelle  aus  spricht  der  Umstand,  daß  die  spä¬ 
teren  Eruptionen  meist  in  größerer  Distanz  vom  primären  Herde 
auftreten.  —  (Gaz.  des  höp.  1910,  Nr.  131.)  a.  e. 

* 

105.  Ueber  die  Injektionen  von  Gomenolöl  zur 
Behandlung  der  äußeren  Tuberkulose.  Von  Roederer 
und  Tribes.  Die  modifizierenden  Injektionen,  durch  welche  ein 
tuberkulöser  Abszeß  in  einen  heißen  aseptischen  Abszeß  umge¬ 
wandelt  wird,  sind  hinsichtlich  ihrer  Wirksamkeit  allgemein  an¬ 
erkannt.  Von  den  bisher  angewendeten  Substanzen  sind  einzelne, 
wie  z.  B.  das  Naphthol,  stark  toxisch,  andere,  wie  das  Thymol, 
in  ihrer  V  irkung  unsicher  oder  wie  das  Trypsin  und  das  Natrium 
nucleinicum,  noch  wenig  erprobt.  In  einer  Anzahl  von  Fällen 
haben  die  Verfasser  das  Gomenol,  welches  aus  einer  Myrtazee, 
einer  Varietät  der  Melaleuca  viridiflora  gewonnen  wird,  ange- 


Nr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


wendet.  Das  Gomenol  steht  hinsichtlich  seiner  antiseptischen 
Wirkung  dem  Thymol,  dem  Jod  und  der  Salizylsäure  gleich,  ist 
aber  frei  von  toxischer  Wirkung.  Das  Gomenol  wurde  bei  nicht 
vereiterten,  sowie  bei  geschlossenen  und  offenen  vereiterten  Tuber¬ 
kulosen  angewendet.  Zur  ersten  Gruppe  gehören  Fälle  von  Lymph 
driisenschwellung,  Ostitis  und  Osteoarthritis,  wo  1  bis  2  cm3 
des  5  bis  10°/'oigen  Gomenolöls  injiziert  wurden;  die  Erfolge 
waren  im  allgemeinen  günstig.  Bei  geschlossenen  vereiterten 
Tuberkulosen  wurden  1  bis  2  cm3  des  5  bis  10°/oigen,  seltener 
des  20°/oigen  Gomelnolöls  injiziert,  nachdem  der  Eiter  durch 
Punktion  entleert  worden  war.  In  der  der  Injektion  folgenden 
Zeit  füllte  sich  unter  Temperatursteigerung  und  lokaler  Rötung 
die  Höhle  wieder  an,  es  wurde  wieder  punktiert  und  injiziert. 
Der  Eiter  zeigte  veränderte  Beschaffenheit,  statt  serös  und  mit 
Krümmein  gemischt,  wurde  er  grau,  dann  bräunlich.  Zur  Heilung 
kleinerer  Herde  genügten  zwei  bis  drei,  zur  Heilung  größerer 
Muskelherde  in  der  Regel  fünf  bis  sechs  Punktionen  und  Injek¬ 
tionen.  In  einigen  Fällen  zeigte  der  Eiter  blutige  Beschaffenheit, 
welche  auf  die  häufigen  Punktionen  zurückgeführt  werden  konnte. 
In  einzelnen  Fällen  wandelte  sich  trotz  der  Behandlung  der  ge¬ 
schlossene  Herd  in  einen  offenen  um,  doch  war  dies  bei  gesunder 
Beschaffenheit  der  Haut  nur  einmal  der  Fall.  Es  ist  jedoch  die 
nach  Anwendung  modifizierender  Injektionen  auftretende  Fistel¬ 
bildung  weniger  schwerwiegend,  als  die  spontane  Fistelbildung 
und  es  kommt  fast  immer  zu  rascher  Schließung  der  Fisteln. 
Bei  offener  Tuberkulose  wurden  größere  Mengen  50%igen  Go 
menolöls  injiziert  und  dann  ein  Okklusivverband  angelegt.  Bei 
Wirbelsäulen-  und  Gelenkstuberkulose  mit  Fistelbildung  wurde 
Besserung  erzielt.  Das  Gomenol  besitzt  vor  den  anderen  modi¬ 
fizierenden  Mitteln  den  Vorzug,  daß  es  sowohl  im  Beginn  der 
Erkrankung  zur  Erweichung  fester  Herde,  als  auch  bei  vor¬ 
geschrittener  Erkrankung  zur  Austrocknung  und  fibrösen  Umwand¬ 
lung  der  Eiterherde  angewendet  werden  kann,  nur  geringe  lokale 
und  allgemeine  Reaktionserscheinungen  hervorruft  und  frei  von 
toxischen  Nebenwirkungen  ist.  —  (Journ.  de  Prat.  1910,  Nr.  41.) 

’ . ;  i  !  '  '  |  la.  e. 

* 

106.  Ueber  allgemeine  Kalkablagerung  und  deren 
interstitielle  und  subkutane  Form.  Von  .1.  Lhermitte. 
Wenn  die  Zeitigen  Elemente  die  Fähigkeit  verlieren,  die  Kalksalze 
zu  assimilieren  und  mit  dein  Eiweiß  zu  verbinden,  so  erfolgt 
Kalkablagerung  innerhalb  der  Gewebe.  Eine  besondere  Disposition 
für  Kalkablagerung  zeigen  die  aus  dem  Mesoderm  stammenden 
Gewebe,  in  zweiter  Linie  die  Abkömmlinge  des  neuralen  Ekto¬ 
derms.  Eine  besondere  Form  stellt  die  generalisierte!  Kalkablage- 
nmg  im  subkutanen  und  intramuskulären  Gewebe  dar.  Die  Affek¬ 
tion  entwickelt  sich  zunächst,  manchmal  im1  Anschluß  an  ein 
Trauma,  an  einer  Stelle  z.  B.  entsprechend  einem  Schleimbeutel, 
im  weiteren  Verlauf  finden  Ablagerungen  an  verschiedenen 
Stellen  des1  subkutanen  Gewebes  statt,  über  welchen  die  Haut 
keine  Veränderung  zeigt;  in  einzelnen  Fällen  war  eine  symme- 
trische  Verteilung  der  sekundären  Ablagerungen  nachweisbar. 
Als  weitere  Symptome  werden  Atrophie  und  Kontraktion  ver¬ 
schiedener  Muskeln,  sowie  trophische  und  vasomotorische  Stö¬ 
rungen  der  Haut  beobachtet.  Im  weiteren  Verlauf,  der  sich  über 
Jahre  erstrecken  kann,  stellen  sich  Abmagerung,  Schmerzen, 
Dekubitus,  Diarrhöen,  Albuminurie,  Temperatursteigerung  ein  und 
es  erfolgt  der  Exitus  durch  Kachexie  oder  Infektion.  Es  kommt 
auch  eine  durch  Kalkablagerung  in  Sehnen,  Faszien,  Perimy¬ 
sium  und  interstitielles  Muskelgewebe  gekennzeichnete  Form  der 
generalisierten  Kalzinose  vor,  welche  zu  hochgradiger  Rigidität 
der  betroffenein  Muskeln  führt  und  nicht  selten  mit  dem  Bilde 
der  Sklerodermie  entsprechenden  Hautveränderungen  einhergeht. 
Einzelne  Fälle  können  erweichen  und  nach  außen  durchbrechen, 
wobei  sich  der  Inhalt  aus  Kalkphosphat  und  Kalkkarbonat  zu¬ 
sammengesetzt  erweist.  Die  Untersuchung  der  Kalkablagerun¬ 
gen  hat  das  Vorwiegen  des  Kalkphosphats  ergeben,  die  Hülle  ist 
arm  an  Kalksalzen;  manchmal  wurden  auch  Kalksulfat  und  Spuren 
von  Magnesia,  dagegen  niemals  Harnsäure  in  den  Ablagerungen 
nachgewiesen.  In  einem  Falle  von  Verkalkung,  der  sich  nahezu 
auf  die  gesamte  Muskulatur  erstreckte,  wurde  hochgradige  Kalk¬ 
verarmung  der  Knochen  nachgewiesen.  In  der  Aetiologie  werden 
Trauma  und  vorangegangener  Rheumatismus  als  die  wichtigsten 


143 


Ursachen  angeführt;  die  Erkrankung  betrifft  beide  Geschlecht  er 
gleichmäßig  und  wird  am  häufigsten  zwischen  dem  8.  und  20. 
Lebensjahr  beobachtet.  In  einem  Falle  von  generalisierter  Ver¬ 
kalkung,  wobei  in  den  die  Verkalkungsherde  durchziehenden  Ge¬ 
fäßen  Läsionen  nachweisbar  waren,  schien  die  Erkrankung  mit 
Syphilis  in  Zusammenhang  zu  stehen  und  wurde'  durch  die  spe¬ 
zifische  Behandlung  günstig  beeinflußt.  Die  Annahme,  daß  die 
subkutane  generalisierte  Kalzinose  eine  parasitäre  Aetiologie  li-n 
erscheint  nicht  genügend  begründet,  wenn  auch  ein  Berich:  über 
gelungene  Uebertragung  der  Erkrankung  auf  ein  Meerschweinchen 
vorliegt.  Das  beschriebene  Vorkommen  von  Riesenzellen  in  den 
Krankheitsherden  weist  nicht  auf  eine  Aehnlichkeit  mit  tuber¬ 
kulöse  hin,  da  Riesenzellen  auch  in  uratischen  Ablagerungen 
beobachtet  werden.  Vieles  spricht  für  die  Verwandtschaft  der 
generalisierten  Kalzinose  mit  Sklerodermie,  welche  auf  Grund 
neuerer  Forschungen  mit  Läsionen,  bzw.  Funktionsstörungen  der 
Blutdrüsen  in  Zusammenhang  gebracht  wird.  —  (Sem.  med.  1910, 

Nr.  47.)  ia.  e. 

* 

Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

107.  Tuberkulose  und  Menstruation.  V on  D.  M  a  c  h  t. 
Neben  dem  normalen  Verlauf  der  Menstruation  bis  zur  physio¬ 
logischen  Altersgrenze  kommen  bei  Tuberkulösen  Abweichungen 
im  Menstruationstypus  vor:  Menorrhagie  und  Amenorrhoe,  die 
erstere  der  letzteren  häufig  vorangehend,  ln  einigen  Fällen  ist 
die  Dysmennorrhoe  rein  tuberkulösen  Ursprungs  und  wird  durch 
Tuberkulininjektionen  gebessert.  Die  Aenderungen  im  Menstru¬ 
ationstypus  sind  von  diagnostischem  und  prognostischem  Werte. 
Der  Einfluß  der  Menstruation  auf  den  tuberkulösen  Prozeß  äußert 
sich  in  der  Verschlechterung  aller  Symptome  und  im  Deut¬ 
licherwerden  der  physikalischen  Zeichen  der  Erkrankung.  Die 
Wirkung  der  Ovulation  kann  andauern,  auch  nachdem  die  Men¬ 
struation  vorüber  ist.  Periodische  Schwankungen  der  Tempe¬ 
ratur  kommen  etwa  in  50%  aller  Fälle  vor.  Der  Temperatur¬ 
anstieg  kann  prä-,  inter-  und  postmenstruell  sein.  Periodische 
Hämoptoen  und  andere  Hämorrhagien  kommen  bei  tuberkulösen 
Frauen  häufiger  vor  als  allgemein  angenommen  wird.  Diese  Blu¬ 
tungen  können  zugleich  mit  oder  an,  Stelle  der  menstruellen 
Blutung  auftreten.  Wahre  vikariierende  Menstruation  kommt  vor, 
ist  aber  außerordentlich  selten,  so  daß  vikariierende  Flämoptoen  in 
den  meisten  Fällen  Verdacht  auf  eine  tuberkulöse  Erkrankung  er¬ 
regen.  Tuberkulin  darf  während  der  Menstruation  nicht  angewedet 
werden.  Dem  schlechten  Einfluß  der  Menstruation  auf  den  tuber¬ 
kulösen  Prozeß  kann  durch  die  entsprechende  Therapie,  in  erster 
Linie  Ruhe,  begegnet  werden.  (The  American  Journal  of  the 

Medical  Sciences,  Dezember  1910.)  sz. 

* 

108.  Der  klinischeWert  d e r  C a m m i d g e - R e a k t i o n. 
Von  L.  Kinney.  Eine  lömonatige  Erfahrung  hat  den  Verfasser 
davon  überzeugt,  daßi  der  Cam  midge- Reaktion  C.  nur  ein  be¬ 
schränkter  Wert  zukomme.  Eine  negative  Reaktion  zeigt  nicht 
an,  daß  das  Pankreas  normal  ist.  Negative  Reaktionen  wurden 
erhalten  bei  akuter  und  chronischer  Pankreatitis,  bei  Karzinomen 
und  Zysten  des  Pankreas.  Ein  positiver  Ausfall  der  Reaktion  ist 
nicht  pathognomonisch  für  eine  Pankreasinfektion,  da  die  Reak¬ 
tion  in  manchen  Fällen  positiv  war,  wo  selbst  bei  direkter  Pal¬ 
pation  sich  kein  Anhaltspunkt  für  eine  Erkrankung  des  Pan¬ 
kreas  bot.  Wenn  jedoch  die  Krankengeschichte,  die  physikalische 
Untersuchung  und  die  Untersuchung  der  Fäzes  auf  eine  Pankreas¬ 
läsion  1Ä  weisen,  so  ist  eine  positive  Cam  midge- Reaktion  C. 
geeignet,  die  Diagnose  zu  vervollständigen.  Auf  die  negative 
Reaktion  ist  daher  wenig  Verlaß  und  eine  positive  Reaktion 
kann  nur  als  Bestätigung  von  anderen  Anzeichen  verwendet  wer¬ 
den.  —  (The  American  Journal  of  the  Medical  Sciences’,  Dezember 

1910.)  sz. 

* 

109.  Die  Verwendung  der  Sojabohne  als  Nahrungs¬ 
mittel  bei  Diabetes.  Von  J.  Friedenwald  und  J.  R u h r ä h. 
Die  Sojabohne,  eine  seit  den  ältesten  Zeiten  in  China  und  Japan 
sehr  beliebte  Legumin  ose,  zeichnet  sich  durch  hohen  Eiwei߬ 
gehalt  und  durch  fast  vollständiges  Fehlen  der  Stärke  aus.  V  egen 
der  letzteren  Eigenschaft  eignet  sich  die  Sojabohne,  die  in  den 
verschiedensten  Formen  zubereitet  werden  kann,  als  Nahrungs 


144 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


mittel  besonders  bei  Diabetes.  Die  Autoren  berichten  über  acht 
Fälle  vor  Diabetes,  welche  zunächst  bei  uneingeschränkter,  dann 
bei  der  üblichen  Lliabeteskost  gehalten  wurden.  Der  unter  der 
Diabeteskost  erzielte  Rückgang  der  Zuckerausscheidung  im  Harne 
machte  noch  größere  Fortschritte,  als  die  Sojabohne  der  Diät 
hinzugefügt  wurde.  Bei  den  Schwierigkeiten,  die  sich  der  ratio¬ 
nellen'  Ernährung  der  Diabetiker  auf  die  Dauer  entgegenstellen, 
stellt  die  Sojabohne,  eine  wertvolle  Ergänzung  der  Diabeteskost 
dar.  Siei  kann  schmackhaft  und  auf  die  mannigfachste  Art  zube¬ 
reitet  werden  und  vermindert  prozentuell  und  absolut  die  Zucker¬ 
ausscheidung  im  Harne.  - —  (The  American  Journal  of  the  Medical 
Sciences,  Dezember  1910.)  sz. 

\/ermisehte  Naehriehten. 

Ernannt:  Dr.  Jos.  Koch,  Abteilungsleiter  am  Institut 
lür  Iufektionskrankheiten  in  Berlin  zum  Professor.  —  Doktor 
H.  Kionka,  Vorstand  des  pharmakologischen  Institutes  in  Jena 
zum  Honorarprofessor.  Dr.  0.  Codi  villa  zum  außerordent¬ 
lichen  Professor  der  Orthopädie  in  Bologna. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Ladislaus  Mazurkiewicz  für  Phar¬ 
makognosie  in  Lemberg.  Dr.  Friedrich  Walter  für  Anatomie 
in  Rostock. 

* 

Oestorben:  Prof.  Dr.  Friedrich  Mosler,  ehemaliger  Vor¬ 
stand  der  medizinischen  Klinik  in  Greifswald.  —  Prof.  Dr.. Nagel, 
Direktor  des  physiologischen  Institutes  in  Rostock.  -  Doktor 
Lustache,  vorm.  Professor  der  Geburtshilfe  zu  Lille. 

* 

In  der  Sitzung  des  nie  der  österreichischen  Landes¬ 
sanität  s  rates  vom  9.  Januar  1911  wurden  folgende  Gutachten 
erstattet :  1.  Leber  ein  neues  Heilverfahren  in  einer  zu  errichten¬ 
den  Anstalt  in  V  ien.  2.  Lieber  die  Erweiterung  der  Einrich¬ 
tungen  des  Bades  in  Vöslau.  3.  Lieber  die  Beherbergung  und 
Pflege  operierter  Augenkranker  in  einer  Arzteswohnung. 

* 

Am  19.  Dezember  1910  fand  im  Ministerium  des  Innern  eine 
Sitzung  d  es  Kuratori u  m s  d es  F o n  d s;  zur  T  u be rk *u- 
1  o  seb  ek  ä  in  p  f  u  n:g  statt,  in  welcher  statutengemäß  über  die 
Verwendung  der  Erträgnisse  des  für  Zwecke  der  Tuberkulose¬ 
bekämpfung  gebildeten  Fonds  beschlossen  wurde.  Das  für  Wid¬ 
mungen  verfügbare  Erträgnis  dieses  Fonds  im  Jahre  1910  belief 
sich  auf  86.631  K  71  h.  Von  diesem  Betrage  wurden  zunächst 
d^ie  aut  das  Jahr  1910  entfallenden  Quoten  der  auf  Grund  der 
Kuratoriumsbeschlüsse  vom  29.  Februar  1908  und  vom  17.  De¬ 
zember  1909  für  15,  bzw.  6  Jahre  zugesicherten  Subventionen 
im  Gesamtbeträge  von  54.000  K  bestritten,  u.  zw.  die  Subven¬ 
tionen  von  je  7000  K  der  Vereine  „Viribus,  unitis“  in  Wien,  „Heil¬ 
anstalt  Al  land"  in  Wien  und  des  Vereines1  zur  Bekämpfung  der 
Tuberkulose  in  Steiermark,  ferner  von  je  5000  K  des  deutschen 
und  des:  böhmischen  Landesbilfveceines1  für  Lungenkranke  in 
Böhmen,  von  je  4500  K  der  Landeshilfsvereine  für  Lungenkranke 
in  Krain  und  in  Schlesien,  weiter  von  je  6000  K  des  Landes, - 
Vereines:  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose  in  Mähren  und  des  Ver¬ 
eines  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose  in  Lemberg  und  endlich 
von  2000  K  des  Vereines  „LupusheiMätte“  in  Wien.  Von  dem 
erübrigendeln  Betrage  wurden  folgende  einmalige  Subventionen 
bewilligt:  dem  Bezirksausschüsse  in  Beheschau  als  Oberverwal¬ 
tung  des  Allgemeinen  Krankenhauses  daselbst  und  dem  Vereine1 
„Heilanstalt  Alland“  in  Wien  je  4000  K,  dem’  Vereine  zur  unent¬ 
geltlichen  Verpflegung  Brustleidender  auf  dem  Lande  in  Wien 
1000  K  und  den  Vereinen  ..Viribus  unitis“,  Hilfsverein  für  Lungen¬ 
kranke  in’  den  österreichischen  Königreichen  und  Ländern  in 
V  ien,  „LiUpirsheilstätte“  in  Wien,  dem  deutschen  und  dem  böhmi¬ 
schen  Landeshilfsvereine  für  Lungenkranke  in  Prag,  dem  Ver- 
'•ine  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose  in  Steiermark,  den  Landes¬ 
hilfsvereinen  für  Lungenkranke  in  Krain  und  Oesterreichisch- 
Schlesien,  dem  Landesvereine  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose, 
in  Mähren  und  dem  Vereine  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose  in 
Lemberg  je.  2000  K.  Außerdem  wurden  in!  einer  früheren  Sitzung 
des  Kuratoriums  vom  27.  April  1910  nachstehende  einmalige 
Subventionen  bewilligt:  Dem  Zweigvereine  Aus'sig  des  deutschen 
Landeshilfsvereines  für  Lunsenkranke  in  Böhmen  und  dem  Ver¬ 
eine  „Sociatä  degli  amici  dell’  iufanzia“  in  Triest  je  2000  K  und 
dem  Vereine  „Bratnia  Pomoc“  in  Zakopane  1000  K. 

* 


Der  seinerzeit  ausgeschriebene  K  öni  g  U  m bert-Preis 
wurde  Prof.  W.  Schultheß  in  Zürich  für  seine  Arbeit:  „Die 
Pathologie  und  Therapie  der  Rückgratsverkrümmungen“,  ver¬ 
liehen. 

* 

Cholera.  Rußland.  In  der  Woche  vom  4.  bis  11.  De¬ 
zember  1910  wurden  im  Gebiete  des  Russischen  Reiches  33  Neu¬ 
erkrankungen  und  17  Todesfälle  an  Cholera  gemeldet.  —  Ma¬ 
deira.  Bis  zum  25.  Dezember  sind  amtlichen  Nachrichten  zu¬ 
folge  auf  Madeira  1153  Erkrankung«-  und  335  Todesfälle  an 
(  holera  konstatiert  worden,  von  denen  462  Erkrankungen  und 
126  Todesfälle  auf  die  Hauptstadt  Funchal,  691  Erkrankungen 
und  209  Sterbefälle  auf  die  Landgemeinden  der  Insel  entfallen. 

Türkei.  Nach  offiziellen  Nachrichten  beträgt  die  Zahl  der 
seit  Ausbruch  der  Cholera,  das  heißt  seit  13.  September  v.  J. 
bis  Anfang  Januar  in  Konstantinopel  vorgekom menen  .Cholera¬ 
erkrankungen  1309,  wovon  785  einen  tödlichen  Ausgang  hatten. 
Gegenwärtig  scheint  sich  die  Seuche  ihrem  Ende  zuzuneigen.  Da 
sowohl  in  Mekka  als  auch  in  der  Quarantänestation  El -Tor  zahl¬ 
reiche  Cholerafälle  sich  ereignet  haben  und  in  Djeddah  über¬ 
dies  ein  Pestfall  konstatiert  worden  ist,  hat  der  Sanitätskonseil 
die  Pole  rin  age  als  cholera-  und  pestverseucht  erklärt.  In  El -Tor 
wurden  unter  heimkehrenden  Pilgern  auf  zwei  türkischen  und 
einem  russischen  Schiffe  sechs  Erkrankungen  an  Cholera  sicher¬ 
gestellt. 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  1.  Jahreswoche  (vom  1.  bis 
7.  Dezember  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  518,  unehelich  219,  zusammen 
737.  Tot.  geboren,  ehelich  42,  unehelich  25,  zusammen  67.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  715  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
17  5  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  2,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  5, 
Scharlach  5,  Keuchhusten  2,  Diphtherie  und  Krupp  5,  Influenza  l. 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  1.  Lungentuberkulose  100,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  60,  Wochenbettfieber  2,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  25  (—  14),  Wochenbettfieber  2  (—  2)  Blattern  0 
(0),  Varizellen  86  (-f  16),  Masern  135  (—  8),  Scharlach  73  (+  20) 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  2  (—  2),  Ruhr  1  (+1),  Cholera  0  (0) 
Diphtherie  und  Krupp  63  (+•  1),  Keuchhusten  37  (+  17),  Trachom  2  (+  2), 
Influenza  0  ( —  1),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Distriktsarztesstelle  für  die  Gemeinden  Reichenfels  und 
St.  Peter  mit  dem  Wohnsitze  in  Reichenfels  (Kärnten).  Mit  derselben  ist 
eine  Jahresremuneration  von  je  600  K  aus  dem  Landesfonds  und  von 
den  Gemeinden,  sowie  ein  Wohnungsbeitrag  von  200  K  von  den  letzteren 
verbunden,  ierner  für  Armenbehandlung,  Totenbeschau,  Durchführung  der 
öffentlichen  Impfung  und  sonstige  Dienstreisen  der  Bezug  , der  normierten 
Gebühren.  Die  gegenseitige  Kündigungsfrist  beträgt  zwei  Monate.  Der 
Distriktsarzt  hat  die  Verpflichtung,  eine  Hausapotheke  zu  führen.  Bewerber 
um  diese  Stelle  wollen  ihre  vorschriftsmäßig,  d.  i.  auch  mit  einem  ärzt¬ 
lichen  Gesundheitszeugnisse  belegten  und  gestempelten  Gesuche  direkt 
oder  im  Wege  ihrer  Vorgesetzten  Behörde  bis  längstens  20.  Februar  1911 
bei  der  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  Wolfsberg  einreichen. 


Eingesendet. 


Verein  Aerztliches  Erholungsheim  Marienbad. 

Aufforderung  zum  Beitritt.  — -  M i  t  g  1  ied s  bei trag  5  K.  — 
Anmeldungen  beim  Präsidium. 

Der  Aerei n  hat  die  Aufgabe,  kur-  oder  erholungsbedürftigen 
Kollegen  freie  Unterkunft  im  eigenen  Hause  und  andere  Er¬ 
leichterungein  zu  schaffen. 

Benefiz  ien: 

1.  Freie  Wohnung  monatsweise  während  des  ganzen  Jahres. 

2.  Freie  Beistellung  der  Bäder  und  der  Heil-  und  Kur¬ 
behelfe  während  der  Kurzeit. 

3.  Befreiung  von  der  Kur-  und  Musiktaxe  während  der 
Kurzeit. 

4.  Freier  Eintritt  zu  den  Lesesälen,  zu  den  Veranstaltungen 
des  Kurklubs,  Ermäßigungen  in  den  Restaurationen  u.  m.  a. 
während  der  Kurzeit. 

Anmeldungen  um  Freiplätze  direkt  oder  durch  die  Ver¬ 
mittlung  eines  Marienbader  Kollegen  an  den  Vorstand  werden 
schon  während  des  Winters  erbeten. 

B r ie f a d r es se :  Vorstand  des  ärztlichen  Erholungsheims 
in  Marienbad. 


Nr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


INHALT: 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 
Sitzung  vom  20.  Januar  1911. 

Wiener  dermatologische  Gesellschaft.  Sitzung  vom  23.  November  1910 


Verein  der  Aerzte  in  Oherösterreich.  Sitzung  vom  1.  Dezember  1910. 
Aerztliclier  Verein  in  Briinn.  Sitzung  vom  19.  Dezember  1910. 
Verein  deutscher  Aerzte  in  Prag.  Sitzung  vom  16.  Dezember  1910. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzupg  vom  20.  Januar  1911. 

Vorsitzender:  Prof.  Dr.  M.  Großmann. 

Schriftführer:  Dr.  R.  Bergmeister. 

Der  Vorsitzende  macht  Mitteilung  von  der  Erkrankung  des 
Herrn  Prof.  Dr.  Ferdinand  Hochs  fett  er.  der  infolgedessen 
verhindert  ist,  den  Vorsitz  zu  führen. 

Ferner  wird  folgende  Zuschrift  des  „Oesterr.  Ingenieur-  und 
Architektenvereines“  mitgeteilt : 

Die  Fachgruppe  für  Chemie  des  österreichischen  ingenieur- 
und  Architektenvereines  erlaubt  sich  hiemit  die  Mitglieder  des  V eiv- 
eines  „Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien“  höfliehst  zu  dem  Freitag 
den  27.  Januar,  um  7  Uhr  abends,  im  großen  Saale  des  elektro¬ 
technischen  Instititutes  *) .  stattfindenden  Vortrage  von  Professor 
Dr.  Emil  Abderhalden  aus  Berlin:  „Die  Bedeutung  der  Ver¬ 
dauung  für  den  Zellstoffwechsel  im  Lichte  neuerer  Forschungen 
auf  dem  Gebiete  der  physiologischen  Chemie“,  einzuladen. 

Priv.-Doz.  Dr.  R.  Kienböck:  D  emonstration  eines 
Falles  von  unvollständiger  Luxation  des  Atlas  mit 
A b b r u c h  d  er  Dens  epistrophei. 

Luxation  des  Atlas  mit  oder  ohne  Abbruch  des  Zahnfort- 
satzes  des  zweiten  Halswirbels  sind  seltene  Verletzungen.  Seit 
Gurlt  und  Sonnenburg  weiß  man,  daß  keine  Lähmungen 
eintreten  müssen  und  die  Individuen  den  Unfall  noch  kürzere 
oder  längere  Zeit  überleben  können.  Selbst  Fälle  von  dauernder 
Heilung  wurden  bekannt,  ich  habe  davon  etwa  ein  halbes  Dutzend 
beschrieben  gefunden. 

’Em  hiehergehöriger  Fall  wurde  vor  kurzem  von  Wein¬ 
länder  in  der  Wiener  klinischen  Wochenschrift  beschrieben; 
sieben  Wochein  nach  dem  Unfall  trat  aber  Exitus  an  Pneumonie 
ein.  Verhältnismäßig  häufig  sind  die  Fälle,  wro-  sich  der  Patient 
durch  Tage,  Wochen  oder  Monate  in  gutem  Zustand  und  frei  von 
Lähmungen  befand,  worauf  durch  eine  unvorsichtige  Bewegung 
plötzlich  der  Tod  eintrat.  Eine  Beobachtung,  die  durch  den  ob¬ 
jektiven  Befund  und  günstigen  Verlauf  unserem  Falle  sehr  ähnlich 
ist  und  ebenfalls  durch  radiologische  Untersuchung  eine  genaue 
Diagnose  erfuhr,  wurde  von  Wittek  1906  publiziert. 

Der  Patient,  den  ich  hier  demonstriere,  ist  ein  35jähriger, 
sonst  gesunder  und  kräftiger  Mann;  er  erlitt  am  4.  Oktober 
1910  einen  Unfall  (Sturz  auf  einem  Spaziergang  nach  Sonnen¬ 
untergang),  blieb  bewußtlos  liegen  und  wurde  erst  nach  21  Stun¬ 
den  in  eineim  Zustande  gefunden,  an  den  er  sich  selbst  nicht 
erinnert.  Er  war  nicht  gelähmt  und  konnte  sprechen,  zeigte  aber 
Symptome  von  Gehirnerschütterung.  Er  wurde  im  Spital  nur  an 
einer  Kopfwunde  behandelt.  Nach  18  Tagen  stand  er  auf  und 
konnte  herumgehen,  der  Nacken  war  steif  und  schmerzhaft.  Pa¬ 
tient  hat  nie  einen  Stützapparat  getragen. 

Wie  Sie  sehen,  befindet  sich  der  Mann  wohl  und  kann  den 
Kopf  nach  allen  Seitein  ziemlich  gut  bewegen,  doch  fällt  eine 
steife  Kopfhaltung  mit  leichter  Vorwärtsbeugung  und  eine  eigen¬ 
tümliche  Konfiguration  des  Nackens  auf.  Die  Gegend  des  Dorn¬ 
fortsatzes  des  Epistropheus  ist  etwas  prominent,  im  Bachen 
springt  der  Atlas  stärker  als  normal  vor,  die  linke  Zungenhälfte 
ist  etwas  atrophisch,  die  Patellarreflexe  sind  gesteigert,  andere 
Störungen  bestehen  nicht.  Die  Röntgenaufnahmen  lehren, 
daß  der  Atlas  über  dem  Epistropheus  nach  vorne  laxiert  und 
zugleich  gedreht  ist:  im  linken  Seitengelenk  zwischen  Atlas  und 
Epistropheus  hat  nur  eine  geringe  Verschiebung  statlgefunden. 
auf  der  rechten  Seite  aber  hat  die  Massa  lateralis  des  Atlas  die 
Gelenksfläche  des  Epistropheus  verlassen  und  ist  nach  vorne 
abgewichen;  der  Zahnfortsatz  ist  vom  Körper  des  zweiten  Hals¬ 
wirbels  abgebrochen,  er  sieht  mit  seiner  Spitze  nicht  rein  nach 
aufwärts,  sondern  auch  nach  vorne.  Eine  knöcherne  .Verheilung 
ist  nicht  eingetreten.  Es  ist  also  eine  unvollständige  L  u  x  a- 
tion  des  Kopfes  im  uhteren  Kopfgelenk  vorhanden  und 
zwar  eine  Kombination  von  Beugung sL  und  Rotations¬ 
luxation  des'  Atlas. 

Es  ist  günstig,  daß  die-  Luxation  nur  im  rechten  Seiteu- 
gelenk  erfolgt  ist;  hier  ist  wohl  eine  Verhakung  eingetreten. 


Ferner  ist  günstig,  daß  der  Zahnfortsalz  abgebrochen  und  räch', 
das  Ligamentum  Iransversum  gerissen  ist.  Auch  die  Verbinden, 
des  Zahnfortsatzes  und  des  Atlas  mit  dem  Okziput  sind  offenbar 
intakt.  So  ist  das  Rückenmark  unverletzt  geblieben:  die 
Zungenatrophie  beruht  wohl  auf  Kompression  der  Wurzel  des 
Hypoglossus.  Patient  fühlt  sich  sicher  und  will  den  ihm  von 
Prof.  Büdinger  vorgeschriebenen  Stützapparat  nicht  verwenden. 

Prof.  Dr.  Otto  Bergmeister  stellt  einen  Fall  von  Knoten¬ 
syphilid  der  L  i  d  h au t  vor. 

Die  Patientin,  32  Jahre  alt,  kam  vor  drei  Tagen  in  die 
Ambulanz  meiner  Abteilung  im  Rudolfspital  mit  der  Angabe,  daß 
sich  vor  fünf  Wochen  die  Anfänge  der  heutigen  Erkrankung  in 
der  Umgebung  defe  rechten  Auges  gezeigt  hätten. 

Wir  finden  in  der  Gegend  des  rechten  inneren  Augenwinkels 
an  der  Seitenwand  der  Nasenwurzel  eine  längsovale  zirka  2  cm 
lange,  1-5  cm  breite,  flache,  braunrot-kupferfarbige,  mit  glän¬ 
zender,  gefelderter  Epidermis  bedeckte,  scharf  begrenzte,  mit  der 
Haut  verschiebbare  Geschwulst.  Der  Rand  fühlt  sich  derb,  das 
Zentrum  weicher  an.  Gegen  das  obere  Lid  ist  die  Geschwulst 
durch  eine  weiße,  lineare  Narbe,  offenbar  älteren  Datums,  abge- 
grenzt.  Jenseits  dieser  Narbe  setzt  sich  die  braunrote  Verfärbung 
auf  die  mediale  Hälfte  des  oberen  Lides  fort  und  sind  hier  kleine 
harte  knötchenförmige  Infiltrate  in  der  Lidhaut  zu  tasten.  Aus¬ 
fall  der  Zilien  ist  nicht  vorhanden. 

Unterhalb  der  inneren  Kommissur  ist  die  Haut  der  Lid¬ 
wangenfurche  ödematös  geschwellt.  Durch  die  ödemaföse  Schwel¬ 
lung  hindurch  tastet  man  einen  kirschkerngroßen  harten,  nient 
verschiebbaren,  am  Periost  des  Orbitalrandes  festsitzenden 
Knoten,  der  sich  nicht  komprimieren  läßt.  Aus  dem  Iränensack 
läßt  sich  durch  Druck  keinerlei  Sekret  entleeren.  Das  Auge 
selbst  war  bis  gestern  reizfrei  und  zeigte  normale  Verhältnisse, 
normalen  Visus,  negativen  Spiegelbefund ;  gestern  war  leichte 
Ziliarinjektion,  im  oberen  Umfang  der'  Kornea  sowie  eine  kleine, 
dunkelbläulich  durchscheinende  Hervorwölbung  im1  äußeren 
oberen  Quadrantein  der  Sklera  hart  am  Limbus  zu  konstatieren. 

Aus  diesem  Befunde  kann  mit  Sicherheit  die  Diagnose 
auf  ein  Knotensyphilid  (Tuberculum  syphiliticum)  der  Lid¬ 
häut,  Gumma  periostale  am  unteren  Orbitalrand  und 
S eler it  is  gummosa  in  der  vorderen  Ziliargegend  gestellt 
werden. 

Sollte  noch  irgend  ein  Zweifel  bestehen,  so  wird  derselbe 
durch  den  weiteren  Hautbefund,  den  ich  nach  den  Angaben  des1 
Herrn  Prim.  v.  Zumbusch,  der  den  Fall  zu  untersuchen  die 
Güte  hatte,  in  kurzein  Schlagworten  zitiere,  beseitigt.  Patientin 
gibt  nämlich  auf  weiteres  Befragen  an,  daß  im  Mai  1910  zuerst 
ähnliche  Knoten  an  der  Haut  am  Halse-  aufgetreten  seien.  Die 
Möglichkeit,  einer  Infektion  datiert  sie  auf  vier  Jahre  zurück, 
jedoch  will  sie  nichts  davon  bemerkt  haben  und  sollen  die  ersten 
Erscheinungen,  wie  gesagt,  erst  im  Mai  vergangenen  Jahres  auf- 
ge treten  sein. 

Es  findet  sich  linkerseits  am  Nacken  über  dem  Kukullans- 
rande  ein  ähnlicher,  kronengroßer,  braunroter  Herd,  im  Zentrum 
eingesunken,  heller;  der  scharfe  wallartige  Rand  von  derber 
Konsisten'z. 

Ober  dem  linken  Sternoklavikulargelenke  tastet  man  in 
der  Haut  drei  linsensroße  harte  Knötchen. 

An  der  linken  Mamma  findet  sich  oberhalb  der  Mamilia 
eine  handtellergroße,  seroiginös  begrenzte  Fläche,,  deren  Ränder 
zart  rosa  gefärbt,  abschilfernd,  leicht  erhaben  sind. 

Der  so  umschlossene  Held  ist  in1  seinem  peripheren  Anteil 
gelblich  gefärbt,  wenig  verändert:  inr  Zentrum  sitzt  ein  zwanzig- 
h  ellergroßer,  braunroter  flacher  Knoten,  von  mehreren  bis  heller 
großen,  braun  pigmentierten,  im  Zentrum  atrophischen,  am  Rand 
wallartig  infiltrierten  Herden  umgeben. 

Die  ganze  zentrale  Partie  schuppt  oberflächlich  ab. 

Innen  unten  von  der  linken  Mamma,  halb  auf  derselben, 
halb  auf  der  Brustwand,  ein  ovaler,  7  ein  langer,  5  cm  breiter 
braunroter  flacher  Knoten,  in  dessen  Zentrum  sich  eine  von 
Gefäßien  durch%og*e[rie  helloro  atrophische  Einsenkung  hör.,  [. 

Am  Rücken  schein  wir  zu  beiden  Seiten  der  Wirbelsäule 
je  einen  hellergroßen,  braunen  Herd;  über  dem  rechten  I  ro- 
chanter  einen  fünfkronengroßen  und  vier  Querfinger  hoher  einen 


*)  IV.,  Gußhausstraße  25. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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kleineren  zwanzighellergroßen  Herd.  Alle  diese  Herde  sind  am 
Rande  infiltriert,  im  Zentrum  narbig  eingesunken.  Ein  ganz  ana¬ 
loger  Herd  jindet  sich  noch  an  der  linken  Wade  unterhalb  der 
Kniebeuge, 

Die  allgemeine  Dni  seinschwel  lung  ist  sehr  gering;  die  Zunge 
laicht  geschwollen,  die  Papillen  vergrößert;  am  linken  Rande 
derselben  zahlreiche  kreisförmige  Erosionen. 

An  den  großen  Labien  am  Genitale  finden  sich  zahlreiche, 
größtenteils  erodierte  Papeln. 

Wassermann  positiv. 

Syphilitische  Erkrankungen  der  Lidhaut  sind  im  ganzen 
selten.  A\  ir  finden  in  der  Literatur  allerdings  eine  ganze  Anzahl 
von  Initialsklerosen  verzeichnet.  Hieran  reihen  sich  die  Beob¬ 
achtungen  von  makulösen  und  papulösein  Syphiliden  sowie  von 
geSchwürig  zerfallenden  Papeln  der  Lidhaut,  endlich  als  Typus 
der  tertiären  Syphilis  das  gummöse  Syphilid.  Die  Literatur  ist 
nicht  arm  an  Fällen  von  ulzerativen,  auf  tertiärer  Syphilis  be¬ 
ruhenden  Prozessen  der  Lidhaut,  an  Fällen  von  ulzerierenden 
gummösen  Geschwülsten,  sowie  von  rupiaartigen  Geschwüren. 

Viel  seltener  scheinen  die  Fälle  von  tuberösem  Syphilid 
(Tubercula  cutanea)  der  Lider  zu  80111',  welche  bei  monatelangem 
Verlaufe  ohne  eigentlichen  Zerfall  unter  oberflächlicher  Abschup¬ 
pung  zur  Resorption  gelangen  mit  Hinterlassung  einer  weißlichen 
atrophischen  Narbe.  Hieher  dürfte  der  vorgestellt©  Fall  gehören, 
der  auch  durch  die  Lokalisation  des  Knotens  in  der  Seitenwand 
des  Nasenrückens  auffällig  erscheint. 

Ganz  dieselbe  Lokalisation  hatte  ich  in  einem  Falle  ge¬ 
sehen,  der  vom  Jahre  1905  bis  1907  viermal  an  meiner  Abteilung 
in  Behandlung  stand.  Das  Bild  ist  in  beiden  Fällen  so  sehr 
ähnlich,  daß  ich  beim  Anblick  diesels  Falles  sofort  an  den  früheren 
erinnert,  die  Diagnose1  stellen  konnte.  In  dem  erwähnten  Falle 
handelte  es  sich  um  eine  63jährige  Frau  mit  beiderseitiger  Irido¬ 
cyclitis  specifica,  bei  der  bei  ihrer  ersten  Aufnahme  im  März 
1905  seitlich  links  an  der  Nasenwurzel  ein  zwanzighellergroßer, 
glänzender,  braunrötlicher  Knoten  der  Haut  mit  derbem  Rande  und 
weicherem  Zentrum  konstatiert  wurde,  der  laut  Anamnese  schon 
U4  Jahre  bestand  und  trotz  während  der  ganzen  Zeit  mit  allen 
Mitteln  fortgesetzter  antiluetischer  Behandlung  erst  ein  Jahr 
später  ohne  Flzeration  mit  Hinterlassung  eines  atrophischen  pig¬ 
mentierten  Fleckes-  zum  Verschwinden  kam'.  Der  Verlauf  des 
Falles  war  ein  sein'  schwerer,  insoferne  der  linke  Bulbus  degene- 
rativ  atrophisch  zugrunge  ging  und  mittels  Enukleation  entfernt 
werden  mußte,  während  am  rechten  Auge  durch  die  Extrak¬ 
tion  einer  Cataracta  accrcta  complicata  ein  leidliches  Sehver¬ 
mögen,  wenn  auch  mit  allseitig  konzentrisch  eingeengtem1  Ge¬ 
sichtsfelde,  erzielt  wurde.  Einen  anatomischen  Grund  für  diese 
auffallende  Lokalisation  des. Tuberculum  cutaneum  in  der  dünnen, 
dem  Knochen  fast  unmittelbar  aufliegenden  Haut  des  Nasen¬ 
rückens,  wüßte,  ich  nicht  anzugeben. 

Zum  Schlüsse  betone  ich  noch  einmal,  daß  die  Patientin 
bisher  in  keiner  Weise  vorbehandelt  ist.  Sie  fühlte  sich  erst 
durch  das  Auftreten  des  Augenleidens  und  da  erst  nach  fünf- 
weich  igem  Zögern  Bemüßigt,  ärztliche  Hilfe  in  Anspruch_zu 
nehmen’. 

Ein  rasches  Eingreifen  scheint  umsomehr  angezeigt,  als1  einer¬ 
seits  noch  ein  normales  Sehvermögen  vorhanden,  anderseits'  aber 
der  Bulbus  in  Form  einer  Scleritis  gummosa  bereits  mit  ergriffen 
und  die  Gefahr  der  Ausbreitung  des  Prozesses  auf  die  tieferen  Ge¬ 
bilde  des,  Auffels,  zunächst  auf  Iris  und  Ziliarkörper  nicht  aus¬ 
geschlossen  ist. 

Ich  gedenke  den  Fall  der  Salvarsänbehandlung  zuzuführen 
und  werde  mir  erlauben,  hei  Gelegenheit  über  den  Erfolg  derselben 
in  diesem  Falle  Bericht  zu  erstatten'. 

Prof.  Dr.  M.  Benedikt:  Ich  stelle  Ihnen  hier  einen  Fall 
vor,  der  für  mich  nach  mehr  als  halbhundertjähriger  Erfahrung 
ein  Unikum,  jedenfalls  ein  Rarissimmn  ist,  nämlich  eine  apo- 
plektiseh  auftretende  unkomplizierte  Tabes,  die  auf 
die  Beine  beschränkt  ist  und  nicht  einmal  ein  Gürtelgefühl  zeigt. 
Ebenso  fehlen  prodromale  Schmerzen  und  überhaupt  sind  wenig 
Schmerzen  vorhanden. 

Der  37jährige  Damenschneider  S.  M..  der  im  hohen  Grade 
durch  fortwährendes  Stehen.  Beugen  und  Knien  überanstrengt 
war,  betrat  am  3.  August  19Ö9  des  Morgens  das  Atelier  mit 
dem  Gefühle  vollständiger  Gesundheit.  Am  Vormittage,  während 
einer  Probe  kniend,  fiel  er  um  und  seitdem  ist  hochgradiger 
Rombergseber  Schwindel  vorhanden.  Er  wurde  sofort  in  ein 
Berliner  Krankenhaus  gebracht,  in  dem  er  mit  kohlensauren 
Rädern  behandelt  und  dann  nach  Oehnbausen  geschickt  wurde. 
Die  Krankheit  wurde  unter  dieser  Behandlung  immer  schlimmer. 

Als  ich  den  Kranken  am  7.  d.  AT.  untersuchte,  waren  alle 
charakteristischen  Symptome  der  Tabes  vorhanden,  nämlich, 


hochgradiger  Romberg,  schleudernder  Gang,  beide  Pupillen  hei 
greller  Beleuchtung  träg  reagierend,  die  linke  weiter  als  die  rechte, 
Patella rreflexe  aufgehoben. 

Auf  cfie  Details  der  Sensibilitätsstörungen,  die  sich  stärker 
am  ganzen  rechten  Beine  und  am  Unterschenkel  und  Fuße  des 
linken  Beines  zeigten,  einzugehen,  erspare  ich  mir  und  ich  be¬ 
merke  nur,  daß  das  Gefühl  der  passiven  Bewegungen  besonders 
rechts  gelitten  hat. 

Der  Fall  interessiert  mich  nicht  bloß  wegen  der  Seltenheit 
des  apoplektiformen  Auftretens,  wobei  freilich  vom  Standpunkte 
der  Denkmethodik  die  Frage  aufgeworfen  werden  muß,  ob  nicht 
schon  vor  dem  „Anfalle“  bereits  Symptome  vorhanden  waren,  die 
ich  als  „theoretische“  bezeichne,  weil  sie  dem  Kranken  nicht 
zu  Bewußtsein  kommen,  nämlich  das  Fehlen  der  Patellarreflexe 
und  veränderte.  Pupillonreaktion.  Dies  Verschwinden  des  Patellar- 
reflexes  hei  der  sofortigen  Untersuchung  kann  durch  den  Anfall 
bedingt  sein;  eine  sofort  konstatierte  veränderte  Pupillenreaktion 
müßte  als  Prodromalsymptom  gedeutet  werden. 

Mich  interessiert  der  Fall  auch  von  der  therapeutischen 
Seite.  Die  Behandlung,  "die  er  erfahren  hat,  war  jedenfalls  un¬ 
zweckmäßig  und  ich  vermute,  daß  der  Kranke  durch  eine  rich¬ 
tige  Behandlung  hätte  geheilt  werden  können.  Wenn  ich  auch 
keinen  so  ausgesprochenen  apoplektiformen  Fall  gesehen  habe, 
so  sind  mir  doch  im  Verlaufe  meiner  langjährigen  Erfahrung 
akut  einsetzende  und  rasch  fortschreitende  Fälle  vorgekommen 
und  bei  diesen  hat  eine  bestimmte  Therapie  nach  meiner  Er¬ 
fahrung,  bleibende  Heilung  gebracht.  Die  erste  therapeutische 
Bedingung  ist  absolute  Bettruhe.  Diese  ist  oft  schwer  durchzu¬ 
setzen,  wenn  die  Kranken  noch  gehfähig  sind  und  ich  müßte  meine 
ganze  Beredsamkeit  aufwenden  und  die  schrecklichsten  Zukunfts¬ 
bilder  ausmalen,  um  die  Kranken  gefügig  zu  machen.  Eine  zweite 
souveräne  Maßregel  ist  lange  Anwendung  von  Kühlschläuchen 
am  Rücken,  mindestens  acht.  Stunden  per  Tag.  Weiters  appli¬ 
zierte  ich  gewöhnlich  blutige  Schröpfköpfe  an  der  Seite  der  Wirbel¬ 
säule, und  als  ein  Hauptagens  ist  der  innerliche  Gebrauch  von 
Secale  cornu  tum  anzusehen.  Ich  gehe  gewöhnlich  3-0  in 
15  Dosen  für  fünf  Tage. 

.  Innerlich  pflege  ich  dann  nach  dem  Sekalo  Nitras  argen ti 
anzuwenden.  Von  diesem  von  Wunderlich  seinerzeit  so  warm 
empfohlenen  adstringierenden  Mittel  habe  ich  eigentlich  nur  einen 
eklatanten  Erfolg  außer  in  einem  von  Du  che  k  behandelten 
akuten  Falle  gesehen1. 

Die  soeben  geschilderte  Therapie:  Ruhe,  Kälteapplikation, 
Schröpftöpfe  und  Secale  cornutum  bewähren  sich  auch  bei  Nach¬ 
schüben  spinaler  Affektionen,  z.  B.  Paraparesis,  Tabes,  indem 
wenigstens  ein  teilweiser  Rückgang  der  Verschlimmerung  rasch 
erzielt  wird.  Vieles  spricht  dagegen,  daß  in  diesem  Falle  eine 
Blutung  in  den  Hintersträngen  stattgefunden  habe,  vielmehr  ist  die 
Annahme  begründet,  daß  es  sich  um  eine  funktionelle  Kongestion 
in  denselben  gehandelt  habe  und  daß  diese  Hyperämie  den  Verlauf 
der  R  ok i  t an  s ky  sehen  sogenannten  „Hyperämie  mit  Binde¬ 
gewebswucherung“  genommen  hat. 

Ich  will  hier  bemerken,  daß  der  Kranke  durch  Halbbäder, 
Galvanisation  und  Hebungen  etwas  gebessert  war,  als  ich  ihn 
zuerst  sah  und  daß  durch  den  Gebrauch  von  Secale  cornutum 
eine  weitere  auffallende  Besserung  seines  schweren  Zustandes 
cincetreten  ist.  Ich  behalte  mir  weitere  therapeutische  Ver¬ 
suche  vor. 

Der  Arortragende  erinnert  hei  dieser  Gelegenheit  wieder  an 
das  plötzliche  Einsetzen  der  Erscheinungen  hei  einer  anderen 
Krankheit,  die  wir  gewöhnlich  als  eine  chronisch  fortschreitende 
beobachten.  In  einem  Fälle  trat,  innerhalb  24  Stunden  eine  schwere 
Kynhnse  der  un  tcpin  Hälfte  der  Wirbelsäule  auf,  die  sichals  durch 
Pares U  der  Rückenmuskelu  bedingt  zeigte.  Außerdem  zeigte  der 
früher  Gesunde  alle  Erscheinungen  der.  progressiven  MuskeJ- 
atrophie.  deren  Diagnose  auch  an  ex  zi  dienten  Muskelstücken 
histologisch  erwiesen  wurde.  Der  Kranke  wurde  durch  Gal¬ 
vanisation  geheilt. 

Dr.  Maximilian  Hirsch:  Meine  Herren!  In  der  Frakturen 
behänd  hing  stehen  die  Extensionsverb  ä  n  d  e  gegenwärtig  im 
Vordergrund  des  Interesses.  Für  die  untere  Extremität  sind 
sie  auch  bereits  ziemlich  allgemein  eingeführt  und  wir  haben  auch 
gewisse  Fortschritte  gemacht.  Der  B arden  heu  ersehe  Exten¬ 
sionsverband  leistet  Vorzügliches;  für  gewisse  Fälle  bewährt 
sich  die  Nag el  ex  t  en  si  o n  nach  C  odi  villa- Stein m  ann 
sehr  gut;  Hofrat  v.  Eiseisberg  hat  in  der  letzten  Sitzung  einen 
derartigen  instruktiven  Fall  vorgestellt ;. endlich  wären  die  Zup 
pinger  sehen  Verbände  zu  erwähnen,  über  die  ja  noch  zu 
sprechen  sein  wird.  Anders  verhält  es  sich  mit  den  Extensionä- 
verbänden  an  der  oberen  Extremität,  die  noch  auf  gewisse 
Schwierigkeiten  stoßen.  Deswegen  möchte  ich  mir  erlauben  au? 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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der  Abteilung  des  Herrn  Prof.  Schnitzler  einen  Verband  zu 
demonstrieren,  der  sich  uns  seit  IVa  Jahren  bei  allen  Frak¬ 
turen  am  Humerus  bestens  bewährt  hat,  der  sehr  einfach  und 
unkompliziert  ist,  es  ist  dies  der  portative  Ex  tensions¬ 
verband  nach  B orchgr evink. 

Das  Wesentliche  ist  eine  Holzschiene,  die  unten  mit  einer 
Rolle,  oben  mit  einem  breiten  Metallbügel  ausgestattet  ist;  sie 
ist.  mit  Hilfe  eines  Spenglers  sehr  leicht  zu  improvisieren.  Ori¬ 
ginell  ist  die  Art  ihrer  Befestigung :  Der  Bügel  wird  am  Armloch 
der  Weste  angenäht.  An  dieser  Schiene  wird  die  Extension  fol¬ 
gendermaßen  angebracht:  Am  Oberarm  wird  ein  gewöhnlicher 
Heftpflasterextensionsverbänd  angelegt;  von  diesem  geht  eine 
Schnur  ab,  läuft  über  die  Rolle,  dann  an  der  Rückseite  der  Schiene 
wieder  in  die  Höhe  und  geht  in  ein  fingerdickes  Drainrohr  über, 
das  am  oberen  Ende  der  Schiene  befestigt  wird.  Spannt  man 
nun  den  Schienenschlauch  an,  so  beginnt  der  Längszug,  aber  die 
Schiene  sucht  zunächst  nach  oben  zu  entweichen;  deswegen 
muß  noch  eine  Kontraextension  angebracht  werden  und  zwar 
mit  Hilfe  eines  Perinealschlauches:  ein  Gummischlauch  wird 
durch  den  Schritt  des  Patienten  geführt,  und  vorn  und  hinten 
an  der  Weste  befestigt;  jetzt  ist  die  Extension  wirksam. 

Dieser  Verband  ist  viel  einfacher,  als  es  die  Beschreibung 
vielleicht  vermuten  läßt,  er  wirkt  ausgezeichnet  und  belästigt 
den  Patienten  gar  nicht.  Er  hat  noch  den  unschätzbaren 
Vorteil,  daß  die  Schulter  frei  bleibt  und  somit  sofort  passive 
Bewegungen  der  Schulter  und  Massage  des  Musculus  deltoides 
möglich  sind,  was  ja  bei  diesen  Brüchen  ungemein  wichtig  ist. 
Dadurch  unterscheidet  er  sich  vorteilhaft  vor  änderen  Ex  ten¬ 
sionsverbänden,  z.  B.  von  der  Gussenb  a  urschen  und  Bar  de  fl¬ 
it  «urschen  Schiene,  die  überdies  viel  komplizierter  sind.  Am 
nächsten  kommt  ihm  noch  der  Extensionsverband  mit  dem 
11  am  i  1 1  o  n  sehen  Baumelgewicht,  der  aber  den  Nachteil  hat, 
im  Liegen  nicht  verwendbar  zu  sein.  Auch  Prof.  Frank  hat 
einen  portativen  Extensionsverband  mit  Gummizug  angegeben  ; 
dieser  erfordert  aber  einen  Gipsring  um  die  Schulter,  so  daß 
der  Indikation  der  Deltoidesmassage  nicht  entsprochen  werden 
kann. 

Wir  können  aus  allen  diesen  Gründen  den  B  o  r  c  h  g  r  e  v  i  n  k- 
schen  Verband,  der  von  seinem  Erfinder  vor  zirka  drei  Jahren 
publiziert  worden  ist,  bestens  empfehlen. 

Diskussion:  Dr.  0.  v.  Frisch  teilt  mit,  daß  an  der  Klinik 
v.  Eiseisberg  schon  seit  mehreren  Jahren  ein  Extensions- 
appärat  für  Oberarmbrüche  in  Verwendung  steht,  der  sich  spe¬ 
ziell  für  Quer-  und  Schrägfrakturen  sehr  bewährt  hat. 

Das  Prinzip  desselben  besteht  darin,  daß'  am  Arm  zwei 
Heftpflasterschlingen  in  entgegengesetzter  Richtung  angeklebf, 
werden,  in  deren  über  der  Schulter,  bzw.  unter  dem  Ellbogen  be¬ 
findlichen  Umschlagstellen  die  Haken  zweier  Zahnstangen  ein 
■  greifen.  Letztere  laufen  an  der  Außenseite  des  Armes,  parallel 
mit  demselben  und  sind  an  einer  Hohlschiene  befestigt,  welche 
mit  einer  einfachen  Binde  am  Arm  fixiert  wird.  Mit  Hilfe  eines 
Schlüssels  können  diese  Zahnstangen  distrahiert  und  damit  die 
Extension  beliebig  dosiert  werden.  Der  Verband  ging  hervor  aus 
verschiedenen  Verbesse  rungs-  und  Vereinfachungsversuchen  an 
einer  1901  von  Sultan  an  der  Königsberger  Klinik  konstruierten 
Vorrichtung  zur  ambulanten  Extensionsbehandlung  der  Ober 
armbrüche. 

Prof.  Dr.  A.  Pilcz  hält  seinen  angekündigten  Vortrag:  „Zur 
Prognose  und  Therapie  der  progressiven  Paralyse.“ 
(Erscheint  ausführlich.^ 


Wiener  dermatologische  Gesellschaft. 

Sitzung  vom  23.  November  1910. 

V orsitzende :  Riehl,  N  o  b  1. 

Schriftführer:  Kren. 

I)ohi  (Tokio)  demonstriert  die  Moulage  eines  Falles  von 
echter  Impetigo  contagiosa  (Tilbury  Fox).  An  Wangen, 
Stirne  und  Kinn  verstreut  finden  sich  in  gesunder  Haut  oder  von 
einem  leicht  rosa  gefärbten  Hof  umgeben  Bläschen  mit  meist 
klarem  oder  nur  wenig  getrübtem  Inhalt.  Daneben  bestehen  ero¬ 
dierte  Flächen  mit  Membranfetzen  am  Rande  oder  mit  dünnen 
Krusten  bedeckt,  die  nie  die  Grenze  der  erodierten  Fläche  über¬ 
schreiten.  Diese-  akute  Blaseneruption  im  Kindesalter  findet  sich 
fast  ausschließlich  im  Sommer  und  klingt  durchschnittlich  in 
acht  Tagen  bis  drei  Wochen  ab. 

Zum  Vergleiche  demonstriert  Do  hi  die  Abbildung  eines 
Falles  der  in  Japan  seltenen,  in  Europa  häufigeren  Form  von 
Impetigo,  welche  mit  der  Bildung  dicker,  wachsgelber  Krusten 
einhergeht  und  die  fälschlich  mit  der  Impetigo  Tilbury  Fox 


identifiziert  wird.  Die  beiden  Formen  unterscheiden  sich  schon 
durch  ihren  bakteriologischen  Befund,  insofern  Do  hi  nachweisen 
konnte,  daß  sich  bei  der  echten  Impetigo  contagiosa  (Tilbury  F'oxy 
stets  Staphylococcus  pyogenes  albus,  hei  der  Impetigo  conta 
giosa  vulgaris  stets  Streptokokkus  findet.  Durch  die  Vermengung 
beider  Formen  sind  auch  die  nicht  eindeutigen  ätiologischen  Be¬ 
funde  von  Matzenauer  und  Lewandowsky  zu  erklären. 

Fasal  stellt  aus  der  Abteilung  No  bl  eine  TOjälmge  Pa¬ 
tientin  vor,  deren  Affektion  wegen  des  eigenartigen  und 
ganz  besonders  hartnäckigen  Verlaufes  interessiert.  Die 
Patientin  leidet  seit  April  dieses  Jahres  an  Bläschen  hi  id  utig 
an  den  Fingern,  die  sich  bald  vermehrte  und  das  Bild  eines 
akuten  nässenden  Flkzems  zeigte.  Rötung,  Schwellung,  Nässen 
veranlaßten  Pat.  im  Mai  Spitalspflege  aufzusuchen.  Die  ent¬ 
zündlichen  Prozesse  waren  damals  stärker  ausgeprägt  wie  jetzt.. 
Die  Finger  geschwollen,  besonders  stark  die  kolbig  aufgetriebenen 
Endglieder,  die  eitrige  Nagelbettentzündung  zeigten.  An  den  Fin¬ 
gern  der  rechten  Hand  sind  alle  Nägel  bis  auf  den  des  Ring¬ 
fingers  abgestoßen,  an  der  linken  Hand  die  Nägel  des  Dau¬ 
mens,  Zeige-  und  kleinen  Fängers.  An  den  Unterarmen  zeigten 
sich  zeitweise  leichte  Ekzemherde,  der  Stamm  war  stets  frei 


von  Ekzem. 

Therapeutisch  wurde  von  der  antiphlogistischen  Therapie 
angefangen  alles  versucht.  Alle  möglichen  Salben,  Trockenbehand 
lung,  Arg.  nitr.,  Coaltar  usw.  kamen  zur  Anwendung.  Es  zeigte 
sich  keine  Neigung  zur  Heilung. 

Das  Auffallende  an  diesem  Falle  ist,  daß  gar  keine  Tendenz 
zur  Epithelisierung  vorliegt;  es  bildet  sich  immer  nur  ein  dünnes 
Häutchen,  welches  stecknadelkopfgroße  Eiterherde  einschließt, 
während  die  eigentliche  Verhornung  ausbleibt.  Beide  Daumen 
sind  überstreckt,  dorsalwärts  gebogen  und  ebenso  wie  der  Zeige¬ 
finger  und  der  Mittelfinger  der  rechten  Hand  ankylosiert.  Interne 
Untersuchung,  Nerven-,  Blut-,  Ham-,  Röntgenuntersuchungen  er¬ 
gaben  negatives  Resultat. 

Riehl:  Ich  glaube,  die  Patientin  vor  einiger  Zeit  ge¬ 
sehen  zu  haben  und  habe  die  Erkrankung  als  Dermatitis,  durch 
irgendeine  äußere  Ursache  hervorgerufen,  aufgefaßt.  Es  gibt  chro¬ 
nische  Dermati tiden,  die  teils  dem  Ekzem,  teils  der  Psoriasis 
ähnlich  sind  und  gegebenenfalls  nicht  mit  einem  bestimmten 
Namen  belegt  werden  können.  Solche  Formen  pflegen  gegen 
Ekzem-  und  Psoriasisbehandlung  sich  äußerst  hartnäexig  zu  ver¬ 
halten. 

Kren  erinnert  sich  eines  ähnlichen  Falles,  in  dem  auch 
nur  die  Endphalangen  erkrankt  waren  und  gleich  starke  Ex¬ 
sudation  zeigten.  Sämtliche  Finger  waren  kolbig  aui’getriebeu: 
Die  Erkrankung  fand  sich  bei  einer  Gravida  und  konnte  damals 
nicht  diagnostiziert  werden.  Nach  dem  Partus  ist  die ..Affektion 
spontan  abgeklungen.  Bei  der  nächsten  Gravidität  die  gleiche 
Erkrankung.  Damals  bestanden  neben  der  Firiger.erkrankung  einige 
typische  Plaques  von  Psoriasis  am  Stamm,  welche  wohl  auch 
einen  Rückschluß  auf  die  Affektion  der  Finger  gestatten -dürften, 
obwohl  sie  mit  sehr  starker  Exsudation  einhergegangen  ist. 

Ehrmann  kennt  Fälle  von  Psoriasis,  die  teils  aus-  be¬ 
kannten  Ursachen  (Dermatitis),  teils  aus  unbekannten  ekzematös 
werden  (Dermatitis,  Erythroderma  exfoliativa  secundaria  Broeq), 
andrerseits  typische  Ekzeme  der  Nagelglieder,  die:  zur  Abstoßung 
der  Nägel  führen.  Hier  ist  außerdem  ein  nummuläres,  folliku¬ 
läres  Ekzem  am  Vorderarme,  deshalb  kann  sich  Ehrmann 
der  Diagnose  Psoriasis  nicht  anschließen. 

Sc  her  her  hat  an  der  Klinik  Finger  in  den  letzten  Jahren 
zwei  Fälle  gesehen,  die  dem  vorgestellten  recht  nahe  stehen;  bei 
den  Fällen  fanden  sich  ganz  ähnliche  Veränderungen  an  den 
Fingern  und  wurde  die  Diagnose  Psoriasis  vulgaris  duich  typi¬ 
sche  Herde  dieser  Erkrankung  am  Stamme  gestützt.  Beide  Fäll  ' 
betrafen  Frauen;  der  eine  Fall  ist  der  auch  von  Kren  erwähnte. 

No  bl  bemerkt,  daß  die  Eigenart  des1  Falles  in  der  ununtei- 
brochenen  Exfoliation,  subepithelialen  Eiterbildung  und  Krusten- 
auflagerung  gelegen  ist.  Es  fehlt  eine  Tendenz  zu  solider  Epi¬ 
thelproliferation.  Diese  vermag  auch  durch  keratoplastische  Mittel 


aus  der  Abteilung  No  bl  einen  Lupus 
Neben  frischeren,  typischen  ErSchei- 

den 


nicht  angeregt  werden. 

S  p  r  i  n  z  e  1  s  stellt 
erythematodes  vor. 
innigen  am  Nasenrücken 
Ohrmuscheln  finden  sich  .....  ... 
einer  zarten,  narbig-atrophischen  Haut  bedeckte  Herde,  das 
sultat  einer  spontanen  Ausheilung.  • 

Leiner  stellt  aus  dem  Karolinen-Kinderspitale  ein  J  ü 
nate  altes  Mädchen  vor*  hei  dem  es  durch  Ulzeralion1 


und  angrenzenden  Partien,  sowie 
an  den  seitlichen  Wangenpartien 


von 

Re 

Mo- 

zur 


Spontanheilung,  eines  Angioms  im  Gesichte  und  durch 
lenseiben  Vorgang  zu  einem  Defekt  des  knorpeligen  Nasensep  mm 
;ekommen  ist. 


Ar.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT,  lull. 


Bei  der  Geburt  zeigte  das  Kind  ein  zirka  handtellergroßes 
Angiom,  das  sich  von  der  Schläfe  bis  über  die  Mitte  der  Wange 
erstreckte  und  ein  zweites,  das  das  Filtrum.  der  Oberlippe  aus¬ 
füllte  und  sich  von  hier  auf  die  Schleimhaut  des  knorpeligen 
Nasenseptums  und  über  das  Lippenrot  in  einem  schmalen  Streifen 
auf  die  Schleimhaut  der  Oberlippe  fortsetzte.  Nach  der  Angabe 
der  Mutter  soll  in  der  zweiten  Lebenswoche  ohne  eine  beson¬ 
dere  Ursache  an  beiden  Angiomen  gleichzeitig  ein  gesch wütiger 
Zerfall  begonnen  haben.  Lein  er  sah  das  Kind  gegen  Ende 
des  ersten  Monats  zum  erstenmal  und  konnte  damals  ein  schmierig 
belegtes  Geschwür  am  Schläfenrande  des  Waingenangioms  und 
einen  kleinen  Substanzverlust  am  Nasenseptum  am  Ansätze  der 
Oberlippe  konstatieren.  Seit  dieser  Zeit  steht  das  Kind  ständig 
in  ärztlicher  Beobachtung.  Im  Laufe  von  über  einem  halben 
Jahre  ergriff  die  Ulzeration  das  ganze  Wangenangiom  und  führte 
andrerseits  zu  einer  völligen  Destruktion  des  knorpeligen  Sen- 
tums.  An  Stelle  des  früher  bestandenen  Angioms  ist  heute  an,  der 
rechten  Gesichtshälfte  eine  weißglänzende,  strahlige,  straff  an¬ 
liegende  Narbe  zu  sehen,  an  deren  Rand  nur  einzelne  Gefä߬ 
verzweigungen  und  knötchenförmige  Angiome  an  die  frühere 
Affektion  erinnern.  An  der  Nase  ist  ein  recht  entstellender  Defekt 
des  knorpeligen  Septums  zürückgeblieben. 

Riehl  fragt,  ob  bei  diesem  Falle  nicht  doch  eine  Be¬ 
handlung  von  andrerer  Seite  eingeleitet  worden  ist.  Die  ausge¬ 
dehnte  Narbe  läßt  Röntgen-  oder  Radiumbehandlung  vermuten. 
Riehl  ersucht  auch  den  Vortragenden  Genaueres  über  die  Natur 
des  Ulzerationsprozesseisi  mitzuteilen. 

No  bl  hat  in  einer  Reihe  von,  Fällen  die  Verödung  zirkum¬ 
skripter  Hämangiome  des  frühen  Kindesalters  durch  Vakzination 
angestrebt.  Die  hiebei  erfolgte  Destruktion  hat  jedoch  nur  bei 
oberflächlich  sitzenden  Malen  eine  Involution  der  ektatischen 
Gefäße  zu  bewirken  vermocht. 

Leinen  Die  Ulzeration  stellte  sich  nicht  als  Folge  einer 
therapeutischen  Maßnahme,  sondern  spontan  ohne  irgendeine  be¬ 
sondere  Ursache  ein.  Mit  der  Ulzeration  dürfte  eine  Obliteration 
der'  Gefäße  Hand  in  Hand  gegangen  sein,  da  es  niemals  zu  irgend¬ 
einer  Blutung  aus  dem  Angiom  kam.  Durch  Vakzination  auf 
Angiome  kann  man  mitunter  dieselben  zur  Verödung  bringen,  doch 
möchte  L einer  im  allgemeinen  davon  abraten,  einmal,  weil 
es  bisweilen  von  da  aus  zu  Entzündungsprozessen  und  Infek¬ 
tionen  (Phlegmone,  Erysipel)  gekommen  ist  und  dann,  weil  hie¬ 
durch  das  eine  oder  andere  Mal  durch  Eindringen  von  Lymphe 
in  die  Gefäße  des  Angioms  eine  generalisierte  Vakzine  provoziert 
werden  kann. 

No  bl  demonstriert  einen  Fall  von  Lymphogranulo¬ 
matosis  cutis.  Die  bisher  nur  einmal  von  S.  Grosiz  beob¬ 
achtete  Hauterkrankung  betrifft  einen  21jährigen  Hochschüler, 
der  sich  bis  zu  Beginn  dieses  Jahres  der  besten  Gesundheit  er¬ 
freute.  Anfangs  Januar  entwickelten  sich  in  der  rechten  Supra- 
klavikulargrube  rasch  wachsende  Lymphknoten,  denen  sich  als¬ 
bald  weitere  an  der  seitlichen  Halsgegend  hinzugesellten.  Die  Ge¬ 
schwülste  waren  bis  Ende  März  zu  einem  zusammenhängenden 
zweifaustgroßen,  scheinbar  einheitlichen  Tumor  gediehen.  Um 
diesie  Zeit  begannen  auch  die  gleichseitigen  Achseldrüsen  rasch 
an  Umfang  zuzunehmen.  Die  Drüsengeschwülste  wurden  im  Laufe 
des  Monats  April  in  Krakau  exstirpiert.  Bis  Mitte  Mai  hatte  der 
gleiche  Wucherungsprozeß  von  den  linksseitigen  Hals-,  Unter¬ 
kiefer-  und  Supraklavikulardrüsen  Besitz  ergriffen.  Die  hier 
situierten,  teilweise  miteinander  konfluierenden  apfelgroßen  Tu¬ 
moren  gingen  während  einer  siebenwöchigen  Jodkur  und  nach 
35  Arseninjektionen  größtenteils  zurück.  Schon  nach  wenigen 
ochen  war  aber  ein  neuerliches  mächtiges  Anschwellen  der 
Drüsenpakete  mit  einer  gleichzeitigen,  diffusen  Rötung  und  ödema- 
tösen  Schwellung  der  linken  Gesichtshälfte  zu  verzeichnen.  Da 
überdies  auch  in  der  linken  Achselhöhle  ein  über  apfelgroßer 
Drüsen  tumor  zur  Entwicklung  gelangte,  wurde  neuerlich  eine  Jod- 
und  Arsenbehandlung  eingeleitet,  ohne  jedoch  von  Erfolg  begleitet 
zu  sein.  Eine  hinzugetretene  linksseitige  Pleuritis  führte  den  Pa¬ 
tienten  einer  Wiener  Krankenanstalt  zu,  in  welcher  er  zwei  Mo¬ 
nate  behandelt  wurde.  Während  des  Spitalsaufenthaltes  trat  eine 
diffuse  ödematöse  Schwellung  der  linken  Thoraxhälfte  auf  und 
begannen  die  linkseitigen  Leistendrüsen  eine  mächtige,  knollige 
Auftreibung  zu  erfahren.  Nach  dem  Rückgänge  der  mit  Rötung 
und  Brennen  verbundenen  diffusen  Hautveränderung,  bemerkte 
Patient  zuerst  das  Auftreten  einzelner,  sich  bald  vermehrender 
Knötchen  am  Stamme. 

In  der  rechten  Präaurikulargegend,  am  Hals,  Nacken,  Achsel¬ 
höhle  links  und  in  der  linken  Leistengegend,  wölben  sich  walnuß- 
bis  apfelgroße,  derbe,  von  normalem  Integument  überkleidete 
Drüsengeschwülste  vor.  An  der  linken  Thoraxhälfte  sitzen  in 
disperser  Einstreuung  linsen-  bis  haselnußgroße,  deutlich  pro¬ 


minente,  blauviolette,  derbe,  in  die  tiefe  Kutistextur  eingelassene 
Knoten.  Eine  ähnlich  beschaffene,  mehr  abgeflachte,  braunrote, 
kronenstückgroße,  kutane  Knotenbildung  ist  an  der  rechten  Thorax- 
hälfto  unterhalb  der  axillaren  Operationsnarbe  wahrzunehmen. 
Ueberdics  sind  durch  das  subkutane  Zellgewebe  mehrere,  leicht 
verschiebliche,  bis  nußgroße  Tumoren  durchzutasten.  Die  wieder¬ 
holte  Blutuntersuchung  ergab  das  Bild  der  absoluten  und  relativen 
Leukozytose.  Eingestellte  Schnitte  eines  exzidierten  Haut¬ 
knotens  zeigen  eine  diffuse  und  herdförmige  Infiltratdurchsetzung 
des  Koriums  bis  an  das  Unterhautfettgewebe.  Die  Infiltrate  sind 
aus  Lymphozyten,  Plasmazellen,  Mastzellen,  großen,  polymorph¬ 
kernigen  Elementen,  Riesenzellen  mit  mittelständigen  Kernen  und 
1  ibroblasten  zusammengesetzt.  Das  Zwischengewebe  bestreiten 
die  unveränderten,  kollagenen  Faserzüge  des  Standortes.  Die 
diffusen  Infiltrate  der  oberen  Hautschichten  schließen  sich  den 
glandulären  Anhängen  an.  Die  Erkrankung  deis  Drüsenapparates 
entspricht  der  von  0.  Sternberg  beschriebenen,  unter  dem 
Bilde  der  Pseudoleukämie  verlaufenden  malignen  Granulom¬ 
bildung,  welche  er  in  einem  Teil  der  Fälle  zur  Tuberkulose 
in  ätiologische  und  pathogenetische  Beziehung  bringt.  Die  Struktur 
der  Hautknoten  zeigt  eine  weitreichende  Uebereinstimmung  mit 
jenen  Hautläsionen,  welche  Grosz  zum  erstenmal  im  Verlaufe 
der  S  tern berg  sehen  Krankheit  beobachtet  und  als  Lympho¬ 
granulomatosis  cutis  der  G  r  a  n  u  1  o  m  a  t  o  s  i  s'  t  ex  t  u  s  1  y  m- 
P  h  a  t  i  c  i  an  die  Seite  gestellt  hat. 

Oppenheim  demonstriert  einen  61jährigen  Patienten  mit 
einem  typischen  krebsscherenähnlichen  Sp  on  tanke  1  o  id  über 
dem  Sternum.  Mit  28  Jahren  trat  es  zum  erstenmal  auf,  wurde 
dem  35jährigen  Manne  exzidiert  und  danach  entwickelte  sich 
das  vorliegende  Krankheitsbild.  Die  Haut  über  den  Keloiden  ist 
verschieblich,  mit  Haaren  und  Komedonen  besetzt,  der  zentrale, 
über  dem  Sternum  liegende  Teil  nicht  hypertrophisch.  Andere 
Verletzungen  des  Mannes  zeigen  keine  Keloidbildungen.  Man  kann 
annehmen,  wie  Schram ek  bei  zwei  Fällen  meint,  daß  es  sich 
hiebei  um  nävusähnliche  Bildungen  handelt,  wogegen  auch  der 
späte  Beginn  nicht  spricht. 

Neugeb  au  er  demonstriert  aus  dem  Ambulatorium  Oppen¬ 
heim  einen  Patienten  mit  hochgradiger  Hyperkeratosis  und 
Schwielenbildung  an  den  Plantae  pedis,  sowie  an  bestimmten 
Stellen  der  rechten  Hand.  Der  Patient  ist  Anstreicher  und  bei 
Berücksichtigung  der  Beschäftigung  und  der  näheren  Anamnese  er¬ 
gibt  sich,  daß  Patient  gerade  an  den  Stellen  Verdickungen  auf¬ 
weist,  wo  er  —  an  der  Hand  —  den  Pinsel  hält  und  wo  durch 
die  Körperlast  die  Haut  einem  besonderen  Drucke  ausgesetzt 
ist,  an  den  Fußsohlen.  Zudem  kommt  auch  das  andauernde 
Stehen  und  das  Gehen  auf  und  mit  der  Leiter.  Vom  Jahre  18‘J2 
bis  1895  bestand  llyperidrosis  pedum,  dann  hörte  diese  auf  und 
der  gegenwärtige  Zustand  bildete  sich  aus. 

Br  and  weiner  demonstriert:  1.  Einen  Mann  mit  einem 
p  a  p  u  1  ö  s  e  n  Erstlingsexanthem,  das  dad urch  merkw ürdig 
ist,  daß  die  überwiegende  Zahl  der  papulösen  Effloreszenzen 
im  Areale  von  großen  Pityriasis  versicolor- Plaques 
steht.  Wohl  kommen  auch  auf  der  von  Pityriasis  versicolor  freien 
Haut  Papeln  vor,  doch  sind  sie  viel  spärlicher  als  innerhalb  der 
erwähnten  Plaques,  die  in  überflachhandgroßer  Ausdehnung  in 
den  Axillen,  am  Bauche  und  Rücken  situiert  sind. 

2.  Einen  Mann  mit  ausgebreiteter  Roseola  syphilitica. 
Infektion  Februar  1910,  erstes  Exanthem  und  Beginn  der  Frik¬ 
tionskur  April  1910.  Einen  Monat  nach  dieser  (32  Einreibungen) 
Rezidiv  und  Behandlung  mit  zwölf  halben  Hydrargyrum  salicyli- 
cum  -  Injektionen.  Mitte  August  wegen  abermaligen  Rezidives 
0-5  g  Arsen  oben  zol.  Mitte  Oktober  1910  Serumreaktion  negativ 
und  nun  —  einen  Monat  später  —  abermals  ein  Rezidiv.  Diese 
Rezidivroseola  imitiert  ein  Erstlingsexanthem,  von  Gruppenbil¬ 
dung  der  Effloreszenzen  ist  nichts  wahrzunehmen.  Einige  Flecke 
sind  orbikuliert,  sie  bilden  kleine,  vollkommen  geschlossene  Ringe. 
Daß  das  kutane  Rezidiv  einem  Erstlingssyphilid  so  ähnlich  ist, 
ist  leicht  begreiflich,  weil  die  Syphilis  weder  durch  Quecksilber, 
noch  durch  Arsen  ■wesentlich  beeinflußt  wurde. 

Riehl  kann  sich  der  Ansicht,  daß  das  vorliegende  makulöse 
Exanthem  einer  primären  luetischen  Roseola  gleiche,  nicht  an¬ 
schließen.  Bei  der  äußerst  dichten  Anordnung  des  Exanthems 
läßt  sich  über  die  Gruppierung  kein  bestimmtes  Urteil  fällen; 
dagegen  sind  deutlich  einzelne  armuläre  Effloreszenzen  nach¬ 
zuweisen. 

Müller:  Ich  möchte  auf  die  negative  Serumreaktion  im 
Falle  Brand  wein  er  s  aufmerksam  machen,  die  sicherlich  kein 
Zufall  ist.  Wir  sahen  vielmehr  in  den  vereinzelten  Fällen  sekun¬ 
därer  Lues  mit  negativem  Wassermann  immer  einen  etwas  schwe¬ 
reren  Verlauf  durch  maligne  Form  der  Einzeleffloreszenzen  oder 
häufiges  Rezidivieren,  so  daß  vielleicht  beide  Erscheinungen : 


Nr.  .4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


149 


negative  Wassermann-Reaktion  und  schwere  Form  der  Lues,  aut 
dieselbe  Ursache,  Mangel  der  Antikörperbildung,  zurückzuführen 
sein  könnten.  1 

Brandw  einer  bemerkt  gegenüber  Riehl,  daß  die  Orbi 
kuberung  der  Einzeleffloreszenz  nicht  für  die  Rezidivroseola  als 
charakteristisch  angesehen  werden  kann,  weil  man  dieses  Phä¬ 
nomen,  die  Ringbildung,  auch  häufig  bei  den  Elementen  eines 
hmge  bestehenden  Erstlingsexanthems  beobachten  kann. 

Lipschiitz  demonstriert  aus  der  Abteilung  des  Primarius 
Rusch  (Wiedener  Krankenhaus): 

1.  Eine  33jährige  Frau  mit  einem  Sy  ring  oz  y  s  taden  om. 
Am  Halse  findet  man  Stecknadelkopf-  bis  kleinerbsengroße,  leicht 
vorspringende,  blaßgelbliche  oder  gelbrötliche,  mäßig  derbe  Knöt¬ 
chen,  die  teils  einzeln,  teils  in  kleinen  Gruppen  angeordnet  sind 
und  über  das  Niveau  der  normalen  Umgehung  deutlich  vorspringen. 
Am  Stamme,  namentlich  auf  den  Seitenteilen  des  Thorax,  über 
den  Mammae  und  in  der  Regio  epigastrica  sieht  man  ähnliche 
Effloreszenzen,  jedoch  von  gelbbrauner  Farbe  und  nach  Art 
eines  Exanthems  zerstreut  angeordnet.  Die  histologische  Unter¬ 
suchung  zweier  Effloreszenzen  ergibt  einen  für  Syringozystadenom 
vollkommen  typischen  Befund. 

2.  Eine  ältere  Patientin  mit  größtenteils  abgeheilten  EHlores- 
zenzen  eines  papulo-nekrotischen  Tuberkulids  auf  der 
Streckseite  der  Extremitäten  und  am  Abdomen  (in  der  Sclinür- 
furche).  ln  der  rechten  Schultergegend  findet  man  ferner  einen 
über  handtellergroßen  Herd,  der  aus  drei  Anteilen  sich  z  sammen- 
setzt,  im  Niveau  der  Haut  liegt  und  einen  gelbbräunlichen  Farben¬ 
ton  aufweist.  Bei  genauer  Betrachtung  läßt  sich  feststellen,  daß 
der  Herd  aus  streifenförmigen  Flecken  zusammengesetzt  ist,  die 
miteinander  Zusammenhängen  und  ein  verschwommenes  Netz¬ 
werk  bilden.  Die  Infiltration  ist  sehr  gering,  auf  Druck  blassen  die 
Streifen  ab,  es  bleibt  jedoch  eine  gelbliche  Farbennuance  ber 
stehen.  'Teleangiektasien  sind  nicht  nachweisbar.  Die  Affektion 
besteht  seit  drei  Monaten.  Wir  möchten  mit  Reserve  diese 
Erkrankung  auf  dieselbe  Noxe,  die  für  das  Tuberkulid  verantwort¬ 
lich  zu  machen  ist,  beziehen  und  annehmen,  daß  es  sich  um 
eine  entsprechend  dem  tiefen  Gefäßnetz  lokalisierte,  mit  geringer 
Infiltration  einhergehende  Hautveränderung  handelt.  Bemerkens¬ 
wert  ist  auch  die  sehr  häufig  gerade  auf  der  Streckseite  der 
oberen  Extremitäten  nachweisbare  Cutis  marmorata,  sowie  ferner 
die  Tatsache,  daß  eine  rechtseitige  Arthritis  crepitans  vor¬ 
liegt. 

3.  Einen  bereits  vor  vier  Wochen  demonstrierten  Fall  von 
Lupus  vulgaris  auf  beiden  Seiteinteilen  des  Halses,  der  vor 
einigen  Jahren  der  Lues  gegenüber  einige  differentialdiagno¬ 
stische  Schwierigkeiten  bereitete. 

Ehrmähn  Schließt  sich  auch  heute  der  Diagnose  Lupus  an, 
die  er  ursprünglich  vor  drei  Jahren  gestellt.  Nur  mit  Rücksicht 
auf  den  drei  Monate  lang  positiven  Wassermann,  dessen  Be¬ 
deutung  damals  noch  nicht  richtig  eingeschätzt  wurde,,  bekam 
Pat.  Quecksilber,  auch  mit  Rücksicht  auf  den  scharf  annulären 
Rand  um  das  oberflächliche  Infiltrat. 

Jungmann:  Fälle,  in  denen  die  Differentialdiagnose  zwi¬ 
schen  Lues  und  Lupus  schwer  fällt,  sind  ja  nicht  selten.  Was 
den  vorliegenden  Fall  anlangt,  sprechen  meines  Erachtens  alle 
Symptome  für  Lupus,  so  sehr,  daß  auch  durch  einen,  positiven 
Ausfall  der  Wassermannschen  Probe  die  Diagnose  nicht 
schwankend  würde. 

Riehl:  Ich  habe  den  Fall  schon  bei  der  letzten  Demon¬ 
stration  ganz  bestimmt  als  Lupus  vulgaris  bezeichnen  müssen. 
Die  früher  gehegte  Anschauung,  daß  Tuberkulose  und  Syphilis, 
Tuberkulose  und  Karzinom  nebeneinander  nicht  Vorkommen,  hat 
sich  als  irrig  erwiesen.  Wir  haben  nicht  selten  Gelegenheit,  Im¬ 
pose  an  Syphilis  erkrankt  zu  sehen,  so  daß  die  Erscheinungen 
beider  Erkrankungen  an  der  Haut  sich  vorfinden  können.  Der 
Lupus  syphiliticüs  der  Alten  war  'nur  eine  Verlegenheitsdiagnose. 

¥.  Einen  Patienten  mit  Rezidive  nach  einer  Injek¬ 
tion  mit  dem  Ehrli chschen  Präparat,  etwa  vier  Wochen 
nach  der  Behandlung,  unter  dein  eigentümlichen  Bilde  eines 
Erythema  multi  forme  und  nodosum  auf  der  Streckseite 
der  oberen  und  unteren  Extremitäten. 

Schindler  stellt  ein  17jähriges  Mädchen  mit  einem  durch 
R  ad  i  umbes  trah lungern  geheilten  Brandnar b e  n k e  1  o  i  d 
vor.  Pat.  erlitt  durch  eine  Spiritusexplosion  vor  2xk  Jahren  Brand¬ 
wunden  am  rechten  Oberarm,  die  späterhin  zur  Bildung  von 
großen  Narbe  nkeloiden  führten.  Drei  Röntgenbestrahlungen 
konnten  nur  eine  geringe  Abflachung  eines  kleinen  Bezirkes  her- 
vorrufen,  während  die  Hauptmasse  der  Keloide  unbeeinflußt  blieb. 

Status  praesens  vor  der  Behandlung  im  Oktober  1908: 
Am  rechten  Oberarm  ein  über  handtellergroßes,  äußerst  derbes, 
hartes  Keloid,  von  bräunlichroter  Farbe,  auf  Druck  sehr  schmerz¬ 


haft,  das  Hautniveau  bis  IV2  cm  überragend.  Kleinere,  gleich  be¬ 
schaffene  Keloide  an  der  volaren  Fläche  des  rechten  Vorder¬ 
armes,  sowie  über  dem  rechten  Daumenballen. 

Therapie:  Bestrahlung  sämtlicher  Keloide  mit  einer  Ge¬ 
samtbestrahlungszeit  von  einer  Stunde  pro  Flächeneinheit,  unter 
Verwendung  nahezu  aller  ß-  und  T-Strahlen.  Letzte  Bestrahlung 
am  10.  Juli  1909. 

Jetzt  IV*  Jahre  nach  der  letzten  Bestrahlung,  ergibt  sich 
folgender  Status  praesens: 

Alle  Keloide  vollständig  geschwunden,  an  deren  Stelle  die 
Haut  wohl  narbig,  aber  völlig  weich,  elastisch,  in  Falten  abhebbar. 
In  der  Narbe  einige  leichte  Pigmentationen,  sowie  an  einigen 
Stellen  Teleangiektasien.  Letztere  lassen  sich  durch  Elektrolyse 
recht  gut  beseitigen.  Aber  auch  ohne  diese  ist  der  kosmetische 
Effekt  ein  sehr  befriedigender. 

Mucha  demonstriert  aus  der  Klinik  Finger:  1.  Einen 
Patienten  mit  einem  makulo-papulösen  Exanthiem  und  einem  wohl- 
ausgebildeten  Primär  affe  kt  am  Zuingenrücken.  Geber  den 
Infektionsmodus  konnte  nichts  Genaues  eruiert  werden. 

2.  Einen  Patienten  mit  zwei  handtellergroßen  Ulzerationspro- 
zessen  an  der  Innenfläche  des  linken  Oberschenkels.  Der  leicht 
infiltrierte  Rand  zeigt  sehr  ausgesprochene  Unterminierung,  die 
Inguinalgegend,  sowie  die  umgebende  Bauchhaut  sind  durch  eine 
oberflächliche  Narbe  ersetzt.  Die  Affektion  besteht  seit  mehr 
als  zwei  Jahren.  Pat.  wurde  unter  anderen  auswärts  mit  zwei 
Injektionen  von  Arsenobenzol  behandelt.  Es  handelt  sich 
bei  dem  Patienten  um  ein  serpiginöses  Ulcus  molle.  Die 
Autoinokulation  am  Arme  des  Patienten  zeigte  typische  Haftung ; 
außerdem  konnten  durch  Dr.  Stein  Ducreysche  Bazillen  in 
Reinkultur  gezüchtet  werden  (Deckglaspräparate  und  Kulturen 
werden  dem  onstr iert) . 

Riehl:  Der  vorgestellte  Fall  ist  sehr  bemerkenswert,  weil 
eine  derartige  Ausbreitung  eines  Ulcus  serpiginosum  jetzt  kaum 
zur  Beobachtung  gelangt,  während  vor  Jahrzehnten  solche  gan¬ 
gränös  gewordene  Geschwürsprozesse  von  großer  Ausdehnung 
häufiger  vorkamen  und  an  unserer  Klinik  die  Wasserbetten  bevöl¬ 
kerten. 

Scher  ber  beobachtete  vor  mehreren  Jahren  auf  der  Klinik 
Finger  ein  solches  Ulcus  molle  serpens  bei  einem  Mäd¬ 
chen,  das  vom  linken  großen  Labium  ausging  und  in  Fingerbreite 
(trotz  der  Behandlung)  um  den  Oberschenkel  bis  in  die  Mitte 
der  linken  Nates  ging,  um  hier  spontan  zu  enden. 

Lip schütz  erwähnt  einen  Fall  von  Ulcus  molle  serpigi¬ 
nosum,  von  einem  schankerösen  Bubo  ausgehend,  den  er  vor  drei 
Jahren  auf  der  Abteilung  Ehr  mann  zu  beobachten  Gelegenheit 
hatte.  Mikroskopisch  wurden  D  ucreysche  Bazillen  nachgewiesen, 
Kulturen  nicht  angelegt.  Das  Ulcus  molle  serpiginosum  zeichnet 
sich  durch  außerordentlich  chronischen  Verlauf  aus,  wird  in  der 
Regel  verkannt  und  für  Lues  gehalten.  Die  Bedeutung  des  von 
Mucha  demonstrierten  Falles  liegt  im  einwandfrei  erbrachten 
mikroskopischen  und  kulturellen  Nachweis  des  Er¬ 
regers. 

Ullmann:  Ich  habe  von  etwa  neun  bis  zehn  Jahren  ein 
extragenitales  Ulcus  venereum  am  Daumen  in  der  Gesellschaft 
der  Aerzte  vorgestellt  und  den  Nachweis  der  Diagnose  auch  da¬ 
mals  nicht  nur  durch  den  mikroskopischen  Nachweis,  sondern 
auch  durch  Ueber  Impfung  auf  die  Haut  des  Trägers  sichergestellt, 
die  in  ihrem  typischen  Ablaufe  einem  kulturellen  Nachweis  in  vitro 
wohl  gleichkommt. 

Bezüglich  der  Therapie  dieser  Affektionen  vermisse  ich 
die  Wärmebehandlung,  für  welche  W  elan  der  und  ich  sich  seit 
vielen  Jahren  bemüht  haben.  Bei  tiefgreifenden  älteren  Ulzera- 
tionen  muß  natürlich  der  Zugang  zu  den  sinuösen  Gängen  und 
Nischen  chirurgisch  hergestellt  werden. 

Mucha  macht  Ullmann  darauf  aufmerksam,  daß:  sich 
der  Patient  erst  seit.  1.  November  auf  der  Klinik  befindet  und  über¬ 
haupt  noch  picht  behandelt "wurde,  sowie  daß  die  „606“-Injektionen 
—  wie  ja  gesagt  wurde  andernorts  (Sarajewo)  vorgenommen 
wurden. 

Riehl  demonstriert  einen  Fall  von  Keratoma  palmare 
hereditär  ium  und  ein  Mädchen  mit  einer  auf  die  Hand-  und 
Fußflächen,  Streckseite  der  Ellenbeuge  und  Knie  ausgebreifceten 
Keratose.  (Wird  ausführlich  mitgeteilt  werden.) 

Brandw  einer  stellt  die  Frage,  warum  Riehl  die  eben 
genannten  Formen  von  Ichthyosis  mit  atypischer  Lokalisation 
(Handflächen,  Beugeseiten  der  Gelenke  usw.)  nicht  den  Nä\is 
zuzählt. 

Riehl  bemerkt,  daß  zwar  die  Ichthyosis  vulgaris  eine  an¬ 
geborene  Mißbildung  der  Haut  darstelle,  man  aber  iiir  solche 
Fälle  den  Namen  „Nävus“  nicht  zu  benützen  pflege. 


150 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  4 


Oppenheim:  Ich  habe  vor  zwei  Jahren  einen  strich- 
förmigen,  hyperkeratotischen  Nävus  der  Flachhände  hier  vor¬ 
gestellt,  der  wohl  als  U ebergang  zu  dem  Falle  Riehls  aufgefaßt 
werden  kann.  Ueher  zwei  Finger  zog  vom  Nagel  bis  zur  Hand  ein 
5  mm  breiter  hyperkeratotischer  Streifen,  der  sich  in  der  Raima 
manus  zu  einem  größeren  Streifen  vereinigte,  der  bis  zum  Hand¬ 
gelenke  zog.  Wäre  die  Affektion  diffus  gewesen,  so  hätte  sie  als 
diffuses  Keratoma  hereditarium  imponieren  können. 

Riehl:  Auch  beim  Keratoma  palmare  hereditarium  kommt 
manchmal  eine  nicht  diffus  die  ganze  Fläche  der  Vola  und  Planta 
einnehmende  Ausbreitung  der  Erkrankung  vor.  Man  sieht  nicht 
selten,  namentlich  an  den  Fingern,  streifenförmige  Abgrenzung, 
wie  ja  auch  manchmal  die  Keratose  auch  an  die  Streckseite 
teilweise  überzugreifen  pflegt.  Auch  der  eben  demonstrierte  Fall 
zeigt  solche  Streifenform  des  Keratöms  an  den  Fingern. 

Ul  1  mann:  Die  Entscheidung,  ob  angeborener  Nävus, 
Ichthyosis,  Keratoma  plantare  hereditarium,  ist  bei  den 
plantaren  Hyperkeratomen  oft  schwierig.  So  auch  —  wie 
noch  erinnerlich  in  dem  von  Rusch  vorgestellten 

lalle  familiärer  Hyperkeratoso  mit  anderen,  nävusartigen  Sym¬ 
ptomen,  zum  Teil  vasomotorischer,  funktioneller  Natur,  Neigung 
zu  Erythemen  usw.  Ich  habe  wiederholt  schon  palmare  Ilyper- 
keratosen  gesehen,  deren  familiäres  Vorkommen  mir  auffiel,  die 
aber  als  hartnäckige  hyperkeratotische  Ekzeme  der  Flachhand 
aufgefaßt  worden  waren,  im  letzten  Jahre  z.  R.  bei  zwei  älteren 
Herren,  wo  die  Affektion  bei  beiden  seit  deren  30.  oder  35.  Lebens¬ 
jahre  aufgetreten  war.  Diese  meist  als  Ekzeme  aufgefaßten  Affek¬ 
tionen  trotzten  jeder,  auch  kaustischen  Behandlung  und  hatten 
entschiedenen  Nävuscharakter.  Es  liegt  die  Frage  vor:  Gibt 
es  so  spät  auf  tretende  systematisierte  Hautaffektionen  mit  Nävus¬ 
charakter  und  was  hält  Prof.  Riehl  nach  seiner  Erfahrung 
davon  ?  t  ;  ,  ' 

Riehl:  Bekanntlich  finden  wir  unter  den  fötal  angelegten 
Mißbildungen  und  den  hereditären  Erkrankungen  der  Haut  sehr 
häufig,  daß  dieselben  nicht  sofort  bei  der  Geburt  in  Erscheinung 
treten,  sondern  erst  Wochen,  ja  Monate  und  Jahre  später.  Die 
Ichthyosis  vulgaris  z.  B.  wird  meist  erst  im  zweiten  Lebensjahre 
bemerkt,  der  Naevus  Pringle  entsteht  um  die  Pubertätszeit  herum. 
In  späteren  Lebensaltern  auftretende  Keratosen  dürften  wohl  in 
die  Kategorie  sekundärer  Keratosen,  die  auf  entzündlicher  Grund¬ 
lage  beruhen,  gehören  (Tylosis,  Arsenkeratose  usw.). 

Sachs  hatte  Gelegenheit,  einen  Fall  aus  der  Breslauer 
Dermatol  ogi  sehen  Klinik  im  Institut  Hof  rat  Pal  tauf  histologisch 
zu  untersuchen.  Bei  einem  achtjährigen  Mädchen  fanden  sich  außer 
einer  mäßigen  Ichthyosis  simplex  des  ganzen  Körpers,  in  der 
rechten  Achselhöhle  ein  xanthomähnlicher  Nävus,  an  den  Fin¬ 
gern  und  Zehen  verruköse  Naevi  lineares.  Es  lassen  sich  wohl 
unschwer  die  Ichthyosis  und  die  histologisch  differenten  Nävi 
unter  dem  gemeinsamen  Gesichtspunkt  eines  Bildungsfehlers  als 
Nävi  auffassen. 

Riehl:  Bei  Bildungsanomalien  der  Haut  scheint  es  nicht 
auffallend,  daß  dieselbe  in  verschiedenen  Formen  bei  einem 
Individuum  auftritt,  z.  B.  bei  Ichthyosis  ein  gewöhnlicher  oder 
ein  Gefäßnävus.  Auch  bei  der  Reck  1  ingh  au  sen  sehen  Erkran¬ 
kung  sind  ja  gleichfalls  oft  verschiedene  Entwicklungsstörungen 
beschrieben  (Pigmentationen,  Fibrome  usw.,  manchmal  mit  Mißr 
bildungen  am  Skelette  kombiniert). 

Reitmann  stellt  einen  Fall  von  Urticaria  pigmen¬ 
tosa  vor. 

Kerl  demonstriert  aus  der  Klinik  Riehl  einen  Fall  von 
Lepra.  Der  Pat.  stammt  aus  Palästina.  Die  Erkrankung  begann  vor 
sechs  Jahren.  Das  Gesicht  des  Patienten  erscheint  stark  elephan- 
tiastisch,  insbesondere  sind  die  Lippen  und  Ohrläppchen,  Helix 
und  Antihelix  aufgetrieben.  Die  Nase  an  ihrer  Wurzel  verbreitert, 
ylie  Nasenspitze  ist  knopfartig  gewulstet.  Die  Farbe  der  Gesichts¬ 
haut  ist  düster  braunrot,  die  Oberfläche  infolge  stecknadelkopf-  bis 
erbsengroßer  Infiltrate,  die  sich  über  das  Niveau  vorwölben,  grob¬ 
höckerig.  In  der  Kutis  und  Subkutis  tastet  man  bis  haselnußgroße 
Knoten,  die  zum  Teil  zu  plattenartigen  Infiltraten  verschmelzen. 
Die  Braunfärbung  der  Haut  ist  über  diesen  Infiltraten  intensiver. 
Augenbrauen,  Wimpern  und  Schnurrbarthaare  fehlen  fast  voll¬ 
ständig.  ;  ,  j  j  !  j  |  ;  ;  | 

Am  Halse,  sowie  auf  den  Achseln  beiderseits  und  den 
Streckseiten  der  Extremitäten  knotige  Infiltrate,  die  im  Zentrum 
bisweilen  grubige  Vertiefung  zeigen;  die  Knoten  über  den  Hand¬ 
gelenken  sind  teilweise  exulzeriert.  Vola  manus  ist  frei  von  Ver¬ 
änderung.  Im  geringen  Grade  an  den  Armen,  vorwiegend  aber 
am  Stamme,  sieht  man  zahlreiche,  düster  braunrote  und  auch 
weiße,  fleckige  Herde,  die  sich  scharf  abgrenzen  und  ein  land¬ 
kartenartiges  Aussehen  bieten.  Die  braunen  Flecke  zeigen  stellen¬ 
weise  leichte  Schuppung. 


Allgemeine  Drüsenschwellung. 

In  der  Mundschleimhaut,  sowie  im  Kehlkopfe,  wie  der 
Befund  der  Klinik  Chiari  ergibt,  zahlreiche  Infiltrate.  Aus  dem 
Befund  der  Nervenklmik  ist  hervorzuheben,  daß  die  Nervenstämme 
nicht  druckempfindlich  sind,  die  taktyle  Sensibilität  am  Dorsum 
manus  et  pedis  für  feine  Berührung  aufgehoben.  Im  Gebiete  des 
Schultergürtels  und  der  Oberarme  wird  warm  als  kalt  empfunden, 
ebenso  besteht  in  diesem  Gebiete  Hypalgeisier 

Bazillenbefund  im  Nasensekret  und  Speichel  positiv,  im 
Harn  und  Stuhl,  sowie  im  Blut  (Pat.  fiebert  nicht)  negativ. 

Wasser mannsche  Reaktion  positiv. 

Kren  demonstriert  aus  der  Klinik  Riehl  einen  45jährigen 
Patienten,  der  vor  zwei  Jahren  unter  leichtem  Jucken  mit  Rötung 
der  Haut  erkrankt  ist.  Der  Patient  befindet  sich  ein  halbes  Jahr 
in  der  Klinik  und  zeigt  während  seines  ganzen  Spitalsaufenthaltes 
dasselbe  monotone  Bild,  das  man  jetzt  an  ihm  sieht.  Das  Inte¬ 
gument  ist  universell  blaurot  verfärbt,  mit  leicht  brauner  Pigmen¬ 
tierung  und  verdickt.  Dabei  besteht  deutliche  Lichenifikation 
und  fettige  Abschuppung.  Die  Schuppen  haben  Linsengröße; 
Hände  und  Füße  weisen,  besonders  an  der  palmaren  und  plantaren 
Seite,  vielfach  Rhagadisierung  auf.  Die  Nägel  zeigen  Ernährungs¬ 
störungen.  Außerdem  bestehen  disseminierte,  zirka  hellergroße, 
kreisrunde  Flecke  kompletter  Depigmentation,  an  denen  die  rosarot 
entzündete  Haut  von  der  allgemein  blau-braunroten  deutlich  ab¬ 
sticht.  Ueber  dem  Sternum  konfluieren  diese  depigmentierten 
Flecke  zu  einem  größeren  Herde.  Alle  tastbaren  Drüsen  sind 
indolent  geschwollen  und  inguinal  und  krural  bis  zu  Nußgröße, 
intumesziert.  j  (  i  “9 

Als  Sekundärerscheinungen  sind  zeitweise  auftretende  Pu¬ 
steln  und  auch  tiefsitzende,  oft  breite,  wenig  schmerzhafte  Infil¬ 
trate  aufzufassen,  die  sich  allmählich  entwickeln,  niemals  akut 
entzündliche  Symptome  zeigen,  aber  doch  unter  einfacher  Per¬ 
foration  oder  auch  unter  vielfacher,  einem  Karbunkel  ähnlich, 
abszeclieren  und  wieder  zur  Ausheilung  gelangen. 

Die  interne  Untersuchung  ergibt  Leber-  und  Milzschwellung, 
der  Urin  weist  öfters  Spuren  von  reduzierenden  Substanzen  in 
geringer  Menge  auf.  Die  Blutuntersuchung  ergibt:  Erythrozyten 
4,500.000,  Leukozyten  12.600,  u.  zw.  polynukleäre  68°/o,  Lympho¬ 
zyten  16%,  Uebergangsformen  11%,  Eosinophile  4%  und  Mast¬ 
zellen  1%. 

Kren  stellt  den  Fall  zur  Diagnose  vor. 

Aehnliche  Fälle  sind  an  der  Klinik  schon  einige  zur  Beob¬ 
achtung  gekommen.  Das  Bild  ist.  stets  gleich  monoton.  Auch  die 
fleckige  Depigmentation  war  in  den  meisten  Fällen  vorhanden. 
Einige  Fälle  konnten  längere  Zeit  beobachtet  werden.  Eine  Pa¬ 
tientin  ist  unter  den  Symptomen  dieses  Krankheitsbildes,  schließr 
lich  auftretenden  Diarrhöen  und  Schwächezuständen  ad  exitum 
gekommen.  |  •( 

Dohi  hat  während  seiner  zwölfjährigen  Tätigkeit  an  der 
Klinik  in  Tokio  zwölf  derartige  Fälle  gesehen  und  war  zunächst 
auch  nicht  in  der  Lage,  eine  bestimmte  Diagnose  zu  stellen, 
glaubt  aber  jetzt,  diese  Fälle  in  die  Gruppe  der  Pityriasis  rubra 
Hebrae  einreihen  zu  müssen,  wenn  auch  die  im  weiteren  Ver¬ 
laufe  auftretende  Atrophie  nicht  immer  sehr  deutlich  ausgespro¬ 
chen  ist  und  sich  eine  Tuberkulose  der  Drüsen  nicht  nachvveisen 
läßt,  ln  den  im  Verlaufe  der  Erkrankung  auftretenden  Abszessen 
fanden  sich  stets  nur  Staphylokokken. 

Kren  demonstriert  weiters  aus  der  Klinik  Riehl  einige  Fälle 
von  Syphilis,  behandelt  mit  Arsenobenzol.  Sehr  gute  Erfolge 
mit  enorm  rascher  Heilung  zeigten  ein  ulzeröses,  serpiginöses 
Syphilid,  ein  hämorrhagisch-ulzeröses,  disseminiertes  Syphilid  und 
ein  seit  Jahren  bestehendes  ulzeröses  Syphilid,  während  auch 
zwei  Fälle  kompletten  Versagens  der  Therapie  demonstriert  wer¬ 
den.  Ein  Fall  betrifft  eine  jugendliche  Patientin  mit  psoriasi¬ 
formem  Syphilid,  die  jetzt  auf  Quecksilber  prompt  reagiert:  ein 
zweiter  Fall,  ein  Knochengumma  am  linken  Supraorbitalrand, 
zeigte  ebenfalls  keinen  Heileffekt. 


Verein  der  Aerzte  in  Oberösterreich. 

Sitzung  vom  1.  Dezem her  1910. 

Prim.  Dr.  D  oberer  stellt  einen  74jährigen  Mann  vor,  bei 
welchem  er  am  28.  Okt.  d.  J .  wegen  schwerer  Neuralgie  aller  drei 
Aeste  des  Nervus  trigeminus  die  Totalexstirpation  des  Gan¬ 
glion  Gassed  auf  dem  temporal  -sphenoidalen  Wege  mit  Trennung 
des  Jochbogens  vorgenommen  hatte.  Der  Vortragende  hebt  die 
Vorzüge  dieser  Methode  gegenüber  der  hohen  temporalen  hervor. 
Namentlich  ist  jegliche  Entstellung  vermieden,  die  tiefe  und 
beschränkte  Eröffnung  des  Schädels  erleichtert  die  Vermeidung 
eines  zu  starken  Druckes  auf  das  Gehirn  beim  Aufheben  desselben 


Nr.  4 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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durch  den  Spatel,  vereinfacht  die  Ligatur  der  Arteria  meningea 
media  und  kürzt  den  Weg  zum  Ganglion  ab. 

Im  vorliegenden  Falle  gelang  die  Exstirpation  des  Ganglions, 
das  auffallend  atrophisch  aussah,  mit  Vermeidung  jeglicher  Blu¬ 
tung  aus  dem  Schädelinnern.  Das  bei  der  Eröffnung  des  Schädels 
heransgenommene  und  einstweilen  in  Kochsalzlösung  aufbewahrto 
Knochenstück  wurde  wieder  eingesetzt  und  heilte  per  primam 
ein.  Der  alte  Mann  überstand  die  58  Minuten  dauernde  Operation 
gut  und  ist  von  seinem  qualvollen  Leiden  völlig  befreit.  Nur 
traten  14  Tage  nach  der  Operation  starke  Kopfschmerzen  auf, 
die  ungefähr  zehn  Tage  anhielten  und  unter  Verabreichung  von 
Phenazetin  verschwanden.  Der  Vortragende  glaubt  diese  Kopf¬ 
schmerzen  auf  die  Kallusbildung  zurückführen  zu  können. 

Weiters  stellt  Prim.  Dr.  D oberer  einen  60jährigen  Mann 
vor,  bei  dem  wegen  Py  1  or  u  s k arz  in'om  die  Resektion  nach 
Kocher  vorgenommen  worden  war.  Erst  nach  beendigter  Re¬ 
sektion  wurde  am  hinteren  unteren  Rande  der  Leber  ein  walnu߬ 
großer,  mit  einem  Krebsnabel  versehener  mietastatischer  Knoten 
entdeckt.  Da  sich  der  Kranke  trotzdem'  sehr  erholte,  mit  Appetit 
und  ohne  Beschwerden  essen  kann  und  an  Körpergewicht  zunahm, 
gibt,  der  Vortragende  auf  Grund  dieses  Falles  der  Meinung  Aus¬ 
druck,  daß  es  bei  beweglichen  und  der  Resektion  noch  zugäng¬ 
lichen  Pyloruskarzinomen  selbst  bei  Metastasenbildung  besser 
ist,  die  Resektion  vorzunehmen,  statt,  sich  mit  der  Gastroentero¬ 
stomie  zu  begnügen,  wenn  es  sich  während  der  Operation  zeigt, 
daß  der  Kranke  die  länger  dauernde  Resektion  noch  auszuhalten 
imstande  ist,  weil  der  Kranke  viel  besser  daran  ist,  wenn  er 
für  seine  restliche  Lebenszeit  vom  Tumor  befreit  ist  und  einen 
gut  funktionierenden  Magen  besitzt  und  sein  späteres  Zugrunde¬ 
gehen  an  den  Krebsmetastasen  und  Krebskachexie  entschieden 
weniger  qualvoll  ist. 

Unter  den  im  Anschluß  daran  vorgeizeigten  Präparaten  findet 
sich  auch  ein  Jahre  lang  bestandenes  Ulcus  pylori,  welches 
mit  dem  Pankreas  verwachsen  war  und  bei  dessen  Resektion 
einzelne  Pankreasläppchen  abgetrennt  werden  mußten.  Es  wurde 
deshalb  ein  Tampon  auf  das  Pankreas  gelegt,  und  tatsächlich 
wurde  ein©  Zeitlang  nach  der  Operation  durch  den  Tampon  Pan¬ 
kreassekret  ausgeschieden.  Der  Vortragende  meint,  daß  in  diesem 
Falle  ohne  Tamponade  der  Kranke  nicht  davongekommen  wäre. 

Diskussion:  Prim.  Dr.  Spechtenhauser,  Dr.  v.  Bo- 
nelli. 

Prim.  Dr.  E.  Lindner  stellt  einen  Kranken  vor  mit  fol¬ 
genden  Symptomen :  Lähmungserscheinungen  im  Gebiete  des 
fünften,  siebenten  und  achten  Himnerven  links;  gekreuzt:  ge¬ 
ringer  inten tioneller  Tremor  am  Anne,  leichter  Kraftausfall  mit 
Hyperreflexie  und  Babinski  am  Bein,  totale  sensible  Lähmung, 
okulopupilläre  und  Schweißsekretionsstörungen.  Der  Vortragende 
bespricht  Lokalisation  und  mögliche  Anthologie  und  hebt  mit  Rück¬ 
sicht  auf  die  kontralateralen  Störungen  sympathischer  Bahnen  die 
Unvereinbarkeit  mit  der  Annahme,  daß  die  zentralen  okulo¬ 
pupillären  Bahnen  schon  oberhalb  des  Pons  ihre  Kreuzung  er¬ 
fahren  (Hoffmann,  Marburg)  hervor.  (Erscheint  in  extenso 
an  dieser  Stelle). 

Dr.  G.  Stiefle  r  demonstriert  an!  einer  42jährigen  Fabriks¬ 
arbeiterin  eine  degenerative  Lähmung  der  linken  Schulter- Arm¬ 
muskeln  (Kukullaris,  Supra-  und  Infraspinatus,  Serratus1  anticus 
major,  Pektorales,  Teretes,  Subskapularis,  Deltoideus,  Trizeps, 
Bizeps)  mit  schwerer  Atrophie,  Fehlen  des  Skapulohumeral- 
und  Trizepssehnenreflexes,  mit  Erloschensein,  bzw.  qualitativer 
und  quantitativer  Veränderung  der  elektrischen  Erregbarkeit  in 
den  befallenen  Muskeln.  Die  linke  Schulter  ist  nach  vorne  über¬ 
gesunken.  Der  Supinator  longus  funktioniert  gut,  leichte  Parese 
der  Strecker  von  Hand  und  Finger.  Gleichseitige  dissozierte  Ge¬ 
fühlslähmung  u.  zw.  schwere  Hypästheisie  bis  Anästhesie  für 
Schmerz  und  Temperaturen  in  einem  scharf  abgrenzbaren  Gebiete, 
das  den  ganzen  Oberarm,  die  Thoraxhälfte  von  der  segmentären 
Zone  in  der  Höhe  der  sechsten  Dorsalwurzel  nach  aufwärts  zu 
betrifft  und  über  Hals  und  Nackein  kapitalwärts  bis  zu  einer  Linie 
reicht,  die  vom  Kinn  schräg  übelr  die  Wange  zum  oberen  Ohr- 
musohelansatz  und  von  da  bis  zum  Scheitel  zieht;  dorsal  am1 
Kopfe  und  Nacken  bildet,  wie  an  Hals,  Brust  und  Rücken  die 
Mittellinie  die  Grenze.  Der  Tastsinn  weist,  auch  bei  Prüfung  mit 
feinem  Haarpinsel,  keine. .  erkennbaren  Störungen  auf.  Motilität 
und  Sensibilität  der  unteren  Gliedmaßen  sind  frei,,  ebenso  Blase 
und  Mastdarm. 

Vortr.  bespricht  die  Differentialdiagnose  (u.  a.  Plexuslähmung 
und  Hysterie,  Poliomyelitis  anterior  chronica  —  Oppenheim, 
Rossoli  mo: — ,  intramedullärer  Tumor)  und  kommt  zur  Diagnose 
eines  h um  er o s kap u  1  a r eh  Tylpus  von  Syringomyelie, 
wofür  auch  der  Befund  vorhandener  kongenitaler  Entwicklungs¬ 
störungen  (Kyphose,  zentrale  Trübung  der  rechten  Linse)  sprechen 


würde.  Bemerkenswert  zur  Diagnose  der  Syringomyelie  im  vor¬ 
liegenden  Falle  ist  die  „segmentale“  Begrenzung  der  Scnsibilitäts- 
störung  am  Thorax,  während  das  analgetische  Gebiet  am  linken 
Arme  (ausschließliches  Befallensein  des  Oberarmes  bei  Freibleiben 
des1  Unterarmes  und  der  Hand)  die  „geometrische“  Abgrenzung 
illustriert,  ferner  das  Uebtergreifen  der  Sensibilitätsstörung  auf 
das  Gesicht  (Scheitel-,  Ohr-,  Kinnlinie,  v.  Sölder).  Zu  erwähnen 
ist  auch  die  relativ  rasche  Entwicklung  (binnen  mehrerer  Monate), 
angeblich  im  Anschlüsse  an  ein, geringes  Trauma  (Anstoßen  des 
linken  Ellbogens  bei  der  Arbeit). 

Diskussion:  Lindner  pflichtet  der  diagnostischen  Auf¬ 
fassung  bei  und  betont  unter  Bezug  auf  das  hiesige  Krankenbaus¬ 
material  die  Häufigkeit  der  Syringomyelie  gegenüber  der  Tabes. 

Prof.  Schm  it  bespricht  kurz  die  Breuss  che  Hämatom¬ 
mole  und  demonstriert  zwei  Präparate,  welche  für  die  David- 
sohnsche-  Ansicht  zu  sprechen  scheinen,  nach  der  sich  solche 
Molen  auf  Grundlage  eines  primären  Hydramniom  des  Eies  ent¬ 
wickeln. 


Aerztlicher  Verein  in  Brünn. 

Sitzung  vom  19.  Dezember  1910. 

Prim.  Dr.  Mägen  demonstriert  ein  22jähriges  Dienstmädchen, 
bei  dem  die  Diagnose  auf  Tumor  des  dritten  und  vierten 
Brustwirbels  mit  Kompression  des'  Rückenmarkes  gestellt 
wurde.  Nach  operativer  Entfernung  der  erkrankten  Wirbelteile 
(Prim.  Bakes)  weist  Pat.  gegenwärtig  eine  wesentliche  Besse¬ 
rung  auf,  indem  sich  alle  Erscheinungen  von  seiten  des  Rücken¬ 
markes  langsam  rückbilden. 

Prof.  Dr.  Sternberg:  Demonstration  zur  Kasuistik 
der  Fremdkörper  im  Respirations-  und  Verdauungs¬ 
trakt. 

a)  Pflaumenkern  im  rechten  Haupt  bronchus  bei 
einem  7jährigen  Mädchen. 

b)  Knoc h en  stück  i m  r  e c h  t e n  H a  u p  t b  r onchus  an 
der  Abgangstelle  des  Astes  für  den  Mittellappen.  Der  Fall  betraf 
eine  74jährige  Frau ;  es  bestand  eine  putride  Bronchitis  mit 
Erweiterung  der  Bronchien  im  rechten  Mittel-  und  Unterlappen 
und  umschriebenen  gangränösen  Herden.  An  der  Stelle,  an  welcher 
das  Knochenstück  (offenbar  ein  Teil  des  Sternums  eines  Huhnes) 
lag,  fand  sich  ein  Dekubitalgeschwür.  Das  Knochenstück  war 
(in  Anbetracht  des  Lungenbefundes)  jedenfalls  schon  einige  Zeit 
vorher  aspiriert  worden.  Anamnese  war  nicht  erhältlich. 

c)  4  cm  langes,  dreieckiges  Glasstück  in  einem  mit 
Jauche  gefüllten  Kavum  neben  dem  Oesophagus;  dieser 
war  perforiert.  Es  bestand  eine  eitrige  Mediastinitis  und  ein  aus¬ 
gebreitetes  Hautemphysem.  Der  Fall  betraf  einen  46jährigen 
slowakischen  Bauer,  der  moribund  ins  Spital  eingeliefert  wurde. 
Das  Glasstück  scheint  einer  grüner  Wein-  oder  Schnapsflasche 
anzugehören. 

d)  3  etm  langes  Knochen  stück  (Rippe  eines  Huhnes), 
das  im  Oesophagus  quer  verspreizt  war,  denselben  an  zwei 
Stellen  perforiert  hatte  und  in  den  Herzbeutel  einge- 
drung-en  war.  Es  bestand  ein  Pyopneumoperikard.  Der  Ana¬ 
mnese  zufolge  hatte,  die  37jährige  Frau  fünf  Wochen  vor  ihrem 
Tode  ein  Knochenstück  geschluckt;  es  sei  ihr  in  der  Speiseröhre 
stecken  geblieben  und  von  einem  Arzt  mit  der  Sonde  hinunter- 
g  ©stoßen  worden. 

©)  Verstopfung  des  Rachens  und  Kehlkopfei n- 
ganges  durch  einen  mächtigen  Bissen  „Kuttelfleck“. 
Der  52jährige  Mann  war  in  einer  Schnapsboutique  plötzlich  ge¬ 
storben  (sanitätspolizeiliche  Sektion). 

f)  Nadelstück  in  ebneim  Bruchsack.  Zufälliger  Be¬ 
fund  bei  einer  Herniotomie  an  einem  57jährigen  Mann;  über 
die  Provenienz  der  Nadel  war  nichts  zu  erfahren;  wahrscheinlich 
dürfte  sie  wohl  aus  dem  Darme  ausgewandert  sein. 

g)  Großer  Gallenstein,  der  einen  Verschluß  des  Tlcums 
bei  einem  43jährigen  Mann  bewirkt  hatte. 

Diskussion:  Stadtpbvsikus  Dr.  Kok  all:  Gegen  Ende 
April  vorigen  Jahres  wurde  ich  am  Abend  zu  einer  Patientin 
gerufen,  welche  angab,  während  des  Essens  von  Lammbraten 
bei  stärkerem  Lachen  das  Gefühl  empfunden  zu  haben,  sie  hätte 
dabei  etwas  aspiriert.  Die  auffallend  große,  kräftige,  50jährige 
Frau  bot  bei  der  Untersuchung  keine  Zeichen  eines  Fremd¬ 
körpers  der  Luftwege,  keine  Dyspnoe,  keine  Geräusche;  Perkus¬ 
sionsschall  beiderseits  hell,  normale  Atemgeräusche,  Stimm- 
fremitus  beiderseits  gleich.  Es  bestand  nur  gelegentlicher  Husten 
und  ein  subjektives  Gefühl  des  Fremdkörpers.  Bei  zuwartender 
Behandlung  schwanden  in  den  nächsten  Tagen  diese  Erschei¬ 
nungen1.  Bei  einem  Aufenthalt©  in  Wien  konsultierte  die  Frau  nach 


152 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  4 


Angabe  anfangs  Mai  einen  Kliniker,  welcher  gleichfalls  nichts 
nachweisen  konnte;  auch  eine  Röntgenuntersuchung  fiel  negativ 
aus.  Die  Frau  befand  sich  die  ganze  Zeit  über  wohl.  Ende  Mai 
ließ  mich  die  Patientin  wieder  rufen  und  erzählte,  daß,  während 
sie  im  Garten,  am  Bauche  liegend,  einer  Lektüre  oblag,  sich 
plötzlich  starker  Hustenreiz  einstellte  und  eine  größere  Menge 
eitrigen  Schleimes  ausgeworfen  wurde,  den  ich  noch  vorfand. 
In  diesem  Auswurf  fand  sich  zum  allgemeinen  Erstaunen  tatsäch¬ 
lich  ein  usurierter  Schwanzwirbel  eines  Lammes  von  11  mm  Breite 
und  13  mm  Höhe,  den  Pat.  somit  einen  Monat  lang  ohne  Beschwer¬ 
den  in  einem  Bronchus  trug.  Daß  die  physikalische  Untersuchung 
negativ  ausfiel,  erkläre  ich  mir  durch  die  Annahme,  es  sei  dieser 
Wirbel  so  in  dem  Bronchus  gesteckt,  daß  der  Wirbelkanal  des¬ 
selben  die  Luftpassage  ermöglichte.  Der  negative  Befund  der 
Röntgenaufnahme  ist  nur  durch  das  Uebereinanderfallen.  einer 
Rippe  oder  der  Wirbelsäule  mit  dem  Fremdkörper  bei  der  Durch¬ 
leuchtung  erklärlich.  Im  übrigen  war  und  blieb  die  Frau  seit  dieser 
Zeit  vollkommen  gesund. 

Dr.  J.-Löw  erwähnt  einen  Fall  von  Gallens teinileus,  den 
er  vor  Jahren  im  Rudolfspital  in  Wien  beobachtet  hat.  Die 
Diagnose  wurde  in  diesem  Falle  durch  das  Fehlen  des  Meteorismus 
bei  bestehendem  Koterbrechen  und  durch  anamnestische  Daten 
(Gallensteinkolik)  ermöglicht.  Der  Mangel  eines  Meteorismus  er¬ 
klärt  sich  in  solchen  Fällen  dadurch,  daß  das  Hindernis  öfter 
in  den  oberen  Darmabschnitten  sitzt. 


Verein  deutscher  Aerzte  in  Prag. 

Sitzung  vom  16.  Dezember  1910. 

Dr.  Zörkendorfer  (Marienbad):  Ueber  das  Verhalten 
von  Albuminurie  und  Zylindrurie  während  des  Kur¬ 
gebrauches. 

An  der  Hand  eines1  umfangreichen  Materiales  berichtet  Vor¬ 
tragender  über  die  Häufigkeit  der  Albuminurien  und  Zylindrurien 
unter  dem  Marienbader  Kurpublikum.  Von  allen  im  städtischen, 
hygienischen  und  balneologischeh  Institut  in  Marienbad  zur  Unter¬ 
suchung  einlaufenden  Harnen,  waren  62-2 %  Albuminurien,  Zylin- 
drurien  und  kombinierte  Fälle.  Davon  enthielten  40-4%  Eiweiß  und 
Zylinder,  15-8%  Eiweiß  ohne  Zylinder  und  6%  Zylinder  ohne 
Eiweiß. 

Zur  Beurteilung  wurden  nur  die  altbewährten  sicheren  Ei¬ 
weißreaktionen  herangezogen.  Fälle  mit  undeutlicher  oder  Mini¬ 
malreaktion  sind  nicht  unter  die  Albuminurien  aufgenommen. 
Die  überwiegende  Mehrzahl  betrifft  Patienten  mit  Stoffwechsel¬ 
erkrankungen  (Fettsucht,  Gicht,  Diabetes)  und  Gefäßerkrankungen 
(Arteriosklerose).  Hinsichtlich  der  Formen  der  Nephritis  steht  Vor¬ 
tragender  auf  dem  Standpunkte  der  einheitlichen  Auffassung  im 
Sinne  v.  Strümpell  s'. 

Die  Zahl  der  wiederholt  untersuchten’  Fälle  betrug  546,  davon 
480  reine  Fälle  und  66  mit  Blut  oder  Eiter  kombinierte  (Nephro¬ 
lithiasis,  Pyelonephritis).  Von  den  reinen  Fällen  schwand  die  Al¬ 
buminurie  in  30%  vollständig,  in  51-2%  wurde  sie  verringert, 
in  11-5%  blieb  sie  gleich  und  in  7-3%  trat  eine  Vennehrung  ein. 
Die  Zahl  der  günstigen  Fälle  betrug  somit  bei  den  reinen  Fällen 
81%,  bei  den  mit  Blut  und  Fiter  kombinierten  77%. 

Prof.  Dr.  Fr.  Pick:  Ueber  neuerte  Untersuchungs¬ 
methoden  der  oberem  Luftwege. 

Die  ursprünglich  angegebene  Autoskopie  ist  seither,  nament¬ 
lich  von  Killian  in  Freiburg  und  seinen  Schülern  (Br fin¬ 
ning  u.  a.)  weiter  ausgebäut  worden,  so  daß  sie  eine  direkte 
Besichtigung  der  gröberen  Aeste  des  Bronchialbaumes  gestattet. 
Er  erörtert  die  Indikationen  dieser  bron choskopischen  Methode, 
die  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Fremdkörper  schon  sehr  große 
Erfolge  aufzuweisen  hat.  Weiters  bespricht  er  das  nach  dem  Prin¬ 
cipe  der  Blasenendoskopie  gebaute  Pharyngoskop  von  Hays  und 
Flatau,  welches  in  vielen  Fällen  einen  ausgezeichneten  Ein¬ 
blick  in  den  Kehlkopf  gewährt  und  das  für  manche  Patienten 
so  lästige  Vorziehen  der  Zunge  vermeidet,  ferner  das  Laryngo- 
Stereoskop  von  Hege  n  er,  welches  binokulares  Sehen  des  laryngo- 
skopischen  Bildes  gestattet  und  dadurch  ein  körperliches1  Sehen 
ermöglicht.  Endlich  als  ein,  auch  für  den  Praktiker  ohne  elek¬ 
trische  Beleuchtung  verwendbaren  Fortschritt,  den  anastigma¬ 
tischen  Vorgrößerungsspiegel  von  Briinning,  der  das  Kehl¬ 
kopfbild  heller  und  auf  das  Doppelte  vergrößert  liefert. 

0.  W. 


Programm 

der  am 

Freitag:  den  37.  Januar  1911,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Regierungsrat  Dr.  H.  Adler  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Hofrat  Prof.  Weichselbaum  :  Ueber  Veränderungen  des  Pankreas 
bei  Diabetes  mellitus. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Prof.  Härtner,  Dr.  Hecht 
und  Köliler,  Clairmout  und  llandek,  S.  Federn,  Max  llerz,  Julius 
Neumann  und  Ed.  Hermann. 

13  e  r  g  m  e  i  s  t  e  r,  P  a  1 1  a  u  f. 

Um  die  rechtzeitige  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen, 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerkungen 
dem  Schriftführer  noch  am  SitzunKsabend  zu  übergeben. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  der  pädiatrischeu  Sektion  findet  im  Hörsaale  der 
Klinik  Escherich  Donnerstag  den  26.  Januar  1911,  um  7  Uhr 

abends,  statt. 

(Vorsitz:  Priv.-Doz.  Dr.  L.  Jelile.) 

Programm: 

1.  Demonstrationen. 

2.  Dr.  E.  Mayerhofer:  Chemische  Teilerscheinungen  des  Säug¬ 
lingsharnes  und  ihre  klinische  Bedeutung. 

3.  Dr.  M.  Jerusalem:  Die  Sonnenlichtbehandlung  der  chirurgischen 
Tuberkulose  in  Leysin. 

Das  Präsidium. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  80.  Januar  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Sitzungssaale  des  Kollegiums,  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz 
des  Herrn  Prim.  Priv.-Doz.  Lotheisen  stattfindenden  wissenschaftlichen 

Versammlung. 

Prof.  Dr.  .1.  Schnitzler:  Aus  dem  Kapitel  der  Darmstenosen. 


Oesterreicbische  otologische  Gesellschaft. 

Programm  der  Montag  den  30.  Januar  1911,  6  Uhr  abends,  im  Hörsaal 
der  Klinik  Urbantscliitsch  stattfindenden  wissenschaftlichen  Sitzung. 

Demonstrationen.  Angemeldet  die  Herren  Hondy,  Häräny,  Ruttin, 
E.  Urbantscliitsch,  Frey,  Heck,  Froeschels,  Gotscher. 

Bondy,  Schriftführer. 

Oesterreichische  Gesellschaft  für  Gesundheitspflege. 

Wien  I X/2,  Kinderspitalgasse  15  (Hygienisches  Institut). 

Dienstag,  den  81.  Januar  1911,  um  7  Uhr  abends,  Vollversammlung 

im  Hörsaale  des  k.  k.  hygienischen  Universitäts-Institutes,  IX.,  Kinder¬ 
spitalgasse  15. 

Tagesordnung: 

1.  Mitteilungen  des  Vorsitzenden. 

2.  Vortrag  des  Herrn  Hofrates  Univ.-Prof.  Dr.  Richard  Paltauf: 
Zur  Pathologie  der  Wut  (mit  Demonstrationen). 

Gäste  sind  willkommen. 

Der  Präsident:  Prof.  Dr.  A.  Schattenfroh. 


Großes  Konzert 

zum  Besten  der  Hinterbliebenen  des  Dr.  Richard  Franz  in 

Riedau. 

Das  „Wiener  Aerzteorchester“  veranstaltet  zum  Besten 
der  Hinterbliebenen  des1  in  so  tragischer  Weise  aus  dem  Leben 
geschiedenen  Gemeindearztes  Dr.  Richard  Franz  in  Riedau 
Sonntag,  den  5.  Februar  d.  J.,  um  8  Uhr  abends,  im  großen 
Musikvereinssaale  ein  Konzert,  zu  welchem  in  Anbetracht  des 
ganz  ungewöhnlichen  wohltätigen  Zweckes  Frau  Kammersängerin 
Selma,  Kurz-Halba n,  Frau  Opemsängerin  Elizza-Kopetzky, 
F  rau  Hof  opernsängerin  Jenny  P  o  1  d  n  e  r  -  G  r  0  ß,  Frau  Lotte  E  g  e  r  t- 
Kusmitsch,  Frau  Mimi  Rethi-Michner,  Frl.  Krüger,  Herr 
Kammervirtuose  Alfred  Grünfeld  und  Kammersänger  Herr 
Richard  Mayr  ihre  Mitwirkung  zugesagt  haben.  Aus  den  Kreisen 
der  Gattinnen  der  Kliniker  und  Professoren  hat  sich  ein  Damen¬ 
komitee  gebildet,  welches;  seine  Dienste  mit  Rücksicht  auf  die 
Veranlassung  des  Konzertes  zur  Verfügung  stellt.  Der  Karten¬ 
verkauf  beginnt  am  27.  d.  M.  bei  der  k.  k.  Gesellschaft  der 
Musikfreunde  und  in  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte. 


Verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Knbasta.  Verlas  von  Wilhelm  Braumttller  in  Wien 

Druck  von  Bruno  Bartelt.  Wien  Will.,  Tfieresiensas^e  3 


Wiener  klinische  Wochenscliri 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

* 

G.  Braun,  0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S.  Exner.  E.  Finger,  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko.  H.  Meyer,  J,  Moeller, 
K.  v.  Noorden.  H.  Obersteiner,  A.  Politzer,  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler,  G.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Theodor  Escherich,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig 
Edmund  v.  Neusser,  Richard  Paltauf.  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 


Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/i,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618 


XXIV.  Jahrg.  Wien,  2.  Februar  1911  Nr.  5 


INHALT: 


1.  Originalartikel :  1.  Ueber  die  Veränderungen  des  Pankreas  bei 
Diabetes  melitus.  Von  A.  Weichselbaum.  S.  153. 

2.  Aus  dem  städt.  hygienischen  und  balneologischen  Institut  in 
Marienbad.  Ueber  das  Verhalten  von  Albuminurie  und  Zylin- 
drurie  während  des  Kurgebrauches.  Von  Dr.  Karl  Z ör  ken¬ 
do  rf er,  Stadtphysikus  und  Vorstand  des  Instituts.  S.  159. 

3.  Ein  dem  „Beinphänomen“  der  echten  Tetanie  in  seinem  klini¬ 
schen  Aussehen  gleichendes,  vielleicht  richtiger  als  „Pseudo- 
Beinphänomen“  zu  bezeichnendes  Symptom  in  einem  Falle  von 
Pseudotetania  hysterica.  Von  Dr.  W.  Buettner,  Riga.  S.  162. 

4.  Aus  der  serodiagnostischen  Untersuchungsstation  der  Klinik 
für  Geschlechts-  und  Hautkrankheiten  in  Wien.  (Vorstand: 
Prof.  E.  Finger.)  Vergleichende  Globulinmessungen  an  luetischen 
Seris.  Von  Dr.  R.  Müller,  Assistenten  der  Klinik  und 
W.  H.  Hough,  Washington.  S.  167. 

5.  Aus  dem  Rudolfinerhause  in  Wien  (Döbling).  (Vorstand:  Ileg.- 
Rat  Dr.  R.  Gersuny.)  Zur  Frage  der  Epithelmetaplasie.  Von 
weil.  Dr.  Alfred  Hermann,  gewesenen  Assistenten.  S.  168. 


II.  Oeffentliclie  Gresuinllieilspflege:  Das  Krankenhaus  Lilienfeld. 
Ein  Beitrag  zur  Frage  der  Regelung  des  Krankenhauswesens 
auf  dem  flachen  Lande.  Von  Dr.Franz  Schönbauer,  Direktor 
des  k.  k.  Wilhelminenspitales.  S.  169. 

III.  Sammelreferat :  Tuberkulose.  Von  Dr.  M.  Weisz. 

IV.  Referate :  Chirurgie  und  Orthopädie  im  Kindesalter.  Von 
Prof.  Dr.  F.  Lange,  München  und  Priv.-Doz.  Dr.  Hans 
Spitzy,  Graz.  Precis  du  traitement  des  fractures.  Par  le 
Dr.  Just  Lucas-Championniere.  Ref. :  0.  v.  Frisch. 

V.  Aus  verscliicdeueu  Zeitschriften. 

VI.  Vermischte  Nachrichten. 

VII.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßbericlite. 


Ueber  die  Veränderungen  des  Pankreas  bei 
Diabetes  melitus.*) 

Von  A.  Weich  selbauiu. 

Seitdem  man  den  Diabetes  melitus  kennt,  hat  man 
sich  bemüht,  die  Entstehungsart  seiner  Symptome,  nament¬ 
lich  der  Glykosurie,  zu  erforschen.  Ich  will  Sie  aber,  meine 
Herren,  nicht,  etwa  mit  der  Darstellung  der  verschiedenen 
im  Laufe  der  Zeit  aufgestellten  Hypothesen  ermüden,  son¬ 
dern  begnüge  mich  hier,  nur  soviel  ans  der  Geschichte  des 
Diabetes  herauszugreifen,  als  zum  Verständnis  meines  Vor¬ 
tragsthemas  notwendig  ist.  Wenn  ich  hiebei  nur  wenige 
Autoren  namentlich  anführe,  so  wollen  Sie  dies  mit  Rück¬ 
sicht.  auf  die  Kürze  der  mir  zur  Verfügung  stehenden  Zeit 
entschuldigen. 

Nachdem  man  die  Ursache  der  Glykosurie  einmal  in 
diesem,  einmal  in  jenem  Organ  gesucht  hatte,  war  es  llou- 
chardat,  welcher  im'  Jahre  1845  als  erster  auf  Grund 
von  Obduktionsbefunden  die  Ansicht  aussprach,  daß  dein 
Diabetes  eine  Erkrankung  des  Pankreas  zugrunde  liege. 
Freilich  waren  ihm  auch  Fälle  von  Diabetes  bekannt,  in 
denen  das  Pankreas  normäl  erschien;  aber  zur  Erklärung 
dieser  Fälle  behalf  er  sich  mit  der  Annahme  (einer  funk¬ 
tionellen  Störung  des  Pankreas.  Zur  Bekräftigung  seiner 
Ansicht  versuchte  er  auch  bei  Tieren  das  Pankreas  izu 
exstirpieren,  aber  die  Tiere  gingen  an  Peritonitis  zugrunde.. 


*)  Vortrag,  gehalten  in  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  am 

27.  Januar  1911. 


Die  Ansicht  B o u c h a r d at s  erhielt  eine  weitere  Stütze 
durch  die  von  Lapierre  über  Anregung  von  L  an  cere  au  x 
vorgenommene  Zusammenstellung  der  bisherigen  Obduk¬ 
tionsbefunde  bei  Diabetes.  Er  konnte  nämlich  aus  der  Lite¬ 
ratur  65  Fälle  von  Diabetes  mit  Veränderungen  des  .Pan¬ 
kreas,  die  stets  in  einer  Atrophie  des  Organs  bestanden, 
zusammenstellen,  meinte  aber,  daß  die  von  Lancereaüx 
als  Diabete  miaigre  bezeichnete  Form  auch  ohne  Verände¬ 
rung  des  Pankreas  entstehen  könne. 

Die  von  Bou Chard at  aufgestellte  Ansicht,  daß  der 
Diabetes  auf  einen  Ausfall  der  äußeren  Sekretion  des  Pan¬ 
kreas  zurübkzuführen  sei,  wurde  wieder  erschüttert,  durch 
Tierversuche  französischer  Autoren,  welche  nach  Unterbin¬ 
dung  des  Ausführungsganges  oder  der  Ausführungsgänge 
des  Pankreas  einen  völligen  Schwund  des  Parenchyms  beob¬ 
achteten,  ohne  daß  aber  Glykosurie  aufge treten  war. 

Eine  sehr  bedeutungsvolle  Wendung  in  der  Diabetes¬ 
lehre  trat  ein,  als  v.  Mering  und  Minkowski  i uv  Jahre 
1889  die  Versuche  der  Exstirpation  des  Pankreas  bei  Tieren 
wieder  aufrfahmen  u.  zw.  mit  Erfolg,  indem  hiebei  regelmäßig 
ein  schwerer  Diabetes  entstand.  Da  später  von  Minkowski 
sowie  von  Hedon  und  von  Thiroloix  gezeigt,  werden 
konnte,  daß  kein  Diabetes  auftritt,  wenn  man  bei  der  Exstir¬ 
pation  des  Pankreas  ein  Stück  vom  letzteren  zurückbehält 
und  unter  die  Bauchhaut  verpflanzt,  so  war  hi  emit  ein  neuer 
Beweis  dafür  geliefert  worden,  daß  die  Entstehung  des  Dia¬ 
betes  nicht,  mit  dem  Wegfalle  der  äußeren  Sekretion  des 
Pankreas  Zusammenhängen  könne;  es  lag  deshalb  nahe, 
an  eine  innere  Sekretion  des  Pankreas  zu  denken  und,  wie 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  5 


es  Lepine  ausspradh,  den  Ausfall  dieser  für  die  Entstehung 
des  Diabetes  verantwortlich  zu  machen. 

Im  Jahre  1893  stellte  Lag ues se  die  Behauptung  auf, 
daß  die  sogenannten  L  an  gerli  ans  sehen  Inseln,  welche 
man  zwar  schon  seit  mehr  als  20  Jahren  kannte,  über 
deren  Funktion  aber  die  verschiedensten  Ansichten  geäußert 
worden  waren,  besondere  Organe  darstellen  und  daß  sie 
wahrscheinlich  ein  inneres  Sekret  liefern. 

Zwei  Jahre  darauf  ging  Schäfer  noch  weiter,  indem 
er  den  Langerhansschen  Inseln  nicht  nur  eine  innere 
Sekretion  zuerkannte,  sondern  diese  sogar  mit  dem  Zucker¬ 
stoffwechsel  in  Verbindung  brachte  und  meinte,  daß  man 
den  Pankreasdiabetes  leicht  erklären  könnte,  wenn  man  an 
Stelle  des  Drüsenparenohyms,  welchem  bisher  sowohl  eine 
äußere  als  innere  Sekretion  zugeschrieben  worden  war,  die 
Inseln  setzen  würde.  Allerdings  lagen  dieser  Hypothese 
noch  keine  Untersuchungen  derj  Inseln  bei  Diabetes  zugrunde. 

Inzwischen  —  u.  zw.  schon  iiri  Jahre  1894  —  war  eine 
größere  pathologisch  -  anatomische  Arbeit  über  Diabetes  von 
v.  Hanse  mann  erschienen,  deren  Ergebnis  darin  gipfelt, 
daß  bei  Diabetes  am!  häufigsten  eine  einfache  Atrophie  des 
Drüsenparenchyms  gefunden  werde,  die  aber  einen  spe¬ 
zifischen  Charakter  besitzt  und  von  ihm!  als  Granularatrophie 
des  Pankreas  bezeichnet  wurde.  Nach  ihm!  besteht  die  we¬ 
sentliche  Funktion  des  Pankreas  in  bezug  auf  das  Verhältnis 
zum  Zuckerstoffwechsel  nicht  in  einer  äußeren,  sondern 
in  einer  inneren  Sekretion  und  diese  ist  es,  welche  nach 
seiner  Ansicht  bei  der  Granularatrophie  des  Pankreas,  also 
bei  einer  Atrophie  des  Drüsenparenchyms,  alteriert  wird, 
v.  Hansemann  legte  also  bei  der  Erklärung  des  Diabetes 
den  Akzent  auf  die  Veränderung  des  Drüsenparenchyms 
und  zwar  in  dem!  Sinne,  daß  hiedurch  die  innere  Sekretion 
des  letzteren  gestört  werde. 

Einige  Jahre  vor  ihm  (1891)  hatten  aber  Lemoine 
und  L  anno  is  nicht  in  einer  Veränderung  des  Drüsenparen¬ 
chyms  das  Wesen  des  Diabetes  erblickt,  sondern  in  einer 
Veränderung  der  Blut-  und  Lymphgefäße  des  Pankreas,  näm¬ 
lich  in  einer  Sklerose  derselben,  da  hiedurch  die  Resorption 
des  vom  Drüsenparenchym  gelieferten  inneren  Sekretes  er¬ 
schwert,  und  so  eine  Störung  des  Zuckerstoffwechsels  ver¬ 
ursacht,  werde.  Die  Frage  jedoch,  ob  auch  Veränderungen 
der  Inseln  hei  Diabetes  eine  Rolle  spielen,  haben  weder  diese 
Autoren,  noch  v.  Hansemann  in  Betracht  gezogen. 

Eine  Wandlung  in  dieser  Beziehung  trat  aber  dann 
ein,  als  Di  am  are  im  Jahre  1899  noch  bestimmter  als  es 
Schäfer  getan  hatte,  den  Satz  formulierte,  daß  die  Inseln 
durch  ihre  innere  Sekretion  einen  maßgebenden  Einfluß 
auf  den  Zuckerstoffwechsel  ausüben.  Es  entstand  jetzt  nach 
und  nach  eine  sehr  reiche  Literatur  über  die  Frage,  ob  die 
Inseln  bei  der  Entstehung  des  Diabetes  eine  wichtige  Rolle 
spielen  oder  nicht. 

Ich  selbst  hatte  schon  im  Jahre  1901  in  einer  gemein¬ 
schaftlich  mit  Dr.  S  tan  gl  ausgeführten  Arbeit  berichtet, 
daß  wir  in  18  von  uns  untersuchten  Fällen  von  Diabetes 
auffällige  Veränderungen  in  den  Inseln  gefunden  hatten 
und  in  einer  ein  Jahr  später  erschienenen  Arbeit,  welche 
sich  auf  die  Untersuchung  von  weiteren  15  Fällen  von  Dia¬ 
betes  bezog,  beitonten  wir,  daß  die  Inseln  es  waren,  in 
denen  wir  konstant  bedeutende  Veränderungen  fanden,  Ver¬ 
änderungen,  welche  in  Fällen  ohne  Diabetes  vermißt  wur¬ 
den,  während  das  Drüsenparenchym  bei  Diabetes  keine  oder 
doch  keine  bedeutenden  Veränderungen  erkennen  ließ. 

Nichtsdestoweniger  drückten  wir  uns  in  den  Schlu߬ 
folgerungen  reserviert  aus  und  meinten,  daß  zur  sicheren 
Entscheidung  der  früher  erwähnten  Frage  noch  weitere 
Untersuchungen  notwendig" seien.  Aus  diesem  Grunde  setzte 
ich  in  den  folgenden  Jahren  meine  Untersuchungen  fort 
und  zwar,  wie  ich  noch  später  auseinandersetzen  werde, 
nach  verschiedenen  Richtungen. 

Inzwischen  war  von  anderen  Seiten  eine  Reihe  von 
Arbeiten  erschienen,  auf  welche  ich  hier  nicht  näher  ein- 
gelien  kann  und  deshalb  auf  meine  ausführliche,  in  den 
Sitzungsberichten  der  Kaiserlichen  Akademie  der  Wissen¬ 


schaften  in  Wien  erschienene  Abhandlung1)  verweise,  in 
welcher  auch  die  entsprechenden  Literaturangaben  enthalten 
sind.  Hier  will  ich  nur  die  Schlußfolgerungen  anführen, 
welche  in  den  verschiedenen  Arbeiten  enthalten  sind,  wobei 
ich  letztere  in  drei  Kategorien  bringen  kann.  Die  erste  Kate¬ 
gorie  umfaßt  jene  Arbeiten,  in. welchen  die  Autoren  zum 
Schlüsse  kommen,  daß  die  Veränderungen  der  Inseln  das 
entscheidende  Moment  bei  der  Entstehung  des  Diabetes  dar¬ 
stellen;  wir  können  diese  Ansicht  kurzweg  als  die  Insel¬ 
theorie  bezeichnen,  ln  die  zweite  Kategorie  gehören 
jene  Arbeiten,  deren  Verfasser  einen  gerade  entgegen-- 
i  gesetzten  Standpunkt  einnehmen,  indem  sie  den  Inseln  jede 
Bedeutung  für  den  Diabetes  absprechen  und  das  Wesen  des 
?  letzteren  in  Veränderungen  des  Drüsenparenchyms  suchen, 
li  während  man  zur  dritten  Kategorie  jene  Abhandlungen 
J!  rechnen  kann,  deren  Autoren  in  gewissem  Sinne  eine  ver- 
;  mittelnde  Stellung  zwischen  den  beiden  eben  erwähnten 
j  Ansichten  einnehmen,  indem  sie  sowohl  den  Veränderungen 
|  des  Drüsenparenchyms,  als  jenen  der  Inseln  einen  wichtigen 
Einfluß  auf  die  Entstehung  des  Diabetes  zuschreiben,  frei? 
[  lieh  wieder  mit  dem  Unterschied,  daß  die  einen  Autoren 
jj  den  größeren  Einfluß  dem  Drüsenparenchym,  die  anderen 
den  Inseln  beimessen. 

Was  nun  die  Vertreter  der  beiden  letztgenannten  An¬ 
sichten  betrifft,  welche  nämlich  den  Inseln  keine  ausschlag¬ 
gebende  Bedeutung  für  die  Entstehung  des  Diabetes  zu¬ 
schreiben  wollen,  so  begründen  sie  ihre  Ansicht  mit  dem 
Hinweise,  daß  es  erstens  Fälle  von  Diabetes  gebe,  in  welchen 
keine  Veränderungen  der  Inseln  zu  finden  seien,  daß  ferner 
auch  bei  Nichtdiabetikern  mitunter  Veränderungen  der 
Inseln  beobachtet  werden  und  endlich,  daß  die  In¬ 
seln  überhaupt  keine  konstanten  unveränderlichen  Ge¬ 
bilde  seien,  indem  sie  sich  fortwährend  in  Drüsen¬ 
parenchym  umwandeln,  oder  aus  diesem  hervorgehen. 
Dem  zuletzt  angeführten  Argumente  schien  eine  besondere 
Bedeutung  zuzukommen,  weil  leicht  einzusehen  ist,  daß 
Organe,  welche  in  fortwährender  Umbildung  begriffen  sind, 
unmöglich  einen  maßgebenden  Einfluß  auf  die  Entstehung 
des  Diabetes  ausüben  können. 

Die  Aufgabe,  welche  ich  mir  bei  meinen  weiteren  Unter¬ 
suchungen  stellte,  mußte  also  nicht  bloß  darin  bestehen,  in 
einer  recht  großen  Zahl  von  Diabetesfällen  das  Pankreas 
einer  genauen  mikroskopischen  Untersuchung  zu  unter¬ 
ziehen,  sondern  auch  die  Behauptung,  daß  die  Inseln  keine 
konstanten,  anatomisch  selbständigen  Gebilde  seien,  auf  ihre 
Richtigkeit  zu  prüfen. 

Zu  diesem  Behuf  e-  studierte  ich  in  Gemeinschaft  mit 
Dr.  Kyrie  die  Entwicklung  der  Inseln  des  menschlichen 
Pankreas  in  der  Embryonalperiode  und  ihr  weiteres  Ver¬ 
halten  sowohl  vor  als  nach  der  Geburt,  wobei  wir  einerseits 
in  Uebereinstlmhiung  mit  früheren  Autoren,  wie  Küster, 
Pear  Ce,  0.  Stoerk,  Kar.akäscheff  konstatieren  konnten, 
daß  die  Inseln  aus  derselben  Anlage  wie  das  Drüsenparen¬ 
chym,  nämlich  aus  den  primären  Drüsengängen,  entstehen, 

9  lieber  die  Veränderungen  des  Pankreas  bei  Diabetes  rnelitus 
Sitzungsberichte  der  kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien 
mathem.- naturwissenschaftlichen  Klasse,  Bd.  119,  Abt.  3,  März  1910 
In  dieser  Abhandlung  konnte  ich  die  erst  nach  dem  Abschlüsse  meiner 
Untersuchungen  in  dieser  Wochenschrift  1909,  Nr.  43,  erschienene  Arbeit 
von  v.  II  a  1  ä  s  z  nicht  mehr  berücksichtigen,  weshalb  ich  hier  an¬ 
führen  .will,  daß  der  genannte  Autor  in  29  Diabetesfällen  achtmal  95  bis 
90"/0  der  Inseln  normal,  sechsmal  60  bis  90"/0  der  Inseln  und  siebenmal 
30  bis  40%  der  Inseln  verändert  und  in  den  übrigen  Fällen  mit  Aus¬ 
nahme  von  2  die  Zahl  der  Inseln  stark  reduziert  fand.  Größtenteils  war 
nur  eine  ganz  geringe  Atrophie  einzelner  Inseln  und  nur  in  4  Fällen 
eine  hochgradige  und  ausgedehnte  Atrophie  der  Inseln  vorhanden.  In 
6  Fällen  bestand  auch  Kolloid-  und  Hyalindegeneration  der  Inseln; 
außerdem  fanden  sich  häufig  kombinierte  Veränderungen  :  Atrophie  und 
kolloide  Degeneration,  kolloide  Degeneration  und  Sklerose,  Atrophie  und 
Sklerose.  Da,  wie  v.  Haläsz  behauptet,  in  einer  Anzahl  von  Diabetes¬ 
fällen  im  Pankreas  keine  Veränderungen  zu  linden  sind,  so  folgert  er, 
daß  diese  Fälle  —  es  sind  speziell  die  sogenannten  »leichten  Diabetes¬ 
fälle«  —  absolut  kein  Pankreasdiabetes  sind.  Unter  40  Diabetikern  über 
40  Jahren  fand  er  elfmal  Veränderungen  der  Blutgefäß  Wandungen  und 
er  sucht  auch  in  einem  Teile  dieser  Fälle  die  eigentliche  Ursache  des 
Diabetes  in  einer  Arteriosklerose. 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


155 


anderseits  aber  feststellten,  daß  die  Inseln  nach  ihrer  Ent¬ 
wicklung  weder  in  der  fötalen,  noch  postfötalen  Periode 
sich  in  Drüsenparenchym  umwand  ein  und  daß  die  Inseln 
auch  niemals  aus  Drüsenparenchym  entstehen. 

Ferner  untersuchte  über  meine  Veranlassung  Doktor 
Kyrie  hei  Tieren  die  Regeneration  des  Drüsenparenchyms 
und  der  Inseln  des  Pankreas,  wobei  er  fand,  daß  die  Inseln 
teils  aus  sich  selbst,  teils  aus  den  Ausführungsgängen  (des 
Pankreas  sich  regenerieren,  während  ich  für  das  mensch¬ 
liche  Pankreas  den  Nachweis  erbringen  konnte,  daß  die 
Inseln,  wenn  ein  Untergang  derselben  erfolgt,  sich  ebenfalls 
aus  den  Ausführungsgangen,  niemals  aber  aus  dem  Drüsen¬ 
parenchym  sich  regenerieren.  Hiemit  war  die  früher  er¬ 
wähnte  Behauptung  der  Gegner  der  Inseltheorie,  daß  die 
Inseln  inkonstante,  variable  Gebilde  seien,  widerlegt  und 
zugleich  ein  Hauptargument  gegen  die  Inseltheorie  beseitigt. 

Was  nun  meine  Untersuchungen  des  menschlichen  Pan¬ 
kreas  bei  Diabetes  betrifft,  so  hielt  .ich  es  mit  Rücksicht  dar¬ 
auf,  daß  sehr  differente  Befunde  von  verschiedenen  Seiten 
Vorlagen  und  daß  dieselben  nur  auf  eine  relativ  «geringe 
Zahl  von  Untersuchungen  basierten,2)  für  geboten,  ein  recht 
großes  Material  zu  verwenden  und  auch  eine  recht  große 
Zahl  von  Kontrolluntersuchungen  vorzunehmen.  Die  Zahl 
der  von  mir  in  eingehender  Weise  untersuchten  Diabetes¬ 
fälle'  beträgt,  183,  während  die  Zahl  der  Kontrollunter¬ 
suchungen  eine  noch  größere  ist. 

Wenn  ich  nun  zur  Darstellung  meiner  Befunde  bei 
Diabetes  übergehe,  so  will  ich  zunächst  bemerken,  daß 
das  Pankreas  bei  der  makroskopischen  Betrachtung  in 
einer  Anzahl  von  Fällen  keine  Abweichung  von  der  Norm 
darbot ;  in  anderen  Fällen  bestand  aber  eine  mitunter  recht 
bedeutende  Atrophie  bei  gleichzeitiger  starker  Abnahme  des 
Gewichtes  oder  eine  mehr  minder  auffällige  Fettinfiltration 
des  Organs. 

Bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  des  Pan¬ 
kreas  fanden  sich  aber  konstant  Veränderungen  u.  zw.  Ver¬ 
änderungen  der  L  an  ge  rh  ans  sehen  Inseln,  die,  wie  ,ich 
schon  jetzt  betonen  will,  solche  waren,  daß  sie  die  Fünk- 
tion  der  Inseln  entweder  vollständig  aufhoben  oder  doch 
bedeutend  herabsetzen  mußten. 

Was  nun  diese  Veränderungen  im!  besonderen  betrifft, 
so  ist  unter  ihnen  als  häufigste  Line  Verminderung  der 
Zahl  der  Inseln  hervorzuheben,  die  in  sehr  vielen  Fällen 
ohne  weiteres  zu  erkennen  Avar,  da  man  sehr  oft  eine  große 
Zahl  von  Pankreasläppchen  diirch mustern  mußte,  bis  man 
auf  eine  Insel  stieß.  In  53  Fällen  hatte  ich  auch  Zählungen 
der  Inseln  vo rgeno mimen,  wobei  im  Vergleich  mit  den  von 
Heiberg  festgestellten  Mittelzählen  der  Inseln  des! normalen 
Pankreas  meist  viel  geringere  Werte  gefunden  wurden.  Aus 
einer  erst  kürzlich  erschienenen  Arbeit  Hei  bergs  ist  zu 
entnehmen,  daß  auch  dieser  Autor  bei  Diabetes  eine  recht 
bedeutende  Verminderung  der  Inselzahl  feststellen  konnte. 
Selbstverständlich  ist  die  Zählung  allein  nicht  maßgebend, 
da  es  nicht  nur  auf  die  Zahl,  sondern  auch  auf  die-  Größe 
und  auf  sonstige  Veränderungen  der  Inseln  ankommt.  Des¬ 
halb  ließ  ich  durch  einen  meiner  «Schüler,  nämlich  durch 
Herrn  Dr.  Neumann,  sowohl  bei  Diabetikern,  als  bei  Nicht- 
diabetikem  Größenbestimmungen  u.  zw.  volumetrische  Mes¬ 
sungen  der  Inseln  und  des  Drüsenparenchyms  ausführen, 
die  freilich  sehr  mühsam  und  zeitraubend  sind  und  daher 
nur  in  einer  geringen  Zahl  \ron  Fällen  vorgenomhien  werden 
konnten ;  sie  zeigten  aber,  daß  in  den  untersuchten  Fällen 
von  Diabetes  die  Inseln  in  stärkerem;  Maße  an  Volumen  ein¬ 
gebüßt  hatten,  als  das  Drüsenparenchym. 

Am  wichtigsten  und  \ron  entscheidender  Bedeutung 
sind  aber  die  übrigen  von  mir  u.  zw.  konstant  beobachteten 
Veränderungen  der  Inseln;  es  sind  folgende: 

Erstens  die  von  mir  als  hydropisChe  Degenera¬ 
tion  bezeidhnete  Veränderung  der  Inseln.  Sie  besteht  darin, 

2)  Erst  kurz  vor  dem  Abschlüsse  meiner  Untersuchungen  erschien 
eine  auf  ein  größeres  Material  sich  stützende  Arbeit,  nämlich  von  Russel 
L.  Cecil,  Proceed,  of  the  New  York  Pathol.  Soc.  Dezember  1908  und 

Januar  1909. 


daß  das  Protoplasma  der  Inselepithelien  seine  normale  Struk¬ 
tur  verliert  und  durchsichtig  wird,  wobei  aber  längere  Zeit 
hindurch  ganz  charakteristische,  durch  Fosin  sich  braun¬ 
rot  färbende  Körnchen  im  Protoplasma  sichtbar  bleiben. 
Weiterhin  können  einzelne  oder  viele  Fpitheiien  durch  Ver¬ 
flüssigung  ganz  zugrunde1  gehen,  während  in  den  anderen 
Inselzellen  das  Protoplasma  sich  verschmälert  und  die  Kerne 
immer  kleiner  werden.  In  diesem.  Fälle  kann  man  beispiels¬ 
weise  auf  Inseln  stoßen,  die  nicht  nur  viel  kleiner  gewor¬ 
den  sind,  sondern  deren  Epithelien  wie  Lymphozyten  aus- 
sehen.  Bei  anderen  Inseln  beobachtet  man  zu  Beginn  ihrer 
Verkleinerung  eine  kleinzellige  Infiltration  des  peri-  und 
intrainsularen  Bindegewebes  und  später  eine  mehr  minder 
bedeutende  Verbreiterung  des  letzteren,  während  die  Insel-, 
zellbalken  verschiedene  Grade  von  Verschmälerung  zeigen. 
Die  hydropisdhe  Degeneration  führt  also  zur  Atrophie  oder 
zuni  vollständigen  Untergänge  der  Inseln. 

In  einer  Anzahl  von  Fällen  konnte  ich  in  den  von  mir 
untersuchten  Schnitten  nur  atrophische,  aber  keine  hydro- 
pisch  degenerierten  Inseln  auffinden;  ich  glaube  zwar,  daß 
audh  in  diesen  Fällen  die  Atrophie  die  Folge  einer  hydro- 
pischen  Degeneration  war,  nur  daß  letztere  entweder  schon 
überall  in  Atrophie  übergegangen  oder  zufällig  in  den  von 
mir  untersuchten  [Schnitten  nicht  mehr  zu  sehen  war.  Je¬ 
doch  will  ich  die  Annahme,  daß  in  diesen  Fällen  die  Atro¬ 
phie  unabhängig  von  einer  hydropischen  Degeneration  auf¬ 
getreten  war,  nicht  ganz  von  der  Hand  weisen,  obwohl 
sie  mir  ziemlich  unwahrscheinlich  vorkommt.  Die  hydro¬ 
pisdhe  Degeneration  mit  der  sich  anschließenden  Atrophie 
der  Inseln,  konnte  ich  in  meinem  Diabetes  material  sehr 
häufig  beobachten,  nämlich  in  53%  der  Fälle.  Bemerkens¬ 
wert  ist  ferner  die  Tatsache,  daß  die  genannte  Veränderung 
in  fast  79%  der  Fälle,  also  fast  ausschließlich,  bei  jünge¬ 
ren  Leuten,  nämlich  bei  Personen  zwischen  4 ‘,4  und  40 
Jahren  vorkam  und  fast  niemals  von  Sklerose-  der  Arterien 
des  Pankreas  begleitet  Avar.  Von  anderen  Autoren  ist  die 
eben  beschriebene  Veränderung  bisher  gar  nicht  oder  nur 
andeutungsweise  erwähnt  worden,  was,  wenigstens  teil¬ 
weise,  darin  seinen  Grund  haben  dürfte,  daß  die  hydro¬ 
pisdhe  Degeneration  der  Inselepithelien  bei  nicht  geeigneter 
Fixierung  der  Präparate  infolge  zu  starker  Schrumpfung 
des  Protoplasmas  schwer  oder  gar  nicht  mehr  zu  er¬ 
kennen  ist. 

Eine  zweite  Veränderung  der  Inseln  ist  die  Skle¬ 
rose  oder  die  chronische  peri-  und  intrainsulare 
Entzündung  derselben.  Man  sieht  hiebei  die  Inseln  von 
einer  verschieden  breiten  Bindegewebsschicht  eingeschlossen 
und  überdies  das  die  Inselgefäße  begleitende  BindegeAvebe 
mehr  weniger  stark  verbreitert,  wodurch  die  Inselzellbalken 
auseinandergedrängt  werden  oder  die  Inseln  den  Eindruck 
erwecken,  als  würden  sie  in  mehrere  Stücke  zersprengt 
worden  sein.  Infolge  der  Verbreiterung  des  peri-  und  intra¬ 
insularen  Bindegewebes  erfahren  die  Inselzellbalken  eine 
mehr  minder  starke,  Verschmälerung  und  Atrophie  und 
schließlich  können  die  Inselepithelien  vollständig  zugrunde 
gehen.  Die  eben  beschriebene  Veränderung  war  in  den 
von  mir  untersuchten  Fällen  stets  von  einer  chronischen 
interstitiellen  (inter-  und  intralobulären)  Entzündung  des 
Pankreas  und  häufig  noch  von  Fettinfiltration  des  letzteren 
begleitet ;  sie  Avar  offenbar  dadurch  entstanden,  daß  eine 
zuerst  aufgetretene  chronische  interstitielle  Entzündung  des 
Pankreas,  mit  oder  ohne  Lipomatose  desselben,  die  häufig 
im  Zentrum  der  Läppchen  am  stärksten  entwickelt  war, 
auf  die  daselbst  befindlichen  Inseln  allmählich  übergegriffen 
hatte. 

Bezüglich  der  Häufigkeit  dieser  Veränderung  muß 
ich  bemerken,  -  daß  sie  nicht  viel  geringer  ist  als  die  der 
hydropischen  Degeneration;  sie  betraf  nämlich  in  meinem 
Material  Ca.  43%  der  untersuchten  Fälle.  Als  eine  Aveitere 
bemerkenswerte  Tatsache  ist  anzuführen,  daß  die  Inselskle¬ 
rose  im  Gegensatz  zur  hydropischen  Degeneration  zumeist 
bei  Personen  über  50  Jahren  vorgefunden  wurde  und  daß 
sie  ferner  fast  immer  von  einer  Sklerose  der  Arterien  des 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  l'Jll. 


Nr.  5 


Pankreas  begleitet  war,  so  daß  die  Annahme  eines  ursäch¬ 
lichen  Zusammenhanges  zwischen  beiden  Prozessen  berech¬ 
tigt  erscheint  u.  zw.  in  dem  Sinne,  daß  die  Arteriosklerose 
direkt  oder  indirekt  eine  chronische  interstitielle  Entzün¬ 
dung  des  Pankreas  verursachte,  welche  sich  dann  auch 
auf  die  Inseln  fortsetzte.  Nur  in  wenigen  Fällen  war  die 
der  Inselsklerose  vorausgegangene  interstitielle  Bindegewebis- 
wucherung  anderer  Ursache,  indem  sie  nämlich  in  zwei 
Fällen  an  eine  Verstopfung  des  Ductus  pancreaticus  durch 
ein  Konkrement  und  in  drei  Fällen  an  ein  Karzinom  des 
Pankreas  sich  anschloß. 

Eine  dritte  Veränderung  der  Inseln  ist  die  hyaline 
Degeneration  derselben.  Sie  besteht  darin,  daß  das  die 
Inselgefäße  begleitende  Bindegewebe  zu  einer  homogenen 
Masse  aufquillt,  wodurch  die  Inselepithelien  mehr  und  mehr 
komprimiert  werden  und  endlich  ganz  zugrunde  gehen,  so 
daß  an  Stelle  der  Insel  ein  homogenes  Gewebe  zurückbleibt, 
welches  weiterhin  noch  schrumpfen  und  selbst  verkalken 
kann. 

Die  beschriebene  Veränderung  wurde  weniger  häufig 
als  die  hydropische  Degeneration  und  die  Sklerose  der 
Inseln  gefunden,  nämlich  in  etwa.  28%  der  von  mir  unter¬ 
suchten  Fälle.  Sie  war  fast  immer  von  Sklerose  der  Ar¬ 
terien  des  Pankreas  begleitet,  weshalb  man  annehmen  kann, 
daß  zwischen  beiden  ebenfalls  ein  Kausalnexus  bestehen 
dürfte.  Neben  der  hyalinen  Degeneration  wurde  sehr  oft 
noch  eine  aus  einer  chronischen  interstitiellen  Pankreatitis 
hervorgegangene  Inselsklerose  gefunden,  also  eine  Verän¬ 
derung,  die,  wie  wir  früher  hervorgehoben  haben,  auch 
mit  einer  Arteriosklerose  des  Pankreas  Zusammenhängen 
dürfte.  Schließlich  ist  noch  zu  bemerken,  daß  die  hyaline 
Degeneration  ähnlich  der  Inselsklerose  am  häufigsten  bei 
Personen  über  50  Jahren  angetroffen  wurde. 

Von  sonstigen  Veränderungen  der  Inseln  ist  noch  das 
Vorkommen  von  Blutungen  in  den  Inseln  anzuführen, 
welche  aber  nicht  sehr  häufig  und  nur  in  wenigen  Inseln 
beobachtet  wurden.  Da  sie  überdies  auch  bei  Nichtdia¬ 
betikern  gefunden  werden  können,  namentlich  bei  venöser 
Stauung  in  den  Unterleibsorganen,  so  kommt,  ihnen  wohl 
kein  entscheidender  Einfluß  auf  die  Entstehung  des  Dia¬ 
betes  zu. 

Von  Wichtigkeit  ist  dagegen  die  Tatsache,  daß  ich 
in  den  von  mir  untersuchten  Fällen  ziemlich  oft  eine  Re¬ 
generation  von  Inseln  konstatieren  konnte,  die  am!  häu¬ 
figsten  im  Kopfe  des  Pankreas  und  bei  der  hydropischen 
Degeneration  der  Inseln,  also  beim  Diabetes  jugendlicher 
Personen  anzutreffen  war.  Sie  ging  wie  sonst  stets  von  den 
kleinen  Ausführungsgängen  aus  und  lieferte  mitunter  recht 
viele  neue  Inseln,  von  denen  aber  mehr  oder  minder  zahl¬ 
reiche  auffallend  klein  blieben,  nur  aus  einem  oder  we¬ 
nigen,  kurzen,  einreihigen  Zellbalken  bestanden,  somit  als 
rudimentäre  Inseln  bezeichnet  werden  müssen. 

Auch  eine  auffällige  Größenzunahme,  also  eine  Hyper¬ 
trophie  der  Inseln,  konnte  ich  in  einigen  Fällen  beob¬ 
achten  u.  zw.  gewöhnlich  in  Fällen  von  Inselsklerose. 

Wie  steht,  es  nun  mit  dem  Drüsenparenchym  in 
meinen  Diabetesfällen  ?  In  dieser  Beziehung  ist  zu  be¬ 
merken,  daß  ich  zwar  sehr  häufig  eine  Atrophie  der  Drüsen¬ 
läppchen  und  ihrer  Epilhelien  wahrnehmen  konnte,  aber 
durchaus  nicht  in  allen  Fällen.  Die  höchsten  Grade  von 
Atrophie  des  Drüsenparenchyms  bestanden  in  den  Fällen 
von  Verschluß  des  Ductus  pancreaticus  durch  ein  Konkre¬ 
ment  und  in  den  Fällen  von  Karzinom  des  Pankreas,  wäh¬ 
rend  in  einer  Anzahl  von  Diabetesfällen  mit  hydropischer 
Inseldegeneration  eine  Atrophie  oder  überhaupt  eine  Ver¬ 
änderung  des  Drüsenparenchyms  ganz  oder  fast  ganz  ver¬ 
mißt  wurde;  es  kann  daher  etwaigen  Veränderungen  des 
Drüsenparenchyms  keine  maßgebende  Bedeutung  für  die 
Entstehung  des  Diabetes  zugeschrieben  werden. 

Was  noch  das  Verhalten  der  anderen  Organe  in  den 
von  mir  untersuchten  Diaheteisfällen  betrifft,  so  will  ich 
nur  kurz  anführen,  daß  zwar  häufig  eine  Erkrankung  dieses 
oder  jenes  Organes,  wie  Arteriosklerose,  Lungentuberkulose, 


Lobulärpneumonie,  Leberzirrhose,  chronische  Gehirnaffek¬ 
tionen,  Nephritis  (zweimal  auch  Akromegalie)  angetroffen 
wurden,  aber  diese  Erkrankungen  waren  entweder  nur  in 
einzelnen  Fällen  oder  doch  nur  in  einer  beschränkten  Zahl 
von  Fällen  vorhanden,  so  daß  ihnen  schon  deshalb,  abge¬ 
sehen  von  anderen  Gründen,  keine  maßgebende  Dolle  bei 
der  Entstehung  des  Diabetes  zukommen  kann. 

Wenn  ich  nun  die  Befunde  in  den  von  mir  unter¬ 
suchten  183  Fällen  von  Diabetes  überblicke,  so  kann  ich 
zunächst  konstatieren,  daß  in  allen  diesen  Fällen  bei  der 
mikroskopischen  Untersuchung  auffällige  Veränderungen  in 
den  Lange rhans sehen  Inseln  des  Pankreas  nachgewiesen 
wurden  u.  zw.  solche,  welche  nicht  nur  die  Funktion  der 
Inseln  mehr  weniger  herabsetzen,  sondern  schließlich  auch 
den  Untergang  der  Inseln  herbeiführen  mußten. 

Allerdings  war  in  einer  Anzahl  von  Fällen  eine  Re¬ 
generation  oder  Hypertrophie  von  Inseln  zu  beobachten, 
worin  wir  einen  kompensatorischen  Vorgang  erblicken 
können:  aber  dieser  Vorgang  war  schließlich  unzureichend, 
weil  er  nur  eine  beschränkte  Ausdehnung  erlangte  und 
weil  bei  der  Regeneration  großenteils  nur  rudimentäre, 
also  keine  vollwertigen  Inseln  gebildet  wurden. 

Da  nun  bedeutende  Veränderungen  des  Pankreas  kon¬ 
stant  nur  in  den  Inseln  anzutreffen  waren,  nicht  aber  im 
Drüsenparenchym  und  da  ferner  die  Krankheitsprozesse  in 
den  anderen  Organen  teils  wegen,  ihrer  Qualität,  teils  wegen 
ihrer  kurzen  Dauer  unmöglich  eine  ausschlaggebende  Rolle 
bei  der  Entstehung  des  Diabetes  spielen  können,  so  bleibt 
nur  der  Schluß  übrig,  d  a  ß  die  anatomische  Ursache 
des  Diabetes  in  den  früher  beschriebenen  Ver¬ 
änderungen  der  Langerliansschen  Inseln  zu 
suchen  ist.. 

Dieser  Schluß  steht  auch  im  Einklang  mit  dem  kli¬ 
nischen  Befunde  in  den  von  mir  untersuchten  Fällen,  in¬ 
dem  bei  den  leichteren  Formen  des  Diabetes  geringere  Ver¬ 
änderungen,  bei  den  schwereren  Formen  bedeutende  Ver¬ 
änderungen  in  den  Inseln  nachgewiesen  werden  konnten. 
Eine  weitere  Uebereinsfimmung  besteht  noch  darin,  daß 
in  einer  Reihe  von  Fällen,  in  welcher  ein  hoher  Zucker¬ 
gehalt  des  Harns  während  des1  Krankheitsverlaufes  ein- 
oder  mehreremal  sich  stark  verringert,  hatte  oder  ganz  ge¬ 
schwunden  war,  bei  der  Untersuchung  des  Pankreas  eine 
Regeneration  oder  Hypertrophie  von  Inseln  konstatiert  Aver- 
den  konnte,  so  daß  anzunehmen  war,  daß  diese- Vorgänge 
in  einem  bestimmten  Zeitpunkte  des  Krankheitsverlaufes 
die  Schädigung  der  anderen  Inseln  teilweise  oder  ganz  zu 
kompensieren  vermochten. 

Den  früher  ausgesprochenen  Schluß  konnte  ich  auch 
auf  sehr  zahlreichen  Kontrolluntersuchungen  des1  Pankreas 
bei  den  verschiedensten,  akuten  und  chronischen  Krank¬ 
heilen  ohne  Diabetes  stützen,  da  es  sich  nämlich  hiebei 
zeigte,  daß  bei  keiner  dieser  Krankheiten  solche  Inselver¬ 
änderungen  aufzufinden  waren,  welche  ich  als  Ursache  des 
Diabetes  bezeichn ete.  Besonders  hervorheben  will  ich  hier 
meine  Untersuchungen  bei  chronischer  Tuberkulose, 
deren  Zahl  73  beträgt,  weil  Reit  mann  in  zwei  Fällen  von 
Lungentuberkulose  eine  hyaline  Degeneration  der  Inseln  ge¬ 
funden  hatte,  obwohl  „keine  auf  einen  Diabetes  mellitus 
hinweisenden  Symptome  vorhanden  waren“.  Das  häufige 
Vorkommen  der  hyalinen  Degeneration  der  Inseln  bei  Dia¬ 
betes  will  er  dadurch  erklären,  daß  bei  dieser  Krankheit 
die  Empfänglichkeit  des  Organismus  für  Infektionen  bedeu¬ 
tend  gesteigert,  ist  und  sich  als  eine  recht  häufige  Kompli¬ 
kation  derselben  Tuberkulose  und  Furunkulose  finden,  beides 
Prozesse,  die  oft  zur  Ablagerung  abnormer  Produkte  in  den 
Geweben,  zur  Amyloidose  führen;  es  liege  daher  die  Mög¬ 
lichkeit  vor,  daß  die  Veränderungen  der  Inseln  bei  Diabetes 
zum!  großen  Teile  auf  die  gleiche  Ursache  zuriiekzn- 
führen  seien. 

Dieser  etwas  unklar  ausgedrückten  Annahme  Reit¬ 
manns,  daß  nämlich  die  hyaline  Degeneration  bei  Diabetes 
durch  Amyloidbildung  bedingt  wäre,  kann  ich  durchaus 
nicht  zustimmen,  da  die  hyaline  und  die  amyloide  Degene- 


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ration  der  Inseln  niciht  nur  durch  ihre  mikrochemischen 
Reaktionen,  sondern  auch  durch  die  Art.  ihrer  Ausbreitung 
und  die  Folgezustände  voneinander  wesentlich  verschieden 
sind.  Bei  einer  ganz  flüchtigen  Untersuchung  könnte  viel¬ 
leicht  eine  amyloide  Degeneration  der  Inseln  mit  einer  hy¬ 
alinen  Degeneration  verwechselt  werden,  nicht  aber  bei  ge¬ 
nauer  Untersuchung.  In  den  von  mir  speziell  auf  die  amy- 
loide  und  hyaline  Degeneration  der  Inseln  untersuchten 
73  Fällen  von  chronischer  Tuberkulose  konnte  ich  sechs¬ 
mal  eine  amyloide  Degeneration  einzelner  oder  mehrerer 
Blutgefäße  in  einer  Anzahl  von  Inseln  uachweisen,  aber 
sie  ließ  sich  ohne  weiteres  und  mit  Sicherheit  von  der 
hyalinen  Degeneration  unterscheiden.  Nur  in  einem:  ein¬ 
zigen  Falle  fand  ich  in  wenigen  Inseln  eine  unzweifelhafte 
hyaline  Degeneration,  aber  anderseits  viele  neugebildete  und 
gut  entwickelte  Inseln;  von  Diabetes  war  in  der  Kranken¬ 
geschichte  nicht  die  Rede  gewesen. 

Was  nun  die  verschiedenen  Einwendungen  gegen  die 
Richtigkeit  der  sogenannten  Tnseltheorie  betrifft,  so  habe 
ich  einen  wichtig  erscheinenden  Einwand,  nämlich  die  an¬ 
gebliche  anatomische  Unselbständigkeit  der  Inseln,  bereits 
widerlegt.  Ein  weiterer  Einwand  der  Gegner  der  Inseltheorie 
besteht  in  der  Behauptung,  daß  es  Fälle  von  Diabetes 
gebe,  in  welchen  keine  Inselveränderungen  gefunden  wer¬ 
den  können.  Diesem  Einwande  kann  ich  das  Resultat  meiner 
Untersuchungen  von  183  Diabetesfällen  entgegenstellen,  in¬ 
dem  in  jedem  dieser  Fälle  Inselveränderungen  in  einem 
Grade  und  in  einer  Ausdehnung  nachzuweisen  waren,  daß 
man  die  Gesamtleistung  der  noch  vorhandenen  Inseln  als 
eine  bedeutend  herabgesetzte  bezeichnen  mußte.  Weiter  sind 
noch  die  Beobachtungen  zahlreicher  anderer  Autoren  in 
Betracht  zu  ziehen,  die  ebenfalls  bei  Diabetes  bestimmte 
Inselveränderungen  nachwiesen,  nämlich  Sklerose  oder  hya¬ 
line  Degeneration  oder  wenigstens  eine  Verminderung  der 
Zahl  der  Inseln.  Freilich  konnten  trotz  der  zuletzt  ange¬ 
führten  Beobachtungen  die  Gegner  der  Inseltheorie  noch 
immer  auf  eine  Anzahl  von  Diabetesfällen  hinweisen,  in 
denen  von  den  Autoren  selbst  bei  genauer  Untersuchung 
keine  Inselveränderungen  aufgefunden  wurden.  Von  diesen 
betrafen  aber  viele  das  jugendliche  Alter,  also  eine  Alters¬ 
stufe,  welche,  wie  ich  früher  angeführt  hatte,  von  der  hy- 
dropischen  Degeneration  der  Inseln  bevorzugt  wird,  einer 
Veränderung,  die  bei  einer  nicht  sehr  eingehenden  Unter¬ 
suchung  oder  bei  schlechter  Konservierung  der  Präparate 
leicht  übersehen  werden  kann.* 

Hiezu  kommt  noch  eine  Erscheinung  hei  Diabetes, 
nämlich  die  ungleiche  Verteilung  der  Inselveränderungen 
im  Gesamtorgane.  So  begegnete  es  mir  öfters,  daß  ich  bei 
der  Untersuchung  der  ersten  Schnittserien  keine  Abnormi¬ 
täten  in  den  Inseln  finden  konnte;  wenn  ich  aber  dann 
aus  ganz  anderen  Stellen  desselben  Pankreas  neue  Schnitte 
untersuchte,  fand  ich  zu  meiner  Ueberraschung  unzweifel¬ 
hafte  Inselveränderungen.  Man  muß  also  mit  seinem  Urteil 
solange  zurückhalten,  bis  man  von  verschiedenen  Stellen 
des  Pankreas  eine  größere  Zahl  von  Schnitten  genau  unter¬ 
sucht  hat. 

Weiters  wird  von  den  Gegnern  der  Inseltheorie  ein¬ 
gewendet,  daß  man  bei  Nichtdiabetikern  gelegentlich  ähn¬ 
liche  Inselveränderungen  finden  kann  wie  hei  Diabetikern. 
Dieser  Einwand  bezieht  sich  vorwiegend  auf  die  hyaline 
Degeneration,  weil  diese  tatsächlich  von  mehreren  Unter¬ 
suchern  in  Fällen  ohne  Diabetes  beobachtet  wurde.  Auch 
ich  fand,  wie  früher  erwähnt,  in  einem  Falle,  in  welchem 
die  klinische  Diagnose  nur  auf  chronische  Tuberkulose  ge¬ 
stellt  worden  war,  in  einzelnen  Inseln  eine  unzweifelhafte 
hyaline  Degeneration,  aber  anderseits  viele  neugebildete  In¬ 
seln.  In  einem  zweiten  Falle,  in  welchem  ein  Karzinom  des 
Oesophagus,  eine  Insuffizienz  der  Valvula  mitralis  und  eine 
atrophische  Leberzirrhose  vorhanden  waren,  fand  ich  auch 
in  einigen  Inseln  eine  geringgradige,  hyaline  Degeneration, 
dagegen  andere  Inseln  hypertrophisch;  in  diesem  Fälle  war 
aber  der  Harn  gar  nicht  auf  Zucker  untersucht  worden. 
Uebrigens  ist  die  einfache  Angabe  in  einer  Kranken¬ 


geschichte,  daß  eine  einmalige  Harnuntersuchung  auf  Zucker 
ein  negatives  Resultat  ergab,  noch  kein  sicherer  Beweis  für 
das  Nichtvorhandensein  eines  Diabetes ;  denn  abgesehen  von 
der  Möglichkeit  einer  ungenauen  Harnuntersuchung  wissen 
wir,  daß  bei  Diabetes  gegen  das  Lebensende  zu  der  Zucker 
ganz  schwinden  kann.  Als  Beleg  hiefür  kann  ich  einen 
Fall  aus  meinem  Untersuchungsmaterial  anführen,  in  dem 
auch  auf  Grund  einer  kurz  vor  dem  Tode  ausgeführten 
Harnuntersuchung  mit  negativem  Resultate  kein  Diabetes 
diagnostiziert  worden  war;  als  ich  aber  bei  der  mikrosko¬ 
pischen  Untersuchung  des  Pankreas  eine  hyaline  Degenera¬ 
tion  der  Inseln  fand  und  hierauf  Erkundigungen  bei  den 
Angehörigen  des  verstorbenen  Mannes  einholte,  so  erfuhr 
ich,  daß  bei  demselben  Polyurie,  Polydipsie  und  Polyphagie 
bestanden  hatten.  Ob  ähnliche  Verhältnisse  auch  in  den  ver¬ 
einzelten,  in  der  Literatur  angeführten  Fällen,  in  welchen 
eine  hyaline  Degeneration  der  Inseln  gefunden  wurde,  aber 
kein  Diabetes  vorhanden  gewesen  sein  soll,  obgewaltet 
haben,  kann  ich  natürlich  nicht  entscheiden.  Ich  muß  jedoch, 
abgesehen  davon,  daß  bei  flüchtiger  Untersuchung  oder  bei 
schlechter  Konservierung  des  Pankreas  auch  Täuschungen 
Vorkommen  können,  noch  auf  die  Tatsache  hinweisen,  daß 
das  Pankreas  eine  sehr  große  Zahl  von  Inseln  besitzt  und 
daher  eine  etwaige  Schädigung  derselben  erst  einen  gewissen 
Grad  und  eine  gewisse  Ausdehnung  erreicht  haben  muß, 
bis  es  zu  einem  manifesten  Diabetes  kommt,  da  auch  das 
Tierexperiment  zeigt,  daß  nach  partieller  Exstirpation  des 
Pankreas,  auch  wenn  nur  ein  Fünftel  der  Drüse  zuriick- 
bleibt,  kein  Diabetes  zu  entstehen  braucht.  Hiezu  kommt 
noch  der  Umstand,  daß  nach  Schädigung  der  Inseln  eine 
Regeneration  derselben  oder  eine  Hypertrophie  der  nicht 
geschädigten  Inseln  sich  einstellen  und  dadurch  die  Wirkung 
der  Inselläsion  ausgeglichen  werden  kann.  Es  müssen  daher 
diese  Momente  in  jedem  Einzelfalle  bei  Beurteilung  des 
Einflusses  von  etwaigen  Inselveränderungen  auf  die  Ent¬ 
stehung  des  Diabetes  berücksichtigt  werden,  was  nicht  bloß 
für  die  hyaline  Degeneration,  sondern  auch  für  die  anderen, 
früher  angeführten  Veränderungen  der  Inseln  gilt. 

Ein  weiterer  Einwand  gegen  die  Inseltheorie  besteht 
in  der  Behauptung,  daß  man  hei  Diabetikern  mitunter  keine 
Verminderung  oder  Verkleinerung,  sondern  im  Gegenteil  eine 
Vermehrung  oder  Vergrößerung  der  Inseln  antrifft.  Es  ist 
nun  allerdings  richtig,  daß  letztere  Erscheinung  öfters  beob¬ 
achtet  werden  kann,  aber  maßgebend  hiebei  ist  der  Grad 
und  die  Ausdehnung  dieser  Erscheinung.  Ich  habe  in  meinen 
Diabetesfällen  eine  Neubildung  von  Inseln,  mitunter  sogar 
von  recht  zahlreichen,  ziemlich  oft  beobachtet,  aber  in 
diesem  Vorgänge  geradezu  einen  wichtigen  Beweis  für  die 
Bedeutung  der  Inselveränderungen  bei  der  Entstehung  des 
Diabetes  erblickt,  da  die  Regeneration  nur  eine  Folge  des 
Unterganges  von  Inseln  sein  kann.  Wenn  aber,  wie  ich  in 
meinen  Diabetesfällen  sehen  konnte,  die  Regeneration  hinter 
dem  Untergänge  zurückbleibt  oder  wenn  sie  nicht  eine  ge¬ 
nügende  Zahl  von  vollwertigen  Inseln  liefert,  so  spricht  ein 
solcher  Befund  nicht  gegen,  sondern  vielmehr  für  die  Be- 
deutunng  der  Inseln  bei  der  Entstehung  des  Diabetes.  Aehn- 
lic'hes  gilt  für  die  Hypertrophie  der  Inseln;  in  meinen  Fällen 
habe  ich  sie  nicht  sehr  häufig  und  vor  allem  nicht  in  hohem 
Grade  und  in  großer  Ausdehnung  gesehen.  Dagegen  konnte 
ich  bei  meinen  Konirolluntersuchungen  des  Pankreas  von 
Nichtdiabetikern  in  jenen  Fällen,  in  welchen  auch  ein  Unter¬ 
gang  von  Inseln  stattgefunden  hatte,  nicht  bloß  eine  Neu¬ 
bildung  oder  Vergrößerung  von  Inseln  beobachten,  son¬ 
dern  die  neugebildeten  Inseln  waren  sehr  zahlreich  und 
nicht  rudimentär  und  die  hypertrophischen  Inseln  hatten 
oft  eine  sehr  bedeutende  Größe  erreicht. 

Es  muß  übrigens  noch  betont  werden,  daß  es  beim 
Diabetes  nicht  so  sehr  auf  das  Vorhandensein  spezifischer 
Inselveränderungen  ankommt,  sondern  Diabetes  entsteht 
dann,  wenn  die  Inselveränderungen,  gleichgültig,  welcher 
Art  sie  sind,  einen  gewissen  Grad  und  Umfang  erreicht 
haben;  es  ist  also,  wie  auch  Saltykow  richtig  bemerkt, 
nicht  das  Quale,  sondern  das  Quantum  der  Inselverände- 


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rangen  maßgebend;  wird  aber  deren  Wirkung  durch  Neu¬ 
bildung  oder  Hypertrophie  der  Inseln  kompensiert,  so  bleibt 
der  Diabetes  aus,  bzw.  er  kommt  zur  Heilung. 

Ein  d  eil  der  Gegner  der  Inseltheorie  will  übrigens 
eine  Mitbeteiligung  etwaiger  Inselveränderungen  an  dem  Zu¬ 
standekommen  des  Diabetes  nicht  in  Abrede  stellen,  aber 
den  Löwenanteil  hiebei  den  Veränderungen  des  Drüsen- 
parenchyms  zuweisen.  Diese  Ansicht  wird  jedoch  durch 
meine  Untersuchungen  bei  Diabetikern  und  Nichtdiabetikern 
widerlegt.  Bei  Diabetes  konnte  ich  zwar  sehr  häutig  eine 
Atrophie  des  Drüsenparenchyms  nachweisen,  aber  durch¬ 
aus  nicht  in  allen  Fällen;  während  ferner  in  einer  Anzahl 
von  hallen  ohne  Atrophie  oder  sonstige  Veränderungen  des 
Drüsenparenchyms  gerade  eine  schwere  Form  von  Diabetes 
vorhanden  war  (bei  hochgradigen  Inselveränderungen),  be¬ 
standen  in  den  f  ällen  von  starker  Atrophie  des  Drüsenparen¬ 
chyms,  wenn  die  Inseln  keine  bedeutenden  Veränderungen 
aufwiesen,  nur  leichtere  Formen  von  Diabetes. 

Mindestens  ebenso  überzeugend  ist  das  Resultat  meiner 
Untersuchungen  bei  Nichtdiabetikern.  Sie  betrafen  Fälle, 
in  denen  eine  hoch-  und  hüclistgradige  Atrophie  des  Drüsen¬ 
parenchyms  bestand,  während  die  Inseln  gar  nicht  verändert 
waren  oder  eine  etwaige  Schädigung  derselben  durch  Neu¬ 
bildung  oder  Hypertropnie  von  Inseln  kompensiert  worden 
war.  Darunter  befinden  sich  Fälle,  in  welchen  das  Gewicht 
des  Pankreas  infolge  einer  einfachen,  aber  höchstgradigen 
Atrophie  des  Drüsenparenchyms  bei  chronischer  Tuberkulose 
auf  dö-32  g  und  sogar  auf  2D  g  gesunken  war,  ferner  Fälle, 
in  welchen  das  Drüsenparenchym  infolge  eines  Skirrhus  des 
Pankreaskopfes  teils  durch  das  Karzinom,  teils  durch  Binde¬ 
gewebe  fast  ganz  ersetzt  und  das  Gewicht  des  Pankreas 
bis  auf  20  g  gesunken  war;  in  diesen  Fällen  war  der  Harn 
wiederholt  auf  Zucker  untersucht  worden,  aber  stets  mit 
negativem  Erfolge.  Wenn  also  bei  dem  Zustandekommen 
des  Diabetes  Veränderungen  des  Drüsenparenchyms  die 
Hauptrolle  spielen  würden,  so  hätte  es  in  den  eben  mit¬ 
geteilten  f  ällen  unbedingt  zum  Diabetes  kommen  müssen. 

Nach  der  Art  der  in  meinen  Diabetesfällen  Vorgefun¬ 
denen  Veränderungen  kann  man  folgende  drei  Formen  des 
menschlichen  Diabetes  unterscheiden : 

Die  erste  Form  ist  jene,  welche  durch  die  hydro- 
pische  Degeneration  oder  durch  die  infolge  der  letzteren 
entstandene  Atrophie  der  Inseln  charakterisiert  ist.  Bei  ihr 
kommt  zwar  auch  eine  meist  ungleichmäßige  Atrophie  des 
Drüsenparenchyms  vor,  aber  nicht  in  allen  Fällen.  Diese 
Form  von  Diabetes  bevorzugt  das  jugendliche  Alter  und  geht 
niemals  mit-  Sklerose  der  Arterien  des  Pankreas  einher. 
Bei  ihr  kommen  die  klinisch  schweren  und  schwersten  Fälle 
von  Diabetes  vor,  was  durch  die  sehr  schweren  Verände¬ 
rungen  der  Inseln  und  den  oft  sehr  ausgedehnten  Untergang 
derselben  bedingt  ist.  Offenbar  gehören  zu  dieser  Form 
der  sogenannLe  Diabete  maigre  und  jene  in  der  Literatur 
verzeichnten  Diabetesfälle,  in  denen  trotz  der  Schwere 
der  Krankheit  die  mikroskopische  Untersuchung  des  Pan¬ 
kreas  überhaupt  oder  wenigstens  der  Inseln  ein  negatives 
Resultat  ergab,  was  aber  darin  seine  Aufklärung  findet, 
daß  die  hydropische  Degeneration  aus  den  schon  früher  an¬ 
geführten  Gründen  übersehen  wurde.  Wahrscheinlich  ge¬ 
hört  liieher  auch  der  „reine“  Diabetes  Naunyns,  da  dieser 
vorwiegend  bei  jüngeren  Individuen  beobachtet  wird,  also 
bei  Personen,  bei  denen  sich  die  durch  hydropische  Degene¬ 
ration  der  Inseln  charakterisierte  Form  des  Diabetes  zu 
finden  pflegt.  Bei  dieser  Form  kommen  zwar  ziemlich  häufig 
Inselregenerationen  vor,  aber  die  neuen  Inseln  bleiben  sehr 
oft  rudimentär  oder  verfallen  von  neuem  der  hydropisc'hen 
Degeneration. 

Bezüglich  der  Ursache  der  hydropischen  Degenera¬ 
tion  läßt  sich  vorläufig  keine  bestimmte  Angabe  machen. 
Möglicherweise  spielen  hier  hereditäre  Momente,  angeborene 
Schwäche  oder  Bildungsfehler  der  Langerliansschen  In¬ 
seln  eine  Rolle,  so  daß  diese  schon  bei  Einwirkung  relativ 
geringfügiger  Noxen  der  Degeneration  verfallen. 


Die  zweite  Form  des  Diabetes  ist  durch  eine  von 
einer  chronischen  interstitiellen  Pankreatitis  ab¬ 
hängige  Sklerose  und  Atrophie  der  Inseln  charakteri¬ 
siert.  Das  Drüsenparenchym  zeigt  hiebei  eine  dem  Grade 
der  interstitiellen  Bindegewebs-  und  Fettgewebswucherung 
entsprechende,  mitunter  sehr  bedeutende  Atrophie. 

Diese  Form  des  Diabetes  bevorzugt  das  höhere  Alter 
(über  50  Jahre)  und  ist  sehr  häufig  mit  Sklerose  der  Arte¬ 
rien  des  Pankreas  verbunden,  die  wieder  nicht  selten  Teil¬ 
erscheinung  einer  allgemeinen  Arteriosklerose  ist;  nebst  der 
chronischen  interstitiellen  Pankreatitis  ist  sehr  oft  noch  eine 
mehr  minder  starke  Fettinfiltration  des  interstitiellen  Binde¬ 
gewebes,  eine  Lipoma  tose  des  Pankreas  vorhanden, 
welche  bei  höheren  Graden  überhaupt  das  Gesamtbild  be¬ 
herrscht  und  dann  gewöhnlich  mit  Adipositas  universalis 
kombiniert  ist.  In  klinischer  Beziehung  entsprechen  der 
zweiten  Form  des  Diabetes  meist  leichte  Diabetesfälle,  in 
welchen  die  Zuckermenge  im  Harn  gering  ist  und  der  Krank¬ 
heitsverlauf  ein  sehr  protrahierter  sein  kann.  Hieher  ge¬ 
hört  der  sogenannte  Diabete  gras. 

Wegen  der  so  häufigen  Kombination  dieser  Form  von 
Diabetes  mit  Arteriosklerose,  wobei  letztere  nicht  als  Folge 
lies  Diabetes  anzusehen  ist,  muß  man  mit  G .  H  o  p  p  e  -  S  e  y  1  e  r 
annehmen,  daß  die  Arterienerkrankung  bei  der  Entstehung 
der  Veränderungen  im  Pankreas  eine  wesentliche  Rolle 
spielt,  sei  es,  daß  sie  zuerst  zu  einer  partiellen  Atrophie  des 
Parenchyms  führt,  worauf  eine  Wucherung  des  interstitiellen 
Bindegewebes,  eine  chronische  interstitielle  Pankreatitis 
folgt,  die  weiterhin  auf  die  Inseln  übergreift,  oder  daß 
zuerst  eine  Bindegewebswucherung  entsteht,  oder  daß  beide 
Veränderungen  ziemlich  gleichzeitig  sich  einstellen.  Da  in 
den  Fällen  von  starker  Lipomatose  des  Pankreas  fast  immer 
eine  allgemeine  Fettsucht  vorhanden  war,  wird  erstere  wohl 
als  Teilerscheinung  der  letzteren  anzusehen  sein.  Hieher 
können  jene  f  älle  von  Diabetes  gerechnet  werden,  welche 
Kisch  unter  der  Bezeichnung  „lipogener  Diabetes“  zu- 
sammenfaßt,  und  als  deren  Ursache  er  entweder  die  eigent¬ 
liche  Mastfettleibigkeit  oder  die  konstitutionelle  Fettsucht 
ansieht. 

In  einigen  Fällen  von  Inselsklerose  bei  chronischer 
interstitieller  Pankreatitis  bestand  unter  ,  meinen  Diabetes¬ 
fällen  noch  ein  Verschluß  des  Ausführungsganges  durch 
einen  Stein  oder  ein  Karzinom  des  Pankreas;  in  diesen 
Fällen  wird  daher  die  Steinbildung,  bzw.  das  Karzinom,  die 
interstitielle  Entzündung  und  weiterhin  die  Inselsklerose 
und  den  Diabetes  veranlaßt  haben.  Schließlich  werden  noch 
andere  Momente,  wie  chronischer  Katarrh  der  Ausführungs¬ 
gänge  des  Pankreas,  chronischer  Alkoholismus,  Leber¬ 
zirrhose  (oder  beide  zusammen),  Herzfehler,  zu  einer  chro¬ 
nischen  interstitiellen  Pankreatitis  und  deren  Folgezuständen 
führen  können. 

Bei  der  zweiten  Form  von  Diabetes  wird  auch  Regene¬ 
ration  von  Inseln  oder  Hypertrophie  derselben  beobachtet, 
und  wenn  diese  einen  gewissen  Grad  erreichen,  so  kann  es 
zur  Besserung  des  Leidens,  zum  Stillstände  oder  selbst 
zur  Ausheilung  des  Diabetes  kommen.  Hiemit  soll  aber  nicht 
behauptet  werden,  daß  die  letztgenannten  Vorgänge  stets 
oder  ausschließlich  auf  Rechnung  von  Regeneration  und 
Hypertrophie  der  Inseln  zu  setzen  sind;  immerhin  würden 
sie  darin  eine  ungezwungene  Erklärung  finden. 

Da  die  die  zweite  Form  des  Diabetes  so  häufig  be¬ 
gleitende  Arteriosklerose  keinen  Stillstand  zu  machen 
braucht,  so  ist  es  auch  leicht  erklärlich,  wenn  die  Besse¬ 
rung  im  Verlaufe  dieser  Form  von  Diabetes  nur  eine  zeit¬ 
weilige  ist;  der  weitere  Verlauf  der  Krankheit  wird  davon 
abhängen,  ob  die  fortschreitenden  Inselveränderungen  durch 
fortschreitende  Regeneration  und  Hypertrophie  kompensiert 
werden  oder  nicht. 

Bei  dieser  Form  des  Diabetes  können  zwar  auch  im 
Drüsenparenchym  Regenerationsvorgänge  beobachtet  wer¬ 
den,  aber  sie  dürften  keinen  Einfluß  auf  den  Verlauf  der 
Krankheit  ausüben. 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


159 


Als  dritte  Form  des  Diabetes  ist  jene  zu  bezeich¬ 
nen  welche  durch  hyalin  e  Degeneration  der  Inseln  charak 
terisiert  ist.  Auch  sie  bevorzugt  das  höhere  Lebensalter 
and  ist  sehr  häufig  mit  Sklerose  der  Arterien  des  Pankreas 
vergesellschaftet.  Sie  kommt  selten  rein  vor,  sondern  ist 
-abr  häufig  mit  der  zweiten  Form  des  Diabetes  kombiniert, 
könnte  daher  auch  als  Unterart  der  letzteren  bezeichnet 
werden  und  dies  um  so  mehr,  als  unter  meinen  Diabetes- 
ällen  der  hyalinen  Degeneration  einige  Male  eine  Sklerose 
ler  Inseln  voranging. 

Für  ihre  geringe  Selbständigkeit  spricht  noch  die  Tat¬ 
sache,  daß  ich  die  hyaline  Degeneration  der  Inseln  auch 
mehrmals  neben  der  hydropischen  Degeneration  beobachtete, 
wobei  die  letztere  die  dominierende  Inselveränderung  war. 

Die  der  dritten  Form  entsprechenden  Diabetesfälle 
zeigen  gewöhnlich  einen  etwas  schlimmeren  Charakter  als 
jene  der  zweiten  Form;  doch  kommen  auch  bei  ihr  Regene¬ 
tion  und  Hypertrophie  der  Inseln  vor. 

Daß  die  Entstehung  der  hyalinen  Degeneration  der 
Inseln  in  irgendeiner  Abhängigkeit  von  der  Sklerose  der 
Yrterien  des  Pankreas  stehen  dürfte,  geht  wohl  aus  der 
Tatsache  hervor,  daß  die  beiden  Prozesse  so  häufig  neben¬ 
einander  Vorkommen. 

Unklar  bleibt  es  nur,  in  welcher  Weise  die  Arterio- 
sklersoe  die  Entstehung  der  hyalinen  Degeneration  beein¬ 
flußt;  da  ich  in  einigen  Fällen  beobachtete,  daßi  der  hyalinen 
Degeneration  eine  Sklerose  der  Inseln  vorausging,  so  wäre 
es  nicht  unmöglich,  daß  die  Arteriosklerose  zuerst  eine,  wenn 
mich  geringe,  Wucherung  des  Bindegewebes  innerhalb  der 
Inseln  bewirkt  und  daß  dieses  dann  erst,  hyalin  degeneriert. 

Jedenfalls  läßt  sich  behaupten,  daß  die  Arteriosklerose 
sowohl  bei  der  zweiten,  wie  bei  der  dritten  Form  des  Dia¬ 
betes  eine  wesentliche  Rolle  spielen  dürfte,  was  ja  auch 
mit  den  klinischen  Erfahrungen  bei  Diabetes  übereinstimmt, 
weshalb  alle  jene  Noxen,  die  man  als  Ursachen  der  Arterio¬ 
sklerose  beschuldigt,  auch  bei  der  Aetiologie  des  Diabetes 
in  Betracht  kommen  werden.  Daß  zu  diesen  auch  der  chro¬ 
nische  Alkoholismus  gehört,  wird  wohl  ziemlich  allgemein 
zugegeben;  derselbe  spielt  aber  auch  noch  in  der  Rich¬ 
tung  eine  ätiologische  Rolle,  daß  er  nicht  nur  Leberzirrhose, 
sondern  auch  eine  chronische'  interstitielle  Pankreatitis  her 
vorrufen  kann,  von  welcher  aber  früher  gezeigt  wurde,  daß 
sie  weiterhin  zur  Sklerose  der  Inseln  zu  führen  vermag. 


Aus  dem  städt.  hygienischen  und  balneolocjischen 
Institut  in  Marienbad. 

üeber  das  Verhalten  von  Albuminurie  und 
Zylindrurie  während  des  Kurgebrauches.*) 

vTon  Dr.  Karl  Zörkendörfer,  Stadtphysikus  und  Vorstand  des  Instituts. 

Als  ich  vor  acht  Jahren  in  Marienbad  mein  Institut 
eröffnete  und  neben  meinen  amtlichen  Arbeiten  bald  eine 
größere  Anzahl  diagnostischer  Untersuchungen  von  den  Kol¬ 
legen  zu, gewiesen  erhielt,  war  ich  erstaunt  über  die  zahl¬ 
reichen  Fälle  von  Albuminurie  und  Zylindrurie,  die  unter 
dem  einlaufenden  Material  vorhanden  waren. 

Ich  muß  gestehen,  daß  ich  damals  ebensosehr  wie 
viele  Kollegen,  die  mir  ihr  Material  zur  Untersuchung  zu¬ 
gewiesen  hatten,  noch  in  dem  Banne  der  Vorstellung  be¬ 
fangen  war,  bei  diesem  Befunde  einer  schweren  Störung 
gegenüber  zu  stehen,  und  daß  diese  Befunde  so  manchem 
der  Aerzte  gar  nicht  gelegen  waren,  sondern  im  Gegenteil 
die  Besorgnis  erregten,  ihr  Patient  passe  gar  nicht,  nach 
Marienbad.  Die  weitere  Beobachtung  widerlegte  die  Be¬ 
denken  in  kurzer  Zeit,  die  Befunde  nahmen  zu  und  sam¬ 
melten  sich  mit  der  Zeit  zu  einer  stattlichen  Reihe  an. 

Ich  glaube,  daß  es  nicht  angezeigt  wäre,  diese  Be¬ 
obachtungen  unbearbeitet  liegen  zu  lassen,  und  daß  selten 
ein  so  eigenartiges  statistisches  Material  zur  Verfügung  steht. 

*)  Nach  einem  im  Zentralverein  deutscher  Aerzte  in  Böhmen  zu 
Prag  gehaltenen  Vortrage. 


Bei  klinischen  Patienten  überwiegen  zu  sehr  die  akuten  und 
die  schweren  Fälle,  auch  ändert1  Berufsklassen,  in  Sana¬ 
torien  und  Privatpraxis  dürfte  sich  nicht  so  häufig  ein  so 
reichhaltiges  und  ziemlich  einheitliches  Material  ansammeln 
und  in  großstädtischen  Laboratorien  endlich  fehlt  wohl 
meist  die  innigere  Fühlungsnahme  mit  den  behandelnden 
Aerzten. 

Freilich  finden  sich  unter  der  großen  Zahl  meiner 
Fälle  nur  verhältnismäßig  wenige  mit  wiederholten  Unter¬ 
suchungen,  besonders  in  den  ersten  Jahren  sind  solche 
wiederholte  Untersuchungen  noch  recht  spärlich. 

Bei  Zuckerharnen  ist  es  ja  üblich,  mehrfach  Unter¬ 
suchungen  ausführen  zu  lassen,  denn  dabei  rechnet  man 
mit  vollständigem  oder  wenigstens  teilweisem  Schwinden 
dieser  pathologischen  Erscheinung.  Bei  Eiweißharnen  da¬ 
gegen  dachte  man  eigentlich  gar  nicht  daran,  daß  während 
des  kurzen  Zeitraumes  eines  Kurgebrauches  chronische  Al¬ 
buminurie  sichtlich  besser  werden  würde ;  dies  mag  wohl  der 
Grund  sein,  weshalb  ich  aus  der  ersten  Zeit  über  so  wenig 
Vergleichsanalysen  verfüge. 

Hie  und  da  waren  aber  doch  welche  verlangt  worden 
und  es  stellte  sich  dabei  heraus,  daß  die  Albuminurie  meist 
wesentlich  gebessert  oder  zum  Schwinden  gebracht  wurde. 
Als  im  Laufe  der  Zeit  die  Beobachtungen  in  dieser  Rich¬ 
tung  sich  mehrten,  stellte  sich  auch  das  Bedürfnis  nach 
Kontrollanalysen  ein;  diesen  ist  es  zu  danken,  daß  ich 
doch  eine  ganz  bemerkenswerte  Zahl  von  wiederholten 
Untersuchungen  beim  gleichen  Patienten  vorlegen  kann. 

Ich  halte  es  für  meine  Pflicht,  nicht  nur  die  ziffer¬ 
mäßigen  Resultate  anzugeben,  sondern  auch  über  die  Me¬ 
thoden  zu  berichten,  durch  welche  ich  dazu  gelangt  bin, 
denn  auf  diese  kommt  es  doch  bei  Bewertung  zahlenmäßiger 
Angaben  sehr  an. 

Naturgemäß  liegen  bei  diesen  chronischen  Fällen  von 
Patienten,  die  sich  verhältnismäßig  wohl  fühlen,  meist  nur 
geringe  Eiweißmengen  vor,  die  nur  durch  empfindliche  Re¬ 
aktionen  zu  bestimmen  sind. 

Für  die  qualitative  Prüfung  verwendete  ich  in  allen 
Fällen  mindestens  zwei  Proben,  nämlich  die  Probe  mit  Ferro- 
zyankalium  und  mit  Sulfosalizylsäure.  Als  dritte  schließt 
sich  an  diese  noch  die  zur  quantitativen  Bestimmung 
verwendete  Salpetersäureschichtprobe,  die  Hell  ersehe 
Probe,  an. 

Die  Sulfosalizylprobe  ist  von  diesen  die  empfindlichste. 
Sie  gibt  in  vielen  Fällen  noch  eine  schwache  Trübung  oder 
Opaleszenz,  wo  die  Ferrozyankaliumprobe  keine  Reaktion 
mehr  gibt.  Ich  will  jedoch  nicht  so  weit  gehen,  diese  Re¬ 
aktion  noch  als  positiven  Eiweißbefund  anzugeben,  son¬ 
dern  die  entsprechenden  Fälle  ganz  objektiv  als  solche  mit 
schwacher  Sulfosalizylsäurereaktion  bezeichnen.  Auffallend 
ist  jedenfalls,  wie  häufig  gleichzeitig  mit  dieser  Reaktion 
noch  Zylinder  zu  finden  sind.  Als  sichere  Eiweißfälle  gebe 
ich  nur  solche  an,  bei  welchen  auch  die  Probe  mit  Ferro- 
zyankalium  positiv  ausfiel.  Zur  quantitativen  Bestimmung 
verwendete  ich  ausschließlich  die  Methode  nach  Roberts- 
Stolnikow-B  randberg. 

Die  genaueste  Eiweißbestimmung  wäre  freilich  die 
gewichtsanalytische.  Es  ist  aber  klar,  daß  diese  zu  klini¬ 
schen  und  diagnostischen  Zwecken  nirgends  verwendet  wird 
und  angewendet  werden  kann,  da  sie  zu  zeitraubend  ist, 
außerdem  in  vielen  Fällen  nicht  die  dazu  erforderliche  Ilarn- 
menge  zur  Verfügung  steht. 

Nach  dem  übereinstimmenden  Urteil  aller  Lehr-  und  . 
Handbücher  der  Untersuchungsmethoden  kommen  für  dia¬ 
gnostische  Zwecke  nur  zwei  Methoden  in  Betracht,  nämlich 
die  Salpetersäureprobe,  die  als  Hel  ler  sehe  Probe  für  qua¬ 
litative  Untersuchungen  allgemein  bekannt  ist  und  durch 
Roberts  (1876),  Stolnikow  (1877)  und  Brandberg 
(1881)  für  quantitative  Bestimmungen  verwendet  wurde, 
ferner  die  Esbach  sehe  Methode. 

Letztere  Methode  wird  allgemein  so  scharf  kritisiert, 
daß  sie  als  wirklich  quantitative  Methode  kaum  angesprochen 


160 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


werden  kann;  v.  Jak  sch1)  z.  B.  gedenkt  ihrer  nur,  ,,da 
ihre  Ausführung  ungemein  einfach  ist  und  da  sie  dem 
Arzte  eine  allerdings  nur  ganz  annäherungsweise 
Schätzung  der  Eiweißmenge  gestattet“. 

Huppert2!  (Neubauer  und  Vogel)  bezeichnet  das 
Verfahren  als  „durchaus  nicht  brauchbar;  es  läßt  nur  grobe 
Schätzungen  zu,  die  kaum  genauer  ausfallen,  als  die  Schät¬ 
zung  der  Eiweißmenge  nach  der  Höhe  des  hei  der  Kochprobe 
entstehenden  Niederschlages“.  Abgesehen  von  diesen  Feinem 
ist  für  die  Mehrzahl  unserer  Fälle  die  Esbachsche  Me¬ 
thode  schon  deshalb  nicht  brauchbar,  weil  der  Eiweißgehalt 
derselben  meist  unter  l°/oo  liegt. 

Die  übrigen  in  neuerer  Zeit  aufgetretenen  ähnlichen 
Methoden  mittels  anderer  Fällungsmittel  sind  naturgemäß 
ebensowenig  der  folgenden  vorzuziehen. 

Allgemein  wird  jedoch  die  Methode  nach  Roberts- 
Stolnikow-Brandberg  als  zu  klinischen  und  diagno¬ 
stischen  Zwecken  brauchbar  empfohlen  und  anerkannt. 
Allerdings  reicht  sie  nicht  an  die  Exaktheit  einer  gewichts¬ 
analytischen  Bestimmung  heran  und  läßt  der  subjektiven 
Beurteilung  einen  gewissen  Spielraum. 

Der  Geübtere  wird  das  Auftreten  des  Ringes  etwas 
früher  beobachten  als  der  weniger  Geübte  und  deshalb 
etwas  höhere  Werte  erzielen.  Ihr  Prinzip  beruht  bekanntlich 
darauf,  daß  der  Eiweißring  der  Salpetersäureprobe  hei  einem 
Eiweißgehalte  von  0-033  ,/0o  in  drei  Minuten  eintritt.  Tritt 
innerhalb  dieser  Zeit  bei  einem  Harn,  in  dem  qualitativ 
Eiweiß  nachgewiesen  wurde,  der  Eiweißring  nicht  auf,  so 
sind  in  dem  Harn  Spuren  unter  0-033  /0o  enthalten.  Tritt 
der  Eiweißring  früher  auf,  so  ist  der  Harn  in  systemati¬ 
scher  Weise  so  weit  zu  verdünnen,  bis  eine  Verdünnung 
den  Ring  in  drei  Minuten  erscheinen  läßt.  Diese  Verdünnung 
enthält  0-033  /oo  Eiweiß.  Naturgemäß  werden  die  Fehler 
hei  stärkerer  Verdünnung  durch  Multiplikation  größer;  hei 
einem  Eiweißgehalte  von  0-03  bis  10  /00  dagegen  ist  kaum 
ein  wesentlicher  Fehler  möglich. 

Bevor  ich  auf  die  Gegenüberstellung  der  im  Laufe 
des  Kuraufenthaltes  wiederholt  analysierten  Fälle  schreite, 
will  ich  eine  kurze  Uebersicht  über  die  Häufigkeit  der  Al¬ 
buminurie  und  Zylindrurie  unter  den  Marienhader  Kur¬ 
gästen  überhaupt  geben.  Es  ist  zu  diesem  Zwecke  nicht 
nötig,  meine  Gesamtanalysen  herauszuheben,  ich  gebe  die 
Uebersicht  nur  von  den  letzten  zwei  Tausenden. 

Ich  muß  dazu  bemerken,  daß  die  überwiegende  Mehr- 
zalil  der  Fälle  von  solchen  Aerzten  zugewiesen  ist,  die  keine 
Auswahl  treffen,  sondern  von  jedem  ihrer  Patienten  den 
Harn  untersuchen  lassen.  Ein  geringerer  Teil  allerdings 
ist  bereits  als  verdächtig  ausgewählt,  doch  kann  man  nicht 
sagen,  daß  bei  meinen  Beobachtungsreihen  nur  gesiebtes 
Material  vorliege. 

In  der  folgenden  Tabelle  habe  ich  eine  Uebersicht, 
über  diese  Fälle  in  Prozenten  dargestllt. 


Tabelle  I. 


Eiweißgehalt 

mit 

Zylindern 

ohne 

Zylinder 

Zusammen 

lu/no  und  darüber 

2  31% 

0-436"/  n 

2-75% 

Unter  l"/00  his  U033  „0 

22-97, 

5-23% 

284% 

Spuren  unter  0033yoo 

15-2% 

10  2  /„ 

25-4% 

Summe  der  sicheren 

Eiweißfälle 

4-04% 

15-8’/ 0 

56-2  % 

Fälle  mit  undeutlicher 
Eiweißreaktion 

3-66% 

0-26'70  mit  vermehrten 
Leukozyten 

1'58%  ohne  patholog. 
Formeiemente 

Fälle  ohne  Eiweiß 

2-35% 

35-97, 

Gesamtsumme 

46-47 , 

Aus  dieser  Tabelle  isl  zu  ersehen,  daß  die  Zahl  der 
sicheren  Albuminurien  56-2%  aller  Fälle  beträgt,  wovon 


*)  v.  Jak  sch,  Klinische  Diagnostik.  Berlin— Wien,  Urban 
Schwarzenberg. 

■3)  Neubauer  und  Vogel,  Analyse  des  Harns.  Bearbeitet 
Huppert.  Wiesbaden,  Kreidei. 


und 

von 


Nr.  5 


j  40-4 °/o  gleichzeitig  Zylinder  hatten,  15-8 °/o  keine  Zylinder; 

hiezu  kommen  noch  3-66%  Zylindrurien  mit  undeutlicher 
|  und  2-35%  Zylindrurien  ohne  Eiweißreaktion,  so  daß  die 
i  Summe  der  Zylindrurien  46-4%,  die  der  Albuminurien  und 
:  Zylindrurien  62-2%  aller  Fälle  beträgt.  Selbstverständlich 
j  werden  nur  absolut  sichere  Zylinder  als  solche  tingegeben; 
Zylindroide  und  zweifelhafte  Gebilde  sind  gänzlich  aus¬ 
geschlossen. 

Die  Zahl  der  Fälle,  wo  eine  undeutliche,  nur  mit  den 
empfindlichsten  Reagenzien  nachweisbare  Eiweißreaktion 
ohne  den  Befund  von  Zylindern  zu  konstatieren  war,  ist  so 
gering,  daß  sie  das  Gesamtresultat  nicht  beeinflußt.  Sie 
bleibt  unter  2%.  Schon  wegen  dieser  geringen  Zahl  ist  die 
Frage,  ob  diese  Fälle  einzubeziehen  wären,  bedeutungslos. 
Ich  habe  sie  in  meinen  Analysen  auch  niemals  als  positiv 
angegeben. 

Die  wichtige  Frage,  wie  diese  Albuminurien  aufzu¬ 
fassen  sind,  ist  freilich  nicht  leicht  zu  beantworten.  Ein 
gehend  mich  heute  damit  zu  befassen,  erlaubt  schon  die 
Zeit,  die  meinem  Vorträge  naturgemäß  bemessen  ist,  nicht. 

Ich  will  deshalb  nur  ganz  kurz  die  verschiedenen 
Möglichkeiten  berühren. 

Der  Begriff  von  Nephritis  hat  sich  in  den  letzten  Jahren 
wesentlich  verschoben.  Verschiedene  Autoren,  z.  B.  Strütn 
pell,  Blumenthal,3)  sprechen  wiederholt  nur  von  „so¬ 
genannten“  Nierenentzündungen.  Diese  Einschränkung  be¬ 
ruht  nicht  nur  auf  einer  präziseren  Auffassung  der  Begriffe 
„Entzündung“,  sondern  noch  vielmehr  darauf,  daß  man 
immer  mehr  die  Albuminurie  nicht  so  sehr  als  das  Haupt- 
symptom  des  gefürchteten  Morbus  Brightii  auffaßt,  sondern 
daß  gerade  bei  den  Nierenerkrankungen  die  funktionellen 
Störungen  im  Sinne  der  „Insuffizienz“,  der  Verringerung 
der  Leistungsfähigkeit  in  der  Ausscheidung  der  normalen 
Harnbestandteile,  immer  mehr  in  den  Vordergrund  der  Er¬ 
kenntnis  treten.  Daß  hiebei  manchmal  übers  Ziel  geschossen 
wird  und  die  Bedeutung  der  Albuminurie  in  den  letzten 
Jahren  von  manchen  Autoren  unterschätzt  wird,  ist  eine 
Erscheinung,  die  auch  sonst  hei  dem  Auftauchen  neuer  An¬ 
sichten  regelmäßig  auftritt.  In  der  ärztlichen  Praxis  hat  sich 
die  Unterschätzung  allerdings  kaum  noch  geltend  gemacht. 
Der  richtige  Weg  wird  wohl  auch  hier,  wie  gewöhnlich,  in 
der  Mitte  liegen. 

Die  Frage  der  physiologischen  Albuminurien  ist  wohl 
endgültig  abgeschlossen  und  dahin  erledigt,  daß  normaler¬ 
weise  ausschließlich  nicht  fällbare  Eiweißkörper,  Nukleo¬ 
albumin,  auf  treten. 

Auch  das  häufige  Vorkommen  von  Zylindern  spricht 
gegen  allzu  gleichgültige  Beurteilung. 

Ich  will  hier  gleich  einfügen,  daß  hyaline  Zylinder  bei 
meinen  Beobachtungen  äußerst  selten  vorkamen,  sondern 
gewöhnlich  granulierte  und  Epithelzylinder,  darunter  auch 
recht  häufig  die  dunklen  granulierten,  die  ja  bekanntlich 
als  Zeichen  einer  schwereren  Nephritis  angesehen  werden. 

Auch  Blumenthal  hält  noch  in  den  letzten  Jahren 
die  Epithelzylinder  für  Zeichen  der  akuten  Nephritis  und 
der  schweren  Formen  der  chronischen,  sogenannten  paren¬ 
chymatösen  Nephritis.  Dagegen  steht  v.  Jaksch  schon  in 
den  älteren  Auflagen  seiner  Diagnostik  auf  dem  jetzigen 
Standpunkte  und  sagt  u.  a. :  „Niemals  ist  man,  wie  dies 
in  früheren  Zeiten  so  häufig  geschah,  berechtigt,  aus  der 
Albuminurie  allein  eine  renale  Affektion  oder  gar  eine  Ne¬ 
phritis  zu  erschließen.“ 

Der  moderne  naturwissenschaftliche  Standpunkt,  der 
sich  immer  mehr  von  dem  Schematisieren  und  Klassifizieren 
emanzipiert  und  überall  in  erster  Linie  das  Werden,  die 
Uebergänge,  sieht,  kommt  schon  hierin  zum  Ausdrucke, 
noch  schärfer  hat  ihn  v.  Strümpell  u.  a.  in  der  deutschen 
Klinik  ausgesprochen.  Er  betont,  daß  ätiologische  Gesichts¬ 
punkte  für  die  Einteilung  der  Nephritis  nicht  anwendbar 
sind,  pathologisch-anatomische  besser;  daß  aber  fast 
eine  kontinuierliche  Reihe  aller  möglichen  Ver- 


3)  Die  deutsche  Klinik  am  Eingänge  des  XX.  Jahrhunderts,  ßd.  4. 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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jänd eru ngen  zu  beobachten  ist,  in  der  es  eine 
scharfe  Trennung  einzelner  Arten  und  For m e n 
gar  n  i  c  h  t  g  i  b  t. 

„Gleichbleibender  pathologischer  Faktor  ist  aber  stets 
die  chemisch-toxische  Schädigung  des  Nierengewebes  und 
zwar,  wie  als  fundamentale  Tatsache  hervorgehoben  werden 
muß,  neben  der  Schädigung  der  Gefäßwände  vor  allem  die 
Schädigung  des  spezifischen  Nierengewebes,  des  Nioren- 
epithels.“ 

v.  Strümpell  betont  weiter  die  Einheitlichkeit  dos 
Vorganges,  die  sich  entweder  in  mehr  gleichzei'ig  diffuser 
Erkrankung  äußert  (große  rote,  weiße,  bunte  Niere,  sekun¬ 
däre  Schrumpfniere)  oder  weniger  intensiv,  fortdauernd 
■[ironisch  einwirkend  (primäre  oder  genuine  Schrumpfniere). 
Er  sagt:  „Daher  hat  die  Unterscheidung  der  chronischen 
Nephritis  in  eine  parenchymatöse  und  interstitielle  Form 
keinen  Sinn.  Daher  sind  alle  „Formen“  und  „Arten“  der 
chronischen  Nephritis  nur  Typen,  nur  der  Ausdruck  für 
gewisse,  besonders  häufig  vorkommende  und  ausgeprägte 
pathologische  Zustände  der  Niere,  die  aber  keine  beson- 
leren  Krankheiten  darstellen  und  durch  zahllose  TJeber- 
xänge  miteinander  verbunden  sind.  Diese  Einheitlichkeit 
md  meiner  Ueberzeugung  nach  allein  den  Tatsachen  erd¬ 
sprechende  Auffassung  der  verschiedenen  Nephrit  isformen 
querst  klar  ausgesprochen  und  in  eingehendster  Weise  be¬ 
gründet  zu  haben,  ist  das  große  Verdienst  C.  Weigerts.“ 

Ich  habe  diese  Aeußerungen  v.  Strümpells  deshalb 
ausführlicher  erwähnt  und  zum  Teil  wörtlich  zitiert,  weil 
sie  uns  den  Weg  weisen,  wie  die  beobachteten  Albuminurien 
ind  Zylindrurien  aufzufassen  sind  und  die  Frage,  ob  sie 
Fälle  von  Nephritis  seien  oder  nicht,  auf  natürliche  und 
ingezwungene  Weise  beantworten  lassen.  Sie  führen  uns 
mc'h  dazu,  mit  den  in  neuerer  Zeit  wiederholt  aufgestellten 
Typen  leichterer  Nierenerkrankungen,  von  denen  ich  noch 
sprechen  will,  Einklang  herzustellen.  Bevor  ich  auf  diese 
ungehe,  will  ich  nur  darauf  hinweisen,  daß  erst  im  ver¬ 
flossenen  Jahre  Ribbert4 *)  mehr  vom  pathologisch-anato- 
nischen  Standpunkte  aus  streng  kritisch  die  entzündlichen 
md  degenerativen  Erscheinungen  trennt  und  zu  folgendem 
Schlüsse  kommt:  „Eine  Entzündung  (Exsudation,  Binde- 
Gewebswucherung)  verläuft  nur  in  den  Interstitien ;  das 
ktrenchym  dagegen  degeneriert.  Eine  parenchymatöse  Ent¬ 
bindung  gibt  es  daher  nicht.  Für  die  Symptome  der  Nieren- 
n’krankungen  sind  ausschließlich  die  degenerativen  Ver- 
inderangen  maßgebend;  die  entzündlichen  Prozesse  da¬ 
gegen,  die  im  Intersfitium  verlaufen,  haben  mit  den  klini¬ 
schen  Erscheinungen  direkt  gar  nichts  zu  tun.“ 

Es  kommt  also  auch  hier  die  einheitliche  Auffassung 
zur  Geltung.  Bei  dieser  Auffassung  haben  wir  keine  Ursache, 
n  unseren  Fällen  eine  Differentialdiagnose  zwischen  harm- 
osen  Albuminurien  im  Sinne  v.  Noordens0)  oder  Ne- 
»hrilis  chronica  levis  oder  superficialis  im  Sinne  Fürbrin- 
;ers6)  einerseits  und  eigentlicher  Nephritis  im  a'ten  Sinne 
mdrerseits  in  der  scharfen  Weise  zu  stellen,  daß  wir  uns 
n  jedem  einzelnen  Fälle  für  das  eine  oder  das  andere  zu 
mtsc’heiden  hätten,  sondern  werden  wohl  das  richtige  treffen, 
die  diese  Formen  als  graduelle  Verschiedenheiten  aufzu¬ 
fassen  u.  zw.  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  als  leichtere 
mrmen. 

In  ihrer  Aetiologie  sind  sie  gewiß  nicht  gleichartig. 
Soviel  ich  von  dem  klinischen  Befunde  Kenntnis  habe,  finden 
dch  unter  den  wiederholt  untersuchten  Fällen,  die  ich  in 
ler  Folge  allein  besprechen  will,  höchstens  zwei  oder  drei 
»rthotisc'he  oder  lordotische  Albuminurien  (im  Sinne  J eh  1  es 
mdR.  Fisch  ls),  ferner  einige  wenige,  die  sich  an  eine  akute 
Scharlachnephritis  anschlossen.  Die  meisten  sind  wohl  als 
Vlbuminurien  auf  Grundlage  von  Stoffwechselerkrankungen 
Fettsucht,  worauf  hinsichtlich  der  Marienbader  Verhältnisse 
Kisch7)  hingewiesen  hat,  Gicht,  Diabetes)  oder  des  Gefäß- 

4)  Ribbert,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1909,  Nr.  46. 

6)  v.  Noorden,  Wiener  med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  42. 

6)  Fürbringer,  Deutsche  med.  Wochensch.  1909,  Nr.  47. 

7)  Kisch,  Entfettungskuren,  Berlin  1901. 


systems  (Arteriosklerose)  aufzufassen;  eine  scharfe  Grenze 
zwischen  diesen  Gruppen  läßt  sich  nicht  ziehen,  in  vielen 
Fällen  kommen  mehrere  dieser  Noxen  kombiniert  vor.  Albu¬ 
minurie  und  Zylindrurie  bei  Obslipation  im  Sinne  von 
Kohle  r,8)  E  b  s  t  ei  n,9)  W  a  s  s  e  r  t  h  a  1 ,10)  Rou  b  i  t  s  ch  e  k  n) 
ist  auch  häufig  genug  vorhanden.  Ich  kann  mich  naturgemäß 
auf  die  Besprechung  des  klinischen  Teils  nicht  eingehend 
einlassen,  um  so  weniger,  als  einige  der  Kollegen,  deren 
Praxis  das  .Material  entstammt,  sich  bereit  erklärt  haben, 
ihre  Fälle  in  diesem  Sinne  zu  bearbeiten. 

Aus  der  Harnanalyse  habe  ich  keine  Anhaltspunkte 
für  einen  Parallelismus  mit  anderen  Harnbestandteilen  ge 
fanden.  Von  vornherein  lag  ja  der  Gedanke  nahe,  daß  bei 
chronisch  Obslipierten  die  Resorplion  der  vermehrten  toxi¬ 
schen  Produkte  der  Darmfäulnis  und  deren  Ausscheidung 
durch  die  Nieren  die  Albuminurie  bedingen  könne,  so  daß 
mit  dem  Abklingen  der  Albuminurie  auch  eine  Verminderung 
des  Harnindikans  zu  beobachten  wäre.  Im  großen  und 
ganzen  kann  ich  jedoch  keine  Gesetzmäßigkeit  in  meinen 
Befunden  bemerken.  Allerdings  muß  ich  betonen,  daß  der 
Tndikangehalt  nur  nach  dem  Ausfall  der  .Taff eschen  Probe 
millels  Chlorkalk  geschätzt  wurde,  so  daß  der  subjektiven 
Beurteilung  ein  großer  Spielraum  gelassen  wurde;  ich  hoffe 
in  Zukunft,  nachdem  ich  einmal  veranlaßt  bin,  darauf  zu 
achten,  weiteres  Material  mit  genaueren  Ind ikanbestimmungs- 
methoden  beobachten  zu  können. 

Auch  zwischen  Eiweißgehalt  und  Säuregrad,  entspre¬ 
chend  den  Beobachtungen  v.  Hösslins,12)  kann  ich  keine 
auffallende  Uebereinstimmung  finden.  Vielleicht  ge’ingt  es 
den  klinischen  Beobachtungen  der  Kollegen,  geeignete  Fälle 
herauszugreifen,  bei  welchen  ein  Parallelismus  in  diesem 
Sinne  stattfindet.  ( 

Ich  möchte  nur  darauf  hingewiesen  haben,  daß  das 
vorliegende  Material  gewiß  in  der  überwiegenden  Mehrzahl 
nicht  zu  den  trostlosen  Nephritisfällen  gehört,  ich  halte  es 
aber  durchaus  nicht  für  augezeigt,  diese  Albuminurien  als 
gleichgültig  aufzufassen,  sie  sind  gewiß  ein  typisches  Zei¬ 
chen  der  Schädigungen,  welche  unser  modernes  Leben  mit 
sich  bringt  und  in  ihrer  Häufigkeit  ganz  auffallend.  Auch 
die  kleinen,  quantitativ  nicht  bestimmbaren  Eiweißmengen 
sind  in  ihrer  Mehrheit  mit  Zylindrurie  verbunden  und  ich 
verfüge  unter  diesen  auch  über  einzelne  Fälle,  wobei  im 
Laufe  der  Jahre  der  Eiweißgehalt  höher  wurde. 

Die  folgenden  Tabellen  geben  uns  die  Uebersieht  über 
den  Verlauf  bei  wiederholt  beobachteten  Fällen.  Ich  habe 
die  Zylindrurie  bei  Albuminurie  hier  nicht  in  Betracht  ge¬ 
zogen,  weil  die  Uebersichtlichkeit  sonst  verloren  gehen 
würde  und  habe  nur  die  Albuminurie  berücksichtigt,  weil 
diese  sich  ziffernmäßig  ausdrücken  läßt.  Zylindrurien  zeigen 

Tabelle  II. 

Reine  Fälle. 


Eiweißgehalt 

Zahl 

davon 

ist  der  Eiweiß 

gehalt 

der 

Fälle 

ge¬ 

schwun¬ 

den 

verrin  - 
gert 

gleich 

ge¬ 

blieben 

ver¬ 

mehrt 

l°/,0  und  darüber 

1  co 

25 

4 

5 

unter  lfl/00  bis  0'033°/on 

290 

55 

191 

23 

21 

Spuren 

127 

80 

15 

25 

7 

Summe  d.  sicheren  Albuminurien 

451 

135 

231 

52 

33 

°/0  aller  Fälle 

300  51  2 

8P2"/„ 

11 5  73 

188 

Mit  undeutlicher  Eiweißreaktion 

24 

17  | 

1 

6 

Gesamtsumme 

475 

152 

231 

53 

39 

%  aller  Fälle 

320  48-6 

80-6 

11-2  82 

194 

8)  Kob  ler,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1898,  Nr.  20.  —  Wiener 
klin.  Rundschau  1910,  Nr.  15. 

9)  Ebstein,  Die  chron.  Stuhlverstopfung  in  Theorie  und  Piaxis. 
Stuttgart  1901.  —  Berliner  klin  Wochenschr.  1909,  Nr.  41. 

10)  Wasserthal,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1909,  Nr.  16. 

u)  Roubitschek,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  IS 
12)  v.  Hösslin,  Münchener  med.  Wochenschr.  1909,  Nr.  33 


162 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  5 


einen  ähnlichen  Rückgang.  In  der  nächsten  Tabelle  habe 
ich  die  Zahl  der  reinen  Albuminurien  angegeben.  Die  Fälle 
mit  Blut,  Eiter  oder  beiden  zusammen  sind  ausgeschaltet 
und  in  der  dritten  Tabelle  angeführt. 

Wie  in  der  allgemeinen  Uebersieht  beziehe  ich  mich 
auch  hier  nur  auf  die  sicheren  Albuminurien,  also  jene, 
welche  mit  den  altbewährten  Methoden  positive  Reaktion 
gaben.  Bei  diesen  schwand  das  Eiweiß  vollständig  in  30°/o 
der  Fälle,  verminderte  sich  in  51 -2%,  blieb  gleich  in  11-5% 
und  stieg  in  7-3%  an. 

Zusammen  betrug  die  Zahl  vollständigen  und  teil¬ 
weisen  Rückganges  81-2 °/o ,  die  der  gleichbleibenden  und 
erhöhten  Albuminurien  18-8 °/o. 

Falls  wir  die  Zahl  der  Zylindrurien  mit  undeutlicher 
Eiweißreaktion  noch  einbeziehen,  wie  ich  es  im  unteren 
Teile  der.  Tabelle  2  dargestellt  habe,  so  ändert  sich  das 
Verhältnis,  wenn  wir  die  Prozente  nur  in  ganzen  Zahlen 
ausdrücken,  überhaupt  nicht 


Tabelle  III. 

Albuminurien  mit  Beimengung  von  Blut  oder  Eiter. 


Eiweißgehalt 

Zahl 

davon  ist  der  Eiweißgehalt 

der 

Fälle 

ge- 

sehwun 

den 

verrin¬ 

gert 

gleich¬ 

ge¬ 

blieben 

ver¬ 

mehrt 

l%n  rmd  darüber 

24 

— 

21 

— 

3 

unter  ln/00  bis  0  033° '0ü 

37 

6 

20 

2 

9 

Spuren 

5 

4 

_ 

1 

— 

Summe  d.  sicheren  Albuminurien 

66 

10 

41 

3 

12 

°/0  aller  Fälle 

151  62-2 

773 

4-5  18-2 

22-7 

In  dieser  Tabelle  sind  eigentlich  Fälle  verzeichnet, 
die  außerhalb  des  Rahmens  meiner  heutigen  Betrachtung 
stehen,  ich  will  sie  aber  trotzdem  anhangsweise  mit  an¬ 
führen.  Die  Mehrzahl  davon  sind  Fälle  von  Nephrolithiasis 
und  Pyelonephritis;  reine  Blasenerkrankungen  sind  nur  in 
der  Minderheit  darunter  Auch  bei  dieser  Gruppe  sind  die 
Verhältniszahlen  ähnlich,  wie  bei  der  vorigen,  es  beträgt 
die  Zahl  der  Besserungen  77-3%,  die  der  nicht  gebesserten 
22-7  o/o. 


Ein  dem  „Beinphänomen“  der  echten  Tetanie 
in  seinem  klinischen  Aussehen  gleichendes 
vielleicht  richtiger  als  „Pseudo-Beinphänomen“ 
zu  bezeichnendes  Symptom  in  einem  Falle  von 
Pseudotetania  hysterica.*) 

You  Dr.  W.  Buettner,  Riga; 

In  der  Wiener  klinischen  Wochenschrift  1910,  Nr.  9, 
wird  von  Hermann  Schlesinger  als  „ein  bisher  unbe¬ 
kanntes  Symptom  bei  Tetanie“  das  „Beinphänomen“  be¬ 
schrieben.  Im  Neurologischen  Zentralblatte  1910,  Nr.  12, 
bringt  derselbe  Autor  seine  weiteren  Erfahrungen  über 
dieses  Phänomen.  Wie  Autor  im  Nachtrage  dieser  Arbeit 
mitteilt,  hat  E.  H.  Pool  das  Phänomen  schon  im  Jahre 
1907  beobachtet;  allerdings  sei  in  seiner  Arbeit,  die  Schle¬ 
singer  früher  unbekannt,  gewesen  sei,  nicht  ersichtlich, 
daß  der  Autor  gewußt  hätte,  ein  neues  Phänomen  bei  Te¬ 
tanie  gesehen  zu  haben. 

Aus  der  Arbeit  Schlesingers  im  Neurologischen 
Zentralblatte  1910,  Nr.  12,  zitiere  ich  folgendes:  „Beugt  man 
in  anfallsfreier  Zeit  das  gestreckte  Bein  im  Hüftgelenk  stark 
ab,  so  stellt  sich  nach  einigen  Minuten,  oft  schon  nach 
mehreren  Sekunden,  unter  heftigen  Schmerzen  ein  Streck¬ 
krampf  im  Kniegelenk  und  ein  tonischer  Krampf  im  Sprung¬ 
gelenk  ein.  Der  Krampf  bleibt  in  der  Regel  auf  die  unter¬ 
suchte  Extremität  beschränkt  und  pflegt  nachzulassen,  wenn 

0  “*)  Nach  einer  Demonstration  am  29.  September  a.  St.  1910  in  der 

Gesellschaft  prakt.  Aerzte  zu  Riga. 


die  Beugung  im  Hüftgelenk  aufhört.  Das  „Beinphänomen“ 
kann  auch  durch  das  Aufsetzen  bei  gestreckten  Beinen  oder 
Abbeugen  des  Oberkörpers  im  Stehen  bei  gestreckten  Beinen 
im  Verlaufe  weniger  Minuten  provoziert  werden.  Das  „Bein¬ 
phänomen“  ist  insofern  dem  Trousseau  sehen  analog,  als 
es  wie  dieses  in  der  anfallsfreien  Zeit  ermöglicht,  Extre¬ 
mitätenkrämpfe  hervorzurufen,  welche  mit  den  spontanen 
übereinstimmen.“  Ferner:  „Unter  den  19  Fällen  war  das 
Beinphänomen  18mal  nachweisbar.  Es  ist  demnach  das 
Beinphänomen  eines  der  konstanteren,  daher  auch  wich¬ 
tigen  Symptome  der  Tetanie.“  Im  Nachtrage  dieser  Arbeit 
berichtet  Schlesinger,  daß  das  Phänomen  noch  einige 
Male  gesehen  wurde,  daß  aber  auch  die  Zahl  der  Fälle 
sich  vermehrt  habe,  in  welchen  das  Phänomen  fehlte.  Ferner: 
„In  einem  Falle  ging  der  Krampf  vom  untersuchten  auf  das 
andere,  ruhende  Bein  über.“ 

Die  Krampfstellung  des  Fußes  sei  keineswegs  stets 
die  gleiche  gewesen.  Bald  sei  maximale  Supination  vor¬ 
handen  gewesen,  bald  bestehe  Pronation  und  Adduktion. 
Die  Zehen  seien  bald  gespreizt  und  gestreckt  oder  gespreizt 
und  gebeugt.  Mitunter  sei  die  Plantarflexion  des  Fußes 
stark  ausgesprochen.  „Sein  (des  Beinphänomens)  Vorkom¬ 
men  geht  in  der  Regel  parallel  dem  Vorhandensein  des 
Trousseauschen  Phänomens  an  den  oberen,  bisweilen 
auch  dessen  Analogon  an  den  unteren  Extremitäten.  Der 
Parallelismus  ist  nicht  immer  vorhanden.“ 

„Bisher  haben  wir  das  Beinphänomen  bei  keinem  an¬ 
deren  Leiden  gefunden,  es  ist  also  für  Tetanie  pathogno- 
monisc'h,  wie  das  Trousseausche  Phänomen.“  Entgegen 
der  noch  zu  erwähnenden  Ansicht  Alexanders  über  die 
völlige  Identität  des  Trouss  eausclien  Phänomens  an  den 
Beinen  und  des  Beinphänomens,  betont  Schlesinger,  daß 
der  Umstand,  daß  er  mehrfach  Fälle  gesehen,  in  welchen 
das  Trousseausche  Phänomen  an  den  Beinen  nicht  aus¬ 
lösbar  war,  während  das  Beinphänomen  leicht  erzielt  werden 
konnte,  gegen  die  völlige  Identität  beider  Symptome  spricht. 
Aus  der  ersten  Arbeit  Schlesingers  über  das  Beinphä- 
nomen  in  der  Wiener  klinischen  Wochenschrift  1910,  Nr.  9, 
wäre  dann  noch  folgendes  über  dasselbe  wiederzugeben: 
Dem  tonischen  Krampfe  des  Phänomens  gingen  Parästhe- 
sien  voran.  Ferner  geht  aus  einer  Stelle  die  Ansicht  des 
Autors  hervor,  daß  der  Ischiadikus  bei  Anstellung  des  Ex¬ 
perimentes  mechanisch  gereizt  würde.  Ferner  sagt  Autor 
in  dieser  seiner  ersten  Arbeit,  daß,  da  die  Pulse  an  den 
Arterien  der  Beine  während  der  Krämpfe  fühlbar  geblieben 
seien,  eine  Anämisierung  der  Extremitäten  nicht  gut  die 
Ursache  sein  konnte.  In  seiner  zweiten  Arbeit  aber  sieht 
Schlesinger  in  dem  Phänomen  einen  Reflexvorgang,  der 
durch  die  exquisite  Uebererregbarkeit  des  Nervensystems 
und  durch  die  relative  Anämie  des  Beines  bei  der  Abbie¬ 
gung  im  Hüftgelenke  in  hohem  Grade  begünstigt  werde. 

W.  Alexander  publiziert  in  der  Deutschen  Medi¬ 
zinischen  Wochenschrift  1910,  Nr.  22  (also  noch  vor  der 
zweiten  Publikation  Schlesingers)  zwei  Fälle  von  Te¬ 
tanie,  welche  gleichfalls  das  Beinphänomen,  zwar  in  ein¬ 
zelnen  Punkten  abweichend,  im  wesentlichen  aber  in  der 
von  Schlesinger  beschriebenen  Weise  zeigten.  In  seinen 
Fällen  konnte  er  aber  auch  —  im  Gegensatz  zu  den  Fällen 
aus  der  ersten  Schlesinger  sehen  Arbeit  —  durch  Druck 
auf  den  Ischiadikus  eine  dem  Krampfe  beim  Beinphänomen 
gleichende  Krampfstellung  auslösen.  Umschnürung  des 
Beines  in  der  Mitte  des  Oberschenkels  oder  auf  der  Höhe 
der  Wade  oder  Druck  auf  die  Arteria  femoralis  bis  zum 
Verschwinden  der  Fußpulse  rief  erst  nach  längerer  Zeit 
einen  nur  rudimentären  Krampf  hervor,  was  im  Hinblick 
auf  die  Stärke  des  Phänomens  bei  Druck  auf  den  Ischiadi¬ 
kus  eine  Uebereinstimmung  mit  anderweitigen  experimen¬ 
tellen  Ergebnissen  zeige,  indem  Kashi  da  nur  durch  sehr 
langdauernde  Reizungen  des  Gefäßes  im  Tierversuche  ähn¬ 
liche  Wirkungen,  welche  er  auf  Reizungen  der  Gefäßnerven 
zurückführe,  wie  durch  kurze  Reizungen  der  Nerven  her¬ 
vorzurufen  vermocht  hätte  Druck  auf  den  Nervus  facialis, 
ulnaris,  radialis,  peroneus,  tibialis  löste  keinen  Krampf 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


163 


aus.  Tn  dem  einen  der  Fälle  ließen  sich  durch  starke,  pas¬ 
sive  Elevation  des  Armes  nach  zwei  bis  drei  Minuten  teta- 
nische  Krämpfe  in  der  betreffenden  Extremität  auslösen, 
wobei  der  Radialpuls  deutlich  fühlbar  blieb.  Nach  Ansicht 
Alexanders  dürfte  dieses  Phänomen,  dessen  Entstehung 
durch  Zerrung  des  Plexus  brachialis  bei  seinem  Verlaufe 
über  den  Humeruskopf  zu  erklären  sei,  dem  Beinphäno¬ 
men  vollkommen  entsprechen.  Uebrigens  finde  ich  im  Lehr¬ 
buche  von  Eichhorst  (sechste  Auflage  1907),  im  dritten 
Bande,  auf  Seite  708,  angegeben,  Czerny  hätte  bei  Erhe¬ 
bung  des  Armes  einen  Anfall  zum  Vorschein  kommen  ge¬ 
sehen,  was  möglicherweise  der  oben  angeführten  Beobach¬ 
tung  Alexanders  entsprechen  könnte.  Dann  hat  auch 
Pool  schon  1907  (zitiert  nach  H.  Schlesinger:  Neurologi¬ 
sches  Zentralblatt  1910,  Nr.  12,  S.  628)  Krämpfe  in  den 
Armen  bei  Elevation  derselben  beobachtet. 

Entgegen  der  Ansicht  Schlesingers  sieht  Alexan¬ 
der  in  keiner  Beziehung  einen  Unterschied  zwischen  dem 
Trouss  eauschen  Phänomen  an  den  Beinen  und  dem  Bein¬ 
phänomen  und  stellt  sie  völlig  auf  eine  Stufe. 

Was  nun  das  eigentliche  Wesen  des  Beinphänomens 
anlangt,  so  möchte  ich  mich  der  Ansicht  Alexanders 
über  die  völlige  Identität  mit  dem  Trous  s eauschen  Phäno¬ 
men  an  den  Beinen  anschließen.  Rufen  wir  doch  auch 
das  Trous  seau sehe  Phänomen  auf  verschiedene  Art  her¬ 
vor:  Man  umschnürt  den  Oberarm  oder  man  übt  einen 
Druck  in  den  Sulcus  bicipitalis  aus  oder  man  ruft  die  Krampf¬ 
stellung  im  Arme  in  seltenen  Fällen  sogar  durch  Druck  auf 
eine  beliebige  Stelle  des  Körpers  aus  und  wir  sehen  doch 
im  Wesen  aller  dieser  auf  verschiedene  Art  provozierten 
Krämpfe  ein  und  dasselbe,  wenn  auch  im  gegebenen  Falle 
vielleicht  der  eine  Versuch  positiv,  der  andere  aber  nega¬ 
tiv  ausfällt.  Ebenso  spricht  man  vom  Trous  seau  sehen 
Phänomen  an  den  Beinen,  einerlei,  oh  dasselbe  durch  Druck 
auf  den  Ischiadikus  oder  durch  lange  dauernden  Druck  auf 
die  Arteria  femoralis  ausgelöst,  wurde.  Wenn  heim  Bein¬ 
phänomen  der  Ischiadikus  —  doch  wohl  durch  Dehnung  — 
mechanisch  gereizt  wird  —  welche  Ansicht  auch  Schle¬ 
singer  hat  (cf.  oben)  —  so  macht  es  in  bezug  auf  das 
Wesen  der  Erscheinungen  doch  keinen  Unterschied  aus, 
oh  der  mechanische  Reiz,  der  den  Ischiadikus  betraf,  das 
eine  Mal  durch  eine  Dehnung  (beim  Beinphänomen),  das 
andere  Mal  durch  einen  Druck  (beim  Trousse  au  sehen  Phä¬ 
nomen  an  den  unteren  Extremitäten)  appliziert  wurde.  Tn 
der  Methode  dagegen,  die  tonische  Krampfstellung  in  der 
unteren  Extremität  hervorzu rufen,  sind  die  beiden  Phäno¬ 
mene  selbstverständlich  ganz  verschieden  und  erst  die 
Schle  singersche  Methode  scheint  es  zu  ermöglichen,  die 
tonische  Krampfstellung  auch  an  den  unteren  Extremitäten 
häufiger  und  namentlich  leichter  zu  erzielen.  Es  ist  leichter, 
das  Bein  im  Hüftgelenk  zu  beugen,  als  minutenlang  auf  den 
Ischiadikus  kräftig  zu  drücken.  Die  bisherige  Methode,  den 
Krampf  durch  Druck  auf  den  Ischiadikus  oder  auf  die 
Femoralis  auszulösen,  scheint  selten  geübt  und  namentlich 
selten  positiven  Ausfall  gezeigt  zu  haben  —  vielleicht  weil 
manchmal  der  etwas  unbequeme  Versuch  zu  früh  abge¬ 
brochen  worden  sein  mag.  Auf  diesen  Umstand  ist  es  wohl 
zurückzuführen,  daß  man  in  der  Literatur  von  dem  an  den 
unteren  Extremitäten  sich  zeigenden  Trouss  eau  schen 
Phänomen  so  wenig  findet.  So  findet  man  über  diesen 
Gegenstand  in  der  Monographie  über  ,,Die  Tetanie  der  Er¬ 
wachsenen“  1907,  von  v.  Fr  an  kl -Hoch  wart  nur  fol¬ 
genden  Satz  auf  Seite  66 :  „Am  besten  gelingt  dies  (das  Her¬ 
vorrufen  von  Krämpfen  durch  Druck  auf  irgendeine  Körper¬ 
stelle)  immer  im  Sulcüs  bicipitalis,  hie  und  da  auch  durch 
Kompression  in  der  Gegend  der  Arteria  cruralis  usw.“  — 
Demgegenüber  scheint  die  tonische  Krampfstellung  an  den 
unteren  Extremitäten  durch  Anwendung  der  Schlesinger- 
schen  Methode  leichter  ausgelöst  zu  werden.  Von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  erscheint  es  gerechtfertigt,  dem  Schle¬ 
singer  sehen  „Beinphänomen“  soweit  Selbständigkeit  ein¬ 
zuräumen,  daß  man  von  ihm  als  von  einem  besonderen 


Symptome  gegenüber  dem  an  den  unteren  Extremitäten 
sich  zeigenden  Trous  seauschen  Phänomen  sprechen  darf. 

Ob  das  Beinphänomen  im  gegebenen  Falle  vorhanden 
ist  oder  nicht,  wird  wohl  von  dem  Grade  der  Krampf¬ 
bereitschaft  der  unteren  Extremitäten  abhängen:  Wo  Spon¬ 
tankrämpfe  der  Beine  vorliegen,  wird  man  auch  eins  Bein¬ 
phänomen  erwarten  dürfen,  wo  Spontankrärm'fe  der  unieren 
Extremitäten  fehlen,  wird  positives  Beinphänomen  immer¬ 
hin  auf  einen  krampfbereiten  Zustand  der  Deine  hinweisen, 
bei  negativem  Beinphänomen  hingegen  wird  man  im  Augen¬ 
blick  auch  keine  Spontankrämpfe  der  unteren  Extremitäten 
zu  gewärtigen  haben.  Da  nun  die  Spöntankrämnfe  an  den 
Armen  häufiger  sind,  als  an  den  Beinen,  so  wird  man  auch 
im  allgemeinen  positives  Beinphänomen  nicht  ganz  so 
häufig  finden,  wie  positives  Trous  s  e  au -Phänomen  an  den 
Armen,  obschon  es,  wie  Schlesinger  gezeigt  hat,  auch 
sehr  häufig  ist.  W  enn  Schlesinger  das  Beinphänomen  auch 
bei  Individuen  nachgewiesen  hat,  welche  nie  spontane 
Krämpfe  an  den  unteren  Extremitäten  hatten,  so  wird  man 
für  solche  Fälle  trotz  fehlender  Spontankrämpfe  immerhin 
einen  gewissen  Grad  von  Krampfbereitschaft  der  Beine 
anzunehmen  haben. 

Auch  in  Fällen  latenter  Tetanie  mit  positivem 
Trousseau-Phänomen  an  den  Armen  wird  man  einen  Aus¬ 
bruch  von  Spontankrämpfen  immerhin  eher  erwarten  dürfen, 
als  beim  „tetanoiden  Symptomenkomplex“  (v.  Frankl- 
Id  och  wart),  bei  welchem'  das  Trouss  eau sehe  Phänomen 
fehlt. 

Doch  nicht  nur  betreffs  der  Extremitäten  läßt  sich  bei 
fehlenden  Spontankrämpfen  durch  positives  Trousseau- 
sches  Phänomen,  resp.  Beinphänomen  auf  eine  gewisse 
Krampfbereitschaft  schließen,  sondern  Adelleicht  auch  in 
seltenen  Fällen  betreffs  der  Glottis  bei  fehlenden  spontanen 
Laryngospasmen  durch  auf  gleich  zu  beschreibende  Weise 
provozierten  Laryngospasmus.  In  einem  Tetaniefalle  ohne 
spontane  Laryngospasmen  glaubte  ich  auf  eine  gewisse 
Krampfbereitschaft  der  Glottis  schließen  zu  dürfen  aus  fol¬ 
gendem  Vorkommnis,  welches  ich  als  ein  dem  Trous  seau¬ 
schen  Phänomen  analoges  Symptom  auffasse  (der  Fall  und 
dieses  Symptom  sind  von  mir  näher  beschrieben  in  der 
Wiener  klinischen  Wochenschrift  1910,  Nr.  80) :  Auf  der 
Höhe  der  Tetanie  (natürlich  nicht  während  eines  Anfalles) 
trat  nach  glatter,  leichter  Einführung  des  Magenschlauches 
(Pat.  wurde  der  Magen  nicht  zum1  ersten  Male  gespült  und 
er  hatte  von  der  Spülung  an  sich  keine  Beschwerden) 
und  nach  eine  Minute  währendem,  ungestörtem  Liegen  des¬ 
selben  im  Rachen  und  Oesophagus  (zwecks  Spülung)  ein 
Laryngospasmus  auf,  welcher  nach  Entfernung  des 
Schlauches  in  einigen  Sekunden  mit  einer  pfeifenden  Inspi¬ 
ration  aufhörte.  Hier  hätte  es  möglicherweise,  wenn  die 
manifesten  Erscheinungen  der  Tetanie  länger  angehalten 
hätten,  zu  spontanen  Laryngospasmen  kommen  können. 

Es  sei  mir  hier  eine  kurze  Abschwenkung  gestattet. 
Wenn  man  —  wie  üblich  —  sagt,  daß  beim  Trous  seau¬ 
schen  Phänomen  durch  die  entsprechenden  Handgriffe  in 
anfallsfreien  Zeiten  ein  Anfall  ausgelöst  würde,  so  sei  man 
sich  dessen  bewußt,  daß  es  kein  eigentlicher  voller  Anfall 
ist,  welcher  hiebei  ausgelöst  wird.  Es  wird  durch  diese 
Handgriffe  gewöhnlich  nur  eine  dem  Anfalle  entsprechende 
Krampfstellung  u.  zw.  gewöhnlich  nur  auf  der  Seite,  an 
welcher  der  Handgriff  vorgenommen  wird,  erzielt,  welche 
sehr  bald  nach  Unterbrechung  des  Versuches  schwindet, 
während  der  spontane  Anfall  symmetrisch  auf  beiden  Seiten 
aufzutreten  und,  einmal  aufgetreten,  längere  Zeit  hindurch 
zu  bestehen  pflegt.  Unsere  Handgriffe  vermögen  eben  nicht 
die  Rolle  einer  Gelegenheitsursache  zum  Zustandekommen 
eines  Anfalles  zu  spielen,  gleichwie  auch  andere  äußere 
Eingriffe  gewöhnlich  nicht  einen  regelrechten  Anfall  auszu¬ 
lösen  vermögen.  Deshalb  ist.  es  auch  verständlich,  daß  nur 
j  selten  Fälle  beobachtet  worden  sind,  bei  denen  Arbeit  der 
Körpermuskulatur,  wie  Turnen  (Chvostek  sen.,  zitiert  nach 
v.  Frankl-Hochwart:  Die  Tetanie  der  Erwachsenen  1907, 
Seite  51)  und  Kraftübungen  eines  Athleten  (Revillo  t,  zitiert 


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Nr.  5 


nach  v.  Frankl- Hoch  wart:  Die  Tetanie  der  Erwach¬ 
senen  1907,  Seite  52),  als  Gelegenheitsursache  einen  Anfall 
ausgelöst  hat.  In  diesen  Fällen  handelt  es  sich  zudem  nicht 
nur  um  äußere  Einwirkungen  auf  Muskeln,  Nerven  und  Ge¬ 
fäße,  sondern  die  forcierte  Muskelarbeit  schuf  auch  ver¬ 
änderte  chemische  Bedingungen  usw.  Solche  den  Krampf 
auch  nur  auslösende  Momente  sind  noch  unbekannte  endo¬ 
gene  Faktoren  —  ganz  zu  schweigen  von  den  eigentlichen 
ursächlichen  krampfbedingenden  Momenten.  Allerdings  be¬ 
richtet  H.  C-ur  sch  mann,  bei  einigen  Fällen  die  Auslösung 
echter  Tetanieanfälle  durch  Wärmeapplikation  gesehen  zu 
haben  (H.  Cur  schm  a  nn,  Deutsche  Zeitschrift  für  Nerven¬ 
heilkunde  1910,  Bei,  39,  Seite  49  und  50). 

Nach  der  Abschwenkung  kehre  ich  zum  Thema  zurück. 
Schlesinger  hat  das  Beinphänomen  bisher  bei  keinem 
anderen  Leiden  als  bei  der  ^Tetanie  gefunden  und  hält  es 
für  pathognomonisch  für  Tetanie,  wie  das  Trousseausche 
Phänomen.  Folgender  Fall  nun  betrifft  einen  49jährigen 
Mann,  welcher,  an  einer  Pseudotetania  hysterica  leidend, 
das  klinische  Bild  des  Schlesinger  sehen  Beinphänomens 
mit  allerdings  einigen  Abweichungen  zeigt.  Die  Kranken¬ 
geschichte  bringe  ich  der  besseren  Uebersicht  halber  zu¬ 
sammenfassend  ohne  Angabe  des  Datums  für  die  einzelnen 
Befunde,  welche  bis  auf  nicht  bedeutende  Schwankungen 
in  bezug  auf  die  Hautsensibilitätsbefunde  in  allen  wesent¬ 
lichen  Punkten  an  den  verschiedenen  Tagen  der  Beobach¬ 
tungszeit  vom  7.  September  a.  St.  bis  gegen  Ende  November 
1910  (demonstriert  wurde  Pat.  am  29.  September  a.  St.  1910 
in  der  Gesellschaft  praktischer  Aerzte  zu  Riga)  sich  als 
annähernd  übereinstimmend  erwiesen. 

Pat.  begann  vor  14  Jahren  als  Maler  tätig  zu  sein  und  will 
vor  acht  Jahren  an  Leibschmerzen,  gelitten  haben,  welche  als 
Bleikoliken  angesehen  worden  wären,  seit  welcher  Zeit  er  dann  nur 
sehr  seifen  Malerarbeit  ausgeführt  hat.  Lues  nicht,  zugegeben. 
Kein  Alkoholabusus.  Kein  Tabakmißbrauch.  Er  ist  ziemlich 
kräftig  gebaut,  sein  Thorax  ist  weder  paralytisch,  noch  faßförmig, 
sondern  gut  gebaut,  sein  Ernährungszustand  ist  leidlich,  die  Ge¬ 
sichtsfarbe  ist  grau,  die  Schleimhäute  sind  ein  wenig,  doch 
nicht,  bedeutend  blaß.  Die  Muskulatur  ist  ganz  gut  entwickelt 
uiid  auch  das  Fettpolster  ist  in  mittlerer  Menge  vorhanden. 
Keine  Drüsenschwellungen.  Eine  Glandula  thyreoidea  kann  nicht 
mit  Sicherheit  durchgefühlt  werden.  Es1  sind  keine  sicheren 
Zeichen  von  Bleivergiftung  vorhanden:  Kein  Bleisaum.  Seit  Jahren 
schon  keine  ausgesprochenen  Koliken  mehr.  Keine  Muskelatro- 
phien  und  keine  Lähmungen,  speziell  keine  Radialislähmung. 
Schmerzen,  u.  zw.  anscheinend  ziemlich  konstante  Schmerzen, 
kommen  seit  vier  bis  fünf  Jahren  in  einigen  Gelenken  vor,  am 
meisten  in  den  Knien,  sodann  auch  im  rechten  Ellbogengelenke, 
wobei  keine  Veränderungen  der  Gelenke  nachweisbar  sind.  Ob 
diese  Schmerzen  hysterischer  oder  rheumatischer  Natur  sind 
oder  aber  durch  Blei  bewirkt  werden,  ist  zwar  nicht  sicher  zu 
entscheiden,  doch  erscheint  namentlich  auch  im  Hinblick  auf 
die  Abwesenheit  anderer  Bleisymptome  die  hysterische  Natur 
der  Gelenksschmerzen  nicht  als  unwahrscheinlich  (doch  könnte 
es  sich  auch  um  rheumatische  Schmerzen  handeln).  —  Harn 
klar,  sauer,  von  normaler  Farbe,  mit  dem  spez.  Gew.  1015,  enthält 
kein  Eiweiß,  keinen  Zucker  und  Indikan  in  mäßigen  Mengen 
(aus  10  cm3  Ham  wurden  20  cm3  einer  der  S trau ßi sehen 
Teströhre  entsprechenden  Indigolösung  gewonnen).  —  Von  Magen¬ 
symptomen  sollen  epigastrische  Schmerzen  nach  dem  Essen'  Vor¬ 
kommen,  die  aber  anscheinend  nicht  von  besonderer  Intensität 
sind  und  jedenfalls  nicht  an  Bleikoliken  und  gleichfalls  nicht  an 
krisenartige  Zustände  denken  lassen.  Der  Magen  scheint  nor¬ 
male  Größe  zu  haben  (untere  Grenze  nach  Aufblähung  mit  Brause¬ 
pulver  zwei  Quelrfinger  über  dem  Nabel)  und  in  der  Gegend  des¬ 
selben  zeigt  sich  kein  Plätschern.  E  wald  -B  o  a  s  sches  Probe¬ 
frühstück  zeigt  A  =-  70,  Reaktion  auf  freie  Salzsäure  stark 
positiv.  Mit  dem  Semmelbrei  gemengter  Schleim  vielleicht  eine 
Spur  vermehrt.  Sekret  nicht  zu  reichlich.  Kein  Blut.  Kein  auf¬ 
fallender  Geruch.  Auf  nüchternen  Magen  exprimiert  Pät.  einmal 
10  cm3  nüchternen,  salzsäurehaltigen  Magensekretes;  eine  ge¬ 
ringe  Menge  Spülwasser,  die  mehrfach  in  den  Magen  hinein- 
und  aus.  demselben  wieder  hinausgebracht  wird,  zeigt  aber  schon 
negative  Reaktion  auf  freie  Salzsäure.  Ein  zweitesmal  expri¬ 
miert  Pat.  5  cm3  nüchternen,  salzsäurehaltigen  Sekretes  und  das 
Spülwasser  zeigt  negative  Salzsäurereaktion  ;  ein  drittesmal  end¬ 
lich  exprimiert  Pat.  nichts  und  der  Magen  enthält  tatsächlich  kein 
nüchternes,  salzsäurehaltiges  Sekret,  denn  das  mehrfach  hin  und 


her  geflossene  Waschwässer  zeigt  neutrale  Reaktion.  Keinmal 
fanden  sich  Speisereste  im  Spülwasser  oder  im  Exprimierten. 
Zwei  Stunden  nach  E  w  al  d  -  B  o  a  s  schein  Probefrühstück  erweist 
sich  der  Magen  als  völlig  leer,  das  Waschwasser  zeigt  keine  Salz¬ 
säurereaktion  und  enthält  einigen  wenigen  Schleim. 

Der  Stuhl  ist  etwas  trocken,  graubraun,  große  Skybala, 
ohne  Schleim,  ohne  Blut,  mikroskopisch  ohne  Besonderheiten 
speziell  keine  Eier. 

Also  bezüglich  des  Magen-Darmes  liegt  objektiv  als  nicht 
einmal  fraglose  Anomalie  eine  leichte  Hyperchlorhydrie  und  ganz 
geringe  Schleimvermehrung  vor;  die  sehr  geringen  Mengen  nüch¬ 
ternen  Sekretes  sind  auch  als  nur  sehr  wenig  von  der  Norm  ab¬ 
weichender  Befund  aufzufassen;  eine  regelrechte  Hypersekretion 
liegt  jedenfalls  nicht  vor.  Eine  Motilitätsstörung  wenigstens  irgend 
erheblicheren  Grades  liegt  nicht  vor.  —  Von  seiten  der  Lungen 
und  des  Herzens  keine  auffallenden  Besonderheiten,  auch  sub¬ 
jektiv  nicht.  Puls  ca.  70,  regelmäßig.  Weder  an  der  Arteria 
temporalis,  noch  an  der  Arteria  brachialis  und  radialis  aus¬ 
gesprochene  Schlängelung  oder  Rigidität  zu  fühlen. 

Nervensystem:  An  seinen  jetzt  ihn  hauptsächlich  peini¬ 
genden  Krämpfen  ist  Patient  vor  ungefähr  drei  bis  vier  Jahren 
erkrankt,  so  zwar,  daß  die  Krampfanfälle  fast  nur  in  der  Nacht 
auftraten,  aber  lange  nicht  in  jeder  Nacht.  Erst  seit  einem 
halben  Jahre  häufen  sie  sich  derart,  daß  sie  in  den  letzten 
Monaten  in  jeder  Nacht  ungefähr  zweimal  auftreten.  Da  sich 
die  Krämpfe  am  Tage  kaum  zeigen,  so  habe  ich  keine  Ge¬ 
legenheit  gehabt,  einen  Spontankrampf  zu  beobachten.  Die  aus¬ 
gesprochen  schmerzhaften  Krämpfe  betreffen  entweder  die1  Arme 
oder  die  Beine  u.  zw.  nach  den  Angaben  des  Patienten  fast 
immer  symmetrisch  beide  Arme  oder  beide  Beine,  nicht  dagegen 
beide  oberen  und  beide  unteren  Extremitäten  zusammen. 
Lin  Arm  allein  oder  ein  Bein  allein  soll  kaum  betroffen  werden. 
Die  Beschaffenheit  der  Krämpfe  ist  nach  der  Beschreibung 
des  Patienten  derartig,  daß  immer  Parästhesien  in  den  betroffenen 
Extremitäten  vorangehen,  sodann  die  Extremitäten  sich  in  tonische 
Krampfstellung  begeben  u.  zw.  in  ebendieselbe  Stellung,  in  die 
sie  bei  Patienten  bei  den  Trousseau  sehen  Handgriffen  und 
bei  dein  S  ch  1  es  i  n  g  ersehen  Handgriffe  an  den  Beinen  geraten. 
Dieser  tonische  Krampf,  welcher  vielleicht  an  die  zehn  Minuten 
Dauer  haben  soll  und  nie  von  Bewußtseinsstörungen  oder  all¬ 
gemeinen  Krämpfen  begleitet  sein  oder  in  solche  übergehen  soll, 
wird  gewöhnlich  durch  Bewegungsversuche  der  betroffenen  Glieder 
zu  beheben  gesucht.  In  den  letzten  Monaten  sind  die  Krämpfe 
in  den  unteren  Extremitäten  häufiger  als  die  Anfälle  in  den  Armen. 
Aueh^  unabhängig  von  diesen  Krampfanfällen  traten  und  treten 
nie  Krämpfe  anderer  Art  auf,  wohl  aber  soll  gelegentlich,  viel¬ 
leicht  im  Monate  einmal,  eine  Art  Dämmerzustand  auftreten. 
Es  ist  nämlich  mehrfach  passiert,  daß  er  bei  der  Absicht,  nach 
Hause  zu  gehen,  plötzlich  bemerkt  hat,  wie  er  sich  gar  nicht  auf 
dem  Wege  nach  Hause,  sondern  irgendwo  in  einer  abseits  ge¬ 
legenen  Straße  befunden  hat,  worauf  er  wieder  völlig  klar  wurde. 
Auffälliges  scheint  er  in  dieser  Zeit  der  Bewußtseinstrübung 
nicht  verübt  zu  haben,  wenigstens  ist  ihm  von  Bekannten  nie 
darauf  Bezügliches  mitgeteilt  worden.  Sonst  merkt  man  seiner 
Psyche  nicht  sofort  die  Hysterie  an,  nach  und  nach  indessen 
erkennt  man  in  manchem  ein  abnormes  Verhalten  der  Psyche. 
Die  Intelligenz  des  Patienten  hat  nicht  gelitten.  Pat.  klagt  noch 
über  gelegentlichen  Schwindel,  'mäßig  starken  Kopfschmerz, 
Schwächegefühl  und  unruhigen  Schlaf.  Dann  gibt  Pat.  an,  ge¬ 
legentlich  eine  Art  Schüttelfrost  zu  haben.  Die  Temperaturen 
scheinen  immer  normal  zu  sein.  Bei  den  Untersuchungen  ist  kein 
Tremor  zu  bemerken,  weder  beim  Spreizen,  der  Finger,  noch  beim 
Uinausstrecken  der  Zunge  usw.,  nur  bei  Applikation  eines  etwas 
stärkeren  faradischen  Stromes  trat  einigemal  eine  Art  Schüttel¬ 
krampf  fast  des  ganzen  Körpers  —  etwa  wie  beim  Schüttelfrost 
ein ;  richtige  klonische  Krämpfe  sind  dagegen  weder  hiebei, 
noch  sonst  zur  Beobachtung  gelangt.  Keine  Muskelatrophien ;  über¬ 
haupt  keine  auffallenden  trophischen  Störungen.  Keine  dauernden 
Kontrakturen.  Keine  Muskelrigidität  oder  Spasmen,  weder  bei 
aktiven,  noch  bei  passiven  Bewegungen.  Keine  Myotonie.  Keine 
Lähmungen  und  auch  keine  Paresen  irgendwelcher  Muskeln.  Er 
geht  aber  trotzdem,  als  ob  die  Beine  schwach  wären,  angeblich, 
weil  die  Knie-  besonders  beim  Gehen  schmerzen.  Schmerzen, 
die  nach  der  Beschreibung  lanzinierende  sein  könnten,  liegen 
anscheinend  weder  in  den  Beinen,  noch  in  den  Armen  vor; 
ebensowenig  kommt  ein  Gürtelgefühl  vor.  Parästhesien  scheinen 
ausschließlich  als  Vorläufer  der  Krämpfe  vorzukommen.  Bracht- 
R  h  o  m  b  e  rg  sches  Symptom  ist  manchmal  kaum  angedeutet, 
manchmal  deutlich  positiv.  Ataxie  der  Arme  nicht  vorhanden. 
Der  Knie-Hacken-Versuch  gelingt  leidlich,  wie  auch  die  Beine 
kleine  Kreise  leidlich  in  die  Luft  zu  zeichnen  vermögen.  Keine 


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Miktionsbeschwerden.  Geschlechtliche  Potenz  noch  vorhanden,  i 
doch  gering.  Die  Papillen  sind  gleich  weit,  immer  recht  eng, 
reagieren  aber  auf  Lichteinfall.  Die  Patellarreflexe  sind  lebhaft, 
die  Achillessehnenreflexe  schwach,  Fußklonus  kommt  nicht  zu- 
Stande.  Babinski  negativ.  Rachenreflex  stark  vorhanden.  Kon- 
junktival-  und  Kornealreflexe  vorhanden.  Die  Sensibilitätsprüfling 
der  Haut  ergibt  betreffs  des  Tastsinnes  nicht  immer  gleiche 
Resultate:  Leichte  Berührung  mit  dem  Finger  wird  an  den  meisten 
Stellen  der  Beine  nicht  empfunden,  jedoch  finden  sich  auch  insel- 
förmige  Partien  an  den  Beinen,  welche  leichte  Berührung  em¬ 
pfinden.  Am  übrigen  Körper  finden  sich  nur  inselförmige  Partien, 
welche  eine  leichte  Berührung  des  Fingers  nicht  empfinden. 
Dieser  Befund  ist,  wie  gesagt,  kein  ganz  konstanter.  Stärkere 
Berührung,  resp.  leichter  Druck  mit  dem  Finger,  wird  fast  überall 
empfunden.  Die  Schmerzempfindung  der  Haut  betreffend  findet 
sich  Analgesie  fast,  über  den  ganzen  Körper  verbreitet,  nur  an 
einigen  Stellen  wird  die  Nadelspitze  als  spitz  empfunden  und 
zwar  in  der  Interskapulargegend,  in  der  rechten  Inguinalgegend, 
am  Halse,  links  am  Kopfe  und  an  den  meisten  Fingerbeeren. 
Auch  dieser  Befund  ist  nicht  völlig  konstant.  Der  Temperatursinn 
isf  gleichfalls,  ziemlich  entsprechend  den  analgetischen  Partien, 
so  gut.  wie  aufgehoben.  Sowohl  bei  Berührung  mit  heißen, 
als  auch  mit  kalten  Reagenzgläschen  wird  höchstens  die 
Berührung  als  solche  angegeben,  der  Temperaturunterschied  aber 
nicht  empfunden.  Bei  Anwendung  eines  etwas  stärkeren  fara- 
dischen  Stromes  —  wie  bereits  angegeben  — ,  aber  auch  hei 
Schließung  eines  noch  mäßig  starken  konstanten  Stromes  stellten 
sich  gelegentlich  eine  Art  Schüttelkrämpfe  ein,  das  Faradisieren 
mit  schwachem  Strome  wurde  gelegentlich  nicht  empfunden.  Der 
Gelenk-  und  Muskelsinn  scheint  nicht  sehr  wesentlich  gestört  zu 
sein.  An  den  unteren  Extremitäten  ist  indessen  auch  darin  eine 
Störung  nachzuweisen,  indem  die  bei  geschlossenen  Augen  dem 
einen  Beine  passiv  gegebene  Stellung  von  dein  anderen  Beine 
nur  ungenau  nachgeahmt  wird.  Von  sensoriellen  Anästhesien 
findet  sich  eine  beiderseitige  starke  konzentrische  Gesichtsfeld  - 
einengung,  wobei  der  Augenhintergrund  sich  als  normal  erwies 
(Doktor  Th.  Schwartz).  Die  Geschmacksempfindungen  sind 
wenigstens  nicht  grob  gestört.  Von  seiten  des  Gehörs  scheinen 
auch  keine  groben  Abweichungen  vorzuliegen.  Druck  auf  die 
Hoden  erweist  sich  als  nicht  besonders  empfindlich.  Auch  fehlt 
eine  Hyperästhesie  der  Wirbelsäule.  Es  werden  überhaupt  keine 
hysterogenein  Zonen  gefunden,  von  welchen  aus  etwa  ein  Krampf 
in  den  Armen  oder  in  den  Beinen  hervorgerufen  werden  könnte, 
wenn  man  hieher  nicht  etwa  die  Handgriffe  zur  Auslösung 
des  Pseudo-Trousseau-Phän omens  und  des  Pseudo-Beinphänomens, 
von  denen  später  die  Rede  sein  wird,  rechnen  will. 

Die  bereits  mehrfach  erwähnten  Krampfanfälle  verlangen 
eine  Prüfung  auf  Tetaniesymptome:  Bei  Druck  in  den  Sulcus 
bicipitalis  oder  bei  Umschnürung  des  Oberarms  stellen  sich  an 
dem  jeweilig  vorgenommenen  Arm  zunächst  nach  vielleicht  einer 
Viertelminute  Parästhesien  ein  und  nach  Verlauf  einer  halben 
Minute  bis  drei  Minutein  ausgesprochen  schmerzhafter  to¬ 
nischer  Krampf,  welcher  dem  Spontankrampfe  entsprechen 
soll  und  der  nach  Aufhören  der  Kompression  nicht  so¬ 
fort,  sondern  erst  inach  einer  halben  oder  nach  einigen 
Minuten  weicht.  Betroffen  ist  immer  der  Extensor  brachii 
(Triceps),  welcher  sich  während  des  Krampfes  bretthart  anfühlt, 
ein  großer  Teil  der  Muskeln  am  Vorderarme,  welche  sich  ringsum 
hart  anfühlen  und  die  Fingerbeuger.  Oft  sind  auch  von  der  Skapula 
entspringende,  zum  Oberarme  ziehende  Muskeln  hart  kontrahiert. 
Der  ganze  gestreckte  Arm  ist  dann  gewöhnlich  um  vielleicht 
20°  vom  Körper  abgezogen,  manchmal  wird  er  auf  der  Höhe  des 
Krampfes  etwas  nach  hinten  zu  gezogen.  Immer  aber  be¬ 
finden  sich  Oberarm,  Vorderarm  und  Hand  bis  zu  den  Meta- 
karpo-Phalangealgelenken  in  einer  Achse,  also  der  Vorderarm 
ist  gestreckt  und  die  Hand  nur  so  weit  gestreckt,  daß  noch  keine 
Dorsalflexion  vorliegt.  Dabei  können  auch  mit  großer  Kraft¬ 
anstrengung  diese  Stellungen  passiv  ebensowenig  wie  aktiv  ge¬ 
ändert.  werden.  Die  Finger  sind  bis  auf  den  Daumen,  welcher 
sich  anders  verhält,  in  den  Metakarpo-Phalangealgelenken,  ebenso 
wie  in  den  ersten  Interphalangealgelenken  ad  maximum  gebeugt, 
in  den  zweiten  Interphalangealgelenken  dagegen  nur  mäßig  ge¬ 
beugt.  Dabei  sind  also  die  vier  in  Rede  stehenden  Finger  - 
so  weit  es  geht  — .  gegen  die  Hohlhand  geschlagen  und  zwar 
so  fest,  daß  sie  bei  Anwendung  großer  Kraft  ebensowenig  ab¬ 
gehoben  werden  können,  wie  der  Daumen,  welcher  gegen  die 
erste  Phalanx  des  Zeigefingers  oder  gegen  dessen  erstes  Inter- 
phalangealgelenk  hin  gleichfalls  so  fest  daraufgeschlagen  ist, 
daß  er  absolut  nicht  abgehoben  werden  kann.  Der  Daumen  ist 
dabei  im  Metakarpo-Phalangealgelenk  leicht  flektiert,  im  lnter- 
phaTarigeälgelenke  gestreckt.  Auch  durch  starke  passive  Elevation 


!  des  Armes,  so  daß  der  Humerus  dem  Ohre  fest  anlag  —  wie 
W.  Alexander  es  bei  seinem  Kranken  machte  (Deutsche  medi¬ 
zinische  Wochenschrift  1910,  Nr.  22)  wobei  der  Radialpuls 
deutlich  fühlbar  blieb,  trat  in  vielleicht  zw  i  Minuten  in  dem 
betreffenden  Arme  tonischer  Krampf  derselben  Art  auf,  welcher 
Krampf  nach  Herablassen  des  Armes  auch  erst  in  vielleicht 
einer  Minute  schwand.  Einmal  unter  häufigen  Versuchen  passierte 
es  bei  diesem  Experimente,  daß  auch  der  andere  Arm  und  beide 
Beine  --  wenn  auch  in  nur  ganz  rudimentärer  Form  -  ent¬ 
krampften  und  daß  auf  der  Seite  des  emporgehobenen  rechten 
Armes  auch,  tonischer  Krampf  des  Sternokleidomastoideus  äui'iivi, 
so  daß  eine  Torticollis  spastica  daraus  resultierte,  welche  viel 
leicht  eine  halbe  Minute  nach  Herablassen  des  Armes  verging. 
Dieses  Mitkrampfen  anderer  Muskelgruppen  passierte  aber  bei 
Anwendung  des  Tr  o  u  sseau  sehen  Handgriffes  am  Arme  und 
des  ihm  ähnlichen  Handgriffes  der  passiven  Elevation  des  Armes 
nach  W.  Alexander  nur  ein  einziges  Mal  unter  häufigen  Ver¬ 
suchen.  Also  fast  immer  wurde  nur  die  Extremität  vom  Krampfe 
befallen,  an  welcher  der  Handgriff  vorgenommen  wurde. 

Das  Beinphänomen:  Beim  Abbeugen  des  im  Kniegelenke 
gestreckten  (des  rechten  ebensowohl  wie  des  linken)  Beines  des 
liegenden  Patienten  im  Hüftgelenke  um  etwa  70°  traten  nach 
vielleicht  einer  halben  Minute  Parästhesien  und  nach  vielleicht 
einer  Minute  sehr  schmerzhafter  tonischer  Krampf  auf,  welcher 
den  Spontankrämpfen  entsprechen  soll.  Das  Bein  ist  dabei  im  Knie¬ 
gelenke  gestreckt  und  der  Unterschenkel  kann  weder  aktiv  noch 
passiv  gebeugt  werden,  der  Fuß  ist  nur  gelegentlich  in  leichter  Su- 
pinationsstellimg,  gewöhnlich  ist  er  weder  in  Supinations-,  noch 
in  Pronationsstellung  und  er  ist  anfangs  weder  dorsal-,  noch 
plantarflektiert,  anscheinend  weil  einerseits  durch  mäßig  starken 
Krampf  des  Gastroknemius  die  gespannte  Achillessehne  den  Fuß 
zu  strecken,  resp.  plantarflektieren  versucht,  andrerseits  die  kon¬ 
trahierten  Zehenextensoren,  abgesehen  von  ihrer  speziellen  Wir¬ 
kung  auf  die  Zehen  seihst,  gleichzeitig  den  ganzen  Fuß,  in  Dorsal¬ 
flexion  zu  bringen  suchen,  so  daß  sich  diese  antagonistischen 
Kräfte  in  ihrem  Effekte  auf  die  Stellung  des  Fußes  auiheben; 
nach  einigen  Sekunden  indessen  nimmt  gewöhnlich  der  Krampf 
der  Zehenextensoren  zu  und  ihre  Wirkung  überwiegt  diejenige 
des  nur  mäßig  kontrahierten  Gastroknemius,  woraus  dann  eine 
leichte  Dorsalflexion  des  Fußes  resultiert.  Die  Zehen  selbst  sind 
dabei  von  vornherein  ausgesprochen  dorsalflektiert,  allerdings 
zu  Beginn  des  Krampfes  weniger,  nach  einigen  Sekunden  stärker 
ausgesprochen.  Entsprechend  den  geschilderten  Verhältnissen 
fühlt  man  während  des  Krampfes  eine  brettharte  Konsistenz  an 
dem  Extensor  cruris  quadriceps,  ferner  einen  mäßigen  Kontrak¬ 
tionszustand  in  der  Gegend  der  Adduktoren  des  Oberschenkels 
und  eine  deutliche  Zunahme  des  Tonus  der  Muskeln  des  Unter¬ 
schenkels  ;  endlich  sieht  man  während  des  Krampfes  die  stark 
gespannten  Sehnen  des  Extensor  digitorum  communis  longus  und 
des  Extensor  hallucis  longus  am  Fußrücken  sehr  deutlich  vor- 
springen.  Nachdem  der  Krampf  einmal  eingesetzt  hat,  kann  der 
Fuß  auch  mit  großem  Kraftaufwande  passiv  weder  dorsalfiektiert, 
noch  plantarflektiert  werden;  ebensowenig  kann  Pat.  das  aktiv 
tun.  Die  Zehen  können  zwar  passiv  in  die  normale  Lage  zurück- 
gebogen  werden,  schnellen  dann  aber,  wenn  man  sie  wieder 
losläßt,  sofort  in  ihre  Krampfstellung  zurück.  Beendigt  man  nun 
nach  eingetretenem  Krampfe  den  Handgriff,  indem  man  das  Bein 
auf  das  Lager  zurücklegt,  so  hört  der  Krampf  nicht  gleich,  son¬ 
dern  erst  nach  vielleicht  einer  halben  Minute  Ins  einigen  Mi¬ 
nuten  auf.  Pat.  versucht  dadurch,  daß  er  aufsteht  und  Be¬ 
wegungen  vorzunehmen  versucht,  den  Krampf  abzukürzen. 

Dieses  Phänomen  stellt  sich  gleichfalls  beim  Aufsitzen  aut 
dem  Lager  mit  gestreckten  Beinen  nach  einer  halben  bis  zwei 
Minuten  ein  — -  nun  selbstverständlich  in  beiden  Beinen.  Beugte 
Patient  den  "Oberkörper  im  Stehen  bei  gestreckten  Beinen  ab, 
so  trat  das  Phänomen  nach  ungefähr  zwei  Minuten  in  beiden 
Beinen  ein.  Der  Beinkrampf  wird  auch  durch  Druck  auf  den 
Nervus  ischiadicus  (zwischen  Trochanter  major  und  Tuberositas 
ossis  ischii)  in  vielleicht  einer  Minute  ausgelöst.  Auch  Druck  auf 
den  Nervus  tibialis  (in  der  Kniekehle)  löst  den  Krampf  aus. 
ebenso  wie  auch  Druck  auf  den  Nervus  peroneus  in  ein  bis 
zwei  Minuten.  Auch  Druck  auf  die  Arteria  femoralis  ruft  einen 
allerdings  nur  rudimentären  Krampf  hervor;  hier  dauert  es  außer¬ 
dem  länger,  nämlich  drei  Minuten,  bis  zum  Eintritt  des  Krampfes. 
Trotzdem  nun  der  Krampf  hiebei  nur  rudimentär  ist.  so  springt 
er  plötzlich  auch  auf  das  andere  Bein,  dessen  Arteria  femoralis 
keinen  Druck  erlitten  hatte.  -  -  in  ganz  rudimentärer  Form  - 
über.  Umschnürung  des  Oberschenkels  mit  einem  Gummischlauch 
ruft  den  Krampf  gleichfalls  —  allerdings  erst  nach  ungefähr 
zwei  Minuten  —  hervor.  Druck  dagegen  auf  etwaige  hysterogene 
Zonen,  auf  die  Wirbelsäule  oder  neben  die  Wirbelsäule,  oder 


166 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  5 


Drücken  der  Hoden,  oder  Kneifen  von  H au tf alten,  oder  sugge¬ 
stive  Maßnahmen,  wie  etwa  Druck  nicht  auf  den  Ischiadikus 
selbst,  sondern  an  falscher  Stelle  neben  dem  Nerven,  vermögen  den 
Krampf  nicht  auszulösen.  Auch  arbeitet  Pat.  sich  nicht  auf 
das  Phänomen  ein.  Fast  immer  wurde  nur  das  betreffende  Bein 
vom  Krampfe  (he lallen,  an  dem  der  Handgriff  vorgenommen  wurde. 
Sehr  selten  aber  kam  es  dazu,  daß  beim  Handgriffe  an  dem 
einen  Beine  nicht  nur  dieses,  sondern  auch1  das  andere  —  dann 
immer  schwächer  —  mitkrampftei,  SO'  z.  B.,  wie  schon  erwähnt, 
bei  Druck  auf  die  eine  Arteria  femoralis.  Daß  beim  Handgriffe  am 
Bein  etwa  ein  oder  beide  Arme  mitgekrampft  hätten,  habe  ich 
nicht  beobachtet.  Die  Beine  zeigten  ebensowenig  wie  die  Arme 
während  des  Krampfstadiums  erkennbare  vasomotorische  Stö¬ 
rungen  und  die  Arteria  dorsalis  pedis,  deren  Puls  beim  Patienten 
immer  nur  schwach  zu  fühlen  ist,  fühlt  man  auch  während 
des  Krampfanfalles  — -  selbstverständlich  auch!  nur  schwach  — 
pulsieren. 

Eine  mechanische  Uebererregbarkeit  der  Nerven  läßt  sich 
nicht  nachweisen,  speziell  fehlt  das  Fazialisphänomen.  Auch  eine 
elektrische  Uebererregbarkeit  der  Nerven  fehlt.  Am  10.  Sep¬ 
tember  z.  B.  trat  bei  der  Untersuchung  mit  dem  galvanischen 
Strome  KSZ  am  Ulnar  is1  dexter  bjeli  2  MA.,  am  Ulnaris  sinister 
gleichfalls  bei  2  MA.  auf.  Am  21.  September  reagierte  der  Ul¬ 
naris  dexter  auf  die  Kathodenschließung  mit  einer  Zuckung  bei 
2-5  MA.,  der  Ulnaris  sinister  bei  3  MA.,  der  Peroneus  dexter 
bei  3-5  MA.  und  der  P.  sinistelr  bei  3-5  MA.  Dir.  Th.  Schwartz). 
—  Am  25.  September  trat  die  erste  KSZ  am  Ulnaris  dexter  bei 
2  MA.,  am  Ulnaris  sinister  bei  2-5  MA.  auf,  während  eine  Kon¬ 
trolle  desselben  Apparates  mit  denselben  Elektroden  bei  einem 
normalen  Individuum  mir  die  erste  KSZ  an  beiden  Ulnares  bei 
1-5  bis  2  MA.  ergab.  (Während  aller  dieser  Untersuchungen 
kam  es  allnächtlich  zu  Krämpfen.) 

Sowohl  das  zweifellose  Yorliegen  einer  Hysterie  in 
diesem  Falle,  als  auch  besonders  das  Fehlen  einer  mechani¬ 
schen  und  elektrischen  Uebererregbarkeit  der  Nerven  zeigen, 
daß  es  sich  um  eine  Pseudo  tetania  hysterica  handelt  und  es  ist 
der  Fall  interessant  darin,  daß  er  das  klinische  Bild  des 
Beinphänomens  mit  allerdings  einigen  Abweichungen  zeigt. 
Das  Phänomen  in  meinem  Falle  dürfte  jedoch,  da  es  sich 
um  eine  Pseudotetanie  handelt,  nach  Analogie  der  Be¬ 
zeichnung  „Pseudo -Trousseau -Phänomen“,  richtiger  als 
„Pseudo-Beinphänomen“  bezeichnet  werden,  trotzdem  es  in 
unserem  Fälle  in  klinischer  Hinsicht  —  vom  Wesen  des 
Phänomens  ist  nicht  die  Rede  —  nur  Abweichungen  von 
mehr  untergeordneter  Bedeutung  gegenüber  dem  bei  den 
Söhle  sing  ersehen  und  Al  exander  sehen  Fällen  echter 
Tetanie  beschriebenen  Beinphänomen  zeigt.  Ausgelöst  wird 
das  „Pseudo-Beinphänomen“  in  meinem  Falle  durch  die¬ 
selben  Handgriffe,  wie  das  Beinphänomen  in  den  Sc'hle- 
sing  er  sehen  und  Al  exander  sehen  Fällen  echter  Tetanie 
und  zwar  lösen  in  meinem  Falle  das  Phänomen  folgende 
Handgriffe  aus:  Die  Sc  hie  sing  ersehen  Handgriffe,  näm¬ 
lich  Abbeugen  des  im  Kniegelenk  gestreckten  Beines  des 
liegenden  Patienten  im  Hüftgelenke  (in  meinem  Fälle  schon 
eine  Beugung  um  70°),  Aufsitzen  auf  dem  Lager  bei  ge¬ 
streckten  Beinen  und  Beugen  des  Oberkörpers  im  Stehen 
bei  gestreckten  Beinen;  ferner  Druck  auf  den  Nervus  ischiadi- 
cus,  aufdenNervus  tibialis  und  auf  den  Nervus  peroneus,  Um¬ 
schnürung  des  Oberschenkels  und  auch  Druck  auf  die  Ar¬ 
teria  femoralis.  Bei  Druck  auf  die  Femoralis  vergehen  aller¬ 
dings  drei  Minuten  bis  zum  Eintritt  des  bloß  rudimentären 
Krampfes,  während  die  anderen  genannten  Handgriffe  den 
Krampf  viel  schneller  und  vollkommener  hervorrufen. 

Ein  ähnliches  Verhalten  konnte  W.  Alexander  bei 
seinem  Patienten  mit  echter  Tetanie  konstatieren.  Alexan¬ 
der  sieht  darin  eine  Uebereinstimmung  mit  den  experi¬ 
mentellen  Ergebnissen  Kashi  das,1)  welcher  durch  sehr 
lange  dauernde  Reizungen  der  Gefäße  im  Tierversuch  (an 
einem  entkropften  Hunde)  ähnliche  Wirkungen,  die  er  auf 
Reizung  der  Gefäßnerven  zurückfuhrt,  hervorzurufen  ver¬ 
mochte,  wie  sie  v.  Frankl -Hoch  w  art.2)  und  Kashi  da 
durch  kurze  Reizungen  der  Nerven  hervorbringen  konnten. 

1 )  Zit.  nach  v.  Fr  an  kl- Hoch  wart,  Die  Tetanie  der  Erwach¬ 
senen,  1907,  S.  68. 

2)  Zit.  nach  v.  Fr  an  kl- Hoch  wart,  Die  Tetanie  der  Erwach¬ 
senen,  1907,  S.  68. 


Obschon  nun  in  meinem  Fälle  eine  Pseudotetanie  und  keine 
echte  Tetanie  vorliegt,  so  liegt  es  doch  nahe,  auch  zur 
Erklärung  für  das  geschilderte  Verhalten  in  meinem  Falle 
an  die  erwähnten  experimentellen  Ergebnisse  v.  Frankl- 
Hoch  warts  und  Kashi  das  zu  denken. 

Daß  in  meinem  Falle  auch  Druck  auf  den  Nervus 
peroneus  und  tibialis  die  Krampfstellung  auslöst,  gibt  dem 
klinischen  Bilde  des  „Pseudo-Beinphänom(ens“  im  Vergleiche 
zu  dem  des  echten  Beinphänomens  und  des  TrouSseau- 
schen  Phänomens  an  den  Beinen  nichts  Fremdartiges.  Ist 
doch  Auslösung  einer  Kontraktur  des  Fußes  bei  Kompression 
des  Peroneus  auch  bei  der  echten  Tetanie  von  Müller3) 
beobachtet  worden;  ferner  berichtete  Schön  born4)  über 
einen  Tetaniefall,  hei  welchem  durch  Kompression  des  Pero¬ 
neus  Krämpfe  auslösbar  waren.  Daß  bei  der  echten  Tetanie 
allerdings  Druck  auf  den  Tibialis  gleichfalls  einen  Krampf 
ausgelöst  hätte,  ist  mir  nicht  bekannt,  doch  macht  der 
diesbezügliche  positive  Befund  in  meinem  Falle  sicher  kein 
prinzipiell  unterscheidendes  Merkmal  aus. 

Hervorzuheben  ist,  daß,  es  nicht  gelang,  das  Phänomen 
durch  Suggestion  auszulösen.  Ein  intensiver  und  langdau¬ 
ernder  Druck  z.  B.,  welcher  nicht  den  Ischiadikus  selbst 
traf,  sondern  eine  Stelle  neben  ihm,  löste  keinen  Krampf 
aus.  Ferner  übte  sich  Pat.  auch  nicht  auf  das  Phänomen 
sozusagen  ein,  es  blieb  bei  allen  diesen  Versuchen  immer 
gleich  in  bezug  auf  die  Stärke  und  den  Zeitpunkt  des  Auf¬ 
tretens.  i 

Es  wurde  auch  nicht  ausgelöst  von  hysterogenen 
Zonen  im  engerefn  Sinne  des  Wortes  aus  — •  denn  im  wei¬ 
teren  Sinne  des' Wortes  sind  wohl  alle  genannten  Punkte 
in  meinem  Falle,  deren  Reizung  das  Phänomen  hervor¬ 
brachte,  hysterogene  Zonen  — ,  weder  Flodencpietschung, 
noch  Druck  auf  die  Wirbelsäule,  noch  Quetschung  von 
Hautfalten,  noch  ähnliches  vermochte  den  Krampf  auszu¬ 
lösen.  Immer  lösten  fast  nur  diejenigen  Flandgriffe  den 
Krampf  aus,  welche  ihn  auch  bei  der  echten  Tetanie  aus¬ 
zulösen  vermögen.  Von  gewissen  hiehergehörigen  Unter¬ 
schieden  gegenüber  dem  echteh  Beinphänomen,  wird  später 
die  Rede  sein. 

Parästhesien  gingen  auch  in  meinem  Fälle  hei  Aus¬ 
lösung  des  Phänomens  dem  Krampfe  voran;  auch  in  un¬ 
serem  Falle  tritt  der  Krampf  nicht  sofort,  sondern  erst 
nach  Verlauf  einer  halben  Minute  oder  später  auf  und 
schmerzhaft  sind  die  Krämpfe  auch  in  meinem  Falle;  alles 
das  ebenso,  wie  beim  echten  Beinphänomen.  Die  durch 
den  Schl  esing ersehen  Handgriff  provozierte  Krainpf- 
stellung  entspricht  in  unserem  Fälle  dem  spontan  anftre- 
tenden  Krampfe  ebenso  wie  das  hei  dem  echten  Beinphä¬ 
nomen  in  den  Schlesinger  sehen  Beobachtungen  der 
Fall  ist. 

Was  nun  den  Effekt  der  Handgriffe  anlangt,  so  liegt 
in  meinem  Fälle  ebenso  eine  Streckung  des  Unterschenkels 
vor,  wie  in  den  Sohle  singer  sehen  und  A  lex  and  er¬ 
sehen  Fällen  echter  Tetanie,  die  Füßstellung  und  die 
Stellung  der  Zehen  aber  ist  nach  Schlesinger  auch  bei 
der  echten  Tetanie  keineswegs  stets  die  gleiche.  Es  läßt 
sich  somit  von  der  Füßstellung  und  der  Stellung  der  Zehen 
in  meinem  Falle  nicht  behaupten,  daß,  sie  eine  wesentliche 
Abweichung  gegenüber  dem  Verhalten  heim  echten  Bein¬ 
phänomen  Idarstellen. 

Ein  Unterschied  im  klinischen  Aussehen  gegenüber 
dem  echten  Beinphänomen  muß  aber  wohl  darin  gesehen 
werden,  daß  der  durch  die  Handgriffe  provozierte  Krampf 
in  meinem  Falle  nicht  sofort  nach  Unterbrechung  des  Hand¬ 
griffes,  sondern  erst  nach  V2  bis  2  Minuten  aufhörte;  jedoch 
dürfte  solches  Verhalten  gelegentlich  auch  einmal  bei  der 
echten  Tetanie  Vorkommen  können. 

Ferner  dürfte  auch  das  in  meinem  Falle  bei  Aus¬ 
übung  der  Handgriffe  aber  nur  selten  zur  Beobachtung 


3)  Zit.  nach  v.  Frankl-IIoch tvart,  Die  Tetanie  der  Erwach¬ 
senen,  1907,  'S.  67. 

4)  Schönborn,  Deutsche  Zeitschr.  für  Nervenheilkunde  1910, 
Bd.  40,  S.  331  u.  332. 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


1  67 


gelangte  Ueberspringen  des  Krampfes  auch  auf  das  andere 
Bein  bei  dem  Beinphänomen  der  echten  Tetanie  eine  Selten- 
leit  darstellen.  Schlesinger  sah  dieses  Vorkommnis  beim 
'chten  Beinphänomen  einmal.  Ein  Vorkommnis  allerdings, 
las  sich  bei  meinem  Falle  ein  einziges  Mal  ereignete,  daß 
ähnlich  bei  der  passiven  Elevation  des  einen  Armes  nach 
V 1  e  xa  nd  e  r  'nicht  nur  der  andere  Arm,  sondern  auch 
»eide  Beine  wenn  auch  nur  ganz  rudimentär  —  mil- 
crampften,  dürfte  sich  bei  der  echten  Tetanie,  wenn  über- 
laupt,  so  wohl  nur  sehr  selten  ereignen.  Ein  Mitkrampfen 
ler  Anne  wurde  in  meinem  Falle  durch  die  an  den  Beinen 
orgenommenen  Handgriffe  niemals  erzielt.  Es  zeigt  sich 
iucIi  hierin  für  unseren  Fall,  abgesehen  davon,  daß  die 
feine  während  der  Beobachtungszeit  häufiger  vom  Spon- 
ankrampfe  befallen  wurden,  als  die  oberen  Extremitäten, 
ine  größere  Krampfbereil schaff  der  unteren  Extremitäten 
gegenüber  derjenigen  der  Arme. 

Wenn  also  auch  das  Pseudo-Beinphänomen  in  meinem 
'alle  in  klinischer  Hinsicht  dem  echten  Beinphänomen  außer- 
irdentlich  ähnlich  ist,  so  läßt  sich  das  natürlich  noch  nicht 
»bne  weiteres  vom-  Wesen  der  Erscheinung  sagen.  (Sehr 
abfallend  allerdings  ist  es,  daß  —  wie  man  eigentlich  er- 
varten  sollte  —  sich  in  meinem  Falle  keine  eigentlichen 
lysterogenen  Zonen  finden,  von  denen  aus  die  Auslösung 
les  Phänomens  gelingt  und  daß  auch  suggestive  Maßnahmen 
ii  dieser  Hinsicht  fehlschlagen. 

Betreffend  das  Pseudo  -Trousseau  -  Phänomen  an  den 
innen  in  meinem  Falle  kann  ich  mich  kürzer  fassen.  Aus 
ler  Krankengeschichte  ersiehi  man,  daß  die  Stellungen  der 
ringer,  der  Hand,  des  Vorderarmes  und  des  Oberarmes 
•on  den  gewöhnlichen  Stellungen  beim  echten  Trousseau- 
ichen  Phänomen  immerhin  nicht  ganz  unerheblich  ab- 
veichen;  am  meisten  fällt  der  Streckkrampf  im  Ellenbogen- 
Gelenk  auf.  Ferner  fällt  als  ein  von  dem  gewöhnlichen 
/erhalten  des  echten  Trousseau  sehen  Phänomens  ab- 
veichendes  Verhalten  des  Pseudo -Trousseau -Phänomens  in 
neinem  Falle  auf,  daß.  der  experimentell  hervorgerufene 
frampf  nicht  gleich  nach  Unterbrechung  des  Handgriffes 
mfhört,  sondern  erst  nach  V2  bis  2  Minuten. 

Im  übrigen  zeigte  das  Pseudo-Trousseau-Phänomen  in 
neinem  Falle  das  gleiche  klinische  Verhalten,  wie  das  echte 
Mousse ausche  Phänomen.  Ausgelöst  wurde  es  in  der- 
. eiben  Weise,  wie  man  das  Trousseau  sehe  Phänomen 
ler  echten  Tetanie  auslöst,  durch  Umschnürung  des  Ober¬ 
armes  und  durch  Druck  in  den  Sulcus  bicipitalis.  Ferner 
Gelang  die  Auslösung  des  Phänomens  auch  durch  passive 
rievation  des  Armes  nach  Alexander.  Die  Auslösung 
les  Phänomens  durch  suggestive  Einflüsse  oder  durch  Druck 
mf  hysterogene  Zonen  gelang  ebensowenig,  wie  die  Aus- 
ösung  des  Pseudo-Beinphänomens  durch  ähnliche  Maßnah- 
nen.  Auch  arbeitete  sichPat.  nicht  auf  das  Pseudo-Trousseau- 
Phänomen  ein.  Sehr  selten  krampfte  bei  Anstellung  des 
landgriff  es  der  andere  Arm  mit.  Der  sehr  schmerzhafte 
vrampf  trat  nicht  sofort,  sondern  erst  nach  einer  halben 
Jinute  oder  später  nach  Beginn  des  Handgriffes  auf  und 
Entspricht  dann  in  seiner  Stellung  derjenigen  des  Spontan- 
:rampfes  im  Anne. 

Was  speziell  hervorgehoben  werden  muß,  so  gingen, 
vie  bei  dem  echten  Trousseau  sehen  Phänomen,  dem 
experimentell  hervorgerufenen  Krampfe  Parästliesien  vor- 
in  —  im  Gegensatz  zum  gewöhnlichen  Verhalten  des  Pseudo- 
i  rousseau  -  Phänomens. 

Alles  in  allem  zeigte  das  Pseudobeinphänomen  un¬ 
seres  Falles  mit  dem  echten  Beinphänomen  einerseits,  das 
Pseudo-Trousseau-Phänomen  unseres  Falles  mit  dem  echten 
I  rous  se  au  sehen  Phänomen  anderseits  in  ihrem  klinischen 
Vussehen  sich  soviel  Uebereinstimmend.es,  daß  ohne  Berück¬ 
sichtigung  der  anderen  Symptome  eine  Entscheidung  dar- 
iber,  ob  es  sich  um  die  echten  oder  um  die  Pseudo-Phäno- 
nene  handelt,  wohl  kaum  möglich  gewesen  wäre,  oder  daß 
uan  sogar  vielleicht  eher  an  die  Phänomene  der  echten 
Tetanie  gedacht  hätte. 


Das  Fehlen  der  mechanischen  und  namentlich  der 
elektrischen  tE eberregbarkeit  und  die  Anwesenheit  einer 
Hysterie  zeigen  die  Zugehörigkeit  unseres  F'alles  zur  „Pseu- 
dotetania  hysterica“.  Demgegenüber  kommen  auch  — 
meiner  Meinung  nach  das  Verhalten  der  Magenfunk¬ 
tionen  und  die  ehemalige  Arbeit  mit  bleihaltigem  Materiale 
nicht  als  ätiologische  Faktoren  in  Betracl 
daß  die  Glandula  thyreoidea  nicht  deutlich  du 
wird,  darf  nicht  auf  einen  Mangel  an  funktionstüchtigem 
Schilddrüsen-  oder  gar  Epithelkörperchen  -  Gewebe  ge¬ 

schlossen  werden. 


Aus  der  serodiagnostischen  Untersuchungsstation  der 
Klinik  für  Geschlechts-  und  Hautkrankheiten  in  Wien. 

(Vorstand :  Prof.  E.  Finger.) 

Vergleichende  Globulinmessungen  an  luetischen 

Seris. 

Von  Dr.  R.  Müller,  Assistenten  der  Klinik  und  W.  H.  Hough, 

Washington. 

Seit  festgestellt  wurde,1)  daß  mit  der  Globulinfraktion 
aus  Luetikerseris  die  bei  der  W assermannschen  Reaktion 
wirksamen  ,, Luesreagine“  ausfallen,  war  es  vor  alleni 
Winternitz,2)  der  sich  eingehend  mit  dem  Studium  der 
Globuline  im  Serum  Luetischer  befaßte.  Zu  seinen  Stu¬ 
dien  benützte  er  anfangs  Wägungs-,  später  Refraktions¬ 
methoden  und  konnte  finden,  daß  durchschnittlich  bei  Lue¬ 
tikern  höhere  Fibrinogen-  und  Globulinwerte  resultieren  als 
bei  .nichtluetischen  Menschen. 

Auch  wir  beschäftigen  uns  seit  längerer  Zeit  mit  Unter¬ 
suchungen  der  Globulinwerte  bei  Luetikern.  Da  wir  gleich 
anfangs  der  Ueberzeugung  waren,  daß  zur  Beantwortung 
liieher  gehöriger  Fragen  nur  ein  an  umfangreichem  Material 
gewonnenes  Urteil  Wert  haben  kann,  trachteten  wir  von 
vornherein  nach  einer  möglichst  einfachen  Unlersuchungs- 
technik. 

Die  Fragen,  die  wir  uns  vorl egten,  waren  vor  allem 
folgende : 

1.  Findet  bei  Lues  eine  Vermehrung  des  Gesamtglobu¬ 
lins  statt? 

2.  Welche  Globulinfraktion  ist  hauptsächlich  quanti¬ 
tativ  verändert? 

3.  In  welchem  Verhältnisse  stehen  quantitativ  me߬ 
bare  Globulinveränderungen  zur  Wassermann  sehen  Re¬ 
aktion  ? 

Die  durch  verschiedene  Sättigung  mit  Ammoniumsulfat 
ausgefällten  Globulinmengen  bestimmten  wir  nach  Zentri¬ 
fugieren  durch  Messung.3)  Wir  sind  uns  bewußt,  daß  bei 
dieser  Versuchstechnik  manche  Fehlerquellen  nicht  auszu¬ 
schalten  sind.  Im1  Laufe  der  Untersuchungen  jedoch  haben 
wir  gelernt,  diese  technischen  Fehlermöglichst  einzuschräh- 
ken.  Auf  die  umständliche  Iteindarstellung  der  Globuline 
glaubten  wir  verzichten  zu  können,  da  es  uns  vor  allem! 
darauf  ankam,  die  nach  unserer  Methode  b  e  s  t  i  m  m- 
t en  Globulinwerte  der  Luetikerseren  mi t  den  bei 
gleichzeitig  untersuchten  nichtluetischen  Seren 
gefundenen  Werten  zu  vergleichen. 

Methode  der  Untersuchung. 

Einerseits  wurden  mehrere  Kubikzentimeter  Blut  aus  der 
Armvene  des  Patienten  mittels  Punktion  entnommen.  Zur  Unter¬ 
suchung  gelangten  nur1  Patienten  der  Finger  sehen  Klinik  und 
zwar  Luetiker  des  Sekundärstadiums,  hur!  ausnahmsweise  Tertiär- 
luetische.  Ausgewählt  wurden  nur  solche  Patienten,  bei  denen 
die  Wassermann  sehe  Reaktion  komplett  positiv  war  und  die 
seit  längerer  Zeit  keine  spezifische  Behandlung  mitgemacht  hatten. 
Anderseits  wurden  zur  Vergleichsuntersuchung  Patienten  der 
Klinik  au sige wählt,  die  anamnestisch  und  klinisch  frei  von  Lues 
waren  und  negative  Wasser  mann  sehe  Reaktion  zeigten.  Es 
handelte  sich  meist  um  Patienten  mit  Urethritis,  Ulcus  molle 
Balanitis,  Bubonen,  Hautaffektionen  verschiedener  Art.  Beson- 

B  Landsteiner  und  Müller,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1908. 

2)  Archiv  für  Dermatologie  1910. 

3)  Nach  dem  Prinzip  der  Non  ne  sehen  Probe. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  5 


deines  Gewicht,  legten  wir  speziell  in  letzter  Zeit  darauf, ..daß  die 
zu  untersuchenden  Seren  alle  gleich  alt  und  gleichartig 
konserviert  vvare'n.  Jeder  Versuch  bestand  aus  gleich¬ 
zeitige  r  .Prüfung  einiger  luetischer  und  nichtluetischer  Seren. 
Zwei  Stunden  nach  der  Entnahme  wurden  die .  Blutproben  bis 
zur  völligen  Klarheit  des  Serums  zentrifugiert.  Mit  jedem  Serum 
stellten  wir  zwei  Proben  an.  Zwei  Teile  Serum  wurden  mit  einem 
Teile  ’konzentrierter  wässeriger  Arnmoniunnsulfatlösung  zur 
Fällung  des  Euglobulins  in  einer  Eprouvette  vermischt,  ln  eine 
zweite  Eprouvette  kamen  gleiche  Teile  Serum  und  Ammonium¬ 
sulfatlösung  zur  Fällung  des  Gesamtglobulins. .  Die  Proben  wurden 
nun  durch  16  Stunden  bei  Zimmertemperatur  belassen  und  einige 
Male-  kräftig  geschüttelt.  Von  der  ersten  Eprouvette  gaben  wir 
3  cm3,  von  der  zweiten  2  cm3  in  eigens  angefertigte  graduierte 
Röhrchen. 

Diese  Röhrchen  waren  völlig  gleichartige,  konisch  zulau¬ 
fende  Eprouvetten  mit  5  cm3  Inhalt.  Die  obere  Apertur  war 
15  mm,  das  geschlossene  Ende  zeigte  ungefähr  4  mm  im  Durch¬ 
messer.  Der  unterste  Kubikzentimeter  war  außerdem  .  durch 


Anzahl 

der  Teil- 

Fall 

Wassermann 

striche  auf  10  cm3 

Ver- 

Serum  berechnet  von 

such 

Nr. 

Gesamt¬ 

globulin 

Prot. -Nr. 

Ausfall 

Eu¬ 

globulin 

1 

12001 

N 

18-3 

64 

I 

2 

12002 

++ 

L 

50 

92 

3 

1200 

N 

34 

80 

4 

11999 

d~F 

L 

45 

72 

II 

5 

12077 

— 

N 

23-5 

80 

6 

12078 

++ 

L 

55 

110 

7 

12079 

+H- 

L 

55 

122 

8 

12133 

— 

N 

35 

80 

III 

9 

12134 

++ 

L 

45 

120 

10 

12135 

-H- 

L 

34 

84 

11 

12152 

— - 

N 

225 

56 

12 

12160 

N 

33 

68 

13 

12162 

_ 

N 

48 

86 

IV 

14 

12163 

H— F 

L 

65 

110 

15 

12161 

+  d- 

L 

65 

90 

16 

12165 

++  ' 

L 

58 

96 

17 

12166 

N 

32 

76 

18 

12644 

— 

N 

38 

L20 

V 

19 

12645 

++ 

L 

40 

93 

20 

12646 

+4- 

L 

44 

98 

21 

12883 

— 

N 

45 

82 

22 

12884 

-  . 

N 

41 

85 

VI 

23 

12885 

— 

N 

35 

95 

24 

12886 

~b“b 

L 

52 

104 

25 

12887 

++ 

L 

38 

58 

26 

12937 

H — b 

L 

50 

90 

VII 

27 

12938 

N 

38 

89 

28 

12939 

-i — p 

L 

42 

99 

VIII 

29 

13026 

++. 

.  L 

33 

147 

30 

13027 

N 

23 

103  | 

IX 

31 

13132 

— - 

N 

25 

56 

32 

13133 

++ 

L 

45 

58 

33 

13212 

++ 

L 

31 

80 

X 

34 

13213 

N 

20 

80 

35 

13214 

.  — 

N 

27 

100 

36 

13215 

++ 

L 

30 

86 

37 

13300 

++ 

L  (III) 

23 

72 

XI 

38 

13301 

4~F 

L 

35 

80 

39 

13302 

N 

33 

94 

40 

13303 

— 

N 

13 

86 

41 

13387 

-T- 

N 

28 

118 

XII 

42 

13385 

— 

N 

19 

104 

43 

13386 

+  + 

L 

30 

92 

44 

13388 

-H- 

L 

25 

86 

45 

13475 

N 

22 

72 

46 

13476 

N 

25 

104 

XIII 

47 

13477 

++ 

L 

43 

120 

48 

13478 

N 

42 

94 

49 

13479 

H — b 

L 

47 

104 

50 

13480 

N 

32 

84 

XIV 

51 

13547 

— 

N 

20 

68 

52 

13548 

-Fd- 

L 

46 

78 

53 

13615 

— 

N 

20 

76 

j  XV 

54 

13597 

~b 

N 

23 

76 

55 

13617 

++ 

L 

42 

94 

56 

13616 

++ 

L 

38 

96 

XVI 

57 

13680 

— 

N 

20 

80 

58 

13679 

++ 

L 

26 

86 

20  Teilstriche  in  je  0-05  cm3  eingeteilt.  Die  völlig  gleich¬ 
mäßige  Ausführung  der  Röhrchen,  ist  eine  Grund 
bed  i  n  g  u  ng  für  das  Gelingen  der  Versuche. 

Nach  ändert  halbstündigem  Zentrifugieren  wurde  die 
Anzahl  der  Teilstriche,  bis  zu  denen  das  Globulin  ausge 
füll!  war,  abgelesen  und  auf  10  cm3  Serum  mngereelmel. 

Im  ganzen  untersuchten  wir  158  Fälle.  Doch  haben 
wir  nur  die  Resultate  der  letzten  58  Fälle,  da  nur 
diese  hei  völlig  gleichartiger  Technik  erhalten 
wurden,  in  der  Tabelle  zusammengestellt. 

Davon  waren  29  Fälle  Lues  des  Sekundärstadiums  (Lj 
und  29  mchtlueiische  Seren  (N).  Im  Durchschnitt  er¬ 
gaben  danach  Syphilisseren  (auf  10  cm3  berechnet) 
42-5  Teile  E  u  g  1  o  b  u  1  i  n,  die  K  o  n  t  r  o  1 1  s  e  r  e  n  28-8  Teile. 

G  e  s  a  in  t  gl  o  h  u  1  i  n  zeigten  Luesseren  durchschnitt¬ 
lich  94  und  die  Kon  troll  seren  84-7. 

Es  ist  also  die  Differenz  der  Gesamtglobulinwerte 
kleiner  als  die  der  Euglobulinwerte.  Wenn  man  nun  auch 
annehmen  will,  daß  in  einer  anderen  großen  Versuchsreihe 
die  Durchschnittswerte  sich  nicht  völlig  gleich  verhalten 
werden,  so  können  Wir  doch  jedenfalls  behaupten,  daß  die 
durchschnittliche  Vermehrung  des  Globulin¬ 
gehaltes  der  Luetikers  er  en  auf  ihrem  höheren 
Euglobulingehalt  beruh t,3) 

Betrachten  wir  die  einzelnen  Versuche,  so  fällt  uns 
vor  allem  auf,  daß  wir  in  den  einen  manchmal  sowohl 
für  die  Luetiker  als  für  die  Normalen  höhere  Zahlen 
finden  als  in  anderen.  Erklärung  für  diese  Tatsache  konnten 
wir  bisher  nicht  finden  (Diät?).  Wenn  wir  uns  jedoch  damit 
begnügen,  in  jedem  einzelnen  Versuche  die  Globulihwerte 
der  Luetiker  mit  denen  der  Nichtluetiker  zu  vergleichen, 
so  'sehen  wir  in  fast  jedem  einzelnen  Versuch  bei  den  Lue- 
tikerseren  höhere  Zahlen  als  bei  den  Nichtluetischen.  Aber 
auch  hier  kommen  Ausnahmen  vor.  In  dieser  Beziehung 
ist  speziell  der  Fall  25  (L)  auffallend,  der  einen  geringeren 
Euglobulinwerl  zeigt,  als  gleichzeitig  untersuchte  Normal- 
seren.  Dieser  Fall  ha t  ' auch  eine  auffallend  geringe  Ge¬ 
samtglobulinmenge,  so  daß  der  prozentuelle  Anteil  des  Eu¬ 
globulins  gegenüber  den  gleichzeitig  untersuchten  Normal¬ 
seris  ein  immerhin  großer  war.  Es  scheint  also,  daß  in 
diesem  Falle  die  B e d i n g u ligen  zu r  A u s f ä  1 1  u n g  mit 
A  m  m o  n i u m s u  1  f  a t  ü  b  e r h a u p  t  schlechte  w' area,  da¬ 
bei  bestand  doch  eine  relative  Euglobulin  Vermehrung.  An¬ 
ders  verhielt  es  sich  in  einem  nichtluetischen  Serum  (48). 
Hier  zeigte  ein  nichtluetischer  Fall  eine  hohe  Euglobulinzahi 
und  auch  der  prozentuelle  Anteil  des  Euglobulins  am  Ge¬ 
samt  globulin  war  ein  hoher.  Es  handelt  sich  um  einen  über¬ 
faustgroßen  Bubo  der  Inguinaldrüsen,  der  dem  Durchbruch 
nahe  war  (Wassermann-Reaktion  negativ!).  Dieser  Fall 
zeigte  schon,  daß  die  Vermehrung  des  Euglobu- 
links  nicht  in  direkten  Zusammenhang  mit  der 
Wassermannschen  Reaktion  zu  bringen  und  auch 
nicht  diagnostisch  verwertbar  ist.  Es  wäre  aber 
immerhin  möglich,  daß  man  mit  der  Euglobulinbesdmmung 
einen  Gradmesser  für  den  Einfluß  der  eingeleiteten  Behand¬ 
lung  auf  den  luetischen  Prozeß  gewinnt-: 

Das  Studium  der  Frage,  wie  die  verschiedenen  spe¬ 
zifischen  Kuren  auf  die  Globulinwerte  der  Seren  von  Lueti¬ 
kern  einwirken,  beschäftigt  uns  derzeit. 


Aus  dem  Rudolfinerhause  in  Wien  (Döblir.g). 

(Vorstand:  Reg. -Rat  Dr.  R.  Gersuny.) 

Zur  Frage  der  Epithelmetaplasie.* *) 

Von  weil.  Dr.  Alfred  Hermann,  gewesenen  Assistenten. 

Die  Frage,  ob  eine  echte  Epithelmetaplasie,  d.  h.  der  Ueber- 
gang  einer  Epithelart  in  eine  andere,  scharf  differenzierte,  vor- 

3)  Diese  Tatsache  konnten  wir  schon  in  den  ersten  100  Fällen 
konstatieren,  die  wir  jedoch  wegen  verschiedener  technischer  Unzuläng¬ 
lichkeit  in  unsere  Tabelle  nicht  aufnahmen. 

*)  Nachtrag  zu  der  in  Nr.  48,  Jahrgang  1903  dieser  Wochenschrift 
erschienenen  Arbeit  »Zur  chirurgischen  Behandlung  guta1  tiger  Magen¬ 
stenosen«  von  demselben  Verfasser.  Aus  dem  Nachlasse  des  in  jungen 
Jahren  verstorbenen  Autors  veröffentlicht  von  Dr.  Richard  Leo  Grün¬ 
feld, 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


169 


kommt,  ist  noch  nicht  vollkommen  entschieden  und  von  vielem 
Uitoren  überhaupt  bestritten. 

Pas  Präparat,  das  ich  zu  untersuchen  Gelegenheit  hatte, 
,ii‘lel  meiner  Ansicht  nach  einen  wichtigen  Beitrag  zur  Klärung 
lieser  Frage  und  außerdem  insofern  einiges  Interesse,  als  sich 
lie  .Metaplasie  an  einem  Organe,  nämlich  dem  Magen,  fand,  wo 
nciner  Kenntnis  nach  etwas  A  ehn  liebes  überhaupt  bisher  nicht 
, (■•obachtet  wurde. 

Das  Präparat  stammt  von  einer  86jährigen  Krau,  bei  welcher 
in  Mai  1900  im  Rudolfinerhause  wegen  rezidivierender,  zwei 
acher  Narbenstenose  bei  totaler  Magenschrumpfung  eine  par- 
ielle  Mageinresektion  ausgeführt  worden  war.  Patientin  hatte 
chon  seit,  sieben  Jahren  an  Stenosenerscheinungen  gelitten  und 
ich  bereits  einem  operativen  Eingriff  unterzogen,  wobei  zwei 
iarbige  Stellen  die  eine  unmittelbar  oberhalb  des  Pylorus, 
ie  andere  ca.  5  cm  zentral'  davon  durch  die  Gastroplastik 
ach  Hei  necke  - Mikulicz  erweitert  worden  waren.  Da  sich 
ne  Beschwerden  nach  kurzem  Wohlbefinden  wieder  eingestellt 
latten,  wurde  hei  der  neuerlichen  Operation  die  ganze,  die  beiden 
Jenoseii  umfassende  Magenpartie  zirkulär  reseziert  und  derOuer- 
chnitt  des  zurückgebliebenen  Anteiles  mit.  dem  Duodenum  ver- 
inigt.  Die  schon  bei  der  ersten  Operation  vorhandene  totale  Yor- 
leinerung  des  Magens  hatte  seither  noch  etwas  zugenommen. 

Patientin  hatte  anamnestisch  noch  angegeben,  wenige  Mo 
,ate  vor  dem  Beginne  ihrer  Erkrankung  eine  geringe  Menge  kou- 
entrierter  Essigessenz  ohne  irgendwelche  unmittelbar  folgende 
Erscheinungen  genossen  zu  haben.  Blutiges  Erbrechen  oder  Ab- 
ang  von  Blut  durch  den' Stuhl  hatte  sie  niemals  bemerkt. 

Das  resezierte  Magenstück,  welches  ungefähr  der  peripheren 
lälfte  des  ganzen  Magens  entspricht,  stellt  ein  nahezu  -rechteckiges 
Uiiek  dar,  dessen  Seiten,  an  der  Innenfläche  gemessen,  ca.  7  cm 
in  der  Längsrichtung  des  Magens  und  6  cm  in  querer  Richtung 
■et ragen.  Die  Magenwand  ist  auffallend  hypertrophisch,  stellen¬ 
reise  bis  IV2  cm  dick.  An  dem  zentralen  Ende  des  Präparates 
indet  sich  eine  überhaselmißgroße  Vorwölbung  der  Magenwaml 
reiche  in  ihrem  Inneren  ein  enges,  von  der  Magenhöhle  voll- 
tändig  abgeschlossenes  Lumen  trägt,  das  durch  Verwachsung  der 
Länder  eines  Ulkus  entstanden  sein  dürfte.  Pn mittelbar  oberhalb 
les  Pylorus  findet  sich  eines  und.  nur  durch  eine  schmale  Schleim 
lautbrürke  von  diesem  getrennt,  ein  zweites,  bereits  in  Vernarbung 
egrifi'cnes,  seichtes  Geschwür.  Beide  nehmen  fast  die  ganze  Breite 
ler  hinteren  Magenwand  ein  und  greifen  über  die  kleine  Kur- 
atur  auf  die  vordere  Wand  über.  Die  Blinder  beider  Geschwüre 
iinl  nicht  verdickt  und  etwas  Überhänge  11  d.  Das  Präparat  wurde 
n  Müllcr-Formol  fixiert,  in  aufsteigendem  Alkohol  uachgehärtet. 
ind  behufs  histologischer  Untersuchung  durch  parallel  der  Liings- 
chse  geführte  Schnitte  in  mehrere  Streifen  zerlegt.  Die  ein- 
. einen  Segmente  wurden  in  Zelloidin  eingebettet  und  die  Schnitte 
onacli  mit  Flä malaün-Eosin  und  nach  Yan  Gieson  gefärbt. 

Histologischer  Befund:  Im  Bereiche  der  Sub'stanz- 
erluste  fehlt  die  Schleimhaut  vollständig.  Die  Basis  der  Ge- 
■chwüre  ist  durch  zellarmes  Bindegewebe  gebildet,  in  welchem 
feilen  weise  stark  erweiterte  Gefäße  liegen.  Die  Schleimhaut, 
reiche  als  kaum  2  cm  breite  Brücke  zwischen'  den  beiden  Ge- 
chwüren  erhalten  ist,  zeigt  beide  Arten  der  Magendrüse  in  atro- 
diischem  Zustand;  'die  Grenzen  zwischen  Mukosa  und  Sub- 
nukosa  vollständig  verwischt. 

Entsprechend  dem  Pylorus  findet  man  die  Innenfläche  des 
Jagens  auf  einer  ca.  3  mm  langen  Strecke  von  einem  ziemlich 
lohen  Plattenepithel  bedeckt,  dessen  oberste  Schichte  etwas  ge- 
Jähle  Zellen  zeigt,  deren  Protoplasma  verminderte  Färbbarkeit 
:eigt.  Das  Plattenepithel  flacht  sich  gegen  den  üherhängemlen 
fesch  würsrand  allmählich  ab,  um  in  der  Nähe  desselben  voll- 
Jändig  zu  verschwinden;  distalwärts  setzt  sich  das  Plattenepithcl 
nil  scharfer  Grenze  gegen  die  Duodena, lschleimhaut  ab.  Die 
schleimhautschichte,  welche  sich  an  dieser  Stelle  scharf  gegen 
lie  Submukosa  absetzt,  zeigt  Papillenbildung  von  verschiedener 
löhe. 

Die  Verdickung  der  Magenwand  ist  hauptsächlich  durch 
•ine  mächtige  Hypertrophie  der  Muskularis  bedingt,  welche  im 
Bereiche  des  Pylorus  eine  Stärke  von  6  mm  erreicht;  die  Hyper- 
rophie  betrifft  gleichmäßig  die  Ring-,  wie  die  Längsfaserschichte, 
m  Bereiche  der  Geschwüre  zeigt  die  Muskelschichte  einzelne 
leide  kleinzelliger  Infiltration. 

Die  Serosa  ohne  besonderen  Befund. 

Nach  diesem  Bilde  scheint  es  sich  in  dem  vorliegenden  Falle 
nn  cine  Umwandlung  von  zylindrischem  Epithel  in  echtes  Platten- 
uithel.  also  um  eine  wahre  Epithelmetaplasie  zu  handeln. 
Die  Annahme  eines  Ueberwucherns  des  Oesophag usepi thels  auf 
lie  Magenschleimhaut  erscheint  wohl  bei  der  entfernten  Lago 
ler  Plattenepithelinsel  und  bei  dein  Fehlen  jedes  Zusammen¬ 


hanges  mit  dem  Schleimhautepithel  der  Speiseröhre  ausge¬ 
schlossen. 

Fine  Erklärung  für  das  Zustandekommen  der  Epithelmeta¬ 
plasie  in  der  Magenschleimhaut  bietet  uns  insofern  die  Entwich 
hingsgeschichte,  als  wir  in  einem  gewissen  Stadium  der  Ent 
wicklung  eine  einheitliche  Epithelauskleidung  im  ganzen  Darm  Hakt 
finden,  welche  sich  erst  später  zu  geschichtetem  Pflasterepilhel 
im  Oesophagus  und  zu  einfachem  Zylindorepilhol  im  ganzen 
übrigen  Darmtrakt  differenziert. 

-  Ich  muß  daher  trotz  der  fehlenden  Verhornung  das  gefun,,--n. 
Plattenepithel  für  ein  vollständig  echtes  halten,  da  ja  auch  das 
Epithel  des  Oesophagus  und  das  der  übrigen  mit  Pflastei  enithcl 
ausgekleideten  Schleimhäute  normalerweise  keine  Neigung  zur 
Verhornung  zeigt,  ohne  daß  jemand  ■  deshalb  den  ITaltenepith  d 
charakter  desselben  anzweifeln  würde.  Daß  übrigens  auch  zwi 
sehen  dem  geschichteten  Plattenepithel  der  Schleimhaut'  und  dem 
verhornenden  Epithel  der  äußeren  Haut  kein  strenger  Unter¬ 
schied  besteht,  beweist  wohl  zur  Genüge  das  gelegentliche  Auf¬ 
treten  von  Verhornung  in  jenen  unter  gewissen  pathologischen 
Verhältnissen. 

Welche  Umstände  übrigens  in  dem  beschriebenen  Falle 
die  Epithelumbildung  veranlaßt  haben,  oh  vielleicht  die  er¬ 
höhten  Insulte,  denen  gerade  diese  Stelle,  zumal  infolge  ihrer 
Verengerung,  durch  längere  Zeit  ausgesetzt  war,  Schuld  tragen, 
muß  bis  auf  weiteres  noch  Hypothese  bleiben.  Dagegen  halte 
ich  ein  anderes  Moment,  das  sich  auch  in  dem  vorliegenden  Falle 
fand,  für  die  Charakteristik  des  geschichteten  Plattenepithels 
für  wichtig,  nämlich  die  Papillenbildung  der  Tunica  propria. 
Die  Metaplasie  des  Magenepithels  ist  jedenfalls,  auch  nach  den 
darüber  in  der  Literatur  vorliegenden  Notizen,  äußerst  selten, 
ebenso  gehören  die  wahrscheinlich  auf  Grundlage  von  Metapla¬ 
sien  entstandenen  Phittenepithelkarzinome  des  Magens  zu  den 
Raritäten.  Es  wird  Sache  weiterer  Beobachtungen  sein,  meinen 
Befund  an  der  Hand  ähnliche)  Fälle  zu  kontrollieren. 


OEFFENTLICHE  GESUNDHEITSPFLEGE. 

Das  Krankenhaus  Lilienfeld. 

Ein  Beitrag  zur  Frage  der  Regelung  des  Krankenhauswesens 
auf  dem  flachen  Lande. 

Von  Dr.  Franz  Seliönlniuer,  Direktor  des  k.  k.  Wilhelmineuspitales. 

In  jüngster  Zeit  habein  maßgebende  Stellen  die  Absicht 
geäußert,  nebst  einer  durchgreifenden  Regelung  des  Wiener 
Spitalswesens  auch  die  Anstaltsverhältnisse  am  flachen  Lande 
einheitlich  zu  gestalten.  Die  nachfolgende  Schilderung  des  Werde¬ 
ganges  und  der  Ausgestaltung  eines  kleinen  Krankenhauses  am 
Lande  wurde  in  der  Absicht  geschrieben,  um  zu  zeigen,  wie 
schwer  es  bisher  war,  an  mit  Glücksgütern  nicht  sonderlich 
gesegneten  Orten  Krankenhäuser  zu  schaffen,  obwohl  gerade 
an  solchen  Orten  naturgemäß  das  Bedürfnis'  danach  ein  beson¬ 
ders  dringendes  ist.  Es  muß  daher  jede  Neuordnung,  die  die 
Fürsorge  für  das  Krankenhaus  wesen  den  einzelnen  Gemeinden 
abnehmc-n  und  einer  größeren  Allgemeinheit  (Staat  oder  Land, 
eventuell  auch  Bezirk)  übertragen  will,  begrüßt  werden. 

Das  Krankenhaus  Lilienfeld  kann  darauf  himveisen,  daß 
es  als  Erstes  in  Niederösterreich  diesem  Gedanken  seine  Ent¬ 
stehung  verdankt. 

Die  offenkundige  Lnzulängiichkeit  der  bestehenden  Not¬ 
spitäler.  'bzw.  der  gänzliche  Mangel  solcher  im  Bezirke  bil¬ 
deten  riür  die  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  Lilienfeld  schon  in 
den  Jahren  1897  bis  1899  dein  Ausgangspunkt  für  Studien,  auf 
welche  Art  am  zweckmäßigsten  und  vorteilhaftesten  diesen  Uebel- 
s  fänden.  bzw.  Mängeln  gründlich  abgeholfen  werden  könnte. 
Während  einer  Typhusepidemie  in  den  Jahren  1897  bis  1899 
wurden  mit  den  damals  bestandenen,  ganz  unzulänglichen  Not¬ 
spitälern  die  schlechtesten  Erfahrungen  gemacht.  Die  soge¬ 
nannten  Notspitäler  waren  vielfach  an  den  Flußläufen  und  Bächen 
oberhalb  der  Ortschaften  gelegen,  im  schlechtesten  Bauzustande, 
entbehrten  der  primitivsten  Einrichtungen  für  Pflege  und  War¬ 
tung  der  Patientein.  Sic  bildeten  daher  beim  Belag  erwiesener¬ 
maßen  mehrfach  geradezu  den  Ausgangspunkt  weiterer  Erkran¬ 
kungen  und  wurden  von  den  Patienten  derart  gefürchtet,  daß  es 
fast  unmöglich  wurde,  sie  zu  belegen.  Die  Behörde  gewann  daher 
die  Ueberzeugung,  daß  es  entschieden  besser  sei,  die  vorhandenen 
Notspitäler  gänzlich  aufzulassen  und  dieselben  durch  ein  von 
mehreren  Gemeinden  gemeinsam  zu  errichtendes,  größeres,  den 
'modernen  Anforderungen  entsprechendes  Krankenhaus  zu  er¬ 
setzen.-  Die  Lösung  dieser  Frage  war  um  so  dringlicher,  als  hei 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


häufigerem  Auftreten  auch  anderer  Infektionskrankheiten  die  Iso¬ 
lierung  der  Kranken  auf  bedeutende  Schwierigkeiten  stieß  und 
die  teilweise  Unmöglichkeit  einer  solchen  Isolierung  zu  weiteren 
Erkrankungen  Anlaß  gab.  Der  Umstand,  daß  die  nächstgelegenen 
Krankenhäuser  Mariazell  und  St.  Pölten  achtzig  Kilometer  von¬ 
einander  entfernt  sind,  wurde  zu  einem  schwerwiegenden  schon 
dadurch,  daß  es1  sich  Unter  den  gegebenen  Verhältnissen  gar  nicht 
empfahl,  Kranke  in  diese  Nachbarspitäler  zu  weisen,  weil  deren 
häufige  Ueberfüllung  die  Aufnahme  von  Kranken  recht  zweifel¬ 
haft  machte.  Im  weiteren  wirkten  noch  andere  Momente  be¬ 
stimmend  für  die  vorerwähnte  Richtung  zur  Regelung  der  Spitals¬ 
frage  und  es  mag  wohl  genügen,  wenn  auf  die  vielfach  schlechten 
und  beschränkten  Wohnungsverhältnisse,  welche  die  isolierungs- 
mäßnahmen  außerordentlich  behinderten,  ferner  auf  die  Schwie¬ 
rigkeit  des  Krankentransportes,  weiters  auf  die  zahlreichen  Un¬ 
fälle  in  den  Fabriken  und  der  Forstwirtschaft,  welch  beide  be¬ 
triebe  hohe  ’Verletzungsprozente  zu  verzeichnen  haben,  endlich 
auf  den  großen  Fremdendurchzug  während  der  Wallfahrtszeit 
hingewiesbn  wird.  Die  Anerkennung  aller  dieser  von  der  Behörde 
zutage  beförderten  Momente  und  das  gleiche  Streben  eine  gründ¬ 
liche  Lösung  der  schwebenden  Frage  zu  gewinnen,  führte  nach 
mehrjährigen  mühevollen  Verhandlungen,  ursprünglich  die  Ge¬ 
meinden  Lilienfeld,  Traisen.  Türnitz,  Eschenau  und  St.  Veit  an 
der  Gölsen  zusammen1.  Die  Delegierten  dieser  Gemeinden  wid¬ 
meten  sich  den  erforderlichen  Vorstudien;  hiebei  wurde  von  vorn¬ 
herein  das  Prinzip  der  Zusammentretung  mehrerer  Gemeinden 
als  das  einzig  Richtige  für  eine  gemeinsame  Aktion  der  Spitalsr 
Errichtung  anerkannt.  Als  Grundsatz  für  die1  Vereinigung  wurden 
zwei  Bedingungen  gestellt : 

1.  Enthebung  der  beteiligten  Gemeinden  von  der  Verpflich¬ 
tung  Notspitäler  zu  erbauen  und  zu  erhalten; 

2.  Verleihung  des  Oeffentlichkeitsrechtes  an  die  zu  errich¬ 
tende  Anstalt. 

Ersterer  Bedingung  wurde  durch  den  Statthaltereierlaß  vom 
23.  April  1900,  Z.  23.323  im  Sinne  des  Reichssanitätsgesetzes 
und  der  Durchführungsverordnung  vom  Jahre  1884  entsprochen. 

Das  Oeffentlichkeitsrecht  wurde  der  Anstalt  bald  nach  der 
Eröffnung  des  Betriebes  verliehen. 

Die  weiteren  Studien  galten  der  Wahl  des  Platzes,  der 
Durchführungsart  der  baulichen  Anlage  in  bezug  auf  Ausdehnung 
nebst  Einrichtung  und  den  damit  verbundenen  Kostenaufwand, 
wie  endlich  den  zu  schaffenden  Berechnungsgrundlagen  für  die 
aus  Projekten  verschiedener  Größe  zu  erwartenden  Betriebsein¬ 
nahmen  und  Ausgaben.  Für  'die  Art  und  Weise,  wie  die  Aufteilung 
der  ursprünglich  projektierten  Bausumme  von  100.000  Kronen 
zu  Lasten  der  einzelnen  Gemeinden  erfolgte,  war  maßgebend: 

Die  Berücksichtigung  der  räumlichen  Entfernung  der  ein¬ 
zelnen  Gemeinden  vom  Spitalssitze,  die  Zusammensetzung  der 
Bevölkerung,  wobei  den  Gemeinden  mit  vorwiegend  industriellen 
Betrieben  eine  höhere  Quote  zufiel,  die  Steuerkraft  usw.  Der 
Schlüssel,  welcher  sonach  zustande  kam,  trug  allen  besonderen 
Verhältnissen  der  einzelnen  Gemeinden  Rechnung. 

Als  Bauplatz  wurde  dem  Baukomitee  vom  Stifte  Lilien¬ 
feld  unentgeltlich  ein  vom  Orte  zirka  D/a  km  entferntes  und  süd¬ 
wärts  von  diesem  gelegenes  Grundstück  zur  Verfügung  gestellt. 
Dasselbe  eignete  sich  in  vorzüglicher  Weise  für  die  Anlage  eines 
Krankenhauses.  Der  Platz  ist  vollkommen  trocken,  da  er  ein 
16  in  über  der  Talsohle  gelegenes  Plateau  bildet,  er  befindet  sich 
in  vollkommen  windgeschützter  und  staubfreier  Lage,  ist  weit 
entfernt  von  jedem  durch  Rauch  und  Lärm  belästigenden,  Fabriks¬ 
betriebe.  Der  Krankentransport  gestaltet  sich  durch  die  unmittel- 
bnre  Nähe  der  Eisenbahnhaltestelle  Stangental  sehr  günstig,  ander¬ 
seits  ist  die  vollkommen  isolierte  Lage  der  Anstalt  und  die  Ent¬ 
fernung  von  geschlossenen  Orten  in  Hinsicht  auf  den  Infektions¬ 
pavillon  sehr  günstig.  Nach  Abschluß  der  Verhandlungen  konnte 
im  August  1902  der  Bau  in  Angriff  genommen  werden.  Im 
Rahmen  der  früher  erwähnten  Bausumme  von  100.000  K  wurden 
die  Pläne  entworfen  und  der  Bau  begonnen.  Größte  Sparsamkeit 
in  bezug  auf  Bau  und  Einrichtung  mußte  zum  Grundsatz  werden, 
sollte  mit  dieser  Summe  das  Auslangen  gefunden  werden.  Dies' 
liatte  zur  Folge,  daß  bei  der  Projektverfassung  auf  die  Forderungen 
der  modernen  Krankenhaushygiene  nur  in  bescheidenstem  Maße 
Rücksicht  genommen  werden  konnte.  Die  Hochherzigkeit  zahl¬ 
reicher  Spender,  die  unermüdliche  Tätigkeit  eines  Damenkomitees, 
welches  die  gesamte  Kücheneinrichtung  und  Krankenwäsche  so¬ 
wie  zahlreiche  Krankenpflegeartikel  beschaffte,  setzten  das  Bau¬ 
komitee  während  des  Baues  in  die  Lage,  nachträglich  noch 
eine  Reihe  spitalhygienischer  Forderungen  zu  erfüllen  und 
dadurch  das  Krankenhaus  in  den  Rahmen  moderner  Kranken¬ 
anstalten  einzufügen.  Es  konnte  anstatt  einer  Brunnenanlage 
das  Krankenhaus  an  die  bereits  bestehende  Gemeindewasser¬ 


leitung  angeschlossen  werden,  die  zu  diesem  Zwecke  um  zirka 
1  km  verlängert  werden  mußte.  Es  konnte  ferner  die  ganze  An¬ 
stalt.  mit  einer  zentralen  Warm  Wasserleitung  versehen  werden 
Anstatt  der  ursprünglich  projektierten  Holzfußböden  wurden  in 
sämtlichen  Krankenzimmern  Korkstein-Linoleumfußböden  gelegt, 
die  sich  bisher  ausgezeichnet  bewährten  und  wohl  als  die  hy¬ 
gienisch  besten.  Fußböden  erklärt  werden  müssen.  Sie  sind  fuß- 
warm,  schalldämpfend,  fugenlos  und  sehr  leicht  zu  reinigen, 
ln  früherer  Zeit  wurde  es  häufig  als  Uebelstand  erklärt,  daß  das 
Linoleum  sich  hebt  und  Blasen  macht,  die  als  Staubreservoirs 
und  Bakterienbrutstätten  galten.  Diesem  Uebelstande  wurde  bei 
unserer  Anstalt  durch  einen  Kitt,  welcher  Korkstein  und  Linoleum 
zu  einer  festen  Masse,  verbindet,  vorgebeugt.  Sämtliche  übrigen 
Räume  erhielten  Terrazzoböden.  Durch  die  zufließenden  Privat- 
mittel  konnte  auch  die  Einrichtung  verbessert  werden  und  wurden 
Eisen-  statt  Holzbetten  eingeführt.  Die  Wände  der  Krankenräume 
sind  bis  zü  2  m  Höhe  mit  Emaillack  gestrichen1,  Operations¬ 
zimmer  und  Nebelnräume,  ferner  die  Badezimmer,  sowie  die 
Isolierräume  sind  durchwegs  mit  Emaillack  gestrichen.  Tn  den 
Krankenzimmern  wurde  der  Emaillack  deshalb  nur  bis  zu  2  m 
Höhe  angebracht,  weil  erfahrungsgemäß  die  Mauerventilation  im 
Kranketahausbetriebe  nicht  entbehrt  werden  kann.  Das1  Kranken¬ 
haus  hat  ein  eigenes  Kanalnetz,  welches  in  die  Traisen  mündet. 
Dabei  werden  die  Abwässer  des  Infektionspavillons1  durch  eine 
Desinfektionsgrube  mit  einer  Rührvorrichtung  geleitet.  Das  Haupt¬ 
gebäude  enthält  ein  Tiefparterre,  Parterre  und  ersten  Stock’. 

Im  Tiefparterre  befinden  sich  Küche,  Geschirrkammer, 
Keller  nebst  Vorkeller  und  Eiskellerraum,  Waschküche,  Raum 
für  Schmut/wäsche,  Dienstboten-  und  Dienerwohnung,  Holz-  und 
Kohlenlager. 

Im  Parterre  Schwesternwohnung,  ärztliches  Dienstzimmer, 
ein  Krankenzimmer  für  sechs  Personen,  zwei  Krankenzimmer  für 
je  drei,  ein  Krankenzimmer  für  zwei  und  ein  Krankenzimmer  für 
eine  Person. 

Im  ersten  Stock  befindet  sich  das  Operationszimmer  mit 
Narkose-  und  SterilisationJsraum,  ferner  zwei  Krankenzimmer  für 
je  sechs  Personen  und  zwei  Krankenzimmer  für  je  drei  Kranke; 
sämtliche  Krankenzimmer  sind  durch  breite  gutbelichtete  Korridore 
zugänglich,  welche  vom  Stiegenhaus  durch  Glaswände  abge¬ 
schlossen  sind  und  daher  von  den  Rekonvaleszenten  als  Tag¬ 
raum  benützt  werden  können.  In  der  Mitte  der  rückwärtigen 
Front  befindet  sich  das  Stiegenhaus  und  rechts  und  links  von 
demselben  in  jeder  Etage  die  nötige  Zahl  von  Teeküchen,  Bade¬ 
zimmern  und  Klosetts. 

Hinsichtlich  de«  Opera tionszimmers  wäre  noch  zu  bemerken, 
daß  alle  Kanten  und  Ecken  abgerundet  sind.  Die  Heizung  des 
Ofens  erfolgt  von  einem  Nebenraum,  der  Ofen  seihst  ist  voll¬ 
kommen.  glatt  und  mit  schiefem  Dache  versehen,  so  daß  jede 
Staubansammlung  vermieden  wird.  Außer  dem  Ofen  befindet 
sich  im  Operationszimmer  kein  fixer  Gegenstand.  Selbst  die 
elektrischen  Lampen  hängen  auf  einem  transportablen  eisernen 
Gestelle. 

Unter  dem  ^Dachboden  ist  eine  im  gotischen  Stil  gehaltene 
kleine  Kapelle  eingebaut,  ein  Teil  des  Dachbodens  dient  als  Ma¬ 
gazin  für  die  Kleider  der  Kranken. 

Der  Infektibtnspavillon  enthielt  ursprünglich  in  einem  Hoch¬ 
parterre  ein  Krankenzimmer  für  zwei  Betten  und  zwei  Zimmer 
mit.  je  einem  Bett,  ein  Badezimmer,  Wärterinnenzimmer,  Klosett, 
Vorraum,  er  besitzt  zwei  separierte  Eingänge,  so  daß  er  im  Bedarfs¬ 
fälle  jederzeit  in  zwei  vollkommen'  voneinander  getrennte  Ab¬ 
teilungen  zerlegt  werden  kann.  Im  Tiefparterre1  ist  eine1  Wagen¬ 
remise  für  zwei  Sanitätswägen  und  eine  zweikammerigei  Des¬ 
infektionsanlage  untergebracht.  Die  Beheizung  des  ganzen 
Krankenhauses  erfolgt  durch  Wienerberger- Ziegel  Öfen ,  die  ent¬ 
sprechend  der  Größe  der  Zimmer  dimensioniert  sind.  Die  künst¬ 
liche  Beleuchtung  der  Anstalt  erfolgt  ausschließlich  durch  elek¬ 
trisches  Licht. 

Da  das  Grundstück,  welches  für  den  Bau  zur  Verfügung  ge¬ 
stellt  wurde,  1  ha  und  32  a  betrug,  blieb  nach  Ausführung  des 
Baues1  noch  ein  umfangreicher  Platz  für  eine  Gartenanlage,  ln 
derselben  befindet  sich  auch  ein  kleiner  Nadelwald,  welcher 
heim  Bau  erhalten  werden  konnte  und  daher  im  Sommer  während 
der  heißen  Tageszeiten  für  die  Rekonvaleszenten  willkommene, 
kühle  Ruhepunkte  bildet. 

Die  erhöhte  Lage  der  ganzen  Anlage  gewährt  von  allen 
Punkten  liebliche  Aussicht,  ein  Umstand  der  für  die  psychische 
Behandlung  nicht  hoch  genug  angeschlagen  werden  kann. 

Im  Anstaltsgarten  wurde  durch  den  Zweig  verein  Lilien¬ 
feld  de's  Roten  Kreuzes  im  Jahre  1907  für  Freiluftbehandlung  der 
hiezti  geeigneten  Kranken  ein  großes  Zell  mit  den  notwendigen 
Betten  aufgestelll.  Diese  Einrichtung  wird,  solange  die  Jahreszeit 


N  r.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


171 


es  erlaubt,  in  ausgiebigem  Maße  benützt  und  stellt  einen  will¬ 
kommenen  Ersatz  für  die  fehlenden  auch  beim  kleinen  Kranken¬ 
haus  notwendigen  Terrassen  und  Liegehallen  dar.  Der  Kranken¬ 
transport.  erfolgt  durch  zwei  Sanitätswagen  modernster  Type, 
welche  gleichfalls  vom  Zweigverein  des  Roten  Kreuzes  beigestellt 
wurden.  Der  eine  dient  für  den  Transport  gewöhnlicher  Kranker, 
während  der  zweite  für  den  Infektionskrankentransport  einge¬ 
richtet  ist  und  nur  dafür  benützt  wird.  Die  Beistellung  der  Be¬ 
spannung  erfolgt  durch  einen  nur  wenige  Minuten  vom  Kranken¬ 
haus©'  entfernten  Fuhrwerksbesitzer,  so  daß  schon  wenige  Mi¬ 
nuten  nach  Einlangen  der  telephonischen  Berufung  der  Wagen 
zur  Abfahrt  bereit  steht;  auf  diese  Weise  erscheint  der  Kranken¬ 
transport  gut  geregelt  und  funktioniert  auch  klaglos. 

Wie  bereits  erwähnt,  haben  die  Gemeinden  Lilienfeld, 
Traisen,  Türnitz,  St.  Veit  und  Eschenau  mit  ihrer  Beitragsleistung 
von  lOü.OOO  K  in  erster  Linie  die  Realisierung  des  Krankenhaus¬ 
projektes  ermöglicht.  Zu  diesen  gesellten  sich  nun  weitere  Ger 
meinden  des  politischen  Bezirkes,  welche  durch  ihre  Vertre¬ 
tungen  erklärten,  an  dem  Besitzrecht  der  Anstaltsgebäudei  und 
Grundstücke  nicht  partizipieren  zu  wollen,  sich  dagegen  ver¬ 
pflichteten,  jährliche  Subventionen  in  dem  Zeiträume  von  vier¬ 
undfünfzig  Jahren,  welcher  für  die  Amortisierung  des  von 
den  Stammgemeinden  aufgenommenen  Schuldkapitales  notwendig 
ist.  dem  Betriebsfonds  zur  Disposition  zu  stellen.  Demgemäß 
wurde  diesen  Gemeinden  das  gleiche  Recht  der  Aufnahme  Infelc- 
tionskranker  wie  den  Verbandsgemeinden,  insolange  im  Infek¬ 
tionspavillon  Platz  vorhanden  ist,  bzw.  bei  Epidemien  durch  Auf¬ 
stellung  von  Baracken  Platz  geschaffen  werden  kann,  durch  den 
Krankenhausverband  gewährleistet.  Es  waren  dies  die  Gemeinden: 
St.  Aegyd,  Anna-berg,  Hohenberg  und  Klein-Zell.  Der;  Kranken¬ 
hausverband  hat  diesen  Gemeinden  statutengemäß!  das  Recht 
eingeräumt,  je  einen  Delegierten  in  das  Kuratorium  zti  entsenden, 
welchem  jedoch  nur  beratende  Stimme  zukommt. 

Das  rechtliche  Verhältnis  der  Gemeinden  zum  Kranken¬ 
haus  regeln  die  §§  1  bis  4  des  Statutes,  welches  mit  Statthalterei¬ 
erlaß  vom  5.  Dezember  1906,  Z.  VI-1783  genehmigt  wurde.  Die 
Paragraphen  lauten: 

"  '  §  1.  Das  Krankenhaus  in  Lilienfeld  wurde  aus  dem  von 
den  Gemeinden  Eschenau,  Lilienfeld,  St.  Veit,  Traisen  und  Tür¬ 
nitz,  welche  zu  diesem  Zwecke  zu  einem  Krankenhausverbandei 
sich  vereinigt  haben,  aufgebrachten  Betrage  von  100.000  K,  von 
denen  50.000  K  als  Stammkapital  gewidmet  wurden  und  aus 
freiwilligen  Spenden  errichtet  und  führt  den  Namen:  „Allge¬ 
meines  öffentliches  Krankenhaus  Lilienfeld.“ 

§  2.  Dieses  allgemeine  öffentliche  Krankenhaus  ist  auch 
bestimmt,  den  obgenannten  Gemeinden  als  Notkranken-  rmd 
Isolierlokal  im  Sinne  des  Reichssanitätsgesetzes  und  der  Statt¬ 
haltereiverordn  unig  vom  4.  Februar  1884,  Z.  57.144  zu  dienen 
und  dürfen  daher  die  in  den  Verbandsgemeinden  bestehenden 
Not-  und  Isolierspitäler  auf  die  Dauer1  des  Spitalsbestandes  auf¬ 
gelassen  werden.  Gemeinden,  welche  nicht  dem  Kranken haus- 
verbande  angehören,  können  sich  die  Aufnahme  Infektionsmankei 
auf  Grund  eines  freien  Uebereinkommens  mit  dem  Krankenhaus- 
verbande  sichern.  Dieses  Uebereinkommen  bedarf  der  Genehmi¬ 
gung  der  politischen  Bezirksbehörde  und  dient  sodann  auch  für 
die  betreffenden  Gemeinden  das  Krankenhaus1  als  Not-  und  Iso¬ 


lierspital.  _  ...  , 

§  3.  Die  genannten  Gemeinden  übernehmen  die  .  Verpflich¬ 
tung 'zur  Instandhaltung  des  Krankenhauses  mit  den  in  §  4  er¬ 
wähnten  Mitteln  und  zur  genauen  Erfüllung  der  für  Kranken¬ 
anstalten  bestehenden  sanitätspolizeilichen  und  hygienischen  Vor¬ 


schriften.  ■  1 

§  4.  Der  Aufwand  der  allgemeinen  und  besonderen  Verpriegs- 
auslagen  sowie  der  mit  dem  Bestand  der  Krankenanstalt  Ver¬ 
bundenen  Auslagen  überhaupt,  wird, :  1.  Aus  den  Verpflegsge- 
hühren;  2.  aus  den  Subventionsbeiträgen  jener  Gemeinden,  mit 
welchen  ein  Vertragsverhältnis  besteht  auf  die  Dauer  desselben  ; 
3.  aus  eventuellen  weiteren  Widmungen  und  falls  diese  sub  1,  2,  3 
genannten  Einnahmen  nicht  ausreichen;  4.  aus  den  Mitteln  der 
sub  §  1  genannten  Gemeinden  im  perzentuellen  Verhältnisse 
des  geleisteten  Baubeitrages  bestritten. 

Die  Gesamtbaukosten  inklusive  des  Wertes  aller  Natural-  und 
Geldspenden  betrugen  150.800  K.  Somit  pro  Bett  viertausend¬ 
fünf  Undsiebsig  (4075)  Kronen.  Die  Spenden  betrugen  26.000  K, 
davon  11.000  K  aus  Industriekreiseln.  Für  einen  Kenner  der  lo¬ 
kalen  Verhältnisse  des  Bezirkes  mag  es  auffallend  erscheinen, 
daß  bei  der  zahlreichen  Industrie  die  Krankenhausaktion  von 
diesen  am  Krankenhausbelage  zunächst  interessierten  Kreisen 
keine*  ausgiebigere  materielle  Förderung  erfahren  hat.  Dieser 
Einwand  wurde  vielfach  gemacht.  Von  seiten  der  Vertreter  der 
Industrie  wurde  aber  die  teilweise  indifferente  oder  ablehnende 


Haltung  damit  begründet,  daß  die  Industrie  von  der  sozialen  Für¬ 
sorge  ohnehin  bei  der  Kranken  und  Unfallversicherung  stark  in 
Mitleidenschaft  gezogen  sei,  daß  ferner  lie  Fabriksbetriebe  als 
große  Steuerträger  bei  der  Beitragsleistui  •  der  Gemeinden  haupt¬ 
sächlich  in  Frage  kommen,  ferner  daß  di-  Lösung  der  Kranken¬ 
hausfrage  aus  prinzipiellen  Gründen  den  ü;: entliehen  Faktoren 
überlassen  bleiben  müsse.  Endlich  haben  die  Industriellen,  welche 
Betriebskrankenkassen  hatten,  angeblich  auf  Grund  ihrer  dies¬ 
bezüglichen  Erfahrungen,  vielfach  eingewendet,  daß  kleine  Land¬ 
spitäler  häufig  nur  eine1  Zufluchtstätte  arbeitsscheuer  Va  mbunden 
seien. 

Ueber  die  Betriebsergehnisse  der  erstem  drei  Beiriobsjah; « 
äußert  sich  der  dem  Kuratorium  erstattete  ärztliche  Bericht  wie 
folgt : 

„Der  chirurgischen  Behandlung  wurden  468,  der  medizi¬ 
nischen  647  Patienten  unterzogen.“  Eine  eingehende  Besprechung 
der  einzelnen  Krankheitsformen  behalte  ich  mir  für  den  ange¬ 
kündigten  Trienniumsbericht  vor.  Heute  sollen  nur  die  häufigsten 
und  wichtigsten  angeführt  werden.  Es  wurden  unter  anderen  bis 

1.  Januar  1906  behandelt: 

170  Verletzungen; 

69  Zellgewebsentzündungen ; 

17  Blinddarm-  und  Bauchfellentzündimgeh ; 

18  Hernien  (Brüche) ; 

25  Neubildungen  ; 

46  Erkrankungen  der  weiblichen  Geschlechtsorgane ; 

76  Rheumatismen; 

55  Bronchialkatarrhe; 

16  Typhus1; 

37  Diphtherie; 

44  Tuberkulose; 

30  Lu ngenentzü  nd ungern ; 

38  Herzkrankheiten1. 

Bis  zum  heutigen  Tagei,  das  ist  3.  Dezember  1906  wurden 
294  Operationen  ausgeführt.  Hierunter  befinden  sich: 

47  Leisten-,  Schenkel-,  Nabel-  und  Bauchwandbrüche; 

24  Blinddarm-  und  Bauchfellentzündungen  ; 

25  Neubildungen  (hieivon  fünf  durch  Laparotomie  [Bauab¬ 
schnitt])  ; 

15  Amputationen; 

45  wegen  Lymphgefäß-,  Lymphdrüseneiterungen,  Abszesse 
u  nd  Zell g ewebsentz ün d ungen ; 

40  wegen  Verletzung  der  Weichteile  und  Knochen; 

25  wegen  Verrenkungen  und  Knochenbrüchen ; 

2  Luftröhrenschnitte; 

1  Trepanation  (Eröffnung  des  Warzenfortsatzes) ; 

16  Operationen  bei  Frauenkrankheiten  ohne  Eröffnung  der 
Bauchhöhle. 

Von  den  operativ  behandelten  Kranken  starben : 

1  Ein  Mahn  nach  der  Operation  eines  eingeklemmten 
Leistenbruches  am  vierten  Tage  an  hinzugetretener  Lungenent- 

ziindumlg.  >  .  „  ,  !.,  .  '  ...  , 

2.  Ein  Knabe  an  Hirnhautentzündung  infolge  eitriger  Mittel¬ 
ohrentzündung,  der  erst,  nach  14tägiger  Krankheitsdauer  m 
Snitalsbehandluhg  kam.  Die  sofort  vorgehounrtene  Oeffnung  des 
Warzenfortsatzes  konnte  die  bereits  bestehende  Hirnhautentzün¬ 
dung  nicht  mehr  beeinflussen. 

3.  Ein  Knabe  und  'zwei  Mädchen,  welche  mit  ditiusei 
eitriger  Bauchfellentzündung  zur  Behandlung  kamen.  Die  üb¬ 
rigen  wurden  geheilt  entlassen. 

Mit  den  angeführten  Zahlen  glauben  wir  den  Beweis  er¬ 
brächt  zu  haben,  daß  die  ärztliche  Tätigkeit  bisher  eine  recht 
umfangreiche  war  und  daß  die  in  der  Anstalt  erzielten  Erfolge 
nicht  hinter  denen  anderer  Krankenhäusler1  Zurückbleiben.  Jeden¬ 
falls  aber  dürfen  wir  für  uns  das  Verdin  st  in  Anspruch  nehmen, 
daß  wir  ans  der  Anstalt  keine  bloße  Verpflegerrast  oder  ein 
Heim  der  Arbeitsscheuen  gemacht  haben.  Vielleicht  dürfte  damit 
die  Anstalt  sich  auch  das  Wohlwollen  und  die  Forderung  jener 
achtbaren  Kreise,  erwerben,  die  wegen  solcher  Befürchtungen  c  ei 
Gründung  sich  wid ersetzten. 

Der  Isolierpavillon  hat  dein  bisherigen  Bedürfnissen  im 
allgemeinein  entsprochen.  Es  wurden  daselbst  im  Iahre_  1903 
12  Kranke  mit  139  Vemtlegstagen ;  im  Jahre-  1904  24  Kranke 
mit  489  Vcrpflagstngch ;  im  Jahre  1905  52  Kranke  mit  940  \er- 
pflegstagen  behandelt.  Es  waren  Somit  während  der  ganzen  Zeit 
durchschnittlich  zwei  Infektionskranke  pro  Tag  daselbst  unter-, 
gebracht,  darunter  16  Typhus,  37  Diphtherie,  4  Masern,  11.  Rot¬ 
lauf.  Wie  im  Verwaltungsberirhte  mitgeteilt  wurde,  betrug  m 
der  Berichtszeit  der  durchschnittliche  Belag  der  Anstalt  45  Kranke, 
,1.  i.  täglich  21°-*  TVhorbrlag.  Dazu  komm!  noch,  daß  häufig  auf- 
nahmesuchendr  Patienten  wegen  absoluten  Platzmangels  aog'm .  * 


172 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  5 


sen  werden  mußten.  So  sehr  diese  übermäßige  Inanspruchnahme 
des  Krankenhauses  im  Interesse  der  finanziellen  Gebarung  ge¬ 
legen  ist  und  beweist,  daß  mit  der  Gründung  desselben  einem 
wirklichen  Bedürfnisse  entsprochen  wurde,  so  kann  der  für 
den  klaglosen  Krankenhausbetrieb  verantwortliche  Leiter  die¬ 
selbe  doch  nicht  begrüßen,  und  wird  es  Aufgabe  der  nächsten 
/.eit  sein,  Mittel  und  Wege  zu  finden,  um  den  Anforderungen 
genügende  Krankenunterkunftsräume  zu  schaffen.  Ich  hoffe,  daß 
die  im  Zuge  befindlichen  Verhandlungen  bald  zum  Ziele  führen 
werden. 

Die  unbedingt  notwendige  Ausgestaltung  und  Vergrößerung 
des  Krankenhauses  muß  hauptsächlich  von  folgenden  Gesichts¬ 
punkten  ausgehen: 

1.  Ist  eine  den  gesteigerten  Anforderungen  und  der  damit 
verbundenen  Vermehrung  des  Pflegepereonales  entsprechende 
Wohnung  zu  schaffen,  wodurch  die  derzeitige  Wohnung  für 
Krankenzwecke  verfügbar  würde. 

2.  Die  Waschküche  ist  aus  dein  Hauptgebäude  zu  verlegen 
und  der  freiwerdende  Raum  als  Röntgenzimmer  einzurichten. 

Die  bei  der  Errichtung  des  Hauses  zur  Verfügung  stehen¬ 
den  bescheidenen  Baumittel  bedingten  zwar  die  Benützung  des 
Tiefparterres  für  die  Wirtschaftsräume,  die  Waschküche  schädigt 
aber  die  Luftreinheit  im  Hause  in  auffallender  und  recht  empfind¬ 
licher  Weise.  Die  Notwendigkeit  der  Einrichtung  eines  Röntgen¬ 
zimmers  ergibt  sich  wohl  am  besten  daraus,  daß  in,  dem  relativ 
kurzen  Zeitraum  170  Verletzungen  aufgenommen  wurden. 

3.  Ein  Arbeitszimmer  der  Aerzte  für  mikroskopische  und 
chemische  Untersuchungen  ist  dringend  notwendig. 

4.  Die  Tuberkulösen  und  die  an  Krebs  Leidenden  sollen 
nicht  im  Hauptgebäude  untergebracht  sein. 

Diesen  Forderungen  kann  einerseits  durch  Vergrößerung 
des  Infektionspavillons  oder  Amgliederung  eines  zweiten  Ge¬ 
bäudes  an  denselben  und  durch  Errichtung  eines  kleinen  Wirt¬ 
schaftsgebäudes  entsprochen  worden.  Im  Wirtschaftsgebäude 
wären  Schwestemw ohnungen ,  Waschküche  und  ärztliches  Arbeits¬ 
zimmer  unterzubringen,  im  zweiten  Isoliergebäude  Tuberkulose- 
und  Krebsleidende,  die  bei  fehlender  Isolierung  einerseits  für  • 
andere  Kranke  eine  gewisse  Gefahr  bilden,  anderseits  durch 
ihre  Ausdünstungen  auch  überaus  belästigen.  Durch  die  frei¬ 
werdende  Pflcgerinnenwohnung,  sowie  die  Isolierung  der  Ivrebs- 
und  Tuberkulosekranken  würde  im  Hauptgebäude  ausreichend 
Raum  geschaffen  und  dadurch  dem  bestehenden  Platzmangel  in 
einwandfreier  Weise  abgeholfen. 

Durch  die  Angliederung  eines  zweiten  Isoliergebäudes  _  an 
das  bestehende  würde  der  Betrieb  sich  wesentlich  rationeller 
gestalten,  da  die  vorhandenen  Fflegeschwestern  in  umfang¬ 
reicherer  Weise  beschäftigt  werden  könnten  und  die  Kosten  des 
einzelnen  Kränken  sich  reduzieren  würden.  Gegenwärtig  kommt 
der  einzelne  Kranke  im  Isoliergebäude  pro  Tag  auf  vier  bis 
fünf  Kronen,  so  daß  sich  ein  tägliches  Defizit  von  zwei  bis  drei 
Kronen  ergibt,  welches  aus  dem  Betriebe  des  Hauptgebäudes 
gedeckt  werden  muß. 

Hierin  finden  die  Herren  bestätigt,  was  ich  vor  Jahren  immer 
wieder  betont  und  in  den  dem  Gründungskomitee  vorgelegten 
Berechnungen  zum  Ausdruck  gebracht  habe,  daß  der  Betrieb 
eines  kleinen  Isolierepitales  bedeutende  Kosten  verursacht,  -die 
nur  durch  Angliederung  an  ein  öffentliches  Krankenhaus  aus¬ 
geglichen  werden  können. 

Möge  der  berechtigte  und  dringende  Wunsch  nach  Aus¬ 
gestaltung  des  Krankenhauses  bald  Erfüllung  finden.“  - 

Der  im  Schlußsatz  des  ärztlichen  Berichtes  ausgesprochene 
Wunsch  nach  Erweiterung  der  Anstalt  konnte  vorerst  seine  Er¬ 
füllung  mangels  der  nötigen  finanziellen  Mittel  nicht  finden.  Erst 
im  Jahre  1908  konnte  durch  den  mit  einer  Summe  von  25.000  K 
erfolgten  Beitritt  der  Gemeinde  Hainfeld  und  da  der  Erweiterungs¬ 
fonds  und  das  Werfabschreibungskonto  bereits  ca.  12.000  K  er¬ 
reicht  hatten,  an  die  Verwirklichung  gedacht  werden.  Außerdem 
wurden  mit  den  vier  noch  nicht  dem  Krankenhausverbande  an- 
gehörigen  Gemeinden  Ka.rmberg.  R  am  sau,  Rohrbach  und  Mitter¬ 
bach  Verhandlungen  eingeleitet,  die,  wie  der  Verwaltungsbericht 
pro  1909  konstatiert,  zu  dem  Ziele  führten,  daß  ah  1910  alle  Ge¬ 
meinden  des  politischen  Bezirkes  dem  Krankenhausverbande  an¬ 
geboren.  Aus  den  nunmehr  zur  Verfügung  stehenden  Mitteln  wurde 
die  im  vorerwähnten  ärztlichen  Berichte  von  1903  gewünschte 
Erweiterung  des  Spitales  (Vergrößerung  dos  Infektionspavillons 
und  Hau  eines  Wirtschaftsgebäudes,  mit  Schwestemwohnung, 
Wäscherei,  Laboratorium  und  Leichcnkammer)  durch  geführt  und 
bereits  der  Benützung  übergeben.  Der  Bau  eines  zweiten  Infek¬ 
tionspavillons  anstatt  der  Vergrößerung  des  bestehenden  mußte, 
so  sehr  derselbe  aus  sachlichen  Gründen  wünschenswert  ge¬ 


wesen  wäre,  mit  Rücksicht  auf  die  wesentlich  höheren  Bau-  und 
Betriebskosten  unterbleiben. 

Es  bedurfte  somit  einer  mehr  als  zehnjährigen  Arbeit, 
um  eine  Aktion  zum  befriedigenden  Abschluß  zu  bringen,  deren 
Notwendigkeit  und  Nützlichkeit  von  allem  Anfang  an  von  den 
berufenen  Faktoren  anerkannt,  deren  Durchführung  aber  mangels 
vorhandener  Mittel  und  beim  Fehlen  gesetzlicher  Handhaben  zur 
raschen  Beschaffung  derselben,,  erst  nach  langen,  mühevollen 
Verhandlungen  möglich  wurde.  Es  ist  daher  zweifelsohne,  wie 
ja  eingangs  erwähnt  wurde,  wärmstens  zu  begrüßen,  wenn  die 
Krankenhausfürsopge  auf  dem  flachen  Lande- in  der  Weise  ge¬ 
regelt  wird,  daßi  den  einzelnen  Gemeinden  die  Last  der  Errichtung 
und  Erhaltung  eines  Spitales  abgenommen  und  der  Allgemein¬ 
heit  übertragen  wird.  Die  Vorteile  dieser  Neuregelung  werden 
den  Gemeinden  und  den  Kranken,  deren  Wohl  hei  Errichtung  der 
Krankenhäuser  ja  in  erster  Linie  in  Frage  kommt,  gleichermaßen 
zugute  kommen.  Die  soziale  Fürsorge  wird  nach  der  Neurege¬ 
lung  einen  gewaltigen  Schritt  vorwärts  gemacht  haben. 


Sammelreferat. 

Tuberkulose. 

Von  Dr.  M.  YYeisz. 

Der  auf  allen  Linien,  aufgenommene  Kampf  gegen  die  Tuber¬ 
kulose  hat  zwar  diese.  Krankheit  noch  nicht  mit  Stumpf  und 
Stiel  ausgerottet,  daß  er  aber  nicht  vergeblich  geführt  wird, 
zeigen  die  Statistiken,  welche  ein  allgemeines  Herabgehen  der 
Tuherkulosesterblichkeit  konstatieren  lassen.  Aber  nicht  bloß  die 
starke  Verminderung  der  Mortalitätsziffern  gibt  ein  deutliches 
Bild  von  der  Wirksamkeit  dieses  Kampfes,  auch  in  den  Erkran- 
kungsziffern  an  Tuberkulose  kann  man  den  innigen  Zusammen¬ 
hang  zwischen  hygienischen  und  sozialen  Vorkehrungen  und 
dem  Gesundheitszustände  der  Menschen-  deutlich  erkennen.  Wie 
B.  Fraenkel1)  feststellt,  ist  die  Verhältniszahl  der  Erkrankungen 
an  Tuberkulose  vom  Jahre  1875  bis  zum  Jahre  T909  in  Berlin 
von  31-90  auf  15-59%o,  also  auf  die  Hälfte,  gesunken.  In  seinem 
letzlen  Vortrage  in  der  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin 
ging  Roh.  Koch2)  auf  die  Ursache  dieser  Erscheinung  näher 
ein.  Es  kommen  für  ihre  Erklärung  mehrere  Umstände  in  Be¬ 
tracht:  Die  größere  Vorsicht  im  Verkehr  mit  Tuberkulösen  nach 
der  Entdeckung  der  Tuberkelbazillen,  die  hygienisch  -  diätetische 
Behandlung  der  Lungentuberkulose,  vor  allem  aber  die  Unter¬ 
bringung  der  Schwertuberkulösen  in  eigenen  Krankenhäusern 
oder  Asylen.  Der  Kampf  gegen  die  Tuberkulose  müsse  insbe¬ 
sondere  in  der  Richtung  weiter  ausgebaut  werden,  daß  Tuber¬ 
kuloseheime  in  immer  größerer  Zahl  geschaffen  werden.  Weiter¬ 
hin  kommt  die  Besserung  der  Wohnungsverhältnisse  in  Betracht, 
da  erfahrungsgemäß  dort  die  größte  Sterblichkeit  an  Tuberkulose 
herrscht,  wo  die  Schlafräume  den  hygienischen  Anforderungen 
am  wenigsten  entsprechen.  Dieser  Faktor  fällt  bei  der  Morbidität, 
und  Mortalität  an  Tuberkulose  viel  mehr  ins  Gewicht,  als  Armut 
und  die  Nachteile  des  städtischen  Lebens.  Die  Verfolgung  der 
Sterhlichkeitskurve  gibt  die  besten  Anhaltspunkte,  ob  die  ge¬ 
troffenen  Maßnahmen  hinreichen  oder  nicht.  Als  in  New  York 
die  Sterhlichkeitskurve  anfing,  flacher  zu  werden,  war  dies  für 
die  Stadtverwaltung  die  Veranlassung,  die  Zahl  der  Betten  für 
Schwindsüchtige  von  2500  auf  5000  zu  erhöhen.  Die  geringste 
bisher  verzeichnete  Sterblichkeit  zeigt  Osterode  im  Bezirke 
All  enstein  mit  7-2  auf  10.000.  Das  Bestreben  müsse  darauf 
gerichtet  sein,  die  Schwindsuchtmortalität  noch  weiter  herab¬ 
zusetzen  und  schließlich  ein  Niveau  zu  erreichen,  welches  wo¬ 
möglich  noch  tiefer  liegt,  als  das  niedrigste  zur  Zeit  bestehende. 

Je  deutlicher  man  -mit  Hilfe  der  neueren  diagnostischen 
Untersuchungsmethoden  erkannt  hat,  daß  der  überwiegend  größte 
Teil  der  erwachsenen  Menschen  als  tuberkuloseinfiziert  anzuseheu 
ist,  um  so  mehr  drängt  sich  das  Bedürfnis  nach  einer  Erklärung 
der  Tatsache  auf,  daß  immer  nur  ein  Teil  der  Menschen  an 
Schwindsucht  erkrankt  und  stirbt,  während  der  größte  Teil  von 
dieser  Krankheit  frei  bleibt.  Die  Frage  ist  auf  das  innigste  mit 
der  noch  immer  ungelösten  Dispositionsfrage  verknüpft.  Freund 
und  seine  Schule  machen  bekanntlich  die  Stenose  der  oberen 
Brustapertur  in  erster  Linie  für  die  Etablierung  der  Tuberkulose 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


17S 


in  den  Lungenspitzen  verantwortlich.  Diese  Abweichung  von  der 
Norm  leistet  infolge  der  daselbst  herrschenden  schlechten  Zirku¬ 
lationsverhältnisse  der  Ansiedlung  und  Vermehrung  der  Tuberkel 
bazillen  Vorschub.  Hart,3)  welcher  die  Freundsehen  Befunde 
durch  zahlreiche  Nachprüfungen  bestätigt  hat,  sieht  in  der  Ste¬ 
nose  der  oberen  Brustapertur  die  wichtigste  Ursache  der  Schwind 
suchtentstehung.  Dieser  disponierende  Faktor  trete  zur  Zeit  der 
Körperreife  besonders  in  Wirksamkeit.  Seine  Ausbildung  zu  vor 
hindern  oder  wenigstens  zu  beeinflussen,  sei  eine  wichtige  Bedin¬ 
gung  für  die  erfolgreiche  Schwindsuchtbekänipfung.  Ebenso  wie 
Hart  verlangt  auch  Hausemann,4)  daßi  der  Stenose  der  oberen 
Brastapertur  bei  der  Therapie  und  noch  mehr  bei  der  Prophy¬ 
laxe  der  Lungenphthise  größere  Aufmerksamkeit  geschenkt  werde. 
Hansemann  glaubt,  daß  es  bei  frühzeitiger  Behandlung  gar 
nicht  eines  chirurgischen  Eingriffes  bedarf,  damit  sich  an  der 
obersten  Rippe  ein  Gelenk  bilde,  sondern  daß  dieses  sich  spontan 
bei  systematischer,  orthopädischer  Stärkung  der  an.  den  ersten 
Rippen  ansetzenden  Muskelbündel  herausbilden  könnte.  Ganz  be¬ 
sonders  wäre  eine  solche  Therapie  als  Prophylaktikum  bei  Kindern 
aus  phthisischen  Familien  zu  empfehlen,  bei  denen  die  Stenose 
der  oberen  Brustape-rtur  auf  hereditärer  Basis  zustande  komme. 
Wenn  eine  orthopädische  Behandlung  solcher  Kinder  im  12.  oder 
13.  Lebensjahr  in  diesem  Sinne  begonnen  und  bis  ins  20.  oder 
21.  Lebensjahr  fortgesetzt  würde,  so  könnte  das  Auftreten  typi¬ 
scher  Phthise  bis  zu  einem  gewissen,  Grade  vermieden  werden. 

Römer5)  ist  geneigt,  als  Ursache  der  sogenannten  ,,  erblichen 
Belastung"  eine  schwere  tuberkulöse  Infektion  in  der  Kindheit 
anzusehen,  gibt  aber  zu,  daß.  neben  der  Schwere  der  Kindheits¬ 
infektion  noch  additioneile  Momente  zur  Entstehung  der  Lungen¬ 
schwindsucht  beitragen,  zum  Beispiel  besondere  Krankheiten, 
in  erster  Linie  Masern,  ferner  die  eigenartigen  Bedingungen  der 
Eni wicklungsjahre  und  die  Lokalisation  der  Infektion.  Daß  aber 
trotz  der  vorhandenen  tuberkulösen  Infektion  bei  der  Mehrzahl 
der  Menschen  diese  Momente  keine  Schwindsucht  auslösen,  lasse 
die  Art  der  Kindheitinfektion  besonders  beachten. 

Die  Tatsache,  daß  der  größte  Teil  der  Menschen  am  Ende 
des  Kindesalters  schon  mit  Tuberkulose  infiziert  ist,  ergibt  sich 
aus  einer  so  großen  Anzahl  daraufhin  angestellter  statistischer 
Untersuchungen,  welche  an  verschiedenen  Orten  und  hei  ver¬ 
schiedenem  Bevölkerungsschichten  angestellt  wurden,  daß  daran 
heute  nicht  mehr  gezweifelt  werden  kann.  Im  Liebte  dieser 
Tatsache  gewinnen  experimentelle  Untersuchungen  von  Börner 
und  Joseph6)  an  Meerschweinchen,  welche  ergaben,  daß  eine 
tuberkulöse  Infektion  eine  beträchtliche  Immunität  gegen  Rein¬ 
fektion  verleiht,  besonders  an  Bedeutung.  Aus  diesen  mit  quanii- 
tativer  Kontrolle  der  zur  Infektion  und  Reinfektion  verwendeten 
Tuberkelbazillenmengen  angestellten  Untersuchungen  ist  deutlich 
zu  sehen,  wie  weit  bei  verschiedenen  Tierspezies  der  (lurch  die 
einmalige  Tuberkuloseinfektion  erzielte  Schutz  reicht,  das  heißt, 
welche  Menge  von  hei  einer  Reinfektion  einverleibten  Tuherkel- 
hazillen  noch  unschädlich  gemacht  werden  kann.  Diese  Quan¬ 
titäten  sind  gegenüber  denen,  die  einem  noch  ganz  gesunden,  noch 
„jungfräulichen“  Organismus  ohne'  Schaden  einverleibt  werden 
dürfen,  so  groß,  daß  der  durch  eine  leichte  tuberkulöse  Infektion 
verliehene  Tuberkuloseschutz  als  eine  sichere  epidemiologische 
Tatsache  angesehen  werden  muß,  welche  beim  Schutze  des  Men¬ 
schengeschlechtes  gegen  die  Tuberkulose  die  größte  Rolle  spielt. 
Dieser  natürlichen  Infektion,  welcher  kaum  ein  Mensch  entgeht, 
komme  eine  ähnliche  prophylaktische  Bedeutung  zu,  wie  etwa 
der  künstlichen  Blatternimpfung  gegen  die  schwere  Blatternerkran- 
kung.  Die  Erfahrung,  daß  Menschen  aus  Gegenden,  in  denen  Tuber¬ 
kulose  nicht  endemisch  ist,  wenn  sie  tuberkulös  werden,  besonders 
schwer  erkranken,  wie  es  z.  B.  von  den  Negern,  die  sich  in 
Städten  ansiedeln,  bekannt  ist,  illustriert  diese  Verhältnisse  auf 
das  Deutlichste.  Nach  Römer7)  ist  die  dem  Erwachsenen  gegen¬ 
über  so  schwere  tuberkulöse  Infektion  des  Säuglings  nicht  auf 
eine  besondere  physiologische  Disposition  zurückzuführen,  son¬ 
dern  darauf,  daß  ein  mit  Tuhexkclbazillen  noch  nicht  in  Berührung 
gekommener  Organismus  sich  unverhältnismäßig  hinfälliger  der 
Tulxrkelbazillenwirkung  gegenüber  erweist  wie  einer,  der  eine 
solche  Infektion  schon  einmal  erfolgreich  überstanden  hat.  Zur 
Klärung  dieser  Frage  an  Schafsäuglingen  angestellte  Experimente 
haben  keine  Prädisposition  des  Säuglings  zur  tuberkulösen  Er¬ 


krankung  ergeben,  auch  nicht  bei  Tieren,  die  bereits  in  der 
dritten  Generation  tuberkulös  waren. 

Der  durch  eine  leichte  Infektion  in  der  Kindheit  verliehene 
Tuberkuloseschätz  ist  aber  kein  absoluter  Da  eine  immerhin 
nicht  ganz  kleine  Zahl  von  Menschen  schwindsüchtig  wird,  so 
muß  diese  Immunität  zu  einer  gewissen  Zeit  des  Lebens  durch¬ 
brochen  werden.  Sowie  man  nun  bei  Tieren,  denen  Immunität 
gegen  Tuberkulose  experimentell  beigebracht  wurde,  durch  Rein¬ 
fektion  mit  entsprechenden  Tuberkelbazillenmengen  eine  chro¬ 
nische  Lungentuberkulose  erzeugen  kann,  so  entsteht  nach  R  ri¬ 
mers  Ansicht  auch  beim  Menschen  durch  Reinfektion,  sei  cs 
von  außen  oder  von  innen,  die  chronische  Lungentuberkulose. 
Diese  ist  das  Resultat  der  Wechselwirkung  zwischen  einer 
schweren  Reinfektion  und  der  Tuberkulinimmunität.  Römei 
neigt  der  Anschauung  zu,  daß  es  hauptsächlich  Reinfektionen 
von  innen  sind,  sogenannte  „metastasierende  Autoinfektion“, 
welche  die  chronische  Lungentuberkulose  des  Menschen  erzeugen. 

Römers  auf  bakteriologischem  Wege  gewonnenen  Ergeb¬ 
nisse  decken  sich  somit  mit  der  von  Behring  schon  früher  aus¬ 
gesprochenen  Ansicht,  daß  die  Lungenschwindsucht  „das  Ende 
vom  Liede  sei.  welches  dem  Kinde  schon  in  der  Wiege  ge¬ 
sungen  wird“.  Die  für  die  Prophylaxe  der  Tuberkulose  weiterhin 
von  ihm  gezogenen  Schlüsse  gipfeln  darin,  daß  vor  allem  das 
Kind  vor  einer  Infektion  zu  schützen  sei,  was  am  sichersten  durch 
seine  Entfernung  aus  dem  tuberkulösen  Milieu  öder  durch  Unter¬ 
bringung  der  als  Infektionsquelle  zu  betrachtenden  Schwertuber¬ 
kulösen  in  eigenen  Heimen  oder  Asylen,  geschieht.  Nur  dadurch 
lassen  sich  schwere  Kindheitsinfektionen,  welche  die  Grundlage 
für  die  spätere  Schwindsucht  abgeben,  vermeiden.  Für  eine 
leichte  Infektion  sorgt  das  Leben  schon  von  selbst,  so  daß  eine 
gewisse  Immunität  dem  Menschen  auch  so  zuteil  wird. 

Es  ist  nicht  uninteressant,  die1  Römerschen  Ergebnisse  mit 
klinischen  Beobachtungen  zu  vergleichen,  welche  von  Po  Hak-*), 
herrühren.  Nach  Römer  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen, 
daß  auch  beim  menschlichen,  Säugling  Infektionen  Vorkommen, 
die  sich  erst  später  durch  Tuberkülinempfindlichkeif  verraten. 
Pollak  kommt  nun  gleichfalls  zum  Schlüsse,  daß  die  Prognose 
der  Säuglingstuberkulose  in  bezug  auf  das  Ueberstehen  des  ersten 
Lebensjahres  weitaus  besser  ist,  .als  man  bisher  annahm.  Die 
Prognose  hängt  im  wesentlichen  von  der  Schwere  der  Infektion 
ah.  Als  wesentlichste  Stütze  für  die  Annahme  einer  „erblichen 
Belastung“  galt  immer  der  tuberkulöse  Habitus,  den  man  schon 
zu  einer  Zeit  fand,  wo  eine  Lungentuberkulose  noch  nicht  nach¬ 
weisbar  war.  Der  tuberkulöse  Habitus  stigmatisierte  die  Schwind¬ 
suchtskandidaten  schon  sozusagen  a  priori.  Dieser  Einwand  ließe 
sich  auch  Römer  gegenüber  machen.  Nun  konstatiert  Pollak. 
claßi  die  tuberkulösen  Säuglinge,  wenn  sie  das  erste  Lebensjahr 
überstellen,  einer  allgemeinen  Störung  anheimfallen  und  daß 
sich  bei  ihnen  die  Zeichen  des  tuberkulösen  Habitus  ausbilden : 
Blässe,  Magerkeit,  schlaffe  Muskulatur,  auffallend  lange  Wimpern 
und  Behaarung  zwischen  den  Schulterblättern  und  an  den 
Schläfen.  Der  tuberkulöse  Habitus  wäre  somit  der  Habitus  eines 
im  ersten  Lebensjahre  mit  Tuberkulose  infizierten  Kindes.  Ganz 
ähnlich  wie  Römer  die  Tuberkulose  des  Erwachsenen  als  Rezi¬ 
dive  einer  Kindheitsinfektion  ansieht,  sieht  Pollak- die  tuber¬ 
kulösen  Manifestationen  älterer  Kinder  als  Zeichen  einer  in  den 
ersten  Lebensjahren  stattgefundenen  Infektion  an. 

Tuberkuloseinfektion  ist  nicht  identisch  mit  Tuberkulose¬ 
krank;  heit.  Alle  diagnostischen  Tuberkulinimpfungen,  die  ku¬ 
tane,,  die  intrakutane,  die  K  och  sehe  Impfung,  die  Stich-  und 
aller  W  ahrscheinlichkeit,  nach  auch  die  Ophthalmoreaktion,  sagen 
nur  über  die  einmal  stattgehabte  Infektion  etwas  aus.  Ihr  positiver 
Ausfall  im  Kindesalter  ist  nur  darum  so  wertvoll,  weil  hier 
die  Wahrscheinlichkeit  sehr  groß  ist,  daß  eine  primäre  Infektion 
mit  der  ihr  zukommenden  schlechteren  Prognose  vorliegt.  Prak¬ 
tische  Bedeutung  für  dear  Erwachsenen  könnten  alle  diese  Reak¬ 
tionen  erst  haben,  wenn  es  gelänge,  mit  ihrer  Hilfe  die  Tuber¬ 
kulosekrankheit  festzustellen.  Ellermann  und  Eiland 
sen9)  haben  durch  abgestufte  Kutanimpfungen  den  Grad  der 
Tuberkulinempfindlichkeit  festzustellen  gesucht  und  ziehen  aus 
dem  von  ihnen  aufgestellten  sogenannten  „Tuberkulin fiter"  -dia¬ 
gnostische  und  prognostische  Schlüsse.  Der  Tuberkulintiter  ist 


174 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  5 


der  reziproke  \\  ert  der  schwächsten  Tu  berk  u  1  ink  onz  ei  l  trati  on , 
auf  welche  noch  eine  deutliche  kutane  Reaktion  erfolgt.  Reagiert 
zum  Beispiel  der  Patient  nur  auf  konzentriertes  =  100%  Alt¬ 
tuberkulin,  auf  eine  Verdünnung  desselben  aber  nicht,  so  ist  der 
Tuberkulintiter  100 : 100  —  1,  reagiert  er  zum  Beispiel  noch 
auf  0-5%  Alttuberkulin,  so  ist  der  Titer  100:0-5  =  200.  Die 
Verdünnungsreihe,  mit  welcher  die  Kutanimpfungen  vorgenommen 
wurden,  umfaßt  0-1,  0-2,  0-5,  1,  2,  5,  10,  25,  50  und  100% 
Tuberkulin.  Ellermann  und  Er  land  sen  vermuten,  daß  eine 
positive  Reaktion  auf  1%  Tuberkulin,  wo  also  der  Titer  100 
beträgt,  eine  aktive  Tuberkulose  anzeigt.  Nachprüfungen,  welche 
Mi  rau  er10)  mit  dieser  Methode  vorgenommen  hat,  sprechen 
für  die  Richtigkeit  der  Anschauung  von  Ellermann  und  Er- 
1  and  sen.  Die  geeignete  Konzentration  für  den  Nachweis  der 
aktiven  Tuberkulose  dürfte  nach  Mi  r  au  er  zwischen  0-5  und 
1  liegen.  Der  Tuberkulintiter  der  klinisch  nicht  Tuberkulösen 
und  der  vorgeschrittenen  Fälle  (28  und  30)  war  am  niedrigsten; 
bei  den  letzteren  deshalb,  weil  mit  dem  Fortschreiten  der  Krank¬ 
heit  die  Tuberkulinempfindlichkeit  erfahrungsgemäß  abnimmt. 
Doppelt  so  groß  (71)  war  der  Titer  bei  den  suspekten  Fällen, 
während  bei  sicher  nachgewiesener  Tuberkulose  der  Titer  etwa 
siebenmal  so  groß  war  (214)  als  bei  den  klinisch  nicht  Tuber¬ 
kulösen.  Ein  niedriger  Tuberkulintiter  bei  sicherer  Tuberkulose 
berechtige  zu  schlechter  Prognose.  Die  Verwertung  seiner  Befunde 
für-  die  allgemeine  Praxis  will  Mi  rau  er  jedoch  von  weiteren 
Nachprüfungen  abhängig  machen. 

Dagegen  kam  Lossen11)  bei  der  Prüfung  von  600  Fällen 
mittels  abgestufter  Tuberkulinkonzentrationen  von  reinem  bis  zu 
l%igem  Tuberkulin  zu  dem  Resultate,  daß  auch  die  Anwendung 
verschiedener  Tuberkulinkonzentrationen  kein  Hilfsmittel  zur  spe¬ 
zifischen  Diaghose  der  aktiven  Lungentuberkulose  darstelle  und 
daß  auch  die  Ophthalmoreaktion  in  etwa  ein  Drittel  der  Falle 
von  klinisch  aktiver  Tuberkulose'  versage,  während  sie  bei  etwa 
ein  Sechstel  der  klinisch  Tuberkulosefreien  positiv  ausfalle. 

Ueber  die  Anwendung  des  Tuberkulins  in  der  ambulanten 
Praxis  berichtet  Weddy-Poenicke.12)  Er  spricht  sich  für 
seine  Verwendung  an  ambulanten  Patienten  aus.  Am  geeignetsten 
für  die  Tuberkulinbehandlung  sleien  Fälle  mit.  latenter  Tuberkulose, 
bei  denen  das  Tuberkulin  prophylaktisch  wirksam  ist.  Aber  auch 
bei  schon  manifester,  sogar  fieberhafter  Tuberkulose  leiste  das 
Tuberkulin  sehr  wertvolle  Dienste.  Die  Forderung  von  Götsch, 
nur  afebrile  Fälle  mit  Tuberkulin  zu  behandeln,  sei  nicht  gerecht¬ 
fertigt.  Das  Tuberkulin  wirke  durch  Erzeugung  einer  Hyperämie 
am  Orte  der  Erkrankung  und  durch  Anregung  der  natürlichen 
Heilkräfte  des  Organismus.  Diesen  im  Kampfe  gegen  die  Tuberkel¬ 
bazillen  zu  unterstützen,  müsse  unsere  Aufgabe  sein,  nachdem 
wir  die  Bazillen  selbst  nicht  direkt  zu  vernichten  imstande  sind. 

Literatur: 

’)  Neue  Statistik  zum  Kampfe  gegen  die  Tuberkulose,  Berliner 
klin.  Wochenschr.  1910,  S.  1958.  —  2j  Epidemiologie  der  Tuberkulose. 
Zeitschr.  für  Hyg.  1910,  Bd.  67,  S.  1.  —  3)  Kindheitinfektion  und  Schwind¬ 
suchtsproblem  vom  Standpunkte  der  pathologisch-anatomischen  Forschung 
und  der  Prophylaxe  der  tuberkulösen  Lungenschwindsucht.  Tuberculosis 
1910,  Bd.  9.  S.  385.  —  4)  Ueber  typische  und  atypische  Lungenphthise. 
Berliner  klin.  Wochenschr.  1911,  S.  1.  —  6)  Tuberkuloseimmunität, 

Phthisiogenese  und  praktische  Schwindsuchtbekämpl'ung.  Beiträge  zur 
Klinik  der  Tuberkulose  1910,  Bd.  17,  S.  377.  —  6)  Kasuistisches  über 
experimentelle  Meerschweinchentuberkulose.  Beiträge  zur  Klinik  der 
Tuberkulose  1910,  Bd.  17,  S.  357.  —  7)  Experimentelle  Tuberkulose¬ 
infektion  des  Säuglings.  Beiträge  zur  Klinik  der  Tuberkulose  1910,  Bd.  17, 
S.  345.  —  8)  Ueber  Säuglingstuberkulose;  das  Kind  im  tuberkulösen 
Milieu.  Wiener  med.  Wochenschr.  1910,  S.  1115.  - —  9)  Ueber  quantitative 
Ausführung  der  kutanen  Tuberkulinreaktion  und  über  die  klinische  Be¬ 
deutung  des  Tuberkulintiters.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1909,  Nr.  10. 

10)  Ueber  die  kutane  Tuberkulinreaktion,  insbesonders  die  Ergebnisse 
von  Impfungen  mit  abgestuften  Tuberkulinkonzentrationen.  Zeitschr.  für 
Tuberkulose  1910,  Bd.  18,  S.  51.  —  ")  Ueber  die  Verwertbarkeit  der 
kutanen  und  konjunktivalen  Tuberkulinreaktion  zur  Diagnose  der  Lungen¬ 
tuberkulose  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Verwendung  ver¬ 
schiedener  Tuberkulinkonzentrationen.  Beiträge  zur  Klinik  der  Tuber¬ 
kulose  1910,  Bd.  17,  S.  247.  —  ,s)  Ueber  Tuberkulosediagnostik,  Therapie 
und  Prophylaxe  in  der  ambulanten  Praxis.  Zeitschr.  für  Tuberkulose 
1910,  Bd.  16,  S.  422. 


{Referate. 

Handbuch  <Ur  Kinderheilkunde,  V.  Bd, 

(erster  Ergänzungsband) 

Chirurgie  und  Orthopädie  im  Kindesalter.- 

Von  Prof.  Dr.  F.  I, amre,  München  und  Priv.-Doz.  Dr.  Hans  Spitzy,  Graz 
Mit  21  Tafeln  und  221  Textfiguren. 

Leipzig  1910,  Verlag  von  F.  C.  W.  Vogel. 

Der  außerordentlich  große  Stoff,  welcher  dem  Werke  zu¬ 
grunde'  liegt,  ist  meisterhaft  bewältigt  durch  das  Prinzip  alles 
Unwesentliche  fortzulassen  und  jene  Krankheitserscheinungen  und 
Behandlungsmethoden,  welche  beim  Erwachsenen  die  gleichen 
sind  wie  beim  Kinde,  nur  kursorisch  und  in  großem  Zügen  zu 
besprechen.  Abgesehen  von  den  Mißbildungen  und  rein  ortho¬ 
pädischen  Gebrechen,  welche  ja  fast  ausschließlich  das  Kindes¬ 
alter  betreffen,  finden  sich  auch  auf  rein  chirurgischem  Geld  et 
genug  Krankheiten  und  Krankbeitsformem,  welche  nicht  nur  in 
ihrer  Art  und  in  ihrem  Verlaufe,  auch  bezüglich  der  Behandlung 
von  der  allgemeinen  Therapie  wesentlich  verschieden  und  als 
•für  das  Kindesalter  spezifisch  zu  bezeichnen  sind.  Davon  lesen 
wir  in  den  Hauptabschnitten  über  Infektionskrankheiten,  Ver¬ 
letzungen  und  Geschwülsten. 

Schon  in  den  ersten  einleitenden  Kapiteln  erfahren  wir", 
wie  sich  'der  kindliche  Organismus  anders  gegenüber  der  Narkose 
und  operativem  Eingriffeil  verhält,  als  der  erwachsene  und  die 
Betonung  dieses  Unterschiedes  zieht  sich  wie  ein  roter  Faden 
durch  das  ganze  Buch.  Speziell  bei  der  Besprechung  der  Frak¬ 
turen,  welche  wie  die  meisten  Abschnitte  von  Spitzy  bearbeitet 
sind  und  trotz  ihrer  relativ  knappen  Abfassung  für  jedem  Chi¬ 
rurgen  lehrreich  sein  wird,  bringt  uns  die  Erfahrung  des  Kinder- 
chirurgen  wertvolle  Beiträge.  Aber  auch  die  Kapitel  über  chirur¬ 
gische  Tuberkulose  und  deren  Behandlung  zeugen  von  gründlicher 
Kenntnis  und  kritischer  Beobachtung  dieses  Leidems1. 

Was  das  Buch  besonders  wertvoll  erscheinen  läßt,  ist  der 
frische  Tom  und  flotte  Stil,  in  welchem1  es  geschrieben  ist. 

Gleich,  wie  in  den  Krankenzimmern  der  Kinderspitälcr 
stets  eine  frischere  Luft  weht  und  wenn  auch  nicht  eine  fröh¬ 
liche  Stimmung,  so  doch  stets  mehr  Leben  und  Freundlichkeit 
zu  finden  ist,  als  in  den  trübseligen,  schmerzlichstillen  Kranken¬ 
sälen  der  Erwachsenen,  so  ist  auch  das  vorliegende  Handbuch 
mit  einer  gewissein  Freudigkeit  geschrieben,  wie  sie  bei,  Be¬ 
handlung  anderer  Themen  der  allgemeinen  Pathologie  nirgends 
zu  beobachten  ist.  Das  allein  würde  allerdings!  den  Wert  des 
Buches  noch  nicht  ausmachen.  Aber  man  findet  wohl  nicht  leicht 
ein  zweites  Handbuch,  welches  derart  übersichtlich  und  treffend 
in  jedem  Kapitel  das  Wesentliche  hervorhebt,  mit  kurzen  bün¬ 
digen  Sätzen  in  charaktervoller  Ausdrucksweise  dem  Leser  meist 
aus  rein  praktischer  Erfahrung  heraus  das  Wahre  und  Richtige 
darlegt  und  verständlich  macht,  mit  lobenswerter  Gründlichkeit 
häufig  geübte  Fehler  der  Aerzte  hervorhebt.  Gerade  das  aus 
großer  Erfahrung  von  einer  gesunden  Logik  diktierte:  „warum 
so  und  nicht  so“,  macht  das  Buch  reichhaltig  und  lebendig.  Es 
ist  nicht  allein  zur  Orientierung,  sondern  auch  zum  ernsten 
Studium  der  chirurgischem  Kränklichem  im  Kindesalter  dem  Spe¬ 
zialisten1  bestens  zu  empfehlen. 

Kurz  zusammenfassende,  oft  äußerst  originelle  und  treffende 
Schlagworte'  als  Randbemerkung  erleichtern  dem  Leser  die  lleber- 
sicht.  Die  große  Fülle  gelungener,  meist  ans  Spitzy s  Abtei¬ 
lung  stammender  Photographien,  Tafeln  und  Farbendrucke  sind 
mit  Sorgfalt  ausgewählt  und  erhöhen  noch  die  Lebendigkeit  des 
Textes. 

Den  erstklassigen  Reproduktionen  steht  die  übrige  Aus1 
stattung  des  Werkes  nicht  nach. 

* 

Precis  du  traitement  des  fractures. 

Par  le  Massage  et  la  Mobilisation. 

Par  le  Dr.  Just  Lucas-Chaiiipionniere. 

Paris  1910,  G.  Steinheil. 

Der  Autor  bringt  hier  nichts  wesentlich  Neues,  faßt  viel¬ 
mehr  zusammen,  was  er  in  einer  größeren  Reihe  von  Publika¬ 
tionen  bereits  wiederholt  veröffentlicht  hat :  Seine  Lehre  der 
I  Frakturbehandlung.  Unstreitig  gebührt  dein  Verf.  das  Verdienst, 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


175 


seinerzeit  mit  Nachdruck  darauf  hingewiesen  zu  haben,  daß  die 
fixierenden  Verbände,  insbesondere  bei  Gelenksfrakturen  nicht 
selten  großen  Schaden  anrichten,  eine  dauernde  Funktionsstörung 
verschulden  können,  daß  hingegen  die  frühzeitige  Mobilisierung 
ohne  jeden  Verband  oft  weit  bessere  Heilungsresultate  zeitigt 
als  die  kunstvollste  Fixation  nach  gut  reponierter  Stellung  der 
Fragmente.  Seine  Schriften  wurden  allgemein  bekannt  und  gei- 
würdigt.  Wenn  es1  auch  nicht  dieseln  allein  zuzuschreiben  ist, 
so  hat  Verf.  doch  wesentlich  beigetragen  am  erfolgreichen  Kampf 
gegen  den  Gipsverband  und  heutzutage  ist  es  wohl  Allgemeingut 
aller  Chirurgen,  einen  fixierenden  Verband  nur  auf  strikte  In¬ 
dikation  hin  anzulegen  und  die  Freiheit  der  Bewegung,  wo  sie 
eine  günstige  Fragmentstellung  nicht  stört,  zu  erhalten;  ja  Ver¬ 
fasser  geht  noch  einen  bedeutenden  Schritt  weiter  und  nimmt 
gerne  eine  fehlerhafte  Fragmentstellung  in  Kauf,  wenn  nur  die 
Funktion  erhalten  bleibt,  bzvt.  wieder  hergestellt  wird.  Er  weist 
mit  Recht  darauf  hin,  daß  durch  Massage  und  Mobilisation  die 
Kallusbildung  nicht  gehindert,  ja  sogar  angeregt  wird,  die  Re¬ 
sorption  des  Hämatomte  beschleunigt,  Verklebungen  und  Verwach¬ 
sungen  in  Gelenken  und  Sehnenscheiden  verhindert  werden  usw. 
Daß  der  Autor  dabei  zu  weit  geht,  indem  er  mit  seiner  verband- 
losen  Frakturbehandlung  (auch  an  der  unteren  Extremität)  eine 
fehlerhafte  F ragmentstel lung  vollbewußt  mißachtet,  geht  aus  Ueber- 
legungeri  hervor,  deren  Richtigkeit  gewiß  anzuzweifeln  ist.  Ver¬ 
fasser  hält  die  bei  Abbreviation  der  Fragmente  bestehende  Ver¬ 
kürzung  der  Muskeln  für  günstig,  die  bei  Reposition  notwendige 
Dehnung  derselben  für  schädlich,  er  will  die  Heilung  der  Knochen¬ 
brüche  mehr  der  Natur  überlassen  und  bringt  eine  Reihe  von 
Beispielen,  welche  die  dabei  vollkommen  wiederhergestellte  Funk¬ 
tion  illustrieren  sollen. 

Besonderen  Wert  legt  der  Autor  auf  eine  ganz  spezielle 
Anwendung,  Variation  und  Nuancierung  der  Massage1  und  Mobi¬ 
lisierung. 

Im  zweiten  speziellen  Teil  bespricht  er  systematisch  seine 
Methode,  betont  hier  viel  nebensächliches,  was  jedem  beschäf¬ 
tigten  Chirurgen  aus  seiner  eigenen  Praxis  geläufig  ist.  Man  kann 
sich  bei  der  Lektüre  des1  Werkes  des  Eindruckes  nicht  erwehren, 
daß  Verf.  die  einschlägige  Literatur  nicht  gerne  beachtet,  daher 
verfällt  er  in  den  Fehler,  vieles1  als  sein  eigen  und  anderwärts 
unbekannt  zu  wähnen,  was  längst  allgemein  geübt  wird.  Mit 
seinem  Losungswort:  die  Funktion,  nicht  die  Heilung  in  ana¬ 
tomisch  richtiger  Stellung  ist  anzu streben,  ist  der  Autor  in 
diesem  Sinne  entschieden  zu  einseitig. 

0.  v.  Frisch. 


Aus  versehiedenen  Zeitsehriften. 

110.  Ueber  intravenöse  und  subkutane  Ernährung 
mit  Traubenzucker.  Von  Prof.  Dr.  W.  Kausch,  Direktor 
des:  Auguste  Viktoria-Krankenhauses  in  Berlin-Schöneberg.  Kranke, 
namentlich  Operierte1,  die  auf  natürlichem  Wege  oder  per  anum1 
gar  nicht  oder  nicht  ausreichend  ernährt  werden  können,  werden 
in  der  Weise  künstlich  erhalten,  daß  man  ihnen  intravenös  oder 
subkutan  Traubenzucker  einverleibt.  Bezügliche  Versuche  an 
mehr  als  40  Menschen,  über  welche  schon  der  Assistent  Doktor 
Bereu  des  an  anderer  Stelle  berichtete,  haben  zu  folgenden 
Erfahrungen  geführt:  Jeder  Mensch  verträgt  ohne  Schaden  sub¬ 
kutane  Traubenzuckerinfusionen  bis  zu  5%;  stärkere  Lösun¬ 
gen  schmerzeh.  Verf.  empfiehlt,  mit  2°/oiger  Lösung  zu  beginnen 
und  die  Konzentration  allmählich  zu  steigern.  Das  einmalige 
Flüssikgeitsquantum  beträgt  gewöhnlich  1000  cm3.  Intravenöse 
Infusionen  von  1000  cm3  5-  bis  7°/oigem  Traubenzucker  werden 
ausgezeichnet  vertragen.  Zucker  wird  nach  einmaliger  Infusion 
nicht  ausgeschiedein,  wohl  aber  häufiger,  wenn  die  Infusion  täg¬ 
lich  wiederholt  wird.  Fast  regelmäßig  erfolgt  die  Ausscheidung, 
wenn  8%ige  und  mehr,  bis  10°/oige  Zuckerlösung  angewendet 
wird;  stärkere  Lösung  als  10°/oige  hat  Verf.  nie  gegeben.  Die 
Zuckerausfuhr  ist  meist  gering,  2  bis  3%  der  eingegebenen  Menge, 
höchstens  10°/'o.  Unangenehme  oder  gar  schädliche  Nebenwir¬ 
kungen  wurden  nicht  beobachtet.  Bei  den  intravenösen 
Zuckerinfusionen  beginne  man  mit  1000  Cmj3  einer  5%igen  Lösung, 
steigere  allmählich  die  Konzentration,  wenn  nötig,  auch  das 
einmalige  Flüssigkeitsquantum.  Der  Traubenzucker  wird  in  phy¬ 


siologischer  (0-9%)  Kochsalzlösung  aufgelöst,  filtriert  und  aul- 
gekocht.  Bei  den  intravenösen  Infusionen  werden  bei  Bedarf 
vier  bis1  acht  Tropfen  Adrenalin  (1:  i ';•'!()■  beigemischt.  Die  sub¬ 
kutane  Infusion  ist  schmerzhafter  als  >  einfache  Kochsalzinfu¬ 
sion,  bei  der  intravenösen  Eingießung  k  ei  man  einmalig  bis 
2000  cm3  benützen,  weshalb  Verf.  letzter  vorzieht  und  hiezu 
die  Venen  in  der  Ellenbeuge  und  sonst  an  Vrme,  ferner  dasi 
ganze  Saphenagebiet  benützt.  Bei  kleinen  Kindern,  oder  wo  es 
nicht  gestattet  wird,  werden  also  subkutane  Infusione::  gemach i . 
Sehr  wichtig  ist  eine  jüngste  Erfahrung  am  Krankenbette:  Je 
schwerer  die  sonstige  momentane  Ernährung  des  Individum  : 
darniederliegt  und  je  elender  sein  Ernährungszustand  überhaupt 
ist,  um  so  mehr  Zucker  wird  vertragen';  esl  gilt  dies  sowohl  für 
die  Konzentration,  wie!  für  das  Gesamtquantum.  Sö  bekam  eine 
Frau  mit  schwerer  Sepsis1  puerperalis  und  peritonealen  Erschei¬ 
nungen,  Erbrechen,  Durchfällen  usw.,  sechs  Tage  laug  hinter¬ 
einander  bis  zu  2000  cm3  pro  Tag  und  bis  zu  9°/oiger  Lösung, 
auch  zweimal  täglich.  Davon  wurden  nur  0-2  bis  3-0  g  Zucker 
wieder  ausgeschieden1.  Die  Frau  wurde  gerettet.  Ein  Mann  (Kar¬ 
zinom)  bekam  außer  täglichen  Nährklismen  (drei  bis  vier  zu 
je  250  cm3)  im  ganzen  16  Traubenzuckerinfusionen  mit  958  g 
ZucfceF;  zehn  Infusionen  wurden  innerhalb  elf  Tagen  ohne 
Schaden  verabfolgt.  Nach  einer  Infusion  von  100  g  Zucker  schied 
er  im  Urin  0-9  g  Zucker  aus.  Der  infundierte  Zucker  wird  im 
Körper  verbrannt,  die  eiweißsparende  Wirkung  der  Zuckerinfu¬ 
sionen  soll  durch  Stoffwechselversuche,  die  im  Gang©  sind,  er¬ 
härtet  werden.  Verf.  regt  an,  die  Traubenzuckerernährung  auch 
sobst  zu  versuchen,  z.  B.  bei  schwerem  Erbrechen  Hysterischer, 
bei  der  Hypelremesis-  gravidarum,  bei  schwerem!  Magen-  und 
Darmkatarrh,  in  erster  Linie!  denkt  er  an  die  Cholera,  bei  welcher 
die  Kranken  eher  an  der  Austrocknung  der  Gewebe  und  Eindickung 
des  Blutes  zugrunde  geben.  Bei  der  Cholera  könnten  also  intra¬ 
venöse  Zuckerinfusionen  mehr  nützen  als:  die  üblichen  Kochsalz 
infusionen.  Verf.  bittet  die  Aerzte,  die  mit ‘Cholerakranken  zu  tun 
haben,  es:  mit  seiner  Methode  der  künstlichen  Ernährung  zu  ver¬ 
suchen.  Sie  schadet  bestimmt,  nicht  und  kann  nur  nützen. 
(Deutsche  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  t.)  E.  F. 

* 

111.  (Aus  dem  städtischen  Kinderhort  zu  Breslau.  -  Lei¬ 
tender  Arzt :  Dr.  Walter  F r e und.)  U eb  er  den  Energiebedarf 
künstlich  genährter  junger  Säuglinge.  Von  Dr.  Martin 
Calvary.  Die  tägliche  Erfahrung  lehrt,  daß  sich  für  den  Nah- 
rungsbedarf  des  künstlich  genährten  Säuglings  keine  Nonnen 
aufstellen  lassen.  Dennoch  ist  man  bemüht,  aus  größeren  Beob¬ 
achtungsreihen  einen  Mittelwert  für  den  Nahrungsbedarf  des  se- 
sunden,  gleichmäßig  gedeihenden  Kindes  zu  berechnen.  So  hat 
Heubner  für  die  künstliche  Ernährung  im  ersten  Halbjahre 
©inen  Energiequotienten  (—  Verhältnis  der  Nahrungsmenge  in 
Kalorien  ausgedrückt  zu  1  kg  Körpergewicht)  von  120  (gegen 
100  beim  Brüstkinde)  als  erforderlich  aufgestellt,  wenn  das  Kind 
regelmäßig  Zunehmen  soll.  Budin  hat  weit  geringere  Werte  als 
notwendig  befunden.  Calvarys  Untersuchungen  stimmen  in  den 
Ergebnissen  mit  Budin  überein,  indem  seine  vier  jungen,  künst¬ 
lich  genährten  Säuglinge  bei  einer  Energiezufuhr  von  etwa  55  bis 
82  Kalorien  pro  Kilogramm  Körpergewicht  einen  befriedigenden 
Anwuchs  zeigten.  Es  scheint  also,  daß  der  von  Heubner  tür  den 
künstlich  genährten  Säugling  geforderte  Energiequotient  zu  hoch 
angesetzt  ist.  —  (Zeitschrift  für  Kinderheilkunde  1910,  Bd.  1, 

H.  1.)  K.  S. 

* 

112.  (Aus  der  königlichen  medizinischen  Universitätsklinik 
zu  Halle  a,  d.  S.  —  Direktor:  Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.  Adolf 
Schmidt.)  Zur  Chlorof  ormsauerstof  fnarkose.  Von 
Ad.  Schmidt  und  Dr.  O.  David.  Wegen  der  Möglichkeit  einer 
schädlichen  Wirkung  des  reinen  Sauerstoffes  bei  der  Chloroform- 
sauerstoffnarkose,  auf  die  Ziegner  seinerzeit  hin  wies,  haben 
die  beiden  Verfasser  seit  längerer  Zeit  Versuche  über  diesen  Gegen¬ 
stand  angestellt,  aus  welchen  unzweifelhaft  hervorgeht,  daß  hoch 
prozentige  Sauerstoffgemische  Entzündungen  in  den  Lungen  her- 
vorrufen  können.  Sie  erzeugten  bei  Mäusen  nur  dadurch,  dal. 
sie  die  Tiere  längere  Zleit.  in  90  bis  94%igen  Sauerstoff  ent 
haltender  Luft  hielten1,  Veränderungen  in  den  Lungen,  die  patho 
logisch  -  anatomisch  das  Bild  der  kruppösen  Pneumonie  darboten. 


176 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  5 


Die  entzündlichen  Veränderungen  entsprachen  der  Stärke  und 
Länge  der  Sauerstoffzufuhr.  Die  gleichen  Affektionen  konnten 
sie  auch  bei  Meerschweinchen  hervorrufen.  Selbst  bei  einem 
Sauerstoffgehalt  der  Atemluft  von  40  bis  60°<>  sahen  sie.  wenn 
auch  erst  nach  70  Stunden,  derartige  Veränderungen  entstehen. 
Setzten  sie  die  Tiere  mehrere  Tage  lang  täglich  nur  einige  Stunden 
dem  Sauerstoff  aus,  so  fanden  sie  nach  der  Tötung  die  Zeichen 
einer  Bronchitis.  Es  liegt  demnach  die  Annahme  nahe,  daß 
der  Sauerstoff  eine  gewisse  Reizwirkung  auf  das  Alveolar-  und 
Bronchialepithel  ausübl.  Bereits  Bort  fiel  es  auf,  daß  kompri¬ 
mierte  Luft  erst  bei  15  bis  20  Atmosphären  tödlich  wirkt, 
während  in  reinem  Sauerstoff  schon  bei  drei  bis  vier  Atmo¬ 
sphären  das  tierische  Leben  erlischt.  Auch  Lorrain-Smith  hat 
später  durch  Drucksteigerung  des  Sauerstoffes  ähnliche  Lungen¬ 
veränderungen  wie  die  Verfasser  erzeugt  und  mit  Recht  auf 
die  Einwirkung  des  Sauerstoffes  bezogen.  Aber  auch  er  schaltete 
die  Druckkomponente  nicht  völlig  aus,  so  daß  bei  seinen  Ver¬ 
suchen  der  Einfluß  des  Sauerstoffes  nicht  rein  zur  Geltung  kommt. 
Diese  Druckwirkung  haben  die  Verfasser  bei  ihren  Versuchen 
ganz  vermieden,  indem  sie  die  Tiere  in  Kästen  hielten,  deren 
Luft  bei  normalem  Barometerdruck  den  gewünschten  Sauerstoff¬ 
partialdruck  enthielten.  Gleichzeitig  war  durch  eine  entsprechende 
Ventilationsvorrichtung  dafür  gesorgt,  daß  die  sich  ansammelnden 
schädlichen  Bestandteile  entfernt  und  das  verbrauchte  Gas  auto¬ 
matisch  ersetzt  wurde.  Nur  durch  eine  solche  einwandfreie  Ver¬ 
suchsanordnung  ist  es  möglich,  den  reinen  Einfluß,  bestimmter 
Gasarten  zu  erforschen.  Auch  zum  Studium  der  Chloroform- 
sauerstoffnarkose  kann  man  nur  auf  diese  Weise  zum  Ziele 
kommen.  Die  primitive  Versuchsanordnung  Ziegners  scheint 
den  Verfassern  zur  Erklärung  der  in  Frage  kommenden  Einflüsse 
ungeeignet.  -  Es  läßt  sich  dabei  nicht  erkennen,  welches  Chloro- 
formgasgemisch  das  Kaninchen  wirklich  einatmet.  Die  Verfasser 
haben  sich  bei  dieser  Technik  durch  Gasanalysen  überzeugt,  daß 
die  Gasmischung  an  verschiedenen  Stellen  der  Glocke  stark 
differiert.  Der  große  Verbrauch  von  Chloroform,  bei  Zubereitung 
von  Sauerstoff  und  komprimierter  Luft,  den  Ziegner  fand,  erklärt 
sich  dadurch,  daß  der  durch  den  Trichter  entweichende  Gasstrom 
eine  große  Menge  Chloroform  mit  sich  reißt.  Mit  diesen  Aus¬ 
führungen  wollen  die  Verfasser  das  Augenmerk  auf  eine  Eigen¬ 
schaft  des  Sauerstoffes  lenken,  die  bei  der  Narkose  bisher  nicht 
genügend  berücksichtigt  wird  und  vielleicht  geeignet  ist,  ein 
neues  ätiologisches  Moment  für  die  postnarkotischen  Schädigungen 
beizubringen.  Es  besteht  nach  Ansicht  der  Verfasster  eine  gewisse 
Analogie  mit  den  Caissonkrankheiten,  bei  denen  ebenfalls  der 
Einfluß,  des  veränderten  Sauerstoffpartialdruckes  nicht  genügend 
berücksichtigt  wurde.  -  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911, 
Nr  1.)  G. 

* 

113.  Jugendfürsorge  im  Staate  New  York.  Bericht 
über  eine  Studienreise  im  Frühjahr  1910.  Von  Prof.  Dr.  Ra  ecke, 
Privatdozent  und  Oberarzt  der  psychiatrischen  und  Nervenklinik 
in  Kiel.  -  Geh.  Bat  Siemerling.  Vorf.  hat  die  Einrich¬ 
tungen  für  Jugendfürsorge  im  Staate  New  York  besichtigt  und 
berichtet  nunmehr  über  das  Gesehene.  Dabei  gesteht  er  selbst, 
daß  seine  Darstellung  der  Jugendfürsorge  im  Staate  New  York 
keineswegs  auf  Vollständigkeit  Anspruch  erheben  könne.  Des¬ 
wegen  verzichtet  er  auch  auf  eine  Zusammenfassung  seiner  Er¬ 
fahrungen  und  berichtet  nur  über  seine  persönlichen,  vom  Stand¬ 
punkte  des  Psychiaters  gewonnenen  Eindrücke.  Jedenfalls  geht 
aus  dem  Berichte  hervor,  daß  in  diesem  Staate  Behörden  und 
Private  mit  bewundernswerter  Opferwilligkeit  und  mit  großem 
Eifer  die  Fürsorge  für  verwahrloste  und  kriminelle  Kinder  in 
Angriff  genommen  haben.  Nachahmenswert  erscheinen  die  indi¬ 
viduelle  Behandlung  durch  Bildung  kleiner,  familienartiger 
Gruppen  und  Schaffung  verschiedenartiger  Abteilungen,  endlich 
die  Gewährleistung  eines  ständigen  ärztlichen  Einflusses.  -  (Ar¬ 
chiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  H.  3.)  S. 

* 

114.  U  eb e  r  d  i  e  e  n  t z  ü n dungs  w  i  d r  i  g  e  W  i  r  k  u  n g  lös¬ 
licher  ii  e  u  t  r  a  1  e  r  K  a  1  k  s  a  1  z  e.  V on  Prof.  Dr.  H .  L  e  o,  Direktor 
des  Pharmakologischen  Instituts  der  Universität  in  Bonn.  Es 
wird  auf  die  Entdeckung  der  entzündungswidrigen  Wirkung  lös¬ 
licher  neutraler  Kalksalze  durch  die  DDr.  Richard  Chiari  und 


Hans  Janus chke  und  auf  deren  Publikation  in  der  Wiener 
klinischen  Wochenschrift  1910,  Nr.  12,  hingewiesen.  Weiteres 
hat  der  Leiter  des  Wiener  pharmakologischen  Instituts,  H.  H. 
Meyer,  woselbst  die  Versuche  ausgeführt  wurden,  in  der  Mün¬ 
chener  medizinischen  Wochenschrift  1910.  Nr.  44,  veröffentlicht. 
Es  wurde  von  den  genannten  Forschern  festgestellt,  daß  sub¬ 
kutane  Injektion  von  Chlorkalzium  oder  Calcium  lacticum  - 
das  Auftreten  von  Pleuraergüssen,  resp.  eines  entzündlichen 
Oedems  der  Konjunktive  des  Kaninchenauges  verhindert,  wenn 
das  Salz  vor  Einwirkung  des  Reizmittels  (beim  Auge  Senföl¬ 
instillation)  appliziert  wird,  weiters,  daß  auch  bei  einem  nicht 
mit  Kalksalz  vorbehandeltein  Tiere  die  durch  Senföleinträufelung 
in  den  Konjunktivalsack  erzeugte  maximale  Chemosis  dur’ch  nach¬ 
trägliche  subkutane  oder  intravenöse  Applikation  der  er¬ 
wähnten  Kalksalze  wieder  rückgängig  gemacht  werden  kann,  daß 
also  die  Kalksalze  auch  kurativ  wirken.  H.  H.  Meyer  und 
seine  Schüler  glaubten,  daß  durch  die  Kalkanreicherung  die  Durch¬ 
lässigkeit  der  Gefäßwände  vermindert  werde.  Es  wird  auch  über 
die  Heilerfolge  A.  E.  Wrights  durch  Verabfolgung  von  Kalk¬ 
salzen  bei  verschiedenen  Hautaffektionen  berichtet,  schließlich 
über  einige  -Versuche  des  Verfassers  an  verschiedenen  Tieren. 
Im  großen  und  ganzen  werden  die  Ergebnisse  der  DDr.  Chiari 
und  Jan us chke  vollauf  bestätigt.  Leo  versuchte  auch,  Tieren 
die  löslichen  Kalksalze  innerlich  einzuverleiben,  ln  einigen 
Fällen  genügte  schon  eine  einmalige  Eingießung  von  100  cm3  einer 
2uoigen  CaCL- Lösung  in  den  Magen  eines  Kaninchens,  um  die 
künstlich  erzeugte  Konjunktivitis  in  etwa  sechs  Tagen  zum  Rück¬ 
gang  zu  bringen.  In  der  Regel  wurden  die  Eingießungen  an 
mehreren  Tagen  wiederholt.  Um  ausgiebige,  resorptive,  entzün¬ 
dungswidrige  Wirkung  beim  Menschen  zu  erlangen,  würde  es 
sich  empfehlen,  die  Chlorkalziumlösung  auf  leeren  Magen  ein- 
zunehmen.  Verl',  hat  an  sich  selbst  und  anderen  erprobt,  daß 
100  cm3  einer  1-  bis  2%igen  CaCL-Lösung  ohne  Beschwerden  bei 
leerem  Magen  eingenommen  werden  können.  Gegen  den  salzigen 
Geschmack  füge  man  Syr.  r.  idaei  zu.  Eingießungen  ins  Rek¬ 
tum  zeigten  keinen  Effekt.  Auch  die  Einträufelung' einer  Chlor¬ 
kalziumlösung  auf  die  schon  entzündete  Konjunktiva  erwies  sich 
als  überraschend  günstig,  was  wiederholte  Tierversuche  lehrten. 
Da  irgendwelche  ungünstige  Wirkungen  bei  Instillation  einer 
2-5°/oigien  Lösung  von  CaCL  am  Kaninchen  nicht  zu  beobachten 
waren,  hält  Verf.  die  Anwendung  dieses  Mittels  atfeh  bei  den  ver¬ 
schiedenartigen  entzündlichen  Erkrankungen  des  menschlichen 
Urges  für  indiziert.  Es  könnte  auch  bei  änderten  Schleimhäuten 
versucht  werden,  z.  B.  bei  entzündlichen  Erkrankungen  der  Mund¬ 
schleimhaut,  der-  Tonsillen  (Diphtherie)  und  des  Rachens,  ent¬ 
weder  in  Form  von  Mundwasser  oder  zur  Pinselung.  Bei  Rhinitis 
als  Spülwasser,  bei  entzündlichen  Larynxerkrankungen  zur  In¬ 
halation.  Hier  benützt  man  ja  schon  lange  das  Kalkwasser 
mit  anscheinend  gutem  Erfolge,  das  neutrale,  leicht  lösliche  und 
ungleich  stabilere  Kalziumchlorid  dürfte  aber  viel  wirksamer 
sein.  Verf.  schlägt  vor,  hieftir  Lösungen  von  bis  zu  5°,»  CaCL 
anzuwenden,  da  er  sich  von  deren  Unschädlichkeit  überzeugt  hat. 
Eine  weitere  Verwendung  könnten  1-  bis  20/oige  Lösungen  bei  Be¬ 
handlung  von  Entzündungen  der  Magen-  oder  Darmschleimhaut 
(Gastritis  oder  Ulcus  ventriculi),  des  Nierenbeckens,  der  Harn¬ 
blase,  Urethra  (Gonorrhoe;),  ferner  bei  Erkrankungen  der  Vagina 
oder  Uterusschleimhaut  finden.  Schädliche  Nebenwirkungen  der 
Kalksalze  bei  der  internen  Applikation  hat  Verfasser  nie  beob¬ 
achtet;  ob  sie  auf  die  Dauer  aber  nicht  etwa  Veränderungen 
der  Arterienwandungen  hervorrufen,  das  müssen  erst  weitere  Ver¬ 
suche  lehren.  (Deutsche  mediz.  Wochenschrift  1911.  Nr.  1.) 

E.  F. 

* 

115.  (Aus  dem  pharmakologischen  Institute  in  Zürich.) 
B  e  m  e  r  k  u  n  g  e  n  ii  b  e  r  das  Wesen  u  n  d  B  e  d  e  u  t  u  n  g  d  e  r  D  i  a- 
stole.  Aon  M.  Cloetta.  Wenn  man  die  Literatur  über  die 
Beurteilung  der  Herztätigkeit  in  physiologischer  und  pathologischer 
Hinsicht  durchgeht,  so  ist  man  immer  wieder  überrascht  von  der 
Tatsache,  daß  die  Bewertung  der  systolischen  Tätigkeit  des 
Herzens  bei  weitem  im  Vordergründe  steht.  Man  gewinnt  den  Ein¬ 
druck,  daß  die  diastolische  Phase  lediglich  als  notwendige  Voraus¬ 
setzung  für  die  Systole  in  mechanischer  Hinsicht  angesehen 
wird,  d.  h.  daß  die  Aufgabe  der  diastolischen  Phase  lediglich 


Nr.  5 


WIENEU  KLINISCHE  W  0  CHEN  SC  HHIFT.  1911. 


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darin  bestehe,  das  Herz  oder  die  Herzkammern  in  der  Weise 
mit  Blut  zu  füllen,  daß  eine  kräftige  systolische  Welle  in  die 
Aorta  geschleudert  werden  könne.  Die  Bedeutung  der  Diastole 
ist  aber  gewiß  noch  eine  andere:  Während  der  Systole  zieht 
sieb  die  Muskulatur  zusammen,  wobei  auch  die  Gefäße  des  Herz- 
fleisches  komprimiert  und  teilweise  entleert  werden,  tm  Moment 
der  Diastole  ist  die  günstige  Phase  für  die  Ernährung  des  Herz- 
nnu  dcels  gegeben;  in  diesem  Augenblicke  strömt  eine  mächtige 
Blutwelle  durch  die  erweiterten  Kapillargefäß?  derselben.  Glück¬ 
licherweise  verfügt  das  Herz  ii bei1  ein  so  ungewöhnlich  reiches 
Kapillarsystem,  daß  die  relativ  kurze  Zeit  des  kontinuierlichen 
Fließens  in  den  Koronargefäßen  genügt,  um  dem  Herzen  die 
nötige  Nahrungsmenge  und  Sauerstoff  zuzuführen  und  diese  Re¬ 
stitution  der  Energie  des  Herzmuskels  ist,  muskel-physiologisch 
betrachtet,  die  eigentliche  Aufgabe  der  Diastole.  Die  Diastole  ist 
der  assimilatorische  Vorgang,  auf  dessen  Schultern  der  dissi- 
milatorische  der  Systole  ruht.  Leider  hat  es  sich  als  unmög¬ 
lich  herausgestellt,  die  Diastole  zu  therapeutischen  Zwecken 
direkt  zu  beeinflussen  u.  zw.  deshalb,  weil  die  Diastole  kein 
aktiver  Herzvorgang  ist.  Daraus  folgt  jedoch  nicht,  daß  es  über 
haupt  unmöglich  wäre,  einen  Einfluß  auf  sie  auszuüben.  In  der 
Tat  wirken  unsere  Herzmittel  (Digitalis)  auch  auf  die  Diastole 
in  günstiger  Hinsicht.  Ist  doch  die  Digitalis  nicht  nur  ein  Er 
regungsmittel  für  die  systolische  Zusammenziehung,  sondern  auch 
für  den  pulsverlangsamenden  Vagus.  Pulsverlangsamung  be¬ 
deutet  aber  gleichzeitig  Verlängerung  der  restaurierenden  dia¬ 
stolischen  Phase!  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  wird  es  nun 
auch  verständlich,  warum  Morphin  und  noch  besser  Opium  unter 
Umständen  die  Digitalis  ersetzen  können.  Bei  außergewöhnlichem 
unnötigen  Energieverbrauch  setzt  Opium  nämlich  durch  seine 
lähmende,  hemmende  Wirkung  die  unnötige  Kraftvergeudung 
herab  und  wirkt  so  begünstigend  auf  die  wirklich  wesentliche, 
d.  h.  koordinierte  Herztätigkeit  ein.  -  (Korrespondenzblatt  fiii 
Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg.,  Nr.  30. '  K.  S. 

* 

116.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  am  Hospital  zum  Hei¬ 
ligen  Geist  in  Frankfurt  a.  M.  —  Direktor:  Prof.  Dr.  Treupel.) 
Heber  die  Reaktion  des  Harnes  bei  Paralyse  mit 
Liquor  Bellostii.  Von  P.  Bei  sei  e,  Medizinalpraktikant  an 
der  Klinik.  Butenko  hat  mit  einer  Lösung  von  Merkuronitrat 
in  den.  Hamen  von  Paralytikern  eine  Reaktion  gefunden,  die 
er  bei  dieser  Erkrankung  für  typisch  hält,  da  er  sie  bei  allen 
anderen,  auch  luetischen  Affektionen,  nicht  fand.  Die  Reaktion 
besteht,  darin,  daß  man  in  einem  Reagenzglas  einige  Kubikzenti¬ 
meter  des  betreffenden  Urins  kocht,  dann  ohne  Rücksicht  auf 
eine  etwa  entstandene  Trübung  10  bis  15  Tropfen  des  Reagens 
zugibt  und  noch  zwei-  bis  dreimal  aufkocht,  unter  Vermeidung  des 
Herausschleuderns  der  stark  stoßenden  Flüssigkeit.  Dann  läßt 
man  absetzen.  Der  Niederschlag  ist  dann  in  allen  Urinen  weiß. 
respektive  weißgelblich,-  in  den  Hamen  der  Paralytiker  aber 
grau  bis  grauschwarz  und  die  darüber  stehende  Flüssigkeitssäule 
graugelb  gefärbt.  Am  besten  beurteilt  man  die  Probe,  nachdem' 
sie  schon  ziemlich  erkaltet  ist,  wobei  sich  oft  über  einem  weißen 
Bodensatz  ein  grauer  Ring  zeigt,  der  ebenfalls  einen  positiven 
Ausfall  anzeigt.  Das  Reagens  besteht  aus  einer  Lösung  von  Mer¬ 
kuronitrat  in  Wasser  mit  geringem  Zusatz  von  Salpetersäure 
und  ist  als  Liquor  Bellostii  oder  Aqua  Capucinica  bekannt.  Es 
wurde  früher  als  mildes  Aetzmittel  und  Antisyphiliticum  ge¬ 
braucht.  Die  Lösung  ist  klar,  reagiert  sauer  und  muß  licht¬ 
geschützt  aufbewahrt  werden.  Diese  Probe  hat  \erf.  bei  über 
100  Kranken  und  Gesunden  angestellt.  Unter  den  Kranken  waren 
27  Fälle  von  Paralysis  progressiva,  klinisch  einwandfrei  fest- 
gestellt  in  verschiedenen  Stadien,  6  Fälle  von  Tabes  dorsalis, 
20  Fälle  von  Lues  verschiedener  Organe.  Auf  Grund  dieser 
Untersuchungen  kann  Verf.  die  Angaben  Butenkos  bezüglich 
des  positiven  Ausfalles  der  Reaktion  bei  der  progressiven  Para¬ 
lyse  und  ihre  Spezifität  für  diese  Erkrankung  bestätigen.  Bei 
25  von  27  Fällen  zeigte  sich  ein  positives  Ergebnis.  Butenko 
gibt,  eine  Reihe  von  Nahrungsmitteln  und  Medikamenten  an,  welche 
die  Probe  störend  beeinflussen.  Verf.  hat  sich  durchaus  nicht 
strenge  danach  gehalten  und  dennoch  einwandfreie  Resultate 
erhalten.  Zu  beachten  ist  nur,  daß  der  zu  untersuchende  Urin 
sauer  ist,  da  ein  durch  Ammoniak  alkalischer  Urin  (bei  Zystitis; 


schon  in  der  Kälte  einen  schwarzen  Niederschlag  von  Queck 
silberamid  gibt.  Bei  Medikamenten  hat  Verf  nur  bei  Darreichung 
von  Jod,  Sulfonal  und  Trional  eine  störende  Beeinflussung  der 
Reaktion  gesehen.  Trat  im  Verlaufe  der  Paralyse  eine  Remission 
im  klinischen  Sinne  ein,  oder  war  bereits  vollständige  Verblödung 
eingetreten,  so  wurde  auch  die  Reaktion  zweifelhaft  oder  ganz 
negativ.  Die  Frage,  was  für  Stoffe  den  positiven  Ausfall  der 
Reaktion  bewirken,  beantwortet  Verf.  dahin,  daß  es  sich  um 
keine  Toxine,  sondern  wahrscheinlich  um  Zerstörungsprodukte 
der  nukleinreichen  Gehirnzellen,  um  Xanthinbasen,  handeln 
könnte.  Verf.  zieht  nun  aus  seinen  Beobachtungen,  gleich  Bu¬ 
tenko,  den  Schluß,  daß  der  Reaktion  in  der  Tat  eine  diagno¬ 
stische  Bedeutung  für  Paralyse  zukommen  dürfte.  Ob  sie  für 
eine  Frühdiagnose  in  Betracht  kommt,  wagt  er  noch  nicht  zu 
entscheiden.  Wäre  dies  der  Fall,  so  könnte  die  Reaktion  gute 
Dienste  leisten  bei  Erkennung  jener  zweifelhaften  Fälle,  die  Alt 
als  „Wetterleuchten  der  Paralyse“  bezeichnet  hat.  —  (Münchener 
mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  1.)  G. 

* 

117.  Beitrag  zur  pathologischen  Anatomie  hoch¬ 
gradiger  Mvosis  und  Pupillenstarre.  Von  Dr.  Elmi- 
ger,  zweiter  Arzt  in  St.  Urban  (Kanton  Luzern).  Fall  von  De 
mentia  paranoides,  kompliziert  mit  Tabes  dörsalis.  In  der  Kranken¬ 
geschichte  findet  sich  eine  fast  zwei  Jahrzehnte  dauernde  hoch¬ 
gradige  Mvosis  mit  Pupillenstarre.  In  der  Anamnese  Lues,  mehr¬ 
fache  Erkältungen.  Als  Ursache  der  Mvosis  und  möglicherweise 
auch  der  Pupillenstarre  spricht  Verf.  eine  enorme  zellige  Infil¬ 
tration  des  Endoneuriums  des  Nervus  oculomotorius  an  und 
den  dadurch  bewirkten  konstanten  Reiz  auf  die  pupillenveren¬ 
gernden  Fasern  des  Okulomotorius.  (Archiv  für  Psychiatrie 

und  Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  H.  2.)  8. 

* 

118.  Zur  Behandlung  der  Basedowschen  Krank¬ 
heit.  Von  Prof.  Dr.  Wilhelm  Epstein  in  Göttingen.  In  seiner 
Monographie  über  chronische  Stuhlverstopfung  usw.  vom  Jahre 
1901  hat  Verf.  schon  auf  das  Nebeneinandervorkommen  von 
chronischer  Koprostase  und  Basedowscher  Krankheit  besonders 
aufmerksam  gemacht  und  berichtet,  daß  er  in  einer  Reihe  von 
Fällen  mit  der  Beseitigung  der  Koprostase  die  Symptome  des 
Basedow  nicht  nur  sich  erheblich  bessern,  sondern  auch  gänz¬ 
lich  verschwinden  gesehen  habe.  Er  glaubt  natürlich  nicht,  daß 
man  den  Basedow  unter  allen  Umständen  in  dieser  Weise  kurie- 
ren  könne,  er  erwarte  bloß,  daß,  wenn  der  sogenannte  Thyre- 
oidismus,  auch  der  des  Morbus  Basedowi,  durch  gewisse  Darm¬ 
gifte  entstehen  könne,  wofür  Tierexperimente  zu  sprechen  scheinen, 
man  durch  Unschädlichmachen  der  Darmgifte  und  durch  Be¬ 
seitigung  der  chronischen  Koprostase  die  enterogene  Giftbildung 
ausschalten,  also  die  Ursache  des  Leidens  beseitigen  werde.  Bei 
der  Basedowschen  Krankheit  kommen  auch  anfallsweise  auf¬ 
tretende  stärkere  Diarrhöen  mit  Obstipation  vor,  welche  auf¬ 
hören,  wenn  man  große  Oelklysmen  anwendet.  Verf.  teilt  vier 
Beobachtungen  von  Morbus  Basedowi  mit,  welche  in  dieser  M  eise 
erfolgreich  behandelt  wurden  und  fährt  sodann  fort:  Diese  Beob¬ 
achtungen  beweisen,  daß  bei  Individuen,  welche  gleichzeitig  an 
Koprostase  und  an  der  Basedowschen  Krankheit  —  an 
der  vollentwickelten  Form  —  litten,  bei  einer  zweckentsprechen¬ 
den  Behandlung  der  Koprostase,  insbesonders  mittels  des  Ge¬ 
brauches  fortgesetzter  großer  Oelklysmen,  von  beiden  Krank¬ 
heiten  geheilt  wurden.  Im  ersten  Falle  war  die  Heilung  eine 
dauernde,  da  sie  nach  mehr  als  anderthalb  Jahrzehnten  in  durch¬ 
aus1  einwandfreier  Weise  fortbestand.  In  welchen  Fällen  von 
Basedow  diese  Behandlung  nützt,  das  vermag  Verf.  nicht  zu 
sagen.  Kontraindiziert  wäre  sie  allenfalls  in  Fällen,  in  welchen 
die  Strumen  rapid  wachsen,  daher  eine  operative  Behandlung 
Platz  greifen  müßte.  Ist  ein  solcher  Grund  nicht  vorhanden,  so 
läßt  sich  gegen  den  durch  die  Koprostasebehandlung  bewirkten 
Aufschub  der  Strumaoperation  wohl  nicht  viel  einwenden. 

(Therapeutische  Monatshefte,  Dezember  1910.)  E.  1. 

* 

119.  Ueber  die  Behandlung  des  Typhus  mit  Py¬ 
ramid  on.  Von  Jakob.  In  der  Klinik  von  Prof.  Moritz  in 
Straßburg  wurden  in  den  letzten  drei  Jahren  die  Typhusfälle 
systematisch  mit  Pyramidon  behandelt.  Die  Mortalität  betrug 


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hiebei  nur  10°/o,  während  sie  bei  der  auch  in  Straßburg  früher 
durch  zehn  Jahre  üblichen  Bäderbehandlung  nicht  unter  13 -9 d'o 
herabging,  obwohl  die  letztere  im  Spitale  bei  gut  geschultem 
Personale  gut  durchführbar  war.  ln  der  Privatpraxis  und  bei 
Epidemien,  wo  die  Bäderbehandlung  ohnehin  große  Schwierig¬ 
keiten  bereitet,  wird  es  sich  also  doppelt  empfehlen,  die  Pyra- 
midonbehandlung  an  ihre  Stelle  treten  zu  lassen.  Die  Behandlung 
wird  in  folgender  Weise  durchgeführt :  Wenn  nicht  rasches  Ein¬ 
greifen  geboten  ist,  wird  der  neuaufgenommene  Kranke  durch 
einen  bis  mehrere  Tage  therapeutisch  nicht  beeinflußt,  um  von 
der  Schwere  der  Erkrankung  ein  möglichst  klares  Bild  zu  be¬ 
kommen.  Treten  dann  hohe  Temperaturen,  Kopfschmerzen,  Som¬ 
nolenz,  Delirien  auf,  so  wird  zweistündlich  0-1  Pyramidon  ge¬ 
reicht,  ab  6  Uhr  früh  bis  12  Uhr  nachts  (=  lOmal  0-1;  Pyra¬ 
miden  2-0,  Syr.  spl.  20-0,  Aqu.  d.  ad  200-0).  Mit  diesen 
Dosen  gelingt  es  meist,  die  Temperatur  auf  mäßiger  Höhe  zu 
erhalten  und  das  Allgemeinbefinden  wird  sehr  günstig  beein¬ 
flußt:  Somnolenz,  Unruhe,  Kopfs  chmerzien  verschwinden  in 
kurzer  Zeit,  manche  Kranke  fühlen  sich  beschwerdefrei.  Die 
Kranken  liegen  ruhig,  schlafen  viel,  nehmen  ohne  Schwierigkeit 
Nahrung  und  sind  leicht  rein  zu  erhalten.  Das  Prinzip  ist  also, 
nicht  möglichst  tiefe  Fieberremissionen  zu  erzielen,  sondern  die 
mit  hohem  Fieber  einhergehende  toxische  Wirkung  der  Infektion 
hintanzuhalten.  Sinkt  die  Temperatur  endlich  zur  Norm,  so  wird 
Pyramidon  probeweise  einen  Tag  ausgesetzt,  um  eventuell  wieder 
aufgenommen,  zu  werden.  Schädliche  oder  subjektiv  unange¬ 
nehme  Wirkung  der  Pyramidonbehandlung  hat  Jakob  nie  beob¬ 
achtet,  insbesondere  fehlte  jede  ungünstige  Wirkung  auf  den 
Kreislauf.  Bei  eintretenden  Blutungen  wurde  Pyramidon  nicht 
ausgesetzt  (ausgenommen  bei  sehr  starken  Blutungen  mit  Kollaps), 
da  gerade  da  die  Beseitigung  der  motorischen  Unruhe  wert¬ 
voll  ist.  Lungenkomplikationen  wurden  mit  Prießnitzumschlägen 
bekämpft.  Im  übrigen  wurde  noch  mit  Ganz-  und  Teilwaschungen 
eine  sorgfältige  Hautpflege  durchgeführt.  Die  Pyramidonbehand- 
nmg  wurde  in  den  meisten  Fällen,  durch  10  bis  20  Tage  durch¬ 
geführt,  in  einer  geringeren  Anzahl  von  Fällen  erhielten  die 
Patienten  das  Mittel  durch  21  bis  35,  ja  in  einem  Falle  durch 
41  Tagei  1  - —  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1910, 
40.  Jahrg.,  Nr.  29.)  K.  S. 

* 

120.  Vom  Gastro  spasmus.  Von  Prof.  Dr.  Waldvogel 
in  Güttingen.  Verf.  bedauert  zunächst,  daß  man  derzeit  dem  Gastro¬ 
spasmus  der  alten  Kliniker  so  skeptisch  gegenübersteht,  nach 
seinen  Erfahrungen  mit  Unrecht  und  zum  Nachteile  der  Kranken. 
Er  bemüht  sich  demgegenüber  zu  zeigen,  daß  der  Gastrospasmus 
eine  recht  häufige  Erkrankung  des  Magens  ist,  daßi  die  Sekretions¬ 
verhältnisse  bei  vielen  dieser  Kranken  wechselnd  und  von  gerin¬ 
gerer  Bedeutung  sind,  daß  man  therapeutisch  bei  richtiger  Wür¬ 
digung  der  Motilitätsstörungen  in  spastischem  Sinne  sehr  gute 
Resultate  erzielen  kann  und  daß  der  Annahme  eines  Gastro¬ 
spasmus  gerade  nach  dein  neuesten  Ergebnissen  der  normalen  und 
pathologischen  Physiologie  des  Magens  nichts  im  Wege  steht.  Ver¬ 
fasser  nimmt  einen  Gastrospasmus  an,  wenn  bei  den  bekannten 
Beschwerden  des  Druckes,  der  Völle,  des  Schmerzes1,  des  Auf¬ 
stoßens  und  negativem  palpatorischen  Befund  am  Magen  nach 
Einverleibung  von  4  g  Na.  bicarb,  und  4  g  Acid,  tartaric,  in  je 
100  cm3  Wasser  die  mittelstarke  Fingerfingerperkussion,  von  der 
Mamilla  abwärts  schräg  zum  Nabel  am  liegenden  Patienten  aus¬ 
geführt,  ergibt,  daß  die  untere  Grenze  zwei  bis  drei  querfingerbreit 
oder  höher  oberhalb  desi  Nabels  bleibt.  Man  muß  dabei  deutlich 
fühlen  und  sehen,  daß  das  Gas  den  Magen  vorwölbt  und  nicht 
entwichen  ist  durch  den  Pylorus.  Die  Ursachen  für  eine  solche 
Pylorusinsuffizienz :  Hysterie,  maligner  Tumor,  Verwachsungen 
lassen  sich  meist  mit  genügender  Sicherheit  ausschließen.  Es 
fragt  sich  nun,  ob  jede  in  solchem  Umfange  nachgewiesene  Ver¬ 
kleinerung  auf  einen  Gastrospasmus  zurückgeführt  werden  darf. 
Verwachsungen  könnten  den  Magen  an  seiner  Ausdehnung  hin¬ 
dern;  auch  die  Umwandlung  der  Magenwandung  in  s'kirrhöses 
Krebsgewebe  kann  den  Magen  klein  machen;  aber  diese'  Ver¬ 
wechslung  wird  wegen  der  Zeichen  des  Karzinoms  selten  Vor¬ 
kommen.  Am  sicherstem  schien  dem  Verf.  bei  der  Aufblähung 
der  Gastrospasmus  erwiesen,  wenn  bei  völligem  Verschluß,  des 
Magens  der  ganze  Kohlensäureschaum  explosionsartig  erbrochen 


wurde.  Als  wichtiges  diagnostisches  Moment  kommt  noch  das 
ätiologische  hinzu ;  denn  man  findet  den  Spasmus  ventrikuli  in 
Krankheitszuständen,  bei  denen  Spasmen  zum  Krankheitsbild  ge¬ 
hören.  Hier  ist  in,  erster  Linie  zu  nennen  die  Bleivergiftung,  bei 
der  der  Gastrospasmus  ein  früh  eintretendes  Symptom,  ist.  Ferner 
bei  Nikotinabusus,  bei  Arteriosklerose  der  Bauchorgane,  in  einem 
Falle  auch  bei  Urämie.  Am  häufigsten  jedoch  findet  sich  der 
Gastrospasmus  bei  Neurasthenie,  äußerst  selten  bei  Hysterie.  Auch 
als  Symptom  einer  spastischen  Koprostase  kann  ein  Magen'spasmus 
vorhanden  sein.  Was  die  sekretorischen  Verhältnisse  beim  Gastro¬ 
spasmus  anlangt,  so  kam  Verf.  zur  Ueberzeugung,  daß  dabei  die 
Werte  für  freie  Salzsäure  im  allgemeinen  an  der  oberen  Grenze 
und  darüber  liegen,  daß  aber  Hyperazidität  nicht  etwa  ein  kon¬ 
stantes  Begleitsymptom  des  Gastrospasmus  ist.  Zum  Schlüsse 
betont  Verf.  nochmals1,  daß  der  Gastrospasmus  eine  sehr  häufige, 
wenn  nicht  die  häufigste  Erkrankung  des  Magens  ist,  viel  häufiger 
als  das  so  oft  zu  Unrecht  angenommene  Ulcus  ventriculi.  Was 
die  Therapie  betrifft,  so  ist  hier  Atropin  in;  Pillen  zu  0-0005 
zweimal  täglich  das  gegebene  Mittel.  Bleibt  bei  der  nächsten 
Magenaufblähung  die  untere  Magengrenze  noch  ziendich  weit 
über  dem  Nabel,  so  gibt  Verf.  dreimal  eine  Atropinpille  oder 
legt  Opiumtinktur  dreimal  täglich  drei  bis  fünf  Tropfen  hinzu. 
Die  Schmerzen  werden  durch  heiße  Kompressen  beseitigt.  Die 
Erregungssymptome  der  Neurasthenie  werden  durch  laue  Bäder 
35  bis  37"  C  günstig  beeinflußt.  Auch  bei  den  arteriosklerotischen 
Formen  hatte  Verf.  mit  Atropin  und  Jod  günstige  Resultate.  — 
(Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  2.)  G. 

* 

121.  (Aus  der  psychiatrischen  und  Nervenklinik  der  Uni¬ 

versität  Breslau.  —  Geh.  Rat  Bonhoeffer.)  Klinischer  und 
anatomischer  Beitrag  zur  Kenntnis  der  spinalen 
progressiven  Muskelatrophie.  Von  Dr.  Vik.  Als  kon¬ 
stanter  Befund  bei  der  progressiven  spinalen  Muskelatrophie  wird 
Atrophie  der  Vorderhornzellen  bis  zu  völligem  Ausfall  derselben 
in  den  betreffenden  Abschnitten  des  Rückenmarkes  angegeben. 
Verf.  beschreibt  einen  Fall,  in  welchem  die  anatomische  Unter¬ 
suchung  zwar  gleichfalls  den  Schwund  der  motorischen  Vorder¬ 
hornzellen  konstatieren  ließ,,  aber  die  Hauptrolle  spielt  zweifellos 
die  Meningitis,  die  zu  einer  primären  Schädigung  der  austretenden 
Vorderwurzeln  führte.  Der  Schwund  der  motorischen  Vorder¬ 
hornzellen  war  sekundär.  Es  ist  also  jedenfalls  sicher,  daß 
Meningitis  mit  spezieller  Beteiligung  der  vorderen  Wurzeln  je 
nach  der  Lokalisation  die  verschiedenen  Formen  der  progressiven 
spinalen  Muskelatrophie,  unter  Umständen  den  Typus  Aran- 
Duchenne  hervorrufen  kann.  Welche  Rolle  in  der  Aetiologie 
der  Lues  zukommt,  steht  noch  nicht  fest.  —  (Archiv  für  Psychiatrie 
und  Nervenkrankheiten,  ßd.  47,  H.  3.)  S. 

* 

122.  lieber  ein  postmortales  Ausikultationsphä- 
nomen  beim  Menschen.  Von  Prof.  H.  E.  Hering  in  Prag. 
An  der  Herzspitze  einer  eben  verstorbenen  Kranken  (keine  Atmung 
keine  Herztätigkeit)  hörte  Verf.  wohl  keine  Herztöne,  bzw.  llerz- 
geräusche  (es  handelte  sich  um  eine  Herzkranke),  wohl  aber 
ein  kontinuierliches  leises  Rauschen.  Auch  über  dem 
unteren  Ende  des  Sternums  war  das  Rauschen  ganz  deutlich 
zu  hören,  aber  nicht  an  anderen  Stellen,  z.  ß.  an  der  Stirn. 
Seine  zwei  Assistenten  Dr.  Rihl  und  Dr.  Eibegger  hörten  es 
ebenfalls.  Nach  etwa  zwei  Minuten  verschwand  es.  Dr.  Eibegger 
hat  dieses  Rauschen  noch  bei  einem  zweiten  Todesfälle  gehört 
und  zwar  eine  halbe  Minute  lang.  Verf.  bespricht  die  Ursache 
dieses  Geräusches  und  hält  es  für  das  Wahrscheinlichste,  daß 
es  sich  um  ein  Gefäßgeräusch  handle.  Trifft  dies  zu,  dann 
wäre  hiemit  auch  für  dein  Menschen  der  beim  Tiere  schon  lang 
erbrachte,  aber  wenig  bekannte  Beweis  geliefert,  daß  das  Blut 
noch  einige  Zeit  fortfährt,  sich  von  den  Arterien  nach  den  Venen 
zu  entleeren,  nachdem  das  Herz  zum  Stillstand  gekommen  ist. 
Sehr  vieles  spricht  dafür,  wie  Verf.  ausführt,  daß  ein  solches 
Strömen  des  Blutes  auch  dasi  besagte  Geräusch  erzeugen  kann. 
Es  ist  wahrscheinlich  auch  intra  vitam  vorhanden,  doch  stören 
am  Herzen  zu  sehr  die  Herztöne;  an  anderen  Körperstellen,  zum 
Beispiel  am  Handrücken,  wenn  das  Stethoskop  auf  dem  zweiten 
und  dritten  Metakarpusknochen  aufruht  und  die  Arterie  nicht 
komprimiert  wird,  kann  man  unter  Umständen  ein  analoges  Ge- 


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rausch  hören.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  das  postmortale  Ge¬ 
räusch  in  maximum;  nicht  länger  als  ein  bis  zwei  Minuten  vor¬ 
handen  sein  wird,  man  wird  es  nicht  oder  nur  für  kurze  Zeit 
post  mortem  hören,  wenn  die  Herztätigkeit  sehr  langsam;  er¬ 
lahmt.  Das  Geräusch  könnte  schließlich  unter  gewissen  Um¬ 
ständen,  so  in  gerichtlich-medizinischer  Hinsicht,  von  größerer 
Bedeutung  sein.  —  (Deutsche  medizinische  Wochenschrift  1.911, 

Nr.  1.)  E.  F. 

* 

123.  Ein  Beitrag  zur  Behandlung  <1  er  Erektio¬ 
nen  beim  Kind  e.  Von  Niem  an.  Erektionen  können  wohl 
Folgen  onanistischer  Manipulationen  sein,  werden  aber  ebenfalls 
ausgelöst  durch  lokale,  an  den  Genitalien  und  deren  Umgebung 
sich  geltend  machende  Reize,  welche  sekundär  dann  zur  Mastur¬ 
bation  Veranlassung  geben.  In  solchen  Fällen  findet  sich  häufig 
eine  Verklebung  der  Eichel  (mit  dem  Vorhautblatte  an  der  hin¬ 
teren  Seite.  Dieselbe  kann  nur  nachgewiesen  werden,  wenn 
man  die  Vorhaut  sio  weit  zurückzuziehen  versucht,  daß  der 
Sulcus  coronarius  frei  wird.  Im  Sulcus  coronarius  findet  sich  eine 
größere  Menge  Smegma  angesammelt.  Die  Entfernung  des  letz¬ 
teren  und  die  Lösung  der  Verklebung  hat  zur  Folge,  daß,  die 
Erektionen  nach  und  nach  seltener  werden  und  dann  aufhören. 
—  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg., 

Nr.  29.)  K.  S. 

* 

124.  Zur  Kenntnis  der  Meningitis  carcinomatosa. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Lissauer,  I.  Assistent  am  Pathologi¬ 
schen  Institut  der  Universität  in  Königsberg  i.  Pr.  (Direktor:  Pro¬ 
fessor  Dr.  Henke).  Bei  einer  47jährigen  Frau  wurde  an  der 
Klinik  Lichtheim  die  Diagnose  auf  Hirntumor,  wahrscheinlich 
in  der  hinteren  Schädelgrube  gestellt.  Sie  hatte  beiderseits 
Stauungspapille,  eine  motorische  Lähmung  der  Extremitäten, 
rechts  schwerer  als  links,  keine  Reflexe,  tiefes!  Koma,  Augen¬ 
muskellähmungen  usw.  Die  Sektion  ergab  im  Gökum  ein  Kar¬ 
zinom  mit  Metastasen  in  benachbarten  Lymphdrüsen.  Die  Dura 
war  glatt,  nirgends  adhärent.  Die,  Pia  überall  glatt  und  glänzend, 
nur  an  einzelnen,  etwa  bohnengroßen  Stellen  war  siei  über  dem 
Kleinhirn  und  über  der  Konvexität  ganz  leicht  milchig  getrübt. 
Hirn  und  Rückenmark  ohne  pathologischen  Befund.  Erst  die 
mikroskopische  Untersuchung  gab  Aufklärung  über  die  im  Vorder¬ 
grund  des  klinischen  Bildeis  gestandenen  Symptome.  Da.s  Cökum- 
karzinom  war  ein  typischer  Schleim  krebs,  ebenso  die  Me¬ 
tastasen  in  den  Lymphdrüsen.  Die  Pia  mater  war  ganz  diffus 
infiltriert  mit  Krebszellen;  sie  waren  groß,  lagen  in  Strängen  und 
Haufen  zusammen,  bildeten  an  manchen  Stellen  Drüsen;  sie  waren 
ferner  stark  schleimig  degeneriert.  Verf.  berichtet  über  die  ein¬ 
schlägige  Literatur  und  findet  in  seinem  Falle  zunächst  das  Inter¬ 
essante,  daß,  die  klinischen  'Symptome  eines  Hirntumorsi  be¬ 
standen,  daß  der  makroskopische  Befund  eigentlich  negativ  war 
(solche  Befunde  finden  sich  bei  allen  möglichen  Erkrankungen, 
wie  Nierenerkrankungen,  Alkoholismus  und  im  Alter),  daß,  erst 
die  mikroskopische  Untersuchung  den  Sachverhalt  aufklärte.  Da 
die  krebs  igeln  Infiltrationen  der  Pia  stark  schleimig  degeneriert 
waren,  waren  sie  makroskopisch  mit  ihrem  glasigen,  transparenten 
Aussehen  von  einer  normalen  spiegelnden  Pia  nicht  zu  unter¬ 
scheiden.  Man  hat  nun  vielfach  die  zerebralen  Symptome  von 
Karzinomkranken  (Benommenheit,  Apathie,  Delirium,  Bewußt¬ 
losigkeit,  Psychosen,  Lähmungen  usw.)  beim  Mangel  einer  anato¬ 
mischen  Erklärung  auf  eine  toxische  Wirkung  des;  Krebses  be¬ 
zogen,  Oppenheim  hat  auch  über  einen  Fall  berichtet,  bei 
welchem  auch  der  mikroskopische  Hirnbefund  ein  ganz  nega¬ 
tiver  war;  trotzdem  lehrt  der  Fall,  daß  man  in  solchen  Fällen 
auch  an  eine  Meningitis  carcinomatosa  denken  müsse  und  daß  man 
in  jedem  Falle  sodann  bei  der  Sektion  eine  genaue  mikroskopi¬ 
sche  Untersuchung  des  Gehirns  vornehmen  solle.  —  (Deutsche 
mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  1.)  E.  F. 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

125.  Ueber  dein,  Einfluß  von  Chinin  und  Morphi  upr 
auf  die  Phago  zytose.  Von  H.  Lyon  Smith.  Die  Untersuchun¬ 
gen  bezweckten  die  Nachprüfung  der  Angabe,  daß  das  Chinin 
ebenso  wie  der  Alkohol  in  großen  Mengen  die  Phagozytose  hemmt, 


und  daher  bei  septischen  Infektionen  kontra  indiziert  ist.  Es  wurde 
der  opsonische  Index  einerseits  bei  Zn  -  tz  von  Kochsalzlösung, 
anderseits  bei  Zusatz  einer  Lösung  von  Chinin  und  Morphium 
bestimmt.  Es  wurde  das  leicht  wasserlösliche  saure  Chininum 
hydrochloricum  benützt  und  auf  je  0-6  g  des  Chininsalzes  0-008  g 
Morphium  hydrochloricum  zugesetzt.  Es  wurde  berechnet,  daß 
bei  Darreichung  von  0-6  g  Chininsalz  die  Konzentration  im  Blute 
1:7500  beträgt  und  der  Einfluß  einer  Lösung  dieser  Konzeniratio:: 
auf  verschiedene  pathogene  Mikroorganismen  Strepto-,  Staphylo 
und  Pneumokokken,  Koli-,  Influenza-,  Pseudodiphthcric-  und  l’u- 
herkelbazillen  untersucht,  zum  Vergleich  auch  Lösungen  von 
höherer  und  geringerer  Konzentration  herangezogen.  Es  wurden 
gleiche  Mengen  von  gewaschenen  menschlichen  Blutkörperchen, 
Blutserum,  frischer  Emulsion  von  Kolibazillen  und  einer  Chinin¬ 
lösung  1 : 7500  mit  Morphiumzusatz  gemischt  und  durch  15  Mi¬ 
nuten  in  verschlossenen  Röhrchen  bei  37°  gehalten.  Eine  zweite 
Probe  wurde  mit  einer  Chininlösung  1 : 30.000,  eine  dritte  Probe 
mit  0-85%iger  Kochsalzlösung  hergestellt,  während  die  vierte 
Probe  nur  aus  einem  Gemisch  von  Blutkörperchen  Blutserum 
und  Kolibazillenemulsion  bestand.  Es  wurde  die  Phagozytose 
gegenüber  Kolibazillen  durch  Zusatz  von  Chinin  und  Morphium 
bei  Anwendung  der  Chininlösung  1:7500  um  04%,  bei  Anwendung 
der  Lösung  1:30.000  um  23%  gesteigert.  Auch  bei  den  Versuchen 
mit  anderen  Krankheitserregern  wurde  meist  die  Phagozytose 
unter  anderem  bei  Pneumokokken  um  80%,  bei  Streptokokken 
in  einer  Probe  um  90%  gesteigert.  Die  Versuche  zeigen,  daß 
die  Phagozytose  bei  Anwendung  von  Chinin -Morphiumlösung 
bestimmter  Konzentration  nicht  inhibiert,  sondern  gesteigert  wird. 
Bei  Anwendung  stark  konzentrierter  Chininlösungen,  zum  Beispiel 
1:2500,  wird  die  Phagozytose,  manchmal  selbst  um  50%,  herab¬ 
gesetzt.  Die  Behauptung,  daß  Chinin  bei  Infektionen  kontraindi¬ 
ziert  ist,  scheint  auf  Versuche  mit  zu  stark  konzentrierten  Chinin¬ 
lösungen  zurückzugehen.  Bei  Tuberkelbazillen  und  Staphylo¬ 
kokken  wurde  auch  bei  Anwendung  der  sonst  die  Phagozytose 
erhöhenden  Chininlösung  eine  Abnahme  der  Phagozytose  beob¬ 
achtet,  was  auf  eine  opsoninartige  Wirkung  des  Chinins  und 
Morphiums  hinweist.  Im  Initialstadium  bakterieller  Infektionen, 
wie  Appendizitis,  akute  Kolitis,  Puerperalinfektion,  Phlegmone, 
Erysipel  und  Influenza,  scheint  eine  Darreichung  von  Chinin 
in  einer  Dosis  von  0-01  g  pro  Kilogramm  Körpergewicht  durch 
Anregung  der  Phagozytose  den  Organismus  im  Kampfe  gegen  die 
Krankheitserreger  zu  unterstützen.  —  (The  Lancet,  5.  November 

1910.)  a.  e. 

* 

126.  Bemerkungen  über  einige  mit  aus  unbe¬ 
kannten  Mikroorganismen  her  gestellter  Vakzine  be¬ 
handelte  Fälle.  Von  E.  C.  Bousfield.  Die  Bedeutung  der 
Vakzinetherapie  besteht  darin,  daß  ihre  Durchführung  die  Fest¬ 
stellung  des  Krankheitserregers  notwendig  macht,  doch  gibt  es 
auch  Fälle,  wo  eine  bestimmte  Vakzine  in  der  Voraussetzung 
einer  Mischinfektion,  z.  B.  mit  Staphylokokken,  angewendet  wird 
oder  die  Bestimmung  des  Krankheitserregers  überhaupt  nicht 
möglich  ist.  In  einem  Falle  von  Pleuritis  nach  Masern  wurde 
aus  dem  Sputum  ein  unregelmäßig  gestalteter  Kokkus,  der  ver¬ 
schiedene  Größe  zeigte,  gezüchtet  und  eine  Vakzinei  hergestellt, 
welche  für  zwei  Dosen  ausreichte.  Die  ersten  zwei  Dosen  be¬ 
wirkten  eine  Herabsetzung  der  Temperatur,  welche  jedoch  nur 
vorübergehend  war,  so  daß  noch  weitere  Vakzine  durch  Züchtung 
des  Krankheitserregers  aus  dem  Sputum  hergestellt  werden 
mußte;  nach  fünf  Injektionen  trat  Genesung  ein.  In  einem  Falle 
von  maligner  Endokarditis  mit  Phlebitis  wurde  aus  dem  Blute 
ein  Mikroorganismus  gezüchtet,  der  anscheinend  zu  den  Staphy¬ 
lokokken  gehörte,  aber  nur  auf  Blutagar  wuchs.  Die  aus  diesem 
Mikroorganismus  hergestellte  Vakzine  führte  eine  Heilung  der 
Endokarditis  herbei.  In  einem  Fälle  von  Puerperalinfektion  wurden 
aus  einem  Abstrich  der  Uterusschleimhaut  Kolibazillen  gezüchtet 
und  zur  Bereitung  einer  Vakzine  verwendet,  von  der  drei  Dosen 
Heilung  herbeiführten.  In  einem  zweiten  Falle  von  Puerperal¬ 
infektion  wurde  aus  dem  Blute  der  Bacillus  mesentericus,  aus 
dem  Uterus  ein  weißer  Staphylokokkus  gezüchtet;  die  aus  letz¬ 
terem  bereitete  Vakzine  zeigte  nur  eine  vorübergehende  Müh¬ 
samkeit.  Erst  aus  dem  dritten  Uterusabstrich  wurde  neben  den 
Staphylokokken  ein  als  Bacillus  fugax  benannter  diphtheroider 


180 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  5 


Bazillus  gezüchtet,  aus  welchem  eine  Vakzine  bereitet  wurde, 
nach  deren  zweimaliger  Anwendung  die  Schüttelfröste  dauernd 
verschwanden.  Bei  einer  83jährigen  Patientin  mit  Cholezystitis 
bei  Cholelithiasis  wurde  in  der  Voraussetzung  einer  Koli infek¬ 
tiös  eine  aus  fremden  Kolibazillen  hergestellte  Vakzine  mit  sehr 
günstigem  Erfolg  angewendet.  Zur  Herstellung  von  Blutkulturen 
sind,  von  Anthraxfällen  abgesehen,  die  aus  der  Fingerbeere  oder 
dem  Ohrläppchen  erhaltenen  Blutmenge n  nicht  ausreichend.  Für 
die  Wirksamkeit  der  Vakzine  ist  Anlegung  der  Kultur  aus  dem 
frisch  entnommenen  Blute  von  wesentlicher  Bedeutung.  -  (The 
Lancet,  5.  November  1910.)  a.  e. 

* 

127,  Bemerkungen  über  Spät,  in  toxi  kati  on  mit 
Chloroform.  Von  E.  D.  Telford.  Unter  den  verschiedenen 
postmortalen  Befunden  bei  der  Spätintoxikation  durch  Chloro¬ 
form  steht  die  Fettleber  in  erster  Reihe.  Die  Leber  ist  vergrößert, 
von  glänzend  gelber  Farbe  und  zeigt  hochgradige  fettige  De¬ 
generation  der  Pärcnchymzellen.  Die  ausgedehnten  Verände¬ 
rungen  haben  zu  der  Annahme  geführt,  daß  in  diesen  Fällen 
die  Leber  schon  vor  der  Anwendung  des  Chloroforms  erkrankt 
war,  doch  ist  einerseits  das  Bestehen  schwerer  Leberveränderun- 
geu  ohne  klinische  Symptome  nicht  wahrscheinlich,  anderseits 
erstrecken  sich  die  pathologischen  Veränderungen,  nur  auf  das 
Parenchym,  so  daß.  eine  Entwicklung  in  den  drei  bis  vier  Tagen 
bis  zum  Exitus  durchaus  im  Bereich  der  Möglichkeit  liegt.  In 
einem  vom  \  erf.  beobachteten  Falle,  wo  eine  Gastroenterostomie 
ausgeführt  wurde,  ergab  die  Inspektion  der  Leber  ein -vollständig 
normales  Verhalten  des  Organs;  etwa  38  Stunden  nach  der 
Operation  stellte  sich  unstillbares  Erbrechen,  welches  im  wei¬ 
teren  Verlauf  kaffeesatzartige  Beschaffenheit  annahm,  . Pulsbe¬ 
schleunigung  und  Delirium,  sowie  Azetongeruch  des  Atems  ein, 
der.  Exitus  erfolgte  im  Koma.  Bei  der  Obduktion  fand  sich  fettige 
Degeneration  der  Leber  und  der  Nieren.  Die  Beobachtung  ist 
von  besonderer  Bedeutung,  weil  das  normale  Verhalten  der  Leber 
vor  der  Narkose  direkt  festgestellt  wurde.  Man  hat  die  Spät¬ 
intoxikation  mit  Chloroform  als  akute  Azidosis  aufgefaßt  und 
das  Erbrechen  mit  dem  zyklischen  Erbrechen,  welches  hei  Kin¬ 
dern  als  Ausdruck  akuter  Säureintoxikation  beobachtet  wird, 
verglichen.  Trotz  mancher  Analogien  bestehen  wesentliche  Diffe¬ 
renzen,  da  hei  der  Spätintoxikation  mit  Chloroform  das  Er¬ 
brechen  kontinuierlich  ist  und  fast  immer  Exitus  erfolgt,  wäh¬ 
rend  die  Prognose  des  zyklischen  Erbrechens  günstiger  ist  und 
die  fettige  Degeneration  der  ■  Leber  auch  in  letal  verlaufenen 
Fällen  nicht  immer  sich  vorfindet.  Bei  rekurrierendem  Erbrechen 
werden  Attacken  durch  Gemütsbewegungen  hervorgerufen ;  in 
einem  vom  Verfasser  beobachteten  Falle  trat  bei  einem  5 V jähri¬ 
gen  Knaben  im  Anschluß  an  eine  in  Aethernarkose  vorgenom¬ 
mene  Radikaloperation  einer  Hernie  ein  derartiger  Anfall  mit 
Azetonurie  und  vorübergehendem  Koma  auf.  Die  Spätintoxika- 
tiou  durch  Chloroform  wird  besonders  bei  Operationen  wegen 
septischer  Peritonealinfektion  lokaler  oder  allgemeiner  Form  beob¬ 
achtet.  Es  gibt  z.  B.  Fälle  von  Appeindixabszeß-,  wo  der  Patient 
sich  nach  der  Operation  wohlbefindet;  etwa  36  Stunden  später 
stellt  sich  Erbrechen-,  welches  schließlich  kaffeesatzartige  Be¬ 
schaffenheit  annimmt,  Pulsbeschleunigung,  Azetongeruch  des 
Atems,  eventuell  Temperatursteigerung  ein  nnd  der  Exitus  er¬ 
folgt  im  Koma.  Im  Harne  findet  sich  Azeton  und  Azetessig- 
säure;  die  Autopsie  zeigt  fettige  Degeneration  der  Leber,  häufig 
auch  der  Nieren  und  des  Myokards.  Diese  Erfahrungen  weisen 
darauf  hin,  das  Chloroform  als  Narkosemittel  soweit  als  mög¬ 
lich  durch  den  unschädlicheren  Aether,  unter  Einleitung  der 
Narkose,  durch  Chloräthyl  zu  ersetzen.  —  (The  Lancet,  29.  Ok¬ 
tober  1910.)  i.  e. 

* 

Aus  russischen  Zeitschriften. 

128.  (Aus  der  therapeutischen  Hospitalsklinik  des  Professors 
W.  N.  Sirotin  in  der  St.  Petersburger  militärmedizinischen 
Akademie.)  Zur  D  i  a  g  n  o s e  d er  beginnend e n  A  o r t  e n s k  1  -e-- 
rose.  Von  N.  G.  Kukowerow.  Bei  vielen  Leuten,  hei  denen  die 
gewöhnliche  klinische  Untersuchung  an  der  Auskultationsstelle 
der  Aorta  zwei  Töne  erkennen  läßt,  welche  sich  durch  gar  nichts 
von  der  Norm  unterscheiden,  hört,  man,  wenn  man  den  Patienten 


|  die  Hände  auf  den  Kopf  legen  läßt,  anstatt  des  ersten  Tones  ein 
systolisches  Geräusch  von  hauchendem  oder  schabendem  Cha¬ 
rakter,  welches  manchmal  besser  als  an  der  Aorta  an  einer  be¬ 
grenzten  Stelle  des  Brustbeins  hörbar  ist.  Die  Bedingungen,  die 
am  meisten  zur  Entwicklung  dieses  Symptoms  Anlaß  geben,  sind 
die  gleichen  wie  diejenigen,  welche'  die  Entstehung  von  Arterio¬ 
sklerose  begünstigen.  Hiebei  ist  zu  bemerken,  daß  hei  Leuten, 
welche  fortgesetzt  Diätfehler  begingen,  reichliche  Fleischnaiiruim 
genossen,  Nikotiaabusus  und  nerven  a  n  sp  ann  ende  Beschäfti¬ 
gung  trieben,  das  oben  erwähnte  Geräusch  häufiger  und  in  jün¬ 
gerem  Alter  zu  hören  war.  Das  Geräusch  entsteht  im  Anfangs¬ 
teile  der  Aorta  und  wahrscheinlich  hauptsächlich  aus  dem  Grunde, 
weil  das  Hinaufhebein  der  Arme  besondere  Bedingungen  für  die 
Entstehung  unregelmäßiger  Schwingungen  der  pathologisch  ver¬ 
änderten  Aortemvand  schafft.  Die-  diagnostische  Bedeutung  enl- 
spricht  derjenigen  des  Vorhandenseins  eines  systolischen  Ge¬ 
räusches  an  der  Aorta  hei  der  gewöhnlichen  Auskultationsmethode, 
jedoch  findet  sich  das  genannte  Symptom  in  manchen  Fällen  viel 
früher  u.  zw.  zu  einer  Zeit,  wo  keinerlei  Anhaltspunkte  für  eine 
beginnende  Aortenerkrankung  bestehen.  Das  beschriebene  Ge¬ 
räusch  hat  auch  eine  gewisse  prognostische  Bedeutung;  sein 
Verschwinden  hei  gleichzeitiger  Besserung  des  Allgemeinbefin¬ 
dens  kann  als  gutes  Zeichen  angesehen  werden  und  als  Hinweis 
darauf,  daß  die  Aorta  die  Fähigkeit  besitzt,  verloren  gegangene 
physikalische  Eigenschaften  wieder  zu  restitutieren.  Das  beschrie¬ 
bene  Geräusch  muß  streng  und  genau  von  einer  Reihe-  ähnlicher 
Geräusche  unterschieden  werden,  welche  ebenfalls  in  derselben 
Gegend  bei  Hochheben  der  Arme  entstehen  können,  aber  eine 
andere  Entstehungs Ursache  und  Bedeutung  haben.  Hiezu  gehören 
zum  Beispiel  die  Iierz-,  Lungengeräusche,  Venengeräusche,  gewisse 
speziell  von  der  Subklavia  ausgehende  Geräusche,  gewisse  peri¬ 
kardiale  Geräusche  usw.  In  Anbetracht  des  Entdeckers  des  oben 
beschriebenen,  für  die  Frühdiagnose  der  Aortensklerose  überaus 
wichtigen  Symptoms,  schlägt  der  Verfasser  vor,  dasselbe  als 
„Siro finnisches  Symptom“  zu  bezeichnen.  -  (Russkij  Wratsch 
1910,  Nr.  51.)  J.  Sch. 

* 

129.  (Aus  dem  Laboratorium  der  therapeutischen  Hospitals¬ 

klinik  des  Prof.  W.  N.  Sirotin  in  der  St.  Petersburger  militär- 
medizinischen  Akademie.)  Zur  Frage  der  Bedeutung  des 
Pankreas  für  den  Nukleinstoffwechsel.  Von  N.  J.  Polu- 
hojärinow.  A  erf.  gelangt  auf  Grund  seiner  Versuche  unter  Be¬ 
rücksichtigung  der  Literatur  zu  folgenden  Ergebnissen.  Bei  ge¬ 
sunden  Hunden  verstärkt  das  nukleinsaure  Natrium  die  Diurese 
und  in  der  Mehrzahl  der  Fälle-  auch  die  Ausscheidung  «les  Ge¬ 
samtstickstoffs,  ohne  auf  die  Ausscheidung1  der  Körper  der  Harn¬ 
säurereihe  einen  besonderen  Einfluß  zu  haben.  Vielleicht  handelt 
es  sich  um  eine  erhöhte  Allantoina usscheidung.  Die  Menge  der 
Purinkörper  im  Harne  von  Hunden,  denen  das  Pankreas  exstir- 
piert  wurde,  ist  bedeutend  erhöht,  was  wahrscheinlich  mit  dem 
erhöhten  Zerfall  der  Gewehsnukleine  zusammenhängt,  als  Aus¬ 
druck  der  fortschreitenden  Abmagerung  der  Tiere.  Die  Einfüh¬ 
rung  von  Nukleinen  bei  pankreasberaubten  Hunden  hatte  Erhöhung 
der  Purinkörperausscheidung  zur  Folge,  die  Harnmenge  blieb  un¬ 
verändert,  der  Gesamtstickstoff  sank.  Die  Bauchspeicheldrüse  spielt 
nach  obigen  Ergebnissen  keine  Hauptrolle  im  Purinstoffwechsel. 
—  (Russkij  Wratsch  1910,  Nr.  51.)  .1.  Sch. 

* 

130.  Auto  serotherapie  der  sero-fibrinösen  Pleu¬ 
ritiden.  Von  N.  Th.  Tschigajew  (St.  Petersburg).  Die  Auto- 
s-erotherapie  besteht  bekanntlich  darin,  daß  1  bis  2  cm3  des 
mittels  Punktion  gewonnenen  Exsudates  dem  Patienten  subkutan 
injiziert  werden.  Verf.  gelangt  nun  auf  Grund  eigener  Beobach¬ 
tungen  und  der  einschlägigen  Literatur  zu  folgenden  Schlußfolge¬ 
rungen.  Die  Einspritzungen  sind  völlig  unschädlich  und  verur¬ 
sachen  keine  Reizerscheinungen,  weder  allgemeinen,  noch  loka¬ 
len  Charakters.  Temperatursteigerungen  treten  nach  der  Injek¬ 
tion  nicht  immer  auf  und  entsprechen  nur  einigen  Zehntelgraden 
und  dauern  nicht  lange.  Bei  tuberkulösen  Individuen  hat  die  In¬ 
jektion  keinerlei  Einfluß  auf  den  tuberkulösen  Lungenprozeß, 
trotzdem  das  pleuritische  Exsudat  zurückgeht.  Bei  den  meisten 
Fällen  mit  serofibrinösem  Pleuraexsudat  beginnt  die  Aufsaugung 
des  letzteren  bald  nach  der  subkutanen  Injektion.  Die  Heilung  der 


I 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


181 


serofibrinösen  Pleuritis  tritt  im  Verlaufe  von  zwei  bis  drei 
Wochen,  in  seltenen  Fällen  auch  innerhalb  einer  Woche  ein. 
Die  Heilung  schreitet  um  so  schneller  vorwärts,  je  früher  man 
die  Pleuraflüssigkeit  injiziert  hat;  doch  ist  die  Injektion  auch 
bei  chronischen  Formen  manchmal  von  Erfolg  begleitet.  Fast  kon¬ 
stant  ist  die  Besserung  des  subjektiven  Befindens  nach  der  In¬ 
jektion.  Ein  günstiges  Zeichen  und  gleichzeitig  ein  Merkmal  für  die 
Aufsaugung  des  Exsudates  ist  die  Diurese.  Die  Gewichtsabnahme 
geht  parallel  mit  der  Aufsaugung  des  Exsudates  und  der  Steige¬ 
rung  der  Diurese,  die  Gewichtszunahme  geht  der  Besserung  par 
allel.  Man  darf  die  Serotherapie  nicht  als  spezifische  Methode 
gegenüber  allen  Pleuritiden  ansehen,  doch  muß  anerkannt  werden, 
daß  sie  unter  den  übrigen  Mitteln  einen  bedeutsamen  Platz  ein- 
nimmt,  sowohl  bezüglich  Wirksamkeit,  als  auch  Gefahrlosigkeit. 
—  (Russkij  Wratsch  1910,  Nr.  51,  Sirotinin-Nummer.)  J.  Sch. 

\Zermisehte  {Maehriehten. 

Ernannt:  Dr.  Christian  Bruhn  zum  Professor  der  Zahn¬ 
heilkunde  in  Dresden., —  Dr.  Baiardi  zum  ordentlichen  Pro¬ 
fessor  der  Augenheilkunde  in  Genua.  —  Dl'.  Donaggio  zum 
ordentlichen  Professor  für  Nerven-  und  Geisteskrankheiten  in 

Messina. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Aladar  Elfer  für  innere  Diagnostik  in 
Klausenburg.  —  Dr.  Adam  Bauereisen  in  Marburg  für  Geburts¬ 
hilfe  und  Frauenkrankheiten  in  Kiel. 

* 

Am  21.  Januar  d.  J.  hielten  das  Fachkomitee  für  Heil¬ 
quellen  weisen  des  Obersten  Sanitätsrates  sowie  das 
Fachkomitee  für  Volksernährung  Sitzungen  ab.  Im  erst¬ 
genannten  Fachkomitee  wurden  Gutachten  über  folgende  Gegen¬ 
stände  erstattet:  1.  Annoncierung  einer  Mineralquelle  (Referent: 
Hofrat  Hueppe);  2.  Bezeichnung  und  Vertrieb  einer  Mineral¬ 
quelle  als  Radiumquelle  (Referent:  Prof.  Mauthner);  3.  Gesuch 
um  Abänderung  des  Verordnungsentwurfes  betreffend  Mineral¬ 
quellen  und  den  Verkehr  mit  Mineralwässern  und  Quellprodukten 
(Referent:  Hofrat  Ludwig);  4.  Therapeutische  Verwendung  von 
Radiumemanationen  zur  Inhalation  (Referent:  Sanitätskonsulent 
Kfiz);  5.  Errichtung  eines  Instituts  für  Radiuminhalation  (Re¬ 
ferent:  Derselbe).  Das  Fachkomitee  für  Volksernährung 
hat  folgende  Gutachten  beraten:  1.  Verwendung  des  Methyl¬ 
alkohols  zu  Genußzwecken  (Referent:  Hofrat  Hueppe);  2.  Eig¬ 
nung  eines  Kohlenpräparates  zur  Was'serreinigung  (Referent 
Prof.  Mauthner). 

* 

Wir  erhalten  folgende  Zuschrift:  „Einem  längst  empfun¬ 
denen  Bedürfnis  entsprechend,  trat  kürzlich  ein  Komitee  zu¬ 
sammen,  welches  sich  die  Gründung  einer  „Oesterreichischen 
Gesellschaft  für  Zahnpflege  in  den  Schulen“  zur  Aufgabe  gestellt 
hat.  In  Deutschland,  England,  Frankreich  und  den  anderen  Kultur¬ 
staaten  bestehen  bereits  seit  längerer  Zeit,  schulzahn  ärztliche 
Einrichtungen  und  es  ist  mit  Freude  zu  begrüßen,  daß  nun 
auch  in  Oesterreich  der  Schulzahnpflege  Aufmerksamkeit  zu¬ 
gewendet  wird.  Dem  Komitee  der  in  Gründung  begriffenen  Gesell¬ 
schaft  gehören  u.  a.  an:  Ministerialrat  im  Ministerium  des  Innern 
Dr.  v.  H  ab  er  ler  als-  Präsident,  Ministerialrat  im  Unterrichts¬ 
ministerium  Dr.  Heinz,  Regierungsrat  Prof.  Dr.  Sch  eff  vom 
Wiener  zahnärtlichen  Institut,  Regierungsrat  Privatdozent  Doktor 
Burg  er  st  ein,  die  Dozenten  für  Zahnheilkunde  Dr.  Weiser 
und  Dr.  Fleisch  mann,  Stadtrat  Reichsratsabgeordneter  T o- 
m  o  1  a,  Reichsrätsabgeordneter  Seitz,  Hof-  und  Gerichtsadvo¬ 
kat  Dr.  Viktor  Rosenfeld,  die  Zahnärzte  Dr.  Karolyi  und 
Di’.  Wolf  (letzterer  als  Schriftführer).  Die  Statuten  der  Gesell¬ 
schaft,  welche  dem  Ministerium  des  Innern  bereits  vorliegen, 
sehen  Zweigvereine  in  allen  Kronländcrn  vor,  die  in  steter  Fühlung 
mit  der  Wiener  Zentrale  eine  rege  Agitation  für  Zahnpflege  in 
den  Schulen  entfalten  sollen;  außerdem  räumen  sie  den  Staats-, 
Landes-  und  Gemeindebehörden  Mandate  in  den  Ausschüssen 
ein.  In  Anbetracht  des  hohen  volkshygienischen  Zweckes,  den 
die  Gesellschaft  verfolgt,  ist  zu  hoffen,  daß  der  Gedanke  in 
den  weitesten  Kreisen  Anklang  und  tatkräftigste  Unterstützung 
finde.“ 

* 

Der  X.  Kongreß  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
orthopädische  Chirurgie  wird,  wie  üblich,  am  Dienstag 
der  Osterwoche,  18.  April  1911 ,  dem  Tage  vor  der  Zusammenkunft 
der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  in  Berlin  im  Langen 
beckhause,  Ziegelstraße  10/11,  stattfinden.  Die  Eröffnung  des 


Kongresses  wird  vormittags  9  Uhr  erfolgen.  Vorträge  und  Mit¬ 
teilungen  sind  möglichst  bald  bei  H.  Ilo eftmann,  Königsberg  in 
Preußen,  anzumelden. 

Der  40.  Kongreß  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  findet  vom  19.  bis  22.  April  1911  in  Berlin  im 
Langen  beckhause  statt.  Vorsitzender  ist  Herr  I,.  Reim- Frank¬ 
furt  a.  M.  Die  Eröffnung  des  Kongresses  erfolgt  am  Mittwoch 
den  19.  April,  vormittags  10  Uhr,  im  Langenbeckhause  mit 
einer  Feier,  dem  Andenken  an  den  100.  Geburtstag  v.  Lange  n- 
becks  gewidmet.  Als  Hauptthemata  sind  zur  Besprechung  vor¬ 
gesehen:  Ueber  freie  Transplantationen  (Herr  Lexer);  die  Des¬ 
infektion  der  Hände  und  des  Operationsfeldes  (Herr  Küttuer); 
Morbus  Basedowi  (Herr  Kocher);  Coecum  mobile  (Herr  Wilms). 
Weiterhin  sind  Vorträge  angemeldet  über  intravenöse  Narkose, 
über  Ulcus  duodeni,  über  die  Behandlung  der  Varizen. 

* 

Ueber  die  Auslagen  der  Staatsverwaltung  für  die 
medizinischen  Fakultäten  nach  dem  Staats  vor  an¬ 
schlage  für  das  Jahr  1911  veröffentlicht  das-  Oesterreichische 
Sanitätswesen  folgende  Daten :  Das  ordentliche  Erfordernis  für 
die  sieben  medizinischen  Fakultäten  für  das  Jahr  1911  ist  mit 
6.000.167  K  präliminiert,  wovon  für  Wien  2,154.983  K,  Graz 
623.993  K,  Innsbruck  453.233  K,  Prag  (deutsch)  781.045  K,  Prag 
(böhmisch)  745.143  K,  Lemberg  479.000  K,  Krakau  762.370  K  aus- 
gesetzt  sind.  Das  Gesamterfordernis  ist  demnach  um  den  Betrag 
von  370.688  K  höher  als  das  des  Vorjahres.  Das  beträchtlichere 
Mehrerfordernis  bei  der  Fakultät  Graz  ist  hauptsächlich  auf  die 
Inanspruchnahme  des  Betrages  von  130.000  K  als  Konkurrenz¬ 
beitrag  für  die  Unterbringung  der  Kliniken  im  neuen  .Kranken¬ 
hause,  das  Mehrerfordernis  für  die  Fakultät  Krakau  auf  das  ver¬ 
mehrte  Betriebskostenerfordernis  von  80.000  K  für  die  neuerbaute 
psychiatrisch-neurologische  Klinik  zurückzuführen.  (Die  medi¬ 
zinischen  Fakultäten  weisen  folgende  systemisierten  Stellen  auf: 


Ordentliche 

Außerordentliche 

Assistenten 

86 

Adjunkten, 

Präparaioren, 

Wien  .  .  .  . 

Professoren 

.  25 

Professoren 

14 

Mechaniker, 

Zahntechniker 

6 

Graz  .  .  .  . 

.  14 

4 

37 

1 

Innsbruck  .  .  . 

.  15 

4 

31 

2 

Prag  (deutsch)  . 

.  15 

12 

44 

3 

Prag  (böhmisch) 

.  16 

13 

41 

3 

Lemberg 

.  14 

3 

34 

— 

Krakau  .  .  .  . 

.  15 

8 

38 

1 

Zusammen 

.  114 

58 

311 

16 

Der  Aufwand  für  Gehalte,  Aktivitätszulagen,  ferner  Dienstes-,  Er- 
gänzungs-  und  Personalzulagen  beläuft  sich  auf  1,518.187  K.  Für 
Stiftungen,  Stipendien,  Remunerationen  und  Aushilfen  ist  ein 
Gesamterfordernis  von  823.370  K  eingestellt.  Von  dieser  Summe 
entfallen  auf  honorierte  Lehraufträge  51.390  K,  auf  Remunera¬ 
tionen  für  Assistenten  664.882  K,  Demonstratorstipendien  83.450  K 
und  auf  sonstige  Remunerationen  23.648  K.  Für  die  Unterbringung 
von  Kliniken  und  für  Mietzinse  ist  ein  Aufwand  von  1,016.192  K, 
für  die  Dotierung  von  Kliniken  und  Instituten  unter  der  Rubrik 
„Unterrichtserfordernisse“  ein  solcher  von  2,003.332  K,  endlich 
für  Gebäudeerhaltungskosten,  Steuern  und  Abgaben,  Regieaus¬ 
lagen  und  Reisekosten  ein  Betrag  von  219.283  K  vorgesehen.  Das 
Gesamterfordernis  für  diese  Gruppe  von  Auslagen  beträgt  dem¬ 
nach  4,072.177  K  und  ist  um  354.290  K  höher  als  das  des  Vor¬ 
jahres.  —  Die  im  außerordentlichen  Erfordernis  für 
Riegie-  und  Unterrichtsbedürfnisse,  sowie  zur  Ergänzung  der 
wissenschaftlichen  Ausstattung  angesprochenen  Beträge  verteilen 
sich  auf  die  einzelnen  medizinischen  Fakultäten  folgendermaßen: 
Wien  31.630  K,  Graz  42.800  K,  Innsbruck  6300  K,  Prag  (deutsch) 
25.385  K,  Prag  (böhmisch)  20.474  K,  Lemberg  9000  K,  Krakau 
36.900  K.  Die  Gesamtziffer  dieser  Beträge  beläuft  sich  auf 
172.489  K. 

* 

Am  24.  Januar  ist  die  psychiatrische  Station  und  Nervcn- 
klinik,  dessen  Vorstand  Hofrat  Prof.  v.  Wagner  ist,  aus  dem 
Allgemeinen  Krankenhause  in  die  neuadaptierten  Räumlichkeiten 
der  ehemaligen  Landesirrenanstalt  in  der  Lazarettgasse  über¬ 
siedelt. 

* 

Literarische  Anzeigen:  Von  dem  Werke:  Ge¬ 
schlecht  und  Gesellschaft  von  Havelock  Ellis,  ins 
Deutsche  übertragen  von  Dr.  H.  Kuralla  ist  im  Verlage  von 
I  C.  Kabitzsch  in  Würzburg  der  zweite  Teil  erschienen.  Die 
I  Kapitel  dieses  Bandes  beziehen  sich  auf  Prostitution,  Bekämpfung 


182 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  5 


der  Geschlechtskrankheiten,  Ehe  und  Ehescheidung,  Liebeskunst 
und  Wissenschaft  der  Fortpflanzung  (Augenik). 

* 

G es undheits Verhältnisse  der  Wiener  Arbeiter¬ 
schaft  im  Dezember  1910.  Bei  dem  Verbände  der  Genossen¬ 
schafts-Krankenkassen  Wiens  und  der  Allgemeinen  Arbeiter- 
Kranken-  und  Unterstützungskasse  in  Wien,  welche  einen  Stand 
von  0 10. 000  Mitgliedern,  davon  280.000  in  Wien  aufweisen,  be¬ 
trug  im  Dezember  1910  die  Zahl  der  Krankmeldungen  mit  Er¬ 
werbsunfähigkeit  in  Wien  10.482  (9092).  Davon  entfielen  auf 
Tuberkulose  der  Atmungsorgane  922  (800),  andere  Er¬ 
krankungen  der  Atmungsorgane  1699  (1346),  Anginen 
446  (450),  Lungenentzündungen  42  (42),  Influenzen  993 
(331),  Erkrankungen  der  Zirkulationsorgane  279  (271). 
Magen-  und  Darmerkrankungen  599  (626),  rheumati¬ 
sche  Erkrankungen  822  0801 ),  auf  Verletzungen  (Betriebs¬ 
unfälle)  1561  (1638)  Erkrankungen.  Die  Zahl  der  Todesfälle 
betrug  im  Dezember  1910  279  (274).  Davon  entfielen  auf  Tuber¬ 
kulose  102  (ill),  andere  Erkrankungen  der  Atmungs¬ 
organe  20  (20),  der  Zirkulationsorgane  50  (39),  auf  Neu¬ 
bildungen  23  (ll),  Verletzungen  9  (5),  auf  Selbstmorde  7  (10) 
Todesfälle.  Für  das  ganze  Jahr  1910  (1909)  betrug  die  Zahl  der 
Erkrankungen  mit  Erwerbsunfähigkeit  112.084  (115.529),  von 
welchen  auf  das  erste  Quartal  30.682  (34.257),  auf  das  zweite 
27.246  (28.289),  auf  das  dritte  26.228  (26.289)  und  auf  das  vierte 
27.928  (26.090)  Krankmeldungen  entfielen.  Auf  die  wichtigsten 
Krankheitsgruppen  verteilt  sich  die  Zahl  der  Krankmeldungen 
nachstehend:  Tuberkulose  der  Atmungsorgane  10.469  (11.031), 
andere  Erkrankungen  der  Atmungsorgane  14.680  (16.024),  rheuma¬ 
tische  Erkrankungen  9612  (10.802),  Magen-  und  Darmerkran- 
kungem  8199  (8703)  und  Verletzungen  (Betriebsunfälle  21.563 
(20.257).  Die  Zahl  der  Todesfälle  betrug  3050  (3382)  u.  zw.  im 
ersten  Quartal  766  (944),  im  zweiten  820  (909),  im  drittem!  719 
(795),  und  im  vierten  745  (734).  Von  der  Gesamtzahl  der  Todes¬ 
fälle  entfielen  auf  Tuberkulose  der  Atmungsorgane  1197  (lolO), 
auf  Erkrankungen  der  Zirkulationsorgane  546  (420)  und  auf  Ver¬ 
letzungen  76  (108).  (Die  Ziffern  in  den  Klammern  beziehen  sich 
auf  das  Jahr  1909.) 

* 

Cholera.  Oesterreich.  Die  sanitären  Revisionsstationen 
in  Nowosielitza,  Brody  und  Podwoloczyska  wurden  aufgelassen. 

-  Italien.  Laut  amtlichen  Nachrichten  sind  in  Italien  in  der 
Zeit  vom  29.  Dezember  bis  10.  Januar  1911  28  Neuerkrankungen 
und  17  Todesfelle  an  Cholera  vowekommen,  u.  zw.  in  den  TJro- 
vinzen  Caserta  und  Lecce.  Rußland.  In  der  Woche  vom 
11.  bis  17.  Dezember  1910  ereigneten  sich  im  Russischen  Reiche 
13  Neuerkrankungen  und  9  Todesfälle  an  Cholera,  in  der  Woche 
vom  18.  bis  24.  Dezember  21  Neuerkrankungen  an  Cholera,  von 
denen  5  letal  endeten.  Die  letzteren  verteilten  sich  auf  die  Gouver¬ 
nements  Orenburg  (14,  davon  5  Sterbefälle),  Pödolin  '4)  und 
Jekaterinoslaw  (3).  —  Türkei.  In  Saloniki  wurden  Ende  De¬ 
zember  2  neue  Cholerafälle  konstatiert.  In  Arabien  greift  die 
Seuche,  begünstigt  durch  die  Pilgerfahrten,  rasch  um  sich.  So 
wurden  in  Mekka  bis  7.  Januar  33,  in  Medina  8  Choleraerkran¬ 
kungen  sichergestellt,  auch  in  Djeddah  und  Yambo  sind  Cholera¬ 
fälle  vorgekommen.  In  der  Quarantänestation  El  Tor  wurden 
auf  Pilgerschiffen  am  7.  Januar  3  weitere  Erkrankungen  kon¬ 
statiert.  —  Pest.  Rußland.  Nachdem  in  Odessa  im  Laufe 
des  Dezember  kein  Pestfall  mehr  zur  Anzeige  gekommen  war, 
wurde  am  8.  Januar  eine  neue  Pesterkrankung  konstatiert.  Die 
erkrankte  Person  wurde  in  das  bereits1  geschlossen  gewesene 
Pestspital  abgegeben.  Auch  in  Baku  ist  ein  bakteriologisch  be¬ 
stätigter  Pestfall  aufgetreten.  In  der  Kirgisensteppe  des  Gouver¬ 
nements  Astrachan  sind  von  Mitte  November  bis  5.  Dezember 
42  (39)  Pestfällo  (Todesfälle)  vorgekommen ;  bis1  13.  Dezember 
sind  weitere  13  Neuerkrankungen,  davon  4  tödlich,  zugewachsen. 
Nach  den  Meldungen  der  verschiedenen  Agenturen  ist  die  Pest 
sowohl  in  Peking,  als  auch  in  Charbin,  hier  in  bedeutendem  Um¬ 
fang  ajufgetreten.  Das  Stadtgebiet  von  Charbin  ist  von  dem 
pestverseuchten  Fudsjadan  durch  einen  Polizeikordon  abgesperrt 
worden.  Am  24.  Januar  standen  1252  Personen  wegen  Pestverdacht 
in  Beobachtung.  —  Aegypten.  In  der  Zeit  vom  23.  bis  31.  De¬ 
zember  ereigneten  sich  in  Alexandrien  1  (l),  in  den  Provinzen 
Assiout  6  (3),  Galioubieh  1  (0),  Menoufieh  11  (0)  Pestfälle 

(Todesfälle).  Während  des  Jahres  1910  betrug  die  Gesamtzahl  aller 
Erkrankungen  an  Pest  1238  (davon  615  tödlich),  während  im 
Jahre  1909  nur  513  Pestfälle  konstatiert  worden  waren. 

* 

Druckfelilerbe'richtigung.  In  der  Arbeit  von  Kelling 
in  Nr.  3  muß  es  auf  Seite  91,  Zeile  12  von  unten  rechts,  anstatt 
gesunden  Hämoglobins,  gesamten  Hämoglobins  heißen. 


Wiener  Aerzte  Orchester.  Alle  Sitzplätze  für  das 
Wohltätigkeitskonzert  zugunsten  der  Hinterbliebenen  des  Doktor 
Richard  Franz  waren  binnen  zwei  Stunden  nach  der  Kassen¬ 
eröffnung  vergriffen.  Stehplätze  sind  bei  der  Konzertkasse, 
Wien  L,  Canovagasse,  erhältlich. 


Freie  Stellen. 

In  Rudolfinerhause  in  Wien  XIX.  (chirurgisches  Spital)  ist 
die  Stelle  eines  Sekundararztes  vom  15.  Februar  1911  an  zu  besetzen. 
Diese  Stelle  ist  mit  freier  Station  und  einem  Gehalte  von  200  K  monat¬ 
lich  verbunden.  Bewerber  wollen  sich  bis  längstens  14.  Februar  1911, 
Vormittag  zwischen  9  und  12  Uhr  im  Rudolfinerhause,  XIX.,  Billroth- 
straße  78,  vorstellen. 

Distriktsarztesstelle  in  Schwarzbach,  Bezirk  Oberplan 
(Böhmen).  Zu  diesem  Distrikte  gehören  28  Ortschaften,  darunter  der 
Markt  Unterwuldau  mit  einer  Bevölkerung  von  ca.  4000  Seelen.  Die 
fixen  Bezüge  bestehen  in  einem  vom  Bezirksausschüsse  zu  leistenden 
Jahresgehalte  von  800  K  und  Reisepauschale  von  350  K;  ferner  für  Be¬ 
handlung  der  Fürst  Schwarzenbergschen  kurberechtigten  Personen  in  den 
Meiereien  der  Sektion  Schwarzbach  in  jährlich  200 K  bar,  10  Raummeter 
weiches  Holz  und  20  Raummeter  Brenntorf;  weiters  für  Behandlung  der 
Mitglieder  der  fürstlichen  Betriebskrankenkasse  der  Brauerei  Schwarz¬ 
bach  jährlich  100  K.  Hinsichtlich  des  Honorars  für  die  Behandlung  der 
Bergbaubruderladenmitglieder  des  fürstlichen  Graphitwerkes  ist  mit  der 
Bergdirektion  in  Schwarzbach  ein  Abkommen  zu  treffen.  Der  Distrikts¬ 
arzt,  welcher  der  alleinige  Arzt  im  Distrikte  ist,  hat  eine  Hausapotheke 
zu  führen  und  steht  demselben  eine  ausgedehnte  Privatpraxis  nicht  nur 
im  eigenen,  sondern  auch  im  unbesetzten  Nebendistrikte  Kirchschlag  zu 
Gebote,  welche  bei  der  Wohlhabenheit  der  Bevölkerung  eine  lohnende 
ist.  Der  Sitz  des  Distriktsarztes  ist  in  Schwarzbach  an  der  Budweis- 
Kalnauer  Bahn  und  stellt  die  Gemeinde  eine  schöne  Wohnung  im  neuen 
Gemeindehause  zu  mäßigem  Preise  zur  Verfügung.  Die  Besetzung  erfolgt 
auf  ein  Jahr  provisorisch,  nach  dessen  Ablauf  die  Bezirksvertretung  über 
die  definitive  Besetzung  entscheidet.  Die  vorschriftsmäßig  instruierten  Ge¬ 
suche  sind  bis  Ende  M  ä  r  z  1.  J.  beim  Bezirksausschüsse  Oberplan  zu 
überreichen. 

Distriktsarztesstelle  in  für  den  Sanitätsdistrikt  Unter- 
Lukavitz,  politischer  Bezirk  Pfestitz  in  Böhmen,  mit  dem  Wohnsitze 
des  Arztes  in  Unter-Lukavitz.  Der  Sanitätsdistrikt  umfaßt  18  Ortsgemeinden 
im  Flächenmaße  von  9370  km2  mit  6378  Einwohnern  böhmischer 
Nationalität.  Jahresgehalt  800  K  nebst  einem  Reisepauschale  von  40  K 
per  10  km2.  Die  Stelle  wird  für  ein  Jahr  provisorisch  besetzt.  Die  Ge¬ 
suchsteller  haben  ihre  im  Sinne  des  §  5  des  Gesetzes  vom  28.  Februar 
1888,  Ij.-G.-B1.  Nr.  9.  instruierten  Gesuche  bis  15.  Februar  1911  im 
Einreichungsprotokolle  des  Bezirksausschusses  in  Pfestitz  einzubringen. 

Distriktsarztesstelle  in  Rudolfs  wert  (Krain)  mit 
dem  Jahresgehalte  von  1200  K,  einer  Aktivitätszulage  von  200  K  und 
zwei  Dienstalterszulagen  (Quinquennien)  zu  100  K.  Der  zum  Distrikts- 
arzte  Ernannte  erhält  gleichzeitig  die  Stelle  des  Primararztes  im  Kranken¬ 
hause  der  Barmherzigen  Brüder  in  Kandia  gegen  eine  besondere,  vom 
Konvente  einvernehmlich  mit  dem  Landesausschusse  festzusetzende  Ent¬ 
lohnung.  Bewerber  um  diese  Stelle  haben  ihre  Gesuche  bis  3.  Februar  1911 
an  den  Landesausschuß  in  Laibach  unter  Beischluß  der  Dokumente  über 
das  Alter,  die  Berechtigung  zur  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis,  die 
österreichische  Staatsbürgerschaft,  physische  Eignung,  Moralität,  bisherige 
Verwendung  und  Kenntnis  der  slowenischen  und  deutschen  Sprache  ein¬ 
zusenden.  Vorzug  haben  Kompetenten,  die  sich  mit  einer  längeren 
chirurgischen  Praxis  ausweisen  können. 

Vom  ersten  Semester  des  Studienjahres  1911/12  angefangen,  ist 
ein  Dr.  Heinrich  H  e  r  z  f  e  1  d  e  r  sches  Fakultätsstipendium  von  jährlich 
240  K,  diesmal  für  einen  Studierenden  der  Medizin  israelitischen  Glaubens 
auf  die  Dauer  der  Studienzeit  zu  verleihen.  Bewerber  um  dieses  Sti¬ 
pendium  haben  ihre  mit  dem  Geburts-  und  Impfscheine,  dem  Mittel¬ 
losigkeitszeugnisse,  ferner  mit  den  Studienzeugnissen  der  beiden  letzten 
Semester,  bzw.  mit  den  Frequentationszeugnissen  belegten  Gesuche, 
welche  nur  dann  der  gesetzlichen  Stempelpflicht  nicht  unterliegen,  wenn 
sic  mit  einem  legalen  Armutszeugnisse  beldgt  sind,  bis  31.  März  1911, 
miltags  12  Uhr,  beim  Wiener  medizinischen  Doktorenkollegium,  I.,  Roten- 
turmsfraße  19,  zu  überreichen.  Die  Bewerber  haben  übrigens  außer  den 
erwähnten  Zeugnissen  sich  noch  mit  der  Bestätigung  ihres  Vorgesetzten 
Dekanates  des 'Professorenkollegiums  über  ihre  Würdigkeit  zur  Erlangung 
eines  Stipendiums  auszuweisen.  Alle  nicht  ordnungsmäßig  belegten,  oder 
nach  dem  31.  März  1911  einlangenden  Gesuche  können  nicht  berück¬ 
sichtigt  werden.  Vom  Wiener  medizinischen  Doktorenkollegium. 

Aus  dem  Erträgnisse  der  Dr.  Wilhelm-  und  A  1  i  d  a  -  Stiftung 
ist  vom  Jahre  1911  an  ein  Stiftplatz  von  jährlichen  880  K  zu  verleihen. 
Zum  Genüsse  dieser  Stiftung,  welche  auf  Lebensdauer  verliehen  wird 
und  welche  jeden  Perzipienten  verpflichtet,  alljährlich  zwei  Messen  für 
das  Seelenheil  der  Stifter  lesen  zu  lassen,  sind  nur  alte,  gebrechliche, 
ohne  ihr  Verschulden  hilfsbedürftig  gewordene  Mitglieder  des  Wiener 
medizinischen  Doktorenkollegiums  berufen,  in  erster  Linie  solche,  die 
Kinder  haben,  in  zweiter  Linie  hei  sonst  gleichen  Eigenschaften  homöo¬ 
pathische  Aerzte.  Bewerber  um  diesen  Stiftplatz  haben  ihre  mit  dem 
Altersnachweise  und  dem  Nachweise  ihrer  Hilfsbedürftigkeit  belegten 
Gesuche  bis  längstens  31.  März  1911  beim  Wiener  medizinischen 
Doktorenkollegium,  I.,  Rotenturmstraße  19,  zu  überreichen.  Vom  Wiener 
medizinischen  Doktorenkollegium. 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


183 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


INH 

Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 
Sitzung  vom  27.  Januar  1911. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in  Wien. 
Sitzung  vom  12.  Januar  1911. 


ALT: 

Wiener  dermatologische  Gesellschaft.  Sitzung  vom  7.  Dezember  1910. 
Verein  fiir  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien.  Sitzung  vom 
10.  Januar  1911. 

Wissenschaftliche  Gesellschaft  deuischcr  Aerzte  in  Böhmen. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  27.  Januar  1911. 

Vorsitzender:  Reg.- Rat  Prim.  Dr.  Adler. 

Schriftführer:  Priv.-Doz.  Dr.  A.  Fuchs. 

Mitteilungen  des  Vorsitzenden:  Herr  Hof  rat  Prof.  Pal  tauf 
ladet  die  Mitglieder  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  zu  seinem 
am  31.  Januar  im  Hörsaal  des  hygienischen  Institutes  statt¬ 
findenden  Vortrage  ein  („Zur  Pathologie  der  Wut“). 

Der  Vorsitzende  macht  ferner  Mitteilung  von  dem  am 
5.  Februar  zugunsten  der  Hinterbliebenen  des  Dr.  Franz  in 
Riedau  stattfindenden  Wohltätigkeitskonzert. 

Als  Gast  Dr.  Tecklenburg  aus  Bad  Kis singen. 

Dr.  Maximilian  Hirsch :  Meine  Herren !  Ich  möchte  mir  er¬ 
lauben,  Ihre  Aufmerksamkeit  auf  das  Krankheitsbild  zu  lenken, 
welches  dieser  Patient  aus  der  Abteilung  des  Herrn  Professor 
Schnitzler  bietet:  Es  ist  ein  16jähriger  Bursche,  der  vor  vier 
Monaten  mit  Schmerzen  unterhalb  des  linken  Kniegelenkes  er¬ 
krankte.  Irgend  ein  erheblicheres  Trauma  ist  nicht  vorausge¬ 
gangen,  doch  war  Pat.  eifriger  Fußballspieler.  Wir  finden  das 
Kniegelenk  vollkommen  frei.  Unterhalb  desselben  und  zwar 
genau  der  Tuberositas  tibiae  entsprechend  eine  deutliche 
Schwellung  u.  zw.  eine  knöcherne  Prominenz,  die  ziemlich 
druckschmerzhaft  ist.  Die  Haut  darüber  ist  unverändert. 
Beim  Gehen  hinkt  Pat.  etwas. 

Wenn  man  diese  Fälle  nicht  kennt,  kann  man  leicht  in  dia¬ 
gnostische  Verlegenheit  kommen.  Nun  hat  aber  Schlatter  und 
fast  gleichzeitig  Ossgood  im  Jahre  1903  dieses  typische  Krank¬ 
heitsbild  beschrieben,  das  darin  besteht,  daß  bei  14  bis  16jährigen 
Knaben  meist  ohne  nachweisbares  Trauma,  sehr  häufig  bei  Fu߬ 
ballspielern,  eine  schmerzhafte  Anschwellung  der  Tu¬ 
berositas  tibiae  auftritt.  Wir  haben  es  also  hier  mit  einem 
typischen  Falle  von  Sch  latter  scher  Krankheit  zu  tun. 

Was  liegt  nun  diesem  typischen  Krankheitsbild  zugrunde? 
Schlatter  und  mit  ihm  eine  Reihe  von  Autoren  fassen  die 
Krankheit  als  unvollständige  Rißfraktur  der  Tubero¬ 
sitas  tib  iae  auf,  indem  sie  sich  auf  ihre  Röntgenbilder  berufen, 
die  ja  zum  Teil  frakturartig  aussehen.  Nun  sind  die  Bilder  aber 
wenig  beweisend,  weil  das  Röntgenbild  der  Tuberositas  in  diesem 
Lebensalter  schon normaliter  sehr  mannigfaltig  sein  kann.  Es 
hängt  das  mit  der  Entwicklung  der  Tuberositas  zusammen.  Diese 
entwickelt  sich  nämlich  aus  dem  zungenförmigen  Fortsatz,  den 
die  obere  Epiphyse  vor  der  Diaphyse  nach  abwärts  sendet. 
Dieser  Fortsatz  ist  zunächst  rein  knorpelig;  gerade  zwischen 
dem  14.  und  16.  Lebensjahr  beginnt  die  Ossifikation  in  ihm 
und  zwar  gewöhnlich  aus  zwei  Kernen,  einem  unteren  oder  Tu- 
berositaskern  und  einem  oberen  oder  Fortsatzkern ;  die  Kerne 
wachsen  einander  entgegen  und  verschmelzen.  Bleibt  die  Ver¬ 
schmelzung  einmal  aus,  oder  tritt  ein  dritter  Kern  auf  —  was 
alles  im  Bereiche  der  Norm  liegt  — ,  so  kann  dies  im  Röntgenr 
bild  eine  Fraktur  der  Tuberositas  vortäusehen.  Die  Röntgenbilder 
sind  also  nur  mit  Vorsicht  verwertbar. 

Ich  werde  mir  nun  erlauben  das  Röntgenbild  unseres  Falles 
zu  demonstrieren.  Sie  sehen  im  Bereiche  der  Tuberositas  ver¬ 
schiedene  Unregelmäßigkeiten,  die  auf  dem  ersten  Blick  eine 
Fraktur  vortäusehen  können;  doch  handelt  es  sich  nicht  um 
Frakturlinien,  sondern  Knorpelfugen,  die  die  Knochenkerne 
trennen.  Pathologisch  sind  ian  dieser  Tuberositas  die  un¬ 
scharfen  Formen  der  Konturen  und  das  Verschwöm¬ 
me  n s e i n,  zum  Teil  auch  Aufgehelltsern  der  S t r u k t u r  der 
•  Tuberositas. 

Unser  Röntgenbild  entspricht  also  keiner  Fraktur,  sondern 
einer  rarefiz  ierenden  Ostitis,  hzw.  Osteochondritis. 
TTnd  dies  ist  die  Auffassung,  die  eine  andere  Reihe  von  Autoren, 
besonders  Winslow,  Kienböck  usw.  von  der  Schlatterschen 

Krankheit  hat. 

Nach  unserem  Falle  werden  wir  uns  also  dieser  Auffassung 
daß  es  sich  bei  der  Schlatterschen  Krankheit  nicht  um  eine 
Fraktur,  sondern  um  einen  ostitischen  oder  osteochondritischen 
Prozeß  handelt,  anschließen,  daß  also  nur  eine  Apophysitis 
tibiae  ad  ol es centium  (Alsberg)  vorliegt. 


Dr.  Gottwald  Schwarz  demonstriert  ans  einer  größeren  Ver¬ 
suchsreihe  über  die  Reizqualität  der  X-Strahlen  ein  be¬ 
strahltes  Exemplar  von  Cereus  (Cactaceae).  Diese  Pflanzen 
wachsen,  kalt  gezogen,  nur  äußerst  langsam  —  geradezu  un- 
merklich. 

Während  der  Monate  September — Dezember  wurde  das  Ob¬ 
jekt  in  mehrtägigen  Intervallen  mit  mittleren  Dosen  Röntgenlichtes 
beschickt  u.  zw.  derart,  daß  nur  die  eine  Hälfte  den  Strahlen 
ausgesetzt,  die  andere  aber  durch  eine  Metallplatte  abgedeckt  war. 

Die  Pflanze  wurde  kühl  gehalten  und  zeigte  während  der 
ganzen  Zeit  keinerlei  Veränderungen. 

Nunmehr  wurde  die  Bestrahlung  sistiert  und  der  Cereus 
unter  gleichzeitiger  Wasserzufuhr  in  die  Wärme  gebracht. 

Unter  solchen  Umständen  wird  ein 'Wach  stums  reiz  auf 
die  Pflanze  ausgeübt  und  sie  beginnt  kräftig  zu  wachsen. 

Es  zeigte  sich  nun,  daß  die  bestrahlte,  äußerlich  gar  nicht 
veränderte  Hälfte  nicht  imstande  war,  auf  diesen  Wachstums* 
reiz  zu  reagieren,  so  daß  nur  die  unbestrahlte  Hälfte  größer 
wurde  und  neuen  hellgrünen  Gewebsansatz  zeigte. 

Versuche  über  die  wachstumshemmende  Wirkung  der 
X-Strahlen  an  Pflanzenkeimen,  also  im  Wachstum  begriffenen 
Gebilden  sind  von  mir  und  anderen  schon  vor  längerer  Zeit  mit 
positivem  Resultate  ausgeführt  worden.  An  wachsenden  Tieren 
von  Perthes  und  Förster  ling. 

Die  Frage,  die  dem  vorliegenden  Experimente  zugrunde  lag, 
war:  „Wie  verhalten  sich  nichtwachsende  Zell  komplexe, 
die  bestrahlt  worden  sind  und  auf  die  dann  nachträglich 
ein  Wachstumsreiz  einwirkt. 

Diese  Frage  muß  in  diesem  Falle  dahin  beantwortet  werden, 
daß  die  X*Strahlen  die  Zelle,  ohne  sie  zu  destruieren,  derart 
beeinflussen,  daß  sie  einem  nachträglich  auf  sie  einwir¬ 
kenden  Wachstumsreiz  nicht  Folge  leisten  kann. 

Ich  habe  mir  erlaubt,  dieses  asymmetrisch  gewordene  Exem¬ 
plar  und  insbesondere  die  Versuchsbedingungen  hier  zu  demon¬ 
strieren,  weil  ein  gewisses  Analogon  zu  jenen  Vorgängen  be¬ 
steht,  die  man  sich  bei  der  prophylaktischen  Bestrahlung  von 
operierten  Mammakarzinomen  wohl  als  wirksam  vorstellen  mag. 

Auch  da  handelt  es  sich  um  lange  Zeit  nicht  wachsende, 
zurückgebliebene  Geschwulstkeime,  die  im  Falle  der  Rezidive 
durch  einen  uns  unbekannten  Wachstumsreiz  zu  neuer  Prolife¬ 
ration  angeregt  werden.  Es  dürfte  nicht  gewagt  sein,  anzu¬ 
nehmen,  'daß  die  chronische  Vorbestrahlung  solcher  Zellkom¬ 
plexe  mit  ausgiebigen  Quanten  von  Röntgenlicht,  ihre  Re¬ 
aktionsfähigkeit  auf  den  Wachstumsreiz  aufheben  oder  mindern 

kann. 

Diskussion:  Priv.-Doz.  Dr.  L.  Freund:  Die  angeführte 
Wachstumshemmung  ist  nur  die  eine  Seite  der  Wirkungsweise 
der  Röntgenstrahlen  auf  Pflanzen.  Wie  Maldiney  und  Th  dri¬ 
ven  in,  Lop  ri ore  und  Guilleminot  nachwiesen,  ist  ein 
schädigender  Einfluß  auf  die  Keimung  und  das  Wachstum  wohl 
nach  sehr  intensiven  Bestrahlungen  bemerkbar;  kleine  Dosen 
üben  jedoch  eine  beschleunigende  Wirkung  aus. 

Dr.  A.  v.  Khautz  jun.:  1.  Darm  strangulation  und 
zerebrale  Reizerscheinungen  nach  Appendizitis. 

Dieses  7jährige  Mädchen,  das  ich  mir  vorzustellen  erlaube, 
wurde  Ende  Oktober  v.  J.  wegen  einer  seit  sechs  Tagen  bestehen¬ 
den  Appendizitis  an  die  chirurgische  Abteilung  des  St.  Josef- 
Kinderspitales  gebracht.  Es  fand  sich  ein  gut  hühnereigroßer 
D'Ouglasabszeß,  der  vom  Mastdarm  aus  inzidiert  wurde.  Die  lo¬ 
kalen  und  allgemeinen  Erscheinungen  gingen  daraufhin  bald  zu¬ 
rück,  das  Kind  erholte  sich,  als  vier  Wochen  nach  der  Auf¬ 
nahme  ein-  bis  zweimal  täglich  Erbrechen  auftrat,  ohne  daß 
am  Abdomen  des  Kindeis.  etwas  Auffallendes  zu  bemerken  war; 
Stuhlgang  täglich,  meist  auf  Klysmen.  Das  einzige  Symptom,,  das 
einigermaßen  auf  die  naheliegende  Annahme  einer  Adhäsions- 
Stenose  hindeutete,  waren  die  zeitweilig  hörbaren  metallisch- 
klingenden  Darmgeräusche.  So  ging  es  fünf  Tage  fort,  ohne  daß 
sich  ;am  Krankheitsbilde  etwas  Wesentliches  geändert  hatte. 
Das  Erbrochene  war  meist  wässerig-schleimig  oder  enthielt  frisch- 
gen ossene  Speisen,  nie  Darminhalt.  Am  sechsten  Tage  ändeite 
sich  plötzlich  das  ganze  Bild,  das  Kind  wurde  apathisch,  reagierte 
nicht  mehr  auf  Fragen,  schrie  auf,  oder  lag  somnolent  dahin,  es 


184 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


(raten  Zähneknirschen  und  tonische  Krämpfe  in  den  linken  Extre¬ 
mitäten  auf.  Bei  der  abends  vorgenommenen  Lumbalpunktion 
wurden  unter  hohem  Drucke  fast  zwei  Eprouvetten  voll  klarer 
Spinalflüssigkeit  entleert,  worauf  die  Reizerscheinungen  langsam 
schwanden.  Trotzdem  an  diesem  Tage  vermehrte  Dünndarmperi¬ 
stallik  schon  deutlich  zu  sehen  war,  ließ  ich  mich  durch  die 
ausgesprochen  zerebralen  Erscheinungen  bestimmen,  bis  zum 
nächsten  Morgen  zuzuwarten.  Als  am  folgenden  Tage  das  Sen- 
sorium  wieder  vollkommen  frei  war,  führte  ich  die  mediane 
Laparotomie  aus,  welche  außer  zahlreichen  Verwachsungen  von 
Netz  und  Därmen  untereinander  in  der  Gegend  des  Promontorium 
eine  Einschnürung  des  oberen  Ileu ms  bis  auf  'Bleistiftdicke  zeigte; 
die  zuführende  Darmschlinge  mächtig  gebläht.  Bedingt  war  diese 
Strangulation  durch  einen  kaum  2  cm  langen,  2  mm  dicken  spul¬ 
runden  Strang,  der  sich  als  ein  langgezogener  und  am  Mesenterium 
der  Dünn  darmschlinge  angewachsener  Appendix  epiploicus  der 
Flexura  sigmoidea  erwies.  Nach  Entfernung  -des  Stranges  stellte 
sich  die  Darmpassage  sofort  wieder  her.  Bei  der  Lösung  von 
weiteren  Verwachsungen  auf  der  Suche  nach  dem  Processus 
vermiformis  wurde  in  der  Tiefe  des  Douglas’  ein  haselnußgroßer 
.Abszeß  eröffnet,  der  die  Tamponade  des  Douglas'  notwendig 
machte.  Die  Wundheilung  erfolgte  ohne  Besonderheiten. 

Der  Fall  ist  einigermaßen  von  Interesse  durch  das  früh¬ 
zeitige  Auftreten  von  Dannstrangulation,  fünf  Wochen  nach  Be¬ 
ginn  einer  Appendizitis,  ferner  durch  die  Komplikation  mit  zere¬ 
bralen  Erscheinungen,  die  ich  als  Ausdruck  sterkoraler  Intoxi¬ 
kation  auffassen  möchte. 

2.  7, jähriger  Knabe,  der  vor  zwei  Jahren  wegen  hoch¬ 
gradiger  rachitischer  Genua  Val  g a,  wie  man  sie  re¬ 
lativ  selten  sieht,  an  unserer  Abteilung  operiert  wurde.  Es  wurde 
in  zwei  Sitzungen  die  keilförmige  Osteotomie  am  oberen  Tibia- 
ende  und  die  lineare  Osteotomie  in  der  Mitte  des  Femurs  ausge¬ 
führt.  Die  Abbildungen  zeigen  das  Aussehen  vor  und  nach  der 
Operation. 

Priv.-Doz.  Dr.  M.  Oppenheim:  Der  Fall,  den  ich  mir  zu 
demonstrieren  erlaube,  zeigt  die  seltene  Koinzidenz  eines1  fri¬ 
schen  luetischen  Exanthems  mit  einer  vollständi¬ 
gen  Fazialislähmung. 

Der  36jährige  Patient  infizierte  sich  im  November  1909 
und  bekam  anfangs  Dezember  ein  Ulcus  durum.  Vor  drei  Wochen 
(rat  unter  heftigen  Proruptionserscheinungen  ein  reichliches  ma- 
ku  1  o-p  apu  1  o-pu  s  tu  lös  es  Syphilid  auf..  Vor  acht  Tagen  begannen 
neuerliche  heftige  Kopfschmerzen,  die  hauptsächlich  im  rechten 
Hinterhaupt  lokalisiert  waren  und  daraufhin  trat  neben  einem 
Nachschub  von  Syphiliseffloreszenzen  eine  Lähmung  des  rechten 
Fäzialis  ein. 

Der  Kranke  zeigt  heute  ein  reichliches  polymorphes  Exan- 
Ihem  am  Stamme  und  an  den  Extremitäten  und  dabei  eine  voll¬ 
ständige  Paralyse  des  rechten  Fazialis,  die  sich  in  einem  Ver¬ 
strichensein  der  Falten  der  rechten  Gesichtshälfte  und  in  der 
Unmöglichkeit  jeglicher  Muskelaktion  dieser  Seite  äußert.  Der 
Akustikus  ist  nicht  beteiligt.  Da  man  in  letzter  Zeit  den  peri¬ 
pheren  Lähmungen  der  Nerven  bei  frischer  Syphilis  mehr  Auf¬ 
merksamkeit.  schenkt,  mit  Rücksicht  auf  die  Ehrlich-TIata- 
Tnjektionen,  so  wollte  ich  den  Fall  demonstrieren  und  will  auch 
an  ihm  den  Effekt  von  Salvarsan  erproben.  Fazialislähmung 
im  Erühstarlinm  der  Syphilis,  speziell  zwei  Monate  post  infec- 
tipnem.  gehört  zu  den  großen  Seltenheiten. 

Hofrat  A.  Weichselbaum:  lieber  die  Veränderungen 
des  Pankreas  hei  Diabetes1  melitus.  (Siehe  unter  den 
Originalien  in  dieser  Nummer.) 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  12.  Januar  1911. 

Th.  Es  eher  ich  zeigt  ein  Kind,  bei  welchem  er  Impe¬ 
tigo  und  Follikulilis  mit  Perhydrol  behandelt  hat 
Das  Kind  hat.  eine  Pneumonie  durchgemacht,  hei  welcher  feucht- 
warme  Umschläge  am  Thorax  aufgelegt  wurden.  An  dieser  Stelle 
traten  paeh  Abheilung  der  Pneumonie  mächtige  Impetigoblasen 
und  Follikulitiden  auf.  Die  Behandlung  wurde  folgendermaßen 
durchgeführt:  Die  kranken  Stellen  wurden  mit  Seifenspiritus 
gewaschen,  die  kleinen  Furunkel  mittels  krummer  Schere  ge¬ 
öffnet,  mittels  watteumwickelter,  in  Perhydrol  eingetauchter 
Stäbchen  wurden  die  eröffne  ten  Follikel  ausgebohrt,  dann  kam 
das  Kind  in  ein  warmes  Snblimatbad  und  hierauf  wurden  einige 
Male  3°<>ige  Perhydrolumschläge  aufgelegt.  Der  Erfolg  dieser 
Behandlung  war  überraschend,  das  Kind  ist  binnen  drei  Tagen  fast 
geheilt  und  eine  Fortsetzung  der  Eiterung  ist  nicht  mehr  zu 
bemerken. 


O.  Schey  bemerkt,  daß  das  Perhydrol  bei  venerischen 
Erkrankungen,  speziell  bei  Ulcus  venereum  gute  Erfolge  aufweist. 
In  der  Kinderpraxis  wurde  es  bisher  noch  nicht  angewendet. 

A.  v.  Reuß:  lieber  Eiweißmilch.  Vortr.  berichtet 
über  die  Erfolge  der  Eiweißmilchtherapie  nach  Finkeistein 
und  Meyer  an.  der  Wiener  Kinderklinik.  Der  Wert  dieser  Therapie 
liegt' darin,  daß.  sie  in  jenen  Fällen  von  schwerer  Dekomposition 
eine  Zufuhr  der  im  Hinblick  auf  den  Allgemeinzustand  dringendst 
indizierten  Kohlehydrate  erlaubt,  wo  der  Darm  gegen  letztere 
eine  gesteigerte  Empfindlichkeit  zeigt  und  die  gebräuchlichen 
kohlehyd  ratreichen  Nahrungsgemische  zu  Darmreizungssympto¬ 
men  führen.  Wenn  es  gelingt,  durch  die  Eiweißmilchtherapie 
.auch  nur  einzelne  dieser  verzweifelten  Fälle  zu  retten,  ist  damit 
ihr  dauernder  Wert  erwiesen.  Sie  leistet  hier  mehr  als  andere 
künstliche  Nahrungsgemische.  Beim  Atrophiker  mit  relativ  tole¬ 
rantem  Darm  ist  die  Eiweißmilch  entbehrlich  und  die  altbewährte 
I  herapie  vorzuziehen.  Während  bei  jenen  Enteritiden,  welche 
mit  Gärungsvorgängen  im  Darm  einhergehen,  die  Eiweißmilcli 
\  orzügliches  leistet,  Scheint  sie  dort,  wo  Gärungsvorgänge  ätio¬ 
logisch  keine  oder  nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielen,  be¬ 
sonders  bei  schweren  Dickdarmaffektionen,  kontraindiziert  zu 
sein.  In  schweren  Fällen  von  Dekomposition  mit  empfindlichem 
Darm  erzielt  man  durch  Zufütterunlg  kleiner  Mengen  Frauenmilch 
zu  einer  einfachen  Kaseinfettaufschwemmung  oft  sehr  gute  Er: 
folge  bezüglich  des  Allgemeinzustandes  und  der  Darmerschei¬ 
nungen.  Auch  bei  schweren  Dyspepsien  der  Brustkinder  gibt 
die  Zufütterung  von  Ka sein fettaufschwemmun gen  in  der  Mehr¬ 
zahl  der  Fälle  sehr  gute  Resultate.  Allerdings  gibt  es  auch  hier 
Ausnahmen. 

T.  Zatelli  bemerkt,  daß  auf  der  Säuglingsabteilung  von 
Prim.  Foltanek  im  Wilhelmin enspital  ebenfalls  mehrere  Fälle 
mit  Eiweißmilch  behandelt  wurden.  Meist  war  ein  vorübergehen¬ 
der  günstiger  Erfolg  zu  verzeichnen,  in  anderen  Fällen  blieb 
dieser  Erfolg  ganz  aus,  die  Kinder  verweigerten  die  Aufnahme 
der  Eiweißmilch  oder  sie  mußte  wegen  Erbrechens  oder  wegen 
Verschlechterung  des  Stuhles  ausgesetzt  werden.  In  zwei  Fällen 
traten  auch  blutige  Stühle  auf.  ' 

S.  Weiß  hat  Eiweißmilch  in  zwei  Fällen  verwendet,  beide 
Male  mit  gutem  Erfolg. 

AA  .  Knöp  f  elmacher  hat  die  Eiweißmilch  durch  mehrere 
Monate  an  gewendet,  kann  jedoch  kein  definitives  Urteil  über  ihren 
Wert  aligeben.  In  einem  Teil  der  Fälle  trat  keine  Besserung  auf, 
hei  einigen  dekomponierten  Kindern  trat  rasch  eine  Erhöhung 
des  Körpergewichtes  auf.  Bei  der  Darstellung  der  Alilch  wurden 
die  Eiweißgerinnsel  mit  der  Magermilch  erst  kurz  vor  dem  Ver¬ 
brauche  gemischt. 

Th.  Esch  er  ich  weist  darauf  hin,  daß'  die  Anwendung  der. 
Eiweißmilch  von  der  Voraussetzung  ansgeht,  daß  abnorme  Ver¬ 
gärung  des  Zuckers  in  der  Milch  die  Ursache  der  Verdauungs¬ 
störungen.  vor  allem  des  künstlich  genährten  Säuglings,  dar¬ 
stellt.  Diese  Tatsache  hat  Redner  schon  vor  Jahren  vertreten 
und  darauf  hingewiesen,  daß  man  den  Zucker  in  solchen  Fällen 
ans  der  Säuglingsnahrung  ausschalten  müsse.  Finkeistein 
hat  sich  dieser  Ansicht  jetzt  abgeschlossen  und  eine  praktische 
Methode  für  die  Durchführung  dieser  Forderung  ausgearbeitet. 

A.  v.  Reuß  bemerkt,  daß  in'  der  Mehrzahl  diejenigen  Fälle 
welche  hei  richtig  gestellter  Indikation  durch  die  Eiweißmilöh 
nicht  gebessert  werden,  auch  von  anderen  Nährmitteln  keine 
Besserung  erfahren.  AVichtig  ist  hei  der  Darstellung  der  Eiwei߬ 
milch,  daß  die  Kasein  flocken  sehr  fein  sind,  man  muß  des¬ 
wegen  auch  heim  Anwärmen  der  Milch  sehr  vorsichtig  Vorgehen. 
Die  Eiweißmileh  kann  auch  sterilisiert  werden. 


Wiener  dermatologische  Gesellschaft. 

Sitzung  vom  7.  Dezember  1910. 

Vorsitzender :  Frühauf.  .  ; 

Schriftführer :  Kren. 

Lip schütz  demonstriert  aus  der  Abteilung  Rusch  eine 
Patientin  die  am  9.  August  wegen  ausgedehnter  Lues  maligna 
ulcerosa  mit  0-6  des  Ehrl  ich  schein  Präparates  nach  Wech¬ 
selmann  behandelt  wurde.  Am  31.  August  konnte  Pat.  mit 
vollkommen  geschlossenen  Herden  entlassen  werden.  Was  den  Fall 
besonders  bemerkenswert  macht,  ist  die  außerordentlich  gün¬ 
stige.  Beeinflussung  mächtiger  periostaler  Ver¬ 
dickungen. 

Kroph  demonstriert  aus  der  T.  Abteilung  des  Garnisons¬ 
spitals  Nr.  1  (Oberstabsarzt  Dr.  Frühauf)  einige  mit  Ehrlich- 
H  a  t  a  600  b  e  handelte  Fäll  e. 


Nr.  5 


185 


WIENER  KLINISCHE 


Fall  1.  Sicherheitswachmann  T.,  27  Jahre  alt,  kam  am 

1.  Oktober  1903  mit  einer  zirka  drei  Wochen  alten  Sklerose. 
Am  14.  Okt.  Beginn  der  Quecksilberpräventivkur.  Am.  5.  Dez.  die 
erste  Quecksilberkur  beendet.  Am  23.  Dezember,  .also  iS  Lage 
darauf,  Auftreten  einer  Rupia  syphilitica,  die  trotz  sofort  enr- 
geleiteter  Enesolkur,  Sublimatbäder,  Decoctum  Zittmanni  und 
Sai'saparilla  sich  peripher  ausbreitete  und  die  flaut  der  Stirne, 
des  1  borax,  der  oberen  sowie  der  unteren  Extremitäten  mit  hand¬ 
tellergroßen  Geschwüren  bedeckte. 

Am  30.  Mai  d.  L  0-3  Ehrlich  intramuskulär.  Am  16.  Juni 
Epithelisierung  sämtlicher  Geschwüre.  Am  2.  Juli,  also  am 
32.  läge  post  injectionem,  eine  leichte  Rötung  der  epitlielisierten 
Geschwüre,  am  9.  Juli  Auftreten  von  rupienförmigen  Ulzerationen 
an  den  bereits  abgeheilten  Stellen.  Patient  erhält  am  9.  juii  eine 
zweite  E  h  r  1  i  c  h  -  Injektion  von  0-4,  darauf  prompter  Rückgang 
sämtlicher  Erscheinungen. 

Fall  11.  Zugsführer  K.,  27  Jahre  alt.  Januar  1910  Scle¬ 
rosis  necrotica  in  cute  penis.  Scleradenitis  inguinalis.  Queck¬ 
silber  -  Präventivbehandlung,  in  den  Monaten  Januar- Februar  1(1 
Quecksilber  -  Salizylin  jektionen ;  Mai -Juni  ohne  Rezidiverschei¬ 
nungen,  nur  auf  Grund  des  positiven  Wassermann  20  Queck¬ 
silber-Salizylinjektionen.  Nach  den  großen  Manövern  wächst 
Patient  mit  Geschwüren  zwischen  den  Zehen,  angeblich  infolge 
llyperhidrosis  zu.  Die  Wasser  mann  sehe  Komplementreaktion 
ergab  ein  stark  positives  Resultat,  darauf  am  29.  September  1.  J. 
0-7  Ehrlich  intramuskulär.  Am  30.  September  Geschwüre  ge¬ 
reinigt,  2.  Oktober  geheilt. 

Fall  Ill.  Kadettenschüler  B.,  18  Jahre  alt,  akquiriert  Juli 
1910  ein  Geschwür  am  Gliede,  wird  am  4.  Oktober  mit  Sclerosis 
permagna  cicatrisata  ad  cutem  penis,  mit  organisierten  und  stark 
nässenden  Papeln  am  Hodensacke  und  Tonsillen,  sowie  einem 
primären  kleinmaku losem  Exanthem  der  Abteilung  übergeben. 
Wassermann  5.  Oktober  positiv.  Am  7.  Oktober.  —  0-7  Ehr¬ 
lich  intramuskulär.  Am  fünften  Tage  nach  der  Injektion  völlige 
Involution  der  Papeln,  am  elften  Tage  verläßt  Patient  diensttauglich 
das  Spital.  Am  46.  Tage  nach  der  Injektion  keine  Symptome 
von  Lues ;  Wasser  m  a  n  n  sehe  Reaktion  negativ. 

Fall  IV.  Pionier  S.,  21  Jahre  alt.  Infektiöser  Koitus  an¬ 
fangs  September  1910.  Sclerosis  erosa  in  lamina  interna  prae- 
putii:  Maculae  lenticulares  in  cute  thoracis  et  tergi;  Papulae 
crustosae  ad  partem  capillatam  capitis;  Bubo  iam  fluctuans  in 
inguine  sin.  W  as s ermann  28.  Oktober  stark  positiv.  Am  28.  Ok¬ 
tober  0-7  Ehrlich  intramuskulär.  Am  5.  November  das  makulo¬ 
papulöse  Exanthem  zurückgegangen.  Der  bei  der  Aufnahme  fluk¬ 
tuierende  Bubo  ohne  jedweden  operativen  Eingriff  am  11.  Tage 
nach  der  Injektion  resorbiert.  Patient  verläßt  am  14.  Tage  post 
injeetionem  diensttauglich  das  Spital. 

Fall  V.  Armeediener  V.,  58  Jahre  alt,  Vater  von  zwei 
gesunden  Töchtern.  Vor  vier  Jahren  Auftreten  einer  Geschwulst 
an  der  Haut  des  Rückens,  die  er  durch  drei  Jahre,  trotzdem  sie 
aufgebrochen  ist,  aus  Furcht  von  einer  Operation  unbehandelt 
ließ.  Aehnlicho  Geschwüre  traten  am  Halse  und  den  oberen  Ex¬ 
tremitäten  auf.  Februar  d.  J.  entschließt  er  sich  endlich  die  Am¬ 
bulanz  der  ersten  Abteilung  aufzusuchen,  wo  die  klinische  Dia¬ 
gnose  Ulcera  gummosa  gestellt  wird,  die  am  5.  Februar  aus¬ 
geführte  W  as  ser  m  annsche  Blutuntersuchung  bestätigt  dies 
und  die  in  den  Monaten  Februar-März  applizierten  12  Enesol- 
und  10  Quecksilber-Salizylinjektionen  bringen  die  Ulzerationen 
zur  Heilung.  Am  24.  November  d.  J.  stellt  sich  Patient  neuer¬ 
dings  mit  Ulzerationen  und  periostitischen  Gummen  vor,  am 
selben  Tage  wird  Wassermann,  der  ein  stark  positives  Re¬ 
sultat  ergibt,  ausgeführt  und  0-6  Ehrlich  intramuskulär  appli¬ 
ziert.  Deutlicher  Rückgang  der  Tophi  am  Schädel,  langsame 
Granulation  der  Geschwüre  an  den  Armen. 

Fall  VI.  Apparatmann  K.,  23  Jahre  alt.  Dieser  akquirierte 
die  Sklerose  September  1908.  Spirochaeta  pallida  bei  der  Auf¬ 
nahme  am  3.  November  1908  positiv.  In  der  Zeit  vom  4.  No¬ 
vember  1908  bis  16.  April  1910  machte  er  eine  Präventivkur, 
bestehend  in  sechs  Quecksilberkuren  durch.  Am  9.  Juni  1910 
erhielt  er  0-3  Ehrlich.  Die  Injektion  wurde  anstandlos  ver¬ 
tragen.  Patient  war  keine  Stunde  bettlägerig,  er  versah  die  ganze 
Zeit  hindurch  seinen  ziemlich  anstrengenden  Dienst.  Der  am 
19.  Oktober,  also  vier  Monate  nach  der  Injektion  ausgeführte 
W  a  s  s  e  r  m  a  n  n  negativ. 

Balban  demonstriert  aus  dem  Ambulatorium  des  Privat¬ 
dozenten  Oppenheim: 

1.  Einen  34jährigen  Mann,  der  mit  exu lz er  i e r ten  Papeln 
am  Penis,  Roseola  und  Rupia  am  Rücken  in  Behandlung 
kam;  er  erhielt  am  26.  November  0-6  Ehrlich-Hata,  in  Aethyi- 
alkohol  und  Wasser  gelöst.  Während  die  Papeln  am  Penis  und 
die  Roseola  rasch  schwanden,  involvieren  sich  die  Rupiafurmen 


WOCHENSCHRIFT.  19 1L 


nur  langsam  und  sind  noch  heute  sichtbar.  Auffällig  war  die  starke 
Herxheim  ersehe  Reaktion  um  diese  Effloreszenzen. 

2.  Einen  27jährigen  Mann,  der  fünf  Wochen  vor  seiner  Auf¬ 
nahme  eine  Sklerose  akquirierte.  Patient  erhielt  0-3  Ehrlich- 
Hata  nach  B 1  a s  c  h  k  o,  intraskapulär.  Am  2.  Dezember  war 
die  Sklerose  verheilt.  Am  7.  Dezember,  also  in  der  achten  Krank¬ 
heitswoche,  erschien  Pat.  mit  einem  makulo-papulösen  Exanthem 
an  der  Beugeiseite  der  Arme  und  einer  Roseola  am  Rücken. 

3.  Einen  34jährigen  Mann,  der  mit  einer  suspekte  u  E r  o- 
sion  am  Frenulum  am  18.  August  zur  Behandlung  kam.  Spiro¬ 
chäten  positiv.  Pat.  erhielt  am  19.  August  0-5  Ehrlich-Hata 
nach  Wassermann  intraglutäal.  Ulkus  am  1.  September  ver¬ 
heilt.  Was  ser  man  am  22.  September  negativ.  Am  14.  No 
vernber  erschien  (Pat.  finit  einem  hellergroßen,  derb  infil¬ 
trierten,  erodierten  Infiltrat  an  der  rechten  Seife  des 
Präputiums;  jeder  sexuelle  Verkehr  in  der  Zwischenzeit  wird  ne¬ 
giert.  Wassermann  negativ.'  Spirochätenbefund  po¬ 
sitiv.  Pat.  erhielt  am  30.  November  0-6  Ehrlich-Hata,  nach 
Blaschko,  intraskapulär.  Die  Erosionen  fast  völlig  verheilt, 
das  Infiltrat  geringer. 

Sachs  demonstriert  einen  19  Jahre  alten  Patienten,  der 
Mitte  Juli  d.  J.  das  Ambulatorium  mit  einer  Sklerose  und 
Exanthema  maculosum  (urtikariellen  Charakter)  aufgesucht  hat. 
Nach  den  ersten  Quecksilber-Salizylinjektionen  schwand  das  ma¬ 
kulöse  Exanthem,  die  Sklerose  begann  sich,  unter  gleichzeitiger 
lokaler  Behandlung  mit  grauem  Pflaster,  zu  involvieren.  Nach 
der  13.  halben  Quecksilber-SaJizylinjektion  traten  im  Gesichte, 
insbesondere  am  Nacken,  den  Armen,  Kniekehle  hellrote  papu¬ 
löse  Plaques  mit  reichlicher  Schuppung  auf.  Nach  der  20.  halben 
Quecksil  ber-Sal izy  1  in j ek tion  haben  sich  die  psoriasiformen  Plaques 
noch  mehr  ausgebreitet.  Nach  14tägiger  Pause  bekam  Patient 
neuerdings  fünf  halbe  Quecksilber-Salizylinjektionen,  ohne  jeden 
therapeutischen  Effekt  auf  die  während  der  Quecksilberkur  neu 
aufgetretenen  Herde. 

Die  am  23.  November  d.  J.  vorgenommene  Wasser¬ 
mann-Reaktion  fiel  fast  komplett  positiv  aus.  Am 
30.  November  d.  J.  erhielt  Pat.  eine  subkutane  Injektion  von 
Ehrlich-Hata  0-5  in  neutraler  Lösung  intraskapulär.  Heute 
nach  acht  Tagen  sind  alle  psoriasiformen  Herde  vollständig  in¬ 
volviert  und  mit  intensiv,  fast  sepiabraunen  Pigmentierungen 
abgeheilt. 

Mucha  (Klinik  Prof.  Finger)  demonstriert  eine  Reihe  von 
mit  Arsen obenzol  behandelten  Fällen. 

Fall  I.'  Pat.  U.  wurde  am  31.  Oktober  1910  mit  Sklerose 
und  pustulösem  sowie  papulonekrotischem  Exanthem,  positivem 
Wassermann  und  hohem  Fieber,  das  bis1  4ÖU  erreichte,  auf¬ 
genommen.  Am  10.  November  0-5  Arsenobenzol  (in  saurer  Lö¬ 
sung)..  In  drei  Tagen  war  Pat.  entfiebert,  bis  zum  heutigen  Tage 
sind  sämtliche  Effloreszenzen  fast  vollständig  involviert. 

Fall  II.  Pat.  P.  Ende  September  mit  Sklerose  und  Ex¬ 
anthem  aufgenommen,  mit  sechs  Hydrargyrum  salicylicum-lnjek- 
tionen  behandelt,  nach  der  fünften  Injektion  beginnt  sich  ein 
papulo-nekrotisches  Exanthem  zu  entwickeln,  der  Pat.  ist  somit 
refraktär  gegen  Quecksilber.  Am  14.  November  0-6  Arsenobenzol 
in  Paraffinemulsion.  Die  Erscheinungen  haben  sich  bis  auf 
Reste  zurückgebildet. 

Fall  III.  Pat.  T.  Infektion  vor  20  Jahren.  Ende  Oktober 
apoplektischer  Insult.  Wassermann  positiv.  5.  Dezember 
0-4  Arsenobenzol  intravenös.  Die  Bewegungsmöglichkeit  der 
rechten  Seite  hat  sich  bedeutend  gebessert.  Was  weitere  acht 
bisher  intravenös  behandelte  Fälle  anlangt,  so  wurde  die  In¬ 
fusion  von  allen  Pat.  gut  vertragen.  In  einem  Falle  stellte  sich 
zwei  Stunden  nach  der  Infusion  Erbrechen  und  Fieber  bis  39u, 
in  einem  Schüttelfrost  und  Fieber  bis  40u  und  in  einem  Fieber 
bis  38-6°  ein,  die  übrigen  fünf  Fälle  verliefen  vollständig  reak¬ 
tionslos. 

Fall  IV.  Pat.  Pr.  wurde  im  Juli  d.  J.  auf  der  Klinik 
v.  AVagnor,  wo*  er  wegen  sehr  heftiger  Kopfschmerzen,  hervor¬ 
gerufen  durch  multiple  Osteoperiostitiden  der  Schädelknochen 
aufgenommen  worden  war,  mit  0-4  Arsenobenzol  behandelt.  Am 
21.-  September  wird  Pat.  wegen  eines  schweren  Rezidivs  —  mul¬ 
tiple  Osteoperiostitiden  der  Schädelknochen  sowie  des  Ober¬ 
kiefers  —  aufgenommen,  am  21.  Oktober  0-6  Arsenobenzol,  nach 
wenigen  Stunden  Schwinden  der  Kopfschmerzen,  die  Erschei¬ 
nungen  sind  bis  heute  sehr  wesentlich  zurückgegangen  und  Patient 
ist  bisher  rezidivfrei.  Ein  großes  Stück  des  Oberkiefers  ist  n  Ero¬ 
tisch  geworden  und  wurde  vor  wenigen  Tagen  entfernt. 

Fall  V.  Pat.  Z.  Aufgenommen  mit  zirka  sechs  Wochen 
alter  Sklerose.  Wassermann  in  Spuren  positiv,  erhielt  am 
28.  Oktober  0-5  Arsenobenzol  in  Paraffinemulsion.  15.  November 
Komplement  positiv,  beginnendes  Exanthem,  am  2.  Dezember 


186 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  5 


neuerlich  0-5  Arsenobenzol  in  saurer  Lösung,  Reste  des  Exanthems 
sind  noch  sichtbar. 

Fall  VI.  Fat.  Gr.  erhält  wegen  sechs  bis  sieben  Wochen 
alter  Lues  —  Sklerose  und  Skleradenitis  —  bei  positivem  Wasser¬ 
mann  0-45  Arsenobenzol  in  neutraler  Emulsion  und  wird  nach 
vier  \\  ochen,  ohne  daß  ein  Exanthem  aufgetreten  wäre,  entlassen. 
An  der  Injektionsstelle  am  Rücken  ist  ein  derbes,  nicht  schmerz¬ 
haftes  Infiltrat  mit  beginnender  zentraler  Nekrose  tastbar.  Am 
25.  Oktober  wird  der  Fat.  wegen  eines  psoriasiformen  Rezidiv- 
exanthems,  sowie  zirka  kronengroßer  Nekrose  an  der  Injektions- 
slelle  neuerlich  aufgenommen  und  am  2.  November  mit  0-6  Ar¬ 
senobenzol  in  Paraffinemulsion  neuerlich  behandelt.  Das  Ex¬ 
anthem  zeigte  deutliche  H er xh ei  m  ersehe  Reaktion,  hat  sich 
etwas  abgeflacht;  doch  bis  zum  heutigen  Tage  noch  nicht  involviert. 

U r p  a n  i.  Bei  fünf  mit  Primäraffekt  (Spirochäten  -j-,  W  asser¬ 
mann  -f-)  auf  der  dermatologischen  Abteilung  des  Garnisous- 
spitales  Nr.  2  präventiv  in  der  vierten  Woche  mit  Ehrlich  606 
(0-45  bis  0-60  neutrale  wässerige  Aufschwemmung  subkutan  in 
die  Rückenhaut)  behandelten  Patienten  trat  in  der  achten  Woche, 
also  vier  Wochen  nach  der  Injektion,  ein  dem  vorgestellten  Fall 
ähnliches  psoriasiformes  Exanthem  mit  ausschließlicher  Loka¬ 
lisation  an  den  Streckseiten  der  Arme  und  an  den  Schultern  auf. 
Wassermann  in  allen  Fällen  bei  Ausbruch  desi  Exanthems 
negativ. 

Ehrmann  verweist  auf  die  Fälle,  wo  eine  Psoriasis  und 
Lues  oft  in  einer  Plaque  vereinigt  sind,  daraus  würde  sich  viel¬ 
leicht  die  Hartnäckigkeit  dieser  Fälle  erklären,  denn  bei  Psoriasis 
hat  sich  ,,606“  in  einem  daraufhin  geprüften  Fälle  seiner  Ab¬ 
teilung  als  unwirksam  erwiesen. 

Mucha  glaubt,  daß  Psoriasis  vulgaris  mit  Rücksicht  auf 
den  klinischen  Befund,  sowie  auf  Grund  des  Umstandes,  daß  auf 
die  Injektion  von  Arsenobenzol  an  allen  Effloreszenzen  deutliche 
Herxheimersche  Reaktion  aufgetreten  war,  ausgeschlossen 
werden  könne. 

Fall  VII.  Pat.  J.  Infektion  vor  fünf  Jahren.  Ende  August 
in  Warschau  mit  Arsenobenzol  behandelt,  wird  wegen  eines  exul- 
zerierten  Gummas  am  Introitus  nasi  aufgenommen  und  am  8.  No¬ 
vember  mit  0-6  Arsenobenzol  in  Paraffinemulsion  behandelt.  Das 
Gumma  epilhelisierte  zum  größten  Teile-,  zeigt  aber  gegenwärtig 
bereits  wieder  Progredienz  und  neuerlichen  Zerfall. 

Fall  VIII.  Pat.  F.  wird  mit  ausgedehnten  exulzerierten 
Gummen  am  Unterschenkel  aufgenommen,  die  Infektion  liegt,  fünf 
Jahre  zurück.  Am  8.  Oktober  0-7  Arsenobenzol  in  Päraffinemul- 
sion,  es  tritt  Besserung  ein,  nach  etwa  drei  Wochen  beginnen 
teils  am  Rande,  teils  an  bereits  epithelisierten  Stellen  neue  Gum¬ 
men  aufzubrechen,  weshalb  Pat.  am  8.  November  nochmals 
0-6  Arsenobenzol  in  saurer  Lösung  erhält,  der  Erfolg  ist  der: 
gleiche,  bei  d!em  Pat.  beginnen  sich  jetzt  wiederum  neue  Infil¬ 
trate  und  Ulzerationsprozesse  zu  entwickeln,  so  daß  er  einer 
Quecksilberjodkur  unterzogen  werden  wird. 

Fall  IX.  Pat.  M.,  mit  zwei  Jahre  alter  maligner  Lues,  vorher 
wiederholt  mit  vorübergehendem  Erfolge  mit  Quecksilber  und 
Jod  behandelt,  erhielt  zwei  Arsenobenzolinjektionen  (26.  August 
0-45  bis  26.  September  0-5)  beide  Male  mit  komplettem  und 
nur  ganz  vorübergehendem  Erfolge,  so  daß  er  jetzt  neuerdings  eine 
Quecksilberkur  durchführen  muß. 

Müller  stellt  aus  Fingers  Klinik  vor: 

1.  Ein  sechsmonatiges  Kind,  das  vor  zwei  Monaten  mit 
schwerem  krustösen  Exanthem,  das  hauptsächlich  Gesicht  und 
Extremitäten  ergriffen  hatte,  auf  die  Klinik  aufgenommen  wurde. 
Es  bestanden  auch  sehr  zahlreiche  diphtheritische  papulöse 
Effloreszenzen  .auf  Mund  und  Nasenschleimhaut.  Die  Hoffnung 
das  Kind  zu  erhalten,  war  gering.  Ehrlich  0-03  subkutan  vor 
zwei  Monaten.  Prompte  Wirkung  in  kürzester  Zeit. 

2.  Vier  Schwestern,  Kinder  derselben  Eltern,  die  dem  Alter 
nach  nur  je  um  etwa  ein  Jahr’  differieren.  Vor  vier  Monaten 
Aufnahme  auf  die  Klinik  mit  völlig  gleichartigen  Erscheinungen 
von  Lues :  Diphtheritische  Papeln  an  Tonsillen  und  Genita|e, 
Rhinitis.  Es  handelte  sich  um  extragenitale  Infektion  durch  eine 
ältere  Schwester  vor  zirka  lk  Jahr.  Zwei  der  Mädchen  erhielten 
Arsenobenzol  (0-24  und  0-36),  die  zwei  anderen  Einreibungskur. 
Die  beiden  mit  Ehrlich  behandelten  Mädchen  hatten  recht  heftige 
Schmerzen,  waren  aber  in  der  kürzester  Zeit  frei  von  Erschei¬ 
nungen.  Die  Quecksilberbehandelten  mußten  zwei  Wochen  länger 
in  Behandlung  bleiben.  Heute  zeigen  alle  vier  Patientinnen  völlig 
gleichartige  Rezidiverscheinungen,  diphtheritische  Papeln  an  den 
Tonsillen.  Das  zwei  Monate  nach  der  Injektion  negativ  reagie¬ 
rende  Serum  zeigt  wieder  komplett  positive  W  assermannsche 
Reaktion. 

3.  Eine  19jährige  kräftige  Patientin,  bei  der  eine  vor  vier 
Monaten  wegen  Sklerose  und  makulösem  Exanthem  ausgeführte 


,,606“-Injektion  (045  Wechsel  mann  intraglutäal)  den  über 
kronengroßen  Primäraffekt  und  das  Exanthem  ungemein  rasch 
zum  Schwund  brachte.  Auffallend  war  das  hohe  Fieber  nach  der 
Injektion  (über  40°),  das  aber  nach  kurzer  Zeit  schwand.  Deut¬ 
licher  Herxheim  er. 

Zwei  Monate  nach  der  Injektion  kam  Patientin  mit  Ükulo- 
motoriuslähmung  rechts,  Fazialisparese  rmd  beiderseitiger  Neu¬ 
ritis  optica  wieder.  Zweite  Injektion  mit  0-45  (Wechselmann), 
keine  Aenderung.  Nach  drei  Wochen  intensive  Quecksilberbehand¬ 
lung.  Patientin  hat  bisher  25  fünfgrammige  Einreibungen  mit 
Ung.  einer.,  6  Sublimat-,  drei  Quecksilber-Salizylinjektionen  er¬ 
halten.  Daneben  Jodnatrium.  Die  Okulomotoriuslähmung  hat  sich 
nur  wenig  gebessert.  Neuritis  optica  ungebessert.  Auf  einem 
Auge  beginnende  Atrophie.  Bemerkenswert  erscheint,  daß  die 
acht  Tage  vor  den  Nervenerscheinungen  noch  negative  Serum¬ 
reaktion  am  Tage  Hör  Aufnahme  positiv  war.  Das  spräche  für 
Luesrezidiv.  Anderseits  ist  die  erfolglose  spezifische  Behandlung 
sehr  auffallend. 

Groß:  Der  Schluß,  den  der  Vorredner  produziert  hat,  po¬ 
sitive  Serumreaktion,  also  luetische  Affektion,  ist  unzutreffend. 
Ebenso  ist  die  Schlußfolgerung,  daß  aus  der  negativen  Wasser¬ 
mann-Reaktion  auf  die  nicht  luetische  Natur  irgendeiner  Afi'ek- 
tion  des  Trägers  geschlossen  werden  könne,  in  dieser  Verallge¬ 
meinerung  nicht  zulässig.  Wir  sehen  einerseits  klinisch  unbe- 
zweifelbare  luetische  Symptome  (Rezidivexantheme,  Periostitis 
und  so  weiter)  bei  negativem  Wassermann,  anderseits  kann 
ein  Patient  mit  luetischen  Antezedentien  und  positiver  Serum¬ 
reaktion  eine  nicht  luetische  Augen-  oder  Ohrenerkrankung,  einen 
Tumor  u.  dgl.  aufweisen. 

Der  Fehlschluß  ist  in  den  Debatten  der  letzten  Zeit  so 
häufig  zutage  getreten,  di  aß  es  notwendig  erscheint,  gegen  ihn 
Stellung  zu  nehmen.. 

Ehrmann  verweist,  im  gleichen  Sinne  darauf,  daß  bei  chro¬ 
nischen  Ulzerationsprozessen,  die  klinisch  als  Skrofulotuberkulosen 
zu  diagnostizieren  sind,  oft  die  Wassermann-Reaktion  deutlich 
positiv  ist,  weil  die  Kranken  früher  Lues  akquiriert  hatten.  Der 
weitere  Verlauf  dieser  Fälle  bestätigte  uns  in  einer  ganzen  Reihe 
von  Fällen,  daß  eine  von  der  Lues  unabhängige  Tuberkulose  vorlag. 

Riehl:  Während  die  klinischen  Erscheinungen  der  Syphilis 
überaus  genau  studiert  und  gekannt  sind,  sind  wir  über  die 
Lokalisation  der  Erkrankung  in  den  Sinnesorganen  noch  keines¬ 
wegs  genügend  orientiert.  Dies  hat  ja  in  bezug  auf  den  Nervus 
acusticus  Prof.  Urbantschitsch  jüngst  ausführlich  erörtert. 
Beim  Nervus  opticus  sind  Veränderungen  in  den  späteren  Stadien 
der  Erkrankung  seit  langem  bekannt,  über  die  Häufigkeit,  mit 
welcher  aber  dieser  Nerv  in  der  Frühperiode  affiziert  ist,  bet¬ 
sitzen  wir  nur  geringe  Erfahrung.  Diesbezüglich  möchte  ich  auf 
eine  im  Jahre  1907  erschienene  Arbeit  Ferdinand  Beckers  hin- 
weisen,  in  der  erwähnt  wird,  daß  bei  200  Syphiliskranken  der 
Frühperiode  6°/o  mit  Neuritis  optica  behaftet,  gefunden  worden 
sind.  In  einer  Statistik  wird  auch  über  die  Zeit  des  Auftretens) 
dieser  Neuritis  optica  genauere  Auskunft  gegeben.  Es  werden 
darin  Fälle  erwähnt,  die  wenige  Wochen  nach  der  Infektion  be¬ 
obachtet  worden  sind.  Da  diese  Neuritiden  meist  nur  vorüber¬ 
gehende  Erscheinungen  darstellen,  selten  nur  zur  Erblindung 
führen,  so  dürften  sie  manchmal  der  klinischen  Beobachtung  ent¬ 
gehen.  Diese  Beobachtungen  verdienen  auch  in  bezug  auf  die 
Beurteilung  des  Arsenobenzols  Interesse. 

Müller:  Ich  glaube  nicht  gesagt  zu  haben,  daß  der  positiv 
gewordene  Wassermann  mit  Sicherheit  für  die  Auffassung 
des  Falles  als  Luesrezidiv  spräche.  Ich  glaube  wohl,  daß  es  heute 
Ihnen  schon  genügend  bekannt  sein  dürfte,  daß  eine  Organdiagnose 
bei  der  Was  s er m  a nn- Reaktion  nicht  gestellt  werden  kann.  Es 
könnte  natürlich  neben  einem  zu  der  Zeit  gerade  positiv  gewor¬ 
denen  Wassermann  pine  Neuritis  aus  anderer  Ursache  be¬ 
stehen. 

Königstein  demonstriert  einen  Fall  von  über  den  ganzen 
Körper  ausgebreiteter  ulzeröser  Lues,  der  zuerst  im  August  d.  J. 
im  Wiedenerspital  mit  0-8  injiziert  wurde.  Nach  zehn  Tagen 
Heilung  der  Ulzerationen,  nach  einem  Monat  Rezidiv.  Abermalige 
Arsenobenzolinjektion  0-6  mit  sehr  raschem  Erfolg.  Nach  drei 
Wochen  Auftreten  einer  Periostitis,  die  auf  lokale  und  allgemeine 
Quecksilberbehandlung  schwindet. 

Ferner  demonstriert  König  stein  aus  der  Reihe  der  von 
ihm  intravenös  injizierten  Patienten  sechs  Fälle. 

Er  weist  rfarauf  hin,  daß  die  Injektionen  auch  bei  schwäch¬ 
lichen  Individuen  gut  vertragen  werden,  vollkommen  schmerzlos 
sind  und  nur  in  einzelnen  Fällen  Fiebei’steigerungen  von  einigen 
Stunden  hervorrufen.  Im  Gefolge  dieser  Injektion  tritt  sowohl 
lokale  wie  allgemeine  Herxheimersche  Reaktion  auf. 


Nr.  5 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


187 


Die  intravenösen  Injektionen  werden  entweder  mit  Kaloinel- 
oder  intramuskulären  Arsenobenzolinjektionen  kombiniert. 

Bemerkenswert  ist  ein  Fall,  bei  welchem  eine  schmerzhafte 
l  eriostitis  schon  wenige  Stunden  nach  der  Injektion  keine  Be 
schwerden  mehr  verursachte. 

Volk  weist  darauf  hin,  daß  nach  seinen  Erfahrungen  die 
Art  der  Einverleibung  des  Arsenobenzols,  ob  Oel-,  resp.  Paraffin 
emulsion  oder  neutrale  Suspension  nach  Wechsel  mann,  keinen 
eklatanten  Unterschied  in  bezug  auf  Zahl  und  Zeit  des  Auftretens 
von  Rezidiven  zeitigt.  Die  radiologischen  Untersuchungen  von 
Ilaudek  und  Ullmann  beweisen,  was  wir  schon  auf  chemischem 
Wege  von  der  W  echs  el  man n sehen  Injektion  wissen,  daß  die 
Arsenobenzoldepots  durch  Wochen  und  Monate  liegen  bleiben. 

Sachs:  Bei  einem  32jährigen  Manne,  der  0-5  Arseno- 
benzol  intraskapular  in  neutraler  Lösung  subkutan  injiziert  er¬ 
hielt,  trat  24  Stunden  nach  der  Injektion  eine  ziemlich  beträcht¬ 
liche  Sch  well  ung  der  ganzen  Penishaut  ein,  die  bis  heute 
trotz  antiphlogistischer  Behandlung  nicht  zur  Rückbildung  ge¬ 
kommen  ist.  Im  Sulcus  coronarius  waren  vier  Sklerosen.  Diese 
Schwellung  der  Penishaut  ist  wohl  als  II er x h  ei  m ersehe  Re¬ 
aktion  in  weiteren  Sinne  aufzufassen. 

Kren  berichtet  über  einen  Fall,  der  wegen  Papeln  an  der 
Glans  am  27.  Oktober  mit  0-5  injiziert,  am  9.  November  eine  öde- 
matöse  Schwellung  des  ganzen  Penis  erlitt.  Ob  diese  Schwel¬ 
lung  die  Folge  einer  Thrombose  war,  oder  ob  eine  andere  Ursache 
für  die  Schwellung  maßgebend  war,  konnte  nicht  ermittelt  werden. 

Groß  betont,  daß  er  in  einer  Anzahl  von  luetischen  Peri¬ 
ostitiden  die  prompte  schmerzstillende  Wirkung  der  Arseno- 
benzolinjektion  beobachten  konnte,  daß  aber  die  Röntgenunter¬ 
suchung  solcher  Fälle  erwiesen  habe,  daß  vor  und  längere  Zeit 
nach  der  Applikation  des  Mittels  die  lokalen  Veränderungen 
ziemlich  unverändert  geblieben  seien. 

Er  wirft  die  Frage  auf,  ob  die  Anwesenden  ähnliche  Beob¬ 
achtungen  gemacht  haben. 

Frühauf  hat  sieben  Fälle  von  Periostitis  luetica  behandelt. 
In  allen  Fällen  sind  die  Schmerzen  sofort,  die  objektiven  Sym¬ 
ptome  nach  10  bis  14  Tagen  geschwunden;  der  Röntgenbefund 
war  negativ.  Ein  Fall  wurde  monatelang  als  Rheumatismus  be¬ 
handelt,  liegend  auf  die  Abteilung  gebracht  und  verließ  nach  drei 
Wochen  geheilt  das  Spital. 

Kren  hat  bei  Behandlung  von  Ostitis  und  Periostitis  luetica 
die  Erfahrung  gemacht,  daß  die  Schmerzen  prompt  schwinden, 
oftmals  schon  nach  Stunden.  Die  objektiven  Symptome  gehen 
bei  dem  am  Periost  lokalisierten  Prozeß  in  zirka  14  Tagen  oder 
später  zurück.  Knochenprozesse,  die  mit  Konsumption  und  Appo¬ 
sition  einhergehen,  wurden  durch  die  Ehrlich  sehe  Behandlung 
ebensowenig  wie  durch  Quecksilber  tangiert,  für  die  Quecksilber¬ 
behandlung  ist  das  röntgenologisch  schon  lange  bekannt. 

Nobl:  Von  der  prompten  schmerzstillenden  und  resorp 
tiven  Wirkung  der  Injektion  konnten  wir  uns  stets  überzeugen, 
wenn  irritative  Auftreibungen  (Klavikula,  Schädel,  Sternum)  re¬ 
zente  Exantheme  begleiteten.  Organisierte  Verdichtungen  der  Bein¬ 
haut  aber,  wie  uns  solche  namentlich  in  Form  diffuser  Auftrei¬ 
bungen  der  Tibia  unterkamen,  zeigten  keinerlei  Beeinflussung  der 
ossifizierten  Massen.  ...  - 

Königstein:  Die  Schmerzen  bei  Periostitiden  schwinden 
immer  sehr  rasch  nach  der  Injektion,  der  objektive  Befund 
(Röntgenaufnahme)  ändert  sich  bei  den  ossifizierenden  Formen 
nicht.  Man  beobachtet  hingegen  auch  das  Auftreten  von  frischen 
Periostitiden  bald  nach  der  Injektion.  Diese  Erscheinung  ist  zur 
H er xhei mer sehen  Reaktion  zu  rechnen  und  schwindet  schnell 
wieder. 

(Schluß  folgt.) 


Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien. 

Sitzung  vom  10.  Januar  1911. 

Vorsitzender:  Hofrat  Obersteiner. 

Schriftführer:  Priv.-Doz.  Dr.  Marburg. 

Priv.-Doz.  Dr.  A.  Fuchs:  Fall  von  Hermaphroditis¬ 
mus  verus  (bereits  von  Prof.  Tandler  in  der  k.  k.  Gesellschaft 
der  Aerzte  demonstriert). 

Priv.-Doz.  Dr.  E.  Stransky  stellt  aus  der  v.  Wagner- 
scheu  Klinik  einen  vor  mehreren  Tagen  dahin  aufgenommenen 
Alkoholiker  vor,  bei  dem  die  Statusaufnahme  folgendes  ergab : 
Vor  mehreren  Jahren  nach  einem  Trauma  Schwerh  örigkeit 
rechterseits  (nach  dem  in  extenso  mitgeteilten  Befund  der 
Ohrenklinik  beiderseits,  doch  rechts  bedeutend  stärker  als  linkst, 
Ohrensausen;  mehrere  Monate  da  nach  Auftreten  von  Pseudo¬ 
halluzinationen  (Gedankenecho),  ausschließlich 
rechtseitig  lokalisiert  (Pat.  erzählt  hierüber  vor  der  Ver¬ 


sammlung  selbst) ;  Auftreten  der  Erscheinung  mehrmals  im  Jahre, 
Dauer  jeweils  einige  Tage;  Abhängigkeit  von  Alkoholgenuß  negiert; 
anfangs  war  sich  Pat.  seiner  Schilderung  nach  über  die  Pro¬ 
venienz  der  Stimmen  —  er  hört  deren  verschiedene  —  im 
Zweifel,  doch  ist  er  seit  langem  von  deren  Irrealität  überzeugt, 
wie  er  erklärt;  Wahnbildungen  nicht  zu  eruieren;  Affektmitteliagc. 
Vortr.  möchte,  da  ohnehin  Publikation  des  Falles  erfolgen  wird, 
hier  nicht  in  theoretische  Erörterungen  dieses  prinzipiell  wich¬ 
tigen  Falles  eingehen  und  nur  kurz  darauf  hinweison,  daß  er  für 
die  Möglichkeit  des  Zustandekommens  von  Sinnestäuschungen 
auf  Grund  sensorischer  Reizerscheinungen  (Redlich  und  Kauf 
mann),  die  auch  Vortr.  akzeptiert  hat,  spricht. 

Priv.-Doz.  Dr.  Artur  Schüller  berichtet  über  Untersuchun¬ 
gen,  welche  er  gemeinsam  mit  Prof.  Alexander  vor  einigen 
Jahren  an  einer  größeren  Zahl  von  Kranken  mit  Gehörshalluzina¬ 
tionen  unternommen  hat.  Eine  Gruppe  chronisch  Halluzinie¬ 
render  wies  eine  charakteristische  Feinhörigkeit  auf:  Sie  hörten 
das  Ausklingen  von  Stimmgabeln  länger  als  Ohrgesunde  ohne 
Halluzinationen. 

Priv.-Doz.  Dr.  Stransky  will  auf  Schüllers  interessante 
Darlegungen  jetzt  nicht  näher  eingehen,  da  er  sich  für  heute 
nur  auf  die  Demonstration  beschränken  wollte,  meint  aber,  es  sei 
wohl  wahrscheinlich,  daß  Halluzination  durch  verschiedene  Mecha¬ 
nismen  provoziert,  resp.  gebahnt  werden  könnten. 

Priv.-Doz.  Dr.  Bäräny  demonstriert  einen  von  ihm  kon 
str liierten  einfachen  Apparat  zur  exakten  Beobachtung  und  Mes¬ 
sung  der  Zeigebewegungen.  Im  Laufe  der  Untersuchungen  Bä 
ränys  hat  es  sich  herausgestellt,  daß  es  nicht  genügt,  die  Be¬ 
wegungen  im  Schulter-  und  Hüftgelenk  allein  zu  prüfen.  Man 
muß  auch  die  Bewegungen  im  Ellbogen-  und  Handgelenk  einerseits, 
im  Knie-  und  Fußgelenk  anderseits,  prüfen.  Ferner  darf  man  sich 
nicht  mit  der  Prüfung  der  Bewegungen  bei  einer  bestimmten 
Stellung  der  oberen  Extremität  begnügen  (z.  B.  Handrücken  nach 
aufwärts),  man  muß'  auch  die  Stellung  „Handfläche  nach  auf¬ 
wärts“  untersuchen,  da  sich  häufig  nur  bei  einer  der  beiden 
Stellungen  etwas  Abnormes  findet.  Bäräny  demonstriert  die 
Methodik  aller  dieser  Versuche.  Aus  den  bisherigen  Erfahrungen 
ergibt  sich  Bäräny  der  zwingende  Schluß,  daß  die  Lokali¬ 
sation  im  Kleinhirn  nach  Extremitäten,  innerhalb  dieses  Ge¬ 
bietes  nach  Gelenken  und  hier  wiederum  nach  Positionen  und 
Richtungen  geordnet  ist.  Nur  eine  große  Zahl  genauer  Sektions¬ 
und  Operationsbefunde  bei  vorher  exakt  untersuchten  Fällen, 
kann  die  Lokalisation  im  Detail  ermitteln. 

Bäräny  demonstriert  ferner  eine  Patientin,  die  seit  Kindheit 
an  Athetose  und  Spasmus  mobilis  in  allen  vier  Extremitäten 
leidet.  Bäräny  hat  bei  dieser  Patientin  die  Zeigebewegungen 
genau  untersucht  und  bespricht  die  in  den  beiden  oberen  Extre¬ 
mitäten  gefundenen  komplizierten  Störungen.  Am  meisten  ist 
die  rechte  obere  Extremität  von  der  Affektion  ergriffen.  Bis  vor 
einer  vor  zirka  einem  halben  Jahre  ausgeführten  Fürs  for¬ 
schen  Operation  (Priv.-Doz.  Ranzi),  bestanden  fortwährende  lang¬ 
same  Bewegungen  der  Finger  der  rechten  Hand,  das  Handgelenk 
war  beständig  gebeugt  und  konnte  nur  wenig  bewegt  werden. 
Faßte  die  Patientin  einen  Gegenstand  an,  so  mußte  sie  nachher 
gewaltsam  die  Handöffnung  vornehmen.  Auch  im  rechten  Ell¬ 
bogengelenk  waren  starke  Spasmen  vorhanden.  Das  rechte 
Schultergelenk  war  dagegen  stets  frei  gewesen.  Nach  der  Operation 
(es  wurden  die  vierte,  fünfte  und  siebente  hintere  Wurzel  durch¬ 
schnitten)  hat  sich  nach  Angabe  der'  Patientin  der  Zustand 
entschieden  gebessert.  Das  Ellbogengelenk  ist  frei  von  Spasmus. 
Die  Bewegungen  des  dritten,  vierten  und  fünften  Fingers  haben 
aufgehört,  nur  der  zweite  und  erste  Finger  sind  noch  steif  und 
bewegen  sich.  Schließt  sie  jetzt  die  Hand,  so  kann  sie  sie  spontan 
wieder  öffnen.  Auch  die  Ausführung  des  Zeigeversuches,  die  vor 
der  Operation  fast  unmöglich  war,  gelingt  jetzt  meist  recht  gut, 
anstandslos  im  Ellbogengelenk,  unter  Benutzung  des  dritten 
Fingers  aber  auch  im  Handgelenk. 

Die  linke  obere  Extremität  ist  fast  frei  von  Athetose,  es 
bestehen  nur  geringe  Spasmen  einzelner  Finger  und  im  Hand¬ 
gelenk.  Was  nun  die  Prüfung  der  Zeigebewegungen  betrifft,  so 
ergibt  sich :  Spontanes  Zeigen :  Die  rechte  obere  Extremität  zeigt 
in  allen  Gelenken  spontan  richtig.  Die  linke  obere  Extremität 
zeigt  bei  der  Stellung  „Handrücken  nach  aufwärts“  in  allen  drei 
Gelenken  nach  links  vorbei.  Dreht  man  aber  die  Vola  nach 
aufwärts,  so  zeigt,  auch  die  linke  obere  Extremität  richtig 

Die  Reaktionen  nach  dem  Drehen  sind  folgende :  Rechtes 
Schultergelenk  ergibt  nach  dem  Drehen  nach  rechts  und  limes 
bei  aufrechter  Kopfstellung  kräftige  typische  Reaktionen,  also 
beim  Nystagmus  nach  rechts  Vorbeizeigen  nach  links  und  um¬ 
gekehrt.  Rechtes  Ellbogengelenk  und  rechtes  Handgelenk  ergibt 
keinerlei  Reaktionen  nach  dem  Drehen.  Linkes  Schultergelenk, 


188 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  5 


Ellbogengclenk  und  Handgelenk  ergeben  bei  der  Handstellung 
„Handrücken  nach  aufwärts,  nach  Rechtsdrehung  keinerlei  Re¬ 
aktionen,  dagegen  deutliche  Reaktion  nach  Linksdrehung.  Bei 
der  Stellung  Y ola  nach  aufwärts  ist  dagegen  in  allen  drei  Ge¬ 
lenken  typische  Reaktion  vorhanden. 

Das  Y  orbeizeigen  nach  links  bei  Handrücken  nach  auf¬ 
wärts  ist  mit  Sicherheit  als  Ausfallserscheinung  aufzufassen. 
Ich  bin  auf  Grund  meiner  zahlreichen  Befunde  überhaupt  der 
Meinung,  daß  jedes1  konstante  Vorbeizeigen  oder  konstante 
1’  allen  in  bestimmter  Richtung  auf  dem  Ausfall  der  vestibulären 
Reaktion  in  der  Gegenrichtung  beruht.  Was  die  Lokalisation 
des  Prozesses  im  vorgestellten  Falle  betrifft,  so  möchte  ich 
mich  mangels  bisheriger  Obduktionsbefunde  sehr  reserviert 
halten.  Eines  aber  glaube  ich  sicher  sagen  zu  können:  Der  Aus¬ 
fall  der  Reaktionen  im  rechten  Ellbogen-  und  Handgelenk  kann 
nicht  durch  eine  Erkrankung  in  der  Rinde  des  Zerebellums  be¬ 
dingt  sein,  denn  sonst  müßte  ja  ein  enorm  großes  Gebiet  zerstört 
sein.  Offenbar  sind  Fasern  von  der  Zerebellarrinde  zum  Rücken¬ 
mark  oder  vielleicht  vom  Großhirn  zum  Kleinhirn  in  ihrem  Ver¬ 
lauf  als  zusammengeordnetes  Bündel  betroffen.  Die  isolierte 
Störung  der  linken  oberen  Extremität  könnte  dagegen  wohl  auf 
einen  zerebralen  Herd  der  linken  Hemisphäre  bezogen  werden. 

Dr.  M.  Schacherl:  ich  erlaube  mir  ihnen  gemeinsam' 
mit  Herrn  Priv.-Doz.  Fuchs  folgenden  Fall  zu  demonstrieren: 

Ein  49jähriger  Schneider  wurde  uns  von  der  Klinik  Riehl, 
wo  er  mit  Impetigo  in  Behandlung  stand,  zur  Untersuchung  in 
die  Ambulanz  geschickt. 

Das  Krankheitsbild  erwies  sich  gleich  bei  der  ersten  Unter¬ 
suchung  so  eigentümlich,  daß  wir  Pat.  behufs  genauerer  Beob¬ 
achtung  aufnehmen  mußten. 

Er  hat  eine  ziemlich  belanglose  Vorgeschichte,  aus  der  ich 
nur  hervorheben  möchte,  daß  seine  nunmehr  75jährige  Mutter 
eine  ähnliche  Gangstörung  aufweisen  soll,  wie  wir  sie  an  un¬ 
serem  Pat.  noch  zu  demonstrieren  haben  werden.  Leider  ist 
die  Mutter  des  Kranken  aber  nicht  auffindbar. 

Der  Kranke  gibt  an,  im  Jahre  1902  bemerkt  zu  haben,  daß 
das  linke  Bein  schwächer  wurde  als  das  rechte  und  allmählich 
auch  die  linke  obere  Extremität  und  daß  beide  zu  zittern  an¬ 
fingen.  Gleichzeitig  entwickelte  sich  die  Gangstörung,  die  noch 
jetzt  vorhanden  ist.  Er  lag  wegen  derselben  wiederholt  in  ver¬ 
schiedenen  Spitälern  und  bemerkte  auch  wiederholt  Besserungen 
seines  Zustandes.  Ganz  gesund  oder  auch  nur  so  weit,  daß  er 
ohne  Zuhilfenahme  des  Stockes  hätte  gehen  können,  will  er  bis 
jetzt  seit  damals  nicht  gewesen  sein. 

Aus  dem  Status  praesens  muß  das  folgende  hervorgehoben 
werden:  Es  besteht  eine  Spur  Nystagmus  beim  extremen  Blick 
nach  links,  noch  weniger  beim  Schauen  nach  rechts.  Der  Fundus 
ist  normal.  Die  Reaktion  der  etwas  entrundeten  Pupillen  ist  eine 
etwas  unausgiebige,  ist  aber  deutlich  vorhanden.  Die  motorische 
Kraft  der  linken  oberen  Extremität  und  linken  unteren  Extremität 
ist  etwas  herabgesetzt,  wozu  ich  gleich  bemerken  will,  daß  die 
linke  untere  Extremität  um  IVa  cm  gegenüber  der  rechten  ab¬ 
gemagert  erscheint.  Sonst  sind  keine  zerebralen  oder  spinalen 
Lähmungserscheinungen  nachweisbar. 

Das  schwer  zu  beurteilende  sind  die  Koordinationsstörungen. 
An  der  linken  oberen  Extremität  besteht  kein  eigentlicher  Inten¬ 
tionstremor,  sondern  es  tritt  erst  nach  der  Erreichung  des  Zieles 
ein  eigentümlicher  Tremor  der  ganzen  Hand  ein,  der  sich  bis¬ 
weilen  dem  ganzen  Körper  mitgeteilt  hat.  Rechts  findet  sich 
das  kaum  angedeutet. 

Noch  sonderbarer  ist  das  Verhalten  der  unteren  Extremität. 
Hier  tritt  dieses  Verhalten  noch  viel  prägnanter  hervor,  indem 
das  Schütteln  nur  links  besteht  und  rechts  überhaupt  nicht 
auftritt. 

Bei  intendierten  Bewegungen  tritt  eine  eigentümliche  Zitter¬ 
störung  auf,  welche  an  Paralysis  agitans  erinnert. 

Der  Gang  ist  breitbeinig,  unsicher,  ganz  eigentümlich  und 
wenn  man  die  Spurweite  des  Ganges  zu  verengen  strebt,  treten 
Erscheinungen  auf,  die  uns  wohl  ohneweiters  zur  Diagnose 
Hysterie  drängen  würden. 

Man  könnte  somit  geneigt  sein,  das  ganze  Krankheitsbild 
als  Hysterie  aufzufassen,  da  sich  sicher  organische  Symptome 
die  den  Zustand  erklären  würden,  nicht  auffinden  lassen;  allein 
die  Erfahrungen,  welche  auf  dem  Gebiet  der  Pseudo-  und  diffusen 
Sklerose  gemacht  wurden,  scheinen  uns  hier  doch  sehr  zur 
Vorsicht  zu  mahnen. 

Abgesehen  davon,  daß  bei  Pät.  sonst  von  Hysterie  nichts 
zu  finden  ist,  erscheint  der  jahrelange  Verlauf,  ferner  insbesondere 
die  Volumsabnahme  der  linken  unteren  Extremität  zumindest 
außerordentlich  auffallend.  Schließlich  hat  er,  obwohl  er  Lues 


absolut  in  Abrede  stellt,  doch  einen  mittelstark  positiven  Wasser¬ 
mann. 

Es  wäre  denkbar,  daß  es  sich  hier  um  eine  disseminierte, 
vielleicht  diffuse  luetische  Erkrankung  handelt,  mit  zahlreichen 
funktionellen  Symptomen,  eine  interessante  Analogie  zu  den 
Erfahrungen  bei  der  multiplen  Sklerose. 

Schließlich  möchte  ich  noch  auf  eine  Impetigo  hinweisen, 
die  vielleicht  ebenso  als  kutane,  neurotrophische  Störung  auf’ 
zufassen  wäre,  wie  die  bei  der  Pseudosklerose  wiederholt  be¬ 
schriebenen  Akneeruptionen  und  der  Dekubitus. 

Ferner  erlaube  ich  mir  noch  eine  28jährige  Pat.  zu  de¬ 
monstrieren,  die  früher  gesund,  im  Mai  vergangenen  Jahres  ein 
Schädeltrauma  durch  Sturz  von  der  „Elektrischen“  erlitten  haben 
soll.  Sie  kam  am  10.  Juni  v.  J.  mit  einer  linkseitigen,  peri¬ 
pheren  VlI-Lähmung  in  die  Ambulanz  der  Klinik.  Die  Lähmung 
heilte  mit  dem  Ausgang  in  Kontraktur.  Weihnachten  1910  er¬ 
krankte  Pat.  mit  der  rechtseitigen  VII -Lähmung,  die  Sie  jetzt 
an  ihr  sehen.  Es  besteht  Uebererregbarkeit  vom  Nerv  aus,  gal¬ 
vanische  Lebererregbarkeit  vom  Muskel  mit  Prävalieren  der 
Anodenzuckung.  Interessant  ist  der  Bewegungseffekt  beim 
Schließen  der  Augenlider.  Da  Pat.  einen  positiven  Wassermann 
hat,  handelt  es  sich  vielleicht  bei  dieser  Fazialislähmung  ä  bascule 
um  einen  basalen  luetischen  Prozeß. 

Assistent  Dr.  J  Bauer:  Ueber  die  Schwereempf in- 
d  ung. 

Bei  der  Abschätzung  gehobener  Gewichte  spielen  drei  Fak¬ 
toren  eine  Rolle:  die  Beurteilung  der  Intensität  des  zum  Heben 
des  Gewichtes  erforderlichen  Innervationsimpulses,  die  Beurtei¬ 
lung  des  Effektes  dieses  Invervationsimpulses,  also  die  Beurtei¬ 
lung  der  Hubgeschwindigkeit  und  Hubhöhe  und  schließlich  eine 
peripher  ausgelöste  spezifische  Empfindung  des  Spannrings-  und 
Dehnungszustandes  der  Sehnen  und  Muskeln  sowie  Druckempfin¬ 
dungen  der  Haut  und  der  tiefen  Teile,  also  eine  eigentliche 
Sch  w  er  eemp  f  in  dung . 

In  die  Pathologie  der  ersterwähnten  Komponente  der  Ge¬ 
wichtsschätzung  gehören  f  älle  mit  Störungen  der  motorischen 
Kraft.  Da  zur  Erreichung  des  gleichen  Effektes  beim  Heben 
von  Gewichten  auf  der  paretischen  Seite  ein  stärkerer  Innerva¬ 
tionspuls  erforderlich  ist  als  auf  der  gesunden,  werden  Gewichte 
auf  der  paretischen  Seite  relativ  überschätzt.  Bei  Unvermögen, 
den  Effekt  des  zum  Heben  abgegebenen  Innervationspulses,  die 
Hubgeschwindigkeit  und  Hubhöhe  zu  beurteilen,  also  bei  Stö¬ 
rungen  der  Lage-  und  Bewegungsempfindung,  werden  Gewichte 
auf  der  erkrankten  Seite  unterschätzt.  Um  speziell  die  dritte  Kom¬ 
ponente,  die  Schwereempfindung  möglichst  isoliert  untersuchen 
zu  können,  bedient  sich  Bauer  der  von  ihm  so  genannten  „pas¬ 
siven  Schätzung“,  wobei  der  Untersuchende  die  Arme  des 
Untersuchten  über  dem  Handgelenk  erfaßt  und  erhebt,  während 
der  Untersuchte  bei  Vermeidung  aktiver  Innervationen  die  an 
seinen  Händen  hängenden  Gewichte  schätzt.  Auf  Grund  seiner 
Untersuchungsergebnisse  schließt  Bauer,  daß  Störungen  der 
Schwereempfindung  nicht  immer  mit  Störungen  der  übrigen  Em- 
pfindungsqualitäten  der  tiefen  Sensibilität  verbunden  sein  müssen 
und  führt  den  Fall  Lotmars  an,  der  bei  einer  alten  Kleinhirn¬ 
apoplexie  auf  der  kranken  Seite  eine  Herabsetzung  der  Schwere¬ 
empfindung  ohne  Störung  aller  übrigen  Empfindungsqualitäten 
nachweisen  konnte.  Es  gibt  eine  Dissoziationsform  der 
Bathyanästhesie,  bei  der  die  S c h w e r e e in p f i u d u n g 
allein  intakt  und  eine,  bei  der  sie  allein  geschä¬ 
digt  sein  k  ann. 

Normale  Rechtshänder  überschätzen  im  allgemeinen  er¬ 
hobene  Gewichte  links,  Linkshänder  rechts.  Die  hiefür  bisher 
angenommene  Erklärung,  daß  die  Differenz  in  der  Kraftleistung 
beider  Seiten  dieses  Verhalten  bedinge,  erweist  sich  als  unzu¬ 
reichend,  da  Bauer  von  100  untersuchten  normalen  Personen 
13  fand,  welche  auf  der  motorisch  stärkeren  Seite  überschätzten. 
Ueberdies  wird  der  gleiche  Schätzungsfehler  zumeist  auch  bei 
passiver  Schätzung  gemacht,  während  in  sechs  -  Fällen  konstant 
bei  passiver  Schätzung  auf  jener  Seite  überschätzt  wurde,  welche 
bei  aktiver  Schätzung  unterschätzte.  Man  muß  annehmen,  daß 
die  Schwereempfindlichkeit,  die  Feinheit  des  Perzeptionsapparates 
in  Sehnen  und  Yluskeln  bei  Rechtshändern  links,  bei  Linkshändern 
rechts  schärfer  ist.  Diese  Annahme  erklärt  alle  Versuchsergeb¬ 
nisse.  Die  höhere  Schärfe  der  Schwereempfindung  der  rechten 
Seite  und  damit  Uebersch  ätzen  von  Gewichten  auf  dieser  Seite 
bei  passiver  Schätzung  gehört  zu  den  Merkmalen  der  latenten 
Linkshändigkeit.  Die  Annahme  der  verschiedenen  Feinheit  der 
Schwereempfindung  beider  Seiten  steht  im  Einklang  mit  der 
insbesondere  von  Biervliet  festgestellten  Differenz  in  der 
Schärfe  der  taktilen  Empfindlichkeit^  der  Seh-  und  Hörschärfe 
beider  Seiten.  Befremdend  ist  nur,  daß  die  bezüglich  aller  üb- 


Nr.  b 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1011. 


189 


lägen  Qualitäten  bevorzugte  Seite,  beim  Rechtshänder  die  rechte,  ! 
beim  Linkshänder  die  linke,  die  geringere  Schwereempfindlicli- 
keit  haben  würde.  Die  Koinzidenz  dieser  von  Bauer  angenom¬ 
menen.  Sonderstellung  der  Schwereempfindung  und  der  von 
Lotmar  angenommenen,  ihr  allein  zukommenden  Beziehung 
zur  homolateralen  Kleinhirnhälfte  ist  zu  verlockend,  als- daß  man 
nicht  einen  inneren  Zusammenhang  vermuten  dürfte,  vielleicht 
der  Art,  daß  beim  Rechtshänder  nicht  allein  die  linke  Gro߬ 
hirnhemisphäre,  sondern  auch  die  linke  Kleinhirnhemisphäre 
besser  entwickelt  wäre. 

Priv.-Doz.  Dr.  G.  H  o  1  z  k  ne  c  h  t :  Ei  n  häufig  e  r  c  h  a  r  a  k 
teristischer  Befund  bei  neurotischen  Dysphagien 

(Oesopbagusatonie). 

Fast  die  Hälfte  der1  Fälle,  welche  wegen  Schlingbeschwerdm 
zur  Untersnchung  kommen,  haben  ein  früher  fast  unbekanntes 
Krankheitsbild  gezeigt:  die  Rosenhe  im  sehe  Oesophagus- 
atonic.  Statt  in  fingerlanger,  geschlossener  Säule  den  Oeso¬ 
phagus  in  zirka  sieben  Sekunden  zu  passieren,  verteilt  sich  eine 
Portion  geschluckter  breiiger  Ingesten  mittels!  einiger  Schluckakte 
im  ganzen,  Oesophagus,  bleibt  dann  verschieden  lange,  oft  viertel¬ 
stundenlang,  liegen  oder  wird  mittels  vieler,  einander  folgender 
Schluckakte  langsam,  man  möchte  sagen  mühsam  in  den  Magen 
befördert.  Läßt  sich  der  normale  Schluckakt  bei  breiigen  Speisen 
mit  dem  Ausstreichen  einer  weichen  Wurst  vergleichen,  die  man 
erst  mit  dem  Messerrücken  vollständig  durchquetscht,  um  sie 
dann  mit  einem  Strich  zu  entleeren,  so  gleicht  die  Ingestenbetör¬ 
rung  bei  der  Oejsophagusatonie  dem  wiederholten  schwachen 
Hinstreichen  über  die  ganze  Länge  der  Wurst.  Redner  gibt  hier 
die  Erwägungen  und  Befunde  wieder,  welche  Dr.  Ol blert  und 
ihn  (Holzknecht  und  G  Ib-ert-Mariehbad :  Die  Atouie  des 
Oesophagus.  Zeitschrift  für  klinische  Medizin,  71.  ßd.,  FI.  1 
und  2)  zu  der  Annahme  geführt  haben,  daß-  die  Ursache  dieser 
Schluckstörung  ein  atonischer  Zustand  der  Muskulatur  ist.  Sub¬ 
jektiv  häufig  symptomlos,  besteht  der  Zustand  meist  das  ganze 
Lehen  hindurch  und  wird  zeitweise  von  verschiedenen  neuro¬ 
tisch  gefärbten  subjektiven  Symptomen  überhäuft,  welche  durch 
Hyperästhesie  als  einfache  Schlingschwierigkeit,  Krampfgefühle 
in  Hals  und  Brest,  Würg-  und  Erstickungsanfälle  sich  darstellen, 
um  in  einzelnen  Fällen  (ohne  sonstige  Ursachen  als  etwa  beglei¬ 
tende  Atoni-en  der  übrigen  Hohlorgane)  zu  nicht  unbedenklichen 
Inanitionszuständen  zu  führen.  Die  Neurasthenie,  Hysterie 
und  besonders  häufig  die  Zyklothymie  sind  es,  die  hei  vor¬ 
handener  atonischer  Disposition,  wie  sie  insbesondere  der 
Still  er  sehe  Habitus  darbietet,  zu  den  oft  alarmierenden  und 
falsche  Deutungen  provozierenden  subjektiven  Beschwerden 
führen,  welche  häufig  den  Anschein  des  Oe-sophagospasmus,  der 
selten  ist,  hervorrufen  (Pseudoösophagos'pasmus). 

Ohne  Röntgenuntersuchung  kann  der  Befund  von  Bestell 
dickbreiiger  Ingesten  (Pralines)  in  den  Valleculae  und  den 
Sinus  pyriformes  den  Verdacht  bestärken.  Daß  Sondierung  und 
Kokainisierung  therapeutisch  erfolglos  sind,  zeigt  unsere  Erfah¬ 
rung  und  die  Genese  (auslösende  Psychoneurosen)  weist  die  Af¬ 
fektion  therapeutisch  in  den  Bereich  der  Neurologie.  Der  Nach¬ 
weis  muß  sich  des  Breies  von  dickster  Konsistenz  bedienen. 
Flüssigkeit  passiert  glatt,  größere  Bissen  passieren  besser  als 
Brei,  obwohl  sie  subjektiv  oft  größere  Beschwerden  machen. 

Dr.  Pötzl  fragt,  ob  dieser  Befund  bei  den  Zyklothymien 
nicht  Schwankungen  daxgeboten  hat,  je  nach  der  depressiven 
und  der  hypomanischen  Phase.  Es  wäre  zu  erwarten,  daß  die 
Beschwerden  der  Kranken  in  der  depressiven  Phase  allein  oder 
wenigstens  besonders  stark  auftreten.  Die  Frage  ist  nun,  oh 
sich  auch  der  objektive  Befund  im  Röntgenbild  phasenweise 
ändert  oder  nicht. 

Dr.  Holz  kriecht:  Bei  der  Zyklothymie  findet  sich  die 
subjektive  Dysphagie  im  depressiven  Stadium,  der  objektive  Be¬ 
fund  der  Dysphagia  atonica  verschwindet  aber  auch  in  den  hypo- 
manischen  nicht.  Auf  qantitative  Differenzen  konnten  wir  nicht 

untersuchen. 

Diskussion  zum  Vortrage  Dr.  Faltas:  Ueber  TJeber- 
funktion  und  Konstitution. 

Dr.  Pötzl:  Manch©  Verhältnisse,  die  Falta  in  seinem 
Vortrage  dargelegt  hat,  sind  von  Bedeutung  für  die  Pathologie  ge¬ 
wisser  Psychosen,  insbesondere  der  manisch-depressiven  Psy¬ 
chose  und  der  Dementia  praecox.  Das  gilt  zum  Beispiel  für  die 
Wesensverschiedenheit  zwischen  alimentärer  Glykosuric  und 
Adrenalinglykosurie,  die  auch  Ep  ping  er,  Heß  und  ich  hei  der 
Durchführung  pharmakologischer  Funktionsprüfungen  gefunden 
haben.  Es  ergab  sich  bei  diesen  Psychosen  nicht  nur  kein  strikter 
Parallelismus  zwischen  Adrenalinglykosurie  und  niederer  Assi- 
milationsgrenze  für  Dextrose,  sondern  zum  Teil  sogar  ein  ge¬ 
wisser  Gegensatz. 


So  zeigte  sich  in  einigen  Fällen  von  zirkulärer  Psychose,  die 
wir  durch  verschiedene  Phasen  verfolgen  konnten,  in  der  depres¬ 
siven  Phase  ein  Tiefstand  der  Assimilationsgrenze  für  Trauben¬ 
zucker,  während  im  Adrenalinvorsuch  eine  glykosurische  Re¬ 
aktion  fehlte.  Im  Intervall  und  in  der  manischen  Phase  stieg 
die  Grenze  für  die  Zuckerassimilation  erheblich  an  und  nun  erst 
stellte-  sich  Adrenalinglykosurie  ein. 

Diese  Befunde  sind  bereits  veröffentlicht.  Ich  komme  hier 
nur  so  weit  auf  sie  zurück,  als  sie  das  Faltasche  Thema,  Ueber- 
iunktion  und  Konstitution  berühren. 

Wie  auch  Falta  hervorgehoben  hat,  ist  die  niedere  Assi: 
milationsgrenze  für  Traubenzucker  wohl  auf  eine  leichte  In¬ 
suffizienz  der  Pankreasfunktion  zurückzuführen.  Das  gilt  auch 
für  den  erwähnten  Spezialfall.  Es  läßt  sich  also  in  Fällen  von 
manisch-depressiver  Psychose  zuweilen  ein  Schwanken  der  Funk¬ 
tionsbreite  des  Pankreas  erschließen;  diesie  erreicht  in  den  de¬ 
pressiven  Phasen  ein  Minimum,  steigt  aber  im;  Intervall  und  in 
den  Zeiten  der  Manie-  zu  einer  höheren  Leistungsfähigkeit  an. 

Mit  diesem  Sinken  und  Steigen  der  Pankreasfunktion  zu¬ 
gleich  ist  ein  Sinken  und  Steigen  in  dem  Grade  der  medikamen¬ 
tösen  Erregbarkeit  des  Vagussystems  zu  konstatieren;  es  besteht 
also  ein  gleichsinniges  Schwanken  des  Tonus  in  jenem  vegeta¬ 
tiven  Nervensysteme,  das  der  inneren  Sekretion  des  Pankreas 
koordiniert  ist. 

Wir  haben  seinerzeit  betont,  daß  unsere  Versuche  allein  keine 
Entscheidung  darüber  bringen  können,  ob  der  Anstoß  zu  diesen 
Veränderungen  in  der  vegetativen  Sphäre  direkt  unter  dem  Ein¬ 
flüsse-  des  Zentralnervensystems  oder  durch  Aende-rungen  in  der 
chemischen  Koordination  und  in  den  Funktionen  des  hormono- 
poetischen  Apparates  erfolgt. 

Jedenfalls  könnte  dieser  Vorgang  durch  bestimmte  Aende- 
rungen  der  chemischen  Koordination  begünstigt  und  erleichtert 
werden,  vor  allem,  den  Befunden  Eppingers,  Faltas,  Ru¬ 
di  ng-ers  entsprechend,  durch  einen  Hyperthyreoidismus.  Der 
durch  ihn  bewirkte  herabstimmende  Einflußi  auf  die  Pankreas¬ 
funktion  würde  aus  vorläufig  noch  unbekanntem  Gründen  gerade 
in  den  depressiven  Phasen  besonders  stark  zum  Ausdrucke 
kommen,  während  im  Intervall  und  in  der  Manie  andere  Folgen 
des  Hyperthyreoidismus  überwiegen  würden,  so  die  Labilität  des 
Vasomotorentonus;  das  Krankheitsbild  würde  ähnlich  hin-  und 
herschwanken,  wie  zuweilen  beim  Morbus  Basedowi :  zwischen 
starker  Erregung  Und  abnorm  geringer  Erregbarkeit,  -  Erschöpfung 
—  des1  Vagussystems. 

So  läßt  es  sich  vielleicht  verstehen,  daß.  gerade  bei  der 
manisch-depressiven  P'sVchose  Morbus1  Basedowi  und  Formes 
freistes  dieser  Erkrankung  auffallend  häufig  sind,  während  vice 
versa  die  Psychosen  bei  Morbus  Basedowi  sehr  oft  mansch-depres¬ 
sive  Bilder  zeigen  (Hirse hl  u.  a..).  Ob!  es  heute  schon  statthaft 
ist,  diese  Beobachtungen  zu  generalisieren  und  eine  Funktions¬ 
störung  der  Schilddrüse  als  einen  Hauptfaktor  in  der  Aetiologie 
der  manisch-depressiven  Psychosen  anzusehen,  läßt  sich  wohl 
noch  nicht  entscheiden ;  e-s  gibt  zu  viele  Fälle-,  die  die  objektiven 
Kriterien  dös  Hyperthyreoidismus  vermissen  lassen  oder  wenig¬ 
stens  nicht  deutlich  genug  zeigen.  Vor  kurzem  hat  S-transky, 
vom  S  e  r  n  sehen  Begriff  des  Basedowoids  ausgehend,  versucht, 
die  Aetiologie  der  manisch-depressiven  Psycho-se  in  ein  Zusammen¬ 
wirken  von  Dysthyreoidismus  mit  -einem  Locus  minoris  resistentiae 
bestimmter  Art  aufzulösen.  Auch  diesen  Erklärungsversuch  trifft 
das' "eben  Gesagte-. 

Mag  aber  auch  der  Anteil  des  Hyperthyreoidismus  an  der 
Aetiologie  der  manisch-depressivein  Psychose-  noch  unbestimmt 
bleiben  müssen,  so  ist  doch  gerade  aus  der  Art  der  vegetativen 
Veränderungen  die  Gleichrichtung  und  die  Parallelwirkung 
zwischen  manisch-depressiver  Psychose  und  Hyperthyreoidismus 
leicht  zu  verstehen.  Es  ergibt  sich  von  selbst,  daß  der  Hyper¬ 
thyreoidismus  ein  Faktor  ist,  de-r  die  Auslösung  dieser  Psychose 
zu  fördern  vermag. 

Anders  bei  der  Dementia  praecox.  Aus  den  Psychosen,  die 
zur  Dementia  praecox-Gruppe  gerechnet  werden,  sollen  an  dieser 
Stelle  nur  die  akuten  Phasen  der  Katatonie  herausgegriffen  werden, 
da  es  sich  hier  um  Erkrankungen  handelt,  deren  Auftreten  und 
Abklingen  man  häufig  in  ähnlicher  Weise  beobachten  und  ver¬ 
folgen  kann,  wie  die  einzelnen  Phasen  vieler  zirkulärer  Psychosen. 

Wir  fanden  nun  bei  diesen  fast  ausnahmslos-  folgendes 
Gesamtbild:  Starke  Vagusübererregbarkeit.  hohe  Toleranz  für 
Kohlehydrate  (Assimilation  von  200-0  bis  300-0  Dextrose),  dabei 
Adrenalinglykosurie,  oft  in  exzessiven  Graden  (Ausscheidung  von 
12-0  bis'  15-0  Dextrose  im  Adrenalinversuch);  endlich  die.  schon 
von  v.  Wag  her  und  seinen  Schülern  nachgewiesenen  Störungen 
des1  intermediären  Stoffwechsels,  die  Azetonurie  und  D-iazeturie. 
Dieses  Ensemble  erinnert  an  Verhältnisse  hei  der  Säurevergil- 


190 


WIENER  KEIN  ISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


lung  und  beim  Coma  diabeticum  ein  Vergleich,  den  u.  a.  schon 
Kau  ff  mann  gezogen  hat.  Eine  weitere  Aehnlichkeit  mit  dem 
Coma  diabeticum  liegt  vielleicht  darin,  daß,  wie  wir*  in  einzelnen 
I  allen  fertstellen  konnten,  zuweilen  die  Assimilationsgrenze  für 
Dextrose  mit  der  Besserung  der  Psychose  zu  niedrigeren  Werten 
absinkt,  daß  also  zuweilen  während  der  akuten  Psychose  eine 
erhöhte  Toleranz  für  Kohlehydrate  besteht. 

Bei  dem  Zusammentreffen  aller  dieser  Störungen  ist  also 
die  Funkti on sbreite  des  Pankreas  nicht  nur  nicht  verringert, 
sondern  zuweilen  sogar  erhöht.  Fragen  wir  uns,  auf  Basis  welcher 
Anomalie  der  chemischen  Koordination  dieses  Ensemble  ceteris 
paribus  am  leichtesten  ausgelöst  werden  kann,  welche  Verände¬ 
rung  im  hormonopoelischen  Apparat  esi  am1  besten  begünstigen,  so 
kommen  wir  abermals  auf  die  Thyreoidie,  aber  im  Sinne  des 
Hypothyreoidismus. 

1  atsächlich  ist  die  Konstitution  der  Dementia  praecox  von 
vielen  Seiten  und  aus  vielfältigen  Gründen  gerade  mit  dem  Hypo¬ 
thyreoidismus  in  Beziehung  gebracht  worden;  vereinzelte  Fälle 
von  Dementia  praecox  erinnern  auch  wirklich  an  den  Habitus 
der  Myxödem atösen.  Jedenfalls  läßt  sich1,  wenn  auch  mit  Reserve-, 
behaupten,  daß  zwischen  Hypothyreoidismus  und  Dementia 
praecox  ähnliche  Beziehungen  im  Sinne  der  Gleichrichtung  und 
Förderung  bestehen,  wie  zwischen  manisch-depressiver  Psychose 
und  Hyperthyreoidisinus. 

Bekannt  ist  das  gegensätzliche  Verhalten  der  Konstitu¬ 
tionen  dieser  beulen  Psychosengruppen,  das  vor  allem  in  der 
Heredität  zum  Ausdruck  kommt.  Ein  Zusammentreffen  der  beiden 
Psychosengruppein  in  derselben  Familie  ist  eine  seltene  Aus¬ 
nahme;  in  der  überwiegenden  Zahl  der  Fälle  schließt  die  eine 
die  andere  aus. 

Es  scheint  also,  daß  der  gleiche  Gegensatz,  den  die  beiden 
Konstitutionen  im  hereditären  Verhalten  zeigen,  auch  in  ihren 
Beziehungen  zur  chemischen  Koordination  sich  wiederfindet. 

Priv.-Doz.  E.  S  t  r  a  n  s  k  y  bemerkt  gegenüb  er  d  en  Ausführungen 
Pö  t  z  1  s,  mit  dem  (H  y  p  e  r  thyreoidisrnus  komme  man,  hier  nicht  allein 
aus,  in  den  Depressionszuständen  ist  das  Bild  oft  eher  ein  hypo- 
thyreoidistisches,  myxödemähnliches  (Redner  erinnert  auch  an 
Tomaschnys  interessante  Beobachtung);  also  die  Annahme 
einer  Dysthyreoidisation  sei  vorzuziehen.  Straus  ky  möchte  auch 
hei  aller  eigenen  Anerkennung  für  die  Disparatbeit  der  manisch- 
depressiven  und  der  Präkoxanlage,  schon  mit  Rücksicht  auf  die 
Ergebnisse  von  Herze-,  auch  jene  von  Pile z,  nicht  gerade  von 
einer  Gegensätzlichkeit  beider  sprechen;  fast  eher  könnte  man 
solche  Gegensätzlichkeit  im  Rahmen  der  allgemeinen  Degene-- 
ration  zwischen  paranoischer  und  manisch-d-etpressiver  Anlage, 
wenn  auch  gleichfalls  nur  mit  Beschränkungen,  annehmen.  Redner 
hat  in1  einem  kürzlich  erschienenen  Aufsatz,  den  Pötzl  ja  zitiert 
hat,  seinen  Gedanken  hierüber  Ausdruck  gegeben,  möchte  daher 
ob  der  Kürze  der  Zeit  hier  nicht  nochmals1  das  nämliche  wieder¬ 
holen,  resp.  noch  weitere  Details  hinzufügen,  zumal  es  demnächst 
noch  aii  anderer  Stelle  erfolgen  wird.  (Nachschrift:  Eben¬ 
darum  habe  ich  auch  auf  ein1©  Replik  gegenüber  Kollegen  Pötzl 
verzichtet,  dessen  weiteren  Ausführungen  —  siehe  unten  —  meines 
Erachtens  manches  Bedenken  entgegenzuhalten  wäre;  auch  habe 
ich  aus  B-erzes  an  gezogenen  Arbeiten  nicht  das  herausgelesen, 
was  Kollege  Pötzl  daraus  entnimmt.  Stransky.) 

D-r.  Pötzl:  Die  Befunde  Berzes  lassen  sich  meiner  An¬ 
sicht  nach  keineswegs  als  Argument  gegen  die  von  mir1  vorge¬ 
brachten.  Anschauungen  verwerten;  sie  scheinen  mir  im  Gegen¬ 
teil  nur  eine  Stützte  für  sie  zu  enthalten,  da  sie  in  schlagender 
Weise  die  Einheitlichkeit  der  vererbbaren  Konstitution  bei  De¬ 
mentia  praecox  beweisen.  Paranoia  und  Dementia  praecox  sind 
meiner  Ansicht  nach  keineswegs  Gegensätze;  sie  kommen  auch 
nicht  selten  zusammen  in  den  gleichen  Familien  vor.  Der  Begriff 
der  Dementia  praecox  wird  vielleicht  mit  der  Zeit  gleichbedeutend 
w-erden  mit  dem  Begriff  jener  identischen  konstitutionellen  Basis, 
auf  der  sich  verschiedene,  w-enin  auch  in  vielen  wichtigen  Zügen 
der  Symptome  und  des  Verlaufes  ähnliche  Psychosen  entwickeln 
können,  so  vor  allem  Hebephrenie,  Katatonie  und  Paranoia. 

Priv.-Doz.  Dr.  Falt  a :  Herr  Kolleg-el  Pötzl  hat  die  Ansicht 
ausgesprochen,  daß  man  depressive  Zustände  hei  Morbus  Ba- 
sedowi  schwer  auf  Hyperthyreoidismus,  sondern  vielmehr  nur 
auf  Dysthyreoidismus  zurückführen  könne.  Ich  möchte-  nur  einen 
Fall  erwähnen,  der  vor  kurzem  auf  der  Klinik  v.  N  o  or  d  en  zur 
Beobachtung  kam.  Ein  zirka  öOjähriger  Pat.  zeigte  mit  dem 
Auftreten  biased owischer  Symptome  auch  psychische  Depression 
und  Selbstmordideen.  Alle  Erscheinungen  klangen  rasch  ab. 
Nach  Darreichung  von  Schilddrüsentahletten  stellten  sich  bereits 
am  dritten  Tage  wieder  Selbstmordideen  ein.  Ich  möchte  daher 
annehmen,  daß  der  Hyperthyreoidismus  sowohl  manische  wie 


Nr.  5 

depressive  Zustände  aus  lösen  kann,  je  nachdem  das  Zentral¬ 
nervensystem  für  den  einen  oder  den  anderen  Zustand  eine  Dispo¬ 
sition  besitzt. 

_ 


Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte 

in  Böhmen. 

Sitzung  vom  20.  Januar  1911. 

Kreil)  ich:  lieber  die  Entstehung  des  melano- 
t  i  s  C  h  e  n  H  a  u  t  p  i  g  m  e  n  t e  s.  (Siehe  Wiener  klinische  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  4.  S.  117.) 

Kr  ei  hieb:  Demonstration  je  eines  Falles  vom  Pemphi¬ 
gus  vegetans  und  Pemphigus  foliaceus. 

R.  Salus:  Demonstration  eines'  Falles  von  Erythema 
exsudativa  m  multifor m  e  d e- r  H a u t  u n d  d  e r  K o n  j u n k- 
t  i  v  a. 

H.  V  i  e-n  er:  Lieber  die  Art  der  Funktion  der  Epi-  ' 
th  eikör  perch-eiü. 

Der  Vortragende  beschäftigt  sich  mit  der  Frage,  ob  die  Epi¬ 
thelkörperchen  eine  sekretorische  oder  entgiftende  Funktion 
haben.  Für  erste-re-  besteht  kein  Anhaltspunkt,  für  letztere  spricht 
die  Tatsache,  daß  man  durch  Injektion  von  Serum  tetaniekranker 
Tiere  hei  normalen  Tetanieerscheinungen  -erzeugen  kann.  Dem 
\  oi  tragenden  gelang  es  nun,  ein  Antigen  gegen  das  Tetaniegift 
zu  erzeugen,  welches  die  Tetanie  zu  heilen  imstande!  war.  D-a  er 
dasselbe  in  seltenen  Fällen  auch  bei  normalen  Tieren  nach* 
weisen  konnte,  so  sieht  er  in  dieser  Tatsache  die  Erklärung, 
warum  manche  Tiere  trotz  totaler  Parathyreoidektomie  nicht  an 
Tetanie-  -erkranken  und  warum  auch  die  Injektion  von  Tetanieserum 
nicht  hei  allen  Tielre-n  Tetanie  erzeugt. 

Wenn  .auch  durch  diese  gefundenen  Tatsachen  die  Ent- 
giftungstheorie  nicht  bewiesen  ist,  erscheint  sie  doch  wesentlich 
gestützt  *  H.  Pribram -Prag. 


Programm 

der  am 

Freitag:  <len  3.  Fefiruar  1911,  um  7  IJlir  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Hofrat  Dr.  S.  F.xiier  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Priv.-Doz.  Dr.  0.  Kaliler  und  Prof.  Dr.  0.  Stoerk :  Broncho- 
stenose  bei  Vorhofvergrößerung.  (Demonstration.) 

2.  Prof.  Dr.  It.  Kraus  und  Dr.  M.  v.  Draff:  Ueber  die  Einwirkung 
des  Plazentarserums  auf  menschliche  Karzinomzellen. 

3.  Prof.  Dr.  Härtner :  Die  Messung  der  Luftdurchgängigkeit  der  - 

Nase. 

4-.  Dr.  Hecht  und  Dr.  Köhler:  Untersuchungen  über  Asepsis  (mit 
Demonstration). 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Clairmont  und  Haudek, 

S.  Federn,  Max  llerz,  Julius  Neumann,  Ed.  Hermann  und  L.  Wiek. 

Bergmeister,  P a  1 1 a u f. 

Um  die  reclitzeitijje  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen, 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerkungen 
dem  Schriftführer  nocli  am  Sitzung-sabend  zu  übergeben. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  6.  Februar  1911,  7  Uhr  abends,  im  J 

Sitzungssaale  des  Kollegiums,  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz 
des  Herrn  Hofrat  Prof.  Ohersteiuer  stattfindenden  wissenschaftlichen 

Versammlung. 

Dr.  Siegfr.  Weiß:  Stillung,  ihre  Technik  und  Indikationen. 


Gesellschaft  für  physikalische  Medizin. 

Programm  der  am  Mittwoch  den  8.  Februar  1911,  um  7  Uhr  abends,  im 

Hörsaale  der  Klinik  Noorden,  unter  dem  Vorsitze  von  Priv.-Doz.  Dr.  Max 
Herz  stattfindenden  Sitzung. 

1.  Demonstrationen. 

2.  Dr.  Alois  Fischer:  lieber  ein  neues  hochaktives  Radium¬ 
emanationspräparat  (mit  Demonstrationen). 

3.  Priv.-Doz.  Dr.  Ant.  Hum:  Ueber  Kombination  physikalischer 
Behandlungsmethoden. 

Kollegen  als  Gäste  willkommen. 

Dr.  Max  Kahane,  I.  Sekretär.  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz,  Präsident. 

Wiener  laryngologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Mittwoch  den  8.  Februar  1911. 

Programm: 

1.  Administrative  Sitzung. 

2.  Wissenschaftliche  Sitzung  (Demonstrationen). 

Der  Sekretär. 


Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Knbasta.  Verlag  von  Wilhelm  Braumüller  in  Wien 

Druck  von  Bruno  Bartelt,  Wien  XVIII.,  Theresiengasse  3. 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

G.  Braun,  0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S.  Exner,  E.  finger,  M,  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko,  H.  Meyer.  J,  Moeller, 
K.  v.  Noorden,  H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Theodor  Escherich,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs,  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig 
Edmund  v.  Neusser,  Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuohhändler,  VIII/i.  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618 

XXIV.  Jahrg.  Wien,  9.  Februar  1911  Nr.  6 


INHALT: 


f.  Originalartikp] :  1.  Aus  dem  staatl. -serotherapeutischen  In¬ 
stitute  in  Wien  (Vorstand:  Hofrat  Prof.  Paltauf)  und  der 
geburtshilfl.  -  gynäkol.  Klinik  in  Wien  (Vorstand:  Prof.  Wert- 
heiin).  lieber  die  Wirkungen  des  Plazentarserums  und  des 
Serums  Gravider  auf  menschliche  Karzinomzellen.  Von  Professor 
R.  Kraus  und  E.  v.  Dr.  Graff.  S.  191. 

2.  Aus  der  chirurgischen  Abteilung  des  Obuchow-Krankenhauses 
für  Frauen  zu  Petersburg.  (Oberarzt  I.  Grekow.)  Zur  Frage  der 
Wechselbeziehungen  zwischen  entzündlichen  Erkrankungen  des 
Processus  vermiformis  und  der  Tuba  Fallopii  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Perforation  des  Wurmfortsatzes  in  die 
Tube.  Von  I.  1.  Grekow.  S  194. 

3.  Ueber  Körperproportionen  der  Kretinen.  Von  Oberbezirksarzt 
Dr.  Arnold  F.linker  in  Czernowitz.  S.  196. 

4.  Aus  dem  pathol. -anatom.  Institut  in  Wien.  (Vorstand:  Hofrat 
Weichselbaum.)  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Streptothrix-Er- 
krankungen  des  Menschen.  Von  Georg  Gjorgjewic,  derzeit 
Assistent  an  der  dermatologischen  Kiinik  in  Innsbruck.  S.  198. 

5.  Quarantänestudien.  Von  Dr.  Emil  Wiener.  S.  201. 

II.  Diskussion:  Aus  der  Kinderabteilung  des  k.  k.  Kaiser  Franz 

Joseph-Spitales  in  Wien.  (Vorstand:  Primarius  Priv.-Doz.  Doktor 
Paul  Moser.)  Kritische  Bemerkungen  zur  Arbeit  von  G.  Simon 


über  meine  Methode  der  Permanganattitration  des  Liquor 
cerebrospinalis.  Von  Dr.  phil.  et  med.  Ernst  Mayerhofer.  S.  205. 

III.  Referate:  Innere  Sekretion.  Ihre  psychologischen  Grundlagen 
und  ihre  Bedeutung  für  die  Pathologie.  Von  Prof.  Dr.  Artur 
Biedl.  Ref.:  Wiesel.  —  Die  Blutdrucksteigerung  vom  ätio¬ 
logischen  und  therapeutischen.  Standpunkt.  Von  Dr.  Karl  Hase- 
broek.  Ref.:  H.  Winterberg.  —  Handbuch  der  Geschlechts¬ 
krankheiten.  Von  Prof.  Dr.  E.  Finger,  Prof.  Dr.  J.  Jadassohn, 
Prof.  Dr.  S.  Ehr  mann,  Priv.-Doz  Dr.  S  Groß.  Ref.:  Merk 
(Innsbruck).  —  Praktische  Ergebnisse  aus  dem  Gebiete  der 
Haut-  und  Geschlechtskrankheiten.  Von  A.  Jesionek.  Ikono- 
graphia  Dermatologica.  Die  Wassermannsche  Reaktion  njit  be¬ 
sonderer  Berücksichtigung  ihrer  klinischen  Verwertbarkeit. 
Von  Priv.-Doz.  Dr.  Harald  Boas.  Hereditäre  Syphilis,  deren 
Prophylaxe  und  Therapie.  Von  Prof.  Alfred  Fournier.  Ref.: 
Nobl.  —  Bei  den  Eskimos  in  Westgrönland.  Von  Dr.  Rudolf 
Trebitsch.  —  Ref.:  Rudolf  Pöch. 

IV.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

V.  Nekrologe:  Johannn  Csokor.  Von  Hartl.  -  Willibald  Nagel. 
Von  D  u  r  i  g. 

VI.  Vermischte  Nachrichten. 

VII.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte 


Aus  dem  staatl.-serotherapeut.  Institute  in  Wien  (Vor¬ 
stand:  Hofrat  *Paltauf)  und  der  geburtshilfl. -gynäkol. 

Klinik  in  Wien  (Vorstand :  Prof.  Wertheim). 

Ueber  die  Wirkungen  des  Plazentarserums 
und  des  Serums  Gravider  auf  menschliche 

Karzinomzelien. 

Von  Prof.  R.  Kraus  und  Dr  E.  v.  Graff. 

Salomon  und  Saxl1!  konnten  zeigen,  daß  im  Harne 
krebskranker  Menschen  die  Oxyproteinausscheidung  gestei¬ 
gert  ist.  Bei  gesunden  Individuen  oder  bei  andersartigen 
Krankheiten  wurde  dieser  Befund  nicht  erhoben.  Nor  im 
Harne  der  Graviden  ließ  sich  in  gleicher  Weise,  wie  bei 
Krebskranken  die  Vermehr ung  der  Üxyproteinsäure  nach- 
weisen. 

Einen  weiteren  Parallelismus  im  Stoffwechsel  gravider 
und  krebskranker  Menschen  haben  dann  Falk  und  Hesky2) 
aufgedeckt.  Falk,  Salomon  und  S  a x  1 3)  haben  im  Harne  i  n 
Fällen  von  Karzinom  eine  auffallende  Vermehrung  der  Poly¬ 
peptide  feststellen  können.  Falk  und  Hesky  haben  den 
gleichen  Befund  auch  bei  Graviden  ermittelt  (Vermehrung 
der  Aminosäuren  und  des  Peptidstickstoffes.)  (Interessant 
ist  die  Beobachtung,  daß  erst  in  den  späteren  Monaten  der 
Gravidität  diese  Aenderung  des  Stoffwechsels  konstatier¬ 
bar  ist.) 


Dieser  Parallel ismus  im  Stoffwechsel  der  Graviden  und 
Karzinomkranken  ließ  den  Gedanken  zu,  ob  nicht  vielleicht 
das  Serum  Gravider  den  Karzinomreaktionen  gegenüber 
(Meiostagminreaktion  von  As  coli  und  Zellreaktion  von 
Freund  und  Kamin  er,  Neuberg)  sich  gleich  verhält, 
wie  das  Serum  Karzinomatöser. 

In  dieser  Untersuchungsreihe  sollte  zunächst  der  Par¬ 
allelismus  des  Serums  Gravider  und  Krebskranker  in  ihrem 
Verhalten  zu  Karzinomzellen  geprüft  werden.  Die  diagno¬ 
stische  Verwertbarkeit  dieser  Reaktion  haben  wir  zunächst 
gar  nicht  berücksichtigt. 

E.  Freund  und  G.  K amine r  haben  gezeigt,  daß  das 
Serum  gesunder  und  kranker  Menschen  (z.  B.  Tuberkulose, 
Nephritis,  Pneumonie,  Lues),  die  Fähigkeit  besitzt,  Kar¬ 
zinomzellen  in  vitro  zu  lösen.  Sie  konnten  feststellen,  daß 
nach  24  Stunden  (37°)  die  Zahl  der  Zellen  im  Vergleich 
mit  derjenigen  am  Vortage,  beträchtlich  abgenommen  hat. 

Im  Gegensatz  dazu  vermochte  das  Karzinomserum  die 
Zellen  nicht  aufzulösen,  die  Zahl  der  Zellen  nach  24  Stunden 
(37°)  war  gleich  geblieben. 

Zunächst  haben  wir  das  Serum  von  Graviden  und 
vom  Nabelschnurblut  in  ihrer  Wirkung  auf  Karzinomzelien 
untersucht  und  gelangten  zu  Resultaten,  die  besonderesinter¬ 
esse  beanspruchen. 


192 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


1.  Versuch. 


20  Tropfen  Serum  -)-  2  Tropfen  Z  e  1 1  e  m  u  Is  ion  (Ca.  mammae) 


Serum 

Zahl  der  Zellen 

Abnahme  um 

0/ 

Io 

sofort 

n.  24  Std. 
bei  37° 

Hirntumor  (1)  .... 

18'8 

40 

14-8  =  78-7 

Schädelbasisfraktur  (2) 

148 

22 

12-6  =  85  T 

Tuberculosis  manus  (3)  . 

16T 

5-5 

10-6  =  65-8 

Amputation  (4)  .  .  .  . 

20-7 

8-8 

11-9  —  574 

Nabelschnurblut  (91 

151 

14-7 

04  =  26 

»  (10)  .  . 

17T 

15-7 

1-4  =  8  2 

*  (11)  •  • 

121 

10-8 

1-3  =  10-7 

*  (12)  .  . 

171 

137 

34  =  198 

*  (13)  .  . 

137 

127 

1-0  =  72 

Kochsalzkontrolle  .  .  . 

21-2 

110 

102  =  47-6 

2.  Versuch. 

20  Tropfen  Serum  4"  2  Tropfen  Zellemulsion  (Leber¬ 
metastase). 


Zahl  der  Zellen 

Serum 

sofort 

n.  24  Std. 
bei  37" 

Abnahme  um 

0/ 

Io 

Nabelschnurblut  (32)  .  . 

295 

24-7 

4-8  = 

163 

»  (33)  .  . 

243 

24-1 

0-2  = 

08 

»  (34)  .  . 

27-2 

27-7 

(Zun. 

0-5) 

»  (36)  L  . 

295 

244 

5-1  = 

172 

Kochsalzkontrolle  .  .  . 

187 

151 

3-6  - 

192 

3.  Versuch. 


20  Tropfen  Serum 


1  Tropfen  Zellemulsion  (Leber¬ 
metastase). 


Serum 

Zahl  der  Zellen 

Abnahme  um 
o  / 

Io 

sofort 

n.  24  Std. 
bei  37° 

Nabelschnurblut  (61)  .  . 

185 

208 

Zun.  17 

»  (62)  .  . 

36  3 

325 

3-8  ==  10-4 

»  (63)  .  . 

34-3 

313 

30  =  87 

Kochsalzkontrolle  .  .  . 

302 

22'8 

74  =  24-5 

4.  Versuch. 

20  Tropfen  Serum  -f-  1  Tropfen  Zellemulsion  (Leber¬ 
metastase). 


Serum 

Zahl  der  Zellen 

Abnahme  um 

«/ 

Io 

sofort 

n.  24  Std. 
bei  37« 

Empyem  (58)  .... 

283 

10’0 

18-3  =  646 

Nabelschnurblut  (53)  . 

313 

290 

2-3  =  73 

»  (54)  .  . 

221 

180 

4T  =  18-5 

»  (55)  .  . 

24-4 

22’0 

2-4  =  98 

(57)  .  . 

23-8 

30T 

Zun.  7  7 

Kochsalzkontrolle  .  .  . 

396 

290 

106  =  26-7 

5.  Versuch. 

20  Tropfen  Serum  -)-  2  Tropfen  Zellemulsion  (Leber¬ 
metastase). 


Zahl  der  Zellen 


Abnahme  um 

7o 

Serum 

sofort 

n.  24  Std. 
bei  37° 

Normale  Frau  (74)  .  . 

250 

8-0 

17  =  68 

»  »  (75)  .  . 

21-7 

115 

102  =  47-0 

Gravid  im  6.  Monat  (67) 

20-5 

50 

155  =  756 

»7.  »  (66) 

2P3 

71 

14-2  =  666 

»7.  »  (68) 

262 

12-2 

140  =  53-3 

»  8.  »  (69) 

29T 

132 

15-9  =  54-6 

»  »  8.  »  (64) 

230 

16-5 

65  =  28-2 

»  8.  *  (71) 

234 

32  2 

11-2  =  478 

»  »9.  »  (65) 

212 

87 

125  =  58-9 

»  »  9.  »  (70) 

26-2 

17-7 

8-5  =  324 

»  10.  »  (72) 

206 

17-0 

36  =  174 

»  »  10.  »  (73) 

17T 

168 

0-3  =  1-7 

Nabelschnurblut  (76)  .  . 

180 

178 

0-2  =  11 

*  (77)  .  . 

203 

192 

1-1  =  5-4 

Kochsalzkontrolle  .  .  . 

30-1 

200 

101  =  335 

G.  Versuch. 

20  Tropfen  Serum  -j-  2  Tropfen  Zellemulsion  (Leber¬ 
metastase). 


Serum 

Zahl  der  Zellen 

Abnahme  um 

% 

sofort 

n.  24  Std. 
bei  37° 

Normale  Frau  (86)  .  . 

20T 

8T 

120  =  597 

Gravid  im  7. — 8.  Monat  (79) 

22  0 

10-2 

11-8  =  53-6 

»  »  10.  »  (80) 

23T 

138 

93  =  40-2 

»  »  10.  »  (78) 

221 

13-5 

8-6  =  389 

»  »  10.  »  (96) 

24-7 

127 

20  =  8 

Nabelschnurblut  (89)  .  . 

300 

18-8 

11-2  =  373 

Säugling  (92) . 

38-5 

14-3 

24-2  =  628 
hiezu  Nabelschnurbl. 
180— 178 

(93) . 

30-4 

5 

127 

17-7  =  58'2 
hiezu  Nabelschnurbl. 
300—18-8 

»  (94) . 

238 

120 

11-8  =  495 

»  (95) . 

31-0 

17-8 

13-2  =  42-5 

»  (30) . 

297 

58 

239  =  80-4 
hiezu  Nabelschnurbl. 
13-7—12-7 

Kochsalzkontrolle  .  .  . 

29T 

224 

6-7  =  230 

1 

Di©  hier  eben  angeführten  Versuche  wurden  mit  Karzi- 
nomzellen  ausgeführt  (Care,  mammae,  Care,  metast.  hepat.),  die 
genau  nach  der  Vorschrift  von  Freund  und  Kaminer  her- 
gestellt  waren.  Zu  frischem  Serum  wurden  so  viele  Tropfen  der 
Zellemulsion  zugesetzt,  daß  in  einem  großen  Quadranten  der 
Thomas  sehen  Kammer  ungefähr  20  Zellen  gezählt  werden 
konnten.  Es  wurden  sechs  Quadrate  gewöhnlich  durchgezählt. 
Die  Eprouvetten  wurden  24  'Stunden  bei  37°  stehen  gelassen 
und  wieder  gezählt. 

Es  zeigt  sich  zunächst,  daß  konform  den  Angaben  von 
Freund  und  Kaminer,  Serum  gesunder  Menschen  und 
auch  Kranker,  KarzinomJzellen  in  vitro  derart  beeinflußt, 
daß  innerhalb  von  24  Stunden  die  Zahl  derselben  stark  ab¬ 
genommen  hat.  Es  wurde  diese  Tatsache  nicht  nur  mit  den 
hier  angeführten  Seris,  sondern  auch  noch  mit  Seris,  die 
hier  nicht  speziell  verzeichnet  werden,  ermittelt.  Die  größte 
Abnahme  zwischen  der  Zahl  der  Zellen,  sofort  nach  dem; 
Zusatz  des  Serums  und  24  Stunden  nachher,  betrug  85-1  °/o 
der  Anfangszahl,  die  geringste  Abnahme  betrug  47°/o. 

Wie  bereits  erwähnt  wurde,  haben  wir  weiter  unser 
Augenmerk  auf  das  Serum  der  Säuglinge,  der  Graviden 
und  Nabelschnurserums  gerichtet. 

Es  ergab  sich,  daß  ganz  ähnlich,  wie  das  Serum  der 
gesunden  Menschen,  sich  auch  das  Serum  der  gra¬ 
viden  Frauen  (bis  zum  zehnten  Lunarmonat)  ver¬ 
bal  t.  Inden  ersten  nenn  Monaten  der  Schwangerschaft 
hat  das  Serum  der  Graviden  Karzinomzellen 
ebenso  gelöst  wie  Serum  gesunder  Menschen.  Ein 
besonderer  Unterschied  zwischen  der  Wirksamkeit  des  Se¬ 
rums  der  ersten  Monate  gegenüber  demjenigen  der  späteren 
Monate,  ist  bisher  nicht  feststellbar  gewesen.  Die  Abnahme 
betrug  maximal  =  75-6 °/o,  minimal  47-8%,  also  Zahlen, 
die,  wie  aus  den  Versuchsprotokollen  ersichtlich  ist,  mit 
Serum  der  Gesunden  für  gewöhnlich  erzielt  wurden.  (Nur 
in  einem  Fälle  hat  das  Serum  [im  achten  Monat.]  eine  Ab¬ 
nahme  nur  um  28-2 °/o  und  im  Serum  [im! 9.  Monat]  'uml32-2°/o! 
zur  Folge  gehabt.)  Auffallend  ist  demgegenüber,  daß  die 
Abnahme  mit  dem  Serum  der  Graviden  im  zehnten 
Monat  40-2°/o,  38-9°/o,  17-4%,  8%,  l-7%  beträgt.  So  ge¬ 
ringe  Abnahmen  der  Karzinomizellen,  wie  sie  mit  dem  Se 
rum  der  Graviden  im  zehnten  Monat  nachgewiesen  werden, 
sahen  wir  mit  dem  Serum  der  Graviden  vom  ersten  bis 
neunten  Monat  nur  zweimal  (28-2°/o,  32-4°/o).  Allerdings 
sehen  wir,  daß  die  Wirksamkeit  des  Serums  der  Graviden 
im  zehnten  Monat  gegenüber  den  Karzinomzellen  eine  un¬ 
gleiche  ist,  indem  im  Serum  eine  Abnahme  um  40-2%,  an¬ 
dere  dagegen  nur  um  17-4°/o  und  weniger  (8°/o,  l-7°/o)  be¬ 
wirken  können. 

Wenn  auch  ein  abweichendes  Verhalten  des  Serums 
der  Graviden  im  zehnten  Monat  sicher  gegenüber  demjenigen 
aus  dem  ersten  bis  neunten  Monate  feststellbar  ist,  kann 


Nr.  0 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


193 


von  einer  Konstanz  dieser  Eigenschaft  doch  nicht  die 

Rede  sein. 

Die  Untersuchung  des  Nabelschnurblutserums*) 
ergab  demgegenüber  ein  ganz  auffallendes  Resultat.  Das  Se¬ 
rum,  gewonnen  aus  dem  Nabelschnurblut,  hat  konstant 
das  Verhalten  gezeigt,  wie  es  Freund  und  Kami 
ü.er  für  da's  Serum  der  Karzinom atösen  ange¬ 
geben  haben.  Das  Nabelschnurblutserum  war  nicht 
imstande  Karzinomzellen  zu  lösen,  so  daß  die 
Zahl  der  Zellen  in  24-  Stunden  fast  gleich  ge¬ 
blieben  ist.  Im  ersten  Versuch  sehen  wir  durch  normale 
Sera  Abnahme  der  Karzinomizellen  um  85-1  °/o,  78-7! %’, 
65-89/0,  57-4°/o,  dagegen  hat  Nabelschnurserum  nur  Ab¬ 
nahmen  um  19-8%,  10-7 °/o,  8-2°/o,  7-2%,  2-6%  bedingt. 
Die  Differenz  zwischen  der  geringsten  Abnahme  durch  nor¬ 
males  Serum  (57-4%)  und  der  größten,  durch  Nabelschnur¬ 
serum  (l9-8°/o),  beträgt  demnach  37-6.  Im  vierten  Versuch 
beträgt  die  Abnahme  durch  normales  Serum  6‘4-6°/o,  durch 
Nabelschnurserum  18-5%,  9-8%,  7-3  °/o.  Im  fünften  Ver¬ 
such  ist  die  Abnahme  durch  normales  Serum  68°/o,  47°/o, 
durch  Nabelschnurserum  5-4°/o,  1-1  °/o.  Berücksichtigt  man 
noch  dazu  die  Resultate  des  zweiten  und  dritten  Versuches, 
so  kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  dem  Nabel¬ 
schnurserum  im  Gegensatz  zum  Serum  normaler 
Menschen  und  auch  Graviden  bis  zum  zehnten 
Monat,  die  Eigenschaft  fehlt,  menschliche  Kar¬ 
zinomzellen  zu  lösen.  Dieses  Serum  zeigt  kon¬ 
stant,  die  Eigenschaften  des  Karzinomserums.**) 

Nachdem  wir  gefunden  haben,  daß  das  Serum  der 
Graviden  im  zehnten  Monat  ebenfalls  ein  abweichendes  Ver¬ 
halten  zeigt,  insoferne  es,  sowie  Karzinom -Nabelschnur¬ 
serum  eine  Abnahme  der  Karzinomzellen  nicht  bedingt,  so 
ist  wahrscheinlich,  daß  der  Verlust  der  lösenden  oder  das 
Auftreten  der  hemmenden  Eigenschaften  des  Blutserums 
der  Graviden  erst  ante  partum  zustande  kommen  dürfte. 
Der  Nachweis,  daß  das  beschriebene  Verhalten  im  zehnten 
Monat  nicht  konstant  ist  und  daß  auch  die  hemmende 
Eigenschaft  wohl  nachweisbar  ist,  aber  nicht  in  dem  Maße 
wie  es  beim  Nabelschnurserum,  zu  finden  ist,  spricht  mit 
großer  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daßi  die  Ursache  für  diese 
Aenderung  der  Eigenschaft  des  Serums  in  der  Plazenta  zu 
suchen  sein  dürfte.  Weitere  Versuche  in  dieser  Richtung 
sollen  auch  dieser  Frage  nähertreten. 

Es  war  noch  nachzusehen,  wie  sich  das  Serum  der 
Neugeborenen  verhält.  Wie  aus  dem  sechsten  Versuch  her¬ 
vorgeht,  vermag  das  Serum  der  Neugeborenen***) 
K a r z i n o m z e 1 1  e n  zu  lösen,  so  wie  das  nor m a  1  e 
oder  das  der  Graviden.  Das  hiezu  gehörige  untersuchte 
Nabelschnursemm  zeigt  wiederum  das  beschriebene 
konstante  Verhalten,  also  keine  Abnahme  der  Kar¬ 
zinomzellen. 

Auch  diese  Tatsache  kann  nur  so  verstanden  werden, 
daß  die  dem  Plazentarserum  zukommende  Eigenschaft  in  die 
Plazenta  selbst  zu  verlegen  sein  dürfte. 


Zusammenfassung. 


- 

- 

i  von  8  nicht  graviden 

Frauen  . 

von  14  schwangeren 

Frauen  . 

|  von  19  Nabelschnurblut¬ 
seris  . 

I  von  5  Säuglingen  .  .  . 


Ausgesprochene  Zell¬ 
verminderung 


mehr  als  50% 


17 

6 


j  Keine  oder 
nur  unbedeu¬ 
tende  Zellver- 
bis  zu  50 °/0  j  minderung 


3 

18 


*)  Es  wurde  Blut  aus  dem  mütterlichen  Anteil  der  Nabelschnur 

entnommen. 

**)  Ob  die  hemmende  Eigenschaft  des  Nabelschnurblutserums  auf 
eine  schützende  Substanz  wie  sie  für  das  Karzinomserum  von  Freund 
und  K  a  miner  angenommen  wurde,  zurückzuführen  sein  dürfte,  haben 
wir  bisher  nicht  untersucht. 

***)  5  Tage  alte  Säuglinge. 


Tiersera.  7.  Versuch. 

20  Tropfen  Serum  -}-  1  Tropfen  Zeilemulsion  (Leber¬ 
metastase). 


Serum 

Zahl  der  Zellen 

r,s 

Abnahme  um 

°/ 

Io 

Ratte  (I) . 

24-8 

190 

58  =  233 

Ziege  (6)  .  .  .  . 

24'8 

275 

keine  Venninderun 

Ziege  (46) . 

29-6 

295 

0-1  =  0*3 

Kaninchen  (I)  .... 

325 

63 

26  2  =  80 

Kaninchen  (II)  .... 

20-0 

5*6 

14-4  =  72 

Tiersera.  8.  Versuch. 

20  Tropfen  Serum  4-  2  Tropfen  Zellemulsion  (Ca.  mammae). 


Serum 

Zahl  der  Zellen 

„  ,  in.  24  Std. 
sofort  i  bei  37° 

Abnahme  um 

01 

Io 

Hammel . 

19-2 

18-4 

0-8  =  41 

Ratte . 

121 

11-5 

0-6  =  49 

Ziege  . 

.  i  22- ! 

180 

41  =  1-8 

Meerschweinchen  .  . 

25-0 

8-4 

16-6  =  664 

Kaninchen  .  .  .  . 

.  I  14-8 

2-8 

120  =  824 

Zum  Schlüsse  seien  noch  Versuche  angeführt,  die  das 
Verhalten  der  Tiers  era  gegenüber  mens  ch  li  c  hen  K  ar- 
zinomizellen  in  Betracht  ziehen.  (Vers.  7  und  8.) 

Die  Resultate  lehren,  daß,  es  Tierarten  gibt,  wie 
R  atte, Ziege,  Hammel, derenSeru  m  nicht  imstande 
ist,  menschliche  Karzinomzellen  zu  lösen  und 
anderseits  Tierarten,  deren  Serum  ebenso  stark 
menschliche  Karzinomzellen  löst,  wie  normales 
menschliches  Serum.  Diese  Befunde  sollen  nur  Er¬ 
wähnung  finden,  da  sie  Gegenstand  besonderer  Bearbei¬ 
tung,  die  uns  Vorbehalten  bleiben  soll,  bilden  werden. 

Zu  bemerken  wäre  noch,  daß  die  Ausführung  der 
Zellreaktion  auf  besondere  Schwierigkeiten  stößt,  die  der 
praktischen  Durchführbarkeit  sicher  im  Wege  stehen  dürften. 
Das  Zellmaterial  ist  an  und  für  sich  schwer  zu  beschaffen. 
Viele  Tumoren  sind  außerdem  unbrauchbar,  sei  es,  daß  man 
keine  isolierten  Zellen  gewinnt,  sei  es,  daß  die  Zeilen  von 
normalem  Menschenserum  nicht  aufgelöst  werden. 

Wir  haben  deswegen  mit  v.  ZubrzyCki  nach  an¬ 
derem  Zellmaterial  gesucht,  welches  imstande  wäre,  Kar¬ 
zinomzellen  zu  ersetzen. 

Tierische  Zellen  (Leber)  von  Kaninchen,  Meerschwein¬ 
chen,  Pferd,  erwiesen  sich  als  unbrauchbar,  da  sie  vom 
normalen  Menschenserum  nicht  gelöst  werden.  Dagegen  ge¬ 
lang  es  uns  in  Versuchen  mit  Ranzi,  in  Karzinomzellen 
des  Mäusekarzinoms  ein  Material  zu  finden,  welches,  wie 
die  weiteren  Versuche  zeigen  sollen,  das  menschliche  Zell- 
material  ersetzen  könnten. 

Zusammenfassend  können  wir  auf  Grund  der  vor¬ 
liegenden  Untersuchungen  die  Tatsache  feststellen,  daß  das 
menschliche  Nabelblutserum  menschliche  Karzi¬ 
nomzellen  nicht  zu  lösen  imstande  ist.  Dieses 
Serum  verhält  sich  demnach  konstant  so,  wie 
Karzinomserum  (Freund  und  Kaminer,  Neifberg). 
Konform  den  Angaben  von  Freund  und  Kaminer  und 
Neuberg,  löst  Serum  Gesunder  und  nicht  an  Karzinom 
Erkrankter,  konstant  Karzinomzellen  (Mensch  und  Maus). 
Gleiches  Verhalten  zeigt  auch  das  Serum  der  Graviden  (bis 
zum  10. [Monat).  Das  Serum  der  Graviden1  im  10.  Monat  weicht 
insoferne  ab,  als  es  nicht  imstande  ist,  so  stark  Karzinom¬ 
zellen  zu  lösen,  wie  das  der  Graviden  der  vorherigen  Monate 
und  häufig  sogar  die  hemmenden  Eigenschaften  aufweist,  die 
dem  Nabelschnurseram,  resp.  Karzinomserum  eigen  sind. 
Nachdem  wir  gefunden  haben,  daß  Nabelschnurserum  kon¬ 
stant  sich  wie  Karzinomserum  verhält,  Serum  der  Graviden 
im  10.  Monat  nur  inkonstant  dieses  Verhalten  auf¬ 
weist,  so  dürften  wir  wohl  dazu  gelangen,  die  Ursache 
des  konstanten  Verhaltens  des  Nabelschnurserums  in  die 


194 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Plazenta  zu  verlegen.  Die  Plazenta,  bzw.  das  wachsende 
Ei,  dürfte  demnach,  sowie  Tumoren  (Karzinom)  im  Orga¬ 
nismus  Veränderungen  bedingen,  welche  entweder 
zum  Schwund  der  karzinoly tischen  Eigenschaften 
des  menschlichen  Serums  oder  zur  Bildung  der 
h  e  m  m  enden  S  u  b  s  t  a  n  z  e  n  f  ü  h  r  e  n.  Berücksichtigt  man 
noch,  daß  das  Serum  der  Neugeborenen  karzinolytische 
Eähigkeit  besitzt,  so  wird  diese  Annahme  noch  wahrschein¬ 
licher  gemacht.  Dazu  kommt  noch,  wie  eingangs  erwähnt 
wurde,  daß  Stoffwechsel  Untersuchungen  von  Salomon  und 
Saxl  (Vermehrung  der  Oxypro teinsäuren  im  Harn),  sowie 
Falk  und  Heski  (Vermehrung  der  Polypeptide  im  Harn) 
ein  Parallelismus  zwischen  den  Befunden  im  Harne  bei 
Graviden  und  Tumorkranken  nachgewiesen  haben. 

Es  würde  sich  demnach  der- von  uns  erho¬ 
bene  Befund  an  diese  Befunde  anreihen  lassen 
und  die  Ueberei  ns  timmung  der  Eigenschaften 
des  Nab elschnurserums  ^mi t  Karzinomserum 
durch  gewisse  gemeinschaftliche  Prozesse  im 
Chemismus  des  Stoffwechsels  eine  physiologi¬ 
sche  Erklärung  finden. 

Literatur  : 

Salomon  und  Saxl,  Beiträge  zur  Karzinomforschung  1910. 
Verlag  von  Urban  und  Schwarzenberg.  —  Falk,  Salomon  und  Saxl, 
Med.  Klinik  1910.  —  Falk  und  H  e  s  k  y,  Zeitschr.  für  klin.  Medizin, 
Bd.  71.  —  Freund  und  Ka miner,  Wiener  klin.  Wochenschr.,  XXIII, 
Nr.  34;  Biochemische  Zeitschr.,  Bd.  26,  H.  3  u.  4.  —  Neuberg, 
Biochemische  Zeitschr.,  Bd.  26.  H.  3  u.  4. 


Aus  der  chirurgischen  Abteilung  des  Obuchow-Kranken- 
hauses  für  Frauen  zu  Petersburg.  (Oberarzt  I.  Grekow.) 

Zur  Frage  der  Wechselbeziehungen  zwischen 
entzündlichen  Erkrankungen  des  Processus 
vermiformis  und  der  Tuba  Fallopii  mit  be¬ 
sonderer  Berücksichtigung  der  Perforation  des 
Wurmfortsatzes  in  die  Tube. 

Von  I.  I.  Grekow. 

Die  Wechselbeziehungen  zwischen  den  Appendizitiden 
und  den  Salpingitiden  bildeten  in  den  letzten  Jahren  den 
Gegenstand  vieler  Arbeiten,  die  sowohl  die  Möglichkeit 
einer  gleichzeitigen  Erkrankung  der  Tube  und  des  Wurm¬ 
fortsatzes  als  auch  die  Möglichkeit  des  Ueberganges  der 
Infektion  von  dem  einen  dieser  Organe  auf  das  andere  in 
ausreichendem  Maße  nachgewiesen  haben.  Die  Ausbrei¬ 
lungswege  der  Infeklion  sind  augenscheinlich  verschieden. 
Ich  glaube  aber,  daß  die  Ausbreitung  der  Infektion  am 
häufigsten  unmittelbar  infolge  der  Berührung  der  genannten 
Organe  stattfindet. 

Da  ich  über  ein  großes  Material  u.  zw.  weibliches  Ma¬ 
terial,  verfüge,  hatte  ich  bereits  vielfach  Gelegenheit,  mich 
zu  überzeugen,  daß  der  Wurmfortsatz  und  die  rechtsseitigen 
Adnexe  nicht  selten  in  allernächster  Nachbarschaft  liegen, 
so  daß  eine  entzündliche  Erkrankung  des  einen  dieser 
Organe  fast  unvermeidlich,  mag  es  durch  die  Vermittlung 
des  Bauchfelles  oder  durch  diejenige  von  Verwachsungen 
bedingt  sein,  auch  das  andere  Organ  in  Mitleidenschaft 
ziehen  muß.  Die  Differentialdiagnose  ist  in  diesen  Fällen 
außerordentlich  schwierig,  und  nicht  selten  ist  es  fast  un¬ 
möglich,  auf  die  krage,  welches  Organ  das  primär  erkrankte 
ist,  zu  antworten.  Es  ist  sehr  schwer,  Irrtümern  nach  der 
einen  oder  nach  der  anderen  Seite  aus  dem  Wege  zu  gehen. 
Ich  könnte  viele  einschlägige  Fälle  milteilen,  will  mich  aber 
nur  auf  folgende  beschränken,  die  ich  in  der  Chirurgischen 
Gesellschaft  zur  Demonstration  gebracht  habe. 

A.  R.,  36  Jahre  alt,  wurde  am  20.  März  1909  in  diei  gynä¬ 
kologische,  dann  am  1.  Mai  nach  einer  Konsultation  mit  dem 
inzwischen  verstorbenen  W.  A.  Was  ten  in  die  chirurgische 
Abteilung  au  [genommen.  Die  Patientin  klagte  über  eine  Geschwulst 
im  Abdomen  und  über  hartnäckige  Verstopfungen,  die  bisweilen 
dem  Charakter  von  absoluter  Undurchgängigkeit  des  Darmes  an- 
luehinefu.  Fm  Albdomeu  konnte  man  eine  zweifaustgroße  Ge- 


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schwulst  nach  weisem,  die  einen  Raum  einnahm,  der  von  außen 
durch  die  rechte  Crista  ilei,  links  durch  die  Linea  alba,  unten 
durch  das  Ligamentum  Poupartii  begrenzt  war,  nach  oben  Inn 
zwei  Querfingerbreiten  über  den  Nabel  hinausging.  Die  Haupt¬ 
masse  der  Geschwulst  lag  der  Mittellinie  nahe  und  war  mit  der 
vorderen  Rauchwand  verlötet.  Bei  der  Untersuchung  per  vagi- 
inam  stellte  man  fest,  daß  die  Geschwulst  mit  dem  rechten 
Gebärmutterwinkel  in  Verbindung  stand  und  teilweise  das  rechte 
Gewölbe  ausfüllte:.  Die  Geschwulst  war  bretthart  und  fast 
schmerzlos.  Es  bestand  geringer,  nicht  eitriger  Weißfluß.  Die 
Patientin  hat  vor  drei  Monaten  zum  siebenten  Male  geboren 
und  sich  seitdem  unwohl  gefühlt.  Bis  zur  letzten  Zeit  hat  sie 
ihrem  Kinde  die  Brust  gereicht.  Der  Ernährungszustand  der 
Patientin  war  befriedigend.  Von  seiten  der  inneren  Organe  konnte 
nichts  Abnormes  nachgewiesen  werden. 

4.  Mai  1909:  Operation.  Schräger  Hautschnitt,  zirka  drei 
Querfingerbreiten  oberhalb  und  parallel  dem  rechten  Ligamen¬ 
tum  Poupartii  nebst  Durchschneidung  der  unteren  Insertion  des 
rechten  Musculus  rectus  abdominis.  Letzterer  wurde  aus  seiner 
Scheide  bis  zur  Höhe  des  Nabel*  herausgeschält  und  nach  oben 
zurückgeschlagen,  worauf  die  Grenzen  der  Geschwulst,  die  mit 
der  Aponeurose  der  beiden  Musculi  obliqui  und  de*  Musculus 
rectus  abdominis  eng  verwachsen  war,  deutlicher  zu  palpieren 
waren.  Auf  der  Höhe  des  Nabels  gelang  es  an  der  Stelle  der 
Verwachsung:  der  Geschwulst  mit  dein  Peritoneum,  die  freie 
Bauchhöhle  zu  eröffnen.  Nach  Resektion  des  festgewachsenen 
Omentums  wurde  unter  Leitung  des  Fingers  das  ganze  offizielle 
Gebiet  der  Bauchwand  in  der  Ausdehnung  eines  Handtellers  ex- 
zidiert,  worauf  es  gelang,  die  Geschwulst  teilweise  nach  außen 
vorzuziehen  und  sich  in  ihren  Verwachsungen  zu  orientieren. 
Die  Mesenterialdrüsen  im  Winkel  zwischen  dem  Cökum  und 
Ileum  waren  stark  vergrößert  und  hart.  Die  Geschwulst  um¬ 
faßte  das  Cökum,  den  Wurmfortsatz,  die  rechten  Adnexe  und 
ging  auf  den  rechten  Gebärmutterwinke]  über.  Mit  der  Ge¬ 
schwulst  war  dasi  Ende  des  Ileums  und  die  Flexura  sigmoidea 
verwachsen.  Nach  Resektion  der  ganzen  affizierten  Partie  des 
Mesenti  Hums  war  ich  gezwungen,  das  Colon  ascendens  bis  zur 
Flexura  hepatica  und  ein  ziemlich  großes  Stück  (zirka  50  cm) 
dos  teils  nicht  affizierten  Ileums  zu  exzidieren. 

Der  Versuch,  den  Gebärmutterwinkel  zu  exzidieren,  mi߬ 
lang  (die  Nähte  haben .  durchgeschnitten)  und  infolgedessen  war 
ich  gezwungen,  den  Uterus  supravaginal  zu  amputieren,  wobei 
ich  nur  die  linkseitigen  Adnexe  zurückgelassen  habe,  die  sich 
als  normal  erwiesen  hatten.  Das  Sigma  romanum  ohne  Kon- 
tinuitätstrenming  abzulösen,  gelang  gleichfalls  nicht  und  infolge¬ 
dessen  mußte  ich  eine  keilförmige  Resektion  desselben  mit  nach¬ 
folgender  Zw  ei  etagennah  t  in  querer  Richtung  vornehmen.  Die 
Enden  des  Ileums  und  des  Colon  ascendens  wurden  dicht  ver¬ 
näht,  hierauf  das  fleum  mittels  Murphy  sehen  Knopfes  mit  dem 
Sigma  romanum  unterhalb  der  Nahtlinie  des  letzteren  vereinigt 
(laterale  Ueo-Romanostomie).  Das  Colon  trans'versum,  das  Colon 
descendens  und  ein  großer  Teil  der  Flexura  war  somit  ausge¬ 
schaltet.  Die  Entfernung  der  Geschwulst  von  der  hinteren  Wand 
der  Bauchhöhle  bot  keine  Schwierigkeiten  mehr  dar.  Der  um¬ 
fangreiche  Defekt  der  Bauchdecken  wurde  teilweise  durch  das 
Omentum  gedeckt.  Der  durchschnittene  Musculus-  rectus  wurde 
reponiert  und  sorgfältig  angenäht,  die  Wunde  teilweise  geschlos¬ 
sen,  meistenteils  aber  tamponiert.  Die  Patientin  hat  die  drei¬ 
stündige,  in  Aethernarkose  ausgeführte  Operation  gut  überstanden. 
Der  genähte  Teil  der  Wunde  heilte  per  primam,  desgleichen  der 
Musculus  rectus.  Der  Murphy  sehe  Knopf  wurde  am  15.  Tage 
aus  dein  Rektum  extrahiert.  Die  Patientin  hat  eine  vorüber¬ 
gehende  katarrhalische  Pneumonie  (höchste'  Temperatur  38°)  über*! 
standen,  genas  aber  sonst  ohne  besondere  Komplikationen.  Nach 
zwei  Monaten  wurde  sie-  mit  einer  kleinen,  oberflächlichen  und  in 
Heilung  begriffenen  Wunde  entlassen. 

Das  Präparat  der  Geschwulst  erscheint  auf  dem  Quer¬ 
schnitt  als  sehr  feste,  einförmige  Masse,  in  der  Merkmale  der 
dieselbe  bildenden  Teile  des  Blinddarmes,  des  Wurmfortsatzes, 
des  Ovariums,  der  Tube  und  der  Mus'kelaponeurosen  nicht  mehr 
zu  erkennen  sind.  Die  Geschwulst  geht  ohne  jegliche  Grenze 
in  die  Gebärmutter,  in  den  Blinddarm  und  in  die  Bauchwand 
über.  Im  .Zentrum  der  Geschwulst  fand  man  einen  taubenei¬ 
großen  Abszeß  mit  dichtem,  übelriechendem  Eiter  (Pyosalpinx 
oder  Empyem  des  Processus  vermicularis  ?).  Die  mikroskopische 
Untersuchung  (F.  F.  Syssoew)  ergab  neben  kleinzelliger  In¬ 
filtration  Fibromyom  mit  sarkomatöser  Degeneration.  Den  Aus¬ 
gangspunkt  der  Erkrankung  festzustellen,  war  unmöglich. 

In  diagnostischer  Hinsicht  ist  dieser  Fäll  ein  exqui¬ 
sites  Beispiel  derjenigen  Schwierigkeiten,  auf  die  wir  bei 
der  Diagnose  von  Geschwülsten  und  Infiltraten  in  der  rechten 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Fossa  iliaca  nicht  selten  stoßen.  Unsere  mutmaßliche  Dia¬ 
gnose  war  Aktinqmykose  des  Blinddarmes.  Die  nähere  Be¬ 
sichtigung  der  Geschwulst  während  der  Operation  veran¬ 
lagte  uns  aber,  diese  Mutmaßung  fallen  zu  lassen,  statt 
dessen  an  eine  Neubildung  zu  denken  und  so  radikal  vor- 
/.U'gehen,  wie  es  sich  für  die  Patientin  als  rettend  erwiesen 
hat.  Gegenwärtig,  d.  h.  ein  Jahr  nach  der  Operation,  erfreut 
sich  die  Patientin  einer  blühenden  Gesundheit,  die  Darm¬ 
funktion  ist  vollständig  normal.  Anzeichen  eines  Rezidivs 
fehlen  vollständig  und  das  interessanteste  und  für  mich,  offen 
gestanden,  nicht  ganz  verständlich,  ist  das  Fehlen  jeglicher 
Andeutungen  einer  Eventration  an  der  Stelle  der  Resektion 
der  Bauchwand:  man  sieht  eine  feste,  eingezogene  Narbe 
und  keine  Spur  von  Vorstülpung.  Die  in  Aussicht  genom¬ 
mene  Plastik  nach  Spischarny  erübrigt  sich  vorläufig 
von  selbst.  Augenscheinlich  ist  der  von  mir  angewendete 
Eingriff,  nämlich  die  temporäre  Resektion  der  un¬ 
teren  Hälfte  des  Musc'ulus  rectus,  der  obendrein 
aus  seiner  Scheide  vollständig  herausgeschält  wurde,  durch¬ 
aus  zweckmäßig  und  beweist,  daß  der  untere  Teil  des  Mus- 
culus  rectus  mit  Nerven  versehen  ist,  deren  Eintrittsstelle 
sich  höher  befindet:  bei  der  Löslösung  des  Muskels  habe 
ich  bemerkbare  Nervenäste  nicht  zu  (lurchschneiden  gehabt. 

Die  umfangreiche  Resektion  des  Darmes  samt  der 
Gebärmutter  und  der  Bauohwand  ist  für  solche  Fälle  meines 
Erachtens  die  einzige  zweckmäßige  Operation,  selbst  wenn 
eine  sarkomatöse  Degeneration  der  Geschwulst,  die  ihre 
Entstehung  einem  entzündlichen  Prozesse  verdankt,  nicht 
vorhanden  ist.  Die  Darmresekiion  im  Gesunden  ist  eine  we¬ 
niger  gefährliche  Operation  als  beispielsweise  die  Loslösung 
einer  Pyosalpinx  bei  so  inniger  Verwachsung  derselben  mit 
dem  Darm,  geschweige  denn  eine  einfache  Eröffnung  der¬ 
selben,  welche  vor  Rezidiven  nicht  schützt  und  die  Bildung 
von  umfangreichen  Verwachsungen  zur  Folge  hat. 

In  einem  ähnlichen  Falle  wurde  bei  der  40jährigeu  Pa¬ 
tientin  A.  B.  in  der  rechten  Hälfte  des  Abdomens  eine  harte, 
höckerige,  faustgroße  Geschwulst  beobachtet,  die  mit  dem  Uterus 
augenscheinlich  in  keinem  Zusammenhänge  stand,  und  die  ich 
als  vom  Wurmfortsätze  ausgehend  gedeutet  habe.  Bei  der  Opera¬ 
tion  fand  man  eine  Pyosalpinx,  die  mit  dem  Omentum  und  mit 
einer  Ileumschlinge  fest  verlötet  war.  Beim  Versuch,  den  Darm 
abzulösen,  zeigte  sich  Eiter  mit  Beimischung  von  Fäzes..  In¬ 
folgedessen  resezierte  ich  die  Ileumschlinge  (25  cm),  zog  die 
Geschwulst  nach  außen  und  entfernte  sie  ohne  besondere  Mühe. 
Der  Darm  wurde  mittels  Seidennähten  vernäht,  die  Wunde  fest 
geschlossen  und  nach  22  Tagen  konnte  die  Patientin  als  voll¬ 
ständig  gesund  entlassein  werden. 

Dieser  Fäll,  der  ein  Beispiel  der  schwierigen  Diffe¬ 
rentialdiagnose  zwischen  Salpingitiden  und  Appendizitiden 
ist,  bestätigt  meines  Erachteins  die  von  mir  im  Vorstehen¬ 
den  ausgesprochene  Meinung,  daß  das  radikalere  Vorgehen 
bei  entzündlichen  Geschwülsten  in  der  rechten  Fossa  iliaca 
für  viele  Fälle  sehr  vorteilhaft,  bisweilen  sogar  die  einzige 
zweckmäßige  Intervention  ist. 

Nun  möchte  ich  zur  Frage  der  Wechselbeziehungen 
zwischen  dem  Wurmfortsatz  und  der  Tube  hei  entzündlichem 
Zustand  derselben  zurückkehren. 

Eine  besondere  Annäherung  der  Adnexe  an  den  Blind¬ 
darm  und  an  den  Wurmfortsatz  findet,  während  des  Wachs¬ 
tums  der  schwangeren  Gebärmutter  statt,  namentlich  wenn 
es  sich  um  lange  in  das  kleine  Becken  hinunferhängende 
Wurmfortsätze  handelt,  desgleichen  bei  der  Formierung  und 
Schrumpfung  der  Bauchfellverwachsungen,  die  durch  ab- 
klingencle  Appendizitis  oder  Salpingitis  erzeugt  worden  sind. 
Unter  solchen  Umständen  kann  jedes  nachfolgende  Sym¬ 
ptom  oder  jede  Exazerbation  des  entzündlichen  Prozesses 
im  Wurmfortsatz  oder  in  der  Tube  das  benachbarte  Organ, 
welches  früher  gesund  und  an  der  Erkrankung  nur  passiv 
(Verwachsungen)  beteiligt  war,  in  Mitleidenschaft  ziehen. 
In  der  Sitzung  der  Chirurgischen  Gesellschaft  vom  19.  Sep¬ 
tember  1907  habe  ich  aus  Anlaß  einer  Mitteilung  von  Pro¬ 
fessor  W.  A.  Op  pel  das  Präparat  eines  Wurmfortsatzes 
demonstriert,  dessen  Spitze  durch  einen  streichholzdünnen, 
kurzen  Strang  mit  der  Spitze  der  zystenartig  aufgetriebenen 


Tube  verbunden  war,  deren  abdominale  Oeffnung  ver¬ 
wachsen  war.  Dieser  Fall  hätte  bei  eventueller  Perforation 
des  Wurmfortsatzes  in  der  Gegend  seiner  Spitze  leicht  zur 
Bildung  einer  Fistel  zwischen  dem  Wurmfortsatz  und  der 
Tube  führen  können,  wie  dies  in  dem  in  der  Sitzung  von 
Prof.  W.  A.  Oppel  demonstrierten  Fall  auch  tatsächlich 
vor  sich  gegangen  war.  Knapp  ein  Jahr  nach  der  erwähnten 
Sitzung  hatte  ich  Gelegenheit  eine  Patientin  zu  beobachten, 
bei  der  der  Wurmfortsatz  in  die  Tube  durch  Hit'  abdominale 
Oeffnung  derselben  perforiert  war  und  infolge  der  Verwach¬ 
sung  der  uterinen  Oeffnung  derselben  eine  Pyosalpinx  her¬ 
vorgerufen  hat. 

0.  M.,  19  Jahre  alt,  wurde  wegen  einer  eitrigen  Fistel, 
die  nach  einer  Perityphlitisoperation  zurückgeblieben  war,  nach 
Petersburg  gebracht  und  in  das  Petersburger  gynäkologische  In¬ 
stitut  aufgenommen.  Nach  der  stattgehabten  Konsultation  wurde 
mir  die  Patientin  von  Prof.  N.  N.  Phänomen ow  und  W.  A. 
Stolypinski  behufs  Operation  überwiesen.  Die  Patientin  hat 
im  Dezember  1907  und  anfangs  Februar  1908  zwei  Appendi¬ 
zitisfälle  Überstunden.  Am  15.  Februar  wurde  sie  zuhause  ope¬ 
riert,  wobei  übelriechender  Eiter  in  großer  Quantität  entleert 
wurde.  Seitdem  ist  eine  Fistel  zurückgeblieben,  die  nicht  ver¬ 
heilte  und  aus  der  Eiter  in  großen  Mengen  abging.  Die  Patientin 
hat  ununterbrochen  gefiebert  und  ist  in  höchstem  Grade  abge¬ 
magert.  Von  seiten  der  Geschlechtssphäre  wurden  besondere 
Erscheinungen  nicht  wahrgenommen  (virgo  intaeta),  nur  blieben 
seit  der  Operation  die  Menses  aus. 

Die  Besichtigung  ergab  in  der  rechten  Regio  iliaca,  im 
Zentrum  der  langen,  von  der  Lumbalgegend  fast  bis  zur  Sym¬ 
physe  schräg  verlaufenden  Narbe  eine  Fistel,  aus  der  sich  cha¬ 
rakteristischer  Eiter  in.  reichlicher  Quantität  entleerte  und  die 
augenscheinlich  in  Form  eines,  geschlängelten  Ganges  sich  in  das 
kleine  Becken  vertiefte. 

Bei  Druck  auf  das  Abdomen  oberhalb  des  linken  Liga¬ 
mentum  Poupartii,  wo  sich  ein  ziemlich  großes  Infiltrat  befand, 
nahm  die  Eiterabsonderung  aus  der  Fistel  zu.  Die  gynäkologische 
Untersuchung  (mit  einem  Finger)  ergab"  hoch  im  vorderen  Ge¬ 
wölbe  und  -rechts  von  der  Gebärmutter  eine  Verhärtung.  Aus- 
scbeiduhg  aus  der  Vagina  konnte!  nicht  währgenommen  werden. 
Der  katarrhalische  Harn  enthielt  l°/no  Eiweiß  (Amyloid  der 
Niere?).  Die  Patientin  fieberte  (38  bis  39°);  des  Abends1  Schüttel¬ 
fröste.  Von  seiteh  der  Organe  der  Brusthöhle  waren  sichtbare 
Abweichungen  von  der  Norm  nicht  vorhanden.  Da  die  Erwei¬ 
terung  der  Fistel  und  der  Versuch,  den  Abfluß  mittels  Bier¬ 
scher  Schröpfköpfe  und  Drainage  zu  heben,  kein  Resultat  er¬ 
gaben,  wurde  beschlossen,  zur  Operation  zu  schreiten. 

28.  August  1908:  Medianle  Laparotomie.  Das  Infiltrat  auf 
der  linken  Seite  erwies  sich  als  retroperitoneale  Eiteiransamm- 
lung,  die  mit  der  äußeren  Fistel  kommunizierte.  Die  Blinddarm- 
g egend  war  durch  verlötete  Dünndarmschlingen  begrenzt.  Nach¬ 
dem  ich  die  Fistel  der  alten  Narbe  entlang  nach  beiden  Seiten 
hin  Verlängert  hatte,  konnte  ich  mich  überzeugen,  daß  es  außer¬ 
ordentlich  schwierig  war,  sich  in  bezug  auf  die  anatomischen 
Wechselbeziehungen  der  Organe  zu  orientieren.  Infolgedessen 
verlängerte  ich  die  Inzision  von  der  Fistel  in  der  Richtung 
nach  unten  bis  zur  Vereinigung  mit  dem  unteren  Ende  der 
medianen  Inzision,  spaltete  die  Muskeln  und  das  Peritoneum, 
schlug  den  auf  diese  Weise  erhaltenen  breiten  dreieckigen  Lappen 
der  Bauchwand  nach  oben  zurück  und  sali,  daß  die  Fistel  so¬ 
gleich  auswärts  vom  Cökum  in  den  retroperitonealen  Raum 
führt  und  zwischen  dem  Utetus  und  der  Harnblase  zur  linken 
Fossa  iliaca  Verläuft. 

Der  Fistelgang  wurde  weit  eröffnet,  wobei  eine  umfang¬ 
reiche  Höhle  mit.  einer  großen  Eitermeng©  fostgestellt  wurde, 
zu  'deren  Tamponade  vier  lange  und  dicke  Tampons  erforderlich 
waren.  Hiebei  ging  durch  den  in  die  Harnblase  ei  nge  führten 
Katheter  bluthaltiger  Harn  ab. 

Nachdem  ich  hierauf  die  zu  einem  Knäuel  miteinander 
.verlöteten  Da.rmschlingen  freigemacht  hatte,  entdeckte  ich  einen 
6  'bits  7  dm  langen  Fortsatz,-  der  durch  seine  laterale  Oberfläche, 
in  der  Höhe  seiner  Basis,  mit  einem  Hohlorgan  eng  verwachsen 
war.  welches  durch  seine  Form  und  Größe  an  eine  Dünndarm 
schlinge  erinnerte.  An  der  Verwachsungsstelle  erwies  sich  der 
Fortsatz  als  in  der  Hälft©  seiner  Zirkümferenz  perforiert.  Nach¬ 
dem  ich  die  soeben  erwähnte  Darmschlinge  herausgeschält  hatte, 
überzeugte  ich  mich,  daß  sie  unmittelbar  in  den  rechten  Ge¬ 
bärmutter  w  in kel  übergeht,  während  an  der  Verwachsungsstelle 
mit  dem  Fortsatze  Ueherreste  der  Fimbrien  vorhanden  sind: 
es  ergab  sich  somit.,  daß  wir  es  mit  der  stark  aufgetriebenen 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


und  vergrößerten  rechten  Tuba  Fallopii  zu  tun  hatten,  die  mit 
ihrem  freien  Ende  mit  dem  Fortsatze  verlötet  war. 

Bei  der  Freilegung  riß  der  Fortsatz  in  zwei  Hälften,  wo¬ 
bei  sich  aus  der  Tube  eine  große  Menge  übelriechenden  charak¬ 
teristischen  Eiterte  entleerte.  Der  Wurmfortsatz  und  die  Tube 
wurden  amputiert,  das  zystenförmig  degenerierte  Ovarium  durch 
Inzision  entleert  und  in  den  D  ouglas  sehen  Raum  Tampons 
eingeführt.  Die  mediane  Wunde  und  der  untere  Teil  der  late¬ 
ralen  Wunde  wurden  hermetisch  vernäht,  der  übrige  größere 
Teil  der  lateralen  Inzision  wurde  offen  belassen. 

In  den  ersten  24  Stunden  zeigte  der  Harn  Beimischungen 
von  Blut,  auch  war  die  Temperatur  erhöht,  dann  kehrte  alles 
wieder  zur  Norm  zurück  und  die  Patientin  begann  sich  rasch 
zu  erholen. 

Bei  der  Besichtigung  des  Präparates  der  Tube  ergab  es 
sich,  daß  die  Wandungen  derselben  sehr  verdickt  und  hyper- 
trophiert  waren,  daß  deren  Länge  zirka  12,  die  größte  Zirkum- 
ferenz  ca.  9  cm  beträgt.  Sie  enthielt  Eiter  und  einen  erbsengroßen 
Kotstein.  Die  Uterusöffnung  der  Tube  war  augenscheinlich  obli- 
teriert,  so  daß  eine  Kommunikation  mit  der  Uterushöhle  nicht 
bestand  (Saktosalpinx).  Die  umfangreiche  Wunde  verheilte  nach 
und  nach  gegen  Ende  Dezember  1908.  Ausscheidungen  aus.,  der 
Vagina  waren  bei  der  Patientin  nicht  vorhanden.  Das  Eiweiß 
im  Harn  verschwand.  Im  November  stellte  sich  bei  der  Pa¬ 
tientin  Menstruation  ein  u.  zw.  zum  erstenmal  seit  Februar. 
Seitdem  kam  dieselbe  regelmäßig.  Die  Darmfunktion  wurde 
wieder  normal. 

Am  1.  Januar  1909  resezierte  ich  die  Narbe  der  lateralen 
Inzision,  spaltete  die  Verwachsungen  zwischen  den  Darm¬ 
schlingen,  wobei  sich  aus  dem  kleinen  Becken  zwei  Gläser  voll 
vollständig  klarer  seröser  Flüssigkeit  entleerten.  Die  Wunde  wurde 
schichtweise  (mittels  Dreietagennaht  vernäht  und  heilte  per 
primarn.  Aus  der  medianen  Wunde  gingen  hingegen  einige  tiefe 
Nähte  ab.  Die  Patientin  erholte  sich  rasch,  nahm  an  Körper¬ 
gewicht  zu  und  reiste  im  Februar  in  die  Heimat  zurück.  Gegen¬ 
wärtig  ist  sie  gleichfalls  vollständig  gesund. 

Augenscheinlich  war  die  retroperitoneale  Fistel  bei 
der  Patientin  künstlichen  Ursprungs.  Von.  Interesse  ist  die 
Ausbreitung  des  Eiters  dem  retroperitonealen  Bindegewebe 
entlang  zwischen  dem  Uterus  und  der  Harnblase  bis  zur 
linken  Fossa  iliaca :  typische  Parametritis  appendikulären 
Ursprungs.  Diese  Fistel  bloßzulegen,  zu  verfolgen  und  gut 
zu  drainieren  war  nur  bei  der  Bildung  des  oben  beschrie¬ 
benen  Lappens,  bei  der  eigenartigen  temporären  Be  Sek¬ 
tion  der  Bauch  wand  möglich.  Der  Wurmfortsatz  war 
mit  dem  abdominalen  Ende  der  Tube  verwachsen  und 
durch  dieses  Ende  gelangte  in  das  Lumen  der  letzteren  im 
Augenblick  der  Perforation  des  Wurmfortsatzes  der  oben 
erwähnte  Kotstein. 

Vor  der  Operation  die  Pyosalpinx  zu  diagnostizieren 
war  nicht  möglich,  da  die  gynäkologische  Untersuchung 
eine  unvollständige  bleiben  mußte,  indem  das  Hymen  störte, 
während  die  Gebärmutter  infolge  der  Verwachsung  des  Ori- 
ficium  uterinum  der  Tube  wirklich  normal  war.  Dadurch 
erklärt  sich  das  Fehlen  von  weißem  Flu  ßi  während  der  ganzen 
Krankheit,  sowie  das  Fehlen  von  blutigem  oder  anderem 
Sekret  aus  der  Gebärmutter  nach  der  Entfernung  der  Tube. 

Meine  Beobachtung  ist  bereits  die  dritte.  W.  A.  Op  pel 
berichtet,  von  seinem  eigenen  Falle  abgesehen,  über  eine 
analoge  Beobachtung  von  Routier,  über  welche  uns  auch 
Sprengel,  der  diesen  Fall  desselben  Autors  erwähnt, 
keine  näheren  Angaben  macht.  Im  vorigen  Jahre  hat  Jala- 
guier  seinen  Fäll  veröffentlicht :  bei  der  19jährigen  Pa¬ 
tientin  traten  während  der  Periode  drei  Anfälle  von  Peri¬ 
typhlitis  ein,  die  jedesmal  am  Ende  der  Periode  mit  Ent¬ 
leerung  eines  Abszesses,  der  in  der  rechten  Fossa  iliaca 
vorhanden  war,  durch  den  Uterus  endete,  was  einiger¬ 
maßen  die  Möglichkeit  gewährte,  eine  richtige  Diagnose  vor 
der  Operation  zu  stellen. 

Jalaguier  glaubte,  daß  er  es  mit  einer  Pyosalpinx 
zu  tun  habe,  die  sich  an  Appendizitis  angeschlossen  hatte, 
glaubte  aber  nicht  an  die  Möglichkeit  einer  direkten  Kom¬ 
munikation  zwischen  Tube  und  Wurmfortsatz,  die  er  bei  der 
Operation  fand.  Es  muß  hervorgehoben  werden,  daß  der 
Fall  von  J a  1  agu  i  e r  ein  exklusiver  ist.  Man  muß  annehmen, 
daß  die  Kommunikation  zwischen  Tube  und  Uterus  unter 


solchen  Umständen  am  häufigsten  verwächst  und  daß  dann 
keine  Anhaltspunkte  für  die  Stellung  einer  richtigen  Dia¬ 
gnose  Zurückbleiben,  die  ich  persönlich  für  fast  unmöglich 
halte. 

Auf  eine  Erscheinung  muß  noch  aufmerksam  gemacht 
werden,  nämlich  auf  eine  Störung  der  Menstruation 
bei  Virgines  intac'tae  während  des  Appendizitis¬ 
anfalles. 

Die  Störungen  weisen  mit  absoluter  Sicherheit  auf  die 
Beteiligung  der  Adnexa  hin,  u.  zw.  in  Form  von  Verwach¬ 
sungen  derselben  mit.  dem  Wurmfortsatz,  wovon  ich  mich 
bei  Operationen  ä  froid  zu  überzeugen  mehrmals  Gelegen¬ 
heit.  hatte. 

Fälle,  wie  der  oben  beschriebene  sind'  zu  selten  und 
gehören  noch  in  den  Bereich  der  Kuriositäten.  Ihre  Zahl 
wächst  aber  bereits  und  es  ist  möglich,  daß  sie  in  Wirk¬ 
lichkeit  häufiger  Vorkommen  als  es  scheinen  will  (eingehende 
Literaturstudien  habe  ich  nicht  vorgenommen).  Jedenfalls 
sind  solche  Beobachtungen  von  großer  prinzipieller  Be¬ 
deutung,  da  sie  jeden  Zweifel  an  der  Möglichkeit  eines 
Ueberganges  der  Erkrankung  des  Wurmfortsatzes  auf  die 
Tube  ausschließen,  eines  Ueberganges,  der  in  weniger  stark 
ausgeprägten  Formen  so  häufig  vorkommt. 

•Literatur  : 

Jalaguier,  Fistule  tubo-appendiculaire.  Bulletins  et  mdmoires 
de  la  societe  de  Chirurgie,  Sitzung  vom  10.  März  1910,  S.  351.  -- 
W.  A.  von  0  p  p  e  1.  Zur  Kasuistik  der  Wechselbeziehungen  zwischen 
Salpingitis  und  Appendizitis.  Sonderabdruck  aus  dem  Journal  für  Geburts¬ 
hilfe  und  Gynäkologie  1908,  vgl.  auch  Protokolle  der  chirurgischen 
Gesellschaft  i907/08,  Chirurgisches  Archiv  1909,  H.  4,  S.  4  (russisch).  — 
Sprengel,  Appendizitis.  Deutsche  Chirurgie,  Lieferung  46  d. 


lieber  Körperproportionen  der  Kretinen. 

Von  Oberbezirksarzt  Dr.  Arnold  Flinker  in  Czernowit.z. 

Schon  die  älteren  Kretinenforscher  haben  auf  das  Ge¬ 
meinschaftliche  in  der  äußeren  Erscheinung  der  Kretinen 
hingewiesen.  Niepce  hat  hervorgehoben,  daß  es  schwer 
ist,  bloß  nach  der  Physiognomie  der  Kretinen  das  Geschlecht 
zu  beurteilen  und  Virdhow  hat.  dem  hinzugefügt,  daß  es 
noch  schwerer  ist,  einzelne  kretinische  Individuen  des¬ 
selben  Geschlechtes  und  Alters  untereinander  zu  unter¬ 
scheiden.  „Man  möchte  glauben“,  sagt  Virchow,  „daß 
alle  diese  Individuen  sehr  nahe  miteinander  verwandt  seien, 
daß  sie  einer  Familie  oder  wenigstens  einem  Stamme  an¬ 
geboren.“ 

Fragen  wir  nun,  woraus  sich  das  Gemeinschaftliche 
in  der  Erscheinung  der  Kretinen  zusammensetzt,  so  er¬ 
gibt 'sich,  daß  es  außer  dem  Zwergwuchs,  dem  Myxödem 
und  der  eigentlichen  Physiognomie  —  Entartung  der  Schild¬ 
drüse  und  geschlechtliche  Entwicklung  kömmen  hier  nicht, 
in  Betracht.  —  insbesondere  die  Disharmonie  in  den  Körper- 
proportionen  ist,  welche  diesen  Menschen  den  Stempel  des 
Kretinismus  aufdrückt.  Während  man  die  erstgenannten 
Symptome  eingehend  erörtert  hat,  ist  meines  Wissens  über 
die  Körperproporlionen  der  Kretinen  außer  einzelnen  An¬ 
deutungen  in  der  Literatur  nichts  zu  finden.  Scholz  hat 
wohl  eine  große  Zahl  von  Körpermessungen  vorgenommen 
und  sich  hiebei  nicht  bloß  auf  die  Körperlänge  beschränkt, 
sondern  auch  die  einzelnen  Körperteile  gemessen,  die  Körper¬ 
proportionen  jedoch  nur  wenig  in  den  Bereich  seiner  Er¬ 
örterung  einbezogen. 

Um  über  die  Körperproportionen  Aufschluß  zu  er¬ 
langen,  kann  man  in  der  Weise  vorgehen,  daß  man  an 
zahlreichen  Kretinen  Körpermessungen  vornimmt  und 
deren  Ergebnisse  dann  mit  den  bezüglichen  Maßen  des 
Normalmenschen  (Kanon)  vergleicht.  Solche  Messungen 
sind  jedoch  nur  in  Krankenanstalten  durchführbar,  während 
sie  sonst  auf  große  Schwierigkeiten  stoßen.  Als  ich  meine 
Studien  über  Kretinismus  begann,  war  ich  bemüht,  vor 
allem  genaue  Körpermessungen  vorzunehmen.  Das  ging 
nun  verhältnismäßig  leicht  von  statten  bei  der  Messung  der 
Körpergröße.  Auch  die  Aufnahme  der  Schädeldimensionen 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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mittels  Taster-  und  Schiebezirkels  machte  gar  keine 
Schwierigkeiten,  dagegen  mußte  ich  von  der  Messung  der 
einzelnen  Körperteile  schon  im  Hinblick  auf  das  Milieu,  in 
dem  sich  die  Kranken  befanden,  bald  Abstand  nehmen  und 
begnügte  mich  damit,  an  einzelnen  typischen  Kretinenge- 
stalten  genauere  Messungen  vorzunehmen,  deren  Ergebnis 
ich  dann  mit  den  Durchschnittszahlen  der  gesunden  Men¬ 
schen  aus  der  Umgebung  in  Relation  brachte. 

Um  die  Körperproportionen  der  Kretinen  in  recht 
sinnfälliger  Weise  zur  Darstellung  zu  bringen,  ließ  ich  einen 
Kretin  und  einen  Normalmenschen  so  photographieren,  daß 
ihre  Bilder  die  gleiche  Größe  hatten.  Es  wurde  dies  in 
der  Weise  bewerkstelligt,  daß  die  Distanz  zwischen  dem 
photographischen  Apparate  und  dem  Objekte  entsprechend 
geändert  wurde.  So  war  es  möglich  die  Leibesforni  des  Kre¬ 
tinen  und  des  Normalmenschen  im  Gleichmaß  der 
Körperhöhe  miteinander  zu  vergleichen.  Es  ist,  dies 
eine  Methode,  wie  sie  von  Quetelet,  Langer  u.  a.  an¬ 
gewendet  wurde,  um  die  Wandlungen  der  Gestalt,  in  den 
einzelnen  Wachstumsperioden  zur  Anschauung  zu  bringen, 
eine  Methode,  die  mir  aber  auch  für  meinen  Zweck  sehr 
geeignet  schien  und  die,  wie  ich  glaube,  bei  Beobachtung 
der  gebotenen  Umsicht  für  die  Beurteilung  der  Körper¬ 
proportionen  eine  ebenso  verläßliche  Grundlage  gibt,  als 
die  faktische  Messung  der  einzelnen  Körperteile. 

Wird  'nach  dem  Vorgänge  Quetelets  die  Gesamthöhe 
des  Körpers  gleich  1000  angenommen,  so  lassen  sich  die 
Proportionen  ziffermäßig  angeben,  indem  bei  einem  jeden 
Körperabschnitte  gesagt  werden  kann,  mit  wieviel  Tausend¬ 
teilen  sich  derselbe  an  der  Gesamthöhe  beteiligt. 


Fig.  l. 

Kretin  und  Normalmensch  gleichen  Alters. 

In  Fig.  1  ist  ein  24jäbriger  Kretin,  127  cm  hoch  und 
daneben  ein  gleichaltriger  Normalmensch,  177-8  cm  hoch, 
abgebildet. 

Figur  2  (stellt  die  Leibesform  dieser  Gestalten  i  m 
Gleichmaß  der  Körperhöhe  dar.  Wenn  wir  dais  Ver¬ 
hältnis  der  Höhe  des  Oberkörpers  (Scheitel — Symphyse)  zu 
der  des  Unterkörpers  (Symphyse — Sohle)  eruieren  wollen, 
so  müssen  wir  uns  gegenwärtig  halten,  daß  beim  Manne 
die  Halbierungslinie  der  Körperhöhe  unter  den  Symphysen¬ 
rand  zu  liegen  kommt.,  daß  daher  der  männliche  Unter¬ 
körper  (das  ist.  die  Beinlänge)  etwas  länger  ist  als  der 
Oberkörper.  Dieses  Verhältnis  ist.  beim  Kretin  zugunsten 
der  Rumpf-  und  Kopflänge  bedeutend  verschoben.  Während 
also  die  Teilungslinie  beim  Normalmenschen  etwas  unter 
den  Symphysenrand  fällt,  liegt  dieselbe  beim  Kretin  weit, 
über  der  Symphyse  und  erreicht  fast  die  Nabelhöhe.  Der 


Oberkörper  des  Kretins  ist  daher  bedeutend  größer  als 
der  Unterkörper  desselben,  der  Kretin  also  auffallend 
kurzbeinig.  Es  entfallen  von  der  .  tuzen  Körperhöhe 
548  Tausendteile  auf  den  Oberkörper,  452  Tausendteile  auf 
den  Unterkörper.  Es  findet  sich  hier  dieselbe  Disharmonie 
zwischen  Ober-  und  Unterkörper,  wie  bei  der  Exostosis 
cärtilaginea  multiplex,  bei  der  es  infolge  Erkrankung  der 
Knorpelfugen  zu  einer  Hemmung  des  Längenwachstums 
der  unteren  Gliedmaßen  kommt. 


Kretin  (1)  und  Normalmensch  (2)  im  Gleichmaß  der  Körperhöhe  dargestellt. 

Was  die  Ausdehnung  des  Kopfes  betrifft,  so  lehrt 
schon  ein  Blick  auf  die  Zeichnung,  daß  der  Kopf  des  Kre¬ 
tins  im  Verhältnis  zum  Gesamtkörper  übermäßig  groß 
erscheint,  ein  Umstand,  der  uns  sofort  an  das  kindliche 
Alter  erinnert,  zumal  der  mit  dem  geringsten  Maße  wach¬ 
sende  Kopf  beim  normal  sich  entwickelnden  Menschen  mit 
zunehmendem  Wachstum  in  seinen  Dimensionen  immer¬ 
mehr  hinter  dem  Körpermaße  Zurückbleiben  mußi.  In  un¬ 
serem  Falle  kommen  auf  den  Kopf  des  Kretins  188 
Tausendteile  des  ganzen  Körpermaßes,  das  ist  um  51  Teile 
mehr  als  beim  Normalmenschen.  Während  also  die  Kopf¬ 
höhe  bei  diesem  7-3mal  in  der  Körperhöhe  enthalten  ist, 
setzt  sich  das  Körpermaß,  des  Kretins  aus  5  (genauer  5-2) 
Kopflängen  zusammen.  Bemerkenswert  ist  auch  die  Kürze 
des  Halses. 

Das  Verhältnis  des  Rumpfes  zur  Gesamtlänge  nähert 
sich  dem  des  Normalmenschen,  übertrifft  vielleicht  das¬ 
selbe  um  ein  geringes.  Es  entfallen  nach  unserer  Zeich¬ 
nung  361  Tausendteile  auf  den  Rumpf  des  Kretins  und 
347  auf  den  des  Normalmenschen. 

Ich  bin  mir  wohl  bewußt,  daß  bei  den  großen  indivi¬ 
duellen  Schwankungen,  welche  die  Kretinen  in  bezug  auf 
ihre  Körpergröße  darbieten,  die  Inkongruenz  in  den  Propor¬ 
tionen  des  Kretins  und  des  Normalmenschen  ziffermäßig 
nicht  immer  übereinstimmt,  sondern  Schwankungen  unter¬ 
worfen  ist.  Wenn  wir  aber  aus  der  Vielheit  der  Kretinen- 
gestalten  die  charakteristische  Gestalt,  fixieren,  so  werden 
zweifellos  die  gedachten  Proportionen  immer  in  typi¬ 
scher  Weise  wiederkehren. 

Als  Hauptresultat  unserer  Betrachtung 
der  Körperproportionen  der  Kretinen  ergibt 
sich,  daß  die  Kretinengestalt  im  Gegensätze  zur 
Gestalt  des  erwachsenen  Normalmenschen  aus¬ 
gezeichnet  ist  durch  relativ  übermäßige  Größe 
des  Kopfes,  kurzen  Hals,  verhältnismäßig  län¬ 
geren  Rumpf  und  sehr  kurze  Beine.  Es  sind  das 
■dieselben  Verhältnisse,  wie  wir  sie  beim  kind¬ 
lichen  Alter  antreffen.  Die  Eigentümlichkeit 
in  den  Körperproportionen  der  Kretinen.  deutet 
demnach  auf  ein  Stehenbleiben  auf  einer  nie- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


drigeren  Entwicklungsstufe  hin  und  stimmt  so 
mit  dem  Ergebnisse  der  pathologischen 
Anatomie  überein,  welche  die  Skelettverände¬ 
rung  bei  Kretinismus  auf  eine  in  der  Kindheit 
eingetretene  Hemmung  des  Wachstums  zurück¬ 
führ  f . 

Literatur: 

Literatur  über  Kretinismus  in  Ewald,  Die  Erkrankungen  der 
Schilddrüse,  Myxödem  und  Kretinismus.  Wien  und  Leipzig  1909;  ferner 
in  Scholz,  Klinische  upd  anatomische  Untersuchungen  über  den 
Kretinismus.  Berlin  1906.  —  Quetelet,  Anthropom4trie  ou  mesure  des 
differentes  facultds  de  l'homme.  Bruxelles  1870.  —  Langer,  Anatomie 
der  äußeren  Formen  des  menschlichen  Körpers.  Wien  1884.  —  Ranke, 
Der  Mensch.  Leipzig  und  Wien  1894. 


Aus  dem  pathol. -anatom.  Institut  in  Wien. 
(Vorstand:  Hofrat  Weichselbaum.) 

Beitrag  zur  Kenntnis  der  Streptothrix- 
Erkrankungen  des  Menschen. 

Von  Georg  G.jorgjevic,  derzeit  Assistent  an  der  dermatologischen  Klinik 

in  Innsbruck. 

Die  Befunde  in  der  Literatur  über  Streptothrix  und  ihre 
nahen  Verwandten,  insoferne  diese  als  Kr a n  k h e i ts e r reger  für 
den  Menschen  in  Betracht  kommen,  sind  im  allgemeinen  nicht 
zahlreich  und  unterscheiden  sich  voneinander  durch  nicht  un¬ 
wesentliche  Abweichungen. 

Soweit  mir  die  Literatur  zur  Verfügung  stand,  kann  ich 
sagen,  daß  ich  nur  in  30  Fällen  Mitteilungen  über  Streptothrix 
und  verwandte  pathogene  Pilzarten  auffand,  wobei  jedesmal  in 
mehr  oder  weniger  ausführlicher  Weise  das  morphologische  Ver¬ 
halten  der  Pilze,  ihre  kulturellen  und  färberischen  Eigenschaften 
gekennzeichnet  wurden,  zugleich  auch  in  den,  meisten  Fällen  das 
Verhalten  gegenüber  dem  menschlichen  Organismus  hinsichtlich 
des  Grades  der  Pathogenität  für  denselben  erwähnt  wurde1.  Doch 
divergieren,  wie  erwähnt,  die  Berichte  der  einzelnen  Autoren, 
zum  Teil  recht  wesentlich.  Es  erscheint  daher  vorläufig  sicherlich 
nicht  überflüssig,  jeden  weiteren  zur  Beobachtung  gelangenden 
Fall  mitzuteilen,  weil  ja  doch  nur  aus  einer  großen  Zahl  über¬ 
einstimmender  genauer  bakteriologischer  Befunde  eine  einheit¬ 
liche  Auffassung  über  den  die  Streptothricheen  betreffenden 
Fragenkomplex  zu  erhoffen  ist.  Im  nachfolgenden  soll  über  vier 
Fälle  berichtet  werden,  die  im  Laufe  der  letzten  Zeit  im  Sek- 
tionsmaterial  des  Wiener  pathologisch-anatomischen  Institutes 
zur  Beobachtung  kamen. 

Fall  I.  Leiche  einer  53jährigen  Frau  (26.  Februar  1907). 
Obduzent:  Ass.  Dr.  ,T.  Erd  heim.  Die  Sektion  ergab: 

„Multiple  Sklerose  des  Zentralnervensystems,  namentlich 
des  Rückenmarkes.  Dekubitus  am  Kreuzbein  und  an  den  Tro- 
chanteren :  metastatische  Abszesse  beider  Nieren  nebst  arterio¬ 
sklerotischen  Veränderungen  derselben.  Eiterige  Zystitis.  Oedem 
der  unteren  Extremitäten.  Thrombose  der  linken  Vena,  iiiaca  com¬ 
munis  und  Embolie  des  linken  Astes  der  Arteria  pulmonalisl. 
Chronisches  Emphysem  der  Lungen;  eitrige  Bronchitis  und 
Atelektasen.  Tuberkulöse  Schwielen  beider  Lungen  oberlappen. 
Partielle  Anwachsung  der  Milz  an  das  Diaphragma.  Multiple 
Adhäsionen  des  inneren  Genitales.“ 

Fall  II.  Leiche  eines  37jährigen  Mannes;  Lepra  (Klinik 
Prof.  Riehl).  Bei  der  Obduktion  (15.  März  1907,  Prof.  Weich  sel- 
baum)  fanden  sich  ausgedehnte  lepröse  Veränderungen  der  Haut, 
ferner  solche  der  Schleimhaut  der  Mund-  und  der  Nasenhöhle 
und  des  Larynx.  Bei  der  Beschreibung  der  Brustorgane  heißt 
es  im  Obduktionsbefund:  „Beide  Lungen  zeigen  chronisches 
Emphysem.  Nahe  dem  Hilus  der  rechten  Lunge  findet  sich 
ein  zirka  walnußgroßer  rötlichgrauer,  von  kleinen  Abszessen 
durchsetzter  Herd.“ 

Sämtliche  mit  dem  leprösen  Materiale  geimpfe  Nährböden 
blieben  steril. 

Fall  III.  Leiche  eines  40jährigen  Mannes;  Abscessus  ce¬ 
rebri  (Klinik  Prof.  Urb  an  t  sch  its  ch).  Obduzent:  Ass.  Doktor 
J.  Erd  heim.  Die  Sektion  ergab: 

Resektion  der  Pyramide  bei  Otitis  media  suppurativa  (vor 
neun  Tagen),  Eröffnung  der  Dura  und  eines  kleinhaselnußgroßen 
Eiterherdes  in  der  rechten  Klemhirnhemisphäre  und  Drainage 
vom  Ohr  aus  mittels  eines  Gummischlauches.  Zwei  Inzisionen 
der  rechten  Halsseite  bei  Phlegmone  derselben;  vom  Opera¬ 
tionsgebiete  ausgehend  findet  sich  der  Sinus  sigmoideus  und 
transversus  einerseits  und  die  Vena  jugularis  anderseits  von 
einem  vollständig  erweichten  Thrombus  erfüllt  und  anschließend 


an  die  eitrig-erweichten  Thrombusanteile  ist  der  Sinus  trans- 
ve-rsalis  bis  zum  confluens  und  andrerseits  die  Vena  jugularis 
bis  zum  Bulbus  von  einem  frischen,  an  der  Wand  nicht  haften¬ 
den  und  nicht  vereiterten  Thrombus  eingenommen.  Eitrige  basale 
Leptomeningitis. 

Akutes  Lungenödem,  fettige  Degeneration  des  Herzens,  der 
Leber  und  der  Nieren.  Hydronephrose  linkerseits. 

Fall  IV.  Leiche  einer  38jährigen  Frau;  Meningitis  cere¬ 
brospinalis  (Abteilung  Prof.  Pal).  Obduzent:  Ass.  Dr.  .1.  Erd¬ 
heim.  Die  Sektion  ergab: 

Alter  Absceß  (die  bakteriologische  Untersuchung  des  Ab¬ 
szesses  ergab  Streptothrix)  im  rechten  Schläfenlappen  mit  Durch¬ 
bruch  in  den  Ventrikel,  Pyozephalus.  Anlötung  des  Schläfe: 
lappens  an  die  Dura  und  eitrige  basale  Leptomeningitis. 

Akutes  Lungenödem,  lobulärpneumonische  Herde  in  beiden 
Unterlappen,  parenchymatöse  Degeneration  des  Herzens,  der 
Leber  und  Nieren,  geringe  Mengen  freien  Blutes  im  Douglas, 
stellenweise  Pigmentierung  des  Serosaüberzuges  am1  Fundus 
uteri  (Abortus  vor  acht  Wochen).  Endometrium  und  Para¬ 
metrium  frei.  Thrombose  im  unteren  Teile  der  linken  Vena  sper- 
matica.  Bullöses  Oedem  der  Schleimhaut  an  der  hinteren  Wand 
der  Highmors-Höhle. 

Im  ersten  Falle  fanden  sich  in  Gr  am  Präparaten  von  den 
Nierenabszessen,  im  zweiten  in  denjenigen  von  den  Lungen¬ 
abszessen  lange,  gewundene,  Gram -positive  Fäden,  die  echte 
Verzweigung  zeigten. 

Ebenso  fanden  sich  solche  Gr  am -positive  Fäden  im  dritten 
Falle  im  Gehirnabszeß  wie  auch  im  vierten  Falle  im  Eiter  von 
der  Meningitis. 

Da  alle  vier  Pilzarten  durchaus  übereinstimmende  kul¬ 
turelle,  morphologische  und  biologische  Eigenschaften  zeigten, 
können  wir  über  alle  vier  gemeinsam  berichten. 

Um  die  gefundene  Pilzart  zu  studieren,  wurden  auf  ver¬ 
schiedenen  Nährböden  Kulturen  angelegt  und  entsprechende  Tier¬ 
versuche  angestell  t. 

Das  Wachstum  unserer  Pilzart  (Streptothrix)  erfolgte  aerob 
Und  anaerob  und  zeigte  auf  einzelnen  Nährböden  fogende  cha¬ 
rakteristische  Eigenschaften : 

Auf  Glyzerin- Agar  beobachtet  man  schon  nach  24  Stun¬ 
den  kleine,  zarte,  weiße,  runde  Kolonien,  die  im  Laufe  der 
nächsten  24  Stunden  größer  und  üppiger  werden,  dann  matt  aus-' 
sehen,  und  schließlich  einen  dicken,  unregelmäßig  begrenzten 
Rasen  mit  stark  gefalteter  und  gerunzelter  Oberfläche  bilden. 
Unter  dem_  Mikroskope  sind  die  kleinen  Kolonien  sternförmig, 
zeigen  an  der  Peripherie  zarte,  verflochtene  Ausläufer,  wodurch 
die  Kolonien  teils  moosähnlich,  teils  distelförmig  ausseben.  Ge¬ 
wöhnlich  schon  in  der  zweiten  Woche. —  jedoch  abhängig  von 
den  Verhältnissen,  unter  denen  gezüchtet  wurde  —  schlägt  die 
weiße  Farbe  in  eine  rötliche  um  und  wird  schließlich  orangegelb 
oder  ziegelrot.  Bei  absolutem  Lichtabschlusse  bleibt  die  Färbung¬ 
aus,  tritt  aber  wieder  auf,  wenn  die  Kulturen  ins  Licht  ge¬ 
stellt  werden.  Mitunter  erlangen  die  Kulturen  ein  charakteristi¬ 
sches  kraterförmiges  Aussehen.  Die  älteren  Kulturen  sind  be¬ 
sonders  üppig  und  erlangen  durch  ihr  Wachstum  in  die  Höhe 
eine  stark  gerunzelte  oder  feinkörnige,  manchmal  korallenartige 
Oberfläche.  Man  beobachtet  auch  oft  um  die  rötliche  oder 
orangefarbene  Kultur  einen  flachen  Saum  mit  lappigen  Rändern, 
der  verschieden  gefärbt  ist,  aber  niemals  die  dunkle  Farbe  des 
übrigen  Rasens  erlangt.  Die  Kolonien  sitzen  fest  dem  Nähr¬ 
boden  auf,  so  daß  man  in  den  ersten  Tagen,  ohne  den  Nährboden 
zu  beschädigen,  nur  wenig  oder  kaum  etwas  abstreifen  kann; 
die  älteren  Kulturen  werden  schmieriger  und  dann  leicht  ab¬ 
streifbar.  War  reichlich  Kondenswasser  vorhanden,  so  zeigte 
dieses  einen  flaumigen  oder  flockigen  Satz  und  ein1  zartes  Häut¬ 
chen.  Am  schnellsten  wachsen  die  Kulturen  bei  Bruttemperatur, 
doch  konnte  man  auch  bei  Zimmertemperatur’  schon  nach  kurzer 
Zeit  Wachstum  erkennen. 

Agar  zeigt  dasselbe  Wachstum  wie  Glyzerinagar,  nur  ist 
es  etwas  langsamer  und  nicht  so  üppig. 

Gelatin  e-Stichkultureü  zeigen  entsprechend  dem  Stiche 
kleine,  kugelige,  flaumige  Kolonien,  die  zum  Teil  die  Größe  eines 
Hirsekornes  erreichen  und  in  charakteristischer  Weise  stets  streng 
voneinander  isoliert  bleiben.  An  der  Oberfläche  kommt  es  um 
•die  Einstichöffnung  zur  Entwicklung  eines  flächenhaften,  sich 
in  den  Nährboden  einsenkenden  Rasens  von  grauweißlicher  Färb :, 
der  später  gelbrötlich  werden  kann  und  mehr  oder  weniger 
üppig,  oft  auch  stark  gefaltet  oder  gerunzelt  wird  und  sich  dann 
leicht  abheben  läßt.  Gelatine  wird  niemals  verflüssigt. 

Bouillon  zeigt  schon  nach  wenigen  Tagen  an  der  Ober¬ 
fläche  kleine,  punktförmige,  weißliche  Kolonien,  die  dann  zu 
einer  Haut  konfluiaren,  die  bei  älteren  Kulturen  dick  und  stark 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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gerunzelt  wird.  Mit  zunehmendem  Alter  der  Kulturen  entwickelt 
sich  auch  ein  Bodensatz,  der  an  Dichte  zunimmt  und  zum  Teil 
aus  hautschuppenartigen  Massen  besteht.  Im  übrigen  bleibt  die 

Fleischbrühe  klar. 

Peptonwasser  zeigt  ähnliches  Wachstum  wie  Bouillon, 
nur  ist  es  dürftiger.  Der  Bodensatz  ist  auch  reichlich  und  be¬ 
steht  teils  aus  körnerartigen,  teils  aus  schuppenartigen  Massen. 

Indol  Reaktion  negativ. 

Milch.  Nach  drei  bis  vier  Tagen  entwickeln  sich  an  der 
Oberfläche  kleine,  weiße,  scheibenartige  Kolonien,  die  bald  kon- 
fluieren,  eine  gelbliche  Farbe  zeigen  und  in  älteren  Kulturen  zu 
einer  derben  runzeligen  Haut  mit  orangegelber  Färbung  werden, 
welche  an  den  Wänden  festhaftet;  nur  in  viele  Monate  alten 
Kulturen  dickt  sich  die  Milch  gallerartig  ein,  zeigt  aber  unter 
der  Haut  noch  eine  schmale  Schichte  heller  dünner  Flüssig¬ 
keit.  Die  Reaktion  der  Milch  in  den  jungen  Kulturen  ist  schwach 
sauer. 

Auf  der  Kartoffel  entsteht  zunächst  ein  flacher,  weißer, 
trockener,  kreide-  oder  gipsartiger  Rasen,  der  an  den  Rändern 
gekörnt  aussieht  und  gebuchtet  ist.  In  älteren  Kulturen  wird  der 
Rasen  rötlich  oder  rötlichgelb,  in  noch  älteren  fast  rot  und 
deutlich  gekörnt.  Das  Kondenswasser  der  Kartoffelkulturen  trübt 
sich,  wird  gelblichgrau,  zeigt  reichlich  flockigen  Satz  und  dickt 
sich  in  älteren  Kulturen  zu  einer  gallertartigen  Masse  ein. 

In  Zuckeragar  entwickeln  sich  auf  der  Oberfläche  zu¬ 
nächst  kleine,  weiße  Kolonien,  die  bald  zu  einem  gefalteten  oder 
gerunzelten,  gelblichen  oder  gelblichroten  Rasen  konfluieren,  der 
den  Wänden  fest  anhaftet  und  manchmal  ein  mehr  schmieriges 
Aussehen  hat.  Stichkulturen  in  Zuckeragar  zeigen  in  dem  oberen 
Teil  des  Stiches  wolkenartige,  isolierte,  grauweiße  Kolonien.  In 
Sichüttelkulturen  hingegen  bleibt  in  den  tieferen  Partien  des 
Nährbodens  das  Wachstum  aus. 

Die  meisten  beschriebenen  Kulturen  haben  entweder  einen 
leicht  säuerlichen  oder  aber  moderigen  Geruch. 

Die  Ergebnisse  der  Tierexperimente,  welche  an  Kaninchen, 
Meerschweinchen  und  Mäusen  ausgeführt  wurden,  zeigen,  daß 
unsere  vier  Stämme  pathogen  für  Kaninchen  und  Meerschweinchen 
sind,  dagegen  nicht  pathogen  für  Mäuse.  Bei  Kaninchen  wurden 
intravenöse,  intraperitoneale  und  subkutane  Injektionen  gemacht 
und  zwar  Kaninchen  und  Meerschweinchen  je  1  cm3  einer  dichten 
Glyzerinagarkulturaufschwemmung  in  Peptonwasser  einverleibt. 
Diese  Tiere  gingen,  mit.  Ausnahme  eines  subkutan  injizierten  Meer¬ 
schweinchens,  längstens  innerhalb  zwei  Monaten  zugrunde. 

Es  wurde  von  allen  Stämmen  je  ein  Kaninchen  intravenös 
in  die  Ohrvene  injiziert.  Alle  Kaninchen  gingen  am  fünften  Tage 
zugrunde.  In  allen  Fällen  ergab  die  Sektion  ein  gleiches  Re¬ 
sultat.  Es  fand  sich  keine  Flüssigkeit,  resp.  nur  wenig  klare 
Flüssigkeit  in  der  freien  Bauchhöhle.  Die  Brusthöhlen  waren 
frei,  dagegen  fanden  sich  in  den  meisten  Organen,  sowohl  auf  der 
freien  Oberfläche,  wie  auch  auf  der  Schnittfläche,  sehr  reichlich 
miliare,  bis  stecknadelkopfgroße,  gelbweiße  Knötchen. 

Die  intraperitoneal  injizierten  Kaninchen  und  Meerschwein¬ 
chen,  von  denen  das  letzte  Meerschweinchen,  dasjenige  mit  der 
längsten  Lebensdauer,  schon  nach  drei  Wochen  starb,  zeigten 
entsprechend  der  Applikationsstelle,  die  stärksten  Verände¬ 
rungen  in  der  Bauchhöhle;  die  Veränderungen  waren  bei  den 
einzelnen  Tieren  ganz  übereinstimmende  ohne  wesentliche  Va¬ 
rianten.  In  allen  Fällen  enthielt  die  Bauchhöhle  eine  klare  Flüssig¬ 
keit,  welche  sich  steril  erwies.  In  einzelnen  Fällen  fand  sich, 
entsprechend  der  Injektionsstelle,  ein  kleiner,  im  Unterhautzell¬ 
gewebe  liegender  Abszeß,  aus  dein  beim  Einschneiden  ein  dicker, 
gelber  Eiter  hervorquoll.  Die  Darmschlingen,  zum  Teil  stark 
gebläht,  zum  Teil  mit  Kotmassen  gefüllt,  zeigten  in  ihrer  Serosa 
eine  Unzahl  von  bis  über  stecknadelkopfgroßen,  ja  bis  linsen¬ 
großen  Knötchen,  aus  welchen  sich  beim  Einschneiden  ein  gelblich¬ 
weißer  dicker  Eiter  entleerte.  Einzelne  Darmschlingen  sind  durch 
gelbe  käsige  Massen  untereinander  wie  auch  mit  den  angren¬ 
zenden  Organen:  Leber  und  Milz,  verlötet.  Die  Serosa  parietalis 
trägt  die  gleiche  Knötchenaussaat,  wie  die  viszeralis.  Leber  und 
Milz  zeigen  wie  an  ihrer  freien  Oberfläche,  so  auch  an  der  Schnitt¬ 
fläche  verschieden  große,  gelblich  gefärbte  Knötchen.  Das  gleiche 
Verhalten  zeigten  die  Nieren  und  in  den  meisten  Fällen  auch 
Herzmuskel  und  Lungen. 

Bei  den  subkutan  injizierten  Tieren  bemerkte  man  ent¬ 
sprechend  der  Injektionsstelle  einen  verschieden  großen  Abszeß, 
der  sich  in  einzelnen  Fällen  nach  Außen  öffnete  und  einen  dicken 
gelben  Eiter  entleerte.  Die  Sektion  ergab  in  einigen  Fällen,  bis 
auf  den  Injektionsabszeß  und  bis  auf  die  leicht  geschwollenen 
regionären  Drüsen,  einen  negativen  Befund ;  in  anderen  fanden 
sich  dagegen  mehrfach  kleine  gelbe  Knötchen,  entweder  nur  in 


der  Leber  und  Milz,  oder  wieder  eine  geradezu  miliare  Aussaat 
von  Knötchen  in  Leber,  Milz  und  Lungen. 

In  allen  Fällen  wurde,  der  Inhalt  der  Abszesse  der  Injek¬ 
tionsstelle  wie  auch  der  der  Knötchen  mikroskopisch  untersucht 
ubd  ergab  immer  das  gleiche  Resultat:  Neben  Eiterkörperchen 
Gram-positive  Fäden  mit  echter  Verzweigung.  Es  wurden  auch 
bei  allen  Tiere|n  von  der  Substanz:  der  Knötchen  Kulturen  an¬ 
gelegt  und  es  zeigte  sich,  daß.  alle  Kulturen,  wie  untereinander 
so  auch  mit  den  Ausgangskulturen  vollständig  übereinstimm  Len. 

Das  verimpfte  Material  des  einen  Falles  (multiple  Sklerose) 
stammt,  wie  erwähnt,  aus  Abszessen  der  Niere.  Der  Abszcß- 
inhalt  bestand,  wie  der  histologische  Befund  dieser  Niere  zeigte, 
aus  zahlreichen,  polynukleären  Leukozyten,  daneben  auch  schon 
vielfach  aus  Elementen  mit  deutlichem  Kernzerfall;  die  umge¬ 
benden  Nierenkanälchen  werden  durch  die  Abszesse  im  Bogen 
zur  Seite  gedrängt.  Im  Bereiche  der  letzteren  fanden  sich  noch 
Malpighi  sehe  Körperchen  und  Reste  von  Nierenkanälchen, 
letztere  in  Form  kernloser  Epithelverbände,  erste  re  mehrfach 
mit  polynukleären  Rundzellen  infiltriert.  In  Gram-Weigert-Präpa- 
raten  erscheint  das  ganze  Gebiet  übersät  mit  Gram-positiven 
Fäden,  die  jedoch  in  den  Randpartien  der  Abszesse  viel  zahl¬ 
reicher  sind  und  in  büscbel-  oder  gruppenförmigen  Vereinigungen 
erscheinen. 

In  den  anderen  Fällen  wurde  nur  die  bakteriologische  Unter¬ 
suchung  des  Eiters  vorgenommen,  welche  das  schon  eingangs 
erwähnte  Resultat  ergab. 

Die  histologische  Untersuchung  der  Organe  von  den  ge¬ 
impften  Versuchstieren  ergab  folgende  Befunde: 

Das  Lungenparenchym  erscheint  zum  Teil  lufthaltig. 
Die  Abszesse  nehmen  Abschnitte  ein,  welche,  nach  Art  der  Aus¬ 
breitung  lobulär-pneumonischer  Herde,  sich  über  ganze  Gruppen 
benachbarter  Alveolen  erstrecken.  Innerhalb  solcher  Abschnitte 
eitrigen  Exsudates  finden  sich  oft  schärfer  umschriebene  Stellen 
mit  rundlicher  Konturierung,  innerhalb  welcher  die  Elemente 
des  eitrigen  Exsudates,  die  'zumeist  Kernfragmente  sind,  be¬ 
sonders  dichtgedrängt  erscheinen;  es  handelt  sich  hiebei,  wie 
insbesondere  die  Präparate  mit  Elastikafärbung  lehren,  um  eitrige 
Thromben  in  Blutgefäßen.  Gelegentlich  finden  sich  auch  mehr 
vereinzelte  eosinophile  Zellen  im  Exsudatbereiche.  Intakte  rnono- 
und  polynukleäre  Leukozyten  sind  selten  zu  sehen,  da  das  Exsudat 
zumeist  aus  Kernfragmenten  besteht.  Die  Eiterherde  lassen  vielfach 
auch  Durchbrüche  in  die  Bronchien,  sowie  in  Venen 'erkennen;  in 
letzteren  kommt  es  dann  zum  Bilde  der  Thrombophlebitis.  Gelegent¬ 
lich  finden  sich  auch  eifrige  Thromben  in  den  Arterien,  wobei  nach 
dein  Kaliber  der  lumenfüllenden  Massen  anzunehmen  ist,  daß 
hier  nicht  ein  unmittelbares  Produkt  der  intravenösen  Kultur¬ 
injektion  vorliegt;  vielmehr  werden  wohl  die  auch  in  der  Arterien¬ 
wand  gelegentlich  konstatierbaren  Durchbrüche  wiederum  als 
solche  von  außen  nach  innen  zu  deuten  sein.  Gelegentlich  ge¬ 
winnt  man  den  Eindruck,  daß  sich  die  Thrombenmassen  über 
die  feineren  Verzweigungen  rückläufig  in  die  größeren  Ae. sie 
ausgedehnt  haben,  wobei  es  naheliegt,  an  eine  Thromben¬ 
bildung  nach  verschließender  Embolie  der  Kapillaren  und  Prä- 
kapillaren  zu  denken.  In  den  größeren  Arterien  können  die 
Thromben  dann  als  Parietalthromben  erscheinen,  gelegentlich  kann 
auch  die  Oberfläche  dieser  Parietalthromben  noch  von .  einem 
Endothelrest  überzogen  werden.  Es  wurden  auch  Riesenzellen 
im  Bereiche  der  Eiterungsherde  beobachtet. 

Bei  mikroskopischer  Durchmusterung  von  Schnitten  der 
Leber,  welche  bei  der  makroskopischen  Betrachtung  die  früher 
erwähnten  Knötcheneinsprengungen  aufgewiesen  hatte,  sieht  man 
zunächst  das  Leberparenchym  selbst  nicht  wesentlich  verändert; 
die  Leberzellen  zeigen  durchwegs  normale  Frotoplasmaverhält- 
nisse  mit  gut  fingiertem  Kern  ohne  Zeichen  von  Degeneration. 
Auffallend  ist  die  immer  wieder  konstatierbare  starke  Füllung 
der  Gefäße.  Regellos  ins  Lebergewebe  eingesprengt  findet  man, 
in  einem  Falle  ziemlich  spärlich,  im1  anderen  reichlich,  Anhäu¬ 
fungen  von  rundzeiligen  Elementen,  die  zum  Teil  recht  kleine, 
zum  Teil  größere  Areale  des  Lebergewebes  einnehmen.  Sie  ent¬ 
halten,  wie  die  Betrachtung  mit  stärkerer  Vergrößerung  zeigt, 
nur  mehr  vereinzelte  mononukleäre  Leukozyten,  vorwiegend  Ele¬ 
mente  mit  Kernzerfall  und  auch  freie  Kernfragmente.  Vereinzelt 
kommen  dazwischen  auch  Zellen  mit  eosinophiler  Granulierung 
zur  Ansicht.  Häufig  zeigt  sich  in  einer  schmalen  Zone  des  um¬ 
grenzenden  Parenchyms  Unfärbbarkeit  der  Leberzellkerne. 

Erwähnt  sei  noch,  daß  vielfach  Leukozytemansammlungen 
längs  der  Gefäße  zu  sehen  sind.  Einzelne  größere  Abszesse  des 
Leberparenchyms  zeigen  die  Merkmale  des  langen  Bestandes 
durch  Ausbildung  einer  bindegewebigen  Kapsel  (von  wechselnder 
Dicke  im  Einzelfalle).  Solche  Befunde  waren  stets  bei  Tieren, 
die  längere  Zeit  nach  der  Injektion  gelebt  hatten,  anzutreffen. 


200 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


In  den  Leberherden  kommen  mehrfach  Riesenzellen  vor ;  ge¬ 
legentlich  ließen  die  Formen  der  letzteren,  insbesondere  auch 
das  Aussehen  und  die  Lagerung  ihrer  Kerne  an  eine  genetische 
Beziehung  zu  Gallengangsprossen  denken. 

Die  Abszesse  der  Milz  stimmen  in  ihrem  Aussehen  mit 
denen  der  Leber  und  Lungen  überein.  Die  Nieren  zeigen  einen 
auffälligen  Grad  von  Blutfüllung  in  Uehereinstimmung  mit 
dem  betreffenden  Befund  der  übrigen  Organe.  Im  Markbereich 
zeigt  sich,  abgesehen  von  der  Hyperämie  nichts  Auffälliges.  In 
der  Rinde  finden  sich  zahlreiche  kleine  Abszesse  vom  Aussehen 
der  in  den  anderen  Organen  beschriebenen.  Stellenweise  läßt 
sich  eine  Beziehung  der  Lokalisation  der  Eiterung  zu  den  Mal¬ 
pighi  schon  Körperchen  dadurch  feststellen,  daß  größere  oder 
kleinere  Anteile  der  letzteren  im  Bereiche  der  dichtgedrängten 
Eiterzellen  noch  erkennbar  sind.  Ich  hatte  aber  nicht  Gelegen¬ 
heit,  Stellen  mit  den  einwandfreien  Bildern  des  emboli  sehen.  Ver¬ 
schlusses  einzelner  Glomerufusschlingen  zu  sehen,  ln  Graiu- 
Weigert -Präparaten  finden  sich  Pilzfäden  sowohl  im  Lumen  der 
Glomerulusschlingen  wie  auch  im  Bowmanschen  Raum. 

In  der  Darm  wand  finden  sich  Abszeßchon  der  Mukosa 
und  Submukosa,  ohne  Beteiligung  der  Muskularis. 

Die  Abszeßehen  der  Herzmuskulatur  bieten  nichts  Auf¬ 
fälliges. 

Was  den  Nachweis  von  Pilzfäden  mittels  Gram-Weigertscher- 
Färbung  betrifft,  so  fanden  sich  dieselben  sehr  zahlreich  in  den 
geschilderten  Eiterherden ;  ich  konnte  öfters  kleine  Gefäße  ver¬ 
schiedener  Organe,  wie  insbesondere  zum  Teil  noch  erhaltene 
Gefäßschlingen  der  Glomeruli  mit  Pilzmassen  erfüllt  sehen. 

Zusammenfassend  können  wir  sagen,  daß  die  einzelnen 
Organe,  entsprechend  dem  makroskopischen  Knötchenbefund, 
mikroskopisch  immer  wieder  das  Bild  der  geschilderten  Eiter¬ 
herde  in  übereinstimmender  Weise  erkennen  lassen.  Erwähnens¬ 
wert  scheint  der  Befund  der  Riesenzellen,  den  wir  mehrfach 
erheben  konnten.  Es  handelt  sich  dabei  höchstwahrscheinlich 
nicht  um  eine  spezifische  Bildung.  In  der  Lunge  fanden  sich 
zwar  Bilder,  welche  entsprechend  der  räumlichen  Beziehung 
zwischen  Riesenzelle  und  embolischen  Massen  an  eine  Deutung 
der  ersteren  als  eine  Fremdkörperriesenzelle  hätte  denken  lassen, 
nachdem  aber  analoge  Riesenzellenbildung  in  der  Leber  solche 
benachbarte  Embolien  vermissen  ließen,  möchte  ich  die  Deutung 
der  Riesenzellen  vorläufig  noch  in  suspenso  lassen.  Sie  zeigten 
ein  einheitliches  Aussehen,  zum  Teil  zentral,  zum  Teil  peripher 
gelagerte  Kerne  mit  homogenem,  blaßrot  gefärbtem  Protoplasma. 
In  älteren,  durch  Bindegewebszüge  abgekapselten  Eiterherden 
kamen  sie  überhaupt  nicht  zur  Ansicht;  meistens  fanden  sie  sich 
in  den  Herden,  die  noch  keinen  sehr  weitgehenden  Kernzerfall 
und  Kemschwund  zeigten.  Pilzfäden  wurden  in  den  Riesenzellen 
nicht  beobachtet. 

Was  das  morphologische  und  biologische  Verhalten  an¬ 
belangt,  zeigt  unsere  Pilzart  folgende  Eigenschaften: 

Wie  in  gefärbten.  Präparaten  so  auch  im  hängenden  Tropfen 
erkennt  man  echte  Verzweigungen;  der  Stamm  der  Fäden  hat 
die  gleiche  Dicke  wie  die  abgehenden  Zweige,  welche  an  den 
Enden  die  Andeutung  einer  leichten  kolbigen  Anschwellung 
zeigen  können.  In  jungen  Kulturen  sind  die  Fäden  sehr  lang,  ge¬ 
bogen  .  und  gewunden  und  färben  sich  gleichmäßig,  in  älteren 
Kulturen  zerfallen  sie  in  Kurzstäbchen  und  längsovale  kokken- 
artige  Gebilde,  wobei  sie  auch  ungleichmäßig  gefärbt,  wie  segmen¬ 
tiert,  aussehen  können.  Solche  Veränderungen  der  Fäden  fanden 
wir  fast  bei  allen  Arten  der  Kultivierung.  Auf  festen  Nährböden 
scheinen  sie  sich  vielleicht  etwas  schneller  und  stärker  einzu¬ 
stellen  als  in  flüssigen ;  nur  in  Gelatine-Stichkulturen  konnte  man 
lange,  verzweigte  Fäden  auch  nach  langer  Zeit  noch  finden;  der 
Luftzutritt  scheint  beschleunigend  auf  die  Segmentierung  der 
Fäden  zu  wirken.  Sporenbildungen  haben  wir  nicht  gesehen; 
man  sieht  zwar  kleine,  ovale,  kokkenartige  Gebilde,  die  auch 
freiliegend  Vorkommen,  doch  nehmen  dieselben  keinerlei  Sporen¬ 
färbung  an.  Beweglichkeit  konnte  man  weder  bei  der  Faden-  noch 
bei  der  Kurzstäbchenform  beobachten. 

Bezüglich  der  Säurefestigkeit  ist  folgendes  auszusagen: 
Mit  Karbolfuchsin  und  nachträglich  mit  Säure  behandelt  be¬ 
halten  sie  die  Färbung;  dagegen  werden  sie,  nach  der  Ziehl- 
Neel  s  en  sehen  und  der  We  i  ch  s  elbaumschen  (Karbolfuchsin¬ 
alkohol-Methylenblau)  Methode  behandelt,  entfärbt;  sie  erwiesen 
sich  demnach  als  säurefest,  aber  nicht  als  alkoholfest. 

Es  wäre  nun  vielleicht  noch  zu  überlegen,  welche  Stellung 
die  hier  besprochenen  Pilze  in  der  Reihe  der  bis  zur  Zeit  her 
kannten,  für  den  Menschen  pathogenen  Streptothrixarten  ein¬ 
nehmen.  Was  die  kulturellen  Eigenschaften  anlangt,  so  unter¬ 
scheidet  sich  unsere  Pilzart  (Streptothrix)  von  den  meisten  bis 
jetzt  bekannten  durch  das  fakultativ  anaerobe  Wachstum.  Die 


meiste  Uehereinstimmung  zeigt  sich  mit  den  von  H.  Eppinger, 
Aoyama  und  Miyamoto,  A.  Horst,  Mac  Collum  und  J.  A. 
Sc  ha  bad  beschriebenen  Stämmen.  Ihre  wesentlichsten  Unter¬ 
schiede  (gegenüber  der  „Cladothrix  asteroides“  von  II.  Ep¬ 
pinger  beruhen  darauf,  daß  letzterer  Form  das  Tiefenwachstum 
in  festen  Nährböden  mangelt.  (Eppinger  konstatierte  aller¬ 
dings  auch  Scheinverzweigungen,  Beweglichkeit,  wie  auch  den 
Mangel  der  Säurefestigkeit;  nach  Angaben  der  späteren  Unter¬ 
sucher  haben  aber  diese  Merkmale  der  Epping ersehen  Dar¬ 
stellung  eine  Richtigstellung  im  gegensätzlichen  Sinne  erfahren.) 
In  Uehereinstimmung  mit  Eppingers  Befunden  stehen  die - 
mehligen  bezüglich  des  Aussehens  der  Kulturen  auf  den  ver¬ 
schiedenen  Nährböden,  so  besonders  der  Sternform  der  einzelnen 
Kolonien,  ferner  bezüglich  der  Pathogenität  für  Kaninchen  und 
Meerschweinchen,  wie  auch  bezüglich  der  hei  Tieren  hervor- 
gerufenen  Krankheitserscheinungen.  Die  von  A  o  y  a m  a  und  M  i  y  a- 
moto  beschriebene  Pilzart  unterscheidet  sich  von  der  unsrigen 
durch  das  in  den  meisten  Fällen  fehlende  anaerobe  Wachstum  und 
durch  das  Fehlen  der  Pathogenität  für  Kaninchen  wie  durch  das 
morphologische  Verhalten,  —  die  S  tarn  infäden  erscheinen  dicker  als 
die  Zweige.  Die  meisten  Uehereinstimmungen  zeigt  unsere  Strepto¬ 
thrix  mit  der  von  A.  Horst  (in  einem  Falle  von  Streptothrix- 
pyämie)  beschriebenen.  Bei  dem  Anlegen  von  Zucker- Agar- 
Schüttelkulturen  erhielten  auch  wir  ein  negatives  Resultat;  jedoch 
beobachteten  wir  ein  stark  in  der  Tiefe  entwickeltes  Wachstum 
in  Zucker-Agar-Stich-  und  in  Gelatine-Stichkulturen ;  im  Gelatine- 
Stich  beobachtete  auch  Horst  ein  leichtes  Tiefenwachstum, 
jedoch  nur  im  oberen  Teile.  Für  Kaninchen  erwies  sich  Horsts 
Pilzart  wenig  pathogen.  Der  hauptsächlichste  Unterschied  be¬ 
steht  in  der  von  Horst  beobachteten  Eigenbewegung  der  Pilz¬ 
fäden. 

Mit  den  von  Mac  Collum  beschriebenen  Kulturen  stimmen 
die  unsrigen  bis  auf  dein  erwähnten  Unterschied  bezüglich  des 
Tiefenwachstums  überein,  doch  konnten  wir  in  Kaiiinchenuieren- 
Abszessen,  die  länger  als  eine  Woche  nach  der  Injektion  gelebt 
hatten,  nicht  die  von  Mac  Collum  beschriebenen  länglichen, 
drusenartigen  Bildungen  sehen. 

Die  Angabe  von  Schab  ad,  daß  seine  Pilzart  mit  dem  zu¬ 
nehmenden  Alter  rascher  wächst, .  stimmt  durchaus  mit  unserer 
Beobachtung. 

Das  charakteristische  0 her f läcbemv aehs t u m  auf  Zucker-Agar 
von  Eppinger  mit  einer  ,, Reliefkarte  dichter  Gebirgszüge“  ver¬ 
glichen,  wie  auch  das  Wachstum  auf  Kartoffel,  von  demselben 
Autor  mit  einer  „verzuckerten  Mandel“  verglichen,  können  wir, 
ebenso  wie  S  c  h  ab  ad,  bestätigen. 

In  bezug  auf  Säurefestigkeit  erwiesen  sich  die  kokken¬ 
artigen  Formen  bei  Schah  ad  viel  säurefester  als  die  Fäden, 
sie  blieben  sogar  bei  stärkerer  Entfärbung,  den  Sporen  analog, 
rot  gefärbt,  unterschieden  sich  jedoch  von  denselben  dadurch, 
daß  sie  am  Ende  der  Fäden  zu  treffen  waren,  die  Sporen  da¬ 
gegen  meistens  getrennt  von  den  Fäden  lagen.  Diesen  Befund 
konnte  auch  ich  einige  Male  erheben,  jedoch  nicht  konstant  und 
nicht  gleichmäßig,  manchmal  waren  nur  in  einzelnen  unter  vielen 
Gesichtsfeldern  einige  kokkenartige  Formen  rot  gefärbt,  die  meisten 
übrigen  blau. 

Anaerobes  Wachstum  finden  wir  bei  der  von  M.  P.  N  e- 
schezadim  enk'o  beschriebenen  Streptothrixart.  Die  leichten 
Anschwellungen  an  den  Enden  wie  die  Entfärbung  nach  Ziehl- 
Neelsen  hat  seine  Streptothrixart  neben  anderen  Eigenschaften 
gemeinsam  mit  der  von  mir  beobachteten,  jedoch  ist  die  seinige 
streng  anaerob  und  wächst  nur  bei  36  bis  37°.  Im  Gegensätze 
zu  dem  Verhalten  der  von  mir  gefundenen  Pilzart  wächst  sie 
nicht  auf  Kartoffel  und  Gelatine  und  zeigt  überhaupt  eine  ge¬ 
ringe  Lebensdauer.  Seine  Tierversuche  blieben  resultatlos. 

In  dem  Falle  von  1.  van  Long  hem  scheint  die  Pilzart 
auch  bei  Anwendung  verschiedenartiger  Nährböden  an  eine  be¬ 
stimmte  Temperatur  gebunden  zu  sein,  was  bei  meinen  Stämmen 
nicht  der  Fall  ist.  So  wächst  Long  hems  Stamm  auf  Agar  und 
in  Bouillon  bei  37°.  jedoch  nicht  bei  22°  usw. 

Außer  den  bisher  erwähnten  Fällen  fand  ich  in  der  Lite¬ 
ratur  noch  Berichte  über  einzelne  für  den  Menschen  pathogene 
Streptothricheen  mit  starken  Abweichungen  von  den  Charakteren 
meiner  Pilzart;  es  liegen  Berichte  über  Streptothricheen  vor,  die 
aus  der  Luft  oder  aus  erkrankten  Organen  von  Tieren  gezüchtet 
wurden;  auch  unter  diesen  fanden  sich  einige,  die  Uebeneiin- 
stimmungen  mit  den  für  den  Menschen  pathogenen  zeigten.  So 
hat  sich  beispielsweise  die  Streptothrix  caprae  von  Silber¬ 
schmidt,  aus  der  Lunge  einer  an  Tuberkulose  erkrankten  Ziege 
gezüchtet,  mit  meiner  Streptothrix  die  meisten  kulturellen  und 
morphologischen  Eigenschaften  gemeinsam. 


Nr.  6 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


201 


QuarantänestucTen. 

Von  Dr.  Emil  Wiener. 

Die  Bestrebungen  einzelner  Länder,  unseren  Kontinent 
gegen  den  Einbruch  verheerender  Epidemien  zu  schützen,  datieren 
um  einige  Jahrzehnte  zurück,  als  besonders  seit  Eröffnung  des 
Suezkanals  immer  wieder  teils  durch  Pilgerzüge  aus  dem  liedjaz, 
teils  aus  Indien  und  dem  näheren  Orient  eingeschleppte  Cholera, - 
und  l’estfälle  (das  gelbe  Fieber  kommt  wohl  kaum  in  Betracht) 
zu  einer  größeren  Ausbreitung  dieser  Krankheiten  führten.  Doch 
erst  im  Jahre  1881  Unterzeichnete  der  Khedive  von  Aegypten 
ein  Dekret,  wonach  unter  Beistimmung  der  europäischen  Gro߬ 
mächte  ein  internationales  Sanitätskonseil  für  Aegypten  geschaffen 
wurde,  welches  nach  kurzer  Zeit  als  ungenügend  erkannt,  im 
Jahre  1893  modifiziert  und  auch  alsbald  in  Kraft  gesetzt  wurde. 

Immer  wieder  neu  auftauchende  Schwierigkeiten  von  seiten 
der  einzelnen  Großmächte,  deren  nicht  immer  gleiche  Handels¬ 
und  maritime  Interessen,  führten  zu  neuerlichen  Konferenzen 
in  Paris  und  Venedig,  bis  deren  Ergebnis  in  einem  im  Jahre 
1904  erschienenen  Reglement  festgesetzt  wurde,  welches,  aller¬ 
dings  mit  Ergänzungen,  Nachträgen  und  Interpretationen,  heute 
in  Kraft  steht. 

I. 

Die  Ueberwachung  der  Durchführung  des  Reglements  ist 
drei  internationalen  Sanitätskonseils  anvertraut,  deren  Sitz  in 
Alexandrien,  Konstantinopel  und  Teheran  ist  und  von  jeder  Gro߬ 
macht  mit  je  einem  Delegierten  beschickt  werden.  Dem  Präsidenten 
derselben  sind  weitestgehende  Vollmachten  eingeräumt,  die  Mit¬ 
glieder  sind  zumeist  Aerzte,  nur  ausnahmsweise  Berufskonsuln. 
Der  immer  mehr  sich  entwickelnde  Handel  mit  dem  fernen  Osten 
und  Indien  brachte  es  mit  sich,  daß  allmählich  die  auch  territorial 
für  die  Durchführung  von  Maßnahmen  günstig  gelegenen  Beob¬ 
achtungsstationen  um  den  Suezkanal  die  weitaus  größte  Bedeutung 
gewannen,  zumal  denselben  auch  die  Kontrolle  der  Pilgerzüge 
nach  Mekka  zukam,  auf  deren  genaue  Beobachtung  ebenfalls 
großes  Gewicht  gelegt  wird. 

So  entstanden  immer  mehr  Beobachtungsstationen,  welche 
eine  Vermehrung  der  Angestellten  herbeiführten. 

Nach  Kapitel  II  der  ägyptischen  Ministerialverordnung  vom 
19.  Juni  1893,  Art.  10,  ist  der  Marine-  und  Quarantäne-Polizei- 
sanitätsdienst  längs  der  ägyptischen  Küste  und  dem  Roten  Meere 
den  Direktoren  der  Sanitätsämter,  Sanitäts-  und  Quarantäne- 
stationen,  den  Chefs  der  Sanitätsagentien  und  Sanitätsposten, 
bzw.  deren  Untergebenen  an  vertraut,  für  welchen  sie  auch  nach 
Artikel  11  die  Verantwortung  zu  tragen  haben.  Die  Direktoren 
der  Sanitätsämter  sind  bezüglich  ihrer  Agenden  in  zwei  Klassen 
geteilt;  die  erste  umfaßt  die  Stellen  in  Alexandrien,  Port  Said, 
Sluez  und  die  Mosesquellen,  Tor;  die  zweite  diejenigen  von 
Damiette,  Sonakim  und  Kosseir.  In  El  -  Asiche  befindet  sich  die 
einzige  bestehende  Sanitätsagentie.  Die  Sanitätsposten  unter¬ 
stehen  der  Sanitätsdirektion  ihres  Bezirkes,  es  gibt  solche  in 
Port-Ncuf,  Aboukir,  Brullos,  Rosettei,  Kantara,  Ismailia,  die 
ersteren  vier  Alexandrien,  die  letzteren  zwei  Suez  unterstehend. 
Es  steht  dem  Sanitätskonseil  in  Alexandrien  frei,  neue  derartige 
Posten  zu  schaffen.  Nach  Artikel  21  unterstehen  die  angestellten 
Aerzte  dem  Direktor  ihres  Sanitätsamtes  und  sind  sie  allein 
befugt,  zu  entscheiden,  ob  den  in  Quarantäne  befindlichen  Per¬ 
sonen  die  Aufhebung  derselben  bewilligt  werden  kann. 

II. 

Das  allgemeine  Reglement  des  Quarantäne-  und  Seesanitäts¬ 
dienstes  teilt  —  dem  Sinne  nach  —  die  zu  treffenden  Ma߬ 
nahmen  in  zwei  Gruppen :  1.  Nach  der  Provenienz  des  in  Betracht 
kommenden  Untersuchungsmaterials  u.  zw. :  a)  Beförderungs¬ 
mittel,  b)  beförderte  Passagiere,  c1)  Waren;  in  einem  Anhänge 
sind  auch  veterinärpolizeiliche  Maßnahmen  bei  Transport  von 
Tieren  vorgesehen.  2.  Nach  der  Art  der  Krankheiten. 

Jedes  an  der  ägyptischen  Küste  anlaufende  Schiff  muß  sich 
den  in  dem  Reglement  festgesetzten  Vorschriften  unterwerfen 
und  wird  zu  diesem  Zweck  ein  Fragebogen  vorgelegt,  welcher 
von  dem  Kapitän  des  Schiffes  eidesstattlich  beantwortet  werden 
muß.  Diese  Fragen  haben  wohl  ausschließlich  den  Zweck,  der 
Verheimlichung,  bzw.  Hinterziehung  eines  etwa  an  einer  epide¬ 
mischen  Krankheit  erkrankten  Passagiers  vorzubeugen,  sind  dem¬ 
nach  ausschließlich  polizeilicher  Natur.  Ist  nach  glaubwürdiger 
Aussage  des  Kapitäns  kein  verdächtiger  Fall  vorhanden,  so  wird 
nach  Artikel  7  sofort  das  freie  Geleite  erteilt.  In  den  fällen, 
welche  eine  gründlichere  Untersuchung  erfordern,  wird  die  gelbe 
Flagge  solange  gehißt,  bis  die  erforderlichen  Aufklärungen  von 
»eiten  des  Schiffsarztes  oder  Kapitäns  gegeben  sind;  dann  erst 


können  die  Passagiere  —  -  in  epidemiefreien  Zeilen  sofort,  in 
Zeiten  von  Epidemien  nach  den  jeweilig  angeordneten  Maßnahmen 

—  das  Schiff  verlassen.  Die  sanitäre  Beschaffenheit  des  Schiffes 
hat  sodann  in  dem  Gesundheitspatent  des  Schiffes  zum  Ausdruck 
zu  kommen  und  ist  dieses  Sanitätspatent  der  Seesanitätsbehörde 
eines  jeden  noch  anzulaufenden  Hafens  vorzulegen. 

Das  freie  Geleite  wird  nach  Artikel  15  aufgehoben:  I.  Für 
Schiffe  ohne  Sanitätspatent.  2.  Für  Schiffe  mit  unregelmäßigem 
Sanitätspatent.  In  beiden  Fällen  wird  eine  strenge  Untersuchung 
vorgenommen,  deren  Protokolle  der  Zentraladministration  des 
Sanitätskonseils  vorgelegt  wird.  Ist  hiebei  nichts  Verdächtiges 
vorgefunden  worden,  so  wird  das  Patent  erteilt;  im  anderen  Falle 
treten  sofort  die  gesetzlichen  Quarantänevorschriften  in  Kraft, 
worauf  ein  neues  Sanitätspatent  erteilt  wird. 

Das  Patent  kann  demnach  nach  Artikel  16  das  Schiff  als 
rein  oder  infiziert  erklären;  der  letztere  Fall  ist.  gegeben, 
wenn  eine  epidemische  Krankheit  (gelbes  Fieber,  Cholera  oder 
Pest)  in  dem  Lande  herrscht,  aus  welchem  das  Schiff  kommt. 
Ebenso  ist  das  etwaige  Vorhandensein  einer  dieser  Krankheiten 
in  einem  ägyptischen  Hafen  —  nach  Artikel  18  —  in  diesem 
Patent  vorzumerken.  Zu  Zeiten  von  Epidemien  —  nach  Artikel  13 

—  wird  auch  der  hygienische  und  sanitäre  Zustand  der  ab¬ 
gehenden  Schiffe  eingehend  untersucht. 

Nach  Artikel  20  ist  die  Quarantänebehörde  ge¬ 
halten,  wirksame  Maßnahmen  zu  treffen,  um  die  Ein¬ 
schiffung  solcher  Personen,  welche  Symptome  von 
Pest  oder  Cholera  zeigen,  hintanzuhalten.  Die  dies¬ 
bezüglichen  prophylaktischen  Maßnahmen  sind :  a)  wenn  der 
Hafen  infiziert  ist:  ärztliche  Visite  und  Desinfektion 
aller  Passagiere  und  der  gesamten  Mannschaft; 
b)  wenn  eine  Epidemie  außerhalb  des  Abfahrtshafens  besteht: 
1.  ärztlich eVisiteund  Desinfektion  jener  Passagiere 
erster  und  zweiter  Klasse,  welche  aus  infizierten 
Orten  kommen;  2.  ärztliche  Visite  und  Desinfektion 
aller  Passagiere  dritter  Klasse  ohne  Unterschied. 

Dieser  Unterschied  in  der  Behandlung  der  Passagiere  erster 
und  zweiter  Klasse  und  jenen  dritter  Klasse  ist  überall  aufrecht 
erhalten.  So  kann  nach  Artikel  21  die  Untersuchung  der  Passa¬ 
giere  erster  und  zweiter  Klasse  in  Alexandrien  und  Port  Said  an 
Bord  des  Schiffes  nach  Ausschiffung  der  Passagiere  dritter  Klasse 
erfolgen. 

Eine  Reihe  von  sanitären  Maßnahmen  sind  während  der 
Ueberfahrt  auszuführen;  so  haben  die  ägyptischen  Schiffe  wäh¬ 
rend  der  Ueberfahrt,  falls  diese  länger  als  48  Stunden  dauert, 
einen  diplomierten  Arzt  mitzuführen,  welcher  eine  Autorisation 
vom  Minister  des  Innern  über  Vorschlag  des  Sanitätskonseils! 
haben  muß.  Dieser  Arzt  hat  alle  hygienischen  Maßnahmen  an 
Bord  vorzukehren,  vorkommendeh  Falles  gegen  die  Einschiffung 
schädlicher  Substanzen  zu  protestieren,  die  infektiös  Erkrankten 
zu  isolieren  und  für  die  Desinfektion  der  in  Betracht  kommen¬ 
den  Schiffsteile  Sorge  zu  tragen.  Auch  hat  der  Arzt  die  Fragen 
der  Sanitätskommission  nach  Häfen,  welche  das  Schiff  berührt, 
rzu  beantworten,  auf  Verlangen  auch  ein  Protokoll  über  sanitär 
wichtige  Vorkommnisse  vorzulegen.  Ist  das  Schiff  als  unverdächtig 
erkannt  worden,  so  hat  die  Anerkennung  sofort  zu  erfolgen. 
Im  anderen  Falle  wird  das  Schiff  auf  einen  dazu  bestimmten 
Ankerplatz  verwiesen  und  unter  Aufsicht  einer  Anzahl  von  Sani¬ 
tätsaufsehern  gestellt.  Zeigen  sich  während  der  Isolierung  neue 
oder  verdächtige  Fälle  von  Cholera  oder  Pest,  so  beginnt  der 
Termin  der  Isolierung  von  neuem  für  jene  Gruppe  von  Personen, 
welche  mit  den  Verdächtigen  in  Berührung  waren. 

Ein  in  Quarantäne  befindliches  Schiff  kann  nach  Artikel  36 
den  Hafen  verlassen,  doch  wird  in  diesem  Falle  im  Patente 
die  Zeit  angegeben,  welche  es  in  Quarantäne  hätte  bleiben  müssen. 
Ebenso  kann  ein  infiziertes  Paketboot,  falls  dessen  Aufenthalt 
eine  Gefahr  für  die  anderen  in  Quarantäne  befindlichen  Schiffe 
bilden  würde,  aufgefordert  werden,  seine  Fahrt  fortzusetzen.  Ganz 
spezielle  strenge  Maßnahmen  werden  bezüglich  der 
Karawanen  und  Pilgerschiffe  getroffen  und  hat  die 
Quarantänebehörde  auch  im  übrigen  das  Recht,  im  Falle  einer 
Gefahr  jene  Maßregeln  sofort  vorzuschreiben,  welche  erforderlich 
sind  und  hievon  nachträglich  dem  Sanitätskonseil  Meldung  zu 
erstatten.  Vom  Aufenthalt  in  Quarantänestationen  sind  Kinder 
unter  acht  Jahren  und  Minderbemittelte,  welche  auf  Kosten  der 
Regierung  reisen,  befreit. 

III. 

Nach  Artikel  5  der  Allgemeinen  Bestimmungen  wird  für 
infiziert  ein  Schiff  erklärt,  welches  einen  Cholera-  oder  Pest¬ 
fall  an  Bord  hat  oder  solche  in  den  letzten  sieben  ragen  \  oi 
Ankunft  des  Schiffes  aufwies.  Für  verdächtig  wird  ein  Schitl 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  19Ü. 


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erklärt,  welches  bei  seiner  Abfahrt  aus  dem  letzten  Hafen  einen 
Infektionsfall  an  Bord  hatte,  aber  keinen  in  den  letzten  sieben 
Hagen.  Für  nicht  infiziert  wird  ein  Schiff  erklärt,  falls 
sich  durch  fünf  Tage  kein  neuer  Pest-  oder  Cholera  fall  ereignet 
hat  oder  dieser  Termin  nach  Isolierung,  Tod  oder  Genesung 
des  letzten  Infektionsfalles  verlaufen  sind.  Die  Quarantänebehörde 
hat  Sorge  zu  tragen  für  Anwesenheit  eines  Arztes  und  von 
Desinfektionsmitteln  auf  diesen  Schiffen,  bei  Pestfällen  auch 
für  die  Ratten  Vertilgung.  Will  jedoch  ein  Schiff  sich  den  vor¬ 
geschriebenen  Sicherheitsmaßregeln  nicht  unterziehen,  so  kann 
es  den  Hafen  verlassen.  Wenn  ein  Schiff  nun  Passagiere,  deren 
Gepäck  und  Poststücke  ausschifl't,  ohne  das  Land  berührt  zu 
haben,  wird  es  so  betrachtet,  als  ob  es  den  Hafen  nicht  berührt 
hätte.  Unter  gewissen'  Umständen  kann  die  einfache  ärztliche 
Visite  angeordnet  werden,  falls  das  Schiff  aus  einem  infizierten 
Hafen  kommt  und  sich  kein  verdächtiger  Fall  an  Bord  ereignet 
hat;  seihst  die  unreine  Wäsche  der  Passagiere  wird  in  diesem 
Falle  nur  auf  spezielle  Weisung  der  Sanitätsbehörde  desinfiziert; 
ebenso  wird  die  einfache  ärztliche  Visite  in  einem  infiziertem 
Hafen  angeordnet,  falls  nicht  das  verdächtige  Schiff  dort  seine 
gesamte  Ladung  abgibt. 

Ganz  besondere  Ausnahmsbestimmungen  be¬ 
stehen:  1.  Bezüglich  der  Kriegsschiffe,  falls  dieselben 
durch  ein  Zertifikat  des  Schill'sarztes  oder  des  Kommandanten 
eidesstattlich  nach  weisen,  daß  sich  a)  während  der  lieber  fahrt 
und  während  der  Einschiffung  kein  Fall  von  Best  oder  Cholera 
ereignete,  b)  eine  eingehende  ärztliche  Visite  zwölf  Stunden 
vor  Anlaufen  eines  ägyptischen  Hafens  ergab,  daß  das  Schiff 
seuchenfrei  sei.  Haben  diese  Schiffe  in  den  letzten  fünf  Tagen 
keinen  Hafen  berührt,  so  erhalten  sie  sofort  freies  Geleite.  1st 
dieser  Zeitraum  jedoch  noch  nicht  verstrichen,  so  können  sie 
immerhin  den  Suezkanal  ohne  ärztliche  Visite  passieren,  vor¬ 
ausgesetzt,  daß  sie  das  entsprechende  Zertifikat  von  der  Quaran¬ 
tänebehörde  vorweisen. 

Dagegen  sind  die  Quarantänebestimmungen  für  die  ein¬ 
geborene  Schiffsmannschaft  der  vom  fernen  Osten  kommenden 
Dampfer  ganz  besonders  streng.  Diese  dürfen  selbst  ganz 
unverdächtige  Schiffe  nicht  ohne  vorherige  ärztliche  Visite  und 
Desinfizierung  verlassen. 

Nach  Artikel  22  dieser  Vorschriften  werden  keine  Land¬ 
quarantänen  errichtet.  Personen,  welche  Symptome  von  Cho¬ 
lera  oder  Pest  zeigen,  können  jedoch  an  den  Grenzen  zurück¬ 
gehalten  werden ;  unter  Umständen,  wenn  die  Ausübung  der 
sanitären  Maßregeln  auf  Schwierigkeiten  stößt,  kann  sogar  die 
Grenze  oder  ein  Teil  derselben  für  Reisende  und  Waren 
gesperrt  werden.  Dies  gilt  offenbar  für  außergewöhnliche 
Fälle,  da  in  den  anderen  Fällen  nach  Artikel  24  nie  die  ärztliche 
Visite  stattzufinden  hat.  Diejenigen  Personen,  welche  den  Hafen 
verlassen,  haben  ihren  Wohnort  anzugeben,  und  werden 
durch  fünf  Tage  überwacht;  ergibt  sich  auf  der  Reise  im 
Eisenbahnwaggon  ein  Infektionsfall  bei  diesen  Reisenden,  so  ist 
für  dessen  Isolierung  und  Desinfektion  Sorge  zu  tragen. 

IV. 

Nach  den  fTioleraquarantiinevorscliriften  werden  allgemein 
fünf  Tage  als  Inkubationszeit  angenommen  und  die  Maßnahmen 
auf  G  rund  dieser  Annahme  getroffen.  Demnach  wird  ein  Schiff  als 
seuchenfrei  erklärt,  wenn  es  aus  einem  seuchenfreien  Hafen 
kommend,  in  den  letzten  fünf  Tagen  keinen  verdächtigen  Fall 
an  Bord  aufwies.  War  jedoch  der  eine  der  berührten  Häfen 
cholerainfiziert,  ohne  daß  sich  auf  dem  Schiffe  während  der 
Ueberfahrt  ein  Fall  ereignet  hätte,  so  ist  die  Quarantäne  durch 
fünf  Tage  zu  halten,  wobei  die  Dauer  der  Ueberfahrt  einge¬ 
rechnet  wird. 

Für  seuchenfreie  unverdächtige  Schiffe  kann  immerhin  vor¬ 
geschrieben  werden:  Aerztliche  Visite,  Desinfektion  der  unreinen 
Wäsche  der  Passagiere,  welche  nach  Ansicht  des  betreffenden 
Sanitätsamtes  als  infiziert  zu  gelten  haben,  Entfernung  des  Kiel¬ 
wassers  nach  Desinfektion  desselben,  endlich  Desinfektion  der 
Aborte,  Beschaffung  einwandfreien  Trinkwassers. 

Als  verdächtig  wird  ein  Schiff  betrachtet,  auf  welchem 
zur  Zeit  der  Abfahrt  ein  Cholerafall  konstatiert  wurde,  aber 
kein  neuer  in  den  letzten  sieben  Tagen. 

Solche  Schiffe  sind  unterworfen:  der  ärztlichen  Visite,  der 
Desinfizierung  der  Wäsche  und  eventuell  anderer  Gegenstände 
der  Passagiere,  ferner  jener  Teile  des  Schiffes,  welche  vom  Sani¬ 
tätsamt  als  verseucht  erklärt  werden,  endlich  der  Entleerung 
des  Kielwassers  nach  vorheriger  Desinfektion  desselben.  Es  kann 
die  Entleerung  menschlicher  Fäkalien  in  das  Hafenwasser  ohne 
vorherige  Desinfektion  untersagt  werden.  Die  Passagiere  und 


Mannschaft  kann  einer  Beobachtung  nicht  über  fünf  Tage  unter¬ 
worfen  werden. 

Verdächtige  Schiffe  dürfen,  falls  ein  Arzt  und  ein 
Desinfektionsapparat  an  Bord  ist  und  das  Entsprechende  veran¬ 
läßt  wurde,  den  Kanal  von  Suez  in  Quarantäne  passieren,  falls 
die  Desinfektion  irgendwo  durchgeführt  wurde,  Postschiffe 
und  Paket  boote,  welche  Passagiere  befördern,  welche  einen 
Arzt,  aber  keinen  Desinfektionsapparat  mitführen,  dürfen  unter 
denselben  Bedingungen  den  Kanal  passieren.  Selbst  dann,  wenn 
der  letztere  Fäll  gegeben  ist  und  ein  Cholerafall  sich  vor 
sieben  Tagen  vor  Eintreffen  des  Schiffes  ereignete,  die  vorge- 
schriehenen  Maßnahmen  in  Suez,  Port- Said  oder  Alexandrien, 
durchgeführt  wurden,  kann  das  freie  Geleite  erteilt  werden.  Auch 
bei  Frachtdampfern  kann  der  gleiche  Vorgang  unter  gleichen 
Bedingungen  eingeschlagen  werden,  seihst  wenn  kein  Arzt  an 
Bord  ist.  | 

Als  verseucht  wird  ein  Schiff  betrachtet,  auf  welchem 
ein  oder  mehrere  Cholerafälle  innerhalb  der  letzten  sieben  Tage 
konstatiert  wird.  Hier  wird  folgender  Vorgang  eingeschlagen: 
1.  ärztliche  Visite,  2.  sofortige  Ausschiffung  und  Isolierung  der 
Kranken,  3.  Ausschiffung  aller  übrigen  Personen  und  Beobachtung 
derselben  bis  zu  fünf  Tagen,  4.  Desinfektion  der  Wäsche  und 
jener  Objekte,  welche  die  Sanitätsbehörde  als  infiziert  erachtet, 
6.  das  Kielwasser  wird  nach  Desinfektion  entleert.  Verseuchte 
Schiffe  werden,  je  nachdem  sie  ohne  Arzt  und  Desinfektion  oder 
mit  solchen  versehen  sind,  verschieden  behandelt.  Die  ersteren 
haben  verschiedene  Erleichterungen,  während  bei  den  letzteren 
die  Desinfektion,  Isolierung  der  Kranken  und  Beobachtung  der 
Gesunden  streng  durchgeführt  wird  (Artikel  13).  Ebenso  kann 
jedem  infizierten  Dampfer  die  Passage-  des  Kanals  in  Quarantäne 
gestattet  werden,  wenn  die  Desinfektion  stattgefunden  hat,  die 
Kranken  und  Verdächtigen  ausgeschifft  sind.  Die  Kranken  werden 
dann  isoliert  und  behandelt  und  erst  dann  entlassen  (Artikel  15, 
16,  17,  10),  wtenn  der  Arzt  jede  Gefahr  als  ausgeschlossen 
erklärt.  ’  ‘ !  i  i  !  ill 

Ganz  ähnlich  sind  die  Vorschriften  bei  Ausbruch  von  Pest¬ 
epidemien,  bzw  Konstatierung  eines  oder  mehrerer  Erkran¬ 
kungsfälle  an  Bord  eines  Schiffes;  nur  daß  in  diesem  Falle  sich 
die  Beobachtungs-  und  Quarantänedauer  auf  sieben  bis  zehn  Tage 
erstreckt  und  nebst  allen  anderen  auch  hei  Cholerafäilen  vorge- 
schriebenen  D-esinfektionsmaßnahmen  auch  die  Vertilgung  der 
Ratten  verlangt  wird.  Es  'sei  hier  bemerkt,  daßi  derzeit  gewöhnlich 
die  Vertilgung  durch  Kohlensäure  bewirkt  wird,  wobei  es  aller¬ 
dings  vorkommt,  daß-  einzelne  Tiere  diese  Prozedur,  selbst  wenn 
sie  noch  so  sorgfältig  gemacht  wird,  überleben. 

Ein  eigenes  Reglement  bestimmt  die  Transite,  sei  es 
der  Schiffe  durch  den  Kanal  von  Suez,  sei  es  solche  zu  Land 
in  Eis-e-nbahnzügen.  Die-  letzteren  werden  durch  ein  eigenes  Sa¬ 
nitätsorgan  überwacht,  welches  im  Bedarfsfälle  derartige  Fälle 
auswaggoniert  und  dem  Quarantänespital  übergibt,  den  betreffen¬ 
den  Wagen  ausschaltet  und  desinfizieren  läßt. 

Die  Vorschrift,  bezüglich  der  Frachten,  des  Gepäckes  der 
Reisenden  und  der  Poststücke,  geht  mit  Recht  von  dem  Grund¬ 
sätze  aus,  daß  dieselben  als  Zwischenträger  der  Cholera  und 
Pest  nur  insoferne  in  Frage  kommen  können,  als  dieselben  irgend¬ 
wie- mit  Infektionsmaterial  in  Berührung  gekommen  sind;  demnach 
wird  die  Desinfizierung  nur  doit  durchgeführt,  wo  es  die  Sanitäts¬ 
behörde  für  geboten  erachtet.  Immerhin  kann  die  Desinfektion 
gewisser  Gegenstände,  ganz  unabhängig  davon,  ob  sie  als  in¬ 
fiziert  betrachtet  werden  können  oder  nicht,  durchgeführt  werden. 
Hiezu,  gehören:  unreine  Wäsche,  Kleidungstücke,  Fetzen.  Waren, 
welche  nachweislich  vor  Ausbruch  einer  Epidemie  aus  dem  be¬ 
treffenden  Ort  abgesendet  wurden,  unterliegen  keiner  D-esinfek-j 
tion.  Havarierte  Waren  auf  Pestschiffen,  welche  mit  Batten  in 
Berührung  waren,  können  auf  zwei  Wochen  ins  Depot  gelegt 
werden,  wobei  angenommen  wird,  daß  die  Lebensdauer  der  Pest¬ 
bazillen  diese  Zeit  nicht  überschreitet. 

V. 

Im  Sinne-  der  Des infektions Vorschrift  darf  die  Des¬ 
infektion  nur  unter  tunlichster  Schonung  der  zu  desinfizierenden 
Objekte  statt  finden.  Diese  werden  von  Fall  zu  Fall,  von  der 
Sanitätsbehörde  bestimmt.  Abgesehen  hievon  müssen  jederzeit 
auf  Verlangen  desinfiziert  werden:  Leibwäsche,  getragene  Kleider, 
komprimierte  Abfälle  von  Kleidungs-  und  Wäschestücken,  welche 
als  Waren  transportiert  werden.  Drucksachen  unterliegen  keiner 
Desinfektion. 

Die  obenerwähnten  Objekte,  Bettzeug  und  ähnliches,  sind 
mittels  Wasserdampf  unter  Druck  derart  zu  desinfizieren,  daß 
ein  Maximal-  oder  Signalthermometer  eine  Temperatur  von  110° 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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im  Inneren  dieser  Objekte  anzeigt;  es  wird  empfohlen,  diese 
Temperatur  dann  durch  20  Minuten  einwirken  zu  lassen. 

Als  Desinfektionsflüssigkeiten  kommen  in  Betracht,  eine 
Sublimatlösung  von  l%o,  welche  durch  Anilin  gefärbt  ist;  5°/oige 
reine  Karbolsäure;  20°/oige  Kalkmilch;  eine  Mischung  von  roher 
Karbolsäure  5  Teile,  Kaliseife  5  Teile,  warmes  Wasser  100  Teile, 
diese  Lösung  möglichst  warm  anzuwenden;  endlich  heiße  10  bis 
20°>ige  Sodalösung. 

Die  Desinfektionsobjekte  werden  durch  fünf  Minuten  in 
die  Sublimatlösung  getaucht,  im  Sterilisationsofen  neuerlich  des¬ 
infiziert  und  .dann  in  Säcke  gebracht,  welche  vorher  in  L°/00 
Sublimatlösung  getaucht  waren.  Gegenstände,  welche  durch  den 
Dampf  beschädigt  werden  könnten,  wie  Leder,  Holzwaren,  Samt, 
Pelzwaren,  werden  mit  Sublimatlösung  gebürstet.  Die  Karbolsäure 
wird  dort  angewandt,  wo  weder  Dampf  noch  Sublimat  ohne  Schä¬ 
digung  der  Gegenstände  gebraucht  werden  können,  z.  B.  bei 
.Metallen,  Instrumenten.  Die  Kalkmilch  kommt  speziell  in  Be¬ 
tracht  bei  Desinfektion  von  Dejekten.  Die  Karbolseifenlösung  wird 
angewandt  bei  Desinfektion  von  Lokalen.  Die  Kalkmilch  kommt 
ferner  in  Anwendung  bei  den  Kielwässern,  nach  einer  eigenen 
V'oi'schrift,  welche  die  Quantität  der  zu  desinfizierenden  Flüssig¬ 
keit  in  Betracht  zieht.  Die  Kabinen  Choleraverdächtiger  oder 
Kranker,  werden  mit  einem  Spray  aus  einer  Sublimatlösung, 
welcher  10%iger  Alkohol  zugesetzt  ist,  derart  behandelt,  daß 
auf  allen  Gegenständen  eine  dünne  Flüssigkeitsschicht  zu  sehen  ist. 

Die  Pariser  Konferenz  im  Jahre  1905  hat  diese  Vorschriften 
noch  ergänzt;  nach  dieser  sind  alle  gebrauchten  Kleider  und 
ähnliches,  zu  verbrennen.  Statt  des  Dampfes  unter  Druck,  ist 
strömender  Dampf  anzuwenden.  Bei  Gegenständen,  welche  in 
Desinfektionslösungen  getaucht  werden  können,  kommen  in  Be¬ 
tracht,  eine  Sublimatlösung  l%o,  Phenolsäure  3%ig,  Lysol  und 
Cresyl  3°/oig,  Formol  1%  der  käuflichen  40%igen  Lösung,  unter¬ 
chlorigsaures  Natrium  oder  Kalium  l°oig.  Alle  diese  Lösungen 
müssen  entsprechend  lange  einwirken. 

Bezüglich  der  Vernichtung  der  Ratten  wird  empfohlen,  ein 
Gemisch  von  schwefliger  und  unterschwefliger  Säure;  ein  Ge¬ 
misch  von  Kohlenoxyd  und  Kohlensäure;  endlich  Kohlensäure. 
Di(>  Vernichtung  der  Ratten  ist  zu  konstatieren. 

Mit  ganz  besonderen  Desinfektionsanlagen  ist  das  unter 
der  Leitung  des  umsichtigen  Direktors  Dr.  Batko  stehende  Sa- 
nitätsamt,  in  Suez  ausgestattet.  Diese  Anlagen  gehören  wohl 
zu  den  größten  der  Welt,  mit  Hinblick  auf  die  Pilgerzüge  aus 
und  nach  dem  Hedjaz  und  der  Einbruchspforte  aus  Indien. 

Die  Züge  führen  bis  zur  Desinfektionsanstalt,  welche  auch 
einen  eigenen  Molo  besitzt.  Vier  große  horizontale  Desinfek¬ 
toren  sind  durch  eine  Wand  geschoben  derart,  daß  auf  der  einen 
Seite  die  zu  desinfizierende  Kleidung  hineingeschoben  und  auf 
der  anderen  Seite  nach  stattgehabter  Prozedur  herausgenommen 
wird.  Auf  der  einem  Seite,  der  den  ganzen  Mittelraum  einnehmen¬ 
den  Anlage,  ist  die  Untersuchungsstelle  für  Männer,  auf  der 
anderen  die  für  die  Frauen.  Die  letzteren  werden  von  zwei 
Aerztinnen,  denen  ein  sehr  geschultes  weibliches  Sanitätspersonal 
beisteht,  untersucht.  Nach  vollständiger  Entkleidung  wird  nun 
jede  einzelne  Person  gründlich  untersucht,  geduscht,  mit  einem 
von  ddr  Sanitätsverwaltung  beigestellten  reinen  Hemd  versehen, 
dann  erst  in  einen  großen  Raum  geführt,  wo  dann  die  Trocknung 
der  desinfizierten  Kleidungsstücke  und  Wäsche  erwartet  wird. 
Ich  habe  einen  Zug  von  1400  Pilgern  derart  in  14  Stunden 
desinfizieren  gesehen. 

Hie  letzten  Forschungen  auf  dem  Gebiet  der  Schiffsdesinfek- 
fion  sind  allerdings  noch  nicht  in  Betracht  gezogen.  Die  neueren 
Arbeiten  von  Flügge,1)  Schyening,2)  Erhard  Glaser,3) 
welche  die  Formol-,  F orm  an-,  Autandesinfektion  als  die  über¬ 
legenste  bei  der  Desinfektion  von  bewohnten  Räumen,  erscheinen 
lassen,  sind  noch  nicht  ausreichend  gewürdigt. 

Die  Sanitätsstation  von  Suez,  welcher  auch  die  einige 
Kilometer  weitliegende  Station  an  den  Mosesquellen  untersteht, 
bildet  den  Gegenstand  besonderer  Fürsorge  des  internationalen 
Sanitütskonseils  und  ist  dieselbe  auch  mit  der  größten  Zahl  von 
Verzten  sieben  bis  acht  —  dotiert.  Die  Isolierungs-  und  Des¬ 
infektionsstation  an  den  Mosesquellen  allein,  hat  drei  Desinfek¬ 
tionsapparate  und  je  ein  Isolierspital  für  Cholera  und  Pest,  jedes 
zn  zwölf  Betten,  welche  voneinander  isoliert  sind;  außerdem 
Huschen,  Bäder,  im  Bedarfsfälle  noch  eine  Anzahl  Baracken, 
■in  Trink  Wasserreservoir. 

Die  sanitäre  Wichtigkeit  von  Suez  liegt  wie  bereits  bemerkt, 
ui  dem  Umstande,  daß  sowohl  alle  aus  Indien,  dem  Lande  der 
endemischen  Cholera  und  Pest  und  aus  China  kommenden  Schiffe, 

')  Zeitschr.  für  Hygiene  und  Infektionskrankheiten,  Bd.  35. 

2)  Zentralblatt  für  Bakteriologie,  Rd.  50. 

*)  Das  österr.  Sanitätswesen  1908.  R.  392. 


als  auch  alle  nach  Mekka  gehenden  und  von  dort  zurückkehrenden 
Pilgerkarawanen  diesen  Ort  berühren  müssen  und  einer  sanitären 
Kontrolle  nicht  entgehen  können. 

Die  hygienisch  gewiß  zu  rechtfertigende  Aufsicht,  welche  den 
Karawanen  zuteil  wird,  erfolgt  sowohl  wegen  der  bei  ihnen  herr¬ 
schenden  Unreinlichkeit,  als  auch  Gleichgültigkeit  gegen  irgend¬ 
welche  hygienische  Vorkehrungen.  Als  Pilgerschiff  wird  nur  ein 
solches  betrachtet,  welches  außer  seinen  anderen  Passagieren 
mehr  als  einein  Pilger  pro  100  Dampfertonneu  an  Bord  hat. 
Jeder  Pilger  muß  im  Zwischendeck  wenigstens  1-5  nr  Raum  haben 
und  ist  für  Unterbringung  und  Isolierung  Infektionserkrankter 
Sorge  zu  tragen.  Ist  das  Pilgerschiff  nicht  rein,  gut  gelüftet,  mit 
gutem  Trinkwasser  versorgt,  mit  Wasserdestillations-  und  Des¬ 
infektionsapparat  versehen,  so  erhält  es  nicht  die  Erlaubnis! 
zur  Abfahrt.  Ein  Arzt  und  wenn  über  1000  Pilger,  ein  zweiter 
Arzt,  hat  mitzufahren  und  sich  täglich  von  der  Einhaltung  der 
hygienischen  Vorschriften,  der  Desinfektion  der  Aborte,  vom 
tadellosen  Zustand  des  Trinkwassers  zu  überzeugen.  Für  Cholera¬ 
oder  Pestkranke  oder  -verdächtige  sind  Krankenwärter  bestellt, 
welche,  falls  sie  in  Aktion  treten,  ebenso  zu  isolieren  sind,  wie 
die  Erkrankten.  Langt  das  Schiff  in  unverdächtigem  Zustand 
in  El-Tor,  der  Beobachtungsstation  für  Mekka  an,  so  erhält  es 
nach  Desinfizierung  der  Pilger  und  deren  Habseligkeiten  in  ähn¬ 
licher  Weise,  wie  in  Suez,  freies  Geleite.  Ist  ein  Verdächtiger, 
bzw.  Cholera-  oder  Pestkranker  an  Bord,  so  wird  er  ausge¬ 
schifft  und  ins  Isolierspital  gebracht,  die  anderen  in  kleinen 
Gruppen  isoliert,  das  Schiff  —  wenigstens  teilweise,  nach  Ver¬ 
fügung  der  Sanitätspersonen  —  desinfiziert  und  alles  durch 
sieben  Tage  in  Beobachtung  belassen;  diese  Zeitdauer  kann 
aber  auch  verringert  werden. 

Die  ruckkehrenden  Pilger  unterliegen  ebenfalls  einer  Beob¬ 
achtung  und  Desinfektion,  eventuell  Isolierung,  falls  ein  Ver¬ 
dächtiger-  oder  Erkrankungsfall  vorgekommen  ist,  einer  sieben¬ 
tägigen  Beobachtung. 

* 

In  einem  Anhänge  sind  die  Quarantänevorschriften  bezüglich 
der  Tiere,  verfaßt  von  dem  ausgezeichneten  Kenner  der  Veterinär¬ 
verhältnisse  in  den  Tropen  Dr.  Littlewood,  enthalten.  Nach 
denselben  werden  größere  Tiere:  Esel,  Pferde,  Kamele,  falls  sie 
unverdächtiger  Herkunft  sind,  einer  tierärztlichen  Visite,  kleinere 
Tiere,  wie  Hammel,  Schafe,  unter  allen  Umständen  auch  einer 
24stündigein  Beobachtung  unterzogen.  Verdächtige  oder  infizierte 
große  Tiere  müssen  in  der  Quarantäne  geschlachtet  werden. 
Dies  gilt  insbesondere  von  großen  Tieren,  welche  an  infektiöser 
Pleuro-Pneumonie,  Milzbrand  erkrankt  oder  mit  so  erkrankten 
Tieren  in  Berührung  waren.  Tiere,  welche  aus  einem  Lande 
kommen,  in  welchem  Maul-  und  Klauenseuche  herrscht,  werden, 
falls  sich  keine  Erkrankung  unter  ihnen  zeigt,  nach  sieben¬ 
tägiger  Beobachtung  freigegeben.  Unter  gleichen  Umständen 
müssen,  Schafe  und  Hammel,  an  deren  Ausgangsort  Schafblattern 
herrschten,  14  Tage,  Tiere,  welche  aus  rotzverseuchten  Ländern 
kommen,  bis  zur  Konstatierung  dels1  Resultates  der  Malleinimpfung, 
endlich  Schweine  aus1  Gegenden,  wo  Schweinerotlauf  oder  infek¬ 
tiöse  oder  Pneumoenteritis  herrscht,  durch  48  Stunden  beobachtet 
werden.  Wird  unter  den  Beobachteten  ein  Erkrankungsfall  kon¬ 
statiert,  SO'  ist  das  Tier  zu  schlachten,  das  Fleisch  kann  aber 
unter  Umständen  freigegeben  werden,  ebenso  dasjenige  der  Tiere, 
welche  mit  den  Infizierten  in  Berührung  kamen.  Nach  jeder 
Beobachtungsfrist  sind  die  Quarantänestationen  zu  desinfizieren. 
Häute  von  Tieren  stammend,  welche  wegen  einer  der  erwähnten 
Krankheiten  geschlachtet  wurden,  werden  erst  freigegeben,  nach¬ 
dem  sie  gegerbt  sind,  solche  aus  infizierten  Ländern  überhaupt 
nicht  zugelassen. 

VI. 

Aus  diesen  Reglements  ergibt  sich,  daß  die  sanitäre  Ueber- 
wachung  das  Material  in  zwei  Gruppen  teilt  und  die  Maßnahmen 
trifft,  in  Ansehung:  1.  nach  der  Provenienz  des  in  Betracht  kom¬ 
menden  Untersuchungsmaterials :  a)  Beförderungsmittel,  b)  be¬ 
förderte  Passagiere,  c)  Waren.  2.  Nach  der  Art  der  Krankheiten. 

Ad  a.)  kommen  wohl  nur  Schiffe  in  Betracht,  da  nach 
Art.  22  der  Allgemeinen  Bestimmungen  des  Quarantäneregulativs 
Landquarantänen  nicht  errichtet  werden.  Die  Schiffe  werden 
in  drei  Kategorien  geteilt:  in  Paket-  und  Passagier-,  in  Fracht- 
und  in  Kriegsschiffe.  Die  Paketboote,  welche  die  Post  mitführen, 
sowie  die  Passagierdampfer,  soweit  sie  nicht  Pilgerschiffe  sind, 
haben  gewisse  Erleichterungen  in  der  Untersuchung,  sowohl  wie 
in  der  Beobachtung.  Im  Falle  einer  verdächtigen  oder  ausge¬ 
sprochen  infektiösen  Erkrankung,  ist  zwar  das  entsprechende 
vorzukehren,  doch  steht  es  bei  der  Sanitätsbehörde  nur  einzelne 
Teile  des  Schiffes  als  verseucht  zu  erklären.  Warendampfer  er- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


fahren  insoferne  eine  Erleichterung,  als  deren  Mannschaft  das  J 
Betreten  des  Landes  von  ihrem  Kapitän  untersagt  werden  kann. 
Die  Ausschiffung  der  Waren  aber,  in  Fällen  von  Pest  verdacht, 
kann  verboten  werden,  um  das  Mitschleppen  pestkranker  Ratten 
ans  Land  zu  verhindern. 

Die  größlen  Erleichterungen  werden  Kriegsschiffen  einge¬ 
räumt,  bei  welchen  die  eidesstattliche  Aussage  des  Arztes  genügt, 
um  freies  Geleite  zu  erlangen. 

Ad  b)  Bezüglich  der  Passagiere  wird  in  den  ägyptischen 
Häfen  ein  strenger  Unterschied  zwischen  solchen  der  ersten 
und  zweiten  und  jenen  der  dritten  Klasse  gemacht.  Zunächst 
werden  alle  Passagiere  gezählt  -  eine  einfache  polizeiliche  Ma߬ 
regel  —  und  hiebei  jene  der  ersten  und  zweiten  Klasse  mehr 
oder  weniger  flüchtig  angesehen;  die  Art  der  Untersuchung  ist  ganz 
dem  Ermessen  des  Hafenarztes  überlassen.  Es  bestehen  zwar 
diesbezüglich  Vorschriften,  doch  selbst  diese  räumen  —  mit 
Recht  —  dem  Arzt  eine  weitgehende  Freiheit  in  der  Art  der 
Untersuchung  ein.  Ist  eine  größere  Anzahl  von  Passagieren 
dritter  Klasse  vorhanden,  so  ist  der  Vorgang  in  den  verschiedenen 
Stationen,  nach  Anzahl,  Provenienz  und  Reiseziel,  verschieden. 
Am  strengsten  ist  die  Untersuchung  bei  Pilgern.  Der  Begriff 
Pilger,  ist  aber  nach  dem  Quarantäne-regulativ  dehnbar.  Erreicht 
die  Anzahl  der  Pilger  nicht  die  Zahl  von  1  pro  100  Brutto¬ 
schiffstonnen,  so  gelten  diese  nicht  als  Pilger,  selbst  wenn  sie 
von  Hedjaz  kommen  oder  dorthin  gehen;  ebensowenig  gelten 
jemals  die  Passagiere  erster  und  zweiter  Klasse  als  Pilger, 
sondern  nur  jene  der  dritten  Klasse.  Diese  Differenzierung 
ist  wohl  vom  hygienischen,  keineswegs  aber  vom 
epidemischen  Standpunkt  zu  rechtfertigen.  Die  Pas¬ 
sagiere  dritter  Klasse  werden  in  Port  Said,  bzw.  Suez  ausge¬ 
schifft,  sofern  sie  aus  Pilgerstätte-n  kommen  oder  dorthin  reisen, 
in  der  oben  erwähnten  Weise  gereinigt,  ihre  Effekten  desinfiziert 
und  ihnen  dann  erst  die  Weiterfahrt  gestattet.  So  sehr  nun 
diese  Maßregel  als  hygienisch  wünschenswert  aufzu¬ 
fassen  ist,  da  sie  doch  der  Reinlichkeit  Rechnung 
trägt,  so  gering  ist  ihr  epidemiologischer  Effekt.  Die  U eber¬ 
trag  ungsmöglichkeit  einer  Epidemie  durch  d i e  Haut¬ 
decken  oder  durch  Effekte n ,  bildet  g e w i ß-  n u r  eine n 
ganz  geringen  Bruchteil  der  übrigen  Infektions¬ 
gelegen  h  ei  ten,  ganz  abgesehen  davon,  daß  die  Ausschal¬ 
tung  dieser  Infektionsgelegenheit  nur  für  wenige  Tage, 
wenn  nicht  Stunden  sich  erg  ©stellt  ist. 

Das  Individuum  selbst  zu  desinfizieren,  ist  aber 
unmöglich.  In  dem  vorstehenden  Regulativ  wird  als 
Basis  der  Beobachtungsdauer  verdächtiger  oder  infizierter  Fälle 
die  Zeit  von  fünf  bis  sieben  Tagen  angenommen,  von 
der  Ä n  s i c  h  t  au sg ehen d,  daß-  d i  e  Inkub ati  ons d  a uer  de r 
Cholera,  bzw.  Pest,  diesen  Zeitraum  umfasse.  Nach 
der  einwandfrei  von  vielen  Seiten  bestätigten  Erkenntnis  von 
den  gesunden  Bazillenträgern  läßt  sich  diese  A h- 
nahm-e  nicht  mehr  aufrechthalten.  Wir  können,  falls 
ein  ans  einem  Choleraherd  Zugereister  fünf.  Tage 
nach  d  ©  m  Verlas  s  en  des  Ortes  erkrankt,  nicht  m  i  't 
Bestimmtheit  behaupten,  daß  die  Inkubationsfrist 
nur  fünf  Tage  betragen  könne,  da  die  Infektion  früher 
oder  später  von  einem  gesunden  Bazillenträger  er¬ 
folgt  sein  konnte,  ja  der  Erkrankte  selbst  die  Infek¬ 
tionserreger  ohne  klinische  Symptome  kürzere  oder 
längere  Zeit  be  herbergt  haben  konnte  und  diese  erst 
durch  günstige  Umstände  in  ihrem  Wirt  virulent 
wurden. 

Ars  diesem  Grunde  ist  auch  die  sogenannte  „Ueb-erwachung“ 
der  Passagiere  der  ersten  und  zweiten  Klasse  illusorisch.  Die 
aus  den  ägyptischen  Häfen  ins  Land  Reisenden  haben  ihre 
Adressen  abzugeben  und  werden  an  ihrem  Reiseziel  natürlich 
unauffällig  überwacht.  Eine  Konstatierung  ob  sie  etwa  ge¬ 
sunde  Bazillenträger  sind,  erfolgt  nicht  und  kann 
a uch  derzeit  n i c h t  erfolg e n.  Trotzdem  ist  diese  Möglichkeit 
sehr  naheliegend  und  diese  gesunden  Bazillenträger 
sind  zweifellos  in  vielen  Fällen  die  Verbreiter  v o n 
Epidemien,  insbesondere  der  Cholera.  Daß  dies  bezüg¬ 
lich  aller  Passagiere  ohne  Unterschied  der  Klasse  gilt,  muß  wohl 
nicht  erst  erörtert  werden.  Bei  allen  Vorsichtsmaßregeln,  selbst 
bei  der  größten  Gewissenhaftigkeit  der  ohne  Ausnahme  sehr  tüch¬ 
tigen  und  verläßlichen  Hafen-  und  Quarantäneärzte,  wird  daher 
Verbreitung  von  Epidemien  unter  den  Negern  durch 
gesunde  Bazillenträger  durch  die  bestehenden  Ma߬ 
nahmen  nicht  zu  verhüten  sein.  Nur  nebstbei  sei  bemerkt, 
daß  Kinder  unter  acht  Jahren  aus  humanitären  Rücksichten  von 
dein  Aufenthalt  in  Isolierspitälern  befreit  sind,  was  ebenfalls 
in  sanitätspolizeilicher  Hinsicht  bedenklich  ist. 


2.  Nach  Artikel  3  und  4  der  allgemeinen  sanitätspolizei¬ 
lichen  Bestimmungen  des  Quarantänereglements  kommen  in  Be¬ 
tracht  bezüglich  Abwehrmaßregeln  Cholera,  Pest  und  Gelbes 
Fieber.  Nur  noch  Typhus  und  Blattern  können  ausnahmsweise 
und  in  beschränktem  Maße  zu  Vorkehrungen  Anlaß  geben.  Der 
übrigen  Infektionskrankheiten,  der  akuten  Exantheme,  ist  über¬ 
haupt  keine  Erwähnung  getan,  da  die  Ohnmacht  der  Prohibitiv- 
maßregeln  diesen  gegenüber  zu  offenkundig  ist,  um  auch  nur 
versucht  zu  werden. 

Aber  selbst  von  den,  den  Vorschriften  unterliegenden  Krank¬ 
heiten,  kommt  zunächst  das  Gelbe  Fieber  kaum  in  Be¬ 
tracht.  Schon  der  Umstand,  daß  Schiffe-  von  dem  Heimats¬ 
orte  desselben  bis  zum  nächsten  europäischen  Hafen  wenigstens 
zwölf  Tage  brauchen,  eine  Zeitdauer,  welche  die  Inkubationszeit 
wahrscheinlich  übersteigt,  läßt  die  Isolierung  des  Schiffes  und 
der  Kranken  als  leicht  durchführbar  erscheinen,  falls  sich  auf 
der  Ueberfahrt  ein  Krankheitsfall  ereignen  sollte.  Aber  auch 
die  Rolle,  welche  ein  gesunder  Bazillenträger  allenfalls  bezüglich 
der  Uebertragung  spielen  kann,  ist  bei  dem  Infektionsmodus  des 
Gelben  Fiebers  nicht  von  Bedeutung. 

Weit  ernster  liegen  die  Dinge  bezüglich  der  Pest.  Allein 
auch  bei  dieser  Krankheit  ist  die  Gefahr  einer  Einschleppung 
nach  Europa,  bzw.  das  Entstehen  einer  größeren  Epidemie,  keines¬ 
wegs  so  groß,  wie  allgemein  geglaubt  wird.  Die  Tatsache,  daß 
Europäer  weit  widerstandsfähiger  gegen  Pest  sind  als  Eingeborene, 
ist  allen  Pestärzten  Indiens  bekannt.  Die  Motivierung,  daß-  Einge¬ 
borene  in  Indien  wegen  ihrer  hygienisch  beispiellos  schlechten  Le¬ 
bensverhältnisse,.  Mangel  an  Licht,  Luft  und  Nahrung,  einen  besser 
vorbereiteten  Boden  für  die  Pestepidemie  bilden,  trifft  gewiß 
zu,  bietet  aber  keine  ausreichende  Erklärung,  warum  Europäer 
nur  selten  und  auch  dann  nur  zumeist  leicht  von  der  Pest  er¬ 
griffen  werden.  Es  gibt  Fälle,  in  welchen  Europäer  mit  leichtem 
Fieber  und  Drüsenschwellungen  ihren  Geschäften  nachgehen  und 
den  Arzt  erst  bei  stärkerem  Unwohlsein  oder  wenn  die  Drüsen 
vereitern,  aufsuchen.  In  Aegypten  nehmen  diese  Erkrankungen 
bei  Europäern  höchst  selten  tödlichen  Ausgang,  was  zweifellos 
nur  als  eine  rassenmäßig  größere  Widerstandskraft  zu  deuten 
ist.  Den  besten  Beweis  für  diese  Tatsachen  bietet  der  Verlauf 
der  Pestepidemie  in  Odessa,  wenn  man  von  einer  solchen  sprechen 
kann.  Mit  Ausnahme  der  wenigen  Fälle  von  Lungenpest,  welche 
-  auch  bei  Europäern  fast  immer  tödlich  verläuft,  erkrankten 
im  Verlaufe  mehrerer  Monate  in  Odessa  wenig  über  hundert 
Personen  an  Pest,  so  daß  eigentlich  von  einer  Epidemie  kaum 
gesprochen  werden  kann  und  jedenfalls,  ohne  daß-  besondere 
sanitäre  Maßnahmen  in  Anwendung  gekommen  wären,  eine  W  eiter¬ 
verbreitung  auf  andere  Orte  nicht  erfolgt  ist.  Auch  dürften  ge¬ 
sunde  Bazillenträger  bei  der  Verbreitung  der  Pest  nach  der  Natur 
der  Sache  kaum  eine  Rolle  spielen. 

Die-  A  b w e h rm aßae-g e  1  n  gegen  Cholera  sind  demnach 
diejenigen,  welche  die  größte  Aufmerksamkeit  erfordern.  W  ie 
erwähnt,  ist  in  dem  bestehenden  Reglement  den  gesunden  Ba¬ 
zillenträgern  keine  Rechnung  getragen.  Die  Untersuchung 
der  Schiffspassagiere  kann,  eklatante  Fälle  mit  manifesten  Sym¬ 
ptomen  ausgenommen,  eine  Aufklärung  hierüber  nicht  verschaffen. 
Di©  Art  der  Untersuchung  der  Passagiere  von  seiten  der 
Hafenamtsärzte  ist  denn  auch  eine  sehr  verschiedene.  Das  Qua¬ 
ranta  nereglc-m  ent  hat  der  individuellen  Auffassung  des  Unter¬ 
suchenden  -eine  weise  Dehnbarkeit  und  freien  Spielraum  ge¬ 
lassen,  da  die  ergänzenden  Verordnungen  ganz  allgemein  gefaßt 
sind.  Bei  aller  Tüchtigkeit  und  Gewissenhaftigkeit  der  Hafenärzte 
liefert  schon  die  Art  der  Untersuchung  das  Geständnis-  der  Un¬ 
möglichkeit,  sofort  zu  einer  Erkenntnis  zu  gelangen. 

Das  genaue  Zählen  der  Passagiere  ist  eine  bedeutungslose 
polizeiliche  Maßregel,  welche  obendrein  der  eidesstattlichen  Er¬ 
klärung  d-e-s  Kapitäns  ein  beleidigendes  Mißtrauen  entgegensetzt. 
Sodann  die  Visitierung:  In  einem  kleinen  Hafen  einer  Mittel- 
me-erinscl  untersuchte  der  Hafenarzt  die  Passagiere  einesi  aus 
Syrien  kommenden  Dampfers,  im  Herbste  vorigen  Jahres,  auf 
Pest,  indem  er-  jedem  den  Puls  fühlte  und  nach  Drüsen  forschte. 
Tn  Brindisi  hielt  sich  der  Hafenarzt  an  dem  Artikel  7  des 
Gholerareglements,  wonach  Dejektionen  zu  desinfizieren  sind, 
bevor  sie  in  das  Hafenwasser  geleitet  werden,  dürfen  und  ließ, 
obwohl  Brindisi  seit  W^ochen  choleraverseucht,  an 
diesem  Tage  mehrere  neue  Cholerafälle  hatte, _  die 
Schiffsähorte  desinfizieren  und  keinen  Passagier  des  mit  reinem 
Patent  eingelaufcnen  Schiffes  früher  ans  Land  steigen,  ln  dem 
indischen  pest-  und  choleraverseuchten  Hafen  Karachi  wurden 
alle  Schiffsinsassen,  nachdem  das  Schiff  dort  2Va  Tage  gelegen  war, 
auf  Pest  untersucht.  In  Colombo  erhalten  alle  von  dem  ver¬ 
seuchten  Hafeai  von  Karachi  kommenden  Passagiere  erster  und 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


205 


zweiter  Klasse  einen  Erlaubnisschein  zum  Verlassen  des  Schiffe-, 
Weiterreisönde  Passagiere  dritter  Klasse  dürfen  nicht  aussteigen. 

VII. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  es  im  Bereiche  der  Möglichkeit  liegt, 
die  Untersuchung  derart  auszugestalten,  daß  sie  dem  eigentlichen 
Zwecke  derselben,  die  Träger  der  Krankheitskeimei  so  rasch  zu 
erkennen,  daß  sie  rechtzeitig  isoliert  und  unschädlich  gemacht 
werden,  entspräche.  Die  derzeitigen  Quarantänevorschriften  für 
Schiffe  können  nur  als  eine  sanitätspolizeiliche  Maßregel  be¬ 
trachtet  werden,  welche  in  epidemiologischer  Richtung  wenig 
leistet  und  in  vielen  Fällen  ungeeignet  ist,  den  Ausbruch,  bzw.  die 
Verbreitung  einer  Epidemie,  zu  verhindern.  Anderseits  sind 
Quarantänevorschriften  zu  Lande,  wie  im  Regle¬ 
ment  festgelegt  wird,  nicht  dur  chz  uf  ü  hren.  Wollte 
man  dies  auch  nur  in  der  jetzt  bestehenden  Weise  ver¬ 
suchen  und  die  E  isenb  a  h'n  gr  en  z  s  t  a  t  i  o  n  e  n  mit  Qua¬ 
rantäne  Vorkehrungen  ausrüsten  und  in  Betrieb 
setzen,  so  würde  dies  einerseits  eine  Stockung  im  Verkehr  hor- 
vorrufen,  anderseits  derartige  Geldmittel  erfordern,  daß  die  auf¬ 
gewendeten  Geld-  und  Zeitopfer  zu  den  erreichbaren  Vorteilen 
in  keinem  Verhältnisse  stünden,  immer  vorausgesetzt,  daß  nicht 
anderweitige  unüberwindbare  Schwierigkeiten  die  Durchführung 
dieser  Maßregeln  überhaupt  unmöglich  machen. 

Die  ärztliche  Untersuchung,  wie  sie  derzeit  ge¬ 
übt  wird,  ist  schon  aus  Mangel  au  Zeit  ungeteig-net, 
ersprießliches  zu  leisten. 

Soll  bezüglich  der  Cholera  die  Möglichkeit  gegeben  werden, 
Bazillenträger  zu  eruieren,  so  muß  Zeit  und  Untersuchung, s.: 
gelegenheit  vorhanden  sein.  Es  muß  soviel  Zeit  gewonnen  werden, 
die  Stühle  der  zu  Untersuchenden  bakteriologisch  zu  prüfen.  U  m 
di.es  zu  bewerkstelligen,  ohne  daßi  irgend  jemand 
einen  Zeitverlust  erleidet  und  die  Quarantänestati- 
onon  in  unmögliche  und  unhaltbare  Situationen  ge¬ 
bracht  werden,  wären  die  Unter  s’- uc  hu  ngs  static  neu 
auf  die  Schiffe  zu  verlegen.  In  Zeiten  von  Epide¬ 
mien  oder  der  Gefahr  des  Einbruches  einer  solchen, 
hätte  ein  bakteriologisch  geschulter  Amtsarzt,  mit 
einem  entsprechenden  kl e i n e n  b akter  io- logischen  L a- 
boratorium  - —  welches  ohne  besonderen  Aufwand 
an  Geldmitteln  in  der  auf  jedem  Dampfer  vorhau- 
denen  Apotheke  eingerich  te  t  werde  n  könnte  --  je  des 
Schiff  vom  europäischen  Ausfahrtshafen  bis  zum 
|  ersten  ägyptischen  Landungspunkt  und  auf  den  von 
!  Indien  und  China  kommenden  Dampfern  von  Aden 
bis  Suez  zu  begleiten.  Auf  dem  Wege  könnte,  selbst 
bei  einer  ganz  beträchtlichen  Passagier  zahl,  die 
Konstatierung  der  Bazillenträger  in  leichtester 
Weise  durch  eine  zweimalige  bakteriologische 
l  nters -uc hung  des  Stuhles  jedes  auf  dem  Schifft.' 
Befindlichen  vorgenommen  werden,  selbstverständ¬ 
lich  auch  in  dem  Falle,  als  sie  keine  Erkrankungis 
Symptome  zeigen.  Du  dem  ägyptischen  Hafen  wäre 
I  das  Ergebnis  der  Untersuchung  unter  voller  Ver¬ 
antwortung  des  untersuchenden  Arztes  der  Sani¬ 
tät  sbebrörde  zur  Kenntnis  zu  bringen;  jede  andere 
Untersuchung  könnte  dann  entfallen. 

Der  gleiche  Vorgang  wäre  auf  Pilgerschiffen  einziihalfen, 
wobei  die  Assanierung  der  Pilgerzüge,  wie  sie  in  Suez,  El -Tor 
und  so  weiter  geübt  wird,  aus  hygienischen  Gründen  beibehallen 
werden  könnte. 

Im  Falle  des  Auftretens  der  Cholera  in  den  Häfen  des 
Schwarzen  Meeres  müßten  die  Aerzte  von  diesen  Häfen  bis 
Konstantinopel  und  von  dort  wieder  bis  zum  Anlaufen  des 
erste»  österreichischen,  b'zw.  ungarischen  Hafens  die  Untersuchun¬ 
gen  vornehmen,  wobei  es  sich  empfehlen  würde,  den  ohnehin 
gelingen  Passagierdienst  im  Schwarzen  Meer  auf  wenige  Dampfer 
zu  beschränken. 

Wäre  dieser  Vorgang  durchführbar,  so  könnte  man  auch 
die  sa n i  1  ät spoli zeiliche  Ueberwachung  der  Landwege  ins  Urge 
fassen,  ln  diesem  Falle  kämen  allerdings  nicht  die  jewei¬ 
ligen  Landesgrenzen  in  Betracht,  sondern  jene  weit  aus¬ 
einanderliegenden,  daher  leichter  zu  kontrollierenden  Orte,  weiche 
dir  auf  dem  Landwege  aus  dem  asiatischen  Südosten  kommenden 
Reisenden  unbedingt  passieren  müssen.  Erfahrungsgemäß  ent¬ 
wickeln  sich  in  Europa  Choleraepidemien  nur  zeitweise  im 
Wege  der  Einschleppung  aus  Asien  oder  Aegypten.  Ist  einmal 
Rußland  verseucht,  so  wäre  es  ein  vergebliches  Bemühen,  durch 
Absperrung  der  Landesgrenzen  den  Einbruch  der  Epidemie  von 
dort  in  die  Nachbarländer  verhüten  zu.  wollen.  Verhütet  muß 
vielmehr  werden  der  Einbruch  nach  Rußland. 


In  Betracht  kämen  hier  zunächst  die  zwei  größten  Häfen 
am  Kaspischen  Meer,  das  heißt  die  entsprechenden  Häfen  an 
der  Südostseite  des  Kaspischen  Sees,  Baku  und  Astrachan.  Die 
l 'eherfahrt  mit  Dampfern  von  dort  dauert  ein  bis  zwei  Tage 
und  wären  die  für  Passagierdampfer  auf  dem  Mittelmeer  ange¬ 
gebenen  Maßnahmen  durchzuführen,  ferner  Haidar  Pascha  auf 
der  kleinasiatischen  Seite  des  Bosporus. 

Sodann  die  europäische  Grenzstation  der  Sibirischen  Bahn 
und  einige  Häfen  am  kleinasiatischen,  bzw.  kaukasischen  Ufer 
des  Schwarzen  Meeres.  Hier  könnte  die  Schaffung  einer  sanitäts- 
-  polizeilichen  Kontrolle  zu  Lande  in  der  Weise  versucht  werden, 
daß  zu  Zeiten  von  Epidemien,  bzw.  der  Gefahr  der 
Einschleppung  einer  solchen,  ein  mit  bakteriolo¬ 
gischem  Rüstzeug  versehener  A  r  z  t  12  b  i  s  24  S  t u  n  d  en 
vor  der  europäischen  Grenze  bis  zu  dieser  den  Zug 
begleitet  und  die  Dejekte  der  Passagiere  untersucht.  Die 
Bazillenträger  könnten  in  leichtester  Weise  unschädlich  gemacht 
werden;  auf  diese  Weise  wären  sogar  die  Maßregeln  auf  dem 
Schwarzen  Meere  selbst  einzuschränken,  vorausgesetzt,  daß'  die 
aus  den  Häfen  abgehenden  Reisenden  sich  zwölf  Stunden  vor 
ihrer  Abfahrt  der  bakteriologischen  Untersuchung  unterziehen. 
Würde  kein  Passagier  auf  diesen  Dampfern'  aufgenommen  werden, 
bzw.  auf  dem  Landwege  von  der  russisch  -  asiatischen  Grenze 
weiterbefördert  werden,  welcher  sich  nicht  mittels  amtlichen 
Zertifikates  von  der  stattgehabten  und  negativ  ausgefallenen  Unter¬ 
suchung  a us weisen  könnte,  so  wäre  vielleicht  in  Hinkunft 
der  Einbruch  der  Cholera  von  dieser  Seite  unmöglich  gemacht. 
Daß  bezüglich  der  Pest  und  des  Gelben  Fiebers  ähnliche  strenge 
Maßregeln  nicht  notwendig  erscheinen,  wurde  schon  ausgeführt. 

Dezember  1910. 


Diskussion. 


Aus  der  Kinderabteilung  des  k.  k.  Kaiser  FranzMoseph- 

Spitales  in  Wien. 

(Vorstand:  Primarius  Priv.-Doz.  Dr.  Paul  Moser.) 

Kritische  Bemerkungen  zur  Arbeit  von  G  Simon 
über  meine  Methode  der  Permanganattitration 
des  Liquor  cerebrospinalis. 

'  Von  Dr.  phil.  et  med.  Ernst  Mayerliofer. 

Im  dritten  Heftei  dieser  Zeitschrift  berichtet  G.  S  i  m  o  n 
über  seine  Resultate  mit  der  Permanganattitration  des  Liquor 
cerebrospinalis.  Er  erhob  mit  dieser  Methode  Befunde,  die  nach 
seiner  Ansicht  mit  meinen  Befunden  nicht  übereinstimmen 
sollen 

Vor  allem  möchte  ich  dein  absoluten  Wert  der  allerdings  nicht 
zahlreichen  Simon  schein  Untersuchungen  hervorheben,  indem 
seine  Zahlenwerte  im  allgemeinen  mit  den  meinen  überein- 
stimmen.  Auch  die  Ausnahmsbefunde  Simons  stimmen  im  all¬ 
gemeinen  mit  meinen,  inzwischen  wesentlich  erweiterten  Erfah¬ 
rungen  überein.  Im  speziellen  jedoch  sind  die  Schlußfolgerungen, 
die  Simon  namentlich  aus  steinen  Ausnahnilsbefunden  zieht, 
dadurch  so  falsch  geworden,  daß  er  den  klinischen  Verlauf  seiner 
Fälle  so  wenig  berücksichtigt  hat.  Auch  muß  besonders 
betont  werden,  daß  es  der  Nachun  tersuoher  unter¬ 
lassen  hat,  meine  Bemerkungen  zu  den  von  mir 
seinerzeit  veröffentlichten  Befunden  genau  zu  be¬ 
achten.  Ich  werde  daher  am  besten  die  von  Simon  gemachten 
Fehler  an  der  Hand  seiner  einzelnen  Fälle  besprechen. 

Fall  I.  (Drei  Jahre  alt,  Parakoli-Enteritis)  betrifft  ein 
jüngeres  Kind,  noch  dazu  mit  Enteritis;  ich  habe  doch  aus¬ 
drücklich  hervorgehoben,  daß  hei  akuten  Enteritiden  abnorm 
hohe  und  abnorm  schwankende  Werte  resultieren.  Ausi  meiner 
damals  noch  nicht  großen  Kasuistik  erhellt,  daß  bei  Teediät 
oder  Besserung  des  Darmzustandes  der  Reduktionswert  sinkt; 
gerade  dieser  Fall  hätte  dem  Nachuntersucher  durch  eine  zweite 
Punktion  Gelegenheit  gegeben,  seine  erste  irrtümliche  Meinung 
zu  korrigieren.  Statt  der  „aus  rein  e  xper  i  men  teil  en  (! )  Grün¬ 
den“  vorgenöm menen  Lumbalpunktionen,  wie  sie  Simon  ein 
gesteht,  wäretn.1  wohl  auch  noch  in  anderen  seiner  Fälle  diffe- 
rentiaidiagnostische  oder  therapeutische  Punktionen  am 
Platze  gewesen. 

Ich  habe  mir  seinerzeit  ausdrücklich  gerade  dieses  Gebiet 
für  eigene  Forschungen  reserviert.  Daher  wäre  es  am  Platze 
geweseh,  auf  meine  ausführliche  Publikation  zu  warten,  die 
korrekterweise  einer  „vorläufigen  Mitteilung“  folgen  muß.  Uebri- 


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gens  hätte  es  der  Uebereifer  des  Nachuntersuchers  doch  zulassen 
sollen,  in  unklaren  Fällen  den  Rat  des  Autors1  dieser  Methode 
sich  einzuholen. 

Fall  II  (Hydrocephalus  chronicus,  keine  Enteritis)  ergibt 
zuerst  einen  hohen  Wert,  nach  vier  Monaten  aber  das  typische, 
von  mir  festgestellte  normale  Verhalten;  daraus  kann  man  er¬ 
kennen,  daß  dieser  Fäll  anfänglich  noch  einen  Liquor  mit  wahr¬ 
scheinlich  entzündlichem  Charakter  darbot,  welche  Entzündung 
nach  vier  Monaten  eben  abgeklungen  ist.  Ein  ähnliches  Ver¬ 
halten  bietet  auch  eine  abheilende  Meningitis  epidemica,  eine  ab¬ 
klingende  Poliomyelitis  und  überhaupt  jeder  Genesungszustand 
von  meningealeU  Entzündungen  oder  Reizungen.  Aus  der  äußerst 
mangelhaften  Krankengeschichte  dieses  Falles  ist  aber  nicht  ein¬ 
mal  ersichtlich,  ob  es  sich  um  einen  chronischen  Hydrozephalus 
jüngeren  Datums  oder  um  einen  schon  länger  andauernden  Zu¬ 
stand  mit  akuter  Exazerbation  gehandelt  hat. 

Fall  III  betrifft  einein  fünfmonatigen,  hereditär-luetischen 
Säugling,  noch  dazu  mit  „Dyspepsie“.  Ich  vermisse  nähere  klini¬ 
sche  Angaben  über  den  Zustand  des  Magendarmtraktus  und  be¬ 
sonders  über  die  Art  der  Ernährung.  Ich  betonte  doch,  wie  wichtig 
der  Zuckergehalt  der  gereichten  Nahrung  werden  kann!  Ver¬ 
änderungen  des  Liquor  bei  Lues  sind  ja  bekannt.  Meine  Methode 
weist  geradezu  die  Richtung  für  neue  Untersuchungen.  Dies1  hätte 
bei  diesem  Falle  berücksichtigt  werden  sollen. 

Fall  IV  betrifft  wieder  ein  junges  Kind  mit  Enteritis;  ich 
vermisse  eine  zweite  Punktion,  welche  gerade  hier  imstande  ist, 
anzugeben,  wie  sich  der  Liquor  dem  Normalen  nähert,  wenn  die 
Enteritis  ausheilt.  > 

Fall  \  .  Ein  Grenzfall  (2-3);  ich  vermisse  die  weiteren 
Fraktionen  und  eine  zweite  entscheidende  Punktion.  Uebeirdies 
ist  dieser  Fall  klinisch  überhaupt  nicht  beschrieben ;  vor  allem 
vermisse  ich  aber  Angaben  über  den  Zustand  des  Gehörorganes 
(Otitis  ?). 

Fall  VI  betrifft  einen  Säugling;  wieder  vermisse  ich  kli¬ 
nische  Angaben  über  den  Verdauungszustand  und  über  die  Art 
der  Ernährung. 

Fall  VII  würde  ich  als  normalen  kennzeichnen,  ohne 
entzündliche  Merkmale  des  Liquor. 

Bei  Fall  XIV  übersah  der  Nachuntersucher  meine 
ausdrückliche  Bemerkung:  „Bei  den  meisten  Fällen  liegen 
die  Verhältnisse  des  Reduktionsindex  so  schematisch,  wie  sie  eben 
mitgeteilt  wurden  (nämlich  fallende  Tendenz  des  Reduktionsindex 
während  einer  einzigen  Punktion).  Bei  Anwesenheit  von  Soli- 
tärtuberkeln  in  der  Nähe  der  Hirnkammern,  ferner  bei  starkem, 
salzigem  Exsudat  an  der  Basis  oder  bei  einer  ausgedehnten 
Eiterkappe  an  der  Konvexität  kann  man  bei  lange  dauern¬ 
der  Punktion  s  c  h  1  i  e  ß  1  i  c  h  wieder  ein  pathologisches 
Ansteigen  des  Index  beobachten.“  Auch  diestes'  Thema 
habe  ich  mir  reserviert,  um  an  der  Hand  größeren  Materials 
eigene  Befunde  zu  bringen.  Auch  sägte  ich,  daß  man  zwischen 
zwei  Punktionen  einige  Zeit  warten  muß,  wenn  man  die  Sedi- 
mentierung  usw.  wieder  sich  darstellen  will. 

Betreffs  der  von  Simon  gebrachten  Fälle  von  Menin¬ 
gismus  im  Gefolge  von  Pneumonie  muß  ich  betonen,  daß  wieder¬ 
holte  Punktionen  gerade  in  diesen  Fällen  die  abklingende  Hirn- 
hautreizung  an  der  Hand  dels  fallenden  Index  anzeigen,  aus 
welchem  Verhalten'  eine  tuberkulöse  Meningitis 
sicher  ausgeschlossen1  werden  kann.  Ich  habe  ja  seiner¬ 
zeit  an  zwei  Enteritisfällen,  ferner  an  den  mit  Serum'  behandelten 
Meningitisfällen  diese  Art.  der  Beschreibung  des  Liquor  cerebro¬ 
spinalis  angedeutet. 

Wie  bei  sinngemäßer  Anwendung  die  von  mir  angegebene 
Methode,  gleichzeitig  heuristischen  Wert  und  differentialdiagno¬ 
stische  Bedeutung  gewinnen  kann,  soll  in  einer  größeren,  dem¬ 
nächst  erscheinenden  Arbeit  dargelegt  werden,  welche!  gemein¬ 
sam  mit  Dr.  Budolf  Neubauer  ausgeführt  worden  ist.  Da  wir 
auch  jetzt  noch  perhorreszierfen  aus  „rein  experimentellen“  (wie 
Simon)  Gründen  zu  punktieren,  so  sind  wir  naturgemäß  durch 
diese  ärztliche  Rücksichtnahme  auf  die  Patienten  mehr  vom1  Ma¬ 
terial  abhängig.  Daher  ist  auch  der  vorläufigen  Mitteilung  noch 
nicht  die  größere  Sammelarbeit  gefolgt. 

Ich  kann  vor  allem  der  Simonschen  Mitteilung  den  Vor¬ 
wurf  nicht  ersparen,  daß  sie  gerade  die  klinischen  Details  so 
mangelhaft  bringt.  Ebenso  läßt  die  logische  Verwertung 
der  durch  den  Index  ausgedrückten  Befunde  sehr 
zu  wünschen  übrig,  denn  Simon  hat  gerade  in  einem 
seiner  Fälle  (XIX)  selbst  zugegeben,  wie  wenig  er  das  eigen¬ 
tümliche  Verhalten  eines  erhöhten  Index  ohne  merklichen  Aus¬ 


druck  der  Sedimeutierung  und  noch  dazu  mit  der  Tendenz  der 
Rückkehr  zum  normalen  Verhalten  zu  deuten  in  der  Lage  war. 

Die  Fälle,  die  Simon  bringt,  sind  nach  meiner  Erfahrung 
Ausnahmefälle,  die  bei  entsprechender  Ueberlegung  ganz  gut 
gedeutet  werden  können,  so  daß  die  von  Simon  gerügten  Fehler 
wohl  nicht  an  der  Methode,  sondern  nur  arh  Beobachter  liegen 
können.  Den  diagnostischen  Wert  meiner  Methode  setzte  ich:  selbst 
gleich  den  einer  „quantitativen  Eiweißbestimmung“. 

Daher  muß  ich  gegeln  Simons  Behauptung,  daß  die 
Mayer  ho  ferschei  Probe  nicht  die  von  ihrem  Autor  angegebenen 
Vorzüge  besitze,  polemisieren;  denn  der  Nachuntersucher  fand 
es  nicht  einmal  der  Mühe  wert,  meine  Beobachtungen  für  die 
Prognosenstellung  bei  der  Serumtherapie  der  epidemischen  Menin¬ 
gitis  zu  revidieren.  Da  er  noch  überdies  von  der  Anwendbar¬ 
keit  meiner  Methode  für  andere  Körperflüssigkeiten  keine  Er¬ 
fahrungen  bringt,  so  muß  ich  Simons  Urteil  über  die  „Mayer¬ 
hof  er  sehe  Probe“  als  ein  vorschnell  gesprochenes  verwerfen. 


Referate. 

Innere  Sekretion.  Ihre  physiologischen  Grundlagen  und 
ihre  Bedeutung  für  die  Pathologie. 

Von  Prof.  Dr.  Artur  Iliedl. 

Mit  einem  Vorwort  von  Hofrat  Prof.  Dr.  R.  Palt  auf. 

XI  und  538  Seiten. 

Berlin  und  Wien  1910,  Urban  und  Schwarzenberg. 

Wer  nur  einigermaßen  in  die  ungeheuren  Schwierigkeiten 
eingeweiht  ist,  die  das  Studium  der  Drüsen  mit  innerer  Sekretion 
nach  wie  vor  bereitet,  muß  das  Buch  Biedls  als  ungemein 
kühne  Tat  bewundern.  In  einer  Lehre,  die  alle  Zweige  allgei¬ 
mein  naturwissenschaftlicher  und  speziell  medizinischer  For¬ 
schung  beherrscht,  muß  es  selbstverständlich  jahrelanger  Arbeit 
bedürfen,  um  völlig  in  das  so  vielfach  dunkle  Gebiet  einzudringen. 
Dies  trifft  für  den  Autor  zu,  der  in  souveräner  Weise  über  seinem 
Thema  stand  und  der  einer  der  wenigen  ist,  die  es  heute  wagen 
durften,  ein  derartiges  Buch  zu  schreiben.  Dazu  kommt,  daß 
Biedl  nicht  nur  die  ganze  Entwicklung  der  Lehre  der  inneren 
Sekretion,  die  gerade  hier  in  Wien  in  bedeutender  Weise  aus- 
gebaut  wurde,  aus  eigener  Anschauung  verfolgen  konnte,  son¬ 
dern  auch  durch  eine  große  Reihe  von  Arbeiten,  die  sich  mit 
den  schwierigsten  Kapiteln  befaßten,  aktiv  ah  der  Lösung  ver¬ 
schiedener  Probleme  beteiligte. 

Verf.  hat  seine  Aufgabe,  dem  heutigen;  Stande  der  Wissen-" 
schaft  entsprechend,  in  ausgezeichneter  Weise  gelöst;  vielleicht 
wird  manches  von!  'dem,  was  wir  heute  in  der  Lehre  von  der 
inneren  Sekretion  als  bereits  feststehend  betrachten,  späterer 
Kritik  nicht  standhalten  können,  vielleicht  sogar  belächelt  werden: 
den  heutigen  Stand  der  Lehre  zum  erstenmal  in  erschöpfender 
Weise  dargestellt  zu  haben,  bleibt  Biedls  unbestreitbares1  Ver¬ 
dienst.  Dieses  Buch  war  ein  Bedürfnis,  nicht  nur  für  den  wissen¬ 
schaftlich  Arbeitenden,  sondern  auch  für  den  Praktiker  und  den 
Studenten,  der  sich  über  die  Grundzüge  der  Lehre  orientieren! 
will.  Dabei  läßt  Biedl  nirgends  die  Kritik  vermissen,  die  ge¬ 
rade  in  diesem  Kapitel  der  Pathologie  von  großer  Bedeutung  ist; 
andrerseits  offenbart  er  freimütig  alle  Lücken  und  Widersprüche. 
Ins'  Detail  einzugehen,  ist  leider  an  dieser  Stelle  nicht  möglich; 
sicher  wird  manches  auf  Widerspruch  stoßein,  was;  aber  der 
Forschung  nur  nützlich  sein  kann. 

Was  das  Buch  noch  besonders  wertvoll  macht,  ist  das 
Literaturverzeichnis,  das,  125  Druckseiten  umfassend,  wohl  als 
erschöpfend  angesehen  werden  kann.  Alles  in  allem  muß  man 
durchaus  dem  Satze  aus  Palt  aufs  Vorrede  beistimmen:  „Möchte 
der  Autor  für  die  große  Mühe  und  Arbeit  nicht  nur  Anerken¬ 
nung  in  einer  günstigen  Aufnahme  des  Werkes  finden,  son¬ 
dern  auch  jene  Genugtuung  des  Forschers  erfahren,  daß  der¬ 
selbe  in  seiner  kritischen  Behandlung  des  Gegenstandes  auf 
die  weitere  Forschung  richtunggebenden  Einfluß  nehme!“ 

Wiesel. 

* 


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Die  ßlutdrucksteigerung  vom  ätiologischen  und  thera¬ 
peutischen  Standpunkt. 

Als  Preisaufgabe  der  Hufelandischen  Gesellschaft  zu  Berlin  mit  dem 

Alvarengapreis  gekrönt. 

Von  Dr.  Karl  Ilasebroek. 

3  Textüguren.  151  Seiten. 

Wiesbaden  1910,  J.  F.  Bergmann. 

Die  Ausschreibung  des  in  dem  vorliegenden  Werkchen  be¬ 
handelten  Themas  von  seiten  der  Hufelandischen  Gesellschaft  für  den 
Alvarengapreis  ist,  wie  der  Autor  vorvvortlich  sehr  richtig  betont, 
der  lebendige  Ausdruck  des  hohen,  diesem  Gegenstände  gegenwärtig 
entgegengebrach  len  kliuiscjien  Interesses. 

Bei  der  Bearbeitung  des  Gegenstandes  geht  Ilasehroek 
von  dem  Standpunkt  aus,  daß  die  Gefäße  und  Kapillaren  sich  durch 
rhythmische,  diastolisch-systolische  Eigenbewegungen  aktiv  an  der 
Blutbewegung  beteiligen.  Als  auslösender  Reiz  kommt  dabei  die  vom 
Zentrum  her  anlangende  Pulswelle  in  Betracht,  eine  Annahme,  die 
mit  den  bekannten  Versuchen  von  Hamei  leicht  in  Einklang  ge¬ 
bracht  werden  kann,  durch  die  festgestellt  wurde,  daß  durch  pulsa- 
torisch  schwankende  Zufuhr  eine  bis  zum  Vierfachen  der  bei  gleichem, 
aber  stationärem  Druck  erreichten  Durchblutungsmenge  erzielt  werden 
kann.  Die  lebende  Gefäßwand  reagiert  nach  der  von  Hasebroek 
entwickelten  Vorstellung  auf  den  ihr  adäquaten  pulsatorischen  Reiz 
dadurch,  daß  sie  sich  aktiv  der  P  u  1  s  w  e  1 1  o  öffnet  und 
auf  die  vorbeioilende  Welle  ebenfalls  aktiv  nach¬ 
drückt.  Eine  solche  Gefäßperistaltik  ist  an  den  Rückengefiißen 
herzloser  Tiere  (Raupen,  Würmer)  tatsächlich  direkt  zu  beobachten. 
Aus  dem  anatomischen  Befunde,  daß  das  elastische  Gewebe  mit  dem 
Kaliber  der  Gefäße  gleichsinnig  abnimmt,  während  sich  die  Gefäß- 
rauskulalur  gerade  entgegengesetzt  verhält,  ist  zu  folgern,  daß  die 
muskuläre  Selbständigkeit  der  Gefäße  peripher,  bzw.  organ- 
wärts  zunimmt.  Nur  durch  die  von  Bier  nachgewiesene  Attraktion 
der  Kapillaren  für  arterielles  Blut  und  dadurch,  daß  das  Blut  durch 
die  Gefäßbewegung  diastolisch  milangesaugt  und  systolisch  weiter¬ 
getrieben  wird,  also  durch  Aspiration  mit  gleichzeitigem 
W  e  i  t  e  r  b  e  t  r  i  e  b,  könne  die  Beobachtung  von  G  r  ii  t  z  n  e  r  erklärt 
werden,  daß  unter  Umständen  der  Venendruck  selbst  höher  sein 
kann,  als  der  arterielle,  sowie  die  von  Volkmann  und  II ü r  t h  1  e 
gefundene  Tatsache,  daß  im  systolischen  Maximaldruck  der  größeren 
Gefäße  bedeutende,  von  der  Entfernung  vom  Herzen  unabhängige 
Verschiedenheiten  herrschen  können. 

Durch  diese  ihre  aspiratorisch-pressorische  Gefäßarbeit  ver¬ 
schaffen  sich  die  Organe  nach  dem  Grade  ihrer  jeweiligen  Tätigkeit 
innerhalb  gewisser  Grenzen  die  zu  ihrer  Funktion  nötige  Blutmenge. 
Erst  wenn  auch  die  Mehrarbeit  der  Organgefäße  zur  Deckung  des 
Blutbedarfes  nicht  ausreicht,  treten  die  großen  Gefäße  und  endlich 
das  Herz  für  dieselben  ein.  Während  aber  die  Gefäßarbeit  der 
peripheren  Organe  den  allgemeinen  Blutdruck  eher  herabsetzt,  voll¬ 
zieht  sich  die  vom  Herzen  oder  den  großen  Gefäßen  aufgebrachte 
Mehrleistung  unter  Blutdrucksteigerung.  Es  stellen  also  die  den 
einzelnen  Organen  zugehörigen  Gefäßprovinzen  gleichsam  Neben¬ 
herzen  dar. 

Eine  besondere  Inanspruchnahme  einzelner  Organe  unter  phy¬ 
siologischen  (Training)  oder  pathologischen  Verhältnissen  führt  des¬ 
halb  zunächst  zu  einer  auch  anatomisch  nachweisbaren  Hyper¬ 
trophie  der  Arterienmuskulatur.  Je  peripherer  sich  dieselbe  findet, 
um  so  ausgesprochener  wird  ihr  depressorischer  Effekt  auf  den 
allgemeinen  Blutdruck  sein.  Erst  bei  Insuffizienz  der  Organgefä߬ 
arbeit  tritt  Hypertrophie  der  Muskulatur  der  großen  Gefäße  und  des 
Herzens  mit  pressorischer  Tendenz  für  den  allgemeinen  Druck  ein. 
Deshalb  kann  auch  eine  muskelschwache  Beschaffenheit  der  Gefäße 
sowie  angeborene  Weite  des  Arteriensystems  die  Ursache  von  Herz¬ 
hypertrophie  sein. 

Dieses  Spiel  der  hier  in  nuce  wiedergegebenen  Mechanik  des 
Kreislaufsystems,  die  im  Sinne  einer  funktionellen  Anpassung  aus 
Gründen  der  Selbslerhaltung  teleologisch  erfaßt  wird,  findet  in  ein¬ 
zelnen  Kapiteln  eine  detaillierte  Ausführung,  von  denen  Kapitel  V 
über  die  vorübergehende  physiologische,  Kapitel  VI  über  die  dauerden 
pathologische  Blutdrucksteigerung  nach  Muskelarbeit,  bzw.  nach 
Ueberanstrengung,  Kapitel  VIII  Uber  die  Blutdrucksteigerung  bei 
Schrumpfniere,  Kapitel  IX  bei  Luxuskonsumption  und  Kapitel  XIII 
bei  Arteriosklerose  besonders  zu  erwähnen  sind. 


Der  Blutdrucksteigerung,  die  durch  erhöhte  physiologische 
Leistungen,  infolge  korrelativer  Mehrarbeit  des  Herzens  zustande 
kommt,  wird  als  einer  Abwehräußerung  des  Organismus  jene  als 
eigentlicher  Krankheitsaffekt  zu  bezeichnende  Form  der  Blutdruck- 
steigerung  prinzipiell  entgegengestelll,  die  durch  primär  gesteigerte 
Reizzustände  am  Zentralnervensystem  (Neurasthenie,  vasomotorische 
Krisen)  hervorgerufen  wird. 

Hieraus  ergeben  sich  nun  die  von  dem  Verfasser  aufgestellten 
Lberapeu tischen  Grundsätze.  In  den  Fällen,  in  welchen  der  Blut¬ 
drucksteigerung  noch  die  Bedeutung  einer  Abwehrreaktion  innewohnt, 
soll  nach  Möglichkeit  die  primäre  Ursache  beeinflußt  (Festhalten 
spezifischer  Schädlichkeiten  und  Schonung,  bzw.  Uebung)  und  die 
Funktionstüchtigkeit  der  einzelnen'  Organe  wiederhergestellt  werden. 
Nur  wenn  die  pathologische  Blutdrucksteigerung  bereits  in  sich  selbst 
Gefahren  birgt,  ist  eine  symptomatische  Therapie  durch  druck¬ 
senkende  Maßnahmen  inklusive  der  pharmakodynamisch  wirkenden 
Mittel  am  Platze. 

Unter  den  speziellen  therapeutischen  Verfahren  wird  dann  im 
einzelnen  der  Sinn  und  die  Bedeutung  der  Mechanothorapie,  der 
Terrain-  (Oertel)  und  Atmungsgymnastik,  der  Hydrotherapie  und 
ihrer  Anwendungsformen  (kalte,  warme,  C02-,  Moorbäder  etc.),  sowie 
endlich  die  medikamentöse  Behandlung  (Digitalis,  Adrenalin  etc.) 
einschließlich  der  Diät  und  Ruhekuren  in  vielfach  origineller  und 
lehrreicher  Weise  behandelt.  H.  Winterberg. 

* 

Handbuch  der  Geschlechtskrankheiten. 

Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  E.  Finger,  Prof.  Dr.  J.  Jadassohn, 
Prof.  Dr.  S.  Ehrmann,  Priv.-Doz.  Dr.  S.  Groß. 

1.  Lieferung. 

Wien  u.  Leipzig  1910,  Verlag  von  Alfred  Holder. 

Die  erste  Lieferung  eines  viel  verheißenden  Handbuches 
der  Geschlechtskrankheiten  liegt  vor  uns.  Nach  Art  des  im  gleichen 
Verlage  erschienenen  Mracek sehen  Handbuches  der  Hautkrank¬ 
heiten,  nur  in  wesentlich  rascherem  Tempo,  soll  es  einzelne 
Abschnitte,  von  der  Hand  einer  Reihe  namhafter  Forscher  und 
Lehrer  bearbeitet,  zu  einem  einzigen  großen  Ganzen  zusammen- 
schlicßen. 

Den  Anfang  macht  J.  K.  Proks  ch  -  Wien :  Geschichte  der 
Geschlechtskrankheiten. 

Es  'ist  —  im  allgemeinen  gesprochen  —  eine  verführerische 
Aufgabe,  das  Ringen  des  menschlichen  Geistes  nach  Klarheit  zu¬ 
sammenhängend  darzustellen.  Ohne  zu  einem  Hymnus  auf  die 
weise  Gegenwart  zu  werden,  die  es  „so  herrlich  weit  gebracht“, 
muß  eine  Satire  vergangener  Zeiten  aus  keinem  Worte  zu  spüren 
sein,  denn  nur  dann  ist  die  Geschichte  wahrhaft  eine  Lehrerin, 
wenn  sie  uns  fühlen,  läßt,  daß  auch .  unsere  Tage  dereinst  als 
regungslose  Vergangenheit  starren  werden.  Dadurch  soll  unser 
Argwohn  gegen  herrschende  Argumentationen,  anscheinend  uner¬ 
schütterliche  Dogmen,  unbestreitbare  Autoritäten  geweckt  werden. 
Es  soll  eine  Bilanz  gezogen  sein  zwischen  blind  waltender,  „des 
rechten  Weges  immer  bewußter“  Empirie  und  zwischen  dem  Drange 
des  Menschen,  den  Grund  und  das  Wesen  der  Erscheinungen 
auf  selbst  gewollter,  planmäßig  angelegter  Bahn  zu  finden.  Es 
soll  zu  erkennen  sein,  wie  weit  es  einer  Sonderdisziplin  genützt 
oder  geschadet  hat,  den  Zusammenhang  mit  anderen  medizini¬ 
schen  oder  gar  allgemein  naturhistorischen  Anschauungen  'zu 
pflegen  oder  zu  lockern,  denn  gerade  in  den  letzten  Lustren 
haben  ein  Zoolog,  ein  Chemiker,  ein  Neuropsychiater,  ein  Serolog 
dem  Kaleidoskop,  in  welchem  wir  die  Venerologie  zu  sehen  ge¬ 
wohnt  waren,  einen  bedeutenden  Ruck  gegeben  und  fast  mit 
Mühe  suchen  wir  nach  den  Elementen  der  früheren  Bilder.  Wie 
oft  erschien  uns  als  Schule,  was  sich  nachträglich  als  Zunft 
herausstellte  und  wer  wollte  skizzieren,  in  welchen  Regionen 
wir  uns  auch  nur  in  nächster  Zukunft  befinden  wefden. 

Fehlen  einer  geschichtlichen  Darstellung  solche  oder  ähn¬ 
liche  Züge,  dann  wird  sie  nur  zu  leicht  eine  einfache  Chronik. 

Proksch  versucht  zunächst  in  einem  Abschnitte,  „Prä¬ 
historische  Zeit“,  die  Herkunft  der  Geschlechtskrankheiten  auf¬ 
zudecken  und  meint,  es  sei  „nicht  unmöglich,  daß  schon  in  einer 
sehr  frühen  Periode  der  Schöpfungszeit*)  zuerst  vielleicht  amorphe 
Keime  und  dann  geformte  Erreger  der  Geschlechtskrankheiten 

*)  Wie  ist  dieser  testamentarische  Ausdruck  zu  verstehen?  (Ret.) 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


ihre  Wirte  lange  vor  dem  Menschen  gefunden  haben“.  Von  den 
Tieren  sei  das  Leiden  durch  Perversitäten  auf  den  Menschen 
übergegangen.  Allerdings  läßt,  uns  der  Autor  im  Unklaren,  auf 
welche 'historische  Tatsache  das  Vorhandensein  dieser  „amorphen 
Keime“  zurückzuführen  sei.  Tief  bewegt  uns  die  —  allzuknappe 

—  Schilderung,  mit  welch  zäher  und  unablässiger  Mühe  seit  dem 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  die  Forschung  der  Frage  nachge¬ 
gangen  ist,  ob  die  Syphilis,  ob  die  Geschlechtskrankheiten  über¬ 
haupt  auf  Tiere  zu  übertragen  seien  und  es  ist  fast  wie  eine 
mystische  Erfüllung,  daß  es  unseren  Tagen  vorbehaltein  blieb, 
hier  gleichsam  im  Fluge  Gewißheit  zu  verschaffen.  Endlich  läßt 
es  der  Autor  unentschieden,  ob  aus  fossilen  Knochen  auf  ein 
prähistorisches  Alter  der  Syphilis  geschlossen  werden  könne. 

Der  weitaus  größte  Abschnitt  seiner  Darstellung  „Histo¬ 
rische  Zeit“  ist  —  das  hebt  der  Autor  freimütig  selbst  hervor 

—  vielleicht  nicht  ganz  zum  Danke  aller  Leser,  in  Kapitel 
zerfallen,  die  er  indes  dem  Plane  des  Handbuches  anpassen 
zu  müssen  glaubte  und  die  das  Nac.'hschlagen  um  vieles  erleichtern 
sollten.  Letzterem  Zwecke  hätte  allenfalls  auch  ein  gruppiertes 
Literaturverzeichnis  entsprechen  können,  dessen  Fehlen  der  Ver¬ 
fasser  selbst  bei  dem  Ihm  karg  zugemessenen  Raume  beklagt 
(wo  blieb  die  Möglichkeit  kleinen  Druckes?),  abgesehen  davon, 
daß  den  vorhandenen  weiteren  Beiträgen  nach  zu  schließen 
die  einzelnen  Autoren  doch  wieder  historische  Reminiszenzen  in 
breiteren  oder  engeren  Grenzen  pflegen.  Er  hat  mithin  gegeben 
und  genommen :  sein  Wille  sei  gelobt! 

Kleinere  Absätze  behandeln  dem  entsprechend  „Balanitis“, 
„Condylomata  acuminata“,  „Molluscum  contagiosum“,  „Herpes 
genitalis“,  „Phimose“,  „Paraphimose“ ;  also  gewissermaßen  die 
uneigentlichen  Geschlechtskrankheiten. 

Auch  die  Geschichte  der  eigentlichen  Geschlechtskrank¬ 
heiten:  Gonorrhoe,  Ulcus  venerum  simplex,  oder  wie  es  in 
dem  Buche  genannt,  ist,  Ulcus  rnolle  und  Syphilis,  ist  in 
einzelne  Blätter  zerpflückt,  die  in  der  Tat  den  Einblick  in  die 
einzelnen  Teile  der  Lehre  ganz  wesentlich  erleichtert.  So  finden 
wir  unter  dem  Kapitel  „Gonorrhoe“  die  einzelnen  Etappen,  die 
ihre  Lehre  bis  zu  Neisser  durchmachte,  recht  klar  gegliedert. 
Die  „Urethroskopie“,  „Periurethritis“,  „Paraurethritis“,  „Zystitis. 
Pyelitis  und  Nephritis“,  „Prostatitis“  —  kurz  alle  die  reichen  De¬ 
tails  finden  ihre  bezüglichen  geschichtlichen  Skizzen,  ln  der 
Rubrik  „Gonorrhoe  des  Weibes“  hätte  der  eminenten  Bedeutung 
Noeggeraths  ein  Wort  mehr  leicht  gewidmet  werden  können. 
Die  Bedeutung  Wert  heims,  die  Tatsache  der  Züchtungsmöglich¬ 
keit  der  Gonokokken,  der  experimentellen  Uebertragung  des  ge¬ 
züchteten  Virus  auf  menschliche  Urethralschleimhaut  sind  von 
Proksch,  wahrscheinlich  wegen  der  zu  geringen  Patina,  gar 
nicht  erwähnt. 

Das  Ulcus  venereum  simplex  und  der  Einfluß,  seiner  Lehre 
auf  die  bis  in  die  allerjüngste  Zeit  reichende  Dualitätslehre,  die 
Kultur  der  Du crey sehen  Bazillen,  ihre  experimentelle  Ueber¬ 
tragung,  schätze  ich  als  wichtige  Geschehnisse  höher  ein,  als  es 
in  der  Darstellung  Proksch’  zur  Ausführung  gekommen  ist. 

Seiten  und  Seitenfolgen  sind  erfüllt  mit  Bemerkungen  über 
die  Sonderkapitelehen :  Nomenklatur,  Alter  der  Syphilis,  ihr  epi¬ 
demisches  Auftreten.  Die  Seite,  die  sich  mit  der  Aetiologie 
befaßt,  zählt  Schau dinn  nicht  auf,  geschweige  denn  Erich 
Hof f mann, lein  Mangel,  den  ich  gar  nicht  zu  begreifen  imstande 
bin,  (der  aber  in  einer  gewissen  Konsequenz  auch  bei  anderen 
Rubriken  auftritt.  Nun  folgen  in  schier  nicht  enden  wollender 
Reihe  die  Absätze:  „Allgemeine  Pathologie“,  „Initialaffekt“,  „Lo¬ 
kalisation  des  Initialaffektes“,  „Proruptionsstadium  der  Syphilis“ 
und  so  ähnlich  weiter  :  brutto  58  Stücke,  unter  denen  zudem 
das  einer  Entwicklung  unserer  allgemein- pathologisch -anatomi¬ 
schen  Kenntnisse  fehlt. 

Das  sind  Eigenheiten  der  Darstellung,  welche  ebenso  zum 
Nachschlagen  anderer  Bücher,  etwa  der  famosen  Ausarbeitung 
B Turniers  anregen,  wie  dies  der  Autor  von  seinen  eigenen 
Werken  wünscht. 

Fast  hätte  ich  zu  erwähnen  vergessen,  daß'  Proksch  auch 
über  die  geographische  Ausbreitung  der  Syphilis  Bemerkungen 
macht. 

Die  Lieferung  enthält  ferner  den  Anfang  einer  Abhandlung 
Scherbers  über  Balanitis,  Condylomata  acuminata,  Molluscum 


contagiosum,  Herpes  genitalis.  Eine  Besprechung  der  schon  von 
den  ersten  Worten  an  fesselnden  Arbeit  behalte  ich  mir  vor, 
wenn  sie  mir  vollständig  zur  Berichterstattung  vorliegen  wird. 

* 

Zweite  Lieferung. 

G.  Scher  her:  Balanitis,  Condyloma  accuminatum,  Mol¬ 
luscum  contagiosum,  Herpes  genitalis. 

1.  Balanitis.  Nach  einer  historischen  Einleitung,  in  der 
recht  anschaulich  dargetan  ist,  wie  man  die  Balanitis  allmählich 
als  Krankheit  sui  generis  erkannte,  wie  sich  unter  den  Formen 
derselben  die  Balanitis  diabetica  als  Sonderform  herauslösen 
ließ,  welch  starken  Einfluß  die  ätiologische  Forschung  auf  das 
Verständnis  der  Pathologie  ausübte,  wird  die  Anatomie  des  Vor¬ 
hautsackes  besprochen,  soweit  sie  auf  die  Verhältnisse  der  Bala¬ 
nitis  Bezug  hat.  Das  Kapitel  „Bakteriologie“  des  normalen  Vor- 
hautsackes  basiert  fast  durchwegs  auf  eigenen  Untersuchungen 
des  Autors.  Besonderen  Wert  haben  die  Angaben  über  die  Karbol¬ 
fuchsin-Färbbarkeit  der  Smegmab a  z  i  1  lein,  denn  bei  zystischem 
Sediment,  das  differentialdiagnostisch  auf  Tuberkelbazillen  zu 
untersuchen  ist,  spielt  ja  die  genaue  Entscheidung  eine  große 
Rolle.  Aehnlichc,  we!nn  auch  geringere  praktische  Bedeutung 
hat  die-  Unterscheidung  von  Bazillen  der  Diphtherie  -  Pseudo- 
d  i  htheriegr  uppe. 

Nun  folgt  die  Klinik  der  einzelnen  Balanitisformen.  Unter 
ihnen  nimmt  die  erschöpfende  Besprechung  der  Balanitis  erosiva 
et  gangraenosa  einen  breiten  Raum  ein.  Ihr  folgt  die  Gruppe 
der  diathetischen  Balanitiden,  vor  allem  der  Balanitis  diabetica. 
Das1  reichhaltige  Kapitel  derjenigen  Entzündungen  des  Vorhaut¬ 
sackes,  die  als  Teilerscheinung  von  exanthematischen  Allgemein¬ 
erkrankungen  des  Organismus  auf  treten,  ist  in  markanten  Zügen 
besprochen.  Die  Balanitis  bei  Gonorrhoe  erhielt  ein  kleines 
Sonderka.pitel,  wogegen  die  letzte  Form,  die  vulgäre  Balanitis, 
recht  ausgiebig  bedacht  ist.  Die  allen  diesen  Formen  eigens 
zukommende  Bakteriologie  ist  gesondert  geschildert;  besonders 
ausführlich  in  bezug  auf  die  Balanitis  erosiva  et  gangraenosa,. 
Hier  fesseln  die  Mitteilungen  über  die  Kultivierungsmöglichkeit 
der  vibrioförmigen  Mikroorganismen  und  der  Spirochätenformen 
vielleicht  am  meisten.  Vorzügliche  Abbildungen  mikroskopischer 
Präparate  illustrieren  die  pathologisch-anatomischen  Veränderun¬ 
gen  und  die  Vibrionen,  sowie  Spirochäten  bei  der  Balanitis 
erosiva,  bzw.  gangraenosa.  Das  Kapitel  „Therapie“  endlich  enthält 
recht,  beherzigenswerte  Winke  für  den  praktischen  Arzt. 

2.  Das  Condyloma  accuminatum.  Warum  wurde  von  all 
den  zahlreichen  Synonymen,  die  zur  Bezeichnung  dieser  Krank¬ 
heit  dienen,  wohl  gerade  dieser  uralte  Ausdruck  Tür  ein  'so  neues, 
grundlegendes  Werk  gewählt?  Der  Name  „Papilloma“  (venereum) 
zum  Beispiel  wäre  weit  mehr  zu  bevorzugen,  denn  er  sondert 
scharf  und  klar  das  Gebilde  in  seiner  .Eigenart  und  gestattet  Ver¬ 
zicht  auf  das  sonst  unentbehrliche  Beiwort.  Die  geschichtliche 
Skizze,  welche  Sch  er  her  dem  Artikel  vorausschickt,  weiß,  genug 
zu  erzählen,  wie  lange  inan  die  Spitzwarzen  der  Syphilis  zuge¬ 
rechnet  hatte;  und  für  das  extragenitale  Papillom  (z.  B.  des  be¬ 
haarten  Kopfes),  dessen  Klinik  noch  lange  nicht  abgeschlossen  ist, 
würde  der  Name  kaum  gebrauchbar  sein.  —  Auch  in  diesem 
Abschnitte  weiß  der  Autor  durch  seine  Mitteilungen  über  bakterio¬ 
logisch-histologische  Untersuchungen,  namentlich,  so  weit  sie  das 
Eindringen  von  Spirochäten  in  das  Bindegewebe  betreffen,  zu 
interessieren.  Der  Anteil,  den  das  Experiment  zur  Klärung  der 
Aetiologie  des  Papilloms  genommen  hat,  ist  in  der  geschicht¬ 
lichen  Skizze  aufgenommen. 

3.  Das  Molluscüm  contagiosum.  Das  Problem,  dasi  der  Er¬ 
forschung  dieses  Gebildes  gegeben,  ist,  hat  seine  tiefe  Bedeutung 
in  der  benignen  Wucherung  des  Epithels.  Von  hier  bis  zur 
malignen  Wucherung,  bis  zum  Krebsproblem,  scheint  dem  hoff¬ 
nungsfreudigen  Forscher  der  Schritt  möglich,  ja  aussichtsreich. 
Deshalb  verfolgt  man  die  Schritte,  welche  die  Klarlegung  der 
Pathologie  dieses  Leidens  zur  Aufgabe  haben,  mit  einer  ge¬ 
wissen  Lebhaftigkeit.  Diesem  Standpunkte  ist  auch  in  dem  Ar¬ 
tikel  genügend  Rechnung  getragen. 

4.  Herpes  genitalis.  Sc  herb1  er  hat  die  wenig  verlockende 
Aufgabe,  den  Herpes  genitalis  als  Spezielles  Sonderkapitel,  heraus¬ 
genommen  aus  dem  großen  Abschnitte  „Herpes“,  abhandeln  zu 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


209 


Nr  6 


müssen,  in  der  einzig  möglichem  Weise  gelöst,  daß  er  den  größten 
Nachdruck  auf  die  Klinik,  Differentialdiagnose  und  Histologie 
legte.  In  diesem  Rahmen  ist  das  Bild  sehr  eingehend  geschildert 
und  es  ist  auf  die  vielem  Nuancen,  mit  denen  der  Zustand  ein¬ 
hergehen  kann,  gebührend  Rücksicht  genommen.  Selbst  dir; 
Aetiologie  ist  diesem  Bilde  genau  angepaßt,  obschon  die  wohl 
hauptsächlich  mit  entzündlicher,  mehr  oder  weniger  ausgebreiteter 
Zerstörung  der  Neuronen  niederer  Ordnung  verbundene  Krank¬ 
heit  und  die  sie  begleitenden  Phänomene  eine  ziemlich  allge¬ 
meine  Anwendung  auf  die  ganze  große  Krankheitsgruppe  er¬ 
möglichen. 

S .  E  h  r  m  a  n  n :  Phim  ose,  Paraph imose. 

1.  Phimose.  Die  Empfindlichkeit  des  Hymens,  die  Schmerzen 
bei  seiner  Verletzung  lassen  sich  ganz  gut  alsl  natürlicher  Schulz 
vor  allzu  früher  Defloration  auslegen.  Aehnlich  dürfte  auch 
die  von  der  Natur  lange  Zeit  vorgesehene  Deckung  der  Glans 
durch  das  Präputium  vor  allzu  früher  Bloßlegung  derselben  heim 
Kioitus  'behüten.  Es  führen  die  embryonalen  Verhältnisse  in 
einem  gewissen  Grade  zu  mehr  oder  minder  stark  ausgebildeter 
natürlicher  Phimose-,  weshalb  del-  Autor  der  Besprechung  der 
kongenitalen  Form  eine  kurze  entwicklungsgeschichtliche  Skizze 
vorausschickt.  Er  teilt  den  Zustand  mit  Vidal  in  eine  atro¬ 
phische  und  hypertrophische  Form. 

Die  erworbene  Phimose  wird  als  mechanische,  entzündliche, 
vorübergehend  entzündliche  oder  kombinierte  Phimose  geschil¬ 
dert.  Jedenfalls  spielt  die  Verteilung  und  der  Verlauf  der  Lymph- 
bahnen  im  Präputium  —  namentlich  gegen  das  Frenulum  zu  — 
beim  Zustandekommen  der  Phimose,  aber  auch  der  Paraphimose 
eine  große  Rolle  und  man  wäre  dem  Autor,  einem  Meister  in 
der  Lymphgefäßinjektionstechnik,  für  die  Klarlegung  dieser  Ver¬ 
hältnisse  gewiß  sehr  dankbar  gewesen.  Im  Kapitel  „Therapie“ 
werden  die  verschiedenen  Operationsmethoden  ausführlich  er¬ 
läutert. 

2.  Auch  der  Abschnitt  „Die-  Paraphimose“  zeigt  von  der 
Vorliebe  und  dem  Geschick  des  Autors  für  anatomische  und 
theoretische  Erörterungen.  Er  unterscheidet  eine  Phimosis  ex¬ 
terna  und  interna,  schildert  das  klinische  Bild,  die  Aetiologie  und 
die  vielen  therapeutischen  Maßnahmen,  welche  gegen  den  Zu¬ 
stand  jeweilig  indiziert  sind. 

Merk  (Innsbruck). 

* 

Praktische  Ergebnisse  aus  dem  Gebiete  der  Haut-  und 
Geschlechtskrankheiten. 

Herausgegeben  von  A.  Jesionek. 

Erster  Jahrgang. 

Wiesbaden  1910,  J.  F.  Bergmann. 

Im  Gegensatz  zu  den  Dermatologischen  Jahresbericditen, 
welche  in  Form  objektiv  gehaltener  Referate  die  fachliche  Orien¬ 
tierung  gewähren,  beabsichtigt  das  Unternehmen  Jesioneks,  in 
kritischen  Einzeldarstellungen  jene  Fragen  der  Dermatopathologie- 
abzuhandeln,  welche  an  der  Hand  der  neueren  Forschungsergebnisse 
zu  einem  Wandel  der  Anschauungen  geführt  haben  oder  aber  eine 
vertiefte  wissenschaftliche  Betrachtung  gestatten.  Den  Eifer  und  die 
Schaffenslust,  mit  welcher  der  Herausgeber  sowie  manche  seiner 
Mitarbeiter  an  diese  interessante,  auch  tür  den  Praktiker  nutz¬ 
bringende  Arbeit  herantreten,  beleuchtet  in  vorteilhafter  Weise  der 
erste  Jahrgang.  So  spiegelt  sich  in  dem  Beitrage  Meirowskys, 
der  die  Entwicklung  und  den  gegenwärtigen  Stand  der  Röntgen- 
und  Radiumtherapie  behandelt,  der  Ernst  und  die  schöpferische 
Gründlichkeit  des  Autors  wieder,  die  alle  seine  Leistungen  kenn¬ 
zeichnen.  Die  gleiche  exakte  Vertiefung  ist  der  Studie  über  das 
Ekzem  zu  entnehmen,  welche  Riecke  dieser  in  steter  Fluktuation 
befindlichen  Frage  widmet  und  hiebei  nicht  weniger  als  1297 
literarische  Beiträge  des  letzten  Dezenniums  verwertet.  Inwieweit 
die  neueren  Ergebnisse  der  Immunitätslehre  mit  den  zahlreichen 
Beiträgen  über  die  toxischen  Exantheme  in  Einklang  zu  bringen 
sind  und  in  welchen  Grenzen  die  Beziehungen  der  Hautkrankheiten 
zu  Affektionen  anderer  Organe  abgeleitet  werden  dürfen,  beleuchtet 
v.  Z  u  mbusc  h,  mit  der  entsprechenden  objektiven  Einschätzung  patho¬ 
genetischer  Vorgänge.  Das  schwierige  Gebiet  der  lymphatischen  Haut¬ 
erkrankungen  hat  Bettmann  mühelos  beherrschen  können,  zumal 
ihm  die  monographische  Bearbeitung  der  zugehörigen  Prozesse  durch 
Pal  tauf  in  vielfacher  Hinsicht  leitend  zur  Seite  stand.  Hauck 


und  Jesionek  würdigen  die  aktuelle  Bedeutung  der  Arsenik¬ 
therapie,  bzw.  der  biologischen  Syphilisdiagnose,  mit  vorzüglicher 
Betonung  der  theoretischen  Thesen.  Die  in  Aussicht  genommene 
Stellungnahme  der  Referenten  ist  in  Hühners  Darstellung  der 
Blennorrhoe  zu  vermissen,  um  so  gewissenhafter  scheint  sich 
Lins  er  an  dieses  Programm  gehalten  zu  haben.  Hierfür  spricht 
die  ablehnende  Kritik  der  Wright  sehen  Opsonintheorie  und  der 
aus  jener  abgeleiteten  Vakzinetherapie,  gleichwie  die  negative  Be¬ 
wertung  anderer  allgemein  therapeutischer  Vorschläge. 

* 

Ikonographia  Dermatologica. 

Atlas  seltener,  neuer  und  diagnostisch  unklarer  Hautkrankheiten. 

Fase.  V. 

Wien  1910,  Urban  u.  Schwarzenberg. 

‘Die  zur  Diskussion  gestellten  Beiträge  des  fünften  Heftes 
leitet  eine  bemerkenswerte  Beobachtung  de  Beurmanns  -ein. 
Diese  betrifft  einen  Fall  von  Orient  beule,  der  im  Gegensatz 
zur  oft  beobachteten  solitären  Erscheinung,  das  multiple  simul¬ 
tane  Auftreten  der  Granulome  veranschaulicht.  In  dem  Eiter 
der  W ucher un-gen  konnte  die  Leishmania  tropica  (Ilelco- 
soma  trop.  Wright)  nachgewi-esen  werden.  Die  Kultur  der 
Protozoen  und  ihre  Impfung  wurden  nicht  versucht.  Buschke 
und  W.  Fischer  definieren  ein  Krankheitsbild  als  Kerato¬ 
dermia  maculosa  disseminata  symmetrica  palmaris 
et 'plantar  is.  Eine  intradermale  Verhornungsanomalie  mit  Ten¬ 
denz  zu  zentraler  Abflachung  und  Dellenbildung,  inmitten  voll¬ 
kommen  normaler  Haut.  Den  in  ihrer  Aetiologie  und  Pathogenese 
noch  strittigen  blennorrhoischen  Exanthemen  möchte  Chauf- 
fard  eine  weitere  Beobachtung  von  Keratosis  blenn'or- 
rhagica  anreihen.  Die  fast  ausschließlich  am  inneren  Fuß- 
rand-e  und  am  Fußrücken  lokalisierten  Keratosen  bringt  Chauf- 
f  a r d 'mit  den  blennorrhoischen  Gelenksmetastasen  und  der  Gono- 
kokkenpyämie  in  ursächliche  Beziehung.  Die  dem  Beobachter 
gelungene  experimentelle  Hervorrufung  ähnlicher  Produkte  mit 
dem  Geschähe  der  Wucherungen  am  Träger,  spricht  noch  nicht 
für  die  mikrobielle  Natur  der  Keratosen.  Für  die  Variation  der 
isolierten,  hyperkeratotischen  Knötchenbildung  des  Lichen 
ruber  iac  umin  atus  bringt  R.  Müller  ein  instruktives  Beispiel 
bei.  Zwei  Fälle  des  papulo  -  nekrotischen  Tuberkulids,  von 
0.  Urban  und  F.  Werth  er  in  lebenswahren  Abbildungen  vor¬ 
geführt,  -zeigen  die  heute  bereits  allgemein  geläufige  Erscheinungs¬ 
weise  dieser  Type.  Der  Einordnung  in,  einer  der  bekannteren 
Klassen  der  Dermatosen  erhebliche  Schwierigkeiten  entgegen¬ 
stellen  dürfte  die  als  Atrophia  cutis  reticularis  cum 
pigmentation«,  dystrophia  unguium  et  leukoplakia 
oris  angesprochene  Beobachtung  Zinssers,  deren  Merkmale  in 

der  Moulage  nur  teilweise  festgehalten  sind. 

* 

Die  Wassermannsche  Reaktion  mit  besonderer  Berück¬ 
sichtigung  ihrer  klinischen  Verwertbarkeit. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Harald  Hoas,  I.  Assistent  am  Rudolf  Berghs-Hospital 
für  venerische  Krankheiten  in  Kopenhagen. 

Berlin  1911,  Verlag  von  S.  Karge  r. 

Die  aus  dem  Statens -Seruminstitut  zu  Kopenhagen  her¬ 
vorgegangenen  serologischen  Prüfungen  des  Verfassers  verdienen 
um  so  mehr  eine  allgemeine  Würdigung,  als  die  technische  Zu¬ 
verlässigkeit  derselben  in  den  Dienst  des  klinischen  Bedürfnisses 
gestellt,  die  Grenzen  und  Leistungsfähigkeit  der  biochemischen 
Methode  in  lehrreicher  Weise  beleuchten.  Für  den  Praktiker  wird 
es  von  besonderem  Interesse  sein,  die  diagnostischen,  therapeu¬ 
tischen  und  prognostischen  Direktiven  ins  Auge  zu  fassen,  die 
Boas  aus  mehreren  Tausenden  Untersuchungen  ableiten  konnte, 
zumal  die  klar  formulierten  Schlußfolgerungen  in  weitesten 
Grenzen  mitden  Anschauungen  W  as  s  er  mann  s  Übereinstimmen. 
So  sieht  Boas  die  positive  Reaktion  unter  allen  Umständen  als 
ein  Zeichen  noch  bestehender  Syphilis  an.  Das  Ausbleiben  der 
Reaktion  hat  von  Indurationen  abgesehen,  nur  dann  eine  entschei¬ 
dende  diagnostische  Bedeutung,  wenn  es  sich  um  Fälle  handelt, 
wo  die  Patientin  früher  nicht  behandelt  worden  waren,  dagegen 
keine,  wo  die  Differentialdiagnose-  zwischen  Rezidive  und  früher 
behandelten  spezifischen  Erscheinungen  einerseits  und  einem 
nicht  syphilitischen  Leiden  anderseits  schwankt.  Die-  Reaktion 
wird  (so  gut  wie  in  allen  Fällen  von  einer  antiluetischen  Ihe-rapie 
beeinflußt..  Dem  negativen  Ausfall  in  den  Latenzperioden  ist  in 


210 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  5 


prognostischer  und  therapeutischer  Beziehung  keine  Bedeutung 
beizumessen.  Bei  angeborener  Syphilis  spricht  das  Ausbleiben 
der  Reaktion  bei  der  Geburt,  nicht  gegen  Lues,  desgleichen  weist 
der  positive  Ausfall  nicht  mit  Sicherheit  auf  die  spezifische  Er¬ 
krankung  des  Neugeborenen  hin,  indem  reagierende  Stoffe  von 
der  Mutter  durch  die  Plazenta  auf  das  Kind  übergehen  können. 
Scheinbar  'gesunde  Mütter  heredosyphilitischer  Säuglinge  rea¬ 
gieren  positiv.  Instruktive  Hinweise  auf  die  Verwertung  der 
Reaktion  in  der  forensischen  Medizin,  bei  Erteilung  des  Ehe- 
konsenses,  bei  der  Ammenwahl,  bei  Untersuchung  von  Prosti¬ 
tuierten,  ergänzen  den  reichen,  durchwegs  aus  persönlicher  Er¬ 
fahrung  geschöpften  Inhalt  der  Monographie. 

* 

Hereditäre  Syphilis,  deren  Prophylaxe  und  Therapie. 

Von  Prof.  Alfred  Fournier. 

Uebersetzt  von  Dr.  Edgar  Neumann,  Wien. 

Dresden  1910,  Verlag  von  Theodor  Stein  köpf  f. 

Die  in  vier  Sätzen  formulierte  Anklage  Alfred  Fourniers 
gegen  die  ärztliche  Indolenz  in  der  Bekämpfung  der  hereditären 
Syphilis  bezeugt  neuerdings,  welch  unerschöpflicher  Wissens¬ 
schatz  und  immer  noch  der  weiteren  praktischen  Verwertung 
zugängliches  dokumentarisches  Beweismaterial  in  den  Proto¬ 
kollen  des  Nestors  der  französischen  Dermatologen  enthalten 
ist.  Das  Verkennen  der  Stigmata  des  Erbübels,  gleichwie  die 
Unterlassung  der  Fötalbehandlung  und  die  unzureichende  Heran¬ 
ziehung  der  chronisch  intermittierenden,  merkuriellen  Therapie, 
werden  an  zahlreichen  Familiengeschichten  illustriert,  die  bestens 
geeignet  erscheinen,  einen  warnenden  Einblick  in  das  Verheerungs¬ 
werk  der  Syphilis,  selbst  in  der  zweiten  Generation,  zu  gewähren. 
So  manche  der  in  Fourniers  früheren  Studien  ausgewiesenen 
direkten  und  indirekten  Merkmale  der  Erbsyphilis  sind  gerade 
durch  die  neuere  serologische  Diagnostik  in  ihrer  Zugehörigkeit 
eindeutig  aufgedeckt  worden.  Des  Altmeisters  einmütig  bewunderte 
plastische  Darstellungskunst  hat  in  der  Uebersetzung  nichts  von 
ihrer  Eigenart  eingebüßt.  Nobl. 

* 

Bei  den  Eskimos  in  Westgrönland. 

(Ethnologischer  Anhang  von  Dr.  Michael  Haberl  an  dt.) 

Von  Dr.  Rudolf  Trebitsch. 

62  Abb.,  1  Karte,  8°. 

162  Seiten. 

Berlin  1910,  Dietrich  Reimer. 

Das  Buch  tritt  in  der  anspruchslosen  Form  der  Beschrei¬ 
bung  einer  Sommerreise  in  das  von  Fremden  wenig  bereiste 
Grönland  auf,  bringt  aber  eine  Fülle  wissenschaftlich  wertvoller 
und  neuer  Beobachtungen,  die  hauptsächlich  auf  ethnographischem 
und  anthropologischem  Gebiete  liegen.  Die  Gelegenheit,  Auf¬ 
nahmen  für  das  Phonogrammarchiv  der  Kais.  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  machen,  benutzte  der  Verfasser  zur  Samm¬ 
lung  von  Eskimoliedern  und  Texten,  die  zahlreichen,  dem  k.  k. 
Hofmuseum  mitgebrachten  Ethnologika  sind  in  einem:  beson¬ 
deren  Abschnitte  von  Prof.  Ilaberl  an  dt  bearbeitet.  Den  Anthro¬ 
pologen  interessiert  besonders  die  Schilderung  der  Eskimos  und 
ihrer  Lebensweise,  wegen  der  hochgradigen  Anpassungsfähig¬ 
keit  der  Menschen  an  eine  ihm  ganz  feindliche  Natur.  Eine 
Reihe  von  Beobachtungen  über  Mongolenflecke  bei  Eskimos  bringt 
der  Verfasser  an  anderem  Orte  (Archiv  f.  Anthrop.,  Bd.  VI).  Die 
durchaus  lebendige  Schilderung  und  eine  Melnge  gelungener  Photo¬ 
graphien  verdienen  rühmend  hervorgehoben  zu  werden. 

Rudolf  Pö'ch. 


Aas  versehiedenen  Zeitschriften. 

131.  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Serumkrankheit. 
Von  Prof.  Johann  v.  Bökay  in  Budapest.  In  zwei  Fällen,  welche 
Verfasser  ausführlich  beschreibt,  wurden  zwei  aus  verschiedenen 
Familien  stammende,  an  Diphtherie  leidende  Kinder  (Mädchen 
im  Alter  von  sechs,  resp.  acht  Jahren)  in  derselben  Stunde 
mit  10  cm3  Pferdeserum  von  gleicher  Provenienz  und  —  dem 
Datum  der  Signatur  nach  —  von  der  gleichen  Füllung  und  dem¬ 
selben  Tiere  stammend,  geimpft  und  einige  Minuten  nach  der 
Injektion  erschienen  bereits  die  Symptome  der  Serumkrankheit, 
unter  denen  besonders  die  intensive  und  ziemlich  ausgedehnte 


Urtikaria  prävalierte.  Beide  Kinder  waren  zum  erstenmal  mit 
einem  Serum  geimpft  worden,  daher  man  von  Anaphylaxie  nicht 
sprechen  könne.  Sonst  geht  dieser  Serumkrankheit  stets  eine 
acht-  bis  zehntägige  Inkubationszeit  voraus.  Im  Budapester  Ste- 
phanie-Kinderspitale  w  urden  im  Jahre  1908  in  10°/o  der  Fälle 
Serumexanthem  beobachtet,  im  Jahre  1909  dagegen  trat  das 
Serumexanthem  ungewöhnlich  oft  auf,  von  184  mit  Serum  be¬ 
handelten  Diphtheriekranken  wurden  43  von  Exanthem  befallen, 
d.  h.  also  48"».  Die  zwei  oberwähnten  Fälle  fallen  auch  in 
das  Jahr  1909.  Im  Monate  Januar  stieg  sogar  das  Exanthem 
nach  Heilseruminjektionen  auf  50%  (11  von  23  Fällen),  in  allen 
Fällen  war  es  intensiv  und  anhaltend.  Alles  Serum,  das  in  diesem 
Monate  zur  Behandlung  verwendet  wurde,  war  mit  dem  gleichen 
Füllungsdatum  versehen  und  war  von  einem  und  demselben 
Pferde  gewonnen  worden.  Das  Serum  war  ferner  am  1.  No¬ 
vember  1908  gefüllt  worden,  hatte  also  vor  seiner  Benützung  nur 
zwei  Monate  lang  gelagert,  während  Bujwid  darauf  Wert  legt, 
daß  solches  Serum  stets  einige  Monate  lang  lageflte,  ehe  es  ver¬ 
wendet  wird.  Vett'f.  hält  es  aber  für  wahrscheinlich,  daß  die  Er¬ 
klärung  dafür,  daß  in  dem  fraglichen  Zeitraum  so  auffallend  oft 
und  so  intensives  Exanthem  beobachtet  wurde  und  in  zwei 
Fällen  sogar  sich  die  Inkubationszeit  der  Serumkrankheit  auf 
Minuten  reduzierte,  in  den  individuellen  Eigentümlich¬ 
keiten  jenes  Tieres  zu  suchen  sei,  von  dem  das  von  dem 
Verfasser  angewandte  Serum  gewonnen  wurde.  -  (Deutsche 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  1.)  E.  F. 

* 

132.  (Aus  dem  Karolinen-Kinderspitale  in  Wien.  Diri¬ 
gierender  Pr i i nararzt  Priv.-Doz.  Dr.  K n ö p f e  1  m a c h er.)  De b c r 
Hämagglutininreaktion  bei  ;Ser  umkrankheit.  Von 
Dr.  Felix  Bauer,  Assistent  des  Spitales.  Von  einer  charakteristi¬ 
schen  Reaktion  für  die  Serumkramkheit  des  Menschen  fordert 
man,  daß  sie  in  allen  ausgesprochenen  Fällen  deutlich  auftritt. 
Sie  muß  auch  weniger  intensiv  nach  jeder  Seruminjektion  ohne 
folgende  Serumkrankhtut  nachweisbar  sein.  Die  Präzipitinreaktion 
entspricht  nicht  diesen  Forderungen.  Lemaire  fand  sie  nur  in 
der  Hälfte  seiner  Fälle  von  Serumkrankheit.  Die  Komplement- 
ablenkungsreaktion  ist  noch  nicht  geprüft  worden.  Verfasser  be¬ 
richtet  nun  über  einen  neuen  Befund,  welcher  für  die  menschliche 
Serumkrankheit  charakteristisch  ist:  über  das  Auftreten  voll 
Hämaigglutininen.  Darunter  versteht  man  Körper  des  Serums, 
welche  isolierte  fremdartige  rote  Blutkörperchen  in  vitro  zu¬ 
sammenhallen.  Nach  bisheriger  Anschauung  war  die  Entstehung 
der  Hämagglutinine  an  vorherige  Injektion  entsprechender  roter 
Blutkörperchen  gebunden.  Im  Gegensatz  dazu  hat  Verfasser  fest- 
gestellt,  daß.  bei  Menschen  jeder  Injektion  des  üblichen  von  Blut¬ 
körperchen  freien  Diphtherieserums  Bildung  von  Hämagglutinincn 
regelmäßig  folgt.  Die  Technik  der  Reaktion  ist  sehr  einfach.  Sie 
unterscheidet  sich  von  derjenigen  der  Grub'er-VV  i  dal  sehen  Re¬ 
aktion  nur  dadurch,  daß  anstatt  der  Typhusbazillen  durch  Zentri¬ 
fugieren  vom  Serum  befreites  und  dreimal  mit  physiologischer 
Kochsalzlösung  in  der  Zentrifuge  gewaschenes  Pferdeblut  ver¬ 
wendet  wird.  Die  nötigen  Verdünnungen  werden  nach  der  Tropf¬ 
methode  hergestellt,  die  bei  horizontaler  Haltung  der  verwendeten 
Tropfkapillare  genügend  gleichmäßige  Resultate  gibt.  Bei  Unter¬ 
suchung  des  Serums  von  Kindern,  die  niemals  mit  Pferdeserum 
behandelt  worden  waren,  zeigte  sich,  daß.  das  Normalserum  in 
geringer,  nicht  ganz  konstanter  Menge,  doch  im  allgemeinen  nie¬ 
mals  bei  Verdünnung  1:50,  normalerweise  Hämagglutinine  gegen 
Pferdeblut  enthält.  Nur  in  einem  einzigen  nicht  geklärten  Falle 
fand  sich  ein  hoher  Wert:  komplette  Hämagglutination  bis  zur 
Verdünnung  1 : 100,  den  man  sonst  nur  hei  ausgesprochener  Serum¬ 
krankheit  findet.  Es  war  ein  achtmonatlicher  Säugling  mit  mon- 
goloider  Idiotie  und  Tetanie.  Eine  Seruminjektion  war  nicht  ge¬ 
macht  worden.  Was  nun  das  Verhalten  der  Hämagglutination 
nach  Seruminjektion  anlangt,  ergibt  sich  aus  einer  Tabelle  mit 
21  untersuchten  Fällen,  daß.  die  Steigerung  des  geringen  normalen 
Hämagglutiningehaltes  nach  der  ersten  Seruminjektion  ungefähr 
am  sechsten  Tage  beginnt  und  ihr  Maximum  analog  der  Präzipi¬ 
tinbildung  am  zwölften  Tage  erreicht.  Als  Maßstab  für  die  Serum¬ 
krankheit  gelteln  die  drei  Stufen :  kein  Serumexanthem,  lokales: 
Serumexanthem,  universelles  Serumexanthem.  Verf.  fand,  daß 
jeder  kompletten  Agglutination  bei  Verdünnung  1:200  stets  ein 


Nr.  6 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


211 


universelles  Serumexanthem  entsprach.  Bei  den  Versuchen,  ob 
eine  längere  Zeit  vorausgegangene  Reaktion  späterhin  durch  die 
Reaktion  nachweisbar  ist,  war  der  Nachweis  nur  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  möglich.  Einen  Schluß  auf  Seruminjektion  vor  längerer 
Zeit  kann  man  jedenfalls1  nur  aus  dem  positiven  Ausfall  der  Re¬ 
aktion  ziehen.  Nach  zweiter  Serum  Injektion  ist  der  Verlauf  der 
Hämagglutininbildung  ein  anderer.  Die  Vermehrung  beginnt  bereits 
am  dritten  Tage  und  erreicht  früher  eine  beträchtliche  Röhe.  In 
jedem  Falle,  kam  es  zur  Bildung  hoher  Agglutininwerte.  Verf.  hält 
als  Ergebnis  seiner  Versuche  die  Spezifität  der  Reaktion  für  ge¬ 
sichert.  Weiters  schlägt  er  vor,  die  Reaktion  zur  Lösung  der  Frage 
zu  verwenden,  ob  eine  Krankheit  auf  Anaphylaxie  zurückzuführen 
ist.  Dies  gilt  vor  allem1  für  die  Urtikaria.  Vorher  muß.  man  aber 
wissen,  ob  die  Hämagglutininbildung  auch  noch  durch  anderes 
als  Serumeiweiß  ausgelöst  werden  kann.  Versuche  am  Kaninchen 
haben  ergeben,  daß  auch  durch  Injektion  von  Hühnereiweiß  und 
menschlicher  Milch  Bildung  von  Hämagglutininein  für  Hühner-, 
bzw.  Menschenblutkörperchen  ausgelöst  werden  kann.  Verfasser 
nimmt  daher  an,  daß.  auch  beim!  Menschen  diese  Reaktion  durch 
andere  Eiweißüberempfindlichbeit  bewirkt  wird.  —  (Münchener 

mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  2.)  G. 

* 

133.  Die  Doppelhändigkeit  in  Schule  und  Leben. 
Von  Dr.  Eduard  Quirsfeld,  k.  k.  Oberbezirksarzt  in  Eger 
(Böhmen).  Man  mag  die  Ursache  der  Rechtshändigkeit  erklären 
wie  immer,  Tatsache  ist,  daß  die  Menschen  schon  seit  den 
ältesten  Zeiten  rechtshändig  waren  und  Erziehung  und  Gewohn¬ 
heit  machten  seither  das  Ihrige,  um  diese  Einhändigkeit  aufrecht 
zu  erhalten.  Es  besteht  indes  gar  kein  Grund,  so  starr  an  dem 
Althergebrachten  zu  halten.  Denn  es  gibt  keine  Lebenslage!, 
in  welcher  Doppelhändigkeit  für  uns  nachteilig  wäre,  dagegen 
gibt  es  im  Leben  zahllose  Beispiele  dafür,  daß  oft  der  Besitz 
von  nur  einer  geschickten  Hand  störend,  betrübend,  ja  ver¬ 
hängnisvoll  empfunden  wird;  Doppelhändigkeit  wäre  wohl  in 
solchen  Fällen  eine  kräftige  Unfallversicherung !  Doppelhändig¬ 
keit  ist  aber  auch  in  Verbindung  mit  größerer  geistiger  Leistungs¬ 
fähigkeit.  Behaupten  doch  feine  Beobachter  unter  den  Lehrern, 
daß  doppelhändige  Schüler  größere  Munterkeit,  Aufgewecktheit, 
Urteilsfähigkeit  besitzen  gegenüber  den  gleichaltrigen  Einhändern 
und  übertreffen  nicht  die  doppelhändigen  Japaner  sogar  unsere 
zivilisierten  Völkerschaften  an  Geist,  Willenskraft  und  Hand¬ 
kunstfertigkeit?  Und  das  läßt  sich  auch  ganz  gut  verstehen: 
denn,  wenn  bei  uns  Rechtshändern  das  Sprachzentrum  tatsächlich 
nur  in  der  linken  Gehirnhemisphäre  liegt,  wenn  also  diese  Ge¬ 
hirnhälfte  die  eigentliche  Quelle  unserer  geistigen  Kräfte  ist, 
so  haben  wir  sie  allein  durch  unsere  einseitige  Erziehung  (zur 
Quelle  aller  unserer  Leistungen  gemacht.  Wenn  wir  diese  Ein¬ 
seitigkeit  durch  Erziehung  zur  Doppelhändigkeit  wettmachen, 
so  arbeiten  wir  dann  mit  dem  ganzen,  nicht  mehr  mit  einem 
halben  Gehirn  und  muß  uns  dann  nicht  ceteris  paribus  die 
doppelte  geistige  Kraft  zur  Verfügung  stehen?  Welche  Perspek¬ 
tiven  eröffnen  sich  da  nicht  dem  Staate,  der  Gesellschaft,  wären 
alle  Menschen  Doppelhänder !  Bernhard,  Gaßmann  und 
Broca  haben  es  schon  als  eine  Pflicht  erklärt,  die  gesunden 
Kinder  auch  die  linke  Hand  gebrauchen  zu  lehren.  Sache  der 
Pädagogen  aber  ist  es,  unterstützt  von  Aerzten,  die  Erziehung 
zur  Doppelhändigkeit  in  den  Schulen  einzuführen.  Quirsfeld 
hält  diese  Erziehung  zum  mindesten  für  ebenso  wichtig  für  die 
heranreifenden  Geschlechter  als  die  Schularztinstitution!  Denn 
es  ist  nicht  weniger  wichtig,  die1  Jugend  zur  Vielseitigkeit,  zur 
Unabhängigkeit,  von  Zufall  und  Unglück  heranzubilden,  als  ein 
an  Geist  und  Körper  gesundes  Geschlecht  erziehen  zu  helfen. 
Die  Pflege  der  Doppelhändigkeit  wird  sich  als  die  wertvollste 
Neuerung  in  der  Erziehungskunst  unseres  Jahrhunderts  erweisen  ; 
sie  wird  dem  Menschen  eine  derart .  überragende  Höhe  geistiger 
und  physischer  Ueberlegenheit  wiedergeben,  die  unter  dem  herr¬ 
schenden  einseitigen  Regime  unerreicht  bleiben  wird.  —  (Der 
Amtsarzt,  Zeitschrift  für  öffentliches  Gesundheitswesen  1910, 

2.  Jahrg.',  Nr.  9.)  K.  S. 

* 

134.  Der  Beweg  iingsmecli an  ianäus  des  Auges,  er¬ 
läutert  an  der  Augenmuskellähmung  ohne  Sekun¬ 
därkontraktur  und  der  Lähmung  der  Sei  ten  wen  der 


bei  erhaltener  Konvergenz.  Von  Dr.  Carl  Kunn,  Privat¬ 
dozent  in  Wien.  Kunn  hat  eine  große  Zahl  von  Augenmuskel- 
lähmungen  beobachtet,  bei  welchen  trotz  teilweiser  oder  völliger 
Lähmung  eines  Seitenwenders  keine  Abweichung  des  Auges  nach 
der  Seite  des  Antagonisten  beim  Blick  geradeaus1  erfolgt  war, 
das  lahme  Auge  vielmehr  mit  seinem  Hornhautscheitel  in  der 
Lidspaltenmitte  symmetrisch  zu  seinem  Partner  stand.  Diese  merk¬ 
würdige  Erscheinung,  von  der  er  früher  geglaubt  hatte,  daß 
sie  nur  bei  angeborenen  Beweglichkeitsdefekten  dös  Auges  ver¬ 
kommen  könne  und  die,  wie  sich  jetzt  zeigt,  gar  nicht  so  selten 
bei  erworbenen  Lähmungen  anzutreffen  ist,  dient  zur  Erklä¬ 
rung  des  ganzen  Bewegungsmechanismus  der  Augen.  Man  muß 
sich  nach  Kunn  vorstellen,  daß  bei  Lähmung  eines  Seiten¬ 
wenders  dör  Bulbus  trachtet,  seine  primäre  Ruhelage  ein/.u- 
nlehmen,  geradeso  wie  bei  der  Skelettmuskulatur  die  Lähmung 
eines  Muskels  zur  Folge  hat,  daß  das  von  ihm1  versorgte  Gelenk 
eine  Mittelstellung  einnimmt,  um:  die  möglichste  Entspannung 
sämtlicher  Muskeln,  welche  die  Bewegungen  des1  betreffenden 
Gelenkes  beherrschen,  herbeizuführen.  Ausl  analogen  Gründen 
wird  das  Auge  jene  Stellung  einzunehmen  trachten,  bei  welcher 
alle  Muskeln  möglichst  eintspannt.  sind.  Diese  Stellung  fällt,  aber 
nicht  immer  mit  jener  zusammen,  bei  welcher  der  Hornhaut- 
scheitel  in  der  Lidspaltenmitte  steht..  Der  Punkt,  in  welchen 
sich  der  Hornhautscheitel  bei  völliger  Entspannung  aller  Muskeln 
stellt,  heißt  der  Indifferenzpunkt.  Fällt  er  seitlich  von  der  Lid¬ 
spaltenmitte,  dann  haben  wir  bei  Lähmung1  eines  Seitenwenders 
das  Bild  der  sogenannten  Sekundärkontraktur  vor  uns1,  die  also 
in1  Wahrheit  überhaupt  nicht  existiert.  Fällt  er  aber  zufällig  mit 
der  Lidspaltenmittel  zusammen,  dann  entsteht  die  sogenannte 
Lähmuüjg  ohne  Sekundärkontraktur.  Diese  Erklärung  genügt  auch, 
um  die  Seitenwenderlähmung  bei  erhaltener  Konvergenz  ohne 
Zuhilfenahme  der  Erkrankung  eigener  Zentren  zu  erklären.  Liegt 
der  Indifferenzpunkt  beiderseits  in  der  Lidspaltenmitte  und  erfolgt 
eine  beiderseitige  Lähmung  des  Rectus!  lateralis,  dann  werden 
die  Augen  symmetrisch  orientiert  mit  ihren  Hornhautscheiteln  in 
den  Lidspaltenmitten  stehen  bleiben,  die  Beweglichkeit  nach 
rechts  uhd  links  wird  aufgehoben,  die  Konvergenz  aber  völlig 
normal  sein  können.  Das  gleiche,  was  für  den  Mechanismus 
der  Seitenwender  gilt,  gilt  aber  auch  für  die  Hebung  und  Senkung. 
Damit  ist  bewiesen!,  daß  die  Theorie  Schnabels,  welche  be¬ 
hauptet,  daß  jeder  Seitenwender  das1  Auge  aus  einem  Lidwinkel 
in  den  anderen  führe  und  daß  die  Stellung  in  der  Lidspalten¬ 
mitte  das  Resultat  der  zweckmäßigen1  Kontraktion  sämtlicher 
exterioreln  Muskeln  sein  müs’se,  unhaltbar  ist.  Es  gilt,  vielmehr 
die  Annahme  von  Zuckerkandl  und  Erben,  die  nach  Ana¬ 
logie  mit  den  übrigen  Skelettmuskeln  behauptet  haben,  daß  jeder 
Seitenwender  das  Auge  nach  seiner  Seite  und  wieder  zurück 
in!  die  Lidspaltenmittel  führe,  mit  der  Einschränkung,  daß  eben, 
wie  Kunns  Fälle  neuerdings  beweisen,  die  Ruhestellung  nicht 
immer  mit  der  Lidspaltenmitte  zusammen  fällt.  Jeder  Seitenwender 
ist.  autonom  und  führt  das  Auge  ausi  der  primären  Ruhelage,  bei 
welcher  der  Hornhautscheitel  im  Indifferenzpunkt  steht,  in 
äußerste  Rechts-,  resp.  Linkswendung.  Die  Mittelstellung  des 
Auges  ist  nur  dann  das  Produkt  einer  Muskelaktion,  wenn  der' 
Indifferenzpunkt  nicht  in  der  Lidspaltenmitte  liegt.  Sonst  sind 
bei  Mittelstellung  sämtliche  Muskeln  ad  maximum  entspannt  und 
bei  Lähmung  eines  Seitenwenders  in  einem  solchen  Falle  keine 
Abweichung  des  Auges  im  Sinne  des  Antagonisten  konstatierbar. 
Somit  ist  durch  rein  klinische  Beobachtung  und  die  daraus' 
gezogenein  Schlüsse  die  Lösung  des  physiologischen  Problems, 
welches  der  Bewegungsmechanismus  der  Augen  darstellt  und  das 
bisher  völlig  kontrovers  war,  möglich.  Ungefähr  30  interessante 
Krankengeschichten  mit  eingehenden  Epikrisen  illustrieren  die 
Ansichten  des  Autors!  auf  das  wirksamste.  Bezüglich  der  viel¬ 
fachen  wichtigen  Bemerkungen,  welche  Details  und  benachbarte 
Gebiete  betreffen,  sei  auf  das  Original  verwiesen.  —  (Separat¬ 
abdruck  aus  Beiträge  zur  Augenheilkunde  1910,  H.  76.)  Pi. 

* 

135.  (Aus  den  Anstalten  für  Epileptische  zu  Bethel  bei 
Bielefeld.)  Ueber  Megalenzephalie.  Von  Oberarzt  Dr.  Vol- 
lan  d.  Verf.  beschreibt,  einen  Fall  Von  Megalenzephalie.  Der  Fall  ist 
klinisch  und  anatomisch  genau  mitgeteilt.  Interessant  ist  an  dem 
Fall  die  Kombination  der  Megalenzephalie  mit.  persistierender 


212 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


Thymus,  abnormen  Bau  der  Schilddrüse,  Angiom  an  der  linken 
Hand  und  linksseitiger  Inguinalhernie.  Verf.  ist  geneigt,  alle  diese 
Faktoren  auf  gemeinsamer  Basis  beruhend  anzusehen,  als  Stü-’ 
rungen  in  der  betreffenden  Körperanlage  und  -entwicklung.  — - 
Das  Gehirn  war  1874  g  schwer,  symmetrisch  gebaut,  die  ein¬ 
zelnen  Teile  gleichmäßig  vergrößert,  die  Windungen  breit  und 
plump,  die  Seitenventrikel  eng,  die  Hydrozephalusflüssigkeit  spär¬ 
lich.  Das  Rückenmark  war  etwas  voluminöser  als  sonst.  Aus 
dem  histologischen  Befunde  sei  die  über  die  ganze  Hirnrinde 
ausgebreitete  Chaslinsche  Gliose  besonders  hervorgehoben.  - 
Der  Kranke  war  mit  großem  Kopfe  geboren  worden.  Seit  dem 
14.  Lebensjahre  hatte  er  an  Epilepsie  gelitten,  war  verblödet 
und,  21  Jahre  alt,  an  Pneumonie  gestorben.  —  (Archiv  für  Psy¬ 
chiatrie  und  Neurologie,  Bd.  47,  H.  3.)  S. 

* 

136 .  U‘ e b e r  F i e b e r  bei  malig n e n  Ni e r e n-  u n d  N e- 
bennier  engeschwülsten.  Von  Prof.  Dr.  .1.  Israel  in 
Berlin.  Niehl  nur  bei  Magen-,  Darm-  und  Uteruskrebsen,  auch 
bei  malignen  Nieren-  und  Nebennieren  tumoren  wird  Fieber  beob¬ 
achtet,  was  zu  wenig  bekannt  ist.  Selbstverständlich  handelt  es 
sich  um  Fälle,  die  von  keinen  Komplikationen,  z.  B.  pyelo- 
nephr bischer  Infektion  oder  sekundärer  Erkrankung  der  serösen 
Häute  begleitet  sind,  um  Fälle  also,  bei  welchen  die  Temperatur- 
Steigerung  ein  Symptom  der  Neubildung  ist.  Man  muß  es 
aber  deshalb  wisöe'n,  weil  sonst  auch  diagnostische  Fehlschlüsse 
unterlaufen,  daß  z.  B.  ein  linkseitiger  Nierentumor  mit  intermittie¬ 
rendem  Fieber  auf  Grund  dieses  Fiebers1  für  eine  Malariamilz 
gehalten  wurde,  daß  man  einen  Nierentumor  übersah,  das  Fieber 
auf  eine  nicht  nachweisbare  Lungen-  oder  Bronchialtuberkulose 
bezog  und  den  Kranken  in  ein  Lungensanatorium  schickte.  Der 
Verfasser  hat  den  Fall  später  operiert.  Die  Sache  ist  also  prak¬ 
tisch  wichtig,  ist  aber  trotzdem  nur  von  wenigen  Autoren  bisher 
gewürdigt  worden.  Verl,  hat  seit  1895  schon  18 mal  unter  146 
operierten  Fällen  einen  fieberhaften  Verlauf  bei  Nieren-  und 
Nebennierentumoren  ohne  fiebererzeugende  Komplikationen  beob¬ 
achtet,  zwölf  Fälle  wurden  operiert.  Das1  Fieber  ist  entweder 
ein  initiales,  es  setzt  zugleich  mit  den  ersten  Tumorsymptomen 
ein,  oder  es  stellt  selbst  die  erste  und  für  lange  Zeit  einzige 
Krankheitsäußerung  dar,  bevor  eine  Geschwulstentwicklung  zu 
erkennen  ist.  Das  Fieber  kann  auch  ein  interkurrierendes,  regel¬ 
los  im  Kranlvheitsyerlaufe  eintretendes;,  oder  ein  finales  sein. 
Der  Typus  dieses!  Fiebers  isl,  der  des  remittierenden  oder  inter¬ 
mittierenden,  oder  der  eines  Rückfallfiebers  (die  hohe-  Tempe¬ 
ratur  setzt  alle  fünf  bis  sieben  Tage  mit  Schüttelfrösten  ein),  oder 
die  Fieberanfälle  stehen  in  zeitlicher  Beziehung  zu  Hämatu¬ 
rien,  sie  .  gehen  diesen  voran  oder  folgen  der  Hämaturie, 
In  fünf  von  sieben  Fällen  schwand  das  Fieber  vollständig 
nach  der  Operation,  die  unvollständige  Operation  (zwei  Fälle) 
war  auf  das  Fieber  ohne-  Einfluß;  diese  Erfahrung  beweist  mit 
Sicherheit  die  Abhängigkeit,  des  Fiebers  von  der  Neubildung. 
Zu  demselben  Schlüsse  führt  ebenso-  das  Erscheinen  von  Fieber 
mit  dem  Auftreten  von  Metastasen  oder  einer  plötzlich  er¬ 
wachenden  Wachstumsenergie  zurückgebliebener,  bis  dahin  la¬ 
tenter  Geschwulstkeime.  Bezüglich  der  fiebererzeugenden  Noxe 
führt  Verf.  aus,  daß,  wenn  die  Malignität  einer  Neubildung  darin 
besteht,  daß  sie  schrankenlos  wuchert  und  die  normalen  Ge¬ 
webe  zerstört,  dann  das  Fieber  bei  bösartigen  Tumoren  von 
Stoffen  ab  hängen  müsse,  welche  von  den  schnell  wuchernden 
G-eischwulslzelletn  erzeugt  werden,  oder  von  solchen,  die  durch 
die-  Zerstörung  der  normalen  Zellen  -entstehen.  Verhält  sich  das 
so,  dann  ließe  sich  -erwarten,  daß  bei  ungewöhnlich  großer  Wachs¬ 
tumsenergie  ein  begleitendes  Fieber  häufiger  gefunden  wird. 
Die  Beobachtungen  des  Verfassers  haben  gezeigt,  daß  das  tat¬ 
sächlich  der  Fäll  ist.  Ueber  die  Ursache  dieses  Fiebers  wissen 
wir  also  nur  soviel  sicher,  daß  es  ein  Produkt  der  Malignität 
ist,  unabhängig  von  sekundären  Veränderungen,  wie  den  nekro- 
biotischen  Prozessen  der  regressiven  Metamorphose  oder  den 
Zerfallsprozessein  durch  Einwirkung  von  Mikroorganismen.  Zum 
Schlüsse  -erörtert  Verf.  die  wichtige  Frage-,  ob  man;  aus  einem 
fieberhaften  Verlauf  der  malignen  Tumoren  prognostische 
Schlüsse  auf  den  Erfolg  einer  Exstirpation  ziehen  dürfe.  Die 
Erfahrungen,  des  Verfassers  gehen  dahin,  daß  die  unmittelbaren 
Operationsresultate  bei  den  Fiebernden  ungünstiger  als  bei  den 


Fieber  losein  sind.  Hinsichtlich  der  Dauerresultate  dürfe  man  wohl 
vermuten,  daß  Fieber  eher  tun  ungünstiges  Zeichen  ist,  da  rapides 
Wachstum,  metastatische  Dissemination  oder  Ausbreitung  des 
Tumors  über  die  Grenzen  der  Niere  hinaus  nicht  selten  unter 
den  Fieberndem  zu  finden  ist.  Immerhin  gibt  es  aber  auch  Fälle, 
welche  trotz  Fiebers  keinen  prognostisch  ungünstigeren  Eindruck 
machen  als  viele  afebrile,  indem  sie  weder  Propagation,  noch 
Verbreitung  auf  Drüsen,  noch  Metastasen  usw.  erkennen  ließen. 
Es  folgern  endlich  kurze  Auszüge-  aus  14  Krankengeschichten. 
(Deutsche  medizin.  Wochenschrift  1911,  Nr.  2.)  E.  F. 

* 

137.  Oleum  Caryophylli  bei  Lungentuberkulose. 
Von  Landis  und  Hartz.  Landis  und  Hartz  verordnen* 
Ol.  Caryophill.  Syr.  Sen-eg.  ana  7-1,  Bxtr.  Glycirrhiz.  42-0, 
Aq.  d.  ad  710  (?):  S.  dreimal  täglich  ein  Teelöffel  nach  den 
Mahlzeiten.  Sie  fanden,  daß  in  zahlreichen  Fällen  der  quälende 
Husten  sich  vermindert,  die  Menge  des  Auswurfs  abnimmt, 
weniger  klumpig  wird  und  'sich  in  seiner  Beschaffenheit  {mehr 
dem  natürlichen  Speichel  nähert,  —  (Korrespondenzblatt  für 

Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg.  Nr.  29.)  K.  S. 

* 

138.  (Aus  der  chirurgischem  Universitätsklinik  zu  Königs¬ 
berg  i.  Pr.  -  Direktor:  Prof.  Dr.  E.  Payr.)  Erfolgreiche-  di 
rekte  Herzmassage  bei-Narkos-ensch-eintod.  Von  Doktor 
A.  T.  J  uras  z,  Volontärassistent.  In  dem  mitg-e-teilten  Falle,  bei 
einer  50jährigen  Patientin  mit  einem  Pyloruskarzinom1,  sehen  wir, 
daß- ein  scheinbar  toter  Herzmuskel  durch  die  subdiaphragmatische 
direkte  Herzmassage  im  Verein  mit  künstlicher  Atmung  nach  etwa 
acht  Minuten  vom  Einsetzen  der  Synkope  an  zum'  Lebten  wieder 
geweckt  wurde  und  trotz  fortgesetzter  Narkose-  und  weiterem  ope¬ 
rativem  Eingreifen  keine  fernere  Störung  in  seiner  Funktion  auf¬ 
wies.  Nach  Verfasser  ein  glänzender  Beweis  für  die  Berechtigung 
und  den  Wert  dieser  Methode.  Bemerkenswert  ist  in  diesem  Falle, 
daß  die  einsetzende  Herztätigkeit  anfangs  wieder  erlosch,  indem 
die  schwachen  spontanen  Kontraktionen  die  weitere  Unterstützung 
durch  Kunsthilfe  zunächst  noch  nicht  entbehren  konnten.  Ver¬ 
fasser  zitiert  aus  der  Literatur  bisher  64  Fälle,  in  denen  die-  direkte 
Herzmassage  angewendet  wurde.  Die  Gesamtzahl  der  Dauerhei¬ 
lungen  stellt  sich  auf  13  Fälle  =  23-3% ;  davon  auf  die  subdia¬ 
phragmatische.  Methode  11,  die  thorakale  2,  während  hei  der 
transdiaphragmatischen  noch 'kein  einziger  Fall  durchgekommen 
ist.  Die  Erfahrung  lehrt  auch,  daß  je  eher  die  direkte  Herzmassage 
nach  Einsetzen  der  Synkope  eingeleitet  wird,  um  so  größere 
Aussicht  auf  einen  dauernden  Erfolg  besteht.  Cackovic  hält 
wegen  des  schweren  Eingriffes  die  Laparotomie  erst  dann  für  be¬ 
rechtigt,  wenn  alle-  anderen  üblichen  Mittel  zur  Wiederbelebung 
fünf  Minuten  lang  versagt  haben.  Verf.  ist  der  Ansicht,  daß-  man 
ohne  weiteres,  wenn  die  Bauchhöhle  bei  der  Operation  bereits 
eröffnet  ist,  die  subdiaphragmatische  Herzmassage  anwenden  soll. 
Unter  allen  Umständen  glaubt  er,  daß  nicht  über  fünf  Minuten 
gewartet  werden  soll.  Fast  ebenso  wichtig  wie  die  mechanische 
Reizung  des  Herzens  ist  die  Zufuhr  von  Sauerstoff  für  den  kohlen- 
säureschwangeren  Organismus,  um  der  drohenden  Vergiftung  vor¬ 
zubeugen.  Das  Meitzer  sehe  Insufflationsverfahren  mit  Hilfe 
einer  Sauerstoffbombe-  mit  dem  Roth-  D-r  äg  e  rschen  Ventil  dürfte 
hiezu  am  geeignetsten  sein.  Das  Vorgehen  bei  einem  plötzlichen 
Narkosentode  ist  nach  Verf.  kurz  zusammengefaßt  folgendes :  Man 
soll  beim  Versagen  der  üblichen  äußeren  Herzreizmittel  nach 
spätestens  fünf  Minuten  den  Rauch  in  der  Mittellinie  des  'Epi¬ 
gastriums  eröffnen,  das  Herz,  durch  das  Zwerchfell  hindurch 
zwischen  Daumen  und  die  beiden  folgenden  Finger  zu  fassen 
suchen'  und  dasselbe-  in  langsamen,  rhythmischen  Kontraktionen 
zusammenpressen.  Gleichzeitig  ist  die  künstliche  Atmung,  be¬ 
ziehungsweise  direkte  Sauerstoffinsufflation  zu  bewerkstelligen 
unter  gleichzeitiger  Darreichung  von  subkutanen  Herzexzitantien. 
Die  Massage  und  künstliche-  Atmung  sind  kurze  Zeit  über  die 
ersten  spontanen  Flerzkontraktionen  und  Atemzüge  hinaus  fortzu¬ 
setzen.  Um  keine  Zeit  mit  der  äußeren  Desinfektion  zu  verlieren, 
empfiehlt  Verf.  die  Grossichsche  .Todtinkturdesinfektion,  wie 
sie  in  der  Payrsc.hen  Klinik  üblich  ist,  für  die  einzuführende 
Hand  einen  sterilen  Gummihandschuh.  Sollte  man  das  Zwerch¬ 
fell  stark  gespannt  vorfinden,  dann  müßte  man  den  transdiaphrag¬ 
matischen  Weg  wählen,  wobei  ganz  besondere  Sorgfalt  zur  Scho- 


Nr.  6 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


2!3 


nung  der  Pleura  anzuwenden  ist.  —  (Münchener  mediz.  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  2.)  G. 

♦ 

139.  (Aus  dem  Allgemeinen  Krankenhause  Hamburg-Eppen¬ 

dorf.  —  Abteilung:  Oberarzt  Dr.  Nonne).  Zur  Frage  der 
traumatischen  Paralyse.  Von  Dr.  Friedrich  Wo  hl  will, 
Assistenzarzt.  Gibt  es  eine  rein  traumatische  Paralyse,  das  heißt 
eine  Paralyse,  deren  einzige  Ursache  eine  Kopfverletzung  ist? 
Die  serologische  Untersuchung  hat  diese  Frage  im  verneinenden 
Sinne  zum  Abschluß  gebracht.  Nun  aber  steht  eine  andere  Frage 
im  Vordergründe:  Kann  eine  Kopfverletzung  die  Paralyse  aus- 
lösen?  An  der  Hand  von  63  auserlesenen  Fällen  ist  der  Verfasser 
dieser  Frage  näher  getreten.  Es  waren  Fälle  sicherer  Paralyse 
und  ein  Zusammenhang  zwischen  Trauma  und  Paralyse  war  in 
allen  Fällen  anzunehmen.  Aber  weder  in  bezug  auf  den  Beginn, 
noch  in  bezug  auf  den  Verlauf  oder  auf  die  Symptome  ließ  sich  ein 
Einfluß  der  Kopfverletzung  auf  die  Paralyse  erweisen  und  trotz 
intensiven  Sucheins  nach  einem  solchen  Einfluß  konnte  derselbe 
nicht  gefunden  werden.  Daß  Verschlimmerungen  einer  schon 
bestehenden  Paralyse  durch  Schädeltraumen  Vorkommen  können, 
ist  sicher,  aber  mit  der  Annahme  einer  Auslösung  der;  Paralyse 
durch  das  Trauma  muß  man  sehr  zurückhaltend  sein,  eine  Sache, 
die  von  forensischer  Bedeutung  ist.  —  (Archiv  für  Psychiatrie 
und  Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  H.  3.)  S- 

* 

140.  Der  Plattfuß.  Von  Dr.  Muskat- Berlin,  Spezial- 

arzt  für  orthopädische  Chirurgie.  Nach  Muskat  sind  die  Sym¬ 
ptome  des  Plattfußes  außerordentlich  variabel;  die  von  Hue t er 
als  typisch  beizeichneten  Druckpunkte  können  völlig  fehlen, 
während  dafür  Druckschmerzen  an  anderen  Stellen  nachweisbar 
sind  und  die  Schmerzen  vom.  Fuß  über  das  ganze  Bein  bis 
zum  Knie  und  Hüftgelenk,  ja  bis  zum  Rücken  ausstrahlen  können. 
Die  Diagnose  ist  nicht  ohne  weiteres  zu  stellen  und  wird  auf 
ganz  falsche  Wege  geleitet,  wenn  zur  Empfindung  schneller  Er¬ 
müdbarkeit  das  Gefühl  der  Unlust  zu  jeder  körperlichen  Tätigkeit, 
ein  Nachlassen  der  Spannkraft,  eine  gewisse  Trägheit  sich  gesellt. 
Neurastheniker  solcher  Art  sind  es  aber  durch  ihren  L’Iattfuß 
geworden  und  ihre  neurasthenischen  Erscheinungen  verschwinden, 
sobald  der  dabei  vorhandene  Plattfuß  durch  geeignete  .Ma߬ 
nahmen  beseitigt  ist.  Bei  dem  noch  so  überaus  dunklen  und 
ungeklärten  Wesen  der  Neurasthenie  und  ihrer  noch  mein  um¬ 
strittenen  Behandlung  wird  es  nach  Muskat  von  großem  Werte 
sein,  in  jedem  Falle  von  Neurasthenie  an  die  Möglichkeit  eines 
ursächlichen  Plattfußes  zu  denken.  —  (Fortschritte  der  Medizin 
1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  42.)  N-  S. 

* 

141.  Austritt  einer  epigas  tri  sichen  Hernie  durch 
eine  Lücke  im  Schwertfortsatz.  Von  Dr.  K.  Fritsch, 
Assistent  der  chirurgischen  Klinik  in  Breslau  (Prof.  Küttner). 
Ein  54  Jahre  alter  Mann  litt  seit  einem  halben  Jahre  an  zeitweise, 
besonders  nach  dem  Essen  auftretenden  Schmerzen  in  der  Magen¬ 
gegend,  erbrach  auch  einige  Male.  Etwas  oberhalb  des  unteien 
Endes  des  Processus  xiphoides  sieht  und  fühlt  man  unter  der 
unveränderten  Haut  eine  flache  Geschwulst,  von  weicher  Kon¬ 
sistenz  und  Größe  etwa  einer  halben  Walnuß.  Eine  ebensolche 
Geschwulst  etwa  5  cm  unterhalb,  genau  in  der  Mittellinie.  Die 
obere  Her  vor  Wölbung  tritt  bei  Hustenstößen  und  beim  Pressen 
besonders  stark  hervor,  läßt  sich  in  horizontaler  Läge  fast  gänzlich 
zurückdrücken,  wobei  man  im  unteren  Ende  des  Schwertfortsatzes 
eine  Delle  fühlt.  Die  untere  epigastrische  Hernie  läßt  sich  nicht 
reponieren  und  tritt  auch  beim  Husten  nicht  hervor.  Diagnose  : 
Zwei  epigastrische  Hernien,  von  denen  die  obere  durch  ein 
im  Processus  xiphoides  befindliches  Loch  hervorgetreten  ist. 
Die  Operation  bestätigt  die  Diagnose,  die  zwei  Hernien  sind  durch 
ein  präperitoneales  Lipom  bedingt,  wohl  reichlich  hühnereigroß, 
das  sich  überall  hervordrängte.'  Bei  der  Entfernung  des  unteren 
Anteiles  wurde  ein  Teil  des  Peritoneums,  an  dem  das  Lipom  fest 
verwachsen  war,  mitentfernt.  Das  Loch  im  Schwertfortsatz  wurde 
durch  eine  Muskelplatte  aus  dem  Rectus!  abdominis  gedeckt  und 
so  verschlossen.  Glatter  Verlauf,  Heilung.  Verf.  erklärt  entwick¬ 
lungsgeschichtlich  das  Entstehen  eines  solchen  Foramens  im 
Schwertfortsatz  und  zeigt,  daß  es  sich  hier  um  eine  Hemmungs¬ 


mißbildung  gehandelt  habe.  Solche  als  Hemmungsmißbildung  auf¬ 
zufassende  Lücken  können  wohl  auch  weiter  distal  in  den  Fas¬ 
zien  der  Linea  alba  Vorkommen  und  werden  dann  die  Austritts¬ 
pforten  einer  epigastrischen  Hernie  bilden.  Faßt  man  die  media¬ 
nen,  präperitonealen  Lipome  als  fissurale  Tumoren  auf,  so  be¬ 
kommt  die  Aetiologie  der  epigastrischen  Hernien  einen  entwick¬ 
lungsgeschichtlichen  Hintergrund,  zumal  wenn  dieses  Zusammen¬ 
treffen  von  epigastrischen  Hernien  und  einer  Lücke  im  Schwert¬ 
fortsatz  häufiger  beobachtet  werden  würde.  —  (Berliner  klinische 

Wochenschrift  1911,  Nr.  1.)  E.  F 

* 

142.  Ueber  Formaldehyddesinfektion.  Von  Professor 
Dr.  G.  Kabrhel -Prag.  In;  die  Wirkung  der  Formaldehyddesinfek¬ 
tion;  greifen  verschiedene  veränderliche  Faktoren,  die  in  der  prak¬ 
tischen  Ausführung  nicht  so  leicht  zu  beherrschen  sind,  ein.  Der 
schwierigste  Punkt  bei  praktischer  Ausführung  der  Formaldehyd¬ 
desinfektion  besteht  in  der  Erhaltung  der  Gaskonzentration  und 
der  erforderlichen  Luftfeuchtigkeit,  infolgedessen  die  Sicherheit 
der  Desinfektionswirkung  sich  bedeutend  verändern  kann.  Jeden¬ 
falls  ist,  die  Wirksamkeit  der  Formaljdehyddesinfektion  unter  allen 
Umständen  nicht  vollständig  beherrschbar  und  es  ist  nötig, 
gegen  das  schablonenmäßige  bequeme  Desinfizieren  mit  Formal¬ 
dehyd  um  so  mehr  aufzutreten,  als  in  einzelnen  Fällen  das  gleiche 
Resultat,  wenn  nicht  gar  ein  noch  verläßlicheres,  sich  sehr  wohl 
auch  auf  anderem  Wege  und  das  mit  einem  bedeutend  geringeren 
Kostenaufwande  (in  der  Landpraxis  von  Bedeutung)  erzielen 
läßt.  Kabrhel  verweist  hiebei  auf  das  U ebertünchen  der  Wände 
mit  Kalk,  Abwaschen  der  Fußböden  und  Gebrauchsgegenstände 
mit  'wirksamen  Desinfeklionsflüssigkeiten.  Besonders  bei  der  Des¬ 
infektion  von  Schulen,  aber  auch  Privatwohnungen,  wird  im  ge¬ 
gebenen  Falle  zu  erwägen  sein,  ob  nicht  auf  die  teuere  und 
doch  nicht  unter  allen  Umständen  verläßliche  Formaldehyddes¬ 
infektion  besser  verzichtet  werden  kann  zugunsten  älterer,  billi¬ 
gerer  Methoden,  die  unter  gegebenen  konkreten  Verhältnissen 
ebenso  sichere  Wirkung  ergeben.  : —  (Der  Amtsarzt,  Zeitschrift 
für  öffentliches  Gesundheitswesen  1910,  2.  Jahrg.,  Nr.  8.) 

K.  S. 

* 

143.  (Aus  der  k.  k.  dermatologischein  Universitätsklinik 
für  Hautkrankheiten.  —  Vorstand:  Prof.  Dr.  C.  Kreibich.) 
U e b e r t r  a g u n g  v o n  Antipyri n ü b e r ein pfindlichkei  I 
auf  Meerschweinchen.  Von  Dr.  E.  Klausner.  Der  Ver¬ 
fasser  berichtet  über  einen  Fall,  bei  welchem  es  in  mehreren 
Versuchsreihen  gelang,  die  Ueberempfindlichkeit  gegen  Antipy- 
rin  in  einwandfreier  Weise  auf  das  Tier  zu  übertragen.  Ein 
29  Jahre  alter  Gendarmeriepostenführer  gab  an,  daß  er  seil 
Kindheit  auf  kleinste  Mengen  von  Antipyrin  stets  mit  dem 
gleichen  Bilde  der  Erscheinungen  antworte.  Dasselbe  war  bei 
seinem  jetzigen  Spitalsaufenthalte  der  Fall.  Interessant  ist,  daß 
die  Ueberempfindlichkeit  nicht  für  die  anderen  Mittel  der  Anti- 
pyrihgruppe  bestand,  so  daß  Pyramidon  anstandslos  vertragen 
wurde,  während  sich  sonst  gewöhnlich  die  Ueberempfindlichkeit 
auf  die  ganze  Pyräzolon gruppe  erstreckt.  Zu  den  Versuchen 
wurden  350  g  schwere  Meerschweinchen  verwendet,  die  nor¬ 
malerweise  bei  subkutaner  Injektion  von  0-3  Antipyrin  niemals 
schwere  Vergiftungserscheinungen  aufwiesen.  Es  wurden  dem 
Patienten  zu  verschiedenen  Zeiten  größere  Mengen  Blutes  ent¬ 
nommen  und  mit  dem  Serum  Versuche  so  angestellt,  daß  in 
einer  Versuchsreihe  drei  Tiere  mit  je  5  cnr5  frischem  Serum 
subkutan  injiziert  wurden,  ein  viertes  Tier  bekam  5  cnr'  von 
einem  normalen  Menschen,  ein  fünftes  Tier  diente  als  Kont roll- 
tier.  Nach  24  Stunden  bekam  eines  der  drei  ersten  Tiere,  dann 
das  vierte  und  fünfte  Tier  je  0-3  Antipyrin  subkutan.  Das  erste 
Tier  bekam  zuerst  schwere  klonisch -tonische*  Krämpfe  und  starb 
nach  wenigen  Stunden,  während  die  Konfrontiere  sich  normal 
verhielten.  Das  zweite  Tier  verendete  nach  mehreren  Stunden, 
die  beiden  Tiere,  das  vierte  und  fünfte,  vertrugen  die  Reinjek- 
tion  von  Antipyrin  ohne  jede  Störung.  Nach  acht  Tagen  wurde 
das  dritte  Tier  des  ersten  Versuches  mit  zwei  neuen  Kontroll- 
tieren  mit  0-3  Antipyrin  behandelt;  die  Ueberempfindlichkeit  war 
beim  dritten  Tiere  äußerst  hochgradig  ausgesprochen,  es  erholte 
sich  aber  nach  zwölf  Stunden  langsam  wieder.  Die  Konfrontiere 
verhielten  sich  normal.  Der  Symptomtenkomplex  war  also  in 


214 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


allen  Fällen  ( I er  gleiche  und  Verf.  konnte  in  zwei  weiteren 
\  ersuchsreihein  denselben  in  der  gleichen  Weise  hervorrufen.  Ja, 
(>s  gelang  auch  die  Antipyrinüberempfindlichkeit  der  betreffenden 
Patienten  von  einem  Tiere  auf  ein  zweites  zu  übertragen.  Hiemit 
ist  vom  Verfasser,  wie  von  Bruck,  der  Beweis  erbracht  worden, 
daß  Ueberemp f ind  1  i clikoi t  gegen  Arzneimittel  im  Sinne’  echter 
Anaphylaxie  auf  das  Tier  übertragen  werden  kann.  —  (Mün¬ 
chener  meldiz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  3.)  G. 

* 

144.  Einfluß  von  Schwangerschaft,  Geburt  und 

Wochenbett  auf  den  Verlauf  einer  vorher  schon  be¬ 
stehenden  chronischen  Psychose,  sowie  das  eigene 
V  orhalten  dieser  Generationsvorgänge.  Von  Medizinal- 
rat  Prof.  Dr.  F.  Nücke  in  Hubertusburg.  In  zwölf  Fällen,  welche 
Verf.  mitteilt,  hatten  Schwangerschaft,  Geburt  und  Wochenbett 
auf  den  Verlauf  eine]"  bestehenden  chronischen  Psychose  keinen 
nachweisbaren  Einfluß,  Entbindung  und  Wochenbett  gingen  nor¬ 
mal  vor  sich.  Die  Mutter  kümmerte  sich  meistens  um  das 
Neugeborene  nicht.  Verf.  bespricht  weiters  noch  kurz  die  Rolle 
der  Generationspsychosen  in  der  Aetiologie  der  Psychosen.  Er 
warnt  vor  Uebertreibungen  in  dieser  Sache,  obgleich  zuweilen 
ein  Zusammenhang  zwischen  Generationspsychosen  und  Psy¬ 
chosen  vorhanden  ist.  Auch  die  Frage  der  künstlichen  Frühgeburt 
bei  schwangeren  Geisteskranken  streift  der  Verfasser.  Er  em¬ 
pfiehlt,  die  Einleitung  des  Abortus  nur  in  Ausnahmsfällen.  Wo 
ein  sicherer  Zusammenhang  zwischen  Gravidität  und  Psychose 
besieht,  wäre  zur  Verhütung  weiterer  Erkrankung  der  Frau  die 
doppelseitige  Exzision  der  Eileiter  zu  empfehlen,  um  künftige 
Schwangerschaft  und  eventuelle  Vererbung  zu  verhüten.  Bei 
chronischen  degenerativen  Psychosen  wäre  die  Sterilisation  be¬ 
sonders  in  Erwägung  zu  ziehen.  Bei  entsprechender  Aufsicht  ist 
gegen  das  Stillen  des  Kindes  durch  die  geisteskranke  Mutter 
nichts  einzuwenden.  -  (Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie 
und  psychisch -gerichtliche  Medizin,  Bd.  68,  H.  1.)  S. 

* 

145.  Tetanus  mit  letalem  Ausgang  infolge  von 

Fruchtabtreibung.  Von  Dr.  Julius  Kraus,  k.  k.  Polizei¬ 
bezirksarzt  in  Wien.  Die  Fruchtabtreibung  wurde  bewirkt  durch 
wiederholtes  Einlegen  einer  Wurzel  von  Malva  communis  in 
die  Scheide  (Verletzungen  des  Genitaltraktes  waren  bei  der 
Sektion  nicht  nachweisbar).  Etwa  zehn  Tage  nach  der  Frucht¬ 
abtreibung  traten  die  ersten  Erscheinungen  von  Tetanus  auf. 
Bei  der  Wohnungsrevision  der  Fruchtabtreiberin  fand  man  meh¬ 
rere  ganze  Pflanzen,  deren  Wurzeln  weich,  biegsam  und  stark 
mit  Erde  verunreinigt  waren.  Mäuse,  welche  mit  einer  Auf¬ 
schwemmung  aus  den  erdigen  Anhängen  der  Wurzeln  infiziert 
wurden,  gingen  an  Tetanus  zugrunde.  Es  ist  also  zweifelllos. 
daß  die  Frau  durch  den  Eingriff  mit  Tetanuskeimen  infiziert 
worden  ist.  —  (Der  Amtsarzt,  Zeitschrift  für  öffentliches  Ge¬ 
sundheitswesen  1910,  2.  Jahtg.,  Nr.  7.)  K.  S. 

* 

146.  (Aus  der  akademischen  Klinik  für  Kinderheilkunde 

in  Düsseldorf.  —  Direktor:  Prof.  Dr.  Schloß  mann.)  Ueber 
eine  Reaktion  des  Urins  von  Brustkindern.  Von 
St.  Engel  und  L.  Turn  au.  Zur  Unterscheidung  der  Urine  von 
Brust-  und  Flaschenkindern  kann  man  sich  des  folgenden  Ver¬ 
fahrens  bedienen :  Zu  etwa  5  cm3  Urin  werden  ohne  Ansäuern 
15  bis  20  Tropfen  (zirka  1  cm3)  einer  2%igen  Silbernitratlösung 
hinzugefügt.  Man  läßt,  nun  zirka  10  Minuten  ruhig  stehen.  Tritt 
eine  schnelle  Schwarzfärbung  des  Niederschlages  ein,  so  hat  man 
es  mit  einem  sicheren  Brustkindurin  zu  tun.  Will  man  sich  noch 
schneller  orientieren,  so  koche  man  nach  Zusatz,  des  Reagens1 
auf.  Bleibt  der  Niederschlag  weiß  oder  nur  schwach  gefärbt, 
so  kommt  der  Urin1  sicher  von  keinem1  Brustkind.  Wird  die  Ver¬ 
färbung  einigermaßen  intensiv,  so  muß  man  das  ganze,  um  zu 
einer  Entscheidung  zu  kommen,  bei  Zimmertemperatur  wieder¬ 
holen.  Man  kann  also  mit  dieser  einfachen  Probe  sofort  den  Urin 
eines  Brustkindes  von  dem  eines  Kuhmilchkindes  unterscheiden. 
Eine  Erklärung  wird  nicht  gegeben.  —  (Berliner  klinische  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  1.)  E.  F. 

* 

147.  (Aus  der  Klinik  für  Geisteis-  und  Nervenkrankheiten 
zu  Halle  a.  d.  S.  -  Direktor:  Geb.  Rat  Prof.  Dr.  Anton.)  Zur 


Prognose  <1  er  Puerperalpsychosen.  Von  Dr.  Ph.  Jolly, 
ehern.  Assistenten  der  Klinik.  Unter  Puerperalpsychosen,  in  wei¬ 
terem  Sinne  versteht,  man  nach  Verf.  die  in  der  Schwangerschaft, 
im  Wochenbett  und  während  des  Stillens  auftretenden  Geistes¬ 
störungen  u.  zw.  rechnet  man  als  Wochenbett  die  ersten  sechs 
Wochen  nach  der  Geburt.  Unter  den  Fällen  des  Verfassers  war 
mindestens  ein  Zeitraum  von  zehn  Jahren  seit  der  Erkrankung 
verflossen,  was  sich  für  die  Frage  der  weiteren  Prognose  als 
genügend  erwies.  Von  den  79  Fällen  waren  9  in  der  Schwanger¬ 
schaft,  55  im  Wochenbett  und  15  während  der  Laktation  geistig 
erkrankt.  Boi  den  Schwangerschaftspsychosen  übte  die  Geburt 
entweder  gar  keinen,  oder  eher  einen  ungünstigen  Einfluß  auf 
die  Psychose  aus.  Auch  operative  Einigriffe  haben  nur  einen 
ungünstigem  Einfluß.  Eine  völlige  Heilung  für  immer  trat  in  36 
von  den  79  Fällen  ein,  was  46%  entspricht.  Rechnet  man  dazu 
die  Heilungen  mit  geringem  Defekt  und  diejenigen,  bei  denen 
die  Wiedererkrankung  geheilt  wurde,  so’  bekommt  man  47  Fälle 
:  59°, o.  Die  Ansicht  von  Schmidt,  daß  die  Wocheinbett- 
psychosen  am  günstigsten  seien  und  am  ungünstigsten  die  Lak¬ 
tationspsychosen,  konnte  Verf.  nur  teilweise  bestätigen,  indem 
allerdings  die  Wochenbettpsychosen  am  besten  verliefen  (von 
55  wurden  29  =  53°/o  für  immer  geheilt),  aber  bei  den  Lak- 
Lationspsychosen  war  dies  Verhältnis  mit  15 : 5  ungefähr  gleich 
schlecht  wie  bei  den  Graviditätspsychosen  (9 : 2).  Dauernd  in 
An'staltspflege  blieben  11 ;  mit  den  6  ungeheilt,  nach  Hause  Ent¬ 
lassenen  sind  es  17  =  22%,  die  als  ungeheilt  zu  bezeichnen 
sind.  Durch  den  Tod  endete  die  Erkrankung  innerhalb  des  ersten 
Jahres  in  zehn  Fällen,  u.  zw.  waren  hierunter  drei  Fälle  von 
Lungentuberkulose.  Die  übrigen  starben  an  den  Folgen  der  Er¬ 
schöpfung,  respektive  septischen  Erkrankungen.  Außerdem  kamen 
drei  Fälle  von  Suizidium  vor.  Schmidt  fand  die  Prognose 
dieselbe  bei  den  Fällen  mit  und  ohne  erbliche  Belastung.  Der 
Verfasser  konnte  dies:  bestätigen.  Während  Hoppe  und  Holm 
jüngeres  Alter  der  Erkrankten' als  günstig  ansehen,  fand  der  Ver¬ 
fasser  in  bezug  auf  das  Alter  bei  den  Geheilten  gegenüber  den 
Ungeheilten  nichts  Besonderes.  Unter  den  ungünstig  verlaufenen 
Fallen  sind  verhältnismäßig  wenig  Primiparae,  dagegen  auf¬ 
fallend  viel  Drittgebärende.  Es  mag  dies  auf  Zufall  beruhen. 
In  über  ein  Viertel  der  Wochenbettpsychosen  hatte  Infektion 
Vorgelegen  ;  sie  spielte  also  immer  noch  eine  bedeutende  Rolle. 
Die  beobachtete  Dauer  der  Wochenbettpsychosen,  bei  denen 
eine  genitale  Infektion,  vorlag,  war  durchschnittlich  20  Wochen, 
gegenüber  28  Wochen  bei  den  'ohne  Infektion.  Die  Art  des  Be¬ 
ginns  der  Psychose,  ob  akut,  subakut  odeir  chronisch,  erwies 
sich  als  islehr  wesentlich  für  die  Prognose,  indem  unter  den 
Fällen  mit  günstigem  Ausgang  fast  sechsmal  so  oft  akuter  Beginn 
wie  chronischer  Beginn  vorkam,  dagegen  bei  den  ungünstig  ver¬ 
laufenen  Fällen  dieses  Verhältnis  ungefähr  1 : 1  war.  Bei  den 
mehrfach  Erkrankten  trat  Wiedererkrankung  durchschnittlich  nach 
drei  Jahrein  acht  Monaten  auf,  die  Zwischenräume  waren  also 
nicht  unbeträchtlich.  Es  leben  jetzt  noch  39  Frauen  geheilt  oder 
mit  geringem  Defekt.  Von  diesen  sind  bei  30  die  jetzigen  men¬ 
struellen  Verhältnisse  bekannt  u.  zw.  haben  20  die  gefährliche 
Zeit,  des  Eintritts  der  Menopause  überstanden,  nur  eine  Zirkuläre 
war  dabei  erkrankt.  Außer  den  im  ersten  Jahre  gestorbenen 
10  Fällen  sind  bis  jetzt  19  gestorben,  davon  nur  5  als  geistig 
gesund.  Die  übrigen  14  sind  teilweise  zu  Hause,  teils  in  Anstalten 
gestorben.  Die  meisten  Frauen  haben  nach  Ueberstehen  der 
Psychose  noch  geboren  u.  zw.  von  den  59  zur  Entlassung  ge¬ 
kommenen  45  =  76%.  Bei  sechs  Frauen  hievon  ist  wieder 
eine  puerperale  Erkrankung  aufgetreten.  Man  muß  also  nach 
Verf.  nicht,  immer  von  weiteren  Schwangerschaften  unter  sonst 
günstigen  Umständen  abraten.  Was  die  Art  der  Psychosen  an- 
lanigt,  trat  Amentia  hauptsächlich  im  Wochenbett,  seltener  in 
der  Stillperiode  auf,  nur  einmal  in  der  Schwangerschaft,  Manie 
kam  in  der  Schwangerschaft,  überhaupt  nicht  vor.  Melancholie 
dauerte  am  längsten,  durchschnittlich  36  Wochen.  Zum  Schlüsse 
betont  Verf.  noch,  daß  ein  Teil  derartiger  Psychosen  überhaupt 
nicht  in  klinische  Behandlung  kommt.  Es  sind  hauptsächlich 
Geistesstörungen,  von  manischem  oder  melancholischem  und  tran¬ 
sitorischem  Charakter,  die  oft  zu  Hause  behalten  werden,  wenn 
sie  die  Umgebung  nicht  zu  sehr  stören  und  die  meist  günstig 
ausgehen.  Außerdem  gehören  hieher  die  kurz  dauernden  psvchi- 


Kr.  Ü 


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scheu  Störungen,  di«  sich  an  den  Geburtsakt  anschließen ;  mit  , 
Beendigung  der  Geburt  enden  auch  meist  die  geistigen  Störungen. 
Sie  bieten  forensisch  Interesse.  —  (Münchener  mediz.  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  3.)  G. 

* 

148.  (Aus  dem  Laboratorium,  der  psychiatrischem  Klinik 
in  Bonn.  —  Direktor:  Prof.  Dr.  A.  Westpha'l.)  Zum  Ver¬ 
halten  der  Neurofibrillen  unter  pathologischen  Be¬ 
dingungen.  Von  Dr.  ni-ed.  Heinrich  Bickel,  11.  Assistenten 
am  pathologischen  Institut  in  Bonn.  Mit  der  seinerzeit  von  Biel- 
schowsky  angegebenen  Silberimprägnation  der  Neurofibrillen 
sind  letztere  ohne  Rücksicht  auf  die  Markscheide,  also  auch  dann, 
wenn  diese  fehlt,  darstellbar.  B  i  el  s  c  h  o  w  s  k  y  s  Methode  ge¬ 
winnt  eine  besondere  Bedeutung  in  ihrer  Anwendung  auf  dir: 
pathologisch  veränderte  Nervems ubstanz,  wo  die  Weigert  sehe 
Methode  oft  ungenügenden  Aufschluß  über  die  Beschaffenheit  der 
leitendem  Elemente  bietet.  Verl  teilt  in  der  vorliegenden  Arbeit 
drei  Fälle  mit,  in  welchen  unter  zahlreichen,  mit  der  Methode 
Biels  chowskys  angestellten  Untersuchungen  letztere  ein¬ 
wandfreie  Resultate  lieferte:  Eine  frische  Apoplexie  im  Ok¬ 
zipitallappen,  einen  fünf  Monate  alten  apoplektischen  Herd  und 
einen  Solitärtuberkel  im  Pons.  In  allen  drei  Fällen  zeigt  sich 
die  Degeneration  zuerst  an  den  Ganglienzellen  u.  zw.  an  den 
Zellfortsätzen.  Unter  den  Neurofibrillen  außerhalb  der  Zellen 
sind  diejenigen  am  widerstandsfähigsten,  welche  am  dünnsten, 
d.  h.  am  weitesten  von  ihrer  Zelle  entfernt  sind.  —  (Archiv  für 

Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten,  Bd.  47,  H.  3.)  S. 

* 

149.  U  e  b  e  r  D  i  g  i  talisatum  Bürg  ei  r .  V  on  D  r .  R .  W  o  r- 
nick-e  in  Minzleben  (Harz).  Die  tief  intramuskuläre  Injektion 
von  Digalen  macht  bekanntlich  an  der  Injektionsstelle  (Glutäen) 
Schmerzen,  der  Kranke  muß  gerade  auf  der  schmerzhaften  Stelle 
liegen.  Dagegen  läßt  sich  das  Digitalislatum  Bürger  in  sterilen 
Ampullen  -  am  besten  än  der  Außenseite  des  oberen  Drittels 
der  Oberschenkel  --  ohne  nennenswerte  Schmerzen  subkutan 
injizieren.  Die  Wirkung  ist  eine  schnelle,  anderseits  eine  an¬ 
dauernde  und  gleichmäßige.  Verf.  hat  bei  14  genau  beobachteten 
Fällen  nichts  von  Abszeß  oder  Infiltratbildung  gesehen,  wenn 
die  Injektion  aseptisch  vorgenonämjeh  wurde.  —  (Med.  Klinik  1911, 

Nr.  2.)  E.  F. 

* 

150.  Ueber  die  A  btötung  pathogener  Keime  durch 
Bestrahlung  der  Milch  mit  ultraviolettem  Licht.  Von 
Priv.-Doz.  Dr.  Seiffert,  Leiter  der  Milchhygienischen  Unter- 
suchungsanstalt  der  Stadt  Leipzig.  Nach  den  Untersuchungen 
Lobecks  bewirken  die  ultravioletten  Strahlen  eine  Abtötung 
der  Bakterien  in  der  belichteten  Milch.  Durch  die  Belichtung 
wird  auch  die  Entwicklung  der  Milchsäurebakterien  gehemmt, 
(diese  werden  nicht  abgetötet,  da  sie  nicht  so  empfindlich  gegen 
Licht  sind  wie  die  mens  eben-  und  tierpathogenen  Keime,  welche 
im  Körper  leben  und  daher  gewöhnt  sind,  vor  Licht  geschützt 
zu  sein),  so  daß  die  Haltbarkeit  der  Milch  verlängert  wird.  Eine 
verändernde  oder  nachteilige  Wirkung  der  Strahlen  auf  (las  in 
der  Milch  enthaltene  Fett  konnte  nicht  nachgewiesen  werden. 
Seiffert  hat  unter  Benützung  bakterientötender  ultravioletter 
Strahlen  durch  Quecksilberdampflampen  in  Verbindung  mit  Uviol- 
und  reinem  Quarzglas  als  Lichtquelle  die  desinfizierende  Kraft 
des  Lichtes  zu  einem  hygienisch-technischen  Milchbehandlungs¬ 
verfahren  ausgebildet  und  nennt  die  so  gewonnene  Milch  „Uviol- 
milch“.  Er  verwendete  dieselbe  auf  der  Säuglingsabteilung  mit 
vortrefflichem  Erfolge.  Haltbarkeit,  Wohlgeschmack,  Bekömmlich¬ 
keit  der  ungekochten  Uviolmilch  wurde  durchaus  als  einwandfrei 
erkannt.  Seiffert  meint,  daß  die  Ostertagsche  Tuberkulose¬ 
bekämpfung  beim  Rinde  vielleicht  auch  durch  Lichtdesinfektion 
der  Magermilch,  soweit  sie  zu  Aufzuchtzwecken  verwendet  wird, 
ergänzt  werden  könnte.  —  (Fortschritte  der  Medizin  1910, 

28.  Jahrg.,  Nr.  29.)  K.  S. 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

151.  Ueber  chronische!  Bronchitis  und  Emphysem 
als  Folge  der  akuten  Pneumonie.  Von  Samuel  West. 
Es  ist  verständlich,  daß  eine  so  schwere  Erkrankung,  wie  die 
Pneumonie,  ernste  Ernährungsstörungen  der  Lunge  hervorruft, 
unter  deren  Folgen  Bronchitis  und  Emphysem  in  erster  Reihe 


stellen.  Bei  gleichzeitigem  Vorhandensein  von  Bronchitis  und 
Pneumonie  kommt  es  darauf  an,  ob  die  Bronchitis  schon  vor  der 
Pneumonie  vorhanden  war  oder  sich  auch  zur  Pneumonie  hin¬ 
zugesellte.  Das  Auftreten  von  diffuser  Bronchitis  im  Verlauf 
der  Pneumonie  ist  von  schwerwiegender  Bedeutung,  weil  es 
auf  ein  Versagen  der  Lunge  hinweist  un,d  die  Prognose,  sehr 
ungünstig  erscheinen  läßt.  In  schweren  Fällen  von  Pneumonie 
erstrecken  sich  die  pathologischen  Veränderungen  nicht  bloß  auf 
die  infiltrierten  Partien,  sondern  auf  das  ganze  Organ.  Diese 
allgemeinen  Störungen  verursachen  nach  Ablauf  der  Pneumonie 
für  längere  Zeit  eine  Herabsetzung  der  Widerstandsfähigkeit  der 
Lungen,  welche  sich  durch  Auftreten  von  Bronchitis  auf  gering¬ 
fügige  Anlässe  äußert.  Nur  durch  rechtzeitige  Erkennung  und 
Behandlung  kann  die  Entwicklung  einer  chronischen  Bronchitis 
verhütet  s  werden.  Vikariierendes  Emphysem  ist  während  des 
akuten  Stadiums  der  Pneumonie  ein  häufiges  Vorkommnis, 
jedoch  nur  von  passagerem  Charakter.  Nicht  selten  entwickelt 
sich  -echtes  Lungenemphysem  im  Anschluß  an  Pneumonie,  was 
sich  daraus  -erklärt,  daß  die  während  der  P'neumonie  aufgetre¬ 
tenen  Ernährungsstörungen  atrophisch©  Veränderungen  einleiten, 
welche  zu  dem  für  das  Emphysem  charakteristischen  Schwund 
der  Alveolarwände  führen.  Die  Möglichkeit  der  Entwicklung  von 
chronischer  Bronchitis  und  Emphysem  nach  Pneumonie  läßt  die 
Forderung  begründet  erscheinen,  jeden  Pneumonie-rekonvales¬ 
zenten  mindestens  ein  Jahr  lang  hinsichtlich  des  Verhaltens 
der  Lungen  sorgfältig  zu  überwachen.  —  (The  Lancet,  L2.  No¬ 
vember  1910.)  ^  a.  e. 

* 

152.  Ueber  die  Behandlung  der  Lungenschwind¬ 

sucht  mit  intravenösen  Injektionen  von  Chinosol 
und  Form  aid  eh  yd.  Von  John  Mac  Elroy.  Der  Verfasser 
berichtet  über  drei  Fälle  von  Lungenschwindsucht,  welche  mit 
intravenösen  Injektionen  einer  Lösung  von  Chinosol,  welches 
als  stark  wirkendes  Antiseptikum  bekannt  ist  und  Formaldehyd 
in  sterilisiertem,  destilliertem  Wasser,  unter  Anwendung  des  Ma¬ 
guire  sehen  Apparates  behandelt  wurden.  Es  wurde  zunächst 
eine  Lösung,  welche  Chinosol  1:2000  und  Formaldehyd  1:4000 
enthielt,  in  die  Vena  mediana  basilica  oder  cephalica  injiziert; 
die  Injektionen  wurden  täglich  appliziert,  wobei  die  Konzentration 
der  Lösung  sukzessiv©  gesteigert  wurde  und  als  Maximum 
Chinosol  1:500  und  Formaldehyd  1:1000  zur  Anwendung  kam. 
Die  Frage,  ob  das  Chinosol  und  Formaldehyd  bei  intravenöser 
Injektion  einen  direkten  zerstörenden  Einfluß-  auf  den  Tuberkel¬ 
bazillus  ausüben  oder  eine  reaktive  Entzündung  in  der  Umgebung 
der  tuberkulösen  Herde  hervorrufen,  läßt  sich  noch  nicht  mit 
Sicherheit  beantworten,  doch  spricht  der  Umstand,  daß-  in  dem 
einen  behandelten  Falle  sämtliche,  bei  den  zwei  anderen  Fällen 
zahlreiche  Tuberkelbazillen  den  granulären  Typus  zeigten,  für 
eine  direkte  Einwirkung  auf  die  Bazillen.  Bei  der  Heilstätten- 
b-ehandlung  der  Tuberkulose  ist  hinsichtlich  des  Verhaltens  der 
Bazillen  ein  gleicher  Erfolg,  wie  bei  der  mitgeteilten  Behandlungs¬ 
methode  nicht  zu  verzeichnen.  Es  wird  dadurch  der  Wert  der 
Heilstättenb-ehandlung  beeinträchtigt,  wenn  der  aus  der  Behand¬ 
lung  entlassene  Patient  virulente  Tuberkelbazillen  ausscheidet. 
—  (The  Lancet,  12.  November  1910.)  a.  e. 

* 

153.  Ueber  Transplantation  der  Schilddrüse  und 
die  chirurgische  Behandlung  des  Morbus  Basedowi. 
Von  Erntest  W.  Hey  Groves  Und  Cecil  Jo  11.  So  lange  als  die 
Ursache  des  Morbus  Basedowi,  bzw.  des-  Myxödems  in  einem 
U-eb-erschußi,  bzw.  Mangel  der  Schilddrüsensekretion  erblickt 
wurde,  erschien  das  Problem  der  Behandlung  relativ  einfach. 
Neuere  Untersuchungen  haben  komplizierte  Verhältnisse  ergeben, 
da  nicht  nur  die-  Nebenschilddrüsen  zu  berücksichtigen  sind, 
sondern  auch  die  Möglichkeit  einer  qualitativen  Veränderung 
der  Schilddrüsensekretion  und  die  Bedeutung  der  inneren  Sekre¬ 
tion  anderer  Organe,  ln  einem  schweren  Fälle  von  Morbus  Ba¬ 
sedowi  muß  nicht  nur  die  Schilddrüsensekretion  reduziert,  son¬ 
dern  auch  die  Toxizität  d-e!r  Schilddrüse  bekämpft  und  normales 
Schilddrüsenprodukt  zugeführt  werden.  Bei  Myxödem  und  Kre¬ 
tinismus  wurde  der  Versuch  gemacht,  die  interne  Darreichung 
der  Schilddrüse  durch  Transplantation  der  Sc'hilddrüse-ngeweb-e  zu 
ersetzen.  Die  Mitteilung  der  Verfasser  bezieht  sich  auf  einen 


216 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


Fall  von  Morbus  Basedowi,  bei  welchem  das  gleiche  Verfahren 
angewendet  wurde.  Zunächst  wurde  die  partielle  Thyreoidek- 
tomie  ausgeführt  und  es  trat  Besserung  ein,  die  jedoeh  nur  so 
lang  anhielt,  als  die  Wunde  sezernierte.  Bemerkenswert  war  das 
Auftreten  von  Tetanie  trotz  anscheinender  Erhaltung  der  Epithel¬ 
körperchen  und  das  Verschwinden  der  Tetanie  nach  interner 
Darreichung  von  Schilddrüse.  Wegen  der  .Fortdauer  von  Dyspnoe 
und  Tachykardie-  wurde  ein  2X1X1  cm  großes  Stück  von  einer 
adenomatösen  Schilddrüse  eines  anderen  Patienten  mit  zwei  zu¬ 
gehörigen  Epithelkörperchen  unter  Novokainanästhesie  in  die 
linke  Halsseite  unterhalb  des  Kopfnickers  eingepflanzt.  Es  stellte 
sich  fast  unmittelbar  darauf  eine  rein  funktionelle  Tetanie  ein, 
welche  durch  Hypnose-  geheilt  wurde.  Es  -erfolgte  im  weiteren 
Anschluß-  an  die  Transplantation  beträchtliche  Besserung  der 
Symptome-  und  Wiederkehr  der  Menstruation  mit  koinzidierender 
Schwellung  der  transplantierten  Gewebe.  lieber  Transplantation 
der  Schilddrüse  bei  Tieren  liegen  zahlreiche  Versuche  vor;  eine 
wesentliche  Bedingung  ist  die  Verwendung  eines  nicht  zu  großen 
Stückes  von  Schilddrüsengewebe  der  gleichen  Tierart.  Für  das 
weitere  Schicksal  des  transplantierten  Gewebes  ist  die  Neubil¬ 
dung  von  Gefäßen  in  der  Peripherie  zur  Ernährung  von  Bedeu¬ 
tung.  Ueber  Schilddrüsentransplantation  beim  Menschen  liegt 
eine  Anzahl  von  Mitteilungen  vor;  man  verwendet  Gewebe  von 
gesunden  Schilddrüsen  oder  wo  dies  nicht  zn  beschaffen  ist,  von 
lokalen  Adenomen ;  Transplantation  von  tierischem  Schilddrüsen- 
ge-web-e  ist  völlig  erfolglos.  Das  Gewebe  muß-  in  frischem  und 
gut  vaskularisierten  Zustand  verwendet  werden.  Die  Einpflan¬ 
zung  erfolgte  in  die-  Milz,  in  die-  Markhöhle  des  Schienbeins  oder 
in  das  subkutane-  Gewebe.  In  neuester  Zeit  ist  die-  wiederholte  sub¬ 
kutane  Transplantation  kleiner  Stückchen  Schilddrüsengewebe 
als  besonders  geeignete  Methode  -empfohlen  worden.  Tierversuche 
lehren,  daß  die  Transplantation  bei  thyreoidektomierten  Tieren 
leichter  gelingt  und  daß-  -eine-  zentrale  Nekrose  des  eingepflanzten 
Stückes1  erfolgt.  Die  neuen  großen  Fortschritte  der  Gefäßnaht 
haben  zunächst  bei  Tieren  die  Möglichkeit  der  Transplantation 
eines  ganzen  Schilddrüsenlappens  gezeigt.  Ein  abschließendes 
Urteil  über  die-  Erfolge  der  Schilddrüsentransplantation  beim 
Menschen  läßt  sich  noch  nicht  geben,  doch  sind  anter  anderem 
bei  Myxödem  und  Kretinismus  -ermunternde  Resultate  -e-rzielt 
und  die  Möglichkeit  der  Haftung  des  transplantierten  Schilddrüsen- 
g-ewebes  erwiesen  worden.  —  (The  Brit.  med.  Joum.,  24.  De¬ 
zember  1910.)  a.  ©. 

* 

Aus  italienischen  Zeitschriften. 

154.  Ueber  -die  |antitryp  ti  s  ch  e-  Wirkung,  den 
B  r  e  c  h  u  n  g  s  i  n  d  e  x  und  di  e-  Rivaltasche  Reaktion  des 
Blutserums  bei  malignen  Tumoren.  Von  Arnaldo  Vec- 
chi.  Die  Untersuchungen  erstreckten  sich  auf  86  Fälle,  darunter 
50  Fälle  von  malignen  Tumoren  und  36  Fälle  von  gutartigen 
chirurgischen  Erkrankungen.  Bei  malignen  Tumoren  ist  häufig 
und  zwar  bei  78-9%  der  Karzinome  und  91-6%  der  Sarkome 
eine  Steigerung  der  antitryptischen  Wirkung  des  Blutes  nachzu¬ 
weisen,  welche  bei  gutartigen  und  beginnenden  Tumoren  häufig 
noch  fehlt  und,  wenn  auch  nicht  konstant,  bei  Tumoren  mit 
Metastasenbildung  und  Kachexie  am  stärksten  ausgeprägt  ist. 
Eine  Steigerung  der  antitryptischen  Kraft  des  Blutes  Kommt  auch 
bei  von  malignen  Tumoren  freien  Individuen  u.  zw.  bei  27-7% 
der  Fälle  vor.  Der  Eiweißgehalt  des  Blutserums  ist  bei  malignen 
Tumoren  im  Anfangsstadium,  so  lange  der  Ernährungszustand 
noch  nicht  beeinflußt  ist,  normal  und  zeigt  dann  fortschreitende 
Abnahme  entsprechend  der  Entwicklung  der  Kachexie,  wenn 
sich  nicht  Phänomene  hinzugesellen,  welche  eine  Vermehrung 
der  Konzentration  des  Blutes  bedingen.  Eine  Beziehung  zwischen 
antitryptischer  Wirkung  und  dem  Albumingehalt  des  Blutes  bei 
malignen  Tumoren  ließ  sich  nicht  nachweisen.  Zur  Bestimmung 
des  Albumingehaltes  des  Blutserums  wurde  das  Immersionsrefrak¬ 
tometer  verwendet,  während  zur  Globulinbestimmung  die  Ri¬ 
valtasche  Methode  herangezogen  war,  welche  auf  der  Eigenschaft 
der  Globuline  beruht,  durch  -eine  sehr  stark  verdünnte  Lösung 
von  Essigsäure  gefällt  zu  werden.  Bei  malignen  Tumoren  ergibt 
die  Rival t a sehe  Reaktion  eine  Erhöhung  des  Globulingehaltes, 
die  mit  der  Entwicklung  des  Tumors,  der  Metastasenbildung  und 
der  Kachexie  parallel  geht;  ein  strenger  Parallelismus  zwischen 


antitryptischer  Wirkung  und  Globulingehalt  des  Blutes  konnte 
nicht  nach  gewiesen  werden.  Der  Nachweis  der  erhöhten  anti¬ 
tryptischen  Kraft  des  Blutes  hat  an  sich  für  die  Karzinomdia¬ 
gnose  keine  Bedeutung,  dagegen  spricht  eine  normale  oder  herab¬ 
gesetzte  antitryp tische  Wirkung  eher  gegen  Karzinom,  wenn  die 
differentialdiagnostisch  in  Betracht  kommende  Erkrankung  sich 
nicht  im  Initialstadium  befindet,  da  bei  initialen  malignen  Tu¬ 
moren  die  Steigerung  der  antitryptischen  Kraft  bei  42-8°/o  der 
Fälle  fehlt.  Die  Reaktion  ist  zur  Differentialdiagnose  bei  mit 
vorgeschrittener  Ernährungsstörung  einhergehenden  Erkrankun¬ 
gen  nicht  verwertbar,  weil  hier  im  allgemeinen  die  antitryptische 
Kraft  des  Blutserums  eine  Steigerung  aufweist.  —  (Rif.  med. 

1910,  Nr.  42  und  43.)  a.  -e. 

* 

155.  Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Schilddrüsen¬ 
karzinoms.  Von  Giovanni  Morone.  Beim  Schilddrüsenkarzi¬ 
nom  kommen  Fiebererscheinungen,  meist  dem  kontinuierlich¬ 
remittierenden,  manchmal  dem  rein  intermittierenden,  selten  dem 
irregulären  Typus  zugehörig,  vor.  Diese  Fiebererscheinungen 
können  zu  einer  Zeit  auftreten,  wo  weder  die-  Kachexie  deutlich 
vorhanden,  noch  Bildung  von  Metastasen  erfolgt  ist.  Das  Fieber, 
welches  wahrscheinlich  auf  der  Resorption  spezifischer  patho¬ 
logischer  Sekretionsprodukte  der  Schilddrüse  beruht,  kann  zur 
Vortäuschung  eines  Entzündungsprozesses  der  Schilddrüse  bei¬ 
tragen.  Es  gibt,  namentlich  bei  jugendlichen  Individuen  Schild- 
drüsenkarzinome  von  sehr  raschem  Verlauf,  welche-  die  bös¬ 
artigsten  Sarkomformen,  selbst  das  Bild  einer  Strumitis,  be¬ 
ziehungsweise  Thyreoiditis,  durch  den  akuten  Charakter  Vor¬ 
täuschen  können.  Diese  Karzinome,  deren  Prognose  absolut  in¬ 
faust  ist,  lassen  sich  histologisch  nicht  von  den  anderen  Neu¬ 
bildungen  epithelialen  Charakters  unterscheiden.  Mit  Rücksicht 
auf  den  Umstand,  daß  sich  das  Schilddrüsenkarzinom  in  80  bis 
90%  der  Fälle  auf  Basis  einer  Struma  entwickelt,  besitzt  die 
Strumektomie  einen  hohen  prophylaktischen  Wert  hinsichtlich 
der  Verhütung  der  Karzinomentwicklung.  D-as  Schilddrüsenkar¬ 
zinom  kann  relativ  lange  Zeit  ohne  diagnostisch  verwertbare 
Symptome  verlaufen;  jedenfalls  ist  -ein  Verdacht  in  Fällen  ge¬ 
rechtfertigt,  wo  'bei  Erwachsenen,  besonders  bei  Frauen,  im 
Beginn  des  Klimakteriums  rasches  Wachstum  eines  bestehenden 
Kropfes  sich  einstellt.  Wenn  bei  der  Operation  der  Verdacht 
einer  Neubildung  weitere  Begründung  gewinnt,  so  ist  eine  aus¬ 
giebige  Exstirpation  der  Struma  erforderlich.  Beim  Schilddrüsen¬ 
karzinom  findet  man  wechselnde  histologische  Bilder,  zum 
Beispiel  Uebe-rgang  von  Adenokarzinom  in  Medullärkarzinom, 
wodurch  die  verschiedenen  Entwicklungsstufen  der  Neubildung 
repräsentiert  werden.  In  manchen  Fällen  zeigen  die  epithelialen 
Schilddrüs-entumor-en  morphologisch  das1  Bild  endothelialer  oder 
perithelialer  Tumoren,  so  daß-  nur  eine  vollständige  histologische 
Untersuchung  Aufklärung  über  den  Ausgangspunkt  der  Neubildung 

zu  geben  vermag.  — ■  (Rif.  med.  1910,  Nr.  45.)  a.  e. 

* 

156.  Ueber  die  Wirkulng  des  protrahierten  Kof¬ 
feingebrauches  auf  die  Nieren.  Von  Andrea  Tomaselli. 
Das  Koffein  findet  in  der  Therapie  wegen  seiner  die  Herztätigkeit 
anregenden  Wirkung  Verwendung,  doch  hat  es-  sich  gezeigt,  daß 
sich  seine  Wirkung  auch  auf  andere  Organe  erstreckt.  Die  Er¬ 
höhung  der  Diurese  wurde  einerseits  auf  die  kardiokinetisebe, 
anderseits  auf  die  sich  auf  die  Niere  erstreckende  Wirkung  zu¬ 
rückgeführt;  in  letzterem  Falle  wäre  die  Frage  zu  entscheiden, 
ob  die  Wirkung  sich  auf  das  vasomotorische  Zentrum  der  Niere 
oder  direkt  auf  die  Epithelien  der  gewundenen  Hamkanäle  er¬ 
streckt.  Eine  Anzahl  von  Untersuchern  nimmt  eine  direkte  Ein¬ 
wirkung  auf  die-  Nierenepithelien  an,  woraus  sich  die  Forderung 
ergeben  wird,  bei  bestehenden  Nierenläsionen  Vorsicht  hinsicht¬ 
lich  der  Koffeindarreichung  zu  beobachten.  Die  Versuche  des 
Verfassers  beschäftigen  sich  mit  der  Frage,  ob  die  länger  fort¬ 
gesetzte  Anwendung  kleiner  oder  mittlerer  Koffeindosen  eine 
schädliche  Wirkung  auf  die  Niere-  ausübt  und  welcher  Art  diese 
Wirkung  ist.  Als  Versuchstiere  wurden  Kaninchen  benützt,  welchen 
täglich  0-005  bis  0-01  g  Coffeinum  benzoicum  pro  Kilogramm 
Körpergewicht  subkutan  injiziert  wurden.  Es  zeigte  sich,  daß 
die  tägliche  Zufuhr  von  Coffeinum  benzoicum  in  mittleren  Dosen 
nach  30  bis  40  Tagen  leichte  Veränderungen  an  den  Nieren, 


Nr.  6 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


217 


speziell  trübe  Schwellung  der  gewundenen  Harnkanälchen  her- 
vorzurufen  beginnt.  Die  durch  zwei  Monate  fortgesetzte  Dar¬ 
reichung  von  0-005  g  Coffeinum  benzoicum  pro  Kilogramm  Körper 
gewicht  ruft  nebeln  der  Degeneration  der  Epithelien  der  gewun¬ 
denen  Harnkanälchen  Läsionen  der  Gefäße  und  des  interstitiellen 
Gewebes  hervor.  Diese  Läsionen  treten  zu  einer  Zeit  auf,  wo 
im  Harne  noch  keine  pathologischen  Veränderungen  nachweisbar 
sind.  Aus  den  angeführten  Gründen  ist  der  lange  fortgesetzte 
Gebrauch  selbst  kleiner  Koffeindosen  zu  widerraten.  (Rif. 
med.  1910,  Nr.  45.)  a.  e. 


Nekrologe. 

Johann  Csokor 

Am  7.  Januar  1911  ist  in  seiner  Wohnung  in  Mödling, 
Hofrat  Prof.  Dr.  Johann  Csokor  nach  langem,  schwerem  Leiden 

verschieden. 

Hofrat  Csokor  war  im  Jahre  1849  in  Wien  geboren;  er 
besuchte  das  Gymnasium  in  Karlowitz  in  Kroatien,  absolvierte 
die  medizinischen  Studien  an  der  Wiener  Universität  und  wurde 
daselbst  1873  zum  Doktor  promoviert.  Nach  weiterem  zweijährigen. 
Studium  an  dem  damaligen  k.  u.  k.  Militär-Tierarzneiinstitute  in 
Wien  erlangte  er  im  Jahre  1875  auch  das  tierarzneiliche  Diplom 
und  trat  als  Assistent  in  den  Lehrkörper  der  Anstalt  ein.  1881 
erfolgte  seine  Ernennung  zum  Professor  für  pathologische  Ana¬ 
tomie,  gerichtliche  Tiermedizin  und  Fleischbeschau. 

Gleichzeitig  war  Hofrat  Csokor  als  Dozent  für  Tier¬ 
seuchenlehre  auch  an  der  Wiener  Universität  tätig,  wurde  daselbst 
im  Jahre  1895  zum  a.  o.  Professor  ernannt  und  erhielt  im  Jahre 
1910  den  Titel  eines  o.  Universitätsprofessors. 

Hofrat  Csokors  Tätigkeit  als  Forscher  war  eine  sehr 
fruchtbare  und  vielseitige ;  denn  neben  mehreren  vergleichenden 
Abhandlungen  über  Themata  der  normalen  Histologie,  sowie 
kleineren  Beiträgen  zur  histologischen  Technik  stammten  aus 
seiner  Feder  zahlreiche  Publikationen,  welche  das  Ergebnis  seiner 
Forschungen  über  die  Aetiologie  und  pathologische  Anatomie 
verschiedener  Tierseuchen,  wie  Rotz,  Tuberkulose,  Aktinomykose, 
Botryomykose,  Lyssa,  Geflügelpocken  usw.  und  anderer  patho¬ 
logischer  Prozesse  darstellen. 

Mit  besonderer  Vorliebe  und  großem  Erfolge  betrieb  er  das 
Studium  der  tierischen  Parasiten  der  Haustiere ;  von  ihm  wurden 
mehrere  tierische  Schmarotzer  unserer  Haustiere  neu  entdeckt 
und  beschrieben.  Durch  seine  Untersuchungen  trug  er  weiters 
zur  Erweiterung  unserer  Kenntnisse  über  die  morphologischen 
Verhältnisse  und  zur  Klärung  der  Wirkung  auf  den  Wirts¬ 
organismus  mancher  anderer  bereits  bekannter  tierischer  Para¬ 
siten  bei.  Er  schrieb  ferner  ein  Lehrbuch  der  gerichtlichen 
Tiermedizin,  das  in  zwei  Auflagen  erschien. 

Als  Lehrer  war  Hofrat  Csokor  sehr  beliebt,  denn  sein 
Vortrag  war  klar,  formvollendet  und  spannend  durch  den  warmen 
Ton  seiner  Sprechweise ;  seine  künstlerische  Begabung  zum 
Zeichnen,  welche  es  ihm  häufig  ermöglichte,  mit  einigen  Strichen 
ein  anschauliches  Bild  des  Besprochenen  an  die  Tafel  zu  werfen, 
trug  nicht  unwesentlich  dazu  bei,  das  Interesse  seiner  Schüler 
für  den  behandelten  Gegenstand  zu  wecken  und  zu  erhalten. 

Sein  gerader  und  ehrlicher  Charakter,  sowie  sein  konziliantes 
Wesen  verschafften  ihm  die  Wertschätzung  aller,  die  ihn  näher 
kennen  zu  lernen  Gelegenheit  hatten. 

Ehre  seinem  Andenken!  A.  Hartl. 


Willibald  Nagel  f. 

Am  14.  Januar  ist  Willibald  Nagel  in  Rostock  von  langem 
qualvollen  Leiden  erlöst  worden.  Erst  40  Jahre  alt,  wurde 
er  von  einem  tückischen  Schicksal  hinweggerafft.  Kaum  hatte 
Nagel  das  ersehnte  Ziel  erreicht  und  die  Leitung  einer  eigenen 
Lehrkanzel  übernommen,  als!  ihn  auch  schon  das  Zeichen  der 
schweren  Erkrankung  zur  Einstellung  seiner  Lehrtätigkeit  zwangen. 
Eben  sah  er  noch  die  Vollendung  seiner  letzten  großen  Lebens¬ 
arbeit,  den  Abschluß  des  fünfbändigen  Handbuches  der  Physio¬ 
logie,  das  nun  wie  ein  Denkstein  vor  uns  liegt,  den  er 
sich  noch  selbst  gesetzt  hat.  Aber  auch  die  zahlreichen 
wohl  fast  an  Hundert  —  Abhandlungen,  die  Nagels  Feder 
entstammen,  sichern  ihm  einen  bleibenden  Namen  in  der  Ge¬ 
schichte,  der  Physiologie,  insbesonders  auf  dem  Gebiete  der 
Sinnesphysiologie.  Als  Sohn  des  Thüringer  Ophthalmologen  und 
durch  eine  Anomalie  der  Farbensinnes,  wurde  Nagel  speziell 


auf  den  Weg  der  physiologischen  Optik  gewiesen.  Seine  Be¬ 
ziehungen.  zu  v.  Kries  in  Freiburg,  dessen  Assistent  und  später 
auch  Schwiegersohn  er  wurde,  trugen  besonders  dazu  bei,  daß 
Nagels  Ausbildung  auf  dem  Gebiete  der  Farbenlehre  eine  aus 
gezeichnete  geworden  ist.  Seine  Abhandlungen  befassen  sich 
dementsprechend  auch  meist  mit  Fragestellungen  über  die  Unter¬ 
scheidung  der  verschiedenen  Formen  von  Farbenblindheil  und  über 
die  Erkennung  von  Farbenblindheit  überhaupt,  wodurch  er  auch 
den  Klinikern  nähergetreten  ist.  Nur  in  seinen  ersten  beiden, 
von  ihm  noch  als  Zweiundzwanzigjährigen  abgefaßten  Beobach 
tungen  hat  er  muskelphysiologische  Probleme  in  Angriff  ge¬ 
nommen  und  später  bei  Bohr  an  einer  Untersuchung  über 
die  Bindung  und  Absorption  der  Kohlensäure  im  Blute  ge¬ 
arbeitet.  Eine  Untersuchung  mit  Roß  über  den  Jodgehalt  der 
Schilddrüse  kennzeichnet,  abermals,  daß  er  in  wirklicher  Freude 
und  seinem  eigentlichen  Denken  nach  nur  für  die  Sinnesphysiologie 
lebte,  an  deren  Ausbau  er  konsequent  weiterarbeitete.  Wir  finden 
nichts  in  seinen  Arbeiten,  was  auf  das  Bestreben  deutet,  aus 
möglichst  vielen  Gebieten  irgend  etwas  zu  publizieren ;  als  ty¬ 
pischer  deutscher  Gelehrter  suchte  er  sich  sein  Arbeitsgebiet, 
mit  dem  sein.  Name  dadurch  auch  dauernd  verbunden  bleiben 
wird,  „Nagel,  der  Sinnesphysiologe“.  Die  Herausgabe  der  Zeit¬ 
schrift  für  Physiologie  der  Sinnesorgane  hat  wohl  zugleich  mit 
der  Redaktion  des  Handbuches,  das  seinen  Namen  trägt,  am 
meisten  dazu  beigetragen,  daß  der  junge  Rostocker  Physiologe  in 
aller  Welt  gekannt  war.  Alle  die  mit  ihm  persönlich  in  Be¬ 
rührung  kamen,  werden  noch  besonders  gerne  des*  leb¬ 
haften,  anregenden  und  ungemein  gewinnenden  Wesens,  das 
Nagel  an  den  Tag  legte,  gedenken,  wie  sich  des  schönen,  blonden, 
jugendfrohen  Menschen  erinnern,  der  so  traurig  und  so  früh 
enden  mußte. 

Von  den  vielen  Arbeiten  Nagels  seien  nur  einige  erwähnt, 
die  seine  Arbeitsrichtung  kennzeichnen  mögfen.  Auf  dem  Gebiete 
des  Geschmacksinnes  liegen  Untersuchungen  über  Riechen, 
Schmecken  und  über  den  Nachgeschmack;  die  Akustik  verdankt 
ihm  Veröffentlichungen  über  die  Verwendung  des1  Mittelohres 
für  empfindliche  Flammen,  ferner  finden  wir  Studien  über  die 
Mechanik  des  Niesens  und  solche  über  die  Fistelstimme.  Apparate 
für  ophthalmologische  Untersuchungen  wurden  von  ihm  ange¬ 
geben,  so  ein  Adaptometer  und  ein  Anomaloskop,  vor  allem  aber 
sind  es  seine  Untersuchungen  über  Störungen  des  Farbensinnes, 
über  Adaptation  und  Blendung,  über  die  Wirkung  des  Santonins 
auf  den  Farbensinn,  über  entoptische  und  elektrische  Erschei¬ 
nungen  am  Auge,  über  die  Wirkung  von  Röntgenstrahlen  auf 
das  Auge,  über  das  Seihen  niederer  Tiere,  alles'  Untersuchungen, 
die  ihn  als  einen  der  Hauptvertreter  der  physiologischen  Optik 
kennzeichnen. 

Nagel  war  am  19.  Juni  1870  in  Tübingen  geboren  und 
promovierte  im  Jahre  1891  zum  Dr.  rer."  natur.  und  1893  zum 
Dr.  med.  Zwei  Jahre  später  war  er  schon  in  Freibürg  habilitiert. 
Im  Jahre  1902  übernahm  er  als  Extraordinarius  die  Leitung  der 
sinnesphysiologischen  Abteilung  am  Institute  des  Geheimrates 
Engel  mann  in  Berlin  und  Ende  des  Jahres  1908  übersiedelte 
er  an  die  Lehrkanzel  in  Rostock,  die  durch  den  frühzeitigen 
Tod  Langend  orffs  freigeworden  war.  Nach  einem  Jahre  mußte 
der  früher  blühend  gesunde  und  lebensfreudige  Forscher  bereits 
seine  Lehrtätigkeit  einstellen  und  nun,  kaum  ein  weiteres1  Jahr 
später,  deckt  ihn  schon  die  Eide.  Nur  die  Erinnerung  an  seine 
sympathische  Persönlichkeit  und  die  überdauernden  bchöpfungen 
seines  Geistes  sind  uns  geblieben.  Durig. 


\/ermisehte  flashriehten. 

Ernannt;  Der  wissenschaftliche  Mitarbeiter  des  Institutes 
für  Infektionskrankheiten  in  Berlin  Dr.  Geoig  Michaelis  zum 
Professor. 

* 

Habilitiert;  Dr.  Malndri  für  innere1  Medizin  in  Ca¬ 
gliari.  —  Dr.  Eduard  Streißler  für  Chirurgie  in  Graz. 

* 

Der  Beschluß  der  medizinischen  Fakultät  in  Wien,  die 
von  Priv.-Doz.  Dr.  Hermann  Ul  brich  an  der  deutschen  Uni¬ 
versität  in  Prag  erworbene  Venia  legendi  für  Augenheilkunde 
für  die  medizinische  Fakultät  der  Universität  in  Wien  als  gültig 
anzuerkennen,  wurde  vom  Unterrichtsminister  bestätigt. 

* 

Gestorben;  Assistenzarzt  Dr.  Emst  Blumenthal  in 
Breslau  ah  einer  Scharlachinfektion. 


218 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


Deutscher  Balneologeiikongreß.  Für  den  32.  Balneo- 
lugenkongreß,  welcher  vom  2.  bis  6.  März  unter  dem  Vorsitz 
des  Geh.  Med. -Rates  Prot.  Br  i  eg  er  in  Berlin  tagen  wird,  sind  die 
\  orbereitungem  beendet.  Es  sind  45  Vorträge  angemeldet  u.  n.  von 
dm  Professoren  Bickel- Berlin,  Brieg er- Berlin,  Brauer- Ham¬ 
burg,  Dove- Göttingen,  Franken  häu s er- Berlin,  Goldschei- 
d  e  r  -  Berlin,  Kisch-  Marienbad,  Levy-  D  o  r  n  -  Berlin,  L.  M  i- 
chaelis  -  Berlin,  Päßler  -  Dresden,  Schulz  -  Greifswald, 
Strauß -Berlin,  Zuntz- Berlin,  Hofrat  Det  ermann -St.  Blasien, 
l’riv.-Doz.  Schade- Kiel,  Oberstabsarzt  Cornelias- Berlin, 
( Iberstabsarzt  Jacoby-  Charlottenburg,  Oberstabsarzt  F  u  er  s  t  en- 
b  erg-  Berlin,  DDr.  H  a  h n  -  Nauheim,  Hirsch-  Hermsdorf,  I  m  m  e  1- 
mann- Berlin,  Karo -Berlin,  Kr  one -Sooden,  L  a  ch  in  ann-Lan- 
deck,  L  an  ds  be  rg  -  Landeck,  Ledermann- Berlin,  Lenne- 
Neuenahr,  S  c  hm  in  c  ke- Elster,  Schürmayer- Berlin,  Selig- 
Franzensbad,  Senator-Berlin,  Sieb  eit- Flinsberg,  Wolff- 
E  is ner  -  Berlin  und  andere.  Ganz  besonderes  Interesse  dürften 
die  Referate  über  das  Radium  in  Anspruch  nehmen  u.  zw.  wird 
Prof.  Marekwald  - Berlin  über  das  Radium  vom  physikalisch¬ 
chemischen  Standpunkt  und  Prof.  Kionka-  Jena  über  das  Ra¬ 
dium  vom  biologischen  Standpunkt  aus  referieren.  Die  Sitzungen, 
welche  im  Poliklinischen  Institut,  Ziegelstraße  18/19,  stattfinden, 
sind  öffentlich  und  werden  bei  denselben  Aerztc  als.  Gäste  gern 
gesehen.  Alle  den  Balneologcnkongreß  betreffenden  Anfragen  sind 
zu  richten  an  den  Generalsekretär  Geheimrat  De.  Brock  in 
Berlin  NW.,  Thomasiusstraße  24. 

* 

Wie  im  vergangen  on  Jahre,  werden  auch  heuer  an  der 
medizinischen  Fakultät  in  Wien  ärztliche  Fortbildungs¬ 
kurse  abgehalten,  deren  tabellarisch  angelegte  Uebersicht  im 
Verlage  von  Urban  und  Schwarzenberg,  Berlin- Wien  1911,  er¬ 
schienen  ist  und  gratis1  abgegeben  wird.  Die  Kurse  werden  meist 
nach  Bedarf,  monatlich  oder  zweimal  im  Semester,  abgehalten. 
Nähere  Angaben  sind  durch  die  „Auskunftsstelle  für  die 
medizinischen  Kurse“,  Wien  IX.,  Allgemeines.  Krankenhaus, 
1.  Hof,  Direktionsgebäude,  1.  Stock,  Tür  14,  zu  erfahren. 

* 

Am  12.  Februar  findet  in  Charkow  die  feierliche  Er¬ 
öffnung  eines  Medizinischen  Institutes  für  Frauen  der 
Medizinischen  Gesellschaft  zu  Charkow  statt.  Das  Institut  zählt 
bereits  977  Hörerinnen. 

* 

Literarische  Anzeigen.  Anatomischer  Atlas. 
Unter  Mitwirkung  von  Prof.  Df.  Alois  Dalla  Rosa,  herausgegeben 
von  Hofrat  Prof.  Dr.  Carl  Toldt.  Verlag  von  Urban  und  Schwar¬ 
zenberg,  Wien.  Die  vorliegende  7.  Auflage  des  geschätzten  Werkes 
hat  unter  anderm  dadurch  eine  sehr  wesentliche  Bereicherung  er¬ 
fahren,  daß  eine  Reihe  vorzüglich  gelungener  und  reproduzierter 
Rönfgenbilder,  welche  von  Priv.-Doz.  Dr.  Robert  Kienböck  be¬ 
sorgt  worden  sind  Aufnahme  gefunden  haben. 

Zeitschrift  für  Kranken-  und  Humanitäts¬ 
anstalten,  herausgegeben  und  redigiert  von  Gustav .  K  ii  r  n  e  r, 
Wirtschaftsverwalter  der  Landesirrenanstalt  und  des  Landes¬ 
krankenhauses  in  Troppau,  Fachleute  aus  dem  Stande  der  An- 
staltsärzte  und  Verwaltungsbeamten,  wie  auch  Techniker  und 
Juristen  haben  dem  Blatte  ihre  Mitarbeit  zugesichert.  Die  erste 
Nummer  hat  folgenden  Inhalt:  Die  historische,  Entwicklung  der 
Kranken-  und  Humanitätsanstalten.  —  Der  Krankenhausbau  in 
technisch-hygienischer  und  wirtschaftlicher  Beziehung,  von  Archi¬ 
tekt  Max  Setz  in  V  ien.  —  Heber  die  Anlage  und  Einrichtung 
von  Bädern  in  Kranken-  und  Humanitätsanstalten,  von  Doktor 
Josef  Kowarschik  in  Wien.  —  Maßnahmen  gegen  Feuers¬ 
gefahr  in  Kranken-  und  Humanitätsanstalten.  —  Ferner  Mitteilun¬ 
gen  über  Neubau,  Erweiterungen  und  Eröffnung  von  Kranken- 
und  Humanitätsanstalten,  Gesetze,  Verordnungen  und  Erlässe, 
dann  Vorträge,  Besprechung  von  Fachschriften,  Personalnach¬ 
richten  usw.  —  Probenummern  versendet  über  Wunsch  der  Ver¬ 
lag  in  Troppau,  Schloßring  Nr.  7.  Die  Zeitschrift  erscheint  monat¬ 
lich  zweimal  und  kostet  20  K  jährlich. 

* 

t  hol  era.  Schweiz.  Mit  Bundesratsbeschluß  vom  10.  Ja¬ 
nuar  1911  wurde  Rußland  und  Ungarn  für  cholerafrei  erklärt. 
Als  choleraverseucht  sind  gegenwärtig  noch  zu  betrachten  die 
italienischen  Provinzen  Caserta  und  Rom  (mit  Ausnahme  der 
Stadt,  Rom)  und  die  Stadt  Palermo,  sowie  die  Stadt  Konstan¬ 
tinopel.  ; —  Italien.  Laut  amtlichen  Nachrichten  sind  in 
Italien  in  der  Zeit  vom  11.  bis  18.  Januar  1911  in  Italien  13  (5) 

(  holeraerkrankungen  (Todesäfälle)  vorgekommen,  und  zwar  in  der 
Provinz  Lecce.  Bulgarien.  In  der  34  km  nordwestlich  von 
Philippopel  entfernt  gelegenen  Stadt  Tatar-Pazardjik  ist  laut  Mit¬ 
teilung  vom  10.  Januar  eine  jüdische  Familie  an  Cholera  erkrankt. 


Mann  und  Frau  sind  der  Krankheit,  die  bakteriologisch  sicher¬ 
gestellt  wurde,  erlegen.  Die  beiden  Kinder  befinden  sich  in  iso¬ 
lierter  Pflege.  —  Türkei.  Die  Zahl  der  seit  Beginn  der  Epidemie 
bis  Ende  1910  konstatierten  Cholerafälle  beträgt  in  Konstanti¬ 
nopel  1291  (705  tödlich),  in  Smyrna  92  (69),  in  Saloniki  52  (27) 
im  Vilajet  Bagdad  814  (718),  in  Rodosto  154  (104),  in  Trapezuni 
746  (394),  in  Tripolis  320  (236).  In  Arabien  macht  die  Cholera 
rapide  Fortschritte.  Aus  Mekka  wurden  bis  10.  Januar  47  (31), 
bis  19.  Januar  schon  94  (9l)  Erkrankungsfälle  (Todesfälle)  ge 
meldet,  ln  der  Hafenstadt  Yambo  sind  seit  Ausbruch  der  Cholera 
24  (21),  in  Djeddah  24  (23),  in  El  Tor  26  Fälle  vorgekonunen. 
In  der  letztgenannten  Station  standen  mit  16.  Januar  79  cholera¬ 
kranke  Pilger,  davon  49  ägyptische,  in  Quarantäne.  —  Madeira. 
Im  Bezirke  von  Funchal  sind  bis  31.  Dezember  ‘495  Erkrankungen 
und  140  Jodesfälle,  vom  1.  bis  12.  Januar  217  Erkrankungen  und 
70  Todesfälle  an  Cholera  vorgekommen.  Die  Gesamtzahl  der  auf 
Madeira  bisher  konstatierten  Cholerafälle  beträgt  1646,  von  denen 
525  tödlich  endeten.  Gegenwärtig  ist  die  Epidemie  in  starker 
Abnahme'  begriffen. 

Pest.  Aegyptein.  In  der  Woche  vom  31.  Dezember  1910 
bis  5.  Januar  1911  ereigneten  sich  in  Aegypten  in  den  Provinzen 
Assiout  17  (8),  Behera  2  (0),  Melnöufjeh  3  (0),  in  der  Woche  vom 
6.  bis  12.  Januar  in  Alexandrien  1  (0),  in  den  Provinzen  Assiout 
6  (1),  Memoufieh  2  (l),  in  der  Woche  vom  13.  bis  19.  Januar 
•in  den  Provinzen  Melnoufieh  1  (1 ),  Assiout  il  (6),  Behera  1  (l),- 
Keineh  4  ,(3)  Pestfälle  (Todesfälle).  —  Arabien.  Die  vorjährige 
Peßtepideimie  in  Djeddah,  die  am  8.  Januar  1910  ihren  Anfang 
nahm  und  bis  4.  Mai  1910  anhielt,  hat  98  Todesopfer  gefordert. 
Im  Jahre  1909  betrug  die  Zahl  der  an  Pest  gestorbenen  Personen 
178,  im  Jahre  1908  80.  Gegenwärtig  hat  die  Pest  bereits  wieder 
in  Djeddah  ihren  Einzug  gehalten  und  zu  zwei  Todesfällen  ge¬ 
führt.  Es  scheint  also  auch  für  1911  eine  Pestepidemie  hier 
bevorzustehen.  —  China.  In  Charbin  an  der  ostchinesischen 
Bahn,  sowie  in  dein  Nachbarorte  Füdjadjin  gewinnt  die  Pest  eine 
immer  größere  Verbreitung.  Seit  Beginn  der  Pestepidemie  sind  in 
der  Mandschurei  bis  zuin  20.  Januar  831  Chinesen  und  25  Euro¬ 
päer  erkrankt,  821  Chinesen,  und  24  Europäer  gestorben,  ln  der 
eisten  Hälfte  Januar  wurden  mehrere  Pestfälle  in  Peking,  Shau- 
haikuan,  Tschifu  und  Tientsin  konstatiert,  die  fast  ausnahmslos 
tödlich  verliefen.  Zeitungsnachrichten  zufolge  greift  die  Seuche 
in  der  Mandschurei  und  delm  nördlichen  China,  insbesondere 

in  der  Provinz  Tschili,  immer  mehr  um  sich. 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  3.  Jahreswoche  (vom  15.  bis 
21.  Januar  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  543,  unehelich  240,  zusammen 
783.  Tot  geboren,  ehelich  45,  unehelich  30,  zusammen  75.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  848  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
2L7  Todesfälle)  an  ßauchtypbus  0,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  7, 
Scharlach  1,  Keuchhusten  3,  Diphtherie  und  Krupp  10,  Influenza  1, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  2,  Lungentuberkulose  145,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  48,  Wochenbettfieber  4,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  42  (4  10),  Wochenbettfieber  1  (—  3),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  61  (—  37),  Masern  105  (—  32),  Scharlach  72  (--  3), 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  3  (—  3),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0), 
Diphtherie  und  Krupp  35  (—  44),  Keuchhusten  47  (4-6),  Trachom  3  (—3), 
Influenza  0  (0),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Der  Posten  eines  Professors  d  e  r  k.  k.  S  t  a  a  t  s  h  e  b- 
a  m  men-Lehranstalt  in  Czernowitz  ist  wieder  zu  besetzen. 
Die  Dienstesobliegenheiten  dieses  Professors  sind  durch  das  im  Landesgeselz- 
und  Verordnungsblatte  für  das  Herzogtum  Bukowina  Stück  X^XIV, 
Xr.  31,  vom  Jahre  1901  verlautharte  Statut  für  die  obgenannte  Anstalt, 
lerner  _durch  die  Verordnung  des  Ministers  für  Kultus  und  Unterricht 
\  om  27.  Januar  1898,  R.-G.-Bl.  Nr.  35,  endlich  durch  die  Kundmachung 
der  Bukowinaer  Landesregierung  vom  6.  Februar  1899,  Landesgesetz- 
und  Verordnungsblatt  für  das  Herzogtum  Bukowina  Stück  VII,  Nr.  7, 
geregelt.  Der  jeweilige  Professor  der  k.  k.  Staatshebamrnen-Lehranstalt 
steht  in  der  \  II.  Rangsklasse  der  Staatsbeamten  und  bezieht,  nebst  der 
systemmäßigen  Aktivitätszulage,  einen  Gehalt  von  3600  K  jährlich, 
welcher  sich  nach  dem  5.  und  10.  Jahre  um  je  800  K,  nach  dem 
15.  und  20.  Jahre  um  je  600  K  erhöht.  (R.-G.-Bl.  Nr.  55,  Seite  348, 
ex  190/.)  Bewerber  um  diesen  Posten  haben  die  volle  fachliche  Eignung 
zur  Erteilung  des  Unterrichtes  und  zur  Leitung  der  gedachten  Anstalt, 
sowie  die  Kenntnis  der  deutschen,  ruthenischen  und  rumänischen 
Sprache  nachzuweisen,  da  in  den  drei  Landessprachen  der  Unterricht 
an  der  Anstalt  vide  t?  9  des  obbezogenen  Statutes  —  zu  erteilen  ist. 
Die  Bewerber  haben  ihre  ordnungsmäßig  instruierten  Gesuche,  welche 
mit  dem  Nachweise  des  Alters,  der  Zuständigkeit,  der  Sprachkenntnisse, 
der  fachlichen  Ausbildung  und  unter  Anschluß  des  Diploms  eines  Doktors 
der  Medizin  zu  belegen  sind,  bis  längstens  28.  Februar  1911,  und 
zwcii,  wenn  sie  bereits  im  öffentlichen  Dienste  stehen,  im  Wege  ihrer 
voi gesetzten  Behörde,  sonst  aber  unmittelbar  beim  Präsidium*  der 
k.  k.  Landesregierung  in  Czernowitz  einzubringen. 


Nr.  6 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


219 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 
Sitzung  vom  3.  Februar  1911. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in  Wien. 
Sitzung  vom  19.  Januar  1911. 


Wiener  dermatologische  Gesellschaft.  Sitzung  vom  7.  Dezember  1910. 
Verein  der  Aerzte  in  Steiermark. 

Verein  deutscher  Aerzte  in  Prag.  Sitzung  vom  13  Januar  1911. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  3.  Februar  1911. 

Vorsitzender:  Hofrat  Prof.  v.  Eiseisberg. 

Schriftführer:  Hofrat  Richard  Paltauf. 

Der  Vorsitzende  teilt  mit,  daß  Frau  Hofrat  Os  er  zur  Er¬ 
innerung  an  ihren  verewigten  Herrn  Gemahl,  Hofrat  Os  er, 
der  k.  k.  Gesellschaft  den  Betrag  von  10.000  K  zur  Errichtung 
einer  Stiftung  für  unterstützungsbedürftige  Mitglieder  oder 
ihrer  Witwen  und  Waisen  gewidmet  hat.  Der  Vorsitzende  spricht 
einstweilen  im  Namen  der  Gesellschaft  unter  lebhaftem  Beifall 
der  Mitglieder  der  hochherzigen  Spenderin  den  Dank  aus. 

Herr  Dr.  Harald  Gjessing  hat  anläßlich  der  letzthin 
stattgefundenen  Diskussion  über  ambulatorische  Extensionsver¬ 
bände  die  Schrift  des  Herrn  Dr.  Borchgrevink  in  Christiania 
über  dieses  Thema  als  Geschenk  übermittelt. 

Der  Vorsitzende  macht  endlich  Mitteilung  von  dem  ge¬ 
planten  Unternehmen,  einen  Gesamtkatalog  der  in  Wiener 
Bibliotheken  (Anstalten,  Instituten,  Vereinen  usw.)  vorhan¬ 
denen  periodischen  Zeitschriften  aus!  dem  naturwissen¬ 
schaftlichen  und  medizinischen  Gebiete  herauszugeben ;  trotzdem 
nur  die  Gestehungskosten  in  Anspruch  kommen,  so  ist  das 
Unternehmen  doch  kostspielig  und  ist  zu  seinem  Zustandekommen 
die  Sicherung  der  Abnahme  einer  gewissen  Anzahl  von  Exem¬ 
plaren  notwendig.  Der  Subskriptionspreis  beträgt  nur  25  K ; 
es  wäre  sehr  wünschenswert  wenn  Mitglieder  der  k.  k.  Gesell¬ 
schaft  dieses,  allen  wissenschaftlichen  Arbeitern  Wiens  auf  dem 
naturwissenschaftlich  -  medizinischen  Gebiete  zugute  kommende 
Unternehmen  unterstützen  würden.  Die  Bibliothek  der  Gesell¬ 
schaft  hat  selbstverständlich  ihre  Unterstützung  zugesagt. 

Herr  Dr.  Benedikt,  Badearzt,  als  Gas’t. 

Prim.  Dr.  Lotheissen  demonstriert  einen  50jährigen  Mann, 
den  er  wegen  zahlreicher  Fremdkörper  im  Magen  ope¬ 
rieren  mußte.  Der  Patient  war  wegen  Delirium  tremens  einige 
Monate  in  der  Landesirrenanstalt  am  Steinhof  interniert  und 
wünschte,  wieder  nach  Hause  zu  kommen.  Als  ihm  dies  nicht 
gewährt  wurde,  beschloß  er,  ein  Suizidium  zu  begehen.  Er  nahm 
einige  Löffel,  brach  sie  entzwei  und  schluckte  die  Stiele  hin¬ 
unter.  Er  zeigte  darauf  keine  Beschwerden,  wurde  nach  etwa 
vier  Wochen  entlassen  und  hat  dann  noch  über  zwei  Monate 
lang  als  Taglöhner  schwere  Erdarbeiten  verrichtet.  Erst 
als  eine  Hämoptoe  auftrat  und  der  Gewerkarzt  feststellte,  daß 
die  Lunge  gesund  wäre,  das  Blut  aus  dem  Magen  stammen 
müsse,  gestand  er  sein  Tentamen  ein  und  wurde  auf  die  chirur¬ 
gische  Abteilung  des  Vortragenden  gebracht. 

Bei  Rückenlage  waren  die  Fremdkörper  nicht  zu  tasten,  die 
Röntgendurchleuchtung  zeigte  aber1  einen  starken  Schatten,  fast 
senkrecht  neben  der  Wirbelsäule  in  Nabelhöhe.  Beim  Stehen  sank 
dieser  Schatten  tiefer,  bis  unter  den  Darmbeinkamm  und  stellte 
sich  quer:  Nun  waren  die  Fremdkörper  auch  deutlich  zu  tasten. 

Bei  der  Laparotomie  zeigte  sich  der  Pylorus  weit  offen, 
die  Magenwand  sehr  stark  verdickt,  die  Muskularis  hypertrophisch. 
Durch  eine  kleine  Oeffnung  wurden  die  14  Löffelstiele  ex¬ 
trahiert.  Die  Mukosa  war,  so  weit  man.  sehen  konnte,  stark 
hyperämisch,  im  Zustande  chronischen  Katarrhs,  doch  sah  man 
keinen  Substanzverlust,  kein  Dekubitusgeschwür.  Die  Heilung 
erfolgte  glatt. 

Die  Löffelstiele  waren  alle  mit  dem  glatten  Ende  voraus 
gelagert,  weil  der  Patient  sie  in  dieser  Weise  geschluckt  hatte. 
Darum  ist  auch  offenbar  eine  Verletzung  am  Pylorus  aCisge- 

blieben. 

Bei  einem  anderen  Patienten,  der  vor  einem  Jahre 
behandelt  wurde,  lag  die  Sache  anders.  Der  33jährige  Mann 
wurde  mit  den  Erscheinungen  der  Perforationsperi¬ 
tonitis  eingeliefert.  In  einem  Anfall  von  T  r  ü  bs  i  n  n  h  a,  tte 
er  42  Nägel  ges.eh Juckt.  Bei  der  Laparotomie  fand  man 
einen  im  Pylorus  eingekeilten  Nagel,  dessen  Spitze  bereits  die 
Serosa  durchbohrt  hatte.  Er  wurde  extrahiert.  Die  anderen  Nägel 
hatten  diese  Stelle  schon  passiert  und  lagen  im  Duodenum  an 
einer  schwer  zugänglichen  Stelle.  Mil  Rücksicht  auf  den  un¬ 


günstigen  Allgemeinzustand  wurde  von  einer  operativen  Ent 
terming  abgesehen,  sie  gingen  auch  alle  per  viam  naturalem  ab. 
Der  Patient  hatte  schon  einen  Monat  zuvor  zehn  Draht¬ 
stifte  geschluckt,  deinen  er  zwar  den  Kopf  abgezwickt  hatte, 
doch  war  das  Ende  stumpf  geblieben,  die  Nägel  gingen  glatt  per 
anum  ab. 

Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  er  damals  hörte,  daß  wir  nach 
den  Untersuchungen  Exners  wissen,  daß  in  solchen  Fällen 
die  stumpfe  Seite  vorausgeht  und  so  die  Gefahr  stark  vermindert 
ist.  Darum  hat  er  das  zweitemal  das  zweite  Ende  schart  zugeteilt, 
sein  Suizidium  wäre  ja  auch  ohne  chirurgische  Intervention  ge¬ 
glückt.  Er  wurde  geheilt  entlassen,  war  aber  jetzt  nicht  er¬ 
reichbar. 

Priv.-Doz.  Dr.  O.  Kahler  und  Prof.  Dr.  O.  Stoerk: 
B  ronch  o  s  ten  ose  bei  Vorhofsvergrößerung.  (Erscheint 
ausführlich  in  dieser  Wochenschrift.) 

Prof.  Dr.  Kraus  und  Dr.  E.  v.  Graft :  Hebe r  die  Einwir¬ 
kung  des  Plazentarserums  auf  menschliche  Karzi¬ 
nom  zellen.  (Siehe  unter  den  Originalien  dieser  Wochenschrift.') 

Diskussion:  Dr.  O.  Frankl:  Die  hohe  praktische  Bedeutung, 
die  der  Freund- Kamin  ersehen  Reaktion  zukommt,  veranlaßte 
mich  sofort  nach  Erscheinen  der  ersten  Publikation,  das  Verfahren 
nachzuprüfen.  Die  Art  de:s  Karzinommateriales,  welches  mir 
an  der  Klinik  Hofrat  Schauta  zur  Verfügung  stand,  ließ  mich 
jedoch  bald  die  Versuche  abbrechen,  da  ich  zur  Herstellung  von 
brauchbaren  Aufschwemmungen  keine  geeigneten  Tumoren  er¬ 
langen  konnte.  Ohne  auf  die  Wertung  der  Reaktion  mit  mensch¬ 
lichem  Karzinom  Schlüsse  ziehen  zu  wollen,  prüfte  ich  das  Ver¬ 
halten  von  Serum  gesunder  und  karzinomatöser  Mäuse  zu  Mäuse- 
karzinomaufschwemmungen.  Ich  machte  drei  Versuchsserien,  wo¬ 
bei  stets  zehn  gesunde  und  zehn  karzinomatöse  Mäuse  für  einen 
Versuch  entblutet  wurden.  Hiebei  ergab  sich  die  Tatsache,  daß 
Seren  gesunder  Mäuse  keinen  Unterschied  gegenüber  den  Seren 
karzinomatöser  Mäuse  zeigten.  Es*  wird  dies  erklärlich  durch 
die  Angabe  des  Herrn  Vortragenden,  daß  gewisse  Tiere  sich  so 
verhalten,  wie  der  Mensch,  andere*  entgegengesetzt.  Irgendwelche 
I  Schlüsse  auf  den  Wert  der  Fr eund- Kaminersehen  Reaktion 
hei  menschlichem  Karzinom  lassen  sich  aus  diesen  an  Mäusen 
erhobenen  Befunden  nicht,  ziehen.  Ich  habe  sie  erwähnt,  weil 
sie  vielleicht  einiges  Licht  auf  die  Verschiedenheit  des  mensch¬ 
lichen  und  Mäusekarzinoms  werfen. 

Hofrat  Höchen  egg:  Durch  die  soeben  gehörten  inter¬ 
essanten  Befunde  an  Blutserum  bei  Graviden  wird  vielleicht 
auch  eine  meiner  Beobachtungen,  die  ich  anläßlich  einer  De¬ 
monstration  hier  in  der  Gesellschaft  erwähnte,  geklärt. 

Es  handelte  sich  um  eine  31jährige  Frau,  die  ich  mit  fol¬ 
gender  Anamnese  zur  Behandlung  und  Operation  übernahm : 

Pat.  hatte  damals  vor  drei  Monätetn  entbunden.  Schon 
während  der  letzten  Zeit  der  Gravidität  und  im  Wochenbette 
bestanden  Stuhlbeschwerden,  als  deren  Ursache  ein  zirkuläres 
Karzinom  am  oberen  Anteile  des  Rektums  konstatiert  wurde. 
Ich  vollführte  am  19.  Februar  1896  die  Resektion  und  zirku¬ 
läre  Darum  ah  t  und  erzielte  vollständige  Heilung  und  Kontinenz. 
Die  Frau  fühlte  sich  wohl,  nahm  18  kg1  an  Gewicht  zu  und  blieb 
bis  Ende  1902,  also  fast  siebein  Jahre,  vollständig  gesund  und 
arbeitsfähig.  Damals  wurde  sie:  nach  siebenjähriger  Pause  wieder 
gravid  (Juli  1902),  abortierte  aber  im  Dezember  nach  einer 
stärkerein  Anstrengung.  Heftige  Anfälle  von  Koliken  und  Er¬ 
brechen,  deren  erster  kurz  vor  dem  Abortus  im  Dezember  auf¬ 
getreten  war  und  die  seither  in  quälender  Intensität  angehalten 
haben,  veranlaßte  im  Februar  1903  meine  abermalige  Beiziehung. 
Ich  konstatierte  ein  faustgroßes  Karzinom  des  Colon  ascendens 
und  exstirpierte  am  19.  Februar  1903  das  ganze  aufsteigende 
Colon.  Nach  reaktionslosem  Wundverlauf  erfolgte  abermalige 
Heilung  mit  einer  Gewichtszunahme  von  20  kg.  Auch  nach  dieser 
Operation  blich  die  Frau  vier  Jahre  gesund,  erkrankte  im  Januar 
1907  zum  drittenmal  an  Karzinom1,  diesmal  an  einem  Blasen¬ 
karzinom  und  erlag  nach  einer  von  einem  anderen  Chirurgen 
v o rgeh om’meneh  Operation. 

Vor  dieser  letzten  Erkrankung  waren  Zeichen  des  begin 
nernlen  Wechsels  eingetreten, 


220 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


5 


Ich  habe  schon  an  änderet  Stelle  (siehe  Wiener  klinische 
Wochenschrift  1904,  Nr.  20)  begründet,  warum  ich  bei  den  ersten 
Erkrankungen  dieser  Patientin  an  eine  zweimalige  selbständige 
Erkrankung  an  Karzinom  und  nicht  an  Rezidive  oder  Metastase 
denken  mußte  und  hervorgehoben,  daß  ich  der  Gravidität  einen 
Einfluß  für  die  Entstehung  beimaß.  Seither  wurde  aus  meiner 
Klinik  durch  Lorenz  eine  weitere  Anzahl  von  Karzinomerkran¬ 
kungen  des  Rektums  bei  graviden  Frauen  publiziert  (Wiener 
klinische  Wochenschrift  190Ö,  Nr.  22).  Die  von  Dr.  v.  Graff  heute 
besprochenen  Blutserumbefunde  bei  Graviden  würden  meiner 
damaligen  Erklärung  eine  Stütze  geben,  besonders  wenn  man 
wie  ich  aüninünt,  daß  die  Freund  sehe  Reaktion  nicht  eine 
Folge  des  Karzinoms,  sondern  der  der  Karzinomentstehung 
vorausgehenden  bestehenden  K or  z ino  m  disp ositi on  sei. 

L.  Arzt:  Meine  Herren !  Es  mag  vielleicht  nicht  uninter¬ 
essant  sein,  wenn  ich  mir  erlaube,  im  Anschlüsse  an  die  Mit¬ 
teilung  des  Herrn  Professors  R.  Kraus  und  Dr.  v.  Graff,  die  ja 
mit  dem  von  Freund  angegebenen  Verhalten  des1  Serums  Ivarzi- 
nomatöser  und  Nichtkarzinomkranker  gegenüber  Karzinomextrakt 
einen  innigen  Zusammenhang  hat,  über  Versuche  zu  berichten, 
die  ich  an  der  11.  chirurgischen  Klinik  des  Hofrates  Hochen- 
egg  und  mit  dem  von  Heirrn  Prof.  11. 'Albrecht  zur  Verfügung 
gestellten  Material  angestellt  habe. 

Alle  Versuche  erstreckten  sich  auf  die  von  Freund  an- 
gcgebelne  Trübung  sreakti on  bei  Seren  Karzinomatöser  — 
die  wenigen  ZellzählungsVersuche  möchte  ich  übergehen  —  über 
die  ja  Herr  Vorstand  Freund  seinerzeit  auch  an  dieser  Stelle 
Mitteilung  gemacht  hat. 

Das  von  mir  im  Laufe  mehrerer  Monate  untersuchte  Ma¬ 
terial  beläuft  sich  auf  53  S  er  eh. 

Von  denselben  betrafen  29  Karzinome,  3  Sarkome, 
eines  stammte  von  einer  Patientin  mit  einer  M  i  seli¬ 
ge  s  c  h  w  ulst  im  Sinne  Wilms  am  Schädel  und  20  S  eren 
wurden  als  Kon  troll  seren  verwendet  und  von  relativ  ge¬ 
sunden  Individuen,  das  heißt  von  sicher  nichtkarzinomatösen, 
gewonnen. 

Bei  sämtlichen  29  Seren,  die  von  Karzinomatösen  stamm¬ 
ten,  konnte  ich  eine  positive  Reaktion  erhalten,  dann  rea¬ 
gierte  auch  positiv  das  Serum  der  Patientin  mit  der  M i seli¬ 
ges  oh wulst.  Eine  ganz  geringe  Trübung  erhielt  ich  auch 
mit  dem  Serum  deis1  einen  Sarkoms,  ein  Rundzellensarkom  des 
Unterkiefers. 

Die  positiven  Reaktionen  bei  Karzinomatösen  verteilen  sich 
auf  folgende  Gruppen:  drei  Mammakarzinome,  zwei  Karzinome 
des  Uterus,  vier  Karzinome  des  Rektums,  fünf  Karzinome  des 
Gesichtes  und  der  Lippe,  ein  Oesophaguskarzinom,  neun  Magen¬ 
karzinome,  drei  Blasehkarzinome,  ein  Prostatakarzinom  und  ein 
Hypernephroma  malignum  mit  Durchbruch  der  Geschwulst  in 
die  Veha  cava  inferior. 

Negativ  mit  Karzinomextrakt  reagierten  zwei  Sar¬ 
komseren  und  die  20  Kon  trollseren  von  den  verschieden¬ 
sten  Individuen  stammend.  Hervorheben  möchte  ich  nur,  daß 
sich  unter  den  Patienten  mit  Rektumkarzinomen  eine  alte  kachek- 
tische  Frau  befand,  bei  der  das  Karzinom  ungefähr  acht 
Wochen  vor  der  Untersuchung  des  Serums1  exstir- 
piert  worden  war. 

Auch  ein.  zweiter  Fall  mag  nicht  uninteressant  sein,  der 
in  der  Gruppe  der  Magenkarzinome  angeführt  wurde, 
und  der  einen  Patienten  betraf,  bei  dem  wegen  eines1  narbigen 
Ulkus  mit  auf  Karzinom  unverdächtigetni  histologischen  Befund 
vor  drei  Jahren  eine  Gastroenterostomie  gemacht  wurde.  Als 
der  Patient  nun  im  heurigen  Winter  die  Klinik  aufsuchte,  war 
kein  Tumor  zu  tasten  und  die  Diagnose  war  schwankend.  Da  die 
Freund  sehe  Trübungsreaktion  positiv  ausfiel,  wurde  die  Dia¬ 
gnose  auf  Karzinom  gestellt,  welche  durch  die  Operation  be¬ 
stätigt  wurde.  I  ( 

Weiters  möchte  ich  betonen,  daß  in  allen  Fällen  auch  eine 
histologische  Untersuchung  der  exstirpierten  Geweb's- 
stücke  vorgenommen  wurde,  so  daß  durch  die  mikroskopische 
Untersuchung  der  makroskopische  Befund  und  das  serologische 
Untersuchungsergebnis  verifiziert  wurde. 

Sämtliche  Seren  wurden  entweder  durch  Venäpunktion  oder 
bei  der  Operation  gewonnen,  nur  zwei  Seren  stammten  von 
Leichen.  j 

Ein  Urteil  über  d ie  Verwertbarkeit  der  Trübungs- 
roaktiom  im  endgültigen  Sinne  heute  zu  fällen,  würde  ich  bei 
der  relativen  Kleinheit  des  von  mir  untersuchten  Materials'  für 
übereilt  erachten. 

Insbesondere  haftet  ja  meinen  Seren  noch  eine  Lücke  an, 
daß  nämlich  die  Seren,  welche  unter  den  Normalseren  erwähnt 
wurden,  fast  gar  keine  eigentlichen,  schwer  kranken  Individuen 


mit  den  verschiedensten  Prozessen,  wie  Typhus,  Tuberkulose, 
Inf  ek  ti  onsk  rank  hei  ten ,  u m f  a s!son . 

Nur  ehr  Serum  stammte  von  einer  schweren  Urämie,  das 
negativ  reagierte. 

Die  Extrakte  selbst  wurden  mir  von  seiten  des  Herrn 
Vorstandes  Freund  in  liebenswürdigster  Weise  zur  Verfügung 
gestellt,  der  ebenso,  wie  seine  Mitarbeiterin  Frau  Dr.  Kaminer, 
mii-  jederzeit  bei  den  sich  ergebenden  Schwierigkeiten  bereit¬ 
willigst  behilflich  war. 

Fragen  der  Technik,  insbesondere  aber  manche  sich 
ergebende  Fehlerquellen  und  unangenehme  Zwischenfälle,  glaube 
ich  nicht  näher  erörtern  zu  sollen,  da  ja  Herr  Vorstand  Freund 
selbst  darüber  berichten  wird. 

Prof.  R.  Kraus:  Zu  dein  Ausführungen  dels!  Herrn  Kollegen 
F  ran  kl  wäre  zu  bemerken,  daß  seine  Beobachtungen  mit  unseren 
Beobachtungen  nicht  im  Widerspruche  stehen  und  auch  nichts 
gegen  die  Verwertbarkeit  der  Zellreaktion  beweisen. 

Wir  haben  hier  erwähnt,  daß  gewisse  Tierseren  imstande 
sind,  menschliche  Karzinomzellen  zu  lösen,  andere  wieder  nicht. 
Es  wäre  daher  möglich,  daß  Seirum  normaler  Mäuse,-  so  wie 
wir  dies  für  Rattenserum  gefunden  haben,  auch  die  Karzinom¬ 
zellen  der  Mäusekarzinome  unbeeinflußt  las'sen  kann.  Es  wäre 
dann  nicht  auffallend,  wenn  Serum  der  Tumormäuse  keine  Diffe¬ 
renz  gegenüber  normalem  Serum  aufweist. 

Weiters  wäre  aber  noch  hervorzuheben,  daß  man  prinzi¬ 
piell  die  experimentell  erzeugten  Tumoren,  wie  dies  Hofrat  Palt- 
auf  hier  bereits  hervorgehoben  hat,  mit  menschlichen  Tumoren 
nicht  in  Parallele  ziehen  kann.  Es  werden  auch  die  Stoffwechsel¬ 
veränderungen  andere  sein  als  beim  Menschen.  Es  könnte  daher 
auch  die  Zellreaktion  mit  Serum  von  Tumortieren  anders  aus- 
f  allen  als  mit  Serum  von  menschlichem  Karzinom.  \ 

Dr.  Ernst  Freund:  Bezüglich  der  Beobachtungen;  von 
Prof.  Kraus  und  Dr.  Graff  kann  ich  nicht  viel  Tatsächliches 
beibringen,  da  wir,  nachdem  die  Autoren  uns  in  freundlicher 
Weise  von  ihrem  Befunde  in  Kenntnis  gesetzt  hatten,  nur  drei 
Fälle  von  Plazentarblut  untersucht  haben,  von  denen  zwei  eben¬ 
falls  Karzinomzellen  nicht  zerstört  haben. 

Dieser  Befund  könnte  den  Eindruck  erregen,  als  ob  damit 
die  Annahme  der  spezifischen  Eigenschaft  des  Karzinomserums 
zunichte  gemacht  wäret 

Dein  ist  aber  nicht  so,  wir  haben  als  spezifisch  für  Kar¬ 
zinomserum  nicht  nur  die  Eigenschaft  hervorgehoben,  daß  zu- 
gesetzte  Karzinomzellen  nicht  zerstört  werden,  sondern  auch, 
daß  dem  Karzinomserum  eine  Schutzwirkung  für  Karzinomzellen 
intiewobnt,  d.  h.  daß  man  Zellen  durch  Zufügung  von  Karzinom¬ 
serum  vor  der  Zerstörung  durch  Normalserum:  schützen  kann  und 
daß  man  durch  denselben  Eiweißbestandteil  des  Serums,  der 
diesen  Schutz  ausübt,  dem  Euglobulin,  auch  spezifische  Trü¬ 
bungen  mit  Karzinomextrakt  e'rhält. 

Wir  haben  nun  bei  dein  Plazentarblut  nachgesehen,  ob 
eine  Schutzwirkung  für  Karzinomzellen  und  eine  Trübungsreaktion 
vorhanden  ist. 

Es  war  weder  eine  Schutz  Wirkung  für  Karzinomzellen,  noch 
eine  Trübungsreäktion  nachweisbar. 

Das  Plazehtarserum  unterscheidet  sich  also  zwar  in  sehr 
interessanter  Weise  vom  Normalserum1,  weil  es  Karzinomzellen 
nicht  zerstört,  aber  es  gleicht  nicht  ganz  dem  Karzinomserum, 
weil  es  eine  Schutzwirkung  für  Karzinomzellen  nicht  zu  ent¬ 
falten1  vermag. 

Was  nun  die  Trübungsreaktionein  betrifft,  über  deren 
erfreuliche  Resultate  Herr  Dr.  Arzt  aus  der  Klinik  Hochen- 
e  gg  berichtet  hat,  so  muß  ich  dem  vollkommen  beipflidhten,  claß 
noch  manche  Schwierigkeiten  bei  Anstellung  dieser  Reaktion  be¬ 
stellen.  Es  ist  leider  bisnun  notwendig,  jeden  Karzinomextrakl 
bei  jeder  Prüfung  mit  einem  sicheren  Normalserum  daraufhin 
zu  prüfen,  ob  der  Extrakt  verwendbar  ist.  Es  ist  dies  in  der 
Labilität  der  wirksamen'  Substanz  begründet,  die  nur  bei  ge¬ 
wissen  Fällen  sieb  längere  Zeit  erhielt,  bei  anderen  über  Tag 
zugrunde  geben  kann.  Weder  Reaktionsänderung,  noch  Sterili¬ 
tät  hatten  hierauf  Einfluß.  Interessant  ist,  daß  das -  Verschwinden 
der  wirksamen  Substanz  meistens  mit  Trübung  der  Flüssigkeit 
einhergeht  und  daß  in  solchen  Flüssigkeiten  dann  die  Nuklein¬ 
säurefällung  nicht  mehr  zu  findein  ist,  welche  bei  wirksamen! 
Extrakten  Träger  der  Wirkung  ist. 

Wir  hoffen  nun,  darin  einen  Fortschritt  gemacht  zu  haben, 
daß  der  Extrakt  durch  Kochen  auch  aus'  Tumorein  zu  gewinnen 
ist,  die  in  Alkohol  aufgehoben  sind.  (Trübe  Filtrate  können  durch 
Bildung  eines  Kalkpbosphatniederscblages  geklärt  werden.) 

Bis  in  die  letzte  Zeit,  aber  haben  wir  immer  nur  mit  frischem 
Leichenmaterial  gearbeitet  und  da  war  es  nicht  leicht,  izur  rechten 
Zeit,  immer  guten  Karzinomextrakt,  Karzinom-  und  Nonnalscrum 


Nr.  6 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


221 


zur  Verfügung  zu  haben.  Dazu  kommt,  daß  wir  in  nahezu  zehn  I 
Monaten  nur  zirka  TO  Karzinome,  also  vier  pro  Monat,  er¬ 
halten  haben;  von  diesen  erwiesen  stidh  28  verwendbar,  ein  Ver¬ 
hältnis,  das  nicht  auffallend  erscheinen  mag,  wenn  man  be¬ 
denkt,  daß  der  Zerfall  dos  Karzinomknotens  zum  pathologischen 
Charakteristikum  der  Karzinommetastasen  gehört,  während  zur 
Darstellung  der  wirksamen  Substanz,  wio  schon  ursprünglich 
publiziert,  gerade  nicht  degeneriertes  Karzinomgewebe  sich 
eignet. 

Von  Seren  kamen  in  dieser  Zeit  117  Seren,  u.  zw.  54  von 
Karzinomfällen,  und  63  anderer  Erkrankungen,  zur  Untersuchung. 
Unter  diesem  hatten  wir  zwei  Fehldiagnosen. 

Ein  Fall  betraf  eine  schwere  Tuberkulose,  die  den  Seruin- 
befund  eines  Karzinoms  bot,  der  andere  Fall  war  leine  sogar  weit¬ 
gehende  Karzinomerkrankung,  bei  der  wir  den  Karzinombefund 
nicht  konstatieren  konnten.  In  beiden  Fällen  wurde  nicht  nur 
aufmerksam,  sondern  auch  mehrfach  untersucht,  so  daß  ein 
bloßer  Irrtum  ausgeschlossen  erscheint.  Für  den  Fall  von  Kar¬ 
zinom  könnte  man  als  Aufklärungs'möglichkeit  darauf  verweisen, 
daß  in  diesem  Falle  hohes  Fieber  bestand  und  geradeso,  wie  bei 
hohem  Fieber  Karzinomgewebe  zerfällt,  auch  die  wirksamen 
Substanzen  des  Serums  zerstört  worden  sein  konnten. 

Bezüglich  des  Falles  von  Tuberkulose  kann  nur  darauf 
hingewiesen  werden,  daß  er  nicht  dazu  Veranlassung  geben  kann, 
den  Befund  auf  Fälle  von  Tuberkulose  überhaupt  auszudehnen, 
weil  wir  eine1  Reihe  schwerer  Tuberkulosefälle  untersuchten,  die 
einen  nicht  karzinomatöseh  Befund  gaben. 

Von  weiteren  Resultaten  wäre  zu  erwähnen,  daß  die  Trü¬ 
bungsreaktion  auch  bei  Karzinomen  geringer  Größe  sich  findet 
und  daß  verschiedene  Karzinomseren  sehr  weitgehende1  Diffe¬ 
renzen  im  Gehalt  an  wirksamer  Substanz  zeigen.  Mit  einem!  Ex¬ 
trakt  kanii  man  in  verschiedenen  Karzinomseren  ganz  auffallend 
verschiedene  Trübungen  erhalten. 

Auch  seröse  Flüssigkeiten  geben  die  Serumreaktionen,  doch 
fehlt,  uns  noch  genügendes  Material,  um  von  einer  diagnosti¬ 
schen  Verwendung  sprechen  zu  können. 

Von  Sarkomen  sind  fünf  Seren  zur  Untersuchung  gelangt, 
die  mit  Sarkomextrakt  Trübungein  ergaben,  während  sie  mit  Kar¬ 
zinomextrakt  keine  Trübungen  ergaben.  Diese  Sarkomfälle  boten 
uns  auch  erwünschte  Gelegenheit,  ein  wenig  der  chemischen 
Zusamrnenset.unzg  d er  spezifischen  Trübungen  dadurch  näher¬ 
zutreten,  daß.  Gelegenheit  war,  beide  Niederschläge  in  einzelnen 
Reaktionen  zu  vergleichen. 

Wir  haben  zu  diesem  Zwecke  die  Trübungsreaktionen  im 
großen  angestellt,  einerseits  Karzinomextrakt  mit  seröser  Flüssig¬ 
keit  von  einein  Karzinomfall  und  andrerseits  Sarkomextrakt  mit 
seröser  Flüssigkeit  von  einem  Sarkomfall  vermischt,  die  Nieder¬ 
schläge  zentrifugiert  und  so  lange  mit  0-6°'oiger  Kochsalzlösung 
gewaschen,  bis  die  überstehende  Flüssigkeit  keine  Molisch- Reak¬ 
tion  gab,  aber  kohlehydratfrei  war. 

Die  Niederschläge  wurden  dann  in  geringer  Menge  ganz  ver¬ 
dünnter  Lauge  gelöst  und  nach  Feststellung  des  Stickstoffgehaltes 
so  verdünnt,  daß  beide  Lösungen  gleichen  Stickstoffgehalt  hatten. 

Trotzdem  zeigte  die  Lösung  des  Karzinomniederschlages 
reichliche  MolisclvReäktion,  reichliche  Reduktion  von  Fehling¬ 
scher  Lösung  und  nach  Enteiweißung  deutliche  Phenylglükosäzon- 
probe,  hatte  aber1  reichlich  Kohlehydrat,  resp.  Zucker,  während 
die  Lösung  des  Sarkomniederschlages  nur  Spuren,  von  Molisch 
und  gar  keinen  Zucker  aufwies. 

Andrerseits  zeigte  sieh  wieder  bei  der  Biuret- ,  Schwefel-, 
Adamkiewicz-  und  Liebermann-Reaktion  reichlicher  Ausfall  in  der 
Lösung  des  Sarkomniederschlages,  geringe  Spuren  in  der  Lösung 
des  Karzinomniederschlages1,  so  daß  der  Sarkomniederschlag  als 
wesentlich  reicher  an  Eiweißabbauprodukten  erscheint. 

Diese  auffallenden  Verschiedenheiten  können  nicht  ledig¬ 
lich  auf  die  Verschieidehheit  der  Zusammensetzung  der  serösen 
Flüssigkeiten  bezogen  werden,  denn  diese  Flüssigkeiten  waren 
sowohl  bezüglich  des  Eiweißgehaltes,  wie  bezüglich  der  Moliseh¬ 
reaktion  gleich;  außerdem  sind  ja  die  entstandenen  Niederschläge 
so  reichlich  gewäscheln  worden,  daß  die  Molisch-Reaktion  im 
letzten  Waschwasser  verschwunden  war.  Wir  müssen  somit  eine 
selektive  Anziehung  der  erwähnten  Substanzen,  resp.  Gruppen 
an  den  Niederschlag  annehmen. 

Es  wird  unsere  nächste  Aufgabe  sein,  nachzusehen,  ob  auch 
im  Organismus  in  analoger  Weise  die  Selektion  von  Substanzen 
an  das  Karzinom  stattfindet. 

Dr.  v.  Graff  (Schlußwort):  Auf  die  Ausführungen  des 
(Herrn  Vorstandes  Dr.  Freund  möchte  ich  erwidern,  daß 
unsere  Untersuchungen  die  Verwendbarkeit  der  Zellreaktion 
Freunds  zu  diagnostischen  Zwecken  in  keiner  Weise  beein¬ 
flussen.  Wie  schon  eingangs  erwähnt,  sollte  bloß  das  Verhalten 


der  Nabelsehnurseren  und  des  Serums  schwangerer  Frauen  gegen¬ 
über  Karzinomzelletn  mitgeteilt  werden.  Was1  die  Triibungs- 
roaktion  betrifft,  die  wir  nicht  in  den  Rahmen;  unserer  heutigen 
Mitteilung  einbezogen  haben,  so  trage  ich  noch  nach,  daß  die¬ 
selbe  auch  uns  einen  negativen  Ausfall  ergab. 

Endlich  erwähne  ich  noch,  daß  bei  einer  Frau,  bei  der  vor  drei 
Wochen  eine  Totalexstirpation  wegen  Utcruskarzinoms  gemacht 
worden  war,  das  Serum  Karzinomzellen  nicht  auflöste. 

Prof.  Gärtner:  Die  Messung  der  Luftdu rehgängig 
keit  der  Nase.  (Erscheint  ausführlich  in  der  nächsten  Nummer 
dieser  Wochenschrift.) 

Diskussion:  Dr.  0.  Benesi:  Im  Anschluß  an  den  Vortrag 
des  Herrn  Prof.  Gärtner  erlaube  ich  mir,  einige  Worte  über  die 
bisherigen  praktischen  Erfahrungen,  die  wir  mit  dem  Apparat 
gemacht  haben,  anzuschließen.  Ich  hatte  Gelegenheit,  an  der  Ab¬ 
teilung  meines  Chefs,  des1  Herrn  Prof.  Alexander,  eine  Reihe 
von'  zirka  100  Fällen  zu  untersuchen.  Es  ergab 'sich  als  niedrigste 
Zahl  für  die  Durchgängigkeit  der  Nase  8  Sekunden  für  Erwachsene 
und  7  Sekunden  für  Kinder;  Von  diesen  Minimalzahlen  aufwärts 
habe  ich  verschiedene  Zahlen  als  Zeichen  einer  größeren  oder 
geringeren  Stenosierung  der  Nase  bis  zur  absoluten  Undurch¬ 
gängigkeit  gefunden.  Ich  muß  sagen,  daß  der  Apparat  in  allen 
Fällen  mit  absoluter  Sicherheit  über  die  Durcligängigkeitsverhält- 
nisse  in  der  Nase  Aufschluß  gegeben  hat;  d.  h.  in  Fällen,  bei 
denen  der  Apparat  die  normalen  Zahlen  7  bis  8  Sekunden  an¬ 
zeigte,  hat  die  rhinoskopische  Untersuchung  auch  normale  ana¬ 
tomische  Verhältnisse  gezeigt  und  in  den  Fällen,  wo  auch  nur 
eine  geringgradige  Verzögerung  in  der  Durchflußzeit  registriert 
wurde,  zeigten  sich  auch  bei  der  rhinoskopischen  Untersuchung 
wenn  auch  nur  geringfügige  anatomische  Veränderungen,  wie 
z.  B.  eine  kleine  Crista  oder  kleine  Schwellungen  der  Schleim¬ 
haut.  Besonders  eklatant  konnte  ich  mich  von  der  exakten  Regi¬ 
strierung  des  Apparates  durch  folgenden  Versuch  überzeugen :  Eine 
1.8jährige  Patientin  zeigte  bei  der  Untersuchung  mit  dem  Rhino- 
meter  eine  beiderseitige  Verzögerung  von  24  Sekunden;  rhino¬ 
skopische  Untersuchung  ergab  diffuse  Schwellung  der  unteren 
Muscheln  infolge  Rhinitis  acuta.  Es  wurde  mit  Adrenalin  die 
Schleimhaut  eingepinselt  und  gleich  darauf  abermals  mit  dem 
Rhinometer  geprüft:  die  Durchflußzeit  betrug  jetzt  nur  noch 
beiderseits  10  Sekunden,  als  Zeichen  der  freieren  Passage  in 
der  Nase. 

Es  stehen  noch  Unterfüchungen  über  Fälle  vor  und  nach 
feiner  Nas'etn operation  aus.  Ue!ber  'diese  werde  ich  seinerzeit 
mir  ausführlicher  zu  berichtein.  erlauben. 

Priv.-Doz.  Dr.  Fein:  Die  Erfindung  des  Gärtner  sehen 
Apparates  hat  jedenfalls  eine  Lücke  in  der  Reihe  der  Meßvorrich¬ 
tungen  ausgefüllt,  welche  die  Durchgängigkeit  der  Nase  ermitteln 
sollen.  Er  dürfte  sich  jedoch  nur  für  Messungen  zu  physiologi¬ 
schen  Zwecken  eignen.  Für  die  klinischen  Bedürfnisse  ist  er  kaum 
verwendbar.  Vor  allein  endlich  lassen  sich  absolute  Werte 
für  das  Volumen  des  Naseninnern  überhaupt  nicht  ermitteln. 
Es  darf  in  dieser  Hinsicht  die  Nase  nicht  mit  der  Urethra  oder 
mit  dem  Oesophagus  verglichen  werden,  denn  das  Kaliber  der 
Nase  wechselt  von’  Sekunde  zu  Sekunde.  In  die  Naäe  ist  ein 
Schwellkörper  eingelagert,  der  sein  Volumen  infolge  der  Ein¬ 
wirkung  mannigfacher  Reize  thermischer,  mechanischer  und  che¬ 
mischer  Art  ununterbrochen  verändert.  .Ta.  auch  psychische  Ein¬ 
flüsse  üben  eine  große  Wirkung  auf  die  Veränderung  seines  \  o- 
lu  men's  aus,  so  daß  das  Kaliber  der  Nase  bei  ein  und  derselben 
Person  in  diesem  Augenblick  weit  und  im  nächsten  Augenblick 
wieder  viel  enger  ist,  ohne  daß  wir  sägen  können,  welches  der 
normale  Zustand  genannt  werden  kann.  Ferner  legen  wir  Rhino- 
1  offen  in  bezug  auf  die!  Indikation  für  unser  therapeutisches  Vor¬ 
gehen'  überhaupt  kein  großes  Gewicht  auf  die  absolute  Mes¬ 
sung  der  Weite  der  Nasenpassage.  Viel  wichtiger  sind  für  uns  die 
Angaben  des  Kränkeln,  denn  es  gibt  oft  Patienten,  welche  ver¬ 
hältnismäßig  weite  Nasen  haben  und  trotzdem  über  Behinderung 
der  Nasenatmung  klagein.  und  von  diesem  Hindernis  befreit  sein 
wollen,  während  wieder  andere,  deren  Nasenatmung  objektiv  wirk¬ 
lich  stark  beengt  erscheint,  niemals  Luftmangel  empfinden. 
Solchen  Kranken  würde  es1  wenig  helfen,  wenn!  wir  ihjnen  Segen  - 
über  auf  absolute  Maßzahlen  hinweisen  würden.  Endlich  scheint 
mir  die  Konstruktion  des  Apparateisl  nur  für  jene  Fälle  geeignel 
zu  sein,  in  denen  das  Atmungshindemis  in  der  Nase  selbst  seinen 
Sitz  hat,  nicht,  aber  für  jene  zahlreichen  Fälle,  in  welchen  das 
(Hindernis  hinter  der  Nase,  im  Nasenrachen,  sich  befindet  die 
hier  gehörein  z.  B.  die  große  Anzahl  von  Kindern,  weh  ne  an 
adenoiden  Vegetationen  leiden,  bei  welchen  die  (  hoanen  von 
hinten  her  verlegt  sind. 

Dr.  Frösch  eis:  Zu  den.  interessanten  Ausführungen  des 
Herrn  Prof.  Gär  ln  er  erlaube  ich  mir  eine  Anfrage.  Der  Herr 


222 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


Vortragende  hat  nämlich  davon  gesprochen,  daß  der  Verschluß 
des  Gaumensegels  gelöst  werde.  Wir  haben  aber  bis  jetzt  geglaubt, 
daß  ein  solcher  Verschluß  nur  beim  Schlucken  und  Intonieren 
zustande  komme  oder  willkürlich  bei  Leuten,  die  vorgeübt  haben. 
Aul  dieser  Voraussetzung  beruht  ja  auch  das  Hart  mann  sehe 
Verfahren  zur  Bestimmung  der  Kraft  des  Gaumensegels.  Dabei 
werden  beide  Nasenlöcher  mit  je  einer  Olive  armiert,  von  denen 
die  eine  mit  einem  Blasebalg,  die  andere  mit  einem  Manometer 
verbunden  ist.  Läßt  man  nun  den  zu  Untersuchenden  einen  Laut 
sprechen  und  preßt  gleichzeitig  Luft  aus  dem  Blasebalg  in  die 
Nase,  so  wird  die  Manometersäule  steigen,  da  die  Luft  nur  zum 
anderen  Nasenloch  entweichen  kann.  Erst  wenn  die  Kraft  des 
Blasebalges  die  des  Gaumensegels  überwindet,  so  sinkt  dieses 
nach  unten,  die  Luft  entweicht  in  den  Mund  und  das  Manometer 
fällt.  Der  jeweilig  höchste  Punkt  der  Manometersäule  ist  ein 
Maß  für  die  Kraft  des  Gaumetasegels.  Da  aber  Herr  Professor 
Gärtner  schon  so  reiche  und  gute  Erfahrungen  mit  seinem 
Apparat  gemacht  hat,  hoffe  ich,  daß  derselbe  zur  Klärung  der 
Funktion  des  Gaumensegels,  speziell  bei  den  verschiedenen  For¬ 
men  des  Näselns,  beitragen  wird. 

Prof.  Gärtner  (Schlußwort):  Daß  die  Messung  mit  dem 
Rhinometer  über  Anomalien  im  anatomischen  Bau  und  in  der 
Innervation  des  Gaumensegels  Aufschluß  geben  könnte,  glaube 
auch  ich.  In  der  ausführlichen  Publikation,  die  demnächst  in 
der  Wiener  klinischen  Wochenschrift  erscheinen  wird,  habe  ich 
diesem  Gedanken  Ausdruck  gegeben. 

Gegenüber  Herrn  Kollegen  Fein  bemerke  ich,  daß  es  für  die 
Funktion  der  Nase  als  Teil  des:  Atmungsweges  nicht  entscheidend 
ist,  wie  weit  eine  bestimmte  enge  Stelle  ist,  sondern  daß  es  nur, 
und  ausschließlich  auf  die  Summe  der  Widerstände,  die  die 
Luft  in  der  Nase  vorfindet,  ankommt  und  diese  Summe  kann 
nur  mit  diesem  oder  einem  ähnlichen  Apparat  gemessen  werden. 

Für  Herrn  Dr.  Fein  sind  die  subjektiven  Klagen  des 
Kranken  das  Entscheidendste,  wenn  es  sich  um  Vornahme  oder 
Unterlassung  eines  Eingriffes  zur  Erweiterung  der  Na.se  han¬ 
delt.  Demgegenüber  möchte  ich  die  Ansicht  vertreten,  daß  es 
zwecklos  sein  muß,  eine  tatsächlich  genügend  weite  Nase  noch 
weiter  zu  machein.  Ob  eine  Nase  aber1  wirklich  weit  genug  ist, 
Vermag  wohl  die  bloße  Inspektion  nicht  immer  sicher  zu  ent¬ 
scheiden.  Diesem  Mangel  soll  eben  das  Rhinometer  abhelfen. 

Zusatz  bei  der  Niederschrift,  aus’  Versehen1  nicht  ge¬ 
sprochen:  Adenoide  Vegetationen  beengen  den  Luftstrom  bei 
der  Messung,  wie  hei  der  Atmung.  Ihre  Anwesenheit  wird  also 
durch  das  Rhinometer  aufgedeckt. 

Dr.  Podzahradsky  demonstriert  das  von  Löwenthal  in 
Braunschweig  konstruierte  ,.Radiumemanatorium“,  einen  Appa¬ 
rat  zur  Behandlung  durch  Einatmung  von  Radiumemanation. 

Meine  Herren!  Auf  der  Hissehen  Klinik  in  Berlin  wurden 
seit  einem  Jahre  einfache  Versuche  mit  diesem  Apparatei  vor¬ 
genommen,  die  bisher  ein  vorzügliches  Resultat  ergeben  haben, 
das  Emataatorium  beruht  auf  dem  Prinzipei  der  vollständigen 
Ausnutzung  der  Radiumemanation,  die  mittels,  Inhalation  durch 
mehrere  Stunden  auf  den  menschlichen  Organismus  einwirken  soll. 

Iri  einem  vollkommen  luftdicht  abgeschlossenen  Raume  wird 
durch  einen  kontinuierlichen  Sauerstoffstrom  Radiumemanation 
aus  Emataatoren  entwickelt,  die  auf  einer  Scheibe  kreisförmig 
ungeordnet  sind. 

Die  Menge  der  Radiumemanation,  mit  der  der  Raum  be¬ 
schickt  wird,  beträgt  200  bis  400  Volt,  oder  zwei  bis  vier  Mache- 
einheiten  pro  Liter  Luft  des  Behandlungsraumes'.  Wir  wissen 
nun,  daß  beinahe  die  ganze  eingeatmete  Radiumemanation  mit 
den  nächsten  Atemzügen  den  Organismus  wieder  verläßt,  so  daß 
die  Atmosphäre  dels  EmänatoriUms  ständig  mit  Emanation  ge¬ 
sättigt  ist  und  die  ausgeatmete  Emanation  immer  wieder  zur 
Geltung  kommt.  Die  Patienten  verbleiben  daher  zwei  bis  drei 
Stunden  in  einer  Atmosphäre  von  konstanter  Emanationsmenge; 
während  dieser  ganzen  Sitzung  stellt  sich  dann  der  Emanations¬ 
gehalt  des  Körpetas  mit  dem  der  umgebenden  Luft  in  ein  kon- 
s tan i  tes  Gleichgewicht . 

Das  Emanatorium  ist  mit  einer  Sauerstoffbombe  verbunden, 
aus  welcher  ein  steter  Strom  von  Sauerstoff,  dessen  Stärke  sich 
nach  den  zu  behandelnden  Personen  richtet,  zu  den  einzelnen 
Emanatoren  geleitet  wird.  Diese  Emanatoren,  deren  Anzahl  14 
beträgt,  sind  Metallzylinder,  die  im  Innern  Glasröhren  mit  einer 
radioaktiven  Flüssigkeit  von  gewisser  Stärke  enthalten.  Die  Ema¬ 
natoren  sind  auf  einer  drehbaren  Scheibe  so  angebracht,  daß 
bei  einer  täglich  zweimaligen  Benützung  jeder1  Emanator  erst, 
nach  einer  siebentägigen  Pause  wieder  in  Betrieb  kommt,  in 
welcher  Zeit  der  Emanationsgehalt  wieder  zur  verlangten  Stärke 
gelangt  ist. 


Unterhalb  der  Emanatoreta  befindet  sich  ein  Motor,  welcher 
die  ausströmende  Emanation  im  Raxune  gleichmäßig  verteilt  und 
die  Luft  durch  den  sogenannten  Luftreinigungsturm  des  Appa¬ 
rates  saugt.  Im  Innern  dieses  Turmes  befinden  sich  sechs  über¬ 
einander  angebrachte  Drahtsiebe,  die  mit  gelöschtem  Kalk  ge¬ 
füllt  sind.  Durch  das  D a r übe rstrei cheta  der  durch  den  Ventilator 
aufgesaugten  Luft  wird  die  Kohlensäure  derselben  absorbiert. 

Auf  diese  Weise  wird  der  verbrauchte  Sauerstoff  konstant 
ersetzt  und  die  ausgeatmete  Kohlensäure  absorbiert.  Unser  R.a- 
diumemanatorium  ist  erst  seit  kurzem  in  Betrieb,  doch  konnten 
wir  dennoch  schon  Heilungen  und  bedeutende  Besserungen  in 
vjielen  Fallen  konstatieren.  Hauptsächlich  sind  es  Fälle  von 
Gicht,  chronischem  Rheumatismus,  Neuralgien,  die  Schmerzen  bei 
Tabes  dolorosa,  die  günstig  durch  die  Inhalationsbehandlung 
mit  Emanation  'beeinflußt  werden. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  v  om  19.  J anuar  1911. 

Frau  Dr.  Lieh  ten  stern  stellt  aus!  der  Abteilung  Schle¬ 
singer  einen  27jährigen  Mann  vor,  bei  welchem  unter  Arsen¬ 
medikation  ein  Lymphosarkom'  der  oberen  Brust- 
g  egend  rasch  zurückgeig  an  gen  ist.  Vor  einem  halben 
Jahre  bekam  Patient  Husten  und  Atemnot,  sowie  profuse 
Schweiße,  in  einem  Monate  nahm  das  Körpergewicht  bedeutend 
ab  und  bald  darauf  traten  in  der  oberen  Brustapertur  und  in  der 
unteren  Halsgegend  derbe  Drüsen  auf,  über  dem  oberen  Teil  des 
Sternums  war  Dämpfung  vorhanden.  Zu  beiden  Seiten  der  Mittel¬ 
linie  bildete  sieb  am  Abdomen  ein  Kollateralkreislauf  aus,  in 
welchem  jetzt  der  Strom  von  oben  nach  unten  geht..  Der  Blut- 
befutad  ergab  2,600.000  rote.  Blutkörperchen.  Unter  Arsenmedi¬ 
kation  gingen  die  Drüsen  auffallend  schnell  zurück;  wenn  sie 
ausgesetzt  wurde,  traten  neue  Drüsen  auf.  Pät.  zeigt  eine  bräun¬ 
liche  Verfärbung  in  der  oberen  Thoraxpartie,  die  Ursache  der¬ 
selben  ist  nicht  bekannt. 

H.  Schlesinger  beimerkt,  daß  der  Rückgang  von  Drüsen- 
schwellungen  bei  Lymphosarkom  bisweilen  erst  nach  mehr¬ 
monatiger  Behandlung  mit  Arsen  erfolgt.  Einer  der  ersten  Fälle, 
bei  welchem  ein  solcher  rapider  Rückgang  der  Tumoren  beob¬ 
achtet  wurde,  wurde  von  Kundrat  obduziert,  hiebei  fand  sich 
akuteste  Verfettung  der  neugebildeten  Massen.  Vortragender  hat, 
mehrere  derartige  Fälle  mit  raschem  Rückgang  beobachtet,  doch 
handelt  es  sich  dabei  nur  um  ein  passageres  Kleinerwerden  der 
Tumoren,  nicht  um  Heilung. 

H.  Schlesinger  demonstriert  einen  Fall  von  Nabel¬ 
metastasen  bei  Magenkarzinom.  Vortragender  bebt  her¬ 
vor,  daß  man  dem  Nachweise  einer  Geschwulstmletastase  im 
Nabel  große  Aufmerksamkeit  zu  wenden  sollte,  da  solche  Tu¬ 
moren  leicht  übersehen  werden,  obgleich  sie^erhebliche  dia_- 
gnostische  Bedeutung  besitzen.  Nach  den  Erfahrungen  des  Vor¬ 
tragenden  kommen  den  beiden  etwas  häufigeren,  wenn  auch 
immerhin  noch  seiteinen  Typen  der  metastatischen  Erkrankung 
der  Bauchdeckeln  bemerkenswerte  klinische  Eigentümlichkeiten 
zu.  Dein  Tmpfmetastaseta  nach  Ptanktion  karzinomatöser  Peri¬ 
tonitis  ist  das  mitunter  erstaunlich  rasche  Wachstum  von  Neo¬ 
plasmen  im  Stichkanal  eigentümlich.  Die  Nabelmetastasen  haben 
folgende  wichtige  klinische  Besonderheiten:  1.  Sie  sind  bis¬ 
weilen  das  allererste  Symptom,  welches1  auf  die  Gegenwart  eines 
malignen  Tumors  im  Körper1  hinweist,  2.  Es!  gelangt  hie  und  da 
eine  Nabelmetastase  bei  Individuen  zur  Entwicklung,  bei  wel¬ 
chen  man  infolge  ihrer  Korpulenz  an  alles'  eher  denken  würde 
als  a'n  Karzinom.  Vortragender  hat  bereits  viermal  bei  fett¬ 
leibigen  älteren  Personen  Nabolmetastasten  als  Frühsymptom  einer 
neoplastischen  Erkrankung  der  Abdominalgebilde  gefunden.  Am 
häufigsten  bat  sieb  bei  Nabelmetastasen  als  primärer  Tumor 
ein  Magenkarzinom  gefunden.  Die  vorgestellte  62jährige  Frau 
hat  seit  cinetai  Jahre  die  Symptome  eines  Magenkarzinoms  auf 
dem  Roden  eines  Ulcus  ventriculi.  Seit  vier  Monaten  bemerkte 
sic  eine  Verhärtung  am  Nabel,  derselbe  ist  vorgewölbt  und 
knopfartig  vorsp ringend.  Die  Haut  ist  daselbst  gerötet  und  nicht, 
faltbar,  die  Oberfläche  des  sehr  harten1,  nicht,  druckempfind¬ 
lichen,  scharf  begrenzten  und  nicht  exulzerierten  Tumors  is! 
uneben.  Dieses  Verhalten  ist  typisch.  In  einem  zweiten,  auf 
der  Abteilung  des  Vortragenden  in  Beobachtung  stehenden  Falle 
saß  die  Metastase  zuerst  paraumbilikal  und  infiltrierte  erst,  nach 
längerem  Bestände  den  Nabel  in  typischer  Weise.  Auch  in  diesem 
Falle  war  der  primäre  Tumor  ein  Magenkarzinom. 

E.  Stoerk  stellt  aus  der  III.  medizinischen  Klinik  einen 
1 1  jä hri gen  Knaben  mit  isolierter  B  e  x  t  r  o k  a  r  d  i  e  und  H e m i- 


Nr.  6 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


223 


plegie  vor.  Pat.  fiel  vor  einigen  Wochen  auf  die  Knie  und 
die  Hände  auf,  seitdem  ist  die  linke  Körperseite  paretisch.  Perio¬ 
disch  auftretender  Kopfschmerz  in  der  rechten  Stirngegend  und 
zerebrales  Erbrechen  sprechen  für  einen  Prozeß  im  rechten 
Stirnhirn  oder  in  den  rechten  Zentralwindungen.  Vielleicht  han¬ 
delt  es  sich  um  einen  Solitärtuberkel  in  Anbetracht  der  Infil¬ 
tration  der  linken  Lungenspitze.  Das  Herz  ist  nach  rechts  ver¬ 
lagert,  ohne  daß  es  gedreht  wäre,  die  anderen  Organe  zeigen  nor¬ 
malen  Situs,  nur*  die  linke  Zwerchfellshälfte  steht  aus  einem 
unbekannten  Grunde  höher  als  die  rechte.  Vortr.  schlägt  vor, 
für  derartig©  Fälle  die  Benennung  Dextrokardie  zu  benützen. 

G.  Schwarz  weist  darauf  hin,  daß  bei  Kindern  das  Herz 
mehr  median  gestellt  ist  als  bei  Erwachsenen.  Es  könnte  sich 
um  ein  sogenanntes  Cor  pendulum  handeln. 

Bauer  bemerkt,  daß  sich  die  Linkslagerung  des  Herzens 
erst  durch  den  aufrechten  Gang  entwickelt.  Es  wäre  interessant, 
nachzuforschen,  ob  solche  Individuen  mit  abnorm  gelagerten 
Herzen  auch  sonstige  Minderwertigkeiten  an  sich  tragen. 

K.  Kreuz  fuchs  meint,  daß  es  sich  um  ein  extrem 
median  gelagertes  Herz  handelt. 

G.  Holz  kn  echt  betont,  daß  das  Cor  pendulum  kleiner 
ist  als  das  normale  Herz  und  sich  mit  der  Spitze  in  dem 
Mittelschatten  des  Röntgenbildesi  befindet.  Hier  ist  aber  das 
Herz  wohl  ausgebildet  und  nach  rechts  verlagert. 

M.  Weinberger  bemerkt,  daß  reine  Dextrokardie  ohne 
Gefäßveränderungen  äußerst  selten  ist. 

M.  Haudek  mahnt,  die  Röntgenbefunde  nicht  zu  über¬ 
schätzen,  da  der  Herzschatten  durch  eine  schiefe  Stellung  des 
Körpers  falsch  orientiert  werden  kann. 

E.  Stoerk  erwähnt,  daß  Pat.  ausgeprägt  lymphatisch  ist, 
die  Scapulae  sind  am  medialen  Rande  nicht  konvex,  sondern 
stellenweise  konkav  und  verlaufen  parallel  zur  Wirbelsäule,  die 
Crista  scapulae  steht  ungefähr  senkrecht  auf  der  Medianlinie 
ues  Körpers. 

H.  Schlesinger  fragt,  ob  hereditäre  Lues  vorliegt,  weil 
eine  solche  Formation  der  Skapula  oft  bei  hereditärer  Lues 

Vorkommen  soll. 

E.  Stoerk  erwidert,  daß  Lues  nicht  nachweisbar  ist. 

R.  Bäräny  stellt  einen  jungen  Mann  nach  Operation  eines 
Kleinhirnabszesses  vor.  Der  Abszeß  war  nach  Mittelohr¬ 
eiterung  entstanden,  es  kam  zur  Sinusthrombose,  nach  Aus¬ 
räumung  des  Sinus  wurde  Patient  schläfrig  und  klagte  über 
Kopfschmerz,  der  Zeigeversuch  war  positiv.  Es  wurde  ein  Klein- 
hlrnabszeiß  diagnostiziert  und  operiert.  Zuerst  verschlimmerten 
sich  die  Erscheinungen,  es)  stellten  sich  schwere  Schwindelanfälle 
und  bei  jeder  Bewegung  des  Kopfes  starker  Nystagmus  ein. 
Die  Erscheinungen  gingen  zurück,  dann  kehrte  die  Zeigereaktion 
wieder,  welche  früher  ausgeblieben  war.  Vor  14  Tagen  war 
der  Zeigeversuch,  vom  Handgelenke  ausgeführt,  negativ,  jetzt,  ist 
er  positiv  geworden.  —  Vortr.  berichtet  über  einen  Fall  von 
Gliom  der  inneren  Kapsel,  welcher  auf  der  Abteilung 
Ko  vacs  beobachtet  wurde.  Eine  44jährige  Frau  bekam  eine 
rechtseitige  Hemiparese,  das  Gehör  war  normal,  beim  Anstellen 
des  Rombergschen  Versuches  fiel  sie  nach  rückwärts.  Außer¬ 
dem  hatte  sie  vertikalen;  Nystagmus  nach  aufwärts,  welcher  für 
eine  zentrale  Erkrankung  spricht,  beim  Drehen  hatte  sie  einen 
hochgradigen  Nystagmus  und  die  Tendenz,  nach  rückwäits  zu 
fallen.  Die  Diagnose  wurde  auf  eine  Erkrankung  im  Bereiche 
der  inneren  Kapsel  gestellt.  Die  Obduktion  ergab  ein  Gliom 
der  inneren  Kapsel  mit  Hydrocephalus  internus,  welchei  das 
Kleinhirn  komprimierte.  —  Schließlich  zeigte  Vortr.  das  ana¬ 
tomische  Präparat  eines  Falles  von  Zystizerkus  des  IV.  Ven¬ 
trikels,  welcher  zum  Verschlüsse  das  Foramen  Magendi  und  zu 
einem  enormen  Hydrocephalus  internus  geführt  hatte.  Der  35jäh- 
rige  Mann  hatte  Schwindel  und  Erbrechen,  auf  beiden  Seiten 
fanden  sich  Residuen  einer  alten  Mittelohreiterung.  Vertikaler 
Nystagmus  nach  aufwärts!  sprach  für  den  zentralen  Ursprung 
desselben,  die  Zeigereaktion  fiel  am  linken  Arm  aus.  Es  wurde 
ein  Abszeß  in  der  linken  Kleinhirnhemisphäre  vermutet.  Plötz¬ 
lich  verschwanden  alle  krankhaften  Symptome,  nach  kuizer  Zeit 
kehrten  sie  wieder  zurück,  dann  kam  es  wieder  zur  Bessern  ng. 
Bei  der  Radikaloperation  wurde  in  der  hinteren  Schädelgrube: 
kein  Eiter  gefunden;  nach  vorübergehender  Besserung  traten 
wieder  hochgradige  Kopfschmerzen  und  geringe  Ataxie  auf. 
Pat.  starb  plötzlich:  die  Obduktion  ergab  einen  Zystizerkus'  des 
IV.  Ventrikels.  Der  Fall  beweist,  daß  ein  Ausfall  der  zerebralen 
Symptome  nicht  nur  durch  Zerstörung  des  Kleinhirns,  sondern 
auch  durch  Druck  auf  dasselbe  entstehen  kann. 

H.  Schlesinger  hat  außer  diesem  Fall  von  Zystizerkus 
im  vergangenen  Jahre  noch  einen  zweiten  beobachtet.  In  letz 
terein  Falle  sprachen  die  Symptome  für  einen  Tumor  in  der 


Gegend  des  Kleinhirnbrückenwinkels ;  es  wurde  die  Operation 
vorgenommen,  doch  erlag  Pat.  derselben.  Die  Autopsie  ergab  einen 
großen  Zystizerkus  im  IV.  Ventrikel,  eine  Ausbauchung  des  letz¬ 
teren  in  der  Gegend  des  Kleinhirnbrückenwinkels  hatte  offenbar 
die  Erscheinungen  des  Kleinhirnbrückenwinkeltumors  hervor¬ 
gerufen.  In  dem  vom  Vortragenden  besprochenen  Falle  ergab  die 
Spinalpunktion  keinen  Aufschluß,  das  Blut  zeigte  keine  Ver¬ 
änderung. 

Förster  zeigt  ein  bei  der  Obduktion  gewonnenes  Präparat 
von  Kcjmpres  sionsmyelitis  infolge:  einer  Karzinom¬ 
metastase  in  den  Wirbeln.  Eine  49jährige  Frau  mit  mäßiger 
Struma  bekam  gürtelförmige  Schmerzen,  und  Parästhesien,  zwi¬ 
schen  den  Scapulae  war  ein  Tumor  bemerkbar,  ferner  zeigten  sich 
Veränderungen  und  Defekte  an  einigen  Rippen.  Nach  einer  hef¬ 
tigen  Bewegung  stellte  sich  Paraplegie  infolge  Kompression  des 
Rückenmarkes  in  der  Höhe  des  sechsten  Dorsalsegmentes  ein. 
Es  handelte  sich  um  eine  Karzinommetastase  von  der  Struma 
aus,  weitere  Metastasen  fanden  sich  bei  der  Obduktion  in  einigen 
Rippen  und  im  Unterlappen  der  Lungen. 

Goldschmied  zeigt  aus  der  Abteilung  Schlesinger 
das  anatomische  Präparat  eines  Falles  von  karzino  matöser 
Magenkolonfistel.  Pat.  litt  an  Magenbeschwerden,  geringer 
Stagnation  des  Mageninhaltes,  hochgradiger  Lienterie,  fäkulen- 
tem  Erbrechen  und  diarrhoischen  Stühlen;  in  der  Oberbauch¬ 
gegend  war  ein  Tumor  zu  tasten.  Die  Röntgenuntersuchung  ergab 
einen  Tumor  in  der  Pylorusgegend,  ferner  eine  Kommunikation 
zwischen  dem  Magen  und  dem  Querkolon.  Die'  Obduktion  ergab 
ein  zerfallenes  Magenkarzinom,  welches  die  Wand  des  Kolons 
arrodiert  hatte. 

E.  Stoerk  macht  in  einer  vorläufigen  Mitteilung  auf  den 
Zusammenhang  zwischen  Ulcus;  ventriculi  und  Sta¬ 
tus  lymphatic us  aufmerksam.  Er  hat  seit,  fünf  Vierteljahren 
keinen  Fall  von  Magengeschwür  bei  einem  Manne  ohne  Status 
lymphaticus  gefunden  und  ersucht  die  Kollegen,  ihm  einen  etwa 
beobachteten  Fall  von  Magengeschwür  ohne  Status  lymphaticus 
beim  Manne  zur  Beobachtung  zuzuweisen. 


Wiener  dermatologische  Gesellschaft. 


Sitzung  vom  7.  Dezember  1910. 


Vorsitzender:  Frühauf. 

Schriftführer :  Kren. 

(Schluß.) 

L  i  p  s  c  h  ü  t.  z  berichtet  über'  einen  Symptomenkomplex,  der 
bei  drei  mit  ,,606“  behandelten  Fällen  zur  Beobachtung  gelangte 
und  im  Sinne  eines  U  ©  b  e  r  e m  p  f  i  n  d  1  i  c  h  k  e  i  t  s  p  h  ä  u  o  mens 
gedeutet  werden  kann.  Bei  drei  Patientinnen,  die  wegen  Lues  ma¬ 
culosa  mit  0-45,  bzw.  0-6  des  E  h  r  1  i  c  h  sehen  Präparates  nach 
Wechsel  mann  oder  in  Oelsuspension  behandelt  wurden,  kam 
es  am  zehnten  Tage  nach  der  Injektion  zum  Auftreten  eines 
schweren  Allgemeinzustandes,  bestehend  in  Fieber  bis  40’  und 
40-6°  C,  starker  Mattigkeit  und  Auftreten  eines  roseolaartigen 
Erythems,  zum  Teil  an  Stelle  der  früheren  Roseola,  zum  Teil 
von  -dieser  unabhängig.  In  wenigen  Tagen  trat  vollkommene  Ent¬ 
fieberung  ein,  das  Exanthem  schwand  und  es  stellte  sich  voll¬ 
kommene  Genesung  ein.  Hervorgehoben  sei  noch,  daß  in  allen 
drei  Fällen  die  Injektion  sehr  gut  vertragen  wurde,  und  uaß  bis 
zum  zehnten  Tage  vollkommenes  Wohlbefinden  zu  notieren  war. 

Bezüglich  der  Deutung  des  beschriebenen  Symptomenkom- 
plexes  sei  bemerkt,  daß  wir  nicht  auf  das  Auftreten  des  einen 
oder  des  anderen  Symptoms  Gewicht  legen,  da  sowohl  Iiöbm- 
steigerungen  als  auch  Herxheimersche  Reaktion  oder  Ubsti- 
patio-n  usw.  bei  der  Arsenobenzolbehandlung  bereits  von  zahl¬ 
reicher!  Autoren  Erwähnung  gefunden  haben;  wir  sehen  das  Eigen¬ 
tümliche  des  Vorganges  in  dem  kombinierten  Auftreten  dei 
Erscheinungen  nach  Verstreichen  eines  Intervalls,  das,  wie  es 
scheint,  zehn  Tage  beträgt.  Die  Annahme,  daß  es  sich  um  Uerrer- 

empfind lichkeitser scheinung en  handelt,  ist  nach  clem 
Gesagten  nicht  von  der  Hand  zu  weisen  und  dürfte  m  der  von 
Bruck  und  Klausner  bereits  nachgewiesenen  Ueberemplmd- 
lichkeit  gegenüber  Arzneisubstanzen  (Quecksilber,  Jodoform,  auch 
Tuberkulin)  Analogien  finden.  Diese  Frage  wird  vielleicht  aut 
tierexperimentellem  Weg  (Uebertragung  der  passiven  Anaphylaxie.) 


l  lösen  sein.  .  ....  .  ,  ,  . 

Kren  hat  spätere  Temperatursteigerung  öfters  beobachten 
innen.  Sie  treten  aber  nicht  immer  nach  zirka  zehn  Lagen  aut, 
indem  zu  ganz  verschiedenen  Zeiten.  Man  kann  sie  nac  i  ■>. 
10  und  14/Tagen 


Schüttelfrost  ein. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIET.  PJ11. 


Nr.  (5 


224 


Gleichzeitig  mit  diesem  Phänomen  schwellen  auch  hei  frisch 
sekundären  Fällen  alle  Drüsen  an  und  schmerzen.  Nach  Abklingen 
der  Temperatur  treten  auch  die  Drüsen  wieder  zurück. 

Die  Deutung  dieser  Symptome  als  Ueberempfindlichkeits- 
phänomen  ist  keineswegs  schon  gesichert. 

1  rpani.  Dem  eben  mitgeteilten  Fall  ähnliche  Fälle  wurden 
in  letzter  Zeit  von  verschiedenen  Seiten  beschrieben.  Auch  unter 
meinen  140  mit  Arsenobenzol  behandelten  Patienten  konnte  ich 
bei  einem  kräftigen,  sonst  vollkommen  gesunden  Soldaten,  welcher 
wegen  eines  makulo-papulösen  Exanthems  eine  Injektion  von 
0-56  Arsenobenzol  in  neutraler,  wässeriger  Aufschwemmung  sub¬ 
kutan  in  die  Rückenhaut  erhalten  hatte,  ein  konformes  Krank¬ 
heitsbild  beobachten. 

Es  drängt  sich  daher  die  Vermutung  auf,  daß  es  sich  hier 
um  der  Anaphylaxie  verwandte  Vorgänge,  oder  aber  um  ein,ei 
toxisch  wirkende  Aenderung  des  Arsenobenzolsi  im  Depot  handelt. 

Gr  oß  gibt  der  Anschauung  Ausdruck,  daß  die  Beobachtungen 
von  Lipschütz  sich  durch  verlangsamte  Resorption  zwanglos 
erklären.  Ueberempfindlichkeitsreaktionen  bei  Substanzen  ohne 
Eiweißcharakter  werden  mit  Recht  bezweifelt. 

Sprinzels  hat  an  der  Abteilung  No- bl  ebenfalls  drei  Fälle 
beobachtet,  wo  erst  längere  Zeit  nach  der  Injektion  (ca.  10  Tage) 
ein  toxisches  Erythem  auftrat.  Die  Anschauung  von  Lipschütz. 
daß  eis  sich  um  ein  anaphylaktisches  Phänomen  handle,  scheint 
ihm  ganz  plausible!. 

Ehrmann  weist,  darauf  hin,  daß  die  Herxheim  er  sehe 
Reaktion  durchaus  nicht  immer  auf  therapeutische  Eingriffe  zu 
beziehen  ist,  daß  sie  ganz  spontan  auftritt,  daß  Besnier  bereits 
ein  Erythema  syphiliticum  beschrieben  hat  und  daß,  J arisch 
bei  Einpinselung  von  breiten  Kondylomen  mit  Terpentin  diese 
Erscheinung  gesehen  hat. 

Königstein:  Wir  schenken  der  Herxheimerschen  Re¬ 
aktion  seit.  Jahren  unsere  Aufmerksamkeit.  Wir  beobachteten  sie 
bei  allen  Stadien  der  Lues1  zu  Beginn,  aber  auch  im  Verlaufe  der 
Behandlung.  Dieselbe  tritt  häufiger  nach  löslichen,  als  nach  un¬ 
löslichen  Quecksilberpräparaten  auf.  Am  häufigsten  nach  Asurol, 
dann  höherprozentigeh  Sublimatinjektionen.  Unter  den  unlös¬ 
lichen  Präparaten  steht  Salizyl  an  erster  Stelle.  Selten  ist  diese 
Reaktion  nach  Kalomel,  am  seltensten  nach  grauem  Oel. 

Groß  erinnert  daran,  daß  Ehrlich  in  jenen  Fällen,  welche 
eine  Herxheim  er  sehe  Reaktion  zeigten,  annahm,  daß  die  Ar- 
senobenzolinjekt.ion  die  Spirochäten  nicht  abgetötet  habe,  daß 
die  Dosis  eine  ungenügende  gewesen  sei.  Damit  hat  sich  Ehr¬ 
lich  bewußt  oder  unbewußt  auf  den  Standpunkt  Thalmanns 
gestellt,  der  die  Herxheim  er  sehe  Reaktion  durch  die  frei¬ 
werdenden  Endotoxine  der  Spirochaete  pallida  erklärt  wissen 
wollte. 


Verein  der  Aerzte  in  Steiermark. 

7.  Monatsversammlung  am  27.  Mai  1910. 

Assistent  Dr.  Emil  Mayr  hält  einen  Vortrag  über  funktionelle 
Leberdiagnostik.  Nach  kurz  zusammengefaßter  Uebersicht  über 
die  wichtigsten  Aufgaben  der  Leber  in  bezug  auf  ihre  innere 
und  äußere  Sekretion,  bespricht  der  Vortragende  das  Ergebnis 
seiner  Untersuchungen  an  26  Kranken,  betreffend  die  alimentäre 
Lävulosurie  und  die  Urobilinausscheidung.  Es  kamen  Fälle  von 
Phosphorvergiftung,  Septikopyämie,  Pneumonie-Rekonvaleszenten, 
Stauungsleber,  akutem  Choledochusverschluß,  Lävulosezirrhose 
und  Karzinom  zur  Beobachtung.  Seine  Schlußfolgerungen  faßt 
der  Vortragende  folgendermaßen  zusammen : 

1.  Eine  vorhandene  Urobilinurie  im  Zusammenhang  mit 
übrigen  auf  die  Leber  zu  beziehenden  Krankheitserscheinungen 
macht  eine  Lebererkrankung  wahrscheinlich.  Insbesondere  kann 
das  Bestehen  einer  solchen  in  Fällen,  wo  die  Stuhluntersuchung 
unmöglich  ist,  einen  Verschluß  der  Gallenwege  ausschließen. 
Vielleicht  wird  aus  der  Stärke  der  Urobilinurie  die  Dauer  einer 
Phosphorvergiftung  zu  erschließen  sein. 

2.  Eine  bestehende  alimentäre  Lävulosurie  deutet  immer 
auf  eine  Erkrankung  des  Leberparenchyms  und  kann  in  zweifel¬ 
haften  Fällen  bei  genau  eingehaltener  Versuchsanordnung  die 
Entscheidung  treffen.  In  Fällen  von  Karzinomen  läßt  sie  jedoch 
im  Stich.  In  Fällen  von  Phosphorvergiftung  wird  man  vielleicht 
aus  der  Größe  der  Lävuloseausscheidung  prognostische  Schlüsse 
ziehen  können. 

Priv.-Doz.  Dr.  Mathes  demonstriert  eine  Pat.,  an  der 
wegen  Prolaps  eine  Beckenbodenplastik  gemacht  worden  war. 
Die  Patientin  hatte  vor  einem  Jahre  das  städtische  Kranken¬ 
haus  wegen  eines  großen  Vorfalles  aufgesucht.  Die  Scheide  war 
damals  vollständig  invertiert,  ihre  und  der  Portio  Oberfläche 
mit  mehreren  Dekubitalgeschwürgtf  bedeckt ;  das  ganze  bildete 


einen  Tumor  von  über  Mannsfaustgröße,  der  sich  durch  Druck 
nicht  verkleinern  ließ,  weil  das  ganze  Becken  von  harten 
knolligen  Tumormassen  angefüllt  war,  in  denen  es  nicht  gelang' 
den  Uterus  oder  andere  Teile  des  Genitals  zu  differenzieren. 
Aus  der  Anamnese  des  Falles  im  Vereine  mit  dem  objektiven 
Befunde,  wurde  die  Diagnose  gestellt,  daß  sich,  während  der 
Vorfall  schon  bestand,  ein  akut  entzündlicher  Prozeß  abgespielt 
habe  und  durch  Bildung  von  umfänglichen,  verwachsenen  Tu¬ 
moren  den  früher  reponibeln  Prolaps  irreponibel  gemacht  habe. 
Es  wurden  zunächst  Uterus  und  Adnexe  von  einem  Bauchschnitt 
aus  entfernt.  Nach  der  ersten  Operation  verließ  die  Patientin 
relativ  geheilt  das  Krankenhaus  und  kam,  nachdem  sie  sich  ge¬ 
nügend  erholt  und  gekräf tigt  hatte,  zur  Vornahme  eines  weiteren 
Eingriffes  zurück.  Die  Inversion  der  Scheide  war  genau  so  groß 
wie  früher,  nur  barg  die  umgestülpte  Scheide  nicht  mehr  den 
Uterus  und  seine  Adnexe,  sondern  Blase,  Mastdarm  und  Dünn¬ 
darmschlingen.  Da  die  Verhältnisse  für  eine  plastische  Operation 
in  konservativem  Sinne  sehr  ungünstig  lagen,  beschloß  der  Vor¬ 
tragende,  den  muskulären  Beckenboden  nach  H  a  1  b  a  n  und 
Tandler  aus  der  Masse  der  beiden  Musculi  glutaei  neu  her¬ 
zustellen.  Das  primäre  Resultat  der  Operation  konnte  als  ein 
sehr  befriedigendes  bezeichnet  werden. 

An  der  Diskussion  beteiligt  sich  Priv.-Doz.  Dr.  Stolz. 

Priv.-Doz.  Dr.  Pol  land  demonstriert  das  Autochrombild 
einer  ungefähr  63jährigen  Frau,  bei  der  vor  ungefähr  sechs  Wochen 
am  Rücken  ein  rasch  wachsender  Knoten  entstand,  der  von 
einem  Arzte  exstirpiert  wurde.  Bald  darauf  bildeten  sich  in  der 
Umgebung  und  später  am  ganzen  Oberkörper  und  im  Gesichte 
zahlreiche  schrotkorn-  bis  haselnußgroße  Knoten,  stark  vorspringend, 
von  blauer  Farbe  und  derber  Konsistenz.  Das  Allgemeinbefinden 
verschlechterte  sich  zusehends,  es  trat  Erbrechen,  Husten, 
Durchfall  auf,  stets  war  allen  Entleerungen  Blut  beigemischt. 
Die  mikroskopische  Untersuchung  einiger  exzidierter  Knötchen 
bestätigte  die  Diagnose :  Melanosarkom.  Die  Obduktion  zeigte 
fast  alle  Organe  mehr  oder  weniger  dicht  mit  Sarkomknötchen 
durchsetzt. 

Primarius  Dr.  Adolf  Payer  demonstriert  eine  Neuerung 
am  Leistenbruchbande,  deren  Erfinder  Herr  Oberstabsarzt  i.  R. 
Dr.  Karl  Sch  ae  fl  er  ist.  Die  Neuerung  besteht  darin,  daß  die 
Pelotte  durch  vollständige  Trennung  derart  in  zwei  Abschnitte 
geteilt  ist,  daß  sich  die  deutlich  ausgeprägte  Spalte  innig  an  den 
horizontalen  Schambeinast  anschmiegen  muß.  Der  obere,  größere 
Teil  lastet  mit  breiter  Basis  auf  der  Bruchpforte,  der  untere 
Teil  umgreift  nahe  an  der  Symphyse  das  P  o  u  p  a  r  t  sehe  Band 
in  der  Art,  daß  er  den  Bruchsackhals  zum  Verschlüsse  bringt; 
außerdem  ist  der  untere  Teil  so  groß  gemacht,  daß  er  die  Furche 
zwischen  Extensoren  und  Adduktoren  der  Breite  nach  ganz 
erfüllt.  Da  aber  gerade  diese  Stellen  bei  den  Schenkelbewegungen 
einer  steten  Unruhe  ausgesetzt  sind,  ist  die  Verbindung  der 
beiden  Abschnitte  etwas  beweglich  gelassen,  so  daß  geringe 
seitliche  Verschiebungen  gegeneinander  gestattet  sind.  Der  Er¬ 
finder  hat  das  Bruchband  durch  längere  Zeit  am  eigenen 
Skrotalbruch  ausprobiert  und  konnte  mit  demselben  selbst 
schwere  Arbeit  verrichten,  ohne  irgend  welche  Beschwerden  zu 
empfinden. 

8.  Monatsversammlung  am  10.  Juni  1910. 

Prof.  Holl  hält  einen  Nachruf  für  den  verstorbenen  Pro¬ 
fessor  der  Anatomie  in  Wien,  Hofrat  Dr.  Emil  Zuckerkand  1. 

Prim.  Dr.  Her  tie  hält  einen  Vortrag  über  „Erfolge  mit  der 
Ausschaltung  der  Achillessehne  nach  N  i  c  o  1  a  d  o  n  i  bei  schwerem 
Plattfuß  ".  Von  dem  Gedanken  ausgehend,  daß  durch  Ausschaltung 
des  Triceps  surae,  des  Antagonisten  der  kurzen  Fußmuskulatur, 
diese  ein  solches  Uebergewicht  bekommt,  daß  sie  einen  trans¬ 
formierenden  Einfluß  auf  den  Proc.  post.  calc.  auszuüben  ver¬ 
mag  und  dadurch  das  Fußgewölbe  erhöht,  hat  Nicoladoni 
im  Jahre  1902  zum  ersten  Male  in  einem  Falle  von  sehr  schwerem 
linksseitigen  Plattfuß  die  Durchschneidung  der  Achillessehne 
durch  offene  Tenotomie  vorgenommen  und  versenkte  den  nach 
oben  umgeschlagenen  zentralen  Sehnenzipfel  in  einen  queren 
Schlitz  der  Suralfaszie,  wo  er  mit  ein  paar  Nähten  fixiert 
wurde.  Die  Operation  hatte  einen  vollen  Erfolg  aufzuweisen. 
Der  Vortragende  hat  seit  dem  Jahre  1908  die  Operation  im 
städtischen  Krankenhause  siebenmal  ausgeführt  und  sind  sämt¬ 
liche  Pat.  von  ihren  Plattfußschmerzen  dauernd  geheilt  und 
berufsfähig.  Die  Vorteile  dieses  Operationsverfahrens  sind  kurz 
zusammengefaßt  folgende  : 

1.  Die  Ausschaltung  der  Achillessehne  ist  die  einfachste 
aller  blutigen  Plattfußoperationen. 

2.  Sie  erlöst  die  Patienten  in  kürzester  Zeit  von  ihren 
Schmerzen  und  macht  sie  wieder  berufsfähig. 


Nr.  6 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


225 


3.  Sie  führt  zur  anatomischen  Wiederherstellung  des  Fu߬ 
gewölbes. 

4.  Schwere  Störungen  des  Ganges  durch  die  Operation 
sind  nur  vorübergehend  und  mehr  ein  ästhetischer  als  praktischer 

Nachteil. 

5.  Die  Achillessehne  bildet  sich  nach  längerer  Zeit  wieder 
und  meist  tritt  auch  wieder  die  volle  Funktion  der  Waden¬ 
muskulatur  ein. 

An  der  Diskussion  beteiligt  sich  Priv.-Doz.  Dr.  W  i  1 1  e  k. 

Dr.  Hermann  Trunk  (Hörgas)  hält  einen  Vortrag  über  einige 
neuere  Methoden  der  Anreicherung  und  Färbung  der  Tuberkel¬ 
bazillen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  M  uch  sehen 
Granula  und  ihre  Darstellung  durch  prolongierte  Gramfärbung. 

Assistent  Dr.  S  t  r  e  i  ß  1  e  r  stellt  einen  Patienten  vor,  der  durch 
wiederholte  Lumbalpunktion  von  einer  Streptokokkenmeningitis 
nach  einer  Schädelbasisfraktur  geheilt  worden  war.  Die  Punktion 
wurde  fünfmal  vorgenommen  und  jedesmal  gleichzeitig  Elektrargol 
(ein  Originalröhrchen  zu  5  cm3)  von  Clin,  intravenös  und 
Aronsonsches  Antistreptokokkenserum  (ein  Fläschchen  zu 
50  cm3  =  1000  A.-E.)  subkutan  gegeben.  Der  Vortragende  be¬ 
spricht  im  Anschluß  an  diesen  Fall  die  operative  Therapie  der 
Meningitis,  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Technik  der 
Lumbalpunktion,  sowie  die  Aussicht  auf  Erfolg  bei  den  ver¬ 
schiedenen  Formen  von  Meningitis.  An  der  Diskussion  beteiligt 
sich  Dr.  E.  M  a  y  r. 

9.  Monatsversammlung  am  24.  Juni  1910. 

Prof.  Klemensiewicz  hält  B.  Koch  einen  Nachruf. 

Priv.-Doz.  Dr.  Stolz  demonstriert  einen  Fall  von  Zwillings¬ 
schwangerschaft  mit  uteriner  und  tubarer  Entwicklung  der 
Früchte  und  wiederholte  tubare  Gravidität.  Der  erste  Fall  betraf 
eine  30  Jahre  alte  Frau,  bei  der  die  Diagnose  auf  Gravidität 
von  fünf  oder  sechs  Wochen  gestellt  wurde  und  wegen  drohenden 
Ausbruchs  einer  Psychose  der  künstliche  Abort  eingeleitet  wurde. 
Sieben  Tage  nach  dem  Eingriff  konnte  die  Patientin  aufstehen, 
der  Uterus  war  noch  etwas  größer  und  es  bestand  ein  unbe¬ 
deutender  rötlicher  Ausfluß.  Einige  Tage  später  traten  zeitweise 
kolikartige  Schmerzen  in  der  rechten  Seite  auf,  die  bei  Bettruhe 
wieder  verschwanden.  21  Tage  nach  Vornahme  des  vorerwähnten 
Eingriffes  verspürte  die  Frau  plötzlich  auf  der  Straße  einen 
heftigen  Schmerz  in  der  rechten  Seite,  so  daß  sie  fast  ohnmächtig 
wurde  und  mit  Mühe  einen  Wagen  erreichte.  Die  vom  Vor¬ 
tragenden  kurz  darauf  vargenommene  Untersuchung  führte  zur 
Diagnose  Haematocele  retrouterina,  intraperitoneale  Blutung.  Die 
Patientin  wurde  sofort  in  ein  Sanatorium  gebracht  und  unter 
Lumbalanalgesie  laparotomiert.  Nach  Eröffnung  des  Cavum 
peritonei,  Entfernung  von  flüssigem  Blut  und  massenhaften  Blut- 
koagulis,  hernach  stumpfer  Lösung  des  in  der  Gegend  des  Fundus 
uteri  haftenden  Netzes  und  einzelner  Darmschlingen,  Ent¬ 
wicklung  des  in  den  Douglas  geschlagenen,  über  daumendicken 
Tubentumors,  Abbinden  und  Entfernen  desselben.  Ovarium  dieser 
Seite  intakt,  am  linksseitigen  zwei  anscheinend  gleich  große 
Corpora  lutea.  Das  gewonnene  Präparat  stellt  ein  über  daumen¬ 
dickes,  tubares  Fruchtkapselhämatom  mit  äußerem  Fruchtkapsel¬ 
aufbruch  dar.  Die  Rekonvaleszenz  war  normal.  Der  zweite  Fall 
betraf  eine  24  Jahre  alte  Nullipara,  die  im  Jahre  1908  wegen 
rechtsseitiger  Tubargravidität  operiert  wurde  und  im  Februar  1910 
wegen  linksseitiger  Tubargravidität  zur  Laparotomie  kam.  Dem 
Vortragenden  fiel  bei  der  zweiten  Operation  die  infantile  Form 
des  uterinen  Anteils  des  linken  Eileiters  auf.  Da  dieselbe  immer 
wieder  unter  den  Ursachen  der  rezidivierenden  Eileiterschwanger¬ 
schaften  erwähnt  wird,  scheint  es  ihm  zweckmäßig  in  solchen 
Fällen  zur  Vermeidung  eines  Rezidives  bei  der  Operation  der 
Tubargravidität  beide  Eileiter  zu  entfernen. 

An  der  Diskussion  beteiligte  sich  Dr.  Adolf  Payer,  der 
über  einen  Fall  von  gleichzeitig  bestandener  extra-  und  intra¬ 
uteriner  Gravidität  aus  seiner  Praxis  berichtet. 

Prof.  v.  Hacker  stellt  einen  13jährigen  Knaben  vor, 
welchen  er  wegen  einer  Fraktur  des  Schädels  mit  Impression 
am  27.  April  1910  operierte. 

Der  Knabe  war  am  24.  April  durch  das  Anschlägen  einer 
schweren  Schaukel  an  der  rechten  Schläfe  verletzt  worden  und 
war  bis  zu  seinem  Transport  in  das  Krankenhaus  bewußtlos. 
Bei  der  Untersuchung  war  der  Patient  bei  vollem  Bewußtsein, 
jedoch  apathisch.  Etwa  zwei  Querfinger  nach  hinten  vom  äußeren 
Augenhöhlenrand  und  ebenso  weit  ober  dem  Proc.  zygomaticus 
eine  1  cm  lange,  nach  abwärts  konvexe  Rißwunde,  aus  der  einige 
Tropfen  blutigseröser  Flüssigkeit  austraten.  Nach  hinten  und 
nach  oben  von  dieser  Wunde  ist  eine  etwa  drei  Querlinger 
breite  und  zwei  Finger  hohe  Impression  am  Schädeldach  nach¬ 
weisbar.  Da  außer  einem  allmählichen  Zurückgehen  des  Pulses 


bis  auf  58  in  der  Minute,  vom  Assistenten  der  neurologischen 
Klinik  Dr.  Phleps  noch  einige  weitere  Symptome  beobachtet 
wurden,  die  auf  eine  Läsion  der  zweiten  oder  dritten  rechten 
Hirnwindung  hinwiesen,  wurde  das  Debridement  vorgenommen 
und  hiebei  ein  etwa  kronenstückgroßes,  dünnes  Blutkoagulum, 
von  einem  verletzten  Piagefäß  stammend,  etwa  in  der  Gegend 
der  zweiten  oder  dritten  Hirnwindung  entfernt.  Es  erfolgt  Heilung 
per  primam.  Der  Knabe  wurde  am  16.  Mai  geheilt  entlassen. 
Der  Vortragende  bespricht  noch  weiters  die  Indikation  zu 
Operation  bei  derartigen  Schädelfraktionen,  sowie  die  Technik 
der  Operation.  An  der  Diskussion  beteiligt  sich  Assisten 
Dr.  Phleps. 

10.  Monatsversammlung  am  7.  Oktober  1910 

Assistent  Dr.  Di  Gasp  er  o  und  Assistent  Dr.  Streißler 
demonstrieren  einen  Fall  von  operativ  geheiltem  Gehirntumor. 

In  der  Diskussion  über  diesen  Fall  erwähnt  Priv.-Doz  . 
Dr.  Her  tie  die  Vorteile  der  zweizeitigen  Operation,  da  die 
plötzliche  Druckentlastung  bei  einzeitiger  Operation  sich  für  das 
Gehirn  oft  als  schädlich  erweist.  Bei  Verwendung  von  Tonogen 
beobachtete  Redner  zweimal  lokale  Anämie  des  Gewebes  und 
einmal  Hautgangrän.  Suprarenin  verbürgt  bei  gleichartiger 
Intensität  der  Wirkung  bessere  Erfolge. 

Prof.  Holl  hält  einen  Vortrag  über  das  Reizleitungssystem 
(atrioventrikuläre  Verbindungsbündel)  am  menschlichen  und  tieri¬ 
schen  Herzen  und  demonstriert  diesbezügliche  Präparate. 

Priv.-Doz.  Dr.  P  o  1 1  a  n  d  spricht  über  60,  mit  dem  neuen 
Syphilisheilmittel  „Ehrlich  606“  an  der  dermatologischen  Klinik 
behandelte  Fälle.  Während  es  bei  der  ursprünglich  geübten 
Methode  der  Injektion  (Einspritzung  einer  Lösung  des  Präparats 
ins  Gesäß)  häufig  zu  störenden  Nebenerscheinungen  und  Fieber, 
Pulssteigerung,  tagelang  andauernden  heftigen  Schmerzen  kam, 
sind  dieselben  bei  Befolgung  der  Injektionstechnik  von  Wechsel¬ 
mann  (subkutane  Einverleibung  einer  feinen  Aufschwemmung 
des  Pulvers  von  neutraler  Reaktion)  meist  fast  schmerzlos  und 
ohne  sonstigen  Störungen.  Der  Heilerfolg  bei  den  bisher  be¬ 
handelten  Fällen  ist  im  ganzen  als  sehr  prompt  und  vielfach 
staunenswert  zu  bezeichnen,  wenn  auch  die  Wirkung  nicht  immer 
gleichmäßig  ist.  Besonders  frische  Fälle  geben  die  besten  Er¬ 
folge,  doch  auch  bei  veralteten  Fällen  mit  geschwürigen  Zerfalls¬ 
prozessen  erfolgte  die  Vernarbung  oft  mit  einer  bisher  unbekannten 
Raschheit.  Bei  einem  jahrelang  wegen  hereditärer  Geschwürs¬ 
prozesse  in  Behandlung  der  Klinik  stehendem  Manne  verschwanden 
alle  Geschwüre  nach  einer  einzigen  Injektion  von  0'4  g  in  kür¬ 
zester  Zeit.  Leider  scheint  für  die  sogenannten  parasyphilitischen 
Rückenmarks-  und  Gehirnkrankheiten  auch  von  dem  neuen  Mittel 
nicht-  allzuviel  zu  hoffen.  Die  verabfolgte  Menge  schwankte 
zwischen  01  bis  10  g.  In  der  Regel  wurde  nur  eine  Injektion 
gemacht.  Ernste  Zufälle  wurden  bisher  nie  beobachtet,  obwohl 
auch  einmal  ein  Kind  im  Alter  von  21  Monaten  behandelt 
wurde. 

Priv.-Doz.  Dr.  Hesse  berichtete  über  seine  Erfolge  mit 
dem  Ehrlichschen  Heilmittel  bei  Behandlung  luetischer  Augen¬ 
krankheiten.  Die  Raschheit  der  Einwirkung  ist  gerade  bei  Er¬ 
krankungen  der  Augen  von  besonderem  Vorteil,  da  oft  ein  Tag 
über  das  Schicksal  eines  Auges  entscheidet.  Schmerzen  traten 
in  elf  Fällen  nur  einmal  nach  der  Injektion  auf,  weil  die  Neutra¬ 
lisierung  der  Emulsion  keine  genaue  war.  Leichte  Pulsbeschleu¬ 
nigung  und  Temperatursteigerungen  wurden  zuweilen  beobachtet. 
In  sechs  Fällen  von  Iridocyclitis  luetica  war  schon  am  Tage  nach 
der  Injektion  ein  deutliches  Nachlassen  der  entzündlichen  Er¬ 
scheinungen  festzustellen,  das  Kammerwasser  hellte  sich  rasch 
auf,  das  Sehvermögen  besserte  sich  und  die  Patienten  konnten 
nach  durchschnittlich  zehn  Tagen  geheilt  entlassen  werden.  Vor¬ 
handene  luetische  Papeln  in  der  Iris  vergrößerten  sich  nach  der 
Injektion,  gingen  aber  am  dritten  Tage  rasch  zurück.  Der  Erfolg 
bei  einem  Fall  von  Skleritis  war  gleichfalls  gut.  Drei  Fälle  von 
Keratitis  parenchymatosa  wiesen  Nachlaß  der  Reizerscheinungen 
mit  Aufhellung  von  Hornhaut  und  Kammerwasser  auf,  doch  war 
wegen  der  Kürze  der  Zeit  ein  abschließendes  Urteil  nicht  möglich. 
Ein  74jähriger  Mann  mit  Chorioretinitis  luetica  und  Folgen  von 
Iridozyklitis  wurde  wegen  schwerer  Arteriosklerose  nur  auf  eigene 
Verantwortung  injiziert.  Nach  zehn  Tagen  wurde  eine  Besserung 
der  Sehschärfe  konstatiert.  Ein  Fall  von  Iridozyklitis  zeigte  aber 
nach  kurzer  Zeit  wesentliche  Verschlechterung  des  Sehvermögens 
und  schwere  Neuroretinitis  mit  Trübungen  der  Netzhaut  und 
frischen  chorioiditischen  Herden.  Wahrscheinlich  war  hier  die 
Wirkung  des  Mittels  unvollkommen. 

Priv.-Doz.  Dr.  P  o  s  s  e  k  berichtet  ebenfalls  über  Behandlung 
von  Augenkrankheiten  luetischen  Ursprungs  mit  Ehrlich  „606  . 
Es  handelte  sich  um  sechs  Fälle  von  Iritis,  resp.  Iridocyclitis 


226 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  6 


luetica,  drei  Fälle  von  Keratitis  parenchymatosa  und  einen  Fall 
von  Scleritis  profunda.  Bei  zwei  Fällen  von  Keratitis  paren¬ 
chymatosa  war  der  Erfolg  negativ.  Schädliche  Beeinflussung  war 
nie  zu  konstatieren.  Gelingt  es  durch  rechtzeitige  Behandlung 
bei  Keratitis,  die  Erkrankung  auf  das  eine  Auge  zu  beschränken, 
so  wäre  dieser  Erfolg  bereits  zu  begrüßen,  leider  wurde  in  einem 
falle  diese  Beschränkung  nicht  erzielt. 

Abteilung  für  Neuro-Pathologie. 

Sitzung  am  3.  Juni  1910. 

Prof.  Hartmann  hält  einen  Vortrag  über  eine  eigenartige 
Störung  der  zerebralen  Bewegungsinnervation. 

Sitzung  vom  17.  Juni  1910. 

Direktor  Sterz  bespricht  den  Entwurf  des  Gesetzes  be- 
t  re  ff  end  die  Fürsorge  für  Geisteskranke  und  den  Entwurf  eines 
Entmündigungsgesetzes.  Der  Vortragende  führte  in  eingehender 
Darstellung  aller  Einzelheiten  und  an  der  Hand  von  Beispielen 
aus  seiner  reichen  Erfahrung  überzeugend  aus,  daß  diese  beiden 
in  einem  ärztefeindlichen  Sinne  verfaßten  Gesetze  in  ihrer  gegen¬ 
wärtigen  Form  vom  theoretischen  wie  vom  praktischen  Stand¬ 
punkt  aus  als  unannehmbar  zu  bezeichnen  sind.  An  der  Dis¬ 
kussion  beteiligten  sich  Dr.  v.  Scarp  ate  tti  und  Professor 
Hartma n  n. 


Verein  deutscher  Aerzte  in  Prag. 

Sitzung  vom  13.  Januar  1911. 

Priv.-Doz.  Dr.  Alfred  Kraus  demonstriert  a)  ein  löjäh- 
riges  Mädchen  mit  Granulosis  rubra  nasi.  Die,  Erkrankung 
besteht  seit  vier  Jahren,  nach  Angabe  der  Mutter  in  der  wär¬ 
meren  Jahreszeit  in  stärkerer  Intensität.  Innerhalb  einer  auf¬ 
fallenden  Rötung  der  häutigen  Nase  finden  sich  zahlreiche,  leb¬ 
haft  rote  Knötchen,  die  auf  Druck  vollständig  verschwinden. 
An  den  betroffenen  Partien  besteht  gleichzeitig  eine  kontinuier¬ 
liche  Rötung.  Hyperhydrose.  Differentialdiagnostisch  ist  Lupus 
vulgaris  und  erythematodes,  Acne  vulgaris  und  rosacea  auszu¬ 
schließen.  Anatomisch  handelt  es  sich  um  entzündliche  Infiltrate 
an  den  Endteilen  der  Schweißdrüsenausführungsgänge.  Der  sezer- 
nierende  Teil  der  Drüsen  ist  normal.  Die  Aetiologie  der  Er¬ 
krankung  ist  bis  heute  noch  nicht  geklärt.  Gegen  therapeutische 
Maßnahmen  erweist  sie  sich  vollständig  refraktär.  Sehr  bemer- 
kenswer t  ist,  daß  das1  Leiden  fast  ausnahmslos  Kinder  im  jugend¬ 
lichen  Alter  betrifft,  sowie  auch,  daß  es  gelegentlich  bei  meh¬ 
reren  Familienmitgliedern  zur  Beobachtung  kommt. 

b)  Einen  zweijährigen  Knaben  mit  einer  fast  über  die 
ganze  Körperhaut  ausgedehnten  Blasenaffektion.  Besonders  die 
Haut  des  Stammes  weist  zahlreiche  orbikuläre  und  girierte  Blasen¬ 
gruppen  auf,  deren  Zentram  von  starken,  honiggelben,  serös 
imbibierten  Krusten  eingenommen  ist,  während  an  den  Rändern 
noch  deutliche  Blasenabhebung  besteht.  Esi  handelt  sich  um 
eine  Impetigo  contagiosa  circinata  corporis,  eine 
typische  Erkrankung  des  jugendlichen  Kindesalters.  Die  Lokalisa¬ 
tion  der  Impetigo  contagiosa,  an  der  Haut  des  Stammes  ist  relativ 
selten.  Das  häufigere  Auftreten  derselben  gerade  im  Kindesalter 
läßt  darauf  schließen,  daß  die  Infektion  um  so  leichter  er¬ 
folgt,  je  juveniler  die  Haut  ist.  Das  Symptom  der  Blasenbildung, 
die  Neigung  zu  Nachschüben  und  die  Lokalisation  am  Körper 
kann  leicht  zur  Diagnose  Pemphigus  Veranlassung  geben.  Die¬ 
selbe  Erkrankung  kann  an  der  Kinderhaut  zu  umfangreichen 
Blasenabhebungen  und  damit  zum  Bilde  des  Pemphigus  neo¬ 
natorum  führen. 

Dr.  Rudolf  Kuh:  Die  Chondrodysphasie  im  Rönt¬ 
genbilde. 

"Vortragender  stellt  einen  aus  jüdischer  Familie  stammen¬ 
den,  20  Jahre  alten  Mann  vor,  der  an  Chondrodysphasie  leidet, 
die  klinisch  leicht  zu  diagnostizieren  ist,  durch  die  Lokalisa¬ 
tion  und  Multiplizität  der  knochenartigen  Geschwülste,  durch 
die  Konfiguration  der  Gelenksenden,  ferner  durch  die  Verkrüm¬ 
mung  und  Verkürzung  der  Knochen.  Es  ist  das  unbestrittene 
Verdienst  von  Kienböck,  eine  bis  ins  Detail  ausgearbeitete 
Charakterisierung  des  radiologisch  anatomischen  Befundes  uns 
geliefert  zu  haben,  der  nur  dieser  Krankheitsform  zukommt- 
Die  Exostosen  sind  an  bestimmte  Punkte  lokalisiert;  an  den 
Regionen  des  größten  Knochenwachstums,  so  an  der  unteren 
Epiphyse  des  Oberarmes,  sind  die  größten  Exostosen  und  auch 
in  der  Meinzahl  vorhanden.  Die  Verteilung  der  Exostosen  findet 
an  beiden  Körperhälften  symmetrisch  statt.  Die  Verkrümmungen 
der  Knochen  entstehen  durch  ungleichmäßiges  Wachstum  des 
Knochens  im  Querschnitt  oder  durch  Zurückbleiben  des  Nach¬ 
barknochens  im  Wachstum.  Die  schwere  Störung  in  der  Proli¬ 


feration  des  Knochens  zeigt  sich  auch  in  der  Störung  des  Längen¬ 
wachs!  ums.  Charakteristisch  für  die  Krankheit  ist  die  ganz 
kolossale  Auftreibung  des  Diaphysenendes,  die  Kienböck  mit 
der  Spina  ventosa  vergleicht.  Diese  Auftreibung  reicht  von  der 
ältesten  Exostose,  die  sich  gegen  die  Knochenmitte  zu  etabliert 
bis  zur  terminalen  Gelenksfläche.  Letztere  ist  vollkommen  intakt’ 
zeigt  *  eine  glatte  Oberfläche  und  normale  Konfiguration.  Diu 
Kortikalis  der  Auftreibung  ist  sehr  verdünnt,  die  Spongiosa  weit¬ 
maschig.  Ganz  symmetrisch  sieht  man  an  beiden  Körperhälften 
in  diesen  Auftreibungen  quer  verlaufende,  parallele  Streifen, 
die  als  Spongiosaverdichtungen  zu  deuten  sind,  und  Hemmun¬ 
gen  des  Knochen  Wachstums  zu  verschiedenen  Zeitpunkten  dar¬ 
stellen.  Der  Teil  des  Knochens,  der  von  der  ältesten  Exostose 
bis  zur  Knochen  mitte  sich  erstreckt,  ist  ganz  normal.  Kien¬ 
böck  nennt  die  Krankheit  „Chondrodysphasie  mit  multiplen 
kartilaginären  Exostosen“,  um  zu  zeigen,  daß  das  Hauptsymptom 
der  Krankheit  in  schweren  Proliferationsstörungen  des  Knochens 
während  des  Wachstums  zu  suchen  ist  und  daß  die  Exostosen 
ein  Nebensymptom  bedeuten.  Dr.  0.  Wiener. 

Programm 

der  am 

Freitag  den  xo.  Februar  1911,  um  7  IJlir  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Prof.  Dr.  M.  Groß  in  aim  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Priv.-Doz.  v.  Haberer :  Zur  primären  Dickdarmresektion. 
(Demonstration.) 

2.  Priv.-Doz.  Dr.  Emil  Schwarz:  Ueber  die  Beziehung  der  eosino¬ 
philen  Zellen  zu  Sekretionsvorgängen.  (Mitteilung.) 

3.  Dr.  0.  Schwarz :  Ueber  die  Einwirkung  des  Adrenalins  auf 
einzellige  Organismen.  (Mitteilung.) 

4.  Dr.  Hecht  und  Dr.  Kollier:  Untersuchungen  über  Asepsis  (mit 
Demonstration). 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Clairmont  und  Haudek, 

S.  Federn,  Max  Herz,  Julius  Neumann  und  Ed.  Hermann,  L.  Wiek, 
Hans  Salzer  und  Robert  Breuer. 

Bergmeister,  Paltauf. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  findet  im  Hörsaale  der  Klinik  Noorden  Donnerstag 
den  9.  Februar  1911,  um  7  Uhr  abends,  statt. 

(Vorsitz:  Prof.  Dr.  v.  Noordeu.) 

1.  Demonstrationen  (angemeldet):  Dr.  ff.  Schwarz:  Krankenvor¬ 
stellung  zum  Reicheschen  Röntgenbefund  bei  tiefgreifendem  Ulcus  ventriculi. 

2.  Dr.  Mart.  Haudek  :  Zur  Frage  der  Antiperistaltik.  (Vorläufige 

Mitteilung.) 

3.  Dr.  Porges  in  Gemeinschaft  mit  Dr.  LeimdöriVr  und  Doktor 
Marcuvici :  Zusammenhang  der  Blutalkaleszenz  mit  der  Atmung. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  13.  Febrnar  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Sitzungssaale  des  Kollegiums,  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz  des 
Herrn  Dr.  V.  Läufer  stattfindenden  wissenschaftlichen  Versammlung. 

Prof.  Dr.  H.  Schlesinger :  Der  Einfluß  des  höheren  Alters  auf 
das  klinische  Bild  einiger  Erkrankungen. 


Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie. 

Programm  des  Dienstag  den  14.  Februar  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Hörsaal  v.  Wagner  stattfindenden  Vortragsabends. 

1.  Priv.-Doz.  Dr.  Karl  Kunn,  Der  Bewegungsmechanismus  der 
Augen.  2.  Primarius  Dr.  Josef  Herze,  Zur  Psychologie  und  Pathologie  der 
Affekte.  R  a  i  m  a  n  n,  Schriftführer. 

Geburtshilflich-gynäkologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  lUensta?  den  14.  Februar  1911,  im  Hörsaale  der 
II.  Univ.-Frauenklinik.  Beginn:  Punkt  7  Uhr  abends. 

1.  Schauta :  Struma  ovarii. 

2.  (  ristofoletii:  Einseitiges  Fehlen  des  Ovariums  und  der  Tube. 

3.  Liliotzky  :  Demonstration  von  Präparaten. 

4.  R.  Hofstätt.er  (a.  G.):  Ein  selbsthaltender  Scheidenspatel. 

5.  Mandl:  a)  Appendixkarzinom;  h)  Eine  seltene  Form  von  Myom¬ 
bildung  des  Uterus. 

6.  Vortrag:  Viktor  Klein  (a.  G.):  Die  puerperale  und 
postoperative  Thrombose  und  Embolie. 

V.  Kroph,  II.  Schriftführer.  Wertlieim,  Vorsitzender. 


Verein  der  Aerzte  des  I.  Bezirkes. 
Licblbildervorlrasr  des  Dr.  Samuely  am  13.  Februar,  7  Uhr 
abends,  im  Hotel  de  France  über  die  zweite  Wiener  Hochquellenleitung. 
Gäste  willkommen. 


Verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Knbasta. 


Druck  von  Bruno  Bartelt,  Wien  XVIII.,  Theresien  Kasse  3 


Verlag  von  Wilhelm  Braumiüler  in  Wien 


Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

3.  Braun,  0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S.  Exner,  E.  Finger,  M.  Gruber,  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko,  H.  Meyer.  J,  Moeller, 
K.  v.  Noorden.  H.  Ooersteiner,  A,  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt,  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

\nton  Freih.  v.  Eiseisberg,  Theodor  Escherich,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig 
x  Edmund  v.  Neusser,  Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Äerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

/erlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuohhändler,  VIII/i,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618 


XXIV.  Jahrg.  Wien,  16.  Februar  1911  Nr.  7 


Hofrat  Prof.  Dr.  Gustav  v.  Braun. 

Nachruf  von  Prof.  Peters,  Wien. 

Nun  ist  auch  der  zweite  Stern  des  Doppelgestirns,  das  seinerzeit  am  gynäkologischen  Himmel  Wiens 
glänzte,  erloschen.  Der  ältere  Bruder,  der  geniale  Carl  v.  Braun,  wurde  schon  vor  vielen  Jahren  in  seiner 
besten  Schaffenskraft  dahingerafft,  nun  ist  auch  Gustav  v.  Braun  im  hohen  Alter  von  82  Jahren  von 
uns  gegangen.  Seit  mehr  als  einem  Dezennium  im  Ruhestände,  war  er  jedoch  bis  knapp  vor  seinem  Tode 
immer  tätig,  geistig  frisch  und  rüstig.  Bis  in  die  letzten  Jahre  nahm  er  regelmäßig  an  den  Sitzungen  der 
geburtshilflich-gynäkologischen  Gesellschaft,  deren  Ehrenpräsident  er  seit  seinem  70.  Geburtstage  war,  teil  und 
griff  auch  zeitweise  noch,  basierend  auf  seine  große  Erfahrung,  in  die  Diskussion  praktischer  Fragen  ein.  Fast 
alles  lesend,  was  in  Fachschriften  neues  erschien,  verfolgte  er  mit  regem  Interesse  den  imposanten  Ausbau 
unseres  Faches. 

Es  sei  mir  gestattet,  von  dem,  was  ich  seinerzeit  gelegentlich  seines  70.  Geburtstages  in  der  „Monats- 
schtift  für  Geburtshilfe  und  Gynäkologie“  zur  Charakteristik  dieses  durch  seltene  Eigenschaften  hervor¬ 
ragenden  Mannes  gesagt  habe,  einiges  hier  zu  wiederholen. 

Gustav  v.  Braun  bot  eines  jener  seltenen  Beispiele,  bei  denen  sich  edelste  Charaktereigenschaften, 
treueste  Pflichterfüllung  als  Lehrer  und  Arzt  mit  einem  stets  sich  betätigenden  Drange  nach  Erweiterung  der 
Kenntnisse  verbinden.  Als  Lehrer  ein  väterlicher  Freund  seiner  Schüler,  als  Arzt  durchdrungen  von  der 
höchsten  Humanität,  stets  bereit,  zu  helfen  bei  arm  und  reich,  als  Forscher  immer  daran,  neues  zu  schaffen 
und  neue  Errungenschaften  anderer  zum  Wohle  seiner  Pflegebefohlenen  auszunützen. 

Er  war  zu  Zistersdorf  in  Niederösterreich  im  Jahre  1829  geboren,  studierte  in  Prag  und  Wien  und 
wurde  1858  in  Wien  zum  Dr.  med.  und  Magister  der  Geburtshilfe  promoviert.  Nach  einer  kurzer  Tätigkeit 
auf  der  chirurgischen  Klinik  des  Prof.  Schuh  wurde  er  Assistent  an  der  geburtshilflichen  Klinik  des 
Prof.  Klein,  nachdem  sein  Bruder  Carl,  der  diese  Stelle  innegehabt  hatte,  nach  Trient  berufen  worden  war. 
Schon  im  Jahre  1856  zum  Privatdozenten  und  in  seinem  30.  Lebensjahre  zum  Extraordinarius  ernannt, 
supplierte  er  nach  dem  Tode  Kleins  die  Klinik  und  übernahm  1862  die  Lehrkanzel  für  Geburtshilfe  an 
der  Josefs-Akademie. 

Nachdem  diese  1873  aufgelöst  worden  war,  wurde  die  Hebammenschule  von  der  II.  geburtshilflich¬ 
gynäkologischen  Klinik,  der  damals  Spaeth  Vorstand,  abgetrennt  und  Gustav  Braun  zum  ordentlichen 
Professor  und  Vorstand  der  Hebammenklinik  ernannt.  An  dieser  wirkte  er  segensreich  bis  zu  seinem 
71.  Lebensjahre.  Nach  seinem  Rücktritt  vom  Lehramte  entfaltete  er  noch  durch  viele  Jahre  eine  eifrige 
Tätigkeit  als  Mitglied  des  Obersten  Sanitätsrates. 

Durch  seine  Eigenschaft  als  Hausarzt  der  Herzoge  von  Coburg  war  er  mit  den  allerhöchsten  Kreisen 
in  steter  Fühlung  und  Berührung,  und  seine  Klientel  rekrutierte  sich  aus  den  hohen  und  höchsten  Schichten. 
Dies  hinderte  ihn  aber  nicht,  als  echter  humaner  Arzt  sein  segensreiches  Wirken  in  allen  Kreisen,  auch  den 
ärmsten  und  niedersten,  in  rührend  gewissenhafter  Weise  zu  betätigen.  Wie  oft  hatte  Schreiber  dieser  Zeilen 
seinerzeit,  als  er  noch  unter  Gustav  v.  Braun  an  der  Klinik  wirkte,  Gelegenheit,  seine  Engelsgüte  und 
Milde  zu  bewundern,  wenn  er  ihm  auch  in  die  Hütten  der  Armen  folgte. 

Gustav  v.  Braun  war  aber  nicht  nur  das  Prototyp  eines  guten  und  edlen  Menschen,  er  war  auch  von  einer 
seltenen  Arbeitskraft,  und  es  war  staunenswert,  was  er  alles  an  einemTage  erledigen  konnte,  ohne  zu  ermüden.  Ganz 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


besonders  schätzen  lernten  die,  die  mit  ihm  in  steter  Be¬ 
rührung  waren,  seine  strenge  Rechtlichkeit  und  Pflichter¬ 
füllung,  sein  hohes  Wissen  und  seine  schlichte  Bescheiden¬ 
heit.  Es  war  ihm  ein  Greuel,  wenn  er  in  seiner  diskreten} 
Tätigkeit  als  Frauenarzt  ein  oder  das  andere  Mal  öffentlich 
genannt  wurde. 

Seine  Vorträge  waren  klar  und  dem  Bildungsgrade 
des  Auditoriums  angepaßt.  Bekanntermaßen  ist  es  eine 
Kunst,  populär -wissenschaftlich  vorzutragen  und  gehört  da¬ 
zu  nicht  nur  pädagogische  Veranlagung,  sondern  auch  volle 
Beherrschung'  des  Faches,  um  stets  die  für  den  Schuldrill 
richtigsten  und  besten  Worte  zu  finden  und  nicht  in  ge¬ 
lehrtes  Tradieren  zu  verfallen.  Die  Hebammenlehrer  haben 
;ja  ein  viel  minderwertigeres,  nicht  vorgebildetes  Schüler¬ 
material,  in  das  sie  nun  auf  einmal  ohne  nötige  Vorberei¬ 
tung  Geburtshilfe,  Anatomisches,  Physiologisches,  Aseptik 
und  so  weiter,  eindrillen  sollen.  Dazu  stehen  ihnen  in  Oester¬ 
reich  knappe  sechs  Monate  zur  Verfügung.  Braun  und 
seine  Schüler  unterzogen  sich  stets  mit  Freude  dieser 
schwierigen  Aufgabe.  Die  Gefahr,  die  auch  hier  ebenso  wie 
an  anderen  Schulen  minderer  Kategorie  besteht,  daß  die 
Schule  selbst  den  nicht  auf  der  Höhe  der  Wissenschaft 
schreitenden  Lehrer  zum  drillenden  Schullehrer  herabzieht, 
war  bei  Braun  infolge  seiner  hohen  wissenschaftlichen 
Position  ausgeschlossen. 

Die  Ausgestaltung  der  ganzen  Hebammenfrage  in 
Oesterreich  und  die  Tatsache,  daß  die  Hebammenschaft 
.Niederösterreichs  sich  erfreulicherweise  qualitativ  so  we¬ 
sentlich  gebessert,  hat,  sind  ihm  zu  verdanken.  Dabei  hatte 
wohl  selten  ein  klinischer  Vorstand  mit  solchen  Schwierig¬ 
keiten  zu  kämpfen  wie  er.  Die  Klinik,  in  der  vorantisep¬ 
tischen  Zeit  geschaffen,  in  den  elendesten  Lokalitäten  des 
an  und  für  sich  modernen  Ansprüchen  nicht  genügenden 
Gebärhauses  untergebracht,  wurde  durch  ihn  allmählich  um¬ 
gestaltet  und  langsam  saniert.  Und  bald  konnten  sich  die 
Erfolge  derselben  würdig  an  die  der  moderner  eingerichteten 
Kliniken  anreihen.  Welchen  Kampf  ihn  dies  gekostet,  ist 
nicht  allgemein  bekannt;  ungebeugt  durch  manche  Mißer¬ 
folge,  durch  die  traurige  Tatsache  der  sich  in  früheren  Zeiten 
mitunter  wiederholenden  Puerperalepidemien,  hat  er  im 
steten  Hader  mit  den  oft  widerstrebenden  Behörden  doch 
schließlich  durch  hartnäckige  Verfolgung  seines  Zieles  seine 
Erfolge  erreicht.  Leider  war  es  ihm  nicht  mehr  vergönnt, 
an  einer  hygienisch  besser  bedachten  Anstalt  zu  wirken 
und  er  mußte  seine  Tätigkeit  noch  in  der  sanitär  minder¬ 
wertigen  Klinik  beschließen. 

Für  die  Assistenten  der  Klinik  waren  diese  vielen  ad¬ 
ministrativen  Schwierigkeiten  eine  schwere  Mehrbelastung 
im  Dienste,  da  mangels  von  Hilfsärzten  (die  Klinik  wurde 
von  den  Zöglingen  des  Operationsinstitutes  nicht  in  der¬ 
selben  Weise  frequentiert,  wie  die  beiden  Aerztekliniken) 
alles  auf  den  Schultern  des  Chefs  und  der  zwei  Assistenten 
ruhte. 

Wie  alle  durch  eigene  Tüchtigkeit,  und  Gunst  der  Mäch¬ 
tigen  emporgestiegenen  großen  Männer,  hatte  auch  er  seine 
Gegner  und  es  war  ihm  leider  nicht  vergönnt,  sein  stets 
angestrebtes  Ziel,  auf  der  Aerzteklinik  zu  lehren 
und  zu  wirken,  zu  erreichen.  Die  bitteren  Enttäu¬ 
schungen,  die  er  in  dieser  Hinsicht  durchmachen  mußte, 
trug  er  als  ganzer  Mann,  ohne  zu  murren  und  nie  hörte 
man  eine  Klage  oder  eine  Kritik  seiner  Widersacher  aus 
seinem  Munde.  Es  lag  in  seinem  offenen  Wesen,  in  seinem 
alles  Unedle  verabscheuenden  Charakter,  daß  er  ein  Feind 
jeder  Intrigue  war. 

Außer  seinem  klinischen  und  Lehrberufe  und  außer 
der  kolossalen  Privatpraxis  entwickelte  Braun  aber  auch 
eine  reiche  wissenschaftliche  Tätigkeit.  Seine  Werke  und 
Publikationen  sind  sehr  zahlreich  und  mögen  am  Schlüsse 
angefügt  werden.  Aber  auch  aus  seiner  Klinik  ging  von 
der  Hand  seiner  Söhüler  eine  große  Menge  von  tüchtigen 
Arbeiten  hervor  und  unterstützte  Braun  jedes  wissenschaft¬ 
liche  Streben  mit  Rat  und  Tat.  Jeder  Anregung,  die  von 
seiten  seiner  Schüler  ausging,  lieh  er  ein  geneigtes  Ohr  und 


Nr.  7 


förderte  sie,  wenn  er  sie  approbiert  hatte.  Seine  Schüler 
denen  er  ein  strenger,  aber  gerechter  Vorgesetzter  war  und 
von  denen  er  ebenso  gewissenhafte  Pflichterfüllung  forderte, 
als  er  sich  selbst,  leistete,  hingen  an  ihm  mit  Liebe  und 
Verehrung.  Wen  er  selbst  als  würdig  erkannt  hatte,  dem 
war  er  auch  zeitlebens  ein  treuer  Freund  und  Berater 
und  gar  mancher  seiner  Schüler  hat  viel  gutes  von  ihm 
erfahren.  Viele  von  i linen  stammen  aus  der  Zeit,  da  Gustav 
v.  Braun  an  der  Josef- Akademie  tätig  war;  viele  lauschten 
als  Gäste  der  Klinik  seinen  Worten,  denn  diese  war  ein 
gesuchter  Aufenthaltsort  von  ausländischen  weiblichen  Dok¬ 
toren.  Von  seinen  unmittelbaren  Schülern  weilen  so  manche 
nicht  mehr  uniter  den  Lebenden,  so  Franz  Riedl,  der  ehe¬ 
malige  Leibarzt,  am  spanischen  Hofe,  Anton  Bauer,  ehe¬ 
maliger  Leibarzt,  der  Herzogin  Clothilde,  Dr.  Otto  v.  Weiß, 
ehemaliger  Vorstand  der  gynäkologischen  Abteilung  in  Sara¬ 
jevo,  Ritter  v.  Ferro,  der  als  Bezirksarzt  starb. 

An  der  Bahre  Brauns  trauern  als  seine  ehemaligen 
Assistenten  Generalstabsarzt  Dr.  Josef  Uriel  und  Kratsch- 
mer,  Karl  Bromei ßl,  Prof.  Welponer  in  Triest,  Pro¬ 
fessor  Pawlik  in  Prag,  Prof.  Fel  sen  reich,  Prof.  Breus, 
Priv.-Doz.  Fürth,  Dr.  Hofgraeff,  Dr.  Koffer,  Professor 
Richard  v.  Braun-Fernwald,  Dr.  Hink,  Dr.  Hübel  und 
der  Schreiber  dieser  Zeilen. 

So  ist  denn  mit  Gustav  v.  Braun  eine  von  den  alten 
Leuchten  der  Wiener  Schule  dahingegangen  und  nur  wer 
unmittelbar  mit  ihm  arbeitete  und  ihn  näher  kennen  lernte, 
kann  diesen  Verlust  ganz  ermessen.  Er  war  nicht  nur  eine 
Zierde  unseres  Faches  und  förderte  es  in  mancher  Weise 

—  ich  erinnere  nur  an  seine  tätige  Mitarbeit  in  der  Kaiser¬ 
schnittfrage  —  sondern  er  war  auch  einer  der  edelsten 
Charaktere,  einer  der  besten  Menschen.  Alle,  die  ihn  kannten, 

werden  ihm  ein  treues,  dankbares  Angedenken  bewahren. 

Von  den  zahlreichen  Schriften  Brauns  sind  besonders  zu 
nennen:  Kompendium  der  operativen  Geburtshilfe.  1860.  —  Kompendium 
der  Geburtshilfe.  Wien  1864,  Braumüller.  2.  Aufl.  1871.  —  Kom¬ 
pendium  der  Frauenkrankheiten.  Wien  1863,  Braumüller.  2.  Aufl. 
1870.  —  Kompendium  der  Kinderheilkunde.  Wien  1862,  Braumüller. 
2.  Auflage  1870.  —  Lehrbuch  der  Geburtshilfe  für  Hebammen.  Wien  1888  und 
1894,  Braumüller.  —  Ueber  einen  Fall  von  Agnathus.  Zeitschr.  der  Ge¬ 
sellschaft  der  Aerzte  1863.  —  Ueber  spontane  Amputationen  des  Fötus 
und  ihre  Beziehungen  zu  den  amniotischen  Bändern.  Ibd.  1854.  —  Ueber 
Graviditas  extrauterina.  Ibd.  1855.  —  lieber  Anwendung  von  Serres  lines 
bei  Rupturen.  1856.  —  Ueber  Technik  der  künstlichen  Frühgeburt.  Habili¬ 
tationsschrift.  ---  Intrauterine  Fraktur  des  Humerus  und  1856  des  Femur. 
Tbd.  1857.  Die  Erregung  der  künstlichen  Frühgeburt  mit  Kohlensäure 
nach  Scanzonis  Methode.  Abt.  Zeitschr.  f.  Heilkunde  1856.  —  Die 
Kohlensäure  zur  Einleitung  der  Frühgeburt.  Wiener  med.  Wochenscbr 
1857.  —  Lendenwirbelbogeneinschaltung  (Spondyloparembole)  als  neue 
Ursache  einer  angeborenen  Beckenmißstaltung  mit  dreiwinkliger  asym¬ 
metrischer  Hutform.  Wiener  med.  Wochenschr.  1857.  —  Fachreferat  über 
die  Leistungen  der  Gynäkologie.  Med.  Jahrb.  1861.  —  Ueber  das  tech¬ 
nische  Verfahren  bei  vernachlässigten  Querlagen  und  über  Dekapitations- 
instrumente.  Wiener  med.  Wochenschr.  1861.  —  Ueber  Hydatidendegene- 
ration  der  Chorionzotten  als  Ursache  des  Abortus.  Wiener  med.  Halle 
1862.  —  Neuer  Beitrag  zur  Lehre  der  Dekapitation  mit  C.  Brauns 

Haken.  Med.  Wochenschr.  1862.  —  Erfahrungen  über  seltene,  nicht  ver¬ 
schiebbare  Beckentumoren  und  deren  Einfluß  auf  die  Geburt.  Med. 
Wochenschr.  1863.  —  Ueber  Transfusion  bei  Anämischen.  Ibd.  —  Ueber 
Neuralgie  des  Uterus.  Med.  Halle  1863.  —  Ueber  Entzündung  der  Bar- 
tholonischen  Drüse  und  ihres  Ausführungsganges.  Ibd.  1864.  —  Beitrag 
zur  Lehre  der  Dekapitation  mit  Schlüsselhaken.  Med.  Wochenschr.  1864. 

—  Ueber  Verwendung  von  Hebelpessarien  bei  Behandlung  der  Lageverände¬ 

rungen  des  nicht  geschwängerten  Uterus.  1864.  —  Kompendium  der  Geburts¬ 
hilfe.  Ital.  Uebers.,  Med.  Wochenschr.  1864,  von  Dr.  G.  Castiti,  Mailand  1864. 
Die  Amputation  der  Klitoris  und  Nymphen,  ein  Beitrag  zur  Behandlung 
des  Pruritus.  Med.  Wochenschr.  1865.  —  Ein  weiterer  Beitrag  zur  Hei¬ 
lung  der  Masturbation  durch  Amputation  der  Klitoris  und  der  kleinen 
Nymphen.  Ibd.  1866  Zur  differentiellen  Diagnostik  der  Haematocelo 
extrauterina.  Ibd.  1866.  Zur  Dekapitation  mit  dem  Schlüsselhaken. 
Ibd.  1866.  Zur  Behandlung  der  Neigungen  und  Beugungen  des  Uterus. 
Med.  Wochenschr.  1867.  —  Ueber  die  Anwendung  säurefreier  Eisen- 
chloridlösungen  in  der  Gynäkologie.  1867.  —  Zur  Behandlung  der  Uterus- 
fibroide.  Ibd.  1868.  —  Övariotomie.  Wiener  med.  Wochenschr.  1869.  — 
Zur  Behandlung  der  Dysmenorrhoe  und  Sterilität.  Wiener  med.  Wochen¬ 
schrift  1869.  —  Ueber  Anwendung  der  schwefelsauren  Salze  und 

schwefeliger  Säure  bei  den  Erkrankungen  der  Wöchnerinnen.  Wiener 
med.  Wochenschr.  1869.  —  Prof.  Dr.  Giovanni  P  o  1 1  i  s  Präparate  in 
ihrer  Wirkung  bei  Erkrankungen  der  Wöchnerinnen.  Med.  Wochenschr. 
1872.  —  Ueber  Ilaematocele  anteuterin.  Med.  Wochenschr.  1872.  — - 
Ueber  Schwangerschaft  und  Geburt  bei  unversehrtem  Hymen.  Ibd.  1876. 

—  Ueber  Amputation  des  Uterus  und  der  Ovarien  als  Ergänzung  des 
Kaiserschnittes  (Porro).  Wiener  med.  Wochenschr.  1879.  —  lieber 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


229 


Tarniers  Forceps.  Med.  Wochenschr.  1880.  —  Beitrag  zur  Heilung 
Irischer  Blasengebärmutter-Scheidenfisteln.  Wiener  med.  Wochenschr. 
1881.  Beitrag  zur  operativen  Behandlung  der  Genitalgeschwülste  der 
Frauen.  Wiener  med.  Wochenschr.  1882.  —  Tod  bedingt  durch  Ein¬ 
dringen  von  Luft  in  die  Venen  des  Uterus.  Wiener  med.  Wochenschr. 
1889-  —  D*e  Enterostenosen  in  ihrer  Beziehung  zur  Gravidität  und  Ge¬ 
burt.  Ibd.  1884.  —  Ueber  den  Gebrauch  eines  bei  Exstirpation  eines  Fi¬ 
broms  der  vorderen  Vaginalwand  gebrauchten  Spekulum.  Ibd.  1884.  — 
Die  Verwendung  des  Sublimats  bei.  Irrigationen  in  der  Geburtshilfe.  Ibd. 
1886.  Beitrag  zum  Kaiserschnitt  nach  konservativer  Methode.  Ibd. 
1 888.  —  Ein  weiterer  Fall  von  Kaiserschnitt  nach  konservativer  Me¬ 
thode.  Ibd.  1888.  —  Ueber  einen  dritten  und  vierten  Fall  von  Kaiser¬ 
schnitt  nach  konservativer  Methode.  Ibd.  1888.  —  Ueber  das  kypho- 
tische  Becken.  Ibd.  1888.  —  Ueber  habituelle  Inversio  uteri  in  der  Nach¬ 
geburtsperiode.  Wiener  med.  Wochenschr.  1889.  —  Schräge  Verschie¬ 
bung  des  Beckens  infolge  von  veralteter  Luxation  des  rechten  Ober¬ 
schenkels.  Wiener  med.  Wochenschr.  1888.  Hämatokolpus  infolge  von 
angeborener  Hymenalatresie.  Wiener  med.  Wochenschr.  1889.  —  Zur 
Laparotomie  bei  Uterusrupturen.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1889.  — 
Ueber  die  sanitären  Verhältnisse  der  III.  geburtshilflichen  Klinik.  Wiener 
klin.  Wochenschr.  1890.  —  Beitrag  zur  Therapie  der  Graviditas  tubo- 
abdominalis.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1891. 


(Aus  der  serologischen  Abteilung  des  hygienischen  In¬ 
stitutes  der  deutschen  Universität  in  Prag.) 

Ueber  extrazelluläre  Leukozytenwirkung 
(Aphagozidie). 

Von  E.  Weil. 

Als  nach  der  Entdeckung  der  Alexine  auch  in  den 
Leukozyten  keimfeindliche  Stoffe  gefunden  wurden,  galt  die 
Herkunft  ersterer  aus  den  weißen  Blutkörperchen  als  ge¬ 
sichert.  Nur  über  die  Art  und  Weise,  wie  sich  die  Leukozyten 
ihrer  Stoffe  entledigen,  bestanden  Meinungsdifferenzen.  Sowohl 
die  Annahme,  daß  die  Leukozyten  die  Alexine  sezernieren, 
wie  daß  diese  erst  beim  Zerfall  der  Leukozyten  frei  werden, 
wurde  diskutiert  und  durch  Experimente  zu  stützen  versucht. 
Wir  können  heute  mit  Bestimmtheit  sagen,  daß  die  bakterien¬ 
tötende  Kraft  des  Blutserums,  die  auf  die  komplexen  Bak- 
teriolysine  zurückzuführen  ist,  von  den  Leukozyten  unab¬ 
hängig  ist,  daß  Serum-  und  Leukozytenbakterizidie  als  zwei 
verschiedene  keimfeindliche  Systeme  im  Organismus  wirksam 
sind.  Nur  insofern  besteht  zwischen  Serum  und  Leukozyten 
ein  Zusammenhang,  als  gegenüber  manchen  Mikroorganismen 
Serumstoffe  die  Leukozytenbakterizidie  in  hohem  Maße  unter¬ 
stützen.  Die  meisten  Forscher  sind  wohl  darüber  einig,  daß  auch 
die  lebenden  Leukozyten  im  Tierkörper  die  Bakterizidie  mit 
den  Stoffen  vollführen,  welche  zuerst  in  einwandfreiester  Form 
von  Sc  hatten  froh  dargestellt  worden,  und  es  ist  eine 
ganz  natürliche  Annahme,,  daß  die  lebenden  Leukozyten  in¬ 
folge  ihrer  Freßtätigkeit  befähigt  sind,  die  Bakterien  mit 
den  in  ihrem  Inneren  befindlichen  bakteriziden  Stoffen  in 
Kontakt  zu  bringen. 

Durch  die  Arbeiten  unseres  Institutes  wurde  aber  ge¬ 
zeigt,  daß  auch  Bakterien,  welche  der  Phagozytose  nicht 
unterliegen,  von  den  Leukozyten  abgetötet  werden,  so  der 
gekapselte  Milzbrandbazillus.  Es  müssen  also  in  diesem 
Falle  die  wirksamen  Stoffe  von  den  Leukozyten  abgegeben 
worden  sein.  Daß  lebende  Leukozyten  dies  wirklich  vermögen, 
ist  insbesondere  durch  die  Versuche  von  R.  Schneider 
erwiesen  worden,  welcher  in  dem  5°/0igen  Serum  ein 
Medium  fand,  das  die  Leukozyten  zur  Abgabe  ihrer  bakteri¬ 
ziden  Stoffe  reizt.  Daß  aber  bei  der  Abgabe  der  keimfeind, 
liehen  Substanzen  noch  andere  Momente  eine  Rolle  spielen¬ 
wurde  vom  Verfasser  nachgewiesen,  u.  zw.  zunächst  beim 
Schweinerotlaufbazillus. 

Es  konnte  gezeigt  werden,  daß  unter  Bedingungen,  wo 
die  Phagozytose  und  spontane  Abgabe  bakterizider  Stoffe 
nicht  stattfindet,  doch  Bakterizidie  von  seiten  der  Leukozyten 
besteht,  die  nur  auf  die  Art  erklärt  werden  konnte,  daß  die 
Schweinerotlaufbazillen  den  Leukozyten  ihre  keimfeindlichen 
Stoffe  entziehen.  Auch  für  die  Bakterizidie  des  tierischen 
Milzbrandbazillus  durch  Meerschweinchenleukozyten  wurde 
dieselbe  Erscheinung  konstatiert.  Wir  haben  diese  Form  der 
Leukozytenbakterizidie  als  Aphagozidie  bezeichnet,  weil 


sie  unter  Bedingungen  erfolgt,  welche  die  Phagozytose  aus¬ 
schließen.  Wir  haben  jedoch  in  diese  Bezeichnung  die  Tat¬ 
sache  mit  inbegriffen,  daß  die  Leukozyten  nicht  spontan 
ihre  Stoffe  abgeben  oder  sezernieren,  sondern  unter  dem 
Reize,  den  die  sie  umgebenden  Bakterien  auf  sie  ausüben. 
Das  Reizmoment  haben  wir  in  der  Avidität  der  Bakterien 
zu  den  Leukozytenstoffen  gesehen,  vermöge  welcher  sie  im¬ 
stande  sind,  den  weißen  Blutkörperchen  ihre  Stoffe  zu  ent¬ 
reißen.  Die  Avidität  ließ  sich  durch  Bindungsversuche 
leicht  nachweisen.  Unsere  Resultate  wurden  mit  Hilfe  des 
bakteriziden  Plattenversuches  gewonnen  und  da  diese 
Methode  eine  ziemlich  umständliche  ist,  ging  unser  Restreben 
dahin,  einen  einfacheren  Weg  ausfindig  zu  machen  und  dabei 
kam  uns  ein  Zufall  zu  Hilfe.  Bei  der  intraperitonealen  Injek¬ 
tion  von  Meerschweinchen  mit  zwei  aus  der  Luft  gezüchteten 
Kokken  konnte  folgendes  beobachtet  werden.  In  großer  Menge 
in  die  Bauchhöhle  eingespritzt,  blieben  sie  daselbst  durch 
einige  Stunden,  ohne  zu-  oder  abzunehmen,  nachweisbar 
und  erst  nach  vier  bis  fünf  Stunden  begann  eine  ganz  auf¬ 
fällige  Degeneration,  welche  mit  dem  Erscheinen  der  Leuko¬ 
zyten  in  der  Bauchhöhle  zusammenfiel.  Diese  Degeneration 
kam  extrazellulär  zustande,  eine  nennenswerte  Phagozytose 
war  nicht  vorhanden.  Da  bereits  im  Plattenversuch  festgestellt 
war,  daß  das  Blutserum  gegenüber  dem  einen  Kokkus  eine 
schwache,  gegenüber  dem  anderen  aber  gar  keine  Bakterizidie 
zeigte,  die  Leukozyten  aber  gegenüber  beiden  ungemein  stark 
wirksam  waren,  so  lag  der  Gedanke  nahe,  daß  die  im  Tier¬ 
körper  beobachtete  Degeneration,  obzwar  sie  in  den  freien 
Säften  stattfand,  doch  in  irgendeiner  Weise  von  den  Leuko¬ 
zyten  abhängig  ist.  Reagenzglasversuche  mußten  die  Ent¬ 
scheidung  bringen,  welcher  Anteil  den  Leukozyten  für  diesen 
extrazellulären  Degenerationsprozeß  zukommt.  Die  Versuchs¬ 
anordnung  war  zunächst  derart,  daß  Meerschweinchenleuko¬ 
zyten  in  aktivem,  inaktivem  Serum  und  Kochsalzlösung  auf¬ 
geschwemmt  und  ihre  Einwirkung  auf  die  Kokken,  welche 
als  Kontrolle  in  denselben  Flüssigkeiten  ohne  Leukozyten 
suspendiert  waren,  untersucht  wurde.  Die  Leukozyten  wurden 
durch  interperitoneale  Rouilloninjektion  (20  cm3)  gewonnen 
und  pro  Röhrchen  in  der  Dosis  von  R05  bis  01  g  ange¬ 
wendet.  Die  Menge  der  Leukozyten  aus  der  Rauchhöhle  be¬ 
trägt  gewöhnlich  (der  zentrifugierte  Bodensatz  gewogen) 
1  bis  l’5g.  Die  Aufschwemmungsflüssigkeit  wurde  in  der 
Menge  von  0'5  cm3  angewendet  und  die  Einsaat  derart  vor¬ 
genommen,  daß  eine  üppig  bewachsene,  18  Stunden  alte 
Agarkultur  mit  15  cm3  NaCl  abgespült  und  ein  Tropfen  von 
dieser  dicken  Emulsion  zu  jedem  Röhrchen  gegeben  wurde. 
Die  beiden  Kokkenstämme  führen  die  Rezeichnung  »F«  und 
»J«  und  bilden  auf  Agar  einen  feuchten,  dicken,  gelb¬ 
grünen  Belag.  Wir  teilen  zunächst  die  Versuche  mit  Stamm 
»F«  mit. 

In  allen  Flüssigkeiten,  denen  Leukozyten  zugesetzt  sind, 
treten  folgende  Erscheinungen  auf.  Die  frisch  zugesetzten 
Kokken  zeigen  in  aktivem  und  inaktivem  Serum  Leukozyten¬ 
aufschwemmungen  ein  geblähtes  Aussehen,  welches  auf  eine 
den  Kokkenleib  umschließende  Hülle  zurückzuführen  ist. 

In  der  Kochsalzlösung  nimmt  diese  Hülle  den  Farbstoff 
nicht  an  und  deshalb  erscheinen  darin  die  Kokken  kleiner, 
kompakter  und  dunkler  gefärbt.  Die  Degenerationserscheinungen 
machen  sich  zunächst  am  Kokkenleibe  bemerkbar,  der  kleiner 
wird  und  wie  angefressen  aussieht ;  dadurch  erscheint  die 
Hülle  deutlicher  und  man  sieht  in  den  Serumleukozytenproben 
Hülsen  mit  kleinen  Stippchen  in  ihrem  Innern.  Mit  dem 
fortschreitenden  Prozeß  werden  dann  die  Stippchen  schlecht 
färbbar,  verschwinden  schließlich  vollständig,  so  daß  nur 
leere  Hülsen  übrig  bleiben.  Schließlich  verschwinden  auch 
diese.  In  den  Kochsalzaufschwemmungen,  wo  sich  die  Hüllen 
nicht  färben,  treten  erst  die  Stippchen  auf,  die  schließlich 
schwach  färbbar  werden  und  dann  verschwinden. 

Die  verschiedenen  Grade  des  Degenerationsprozesses 
lassen  sich  demnach  durch  folgende  Bezeichnungen,  die  wir 
der  Kürze  halber  auch  in  den  Tabellen  angeführt  haben, 
benennen:  Hüllen  mit  Stippchen,  Hüllen,  schließlich  0 
Dies  gilt  für  die  Präparate,  wo  Serum  als  Aufschwemmungs- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr. 


i 


flüssigkeit  dient ;  für  die  in  Kochsalzlösung  tritt  die  Degene¬ 
ration  als  Süppchen,  schlecht  färbbare  Stippchen  und 
schließlich  0  in  Erscheinung.  Als  Farbflüssigkeit  wurde  Karbol¬ 
methylenblau  benutzt ;  es  ist  bei  den  Serumpräparaten  darauf 
zu  achten,  daß  der  Untergrund  gefärbt  wird,  da  sonst  die 
Hüllen  nicht  sichtbar  werden  und  sich  dann  diese  Präparate 
wie  die  in  Kochsalzlösung  verhalten. 

Die  eben  geschilderten  Formen  treten,  wie  erwähnt, 
nur  bei  Anwesenheit  von  Leukozyten  auf,  während  in  in¬ 
aktiviertem,  eine  halbe  Stunde  auf  62°  erhitztem  Serum  und 
Kochsalzlösung  Veränderungen  an  den  Bakterien  nicht  wahr¬ 
zunehmen  sind.  In  aktivem  Serum  merkt  man  ausnahmsweise 
nach  längerer  Zeit  geringgradige  Degeneration.  Worauf  diese 
selten  auftreLende  Erscheinung  zurückzuführen  ist,  werden 
Wir  weiter  unten  ausführen.  Dabei  finden  die  geschilderten 
Veränderungen,  worauf  wir  ganz  besonders  hinweisen  möchten, 
außerhalb  der  Leukozyten  statt,  Phagozytose  spielt 
also  hiebei  keine  Rolle.  Es  muß  sich  also  um  eine 
Abgabe  der  wirksamen  Stoffe  an  die  Aufschwemmungsflüssig¬ 
keit  handeln.  Diese  könnte  nun  zunächst  als  vitale  Sekretion 
von  seiten  der  Leukozyten  aufgefaßt  werden. 

In  der  Tat  geben  auch  die  lebenden  Leukozyten  nach 
zweistündigem  Aufenthalt  bei  37°  ihre  Stoffe  in  sehr  wirksamer 
Form  ab,  ja  selbst  bei  15  Minuten  langem  Kontakt  bei 
Zimmertemperatur  sind  die  Abgüsse  in  geringem  Grade  wirksam. 
Es  läßt  sich  jedoch  sehr  leicht  nach  weisen,  daß  die  Lebens¬ 
tätigkeit  der  Leukozyten  dabei  keine  Rolle  spielt,  denn  auch 
die  mehrfach  eingefrorenen  Leukozyten  liefern  nicht  nur  mehr¬ 
mals  hintereinander  wirkungsvolle  Extrakte,  sondern  sind  auch 
stets  nach  mehrfachen  Extraktionen  noch  selbst  wirksam.  Daraus 
ist  der  Schluß  zu  ziehen,  daß  hier  nur  die  Löslichkeit  der 
Leukozytenstoffe  in  den  verschiedenen  Aufschwemmungs¬ 
flüssigkeiten  in  Betracht  kommt,  die  Leukozyten  spielen  dabei 
nur  eine  passive  Rolle,  eine  aktive  Beteiligung,  etwa  in  Form 
einer  vitalen  Sekretion,  anzunehmen,  liegt  kein  Grund  vor. 
Die  Wirksamkeit  der  von  den  Leukozyten  befreiten  Exsudat¬ 
flüssigkeit,  die  stets  vorhanden  ist,  rührt  davon  her,  daß 
die  Leukozytenstoffe  hierin  in  Lösung  gegangen  sind.  Die 
Einwirkung  dieser  Substanzen  auf  den  hier  be¬ 
schriebenen  Stamm  F  ist  eine  so  starke,  daß  nach 
mehreren  Stunden  eine  trübe  Bakteriensuspension, 
die  den  Leukozytenstoffen  zugesetzt  ist,  klar 
wird,  ein  bakterioly  tisch  er  Effekt,  der  wohl  in  der 
Stärke  bisher  nur  von  chemischen  Agentien  be¬ 
obachtet  sein  dürfte.  Bei  dieser  hochgradigen  Wirkung 
muß  es  eigentlich  wundernehmen,  daß  das  Blutserum  nur 
ausnahmsweise  nennenswerte  Degenerationserscheinungen  her¬ 
vorruft,  da  doch  der  vielseitigen  Annahme  gemäß  bei  der 
Serumgewinnung  stets  Leukozytenstoffe  in  Lösung  gehen  sollen; 
in  den  Fällen  aber,  in  welchen  das  aktive  Blutserum  einige 
Wirkung  ausübt,  ist  diese  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  den 
Leukozytenstoffen  zuzuschreiben.  Das  beste  Lösungsmittel  für 
diese  leukozytären  Substanzen  ist  die  Kochsalzlösung,  denn 
darin  tritt  das  restlose  Verschwinden  der  Kokken  am  raschesten 
ein.  Die  Intensität,  mit  der  die  Leukozyten  diese  Bakterien 
vernichten,  ist  auch  der  Grund,  weshalb  es  nicht  leicht 
gelingt,  sie  in  der  Abgabe  ihrer  keimfeindlichen  Stoffe  zu 
erschöpfen.  Deshalb  scheitert  auch  der  Nachweis  der  aphago- 
ziden  Wirkung,  deren  Vorhandensein  man  nur  dann  erkennen 
kann,  wenn  die  Leukozyten  nicht  spontan  ihre  Stoffe  an  die 
sie  umgebende  Flüssigkeit  abgeben,  sondern  ihre  Abgabe  an 
die  Anwesenheit  von  Bakterien  geknüpft  ist.  Es  erscheint  uns 
demnach  nicht  unzweckmäßig,  auch  jene  Form  der  Leuko- 
zytenbakterizidie,  welche  in  den  Säften  vor  sich  geht,  bei  der 
man  aber  die  spontane  Abgabe  der  wirksamen  Stoffe  nicht 
ausschließen  kann,  als  Aphagozidie  im  weiteren  Sinne  zu  be¬ 
zeichnen.  Diese  wird  hauptsächlich  gegen  jene  Bakterien  in 
Kraft  treten,  welche  der  Leukozytenbakteridie  in  besonders 
starkem  Maße  unterliegen.  Die  Huhnleukozyten  dürften  auf 
diese  Weise  die  gekapselten  Milzbrandbazillen  abtöten. 

Was  die  Versuche  mit  dem  Stamme  I  betrifft,  so  stimmt 
dieser  Kokkus  zunächst  mit  dem  Stamme  F  darin  überein, 


daß  auch  hier  die  Phagozytose  fehlt  und  die  Degeneration 
außerhalb  der  Leukozyten  in  Erscheinung  tritt.  Dieselbe  ist 
zwar  ebenfalls  sehr  stark,  jedoch  nicht  in  dem  intensiven  Maße 
ausgesprochen,  wie  bei  F.  Die  morphologischen  Veränderungen 
erweisen  sich  dadurch  etwas  different,  daß  hier  die  Sonderun» 
zwischen  Hülle  und  Leib  nicht  so  scharf  markiert  ist,  so  daß 
hier  mehr  ein  allgemeines  Abblassen  erfolgt;  in  der  Leuko¬ 
zytenkochsalzaufschwemmung  sind  die  Degenerationsformen  viel 
kleiner  und  denen  bei  Stamm  F  sehr  ähnlich;  wie  dort,  so 
ist  auch  hier  die  Degeneration  am  stärksten  in  der  Kochsalz- 
aufschwemmung  der  Leukozyten. 

Im  Serum  treten  hier  nie  Degenerationsformen  auf  und, 
was  uns  sehr  interessant  und  wichtig  erscheint,  auch  in  der 
von  den  Leukozyten  befreiten  Exsudatflüssigkeit  nicht.  Dies  ist 
ein  sicherer  Beweis  dafür,  daß  die  lebenden  Leukozyten, 
die  doch  im  Exsudat  in  großer  Menge  aufgeschwemmt  sind, 
und  zwar  unter  natürlichen  Bedingungen,  die  wirksamen  Stoffe 
in  nachweisbarer  Menge  nicht  abgeben.  Da  aber  die  Kokken 
trotzdem  außerhalb  der  Zellen  zugrunde  gehen,  so  muß  die 
Abgabe  der  wirksamen  Stoffe  durch  sie  bedingt  sein.  Wir 
haben  also  hier  die  Aphagozidie  im  engeren  Sinne  vor  uns. 
Dieselbe  tritt  auch  darin  zutage,  daß  die  Leukozyten  durch 
bloßen  Aufenthalt  bei  37°  keine  im  wesentlichen  Maße  wirk¬ 
samen  Extrakte  liefern,  was  ebenfalls  beweist,  daß  die 
spontane  Abgabe  der  bakteriziden  Stoffe  für  die  Wirkung  der 
lebenden  Leukozyten  keine  Rolle  spielt.  Nur  die  Gefrier¬ 
extrakte  erweisen  sich,  allerdings  auch  nicht  konstant,  wirk¬ 
sam.  Die  bakteriziden  Stoffe  der  Leukozyten  werden  also 
hier  in  wesentlicher  Menge  nur  dann  abgegeben,  wenn  die 
Bakterien  den  hiezu  nötigen  Reiz  auf  sie  ausüben.  Es  scheint 
uns  jedoch  diesbezüglich  nicht  eine  prinzipielle  Differenz 
gegenüber  dem  Stamm  F  zu  bestehen,  sondern  der  Grund 
für  das  verschiedene  Verhalten  darin  zu  liegen,  daß  bei 
der  stärkeren  Wirksamkeit  auf  den  Stamm  F  hier  die 
spontan  in  Lösung  gegangenen  Stoffe  schon  in  Aktion  treten, 
während  sie  gegen  den  Stamm  I  infolge  zu  geringer  Kon¬ 
zentration  versagen.  Erst  durch  die  Anwesenheit  der  Bakterien 
gel't  die  zur  sichtbaren  Wirkung  nötige  Menge  in  Lösung, 
und  deshalb  tritt  auch  hier  die  Aphagozidie  im  engeren 
Sinne  in  Kraft. 

Die  hier  mitgeteilten  Versuche  gestatten  auch,  einige 
Fragen  allgemeiner  Natur  zu  diskutieren.  Wir  verfügen  hier 
über  zwei  Bakterienstämme,  gegen  welche  das  Serum  sehr 
schwach  oder  gar  nicht  wirksam  ist,  die  Phagozytose  aber 
vollkommen  fehlt.  Wer  also  in  der  Bakterizidie  des  Blutserums 
die  Ursache  der  Widerstandsfähigkeit  sieht,  oder  wer  die 
Phagozytose  für  den  hervorragendsten  Schutz  des  Organismus 
hält,  würde  hier  Bakterien  von  großer  Virulenz  erwarten. 
In  W  irklichkeit  sind  aber  beide  Keime  völlig  apathogen. 
Daraus  geht  auch  hervor,  wie  unrichtig  die  durch  einige 
Arbeiten  der  letzten  Zeit  bedingten  Anschauungen  sind,  daß 
die  Phagozytosenresistenz  den  Mikroorganismen  unter  allen 
Umständen  zur  Infektion  verhilft.  Wir  sehen,  daß  die  mangelnde 
Phagozytose  ganz  bedeutungslos  sein  kann,  indem  trotz  der¬ 
selben  die  Leukozyten  sich  in  hohem  Maße  als  bakterien¬ 
feindlich  erweisen.  Wenn  die  Leukozyten  bakterizide  Stoffe 
besitzen,  so  können  dieselben  auch  ohne  Phagozytose  wirk¬ 
sam  sein.  Es  muß  nur  zu  einer  Abgabe  derselben  kommen. 
Dabei  braucht  es  sich  jedoch  nicht  um  eine  Sekretion,  um 
eine  vitale  Eigenschaft  der  Leukozyten  zu  handeln,  dieselben 
können  sich  dabei  vollkommen  passiv  verhalten;  es  kommt 
dabei  nur  die  Löslichkeit  der  Leukozytenstoffe  in  den  ver¬ 
schiedenen  Flüssigkeiten  (Serum,  Kochsalzlösung)  in  Betracht. 
(Aphagozidie  im  weiteren  Sinne.)  Das  beste  Lösungsmittel  für 
die  Leukozytenstoffe  scheinen  die  Bakterien  selbst  zu  sein, 
denn  sie  entlocken  den  weißen  Blutkörperchen  ihre  bakteri¬ 
ziden  Stoffe  auch  unter  Bedingungen,  unter  welchen  die 
gewöhnlichen  Lösungsmittel  versagen.  (Aphagozidie  im  engeren 
Sinne.) 

Um  nicht  weitläufig  zu  werden  und  um  Wiederholungen 
zu  vermeiden,  geben  wir  in  den  beifolgenden  Tabellen  ein 
Resümee  zahlreicher  Versuche  übersichtlich  zusammengestellt 
wieder : 


Nr.  7 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


231 


Tabelle  I. 


Stamm  F 

Stamm  I 

Nach  2  Stunden 

Nach  4  Stunden 

Nach  3  Stunden 

Nach  5  Stunden 

1 

. 

Leukozyten  im  aktiven  Serum 

Meist  leere  Hüllen, 
in  wenigen  noch 
Stippchen  sichtbar 

Nur  noch  einzelne 
schlecht  färbare 
Hüllen 

Kokken  zum  großen 
Teil  schlecht  gefärbt 

Nur  Schatten 

r 

2 

Leukozyten  im  Serum  auf  62°  erhitzt 

Teils  leere  Hüllen, 
teils  Hüllen  mit 
Stippchen 

wie  1 

Die  Hälfte  degene¬ 
riert,  die  Hälfte  gut 
erhalten 

Nur  Schatten 

3 

Leukozyten  im  NaCl 

Meist  schlecht  ge¬ 
färbte  Stippchen. 
wenige  gut  gefärbt 

Nichts  mehr  zu 
sehen 

Alle  Kokken  de¬ 
generiert 

Nichts  mehr  zu  sehen 

[  4 

Gefrierextrakt  mit  aktivem  Serum  nicht  zentrifugiert 

wie  1 

Ziemlich  zahlreiche 
schlecht  gefärbte 
Hüllen 

wie  l 

Nur  Schatten 

L  Jl  . 

Dasselbe  mit  Serum  auf  62°  erhitzt 

wie  2 

wie  4 

wie  2 

Nur  Schatten 

6 

Dasselbe  mit  NaCl 

wie  3 

0*) 

wie  3 

0 

7 

Zentrifugierter  Rückstand  des  Gefrierextraktes 
(Leukozytentrümmer)  im  aktiven  Serum 

wie  1 

wie  i 

Die  Hälfte  Schalten, 
die  andere  gut  er¬ 
halten 

Nur  Schalten 

8 

Dasselbe  in  Serum  auf  62'  erhitzt 

wie  2 

wie  4 

wie  7 

wie  7 

9 

Dasselbe  in  NaCl 

wie  3 

0 

Nur  degenerierte 
Formen 

0 

10 

Abguß  des  Gefrierextraktes  mit  aktivem  Serum 

Teils  leere  Hüllen, 
teils  Hüllen  mit 
Stippchen 

Meist  leere  Hüllen, 
in  einzelnen  feinste 
Stippchen 

Geringe  Degene¬ 
ration 

Mäßige 

Degeneration 

'S  *-• 

11 

Dasselbe  mit  Serum  auf  62°  erhitzt 

Meist  Hüllen  mit 
Stippchen 

wie  10 

Geringe  Degene¬ 
ration 

Mäßige 

1  legeneration 

03  t/3 

12 

Dasselbe  mit  NaCl 

Nur  schlecht  ge¬ 
färbte  Stippchen 

feinste  schlecht  ge¬ 
färbte  Stippchen 

Deutliche  Degene¬ 
ration 

Mäßige 

Degeneration 

13 

Zentrifugierte  Exsudatlliissigkeit 

Meist  Hüllen  mit 
Stippchen 

Nur  spärliche 
schlecht  farbbare 
Hüllen 

Keine  Degeneration 

Keine  Degeneration 

14 

Dasselbe  auf  62°  erhitzt 

* 

wie  13  doch  noch 
gut  erhaltene  Kokken 

Meist  Hüllen  mit 
Stippchen 

Keine  Degeneration 

Keine  Degeneration 

15 

Aktives  Serum 

Kokken  erscheinen 
gebläht  durch  die 
Hüllen,  keine  De¬ 
generation 

Meist  gut  erhaltene 
Kokken,  einzelne 
Hüllen  mit 
Stippchen**) 

Keine  Degeneration 

Keine  Degeneration 

16 

Serum  auf  62"  erhitzt 

wie  15 

Keine  Degeneration 

Keine  Degeneration 

Keine  Degeneration 

17 

Na  CI 

Keine  Degeneration 

Keine  Degeneration 

Keine  Degeneration 

Keine  Degeneration 

*)  0  bedeutet,  daß  alle  Bakterien  verschwunden  sind.  —  **)  Ausnahmsweise  findet  man  Sern,  meist  von  alten  Tieren  stammend,  die  im 

aktiven  Zustande  stärkere  Degenerationserscheinungen  an  den  Kokken  aufweisen. 


Tabelle  11. 


Stamm  F 

Stamm  I 

2  Stunden 

4  Stunden 

3  Stunden 

5  Stunden 

Abguß  der  Serum-Leukozytenaufschwemmung 
nach  2 ständigem  Aufenthalt  bei  37" 

Meist  Hüllen,  zum  Teil  Nur  schwach  gefärbte 
mit  Stippchen  Hüllen 

Ganz  geringe 
Degeneration 

.  j 

Geringe  Degeneration 

Dasselbe  mit  Serum  auf  62°  erhitzt 

Nur  Hüllen  mit 
Stippchen 

Nur  schwach  gefärbte 
Hüllen,  zum  Teil  mit 
Stippchen 

Ganz  geringe 
Degeneration 

Geringe  Degeneration 

Dasselbe  mit  NaCl 

Nur  schlecht  gefärbte 
Stippchen 

Nichts  zu  sehen 

Starke  Degeneration 

Starke  Degeneration, 
doch  noch  zahlreiche 
Kokken 

Rückstand  im  Serum,  aktiv,  Serum  62"  und  NaCl 

wie  1,  2,  3  in  Tabelle  J 

Erster  Abguß  des  Gefrierextraktes  mit  aktivem 
Serum 

wie  10  in  Tabelle  1 

wie  10  in  Tabelle  I 

Geringgradige 

Degeneration 

Fast  nur  Schatten 

Zweiter  Abguß  desselben  Extraktes,  abermals 
eingefroren 

Ebenso 

Ebenso 

Geringe  Degeneration 

Fast  nur  Schatten 

Dritter  Abguß 

Ebenso 

Ebenso 

Geringe  Degeneration 

Ungefähr  1  4  gut  er¬ 
haltene  Kokken 

Rückstand,  dreimal  extrahiert  in  aktivem  Serum 

wie  7  in  Tabelle  I 

Nur  spärliche,  schlecht 
gefärbte  Hüllen 

Die  Hälfte  degeneriert 

Nur  Schatten 

Erster  Abguß  mit  Serum  auf  62"  erhitzl 

Meist  leere  Hüllen,  teils 
mit  Stippchen 

Zahlreiche,  schlecht 
gefärbte  Hüllen 

Nicht  untersucht 

Zweiter  Abguß  desselben 

Meist  Hüllen  mit 
Stippchen 

Zahlreiche,  schlecht 
gefärbte  Hüllen 

Dritter  Abguß  desselben 

Nur  Hüllen  mit 
Stippchen 

Zahlreiche,  schlecht 
gefärbte  Hüllen 

Rückstand  im  Serum  auf  62°  erhitzl 

Meist  leere  Hüllen 

Ebenso 

Erster  Abguß  mit  NaCl 

Nur  spärliche,  schlechl 
gefärbte  Stippchen 

0 

Fast  alle  degeneriert 

Alles  degeneriert 

Zweiter  Abguß  mit  NaCl 

Ebenso 

0 

Die  Hälfte  degeneriert 

Alles  degeneriert 

Dritter  Abguß  mit  NaCl 

Ebenso 

0 

Geringe  Degeneration 

Alles  degeneriert 

Rückständen  NaCl 

Ebenso 

0 

Alles  degeneriert 

Nichts  mehi-  zu  sehen 

Aktives  Serum 

Serum  auf  62°  erhitzt 

wie  15,  16,  17  in  Tabelle  1 

1  NaCl 

232 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  7 


Aus  der  I.  chirurgischen  Universitätsklinik  in  Wien. 

(Vorstand:  Prof.  Dr.  A,  Freiherr  von  Eiseisberg.) 

Zur  Behandlung  chronischer  Eiterungen  mit 
Wismutpaste  nach  Beck. 

Von  Dr.  Hans  Hermann  Schmid,  Operateur  der  Klinik. 

Die  Behandlung  chronischer  Fisteln  und  Abszeßhöhlen 
gehört  zu  den  schwierigsten  und  undankbarsten  Aufgaben 
der  Chirurgie;  dieselbe  stellt  oft  ganz  enorme  Anforderun¬ 
gen  an  die  Geduld  von  Arzt  und  Patienten.  Dazu  kommt,: 
daß  solche  unangenehme  und  „uninteressante“  Fälle  oft, 
namentlich  in  großen  Betrieben,  weniger  aufmerksam  be¬ 
handeltwerden  als  andere,  welche  mehr  Aussicht  auf  Heilung 
haben.  Wenn  man  bedenkt,  welche  Crux  für  Arzt  und 
Patienten  chronische  Eiteraugen  sind,  wie  diese  armen 
Kranken  monate-,  jahre-,  selbst,  jahrzehntelang  von  einem 
Spital  zum  anderen  wandern,  oft  unzählige  Male  erfolglos 
operiert  werden,  wie  ihnen  jede  Lebensfreude,  jede 
Schaffenskraft  genommen  ist,  wie  sie,  sozial  aufs  schwerste 
geschädigt,  als  arbeitsunfähig  sich  selbst  und  der  öffent¬ 
lichen  Wohltätigkeit  zur  Last  fallen,  bis  ein  langes  Siech- 
lum  ihrem  elenden  Dasein  ein  Ende  macht,  dann  muß  man 
für  jedes  neue  Mittel  dankbar  sein,  welches  das  Los  dieser 
bedauernswerten  Menschen  zu  erleichtern  geeignet  ist. 

Emil  G.  Bec'k  hat  die  Einspritzung  von  Wismutpaste 
bei  chronischen  Eiterungen  in  den  letzten  Jahren  wiederholt 
empfohlen,1)  nachdem  sein  Bruder  Carl  Beck  zum  ersten 
Male  im  März  1906  eine  solche  bei  einem  Psoasabszeß  aus¬ 
geführt  hatte.2)  Diese  Methode,  welche  seitdem  in  der  Hand 
der  drei  Brüder  Beck  zum  Teil  glänzende  Resultate  er¬ 
zielte,3)  wurde  namentlich  von  amerikanischen  und  engli¬ 
schen  Autoren  mit  Begeisterung  äufgenommen,4)  während 
sie  in  der  deutschen  Literatur  nicht  die  ihr  gebührende  Be¬ 
achtung  fand.  Neben  einzelnen  Autoren,  welche  auf  Grund 
einiger  weniger  Fälle  die  Methode  absprechend  beurteilen, 
wird  sie  von  anderen  nur  mit  aller  Reserve  empfohlen,  wobei 


')  E.  G.  B  e  c  k,  Diagnose,  chirurgische  Behandlung  und  Verhütung 
von  Fistelgängen  und  Abszeßhöhlen.  Beitr.  zur  klin.  Chir.  1909,  Bd.  62, 
S.  101;  Der  diagnostische  Wert  und  die  therapeutische  Wirkung  der 
Wismutpaste  bei  chronischen  Eiterungen.  Münch,  med.  Wochenschr.  1910, 
S.  1735;  Bismuth  paste  in  chronic  suppurations.  St.  Louis  1910.  Mosby 
Company. 

2)  E.  G.  B  e  c  k,  A  new  method  of  diagnosis  and  treatment  of 
fistulous  tracts,  sinuses  and  abscess  cavities.  Journ.  Amer.  Med.  Assoc. 

1908,  I,  S.  868. 

3)  E.  G.  B  e  c  k,  s.  ');  Jos.  C.  Bee  k,  Bismuth  paste  in  the  treatment 
of  suppuration  of  the  ear,  nose  and  throat.  Journ.  Amer.  Med.  Assoc. 

1909,  I,  S.  117;  Carl  Beck,  Chronic  osteomyelitis,  its  diagnosis  and 
treatment.  Surg.  gyn.  and  obst.,  Februar  1910. 

4)  Ridlon  and  Blanchard,  A  new  method  of  treating  old 
sinuses.  Journ.  orthoped.  surg.,  Sept.  1908.  Further  Observations  upon 
the  bismuth  paste  treatment  of  tuberculous  sinuses.  Journ.  orthoped.  surg., 
Januar  1909;  Ochsn  er,  Michigan  State  medical  society,  Aug.  1908. 
Treatment  of  listulae  of  old  empyema.  Ann.  of  surg.  1909.  S.  151; 
Robitschek,  Becks  bismuth  paste  treatment  of  sinuses.  North¬ 

western  Lancet,  Febr.  1909;  Baer,  Some  results  of  the  injection  ol 
Becks  bismuth  paste  in  the  treatment  of  tuberculous  sinuses.  John 
Hopkins  Hospital  Bulletin  1909,  S.  318:  Stern,  Bismuth  injection  for 
the  treatment  of  old  sinuses.  Cleveland  med.  journ..  Apr.  1909;  Bogar- 
d  u  s.  Tuberculosis  of  os  sacrum  treated  with  bismuth  paste.  Journ.  Amer. 
med.  ass.  1910.  I,  S.  701;  Ely,  Result  of  the  use  of  bismuth  paste  in 
tuberculous  sinuses.  Amer.  journ.  of  surg.,  Jan.  1910:  Aranow,  Bis¬ 
muth  paste  treatment  of  chronic  sinuses.  Amer.  journ.  of  surg.  1910, 
S.  306;  Hines,  Lancet  Clinic,  Sept.  1908:  Cuthbert  son,  Intestinal 
fistula  closed  by  the  use  of  bismuth  paste.  Illinois  med.  journ.  1909, 
S.  348;  Shober,  Treatment  of  chronic  tuberculous  sinuses  by  Becks 
bismuth  vaselin  paste  injections.  Ann.  of  surg.  1910,  S.  716;  Don,  The 
value  of  bismuth  injections  into  cavities  for  diagnosis  and  treatment.. 
Edinbourgh  med.  journ.  1909,  I,  S.  134;  Pennington,  Bismuth  paste 
in  the  treatment  of  rectal  fistula.  Lancet  Clinic,  Dez.  1908;  Girou.  La 
päte  bismuthee  de  Beck.  Gaz.  des  hop.  1910,  Nr.  63;  Heitz,  Boyer 
et  Morens.  Des  injections  do  pa te  bismuthee  en  Chirurgie  urinaire.  Ann. 
des  mal.  des  org.  gen.-urin.,  Juni  1910;  Neman  off.  Russki  Wratsch 
1909,  S.  1568,  ref.  im  Zentralbl.  f.  Chir.  190',  S.  362;  Vidakovich, 
Beiträge  zur  Behandlung  chronischer  Pleuraempyeme  nach  Beck.  Or- 
vosi  Hetilap.  1908,  ref.  im  Zentralbl.  I.  Chir.  1908.  R.  1487;  Dollinger. 
Behandlung  tuberkulöser  Fisteln  nach  dem  Beck  sehen  Verfahren. 
Orvosi  Hetilap  1908,  ref.  im  Zentralbl.  f.  Chir.  1908,  S.  1310. 


namentlich  die  Gefahr  der  Wismutvergiftung  überschätzt 
zu  werden  scheint.5) 

Da  die  Reck  sehe  Methode  der  Wismutbehandlung  in 
manchen  Fällen  von  chronischen  Eiterungen  vollständige 
Heilung,  in  den  meisten  aber  weitgehende  Besserung  erzielt, 
manchmal  sogar  überhaupt  erst  eine  richtige  Diagnose,  die 
Grundlage  richtiger  Behandlung,  zu  stellen  erlaubt,  erschein! 
es  gerechtfertigt,  über  die  Erfahrungen  zu  berichten,  welche 
im  letzten  Halbjahre  an  der  I.  chirurgischen  Klinik  in  Wien 
mit  der  Beckschen.  Wismutpaste  gemacht  wurden,  nachdem 
Prof.  v.  Eiseisberg  die  Methode  in  Chicago  bei  seiner 
Amerikareise  aus  eigener  Anschauung  kennen  gelernt  hatte. 

Zur  Verwendung  kam  eine  33°/oige  Wismutpaste 
(Formel  I  von  Beck):  Rp.  Bismuthi  subnitr.  330,  Vaselim 
albi  67-0.  Dieselbe  wird  in  Glaskolben  im  Wasserbade  er¬ 
wärmt  und  dadurch  flüssig  gemacht,  gleichzeitig  sterilisiert ; 
'sie  wird  mittels  eines  Gummidrains  in  eine  25  cm3  haltende 
Glasspritze  mit  nicht  zu  engem  Ansatz  angesaugt,  nachdem 
Spritze  und  Drainrohr  von  den  vom  Kochen  her  anhaften 
den  Wassertropfen  möglichst  befreit  wurden  und  in  halb- 
flüssigem  Zustande  direkt  in  die  Fistel  eingespritzt,  über 
deren  Verlauf  man  sich  vorher  schonend  durch  die  Sonde 
etwas  orientiert  hat..  Die  Menge,  welche  auf  einmal  inji¬ 
ziert,  wurde,  betrug  bis  zu  100  g.  Die  Einspritzung  erfolgt 
langsam  unter  leichtem  Drucke  (genau  nach  der  Vorschrift 
von  Beck),  bis  ein  gewisser  Widerstand  fühlbar  wird  oder 
Wismutpaste  neben  der  Spritze  hervorquillt,  eventuell  sich 
aus  einer  anderen  Fistel  entleert. 

Die  Einspritzungen  wurden  in  ca.  30  Fällen  vorge 
nommen ;  es  soll  aber  nur  über  die  ersten  15  beridhtet, 
werden,  welche  länger  als  zwei  Monate  beobachtet  werden 
konnten.  Die  Patienten  standen  im  Alter  von  6  bis  57 
Jahren.  Die  Fälle  verteilen  sich  folgendermaßen  auf  die 
einzelnen  Erkrankungen  und  ergaben  folgende  Heilresul 


täte : 

Zahl  der 

Zahl  der 

Wesentlich 

Wenig 

Spondylitis  tbc.  .  . 

Fälle 

Injektionen 

Geheilt 

gebessert 

gebessert 

7 

13 

1 

3 

3 

Caries  costae  .  .  . 

2 

2 

- 

— 

2 

Caries  oss.  zygom.  . 

1 

2 

— 

1*) 

— 

Tbc.  Weich  teilabszeß 

2 

2 

_  - 

2*1 

_ 

Osteomyelitis  femoris 
Fistel  nach  Verschluß 

1 

8 

1 

--  4 

eines  Anus  sacralis 

1 

1 

1 

— 

_ 

Lungenabszeß  .  .  . 

1 

1 

1 

— 

—  -j 

15 

29 

4 

6 

5 

Außerdem  wurden  gerade  in  der  letzten  Zeit  nodh 
eine  ganze  Reihe  von  Fällen  der  Wismutpastenbehandlung 
unterworfen,  über  welche  wegen  der  Kürze  der  Beobach¬ 
tungsdauer  ein  definitives  Urteil  noch  nicht,  abgegeben  wer¬ 
den  kann.  Es  sind  dies  Fälle  von  Osteomyelitis  an  Femur 
und  Tibia,  von  Knie-  und  Sprunggelenksfungus,  mehrere 
fälle  von  Analfisteln  und  von  Rippenkaries;  auch  in  allen 
diesen  Fällen  trat  eine  rasche  Besserung  auf.  Es  muß  aber 
erwähnt  werden,  daß  die  Patienten  mit  Gelenksfungus  bei 
der  Injektion  über  heftige  Schmerzen  klagten,  welche  übri¬ 
gens  schon  nach  kurzer  Zeit  schwanden.  Eine  günstige 


5)  Rosenh  ach,  Zur  Wisnmtbehandlung  nach  Beck.  Berk  klin. 
Wochenschr.  1909,  S.  298;  S  Lei  mann,  Zur  Behandlung  von  Fistel-  j 
gangen  mit  Beckschen  Salbeninjektionen.  Münch,  med.  Wochenschr. 
1908,  S.  2537 ;  Zollinger,  Beiträge  zur  Frage  der  Wismutpasten¬ 
behandlung  tuberkulöser  Fisteln  nach  Beck.  Schweizer  Rundschau  I'. 
Med.  1910,  Nr.  20.  ref.  im  Zentralbl.  f.  Chir.  1910,  S.  911;  Sag,  Heber 
den  Heihvert  der  Wismutpasta  in  otochirurgischen  Fällen.  Pester  nied.- 
chir.  Presse  1909,  S.  190;  Elbe,  Zur  Fistelbehandlung  mit  Einspritzungen 
von  Wismutpaste  nach  E.  G.  B  e  c  k.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910. 
Nr.  13:  Brandes,  Erfahrungen  zur  Behandlung  von  Fisteln  mit 
Beck  scher  Wismutsalbe,  Med.  Klinik  1910,  S.  1258:  Eggenberger. 
Wismutvergiftung  durch  Injektionsbehandlung  nach  Beck.  Zentralbl. 
f.  Chir.  1908,  S.  1309  und  1537;  Schümm  und  Lorey,  Beitrag  zur 
Frage  der  Giftwirkung  von  Bismuthum  subnitricum  usw.  Fortschr.  a.  d.  Geh. 
d.  Röntgenstrahlen  1910,  Bd.  15.  S.  150;  Reich,  Ueber  Vergiftung  durch 
Beck  sehe  Wismutpastenbehandlung.  Beitr.  zur  klin.  Chir.  1909  Bd.  65, 

S.  184;  M  a  t  s  u  o  k  a,  Wismutvergiftung  nach  Injektion.  Deutsche  Zeitschr. 
f.  Chir.  1909,  Bd.  102,  S.  508. 

®)  Bei  dem  Falle  von  Caries  oss  zygom.  und  bei  einem  tbc.  Weiöh- 
teilabszeß  wurde  nach  wesentlicher  lokaler  Besserung  ein  Sequester  ent¬ 
fernt,  resp.  der  Abszeß  in  toto  exstirpiert. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


283 


Nr.  7 


Beeinflussung  im  Sinne  einer  verminderten  Sekretion  konnte 
auch  in  diesen  Fällen  beobachtet,  werden.  Nierenfisteln, 
Kotfisteln  und  andere  Fisteln  nach  Laparotomien,  für  welche 
Beck  das  Verfahren  ebenfalls  empfiehlt,  kamen  nicht  zur 

Behandlung. 

In  der  Regel  ist  der  Verlauf  nach  der  Injektion  der 
folgende:  Zunächst  durch  ein  bis  zwei  Tage  stärkere  Sekre¬ 
tion  von  Eiter,  gemischt  mit  Wismutpartikelchen;  dann 
rasche  Abnahme  der  Menge  des  Sekretes,  welches  gleich¬ 
zeitig  dünnflüssig,  mehr  serös  wird.  Wenn  Schmerzen  be¬ 
stehen,  so  lassen  dieselben  meist  rasch  nach  der  Injektion, 
nach.  Die  Injektion  selbst  wurde  außer  in  den  erwähnten 
Fällen  von  Gelenkstuberkulose  und  in  einem  Falle,  bei 
welchem  der  Ansatz  der  Spritze  wahrscheinlich  direkt  auf 
einen  Interkostalnerven  drückte,  von  dem  Patienten  nie¬ 
mals  schmerzhaft  empfunden.  Besonders  günstig  wird  ein 
Ekzem  in  allen  Fällen,  bei  denen  ein  solches  in  der  Um¬ 
gebung  der  Fistel  vorhanden  ist,  durch  die  Injektion  beein¬ 
flußt;  schon  wenige  Tage  nach  derselben  pflegt  die  vorher 
schwer  veränderte  Haut  fast  ganz  zur  Norm  zurückzukehren. 
Wo  die  Sekretion  unvermindert  weiter  bestand,  wurde  nach 
8  bis  14  Tagen  eine  neue  Injektion  vorgenommen. 

Die  diagnostische  Bedeutung  der  Methode, 
welche  von  allen  Autoren  rückhaltlos  anerkannt  wird,  lernten 
auch  wir  besonders  schätzen.  So  halte  in  einem  Fälle  von 
Spondylitis  die  Diagnose  lange  Zeit  Caries  costae  gelautet, 
weil  sich  die  Fistelöffnung  weit  seitlich  in  der  Lendengegend 
unterhalb  der  zwölften  Rippe  befand,  ohne  daß  die  Wirbel¬ 
säule  eine  Deformität  zeigte  oder  druckempfindlich  war; 
im  Röntgenbilde  sieht  man  deutlich,  daß  das  Wismut  gegen 
den  zehnten  Brustwirbel  hinzieht.  Besonders  lehrreiche 
Bilder  geben  die  Fisteln  und  Abszesse  in  der  Gegend  des 
Mastdarmes  und  des  Steißbeins.  So  konnte  in  einem  Falle, 
wo  wegen  angeblicher  "Karies  des  Kreuz-  und  Steißbeins 
mehrere  erfolglose  Operationen  vorgenommen  worden 
waren,  festgestellt  Werden,  daß  es  sich  um  einen  subkutanen 
Weichteilabszeß  unter  der  Steißheinspitze  handelte;  derselbe 
könnte  in  loto  entfernt  und  die  Patientin,  welche  seil  15 
Jahren  krank  war,  geheilt  werden.  Ebenso  ergab  das  Rönt¬ 
genbild  in  einem  Falle  von  Caries  oss.  zygom.,  daß  der 
Prozeß  ganz  lokalisiert  war:  daraufhin  wurde  der  erkrankte 
Knochen  exkochleiert,  ein  kleiner  Sequester  entfernt  und 
die  Patientin  wesentlich  gebessert,  nachdem  schon  vorher 
das  Ekzem  in  der  Umgebung  der  Fistel,  welches  die  ganz*' 
Wange  ergriffen  hatte,  abgeheilt  war;  die  Behandlung  ist 
derzeit  noch  nicht  abgeschlossen.  In  einem  Falle  von  Osteo¬ 
myelitis  femoris  hatte  die  Diagnose  früher  Caries  femoris 


Fig.  1. 

et  ossis  ilei  gelautet,  wegen  der  drei  Fisteln,  welche  an 
den  entsprechenden  Stellen  seit  zirka  einem  Jahre  bestan¬ 
den.  Das  Röntgenbild  (Fig.  l)  zeigte,  daß  es  sich  um  einen 
Krankheitsherd  am  oberen  Femurende  handelte,  hauptsäch¬ 
lich  entsprechend  dem  Trochanter  major  und  minor,  ohne 
Sequesterbildung,  mit  ausgehender  Unterminierung  der 
Weichteile  bis  unter  die  Mitte  des  Oberschenkels;  durch 
acht  Injektionen  gelang  es  nicht  nur,  die  Fisteln  zum  Ver¬ 
schlüsse  zu  bringen,  sondern  auch  die  Patientin,  welche 
früher  nur  mit  Mühe  und  unter  großen  Schmerzen  am  Stock 
hinken  konnte,  vollständig  schmerzfrei  und  gänzlich  ar¬ 
beitsfähig  zu  machen. 

U eberblicken  wir  unsere  Resultate,  so  läßt  sich  sagen, 
daß  der  Wismutpastenbehandlung  vor  allem  eine  sehr  große 


diagnostische  Bedeutung  zukommt,  wie  dies  von  Beck  stets 
hervorgehoben  und  auch  von  allen  anderen  Autoren  be¬ 
stätigt  wurde.  So  sagt  Baer  mit  Recht:  „Wenn  die  Methode 
auch  gar  keine  therapeutische  Wirksamkeit  besäße,;  soi  sichert 
ihr  schon  das  Licht,  das  sie  auf  Art  und  Ausdehnung  tder 
erforderlichen  Operationen  wirft,  ihren  vollen  Wert.“ 

Aber  auch  die  therapeutischen  Erfolge  ermu¬ 
tigen  zu  weiteren  Versuchen.  Wenn  wir  auch  nicht  so  gün¬ 
stige  Resultate  erzielen  konnten,  wie 'die  Brüder  Bec  k  selbst, 
so  konnten  wir  uns  doch  von  der  ausgezeichneten  sym¬ 
ptomatischen  Wirksamkeit  des  Mittels  in  allen  Fällen  über¬ 
zeugen  (Schwinden  der  Schmerzen,  Nachlassen  der  Sekre¬ 
tion,  Erholung  der  Haut  vom  Ekzem).  In  manchen  Fällen 
konnte  aber  auch  eine  vollständige  Heilung  oder  weitgehende 
Besserung  erzielt  werden,  in  welch  letzteren  Fällen  eine 
minimale  Sekretion  (Verbandwechsel  einmal  wöchentlich  ge¬ 
nügend)  das  einzige  Krankhedtssymptom  von  seiten  der 
Fistel  darstellt.  Am  wenigsten  günstig  wurden  Fälle  von 
tuberkulösen  Fisteln  beeinflußt,  bei  denen  der  primäre 
Krankheitsherd  sich  in  einem  floriden  Stadium  befand.  Wo 
es  sich  aber  um  Eiterung  nach  einem  ausgeheilten  primären 
Prozeß  handelte  (wobei  anzunehmen  ist,  daß  der  Eiter  haupt¬ 
sächlich  von  dem  die  Fistel  auskleidenden  Granulations¬ 
gewebe  produziert  wird),  oder  wo  cs  sich  um  eine  nicht 
spezifische  Erkrankung  handelte  (Osteomyelitis,  Lungenab¬ 
szeß),  da  wären  die  Erfolge  überraschend.  Wenn  es  auch 
in  diesen  Fällen  verfrüht  wäre,  von  einer  dauernden  Hei¬ 
lung  zu  sprechen,  so  ist  doch  auch  der  temporäre'  Verschluß 
der  lästigen  Fistel  von  nicht  zu  unterschätzendem  Vorteile 
für  den  Patienten. 

Eine  direkt  ungünstige  Beeinflussung  des  Krankheits¬ 
verlaufes  konnte  in  keinem  einzigen  Falle  nachgewiesen 
werden.  Wir  erlebten  keine  Embolie.  Ebensowenig  wurden 
Wismutvergiftungen  beobachtet,  obwohl  genau  auf  die  ent¬ 
sprechenden  Symptome  (Salivation,  Stomatitis,  Gastroente¬ 
ritis,  nervöse  Erscheinungen)  geachtet  wurde.  Dabei  muß 
allerdings  betont  werden,  daß  auf  einmal  nie  größere  Dosen 
als  100  Cm3  injiziert  wurden,  meist  nur  25  bis  50  cm  ’.  Bei 
längerer  Behandlung  scheint  auch  eine  kumulative.  Wirkung 
nicht  wahrscheinlich  zu  sein,  da  das  Wismut,  soweit  es 
nicht  wieder  durch  die  Fistel  herausfließt,  der  Resorption 
anheimfällt.  So  waren  in  einem.  Fälle  von  Spondylitis,  bei 
welchem  in  einem  Intervalle  von  acht  Tagen  30  und  35  cm3 


injiziert  worden  waren  (Fig.  2),  nach  drei  Monaten  nur 
minimale,  punktförmige  Spuren  von  Wismut  im  Röntgen¬ 
bilde  nachweisbar.  Zur  Verhütung  von  Wismutvergiftungen 
sei  auf  ein  kleines  Detail  in  der  Technik  hingewiesen, 
welches  in  den  Publikationen  nirgends  erwähnt  ist  :  Man  ver¬ 
meide  es,  mit  der  Sonde  oder  mit  der  Spritze  die  Granu¬ 
lationen  zu  verletzen  oder  unter  zu  starkem  Drucke  zu 
injizieren,  dann  wird  man  kein  Wismut  in  die  Gewebsspalten 
.pressen.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  die  Resorption  von  der 
gut  mit  Granulationen  ausgekleideten  Abszeßhöhle,  respek¬ 
tive  von  dem  Fistelgange  aus  eine  viel  langsamere  ist,  als 
wenn  die  Paste  direkt  in  das  Gewebe  kommt,  wie  es  bei 
Verletzung  der  Granulationen  der  Fall  sein  könnte.  Deshalb 
empfiehlt  es  sich  auch,  eine  Spritze  mit  nicht  zu  dünnem 
Ansätze  zu  nehmen.  Daß  bei  solchem  Vorgehen  auch  am 
sichersten  Embolien  zu  vermeiden  sind,  versteht  sich  von 
selbst. 


234 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911-. 


Es  wurde  in  letzter  Zeit  von  Brandes  empfohlen, 
statt  des  Bismuthum  subnitric'um  lieber  das  Bismuthum 
carbonicum  zu  verwenden,  wegen  der  geringeren  Gif ligkeil 
des  letzteren.1)  Eigene  Erfahrungen  darüber  stehen  uns 
nicht  zu  Gebote.  Zu  diagnostischen  Zwecken  genügt  jeden¬ 
falls  auch  das  Bismuthum  carbonicum.  Die  therapeutische 
M  irksamkeit  der  Wismutpaste  ist  aber  uacii  den  Unter¬ 
suchungen  von  ßaer  und  von  Don  dadurch  zu  erklären, 
daß  in  der  Körperwärme  eine  Hydrolyse  der  Verbindung 
eintritt  und  salpetrige  Säure  frei  wird,  welch  letztere  das 
eigentlich  kurative  Agens  darstellen  soll.  Wenn  es  sich 
wirklich  so  verhält,  so  müßte  das  Bismuthum  carbonicum 
weniger  wirksam  sein. 

Zur  Orientierung  über  Details  in  der  Behandlung  und 
über  eine  größere  Kasuistik  sei  die  Monographie  von  Beck, 
welche  auch  ausgezeichnete  Abbildungen  -  enthält,  wärm- 
stens  empfohlen.  Einen  Auszug  aus  derselben  bildet  Becks 
Artikel  in  der  Münchener  medizinischen  Wochenschrift  (1.  c). 

Zusammenfassung:  1.  Die  Wismutpastenin¬ 
jektion.  nach  Beck  ist  eine  für  Arzt  und  Patienten, 
angenehme,  so  gut  wie  schmerzlose,  nach  unse¬ 
ren  Erfahrungen  u  n  g  e  f  ä  h  r  1  i  eh  e  B  eh  an  d  1  u  n  g  s- 
methode  bei  chronischen  Fisteln  und  Abszeß-, 
höhlen. 

2.  Dieselbe  ist  ein  ausgezeichnetes,  diagno¬ 
stisches  Hilfsmittel  zu  r  Orientierung  über  Grö  ße, 
Verlauf  und  Ursprungsort  der  Fisteln  und  Ab¬ 
szesse,  ist  somit  hei  der  lndikatio  ns  Stellung  für 
einen  chirurgischen  Eingriff  zur  Verhütung  un¬ 
vollständiger  und  darum  zweckloser  Operatio¬ 
nen  von  großem  Werte, 

3.  Das  Mittel  besitz  I  eine  ausgezeichnete 
symptomatische  Wirksamkeit  (Nachlassen  von 
Schmerzen,  Sekretion  und  Ekzem);  in  manchen 
I’  alle n  k o m m t  es  zur  v o  1 1  s t ä n d i g e n  H e i  1  u n g. 

Unmittelbar  nach  Abschluß  dieser  Arbeit  erschien  ein  Auf¬ 
satz  von  Brandes:  Feber  Behandlung  von  Fisteln  mit  Beck¬ 
scher  Wismutsalbe,  in  der  deutschen  Zeitschrift  für  Chirurgie 
(1911,  Bd.  108,  S.  221).  Erfreulicherweise  kann  auch  Brandes 
über  vorwiegend  günstige  Resultate  berichten.  Gegenüber  der 
von  ihm  geübten  Technik  (fraktionierte  Auffüllung  der  Fisteln 
durch  eingeführte  Katheter  von  der  Tiefe  her)  ist  nur  einzuwenden, 
daß  dadurch  die  Gefahr  der  Verletzung  von  Granulationen  ver¬ 
größert  wird,  abgesehen  davon,  daß  man  bei  den  meisten,  viel¬ 
fach  gebuchteten  und  verschlungenen  Fistelgängen  doch  nicht 
ganz  auf  den  Grund  und  in  alle  Sackgassen  derselben  kommen 
kann.  Für  Abszeßhöhlen  am  Thorax  mit  breiter  Mündung  (nach 
Empyem-  und  Lungenabszeßoperationen)  ist  die  Technik  von 
Brandes  sicher  sehr  zweckmäßig. 


Aus  der  dermatologischen  Universitätsklinik  in  Krakau. 

Zur  therapeutischen  Bedeutung  des  Arseno- 

benzols  (606). 

\  on  Prof.  Dr.  11 .  Reiss,  Direktor  der  Klinik  und  Dr.  F.  Krzysztalowicz, 
a.  ö.  Professor  der  Dermatologie. 

Der  Behandlung  mit  dem  Ehrlich  sehen  Präparat 
wurden  in  der  hiesigen  dermatologischen  Klinik  bis  zum 
heutigen  Tage  im  ganzen  ca  74  Patienten  unterzogen.  Wenn 
irgend  durchführbar,  wurden  die  betreffenden  Kranken  bis 
cur  vollkommenen  Symptomenlosigkeit  in  cler  Klinik  zurück¬ 
gehalten  ;  da  sich  dies  leider  nicht  in  jedem  Falle  durch¬ 
setzen  ließ,  versuchten  wir,  sie  erst  dann  zu  entlassen, 
wenn  die  sichtbaren  klinischen  Symptome  bereits  abgeklun- 
geu  und  der  Heilungsprozeß  sichtlich  als  beendet  betrachtet 
werden  konnte.  Außerdem  trachteten  wir  durch  späteres 
Wiederbestellen  der  Patienten  uns  von  den  weiteren  Fort¬ 
schritten  in  der  Genesung,  respektive  von  eventuellen  Rück¬ 
fällen  der  Krankheit  zu  überzeugen.  Die  der  Behandlung 
unterzogenen  Kranken  wurden  mit  der  peinlichsten  Ge- 

7)  Nach  den  experimentellen  Untersuchungen  von  Meyer  und 
Steinfeld  (Arch  f  exp.  Path.  u.  Pharm.,  Bd.  20,  S.  40)  führte  Bism 
carbon.,  in  frische  Wunden  gebracht,  in  20— 30  Stunden  zum  Tode  unter 
den  Symptomen  der  Wismutvergiftung,  was  bei  den  Kontrollversuchen 
mit  Bism.  subnitr.  nicht  der  Fall  war. 


Nr.  7 


nauigkeit  untersucht  und  alle  während  der  ganzen  Behand- 
lungsdauer  bemerkten  Symptome  in  präziser  Weise  proto¬ 
kolliert. 

Die  für  intramuskuläre  Injektionen  bestimmten  Lösungen 
wurden  immer  mehr  weniger  in  derselben  Weise  vorbereitet. 
Die  zur  Injektion  bereitete  Arsenobenzoldosis  wurde  in  einem 
Mörser  mit  1  cm3  Aethvlalkohol,  unter  Zugabe  von  10  bis 
20  Tropfen  einer  n/10-Natronlauge  und  3  biis  4  cm3  einer  sterilen 
physiologischen  Kochsalzlösung  verrieben.  Die  so  gewonnene 
klare  Lösung  wurde  in  der  gesamten  Menge  von  4  bis  5  cm3 
mittels  einer  R ec ord sehen  Spritze  in  die  obere  Glutäalgegend 
eingespritzt. 

Für  die  intravenösen  Injektionen  wurde  die  Lösung  in  einer 
ähnlichen  Weise  vorbereitet,  nur  war  die  Menge  der  verbrauchten 
Natronlauge  etwas  größer;  man  goß  dieselbe  in  eine  groß»1, 
frisch  sterilisierte,  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  voligefüllte 
Flasche,  die  für  intravenöse  Injektionen  bestimmt  war.  Außer¬ 
dem  wurden  von  uns  auch  hie  und  da  vollkommen  neutrale 
Lösungen  verwendet,  wir  lernten  aber  bald  die  Vorteile  der 
alkalischen  Lösungen  kennen  und  haben  von  nun  an  immer 
Natronlauge  zugegeben.  Wir  haben  auch  anfangs,  besonders  bei 
kleineren  Dosen,  neutrale  Lösungen  unter  Zugabe  von  Lauge  i 
und  Essigsäure  verfertigt,  indem  wir  uns  des  Phenolphthaleins 
als  Indikator  bedienten,  gaben  aber  dieses  Verfahren  vollkommen 
auf,  da  wir  die  Ueherzeugung  gewannen,  daß  eine  einfach  in 
Kochsalzlösung  unter  iZugabe  von  Natronlauge'  vorbereitete 
Flüssigkeit  am  besten  vertragen  wird  und  wir  nie  nach  derselben 
etwa  größere  Schmerzen  konstatieren  konnten. 

Die  intramuskulären  Injektionen  wurden  immer  in  dieselbe 
Gegend  appliziert.  Diese  Gegend  wählten  wir  etwa  3  cm  über  j 
dem  Mittelpunkte  der  Linie,  welche  den  Trochanter  major  mit 
dem  Tuber  ossis  ischii  verbindet  und  wir  halten  dieses  Terri¬ 
torium  für  die  Injektionsstelle  im  topographischen  Sinne  als  das 
meist  geeignete.  Unmittelbar  nach  der  Injektion  wurde  die  Stelle  | 
mit  der  Uohlhand  massiert,  wobei  zugleich  passive  Bewegungen 
im  Bereiche  des  Hüftgelenkes  eingeleitet  wurden.  Hienach  wurde  i 
über  der  Injektionsstelle  ein  Dunstumschlag  aus  essigsaurer  Ton¬ 
erde  appliziert  und  ein  Verband  (Spica  coxae)  angelegt.  Der 
Dunstumschlag  verblieb  gewöhnlich  die  ersten  drei  Tage  an  der 
Injektionsstelle,,  indem  er  alle  paar  Stunden  gewechselt  wurde. 

Einige  Tage  nach  der  Injektion  nahm  Patient  ein  warmes 
Bad,  nach  welchem  oft  eine  Linderung  der  Schmerzen  notiert 
wurde. 

Die  intravenösen  Injektionen  wurden  nach  der  üblichen 
Methode  in  eine  der  Medianaäste  appliziert.  Es  ist  wohl  über¬ 
flüssig,  alle  Schwierigkeiten  der  bezüglichen  Technik  bei  intra¬ 
venösen  Injektionen  aufzuzählen,  die  der  allgemeinen  Verbrei¬ 
tung  der  sonst  so  verlockenden  Methode  gewiiß  im  Wege  stehen. 

Es  ist  eine  Methode,  die  wohl  nur  in  einer  Klinik  oder  einem 
Sanatorium  zur  Anwendung  gelangen  kann,  die  aber  auch  dann 
Mt.  verschiedenen  Hindernissen  zu  kämpfen  hat,  die  oft  in 
anatomischen  \  erhältnissen  ihren  Grund  haben.  Das  in  vielen 
Fällen  unentbehrliche  Präparieren  der  zarten  und  dünnen  Venen¬ 
stämme  gestaltet  schon  an  und  für  sich  die  Methode  zu  einer 
lang  wierigen  und  oft  ziemlich  ermüdenden.  Die  Zukunft  wird  uns 
erst  lehren,  inwiefern  diese  Injektionen,  denen  doch  immer  intra¬ 
muskuläre  Depotinjektionen  folgen  müssen,  den  usuellen  Glutäal- 
ieinspritzungen  überlegen  sind  und  ob  dieselben  auch  wirk¬ 
lich  in  der  I  herapie  der  Zukunft  eine  so  hervorragende  Rolle 
spielen  werden. 

Die  hei  einem  und  demselben  Patienten  ange, wen¬ 
dete  Arsen  obenxoldose  oszillierte  zwischen  0-3  bis  1-30; 
die  höchste  einmalige  Dosis  betrug  0-8,  die  niedrigste  0-3.  Da 
jedoch  bei  vielen  Patienten  die  intramuskulären  Injektionen  zwei- 
bis  dreimal  wiederholt  wurden,  betrug  die  höchste  während 
der  ganzen  Behandlungsdauer  summarisch  verbrauchte  Menge 
1  -30.  Nur  in  einem  einzigen  Falle  primärer  Sklerose  injizierte 
man  zweimal  je  0-7,  also  bekam  der  Patient  im  ganzen  1-10 
des  Präparates  u.  zw.  im  Verlauf  von  acht  Wochen. 

Bei  intravenösen  Injektionen  wurden  nur  kleinere  Dosen 
mul  zwar  ä  0-4  bis  0-6  verabreicht,  wonach  weitere  Dosen 
a  0-5  bis  0-(>  als  Depotinjektionem  folgten,  so  daß,  die  Gesamt¬ 
dosis  0-9  DO-  TT  betrug.  In  einem  Falle  machte  man  zwei 
intravenöse  Injektionen  ä  0-4  u.  zw.  mit  einer  Unterbrechung 
von  48  Stunden. 

In  der  Mehrzahl  der  behandelten  Fälle  (in  50  Fällen  auf  75) 
wurde  nur  einmal  u.  zw.  intramuskulär,  injiziert;  in  elf  Fällen 
folgte  nach  der  ersten  Injektion  eine  zweite  (beide  intramuskulär) 
in  zwei  Fällen  bekamen  die  Kranken  drei  Injektionen  (ebenfalls1 
alle  intramuskulär)  und  in  einem  Fälle  folgte  zwei  intramusku¬ 
lären  Injektionen  (0-5  4-0-5)  noch  eine  dritte  intravenöse  (0-3). 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


235 


Nr.  7 


la  neun  Fällen,  wurde  zuerst  eine  intravenöse  Injektion  vorge 
nommen,  worauf  in  zwei  Tagen  komplementäre  Depotinjektionen 

folgten. 

Der  Zeitraum  zwischen  zwei  intramuskulären  Injektionen 
war  immer  ziemlich  weit  bemessen;  hei  kleinen  Dosen  (0-3  bis 
0-4)  folgte  die  zweite  neun  bis  zehn  Tage  nach  der  ersten, 
die  dritte  aber  erst  nach  Verlauf  von  drei  bis  vier  Wochen.  Wenn 
die  erste  Injektion  mehr  als  etwa  0-5  betrug,  wartete  man  mit 
der  folgenden  immer  einige  (drei  bis  fünf)  Wochen,  ln  einem 
Falle  betrug  die  Unterbrechung  zwischen  der  ersten  und  zweiten 
Injektion  sogar  acht  Wochen;  es  handelte  sich  eben  um  einen 
Kranken,  der  acht  Wochen  nach  der  ersten  Injektion  die  Klinik 
aufsuchte  und  bei  dem  man  ein  frisch  aufgebrochenes  Infiltrat 
an  Stelle  der  früher  abgeheilten  Sklerose  konstatieren  konnte 
und  im  ausgepreßten  Serum  reichliche  Spirochäten  vorgefunden 
bat.  Einem  Kranken  mit  Lues  mialigna,  welcher  bereits  mit 
zwei  intramuskulären  Injektionen  (ü-5  +  0-5)  behandelt  wurde, 
applizierte  man  noch  eine  dritte  Dosis  intravenös  (0-3)  und 
zwar',  nachdem  bereits  zwei  Wochen  nach  der  zweiten  Injektion 
verflossen,  waren. 

Unser  Material  bildeten  hauptsächlich  Kranke  mit  sekun¬ 
dären  Symptomen  verschiedener  Art  (darunter  die  Mehrzahl 
frischer,  bisher  nicht  behandelter  Fälle) ;  ein  kleiner  Feil  betraf 
Fälle  tertiärer  Syphilis  mit  mehr  oder  weniger  malignem  Ver¬ 
laufe,  außerdem  behandelten  wir  Fälle  primärer  Geschwüre  mit 
oder  auch  ohne  Schwellung  benachbarter  Lymphdrüsen,  so  daß 
die  Wirkung  des  Mittels  in  allen  Perioden  der  Krankheit  zur 
Beobachtung  gelangte.  Zur  Behandlung  gelangten  auch  Fälle 
primärer  Syphilis  mit  noch  negativer  Wassermannscher  Re¬ 
aktion,  denen  aus  wohlverständlichen  Gründen  ein  ganz  be¬ 
sonderes  Interesse  entgegengebracht  wurde. 

Die  lokalen  Beschwerden,  die  bei  der  Injektion  des  Prä¬ 
parates  aufzutreten  pflegten,  waren  manchmal  bereits  sofort  vor¬ 
handen,  manchmal  traten  sie  erst  etwas  später  u.  zw.  nach  ein 
bis  zwei  Stunden  auf.  Die  Kranken  klagten  teils  über .  einen 
starken  Druck  oder  über  intensive  Schmerzen  von  meist  neuralgi¬ 
schem  Charakter,  die  in  das  Kreuz-  und  Ischiadikusgebiet  aus¬ 
strahlten.  Die  Größe  der  Schmerzempfindung  schien  oft  von 
dem  allgemeinen  Zustand  des  Nervensystems,  oder  aber  auch 
von  anderen  konstitutionellen  Momenten  abzuhängen.  Bei 
manchen  Kranken  traten  die  Beschwerden  ziemlich  spät  auf, 
so  z.  B.  erst  am  zweiten  oder  auch  am  dritten  Tage  nach  der 
Injektion,  waren  aber  auch  dann  heftig  und  langdauernd.  Die 
lokalen  Beschwerden  hielten  manchmal  nur  kurze  Zeit  an,  manch¬ 
mal  erstreckten  sie  sich  auf  viele  Tage  oder  auch  Wochen,  wobei 
in  den  letzteren  Fällen  der  Schmerz  mehr  lokalisiert  erschien 
und  mehr  die  Injektionsgegend  betraf  und  die  üblichen  Ausstrah¬ 
lungsbahnen  vermissen  ließ.  Gewöhnlich  entstand  nach  einigen 
Stunden  oder  Tagen  eine  mehr  oder  minder  zunehmende  schmerz¬ 
hafte  Schwellung  um  die  Einstichstelle  herum,  welche  das 
Liegen,  Gehen  und  Sitzen  in  großem  Maße  behinderte.  Die 
entzündlichen  Tumoren  waren  in  einigen  Fällen  ziemlich  hoch¬ 
gradig;  die  Haut  erschien  darüber  auch  etwas  gerötet  und  fühlte 
sich  wärmer  an,  zu  einem  Abszesse  kam  es  aber  in  unseren 
Fällen  nie. 

Nur  in  ganz  wenigen  Fällen  war  die  Injektionskur  von  ganz 
geringen  oder  gar  keinen  Sensationen  in  der  Glutäalgegend  be¬ 
gleitet,  so  daß  die  betreffenden  Patienten  nach  der  Injektion 
ohne  jegliche  Beschwerden  herumgehen  konnten.  Merkwürdiger¬ 
weise  waren  es  gerade  jene  Patienten,  bei  denen  auch  die 
Temperatur  den  gewöhnlichen  Höhepunkt  nicht,  erreichte  und 
nicht  über  38°  gestiegen  ist.  Bei  zwei  jüngeren  Patienten  verlief 
lie  ganze  Kur  ohne  eine  Spur  von  Schmerzen,  obwohl  das 
injizierte  Flüssigkeitsquantum,  wie  auch  die  Alkaleszenz  der  be¬ 
treffenden  Lösungen  von  den  bei  anderen  Patienten  verwendeten 
ganz  und  gar  nicht  verschieden  waren. 

Es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  daß  die  Menge  der 
injizierten  Flüssigkeit  und  die  Alkaleszenz  der  gebrauchten  Lö¬ 
sung  als  diejenigen  Momente  zu  betrachten  sind,  die  in  dem 
Hervorrufen  der  lokalen  Beschwerden  als  die  wichtigsten  ge¬ 
nannt  zu  werden  verdienen.  Eine  ganze  Reihe  von  einschlä¬ 
gigen  Fällen  hat  diese  Observation  im  vollsten  Maße  bestätigt. 
Man  kann  im  allgemeinen  bestätigen,  daß  alle  Injektionen  ganz 
gut  vertragen  wurden. 

Das  wichtigste  und  zugleich  das  meist  stabile  Symptom, 
welches  nach  den  Ehr  lieh  sehen  Injektionen  aufzutreten 
pflegt,  bildet  das  Fieber,  welches  jedoch  nicht  von  langer 
Dauer  ist  und  meist  nicht  über  sechs  bis  acht  Tage  anhälf. 
Sehr  oft  erreicht  die  Fieberkurve  an  demselben  Tage  nach 
der  Injektion  nur  37°,  während  die  Maximaltemperatur  ersL 


am  dritten  oder  vierten  Tage  mit  38°  notiert  wird.  In  vielen 
Fällen  protokollierten  wir  schon  am  Tage  der  Injektion  38° 
oder  auch  etwas  mehr,  das  maximale  Ansteigen  des  Fiebers 
fiel  jedoch  erst,  gewöhnlich  auf  den  dritten  oder  vierten  Tag 
nach  der  Injektion.  Obwohl  im  Verhalten  der  Temperatur 
sehr  viele  individuelle  Varietäten  zu  verzeichnen  waren, 
so  läßt  sich  doch  im  allgemeinen  behaupten,  daß  Tempe¬ 
raturschwankungen  bis  39°  und  darüber  u.  zw.  nach  intra¬ 
muskulären  Injektionen,  jedenfalls  zu  Seltenheiten  gehörten. 
Am  fünften  oder  sechsten  Tage  war  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  bereits  völlige  Apyrexie  zu  konstatieren;  in  einigen 
Fällen  jedoch  dauerte  der  febrile  Zustand  (37  bis  38°)  10  oder 
14  Tage.  Die  Ursache  dieses  langdauernden  Fiebers  nach 
den  Injektionen  war  gewiß  nicht  immer  klar,  wir  konnten 
jedoch  wahrnehmen,  daß  ein  kausaler  Nexus  zwischen  mas¬ 
sigen,  der  Resorption  nicht  vollkommen  fähigen  Infiltraten 
in  der  Glutäalmuskulatur  nicht  zu  verleugnen  war.  Wir 
sehen  uns  berechtigt,  anzunehmen,  daß  in  der 
der  Injektion  folgenden  lokalen  Reizung  des  Ge¬ 
webes,  der  Beschädigung  dessel  ben  und  der  lang¬ 
same  n,  a  b  e  r  z  u  g  1  e  i  c1  h  p  ermanentenltesorplionder 
Zerfallsprodukte  in  vielen  Fällen  eine  gewiß  ge¬ 
nügende  Erklärung  prolongierter  Temperatur¬ 
schwa  n kungen  gegeben  ist. 

Die  Temperaturschwankungen  nach  einer  zweiten  In¬ 
jektion  gleichen  mehr  weniger  denen  nach  der  ersteren  — 
zuweilen  war  das  Fieber  auch  etwas  höher,  obwohl 
von  kürzerer  Dauer.  Hohes  Fieber  nach  den  Injektionen 
wurde  bei  Patienten  mit  Lues  maligna  notiert,  jedoch  nur 
nach  der  ersten  Injektion.  Dieses  hohe  Fieber  findet  aber 
in  diesen  Fällen  auch  in  der  allgemeinen  Kachexie  des  Orga¬ 
nismus  seine  Erklärung ;  die  viel  niedrigere  Fieberkurve 
nach  der  zweiten  Injektion  sprach  bereits  für  eine  Hebung 
des  allgemeinen  Stoffwechselzustandes,  die  der  ersten  In¬ 
jektion  zu  verdanken  war. 

Ein  viel  höheres  Fieber  notierte  man  nach  intravenösen 
Injektionen,  obwohl  es  in  der  Regel  nur  von  kurzer  Dauer 
war.  Die  Temperalurkurve  ging  in  diesen  Fällen  immer 
steil  in  die  Höhe  und  erreichte  gewöhnlich  schon  in  einer 
Stunde  nach  der  Injektion  40°  oder  auch  darüber.  Oft  trat 
aber  schon  nach  einigen  Stunden  eine  völlige  Apyrexie  ein, 
oder  aber  stieg  die  Temperatur  wenigstens  um  einen  Grad 
herunter.  Am  nächsten  Tage  blieben  die  Patienten  meistens 
fieberlos,  oder  sie  fieberten  ein  wenig,  aber  nie  über  38°. 
Ein  länger  dauerndes  Fieber,  welches  hie  und  da  zu  ver¬ 
zeichnen  war,  konnte  man  gewiß  nicht  mit  einer  nach¬ 
haltigen  Wirkung  des  Mittels  erklären,  wohl  aber  vielleicht 
auch  mit  eventuellen  periphlebitischen  Infiltraten,  welche 
oft  bei  der  schwierigen  Technik  der  intravenösen  Injek¬ 
tionen  kaum  zu  vermeiden  sind. 

Die  Temperatursteigerungen  nach  denjenigen  intramus¬ 
kulären  Injektionen,  welche  zwei  Tage  nach  den  intravenö¬ 
sen  als  Depotinjektionen  folgten,  waren  auch  nicht  besonders 
hoch  und  erreichten  nie  die  Höhe,  die  nach  vorherigen 
intramuskulären  Injektionen  zu  verzeichnen  war. 

Es  verdient  gewiß  mit  Nachdruck  betont  zu  werden, 
daß  unserer  Beobachtung  nach  die  Höhe  der  Tempera¬ 
tur  s  t  e  i  g  e  r  u  n  g  e  n  von  der  Größe  der  einverleibten 
Arsenobenzoldosen  vollkommen  unabhängig 
war.  So  stieg  oft  die  Temperatur  nach  0-4  des  Präparates 
auf  38°  und  darüber,  während  nach  größeren  Dosen  (zum 
Beispiel  0-7)  eine  ganz  geringe  Temperatursteigerung  auf¬ 
getreten  ist,  die  auch  nur  von  sehr  kurzer  Dauer  war. 

Die  ersten  Kranken  wurden  durchgehends  mit  0-3  bis  0-4 
behandelt.  Nach  erneuter  Anweisung  von  Ehrlich  stiegen  wir 
später  mit  der  Dose  bis  0-6  und  0-8,  doch  sind  wir  nicht  der 
Ansicht,  daß  der  therapeutische  Erfolg  mit  der  Höhe  der  Dosis 
in  jedem  Falle  in  Einklang  zu  bringen  wäre.  So  sahen  wir 
hie  und  da.  nach  0-4  einen  viel  rascheren  Erfolg  ceteris  paribus 
als  nach  0-7  u.  zw.  nach  derselben  Methode  der  Applikation 
des  Mittels;  in  gleicher  Weise  bemerkte  man  nach  kleineren 
Dosen  eine  viel  heftigere  Reaktion  als  nach  größeren,  obwohl 
die  betreffenden  konstitutionellen  Momente  ungefähr  als  ganz 
gleich  zu  bezeichnen  waren.  Im  allgemeinen  war  nach  intia- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


venösen  Injektionen  ein  etwas  prompterer  therapeutischer  Erfolg 
zu  verzeichnen,  als  nach  den  intramuskulären.  Dieselben  flatten 
gewöhnlich  eine  heftige  allgemeine  Reaktion  im  Gefolge,  jedoch 
waren  außer  den  üblichen  Symptomen,  wie  hohes  Fieber,  IJebel- 
keit,  Brechreiz,  Erbrechen,  Äbgeschlagenheit  und  Schwindel,  keine 
anderweitigen  Erscheinungen  zu  notieren.  Reble  Wirkungen  auf 
das  Herz  oder  dein  Verdau  rings traktus,  oder  auch  erhebliche  Stö¬ 
rungen  des  Allgemeinbefindens,  wurden,  außer  in  einem  einzigen 
Falle,  von  dem  noch  die)  Rede  sein  wird,  nicht  beobachtet,  eben¬ 
sowenig  Eiweiß-  oder  Zuckerausscheidung  im  Urin. 

Als  eine  der  fast  stabilen  Erscheinungen,  die  nach 
allen  Injektionen  zu  verzeichnen  war,  ist  die  Herxhei- 
m  er  sehe  Reaktion  zu  nennen.  In  einer  Anzahl  von  Fällen 
trat  eine  stärkere  Rötung  des  Exanthems  bereits  nach  8  bis 
20  Stunden,  meist  aber  eist  am  folgenden  Tage  nach  der 
Injektion  auf.  Diese  Erscheinung,  die  hie  und  da  auch  nur 
in  einem  roten  Halo  rings  um  die  Effloreszenzen  bestand, 
dauerte  mehrere  Stunden  oder  auch  zwei  bis  drei  Tage.  Es 
ist  im  allgemeinen  zn  verzeichnen,  daß  die  Reaktion  nach 
intravenösen  Injektionen  viel  eher  aufgetreten  ist  als  nach 
intramuskulären,  was  ja  in  der  plötzlichen  Ueberflutung  der 
Gewebe  mit  Arsenobenzol  eine  genügende  Erklärung  finden 
würde.  Die  Reaktion  dauerte  aber  nach  intravenösen  In¬ 
jektionen  nicht  lange,  sie  schwand  yielmehr  ebensoschnell, 
als  sie  gekommen  ist  und  war  schon  gänzlich  abgeklungepa, 
als  die  nachfolgende  intramuskuläre  Depotinjektion,  das  heißt 
am  dritten  Tage,  zur  Einverleibung  gelangte.  In  zwei  Fällen 
war  die  Rötung  bereits  nach  18  Stunden  vollkommen  ver¬ 
schwunden.  Nach  intramuskulären  Injektionen  dauerte  die 
Rötung  immer  länger,  bisweilen  auch  drei  bis  vier  Tage; 
dieselbe  erschien  häufiger  nach  makulösen,  als 
nach  papulösen  Exanthemen,  häufiger  nach  Einspritz¬ 
ung  von  alkalischen  als  neutralen  Lösungen.  Ob  die  Höhe 
der  angewandten  Dosis  einen  deutlichen  Einfluß  auf  die 
Intensität  der  Reaktion,  oder  auf  das  prompte  Erscheinen 
derselben,  eventuell  auf  die  Dauer  dieser  Erscheinung  einen 
Einfluß  auszuüben  vermag,  möchten  wir  vorläufig  dahin¬ 
gestellt  sein  lassen,  da  wir  eine  sehr  prompte  Reaktion  so¬ 
wohl  nach  geringen,  als  auch  nach  hohen  Dosen  zu  Gesicht 
bekamen.  Das  eine  möchten  wir  aber  als  charakteristisch 
bezeichnen:  die  nach  kleineren  Dosen  auf  treten¬ 
den  Reaktionen  hielten  immer  länger  an,  als  die 
sehr  prompt  und  intensiv  zutage  tretenden  Rö¬ 
tungen,  welche  nach  Einverleibung  hoher  Dosen 
des  Mittels  entstanden  sind.  Dies  könnte  wohl  mit 
der  Annahme,  daß  die  kleineren  Dosen  nur  irritierend 
wirken,  ohne  das  Virus  zu  zerstören,  im  allgemeinen  stimmen. 

Nur  in  einzelnen  Fällen  war  durchaus  keine  Re¬ 
aktion  im  Bereiche  der  syphilitischen  Efflores¬ 
zenzen  zu  verzeichnen,  dies  geschah  aber  nicht 
immer  nach  größeren  Dosen.  Den  Mangel  der  Reak¬ 
tion  notierte  man  sowohl  in  ganz  frischen  Fällen,  als  auch 
bei  Rezidiven,  sowohl  bei  früher  behandelten,  als  vollkom¬ 
men  unbehandelten  Fällen  In  diesen  Fällen  sah  man  ge¬ 
wöhnlich,  daß  das  Exanthem  auf  einmal  abzublassen  be¬ 
ginnt,  um  in  sehr  kurzer  Frist  zu  verschwinden. 

Die  \\  irkunjg  des  Arsenobenzols  auf  das  syphilitische 
Infiltrat  ist  im  allgemeinen  als  eine  sehr  eklatante  zu  be¬ 
zeichnen.  So  verloren  die  Sklerosen  kurze  Zeit  nach  der 
Injektion  ihre  Derbheit,  das  infiltrierte  Gewebe  wurde  mehr 
sukkulent  und  die  braunrote  Farbe  der  Infiltrate  ging  in  eine 
gelbrote  über.  Waren  die  Sklerosen,  was  am  häufigsten  vor¬ 
kommt,  ulzeriert,  so  überhäuteten  sie  sich  äußerst  rasch, 
bei  gleichzeitiger  Reinigung  des  Geschwürsgrundes.  Eine 
mäßige  Induration  ließt  sich  aber  noch  längere  Zeit,  in  vielen 
Fällen  auch  ein  bis  zwei  Wochen  lang,  konstatieren. 
Seichte,  pergamentartige  Sklerosen,  wie  sie  bei  Frauen  an 
den  kleinen  Labien  vorzukommen  pflegen,  verloren  ihr  In¬ 
filtrat.  oft  binnen  wenigen  Tagen.  In  einem  Falle  war  nach 
einer  derartigen  Sklerose  drei  Tage  nach  der  Injektion  be¬ 
reits  keine  Spur  vorhanden,  nur  eine  seichte  Grube  wies 
auf  den  abgelaufenen  Prozeß  hin. 

Die  infolge  des  Primäraffektes  angeschwollenen  und 
derben  Inguinaldrüsen  erschienen  sehr  oft  schon  nach  zwei 


Nr  7 


bis  drei  Tagen  verkleinert  und  weicher;  diese  auffallend 
prompte  Wirkung  auf  die  Drüsen  ließ  sich  viermal  auf 
zwölf  Sklerosenfälle  in  präziser  W^eise  konstatieren.  In  einem 
Falle  sind  zwei  große,  derbe  Drüsen  nach  24  Stunden  weich 
geworden;  in  der  Mehrheit  der  Fälle  aber  mußte  man  längere 
Zeit  abwarten,  bis  derselbe  Effekt  eingetreten  ist,  ja,  wir 
haben  auch  Fälle  beobachtet,  wo  die  Drüsen  wochenlang 
unverändert  blieben. 

Eine  sehr  effektvolle  und  vorteilhafte  Wirkung  des 
Ehr  lieh  sehen  Mittels  im  zweiten  Inkubationsstadium  ver¬ 
dient  hier  ausdrücklich  betont  zu  werden.  Es  handelt  sich 
um  eine  Albuminurie  ganz  geringen  Grades,  die  bekanntlich 
von  Zeit  zu  Zeit  im  zweiten  Inkubationsstadium,  bei  sonst 
ganz  gesunden  Individuen  konstatier  bar  ist  und  welche  gewiß 
nicht  gerade  so  selten  vorkommt,  als  man  allgemein  anzu¬ 
nehmen  pflegt.  Diese  Albuminurie,  welche  oft  knapp  vor 
der  Eruption  erscheint  und  zweifelsohne  in  der  allgemeinen 
Durchseuchung  des  Organismus  ihre  Erklärung  findet, 
konnten  wir  bei  einigen  unserer  klinischen  Patienten  in 
diesem  Stadium  konstatieren.  Sowohl  die  Salpetersäure- 
wie  auch  die  Ferrozyankalium- Essigsäureprobe  ergaben  ge¬ 
ringe  Mengen  Eiweiß.  Di  ese  Al buminuri e  vers ch wand  j 
nach  einer  Arsenobenzolinjektion  in  eklatante¬ 
ster  Weise.  Bei  einer  Patientin  (Sclerosis  initialis  ad  ure- 
thram,  Lymphadenitis  inguinalis  ambilater)  konnte  nach 
24  Stunden  post  injedtionem  bereits  kein  Eiweiß  mehr  kon¬ 
statiert  werden;  bei  einer  zweiten  Patientin  mit  papulösem 
Exanthem  trat  dieselbe  Wirkung  (Eiweiß  V2%)  nach  zirka 
einer  Woche  zutage. 

Die  Wirkung  des  Arsenobenzols  auf  sekundäre  Exan¬ 
theme  war  in  der  Mehrzahl  der  von  uns  beobachteten 
Kranken  eine  frappant  schnelle.  So  schwanden  makulöse 
Formen  (sowohl  frische  als  Rezidiven)  durchschnittlich  in 
fünf  bis  zwölf  Tagen;  das  Abblassen  des  Exanthems  sah 
man  oft  bereits  am  nächsten  Tage  nach  der  Injektion.  An¬ 
derseits  hatte  man  auch  mit  mehr  refraktären  makulösen 
Exanthemen  zu  tun,  bei  denen  das  Verschwinden  derselben 
über  zwei  Wochen  auf  sich  warten  ließ.  Im  allgemeinen 
ließ  sich  bei  den  papulösen  Syphiliden  oft  ein  viel  ekla¬ 
tanterer  therapeutischer  Effekt,  wahrnehmen,  als  bei  maku¬ 
lösen.  So  sahen  wir  in  einem  Fhlle  von  universellem  lenti¬ 
kulärem  Syphilid  nach  0-7  Arsenobenzol  (intramuskuläre 
Injektion)  bereits  am  nächsten  Tage  eine  ganz  bedeutende 
Abflachung  aller  Papeln  und  nach  weiteren  sechs  Tagen 
blieben  an  vielen  Stellen  bloß  Pigmentfleoke  als  Residuen  des 
früheren  Exanthems  zurück.  Bei  makulo -papulöse» 
Misohformen  konnte  man,  besonders  in  ganz 
frischen  Fällen,  sehr  oft  zuerst  und  vor  allem 
die  Aplanierung  der  papulösen  Elemente  und 
erst,  später  das  Abblassen  der  oberflächlichen  t 
makulösen  Infiltrate  wahrnehmen.  In  einem  der 
letztbehandelten  Fälle  notierte  man  bei  der  Morgenvisite 
viele  gar  nicht  über  das  Hautniveau  überragende  Pigment- 
tlecke  neben  dem  noch  ganz  deutlich  wahrnehmbaren  ma¬ 
kulösen  Exanthem,  welches  erst  im  Abblassen  begriffen  war. 

Aber  nicht  in  allen  Fällen  war  die  resorbierende  Wir¬ 
kung  des  Präparates  auf  syphilitsche  Papeln  so  bedeutend. 

W  ir  haben  Fälle  behandelt,  bei  denen  papulöse  Infiltrate 
(ganz  besonders  luxurierende>  Papeln  am  Genitale)  trotz 
ziemlich  hoher  Dosis  und  auch  nach  zweimaliger  Injek¬ 
tion  des  Mittels  refraktär  blieben  und  in  schwielige,  keloid- 
artige  Tumoren  übergingen. 

Bei  einigen  Kranken  zeigten  rezidivierende  Kondy¬ 
lome  noch  zehn  Tage  post  injectionem  keine  Tendenz  zur 
Aplanierung,  obwohl  ihre  Ueberhäutung  etwas  früher  er¬ 
folgte.  Kondylomatöse  Wucherungen  der  Mundschleimhaut 
heilten  oft  binnen  einigen  Tagen,  ja  wir  sahen  oft  üppige 
Wucherungen  im  Pharynx  und  auf  den  Tonsillen  bereits 
am  dritten  Tage  vollkommen  gereinigt  und  aplaniert;  ober¬ 
flächliche,  mehr  erosive  Schleimhautpapeln  gingen  oft  am 
nächsten  Tage  in  Heilung  über.  Die  Wirkung  war  aber  in 
vielen  Fällen  nicht,  von  langer  Dauer;  so  notierte  man  bei 
einem  Patienten,  bei  welchem  sehr  üppige  konfluierende 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Kondylome  am  Gaumen  sehr  rasch  nach  der  Injektion  (0-6 
Arsenobenzol  verheilten,  ein  Rezidiv  kondylomatöser 
Form  bereits  nach  zwölf  Tagen  u.  zw.  in  derselben  Gegend 
und  in  derselben  Extensität.  Im  allgemeinen  erwies  sich 
die  Wirkung  des  Mittels  auf  Schleimhautläsionen  äußerst 
günstig  und  prompt. 

Lichenoide  Exantheme  (zwei  Fälle),  die  ja  bekanntlich 
auch  durch  Quecksilberbehandlung  schwer  zu  beeinflussen 
sind,  involvierten  sich  sehr  rasch,  das  heißt  etwa  eine 
Woche  nach  der  Injektion;  ein  papulo- pustuloses  und  kru- 
stöses  Exanthem  im  Gesichte  ließ  bereits  nach  zehn  Tagen 
pigmentierte  Flecke  und  seichte  oberflächliche  Narben  zu¬ 
rück.  Papulae  capillitii  verschwanden  überhaupt  nicht  so 
schnell;  da  dieselben  aber  fast  immer  auf  einem  seborrhoi¬ 
schen  Boden  anzutreffen  sind  und  da  in  diesen  Fällen 
von  jeder  Lokalbehandlung  Abstand  genommen  wurde,  wird 
uns  die  in  diesen  Fällen  langsame  Resorption  gewiß  nicht 
befremden. 

Außer  den  dem  Initialaffekte  am  nächsten  stehenden 
Lymphdrüsen,  verdienen  auch  allgemeine  Drüsenschwellun¬ 
gen  eine  Erwähnung.  Die  Wirkung  des  Arsenobenzols  hat 
sich  auch  in  dieser  Richtung  als  äußerst  günstig  erwiesen. 
Die  derben  Z ervikald r üsen,  auf  die  ganz  beson¬ 
ders  in  jedem  Falle  geachtet  wurde,  ließen  oft 
in  wenigen  Tagen  eine  bemerkbare  Absöhwel- 
lung  und  Erweichung  wahr  nehmen.  Diese  Wirkung 
des  Arsenobenzols  wurde  sowohl  nach  intramuskulären 
als  auch  nach  intravenösen  Injektionen  protokolliert.  Nur 
in  einer  geringen  Anzahl  von  Fällen  war  eine  Wirkung 
des  Präparates  auf  die  Drüsen  nicht  zu  konstatieren.  |So 
sahen  wir  Fälle,  in  denen  das  Exanthem  spurlos  verschwand, 
die  Drüsen  aber  und  ganz  besonders  die  dem  Primär¬ 
geschwür  am  nächsten  stehenden  fast  vollkommen  unbe¬ 
einflußt  geblieben  sind.  Hauptsächlich  handelte  es  sich  hier 
aber  um  Fälle,  wo  Mischinfektionen  im  Spiele  waren.  Wir 
haben  auch  bemerkt,  daß,  wenn  die  Drüsen  nicht 
gleich  in  den  ersten  Tagen  auf  die  Injektion  rea¬ 
gierten,  auch  in  einer  späteren  P  eriode  eine  nach¬ 
haltige  Wirkung  in  dieser  Richtung  nicht  mehr 
zu  erwarten  war. 

Auf  Periostitiden  der  Spätperiode  hat  sich  die  Wirkung 
des  Arsenobenzols  als  nicht  besonders  positiv  erwiesen. 
Bei  einem  Patienten  mit  periostalen  Schwellungen  im  Be¬ 
reiche  beider  Tibiae,  welche  mit  intensiven  osteoskopen 
Schmerzen  einhergingen,  wartete  man  mehrere  Wochen  auf 
eine  Besserung,  die  erst  eintrat,  als  der  betreffende  Patient 
eine  zweite  Injektion  (0-7)  nach  einer  zweiwöchigen  Pause 
erhalten  hat.  Allerdings  wurde  dabei  keine  lokale  Behand¬ 
lung  eingeleitet. 

Von  den  zehn  Rezidivefällen,  die  wir  seit  September  bis 
Januar  protokolliert  haben,  traten  neuerliche  Erscheinungen  der 
Syphilis  bei  vier  Patienten  in  einem  Monate  nach  der  Injektion, 
in  einem  Falle  nach  sechs  Wochen,  bei  zwei  nach  zwei  Monaten 
und  bei  drei  nach  drei  Monaten  auf.  in  drei  Fällen  erschienen 
Symptome  einer  rezidivierenden  Syphilis  nach  zwei  Injektionen 
und  zwar  in  vier  Wochen  nach  der  zweiten  Injektion. 

Bei  vier  Patienten,  welche  mit  einer  Rezidive  (die  Klinik 
aufsuchten,  handelte  es  sich  nur  um  lokale  Erscheinungen  und 
zwar'  um  kondylomatöse  Infiltrate  auf  der  Mundschleimhaut, 
oder  um  hassende  Papeln  am  Genitale.  Bei  einem  Patienten, 
der  wegen  einer  heftigen  Periostitis  tibiae  mit  0-6  behandelt 
wurde,  bildete  sich,  vier  Wochen  nach  der  Injektion  ein  gum¬ 
möses  Geschwür  auf  der  hinteren  Rachenwand,  welches  erst 
nach  einer  zweiten  Injektion  u.  zw.  nach  zwei  Wochen,  in 
Heilung  überging.  Bei  einem  anderen  Kranken,  der  wegen  aus¬ 
gebreiteten  gummösen  Geschwüren  am  harten  Gaumen,  in  der 
Nase  und  im  Pharynx  drei  Injektionen  (u.  zw.  0-3 — 0-4 — 0-6) 
erhielt,  trat  nach  der  zweiten  Injektion  ein  äußerst  rascher 
Zerfall  des  Gewebes  u.  zw.  in  der  nächsten  Nachbarschaft  der 
alten,  bereits  im  Vernarben  begriffenen  Geschwüre.  Dieser  neue 
Zerfall  heilte  erst  nach  der  dritten  Injektion,  wonach  der  Patient 
mit  negativer  W  as  serm  ann scher  Reaktion  entlassen  wurde. 

Einer  ganz  besonderen  Erwähnung  bedarf  der  Fall  eines 
Weibes,  das  mit  einer  primären  Sklerose  an  der  Brustwarze 
und  einem  makulo  -  papulösen  Exanthem  in  der  Klinik  Aufnahme 
fand  und  dem  wir  am  28.  September  0-5  Arsenobenzol  intra¬ 


muskulär  injizierten.  Alle  Erscheinungen  schwanden  sehr  bald, 
denn  am  10.  Oktober  notierte  man  bereits  nur  Pigrnentfleeke 
an  Stelle  der  papulösen  Effloreszenzen,  sowie  auch  eine  last 
vollkommene  Abschwellung  der  Lymphdrüsen  in  der  linken  Axilla. 
Wir  behielten  aber  die  Patientin  behufs  einer  längeren  Obser¬ 
vation  in  der  Klinik  und  haben  die  Wassermann  sehe  Re¬ 
aktion;  alle  zehn  Tage  vorgenommen.  Dieselbe  blieb  stets  ne- 
gativ  (u.  zw.  am  8.  Oktober  und  15.  Oktober),  wonach  die 
Patientin  am  25.  Oktober  entlassen  wurde.  Sie  meldete  sich 
neuerdings  am  28.  Dezember,  und  die  Was  sie  rm1  ann  sehe  Re¬ 
aktion  blieb  auch  damals  negativ.  Gleichzeitig  klag  te  die 
Patientin  über  Kopfschmerzen  und  Uebelkeiten  und  wurde  vor¬ 
läufig  dieser  Symptome  wegen  in  die  interne  Abteilung  auf- 
genommen.  Bald  aber  transferierte  man  die  Kranke  in  die  der¬ 
matologische  Klinik,  weil  man  bei  ihr  auf  meningeale  Erschei¬ 
nungen  u.  zw.  auf  luetischer  Basis,  Verdacht  schöpfte.  Inzwischen 
wurden  die  meningealen  Symptome  immer  intensiver,  die  Kopf¬ 
schmerzen  wurden  unerträglich  und  die  Reaktion  nach  W  a  s  s  e  r- 
mann-D ungern  fiel  positiv  aus.  Am  nächsten  Tage  stellte 
sich  eine  Parese  des  linken  Nervus  facialis  ein  und  an  dem¬ 
selben  Tage  injizierte  map  der  Kranken  0-6  Arsenobenzol  (intra¬ 
muskulär).  Seit,  dem  Tage  konnte  m,an  eine  fortschreitende  Besse¬ 
rung  konstatieren,  das  heißt,  die  Kopfschmerzen  ließen  nach, 
sogar  der  Appetit  stellte  sich  ein,  aber  die  Kranke  fühlte  sich 
sehr  schwach  und  klagte  über  Mattigkeit  und  Schwindel.  Zehn 
Tage  nach  der  Injektion  verordnete  man  Quecksilbereinreibungen 
ä  4-0  Unguent,  hydrargyri  resorb.  pro  die.  Die  Patientin  ver¬ 
bleibt  in  der  Klinik  behufs  weiterer  Beobachtung. 

Nur  in  einem  einzigen  Falle  sahen  wir  zwei  Monate  nach 
der  Injektion  ein  makulöses  Exanthem,  welches  universell  auf¬ 
getreten  ist  und  alle  Merkmale  einer  rezenten  Eruption  darbet. 
Dieses  rezidivierende  Syphilid  verschwand  fünf  Tage  nach  der 
zweiten  Injektion,  die  Reaktion  nach  Was  serm  ann-  Dung  ern 
blieb  aber  positiv  wie  zuvor. 

Bei  einem  Patienten,  der  mit  einem  Primärgeschwür  in 
sulco  retroglandulari  und  positivem  Wassermann  in  die  Klinik 
aufgenommen  wurde,  verheilte  das  Geschwür  am  siebenten  läse 
nach  einer  Injektion  (0-70),  eine  seichte  Narbe  hinterlassend. 
Die  inguinalen  Drüsein  verkleinerten  sich  wesentlich,  so  daß 
nur  eine  Drüse  rechts  etwas  geschwollen  geblieben  ist.  Der 
Patient  verließ  die  Klinik  mit  negativer  Blutreaktion.  In  vier 
Wochen  gelangte  der  Patient  wieder  zur  Aufnahme  mit  einem, 
kleinen,  aufbrechenden  Geschwür  u.  zw.  an  derselben  Stelle, 
an  der  das1  erste  Geschwür  vor  einem  Monat  vorhanden  war. 
Es  handelte  sich  also  um  ein  Ulcus  redux  ohne  neuerliche  Be¬ 
teiligung  der  benachbarten  Drüsen.  Zu  einem  Exanthem  ist  es 
bei  dem  Patienten  bisnun  nicht  gekommen. 

Ein  erwähnenswerter  Fall  betrifft  eine  gravide  Frau,  der 
im  sechsten  Schwangerschaftsmonate  eine  Injektion  von  0-4 
Arsenobenzol  wegen  eines  makulo  -  papulösen  Syphilids  gemacht 
wurde.  Die  Patientin  wurde  nach  einigen  Wochen  symptomlos 
entlassen.  Nun  wurde  die  Kranke  im  achten  Monate  ihrer 
Schwangerschaft  wiederum  aufgenommen  u.  zw.  mit  einer  Laryn¬ 
gitis  comdylomatosa  und  einigen  rezidivierenden  Papeln  an  den 
Genitalien.  An  der  Haut  keine  Spur  von  einem  Exanthem.  Jetzt 
injizierte  man  der  Patientin  mit  Rücksicht  auf  ihren  Zustand 
bloß  0-3  Arsenobenzol  u.  zw.  intramuskulär.  Am  nächsten 
Morgen  sah  man  ein  universelles  großmakulöses  Sy¬ 
philid  am  Thorax  in  Begleitung  einer  intensiven 
Her xh ei  mer  schon  Reaktion.  Dieser  Fall  scheint  nur  die 
Annahme  zu  bestätigen,  daß  eine  kleine  Dosis  auf  das  vom 
Organismus  beherbergte  Virus  irritierend  wirken  und  zum  Auf¬ 
lodern  einer  neuen  Eruption  anregen  kann.  Dasselbe 
wurde  übrigens  in  bezug  auf  kleine  Quecksilberdosen  bereits  von 
W  e  Tan  de  r  hervorgehoben. 

Am  eklatantesten  erschien  die  Wirkung  des,  Arsenobenzols 
auf  Eruptionen  der  Spätperiode,  ganz  besonders  aber  der  ma¬ 
lignem  Syphilis.  Tertiäre  Geschwüre  reinigten  sich  bereits  nach 
einigen  Tagein  und  verheilten  im  Verlauf  von  etwa  zwei  Wochen, 
obwohl  sie  lokal  nur  mit  ganz  indifferenten  Mitteln  behandelt 
wurden.  Tiefe  Geschwüre  im  Bereiche  des  Gaumens  und  der 
hinteren  Rachenwand  bei  maligner  Lues  und  bei  Kranken,  bei 
denen  die  Quecksilberkur  ohne  jeden  Erfolg  eingeleitet  wurde, 
begannen  sich  gleich  nach  der  Injektion  (in  zwei  Fällen  nach 
zwei  Tagen)  zu  reinigen  und  heilten  im  Verlauf  weniger  W  ochen. 
Es  muß  betont  werden,  daß  auch  in  diesen  Fällen  hie  und  da 
ein  neuerlicher  Zerfall  des  Gewebes  beobachtet  wurde  und  in 
einzelnen  Fällen  eine  neuerliche  Injektion  appliziert  weiden 
mußte,  aber  der  endgültige  Erfolg  muß  immer  ein  günstiger 
gen  annt  werden . 


•238 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  ? 


Unter  den  zehn  Fällen  tertiärer,  respektive  maligner  Lues, 
die  seit  September  in  der  hiesigen  Klinik  mit  Arsenobenzol 
behandelt  wurden,  verdient  ein  Fall  einer  besonderen  Erwähnung 
hinsichtlich  der  äußerst  günstigen,  ja  geradezu  frappanten  W  ir¬ 
kung  des  Mittels  auf  torpide,  vormals  jeder  Therapie  trotzende, 
gummöse  endolaryngeale  Geschwüre  und  perichondrale  Infiltrate. 
Bei  der  im  äußersten  Grade  abgemagerten,  kachektischen  und 
anämischen  Patientin  wurden  wegen  einer  seit  Jahren  in  einem- 
fort  rezidivierenden  gummösen  Laryngitis  schon  mehrmals  Queck¬ 
silberkuren  durchgeführt,  in  den  letzten  zwei  Jahren  aber  ohne 
jeden  Erfolg.  Sowohl  die  Heiserkeit  als  auch  die  Atembeschwer¬ 
den  nahmen  immer  zu,  ja,  der  Zustand  verschlechterte  sich  noch 
nach  .Todbehandlung,  der  die  Kranke  letztens  in  der  laryngologi- 
schen  Klinik  unterworfen  war.  Das  laryngoskopische  Bild  zeigte 
torpide  gummöse  Vegetationen  und  Geschwüre  im  Bereiche  der 
Epiglottis  und  an  den  Stimmbändern,  sowie  tiefe  und  indolente 
Geschwüre  in  den  tieferen  Partien  des  Larynx.  Die  erste  Injek¬ 
tion  (0-3)  brachte  bereits1  nach  fünf  Tagen  eine  wesentliche  Besse¬ 
rung  und  das  laryngoskopische  Bild  erlaubte  schon  damals,  eine 
Reinigung  der  Geschwürränder  und  Abschwellung  der  infiltrierten 
Schleimhautpartien  wabrzunehmen.  Zehn  Tage  nach  der  ersten 
Injektion  wurde  der  Patientin  eine  zweite  mit  0-4  intraglutäal 
appliziert  und  seit  der  Zeit  konnte  man  bereits  tagtäglich  eine 
zwar  langsame,  aber  stetige  und  wesentliche  Besserung  aller  Sym¬ 
ptome  konstatieren.  Nicht  nur  die  Dyspnoe  und  die  Schling¬ 
beschwerden  nahmen  ab,  sondern  auch  der  allgemeine  Zustand  der 
Patientin  besserte  sich  in  frappanter  Weise.  Zwanzig  Tage  nach 
der  zweiten  Injektion  konnte  man  im  laryngoskopischen  Bilde 
nur  noch  schwielige  Residuen  alter  Infiltrate  wahrnehmen,  dabei 
aber  alle  Geschwüre  vollkommen  verheilt  sehen.  Pät.  erhielt  noch 
eine  dritte  Injektion  derselben  Dosis  u.  zw.  zwanzig  Tage  nach 
der  zweitein,  wonach  aber  das  Bild  im  „Larynx  unverändert  blieb. 
Pat.  wurde,  gut  aussehend,  mit  einem  ganz  geringen  Belag  der 
Stimme  als  geheilt  entlassen. 

Es  verdient  mit  Nachdruck  betont  zu  werden,  daß  das 
Arsenobenzol  bei  k a c'hek tischen  Kranken  eine  sehr 
günstige  Wirkung  auf  den  Allgemeinzustand, 
also  offenbar  auf  den  allgemeinen  Stoff wec'bsel 
des  Organismus  auszuüben  vermag.  Dies  ließ  sich 
bei  fast  sämtlichen  Fällen  maligner  Lues  in  nicht  geringem 
Grade  konstatieren.  Daß  dieser,  übrigens  gut  bekannten 
Wirkung  vieler  Arsen  Verbindungen,  beim  therapeutischen 
Erfolge  hinsichtlich  der  durch  Syphilis  herworgerufenen  Ver¬ 
änderungen  und  lokalen  Prozesse,  eine  große  Rolle  zu¬ 
kommt,  braucht  nicht  näher  erläutert  zu  werden. 

Von  den  syphilitischen,  bzw.  parasyphilitischen  Er¬ 
krankungen  des  zentralen  Nervensystems  behandelte  man 
im  ganzen  einige  Fälle  von  Paralysis  progressiva  im  An¬ 
fangsstadium  und  einen  Fall  einer  syphilitischen  Pseudo¬ 
tabes.  Im  letzteren  Walle  trat  nach  zwei  Injektionen  eine 
ganz  wesentliche  Besserung  (gemeinsame  Observation  mit 
der  neuro  -  psychiatrischen  Klinik)  und  der  Patient  befindet 
sich  noch  immer  in  unserer  weiteren  Behandlung;  hei  De¬ 
mentia  paralytica  trat  bei  einem  Arzte  nach  zwei  Injek¬ 
tionen  auch  eine  bedeutende  Besserung  aller  Symptome 
ein,  so  daß  der  Patient  aus  der  hiesigen  psychiatrischen 
Abteilung  als  gebessert  entlassen  wurde.  Ob  es  sich  in 
diesem  Fälle  wirklich  um  eine  so  günstige  Wirkung  des 
Präparates,  oder  aber  nur  um  eine  von  der  Therapie  ganz 
unabhängige  Remission  im  Verlauf  der  Krankheit  handelt, 
wagen  wir  nicht  zu  entscheiden. 

Während  unserer  ganzen  Beobachtungsdauer  hatten 
wir  auf  über  70  mit  Arsenobenzol  behandelte  Fälle  nur 
einen  einzigen  Fall  von  schwerer  Intoxikation  zu  notieren 
und  da  derselbe  einer  ganz  besonderen  Erwähnung  ver¬ 
dient,  wollen  wir  den  betreffenden  Kranich  ei  ts  verlauf  in 
extenso  zitieren : 

T.  S.,  Kaufmann,  2(1  Jahre  alt,  wurde  mit  einer  bereits 
überhäuteten  Sklerose  an  der  unteren,  dein!  Skrotum  anliegenden 
Hautfläche  des  Penis  in  die  Klinik  aufgenommen.  Die  Reaktion 
nach  Wassermann-Düngern  positiv.  Außer  den  geschwol¬ 
lenen  Inguinaldrüsen  keine  sonstigen  luetischen  Erscheinungen 
zu  konstatieren.  Im  Harne  kein  Eiweiß,  wohl  aber  0-5°/o  Zucker. 

Am  18.  November  intramuskuläre  Injektion  von  0-5  (Id) 
(in  1  cm3  Aethylalkohol  -f-  4  cm3  n/10- Natronlauge  +  10  cm3 
physiologischer  Kochsalzlösung).  An  demselben  Abend  stieg  die 
Temperatur  bis  38-6  und  der  Kranke  klagte  über  Schmerzen  in 


der  GlutäaJgegend  über  24  Stunden.  Der  nächste  lag  verlief 
gänzlich  fieberlos  (abends  37),  die  Schmerzen  ließen  auch  fast 
vollkommen  nach.  Der  allgemeine  Zustand  gut,  in  der  Glutäal- 
gegeud  ein  mäßiges  Infiltrat  nachweisbar,  welches  nur  beim 
Betasten  schmerzt. 

1  m  H a rn  keine  Spur  von  Zuck e r. 

20.  November:  Temperatur  früh  und  abends  37-9,  sonst 
Status  idem.  Allgemeinzustand  gut. 

21.  November:  Temperatur  37-1  bis  37-8.  Puls  90. 

22.  November:  Temperatur  37-1  bis  37-8.  Der  Allgemein¬ 
zustand  unverändert,  der  Schlaf  jedoch  gestört.  Das  Infiltrat 
wird  größer  und  reicht  von  der  Kreuzbeingegend  bis  zum  Tro¬ 
chanter  major;  die  Schmerzhaftigkeit  desselben  viel  intensiver. 

23.  November:  Temperatur  36-9  bis  37-3. 

24.  November:  Temperatur  37  bis  37-5.  Status  idem. 

25.  November:  Temperatur  37-2  bis  37-5.  Patient  hat  sehr 
wenig  Durst,  wird  apathisch  und  schläft  sehr  unruhig. 

26.  November:  Temperatur  morgens  37-3,  abends  38-5.  Pa¬ 
tient  klagt  zum  erstenmal  über  Uebelkeiten  und  große  Schmerzen 
in  der  Injektionsgegend.  In  der  Nacht  Nausea  und  mehrmaliges 
Erbrechen;  Temperatur  401,  Sensorium  benommen;  Patient  er¬ 
kennt  seme  Umgebung  nicht. 

27.  November:  Debelkeit  und  Erbrechen  dauern  fort;  Pa¬ 
tient  verträgt  keine  Nahrung;  abends  Somnolenz.  Gegen  6  Uhr 

.  abends  verabreichte  man  dem  Patienten  Rizinusöl,  ln  der  Nacht 
einige  Entleerungen.  Morphium  0-015.  Patient  schläft  nachher 
mehrere  Stunden;  nach  Mitternacht  mehrmaliges  Erbrechen.  Tem¬ 
peratur  morgens  37-1,  nachmittags  40-1,  abends  39-1.  Puls  gut 
gespannt,  110. 

28.  November:  Patient  erwacht  mit  mehrmaligem  Er 
brechen;  das  Sensorium  benommen.  Nachmittags  erreicht  das 
Fieber  40-3.  Patient  wurde  in  die  medizinische  Klinik  trans¬ 
feriert.  Allgemeiner  Zustand  sehr  schlecht.  Kopfschmerzen  und 
Uebelkeiten  dauern  fort.  Sensorium  leicht  benommen.  Tempera¬ 
tur  2  Ehr  früh  39  (Puls  106),  4  Uhr  38-8  (Puls  96),  6  Uhr  38-9 
(Puls  96).  Nachmittags  erreicht  das  Fieber  40-3.  Der  Kranke 
ist  fortwährend  unruhig,  hat  mehr  Durst,  erbricht  aber  jeden 
Schluck  Wasser  oder  Limonade1.  Stuhl  regelmäßig. 

29.  November:  Temperatur  schwankt  zwischen  39-3  und 
40.  Patient  erscheint  sehr  geschwächt  und  apathisch.  Zunge  be¬ 
legt.  In  den  inneren  Organen  lassen  sich  keine  Veränderungen 
nachw eisen;  Leberrand  tastbar,  fast  alle  der  Untersuchung  zu¬ 
gänglichen  Nervenstämme  der  linken  Seite  beim  leisesten  Drucke 
äußerst  schmerzhaft.  Patient  verspürt  Ameisenlaufen  an  den 
Extremitäten,  ganz  besonders  an  den  Füßen.  Seit  gestern  be¬ 
kommt  Pat.  Kampferinjektionen  früh  und  abends,  innerlich  Diu- 
retin  ä  0-5.  Hypodermoklyse  in  der  Menge  von  500  cm,3  Kochsalz¬ 
lösung  und  eine  ausgiebige  Magenausspülung  mit  Zusatz  von 
Magnesia  usta. 

Die  Blutuntersuchung  ergab  95°/o  Hämoglobin  und  auf  6200 
Leukozyten  10°/o  eosinophile  Zellen  mit  7"/o  neutrophilen  Myelo¬ 
zyten.  Im  Harn  weder  Eiweiß,  noch  Zucker.  Im  Magen 
keine  Spur  von  Arsen. 

30.  November:  Temperatur  nachmittags  bis  39-2.  Uebel- 
keit  und  Erbrechen  nachgelassen.  Magenausspülung,  abends  En- 
teroklyse.  Im  Harne,  Eiweiß  in  Spuren  und  0-25  °/o  Zucker. 

1.  Dezember:  Temperatur  morgens  38-6,  abends  39-3.  — 
Status1  idem. 

2.  Dezember:  Zunge  feucht,  etwas  belegt,  die  Druckempfind¬ 
lichkeit  der  Nervenstämme  hat  etwas  nachgelassen.  Morgens  ein 
Bad  (27°),  abends  Enteroklyse.  Im  Harn  ist  kein  Arsen 
nachweisbar,  Eiweiß  in  Spuren,  kein  Zucker.  Tem¬ 
peratur  morgens  38-6,  abends  39. 

3.  Dezember:  Temperatur  bis  38-9.  Der  Allgemeinzustand 
zeigt  eine  wesentliche  Besserung. 

4.  Dezember:  Temperatur  37-6  bis  37-8.  Spuren  von  Eiweiß. 
Die  linke  Lumbalgegend  sehr  schmerzhaft.  Sonst  keine  neuen 
Erscheinungen. 

5.  Dezember:  Temperatur  37-9  (Puls  90). 

6.  Dezember:  Temperatur  37-8  (Puls  90). 

7.  Dezember:  Temperatur  37-1  bis  36-8. 

8.  Dezember:  Patient  zum  erstenmal  fieberlos,  klagt -über 
Schmerzen  an  der  Injektionsstelle,  wo  sich  ein  massiges  Infil¬ 
trat  nach  weisen  läßt,  welches  aber  nicht  mehr  so  hart  erscheint 
wie  zuvor.  Keine  Fluktuation,  man  gewinnt  aber  den  Eindruck, 
als  ob  der  zentrale  Teil  des  Infiltrates  einer  Re¬ 
traktion  anheimgefallen  ist  und  daß  deshalb  die 
Haut  in  dieser  Richtung  hineingewölbt  erscheint. 

9.  Dezember:  Patient  wurde  auf  eigenes  Verlangen  entlassen. 
Die  Blutreaktion  nach  Wassermann- Düngern  ne¬ 
gativ. 


Nr.  7 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


239 


8.  Januar:  Patient  suchte  die  Klinik  auf  und  klagte  über 
keine  Schmerzen  mehr.  Aussehen  normal. 

Wenn  wir  uns  die  Frage  stellen,  welche  Umstände 
in  diesem  einzigen  Falle  diese  so  hochgradige  Intoxikation 
Hervorrufen  konnten,  müssen  wir  jene  Momente  in  Betracht 
ziehen,  welche  auf  eine  Divergenz  von  der  allgemeinen 
Norm  in  diesem  Falle  hindeuten  würden.  Es  könnte  scheinen, 
daß  die  etwas  größere  Flüssigkeitsmenge  (15  cm3),  die  in 
diesem  Falle  injiziert  wurde,  eine  gewisse  Rolle  spielen 
konnte ;  man  injizierte  aber  anfangs  bei  vielen  Patienten 
viel  mehr  verdünnte  Lösungen  (sogar  30  cm3),  ohne  daß 
man  nach  diesen  Injektionen  toxische  Symptome  jemals 
wahrgenommen  hätte.  Die  ganz  geringe  Menge  von  Zucker 
im  Urin  dürfte  gewiß  auch  nicht  als  Ursache  der  schweren 
Intoxikation  angenommen  werden,  da  derselbe  alsogleich 
nach  der  Injektion  vermißt  Wurde  und  erst  etwa  zwölf 
Tage  später,  aber  auch  in  einer  viel  geringeren  Menge  und 
zwar  bei  einem  ziemlich  hohen  spezifischen  Gewichte  des 
Urins  auftrat,  um  nachher  wiederum  gänzlich  zu  verschwin¬ 
den.  Mit  diesem  etwas  rätselhaften  Verhalten  des  Zucker¬ 
gehaltes  wäre  also  die  Intoxikation  in  unserem  Falle  schwer 
in  Einklang  zu  bringen. 

Indem  wir  von  einer  Wirkung  seitens  der  oben  zi¬ 
tierten  Momente  absehen,  bleibt  noch  die  Annahme  zu  über¬ 
legen,  oh  die  Ursache  der  Vergiftungssymptome,  also  das 
hohe  und  permanente  Fieber,  gastrische  Erscheinungen  und 
der  komatöse  Zustand  nicht  in  einer  Zufuhr  giftiger  Sub¬ 
stanzen,  eventuell  Zersetzungsprodukte,  zu  suchen  sei,  die 
erst  viel  später  zur  Resorption  .gelangten.  Das  unmittel¬ 
bar  nach  der  Injektion  notierte  Fieber,  sowie  auch  die 
äußeret  prompte  therapeutische  Wirkung  des  Präparates  auf 
das  primäre  Geschwür  lassen  mit  aller  Wahrscheinlichkeit 
vermuten,  daß  größere  Mengen  des  Arsenobenzols  gleich 
in  den  ersten  drei  Tagen  resorbiert  werden  mußten.  Die 
toxischen  Erscheinungen  traten  aber  erst  am  zehnten  Tage 
nach  der  Injektion  auf,  also  erst  dann,  als  höchstwahr¬ 
scheinlich  nur  mehr  ein  sehr  geringer  Teil  des  injizierten 
Depots  im  Muskel  zurückgeblieben  ist.  Man  könnte  also 
kaum  die  Möglichkeit  einer  Intoxikation  in  einer  rapiden 
Resorption  dieser  Depotreste  u.  zw.  am  zehnten  Tage  nach 
der  Injektion  erblicken,  wohl  aber  in  der  Resorption  einer 
zersetzten  Arsenobenzolmenge  (Paraaminophenvlarsen- 
oxyd  ?)  oder  aber  in  der  Resorption  von  Zerfallsprodukten, 
des  Gewebes,  das  unter  der  Wirkung  des  Arsenobenzols 
einer  Nekrose  anheimfallen  konnte.  Es  wurde  bereits  her¬ 
vorgehoben,  daß  das  viele  Tage  nach  der  Injektion  anhal¬ 
tende  Fieber  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  (wo  nämlich  auch 
lokale  Veränderungen  darauf  hindeuten)  in  der  Resorption 
der  Zerfallsprodukte  der  Gewebe  eine  genügende  Erklärung 
finden  könnte.  Tn  unserem  Ealle  hielten  die  lokalen  Sym- 
tome  um  die  Injektionsstelle  sehr  lange  an;  die  Schmerzen 
waren  während  der  ganzen  Krankheitsdauer  sehr  intensiv 
und  obwohl  man  von  einer  Fluktuation  sensu  stricto  nicht 
sprechen  konnte,  so  war  doch  ein  zentrales  Erweichen  in 
der  Glutäalmuskulatur  mit  einer  nachträglichen  Retraktion 
vielfach  nachweisbar,  was  bereits  hervorgehoben  wurde. 
Es  ließe  sich  aber  wohl  die  Annahme  akzeptieren,  daß 
in  unserem  Falle  eine  nachträgliche  Resorption  der  Detritus¬ 
massen  (vielleicht  gemeinschaftlich  mit  etwaigen  Zer¬ 
setzungsprodukten  der  Arsenobenzolreste)  die  Ursache  dieser 
schweren  Intoxikation  bilden  könnte.  Wir  finden  in  der 
einschlägigen  Literatur  viele  Fälle,  bei  denen  es  zu  Ab¬ 
szessen  oder  auch  zur  Nekrose  nach  Arsenobenzolinjektionen 
gekommen  ist;  die  Mehrzahl  dieser  Fälle  wurde  chirurgisch 
angegangen.  Tn  unserem  Falle  konnten  eben  diese  gewiß 
giftigen  Detritusmassen  nicht  eliminiert  werden  und  konnten 
zweifellos  diese  schwere  Intoxikation  hervorgerufen  haben. 

Um  ein  genaues  Kriterium  in  der  Wirkung  des  an¬ 
gewendeten  Mittels  zu  gewinnen,  wurde  in  sämtlichen  Fällen 
und  zwar  in  Intervallen  von  10  bis  15  Tagen,  das  Ver¬ 
halten  der  W as sermänn sehen  Reaktion  geprüft,  so  daß 
in  dieser  Hinsicht  eine  äußerst  sorgfältige  Kontrolle  ge¬ 
führt  wurde.  ' 


Das  Verhalten  der  Wasser  mann  sehen  Reaktion  in 
Fällen  primärer  Geschwüre  gestaltete  sich  nach  den  In¬ 
jektionen  von  Arsenobenzol  äußerst  variabel.  In  einem  Fälle 
einer  sehr  früh  konstatierten  Sklerose'  blieb  die  negative 
Reaktion  auch  nach  0-4  des  Präparates  noch  nach  zwei 
Monaten  negativ.  In  einem  anderen  Falle  wurde  die  anfangs 
negative  Reaktion  am  sechsten  Tage  nach  der  Injektion 
(0-60)  zu  einer  stark  positiven.  In  anderen  Fällen  trat  die 
Verwandlung  der  positiven  Reaktion  in  acht  bis  zehn  Tagen 
nach  der  Injektion  in  eine  negative  ein;  diese  Wirkung 
blieb  aber  meistens  von  kurzer  Dauer,  denn  eine 
neuerliche  Untersuchung  nach  10  bis  14  Tagen  wies  wieder¬ 
um  ein  positives  Verhalten  der  Reaktion  u.  zw.  in  vielen 
Fällen  auf.  Bei  einem  Kranken  schlug  die  anfangs  positive 
Reaktion  nach  einer  kleinen  Dosis  (0-4)  in  eine  negative 
über,  verblieb  negativ  einige  Wodhen  lang,  bis  der  Patient 
mit  einem  neuen  universellen  Exanthem  u.  zw.  drei  Monate 
nach  der  ersten  Injektion,  wiederum  die  Klinik  aufsuchte. 

In  der  Sekundärperiode  der  Krankheit  verblieb  die 
nach  der  Injektion  errungene  negative  Reaktion  in  zwei 
Fällen  einige  Wochen  lang  negativ.  In  anderen  Fällen  (elf 
an  der  Zahl),  bei  denen  die  Reaktion  positiv  ausgefallen 
ist,  schlug  dieselbe  in  10  bis  20  Tagen  in  eine  negative 
über.  Tn  einigen  von  diesen  Fällen  verblieb  diese  negative 
Reaktion  mehrere  Wochen  lang  unverändert,  in  den  an¬ 
deren  war  dieselbe  nur  von  sehr  kurzer  Dauer.  Gar  nicht 
selten  ließ  sich  eine  Umwandlung  der  positiven  Reaktion 
nach  der  Injektion  gar  nicht  konstatieren,  sie  verblieb  viel¬ 
mehr  positiv  auch  nach  Wochen,  das  heißt  bis  zur  defini¬ 
tiven  Entlassung  des  Patienten  aus  der  Klinik.  Tn  einer 
ganzen  Reihe  von  Fällen  schützte  eine  perma¬ 
nente  negative  R e a k t i o n  (die  Probe  wurd e  alle  zehn 
Tage  vorgenommen)  nicht  vor  Rezidiven,  mit  denen 
die  Kranken  die  Klinik  von  neuem  aufgesucht 
haben. 

Ein  besonderer  Einfluß  höherer  Dosen  auf  das  Ver¬ 
halten  der  Wassermann  sehen  Reaktion  konnte  in  keinem 
Fälle  wahrgenommen  werden;  ebensowenig  können  wir 
dies  von  den  doppelten,  das  heißt  nacheinander  folgenden 
(einer  intravenösen  und  einer  intramuskulären)  Injektionen 
behaupten.  Das  V erhalten  der  Reaktion  schien  viel¬ 
mehr  von  der  I  n  f  ek  ti  o  n  s  p  e  r  i  o  d  e  abzuhängen  und 
mit  diesem  Umstande  wäre  auch  die  Perseveration  der  po¬ 
sitiven  Reaktion  in  diesen  Fällen  in  Einklang  zu  bringen, 
die  einige  Zeit  nachher  wegen  mehr  oder  minder  ausge¬ 
breiteten  Rezidiveformen  in  der  Klinik  Aufnahme  fanden. 

Bei  Lues  maligna  notierte  man  vorwiegend  eine  nega¬ 
tive  Reaktion,  welche  auch  nach  der  Injektion  negativ  ge¬ 
blieben  ist,  sogar  auch  dann,  wenn  neuerlicher  Zer¬ 
fall  konstatiert  werden  konnte.  Tn  einem  Fälle  ter¬ 
tiärer  Syphilis  schlug  die  anfangs  positive  Reaktion  bereits 
zehn  Tage  nach  der  Injektion  in  eine  negative  über,  aber 
bereits  nach  Verlauf  von  weiteren  zwölf  Tagen  fiel  dieselbe 
wiederum  positiv  aus.  In  einer  anderen  Reihe  von  Fällen 
blieb  eine  Umwandlung  der  positiven  Reaktion  nach  einer 
Injektion  vollkommen  aus  —  dasselbe  Verhalten 
konnten  wir  in  allen  Fällen  par a syphilitisch  er 
Erkrankungen  und  zwar  ohne  Ausnahme,  kon¬ 
statieren. 

In  Fällen  primärer  Sklerosen  und  vieler  kondyloma- 
töser  Wucherungen  wurden  Spirochäten  im  ausgepreßten 
Serum  untersucht.  Es  verdient  ausdrücklich  betont  zu 
werden,  daß  sehr  bald  nach  der  Injektion  keine  Spi¬ 
rochäten  im  untersuchten  Serum  zu  finden  waren.  Be¬ 
reits  in  24  Stunden  nach  der  Injektion  verringerte  sich 
die  Zahl  der  im  Sklerosenserum  Vorgefundenen  Spirochäten 
ganz  bedeutend  und  am  dritten  oder  spätestens  vierten  Tage 
waren  bereits  keine  mehr  aufzufinden.  Dabei  muß  bemerk! 
werden,  daß  von  einer  lokalen  Therapie  der  Primäraffekte 
gänzlich  abgesehen  wurde.  In  allen  Effloreszenzen  sekun¬ 
därer  Natur  verschwanden  die  Spirochäten  gleichzeitig  mit 
der  Reinigung  der  erodierten  Oberfläche,  was  bereits  ge¬ 
wöhnlich  am  dritten  Tage  wahrgenommen  wurde.  Nur  in 


210 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  7 


einem  einzigen  Fälle  waren  die  Spirochäten  noch  einige 
Wochen  nach  der  Injektion  zu  konstatieren,  was  bereits 
oben  erwähnt  wurde.  Trotz  dieses  prompten  Verschwindens 
der  Spirochäten  im  Sekrete,  fand  man  sie  reichlich  bei 
denselben  Patienten  nach  Wochen,  sobald  dieselben  mit 
eine]'  Rezidive  die  Klinik  wieder  aufsuchten. 

\  on  nicht  syphilitischen  Erkrankungen  gelangten 
einige  Dermatosen  zur  Behandlung,  darunter  ein  hämorrha¬ 
gisches  idiopathisches  Pigmentsarkom  Kaposis  (Acrosar- 
coma.  haemorrhagic  um),  ein  universeller  Lichen  planus  Wil- 
soni  und  eine  rezidivierende  universelle  Psoriasis.  Der  be¬ 
deutendste  Erfolg  war  bei  dem  Akrosarkom  zu  verzeichnen, 
wo  bei  einem  über  65  Jahre  alten  Patienten  bereits  in  einer 
Woche  nach  der  Injektion  von  0-3  Arsenobenzol  eine  be¬ 
deutende  Involution  der  neoplasmatischen  Tumoren  zu  be¬ 
merken  war.  Trotz  des  hohen  Alters  des  Patienten  wurde 
die  Injektion  ohne  Nebenwirkungen  vertragen  und  wir  in¬ 
jizierten  de(m  Patienten  nach  fünf  Wochen  nochmals  0-3  ohne 
aber  nach  dieser  Injektion  einen  besonderen  Einfluß  auf 
den  Krankheitsprozeß  beobachtet  zu  haben. 

Beim  Lichen  planus  wurde  nach  04  eine  allgemeine 
Involution  der  Knötchen,  wie  auch  der  konfluierten  Infil¬ 
trate  bemerkbar ;  die  betreffende  Patientin  soll  auch  weiter¬ 
hin  mit  Arsenobenzol  behandelt  werden.  Den  geringsten 
Erfolg  sah  man  bei  der  universellen  Psoriasis,  was  übrigens 
mit,  der  Beobachtung  anderer  Autoren  in  Einklang  zu 
bringen  ist. 

Es  verdient  noch  erwähnt  zu  werden,  daß  gravide 
trauen  die  Injektionen  des  Ehrlich  sehen  Präparates  sogar 
in  den  letzten  Monaten  der  Schwangerschaft  sehr  gut  ver¬ 
tragen  haben,  daß  also  eine  ohne  Komplikationen  ver¬ 
laufende  Gravidität  durchaus  keine  Kontraindikation  der 
Arsenobenzolbehaüdlung  bildet.  Wir  haben  einer  Patientin 
sogar  zweimal  das  Präparat  injiziert  u.  zw.  einmal  im 
sechsten  Schwangerschaftsmönate  und  da  nach  sechs 
Wochen  neuerdings  Papeln  am  Genitale  aufgetreten  sind, 
das  zweitemäl  gegen  Ende  des  achten  Monats,  ohne  daß 
diese  zweite  Injektion  auf  den  weiteren  Verlauf  der  Gra¬ 
vidität  irgendeinen  nachteiligen  Einfluß  ausgeübt  hätte. 

Es  muß  betont  Werden,  daß  Injektionen  des  Ar- 
senobenzols  bei  nicht  syphilitischen  Erkrankun¬ 
gen  im  allgemeinen  dieselbe  Reaktion  (beson¬ 
ders,  was  die  Temperatur  anbelangt)  im  Organis¬ 
mus  hervorrief,  Avie  bei  Syphilis.  Das  Fieber  er¬ 
reichte  auch  in  diesen  Fällen  oft  38-5  und  dauerte  auch 
gewöhnlich  mehrere  Tage.  Bei  Psoriasis  bemerkte  man  auch 
eine  deutliche  Rötung  an  den  Randpartien  der  Efflores- 
zenzen. 

Wenn  wir  alle  unsere  Beobachtungen  zusammenfassen, 
so  gelangen  wir  zu  der  festen  Ueberzeugung,  daß  wir 
im  Arsenobenzol  ein  mächtiges  Mittel  zur  Bekämpfung  der 
syphilitischen  Erscheinungen  u.  zw.  in  allen  Stadien  der 
Krankheit  gewonnen  haben.  Wir  besitzen  im  Arsenobenzol 
Aror  allem  ein  Antisyphilitikum,  dessen  therapeutische  Be¬ 
deutung,  was  die  Promptheit  der  Wirkung  an  be¬ 
langt,  nicht  nur  dem  Quecksilber  gleichkommt,  sondern  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  demselben  überlegen  ist.  Diese  rasche 
Wirkung  gibt  dem  Mittel  einen  eigenen  Stempel  und  es 
sind  gerade  die  Fälle  der  malignen  Lues,  bei  der  dieses 
schnelle  Tempo  der  Wirkung  als  besonders  wohl¬ 
tätig  a  u  f  g  e  f  a  ß  t  w  erde  n  rn  u  ßi. 

ZAveitens  verdient  das  Arsenobenzol  schon  deshalb 
den  Namen  eines  Anüsyphilitikums  ersten  Ranges,  weil  es 
gerade  in  diesen  Fällen  seine  eminente  Wirkung  entfaltet, 
avo  das  Quecksilber  entweder  gänzlich  versagt, 
oder  sogar  schädlich  wirkt,  indem  es  den  weiteren 
Zerfall  luetischer  Infiltrate  fördert.  Hier  gehören  jene  Fälle, 
in  denen  Avir  bisüun  die  einzige  Zuflucht  in  Vegetabilien 
suchten  und  zu  deren  Bekämpfung  wir  heutzutage  im  Ar- 
senohenzol  ein  mächtiges  Agens  geAvonnen  haben.  Das  Ar¬ 
senobenzol  bleibt  übrigens  eine  Errungenschaft  für  alle 
Fälle,  avo  die  Anwendung  des  Quecksilbers  aus  verschie¬ 
denen  Gründen  kontraindiziert  erscheint. 


Daß  das  Arsenobenzol  nach  einmaliger  oder  aber  auch 
nach  mehrmaliger  Injektion  den  Organismus  von  dem  Virus 
nicht  zu  befreien  vermag  und  daß  diese  Behandlung  vor 
Rezidiven  nicht  schützt,  ja,  dieselben  oft  nicht  lange  auf 
sich  warten  lassen  —  soll  nicht  in  Abrede  gestellt  Averden. 
Da  aber  die  neue  Behandlungsmethode,  bzw.  die  Dosierung 
des  Mittels  bis  heute  noch  auf  rein  empirischem  Wege 
Avandelt,  läßt  sich  hinsichtlich  einer  Dauerwirkung  des  Ehr¬ 
lich  sehen  Präparates  gegenwärtig  durchaus  kein  absolutes 
Urteil  fällen.  So  wird  man  auch  die  Wirkung  des  Arseno- 
benzols  mit  der  des  Quecksilbers  in  diesem  Sinne  (das  heißt 
mit  Bezug  auf  Dauerwirkung)  kaum  vergleichen  können, 
weil  man  doch  nicht  Aveiß,  Avelches  Aequivalent  von  Dioxy- 
diamidoarsenobenzol  einer  gewissen  Behandlungsdauer  mit 
Quecksilbersalzen  entspricht  Alle  bisherigen  Publikationen 
und  Beobachtungen  betreffen  Fälle  nach  zwei-  bis  dreima¬ 
liger  Injektion  und  einer  kurzen  Observationsfrist;  die  Zu¬ 
kunft  wird  zeigen,  welche  Resultate  eine  zyklische  Injek¬ 
tionskur  mit  Arsenobenzol  zeitigen  Avird,  oder  aber  auch, 
Avas  aus  den  Fällen  geworden,  deren  ganze  Behandlung  aus 
einer  einzigen,  resp.  zAvei  Injektionen  bestand. 

Wenn  es  sich  auch  zeigen  sollte,  daß  das  Arsenobenzol 
allein  die  Lues  zu  heilen  nicht  imstande  sein  wird,  daß 
dem  Quecksilber  eine  mehr  nachhaltige  Wirkung  irinewolint, 
oder  auch,  daß  das  Ideal  einer  Syphilisbehandlung  in  einem 
Traitement  mixte,  also  in  einer  Quecksilber — Arsenobenzol- 
kur  zu  suchen  ist,  so  bleibt  es  ein  großes  Verdienst  des 
Forschers,  dem  Arzte  ein  Mittel  in  die  Hand  gegeben  zu 
haben,  Avelches  seine  Wirkung  da  entfaltet,  wo  mit  anderen 
Mitteln  oft  nichts  erreicht  Werden  konnte. 


Zur  Applikationsweise  des  Salvarsans. 

Von  Di-.  J.  II  all  li,  prakt.  Arzt  in  Wien. 

Keine  der  bisherigen  verschiedenen  intramuskulären  und 
subkutanen  Applikationsmethodein  des  Salvarsans  ist  zur  allge¬ 
meinen  Geltung  gelangt,  keine  derselben  hat  allgemein  befriedigt, 
die  Verbreitung  .aller  dieser  Methoden  ist  in  Abnahme  begriffen, 
während  die  Anweindxmg  der  intravenösen  Injektion  der  schwach 
alkalischem  Natronsalzlösung  des  Salvarsans  immer  mehr  An¬ 
klang  findet. 

In  viel  rascherem  Tempo  würde  sich  aber  diese  Veränderung 
in  praxi  vollziehen,  wenn  der  A 1  lg emcinp rak t i k er  an  die  Ausfüh¬ 
rung  der  intravenösein  Injektion  mehr  gewöhnt  wäre  und  ihm 
diese  Sache  nicht  zu  verantwortlich  und  technisch  umständlich 
erschiene. 

So  aber,  da,  er  sich  zur  Ausführung  der  intravenösen  Appli¬ 
kation  sehr  häufig  nicht  entschließen  kann,  zu  den  bisherigen  intra¬ 
muskulären  und  subkutanen  Methoden  aber  nicht  das  volle  Ver¬ 
trauen  besitzt.,  sieht,  er  sich  genötigt,  die  intravenöse  Injektion 
durch  den  Spezialisten  ausführen  zu  lassen  oder  von  der  Salv- 
arsantherapie  vorläufig  abzusehen,  wodurch  in  beiden  Fällen 
die  allgemeine  Verbreitung  und  Erforschung  dieser  hochinter¬ 
essanten  und  aussichtsreichen  neuen  Therapie  trotz  Freigabe 
des  Mittels  außerordentlich  verzögert  wird. 

Ganz  anders  Aviirde  sich  die  Sache  verhalten,  wenn  wir 
über  eine  ohne  ungewohnten  Apparat  leicht  und  rasch:  her¬ 
stellbare,  gut  verträgliche  und  wirksame  Lösung  verfügen  würden, 
welche  zu  subkutaner  Applikation  geeignet  wäre  und  das  s’cheint 
mir  tatsächlich  hei  der  bisher  nur  zu  intravenöser  Injektion  ge¬ 
bräuchlichen  Lösung  im  Vergleiche  zu  deren  intravenösen  In¬ 
jektion  der  Vorzug  der  milderen,  nicht  so  stürmischen,  gleichwohl 
aber  sicheren  und  genügend  raschen  Wirkung  zu  erwarten. 

Sie  ist  bei  demselben  Gehalt  an  Salvarsan  und  Natron¬ 
lauge  7V2mal  dünner,  als  die  alkalische  partielle  Lösung  Alts 
zur  Intramuskulärinjektion.1)  Darum  ist  bei  ihrer  subkutanen 
Anwendung  keine'  wesentliche  lokale  Reizung  und  Störung  nach 
Art  der  viel  konzentrierteren  Altschen  Applikation  zu  erwarten 
und  die  hei  fehlerhafter  Ausführung  der  intravenösen  Injektion 
durch  Eindringen  der  Lösung  in  das  paravenöse'  Gewebe  auf- 

*)  Intraven.  I  n j  e k t io n  s  1 Ö  s  u  n  g  nach  Anweisung  der  Höchster 
Farbwerke  (Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  49)  enthält  0'3  Salv. 
+  Natr.  chlorat.  L35  b  0  654  g  15°/0  NaOH  (=  0'098  g  NaOH  sicc.)  + 
Aq.  dest.  ad  150;  Alts  alkal.  partielle  Lösung  zur  Intra- 
muskulärinjektion  (Berliner  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  49)  ent¬ 
hält  0-3  Salv.  4-  2T  cm3  4%  NaOH  (=  0-56  cm3  15"/«  NaOH  =  0  655  g 
15%  NaOH  =  0-098  g  NaOH  sicc.)  4-  Aq.  dest.  ad  20. 


Nr.  7 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


241 


tretende  schmerzhafte  Infiltration  ist  wohl  auf  die  zur  Sub¬ 
kutaninjektion  größerer  Mengen  ungeeignete  Oertlichkcit  und  nicht 
auf  die  reizende,  kaustische  Beschaffenheit  der  Lösung  zurück¬ 
zuführen. 

Außer  der  leichteren  Ausführbarkeit  ist  von  der  Subkulan¬ 
injektion  der  gegenwärtig  nur  zur  intravenösen  Applikation  ge- 
briuchlRhetn  Lösung  im  Vergleiche  zu  deren  intravenösen  In¬ 
jektion  der  Vorzug  der  milderen,  nicht  so  stürmischen,  gleich¬ 
wohl  aber  sicheren  und  genügend  raschen  Wirkung  zu  erwarten. 

Hingegen  scheint  diese  stark  verdünnte  Lösung  aus  dem 
Grunde  zur  Intramuskulärinjektion  ungeeignet,  weil  genügende 
Salvarsan mengen  nur  mit  zu  großen  Flüslsigkeitsm engen  beizu¬ 
bringen  wären. 

Die  Verwendung  derselben  Lösung  für  intravenöse  und  sub¬ 
kutane  Injektion  hätte  den  Vorteil,  daß  die  therapeutischen  Wir¬ 
kungen  leichter  vergleich-  und  übersehbar  wären,  als  bei  der  stö¬ 
renden  Verschiedenheit  der  Zubereitung  des  Medikamentes,  wie 
cs  bisher  üblich  war. 

Auch  die  Bereitung  der  Lösung  scheint  mit  einem  kleineren 
und  einfachen,  überall  vorhandenen  Apparat  möglich,  zum  Unter¬ 
schiede  von  dein  bisher  üblichen  Methoden.  Man  gibt  zu  300  cm1 
Aqu.  dest.  2-7  g  Natr.  chlor,  puriss.,  sodann  23  gtt.  NaOH  45%, 
kocht  auf  und  füllt  eine  300  cm3  fassende  ausgekochte  Flasche 
mit  Glasstöpsel  zur  Hälfte  mit  obiger  Lösung,  fügt  dann  0-6 
Salvarsan  hinzu,  schließt  die  Flasche  mit  dem:  Glasstöpsel  und 
schüttelt  kräftig  bis  zur  klaren  Lösung  des  Salvarsans,  gießt 
schließlich  den  Rest  der  alkalischen  Kochsalzlösung  zu.  Dies 
kann  auch  vom  Apotheker  besorgt  werden,  während  der  Arzt 
seine  Instrumente  auskocht.  Die  Vorschrift  für  den  Apotheker 
würde  lauten  :  Rp.  Natr.  chlor,  puriss.  2-7,  solv.  ijn  Aqu.  deist.  300, 
adde  NaOH  15%  gtt.  XXIII,  coq.,  da  dimid.  (parteiml  hujus  solut.  in 
vitr.  cum  epistom.  vitr.  c’oct.,  adde  Salvarsan!  0-6,  agita  ad  solut., 
adde  alteram  parteim  solutionis  natr.  chlorat.  alkal.,  claude  vitrum 
optime,  obduc  vitrum  papyro  higro,  expeid.  statim ! 

Die  dem  Salvarsan  von  dein  Höchster  Farbwerken  beige¬ 
gebene  Vorschrift  zur  Bereitung  der  intravenösen  Injektionslösung 
enthält,  nebenbei  erwähnt,  nicht  ganz  richtige,  weil  nach  oben 
abgerundete1,  Angaben  bezüglich  der  zuzufügenden  Kubikzentimeter 
NaOH  15%, es  soll  heißen  0-6  Salvarsan  benötigen  1-117  (nicht  1- 14), 
0-5  Salvarsan  0-93  (nicht  0-95),  0-4  Salvarsan  0-74  (nicht  0-76), 
0-3  Salvarsan  0-558  (nicht  0-57),  0-2  Salvarsan  0-372  (nicht 
0-38)  cm3  NaOH  15%,  was  aber  die  Richtigkeit  der  angegebenen 
Tropfenzahl  nicht  tangiert,  da  0-01  bis  0-05  cm3  als  1  gtt.  ge¬ 
rechnet  wurden. 

Herr  Geheimrat  Prof.  Ehrlich,  dem  Verfasser  das  Manu¬ 
skript  vorstehender  Ausführungen  vor  Veranlassung  deren  Publi¬ 
kation  vorgelegt  hat,  hatte:  die  Güte,  wofür  Verfasser  an  dieser 
Stelle  ergebenst  dankt,  sich  mit  Brief  voml  6.  d.  M.  in  folgendem 
Sinne  hiezu  zu  äußern:  Was  Ihre  mir  mit  Ihrem  Briefe  vorn 
14.  Januar  1.  J.  mitgeteilte  Idee  bezüglich  der  Applikationsweise 
des  Salvarsans  betrifft,  so  hat  Lenz  mann  in  der  Medizinischen 
Klinik  Nr.  6  über  seine  Erfahrungen  auf  gleichem  Gebiete:  berichtet 
und  auch  von  anderer  Seite,  Dr.  Lischke  in  Dresden,  ist  mir 
inzwischen  derselbe  Vorschlag  zugegangen.  Dagegen  die  Lösung 
per  Klysma  zu  geheim  kann  ich  nur  dringend  abraten,  schon  aus 
dem  Grande,  weil  hier  eine  genaue  Dosierung  des  zu  resorbie¬ 
renden  Präparates  vollkommen  unmöglich  ist.  Wegen  der  Kor- 
rekttrr-der  Höchster  Zahlen  wollte  ich  bemerken,  daß  dieselben 
auf  meine  Veranlassung  prinzipiell  nach  oben  abgerundet  worden 
sind,  weil  ein  wenig  Mehr  nur  vorteilhaft  sein  kann. 


Vergleichende  Berechnung  des  Oesophago- 
gramms  mit  dem  Elektrokardiogramm. 

Von  Priv.-Doz.  Primararzt  Dr.  W.  Jauowski  in  Warschau. 

In  meiner  Arbeit  über  die  Oesophagokardiographie,2) 
in  welcher  ich  die  entsprechende  Literatur  anführte,  sprach 
ich  die  Meinung  aus,  die  Vorhofskoni rak lion  (AS)  äußere 
sich  auf  dem  Oesophaguskardiogramm  durch  einen  Abfall. 
Diese  Meinung  stützte  ich  auf  verschiedene  Daten,  die  ich 
hier  nicht  wiederhole,  weil  sie  in  der  oben  erwähnten  Arbeit 
zu  finden  sind.  Es  fehlte  mir  nur  ein  Vergleich  der  ösophago- 
graphischen  mit  der  elektrokardiögrap  bischen  Kurve,  da  ich 
keinen  Elektrokardiographien  zur  Verfügung  habe. 

Das  liebenswürdige  Entgegenkommen  des  Ivo! I .  Eppin- 
ger  an  der  Klinik  v.  Noorden  ermöglichte  es  mir  während 
meines  kurzen  Aufenthaltes  in  Wien  im  Mai  1910,  eine 
gleichzeitige  ösophagographische  und  eleklrokardiographi- 
sche  Aufnahme  zu  bekommen.  Obwohl  ich  dabei  über 
hundert  gut  ausgesprochene  ösophagokardiographische  und 


Fig.  l. 


Fig.  2. 


Fig.  3. 


242 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  7 


elektrokardiographisc'he  Wellen  bekommen  habe,  deren  Stu¬ 
dium  meine  frühere  Meinung  bestätigte,  wartete  ich  mit 
der  Veröffentlichung  dieser  Tatsache,  bis  mir  Möglichkeit 
geboten  sein  würde,  diese  Untersuchungen  bei  vielen 
Kranken  zu  wiederholen.  Da  dies  aber,  wie  ich  glaube, 
nicht  bald  der  Fall  sein  wird,  so  will  ich  hier  in  aller  Kürze 
das  Resultat  dieser  mit  Koll  Eppinger  ausgeführten  Auf¬ 
nahme  mitteilen. 


Ein  Teil  der  entsprechenden  Aufnahmen  ist  auf  Fig.  1 
bis  3  zu  ersehen.  Zwecks  richtiger  Erklärung  dieser  Kurven 
müssen  vorerst  die  Cybulski  sehen1)  Untersuchungsresul¬ 
tate  der  Elektrokardiogramme  in  Betracht  gezogen  werden. 

Dieser  Verfasser  behauptet  nämlich,  daß  weder  die 
Zacke  P  noch  die  Zacke  R  den  Schwankungen  der  Aktions¬ 
ströme  des  Herzmuskels  entsprechen.  Sollte  dies  der  Fall 
sein,  so  müßte  die  Dauer  der  Zacken  P  und  R  mit  den¬ 
jenigen  der  entsprechenden  Phasen  der  Herzkontraktionen 
zeitlich  übereinstimmen.  Letzteres  ist  aber  durchaus  nicht 
der  Fall,  da  die  Dauer  der  Zacken  der  Elektrokardiogramme 
und  zwar  speziell  der  Zacke  R  kürzer  ist,  als  die  Dauer 
der  Kontraktion  der  entsprechenden  Herzteile.  Außerdem 
hat  Cybulski  durch  gleichzeitige  Aufnahme  von  Elektro¬ 
kardiogrammen  und  von  Myograrmnen  unmittelbar  vom  Vor¬ 
hofe  und  von  der  Herzkammer  der  Frösche  ganz  unzwei¬ 
deutig  bewiesen,  daß  die  Zacken'  P  und'R  dem  Anfänge  der 
Vorhofs-,  resp.  Kammerkontraktion  bedeutend  und  zwar 
0-10  bis  0-12  Sekunden  vorausgehen.  Jedenfalls  geht  aus 
der  Feststellung  dieser  Tatsache  unzweifelhaft  hervor,  daß 
das  AS  am  Oesophagokardiogramm  rechts  vom  Anfänge 
der  Zacke  P  zu  bezeichnen  ist.  Aus  meinen  an  66  Wellen, 
ausgeführten  Berechnungen  geht  hervor,  daß  die  Dauer  der 
P- Zacke  0-08  bis  013  Sekunden,  meistens  (in  47  Wellen) 
010  bis  011  Sekunden  beträgt.  Die1  gleichzeitige  Berech¬ 
nung  der  Entfernung  des  Anfanges  der  P- Zacke  am  Elektro¬ 
kardiogramm  vom  Anfänge  der  nach  Fredericq  und  Min¬ 
kowski  gedeuteten  AS-Zacken  an  der  Oesophagealkurve 
hat  eine  Zeitdifferenz  von  0  08  bis  0-13  Sekunden,  meistens 
in  49  Wellen  0-10  bis  011  Sekunden. 


Es  geht  daraus  hervor,  daß  bei  dieser  Bezeichnung  des 
Anfanges  der  AS-Welle,  diese  genau  dort  ihren  Beginn  hat, 
wo  die  negative  Stromschwankung  P  endigt  und  das  Elektro¬ 
kardiogramm  seinen  horizontalen  Lauf  beginnt. 


Dieser  Befund  stimmt  seinerseits  mit  den  von  Cybul¬ 
ski  an  Fröschen  erhaltenen  Resultaten  überein.  Der  Ge¬ 
nauigkeit  wegen 'behalte- ich  mir  folgendes  vor  :  Ich  bestimmte 
den  Fehler  in  der  Zeit,  welcher  durch  die  Mar ey sehe  Trom¬ 
mel  im  Vergleich  mit  den  Elektrokardiogrammaufnahmen 
eingeführl  wurde.  Er  betrug  0-03  Sekunden,  das  heißt  die 
M  a  l  e  \  sehe  Trommel  notierte  die  entsprechende  Schwan¬ 
kung  um  0  03  Sekunden  später,  als  das  Elektrokardiogramm. 
Daraus  folgt,  daß  der  Beginn  der  AS-Welle  nicht  um  0-10 
bis  0-1 15  Sekunden  redhts  vom  Beginn  der  P- Zacke  zu  be¬ 
zeichnen  ist,  sondern  nur  um  0-07  bis  0-085  rechts  von  der¬ 
selben.  Aber  auch  nach  dieser  Korrektion  fällt  dieser  Punkt 
auf  jene  Stelle  der  Zacke,  von  welcher  ihr  Abfall  beginnt. 
Ich  behaupte  also  meiner  früheren  Arbeit  gemäß,  daßi  das 
AS  mit  einem  Abfall  beginnt.  Sollte  man  mit  dem  in  dieser 
I  läge  ganz  besonders  verdienten  Rautenberg  zugeben, 
daß  dieser  Punkt  mit  einem  Anstieg  beginnt,  so  müßte  der 
Vergleich  mit  Elektrokardiogrammen  aufweisen,  der  Beginn 
des  AS  gehe  um  etwa  0-20  Sekunden  dem  Beginne  der 
der  P-Zacke  voraus,  was  den  Resultaten  der  Cybulski- 
sclien  Untersuchungen  widersprechen  würde. 


Literatur: 

9  N.  Cybulski,  Ueber  die  Beziehung  zwischen  den  Aktions- 
stromen  und  dem  tätigen  Zustand  der  Muskeln.  Extrait  du  bulletin  de 

lAcademie  des  Sciences  de  Cracovie,  März  1910,  S.  173—178. _ 

2)  W.  Janowski,  Das  Oesophagokardiogramm.  Zeitschr.  für  klin 
Medizin  1910,  Bd.  70.  H.  3  u.  4. 


Referate. 


Vorlesungen  über  Harnkrankheiten. 

Für  Aerzte  und  Studierende. 

Von  C.  Posner. 

355  Seiten. 

B  e  r  1  i  n  191 1,  A.  H  i  r  s  c  h  w  aid. 

Ein  vortreffliches  Buch!  Der  Verfasser  wendet  sich  mit 
demselben  nicht  so  sehr  an  seine  speziellen  Fachkollegen,  als 
vielmehr  an  die  praktischen  Aerzte,  denen  er  einen  U eberblick 
über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Urologie,  deren  wissenschaft¬ 
liche  Grandlagen  und  die  wesentlichsten  diagnostischen  und 
therapeutischen  Methoden  geben  will.  In  seinem  Vorworte  hebt  er 
mit  Recht  hervor,  daß  der  praktische-  Arzt,  wenn  er  auch  nicht 
imstande  ist,  in  den  einzelnen  Fächern  sich  eine  vollkommene 
spezialistische  Durchbildung  zu  erwerben,  doch  bestrebt  sein 
soll,  die  Ausdehnung  und  Vertiefung  eines  jeden  Gebietes  zum 
Wöhle-  seiner  Kranken  genau  kennen  zu  lernen.  Dem  Verfasser 
ist  es  gelungen,  seiner  Aufgabe  in  hervorragend  glücklicher  Weise 
gerecht  zu  werden. 

Das  W-erk  zerfällt  in  einen  allgemeinen  und  einen  spe¬ 
ziellen  Teil.  Nach  einigen  kurzen,  anatomisch-physiologischen 
Vorbemerkungen  bespricht  der  Verfasser  die  allgemeine  Äetio- 
lo-gie-  (Bildungsanomalien,  'trauma,  Infektion  und  Intoxikation), 
die-  allgemeine  Diagnostik  (Krankenexamen ;  Inspektion,  Palpation' 
Perkussion;  Untersuchung  der  Sekrete  und  des  Urins;  Sondie¬ 
rung,  Katheterismus,  Urethroskopie  und  Zystoskopie,  sowie  die 
funktionelle  Diagnostik),  endlich  die  allgemeine,  interne  und  chi¬ 
rurgische  Therapie.  In  diesen  Kapiteln  bringt  der  Verfasser  ein 
groß-e-s  Material  in  gedrängter  Form  und  präziser  Fassung  so 
vollkommen  beherrscht,  wie  es  eben  nur  von  einem  erfahrenen 
Praktiker,  der  auch  über  die-  erforderliche  gründliche  lheoretisc.be 
Bildung  verfügt,  zu  erwarten  ist. 

Im  speziellen  Teil  behandelt  der  erste  Abschnitt  die  ent¬ 
zündlichen  Prozesse.  Verhältnismäßig  ausführlich  ist  die  akute 
und  chronisch©  Urethritis  mit  ihren  Komplikationen  und  Folge¬ 
zuständen  erörtert,  gewiß  nicht  zum  Schaden  des  Buches,  denn 
diese  Krankheitsgruppe  gehört  ja  zu  den  allerhäufigsten  und 
es  wird  heute-  noch  viel  durch  schablonenmäßiges,  nicht  selten 
auch  unzweckmäßiges  Behandeln  auf  diesem  Gebiete  gesündigt. 
Line-  rationelle-  Therapie  der  chronischen  Urethritis  aber 
und  ihrer  Komplikationen,  insbesondere  der  so  oft  zu 
wenig  oder  auch  gar  nicht  beobachteten  Prostatitis  gehört 
zu  den  dankbarsten  Aufgaben  eines  versierten  Fachmannes.  Zy¬ 
stitis,  Pyelitis  und  Nephritis  werden  in  knapper  Form,  aber  doch 
erschöpfend  und  in  außerordentlich  instruktiver  Weise  abge¬ 
handelt.  Der  Abschnitt  über  Tuberkulose  entwickelt  in  anschau¬ 
licher  Weise  unsere  heutigen  Kenntnisse  über  Entstehung  und 
Verbreitung  dieses  Prozesses  im  Harn-  und  Genitaltrakt.  Sehr 
verdienstlich  ist  eis,  daß  der  Verfasser  die  früheren  unzurei¬ 
chenden  Vorstellungen  vom  Krankheitshilde  der  Tuberkulose  der 
Harnorgane  erwähnt  und  den  praktischen  Arzt  auf  die  Früh¬ 
stadieu  der  Nierentuberkulose  aufmerksam  macht.  Sehr  eingehend 
wird  sodann  die  Aetiologi-e-,  Symptomatologie-  und  Therapie  der 
Steinbildung  in  Blase  und  Niere  erörtert.  Auch  in  diesem  Ka¬ 
pitel  findet  der  praktische  Arzt  manch  dankenswerten  Wink.  In 
de-m  Abschnitte  über  die  Geschwülste  (Harnröhre,  Penis,  Hoden, 
Prostata,  Blase-,  Nieren)  verdient  besonders  das  Kapitel  über 
Prostatahypertrophie  h-e-r  vorgeh  oben  zu  werden,  welches  in  vor¬ 
züglicher  Weise  die  verschiedenen  Stadien  des  Krankheitsver¬ 
laufes  und  der  Prinzipien  der  modernen  Therapie  dieses-  Leidens 
auseinandersetzt.  Die  Abschnitte  über  nervöse  Blasenstörungen 
und  die  Störungen  der  Geschlechtsfunktionen  des  Mannes  bilden 
den  Schluß  des  Werkes.  Auch  in  diesen  Abschnitten  wird  das 
Wesentliche-,  für  den  praktischen  Arzt  Wichtige  in  übersichtlicher 
und  prägnanter  Form  besprochen. 

Posners  Vorlesungen  über  Harnkrankheiten  zeichnen 
sich  durchaus  durch  die-  klare  und  gefällige  Form  der  Diktion 
aus  und  jeder  Leser,  auch  jener,  dem  der  Gegenstand  nicht 
gerade  geläufig  ist,  wird  sich  an  der  leicht  faßlichen  und  eleganten 
Darstellungsweise,  in  welcher  ihm  viel  Anregung  und  reiche  Be¬ 
lehrung  geboten  wird,  erfreuen.  Daß  auch  der  Fachmann  das 


WIENEU  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  ? 


Büchlein  mit  Interesse  zur  Hand  nehmen  wird,  unterliegt  bei 
der  allgemein  anerkannten  Autorität  des  Verfassers  keinem 

Zweifel.  A.  v.  Frisch. 

* 

Lehrbuch  der  Urologie. 

Von  Dr.  Alfred  Rothschild. 

522  Seiten  mit  162  teils  farbigen  Abbildungen  und  einer  farbigen  Tafel. 

Leipzig  191t,  Werner  Klink  bar  dt. 

Ein  neues  Lehrbuch  der  Urologie  wäre  eigentlich  kein  Be¬ 
dürfnis;  wir  besitzen  in  deutscher  Sprache  erstklassige  Werke 
dieses  Inhalts:  Caspers  und  Posners  Lehrbücher,  v.  Frischs 
und  Zuckerkandis  Handbuch  der  Urologie. 

Wenn  wir  trotzdem  das  vorliegende  Werk  mit  großer  Freude 
begrüßen  und  der  großen  Arbeit  des  Verfassers  die  aufrich¬ 
tigste  Anerkennung  zollen,  so  liegt  der  Grund  einmal  darin, 
daß  dieses  Lehrbuch  der  Urologie  gewissermaßen  unter  dem  post¬ 
humen  Patronate  Max  Nitz  es  erscheint,  aus  dessen  Feder  wir 
leider  keine  zusamrnenfassende  Darstellung  der  urologischen  Dis¬ 
ziplin  besitzen,  dessen  Schüler  Rothschild  nunmehr  in  diesem 
Werke  die  Anschauungen  Nitz  es  nach  Möglichkeit  wiedergibt. 

Und  die  Art,  wie  der  Verfasser  diese  Aufgabe  löst,  beweist, 
daß  seine  „Lehrjahre  bei  Nitze“  und  die  seit  15  Jahren  ge¬ 
übte  urologische  Tätigkeit  ihn  zu  einem  vortrefflichen  Vertreter 
seines  Faches  gemacht  haben. 

Es  sei  ganz  besonders  hervorgehoben,  daß  nicht  nur  der 
chirurgisch -urologische  Teil  volles  Lob  verdient,  sondern  daß 
auch  die.  Kapitel  aus  den  Grenzgebieten  der  Urologie,  der  inne¬ 
ren  Medizin  (Nephritis  usw.),  der  Neurologie  (Symptomatologie 
der  nervösen  Störungen  der  männlichen  Geschlechtsorgane)  in 
vollendeter  Weise  dargestellt  sind. 

Die  Ausstattung  des  Werkes  ist  tadellos,  namentlich  die 
Abbildungen  ausgezeichnet  gelungen. 

* 

Die  durch  Gonokokken  verursachten  Krankheiten  des 

Mannes. 

Von  Dr.  S.  Baumgarten  in  Budapest. 

384  Seiten  mit  88  Abbildungen  im  Texte. 

Wien  und  Leipzig  1910,  in  Kommission  bei  Alfred  Holder. 

Entsprechend  den  Erfahrungen  eines  alten  Praktikers,  der, 
wie  er  einleitend  bemerkt,  durch  21  Jahre  die  Wandlungen  tier 
Gonorrhoepathologie  und  -therapie  mitgemacht  hat,  wird  in  dem 
vorliegenden  Buche  der  männliche  Harnröhrentripper  ausführ¬ 
lich  und  verständlich  besprochen.  Wenn  wir  uns  auch  nicht 
in  allen  Punkten  mit  den  Auseinandersetzungen  des  Verfassers 
einverstanden  erkären  können,  so  ist  doch  der  Fleiß  und  in 
einigen  Kapiteln  die  kritische  Beurteilung  verschiedener  diagno¬ 
stischer  und  therapeutischer  Methoden  anzuerkennen. 

Als  einen  Mangel  müssen  wir  es  bezeichnen,  daß  Autor 
sehr  wichtige  Arbeiten,  zum  Teil  auch  der  Wiener  Schule,  nicht 
kennt.  Er  beklagt  es  unter  anderem  (S.  270),  daß  die  patholo¬ 
gische  Anatomie  und  Histologie  der  chronischen  Prostatitis  nicht 
genugsam  bekannt  ist,  denn  „nur  in  wenigen  Fällen  chronischer 
Prostatitis  wurden  bisher  pathologisch  -  anatomische  Unter¬ 
suchungen  gemacht“.  Ich  möchte  den  Autor  unter  anderem  auf 
v.  Frischs  ausführliche  und  mit  zahlreichen  Illustrationen  ver¬ 
sehene  Arbeit  im  Handbuch  der  Urologie  verweisen. 

Einen  der  größten  Fortschritte  in  der  Diagnostik  der  ure¬ 
thralen  Erkrankungen,  die  G  olds  c  h  m  i  d  t  sehe  Irrigationsure- 
throskopie  scheint  der  Verfasser  noch  nicht  kennen  gelernt  zu 
haben.  Er  erwähnt  sie  mit  keinem  Worte. 

Auch  die  Operationsindikationen  und  -methoden  der  akuten 
eitrigen  Prostatitis  verdienten  eine  eingehendere  Würdigung. 

V.  Blum 

* 

Die  neueren  Strahlen. 

Von  Priv.-Doz.  H.  Grein  ach  er. 

Stuttgart  1909,  Ferd.  Enke. 

Das  Buch  (Kleinquart,  130  Seiten  mit  06  Textabbildungen) 
behandelt  in  leicht  faßlichen  Einzeldarstellungen  die  Physik  dec 
Radium-,  Kathoden-,  Kanal-,  Anoden-  und  Röntgenstrahlen.  Zum 
Schlüsse  werden  auch  die  gebräuchlichsten  Röntgeninstrumenta¬ 
rien,  Röhren-  und  Hilfsapparate  beschrieben,  vor  allem  die  aus 


243 


den  Veifa- Werken  stammenden,  doch  mehr  anhangsweise. 
Die  physikalischen  Abschnitte  sind  das  Wesentlichste  am  Buche 
und  können  als  sehr  gelungen  gerühmt  werden.  Die  Ausstattung 
ist  vorzüglich, 

* 

Die  Standentwicklung. 

Von  Hans  Schmidt. 

Halle  a.  S.  1910,  W.  Knapp. 

* 

Die  Spiegelreflexkamera. 

Von  Anton  Mayer. 

Halle  a.  S.  1910,  W.  Knapp. 

Die  beiden  Büchlein  stellen  das  69.  und  71.  Heft  der  be¬ 
kannten  Enzyklopädie  der  Photographie  dar.  Das  erstere  schil¬ 
dert  die  verschiedenen  Arten  der  Standentwicklung  ausführlich, 
das  letztere  bespricht  Wesen  und  Konstruktion  der  Spiegelreflex¬ 
kamera  und  gibt  Ratschläge  für  die  Auswahl  und  praktische  Ver¬ 
wendung,  sowie  eine  tabellarische  Uebersicht  und  Liste  der  Pa¬ 
tente  und  Gebrauchsmuster.  Zahlreiche  Textfiguren  sind  ein¬ 
gefügt. 

* 

Elektrizität  und  Licht  in  der  Medizin. 

Jena  1909,  G.  Fischer. 

Das  Buch  (Kleinoktav,  216  Seiten)  ist  herausgegeben  vom 
Zentralkomitee  für  das  ärztliche  Bildungswesen  in  Preußen,  in 
dessen  Aufträge  redigiert  von  Prof.  R.  Kuttner  und  enthält 
acht  Vorträge. 

Nr.  1.  Die  bisherigen  Methoden  der  Elektrotherapie  und 
ihre  praktische  Anwendung.  Von  Prof.  M.  Bernhardt. 

Nr.  2.  Radioaktive  Stoffe,  mit  besonderer  Berücksichtigung 
der  Bedeutung  für  die  Heilkunde.  Von  Prof.  W.  Marckwald. 

Nr.  3.  Das  Licht  als  Heilmittel.  Von  Prof.  E.  Lesser. 

Nr.  4.  Die  Anwendung  hochgespannter  Ströme  und  des 
Elektromagnetismus  in  der  Therapie.  Von  Prof.  H.  Boruttau. 

Nr.  5.  Technik  der  Röntgenologie  in  der  Praxis.  Von  Pro¬ 
fessor  M.  Levy-Dorn. 

Nr.  6.  Ueber  den  gegenwärtigen  Stand  der  Röntgendiagnostik 
bei  inneren  Erkrankungen.  Von  Prof.  E.  Grün  mach. 

Nr.  7.  Das  Röntgenverfahren  in  der  Chirurgie.  Von  Pro¬ 
fessor  H.  Albers- Schönberg. 

Nr.  8.  Elektrochemie  und  ihre  Beziehungen  zur  Medizin. 
Von  Prof.  G.  Bredig. 

Alle  diese  Vorträge  behandeln  große  Gebiete  in  wenigen 
Worten,  sind  also  nur  dazu  bestimmt,  Ae-rzte,  die  sich  damit 
noch  nicht  beschäftigt  haben,  oberflächlich  zu  orientieren  und 
zum  Studium  anzuregen.  Die  Auswahl  von  Vortragenden  mit 
bekannten  Namen  gewährleistet,  daß:  auch  die  allerneuesten  Fort¬ 
schritte  berücksichtigt  werden.  38  Abbildungen  im  Texte  tragen 
zum  Verständnis  schwieriger  Begriffe  und  komplizierter  Apparate 
bei.  Albers- Schönberg  bringt  die  Photographien  eines  Haut¬ 
sarkoms,  vor  und  nach  der  Röntgenbehandlung,  die  Ulzerationen 
heilten  außerordentlich  schnell  ab,  so  daß  Patient  nach  Voll¬ 
endung  der  Kur  als  anscheinend  geheilt  entlassen  werden  konnte. 
An  der  Stelle  der  früheren  Geschwüre  hatten  sich  glatte  weiße 
Narben  gebildet.  Die  wallartigen  Ränder  der  ehemaligen  Ulzera¬ 
tionen  waren  noch  durch  besonders  tiefe  Pigmentierung  gekenn¬ 
zeichnet.  Auch  unterhalb  der  Haut  gelegene  Knoten  waren  voll¬ 
ständig  zum  Schwund  gebracht.  Später  trat,  allerdings  ein  Re¬ 
zidiv  in  Form  eines  kleinen  Knotens  auf,  der  neuerdings  in  Be¬ 
handlung  genommen  werden  mußte. 

*  _  i  : 

Leitfaden  der’  Röntgenphysik. 

Von  Dr.  R.  Fürstenan. 

S  t  u  1 1  g  a  r  t  1910,  F erd.  Enk  e. 

Der  Leitfaden  behandelt  auf  90  Oktavseiten  mit  61  Abbil¬ 
dungen  im  Texte  in  sechs  Vorträgen  die  physikalischen  Grundlagen 
der  Röntgenapparate.  Die  Kapitel  betreffen :  den  elektrischen 
Strom  und  seine  Eigenschaften,  die  Erzeugung  und  Fortleitung 
elektrischer  Ströme,  die  Schalttafel,  die  Indikationserscheinungen, 
die  Stromunterbrechung  und  die  elektrischen  Erscheinungen  im 
Vakuum.  Es  ist  ein  sehr  gutes  Buch  und  verschont  den  ärzt¬ 
lichen  Lesfer  mit  physikalischen  Einzelheiten,  die  er  nicht  vor- 


244 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  7 


stehen  und  nicht  brauchen  kann.  Die  Klischees  sind  zum  großen 
Teile  von  der  Firma  Reiniger,  Geb  her  t  und  Schall  bei¬ 
gestellt.  Die  Ausstattung  ist  sehr  gut. 

* 

Die  Technik  der  Röntgenapparate. 

Von  Dr.  R.  Fürstenau. 

Hannover,  M.  Jänecke. 

Das  Heft  stellt  den  138.  Band  der  ,, Bibliothek  der  gesamten 
Technik1'  dar.  Es  ist  170  Kleinoktavseiten  stark  und  enthält 
84  Abbildungen.  Die  Ausstattung  ist  eine  einfache.  Fon  Für¬ 
stenau  werden  in  übersichtlicher  und  klarer  Weise  die  am 
meisten  gebräuchlichen  Instrumentarien,  Röntgenröhren,  Me߬ 
apparate  und  Hilfsinstrumente  besprochen.  Das  Kapitel  über 
Röntgenröhren  scheint  besonders  gut  gelungen,  auch  die  Er¬ 
zeugung  der  Röhren  wird  geschildert.  Auf  dein  Titelblatt  fehlt 
die  Jahreszahl  des  Erscheinens:  1910.  Das  Heft  kostet  bloß 
3  M.  60  Pf. 

* 

Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Röntgenstrahlen. 

Herausgegeben  von  Prof.  Albers-Schönberg. 

Band  15. 

Hamburg  1910,  L.  Graefe  &  Si Ilern. 

Der  15.  Band  zeichnet  sich  durch  besondere  Reichhaltigkeit 
aus,  er  enthält  386  Seiten  und  35  wertvolle  Bromsilbergelatine- 
tafeln.  Von  den  Originalarbeiten  seien  genannt: 

Otten:  Röntgendiagnose  der  Lungengeschwül¬ 
ste.  Ott en  behandelt  an  der  Hand  eigener  Fälle:  1.  Die  vom 
Lungenhilus  ausgehenden  Karzinome,  2.  die  Oberlappenkarzinome, 
3.  Karzinome  mehrerer  Lappen,  4.  die  Unterlappenkarzinomie, 
5.  diffuse  Bronchialkarzinome,  6.  Lungensarkome,  7.  metastatische 
Lungengeschwülste.  Differentialdiagnostisch  kommen  in  Betracht: 
a)  Erkrankungen  des  Mediastinums:  Drüsengeschwülste,  primäre 
Mediastinaltumonen,  Erkrankungen  der  W  irbelsäule,  Aortenaneu¬ 
rysmen,  Erkrankungen  der  Schilddrüse,  der  Speiseröhre;  b)  Er¬ 
krankungen  der  Lunge  und  Pleura:  Tuberkulose,  kruppöse  Pneu¬ 
monie,  Lungengangrän  und  -abszeß,  Empyem  und  Schwarte.  Der 
Wert  der  Röntgenuntersuchung  ist  hier  ein  außerordentlicher: 
durch  radiologische  Laien  würden  allerdings  zumeist  Fehldia¬ 
gnosen  gestellt  werden. 

Putti:  Angeborene  Deformitäten  der  Wirbel¬ 
säule.  Ausführliche  Arbeit  mit  zahlreichen  Fällen. 

Kienböck:  Radio-ulnare  Synostose.  Ueberblick 
über  die  spärlichen  (33)  Fälle  der  Literatur  und  Beschreibung 
von  drei  neuen  Beobachtungen.  Zweierlei  Formen  dieser  an¬ 
geborenen  Anomalie  der  Ellbogengegend  sind  zu  unterscheiden; 
klinisch  werden  die  Fälle  meist  verkannt. 

Chilaiditti:  Zur  Diagnostik  angeborener  Lun¬ 
genmißbildungen.  Angeborene  Agenesie,  bzw.  Atelektase  der 
linken  Lunge  bei  einem  zehnjährigen  Knaben  mit  Verlagerung 
des  Herzens  nach  links  oben. 

Rieder:  Fall  von  Kombination  von  chronischer 
Osteomyelitis  der  Finger  mit  Lupus  pernio.  Sehr  ähn¬ 
lich  einem  von  Mracek  und  Referenten  vor  Jahren  beschrie¬ 
benen  Falle. 

Kienböck:  U  e  b  e  r  Osteochondritis  an  der  Tube¬ 
rositas  tibiae  bei  13-  bis  15jährigen  Kindern  und  die  soge¬ 
nannte  0  s  g  o  o  d  -  S  c  h  1  a  1 1  er  sehe  Erkrankung.  Anführung  von 
sieben  Fällen,  von  denen  der  eine  sich  als  Tuberkulose  erwiest 

Kienböck:  Ein  Fall  von  Abbruch  der  Tuberosi¬ 
tas  tibiae  samt  Teil  des  Kondylus  bei  einem  15jährigen  Jungen; 
gute  Heilung. 

Kienböck:  Ein  Fall  von  Fragilitas  ossium  uni¬ 
versalis.  Es  handelt  sich  um  einen  sonst  gesunden,  59jährigen 
Mann,  der  —  meist  ohne  bedeutenden  Anlaß  —  vom  15.  Lebens¬ 
jahre  an  eine  Reihe  von  Knochenfrakturen  erlitt,  etwa  eineinhalb 
Dutzend.  Manche  Knochen  brachen  wiederholt,  so  die  Olekranon 
etwa  dreimal,  die  linke  Tibia  zweimal,  der  linke  Humerus  drei¬ 
mal.  Es  waren  vor  allem  die  langen  Röhrenknochen  betroffen, 
die  Wirbelsäule,  die  Klaviken,  die  Rippen  intakt.  Der  Röntgen¬ 
befund  entspricht  einer  allgemeinen  Osteomalazie  eigen¬ 
tümlicher  Art,  ohne  Knochenschmerzen  und  ohne  Verbiegung 
von  Knochen,  einer  Osteopsathyrose.  Die  Kallusbildung  geht  nach 


dem  Röntgenbefund  abnorm  langsam  vor  sich.  Der  Mann  ist 
im  allgemeinen  nicht  deformiert  und  besitzt  kräftige  Muskulatur. 

Schümm  und  Lorey  bringen  einen  Beitrag  zur  Frage 
der  Giftwirkung  von  Bismuth  um  subnitricum  und  an¬ 
deren  in  der  Röntgendiagnostik  angewandten  Wismutpräparaten; 
Methämoglobinämie  in  wechselnder  Stärke  tritt  bei  innerlicher 
Anwendung  hoher  Dosen  von  Bismuthum  subnitricum  keineswegs 
so  selten  auf,  wie  man  bisher  angenommen  hat,  sogar  nach  äußer¬ 
licher  Anwendung  von  Wismutverbindungen  können  Schädigungen 
eintreten;  es  sind  stets  Nitritvergiftungen.  Aber  wir  sind  —  trotz 
der  Behauptu ngen  L e w  ins  —  berechtigt,  Bismuthum  car¬ 
bonic  um  oder  oxy chloratum  für  die  radiologischen  Unter¬ 
suchungen  des  Verdauungstraktes  zu  verwenden;  Schümm  und 
Lorey  halten  die  heute  übliche  Verwendung  dieser  Präparate  für 
vollkommen  u  n  s  c  hä  d  1  i  ch . 

Preiser:  Eine  typische  und  zur  Spontanfraktur 
führende  Ostitis  des  Os  naviculare  carpi.  Er  faßt  die 
bei  einer  Reihe  von  Fällen  im  Röntgenbild  sichtbaren  Frakturen 
des  Schiffbeines  als  Spontanfrakturen  auf,  während  das  Trauma 
zunächst  nur  eine  Ernährungsstörung  des  Knochens1  erzeugt  habe 
und  zwar  durch  Abreißen  einer  Arteria  nutricia.  In  einem  Falle 
sah  er  bereits  zwei  Tage  nach  einem  Sturz  im  Navikulare  einige 
linsengroße  Aufhellungsherde,  die  am  neunten  Tage  sich  zu 
einer  fast  das  ganze  Navikulare  quer  durchsetzenden  bandför¬ 
migen  Aufhellung  vereinigt  hatten,  die  aber  später  schnell  wieder 
verschwand;  hier  hatte  sich  anscheinend  die  Blutversorgung 
wieder  hergestellt.  Allerdings  dürfte  es  sich  manchmal  um  primäre 
Fissuren  gehandelt  haben. 

II  i  r  s  c  h  macht  auf  die  Symptome  der  Frakturd  e  s  K  a  h  n- 
b  e  ins  aufmerksam  und  unterscheidet  zwei  Formen,  die  extra- 
und  die  intrakapsuläre  Fraktur. 

Markovic  bringt  Fälle  von  radiologisch  nachgewiesenen 
Verletzungen  der  Schädelbasis. 

H a en i  s c  h  beschreibt  Fälle  von  Periarthritis  hu m e r o- 
scapularis  mit  Kalkeinlagerung  in  die  Schleimbeutel. 

Peter i  und  Singer  teilen  einen  Fall  von  Myositis 
ossificans  progressiva  bei  einem  vierjährigen  Knaben  mit. 

Holz  k  ne  cht  hat  an  dem  Sabouraud sehen  Radiometer 
eine  wichtige  Verbesserung  angebracht;  während  man  bisher  nur 
eine  Dose  ablesen  konnte :  die  Maximaldose  entsprechend  einer 
starken  Braunfärbung  des  Reagens,  sind  nunmehr  Zwischenstufen 
entsprechend  geringeren  Lichtmengen  konstruiert. 

* 

Lexikon  der  Grenzen  des  Normalen  und  der  Anfänge 
des  Pathologischen  im  Röntgenbilde. 

Von  Dr.  Alban  Köhler. 

Hamburg  1910,  L.  Graefe  &  Sillem. 

Das  Buch  hat  die  Absicht,  uns,  wenn  wir  vor  Röntgen¬ 
befunden  stehen,  von  denen  wir  wegen  gewisser  Details  nicht 
wissen,  ob  sie  normal  oder  pathologisch  seien,  an  die  Hand  zu 
gehen.  In  dieser  unangenehmen  Lage  befinden  wir  uns  nämlich 
oft.  Dem  Wiesbadener  Forscher  ist  die  Erfüllung  seiner  Auf¬ 
gabe  ausgezeichnet  gelungen.  Namentlich  mit  Knochenbildem 
beschäftigt  er  sich  und  geht  das  ganze  Skelett  gewissenhaft  durch. 
Man  kann  sagen,  ihm  sei  nichts  entgangen.  Wo  er  spezielle  Ar¬ 
beiten  aus  der  Literatur  kennt,  die  sich  ausführlich  mit  einem 
Punkte  befassen,  weist  Köhler  in  der  Anmerkung  darauf  hin. 
Er  hat  die  Literatur  bis  auf  die  allerletzten  Monate  berücksichtigt. 
Zum  Schlüsse  wird  —  wenn  auch  kürzer  —  noch  der  Thorax 
und  das  Abdomen  behandelt.  Wo  Zeichnungen  nötig  sind,  da 
finden  wir  solche,  73  an  Zahl.  Da  Köhler  die  typischen  pa¬ 
thologischen  Veränderungen,  die  durch  ihren  geringen  Grad  der 
Deutung  Schwierigkeiten  bereiten,  diagnostisch  erörtert,  so  stellt 
das  Buch  eigentlich  eine  radiologische  Diagnostik  vor. 
Das  Werk  ist  so  gut  gelungen,  daß  es  in  kurzer  Zeit  die  aller¬ 
größte  Verbreitung  finden  wird. 

* 

Verhandlungen  der  Deutschen  Röntgengesellschaft. 

Band  6. 

Hamburg  1910,  L.  Graefe  &  Sillem. 

Der  Band  enthält  das  Verzeichnis  der  Mitglieder  und  dann 
der  Teilnehmer  am  Kongreß,  ferner  die  Satzungen  der  Gesell¬ 
schaft,  den  Bericht  über  die  Eröffnungs-  und  Geschäftssitzungen, 


Nr.  7 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1011 


245 


die  Wissenschaftlichen  Sitzungen  und  den  Katalog  der  Bibliothek 

der  Gesellschaft. 

Unter  den  52  Vorträgen  seien  genannt: 

Schmidt:  Fälle  von  Sarkom,  mit  Röntgenstrahlen  günstig 

behandelt. 

Albers-Schönberg:  Die  Röntgentherapie  in  der  Gynä¬ 
kologie.  Referat. 

Gauß:  Ueber  Tiefenbestrahlungen  in  der  Geburtshilfe  und 

Gynäkologie. 

Reifferscheid:  Histologische  Studien  über  die  Beein¬ 
flussung  menschlicher  und  tierischer  Ovarien  durch  Röntgen¬ 
strahlen. 

Schwarz:  Die  praktische  Durchführung  der  Desensibili¬ 
sierung. 

Levy -Dorn:  Zur  Frage  der  Idiosynkrasie  gegen  Röntgen¬ 
strab  len. 

Walter:  Ueber  den  Schutz  des  Untersuchers  gegen  sekun¬ 
däre  Röntgenstrahlen. 

PI  age  mann:  Wiederholte  Röntgenaufnahmen  des  Beckens 
bei  Kindern  mit  Hüftluxation  beeinträchtigen  nicht  das  Wachstum. 

Dohan  und  Selka:  Zur  Röntgentherapie  des  chronischen 
Gelenksrheumatismus. 

Olbert  und  Holzknecht:  Oesophagusatonie,  Pseudoöso¬ 
phagismus. 

Loose:  Moment-,  Schnell-  und  Zeitaufnahmen  vom  Stand¬ 
punkte  des  Praktikers. 

Kienböck  und  Eisler:  Verlagerung  der  Brusteingeweide 
bei  Kniehang  (mit  herabhängendem  Kopfe). 

Kienböck:  Ueber  die  Atmung  im  B  rau  e  r- Drä  g  e  r  schon 
Ueberdruckapparat  für  Lungen  Operationen. 

Holzknecht:  Ueber  Regulierung  der  Röhre  während  dos 
Betriebes. 

Gocht:  Ueber  präzise  Röntgenaufnahmen  von  korrespon¬ 
dierenden  Körperteilen  mit  einer  Belichtung. 

Robin  so  hn:  Präzisionseinstellung. 

Lorey:  Röntgendiagnose  der  Rachitis. 

Alexander:  Ueber  Lungentuberkulose. 

Haudek:  Ueber  Ulzerationen  am  der  Pars  media  ries 
Magens. 

Am  Ende  befindet  sich  die  Schlußrede  des  Vorsitzenden 
der  Gesellschaft  (H  o  1  z  k  n  e  c  h  t),  worin  mit  Recht  auf  die  große 
Zahl  wertvoller  Vorträge  und  Demonstrationen  und  auf  die  be¬ 
deutende  Zahl  der  Mitglieder  und  Teilnehmer  (490)  hingewiesen 

wird. 

* 

Archiv  für  physikalische  Medizin  und  medizinische 

Technik. 

Herausgegeben  von  Prof.  Kraft  und  Dr.  Wiesuer. 

Leipzig,  OttoNemnich. 

Der  fünfte  Band  1909  bis  1910  enthält  die  folgenden  Ori¬ 
ginalarbeiten  : 

Leduc:  Der  elektrische  Schlaf.  Led  uc  bespricht  die 
Technik  desselben,  die  Erscheinungen  am  Tier,  die  Wiederbele¬ 
bung,  die  Versuche  am  Menschen. 

F ranze:  Ueber  Herstellung  der  Kohlensäurebäder. 

Dessauer:  Zwei  neue  Röntgenapparatsysteme.  1.  Ein 
neuer  Funkeninduktor  und  Quecksilberunterbrecher  ohne  Gegen¬ 
strom  im  sekundären  Stromkreis,  wodurch  die  Leistungen  der 
sogenannten  Idealapparate  erreicht  werden  sollen.  2.  Blitzapparat 
mit  Aufnahmen  in  ca.  Vioo  -  Sekunde. 

Kienböck:  Die  Bursa  subacromialis  und  snbdeltoidea  und 
ihre  Erkrankungen  im  Röntgenbilde.  Es  sind  die  Kalkablage¬ 
rungen  in  den  Schleimbeuteln  sichtbar  und  somit  ist  die  Er¬ 
krankung,  auch  Periarthritis  humero - scapularis  (Duplay)  ge¬ 
nannt,  oft  mit  Sicherheit  zu  diagnostizieren.  Es  wird  ein  Dutzend 
von  Fällen  beschrieben  und  mit  einer  Bildertafel  illustriert. 

Geigel:  Elektron,  Anschauungen  über  das. 

Kraft:  Ueber  das  Wesen  der  Stoff  Wirkungen.  Quantitative 
Unterschiede. 

Dessauer:  Erdschlußfreiheit  und  reine  Galvanisation  beim 
Universalapparat. 

Wies  n er:  Kasuistische  Beiträge  zur  Röntgentherapie  tiefer 
gelegener  Krankheitsprozesse. 


Steffens:  Witterungswechsel  und  Rheumatismus.  Zugleich 
ein  Beitrag  zur  Erklärung  der  Wirkung  radioaktiver  Bäder: 

Herz:  Vom  Herzen  das  zu  wenig  Platz  hat. 

Rosen thal:  Angaben,  durch  welche  Technik  man  Schärfe, 
und  Kontrast  in  Röntgenbildern  erreicht. 

Erfurth:  Elektromat,  ein  verbessertes  Vierzellenbad. 

Wette  rer:  Die  Röntgenbehandlung  der  tiefliegenden  Tu¬ 
moren.  Ausführliches  Referat  mit  besonderer  Betonung  der  Wich¬ 
tigkeit  postoperativer  Bestrahlungen. 

Gara:  Ueber  Diathermie  bei  Gelenkserkrankungen. 

* 

Zentralblatt  für  Röntgenstrahlen,  Radium  und  ver¬ 
wandte  Gebiete. 

llerausgegeben  von  A.  E.  Stein,  Pli.  Bockenlieimer  und  G.  v.  Berg¬ 
mann. 

Wiesbaden,  J.  F.  Bergmann. 

Die  bisherigen  deutschen  Zeitschriften  für  Radiologie,  vor 
allem  die  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Röntgenstrahlen,  das 
Archiv  für  physikalische  Medizin  und  medizinische  Technik, 
die  Zeitschrift  für  Elektrologie  und  Röntgenkunde,  bringen  aus¬ 
führliche  und  reichhaltige  Besprechungen  der  erscheinenden  Lite¬ 
ratur,  doch  nur  in  zweiter  Linie.  Das  neue  Zentralblatt  hat  um¬ 
gekehrt  den  Hauptzweck  der  möglichst  vollständigen  Referier ung 
der  internationalen  Fachliteratur  und  nimmt  nur  nebenbei  kurze 
Originalarbeiten  auf.  Die  Ausstattung  ist  sehr  gut  und  der  erste, 
zwölf  Hefte  umfassende  Band  ist  auch  mit  zwölf  zu  den  Ori- 
ginalarbeiten  gehörigen  Tafeln,  zumeist  Autotypietafeln,  ge¬ 
schmückt.  Der  Preis  des  Bandes  beträgt  15  M.  Das  Hauptgebiet 
ist  die  radiologische  Diagnostik  und  Therapie,  es  werden  aber 
auch  besprochen  die  Radiumtherapie,  Fulguration,  Finsentherapie, 
Uviolbehandlung  und  Arsonvalisation.  Außer  den  medizinischen 
werden  auch  die  wichtigsten  physikalischen,  chemischen  und 
technischen  Arbeiten  besprochen.  Die  Zahl  der  Referenten  ist 
eine  große,  die  österreichische  Literatur  ist  Herrn  Dr.  F.  Eisler 
anvertraut. 

Unter  den  Originalarbeiten  seien  genannt : 

Bardenheuer  und  Graeßiner:  Ueber  die  Bedeutung  der 
Röntgenstrahlen  für  die  Frakturbehandlung.  Es  wird  auf  die 
Arbeiten  Grasheys  hingewiesen  und  die  Wichtigkeit  der  Er¬ 
kennung  von  Spontanfrakturen  betont;  die  Untersuchungstechnik 
wird  ausführlich  erörtert. 

Kienböck:  Ueber  traumatische  Epiphysenlösung  und 
Wachstumshemmung.  Es  handelt  sich  um  den  Folgezustand  nach 
einer  im  sechsten  Lebensjahre  erlittenen  traumatischen  Ablösung 
bei  einem  14jährigen  Knaben.  Der  Patient  verschwieg  zunächst 
den  im  sechsten  Jahre  vorgekommenen  Unfall  und  erzählte  nur 
von  einem  vor  drei  Monaten  erlittenen  Sturz  und  so  wurde  der 
Röntgenbefund  zuerst  irrtümlich  als  Einkeilungsfraktur  an  der 
Epiphysengrenze  aufgefaßt.  Derartige  Irrtümer  in  der  Begutach¬ 
tung  von  Unfällen  können  leicht  passieren. 

Reich  mann:  Ueber  Hypophysentumoren  im  Röntgenbilde. 
Die  Sella  turcica  fand  sich  auf  der  Platte  erweitert,  ihre  Wan¬ 
dungen  zum  Teil  destruiert.  Die  Operation  bestätigte  die  Dia¬ 
gnose  einer  Neubildung. 

Rieder:  Kavernen  bei  Anfangstuberkulose  der  Lungen. 
Solche  zeigen  sich  nicht  selten  auf  den  Bildern  und  die  Ansicht, 
daß  Kavernen  stets  ein  Attribut  vorgeschrittener  Tuberkulose 
seien,  kann  nicht  mehr  aufrecht  erhalten  werden. 

Reiter:  Einfluß  der  Radiumemanation  auf  die  Phago¬ 
zytose.  Es  findet  in  vitro  meist  eine  Anregung  statt,  i 

Daran  schließen  sich  technische  Mitteilungen  von  Holz¬ 
knecht:  Eine  neue  Skala,  zum  S  a  b  o  u  rau  d  sehen  Radiometer 
und  ein  Distanzmesser  für  den  Hautabstand  von  Röntgenröhren. 

zur  Verth:  Knochenveränderungen  hei  Lues  hereditaria. 
Typische  Fälle  mit  guten  Abbildungen  von  Röntgenbildern. 

Ludewig:  Abhängigkeit  der  Unterbrechungszahl  des  Weh¬ 
neltunterbrechers  von  dem  Härtegrad  der  Röntgenröhre.  Je  weicher 
diese,  desto  schneller  die  Unterbrechungen,  ceteris  paribus. 

Kl  in  gel  fuß.  erstattet  einen  Bericht  über  Vergleichsmessun¬ 
gen  der  Sabouraud  sehen  Reaktionsdose  mit  „absoluten"  elek¬ 
trischen  Einheiten.  Kienböck. 


246 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  7 


Aus  v/ersehiedenen  Zeitschriften. 

157.  Die  J 1  h  e  nop  h  thal  inpr  o  b  e  als  Reagens  auf 
okkulte  Blutungen  des  Magendarmkanals.  Von  Pro¬ 
fessor  Dr.  J.  Boas  in  Berlin.  Auf  Grund  ausgedehnter  Erfah¬ 
rung  wird  die  Phenophthalinprobe  als  ein  Reagens  empfohlen, 
das  sich  als  wertvolle  Ergänzung  der  Woberschen  Probe  außer¬ 
ordentlich  bewährt  hat.  Das  Reagens,  das  eigentlich  1903  schon 
von  Erich  Meyer  angegeben  wurde,  hat  folgende  Zu- 
sammiensetzung :  l  g  1  belnophthalin  unjd  25  g  Kal.  hydr.  fus. 
werden  in  100  g  V  asser  gelöst  und  10  g  Zinkpulver  hinzugegeben. 
Die  anfänglich  rote  Mischung  wird  unter  beständigem  Umrühren 
oder  Schütteln  so  lange  bei  kleiner  Flamme  gekocht,  bis  voll¬ 
ständige  Entfärbung  eingetreten  ist.  Dann  wird  heiß  filtriert. 
Zum  Zwecke  der'  besseren  Haltbarkeit  tut  man  gut,  der  Lösung 
etwas  überschüssiges  Zinkpulver  hinzuzusetzen.  Die  Probe  wird 
nun  so  an  gestellt,  daß  man  den  festen  Kot  mit  Wasser  bis  zur 
Dünnflüssigkeit  verreibt,  etwas  Eisessig  zufügt,  verrührt,  Aether 
hinzufügt,  langsam  im  Reagenzglas  hin-  und  herbewegt,  den 
Aether  in  ein  reines  Reagenzglas  abgießt,  zum  Aether  20  Tropfen 
des  obigen  Phenophthalinreagens  zugibt,  leicht  schüttelt  und 
schließlich  drei  bis  vier  1  ropfen  Wasserstoffsuperoxyd  zu¬ 
setzt.  Bei  Anwesenheit  von  Blutfarbstoff  wird  hiebei  das  Pheno- 
phthalin  zu  Phenophthalein  oxydiert  und,  da  es  sich  in  alkali¬ 
scher  Lösung  befindet,  je  nach  dem  stärkeren  oder  schwäche¬ 
ren  Blutgehalt  mehr  oder  weniger  rosa  bis  intensiv  rosarot 
gefärbt.  Bei  starkem  Blutgehalt  bleibt  die  Rotfärbung  längere 
Zeit  bestehen,  bei  schwächerem  blaßt  sie  bereits  nach  einigen 
Minuten  ab.  Da  das  ‘Reagens  sich  bei  der  Berührung  mit  dem 
Sauerstoff  der  Luft  leicht  oxydiert,  so  ist  es  zweckmäßig,  bevor 
man  es  zu  dem  Aetherextrakt  zufügt,  einige  Tropfen  ablaufen 
zu  lassen.  Bei  hohem  Blutgehalt.  der  Fäzes  ist  der  Zusatz  von 
H202  überflüssig.  Der  Hauptvorzug  des  Phenophthalinreagens 
liegt  in  der  Haltbarkeit  der  im  übrigen  wohlbekannten  und 
leicht  herstellbaren  Substanz,  sowie  in  der  sehr  distinkten  Fär¬ 
bung  des  Reagens  und  die  Möglichkeit,  schwache  und  starke 
Blutanwesenheit  leicht  zu  unterscheiden.  Zur  ersten  vorläufigen 
Orientierung  über  Blutan-  und  -abwesenheit  ist  neben  dem  Phe¬ 
nophthalinreagens  die  Weber  sehe  Guajakprobe,  gerade  wegen 
ihrer  nicht  übergroßen  Empfindlichkeit,  von  entschiedenem 
Nutzen.  —  (Deutsche  medizin.  Wochenschrift  1911,  Nr.  2.)  E.  F. 

* 

158.  Zur  Frage,  der  Ausbildung  von  Desinfek¬ 

toren.  Von  Jr.  B.  Vacek,  k.  k.  Bezirksarzt  in  GroßrMeseritsch 
(Mähren).  Da  kaum  abzusehen  ist,  daß  der  Staat  für  die  Er¬ 
richtung  von  Desinfektorenschulen  aufkommen  wird,  so  gibt  Ver¬ 
fasser  folgende  Anregung :  Es  liegt  im  eigenen  Interesse  der 
sanitären  Betätigung  der  Vereine  vom  Roten  Kreuze  in  Friedens¬ 
zeiten  und  im  Kriegsfälle,  nicht  nur  über  Wartepersonen  für  die 
Krankenpflege,  sondern  auch  über  desinfektionskundiges  Warte¬ 
personal  zu  verfügen.  Die  Krankenpflegevereine  vom  Roten 
Kreuze  mögen  also  ihre  Tätigkeit  durch  Gründung  von  Desinfek¬ 
torenschulen  erweitern,  wie  solche  im  Auslande  bereits  erprobt 
sind.  Diese  Schulen  wären  an  die  anderen  Schulen  des  .Roten 
Kreuzes  anzuschließen.  Hiedurch  wäre  am  ehesten  für  desinfek¬ 
tionskundiges  Personal  vorgesorgt.  Eine  baldige  Aktivierung  dieser 
Schulen  wäre  bei  der  guten  Organisation  der  Gesellschaft  vom 
Roten  Kreuze  im  ganzen  Reiche  wohl  möglich,  zumal  die  nötigen 
Mittel  zur  Verfügung  wären.  —  (Der  Amtsarzt,  Zeitschrift  für 
öffentliches  Gesundheitswesen,  2.  Jahrg.,  Nr.  5.)  K.  S. 

* 

159.  (Aus  dem  physiologisch -chemischen  Institut  und  der 
Frauenklinik  der  Universität  Straßburg  i.  E.)  Wirksame  Sub¬ 
stanzen  im  Uterus. und  Ovarium.  Von  Prfvatdozent  Doktor 
G.  Schick  eie.  Um  die  spezifischen  Beziehungen  von  Uterus 
und  Ovarium  zur  Blutgerinnung  festzustellen,  verwendete  Ver¬ 
fasser  zu  seinen  Untersuchungen  Preßsäfte,  welche  nach  Zer¬ 
kleinern  der  Organe,  durch  Auspressen  derselben  unter  hohem 
Druck  gewonnen  wurden.  Nach  den  Arbeiten  von  Conradi 
haben  Preßsäfte  von  Organen  gerinnungsbeschleunigende  Wir¬ 
kung.  Im  ersten  Versuche  wurden  je  2  cm3  Plasma  (von  der 
Gans),  physiologische  Kochsalzlösung  und  Uteruspreßsaft  ver¬ 
mischt.  Nach  sechsmal  24  Stunden  war  noch  keine  Gerinnung 


I  eingetreten,  während  im  Kon  troll  versuch  die  Gerinnung  nach 
einer  Minute  erfolgt  war.  Weitere  Versuche  bestätigten,  daß  der 
Uteruspreßsaft  eine  deutliche  gerinnungshemmende  Wirkung  be¬ 
sitzt.  Zur  Kontrolle  wurden  nun  Preßsäfte  anderer  Organe  (Ge¬ 
hirn,  Leber,  Nieren,  Muskel,  Plazenta,  Ovarien)  untersucht.  Nur 
der  Preßsaft  von  Ovarien  hob  die  Blutgerinnung  auf.  Später 
arbeitete  Verf.  mit  Plasma  und  Pferdeblutserum  als  Kontrolle  und 
fügte  dieser  Mischung  die  jeweilige  Menge  von  Uterus-  und 
Ovariumpreßsait  hinzu,  ln  übereinstimmender  Weise  zeigten 
zahlreiche  Versuche,  daß  die  untersuchten  Preßsäfte  auf  Stunden 
oder  Tage  hinaus  die  Gerinnung  hemmen.  Dies  gilt  besonders 
für  jene  Uteri,  die  wegen  Myomblutungen  oder  sogenannten  un¬ 
stillbaren  Blutungen  bei  normalem  anatomischen  Befund  exstir- 
piert  worden  sind.  Um  nun  zu  sehen,  ob  diese  gerinnungs¬ 
hemmende  Wirkung  für  diese  Organe  spezifisch  ist,  wurden  mit 
Preßsäften  von  Schilddrüse,  Thymus,  Nebenniere  und  Hoden 
Versuche  angestellt,  genau  wie  mit  Uterus  und  Ovarien.  Es 
trat  nur  eine  Verzögerung  der  Gerinnung  um  Minuten  oder  wenige 
Stunden  ein,  besonders  bei  Thymus  und  Schilddrüse.  Ein  Ver¬ 
gleich  mit  Uterus  und  Ovarium  ist  aber  nicht  möglich.  Die 
Wirkung  des  Ovariums  ist  überhaupt  stärker  als  jene  des  Uterus; 
besonders  intensiv  ist  die  Wirkung  des  Corpus  luteum  -  Pre-ß- 
saftes.  Merkwürdigerweise  hat  jedoch  die  Follikelflüssigkeit  keine 
hemmende  Wirkung.  Auch  der  Inhalt  von  Follikelzysten  mensch¬ 
licher  Ovarien  verhielt  sich  in  derselben  Weise.  Diese  intensive 
gerinnungshemmende  Eigenschaft  ist  auf  Ovarium,  Corpus  lu¬ 
teum,  Tube  und  Uterus  beschränkt  und  findet  sich  nicht  im 
Körperblute.  Nun  untersuchte  Verf.,  ob  diese  Organe  eine  be¬ 
sondere  Wirkung  auf  den  Blutdruck  ausüben.  Injiziert  man  einem 
Hunde  oder  Kaninchen  einige  Kubikzentimeter  von  Uterus-  oder 
Ovariumpreßsait,  so  tritt  eine  geringe  Blutdrucksenkung  ein.  Später 
arbeitete  Verf.  mit  konzentrierten  Preßsäften;  1  cm3  genügte  schon, 
um  eine  minutenlang  dauernde  Blutdrucksenkung  hervorzurufen. 
In  manchen  Versuchen  zeigte  sich,  daß  diese  blutdruckerniedri¬ 
gende  Substanz  gleichzeitig  eine  starke  toxische  Wirkung  ent¬ 
falten  kann;  manchmal  trat  schon  durch  3  cm3  von  Uterus-  und 
Ovariumpreßsait  nach  wenigen  Minuten  der  Tod  ein.  Die  intra¬ 
venöse  Injektion  dieser  Substanzen  beeinflußt  nur  in  großen 
Dosen  Puls  und  Atmung.  Zur  Konstatierung  der  spezifischen 
Wirkung  der  genannten  Substanzen  wurden  die  Extrakte  anderer 
Drüsen  mit  innerer  Sekretion  intravenös  injiziert.  Nebenniere 
erhöht  bekanntlich  den  Blutdruck,  ist  aber  stets  von  einer  Blut¬ 
drucksenkung  gefolgt.  Schilddrüse,  Thymus1  und  Hoden  bewirken 
nur  eine  geringe  Blutdruckerniedrigung.  In  weiteren  Versuchen 
zeigte  sich  eine  gewisse  antagonistische  Wirkung  von  Uterus, 
Ovarium,  Corpus  luteum  einerseits  und  Nebenniere  anderseits; 
ferner  eine  kumulierende  für  Thymus,  Schilddrüse  einerseits, 
Uterus,  Ovarium,  Corpus  luteum  anderseits.  Aus  den  weiteren 
Beobachtungen  ergab  sich,  daß  die  Blutdrucksenkung  als1  Folge 
einer  peripheren  Gefäßerweiterung  aufgefaßt  werden  kann.  Die 
charakteristische  Wirkung  der  von  Ovarium,  Corpus  luteum  und 
Uterus  gewonnenen  Preßsäfte  und  Extrakte  besteht  also  nach 
den  Versuchen  des  Verfassers:  1.  in  einer  Blutgerinnungshem¬ 
mung  in  vitro;  2.  bei  intravenöser  Injektion  in  einer  intensiven 
Blutdrucksenkung  infolge  Gefäßerweiterung,  oft  mit  deutlicher 
Verzögerung  der  Gerinnbarkeit  des  Körperblutes;  3.  in  dem  Auf¬ 
treten  von  Zuckungen  und  zuweilen  starken  Krämpfen  mit  teil¬ 
weiser  Benommenheit;  bei  intensiver  Wirkung  tritt  eine  Ver¬ 
langsamung  der  Atmung  und  des  Pulseis  ein,  der  manchmal 
schon  nach  geringen  Dosen  in  kurzer  Zeit  der  Tod  folgen  kann; 
4.  viele  Tiere  haben  außer  den  erwähnten  Zuckungen  auch 
Kontraktionen  des  Darmes,  Kot-  und  Harnentleerung.  Diese  Ver¬ 
suche  könnten  nach  Verf.  auf  manche  unaufgeklärte  physiolo¬ 
gische  und  pathologische  Zustände  ein  neues  Licht  werfen:  auf 
den  Vorgang  der  Menstruation  (verzögerte  Gerinnung  des  Men- 
strualblutes ;  Blutdruckveränderung  während  der  Menstruation); 
auf  Ausfallserscheinungen  nach  Kastration,  auf  Uterusblutungen 
ohne  anatomische  Grundlage  und  andere  Vorgänge.  —  (Mün¬ 
chener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  3.)  G. 

* 

1G0.  Zur  Kasuistik  plötzlicher  Todesfälle  bei 
Kindern.  Von  Dr.  Rudolf  Jahn,  städtischer  Oberbezirksarzt 
in  Wien.  Die  neunjährige  Tochter  eines  Kaufmannes,  sonst  immer 


Nr.  7 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


247 


gesund,  erkrankt  eines  Tages  auf  der  Straße  plötzlich  mit  Un¬ 
wohlsein  und  Kopfschmerz,  erbricht  dann  und  wird  bewußtlos. 
Ein  Arzt  konstatiert  rechtseitige  Körperlähmung.  Das  Kind  er¬ 
wacht  nicht  mehr  aus  dem  soporösen  Zustand,  sondern  stirbt  am 
zweiten  Tage.  Die  Obduktion  ergibt:  Gehirnblutung  infolge  einer 
Geschwulst  (Haemorrhag.  cerebr.  ex  gliom.  haemisph.  sin.).  Bei 
Bag  in  sky  findet  sich  ein  ähnlicher  Fall.  Bei  plötzlichen  Todes¬ 
fällen  der  Kinder  mit  halbseitigen  Lähmungserscheinungcn  wird 
man  also  immer  an  Hirntumoren  denken  müssen,  auch  wenn 
keine  anderen  Krankheitserscheinungen  vorausgegangen  sind. 
(Der  Amtsarzt,  Zeitschrift  für  öffentliches  Gesundheitswesen 
1910,  2.  Jahrg.,  Nr.  6.)  K.  S. 

★ 

161.  (Aus  dem  Kaiserlichen  Gesundheitsamte  in  Berlin.) 

Syphilitische  Allgemeinerkrankungen  bei  Kanin¬ 
chen.  Von  Prof.  Dr.  Uhlenhuth  und  Dr.  Mulzer.  Zahlreiche 
neuere  Tierversuche  haben  zu  dem  Ergebnis  geführt,  daß  man 
bei  Kaninchen  in  einwandfreier  Weise  experimentell  eine  Gene¬ 
ralisierung  des  syphilitischen  Virus  erzeugen  könne.  Besonders 
junge  Kaninchen  scheinen  zu  derartigen  Versuchen  geeignet,  die 
mit  virulentem  Material  nach  der  von  den  Verfassern  angegebenen 
und  empfohlenen  intrakardialen  Methode  injiziert  (mittels  einer 
feinen  Kanüle  wird  das  Herz  punktiert  und  langsam  1cm3  ,, Hoden¬ 
emulsion“  injiziert),  häufig  allgemein  syphilitisch  erkranken.  Das 
Krankheitsbild  ist  hiebei  äußerst  charakteristisch,  insbesondere 
das  Auftreten  von  eigenartigen  N  ä s  e n-  und  S  c  h  w  a  n  z  t  u  rn  o  r  e  n, 
die  histologisch  menschlichen  Gummiknoten  gleichen.  Auch  in 
den  übrigen  Krankheitserscheinungen  gleicht  diese  Allgemein¬ 
syphilis  der  jungen  Kaninchen  der  menschlichen  Lues,  insbe¬ 
sondere  der  Lues  hereditaria,  für  die  ja  ebenfalls,  wie  bei  diesen 
Kaninchen,  starke  Abmagerung,  sowie  das  Auftreten  von  Paro¬ 
nychien,  Koryza  und  papulo  -  ulzerösen  Syphiliden  charakteri¬ 
stisch  ist.  In  allen  diesen  Krankheitsprodukten  konnten  die  Er¬ 
reger  der  Syphilis  nachgewiesen  werden.  Ferner  ist  es  den 
Verfassern  gelungen,  lebende  Spirochaete  pallidae  bei  experi¬ 
menteller  Syphilis  im  kreisenden  Blute  nachzuweisen,  es 
scheint  aber,  als  ob  sie  hier  nur  zu  gewissen  Zeiten  aufgefunden 
werden  können.  Alle  diese  Befunde  bedeuten  einen  großen  Fort¬ 
schritt  der  experimentellen  Syphilisforschung,  da  man  erst  jetzt 
die  am  Tierexperiment  gewonnenen  Ergebnisse  viel  eher  auf 
die  menschliche  Syphilis  übertragen  wird  können.  Ferner  soll 
durch  Fortimpfung  im  Kaninchen,  besonders  in  der  Blutbahn, 
die  Virulenz  der  Spirochäten  maximal  gesteigert  werden.  Viel¬ 
leicht  gelingt  eis,  die  Spirochaete  pallida  noch  mehr  als  bisher 
zu  einem  Blutparasiten  zu  machen  und  septikämisch  -  syphili¬ 
tische  Krankheitsprozesse  zu  erzeugen.  —  (Deutsche  medizinische 
Wochenschrift  1910,  Nr.  2.)  E.  F. 

* 

162.  Ueber  Injektionsnarkose  mit  Pantopon- 

Skopolamin.  Von  Prof.  M.  v.  Brunn.  Bei  den  einfachen 
Skopolamin-Pantoponinjektionen  war  für  eine  hinreichende  An¬ 
ästhesie  in  der  Regel  noch  eine  Beigabe  von  Inhalationsnarkotikum 
notwendig.  Wurde  jedoch  die  Verkleinerung  des  Kreislaufes  den 
gleichen  Dosen  hinzugefugt,  so  schliefen  die  Patienten  zunächst 
erheblich  rascher  ein  und  blieben  dann  häufig  für  die  ganze  Dauer 
selbst  sehr  eingreifender  und  langdauernder  Operationen  in  einem 
derartigen  Schlafzustand,  daß  trotz  erhaltener  Reflexe,  trotz  der 
Möglichkeit,  die  Patienten  jederzeit  zu  erwecken,  die  Operation 
schmerzlos  ausgeführt  werden  konnte.  Manchmal  mußte  aller¬ 
dings1  auch  etwas  Aether  gegeben  werden.  Die  Patienten  erhalten 
von  1-1  cm3  Lösung  von  0-05  Pantopon  und  0-001  Skopolamin 
nach  vorheriger  Stauung  der  Beine,  eventuell  noch  eines  Armes, 
eine  halbe  bis  drei  Viertelstunden  vor  der  Operation  eine  einmalige 
Injektion  von  sechs  bis  acht  Teilstrichen  der  Pravazspritze,  also 
0-06  bis  0-04  Pantopon  und  0-0006  bis  0-0008  Skopolamin.  Tn 
den  125  Fällen  konnten  bisher  schädliche  Neben-  oder  Nach¬ 
wirkungen  nicht,  beobachtet  werden.  —  (Zentralblatt  für  Chirurgie 
1911,  Nr.  3.)  E.  V. 

* 

163.  Fort  schritt©  der  Tub  erk  ul  i  nb  ehan  dlung.  Von 
A.  Moeller.  Nach  einer  allgemeinen  ITebersicht,  über  die  spe¬ 
zifischen  Behandlungsmethoden  der  Tuberkulose  gehl  Moeller 
näher  auf  die  Tuberkulinbehandlung  ein.  Die  Resultate,  welche 


mit  der  letzteren  zu  erzielen  sind,  dürften  von  keiner  anderen  Be¬ 
handlungsmethode  erreicht  werden.  Die  Tuberkulosebekämpfung 
würde  ganz  andere  Erfolge  zu  verzeichnen  haben,  wenn  die 
praktischen  Aerzte  die  Tuberkulinbehandlung  beherrschen  und 
anwenden  würden.  Die  Wirksamkeit  der  Koch  schon  Methode 
steht  gegenwärtig  über  jeden  Zweifel  fest.  Die  Mehrzahl  der  Tuber¬ 
kulingegner  urteilt,  ohne  eigene  Versuche  mit  dem  Mittel  ange¬ 
stellt  zu  haben.  Das  Beweismaterial,  welches  sie  gegen  die  Tuber¬ 
kulinbehandlung  erbringen,  ist  meist  ein  recht  geringes,  seitdem 
die  Virchow  sehe  Lehre  von  der  angeblichen  „Mobilisierung 
der  Tuberkelbazillen  im  Körper  des  mit  Tuberkulin  behandelten 
Kranken“  keine  Anhänger  mehr  hat.  Moeller  hat  niemals  eine 
schädliche  Nachwirkung  oder  einen  Nachteil  für  die  Gesundheit 
hei  den  Tuberkulininjektionen  beobachten  können.  Er  hält  auf 
Grund  seiner  Erfahrungen  —  mehr  als  50.000  Tuberkulin¬ 
injektionen  —  das  Tuberkulin  für  ein  außerordentlich  wertvolles 
Mittel,  welches  mit  dem  hygienisch- diätetisch  -  hydriatischen 
Heilverfahren  kombiniert,  die  besten  Resultate  erzielen  läßt.  Aber 
gerade  der  Umstand,  daß  das  Tuberkulin  auch  bei  Kranken 
mit  Vorteil  angewendet  werden  kann,  welche  sich  dem  hygienisch¬ 
diätetisch- hydriatischen  Verfahren  aus  irgendeinem  Grunde  nicht 
unterziehen  können  oder  hei  diesem  Verfahren  nicht  den  ge¬ 
wünschten  Erfolg  erzielt  haben,  stempelt  das  Tuberkulin  zu  einem 
hervorragenden  Mittel  in  der  Tuberkulosebekämpfung.  Die  früh¬ 
zeitige  Erkennung  der  Tuberkulose  mittels  der  diagnostischen 
Impfungen  und  ihre  frühzeitige  Behandlung  liegt  im  vitalen  Inter¬ 
esse  des  Patienten.  Du  hei  vielen  derselben  eine  außerordentliche 
Abneigung  gegen  das  „Impfen“  besteht,  so  hat  Moeller  den 
Versuch  unternommen,  das  Tuberkulin  stomachal  zu  verabreichen. 
Dies  geschieht  in  Form  der  sogenannten  „Tuberoidkapseln“,  welche 
aus  0-0002  cm3  Tuberkelbazillenemulsion,  0-0001  Thimothein  (ein 
aus  Thimotbeebazi  Ilern  hergestelltes  Tuberkulin  von  schwacher 
Wirksamkeit)  und  0-01  g  Calc,  formic,  bestehen.  Zu  Beginn  der 
Kur  wird  jeden  zweiten  Tag,  später  täglich  eine  Kapsel 
genommen.  Die  Gelodurathülle  dieser  Kapseln  verhindert  die 
Einwirkung  des  Magensaftes  auf  das  Präparat,  so  daß  dasselbe 
erst  im  Dünndärme  zur  Resorption  gelangt.  Die  charakteristische 
allgemeine  und  lokale  Reaktion,  welche  sich  bei  stomachaler 
Darreichung  des  Mittels  ebenso  wie  bei  subkutaner  Applikation 
des  Tuberkulins  erzielen  läßt,  beweist  die  spezifische  Wirksam¬ 
keit  des  Präparates.  Moeller  sah  damit  in  einer  großen  Zahl 
von  Fällen  günstige  Resultate.  Neuerdings  verordnet  er  die  Kap¬ 
seln  auch  neben  der  Injektionskur  zur  Unterstützung  der  letz¬ 
teren.  —  (Berliner  Klinik  1911,  H.  271.)  sz. 

* 

164.  Das  Aneurysma  der  Arteria  hepatica.  Eine 
klinische  Studie  von  Denis  G.  Zesar.  Das  Aneurysma  der  Arteria 
hepatica  zählt  zu  den  seltenen  Leiden.  Es  sind  kaum  50  Beob¬ 
achtungen  in  der  Literatur  niedergelegt,  obwohl  es  schon  bald 
vor  100  Jahren  zum  ersten  Male  von  Kerandren  beobachtet 
wurde.  Das  Aneurysma  der  Hepatika  scheint  vorzugsweise  jün¬ 
gere  Männer  zu  befallen  u.  zw.  schon  vom  15.  .fahre  ab,  während 
Frauen  seltener  daran  erkranken  und  das  erst  vom  25.  .fahre 
ah.  Als  Ursache  für  die  Entstehung  kommen  Arteriosklerose 
und  syphilitische  Arteriitis  wohl  nur  in  untergeordneter  Weise 
in  Betracht;  traumatische  Entstehung  ist  schon  gar  nicht  be¬ 
wiesen,  indes  zwischen  Aneurysma  und  überstandener  Infektions¬ 
krankheit  besteht  nach  den  vorliegenden  kasuistischen  Mitteilungen 
sicherlich  ein  Zusammenhang.  Wahrscheinlich  rufen  die  gleichen 
Keime,  welche  hei  verschiedenen  Infektionskrankheiten  in  ver¬ 
schiedenen  anderen  Körperteilen  sich  lokalisieren  und  da  patho¬ 
gen  wirken,  in  der  Arteria  hepatica  eine  Endarteriitis  hervor, 
die  ihrerseits  wieder  den  Anlaß  gibt  zur  nachträglichen  Aneu¬ 
rysmabildung.  Nach  den  bisherigen  Erfahrungen  kommen  am 
häufigsten  Pneumonie  und  Typhus,  außerdem  dann  Osteo¬ 
myelitis,  Tuberkulose,  Pleuritis,  Malaria,  Dysenterie,  Gelenksrheu¬ 
matismus,  Abszeß'  und  Phlegmone  in  Betracht.  Der  Sitz  des 
Aneurysmas  an  der  Arteria  hepatica  ist  kein  typischer,  immerhin 
sitzt  es  am  häufigsten  am  Stamme  oder  am  rechten  Aste  dieser 
Arterie,  regelmäßig  kurz  vor  oder  hinter  einer  Teilungsstelle. 
Selten  sind  intrahepatische  Aneurysmen.  Die  Symptomatologie 
des  Aneurysmas  der  Hepatika  ist  keine  charakteristische,  ja  es 
kann  sogar  jegliches  auf  ein  Aneurysma  hindeutendes  Symptom 


248 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


fehlen.  Am  konstantesten  sind  heftige  Schmerzen  zu  finden  im 
rechten  Hypochondrium,  Epigastrium,  aber  auch  in  der  Gegend 
des  linken  Rippenbogens  (Reflexschmerz)  u.  zw.  weisen  sie  in 
ihren  Schwankungen  den  Typus  der  Gallensteinkolikschmerzen 
auf.  Nicht  selten  tritt  Ikterus  auf  infolge  Kompression  der 'Gallen¬ 
wege,  mit  denen  das  Aneurysma  Verwachsungen  eingeht,  wie 
auch  sonst  mit  den  benachbarten  Organen.  Der  Ikterus  kann 
ein  dauernder  oder  vorübergehender  oder  aber-  auch  rezidivie¬ 
render  sein  (nach  Birkhardt  und  Schumann  bei  Blutung 
aus  dem  Aneurysma  in  die-  größeren  Gallenwege  und  Verlegung 
derselben  durch  Gerinnselbildung).  Von  diagnostischer  Wichtig¬ 
keit  sind  eventuell  auftretende  Blutungen  in  den  Digestions1- 
apparat,  wobei  das  Blut  je  nachdem  per  rectum  oder  auch  per 
os  entleert  wird.  Direkte  Perforationen  in  den  Darmkanal  sind 
wohl  selten,  aber  dann,  weil  profuse  Hämorrhagien  die  Folge 
sind,  sehr  gefährlich.  Vorübergehende  Leber-  oder  Ga.llenblasen- 
sch wellungen  infolge  Blutung  in  die  Gallenwege  sind  wieder¬ 
holt  beobachtet  worden.  Temperatursteigerungen  sind  selten, 
aber  dann  erreichen  sie  Höhen  'von  40  bis  41°  (infektiöses  Fieber?). 
Der  Nachweis  eines  Tumors  fiele  diagnostisch  sehr  ins  Gewicht, 
begreiflicherweise  ist  er  aber  nur  selten  möglich  und  der  Nach¬ 
weis  der  Pulsation  eines  eventuell  derben,  elastischen  oder  fluk¬ 
tuierenden  Tumors  ist  noch  so  gut  wie  niemals  gelungen.  Eher 
findet  sich  pulssystolisches  Blasen  über  dem  Tumor.  Schwan¬ 
kungen  in  der  Wandspannung  wäretn  differentialdiagnostisch  wohl 
zu  beachten ;  bei  Perforation  kann  der  Tumor  eventuell  ganz 
verschwinden.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  die  Diagnose  eines 
Aneurysmas  der  Arteria  hepatica  nur  eine  Wahrscheinlichkeits- 
diagnos'e  bleiben,  da  sich  insbesonderS  der  Cholelithiasis1  und 
dem  Ulcus  duodeni  gegenüber  differentialdiagnostische  Schwierig¬ 
keiten  ergeben.  Der  Verlauf  der  Erkrankung  ist  progressiv,  immer¬ 
hin  aber  Schwankungen  unterworfen  und  weist  durchschnittlich 
eine  Dauer  von  4V2  bis  5  Monaten  auf.  Die  Prognose  ist  durch¬ 
wegs  schlecht,  wenn  auch  zwei  Spontanheilungen  in  der  Ka¬ 
suistik  verzeichnet  sind.  Chirurgische  Intervention  vermag  wohl 
das  Leiden  zu  bekämpfen,  wenn  die  Diagnose  frühzeitig  gestellt 
werden  kann.  Eventuell  ist  zu  diesem  Zwecke  die  Probelapa¬ 
rotomie  zu  machen,  an  welche  gleich  die  Radikaloperation  an¬ 
geschlossen  werden  kann.  Diese  kann  nur  die  Unterbindung 
der  Arteria.  hepatica  sein,  wobei  es  von  den  Verwachsungen  ab- 
bängen  wird,  ob  das  Aneurysma  gleichzeitig  exstirpiert  werden 
kann.  Die  experimentelle  Forschung  hat  wohl  ergeben,  daß  die 
Leber  die  plötzliche  Absperrung  des  arteriellen  Blutes  in  der 
Regel  nicht  verträgt,  sondern  der  Nekrose  verfällt,  falls  keine 
anderweitigeil  akzessorische  Gefäße  vorhanden  sind,  ln  patho¬ 
logischen  Fällen  scheint  es  aber  der  Fall  zu  sein,  daß  die  Er¬ 
nährung  der  Leber  größtenteils  durch  Kollateralbahnen  besorgt 
wird,  denn  in  der  Tat  ging  einer  von  zwei  durch  Unterbindung 
der  Hepatikä  behandelten  Aneurysmafällen  in  definitive  Heilung 
über.  Der  Versuch  der  Radikaloperation  erscheint  aber  auch 
sonst  gerechtfertigt,  da  von  46  in  der  Literatur  niedergelegten 
Fällen  nicht  weniger  als1  43  an  den  Folgen  des  Aneurysmas  der 
Arteria  hepatica  verhältnismäßig  rasch  zugrunde  gingen.  —  (Fort¬ 
schritte  der  Medizin  1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  42,  43,  44.)  K.  S. 

* 

165.  (Aus  der  chirurgischein  Universitätsklinik  zu  Königs¬ 
berg.  —  Direktor:  Prof.  Dr.  Lexer.)  Ueber  die  Behandlung 
dos  typischen  Radiusbruches.  Von  Dr.  Walter  Krantz. 
Njacbdem  der  Verfasser  die  verschiedenen  Methoden  der 
Behandlung  der  Radiusfrakturein  historisch  und  kritisch  gewürdigt 
hat,  empfiehlt  er  auf  Gru'nd  der  an  der 'Klinik  Lexer  in  300  Fällen 
gewonnenen  Erfahrungen  die  von  L  exer  angegebene  Behandlung 
mittels1  Flanellbindeneinwicklung.  Sie  vermeidet  seiner  Ansicht 
nach  die  Nachteile  der  Schienenbehandlung  und  der  Behandlung 
ohne  feststellenden  Verband,  vereint  aber  ihre  Vorteile.  Vor 
allem  ist  eine  genaue  Reposition  der  Fragmente  erforderlich,  die 
gewöhnlich  ohne  Narkose,  höchstens  bei  sehr  empfindlichen  Pa¬ 
tienten  in  leichtem  A  etherrausch  geschieht.  Durch  Flexion,  Pro- 
nation  und  ulnare  Abduktion  der  Haut,  die  mit  einem1  plötzt 
licbein,  kräftigen  Ruck  unter  gleichzeitigem  Ziehen  am  Daumen 
und  Gegenzug  am  Oberarm  ausgeführt  werden,  kann  die  Re¬ 
position  leicht  ausgeführt  werden.  Die  einmal  gewonnene  Stel¬ 
lung  wird  durch  Einwicklung  mit  einer  einfachen  Flanellbinde 


für  die  ganze  Zeit  der  Nachbehandlung  erhalten.  Die  Umwicklung 
wird  vom  Verfasser  folgendermaßen  geschildert:  „Man  beginnt 
über  dem  Epicondylus  externus,  führt  die  Binde  von  hier  über 
den  Handrücken  und  über  den  zweiten  Mittelhandknochen  (dessen 
Köpfchen  bei  mageren  Händen  etwas  mit  Watte  gepolstert  wird) 
hinweg;  von  da  wird  über  die  Vola  und  die  ulnare  Kante  der 
Hand  wiederum  das  Dorsum  erreicht,  sodann  läuft  die  Binde 
vom  radialen  Rande  des  zweiten  Metakarpus  über  die  Vola 
zurück,  gelangt  oberhalb  der  Handgelenkgegend  zur  Streckseite 
des  Vorderarmes,  um1  die  sie  in  zwei  Schlangentouren  bis  zum 
Epicondylus  externus  herumgeht.“  Diese  Tour  wird  zwei-  bis 
dreimal  wiederholt.  Eine  entsprechend  gebogene  Päppschiene  wird 
mit  einer  Organtinbinde  darüber  befestigt.  Bei  empfindlichen 
Leuten  bleibt  der  Verband  zwei  bis  drei  Tage 'liegen,  sonst  wird 
er  jedeh  Tag  abgenonunen  und  der  Arm  täglich  massiert  und  ge¬ 
badet.  Die  vom  Verfasser  vorgenomniene  Nachuntersuchung  des 
klinischen  Materiales,  die  in  110  Fällen  möglich  war,  hat  fast 
in  allen  Fällen  vollständige  Wiederherstellung  der  Arbeitsfähigkeit 
ergeben.  Weiters  rühmt  Verfasser  diesem1  Verfahren  rasche  Hei¬ 
lung  und  Billigkeit  nach;  als  Nachteil  wird  heirVorgehoben,  daß 
die  Patienten  manchmal  in  den  ersten  Tagen  Beschwerden  haben 
und  täglich  behandelt  werden  müssen.  —  (Deutsche  Zeitschrift 
für  Chirurgie,  Bd.  106,  H..  1  bis  3.)  se. 

* 

166.  Die  Al  lgemejinnar  k  o  s  e.  Von  P.  Sick -Leipzig. 
Nach  seinen  Erfahrungen  an  700  wohlbeobachteten  Allgemein¬ 
narkosen  empfiehlt  Sick  die  Misch-  und  Kombinationsnarkose 
wärmstens,  da  die  Komponenten,  deren  Einzeldosen  weit  unter 
der  gefährlichen  toxischen  Grenze  bleiben,  sich  gegenseitig  unter¬ 
stützen  und  verstärken  und  so,  an  verschiedenen  Stellen  an¬ 
fassend,  doch  eine  volle,  ja  beste  Narkose  geben.  Er  empfiehlt 
für  die  klinische  Praxis  folgendes  Schema,,  welches  im  Einzel¬ 
falle  variiert  werden  kann:  Die  Vorbereitungsnarkose  führt  Sick 
in  der  Regel  durch  Skopolamin  -  Morphium  herbei;  bei  erregten 
Patienten  gibt  er  noch  am  Abend  vorher  Va  bis  1  g  Veronal, 
welche  Dosis  am  Morgen  vor  der  ersten  Skopolamingabe  wieder¬ 
holt  werden  kann.  Die  erste  Einspritzung  von  Skopolamin  allein 
erfolgt  lVi  Stunden  vor  der  Operation.  Ein  Mann  erhält  in  der 
Regel  eine  Spritze  des  VWoo  MerckscheU  und  Böhringerschen 
Präparates  (=  Va  mg  Skopolamin),  eine  Frau  die  Hälfte  einer 
Spritze  (=  V*  mg) ;  Kinder  werden  nicht  injiziert.  Je  nachdem 
sich  im  verdunkeltein  Narkosezimmer  nach  einer  halben  Stunde 
deutliche  Schläfrigkeit  zeigt,  oder  nicht,  wird  nach  drei  Viertel¬ 
stunden  vor  der  Operation  eine  halbe  bis  ganze  Pr avaz spritze 
gegeben  und  0-01  Morphium  hydrochloricum  hinzugefügt  (bei 
Gewöhnung  an  Morphium  bis  0-02  aber  nicht  darüber).  Jetzt 
kann  auch  schon  ohne  Quälerei  eine  eventuelle  Magenspülung 
ausgeführt  werden.  Nur  in  seltenen  Fällen  besteht  kurz  vor 
der  Operation  noch  keine  genügend  starke  Somnolenz;  da  kann 
man  'noch  unbedenklich  eine  halbe  bisi  ganze  Spritze  Skopo¬ 
lamin  oder  eine  halbe  Spritze  Atropin  -  Morphium  hinzufügen 
und  eventuell  noch  eine  weitere  halbe  Stunde  mit  der  Operation 
warten.  Atropin -Morphium  (0-02  Morphium,  0-0008  Atropinum 
sulfuricum  ad  1-0;  davon  eine  halbe  bis  ganze  Spritze)  ver¬ 
wendet  Sick  auch  als  Vorbereitungsnarkose  in  eiligen  Fällen 
(Ileus)  u.  zw.  mit  gutem  Erfolge.  Die  eigentliche  Narkose  be¬ 
ginnt  man  am  besten  mit  dem  Braun  sehen  Mischnarkoseapparat 
oder  Roth-Dräger,  um,  erforderlichenfalls  bei  Andeutung 
einer  Exzitation  zum  Narkosebeginn  noch  einige  Züge  Chloro¬ 
form  beizumischen.  Zu  allermeist  kommt  man  mit  Aether  allein 
aus1,  auch  mit  Witzei  scher  Tropfmethode  auf  Esmarchmaske. 
Der  Verbrauch  von  Aether  beträgt  meist  nur  ein  Drittel  der  Menge, 
welche  bei  Aethernarkose  früher  nötig  war,  also  50  bis  80  cm3, 
während  vom  Chloroform  gar  'nur  höchstens  5  cm3  gebraucht 
werden,  wenn  überhaupt.  Der  Patient  bleibt  an  der  Schwelle 
der  tiefein  Narkose  und  wacht  doch  nicht  zur  Unzeit,  auf;  jede 
IJebcr d os ierung  des  Chloroforms  ist  vermieden,  ebenso  wie  j-'de 
Reizung  des  Bronchialbaumes  durch  Aetherüberschwennnung,  wo¬ 
bei  auch  noch  die  sekretionshemmende  Wirkung  des  Skopo¬ 
lamins  oder  Atropins  eine  günstige  Rolle  spielt.  Erbrechen  tritt 
während  der  Narkose  gar  nicht,  später  nur  in  den  seltensten 
Fällen  auf.  Die  Patienten  schlafen  noch  nach  der  Operation  ruhig 
einige  Stunden,  wachen  meist  dann  mit  voller  Amnesie  auf  und 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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können  gleich  ohne  wesentliche  Schmerzen  mit  Atemübungen 
oder  Flüssigkeitsaufnahmein  beginnen.  Irgendwelche  Spätwirkun¬ 
gen  auf  innere  Organe,  wie  sie  für  Chloroform  und  \ either 
allein  bekannt  und  gefürchtet  sind,  wurden  bisher  nie  beobachtet. 
-  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  43,  44.)  K.  S. 

* 

167.  Zur  Kasuistik  des  lvarzirioms  des  Zervix- 
stumpfes  nach  der  Chrobakschen  Myontoperatiun. 
Von  I>r.  F.  Weisse.  Bei  einer  45jährigen  Frau  wurde  wegen 
multipler  Myome  des  Uterus  per  laparotomiam  die  supravaginal»; 
Imputation  des  Uterus  vorgenommen.  Nach  vollen  fünf  Jahren 
kam  die  Patientin  mit  einem  Karzinom  der  Portio  wieder.  Exstir¬ 
pation  des  Zervixstumpfes  mit  Ausräumung  der  Parametrien  und 
Drüsen  auf  abdominalem  Wege.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie 

1910,  Nr.  67.)  E.  V. 

* 

168.  (Aus  der  Universitätsfraueinklinik  zu  Straßburg.)  Zur 
Methode  und  Indikationserweiterung1  des  zervikalen 
Kaiserschnittes.  Von  Dr.  G.  A.  Wal  eher,  früherem  Vo¬ 
lontärarzt  der  Klinik.  Die  extraperitoneale  Methode  des  Kaiser¬ 
schnittes  hat  mit  der  Zeit  an  Wert  verloren,  besonders  nachdem 
sich  gezeigt  hatte),  daß  der  zervikale  tranteperitoneale  Schnitt 
technisch  einfacher  ist  und  keine  schlechteren  Resultate  gibt  als 
der  extraperitoneale.  Die  Technik  der  Operation,  wie  sie1  an  der 
Straßburger  Klinik  geübt  wird,  ist  folgende:  Unter  mäßiger  Becken¬ 
hochlagerung  nach  entleerter  Blase  und  nach  Injektion  von  2  cm3 
Sekakornin  Längsschnitt  dutch  die  mit  .Todtinkturanstrich  ver¬ 
sehenen  Bauchdecken  in  der  Linea  alba,  zwei  bis  drei  Finger  breit 
unterhalb  des  Nabels  beginnend,  in  einer  Ausdehnung  von  zirka 
15  cm  Länge.  In  derselben  Ausdehnung  Spaltung  des,  Peritoneums. 
Hierauf  über  die  höchste  Stelle  des  unteren  Uterinsegmentes  oder, 
wenn  dieser  Punkt  unterhalb  der  Umschlagfalte  des'  Peritoneums 
zu  liegen  kommt,  Querschnitt  durchs  Peritoneum  in  der  Umschlag- 
falte  in  der  Länge  von  10  bis  15  cm.  Abhebung  des  Peritoneums 
nach  unten,  eventuelles  Abschieben  der  Blase  nach;  oben,  bis 
der  obere  und  untere  Wundwinkel  ganz  vom  Peritoneum  visce¬ 
rale  bedeckt  werden  kann.  Längsinzision  durchs  untere  Uterin¬ 
segment.  Entwicklung  des  Kopfes.  Nabt  der  Muskularis  mit 
Katgutknopfnähten  von  beiden  Wundwinkeln  aus  bis  auf  einen 
6  cm  langen  Schlitz.  Expression  der  Plazenta.  Schluß  der  Zervix- 
wunde.  Weitere  Deckung  durch  oberflächliche,  fortlaufende  oder 
Knopfnähte  mit  Katgut.  In  den  Ecken  des  viszeralen  Peritoneal¬ 
schlitzes  je  zwei  Katgutknopfnähte,  in  der  Mitte  fortlaufende  Naht. 
Derselbe  Vorgang  beim  Peritoneum  parietale.  Etagenknopfnähte 
mit  Katgut  durch  Faszie  und  Unteihautzellgewebe,  mit  Silk¬ 
worm  durch  die  Haut..  Sandsack.  Nochmals  Sekakornin.  Die  Vor¬ 
teile  des  Verfahrens  sind  nach  Verfasser  folgende:  Der  Längs¬ 
schnitt  bietet  gegenüber  dem  Querschnitt  eine  größere;  Uebersicht- 
lichkeit.  In  der  Tiefe  ist  mehr  Platz,  daher  auch  größere  Sicher¬ 
heit  vor  ungewollten.  Zerreißungen.  Die  Möglichkeit,  das  vom 
Uterus  abgelöste  Peritoneum  exakt  in  den  oberen  Bauchdecken¬ 
wundwinkel  zu  ziehen,  schützt  vor  Ueherfließen  des  Uterusinhaltes 
in  die  Bauchhöhle.  Die  Blasenverletzung  wird  durch  den  queren 
Schnitt  durchs  viszerale  Peritoneum  mit  größter  Wahrscheinlich¬ 
keit  ausgeschaltet.  Als'  Nachteil  könnte  der  ungenügende  Abschluß 
der  Bauchhöhle  eingewendet.  werden.  Von  einem  Vernähen  oder 
Zusanunenklemmen  der  beiden  Peritonealblätter,  wie  es  TI  o  f- 
meier  und  Veit  üben,  ist  bisher  wegen  Schnelligkeit 'der  Opera¬ 
tion  abgesehen  worden.  Peritonitis  oder  peritonitische  Symptome 
wurden  bisher  nicht  beobachtet.  Unter  den  15  bisher  operierten 
Fällen  befanden  sich  neun  reine,  sechs  zweifelhafte,  resp.  unreine 
Fälle.  Operiert  wurde  womöglich  zur  Zeit,  als  die  Blase  bei 
möglichst  erweitertem  Muttermund  noch  stand.  Die  Hauptindi¬ 
kation  zum  Eingriff  bildeten  die  verschiedenen  Formen  des  engen 
Beckens.  Was  die  Resultate  anlangt,  sind  von  15  Müttern  eine, 
von  16  Kindern  zwei  gestorben.  In  der  ersten  Hälfte  der  Fälle 
verlief  das  Wochenbett  nur  einmal  ohne  Temperatursteigerung, 
in  der  zweitein  Hälfte  fünfmal  ohne  Steigerung,  in  zwei  Fällen 
mäßiges  Fieber.  Die  Tubensterilisation,  die  nur  beim  transperi- 
tomealen  Verfahren  ohne  weitere  Umstände  gemacht  werden  kann, 
wurde  in  vier  reinen,  völlig  fieberfrei  verlaufenen  Fällen  ange¬ 
schlossen.  Aus  den  weiteren  Mitteilungen  des  Verfassers  gehl 
hervor,  daß  an  der  Straßburger  Frauenklinik  die  Indikations' 


grenzen  des  Kaiserschnittes  zur  Behandlung  der  Geburten  beim 
engen  Becken  viel  weiter  gesteckt  wurden  als  früher,  daß  aber 
trotzdem,  je  nach  der  Lage  des  einzelnen  Falles,  die  verschiedenen 
geburtshilflichen  Operationen  als  indiziert  erachtet  werden.  Jeden¬ 
falls  hat  die  Hebosteotomie  an  dem  Kaiserschnitt  viel  Boden  ver¬ 
loren.  Sie  bat  nicht  das  gehalten,  was  sie  anfangs  zu  ver¬ 
sprechen  schied,  und  ist  mit  Fug  und  Recht  aus  der  Mode  ge¬ 
kommen.  Verfasser  resümiert:  Mit  dem  zervikalen  transperito¬ 
nealen  Kaiserschnitt  hat  die  Klinik  zufriedenstellende  Erfahrungen 
gemacht.  In  den  allermeisten  Fällen  ersetzt  er  mit  Vorteil  den 
klassischen  Kaiserschnitt.  Das  Gebiet  der  Hebosteotomie,  der 
hohen  Zange  und  der  Perforation  am  lebenden  Kinde  schränkt 
er  weiter  ein.  Aber  man  wird  auf  diese  Operationen  in  unreinen 
Fällen  nicht  vollkommen  verzichten  können.  —  (Münchener 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  4.)  G. 

* 

169.  Glyzerin  alte  Blasenlaxans.  Von  Dr.  Otto 
Franck.  Verf.  empfiehlt  in  Fällen  p  osto  p  erativ1  er  B 1  asenl  ähm  ungon 
die  Injektion  von  15  bis  20  g  Glyzerin  durch  die  Urethra  in  die 
Blase.  10g  pflegejn  wieder  abzufließen,  so  daß  null  5  bis  10  g  in  die 
Blase  gelangen.  Das  genügte  stets,  um  in  spätestens  20  Minuten 
eine  spontane  Entleerung1  mit  weiterem  dauernden  Erfolg  herbei¬ 
zuführen.  Auch  bei  mechanischen  und  neurogenen  Lähmungen 
konnten  vorübergehend  spontane  Entleerungen  herbeigeführt  wer¬ 
den',  wobei  das  Glyzerin  gleichsam  als1  flüssiger  Katheter  wirkte 
und  selbst  Strikteren  und  Verhaltungen  durch  Prostatahypertro¬ 
phie  zeigten  noch  augenscheinlichen,  wenn  auch  nur  momen¬ 
tanen  Erfolg.  —  (Zentralblatt  für  Chirurgie  1911,  Nr.  2.)  E.  V. 

* 

170.  Zwei  Todesfälle  .infolge  Kohlenoxydgas¬ 

vergiftung  durch  Kohl  ebb  ü  ge  lei  sen.  Von  Dr.  Emil  Ko- 
minik,  k.  k.  Polizeiassistenzarzt  in  Wien.  Durch  den  bei  der 
Verwendung  von  Holzkohlenhügeleisen  sich  entwickelnden  Kohlen¬ 
dunst  kommen  leichte  Vergiftungssymptome  häufig  vor.  Denn  Kopf¬ 
schmerzen  und  Ueblichkeiten,  die  hei  mit  Kohleneisen  plättenden 
Personen  häufig  auftreten,  sind  gewiß;  als  solche  anzusehen. 
Todesfälle  jedoch  infolge  zufälliger  Vergiftung  durch  den  Dunst 
eines  Holzkohlenbügeleisens  sind  gewiß,  selten.  In  beiden  Fällen, 
über  die  Kodninik  berichtet,  hatten  die  Dienstmädchen  das 
Bügeleisen  aus  der  Küche,  wo  sie  zuletzt  gearbeitet  hatten,  ,in 
den  Schlafraum  mitgehommen  und  sichi  schlafen  gelegt.  Beide 
wurden  den  anderen  Morgen  tot  mit  Symptomen  der  Kohlen¬ 
oxydgasvergiftung  aufgefunden,  welche  durch  die  Obduktion  be¬ 
stätigt  wurde,  ln  den  Bügeleisen  fand  sich  Asche  und  Reste  un- 
verbrannter,  erkalteter  Flolzkohle.  Die  Entstehung  der  Kohlen¬ 
oxydvergiftung  etwa  durch  einen  Ofen  oder  Leuchtgas  war  un¬ 
möglich,  da  beides  im  Schlafraume  nicht  vorhanden  war.  — 
(Der  Amtsarzt,  Zeitschrift  für  öffentliches  Gesundheitswesen 
1910,  2.  Jahrg.,  Nr.  6.)  K.  S. 

* 

171.  Ueber  die  Abwendung  von  Aderlaß  und  Koch¬ 
salzinfusion  bei  Mer  Behandlung  von  Hautkrank¬ 
heiten.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Karl  Bruck,  Oberarzt  der  könig¬ 
lichen  dermatologischen  Universitätsklinik  in  Breslau  (Professor 
N ei ss er).  Vo’n  der  Annahme  ausgehend,  daß  eine  große  Zahl 
von  Hautkrankheiten  und  inshesonderte  der  Pruritus  und  ge¬ 
wisse  Formen  der  Urtikaria  durch  ihrem  Wesen  nach  Preist 
unbekannte,  sub akute:  oder  chronische  Vergiftungen 
erzeugt  werden,  hat  Verf.  ein  Verfahren  therapeutisch  anzu¬ 
wenden  versucht,  das  schon  lange  hei  der  Behandlung  akuter 
Intoxikationen  in  Gebrauch  ist  und  hiebei  zuweilen  lebens¬ 
rettende  Dienste  geleistet  hat:  den  Aderlaß  und  die  darauf  fol¬ 
gende  Infusion  physiologischer  Kochsalzlösung,  die 
,, Organismusauswaschung“  nach  Sahli.  Der  Verfasset'  berührt 
die  gesteigerten  Diurese,  die  desinfizierende  Wirkung  von  Koch¬ 
salzinfusionen  und  hebt  als  günstige  Wirkungen  der  letzteren 
die  gesteigerte  Diurese,  die  desinfizierende  Wirkung  von  Koch¬ 
salzlösung,  die  hiedurch  erzielte  Verdünnung  etwaiger  im  Blute 
kreisender  Giftstoffe  hervor.  Für  dermatologische  Fälle  gäbe 
es  für  den  Aderlaß  und  die  nachfolgende  Infusion  nur  eine  ein¬ 
zige  Kontraindikation :  hochgradige  Arteriosklerose,  doch 
wurde  die  Prozedur  auch  bereits  bei  alten  Leuten  mit  mäßiger 


250 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  7 


Arteriosklerose  oline  irgendwelche  Zwischenfälle  vorgenommen. 
Der  Venäpunktion  folgte  stets  entweder  die  slubkutane  oder  die 
intravenöse  Infusion.  Das  letzterwähnte  Verfahren  ist  entschie¬ 
den  das  bequemste,  für  den  Patienten  angenehme,  offenbar  in 
seinen  Resultaten  das  sogar  überlegenere.  Der  Verfasser  beschreibt 
genau  die  Technik  des  Verfahrens  (Entnahme  von  250  cm3  Blut, 
bei  kräftigen  Personen  mehr,  sofortige  intravenöse  Infusion  von 
höchstens  500  cm3  einer  0-85%igen  sterilen  Kochsalzlösung  von 
40"  Temperatur  oder  subkutane  Einspritzung  von  1000  bis 
1500  cm3,  Wiederholung  der  ganzen  Prozedur  in  mehreren 
Fällen).  Es  folgen  acht  Krankengeschichten  (vier  Fälle  von  Pru¬ 
ritus  universalis1  und  senilis,  ,je  ein  Fall  von  Urticaria  papulosa 
und  Erythema  exsudativum  multiform«  und  zwei  Fälle  von  Der¬ 
matitis  herpetiformis  Dü  bring).  In  allein  diesen  Fällen  hat 
die  Organismusauswaschung  einen,  wie  Verf.  glaubt,  unver¬ 
kennbar  günstigen  Einfluß  geübt.  Eine  lediglich  sugges¬ 
tive  Beeinflussung  eines  so  quälenden  Leidens  wie  des  Pruritus 
senilis  ist  wohl  nicht  anzunehmen,  sie  dürfte  auch  nicht  längere 
Zeit  anhalten.  Für  die  tatsächliche  Wirkung  des  Verfahrens! 
sprechen  überdies  die  Resultate  bei  Erythema  exsudativum  mul- 
tiforme  und  Dermatitis  herpetiformis :  rasche  Resimission  der  Er¬ 
scheinungen,  insbesonders  der  sonst  recht  renitenten  Schleim¬ 
hautsymptome  bei  Erythema  exsudativum  multiforme.  Bei  Pso¬ 
riasis  vulgaris  und  einem  Falle  von  universellem  Ekzem  hat 
der  Verfasser  auch  nicht  den  geringsten  Einfluß  einer  auch 
wiederholten  Organismusauswaschung  gesehen.  Bei  einem 
zweiten,  zurzeit  noch  in  Beobachtung  stehenden  universellen 
Ekzem  scheint  jedoch  eine  wesentliche  Besserung  einzutreten. 
Schädigungen  und  unangenehme  Zwischenfälle,  sind  nie  beob¬ 
achtet  worden,  häufig  folgten  Temperatursteigerungen  bis  zu 
89-5°.  Was  die  Art  der  Wirkung  von  Aderlaß  und  Kochsalz¬ 
infusion  betrifft,  so  scheint  nicht  so  sehr  die  etwas  gesteigerte  Diu¬ 
rese,  vielmehr  wohl  die  direkte  Einwirkung  auf  das  Blut,  der 
Reiz,  den  der  Blutverlust  einerseits  und  das  Salzwasser  anderseits 
ruf  die  bämatopoetischen  Organe  ausüben,  das  wichtigste  zu  sein. 
Die  bisherigeln  Resultate  sollen  zur  Nachprüfung  anregen,  da 
der  Aderlaß  und  die  Kochsalzinfusion  nicht  nur  für  die  Be¬ 
handlung  der  oben  angeführten,  sondern  auch  anderer  Haut¬ 
krankheiten,  bei  denen  man  eine  Mitwirkung  von  Giften 
vermutet,  eine  Rolle  spielen  können.  Denn  wenn  selbst  durch 
die  Organismusauswaschung  eine  radikale  Beseitigung  der  Krank¬ 
heitsursache  nicht  zu  erzielen  wäre,  würde  sie  als  unterstützendes 
und  wenigstens  zeitweilig  besserndes  Moment  für  eine  ganze 
Reihe  von  Dermatosen  in  Betracht  kommen,  bei  denen  unser 
sonstiges  therapeutisches  Arsenal  nur  ein  sehr  bescheidenes  ist. 

(Berliner  klinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  3.)  E.  F. 

* 

172.  Zur  Frage  der  Venenunterbindung  bei  eitri¬ 

ger  Pfortaderthrombose  nach  Appendizitis.  Von  Pro¬ 
fessor  Sprengel.  Im  Anschluß  an  eine  Appendektomie  mit 
Perforation  und  Peritonitis  trat  eine  Pylephlebitis  auf.  Am 
vierten  Tage  nach  ihrem  Auftreten  Relaparotomie,  Ligatur  in 
mehreren  Bündeln  des  Mesenteriums,  des  unteren  Dünndarm¬ 
endes  und  des  abgehobenen,  im  unteren  Ileocökalwinkel  liegen¬ 
den  Peritoneums  mit  den  hinter  ihm  liegenden  Gefäßen.  Die 
Schüttelfröste  wiederholen  sich  post  Operationen!  zwar  nur  mehr 
dreimal,  doch  erliegt  Pat.  drei  Wochen  nach  der  zweiten  Opera¬ 
tion  einer  Sepsis.  Die  Autopsie  ergab  eine  Thrombophlebitis  der 
Vena  meseraica  superior  und  inferior,  Pylephlebitis1,  in  der  Leber 
massenhaft  Abszesse.  Sprengel  macht  auf  die  Schwere  dieser 
von  Wilms  angegebenen  Operation  aufmerksam,  wenn  das  Kolon 
mit  dem  unteren  Dünndarmende  nicht  gut  beweglich  ist,  das 
0 olon  ascendens  kein  gut  ausgebildetes  Mesenterium  besitzt 
und  reichliche  subseröse  Fettansammlung  besteht,  da  es  dann 
oft  sehr  unsicher,  ja  fast  unmöglich  ist,  die  zum  Kolon  tretenden 
Gefäße  aufzusuchen  und  zu  unterbinden.  —  (Zentralblatt  für 
Chirurgie  1911,  Nr.  2.)  E.  V. 

* 

173.  (Aus  der  chirurgischen  Abteilung  des  städtischen 
Krankenhauses  in  Graz.)  Erfolge  mit  Ausschaltung  der 
Achillessehne  bei  schwerem  Plattfuß  nach  Nicola- 
doni.  Von  Primararzt  Dr.  Josef  Hertle.  Der  Durchschneidung 
der  Achillessehne  und  Ausschaltung  der  Funktion  des  Musculus 


triceps  surae  lag  die  Idee  zugrunde,  durch  Ausschalten  des  Anta¬ 
gonisten  der  kurzen  Fußmuskulatur  ein  Uebergewicht  zu  ver¬ 
schaffen,  welches  geeignet  wäre,  durch  Transformation  des  Kno¬ 
chens  das  Fußgewölbe  wieder  herzustellen.  Tatsächlich  hat  die 
Nachuntersuchung  einiger  von  Nicolad  oni  untersuchten  Fälle 
ergeben,  daß  im  Laufe  der  Zeit  sich  ein  schönes'  Fußgewölbe  ent¬ 
wickelt  hat.  Verf.  hat  auch  sieben  Fälle  nach  dieser  Methode 
operiert  und  hat  sehr  gute  Resultate  erzielt.  Besonders  auffal¬ 
lend  war,  daß  die  Patienten,  die  durch  ihren  Plattfuß  berufs¬ 
unfähig  geworden  sind,  drei  bis  sechs  Wochen  nach  der  Opera¬ 
tion  ihren  Beruf  wieder  aufnehmen  konnten.  Interessant  ist,  daß 
in  keinem  Falle  eine  dauernde  Schädigung  des  Ganges  eingetreten 
ist  und  daß  die  Patienten  sogar  die  Fähigkeit,  sich  auf  die  Fu߬ 
spitze  zu  stellen,  wieder  erlangten.  Es1  hatte  sich  mit  der  Zeit  trotz 
der  Ausschaltung,  einel  neue  Sehne  gebildet,  aber  die  temporäre 
Ausschaltung  hatte  schon  genügt,  um  die  Funktion  der  kurzen 
Fußmuskeln  wieder  herzustellen  und  das  Skelett  um  zu  formen. 
Dementsprechend  hat  sich  in  keinem  Falle  die  Notwendigkeit 
ergeben,  die  ursprünglich  in  Aussicht  gestellte  Zusammennähung 
der  durchschnittenen  Sehne  auszuführen.  Die  Vorteile  der  Opera¬ 
tion  liegen  in  der  großen  Einfachheit,  der  kurzen  Behandlungs¬ 
dauer  und  dem  Wegfall  jeder  Nachbehandlung.  Das  meiste  an 
Nachbehandlung  leisten  die  Patienten  selbst  dadurch,  daß  sie 
früh  zu  gehen  anfangen.  Aber  auch  auf  die  Plattfußschmerzen 
hat  die  Operation  einen  sehr  günstigen  Einfluß,  offenbar  durch 
die  nach  der  Durchschneidung  der  Sehne  eintretende  Dorsal¬ 
verschiebung  des  Ivalkaneus  und  Talus,  wodurch  eine  Entlastung 
an  Stelle  des  früheren  stärksten  Druckes  ein  tritt.  —  (Langen- 
beeks  Archiv,  Bd.  93,  H.  3.)  se. 

* 

174.  (Aus  der  I.  medizinischen  Klinik  der  kgl.  Charite  zu 
Berlin.  Direktor:  Geh.  Med. -Rat  Hi  s'.)  Zur  Frage  der 
regionär  verschiedenen  Empfindlichkeit  gegen  Jod 
Von  P.  Fleisch  mann,  Assistent  der  Klinik.  Krehl  hat  in  i 
der  Münchener  medizinischen  Wochenschrift  (1910,  Nr.  47)  vor 
der  kritiklosen  Anwendung  des  Jod  gewarnt  und  gezeigt,  daß 
selbst  kleine  Dosen  unter  Umständen  mehr  oder  weniger  schwere 
Schädigungen  hervorrufen  können.  Es  handelt  sich  hiebei  um 
die  Erscheinungen  des  sogenannten  konstitutionellen  Jodismus.  I 
Krehl  hat  neuerdings  die  Anschauung  Rilliets,  daß  Jod  bei 
Kropfträgern,  selbst  in  allerkleinsten  Dosen,  zu  Jodismus  (Thy- 
reoidismus)  führen  kann,  bestätigt.  Zum  Beweise  der  Berechti¬ 
gung  dieser  Anschauung  veröffentlicht  Verf.  eine  kleine  Zu¬ 
sammenstellung  über  die  Jodempfindlichkeit  in  Berlin,  als  einer 
von  Schilddrüsenerkrankungen  endemischer  Natur  freien  Gegend, 
zum  Gegensätze  von  Basel  und  Bern,  wo  Schilddrüsenerkrankun¬ 
gen  endemisch  sind.  Als  Basis  der  klinischen  Prüfung  wurde 
angenommen  das  häufig  erste  Zeichen  des  Thyreoidismus,  eine 
mehr  oder  minder  häufige  Pulsbeschleunigung,  welche  schon 
ganz  kurze  Zeit  nach  Beginn  der  Medikation  auftritt.  Es  han¬ 
delt  sich  in  diesen  Fällen  überwiegend  um  Tabes;  dorsalis  oder 
Dementia  paralytica,  Apoplexien,  vereinzelte  Fälle  von  Sklerose 
der  Herzgefäße,  außerdem  um  zahlreiche  Fälle  von  Affektionen  j 
der  Luftwege  (akute  und  chronische  Bronchitis,  Emphysem).  Die 
tabellarische  Zusammenstellung  zeigt  zunächst  die  erhöhte  Jod¬ 
empfindlichkeit  in  Basel  und  Bern,  wo  in  68%  und  23%  der 
Fälle  Pulsbeschleunigung  nach  Jodzufuhr  eintrat,  während  in 
Berlin  eine  solche  nur  bei  3-7%  vorhanden  war.  Als  wichtiges 
Resultat  geht  weiter  aus  der  Tabelle  hervor,  daß  in  Basel  nur 
16%,  in  Bern  nur  17%  der  Patienten,  die  nach  Jod  Pulsbeschleuni¬ 
gung  bekamen,  eine  vergrößerte  Schilddrüse  hatten,  während 
zahlreiche  andere  Patienten  trotz  Schilddrüsenvergrößerung  nicht 
mit  Pulssteigerung  reagierten.  Jedenfalls  ergibt  die  Statistik  des 
Verfassers  konform  mit  der  Anschauung  Krehls,  daß  die  Em¬ 
pfindlichkeit.  gegen  Jod  in  Kropfgegenden  nicht  an.  das  ' Vorhanden¬ 
sein  einer  fühl-  oder  sichtbar  vergrößerten  Schilddrüse  gebunden 
ist,  sondern  auch  bei  scheinbar  normaler  Schilddrüse  vorhanden 
ist.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  4.) 

1  G. 

175.  Die  Verunreinigung  der  öffentlichen  Ge¬ 
wässer,  ihre  biologische  Untersuchung  und  Un¬ 
schädlichmachung.  Von  Dr.  Oskar  Ilaeimpel,  Assistent 


251 


Nr.  7  WIENER  KLINISCHE 


der  k.  k.  landwirtschaftlich -chemischen  Versuchsstation  in  Wien. 
Infolge  Verdichtung  der  Bevölkerung,  der  Zunahme  ihrer  lle- 
dürfnisse  bei  steigender  Kultur  und  des  Aufblühens  industrieller 
Tätigkeit,  werden  unsere  Gewässer  über  Gebühr  verunreinigt,  zum 
Schaden  der  Hygiene,  Landwirtschaft,  Fischzucht  und  wieder 
der  Industrie  selbst.  Die  Diagnose  der  Verunreinigung  wird  heute 
nicht  vom  Chemiker,  sondern  vom  Biologen  gestellt.  Festerer 
kommt,  wenn  er  eine  akute  Verunreinigung  feststellen  soll,  fast 
immer  zu  spät  an  Ort  und  Stelle,  meist  zu  einer  Zeit,  Kvo 
schon  wieder  längst  reines  Wasser  zu  Tal  läuft  und  der  Nach¬ 
weis  von  irgendeinem  Gifte  in  Fischkadavern  ist  so  gut  wie 
unmöglich.  Der  Biologe  aber  ist  in  seiner  Untersuchung  unab¬ 
hängig  von  dem  Zeitpunkte  der  Verunreinigung  der  Gewässer, 
es  ist  ihm  möglich,  nach  Wochen  und  Monaten  eine  Vergiftung 
zu  konstatieren,  denn  er  untersucht  die  Tier-  und  Pflanzenwelt 
der  Gewässer  und  findet  deren  Leichen  als  untrügliche  Wahr¬ 
zeichen  eines  gewaltsamen  Todes  am  Tatorte  liegend.  Hofer 
sagt.:  Die  Sünden  der  Fabriken,  die  unsere  Gewässer  verunrei¬ 
nigen,  sind  mit  einer  dem  Biologen  verständlichen  Schrift  so  fest 
verzeichnet,  daß  ihre  Spuren  noch  nach  Monaten  entziffert  werden 
können.  Die  schwersten  Verunreinigungen  der  Gewässer  stammen 
nicht,  wie  man  glauben  könnte,  von  chemischen  Fabriken,  denn 
deren  Abwässer  können  mit  wenigen  Ausnahmen  wieder  auf  che¬ 
mischem  Wege  in  einen  derartigen  Zustand  überfuhrt  werden, 
daß  sie  keine  größeren  Schäden  anrichten,  wenn  sie  nur  ,in 
einen  größeren  Flußlauf  eingeleitet  sind.  Die  Abwässer  der  land¬ 
wirtschaftlichen  Gewerbe  und  der  Städte  sind  es  hingegen,  welche 
der  Reinig'ungstechnik  die  größte  Mühe  und  Sorge  machen.  Hier 
versagen  nämlich  die  chemischen  lteinigungsmethoden  vollkom¬ 
men  und  wieder  ist  es  die  Biologie,  die  hier  aushilft.  Zur  Zeit 
bestehen  drei  biologische  Verfahren:  1.  das  Rieselverfalnem,  2.  die 
biologische  Reinigung  auf  Tropf-  und  Füllkörpern,  3.  die  natür¬ 
liche  Selbstreinigung  in  Teichen,  wobei  die  hauptsächlich  tätigen 
Kräfte,  die  an  der  Zersetzung  der  Schutzstoffe  arbeiten,  von 
niederen  und  höheren  Organismen  dargestellt  werden.  Ein 
sicherer  Erfolg  des  Rieselverfahrens  ist  aber  nur  da  zu  erhoffen, 
wo  geeigneter  Boden  in  genügender  Ausdehnung  vorhanden  ist, 
andernfalls  ist  der  Erfolg  ein  negativer,  das  Rieselfeld  wird  über¬ 
lastet  und  versagt  vollständig.  Wo  zur  Durchführung  des  Riesel¬ 
verfahrens  die  räumlichen  und  geologischen  Voraussetzungen 
fehlen,  bedient  man  sich  der  biologischen  Reinigung  -mittels 
Füll-  oder  Tropfkörper,  welche  nichts  anderes  sind,  als  ein 
Schlackenkörper  (Kies,  Koks,  Schlacken),  der  ein  künstliches 
Filter  bildet.  Dieses  Filter  passieren  die  Abwässer,  nachdem 
sie  in  Faulkammern  eine  Vorreinigung  durchgemacht  haben. 
Auch  hier  sind  es  vornehmlich  Lebensprozesse  (Mikroorganis¬ 
men,  aber  auch  Insektenlarven,  Regenwürmer  usw.),  welche  die 
Reinigung  bewirken  u.  zw.  mit  solchem  Erfolge,  daß  die  Ab- 
wässer  klar,  geruchlos  und  nicht  mehr  fäulnisfähig  sind.  Die  bio¬ 
logischen  Körper  stehen  in  englischen  und  auch  deutschen  Städten 
in  Verwendung,  der  Betrieb  scheint  aber  für  Großstädte  zu 
teuer  zu  kommen.  Neuestens  ist  eine  billige  Reinigung  von  orga¬ 
nischen  Abwässern  in  den  Vordergrund  getreten  und  das  ist  die 
letztgenannte  Methode  der  natürlichen  Reinigung  in  Teichen. 
Es  hat  sich  als  irrtümlich  herausgestellt,  wenn  man  glaubt, 
daß  die  selbstreinigende  Kraft  der  stark  fließenden  Gewässer  eine 
größere  ist  als  die  der  langsam  fließenden  oder  gar  der  stehenden 
warmen  Gewässer.  Gerade  das  Gegenteil  ist  richtig,  den  höchsten 
Frad  von  Selbstreinigungsfähigkeit  erreicht  der  sich  am  meisten 
erwärmende  Karpfenteich.  Und  das  ist  eigentlich  ganz  natürlich, 
weil  die  biologische  Reinigung  wieder  durch  die  gesamte  niedere 
Fauna  und  Flora  bewirkt  wird.  Man  hat  berechnet,  daß  das 
stehende  Grundwasser  pro  1  m2  Grundfläche  unter  allen  Um¬ 
ständen  das  fließende  an  selbstreinigender  Kraft  weit  übertriff  1. 
Ein  Hektar  Karpfenteich  vermag  lOmal  mehr  an  organischer 
Substanz  zu  zersetzen  als  ein  Hektar  Flußstrecke  und  10-  bis 
lömal  mehr  als  ein  gleich  großes  Rieselfeld.  Fischteiche  zur 
Reseitigung  von  Abwässern  sollten  also  daher  in  viel  größerem 
Umfange,  als  es  bisher  geschehen  ist  (Dorfteiche)  in  der  Praxis 
m  Verwendung  kommen.  Bringen  sie  doch,  abgesehen  davon, 
daß  sie  oft  mit  den  geringsten  Mitteln  herzustellen  sind,  durch 
die  Erzeugung  von  Fischfleisch  noch  positive  .Werte  hervor! 
End  diese  Werte  können  unter  Umständen  die  Anlagekosten 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


um  das  Vielfache  wieder  einbringen.  Die  Art  und  Weise  der 
Anlage  solcher  Karpfenteiche  ist  eine  sehr  einfache.  Nach' Kolk¬ 
witz  verwendet  man  zweckmäßig  etwa  drei  hintereinander  ge¬ 
schaltete1,  nicht  zu  kleine  I  eiche,  in  denen  das  W  asser  (C t vv a 
24  Stunden  lang  verweilt.  Den  ersten  Teich  betrachtet  man 
nur  als  Sedimentierbassin.  Von  dem  größten  Teile  der  Schwebe¬ 
stoffe  befreit,  gelangt  das  Wasser  dann  in  den  zweiten  Teich, 
wo  es  Gelegenheit  hat,  weitere  Fortschritte  in  der  Selbstreinigung 
zu  machen.  Der  dritte  Teich  taugt  schon  zur  Fischzucht  und 
kann  man  sein  W  asser  ohne  jede  bemerkbare  Verunreinigung 
in  ein  fließendes  Gewässer  (Vertäuter)  abfließen  lassen.  Derartige 
Anlagen  sind  in  Bayern  und  Preußen  bereits  praktisch  erprobt 
und  Professor  Hofer  in  München  geht  jetzt  mit  dem  Plane 
um,  sogar  die  Abwässer  einer  Stadt  wie  München  auf  biologi¬ 
schem  Wege  durch  Karpfenteiche  zu  beseitigen.  —  Wäre  es 
am  Ende  nicht  auch  für  Wien  zweckmäßig,  die  Abwässer  zur 
Karpfenzucht  zu  verwenden,  statt  riesige  Werte  ungenützt  in 
die  Donau  fließen  zu  lassen?  Und  das  in  so  teuren  Zeiten!  Die 
Sache  wäre  sicherlich  nicht  bloß  vom  hygienischen  Standpunkt 
aus  wert,  ernstlich  in  Erwägung  gezogen  zu  werden.  Referent. 

Der  Amtsarzt,  Zeitschrift  für  öffentliche  Gesundheitspflege 
1910,  2.  Jahrg.,  Nr.’  7  und  8.)  K.  S. 

* 

176.  Verwendung  gesundheitsschädlicher  Stoffe 
in  der  Margarinefabrikation.  Von  W.  P.  Dunbar,  Direktor 
des  städtischen  hygienischen  Instituts  in  Hamburg.  Die  in  letzter 
Zeit  vorgekommenen  Massenerkrankungen  nach  Genuß  von  Mar¬ 
garine  haben  Verl’,  veranlaßt,  in  seinem  Institute  eingehende 
Untersuchungen  über  die  zur  Herstellung  der  Margarine  ver¬ 
wandten  Stoffe  anzustellen.  Ist  doch  die  Margarine  heutzutage 
schon  als  eines  der  wichtigsten  Volksnahrungsmittel  anzusehen. 
Die  Jahresproduktion  im  Deutschen  Reiche  wird  auf  100.000,000  kg 
im  Werte  von  etwa  100,000.000  Mark  geschätzt;  es  gibt  Fabriken, 
von  denen  jede  einzelne  pro  Tag  mehr  als  100.000  Pfund  Mar¬ 
garine  erzeugt,  also  bei  Annahme  von  30  g  pro  Person  genug, 
um  mehr  als  eine  Million  zu  versorgen.  Welches  Unheil  kann 
da  angerichtet  werden,  wenn  ein  solcher  Margarinefabrikant 
einen  gesundheitsschädlichen  Stoff  zur  Herstellung  benützt!  Der 
Verfasser  beischreibt  die  1  abrikationsweise  der  Margarine,  den 
allmählichen  Ersatz  der  ursprünglich  verwendeten  tierischen  Fette 
(Rindertalg)  durch  pflanzliche  Oele-,  so  durch  ßaumwolT 
samenöl  (Cottonöl)  und  Erdnußöl  (Oleum  Arachidis),  später  durch 
Mais-,  Sonnenblumen-  und  Mohnöl,  durch  Kokosfett  usw.  Ein¬ 
zelne  Margarinen  führten  Phantasienamen,  z.  B.  „Butteröl“,  das 
Cotton-,  bzw.  Rüböl  sein  soll.  Solche  Phantasienamen  sollten, 
wie  es  in  der  Schweiz  schon  der  Fäll  ist,  auch  im  Deutschen 
Reiche  verboten  werden.  Im  weiteren  bespricht  Verf.  die  Zu¬ 
sätze  bei  der  Margarinefabrikation  (Eigelb  u.  a.),  die  Konser¬ 
vierungsmittel,  welch  letztere  in  Deutschland  zumeist  verböten 
sind.  Eine  Fabrik,  deren  Erzeugnis  solche  Massenerkrankungen 
hervorrief,  wandte  ein  pflanzliches  Fett  an,  das  bisher  noch 
nicht  zur  Beobachtung  gekommen  war.  Die  Fabriksleitung  er¬ 
klärte,  sie  habe  zur  Fabrikation  der  Margarine  das  sogenannte 
„Kardamone!“,  zuweilen  auch  Mowraöl,  benutzt.  Das  „Karda- 
inonöl“  erwies  sich,  an  Hunden  verfüttert,  als  gesundheitsschäd¬ 
lich,  die  Tiere  erbrachen,  sie  wurden  krank.  Ebenso  ging  es 
bei  der  Verf ütterung  der  sogenannten  Mowrabutter.  Langwierige 
Untersuchungen  führten  zu  dem  Resultate,  daß  es  sich  bei  dem 
„Kardamonöl“  um  ein  aus  dem  Samen  von  Hydrokarpus  her- 
gestelltes  Produkt  handle,  daß  es  also  ein  „Marattiöl“  war,  be¬ 
ziehungsweise  nach  Lewko witsch  ein  Hydrokarpusöl.  Zwei 
Gramm  des  Marattifetts  (in  England  Marattioil)  wurde  an  Hunde 
verfüttert,  es  bewirkte  innerhalb  derselben  Zeit  Erbrechen,  wie 
dieselbe  Quantität  des  „Kardamonöls“.  Die  gesundheitsschädliche 
Margarine  besteht  zu  mehr  als  50°/o  aus  Marattifett.  3  g  dieser 
Margarine,  an  Hunden  verfüttert,  bewirkten  schon  Erbrechen, 
es  ist  begreiflich,  daß  auch  ein  Mensch,  der  einige  Scheiben 
Brot,  mit  solcher  Margarine  bestrichen,  im  Tage  ißt,  in  gleicher 
Weise  erkranken  wird.  Von  den  30  zu  diesen  Experimenten 
benutzten  Hunden  sind  auch  5  gestorben.  Versuche  an  Menschen 
wurden  nicht  angestellt.  Dieselben  Hunde,  welche  auf  Maratti- 
margarine  regelmäßig  erbrachen,  blieben  ebenso  regelmäßig  an 
den  Tagen  gesund,  wo  anderweitige  Proben  an  sie  verfüttert 


252 


WIENER  KLINISCHE 


wurden.  Vorgänge,  wie  der  beschriebene,  sollten  dazu  verwertet 
werden,  auf  etwa  bestehende  Lücken  in  der  Gesetz!- 
gebung  aufmerksam  zu  machen.  Die  notwendigen  Schutzma߬ 
nahmen  sollen  anderseits'  die  Maiigarinefabrikation  nicht  unnötig 
in  ihrer  Existenz  gefährden.  Heutzutage  kann  jedermann  ohne 
irgendwelchen  Nachweis  für  seine  Eignung  und  Befähigung  eine 
Margarinefabrik  oder  irgendwelche  andere  Nahrungsmittelindu¬ 
strie  eröffnen.  Es  ist  zu  erwarten,  daß  die  Margarinefabrikanten 
selbst  den  Anlaß'  der  Maskenvergiftungen  benützen  werden,  um 
das  allgemeine  Vertrauen  in  ihre  Fabrikation  wieder  herzustellen. 
Aehnliches  hat  man  auf  anderen  Gebieten  gesehen.  Esl  muß  aber 
prophylaktisch  etwas  geschehen,  jda  ja  ein  solcher  Fabrikant 
einen  noch  giftigeren  Stoff  als  das  erwähnte  Marattifett  benützen 
und  damit,  riesigen  Schaden  anrichten  könnte.  Das  gilt  nicht 
nur  für  die  Margarine-,  sondefrn  auch  für  das  ganze  Gebiet 
der  Nahrungsmittelindustrie.  —  (Deutsche  medizin.  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  2.)  E.  F. 

* 

177.  Beitrag  zur  Kenntnis  des  epileptischen 
I  r  res  e i  n s.  V on  Priv.-  Doz.  Dr.  Otto  H e.n rieh  s  en,  zweiter 
Arzt  an  der  psychiatrischen  Klinik  in  Basel.  Verf.  führt  in  seiner 
Arbeit  den  Nachweis,  daß  das  epileptische  Irresein  in  einer  großen 
Anzahl  von  Fällen  nicht  typisch  verlaufe.  Volle  Sicherheit  für 
die  Diagnose  auf  epileptisches  Irresein  bietet  nur  der  Nachweis 
von  Krampfanfällen  oder  diesen  gleichwertig  zu  erachtenden  Er¬ 
scheinungen.  Ohne  letztere,  mehr  rein  aus  dem  psychischen 
Bilde,  dürften  nur  typisch  anfallsweise  auftretende  transitorische 
Bewußtseinsstörungen  mit  nachfolgender  totaler  oder  partieller 
Amnesie  und  Neigung  zur  Gewalttätigkeit  als  epileptisches 
Irresein  zu  diagnostizieren  sein.  Das  epileptische  Irresein 
ist  sehr  vielgestaltig,  es  kann  alle  überhaupt  bei  Geisteskranken 
vorkommenden  Zustandsbilder  aufweisen;  deswegen  ist  auch  der 
Beweis  der  Kombination  von  Epilepsie  mit  einer  funktionellen 
Psychose  —  theoretisch  ist  eine  solche  Kombination  wohl  denk¬ 
bar  —  in  praxi  schwer  zu  erbringen.  —  (Allgemeine  Zeitschrift 
für  Psychiatrie  und  psychisch -gerichtliche  Medizin,  Bd.  68,  H.  1.) 

S. 

* 

178.  (Aus  dem  pharmakologischen  Institut  der  Universität 
Freiburg  i.  R.)  Pharmakologische  Untersuchungen  über 
die  Mischnarkose.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  phil.  et  med.  Hermann 
Fühner.  Bei  Verwendung  mehrerer  Narkotika  zur  Herbeiführung 
der  Narkose  ist  die  Frage  wichtig,  wie  sich  dieselben  quantitativ 
in  ihrer  Wirkung  beeinflussen.  Summiert  sich  ihre  Wirkung 
einfach  oder  können  sich  dieselben  gegenseitig  in  ihrer  Wirkung 
verstärken.  Mit  anderen  Worten,  läßt  sich  nur  ein  partieller  oder 
ein  additiver  oder  ein  potenzierter  Synergismus  der  Narkotika¬ 
kombination  feststellen.  Verf.  hat  in  der  „Biologischen  Anstalt  lauf 
Helgoland“  Tierversuche  angestellt  an  kleinen  Exemplaren  eines 
marinen  Fisches,  CyclopteruS'  lUmpus  (Seehase,  Lumpfisch).  In 
diesen  Versuchen  prüfte  er  zunächst  indifferente  Narkotika  und 
bestimmte  ihre  narkotischen  Grenzkonzentrationen  in  Lösung  in 
Seewasser  erst  allein  für  jedes  Narkotikum,  dann  in  Mischung. 
Die  gebrauchten  Verbindungen  waren  Chloralhydrat-Aether,  Chlo- 
ralhydrat-Alkohol,  Paraldehyd-Aether,  Paraldehyd-Alkohol,  Phenol- 
Aether,  Phenol-Alkohol.  Bei  diesen  Versuchen  zeigte  sich,  daß 
sie  sich  in  ihrer  Wirkung  auf  das1  Zentralnervensystem  gegenseitig 
nur  addieren,  nicht  potenzieren.  Auch  für  die  Chloroform-Aether- 
mischung  dürfte  dies  gelten.  Wird  bei  Versuchen  arn  Warmblüter 
mit  diesen  Narkotizis  Verstärkung  der  Wirkung  beobachtet,  So 
ist  dieselbe  auf  Veränderung  der  Resorptionsverhältnisse,  nicht  auf 
Verstärkung  im  Zentralnervensystem  zurückzuführen.  Verfasser 
versuchte  festzustellen,  ob  bei  Kombination  von  basischen  mit 
indifferenten  Narkotizis  eine  verstärkte  Wirkung  zu  erkennen  ist. 
Es  bewirkte  aber  weder  Morphin  noch  Skopolamin,  allein  oder 
miteinander  gemischt,  Narkose,  und  bei  Verwendung  des  einen 
oder  anderen,  mit  Urelhanlösung  gemischt,  wurde  die  narkotische 
Wirkung  des  letzteren  in  keiner  Weise  verstärkt.  Verf.  hatte  bei 
seinen  früheren  Versuchen  über  Hämolyse  schon  gefunden,  daß 
eine  gesättigte  klare  Lösung  von  Aether  in  Wasser  sich  mit  einer 
ebensolchen  Chloroformlösung  nicht  klar  mischt,  daß  eine  Trü¬ 
bung  entsteht  und  sich  Tropfen  von  Aether-Chloroform  aus  der 
Flüssigkeit  abscheiden.  Die  beiden  Narkotika  Aether1  und  Chloro- 


W0CHENSCHR1FT.  1911.  Nr.  7 


form  verdrängen  sich  demnach  gegenseitig  aus  ihren  wässerigen 
Lösungen  und  diese  Beobachtung  könnte  das  Verständnis  für  eine 
verstärkte  Wirkung  der  Narkotikakombination  erschließen.  Mit 
der  Löslichkeits Verminderung  dieser  Narkotika  in  Wasser  ver¬ 
schiebt  sich  nämlich  ihr  Teilungskoeffizient  zwischen  Wasser 
und  Fetten  (Lipoiden)  zugunsten  der  letzteren.  Der  Teilungs¬ 
koeffizient  zwischen  Wasser  und  Oel  wird  bei  der  Mischung  zu- 
nelimen  und  damit  die  narkotische  Kraft.  Denn  je  höher  der 
Teilungskoeffizient,  desto  intensiver  ist  die  narkotische  Wirkung 
der  betreffenden  Substanz.  Die  Versuche  des  Verfassers  ergaben, 
daß  die  Erhöhung  des  Teilungskoeffizienten  für  indifferente  Nar¬ 
kotika  beim  Zustandekommen,  der  Narkose  des  Zentralnerven¬ 
systems  keine  nennenswerte  Rolle  spielt.  Dies  gilt  aber  nicht 
für  die  Narkose  durch  Kombination  von  indifferenten  Narkotizis 
mit  dem  Morphin.  Letzteres  ist  als  Base  in  Aether  oder  Benzol 
fast  unlöslich ;  etwas  besser  löst  es  sich  in  Chloroform  oder  Oel 
und  auch  in  den  Gehirnlipoiden.  Dieser  geringen  Löslichkeit  : 
entspricht  ein  niedriger  Teilungskoeffizient  des  Morphins  zwischen 
diesem  und  Wagser.  Die  Löslichkeit  der  Morphinbase  m  Wässer  ; 
bestimmte  Verf.  zu  0-022 % ;  in  Chloroform  zu  0-068°/o.  Daraus 
berechnet  sich  ein  Teilungskoeffizient  von  etwa  3.  Verfasser  fand 
nun,  daß  der  Teilungskoeffizient  des  Morphins  zwischen  Chloro-  ! 
form  und  Wasser  durch  Zusatz  indifferenter  Narkotika  außer¬ 
ordentlich  verschoben  werden  kann.  So  zum  Beispiel  bei 
Gegenwart  von  5°/o  Amylenhydrat  in  den  Lösungen  von  3 
auf  5,  von  5%  Unethan  auf  etwa  10  und  von  5%  Äethylalkohol 
auf  etwa  22.  Diese  Beobachtungen  können  allerdings  nicht  ohne 
weiteres  auf  den  Tierkörper  übertragen  werden.  Sie  zeigen  aber, 
daß  bei  der  Morphinbase  schon  durch  relativ  geringe  Mengen 
indifferenter  Narkotika  sehr  bedeutende  Verschiebungen  der  Lös¬ 
lichkeit  zugunsten  von  Flüssigkeiten,  welche  man  als  Analoga 
der  Gehirnlipoide  ansieht,  eintreten  können,  und  sie  geben  die 
Möglichkeit  einer  zwanglosen  Erklärung  für  eine  verstärkte  Wir¬ 
kung  des  Morphins  im  Zentralnervensystem'.  Verfasser  faßt  daher 
die  tatsächlich  vorhandene  verstärkte  zentrale  Wirkung  der  Kom¬ 
bination  von  Morphin  mit  gewissen  indifferenten  Narkotizis  auf 
als  bedingt  durch  eine  Löslichkeitserhöhung  des  Morphins  in 
den  Lipoiden  deis  Zentralnervensystems  durch  die  indifferenten 
Narkotika,  eine  einfache  physikalisch-chemische  Erklärung,  die 
dem  Verfasser  plausibler  erscheint,  als  das  Zurückgreifen  auf 
„Zellrezeptoren“  und  deren  besondere  Fähigkeiten.  —  (Münchener 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  4.)  G. 

* 

179.  (Aus  der  Chirurg.  Abteilung  des  Stadt.  Obuchow 
krankenhauses  für  Männer  in  St.  Petersburg.  —  Chefarzt:  Pro¬ 
fessor  Dr.  Zeidler.)  Ueber  operative  Behandlung  der 
Stichverletzungen  des  Zwerchfells.  Von  Dr.  M.  Ma- 
gul  a.  Verf.  berichtet  über  die  stattliche  Anzahl  von  65  Stich¬ 
verletzungen  des  Zwerchfelles,  von  welchen  67  operativ  behan¬ 
delt  wurden.  Nach  seinen  Erfahrungen  entstehen  die  meisten 
Zwerchfellverletzungen  auf  pleuralem  Wege  u.  zw.  ist  eine  Ver¬ 
letzung  des  Zwerchfelles  noch  möglich  bei  recht  hohem  Sitze 
der  äußeren  Wunde  (im  vierten  Interkostalraumi).  Es  zeigte  sich 
ferner,  daß  die  Stichverletzungen  des  Zwerchfelles  in  einer 
größeren  Anzahl  von  Fällen  mit  Verletzungen  der  Brust-  un«I 
Bauchorgane  vergesellschaftet  sind,  als  man  bisher  angenommen 
hat,  nämlich  in  59°/o  der  Fälle.  Leider  kann  die  Verletzung  des 
Zwerchfelles  nur  in  den  seltensten  Fällen  ohne  Operation  sicher 
konstatiert  werden  u.  zw.  nur  durch  Vorfall  von'  Netz  aus  der 
Thoraxwunde.  Die  anderen  früher  angegebenen  Symptome  haben 
sich  nicht  als  sicher  erwiesen,  es  gibt  kein  typisches  Bild  der 
Diaphragmaverletzung.  Da  nun  anderseits  hei  Diaphragma, Ver¬ 
letzungen  die  Gefahr  der  Entstehung  einer  Hernia  diaphragmatica 
oder  eine  Mitverletzung  lebenswichtiger  Organe  der  Brust-,  oder 
Bauchhöhle  besteht,  hält  Verf.  die  zuwartende  Behandlung  nicht 
für  angezeigt.  Es  hat  sich  daher  auf  der  Abteilung  Prof.  Zeidlers  • 
immer  mehr  der  Grundsatz  festgesetzt,  jede  nicht  über  zwölf 
Stunden  alte  Stichverletzung  des  Thorax  und  Abdomens  zu  er¬ 
weitern  und  sich  zu  überzeugen,  ob  keine  lebenswichtigen  Or¬ 
gane  verletzt  sind.  Bei  allen  Fällen  von  Zwerchfellverletzungen 
wurde  der  pleurale  Weg  eingeschlagen ;  nach  Erweiterung  der 
Wunde  und  Resektion  von  Rippen  wurde  die  Zwerchfellwunde 
erweitert  und  auch  die  Rauchorgane  besichtigt.  Gewöhnlich  konnte 


Nr.  7 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


253 


das  Zwerchfell  genäht  werden;  wenn  aber  ein  intraabdominelles 
Organ  tamponiert  werden  mußte,  so  geschah  das  durch  das 
Zwerchfell  nach  vorheriger  Vemähung  der  Zwerchfellwunde  mit 
der  Pleura  costalis  nach  Frey.  Auf  diese  Weise  wurde  die.  Ent¬ 
stehung  einer  Zwerchfellhernie  unmöglich  gemacht  und  die  In¬ 
fektion  der  Pleurahöhle  vermieden.  Die  Mortalität  betrug  bei 
den  nicht  komplizierten  ZwerchfelLverletzungen  16-6%,  bei  den 
mit  Verletzungen  lebenswichtiger  Organe  komplizierten  Fällen 
war  die  Mortalität  eine  recht  hohe,  63-9°/o.  - —  (Langenbecks 
Archiv,  Bd.  3,  H.  3.)  ^  se, 

* 

180.  (Aus  der  Universitäts-Kinderklinik  Leipzig.  —  Direktor: 

Geheimrat  Prof.  Dr.  0.  Soltmann.)  Säuglingssterblich¬ 
keit  und  Außentemperatur  im  Winter.  Von  Dr.  Hans 
Risel.  Verf.  konnte  keinerlei  Beziehungen  nachweisen  zwischen 
Säuglingssterblichkeit  und  selbst  strengster  Kälte,  obwohl  man 
vielleicht  eine  solche  hätte  erwarten,  können,  nachdem  neuer¬ 
dings  auch  wieder  der  Zusammenhang  zwischen  sommerlichem 
Temperaturanstieg  und  dem  Anschwellen  der  Säuglingssterblich¬ 
keit  Anerkennung  gefunden  hat.  Abkühlung  scheint  eben  selten 
eine  akute,  den  Tod  des  Säuglings  herbeiführende  Schädigung 
darzustellen,  zumal  für  den  älteren  Säugling.  Die  an  kranken 
Kindern  beobachteten  subnormalen  Temperaturen  dürften  dem¬ 
entsprechend  auch  nicht  so  sehr  durch  rein  äußere  Abkühlung 
bedingt  sein,  als  vielmehr  durch  den  Krankheitsprozeß  selbst 
und  durch  den  Zustand  des  Kindes.  —  (Zeitschrift  für  Kinder¬ 
heilkunde  1910,  Bd.  1,  H.  1.)  K.  S. 

* 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

181.  Ueber  Kinderlähmung  mit  meningitischen 
Symptomen  im  Initialstadium;  die  meningitischen 
Formen  der  Heine-Medinschen  Krankheit.  Von  Arnold 
Netter.  Das  Vorkommen  von  meningitischen  Symptomen  bei 
Kinderlähmung  ist  schon  mehrfach  beschrieben  worden.  In  jedem 
Fälle  besteht  eine  Reaktion  der  Meningen  im  histologischen 
Sinne,  welche  sich  im  Vorhandensein  von  zeitigen  Elementen 
in  der  Zerebrospinalflüssigkeit  in  den  ersten  Tagen,  sowie  durch 
Infiltration  der  Pia  mater  und  ihrer  Fortsätze  mit  mononukleären 
Zellen,  namentlich  im  lumbalen  Anteil,  kundgibt.  Diese  entzünd¬ 
lichen  Reaktionen  können  klinisch  latent  verlaufen  oder  durch 
Schmerzen  sich  kundgeben,  welche  spontan  oder  auf  Druck  auf- 
treten.  Die  mitgeteilten  Beobachtungen  beziehen  sich  nur  auf 
solche  Fälle,  wo  typische  Meningitissymptome,  wie  Kopfschmerzen, 
Nackenstarre,  schmerzhafte  Steifigkeit  der  Wirbelsäule,  Kernig- 
sches  Zeichen  usw.  auftraten  und  die  Diagnose  einer  Zerebro- 
spinalmeningitis  nahelag.  Die  Beobachtungen  umfassen  zwei 
Gruppen,  je  nachdem  die  Motilitätsstörungen  bedeutend  und  lang¬ 
dauernd,  oder  von  geringer  Intensität  und  kurzer  Dauer  waren. 
Es  scheint,  daßi  die  meningitischen  Formen  der  Kinderlähmung 
innerhalb  bestimmter  Epidemien  mit  besonderer  Häufigkeit  auf- 
treten.  Die  Lumbalpunktion  ergibt  eine  klare,  lymphozytenhaltige 
Zerebrospinalflüssigkeit,  wie  sie  auch  bei  echter  Meningitis  in 
einzelnen  Fällen  vorkommt,  so  daß  die  Differentialdiagnose  auf 
zytologischer  Grundlage  nicht  mit  Sicherheit  gestellt  werden 
kann.  Das  Bestehen  einer  Epidemie  von  Kinderlähmung,  das 
Auftreten  im  Sommer  und  Herbst,  wo  die  Meningitis  selten  ist, 
vermag  einen  Fingerzeig  für  die  Diagnose  zu  geben.  Die  Fälle 
mit  kurzdauernder  und  wenig  ausgesprochener  Lähmung  lassen 
das  Vorkommen  einer  Form  der  Kinderlähmung  von  rein  menin- 
gitischem  Typus  als  wahrscheinlich  erscheinen.  Das  beschrie¬ 
bene  Krankheitsbild  basiert  auf  der  Beobachtung  von  23  ein¬ 
schlägigen  Fällen.  —  (Bull,  et  Mem.  de  la  Soc.  med.  des  hop. 

de  Paris  1910,  Nr.  30.)  ,  a.  e. 

* 

182.  Ein  neuer  anatomisch-klinischer  Svmpto- 
menkomplex:  diö  Dem'entia  paraplegica  bei  chroni¬ 
scher  kortikaler  Enzephalitis.  Von  G.  Deny  und  J.L her¬ 
mitte.  Der  durch  Herabsetzung  der  psychischen'  Funktion  und 
Paraplegie  gekennzeichnete  Sy m p tome n k o mp  1  e x  ist  namentlich 
dem  Kindes-  und  Greisenalter  eigentümlich.  Die  Dementia  para¬ 
plegica  des  Greisenalters,  welche  größere  Polymorphie  des1  Sym- 
ptomenbildes,  sowie  Variationen  der  Intensität  und  Lokalisation 
des  pathologisch  -  anatomischen  Prozesses  aufweist,  ist  noch  wenig 


erforscht.  Besonders  selten  ist  das  Vorkommen  des  Symptomen- 
komplexes  im  mittleren  Lebensalter;  in  diese  Kategorie  gehört 
die  eine  48jährige  1  rau  betreffende  Beobachtung,  welche  die 
Verfasser  mitteiilen.  Zunächst  stellten  sich  bei  der  Patientin, 
welche  keine  Anhaltspunkte  für  Syphilis  darbot,  Kopfschmerzen, 
leichte  Sehstörungen,  Hypochondrie  und  zunehmende  Gedächtnis¬ 
schwäche  ein,  zu  welcher  sich  schließlich  eine  vollständige  Läh¬ 
mung  der  unteren  Extremitäten  hinzugesellte.  Die  Untersuchung 
ergab  außerdem  allgemeine  Abmagerang,  Fehlen  von  Sensibilitäts- 
störungen  und  gesteigerte  Reflexe  an  den  oberen  und  unteren 
Extremitäten;  der  Exitus  erfolgte  durch  Kollaps  im  Anschluß 
an  Pneumonie.  Hirnsyphilis,  progressive  Paralyse,  Hirntumor, 
Polyneuritis  alcoholica  konnten  mit  großer  Wahrscheinlichkeit 
diagnostisch  ausgeschlossen  werden,  die  meiste  Aehnlichkeit  zeigte 
das  Krankheitsbild  mit  der  senilen  Dementia  paraplegica  lakunären 
Ursprunges.  Die  Autopsie  ergab  die  Unrichtigkeit  dieser  Dia¬ 
gnose,  da  keine  Desintegration  der  Pyramidenbahn  in  ihrem  Ver¬ 
lauf  durch  das  Großhirn  nachgewiesen  werden  konnte.  Die  Unter¬ 
suchung  ergab  als  Grundlage  der  Erkrankung  tiefgreifende  Ver¬ 
änderungen  in  den  Rindenzellen  im  Gebiete  dos  Stirn-,  Schläfer 
und  Hinterhauptlappens.  Während  die  diffusen  Veränderungen 
der  Hirnrinde  die  Demenz  erklären,  konnte  als  Grundlage  der 
Paraplegie  der  unteren  Extremitäten  im  Gebiete  der  Parazentral¬ 
lappen  eine  Erkrankung  der  tieferen  Schicht  der  grauen  Substanz 
an  der  Grenze  gegen  die  weiße  Substanz  nachgewiesen  werden. 
Neben  der  Degeneration  der  Rindenzellen  bestand  ausgedehnte 
Proliferation  der  Neuroglia,  während  die  Wucherung  der  Ele¬ 
mente  der  adventitiellen  perivaskulären  Scheide  weniger  aus¬ 
gesprochen  war.  Diel  Zerstörung  der  Rindenelemente  hatte  se- 
kundär  eine  Degeneration  der  zugehörigen  Fasern  der  Pyramiden¬ 
bahn  zur  Folge,  während  das  Kleinhirn  und  die  zugehörigen 
Bahnen,  die  vorderen  Wurzeln  und  die  peripheren  Nerven  keine 
Veränderungen  zeigten.  Die  Ursache  der  Erkrankung  ist  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit  in  einer  Autointoxikation  zu  suchen,  deren 
Grundlage  die  bei  der  Autopsie  nachgewiesene  hochgradige  Leber¬ 
zirrhose  darstellte.  Die  Beobachtung  lehrt,  daß  im  mittleren 
Lebensalter  eine  Demenz  mit  progressiver  Paraplegie  vorkommt, 
welche  klinisch  Aehnlichkeit  mit  der  senilen  paraplegischen  De¬ 
menz  lakunären  Ursprunges  darbietet  und  deren  anatomische 
Grundlage  eine  chronische  Enzephalitis  bildet,  welche  sich  von 
den  Stimlappen  zu  den  Parazentrallappen  erstreckt.  —  (Sem.  med. 
1910,  Nr.  50.)  a.  ©. 

* 

Aus  italienischen  Zeitschriften. 

183.  Ueber  die  ther  apeutische  W irkung  der  Magen- 
und  Darmausspülung  mit  Protargol.  Von  A.  Cantani. 
Das  Argentum  nitricum  findet  trotz  seiner  therapeutischen  Eigen¬ 
schaften  wegen  der  Gefahr  einer  Reizwirkung  in  der  Behandlung 
von  Magen-  und  Darmkrankheiten  gegenwärtig  kaum  Anwendung. 
Als1  Ersatz  des  Argentum  nitricum  verwendete  der  Verfasser 
eine  Silbereiweißverbindung,  das  Protargol,  welches  in  der  Go¬ 
norrhoebehandlung  und  in  der  Augenheilkunde  wegen  seiner 
Reizlosigkeit  ausgedehnte  Anwendung  gefunden  hat.  Das  Pro- 
targol  wurde  bei  verschiedenen  Erkrankungen  des  Gastrointestinal¬ 
traktes  in  Form  von  Magen-  und  Darmausspülungen  verwendet. 
In  der  Regel- reicht  eine  2%o-  Lösung  aus,  doch  kann  nach  Bedarf 
die  Konzentration  auch  auf  das  Doppelte,  ohne  Schaden  erhöht 
werden.  Zur  Herstellung  der  wässerigen  Lösung  werden  dem  Pro¬ 
targol  einige  Tropfen  Glyzerin  zugesetzt  und  die  Lösung  im 
Wasserbad  bis  auf  30°  C  erwärmt.  Bei  der  Magenausspülung 
wurde  der  Magen  zunächst  mit  einem  Liter  reinen  Wassers  ge¬ 
reinigt,  dann  ein  Liter  der  l°/oo  Protargollösung  in  den  Magen 
gebracht,  darin  durch  fünf  bis  zehn  Minuten  belassen  und  mit 
einigen  Litern  lauen  Wassers  nachgespült.  Bei  der  Eingießung 
der  Protrargollösung  in  den  Darm  ist  die  vorhergehende  Reini- 
güng  mit  Wasser  nicht  notwendig.  In  Fällen  von  Gastrektasie 
mit  Pylorusstenose  wurden  Milchsäuregärang,  Pyrosis  und  Er¬ 
brechen  günstig  beeinflußt;  auch  bei  chronischem  Magenkatarrh 
mit.  reichlicher  Schleimsekretion,  bei  Gastrosukkorrhoe  und  in 
einem  Falle  von  Magengeschwür,  wurde  befriedigender  Erfolg  er¬ 
zielt.  Noch  günstiger  waren  die  Erfolge  bei  Darmerkrankungen. 
Bei  Dysenterie  und  Pseudodysenterie  wurden  durch  2  bis  6%o 
Protargolenteroklysmen  zu  Beginn  der  Erkrankung  schon  nach 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  7 


254 


wenigen  Tagen  Heilung  erzielt.  Bei  Enterokolitis  mucomembra,- 
nosa,  bei  chronischer  Enteritis  mit  hartnäckiger  Diarrhoe,  bei 
Darminfektionen,  wie  z.  B.  Abdominaltyphus  und  Cholera  nostra, 
war  der  Erfolg  bemerkenswert,  so  daß  auch  im  Initialstadium 
der  Cholera  ein  Versuch  mit  Protargolklysmen  gerechtfertigt 
wäre.  Besonders  bemerkenswert  war  die  Wirkung  der  Protargol- 
enteroklyse  bei  tuberkulösen  Diarrhöen.  Bei  Gastroenteritis  des 
Kindesalters  wurden  Klysmen  von  250  bis  300  cm3  einer  2%o 
Protargollösung  mit  sehr  befriedigendem  Erfolg  angewendet. 
(Gaz.  degli  osped.  1910,  Nr.  138.)  a.  ©. 

* 

184.  Der  Einfluß  des  Diphtherietoxins  auf  die 

Lipolyse.  Von  A.  Barlocco.  Das  Diphtherietoxin  hat  an  und 
für  sich  keine  lytische  Wirkung  auf  neutrales  oder  mit  Natrium¬ 
karbonat  neutralisiertes  Del,  dagegen  spaltet  es  die  Fette,  wenn 
ihre  Lösung  schon  begonnen  hat.  Auf  das  lipolytische  Vermögen 
tierischer  Organe  übt  das  Diphtherietoxin  konstant  eine  Ver¬ 
stärkung  aus  oder  reaktiviert  dasselbe.  —  (Annali  del  ’  Istituto 
Maragliano,  1910,  H.  4.)  sz. 

* 

185.  lieber  Lung  engewehe  als  Antigen.  Von  E.  Cal- 

ca terra.  Von  dem  Gedanken  ausgehend,  ob  der  Einschmelzung 
des  Lungengewebes  bei  der  Tuberkulose  und  Pneumonie  irgendein 
Einfluß  auf  diesen  Krankheitsprozeß  zukommt,  hat  Autor  Kanin¬ 
chen  mit  vom  Blute  befreitem,  zerriebenem  Lungengewebe  be¬ 
handelt.  Die  Versuche  ergaben,  daß  sich  durch  Vorbehandlung 
von  Kaninchen  mit  Lungengewebe  kein  spezifisches,  gegen 
Lungengewebe  gerichtetes  Lysin  erzeugen  läßt.  Das 
negative  Ergebnis  dieser  Versuche  ist  um  so  bemerkenswerter, 
als  es  verschiedenen  Autoren  gelang,  mit  Nerven-,  Leber-  und 
Nierengewebe  spezifische  Lysine  zu  erzeugen.  Aus  dem  negativen 
Ausfall  dieser  Versuche  ergibt  sich,  daß  nicht  alle  Gewebsarten 
sich  in  bezug  auf  die  Fähigkeit,  spezifische  Lysine  zu  erzeugen, 
gleich  verhalten  und  daß  dem  Lungengewebe  in  dieser  Richtung 
eine  besondere  Stellung  einzuräumen  ist.  (Annali  del'  Istituto 
Maragliano,  1910,  EI.  4.)  sz. 

* 

186.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  der  Universität  in 

Genua.  —  Direktor:  Prof.  Maragliano.)  Studien  über  die 
tuberkulösen  Exsudate  des  Menschen  in  ihrer  Be¬ 
ziehung  zur  Immunität.  Von  Sp.  Livierato  und  E.  Cros- 
sonini.  Die  Experimente,  welche  mit  Exsudaten  von  tuber¬ 
kulöser  Pleuritis,  Peritonitis  und  Polyserositis,  sowie  Exsudaten 
nichttuberkulöser  Provenienz  in  vitro  und  an  Meerschweinchen 
angestellt  wurden,  ergaben  folgendes:  1.  Daß  die  tuberkulösen 
Exsudate  eine  ausgesprochene  prophylaktische  und  Schutzwirkung 
gegen  die  akute  Tuberkulinvergiftung  der  Tiere  entfalten.  2.  Daß 
einige  derselben  eine  deutlich  positive  Agglutinationsreaktion  bei 
zehnfacher  Verdünnung  gaben.  3.  Daß  die  Reaktion,  welche  auf 
der  Gegenwart  von  spezifischen  Präzipitinen  beruht,  selten  er¬ 
halten  wurde;  nur  zweimal  in  20  Fällen.  4.  Daß  die  Gegenwart 
spezifischer  Sensibilisatoren  in  den  untersuchten  Fällen  nicht 
häufig  war;  5mal  positive  Komplementablenkungsreaktion  unter 
20  Exsudaten.  5.  Daß  die  bezüglich  des  opsonischen  Index  er¬ 
haltenen  Ergebnisse  keinerlei  Schlüsse  zulassen.  Zwischen  der 
antitoxischen  Wirkung  des  Serums,  die  sich  in  der  leben sverlän- 
gernden  oder  lebenserhaltenden  Wirkung  auch  nur  einer  In¬ 
jektion  bei  tuberkulösen  oder  mit  Tuberkulin  vergifteten  Kaninchen 
äußerte  und  dem  Agglutinations-,  Präzipitations-,  Komplement¬ 
ablenkungsvermögen  und  dem  opsonischen  Index  ergaben  sich 
keine  Beziehungen.  Die  Tatsache,  daß  auch  nur  eine  Injektion 
des  Serums  eine  deutliche  Wirkung  entfaltet,  spricht  dafür,  diese 
Wirkung  eher  als  primär  antitoxisch  anzusehen,  als  sie  erst 
auf  durch  die  Injektion  ausgelöste  reaktive  Vorgänge  im  Organis¬ 
mus  zurückzuführen.  —  (Gazzetta  degli  ospedali  e  delle  cli- 
niche,  8.  Januar  1911.)  sz. 

* 

Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

187.  Die  Behandlung  der  Eklampsie  und  ein  Ver¬ 
gleich  der  Gefahren  der  Chloroform-  und  Aethernar¬ 
kose  bei  dieser  Krankheit.  Von  E.  Crag  in  und  E.  Mull. 
Für  die  Behandlung  der  Eklampsie  werden  folgende  fünf  Leit¬ 
punkte  aufgestellt:  1.  Die  Stoffwechselprodukte,  deren  Ausschei¬ 


dung  notwendig  ist,  müssen  vermindert  werden.  2.  Die  Aus¬ 
scheidung  dieser  Stoffwechselprodukte  muß  begünstigt  werden. 
3.  Ein  hoher  Blutdruck  muß  herabgesetzt  werden.  4.  Wenn  die 
Toxämie  der  Kranken  nach  dem  Harnbefunde,  dein  Blutdruck  und 
dem  Allgemeinzustande  beurteilt,  sich  nicht  deutlich  bessert  oder 
wenn  ein  eklamptischer  Anfall  auftritt,  so  muß  der  Uterus  ent¬ 
leert  werden.  5.  lene  Behandlungsmethoden  müssen  vermieden 
werden,  welche  die  Widerstandskraft  der  Kranken  herabsetzen 
oder  irgendeines  ihrer  Organe  ernstlich  gefährden.  Was  den  ersten 
Punkt  betrifft,  so  ist  die  Verabreichung  von  rotem  Fleisch  bei 
allen  Formen  der  Toxämie  der  Schwangerschaft  und  des  Puer¬ 
periums  zu  vermeiden.  Um  die  giftigen  Eiweißstoffwechselprodukte 
aus  dem  Körper  zu  eliminieren,  muß  ihre  Ausscheidung  durch 
den  Harn  (reichlicher  Wassergenuß),  den  Darmtrakt  (Laxativa 
und  Kolonspülungen)  und  die  Haut  (hydriatische  Prozeduren) 
gefördert  worden.  Zur  Herabsetzung  des  Blutdruckes  ist  die 
Verord  n  ung  v  on  V  e  r  a  t.  r  u  m  v  i  r  i  d  e,  Nitroglyzerin  oder 
C  h  1  o  r  a  1  h  y  d  r  a  t  (per  Klysma)  nützlich.  Diese  Medikamente 
sind  dem  Aderlässe  vorzuziehen.  Ergibt  sich  trotzdem  die  Not¬ 
wendigkeit,  die  Schwangerschaft  zu  unterbrechen,  so  kommt  als 
hiebei  zu  verwendendes  Narkotikum  nur  Aether  in  Betracht,  da 
Chloroform  an  und  für  sich  ähnliche  toxische  Zustände  erzeugen 
kann,  wie  man  sie  bei  der  Eklampsie  antrifft.  V ersuche  mit  Chloro¬ 
formnarkose  bei  Hunden  haben  ergeben,  daß  ähnlich  wie  bei 
der  Eklampsie  auch  bei  protrahierter  Chloroformnar¬ 
kose  schwere  Leberdegeneration  ein  treten  kann.  Aether 
bewirkt  dagegen  keine  solchen  Veränderungen  in  der  Leber 
der  Versuchstiere.  Als  Anästhetikum  der  W  ahl  muß  da¬ 
her  Aether  angesehen  werden.  Unter  20  Fällen  von  Eklam¬ 
psie,  welche  mit  Aethernarkose  operiert  wurden,  war  bloß 
ein  Todesfall,  d.  i.  5%  Mortalität,  während  unter  20  Fällen, 
bei  Welchen  Chloroform  zur  Narkose  benützt  wurde,  fünf  Todes¬ 
fälle,  d.  i.  25%  Mortalität,  waren.  Diei  durchschnittliche  Mortalität 
bei  der  Eklampsie  betrug  —  aus  einer  Zahl  von  20.000  Fällen  be¬ 
rechnet.  —  28%.  Die  mit  Aethernarkose  operierten  Eklampsiefälle 
waren  in  bezug  auf  die  Prognose  durchaus  nicht  leichter  als 
die  sonst  beobachteten.  —  (The  Journal  of  the  American  Medical 
Association,  7.  Januar  1911.)  sz. 

* 

188.  Die  Aetiologie  der  Eklampsie.  Von  E.  Davis 

und  C.  Foulkrode.  Die  Eklampsie  ist  eine  besondere  Krank¬ 
heit  mit  verschiedenen  Manifestationen  und  einem  eigenartigen 
pathologischen  Bilde.  Es  besteht  eine  Beziehung  zwischen  der 
Tatsache,  daß  ein  geänderter  Stickstoff-Stoffwechsel  —  Vermeh¬ 
rung  des  sogenannten  , pindeterminierten“  Stickstoffes  (hauptsäch¬ 
lich  den  Proteinsäuren  angehörend)  auf  Kosten  des  Harnstoffes 
und  Zunahme  des  Ammoniaks  —  vorhanden  ist  und  der  Tatsache, 
daß  die  Leber  das  am  meisten  bei  der  Eklampsie  a  ff  i  zierte 
Organ  darstellt.  Die  Verfolgung  der  progressiven  Stickstoff-Stoff- 
wechselstörung  kann  den  Zeitpunkt  anzeigen,  wann  die  Leber¬ 
veränderungen  soweit  fortgeschritten  sind,  daß  eine  Besserung 
nicht  mehr  möglich  ist.  Als  die  plausibelste  Theorie  zur  Erklärung 
der  Eklampsie  kann  jene  angesehen  werden,  welche  die  Ursache 
dieser  Krankheit  in  der  mangelhaften  oder  gestörten  Wirkung 
eines  plazentaren  Fermentes  sieht.  Irgendein  vorher  schon  be¬ 
standener  pathologischer  Zustand  des  Organismus  kann  die  Ent¬ 
stehung  der  Eklampsie  begünstigen,  indem  er  die  plazentare  Funk¬ 
tion  stört.  — -  (The  Journal  of  the  American  Medical  Association, 
7.  Januar  1911.)  sz. 

* 

189.  Die  Vorbeugung  der  Kindersterblichkeit. 
Von  G.  Koehler  und  C.  Drake.  Die  allgemeine  Milchversorgunü 
durch  «len  Markt  muß  in  der  Richtung  verbessert  werden,  daß 
diejenigen,  die  bei  der  Ernährung  der  Säuglinge  und  Kinder 
auf  diese  Quelle  angewiesen  sind,  nicht  unnötigerweise  die  Ge¬ 
fühlen  einer  Infektion  mit  in  den  Kauf  nehmen  müssen.  Alle 
Milch,  welche  nicht  in  Uebereinstimmung  mit  strengen  sanitären 
Anforderungen  gewonnen  wird,  soll  unter  städtischer  Kon 
trolle  pasteurisiert  werden.  Die  Kinder  sollen  in  der  heißen 
Jahreszeit  mit  reinem  Wasser  versorgt  werden.  Bei  vielen  Kin¬ 
dern  wird,  wenn  sie  schreien,  nicht  daran  gedacht,  daß  sie  aus 
Durst  schreien.  Diesen  kann  man  mit  gutem  Wasser  stillen.  Die 
Luft,  das  erste  Erfordernis  für  die  Kinder  bei  der  Geburt,  soll 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


rein  sein.  Die  kurative  Wirkung  reiner  Luft  bei  Lungenkrank- 
heiten,  Marasmus,  englischer  Krankheit,  Sommerdiarrhoen,  ihre 
besänftigende  Wirkung  auf  schreiende  und  unruhige  Kinder  wurde 
in  der  letzten  Zeit  immer  klarer  erkannt.  Wenn  die  frische 
Luft  auf  das  kranke  Kind  wohltätig  wirkt,  so  muß  die«  ebenso 
auch  für  das  gesunde  Kind  der  Fall  sein.  —  (The  Journal  of 
the  American  Medical  Association,  7.  Januar  1911.)  sz. 

* 

190.  Die  Anwendung  von  Vakzinen  beim  Typhus. 
Von  J.  Anders.  Impfungen  mit  abgetöteten  Typhusbazillen 
wurden  seit  dein  Jahre  1909  von  verschiedenen  Autoren  zur  Be¬ 
handlung  des  Typhus  angewendet.  Die  Resultate  erlauben  noch 
keine  sichere  Stellungnahme,  so  daß  weitere  diesbezügliche  Unter¬ 
suchungen  notwendig  erscheinen.  Der  Autor  hat  selbst  in  acht 
Fällen  von  Typhus  Injektionen  der  Vakzine  vorgenommen  und 
hatte  den  Eindruck,  daß  der  Einfluß  derselben  in  manchen  Fällen 
ein  günstiger  war.  Blutuntersuchungen,  welche  vor  und  nach 
der  Impfung  angestellt  wurden,  ergaben  keine  Vermehrung  der 
polynukleären  Leukozyten  im  Gefolge  der  Impfung.  Nach  dem 
gegenwärtigen  Stande  der  diesbezüglichen  Kenntnisse,  midi  der 
Vakzination  ein  Wert  zugeschrieben  werden:  1.  als  Mittel  zur 
Prophylaxe  des  Typhus,  2.  in  der  Rekonvaleszenz,  um  Rückfall 
zu  verhüten,  3.  zur  Behandlung  lokaler,  vom  Typhusbazillus 
erregter  Affektionen  in  der  Rekonvaleszenz,  zum  Beispiel  von 
Knocheneiterungen,  4.  zur  Entfernung  der  Typhusbazillen  aus 
dem  Kote  und  dem  Harne  der  sogenannten  Bazillenträger.  (The 
Journal  of  the  American  Medical  Association,  10.  Dezember  1910.) 

sz1. 

* 

191.  Die  physiologische  Wirkung,  der  Gebrauch 
und  Mißbrau  c'h  des  A  Ikohols  bei  den  zirkulator is c  hen 
Störungen  der  akuten  Infektionskrankheiten.  Von 
J.  Miller.  Bei  den  zirkulatorischen  Störungen  der  akuten  In¬ 
fektionskrankheiten  tritt  eine  Verschlechterung  der  Get'äßregula- 
tion  mehr  hervor  als  Störungen  von  seiten  des  Herzens.  Thera¬ 
peutische  Maßnahmen  müssen  daher  auf  die  Verhinderung  oder 
Besserung  dieser  vasomotorischen  Störungen  gerichtet  sein.  Alko¬ 
hol  in  kleineren  Dosen  wirkt  beim  Menschen  und  bei  den  kleineren 
Tieren  häufig  als  ein  kardiovaskuläres  Stimulans.  Größere  Mengen 
von  Alkohol  wirken  bei  Individuen,  die  nicht  an  seinen  Gebrauch 
gewöhnt  sind,  stets  depress  or  isch  auf  das  kardiovaskuläre  System, 
indem  die  vasomotorischen  Zentren  gelähmt  werden.  Die  Grenze 
zwischen  der  stimulierend  und  der  depressorisch  wirkenden  Menge 
Alkohols  ist  variabel.  Die  Variabilität  in  der  Wirkungsweise  macht 
den  Alkohol  zu  einem  unerwünschten  Therapeutikum.  (The 
Journal  of  the  American  Medical  Association,  10.  Dezember  1910.) 

sz. 

Nekrolog. 

Dr.  Sigmund  Lustgarten. 

Am  22.  Januar  d.  J.  verschied  in  New  York  der  bekannte 
Dermatologe  Dr.  Sigmund  Lu  sf  gar  ten.  Er  war  in  Wien  am 
19.  Dezember  1857  geboren,  besuchte  daselbst  das  Gymnasium 
und  die  Universität  und  promovierte  im  Jahre  1881. 

Nach  vollendeten  Studien  diente  er  einige.  Zeit  au  ver¬ 
schiedenen  Abteilungen  des  Wiener  Allgemeinen  Krankenhauses, 
war  ein  Jahr  Assistent  am  chemischen  Laboratorium  des  Hofrates 
Prof.  Ludwig  und  wurde  dann  nach  einer  größeren  Studienreise 
im  Auslande  Assistent  an  der  Klinik  Prof.  Kaposi  und  habili¬ 
tierte  sich  einige  Zeit  darauf  als  Privatdozient  für  Hautkrank¬ 
heiten  und  Syphilis.  Er  publizierte  eine  Reihe  interessan Un¬ 
wissenschaftlicher  Arbeiten,  die  ihn  unter  seinen  Fachkollogen 
im  Inlande  und  Auslande  bekannt’  machten.  Es  erging  an  ihn 
ein  Ruf  als  Professor  an  die  medizinische  Akademie  an  Konstante 
impel,  den  er  aber,  nachdem  er  sich  am  Ort  und  Stell»1  über  die 
näheren  Verhältnisse  informiert  hatte,  nicht  annahm. 

Im  Jahre  1889  übersiedelte  Dr.  Lustgarten  aus  persön¬ 
lichen  Gründen  nach  New  York,  woselbst  es  ihm  durch  seine  be¬ 
sondere  fachliche  Tüchtigkeit  und  Gewissenhaftigkeit,  und  durch 
seine  persönliche  Liebenswürdigkeit  in  kurzer  Zeit  gelang,  sich 
einen  wohlbegründeten  Ruf  als  Dermatologe  und  eine  angesehene 
Stellung  und  Praxis  zu  erwerben.  Obgleich  Dr.  Lustgarten 
amerikanischer  Staatsbürger  wurde  und  eine  Amerikanerin  hei¬ 


ratete,  mit  welcher  er  in  glücklichster  Ehe  lebte,  blieb  er  doch 
m  seinem  Herzen  ein  treuer  Oesterreicher  und  seiner  immer 
geliebten  Vaterstadt  so  zugetan,  daß  er  fast  jedes  zweite  Jahr 
den  größten  Teil  seines  Urlaubes  in  Wien  mit  Studiengenossen 
verbrachte  und  in  New  York  jedem  Oesterreicher,  »1er  sich  an 
ihn  wendete  und  es  waren  deren  nicht  wenige  nicht  nur 
mit  seinem  Rate,  sondern  auch  mit  freigebiger  Unterstützung 
an  die  Hand  ging.  Vor  einigen  Jahren  wurde  'er  durch  das  Ritter¬ 
kreuz  des  österreichischen  Franz  -  Josephs  -  Ordens  ausgezeichnet. 

Schon  seit  längerer  Zeit  zeigten  sieh  hei  Dr.  Lustgarten 
Spuren  eines  Lungenleidens,  gegen  welches  er  noch  im  letzten 
Sommer  in  den  österreichischen  Alpen  —  leider  vergebens 
Linderung  suchte. 

Dr.  Lustgarten,  hinterläßt  sowohl  in  Amerika,  als  auch 
in  Oesterreich  einen  großen  Kreis  trauernder  Freunde. 

•I.  Ros  an  es. 


\/ermisehte  Maehriehten. 

Ernannt.  Der  Adjunkt  des  k.  k.  Allgemeinen  Kranken¬ 
hauses  in.  Wien,  Dr.  Alfred  Jungmann,  zum  Primararzt  zweiter 
Klasse  ad  personam.  Prof.  Dr.  Julius  Schwalbe,  Redakteur 
der  Deutschen  med.  Wochenschrift  zum  Geheimen  Sanitätsrat. 

Dr.  Friedrich  Klein  zum  außerordentlichen  Professor  der  Phy¬ 
siologie»- in  Kiel.  Dr.  Lodatö  zum  ordentlichen  Professor  der 
Augenheilkunde  in  Palermo. 

* 

Verliehen:  Dem  Gefangenhausarzte  in  Mährisch- Ostrau, 
Pr.  Josef  Häla,  der  Titel  eines  kaiserlichen  Rates.  Der 
Titel  und  Charakter  eines  Generalstabsarztes:  den  Oberstabsärzten, 
Doktoren:  Johann  Po  hi  sek.  Julius  Palkovics,  Wilhelm  Zeis 
borg ^r,  Wilhelm  Heltiner.  Dem  Privatdozenten  an  der 
deutschen  technischen  Hochschule  in  Brünn,  Primararzt  Doktor 
Theodor  Spietschka,  der  Titel  eines  außerordentlichen  Pro¬ 
fessors. 

* 

Habilitiert:  Dr.  H.  Rhese  für  Oto-,  Rhino-  und  La- 
ryngologfe  in  Königsberg.  Dr.  Pulvirenti  für  Geburtshilfe 
und  Frauenheilkunde  in  Rom.  Dr.  Cipolla  für  Dermatologie 
und  Syphiligraphie  in  Neapel.  -  Dr.  Pietri  für  Chirurgie  in 
Sassari. 

* 

Gestorben:  Prof.  Dr.  Richard  Stern,  Direktor  der  medi¬ 
zinischen  Poliklinik  in  Breslau. 

* 

Der  Kaiser  hat  das  Allerhöchste  Protektorat  über  die  Oester- 
reichische  Gesellschaft  zur  Erforschung  und  Be¬ 
kämpfung  der  Krebskrankheit  übernommen.  Aus  diesem 
Anlasse  versammelte  sich  der  Vorstand  der  Gesellschaft  zu  einer 
Sitzung.  Vorsitzender  Hofrat  v.  Eiseisberg  machte  hievon 
Mitteilung  und  entwickelte  sodann  das1  Programm:  und  die 
nächsten  Ziele  der  Gesellschaft.  Der  Vorstand  beschloß  dann, 
die  Ziele  und  Zwecke  der  Gesellschaft  auch  in  einer  großen 
Festversammlung  zu  propagieren,  die  am  5.  März  im  Fest¬ 
saale  der  Universität'  stattfinden  wird. 

* 

Die  mathematisch  -  naturwissenschaftliche  Klasse  der  Kaiser¬ 
lichen  Akademie  der  Wissenschaften  hat  für  medizinische 
Forschungen  folgende  Subventionen  bewilligt:  Professor 
Dr.  H.  Pfeiffer  in  Graz  zur  Fortsetzung  seiner  Studien  über 
die  Eiweißanaphylaxio  2000  K,  Prof.  Dr.  R.  Kraus  und  Doktor 
E.  Ranz i- Wien  zur  Fortsetzung  ihrer  Arbeiten  über  Immunität 
und  Diagnostik  bei  malignen  Tumoren  1000  K. 

* 

Am  11.,  12.  und  13.  September  1911  findet  in  Wien  der 
III.  Kongreß  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Urolo¬ 
gie  statt.  Als  Hauptthemein  kommen  zur  Besprechung:  1.  Dauer 
erfolge  hei  Nephrektomie  wegen  Tuberkulose.  Referenten:  Is¬ 
rael-Berlin.  Wildbolz-Zürich.  2.  Bedeutung  der  urethrosko- 
pischen  Methoden  für  die  Klinik.  Referenten:  Oberländer- 
Dresden,  Wp  s  s  i  d  l  o  -  Berlin.  Anmeldungen  zur  Diskussion  über 
diese  Referate,  wie  freier  Vorträge  und  Demonstrationen  werden 
bis  spätestens  1.  Juni  1911  an  die  Geschäftsstelle  (Wien  IX. 
Maria -Theresienstraße  3)  erbeten.  Das  endgültige  Programm  wird 
im  Monate  Juli  bekanntgegeben. 

* 

Literarische  Anzeigen.  Von  dem  rühmliohst  be¬ 
kannten  Arztphilosophen  Berfhold  Korn,  dessen  bisher  er¬ 
schienene  Werke:  Das  Wesen  des  menschlichen  Seelen- 


256 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1811. 


Nr.  7 


und  Geisteslebens,  Das  Problem  des  Lebens,  Das  Er¬ 
kenn  tn i  sp r ob le m  und  seine  kritische  Lösung,  Die 
psych  is  che  Krankenbehandlung,  über  den  Kreis  der  Philo¬ 
sophen  vom  Fach  und  Mediziner  hinaus  allgemeinste  Beachtung 
und  Verbreitung  gefunden  haben,  ist  nun  im  Verlage  von  A.  Hirsch¬ 
wald,  Berlin,  ein  weiteres  Werk:  Weltanschauungen  und 
Welterkenntnis,  erschienen.  Unter  Wahrung  des  Zusammen¬ 
hanges  zwischen  Philosophie  und  Naturwissenschaften  verfolgt 
Verfasser  im  vorliegenden  Werke  das  Ziel,  zu  zeigen,  daß  jede 
Weltanschauung  für  sich  einseitig  und  unvollständig  bleibt,  daß 
nur  die  synthetische  Vereinigung  und  gegenseitige  Abwägung  der 
verschiedenen  Anschauungsweisen  von  einem  überragenden  Ge¬ 
sichtspunkte  aus  eine  befriedigende  Welterkenntnis  zu  liefern 
vermag.  '  ' 

Zum  60.  Geburtstage  des  Hamburger  Dermatologen  Pro¬ 
fessor  G.  G.  Unna  wurde  von  dessen  Freunden  und  Schülern 
eine  Sammlung  von  dermatologischen  Arbeiten  im  Verlage  von 
\roß,  Hamburg,  herausgegeben,  welche  den  20.  und  21.  Band  der 
„Dermatologische  Studiein.“  bilden. 

Dt.  Kurt  Witthauer:  Leitfaden  f  ü r  Krankenpflege 
im  Krankenhaus  und  in  der  Familie,  ist  jetzt  nach  drei 
Jahren  bei  Mar  hold,  Halle  a.  S.,  in  vierter  Auflage  er¬ 
schienen. 

Von  Fischers  Therapeutischen  Taschenbüchern  ist  das 
zuerst  ausgegebene  Therapeuti s c h e  T aschenbuch  für  d i e 
Kinderpraxis,'  von  Prof.  Salge,  in  fünfter  Auflage  in 
Fischers  medizinischer  Buchhandlung,  H.  Kornfeld,  Berlin, 
erschienen.  Das  Buch  hat  nahezu  jedes  Jahr  eine  Auflage  erlebt, 
ein  Beweis  für  dessen  Beliebtheit.  —  Ein  neuer  Band  desselben 
Unternehmens  ist  das  Therapeutische  Taschenbuch  der 
Ohrenkrankheiten,  von  Oberstabsarzt  Dr.  Barth  in  Berlin. 
Preis  4  M.  Auch  das  letztgenannte  Taschenbuch  gibt  einen 
Ueberblick  über  die  in  den  bekanntesten  deutschen  otologis’cben 
Lehrbüchern  enthaltene  Therapie. 

* 

Cholera.  Italien.  Amtlichen  Mitteilungen  zufolge  sind 
in  Italien  in  der  Woche  vom  19.  bis  125.  Januar  4  neue  Cholera¬ 
erkrankungen  (kein  Todesfall)  konstatiert  worden  u.  zw.  in  der 
Provinz  Lecce:  Lizzano  1,  Monteparano  1,  Taranto  2.  —  Ru߬ 
land.  In  der  Woche  vom  25.  bis  31.  Dezember  1910  sind  im 
Russischen  Reiche  nur  7  Neuerkrankungen  und  2  Todesfälle 
an.  Cholera  gemeldet  worden.  woMoh  1  (l)  auf  das  Gouvernement 
St.  Petersburg,  6  (l)  auf  das  Gouvernement  Jekaterinoslaw  ent¬ 
fallen.  —  Türkei.  In  der  Stadt  Bagdad  sind  seit  7.  Dezember 
keine  Cholerafälle  vorgekommen;  im  Vilajet  Bagdad  dagegen 
wurden  für  die  Woche  vom  16.  bis  23.  Dezember  29  neue 
Erkrankungen  und  33  Sterbefälle  verzeichnet,  von  denen  27  (31) 
auf  den  Wallfahrtsort  Kerbela  entfielen.  In  Konstantinopel  und 
Tripolis  ist  die  Choleraepidemie  erloschen. 

Pest.  B  r  i  t  i  s  ch  -  In  d  i  en.  Im  Hindostan  ereigneten  sich 
in  der  Zeit  vom  13.  November  bis  3.  Dezember  1910  u.  zw.  in 
der  ersten  Woche  7932  (6106),  in  der  zweiten  Woche  19291  (7143), 
in  der  dritten  Woche  10.263  (8020)  Pesterkrankungen  (Todes¬ 
fälle).  -  China.  Nachrichten  vom  9.  Februar.  Die  Deutsch¬ 
asiatische  Bank  macht  bekannt,  daß  nach  einer  bei  ihr  einge¬ 
troffenen  Depesche  bei  ihren  Abteilungen  in  Tientsin  und  Pe¬ 
king  alles  wohl  ist  und  daß  die  Fremdenniederlassungen  in 


Tientsin  und  das  Gesandtschaftsviertel  in  Peking  pestfrei  sind. 
In  den  Chinesenvierteln  beider  Städte  seien  allerdings  Pestfälle 
vorgekommen,  doch  sei  die  chinesische  Regierung  bemüht,  durch 
weitgehende  Vorsichtsmaßregeln  ein  weiteres  Umsichgreifen  der 
Seuche  zu  verhindern.  Für  die  Europäer  bestehe  zurzeit  keinerlei 
Gefahr.  Die  Schau tung  -  Bergbau -Gesellschaft  erhielt  die  Draht¬ 
nachricht  aus  Tsingtau,  daß  sich  die  an  der  Schantungbahu 
vorgekommenen  Pestfälle  auf  zwei  Stellen  in  etwa  180  und  370  km 
Entfernung  von  Tsingtau  beschränken.  Gegenüber  anders  lauten¬ 
den  Zeitungsmeldungen  wird  mitgeteilt,  daß  der  Güterverkehr 
sowie  die*  Beförderung  der  Reisenden  erster  Klasse  auf  der 
Schantungbalin  keine  Einschränkung  erfahren  haben.  Ghar- 
b  i  n.  Am  8.  Februar  sind  30  Chinesen  und  ein  Europäer  an  Pest  ge¬ 
storben.  -  Tokio.  Nach  dem  Berichte  des  russischen  Konsuls 
in  Dairen  ist  dort  die  Pest  erloschen.  Wie  verlautet,  ist  in  Wi- 

Dschu  unter  den  Koreanern  die  Pest  ausgebrochen . 

* 

In  Nr.  6  dieser  Wochenschrift  hat  es  in  dem  Aufsätze 
„Quarantänestudien“,  von  Dr.  Emil  \\  ioner,  auf  S.  203,  Zeile  17 
von  unten,  zu  heißen:  Flügge,1)  Schum  bürg,2)  er  hard 
Glaser3)  und  die  entsprechenden  Fußnoten: 

>)  Zeitschr.  für  Hyg.  und  Infektionskrankheiten. 

2)  Zeitsehr.  für  Hyg.  1903,  Bd.  45,  S;  136_ 

8)  Das  österr.  Sanitätswesen,  11.  Juli  1907. 

* 

Der  seit  1885  in  Badgastein  ordinierende  Badearzt  Dr.  Anton 
Wassing  hat  sich  nunmehr  für  den  Winter  in  Meran  zur  Aus¬ 
übung  kurärztlicher  Praxis  niedergelassen. 

* 

Vorläufiges  Ergebnis  der  Sanitätsstatistik  b © i 
der  Mannschaft  des  k.  u.  k.  Heeres  im  November  1910. 
Krankenzugang  84,  an  Heilanstalten  abgegeben  37,  Todesfälle 

0-19°/oo  der  durchschnittlichen  Kopfstärke.  .  -■ 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  4.  .Tahreswoche  (vom  22.  bis 
28.  Januar  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  499,  unehelich  202,  zusammen 
701.  Tot  geboren,  ehelich  64,  unehelich  25,  zusammen  89.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  812  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
208  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  1,  Flecktyphus  0.  Blattern  0,  Masern  3, 
Scharlach  3,  Keuchhusten  2,  Diphtherie  und  Krupp  5,  Influenza  1, 
Cholera  0.  Ruhr  0,  Rotlauf  4,  Lungentuberkulose  134,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  52,  Wochenbettfieber  4.  Genickstarre  0.  Anaezeigle  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  30  (-  12),  Wochenbettfieber  3  (+  2),  Rlattern  0 
(0),  Varizellen  67  (-f-  6),  Masern  92  (—  13),  Scharlach  74  (+  2), 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  2  (—  1),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0), 
Diphtherie  und  Krupp  62  (-j-  27),  Keuchhusten  23  (-(-  14), Trachom  2  (  1), 

Influenza  5  (-Q  5),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Distriktsarztesstelle  für  den  Sanitätsdistrikt  Steinitz  im 
:  politischen  Bezirke  Gava  (Mähren).  Der  Distrikt  umfaßt  80'09  km2  mit  10 
i  Gemeinden  und  8167  Einwohnern.  Der  Sitz  des  Arztes  ist  in  Steinitz.  Die 
j  Umgangssprache  ist  böhmisch.  Die  jährlichen  Emolumente  betragen: 
j  an  Gehalt  1400  K,  an  Fahrhauschale  1007  K,  zusammen  2407  K.  Der 
i  Distriktsarzt  ist  verpflichtet,  eine  Hausapotheke  zu  halten.  Die  nach  dem 
§  1  l'des  Landesgesetzes  vom  27.  Dezember  1909,  Z.  98,  instruierten 
:  Gesuche  sind  bis  1.  März  1911  an" den  Obmann  Anton  Novak.  Bürger¬ 
meister  in  Steinitz.  einzusenden. 


des  Mannes.  Von  Dr.  S.  Baumgarten  Ref.:  V.  Blum.  —  Die 
neueren  Strahlen.  Von  Priv.-Doz.  H.  Greinacher.  Die  Stand¬ 
entwicklung.  Von  Hans  Schmidt.  Die  Spiegelreflexkamera 
Von  Anton  Mayer.  Elektrizität  und  Licht  in  der  Medizin 
Leitfaden  der  Röntgenphysik  Von  Dr.  R.  Fürstenau.  Die 
Technik  der  Röntgenapparate.  Von  Dr.  R.  Fürstenau.  Fort¬ 
schritte  auf  dem  Gebiete  der  Röntgen  strahlen.  Von  Professor 
Albers-Schönberg.  Lexikon  der  Grenzen  des  Normalen  und 
der  Anfänge  des  Pathologischen  im  Röntgenbilde  Von  Doktor 
Alban  Köhler.  Verhandlungen  der  Deutschen  Röntgengesell¬ 
schaft.  Archiv  für  physikalische  Medizin  und  medizinische 
Technik.  Von  Prof.  Kraft  und  Dr.  Wiesner.  Zentralblatt  für 
Röntgenstrahlen,  Radium  und  verwandte  Gebiete.  Von 
A.  F.  Stein,  Ph.  Rockenheimer  und  G.  v.  Bergmann, 
Ref. :  Kienböck. 


INH 

Hofrat  Prof.  Dr.  Gustav  v.  Braun.  Nachruf  von  Prof.  Peters, 
Wien.  S.  227. 

1.  Originalartikel:  1.  Aus  der  serologischen  Abteilung  des  hygieni¬ 
schen  Institutes  der  deutschen  Universität  in  Prag,  lieber 
extrazelluläre  Leukozytenwirkung  (Aphagozidie).  Von  E.  W  e  i  1. 
S.  229. 

2.  Aus  der  1.  chirurgischen  Universitätsklinik  in  Wien.  (Vorstand: 
Prof.  Dr.  A.  Freiherr  von  Eiseisberg.)  Zur  Behandlung  chro¬ 
nischer  Eiterungen  mit  Wismutpaste  nach  Beck.  Von  Dr.  Hans 
Hermann  Schmid,  Operateur  der  Klinik.  S.  232. 

3.  Aus  der  dermatologischen  Universitätsklinik  in  Krakau.  Zur 
therapeutischen  Bedeutung  des  Arsenobenzols  (606).  VonProfessor 
Dr.  W.  Reiss,  Direktor  der  Klinik  und  Dr.  F.  Krysztalo  w  i  c  z, 
a.  o.  Professor  der  Dermatologie.  S.  234. 

4.  Zur  Applikationsweise  des  Salvarsans.  Von  Dr.  J.  Hali  n, 
prakt.  Arzt  in  Wien.  S.  240. 

5.  Vergleichende  Berechnung  des  Oesophagogramms  mit  dem 
Elektrokardiogramm.  Von  Priv.-Doz.  Primararzt  Doktor 
W.  Janowski  in  Warschau.  S.  241. 

II.  Referate:  Vorlesungen  über  Harnkrankheiten.  Von  C.  Posner. 
Ref.:  A.  v.  Frisch.  Lehrbuch  der  Urologie.  Von  Dr.  Alfred 
Rothschil d.  Die  durch  Gonokokken  verursachten  Krankheiten 


1 1 i .  Aus  verschiedeueu  Zeitschriften. 

V.  Vermischte  Nachrichten. 

IV.  Nekrolog:  Dr.  Sigmund  Lustgarten.  Von  J.  Rosanes. 

VI.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Nr.  7 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1011. 


267 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


INHALT: 

Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  iu  Wien. 

Sitzung  vom  10.  Februar  1911. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  26.  Januar  1911. 


Verein  der  Aerzte  in  Oberösterreich.  Sitzung  vom  5.  Januar  1911. 
Verein  der  Aerzte  in  .Steiermark. 

Aerztlicher  Verein  in  Brünn.  Sitzung  vom  9.  u.  23.  Januar  1911. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  10.  Februar  1911. 

Vorsitzender :  Prof.  Dr.  Ferd.  Hochstetter. 

Schriftführer:  Dr.  J.  Erdheim. 

Der  Vorsitzende  Prof.  Dr.  Ferdinand  Hochstetter  teilt 
mit,  daß  das  langjährige  Mitglied  Hofrat  Prof.  Dr.  Gustav  von 
Braun  im  82.  Lebensjahre  am  8.  Februar1  d.  J.  gestorben  ist. 

Ferner  ist  das  korrespondierende  Mitglied  Dr.  Sigmund 
Lustgarten  in  New  York  (ehemaliger  Dozent  an  der  Wiener 
Universität)  am  22.  Januar  d.  J.  gestorben. 

Die  Versammelten  erheben  sich  zum  Zeichen  der  Trauer 
von  ihren  Sitzen. 

.  Priv.-Doz.  Dr.  H.  v.  Haberer  berichtet  über  19  primäre 
Dick  dar  mr  ©Sektionen  mit  drei  Todesfällen.  Nach  Bespre¬ 
chung  der  einfachen  Technik  und  Demonstration  einer  Reihe 
von  Präparaten  kommt  Redner  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  besseren 
Resultate  der  primären  Dickdarmresektion  nicht  auf  die  An¬ 
wendung  bestimmter  Methoden  oder  komplizierter  Instrumentarien 
zurückzuführem  sind,  sondern  auf  die  Verbesserung  der  Technik 
der  Abdominalchirurgie  überhaupt  und  auf  die  Zunahme  der 
Erfahrung.  (Erscheint  ausführlich  im  Archiv  für  klinische  Chi¬ 
rurgie.) 

Dr.  Hofbauer :  Gestatten  Sie  die  Demonstration  eines  Falles 
aus  der  Klinik  v.  Noorden,  delr  geeignet  scheint,  die  thera¬ 
peutischen  Beziehungen  zwischen  Adrenalin  und 
Asthma  bronchiale  klarzustellcn,  was  mit  Rücksicht  auf 
mehrere  Publikationen  der  jüngsten  Zeit  nicht  unnötig  scheint. 

Die  Patientin  Th.  R.,  33  Jahre  alt,  stammt  von  einem  chro¬ 
nischen  Huster,  machte  selbst  schon  als  Kind  häufig  Schnupfen 
und  Halsschmerzen  mit,  wobei  jedoch  niemals  Atemnot  auftrat. 
Mit  22  Jahren  litt  sie  an  Rachendiphtheritis,  derentwegen  sie  eine 
Seruminjektion  erhielt.  Im  Jahre  darauf  drei  Wochen  lang 
starker  Schnupfen;  damals  wurde  zum  erstenmal  wegen  des 
Nasenleidens  in  der  Ambulanz  Prof.  Chiari  die  Nase  unter¬ 
sucht  und  Nasenpolypen  konstatiert,  die  sie  jedoch  nicht  ent¬ 
fernen  ließ.  August  1907  bekam  Patientin  nach  Erkältung  und 
starkem  Schnupfen  andauernde  Kopfschmerzen.  In  der  Ambulanz 
Prof.  Chiari  wurden  damals  abermals  die  Polypen  konstatiert 
und  als  wahrscheinliche  Ursache  Nebenhöhleneiterung  vermutet. 
Dortselbst  wurden  mehrfach  Polypen  und  Stücke  von  Muscheln 
aus  der  Nase  elntfemt.  Nach  einer  solchen  Operation  bekam  Pa¬ 
tientin  im  Nachhausegeben  den  ersten  Anfall  von  Atemnot;  der¬ 
selbe  dauerte  eine  Viertelstunde  lang  und  kam  seither  an  jedem 
Tage  wieder,  dauerte  oft  drei  bis  vier  Stunden.  Zur  Atemnot 
gesellte  sich  bald  trockener  Husten  und  der  Anfall  hörte  erst  auf, 
sobald  der  Husten  lockerer  wurde.  Damals  behandelte  sich  Pa¬ 
tientin  selbst  mit  Asthmazigaretten.  Nach  mehreren  operativen 
Eingriffen  in  der  Nase  ging  es  der  Patientin  besser,  die  Anfälle 
traten  seltener  auf.  Doch  hat  auch  in  der  anfallsfreien  Zeit  die 
Patientin  starke  Atemnot  und  Rasseln  auf  der  Brust.  In  der 
letzten  Zeit  vor  ihrer  ersten  Aufnahme  auf  die  Klinik  v.  N  o  o  r- 
den  (26.  Mai  1909)  wurden  die  Anfälle  sehr  schwer.  Patientin 
hat  kolossale  Atemnot,  so  daß  sie!  vom:  Atemholen  müde  wird. 
Schon  damals  zeigte  sich  nelblst  hochgradiger  Orthopnoe  und. 
ziemlich  starker  Zyanose  an  Wangen  und  Lippen,  starker  Husten¬ 
reiz,  mühevolle  Atmung  und  Expektoration  von  spärlichem  glas- 
hellen  zähen  Sekret.  Die  Lungengrenzen  waren  stark  nach  ab¬ 
wärts  genickt,  das  Herz  fast  völlig  überlagert.  Die  respiratorische 
Verschieblichkeit  der  Lungengrenzen  nachweisbar,  aber  ge¬ 
ling.  Ueber  beiden  Lungen  langgezogenes  Exspirium,  verbunden 
mit  Giemen  und  Pfeifen.  An  den  unteren  Partien  vereinzeltes 
und  feuchtes,  nicht,  konsonierendes  Rasseln.  Der  Spitzenstoß  nicht 
tastbar,  die  Dämpfung  nach  rechts  bis  über  die1  Mitte  des  Ster¬ 
nums  reichend,  der  untere  Teil  des  Brustbeins  leicht  pulsierend, 
lieber  allen  Ostien  leise  dumpfe  Töne.  Im  Urin  keine  abnormen 
Bestandteile;  im  Blute  deutlich  Eosinophilie. 

Pat.  bekommt  Narkotika,  dann  Atropin.  Sie  verläßt  am 
31.  August  die  Klinik,  batte  seither  immer  wieder  Antiille  und 
wurde,  da  sich  bei  ihr  eine  prompte  Kupierung  des  Anfalles 


durch  1  cm3  lVooigem  Adrenalin  gezeigt  hatte,  seither  mit  großen 
Mengen  von  Adrenalin  subkutan  (im  Anfalle  gegeben)  behandelt. 
Anläßlich  eines  Spitalsaufenthaltes  auf  der  Abteilung  Professor 
Sternberg  im  Wiedener  Krankenhause  wurden  im  Verlaufe  von 
sechs  Wochen  beinahe  60  Injektionen  von  Adrenalin  gegeben, 
in  der  Menge  von  0-25  bis  1-0  cm3.  '  Sie  selbst  nämlich  verlangte 
bei  jedem  der  immer  häutiger  aultretenden  Anfälle  eine  solche 
Injektion.  Oft  hatte  sie  in  einer  Nacht  zwei  Anfälle  und  bekam 
dementsprechend  zweimal  eine  Injektion  von  Adrenalin.  Manch¬ 
mal  waren  die  Anfälle  so  schwer,  daß  sie\sogar  1-5  ein3  Adrenalin 
bekam. 

Jedesmal  wurde  durch  die  AdreUalininjektio n 
der  Anfall  sofort  kupiert.  Von  einer  Dauerwirkung 
hingegen  war  absolut  nicht  d i ö  R e d e,  was  am  besten 
die  Beo  b  ach  tu  ng  zeigt,  daß  s  i  e  of  tmal  s  in  einer  Nach  t 
einen  zweiten  Anfall  bekam,  trotzdem1  der  erste  mit 
Adrenal ininj ektiom  behandelt  worden  war. 

Im  Frühjahr  letzten  Jahres  abermals  auf  die  Klinik  v.  N  oo  r- 
den  aufgenommen,  bekam  sie  anfänglich  ebenfalls  Adrenalin  im 
Anfall.  Später  begann  ich  behufs  Erzielung  eines  Dauererfolges 
die  Behandlung  mittels  Ausatmungstherapie. 

Dieselbe!  erwies  sich  auch  in  diesem  so  schweren.  Falle 
als  von  Erfolg  begleitet.  Pat.  konnte  mit  langsam  gesteigerten 
Äusatmungsübungen  bei  rein  nasaler  Atmung  und  Vermeidung 
jeder  forcierten  Ein-  und  Ausatmung  so  weit  gebracht  werden, 
daß  sie  anfänglich  die  noch  auftretenden  Anfälle  ohneweiters 
im  Beginne  durch  Atemgymnastik,  kupieren  konnte  und  jetzt  seit 
Oktober  vorigen  Jahres  völlig  anfallsfrei  geblieben  ist.  Sie  macht 
der  Sicherheit  halber  zu  Hausp  ihre  Atemübungen  fort  und 
betont  selbst,  daß  sie  trotz  mehrfacher  durchgemachter  Schnu¬ 
pfen  und  Bronchialkatarrhe  auch  nicht  einen  Anfall  durchmachte. 

Diese  Beobachtung  scheint  nicht  sO  sehr  deshalb  von  Be¬ 
deutung,  weil  die  Atemtherapie  hier  zuiri  Erfolge  führte,  son¬ 
dern  um  endgültig  festzustellen:  Dem  Adrenalin  wohnt  zwar 
die  von  v.  Jagic  mitgeteilte  Wirkung  (Berliner  klin.  Wochen¬ 
schrift  1909,  Nr.  13)  völlig  inne,  den  Anfall  zu  kupieren,  wie  er 
in  seiner  Mitteilung  aus  der  Klinik  v.  Noorden  an  der  Hand 
mehrerer  Krankengeschichten  zeigen  konnte;  von  einer  Dauer¬ 
wirkung  des1  Adrenalins  hingegen  kann  nicht  die  Rede  sein. 

v.  Jagic  hattet  in  seiner  damaligen  Publikation  ausdrück¬ 
lich  hervorgehoben,  daß  das  Adrenalin  lediglich  den  Anfall  selbst 
kupiert. 

Nun  sind  seither  einzelne  Stimmen  laut  geworden,  welche 
unter  Berufung  auf  v.  Jagic’  Publikation  eis’  versuchen,  für  die 
von!  ihnen  propagierte  Inhalations  behänd  lung  mit  Sauerstoff  und 
einer  Beimengung  von  Adrenalin  Propaganda  zu  machen.  Diese 
Publikationen  versuchen,  den  Anschein  zu  erwecken,  als  ob 
ein  Dauererfolg  mit  Adrenalin  zu  erzielen  sei  und  berufen  sich  da 
auf  die  Publikation  von  v.  Jagic,  der  schon  die  heilende  Wir¬ 
kung  dös  Adrenalins  beim  Asthma  bronchiale  klinisch  festgestellt 
habe. 

Zur  Unterdrückung  dieser  Meinung,  als  besitze  das  Adre¬ 
nalin  eine  Dauerwirkung  auf  den  asthmatischen  Prozeß,  habe 
ich  die  Patientin  vorgestellt. 

Wenn  bei  ihr  Trotz  dieser  exorbitant  großen  Menge  von  Adre¬ 
nalin  kein  Dauererfolg  zu  erzielen  Avar,  ja  sogar  in  derselben  Nacht 
nach  einer  AdreUalininjoktion  noch  ein  zweiter  Anfall  sich  eta¬ 
blieren!  konnte  und  andrerseits  •  Ansatmungstherapie  einen  Dauer¬ 
erfolg'  erzielte,  kann  wohl  von  einer  Dauerwirkung  des  Adrenalins 
auf  dein  asthmatischen  Prozeß  keine  Rede  sein. 

Diskussion:  Dr.  R.  Türkei  verfügt  über  einige  Beobach¬ 
tungen,  bei  denen  einmalige  Administration  von  Adrenalin  dau¬ 
ernde  Beseitigung  des  Bronchialasthmas  gebracht,  hat. 

Dr.  S.  Federn:  Ich  habe  im  Laufe  des1  letzten  Jahres 
eine  kleine  Anzahl  Asthmafälle  beobachtet  und  bei  allen  durch 
die  Messung  des  Blutdruckes  eine  Insuffizienz  des  Herzens  kon 
statiert;  nun  wissen  wir,  daß  Adrenalin  ein  vorzügliches,  rasch 
wirkendes  Tonikum  dets  Herzens  ist,  und  es  ist  daher  erklärlich, 
daß  in  solchen  Fällen  das  Adrenalin  einen  Asthmaanfall  kupieren, 
vielleicht  zuweilen  das  Asthma  heilen  kann. 

De.  Hofbauer  (Schlußwort):  Daß  durch  Adrenalin  ein- 
I  zelne  Fälle  von  Asthma  bronchiale  auch  geheilt  werden  können, 


258 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  7 


wollte  ich  ja  niemals  bezweifeln.  Gibt  es  doch  auch  andere  Ein¬ 
griffe,  z.  B.  Operationen  an  der  Nase,  nach  welchen  in  einzelnen 
Fällen  das  Asthma  dauernd  geheilt  bleibt.  Worauf  es  mir  hier 
ankam,  war  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  Dauerwirkung 
von  Adrenalininjektionen  nicht  ohne  weiters  zu  erwarten  steht, 
und  zeigte  ich  diesen  Fall  schon  deshalb',  weil  bei  ihm  schon 
wenige  Stunden  nach  der  Adrenalininjektion  ein  neuerlicher  An¬ 
fall  immer  wieder  auftrat. 

Insbesondere  aber  deshalb,  weil  nach  schon  vor  längerer 
Zeit  veröffentlichten  Untersuchungen  (Erb  jun.,  Sturli  u.  a.) 
die  Applikation  von  Adrenalin  Degeneration  der  Arterienwan¬ 
dungen,  ähnlich  einer  Arteriosklerose  hervorruft,  wird  es  sich 
wohl  empfehlen,  eher  die  völlig  unschuldige  Atemtherapie  ein¬ 
zuleiten,  als  eine  solche  nicht  ungefährliche  Medikation. 

Dr.  Türkei:  Alle  Fälle  hatten,  Eosinophilie  in  Blut  und 
Sputum,  Cur  schmann sehe  Spiralen  und  C  h  a  r  c  o t-  L e  y  d e ri¬ 
sche  Kristalle. 

Dr.  H.  Heyrovsky  berichtet  aus  der  II.  chirurgischen  Klinik 
Hofrat  Hoc  hell  egg  über  zwei  Fälle,  nach  denen  nach  einer 
Gas  troen  l  ero.am  as  to  in  o  s  e  seltene  Komplikationen  aufge¬ 
treten  sind.  I 

Beim  ersten  Fall  wurde  kn  Jahre  1899  auf  der  Klinik  Hofrät 
Albert  wegein  eines  Ulcus  callosum  des  Pylorus  eine  Gastro- 
enteranastomosis  retrocolica  posterior  mit  einem  Murphy-Knopf 
ausgeführt. 

Der  Patient  erholte  sich  nach  der  Operation  und  fühlte  sich 
bis  zum  Jahre  1909  wohl.  Im  August  1909  traten  neuerdings1 
Magen beschwerden  auf,  welche  sich  im  Februar  1910  derart 
steigerten,  daß  der  Patient  eine  zweite  Operation  wünschte. 

Der  hochgradig  abgemagerte  Mann  hot  die  Erscheinungen 
einer  Stenosei  des  Magens  und  des  Dünndarmes.  Bei  der  Operation, 
welche  wegen  der  Inanilionsgefahr  vorgenommen  werden  mußte, 
fanden  sich  derart  komplizierte  Verhältnisse,  daß  eine  Orientierung 
unmöglich  war.  Die  seinerzeit  angelegte  Anastomose  konnte  wegen 
Adhäsionen  nicht  besichtigt  werden;  in  der  rechten  Bauchseite 
fand  sich  eine  scheinbar  vollständig  ausgeschaltete,  enorm  er¬ 
weiterte  Dünndarmschlinge  vor.  Diese  Schlinge  wurde  in  die 
Bauchwunde  eingenäht;  außerdem  wurde  eine  Anastomose 
zwischen  Ileum  und  Kolon  wegen  Adhäsionen  ausgeführt. 

Der  Patient  starb  drei  Stunden  nach  der  Operation  a,n 
Herzschwäche. 

Bei  der  Obduktion  fanden  sich  nun  folgende  Verhältnisse: 
Der  zuführende  Schenkel  der  zur  Gastroenteranastomose  benützten 
Jejunum  schlinge  war  an  der  Anastonrosestelle  vollständig  a  l>- 
geschnürt  und  endete  blind.  Der  abführende  Schenkel  der  Ana¬ 
stomose  war  an  seiner  Mündung  im  Magen  stark  verengt  und 
kommunizierte  durch  eine  Fistel  mit  dem  Colon  trans'v  ersinn. 

Der  Pylorus  war  narbig  verengt  und  bloß  für  eine  dünne 
Sonde  durchgängig. 

Am  tiefsten  Punkte  des  enorm  dilatierten  Duodenums  hat 
sich  offenbar  infolge  Ulzeration  eine  spontane,  sehr  enge  Ana¬ 
stomose  mit  einer  Dünndarmschlinge  gebildet. 

Im  Duodenum  fanden  sich  zahlreiche  runde  erbsengroße 
Sfeine,  die  ganz  außergewöhnlich  zusammengesetzt  sind.  Sie 
enthalten  nach  der  chemischen  Uiitersücbungl,  welche  der  Assistent 
des  pathologisch-chemischen  Institutes  (Höf rat  Ludwig)  Doktor 
E.  Zdarek  vorgenominein  hat:  Bilirubin.  Cholesterin,  gailen- 
saur-e  Salze,  höheix*  Fettsäuren  und  eine  Spur  weiße  Asche 
(Kalzium). 

In  den  Gallenwegen  fanden  sich  keine  Konkremente. 

Die  Abtrennung  des  züführenden  Schenkels  der  Anasto¬ 
mose  ist  offenbar  in  folgender  Weise  zustande  gekommen : 

In  der  zuführenden  Schlinge  kam  es  an  der  Anastomose- 
s  teile  durch  Abknickung  oder  Ulzeration  (Ulcus  peptic  um)  und 
Narbenbildung  zur  Stauung;  die  dadurch  schwer  gewordene 
Schlinge  hat  sich  im  Laufe  der  Zoil  gesenkt  und  allmählich  voll¬ 
ständig  abgetrennt.  Die  Fistel  zwischen  der  abführenden  Schlinge 
und  dem  Colon  transVersum  ist  infolge  eines  Ulcus  pepticum 
jejuni  ents  tändeln. 

Der  Fall  zeigt,  wie  wichtig  es  ist,  die  hintere  Gastroentero- 
anastomose  möglichst  nahe  der  Plica  duodeno  jejuna lis  anzulegen. 

An  der  zweitem  chirurgischen  Klinik  wird  prinzipiell  die 
erste  Jejunumschlinge  an  der  Plica  du  öden  i  jejunalis  zur  Ana¬ 
stomose  verwendet.  Diese  Methode  wurde  zuerst  von  Hoc  heu¬ 
egg  angegeben  und  bereits  im  Jahre  1897  von  seinem  Vssi- 
s  ten  ten  P  o  r  g  e  s  publiziert. 

Vier  Jahre  später  hat  Petersen  dieselbe  .Methode  ver¬ 
öffentlicht. 

Der  zweite  Fall  betrifft  einen  54jährigen  Mann,  hei  dem 
wegen  eines  Karzinoms  des  Pylorus  eine  Resektion  nach  Bill- 
roth-II  vorgienommen  wurde. 


In  den  ersten  zwei  Tagen  nach  der  Operation  trat  wieder¬ 
holtes  Erbrechen  auf.  Später  konnte  der  Kranke  nur  kleine 
Mengen  flüssiger  Nahrung  zu  sich  nehmen,  da  bei  größerer-  Nah¬ 
rungsaufnahme  ein  Druck  in  der  Magengegend  auftrat.  Der  Pa¬ 
tient  starb  16  Tage  mach  der  Operation  an  iver  jauchend  er  Lobulär¬ 
pneumonie. 

Bei  der  Obduktion  wurde  feistgestellt,  daß  die  Verschlußnaht 
des  Magens  in  Form  eines  Bürzels  in  den  Magen  hinein  ragte 
und  die  Anastomose  obturierte.  (Das  Präparat  wird  demonstriert.; 

Diskussion:  Dr.  M.  Haudek:  Anschließend  an  die  Schilde¬ 
rung  der  Schwierigkeiten,  welche  dem  Operateur  bei  der  Relaparo- 
tomie  gast roe n terostomi erter  Patienten  hinsichtlich1  der  Orientie¬ 
rung  in  der  Abdominalhöhle  erwachsen  können,  möchte  ich  kurz  er¬ 
wähnen  inwieweit  das  Röntgenverfahren  hiebei  dem  Chirurgen 
behilflich  sein  kann.  Im  Laufe  des  letzten  Jahres  konnte  ich 
unter  mehreren  der  zahlreichen  Untersuchungen  von  am  Magen 
operiertem  Patienten,  die  ich  am  Holzknechtseben  Röntgen- 
labors lori um  vornahm,  Komplikation  nach  Gastroenterostomie,  wie 
sie  Herr  Di.  Heyrovsky  hier  angeführt  hat  diagnostizieren. 
In  moh  re  rem  Fällen  ergaben  sich  Anhaltspunkte  für  LHinnda  mi¬ 
sten  ose.  in  einem  Falle  für  Ulcus  pepticum  jejuni  an  der  Ab- 
gangsstelle  des  letzteren  vom  Magen;  in  einem  Falle  aus 
der  Abteilung  des  Herrn  Prof.  Schlesinger  konnte  eine 
spontane  Gastrokolostomie  aufgedcckt.  in  einem  anderen  Falle, 
bei  dem  klinische  Verdachtsmomente,  die  für  eine  solche  sprachen, 
bestanden  ans  der  Klinik  Hachenegg  eine  derartige 
F istel  ausgeschlosse  n  werden.  Schließlich  sei  auf  zahlreiche  Fälle 
verwiesen,  in  denen  mangelhafte  Funktion,  bzw.  Verschluß  der 
Gastroenterostomie  nachgewiesen  werden  konnte. 

Priv.-Doz.  Dr.  M.  Oppenheim  demonstriert  den  vor  vier¬ 
zehn  Tagen  in  der  Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte 
bereits  vorgestelltei i  Fall  von  f  r  i  sc  h e  m,  m a k  u  1  o -  p a  p u  1  o- 
pu  stillosem,  syphilitischem  Exanthem  und  kom- 
p  1  e  Her  r  e  c  h  1  s  e  i  t  i  g  e  r  F  a  z  i  a  1  i  s  p  a  r  a  1  y.s  e  nach  B  e  h  a  n  d- 
lung  m it  S a  1  v arsan. 

Vor  13  Tagen  bekam  der  Patient  0-6  Salvarsan.  Daraufhin 
zeigte  sich  in  den  nächsten  Tagen  ein  Abblassen  des  Exanthems 
und  ein  Rückgang  der  Fazialislähmung.  Heute  ist  das  Exanthem 
bis  auf  vereinzelte  Pigmentierungen  völlig  geschwunden  und  die 
Fazialislähmung  fast  vollständig  geheilt.  Während 
vor  14  Tagen  Patten  l  keinerlei  Bewegung  mit  der  rechten  Ge- 
sichtshälfte  ausführen  konnte,  alle  Falten  verstrichen  waren,  kann 
Patient  alle  Bewegungen  rechts  ebensogut  wie  links  vollziehen. 
Dieser  prompte  Erfolg  der  Ehrlich-Hata-Behandlung  beweist 
erstens,  d a ß  d  i  e  F  a  z  i a lislähm u n g  durch  die  Syphilis 
bedingt  war.  sei  es  durch  eine  komprimierende  Periostitis 
im  Canalis  Falloppiae,  sei  es  durch  eine  direkte  spezifische  Neu¬ 
ritis,  und  zweitens,  daß  man  hei  peripheren  luetischen 
m o t o r  i s  <•  h  e  n  N  e r v en e rk r  a  n k unge n  u  n bed  e hk  1  i c h 
,,606“  a  n  w  e  u  den  k  a  n  n. 

Dr.  Emil  Schwarz:  Eosinophilie  und  Sekretion. 

Die  Tatsache,  daß  die  eosinophilen  Zellen  im  normalen 
Gewebe  an  typischen  Orten  extravaskulär  Vorkommen,  bietet  einen 
Anhaltspunkt  für  ihre  funktionelle  Bedeutung.  Am  reichlichsten 
findet  man  sie  stets  im  Darme  und  Magen,  um  die  Drüsenschläuche. 
Nachdem  im  Magen  keine  Diapedese  derselben  an  die  Sehleun- 
hautohei fläche  stattfindet.  bildet  ihr  Vorkommen  einen  Beweis 
für  einen  engen  Zusammenhang  zwischen  Drüsen  und  Eosino¬ 
philen.  Da  die  Anhäufung  der  Zellen  sich  durch  Funktion  und 
Drüsenreizung  beeinflussen  läßt,  ist  an  einen  Kausalnexus  •  zwi¬ 
schen  Sekretion  und  Eosinophilie  zu  denken.  Die  pathologischen 
Hypersekretionen  bei  Asthma,  Colica  miuoosa  usw.  mit  der  be¬ 
gleitenden  lokalen,  allgemeinen  Eosinophilie  sind  ein  weiterer  Be¬ 
leg.  Von  dem  Standpunkte  aus  erklärt  sich  auch. das  Auftreten  der 
Eosinophilen  gerade  in  den  Anfangsstadien  der  Entzündungen 
von  Schleimhäuten  und  serösen  .Membranen,  für  deren  Endothel 
ja  ebenfalls  sekretorische  Tätigkeit  angenommen  werden  muß: 
Im  Anfänge  funktionclh  Reizung  mit  Hypersekretion  und  Eosino¬ 
philie.  dann  Exsudation  mit  Zurückdrängung  der  Eosinophilen. 
Dieselbt  Argumentation  läßt  sich  auch  auf  die  eosinophilen  bul¬ 
lösen  Dermatosen  ausdehnen.  Alle  diese  Zellterritorien  haben 
autonome  Innervation,  was  im  Zusammenhänge  mit  den  Unter¬ 
suchungen  N  e  u  ss  er  s,  Faltas,  Eppingers  u.  ä.  über  die 
Beeinflussung  der  Eosinophilen  durch  autonomfördernde  Mittel 
aut  eine  enge  funktionelle  Verknüpfung  der  Eosinophilen  inii 
den  autonom  innervierten  Epi-  und  Endothelien  führt.  Diese 
besteht  wahrscheinlich  in  einer  Aktivierung  der 
Drüsenzellen  durch  ein  in  den  Eosinophilen  ent¬ 
haltenes  Hormon  (odn  Krinin  im  Sinne  von  Bnyliss  und 
Starling). 


Nr.  7 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


259 


Dr.  0.  Schwarz:  lieber  die  Einwirkung  des  Ydre- 
nalins  auf  einzellige  Organismen.  (Mitteilung.)  Erscheint 

ausführlich. 

Diskussion:  Prof.  Sigmund  Frankel:  Die  Untersuchungen 
vom  Kollegen  0.  Schwarz  erscheinen  von  großer  Wichtigkeit 
für  die  Frage  der  normalen  Zuckerbildung  in  der  Leber  aus 
Glykogen,  sowie  bei  der  Adrenalinglykosurie.  Es  ist  in  seinen 
Versuchen  für  einen  einzelligen  Organismus!  das  gezeigt  worden, 
was  wir  für  den  vielzelligen  Organismus  und  für  das  Organ  des 
Zuckerstoffwechsels,  die  Leber,  bisher  nur  vermuten,  aber  nicht 
erweisen  konnten.  Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  daß  die  Leber 
während  des  normalen  Lebens  aus  ihrem  Glykogenvorrat,  stets 
nur  so  viel  Zucker  durch  Diastasienmg  bildet.,  daß  in  der  Norm 
die  Blulzuckermenge  auf  konstanter  Höhe  erhalten  wird;  nachdem 
Tode  aber  tritt  sehr  bald  eine  völlige  Verzuckerung  des  Glykogens 
ein.  Da  nun  die  Leber  sowohl  'Glykogen,  als1, auch  Diastase  enthält, 
war  es  eigentlich  nicht  einzusehen,  warum  nicht  immer  das 
ganze  Glykogen  von  der  Diastase  angegriffen  wird.  Schon,  Claude 
Bernard  hat,  vermutet,  daß  Glykogen  und  Diastase  in  der  Zelle 
nicht  beisammen  sind,  so  daß  Enzym  und  Substrat  getrennt  sind 
und  nur  unter  bestimmten  Umständen  aufeinander  wirken  können. 
Man  könnte  sich  auch  einer  anderen  Vorstellung,  hingeben,  wenn 
man  weiß,  daß  die  Fermente  in  unwirksamen  Formen  vorhanden 
sein  können,  denn  die  Fermente  können  sowohl  aus  ihren  un¬ 
wirksamen  Vorstufen  in  die  wirksamen,  als  auch  aus  den  wirk¬ 
samen  in  die  unwirksamen  verwandelt  werden,  entweder  durch 
Kofermente  oder  durch  Aktivatoren,  die  einmal  anwesend,  das 
andremal  abwesend  sind.  In  den  Schwarz  sehen  Versuchen 
ist  es  aber  höchstwahrscheinlich  gemacht,  daß  die  Scheidewände, 
welcher  Art  auch  immer,  zwischen;  Enzym  und  Substrat,  für  eine 
von,  den  beiden,  Substanzen  durchlässig  werden.  Die  Bildung  von 
Kohlensäure  aus  Kasein  und  Alanin  erklärt  sich  nach  den  Ver¬ 
suchen  von  Felix  Ehrlich  durch  die  Vergärung  von  Eiwei߬ 
körpern  und  Aminosäuren  durch  die!  Hefezellen  ohneweiters, 
da  die  Hefezellen  aus  dem  Alanin  sowohl  Brenztraubensäure, 
als  auch  vielleicht  Glyzerose,  die  beide  gärbar  sind,  abspalten. 

Der  Vortrag  der  Herren  Dr.  Hecht  und  Dr.  Köhler:  Unte  t- 
suchungen  über  Avsepsis  (mit  Demonstrationen),  wird  auf 
die  nächste  Sitzung  verschoben. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  26.  Januar  1911. 

K.  Hochsinger  demonstriert  zwei  Fälle,  in  welchen  er 
Säuglingssyphilis  mit  Salvarsan  behandelt  hat.  Es 
wurden  dabei  15  mg  pro  Kilogramm  Körpergewicht  injiziert  und 
es  wurden  nur  kräftige  Säuglinge  dieser  Behandlung  unterzogen. 
Das  eine  Kind  war  neun  Wochen  alt  und  wog  5050  g,  hatte  ein 
universelles  groß-papulöses  Exanthem,  Pemphigus  und  ein  diffuses 
Infdtrat  an  den  Fußsohlen.  Innerhalb  acht  Tagen  nach  intra- 
glutäaler  Injektion  einer  Paraffinsuspension  von  0  08  Salvarsan 
waren  alle  Hauterscheinungen  abgeheilt  und  das  Kind  nahm  an 
Körpergewicht  zu.  In  der  siebenten  Woche  erschien  ein  Rezidiv 
im  Gesicht  und  an  den  Fußsohlen,  an  der  Injektionsstelle  ist  ein 
zystisches  Gebilde  im  Unterhautzellgewebe  zu  tasten.  Das  zweite, 
sieben  Wochen  alte  Kind  wog  4100  g  und  war  exanthemfrei.  Es 
hatte  aber  leichte  Koryza,  mächtige  Auftreibungen  beider  Ell¬ 
bogengelenke  mit  Epiphysenlösung  und  an  den  Grundphalangen 
der  zweiten  und  vierten  Finger  eine  Schwellung.  Es  wurden 
0'07  g  Salvarsan  injiziert  und  binnen  14  Tagen  waren  die  Epi¬ 
physen  geheilt.  Die  Wassermann  sehe  Reaktion  ist  noch 
positiv.  Beide  Fälle  werden  reinjiziert  werden. 

Th.  Escherich  bestätigt  die  ausgezeichnete  Wirkung  des 
Salvarsans  bei  der  Säuglingssyphilis,  besonders  hervorragend  ist 
die  Wirkung  auf  die  Par  ot  sehe  Lähmung  und  auf  das  Allge¬ 
meinbefinden.  Auch  unter  seinen  Fällen  traten  gewöhnlich  Re¬ 
zidive  auf  u.  zw.  im  Gesicht  in  Form  eines  urtikariaähnlichen 
Exanthems,  welches  nach  Reinjektion  sehr  rasch  verschwand. 
Die  Wassermann  sehe  Reaktion  ist  manchmal  gerade  nach 
der  Salvarsaninjektion  sehr  intensiv. 

A.  Goldreich  zeigt  drei  Kinder  mit  Symptomen 
der  hereditären  Lues.  Die  Kinder  haben  eine  abnorm 
breite  und  hohe  Stirne,  die  Kubitaldrüsen  sind  mittelmäßig  ge¬ 
schwollen,  die  Lippen  zeigen  Narben,  die  Kinder  leiden  an  Kopf¬ 
schmerzen,  besonders  bei  Nacht,  sowie  Appetitlosigkeit  und  sind 
blutarm.  Auf  antiluetische  Behandlung  ist  eine  Besserung  einge¬ 
treten.  Die  Wassermannsche  Reaktion  ist  in  zwei  Fällen 
positiv,  in  einem  negativ,  ein  Kind  zeigt  eine  neuropathische 
Anlage.  Vortr.  macht  darauf  aufmerksam,  daß  die  erwähnten 


Allgemeinsymptome  zu  einer  unrichtigen  Behandlung  Anlaß  geben 
können. 

K.  H  o  c  h  s  i  n  g  e  r  betont,  daß  sehr  große  Kubitaldrüsen 
gewöhnlich  nicht  für  Lues,  sondern  für  einen  Prozeß  entzünd¬ 
licher  Natur  im  Wurzelgebiet  der  Drüsen  sprechen. 

R.  P  o  1 1  a  k  hat  tastbare  Kubitaldrüsen  bei  Säuglingen 
ohne  Anhaltspunkt  für  kongenitale  Lues  gefunden.  Nicht  selten 
sind  solche  Drüsen  bei  tuberkulösen  Säuglingen  zu  finden. 

F.Bauer  teilt  mit,  daß  er  nach  stark  positiver  Pirquetscher 
Reaktion  in  einem  Fall  eine  Anschwellung  vorher  nicht  ver¬ 
größerter  Kubitaldrüsen  des  geimpften  Armes  gefunden  hat. 

J.  Fried  jung  stellt  ein  neunjähriges  Mädchen  mit  einem 
enzephali  tischen  luetischen  Prozeß  vor.  Das  Kind 
zeigt  die  für  hereditäre  Lues  charakteristische  Stirnbildung, 
Narben  an  den  Lippen,  spastische  Paraparese  der  unteren  Ex¬ 
tremitäten,  die  Pupillen  sind  reaktionslos  und  nicht  rund,  die 
rechte  ist  weiter  als  die  linke,  die  unteren  Extremitäten  sind 
abnorm  lang.  Die  Wassermannsche  Reaktion  ist  bei  dem 
Kinde  und  dessen  Eltern  positiv.  Pat.  leidet  an  anfallsweisen 
Kopfschmerzen  mit  Erbrechen.  Es  wird  angegeben,  daß  letztere 
sowie  die  Pupillenstarre  bei  Individuen  Vorkommen,  welche  später 
an  progressiver  Paralyse  erkranken. 

Frl.  Barolin  demonstriert  die  Verwendung  des 
Milchdippers  zur  Herstellung  von  Magermilch. 
In  der  Therapie  der  Ernährungsstörungen  im  Säuglingsalter 
spielen  fettarme  Milchmischungen  eine  große  Rolle.  Die  Be¬ 
schaffung  von  einwandfreier  Magermilch  ist  jedocli  nicht  immer 
möglich.  Escherich  hat  in  Amerika  ein  einfaches  und  leicht 
auszuführendes  Verfahren  zur  Gewinnung  fettarmer  Milch  ge¬ 
sehen.  Man  läßt  bei  demselben  Milch  in  einem  hohen  Gefäße 
eine  gewisse  Zeit  im  Eiskasten  stehen  und  bringt  sie  dadurch 
zur  Aufrahmung.  Zur  Entfernung  der  obersten  fettreichen 
Schichten  der  Milch  benützt  man  den  Dipper.  Dieser  ist  ein 
schmales  zylindrisches  Blechgefäß,  das  unten  eine  Spitze  und 
oben  einen  Stiel  hat.  Es  wird  langsam  so  weit  in  die  Milch 
eingetaucht,  daß  sie  eben  über  seinen  oberen  Rand  einfließen 
kann ;  auf  diese  Weise  sammeln  sich  die  obersten  fettreichen 
Schichten  im  Dipper  an.  Der  zurückbleibende  Rest  der  Milch 
ist  demgemäß  fettarm.  Der  Fettreichtum  dieses  Milchrestes  steht 
mit  der  Vollkommenheit  der  Aufrahmung  im  Zusammenhang,  die 
wieder  von  der  Zeit  des  Stehens,  der  Temperatur  und  der  Milch¬ 
säurebildung  und  von  der  abgeschöpften  Menge  abhängig  ist.  Die 
Entrahmung  mittels  des  Dippers  ergibt  nach  einem  Stehen  der 
Milch  durch  5  bis  7. Stunden  eine  Verminderung  des  Fettgehaltes 
um  bis  1%. 

Th.  Escherich  weist  darauf  hin,  daß  die  Notwendigkeit 
der  Verwendung  fettarmer  Milch  vorliegt,  wenn  eine  Intoleranz 
gegen  Fett  besteht,  so  daß  nur  20  bis  30  g  Fett  pro  Tag  ver¬ 
tragen  werden. 

F.  Bauer  zeigt  ein  Mädchen  mit  Polyneuritis  und 
Gelenksrheumatismus.  Das  Kind  erkrankte  mit  Kopf¬ 
schmerzen  und  Gliederschmerzen,  es  bekam  darauf  Gelenks¬ 
schwellungen,  Fazialisparese  und  Lähmung  des  linkeu  Peroneus. 
Die  vierte  und  fünfte  Zehe  sind  unempfindlich,  die  dritte  über¬ 
empfindlich,  die  Extremitätennerven  sind  druckempfindlich,  die 
Patellar-  und  Achillessehnenreflexe  fehlen.  Das  Kind  ist  hoch¬ 
gradig  abgemagert,  die  Extremitäten-  und  Lumbalmuskulatur  ist 
schlaff,  der  gelähmte  Fazialis  zeigt  Entartungsreaktion.  Es  könnte 
sich  auch  um  Gelenksergüsse  bei  Polyneuritis  handeln,  wahr¬ 
scheinlicher  ist  jedoch  die  Annahme  einer  Polyneuritis  bei  echtem 
Gelenksrheumatismus. 

E.  Mayerhofer:  Chemische  Teilerscheinungen 
des  Säuglingsharns  und  ihre  klinische  Bedeu¬ 
tung.  Der  Harn  des  gesunden  Brustkindes  ist  nach  den  Angaben 
der  Literatur  hauptsächlich  durch  negative  Merkmale  charakteri¬ 
siert  (geringes  spezifisches  Gewicht,  lichte  Farbe,  geringere  Menge 
organischer  und  anorganischer  Stoffe  als  beim  gesunden  Er¬ 
wachsenen).  Von  speziellen  Reaktionen  und  Bestimmungen 
wurden  studiert:  1.  Das  Verhalten  des  anorganischen  Phosphors, 
die  Goldschmidt  sehe  Glykuronsäurereaktion,  das  qualitative 
Verhalten  des  Nitratstickstoffes,  die  Permanganattitration  des 
Harnes  und  die  Reaktion  mit  konzentrierter  Schwefelsäure 
(Udranszky-Wiechowski).  Durch  Kombination  mit  noch 
anderen  Reaktionen  wurde  auf  diese  Weise  eine  detaillierte  Harn¬ 
beschreibung  erhalten,  welche  den  Grundgedanken  hervortreten 
ließ,  daß  der  Harn  des  gesunden  Brustkindes  eher  dem  Wasser 
gleicht  als  der  komplizierten  Lösung  und  Pseudolösung,  welche 
das  Nierensekret  des  gesunden  Erwachsenen  darstellt.  Durch 
Studien  am  gesunden  und  eben  erkrankenden  Brustkinde  wurden 
folgende  Harntypen  gewonnen:  1.  Gesundes  Brustkind:  Harn 
phosphatfrei  oder  phosphatarm,  Reduktion9index  gegen  Perman- 


"'260 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  7 


ganat  klein,  «-Naphtholreaktion  negativ,  Diphenylaminreaktion  ne¬ 
gativ  (keine  Glykuronsäure,  kein  Hydratstickstoff),  mit  konzen¬ 
trierter  Schwefelsäure  kein  oder  fast  kein  Ring.  2.  Krankes 
Brustkind  :  Harn  phosphatreich,  Reduktionsindex  hoch,  «-Naphthoh 
und  Diphenylaminreaktion  positiv,  meist  sogar  sehr  stark  positiv. 
Mit  konzentrierter  Schwefelsäure  bräunliche  Ringbildung  (organi¬ 
sche  Substanzen),  darüber  ein  rosa-  bis  violettroter  oder  nur 
zwiebelroter  Saum  (Gegenwart  von  Harnsäure  oder  Allantoin). 
3.  Hungerndes  krankes  Brustkind:  a)  Hungerharn  bei  leichten 
Ernährungsstörungen,  schon  nach  24  Stunden  Saccharinteediät; 
Phosphatfreiheit  oder  -armut,  niedriger  Index,  Nitrate  negativ, 
Glykuronsäure  meist  noch  positiv,  kann  aber  auch  negativ  sein ; 
Prognose  im  allgemeinen  günstig,  b)  Hungerharn  bei  schweren 
Ernährungsstörungen,  nach  24  Stunden  Saccharinteediät :  Phos- 
phatreichtuin,  hoher  Index  gegen  Permanganat,  Glykuronsäure 
entweder  stark  positiv  oder  in  den  schwersten  Fällen  gänzlich 
mangelnd  oder  eine  purpurne  Reaktion,  Nitrate  meist  stark 
positiv  ;  Prognose  im  allgemeinen  ernster.  4.  Hungerndes  ge¬ 
sundes  Brustkind  (bei  unzureichender  Amme) :  Der  Harn  weist 
dieselben  Merkmale  wie  beim  gesunden  zunehmenden  Brustkind 
auf;  das  Stehen  oder  die  Abnahme  des  Gewichtes  sind  nur  auf 
Hunger  zu  beziehen,  Erhöhung  der  Trinkmengen  bewirkt  Ge¬ 
wichterhöhung,  ohne  den  Harnbefund  zu  verändern.  Abgesehen 
von  dem  theoretischen  Interesse,  welches  eine  solche  Harnunter¬ 
suchung  bietet,  gewährt  sie  auch  noch  für  die  Praxis  Anhalts¬ 
punkte  für  die  Erhöhung  oder  Beschränkung  der  Trinkmenge 
sowie  auch  Gesichtspunkte  für  die  Prognose  eines  Krankeitsfalles. 
5.  Genesendes  Brustkind:  Je  nach  dem  Fortschreiten  der  Genesung 
findet  man  sehr  wechselnde  Befunde.  Im  allgemeinen  stellt  sich 
relativ  am  raschesten  der  Phosphatstoffwechsel  her,  der  Index 
schwankt  am  meisten,  oft  sogar  von  Tageszeit  zu  Tageszeit  je 
nach  der  Resorption  der  gerade  getrunkenen  Nahrung.  Der  Nitrat¬ 
stickstoff  ist  oft  noch  lange  in  Spuren  nachweisbar,  häufig  sind 
am  längsten  die  gepaarten  Glykuronsäuren  vermehrt ;  nach 
schweren  Darmstörungen  zeigen  sie  oft  noch  monatelang  die  ver¬ 
mehrte  Darmfäulnis  an,  während  die  klinische  Rekonvaleszenz 
schon  längst  beendet  ist.  Eine  Sonderstellung  nimmt  jedoch  der 
Harn  der  Neugeborenen  und  der  gesunden,  künstlich  genährten 
Kinder  ein.  Die  mitgeteilte  Harnbeschreibung  ermöglicht  es, 
Regelmäßigkeiten,  nicht  Gesetze,  aufzudecken,  gibt  Anhaltspunkte 
für  die  Beurteilung  des  Gesundheitszustandes  von  Brustkindern 
und  liefert  außerdem  noch  Symptome,  welche  in  vielen  Fällen 
mit  der  klinischen  Beobachtung  zusammen  geeignet  sind,  die 
Grenze  zwischen  den  Begriffen  „gesundes  Brustkind“  und  „Dys¬ 
pepsie“  genau  abzustecken. 


Verein  der  Aerzte  in  Oberösterreich. 

Sitzung  vom  5.  Januar  1911. 

Prim.  Dr.  F  u  c  h  s  i  g  -  Schärding  berichtet  über  einen  Fall 
von  intrauteriner  Ar s'envergif tung. 

Eine  22jährige  Bauerntochter  wurde  in  schwer  krankem 
Zustande  ins  Spital  gebracht.  Puls  130,  Temp.  38-5 ;  anämisch. 
Anamnese  ergab,  daß  vor  drei  Tagen  eine  stärkerei  Blutung  aus 
der  Scheide  auftrat,  der  häufiges  Erbrechen,  Leibschmerzen  folgten. 
Dabei  wurde  von  der  Patientin  und  den  Angehörigen  behauptet, 
daß  Menses  immer  regelmäßig  waren.  Die  Blutung  sei  die  Folge 
eines  Sturzes  von  einer  steilen  Stiege,  wobei  ihr  ein  Holzstab 
in  die  Scheidei  gedrungen  sei,  gewesen. 

Die  Untersuchung  ergab  verschwollene,  teilweise  mit  Krusten 
bedeckte  große  und  kleine  Labien,  Scheide  weit  (vor  zwei  Jahren 
ein  Partus),  Schleimhaut  an  der  Portio  und  dem  oberen  Teile 
eigentümlich  grauweiß  verfärbt,  einzelne  Blutaustritte  und  Ex- 
koriationen.  Von  weiterer  intrauteriner  Exploration  wurde  ab¬ 
gesehen.  In  den  Mammis  kein  Kollostrum.  Zwölf  Stunden  später 
Exitus.  Wegen  widersprechender  Ansichten  wurde  Verdacht  auf 
kriminelle  Fruchtabtreibung  geschöpft  und  die  gerichtliche  Ob¬ 
duktion  beantragt.  Bei  dieser  fand  sich  ein  weicher,  vergrößerter 
Uterus,  im  prävesikulärein  Zellager  Oedem  ohne  Eiterung.  Nach 
Herausnahme  des  Uterus  samt  Scheide  wurden  beide  aufge¬ 
schnitten,  in  der  Scheide  fand  sich  das  oben  beschriebene  Bild 
und  im  Uterus  neben  spärlichen  Plazentaresten  über  dem  Ori- 
ficium  internum  ein  Stück  einer  weißen,  kristallinischen  Substanz, 
deren  chemische  Untersuchung  ergab1,  daß  es  sich  um  Arsenik 
(AS2O3)  handle.  Stärkere  Endometritis  fehlte.  Die  parenchyma¬ 
tösen  Organe  boten  das  Bild  akuter  Degeneration.  Es  ist  wohl 
außer  Zweifel,  daß  die  Kranke  infolge  der  Arsenvergiftung  abor¬ 
tierte  und  starb.  Zweifelhaft  ist  nur,  wie  und  von  wem  aber 
Arsenik  in  die  Uterushöhle  eingeführt  wurde.  Die  Intervention 
eines  lokalkundigen  Dritten  ist  nicht  von  der  Hand  zu  weisen. 


Die  gerichtlichen  Erhebungen  haben  aber  bisher  keinen  Erfolg 
gehabt.  Herr  Prof.  Haberda,  dem  ich  den  Fall  zur  Begut 
achtung  vorlegte,  erklärte,  daß  ein  analoger  Fall  in  der  Lite¬ 
ratur  nicht  bekannt  sei.  Es  wären  wohl  solche  Vergiftungen 
von  der  Scheide  aus  bekannt,  nicht  aber  solche  nach  Einführung 
des  Giftes  in  den  Uterus. 

In  der  Diskussion  macht  Sekundarzt  Dr.  Ertl  (Frauen¬ 
klinik  Linz,  Prof.  Dr.  Schmit)  Mitteilung  über  einen  Kasus, 
wobei  es  sich  möglicherweise  auch  um  einen  kriminellen  Eingriff 
durch  eine  Hebamme  gehandelt  haben  konnte.  In  die  Frauen¬ 
klinik  Linz  wurde  vor  zirka  einem  Jahre  eine  Frau  eingebracht 
mit  der  Angabe,  daß  die  Hebamme  bei  Steißlage  die  Extraktion 
bei  Abortus  im  sechsten  Lunarmonat  versucht  habe,  ohne  jedoch 
Maßnahme  beenden  zu  können.  Es  handelte  sich  um  einen 
Prolaps  der  Scheide,  Muttermund  vollständig  geschlossen,  keiner¬ 
lei  Anzeichen  für  stattgehabte  Wehentätigkeit  vorhanden  und 
dabei  zeigte  sich  das  hintere  Scheidengewölbe  perforiert  bis 
in  die  freie  Bauchhöhle.  Es  bestand  eine  ca.  5  cm  lange  Ri߬ 
wunde,  welche  nur  sehr  wenig  blutete.  In  den  Wundspalt  wurde 
Jodoformgaze  eingeführt  und  dieselbe  in  den  nächsten  Tagen 
sukzessive  elntfernt.  Diese  Verletzung  dürfte  entweder  so  ent¬ 
standen  sein,  daß,  der  Douglas  durch  ein  Instrument  perforiert 
wurde,  als  versucht  wordeln  war,  in  den  Muttermund  einzugehen, 
oder  es  besteht  die  Annahme  zu  Recht,  daß  (das,  hintere  Scheiden¬ 
gewölbe  durch  sehr  rohes  Vorgehen  der  Hebamme  bei  der  Unter¬ 
suchung,  eventuell  durch  Zug  an  dem  Prolaps,  eingerissen  ist. 
Die  Gravidität  im  sechsten  Lunartnonat  blieb  unbeschadet  be¬ 
stehen  und  wurde  die  Frau  nach  fieberfreiem  Verlauf  entlassen. 

Es  wird  auch  auf  das  sonderbare  Verhalten  solcher  Ge¬ 
bärender  und  Wöchnerinnen,  welche  Fruchtabtreibung  ausgeführt 
haben,  aufmerksam  gemacht,  daß  dieselben  selbst  vor  dem  un¬ 
mittelbar  bevorstehenden  Tode,  auch  wenn  ihnen  die  handgreif¬ 
lichen  Zeichen  eklatant  geübter  Frachtabtreibung  vorgehalten  wer¬ 
den,  mit  keinem  Worte  eine  bejahende  Aussage  machten,  son¬ 
dern  bis  zum  letzten  Atemzuge  rundweg  ableugneten,  wie  dies 
in  der  Anstalt  bei  Phosphorvergiftungen  mehrfach  beobachtet 
wurde.  Es  könnte  solchen  traurigen  Fällen  unter  Umständen 
vielleicht  doch  früher  Hilfe  gebracht  werden,  wenn  sie  nicht 
fürchten  müßten,  im  Falle  eines  Geständnisses  straffällig  zu 
werden. 

Dr.  Riedl  berichtet  über  die  Ergebnisse,  welche  auf  der 
chirurgischen  Abteilung  des  Linzer  Allgemeinen  Krankenhauses 
mit  der  Nagel  ex  tension  bei  Frakturen  erzielt  worden  sind. 

Das  Verfahren,  welches  durch  St  ein  mann  in  Bern 
1907  zur  Einführung  kam,  aber  schon  von  Cor  di  villa  1903 
im  Prinzip  angegeben  worden  ist,  besteht  bekanntlich  darin, 
daß  distal  von  der  Knochenbrachstelle  entweder  seitlich  je  ein 
Nagel  eingeschlagen,  oder  ein  einziger  Nagel  quer  durchgebohrt 
wird,  an  welchem  dann  Gewichtszüge  zur  Extension  angebracht 
werden. 

Die  Nagelextension  wird  hauptsächlich  nur  an  der  unteren 
Extremität  gemacht,  ist  aber  auch  schon  an  der  oberen  Ex¬ 
tremität  versucht  worden,  an  der  hiesigen  Abteilung  nur  am 
Bein  und  stets  mit  dem  durchgehenden  Nagel. 

Als  Anwendungsgebiet  der  Nagelextension,  welche  kein 
Normalverfahren,  sondern  nur  eine  Ergänzung  der  Barden¬ 
heuersehen  Methode  darstellt,  kommen  in  Betracht: 

1 .  veraltete  unkomplizierte  Frakturen  mit  Pseudarthrosen- 
bdldung ; 

„  2.  komplizierte  Frakturen;  ' 

3.  subkutane  frische,  mit  starker  Splitterung,  schweren  Blut¬ 
ergüssen  oder  Hautveränderungen. 

Mit  Hilfe  der  Nagelextension  gelingt  es  einerseits,  selbst 
hochgradige  Verkürzungen  bei  bestehenden  Pseudarthrosen  zum 
Schwinden  und  zur  knöchernen  Vereinigung  zu  bringen,  ander¬ 
seits  können  damit  komplizierte  Frakturen  in  bequemster  Weise 
offen  behandelt  werden,  ohne  die  Gefahr  einer  zurückbleiben¬ 
den  Verkürzung. 

Der  Nagel  bleibt  entweder  bis  zur  definitiven  Knochenheilung 
liegen,  oder  nur  solange,  bis  die  Verkürzung  behoben  ist,  dann 
Gipsverband. 

Vortr.  berichtet  sodanh  über  15  Fälle,  welche  in  den 
letzten  IV2  Jahren  auf  der  chirurgischen  Abteilung  des  Linzer 
Allgemeinen  Krankenhauses  mit  der  Nagel  ex  tension  behandelt 
worden  sind. 

Von  den  15  Frakturen  waren  betroffen:  einmal  der  Schenkel¬ 
hals,  fünfmal  der  Oberschenkel,  neunmal  der  Unterschenkel. 

Der  Nagel  wurde  gebohrt:  viermal  durch  die  Oberschenkel¬ 
epiphyse,  viermal  durch  die  Tibia,  siebenmal  durch  das  Fersen¬ 
bein. 


Nr.  7 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


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Der  Erfolg  war  im  allgemeinen  ein  recht  befriedigender,  so 
daß  das  Verfahren  auch  weiterhin  bei  allen  einschlägigen  l’älien 

geübt  werden  wird. 

Der  Vortragende  demonstriert  eine  Kranke  mit  gelungener 
Xagelextonsion,  sowie  den  in  Verwendung  kommenden  Apparat 
an  einem  Gipsmodell,  ferner  mehrere  Röntgenogramme  von  Frak¬ 
turen  vor  und  nach  der  Behandlung. 


Verein  der  Aerzte  in  Steiermark. 

11.  Monats  Versammlung  am  21.  0  k  t  o  b  e  r  1910. 

Assistent  Dr.  Ri  nt  eien  stellt  Fälle  von  Störung  des 
Reizleitungssystems  des  Herzens  vor. 

12.  Monatsversammlung  am  4.  November  1910. 

Priv.-Doz.  Polland  demonstriert  einen  Fall  von  angio- 
neurotischer  Dermatitis.  Die  16jährige  Patientin  bekommt  seit 
6  Wochen  nässende  Flechten,  die  in  Nachschüben  von  einigen 
Tagen  auftraten,  im  Gesicht  begannen  und  allmählich  bis  zu  den 
Füßen  abstiegen.  Diese  Stellen  reichen  bis  an  die  Papillarschicht, 
bedecken  sich  dann  mit  Krusten  und  heilen  schließlich  nach  etwa 
14  Tagen.  Sie  treten  stets  symetrisch  auf,  beginnen  als  Urti¬ 
karia,  bilden  kleine  herpetische  Bläschen  und  sondern  schließlich 
mäßig  reichliche,  viszide,  stark  lichtbrechende  Flüssigkeit  ab.  An¬ 
fälle  von  Tachykardie  und  Basedowartige  Symptome  wurden 
gleichzeitig  beobachtet.  Die  Patientin  ist  anämisch,  leidet  an 
Migräne,  zeitweise  an  Harndrang,  Menstruationsstörungen,  sowie 
an  Andeutungen  von  Somnabulismus,  von  Hysterie  keine  Spur. 
Die  Flecken  treten  auch  unter  Verband  auf,  ein  Artefakt  ist  aus¬ 
geschlossen.  Weitere  Beobachtungen  dieser  Kranken  sind  vorge¬ 
sehen.  Der  Redner  erörtert  auch  die  Aetiologie,  Prognose  und 
Therapie  dieser  Krankheit. 

Priv.-Doz.  Her  tie  demonstriert  das  Operationszystoskop 
von  N  i  t  z  e  und  berichtet  über  ein  damit  entferntes  Blasen- 
papillom  bei  einer  55jährigen  Frau,  welche  seit  zwei  Jahren  an 
zeitweise  auftretenden  Blutharnen  litt.  Oberhalb  der  linken  Ureter¬ 
mündung  sah  man  durch  das  Zystoskop  eine  haselnußgroße 
zottige  Geschwulst,  welche  mittels  Schlinge  gefaßt  und  abgeglüht 
werden  konnte.  Redner  unterzieht  die  intravesikale  Methode  der 
Entfernung  gutartiger  Blasengeschwülste  und  derjenigen  der 
Sectio  alta  einer  kritischen  Beobachtung. 

Priv.-Doz.  Petry  demonstriert  einige  seltene  radiologische 
Befunde. 

Assistent  Ascher  bespricht  die  Operation  eines  dieser  Fälle. 

13.  Monatsversammlung  am  11.  November  1910. 

Assistent  Kerl  demonstriert  einen  Fall  von  sekundärem 
Lungenhilustumor  bei  einem  36jährigen  Mann.  Der  geistig  be¬ 
schränkte  Patient  hatte  eine  Struma  und  eine  vergrößerte  Leber. 
Vor  dem  Röntgenschirm  zeigte  sich  ein  Schatten  in  der  rechten 
Lunge.  Am  Lungenhilus  ragte  der  Schatten  mit  nach  außen  kon¬ 
vexer  Grenze  in  das  helle  Lungenfeld  mit  langer  spitzer  Zacke, 
von  einzelnen  kleinen  Schatten  umlagert.  Redner  bespricht  die 
bisher  seltenen  Fälle  von  Lungentumor,  welche  durch  das 
Röntgenbild  erkannt  wurden. 

Priv.-Doz.  Hesse  stellt  einen  Fall  von  Tuberkulose  des 
Ziliarkörpers  vor.  Es  handelt  sich  um  ein  hereditär  belastetes 
Mädchen  von  17  Jahren  mit  tuberkulösen  Lungenprozessen, 
welches  seit  einigen  Monaten  eine  langsame  Verschlechterung 
des  Sehvermögens  auf  dem  rechten  Auge  bemerkt.  Seit  3  Wochen 
beginnt  am  äußeren  unteren  Hornhautrand  eine  Geschwulst  zu 
wachsen.  Diese  ist  erbsengroß,  höckerig,  von  derber  Konsistenz 
und  die  Bindehaut  über  der  Geschwulst  unverschieblich  und  in¬ 
jiziert.  Angrenzend  in  der  Hornhaut  ein  wandständiger  flacher 
Substanzverlust.  Unter  dem  Zentrum  der  Hornhaut  finden  sich 
zwei  große  Präzipitate.  In  der  Tiefe  des  Auges  sieht  man  bei 
seitlicher  Beleuchtung  außen  unten  in  der  Gegend  der  äußerlich 
sichtbaren  Geschwulst  einen  gelbrötlichen  Knoten,  welcher  sich 
diffus  in  der  Tiefe  des  Auges  verliert.  Von  einer  Enukleation 
muß  in  diesem  Falle  abgesehen  werden,  da  noch  andere  tuber¬ 
kulöse  Herde  bestehen.  Es  besteht  die  Absicht,  eine  Tuberkulin¬ 
behandlung  einzuleiten,  obzwar  der  Vortragende  bisher  nur  wenig 
gute  Erfolge  mit  dieser  Behandlung  sah. 

An  der  Diskussion  beteiligte  sich  Priv.-Doz.  P  o  s  s  e  k. 

Prof.  Pfeiffer  hält  einen  Vortrag  über  interne  Anwendung 
von  Tuberkelbazillenpräparaten.  Auf  Grund  von  künstlichen 


Verdauungsversuchen  stellt  der  Redner  fest,  daß  die  Wirkung 
per  os  gegebenen  Tuberkulins  unsicher  ist,  die  interne  Tuber¬ 
kulintherapie  wird  auch  zu  schematisch  geübt.  Die  internen  An¬ 
fangsdosen  sind  gegenüber  den  subkutanen  Dosen  hoch,  doch 
wird  keine  proportionelle  Steigerung  vorgenommen.  Wegen  des 
Wechselns  der  Resorptions-  und  Verdauungsbedingungen  wäre 
auch  die  Anwendung  großer  Dosen  nicht  zu  empfehlen,  weil  un¬ 
erwartetheftige,  schädliche  Wirkungen  möglich  wären.  Aus  diesem 
Grunde  wird  bei  relativ  kleinen  Dosen  stehen  geblieben,  damit 
geht  aber  auch  die  Wahrscheinlichkeit  verloren,  wirksame  Mengen 
des  Mittels  anzuwenden. 


Aerztlicher  Verein  in  Brünn. 

Sitzung  vom  9.  Januar  1911. 

Prim.  Magier  demonstriert:  1.  Den  Patienten,  der  mit 
Ischias  scoliotica  vor  einiger  Zeit  vorgestellt  wurde,  jetzt 
durch  epidurale  Injektionen  von  Schleich  scher  Lösung  als 
geheilt. 

2.  Einen  58jährigen  Kranken  mit  einem  die  Rippen  usu- 
rier enden  und  die  rechte  Brustwand  bis  zu  Faustgroße  vorwol- 
benden  Aneurysma  der  Aorta.  Wasser m a n n sehe  Reak¬ 
tion  positiv. 

3.  Eine  57jährige  Frau,  die  ein  vom  linken  Arcus  palato¬ 
glossus  ausgehendes  Fibroma  pendulum  zeigt,  das  im  Oeso¬ 
phagus  verschluckt  getragen  wird  und  durch  Würgebewegungen 
bis  vor  die  Mundöffnung  gebracht  werden  kann. 

4.  Einen  21jährigen  Patienten  mit  einer  Purpura  hae- 

morrhagica,  der  an  der  Schleimhaut  des1  harten  Gaumens  und 
an  der  hinteren  Rachenwand  rötlichblaue,  bucklige  Vorwölbungen 
zeigt.  f 

5.  Ein  lljähriges  Mädchen  mit  einem  Sarkom  des 
Nasenrachenraumes. 

Bezirksarzt  Dr.  J.  Mend  1 :  Zur  Frage  der  Schul anämie 
und  deren  Prophylaxe. 

Nach  einer  eingehenden  Besprechung  der  Literatur  schil¬ 
dert  der  Vortragende  das  morphologische  Verhalten  des  Blutes 
von  50  Schulkindern,  die  aus  zwei  Schulen,  einer  modernen 
und  einer  veralteten,  ausgewählt  worden  waren.  Die  untersuchten 
Kinder  zeigten  keine  Komplikationen,  wie:  Diabetes  melitus, 
chronische,  parenchymatöse  Nephritis,  profuse  Diai’rhöen,  chro¬ 
nische  Gastroenteritiden,  Phthisis  pulmonum,  Lues  hereditaria, 
Malaria,  maligne  Tumoren,  Helminthiasis,  Status  lymphaticus, 
Erkrankungen  der  Haut.  Die  absoluten  Werte  für  die  Erythrozyten, 
Leukozyten,  sowie  der  Hämoglobingehalt  winden  in  der  üblichen 
Weise  bestimmt  und  Trockenpräparate  (nach  Aldehoff)  an¬ 
gefertigt.  Einige  der  Fälle  wurden  bezüglich  der  Verteilung  der 
Leukozyten  besprochen;  die  ausführliche  Publikation  der  Fälle 
wird  erfolgen. 

Die  Veränderungen,  welche  das  Verhalten  der  Erythrozyten 
und  Leukozyten,  sowie  des  Hämoglobingehaltes  und  der  Färbe¬ 
kraft  des  Blutes  betreffen,  sind  weniger  quantitativer  als  qualita¬ 
tiver  Natur,  es  besteht  weder  eine  erhebliche  Oligochromämie, 
noch  Oligozythämie,  noch  ein  Unterschied  in  bezug  auf  die 
Geschlechter.  Die  absolute  Zahl  der  Erythrozyten  ist  in  der  Hälfte 
der  Fälle  mäßig  herabgesetzt;  als  Kompensation  ausgiebige,  klein¬ 
zellige  Poikilozytose  und  erhöhter  Färbeindex  des  Blutes.  In 
fünf  Fällen  positiver  Norm  oblaste  nbefund ;  niemals1  Megaloblasten 
oder  Megalozyten.  Die  Anämie  der  Schulkinder  ist  im  eigent¬ 
lichen  Sinne  keine  Anämie,  sondern  eine  Pseudoanämie  mit  teil¬ 
weise  bekannter,  teilweise  unbekannter,  daher  nicht  entfernbarer 
Ursache.  Das  Blut  der  Schulkinder  hat  nur  anämisierende  Eigen¬ 
schaften  angenommen.  Nicht  nur  Kinder  aus  dem  Proletariat, 
sondern  auch  besser  gestellte  zeigen  diese  Eigenschaften. 

Die  polynukleären  neutrophilen  Zellen  sind  in  76%  der 
Fälle,  in  einem  bis  auf  20%  ihres  Normalwertes  gesunken.  Eine 
konstante  Vermehrung  ungefähr  in  50%  der  Gesamtfälle  zeigen 
die  eosinophilen  Elemente,  einmal  bis  25%.  Substanzen  der 
Schulluft,  die  einen  anämisierenden  Einfluß  auf  das  Blut  der 
Kinder  haben,  zeigen  positiv  chemotaktische  Wirkungen  auf  die 
azidophilen  Zellen,  wie  überhaupt  nach  der  Literatur  zu  schlie¬ 
ßen!,  der  kindliche  Organismus  auf  ihn  treffende  Schädlichkeiten 
mit  einer  Eosinophilie  zu  reagieren  scheint:  Toxische  Eosino¬ 
philie. 

Die  Lymphozyten  sind  in  72%  der  Fälle  mehr  weniger 

vermehrt. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  7 


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Nicht  konstante  Vermehrungen  zeigen  auch  die  großen  mono- 
nukleären  Zellen  und  die  Uebergangsformen.  Von  pathologischen 
Zellelementen  wurden  6mal  .Myelozyten  gefunden.  Der  positive 
Myelozytenbefund  spricht  für  eine  Reizung  des  Rückenmarkes 
durch  die  Schulluft  auf  dem  Wege  der  Blutbahn. 

Diskussion:  Prof.  Sternberg  pflichtet  der  Auffassung 
des  Vortragenden  darin  bei,  daß  nach  diesen  Befunden  keine 
Anämie  vorliegt.  In  der  Poikilozytose  kann  aber  Redner  keine 
Kompensation  erblicken;  das  Auftreten  von  Normobiasten  würde 
für  eine  gesteigerte  Blutregeneration  sprechen.  Inwiefern  das 
Blut.  , , anämis ierende“  Eigenschaften  angenommen  haben  soll, 
kann  Redner  nicht  erkennen.  Unter  den  Befunden  an  den  farb¬ 
losen  Blutzellen  dürfte  wohl  der  Fall  mit  25°/o  eosinophiler  Zellen 
auszuscheiden  sein-  hier  dürfte  wohl  irgendeine  besondere  Ur¬ 
sache  für  die  Eosinophilie  Vorgelegen  haben.  Im  allgemeinen 
scheint  Vortragender  eine  längere  Persistenz  des  kindlichen  Blut¬ 
bildes  vorgefunden  zu  haben.  Daß  Substanzen  der  Schulluft  eine 
Eosinophilie  hervorrufen  oder  durch  Reizung  des  Rückenmarkes 
eine  Myelozytemausschwemmung  bewirken,  erscheint  dem  Redner- 
äußerst  unwahrscheinlich  und  durch  nichts  bewiesen.  —  Den 
Ausdruck  Pseudoanaemia  scolaris  für  den  vom  Vortragenden 
geschilderten  Symptomenkomplex  möchte  Redner  lieber  nicht 
in  die  Nomenklatur  eingeführt  wissen. 

Prim.  Mager  fragt  den  Vortragenden  über  das  Verhalten 
des  lymphatischen  Gewebes  bei  den  von  ihm  untersuchten  Kin¬ 
dern  und  spricht  auf  Grund  der  letzten  Arbeit  Neussers  die 
Vermutung  aus,  daß  ein  eventueller  Status  thymicodymphaticus 
bei  der  Beurteilung  der  Erscheinungen,  die  die  Kinder  zeigten, 
mit  in  Erwägung  gezogen  weiden  müsse. 

Stadtphysikus  Dr.  Koka  11  weist  darauf  hin,  daß  die  Kinder 
sich  viel  zu  kurz  in  der  Schule  aufhalten,  als  daß  hieraus  die 
Blässe  erklärt  werden  könnte.  Die  Kinder  der  ersten  Klasse  haben 
wöchentlich  19  Schulstunden,  später  steigt  die  Ziffer  auf  32. 
Dazu  kommen  noch  die  Sonn-  und  Feiertage  und  die  reichlich 
bemessen  en  Ferien.  Redner  meint,  daß  die  Verhältnisse,  unter- 
weichen  die  Kinder  zu  Hause  leben,  viel  mehr  ihre  Blässe  Amr¬ 
ursachen  als  die  Schule.  Dies  geht  auch  daraus  hervor,  daß 
etwa  ein  Fünftel  aller  blutarmen  Kinder  auf  die  erste  Schul¬ 
klasse  entfällt;  wäret  die  Schule  schuld  ander  Bleichsucht,  müßte 
däs  Verhältnis  umgekehrt  sein.  Redner  warnt  vor  Worten,  wie 
„Schulanämie“,  um  nicht  den  Gegnern  der  modernen  Volks¬ 
schule  neue  Waffen  in  die  Hand  zu  geben. 

Dr.  J.  Löw  (Grado)  meint,  daß  eine)  abnorme  Verteilung  des 
Blutes  im  Körper  Ursache'  der  Blässe  der  Schulkinder  sein  kann ; 
dafür  würde  sprechen,  daß  die  Kinder  sich  in  kürzester  Frist 
(zAvei  bis  drei  Tage  nach  Schulschluß)  vollständig  erholen. 

Dr.  Landesmann  macht  für  die  Blässe  der  Schulkinder 
die  Aenderung  ihrer  Lebensweise  verantwortlich :  das'  frühe  Auf¬ 
stehen,  unregelmäßige  Mahlzeiten,  unruhiger,  mangelhafter  Schlaf 
und  so  weiter ;  nicht  die  Schule,  sondern  psychische,  nervöse  Ein¬ 
flüsse  verursachein  die  Blässe  der  Schulkinder. 

Stadtphysikus  Dr.  Koka  11  demonstriert  einen  pyramiden¬ 
förmigen  Stein  von  20  mm  Höhe  und  16X12  mm  Basis,  den 
er  frei  einem  Patienten  mit  akuter  Harnverhaltung  seinerzeit 
durch  Urethrotomie  aus  der  Harnröhre  entfernt  hat.  Der  Stein 
hat  einen  Uratkern  und  Phosphatmantel :  nach  Ansicht  des  Vor¬ 
tragenden  dürfte  er  sich  im  Blasenhals  gebildet  haben. 

Sitzung  vom  23.  Januar  1911. 

Dr.  Latz  er:  Demonstration  der  Resultate  ortho¬ 
dontischer  Behandlung  Erwachsener. 

Die  orthodontische  Behandlung  Erwachsener  ist  Aveitaus 
seltener  durchzuführen  als  bei  Kindern,  weil  erstere  sich  selten 
entschließen,  die  notwendigen  Apparate  im  Munde  längere  Zeit 
zu  Ragen.  Um  so  mehr  Interesse  dürfen  daher  die  demonstrierten 
Modelle  in  Anspruch  nehmen,  welche  zeigen,  daß  auch  im  Alter 
über  dreißig  Jahre  Okklusionsanomalien  korrigiert  werden 
können.  Der  erste  Fall  betrifft  einen  abnormen  Vor  biß  des  Unter¬ 
kiefers.  Im  Verlaufe  von  fünf  Wochen  sind  normale  Bißverhält¬ 
nisse  hergestellt  worden.  Im  zweiten  Falle  wurde  ein  impaktierter 
Eckzahn  im  rechten  Oberkiefer  nach  Entfernung  des  persistie¬ 
renden  Milcheckzahns  hervopgeholt.  Die  Behandlung  nahm  über  ein 
Jahr  in  Anspruch.  Trotzdem  ist  es  indiziert,  die  Behandlung  solcher 
Fälle  durchzuführen,  da  derartig  verlagerte  Zähne  häufig  Anlaß  zu 


Neuralgien  werden.  Der  nächste  Fall  zeigt  die  Korrektur  eines 
Diastems  der  Schneidezähne  im  Ober-  und  Unterkiefer.  Der  eigent¬ 
lichen  Behandlung  war  die  Exzision  des  hypertrophierten  Lippen¬ 
bändchens  im  Oberkiefer  vorausgegangen.  Schließlich  zeigt  Vor¬ 
tragender  den  Erfolg  einer  symmetrischen  Extraktion  der  ersten 
Molaren  im  Ober-  und  Unterkiefer  wegen  Engstand  der  Zähne. 
Hie  Extraktionen  erfolgten  nach  vollendetem  Durchbruch  der 
zweiten  Molaren,  die  tatsächlich  an  die  Stelle  der  geschaffenen 
Lücken  traten;  übrigens  blieb  genügend  Platz  für  ein  tadelloses 
Nebeneinanderstehen  der  übrigen  Zähne.  Vortragender  will  mit 
seiner  Demonstration  das  Augenmerk  der  Kollegen  auf  solche 
Bißanomalien  lenken,  die  trotz  vorgeschrittenen  Alters  zu  einem 
Heilerfolg  führen  können. 

Prim.  Mager:  Mikroprojektion  von  Rückenmarks¬ 
schnitten  bei  multipler  Sklerose  und  akuter  Mye¬ 
litis.  Die  Durchsicht  der  Präparate  zeigt,  daß  die  multiple 
Sklerose  der  Ausgang  myelitischer  Prozesse  sein  dürfte. 

Prof.  Sternberg.  Mikroprojektion  verschiedener 
klinisch  wichtiger  Formen  des  Sarkoms. 


Programm 

der  am 

Freitag  den  17.  Februar  1911,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Prof.  Dr.  Ferd.  Hoclistetter  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Dr.  Hecht  und  Dr.  Köhler:  Untersuchungen  über  Asepsis. 
(Demonstration). 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Clairmont  und  Haudek, 

S.  Federn,  Max  Herz,  Julius  Neumann  und  Ed.  Hermann,  L.  Wirk, 
Hans  Salzer  und  Robert  Breuer. 

Bergmeister,  P a  1 1 a u f. 

Um  die  rechtzeitige  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen, 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerkungen  , 
dem  Schriftführer  noch  am  SitzuiiKsabeuct  zu  übergeben. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  der  pädiatrischen  Sektion  findet  im  Hörsaale  der 
Klinik  Escherich  Donnerstag  den  16.  Februar  1911,  um  7  IJhr 

abends,  statt. 

(Vorsitz:  Dr.  Julius  Drey.) 

Programm: 

1.  Demonstrationen. 

2.  Dr.  M.  Jerusalem:  Zur  Sonnenlichtbehandlung  der  chirurgi¬ 
schen  Tuberkulose. 

Das  Präsidium. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  20.  Februar  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Sitzungssaale  des  Kollegiums,  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz  des 
Herrn  Dr.  E.  Jalioda  stattfindenden  wissenschaftlichen  Versammlung. 

Priv.-Doz.  Dr.  A.  Foges:  Die  Beziehungen  zwischen  Flexur-  und 
Genitalerkrankungen. 


Gesellschaft  für  physikalische  Medizin. 

Programm  der  am  Mittwoch  den  22.  Februar  1911,  um  7  Uhr  abends,  im  j 

Hörsaale  der  Klinik  Noorden,  unter  dem  Vorsitze  von  Priv.-Doz.  Doktor  ' 
A.  Hum  stattfindenden  Sitzung. 

1.  Demonstrationen. 

2.  Priv.-Doz.  Dr.  Holzknecht:  a)  Ueber  ein  neues  Radiometer  j 
(mit  Demonstrationen);  b)  Bursitis  subacromialis  et  subdeltoidea,  eine  j 
Avichtige  neue  Indikation  der  physikalischen  Methoden. 

3.  Dr.  Blum :  Die  Röntgenbehandlung  der  Prostatahypertrophie. 


Kollegen  als  Gäste  Avillkommen. 

Dr.  Max  Kahane,  I.  Sekretär.  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz.  Präsident. 


Verantwortlicher  Redakteur  :  Karl  Kubasta.  Verlag  von  Wilhelm  Branmüller  in  Wien- 

Druck  von  Bruno  Bartelt.  Wien  XVIII.,  Theresiengasse  8 


Wiener  klinische  Wochenschri 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner.  S.  Exner.  E.  Finger.  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko.  H.  Meyer.  J,  Moeller  K.  v.  Noorden. 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  Q.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs,  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig  Edmund  v.  Neusser 

Richard  Paltauf.  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k-  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/i,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618 


XXIV.  Jahrg. 

Wien,  23.  Februar  1911 

Nr.  8 

i  heodor  Escherich  f. 

Nachruf  von  Priv.-Doz.  Dr.  Franz  Hamburger. 

Am  15.  Februar  starb  Escherich  einen  raschen  Tod.  Eine  Apoplexie  hat  seinem  tätigen,  arheits- und 
erfolgreichen  Leben  ein  jähes  Ende  bereitet.  Sein  Tod  hat  allenthalben  aufrichtige  Teilnahme,  tiefe  Trauer 
erregt.  War  er  doch  ein  Mann,  beseelt  von  ehrlichem  Streben,  ausgezeichnet  durch  selbstlose  Arbeit,  erfüllt 
von  echtem  Idealismus.  Sein  Tod  ist  ein  unersetzlicher  Verlust  für  die  Wissenschaft,  für  die  Kinderheilkunde 
ganz  besonders.  Unersetzlich  ist  sein  Verlust,  weil  eine  solche  Kombination  von  glänzender  Organisations¬ 
fähigkeit,  von  erfolgreichem  Forscherdrang,  von  heller  Schaffensfreude,  von  strenger  Gewissenhaftigkeit  selten 
in  einem  Manne  vereint  gefunden  wird.  Er  war  einer  der  seltenen  Männer,  die  der  Sache  an  sich,  also  dem 
Guten  um  des  Gaten  willen  dienten.  Das  ist  nicht  Phrase,  das  ist  Wahrheit.  Escherichs  Erfolge  sind  begründet 
in  seiner  Haupteigenschaft:  seiner  unbeugsamen  Energie,  seinem  Drang  zum  Fortschritt.  Man  kann  wohl 
sagen,  sein  ganzes  Leben  schien  geleitet  von  einer  unwiderstehlichen  Propulsionskraft.  Sie  führte  ihn,  sie 
zwang  ihn  vorwärts,  sie  brachte  ihm  viele  Erfolge,  sie  ließ  ihn  alle  Widerwärtigkeiten  —  und  deren  gab’s 
genug  —  spielend  überwinden. 

Escherich  wurde  am  29.  November  1857  in  Ansbach  in  Franken  geboren.  Er  enstammte  einer  an¬ 
gesehenen  Arztesfamilie.  Nach  Absolvierung  seiner  medizinischen  Studien  in  Würzburg  und  Slraßhurg  war 
er  zuerst  Assistent  von  Gerhart,  dessen  Schüler  zu  sein,  er  sich  mit  SLolz  rühmte. 

Nachdem  er  ein  Jahr  bei  Widerhofer  am  St.  Anna-Kinderspital  hier  in  Wien  als  Volontärarzt  tätig 
gewesen  war,  wurde  er  Assistent  an  der  Münchener  Universitätskinderklinik,  wo  er  seine  ersten  großen,  ihn 
schnell  bekanntmachenden  Arbeiten  ausführte  und  sich  habilitierte.  In  verhältnismäßig  jungen  Jahren  wurde 
er  nach  Graz  als  Extraordinarius  auf  die  Lehrkanzel  für  Kinderheilkunde  berufen  und  bald  entwickelte  sich 
daselbst  ein  reges  wissenschaftliches  Leben;  die  in  pädiatrischen  Kreisen  so  angesehene  Grazer  Schule  wurde 
gegründet.  Nach  wenigen  Jahren  schon  wurde  Escherich  Ordinarius.  Einen  Ruf  nach  Leipzig  schlug  er  aus. 
Im  Jahre  1902  wurde  er  an  die  Stelle  v.  Widerhofers  hierher  nach  Wien  berufen,  wo  er  in  den  kurzen 
neun  Jahren,  die  dun  noch  zu  wirken  vergönnt  waren,  nahezu  Unglaubliches  leistete. 

Die  hervorragendsten  Vorzüge  Escherichs  lagen  zweifellos  in  seiner  wissenschaftlichen  und  seiner 
organisatorischen  Begabung.  Aber  auch  als  Lehrer  leistete  er  Bedeutendes  und  sein  großes,  heißes  Interesse  an 
wahrer  Volksgesundheit  führte  eben  durch  seine  forscherische  und  gleichzeitig  organisatorische  Begabung  zu  den 
großen  Erfolgen  des  Dahingegangenen. 

Die  wissenschaftliche  Bedeutung  Escherichs  ist  eine  außerordentliche.  Die  Anzahl  der  von  ihm  publi¬ 
zierten  Arbeiten  beträgt  fast  zweihundert!  Die  Vielseitigkeit  in  diesen  seinen  Arbeiten  ist  wirklich  staunenswert. 
Es  gibt  kein  Gebiet  in  der  Kinderheilkunde,  auf  dem  er  nicht  forscherisch  erfolgreich  tätig  gewesen  wäre.  In 
der  ganzen  wissenschaftlichen  Welt  bekannt  ist  seine  klassische  Arbeit  über  die  Darmbakterien  des  Säuglings. 
Diese  Arbeit  ist  im  wahren  Sinne  des  Wortes  grundlegend  und  richtunggebend  für  viele  andere  Arbeiten  auf 
diesem  wichtigen  Gebiet.  Bei  dieser  hervorragenden  systematischen  bakteriologischen  Arbeit  entdeckte  Escherich 
das  Bacterium  coli  commune,  das  bekanntlich  die  wichtigste  Rolle  unter  allen  normalen  Darmbakterien  spielt. 
Diese  erste  größere  Arbeit  von  Escherich  hatte  nicht  nur  für  die  damalige  Zeit  eine  große  Bedeutung,  sondern 
ist  heute  noch  ein  Standardwerk,  das  niemand  entbehren  kann,  der  sich  mit  der  Frage  der  Darmbakterien 
eingehender  beschäftigt. 

Seine  grundlegenden  bakteriologischen  Arbeiten  waren  aber  auch  weiterhin  außerordentlich 
fruchtbringend.  Sie  gaben  Anstoß  zu  zahlreichen  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Fäzesbakteriologie,  das  nicht 
allein  in  Deutschland,  sondern  ganz  besonders  auch  in  Frankreich,  durch  Jahre  hindurch  aufs  eifrigste 


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bearbeitet  und  durchforscht  wurde.  Besonders  das  Bac- 
lerium  coli  commune  (Escherich)  war  lange  Zeit  Gegenstand 
zahlreicher  wissenschaftlicher  Untersuchungen.  So  wurde 
Escherichs  Ruf  in  der  medizinischen  Wissenschaft  be¬ 
gründet  und  vergrößert.  Seine  bakteriologischen  Arbeiten 
gaben  aber  auch  weiterhin  Anstoß  zu  wichtigen  klinischen 
Untersuchungen  und  führten  zur  Entdeckung  auch  praktisch 
bedeutungsvoller  Kinderkrankheiten.  So  ist  die  Entdeckung 
der  Kolizystitis  ausschließlich  Escherichs  Verdienst.  Diese 
Erkrankung  isl  im  Kindesalter  gar  nicht  so  selten,  macht 
oft  recht  schwere  Krankheitserscheinungen  und  ist  daher 
diagnostisch  sehr  wichtig.  Ferner  entdeckte  Escherich 
die  Streptokokken  enteritis  der  Säuglinge.  Abgesehen  von 
Publikationen  über  weitere,  minder  wichtige,  weil  seltenere 
Erkrankungen,  wie  die  Pyozyaneusinfektionen,  die  „blaue 
Bazillose“,  sind  besonders  seine  Arbeiten  über  die  Kolitis 
im  Kindesalter  zu  erwähnen. 

Daß  Escherich  in  seiner  Grazer  Zeit  eine  ganze 
Reihe  von  jungen  Aerzten  mit  bakteriologischen  Studien 
beschäftigte,  kann  bei  seiner  Anlage,  anzuregen  und  anzu¬ 
eifern,  neue  Probleme  aufzustellen,  nicht  wundernehmen. 
Von  den  bakteriologischen  Veröffentlichungen  dieser  Zeit 
sind  besonders  jene  von  Ad.  Schmid  und  von  Moro 
hervorzuheben. 

Wer  aber  glaubt,  daß  Escherich  nur  einseitig  bakte¬ 
riologisch  zu  arbeiten  imstande  war,  der  irrt.  Escherich 
war  ein  guter  klinischer  Beobachter.  Am  besten  zeigt  sich 
das  darin,  daß  er  neue  Krankheitsbilder  zu  erfassen  und 
zu  gestalten  vermochte.  Gleich  nach  der  Uebernahme  der 
Grazer  Lehrkanzel  erkannte  Escherich  die  Bedeutung  der 
Beobachtungen  Loos’,  der  entdeckt  hatte,  daß  Säuglinge 
mit  dem  so  häufigen,  den  alten  Aerzten  längst  bekannten 
Symptom  des  Laryngospasmus  auch  Fazialisphänomen  zei¬ 
gen.  Loos  hatte  daraus  geschlossen,  daß  es  sich  in  solchen 
Fällen  um  echte  Tetanie  handeln  könnte.  Loos  beschrieb 
auch  seine  Untersuchungen  ausführlich.  Escherich  be¬ 
arbeitete  nun  die  von  Loos  angeschnittene  Frage  in  treff¬ 
licher,  man  kann  wohl  sagen  klassischer  Weise.  Damit 
stellte  E  sc'herich  zugleich  die  große  Häufigkeit  der  Tetanie 
im  Säuglingsalter  fest.  E sc'herich  stellte  damals  auch 
zusammen  mit  v.  W  agner- Jauregg  die  ersten  galvani¬ 
schen  Untersuchungen  an  Säuglingen  an,  die  überhaupt  ge¬ 
macht  worden  sind.  Seit  dieser  Zeit  —  es  sind  nun  mehr 
als  20  Jahre  —  wurde  unter  Escherichs  Leitung  die 
Forschung  über  Tetanie  nie  mehr  aufgegeben.  Noch  in 
den  letzten  Jahren  schrieb  er  eine  ausgezeichnete  er¬ 
schöpfende  Monographie  über  die  Kindertetanie  für  das 
N  o  t  hna  g  e  1  s  c  h  e  Handbuch  und  veranlaßte  die  schöne 
Arbeit  Yanas  es  über  die  Epithelkörperchenbefunde  bei 
Tetanie.  Jedenfalls  sind  Escherichs  Studien  über  die  Kin- 
dertetanie  als  eine  seiner  bedeutendsten  klinischen  Leistun¬ 
gen  anzusehen. 

Von  den  klinischen  Arbeilen  sind  ferner  ganz  beson¬ 
ders  die  Untersuchungen  über  Diphtherie  zu  erwähnen,  die 
er  in  einer  sehr  interessanten  Monographie  zusammenfaßte, 
betitelt  „Diphtherie,  Krupp  und  Serumtherapie  nach  Be¬ 
obachtungen  in  der  Universitätskinderklinik  in  Graz“  (1895, 
Wien).  Sehr  interessant  waren  auch  seine  experimentellen 
Arbeiten  über  Diphtherie.  Allgemein  bekannt  ist  seine  mit 
Klemensiewicz  publizierte  Arbeit  über  einen  Schutz¬ 
körper  im  Bhd  der  von  Diphtherie  geheilten  Menschen.  In 
dieser  Arbeit  wurde  zum  ersten  Male  der  Beweis  erbracht, 
daß  sich  bei  der  Spontanheilung  der  Diphtherie  auch  bei 
Kindern  echte  Antitoxine  entwickeln.  Ein  besonderes  Inter¬ 
esse  beansprucht  die  schöne  experimentelle  Studie  über 
Diphtherieimmunisierung,  in  welcher  Arbeit  nachgewiesen 
wurde,  daß  eine  passive  Immunisierung  durch  orale  oder 
rektale  Serumeinverleibung  unmöglich  sei,  daß  vielmehr 
dazu  unbedingt  parenterale  Injektion  notwendig  ist. 

Mit  zu  den  schönsten  und  bedeutendsten  Arbeiten 
Escherichs  gehören  aber  seine  Untersuchungen  auf  dem 
Gebiet  der  Säuglingsernährung.  Da  sind  es  drei  vonein¬ 
ander  zu  unterscheidende  Richtungen,  in  denen  sich  seine 


wissenschaftlichen  Bestrebungen  bewegten.  Die  bakterio¬ 
logische,  die  chemische  Richtung  und  endlich  seine  prin¬ 
zipiell  wichtige  volumetrische  Methode,  welche  heute  Ge¬ 
meingut  aller  Aerzte  ist,  ohne  daß  es  den  meisten  bekannt 
wäre,  daß  Es  edier  ich  der  Urheber  dieser  Methode  ist. 
E'scherich  beitonte  vielleicht  wohl  als  der  Erste,  wie 
nötig  es  sei,  bei  der  künstlichen  Ernährung  ganz  besonders 
darauf  zu  achtem,  daß  das  24  s Rindige  Nahrangsvolumen 
gewisse  Werte  nicht  allzusehr  übersteige.  Er  gewann  damals 
durch  Wägungen  von  normal  gedeihenden  Brustkindern  vor 
und  nach  dem  Trinken  die  normalen  Trinkmengen  und  schuf 
so  Standardzahlen,  die  als  Richtschnur  für  die  Nahrungs¬ 
mengen  künstlich  ernährter  Kinder  gelten  können. 

Auch  die  chemischen  Untersuchungen  Escherichs 
über  die  Milchgerinnung  sowie  über  die  Milchverdauung 
im  Magen  sind  Beispiele  musterhafter  exakter  Forscher¬ 
arbeil.  Seine  besondere  bakteriologische  Erfahrung  und  Be¬ 
gabung  brachte  es  mit  sich,  daß  Escherich  in  dieser  Rich¬ 
tung  ganz  besonders  forscherisch  tätig  war.  Ich  erwähne 
da  seine  Arbeiten  über  „Die  desinfizierenden  Behandlungs¬ 
methoden  der  Magendarmkrankheiten  des  Säuglingsalters“, 
„Zur  Frage  der  Milchsterilisierung“  etc. 

Es  ist  auffallend,  daß  Escherich  neben  seiner  aus¬ 
gesprochen  naturforscherischen  Begabung  auch  noch  eine 
bedeutende  „technische  Ader“  hatte.  Das  zeigte  sich  in 
der  Konstruktion  verschiedener  Apparate  sowie  in  seinen 
therapeutischen  Bestrebungen.  Von  den  von  ihm  erson¬ 
nenen  Apparaten  will  ich  nur  seine  Modifikation  des  Sox- 
hletschen  Milchsterilisierungsapparates  sowie  einen  Appa¬ 
rat  zu  Magenspülungen  bei  Säuglingen  anführen.  Ferner 
seine  große  Brutkammer  auf  der  von  ihm  ins  Leben  geru¬ 
fenen  Säuglingsabteilung  in  Graz  ;  das  war  die  erste  „chambre 
couveuse“  in  Oesterreich.  Dann  eine  Dampfkammer  zur  Be¬ 
handlung  der  Larynxdiphtherie.  Seine  technische  Begabung 
zeigte  sich  aber  in  hervorragendster  Weise  bei  seinen  thera¬ 
peutischen  Bestrebungen.  Man  denke  nur  an  den  sinnreichen 
„Soorschnuller“.  Ferner  an  seine  Paraffinbehandlung  der 
Nabelhernie.  Aus  den  allerletzten  Lebenslagen  des  Dahin¬ 
geschiedenen  stammt  eine  neue,  scheinbar  sehr  wirkungs¬ 
volle  Behandlungsmethode  der  Säuglingsfurunkulose,  die 
übrigens  an  der  Poliklinik  schon  einmal  mit  sehr  gutem 
Erfolg  angewendet  werden  konnte. 

Als  Escherich  nach  Wien  kam,  traten  in  den  ersten 
Jahren  die  eigenen  wissenschaftlichen  Interessen  mehr 
in  den  Hintergrund.  Aber  trotzdem  bewahrte  er  auch  wäh-  [ 
rend  der  nun  folgenden  Periode,  in  der  er  hauptsächlich  or¬ 
ganisatorisch  tätig  war,  seine  große  Teilnahme  an  allen 
wissenschaftlichen  Fragen  und  an  den  Arbeiten  seiner 
Assistenten. 

Mit  am  hervorragendsten  betätigte  sich  Escherich  als 
Organisator.  Dies  zeigte  sich  gerade  während  seiner  Wiener 
Tätigkeit  am  glänzendsten.  Freilich  hatte  er  schon  in  Graz 
genug  Beweise  seines  organisatorischen  Talentes  gegeben. 
So  wurde  unter  seiner  Leitung  eine  Diphtherieabteilung  und 
eine  Säuglingsabteilung  dem  dortigen  Anna-Kinderspital  ; 
angebaut.  Er  hatte  damals  gerade  mit  der  neuen  Säuglings-  : 
abteilung  einen  glücklichen  Griff  getan,  insoferne,  als  er 
einen  Vertrag  mit  dem  Lande  Steiermark  absohloß,  so  (laß 
die  der  Kinderklinik,  bzw.  dem  Anna -Kinderspital  angeglie¬ 
derte  Säuglingsabteilung  als  Krankenfiliale  der  steiermärki¬ 
schen  Findelanstalt  auf  Landeskosten  erbaut  und  erhalten 
wurde.  Ebenso  hat  Escherich  das  Ammenwesen  in  Graz 
zusammen  mit  Rosthorn  in  mustergültiger  Weise  geregelt, 
dadurch,  daß  die  Ammenvermittlung  in  der  Findelanstalt 
zentralisiert,  wurde  und  keine  Konzessionen  für  private 
Ammonvermittlungsbureaus  erteilt  wurden. 

Außerdem  zeigte  sich  das  organisatorische  Talent. 
Escherichs  auch  in  Graz  schon  an  der  Einrichtung  der 
Krankenzimmer,  besonders  auch  der  Laboratorien,  in  der 
Anlage  des  neuen  Hörsaales,  der  zugleich  in  höchst  prak¬ 
tischer  Weise  als  Laboratorium  diente.  Außerdem  bestand 
auch  schon  in  Graz  eine  von  Escherich  gegründete  Bi¬ 
bliothek,  die,  wenn  auch  klein,  so  doch  völlig  den  Bedürf- 


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nissen  der  jungen,  wissensdürstigen,  forschungseifrigen  Assi¬ 
stenten  genügte. 

Gewiß  kann  man  die  Grazer  Zeit  Escherichs  mehr 
als  Forscherperiode  bezeichnen,  im  Gegensatz  zur  Wiener 
Zeit,  welche  sich,  wenigstens  was  Escherichs  eigene 
persönliche  Arbeit  anbelangt,  mehr  als  die  Periode  der 
Organisatio n  dharakt eri si  er t . 

Als  Escherich  nach  Wien  kam,  fand  er  recht 
schwierige  Verhältnisse  vor.  Er  zog  in  das  zwar  ehrwürdige, 
aber  immerhin  veraltete  St.  Anna-Kinderspital  ein,  in  dem 
zwar  ein  Widerhofer  gewirkt  hatte,  das  aber  eben  doch 
den  modernen  hygienischen  Anforderungen  in  keiner  Weise 
mehr  genügte.  Im  St.  Anna-Kinderspital  war  bekanntlich 
die  Universitätskinderklinik  untergebracht.  Freilich  war 
Escherich  seinerzeit,  als  er  von  Graz  nach  Wien  ging, 
der  sofortige  Bau  einer  neuen  Kinderklinik  nach  seinen 
eigenen  Plänen  versprochen  worden.  Aber  immer  wieder 
und  wieder  verzögerte  sich  der  von  dem  Dahingeschiedenen 
so  ersehnte  Bau.  So  nahe  war  Escherich  nun  am  Ziel 
seiner  Wünsche  und  nur  mehr  wenige  Monate  trennten  ihn 
von  der  Eröffnung  der  neuen,  von  ihm  bis  ins  feinste  Detail 
so  wohldurchdachten  Klinik.  Da  mußte  ihn  der  Tod  ereilen. 
Welche  Tragik  liegt  in  dieser  Tatsache. 

Da  Escherich  bald  nach  seinem  Eintreffen  in  Wien 
erkannt  hatte,  daß  der  Neubau  der  Klinik  noch  Jahre  dauern 
mußte,  ging  er  rasch  entschlossen  daran,  das  alte  St.  Anna- 
Kinderspital  zu  modernisieren  und  den  neuen  Anforderungen 
der  Hygiene  entsprechend  umzuändern.  Es  war  imponie¬ 
rend,  zu  sehen,  wie  E>sdheri  ch,  statt  verdrossen  und  klein¬ 
mütig  über  das  fortwährende  Hinausziehen  zu  sein,  sofort 
den  tatsächlichen  Verhältnissen  Rechnung  trug  und  nun 
gleich  Auswege  wußte  für  seinen  unbefriedigten  reichen 
Schaffensdrang.  Zuerst  wurde  einmal  mit  dem  vom  Mini¬ 
sterium  bewilligten  Geld  eine  Laboratoriumsanlage  gebaut, 
ein  Laboratorium  für  bakteriologische,  eines  für  chemische 
Arbeiten.  Ein  kleines,  zuerst  als  Privatlaboratorium  für  den 
Chef  gedachtes  Zimmer,  wurde  bald,  d.  h.  so  bald  genug 
Geld  da  war,  als  Röntgenlaboratorium  eingerichtet.  Das 
Dach  des  ganzen  neuen  Gebäudes  wurde  nach  Escherichs 
Plan  flaCh  gebaut  unld  auf  ihm  tummelten  sich  die  Kinder 
an  schönen  Tagen,  um  die  frische  Luft  zu  genießen.  Das¬ 
selbe  Dach  wurde  später  zu  einem  prächtigen  Liegeplatz  für 
die  ganz  Kleinen,  nachdem  einmal  die  neue  Säuglingsabtei¬ 
lung  eingerichtet  war. 

Es  wurde  nämlich  gleichzeitig  mit  dem  neuen  Labo¬ 
ratorium  eine  neue  Säuglingsabteilung  im  alten  Haus  in¬ 
stalliert.  Mit  dieser  wurde  eine  Schule  für  Säuglingspfle¬ 
gerinnen  —  ein  völliges  Novum  —  gegründet.  Da  konnte 
man  so  recht  das  glänzende  Organisationsgenie  Esche¬ 
richs  bewundern,  der  mit  geringen  Mitteln,  durch  glück¬ 
liche  Kombination  aller  nur  denkbaren  Möglichkeiten  vieles 
und  großes  zu  schaffen  vermochte.  Die  Pflegerinnenschule 
wurde  dem  neuen  ebenfalls  von  Escherich  ins  Leben  ge¬ 
rufenen  Verein  „Säuglingsschutz“  angegliedert. 

Mit  der  Einrichtung  der  Säuglingsabteilung  verfolgte 
Escherich  forscherische,  didaktische  und  humanitäre 
Zwecke  mit  gleichem  Eifer  und  gleichem  Erfolg.  Dabei  ver¬ 
wendete  er  bei  der  Einrichtung  der  neuen  Abteilung  die 
neuen  Erfahrungen  und  Anschauungen  auf  dem  Gebiete 
der  Spitalspflege  der  Säuglinge.  Mit  weiser  Selbstbeschrän- 
kung  richtete  er  zuerst  nur  ein  kleines  Zimmer  für  diesen 
Zweck  ein,  das  höchstens  zehn  Säuglingen  Platz  schuf. 
Escherich  sagte,  wenn  wir  über  Säuglingspflege  und 
-ernährung  praktisch  lernen  wollen,  dann  müssen  wir  zuerst 
einmal  nur  gesunde  und  nur  wenig  Kinder  aufnehmen. 

Die  gesunden  Kinder  verschaffte  sich  Escherich 
einfach  vom  Findelhaus.  Der  Direktor  desselben,  Prima¬ 
rius  Riether,  gab  in  sehr  zuvorkommender  Weise  gesunde 
Findelkinder  und  auch  eine  Amme  dem  Säuglingsschutz 
iu  „Pflege“.  So  wurde  Escherich  Pflegepartei  für  Findel¬ 
kinder.  In  welch  einfacher  Weise  ist  das  doch  alles  ge¬ 
macht  worden  1 

Die  neue  Säuglingsabteilung  stellte  eine  in  jeder  Hin¬ 


sicht  originelle  Neuerung  dar.  Um  eine  Infektion  unter 
den  Säuglingen  möglichst  hintanzuhalten,  wurden  3  ganz 
kleine  Kammern,  sogenannte  boxes  in  das  Zimmer  einge¬ 
baut,  die  mit  Glaswänden  versehen  waren,  so  daß  es  einer¬ 
seits  nicht  an  Licht  fehlte,  anderseits  die  Pflegerin  das  Kind 
von  außen  sehen  und  so  beobachten  konnte.  Diese  kleinen 
Kammern  waren  nach  Escherichs  Plänen  und  mit  Hilfe 
des  ausgezeichneten  Technikers  Eh  mann,  der  es  verstand, 
auf  alle  Intentionen  Escherichs  einzugehen,  geradezu 
raffiniert  eingerichtet.  Jede  Kammer  für  sich  erhielt  an¬ 
dauernd  von  außen  frische,  durch  Watte  filtrierte,  also 
völlig  reine  Luft  zugeführt,  welche  an  kleinen,  röhrenför¬ 
migen  Heizkörpern  in  beliebigem,  leicht  zu  regulierendem 
Grade  erwärmt  wurde.  Zugleich  war  in  jeder  Kammer  ein 
ebenfalls  regulierbarer  Luftbefeuchtungsapparat  aufgestellt. 
Diese  Kammern  konnten  einerseits  als  Couveusen  für  früh- 
geborne  und  lebensschwache  Kinder,  anderseits  als  Isolier- 
räume  für  infektiöse  Kinder  verwendet  werden.  Die 
Säuglinge  außerhalb  der  boxes  waren  in  ebenfalls  neu 
erdachten  Körben  untergebracht.  Diese  neue  Säuglingsab- 
teilung  war,  wenn  auch  klein,  so  doch  eine  Sehenswürdig¬ 
keit.  Dabei  kümmerte  sich  Escherich  auch  hier  wieder 
um  jede  Kleinigkeit,  um  jeden  einzelnen  Einrichtungsge¬ 
genstand,  hatte  dabei  aber  zur  selben  Zeit  für  die  Einrich¬ 
tung  des  Laboratoriums,  der  neuen  Schutzstelle,  des  neuen 
Flörsaales,  einer  kleinen  Milchküche  zu  sorgen.  Und  bei 
allen  diesen  Neuschaffungen  kümmerte  er  sich  fast  um 
jedes  Detail,  hatte  jede  Einzelheit  im  Kopf.  Es  war  wirk¬ 
lich  staunenswert  für  jeden,  der  die  damalige  tägliche  Arbeit 
Escherichs  mitansah.  Nebenbei  gab’s  doch  noch  die  Grün¬ 
dung  der  pädiatrischen  Gesellschaft,  außerdem  die  klini- 
nischen  Vorlesungen,  die  Spitalsvisite,  Konferenzen,  Be¬ 
sprechungen,  Konsilien  etc.  Dabei  war  Escherich  immer 
frisch,  immer  voll  Energie  und  von  Interesse  für  alles,  was 
ihn  momentan  auch  nicht  so  beschäftigte. 

Zugleich  mit  der  Säuglingsabteilung  wurde  die  schon 
erwähnte  Pflegerinnenschule  für  Säuglingspflege  gegründet. 
Bei  ihrer  Einrichtung  sowohl,  wie  besonders  bei  ihrem  Be¬ 
trieb  wurde  Escherich  auf  das  wirkungsvollste  von  Frau 
Schrutka  von  Rech  tens  tam'm  unterstüzt,  die  mit 
großer  Verehrung  an  ihm  hing  und  mit  Einsicht  und  Liebe 
diese  Musterschule  leitete  und  heute  noch  leitet.  Die  da¬ 
selbst  ausgebildeten  Pflegerinnen  sind  von  Escherich  in 
einer  straffen  Organisation  vereinigt  und  gelten  heute  weit¬ 
aus  als  die  besten  Privatpflegerinnen  für  Säuglinge.  Die 
„Escherich -Pflegerinnen“  sind  in  ganz  Wien,  ja  in  den 
hohen  Kreisen  von  ganz  Oesterreich-Ungarn  bekannt. 

Und  nun  kommen  wir  zur  größten  und  bedeutendsten 
organisatorischen  Tat  Escherichs  zur  Gründung  des 
Vereines  Säuglingsschutz.  Escherich,  der  von  jeher  ge¬ 
rade  auf  Grund  seiner  wissenschaftlichen  Forschungen  das 
größte  Interesse  für  Säuglingsernährung,  Säuglingspflege, 
Säuglingsaufzucht,  sowie  für  Säuglingsfürsorge  hatte,  ver¬ 
mißte,  als  er  nach  Wien  kam,  das  am  allermeisten,  daß 
an  der  Kinderklinik  gerade  dieser  Zweig  der  Kinderheil¬ 
kunde  völlig  fehlte.  Um  nun  diesem  Uebelstand  abzuhelfen, 
ging  Escherich  daran,  die  Mittel  aufzubringen,  um  in 
großzügiger  Weise  eine  Herabminderung  der  Säuglingssterb¬ 
lichkeit  anzubahnen.  Zuerst  erschien  eine  glänzend  ge¬ 
schriebene  Broschüre:  „Bitte  an  die  Wiener  Frauen:  Hel¬ 
fet  den  armen  kranken  Säuglingen“.  Wie  warmherzig  ist 
dieser  Aufruf,  der  in  den  Wiener  Tagesblättern  abgedruckt 
wurde,  geschrieben!  Ich  gebe  nur  einige  Proben,  diezeigen, 
einerseits  wie  Esc'herich  fesseln  konnte,  anderseits  wie 
er  die  Kinder  liebte.  Schon  der  Anfang :  „Ihr  Mütter  und 
Kinderfreunde  von  Wien!  An  Eure  goldenen  Herzen  treten 
wir  heute  heran,  zu  Nutz  und  Frommen  der  kleinsten  unter 
den  Kleinen,  der  hilflosen  Säuglinge“.  Dann  weiter  an 
anderer  Stelle:  „Wir  haben  Schulen  für  Köchinnen,  und 
für  Näherinnen,  für  Kindergärtnerinnen  und  Lehrerinnen 
—  nur  die  schwere  Aufgabe,  wie  man  mit  Kindern  in  dem 
wichtigsten,  dem  ersten  Lebensjahr  umgehen  soll,  die  kann 
man  nirgends  lernen!“ 


WIENER  KLINISCHE  .WOCHENSCHRIFT.  1011. 


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Esch  er  ich  wußte  damals  in  kurzer  Zeit  das  Inter¬ 
esse  weitester  Kreise  für  den  Säuglingsschutz  zu  erwecken, 
i  nter  dem  Protektorat  Ihrer  kaiserlichen  und  königlichen 
Hoheit  der  Frau  Erzherzogin  Isabella  wurde  der  Verein 
Säuglingsschuh  gegründet.  Dadurch,  daß  sich  die  hohe  Pro¬ 
lektorin  seihst  in  so  intensiver  Weise  um  das  Wohl  des 
jungen  Vereines  annahm,  wurde  auch  das  Interesse  der 
vornehmen  Gesellschaft  Wiens  an  der  neuen  Schöpfung 
E  scherichs  wachgerufen.  Zur  Präsidentin  des  Vereines 
wurde  Prinzessin  C roy -Sternberg  gewählt,  welche  am 
Heben  des  Vereines  regen  Anteil  nahm  und  durch  Veran¬ 
staltung  eines  großen  Ballfestes  alljährlich  große  Geldsum¬ 
men  zum  Betrieb  des  wohltätigen  Vereines  aufbringt. 

Dem  neuen  Verein  entstand  bald  auf  den  Gründen  des 
St.  Annen- Kinderspitals  ein  neues  Heim,  dessen  Bau  den 
Architekten  Baron  Kraus  und  Tülg  übertragen  wurde. 
Das  kleine  reizende  Häuschen  ist  fast  jedermann  bekannt, 
und  in  ihm  entfaltet  sich  täglich  ein  reges  Lehen.  Dort  wird 
the  Milch  in  Einzelportionen  täglich  für  ungefähr  300  Kin¬ 
der  hergerichtet  und  für  arme  Säuglinge  abgegeben.  Dort  ist 
auch  zugleich  eine  Art  Mütterberatungsstelle  eingerichtet, 
wo  jeder  Säugling  wöchentlich  einmal  den  ordinierenden 
Aerzten  vorgeführt  werden  muß.  Die  Säuglingsschutzstelle 
ist  zugleich  ein  Ort  erfolgreicher  zielbewußter  Stillpropa¬ 
ganda,  was  wohl  hauptsächlich  Sperk,  einem  langjährigen 
Assistenten  E scherichs,  zu  danken  ist,  der  darauf  drang, 
daß  in  der  Schutzstelle  vor  allem  Brustkinder  berücksich¬ 
tigt  werden,  und  daß  Kuhmilch  nicht  an  Kinder  abgegeben 
werde,  die  nicht\wenigstens  einige  Wochen  gestillt  wurden. 
Die  Mütter,  die  ihre  Kinder  seihst  stillten,  erhielten  Milch 
und  Brot,  eventuell  eine  Unterstützung.  So  wurde  in  ein¬ 
facher  Weise  praktische  wirkungsvolle  Stillpropaganda  ge¬ 
macht. 

Die  großen  Betriebskosten,  die  der  Säuglingsschutz 
erforderte,  wurden  einerseits  durch  Mitgliedsbeiträge, 
andrerseits  durch  die  Gemeinde  Wien  gedeckt,  deren  Ober¬ 
haupt  Lueger  sich  lebhaft  für  die  neue  soziale  Schöpfung 
interessierte,  was  nicht  nur  der  impulsiven  Initiative  E sche¬ 
richs,  sondern  auch  dem  Wirken  des  Herrn  Magistratsrates 
Dr.  Weiser  zu  danken  ist.  Man  kann  wohl  sagen,  daß 
ohne  diese  Unterstützung  Weiser s,  der  sich  lebhaft  für 
E  scherichs  Bestrebungen  interessierte,  die  Bemühungen 
E  scherichs  um  eine  kommunale  Subvention  erfolglos  ge¬ 
blieben  wären.  Heute  bezieht  der  Säuglingsschutz  35.000 
Kronen  jährlicher  Subvention  von  der  Gemeinde ! 

Die  Fäden  dieser  ganzen  großen  Aktion  hielt  E sche¬ 
id  eh  zielbewußt  in  seiner  Hand  vereinigt.  Es  ist  ein  großes 
Werk,  das  der  Dahingeschiedene  geschaffen  hat,  wohl  das 
schönste  Denkmal,  das  er  sich  in  Wien  gesetzt  hat.  Ein 
Werk  von  großer  hygienischer  und  sozialer,  ganz  beson¬ 
ders  auch  von  volkserzieherischer  Bedeutung.  Es  wird  doch 
gerade  dadurch  nicht  nur  das  Stillen  gefördert,  sondern  es 
wird  auch  im  Volk  langsam  das  .Verständnis  für  die  Be¬ 
deutung  einer  vernünftigen  Kuhmilchernährung,  für  die  Be¬ 
deutung  der  ärztlichen  Kontrolle  der  Säuglinge  wachgerufen 
und  gehoben. 

Eine  der  letzten  organisatorischen  Taten  E  scherichs 
war  die  zusammen  mit  Schauta  vollzogene  Schaffung 
einer  klinischen  Abteilung  für  Neugeborene,  durch  die  den 
Studenten  die  Möglichkeit  des  Unterrichtes  in  diesem  wich¬ 
tigen  Zweige  der  Medizin  gegeben  werden  sollte.  Die  In¬ 
stallierung  dieser  Abteilung  auf  der  Klinik  Schautas  er¬ 
lebte  Esc  he  rieh  gerade  noch.  Es  war  ein  alter  Lieblings¬ 
gedanke  von  ihm,  daß  dem  Pädiater  Gelegenheit  ge¬ 
geben  werden  soll,  diese  wichtige  Zeit  der  ersten  Lebens¬ 
tage  am  Kinde  praktisch  zu  studieren. 

Als  Es  eher  ich  mit  seiner  organisatorischen  Tätig¬ 
keit  in  Wien  fertig  war  und  sah,  daß  der  Neubau  der  Klinik 
noch  immer  nicht  zu  erwarten  stand,  warf  er  sich  wieder 
mit  dem  ihm  eigenen  Eifer  auf  die  Wissenschaft,  er  schrieb 
seine  große  Monographie  über  Kindertetanie,  er  beschäftigte  j 
sich  aufs  intensivste  mit  der  Tuberkulintherapie  der  Kinder-  j 
tuberkulöse.  Seine  Berichte  darüber  sind  wohl  noch  allen  in  I 


frischer  Erinnerung.  Er  stellte  eine  neue  geistreiche  These 
über  das  Wesen  der  Skrofulöse  auf.  Er  nahm  regen  An¬ 
teil  an  den  wissenschaftlichen  Arbeiten  seiner  Assistenten. 
Ich  erinnere  nur  an  die  Publikationen  seiner  Schüler 
v.  Pirquet,  Schick,  fehle. 

Seiner  Vorliebe  für  therapeutische  Fragen  entsprach 
es,  daß  er  die  schönen  Erfolge  Mosers  mit  dessen  Schar¬ 
lachserum  mit  großem  Interesse  verfolgte  und  überall,  wo 
es  anging,  vor  allem  auf  Kongressen,  mit  Wärme  für  die 
Wirksamkeit  des  Mos  ersehen  Scharlachserums  eintrat. 

Esche  rieh  als  Lehrer.  Er  war  Lehrer  mit  der  ihm 
eigenen  Begeisterung,  mit  Eifer,  mit  Gewissenhaftigkeit.  Er 
war  groß  in  der  Schilderung  der  Pathologie  der  verschie¬ 
densten  Kinderkrankheiten.  Er  war  lebhaft  im  Vortrage, 
immer  bestrebt,  den  Studenten  sein  bestes  zu  gehen.  Seine 
Größe  als  Lehrer  besteht  vor  allem  aber  auch  darin,  daß 
er  die  Pädiatrie  mit  zu  hohem  Ansehen  brachte.  Das  zeigte 
sich  äußerlich  auch  darin,  daß  er  noch  in  Graz  Ordinarius 
wurde,  wo  doch  früher  immer  nur  Extraordinarien  für  dieses 
Fach  tätig  waren. 

Es  eher  ich  war  Pädiater  mit  Leib  und  Seele.  Ich 
meine,  er  war  stolz  auf  sein  Fach  und  versuchte  immer, 
wo  er  konnte,  einerseits  das  Ansehen,  andrerseits  auch  das 
wissenschaftliche  Niveau  der  Kinderärzte  zu  heben.  Das 
war  ja  auch  die  Triebfeder  für  die  Gründung  der  von  ihm 
ins  Leben  gerufenen  Gesellschaft  für  innere  Medizin  und 
Kinderheilkunde.  Wenn  die  Kinderärzte  Wiens  heute  die 
Möglichkeit  regen  Meinungsaustausches,  gegenseitiger  Be¬ 
lehrung  haben,  so  haben  sie  das  einzig  nur  Escherich 
zu  verdanken. 

Nach  allein,  was  hier  über  Escherich  mitgeteilt 
wurde,  kann  man  sich  denken,  was  für  eine  Kraftnatur 
er  war.  Seine  Leistungsfähigkeit  war  schier  übermenschlich. 
Seine  Lust  an  der  Arbeit  unbändig.  Ein  seltener  Pflicht¬ 
eifer  und  große  Gewissenhaftigkeit  ergänzten  seine  Fähig¬ 
keiten  und  sein  Vorwärtsstreben  aufs  schönste.  Escherich 
war  sicher  vier  Stunden  täglich  im  Spital  und  die  übrige 
Zeit  verbrachte  er  fast  ausschließlich  im  Interesse  der 
Kinderklinik  und  im  Dienste  seiner  volkshygienischen  Be¬ 
strebungen.  Der  Abend  war  fast  nur  der  Arbeit  und  dem 
Studium  gewidmet. 

Escherich  war  Idealist  und  von  ernstem,  edlem 
Streben  erfüllt.  Er  war  gegen  jedermann  zuvorkommend, 
hatte  immer  und  für  jedermann  Zeit.  Es  war  oft  rührend, 
wie  er  sich  geduldig,  ohne  Aerger,  oft  aus  der  wichtigsten 
Arbeit  wegholen  ließ,  um  dann  in  einer  nichtigen  Ange¬ 
legenheit  von  irgendjemand  aufgehalten  zu  werden.  Esche¬ 
rich  war  viel  zu  fein  und  liebenswürdig  in  seinem  ganzen 
Wesen,  als  daß  er  hätte  in  einem  solchen  Falle  unhöflich 
werden  können,  für  seine  Assistenten  hatte  er  immer  In¬ 
teresse  und  wirkliche  Teilnahme.  Es  war  für  jedermann 
leicht,  bei  Escherich  Assistent  zu  sein.  Nur  eines  ver¬ 
langte  er:  ehrlichen  Fleiß.  Gegen  sich  selbst  von  größter 
Strenge,  verlangte  er  von  seinen  Assistenten  nicht  allzu¬ 
viel.  Er  liebte  es,  wenn  sie  eigene  wissenschaftliche  Wege 
gingen  und  war  immer  erfreut,  wenn  er  an  ihnen  wahres 
Interesse  an  der  pädiatrischen  Wissenschaft  entdeckte. 

Eine  sehr  seltene  und  schöne  Eigenschaft  besaß  er 
noch.  Er  war  immer  geneigt,  einen  eventuellen  Irrtum  ein¬ 
zubekennen.  Es  kostete  ihm  nicht  die  geringste  Ueberwin- 
dung,  ja  mit  erfreuter  Ueberraschung,  oft  sagte  er  dann: 
,,Ja,  da  haben  Sie  doch  recht  gehabt.“ 

Ohne  U eher! reib ung  kann  es  gesagt  werden  :  ein  Großer 
ist  uns  in  Escherich  gestorben.  Sein  Verlust  ist  un¬ 
ersetzlich.  Ein  solcher  Mann  kommt  nicht  so  bald  wieder. 
Er  war' ein  Mann  voll  von  großem  Idealismus.  Ein  Mann 
der  Arbeit,  wie  Pfaundler  in  seiner  schönen  Grabrede 
sagte.  Wenn  wir  E  scherichs  Beispiel  folgen  wollen,  dann 
legen  wir  die  Hände  nicht  trauernd  in  den  Schoß.  Nein. 
Wir  trauern  zwar  um  ihn,  aber  wir  wollen  nach  seinem 
Vermächtnis  leben,  das  er  uns  durch  sein  Wirken  gegeben 
hat,  wir  wollen  arbeiten  für  das  .Wohl  der  kranken  Kinder. 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Aus  dei’  ehern.  Abteilung  des  serotherapeutischen 
Institutes  in  Wien.  (Vorstand:  Hofrat  Prof.  R.  Paltauf). 

Ueber  die  Wirkung  des  Adrenalins  auf  ein¬ 
zellige  Organismen.*) 

(Vorläufige  Mitteilung.) 

Von  Dr.  Oswald  Schwarz. 

Wenn  wir  den  derzeitigen  Stand  unserer  Kenntnisse 
über  den  Mechanismus  der  Adrenalinwirkung  zu  charakteri¬ 
sieren  versuchen,  so  sind  es  hauptsächlich  zwei  Probleme, 
die  nach  wie  vor  einer  befriedigenden  Lösung  harren:  Lin 
mal  ist  die  Annahme,  daß  auch  für  die  glykosurische  Kom¬ 
ponente  der  Adrenalinwirkung  der  Sympathikus  die  Lei 
lungsbahn  katexochen  darstellt,  nicht  gegen  alle  Einwände 
sichergestellt  und  zweitens  besitzen  wir  zur  Kenntnis  der 
Quellendes  im  Adrenalindiabetes  ausgeführten  Zuckers  noch 
ein  relativ  spärliches  Tatsachenmaterial. 

Während  nun  der. experimentellen  Beantwortung  dieser 
Fragen  bei  Anwendung  unserer  gewöhnlichen  Versuchstiere 
prinzipielle  versuchstechnische  Schwierigkeiten  im  Wege 
stehen,  hoffte  ich  durch  Untersuchung  der  Adrenalinwirkung 
auf  einzellige  Organismen  günstigere  Versuchsergebnisse  zu 
erzielen. 

Ich  prüfte  zunächst  die  Wirkung  des  Adrenalins  auf 
weiße  Blutkörperchen.  Da  die  Ergebnisse  dieser  Ver¬ 
suche  nicht  genügend  instruktiv  waren,  will  ich  sie  nur 
kurz  erwähnen  : 

Bei  Injektion  einer  glykosurisöhen  Adrenalindosis  wer¬ 
den  die  zirkulierenden  Leukozyten  des  Hundes  schon  nach 
der  zweiten  Injektion  sehr  glykogenreich  gemäß  der  Er¬ 
fahrung,  daß  ein  erhöhter  Blutzuckergehalt  zum  Auftreten 
von  Glykogen  in  den  Leukozyten  führt.  Bei  Kaninchen  und 
Ratten  ist  dieses  Resultat  jedoch  auch  nach  zahlreichen 
Injektionen  nicht  zu  erzielen,  ivas  seine  Ursache  darin  hat, 
daß  die  Blutzuckererhöhung  bei  diesen  Tieren  keine  ge¬ 
nügend  hohe  ist.. 

Läßt  man  umgekehrt  auf  sehr  glykogenreiche  Exsu¬ 
datleukozyten  Adrenalin  in  vitro  einwirken,  so  verschwin¬ 
det  das  Glykogen  schon  nach  zwei  Stunden  mehr  minder 
vollständig,  während  die  Kontrollen  ohne  Adrenalinzusatz 
noch  nach  24  Stunden  glykogenreich  sind.  Da  aber  auch 
andere  Substanzen,  wie  u.  a.  Morphium,  Strychnin,  Chinin 
dieselbe  Wirkung  zeigen,  ist  dieser  Glykogenschwund  als 
eine  nicht  spezifische  Protoplasmawirkung  der  erwähnten 
Substanzen  aufzufassen. 

Viel  interessanter  waren  nun  die  Resultate,  als  ich 
die  Versuche  auf  einen  echten,  einzelligen  Organismus  aus¬ 
dehnte,  nämlich  Sacch.  cerevisiae. 

.Schon  zu  wiederholten  Malen  wurde  die  Hefe¬ 
gärung  als  Indikator  verwendet,  zur  Entscheidung,  ob 
eine  Substanz  ein  Nervinum  oder  ein  Protoplasma¬ 
gift  sensu  strictori  sei.  So  fand  Zahn  in  einer 
Dissertation  aus  dem  pharmakologischen  Institut  in  Er¬ 
langen,  daß  Morphin  und  Kurare  auch  in  l-5°/oigen  Lö¬ 
sungen  die  Gärung  völlig  unbeeinflußt  läßt,  während  Strych¬ 
nin,  Fluornatrium,  Phenylhydrazin  usw.  sie  vollständig  auf¬ 
hoben.  Tch  stellte  nun  folgenden  Versuch  an  :  Ein  Gärungs¬ 
kölbchen  wurde  mit  einer  bestimmten  Hefemenge  und  einer 
0-5 %i gen  Traubenzuckerlösung  beschickt,  in  ein  zweites 
kam  außer  derselben  Hefe-  und  Traubenzuckermenge  noch 
soviel  Adrenalin,  daß  der  Gesamtgehalf  der  Lösung  1  n/no 
betrug.  Nach  24  Stunden  zeigte  nun  die  Kontrolle  eine 
Kohlensäuremenge,  die  einer  0-5 °/oigen  Zuckerlösung  ent¬ 
sprach,  während  in  dem  Röhrchen  mit  Adrenalin  die 
doppelt  so  große  Kohlensäuremenge  produziert  worden 
war.  Es  war  dies  eine  sehr  überraschende  Tatsache  und  der 
Analyse  dieses  Versuches  gelten  die  folgenden  Unter¬ 
suchungen. 

*)  Nach  einem  in  der  Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzle 
vom  10.  Februar  1911  gehaltenen  Vortrage. 


Die  sich  zunächst  aufdrängende  Vorstellung  einer  Ak¬ 
tivierung  der  Hefezymase  durch  Adrenalin  konnte  bald 
zurückgewiesen  werden,  da  ja  schon  die  Kontrolle  den 
ganzen  verfügbaren  Zucker  vergoren  hatte  und  eine  bloße 
Aktivierung  des  Gärungsfermentes  gar  kein  Material  zu  ihrer 
Aeüßerung  vorgefunden  hätte.  Da  nun  eine  äußerst  sorg¬ 
fältig  gewaschene  und  abgepreßte  Hefe  zu  diesen  Versuchen 
verwendet  worden  war,  blieb  nur  die  Annahme,  daß  der  ver¬ 
gorene  Zucker  aus  der  Hefe  selbst,  herstammte. 

Eine  Entscheidung  mußte  folgender  Versuch  bringen  : 
Eine  bestimmte  Hefemenge  wird  mit  physiologischer  Koch¬ 
salzlösung  angesetzt  und  zu  einer  zweiten  gleichen  Hefe¬ 
menge  noch  Adrenalin  zngefügh  Nach  zwei  Stunden  war 
nun  in  dieser  letzteren  Probe  der  ganze  Schenkel  des 
Gärungskölbchens  mit  Kohlensäure  gefüllt,  während  in  der 
Kontrolle  selbst  nach  24  Stunden  keine  Spur  einer  Gärung 
nachzuweisen  war.  Erwähne  ich  noch,  daß  die  Men  ge.  der  ent¬ 
standenen  Kohlensäure  mit  abnehmender  Hefemenge  gerin 
ger  wurde,  so  scheint  die  Annahme,  daß  unter  dem  Ein¬ 
fluß  des  Adrenalins  die  Hefe  aus  ihrer  eigenen 
Körper  subs  tanz  einen  gärungsfähigen  Zuc'ker 
b i  1  d e t,  ger ech t f er ti g t. 

Wie  ist  nun  diese  auffallende  Tatsache  zu  verstehen: 
Bekanntlich  besitzt  die  Hefe  die  Fähigkeit  der  Eigengärung, 
das  heißt,  sich  selbst  überlassen  produziert  sie  auch  ohne 
jeden  Zuckerzusatz  mehr  minder  große  Mengen  von  Kohlen¬ 
säure.  Ueber  das  Wesen  dieser  Eigengärung  wurde  zwischen 
Pasteur  und  Liebig  eine  heftige  Diskussion  geführt,  deren 
Ergebnis,  in  Uebereinstimmimg  mit  neueren  Arbeiten,  die 
Erkenntnis  war,  daß  die  Hefe  ihre  recht  beträchtlichen  Gly¬ 
kogendepots  allmählich  in  gärungsfähigen  Zucker  umwan¬ 
delt.  —  Hienach  wären  die  oben  erwähnten  Versuche  als 
eine  Steigerung  dieses  physiologischen  Prozesses  aufzu¬ 
fassen,  d.  h.  mit  anderen  Worten:  unter  der  Einwirkung 
d e^  Adrenalins  verzuckert  die  H e f e z e  1 1  e  ihr  Gly¬ 
kogen  in  ganz  hervorragend  gesteigertem  Maße 
— ■  genau  wie  die  Leberzelle  unserer  hochorganii- 
s  i  e  r  t  e  n  V  e  r  s  u  c  h  s  t  i  e  r  e.  Esstellen  also  diese  Ver¬ 
suche  —  wenigstens  in  ihrer  Phänomenologie 
-  ein  Analogon  zu  den  bekannten  Erscheinun¬ 
gen  der  Adrenalinwirkung  im  Säugetierorganis¬ 
mus  dar. 

Es  lag  nun  nahe,  zu  versuchen,  ob  bei  der  Hefe¬ 
zelle  eine  Umwandlung  verschiedener  Substanzen  in 
Zucker  unter  dem  Einflüsse  der  Adrenalinvergiftung  zu  er¬ 
zielen  sei. 

Die  Versuchsanordnung  war  folgende:  Tu  dem  ersten 
Gärungsröhrchen  wurde  eine  bestimmte  Hefemenge  mit  einer 
Stärkelösung  angesetzt.  In  dem  zweiten  wurde  zu  der¬ 
selben  Hefe-  und  Stärkemenge  Adrenalin  zu  gefügt  und  als 
Kontrolle  diente  dieselbe  Hefemenge  mit  Adrenalin.  Nach 
24  Stunden  war  folgendes  Resultat  abzulesen:  Die  erste 
Probe  hatte  gar  keine  Gärungserscheinungen  gezeigt.  In  dem 
zweiten  Kölbchen  hatte  eine  mächtige  Kohlensäureproduk¬ 
tion  stattgehabt,  während  die  Kontrolle  nur  geringe  Kohlen¬ 
säuremengen  enthielt,  da  eine  entsprechend  kleine  Hefe¬ 
quantität  zu  dieser  Versuchsreihe  verwendet  worden  war. 

Diese  Versuche  wurden  nun  in  der  gleichen  Anord¬ 
nung  mit  einer  Glykogen-,  Kasein-  und  Alaninlösung 
wiederholt,  immer  mit  dem  gleichen  Resultate,  indem  einer 
völlig  fehlenden  oder  nur  ganz  minimalen  Gärung  in  den 
Kontrollen  eine  mächtige  Kohlensäureproduktion  in  den 
A  d renalinversuchen  gegenü  berstand . 

Die  Hefe  gewinnt  nun  tatsächlich  durch  die 
Adr  enalinvergif  tu  n.g  die  Fähigkeit,  ihr  slonst 
vollkommen  inadäquate. Substanzen  zu  assimi¬ 
lieren  und  zu  einer  gärungsfähigen  Substanz 
um  zu  lagern. 

Verschiedene  Hefestämme  besitzen  in  sehr  verschie¬ 
denem  Maße  die  Fähigkeit,  Stärke,  resp.  Dextrine  zu  ver¬ 
gären.  Die  Brauwissenschaft  unterscheidet  daher  von  diesem 
Gesichtspunkte  vier  Hefetypen:  Saaz,  Frohberg,  Logos  und 
Pombe,  die  sich  durch  einen  verschiedenen  Eudvergärimgs- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


grad  unterscheiden.  Die  Ursache  hiefür  wird  nun  in  einem 
verschiedenen  Gärvermögen  dieser  Typen  Dextrinen  gegen¬ 
über  vermutet.  Da  diese  Eigenschaft  für  die  praktische  Aus¬ 
nützung  einer  Hefe  von  gewisser  Bedeutung  ist.,  wurden 
verschiedene  Versuche  zum  Heranzüchten  von  dextrinver¬ 
gärenden  Hefen  gemacht.  Die  mitgeteilten  Versuche,  in 
denen  ein  Adrenalinzusatz  eine  sonst  indolente  Hefe  zur 
Dextrinvergärung  befähigt,  bieten  mit  eine  Lösung  dieses 
Problems. 

Die  Versuche  dagegen,  welche  die  Kaseinvergä- 
run  g  durch  adrenalinvergiftete  Hefen  demonstrieren,  stehen 
in  naher  Beziehung  zu  Beobachtungen,  welche  F.  Ehr¬ 
lich  und  in  jüngster  Zeit  0.  Neubauer  und  K.  F'rom- 
herz  über  Zerlegung  von  Aminosäuren  in  Kohlensäure  und 
die  entsprechenden  Alkohole  durch  Hefe  angestellt  haben. 
Es  verdient  jedoch  mit  Rücksicht  auf  den  positiven  Ausfall 
unserer  mit  adrenalinvergifteter  Hefe  angestellten 
Versuche  Kasein  zu  zerlegen,  die  in  der  Literatur  allgemein 
vertretene  Ansicht  hervorgehoben  zu  werden,  daß  gewöhn¬ 
liche  Hefe  nicht  imstande  sei,  natives  Eiweiß  abzubauen. 
Die  oben  erwähnten  Alaninversuche  wiederum  bedeuten 
insoweit  einen  Fortschritt  gegenüber  den  Resultaten  der 
genannten  Autoren,  da  selbst  so  geringe,  an  und  für  sich 
ganz  wirkungslose,  Hefemengen,  wie  sie  in  diesen  Ver¬ 
suchen  verwendet  wurden,  unter  dem  Einfluß  des  Adrenalins 
schon  in  wenigen  Stunden  Aminosäuren  zu  zerlegen 
befähigt  waren. 

Es  erübrigt  nun  noch,  den  Mechanismus  dieser  Adre¬ 
nalinwirkung  zu  erörtern.  Diese  Untersuchungen  haben  noch 
zu  keinem  abschließenden  Resultat  geführt;  die  Ergebnisse 
meiner  bisher  angestellten  Versuche  sind  folgende: 

Wir  müssen  für  die  Diskussion  dieser  Frage  folgende 
zwei  Versuchsreihen  auseinanderhalten:  einmal  den  Fäll, 
daß  die  Hefe  auf  Adrenalinzusatz  aus  ihrer  eigenen  Körper¬ 
substanz  Zucker  produziert ;  und  zweitens,  daß  sie  die  Fähig¬ 
keit  erlangt,  ihr  heterologe  Substanzen  zu  assimilieren. 

Mehr  als  in  irgendeinem  anderen  Falle  ist  es  für  die 
Hefezelle  gelungen,  einen  großen  Teil  ihrer  Tätigkeit  in  fer¬ 
mentative  Prozesse  aufzulösen ;  für  unsere  Zwecke  kommen 
drei  Fermente  in  Betracht  u.  zw.  die  Diastase,  die 
Tryptase  und  die  Zymase.  Die  nächstliegende  Erklärung 
nun  für  die  gesteigerte  Umwandlung  von  Glykogen  in  Zucker, 
die  die  Hefe  unter  der  Einwirkung  des  Adrenalins  zeigt, 
war  die  Annahme  einer  Aktivierung  der  Hefediaslase.  Rea¬ 
genzglasversuche  mit  einer  Diastase  ließen  nun  keinen  Ein¬ 
fluß  des  Adrenalins  auf  die  Verzuckerung  einer  Stärke¬ 
lösung  erkennen.  Trotz  dieses  negativen  Resultates  muß 
meines  Erachtens  an  der  Vorstellung  einer  Erhöhung  der 
amylolytischen  Tätigkeit  der  Hefezelle  festgehalten  werden, 
da  die  Versuche  in  vitro  nur  eine  sehr  unvollkommene  An¬ 
näherung  an  die  vitalen  Prozesse  darstellen. 

Komplizierter  allerdings  liegen  die  Verhältnisse  in 
jenen  Versuchen,  in  denen  die  Hefe  zur  Assimilation 
ihr  lieterologer  Substanzen  veranlaßt  wird.  Es  war  zu¬ 
nächst  zu  entscheiden,  ob  diese  Adrenalinwirkung  ein 
vitaler  Prozeß,  das  heißt  an  die  intakte,  lebende  Hefezelle 
gebunden  sei.  Eine  Entscheidung  hierüber  brachten  Ver¬ 
suche  mit  einer  sogenannten  Azetondauerhefe.  Dieses 
Präparat  ist  durch  Abtötung  der  Hefe  durch  die  wasser¬ 
entziehende  Wirkung  einer  kurzdauernden  Azetonbehand- 
lung  gewonnen,  wobei  keine  Plasmolyse  i’eintritt  und  sämt¬ 
liche  intrazellularen  tiefefei' mente  wirksam  erhalten  bleiben. 
Es  zeigte  sich  nun,  daß  die  an  und  für  sich  recht  lebhafte 
Eigengärung  dieses  Präparates  durch  Adrenalinzusatz  genau 
so  gesteigert  wurde,  wie  wir  es  bei  frischer  Hefe  gesehen 
haben.  Weiters  aber  vergärt  diese  Azetonhefe  auch  schon 
ohne  Adrenalinzusatz  Ggykogen  und  Kasein  in  auffallendem 
Maße.  Durch  diese  Beobachtung  werden  ^meines  Erachtens 
auch  die  entsprechenden  Adrenalinversuche  unserem  ‘Ver¬ 
ständnisse  näher  gebracht. 

Die  drei  erwähnten  Hefefermente :  die  Zymase,  Dia¬ 
stase  und  Tryptase,  sind  alle  drei  Endoenzyme,  d.  h.  sie 
können  durch  die  intakte  lebende  Zellwand  nicht  diffun¬ 


dieren,  weshalb  die  frische  Hefezelle  alle  nicht  diffusiblen 
Stoffe,  wie  Stärke,  Glykogen  und  Eiweiß  nicht  verwerten 
kann.  Durch  die  Azetonbehandlung  scheint  nun  in  ge¬ 
wissem  Maße  die  Zellwand  für  Diastase  und  Tryptase  durch¬ 
gängig  geworden  zu  sein.  In  noch  viel  intensiverem  Maße 
scheint  nun  das  Adrenalin  diese  Veränderungen  hervor¬ 
zubringen. 

Soweit,  meine  Herren,  meine  Versuche,  die,  um  es 
noch  einmal  zusammenzufassen,  folgendes  ergeben  hatten : 
Unter  dem  Einflüsse  der  Adrenalinvergiftung 
scheidet  die  Hefe  große  Zuckermengen  aus,  die 
sich  in  der  entwickelt  en  K  ohlensäure  manifestie¬ 
ren  und  zweitens  gewinnt  die  Hefe  die  F  ä  h  i  g  k  e  i  t, 
ihr  sonst  unerreichbare,  weil  nicht  diffusible 
Nahrungsstoffe  zu  assimilieren,  d.  h.  zu  gärfähi¬ 
gen  Stoffen  um  zu  wand  ein. 

Besonders  betont  sei  auch  an  dieser  Stelle, 
daß  die  Wirkung  des  Adrenalins  sic'h  in  den  an¬ 
geführten  Versuchen  an  einem  einzelligen,  also 
nervenlosen  Organismus  in  ganz  analoger 
Weise  manifestiert,  wie  an  unseren  hoch  orga¬ 
nisierten  Versuchstieren. 


Aus  der  Chirurg.  Abteilung  des  Rothschildspitales  in 

Wien.  (Vorstand:  Prof.  Dr.  Otto  Zuckerkandl.) 

Klinik  und  Therapie  der  Steine  im  Becken¬ 
teile  des  Ureters. 

Von  Dr.  Friedrich  Necker  und  Dr.  Karl  ttagstatter. 

Harnleitersteine  galten  bis  vor  wenigen  Jahren  als 
eine  im  Vergleich  zur  Häufigkeit  der  Nierensteine  seltene 
Erkrankung,  an  deren  auf  höchst  unsichere  klinische  Sym¬ 
ptome  gestützte  .Diagnose  sich  nur  die  reiche  Erfahrung 
einzelner  Meister  des  Faches  heranwagte.  Erst  die  exakten 
•Untersuchungsmethoden  der  Gegenwart  erschlossen  dieses 
noch  viel  zu  wenig  beachtete  Gebiet  der  urologischen  Chi¬ 
rurgie. 

Denn  während  Bardenheuer  schon  1882  bei  einer 
anurischen  Kranken  aus  dem  obersten  Abschnitt  des  Ure¬ 
ters  ein  Konkrement  entfernte  und  so  die  erste  extraperi¬ 
toneale  Ureterolithotomie  ausführte  und  später  Israel  lange 
vor  der  Röntgenära  in  heute  noch  vollgültiger  Klarheit  die 
operative  Technik  und  Indikationsstellung  besprach,  brachten 
erst  die  letzten  Jahre  eine  Sammlung  des  bis  dahin  zer¬ 
streuten  Materials  in  einer  Reihe  größerer  Arbeiten,  von 
denen  die  Frey  er  s,  Tenneys,  Fenwicks,  sowie  die  von 
Pappo  aus  der  Klinik  Albarrans  von  Jean  brau  und 
von  Bloch  (Israel)  die  wertvollsten  sind. 

Vorauszuschicken  wäre,  daß  sämtliche  Ureterkonkre¬ 
mente  sekundäre  sind,  das  heißt  sich  nicht  an  Ort  und 
Stelle  gebildet  haben,  sondern  Nierensteine  darstellen,  die 
bei  Passage  des  Ureters  gehemmt,  nunmehr  zentripetal,  wie 
dies  Zuckerkandl  für  die  Nierenbeckenuretersteine  nach¬ 
wies,  durch  Apposition  neuer  Schichten  wachsen.  Primäre 
Ureterkonkremente  sind  nicht  mit  Sicherheit  nachgewiesen, 
ihre  Entstehung  könnte  aber  durch  Divertikel  und  Klappen¬ 
bildung  des  Organes,  durch  in  das  Lumen  ragende  Fremd¬ 
körper  (Seidenfaden,  Joung)  oder  durch  Entzünd  ungspro- 
zesse  (Israel:  Steinbildung  aus  Bakterienrasen  bei  Ure¬ 
teritis)  begünstigt  werden.  Dem  Orte  ihres  Wachstums  ent¬ 
sprechend  sind  es  mehr  weniger  längsovale,  Bohnen-  oder 
Dattelkernform  nachahmende  Steine,  deren  schlankeres 
Ende  der  Blase,  das  kolbigere  der  Niere  zugekehrt  ist.  In 
ihrer  variablen  Zusammensetzung  unterscheiden  sie  sich 
in  nichts  von  Nierensteinen,  noch  häufiger  als  diese  lassen 
sie  die  spießigen  kristallinischen  Auflagerungen  des  Oxal¬ 
säuren  Kalkes  erkennen. 

Als  Prädilektionsstellen  ihres  Sitzes  findet  man  all¬ 
gemein  drei  mit  den  physiologisch  engeren  Stellen  des 
Ureters  identische  Punkte  angegeben :  Zunächst  eine  1  bis 
1-5  clm'  vom  Nierenbecken  entfernte  Partie  (Isthmus),  deren 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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Lumen  überdies  häufig  durch  eine  oder  mehrere  nicht  ver¬ 
streichbare  Querfalten  der  Schleimhaut  (C  o  s  c  h  w i  tz,  W  ö  1  f- 
ler,  Englisch)  noch  weiter  verengt  wird.  Dann  jene 
Kreuzungsstelle  des  Harnleiters  mit  der  Arteria  iliaca,  an 
der  seine  Pars  abdominalis  fast  rechtwinklig  in  die  Pars 
pelvina  umhiegt  und  endlich  die  Stelle  des  Eintriltes  in  die 
Blasenwand.  Für  die  chirurgische  Klinik  haben  diese  Hem- 
mungsstellen  nicht  dieselbe  Bedeutung;  denn  abgesehen 
von  der  überwiegenden  Häufigkeit  der  Steine  im  Beckenteile 
des  Ureters  ist  es  klar,  daß  die  chirurgische  Therapie  der 
am  Ursprung  eingekeilten  Konkremente  zweckmäßig  beim 
Kapitel  der  Pyelotomie  Besprechung  fände.  Dies  war  auch 
das  bei  uns  geübte  Operationsverfahren  in  den  wenigen 
Fällen. 

Die  klinischen  Symptome  der  hochsitzenden  Ureier¬ 
steine  lassen  sich  ferner  in  keiner  Beziehung  von  denen 
der  Nierenbec'kensteine  trennen,  während  bei  den  Steinen 
im  pelvinen  Anteile  eine  Reihe  von  Erscheinungen  hinzu¬ 
tritt,  die  ihre  Differenzierung  gestatten.  Es  erscheint  somit 
wohl  gerechtfertigt,  im;  folgenden  Steine  im  Beckenanteile 
des  Ureters  gesondert  zu  besprechen. 

Die  Arbeit  stützt  sich  auf  2(1  Einzelbeobachlungen 
von  Konkrementen  im  Beckenteile  des  Ureters,  die  mit  Aus¬ 
nahme  eines  zitierten  älteren  Falles,  alle  während  der 
letzten  vier  Jahre  zur  Beobachtung  kamen.1)  Beil7Fal- 
len  mußte  das  Konkrement  operativ  entfernt  werden  und  zwar 
lömal  durch  extraperitoneale  Ureterolithotomie,  lmal  (älterer 
Fall)  durch  vaginale  Ureterolithotomie,  lmal  durch  digitale 
Extraktion  nach  Dilatation  der  weiblichen  Harnröhre  (Pa¬ 
pillenstein).  Bei  zwei  Fällen  waren  früher  Steinoperationen 
an  der  Niere  ausgeführt  worden;  einmal  an  derselben,  das 
zweite  Mal  an  der  anderen  Niere. 

Bei  den  weiteren  neun  Fällen  ging  viermal  das  Kon¬ 
krement,  nach  entsprechenden  therapeutischen  Maßnahmen 
spontan  ab,  einmal  mußte  es  durch  externe  Urethrotomie 
aus  der  hinteren  Harnröhre,  wo  es  sich  bei  seiner  Abwärts¬ 
wanderung  unverrückbar  festgekeilt  hatte,  entfernt  werden, 
zwei  Fälle  entzogen  sich  der  Operation,  zwei  Fälle  stehen 
weiter  in  Beobachtung. 

Bei  einem1  Patienten  wurde  wegen  Verdacht  auf  Ure- 
terenkonkrement  die  probatorische  Bloßlegung  des  Ureters 
ausgeführt.  Wiederholt  konnten  spontan  abgegangene  Kon¬ 
kremente  ihrer  Form  nach  mit  Sicherheit  als  Uretersteine 
angesprochen  werden. 

Der  klinische  Symptomenkomplex  bei  Ureterkonkre¬ 
menten  kann  wie  bei  der  Nephrolithiasis  ein  außerordentlich 
vager  sein,  so  daß  ohne  Zuziehung  der  später  zu  besprechen¬ 
den  Un t er su ohu ngsmeth o d en  wir  uns  meist  mit.  der  Wahr¬ 
scheinlichkeitsdiagnose  einer  Steinerkrankung  im  Harntrakt 
begnügen  müssen. 

In  seltenen  Fällen  (Fall  IX  unserer  Reihe)  ist  das  aller¬ 
erste  Symptom  nicht  von  seiten  des  Steines  oder  Ureterver¬ 
schlusses,  sondern  von  der  Infektion  der  Harnwege  abhängig 
und  dokumentiert  sich  im  Auftreten  von  Frösten  und  Fieber. 
Meist  deuten  aber  bei  richtiger  Analyse  die  vorausgegan¬ 
genen  oder  bestehenden  Schm'erzanfälle  auf  Niere  und  Harn¬ 
leiter.  Typische  Koliken  von  paroxysmalem  Charakter  mit 
irradiierenden  Schmerzen  auf  der  Leitungsbahn  Ureter— 
Blase  und  dem'  entsprechenden  Nervengebiet  (Hoden,  Neben¬ 
hoden,  Vagina,  Oberschenkel)  sind  charakteristisch,  doch 
selten.  Je  tiefer  der  Sitz  des  Steines  im  Ureter,  desto  präg¬ 
nanter  treten  vesikale  Symptome  auf,  bis  sie  bei  intramu¬ 
ralem  oder  papillärem  Sitz  im  Vordergrund  stehen  und  das 
Krankheitsbild  allein  beherrschen  können.  Außerordentlich 
instruktiv  sind  in  dieser  Hinsicht  Fälle,  bei  denen  in  zahl¬ 
reichen  Untersuchungen  das  Herabwandern  des  Konkre¬ 
mentes  und  mit  ihm  der  Uebergang  von  Nierenkoliken  in 
Harnleiterkoliken  und  rein  vesikale  Symptome  beobachtet 
werden  kann. 

*)  Ueber  die  ersten  7  Fälle  wurde  von  dem  einen  von  uns  bereits 
am  Salzburger  Naturforschertage  referiert.  (Dr.  Neck  er,  Ueber  Nieren¬ 
steine.  Verhandlungen  des  81.  Naturforschertages,  Bd.  2,  S.  136. 


Fall  I.  32jähriger  gesunder  Mann  sucht  das  Ambulatorium 
der  Abteilung  wegen  dumpfer  zeitweise,  besondere  nach  forcierten 
Bewegungen  heftig  sieh  steigernder  Schmerzen  in  der  rechten 
Nierengegend  auf.  Die  Röntgenuntersuchung  ergibt  einen  etwa 
erbsengroßen,  nicht  einwandfrei  darstellbaren  Konkrementschatten, 
in  der  rechten  Nierengegend.  Glyzerin-  und  Karlsbader  Kur.  Zeit¬ 
weises  Wohlbefinden  unterbrochen  von  heftigen,  kolikartigen  in 
die  Kode  ausstrahlenden  Schmerzen  (der  Stein  rückt  vor).  Sechs 
Monate  später  Blastenbeschw erden :  Kurze  Harnpausen,  impetuöser 
Harndrang  (der  Stein  nähert  sich  im  pelvinen  Ureterteil  der  Blase'. 
Röntgenuntersuchung  zeigt  das  Konkrement  in  der  Höhe  der  Syn¬ 
chondrosis  sacroiliacal  Am  nächsten  Tage  Blasenbeschwerden 
exzessiv  gesteigert,  Patient  war  in  der  Nacht  inkontinent,  Kapazität 
der  Blase  knapp  50  cm3.  Die  Zystoskopie  zeigt  das  Konkrement 
in  der  rechten  Ureterpapille  festgehalten.  In  der  darauffolgenden 
Nacht  setzen  nach  einer  heftigen  Attacke  die  Blasenbeschwerden 
einige  Stunden  aus  und  mit  der  nächsten  reichlichen  Miktion 
entleert  der  Patient  spontan  das  erbsengroße  Konkrement. 

Was  bei  diesem  Fäll  besonders  klassisch  sich  ausprägt. 
-  das  Bestehen  renaler  Koliken  vor  dem  Auftreten  anderer 
Symptome  —  wird  sich  meistens  bei  genauer  Analyse  der 
anamnestischen  Angaben  erheben  lassen.  Seltener  sind  die 
ersten  Symptome  von  dem  bereits  im  Ureter  eingekeilten 
Konkrement  abhängig.  Verschließt  es  das  Lumen  des  Ureters 
nicht  vollkommen,  bleibt  der  Harnabfluß  ungehemmt,  dann 
wird  es  auch  längere  Zeit  symptom-  und  schmerzlos  ertragen, 
die  schädigende  Stauung  greift  langsam  vom  Ureter  auf  die 
Niere  über  und  erst,  die  Infektion  der  Uronephrose  dokumen¬ 
tiert  sich  durch  Schüttelfröste  und  Fieber. 

Komlrnt  es  aber,  wenn  auch  nur  zeitweise,  etwa  durch 
Schwellung  der  Ureterschleimhaut  oder  durch  Versuche,  des 
Ureters,  in  gesteigerter  Peristaltik  den  Fremdkörper  gegen 
die  Blase  zu  dislozieren,  zu  vollständigem  Abschluß  des 
Lumtens,  so  wird  dieser  Vorgang  durch  das  Auftreten  von 
Harnleiterkoliken  miarkiert  werden;  ist  man  in  der  Lage, 
die  ausgeschiedenen  Harnmengen  genau  zu  beobachten,  so 
wird  eine  reichliche  Polyurie  nach  Abklingen  der  Kolik 
den  gehegten  Verdacht  auf  Ureterkonkrement  festigen.  Viel¬ 
leicht  kann  auch  eine  Angabe-,  die  drei  unserer  Patientinnen 
dezidiert  machten,  das  Aus  strahlen  der  Schmerzen 
von  einem  bestimmten  Punkte  der  Unterbauch- 
g  eg  end  gegen  die  Lende  (also  ein  uretero-rena- 
ler  Sch  merz  reflex)  als  charakteristisch  angesehen 
werden. 

Wie  unsicher  jedoch  in  letzter  Linie  all  diese  Sym- 
p'tomle  sein  können,  das  zeigen  am  besten  Fälle,  bei  denen, 
dem  sogenannten  renorenalen  Beflex  entsprechend,  auch 
beim  verschließenden  Ureterstein  die  Schmerzen  in  der 
kontralateralen  gesunden  Seite  empfunden  werden  (Schmi- 
linski). 

Sehr  zu.  beachtende  diagnostische  Momente  kommen 
bei  der  Harnuntersuchung  in  Betracht.  Makroskopisch  ver¬ 
änderte  Harne,  eine  wenn  auch  noch  so  leichte  Pyurie, 
werden  selbstverständlich  die  diagnostischen  Erwägungen 
sofort  in  richtige  Bahnen  lenken  und  zu  weiteren  Unter¬ 
suchungen  veranlassen.  Doch  auch  hei  vollständig  klarem1, 
aseptischem  Harnbild,  das  für  gewöhnlich  erst  nach  län¬ 
gerem1  Bestehen  des  Leidens  alteriert  wird,  werden  wieder¬ 
holte  Sedimentuntersudhungen  und  Eiweißbe¬ 
stimmungen  frisch  entleerter  Harnportionen  oft  Klar¬ 
heit  schaffen. 

Israel  macht,  zuerst  auf  den  für  Nephrolithiasis  cha¬ 
rakteristischen' Nachweis  mikroskopischer  Hämaturien  und 
ihre  quantitative  Abhängigkeit  von  Körperbewegungen,  so¬ 
wie  auf  den  Befund  entsprechend  kleinster,  nur  bei  exakter 
Prüfung  nachweisbarer  Albuminmengen  aufmerksam.  Um 
kleine  Blutungen  durch  Traumen  auszuschließen,  darf  nur 
frischer  Spontanharn,  nicht  Katheterharn,  untersucht  wer¬ 
den.  Beweisend  sind  diese  Befunde  um  so  weniger,  als 
Schlesinger  aus  der  Israel  sehen  Klinik  differential- 
diagnostisch  schwierige  Fälle  von  Perityphlitis  beschrieb, 
die  konstant  Erythrozyten  im  Hamsediment  aufwiesen. 

Doch  beeinträchtigt  das  die  große  Wichtigkeit  regel¬ 
mäßiger  Sedimentstudien  nicht,  die  uns  nur  veranlassen 
sollen,  solche  Fälle  auch  bei  unklarem  klinischen  Bilde 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


den  exakten  Untersuchungsmethoden  zu  unterwerfen.  Bei 
unserem  Materiale  wurde  auf  diesen  Punkt,  den  auch  Puf¬ 
fier  und  Jeanbreau  als  differentialdiagnostisch  wichtig 
hervorheben,  besonders  geachtet  und  die  mikroskopische 
Hämaturie  niemals  vermißt;  oft  war  sie  für  die  weiteren 
diagnostischen  Erwägungen  ausschlaggebend. 

Von  den  Fehldiagnosen,  denen  man  bei  Steinbildungen 
im  Ureter  am  häufigsten  begegnet,  steht  bei  rechtseitigem 
Sitz  des  Leidens  die  Appendizitis  im  Vordergrund.  Man 
kann  wohl  sagen,  daß  überflüssige  Appendektomien  bei 
Ureterkonkrementen  so  häufig  gemacht  werden,  daß  es  ge¬ 
radezu  als  Untersuchungsregel  gelten  kann,  jeden  Fall,  der 
nach  der  Appendektomie  die  früheren  Beschwerden  nicht 
verliert,  einer  genauen  Röntgenuntersuchung  zu  unterziehen. 
Das  bisweilen  ausgesprochene  Ueberwiegen  gastrointesti¬ 
naler  Symptome  —  Obstipation  und  Erbrechen  bei  einer 
Ureterkolik  —  erschwert  die  Diagnose  ebenso,  wie  das 
Auftreten  von  Blasenbeschwerden  beim  appendizitischen  An¬ 
fall.  Endlich  kann  ja  auch  Appendizitis  und  Ureterstein 
beim  selben  Individuum  beobachtet  werden  (Jerusalem- 
Schnitzler). 

Die  palpatorische  Differenzierung  der  erkrankten  Ap¬ 
pendix  und  des  Ureters  ist  mit  Sicherheit  nicht  möglich, 
wie  auch  alle,  namentlich  von  französischen  Autoren  (Bazy, 
Tourneue r  und  Halle,  Past e au  u.  a.)  ausgehenden  Ver¬ 
suche,  topographische  Beziehungen  zwischen  so  entfernten 
Organen  wie  Ureter  und  vorderer  Bauchwand  zu  schaffen, 
aligelehnt  werden  müssen.  Von  weiteren  Fehldiagnosen  sind 
in  der  Reihe  ihrer  Häufigkeit  Adnexerkrankungen,  Sigmoi¬ 
ditis,  Cholezystitis,  Neuralgien  zu  erwähnen. 


Schema  eindeutiger  zysloskopischer  Befunde  bei  Ureterensteinen. 

Fig.  1.  Ureter-Blasenstein. 

Fig.  2.  Intrapapillärer  Stein. 

Fig.  3  u.  4.  Tumorartiger  Ureterprolaps  bei  hoch-  und  tiefliegendem 

Stein. 

Die  Bedeutung  der  Zy stoskopie  für  das  besprochene 
Krankheitsbild  ist  durch  die  Tatsache  am  besten  gekenn¬ 
zeichnet,  daß  eine  Gruppe  von  Befunden  für  sich  allein, 
ohne  Zuziehung  anderer  Untersuchungsniethoden,  die 
Diagnosestellung  ermöglichen.  Diese  Befunde  sind  im  neben¬ 
stehenden  Schema  zusammengestellt  (Tafel  1).  Am  einfach 
sten  liegen  die  Verhältnisse  bei  Steinen  in  der  Ureterpapille, 
von  denen  ein  größerer  oder  “kleinerer  Teil  in  das  Blasen- 
1  innen  vorragt.  Als  Paradigma  hiefür  ist  ein  Fall  von  pilz¬ 
förmigen  Ureter-Blasensteinen  abgebildet  (Fig.  2).  Die  Ent¬ 


stehung  dieser  Steinform  ist  wohl  so  zu  deuten,  daß  sich 
an  dem  spindelförmigen,  mit  der  Spitze  frei  in  die  Blase 
ragenden  Ureterkonkrement  ein  pilzhutförmiges  Blasenkon¬ 
krement  ankristallisierl . 


Fig.  5.  Fig.  6.  Fig.  7.  Fig.  8. 

Fig.  5  u.  6.  Pilzförmige  Urelerblasensteine  (Fall  1  u.  2). 
Fig.  7  u.  8.  Uretersteine  von  Fall  II  u.  III. 


Fall  II  (Fig.  5)  (zitiert  nach  Prof.  Zuckerkandl) 
betraf  eine  55jährige  Frau  mit  starken  Blasenbeschwer¬ 
den.  Harnleiter-  oder  Nierenkoliken  fehlen.  Die 
Zystoskopie  zeigte  links  am  Ende  des  Interureteren  wulstes 
die  Harnleiterpapille  stärker  als  in  der  Norm  erhaben,  die  Harn¬ 
leitermündung  unsichtbar,  die  Papille  von  einer  pilzartig  aul- 
sitzenden  gelblichweißen  Masse  gekrönt,  die  beim  Anschlägen  mit 
dem  Schnabel  des  Zystoskopes  sich  als'  steinige  Bildung  erwies. 
Versuch  nach  Dilatation  der  Urethra  mittels  Hegarstiftes  den 
Stein  digital  aus  seiner  Nische  zu  heben,  mißlingt,  da  der  urete- 
rale,  größere  Anteil  festgekeilt  ist.  Daher  Inzision  auf  den  Stein 
von  der  Scheide  aus:  Vaginale  Ureterolithotomie.  Heilung. 

Klinisch  und  zystoskopisch  vollkommen  gleich  ver¬ 
hielt  sich  Fall  III  (Fig.  6).  Auch  hier  vehemente  Blasensy'm- 
ptome,  keine  Harnlciterkoliken.  Hier  wurde  bei  der  32jähri- 
gen  Patientin  der  Versuch  gemacht,  den  Stein  mit  dem 
Litho trib  zu  fassen  und  durch  sanfte  hebelnde  Bewegungen 
zu  extrahieren.  Davon  mußte  abgestanden  werden,  da  höch¬ 
stens  eine  Zertrümmerung  seines  vesikalen  Anteiles  und 
damit  eine  Erschwerung  des  weiteren  Vorgehens  die  Folge 
gewesen  wäre.  Doch  gelang  es  nach  Dilatation  der  Urethra, 
bimanuell  mit  einem  Finger  von  der  Blase,  einem  von  der 
Scheide  aus,  den  Stein  aus  der  umklammernden  Papille  zu 
lösen  und  mit  einer  Kornzange  zu  extrahieren. 

Ein  zweites  für  Ureterensteine  pathognomonisdhes  zy- 
stoskopisches  Bild  beobachteten  wir  zum1  ersten  Male  bei 
Fall  VI  (vid.  Krankengeschichte),  ohne  es  zunächst  deuten 
zu  können.  Der  Befund  war  folgender:  Die  Blase  bot  das 
Bild  einer  ziemlich  schweren,  subakuten,  diffusen  Zystitis. 
Ihre  Schleimhaut  allenthalben  geschwellt  und  gerötet,  Ge- 
fäßzeiclmung  nur  stellenweise  angedeutet.  Die  rechte  Ureter¬ 
papille  erschien  kaum  verändert.  Die  linke  Papille  ist  nicht 
sichtbar.  An  ihrer  Stelle  ragt  am  Ende  des  Ureterwulstes 
ein  kegelförmiger,  anscheinend  solider,  nicht  durchschei¬ 
nender  Tumor  in  die  Blase,  der  von  glatter,  tiefroter  Schleim¬ 
haut  bedeckt,  an  seiner  Kuppe  eine  warzenartige  kleine 
Erhebung  trägt,  im  ganzen  einer  Mamma  nicht  unähnlich. 
Veränderungen  seines  Volumens  zeigte  der  Tumor  nicht. 
Interessant  ist  sein  spontanes  Verschwinden  nach  kurzer 
Zeit.  Als  hei  der  zweiten  Zystoskopie  14  Tage  später  au 
seiner  Stelle  die  weit  klaffende,  kraterförmige  Ureteren- 
mündung  sichtbar  war,  wurde  es  klar,  daß  es  sich  nur  um 
eine  passagere  Zirkulationsstörung  in  der  Schleimhaut  des 
erkrankten  Ureters  handeln  könne.  Der  Sitz  der  Steine 
war  hier  juxtavesikal  knapp  an  der  Blaseneintrittsstelle  des 
Ureters. 

In  einem  zweiten  Falle  (Krankengeschichte  IV)  be¬ 
kamen  wir  dasselbe  Bild  bei  einem  höher  sitzenden  Steine 
zu  'sehen.  Es  persistierte  auch  nach  Entfernung  des  Steines. 
(Fig.  3  und  4.) 

Als  erstei'  beschrieb  und  deutete  Israel  diese  Ver¬ 
hältnisse.  Auch  sonst  finden  wir  sie  mehrfach  in  Literatur- 
angaben  erwähnt,  die  gleichzeitig  zeigen,  daß  die  Kenntnis 
dieser  zystoskopischen  Bilder  wichtig,  doch  nicht  sehr  ver¬ 
breitet  ist. 

Eskat.  entfernte  einen  solchen  „Tumor“  nach  Sectio  alia 
und  fand  ein  Ureterkonkrement  als  Inhalt,  dasselbe  tat  Freyer 
und  Pasteau.  Neumann  diagnostizierte  und  exstirpierfo  einen 
solchen  Prolaps  als  Fibrom  der  Blase. 


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Während  aber  in  den  zitierten  Fällen  der  Stein  von 
der  Blase  aus  als  Inhalt  des  Prolapses  wenigstens  erreich¬ 
bar  war,  handelte  es  sielt  in  einem  Falle  Fenwicks  wie  hei 
uns  um  Ureterenprolaps  bei  hoehsiizendem  Stein.  Er  ex- 
stirpierte  'den  vermeintlichen  papillomatösen  Tumor  nach 
Sectio  alta  und  fand  erst  bei  einer  späteren  Untersuchung 
den  Stein. 

Zu  erklären  sind  diese  „Pseudotumoren“  als  echte 
Prolapse  der  Urethralschleimhaut.  Wie  schon  Israel  her¬ 
vorhob,  sind  in  solchen  Fällen  die  Nieren  meist  infiziert, 
der  Ureter  hochgradig  verändert.  Dasselbe  war  bei  den 
eben  mitgeteilten  Beobachtungen  der  Fall. 

Andere  Veränderungen  an  der  Uretermündung  sind 
nicht  weniger  wichtig,  jedoch  nicht  charakteristisch  für  die 
Lokalisation  des  Konkrementes  im  Ureter.  Wir  linden  sie 
vielmehr  genau  so  bei  der  Nephrolithiasis.  Meist  handelt 
es  sich  um  punktförmige  frische  und  dann  hochrote,  oder 
ältere  Sugiliationen  der  Schleimhaut  und  Lazerationen  der 
Papille,  deren  Umgebung  mehr  gerötet  ist  und  die  alle  Grade 
des  Oedems,  von  geringer  Schwellung  der  Ureterallefzen 
bis  zu  den  stärksten  vorkommenden  Formen  bullösen 
Oedems  zeigen  kann.  Auf  diese  letzteren  Veränderungen 
näher  einzugehen,  erübrigt  sich,  da  sie  in  einer  ausgezeich¬ 
neten  Monographie  Fenwicks  detailliert  beschrieben  sind. 

Eingeschränkt  wird  der  Wert  der  Zystoskopie  durch 
die  Tatsache,  daß  selbst  festgekeilte  und  größere  Ureter¬ 
konkremente,  soferne  die  Harnpassage  zum  Teil  frei  ist, 
keine  Veränderungen  an  der  Papille  hervorzurufen  brauchen. 
Jean  brau  Imeint  zwar:  Die  Integrität  der  Papille  sei 
ein  bedeutsamer  Anhaltspunkt,  um  Nieren-Uretersteine  aus¬ 
zuschließen,  wir  fanden  jedoch  bei  fünf  Fällen  u.  zw.  bei 
Fall  XI,  trotz  vier  Uretersteinen,  bei  Fall  XII,  trotz  schwe¬ 
rer  Ureteritis  und  Infektion  der  Niere  vollkommen  normale 
Papille.  In  drei  Fällen,  davon  einer  operiert,  fanden  wir 
einen  sichtbaren  Ureterstein;  zwei  gingen  spontan  ab.  Bei 
den  anderen  operierten  Fällen  waren  mehr  weniger 
ausgeprägte,  aber  nicht  charakteristische  Veränderungen  an 
der  Papille  zu  sehen. 

Der  Ureterensondierung  als  selbständigen  Unter¬ 
suchungsmethode  zum  Nachweis  des  Konkrementes  kann 
kein  besonderer  Wert  beigemessen  werden.  Jedem  geübten 
Untersuchter  ist  es  bekannt,  wie  häufig  auch  bei  ganz  nor¬ 
malen  Ureteren  die  eingeführte  Sonde  in  Falten  und  Klappen 
der  Schleimhaut  arretiert  werden  kann,  so  daß  selbst  der 
wiederholte  Nachweis  eines  Hindernisses  an  derselben  Stelle 
nur  mit  großer  Vorsicht  zu  beurteilen  ist,  während  ander¬ 
seits  trotz  des  Vorhandenseins  eines  freien  Steines  im  dik¬ 
tierten  Ureter  die  Sonde  leicht  an  ihm  vorbei  ins  'Nieren¬ 
becken  gleitet.  Der  Verwendung  mit  Wachs  oder  Paraffin 
imprägnierter  Bougies,  an  denen  das  Konkrement  Rillen 
und  Abdrücke  hinterlassen  soll  (Kelly)  kommt  daher  nur 
historisches  Interesse  zu.  Nur  im  Fälle  der  Unmöglichkeit, 
ein  supponiertes  Konkrement  radiologisch  nachzuweisen, 
kämen  am  besten  flexible,  aus  biegsamen  Melallspiral- 
schläuchen  hengestellte  Uretersteinsonden  in  Betracht, 
durch  die  allenfalls  die  Berührung  des  Steines  dem  Gefühl 
und  Gehör  übermittelt  werden  könnte. 

So  entfernte  Albarran  (Fall  III  bei  Pappa)  einen 
haselnußgroßen,  nahe  der  Blasenmündung  sitzenden  Ureter¬ 
stein,  der  röntgenologisch  nicht  dargestellt  werden  konnte, 
jedoch  ziemlich  charakteristischen  zystoskopischen  Befund 
bot  und  mit  der  Uretersondc  als  Hindernis  fühlbar  war. 

Während  die  klinische  Krankenuntersuchung  mit  Aus¬ 
nahme  der  wenigen  Fälle  palpabler  Steine  uns  nur  bis  zur 
Wahrscheinlichkeitsdiagnose  einer  Steinbildung  in  den  obe¬ 
ren  Harnwegen  gelangen  läßt,  die  Zystoskopie  nur  selten 
beweisende  Veränderungen  an  der  Papille  zeigt,  die  Sondie¬ 
rung  des  Ureters  endlich  den  Nachweis  eines  Hindernisses 
kaum  je  mit  der  zum  operativen  Eingriff  notwendigen  Sicher¬ 
heit  führt,  fällt  die  entscheidende  Rolle  der  Röntgenunter¬ 
suchung  zu.  Erst  seit  sie  ein  obligater  Teil  der  urologischen, 
Krankenuntersuchung  in  sämtlichen  steinverdächtigen 
Fällen,  sowie  bei  allen  Hämaturien  und  Pyurien  wurde, 


konnte  die  Chirurgie  der  Uretersteine  aus  einer  klinischen 
Rarität  zu  einem  wohlfundierten  Kapitel  werden. 

Den  wichtigsten  Fortschritt  bedeutete  hiebei,  von  der 
Vervollkommnung  der  Technik  abgesehen,  deren  Besprech¬ 
ung  als  rein  radiologisches  Gebiet  den  Rahmen  der  Arbeit 
überschreiten  würde,  die  heute  allgemein  anerkannte  Regel, 
immer  den  gesamten  Harntrakt,  beide  Nieren, 
den  Verlauf  beider  Ureteren  und  die  Blase  auf 
die  Platte  zu  bringen.  Der  Fall  unserer  Beobach¬ 
tung,  der  einzige,  bei  dem  wegen  des  eindeutigen  Lokal¬ 
befundes  an  der  Niere  von  dieser  Regel  abgesehen  wurde, 
illustriert  wohl  am  treffendsten  ihre  Wichtigkeit.  Daß  ferner 
die  Aufnahmstechnik  an  den  Untersucher  hohe  Anforde¬ 
rungen  stellt  und  im  einzelnen  Falle  solange  untersucht 
werden  muß,  bis  technisch  einwandfreie,  den  Nieren-,  Psoas- 
schatten  und  die  Details  des  Skelettes  klar  wiedergebende 
Bilder  erzielt  werden,  ist  jedem  Radiologen  bekannt.2) 

Jedoch  mit  der  Herstellung  eines  technisch  einwand¬ 
freien  Bildes  sind  bei  Ureterstein  verdächtigen  Fällen  die 
Schwierigkeiten  nicht  überwunden.  Es  beginnt  jetzt  erst 
der  wichtigste,  große  Aufmerksamkeit  und  Fachkenntnis  er¬ 
fordernde  Teil  der  Arbeit :  Das  Lesen  der  Platte,  am  besten 
eine  gemeinsame  Arbeit  des  Radiologen  und  Urologen. 
Schon  früher  fand  man,  daß  auf  Aufnahmen  der  ßecken- 
gegend  häufig  Schattenrisse  sichtbar  werden,  die  mit  keinem 
Organ  in  bestimmte  Beziehung  gebracht  werden  konnten 
und  von  ihrem  ersten  Beschreiber,  Albers-Schönberg, 
mit  dem  nichts  präjudizierenden  Namen  ,, Beckenflecke“  be¬ 
zeichnet  wurden.  lUeber  die  Natur  dieser  Gebilde  herrschte 
lange  Unklarheit,  bis  Robinsohn  einen,  Teil  von  ihnen 
als  Verkalkungen  in  den  liefen  Schleimbeuteln  ansprach 
und  ihren  Zusammenhang  mit  ischiadischen  Beschwerden 
klarlegte,  während  andere  Untersucher,  namentlich 
E.  Fränkel,  Goldammer  usw.  durch  Operation  gewon¬ 
nene  Gebilde  als  Phlebolithen  erkannten;  es  sind  dies  jedoch 
nur  die  häufigsten  dieser  irreführenden  Schattenrisse. 

Albers-Sc'hönberg  stellte  13,  Haenisch  kurz 
darauf  29  (!)  Gruppen  von  verschiedenen  Gebilden  zu¬ 
sammen,  die  gelegentlich  Schatten  im  Beckenbild  geben, 
und  so  Fehldiagnosen  veranlassen  können. 

Man  ging  daher  bald  daran,  die  topographischen  Be¬ 
ziehungen  eines  fraglichen  Schattenrisses  im  Beckenbilde 
zum  Ureterverlauf,  wo  dies  irgend  möglich  ist,  durch  Ein¬ 
führung  einer  röntgenundurchlässigen  Sonde  oder  eines  Ure- 
terenkatheters  mit  Mandrin  klarzustellen. 

Fliebei  können  sich  verschiedene  Möglichkeiten  er¬ 
geben.  Häufig  wird  die  Sonde  durch  ein  Hindernis  arre¬ 
tiert  und  die  folgende  Aufnahme  zeigt,  daß  die  Spitze  des 
Katheters  den  fraglichen  Schattenriß  berührt. 

Ist  jedoch  der  Stein  im  Harnleiter  nicht  fixiert,  so 
läßt  er  sich  entweder  durch  die  eingeführte  Sonde  dislo¬ 
zieren,  oder  die  Sonde  läßt  sich  neben  ihm  verschieben. 
Der  erstere  Befund  beweist  mit  Sicherheit  einen  im 
Ureterlumen  gelegenen  Stein  und  läßt  außerdem  den  Schluß 
zu,  daß  der  Ureter  bereits  dilatiert  ist.  Wir  beob¬ 
achteten  bei  unseren  Fällen,  die  stets  wiederholt  untersucht 
wurden,  dreimal  ein  spontanes  Wandern  des  Steines. 
Bei  drei  der  operierten  Fälle  konnten  wir  die  Verschieb¬ 
lichkeit  des  Schattens  mit  der  Ureterensonde  demonstrieren. 

Da  das  Studium  von  Fehldiagnosen  für  unser  Thema 
von  größerer  Wichtigkeit  ist  als  die  reinsten  Serien  glück¬ 
lich  diagnostizierter  und  operierter  Uretersteine,  lohnt  es 
sich  wohl,  auf  die  diesbezügliche  Literatur  etwas  näher 
einzu  gehen.  ,< 

So  teilt  Voe ekler  die  Krankengeschichte  eines  1  ljährigen 
Knaben  mit,  dessen  Anamnese  von  der  klassischen  Trias  der  Stein¬ 
symptome  nur  die  Blutung  vermissen  ließ.  Koliken  und  Stein¬ 
abgang  waren  vorhanden.  Klinisch  sprach  alles  in  deutlichster 
Weise  für  eine  intermittierende  Hydronephrose  der  linken  Seite, 
röntgenologisch  ist  jedoch  auf  einwandfreier  Platte  die  linke 

2)  Die  Röntgenaufnahmen  der  Fälle  wurden,  wo  nicht  anders 
angegeben,  im  Röntgeninstitute  des  Spitales  von  Herrn  Dr.  Robinson 
ausgeführt. 


272 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Ni.  8 


Seite  frei,  rechts  sind  in  der  Höhe  des  vierten  Lendenwirbeln 
drei  rundliche  Schatten  in  einer  nach  der  Wirb.  Isäule  konvexen 
Reihe  sichtbar,  der  oberste  kirschgroß,  die  anderen  kirschkern- 
groß.  Bei  der  Operation  erweist  sich  der  Ureter  frei,  unmittelbar 
median  vom  Ureter  liegen  drei  verkalkte  Drüsen. 

In  einem  Falle  Reichmanns  waren  links  fünf,  rechts  vier 
wie  Kettensteine  gelagerte  Schatten  sichtbar;  die  Aufnahme  mit 
Mandrin  zeigte,  daß  die  Schattenrisse  nicht  im  Ureterlumen  liegen 
können.  Ebenso  verhielt  es  sich  beim  Patienten  Balls. 

Goldammer  berichtet  in  einer  Arbeit  aus  der  Klinik 
Kümmels  über  eine  trotz  exaktester  urologischer  und  röntgeno¬ 
logischer  Untersuchung  kaum  vermeidbare  Fehldiagnose.  34 jäh¬ 
riger  fiebernder  Mann  mit  kolikartigen  Schmerzen  im  Rücken 
links.  Röntgenologisch:  Beide  Nieren  frei,  entsprechend  dein 
untersten  Teile  des  linken  Ureters  drei  gerstenkorngroße  (! ),  perl¬ 
schnurartig  angeordnete  Schatten.  „Am  Körper  des  zweiten  Len¬ 
denwirbels  ein  auf  Spondylitis  verdächtiger  Herd.“ 

Rechts  gelingt  Ureterkatheterismus  leicht,  links  bleibt  die 
Sonde  jedesmal  an  derselben  Stelle  stecken.  Rechts  Indigo  nach 
15  Minuten  positiv,  links  keine  Harnsekretion. 

Bei  der  Operation  waren  Niere  und  Ureter  frei  von  Kon¬ 
krementen,  im  Beckenbindegewebe  lagen  drei,  in  Größe  und  Form 
Getreidekörnchen  entsprechende  Gebilde,  die  sich  histologisch  als 
Phlebolithen  erwiesen. 

Dervaux  findet  bei  zweimaliger  Röntgenaufnahme  in  der 
Höhe  der  linkem  Spina  iliaca  posterior  superior  einen  deutlichen 
Schatten,  bei  der  Operation  wird  der  ganze  Ureter  abgesucht, 
aber  nichts  gefunden. 

Bei  einem  Falle  Prousis,  lnfroitund  Louys  führte,  wie 
bei  der  Beobachtung  Goldammers  das  Hindernis  beim  Ureter¬ 
katheterismus  irre.  Die  herabgekommene  Patientin  litt  an  einem 
kalten  Abszeß  der1  Brustwand,  Schmerzen  in  der  Unterbauch¬ 
gegend,  häufiger  Harnfrequenz  und  terminaler  Hämaturie. 

Röntgenologisch:  Kleiner  scharf  er  Schatten  an  der  E  in- 
trittsstelle  des  Ureters  in  die  Blase,  Zystoskopisch:  Linker 
Ureter  normal,  rechter  Ureter  ein  großes,  klaffendes,  von  ge¬ 
schwellten  Rändern  umgebenes  Loch.  Die  funktionelle  Unter¬ 
suchung  ergab  eine  gesunde  linke  Niere,  rechts  eine  vorgeschrittene 
Pyonephrose.  In  der-  Absicht,  den  supponierten  Ureterstein  in  einer 
2.  Sitzung  zu  entfernen,  wurde  zunächst  die  Nephrotomie  ausge¬ 
führt.  Exitus  sechs  Wochen  später.  Die  Autopsie  ergab  einen 
stark  dilatierten,  in  periureteritischen  Schwarten  eingebetteten 
Ureter,  jedoch  keinen  Stein.  Unter  dem  Röntgenschirm  gelang 
es,  am  Leichenpräparat  zwei  reiskomgroße  Phlebolithen  einer 
periureteralen  Vene  als  schattengebende  Gebilde  herauszupräpa¬ 
rieren. 

In  einem  zweiten,  bei  Goldammer  mitgeteilten  Falle  ber 
rührte  die  Spitze  der  Ureterensonde  bei  Einführung  bis  zum 
Hindernis  genau  den  fraglichen  Steinschatten.  Bei  der  Operation 
(Nephrektomie  wegen  Nephritis  apostematosa)  kein  Stein  zu 
finden. 

Seelig  beobachtete  eine  34jährige  Frau  mit  Harnbeschwer¬ 
den,  Schmerzen  in  der  rechten  Unterbauchgegend,  Hämaturie. 
Beim  Ureterkatheterismus  rechts  auch  hier  deutliches-  Hindernis. 
Positives  Röntgenbild:  Ein  erbsengroßer  Steinschatten  über  der 
Linea  innominata.  Operativer  Befund :  Chronische  Appendizitis 
mit  kleinem  Kotstein,  dem  Schattenriß-  entsprechend. 

Aelmliche  Befunde-  (Enterolithen  im  Appendix,  Uretersteine 
vortäuschend)  sind  von  Weisflog  und  Fittig,  Exostosen  der 
Darmbeine  von  Köhler,  sogar  eine  Blaudsche  Pille  als  Fehler¬ 
quelle  von  Haenisch  beschrieben. 

Auf  Beobachtungen,  die  bisweilen  imstande  sind,  den  Wider¬ 
spruch  zwischen  operativem  Befund  und  Röntgenaufnahme  auf¬ 
zuklären,  macht  Bloch  durch  die  Mitteilung  zweier  Fälle  auf¬ 
merksam,  bei  denen  kleine  Steine,  die  lange  Zeit,  bis  zu  einem 
Jahre,  im  Beckenteil  des  Ureter's  festgekeilt  saßen,  bei  der  Opera¬ 
tion  nicht  gefunden  werden  konnten,  einige  Tage  später  "aber 
spontan  entleert  wurden.  Es  läßt  sich  nicht  entscheiden,  ob  die 
Mobilisi-erungsversuche  am  Ureter,  vielleicht  auch  eine  durch 
Narkose  und  Spinalanästhesie  erzeugte  Aufhebung  des  Ureter¬ 
spasmus  zur  Ausstoßung  de-s  Steines  beitrug  oder  ob  nicht  zur 
Zeit  der  Operation  der  Stein  bereits  in  die  Blase-  gewandert  war. 
Jedenfalls  ist  aus  dieser  Mitteilung  der  wichtige  Schluß  zu  ziehen; 
möglichst  kurze  Zeit  vor  dem  operativen  Eingriff  sich  durch 
Röntgenicon  trolle  vom  Sitz  des  Steines  zu  überzeugen  und  un¬ 
mittelbar  vor  der  Operation  durch  Zystoskopie-  das  Fehlen 
des  Steines  in  der  Blase  zu  erweisen. 

Es  ist  nach  dem  eben  Angeführten  unbedingt  geboten, 
in  jedem  irgend  unklaren  Falle  die  topographischen 
Beziehungen  zwischen  dem- frag  liehen  Schatten¬ 
riß  und  dem  Ureterverlauf  durch  eine  Röntgen- 


a  u  f  n  a  h  m  e  bei  in  den  Ureter  ein  geführte  r  u  n- 
durch  lässiger  Sonde  oder  Katheter  mit  Mandrin 
klarzustellen. 

Wir  beobachteten  hiebei  recht  charakteristische  Be¬ 
funde,  die  meisl  zur  klaren  Deutung  des  Bildes  genügen. 

So  sahen  wir  bei  der  ersten  Röntgenaufnahme  des 
Falles  IX  (Röntigenskizze  I)  den  Stein  in  der  Nähe  der 
Linea  innominata.  Sein  verjüngtes  Ende  war,  wie  gewöhn¬ 
lich,  blasen wärts,  das  breitere  renal wärts  gelagert.  Bei  der 
zweiten  Aufnahme  lag  der  Schattenriß  nicht  nur  wesentlich 
höher,  in  der  Höhe  der  Querfortsätze  des  ersten  Lendenwir¬ 
bels,  sondern  war  um  180°  gedreht.  In  einem  solchen 
Befund  ist  nicht  nur  der  sichere  Beweis  erbracht,  daß  das 
schattengebende  Gebilde  im  Ureterlumen  sich  befindet,  son¬ 
dern  auch,  daß  der  Ureter  dilatiert,  das  heißt, 
seine  Peristaltik  bereits  geschwächt  und  eine 
Spontanausstoßung  des  Konkrements  nicht  zu 
erwarten  ist. 

In  zwei  weiteren  Fällen  konnte  eine  geringere  Ver¬ 
schiebung  des  Schattenrisses  nach  Einführung  der  Sonde 
verzeichnet  werden,  die  im  Falle  G.  mit  dem  Einsetzen 
einer  bedeutenden  Pyurie  einherging. 

Besonders  hervorzuheben  wäre  noch  ein  Röntgen¬ 
befund  bei  Fall  VIII,  der  in  einer  Serie  von  Aufnahmen 
das  Herunterwandern  von  vier  Uretersteinen  (sogenannten 
Kettensteinen)  erkennen  läßt.  Durch  fortgesetzte  Kontrolle 
dieses  Falles  war  es  möglich,  die  eingreifendere  Bloßlegung 
des  Ureters  im  obersten  und  untersten  Drittel  zu  ersparen, 
die  Vereinigung  der  vier  Kettensteine  im  pelvinen  Anteil 
abzuwarten  und  so  mit  der  einfachen  Uterolithotomie  dieses 
Abschnittes  auszukommen.  (Röntgenskizze  II,  III,  IV.) 

Daß  jedoch  die  Aufnahme  mit  Markierung  des  Ureters 
keineswegs  vor  Irrtüme-rn  schützt,  ist  klar;  deutlich  zeig! 
dies  auch  die  Beobachtung  Goldammers  und  Voeck- 
lers.  Wenn  nämlich  die  Spitze  des  Mandrinkatheters  ge¬ 
rade  den  fraglichen  Schattenriß  berührt  oder  an  ihm  vor¬ 
beistreicht,  können  fälschlich  dem  Ureter  anliegende  Ge¬ 
bilde  für  Steine  in  seinem  Lumen  gehalten  werden.  Hier 
schützt  nur  eine  stereoskopische  Aufnahme  hei 
fixiertem  Objekt  und  verschobener  Röhre,  die 
eine  iganz  genaue  Lokalisation  des  Schattens  ermöglicht. 

Schwieriger  ist  die  Entscheidung,  wenn  sich  die  Ure¬ 
tersonde  nicht  bis  zum  Schattenriß  verschieben  läßt,  son¬ 
dern  zufällig  früher  durch  eines  der  besprochenen  Hinder¬ 
nisse  gehemmt  wird. 

ln  solchen  Ausnahmsfällen  wird  man  wohl  bisweilen 
zu  einer  probatorisohen  Freilegung  des  Ureters  gezwun¬ 
gen  sein. 

Wir  waren  in  einem  einzigen  Falle  gezwungen,  eine 
explorative  Freilegung  des  Ureters  wegen  Steinverdacht  aus¬ 
zuführen,  nachdem  bei  demselben  Patienten  kurze  Zeit  vor¬ 
her  die  Niere  der  anderen  Seite  aus  demselben  Grunde 
Gegenstand  eines  operativen  Eingriffes  war. 

Fall  I.  E.  .1.,  57jährig-er  Kaufmann. 

Der  früher  stets  gesunde  Patient  erkrankte  vor  zehn  Jahren 
mit  Schmerzen  im  Rücken,  die  gleichmäßig  dumpf  anhielten, 
ihn  nicht  besonders  quälten  und  von  vielen  behandelnden  Aerzten 
für  Rheumatismus  erklärt  wurden.  Keinerlei  Symptome  von 
s-eiten  des  Urogenitaltraktes,  Ausstrahlen  der  Schmerzen  gegen  die 
Schulterblätter;  Harn  immer  klar. 

Vor  sechs  Monaten  heftige-  Kolik  in  der  linken  Oberbauch- 
ge-gend.  Der  sehr  intelligente  Patient  zeigt  auf  zwei  Druckpunkte, 
links  vom  Nabel  und  hinter  dem  Rippenbogen,  wo  die  Schmerzen 
beginnen  und  quer  durch  dear  Bauch  gegen  die  Blase, 
in  die  Glans  penis  und  den  linken  Oberschenkel  aus¬ 
strahlen.  Während  des  Anfalles,  der  oft  zwei  Tage  dauert, 
läßt  er  sehr  weinig,  nach  demselben  sehr  viel  Harn.  Oft  ist  der 
Anfall  von  Erbrechen  und  Magenkrämpfen  begleitet.  Ruhe  wirkt 
günstig  ein,  Bewegung  steigert  die  Schmerzen.  Nie  Hämaturie. 

Pat.  weist  eine  gelungene,  in  Konstantinopel  angefertigte 
Röntgenkopie  vor,  die  einen  sehr  dichten,  auch  deutlich 
begrenzten  Schatten  im  medialen  Anteil  der  linken 
Niere  zeigt.  Zur  Operation  dieses  Steines  kömmt  Pat.  nach 
Wien. 

Status  praesens:  Ohne  wesentlichen  Befund. 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


278 


Hain:  24stündige  Menge  1000  cm,  1-025  sauer,  Nukleo- 
und  Serumalbumen  fehlt.  Harnstoff  22%o,  Chloride  14-4%o.  Im 
Sediment  ganz  vereinzelte  Leukozyten  und  Epithelien. 

Die  Röntgenuntersuchungen  wurden  wiederholt  und  es  fand 
sich  ein  Schatten  im  medialen  Anteil  der  Niere,  an  den  deutlich 
die  eingeführte  Röntgensonde  heranzieht.  Der  Schatten  ist  bei 
technisch  vollkommenem  Bilde  nicht  so  deutlich  begrenzt  und  dicht 
wie  bei  der  Konstantinopler  Aufnahme.  Dem  Befunde  Dr.  Robin- 
sohns  ist  beigefügt:  Nach  Form  und  Größe  würde  eher  ein  ver¬ 
kalkender  Parenchymprozeß  als  ein  Konkrement  anzunehmen  sein. 

Rechts  ist  in  der  Höhe  der  Synchondrosis  sa- 
croiliaca  der  Schatten  eines  bohnengroßen  dichten 
Konkrementes  zu  sehen.  Die  Sonde  reicht  nicht  bis 
an  diesen  Schatten  heran,  sondern  ist  nur  3  bis  4cm 
in  den  Ureter  vor  schiebbar  und  wird  dann  arretiert. 

Am  19.  Februar'  wurde  durch  einen  typischen  Schnitt  die 
linke  Niere  freigelegt.  Luxation  der  Niere  vor  die  Wunde.  Das 
Nierenparenchym  erscheint  normal,  das  Nierenbecken  frei.  Auch 
nach  Spaltung  der  Niere  kann  nirgends  ein  Stein  oder 
Verkalkungsherd  gefunden  werden,  nur  reichlich  ins 
Becken  gewuchertes  Hilusfett. 

Nach  vollkommen  normalem  Wundverlauf  klagt  der  Patient 
'.läufig  über  Schmerzen  in  der  rechten  Kreuzbeingegend.  Die  aber¬ 
malige  Röntgenuntersuchung  bestätigt  das  Vorhandensein  des  Kon¬ 
krementschattens. 

Es  wird  daher  am  17.  März  der  rechte  Ureter  durch  einen 
leicht  konvexen  Schnitt  parallel  dem  Darmbeinkamm  freigelegt. 
Derselbe  ist  vollständig  normal,  zart,  nicht  dilatiert.  Ls  wird 
so  ziemlich  die  ganze  Länge  des  Ureters  abgetastet,  ein  Konkre¬ 
ment  kann  aber  nirgends  gefunden  werden.  Der  Ureter  wird  daher 
nicht  eröffnet,  sondern  die  Wunde  durch  Etagennaht  vollständig 
geschlossen.  Normaler  Wundverlauf,  Entfernung  der  Nähte  am 
24.  März,  Wunde  geheilt. 

Patient  wird  zu- einer  Heißluft-  und  Bäderbehandlung  ent¬ 
lassen. 

Epikrise:  Der  Fall  wies  eine  Reihe  klinischer  Symptome 
auf,  die  stets  für  Herderkrankungen  der  Niere  charakteristisch 
gelten:  Ausstrahlen  der  Schmerzen  gegen  die  Blase,  Glans  penis, 
in  den  Oberschenkel.  Der  Röntgenbefund  ließ  einen  Verkalkungs¬ 
herd  des  Parenchyms  oder  einen  Stein  der  linken  Nierei  mit 
größter  Wahrscheinlichkeit  annehmen.  Die  Sektion  der  Niere 
bot  keine  Erklärung  für  diesen  Schatten,  es  sei  denn,  daß  etwa 
pathologisch  verändertes,  reichlich  im  Nierenbecken  gewuchertes 
Fettgewebe  im  Röntgenbilde  einen  Steinschatten  vor  täuschen 
könne,  was  erst  zu  untersuchen  wäre. 

Viel  präziser  war  der  hier  in  Betracht  kommende  Befund 
am  rechten  Ureter.  Seiner  Form,  Lage  und  Größe  nach  konnte 
nur  an  einen  Enterolithen  (etwas  zackiger  Rand,  helleres  Zen¬ 
trum)  oder  an  einen  Ureterstein  gedacht  werden.  Der  ausschlag¬ 
gebende  Son  denversuch  mißlang,  da  der  Ureterenkatheter  nicht 
bis  zum  supponierten  Konkrement  vorgeschoben  werden  konnte. 
Daher  die  explorative  Freilegung  des1  Ureters.  Der  Ureter  erschien 
vollkommen  normal,  zartwandig,  nicht  dilatiert,  seine  Eröffnung 
unterblieb. 

Sehr  bemerkenswert  erscheint  das  konstante  Fehlen 
von  Erythrozyten  im  Harnsediment.  Ein  Beweis  für  die  kli¬ 
nische  Verwertbarkeit  der  „mikroskopischen“  Hämaturien. 

Fassen  wir  nochmals  die  Fehlerquellen  der  Röntgen¬ 
untersuchung  hei  Steinen  im  Beckenteile  zusammen,  so 
können  wir  Phlebolithen,  E  n  t  e  r  o  1  i  t h  e  n  und  D  r  ü  s  e  n- 
verkalkungen  an  die  erste  Stelle  setzen. 

Wir  können  ferner  feststellen,  daß  „Beckenflecke“  viel 
häufiger  doppelseitig  und  wesentlich  häufiger  multipel  sind 
als  Ureterensteine,  die  nach  Jeänbreaus  Zusammenstel¬ 
lung  in  96%  einseitig,  in  90%  solitär  auftreten.  Der  ty¬ 
pische  Sitz  der  , Beckenflecke  ist  der  kreissegmentförmige 
Raum  zwischen  der  Spina  ossis  ischii  und  der  Symphyse. 
Hier  pflegen  sie,  wenn  multipel,  perlschnurartig  in  ziem¬ 
licher  Entfernung  voneinander  in  einem  nach  außen  kon¬ 
vexen  Bogen  angeordnet  zu  sein,  während  Ureterenkonkre- 
mente  in  diesem  Abschnitte  weit  mehr  medial  liegen  und 
multiple  Ureterenkonkremente  (Keltensteine)  „schließen1  . 

Besondere  Vorsicht  wird  bei  der  Beurteilung  mul¬ 
tipler,  kleiner,  im  Gegensatz  zu  ihrer  Kleinheit  scharf¬ 
umgrenzter  Schattenrisse  notwendig  sein. 

Sowohl  Goldammers  wie  Voecklers  Fäll  war  ge¬ 
wiß  schwer  zu  deuten,  aber  unter  diesem  Gesichtspunkte 
denn  doch  von  der  Operation  auszuschließen. 


Jeder  irgendwie  fragliche  Schattenriß  ist  bei  einge¬ 
führter  Ureterensonde  zu  untersuchen,  womöglich  mit  stereo¬ 
skopischer  Aufnahme. 

Während  wir  bisher  sahen,  daß  die  Röntgenplatte 
uns  eher  zuviel  zeigt,  kann  es  in  Analogie  mit  ähnlichen 
Verhältnissen  bei  Nierensteinen  auch  Ureterkonkremente 
geben,  die  röntgenologisch  nicht  darstellbar  sind. 

So  entfernte  Steward  einen  125  mm  langen  reinen  Harn¬ 
säurestein  aus  dem  rechten  Ureter,  der  röntgenologisch  nicht  dar¬ 
stellbar  war.  Die  Diagnose  stützte  sich  bei  negativem  zysloskopi- 
schen  Befunde  vornehmlich  auf  die  charakteristisch  subjektiven 
Beschwerden. 

Ebenso  war  in  einem  bereits  zitierten  Falle  A lbarra ns 
der  nahe  der  Blasenmündung  sitzende  haselnußgroße  Ureterstein 
auf  der  Platte  nicht  zu  finden. 

Ist  mau  einmal  gezwungen,  bei  negativem  Röntgen¬ 
befund  ein  Ureterkonkrement  zu  suchen,  dann  wird,  wie 
vor  der  Röntgenära,  der  Israelsche  Schnitt,  der  die  Ab¬ 
tastung  des  Ureters  vom  Nierenbecken  bis  zur  Blase  ge¬ 
stattet,  in  Anwendung  kommen.  Meist  wird  wohl  eine  der 
Untersuchungsmethoden  wenigstens  ungefähr  eine  Lokal¬ 
diagnose  gestatten  und  so  ein  direkteres  Vorgehen  auf  den 
supponierten  Stein  ermöglichen.  Wir  möchten  besonders 
darauf  aufmerksam  machen,  daß  die  extraperitoneale  Blo߬ 
legung  des  Ureters  ein  gewiß  ungefährlicher  und  leichter 
Eingriff  ist.  Findet  man  ihn  dilatiert  —  wir  haben 
seine  Dilatation  niemals  vermißt  —  dann  muß 
nach  dem  Steine  getastet,  eventuell  durch  Inzi¬ 
sion  des  Ureters,  durch  Einführung  einer  flexi¬ 
blen  Sonde,,  sein  Lumen  abgesuCht  werden.  Ist 
der  Ureter  hingegen  nicht  dilatiert,  dann  liegt  auch  kein 
Konkrement  vor  und  die  Wunde  kann  rasch  wieder  ge¬ 
schlossen  werden. 

Die  Operation  der  Wahl  bei  Steinen  im  Beckenanteile 
des  Ureters  ist  die  extraperitoneale  Ur e  ter olitho- 
tomie.  Da  die  Arbeit  J  e  an  braus  und  Alb  arr  ans  „Chirur¬ 
gie  operative  de  voies  urinaires“,  vorzügliche,  jeden  Akt  der 
Operation  deutlich  illustrierende  Abbildungen  bringt,  er¬ 
übrigt  sich  ein  genaues  Eingehen  auf  Technik  und  ein¬ 
zelne  Phasen.  Wir  legen  den  Hautschnitt  ein  bis  zwei 
Querfinger  oberhalb  der  Spina  anterior  superior  beginnend, 
leicht  bogenförmig  und  dem  Poupartschen  Bande  parallel 
im  untersten  Abschnitt  in  der  Mittellinie  bis  zur  Symphyse 
führend  an.  Die  Bauchmuskeln  werden  scharf  durchtrennt, 
das  nunmehr  freiliegende  Peritoneum  •  wird  mit  breiten 
Schaufelspateln  medianwärts  abgehoben.  An  dieser  me¬ 
dianen  Peritonealfläche,  mit  ihr  durch  lockeres 
Zellgewebe  verbunden,  ist  der  bei  Anwesen¬ 
heit  eines  Steines  stets  dilatierte  Ureter  sofort 
sichtbar.  Der  früher  genau  lokalisierte  Stein  wird  durch 
Abtasten  sichergestellt,  auf  ihn  mit  dem  Skalpell  eine  ent¬ 
sprechende  Längsinzision  des  Ureters  gemacht,  durch  die 
der  Stein  leicht  entbunden  wird.  Naht  des  Ureters  mit 
feinsten  Katgutknopfnähten  in  einer  Schicht.  Das  para- 
ureterale  Gewebe  nicht  gesondert  nähen  (Garre).  Lockere 
Drainage  der  Nahtstelle  und  vollständige  Naht  der  Muskel¬ 
hautwunde  bis  auf  den  drainierenden  Gazestreifen  be¬ 
schließen  den  einfachen  Eingriff.  Vor  langen  Drainrohren 
ist  wegen  der  Möglichkeit  eines  Dekubitus  an  der  vom 
Ureter  gekreuzten  Arteria  iliaca  externa  (Moszkowicz: 
Anna! es  of  Surgery  1908)  besonders  zu  warnen.  Eine  Drai¬ 
nage  des  genähten  Ureters  mittels  Katheter  Nr.  12  bis  15, 
wie  sie  Albarran  empfiehlt,  ist.  meist  überflüssig,  wir 
wandten  sie  nur  einmal  an. 

Der  schwierigste  Akt  ist  das  Aufsuchen  und  die  Fixa¬ 
tion  des  tiefsitzenden  Steines.  Fünfmal  unter  unseren  Fällen 
mußte  von  einem  Assistenten  von  der  Vagina,  resp.  vom 
Rektum  her  der  unterste  Ureterabschnitt  ins  Wundbereich 
gehoben  werden.  Beim  ersten  operierten  Fälle  gelang  es 
erst  bimanuell  mit  einer  Hand  von  der  Peritonealhöhle 
aus,  mit  der  anderen  extraperitoneal  den  tiefsitzenden  Stein 
zu  fassen. 

Erdmann,  Gibbon,  Fenwick,  Morris  u.  a.  haben 
so  operiert,  doch  ist  dieses  Vorgehen  nicht  als  Normal- 


274 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


verfahren,  sondern  nur  dann  berechtigt,  wenn  der  Eingriff 
unter  falscher  Diagnose  als  Laparotomie  begonnen  und  von 
einem  zweiten  Sclhnitt  aus  a,ls  Ureterolithotomie  beendet 
wird.  Sonst  sind  wohl  sämtliche  Steine  bis  zur  Eintritts¬ 
stelle  des  Ureters  in  die  Blase  durch  die  extraperitoneale 
Freilegung  des  Ureters  zugänglich. 

Anders  ist  dies  bei  ßlasenureterensteinen  oder 
intramuralen  Konkrementen,  die  entweder  per  ure- 
t.hram  bei  der  Frau  oder  nach  Sectio  alta  und  Einkerbung  der 
Papille  zu  entfernen  sind,  in  erster  Linie  aber  ein  gutes  Ver¬ 
suchsobjekt  für  die  konservativen  Methoden  der  Glyzerin¬ 
injektion  und  der  Dehnung  des  Ureterostiums  abgeben. 
Wenn  wir  jedoch  in  Betracht  ziehen,  wie  überraschend  fest 
solche  Konkremente  eingekeilt  sein  können  und  wie  in  den 
beiden  ersten  hier  mitgeteiiten  Fällen  von  pilzförmigen 
Steinen  der  Ureterpapille  selbst  die  digitale  Extrak¬ 
tion  auf  größte  Schwierigkeiten  stieß,  werden  wir  die 
Hoffnungen,  weiche  sich  auf  diese  Methoden  stützen,  nicht 
zu  hoch  werten.  In  jüngster  Zeit  mehren  sich  die  Vor¬ 
schläge,  papillär  und  intramural  sitzende  Konkremente 
durch  endovesikale  operative  Eingriffe  zu  entfernen. 
Diesen  kommen  mehr  Chancen  zu.  Wolff  konnle  in  einem 
der  Skizze  1  ähnlichen  Falle  den  tumorartigen  Prolaps  mit 
dem  Blasenkauter  abtragen  und  so  den  Stein  befreien, 
Bransford-  Levis  benützt  eine  biegsame  Ureterzange  mit 
abgerundeten  Löffeln,  die  er  selbst  bei  offenem  Vorschieben 
in  den  Ureter  für  ungefährlich  hält  und  die  ihm  die  Ex¬ 
traktion  eines  kleinen  Konkrementes  aus  der  Papille  er¬ 
möglichte. 

Auszüge  aus  den  Krankengeschichten. 

fall  II.  J.  J.,  35jähriger  Mann,  aufgenommen  2.  Mai  1908. 

Vor  drei  Jahren  mit  linkseitigen,  oft  mit  Schüttelfrösten  und 
Fieber  verbundenen  Koliken  erkrankt.  Harn  bisweilen  leicht  blutig. 

Röntgenuntersuchung  ergab  damals  einen  bohnengroßen 
Schatten  im  linken  Nierenbecken  (1905).  Am  7.  November  1906 
Konkrement  tiefer  gelagert.  Patient  kann  sich  zur  vorgeschlagenen 
Operation  nicht  entschließen. 

Seit  Dezember  1907  häufiger,  impetuöser  Harndrang  und 
Schmerzen  in  der  linken  Unterbauchgegend,  gegen  den  Hoden  aus¬ 
strahlend,  Kolik  mit  Erbrechen  und  Fieber.  Röntgenuntersuchung 
zeigt  das  Konkrement  an  der  Mündungsstelle  des  linken  Ureters. 

Zy stoskopie:  Beide  Ureteren  in  stark  ödematöser  Um¬ 
gebung.  Am  19.  Mai:  Operation  (Prof.  Zucker  kan  dl):  Me¬ 
diane  Laparotomie.  Der  Stein  ganz  in  der  Tiefe,  knapp  an  der 
Blase  eingekeilt,  tastbar,  ohne  Möglichkeit,  ihn  zu  mobilisieren. 
Darauf  typischer  Schnitt  zur  extraperitonealen  Ureterolithotomie. 
Erst  bimanuell,  mit  einer  Hand  intraperitoneal,  mit  der  zweiten 
extraperitoneal,  gelingt  es,  den  Stein  zu  heben,  auf  ihn  ein¬ 
zuschneiden  und  ihn  zu  extrahieren.  Schluß  beider  Wunden  bis 
auf  Gazestreifen  und  Drainrohr. 

Normaler  Wundverlauf.  22.  Juni  mit  klarem  Harn  be¬ 
schwerdefrei  entlassen. 

Epikrise:  Intramural  sitzender  Stein  nach  extra¬ 
peritonealer  Ureterolithotomie  kaum  mobilisierbar. 
Das  kombinierte  Verfahren  bot  hier  günstige  Chan¬ 
cen.  Aehnliche  Fälle  bei  Erdmann,  Morris,  Gibbon 
und  F en wi ck. 

Fall  III.  24jähriger  Mann  (Privatfall). 

Vor  sechs  Jahren  kolikartige  Schmerzen  in  der  rechten  Unter- 
bauchgegend.  1907  Appendektomie.  Lange  wegen  Urethritis 
und  Prostatitis  behandelt.  Einmal  deutliche  Hämaturie,  nachher  oft 
solche  angedeutet. 

Zy  stoskopie:  Vollkommen  normale  Blase.  Ureterkathe¬ 
terismus,  beiderseits,  normaler  Harn.  Ein  zweites  Mal  findet  der 
Ureterkatheterismus  rechts  nach  3  cm  ein  Hindernis. 

Röntgenuntersuchung  (Dr.  v.  Schmarda):  Stein¬ 
schatten  in  der  Höhe  der  Synchondrosis  sacroiliaca. 

Operation  am  15.  Juni  1908  (Prof.  Zuckerkandl) : 

I  ypische  extraperitoneale  Ureterolithotomie.  Auf  Daumendicke 
erweiterter,  stark  geschlängelter  Ureter.  Vollständige  Naht. 

Epikrise:  Appendektomie  bei  Ureterstein. 

Fall  IV  und  V.  (Privatfälle.)  (Siehe  Abbildung.)  Klinisch 
und  operativ  typische  Fälle  mit  glatter  fistelloser  Heilung  in  12, 
resp.  15  Tagen. 

Fall  VI.  M.  R.,  aufgenommen  22.  Juni  1909. 

Vor  20  Jahren  Koliken  in  der  rechten  Nierengegend,  mit 
Sandabgang,  einmal  Hämaturie.  Nach  Karlsbader  Kur  Pause  bis 


vor  fünf  Jahren.  Seither  fast  wöchentlich  Schmerzanfälle  in 
der  Nierengegend  beginnend,  gegen  die  Blase,  Penisspitze  und 
ins  Rektum  ausstrahlend. 


VIII.  VI.  VH.  IX. 

Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  die  mitgeteiiten  operierten  Fälle. 


Harn:  Dunkelgelb,  1-021,  leicht  getrübt,  sauer. 

Zystoskopie:  Blase,  Uretermündung  normal. 

Röntgenuntersuchung  zeigt  den  scharf  konturierteu 
Schattenriß  eines  spitzspindeligen,  zirka  1  cm  langen  Konkre¬ 
mentes  im  Beckenanteil  des  Ureters. 

26.  Juni:  Typische  Ureterolithotomie.  Ureter  in  seiner  Wand 
verdickt,  auf  Fingerdicke  erweitert.  Tiefsitzender  Stein,  der  nach 
oben  in  das  Wundbereich  verschoben  wird.  Heilung  per  primam. 

Epikrise:  Diagnostisch  einfacher  Fall,  jedoch 
keine  Symptome  eines  tief  sitz  enden  Steines.  Nieren¬ 
koliken  anamnestisch  eruierbar.  Klarer  Röntgen¬ 
befund.  i  .  ,  , 

Fall  VII.  K.  B.,  26jährige  Frau. 

Plötzlicher  Beginn  der  Erkrankung  vor  vier  Monaten  mit 
heftigen,  vom  Unterbauch  nach  aufwärts  gegen  die 
linke  Lende  ausstrahlenden  Schmerzanfällen,  Erbrechen  und 
hohem  Fieber.  Seither  wöchentlich  heftige  Koliken,  im  Intervall 
vollkommen  beschwerdefrei.  Miktionsfrequenz  unwesentlich  ver¬ 
mehrt.  Palpationsbefund  negativ,  bis  auf  mäßigen  Druckschmerz 
in  der  linken  Nieren-  und  Uretergegend. 

llarn:  1-020,  sauer,  strohgelb,  trübe. 

Albumen  in  deutlichen  Spuren. 

Sediment:  Leukozyten,  Blutschatten,  einzelne  frische  Ery¬ 
throzyten,  Bacterium  coli  in  Reinkultur. 

Zystoskopie:  Die  linke  Uretermündung  springt 
—  tumorartig  geschwellt  —  in  der  Form  einer  eie-  | 
vierten  M  am  ill  a  ins  Blasenlumen  vor.  Die  Schwel¬ 
lung  ist  nicht  durchscheinend,  Kontraktionen  der 
Uretermündung  und  Harnausscheidung  nicht  zu 
sehen,  auch  nicht  nach  Indigo.  Rechter  Ureter  und  Blase  normal,  i 

Röntgenuntersuchung:  An  der  Mündungsstelle  des 
linken  Ureters  ein  in  Form  und  Größe  der  Abbildung  entspre¬ 
chender  Konkrementschatten. 

Operation  am  9.  Februar  (Prof.  Zuckerkandl):  Der 
Ureter  auf  Fingerdicke  erweitert,  in  Fettgewebe  gehüllt,  ln  seinem 
Beckenanteil,  etwa  einen  Zentimeter  vor  der  Einmündungsstelle 
in  die  Blase  das  Konkrement  fühlbar,  das  leicht  nach  oben  dis¬ 
loziert  wird.  Uebliche  Wundversorgung,  glatter  Verlauf,  Heilung 
per  primam. 

Eine  am  2.  März  vorgenommene  Zystoskopie  zeigt  die  Ver¬ 
änderungen  der  linken  Uretermündung  noch  persistierend.  Der 
Harn  ist  leicht  getrübt,  enthält  massenhaft  Kolibazillen.  Pa¬ 
tientin  ist  vollkommen  beschwerdefrei.  ■ 

E p  i k  r  i s  e :  Die  ersten  klinisch  markanten  Sym¬ 
ptomewaren,  wie  im  Falle  VI,  die  der  Retention  und 
Infektion  des  Harnleiters  und  Nierenbeckens  (Zysto- 
Ureter  o  - Pyeli t  i s),  deren  spontanes  Abklingen  nach 
Entfernung  des  Hindernisses  zu  erwarten  ist.  Auch 
hier  vom  Ureter  gegen  die  Niere  aus  s  tr  ah  1  ende 
Schmerzen  (ur etero-r enaler  Reflex).  Tumorartiger 
Prolaps  der  Ureterschleimhaut  bei  relativ  hoch¬ 
sitzendem  S  t  e  i  n. 

Fall  VIII.  A.  E.,  28jährige  Frau.  3.  Februar  1909  bis  15.  März 
1909.  Operation  am  16.  Februar  1909. 

Vor  sechs  Jahren  Sturz  von  einem  Sessel  auf  die  Lenden¬ 
gegend,  nachher  durch  einige  Tage  blutiger  Urin.  Seit  dieser  Zeit 
bisweilen  schmerzhafter  Harndrang  und  Krämpfe  in  der  Unter¬ 
bauchgegend.  Operation  einer  Retroflexio  uteri  bleibt 
ohne  Einfluß  auf  die  Beschwerden.  Seit  zwei  Monaten  gehäufte 
Schmerzanfälle,  die  als  Koliken  in  der  rechten  Unter- 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


275 


bauchgegend  beginnen  und  nach  der  rechten  Lenden¬ 
gegend  ausstrahlen,  dabei  Erbrechen.  Bisweilen  blutige 
Flocken  im  Harn.  Steigerung  der  Beschwerden  nach  körperlicher 

Bewegung. 

Status  praesens  verzeichnet  Druckempfindlichkeit  der 
beiden  Nierengegenden,  sonst  normaler  Befund. 

Harn:  Rötlichgelb,  trübe,  1-026,  sauer. 

Albuinen  in  Spuren. 

Sediment:  Zahlreiche,  gut  erhaltene  Leukozyten,  zahl¬ 
reiche  frische  und  ausgelaugte  Erythrozyten.  Die  klinische  Dia¬ 
gnose  lautete  auf  Konkrement  in  den  oberen  Hamwegen. 

Röntgenuntersuchung  (Dr.  Robins  ohn)  am  5.  Fe¬ 
bruar:  In  der  rechten  Spinagegend  projizieren  sich  zwei  Schatten, 
von  denen  der  eine  sicher  ein  Beckenfleck  ist,  der  andere  nicht 
mit  Sicherheit  als  Konkrement  angesprochen  werden  kann.  Es 
wurde  daher  am  7.  Februar  ein  mit  Mandrin  armierter  Katheter 
Nr.  8  in  dem  rechtem  Ureter  eingeführt;  derselbe  bleibt  jedoch 
in  einer  Höhe  von  ca.  5  cm  stecken.  Ein  Katheter  Nr.  6  läßt 
sich  nach  Ueberwindung  eines  geringen  Widerstandes  hoch  hinauf 
führen. 

Die  hierauf  vorgenommene  Röntg  en  o  g  rap  h  i  e 
zeigt  den  deutlich  sichtbaren,  bis  ins  Nierenbecken 
geführten  Mandrin  und  neben  diesem  in  der  Höhe 
der  Synchondrosis  sacroiliaca  den  Schattenriß  des 
bei  der  ersten  Aufnahme  nicht,  sicher  erkennbaren 
Konkrementes,  das  durch  die  Manipulation  mit  dem 
Katheter  um  einiges  gehoben  und  in  seiner  Lage  ver¬ 
ändert  wurde,  so  daß  die  früher  nach  a b w ä r t s  gerich¬ 
tete  Spitze  nun  nach  aufwärts  zeigt. 

Operation  (Prof.  Zuckerkandl)  am  16.  Februar:  Die 
Freilegung  des  in  seiner  Wand  ein  wenig  verdickten,  in  seinem 
Lumen  erweiterten  Ureters  erfolgt  in  der  typischen  Weise.  Er  wird 
von  der  Wunde  aus  in  seinem  ganzen  Verlauf  bis  zur  Blase  ab¬ 
getastet,  jedoch  läßt  sich  nirgends  ein  Konkrement  palpieren. 
Erst  nachdem  ein  Assistent  von  der  Vagina  aus  den  Blasen¬ 
boden  näher  ins  Wundbereich  hebt,  kann  das  im  juxtavesikalen 
Abschnitte  des  Ureters,  knapp  vor  der  Blase  sitzende  Konkrement 
nach  oben  verschoben  werden.  3  cm  lange  Längsinzision  auf 
den  Stein,  Extraktion  des  Steines,  einschichtige  Naht  des  Ure¬ 
ters  mit  feinsten  Katgutknopfnähten.  liebliche  Versorgung  der 
Wunde.  Nach  glattem,  nur  durch  eine  Bronchitis  gestörtem  Ver¬ 
lauf  wird  Patientin  am  12.  März  beschwerdefrei  mit  völlig  klarem 
Harn  entlassen. 

Der  Fall  lehrt  die-  Notwendigkeit  wiederholter 
Röntgenuntersuchungen  bei  unklarem  Befund.  Er 
zeigt  die  größeren  technischen  Schwierigkeiten  der 
Operation  bei  sehr  tief  sitzenden  und  kleinen  Stei- 
nien.  Die  durch  das  Konkrement  bedingte  Uretero- 
pyelitis  heilt  nach  der  Operation  spontan  aus.  Die 
S c h m e r z  a n f ä  1 1  e  strahlen  von  der  Unterbauchgegend 
gegen  die  Lende  aus:. 

Fall  IX.  St.  W.,  50  jähriger  Buchhalter.  8.  Januar  1909. 

Patient  war  bis  vor  siebein  Wochen  vollständig  gesund. 
Am  25.  September  1908  erkrankte  er  auf  einer  Reise  plötzlich 
mit  Schüttelfrost,  hohem  Fieber,  Appetitlosigkeit  und  starkem 
Durstgefühl.  Er  hatte  Schmerzen  im  ganzen  Bauch,  namentlich  in 
der  linken  Seite,  mußte  in  halbstündigen  Pausen  urinieren,  der 
Harn  war  trübe  und  blutig.  Nach  Wien  zurückgekehrt,  wurde 
er  mit  Verweilkatheter  und  Blasenspülungen  behandelt,  bis  die 
anfangs  sehr  geringe  Kapazität  der  Blase  sich  bessert  und  Ende 
Dezember  eine  Zystoskopie  ermöglichte.  Dieselbe  zeigt,  eine  dif¬ 
fuse  subakute  Zystitis  und  einen  bohnengroßen,  in  der  Gegend 
der  nicht  sichtbaren  linken  Ureterenmündung  vorspringenden  so¬ 
liden  Tumor. 

Am  8.  Januar  1909  erfolgt  die  Aufnahme  des  Patienten  ins 

Rothschild-Spital. 

Status  praesens:  Mittelgroßer,  schwächlicher  Mann. 
Lungenbefund  normal,  Temperatur  37-9°.  Zunge  trocken.  Abdomen 
im  Niveau  des  Thorax,  Bauchdecken  gespannt,  Nieren  palpabel, 
Lendengegend  beiderseits  druckempfindlich,  nirgends  eine  Resi¬ 
stenz  nachweisbar. 

Harnbefund:  1-007,  diffus1  getrübt,  hellgelb,  sauer.  Al¬ 
bumen  positiv,  im  Sedimente  massenhaft  einzeln  liegende  Leuko¬ 
zyten.  wenige  Blasenepithelien  und  Tripelphosphatkristalle. 

Ophthalmoreaktion:  negativ. 

Am  11.  Januar  wurde  die  Zystoskopie  wiederholt.  Von 
einem  gegen  die  Blase  vorspringenden  Tumor  ist  nichts  zu  sehen, 
der  linke  Ureter  ist  von  ödematös-zapfigen  Exkreszenzen  um¬ 
geben,  sein  Lumen  weit  klaffend,  zeigt  keine  Kontraktionen.  Der 
rechte  Ureter  normal,  schlitzförmig. 

Da  die  Sondierung  des  linken  Ureters  nicht  gelingt,  der 


Katheter  nur  etwa  lern  sich  vorschieben  läßt,  wird  ein  Lu ys scher 
Separator  eingeführt. 

H  a  r  n  b  e  f  u  n  d : 


R. 

sauer 

goldgelb,  klar 

6-24'Voo 

8'Voo 

äußerste  Spuren 

einige  Erythrozyten  und 
Epithelien 

nach  10  Minuten  positiv 


Reaktion 

Farbe 

Chloride 

Harnstoff 

Albumen 

Sediment 


Indigokarmin 


L. 


neutral 

grünlichgelb,  dicht  getrübt 

4%o 

2°/ 

^  loo 

deutlich  +,  über  01°/00 
massenhaft  Eiterzellen, 
isoliert  und  in  dichten 
Pfropfen 

nach  25  Minuten  keine 
Blaufärbung 


Durch  Miese  Untersuchung  schien  der  Fall  aufgeklärt.  -Die 
Diagnose  lautete: 

Linkseitige  Eiterniere  und  Ureteritis,  rechte 
Niere  geringe  toxische  Albuminurie,  doch  normale  Funktion. 

Unaufgeklärt  blieb  nur  die  Ursache  der  hochgradigen  Urete¬ 
ritis,  da.  eine  tuberkulöse  Pyonephrose,  bei  der  sie  beobachtet 
wird,  nach  dem  Ausfall  der  Ophthalmoreaktion  und  der  Sediment¬ 
färbungen  ausgeschlossen  wurde.  Aus  diesem  Grunde  wurde  noch 
die  Röntgenuntersuchung  angeschlossen;  diese  ergab  zwei 
etwa  trapezförmige  Steinschattenrisse  im  untersten 
Abschnitt  des  Ureters. 

Operation  am  16.  Januar  (Prof.  Zuckerkandl):  Großer, 
bogenförmiger  Hautschnitt  an  der  Spina  anterior  superior  begin¬ 
nend,  dann  parallel  dem  Ligamentum  Pouparti.  Schichtenweise 
Durchtrennung  der  Bauchdecken  bis  ans  Peritoneum.  Stumpfe 
Abdrängung  desselben,  bis  die  Vasa  iliaca  bloßliegen.  Nunmehr 
sieht  man  den  fast  auf  D  ick  dar  m  breite  erweiterten,  in  seiner 
Wand  stark  verdickten  Ureter,  in  dessen  unterster  Partie  man  die 
Steine  tastet. 

Der  Ureter  wird  stumpf  aus  seinem  Bette  gehoben,  hierauf 
zwischen  zwei  Pinzetten  längsinzidiert,  wobei  sich  eine  große 
Menge  stark  eitrig  getrübten  Harnes  entleert.  Hierauf  werden  mit¬ 
tels  Steinzange  die  zwei  in  Form  und  Größe  genau  dem  Röntgen¬ 
bilde  entsprechende  Steine  entbunden.  Die  Ureterwunde  wird 
vollständig  durch  Naht  geschlossen,  ein  Drainrohr  und  ein  Gaze¬ 
streifen  a:n  die  Nahtstelle. 

22.  Januar:  Kürzung  des  Streifens.  Reichliche  Sekretion 
aus1  der  Wunde. 

23.  Januar:  Nähte  und  Streifen  entfernt. 

25.  Januar:  Aus  der  Wunde  entleert  sich  reichlich  getrübter 

Harn. 

Bisher  war  die  Temperatur  normal,  von  nun  ab  abendliche 
Temperatursteigerungen  (38-5°  Maximum.)  bis  zum  13.  Februar. 

In  der  Nacht  vom  12.  bis  13.  mehrmals  heftiges  Erbrechen. 
Spontane  Harnmenge  in  dieser  Zeit  kaum  10  cm3.  Es  wird  ein 
stärkeres  Drainrohr  in  die  Wunde  geleitet,  aus  dem  sich  im 
Strahle  ca.  50  cm3  Harfn  entleeren,  dem  einige  Tropfen  dicken 
Eiters  folgen.  Spontanharn  in  normaler  Menge.  Aus  der  be¬ 
stehenden  Ureterenfistel  wird  von  nun  ab  der  gesamte  Harn  der 
linken  Niere  geleitet. 

Entfernte  man  das  Drainrohr,  so  bekam  Pat.  Schmerzen 
in  der  Uretergegend.  Er  wurde  bei  dreimal  wöchentlichem  Wechsel 
des  Drainrohres  bis  zum  1.  Mai  im  Spitale  belassen  und  dann 
mit  einem  Harnre'zipienten  und  drainierter  Ureterenfistel  entlassen. 

LTnter  weiterer  ambulatorischer  Behandlung  konnte  das 
Drainrohr  gegen  immer  dünnere  gewechselt  werden,  bis  sich  Ende 
Juni  die  Fistel  vollständig  schloß.  Der  Harn  klärte  sich  all¬ 
mählich;  heute  ist  Pat.  völlig  beschwerdefrei.  Eine  am  2.  No¬ 
vember  vorgenommene  Zystoskopie  zeigte  den  an¬ 
fangs  gesehenen  tum  or  artigen  Prolaps  der  Schleim¬ 
haut  des  linken  Ureters  noch  persistierend. 

E p  i k  r i s  e :  Der  Fall  ist  in  mehrfacher  Hinsicht 
interessant  und  ve1  r dient,  eine  e i  n g e h e n d  e re  Besnre 
chung.  Der  Kranke  bot  niemals  Erscheinungen  dar, 
die  auf  eine  Konkrementbildung  in  den  Harnwegen 
schließen  ließen.  Die  Erkrankung  beginnt  vielmehr 
plötzlich  unter  den  Symptomen  der  Okklusion  einer 
Eiterniere.  Dieser  Befund,  zusammengehalten  mit 
der  eigentümlichen  Form  der  stark  abgeschliffenen, 
in  der  divertikelartigen  Aussackung  des  intramura¬ 
len  Ureterenabschnittes  liegenden  Steine,,  lassen 
vielleicht  die  Deutung  zu,  daß  es  sich  um  nrimär'e 
Steinbildung  im  Ureter  mit  konsekutiver  Hydro-Pyo- 
nephrose  handeln  könnte.  Bei  der  außergewöhn¬ 
lichen  Schädigung,  die  den  Ureter  und  die  Niere  in 
diesem  Falle  betraf,  kann  es  weiter  nicht  wundej- 
n  eh  men,  daß  eine  Ureterenfistel  durch  lange  Zeit 


276 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


bestehen  blieb,  die  sich  schließlich  spontan  und  voll¬ 
ständig  schloß.  Sehr  bemerkenswert  ist  endlich  die 
beträchtliche  F u n k t i on s'bes seru ng  der  k rank e n N i c r e 
nach  Entfernung  des  lokalen  Hindernisses.  Es  be¬ 
stand  die  Befürchtung,  daß  es  schließlich  doch  zur 
Entfernung  der  kranken  Niere  werde  kommen  müs¬ 
sen;  derzeit  ist  der  Kranke  vollständig  beschwerde- 
frei  und  keine  Indikation  z  u  r  N  ep  h  r  ek  t  o  m  i  e  g  e  g  e  b  e  n . 


X. 


XI H 


XIV. 


Fall  X.  R.  R.,  20jährige  Frau.  6.  August  bis  29.  Septem¬ 
ber  1908. 

Seit  dem  achten  Lebensjahre  krampfartige,  von  der  linken 
Unterbauchgegend  ins  Kreuz  ausstrahlende  Schmerzen.  Nie  Mik¬ 
tionsbeschwerden,  nie  Hämaturie.  Im  Anfalle  heftiges  Erbrechen 
und  Kopfschmerzen.  Bisher  als  magenkrank  behandelt.  Vor  einem 
halben  Jahre  in  Kairo  unter  der  Diagnose  Nephrolithiasis,  an¬ 
geblich  wurde  nicht  röntgenisiert,  Bloßlegung  der  linken  Niere. 
Doch  wurde  kein  Stein  gefunden. 

Seither  starke  Zunahme  der  Beschwerden,  Miktionspausen 
wesentlich  kürzet. 

Harn:  1-020,  trübe,  schwach  sauer.  Im  Sediment  massenhaft 
Leukozyten,  einzelne  Erythrozyten. 

Zystoskopie  und  Tjreterkatheterismüs:  Blase  und 
rechte  Ureterenmündung  normal,  linke  in  geröteter  Umgebung. 
Ureterenkatheter  stößt  links  nach  4  cm  auf  ein  Hindernis!.  Niere 
rechts  normal,  links  starke  Funktionsschädigung. 

Röntgenuntersuchung:  Einwandfreier  Befund  eines 
olivengroßen  und  -förmigen  Steines  an  der  Stelle  des  Hindernisses. 

6.  August  :  Typische  Operation  (Prof.  Zuck  erk an d l) :  Ureter 
auf  Daumendicke  erweitert,  Stein  leicht  zu  tasten  und  zu  extra¬ 
hieren.  Heilung  per  -primam. 

Fall  XI.  E.  II.,  34jährige  Frau.  23.  Oktober  1909. 

Seit  fünf  Jahren  Schmerzen  in  der  Blasengegend,  nament¬ 
lich  bei  Bewegungen.  Der  Harn  ist  trüb,  keine  Hämaturie,  zwei¬ 
stündige  Miktionspausen.  Seit  zwei  Monaten  heftige  Schmerz¬ 
attacken  in  der  linken  Nierengegend,  einmal  Fieber  und  Hämaturie. 
In  der  letzten  Zeit  Anfälle  fast  täglich,  oft  mit  Fieber  und  Er¬ 
brechen. 

Harn:  1-011,  bei  1200  cm3  24stündiger  Harnmenge,  sauer, 
goldgelb,  getrübt. 

Sediment:  Leukozyten,  Erythrozyten,  Eiterpfropfe  und 
Blasenepithelien. 

Zystoskopie:  Blase  und  Ureterenmündung  normal. 

Die  Nierenfunktionsprüfung  ergibt: 

Rechte  Niere  normal,  links  außerordentlich  diluierter,  in 
ununterbrochener  Tropfenfolge,  bei  Druck  auf  die  Niere  rascher 
ausströmender  Harn  von  1-002  sp.  G. ;  sehr  geringer  Harnstoff¬ 
und  Chloridgehalt. 

Röntgenuntersuchung:  Dieselbe  zeigt  in  wiederholten 
Aufnahmen  an  drei  aufeinanderfolgenden  Tagen  den  Deszensus 
von  vier  gut  kirschgroßen  Konkrementen  in  das  Endstück  des 
Ureters.  (Siehe  Skizze.) 

Operation:  Typische  Ureterolithotomie.  Konkremente 
leicht  tastbar.  Ureter  auf  Daumendicke  erweitert.  Heilung 
per  primam. 

Spezifisches  Gewicht  des  Harnes  schon  am  9.  November 
auf  1-016.  Hamstoffgehalt  auf  ll-5%o,  Chloridgehalt  auf  9-2°/oo 
gestiegein. 

Epikrise:  II  refer  dilatation,  Hy  dronephrose. 

Während  nach  dem  ersten  Röntgenbefunde  drei 
Steine  im  obersten  Drittel  und  einer  im  Beckenteile 
des  Ureters  saßen,  somit  eine  Freilegung  des  ganzen 
Ureters  zur  Entfernung  der  Steine  notwendig  ge¬ 
wesen  ’wäre,  konnte  durch  das  Zuwarten  der  Deszen- 


Fig.  5.  Fig.  6. 

Ureterenkatheter  mit  Mandrin. 


Fig.  7.  Fig.  8. 

Fig.  5,  6  u.  7.  Röntgenskizzen  zu  Fall  XI.  Abwärtswandern  von  Ketten¬ 
steinen.  Operation  bei  Stellung  der  Steine  wie  in  Fig.  7. 

Fig.  8.  Röntgenskizze  zu  Fall  XII.  a)  Stellung  des  Steines  am  28.  Ok¬ 
tober;  b)  zur  Zeit  der  Operation  am  16.  Dezember  (günstigere  Position). 

sus  sämtlicher  Steine  in  den  untersten  Ureter¬ 
abschnitt  festgestellt  und  hiedurch  der  operative 
Eingriff  wesentlich  vereinfacht  werden. 

Fall  XU.  ,1.  G.,  öOjähriger  Mann. 

Der  Patient  kam  zum  erstenmal  im  Jahre  1907  wegen  ty¬ 
pischer  renaler  Koliken  ohne  Hämaturie  und  ohne  Miktions- 
stö  rangen  zur  Untersuchung,  die  seit  seinem  zehnten  Lebens¬ 
jahre  bestanden  und  in  letzter  Zeit  an  Intensität  so  Zunahmen,  daß 
sie  nur  durch  hochdosierte  Morphiuminjektionen  bekämpft  werden 
konnten.  Als  Ursache  dieser  Koliken  wurde  ein  maulbeerförmiger 
Oxalatstein  der  linken  Niere  röntgenologisch  nachgewiesen,  ln 
die  vorgeschlagene  Operation  willigte  Patient  erst  zwei  Jahre 
später  ein,  nachdem  die  Intervalle  zwischen  den  Koliken  immer 
kürzer  wurden.  Am  24.  Juni  1909  wurde  nach  Wiederholung 
des  Röntgenogramms  die  linke  Niere  bloßgelegt  (Prof.  Zucker- 
k  an  dl).  Sie  erschien  etwas  atrophisch,  ihr  Parenchymmantel 
verdünnt.  Das  Konkrement  (siehe  XII  a)  ist  in  der  Mitte  der 
Konvexität  deutlich  zu  tasten  und  wird  aus  einer  3  cm  langen 
Nephrotomiewunde  leicht  entbunden. 

Er  fühlte  sich  nun  durch  fünf  bis  sechs  Wochen  vollkommen 
wohl,  dann  stellten  sich  Schmerzen  in  der  linken  Unterbauch¬ 
gegend  ein,  nicht,  so  intensiv  wie  die  vor  der  Nephrolithotomie, 
sondern  gleichmäßig  anhaltend,  nur  zeitweise  exazerbierend.  Auch 
mußte  er  häufiger  urinieren. 

Der  Harn  blieb  dauernd  klarmnd  enthielt  im  Sedimente  nur 
wenige  Leukozyten  und  Erythrozyten.  Entsprechend  dem  Opera- 
tionsbefunde  wurde  an  eine  intermittierende  Hydronephrose  ge¬ 
dacht,  und  in  der  Absicht,  eine  Pyelographie  auszuführen,  der 
linke  Ureter  sondiert.  Die  Blase  zeigte  sich  hiebei  normal,  beide 
Ureteren  punktförmig.  Der  Ureterkatheter  läßt  sich  links  nur  etwa 
2  cm  hoch  einführen  und  stößt  dann  auf  ein  Hindernis. 

27.  Oktober.  Die  nunmehr  vorgenommenen  Beckenaufnahmen 
zeigen  ein  dattelkerngroßes  Konkrement  an  der  Mündungsstelle 
des  linken  Ureters.  Wenige  Stunden  nach  der  Unter¬ 
suchung  fällt  dem  Patientein  eine  wesentliche  Ab- 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


277 


nähme  seiner  B  e  s  c  h  av  e  r  d  e  n  auf,  gleichzeitig  merkt 
er  eine  Trübung  des  bis  dahin  klaren  Harnes.  Durch 
mehrere  Tage  entleerte  er  dicht  getrübten,  im  Spitzgla.se  in  zen¬ 
timeterhoher  Schichte  Eiter  absetzenden  Harn.  Die  am  HI.  De¬ 
zember  wiederholte  Aufnahme  zeigt,  daß  das  Konkrement  um 
gut  3cm  höher  sitzt  als  am  27.  Oktober.  (Fig.  8.) 

Operation  am  21.  Dezember  (Prof.  Zuckerkandl):  Der 
Dieter  auf  Daumendicke  erweitert,  in  schwartiges  Gewebe  einge¬ 
bettet.  Das  Konkrement  in  der  Höhe  der  Linea  innominata  tast¬ 
bar.  3  cm  lange  Inzision  auf  den  Stein.  Naht  des  Ureters  in 
zwei  Schichten.  Uebliche  Wundversorgung,  Heilung  per  nrimam. 

Am  G.  Januar  geheilt  entlassen.  Patient  ist  seither  voll¬ 
ständig  beschwerdefrei,  der  Harn  dauernd  klar. 

Epikrise:  Der  Fall  war  der  einzige,  bei  dem  von 
dem  Grund  satz,  stets  be  i  deN  i  eren  und  Ur  eieren  fei  der 
a b z u s u c he n,  a b g e w i c h e n  w u r d e.  S  o  wurde  d e r  TJ r e t e r- 
stein  überseh  en  u  n  d  zav  ang  z  u  ei  ne  m  zweiten  Eingriff 
nach  der  Nephrolitotomie.  Das  Konkrement  zeigt 
bei  zwei  verschiedenen  Aufnahmen  im  Intervall  von 
sechs  Wochen  eine  nicht  unbedeutende  Lagever¬ 
änderung.  Es  ist  bei  der  ersten  Aufnahme  knapp  an 
der  Einmündungsstelle  des  Ureters  gelegen,  bei  der 
zweiten  j  u  xtavesikal  um  etwa  3cm  nach  oben  verscho¬ 
ben:  das  sag  t,  der  Ureter  ist  dil'atiert,  eine  spontane 
Ausstoßung  des  Kr onkremen tes  nicht,  zu  erwarten. 
Durch  di e  Vers ch iebu  ng  des K onk  rem entes1  wi  rd  off  en- 
bar  ein  bestehender  Verschluß  des  Ureters  behoben, 
so  stellt  sich  eine  sch  were  Pyu  rie  ein.  Die  Funktions¬ 
störung  der  linken  Niere,  deren  Sc h ä d i g  u n g  scho n 
beim  ersten  Eingriff  verzeichnet  wurde,  schwindet 
nach  Entfernung  des  Hindernisses  rasch  (siehe  Fäll  IX 
und  XI). 

Fall  XIII.  39jähriger  Lehrer.  14.  Mai  bis  2.  Juni  1910. 

Bis1  vor  vier  Jahren  vollständig  gesund.  Damals  traten  kolik¬ 
artige  gegen  die  Blase  ausstrahlende  Schmerzen  in  der  linken 
Lendengegend  auf.  Später  heftiger  Harndrang  und  Unterbrechung 
des  Strahles.  Blasenuntersuchung  ergibt  einen  Blasenstein,  der 
1906  in  Czemowitz  durch  Sectio  alta  entfernt  wurde.  Die  Ko¬ 
liken  in  der  linken  Lendengegond  bestehen  fort,  vor  vier  Monaten 
besonders  heftige  mehrtägige  iSchmerzanfälle,  trüber  Ham  mit 
weißlich  sandigem  Bodensatz.  Derzeit  anhaltend  Schmerzen  in 
der  Nierengegend,  oft  Schluchzen  und  Brechreiz.  Harnpausen 
normal,  Miktion  schmerzfrei. 

Status  praesens:  Herz,  Lungen  normal.  Unter  dem 
linken  Rippenbogen  die  Niere  als  mannsfaustgroßer,  derbhöckiger, 
ballotierender  Tumor  zu  tasten. 

Harnbefund:  1400  bis  1800  cm3,  1-015,  getrübt.  Albumen 
über  V2°/oo.  Sediment:  sehr  zahlreiche  Leukozyten,  wenige  Ery¬ 
throzyten,  Bakterien. 

Zystoskopie:  Normale  Blase  mit  normalen  Ureteren- 

mündungen. 

Beim  Ureterenkatheterismus  bleibt  der  Katheter  in  etwa 
10  cm  Höhe  stecken,  alsbald  entleert  sich  aus  dem  Katheter 
trüber,  jauchiger  Eiter. 

Röntgenuntersuchung:  Dattelkernförmiger  Stein- 

sch atlen  im  Beckenteil  des  linken  Ureters. 

Operation  am  21.  Mai  (Prof.  Zuckerkandl):  Typi¬ 
scher  Schnitt  zur  Freilegung  des  linken  Ureters.  Dieser  auf  Finger¬ 
dicke  erweitert,  sofort  leicht  einstellbar.  Das  Konkrement  in  der 
Höhe  der  Synchondrosis  durch  2  cm  langen  Schnitt,  aus  dem 
sich  reichlich  trüber  eitriger  Harn  entleerte,  entfernt..  Jodoform¬ 
streifen,  komplette  Schichtennaht. 

Nach  vollkommen  normalem  Wundverlauf  am  2.  Juni  ge¬ 
heilt  entlassen. 

E p i k  r i s e :  Auch  hier  schwere  Schädigung  der 
linken  Ni  ere  durch  den  Stein.  Nach  den  Erfahrungen 
bei  anderen  Fällen  dürfte  sich  diese  vollständig 

rii  ckbil  den. 

B  e  m  e  r  k  e  n  s  av  e  r  t  ist  der  vollständig  normale  Be¬ 
fund  an  beiden  Ureterpapillen  trotz  schwerer  Ure¬ 
teritis  und  Stein  auf  der  linken  Seite. 

Fall  XIV.  S.  Sch.,  24jähriger  Kommis.  10.  September  bis 
27.  September  1910. 

Angeblich  im  dritten  und  neunten  Lebensjahr  Blut  irri  Harn. 
Später  Schmerzen  in  Blase  und  Harnröhre,  bei  Wagenfahrten 
auch  in  der  rechten  Lende.  Zuletzt  auf  interner  Klinik  auswärts 
als  orthostatische  Albuminurie  behandelt. 

Harn:  1500  cm3  leicht  getrübt,  goldgelb. 

Sediment:  Ziemlich  reichliche  frische  Erythrozyten,  ein¬ 
zelne  Leukozyten. 

Albumen:  Dem  Blutgehalt  entsprechend  in  Spuren. 


Zystoskopie:  Normale  Blase.  Rechter  Ureter  punktförmig, 
linker  Ureter  etwas  weiter,  von  einer  Gruppe  transparenter,  stark 
über  das  Niveau  prominie, render  Zystchen  umgeben, 

Röntgenuntersuchung:  Deutlicher  kirschgroßer  Schat¬ 
ten  links  im  Blasenfeld. 

Operation  am  13.  September  (Prof.  Zuckerkandl):  Ty¬ 
pische  Operation.  Ureter  auf  Dünndarmbreite  erweitert.  Der 
Stein,  dicht,  oberhalb  der  Einmündung  des  Ureters  in  die  Blase 
palpabel,  wird  nach  oben  gedrängt  und  schlüpft  leicht  aus  der 
zirka  3  cm  langen  Inzisionswunde. 

Vollständige  Naht  des  Wundbettes  bis  auf  Gazestreifen. 

27.  September.  Geheilt  entlassen. 

Epikrise:  Mikroskopische  Hämaturie,  deutliche 
Veränderungen  an  der  Uretermündung,  die  im  Ver¬ 
eine  mit  den  klinischen  Symptomen  die  Diagnose 
noch  vor  der  Röntgenaufnahme  ermöglichte.  Starke 
Erweiterung  des  Ureters. 


XVI  b.  XVI  a.  XV. 


Fall  XV.  M.  F.,  58jährige  Frau. 

Seit  zwei  Jahren  kolikartige  Schmerzen  in  der  linken  Lenden¬ 
gegend  mit  Erbrechen  und  Fieber.  Während  der  Anfälle  meist 
trüb  blutiger  Harn. 

Status  praesens:  Ziemlich  gealterte  Frau.  Enteroptose. 
Linke  Niere  fast  in  toto  tastbar. 

Harn:  1-014  hellgrünlichgelb,  leicht  getrübt.  Albumen  in 
Spuren.  Im  Sediment  massenhaft  Leukozyten  und  einzelne  Ery¬ 
throzyten. 

Röntgenuntersuchung:  Sehr  tief,  anscheinend  un¬ 
mittelbar  vor  der  Blase  gelagertes  Ureterenkonkrement. 

Zystoskopie:  Rechter  Ureter  normal,  linker  Ureter  etwas 
geschwellt,  in  entzündlich  veränderter  Umgebung. 

Operation  am  5.  November  (Prof.  Zuckerkandl):  Ty¬ 
pischer  Schnitt.  Das  außerordentlich  zarte  Peritoneum  reißt  beim 
Abheben  an  einer  Stelle  ein.  Naht.  Der  Ureter  ist  wenig  dilatiert, 
seine  Wand  verdickt,  mit  der  Umgebung  stark  verwachsen;  er 
kann  nicht,  ohne  Eröffnung  des  Peritoneums  isoliert  werden. 
Intraperitoneal  tastet  man  den  Stein,  der  mit  großer  Mühe  unter 
Assistenz  von  der  Scheide  aus,  aus  seiner  intramuralen  Lage¬ 
rung  soweit  nach  oben  disloziert  Averden  kann,  daß  er  durch 
den  1  cm  langen  Ureterschnitt  entfernt  wird. 

Aus  der  Ureterwunde  entleert  sich  reichlich  trüber  eitriger 

Harn. 

Bis  26.  November  besteht  eine  Fistel  des  linken  Ureters, 
aus  der  reichlich  Harn  sezemiert. 

27.  NoArember  Fieber.  Einlegen  eines  Ureterenkatheters  ins 
linke  Nierenbecken  ä  demeure  von  der  Blase  aus. 

2.  Dezember.  Fistel  geschlossen.  Geheilt  entlassen. 

Epikrise:  Py onephrotisch  schwer  geschädigte 
Niere.  Die  Operation  war  die  technisch  schAvierigste 
der  Reihe  wegen  des  außerordentlich  tiefen  Sitzes 
des  Steines  (intramural!)  und  der  periureteritischen 
Veränderungen.  Nach  sechs  Wochen  (Befund  vom  11.  Januar) 
ist  der  Harn  vollständig  klar  geworden. 

Fall  XVI.  D.  D.,  23jährige  Frau.  8.  Juli  1909. 

Will  stets  gesund  gewesen  sein.  Erkrankte  erst  vor  zwei 
Jahren  an  Koliken  in  der  linken  Nierengegend.  Vor  einem  Jahr 
auch  heftige  rechtseitige  Koliken.  Seither  stets  trüber  Ham. 
Einmal  Abgang  eines  erbsengroßen  Sternchens. 

Harn:  24stündige  Menge  1800  cm3,  1-006  spezifisches 
Gewicht.  Chloride  3%<>,  Harnstoff  ölWoo,  Albumen:  0-3°/o. 

Sedimen  t:  Sehr  reichlich  Bacterium  coli.  Massenhaft  Leu¬ 
kozyten  einzeln  und  in  I Tröpfen,  amorphe  Phosphate. 


278 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


Zystoskopie:  Vollständig  normale  Blase,  normale  Ure- 
terenmündungen. 


Funktionelle  Untersuchung 


lichtgelb,  trüb 
schwach  alkalisch 
++  3»/00 

4°/oo  X 

3'0%o 

massenhaft  Eiter,  fettig 
degenerierte  Epithelien, 
Bakterien 

nach  25  Minuten  keine 
Reaktion 


Farbe 
Reaktion 
Albumen 
H  arnstoff 
Chloride 

Sediment 


Indigokarmin 


R. 


lichtgelb,  leicht  trübe 
schwach  alkalisch 


3°/o„ 

7'5»/oo 

6-6Voo 


Eiterpfropfen, 

Bakterienhaufen 


nach  12  Minuten  schwache 
Reaktion 


Röntgenuntersuchung  ergibt  im  linken  Nierenfeld  zwei 
etwa  erbsengroße  Konkrementschatten,  rechtes  Nieren-  und  Ureter¬ 
feld  frei. 

Diagnose:  Pyonephrosis  calculosa  sinistra,  Pyelonephritis 
gravis  dextra. 

17.  Juli.  Intrakapsuläre  Nephrotomie  der  linken,  stark  ge¬ 
schrumpften,  parenchymarmen  Niere.  Entfernung  sieben  kleiner 
Steinchen. 

Nach  Schluß  der  Fistel  wurde  Pat.  mit  Nierenbeckenspü¬ 
lungen  behandelt  und  schmerzfrei  mit  leicht  getrübtem,  funktionell 
gebessertem  Harne  in  ihre  Heimat  nach  Rußland  entlassen. 

Am  29.  Oktober  1910.  Wiederaufnahme. 

Patientin  hat  sich  nach  ihrer  Entlassung  einige  Monate  voll¬ 
kommen  wohl  und  arbeitsfähig  gefühlt.  Dann  Auftreten  heftiger 
Schmerzen,  die  von  der  Blase  gegen  die  rechte  Niere 
ausstrahlen.  Nie  Fieber. 

Die  Röntgenuntersuchung  ergibt  rechts  der  Verlaufs¬ 
richtung  des  Ureters  entsprechend  einen  zirka  7  cm  langen  spin- 
deligen  schwach  konturierten  Konkrementschatten. 

Zystoskopisch:  Diffuse  chronische  Zystitis,  rechte  Ureter- 
mündung  leicht  geschwellt.  Ureterkatheterismus  rechts  nur  auf 
1  cm  verschiebbar. 

29.  Oktober.  Typische  Operation  (Prof.  Zu  eher  kan  <ll). 
Ureter  auf  Dünndarmstärke  erweitert.  Leichte  Entfernung  des  ab¬ 
gebildeten  Konkrementes.  Drainage  des  Ureters  in  die  Blase  nach 
Albarran  mit  Ureterkatheter  Nr.  8. 

Dekursus:  Afebriler,  glatter  Verlauf.  Am  18.  November 
geheilt  entlassen. 

Epikrise:  Der  Fall  ist  der  zweite  unserer  Ureter¬ 
steine,  bei  dem  wir  an  Niere  und  Ureter  zu  operieren 
gezwungen  waren.  Doch  während  bei  Fall  XII  (Nephro- 
litotomie)  der  Stein  übersehen  wurde,  hatte  er  sich 
hier  in  der  kurzein  Zeit  von  14  Monaten  zu  der  an¬ 
sehnlichen  Größe  entwickelt.  Denn  zur  Zeit  der 
ersten  Operation  war  der  rechte  Ureter  für  die  Sonde 
bis  ins  Nierenbecken  passierbar,  das  Röntgenbild 
negativ. 

Es  handelte  sich  um  eine  schwere  progrediente 
K  o  1  i p y e  1  o n ep h r  i  t i s,  deren  Beginn  wahrscheinlich 
bis  in  dieKindheit  zurück  datiert  und  diev'ollko  m  m  e  n 
beschwerdelos  verlief.  Erst  die  Neigung  der  infi¬ 
zierten  Nieren  zur  sekundären  Phosphatsteinbil- 
durig  löste  d i e  B es c h w e r d e n  aus. 

Die  Drainage  des  operierten  Ureters  nach  Al¬ 
barran  bewährte  sich  in  diesem  Falle  gut. 

Die  mi  (geteilten  Krankengeschichten  zeigen  deutlich 
die  große  pathologische  Bedeutung  der  Ureterkonkremente 
als  Abflußhindemis.  In  dem  dünnwandigen  und  relativ 
UiUskel  sch  wachen  Rohr  kommt  es  rasch  zu  einer  Rück¬ 
stauung  des  Harnes,  die  sich  wieder  in  der  Dilatation  des 
Ureters  dokumentiert.  Bei  keinem  der  operierten 
Fälle  haben  wir  diese  Dilatation  vermißt.  Meist 
war  der  Ureter  auf  Kleinfingerdicke,  zweimal  auf  mehr 
als  Daum'endicke,  zweimal  bis  zum  Volumen  einer  mäßig 
gefüllten  Dickdarmschlinge  erweitert.  Inwieferne  im  ein¬ 
zelnen  Falle  durch  diese  Dilatation  bereits  das  Nierenbecken 
und  die  Niere  selbst  in  Mitleidenschaft  gezogen  war,  konnte, 
da  der  Eingriff  auf  den  untersten  Ureterabschnitt  sich  be¬ 
schränkte,  nicht  festgestellt  werden.  In  vier  Fällen  aber 
war  eine  intensive  Schädigung  der  Niere  bereits  sicher 
erfolgt.  So  im  Fälle  IX,  dessen  erste  klinische  Symptome 
die  einer  septischen  Pyelonephritis  waren,  bei  Fall  XII, 
der  eine  abundante  renale  Pyurie  der  durch  den  Ureterstein 
zeitweise  vollständig  abgeschlossenen  Seite  aufwies,  bei 
Fall  VII,  XI  und  XV  mit  schwerer  renaler  Pyurie. 


Wenn  irgend  etwas  klar  für  die  Notwendigkeit  und 
den  prompten  Effekt  der  Operation  zu  sprechen  vermag, 
so  ist  es  das  rasche  Abklingen  dieser  Erscheinungen  und 
die  Funktionsbesserung  der  früher  verschlossenen  Niere. 
Bei  Fall  IX  mußte  vor  und  längere  Zeit,  nach  dem  Eingriff 
an  die  Notwendigkeit  einer  Nephrektomie  gedacht  werden; 
heute  ist  der  Harn  bei  vollständigem  subjektiven  Wohl¬ 
befinden  bemsteinklar. 

Weitere  pathologische  Konsequenzen,  wie  periurete- 
ritische  Phlegmonen  usw.  konnten  wir  nicht  beobachten. 
Doch  sei  hier  auf  das  seltene  Leichenpräparat  hingewiesen, 
an  dem  ein  Ureterstein  bei  primärem  Karzinom  des  Ureters 
und  Hämatonephrose  sich  fand  (Paschkis,  v.  Werdt). 

Die  gefürChteitste,  wenn  auch  seltenste  Konsequenz  von 
Ureterensteinen,  die  Anurie  bei  doppelseitigem1  Ureterver¬ 
schluß  durch  Stein  oder  als  reflektorische  Anurie  bei  nur 
einseitigem  Verschluß  nimmt  diagnostisch,  röntgentech¬ 
nisch  und  operativ  eine  Sonderstellung  ein  und  gelangt 
hier  nicht  zur  Besprechung. 

Wenn  wir  die  raschen,  progressiven  Veränderungen, 
denen  die  Niere  durch  Verschluß  ihres  Ureters  ausgesetzt 
ist,  berücksichtigen,  müßte  man  ohne  weiteres  Israel  zu¬ 
stimmen,  der  schon  im  Jahre  1901  im  Vorhandensein  eines 
Uretersteines  eine  strikte  Indikation  zur  Operation  erblickt, 
da  ein  solcher  Zustand  mit  Retention  oder  Infektion 
der  Niere  ende. 

Eine  wesentliche  Einschränkung  erfährt  jedoch  diese 
strenge  Indikationsstellung  durch  die  keineswegs  seltene  ' 
Spontanausstoßung  des  Konkrementes.  Es  wäre  demnach 
zu  untersuchen,  unter  welchen  Bedingungen  eine  solche 
Spontanausstoßung  erwartet  werden  kann  und  wodurch  wir 
sie  befördern  können.  Die  Hauptarbeit  wird  naturgemäß 
bei  diesem  Vorgang  durch  die  Peristaltik  des  Ureters  ge¬ 
leistet,  der  das  Konkrement  vor  sich  herschiebt.  Sein  Weiter¬ 
rücken  wird  klinisch  meist  durch  Koliken  gekennzeichnet, 
der  Eintritt  des  Konkrementes  in  den  pelvinen  Teil  des 
Ureters,  wie  die  Krankengeschichten  lehren,  von  einer 
Verstärkung  der  vesikalen  Symptome  begleitet,  die  ihren 
Höhepunkt  bei  der  Lagerung  des  Konkrementes  im  intra- 
muralen  Ureterabschnitt  erreichen. 

Sitzt  der  Stein  durch  längere  Zeit  trotz  er¬ 
folgloser  Koliken  an  derselben  Stelle,  dann  ist 
eine  spontane  Ausstoßung  kaum  zu  erwarten  und  höchstens 
noch  ein  Versuch  mit  konservativen  Eingriffen  gestattet, 
wie  sie  in  sinnreicher  Weise  Jahr  in  Anwendung  brachte, 
der  durch  eine  Modifikation  des  Nitz  eschen  Okklusiv- 
katheters  die  Injektion  steriler  Gleitmittel  in  den  Ureter 
mit  einer  Dehnung  seiner  Wand  kombinierte. 

ZeigendieRöntgenuntersuchungenVerhält- 
n  i  ss  e,  wie  wir  sie  bei  Fall  VIII  und  XII  an  trafen,  um 
ihre  Achse  mobile,  im  Ureter  verschiebliche 
Steine,  so  läßt  dies  nur  den  Schluß  auf  eine  be¬ 
reits  erfolgte  Dilatation  des  Ureters  zu,  die 
naturgemäß  mit  einem  gewissen  Verlust  seiner 
per i staltischen  .  Aktionsfähigkeit  einihergeht 
und  zu  einer  raschen  operativen  Entfernung 
drängt. 

Wir  können  somit  sagen,  daß  nur  kleine,  glatt¬ 
wand  i  g  e  Steine  bei  nicht  dilatierte m  Ureter  Aus¬ 
sicht  auf  Spontanausstoßung  haben  und  unter 
regelmäßiger  Röntgenkontrolle  einige  Zeit  kon¬ 
servativ  zu  behandeln  sind. 

Daß  mit  der  Spontanausstoßung  des  Konkrementes 
in  die  Blase  noch  nicht  jede  Gefahr  überwunden  ist,  zeigt 
ein  Fall  unserer  Beobachtung,  bei  dem  wir  gezwungen 
waren,  ein  typisches  Ureterkonkrement,  das  sich  in  der 
Pars  membranacea  urethrae  einkeilte,  durch  externe  Ure- 
throtomie  zu  entfernen. 

Wenn  wir  unsere  15  Fälle  extraperitonealer  Uretero- 
lithotomie  mit  glatter,  fistelloser  Heilung,  der  Jeanbrau¬ 
schen  Zusammenstellung  anschließen  (60  Fälle  extraperi¬ 
tonealer  Ureterolithotomie  mit  einem  Todesfall),  so  ließe  sich 
in  toto  eine  Mortalität  von '1-35%  berechnen,  die  am1  den t • 


Nr.  8 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


liebsten  für  den  großen  Fortschritt  urologischer  Arbeit  aut 
einem  Gebiete  der  Chirurgie  spricht,  von  dem  noch  Schede 
im  Handbuch  Bergmann-Mikulicz  sagte:  „Die  Naht  des 
Ureters  in  der  Tiefe  ist  schwierig  und  die  prima  intenRo 
ohne  gleichzeitige  Ablenkung  des  Urins  durch  eine  Nieren¬ 
wunde  äußerst  unsicher.  Handelt  es  sich  aber  um  nicht 
aseptische  Zustände  der  befallenen  Nierenseite,  so  mjuß 
die  bloße  Ureterotomie  ohne  gleichzeitige  Spaltung  der  Niere 
als  fehlerhaft  und  unstatthaft  bezeichnet  werden.“ 

Literatur:*) 

Barden  heuer  und  Th  eien,  Zentralblatt  für  Chirurgie  1882, 
S.  185.  — _  Israel,  Chirurgische  Klinik  der  Nierenkrankheiten  1901, 
Kap.  11  u.  f. —  Fenwick,  Ureteric  meatoscopy  in  the  obscure  diseases 
of  the  Kidney  1903.  —  Frey  er,  Lancet  1903,  S.  583.  —  Tenney, 
Conclusions  basees  sur  134  cas  de  calculs  uröteraux  avec  trois  obser¬ 
vations.  Bost.  med.  and  surg.  1904,  S.  115  und  ebenda  1905,  S.  060.  — - 
Albarran,  Calculs  de  la  portion  pelvienne  de  Turötere.  Int.  med. 
Kongreß  in  Lissabon  1906.  —  Papp  a.  De  calculs  de  Turetbre.  These 
de  Paris,  Rousset  1907.  —  B 1  o  c  h,  Ureterenoperationen.  Folia  urologica 
1909,  S.  589.  —  Zuckerkand  1,  Zur  Diagnose  und  Operation  von 
Nierensteinen.  37.  Versammlung  der  deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie 
in  Berlin  1908;  Einige  seltene  Konkretionen  der  menschlichen  Harnwege. 
Wiener  klin.  Wochenschr.  1900,  S.  8  —  Schmilinski,  Headsche  Zonen 
und  Allergurie  hei  Ureterstein.  Aerztl.  Verein  Hamburg,  16.  April  1907. 
Ref.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  40.  —  Schlesinger. 
Differentialdiagnostik  zwischen  Nierenerkrankungen  und  Perityphlitis. 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1906,  Nr.  44.  —  Tuffier,  Etudes  experi¬ 
mentales  sur  la  Chirurgie  du  sein  1889.  -  Proust  und  I  n  f  r  o  i  t, 

Phlöbolithes  des  veines  periureteral  simulant  ä  la  radiographie  Texistence 
d'un  calcul  de  l’uretere.  Annal.  de  malad,  genit.-urin.  28.  Jahrg.,  H.  6, 
S.  548.  —  Goldammer,  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Röntgen- 
strahlen,  Bd.  12,  Nr.  5,  —  Albers-Schönberg,  Ib.,  Bd.  9,  S.  255.  — 
Reichmaiwi  Ib.,  Bd.  9,  S.  254.  Vö ekler,  lb.,  Bd.  13,  S.  394.  — 
v.  Wer  dt,  Verhandlungen  der  Gesellschaft  deutscher  Naturforscher  und 
Aerzte.  81.  Versammlung  in  Salzburg,  S.  31.  —  Paschkis,  Primärer 
Tumor  des  Harnleiters.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  10. 
Seelig,  Annal.  of  Surgery.  September  1908.  —  Frankel,  Röntgen¬ 
fortschritte,  Bd.  14,  S.  2. 


Die  Messung  der  Durchgängigkeit  der  Nase 
für  den  Luftstrom .**) 

Von  Prof.  Dr.  Gustav  Gaertner. 

Verschiedene  Methoden  wurden  vorgeschlagen,  um  die 
Luftdurchgängigkeit  der  Nase  zu  messen.  In  wirklicher  Ver¬ 
wendung  steht  aber  nur  die  von  Zwaar  de  maker  ange¬ 
gebene,  darauf  beruhend,  daß  man  den  Kranken  durch  die 
Nase  gegen  einen  Glas-  oder  Metalispiegel  exspirieren  läßt 
und  die  Größe  und  Symmetrie  der  entstehenden  Atemflecke 
prüft.  Es  bedarf  wohl  keines  Beweises,  daß  man  auf  diesem 
Wege  nur  sehr  unvollständige  Nachricht  über  die  Beschaffen¬ 
heit  der  Nase  erhalten  kann. 

Jüngst  hat  Zwaardemaker  selbst,  die  Wichtigkeit 
der  Angelegenheit  betonend,  eine  neue  Methode  publiziert. 
(Absolute  Messung  der  Luftdurchgängigkeit  der  Nase.  Zeit¬ 
schrift  für  Laryngologie,  Bd.  1,  H.  6.) 

Einie  7  tarn  weite  Nasenolive  wird  mittels  eines  weiten 
Schlauches  mit  einem  empfindlichen  Manometer,  eine  zweite 
mit  einem  Aerodromometer  armiert  und  diese  Oliven  in  die 
beiden  Nasenlöcher  eines  Menschen  eingeführt.  l)i<'  Ver¬ 
suchsperson  muß  so  atmen,  exspirieren  und  inspi¬ 
rieren,  daß  der  Zeiger  des  Aerodromoineters  auf 
einem  bestimmten  Teilstrich  stehen  bleibt.  Bas  Mano¬ 
meter  wird  abgelesen  und  aus  den  Angaben  der  beiden 
Instrumente  Schlüsse  auf  die  Durchgängigkeit  der  mit  dem 
Dromometer  armierten  Nase  gezogen.  Das  Verfahren  ist 
einwandfrei,  stellt  aber  große  Ansprüche  an  die  Intelli¬ 
genz  und  an  die  Innervation  der  Atmung  des  Unter¬ 
suchten.  Ich  fürchte,  daß  es  aus  diesem  Grunde  niemals 
zu  einer  gangbaren  klinischen  Methode  werden  wird.  Dies 
schon  aus  dem  Grunde  nicht,  weil  die  Mehrzahl  der  zu 
Untersuchenden  Kinder  sind,  die  die  Vorschrift  Zwaar- 
demakers  kaum  verstehen,  geschweige  denn  befolgen 
könnten. 

*)  Vollständiges  Literaturverzeichnis  bis  1909  bei  Jeanbrau,  Des 
calculs  de  l’urötere.  Rapport  prösentö  a  la  XIII  session  de  I’association 
francaise  d’Urologie.  Paris,  öd.  Hörissey.  * 

**)  Vortrag,  gehalten  in  dev  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  am 
3.  Februar. 


Schon  im  Jahre  1895  hat  B.  Kays  er  (Die  exakte 
Messung  der  Luftdurchgängigkeit  der  Nase.  Archiv  für  La¬ 
ryngologie  und  Khinologie,  Bd.  3)  einen  nach  mancher  Rich¬ 
tung  interessanten  Vorschlag  zur  Lösung  dieser  Frage  pu¬ 
bliziert.  Er  läßt  durch  den  Mund  mit  Hilfe  eines  Aspi¬ 
rators  eigener  Konstruktion  Luft  ansaugen.  Die  Luft 
muß  die  Nase  passieren.  Aus  der  Zeit,  die  notwendig  ist, 
um  den  Versuch  zu  vollenden,  wird  auf  das  Kaliber  der 
Nase  geschlossen.-  Voraussetzung  des  Gelingens  ist,  daß 
während  des  Versuches  die  Atmung  sistiert  und  daß 
dabei  eine  weit  offene  Kommunikation  zwischen  Mund-  und 
Nasenhöhle  besteht. 

Zwaardemaker  (l.  et)  hält  die  erstere  Bedingung 
für  schwer  erfüllbar  und  die  Methode  aus  diesem  Grunde 
für  schlecht.  Ivayser  selbst  berichtet,  daß  die  Erfüllung 
der  zweiten  Bedingung  oft  Schwierigkeiten  mache,  indem 
die.  Patienten  durch  Heben  der  Zunge  oder  des  Gaumen¬ 
segels  die  notwendige  Kommunikation  aufheben.  Er  gibt 
dann  die  recht  komplizierten  Hilfsmittel  an,  die  zur  An¬ 
wendung  kommen  sollen,  um  die  Messung  möglich  zu 
machen. 

Als  Saugvorrichtung  benützte  Kays  er  anfangs  eine 
oder  zwei  Aspirationsflaschen,  fand  aber  dabei  soviel  „Un¬ 
zuträglichkeiten“,  daß  er  sie  bald  wieder  aufgab  und  ver¬ 
wendete  nun  einen  Blasebalg,  dessen  Saugkraft  immer 
gleich  blieb. 

Als  Vergleichswiderstand  benützt  Kayser  ein  Prü¬ 
fungsrohr,  dessen  quadratische  Mündung  durch  einen 
Schieber  verengt  werden  konnte.  In  vereinzelten  Fällen 
untersuchte  er  auch  den  Einfluß  von  Röhren  desselben 
Querschnitts  und  verschiedener  Länge. 

Die  an  Zahl  sehr  spärlichen  Resultate  ergeben  be¬ 
trächtliche  Unterschiede  bei  wiederholter  Messung  derselben 
Nase.  Bei  Ozäna  fand  er  größere,  bei  einer  Rhinitis  ge¬ 
ringere  Werte  für  die  Weite  der  Nase  als  beim  normalen 
Menschen. 

Dies  ist  alles  was  über  den  Kayser  sehen  Apparat 
in  der  Literatur  von  mir  aufgefunden  wurde.  Weder  in 
den  beiden  Facharchiven,  noch  im  Zentralblatt  für  Laryn¬ 
gologie  fand  ich  eine  weitere  einschlägige  Publikation.  Auch 
von  Kayser  selbst  nicht.  Dies  spricht  wohl  dafür,  daß 
sich  die  Methode  trotz  der  guten  Grundidee  praktisch  nicht 
bewährt  hat. 

G.  Spieß  (zitiert  nach  Zwaardemaker)  hat  die 
Aufgabe  zu  lösen  versucht,  indem  er  an  einem  im  Munde 
gehaltenen  Wassermanometer  bei  gleichmäßiger  (?)  Atmung 
die  Ausschläge  abliest.  Eis  bedarf  wohl  keines  Beweises,  daß 
man  so  nicht  zum  Ziele  gelangen  kann- 

Ich  bin,  soweit  es  den  Apparat  betrifft,  auf  ähnlichem 
Wege  wie  Kayser  vorgegangen.  Auch  ich  messe  die  Zeit, 
die  eine  gewisse,  unter  einem  in  jedem  Versuche  sich  gleich- 
bleibenden  Druck  stehende  Luftmenge  benötigt,  um  die  Nase 
zu  passieren.  Während  aber  Kayser  durch  den  Mund 
Luft  saugt,  lasse  ich  in  ein  Nasenloch  Luft  einblasen. 

Die  nachfolgende  Beschreibung  des  Apparates  (Fig.  1) 
und  der  Methode  wird  zeigen,  inwieweit  es  mir  gelungen  ist, 
eine  auch  klinisch  brauchbare  Methode  zu  schaffen. 

Zwei  zylindrische  Blechgefäße  sind  nach  Art  eines 
Gasometers  ineinander  gestülpt.  Das  innere,  kleinere,  kehrt 
seinen  Boden  nach  aufwärts,  während  das  äußere,  weitere 
Gefäß  den  Boden  unten  hat.  Der  Querschnitt  des  inneren 
Gefäßes  ist  halb  so  groß  wie  der  des  äußeren.  In  seiner 
Lage  wird  das  innere  Gefäß  durch  ein  überhängendes  Dach 
und  drei  Klemmschrauben  erhalten.  Der  untere  freie  Rand 
ist  dann  noch  5  cm  vom  Boden  des  äußeren  Gefäßes  eni 
fernt.  In  das  erwähnte  Dach  ist  ein  weiter  Tubus  einge¬ 
fügt,  welcher  die  Füllung,  resp.  Nachfüllung  des  Systems 
mit  Wasser  ermöglicht. 

Knapp  über  dem  Boden  zweigt  ein  mit  einem  Halm 
versehenes  Abflußrohr  ab.  Es  dient  der  Entleerung  des 
Wassers. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


Ein  zweiter,  nahe  dem  unteren  Boden  eingefügter 
Tubus  ist  mit  ei  nein  rechtwinkelig  nach  oben  gerichteten 
Kniesliick  versehen  und  dient  der  Verbindung  mit  einem 
Wasserstau  (iisrohr. 


Fig.  1. 


Der  nach  oben  gekehrte  Boden  des  inneren  Gefäßes 
trägt  eine  10  mm  weite,  mit  einem  ebenso  weiten  Gummi¬ 
schlauch  und  einer  Nasenolive  armierte  Tubulatur.  Von 
nuten  her  geht  ebenfalls  ein  Tubus  in  das  innere  Gefäß. 
Er  setzt  sich  in  eine  Röhre  fort,  die  bis  über  die  Mitte  des 
Apparates  hinaufreicht.  Dieser  Tubus  ist  mit  einem  Hahn 
versehen  und  stellt,  mittels  eines  Gummirohres,  die  Ver¬ 
bindung  mit  einem  Blasebalg  oder  einer  Radfahrpurnpe  her. 

Der  Apparat  wird  bis  zur  halben  Höhe  des  inneren 
Gefäßes  mit  Wasser  gefüllt.  Bei  diesem  Stande,  der  genau 
einzuhalten  ist,  reicht  das  Niveau  im  Wasserstandsglas  bis 
zur  Marke  ,,0“. 

Nun  wird  der  Schlauch  mit  einer  eigenen  Klemm¬ 
vorrichtung  geschlossen  und  die  Luftpumpe  solange  be¬ 
tätigt,  bis  das  Wasser  im  Wasserstandsrohr,  natürlich  auch 
im  äußeren  Gefäß,  bis  zur  Marke  ,,2“  gestiegen  ist.  Diese 
befindet  sich  ganz  nahe  dem  oberen  Boden  des  inneren 
Gefäßes. 

Die  eingepumpte  Luit  hat  das  Wasser  aus  dem  inneren 
Gefäß  fast;  ganz  verdrängt.  Es  erfüllt  nun  den  Zwischenraum 
zwischen  innerem  und  äußerem  Gefäß.  Die  im  inneren  Zy¬ 
linder  eingeschlossene  Luft  steht  unter  dem  Drucke  einer 
Wassersäule,  welche  dem  Niveauunterschiede  zwischen  dem 
Wasserstand  innen  und  außen  entspricht.  i 

Wird  jetzt  die  Klemme  geöffnet,  so  strömt  Wasser  in 
den  inneren  Zylinder  und  verdrängt  die  Luft,  die  durch 
den  Schlauch  und  die  Olive  entweicht.  Das  Ausströmen 
der  Luft  geschieht  unter  fallendem  Druck. 

Die  Zeit,  welche  das  Wasser  benötigt,  um 
von  der  Marke  „2“  bis  zur  Marke  „1“  (IV2  cm  ober¬ 
halb  der  Marke  „0“  befindlich)  abzusinken,  wird  mit 
Hilfe  einer  Stoppuhr  gemessen.  Wie  leicht  begreif¬ 
lich,  hängt  sie  von  zwei  Faktoren  ab.  Von  dem  Wider¬ 
stand,  den  das  aus  dem  Zwischenraum  der  Gefäße  in  das 
innere  Gefäß  abiließende  Wasser  findet  und  andrerseits 
von  dem  Widerstand,  den  die  abfließende  Luft  irn  Schlauch 
und  der  Olive  antriifl.  Wir  dürfen  die  Summe  dieser  beiden 
Werte  als  inneren  Widerstand  des  Apparates  be¬ 
zeichnen.  Da  wir  einen  äußeren  Widerstand,  eben  den 
der  Nase,  messen  wollen  und  da  die  Ausflußzeit  der  Summe 
beider  Widerstände,  des  inneren  +  äußeren  proportional 
ist,  so  ergibt  sich  die  Notwendigkeit,  den  inneren  Wider¬ 
stand  möglichst  klein  zu  machen.  Nur  dann  wird  auch  eine 
unbedeutende  Aenderung  des  äußeren  Widerstandes  auf  das 
Resultat  einen  deutlich  wahrnehmbaren  Einfluß  ausüben. 
Die  V  erhältnisse  sind  ganz  analog  denen,  die  uns  aus  der 
Elektrizitätslehre  wohl  vertraut  sind.  Der  innere  Widerstand 


des  Apparates  entspricht  dem  Widerstand  der  Stromquelle 
(Batterie  oder  Dynamomaschine  öd;  dgl.),  der  äußere  dem 
Widerstande  des  Stromkreises. 

Von  dieser  Erwägung  geleitet,  mußte  ich  es  sofort 
als  unmöglich  aufgeben,  als  Luft-Stromquelle  eine 
Aspiratorflasche  zu  verwenden,  da  diese  vermöge  des  relativ 
kleinen  Querschnittes  der  Ausflußöffnung  einen  großen 
inneren  Widerstand  besitzt,  ln  meinem  Apparat  ist  hin¬ 
gegen  dem  abfließenden  Wasser  ein  sehr  weiter  Wreg  ge- 
öffnet.  Der  Querschnitt  desselben  ist  so  groß,  wie  der  Quer¬ 
schnitt  des  inneren  Gefäßes.  Das  Wasser  fließt  nämlich 
aus  dem  Zwischenraum  der  beiden  Gefäße  in  das  innere 
Gefäß.  Dieser  Zwischenraum  ist  aber,  weil,  wie  schon  er¬ 
wähnt,  das  äußere  Gefäß  doppelt  so  weit  ist,  als  das  innere, 
gleich  weit,  wie  das  innere  Gefäß  selbst. 

Der  zweite  Faktor,  der  den  inneren  Widerstand  des 
Apparates  beeinflußt,  ist  die  Länge  und  Weite  des  die 
Luft  abführenden  Rohres.  Man  soll  diese  so  weit 
machen,  daß  der  erwähnte  Widerstand  eine  gewisse,  prak¬ 
tisch  zu  ermittelnde  Grenze,  nicht  überschreitet.  Es  muß 
nämlich  schon  die  Einschaltung  einer  normal  weiten 
(Nase  aut  den  Widerstand,  resp.  die  Abflußzeit  einen  deut¬ 
lichen  und  gut  meßbaren  Einfluß  nehmen.  Schläuche  von 
10  mm  lichter  Weite  und  70  cm  Länge  entsprechen  dieser 
Forderung. 

Noch  ein  dritter  Faktor  beeinflußt  den  inneren  Wider¬ 
stand  :  Die  Olive.  Auch  diese  soll  so  weit  als  möglich  sein. 
Anfangs  habe  ich  es  versucht,  eine  Olive  von  ovalem  Quer¬ 
schnitt  zu  verwenden,  entsprechend  der  Konfiguration  der 
Nasenlöcher.  Später  aber  fand  ich,  daß  ein  kreisrunder 
Querschnitt  vorzuziehen  ist.  Die  Olive  ist  steil  konisch,  die 
Mündung  hat  einen  Durchmesser  von  8  mm.  Man  kann 
diese  Olive  auch  schon  bei  Kindern  von  sieben  oder  acht 
Jahren  in  der  Regel  leicht  verwenden.  Für  jüngere  Kinder 
muß  ein  etwas  engeres  Kaliber  genommen  werden. 

Als  Vergleichswiderstand  benütze  ich  Glas¬ 
röhren  von  gleicher  Länge,  10cm,  und  variablem 
D urchmesser.  Sie  werden  mit  Hilfe  eines  k u r- 
zen  weiten  Schlauches  an  die  Olive  angefügt. 


Fig.  2. 


Die  beifolgende  Tafel  (Fig.  2)  zeigt  nun  graphisch  den 
Einfluß  der  Rohrweite  auf  die  Ausflußzeit.  Man  ersieht  aus 
ihr,  wie  streng  gesetzmäßig  die  Abflußzeit  von  der  Rohr¬ 
weite  abhängt. 

Die  Messung  selbst  wird  in  der  folgenden  Weise  aus¬ 
geführt.  Der  Patient  wird  so  vor  den  Apparat  gesetzt,  daß 
der  züführende  Schlauch  ziemlich  gerade  gestreckt,  jeden* 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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fulls  nicht  geknickt  ist.  Mittels  der  Pumpe  oder  des  15 la.se- 
balges  wird  das  Wasser  im  Slamlanzeiger  bis  zur  Marke  2 
gebracht  und  dea'Hahn,  der  zur  Luftquolte  führt,  geschlossen. 
|)i(>  Olive  wird  in  das  eine  Nasenloch  gehrachl  und  darauf 
geachtet,  daß  die  Mündung  nicht  an  das  Septum  oder  die 
Muschel  zu  liegen  kommt.  Der  Palienl  fixiert  entweder  die 
Olive  selbst  oder  es  besorgt  dies  (bei  Kindern)  (due  drille' 
Person.  Patient  wird  angewiesen,  den  Mund  zu  öffnen 
und  ruhig  durch  den  Mund  zu  atmen.  Man  lüftet, 
nun  die  Klemme  mit  einer  Hand  und  bringt  gleichzeitig 
mil  der  anderen  die  Stoppuhr  in  Gang. 

Man  beobachtet  das  Sinken  des  Wassers  und  arretiert 
die  Uhr,  sobald  das  Wasser  bei  der  Marke  „1“  angelangt 
ist.  Die  gefundene  Zeit  wird  notiert  und  der  Versuch  am 
anderen  Nasenloch  wiederholt. 

.Während  des  Versuches  kann  man  folgendes  beob¬ 
achten.  Bei  normalen  Verhältnissen  oder  solchen,  die 
von  der  Norm  nicht  weit  abweichen,  geht  der  Luftstrom 
aus  der  Choane  der  armierten  Nase  in  die  Choane  der  nicht 
armierten  und  weiter  durch  das  zweite  Nasenloch 
nach  außen.  Es  besteht  Abschluß  gegen  die  Mundhöhle 
durch  das  Gaumensegel.  Dieser  Abschluß  erfolgt  reflek¬ 
torisch,  wahrscheinlich  durch  das  Eindringen  des  Luft¬ 
stromes  in  die  Nase.  Man  kann  sich  hievon  leicht  über¬ 
zeugen.  Verschließt  man,  während  der  Versuch  im  Gange 
ist,  durch  Auflegen  einer  Fingerbeere  das  zweite  Nasen¬ 
loch,  so  sistiert  momentan  der  Abfluß.  Aber  nicht  auf 
die  Dauer.  Unter  einem  ganz  charakteristischen,  schnar¬ 
chenden  Geräusch  wird  der  Verschluß  gegen  die  Mundhöhle 
durchbrochen  und  das  Wasser  sinkt  nun  wieder,  aber 
nicht  gleichmäßig.  Seine  Bewegung  erfolgt  stoßweise, 
indem  der  Verschluß  abwechselnd  hergestellt  und  aufge¬ 
hoben  wird.  Jeder  Durchbruch  ist  aber  von  dem  erwähnten 
Geräusch  begleitet  und  man  kann  bei  einiger  Aufmerksam¬ 
keit  an  diesem  Geräusch  sofort  erkennen,  ob  die  Luft  durch 
den  Mund  abfließt. 

Es  tritt  dies  immer  ein,  wenn  die  eine  Nase 
für  die  Luft  ganz  oder  fast  ganz  undurchgän¬ 
gig  ist. 

Der  Gang  des  jLuftslroines  ist  also  verschieden  von  dem 
bei  der  Atmung.  Während  hier  die  beiden  Nasen  parallel 
geschaltet  sind,  die  Luft  gleichzeitig  durch  beide  ein-  oder 
ausströmt,  sind  dort  die  beiden  Nasenhälften  hinter¬ 
einander  geschaltet.  Der  Luftstrom  passiert  erst  die  ar¬ 
mierte,  dann  die  nichtarmierte  Hälfte.  Dies  müssen  wir 
uns  wohl  vor  Augen  halten,  wenn  wir  uns  eine  Vorstellung 
darüber  bilden  wollen,  welchen  Widerstand  die  Nase  bei 
der  Atmung  dem  Luftstrom  bietet.  Nehmen  wir  an,  wir 
hätten  durch  die  Untersuchung  konstatiert,  daß  bei  gesunden 
erwachsenen  Menschen  der  Widerstand  dem  eines  Glasrohres 
von  10  Cm  Länge  und  6-5  mm  Weite  gleich  gefunden  wurde 
(es  entspricht  dies  den  von  mir  und  Dr.  ßenesi  an  zahl¬ 
reichen  Fällen  erhobenen  Werten),  so  entfällt  hievon,  Sym¬ 
metrie  der  beiden  Nasen  vorausgesetzt,  auf  jede  Nase  die 
Hälfte,  also  6-5  mm  Weite  und  5  cm  Länge.  Bei  der  Atmung 
aber  müßten  wir  uns  die  beiden  Glasröhren  nebeneinander 
liegend  denken. 

Wenn  die  (leicht  zu  prüfende)  Annahme  richtig  ist, 
daß  ein  Glasrohr  von  5  Cm  Länge  dem  halben  Widerstand 
besitzt,  wie  ein  gleich  weites  von  10  cm'  Länge,  dann  re¬ 
sultiert  also  aus  unseren  Versuchen  die  vielleicht  über¬ 
raschende,  aber  zweifellos  richtige  Erfahrung : 

Die  Nase  eines  gesunden  erwachsenen  Menschen  hat 
für  den  Luftstrom  keinen  größeren  Widerstand  als  den 
zweier  nebeneinander  liegender  Glasröhren  von  5  Cm  Länge 
und  6-5  mm  Weite. 

Komplizierter  werden  die  Verhältnisse,  wenn  die 
beiden  Nasen  ungleich  weit  sind.  Man  muß  dabei  Theorie 
und  Praxis  auseinander  halten. 

*)  Man  kann  auch  die  Klemme  beseitigen,  während  man  gleich¬ 
zeitig  den  Schlauch  mit  zwei  Fingern  abklemmt.  Das  Oeffnen  des  Schlauch¬ 
lumens  läßt  sich  dann  noch  rascher  und  exakter  bewerkstelligen  als  mit 

der  Klemme. 


Wenden  wir  uns  zunächst  der  Praxis  zu.  In  allen 
fällen  ungleicher  Durchgängigkeit  der  beiden 
Nasen  fanden  wir  bei  Armierung  der  wenigem’ 
durchgängigen  Nase  höhere  Wid  ers  landswerte 
als  an  der  weiteren.  East  ausnahmslos  war  aber  bei 
Verengerung  der  einen  Nase  auch  die  Ausflußzeit  der 
zweiten  ein  wenig  erhöht.  Selten  mehr  als  um  zwei  Se¬ 
kunden.  War  der  Widerstand  der  „gesunden“  Seite1  wo  seat 
lieh  größer,  als  eben  angegeben,  dann  fanden  sich  bei 
genauerer  Untersuchung  auch  hier  irgendwelche  raumbeen¬ 
gende  Verändern  ngo  1 1 . 

Bei  erheblicher  Differenz  der  Nasenweite  beobachtet 
man  ausnahmslos  folgendes:  die  Untersuchung  der 
engen,  aber  noch  durchgängigen  Nase  zeigt  Verlängerung 
der  Ausflußzeit  bis  auf  40  Sekunden,  statt,  normal  6  Se¬ 
kunden,  dabei  aber  gleichmäßiges  Abließen  der  Luft. 
Bei  Armierung  der  gesunden  Seite  fast  normale  (unbedeu¬ 
tend  erhöhte)  Abflußzeiten,  aber  ungleichmäßiges,  ruckweises 
Sinken  der  Wassersäule  und  Auftreten  des  schon  erwähn¬ 
ten  schnarchenden  Geräusches,  welches  uns  die  Insuffi¬ 
zienz  des  Gaumensegelverschlusses  verrät. 

Soweit  unsere  Erfahrungen  reichen,  kann  man,  sobald 
das  Geräusch  und  das  ruckweise  Abließen  auftritt,  erwarten, 
in  der  nicht  armierten  Nase  mit  dem  Rhinometer  und  mit 
der  klinischen  Untersuchung  einen  Widerstand  zu  finden. 

Am  ausgeprägtesten  ist  dies  der  Fall,  wenn  die  eine 
.Nase  normal,  die  andere  total  verstopft  ist.  Hier  bleibt  die 
Wassersäule  dauernd  stehen,  die  Luft  fließt  überhaupt 
nicht  ab,  dort  Ablußzeit  nur  unbedeutend  verlängert,  das 
Sinken  des  Wassers  erfolgt  aber  ruckweise  und  unter  Ent¬ 
wicklung  des  charakteristischen  Geräusches.  Man  kann 
diesen  Zustand  an  sich  sei  bst  leicht  experimentell  her- 
vorrufen,  indem  man  das  eine  Nasenloch  verschließt.  Nur 
achte  man  bei  Ausführung  des  Versuches  darauf,  daß  der 
Tampon  durch  Hinüb  erd  rängen  der  knorpligen  Nasenscheide¬ 
wand  nicht  auch  die  andere  Seite  in  ihrer  Weite  beein¬ 
trächtige. 

Theoretisch  liegen  die  Verhältnisse  anders.  Da  der 
Luft  ström  seinen  Weg  nacheinander  durch  beide  Nasen- 
häiften  nehmen  sollte,  so  müßte  es  gleichgültig  sein,  welche 
er  zuerst  passiert,  ob  also  die  rechte  oder  die  linke  Seite 
armiert  ist.  Wäre  der  Gaumenverschluß,  der  de  norma  bei 
Vornahme  der  Messung  immer  funktioniert,  auch  für  größere 
Drucke,  suffizient,  dann  müßte  stets  die  gefundene  Zeil 
für  beide  Seiten  gleich  sein,  es  müßte  also  der  absolute 
Verschluß  der  einen  Seite,  auch  bei  Armierung  der  nor¬ 
malen  anderen  Seite  die  Ablußzeit  „unendlich“  ergeben. 
Man  würde  also  durch  die  Messung  nur  erfahren,  ob  ein 
Hindernis  vorhanden  und  wie  groß  es  ist,  nicht  aber  auf 
welcher  Seite  es  sitzt,  ob  nur  eine  oder  beide  Seiten  ver¬ 
engt  sind.  Für  den  Ablauf  der  Atmung  ist  es  aber  gewiß 
nicht  gleichgültig,  ob  eine  Seite  normal,  vielleicht  sogar 
abnorm  weit,  die  andere  verengt  ist,  oder  ob  beide  Seiten, 
wenn  auch  in  mäßigem  Grade  in  ihrem  Lumen  beeinträch¬ 
tigt  sind.  Im  ersteren  Falle  ist  die  Möglichkeit  der  Nasen¬ 
atmung  gegeben,  im  zweiten  vielleicht  nicht  mehr.  Das 
Rhinometer  h{ät.te  aber  in  beiden  Fällen  gleiche  Zahlen 
geliefert. 

Es  gibt  theoretisch  die  Summe  der  Widerstände  beider 
Nasen  also  den  Wert  für  Wr  +  W1  an.  Um  die  beiden 
Werte,  deren  Kenntnis  mir  wichtig  schien,  einzeln  kennen 
zu  lernen,  ersann  ich  eine  Methode,  die  dies  ermöglicht.* *) 
Sie  vermittelt  uns  die  Kenntnis  des  Wertes  von  Wr  und 

*)  An  zwei  gleiche,  sehr  weite  Kaliapparate  werden  Nasenoliven 
befestigt,  die  Apparate  mit  gleichen  Mengen  Lauge  beschickt  und  der 
Untersuchte  angewiesen,  nachdem  man  in  jedes  seiner  Nasenlöcher  eine 
Olive  eingeführt  hat,  einige  Male  durch  den  Apparat  auszuatmen. 

Nun  wird  mit  Phenophthalein  und  Säure  titriert  und  zwar 

1.  Apparat  rechts,  2.  Apparat  links,  3.  eine  gleiche  Portion  unbenutzter 
Lauge.  Zur  Titration  genügt  es  die  erforderliche  Anzahl  der  Säuretropfen 
zu  zählen.  Man  fände  z.  B.  die  Zahlen  20,  30,  40.  Dann  entspricht  die 
Menge  der  rechts  absorbierten  CO„  20,  links  10  Tropfen.  -Das  Verhältnis 
von  rechts  zu  links  ist  also  2  zu  1.  Da  die  Menge  der  COa  der  Luft¬ 
menge,  diese  aber  dem  Widerstand  umgekehrt  proportional  ist,  so  würde 
der  versuch  ergeben,  daß  die  rechte  Nase  doppelt  so  weit  ist.  als  die  linke. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


Wl.  Dann  aber  ist  es  ein  leichtes,  Wr  und  \YI,  in  den  von 
uns  gewiihllen  Maßeinheiten  ausgcdrüCkl,  zu  berechnen. 

Wie  schon  erwähnt,  ergab  die  Praxis  andere,  ein¬ 
fachere  V  erhältnisse. 

Das  Gaumensegel  ist.  nur  i ns o lange  suffi¬ 
zient,  als  kein  einigermaßen  erheblicher  Druck 
auf  ihm  lastet.  Wenn  die  nicht  armierte  Nase  für  den 
.Luftstrom  frei  ist,  bleibt  der  Druck  im  Nasenrachenraum 
sehr  niedrig.  An  der  Mündung  des  nichfarmierten  Nasen¬ 
loches  ist  er  gleich  Null  und  von  hier  bis  zum  Gaumensegel 
also  bis  zum  Nasenrachenra  um,  gibt  es,  nach  obiger  Annahme, 
keine  bedeutenden  Hindernisse  zu  überwinden.  Es  wird 
also  im  Nasenrachenraum  der  Druck  nur  unbedeutend  höher 
sein  als  Null.  Das  Gaumenventil  bleibt  dann  suffizient, 
die  Luft  strömt  durch  die  Nase  ab. 

Ist  aber  die  nichtarmierte  Seite  Sitz  eines  Widerstan¬ 
des,  dann  besteht  im  Nasenrachenraum  ein  höherer  Druck, 
das  Ventil  wird  insuffizient,  die  Luft  strömt  durch  den 
Mund  ab  und  zwar  ruckweise,  weil  das  Abfließen  den  Druck 
momentan  erniedrigt.  Der  Verschluß  ist  dann  wieder  her¬ 
gestellt,  der  Druck  steigt  an  und  bedingt  neuerdings  die 
Insuffizienz.  Es  ist  ein  ähnlicher  Vorgang,  wie  beim  Spiel 
des  ■  Neffsdhen  Hammers. 

Ist  die  armierte  Nase  verengt,  dann  wird  der  vom 
Apparat  gelieferte  Druck  proportional  den  Widerständen  kon¬ 
sumiert  und  im  Nasenrachenraum  ist  caeteris  paribus  ein 
niedrigerer  Druck,  als  unter  normalen  Verhältnissen.  Bei 
offener  und  selbst  bei  mäßig  verengter  nicht  armierter  Nase 
bleibt  der  Druck  an  der  oberen  Fläche  des  Gaumensegels 
sehr  niedrig  und  die  Luft  strömt  durch  die  Nase  ab. 

Ist  aber  die  nicht  armierte  Nase  wesentlich  enger  als 
die  armierte,  dann  steigt  der  Druck  im  Nasenrachenraum 
und  die  Bedingungen  für  die  Insuffizienz  sind  wieder  ge¬ 
geben. 

Allgemein  ausgedrückt :  Die  Luft  strömt  (ruckweise) 
durch  den  Mund  ab,  wenn  die  nicht  armierte  Nase  enger 
ist  als  die  armierte. 

Diese  Regel  wurde  rein  empirisch  ermittelt;  sie  traf 
in  allen  Fällen  unserer  Beobachtung  zu.  Es  ist  aber  mög¬ 
lich,  daß  bei  abnormem  Bau  oder  abnormer  Innervation 
des  Gaumensegels  eine  Insuffizienz  auch  bei  offener,  nicht 
armierter  Nase  Vorkommen  könnte.  Vielleicht  würde  dieser 
Umstand  auf  die  Abnormität  des  Velums  hinweisen  und 
klinisch  verwertet  werden  können. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  nochmals,  was  wir 
mit  dem  Rhinometer  messen. 

Bei  normaler  Durchgängigkeit  beider  Nasen  erfahren 
wir  die  Summe  Wr  +  Wl.  Bei  gleichmäßiger  Verengerung 
der  Nasen  ebenfalls  Wr  +  Wl. 

Bei  verengter  linker  Nase  und  Armierung  der 
rechten  Wr  +  Wx,  wobei  Wx  der  Widerstand  ist, 
den  die  ruckweise  durch  den  Mund  abfließende  Luft 
aul  dem  Wege  vom  Nasenrachenraum  abwärts  findet.  Dieser 
W  iderstand  ist  bei  Gesunden  der  Messung  zugänglich.  Nach¬ 
dem  man  in  der  gewohnten  Weise  eine  Bestimmung  aus¬ 
geführt  hat,  verschließt  man  vorsichtig  und  ohne  das  Sep- 
lum  zu  verdrängen,  das  nicht  armierte  Nasenloch.  Die  Mes¬ 
sung  wird  wiederholt  und  ergibt  ruckweises  Abfließen  der 
Luft  durch  den  Mund  und  eine  Abflußzeit,  die  zumeist 
um  eine,  höchstens  um  zwei  Sekunden  länger  ist 
als  die  vorher  ermittelte.  Wx  ist  also  um  ein  Geringes  größer 
als  der  normale  Widerstand  einer  Nasenhälfte. 

Daraus  ergibt  sich  der  folgende  Schluß:  Wenn  die 
gefundene  Abflußzeit  bei  Stenose  der  nicht  armierten  Nase 
nur  um  eine  oder  zwei  Sekunden  länger  ist  als  die  normale, 
dann  ist  die  armierte  Nase  normal.  Findet  man  aber  eine 
wesentlich  verlängerte  Abflußzeit,  so  ist  das  ganze  Plus, 

Dies  würde  nur  gelten,  wenn  der  Widerstand  der  Kaliapparate 
vernachlässigt  werden  könnte.  Man  kann  ihn  aber  in  Rechnung  ziehen, 
indem  man  ihn,  ausgedrückt  im  reziproken  Wert:  Weite  einer  10  cm  langen 
Glasröhre,  am  Rhinometer  bestimmt.  Die  Formel  würde  dann  richtig  lauten 
Wr  c 

Wl — fmT  ~  *  w°kei  c  c'er  Widerstand  des  Apparates  ist. 


abzüglich  einer  oder  zwei  Sekunden,  auf  Rechnung  der 
armierten  Nase  zu  setzen. 

Mit  Berücksichtigung  der  vorgebrachten  Einschränkun¬ 
gen  besteht  also  die  sehr  einfache  Regel:  Man  erhält 
durch  die  Messung  links  Auskunft  über  den 
W  id  erst  and  der  linke  n,  d  urc'h  die  Messung  rechts 
über  den  der  rechten  Nase. 

Der  Vollständigkeit  wegen  sei  darauf  hingewiesen,  daß 
bei  einer  Perforation  der  Nasenscheidewand  die  Messung 
nicht  ausführbar  ist,  weit  der  Luftstrom  diesen  kurzen 
Weg  nimmt. 

Hindernisse  mit  Ventilwirkung  wird  man  als  solche 
wohl  erkennen  können.  Bei  armierter  rechter  Nase  nimmt, 
tier  Luftstrom  in  ihr  die  Richtung  der  natürlichen  Inspira¬ 
tion,  in  der  anderen  Nase  die  Richtung  der  Exspiration.. 
Umgekehrt,  wenn  die  linke  Nase  armiert  ist.  Würde  man 
bei  der  ersten  Messung  die  linke  Nase  undurchgängig,  bei 
der  zweiten  frei  finden,  dann  spräche  dies  für  einen  Ventil¬ 
verschluß  der  linken  Nase,  der  die  Exspiration  hindert. 
In  praxi  haben  Dr.  Benesi  und  ich  einen  analogen  Fall 
nicht  gesehen. 

Wiederholte  Messungen  an  derselben  gesunden  Nase 
gaben  zuweilen  Werte,  die  um  ein  Kleines,  ein  oder  zwei 
Sekunden  Abflußzeit,  differierten.  Der  wechselnde  Zustand 
der  Schwellkörper  oder  die  Anwesenheit  kleiner  Sekret- 
mengen  (die  zuweilen  durch  den  Luftstrom  fterausbefördert 
werden),  machten  sich  geltend.  Die  Ansicht,  daß  die  Weite 
der  Nase  auch  beim  Gesunden  sehr  stark  variiere, 
konnte  ich  nicht  bestätigt  finden. 

Ausdrücklich  sei  hervorgehoben,  daß  wir  niemals  einen 
störenden  Einfluß  der  Atmung  wahrnehmen  konnten.  Na¬ 
mentlich  bei  verlängerter  Abflußzeit  hätte  man  ein  mit  der 
Atmung  synchrones  Wechseln  der  Geschwindigkeit  wahr¬ 
nehmen  müssen,  wenn  es  vorhanden  gewesen  wäre.  Ge¬ 
ächtet  haben  wir  darauf. 

Das  geschah  auch  dann  nicht,  wenn  die  Luft  durch  den 
Mund  abfließt,  sei  es,  daßi  die  Atmung  im  Momente  des 
Luftdurchtrittes  jeweilig  unterbrochen  wird,  sei  es,  daß  bei 
weit  offenem  Munde  die  respiratorischen  Druckschwankun¬ 
gen  im  Nasenrachenraum  zu  gering  sind,  um  zur  Geltung 
zu  kommen. 

Ist  die  Ursache  einer  Stenose  in  einer  Schwellung 
der  Corpora  cavernosa  der  Muscheln  oder  in  einer  Schwel¬ 
lung  der  Schleimhaut  gelegen,  dann  läßt  sich  dies  leicht 
durch  Aufpinseln  von  Adrenalin  konstatieren.  Der  Unter¬ 
schied  im  \\  iderstand  vor  und  nach  dem  Pinseln  war  in 
einigen  einschlägigen  Fällen  Dr.  Be  ne  si’s  sehr  bedeutend. 

Sonst  aber  vermag  die  Untersuchung  mit  dem  Rhino¬ 
meter  die  anatomische  Ursache  einer  Stenose  nicht  auf¬ 
zudecken.  Dies  wird  nach  wie  vor  Gegenstand  der  kiinisch- 
rhinologischen  Methodik  bleiben. 

Ausdrücklich  sei  darauf  hingewiesen,  daß  die  Beein¬ 
trächtigungen,  die  die  Nasenatmung  durch  adenoide  Vege¬ 
tationen  findet,  bei  der  Messung  zum  Ausdruck  kommen. 

Die  Größe  der  Stenose  f es tzu stellen,  sie  zu 
messen,  wie  man  eine  Stenose  der  Urethra  oder 
ties  Oesophagus  mißt,  ferner  die  auch  dem  Nicht¬ 
spezialisten  mögliche  rasche  und  sichere  Fest¬ 
stellung,  ob  die  Atmung  durch  die  Nase  frei  ist 
oder  nicht,  sind  die  Aufgaben,  die  meiner  An¬ 
sicht  nach  dem  Apparat  zufallen  werden. 

In  bezug  auf  letzteren  Umstand  hat.  mich  Prof.  Robert, 
als  ich  auf  dem  Physiologenkongreß  den  Apparat  demon¬ 
strierte,  auf  eine  Verwendungsart  aufmerksam  gemacht.  In 
Lungenheilstätten,  meinte  er,  sollte  jeder  Paitient,  ehe  man 
ihn  einer  Liegekur  in  kalter  Luft  unterwirft,  mit  dem  Rhino¬ 
meter  untersucht  werden. 

Von  Interesse  wäre  wohl  auch  die  systematische  Unter¬ 
suchung  von  Soldaten.  Sie  müssen  durch  die  Nase  atmen 
können,  auch  wenn  sie  rasch  laufen.  Die  hiezu  Unfähigen 
würde  das  Rhinometer  rasch  und  sicher  herausfinden. 

Die  leichte  Verständlichkeit  und  Anschaulichkeit  des 
Vorganges  wird  es  vielleicht  möglich  machen,  intelligenten 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Kranken  oder  deren  Angehörigen  ad  oculus  zu  zeigen,  daß 
eine  Abnormität  besteht,  daß  ein  Eingriff  geboten  ist.  Auch 
der  Erfolg  einer  gelungenen  Operation  wird  leicht  aufzu¬ 
zeigen  sein. 

Die  Messungen  sind  sehr  leicht  und  rasch  ausführbar, 
die  Ansprüche  an  die  Intelligenz  der  Patienten,  sehr  gering. 
Mit  einiger  Geduld  kommt  man  auch  bei  Kindern  fast  stets 
ans  Ziel.  Wenn  sie  erst  durch  einige  kurze  Probeversuche 
erfahren  haben,  daß  ihnen  kein  Leid  zugefügt  wird,  lassen 
sie  sich  den  Vorgang  gefallen. 

Nur  eines  noch  ist  zu  erwägen.  Kann  die  Messung 
nicht  Schaden  stiften?  Eine  Infektion  durch  die  Nasen- 
olive  wird  bei  Befolgung  der  selbstverständlichen  Vor¬ 
sichten  leicht  verhindert  werden.  Jedem  Apparat  werden 
zwölf  Oliven  beigegeben.  Nach  dem  Gebrauch  müssen  sie 
durch  Kochen  sterilisiert  werden. 

Bleibt  noch  die  Möglichkeit  einer  Eintreibung  von 
Nasensekret  in  die  Tuben.  Wie  schon  erwähnt,  ist  während 
der  Messung  der  Druck  im  Nasenrachenraum  ein  minimaler 
und  das  Gaumensegel  bildet  ein  fein  eingestelltes  Sicher¬ 
heitsventil  gegen  dessen  Anwachsen. 

Aber  selbst  wenn  dieses  Ventil,  was  mir  unmöglich 
erscheint,  versagen  würde  und  wenn  die  abführende  Nasen¬ 
hälfte  total  verschlossen  wäre,  wobei  also  der  Druck  im 
Nasenrachenraum  die  volle  Höhe  des  Apparatdruckes  er¬ 
reichen  würde,  wäre  er  noch  immer  verschwindend  klein 
gegenüber  dem  Druck,,  der  beim  Pölitz  er- Verfahren  zur 
Anwendung  kommt.  Selbst  der  hohe  Druck,  den  man  durch 
kräftige  Kompression  des  Politzer-Ballons  erzeugt,  würde 
aber  bekanntlich  nicht  genügen,  um  den  Tubenverschluß 
zu  durchbrechen,  wenn  nicht  gleichzeitig  Verschluß  der 
anderen  Nasenhälfte  und  eine  Schluckbewegung  oder  deren 
Surrogate  günstige  Bedingungen  hiefür  schaffen  würden. 

Herrn  Prof.  Alexander  und  Herrn  Dr.  B  e  ne  s i 
bin  ich  zu  großem  Danke  verpflichtet.  Prof.  Alexander 
hat  mir  erlaubt,  an  seiner  poliklinischen  Abteilung  Messun¬ 
gen  durchzuführen,  Herr  Dr.  Benes i  aber  hat  mit  vielem 
Eifer  und  großem  Zeitaufwand  die  Untersuchungen  gemacht 
und  bei  jedem  der  Gemessenen  den  klinischen  Status  lege 
artis  aufgenommen.  Er  wird  die  Ergebnisse  seiner  Unter- 
suehunegn  in  einem  Facharchiv  publizieren.*) 


Ueber  die  Natur  der  Nävuszellen. 

Von  Prof.  Dr.  Kreibicli. 

Die  Natur  der  Nävuszellen  ist  bis  heute  nicht  ge¬ 
klärt.  Unna  und  viele  Untersucher  nach  ihm  schließen 
aus  der  Beschaffenheit  der  Zellen,  aus  der  Lagerung  der¬ 
selben  zueinander,  aus  der  Beziehung  der  Zellnester  zur 
Epidermis  auf  ihre  epitheliale  Abkunft.  Recklinghausen, 
Demieville  und  viele  andere  erblicken  in  diesen  "Pat¬ 
sachen  keine  ausreichenden  Beweise  für  diese  Ansicht  und 
treten  für  die  mesodermale  Natur  der  Nävuszellen  ein.  Die 
gleiche  Unsicherheit,  macht  sich  bis  heute  bei  der  Beur¬ 
teilung  der  aus  den  Nävuszellen  hervorgehenden  Ge¬ 
schwülste  geltend. 

Der  Lipoidnachweis  in  den  Melanoblasten  gibt  uns 
eine  Tatsache  an  die  Hand,  mittels  welcher  sich  in  präzi¬ 
serer  Weise  als  bis  jetzt  die  epitheliale  Abstammung  der 
Nävuszellen  erweisen  läßt;  zugleich  bestätigen  pigmentierte 
zellige  Nävi  vollinhaltlich  unsere  vor  kurzem  geäußerte  An¬ 
schauung  über  die  Abkunft  des  melanotischen  Hautpigments 
aus  einem  Lipoidkörper.  Auch  an  diesem  Objekt  (kein  Kelen 
bei  der  Exzision  und  bei  der  Herstellung  der  Gefrier¬ 
schnitte!)  zeigt  sich  die  Notwendigkeit,  die  pigmentieren¬ 
den  Zellen  in  die  mesodermalen  Chromatophoren,  die  immer 
körniges,  dunkleres  Pigment  enthalten  und  in  die  ektoder- 
malen  Melanoblasten,  die  als  Vorstufe  des  Pigments  einen 
kristallinischen  oder  kristalloiden  Lipoidkörper  aufweisen, 
zu  trennen;  nur  tritt  hier  der  Unterschied  in  manchem 

*)  Das  Rhinometer  wird  in  Wien  von  Herrn  Paul  H  a  a  ck,  Garelli- 
gasse  und  in  Deutschland  von  der  Firma  Franz  Huger  sh  off  in 
Leipzig  angefertigt  werden. 


Nävus,  wegen  der  Reichlichkeit,  Größe  und  Schönheit  dei 
Kristalle  noch  deutlicher  in  Erscheinung  und  findet  seine 
Fortsetzung  im  Nävus,  soweit  derselbe  pigmentiert  ist,  so 
weit  derselbe  Melanoblasten,  oder  besser  ausgedrückt,  Zellet 
mit  Lipoidkristallen  enthält. 

ln  einem  dunkel  pigmentierten,  zelligen Nävus  fander 
wir  die  unterhalb  der  Epidermis  gelegenen  einzelnen  Nävus 
zellen  und  die  nach  oben  gegen  die  Epidermis  zu  gele 
genen  Nävuszellnester  dicht  mit  Lipoidkristallen  erfüllt, 
welche  als  relativ  große  Nadeln,  nach  Art  von  Kristall 
drusen,  schon  im  nativen  Präparat  deutlich  sichtbar  sind 
und  sich  mit  Sudan  gelbrot  färben.  Daneben  finden  sich 
in  denselben  Zellen  alle  Uebergänge  zu  bereits  dunklei 
gefärbten  Kristallen,  Kristalloiden  und  körnigem  und  an 
scheinend  auch  kristallinischem  Pigment.  Dort,  wo  nur  ein 
oder  zwei  Kerne  vorhanden  sind,  handelt  es  sich  um  ab 
gesprengte  Melanoblasten  allein,  dort,  wo  ganze  Zellkom- 
plexe  von  Kristallen  durchsetzt  und  pigmentiert  sind,  ist 
die  Unterscheidung  zwischen  Melanoblasten  und  sekundär 
pigmentierten  Zellen  schwieriger.  Sie  gelingt  wieder  besser 
in  tieferen  Partien  des  Nävus,  wo  sich  zeigen  läßt,  daß 
nur  eine  oder  die  andere  Zelle  ein  Melanoblast  ist.  Schon 
in  der  Epidermis  fällt  neben  zahlreichen  Melanoblasten  in 
der  Basalzellreihe  höher  im  Rete  das  Vorkommen  von 
großen  runden,  mit  Kristallen  erfüllten  Zellen  auf,  die  als 
Melanoblasten  in  Ruhestellung  zu  deuten  sind,  ebenso  wie 
einzelne  Zellen  in  der  Kulis,  bei  welchen  sich  besonders 
deutlich  das  Hervorgehen  des  Pigments  aus  der  lipoiden 
Vorstufe  erkennen  läßt.  Auch  zwischen  den  Nävuszellen 
finden  sich  solche  Ruheformen,  die  von  der  Epidermis  nach 
abwärts  immer  weniger  Pigment  und  zuletzt  nur  ausschlie߬ 
lich  Lipoidkristalle,  manchmal  nur  in  geringer  Zahl,  ent¬ 
halten.  In  Wasserstoffsuperoxyd  verliert  das  Pigment  all¬ 
mählich  an  Färbe,  dafür  treten  dann  bei  Sudanfärbung 
die  Lipoidkristalle  wieder  deutlich  hervor.  Die  intensivste 
Pigmentation  und  der  reichste  Gehalt  an  Lipoidkristallen 
zeigte  sich  bei  einem  zelligen  Nävus  innerhalb  eines  chro¬ 
nischen  universellen  Ekzems ;  zellige  Nävi  aus  gesunder 
Umgebung  ergaben  im  wesentlichen  dieselben  Befunde,  nur 
öfters  quantitativ  geringer,  weniger  Melanoblasten,  weniger 
Pigment  und  Lipoid,  oder  in  den  tieferen  Schichten  wenig 
oder  kein  Pigment  bei  vorhandenen  Lipoidkristallen,  woraus 
hervorgehen  dürfte,  daß  daselbst  die  Melanoblasten  auf 
ihrem  lipoiden  Vorstadium  beharren  können,  ähnlich  wie 
man  manchmal  eine  gleichsam  abgeschlossene  Pigmentation 
mit  nur  noch  wenig  Lipoid  konstatiert. 

Bei  diesen  Nävi  fand  sich  auch  in  der  Epidermis  das 
lipoide  Stadium  der  Melanoblasten  vorherrschend,  ähnlich 
wie  in  einem  Fälle  von  Pemphigus  foliaceus,  der  auch 
klinisch  keine  Pigmentation  aufwies.  Bei  manchen  Nä,vi 
waren  die  Lipoidkristalle  vielfach  kürzer,  rhombisch  oder 
polygonal;  das  Lipoid  näherte  sich  wirklich  oder  nur  schein¬ 
bar  mehr  der  Tropfenform,  wobei  sich  aber  gerade  in 
solchen  Zellen  alle  Uebergänge  zum  Pigment  zeigen,  Details, 
auf  welche  spätere  Untersuchungen  eingehen  sollen. 

Melanoblasten  sind  Epithelzellen.  Indem  dieselben 
im  Bereich  der  Nävuszellenkomplexe  auftreten,  ist  der 
Schluß  gestattet,  daßi  auch  die  Nävuszelle  epithe¬ 
lialer  Abkunft  ist  und  daß  beide  Zellgattungen  zu 
gleicher  Zeit,  in  die  Tiefe  gelangt  sind.  Dieser  Vorgang  er¬ 
innert.  am  meisten  an  ein  pigmentiertes  Ulcus  rodens, 
welches  wir  unter  den  Geschwülsten  des  Xeroderma  pig¬ 
mentosum  beschrieben  haben,  wo  ebenfalls  die  epitheliale 
Neubildung  von  mit  in  die  Tiefe  gelangten  Melanoblasten 
durchwachsen  war.  Nach  obigem  sind  Tumoren,  die  aus 
Nävuszellen  hervorgehen,  als  Karzinome  und  nicht  als  Sar¬ 
kome  aufzufassen.  Ob  Melanoblasten  allein  zur  Geschwulst¬ 
bildung  führen  können,  müßten  spätere  Untersuchungen 
zeigen,  aber  auch  diese  Geschwülste  müßten  als  epitheliale 
aufgefaßt  werden. 

Anders  wäre  es  mit  Geschwülsten,  die  aus  den  oft. 
reichlich  vorhandenen  Chromatophoren  hervorgehen,  in 
welchen  sich  niemals  eine  lipoide  Vorstufe  nachweisen  läßt. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


DieseZellen  sind  mesodermal,  aus  ihnen  dürften  die  Melano- 
sarkome  hervorgehen  und  es  spricht  für  diese  Auffassung, 
daß  wir,  wenn  auch  nur  in  einem  Falle  von  Melanosarkorn, 
das  allerdings  länger  in  ,, Kayserling“  gelegen  war,  auch  in 
den  jüngsten  Zellen  keine  Spur  von  Lipoid  nachweisen 
konnten. 


Die  Technik  der  Knochenmarkspunktion. 

Von  Prof.  Dr.  Giovanni  Ghedini. 

Einige  Kollegen  der  Wiener  Kliniken,  die  sich  für  die 
Knochenmarkprobepunktion1)  interessieren,  wandten  sich  mit  dem 
Ansuchen  an  mich,  Ihnen  näheres  über  die  Ausführung  der¬ 
selben  mitzuteilen ;  so  halte  ich  es  für  angezeigt,  auch,  weil  die 
Originalarbeit  schwer  zugänglich  sein  dürfte,  die  Technik  des1 
kleinen  Eingriffes,  wie  ich  sie  seinerzeit  in  meiner  ersten  Mit¬ 
teilung2)  beschrieben  habe,  hier  in  extenso  bekannt  zu  geben. 

I  n  s  t  r  u  m  en  t  a  r  i  u  m .  Ich  verwende  folgende  Instrumente : 
einen  kleinen  Bohrer  aus  Stahl,  von  2  oder  5  mm  Durchmesser, 
je  nachdem  ;  eine  (Rekord,  Lieber®  usw.)  Spritze,  mit. 'abgestumpf¬ 
ter,  8  cm  langer  Kanüle  von  mittelgroßer  Weite  flmm);  eine 
Pinzette  mit  langen,  dünnen  Branchen,  in  zwei  gehöhlte  Löffelchen 
auslaufend,  ein  Skalpell,  den  elektrischen  Apparat  von  Seifert. 
An  Stelle  des  letzteren  kann  natürlich  jeder  andere  Elektromotor, 
zum  Beispiel  mit  Straßenstromanschluß  durch  Steckkontakt  treten, 
oder  auch  nur  eiu  Pedalbohrer,  wie  ihn  die  Zahnärzte  gebrauchen. 

Ausführung.  Der  kleine  Eingriff  wird  in  der  Höhe  des 
oberen  Schienbein d ritteis  vorgenommen,  das  heißt,  auf  der  vor¬ 
deren  inneiren  Fläche  der  proximalen  Epiphyse,  die  leicht  zugäng¬ 
lich  ist. 

Wenn  es  durch  besondere  Gründe  angezeigt  erscheint  (zum 
Beispiel  man  will  den  Zustand  des  Diaphysenmarkes  kennen 
lernen),  so  wird  die  'Punktion  im  mittleren  Tibiadrittel  ausgeführt. 

Vorerst  wird  nun  das  Operationsfeld  gründlich  desinfiziert, 
mit  Alkohol,  Karbol  usw. ;  eventuell  genügt  der  Grossichsche 
•Todanstric.h.  Dann  wird,  subkutan,  ein  Anästhetikum  injiziert 
("Kokain  -  Adrenalinmischung)  und  nun  ein  Schnitt  geführt,  nicht 
viel  mehr  als  1  cm  lang,  welcher  durch  Haut,  subkutanes1  Binde¬ 
gewebe  und  Periost  gehen  muß  und  direkt  die  Knochen  ober  fläche 
angreifen  soll.  Jetzt  wird  die  Spitze  des  Bohrers  angesetzt; 
der  Bohrer  muß  senkrecht  zur  Knochenoberfläche  stehen  und  mit 
mäßigem  und  gl  e  i  chblei  bend  ein  Druck  an  den  Knochen  gedrückt 
werden. 

Es  ist  darauf  zu  achten,  daß  die  Wundränder  weit  ausein¬ 
anderstehen.  Benützt  man,  wie  ich,  den  elektrischen  /Antrieb, 
so  wird  'zuerst  eine  geringere,  dann  eine  etwas 'größere  Geschwin¬ 
digkeit  —  etwa  1000  Umdrehungen  in  der1  Minute  —  angewendet, 
die  dann  bis  zur  vollendeten  Perforation  beibehalten  wird.  Dabei 
sind  Unterbrechungen  tunlichst  zu  vermeiden,  denn  heim  Wieder- 
einsetzen  der  Bewegung  ereignen  sich  gewöhnlich  brüske  Stöße, 
welche  oft  dein  Bohrer  aus  der  früheren  Richtung  ablenken.  Das 
plötzliche  Fehlen  des  Widerstandes  zeigt,  uns  an,  daß  die  Per¬ 
foration  komplett  ist. 

In  diesem  Moment,  kommt  es  zuweilen  vor,  daß  der  Trepan 
mit  der  Spitze  in  die  Pulna  ©indringt.  Dies 'Vorkommnis  ist  völlig 
bedeutungslos.  Gewöhnlich  beträgt  die  für  die  Trepanierung  an- 
gewendete  Zeit  drei  Minuten.  Bevor  man  jetzt  den  Bohrer  entfernt, 
ist  es  gut,  die  Kanüle  oder  die  Pinzette  mähe  an  die  Wunde  her  an - 
znbringen,  um  sofort,  eine  der  beiden  in  den  Knochenkanal  ein¬ 
führen  zn  können. 

Die  Kanüle  wird  mit  Mandrin  armiert  eingeführt,  man  geht, 
etwas  tiefer  in  die  Pulpa,  entfernt  den  Mandrin,  setzt  die  Spritze 
auf  und  saugt  au.  Wenn  so  kein  Material  zu  erhalten  ist,  so 
nehme  man  nochmals  zum  Mandrin  seine  Zuflucht,  oder  man 
teile  der  Kanüle  leichte  seitliche  Bewegungen  mit.  um  so  kleine 
Gewebsteile  zu  zertrümmern . 

Die  Pinzette  wird,  senkrecht  zur  Schienbein achse,  mit  halb¬ 
geöffneten  Branchen  eingeführt.  Es  ist  gut,  auch1  diese  leicht  nach 
den  Seiten  zu  bewegen.  Dann  schließt  man  die  Branchen  und 
damit,  zugleich  den  kleinen  Raum1  zwischen  den  Löffelchen  und 
zieht,  rasch  heraus. 

Das  in  der  einen  oder  der  anderen  Weise  gewonnene  Ma- 
lerial  wird  nun  für  die  zweckmäßigen  Untersuchungen  vorbereitet: 
entweder  streicht  man  es  auf  Deckgläschen  aus,  oder  man  härtet 
es  in  den  gebräuchlichen  Lösungen,  oder  man  impft  es  auf  Nähr¬ 
böden,  oder  man  bewahrt  es  in  sterilen  Behältern  auf. 

Zuweilen  bemerkt  man  eine  geringfügige  Blutung  aus  der 
WnmU,  pie  wird  jedoch  durch  einen  Gazetampon  alsbald  gestillt. 

P  Diese  Wochenschr.  1910.  Nr.  51. 

U  Oljpjca  rnedica  jtaliana  1908. 


Zuletzt  verschließt  man  die  Hautwunde  durch  eine  Naht  und 
verbindet. 

Während  des  ganzen  Eingriffes  klagt  der  Patient,  bei  An¬ 
wendung  von  Lokalanästhesie,  fast  nie  über  Schmerzen,  oder 
doch  nur  über  sehr  geringfügige. 

Es  ist  überflüssig,  zu  betonen,  daß  die  Instrumente  voll¬ 
kommen  steril  sein  müssen  und  daß  die  strengste  Asepsis  ge¬ 
wahrt  werden  soll. 

Die  A bslrichprä parate  habe  ich  in  der  Hitze  oder  in  der 
Alkohol- Aethermischung,  die  mit  der  Pinzette  gewonnenen  Ge¬ 
websteilchen  in  den  verschiedenen  Alkoholen  oder  in  anderen 
Flüssigkeiten  fixiert;  diese  zweite  (Piiizette-)Methode  empfiehlt 
sich  besonders,  wenn  man  die  feinsten  Straktureigentümlich- 
keiten,  das  Verhältnis  der  Elementarbestandteile  zueinander  usw.. 
kennen  lernen  will. 

Sowohl  die  Abstrichpräparate  als  die  Schnitte  wurden  mit 
Hämalaun -Eosin,  mit.  Eosin,  Methylenblau,  mit  Ehrlichs  Tria¬ 
zid,  mit  Gieirisalösung,  mit  Pappenheimscher  Lösung  usw. 
gefärbt. 

Wien,  Februar  1911. 


Diskussion. 

Erwiderung  auf  die  kritischen  Bemerkungen 
Mayerhofers  über  meine  Resultate  bei  Per¬ 
manganattitration  des  Liquor  cerebrospinalis. 

Von  Dr.  med.  G.  Simon. 

In  der  in  Nr.  6  dieser  Wochenschrift  von  Mayerhofer 
geübten  Kritik  meines  Berichtes  über  die  Permanganattitration 
von  Lumbalflüssigkeiten,  auf  deren  zum  Teil  recht  persön¬ 
lichen  Ton  zu  erwidern  ich  keineswegs'  die  Absicht  habe,  ver¬ 
misse  ich  vor  allem  eine  genauere  AVürdigung  gerade  der  Fälle, 
auf  die  ich,  wie  mehrfach  betont,  das  Hauptgewicht  legen  möchte. 
(Fall  IX  bis  XIX.) 

Es  interessiert  mich  speziell  die  Frage,  ob  die  Reduktions¬ 
bestimmung  eine  geeignete  Methode  zur  Differenzierung  der  Menin¬ 
gitis  tuberculosa  von  den  klinisch  oft  sehr  ähnlichen  Fällen  von 
Meningismus  hei  Pneumonie  darstellt. 

Auf  Grund  meiner  Protokolle  —  ich  verweise  hier 
auf  die  fast  gleichlautenden  Zahlenwerte  in  Fall  XI,  XII  und  XIV 
(Meningitis  tuberculosa)  und  Fall  XV,  XVI,  XVIII  und  XIX 
(Pneumonie)  —  behaupte  ich  nach  wie  vo,r,  daß  die  Diffe- 
rcntialdiagnose  dieser  Fälle  einstweilen  mit  weit  größerer  Sicher- 
heil,  wenn  auch  erst  nach  24  Stunden,  nach  dem  Ausfallen 
des  Fibrinnelzes  (und  Nachweis  von  Tuberkelbazillen),  als  nach 
der  von  Mayerhofer  angegebenen  Methode  gestellt  werden 
kann. 

Ueber  den  prognostischen  Wert  der  Methode  bei  der  Serum- 
thiorapie  der  Meningitis  cerebrospinalis  habe  ich,  da  mir  ge¬ 
eignete  Fälle  nicht  genügend  zur  Verfügung  standen,  keine  Unter¬ 
suchungen  vorgenommen,  mir  aber  auch,  wie  aus  den  Schlu߬ 
worten  deutlieb  genug  hervorgeht,  keinerlei  Urteil  hierüber  erlaubt. 


Referate. 

Taschenbuch  der  pathologischen  Anatomie.  —  Dr.  Werner 
Klinkhardts  Kolleghefte. 

Von  Prof.  Dr.  Edgar  Gierke. 

Heft  5 : 

Allgemeiner  Teil. 

Heft  6 : 

Spezieller  Teil. 

Leipzig  1911,  Dr.  W.  Klinkhardt. 

Die  beiden  vorliegenden  Hefte  entstammen  einer  Sammlung, 
die  nach  den  einleitenden  Worten  des  Verlegers  im  Laufe  der 
Zeit,  erweitert  werden  und  möglichst  alle  Wissenszweige  um¬ 
fassen  soll.  Das  Unternehmen  soll  Lehrbücher  nicht  ersetzen, 
sondern  die  Hefte  sollen  neben  den  Lehrbüchern  gebraucht 
werden,  ,,es  soll  sozusagen  der  eiserne  Bestand  jedes  Kollegs 
geboten  werden,  das  Individuelle  muß  haudsehriftlich  hinzu¬ 
gesetzt.  werden“.  Dieser  Bestimmung  trägt  auch  die  äußere  Aus¬ 
stattung  der  Hefte  Rechnung,  indem  mehr  als  ein  Dritteil  jeder 
Seite  unbedruekt  blieb,  leere  Blätter  in  den  Text  eingeschaltet 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


285 


und  auch  am  Schlüsse  beigeheftet  wurden.  Auch  der  Verfasser 
bezeichnet  das  Büchlein  nur  als  Kollegheft,  das  die  Vorlesung 
nicht  überflüssig  erscheinen  lassen,  sondern  im  Gegenteil  das 
wahre  Verständnis  derselben  vermitteln  soll.  Seine  Absicht  war 
es,  „eine  Befreiung  vom  rein  Stofflichen  anzubahnen  und  die 
Grundtatsachen  in  möglichst  übersichtlicher  und  knapper  Weise 
als  Grundstock  der  Vorlesung  dem  Studenten  in  die  Hand  zu 
gehen“.  Demgemäß  mußte  der  ganze  Lehrstoff  der  pathologi¬ 
schen  Anatomie  in  knapper  Form,  fast  nur  in  Schlagworten,  dar¬ 
gestellt  werden.  Diese  Aufgabe  hat  der  Verfasser  auch  zweifellos 
glücklich  gelöst.  Soweit  es  der  enge  Rahmen  des  Buches  möglich 
machte,  hat  Verf.  eine  vortreffliche  Uebersicht  sowohl  der  all¬ 
gemeinen,  als  der  speziellen  pathologischen  Anatomie  geliefert 
und  in  allen  Kapiteln  die  wesentlichsten  Tatsachen  oder  die 
wichtigsten  Eigenschaften  der  in  Betracht  kommenden  Verände¬ 
rungen  in  aller  Kürze  skizziert,  wobei  natürlich  strittige  oder 
derzeit  noch  in  Diskussion  stehende  Fragen  wegbleiben  mußten. 
Auch  die  sorgfältige  Auswahl  und  vortreffliche  Ausführung  der 
Abbildungen  verdient  alle  Anerkennung. 

Würden  diese  Kolleghefte  tatsächlich  nur  als  solche  im 
Sinne  ihres  Verfassers  und  des  Herausgebers  verwendet  werden, 
so  könnten  sie  dem  Studierenden  vielfach  von  Nutzen  sein,  weniger 
wohl  zum  Gebrauch  während  der  Vorlesung,  eher  vielleicht  als 
kurzes  Repetitorium.  Die  Erfahrung  lehrt  aber,  daß  viele  Stu¬ 
denten  ihr  Wissen  ausschließlich  aus  kleinen  Kompendien  oder 
den  berüchtigten:  „Skripten“  holen  und,  wo  solche  erhältlich 
sind,  das  Studium  größerer  Lehrbücher  ganz  unterlassen.  Kurze 
Repetitorien  mögen  nun  allenfalls  ausreichen,  um  den  Studenten 
für  das  Examen  einzupauken,  sie  können  ihm  aber  naturgemäß 
niemals  eine  wirkliche  Kenntnis  des  betreffenden  Wissenszweiges 
vermitteln,  da  sie  bei  der  gebotenen  Raumbeschränkung  kaum 
mehr  als  eine  Uebersicht  des  Stoffes  bieten  können.  Alle  der¬ 
artigen  Bücher,  mögen  sie  auch  so  vorzüglich  abgefaßt  sein 
wie  das  vorliegende  Taschenbuch  der  pathologischen  Anatomie, 
verleiten  nur  allzu  leicht  den  Studenten  zur  Oberflächlichkeit  und 
dieser  Nachteil  überwiegt  nach  Ansicht  des  Referenten  bei  weitem 
den  geringen  Nutzen,  den  sie  allenfalls  bei  zweckentsprechender 
Anwendung  haben  könnten. 

‘  '  * 

Die  Krankheiten  der  warmen  Länder. 

Ein  Handbuch  für  Aerzte. 

Von  Geh,  Medizinalrat  Dr.  TL  Schenke. 

Vierte,  umgearbeitete  und  erweiterte  Auflage. 

Jena  1910,  Gustav  Fischer. 

Scheubes  Handbuch  bedarf  wohl  kaum  mehr  einer  be¬ 
sonderen  Empfehlung,  es  hat  sich  seit  langem  bereits  einen  wohl¬ 
verdienten  Ruf  erworben.  Der  Tropenpathologie  wird  allenthalben 
das  größte  Interesse  entgegengebracht,  zahlreiche  Institute  be¬ 
schäftigen  sich  ausschließlich  mit  dem  Studium  der  Tropenkrank¬ 
heiten  unld  mehrere  Zeitschriften  sind  demselben  gewidmet.  Die 
Erforschung  dieser  Krankheiten  ist  sowohl  von  hohem  theore¬ 
tischen  Interesse,  als  von  größter  praktischer  Wichtigkeit,  seit 
mehrere  Länder  ausgedehnten  Kolonialbesitz  in  den  Tropen  er¬ 
worben  haben,  jährlich  viele  Staatsangehörige  dorthin  auswan- 
dem  und  zahlreiche  europäische  Aerzte  sich  in  den  Tropen 
niederlassen.  Tatsächlich  hat  auch  die  Erkenntnis  der  Tropen¬ 
krankheiten  im  Laufe  der  letzten  Jahre  ungeheure  Fortschritte 
gemacht  und  es  war  keine  leichte  Arbeit  für  den  Verfasser,  in 
seiner  Darstellung  durchwegs  dem  heutigen  Stande  der  Wissen¬ 
schaft  gerecht  zu  werden.  Wie  'er  in  der  Vorrede  zur  vorliegenden 
Neuauflage  hervorhebt,  konnte  kein  Kapitel  unverändert  bleiben 
und  eine  ganze  Anzahl  von  Kapiteln  mußte  neu  aufgenommen 
werden.  So  ist  denn  auch  der  Umfang  des  Werkes  im  Laufe 
der  Jahre  stattlich  angewachsen,  es  umfaßt  heute  bereits  mehr 
als  1000  Seiten;  Anordnung  und  Gliederung  des  Stoffes  er¬ 
fuhren  im  wesentlichen  keine  Aenderung.  Jedenfalls  ist  es  dem 
Autor  vollständig  gelungen,  auch  in  dieser  Auflage  alle  Fort¬ 
schritte  der  Tropenmedizin  zu  berücksichtigen  und  ein  unentbehr¬ 
liches1  Nachschlagewerk  allen  jenen  zu  liefern,  die  sich  für 
diesen  Zweig  der  Medizin  interessieren.  Von  ganz  besonderem 
Wert  dürften  die  umfangreichen  Literaturnachweise  am  Schlüsse 
jedes  Kapitels  sein,  die  das  Auffinden  der  gerade  auf  diesem 
Gebiet,  so  vielfach  verstreuten,  oft  kaum  erreichbaren  Einzel 


arbeiten,  wesentlich  erleichtern.  Zweifellos  wird  daher  auch  die 
vorliegende  Auflage  dieselbe  Anerkennung  und  weite  Verbreitung 
finden  wie  ihre  Vorgänger.  Carl  Sternberg. 

* 

Handbuch  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen. 

Bearbeitet  von  Charles  R.  Bardeen,  Madison,  Wis.  U.  S.  A.;  Herbert. 
M.  Evans,  Baltimore,  U.  S.  A.;  Walter  Felix,  Zürich;  Otto  Grosser. 
Prag;  Franz  K  e  i  b  e  I,  Freiburg;  Frederic  T.  L  e  w  i  s.  Boston,  Mass. 
U.  S.  A.;  Warren  H.  Lewis,  Baltimore,  U.  S.  A.;  John  Playfair 
Me.  Mur  rieh,  Toronto,  Canada;  Franklin  P.  Mall.  Baltimore,  U.  S.  A: 
Charles  S.  Minot,  Boston,  Mass.  U.  S.  A.;  Felix  Pinkus,  Berlin; 
Florence  R.  S  a  b  i  n,  Baltimore,  II.  S.  A.;  George  L.  Streeter,  Ann 
Arbor,  Mich.,  U.  S.  A.;  Julius  Tandler,  Wien;  Emil  Zuckerkand!. 

Wien. 

Herausgegeben  von  Franz  Keihel.  Professor  an  der  Universität  Freiburg 
und  Franklin  P.  Mall,  Professor  der  Anatomie  an  der  Johns  Hopkins 
University,  Baltimore  U.  S.  A. 

In  zwei  Bänden. 

Erster  Band  mit  423  Abbildungen. 

Leipzig  1910,  Verlag  von  S.  Hirzel. 

Das  vorliegende  Werk  ist  das  erste  Handbuch  der  Ent¬ 
wicklungsgeschichte  des  Menschen,  das  nahezu  ausschließlich  auf 
Grund  von  Untersuchungen  an  menschlichen  Embryonen  geschrie¬ 
ben  wurde,  und  daher  von  vornherein  des  größten  Interesses  sicher. 
Bis  vor  kurzem  waren  —  wie  Keibel  in  der  Einleitung  mit 
Recht,  bemerkt  —  die  Lücken  in  unseren  Kenntnissen  von  der 
Entwicklung  des  Menschen  noch  so  groß  und  so  zahlreich,  daß 
man  zur  vergleichenden  Embryologie  seine  Zuflucht  nehmen 
mußte,  um  die  fehlenden  Studien  der  menschlichen  Entwicklung 
zu  ergänzen.  Daß  ein  solcher  Vorgang  nicht  befriedigend 
war,  ja  sogar  die  Quelle  mannigfacher  Irrtümer  bilden 
mußte,  wurde  immer  klarer,  je  mehr  die  immer  weiter 
vordringende  Forschung  lehrte,  daß  die  Entwicklung  jeder 
Tierart  vom  Stadium  der  Eizelle  an  von  speziellen  Ge¬ 
setzen  beherrscht  wird.  Es  bildet  ein  besonderes  Verdienst 
Keibels,  die  Vertiefung  dieser  Erkenntnis  durch  Herausgabe 
der  „Normentafeln  zur  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere“ 
wesentlich  gefördert  zu  haben,  da  diese  ein  großes,  teils  von 
ihm  selbst,  teils  von  anderen  Forschem  gesammeltes  Material 
über  die  Ontogenese  einer  Reihe  von  Verte b ratens p ezies  ent¬ 
halten.  Als  eine  dieser  Normentafeln  erschien  im  Jahre  1908, 
von  Keibel  und  Elze  bearbeitet,  jene,  welche  den  Menschen 
betrifft.  Damit,  war  eine  wichtige  Grundlage  geschaffen,  so  daß 
nunmehr  die  größere  Arbeit  mit  berechtigter  Hoffnung  auf  Er¬ 
folg  in  Angriff  genommen  werden  konnte. 

Zur  Geschichte  des  Buches  erfährt  man  aus  der  Einlei¬ 
tung,  daß  schon  der  verstorbene  Leipziger  Anatom  Wilhelm 
His  mit  Keibel  den  Plan  erwogen  hatte,  eine  ausschließlich 
auf  menschliche  Embryonen  bezugnehmende  Entwicklungs¬ 
geschichte  herauszugehen.  Zirm  vorliegenden  Werke  verband 
sich  Keibel  mit  Mall,  „einem  der  treuesten  Schüler  His“;  es 
wurden  —  wie  aus  dem  Titel  ersichtlich  —  noch  zahlreiche  an¬ 
dere  Forscher,  größtenteils  aus  Amerika,  zur  Mitarbeiterschaft 
herangezogen.  Die  Auswahl  war  so  getroffen,  daß  fast  sämtliche 
Kapitel  von  Autoren  bearbeitet  werden  konnten,  die  ihre  besondere 
Eignung  hiefür  bereits  durch  Spezialarbeiten  über  die  Themen 
jener  Kapitel  bewiesen  hatten. 

Die  Einteilung  des  etrsten  Bandes  ist  folgende ;  Die  ersten 
sechs  Kapitel  (die  Geschlechtszellen,  die  Befruchtung,  die  Fur¬ 
chung,  jüngste  menschliche  Eier  und  Embryonen  bis  zur  Bil¬ 
dung  der  ersten  Ursegmente,  die  Bildung  der  Keimblätter  und 
das  Gastrulationsproblem,  Ueberblick  über  die  Gesamtentwick¬ 
lung  des  Menschen  und  die  Herausbildung  seiner  äußeren  Körper¬ 
form)  stammen  aus  der  Feder  von  Keibel  selbst.  Die  beiden 
kurzen  Kapitel  über  Befruchtung  und  Furchung  sind  die  ein¬ 
zigen,  in  denen  sich  der  Verf.  mit  dem  Hinweis  auf  die  Ver¬ 
hältnisse  bei  Tieren  begnügen  mußte.  Die  Kapitel  über  die  jüngsten 
menschlichen  Eier  und  über  die  Bildung  der  äußeren  Körperform 
sind  mit  besonderer  Gründlichkeit  und  genauester  Sachkenntnis 
gearbeitet  und  dürften  gewiß  jedem  Geburtshelfer  hoch  will¬ 
kommen  sein.  Bezüglich  des  Gastrula.tionsproblems  verwirft. 
Keihel  die  von  ihm  seihst  begründete  und  von  O.  Hertwig 
in  sein  Handbuch  aufgenommene  Lehre  von  der  Gastmlation 


28fi 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


in  zwei  Phasen  und  vertritt  jene  Anschauung,  der  er  zusammen 
mit  Hu  brecht  vor  fünf  Jahren  zuerst  Ausdruck  gegeben  hat. 
Dieser  zufolge  würde  das  Stadium  des  Primitivstreifens  lediglich 
den  Ausgang  für  die  Bildung  des  Mesoderms  und  der  Chorda, 
die  ein  Produkt  des  äußeren  und  nicht  des  inneren  Keimblattes 
sei,  darstellen. 

Das  7.  Kapitel  behandelt  „die  Entwicklung  der  Eihäute  und 
die  Plazenta;  die  Menstruation“.  Sein  Verfasser  ist  0.  Grosser, 
der  bekanntlich  über  denselben  Gegenstand  bereits  ein  vortreff¬ 
liches  Lehrbuch  veröffentlicht  hat. 

Mall  hat  das  8.  und  9.  Kapitel  beigesteuert.  Im  ersteren 
wird  „die  Altersbestimmung  von  menschlichen  Embryonen  und 
Föten“  in  erschöpfender  Weise  auseinandergesetzt;  dasi  letztere 
betrifft  „die  Pathologie  dels  menschlichen  Eies“.  Und  wenn  darin 
auch  das  Interesse  des  Embryologen  und  nicht  jenes'  des  Geburts¬ 
helfers  zur  Geltung  gelangt,  so  enthält  es  doch  zahlreiche,  auch 
für  diesen  höchst  wichtige  Angaben. 

Das  10.  Kapitel  (Entwicklung  der  Haut)  schrieb  Pinkus. 
Auffallend  ist  die  Einleitung  seiner  im  übrigen  sehr  sorgfältigen 
Abhandlung :  „Die  Epidermis  stellt  vom  Beginn  der  Körperbil¬ 
dung  an  die  äußere  Hülle  des  Menschen  dar.  Sie  besteht  anfangs 
aus  einer  gleichmäßig  glatten  zweischichtigen  Lage“.  Diese  An¬ 
gabe  widerspricht  den  Tatsachen,  denn  die  Epidermis  der  Am- 
niote'n  ist  im  Gegensatz  zu  jener  der  Knochenfische  oder  Am¬ 
phibien,  die  sich  aus  einer  Deckschicht  und  einer  Sinneschicht 
zusammensetzt,  anfangs  einschichtig.  Die  Sonderung  in  Peri¬ 
derm  und  Keimschicht  ist  erst  die  Folge  höherer  Differenzierung. 

Das  11.  Kapitel  stammt  von  B.  Bardeen  und  betrifft  die 
Entwicklung  des  Skelettes  und  des  Bindegewebes.  Es  zerfällt 
in  einen  allgemeinen  Teil,  die  Histogenese  der  Bindegewebsgruppe 
und  einen  speziellen,  die  Morphogenese  des  Skelettsystems.  Der 
erstere  ist  nicht  glücklich  abgefaßt.  Denn  einerseits  werden  hier 
-  scheinbar  mit  Rücksicht  auf  die  notwendige  knappe  Form  — 
selbst  grundlegende  Arbeiten  nicht  erwähnt,  anderseits  sind 
Theorien  ausführlich  widergegeben,  die  es  wahrlich  nicht  ver¬ 
dienen.  Charakteristisch  ist  der  Satz,  mit  dem  Bardeen  den 
Abschnitt  betreffend  den  Bau  und  die  Entwicklung  des  Knochens 
eröffnet:  „Der  histologische  Aufbau  dies  Knochens  ist  noch 
strittig“.  Auf  diese  Behauptung  pas'seln  die  AVorte  v.  Ebner  s',  mit 
welchen  sich  dieser  gegen  die  Darstellung  Nowikoffs  vom 
Bau  des  Knochens  wendet.  („Ueb'er  Fasern  und  Waben.  Eine  histo¬ 
logische  Untersuchung  der  Haut  der  Gordiiden  und  der  Knochen¬ 
grundsubstanz“  in  Sitzungsber.  d.  Kais.  Akad.  d.  Wissenschaften, 
mathem.-naturwiss.  Kl.  119.  Bd.) :  „Eine  Unklarheit  (über  die 
Knochenstruktur)  ist  nur  dann  vorhanden,  wenn  man  alle  ge¬ 
äußerten  Ansichten  als  gleichberechtigt  nebeneinander  stellt  und 
einem  unbegründeten  Einfall  dasselbe  Gewicht  beilegt  wie  einer 
methodisch  durchgeführten  Untersuchung.“  Vielleicht  ist  üb¬ 
rigens  weniger  ein  Mangel  an  Kritik  als  ein  Mangel  in  der  Kenntnis 
der  Literatur  bei  der  Darstellung  Bardeens  von  Einflußi  ge¬ 
wesen.  Beiweitem  am  ausführlichsten  gibt  er  die  Angaben  Malis 
betreffend  die  Histogenese  der  Bindesubstanzen  wieder. 

Im  Gegensatz  zum  allgemeinen  Teil  ist  die  Bearbeitung  der 
Morphogenese  des  Skelettsystems  eine  sehr  sorgfältige.  Sie  um¬ 
faßt  136  Seiten  und  bildet  die  erste  detaillierte  Darstellung  der 
Entwicklung  des  ganzen  Skelettes  des  Menschen. 

Ebenso  stellt  die  von  H.  Lewis  bearbeitete  Entwicklung 
des  Muskelsystems  eine  Zusammenfassung  der  verschiedenen  Ar¬ 
beiten  über  die  Entwicklung  der  einzelnen  Muskelgruppen  dar, 
wie  sie  die  embryologische  Literatur  in  dieser  Vollständigkeit 
bisher  nicht  aufzuweisen  hatte.  Der  Wert  dieser  Zusammen¬ 
fassungen  wird  noch  dadurch  erhöht,  daß  sie  ein  höchst  per¬ 
sönliches  Gepräge  besitzen,  da  sowohl  Bardeen  wie  H.  Lewis 
auf  jenen  Gebieten  selbst  sehr  wertvolle  Untersuchungen  ge¬ 
liefert  haben.  Bezüglich  der  Histogenese  der  Muskulatur  verdient 
angemerkt  zu  werdein,  daß  sich  Lewis  bei  Schilderung  der 
Entwicklung  der  glatten  Muskelfasern  auf  Mac  Gill  stützt, 
welche  die  zelluläre  Natur  derselben  —  unberechtigter  Weise 
—  leugnet  und  sie  nur  als  Myofibrilleinbündel  betrachtet,  die  in 
einem  Syncytium  zur  Differenzierung  gelangen. 

Im  letzten  (13.)  Kapitel  beschreibt  Mall  die  Entwicklung 
von  Cölom  und  Zwerchfell. 


Schon  aus  dieser  kurzen  Inhaltsangabe  ist  ersichtlich, 
daß  das  von  K ei  bei  und  Mall  herausgegebene  Buch 
nicht  nur  wegen  der  ausschließlichen  Berücksichtigung  des  Men¬ 
schen,  sondern  auch  wegen  seiner  Gediegenheit  wert  ist,  in  keiner 
größeren  medizinischen  Bibliothek  zu  fehlen.  Für  die  Fach¬ 
genossen  bildet  eis  ein  längst  gewünschtes  Hilfsbuch  beim  Stu¬ 
dium  und  Unterricht,  insbesondere  auch  aus  dem  Grunde,  weil 
jedes  Kapitel  mit  einem  reichen  Literatur-Verzeichnis  ausgestattet 
ist.  Und  der  praktische  Arzt,  der  zwar  in  der  Anatomie,  nicht 
aber  in  der  Entwicklungsgeschichte  geschult  ist,  wird  darin  die 
Antwort  auf  so  manche  Frage  finden,  daß'  auch  ihm  die  Lektüre 
des  Buches  nur  warm  empfohlen  werden  kann. 

H.  'Rabl. 

* 

Die  Elemente  des  Herzmuskels. 

Von  A.  Dietrich. 

(12.  Heft  der  Sammlung  anatomischer  und  physiologischer  Vorträge  und 
Aufsätze  von  E.  G  a  u  p  p  und  W.  Nage  1.) 

46  Seiten. 

Jena  1910,  G.  Fischer. 

Ausgehend  von  der  Ueberzeugung,  daß  die  Kenntnis  vom 
Bau  und  der  Zusammensetzung  des  Herzmuskels  die  Grundlage  aller 
experimentellen  Forschung  und  klinischer  Beobachtung  bilden  muß, 
erörtert  Verf.  kritisch  auf  Grund  fremder  und  eigener  Unter¬ 
suchungen  und  Beobachtungen  1.  die  Frage  nach  dem  zellulären 
Aufbau  des  Herzens,  die  mit  der  nach  dem  Wesen  der  sogenannten 
Quer-  oder  Kittlinien  zusammenfällt,  2.  die  Kernveränderungen 
und  3.  die  spezifischen  Muskelelemente.  Der  Verfasser  konnte  die 
Querlinien  im  menschlichen  Herzen  ohne  Ausnahme  darstellen 
(er  empfiehlt  dazu  am  meisten  die  Doppelfärbung  mit  Brillant- 
schwarz-Safranin).  Ebenso  vermißte  er  sie  bei  Tieren  (Kaninchen, 
Hund,  Schaf)  niemals.  Die  Agone,  sowie  der  Kontraktionszustand 
des  Herzens  als  Ganzen  sind  ohne  Einfluß  auf  ihr  Zustandekommen. 
Ihre  Form  und  Anordnung  ist  charakteristisch  für  jedes  Herz.  Im 
fötalen  Herzen  fehlen  sie,  beim  Neugebornen  sind  sie  schwer  dar¬ 
zustellen  ;  sehr  rasch  treten  sie  aber  schon  in  den  ersten  Lebens¬ 
monaten  auf,  um  bei  Abschluß  des  physiologischen  Wachstums 
ihre  höchste  Ausbildung  zu  erlangen.  Besonders  deutlich  sind  sie 
im  atrophischen  Herzen  ;  im  hypertrophischen  erscheinen  sie  weiter 
auseinandergerückt,  die  großen  Treppen  fehlen  ganz  und  an  den 
Querlinien  erscheinen  die  hypertrophischen  Fasern  gleichsam  etwas 
eingezogen,  zusammengerafft.  Vergleichende  Zählungen  von  genau 
entsprechenden  Stellen  ergaben  im  gleichen  Gesichtsfeld  für  das 
normale  Herz  18  bis  20,  für  das  atrophische  21,  für  das  hyper¬ 
trophische  9  bis  13.  Bei  fettiger  Degeneration  bleiben  die  Quer¬ 
linien  stets  fettfrei.  Eine  sehnige  Natur  der  Linien  lehnt  Dietrich 
ab  ;  er  faßt  sie  als  verdichtete  kontraktile  Substanz  auf  und  ver¬ 
gleicht  sie  den  zusammen  raffenden  Knoten  eines  grobmaschigen 
Gewebes,  welche  die  auseinanderstrebenden  und  in  verschiedener 
Richtung  wirkenden  Fibrillen  zu  gleichgesinnten  Gruppen,  zu 
isoaxiokontraktiler  Wirkung  (Ren aut)  vereinigen.  Damit  stimmt 
ihre  Verteilung,  die  dort  am  reichlichsten  ist,  wo  die  stärkste 
Plexusbildung  sich  findet,  in  den  Trabekeln  und  Papillarmuskeln. 

Die  Kerne  des  Herzmuskels  sind  de  norma  sehr  verschieden 
gestaltet  —  einfache  Leisten-  oder  Plattenkerne,  aufgeblähte  und 
stäbchenförmige  Kerne  —  so  daß  aus  Kernveränderungen  nicht 
auf  degeneralive  Vorgänge  im  Herzmuskel  geschlossen  werden  kann. 

Das  Reizleitungssystem  konzentriert  sich  an  zwei  Stellen :  im 
Winkel  zwischen  Koronarvenensinus  und  Vorhof  (Sinusknoten)  und 
zwischen  Vorhof  und  Ventrikel  (Atrioventrikularknoten). 

Verlauf  und  Endausbreitung  dieses  Systems  werden  genau 
beschrieben.  Im  Zusammenhang  damit  werden  die  Pur kinjeschen 
Fasern  des  Schafherzens  besprochen.  Fasern  von  übereinstimmendem 
Bau  kommen  beim  Menschen  nicht  vor ;  doch  zeigt  jede  Tierart 
graduell  vom  Bau  der  P  urk  i  nj  eschen  abweichende,  eigentüm¬ 
liche  Fasern  und  auch  der  Mensch  besitzt  im  Reizleitungssystem 
ein  solches  spezifisches  Fasersystem,  dessen  histologischer  Aufbau 
genau  beschrieben  wird.  Auch  auf  das  Vorkommen  großer  Massen 
von  glatten  Muskelfasern,  in  der  Vorhofswand  (Aschoff)  und  in 
der  Kammerwand,  besonders  im  glatten  Abschnitt  der  Aortenaus¬ 
flußbahn  (Dietrich)  wird  hingewiesen.  Auch  die  Beziehungen 
des  Reizleitungssystemes  zu  den  Nerven  wird  berührt  ;  Verf. 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1Ü1L 


287 


spricht  aber  auch  die  Vermutung  aus,  ob  nicht  dem  reichlichen 
Sarkoplasma  der  Reizleitungsfasern  eine  funktionelle  Rolle  bei  der 
Reizaufnahme  zukomme.  Josef  Schaffer,  Wien. 


Aus  \/ersehiedenen  Zeitschriften. 

192.  (Aus  dem  Allgem.  Krankenhaus©  St.  Georg  in  Ham¬ 
burg.  —  Prof.  Dr.  Deneke.)  Ueber  Entstehung  und  Be¬ 
handlung  der  Ischias  scoliotic a.  Von  Dr.  Erich  Plate. 
In  den  letzten  Wochen  bekam  Verf.  zufällig  fast  gleichzeitig 
sieben  Fälle  von  Ischias  scoliotica  zur  Behandlung,  in  allen 
sieben  Fällen  (fünf  männlich  und  zwei  weiblich)  bot  sich  ein 
völlig  übereinstimmendes  Bild:  Neben  einer  Ischias  fand  sich 
eine  sogenannte  heterologe  Skoliose,  das  heißt  der  Oberkörper 
des  Kranken  war  nach  der  Seite  des  gesunden  Beines  hinüber- 
geneigt.  Diese  Schiefhaltung  der  Wirbelsäule,  bei  allen  Kranken 
nicht  gleich  stark,  bestand  —  wie  es  L.  Schultheß  beschreibt 
—  im  allgemeinen  in  einer  Abknickung  der  Wirbelsäule  an  der 
sakrolumbalen  Grenze  und  einer  sich  daran  schließenden,  flach 
aufsteigenden,  das  auf  dem  Kreuzbein  errichtete  Lot  selten  er¬ 
reichenden  skoliotischen  Biegung  der  Wirbelsäule.  Dieses  Sei t- 
aufwärtssteigen  ist  sehr  charakteristisch.  Mit  der  Abknickung  nach 
der  Seite  ist  gewöhnlich  eine  Ausgleichung  der  Lordose  und  eine 
Vorneigung  des  Trunkus  verbunden.  Diese  Vorneigung  äußert 
sich  nicht,  selten  in  einer  sakrolumbalen  oder  lumbalen  Kyphosen¬ 
bildung.  Der  Verfasser  beschreibt  kurz  seine  sieben  Fälle  und 
gibt  hübsche  Abbildungen  derselben.  Bei  allen  Kranken  zeigte 
es  sich  nun  mit  auffallender  Uebereinstimmung,  daß  jede  Sko¬ 
liose,  einerlei,  welchen  Grades  sie  war  und  wie  lange  sie  be¬ 
standen  hatte,  bei  gewissen  Körperhaltungen  (Aufrichten  aus  der 
Rückenlage,  Sitzen  auf  einem  Stuhle)  sofort  verschwand.  Beugte 
der  stehende  Kranke  den  Oberkörper  vornüber,  so  verschwanden 
völlig  alle  seitlichen  Verbiegungen,  kniete  der  Kranke,  so  blieb  die 
Skoliose  unverändert,  wenn  das  Hüftgelenk  gestreckt  war,  wäh¬ 
rend  sie  sofort  wieder  verschwand,  sobald  sich  der  Kranke  auf 
seine  Haken  setzte.  Auch  wenn  sich  der  Kranke  auf  den  Bauch 
legte,  war  die  Wirbelsäule  gerade.  Legte  man  dem,  Kranken  eine 
Glisson  sehe  Schlinge  an  und  zog  diese  so  weit  an,  daß  seine 
Fußspitzen  nur  eben  noch  den  Boden  berührten,  so  blieb  die 
Skoliose  unverändert.  Aus  diesen  und  anderen  Tatsachen  gelangt 
Verf.  zu  folgenden  Schlußsätzen:  Bei  der  Ischias  scoliotica  sind 
mehr  oder  weniger  ausschließlich  nur  die  Wurzeln  des  Nerven 
krank.  Durch  Vermittlung  zahlreicher  Anastomosen  findet  leicht 
ein  Uebergang  auf  den  Plexus  lumbalis  statt.  Dadurch  entsteht 
eine  Neuralgie  der  sensiblen  Muskeläste  des  Iliopsoas.  Infolge 
der  Schmerzhaftigkeit  sträubt  sich  der  Iliopsoas  gegen  völlige 
Streckung,  darum  wird  das  Hüftgelenk  etwas  gebeugt  gehalten, 
kann  aber  in  dieser  Stellung  wegen  der  Schmerzhaftigkeit  bei 
Kontraktion  des  Iliopsoas  nicht  festgeistellt  werden,  also  nicht 
als  Stütze  dienen.  Wegen  der  Verkürzung  des  Beines  wird  das 
Becken  schräg  gestellt,  um  balancieren  zu  können,  muß  eine 
skoliotische  Haltung  der  Wirbelsäule  eingenommen  werden.  Neben 
der  Ischias  muß  die  Myalgie  des  Iliopsoas  behandelt  werden.  Der 
Verfasser  beginnt  also  die  Behandlung  mit  dem  Sandbade,  aus 
welchem  der  Kranke  in  eine  große  Wanne  mit  heißem  Wasser 
gebracht  wurde.  In  dem  Bade  wurde  (nach  Brieger)  der  Ischi- 
adikus  massiert  und  durch  Erheben  des  gestreckten  Beines  durch 
einen  Wärter  gedehnt.  Dann  wurde  durch  tiefe  Massage  von 
den  Bauchdecken  her  oder,  indem  die  Hand  am;  Rücken  seitlich 
von  den  langen  Rückenstreckern  eindrang,  der  Psoas  massiert 
und,  indem  man  den  Kränkeln  in  die  Bauchlage  brachte,  gedehnt 
durch  Ueberstreckung  des  Hüftgelenkes.  Hinterher  wurde  durch 
Grandination  (Münchener  med.  Wochenschrift  1909,  Nr.  10)  nicht 
nur  neben  der  Lumbalwirbelsäule,  sondern  auch  entlang  dem 
ganzen  Verlauf  des  Ischiadikus  ein  starker  Hautreiz  gesetzt.  Bei 
dieser  Behandlung  wurde  in  vier  Wochen  längstens  ein  völliges 
Verschwinden  der  Schmerzen  und  der  Skoliose  erzielt.  In  drei 
Fällen  machte  Verf.  daneben  auch  eine  Injektion  in  den  Psoas 
von  15  cm3  einer  Lösung  von  Eukain  und  Alypin.  Der  Verfasser 
beschreibt,  wie  er  dabei  vorgeht,  um  die  Lösung  sicher  in  den 
Psoas  zu  injizieren.  Die  Injektion  war  nicht  sehr  schmerzhaft 
und  brachte  allen  Kranken  entschiedenen  Nutzen.  Nachhaltiger 


wirksam  schien  ihm  die  physikalische  Therapie.  —  (Deutsche 
mediz.  Wochenschrift  1910,  Nr.  3.)  E.  F. 

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193.  Diei  Umwandlung  des  S  taphy  1  ococc  us1  aureus 
in  Staphylococcus  albus.  Von  Dr.  E.  Palier  in  NewYork. 
Verf.  isolierte  vor  mehreren  Jahren  im  Berliner  Hygienischen 
Institut  aus  dem  Magensafte  eines  Patienten,  der  an  Magenkrebs 
litt,  den  Staphyylococcus  pyogenes  aureus  in  Reinkultur  und 
brachte  eine  Probe  davon  auf  Agar  im  Reagenzglas1  nach  New  York 
mit.  Es  waren  echte  goldfarbige  Staphylokokken.  Nach  zehn 
Monaten  wollte  Verfasser  frische  Kulturen  haben.  Der  Agar  im 
Reagenzglas  war  aber  ganz  ausgetrocknet  und  eine  Reinokulierung 
davon  auf  frische  Nährböden  blieb  ohne  Wachstum.  Verf.  fügte 
nun  den  alten  Kulturen  im  Reagenzglas  etwas  sterilisiertes  Wasser 
zu,  mischte  sie  zusammen  und  machte  davon  Agar-Strichkulturen. 
Das  Wachstum  war  sehr  üppig,  es  warein  aber  nicht  mehr  gold¬ 
farbige,  sondern  ganz  weiße  Kulturen.  Dieser  Umstand  ist  nach 
Verf.  nach  zwei  Richtungen  interessant:  1.  zeigt  er,  daß  trockene, 
scheinbar  tote  Kulturen,  manchmal  doch  noch  lebensfähig  sind, 
was  vom  hygienischen,  sowie  vom  Laboratoriumsstandpunkte 
aus  wichtig  ist;  2.  daß  die  Farbe  der  Mikroben  nicht  unab¬ 
änderlich  ist,  sondern  unter  Umständen  ganz  verschwinden  kann. 
Es  ist  also  eine  strikte  Klassifizierung  der  Mikroben  nach  ihrer 
Farbe,  wie  es  von  manchen  Autoren  geschieht,  nicht  haltbar. 

-  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  5.)  G. 


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194.  U  e  b  e  r  e,  ine  neuere  Modifikation  meines  V  e  r- 
fahrens  zur  Wegsammachung  der  Eustachischen 
Ohrtrompete.  Von  Prof.  Dr.  A.  Politzer  in  Wien.  Die 
neuere  Modifikation  besteht  in  der  Anwendung  der  Luftdusche 
während  einer  scharfen  Inspiration.  Das  mit  dem  Ansatzstücke 
des  Ballons  verbundene  elastische  Gummiröhrchen  wird  1  bis 

2  cm  tief  in  die  Nasenröhre  eingeführt,  hierauf  werden  beide 
Nasenöffnungen  durch  Kompression  mit  Daumen  und  Zeigefinger 
der  linken  Hand  luftdicht  geschlossen  (das  elastische  Gummi¬ 
röhrchen  darf  dabei  nicht  zusammengedrückt  werden),  dann  macht 
der  Kranke  durch  did  verengte  Mundspalte  —  ähnlich  wie  beim 
Pfeifen  - —  eine  scharfe  Inspiration,  während  welcher  der  Arzt 
durch  eine  kräftige  Kompression  des  Ballons  die  Lufteintreibung 
vornimmt.  Zumeist  gelingt  das  so  geübte  Verfahren,  in  ein¬ 
zelnen  Fällen  aber  mißlingt  es  und  da  kann 'man  sich  noch  damit 
helfen,  daß  man  dem  Kranken  ein  kurzes  Stück  eines  2  bis 

3  mm  weiten  Gummischlauches  zwischen  die  Lippen  fassen  und 
durch  dieses  während  der  Lufteintreibung  scharf  inspirieren  läßt. 
Bei  der  scharfen  Inspiration  tritt  Verschluß  der  Gaumenklappe, 
zugleich  ein  Zug  des  Gaumensegels  nach  unten  ein,  wodurch 
der  Tubenkanal  erweitert  und  das  Einströmen  der  Luft  in  die 
Trommelhöhle  erleichtert  wird.  Der  Luftstrom  gelangt  also  hier 
mit  geringerer  Druckstärke  in  die  Trommelhöhle  als  beim  Ver¬ 
fahren  mit  dem  Schlingakte.  Es  gibt  Fälle  von  rezenten  oder 
chronischen  Tuben -Trommelhöhlenkatarrhen,  bei  welchen  wegen 
starker  Schwellung  der  ganz.en  Tubenschleimhaut  die  Luftdusche 
mit  dem  Schlingakte  nicht  hinreicht,  den  Widerstand  der  Ohr¬ 
trompete  zu  überwinden,  weshalb  man  zum  Katheterismus  tubae 
greifen  muß,  ohne  auch  durch  diesen  stets  den  gewünschten 
Erfolg  zu  erziele|n.  In  solchen  Fällen  gelingt  es  häufig  mit  dem 
neuen  Verfahren,  den  für  andere  Methoden  unwegsamen  Tuben¬ 
kanal  zu  eröffnen  und  erne  eklatante  Hörverbesserung  herbei¬ 
zuführen.  Später  gelingt  dann  auch  die  Luftdusche  mit  dem 
Schlingakte  oder  der  Katheterismus.  Ferner  wurden  durch  die 
Luftdusche  bei  scharfer  Inspiration  die  im  hinteren  Abschnitte 
des  Nasenrachenraumes  und  an  der  Tubenmündung  lagernden 
Schleimmassen  gründlicher  als  bei  den  anderen  Methoden  der 
Luftdusche  in  den  unteren  Rachenraum  befördert.  Die  subjektive 
Erleichterung :  Abnahme  der  subjektiven  Geräusche,  Schwinden 
der  Eingenommenheit  des  Kopfes  und  des  lästigen  Druckes  in  den 
Ohren,  sind  ebenso  wie  bei  dem  ursprünglichen  Verfahren  als 
fernere  Vorzüge  des  neueren  Verfahrens  hervorzuheben.  Diese 
Modifikation  hat  Verf.  vielfach  bei  den  mit  Schwellung  und  lm- 
permeabilität  der  Ohrtrompete  einhergehenden  Mittelohrkatarrhen 
mit  Erfolg  angewendet,  nur  die  Hörzunahme  blieb  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  hinter  der  Wirkung  der  Luftdusche  mit  dem  Schling¬ 
akte  zurück,  endlich  auch  bei  akuten  Mittelohrentzündungen, 


288 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


nach  dem  Abklingen  der  mit  Schmerz  verbundenen  Reaktionssym- 
ptome,  da  erfahrungsgemäß  in  diesen  Fällen  kräftige  Luftströme 
(Luftdusche  mit  dem  Schlingakte  oder  Katheterismus)  kontra¬ 
indiziert  sind.  —  (Die  Therapie  der  Gegenwart,  Januar  1911.) 

E.  F. 

« 

195.  Selbstmordversuch  mit  Bromural.  Fon  Doktor 

E.  Rieger,  Stadtarzt  i'n  Schwaigern  (Württemberg).  Selbstmord¬ 
versuche  mit  modernen  Schlafmitteln  sind  nicht  selten.  Dem 
Bromural  wird  im  Gegensätze  zu  vielen  anderen  völlige  Unschäd¬ 
lichkeit  zugeschrieben.  Schon  Runck  erwähnt,  daß  Erwach¬ 
sene  experimenti  causa  20  Tabletten  =  6-0  g  ohne  Schaden 
auf  einmal  genommen  hätten.  Ein  junges  Mädchen  in  Ru߬ 
land  hat  bei  einem  Selbstmordversuche  15  Tabletten  Bromural 
genommen  und  ist  am  nächsten  Morgen  ohne  Beschwerden  er¬ 
wacht.  Zum  Beweise  der  Ungiftigkeit  des  Bromurals  berichtet 
Verf.  über  folgenden  Fall:  Eine  54jährige  Frau  mit  nervöser 
Schlaflosigkeit  nahm  offenbar  in  selbstmörderischer  Absicht  zwölf 
Stück  Bromuraltabletten.  Sie  schlief  neun  Stunden  gut,  aber 
nicht  narkotisch,  denn  sie  konnte  mehrmals  behufs  Nahrungsauf¬ 
nahme  durch  bloßes  Anrufen  geweckt  werden.  Nach  neun 
Stunden  erwachte  die  Frau  beschwerdefrei  und  hat  weder  wäh¬ 
rend  des  Schlafes,  noch  nachher  irgendwelche  toxische  Erschei¬ 
nungen  gezeigt.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1911, 
Nr.  5.)  G. 

* 

196.  Die  gesundheitli  c  h  en  Verhältnisse  im 

Pflastererberufe.  Von  Dr.  med.  W.  Hanauer,  Frankfurt 
am  Main.  Bei  der  Besprechung  der  gesundheitlichen  Verhältnisse 
des  Pflastererberuf  es  konstatiert  Hanauer,  daß  die  Gewerbe- 
hyygiene  diesen  Beruf  bisher  stiefmütterlich  behandelt  habe.  Die 
Steinsetzer,  wie  auch  andere  Arbeiter,  haben  eben  noch  nicht 
das  richtige  Verständnis  für  dein  „Schutz  der  Gesundheit“,  wenn¬ 
gleich  ihre  Führer  schon  die  richtige  Ansicht  vertreten  und, 
trotzdem  sie  augenscheinlich  jeder  ärztlichen  Untersuchung  ent¬ 
behren,  für  die  den  Arbeitern  drohenden  Gesundheitsgefahren 
ein  scharfes  Auge  haben.  Die  Gewerkschaften  könnten  jeden¬ 
falls  für  ihre  Arbeiter  in  gesundheitlicher  Hinsicht  viel  mehr 
leisten,  wenn  ihnen  hygienisch  geschulte  und  gewerbehygienisoh 
interessierte  ärztliche  Berater  zur  Seite  ständen.  „Gewerkschafts¬ 
ärzte“  in  diesem  Sinne,  nicht  solche,  deren  Tätigkeit  sich  darauf 
beschränkt.,  für  Unfallverletzte  höhere  Renten  herauszuschlagen, 
hätten  wohl  eine  Existenzberechtigung.  —  (Soziale  Medizin  und 
Hygiene  1910,  Bd.  V.)  K.  S. 

* 

197.  Ueber  den  künstlichen,  nachträglich  doppel¬ 
seitigen  Pneumothorax.  Von  Prof.  C.  Forlanini,  Direktor 
der  Medizinischen  Universitätsklinik  in  Pavia.  Verfasser  berichtet 
eingehend  über  vier  Fälle,  bei  welchen  wegen  Lungentuberkulose 
seine  Methode  der  Stickstoffeinführung  behufs  Erzeugung  eines 
Pneumothorax  zur  Anwendung  kam.  Bei  zwei  Kranken  wurde 
eine  erste  Pneumothoraxbehandlung  in  der  Weise  durchgeführt, 
daß  noch  die  Möglichkeit  übrig  blieb,  wenn  nötig,  einen  zweiten 
Pneumothorax  zu  erzeugen ;  bei  den  beiden  anderen  wurde  ein 
solcher  tatsächlich  und  auch  erfolgreich  angelegt.  Im  ersten 
Falle  war  die  Kranke  nach  einem  über  anderthalb  Jahre  unter¬ 
haltenen  Pneumothorax  nicht  nur  klinisch,  sondern  auch  ana¬ 
tomisch  als  geheilt  zu  betrachten,  die  Lunge  hatte  sich  wieder 
ausgedehnt  und  ihre  Funktion  —  wenn  auch  nicht  in  normalem 
Maße  —  aufgenommen,  die  Pleurahöhle  hat  sich  noch  wegsam 
erhalten,  so  daß,  im  Falle  Patient  abermals  von  Schwindsucht 
befallen  werden  sollte  —  sei  es  in  der  einen  oder  der  anderen 
Lunge  —  eine  Behandlung  mit  einem  zweiten  Pneumothorax 
wohl  tunlich  wäre.  Im  zweiten  Falle  —  einem’  typischen  Falle 
von  rascher  Heilung  der  Phthisis  auf  der  einen  Seite,  mit  Hem¬ 
mung,  Rückgang  und  schließlich  Stillstand  einer  Spitzenläsion 
auf  der  anderen  —  ist  die  Heilung  durch  Wiederausdehnung  der 
Lunge  und  Wiederherstellung  ihrer  Funktion,  vor  allem  aber 
durch  Erhaltung  der  Wegsamkeit  der  Pleura  erfolgt. 
Sollte  nun  bei  dieser  Kranken  die  Testierende  Läsion  der  einen 
Lunge  sich  in  bedenklicher  Weise  wieder  geltend  machen  oder 
die  Schwindsucht  der  anderen  Lunge  rezidivieren,  so  wäre  es 
doch  immer  möglich,  einen  zweiten  Pneumothorax  zu  erzeugen. 


Im  dritten  Falle  wurde  von  Dr.  Fontana  in  .Piacenza  im  dortigen 
Krankenhause  zuerst  ein  rechts-,  dann  ein  linksseitiger  Pneumo¬ 
thorax  erzeugt.  Der  Fall  kam  später  nach  Pavia,  von  wo  er  mit 
ganz  befriedigendem  Allgemeinbefinden  entlassen  wurde.  Der 
vierte  Fall  stand  fast  acht  Jahre  lang  in  Behandlung.  Bilaterale 
Schwindsucht.  Der  Pneumothorax  wird  erst  links-,  dann  recht¬ 
seitig  künstlich  erzeugt.  Der  überaus  komplizierte  Fall  ist  noch 
nicht  abgeschlossen.  Verf.  gelangt  zu  nachfolgenden  Schlu߬ 
folgerungen:  1.  Der  künstliche  Pneumothorax  vermag  tatsäch¬ 
lich  die  Lungenschwindsucht  zu  heilen;  die  geheilte  Lunge  kann 
sich  —  in  den  verschonten  Partien  —  wieder  ausdehnen,  mit  der 
Thoraxwand  neuerdings  in  Berührung  kommen  und  wieder  funk¬ 
tionsfähig  werden.  Dies  wird  um  so  sicherer  erzielt  werden  und 
um  so  erfolgreicher  ausfallen,  je  geringer  die  von  der  Schwind¬ 
sucht  gesetzten  Läsionen  sind,  was  ein  neues  Argument  für 
ein  frühzeitiges  Eingreifen  abgibt.  Anderseits  aber  berechtigt 
die  Möglichkeit,  die  Lunge  noch  zu  retten,  zu  einem  Eingriffe 
selbst  in  initialen  Fällen.  2.  Die  Narbenreste  der  alten  Läsion 
an  und  für  sich,  die  Zerrungen,  die  ungleichmäßige  Wiederaus¬ 
dehnung  des  Parenchyms  und  die  bronchialen  Deformationen, 
zu  denen  sie  Anlaß  geben,  liefern  eine  Erklärung  für  einen 
eigentümlichen  Auskultationsbefund;  vor  allem  aber  schaffen  sie 
in  der  Lunge  erschwerte  Funktions-  und  Lebensbedingungen,  die 
zur  Vermutung  berechtigen,  es  könne  aus  ihnen  vielleicht  eine 
besondere  lokale  Disposition  zur  Rezidive  erwachsen.  3.  Die 
Pleura  kann  selbst  nach  sehr  langer  Kompression  sich  wegsam 
erhalten  u.  zw.  im  gleichen  Umfange  wie  vor  der  Behandlung. 
Dadurch  wird  eine  Wiederanlegung  des  Pneumothorax  im  Falle 
einer  Rezidive  ermöglicht.  Daher  ist  bei  bestehendem  Pneumo¬ 
thorax  das  verhältnismäßig  leicht  vorkommende  Auftreten  von 
Pleuritis  sorgfältigst  zu  verhüten,  da  diese  —  wenn  auch  nicht 
immer  —  die  Wiederausdehnung  der  Lunge  einschränken  und 
zu  Verwachsungen  Anlaß  geben  könnte.  4.  Durch  die  Wieder¬ 
herstellung  ihrer  Funktion  ist  die  Möglichkeit  eines  zweiten 
Pneumothorax  gegeben,  auch  für  eine  Läsion,  die  später  in  der 
anderen  Lunge  zur  Entstehung  kommen  sollte.  Wiewohl  die  Mög¬ 
lichkeit  einer  erfolgreichen  Behandlung  mit  sukzessive  bilateralem 
Pneumothorax  selbst  in  Fällen  von  bereits  bestehender  beider¬ 
seitiger  Lungenschwindsucht  theoretisch  für  wahrscheinlich  zu 
halten  ist,  so  stehen  in  dieser  Richtung  noch  keine  Tatsachen  zur 
Verfügung.  Die  beiden  letzten  Krankenbeobachtungen  liefern  den 
Beweis  dafür,  daß  in  der  wieder  ausgedehnten  Lunge  eine  Wieder¬ 
herstellung  der  Funktion  in  einem  für  das  Leben  hinreichenden 
Maße  noch  möglich  ist.  —  (Deutsche  medizin.  Wochenschrift 

1911,  Nr.  3.)  E.  F. 

* 

198.  Ueber  Lebens-  und  Krankheitsdauer  bei 
Geisteskranken  und  einige  verwandte  Fragen.  Von 
Rudolf  Ganter,  Wormditt  in  Ostpreußen.  Verf.  hat  bei  Kranken 
einzelner  Gruppen :  Paralyse,  Dementia  praecox,  senile  Störun¬ 
gen,  Epilepsie,  Imbezillität,  das  Alter  bei  der  Aufnahme  und 
beim  Tode  der  Kranken,  die  Dauer  des  Anstaltsaufenthaltes,  die 
Krankheitsdauer  vor  der  Aufnahme,  die  Jahreszeit  der  Auf¬ 
nahme  und  der  Todesfälle  notiert  und  diese  Daten  statistisch 
verwertet.  Ohne  auf  die  Details  seiner  Resultate  eingehen  zu 
wollen,  sei  aus  diesen  nur  hervorgehoben,  dajß  im  allgemeinen 
nicht  die  psychischen  Erkrankungen,  sondern  äußere  Umstände 
die  Aufnahme  in  eine  Anstalt  herbeizuführen  pflegen.  Merkwürdig 
ist,  daß  die  Durchschnittsdauer  des  Anstaltsaufenthaltes  bei  den 
verschiedenen  Krankheitsformen  bei  Frauen  immer  mehr  weniger 
länger  ist,  als  bei  Männern.  Ebenso  ist  auffallend,  daß  bei  der 
Dementia  praecox  die  durchschnittliche  Lebensdauer  sogar  höher 
ist,  als  jene  der  gesunden  Bevölkerung.  Nach  der  Statistik  des 
Verfassers  überwiegen  in  den  Sommermonaten  die  Aufnahmen, 
in  den  Wintermonaten  die  Todesfälle.  —  (Allgemeine  Zeitschrift 
für  Psychiatrie  und  psychisch-gerichtliche  Medizin,  Bd.  68,  H.  1.) 

S. 

* 

199.  (Aus  der  I.  medizinischen  Abteilung  des  städtischen 
Krankenhauses  Nürnberg.  —  Prof.  Dr.  Müller.)  Ein  Fall  von 
multipler  Gelenksentzündung  nach  einer  probato- 
rischen  Tuberkulininjektion  TR.  von  0-5  mg.  Von  Assi¬ 
stenzarzt  Dr.  Diem.  Verf.  veröffentlicht  einen  eigentümlichen 


289 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Fall  von  T u berk u  1  i  n  s chad ig  u  n  g  des  Körpers  nach  einer  prubato- 
rischen  Tuberkulininjektion .  Es  traten  bei  diesem  Falle  multiple 
Gelenksschwellungen  an  den  Hand-  und  Fingergelenken  nach 
einer  am  rechten  Vorderarm  gemachten  Tuberkulininjektion  von 
0-5  mg  auf.  Es  handelte  sich  um  eine  32jährige  Frau,  die  früher 
Lues,  Spitzenkatarrh  und  eine  Venenentzündung  durchgemacht 
hatte.  Ins  Krankenhaus  kam  sie  mit  einer  doppelseitigen  Pye¬ 
litis,  von  einer  Zystitis  ausgehend.  Schmerzen  im  linken  Knie- 
und  Fuß-,  sowie  Sternokiavikulargelenk.  Später  eine  akute  Endo¬ 
karditis  der  Mitralklappe.  Um  zu  eruieren,  ob  die  Pyelitis  eine 
Kolipyelitis  oder  tuberkulösen  Ursprunges  sei,  wurden  die 
Ophthalmoreaktion  und  später  Pirquet  sehe  Reaktion  gemacht, 
ln  beiden  Fällen  eine  sehr  intensive  Reaktion.  Nach  Abheilung 
beider  Reaktionen  wurden  0-5  mg  TR.  injiziert.  Darauf  heftiges 
Fieber  (39°),  Anschwellung  des  rechten  Vorderarmes,  am  rechten 
Handgelenk,  sowie  in  sämtlichen  Fingergelenken  beträchtliche 
Ergüsse.  Bewegungen  äußerst  schmerzhaft,  ln  der  rechten  Achsel¬ 
höhle  druckempfindliche  Lymphdrüsen.  Am  siebenten  Tage  nach 
der  Injektion  war  die  Temperatur  wieder  normal.  Verf.  hat  bei 
den  zahlreichen  Tuberkulininjektionen  im  Krankenhause  bisher 
niemals  Gelenksschwellungen  peripher  von  der  Injektionsstelle 
beobachtet.  Er  bemüht  sich,  eine  Erklärung  dafür  zu  finden. 
Das  Tuberkulin  war  nicht  verunreinigt,  denn  die  bakteriologische 
Untersuchung  desselben  ergab  volle  Sterilität.  Auch  eine  In¬ 
fektion  mit  der  Spritze  ist  ausgeschlossen.  Auf  Grund  mehr¬ 
facher  Erwägungen  kommt  ea*  zur  Annahme,  daß  es  sich  im 
vorliegenden  Falle  um  eine  Ueberempfindlichkeit  (Anaphylaxie) 
gegenüber  Tuberkulin  handelte.  Dafür  sprechen  auch  die  sehr 
starke  Kutan-  und  Ophthalmoreaktion  bei  der  betreffenden  Pa¬ 
tientin.  Diese  Ueberempfindlichkeit  äußerte  sich  in  einer  inten¬ 
siven  entzündlichen  Schwellung  sämtlicher  Gelenke  peripher  von 
der  Injektionsstelle.  Im  Anschluß  hieran  erwähnt  Verf.  einen 
zweiten  Fall,  den  er  im  Krankenhause  in  Dortmund  zu  beob¬ 
achten  Gelegenheit  hatte.  Ein  junger  Mann  erhielt  wegen  einer 
Lungenspitzenaffektion  eine  probatorische  Tuberkulininjektion  von 
1  mg  Alttuberkulin.  Unmittelbar  darauf  erkrankte  er  an  einer 
rheumatischen  Entzündung  der  meisten  Körpergelenke,  vergesell¬ 
schaftet  mit  einer  Herzklappenentzündung.  Verf.  nimmt  an,  daß 
es  sich  in  diesem  Falle  um  einen  akuten  tuberkulösen  Gelenks¬ 
rheumatismus  handelte,  der  durch  die  Tuberkulininjektion  aus¬ 
gelöst  wurde.  Wie  kann  man  sich  nun  gegen  derartige  unange¬ 
nehme  Tuberkulinschädigungen  schützen?  Zunächst  durch  die 
ganz  unschädliche  Kutanreaktion  von  Pirquet,  die  einigen  Auf¬ 
schluß  über  die  Empfindlichkeit  des  betreffenden  Individuums 
gegen  Tuberkulin  gibt.  Entsteht  bei  dieser  Impfung  eine  sehr 
große  Papel,  dann  ist  es  nötig,  daß  man  mit  tier  Dosierung  des 
Tuberkulins  zur  subkutanen  Injektion  vorsichtig  ist.  Man  fange 
zunächst  mit  0-1  mg  an,  dann  wird  man  kaum  so  üble  Folgen 
erleben  wie  im  vorliegenden  Falle.  —  (Münchener  medizinische 
Wochenschrift  1911,  Nr.  5.)  G. 

* 

20Ü.  (Aus  der  Säuglingsabteilung  der  medizinischen  Klinik 
zu  Marburg.  —  Direktor:  Prof.  Dr.  Brauer.)  H  irschsprung- 
sche  Krankheit  unter  dem  Bilde  unstillbaren  Er¬ 
brechens.  Von  Dr.  Hans  Kleinschmidt.  KleinschmDdt 
berichtet  über  ein  halbjähriges  Kind,  welches,  bis  dahin  gesund, 
an  Erbrechen  bald  nach  der  Nahrungsaufnahme  erkrankte.  Durch 
keinerlei  therapeutische  Maßnahmen  ließ  sich  eine  Besserung  er¬ 
zielen.  Das  Kind  starb  ohne  sonstige  krankhafte  Erscheinungen 
darzubieten;  insbesonders  war  der  Leib  niemals  stärker  oder 
ungleichmäßig  aufgetrieben,  die  Stuhlbeschaffenheit  blieb  die 
gleiche  (täglich  einmalige  Entleerung,  nur  hin  und  wieder  zwei 
oder  drei  Tage  ausbleibend),  Peristaltik  wurde  nie  beobachtet, 
das  Erbrechen  hatte  keinen  fäkulenten  Charakter.  Der  Sektions¬ 
befund  ergab  indes  einen  echten  Fall  Hirschsprungscher 
Krankheit  mit  dem  typischen  Merkmale  der  Verlängerung  des 
S  Romanian  und  Dilatation  und  Hypertrophie  der  Wandungen 
der  Flexur.  Das  Erbrechen  fand  seine  Erklärung  dadurch,  daß 
die  S  Romanum  -  Schlinge  einen  großen  Teil  des  Bauchraumes 
ausfüllte  und  direkt  dem  Duodenum  arflag  und  dasselbe  drückte. 
Daß  die  Entwicklung  des  bekannten  klinischen  Bildes  der  11  ir  sc  li¬ 
sp  rung  sehen  Krankheit  in  dem  Falle  ausgeblieben  war,  er¬ 
klärte  sich  daraus,  daß  die  kompensatorisch  wirkende  Hyper¬ 


trophie  der  Darmwand  noch  ausgereicht  hatte,  stärkere  Obsti¬ 
pation  und  hochgradigen  Meteorismus  zu  verhindern.  Es  han¬ 
delte  sich  gewissermaßen  also  um  ein  Vorstadium  des  typischen 
bymptomenkomplexes,  dessen  Erscheinen  durch  den  frühzeitigen, 
durch  das  unstillbare  Erbrechen,  resp.  die  Inanition  bewirkten 
Tod  unmöglich  gemacht  wurde.  —  (Monatsschrift  für  Kinder¬ 
heilkunde  1910,  Bd.  9,  Nr.  7.)  K.  g 

* 

201.  1st  die  Paralyse  eine  moderne  Krankheit? 

Eine  historisch-kritische  Studie  von  Prof.  Dr.  Kirch  ho  ff,  Direk¬ 
tor  der  Provinzial-Irrenanstalt  bei  Schleswig.  Nach  den  Aus¬ 
führungen  des  Verfassers  war  Paralyse  wahrscheinlich  schon  im 
Altertum  vorhanden,  so  daß  sie  keinen  Anspruch  darauf  haben 
dürfte,  als  eine  moderne  Krankheit  aufgefaßt  zu  werden.  Selbst¬ 
verständlich  aber  war  sie  eine  unerkannte  Krankheit,  ja  selbst 
im  XIX.  Jahrhundert  war  sie  noch  als  Krankheit  sui  generis 
unbekannt.  Historisch  merkwürdig  ist,  daß  Esmarch  und 
Jessen  (der  jüngere)  schon  1857  die  Frage  aufwarfen,  ob  nicht 
Syphilis  die  eigentliche  Ursache  der  progressiven  Paralyse  sei. 
Verf.  bringt  im  Anschluß  an  seine  historischen  Ausführungen 
einige  Krankengeschichten  aus  der  ersten  Hälfte  des  XIX.  Jahr¬ 
hunderts.  Es  handelte  sich  in  diesen  Fällen  zumeist  um  pro¬ 
gressive  Paralyse,  welche  unerkannt  blieb,  in  einigen  anderen 
Fällen  dürfte  Hirnsyphilis  und  Tabo-Paralyse  Vorgelegen  sein. 
Den  Schluß  der  interessanten  Arbeit  bilden  einige  geschichtliche 
Angaben  über  Tabes  dorsalis.  Das  Krankheitsbild  der  Tabes 
ist  ungefähr  gleichzeitig  und  unter  ähnlichen  Verhältnissen  wie 
das  der  Paralyse  im  vorigen  Jahrhundert  entwickelt  worden. 
(Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie  und  psychisch-gerichtliche 
Medizin,  Bd.  68,  H.  1.)  S. 

* 

202.  Zur  Kasuistik  der  Poliomyelitis  epidemica 
(Heine-M  edinsche  Krankheit).  Von  Prof.  Adolf  Baginsky, 
Direktor  des  Kaiser-  und  Kaiserin-Friedrich-K inderkrank enhauses 
in  Berlin.  Der  Verfasser  beschreibt  Fälle  früherer  Beobachtung, 
zeigt,  wie  das  frühen?  Krankheitsbild  der  Poliomyelitis1  sich  jetzt 
scheinbar  ganz  geändert  hat  und  schildert  eingehend  einzelne 
Typen  der  Erkrankung.  Da  erkranken  drei  Kinder,  zwei  gehen 
rasch  zugrunde;  das  erste  unter  heftiger  Dyspnoe,  ohne  sonstige 
Symptome  (es  läßt  den  Kopf  seitlich  fallen,  wie  die  Mutter  aus¬ 
sagt),  das  zweite  bei  Nackensteifigkeit,  deutlichem  Kernig  sehen 
Symptom,  spastischen  unteren  Extremitäten,  wozu  später  schlaffe 
Parese  deir  oberen  und  unteren  Extremitäten  kommt,  wieder  Dys¬ 
pnoe  und  Kollaps.  Das  zweite  Kind  wurde  seziert,  Gehirn  und 
Spinalkanal  völlig  normal;  eine  mikroskopische  Untersuchung 
war  unterlassen  worden.  Das  dritte  Kind  erkrankte  unter  fast 
denselben  Erscheinungen  (Fieber,  Blässe,  Neigung  zum  Schlafen, 
Nackensteifigkeit,  Schmerzen  in  den  spastischen  Extremitäten, 
später  Lähmung  eine»  Beines),  es  genas,  das  rechte  Bein  blieb 
etwas  paretisch.  Das  sind  also  zwei  Typs,  ein  neuer  Typ  wurde 
im  Krankenhause  beobachtet.  Ein  63/r  Jahre  altes  Kind  .hat  früher 
Gelenksrheumatismus'  gehabt  und  davon  ein  Vitium  cordis 
zurückbehalten.  Es  erkrankt  damit,  daß  es  nicht  laufen  kann, 
verliert  bald  die  Sprache  und  zeigt  totale  rechtseitige  Lähmung. 
Der  untere  Fazialis  ist  rechts  gelähmt.  Die  Sprache  bessert  sich 
allmählich,  sie  wird  nach  Wochen  fast  vollkommen  wieder  her¬ 
gestellt,  die  Lähmung  des  Beines  geht  auch  zurück,  auch  der 
Fazialis  bessert  sich,  doch  bleibt  der  Arm  vollkommen  gelähmt. 
Eine  zerebrospinale  Poliomyelitisform,  die  hier  in  hemiplegischer 
Form  mit  Beteiligung  des  Faziaiiskernes  aufgetreten  ist.  Die 
Krankheit  kommt,  also  in  den  verschiedensten  Variationen 
vor,  von  rein  abortiven  Formen  bis  zu  schweren  Bulbärlähmun¬ 
gen.  Mit  dem  Begriff  einer  „spinalen  Kinderlähmung“  kommt 
man  aber  nicht  mehr  aus,  es  sind  auch1  zerebrale  Läsionen  und 
spinale,  die  sich  kombinieren  und  vielfach  ineinander  übergehen. 
So  kann  man  auch  nicht  von  rein  meningitiseben  oder  bulbären 
oder  spinalen  Formen  sprechen.  Die  meningitischen  Formen 
mischen  sich  mit  den  anderen,  und  die  Erscheinungen  gehen  so 
ineinander  über,  daß  man  schwer  etwas  Bestimmtes  über  die 
pathologische  Läsion  im  Einzelfalle  sagen  kann,  selbst  bei  reich¬ 
haltigem  Material.  Darum  werden  sich  auch  die  besonderen 
Einteilungen,  die  neuerdings  von  den  Autoren  gemacht  werden, 
nicht  aufrecht  erhalten  lassen.  Der  Verfasser  regt  schließlich  zur 


290 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


Veranstaltung  einer  Saimnelforschung  an,  wie  sie  z.  U.  schon 
in  Steiermark  veranstaltet  wurde.  —  (Deutsche  medizinische 
Wochenschrift  1911,  Nr.  4.)  E.  F. 

*  4 

203.  (Aus  der  Universitätskindeirklinik  in  Heidelberg. 

Direktor :  Prof.  Dr .  E .  Feer.)  U e b e r  den.Aschegehalt  in  den 
Gehirnen  Spasmophiler.  Von  Dr.  Erich  Aschenheim. 
Auf  Grund  experimenteller  und  chemischer  Untersuchungen  bricht 
sich  die  Ansicht  mehr  und  mehr  Bahn,  daß  bei  der  Spasmophilie 
eine  Stoffwechselstörung  in  bezug  auf  die  Salze  besteht,  die 
nach  Rosenstern  Regulatoren  der  Bewegungsphänomene' sind. 
Mit  Ausnahme  von  Stoeltzner  finden  fast  alle  Autoren  diese 
Störung  in  einer  Verminderung  der  Erdalkalien,  insbesondere  des 
Kalziums.  Nach  den  Untersuchungen  Aschen  heims,  welcher 
sein  Augenmerk  auf  sämtliche  für  die  Bewegungsphänomene 
wichtigen  Salze,  also  Alkalien  und  Erdalkalien  richtete,  kommt  es 
bei  der  Spasmophilie  nicht  so  sehr  auf  die  absolute  Menge  (respek¬ 
tive  Verminderung  oder  auch  Vermehrung)  der  einen  oder  der 
anderen  an,  sondern  vielmehr  auf  ihre  Relation.  Das  Verhältnis 
der  Alkalien  zu  den  Erdalkalien,  resp.  ihren  Salzen  ist  das  ty¬ 
pische  und  wichtigste  für  Spasmophilie.  Letztere  wird  ausgelöst 
durch  eine  Veränderung  des  Gehaltes  des  Zentralnervensystems 
an  jenen  Salzen,  die  zu  einer  Vergrößerung  der  Quotienten  Alkalien 
— Erdalkalien  führt;  also  Vermehrung  der  Alkalien  oder  Vermin¬ 
derung  der  Erdalkalien,  oder  es  findet  sich  beides.  Was  nun  zu 
dieser  Salzstoffwechselstörung  führt,  das  ist  natürlich  noch  eine 
ganz  andere  und  getrennt  zu  behandelnde  Frage.  —  (Monats¬ 
schrift  für  Kinderheilkunde  1910,  Bd.  7,  Nr.  7.)  K.  S. 

* 

204.  Erfahrungen  bei  Behandlung  mit  Salvarsan. 
Von  Prof.  Dr.  Karl  Kopp  in  München.  Das  Gesamtmatetrial  des 
Verfassers  bis  zum  15.  Dezember  umfaßt  72  Fälle,  dazu  ge¬ 
meinsam  mit  Dir.  Ploeger  poliklinisch  behandelte  Fälle  23, 
zusammen  also  95  Fälle.  Darunter  wurden  von  nichtluetischen 
Erkrankungen  ein  Fall  von  Psoriasis  vulgaris  mit  0-6  Salvarsan 
ohne  jeden  Erfolg,  dagegen  ein  Lichen  ruber  planus  universalis 
mit  ausgezeichnetem  Erfolge  behandelt.  Fünf  Fälle  von  inope¬ 
rablem  Karzinom  wurden  allgemein  und  lokal  günstig  beeinflußt 
und  ein  Fall  von  Sarkom  zeigte  nach  jeder1  der  zwei  Salvarsan- 
injektionen  eine  sehr  starke  Rückbildung  und  Erweichung  der 
Tumoren,  auch  Abnahme  lokaler  Schmerzen  und  Beschwerden. 
Verf.  faßt  das  Resultat  seiner  Beobachtungen  und  Eindrücke  in 
folgenden  Leitsätzen  zusammen :  1.  Das  Ehrlich-Hata-Präparat 
Salvarsan  ist  ein  wichtiges  Hilfsmittel  in  der  Bekämpfung  der 
Syphilis  und  ihrer  Symptome.  In  den  verschiedenen  bisher  ge¬ 
übten  Applikationsmethoden  ist  seine  Wirksamkeit  gegenüber  den 
durch  die  Spirochaeta  pallida  Schaudinns  hervorgerufenen  Krank¬ 
heitsprozeß  unverkennbar.  2.  Die  außerordentlich  wichtige  Frage, 
ob  es  möglich  ist,  durch  das  Salvarsan  den  oft  deletären  Ver¬ 
lauf  der  syphilitischen  Infektion  mit  einem  Schlage  aufzuhalten, 
und  die  Krankheit  zu  kupieren,  kann  nach  den  bestehenden 
Erfahrungen  unmöglich  als  gelöst  betrachtet  werden.  Ein  solch 
glänzender  Erfolg  ist  vielleicht  dann  möglich,  wenn  ganz  frische 
fälle  zur  Behandlung  kommen;  in  den  späteren  Stadien  der 
Erkrankung  scheint  es  weniger  wahrscheinlich,  daß  ein  solch 
günstiges  Ergebnis  erreicht  werden  kann.  Es  ist  jedoch  nicht, 
ausgeschlossen,  daß  vielleicht  mehrfach  wiederholte  Anwendungen 
des  Salvarsans  oder  eine  Kombination  mit  Quecksilberbehand¬ 
lung  mehr  erreichen  lassen.  3.  Unter  allen  Umständen  aber  er¬ 
scheint  es  sicher,  daß  mit  einer  einzigen  und  einmaligen  Anwen¬ 
dung  des  Mittels  in  kürzester  Frist  Erfolge  erzielt  werden,  wie 
sie  bisher  nur  mit  lange  fortgesetzter  Quecksilber-  und  Jodbehand¬ 
lung  erreichbar  waren.  4.  Von  allen  Applikationsmethoden  des 
Salvarsans  verdient  die  intravenöse  Infusion  unbedingt  den  Vor¬ 
zug.  Die  Anwendung  ist,  wenn  auch  technisch  nicht  ohne 
Schwierigkeiten,  mit  einiger  Uebung  zu  erlernen,  und  hat  bei 
Berücksichtigung  der  wenigen  und  seltenen  Kontraindikationen 
für  den  Patienten  keine  Gefahren.  In  der  Minderzahl  der  Fälle 
kommen  zwar  gewisse,  rasch  vorübergehende  unangenehme  Neben¬ 
wirkungen  zur  Beobachtung  (Uebelkeit,  Erbrechen,  Fieber, 
Schüttelfrost),  bleibende  Nachteile  oder  ernste  Gefahren  sind 
bis  jetzt  nicht  beobachtet  worden.  5.  Alle  anderen  Applikations¬ 
methoden,  die  intramuskuläre  und  subkutane  Anwendung,  die 


konzentriertem  Lösungen,  die  Aufschwemmungen  nach  Wech¬ 
selmann  und  M  ichaelis,  ganz  besonders  die  sauren  und  neu¬ 
tralen  Präparationen  sind  wegen  der  Gefahr  mehr  weniger  aus¬ 
gedehnter  Nekrosen  lokaler,  wenn  auch  aseptischer  Art,  am  besten 
ganz  aufzugeben  oder  kommen  doch  nur  dann  iniFrage,  wenn  aus 
bestimmten  Gründen  die  intravenöse  Anwendung  nicht  durch¬ 
führbar  erscheint,  ln  solchen  Fällen  verdient  die  schwach  alka¬ 
lische,  eben  noch  opaleszierende  Lösung  nach  Alt,  auf  ver¬ 
schiedene  injektionsstellen  in  kleinen  Dosen  verteilt  und  in 
stärkerer  Verdünnung  vorgenommen,  den  Vorzug.  6.  Vorläufig 
erscheint  dem  Verfasser  eine  Fortsetzung  der  Versuche  in  der 
Richtung  besonders  wünschenswert,  daß  hauptsächlich  frische 
Fälle  mit  den  möglichst  hohem  Dosen  des  Mittels,  welche  noch 
toleriert  werden,  zur  intravenösen  Infusion  herangezogen  werden. 
Abgesehen  von  den  bisher  erzielten  praktischem  Ergebnissen  ist  os 
auch  vom  theoretischen  Gesichtspunkte  aus  am  ehesten  möglich 
und  zu  erwarten,  daß  durch  den  mächtigen  Ictus  immunisatorius 
im  Sinne  Ehrlichs  eine  Abtötung  der  gesamten  in  der  Blut¬ 
bahn  des  Kranken  befindlichen  Spirochäten  mit  einem  Schlage 
erzielt  und  so  die  Krankheit  kupiert  wird.  Um  das  Endergebnis 
dieser  Versuche  festzustellen,  ist  es  notwendig,  die  in  dieser 
Weise  ausgesuchten  und  behandelten  Fälle  durch  mehrere  Jahre 
hindurch  evident  zu  halten  und  deren  Zustand  durch  fortgesetzte 
und  wiederholte  klinische  und  serologische  Prüfung  zu  kon¬ 
trollieren.  Nur  dadurch  kann  es  möglich  sein,  die  Frage  der 
Möglichkeit  einer  raschen  und  einigermaßen  sicheren  Dauerheilung 
der  Syphilis  zu  lösen.  7.  Eine  Kombination  der  neuen  Behandlung 
mit  dem  alten  Methoden,  insbesondere  der  Quecksilberbehandlung, 
kann  gegebenenfalls  durch  die  Umstände  sich  als  notwendig 
im  Interesse  der  Kranken  ergeben.  Für  die  Beurteilung  des 
therapeutischen  Wertes  der  neuen  Medikation  können  derartige  | 
Fälle  kaum  verwertet  werden.  Doch  wird  man  voraussichtlich 
auch  an  die  wissenschaftliche  Prüfung  des  Wertes  einer  gemischten 
Behandlung  herantreten  müssen.  8.  Vor  einer  ambulanten  Be¬ 
handlung  mit  dem  Salvarsan  ist  nicht  genug  zu  warnen.  Speziell 
erscheint  dem  Verfasser  auf  Grund  der  Ausführungen  Ehrlichs 
über  die  starke  Giftwirkung  saurer  Präparationen  die  Anwendung 
dieser  in  wässeriger  Lösung  oder  in  Fettemulsionen  nicht  ohne 
Bedenken.  Die  Methode  der  Wahl  ist  immer  die  intravenöse 
Infusion  und  sollte  diese  nur  in  einwandfreier  stationärer  Pflege, 
am  besten  in  Heilanstalten,  ausgeführt  werden.  —  (Münchener 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  5.)  G.  . 

* 

205.  Hypophysenextrakt  als  Wehen  mittel.  Erste  I 
Mitteilung.  Von  J.  Hofbauer.  Fröhlich  und  v.  Frankl- 
Hoch  wart  beobachteten,  daß  Hypophysenextrakt,  Pituitrimnu 
infundibulare,  besonders  beigraviden  öder  laktierenden  Kaninchen 
Kontraktionen  des  Uterus  erzeugt.  Hofbauer  versuchte  nun, 
das  Pituitrin  als  wehenerregendes  und  wehenbeförderndes  Mittel 
anzuwenden.  Bei  sämtlichen  sechs  Fällen  hatte  das  Pituitrin 
einen  frappanten  Erfolg.  Die  ausgelöste  Wehentätigkeit  ist  eine 
reguläre,  keineswegs  von  tetanischem  Charakter.  In  der  Aus¬ 
treibungsperiode  gegeben,  bewirkt  das  Präparat  manchmal  ge¬ 
radezu  einen  Wehensturm.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911, 

Nr.  4.)  E.  V. 

* 

206.  Die  Behandlung  des  Lupus  cavi  nasi  mittels 
J  o  d  n  a  t  rium  und  Wasserstoffhyperoxyd  nac  h  d  e  r  M  e- 
thode  von  Dr.  S.  A.  P  f  anne n s  ti ed.  Von  Ove  Strand¬ 
berg,  Assistent  am  Finsen  medicinske  Lysinstitut  zu  Kopen¬ 
hagen  (Klinik  für  Hautkrankheiten).  In  der  Hygiea  1910,  Mai  und 
Juni,  hat  Dr.  S.  A.  Pfannen  stiel,  Chefarzt  in  Malmö,  eine 
neue  Behandlungsmethode  angegeben  und  vier  Fälle  mitgeteilt, 
bei  welchen  durch  sie  die  tuberkulösen  Ulzerationen  beseitigt 
wurden.  Die  Kranken  bekamen  täglich  3  g  Solut.  natrii  jodat.,  auf 
sechs  Eßlöffel  Wasser  in  sechs  Dosen  pro  die  [verteilt.  Gleichzeitig 
erhielten  sie  Tampons  mit  2°/oigem  II2O2  eingelegt,  in  der  Weise, 
daß  ein  Tampon  morgens  eingelegt  wurde,  der  Patient  eine  Flasche 
mit  Wasserstof fhyperoxyd  nebst  Pipette  erhielt  und  mit  dieser 
mehrmals  in  einer  Stunde  das  Wasserstoffhyperoxyd  auf  den 
Tampon  träufelte.  Der  Tampon  muß  völlig  durchsetzt  sein,  der 
Patient  muß  also  mit  der  Einträufelung  von  H2O2  so  lange  fort¬ 
fahren,  bis  er  jedesmal  fühlt,  daß  die  Flüssigkeit  in  den  Rachen 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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läuft.  Zu  den  Tampons  wurde  ausgekochte,  stärkefreie  Gaze 
verwendet,  die  mit  der  Schleimhaut  überall  in  Berührung  kommt. 
Vorher  wurde  die  Nasemkavität  mit  gewöhnlichem1  Salzwasser, 
später  mit  verdünntem  Alsol  (essigsaurer  Tonerde),  durchgespiilt. 
Die  gewöhnliche  Handelsware  von  II2O2,  die  säurehaltig  ist,  er¬ 
wies  sich  als  wirksamer  als  das  i'eino,  säurefreie  Oxydol.  In 
letzter  Zeit  wurden  die  Tampons  mit  Oxydol  Petri  (3%)  100  g, 
Acid,  acetici  5  g  durch  einige  Tage  benetzt,  welche  Lösung  eine 
starke  Reaktion  und  Schleimhautschwellung  bedingte,  sodann  mit 
einer  schwächeren  Lösung  (Oxydol,  l  -5°/o,  100  g.  Acid,  acetici 
50  cg)  bis  zur  Heilung  der  Ulzerätionen  und  Schwinden  der 
Schwellung  nebst.  Infiltration.  Es  ist  wichtig,  daß  die  Tampons 
sehr  sorgfältig  eingelegt  werden,  man  tut  daher  gut,  mehrere 
kleine  Tampons  z.  B.  unter  die  Koncha  einzulegen,  damit  die 
Tampons  überall  mit  der  Schleimhaut  in  Berührung  kommen. 
Der  Verfasser  teilt  sodann  im  Auszuge  13  Krankengeschichten 
mit  und  führt  aus,  daß  die  Diagnose  auf  Lupus  c.avi  nasi  ein¬ 
wandfrei  sichergestellt  war.  Die  v.  Pirquet  sehe  Reaktion  war 
in  allen  Fällen,  wo  sie  vorgenommen  wurde,  positiv,  die  Wasser¬ 
mann  sehe  Reaktion  (in  Statens  Seruminstitut  ausgeführt.) 
in  zehn  Fällen  negativ, -die  drei  restlichen  Fälle  waren  klinisch 
sichere  Lupusfälle.  Mehrere  Kranke  hatten  ihr  Leiden  jahrelang, 
viele  andere  Methoden  hatten  sich  fruchtlos  erwiesen.  In  neun 
von  *den  13  Fällen  ist  ein  völliges  Verschwinden, aller  krankhaften 
Symptome  erreicht  worden.  In  zwei  Fällen  von  doppelseitiger 
Erkrankung  ist  eine  halbseitige  Heilung  und  ausgesprochene  Besse¬ 
rung  der  anderen  Seite  erzielt  worden.  Zwei  weitere  Fälle  können 
als  fast  geheilte  angesehen  werden,  eine  Kranke  mußte  nach  drei¬ 
wöchentlicher  Behandlung  entlassen  werden,  die  zweite  sieht 
noch  in  Behandlung.  Nur  in  einem  der  13  Fälle  ist  die  Behand¬ 
lung  ohne  Erfolg  gebliehen,  vielleicht  hat  die  Kranke  die  Be¬ 
handlung  lässig  betrieben.  Die  Dauer  der  Behandlung  in  den 
geheilten  Fällen  betrug  fünf  Tage  bis  acht  und  zwölf  Wochen, 
sie  stand  nicht  immer  im  Verhältnisse  zur  Ausdehnung  des  Pro¬ 
zesses,  ein  leichter  Fall  nahm  zuweilen  längere  Zeit  in  Anspruch 
als  ein  ausgebreiteter.  Entfernt  man  die  Granulation,  so  wird  die 
Behandlungsdauer  abgekürzt;  es  ist  aber  nicht  unbedingt  not¬ 
wendig,  es  zu  tun,  sie  schwinden  auch  untender  Behandlung.  Die 
Behandlung  mit  Oxydol  allein  oder  mit  Jodnatrium  allein  (Chef¬ 
arzt  Dr.  Forchhammer)  nützte  absolut  nichts,  erst  die  Kom¬ 
bination  beider  Mittel  (durch  das  zugefiigte  Ozon  wird  freies 
Tod  abgespalten,  das  in  statu  nascendi  stark  bakterizid  wirkt) 
scheint  den  Effekt  auf  den  Schleimhautlupus  zu  haben,  auch  an 
den  wegen  ihrer  Lage  und  geringen  Größe  der  Inspektion  ganz 
unzugänglichen  Partien.  —  (Berliner  klinische  Wochenschrift  1911, 
Nr.  4.)  E.  F. 

* 

207.  (Aus  der  medizinischen  Abteilung  B.  des  Allerheiligen- 
hospitales  in  Breslau.  -  Primararzt:  Prof.  Dr.  Ercklentz.) 
Röhrenförmige  Ausstoßung  der  Oesophagusschleim- 
haut  im  Verlaufe  einer  Salzsäurevergiftung.  Von  Se- 
kundararzt  Dr.  Emil  Neiße r.  Röhrenförmige  Ausstoßung  der 
Oesophagusschleimhaut  bei  Salzsäurevergiftung  wurde  bisher 
selten  beschrieben,  eher  noch  bei  Schwefelsäureintoxikation  oder 
Vergiftung  mit  Alkalien.  Im  vorliegenden  Falle  wurde  ein  30  cm 
langes,  röhrenförmiges,  weißgraues  Gebilde  erbrochen,  indem  sich 
die  Oesophagusschleimhaut  am  neunten  Tage  der  Vergiftung 
(mit  50  cm3  Salzsäure)  in  toto  loslöste.  Der  Fall  endete  natürlich 
letal,  da  eine  totale  Striktur  trotz  aller  operativen  Eingriffe  ein¬ 
trat.  —  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  44.)  K.S. 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

208.  Leber  das  Fortschreiten  der  Infektion  bei 
Bhthise  und  die  sich  daraus  ergebende  Notwendig¬ 
keit  der  Behandlung  frischer  Fälle  mit  absoluter 
Buhe.  Von  L.  Gobbet.  Die  Ursache  der  Heilung  von  Infek¬ 
tionskrankheiten  liegt  in  der  Erlangung  spezifischer  Immunität. 
Die  Tuberkulose  besitzt  eine  Neigung  zu  langsamen  Verlauf  und 
geringere  Heilungstendenz,  was  sich  daraus  erklärt,  daß  sie  im 
allgemeinen  keine  Immunität  erzeugt,  doch  spricht  die  nicht 
seltene  Ausheilung  frischer  Erkrankungen,  daßi  hier  ein  gewisser 
Grad  von  Immunität  hervorgerufen  wird.  Der  Tierversuch  lehrt, 
daß  Immunität  gegen  Tuberkulose  experimentell  übertragen  werden 


kann,  aber  im  allgemeinen  nicht  den  Grad  erreicht,  wie  bei 
anderen  Infektionen.  Aus  der  Seltenheit  generalisierter  Tuber¬ 
kulose  bei  Lungenschwindsucht,  sowie  aus  dem  langsamen  Ver¬ 
lauf  trotz  enormer  Mengen  von  Tuberkelbazillen,  läßt  sich  der 
Schluß  ziehen,  daß  die  Tuberkulose  einen  gewissen  Grad  von 
Immunität  zu  schaffen  vermag,  wovon  die  Möglichkeit  der  Hei 
lung  abhängt.  Die  Tierversuche  lehren,  daß  für  die  Intensität 
der  Tuberkulose  die  Dosis  der  zur  Infektion  angewendeten  Ba¬ 
zillen  von  großer  Bedeutung  ist  und  es  scheint  auch  beim  Men¬ 
schen  die  Schwere  der  Infektion  von  der  Zahl  der 'eingedrungenen 
Bazillen  abhängig  zu  sein.  Es  ist  anzunehmen,  daß  zeitweilig 
Tuberkelbazillen  in  den  Kreislauf  übergehen.  Bei  Lungenschwind¬ 
sucht  bleiben  Leber,  Milz  und  Meningen  in  der  Regel  verschont, 
während  Darm  und  Mesenterialdrüsen  häufig  erkranken,  was 
sich  daraus  erklärt,  daß  in  die  erstgenannten  Organe  nur  geringe 
Bazillenmengen,  dagegen  in  den  Darm  durch  Verschlucken  zahl¬ 
lose  Bazillen  gelangen.  Die  Bedeutung  der  Zahl  der  eindringenden 
Bazillen  ergibt  sich  aus  der  Tatsache,  daß  die  bakterizide  Sub¬ 
stanz  im  normalen  Blut  nur  für  eine  geringe  Anzahl  von  Ba¬ 
zillen  ausreicht  und  daß  die  Bazillen  in  ihrem  nekrotisierenden 
Endotoxin  einen  Schutz  gegen  die  Defensivkräfte  des  Organismus 
besitzen.  Das  Eindringen  einer  geringen  Bazillenanzahl  führt 
zu  einer  Steigerung  der  Defensivkräfte,  so  daß  diese  der  wei¬ 
teren  Vermehrung  der  Bazillen  gewachsen  sind,  während  dies 
bei  Eindringen  einer  großen  Bazillenzahl  nicht  der  Fall  ist.  Wenn 
die  Möglichkeit  einer  Zunahme  der  Defensivkräfte  des  Organismus 
gegeben  ist,  so  ist  eine  größere  Bazillenanzahl  für  die  Infek¬ 
tion  eines  neuen  Territoriums  erforderlich.  Die  Tatsache,  daß 
die  Tuberkulose  der  Lunge  gefährlicher  ist,  als  die  Tuberkulose 
eines  einzelnen  anderen  Organs,  erklärt  sich  aus  der  leichteren 
Ausbreitungsmöglichkeit  der  Tuberkuloseinfektion  in  den  Lungen. 
Ein  Herd  in  einem  Knochen  oder  festen  Organ  kann  nicht  leicht 
die  Ausbreitung  der  Infektion  bewirken,  während  ein  tuberkulöser 
Lungenherd  in  den  kleinen  Bronchien  bequeme  Wege  für  die 
Ausbreitung  der  Infektion  findet.  Die  Tatsache,  daß  enorme  Mengen 
von  Tuberkelbazillen  fast  in  Reinkultur  ausgehustet  werden,  läßt 
die1  ausigebreitete  Infektion  verständlich  erscheinen,  wenn  ein 
solches  Bazillen  quantum  durch  einen  Bronchus  in  ein  bisher 
freigebliebenes  Territorium  gelangt.  Mit  Rücksicht  auf  die  Be¬ 
deutung  der  Atmung  und  des  Hustens  für  die  Ausbreitung  der 
Infektion,  erscheint  möglichste  Ruhestellung  des  Organs,  Unter¬ 
drückung  des  Hustens,  Verbot  lauten  Sprechens  usw.  indiziert, 
was  aim  besten  bei  Bettruhe  erreicht  wird.  Es  besteht  keine 
Gefahr,  daß  die  absolute  Bettruhe  im  Initialstadium  einen  un¬ 
günstigen  Einfluß  auf  den  Ernährungszustand  ausübt.  —  (The 
Lancet,  26.  November  1910.)  a.  e. 

4c 

209.  Ueber  den  Beweis  des  endemischen  Ur¬ 
sprungs  des  Gelbfiebers  in  Westafrika.  Von  Hubert 
W.  Boyce.  Die  Annahme,  daß  die  romanische  Rasse  für  Gelb¬ 
fieber  besonders  disponiert,  die  schwarze  Rasse  dagegen  immun 
ist,  erscheint  irrig.  In  Wirklichkeit  sind  alle  Rassen  für  Gelb¬ 
fieber  empfänglich,  wenn  ihre  Angehörigen  aus  Gegenden  kom¬ 
men,  wo  kein  Gelbfieber  besteht,  so  daß  eine  Frage  der  Immunität 
vorliegt.  Personen,  welche  in  einer  Gegend  leben,  wo  Gelb¬ 
fieber  endemisch  ist,  machen  im  frühen  Lebensalter  einen  Anfall 
durch,  welcher  einen  gewissen  Grad  von  Immunität  herbeiführt: 
weitere  leichte  Attacken  können  schließlich  für  das  reifere  xAlter 
vollständige  Immunität  produzieren.  Es  zeigt  sich,  daß  alle  neu 
Eingewanderten,  gleichgültig  welcher  Rasse  sie  angehören,  für 
Gelbfieber  besonders  empfänglich  sind;  das  gleiche  gilt  für  aus 
Gelbfiebergegenden  stammende  Personen,  welche  sich  lange  Zeit 
in  Gegenden  aufgehalten  haben,  wo  kein  Gelbfieber  besteht; 
während  die  Neger  der  afrikanischen  Westküste  relativ  selten 
an  Gelbfieber  erkranken,  wurden  häufige  Erkrankungen  bei  den 
Negern  von  Barbados  beobachtet,  wo  das  Gelbfieber  längere 
Zeit  erloschen  ist,  so  daß  die  durch  Vererbung  übertragene  Im¬ 
munität  schließlich  verloren  ging.  Die  geringe  Morbidität  und 
Mortalität  der  Neger  an  der  afrikanischen  Westküste  hinsichtlich 
des  Gelbfiebers  beruht  darauf,  daß'  sie  bereits  in  der  Kindheit 
Attacken  von  Gelbfieber  durchgemacht  haben.  Der  Umstand, 
daß  auch  an  der  afrikanischen  Westküste  geborene  Europäer, 
nach  zurückgelegter  Kindheit  eine  gewisse  Immunität  zeigen, 


292 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


J 


Nr.  8 


spricht  gegen  die  Annahme  eines  Zusammenhanges  zwi¬ 
schen  Rasse  und  Immunität.  Der  Ausbruch  von  Gelbfieber¬ 
epidemien  an  verschiedenen  Stellen  der  afrikanischen  Westküste 
weist  auf  den  endemischen  Charakter  der  Erkrankung  daselbst 
hin.  Die  Infektion  wird  durch  ein  Insekt  aus  der  Familie  Stego- 
myia  vermittelt;  dieses  Insekt  entnimmt  die  Parasiten  den  an 
milden  Formen  de's  Gelbfiebers  erkrankten  Kindern  und  jugend¬ 
lichen  Individuen  der  Negerbevölkerung.  Diese  milden  Formen 
werden  ebenso  wie  die  in  den  gleichen  Bevölkerungsgruppen 
herrschenden  Malariaerkrankungen  leicht  übersehen.  Die  Tat¬ 
sache,  daß  trotz  der  hohen  Gelbfiebermortalität  nicht  alle  Euro¬ 
päer  an  der  afrikanischen  Westküste  der  Erkrankung  erliegen, 
erklärt  sich  zum  Teil  aus  den  angewendeten  Schutzmaßregeln, 
nämlich  von  der  Negerbevölkerung  abgesonderte  Wohnungen  in 
hygienisch  eingerichteten  Häusern  und  Gebrauch  von  Moskito¬ 
netzen.  Der  Beweis1,  daß  die  sogenannten  remittierenden  und 
billiös  -  remittierenden  Fieber  der  afrikanischen  Westküste  mil¬ 
dere  Anfälle  von  Gelbfieber  darstellen,  wäre  dann  erbracht,  wenn 
mit  der  Ausrottung  der  Stegomyia  diese  Fieberformen  ebenso 
verschwinden,  wie  dies  in  verschiedenen  amerikanischen  Gelb¬ 
fieberterritorien  der  Fall  war.  — (Brit.  med.  Journ.,  3.  Dezember 

1910.)  /a.  e. 

* 

210.  lieber  dies  Vorteile  der  Anwendung  des  kol¬ 
loidalen  Quecksilbers  in  der  Therapie.  Von  G.  Arbour 
Stephens.  Der  therapeutische  Wert  des  Quecksilbers  ist  all¬ 
genuin  anerkannt,  doch  haben  die  verschiedenen  Methoden  seiner 
Anwendung,  insbesondere  bei  Syphilis,  mancherlei  Nachteile, 
so  daß  das  Suchen  'nach  einer  Anwendungsform  gerechtfertigt  er¬ 
scheint,  welche  ohne  Beeinträchtigung  der  therapeutischen  Wir¬ 
kung  von  derartigen  Nachteilen  möglichst  frei  ist.  Eine  diesen 
Ansprüchen  entsprechende  Anwendungsform  stellt  das  kolloidale 
Quecksilber  dar.  Die  Kolloide  sind  dadurch  charakterisiert,  daß 
sie  durch  tierische  oder  pflanzliche  Membranen  nicht  durch¬ 
gehen;  als  reversible  Kolloide  bezeichnet  man  jene,  welche  nach 
Eintrocknung  ein  in  Wasser  lösliches  Residuum  zurücklassen, 
als  irreversible  jene,  deren  Residuum  in  Wasser  unlöslich  ist. 
In  die  erste  Gruppe  gehören  Dextrin,  Gummi  arabicum!  und  ver¬ 
schiedene  Eiweißarten,  in  die  zweite  Gruppe  die  kolloiden  Me¬ 
talle.  Durch  Mischung  mit  reversiblen  Kolloiden  können  die 
irreversiblen  Kolloide  reversibel  gemacht  werden',  worauf  die 
Verhütung  der  Kaseingerinnung  der  Milch  durch  Zusatz  von 
Gummi  arabicum;  beruht.  Kolloidale  Lösungein  der  Schweri 
metalle  werden  in  der  Weise  bereitet,  daß  man  durch  Wasser, 
in  welchem  sich  das  Metall  in  Form  einer  Suspension  befindet, 
einen'  elektrischen  Strom  durchleitet,  welcher  so  feinei  Melall- 
partikel  erzeugt,  daß  sie  sich  im  Wasser  auch  bei  monatelangem 
Stehen  'nicht  absetzen  und  nur  durch  ultramikroskopische  Unter¬ 
suchung  nachweisbar  sind  Das  kolloide  Quecksilber  besitzt  eine 
energische  bakterizide  Wirkung  und  hemmt  in  einer  Konzentra¬ 
tion  1:100.000  die  Entwicklung  von  Kolibäzillen.  Die  l°/oige 
Lösung  stellt  eine  grünlichbraune,  transparente  geruchlose  Flüs¬ 
sigkeit  von  schwach  metallischem  Geschmack  dar,  welche  frei 
von  Reiz-  und  Aetzwirkung,  auch  von  stärkerer  toxischer  Wir¬ 
kung  ist.  Das  kolloidale  Quecksilber  ist  in  lk  bist  V2%iger  Lösung 
ein  sehr  gutes  Antiseptikum,  auch  erweist  es'  sich  bei  Herpes 
tonsurans  und  Alopecia  areata  nach  vorheriger  Reinigung  der 
Haut  mit  Petroleum  als  wirksam.  Bei  Diphtherie  wirkt  das  kolloi¬ 
dale  Quecksilber  in  Sprayform  fast  ebenso  energisch,  wie  die 
Injektion  von  Heilserum,  ebenso  bei  anderen  Tonsillarexsudaten 
und  bei  Mundhöhlensepsis.  Intern  leistet  das  kolloidale  Queck¬ 
silber  bei  Gastritis  gute  Dienste.  Besonders  brauchbar  ist  das 
kolloidale  Quecksilber  in  Form  interner  Darreichung  bei  Syphilis; 
Speichelfluß  und  Appetitlosigkeit  wurden  nicht  beobachtet,  nur 
in  einem  Falle  traten  stärkere  Diarrhöen  auf;  auch  bei  syphi¬ 
litischen  Erkrankungen  des  Nervensy stems  wurde  eine  günstige 
Wirkung  beobachtet.  —  (The  Brit.  med.  Jourü.,  17.  Dezember 

1910.)  a .  e. 

* 

Aus  italienischen  Zeitschriften. 

211.  Ueber  die  Tuberkulose  des  Corpus  uteri  mit 
einem  Berichte  über  einen  solchen  Fall.  Von  Pasquale 
Romeo.  Die  primäre  tuberkulöse  Infektion  des  Corpus  uteri  ist 


höchst  selten.  Die 'sekundäre  Infektion  kann  des-  oder  aszendierend 
sein.  Häufiger  ist  die  deszendierende  Form,  bei  welcher 
die  Infektion  auf  dem  Blut-  oder  Lymphwege  oder  von  der  Nach¬ 
barschaft  her  erfolgt.  Bei  der  aszendierenden  Form  findet  die 
Infektion  durch  den  Geschlechtsverkehr  statt.  In  allen  Fällen 
muß  eine  Disposition  vorhanden  sein,  da  es  sonst  unerklärlich 
wäre,  warum  soviel©  Frauen,  die  mit  an  Hodentuberkulose  leiden¬ 
den  Männern  verheiratet  sind,  nicht,  erkranken.  Als  disponierende 
Faktoren  kommen  in  Betracht:  Der  Lymphatismus,  die  skrofulöse 
Diathese,  Schwangerschaft,  Abortus,  Wochenbett,  Menopause  und 
alle  jene  Ursachen,  welche  zur  Herabsetzung  der  Resistenz  des 
Uterusgewebe  beitragen.  Die  radikale  chirurgische  Behand¬ 
lung  ist  bei  den  sekundären  Erkrankungen  des  Uterus  nicht  an¬ 
gezeigt.  Sie  kann  bei  primärer  Uterustuberkulose  gute  Resul¬ 
tate  geben,  wenn  der  Prozeß  sich  noch  nicht  auf  das  Peritoneum 
oder  die  anderen  benachbarten  Organe  ausgebreitet  hat.  In  den 
Fällen  der  primären  Genitaltuberkulose,  wo  die  Erkrankung  noch 
auf  die  Schleimhaut  des  Uterus  beschränkt  ist,  kann  die  Aus¬ 
kratzung  genügen, ' besonders  wenn  es'  sich  um  junge  und  kräftige 
Frauen  handelt.  Die  auf  Uterustuberkulose  verdächtige  Frau  muß, 
auch  wenn  andere  Zeichen  der  Krankheit  fehlen,  einer  Probe- 
auskratzung  unterworfen  werden,  da  nur  die  histologische  und 
bakteriologische  Untersuchung  zur  richtigen  Diagnose  und  The¬ 
rapie  führen  kann.  Da  die  Diagnose  der  Genitaltuberkulose  in 
der  Praxis  fast  nie  gestellt  wird,  scheint  das-Leiden  seltener  vor¬ 
zukommen,  als  es  in  Wirklichkeit  der  Fall  ist.  Der  Gynäkologe 
muß  immer  an  die  tuberkulöse  Aetiologie  eines  Gebärmutterleidens 
denken,  wenn  in  der  Anamnese  Tuberkulose  angegeben  wird.  Die 
Prognose  der  Genitaltuberkulose  ist  um  Weniges  besser  als  die 
der  Lungenschwindsucht.  Sie  hängt  im  wesentlichen  ab  von 
der  möglichst  frühzeitigen  radikalen  Behandlung,  welche  im  opera¬ 
tiven  Verfahren  besteht.  —  (Gazzetta  dogli  ospedali  e  delle  cli¬ 
niche,  22  Januar  1911.)  sz. 

* 

212.  Die  Harnazidität  bei  de,r  Tuberkulose.  Von 
Barabaschi.  Die  Prüfung  des  Harnes  von  Gesunden  und  von 
Tuberkulösen  in  der  von  Mal  m ei a  c  angegebenen  Weise  auf 
seine  Azidität  hat  keine  Bestätigung  der  Ansicht  dieses  Autors  er¬ 
geben,  wonach  Hyperazidität  des  Harnes  ein  Zeichen  der  Dis 
position  zur  Tuberkulose  sei.  Dagegen  schien  zwischen  der  Hyp- 
aziditüt  des  Harnes  und  der  Schwäche  des  Organismus  ein  Zusam¬ 
menhang  zu  bestehen,  indem  gerade  die  Harne  der  Tuberkulösen 
im  dritten  Stadium)  sehr  geringe  Aziditätswerte  hatten.  --  (Gaz¬ 
zetta  degli  ospedali  e  delle  cliniche,  26:  Januar  1911.)  sz. 

* 

213.  Die  Inkubationszeit  bei  der  Malaria.  Von 

M.  Gioseffi.  Eine  Malariaepidemie,  die  an  Bord  eines  Schiffes 
ausbrach,  gab  dem  Autor  Gelegenheit,  die  Inkubationsdauer  in 
mehreren  Fällen  von  Malaria  genau  zu  bestimmen.  Für  die  leichte 
Tertianainfektion  ergab  sich  bei  sechs  Fällen  maximal  eine  In¬ 
fektionsdauer  von  22  und  minimal  eine  von  10  Tagen,  im  Mittel 
also  von  16  Tagen.  Die  Zahlen  des  Autors  nähern  sich  denen 
von  Bastian  eil  i  und  Bignamie,  welche  eine  Inkubations¬ 
zeit  von  16  bis  19  Tagen  konstatierten  und 'denen  von  Buchanan, 
welcher  in  einem  Falle  eine  leichte  Tertiana  nach '22,  im  anderen 
Falle  nach  15  Tagen  auftreten  sah.  —  (Gazzetta  degli  ospedali 
e  delle  cliniche,  19.  Januar  1911.)  sz. 

* 

214.  Ueber  eine  neue  Methode  der  mechanischen 
Therapie  der  Lungentuberkulose.  Von  F.  Pedrazzini 
und  Cesare  de  Vecchi.  Bei  einem  Falle  von  Humerusfrakttir 
wurde  während  der  Zeit,  in  welcher  ein  Tr aktions verband  an  der 
Schulter  angelegt  war,  eine  gleichzeitig  bestehende  Lungentuber¬ 
kulose  günstig  beeinflußt.  Diese  Beobachtung  legte  es  den,  Autoren 
nahe,  Traktionsverbände  an  der  Schulter  zur  Heilung  beginnen¬ 
der  Lungentuberkulose  zu  versuchen.  In  sieben  Fällen,  in  welchen 
diese  Methode  angewendet  wurde,  ergaben  sich  schon  nach  zwei¬ 
monatiger  Behandlung  deutliche  Besserungen.  Der  Kranke  hat 
hiebei  dein  Oberkörper  tiefer  gelagert  als  die  Füße  und  den 
Kopf  durch  ein  Kissen  etwas  gestützt,  so  daß  die  Schultern  sich 
an  tiefster  Stelle  befinden  und  die  Abdominalorgane  sich  gegen 
das  Diaphragma  senken.  Hierauf  wird  der  Traktionsverband  an 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


298 


der  erkranktem  Seite  wie  bei  einer  Humerusfraktur  angelegt.  Die 
Fixierung  des  Schultergürtels  und  der  Druck  der  Eingeweide  gegen 
das  Zwerchfell  zwingen  die  Muskulatur  der  oberen  Brustapertur  zur 
vermehrten  Tätigkeit,  wodurch  Respiration  und  Zirkulation  da¬ 
selbst  lebhafter  werden.  Die  verstärkte  Respiration  trägt 
zur  Erweiterung  atelektatischer  Bronchiolen  und  Alveolen  und 
zur  Entleerung  des  Sekretes  aus1  den  erkrankten  Partien  bei,  wäh¬ 
rend  die  lebhaftere  Zirkulation  die  der  Ansiedlung  und  Ver¬ 
mehrung  der  Bazillen  so  günstige  Anämie  beseitigt.  Diese  Be¬ 
handlungsmethode  kann  mit  der  üblichen  Sanatoriumsbehandlung 
kombiniert  werden.  Ihr  Indikationsgebiet  ist  geschlossene  oder 
leichte  offene  Spitzentuberkulose.  Kontraindiziert  ist  die  Methode 
bei  fortgeschrittenen  Fällen,  bei  denen  die  Gefahr  besteht,  daß 
durch  die  verstärkte  Atmung  eine  in  der  Nähe  der  Pleura  befind¬ 
liche  Kaverne  durchbricht  und  einen  Pyopneumothorax  erzeugt. 
Ein  größerer  Indikationsbereich  als  in  der  Therapie  dürfte  dieser 
Behandlungsmethode  in  der  Prophylaxe  der  Lungentuberkulose 
zukommen,  da  das  Verfahren  geeignet  ist,  die  zur  Schwindsucht 
disponierenden  Momente,  die  Starre  der  oberen  Brustapertur  und 
die  Schwäche  der  daselbst  ansetzenden  Muskeln,  wirksam  zu 
bekämpfen.  —  (II  Tommasi,  10.  Januar  1911.)  sz. 

* 

215.  Die  Aenderung  des  Herz  Volumens  und  des 
Blutdruckes  bei  Herzkranken  unter  dem  Einflüsse 
des  warmen  Bades.  Von  G.  Evoli.  Ein  warmes  Bad  erweist 
sich  bei  Herzkranken,  wenn  eventuell  vorkommende  individuelle 
Intoleranz  im  Auge  behalten  wird,  immer  als  nützlich.  Die  Vor¬ 
eingenommenheit  gegen  warme  Bäder  bei  Herzkranken  hat 
keine  Berechtigung.  Das  warme  Bad  in  der  Dauer  von  zehn 
Minuten  bewirkt  bei  Herzleidenden  eine  Verkleinerung  des  llerz- 
volumens,  eine  Steigerung  des  arteriellen  Blutdruckes,  eine  Er¬ 
leichterung  der  Respiration  und  ein  Gefühl  allgemeinen  Wohl¬ 
befindens.  —  (II  Tommasi,  20.  Januar  1911.)  sz. 


Vermisehte  flaehriehten. 

Verliehen:  Dem  Direktor  der  niederösterreichischen  Lan¬ 
desirrenanstalt  in  Gugging,  Dr.  Theophil  Bogdan,  der  Titel  eines 
Regierungsrates.  —  Dr.  Adolf  Ritter  in  Karlsbad  das  Komtur¬ 
kreuz  zweiter  Klasse  des  Sachsen  -  Emestinischen  Hausordens1. 
~  Dem  Stadtarzte  Dr.  Karl  Svoboda  in  Smichow  der  Titel 
eines  kaiserlichen  Rates. 

* 

Habilitiert:  Dr.  W.  Vorkastüer  für  Psychiatrie  in 
Greifswald.  —  Dr.  Korbinian  B  rodmann  für  Psychiatrie  und 
Neurologie  in  Tübingen. 

* 

Gestorben:  Dr.  Christian  Bohr,  Professor  der  Physio¬ 
logie  in  Kopenhagen.  - —  Dr.  A.  Severi,  Professor  der  gericht¬ 
lichen  Medizin  in  Genua. 

* 

Am  16.  Februar  hat  in  Görz  die  feierliche  Eröffnung  der 
mit  einem  Kostenaufwande  von  ca.  1,500.000  K  erbauten  Landes- 
i  rren  an  statt  stattgefunden . 

* 

Vom  30.  August  bis  2.  September  d.  J.  wird  der  111.  Inter¬ 
nationale  Laryng o-Rhin olog enkongreiß  in  Berlin  .in  den 
Räumen  des  Herrenhauses,  unter  dem  Präsidium  des  Herrn  Ge¬ 
heimrat  B.  Frankel 'tagen.  Mit  dem  Kongreß:  wird  eine  wissen¬ 
schaftliche  Ausstellung  verbunden  sein,  die  die  Beziehung  der 
Phonetik  zur  Laryngologie  und  die  Entwicklung  der  Broncho-  und 
Oesophagoskopie  illustrieren  soll.  Es  sind  folgende  Referate  fest¬ 
gesetzt  worden  :  1.  Die  Beziehungen  der  experimentellen  Phonetik 
zur  Laryngologie.  Referenten:  Gutzmann-Berlin,  Struyken- 
Bieda.  2.  Bronchoskopie  und  Oesophagoskopie,  Indikationen  und 
Kontraindikationen.  Referenten :  Killian-  Freiburg,  K  a  h  1  e  r- 
Wien,  Chevalier  Jacks  on -Pittsburg.  3.  Der  Lymphapparat  der 
Nase  und  des  Nasenrachenraumes  in  seiner  Beziehung  zum  übrigen 
Körper.  Referenten:  B r o eck ae rt-Gent,  Po li- Genua,  Logan 
turner- Edinburg.  4.  Die  sogenannten  fibrösen  Nasenrachen¬ 
polypen;  Ort  und  Art  ihrer  Insertion  und  ihre  Behandlung 
Referenten:  Jacques -Nancy,  H  e  1 1  a  t  -  Petersburg.  Anmeldungen 
mul  Anfragen  sind  zu  richten  an  den  Sekretär  des  Kongresses, 
Herrn  Prof.  R  o sen  her g -Berlin  NW.,  Schiffbauerdamm  26. 


Der  siebente  Kongreß  der  Deutschen  Röntgen- 
Gesellschaft  wird  Sonntag,  den  23.  April  1911,  morgens 
9  Uhr  pünktlich,  in  Berlin  im  Langenbeckhausc  eröffnet.  Demselben 
wird  diesmal  am  Tage  vorher,  also  am  Sonnabend, 'den  22.  April, 
abends  8  Uhr,  ein  Demonstrationsabend  vorausgehen,  an  dem 
diejenigen  Vorträge,  bei  welchen  Diapositive  projiziert  werden 
müssen,  vorweg  genommen  werden  sollen,  um  den  Sonntag  nach 
Möglichkeit  zu  entlasten.  Der  Kongreß  ist  auch  dieses  Jahr 
wiederum  so  gelegt  worden,  daß  die  Teilnehmer  an  dem  Ortho¬ 
päden-  und  Chirurgenkongreß  Gelegenheit  haben,  dem  Röntgen¬ 
kongreß  beizuwohnen.  Vorträge  und  Demonstrationen  werden 
möglichst  umgehend  (spätestens  bis  zum  1.  März  d.  .1.)  an  den 
Schriftführer  der  Gesellschaft,  Herrn  Dr.-  Immelmann,  Berlin 
W.  35,  Lützowstraße  72,  erbeten.  Mit  dem  Kongresse  wird  ferner 
diesmal  eine  Ausstellung  von  Projektionsdiapositiven  verbunden 
sein.  Anläßlich  des  Kongresses  ist.  ferner  die  Eröffnung  des 
Röntgenmuseums  in  Aussicht  genommen.  Anfragen  sind  an 
B.  Walter,  Vorsitzender  für  das  Jahr  1911,  Hamburg  36,  Physi¬ 
kalisches  Staatslaboratorium,  zu  richten. 

* 

Leber  Veranlassung  der  Wiener  Aerztekammer  werden  in 
Wien  vom  20.  Februar  bis  5.  März  wieder  Fortbildungs¬ 
kurse  u.  zw.  durch  folgende  Vortragende,  abgehalten:  Professor 
W.  Latzko:  Pathologie  und  Therapie  des  Puerperalprozesses; 
Primararzt  Lihotzky:  Blutungen  und  Entzündungen  des  weib¬ 
lichen  Genitales;  Prof.  Herzfeld:  Moderne  Indikationsstellung 
für  geburtshilfliche  Operationen;  Hofrat  Schauta:  Ausgewählte 
Kapitel  aus  der  Geburtshilfe  (Die  Teilnehmer  werden  ersucht, 
Themen,  deren  Besprechung  gewünscht  wird,  bei  der  Anmeldung 
bekanntzugeben.);  Prof.  Tandler:  Uterustopik  und  Beckenboden; 
Prof.  Wert  beim:  1.  Gynäkologische  Indikationen;  2.  Uterus¬ 
karzinom  (verbunden  mit  Demonstrationen);  Prof.  6.  Zucker- 
_kandl:  Tuberkulose  der  Niere  und  der  Harnwege  beim  Weibe. 
Die  Anmeldungen  sind  schriftlich  bis  längstens  19.  Februar  1911 
an  die  Wiener  Aerztekammer  zu  richten.  Zur  Einzahlung  der  Ein¬ 
schreibegebühren  per  3  K  und  6  K  werden  den  Teilnehmern 
Posterlagscheine  zugesendet.  AePzte,  welche  der  Wiener  Kammer 
nicht  angehören,  können  an  den  Kursen  teilnehmen;  dieselben 
haben1  für  den  sechsstündigen  Kurts  20  K,  für  den  drei-  und 
vierstündigen  Kurs  10  K  direkt  an  den  Dozierenden  zu  entrichten. 
Auskünfte  im  Bureau  der  Wiener  Aerztekammer,  Wien  L,  Börse- 
gas'se  Nr.  1. 

*  ( 

Der  Verein  K a i s  e r - F r a nz-Joseph-Ambulatori u m 
veranstaltet  einen  am  2.  Mär'z  d.  J.  beginnenden  Vortrags¬ 
zyklus  von  zwölf  Vorlesungen  für  praktische  Aerzte.  Die  Vor¬ 
lesungen  finden  im  Hörsaale  des  Kaiser-Franz- Joseph- Ambu¬ 
latoriums  (Wien  VI.,  Sandwirtgasse  3,  Mezzanin)  präzise  um 
7  Uhr  abends  statt.  Inskriptionsgebühr  für  Aeirzte  und  Studie¬ 
rende  2  K  für  den  ganzen  Zvklus. 

;ry. ■  >  ;  •  \  [  ,  .  ■  „ 

Eine  große  Zahl  deutscher  Augenärzte  Böhmens 
und  Mährens  hat  ihre  Teilnahme  an  einer  am1  20.  März  d.  J. 
in  Prag  (Deutsche  Augenklinik)  stattfindenden  wissenschaftlichen 
Versammlung  zugesagt.  Kollegen  aller  benachbarten  Kronländer 
Oesterreichs',  welche  sich  an  der  Versammlung  beteiligen  wollen, 
werden  willkommen  sein.  Vorträge  und  Demonstrationen  mögen 
bis  längstens  25.  d.  M.  bei  Prof.  Elschni  g-Prag  II.,  Ferdinand¬ 
straße  10,  angemeldet  werden.  Das  Programm  der  Versammlung 
wird  rechtzeitig  in  dieser  Wochenschrift  veröffentlicht  werden. 

* 

Prof.  Jaensch  (Berlin-Halensee)  hat  einen  Preis  von 
1000  Mark  für  die  Bearbeitung  folgender  physiologischer 
Aufgabe  ausgesetzt :  „Es  ist  durch  sachgemäße,  wissenschaftlich 
einwandfreie  physiologische  Versuche  festzustellen,  welche  Grund¬ 
eigenschaften  für  die  leichte  und  schnelle  Lesbarkeit  einer  Welt¬ 
schrift  in  Betracht  kommen  und  welche  der  zurzeit  gebräuch¬ 
licheren  Schriftformen  diesen  Bedingungen  am  meisten  entspricht.“ 
Nähere  Angaben  werden  später  bekannt  gemacht. 

* 

Cholera.  Italien.  In  Italien  sind  in  der  Woche  vom 
26.  Januar  bis  1.  Februar  vier  Neuerkrankungen  an  Cholera  vor¬ 
gekommen,  sämtliche  in  Taranto,  Provinz  Lecce.  —  Rußland. 
In  der  Woche  vom  1.  bis  7.  Januar  1911  ereigneten  sich  im 
Russischen  Reiche  2  Erkrankungen  und  3  Todesfälle  an  Cho¬ 
lera  u.  zw.  im  Gouvernement  Kasan  1  (l)  und  Jekaterinoslaw 
1  (2).  —  Türkei.  Seit  Ausbruch  der  Cholera  bis  zum  16.  Januar 
ereigneten  sich  in  Konstantinopel  1318  (793),  im  Wilajet  Bagdad 


294 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


819  (723),  in  Smyrna  181  (122)  Choleraerkrankungen  (Todesfälle). 

In  Smyrna  ist  die  schon  erloschene  Epidemie  seit  Anfang  Januar 
von  neuem  aufgeflammt;  die  Woche  vom  8.  bis1  16.  Januar  brachte 
53  (33),  vom  17.  bis  23.  Januar  86  (51),  vom  24.  bis'  30.  Ja¬ 
nuar  69  (32)  Fälle,  so  daß  in  Smyrna  bis  Ende  Januar  336  Er¬ 
krankungen  und  205  Sterbefälle  zu  verzeichnen  waren. 
Aegypten.  In  Suakim  starb  am  26.  Januar  eine-  Frau  unter 
Choleraverdacht,  der  durch  die  bakteriologische  Untersuchung 
bestätigt  wurde.  —  Arabien.  In  Djeddali  sind  seit  4.  Januar 
18  tödlich  ausgegangene  Cholerafälle  konstatiert  worden,  so  daß 
die  Gesamtzahl  der  Erkrankungen  seit  Beginn  der  Epidemie  be¬ 
reits  auf  42  (41  tödlich)  gestiegen  ist.  In  Mekka  beträgt  die  Zahl 
der  bis  15.  Januar  an  Cholera  erkrankten  Personen  119,  von  denen 
106  gestorben  sind,  in  Jambo  31,  in  El  Tor  34.  In  Peritn  und 
Hodeidah  herrscht  die  Cholera  gleichfalls  epidemisch,  in  letzterem  j 
Orte  ereigneten  sich  13  Fälle  unter  türkischen  Truppen. 
Philippinen.  In  der  Hauptstadt  Manila  ereigneten  sich  in 
der  Zeit  vom  6.  November  bis  3.  Dezember  8  (6),  in  den  Pro¬ 
vinzen  60  (39)  Choleraerkrankungen  (Todesfälle).  —  Siam.  In 
Bangkok  wurden  Von  Mitte  Juni  bis  Ende  November  465  Cholera¬ 
erkrankungen  festgestellt. 

Pest.  Rußland.  In  der  Kirgisensteppe,  Gouvernement 
Astrachan,  treten  neuerlich  Pestfälle  auf.  So  sind  im  ersten 
Küstenbezirke  im  Lager  von  Bes-Kys  in  der  Zeit  vom  30.  De¬ 
zember  bis  5.  Januar  a,  St.  4  (3),  bei  Sartube  in  der  Zeit  vom 
4.  bis  8.  Januar  14  (5),  im  zweiten  Küstenbezirke  in  Kossaj  vom 
17.  bis  26.  Dezember  15  (8)  Pestfälle  (Todesfälle)  vorgekommen. 
Im  Kreise  Kamisch-Samara  ereigneten  sich  in  Kolibaj  am  16.  De¬ 
zember  1  (0),  in  Aktschagil  in  der  Zeit  vom  22.  Dezember  bis 

3.  Januar  10  (9)  Pesterkrankungen.  In  der  russischen  Duma 
beantwortete  der  Finanzminister  mehrere  Anfragen  bezüglich  der 
Pest  in  der  Mandschurei.  Die- Pest  sei  in'dor  Mandschurei  heimisch 
und  habe  z.  B.  1905  bis  1908  grassiert.  Der  erste  Pestfall  191. 
sei  am  13.  Oktober  (a.  St.)  in  Mandschuria  vorgekommen;  der 
Regierung  sei  es  gelungen,  trotz  des  regen  Verkehres,  der  Re¬ 
krutenaushebung  und  des  Be-amtenwechsels  die  Verschleppung  ins 
Transbaikalgebiet  zu  verhindern.  Dafür  aber  griff  die  Seuche-  nach 
Osten  über  und  hier  war  der  Kampf  gegen  diese  bisher  erfolglos. 
Von  Waren  werden  gegenwärtig  nur  die  international  als  unge¬ 
fährlich  -gestatteten  zugelassen;  alle  Postsachen  passieren  die 
ärztliche  Kontrolle.  Besonders  werden  die  Tababg anfeile  des¬ 
infiziert  und  abgestempelt.  Eine  Absperrung  des  verseuchtem, 
äußerst  schwer  zu  sanierenden  Viertels  Fudjadjan  hat  sich  als 
unmöglich  erwiesen.  Es  ist.  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  Pest 
noch  außerordentlich  anwächst  und  nach.  Rußland  vordringt.  Ris 
zum  1.  Januar  sind  260.000  Rubel  für  die  Pestbekämpfung  aus- 
gegeben  worden,  monatlich  werden  weitere  75.000  bis  80.000 
Rubel  nötig  sein.  Hiezu  kommt  ein  Ausfall  von  25.000  bis  30.000 
Rubel  durch  die  Bahnsperre  für  die  Chinesen.  Für  1910  sind 
vom  Ministerium  des  Innern  schon  400.000  Rubel  beansprucht 
worden.  Prof.  Sabolotny  ergänzte  diese  Ausführungen  durch 
Schilde  rung  der  Schwierigkeiten  der  Pestbekämpfung  bei  den 
ungesunden,  äußerst  engen  Wohnungen  der  Chinesen.  Die  Pest 
sei  in  China  endemisch  und  bilde-  eine  ständige  Gefahr,  der  man 
nur  durch  planmäßige  Sanierung  der  Orte  begegnen  könne.  — 
Aegypten.  In  der  Woche  vom  20.  bis  26.  Januar  ereigneten 
sich  26  (9),  in  der  Woche  vom  27.  Januar  bis1  2.  Februar  33  (16) 
Pestfälle  (Todesfälle).  -  China.  Die  Pest  in  der  Mandschurei 
hat  große  Dimensionen  angenommen.  Hauptherde  der  Epidemie 
s  iid  noch  immer  Charbin  und  Fudjadjan.  Tn  der  Enteignungs¬ 
zone  der  ©stchinosischen  Bahn  sind  seit  dem  Auftreten  der  Ptast 
am  26.  Oktober  bis  zum  14.  Januar  1043  Chinesein- und  32  Euro¬ 


päer  erkrankt,  1020  Chinesen  und  29  Europäer  gestorben.  Die 
Seuche,  die  zuerst  in  Mandschuria,  der  chinesischen  Grenzstation 
gegen  Sibirien,  ausgebrochen  ist,  verbreitete  sich  rapid  längs  der 
russischen  Bahnzone  weiter  und  ist  nun  über  Mukden  hinaus  bis 
Seliinmintun  gelangt.  Auch  aus  Dalny,  dem  Endpunkte  der  süd¬ 
mandschurischen  Balm,  sind  schon  mehrere  Pestfälle  gemeldet 
worden.  Die  chinesische  Regierung  hat  alle  Wege  und  Straßen, 
die  die  Große  Mauer  durohschneiden,  gesperrt;  Bahnreisende 
!.  Klasse  müssen  sich  in  Shanhaikuan  einer  fünftägigen  Quaran¬ 
täne  unterziehen,  Reisenden  der  II.  und  III.  Klasse  werden  Fahr-  ! 
karten  nur  his  Mukden  ausgefolgt.  Die  mandschurischen  Häfen  i 
Anfang  und  Dalny  wurden  für  verseucht  erklärt.  Trotz  dieser  i 
Maßnahmen  sind  in  der  österreichisch-ungarischen  Niederlassung 
in  Tientsin  bis  22.  Jänner  5  Pesterkrankungen  unter  Chinesen  I 
vorgekommen.  In  Peking  haben  sich  bisher  6  Pestfälle  ereignet,  j 
Die  Entstehung  der  Seuche  wird  auf  die  Verbreitung  durch  Jäger 
zurückgeführt,  die  das  mongolische  Murmeltier  (Tarbagan)  jagen. 
Diese  chinesischen  und  burjatischen  Jäger,  welche  die  Tiere  ab-  i 
bauten  und  mit.  ihren  Fellen  Handel  treiben,  genießen  auch  das  j 
Fleisch  der  genannten  Tiere,  selbst  wenn  dieselben  die  charakte-  > 
ristischen  Bubonen  an  den  Achselhöhlen  der  Vorderbeine  auf¬ 
weisen.  Die  weiten'  Ausbreitung  der  Epidemie  ist  um  so  mehr 
zu  befürchten,  als  die  Ratten  in  China  massenhaft  Vorkommen 
und  gewissermaßen  als  Hausgenossen  betrachtet  werden. 

* 

Am  14.  d.  M.  ist  in  Berlin  der  Reichsgesundbeitsrat  zu 
sammen-getre-ten,  um  über  die  Maßnahmen  bezüglich  der  Er-  1 
forschung  und  Bekämpfung  der  Pest  in  China  zu  beraten.  Ls 
wurde  mitgeteilt,  daß  sowohl  von  seiten  der  russischen,  als  der  | 
chinesischen  Regierung  der  Wunsch  vorliege,  daß  deutsche  Aerzte  ) 
in  die  Pestgebiete  entsendet  werden.  Von  der  russischen  Regie-  | 
rung  wird  Prof.  .Sabolotny,  von  der  japanischen  Professor 
Kitasato  in  das  Pestgebiet  abgehen. 


Freie  Stellen. 

Distriktsar  ztesstelle  für  die  Gemeinden  Metnitz  und  Grades 
mit  dem  Wohnsitze  in  Grades  (Kärnten).  Mit  derselben  ist  eine  Jahres- 
remnneration  von  600  K  aus  dem  Landesfonds  und  800  K  von  den  Ge-  ! 
meinden  verbunden,  sowie  der  Bezug  für  Armenbehandlung,  Toten¬ 
beschau,  Durchführung  der  öffentlichen  Impfung^  und  sonstige  Dienst¬ 
reisen  normierten  Gebühren.  Die  gegenseitige  Kündigungsfrist  beträgt  | 
zwei  Monate.  Der  Distriktsarzt  hat  die  Verpflichtung,  eine  Hausapotheke 
zu  führen.  Bewerber  um  diese  Stelle  werden  eingeladen,  ihre  vorschrifts-  : 
mäßig,  d.  i.  auch  mit  einem  ärztlichen  Gesundheitszeugnis  belegten  und 
gestempelten  Gesuche  direkt  oder  im  Wege  ihrer  Vorgesetzten  Behörde  ; 
i.is  längstens  4.  März  1911  hei  der  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  j 
St.  Veit  zu  überreichen  beziehungsweise  an  dieselbe  einzusenden. 

Unentgeltliche  Kurplätze  in  A b b  a z i  a  für  Kinder 
von  Sozietätsmitgliedern.  Es  kommen  für  das  Jahr  1911  drei 
unentgeltliche  Kurplätze  für  Kinder  von  Sozietätsmitgliedern  in  dem 
Kindersanatorium«  des  Herrn  Dr.  Kolomänn  Szego  in  Abbazia  zur 
Besetzung.  Für  diese  Kinder  werden  durch  sechs  Wochen  bestritten:  I 
Wohnung,  vollständige  Verpflegung,  ärztliche  Behandlung,  sämtliche  Kur-  I 
behelfe  (inkl.  Bäder),  Bedienung,  Beheizung,  die  Taxe  für  das  Aufsichts- 
fräulein.  Außerdem  soll  eventuell  noch  ein  Beitrag  zu  den  Reiseauslagen 
bewilligt  werden,  wenn  hiefür  das  Bedürfnis  vorhanden  wäre.  Die  An¬ 
stalt  ist  im  Sommer  und  Winter  geöffnet,  die  Kinder  können  daselbst 
ohne  Begleitperson  gelassen  werden.  Diese  Kurplätze  sind  bestimmt  zu¬ 
nächst  für  verwaiste,  sodann  andere  Kinder  von  Sozietätsmitgliedern, 
welche  das  7.  Lebensjahr  erreicht  haben  und  der  Kur  dringend  be-  , 
dürftig  sind.  Zuschriften  mögen  gefälligst  unter  Beifügung  eines  ärztlichen  - 
Attestes  an  die  Direktion  der  Witwen-  und  Walsen-Sozietät,  I.,  Roten-  ; 
turmslraße  19,  gerichtet  werden.  Einreichungstermin  bis  längstens  1 
10.  M  är  z  1911. 


INHALT: 


Theodor  Escherich  f.  Nachruf  von  Priv.-Doz.  Dr.  Fritz 
Hamburge r.  S.  263. 

(.  Originalartikel:  1.  Aus  der  chem.  Abteilung  des  serothera¬ 
peutischen  Institutes  in  Wien.  (Vorstand:  Hofrat  Prof.  R.  Paltauf.)  - 
lieber  die  Wirkung  des  Adrenalins  auf  einzellige  Organismen. 
(Vorläufige  Mitteilung.)  Von  Dr.  Oswald  Schwarz.  S.  267. 

2  Aus  der  chirurg.  Abteilung  des  Rothschildspitales  in  Wien. 
(Vorstand:  Prof.  Dr.  Otto  Zuckerkandl.)  Klinik  und  Therapie  der 
Steine  im  Beckenteile  des  Ureters.  Von  Dr.  Friedrich  Necker 
und  Dr.  Karl  Gags  tatter.  S.  268. 

3.  Die  Messung  der  Durchgängigkeit  der  Nase  für  den  Luftstrom. 
Von  Prof.  Dr.  Gustav  Gaertner.  S.  279. 

4.  Ueber  die  Natur  der  Nävuszellen.  Von  Prof.  Dr.  Kreibich 
S.  283. 

5.  Die  Technik  der  Knochenmarkspunktion.  Von  Prof.  Dr.  Giovann 
G  h  e  d  i  n  i.  S.  284. 


II.  Diskussion:  Erwiderung  auf  die  kritischen  Bemerkungen 
Mayerhofers  über  meine  Resultate  bei  Permanganattitration 
des  Liquor  cerebrospinalis.  Von  Dr.  med.  G.  Simon.  S.  284. 

III.  Referate:  Taschenbuch  der  pathologischen  Anatomie  Doktor 
Werner  Klinghardts  Kolleghefte.  Von  Prof.  Dr.  Edgar  Gierke. 
Die  Krankheiten  der  warmen  Länder.  Von  Geh.  Medizinalrat 
Dr.  B.  Scheube.  Ref. :  Carl  Stern  her  g.  —  Handbuch  der  Ent¬ 
wicklungsgeschichte  des  Menschen.  Von  Franz  Kreibel  und 
Franklin  P.  Mall.  Ref.:  H.  Rabl.  —  Die  Elemente  des  Herz¬ 
muskels.  Von  A.  Dietrich.  Ref.:  Josef  Schaffer,  Wien. 

IV.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

V.  Vermischte  Nachrichten. 

V I.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Mr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


295 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


INHALT: 


Offizielles  Protokoll  (1er  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  17.  Februar  1911. 

Verein  der  Aerzte  in  Steiermark. 


Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte  in  Böhmen. 
Sitzung  vom  3.  Februar  1911. 

Verein  deutscher  Aerzte  in  Prag.  Sitzung  vom  24.  Januar  1911. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  17.  Fe b r u a r  1 91 1 . 

Vorsitzender:  Pro!  Ferd.  Hochstetter. 

Schriftführer :  Dr.  R.  Bergmeister. 

Der  Vorsitzende  Prof.  Hochstetter  teilt  mit,  dab  Herr 
Hofrat  Dr.  Th.  Es  eher  ich  am  Mittwoch,  den  15.  Februar  1911 
gestorben  ist  und  hält  demselben  einen  kurzen  Nachruf. 

Die  Versammelten  erheben  sich  zum  Zeichen  der  Trauer 

von  ihren  Sitzen. 

Dr.  Hans  Heyrovsky  stellt  aus  der  zweiten  chirurgischen 
Klinik  Hofrat  H  o  ebene  g  g  eine  34jährige  Patientin  mit  seltener 
Erkrankung  der  Speiseröhre  vor. 

Das  Leiden  der  Patientin  begann  im  19.  Lebensjahre  mit 
Erbrechen,  welches  fast  nach  jeder  Nahrungsaufnahme,  ohne  be¬ 
sondere  Anstrengung  und  Uebelkeit  auftrat. 

Später,  als  die  Patientin  das  häufige  Erbrechen  zu  unter 
drücken  suchte,  traten  Anfälle  von  Druck  auf  der  Brust,  Zyanose 
und  Atemnot  auf.  Nach  wiederholtem  Aufstoßen  oder  Erbrechen 
hörten  diese  Anfälle  in  der  Regel  auf. 

Die  Erkrankung  wurde  von  verschiedenen  Aerzten  teils  als 
ein  Magen-,  teils  als  ein  Lungenleiden  aufgefaßt  und  dem¬ 
entsprechend  ohne  Erfolg  behandelt. 

Erst  auf  der  ersten  medizinischen  Abteilung  des  Herrn  Pro¬ 
fessor  Pal,  dem  wir  den  interessanten  Fall  verdanken,  wurde  die 
Diagnose  einer  Erkrankung  der  Speiseröhre  gestellt. 

Die'-- radiologische  Untersuchung,  welche  im  Röntgenlabo¬ 
ratorium  des  Herrn  Priv.-  Doz.  Holz  kn  e  cht  vorgenommen  wurde, 
bestätigte  diese  Diagnose;  man  fand  eine  hochgradige  diffuse 
Dilatation  der  Speiseröhre. 

Der  damalige  Röntgenbefund  (23.  Oktober  1909)  lautete:  Dei 
Oesophagus'  ist  hochgradig  quer  und  längs  gedehnt.  Etwa  in  der 
Höhe  des  Angulus  Ludovici  zeigt  er  deutlich  auch  ohne  Wismut¬ 
füllung  ein  zirka  drei  Querfinger  breites,  schwappendes  Flüssig¬ 
keitsniveau.  Oberhalb  des  Zwerchfells  bildet  der  Oesophagus 
eine  S-förmige,  zwei  Querfinger  breite  Schlinge.  Eine  in  die 
Speiseröhre  eingeführte  Sonde  gelangt  nicht  in  den  Magen,  son¬ 
dern  nur  in  den  oberen  Anteil  der  Schlinge.  Aus  der  Speiseröhre 
konnten  auf  der  Abteilung  Pal  in  der  Regel  500  cm3  einer  mit 
Speiseresten  vermengten  Flüssigkeit  ausgehebert  werden.  Die 
Flüssigkeit  reagierte  sauer,  enthielt  keine  freie  Salzsäure,  wohl 
aber  Milchsäure. 

Die  Patientin  wurde  auf  die  zweite  chirurgische  Klinik 
zum  Zwecke  einer  Operation,  mit  der  Diagnose  diffuse  Dilatation 
des  Oesophagus,  Kardiospasmus,  transferiert.  Die  Sondierung  der 
Kardia  vom  Munde  aus  war  wegen  der  S-förmigen  Krümmung 
der  Speiseröhre  nicht  durchführbar. 

Um  die  Speiseröhre  ruhig  zu  stellen  und  die  genügende 
Ernährung  der  Patientin  zu  sichern,  haben  wir  am  22.  Juni  1910 
eine  Magenfistel  angelegt.  Unsere  Absicht  war,  später  die  Kardi 
durch  Sondierung  von  der  Magenfistel  aus  zu  dilatieren. 

Bei  dieser  ersten  Operation  wurde  auch  die  Kardia  be¬ 
sichtigt  und  eine  narbige  Stenose  derselben  festgestellt. 

Auf  Grand  dieses  Befundes  mußte  die  Diagnose  Kardio¬ 
spasmus  fallen  und  als  Ursache  der  Passagestörung  narbige  Ste¬ 
nose  angenommen  werden.  Die  Aetiologie  der  narbigen  Stenose 
ist  uns  nicht  bekannt;  es  spricht  jedoch  vieles  dafür,  daß  ur¬ 
sprünglich  ein  Ulcus  peptieum  der  Kardia  mit  Spasmus  vor¬ 
handen  war  und  erst  später  eine  narbige  Stenose  in  den  \  order- 
grund  trat. 

Mehrere  Versuche,  die  Kardia  von  der  Magenfistel  aus 
mit  Gastroskop  einzustellen  und  zu  sondieren,  mißlangen  voll¬ 
kommen,  offenbar  wegen  der  narbigen  Verziehung.  Es  wurde 
deshalb  am  24.  November  1910  zur  zweiten  Operation  geschritten. 

Bei  derselben  habe  ich  die  Kardia  freigelegt  und  aus  dem 
Hiatus  des  Zwerchfells  losgelöst  mit  der  Absicht,  die  oberhalb 
des  Zwerchfells  liegende  Schlinge  der  Speiseröhre  in  die  Bauch¬ 
höhle  herabzuziehen  und  dadurch  zu  strecken. 

Da  dies,  wie  wir  vermutet  haben,  nicht  vollständig  gelang 
und  die  Stenose  sich  als  hochgradig  erwies,  wurde  die  zweite 


Modifikation  des  Operationsplanes,  eine  Anastomose  zwischen 
Oesophagus  und  Fundus  des  Magens  ausgeführt. 

Die  Speiseröhre  wurde  ohne  Verletzung  der  Pleura  dia- 
pluagmatica  so  weit  vorgezogen,  daß  eine  Anastomose  unter  dem 
Zwerchfell  angelegt  werden  konnte. 

Der  Kopf  der  Patientin  befand  sich  während  der  Operation 
im  B-r  euer  sehen  Ueberdruckapparat,  da  mit  der  Eröffnung  der 
Pleurahöhle  gerechnet  werden  mußte. 

Der  Verlauf  nach  der  Operation  war  folgender:  Die  Wunde 
heilte  per  primam.  Die  Patientin  konnte  vorn  zehnten  Tage  an 
flüssige,  vom  14.  Tage  an  breiige  Speisen  schlucken. 

Am  18.  Tage  trat  nach  dem  Genüsse  einer  Schinkensemmel 
Erbrechen  auf.  An  demselben  Tage  wurde  vom  Herrn  Privat¬ 
dozenten.  Holzknecht  die  erste  radiologische  Untersuchung  der 
Speiseröhre  nach  der  Operation  vorgenommen.  Die  Anastomose 
funktionierte  an  diesem  Tage  nicht.  In  der  linken  Pleura  wurde 
bei  dieser  Gelegenheit  ein  geringer  Erguß  radiologisch  nach¬ 
gewiesen. 

Seit  diesem  Zwischenfall  trat  niemals  mehr  Erbrechen  auf 
und  die  Patientin  konnte  alle  Speisen  ohne  Beschwerden  genießen. 

Fünf  Wochen  nach  der  Operation  traten  unter  mäßigem 
Fieber  Erscheinungen  einer  link  seifigen  serösfibrinösen  Pleu¬ 
ritis  .auf. 


Das  Exsudat  wurde  durch  zweimalige  Punktion  der  Pleura 
entleert  und  die  Erscheinungen  der  Pleuritis  gingen  rasch  zurück. 
Das  Exsudat  war  steril.  Die  Patientin  fühlt  sich  nun  seit  mehreren 
Wochen  vollkommen  wohl  und  kann  jede  Nahrung  ohne  Be¬ 
schwerden  schlucken. 

Der  radiologische  Befund,  welchen  Herr  Dr.  Haudek  vor 
einigen  Tagen  aufgenommen  hat,  lautet: 

Die  Röntgenuntersuchung  ergibt,  daß  sowohl  Wismutwasser 
als  auch  Wismutmilchspeise  im  untersten  Teile  des  Oesophagus 
sich  anstaut,  ohne  daß  es  aber  zu  einer  kompletten  Füllung  der 
S-förmigen  Schlinge  korntat,  wie  es  bei  den  früheren  Unter¬ 
suchungen  der  Fall  war.  Im  untersten  Teile  derselben  sind  viel¬ 
mehr  nur  schwache  Schatten  sichtbar.  Die  Stauung  ist  eine  be¬ 
deutend  geringere  als  bei  den  früheren  Untersuchungen,  denn 
man  sieht  größere  Quantitäten  der  eingebrachten  flüssigen  und 
breiigen  Ingesta  in  schnellem  Tempo  in  den  Magen  eindringen. 
Dieser  wird  von  den  Ingesten  ziemlich  gut  entfaltet  und  zeigt 
normale  Größe,  Form  und  Peristaltik.  Früher  waren  nur  ganz 
winzige  Quantitäten  im  Magen  sichtbar. 

Sechs  Stunden  nach  der  Einnahme  der  Ried  ersehen  Mahl¬ 
zeit  ist  der  Magen  bereits  fast  vollkommen  leer,  so  daß  die  der¬ 
zeitige  Passagestörung  im  Oesophagus  keine  nennenswerte  Ver¬ 
dauungsstörung  nach  sich  zieht.  Von  vier  in  die  Speiseröhre 
eingebrachten  Glutoidkapseln  mit  Wismut,  von  den  Dimensionen 
6,  8,  und  9  und  12  mm,  sind  nach  einer  Stunde  die  zwei 
kleinen  Kapseln  in  den  Magen  eingedrungen,  woraus  sich  folgern 
läßt,  daß  die  Kommunikation  zwischen  Oesophagus  und  Magen, 
die  den  Uebertritt  der  Speisen  jetzt  vermittelt,  einen  Durchmesser 
von  mindestens  8  mm  besitzt.  (Demonstration  von  Röntgenaut 
nahmen,  die  teils  an  der  Klinik,  teils  im  Röntgenlaboratorium 
des  Herrn  Priv.- Doz.  Holzknecht  angefertigt  wurden.) 

Ueber  die  Technik  der  Operation  wird  au  anderer  Stelle 
berichtet.  Die  bisherigen  vereinzelten  Versuche,  eine  neue  Ver¬ 
bindung  zwischen  Magen  und  Speiseröhre  beim  Menschen  an¬ 
zulegen,  wurden  in  der  Weise  ausgeführt,  daß'  der  1  undus  des 
Magens  durch  eine  Oeffnung  im  Zwerchfell  in  die  Pleurahöhle 
verlagert  und  dortselbst  mit  der  Speiseröhre  anastomosieR  wurde. 

In  unserem  Falle  wurde  die  Anastomose  unter  dein  Zw  et  ch- 
’  feil  in  der  Bauchhöhle  ausgeführt.  Die  Verhältnisse  für  diese 
Art  der  Operation  waren  in  unserem  Falle  wegen  der  Verlängerung 
der  Speiseröhre  sehr  günstig ;  die  Operation  ist  jedoch,  w  io 
man  sich  bei  den  Leichen  versuchen  überzeugen  konnte  auch 
bei  normalen  anatomischen  Verhältnissen  ausführbar,  da  sich  auch 
die  normale  Speiseröhre  ziemlich  leicht  in  die  Bauchhöhle  voi- 


ziehen  läßt.  .  ,  r,  , 

Die  Operation  wird  bei  kurzen  narbigen  Stenosen  der  1 

angezeigt  sein.  .  , 

Alle  bisher  beim  Menschen  ausgeführten  Anastomosen 

zwischen  Speiseröhre  und  Magen  endeten  letal,  hi  v<>r0i.sc 


296 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  8 


Fall  ist  der  erste,  Lei  welchem  eine  Anastomose  zwischen  der 
Speiseröhre  und  Magen  mit.  Erfolg  ansgeführt  wurde. 

Diskussion:  Prof.  Pal:  Gestatten  Sie,  daß  ich  zur  Kranken¬ 
geschichte  des  Falles,  dessen  Klarlegung  manche  Mühe  bereitet 
hat,  einige  Bemerkungen  mache.  Der  Beginn  der  Beschwerden 
wird  von  der  Patientin  auf  das  19.  Lebensjahr  (1894)  verlegt.  Das 
Erbrechen  soll  sich  zum  erstenmal  im  Anschluß  an  einen  Streit 
mit  den  Eltern  eingestellt  haben.  In  der  Folge  trat  es  fast  täglich 
auf  und  zeigten  sich  dabei  mitunter  auch  blutige  Streifen.  Im 
Jahre  1900,  während  der  ersten  Gravidität,  und  1902  zum  zweiten¬ 
mal  profuse  Magenblutung.  Im  Januar  1909  kam  die  Kranke 
am  die  Abteilung  wegen  einer  Bronchitis  mit  Anfällen  von  Atem¬ 
not.  Zu  dieser  Zeit  war  sie  zum  zweitenmal  gravid.  Die  schweren 
Anfälle  von  Atemnot  setzten  nach  Angabe  der  Patientin 
mit  starkem  Druck  in,  der  Magengrube  ein.  Es  entwickelte  sich 
dann,  wie  wir  sehen  konnten,  unter  intensiver  Zyanose  Schwellung 
der  Jugularvenen  und  der  Schilddrüse,  worauf  bedeutender  Stridor 
folgte.  Nach  Aufstoßen  von  Luft  war  der  Zustand  zu  Ende. 
Wir  hatten  ein  Bild  vor  uns,  als  ob  sich  in  akuter  Weise  ein 
Mediastinaltumor  entwickeln  würde.  Im  Laufe  der  Beobachtung 
konnten  wir  erst  feststellen,  daß  dieser  Zustand  sich  nur  im  Zu¬ 
sammenhang  mit  einer  Nahrungsaufnahme  einstelle  und  konnten 
wir  den  Anfall  jederzeit  herbeiführen.  Die  erste  Röntgenunter¬ 
suchung  des  vorher  gefüllten  Oesophagus  ergab  schon  die  ge¬ 
schilderte  S-förmige  Schlängelung  der  Speiseröhre.  Der  Zustand 
der  Kranken  gestaltete  sich  bald  derart  ungünstig,  daß  idh  zu¬ 
nächst  die  Einleitung  der  Frühgeburt  veranlassen  mußte,  die  dann 
auf  der  Klinik  Schauta  (März  1909)  ausgeführt  wurde.  Am 
zweiten  Tage  wurde  uns  die  Kranke  zurückgebracht  und  war 
bereits  beideutend  gebessert,  doch  bestanden  die  Anfälle  weiter. 

Im  April  1909  habe  ich  die  Patientin  mit  Herrn  Dr.  Gottwald 
Schwarz  wieder  durchleuchtet;  da  konnten  wir  feststellen,  daß 
der  Oesophagus  zwar  erweitert  war,  jedoch  noch  geradlinig  ver¬ 
lief.  Unter  der  Füllung  trat  erst  die  geschilderte  Schlängelung 
auf,  die  von  Bewegungen  begleitet  war,  die  an  die  Bewegungs- 
erscheinungen  der  Darmsteifung  bei  der  Ente-rostenose  erinnerten. 
Auf  der  Höhe  des  Vorganges  tauchte  plötzlich  eine!  Gasblase 
auf,  die  den  Oesophagus  in  den  obersten  Partien  dehnte.  Mit 
dein  Eintritt  der  Gasblase  wurde  der  Stridor  laut  und  mit  deren 
Verschwinden  unter  Aufstoßen  war  der  peinliche  Zustand  be¬ 
endet. 

Es  war  sonach  klar,  daß  die  Patientin  während  des  Schling¬ 
aktes  Luft  schluckte,  indem  sie  bestrebt  war,  den  Inhalt  der  Speise¬ 
röhre  durchzutreiben.  Dieser  Vorgang  führte  zu  den  schweren 
respiratorischen  Störungen. 

In  therapeutischer  Hinsicht  wurde  das  Möglichste  unter¬ 
nommen,  ohne  erheblichen  Erfolg.  Zuerst  erwies  sich  Adrenalin 
durch  einige  Tage  wirksam.  Nachdem  das  Luftschlucken  fest- 
gestellt  war,  wendete  ich  den  Mundkeil  an,  von  dem  ich  schon 
einmal  hier  gelegentlich  einer  Diskussion  gesprochen  habe.  Es 
hatte  dies  nur  zur  Folge,  daß  die  Schweren  Atemstörungen  ver¬ 
mindert  wurden,  doch  konnte  das  die  Patientin  nicht  befriedigen, 
da  die  Schlingstörung  dadurch  nicht  beseitigt  wurde.  Belladonna 
und  Atropin  (Eumydrin)  ergaben  selbst  in  großen  Dosen  keine 
erhebliche  Besserung.  Am  meisten  erreichten  wir  durch  Aus¬ 
spülungen  der  Speiseröhre.  Die  Patientin  nahm  beträchtlich  an 
Körpergewicht  zu.  Trotz  aller  Vorsichtsmaßregeln  verschlimmerte 
sich  aber  das  Befinden  der  Kranken  wieder  derart,  daß  ich  sie 
schließlich  dazu  drängte,  sich  einem  operativen  Eingriff  zu  unter¬ 
ziehen,  über  desfeen  Erfolg  eben  ausführlich  berichtet  wurde. 

Der  Fall  scheint  mir  also  auch  beimerkenswert  mit  Rücksicht 
auf  die  Erscheinung  des  Luftschluckens,  ferner  insbesondere 
deshalb,  weil  er  zeigt,  wie  eine  Luftblase  im  Oesophagus 
imstande  ist,  die  Trachea  zu  komprimieren.  Von  laryngologischer 
Seite  wurde  im  Anfall  eine  Abplattung  und  Verdrängung  der 
Trachea  nach  rechts  und  vome  festgestellt. 

Priv.-Doz.  Holz  kn  echt:  Neben  dem  vorzüglichen  Ope¬ 
rationsresultat  verdient  der  Fäll,  wie  ich  glaube,  auch  vom  patho¬ 
logischen  Standpunkte  hervorragendes  Interesse.  Die  hoch¬ 
gradigsten  Dilatationen  des1  Oesophagus,  wie  sie  durch  Narben¬ 
stenosen,  besonders  aber  als  idiopathische  oder  mit  Kardiospasimus 
verbundene  Dilatation  auftreten  und  seit  der  Röntgenuntersuchung 
nicht  allzu  selten  gefunden  werden,  zeigen  stets  eine  sackartige 
bis  spimdelige  Form;  es  überwiegt  also  die  Querdehnung.  So 
haben  sich  die  von  mir  beobachteten  12  und  die  zirka  50  weiteren 
in  der  Literatur  bekannt  gewordenen,  radiologisch  untersuchten 
Fälle  präsentiert.  Ebenso  die  früheren,  am  Sektionstisch  vor- 
,  gefundenen.  Der  vorliegende  Fall  weist  eine  geringe  Querdeh¬ 
nung,  dafür  aber  eine  zur  mächtigen,  S-förmigen  Schlinge  füh¬ 
rende  vorwiegende  Längsdehnung  auf. 


Daß  nun  der  normale  Oesophagus  durch  Narbenstenose 
eine  derartige  Dilatation  erfährt,  ist,  da  sich  in  solchen  Fällen 
sonst,  nicht  einmal  eine  Andeutung  davon  zeigt,  unwahrscheinlich. 
Dazu  kommt,  daß  sich  in  der  pathologisch-anatomischen  Litera¬ 
tur  (die  Stelle  ist  mir  nicht  gegenwärtig;  zitiert  bei  Kraus) 
einige  wenige  Fälle  von  idiopathischer  Dilatation  mit  oder  ohne 
Kardiospasmus,  aber  ohne  Ulkus  oder  Narbe  finden,  welche  eine 
ausgesprochene  Schlängelung  aufwiesen  und  da  ferner  die  letzten 
Untersuchungen  über  den  Gegenstand  (besonders  F.  K rau s) 
dargetan  haben,  daß  diese  hochgradigen  Erweiterungen  wahr¬ 
scheinlich  niemals  bloß  durch  ein  (spastisches)  Hindernis  an 
der  Kardia  verursacht  sind,  sondern  zugleich  oder  allein  eine 
primäre  Schwäche  der  Oesophagusmuskulatur  besteht,  so  ist  es 
wahrscheinlich,  daß  auch  hier  das  Ulkus  nicht  das  Primäre  war. 
Vielmehr  ist  anzunehmen,  daß  wir  es  mit  einer  primären,  idio¬ 
pathischen,  mit  oder  ohne,  Kardiospasmus  einhergehenden  Dila¬ 
tation  des  Oesophagus  u.  zw.  mit  einem  jener  ganz  seltenen 
Fälle  zu  tun  haben,  bei  denen  nicht  die  Querdehnung,  sondern 
die  Schlängelung  im  Vordergründe  steht  und  daß  erst  sekundär, 
durch  die  Stagnation,  das  Ulkus  entstanden  ist,  dessen  Narbe 
den  hohen  Grad  von  Wegsamkeitsstörung  herbeiführte,  der  die 
so  glückliche  Operation  no  tu- endig  gemacht  hat. 

Dr.  Fritz  Demmer  stellt  aus  der  II.  chirurgischen  Klinik 
einen  Fall  von  Wachstumsstörung  mit  Beziehung  zur 
Akromegalie  vor.  (Erscheint  ausführlich  in  dieser  Wochen¬ 
schrift.)  I 

Diskussion:  Hof  rat  Hochenegg  hebt  die  Symptome  des 
vorgestellten  Falles  noch  einmal  kurz  hervor. 

Dt.  Gottwald  Schwarz  projiziert  das  Röntgenbild  eines 
klinisch  klaren  Falles  von  Aortensklerose.  Die  70jährige 
ambulante  Patientin  wurde  im  Röntgenlaboratorium  der  I.  medi¬ 
zinischen  Universitätsklinik  (v.  Noorden)  durchleuchtet.  Dabei 
zeigten  sich  neben  diffuser  Dilatation  (in  schräger  Durchleuch- 
tungsrichtung)  derartige  Kalkeinlagerungen,  daß  einerseits  span¬ 
genartige  Spiraltouren,  aus  tief  dunklen  Ringen  sich 
zusammensetzend,  zur  Ansicht  gelangten,  andrerseits  die  Aorta 
descendens  in  ganzer  Ausdehnung  als  ein  schwarz  konturiertes, 
innen  heileres  Rohr  mit  vielfachen  krümmeligen  Einlagerungen 
erschien.  {  * 

ßittorf  und  in  letzter  Zeit  Rosier  haben  auf  .die  Möglich¬ 
keit.,  röntgenologisch  Kalkplaques  auch  in  der  Aorta  zu  sehen, 
hingewiesen;  letzterer  hat  einen  derartigen  Befund  auch  bei  der 
Sektion  verifizieren  können. 

Dias  vorliegende  Bild  stellt  aber  wegen  der  elliptischen 
und  spiraligen  Ringe,  ferner  wegen  der  ungewöhnlichen 
Klarheit  ein  Unikum  dar,  das  auch  aus'  dem  Grunde  demonstriert 
wurde,  um  zu  zeigen,  bis  zu  welchem  Detail  .unter1  Umständen  die 
Röntgenuntersuchung  der  Brustorgane  Aufklärung  geben  kann. 

Dr.  Viktor  Hecht  und  Dr.  Robert  Köhler:  „Unter¬ 
suchungen  über  Asepsis  (mit  Demonstration).  (Erscheint 
ausführlich  in  dieser  Wochenschrift.) 


Verein  der  Aerzte  in  Steiermark. 

14.  Monatsversammlung  am  25.  November  1910. 

Prof.  v.  Hacker  hält  einen  Vortrag  über  Behandlung  der 
entzündlichen  Mastdarmstrikturen,  deren  Entstehung  entweder 
auf  einfache  chronisch-katarrhalische  Entzündung  oder  auf  Go¬ 
norrhoe  oder  auf  tertiäre  Syphilis  zurückgeführt  wird.  Der  Vor¬ 
tragende  bespricht  zunächst  das  konservative  Heilverfahren  (Dila¬ 
tation),  sowie  die  bei  ausgedehnteren  Strikturen  üblichen  Opera¬ 
tionsmethoden  und  stellt  endlich  zwei  Fälle  vor,  von  denen  der 
eine,  eine  23jährige  Frau,  bei  welcher  eine  ringförmige  luetische 
Striktur,  etwa  6  cm  über  der  Analöffnung  begann,  mittels  des 
Dilatationsverfahrens  mit  günstigem  Erfolge  behandelt  wurde. 
Die  zweite  Patientin  litt  seit  vier  Jahren  schwer  an  einer  luetischen 
Rektumstriktur,  die  von  unten  nicht  dilatierbar  war  und  deren 
Ende  per  vaginam  nicht  zu  erreichen  war.  Bei  der  Laparotomie 
zeigte  sich,  daß  die  Striktur  bis  zum  Kolonwinkel  hinaufreichte. 
Es  wurde  eine  laterale  Kolostomie  am  Cökum  ausgeführt.  Bei 
der  einige  Zeit  später  vorgenommenen  Hauptoperation  wurde  der 
Darm  zwischen  Colon  transv.  und  Colon  desc.  durchtrennt.  Nach 
Durchtrennung  der  Lig.  gastro-colic.  und  des  Mesenteriums  des 
Colon  transv.  ließ  sich  das  letztere  genügend  mobilisieren.  In 
Steinschnittlage  wurde  sodann  von  einem  perinealen  Querschnitt 
zwischen  Vagina  und  Rektum  vorgedrungen  und  auf  einer  von 
innen  her  das  Peritoneum  hinter  dem  Uterus  vorstülpenden 
Kornzange  der  Douglas  eröffnet.  Das  zugebundene,  mit  Jodoform¬ 
gaze  umhüllte  Ende  des  Colon  transv.  wurde  sodann  durch  den 


Nr.  8 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


297 


Douglasschlitz  und  einen  Längsschlitz  der  vorderen  Rektalwand 
gezogen  und,  da  wegen  der  Striktur  keine  Schleimhautnähte  vom 
Rektum  angelegt  werden  konnten,  durch  eine  außer  dem  Anus 
quer  durchgestochene  Akupunkturnadel  am  Zurückgleiten  ver 
hindert.  Die  ganze  Operation  dauerte  kaum  1 3d  Stunden.  Die 
Patientin  überstand  den  Eingriff  sehr  gut.  Kürzlich  wurde  die 
(Vikalfistel  verschlossen. 

Die  Kranke  hat  alle  ihre  Beschwerden  verloren,  hat  guten 
Appetit  und  meist  festen,  geformten  Stuhl.  Bei  flüssigem  Stuhl¬ 
gang  besteht  noch  Inkontinenz,  welche  durch  eine  Sphinkter¬ 
plastik  aus  den  Glutäen  beseitigt  werden  soll.  Es  wurde  also 
liier  das  Verfahren  der  Herableitung  des  Colon  transv.  mit  der 
Anastomosenbildung  am  extraperitonealen  Rektum  kombiniert, 
also  zum  ersten  Male  eine  Colon  transverso-proctostomia  externa 
ausgeführt. 

Priv.-Doz.  Dr.  Petry  bespricht  an  der  Hand  von  Demon¬ 
strationen  die  radiologische  Diagnose  des  Ulcus  ventriculi. 

Priv.-Doz.  Dr.  Polland  demonstriert:  1.  Einen  typischen 
Fall  von  Neurofibromatosis  universalis  (Recklinghausen)  bei 
einer  52jährigen  Frau.  2.  Ein  19jähriges  Mädchen  mit  einer 
angioneurotischen  Dermatose,  bestehend  in  symmetrisch  auf¬ 
tretenden,  in  nässende  Flächen  übergehende  Bläscheneruplionen 
an  Armen  und  Oberkörper. 

An  der  Diskussion  beteiligen  sieb  außer  Prof.  FI  a  r  t  m  a  n  n 
und  Assistent  Dr.  Phleps  noch  Prof.  Lorenz. 

Prof.  Lorenz  erwähnt,  daß  in  neuerer  Zeit  solche  exsu¬ 
dative  Exantheme  mit  Kalkarmut  des  Organismus  in  Zusammen¬ 
hang  gebracht  werden.  Auch  soll  bei  Urtikaria  eine  Kalktherapie 
von  entschiedenem  Nutzen  sein.  Prof.  Lorenz  fragt,  ob  der 
Vortragende  bei  dem  vorliegenden  Fall  eine  Kalktherapie  ver¬ 
sucht  hat. 

15.  Monatsversammlung  am  9.  Dezember  1910. 

Primarius  Dr.  L  u  k  s  c  h  demonstriert  eine  operativ  geheilte 
Herzverletzung.  Gelegentlich  der  sich  anschließenden  Diskussion 
empfiehlt  Assistent  Dr.  v.  Saar  bei  Operationen  am  Herzen 
die  Innenfläche  des  Perikards  gleich  nach  Eröffnung  mit  5'Voiger 
Novokainlösung  zu  betupfen,  um  durch  diesen  Vorgang  alle 
durch  die  späteren  Manipulationen  ausgelösten  Reflexe  von  vorn¬ 
herein  auszuschalten. 

Prof.  Langer  fragt  an,  ob  mit  Fibrolysiir  bei  kardio- 
mediasiinalen  Verwachsungen  Versuche  gemacht,  resp.  Erfolge  ■ 
erzielt  wurden.  Primarius  Dr.  Luk  sch  verneint  diese  Anfrage. 

Assistenzarzt  Dr.  Canestrini  berichtet  über  einen 
seltenen,  paralytischen  Anfall.  Es  handelt  sich  um  eine  40jährige 
Frau,  bei  der  auf  der  Frauenklinik,  eine  Kolpoperineoplastik  mit 
Lumbalanästhesie  unter  Anwendung  von  Tropokokain  vorge¬ 
nommen  worden  war.  Nach  der  Operation  blieb  die  Temperatur 
afebril  bis  zum  vierten  Tag,  nur  klagte  die  Patientin  während¬ 
dessen  über  sehr  starke  Kopfschmerzen.  Vier  Tage  nach  der 
Operation  bekam  die  Frau  unvermutet  einen  Anfall/  während¬ 
dessen  sie  das  Bewußtsein  verlor,  Opisthotonus  zeigte  und  eine 
tonisch- klonische  Kontraktur  der  ganzen  Körpermuskulatur  auf¬ 
wies.  Später  konnte  der  Vortragende  selbst  einen  Anfall  der 
Patientin  beobachten,  der  fünf  Minuten  dauerte.  Die  Pupillen 
waren  während  des  Anfalles  lichtstarr,  der  Kornealreflex  nicht 
auslösbar,  es  trat  starke  Dispnoe  auf  und  der  Puls  stieg  von 
100  auf  140.  > 

Da  die  weitere  genaue  Untersuchung  eine  ganze  Reihe 
von  in  Betracht  zu  ziehenden  Krankheitsformen  ausschloß,  mußte 
auch  an  die  Möglichkeit  eines  paralytischen  Anfalles  gedacht 
werden.  Durch  die  Untersuchung  der  Lumbalflüssigkeit  und  dem 
positiven  Ausfall  der  Wassermann  sehen  Probe  wurde  diese 
Diagnose  sichergestellt. 

Der  Vortragende  verbreitet  sich  weiter  in  ausführlicher 
Weise  über  die  Untersuchungsmethode  der  Lumbalflüssigkeit  bei 
den  metaluetischen  Erkrankungen. 

Prof.  Langer  hält  einen  Vortrag  über:  Impfsyphilis  und 
Spirochaete  pallida.  An  der  Diskussion  beteiligt  sich  Privatdozent 
Dr.  Po  1 1  a n  d. 

3.  Sitzung  der  Abteilung  für  Neuropathologie 
am  18.  November  1910. 

Assistent  Dr.  Phleps  hält  einen  Vortrag  über  „bisher 
wenig  beachtete  trophische  Störungen  an  den  Knochen  .  Der 
Vortragende  führt  aus,  daß  außer  den  bekanntesten  mit  trophischen 
Störungen  am  Skelettsystem  einhergehenden  Krankheitsformen, 
der  Tabes  dorsalis  und  Syringomyelie,  noch  eine  Reihe  anderer 
Erkrankungen  des  Nervensystems,  wie  Poliomyelitis,  Querschnitt  - 
läsionen,  Hemiplegien  infolge  von  Blutungen  oder  Entzündungen 


im  Gehirn,  ferner  die  Sklerodermie,  die  Raynaud  sehe  Krank¬ 
heit,  die  Erythromelalgie  und  die  Akroparästhesien  ähnliche 
Folgeerscheinungen  hervorrufen  können.  Außerdem  kommen 
Knochenatrophien  auch  bei  rein  peripheren  Erkrankungen,  wie 
Frakturen,  Distorsionen,  Kontusionen  der  Weichteile  und  der 
Knochen,  Geschwülste  und  Entzündungen  an  Knochen  oder  Weich¬ 
teilen,  Kontinuitätsverletzungen,  Geschwülste  und  Entzündungen 
der  Nerven  vor.  Unter  gleichzeitiger  Demonstration  von  Röntgen¬ 
bildern  bespricht  Dr.  Phleps  ausführlich  das  Zustandekommen, 
die  klinischen  Erscheinungen  und  die  Diagnose  dieses  Krankheits¬ 
bildes.  An  der  Diskussion  beteiligen  sich  Priv.-Doz.  Dr.  Wittek, 
Regimentsarzt  Dr.  P  o  1 1  a  k  und  Primarius  Priv.-Doz.  Dr.  H  e  r  1 1  e. 

4.  S  i  t  z  u  n  g  der  Abteilung  für  Neuropathologie 
am  2.  Dezember  1910. 

Priv.-Doz.  Dr.  Her  tie  hält  ein  chirurgisches  Referat  über 
den  gegenwärtigen  Stand  der  Epilepsietherapie.  Der  Vortragende 
beschäftigt  sich  zunächst  mit  der  Einteilung  der  verschiedenen 
Formen  traumatischer  Epilepsie,  verweist  an  der  Hand  von  Fällen 
auf  die  mannigfachen  Variationen  des  Krankheitsbildes  und 
kommt  zu  dem  Schlüsse,  daß  allen  traumatischen  Epilepsien  als 
gemeinsame  Ursache  chronisch-entzündliche  Veränderungen  der 
Gehirnrinde  zugrunde  liegen  können.  Zum  Schlüsse  bringt 
Dr.  Her  tie  noch  eine  ausführliche  Statistik  operativer  Heil¬ 
erfolge. 

Ueber  Duraplastik  bei  J  a  c  k  s  o  n- Epilepsie  referiert  Assi¬ 
stent  Dr.  Freiherr  v.  Saar  unter  Berücksichtigung  des  an  der 
Grazer  chirurgischen  Klinik  hiezu  verwendeten  Materiales  und 
bespricht  ausführlich  die  Vor-  und  Nachteile  der  Alloplastik, 
Humoroplastik  und  Heteroplastik. 

Zum  Schlüsse  referiert  Assistent  Dr.  di  Gaspero  über 
den  derzeitigen  Stand  der  konservativen  Therapie  der  Epilepsie, 
wobei  er  besonders  die  günstigen  Erfolge  mit  Epileptol  an  der 
Grazer  Nervenklinik  hervorhebt. 


Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte 

in  Böhmen. 

Sitzung  vom  3.  Februar1  1911. 

Herr  v.  Jaksch:  Demonstration  eines  Falles  von  Situs 
inversus  viscerum. 

Herr  H  o  k  e>  -  Prag  -  Framzensbad :  Dem  o  n  s  tr  a  t  i  on  v  o  n 
Elektroka  r  d  i  o  g  r  a  m  ln  e  n. 

Eine  Verstärkung  del*  P- Zacke  beim  Atherom  findet  sich 
nicht  konstant.  Beim  Irregularis  perpetuus  fehlt  die  Atrium¬ 
schwankung  oder  sie  ist  durch  unregelmäßige  Saitenschwankun¬ 
gen  ersetzt.  Verstärkung  der  Initialzacke  findet  sich  bei  Herz¬ 
hypertrophie  nicht  konstant,  oft  aber  bei  Nephritis  (auch  ohne 
Hypertrophie  des  Herzens).  Negativwerden  der  Finalschwankung 
findet  sich  nur  bei  deutlich  Herzmuskelkranken.  In  einem  Falle 
ließ  das  Elektrokardiogramm  eine  Leitungsstörung  im  rechten 
Schenkel  des  Reizleitungssystems  annehmen. 

Herr  E.  H.  Hering:  Diskussdonsbeimerkung  zum 
Vorträge  des  Herrn  Hoke.  Bei  der  Erklärung  des  Elektro- 
kardiogrammes  ist  immer  noch  nicht  genügend  auf  die  Art  der 
Ableitung  und  nicht  entsprechend  darauf  geachtet  worden,  daß 
normalerweise  bei  zweikammerigen  Herzen  jede  Kammer  für  sich 
in  Erregung  versetzt  wird. 

Bei  der  ersten  Ableitung,  die  jetzt  beim  Menschen  zumeist 
benützt  wird,  entsteht  das  Kammerelektr og ram m  des  zweikamme¬ 
rigen  Herzens,  insbesondere  die  R-  Zacke  durch  die  algebraische 
Summierung  der  Elektrogramme  der  beiden  Kammern.  Den  Beweis 
hiöfür  liefeiin  (bei  der  gleichen  Ableitung  und  Herzlage)  das 
Elektrogramm  der  Kammerextrasystolen,  das.  Elektrogramm  nach 
einseitiger  Durchschneidung  eines  Schenkels  des  Ueberleitungs- 
bündels  und  die  gleichzeitige  Reizung  beider  Kammern.  Die  Größe 
der  einzelnen  Kammerzacken,  insbesondere'  die  Q-,  R-  und  S-Zacke, 
hängt  bei  der  gleichen  Ableitung  ab  von  den  Lage  des  Herzens 
■  und  von  dem  Umstande,  wie  die  beiden  Kammern  auf  dem  W  ege 
des  Ueberleitungsbündels  zeitlich  und  örtlich  ihre  Erregung  er¬ 
halten. 

Daß  das  verschiedene  Aussehen  der  Elektrogramme  bei 
einseitiger  Kammererregung  (sei  es  Extrasystole,  sei  es  einseitige 
Kammersystole  bei  einseitiger  Schenkelerregung)  nicht  in  der 
rechten  oder  linken  Kammer  selbst  gelegen  ist,  das  war  nicht 
nur  auf  Grund  der  vorliegenden  elektrophysiologischen  Erfah¬ 
rungen  ganz  unwahrscheinlich,  sondern  ist,  unbeabsichtigt  und 
unbemerkt,  bei  einem  zu  einem  ganz  anderen  Zwecke  angestellten 
Versuche  von  Kahn  schon  bewiesen  worden,  indem  er  die  icc  de 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Ni-  S 


98 


Kammer  reizte  und  gleichzeitig  von  ihr  direkt  ableitete.  (Siehe 
Fig.  2  der  Taf.  Yr,  Pflügers  Archiv  1910,  Bd.  132,  S.  226). 

Damit  hat  also  speziell  der  verschiedene  anatomische  Auf¬ 
bau  der  beiden  Kammern  wie  Rothberger  und  Winter¬ 
berg  erst  kürzlich  meinten,  nichts  zu  tun.  Es,  ist  demnach  bei 
der  Analyse  des  Elektrokardiogramms  1.  auf  die  Art  der  Ableitung, 
2.  bei  nicht  direkter  Ableitung  von  einem  Herzabschnitt  auf  die 
Lage  des  Herzens,  3.  auf  die  zeitliche  und  örtliche  Erregung  der 
einzelnen  Abteilungen  des  Herzens  zu  achten. 

Herr  C.  Fischer:  Ueber  die  Aussichten  einer  the¬ 
rapeutischen  Beeinflussung  der  progressiven  P  a  r  a- 
ly  se. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  Paralyse  gar  nicht  so  selten  zu 
Remissionen  neigt,  die  meist  nur  kurze  Zeit,  seltener  längere 
Zeit  andauern.  Es  ist  weiter  bekannt,  daß  die  meisten  dieser 
Remissionen  nach  septischen  Erkrankungen  der  Paralytiker  auf- 
treten.  Da  nun  andere  Fiebererkrankungen  solche  Remissionen 
nicht  machen,  so  schloß  Fischer  daraus,  daß  das  wirksame 
Heilprinzip  durch  die  bei  septischen  Erkrankungen  regelmäßig 
auftretende  Blutleukozytose  dangestellt  wird.  Eine  solche  Blut¬ 
leukozytose  erzielte  Fischer  mit  Nukleininjektionen.  Die 
ersten  derartigen  Versuche  wurden  von  1907  bis  1908  gemacht 
und  die  Resultate  in  einer  vorläufigen  Mitteilung  in  der  Prager 
med.  Wochenschrift  publiziert.  Es  wurden  22  Fälle  injiziert, 
davon  bekamen  zwei  nur  wenige  Monate  dauernde  Remissionen, 
bei  zwei  Fällen  dauerten  die  Remissionen  dreiviertel  bis  zwei 
Jahre,  aber  die  weitere  Verfolgung  derselben  zeigte,  daß  alle 
wieder  erkrankt  sind,  ln  einer  Kontrollserie  unbehandelter  Fälle 
kam  es  damals  zu  keiner  Remission.  Weiter  zeigte  sich  jetzt, 
daß  die  durchschnittliche  Lebensdauer  der  Nukleinfälle  sich  gegen 
über  den  Kontrollfällem  wesentlich  verlängerte  (die  Lebensdauer 
der  Nukleinfälle  betrug  15,  die  der  Kontrollfälle  sieben  Monate, 
vom  Eintritte  der  Kranken  an  gerechnet). 

F  i scher  berichtet  jetzt  über  weitere  Resultate  mit  Nuklein, 
aber  bei  einem  etwas  günstigeren  Materiale,  nämlich  bei  Fällen 
eines  Sanatoriums,  die  ja  im  allgemeinen  viel  früher  zur  Auf¬ 
nahme  gelangen  als  die  Fälle  einer  Irrenanstalt.  Hier  traten  unter 
zehn  Fällen,  die  mit  Nuklein  behandelt  wurden,  fünfmal  Remis¬ 
sionen  auf,  in  denen  die  Kranken  geistig  als  vollkommen  gesund 
gelten  konnten  und  von  denen  auch  drei  wieder  im  Beruf  tätig 
waren.  Bei  allen  traten  jedoch  Rezidiven  auf,  wenn  dieselben 
auch  bisher  bei  zwei  Fällen  sehr  leicht  verliefen.  Bei  einer  Kon¬ 
trollserie  gleichartiger  zehn  Fälle  trat  nur  bei  einem  Falle  eine 
Remission  auf,  die  dadurch  besonders  interessant  ist",  daß  sie  erst 
nach  einer  länger  dauernden  Eiterung  auftrat.  Fischers  Technik 
bestand  in  Injektionen  von  Natrium  nucleinicum  (Böhringer) 
in  steigenden  Dosen  von  xk  bis  3  g  in  10°/<>iger  wässeriger 
Lösung  in  Abständen  von  drei  bis  fünf  Tagen.  Fischer  macht 
auf  ähnliche  Resultate  aufmerksam,  die  nach  v.  Wagners1  Ver¬ 
anlassung  mit  Tuberkulin  erzielt  wurden.  Auch  Donat  erzielte 
mit  Nuklein  günstige  Resultate  bei  der  Paralyse.  Die  Behandlung 
ist  vollkommen  gefahrlos  und  ist  bei  der  bisher  tristen  Paralyse¬ 
therapie  immerhin  als  ein  Fortschritt  zu  bezeichnen. 

Herr  Spät:  Ein  W  a s s  e r  b e  f  u n  d  gelegentlich  der 
letzten  Typhusepidemie. 

Gelegentlich  der  letzten  Typhusepidemie  in  der  oberen  Neu¬ 
stadt  in  Prag,  welche  als  eine  Trinkwasserepidemie  anzusehen 
ist,  wurde  der  Trinkwasserbrunnen  des  Garnisonsspitales,  das 
sich  in  der  nächsten  Nähe  des  Infektionsherdes  befindet,  fort¬ 
gesetzt  untersucht. 

Die  ersten  Untersuchungen  ergaben,  daß  das  Wasser  in 
jeder  Beziehung  einwandfrei  ist.  Trotzdem  beantragte  tier  Vor¬ 
tragende  die  Schließung  des  Brunnens,  weil  durch  die  Nähe  des 
Infektionsherdes  eine  spätere  Verunreinigung  zu  befürchten  war, 
zumal  Niveaudifferenzen  und  die  Richtung  des  Grundwasser¬ 
stromes  in  diesem  Sinne  günstig  waren.  Diese  Befürchtung  erwies 
sich  als  gerechtfertigt.  Bei  den  weiteren  Untersuchungen  blieb 
der  chemische  Befund  gleich.  Die  Keimzahl  zeigte  eine  geringe, 
jedoch  stets  sich  •  steigernde  Zunahme,  bei  der  letzten  Unter¬ 
suchung  stieg  die  Zahl  plötzlich  auf  etwa  3000,  gleichzeitig  trat 
Ammoniak  und  salpetrige  Säure  in  großen  Mengen  auf. 

Es  konnte  demnach  in  diesem  Falle  durch  fortgesetzte  häutige 
Untersuchungen  der:  Moment  der  Verunreinigungen  festgesteillt 
werden,  wie  bei  künstlichen  Infektionsversuchen  mit  Prodigiosus- 
keimen.  Die  Dauer  der  Durchsickerung  der  Schmutzstoffe  für  einen 
Streifen  von  ca.  130  Schritt  betrug  fast  fünf  Wochen,  was  mit 
den  bei  künstlichen  Infektionen  erhobenen  Werten  ziemlich  über¬ 
einstimmt  (D  it  thorn  und  Luerssen). 

Bemerkenswert  ist  das  gleichzeitige  Auftreten  der  gelösten 
Stoffe  (Ammoniak,  Nitrite)  und  der  suspendierten  Stoffe  (Bak¬ 


terien).  Die  Bedeutung  der  örtlichen  Besichtigung  bei  der  Beur¬ 
teilung  von  Wasseranlagen  wird  betont.  Dr.  Pf  ihr  am -Prag. 


Verein  deutscher  Aerzte  in  Prag. 

Sitzung  vom  24.  Januar  1911. 

Dr.  G.  Eckstein  demonstriert:  a)  Einen  fünfjährigen 
Knaben  mit  angeborenem  Klumpfuß  links.  Vier  Zehen  des  linken 
Fußes  sind  daktylisch,  im  oberen  Drittel  eine  bis  auf  den  Knochen 
reichende  Einschnürung.  Am  rechten  Fuße  sind  vier  Zehen 
untereinander  verwachsen. 

b)  Ein  sechsjähriges  Mädchen  mit  Daumen,  Zeigefinger  und 
Mittelfinger  an  der  linken  Hand;  die  beiden  letzteren  sind  mit¬ 
einander  verwachsen.  Die  Ulna  ist  vorhanden.  Der  linke  Fuß 
angeborener  Equinovarus  mit  drei  freien  Zehen.  Redressement. 
Heilung. 

Dr.  G.  E ck s t ei n :  ,-UJ e her  periartikuläre  Osteo¬ 
tomie  bei  Kniegelenksankylosen. 

Die  periartikuläre  Osteotomie  findet  ihre  strikte  Indikation 
in  der  Entkrüppelung  der  durch  Gonitis  tuberculosa  zu  Krüppeln 
Gewordenen,  sie  ermöglicht  aufrechten  Gang  auf  voller  Sohle.  Die 
Behandlung  der  Gonitis  tuberculosa  soll  im  Anfänge  eine  konser-  - 
vative  sein,  namentlich  das  forcierte  Redressement  der  Beuge* 
Stellung  soll  wegen  der  damit  verbundenen  Gefahren  vermieden 
werden.  Weder  die  Arthrektomie,  noch  die  Resektion  verhindern 
die  Gefahr  der  Propagierung  des  Herdes,  wobei  der  Uebelstand 
der  Verkürzung  und  des  jahrelangen  Tragens  von  Apparaten 
!  besteht.  Die  periartikuläre  Osteotomie  mit  Durchschn-eidung  der 
Kniekehlensehnen  vermeidet  alle  diese  Uebelstände.  Je  nach  dem 
!  Grade  der  Winkelstellung  wird  entweder  der  Femur  oder  die  Tibia 
I  durchmeißelt.  Der  Krankheitsherd  muß  mindestens  zwei  Jahre 
abgeheilt  sein.  Beugeankylosen  mit  Verkürzungen  im  Ober-  und 
Unterschenkel  lassen  sich  nach  Werndorff  und  Schanz  be¬ 
heben. 

Schleiß ner:  Adenoitis  acuta,  ein  Beitrag  zur 
Lehre  vom  D  riisen lieber.  (Erscheint  ausführlich  in  dieser 
Wochenschrift.)  O.  Wiener. 


Programm 

der  am 

Freitag  den  24.  Februar  19x1,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Reg.-Rat  Primarius  Dr.  Hans  Adler  statt¬ 
findenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Priv.-Doz.  Dr.  Paul  Clairmont  und  Assistent  Dr.  Martin 
Haudelt :  Ueber  den  Wert  der  Magenradiologie  für  die  Chirurgie. 

2.  Dr.  S.  Federn :  Ueber  optische  Rlutdruckmessung  an  der  Arteria 
radialis  und  über  den  lokalen  Rlutdruck. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Max  Herz,  Julius  Nenmanu, 
Ed.  Hermann,  L.  Wiek,  Haus  Salzer  und  Robert  Breuer. 

Bergmeister,  Pal  tauf. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  findet  im  Hörsaale  der  Klinik  Neuss  er  Donnerstag 
den  23.  Februar  1911,  um  7  Uhr  abends,  statt. 

(Vorsitz:  Hofrat  Prof.  v.  Neusser.) 

Programm: 

1.  Demonstrationen  angemeldet:  Dr.  G.  Schwarz:  Krankenvor¬ 
stellung  zum  Reicheschen  Röntgenbefund  bei  tiefgreifendem  Ulcus  ventri- 
culi;  Primär  Priv.-Doz.  Dr.  v.  Friedländer,  Dr.  Werndorff,  Dr.  Loewi, 
Priv.-Doz.  Dr.  Kuöpfelmacber. 

2.  Dr.  R.  Neurath  :  Pankreatitis  bei  Mumps. 

Das  Präsidium. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  27.  Februar  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Sitzungssaate  des  Kollegiums,  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz  des 
Herrn  Hofrates  Prof.  Chiari  stattfindenden  wissenschaftlichen  Ver¬ 
sammlung. 

Prof.  H.  Peham:  Ueber  Uterusmyome  und  deren  Behandlung. 


Oesterreicbische  otologische  Gesellschaft. 

Programm  der  Montag  den  27.  Februar  1911,  6  Ulir  abends,  im  Hörsaal 
der  Klinik  Urbantschitscli  stattfindenden  wissenschaftlichen  Sitzung. 

1.  Demonstrationen.  Angemeldet  die  Herren:  Bondy,  Räräny,  Rüttln, 
E.  Urbantschitscli,  Frey,  Braun,  Reck. 

2.  Julius  Bauer  und  Rudolf  Seidler :  Vorläufige  Mitteilung. 

Bondy,  Schriftführer. 


Verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Kubasta.  Verlag  ron  Wilhelm  Branmülier  iu  Wien, 

Druck  von  Bruno  Bartolt.  Wien  XVIII.,  Theresieneasao  3. 


Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

0.  eilari,  F.  Dimmer,  V  R.  '  Ebner.  3.  Exner  £.  Finger.  M.  Gruber.  F.  Hoohstetter,  A.  Kollsko.  H.  Meyer.  J.  Moeller  K  ,  Noorden 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schettenfroh,  F.  Schaute,  j.  Tandler.  8.  Toldt.  J.  Wagner.  E.  Wertheim 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 


Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel.  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg.  Ernst  Ludwig  Edmund  Neusser. 

Richard  Pallauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichsolbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/i,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618 

XXIV.  Jahrg.  Wien,  2.  März  1911  Nr  q 


INHALT: 


1.  Originalartikel:  1.  Zur  Psychologie  und  Pathologie  der 
Affektion.  Von  Primararzt  Dr.  J.  Berze.  S.  299. 

2.  Aus  dem  pathologischen  Institut  des  Augusta  Viktoria-Kranken¬ 
hauses  Schöneberg-Berlin.  (Prosektor:  Dr.  Hart.)  Untersuchungen 
über  den  Wert  der  Antiforminmethode  für  den  Tuberkelbazillen¬ 
nachweis  im  Gewebe.  Von  C.  Hart  und  0.  Lessin  g.  S.  303. 

3.  Aus  der  III.  inediz.  Klinik  der  k.  k.  Universität  Wien.  Herz¬ 
geräusch  und  Herzgröße.  Von  Dr.  Paul  Bi  ach,  Assistenten  der 
Klinik  und  Dr.  Demetrius  Chi  laid iti.  S.  306' 

4.  Aus  der  Universitätsklinik  für  Geschlechts-  und  Hautkrank¬ 
heiten.  (Vorstand:  Prof.  Finger.)  Zur  Epidemiologie  der  Mikro¬ 
sporie  in  Wien.  Von  Dr.  Robert  Otto  Stein,  Assistent  der 
Klinik.  S.  308. 

5.  Aus  der  pädiatrischen  Klinik  am  Kaiser  Franz  Joseph-Kinder- 
spitale  in  Prag.  (Vorstand:  Prof.  Ganghofner.)  Adenoiditis 
acuta;  ein  Beitrag  zur  Lehre  vom  Drüsenfieber.  Von  Dr.  Felix 
S  ch  1  e  i ß  n  er.  S.  310. 

II.  Diskussion:  Ein  Beitrag  zur  Frage  der  Funktion  des  quadrizeps- 
lahmen  Beines.  Von  Dr.  Oskar  Semeleder.  S.  312.- 

III.  Oeffentliclie  Gesundheitspflege:  Zahl  und  Verteilung  der  Aerzte 
in  Oesterreich.  Von  Dr.  med.  Oskar  Klauber  in  Prag.  S.  3T5. 


H.  Referate:  Medical  Education  in  the  United  States  and  Canada. 
Ref.:  Neuburger.  —  Die  medizinische  Hölle  in  den  Ver¬ 
einigten  Staaten  Nord-Amerikas.  Von  Dr.  S.  R.  Klein 
Ref. :  Dr.  S.  R.  Klei  n.  —  Allergie.  Von  Prof.  Dr.  Clemens 
rreih.  v.  Pirquet  Die  Lehre  von  der  Säuglingsernährung-. 
Von  Prof.  Dr.  Artur  Keller.  Bakteriologische  und  pathologisch- 
anatomische  Studien  bei  Ernährungsstörungen  der  Säuglinge 
besonders  der  chronischen  unter  dem  Bilde  der  Pädatrophie 
verlaufenden  Formen.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Hans  Schelble. 
Formulaire  pour  les  maladies  des  enfants  (Ve  edition).  Von 
Dr  Albert  Veillard.  Kinderschutz  und  Säuglingsfürsorge  in 
Ungarn.  Säuglingsfürsorge  und  Kiuderschutz  in  England  und 
Schottland.  Von  Prof.  Dr.  Arthur  Keller.  Die  Hautleiden  kleiner 
Kinder.  Ref. :  C.  Leiner. 

V.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

VI.  Vermischte  Nachrichten. 

VII.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Zur  Psychologie  und  Pathologie  der  AfFektion.*) 

Von  Primararzt  Dr.  J.  Herze. 

I. 

Auf  dem  Gebiete  der  Affektlehre  ist  bekanntlich  fast 
alles  kontrovers,  jedenfalls  fast  all  das,  was  den  Psychiater 

interessiert. 

Zunächst  einmal  wird  schon  die  Frage:  Was  ist  ein 
(Affekt?  und  die  mit  ihr  intim  zusammenhängende  weitere 
pfage :  Welches  ist  das  Verhältnis  zwischen  Vor¬ 
stellung  und  Gefühl,  zwischen  Intellekt  und 
Affekt?  von  den  einzelnen  Autoren  in  ganz  verschiedener 
Weise  beantwortet. 

Nach  Ziehen  ist  der  Gefühlston  eine  Eigenschaft 
ier  Empfindung,  ebenso  wie  die  Qualität  und  die  Intensität 
Eigenschaften  der  Empfindung  sind.  Alles,  was  sonst  das 
Gefühlsleben  ausmacht,  also  die  Gefühlstöne  der  Vorstel- 
Angen,  die  Stimmungen,  die  Affekte,  ist  in  letzter  Linie 
uif  die  Gefühlstöne  der  Empfindung  zurückzuführen. 

Nach  Wundt  dagegen  sind  die  Gefühle  Reaktio¬ 
nen  und  zwar  Reaktionen  der  zentralen  Bewußtseins- 
Tinktion,  der  „Apperzeption“,  auf  unsere  Bewußtseinser- 
ehnisse.  Die  Affekte  sind  aber  nach  Wundt  „Formen  des 
lefühlsverlaufes,  die  mit  Veränderungen  im  Verlauf  und 

'f  *)  Vortrag,  gehalten  am  14.  Februar  1911  im  Verein  für  Psychiatrie 
ln“  Neurologie  in  Wien.  Eine  ausführliche  Arbeit  über  beide  im  Vortrage 
>ehandelte  Themen  erscheint  demnächst  als  Monographie. 


in  den  Verbindungen  der  Vorstellungen  verbunden  sind, 
welche  Veränderungen  dann  durch  die  an  sie  gebundenen 
Gefühlsbetonungen  wieder  verstärkend  auf  den  Affekt  ein¬ 
wirken  können“.  Stimmungen  endlich  sind  nach  Wundt 
„durch  die  relativ  geringe  Stärke  der  in  ihnen  enthaltenen 
Gefühle  ausgezeichnete  Affekte“. 

Kurz  zusammengefaßt:  Nach  der  Lehre  der  Assozia¬ 
tionspsychologie  Ziehens  sind  die  Gefühlstöne  Eigen¬ 
schaften  der  Empfindungen  bzw.  Vorstellungen,  nach 
der  Lehre  der  Apperzeptionspsychologie  Wundts  aber 
Reaktionen  unseres  Bewußtseins  auf  die  Empfindungen 
bzw.  Vorstellungen. 

Kontrovers  ist  ferner  die  Beantwortung  der  Kardinal¬ 
frage:  Wie  haben  wir  uns  das  Verhältnis  zwischen 
den  psychischen  und  den  somatischen  Erschei¬ 
nungen  der  Affekte  vorzustellen? 

Nach  Lange  liegt  das  Wesen  der  Affekte  überhaupt 
nur  in  den  körperlichen,  physiologischen  Aeußerungen. 

Nach  James  ist  der  Komplex  der  physischen  Sym¬ 
ptome  das  Primäre,  das  Psychische  des  Affektes  das  Se¬ 
kundäre.  t 

Diese  Lehren  stehen  im  Gegensatz  zu  der  weit  ver¬ 
breiteteren  Anschauung,  nach  der  die  körperlichen  Aeuße- 
rungen  bloß  Begleiterscheinungen  des  Psychischen  der 
Affekte  sind. 

Was  sollen  wir  also  glauben?  Wie  können  wir  da 
Orientierung  gewinnen  ? 


300 


Nr. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Meines  Erachtens  nur  dadurch,  daß  wir  unter¬ 
suchen,  was  uns  die  Ontogenese  des  p  s  y  ch i s öh e n 
Lebens  hinsichtlich  der  Affekterregung  lehrt. 

Das  Gefühlsleben  ist  ja  zweifellos  geradeso 
wie  das  Vorstellungsleben  nichtetwas  von  vornherein 
in  fertiger  Gestaltung  Gegebenes,  sondern  ein 
im  Leben  erst  zur  Entwicklung  Gelangendes,  be¬ 
ziehungsweise  Gelangtes. 

Was  ist  nun  aber  da  das  Erste? 

Die  Ontogonese  ist  gewiß  auch  auf  diesem  Gebiete 
eine  gedrängte  Wiederholung  der  Phylogenese.  Diese  lehrt 
uns  nun,  daß  das,  was  dem  Somatischen  der  Affekte  ent¬ 
spricht,  schon  da  ist,  wenn  von  einem  Psychischen  im 
Sinne  unserer  Psyche  zweifellos  noch  gar  nicht  die  Rede 
sein  kann.  Schon  bei  Lebewesen,  die  den  untersten  Stufen 
des  Tierreiches  angehören ,  sehen  wir  somatische 
Affekte.  Man  muß  sich  nur  darüber  klar  werden,  was 
man  da  als  Affekt  anzusprechen  hat.  Die  richtige  Antwort 
auf  diese  Frage  hat  meines  Erachtens  Bleuler  gegeben, 
nämlich:  Der  Affekt  ist  eine  verallgemeinerte 
Reaktion,  das  heißt  also  eine  Reaktion  des  ganzen  Soma 
auf  einen  Reiz,  im  Gegensatz  zu  lokalisierten  Reaktionen, 
also  zu  Reaktionen  eines  Teiles  der  Soma.  Diesen  Unter¬ 
schied  kann  man,  wie  Beul  er  zu  zeigen  sucht,  schon  an 
den  Amöben  wahrnehmen.  Ganz  sicher  wird  die  Unter¬ 
scheidung  meines  Erachtens  allerdings  erst,  wenn  einmal 
ein  Nervensystem  differenziert  ist. 

Worin  bestehen  nun  aber  die  verallgemeinerten  kör¬ 
perlichen  Reaktionen,  welche  die  Affekte  in  diesem 
Stadium  —  ich  will  sie  kurz  somatische  Affekte  nen¬ 
nen  —  ausmachen? 

Bei  den  Amöben  selbstverständlich  in  nichts  anderem 
als  in  einer  Veränderung  der  Bewegung  der  Teile  des 
Plasmas,  bei  höheren  Tieren  aber  in  komplizierten  Be¬ 
wegungsmechanismen,  bzw.  in  auf  solchen  beruhenden 
Veränderungen,  welche  sämtliche  Körperorgane  betreffen; 
im  Vordergründe  stehen  vasomotorische  Veränderungen, 
dann  motorische  Veränderungen  im.  Gebiete  der  Respira¬ 
tion,  weiter  kommen  aber  motorische  Veränderungen  in 
allen  bewegungsfähigen  inneren  und  äußeren  Organen  und 
sekretorische  Veränderungen  in  Betracht.  Diese  Bewegungs¬ 
mechanismen  werden  genau  so  ausgelöst  wie  die  Reflex¬ 
bewegungen;  auf  einen  Affektreiz  (z.  B.  Knall)  erfolgt  re¬ 
flektorisch  der  somatische  Affekt  (Schreckreflex).  Ich  er¬ 
gänze  also  den  Satz  Bleulers:  Die  somatischen 
Affekte  sind  verallgemeinerte  Reflexe. 

Ob  der  Mensch  nun  zur  Zeit  seiner  Geburt  über  dieses 
rein  somatische,  vorpsychische  Stadium  der  Affektentwick¬ 
lung  schon  wesentlich  hinaus  ist  oder  nicht,  wissen  wir 
nicht  und  können  wir  nicht  wissen.  Sehen  können  wir 
am  Neugeborenen  natürlich  nur  die  somatischen  Affekte, 
und  zwar  sehen  wir  sie  bereits  in  deutlichster  Ausprägung. 
Wie  weit  es  aber  mit  der  Bewußtseinsentwicklung  hei  ihm 
steht,  dafür  fehlt  uns  jeder  Anhaltspunkt.  Man  kann  da  nur 
glauben,  aber  nicht  wissen. 

Uebrigens  —  gleichgültig  wann:  im  intrauterinen 
oder  im  extrauterinen  Leben  —  irgendwann  muß  sich 
das  Psychische  des  Affektes  zu  entwickeln  beginnen. 

Was  ist  aber  da  wieder  das  Erste? 

Es  kann  gar  nichts  anderes  sein,  als  die  Empfin¬ 
dung,  aber  nicht  die  einfache  Sinnesempfindung  -  sie  ist 
die  Grundlage  des  Vorstellungslebens  —  sondern  die 
Affektempfindung,  das  heißt  also  die  Summenempfin¬ 
dung,  die  Totalempfindung,  welche  der  Gesamtheit  aller 
das  Somatische  eines  Affektes  ausmachenden  körperlichen 
Veränderungen  e  n  t  sp  r  i  ch  t . 

Zunächst  wird  die  Affektempfindung  nur 
auftauchen  zur  Zeit  der  Affekterregung.  Es  wird 
aber  außerdem  noch  zweierlei  erfolgen:  Erstens  wird  ein 
Erinnerungsbild  der  Affektempfindung  Zurück¬ 
bleiben,  geradeso  wie  von  den  Sinnesempfindungen  Erinne¬ 
rungsbilder  Zurückbleiben,  zweitens  wird  sich  eine  Asso¬ 


ziation  zwischen  der  S  innesempf  indung  und  der 
adäquaten  Affekte  m  p  f  i  n  d  u  n  g  ausbilden. 

Damit  ist  aber  der  Grund  gelegt  zu  einer  zweiten  Art 
der  Affekterregung,  nämlich  zur  Erregung  von  der 
P s y c he  he r. 

Wenn  das  Erinnerungsbild  der  Sinnesempfindung  auf¬ 
taucht,  wird  zugleich  auch  das  der  Affektempfindung  auf¬ 
tauchen.  Dies  wäre  noch  kein  Affekt;  es  wäre  nur  das 
Bild  eines  Affektes,  ein  Affektbild.  Damit  ein  Affekt 
draus  wird,  müssen  noch  die  körperlichen  Erscheinungen 
hinzukommen;  dies  geschieht  offenbar  durch  Vermittlung 
der  motorischen  Rindenzentren  der  Organe,  namentlich  der 
motorischen  Rindenzentren  der  in  Betracht  kommenden 
inneren  Organe,  insbesondere  der  kortikalen  Herz-  und 
Gefäßzentren.  Hinzu  kommen  müssen  ferner  die  dem 
Affekt  eigenen  psychischen  \  e rändern n gen,  also  das 
erleichterte  oder  erschwerte  Auftauchen  von  Erinnerungsbil¬ 
dern  ins  Bewußtsein,  der  erleichterte  oder  erschwerte  Asso- 
zialionsablauf,  die  Vergrößerung  oder  Verringeiung  der 
Assozialionsbreile.  Offenbar  sind  diese  Vorgänge  darin  be-  j 
gründet,  daß  die  einen  integrierenden  Teil  des  somatischen 
Affektmechanismus  'ausmachenden  Veränderungen  der  Weite  j 
der  Hirnrindengefäße  zur  Geltung  kommen.  Das  Gehirn 
reagiert  auf  die  gesteigerte  oder  verengerte  Blutzufuhr,  J 
wahrscheinlich  auch  auf  den  durch  die  respiratorischen.  | 
Veränderungen  herbeigeführten  Sauerstoffreichtum,  bezie¬ 
hungsweise  Sauerstoffmangel  usw.  im  Sinne  der  psycho¬ 
motorischen  Veränderungen,  welche  den  Affekten  eben 
zukommen. 

Wir  kommen  somit  zu  der  wichtigen  Feststellung, 
daß  es  nicht  eine,  sondern  zwei  Arten  der  Affekterre-  i 
gung  gibt  (vgl.  Schema): 


Psychologisches  Schema  der  A  f  f  e  k  t  e  r  r-e  g  u  n  g. 

Erklärung:  a=  somatischer  Affektreiz,  a,  =  Erinnerungsbild  des 
somatischen  Affektreizes,  b  =  somatischer  Affekt  (Summe  der  soma¬ 
tischen  Veränderungen),  b,  =  Affektempfindung  (Summenempfindung  der 
somatischen  Veränderungen),  m  =  motorische  Rmdenzentra  der  äußeren 
und  inneren  Körperorgane,  a — ß — y — S — a!  =  Beispiel  einer  Assoziations¬ 
bahn.  Primär  somatischer  Affekt:  a  -ß  —7 — 8-a, — bt — m — b.  (Affektbild: 

«— ß — T — S-— a,~  V) 

1.  Die  somatische  Erregung,  also:  Sinnesreiz  — 
körperlicher  Affektmechanismus  —  Affektempfindung  (das 
Psychische  isl  „Begleiterscheinung“); 

2.  die  psychische  Erregung,  also:  Erinnerungsbild 
des  Affektreizes  —  Affektempfindung  —  körperlicher  Affekt¬ 
mechanismus  (das  Somatische  ist  „Begleiterscheinung  )• 

Daß  schon  die  Affektbilder  eine  große  Bedeutung  im 
psychischen  Leben  haben,  will  ich  nebenbei  erwähnen. 
Die  Gefühlstöne  unserer  Empfindungen  und,  wie  weiter  zu 
zeigen  sein  wird,  unserer  Vorstellungen  sind  wahrscheinlich 
für  gewöhnlich  nur  Affekt  bilden;  die  körperlichen  Be¬ 
gleiterscheinungen  treten  bei  ihnen  zumindest  stark  in  den 
Hintergrund.  Die  Lustaffektbilder  sind  die  Grundlage  der 
Begehrung,  d.  h.  des  Dranges  nach  Herbeiführung  des  kör- 


301 


Nr-  9  WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191t. 


perlichen  Affektreizes.  Die  Unlustaffektbilder  regen  den. 
Drang  an,  den  Eintritt  eines  Unlustreizes  zu  verhüten. 

Nach  dieser  Abschweifung  kehren  wir  zur  Betrachtung 
der  Affeklerregung  zurück. 

Wir  haben  gesagt :  Die  psychische*  Erregung  der  Affekte 
erfolgt  in  der  Weise,  daß  mit  dem  Wachwerden  des  Erinne¬ 
rungsbildes  des  Affektreizes  auch  das  Erinnerungsbild  des 
somatischen  Affektes  wach  wird. 

W  as  bewirkt  den  n  nun  aber  d  i  e  E  r  re  gang  d  eis 
Reiz  bi  1  des?  In  dieser  Frage  liegt  der  Kern  der 
frage  nach  dem  Verhältnis  zwischen  Intellekt 
und  Affekt. 

Bas  einfachste  Beispiel  ist  folgendes :  Wenn  uns  der 
Magen  vor  Hunger  knurrt,  so  taucht  in  uns  das  Erinnerungs¬ 
bild  der  Lustreize  auf,  welche  der  Nahrungsgenuß  zu  setzen 
pflegt;  und  mit  dem  Bilde  des  Reizes  auch  das  Bild  des 
Affektes,  gegebenenfalls  sogar  auch  körperliche  Begleiter¬ 
scheinungen:  es  läuft  uns  bei  der  Erinnerung  an  eine  uns 
zusagende  Speise  ,,das  Wasser  im  Munde  zusammen“  u.  dgl. 

Es  handelt  sich  da  um  eine  ganz  primitive  sukzes¬ 
sive  Erinnerungsassoziation:  durch  Nahrungsauf¬ 
nahme  wurde  schon  oft  das  Knurren  des  Magens  beseitigt; 
daher  stellt  sich  im  Anschlüsse  an  des  Hungergefühl  auch 
sofort  das  Affektbild  der  Nahrungsaufnahme  ein  usvv. 

Die  Asso'ziationsbahnen,  welche  den  s u k- 
zessiven  und  auch  wohl  die,  welche  den  simul¬ 
tanen  Assoziationen  entsprechen,  sind  aber 
ii  herb  a  uptder  Weg,  a  u  f  welche  m  d  i  e  E  r  Fe  g  u  n  g  d  e  r 
(iefühlstöne  und  in  zweiter  Linie  auch  der  psy¬ 
chischen  Affekte  erfolgt. 

Durch  jede  assoziative  Bahn  erhält,  wie  leicht  zu 
ersehen  ist,  nicht  nur  das  Ausgangsglied,  sondern  erhalten 
auch  alle  Zwischenglieder  eine  Verbindung  mit  dem  betref¬ 
fenden  Affektreizerinnerungsbild;  so  erhält  in  der  Reihe: 
die  Mutter  nimmt  die  Medizinflasche  zur  Hand,  gießt  aus 
derselben  Medizin  auf  den  Löffel,  reicht  die  widerlich 
schmeckende  Medizin  dem  Kinde  —  jedes  Zwischenglied 
den  Gefühlston  der  Unlust,  das  Kind  wird  also  hinfort  zum 
Beispiel  schon  beim  Anblick  der  Medizinflasche  Unlust 
empfinden  u.  zw.  Unlust  in  der  als  Ekel  charakteristischen 
Färbung. 

Dies  ist  die  zweite  Feststellung,  auf  welche  ich  ganz 
besonderen  Wert  lege. 

Die  Lehre  von  den  immanenten  Gefühlstönen  der 
Empfindungen  und  Vorstellungen,  die  viele  Psychiater  akzep¬ 
tieren,  ist  falsch.  Die  Empfindung,  hzw.  die  Vorstellung 
an  sich  ist  bar  eines  jeden  Gefühlstones.  Wir  haben  die 
Gefühlstöne  nicht  als  eine  Eigenschaft  der  Empfindungen 
beziehungsweise  Vorstellungen  zu  betrachten,  sondern  als 
des  Ergebnis  eines  Vorganges,  der  durch  eine  in  uns 
erregte  Empfindung  oder  in  uns  auftauchende  Vorstellung 
ausgelöst  wird. 

Es  ist  aber  leicht  einzusehen,  wie  man  auf  diesen  ver- 
d'ingnisvollen  Irrtum  verfallen  konnte. 

Der  Gefühlston  einer  Empfindung  oder  Vorstellung 
müßte,  wenn  immer  nur  die  momentane  Situation  in  Be¬ 
dacht  käme,  stets  dieser  Situation  entsprechen,  er  müßte 
immer  aktuell  sein.  Dies  ist  aber  nicht  der  Fall;  es 
kommen  auch  die  früher  erlebten  Situationen  in  Betracht  ; 
und  wenn  unter  dieser  Situationen  solche  sind,  die  sich  oft 
wiederholen,  so  konnte  sich  ihnen  entsprechend  gewisser¬ 
maßen  ein  habitueller  Gefühlston  entwickeln.  Der  ha¬ 
bituelle  Ton  aber  ist  es,  der  für  immanent  gehalten  wird. 

Zwischen  den  habituellen  und  den  aktuellen  Gefühls- 
lönen  kommt  es  zum  Kampf.  Der  Sieg  fällt  auch  in  diesem 
Kampfe  dem  Stärkeren  zu. 

Beispiel :  Die  Mutter  ergreift,  die  Medizinflasche,  gießt 
Medizin  auf  einen  Löffel,  verabreicht  widerliche  Medizin  — 
Ergebnis:  Unlustaffekt.  Trotzdem  bleibt  die  Mutter  lustbe- 
lont  wegen  anderer  Reihen,  z.  B.  die  Mutter  reicht  dem 


Kinde  die  Milchflasche.  Der  daraus  sich  ergehende  (habi¬ 
tuelle)  Lustton  überwiegt  den  (aktuellen)  Unfustton. 

Die  Auslösung  der  Gefühls!  öne  erfolgt,  wenn 
die  Wege  einmal  gebahnt  sind,  durch  rein  automati¬ 
schen  A  s  s  o  z i  a ti  o ns  ab  1  a u  f.  Dies,  nebenbei,  wieder  ein 
Grund,  warum  man  .auf  den  Irrtum  der  immanenten  Ge¬ 
fühlstöne  verfallen  ist. 

Wenn  aber  die  Wege  zur  Gefühlstonerregung  noch 
nicht  gebahnt  sind,  müssen  sie  gebahnt  werden.  Dann  ge¬ 
nügt  die  niedrige  automatische  Funktion  nicht  mehr,  es 
beginnen  die  Ansprüche  an  die  Höchstfunktion,  an 
die  apperzeptive  Leistung. 

Beispiel:  Ein  Schlüssel  liegt  auf  meinem  Tisch.  Der 
Schlüssel  hat  für  mich  zunächst  keinen  Gefühlswert  und 
bekäme  auch  keinen,  wenn  er  meine  Aufmerksamkeit  nicht 
weiter  erregen  würde.  Aber  er  erregt  sie  eben,  das  heißt 
meine  apperzeptive  Tätigkeit  dreht  sich  um  ihn.  Ich  unter¬ 
suche*  ihn  genauer,  erkenne  schließlich,  daßi  ich  den  Schlüs¬ 
sel  vor  mir  habe,  den  ich  vor  längerer  Zeit  verloren  und 
vergeblich  gesucht  habe.  Sofort,  ist  die  Lustbetonung  da. 
(Oder:  Ich  bin  zur  Zeit  hungrig  und  erkenne  den  Schlüssel 
zur  Speisevorratkammer.) 

Mag  in  solchen  Fällen  schließlich  auch  die  Erregung 
auf  gebahnten  Wegen  automatisch  weitergleiten,  so  hat  doch 
das  Einsetzen  der  Erregung  ein  Eingreifen  des 
oberen  Psyc'hi sinus  der  Apperzeption,  zur  Vor¬ 
aussetzung. 

Wir  sehen  also,  daß  die  Erregung  der  psychischen 
Affekte,  hzw.  das  Zustandekommen  der  Gefühlsbetonung 
der  Vorstellung  in  einer  Gruppe  der  Fälle  nur  eine  suffiziente 
automatisch-assoziative,  in  der  anderen  Gruppe  aber  auch 
eine  suffiziente  apperzeptive  Leistung  zur  Voraussetzung  hat. 

Fis  ergeben  sich  somit  aus  der  ontogenetischen  Be¬ 
trachtung  der  Affekte  folgende  Konstatierungen: 

1.  Wir  haben  zwei  Arten  der  Affekterregung  zu  unter¬ 
scheiden,  geradeso  wie  es  zwei  Arten  der  ßewegungserre- 
gung  gibt,  nämlich  die  reflektorische  Erregung  und  die  Er¬ 
regung  vom  Vorstellungsleben  her;  daraus  ergeben  sich 
primär  somatische  Affekte  einerseits,  primär  psychische 
Affekte  anderseits. 

2.  Die  Erregung  der  Affekte  von  Vorstellungen  her  ge¬ 
schieht  auf  dem  Wege  mehr  oder  weniger  langer  Assozia¬ 
tionsbahnen. 

3.  Diese  Erregung  hat  in  gewissen  Fällen  nur  eine 
automatisch-assoziative,  in  anderen  Fällen  aber  auch  noch 
eine  apperzeptive  Leistung  zur  Voraussetzung. 

4.  Die  Gefühlstöne  der  Vorstellungen  entsprechen  ge¬ 
meinhin  nicht  dein  vollwertigen  Affekterregungen,  sondern 
Affekt  bildern,  oder  doch  nur  ganz  leichten  Affekterre¬ 
gungen,  das  heißt,  die  somatischen  Begleiterscheinungen 
spielen  bei  ihnen  eine  nur  geringe  Rolle. 

II. 

Damit  bin  ich  soweit  gekommen,  daß  ich  nunmehr 
daran  gehen  kann,  den  Wert  der  geschilderten  Betrachtungs¬ 
weise  an  einem  pathologischen  Fall  zu  zeigen  u.  zw.  an 
den  schwerst  verständlichen  Affektstörungen,  den  Affekt- 
st.örungen  der  Dementia  praecox. 

Es  erhebt  sich  da  zunächst  die  Frage:  Was  ist  denn 
die  Gr  und  Störung  der  Dementia  praecox?  Die  Ergebnisse 
neuerer  Untersuchungen,  die  von  der  Betrachtung  anderer 
Symptome  der  Dementia  praecOx,  nicht  der  Affektstörungen, 
ausgehen  und  zahlreiche  eigene  Beobachtungen  scheinen 
mir  alle  nach  derselben  Richtung  zu  weisen.  Sie  besagen, 
daß  es  sich  bei  der  Dementiapraecox  um  eine  Störung  der 
Bewußtscinsfunktion  handeln  müsse-,  in  dem  Sinne,  daß 
jener  durchschnittliche  Grad  des  Bewußtseins  sinkt,  der 
die  psychischen  Vorgänge  sozusagen  spontan,  also  ohne 
daß  eine  besondere  aktive  Leistung  aufgebracht  werden  muß, 
begleitet.  Es  handelt  sich  um  ein  Sinken  des  Bewußtseins- 


H02 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


tonus,1)  um  eine  Hypotonie  des  Bewußtseins,2)  wie 
ich  mich  in  einer  demnächst  erscheinenden  Arbeit  ausdrücke. 

Die  Hypotonie  des  Bewußtseins  äußert  sich  zunächst 
nur  in  einer  verminderten  Funktionsberei'tsc'haf t 
des  Bewußtseins  —  geradeso  wie  die  Hypotonie  der  Musku¬ 
latur  die  Funktionsbereit.schaft  der  Muskulatur  vermindert, 
—  sie  führt  dann  dazu,  daß  zur  Herstellung  der  Funktionsbe¬ 
reitschaft  des  Bewußtseins  erst  noch  eine  durch  aktive  Lei¬ 
stung,  Apperzeption,  Aufmerksamkeitsleistung,  bewirkte  Er¬ 
hebung  des  Bewußtseinstonus  notwendig  wird;  sie  führt  in 
höherem  Grade  zur  Funktio  ns  Unfähigkeit,  indem  zu¬ 
nächst.  auch  die  apperzeptive  Tätigkeit  nicht  mehr  imstande 
ist,  einen  zureichenden  Bewußtseinsgrad  (Helligkeit  des  Be¬ 
wußtseins  nach  Kraepelins  Darstellung)  zu  bewirken,  so 
daß  also  die  höheren  psychischen  Funktionen  geradezu  un¬ 
möglich  werden,  führt  endlich  hei  hohen  Graden  dazu,  daß 
seihst  auch  die  niedrigere  psychische  Funktion,  der  automa¬ 
tische  Assoziationsablauf,  nicht  mehr  tadellos  vonstatten 
geht. 

Solange  nur  die  Höchstfunktion  gestört  ist,  stehen  bei 
der  Dementia  praecox  ganz  andere  Affektstörungen  im  Vor¬ 
dergründe,  als  wenn  einmal  auch  die  automatisch-assozia¬ 
tive  Funktion  geschädigt  ist. 

Unter  den  Affektstörungen  des  ersten  Stadiums  ist  zu¬ 
nächst  der  bald  weniger,  bald  mehr  ausgesprochene  Un¬ 
lustaffekt  zu  nennen,  die  Kranken  erscheinen  moros, 
abweisend,  ablehnend,  dieser  Unlustaffekt  ist  daher  ganz 
richtig  als  „Affektlage  der  Ablehnung“  bezeichnet  worden. 
Sie  entsteht  meines  Erachtens  ganz  unmittelbar  daraus,  daß 
dem  Kranken  die  gesteigerte  1  n  ansp  ruchnah  me  unangenehm 
fühlbar  wird.  Die  Kranken  suchen  sich,  um  dem  Zwange 
zur  Apperzeption  zu  entgehen,  den  Anregungen  zur 
Apperzeption  nach  Möglichkeit  zu  entziehen,  sie  zie¬ 
hen  sich  zurück,  sondern  sich  ab.  Sie  entgehen  aber 
so  ihrem  Schicksale  selbstverständlich  nicht;  sie  bleiben 
trotzdem  zunächst  den  von.  außen  kommenden  Reizen  zur 
Apperzeption  .ausgesetzt.  Auf  sie  reagieren  sie  dann  aber 
im  Sinne  der  Affektlage  der  Ablehnung. 

Wie  ich  an  anderer  Stelle  ausführlich  zu  zeigen  ver¬ 
such!  habe,  kann  das  Gefühl  des  Erleidens,  welches 
sich  zugleich  mit  der  erzwungenen  (passiven)  Apperzeption 
einstellt,  auch  zur  Ausbildung  paranoischer  Zustandsbilder 
führen. 

ln  Fällen,  in  denen  eine  höhergradige  Apperzeptions¬ 
störung  das  Gepräge  der  Krankheit  bestimmt,  tritt  oft  eine 
eigenartige  Ratlosigkeit  in  den  Vordergrund.  Sie  ist 
erstens  darauf  zurückzuführen,  daß  die  apperzeptive  Tätig¬ 
keit  nicht  mehr  dazu  hinreicht,  die  einzelnen  Wahrnehmun¬ 
gen  in  das  Gesamtbild  der  Situation  richtig  einzuordnen, 
zweitens  aber  darauf,  daß  sich  in  das  Bewußtsein  des  Kran¬ 
ken  in  solchen  Stadien  die  mannigfaltigsten  zusammenhang¬ 
losen  pathologischen  Einfälle,  subditiven  Ideen,  Halluzina- 


x)  Der  Bewußtseinstonus  ist  ein  Ergebnis  der  als  Reize  wirkenden 
Sinnesempfindungen,  also  ein  Effekt  der  Perzeption  —  geradeso  wie 
der  Muskeltonus  wohl  der  Hauptsache  nach  der  Effekt  peripherer  sen¬ 
sibler  Reize  ist. 

2)  Die  Hypotonie  kann  bald  leichten,  bald  schweren  Grades  sein, 
sie  kann  einmal  akut  einsetzen,  ein  andermal  sich  schleichend  entwickeln, 
sie  kann  als  akuter,  chronischer,  progressiver,  remittierender,  intermit¬ 
tierender,  rezidivierender  Defekt  auftreten,  sie  kann  in  allen  Altersstufen 
zur  Entwicklung  kommen;  wahrscheinlich  kommen  auch  die  mannig¬ 
faltigsten  Noxen  in  ätiologischer  Hinsicht,  in  Betracht.  Es  ergibt  sich  so¬ 
mit  eine  fast  unübersehbare  Menge  von  in  ihrer  Erscheinung  oft  sehr 
disparaten  Krankheitsbildern.  Aus  dieser  Menge  von  Psychosen  mit 
primärer  Bewußtseinsinsuffizienz  im  Sinne  der  Hypotonie  eine  Gruppe 
als  Dementia  praecox  herauszuheben,  muß  so  lange  als  ein  willkürliches 
Unternehmen  bezeichnet  werden,  so  lange  nicht  sichere  Kriterien  für  die 
Unterscheidung  dieser  Gruppe  von  den  übrigen  Bewußtseinshypotonien 
gegeben  sind.  —  Sowohl  meineUnter  such  ungen  der  heredi¬ 
tären  Beziehungen  der  Dementia  praecox  (vgl.  Berz  e, 
Die  hereditären  Beziehungen  der  Dementia  praecox,  Leipzig  und  Wien 
1910),  als  auch  meine  Studien  über  die  psychische 
Gr  und  Störung  der  Dementia  praecox  führen  zu  dem  Er¬ 
gebnisse,  daß  die  Dementia  praecox  in  ihrer  gegen¬ 
wärtigen  Umgrenzung  nur  einen  Teil  einer  großen 
Gruppe  zusammengehöriger  Psychosen  ausmachl. 


Pionen  eindräugen,  mit  denen  die  geschwächte  apperzeptive 
Funktion  tun  so  weniger  fertig  zu  Werden  vermag.3) 

Die  Angst,  welche  sich  zur  Ratlosigkeit  so  oft  gesellt, 
ist  offenbar  eine  sekundäre.  Sie  stellt  sich  bei  der  patho¬ 
logischen  Ratlosigkeit  eben  geradeso  ein  wie  bei  der  physio¬ 
logischen. 

Bei  einer  weiteren  Steigerung  der  Grundstörung  im 
Verlaufe  der  Krankheit,  bzw.  hei  von  vorneherein  schwereren 
Fällen,  sehen  wir  dann  auch  die  Störung  des  automatischen 
Assoziationsalllaufes  immer  mehr  zur  Geltung  kommen. 

Zunächst  einmal  erreicht  der  Mangel  an  Interesse, 
welcher  schon  hei  leichteren  Fällen  und  in  leichteren  Stadien 
zuweilen  ziemlich  deutlich  hervortritt,  weil  ja  schon  der 
Apperzeptionsdefekt  die  Unwirksamkeit  vieler  das  Interesse 
des  Gesunden  anregender  Eindrücke  nach  sich  zieht,  jetzt 
einen  weit  höheren  Grad,  weil  die  automatisch-assoziative 
Erregung  der  Gefühlstöne  nicht  mehr  oder  nur  mehr  ganz 
mangelhaft  vor  sich  gehl.  Auf  den  gleichen  Defekt  ist  ein 
weitgehender  M angel  an  Spontaneität  zurückzuführen , 
ohne  Gefühlserregung  gibt  es  eben  weder  eine  willkürliche 
Aufmerksamkeit,  noch  eine  willkürliche  Bewegung.  Aus  dein 
Mangel  des  Interesses  und  der  Spontaneität  ergibt  sich  das 
Bi  Id  der  Apathie. 

Im  krassen  Gegensätze  zur  Apathie  stehen  im  Krank-  1 
heilsbilde  die  oft  außerordentlich  heftigen,  explosions- 
a r t i  g e n  Affektausbrü ch e. 

Sie  zeigen  uns,  daß  die  Grundstörung  der  Dementia 
praecox  Iden  primitiven  Affektmechanismus  selbst  intakt  läßt. 
Sie  erwecken  sogar  den  Anschein  einer  —  wenigstens  tem¬ 
porär  gesteigerten  Affekterregbarkeit.  Ich  glaube  aber, 
diese  Annahme  ablehnen  zu  dürfen.  Die  hohe  Intensität  der 
einmal  ausgelösten  Affekte  erklärt  sich  aus  dem  Wegfalle 
der  Hemmungen,  welche  beim  .Gesunden  wieder  durch 
die  Apperzeptionsleistung  aufgebracht  werden.  In  gleicher 
Weise  erklärt  sich  offenbar  auch  die  oft  abnorm  lange  Dauer 
der  Affektausbrüche,  also  nicht  nur  die  abnorme  Intensität, 
sondern  auch  die  abnorme  Extensität  der  Affektausbrüche. 

Das  F  ehlen  der  Erweiterung  der  Pupillen  auf  Sc'hmerz- 
nnd  Schreckreize,  ferner  das  von  Bumke4)  nachgewiesene  i 
Fehlen  der  Erweiterung  der  Pupillen  bei  psychischen  Leistun¬ 
gen,  bei  Anspannung  der  Aufmerksamkeit,  scheint  eher  —  j 
aber  durchaus  nicht  mit  Sicherheit  —  auf  eine  Herabsetzung 
der  Reflexerregbarkeit  und  damit  auch  der  reflektorischen  j 
Affekterregbarkeit  zu  weisen. 

Was  die  Natur  der  Affektreize  für  die  Affektausbrüche  i 
betrifft,  so  möchte  ich  besonders  betonen,  daß  es  sich  in 
vielen  Fällen  um  somatische  Affektreize  handeln  dürfte.  : 

Bei  schwereren  Fällen,  bzw.  in  schwereren  Stadien 
der  Krankheit  sehen  wir  ferner  eine  Erscheinung  hervor- 
treten,  die  Stransky  mit  außerordentlicher  Gründlichkeit 
und  Ausführlichkeit  behandelt  hat,  die  von  ihm  sogenannte 
intrapsychische  Ataxie,  die  Unsicherheit  der  intrapsychi¬ 
schen  Koordination. 

Die  Kranken  sind  in  ihren  Affekten  ganz  unberechen¬ 
bar.  Einmal  stellt  sich  der  Affekt  ein,  den  wir  —  nach  Quali¬ 
tät  und  Intensität  —  erwarten,  ein  andermal  ein  anderer. 
Ein  Kranker  begrüßt  z.  B.  das  eine  Mal  seine  Mutter  in 
ganz  entsprechender  Weise,  das  nächste  Mal  versetzt  er 
ihr  unter  ganz  gleichen  äußeren  Umständen  eine  schallende 
Ohrfeige. 

Diese  Erscheinung  ist  eine  unmittelbare  Folge  der 
Insuffizienz  der  automatischen  Gefühlserregung. 

Beim  Gesunden  tauchen  neben  den  aktuellen,  wie 
wir  gesehen  haben,  immer  auch  noch  die  habituellen  Ge- 

*)  Solche  Kranke  machen  oft  den  Eindruck  er  h  ö  h  t  e  r  Aufnierk- 
samkeitsleistung:  sie  beschäftigen  sich  mit  den  verschiedensten  Eir/.ct- 
wahrnehmungen,  über  die  der  Gesunde  hinweggeht.  Dies  spricht  aber 
nur  für  eine  erhöhte  Vigilität  (nicht  Tena/.ilät)  im  Sinne  Ziehens, 
also  für  eine  erhöhte  »Ablenkbarkeit  der  Ideenassoziationen  durch 
Zwischenreize«,  begründet  in  einer  verminderten  apperzepliven 
Leistungsfähigkeit. 

4)  Bumk  e,  Die  Pupillenstörungen  bei  Geistes-  und  Nervenkrank¬ 
heiten  1904;  und  Münchner  med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  47. 


Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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fühlstöne  auf,  und  das  Endergebnis  ist  die  Resultierende 
aus  allen  erregten  Gefühlstönen. 

Ganz  anders  aber  bei  einer  pathologisch  reduzierten 
automatisch-assoziativen  Funktion.  Da  reicht  der  momen¬ 
tane  Impuls  gerade  noch  zur  Erregung 'des  aktuellen  Gefühls¬ 
tones  hin.  Wirkt  nun  der  Impuls  im  Sinne  der  Erregung  des 
habituellen  Gefühlstones,  so  ergibt  sich  der  von  uns  er¬ 
wartete  Gefühlston  mit  seinen  Konsequenzen.  Wirkt  aber 
der  aktuelle  Impuls  im  entgegengesetzten  Sinne,  so  erfolgt 
ebenso  prompt  eine  von  uns  nicht  erwartete  Gefühlsbe¬ 
tonung. 

Man  wird  vielleicht  einwenden  wollen:  Die  Gefühls¬ 
betonung  ist  bei  der  Dementia  praecox  nicht  nur  in  dem 
Sinne  unsicher,  daß  die  habituellen  Gefühlstöne  nicht  zur 
Geltung  kommen,  sondern  auch  in  dem  Sinne,  daß  der 
Gefühlston  der  Situation  nicht  entspricht;  es  könne  also 
auch  nicht  von  einem  adäquaten  aktuellen  Gefühlston  ge¬ 
sprochen  werden. 

Dieser  Einwand  wäre  aber  unrichtig ;  denn  wir  können 
ja  nur  über  die  wirklich  gegebene  Situation  urteilen,  nicht 
über  die  Situation  bzw.  Vorstellungskonstellation,  welche 
dem  Kranken  gerade  gegeben  ist.  Unberechenbare  Einfälle, 
Glieder  aus  Nebenreichen,  wirken  ja  bei  ihm  störend  ein, 
so  daß  sein  Bewußtseinsinhalt  der  Wirklichkeit  durchaus 
nicht  entspricht.  Dem  tatsächlichen  Bewußtseinsinhalt  des 
Kranken  aber  ist  der  aktuelle  Affekt  adäquat,  nicht  dem' 
von  uns  supponierten.5) 

Aus  dem  Wegfalle  des  Kampfes  zwischen  habituellen 
und  aktuellen  Gefühlstönen  erklärt  sich  auch  noch  eine 
andere  Erscheinung,  die  uns  an  Präkoxkranken  auffällt,  die 
Unbewegtheit,  die  Starrheit  des  Gesichsausdruckes ;  denn, 
was  das  rege  Mienenspiel  beim  Gesunden  bewirkt,  ist  ge¬ 
rade  der  sich  in  ihm  abspielende  Kampf  der  Affekte,  be¬ 
ziehungsweise  Gefühlstöne  untereinander.  Außerdem  fällt 
bei  unseren  Kranken  auch  noch  der  rasche  Wechsel  der 
Gefühlstöne  weg,  der  beim  Gesunden  der  raschen  Ablösung 
der  gerade  den  Bewußtseinsinhalt  ausmachenden  Vorstel¬ 
lungen  durch  andere  entspricht. 

Bei  den  tiefsten  Graden  der  Bewußtseinshypotonie  end¬ 
lich  ist  auch  das  Ergebnis  der  automatischen  Assoziations- 
funkfion  nahezu  Null;  es  kommt  daher  in  solchen  Fällen 
zu  ei ner  fast  vollständ i gen  G e m ütsverödung  u nd  mit 
diesem  weitgehenden  Defekte  der  Emotivität  stell (  sich  auch 
ein  ebenso  weitgehender  Defekt  der  Spontaneität,  der  Wil¬ 
lenserregung,  ein.6) 


Aus  dem  pathologischen  Institut  des  Augusta  Viktoria- 
Krankenhauses  Schöneberg-Berlin.  (Prosektor:  Dr.  Hart.) 

Untersuchungen  über  den  Wert  der  Antiformin¬ 
methode  für  den  Tuberkelbazillennachweis  im 

Gewebe. 

Von  C.  Hart  und  0..  Lessing. 

Das  von  Uhlenhuth  und  Xylander  in  die  medi¬ 
zinische  Unitersuchungstechnik  eingeführte  Antiformin  hat 
den  Nachweis  der  Tuberkelbazillen  in  Sekreten  und  Exkre- 
ten  außerordentlich  erleichtert.  Die  Fähigkeit  des  Anlifor- 
mins,  alle  korpuskulären  Elemente,  also  auch  alle  Mikro¬ 
organismen,  mit  Ausnahme  der  Tuberkelbazillen  aufzulösen, 


6)  Nachtrag.  In  der  Diskussion  erklärte  Stransky  unter 
anderem:  Seiner  Meinung  nach  könne  doch  nicht  immer  von  einem 
adäquaten  aktuellen  Ton  gesprochen  werden;  ab  und  zu  werde  den 
Kranken  selbst  der  Widerspruch  zwischen  ihren  Vorstellungen  und  Ge¬ 
fühlen  bewußt,  wie  aus  ihren  Aeußerungen  hervorgehe.  Auch  ich  habe 
ähnliche  Fälle  gesehen.  Meines  Erachtens  handelt  es  sich  da  um 
eine  Erscheinung,  die  auf  den  Bewußtseinszerfall  im  Sinne,  von  Otto 
ß  r  o  ß  zurückzuführen  ist.  Wenn  »im  Bewußtseinsorgan«  gleichzeitig 
mehrere  Assoziationsreihen  ablaufen  (0.  Groß),  kann  es  sich  leicht  er¬ 
eignen,  daß  durch  eine  von  diesen  Reihen  ein  Gefühlston  erregt  wird, 
der  nun  leicht  verständlicher  Weise  mit  dem  Inhalte  der  übrigen  Reihen 
lucht  immer  stimmt,  ja  nur  in  den  seltensten  Fällen  stimmen  wird. 

°)  Vgl.  Weygand t,  Alte  Dementia  praecox.  Zentralblatt  für 
Nervenheilkunde  und  Psychvatrie,  Neue  Folge,  ßd  15,  S.  623. 


ermöglicht  deren  Nachweis  selbst  bei  Vorhandensein  einer 
verschwindend  kleinen  Menge,  zumal  da  das  Antiformin 
bei  nicht  zu  langer  Einwirkung  die  Tuberkelbazillen  in  ihrer 
.Lebensfähigkeit  nicht  schädigt  und  ihren  kulturellen  wie 
tierexperimentellen  Nachweis  gestattet.  Zahlreiche  Unter¬ 
suchungen  haben  die  Brauchbarkeit  der  Uhlenhuth  sehen 
Antiforminmethode  bestätigt  und  die  neuerdings  von  Löff¬ 
ler  und  ferner  von  Lorenz  angegebenen  Modifikationen 
und  Verbesserungen  des  Verfahrens  haben  der  bazillären 
Diagnose,  namentlich  der  Frühdiagnose  der  Lungentuber¬ 
kulose,  zu  erhöhter  Bedeutung  verholfen. 

Schon  Uhlenhuth  hat  gezeigt,  daß  das  Antiformin 
selbst  resistentere  Gewebe  (Horn,  Haare,  Knorpel,  Knochen, 
Chitin)  aufzulösen  und  zu  homogenisieren  vermag.  Es  lag 
somit  nahe,  das  Antiformin  auch  zum  Nachweis  der  Tuber¬ 
kelbazillen  in  Geweben  zu  benutzen,  wie  es  anscheinend 
zuerst  Seemann  getan  hat.  Lagreze,  Krüger,  Merkel 
haben  ferner  über  solche  Untersuchungen  berichtet.  Be¬ 
sonders  die  des  letztgenannten  Autors  haben  für  uns  großes 
Interesse.  Während  frühere  Untersucher  mehrere  Stunden, 
ja  selbst  Tage  bis  zur  völligen  Auflösung  der  verwendeten 
Gewebsstückchen,  meist  Lymphdrüsen,  gebrauchten,  gelang 
Merkel  eine  außerordentliche  Abkürzung  des  Verfahrens 
durch  Anwendung  des  Gefriermikrotoms.  Er  zerlegte  die 
Organstückchen  auf  dem  Gefriermikrotom  in  30  bis  40  P  dicke 
Schnitte,  fing  sie  in  leicht  erwärmter  20%  Antiforminlösung 
auf,  in  der  sie  sich  fast  momentan  auflösten,  wusch  mit 
Wasser  aus  und  strich  das  Sediment  auf  minutiös  gerei¬ 
nigte  Objektträger  aus.  Den  mit  Eiweißglyzerin  zum  festen 
Haften  gebrachten  Ausstrich  färbte  er  nach  Ziehl,  Gram 
und  dem  von  Weiß  angegebenen  kombinierten  Verfahren. 
Die  Bedeutung  dieser  Untersuchungsmethode  für  die  Dia¬ 
gnose  der  Tuberkulose  ergibt  sich  aus  dem  Resultat,  daß 
sich  nicht  nur  frische  Gewebe,  sondern  auch  in  Alkohol, 
Kay  s  er  ling  scher  Lösung,  Formol-  Müller  fixierte  Organ- 
stücke,  ja  selbst  eingebettete  Gewebsteile  mittels  der 
Antiforminmethode  noch  mit  größter  Sicherheit  auf  Tuber¬ 
kelbazillen  untersuchen  lassen.  Wertvoll  ist  diese  Feststel¬ 
lung  auch  deshalb,  weil  man  leicht  den  Anliformin-Razillen- 
nachweis  mit  der  histologischen  Gewebsuntersuchung  kom¬ 
binieren  kann. 

Schon  vor  Erscheinen  der  Merke  Ischen  Arbeit  hatten 
wir  uns  des  Antiforminverfahrens  zum  Nachweis  der  Tuber¬ 
kelbazillen  in  frischen  Geweben  bedient  und  manches  schöne 
Resultat  erzielt.  Der  Nachweis  virulenter  Tuberkelbazillen 
in  alten  Kreideherden,  in  Granulationsgeweben  makrosko¬ 
pisch  unbestimmten  Charakters,  in  Lymphdrüsen,  gelang 
uns  leichter  und  schneller;  namentlich  die  Untersuchung 
der  letzteren,  selbst  wenn  sie  makroskopisch  unverändert 
waren,  zeiligte  unerwartete  Resultate  und  lieferte  einen 
positiven  Bazillenbefund  zuweilen  in  Fällen,  in  denen  wir 
einen  solchen  nach  dem  makroskopischen  Befund  nicht  er¬ 
warteten.  Histologische  Untersuchungen  dieser  Organe 
waren  aber  naturgemäß  nicht  gleichzeitig  vorgenommen  wor¬ 
den  und  so  blieb  denn  die  Frage  offen,  ob  nicht  mikrosko¬ 
pisch  spezifisch  tuberkulöse  Veränderungen  vorhanden  ge¬ 
wesen  waren  und  an  sich  die  Diagnose  ermöglicht  hätten. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  allein  hat  man¬ 
cherlei  Mißliches  an  sich,  wie  ja  allgemein  bekannt  ist. 
Zunächst  ist  sie  sehr  mühsam.  Gilt  es  doch,  wenn  der 
'Nachweis  histologisch  luberkulöser  Gewebsveränderung 
nicht  schnell  gelingt,  das  ganze  Organ  in  Serien-  resp. 
Stufensohnitten  systematisch  zu  durchforschen,  was  zwar 
z.  B.  an  Lymphdrüsen  noch  möglich  ist,  aber  an  allen  grö¬ 
ßeren  Organen,  wie  z.  B.  an  der  Milz  einen  ganz  enormen 
Aufwand  von  Arbeit  und  Zeit  bedeuten  würde.  Da.  wir  nun 
aber  längst  wissen,  wie  auch  Bartel  nachgewiesen  hat, 
daß  Tuberkelbazillen  sich  in  Organen,  namentlich  Lymph- 
drüson  finden  können,  ohne  spezifisch  tuberkulöse  Gewebs¬ 
veränderungen,  so  wäre  auch  der  färberische  Nachweis  von 
Tuberkelbazillen  in  Gewebsschnitten  nötig  und  es  bedarf 
wohl  kaum  der  Betonung,  daß  eine  in  dieser  Hinsicht  ab¬ 
solut  vollständige  Untersuchung  eines  jeden  größeren  Organs, 


304 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


ja  selbst  einer  Lympkdrüse,  unmöglich  oder  aber  mit  unge¬ 
heurer  Schwierigkeit  verknüpft  ist.  Selbst  in  histologisch 
tuberkulös  verändertem  Gewebe  gelingt  ja  der  Tuberkel¬ 
bazillennachweis  nicht  immer. 

Die  Kombination  der  histologischen  Untersuchung  mit 
dem  Bazillennachweis  durch  das  Tierexperiment  hat  man 
früher  vielfach  in  der  Weise  vorgenommen,  daß  man  einen 
Teil  des  zu  untersuchenden  Organs  (Lymphdrüse)  oder  Ge- 
websstückes  histologisch  verarbeitete,  den  anderen  zum 
Tierexperiment  benutzte.  Zum  Teil  recht  weitgehende 
Schlüsse  bauen  sich  auf  diesem  Verfahren  auf,  dem  natür¬ 
lich  der  Vorwurf  nicht  erspart  bleiben  konnte,  daß  in  dem 
einen  Teil  sich  fand,  was  im  anderen  nicht  vorhanden  war, 
alle  Schlüsse  also  trügerisch  waren. 

Unseren  Untersuchungen  über  das  Vorkommen  viru¬ 
lenter  Tuberkelbazillen  in  makroskopisch  unveränderten  Or¬ 
ganen  kam  die  Mitteilung  Merkels  hochwillkommen.  Ihre 
technischen  Resultate  schienen  uns  so  wertvoll,  daß  wir 
glaubten,  sie  nicht  nur  eng  begrenzten  Untersuchungen, 
sondern  selbst  den  Hauptfragen  des  großen  Tuberkulose¬ 
problems  dienstbar  machen  zu  können.  Wir  wollen  darauf 
nachher  zurückkommen. 

Für  derartige  groß  angelegte  und  bedeutungsvolle  Un¬ 
tersuchungen  darf  nach  unserer  Auffassung  nun  der  von 
Merkel  geübte  Bazillennachweis  in  Objektträgerausstri¬ 
chen  nicht  angewendet  werden.  Abgesehen  davon,  daß  er 
zu  zeitraubend  und  mühsam  erscheint,  ist  er  doch  wohl 
nicht  diffizil  genug.  Ganz  vereinzelte  Bazillen  können  dem 
suchenden  und  ermüdenden  Auge  entgehen,  große  Sorgfalt 
ist  dauernd  nötig,  um  Täuschungen  zu  vermeiden.  Es  sei 
nur  an  die  interessante  Mitteilung  Beitzkes  erinnert,  der 
säurefeste  »'(Stäbchen  im  zur  Antiforminverdünnung  be¬ 
nutzten  Leitungswasser  feststellte.  So  sollte  denn  nur  das 
Tierexperiment,  wie  noch  jüngst  Hart  mit  Nachdruck  be¬ 
tont  hat,  über  das  Vorhandensein  der  Tuberkelbazillen  in 
den  benutzten  Gewebsstückchen  entscheiden.  Es  bietet  auch 
hinreichende  Sicherheit  dafür,  daß  die  schwer  nachweis¬ 
bare  granuläre  Form  des  tuberkulösen  Virus  der  Feststel¬ 
lung  nicht  entgeht.  Daraus  ergibt  sich  die  Notwendigkeit, 
nur  mit  frischem  Material  zu  arbeiten. 

Da  inün  die  Verarbeitung  dieses  frischen  Materials  nach 
dem  Vorgänge  Merkels  immerhin  mit  einer  Prozedur1  ver¬ 
bunden  ist,  die  man  nicht  ohne  weiteres  als  belanglos  be¬ 
zeichnen  kann,  nämlich  dem  Gefrierverfahren  auf  dem 
Aether-  oder  Kohlensäuregefriermikrotom,  weiterhin  das 
Verlangen,  eingehende  histologische  Untersuchungen  an 
Schnitten,  die  dein  biologischen  Bazillennachweis  noch 
dienen  sollen,  vorzunehmen,  weitere  Maßnahmen  als  das 
Gefrieren  allein  nötig  erscheinen  ließ,  so  sind  zunächst 
Voruntersuchungen  angestellt  worden.  Die  Lebensfähigkeit 
der  Tuberkelbazillen  gegenüber  verschiedenen  Maßnahmen 
am  Untersuchungsmaterial  war  zu  prüfen. 

Tuberkulöse  Gewebsstückchen  (Lymphdrüse,  Lunge, 
Milz)  von  da.  V2  bis  1  cm  Dicke  wurden  auf  dem  Gefrier¬ 
mikrotom  durch  Kohlensäure  vereist  und  entweder  im  Gan¬ 
zen  oder  in  Schnitten  Meerschweinchen  subkutan  implan¬ 
tiert.  Wir  verfuhren  dabei  aseptisch  (u.  a.  Auskochen  des 
Objekttisdhes  und  des  Messers)  um  dem  Vorwurf  zu  ent¬ 
gehen,  es  könnten  etwa  nicht  dem  Gefrierprozeß  ausgesetzt 
gewesene  Tuberkelbazillen  implantiert  worden  sein.  Die 
Stücke  ließen  wir  stets  steinhart  werden  und  durch  und 
durch  gefrieren  und  ließen  diesen  Zustand  von  einer  halben 
bis  zu  20  Minuten  unter  wiederholter  Einwirkung  der 
Kohlensäure  bestehen.  Alle  mit  diesen  Gewebsstückchen 
geimpften  Meerschweinchen  gingen  an  Tuberkulose  ein, 
wobei  sich  deutlich  zeigte,  daß  das  Manifestwerden  der 
Impftuberkulose  und  ihr  Verlauf  lim  so  langsamer  sich  voll¬ 
zog,  je  länger  der  Gefrierprozeß  eingewirkt  hatte.  Die  Tu¬ 
berkelbazillen  bewahren  also  gegenüber  starker  Kälteein¬ 
wirkung  ihre  Virulenz  recht  lange,  sie  vertragen  auch,  wie 
wir  uns  überzeugten,  noch  längere  Gefrierzeiten  als  20  Mi¬ 
nuten,  es  war  das  aber  für  unsere  Untersuchungen  inso¬ 
fern  irrelevant,  als  20  Minuten  vollkommen  genügen,  einen 


Block  in  feine  Schnitte  zu  zerlegen.  Darauf  kam  es  uns  ja 
an.  Weiterhin  wurden  dann  die  Gewebsstückchen  vor  dem 
Gefrieren  in  10%  Formollösung  getan  und  darin  von  einer 
halben  bis  zu  mehreren  Stunden  belassen  und  dann  ver- 
impft.  Ohne  nachfolgendes  Gefrieren  zeigten  sich  in  diesen 
Stücken  nach  dem  Ausfall  des  Tierversuches  die  Tuberkel¬ 
bazillen  noch  nach  einem  Aufenthalt  in  Formol  von  einer 
Stunde  infektionstüchtig  und  behielten  ihre  Virulenz  auch, 
wenn  sich  dann  das  Gefrierverfahren  anschloß.  Nur  in 
einem  Falle  von  einstüindigem  Aufenthalt  des  Gewebsstüokes 
in  Formol  mit  nachfolgender  Vereisung  von  je  10  Minuten 
blieb  ein  geimpftes  Meerschweinchen  gesund.  Die  Formol- 
behandlung  hatte  den  Zweck,  die  Gewebsstückchen  geeig¬ 
neter  zur  Herstellung  feiner  Schnitte  und  einer  nachfolgen¬ 
den  Färbung  zu  machen.  Mit  Sicherheit  kann  man  damit 
rechnen,  daß  im  Gewebe  liegende  Tuberkelbazil¬ 
len  durch  V2stündige  Formolwirkung  mit  nach¬ 
folgendem  Gefrieren  ihre  Lebensfähigkeit  nicht 
verlieren  und  durch  das  Tierexperiment  nach- 
zu weisen  sind. 

Wir  sind  dann  weiter  gegangen  und  haben  so  behan¬ 
delte  Gewebsstücke  in  möglichst  feine  Schnitte  zerlegt, 
diese  mit  Hämatoxylin  gefärbt,  auch  mit  Salzsäurealkohol 
differenziert  und  nach  Betrachtung  in  Glyzerineinbettung 
mit  15%  Antiforminlösung  homogenisiert  und  zum  Tier 
experimenl  verwertet. 

Solche  gefärbte  Schnitte  lösen  sich  unter  momentanem 
Schwinden  der  Farbe  in  wenigen  Augenblicken.  Das  ge¬ 
waschene  Zentrifugal  haben  wir  subkutan  und  intraperi¬ 
toneal  den  Versuchstieren  appliziert  und  ganz  regelmäßig 
eine  mehr  oder  weniger  zeitig  manifest  werdende,  verschie¬ 
den  schnell  verlaufende  Impftuberkulose  entstehen  sehen. 
Die  Einwirkung  des  Antiformins  kommt  für  die  Lebens¬ 
fähigkeil  der  Tuberkelbazillen  selbst  in  stärkerer  Konzen¬ 
tration  fast  gar  nicht  in  Betracht,  da  nach  unserer  Erfahrung 
noch  nach  24  Stunden,  nach  Hüne  sogar  nach  mehreren 
Tagen  Anliforminwirkung  allein  die  Tuberkelbazillen  nicht 
abtötet.  Natürlich  empfehlen  wir  trotzdem  ein  schnelles 
Arbeiten,  um  die  kumulierende,  schädigende  Wirkung  der 
verschiedenen  Maßnahmen  auf  die  Tuberkelbazillen  nach 
Möglichkeit  zu  beschränken.  Man  muß  immerhin,  wie  der 
Verlauf  des  Tierexperimentes  erkennen  läßt,  mit  einer 
Virulenzabschwächung,  vielleicht  auch  mit  dem  Absterben 
einzelner  Bazillen  rechnen  und  das  könnte  beim  Vorhanden¬ 
sein  nur  spärlicher  Tuberkelbazillen  in  den  zu  untersuchen¬ 
den  Geweben,  in  denen  sie  vielleicht  ohnehin  wenig  lebens¬ 
fähig  liegen  und  sozusagen  eine  vita  minima  führen,  das 
Ergebnis  der  Untersuchung  beeinträchtigen  und  das  Urteil 
fälschen.  Wir  dürfen  daher  die  schädigenden  Maßnahmen 
gerade  nur  in  dem  Grade  einwirken  lassen,  daß  es  uns 
möglich  ist,  mit  Sicherheit  die  Anwesenheit  von  Tuberkol¬ 
bazillen  tierexperimentell  nachzuweisen.  Das  ist  nach 
unseren  Feststellungen  auch  dann  möglich,  wenn  die 
vorbehandelten  Schnitte  mit  Hämatoxylin  kurz 
gefärbt  und  in  Glyzerin  mikroskopisch  unter¬ 
sucht  worden  sind.  Die  Formolbehandlung  gestattet  die 
Herstellung  so  dünner  Gefrierschnitte,  daß  man  auch  feinere 
Gewebsveränderungen  studieren  kann. 

Es  bedeutet  das  einen  außerordentlichen  Gewinn.  Es 
isl  bei  positivem  Ausfall  des  Tierexperimentes  ein  sicheres 
Urteil  möglich,  ob  histologische  Veränderungen  vorhanden 
waren  oder  nicht  und  man  ist  nicht  mehr  darauf  angewiesen, 
verschiedene  Teile  eines  zu  untersuchenden  Organs  (Lymph- 
drüse)  oder  Organstückes  verschieden  zu  behandeln  und 
den  Einwand  der  Ungenauigkeit  hinnehmen  zu  müssen. 
Wir  werden  uns  nun  ein  besseres  Urteil  darüber  bilden 
können,  ob  es  latente  prätuberkulöse  Veränderungen,  wie 
beispielsweise  das  lymphoide  Stadium  Bartels  gibt,  ob 
und  in  welcher  Häufigkeit  sich  Tuberkel bazil len 
in  histologisch  unveränderten  O'rganen  finden. 

Die  Anwendung  des  Uhlenhuthschen  Antiformin¬ 
verfahrens  auf  die  Durchsuchung  der  Gewebe  nach  Tuber- 
kelbazillen  gestattet  eine  systematische  Durchforschung 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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ganzer  Organe  und  Organgruppen.  Im  Vordergründe  des 
Interesses  stehen  die  Lymphdrüsen.  Sie  sind  so  klein,  daß 
sic  sich  leicht  nach  der  von  uns  angegebenen  Methode  ver¬ 
arbeiten  lassen.  Aber  auch  mit  ganzen  Lymphdrüsengrup- 
pen  ist.  das  der  Fall,  wie  wir  aus  nichtsystematischen,  son¬ 
dern  nur  auf  Ausprobierung  der  Methode  gerichteten  Unter¬ 
suchungen  entnommen  haben.  Wollte  man  Drüse  für  Drüse 
z.  B.  des  Mesenteriums  oder  des  Halses  präparieren  ■  und 
in  oben  angegebener  Weise  verarbeiten,  so  wäre  das  nicht 
nur  ein  sehr  umständliches  und  mühsames  Beginnen,  son¬ 
dern  böte  auch  keineswegs  Gewähr,  daß  der  betreffende 
regionäre  lymphatische  Apparat  vollständig  zur  Unter¬ 
suchung  kommt.  Die  Vorbehandlung  mit  Antiformin  dagegen 
gestattet  leichtes  Arbeiten,  weil  es  die  Eigenschaft  besitzt, 
vor  der  allmählichen  Auflösung  Fett  und  lockeres  Binde¬ 
gewebe  schnell  aufzuhellen  und  in  einen  glasigen,  trans¬ 
parenten  Zustand  zu  versetzen,  der  kompaktere  Gebilde 
wie  z.  B.  die  Lymphdrüsen,  deutlich  hervortreten  läßt.  Bringt 
man  das  Mesenterium  in  kleine  Stücke  geschnitten  in  eine 
15  bis  25°/oige  Antiforminlösung,  deren  Einwirkung  man 
durch  den  Schüttelapparat  steigert,  so  wird  das  Fettgewebe 
in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  transparent,  so  daß  man 
leicht  alle  Lymphdrüsen  herauspräparieren  und  nach  der 
oben  angegebenen  Methode  verarbeiten  kann.  Mit  den  Hals¬ 
organen,  dem  retroperitonealen  Gewebe,  der  Region  der 
Trachealbifurkation  kann  man  gleicherweise  verfahren.  Es 
ist  dabei  durchaus  angängig,  die  ausgeschälten  Lymphdrüsen 
noch  zu  zerschneiden  und  makroskopisch  zu  durchforschen. 
Um  den  Wert  des  ganzen  Verfahrens  zu  prüfen,  haben  wir 
festgestellt,  daß  schon  von  Anhang  an  makroskopisch  als 
tuberkulös  erkannte  Lymphdrüsen  (des  Mesenteriums) 
schließlich  den  biologisch  positiven  Schlußnachweis  der 
Tuberkulose  lieferten.  Welche  hohe  Bedeutung  aber  den 
Untersuchungen  innewohnt,  geht  beispielsweise  daraus  her¬ 
vor,  daß  wir  in  auch  mikroskopisch  nicht  veränderten 
Lymphdrüsen  am  Lungenhilus  Tuberkelbazillen  feststellen 
konnten. 

'Natürlich  darf  man  nicht  durch  unsauberes  Arbeiten 
etwa  das  Untersuchungsmaterial  tuberkulös  verschmutzen. 
Aseptische  Vorsichtsmaßregeln  erfordert  in  dieser  Hinsicht 
auch  das  Arbeiten  an  der  Leiche.  Wir  benutzten  gut  aus¬ 
gekochte  Instrumente  und  brachten  das  Untersuchungsma¬ 
terial  direkt  aus  der  Leiche  in  die  Antiforminkolben,  so  daß 
uns  die  Möglichkeit  ausgeschlossen  schien,  es  könnte  yon 
außen  eine  Verunreinigung  mit  Tuberkelbazillen  stattfinden. 
Auch  die  genauere  makroskopische  Inspektion,  wie  die  Zer¬ 
kleinerung  des  Materials,  nimmt  man  zweckmäßiger  in  der 
Leiche  selbst,  als  auf  einem  Teller  vor;  viel  Schwierigkeit 
wird  man  dabei  nach  unserer  Erfahrung  nicht  begegnen. 

Wie  wir  bereits  erwähnt  haben,  scheinen  uns  die 
vorliegenden  .Untersuchungen  deshalb  besonders  bedeutsam1, 
weil  sie  zeigen,  wie  man  die  U h  1  e nhu th sehe  Antiformin¬ 
methode  in  den  Dienst  einiger  großer  und  im  wesentlichen 
noch  ungelöster  Tuberkulosefragen  stellen  kann.  Eine  syste¬ 
matische  Durchforschung  des  kindlichen  Organismus,  so¬ 
weit  es  die  Ueberlegung  erfordert,  mittels  dieser  Methode 
liegt  durchaus  im  Bereich  der  Möglichkeit. 

Nach  den  Untersuchungen  v.  Pirquets,  Hambur¬ 
gers  und  anderer  Autoren,  namentlich  der  Schloßmann- 
schen  Schule,  müssen  wir  annehmen,  daß  die  tuberkulöse 
Durchseuchung  der  Menschheit  schon  während  des  Kindes¬ 
alters  ihren  Abschluß  erlangt  da  die  einzelnen  Lebensalter 
von  der  Geburt  bis  zur  Pubertät  in  immer  höherem  Prozent¬ 
satz,  schließlich  bis  zu  90,  ja  100%  eine  positive  Tuberkulin¬ 
reaktion  geben.  In  dieser  Kindheitsinfektion  glauben  viele 
entsprechend  der  alten  Lehre  v.  Behrings  auch  die  Quelle 
der  tuberkulösen  Lungenschwindsucht  Erwachsener  sehen 
zu  müssen.  Während  ein  Teil  der  infizierten  Kinder  der 
Wirkung  des  tuberkulösen  Virus  erliegt,  übersteht  ein  ande¬ 
rer  die  Infektion  dauernd  und  erwirbt  sich  eine  relative 
Immunität,  während  ein  dritter  infolge  einer  massiven, 
wahrscheinlich  von  innen  kommende  Reinfektion  in  der 
relativen  Immunität  nicht  genügenden  Schutz  findet  und 


nun  im  reifen  Alter  das  Opfer  der  tuberkulösen  Lungen¬ 
schwindsucht  wird.  Besonders  Römer  vertritt  diese  An¬ 
schauung  auf  Grund  ausgedehnter  und,  wie  wir  gern  betonen, 
wissenschaftlich  exakter  Tierversuche.  Eine  ganze  Reihe 
von  Bedenken  aber  sprechen  gegen  die  Richtigkeit  dieser 
Theorie.  Vor  allem  muß  betont  werden,  daß  der  Pathologe 
am  Sektionstisch  keineswegs  eine  so  enorme  Häufigkeit 
tuberkulöser  Herde  in  Kinderleichen  feststellt,  als  den 
Ergebnissen  der  Tuberkulinreaktion  entsprechen  müßte. 
Und  das  nicht  bei  der  möglichst  minutiösen  Durchforschung 
aller  Organe.  Wo  sind  die  Bazillennester  zu  suchen,  von 
denen  eine  mlasisive  Reinfektion  ausgehen  kann?  Sehen 
wir  von  schon  makroskopisch  wahrnehmbaren,  spezifisch 
tuberkulösen  Veränderungen  ab,  so  muß  nach  obiger  Theorie 
in  einer  ganz  erheblichen  Anzahl  von  Kinderleichen  irgend¬ 
wo  ein  Bazillenherd  vorhanden  sein,  der,  obwohl  nicht 
erkennbar,  doch  fähig  ist,  plötzlich  die  Schutzwehr  der 
relativen  Immunität  zu  durchbrechen.  Das  fordert  jene 
Theorie,  wenn  sie  zu  Recht  bestehen  soll.  Nun  weiß  jeder 
Pathologe,  daß  für  gewöhnlich  die  Lungen  im  Kindesalter 
nicht  der  primäre  Siedlungsherd  der  Tuberkelbazillen  sind, 
daß  vielmehr  so  gut  wie  ausschließlich  der  lymphatische 
Apparat  in  Frage  kommt,  als  regionärer  Filter  für  den  lym¬ 
phatischen  Rachenring,  für  den  Darmkanal,  für  die  Lungen. 
Von  der  Hautinfektion  wollen  wir,  da  sie  schwerlich  eine 
sehr  große  Rolle  spielt,  absehen.  Auch  bei  ah  tuberkulöser 
Lungenschwindsucht  verstorbenen  Erwachsenen  muß  dem¬ 
nach  ein  alter  Infektionsherd  nachzuweisen  sein  und  trotz¬ 
dem  läßt  sich  oft  genug,  sagen  wir  getrost  'in  der  Mehrzahl 
der  Fälle,  außerhalb  der  Lungen  kein  tuberkulöser  Herd 
finden,  von  dem  man  mit  einiger  Sicherheit  sagen  könnte, 
er  sei  die  Quelle  einer  massiven,  die  Lungenschwindsucht 
veranlassenden  Reinfektion.  Auch  in  diesen  Fällen  müßte 
demnach  irgendwo  im  Organismus  ein  Tuberkelbazillenherd 
existieren,  ohne  solche  spezifische  Gewebsveränderungen, 
die  makroskopisch  erkennbar  sind.  Nicht,  einzelne  Bazillen 
dürfen  es  sein,  nein  viele,  aus  denen  sich  die  gemutmaßte 
massive  Reinfektion  mit  Durchbrechung  der  relativen 
Immunität  erklärt.  Auf  den  Organismus  des  erwachsenen 
Lungenschwindsüchtigen  exemplifizieren  wir  nur  deshalb 
aber,  weil  wir  die  Bedenken  genügend  betonen  wollten,  die 
der  Römer  sehen  Theorie  entgegenstehen;  ein  geeignetes 
Untersuchungsobjekt  ist  er  nicht,  da  ja  bei  jeder  vorge¬ 
schrittenen  Lungenschwindsucht  Tuberkelbazillen  im  Blute 
kreisen  und  in  dein  Organen  zur  Ablagerung  kommen  können, 
ohne  zu  einer  lokalen  spezifischen  Gewebsveränderung  zu 
führen.  ' 

Das  Suchen  nach  latenten  tuberkulösen  Herden  muß 
sich  auf  den  makroskopisch  gesunden  kindlichen  Organismus 
beschränken,  es  muß  nach  dem  Ergebnis  der  Tuberkulin¬ 
reaktion  um  so  häufiger  von  Erfolg  gekrönt  sein,  je  älter 
das  Kind  ist.  Dieser  Durchforschung,  die  natürlich  eine 
systematische  sein  muß,  bietet  sich  in  der  von  uns  ange¬ 
gebenen  Antiforminmethode  eine  gute  technische  Hand¬ 
habe.  Sie  wird  erleichtert  durch  die  Begrenzung,  die  sie 
dadurch  erfährt,  daß  wir  entsprechend  der  praktischen  Be¬ 
deutung  eine  Durchforschung  nur  der  Drüsengruppen  vor¬ 
nehmen,  die  als  regionäre  Filter  der  mutmaßlichen  Ein¬ 
trittspforten  des  Tuberkelbazillus  in  Betracht  kommen. 

Wir  stehen  damit  vor  einer  zweiten  großen  Tuberku¬ 
losefrage,  die  so  alt  wie  die  Entdeckung  des  Tuberkelbazillus 
selbst  ist  und  doch  noch  heute  heißumstritten  und  weit 
entfernt  von  einer  endgültigen  Lösung  ist.  Bei  einer  syste¬ 
matischen  Durchforschung  des  kindlichen  lymphatischen 
Apparates  mittels  der  Antiforminmethode  muß  es  sich 
zeigen,  ob  der  lymphatische  Rachenring  oder  die  Lungen 
oder  der  Darm  die  Eintrittspforte  der  Tuberkelbazillen  ist, 
je  nachdem  die  oberen  Halslymphdrüsen,  die  Hilus-  und 
Bronchialdrüsen  oder  die  Mesenterialdrüsen  sich  als  tuber¬ 
kulös  infiziert  erweisen.  Besondere  Beachtung  verdienen 
auch  die  Tonsillen  und  es  ist  anzunehmen,  daß  die  vor¬ 
liegenden  histologischen  Untersuchungsresultate  über  pri¬ 
märe  Tonsillentuberkulose  durch  die  Antiforminmethode 


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Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


nicht  nur  bestätigt,  sondern  wohl  auch  ergänzt  werden.  Die 
Unterkiefer-  und  Kieferwinkeldrüsen  sind  wichtig  für  die 
Beurteilung  einer  tuberkulösen  Schmutz-  oder  Schmierinfek¬ 
tion  der  Haut  in  der  Umgebung  des  Mundes.  Soweit  das 
Untersuchungsergebnis  nicht  ein  völlig  negatives  ist,  wird 
man  wahrscheinlich  prozentualiter  am  häufigsten  die  Hals- 
lymphdriisen,  dann  die  mesenterialen,  am  seltensten  die 
Hilusdrüsen  tuberkulös  infiziert  finden.  Doch  gründet  sich 
diese  Erwartung  auf  unsere  rein  persönliche  Anschauung, 
daß  die  tuberkulöse  Infektion  der  Kinder  vorwiegend  eine 
Schmutzinfektion  ist,  die  vom  Mund,  Rachen  und  Darm¬ 
kanal  aus  wirksam  wird,  während  die  Erwachsenen  sich 
in  erster  Linie  durch  Aspiration  der  Bazillen  infizieren. 
Bei  ihnen  müßten  die  Hilusdrüsen  vor  allem  Tuberkelba¬ 
zillen  enthalten.  Viele  mögen  anders  denken.  Aber  wir 
brauchen  ja  der  Untersuchung  nicht,  vorzugreifen  und  wollen 
ihr  Resultat  abwarten.  Sie  wird  zeigen,  welche  Drüsen¬ 
gruppen  am  häufigsten  zuerst  erkranken  und  somit  auf 
die  Infektionspforte  hinweisen,  sie  wird  auch  feslstellen, 
wie  häufig  die  tuberkulöselnfektion  in  den  einzelnen  Lebens- 
altern  überhaupt  ist  und  welche  Berechtigung  die  Annahme 
einer  massiven  Reinfektion  als  Ursache  der  tuberkulösen 
Lungenschwindsucht  hat.  Soweit  es  sich  um  bazilläre  Infek¬ 
tion  handelt!  Denn  das  eine  wollen  wir  doch  auch  hier  scharf 
betonen,  daß  der  Tuberkelbazillus  nur  die  spezifische  In¬ 
fektion,  noch  lange  nicht  aber  den  Verlaut  und  das  anato¬ 
mische  Bild  der  Lungenphthise  erklärt. 

Die  Bedeutung  der  Reinfektion  wird  sehr  wesent¬ 
lich  durch  eine  dritte  wichtige  Frage  bestimmt  werden,  der 
die  angeregten  Untersuchungen  nahetreten  müssen  und 
können.  Wie  oft  und  in  welcher  Menge  liegen  Tuberkel¬ 
bazillen  im  Gewebe*,  ohne  lokale  histologische  Veränderun¬ 
gen  zu  erzeugen?  Gibt  es  beim  Menschen  etwa  Gewebsalte- 
rationen  ohne  spezifischen  Charakter,  die  man  als  prätuber¬ 
kulöse  bezeichnen  könnte,  etwa  wie  das  sogenannte  lym- 
phoide  Stadium,  das  Bartel  bei  Meerschweinchen  fand? 
Daß  einzelne  Tuberkelbazillen,  obwohl  sie  für  das  Meer¬ 
schweinchen  infektionstüchtig  sind,  im  Gewebe  keine  spe¬ 
zifischen  Veränderungen  auszulösen  brauchen,  ja  sogar, 
daß  sie  ein  echt  saprophytisches  Dasein  führen  können, 
wissen  wir.  Das  Vorhandensein  größerer  Bazillennester, 
befähigt  zu  massiver  Reinfektion  des  Organismus,  in  den¬ 
noch  nicht  verändertem  Gewebe  bleibt  noch  zu  beweisen. 
Von  der  mikroskopischen  Durchmusterung  der  in  Antifor¬ 
min  zur  Auflösung  kommenden  Gewebsschnitte  ist  daher 
umfangreichster  Gebrauch  zu  machen.  Hierin  liegt  eine 
Schwierigkeit,  nicht,  so  sehr,  weil  das  mühsame  und  zeit¬ 
raubende  Arbeit  ist,  als  vielmehr,  weil  man  dem  einzel¬ 
nen  Gewebsstück,  vorwiegend  also  wohl  der  einzelnen 
Lymphdrüse,  größere  Beachtung  schenken  muß.  Es  ist 
daher  dieser  letzten  Frage  besonders  nachzugehen. 

Nun  ein  Schlußwort!  Manchem  wird  vielleicht  eine 
exakte  systematische  Durchforschung  eines  so  umfangrei¬ 
chen  Organsystems,  wie  es  der  lymphatische  Apparat  auch 
in  der  für  uns  in  Betracht  kommenden  Beschränkung  dar¬ 
stellt,  als  ein  recht  kühnes  Wagnis  Vorkommen.  Aber  wäh¬ 
rend  eines  ganzen  Jahres  haben  wir  immer  wieder  Versuche 
in  mannigfacher  Modifikation  angestellt  und  die  Methode 
ausprobiert.  Die  Möglichkeit  einer  solchen  Durchforschung 
des  Lymphdrüsensystems  nicht  nur,  sondern  auch  ihr  Wert 
steht  für  uns  fest.  Viel  Geduld  und  Zeit,  große  Sorgfalt 
und  leider  auch  viel  Geld  ist  nötig,  um  die  angeregten  Un¬ 
tersuchungen  systematisch  durchführen  zu  können.  Der 
Verbrauch  an  Tiermaterial  muß  ein  um  so  größerer  sein,  je 
mehr  man  spezialisiert,  einzelne  Lymphdrüsengruppen  oder 
gar  Drüsen  herausgreift  und  besonders  verarbeitet.  Wir 
sind  uns  auch  bewußt,  daßi  solche  Untersuchungen  auf  die 
Dauer  nicht  von  einem  einzelnen  auszuführen  sind  und 
würden  es  daher  freudig  begrüßen,  wenn  große,  mit  reichen 
Mitteln  arbeitende  Institute,  denen  auch  eine  Arbeitsteilung 
möglich  ist,  diese  Untersuchungen  aufnehmen  würden. 
Wenn  auch  eine  in  verschiedenen  Instituten  an  verschie¬ 
denen  Drüsengruppen  vorgenommene  Durchforschung  inso¬ 


fern  Wert  hätte,  als  man  aus  Zusammenstellung  und  Ver¬ 
gleich  der  prozentualen  Ergebnisse  Schlüsse  ziehen  könnte, 
so  bleibt  doch  die  einzig  exakte,  zu  sicherem  Urteil  be¬ 
rechtigende  Methode  die  einheitliche  Verarbeitung  des  gesam¬ 
ten  in  Betracht  kommenden  lymphatischen  Apparates  einer 
beträchtlichen  Anzahl  kindlicher  Leichen.  So  schwer  und 
umfassend  das  Unternehmen  ist,  so  wertvoll  dürfte  das 
Endresultat  für  das  große  wissenschaftliche  Tuberkulose- 
problem  sein. 


Aus  der  III.  mediz.  Klinik  der  k.  k.  Universität  Wien. 

Herzgeräusch  und  Herzgröße. 

Von  Dr.  Paul  ßiacli,  Assistenten  der  Klinik  und  Dr.  Demetrius 

Cliilaiditi. 

Die  vorliegenden  Untersuchungen  beschäftigen  sich 
nur  mit  den  Herzgeräuschen,  bei  deren  Entstehung  eine 
Klappenveränderung  nicht  in  Betracht  kommt.  Die  Fehler¬ 
quellen,  die  sich  hiebei  (rotz  aller  Vorsicht  nie  vollkom¬ 
men  vermeiden  lassen,  liegen  ja  auf  der  Hand,  wenn  man 
bedenkt,  wie  schwierig  es  ist,  am  lebenden  Menschen  ge¬ 
gebenen  Falles  eine  Klappenveränderung  des  Herzens  mit 
Sicherheit  auszuschließen.  Wir  haben  aus  diesem  Grunde 
bei  allen  untersuchten  Fällen  speziell  darauf  hingewiesen, 
wenn  sich  Zweifel  über  die  vollkommene  Intaktheit  der 
Herzklappen  bei  uns  erhoben  haben. 

Schon  in  der  Schwierigkeit,  den  Herzgeräuschen,  die 
uns  in  unseren  Untersuchungen  interessieren,  einen  Namen 
zu  geben,  malt  sich  die  große  Differenz  der  Anschauungen 
über  ihren  Entstehungsmodus  Führen  Laennec  und  an¬ 
dere  die  funktionellen  Herzgeräusche  auf  einen  spastischen 
Zustand  der  Herz-  und  Gefäßmuskulatur  zurück,  so  haben 
0 es t reich  und  De  la  Camp  die  anorganischen  oder 
besser  funktionellen  Geräusche  auf  Veränderungen  des  Herz¬ 
muskels  selbst  zurückgeführt  und  sich  damit  den  Auffas¬ 
sungen  von  Eichhorst,  Strümpell  usw.  angeschlossen. 
Alle  diese  Möglichkeiten  müssen  in  dem  Augenblick  uns 
hinfällig  erscheinen,  wenn  wir  auf  dem  Standpunkt  stehen, 
den  jüngst  auch  Staehelin  präzisiert  hat,  daß  Geräusch¬ 
bildung  nur  durch  strömende  Flüssigkeit  und  Wirbelbewe¬ 
gung  in  einer  solchen  zustande  kommen  kann. 

Wir  finden  auch  kaum  einen  Bestandteil  und  eine 
Eigenschaft  des  strömenden  Blutes,  die  nicht  schon  für 
die  Entstehung  der  uns  interessierenden  Schallerscheinun-  . 
gen  verantwortlich  gemacht  wurde. 

Die  gesteigerte  Frottierung  der  roten  Blutkörperchen 
wird  von  Skoda  für  die  Geräusche  bei  der  Chlorose  her¬ 
angezogen,  Thayer  und  Mac  Call  um  finden,  daß  über 
der  Pulmonalarterie  sowohl  bei  ßlutentziehung  (Verringe-'S 
rung  der  strömenden  Masse),  als  auch  bei  reichlicher  Koch¬ 
salzinfusion,  demnach  bei  erhöhter  und  bei  erniedrigter 
Spannung  des  Gefäßes  ein  Geräusch  entsteht,  während 
Lühtje  direkt  eine  Stenosierung  der  Pulmonalklappe  als 
Ursache  für  das  sogenannte  anämische  Geräusch  heran¬ 
zieht,  dessen  punctum  maximum  seinen  Untersuchungen 
zufolge  stets  an  der  Pulmonalklappe  lokalisiert  sei. 

Größere  Bedeutung  als  diese  Theorien,  die  sich  teils 
mit  den  Blutelementen  selbst  befassen,  teils  wieder  auf  die 
allen  Hypothesen  von  dem  Einfluß  der  Gefäßwände  auf 
die  Geräusohbildung  zurückgreifen,  schien  längere  Zeit  der 
Sah  Fischen  Anschauung  zuzukommen,  daß  die  vermehrte 
Strömungsgeschwindigkeit  des  Blutes  es  sei,  die  die  Ent¬ 
stehung  von  Geräuschen  bei  den  anämisch  -  chlorotischen  Zu¬ 
ständen  erklärt.  Gegen  Sahli  hat  sich  in  erster  Linie 
Müller  ausgesprochen,  der  erstens  die  erhöhte  Ausströ- 
mungsgeschwindigkeit  des  Blutes  als  nicht  erwiesen  be¬ 
trachtet  und  zweitens  Geräuschbildung  in  Fällen  wo  das 
Blut  sicher  schneller  strömt  als  in  der  Norm  (Herzklopfen, 
rasches  Gehen,  Fieber  u.  a.)  vermißt. 

Fügt  man  diesen  Theorien  noch  die  von  Müller  und 
früher  schon  von  Po  tain  in  Betracht  gezogene  Möglich¬ 
keit,  der  kardiopulmonalen  Genese  funktioneller  Herzge¬ 
räusche  hinzu,  die  wohl  kaum  den  Anspruch  auf  allge- 


Kr.  9 


WIENER  KLIN  ISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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meinere  Bedeutung  wird  erheben  können,  so  dürfte  damit 
die  Mehrzahl  der  Anschauungen  wiedergegeben  sein,  die 
auf  diesem  Gebiete  geäußert  wurden. 

Ueberblickt  man  die  große  Zahl  aller  dieser  Theorien, 
so  ist  eines  sicher,  daß  es  kaum  denkbar  erscheint,  auch 
nur  eine  von  ihnen  für  die  Erklärung  aller  nicht,  auf  Herz¬ 
klappenfehlern  beruhender  Geräusche  zu  akzeptieren,  so 
daß  wir  wohl  am  ehesten  mit  Sahli  an  einer  Scheidung  der 
„akzidentellen“  von  den  „funktionellen“  Geräuschen  wer¬ 
den  festhalten  müssen. 

Dennoch  hat  in  letzter  Zeit.  Menschen  versucht,  alle 
nichtorganischen  Herzgeräusche  auf  eine  gemeinsame  Ur¬ 
sache  zurückzuführen.  Er  weist  an  allen  jenen  Fällen,  wo 
sich  Geräuschbildung  ohne  nachweisbare  Klappenverände¬ 
rung  findet,  perkutorisch  eine  Herzdilatation  nach,  welch 
letztere  die  Basis  für  die  Entstehung  der  Schallerscheinung 
bilden  soll.  Es  zeigt  sich  nämlich  nicht  nur,  daß  ohne  Dila¬ 
tation  in  den  zur  Beobachtung  herangezogenen  Krank¬ 
heiten,  wie  anämischen  Zuständen,  Gelenksrheumatismen, 
Sepsis,  Nephritis  usw.  ein  Geräusch  am  Herzen  niemals 
hörbar  wird,  sondern  auch,  daß  die  Stärke  des  'Herzgeräu¬ 
sches  direkt  proportional  der  Größe  der  Dilatation  ist.  He  li¬ 
sch  en  steht  nicht  an,  diese  von  ihm  zunächst  für  die  Cldor- 
anähiie  erbrachten  Befunde  für  alle  funktionellen  Herz¬ 
geräusche  zu  erweitern  und  demnach  anämische,  rheuma¬ 
tische,  septische,  nephritische  Dilatationsgeräusche  zu 
unterscheiden. 

Besteht  tatsächlich  eine  ursächliche  Beziehung  zwi¬ 
schen  Geräuschbildung  und  Herzvergrößerung,  so  müssen 
diese  Beziehungen  noch  weitaus  klarer  und  eindeutiger  er¬ 
scheinen,  wenn  man  sich  nicht,  der  Perkussion,  sondern 
einer  Methode  bedient,  die  wie  die  Orthodiagraphie  uns 
genauere  Aufschlüsse  über  die  Ausdehnung  des  Herzens  zu 
geben  imstande  ist. 

Systematische  orthodiagraphische  Untersuchungen 
über  diese  Frage  fehlen  anscheinend,  wenn  man  von 
Dietlen  absieht,  der  systolische  Geräusche  bei  Diphthe¬ 
rie  beschreibt,,  die  gleichzeitig  mit  Herzdilatation  auftreten, 
in  seiner  Arbeit  über  Infektionskrankheiten  jedoch  keiner¬ 
lei  Angaben  darüber  macht,  ob  eine  konstante  Beziehung 
zwischen  Herzgeräuschen  und  Veränderungen  der  Herzgröße 
besteht.1)  Wir  haben,  um  einen  genaueren  Einblick  in  diese 
Beziehungen  zu  ermöglichen,  eine  Beihe  von  Patienten  un¬ 
serer  Klinik  und  anderer  Abteilungen  des  Allgemeinen  Kran¬ 
kenhauses  sowie  der  Wiener  Poliklinik,  bei  denen  meist 
als  Nebenbefund  nichtorganische  Herzgeräusche  beobachtet 
wurden,  orthodiagraphisch  mit  Rücksicht  auf  ihre  Herzgröße 
durchleuchtet  und  festzustellen  versucht,  ob  überhaupt  Be¬ 
ziehungen  zwischen  Herzgeräusch  und  Herzgröße  bestehen 
und  wenn  dies  tatsächlich  der  Fall  wäre,  ob  dieselben  als 
ursächliche  anzusprechen  seien  oder  nicht. 

Die  Patienten  wurden  mit.  Rücksicht  auf  die  Differenz 
der  Herzgröße  bei  verschiedener  Körperlage,  die  aus  den 
Arbeiten  von  Moritz,  Dietlen,  Gr o edel  hervorgehen, 
sowohl  im  Stehen  als  im  Liegen  durchleuchtet  und  zwar 
mit  dem  Orthodiagraphen  nach  Levy -Dorn  in  der  Modi¬ 
fikation  nach  Gr o edel  III;  auf  der  Poliklinik  mit.  Kien¬ 
böckscher  Hängeblende  im  Stehen,  im  Liegen  mit  Tro- 
choskop  (Fadenkreuz).  Um  den  Einfluß  des  wechselnden 
Zwerchfellstandes  wenigstens  so  weit  als  möglich  zu  ver¬ 
meiden,  wurden  die  Durchleuchtungen  stets  zwischen  4  üjnd 
5  .Uhr  nachmittags  vorgenommen.  Die  Mittellinie  wurde 
durch  zwei  Bleimarken  am  oberen  Rande  des  Manubrium 
sterni  und  am  Schwertfortsatz  bestimmt,  im  Liegen  jedoch 
der  Standort  der  Marken  immer  entsprechend  der  Haut¬ 
verschiebung  gewechselt.  Wo  die  Pulsfrequenz  hoch  war, 
mußten  wir  dies  besonders  vermerken,  wenngleich  sie  in 
keinem  Falle  auf  unsere  Fälle  von  großem  Einfluß  sein^ 
konnte.  Es  gesdhah  dies  mit  Rücksicht  auf  die  von  Hei  tier 

')  Giuffre  bestätigt  in  einer  mündlichen  Mitteilung  im  Verlauf 
der  Diskussion  über  Henschens  Vortrag,  daß  auch  er  röntgenologisch 
die  von  Henschen  perkutorisch  gefundene  Herzdilatation  nach- 

veisen  konnte. 


vertretene  Angabe,  daß  bei  Pulsbeschleunigung  eine  Ver¬ 
kleinerung  des  Herzens  stattfände.  Aufgenommon  wurden 
die  Orthodiagramme  in  der  üblichen  Weise,  in  Vorhofs¬ 
und  Ventrikeldiastole  und  am  Ende  der  normalen  nicht  ver¬ 
tieften  Exspirationsphase.  Wir  erwähnen  besonders,  daß 
aus  äußeren  Gründen  in  wenigen  Fällen  nur  im  Stehen 
oder  Liegen  durchleuchtet  werden  konnte. 

[Unser  Material  bestand  vorzugsweise  aus  jugendlichen 
Individuen,  wenn  wir  auch  eine  geringere  Anzahl  älterer 
Leute  untersuchten;  deswegen  hauptsächlich  aus  jüngeren 
weil  wir  muskuläre  und  vaskuläre  Veränderungen,  wie  sie 
bei  älteren  Individuen  für  die  Mechanik  der  Blutströmung 
und  Herzaktion  eine  Rolle  spielen  mögen,  nach  Tunlichkeit 
ausschließen  wollten. 

Die  Ergebnisse  unserer  Untersuchungen  zeigen  das 
auffallende,  daß  sie  nicht  konform  sind.2) 

Während  in  einer  Reihe  von  Fällen  tatsächlich  Herz¬ 
vergrößerungen  nachweisbar  sind,  gibt  es  wiederum  an¬ 
dere,  wo  die  erhaltenen  Werte  von  den  normalen  nicht 
abweichen,  wiederum  andere,  wo  sich  sogar  herausstellt, 
daß  die  Größen  hinter  den  gewöhnlich  zu  beobachtenden 
Zurückbleiben.  Unter  den  untersuchten  34  Fällen  konnten 
in  21  tatsächlich  Vergrößerungen  in  der  orthocliagraphi- 
schen  Herzdimension  konstatiert  werden.  Jedoch  beziehen 
sich  diese  Vergrößerungen  nicht  immer  auf  das  Herz  in 
allen  seinen  Durchmessern,  sondern  wir  finden  es  nur  in 
sieben  Fällen  in  jedem  Durchmesser  größer  als  normal. 
In  einer  Reihe  anderer  Patienten  (acht)  zeigt  sich  die  auf¬ 
fällige  Tatsache,  daß  nur  die  Transversal-  und  L^ngen- 
dimension  vergrößert  erscheint,  während  die  Breite  ent¬ 
weder  von  dem  gewöhnlichen  Verhalten  nicht  abweicht  oder 
sogar  kleiner  ist  als  normal.  Eine  vergrößerte  Breitendimen¬ 
sion  bestand  bei  drei  Untersuchten,  Längs-  oder  Transver¬ 
salausdehnung  allein  waren  in  drei  Fällen  nachzuweisen. 
Bei  allen  diesen  Messungen  haben  wir  gegebenen  Falles 
in  Uebereinstimmung  mit  Dietlen  auf  eine  eventuelle  Ver¬ 
breiterung,  überhaupt  auf  die  Maße  im  Liegen,  bedeuten¬ 
deres  Gewicht  .gelegt,  als  auf  die  im  Stehen  gewonnenen,, 
eine  Ansicht,  die  möglicherweise  noch  dadurch  gestützt 
werden  kann,  daß  in  den  drei  Fällen,  wo  das  Ge¬ 
räusch  im  Liegen  deutlicher  wurde,  die  im  Liegen  be¬ 
stimmte  Herzgröße  teilweise  die  bei  aufrechter  Stellung 
beträchtlich  übertrifft. 

Die  Patienten,  deren  Gesamtherz  vergrößert  war,  ge¬ 
hörten  meist  einem  vorgeschritteneren  Alter  an  und  litten 
zum  Teil  an  perniziöser  Anämie;  ihr  Alter  bewegte  sich 
zwischen  40  und  60  Jahren.  Andere  Patienten  dieser  Gruppe 
hatten  Erscheinungen  seitens  des  Magens,  wieder  andere 
seitens  der  Gefäße,  so  daß.  man  hier  kaum  einheitlichere 
Krankheitstypen  abgrenzen  dürfte,  wenn  man  von  den  be¬ 
reits  erwähnten  perniziösen  Anämien  absieht. 

Ganz  anderes  Verhalten  zeigen  die  Fälle,  wo  sich 
die  Kombination  eines  vergrößerten  Transversal-  mit  ver¬ 
größertem  Längendurchmesser  fand.  Hier  handelt  es  sich 
meist  um  junge  Leute,  die  zum  großen  Teil  anämischen 
Habitus  vom  Charakter  der  sekundären,  weniger  der  Chlor¬ 
anämie  zeigten.  Allen  diesen  Fällen  ist  gemeinsam,  daß 
sich  niemals  eine  Verbreiterung  des  Herzschattens  fand. 

Abgesehen  von  diesen  zwei  Gruppen  bleibt  uns  in 
der  Zahl  der  partiell  vergrößerten  Herzen  noch  eine  kleine 
Reihe  übrig,  die  nur  in  einer  einzigen  Dimension  entweder 
der  transversalen  oder  der  Längsdimension  Werte  zeigten, 
die  die  Norm  überschritten.  Ihre  Zahl,  besonders  im  Ver¬ 
hältnis  zur  Anzahl  der  untersuchten  Fälle,  ist  viel  zu  gering, 
als  daß  man  entscheiden  könnte,  ob  ihnen  überhaupt  Be¬ 
deutung  zukommt. 

Wenn  aber  Hensdhen  für  jede  akzidentelle  Geräusch¬ 
bildung  eine  Herzvergrößerung  als  Ursache  anzunehmen 
geneigt  ist,  so  zeigen  unsere  Untersuchungen,  daß  Ge¬ 
räusche  auch  bei  normaler,  ja  sogar  bei  verkleinerter  Herz- 

2)  Die  ausführlichen  Tabellen  konnten  Raummangels  wegen  an 
dieser  Stelle  nicht  gebracht  werden,  stehen  jedoch  gern  zwecks  Ein¬ 
sicht  zur  Verfügung. 


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große  entstehen  können.  Eine  ganze  Reibe,  insgesamt  sieben 
Fälle,  sind  ein  Beleg  dafür,  daß  Herzgeräusche  hei  normaler 
Herzgröße  hörbar  sein  können,  wenn  es  auch  schwer  fallen 
dürfte,  für  diese  sieben  Fälle  gemeinsame  Momente  her¬ 
auszugreifen.  Jedenfalls  ist  es  bemerkenswert,  daß  sich 
unter  ihnen  keine  Anämie  findet,  ein  negatives  Moment,  mit 
welchem  aber  auch  alles  erschöpft  ist,  was  sich  über  diese 
Reihe,  die  die  divergentesten  Krankheiten  und  Lebensalter 
umfaßt,  sagen  läßt. 

iWeit  einheitlicher  stellen  sich  jene  Fälle  dar,  wo  Ver¬ 
kleinerung  des  Herz  Schattens  bestand.  Es  sind  dies  sechs 
Patientinnen,  von  denen  fünf  an  Chlorose  erkrankt  waren. 
Wenn  wir  mit  Sicherheit  ausschließen  können,  daß  sich 
bei  allen  fünf  keinerlei  Anzeichen  von  Tuberkulose  fand, 
die  uns  eine  eventuelle  Verkleinerung  im  Sinne  der  Unter¬ 
suchungen  von  Beck  erklären  könnten,  bleibt  dies  eine 
auffällige  Tatsache,  die  hier  registriert  sei,  ohne  irgend¬ 
welche  Schlüsse  daraus  ziehen  zu  können. 

Es  läßt  sich  also  nicht  in  Abrede  stellen,  daßi  zwischen 
Herzgröße  und  Herzgeräuschbildung  eine  Beziehung  wohl 
besteht,  am  ehesten  im  Sinne  Die  tie  ns,  der,  wie  schon 
erwähnt,  Herzdilatation  und  koinzidente  systolische  Ge¬ 
räusche  bei  Diphtherie  beschreibt  ;  diese  Herzvergrößerung 
läßt  sich  jedoch  nur  bei  einer  Reihe  funktioneller  Herz¬ 
geräusche  nachw, eisen,  bei  anderen  fehlt  sie.  Wann  sie 
zum  Zustandekommen  eines  Herzgeräusdhes  notAV endig  ist, 
dafür  ergibt  unsere  Zusammenstellung  ebensowenig  Auf¬ 
schluß,  Avie  die  experimentellen  Untersuchungen,  die  Lüdke 
und  Schüller  jüngst  an  künstlich  anämisierten  Tieren  an¬ 
gestellt  haben.  Auch  sie  konnten  nicht  konstant  bei  künst¬ 
licher  Blutleere  Herzdilatation  finden.  Was  die  Verbreite¬ 
rung  des  Gefäßschattens  betrifft,  den  die  beiden  Autoren 
bei  fünf  Tieren  fanden  und  für  die  anatomische  Basis  des 
Entstehens  der  anämisdhen  Geräusche  halten,  die  sie  über 
den  Herzen  solcher  Tiere  hören  konnten,  so  genügt  es, 
darauf  hinzuweisen,  daß  wir  bei  unseren  Batienten  niemals 
Anzeichen  einer  nennenswerten  oder  gar  auffälligen  Gefä߬ 
dilatation  finden  konnten.  Für  die  funktionellen  Herzge¬ 
räusche  des  Menschen  mithin  dürfte  diese  Genese  auch 
kaum  als  einheitlich  angesprochen  werden  können.  Es 
schließen  sich  Adelmehr  die  Befunde  von  Lüdke  und 
Schüller  nur  den  zahlreichen  divergenten  Anschauungen 
über  Dilatationsbefunde  bei  anämischen  Zuständen  an  und 
es  spricht  jedenfalls  in  unserem  Sinne  gegen  eine  regel¬ 
mäßige  Beziehung  der  Herzvergrößerung  zur  Herzgeräusch¬ 
bildung,  Avenn  Lüdke  und  Sdhüller  selbst  bei  zwölf 
Patienten  in  der  Würzburger  Klinik  elfmal  systolische  Ge¬ 
räusche  wahrnehmen  und  nur  sechsmal  au  (optisch  eine  intra 
vitam  diagnostizierte  Dilatation  des  Herzens  kontrollieren 
können,  wenn  Biermer  zAvar  Geräusche  bei  anämischen 
Zuständen  hört,  aber  weder  vor  noch  nach  der  Obduktion 
Herzverbreiterung  findet,  wenn  Kraus  in  130  Fällen  von 
perniziöser  Anämie  meistens  systolische  Geräusche  nach- 
Aveisen  kann,  jedoch  durch  Perkussion  nur  62mal  Ausdeh¬ 
nung  der  Herzdämpfung  wahrnimmt,  wenn  endlich  Gra- 
witz  sich  den  Befunden  Biermers  anschließt. 

Auffällig  und  der  Erwähnung  wert  bleibt  audh  die 
Tatsache,  daß  die  Breitendimension  nur  in  Fällen  von  Ge¬ 
räuschbildung  bei  älteren  Leuten  vergrößert  erschien.  Die 
Fälle,  wo  sich  keine  Herzvergrößerung  fand,  betrafen  meist 
nichtanämische  ältere  und  jugendliche  Individuen,  während 
chlorotisclie  Geräusche  zumeist  im  Gefolge  von  Herzver¬ 
kleinerung  auftraten. 

Wenn  also  aus  unserer  geringen  Beobachtungsreihe 
ein  Schluß  zu  ziehen  gestattet  ist,  so  müßten  wir  danach : 
1.  die  Herzdilatation  als  Ursache  aller  nicht  auf  Klappen¬ 
fehlern  beruhenden  Herzgeräusche  ablehnen,  2.  müßte  für 
eine  Reihe  nichtanämischer  und  für  die  chlorotischen  Ge¬ 
räusche  das  Blutgefäßsystem  mit  seinen  besonderen  Wand- 
und  Strömungsverhältnissen  verantwortlich  gemacht  werden, 
da  in  diesen  Fällen  eine  orthodiagraphisc'h  konstatierbare 
Herzvergrößerung  nicht  besteht,. 


Literatur. 

Strümpell,  Lehrbuch  der  Pathologie  und  Therapie  der  inneren 
Krankheiten.  16.  Auf].,  Leipzig  1907.  St  äh  et  in,  Diagnostik  der 
Krankheiten  des  Zirkulationsapparates  und  »Lehrbuch  der  klinischen 
Diagnostik  innerer  Krankheiten«,  herausgegeben  von  Paul  Krause. 
Jena  1909.  -  Thaver-MacCallum,  Americ.  Journal  of  med. 
Science,  Jahrg.  1907.  Lühtje,  Zur  physikalischen  Diagnostik  am 
Herzen  etc.  Münch,  med.  Wochenschr.  1907,  S.  495.  Sahli,  Lehr¬ 
buch  der  klinischen  Untersuchungsmethoden.  5.  Aufl.,  Leipzig  und  Wien 
1909.  Müller,  Ueher  kardiopulmonale  Geräusche.  Sammlung 
klinischer  Vorträge.  Volkmann,  Nr.  500  bis  501.  —  Po  tain,  zii. 

nach  Müller.  Menschen,  Verhandlungen  des  internationalen 
medizinischen  Kongresses  zu  Budapest  1909.  11  eitler,  Ex¬ 

perimentelle  Studien  über  Volumveränderungen  des  Herzens.  Zentral¬ 
blatt  für  innere  Med.  1903.  Nr.  26.  —  M  o  r  i  t  z,  Methoden  der  Herz¬ 
untersuchung  in  Deutsche  Klinik  am  Eingang  des  20.  Jahrhunderts«, 
sowie  zahlreiche  Einzelpublikationen.  —  Groedel,  Die  Orthoröntgeno¬ 
graphie.  München  1908.  Beck,  Orthodiagraphisehe  Untersuchungen 
über  die  Herzgröße  bei  Tuberkulösen.  Deutsch.  Arch.  f.  lclin.  .Med., 
Bd.  100,  5.  u.  6.  H.  —  Dietlen.  Ueher  Herzdilatation  bei  Diphtherie. 
Münch,  med.  Wochenschr.  1905,  Nr.  15;  Orthodiagraphisehe  Beobach¬ 
tungen  über  Veränderungen  der  Herzgröße  bei  Infektionskrankheiten  etc. 
Münch,  med.  Wochenschr.  1908,  Nr.  40.  —  Lüdke  und  Schüller, 
Ueber  die  Wirkung  experimenteller  Anämien  auf  die  Herzgröße.  Deutsch. 
Arch.  f.  klin.  Med.,  Bd.  100,  5.  u.  6.  H.  Biermer,  zit.  nach 
Lüdke  und  Schüller.  —  Kraus,  Deutsche  med.  Wochenschr. 
1 905.  Nr.  44.  E i c b  hors t,  Lehrbuch  der  klin.  Untersuchungsmethoden 
innerer  Krankheiten.  4.  Aufl.,  Berlin  1896. 


Aus  der  Universitätsklinik  für  Geschlechts-  und  Haut¬ 
krankheiten.  (Vorstand:  Prof.  Finger.) 

Zur  Epidemiologie  der  Mikrosporie  in  Wien. 

Von  Dr.  Robert  Otto  Stein,  Assistent  der  Klinik. 

Der  AufAvand  au  Mühe  und  Zeit,  den  die  erfolgreiche 
Bekämpfung  einer  größeren  Mikrosporieepidemie  erfordert, 
macht  es  uns  zur  Pflicht,  die  Aufmerksamkeit  der  Aerzte 
auf  einen  Krankheitsherd  zu  lenken,  welchen  Avir  im  Laufe 
der  letzten  Monate  im  ZAveit.en  Wiener  Gemeindebezirke 
aufdecken  konnten,  um  dadurch  ein  Umsichgreifen  dieser 
sehr  infektiösen  Haarerkrankung  nach  Möglichkeit  zu  ver- 
liüten. 

Sc'hramek  hat  erst  kürzlich  in  dieser  Wochenschrift 
darüber  berichtet,  in  AArie  hohem  Grade  das  Budget  der 
Stadl  Paris  durch  die  Isolierung  und  Behandlung  der  an 
Mikrosporie  leidenden  Kinder  belastet  Avird  und  auf  die 
umfangreichen  Maßnahmen  hingewiesen,  die  Basel  und 
Berlin  gegen  diesen,  den  Häarboden  des  Kindes  so  sehr 
gefährdenden  Pilz  ergreifen  mußten.  Die  klassischen  Schil-  ! 
derangen,  welche  der  hervorragende  Pilzkenner  Sabou- 
raud,  in  seinen  „Maladies  du  cüir  chevelu“  über  das  kli¬ 
nische  Bild  dieser  Erkrankung,  über  die  Art.  und  Weise 
der  Züchtung  des  Erregers  und  über  die  mikroskopische 
Anatomie  der  befallenen  Haare  niedergelegt  hat,  sind  von 
Schramek  so  ausführlich  mitgeteilt  worden,  daß  es  sich 
für  uns  erübrigt,  nochmals  darauf  zurückzukommen.  Wir 
wollen  uns  in  den  folgenden  Zeilen  auf  eine  kurze  Dar¬ 
stellung  der  Krankheitsfälle  beschränken. 

Fall  I.  Im  Mai  1910  suchte  die  kleine  sechsjährige  Pa-  > 
t.ie'ntin  E.  F.  (J.-Nr.  13.621)  wegen  eines  seit  einigen  Monaten  be-  j 
stehenden  zirkumskripten  Haarausfalles  am  Kopfe  unsere  Klinik 
auf.  Sie  bot  am  Scheitel  und  am  Hinterhaupte  zwei  zirka  fiint- 
kronenstückgroße  kahle  Herde,  die  von  zahlreichen  glänzenden 
Schüppchen,  gedeckt,  waren,  zwischen  denen  farblose,  Avie  mit 
Mehl  bestaubte,  3  bis  4  mm  lange  Haarstümpfe  hervorragte«. 
Die  Herde  waren  bis  auf  einen  schmalen,  leicht  entzündlich 
geröteten  Hof  vollständig  reaktionslos.  Die  erkrankten  Haare  ließen 
sich,  ohne  daß  Patientin  Schmerzen  äußerte,  epilieren  und  zeigten 
schon  makroskopisch  eine  vom  Bulbus  bis  gegen  die  Bruchstelle 
hin  reichende  Scheide,  Avelche  mikroskopisch  aus  kleinen,  runden 
und  untereinander  gleich  großen  Sporen  bestand.  Sabouraud 
vergleicht  treffend  das  mikroskopische  Bild  eines  solchen  Haares 
mit  einem  gummierten  Glasstab,  der  in  Sagokörnern 
gerollt  av  ur de.  Hatte  uns  schon  das  klinische  Aussehen  und  der 
mikroskopische  Befund  den  Gedanken  nahegelegt,  es  könnte  sich 
um  eine  Mikrosporie  handeln,  so  Avurde  diese  Diagnose  zur  Gewi߬ 
heit,  als  Avir  nach  zirka  drei  Wochen  die 'auf  Saboura  udschem 
Maltoseagar  aus  den  Haaren  und  Schuppen  aufgegangenen  Kul¬ 
turen  zu  Gesicht  bekamen.  Wir  verglichen  dieselben  mit  den 


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Reinkulturen  unserer  Mikrosporiestämme,  die,  aus  Pariser  und 
Berner  Mikrosp'oriehaaren  gezüchtet,  schon  seit  längerer  Zeit 
vorrätig  gehalten  wurden.  Sie  stimmten  vollständig  mil  dem  von 
Sabourau d  als  Microsporon  Audouini  bezeichiieten  l’ilz 

überein. 

Dem  Grundsätze  Sabourauds  folgend,  daß  ein  spo¬ 
radischer  Mikrosporiefall  bei  der  exquisiten  Kontagiositäl 
dieser  Erkrankung  zu  den  größten  Seltenheiten  gehört,  be¬ 
mühten  wir  uns,  die  Infektionsquelle  aufzudecken. 

Die  Mutter  der  kleinen  Patientin  gab  an,  daß  das 
Kind  schon  einige  Zeit  hindurch  eine  Spielschule  im  zweiten 
Bezirke  besuche.  Wir  untersuchten  nun  anfangs  Juni  1910 
sämtliche  diese  Spielschule  besuchenden  Kinder  und  fanden 
zu  unserer  Ueberraschung  kein  einziges  derselben  an  Mikro¬ 
sporie  erkrankt.  Auch  unter  den  Hausgenossen  des  Mäd¬ 
chens  waren  keine  derart  erkrankten  Kinder  zu  finden. 
Unsere  Patientin  hatte  niemals  Wien  verlassen,  so  daß  ein 
Zusammenhang  mit  auswärtigen  Fällen  nicht  zu  erweisen 
war.  Durch  diese  Tatsachen  wurden  wir  zu  der  Annahme 
gezwungen,  daß  es  sich  bei  unserer  Patientin  tatsächlich  um 
einen  sporadischen  Fall  handle,  dessen  Provenienz  zu  er¬ 
mitteln  nicht  geglückt  war.  ln  den  folgenden  Monaten  fragten 
wir  des  öfteren  in  der  in  Rede  stehenden  Spielsdhule 
(Nestroygasse)  an,  ob  noch  Haarerkrankungen  dieser  Art 
vorgekommen  wären,  jedoch  stets  mit  negativem  Erfolge. 
Wir  glaubten  schon,  durch  rechtzeitige  Isolierung  dieses 
einen  Falles  eine  Weiterversöhleppung  im  Keime  erstickt 
zu  haben.  Diese  Hoffnung  erwies  sich  jedoch  als  trügerisch. 

Fall  II.  Mitte  Januar  1911  kam  ein  8 jähriger  Knabe,  K.  H., 
in  unsere  Behandlung,  der  das  Krankheitsbild  der  Mikrosporie 
des  behaarten  Kopfes  und  der  Haut  des  Halses  in  geradezu 
klassischer  Ausbildung  bot.  (Abbildung.) 


Zerstreut  über  die  gesamte  behaarte  Kopfhaut  finden  sich 
kreisrunde,  scharf  begrenzte,  von  einem  leicht  erythematösiem 
Hofe  eingeisäumte  Effloreszenzen,  von  denen  die  kleinsten  zirka 
linsengroß  isoliert  stehen,  die  ältesten  Fünfkronenstückgröße  er¬ 
reichen  und  miteinander  zu  polyzyklisch  begrenzten  Flächen  kon- 
fluieren ;  der  einzelne  Herd  liegt  im  Niveau  der  Haut,  sieht  aus 
wie  mit  Mehl  bestaubt  und  trägt  eine  Unmenge  silberglänzender 
Schüppchen,  aus  denen  4  bis  5  mm  lange,  farblose  Haarstümpfe 
emporragen.  Epiliert  man  ein  solches  Haar  —  eine  Prozedur, 
die  absolut  schmerzlos  ist  —  so  sieht  man  vom  Bulbus  des 
Haares  fast  bis  zur  Bruchstelle  reichend  eine  weiße  Hülle,  welche 
den  Haarschaft  manschettenförmig  umgibt.  Die  Affektion  macht 
an  der  Haargrenze  nicht  halt,  vielmehr  greift  sie  in  der  Stirn- 
und  Hinterhauptsgegend  auch  auf  die  mit  Lanugohärchen  be¬ 
deckte  Haut  über.  Es  gibt  Effloreszenzen,  die  zur  Hälfte  in  der 
Haut  des  behaarten  Kopfes,  zur  Hälfte  in  unbehaartem  Terrain 
liegen.  Die  Hautherde  sind  zerstreut  unterhalb  der  beiden  Ohren 
und  zwischen  den  Schulterblättern;  die  kleinsten  ungefähr  linsen¬ 
groß,  die  größten  erreichen  den  Umfang  eines  Zweikronenstückes. 
Sie  sind  mitunter  elliptisch  geformt  und  dann  mit  ihrer  längeren 


Achse  parallel  zur  Spaltrichtung  der  Haut  gestellt.  Sie  liegen  im 
Niveau,  sind  fast  gar  nicht  infiltriert,  im  Zentrum,  leicht  schup¬ 
pend,  die  Peripherie,  im  Vergleich  zu  den  zentralen  Partien,  er¬ 
haben.  Mitunter  sieht  man  bei  den  größeren  Effloreszenzen  gegen 
die  Mitte  hin  eine  kreisförmige  Elevierung,  die  parallel  zu  ihrer 
äußer  on  Begrenzung  verläuft,  so  daß  „Iris  “-ähnliche  Formationen 
zustande  kommen.  Die  Lanugohärchen  der  erkrankten  Stellen 
sind  weißlich  verfärbt  und  abgebrochen.  Nirgends  lassen  sich 
Bläschen  oder  Krüstchen  nachw  eisen;  das  mikroskopische  Bild 
der  Haare  entsprach  Sabourauds  „gummiertem,  in  Sago¬ 
körnern  gerollten  Gl  as  st  ab“,  die  Kultur  ergab  nach  drei 
Wochen  Microsporon  Audouini.  Wir  hatten  also  wieder 
einen  Mikrosporiefall  vor  uns,  der  scheinbar  mit  dem  ersten  gar 
nicht  Zusammenhang.  Der  achtjährige  Knabe  besuchte  eine  Volks¬ 
schule  im  zweiten  Bezirke  (Große  Sperlgasse),  die  ich  gemein¬ 
sam  mit  Herrn  Bezirksarzt  Dr.  B  er  dach  inspizierte  und  die 
glücklicherweise  frei  von  Mikrosporie  befunden  wurde.  Anders 
jedoch  verhielt  es  sich  mit  den  Geschwistern  des  Patienten, 
die  tagsüber  in  jener  ominösen  Spielschule  untergebracht  waren, 
der  auch  unser  erster  Mikrosporiefall  entstammte. 

Fall  III.  Der  sechsjährige  Bruder  R.  H.  zeigt  zwei  charak¬ 
teristische  Herde  von  Mikrosporie  am  behaarten  Kopfe;  der  eine 
ist  links  am  Scheitelbein,  hat  die  Größe  eines  Zehnhellerstückes, 
ist  leicht  gerötet,  schuppt  ein  wenig  und  trägt  farblose,  zirka 
2  bis  3  mm  über  dem  Niveau  der  Haut  abgebrochene  Haar- 
stümpfe:  eine  zweite  Effloreszenz  von  analoger  Beschaffenheit 
und  Größe  ist  an  der  rechten  Schläfe.  Keine  Hautherde. 

Fal  l  IV.  Die  dreijährige  Schwester  J.  H.  hat  auf  der  Höhe 
des  Scheitels  einen  zirka  zwanzighellergroßen  Herd  mit  allen 
klinischen  Merkmalen  der  Mikrosporie. 

Eine  nunmehr  vorgenommene  neuerliche  Untersuchung 
der  Spielsohule  hatte  folgendes  Resultat. 

Fall  V.  A.  L„  fünfjähriges  Kind. 

Neben  dem  rechten  Ohre  eine  ungefähr  fünfkronenstück¬ 
große,  schütter  behaart©  Stelle,  die  schon  auf  Distanz  durch 
die  intensiv  weiße  Schuppung  auffällt.  Zwischen  den  spärlich 
stehenden,  längeren  Haaren  finden  sich  zahlreiche,  einige  Milli¬ 
meter  über  dem  Niveau  der  Haut  abgebrochene  Haarstümpfe  von 
grauer  Farbe,  welche  sich  mit  Leichtigkeit  entfernen  lassen.  Sie 
enthalten  mikroskopisch  zahlreiche  Sporen  in  Form:  der  für  Mikro¬ 
sporie  charakteristischen  Scheide  angeordnet.  An  der  äußeren 
Haut  keine  Herde. 

Fall  VI.  Dessen  Schwester  M.  L„  drei  Jahre  alt.  Am 
Hinterkopf  ein  zirka  zweikronenstückgroßer,  typischer,  in  seinem 
Aussehen  dem  oben  geschilderten  ganz  analoger  Mikrosporieherd. 

Fall  VH.  A.  P„  sechs  Jahre  alt.  Fünfkronenstückgroße,  Stelle 
am  Scheitel,  an  welcher  die  Haare  bedeutend  schütterer  stehen 
als  am  übrigen  Kopfe;  zwischen  den  normal  langen  und  normal 
gefärbten  Haaren  finden  sich  zahlreiche  farblose  Haarstümpfe, 
die  fast  bis  zu  ihrer  Bruchstelle  von  einer  weißlichen  Sporen¬ 
scheide  umschlossen  sind.  Der  erkrankte  Haarboden  ist  in  seinem 
ganzen  Umfange  von  weißlichen  Schuppen  bedeckt.  Ausgesprengt 
in  der  Umgebung  des  geschilderten  Herdes  zwei  linsengroße  und 
drei  zirka  zwanzighellerstückgroße,  in  gleicher  Weise  erkrankte 
Flecke.  Keine  Hautherde. 

Fall  VIII.  A.  N„  vier  Jahre  alt.  Zerstreut  über  den  be¬ 
haarten  Kopf  finden  sich  kreisrunde,  ziemlich  scharf  begrenzte, 
mit  silberglänzenden  Schuppen  und  abgebrochenen  Haarstümpfen 
bedeckte  Effloreszenzen  von  Zwanzighellerstück-  bis  Fünfkronen¬ 
stückgröße.  Die  Haut  im  Bereiche  derselben  zeigt  keinerlei  ent¬ 
zündliche  Reaktion,  keine  Hautherde. 

Fall  IX.  E.  II.,  sechs  Jahre  alt.  Entsprechend- der  Hinter¬ 
hauptschuppe  findet  man  am  behaarten  Kopfe  eine  zirka  kronen- 
stiickgroße,  mit  glänzenden  Schüppchen  bedeckte  Stelle,  die  zahl¬ 
reiche  Haarstümpfe  trägt,  welche  nach  Epilation  auf  dunklem 
Grunde  eine  vom  Bulbus  bis  fast  zur  Bruchstelle  reichende  man¬ 
schettenförmige  Hülle  erkennen  lassen;  ausgesprengt  in  die  Um¬ 
gebung  der  oben  beschriebenen  Effloreszenz  sind  zwei  linsengroße, 
ganz  analog  beschaffene  Fleckchen.  Keine  Hautherde. 

Fall  X.  F.  B„  acht  Jahre  alt.  Pat.  zeigt  dein  oben  beschrie¬ 
benen  ganz  analoge  Herde  von  Zwanzighellerstück-  bis  Handteller¬ 
große  am  Hinterkopfe  und  links  über  dem  Ohre.  Keine  Hautherde. 

Fall  XI.  Besonders  ausgesprochen  findet  sich  das  typische 
Bild  der  Mikrosporie  des  behaarten  Kopfes  bei  dem  vierjährigen 
Bruder  des  Patienten,  der  einen  über  fünfkronenstückgroßen  Herd 
über  dem  linken  Scheitelbein  zeigt. 

Fall  XII.  L.-  L„  vier  Jahre  alt.  Die  behaarte  Kopfhaut 
des  Patienten  ist  vollkommen  intakt;  im  Nacken  an  der 
Haargrenze  ein  zweikronenstückgroßer,  im  Niveau  der  Haut 
gelegener,  leicht  geröteter,  mäßig  schuppender  und  scharf  he- 


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grenzte?  Herd,  in  dessen  Bereich  die  abgebrochenen  Haare  die 
für  Mikrosporie  charakteristischen  Veränderungen  zeigen. 

Aus  den  Schuppen  der  Hautherde  und  aus  allen  dar¬ 
aufhin  untersuchten,  erkrankten  Haaren  der  Kinder  gingen 
nach  zirka  drei  Wochen  die  für  Sabourauds  langsam 
wachsendes  Micro  sp  or  on  Audouini  typischen 
Kulturen  auf.  Das  positive  Kulturergebnis  aus  den  Schuppen 
von  Effloreszenzen  am  Halse  scheint  uns  deshalb  nicht 
uninteressant,  weil  Sabouraud  bervorhebt,  daß  das  ex¬ 
quisit  menschenpathogene  Mikrosporon  Audouini  bloß  die 
Kopfhaut  befällt.  Die  von  Bloch  mitgeteilten  2d  Fälle  der 
großen  Baseler  Epidemie  und  Sc'hrameks  und  unsere 
Befunde  sind  ein  Beweis  dafür,  daß  Sabourauds  Ansicht 
nur  für  Paris  Geltung  hat.  Die  roten,  unscharf  begrenzten, 
Fleckchen  im  Gesichte,  die  wir  bei  einigen  Kindern  beob¬ 
achten  konnten  und  die  in  ihren  Schuppen  keine  Pilzele¬ 
mente  enthielten,  dürften  wohl  mit  der  Erkrankung  in  keinem 
direkten  Zusammenhänge  stehen.  Denn  auch  Kinder  ohne 
jegliche  Pilzaffektion  weisen  sie  auf. 

Da  es  bei  jeder  Epidemie  in  erster  Linie  darauf  an¬ 
kommt,  möglichst  viele  beginnende  Infektionen  aufzu¬ 
decken,  möchte  ich  mit  einigen  Worten  auf  die  Un  tersuchungs¬ 
technik  zu  sprechen  kommen.  Der  Kopf  des  mikrosporiever¬ 
dächtigen  Kindes  wird  kurz  geschoren  und  der  Patient  so 
gegen  das  Fenster  gestellt,  daß  das  Tageslicht  schief  auffällt. 
Nun  wendet  man  folgenden  von  Sabouraud  angegebenen 
Kunstgriff  an:  Man  streicht  allenthalben  mit  dem  Daumen, 
an  der  Stimhaargrenze  und  an  dein  Schläfen  beginnend, 
der  Richtung  der  Haarströme  entgegen  bis  zur  Scheitel¬ 
höhe  hinauf.  Gesunde  Haare  springen  wie  die'Eorsten 
einer  Bürste  sofort  wieder  in  ihre  ursprüngliche 
Lage  zurück;  kranke  haben  infolge  der  Durchwach¬ 
sung  des  Schaftes  durch  Pilzmyzelien  ihre  Elastizität  ein- 
gebüßt  und  brechen  ab  oder  verharren  in  der  ver¬ 
änderten  Stellung.  Auf  diese  Weise  gelingt  es  oft, 
Mikrosporieherde  zur  Ansicht  zu  bringen,  die  eine  Gruppe 
von  einigen  Härchen  umfassen  und  Linsengröße  kaum  er¬ 
reichen. 

1st  einmal  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  solchen 
kleinen,  klinisch  durch  seine  minimale  Schuppung  fast 
nicht  auffallenden  Fleck  gerichtet,  dann  ist  es  ein  Leichtes, 
in  den  verdächtigen  Haaren  mikroskopisch  Pilzelemente 
nachzuweisen. 

Es  gibt  keine  andere  durch  Pilze  bedingte  Haarkrank¬ 
heit,  bei  der  die  Erreger  in  so  ungeheuren  Mengen  sich 
finden,  wie  bei  der  Mikrosporie.  Während  wir  in  Fällen 
von  gewöhnlichem,  durch  die  gemeinen  Trichophytonarten 
bedingten  Herpes  tonsurans  des  Kopfes  gezwungen  sind, 
die  befallenen,  im  Niveau  der  Haut  abgebrochenen  und 
unter  den  Krusten  verborgenen,  S-förmig  gekrümmten 
Haarstümpfe  mühsam  zwischen  noch  gesunden  Haaren  her¬ 
auszusuchen,  brauchen  wir  hier  nur  mit  der  Pinzette  zu¬ 
zufassen  ;  ein  ganzes  Büschel  kranker  Haare  folgt  schmerz¬ 
los  einem  leichten  Zuge. 

ln  krassem  Gegensatz  zu  der  enormen  Menge  der 
Krankheitserreger  steht  die  geringe  entzündliche  Reaktion 
des  Gewebes.  Es  ist  überhaupt  in  der  Pathologie  der  Hypho- 
myzetenerkrankungen  ein  immer  wiederkehrendes  Gesetz, 
daß  die  Zahl  der  nachweisbaren  Pilzelemente  im  verkehrten 
Verhältnis  sieht  zu  ihrer  Virulenz. 

Pityriasis  versicolor  und  Mikrosporie  zwei  rela¬ 
tiv  harmlose  und  oberflächliche  Hautaffektionen  —  zeigen 
zahlreiche  mikroskopisch  leicht  nachweisbare  Sporen 
und  Myzelien  und  verursachen  eine  geringe  Gewebsreak- 
tion,  die  tiefen  Trichophytien  und  die  Sporotrichose  erzeu¬ 
gen  Abszesse  und  große  Granulationsgeschwülste, 
lassen  aber  ihre  hyphogene  Entstehung  oft  nur  durch  Kul¬ 
tivierung  des  Eiters  erkennen. 

Die  außerordentliche  Sporemnenge,  die  in  den  Haaren 
und  Schuppen  der  an  Mikrosporie  leidenden  Kinder  ent¬ 
halten  ist,  erklärt  auch  die  leichte  Uebertragbarkeit  auf  dis¬ 
ponierte  Individuen.  Empfänglich  für  das  Microsporon  Au¬ 
douini  ist  die  fette,  leicht  schwitzende  Kopfhaut  der  Kinder. 


Dort  siedelt  sich  der  Pilz  in  erster  Linie  an  und  breitet 
sich  dann  mitunter  auch  auf  unbehaarte  Körperstellen  aus. 

Besonders  merkwürdig  ist  in  dieser  Hinsicht  Fall  XII, 
weil  der  kleine  Patient  eine  vollkommen  intakte  Kopfhaut 
aufwies  und  nur  im  Nacken,  an  der  Haargrenze,  einen 
Mikrosp  o  ri  eh  erd  da  r  bo  t . 

Die  Tatsache,  daß  die  Kopfhaut  des  Erwachsenen  gegen 
den  genannten  Pilz  refraktär  ist,  scheint  mit  den  tiefgrei¬ 
fenden  anatomischen  und  funktionellen  Veränderungen  zu¬ 
sammenzuhängen,  welche  das  Hautorgan  durch  die  innere 
Sekretion  der  Geschlechtsdrüsen  erleidet. 

Die  interessanten  Versuche  Blochs,  der  mikrospo¬ 
riekranke  Mädchen  mit  Üvarialtabletten  behandelte,  sind 
leider  resultatlos  verlaufen. 

Sämtliche  Kinder  wurden  an  unsere  Klinik  aufgenom¬ 
men  und  werden  derzeit  von  Herrn  Priv.-Doz.  Freund  mit 
Röntgenstrahlen  epiliert.  Wir  hoffen,  auf  diese  Weise  un¬ 
sere  kleinen  Patienten  definitiv  zu  heilen  und  die  Epide¬ 
mie  im  Keime  zu  ersticken.  Auf  welche  (Weise  der  erste 
beobachtete  Fall  (E.  F.)  mit  Mikrosporie  infiziert  wurde, 
konnten  wir  leider  nicht  eruieren.  Die  Tendenz  der  in 
Paris  einheimischen  Hyphomyzetenerkrankungen  —  der 
Mikrosporie  und  der  Sporotrichose  —  sich  von  Westen 
nach  Osten  auszubreiten,  ist  unverkennbar  und  bietet  ein 
interessantes  und  unerklärbares  Problem  für  die  Klinik  so¬ 
wohl  als  auch  für  die  Epidemiologie  der  menschenpatho¬ 
genen  Fadenpilze. 

Aus  der  pädiatrischen  Klinik  am  Kaiser  Franz  Joseph- 
Kind  er  spitale  in  Prag.  (Vorstand:  Prof.  Ganghofner.) 

Adenoiditis  acuta;  ein  Beitrag  zur  Lehre  vom 

Drüsenfieber.*) 

Von  Dr.  Felix  Sclileißuer. 

Es  sei  mir  gestattet,  heute  in  rein  klinischer  Beleuch¬ 
tung  auf  ein  Krankheitsbild  hinzuweisen,  das  zwar  wieder¬ 
holt  schon  beschrieben,  jedoch  wohl  nicht  immer  richtig 
gedeutet  wurde;  im  Streite  über  die  richtige  Erklärung  des 
nicht  immer  eindeutigen  und  klar  ausgesprochenen  Befundes 
hat  man  wohl  auch  zuweilen  daran  gezweifelt,  daß  die  Sym¬ 
ptome  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  zusammengefaßt  wer¬ 
den  können  und  so  scheint  langsam  das  Krankheitsbild,  des 
Drüsenfiebers  in  Vergessenheit  zu  geraten;  in  den  meisten 
Lehrbüchern  findet  es  keinen  Platz,  in  der  Literatur  wird 
es  kaum  mehr  erwähnt  und  die  jüngere  Aerztegeneralion 
kennt  es  kaum  anders,  als  dem  Namen  nach,  der  ihr  nichts 
bedeutet;  so  ist  es  vielleicht  schon  wegen  der  praktischen 
Wichtigkeit  der  Affektion  gerechtfertigt,  wenn  ich  wieder  auf 
sie  zurückkomme. 

Unter  den  häufigen  kurzdauernden  „ephemeren“  Tem¬ 
peratursteigerungen,  die  im  Kindesalter  so  oft  auftreten,  ohne 
daß  wir  immer  ihre  Ursache  genau  anzugeben  wüßten,  findet 
man  häufig  folgendes  Bild  :  Ein  Kind  erkrankt  plötzlich,  aus 
voller  Gesundheit,  ohne  irgendwelche  Vorboten,  unter  be¬ 
trächtlichem  Fieber  von  38-5  bis  40  °,  selten  darüber.  Manch¬ 
mal  ist  das  Kind  etwas  müde,  zuweilen  fehlt  auch  dies,  das 
Kind  ist  ganz  munter  und  spielt;  die  Mutter  weiß  kein 
klinisches  Symptom  als  das  Fieber  anzugeben,  auch  das 
Kind  klagt  kaum  über  irgendwelche  Beschwerden.  Die  Unter¬ 
suchung  der  Thorax-  und  Abdominalorgane  ergibt  keinen 
pathologischen  Befund.  Auch  die  Inspektion  der  Mund¬ 
schleimhaut  zeigt  das  gewohnte  Bild ;  die  Tonsillen  sind  — 
besonders  bei  kleinen  Kindern  —  nicht  immer  vergrößert. 
Bei  genauem  Zusehen  findet  man  häufig  an  dem  vorderen 
Gaumenbogen  einen  schmalen,  dem  freien  Rande  parallel 
verlaufenden  Streifen  etwas  gerötet  und  dunkler  gefärbt. 
Drückt  man  nun  stärker  auf  die  Zunge  und  läßt  das  Kind 
würgen,  so  sieht  man  hinter  dem  Gaumensegel  ein  breites 
Band  von  zähen,  glasig- eitrigen  Schleimmassen  aus  dem 
Nasenrachenraum  hervorquellen,  das  sich  die  hintere  Pha- 

*)  Nach  einem  Vortrag  im  Verein  deutscher  Aerzte  in  Prag 
27.  Januar  1911. 


Nr. -9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Bll 


rynxwand  entlang  herabzieht,  die  in  ihrer  Totalität  dunkel¬ 
rot.  verfärbt  und  etwas  geschwollen  erscheint;  manchmal 
sieht  man  diese  auch  mit  lebhaft  geröteten,  vorspringenden 
Follikeln  besetzt.  Ganz  charakteristisch  aber  und  niemals 
fehlend  findet  sich  eine  deutliche  Schwellung  jener  llals- 
lymphdrüsen,  die  entlang  dem  hinteren  Rande  des  Sterno- 
kleidomastoideus  liegen;  sie  werden  erbsen-  bis  bohnen¬ 
groß,  selten  haselnußgroß,  rollen  unter  dem  palpierenden 
Finger,  fühlen  sich  hart,  festelastisch  an  und  waren  in  den 
Fällen,  die  ich  beobachten  konnte,  niemals  schmerzhaft. 
Oft  ist  schon  aim  nächsten  Tage  das  Fieber  wieder  geschwun¬ 
den,  zuweilen  dauert  es  in  unregelmäßiger  Weise  mehrere 
Tage  an,  ohne  daß  dem  alarmierenden  Fieberanstieg  weitere 
ernstliche  Symptome  gefolgt  wären;  das  subjektive  Befinden 
des  Kindes  bessert  sich  schnell,  die  Agilität,  Appetit  und 
Schlaf  kehren,  wenn  sie  überhaupt  gestört  waren,  rasch 
wieder.  Die  Rachenaffektion  verschwindet  in  kurzer  Zeit, 
nur  die  Drüsenschwellung  dauert  noch  durch  einige  Zeit, 
an  und  bildet  sich  nur  langsam  in  einigen  Wochen  zurück  ; 
meist  bleibt  eine  geringe  Schwellung  der  betroffenen  Drüsen 
als  Residuum  zurück. 

Ein  ähnliches  Krankheitsbild  hat  vor  mehr  als 
20  Jahren  Pfeiffer  unter  dem  Namen  Drüsenfieber  be¬ 
schrieben;  ihm  schloß  sich  sofort  Heubner  an,  in  den  fol¬ 
genden  Jahrein  wurde  in  reichlicher  Literatur  eine  Anzahl 
ähnlicher,  aber  untereinander  nicht  immer  gleichartiger, 
Bilder  beschrieben,  die  zwar  'die  Symptomatologie  der  Krank¬ 
heit,  zu  erweitern  schienen,  sie  aber  mehr  verwirrten,  als 
sie  klarstellten.  Was  Pfeiffer  als  Drüsenfieber  bezeichnet 
wissen  wollte,  war  eine  akute,  kontagiöse,  mitunter  in  Haus¬ 
epidemien  auftretende  Infektionskrankheit,  die  er  als  spe¬ 
zifische  Erkrankung,  als  morbus  sui  "'generis  auffaßte  ;  sie 
war,  wie  Heubner  sich  ausdrückte,  nicht  als  lokale  Drüsen¬ 
affektion  anzusehen,  sondern  Ausdruck  einer  allgemeinen 
Erkrankung.  Bei  den  Patienten  Pfeiffers  fand  sich  viel¬ 
fach  einleitendes  Erbrechen,  Schiefhaltung  des  Kopfes,  her¬ 
vorgerufen  durch  Schmerzhaftigkeit  der  befallenen  Drüsen, 
Gliederschmerzen,  Schmerzen  im  Unterleib,  die  auf  eine 
supponierte  Mitbeteiligung  und  Schwellung  der  mesente¬ 
rialen  Lymphdrüsen  zurückgeführt  wurden  und  schließlich 
als  wichtiges  Symptom  bei  den  länger  dauernden  Fällen 
Vergrößerung  der  Leber  und  Milz.  Heubner  beschrieb  im 
Anschlüsse  an  die  Originalmitteilung,  zwei  Fälle,  bei  denen 
er  im  Gefolge  der  fieberhaften  Drüsenschwellung  das  Auf¬ 
treten  von  Nephritis  beobachtet  hatte. 

Die  eben  erwähnten  ernsteren  Symptome  konnte  ich 
in  meinen  Fällen  niemals  verzeichnen;  ich  muß  daher  vor¬ 
läufig  davon  absehen,  die  von  mir  beobachtete  Affektion 
mit  dem  Pfeifferschen  Drüsenfieber  für  identisch  zu  er¬ 
klären,  doch  sind  sicherlich  in  der  Literatur  viele  Fälle, 
die  nur  die  leichteren  Symptome  zeigen,  als  Drüsenfieber 
angesprochen  und  beschrieben  worden. 

Analysieren  wir  jenes  Krankheitsbild,  von  dem  ich 
im  Eingang  meiner  Ausführungen  sprach,  so  kommen  wir 
von  zwei  Seiten  her  zu  dem  Schlüsse,  daß  es  sich  in  der 
Hauptsache  um  eine  Erkrankung  im  Nasenrachenraum  han¬ 
deln  muß.  Einmal  zeigt  uns  schon  die  Inspektion  die  aus 
dem  Nasenrachenraum  hervordrängenden  Schleimmassen, 
gewöhnlich  sehen  wir  auch  die  Veränderung  der  hinteren 
Rachenwand.  Wir  können  häufig  erheben,  daß  die  Kinder 
bei  Nacht  schnarchen,  was  ja  meist  durch  Veränderungen 
im  Nasenrachenraum  hervorgerufen  wird;  oft  hören  wir 
auch,  daß  die  Kinder  mit  gaumiger  „toter“  Sprache  sprechen, 
wobei  dieses  „geschlossene  Näseln“  durch  die  Verengerung 
oder  Versperrung  des  Nasenweges  für  die  ausströmende  Luft 
entsteht.  Sehr  häufig  konstatieren  wir  auch  den  bekannten 
Foetor  ex  ore.  Und  in  jenen  Fällen,  in  denen  man  sich 
entschließt,  auf  der  Höhe  der  Erkrankung  den  Nasenrachen¬ 
raum  digital  zu  untersuchen  —  ich  gestehe,  daß  ich  es  auf 
der  Höhe  der  Erkrankung  nur  sehr  ungern  tue  —  wird 
man  kaum  jemals  die  Vergrößerung  der  adenoiden  Gebilde 
vermissen;  die  Besichtigung  durch  die  Rhinoscopia  posterior 
stößt,  selbst  wenn  man  sie  von  geübten  Untersuchern  vor¬ 


nehmen  läßt,  namentlich  bei  kleinen  Kindern  auf  unüber¬ 
windliche  Schwierigkeiten;  vielleicht  werden  uns  die  neu 
konstruierten  Pharyngoskope  von  Hayes  und  Fl  at  au  hier 
ersprießliche  Dienste  leisten  können. 

Anderseits  wissen  wir  —  besonders  aus  den  anato¬ 
mischen  Untersuchungen  von  Most  —  daß  es -die  Lymph¬ 
gefäße  der  hinteren  Rachenwand  und  die  der  angrenzen¬ 
den  seitlichen  und  oberen  Teile  des  Schlundkopfes  sind,  die 
von  der  Mitte  der  hinteren  Pharynxwand  aus  zu  den  Glan¬ 
dulae  pharyngeales  laterales  führen,  die  ihrerseits  durch 
zahlreiche  Anastomosen  mit  den  zervikalen  Drüsen  in  Ver¬ 
bindung  stehen.  Ebenso  können  wir  auch  schon  klinisch 
feststellen,  daß  bei  Erkrankungen  im  Nasenrachenraum  die 
nuchalen  Drüsen  anschwellen,  während  bei  Affektionen  der 
Tonsillen  zunächst  die  am  Unterkieferwinkel  belogenen  an- 
gulären,  bei  Erkrankung  der  Zungen-  und  Lippenschleim¬ 
haut  die  submentalen  Lymphdrüsen  betroffen  werden. 

Wir  haben  danach  also  die  Berechtigung  anzunehmen, 
daß  die  Anschwellung  der  Drüsen  nur  eine  sekundäre 
ist;  als  primäre  Krankheitsursache  ist,  wie  auch  Hoch¬ 
singer,  Trautmann  und  andere  Autoren  annehmen,  die 
Erkrankung  des  adenoiden  Gewebes  im  Nasenrachenraum 
anzusehen.  Es  scheint  also  nicht  zweckmäßig,  die  Krank¬ 
heit.  Drüsenfieber  zu  benennen,  da  wir  ja  auch  sonst  trachten, 
nicht  ein  nebensächliches  Symptom,  sondern  die  Hauptsache 
im  Namen  hervortreten  zu  lassen,  so  wird  es  sich  auch 
hier  empfehlen,  auf  den  primären  Krankheitsherd  hinzu¬ 
weisen  und  die  Affektion  etwa  nach  der  Nomenklatur  der 
Franzosen  als  Adenoiditis  acuta  zu  bezeichnen;  Trautmann 
hat  den  Namen  Angina  pharyngea  vorgeschlagen;  empfeh¬ 
lenswert  wäre  auch  der  Name  Epipharyngitis ;  doch  wird 
es  wohl,  um  nicht  noch  mehr  Verwirrung  in  die  Namen¬ 
gebung  hineinzutragen,  am  besten  sein,  an  dem  Namen 
Adenoitis  festzuhalten . 

' 

Ueber  das  Wesen  der  Erkrankung  können  wir  uns 
leichter  eine  Vorstellung  machen,  wenn  wir  daran  denken, 
daß  ja  schon  normalerweise  beim  Neugeborenen  in  die 
Schleimhaut  des  Rachendaches  reichliches  adenoides  Ge¬ 
webe  eingelagert  ist,  das  gemeinsam  mit  den  gleichartigen 
Gaumentonsillen  unter  dem  Namen  „lymphatischer  Rachen¬ 
ring“  ein  einheitliches  Ganzes  bildet.  Es  ist  also  nicht 
verwunderlich,  wenn  hier,  unter  denselben  Verhältnissen 
die  Rachenmandel  alle  Krankheitserscheinungen  darbietet, 
wie  wir  sie  an  den  Tonsillen,  wo  sie  der  Inspektion  leicht 
zugänglich  sind,  fast  täglich  als  Anginen  zu  sehen  Gelegen¬ 
heit  haben.  Namentlich  viel  Aehnlichkeit  hat  die  Adenoiditis 
mit  jenen  Formen,  die  Rudolf  Fis  Chi  als  chronisch  rezidi¬ 
vierende,  exsudative  Anginen  beschrieb.  Denn  wie  diese, 
wiederholt  sich  die  Affektion  bei  demselben  Kinde  in  ver¬ 
schiedenen,  oft  nur  wenige  Wochen  betragenden  Intervallen, 
um  in  späteren  Jahren  meist  seltener  zu  werden.  Auch 
hier  ist  eine  zweifellose  Heredität  und  familiäres  Auftreten 
zu  verzeichnen ;  befragt  man  die  Eltern,  so  erhält  man  häufig 
die  Antwort,  daß  Geschwisterkinder  dieselben  Symptome 
zeigen;  dabei  scheint  sich  die  Krankheit  häufiger  durch 
die  Mutter  als  durch  den  Vater  zu  vererben. 

Ein  beträchtlicher  Teil  der  Kinder  zeigt  jenen  Typus, 
der  gewöhnlich  als  lymphatisch  bezeichnet  wird :  die  Kinder 
sind,  dick,  pastös,  haben  ein  reichliches  Fettpolster,  ge¬ 
ringen  Turgor  der  Muskulatur  und  sehen  dabei  blaß  aus. 
Sehr  häufig  zeigen  sich  auch  jene  Symptome,  die  Czerny 
unter  dem  Begriff  der  exsudativen  Diathese  zusammen¬ 
gefaßt  wissen  will;  außer  den  schon  genannten  Symptomen 
.findet  man  häufig  die  Lingua  geographica,  bei  kleinen  Kin¬ 
dern  noch  Milchschorf  und  Lichen  urticatus,  gelegentlich 
auch  als  Ausdruck  der  Schleimhauterkrankung  Neigung  zu 
häufigen  diffusen  Bronchitiden;  es  liegt  die  Vermutung  nahe, 
daß  die  Schleimhaut,  des  Respirationstraktes  dieser  Kinder 
vulnerabler,  gegen  äußere  Schädlichkeiten  weniger  wider¬ 
standsfähig  ist  und  daß  auch  das  häufige  Auftreten  der 
Adenoiditis  nur  als  Ausdruck  dieser  partiellen  gemin 
derten  Widerstandsfähigkeit  zu  betrachten  ist ;  inwieweit  hier 
angeborene,  wie  weit  erworbene  Schädlichkeiten  in  krage 


312 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


kommen,  läßt  sich  dabei  nicht  entscheiden;  einige  therapeu¬ 
tische  Erfahrungen,  von  denen  noch  die  Rede  sein  wird, 
sprechen  dafür,  daß  die  Anomalie  beeinflußbar  ist. 

Wenn  ich  nun  nochmals  zur  Klinik  der  Adenoiditis  zu¬ 
rückkehre,  so  möchte  ich  bezüglich  des  Alters  bemerken, 
daß  ich  auch  schon  Kinder  im  ersten  Lebensjahre  erkranken 
sah;  hier  sind  die  Störungen  des  Allgemeinbefindens  häufig 
recht  stark  ausgesprochen,  so  daß  sie  oft  ernstliche  Sorgen 
erwecken.  Zuweilen  finden  sich  dabei  auch  schleimig -eitrige 
Stühle,  die  von  französischen  Autoren  (Roux  und  Josse- 
rand,  Cf  ui  non)  direkt  auf  die  Erkrankung  bezogen  wer¬ 
den.  Im  Laufe  der  Jahre  läßt  gewöhnlich  die  Intensität,  und 
die  Zahl  der  Attacken  nach:  es  mag  das  wohl  darauf  be¬ 
ruhen,  daß  beim  Neugeborenen  die  Lymphgefäße  relativ 
weiter,  das  Kapillarnetz  diohtmaschig  und  reich  entwickelt 
ist  und  mit  zunehmendem  Alter  bedeutend  enger  und  spär¬ 
licher  wird ;  demselben  Schicksal  unterliegen  die  Lympli- 
drüsen  (AI  o  s  t).  Ob  auch  Erwachsenei  an  der  Affektion  leiden, 
darüber  fehlt  mir  die  Erfahrung,  doch  scheint  sie  nach  der 
rhinologischen  Literatur  auch  in  späteren  Jahren  noch  vor¬ 
zukommen. 

Die  Diagnose  zu  stellen,  ist,  wenigstens  am  ersten 
Tage,  nicht  immer  leicht  möglich;  die  Restimmtheit  ergibt 
sich  meist  erst  während  und  durch  den  Verlauf.  Das  Fieber 
läßt  uns  natürlich  oft  an  den  Beginn  eines  akuten  Exan¬ 
thems  oder  an  eine  Erkrankung  des  Respirations-  oder 
Magendarmtraktes  denken ;  bei  Säuglingen  werden  zuweilen 
die  Symptome  eines  Retropharyngealabszesses  vorgetäuscht. 
Auch  bei  längerem  Andauern  des  Fiebers,  das  sich  zuweilen 
über  mehrere  Tage  erstreckt,  wird  man  oft  an  der  Diagnose 
unsicher  werden;  häufig  wiederkehrende  Attacken  mit  ge¬ 
ringen  Temperatursteigerungen  lassen  zuweilen  den  Ver¬ 
dacht  einer  tuberkulösen  Infektion  aufkommen,  der  sich 
aber  dann  als  grundlos  erweist.  Bei  öfteren  Wiederholungen 
der  Attacken,  die  fast  nie  fehlen,  ist  natürlich  die  Diagnose 
viel  leichter;  auch  hier  ist  selbstredend  immer  eine  genaue 
Untersuchung  des  ganzen  Patienten  notwendig,  um  nicht 
unangenehmen  Ueberraschungen  zum  Opfer  zu  fallen.  Die 
Drüsenanschwellungen  bei  Angina  und  entzündlichen  Pro¬ 
zessen  des  Mundes,  sowie  die  Parotitis  unterscheiden  sich 
schon  durch  ihre  Lokalisation;  die  postskarlatinösen  Lymph¬ 
adenitiden,  die  in  der  Literatur  des  Drüsenfiebers  immer 
wieder  herangezogen  werden,  dürften  wohl  zu  diagnosti¬ 
schen  Irrtümern  keinen  Anlaß  geben.  Verwertbar  für  die 
Diagnose  ist  audli  die  eigentümliche  festelastische  Konsistenz 
der  indolenten  derben  Drüsen. 

Von  Komplikationen  der  Erkrankung  habe  ich  wenig 
zu  berichten;  manchmal  sieht  man  im  Beginn  etwas  schiefe 
Haltung  des  Kopfes,  hervorgerufen  durch  den  Druck  der 
Drüsen,  manchmal  kommt  als  Folge  der  Erkrankung  des 
Rachens  ein  Katarrh  der  großen  Luftwege ;  gewöhnlich  läuft 
flic  Affektion  glatt  in  wenigen  Tagen  ab;  einmal  sah  ich 
im  Anschlüsse  eine  Otitis  media  auftreten;  eine  Nephritis 
konstatierte  ich  niemals. 

Ueber  die  Aetiologie  läßt  sich  kaum  sicheres  fest¬ 
stellen;  man  kann  nicht  einmal  Erkältung  als  Ursache  mit 
Sicherheit  angeben.  Zur  bakteriologischen  Untersuchung  der 
Drüsen  ergab  sieb  niemals  die  Gelegenheit ;  im  Rachen¬ 
schleim  fanden  sich  neben  der  vielgestaltigen  Flora  der 
Mundhöhle  gewöhnlich  auch'  noch  Staphylokokken  und 
Streptokokken,  deren  Vorhandensein  uns  aber  noch  nicht 
berechtigt,  ihnen  eine  ätiologische  Rolle  anzuweisen. 

Zum  Schlüsse  noch  einige  Worte  über  die  Therapie: 
Ich  halte  ein  aktiveres  Eingreifen  überhaupt  nicht  für  not¬ 
wendig;  die  Drüsenschwellung  geht  ganz  spontan  zurück. 
Wer  sich  zu  einer  Behandlung  veranlaßt  sieht,  wird  mit. 
Frießnitzumschlägen  um  den  Hals  nichts  schaden.  Gurge¬ 
lungen  erscheinen  mir  ganz  zwecklos,  eher  haben  Ausspritz¬ 
ungen  mit  einem  Siebansatz,  der  das  Wasser  verteilt  oder 
\  erordnung  von  Formaminttabletten  einen  Zweck;  die  rhino¬ 
logischen  Lehrbücher  empfehlen  Einträufelungen  von  1  bis 
2%igem  Mentholparaffin  in  die  Nase,  was  zuweilen  von 
Nutzen  scheint.  Von  einer  lokalen  Behandlung  der  adenoiden 


Vegetationen  während  der  Attacke  möchte  ich  abraten;  im 
freien  Intervall  wird  man  zuweilen  gezwungen  sein,  die 
Rachenmandel  exstirpieren  zu  lassen,  gewöhnlich  wird  da¬ 
durch  Zahl  und  Intensität  der  Anfälle  verringert,  doch  kann 
sich  immer  noch  in  den  stets  zurückbleibenden  Resten  des 
adenoiden  Gewebes  Gelegenheit  zur  Neuinfektion  darbieten. 
Von  der  Anschauung  ausgehend,  daß  sich  die  Affektion 
gerade  bei  pastösen,  „exsudativen“  Säuglingen  schon  vor- 
findet,  habe  ich  in  diesen  Fällen  versucht,  durch  Aenderung 
der  Diät  und  Einschränkung  der  Nahrungsmenge  die  Kon¬ 
stitutionsanomalie  zu  beeinflussen;  soweit  man  therapeu¬ 
tische  Erfolge  überhaupt  mit  Sicherheit  beurteilen  kann, 
habe  ich  den  Eindruck  gewonnen,  daß  die  Attacken  viel 
seltener  und  schwächer  wiederkehrten;  den  Kindern  wurde 
täglich  höchstens  ein  halber  Liter  Kuhmilch  und  soweit,  an¬ 
gängig,  vegetabilische  Diät  verabreicht;  ich  möchte  das  Ver¬ 
fahren  zur  Nachprüfung  empfehlen. 

Literatur. 

R.  Fischt,  Jahrbuch  für  Kinderheilkunde  1900,  Bd.  51,  S.  326. 

Heubner,  Jahrbuch  für  Kinderheilkunde  1889,  Bd.  29,  S.  262.  - 
Hoch  singer,  Wiener  med.  Wochenschr.  1902,  Bd.  52,  S.  257,  316, 
368.  -  Korsakoff,  Archiv  für  Kinderheilkunde  1905,  Bd.  41  u.  42. 
■Lublinski,  Zeitschr.  für  klin.  Medizin  1902,  Bd.  67,  S.  170.  — 
A.  Most,  Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie  1908.  -  E.  Pfeiffer, 
Jahrbuch  für  Kinderheilkunde  1889,  Bd.  29,  S.  257.  -  Roux  und 

Josser  and,  Revue  mensuelle  des  maladies  de  l'enfance  1906,  Bd.  21. 
S.  351.  —  Traut  mann,  Jahrbuch  für  Kinderheilkunde  1904,  Bd.  60, 
S.  503.  (Hier  auch  ausführliches  Literaturverzeichnis.).  —  Trautmann. 
Münchener  med.  Wochenschr.  1905,  Nr.  23. 


Diskussion. 


Ein  Beitrag  zur  Frage  der  Funktion  des 
quadrizepslahmen  Beines.*) 

Von  Dr.  Oskar  Semeleder. 

Gelegentlich  der  Vorführung  von  Patienten  mit  Quadrizeps-  ■ 
lähmung,  welche  trotz  ausgesprochenem  Genu  flexuin  gehen 
konnten,  suchte  ich  an  einem  Experimente  den  Nachweis  zu  er¬ 
bringen,  daß  das  Kniegelenk  am  lahmen  Beine  sich  unter  ge¬ 
wissen  Bedingungen  bei  Belastung  anders  verhält,  als.  wir  bisher 
nach  den  bekannten  Lehren  anzunehmen  gewohnt  sind. 

Da  bei  der  Diskussion  behauptet  wurde,  ich  hätte  mich 
hei  meinen  Ausführungen  an  bereits  vorhandene  Arbeiten,  die 
dieses  Verhalten  erschöpfend  behandeln,  „angeschlossen“,  sehe 
ich  mich  veranlaßt,  den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  diese  Be¬ 
hauptung  eine  irrig©  ist. 

Die  bisher  übliche  Anschauung  über  das  Verhalten  des 
Kniegelenkes  bei  Belastung  ergab  sich  aus  den  Vorträgen  Volk¬ 
manns  in  folgender  Weise.  Er  erklärt  die  Entstehung  des  Genu 
recurvatum  am  paralytischen  Knie  „dadurch,  daß  die  Kranken 
heim  Gehen  sich  möglichst  ohne  den  Quadriceps  zu  behelfen 

suchen.  Sie  gehen  genau,  wie  ein  am  Oberschenkel  Amputierter, 
der  einen  künstlichen  Fuß  trägt.  Der  Mechanismus  der  meisten 
künstlichen-  Füße  für  Oberschenkelamputierte  ist  aber  ein  sehr 
einfacher:  ln  einer  Hülse,  die  sich  gegen  die  Hinterbacke  und 
dein  Sitzknorren  stützt,  steckt  der  Stumpf.  An  der  Hülse  ist  ein 
im  Knie  mittels  eines  Scharniers  beweglicher  Unterschenkel  mit 
Fuß  befestigt.  Das  Scharnier  ist  so  eingerichtet,  daß  es  das 

Knie  wohl  zu  beugen,  aber  nicht  weiter  als  bis  zu  180°  zu 

strecken  gestattet.  Ist  die1  volle.  Streckung  erreicht,  so  greift  eine 
Hemmung  ein,  wie  dies  ja  auch  am  natürlichen  Knie  stattfiudet. 
Sie  haben  also  eine  Vorrichtung,  wie  etwa  an  jedem  Taschen¬ 
messer. 

!  ni  nun  zu  verstehen,  wie  der  Amputierte  mit  diesem 

einfachen  Apparate  geht,  würGF" dieses  aller  Muskelkräfte  bare 
Kniegelenk  beugt  und  streckt,  und  unter  welchen  Voraussetzungen 
er  die1  ganze  Körperlast  auf  dem  künstlichen  Fuße  ruhen  lassen 
kann,  nehmen  Sie  ein  Taschenmesser  in  die  Hand  und  stützen 
Sie  es  mit  der  Spitze  auf  den  Tisch,  den  Rücken  dos  Messers  von 
sich  abgewendet.  Die  Klinge  entspricht  dein  Unterschenkel,  das 
Schloß  dem  Knie,  der  Griff  dem  Oberschenkel  des  künstlichen 
Beines:  Ihre  Faust,  die  sich  auf  den  Griff  stützt,  dein  Körper 
des  Amputierten.  Sie  können  jetzt,  wie  Sie  sofort  übersehen, 

- -  *  !  {  * 

[tf-SjU)  Erwiderung  auf  die  Diskussionsbemerkungen  des  Privatdozenten 
Dr.  Max  Reiner  im  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  vom 
18.  November  1910.  Wiener  klin.  Wochenschr.,  Nr.  47, 


313 


Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


durch  kleine  Abänderungen  der  Druckrichtung  die  Klinge 
im  Schlosse  sich  bewegen  lassen.  Es  kommt  alles  darauf  an, 
wie  die  Last,  die  durch  den  Druck  Ihrer  Hand  repräsentiert 
wird,  zu  dem  Stifte  im  Schloß  steht,  um  den  sich  die  Klinge 
bewegt.  Fällt  die  Last  hinter  ihm,  d.  h.  auf  der  Seite  der 
Schneide  herunter,  so  klappt  das  Messer,  wenn  Sie  zu  stark 
drücken,  zu;  fällt  sie  vor  dem  Stifte  herab1,  so  öffnet  es  sich 
und  wenn  es  vollständig  geöffnet  ist,  können  Sie  sich  mit  voller 
(lewalt  auf  den  Griff  legen. 

Ebenso  der  Amputierte  mit  seinem  künstlichen  Fuß.  Will 
er  die  Körperlast  auf  dem  künstlichen  Fuße  ruhen  lassen, 
so  muß  die  Schwerlinie  stets  vor  dem  Gelenk  herunterfallen. 
Versieht  er  dies,  so  knickt  das  Bein  sofort  unter  ihm  zusammen 
und  er  stürzt  zu  Boden.  Daher  werde  beim  künstlichen  Beine 
das  Scharnier  am  Knie  möglichst  weit  nach  hinten  gesetzt  und 
absichtlich  in  die  Stellung  des  Genu  recurvatum  eingestellt." 

Nach  Ansicht  Volkmanns  ist  also,  kurz  gesagt,  für  die 
Beugung  oder  Streckung  des  Knies  die  Druckrichtung  und  die 
Lage  des  Knies  zu  dieser  maßgebend.  Beim  Ruhen  auf  dem 
kranken  Beine  (in  welchem  Falle  Druckrichtung  mit  Schwer¬ 
linie  Zusammenfalle}!,  resp.  Drucklinie  mit  Schwerlinie  identisch 
sind)  müsse  die  Schwerlinie  vor  dem  Knie  herabziehen,  wenn 
es  standfest  sein  soll.  In  eine  weitere  Erörterung  der  mechani¬ 
schen  Verhältnisse  und  Vorgänge,  etwa  unter  Hinweis  auf  mec  ha¬ 
nische  Gesetze,  hat  sich  dabei  Volkmann  nicht  eingelassen. 

Sehen  wir  bei  diesen  Ausführungen  von  allem  Konkreten 
ab,  so  ist  ihr  Sinn  folgender:  Werden  zwei  Stäbe,  welche  durch 
ein  Scharniergelenk  miteinander  verbunden  sind,  unter  Druck 
gebracht,  so  wird  sich  da:s  Geleink  von  der  Drucklinie,  respektive 
Schwerlinie)  entfernen.  Wird  dabei  das  Gelenk  in  seiner  Be¬ 
wegung  gehemmt,  so  sind  die  beiden  Stäbe,  solange  der  Druck 
wirkt,  als  gegenseitig  fixiert  zu  betrachten.  Die  Drucklinie,  auf 
die  wir  später  noch  zu  sprechen  kommen,  ist  dabei  jene  Linie, 
welche  der  Druckrichtung  entspricht,  in  der  die  auf  das  mecha¬ 
nische  System  wirkende  Kraft  zum  Ausdrucke  kommt. 


Fig.  L  Fig.  2. 

Die  Art  des  von  mir  in  der  k.  k.  Gesellschalt  der  Aerzte 
voiigeführten  Experimentes  ist  nun  aus  den  Figuren  1  und  2 
ersichtlich.  Fig.  1  stellt  einen  elastischen  Stall  dar,  welcher 
einzelne  Krümmungen  aufweist,  die  dem  Hilft-,  Knie-  und  Sprung- 
geletnke  entsprechen  sollen.  S  bedeutet  den  Schwerpunkt  des 
menschlichen  Körpers,  welcher  ungefähr  in  der  Höhe  des  zweiten 
Lendenwirbels  liegt;  die  senkrechte  Projektion  des  Schwerpunktes 
(die  Schwerlinie)  geht  durch  das  andere  auf  den  Boden  gestützte 
Ende  des  Stabes.  Belaste  ich  nun  diesen  Stab  in  der  Richtung 
der  Schwerlinie,  so  wird  das  Knie  im  Sinne  des  Pfeiles 
gestreckt.  Genau  so  verhält  sich  dieser  Stab,  wenn  ich  an  die 
Stelle  der  Biegungen  Gelenke  mit  elastischen  Fixierungen  (Federn, 
Gummizügen)  bringe  (Fig.  2).  Lege  ich  diesen  Stab  auf  eine 
horizontale  Ebene  und  drücke  die  Enden  in  der  Richtung  der 
durch  die  beiden  Endpunkte  gehenden  Geraden,  so  wird  das  Knie 
sich  gleichfalls-  strecken,  obwohl  die  sogenannte  Drucklinie,  die 
nun  an  die  Stelle  der  Schwerlinie  getreten  ist,  an  der  Beugeseite 
des  Kniegelenkes  vorüberzieht.  Das  Kniegelenk  entfernt  sich 
also  nicht  von  der  Schwerlinie,  sondern  nähert  sich  ihr.  Die 
Erklärung  dieses  der  V  olk  mann  sehen  Ansicht  nicht  entspre¬ 
chendem  Verhaltens  ist  darin  zu  suchen,  daß  die  durch  die  Kom¬ 


pression  oder  Stauchung  in  Hilft-  und  Sprunggelenk  erzeugte 
elastische  Spannung  den  \\  id  erstand  des  Kniegelenkes  überwindet 
und  es  zur  Streckung  bringt.  Dabei  ist  allerdings  vorausgesetzt, 
daß  auch  das  Kniegelenk  elastisch  fixiert  ist  und  dadurch  hei 
der  Belastung  das  Auftreten  der  Spannung  in  Hilft-  und  Sprung- 
gelenk  ermöglicht  wird.  Ist  diese  elastische  Fixation  des  Knie¬ 
gelenkes  nicht  vorhanden,  so  wird  sich  der  Stab  trotz  elastischer 
Fixation  des  Hüft-  und  Sprunggelenkes  im  Knie  beugen,  also 
sich  so  verhalten,  wie  V olk  mann  es  seinen  Hörern  am  Taschen¬ 
messer  und  am  Kunstheine  gezeigt  hat. 

Denken  wir  uns  an  die  Stelle  des  Stabes  in  Fig.  1  ein 
halbgeöffnetes  Taschenmesser,  konform  dem  geschilderten  Volk¬ 
mannachen  Experimente,  mit  der  Spitze  auf  dem  Boden  im 
Projektionspünkte  der  'Schwerlinie  aufgesetzt,  die  Drehungsachse 
der  Klinge  (das  Scharnier)  an  die  Stelle  des  Knies  und das  Ende 
des  Griffes  am  die  Stelle  des  Schwerpunktes  S,  so  entspricht 
hei  fixiertem  Hüftgelenke  der  oberhalb  des  Knies  befindliche 
Teil  des  Stabes  dem  Griffe  des  Taschenmessers  (als  dem  einen 
Hebelarme),  der  unter  dem  Knie  befindliche  der  Klinge  des 
Taschenmessers  (als  dein  anderen  Hebelarme),  denn  die1. Ge¬ 
st  alt  der  Hebelarme  ist  für  die  in  Betracht  kommenden  mecha¬ 
nischen  Vorgänge  gleichgültig,  vorausgesetzt,  daß  die  je  einen 
Hebelarm  bildenden  'Teile  miteinander  starr  verbunden  sind. 
Bei  Belastung  müßte  dieses  Messer  und  damit  auch  der  Stab 
in  Fig.  1  nach  V  olk  m  ann  zusammenkhfypen.  Das  Knie  müßte 
sich  beugen.  Der  elastische  Stab  in  Fig.  1  verhält  sich 
nun  aber  im  Experimente  anders:  das  Knie  streckt  sich. 
Elastische  Fixation  des  Hü  I  t-  und  Sprunggelenkes  vorausgesetzt, 
kann  also  eine  Kniegelenkskontraktur  (ein  fixiertes  Kniegelenk) 
durch  Belastung  auch  dann  noch  eher-  gestreckt,  als  ge¬ 
beugt  werden-,  wenn  die  Drucklinie  (Schwerlinie)  an 
der  Beugeseite  des  Gelenkes  vorbei  zieht. 

Für  die  Quadrizepslähmung  hei  gleichzeitigem  Genu  flexum 
gilt  dasselbe,  nur  müssen  wir  uns  dabei,  da  das  Knie  gewöhn¬ 
lich  sehr  leicht  im  Sinne  der  Beugung  beweglich  ist,  verstellen, 
daß  die  elastische  Spannung  im  Hüft-  oder  Sprunggelenke  (oder 
in  beiden)  bereits  im  ersten  Momente  der  Belastung  vorhanden 
ist  und  zur  Geltung  gelangt,  bevor  noch  das  Knie  Zeit  hat,  der 
Wirkung  des  Körpergewichtes  zu  folgen.  Bloße  elastische  Fixa¬ 
tion  des  Hüft-  und  Sprnnggelenkes  genügt  nur  dann,  wenn  der 
Patient  imstande  ist,  die  drohende  Beugung  des  Kniegelenkes 
(vielleicht  durch  die  oft  auch  hei  schwereren  Lähmungen  mög¬ 
lichen  minimalen  Zuckungen  des  Quadrizeps)  solange  zu  ver¬ 
zögern,  bis  die  notwendige  elastische  Spannkraft  in  Hüft-  und 
Sprunggelenk  aufgetreten  ist.  In  diesem  Augenblick  ist 
ein  Genu  flexum  bei  Quadrizepslähmung  auch  dann 
belast#  ngsfähig,  wenn  das  Kniegelenk  mit  seiner 
cf u ereil  Gelonksaehse  vor  die  Drucklinie.  (Schwer¬ 
linie)  zu  liegen  kommt. 

Laut  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  vom  iS.  No¬ 
vember  1910  behauptet  nun  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Reiner  . in  den 
üiskiissionsbernerkungen,  meine  Ausführungen  deckten  sich  mit 
der  von  ihm  bereits  im  Jahre  1904  in  der  Zeitschrift  für  ortho¬ 
pädische  Chirurgie  niedergelegten  Arbeit,  und  ich  hätte  mich 
seinen  Ausführungen  „angeschlossen“. 

Ich  sehe  mich  veranlaßt,  gegen  diese  Zumutung 
Verwahrung  ein  zu  legen;  u.  zw.  besonders  deshalb,  da  die 
i  n  d  i  e  s  e  r  A  r  b  eit  v  o  r  g  e  b  r  a  c  h  t  e  n  B  e  h  a  u  p  t  u  n  g  e  n  s  i  c  li 
auf  vollständig  irrigei  Annahmen  stützen. 

Als  verfehltes  Beginnen  muß  es  vor  allem  bezeichnet 
werden,  daß  der  Autor  zur  Erklärung  der  statischen  Verhältnisse 
sich  den  Patienten  in  zwei  Teile  zerlegt  denkt  und  an  den 
beiden  Teilen  getrennt  seine  Betrachtungen  vom  mechanischen 
Gesichtspunkte  aus  vornimmt. 

Der  erste  Absatz,  in  welchem  Priv.Doz.  Reiner  uns  seine 
Ansichten  über  die  mechanischen  Vorgänge  bei  der  Belastung 
eines  Beines  mit  Quadrizepslähmung  eingehend'  mitteilt  (Zeit¬ 
schrift  für  orthopädische  Chirurgie,  Bd.  13,  S.  463),  lautet  wie 
folgt : 

„Es  ist  schon  einleitend  hervorgelioben  worden,  daß  die 
Funktion  des  Beines  bei  Quadrizepslähmung  wesentlich  vom 
Kontrakturzustande  der  übrigen  Gelenke  desselben  Beines  be¬ 
einflußt  wird.  Es  bestünde  beispielsweise  eine  Beugekontraktur 
im  Hüftgelenke.  Ist  dieselbe  gering,  so  kann  sie  der  Patient  durch 
Lordose  im  Lumbalsegmehte  vollständig  kompensieren  und  die 
Funktion  des  Beines  wird  kaum  leiden.  Denn  durch  die  Lordose 
wird  der  Schwerpunkt  des  Rumpfes  nach  vorne  verlagert.  Die 
Schwerlinie  fällt  vor  dein  Kniegelenke  herunter,  wirkt  also  im 
Sinne  der  Streckung  auf  dasselbe,  ist  diese  Beugekoni raktur 
größer,  so  wird  sie  nicht  mehr  vollständig  kompensiert  werden 
können  und  ein  Teil  derselben  bleibt  auch  beim  Gehen  manifest. 


314 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


Jetzt  wird  in  dem  Momente,  wo  das  vordere  Bein  aus  der 
Schwungphase  in  die  Stützphase  tritt,  die  Unterstützungsfläche 
vor  die  Schwerlinie  zu  stehen  kommen;  die  Schwerkraft  wirkt 
jetzt  im  Sinne  der  Beugung  des  Kniegelenkes  und  die  Erhaltung 
des  Körpergewichtes  wird  erschwert  oder  gar  unmöglich  ge¬ 
macht.“ 

Wie  man  also  aus  der  etwas  unklaren  Fassung  dieses  Ab¬ 
satzes  und  auch  aus  den  späteren  Ausführungen  ersehen  kann, 
denkt  sich  der  Autor  dein  Patienten  in  zwei  Teile  zerlegt.  Der 
eine  Teil  besteht  aus  Rumpf  und  Oberschenkel,  der  andere  aus 
Unterschenkel  und  Fuß.  Reiner  sucht  uns  nun,  die  mecha¬ 
nischen  Vorgänge  bei  der  Belastung  an  jedem  dieser  Teile  für 
sich  getrennt  zu  erklären.  Die  Behauptungen,  zu  welchen  dabei 
Reiner  kommt,  sind  weder  theoretisch,  noch  experimentell  vom 
Autor  nachgewiesen.  Hätte  dieser  nur  das  kleinste  einfache,  auf  die 
zu  untersuchenden  Verhältnisse  bezugnehmende  Experiment  vor¬ 
genommen,  so  hätte  sich  ihm  ergeben  müssen,  daß  zwei  Körper, 
welche  mit  einem  Gelenke  verbunden  sind,  sich  ganz  anders 
verhalten,  als  jeder  Körper  für  sich  u.  zw.  besonders  dann,  wenn 
dieses  Gelenk  nur  eine  einzige  Bewegung  zuläßt  und  Hemmun¬ 
gen  besitzt,  welche  im  Momente  der  Belastung  oder  durch  die 
Belastung  das  Gelenk  unbeweglich  machen  können. 

Der  Autor  hätte  finden  müssen,  daß  durch  die  Lordosie- 
rung  der  Wirbelsäule  der  Schwerpunkt  nicht  nach  vorne,  son¬ 
dern  nach  hinten  verlagert  wird.  Denn  wenn  ich  z.  B.  einen 
geraden  Stab  krumm  biege,  so  wandert  sein  Schwerpunkt  aus 
der  Masse  heraus,  auf  die  Seite  der  Konkavität  und  biege  ich 
diesen  Stab  zu  einem  Ringe,  so  liegt  der  Schwerpunkt  in  seiner 
Mitte.  Die  Lordose  der  Wirbelsäule  bringt  daher  die  Sclnver- 
linie  nicht,  wie  Reiner  glaubt,  nach  vorne,  sondern  nach 
hinten  und  vermindert  die  Standfestigkeit,  die  Stützkraft  des 
Beines  im  Knie.  Nicht  die  Unmöglichkeit  der  Kompensierung 
einer  etwa  bestehenden  Hüftkontraktur  durch  Lordose  verhin¬ 
dert  die  Gehfähigkeit,  sondern  gerade  die  Kompensierung  bringt 
das  Bein  infolge  Rückwärtsverlagerung  des  Schwerpunktes  in 
Gefahr,  seine  Standfestigkeit  einzubüßen.  Aus  demselben  Grunde 
wird  auch  bei  größerer  Beugekontraktur  die  Schwerlinie  nicht 
durch  die  „manifest  bleibende  Kontraktur“,  sondern  der  Mei¬ 
nung  des  Autors  entgegen  gerade  durch  die  Aufrichtung  des 
Oberkörpers  (Lordose)  ungünstig  verlagert,  „so  daß  dann  die 
Unterstützungsfläche  (der  Autor  dürfte  damit,  das  untere  Ende 
des  Oberschenkels  meinen)  vor  die  Schwerlinie  zu  stehen  kommt“. 
Wie  wir  weiter  unten  sehen  werden,  befindet  sich  der  Autor 
auch  mit  der  Beurteilung  dieses  Umstandes,  bzvv.  Vorganges  im 
Irrtum. 

An  dieser  Stelle  will  ich  nur  darauf  hinweisen,  daß  der 
Autor  uns  dabei  über  die  Lage  der  wirklichen  Unterstützungs¬ 
fläche  am  Roden  ebenso  im  unklaren  läßt,  wie  über  das  ent¬ 
sprechend  den  verschiedenen  Phasen  der  Schrittbildung  veränder¬ 
liche  Lageverhältnis  zwischen  Schwerlinie,  Knie  und  dieser  Unter¬ 
stützungsfläche. 

Der  nächste  Absatz  auf  S.  464  ist  dem  Triceps  surae 
und  der  Funktion,  welche  ihm  beim  Stehen  zukommt,  gewidmet. 
Diese  Ausführungen  stammen  nicht  von  Reiner1,  sondern  sind 
bereits  von  Henke  und  anderen  gegeben  worden  und  sind  in 
den  Lehrbüchern  der  Physiologie  ebenfalls  zu  finden.  —  Die  in 
den  darauffolgenden  Zeilen  versuchte  Verwertung  dieser  Lehren 
zur  Aufklärung  der  mechanischen  Vorgänge  bei  Belastung  eines 
paralytischen  Beines,  die  versuchte  Korrektur  der  Lehren  Volk¬ 
manns  muß  jedoch  als  mißlungen  bezeichnet  werden.  Ohne 
jede  Berücksichtigung  der  in  den  verschiedenen  Phasen  der 
Schrittbildung  in  verschiedener  Richtung  befindlichen  Druck¬ 
linien.  ohne  uns  die  Lage  des  Schwerpunktes1  jener  Masse,  welche 
sich  oberhalb  des  Knies  befindet,  entsprechend  den  Phasen  der 
Schrittbildung  genauer  zu  bezeichnen,  kommt  der  Autor  zu 
Schlüssen,  in  welchen  er  sich  berechtigt  glaubt,  behaupten  zu 
können,  daß  die  Lehren  Volk  man  ns  unrichtig  sind  und  daß 
seine  eigenen  Ausführungen  eine  Korrektur  der  Volkmann- 
schen  Ansichten  bedeuten. 

Wir  finden  auf  S.  465  die  in  Fig.  3  wiedergegeWen(e 
Zeichnung.  Reiner  schreibt  dazu: 

„Fassen  wir  also  nun  zunächst  den  Fuß  und  Unterschen¬ 
kel  als  starres  System  auf,  bei  welchem  ein  Drehpunkt  im 
Sprunggelenke  nicht,  existiert,  so  wirkt  jetzt  die  Körperlast  nicht 
mehr  im  Sinne  der  Vorwärtsdrehung  des  oberen  Tibiaendes,  son¬ 
dern  im  Sinne  der  Rückwärtsneigung  desselben  und  diese  Ten¬ 
denz  bleibt  solange  gewahrt,  als  sich  die  Schwerlinie  des  Kör¬ 
pers  noch  hinter  dem  neuen  Drehpunkte  befindet.  Die  durch  die 
Spitzfußstellung  veränderte  Mechanik  des  Fußes  kommt  dem 
Kniegelenke  zugute,  so  daß  dasselbe  bei  Ouadrizepslähmung  jetzt 
auch  dann  noch  gestreckt  erhalten  bleibt,  wenn  die  Schwerlinie 


nicht  mehr  vor  der  Achse  desselben  vorüberzieht!  Dieses 
alles  gilt  jedoch  nur  so  lange,  als  der  Projektionspunkt  der 
Schwerlinie  b  hinter  dem  Unterstützungs-  oder  Drehpunkt  d 
sich  befindet.  In  dem  Momente,  als  die  Schwerlinie  über  diesen 
Punkt  nach  vorne  wandert,  tritt  wieder  der  umgekehrte  Fall 
ein.’ Die  Schwerkraft  wirkt  im  Sinne  der  Vorwärtsneigung  des 
proximalen  Tibiaendes,  also  wieder  im  Sinne  der  Beugung  des 
Kniegelenkes.“ 

Zum  Verständnis  der  in  diesen  Sätzen  vargebrachten  Anschau¬ 
ungen  oder  vielmehr  zur  Darstellung  der  in  Wirklichkeit  bestehen¬ 
den,  von  diesen  Ansichten  abweichenden  mechanischen  Vorgänge, 
sei  es  mir  geistattet,  in  möglichster  Kürze  dip  bei  der  Belastung  ein¬ 
tretenden  mechanischen  Vorgänge  so  zu  erklären,  wie  wir  sie  uns 
nach  den  bekannten  Elementarbegriffen  der  Mechanik  im  Grund- 
prinzipe  vors  teilen  müssen. 


Nehmen  wir  uns  vor  allem  die  den  Ausführungen  Reiners 
entnommene  Fig.  3  und  zeichnen  uns  zur  Schwerlinie  den 
dazugehörigen  Massenschwerpunkt  S,  so  kommen  wir  zur  Fig.  4 
und  finden,  daß  der  schematisch  gezeichnete  Körper  des  Pa¬ 
tienten  (das  mechanische  System)  sich  nicht  im  Gleich¬ 
gewichte  befind  e t.  V om  Massenschwerpunkt  S  abwärts,  ent¬ 
lang  der  Schwerlinie  Sb,  wirkt  die  Schwerkraft.  Zerlegen  wir 
uns  diese  in  der  gebräuchlichen  Weise  in  ihre  Komponenten, 
so  finden  wir,  daß  die  eine  Komponente  als  sogenannte  Druck¬ 
linie  auf  den  Unterstützungspunkt  d  gerichtet  ist  (Sd),  wäh¬ 
rend  die  andere  Komponente  durch  die  Linie  Sf  dargestellt  ist, 
welche  im  Sinne  einer  Drehung  der  ganzen  Masse  um  den 
Kipppunkt  d  wirkt.  Soll  der  Körper  nicht  nach  hinten  zurück¬ 
fallen,  so  muß  dieser  Komponente  entgegengewirkt  werden.  Es  ge¬ 
schieht  dies,  solange  der  Patient  auf  beiden  Beinen  steht,  durch 
die  Stützkraft  des  anderen,  „hinteren“  Beines  oder,  sobald  dieses 
vom  Roden  abgehoben  ist,  durch  die  der  Masse  erteilte,  sogenannte 
Beschleunigung,  das  ist  jener  Kraft,  welche  der  in  Bewegung 
befindlichen,  resp.  in  Bewegung  gebrachten  Masse  innewohnt. 
Bietet  das  mechanische  System  der  Komponente  Sd  (in  der 
Richtung  der  Drucklinie)  Widerstand,  so  gelangt  das  Bein  in 
der  nächsten  Phase  des  Schrittes  in  die  Stellung  der  Fig.  6 
und  dann  in  die  der  Fig.  7.  —  Jn  Fig.  6  liegt  den  Schwer¬ 
punkt  senkrecht  über  dem  Unterstützungspunkte  d ;  Drucklinie 
und  Schwerlinie  fallen  daher  (wie  beim  Stehen  auf  einem  Beine) 
zusammen,  während  in  Fig.  7  die  Schwerlinie  vor  die  Druck¬ 
linie  und  vor  das  Knie  wandert.  Aus  Fig.  5  ist  ersichtlich, 


Fig.  7.  Fig.  6.  Fig.  5. 

daß  die  Schwerlinie  auch  hinter  dem  Knie,  ja  sogar  hinter  der 
Ferse  liegen,  kann  u.  zw.  am  Beginne  der  Belastung  des-  kranken 
Beines,  ohne  daß  die  Lage  der  Drucklinie  zum  Knie 
sich  ändern  würde!  Gehau  dasselbe  gilt  aber  auch  (voraus- 


Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


315 


gesetzt,  daß  der  Unterstützungspunkt  am  Boden  der  gleiche  bleibt) 
für  das  von  Volk  mann  zum  Vergleiche  herangezogene  künstliche 
Bein.  Auch  bei  diesem  ist  die  Schwerlinie  während  der  verschie¬ 
denen  Phasen  des  Ganges  einmal  vor,  einmal  hinter  dem  Knie¬ 
gelenke  zu  finden  und  genau  so,  wie  von  Volkmann  die  Druck¬ 
richt  ung,  resp.  Drucklinie  verantwortlich  gemacht  wurde,  so  ist 
diese  auch  im  vorliegenden  Falle  auf  das  Verhalten  des  Knie¬ 
gelenkes  von  entscheidendem  Einflüsse. 

Gehen  wir  nun  zurück  zu  den  Ausführungen  Reiners. 
Er  behauptet:  Ist  das  Sprunggelenk  fixiert,  so  wirkt  die  Körper¬ 
last  im  Sinne  der  Streckung  des  Knies.  Jedoch  nur  solange,  als 
die  Schwerlinie  des  Körpers  sich  hinter  dem  Unterstützungs¬ 
punkte  d  befindet.  In  dem  Momente,  als  die  Schwerlinie  über 
diesen  Punkt  nach  vorne  geht,  kommt  es  zu  einer  Beugung  des 
Kniegelenkes.  Aus  Fig.  7  ist  zu  ersehen,  daß  diese  Behauptung 
nicht  zutrifft.  Die  Schwerlinie  liegt  weit  vor  dem  Unterstützungs¬ 
punkte  d,  ohne  daß  das  Knie  in  Gefahr  kommt,  einzuknicken. 
Wäre  die  Behauptung  Reiners  richtig,  so  könnte  kein  Mensch 
mit  einer  im  Knie  beweglichen  Prothese  und  auch  keiner  mit 
Quadrizepslähmung  gehen ! 

Wenn  nun  Reiner,  auf  einer  solchen  Grundlage  aufbauend, 
im  Gegensätze  zu  Volkmann  glaubt,  behaupten  zu  können,  haß 
das  gelähmte  Knie  auch  dann  gestreckt  erhalten  bleibt,  wenn  die 
Schwerlinie  nicht  mehr  vor  der  Achse  desselben  vorüberzieht, 
so  ist  dies  einfach  unbegreiflich.  Und  wären  auch  die  bisher 
zitierten  Ausführungen  Reiners  richtig,  so  ist  dieser  Schluß 
unmöglich  und  durch  nichts  auch  nur  plausibel  gemacht.  Im 
Gegenteile,  der  Autor  läßt  uns  vollständig  im  unklaren  über  die 
Lage  der  Schwerlinie,  er  identifiziert  zu  wiederholten  Malen 
irrtümlich  die  senkrechte  Projektion  des  oberen  Tibiaendes  (des 
Knies)  mit  der  abhanden  gekommenen  Schwerlinie,  er  spricht 
nichts  über  die  Lageveränderung  des  Schwerpunktes  während 
der  einzelnen  Phasen  der  Schrittbildung  und  sagt  uns  über¬ 
haupt  nicht,  für  welche  Phase  seine  Ausführungen  gedacht  sind. 

Stellen  wir  uns  die  Fig.  3  aus  den  Ausführungen  Reiners 
in  die  Stellung  der  Fig.  6,  also  in  die  nächste  Phase  über¬ 
geführt,  vor,  so  sehen  wir,  daß,  sobald  die  Kräfte  sich  im 
Gleichgewichte  erhalten,  also  in  der  Ruhelage  oder  Mittel¬ 
stellung,  die  Drucklinie  Sd  und  die  Schwerlinie  Sb  zusammen¬ 
fallen.  Diese  Drucklinie  oder  Schwerlinie,  welche  in  Fig.  3  durch 
das  Knie  ging,  zieht  nun  aber  in  weitem  Abstande  vor  dem 
Knie  herab  und  das  Knie  muß  daher  nach  Volkmann 
standfest  sein!  1 

Es  ist  daher  ersichtlich,  daß  die  Ausführungen  Reiners 
weder  eine  Ergänzung,  noch  eine  Richtigstellung  der  Volkmann- 
schen  Auffassung  ergeben,  zumal  sie  dem  Wesen  und  Sinne  der 
Volkmann  sehen  Experimente  in  keiner  Weise  gerecht  werden. 

Nach  dem  Vorgebrachten  darf  es  uns  nicht  wundernehmen, 
wenn  wir  in  den  Ausführungen  Reiners  gleich  darauf  fol¬ 
gende  Sätze  finden:  „Deshalb  geht  auch  der  Vorteil  der  Spitz¬ 
fußstellung  bei  Quad r i zep s p ara  1  y s e  wieder  verloren,  wenn  es 

sich  um  höhere  Grade  handelt;  denn . jeder  höhere  Grad 

von  Spitzfußstellung  fordert  eine  stärkere  Vorneigung  der 
Tibia,  so  daß  auch  darum  wieder  das  Kniegelenk  und(l) 
die  Schwerlinie  des  Körpers  vor  den  Unterstützungspunkt 
gelangen  würde.“ 

Es  braucht  wohl  nicht  erst  gesagt  zu  werden,  daß  die  ver¬ 
mehrte  Spitzfußstellung  mit  der  Stellung  der  Tibia  nichts  zu  tun 
hat.  Ein  einziger  Versuch  am  eigenen  Körper  hätte  genügen 
müssen,  die  Unrichtigkeit  dieser  Ausführungen  nachzuweisen  und 
hätte  die  Erkenntnis  bringen  müssen,  daß  eine  vermehrte  Spitz¬ 
fußstellung  gar  keinen  Einfluß  auf  die  Stellung  der  Tibia  nimmt. 
Maßgebend  für  diese  ist  die  Stellung  des  Kniegelenkes,  resp.  sein 
Kontrakturzustand.  Die  angebliche  Lageveränderung  des  Knies 
hat  dabei  selbstverständlich  keine  Verlagerung  der  Schwerlinie 
zur  Folge  (entgegen  der  Meinung  des  Autors). 

In  ähnlicher  Weise  verhält  es  sich  mit  den  Ansichten  des 
Autors  über  die  Beschleunigung  und  „Elongation“  des  Massen¬ 
schwerpunktes,  welche  wir  im  allgemeinen  Teile-  seiner  Aus¬ 
führungen  finden. 

Reiner , schildert  dort  den  Gang  eines  Patienten  mit  doppel¬ 
seitiger  Quadrizepslähmung  und  sagt:  „Beim  Gange  des  Gesunden 
geht  die  Schwerlinie  im  Momente  des  Auftrittes  des  vorschwingen- 
den  Beines  nicht  nur  hinter  der  Achse  des  Kniegelenkes,  sondern 
hinter  der  Fer-se  vorbei,  wirkt  also  im  Sinne  der  Vermehrung 
der  Beugung;  dieser  muß  der  Quadrizeps  entgegenwirken.  Als 
statisches  Problem  aufgefaßt,  ist  diese  Stellung  auch  normaler¬ 
weise  nicht  denkbar!  Wie  deckt  nun  unser  Patient  (mit  Quadri¬ 
zepslähmung)  den  Ausfall?  Einfach  durch  vermehrte  horizontale 
Heschleunigung  und  eine  vermehrte  vertikale  Schwerpunkts- 


olongation !“  —  und  zwar  das  alles  nach  Ansicht  Reiners  nur 
zu  dem  Zwecke,  um  im!  Knie  nicht  einzuknicken! 

Ueberprüfen  wir  diese  Ausführungen  und  zeichnen  wir  uns 
diese  Verhältnisse  konform  der  Fig.  5,  so  sehen  wir,  daß  die 
Schwei  linie  sehr  wohl  hinter  Knie  und  Ferse  vorüberziehen 
kann,  ohne  daß  das  Knie  Gefahr  läuft,  zusammenzuknicken, 
denn  die  Drucklinie,  d.  i.  die  einzig  und  allein  in  Betracht  kom¬ 
mende  Komponente  der  Schwerlinie,  liegt  noch  vor  dem  Knie¬ 
gelenke.  Die  Annahme  des  Autors,  das  Knie  würde  durch  die 
Einwirkung  der  Schwerkraft  am  Beginne  der  Belastung  in  Ge¬ 
fahr  sein,  zusammenzuknicken  und  auch  beim  normalen  Beine 
läge  in  diesem  Falle  ein  „undenkbares  statisches  Problem“ 
vor,  ist  also  auch  unrichtig.  Auch  für  den  Fall,  als  der  Patient 
mit  der  Ferse  auftritt,  wäre  es  wohl  denkbar,  daß  die  Drucklinie 
vor  das  Kniegelenk  zu  liegen  kommt.  Daher  braucht  auch  der 
Patient  mit  beiderseitiger  Quadrizepslähmung  zur  Erhaltung  der 
Standfestigkeit  seines  Beines  keine  „vermehrte  horizontale  Be¬ 
schleunigung  seines  Schwerpunktes“  und  auch  keine  „vermehrte 
Schw-erpunktselongation“,  sondern  er  wird  froh  sein  müssen,  wenn 
er  die  zur  Fortbewegung  seines  Körpers  nötige  Beschleunigung 
mit  seinen  jedenfalls  auch  nicht  normal  kräftigen  Trizepsmuskeln 
zuwege  bringt. 

Mit  der  Beschleunigung  und  der  physiologischen  Vertikal¬ 
schwankung  des  Massenschwerpunktes  hat  es  übrigens  eine  ganz 
andere  Bewandtnis.  Diese  Verhältnisse  sind  im  allgemeinen  noch 
nicht  genügend  aufgeklärt  und  manches  am  normalen  Gange  des 
Gesunden  erscheint  uns  heute  noch  rätselhaft. 

Ich  will  derzeit  auf  diese  Fragen,  welche  von  allgemeinem 
Interesse  sind,  nicht  weiter  -eingeben,  hoffe  aber,  demnächst 
durch  Experimente  die  Richtigkeit  neuer  Ansichten  nachweisen 
zu  können,  welche  vielleicht  imstande  sind,  zur  Aufdeckung  und 
Erklärung  dieser  unaufgeklärten  Vorgänge  beizutragen. 

Nur  das  eine  möchte  ich  nochmals  betonen,  daß  weder  diese 
von  Reiner  erwähnte  „vertikale  Elongation  (nämlich  die  Ilöhen- 
schwankung)  des  Massenschwerpunktes“,  noch  seine  angeblich 
vermehrte  horizontale  Beschleunigung  mit  der  Belastungsfähigkeit 
des  kranken  Beines  etwas  zu  tun  hat. 

Auch  hier  können  wir  sehen,  wie  der  Autor  infolge  Nicht¬ 
berücksichtigung  der  Gesetze  von  Schwerkraft  und  Massenwir¬ 
kung,  durch  Außerachtlassung  des  Unterschiedes  zwischen  Schwer¬ 
linie  und  Drucklinie  usw.  zu  einer  Reihe  von  Voraussetzungen 
und  Schlüssen  kommt,  welchen  wir  Anerkennung  und  Verwertung 
versagen  müssen. 

Die  Beh  auptung  des  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Reiner  im 
Protokoll  der  Diskussion,  ich  hätte  mich  seinen,  in  der  zitierten 
Arbeit  niedergelegten  wissenschaftlichen  Begründungen  „an¬ 
geschlossen“,  welche  die  Lücken  und  Felder  der  Volkma  n  n- 
seben  Lehren  angeblich  längst  aufgedeckt  hätten,  weise  ich 
daher  zurück  und  kann  es  dem  Urteil  der  Leser  überlassen, 
ob  die  ins  Protokoll  gebrachte-  Bemerkung :  „Es  wäre 
wohl  kein  zeitgemäßes  Beginnen  von  meiner  Seite,  die  Wider¬ 
legung  der  Volkmann  sehen  Erklärung  mit  längst  (durch  die 
Arbeit  Reiners)  bekannten  Argumenten  neuerdings  zu  unter¬ 
nehmen“,  am  Platze  war  o-de-r  nicht. 


OEFFENTLICHE  GESUNDHEITSPFLEGE. 

Zahl  und  Verteilung  der  Aerzte  in  Oesterreich. 

Von  Dr.  med.  Oskar  Klauber  in  Prag. 

Soeben  gelangte  der  6.  Jahrgang  des1  „Aerztlichen  Jahrbuches 
für  Oesterreich“,  herausgegeben  von  Dr.  Emil  Fuhrmann  in 
Wien,  zur  Ausgabe.  Dasselbe  gestattet  uns  in  ähnlicher  Weise 
wie  der  „Reichsmedizinalkalender“  für  Deutschland  die  hiesigen 
numerischen  Aerzteverhältnisse  festzustellen  und  die  Verände¬ 
rungen  in  letzter  Zeit  kritisch  zu  betrachten.  Für  das  letzte 
Lustrum  bieteh  uns  die  erschienenen  Jahrgänge  das  Material; 
die  k.  k.  Statistische  Zentralkommission  bringt  in  der  , ^öster¬ 
reichischen  Statistik“  alljährlich  auch  eine  Uebersicht  der  Aerzte, 
welche  allerdings  erst  vier  Jahre  später  zur  Ausgabe  gelangt; 
diese  diente  als  Grundlage  für  die  Betrachtung  der  früheren 
Jahre. ! 

In  den  im  Reichsrate  vertretenen  Königreichen  und  Län¬ 
dern  gab  es  Ende  1910  13.202  Aerzte,  gegenüber  12.426  zu  Ende 
des  Jahres  1905.  Hiebei  sind  die  Militärärzte  mitgezählt,  weil 
sie  nicht  nur  einen  Teil  der  Gesamtbevölkerung,  die  Militär¬ 
personen,  ärztlich  zu  versorgen  haben,  sondern  manchenorts  auch 
Zivilpraxis  mitversehen. 


316 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


Die  Zahl  der  Aerzte  hat  also  in  den  letzten  fünf  Jahren 
um  6y*«/o  zugenommen.  Nach  der  Statistik  der  Zentralkommission 


gab  es  in  Oesterreich  Aerzte: 

1871  . 

.  7091 

1890  . 

.  7.484 

1875  . 

.  7488 

1895  . 

8.891 

1880  . 

.  7552 

1900  ‘ . 

.  10.558 

1885  . 

.  7183 

1905  . 

.  11.704  (12.426  n.  d.  Jahrbuch) 

(1887)  . 

.  (7090) 

1910  . 

.  13.202  (nach  dem  Jahrbuch) 

Nach  einem  vorübergehenden  Rückgang  der  Aerztezahl  in 
den  Jahrein  1880  bis  1887  ist  seit  1888  eine  ständige  Vermehrung 
zu  beobachtein,  welche,  in  den  einzelnen  Jahren  etwas  wechselnd, 
w e i  t  ü her  d  i  e  Z u n ahme  der  B  e  v ö  1  k e run g  h  i n a  u s  g e h t. 
Während  von  1890  bis  1900  die  Bevölkerung  Oesterreichs  um 
9-4%  zunahm,  hat  sich  die  Zahl  der  Aerzte  in  der  gleichen  Zeit 
um  41-1%  vermehrt,  1900  bis  1910  Avied-er  um  18-2%,  seit  dem 
Jahre  1887  im  ganzen  um  76%. 

Diese  Zunahme  der  Aerztezahl  ist  naturgemäß  durch  die 
Steigerung  des  Medizinstudiums  bedingt.  Während  die 
Zahl  aller  Universitätshörer  zusammen  seit  1871  ein  ständiges 
Wachstum  zeigt,  begann  1880  ein  vermehrter  Zudrang  zum  Medi¬ 
zinstudium,  welcher  bis  zum  Jahre  1891  immer  weiter  bis  zu 
einer  beängstigenden  Höhe  anstieg,  so  daß  statt  13-8%  nun¬ 
mehr  42-1%  aller  Studierenden  Mediziner  waren.  Dementspre¬ 
chend  stieg  auch  die  Zahl  der  Promotionen. 

Man  kann  rechnen,  daß  alljährlich  etwa  1  •  8 °/'o  der  vor¬ 
handenen  Aerzte  absterben ;  die  Bevölkerungszahl  nimmt  jähr¬ 
lich  rund  1%  zu.  so  daß  also  ein  Zugang  von  3%  an  Aerzten 
ausreichend  sehr  müßte.  1885  betrug  demnach  der  Bedarf  an 
Nachwuchs  von  Aerzten  etwa  215  im  Jahre.  Während  1881/82 
195  promovierten,  1882/83  219,  stieg  die  Zahl  in  den  folgenden 
Jahren  rasch,  um  1894/95  mit  857  den  Höchststand  zu  erreichen; 
von  da  ab  'sank  sie  langsam  bis  zum  Jahre  1904/05  (375  Promo¬ 
tionen).  In  den  Jahren  1885  bis  1904  sind  12.300  Mediziner  zu 
Aerzten  promoviert  Avorden,  Avas  einem  Jahresdurchschnitte  von 
615  entspricht;  es  war  also  der  Bedarf  schon  im  Jahre  1904 
um  mehr  als  7000  überschritten  worden.  Trotzdem  hatte  die 
Anzahl  der  praktizierenden  Aerzte  nur  um  4500  zugenommen. 
Demnach  muß  ein  großer  Teil  der  Promovierten  die  Ausübung 
der  ärztlichen  Praxis  in  Oesterreich  unterlassen  haben  und  Aveiters 
von  den  alten  Aerzten,  mehr  als  der  Sterblichkeitsquote  entspricht, 
aus  der  Praxis  geschieden  sein.  Beides  sind  untragbare  Zeichen 
für  die  Ueberproduktion  und  die  Unmöglichkeit  der  Existenz  in¬ 
folge  einer  solchen. 

Seit  dem  Jahre  1903/04  steigt  aber  die  Zahl  der  Medizin- 
st.udierenden  wieder  an.  Trotzdem  sich  die  Zahl  der  Aerzte 
Oesterreichs  in  den  letzten  20  Jahren  b e  i n  a he  verdoppelt  h  a  t 
und  infolgedessen  die  jüngeren  Lebensalter  im  Stande  überwiegen, 
so  daß  ein  regulierender  Abgang  erst  nach  Dezennien  zu  erwarten 
ist,  beginnt  bereits  wieder  jener  unvernünftige  Zudrang,  Avelcher 
erst  vor  kurzem  den  Aerztestand  materiell  tief  heruntergebracht 
hat,  ohne  daß  es  bisher  gelungen  wäre,  die  Schädigungen  wieder 
zu  beseitigen. 

Wie  erwähnt,  geht  die  Zunahme  der  Aerzte  jener  der  Be¬ 
völkerung  weit  voran.  Während  1889  durchschnittlich  3242  Ein¬ 
wohner  auf  einen  Arzt  kamen,  waren  es  1900  nur  mehr  2477  und 
1910  sind  es  nur  noch  2175.  Auf  den  Flächeninhalt  berechnet, 
kam  in  Oesterreich  1887  ein  Arzt  auf  42-3  km2,  1900  auf  28-4  km2, 
1910  auf  22-7  km2  der  Bodenfläche. 

Diese  für  das  ganze  Reich  berechneten  Zahlen  unterscheiden 
sich  wesentlich  in  den  einzelnen  Ländern  und  auch  der  er- 
Avähnte  enorme  Zudrang  von  Aerzten  in  den  Neunzigerjahren 
verteilte  sich  verschieden  auf  die  einzelnen  Reichsgebiete. 

Wien  zeigte  schon  1880  auf  1890,  in  Avelchen  Jahren  die 
Aerztezahl  in  Oesterreich  etwas  zurückgegangen  Avar,  eine  starke 
Vermehrung  der  Aerzte  (um  23%).  Diese  steigerte  sich  im  fol¬ 
genden  Dezennium  bis  auf  66%,  die-  Zahl  der  Aerzte  von  1377 
im  Jahre  1890  stieg  auf  2280  im  Jahre  1900,  während  die  Be¬ 
völkerung  nur  um  23%  zugenommen  hatte.  Seit  dieser  Zeit 
hat  sich  die  Vermehrung  der  Aerzte  in  Wien  auf  mäßigere  Grenzen 
beschränkt;  von  1900  bis  1905  sind  noch  310  zugetwachsen, 
1905  bis  1910  nur  mehr  154,  im  Dezennium  also  20-4%,  Avas 
ziemlich  dem  Bevölkerungszuwachs  entsprechen  dürfte. 

Der  zweite  Strom  von  neuen  Aerzten  ergoß  sich  über 
Böhmen,  Mähren  und  Schlesien;  hier  nahm  die  Aerztezahl  von 
1890  bis  1900  um  53%  (1289)  zu,  in  den  beiden  Landeshaupt¬ 
städten  Prag  und  Brünn  aber  um  80%,  bzAv.  75%,  indem  sich 
dort  die  Aerztezahl  um  330  vermehrte.  Auch  in  den  Sudeterr- 
ländem  hat  1900  bis  1910  das  Zuströmen  von  Aerzten  bedeutend 
nachgelassen,  übersteigt  aber  noch  Aveit  die  Bevölkerungszunahme. 
Nur  in  Prag  ist  die  Vermehrung  der  Aerztezahl  auch  in  diesem 


Dezennium  unverhältnismäßig  hoch ;  sie  betrag  1900  bis  1905 
37%,  1905  bis  1910  27%.  _  • 

Das  Gleiche:  Avie  für  Prag  gilt  für  die  übrigen  größeren 
Städte  des  Reiches;  so  hatte  Triest  1890  bis  1900  eine  Zunahme 
von  44%  an  Aerzten,  aber  nur  13%  der  Bevölkerung;  Graz  60% 
(bei  23%  Eimvohnerzunahme),  Lemberg  70%  (auf  25%),  Krakau 
73%  (auf  22%).  Im  Dezennium  1900  bis  1910  hat  in  Lemberg 
die  Aerztezahl  um  weitere  61%,  in!  Triest  um  29%,  in  Krakau 
um  21  %  zugenommen,  in  Graz  jedoch  etwas  abgenommen. 

Der  Rest  -des  Ueberflusses  der  Neunzigerjahre  verteilte-  sich 
auf  die  einzelnen  Länder;  wo  noch  ein  Platz  zur  Unterkunft  war, 
ließen  sich  die  neuen  Aerzte  nieder;  infolgedessen  finden  Avir 
die  größte  Zunahme  dort,  avo  die  Aerzte  bisher  am  spärlichsten 
verteilt  waren,  auf  dem  Lande  in  Galizien  und  in  der  Bukowina,  ln 
erster  cm  betrug  1890  bis  1900  die  Zunahme  an  Aerzten  40%  (242; 
bei  10%  Bevölkerungszuwachs),  in  der  Bukowina  75%  ;  aber  auch 
in  den  anderen  Ländern  wuchs  die  Aerztezahl  (ausgenommen  in 
Dalmatien).  Trotzdem  in  Galizien  und  in  der  Bukowina  nur 
ein  minimaler  Bruchteil  (etwa  2%)  der  Bevölkerung  kranken¬ 
versichert  ist,  also  ein  Bedürfnis, nach  Aerzten  durch  die  Kranken¬ 
kassengesetzgebung  nicht  -erst  geschaffen  worden  war,  sehen  wir 
auch  hier  die  unverhältnismäßig«  Vermehrung  der  Aerztezahl 
als  Zeichen  der  Ueberproduktion. 

Als  Folge  derselben  kam  dann  im  nächsten  Dezennium  der 
Rückschlag.  Ueberall  auf  dem  Lande,  avo  1890  bis-  1900  ein 
auffälliger  Zugang  von  Aerzten  zu  verzeichnen  war,  ist  derselbe 
bedeutend  gesunken,  zum  Teil  sogar  unter  die  Bevölkerungs- 
zunalnne  (Oberösterreich,  Krain,  Bukowina),  ein  Beweis  dafür, 
daß 'auf  dem  Lande  die  Existenzmöglichkeit  für  eine  weitere  Zahl 
von  Aerzten  nicht  vorhanden  ist. 

Der  neue  Zufluß  lenkt  jetzt  in  die  Städte-  ab,  Avelche  noch 
immer  Zunahmen  Aveit  über  die  Bevölke-rungsvennehrung  auf- 
av eisen.  Weniger  als  Wien  sind  es  jetzt  die  Landeshauptstädte 
(außer  Graz),  ferner  die  größeren  Städte  des  Reiches,  denen  das 
neue  Aerztematerial  zuströmt.  Wir  sehen  das  aus  folgender  Zu¬ 
sammenstellung  : 


Einwohner  1900 
Aerzte  1905 
Aerzte  1910 


Orte  bis 

Städte  mit 
20.000  bis 
100.000  Einw. 

Großstädte 

Wien 

Zusammen 

20.000  Einw. 

außer  AA'ien 

22,308.100 

1.038.300 

1 ,129.300 

1,675.000 

26,150.700 

85-3'Vo 

4'0°/0 

4'3°/0 

6-4% 

100%% 

6277 

1287 

1970 

2892 

12-426 

50-5% 

10-4  °/0 

15-8®/, 

23-3% 

100% 

6481 

1408 

2267 

3046 

13202 

49-0% 

10-7  °/0 

17*2% 

23-l°/o 

100% 

Die  Zahl  der  Aerzte  auf  dem  Lande  nimmt  also  zugunsten 
der  großein  Städte  ab.  Diese  Landflucht  der  Aerzte  hängt  mit  der 
Zunahme  der  Spezialärzte  zusammen.  Da  in  Oesterreich 
die  Kassenpraxis  noch  an  den  wenigsten  Orten  den  Spezialärzten 
erschlossen  ist,  besteht  für  dieselben  nur  dort  eine  Existenzmög¬ 
lichkeit,  avo  eine  genügend  große  private  Klientel  ein  Tätig¬ 
keitsgebiet  -eröffnet,  das  ist  in  den  größeren  Städten.  Deshalb 
findet  sich  die  Zunahme-  nicht  nur  in  den  Universitätsstädten, 
avo  ja  die  Zahl  der  als  Hilfsärzte-  Beschäftigten  in  den  letzten 
Jahren  zurückgegangen  ist,  sondern  auch  in  den  größeren  Städten 
ohne  Universitäten.  Mit  der  fortschreitenden  Erschließung  der 
Kassenpraxis  werden  wir  bald  den  Zudrang  auch  bei  den  mittleren 


städten  auf  treten  sehen. 

Betrachten  wir  nun  -den  jetzigen  Stand  der  Aerzte  in 
I) esterreich,  Avie  ihn  uns  das  Ende  1910  abgeschlossene  Jahr¬ 
buch  -gibt. 


7oVil  rlor  A  AV7.f  A 


Auf  einen  Arzt  kommen 


Niederösterreich  .  • 

Oberösterreich  .  .  . 

Salzburg . 

Steiermark  .  .  . 

Kärnten . 

Krain . 

Triest . 

Görz  und  Gradiska  . 

Istrien . 

Tirol . 

Vorarlberg  .  .  .  . 

Böhmen  .  .  .  . 

Mähren . 

Schlesien . 

Galizien . 

Bukowina  .  .  .  . 

Dalmatien  .  .  .  . 

Zusammen 


3839 

402 

146 

750 

165 

115 

225 

72 

182 

661 

69 

3264 

1027 

264 

1675 

170 

176 

13.202 


940 

5-2 

2110 

29-8 

1510 

48-9 

1930 

29-9 

2290 

62-6 

4570 

86-6 

1010 

— 

3490 

40-5 

2090 

27-2 

1390 

40-4 

2130 

37-7 

2090 

15-9 

2560 

21-6 

2930 

19-5 

4860 

46-9 

4800 

61-4 

3600 

72-9 

2175 

22-7 

Wir  sehen  aus  obiger 


Zusammenstellung  sofort  die  Häu¬ 


fung  der  Aerzte  in  Niederösterreich,  weil  Wien  mehr  als  ein  Viertel 


Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


317 


sämtlicher  Aerzt©  Oesterreichs,  wenm  auch  nur  etwa  ein  Drei¬ 
zehntel  der  Gesamtbevölkerung  des  Reiches  besitzt.  Eine  ähnliche 
Häufung  von  Aerzten  finden  wir  in  den  Landeshaupt-  und  Uni¬ 
versitätsstädten,  den  Kurorten  usw.,  so  daß  die  oben  angeführten 
Verhältniszahlen  keinen  richtigen  Einblick  über  die  Verteilung 
der  Aerzte  in  den  einzelnen  Kronländem  gewähren.  Ich  habe 
daher  diese  Orte  bei  den  einzelnen  Ländern  in  Abzug  gebracht 
und  es  ergaben  sich  dann  folgende  Zahlen: 


Auf  dem  Lande  in 

Zahl  der  Aerzte 

Auf  einen 
Einwohner 

Arzt  kommen 
km- 

Niederösterreich 

.  .  740 

2080 

26-4 

Oberösterreich 

.  .  273 

2790 

439 

Salzburg  .... 

.  .  82 

2320 

8U8 

Steiermark  .  .  . 

.  .  424 

3000 

529 

Kärnten  .... 

.  .  11t 

3160 

930 

Krain . 

.  .  61 

7930 

163-2 

Görz  und  Gradiska 

.  .  41 

5430 

7U2 

Istrien . 

.  .  77 

4360 

64-4 

Tirol  . 

.  .  347 

2260 

76-9 

Vorarlberg  .  .  . 

.  .  69 

2130 

37-7 

Böhmen  .... 

.  .  1885 

3200 

27-6 

Mähren  .... 

.  .  700 

3440 

3U7 

Schlesien  .... 

.  .  216 

3450 

23-8 

Galizien  .... 

.  .  749 

10.000 

1048 

Bukowina  .  .  . 

86 

8580 

121-4 

Dalmatien 

.  .  135 

4500 

95  1 

Auf  dem  Lande  ist  also  in  Galizien,  in  der  Bukowina  und 
in  Krain  die  relative  Aerztezahl  am  geringsten,  die  beste  Ver¬ 
sorgung  der  Bevölkerung  mit  Aerzten  hat  Niederösterreich,  Vor¬ 
arlberg,  Tirol  und  Salzburg.  Auf  die  Bodenfläche  berechnet,  sind 
in : Krain  die  Aerzte  am  weitesten  zerstreut,  dann  folgen  die  Buko¬ 
wina  und  Galizien;  auch  in  Dalmatien,  Kärnten  und  Salzburg 
haben  die  Aerzte  weite  Umkreise  zu  besorgen.  Am  dichtesten 
domizilieren  die  Aerzte  in  Schlesien,  Niederösterreich  und 
Böhmen.  Die  Dichte  der  Aerzte  lauft  nicht  proportional  der 
Bevölkerungsdichte  (Einwohnerzahl  auf  den  Quadratkilometer  be¬ 
rechnet);  vielmehr  sind  am  spärlichsten  bewohnt  Salzburg,  dann 
Tirol  und  Kärnten ;  am  dichtesten  Schlesien,  ferner  Böhmen, 
Mähren  mnd  Galizien. 

Betrachten,  wir  die  in  der  letzten  Zusammenstellung  in 
Abzug  gebrachten  Orte  gesondert,  so  können  wir  in  den  K  u  r- 
orten  die  Aerztezahl  nicht  auf  die  Einwohnerzahl  beziehen. 
Von  den  größeren  hatten : 


1905 

1910 

Karlsbad . 

.  150 

163 

Aerzte 

Meran  und  Umgebung  . 

.  53 

76 

» 

Marienbad . 

57 

69 

» 

Baden  bei  Wien  .  .  . 

.  46 

53 

» 

Franzensbad  .... 

.  48 

50 

» 

Bozen-Gries . 

.  27 

37 

» 

Abbazia-Lovrana  .  .  . 

32 

36 

» 

Der  größten  Vermehrung  an  Aerzten  erfreuen  sich  derzeit 
die  Südtiroler  Kurorte.  In  allen  oben  angeführten  Orten  zusammen 
hat  die  Aerztezahl  in  den  letzten  fünf  Jahren  uin  170/'o  zuge¬ 
nommen, 'in  dein  Südtiroler  um  41°/o. 

Von  den  größeren  Städten  Oesterreichs*)  können  wir 
Pola  nicht  in  Berücksichtigung  ziehen,  weil  dort  die  Marineärzte 
(auch  die  eingeschifften)  mitangeführt  sind.  Für  Prag  ist  die 
bisher  übliche  Berechnung  deshalb  unbrauchbar,  weil  diese  Stadt 
mit  ihren  großen  Vorstädten  jetzt  einen  zusammenhängenden 
Komplex  bildet,  dessen  Aerzte  in  ihren  Wohnstätten  ungleichmäßig 
verteilt  sind;  rechnet  man  aber  die  sechs  großen  Vorstädte  mit 
ein,  so  bekommt  man  ein  richtiges  Bild. 


Ende  1910  kamen  in 

Olmütz . 

Innsbruck  .... 
Lemberg  und  Krakau 
Klagenfurt  .  ;  .  . 

Graz . 

Prag  samt  Vorstädten 
Troppau  .... 

Brünn  . 

Wien . 

Trient . 

Reichenberg,  Teschen 
Laibach,  Marburg  . 
Salzburg  .... 
Linz,  Iglau,  Stanislau 
Görz,  Przemysl  .  . 

Pilsen . 

Czernowitz  .  .  . 

Triest  ..... 
Budweis  .... 
Aussig . 


auf  1  Arzt 

auf  10.000  Ein¬ 

Einwohner 

wohner  Aerzte 

390 

26-2 

485 

20-6 

490 

20-5 

510 

19-9 

530 

190 

590 

17-6 

620 

16T 

640 

15-7 

670 

14-8 

710 

14-0 

750 

13-3 

760 

13-2 

770 

130 

820 

12-3 

920 

10-9 

950 

10-5 

960 

10-4 

1010 

9-9 

1150 

8-9 

1400 

7-1 

*)  Soweit  sie  bereits  vorliegen,  sind 
zählung  Ende  1910  zugrunde  gelegt. 


die  Ergebnisse  der  Volks- 


Auffällig  ist  die  besonders  hohe  Aerztezahl  in  Olmütz, 
wobei  hervorgehoben  werden  muß,  daß  die  Hilfsärzte  der  Landes 
krankenanstalten  nicht  mitgezählt  sind,  weil  sie  in  Neugassc 
wohnen.  I  Innsbruck,  Lemberg  und  Krakau  sind  Universitätsstädte, 
in  Klagenfurt  erhöht  die  Zahl  der  Anstaltsärzte  (Krankenhaus, 
Irrenanstalt  usw.)  erheblich  die  Aerztezahl.  Von  den  größeren 
(Landeshaupt-)Städten  weist  nur  Triest  eine  mäßige  Zahl  auf, 
trotzdem  hier  die  19  Lloydärzte  mitgezählt  sind,  ohne  welche 
obige  Verhältniszahlen  sich  auf  1100,  bzw.  9-1  ändern. 

Weibliche  Aerzte  zählt  das  neueste  Jahrbuch  80,  das 
sind  6%0.  Wie  schnell  deren  Zahl  zunimmt,  ersehen  wir  daraus 
daß  1905  bloß  9,  1908  schon  34  zur  Praxis  gemeldet  waren. 
Von  den  derzeitigen  80  Aerztinnen  praktizieren  39  in  Wien, 
13  in  Lemberg  und  Umgebung,  10  in  Krakau,  8  in  Prag  und. 
Vororten,  2  in  Baden  bei  Wien  und  je  1  in  Klagenfurt,  Triest, 
Franzensbad,  Karlsbad,  Marienbad,  Pilsen,  Reichenberg,  Brünn 
und  Kolomea. 

In  80  angegebenen  Landorten  waren  bei  Abschluß  des  Jahr¬ 
buches  die  systemisierten  Arztesstellen  (Gemeinde-,  Distrikts¬ 
arztes- uswu  -  Stellen)  unbesetzt.  Ein  Teil  derselben  ist  gewiß 
nur  durch  Zufall  (Tod,  Uebersiedlung)  und  vorübergehend  frei. 
Aber  20  von  diesen  Stellen  sind  bereits  in  den  Jahrbüchern  von 
1909 pind  1910  als  unbesetzt  ausgewiesen,  ln  zahlreichen  anderen 
Orten  hat  sich  die  Aerztezahl  von  zwei  auf  einen  vermindert.  Es 
handelt  sich  zumeist  um  Stellen,  welche  zur  Zeit  des  größten 
Aerzteüberflusses  neu  geschaffen,  damals  nur  einem  mittellosen 
jungen  Arzte  eine  vorübergehende  Zufluchtstätte  bieten  konnten 
oder  für  einen  nicht  mehr  konkurrenzfähigen  alten  Wundarzt 
ein  kleines  Ausgedinge  bildeten,  nach  deren  Abgang  aber  wegen 
der  vollständig  ungenügenden  Erwerbsverhältnisse  trotz  größter 
Anstrengung  sich  keine  Bewerber  mehr  fanden.  Auch  diese  Stellen 
kommen 'aber  wieder  sofort  zur  Besetzung,  sobald  durch  eine  ent¬ 
sprechende  Besoldung  die  Existenz  eines1  Arztes  gesichert  wird. 
Zum  Teil  ist  also  die  Landflucht  der  Aerzte,  die  oben  ziffer- 
mäßig  dargestellt  ist,  eine  passive,  durch  die  schlechten  Existenz¬ 
bedingungen  hervorgerufen ;  inwieweit  zum  anderen  Teile  die 
Zunahme  der  Spezialärzte  in  Betracht  kommt,  läßt  sich 
zahlenmäßig  nicht  belegen,  da  im  Jahrbuche  nur  bei  einem  Bruch¬ 
teile  aller  Aerzte  angegeben  ist,  ob  sie  ein  Spezialfach  betreiben 
oder  nicht  (mangels  Rücksendung  der  Fragebogen).  Nur  für  Wien, 
Graz  und  Prag  sind  besondere  Verzeichnisse  der  Spezialärzte 
vorhanden;  die  Zahl  derselben  betrug: 


in 

Wien 

in 

Graz 

in  Prag 

1905 

1910 

1905 

1910 

10,0  (richtig 
1J1Ü  gestellt) 

Innere  Medizin . 

62 

75 

6 

7 

35 

Kehlkopf-  u.  Nasenkrankheiten 

27 

39  | 

Q 

9 

Obrenkrankheiten  .... 

14 

19  1 

Nerven  -  u.  Geisteskrankheiten 

31 

32 

3 

9 

12 

Sprachfehler . 

3 

3 

— 

— 

— 

Kinderkrankheiten  .  .  .  . 

36 

4t 

5 

6 

25 

Chirurgie . 

37 

42 

6 

10 

14 

Orthopädie . 

17 

32 

5 

5 

9 

Röntgen  . 

7 

14 

1 

2 

6 

Frauenärzte . 

58 

67 

10 

11 

36 

Haut-  u.  Geschlechtskrankh. 

46 

79 

3 

4 

30 

Augenkrankheiten  .  .  .  . 

23 

32 

5 

8 

9 

Zusammen 

361 

475 

52 

71 

200 

Die  Zahl  der  Spezialärzte  hat  demnach  in  den  letzten  fünf 
Jahren!  in  Wien  um  32%,  in  Graz  um  37%  zugenommen;  sie 
betrugl'1910  in  Wien  16%,  in  Graz  25%,  in  Prag  23%  der  Gesamt¬ 
ärztezahl.  Hiezu  käme  noch  die  nicht  unbeträchtliche  Zahl  von 
Zahnärzten,  welche  sich  in  den  größeren  Orten  ebenfalls  meist 
nur  auf  ihr  Fach  beschränken. 

Fassen  wir  die  Ergebnisse  dieser  statistischen  Unter¬ 
suchungen  über  die  Aerzte  kurz  zusammen,  so-  zeigen  sie  fol¬ 
gendes  :  Di©  Ueberproduktion  an  Aerztepersonal  in  den  beiden 
letzten  Dezennien  hat  zu  einer  Ueberfüllung  in  den  größeren 
Städten  und  zur  Verteilung  von  Aerzten  in  alle  Landgebiete  ge¬ 
führt.  Von  letzteren  findet  bereits  ein  Zurückfluten  des  Ueber- 
schusses  statt.  Durch  Ergreifen  eines  Spezialfaches  .suchen  die 
einer  Tätigkeit  ermangelnden  überzähligen  Aerzte  Existenzbedin¬ 
gungen  zu  finden,  Ragen  aber  bei  den  gegenwärtigen  Verhältnissen 
nur  noch  weiter  zur  Steigerung  des  Ueberflusses  in  den  grö¬ 
ßeren  Städten  bei.  Das  Ueberwiegen  der  Aerzte  in  jüngerem 
Alter  läßt  noch  lange  auf  eine  Regulierung  der  Aerztezahl  durch 
Abgang  warten.  Trotz  dieser  ungünstigen  Aussichten  ist  in  den 
letztein  Jahren  bereits  wieder  eine  Zunahme  der  Medizinst.udie- 
renden  zu  verzeichnen. 


318 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


Referate. 

Medical  Education  in  the  United  States  and  Canada.*) 

The  Carnegie  Foundation  for  the  advancement  of  teaching. 

New  York  1910,  Bulletin  number  four. 

Der  vorliegende,  346  Seiten  starke  Band  erörtert  in  er¬ 
schöpfender  Weise  die  medizinischen  Unterrichts  Verhältnisse  der 
Vereinigten  Staaten  und  Kanadas.  Im  ersten  Teile  wird  im1  all¬ 
gemeinen  gezeigt,  welche  Anforderungen  an  einen  zeitgemäßen 
medizinischen  Studienplan  zu  stellen  sind  und  inwieweit  die 
bestehenden  Einrichtungen  denselben  entsprechen ;  der '  zweite 
Teil  schildert  in  übersichtlicher  Anordnung  die  Zustände  jeder 
einzelnen  der  155  amerikanischen  Medizinschulen.  Das  Ergebnis, 
welches  auf  den  genauesten  Erhebungen  an  Ort  und  Stelle  beruht, 
ist  kein  erfreuliches  und  im  Gesamtbilde  treten  die  Kontraste  allzu 
grell  hervor;  stehen  doch  so  ausgezeichneten,  reich  dotierten  An¬ 
stalten,  wie  der  John  Hopkins  oder  der  Universität  Michigan, 
Schulen  gegenüber,  die  nichts  anderes  als  elend  ausgerüstete, 
nur  dem  Profit  dienende  Handelsuntemehmungen  sind.  Leider 
•gilt  das  letztere  von  der  Mehrzahl,  denn  kaum  ein  Fünftel  der 
Schulen  besitzt  entsprechende  Zulassungsbedingungen,  genügende 
Laboratorien  und  Kliniken,  richtige  Leitung.  Die  Folgen  liegen 
auf  der  Hand.  Die  enorme  Zahl  der  Schulen  überflutet  die 
amerikanischen  Länder  mit  Aerzten,  von  denen  nur  eine  schwache 
Minorität  jene  Bildungshöhe  und  praktische  Fertigkeit  erlangt  hat, 
die  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Wissenschaft  entspricht.  Von 
den  Bemühungen  der  Carnegie  Foundation  um  die  Reorganisation 
des  ärztlichen  Unterrichtes  in  Amerika  darf  für  die  Zukunft  das 
Beste  erhofft  werden,  nicht  wenig  aber  von  dem,  was  an  Ver¬ 
besserungsplänen  vorgebracht  wird,  sollte  schon  jetzt  auch  bei 
der  Verwaltung  der  medizinischen  Lehranstalten  Europas1  Be¬ 
herzigung  finden,  damit  nicht  einmal  das  alte  Sprichwort  zur 
Anwendung  käme;  De  te  fabula  narratur. 

Neuburger. 

* 

Die  medizinische  Hölle  in  den  Vereinigten  Staaten 
Nord-Amerikas. 

Von  Med.  Univ.  Philosophiaeque  Dr.  S.  R.  Klein,  Professor  der.  Histologie 
und  Pathologie  der  Gehirn-  und  Nervenkrankheiten,  Direktor  des 
Fordham  Laboratoriums,  gewesener  Stabsarzt,  etc.  etc. 

489  Palhan  Avenue,  Bronx,  N.  Y.  City,  U.  S.  N.  A. 

Daß  di©  amerikanischen  medizinischen  Schulen  seit  jener 
in  schlechtem  Rufe  standen,  wußten  wir  schon  als  Mediziner 
drüben,  als  wir  noch  das  Pflaster  der  Alma  mater  von  Wien,  Buda¬ 
pest,  Tübingen  und  Paris  traten.  Wer  konnte  sich  eines  ver¬ 
schmitzten  Lächelns  enthalten,  wenn  er  einem  amerikanischen 
„Doktor“  begegnete?  Man  frag  sich  gleich,  hatte  „er“  das  Diplom 

in  Ch . für  100  oder  vielleicht  gar  für  50  Dollars  gekauft?  - 

Nun,  diese  schrecklichen  Zeiten  sind  ja  glücklich  vorüber,  das 
medizinische  Studium  ist  ja  heutzutage  bereits  auf  eine  bessere 
Basis  gestellt,  aber  in  den  westlichen  Staaten  spukt  es  noch 
immer.  New  York,  Philadelphia,  Baltimore  (Johns  Hopkins)  sind 
gewiß  entsprechend  (nicht  und  vielleicht  niemals  zu  gut),  aber 

*)  Diesem  von  der  Redaktion  veranlaßten  Referate  sei  ein  weiteres 
hinzugefügt,  dem  Blatte  spontan  beigestellt  und  in  seiner  originell  tem¬ 
peramentvollen  Schreibweise  unverändert  wiedergegeben.  Alle  Kenner 
amerikanischer  Verhältnisse  sind  voll  Bewunderung  für  die  nahezu  auf 
allen  Gebieten  geradezu  vorbildlichen  Leistungen  und  Fortschritte  dortiger 
Kultur.  Oft  genug  wurde  es  unumwunden  anerkannt,  daß  gerade  die 
~  fast  ausschließlich  durch  private  Initiative  geschaffenen  —  humanitären 
und  namentlich  auch  die  wissenschaftlichen  Institutionen  Amerikas  in 
der  Großzügigkeit  und  Vollkommenheit  ihrer  Einrichtungen  alles,  was 
Europa  diesbezüglich  aufzuweisen  hat,  so  sehr  in  den  Schatten  stellen 
und  die  berufensten  Gelehrten  haben  mit  dem  Ausdruck  lebhafter  Besorg¬ 
nis  nicht  zurückgehalten,  daß  gegenüber  der  verständnisvollen  Liberalität 
mit  der  man  drüben  die  Forscherarbeit  fördert,  Europa  auf  diesem  Gebiete 
mit  der  Zeit  naturnotwendig  in  seiner  Konkurrenzfähigkeit  Einbuße  er¬ 
leiden  muß.  Um  so  mehr  bietet  es  Interesse,  zu  erfahren,  wie  gerade  dort 
sich  neben  in  ihrer  Vortrefflichkeit  kaum  zu  übertreffenden  Zuständen, 
unter  dem  Schutze  zügelloser  Freiheit  auch  noch  Auswüchse  finden, 
die,  namentlich  soweit  sie  das  medizinische  Unterrichtswesen  betreffen, 
kaum  glaublich  erscheinen.  Gerade  in  dem  Umstande  aber,  daß  sich  die 
Amerikaner  die  nötige  Objektivität  und  den  Freimut  gewahrt  haben,  um 
diese  Mißstände  selbst  rückhaltslos  aufzudecken,  liegt  der  beste  Beweis 
ihrer  moralischen  Kraft  und  dies  bietet  auch  die  sicherste  Gewähr  für 
eine  ebenso  baldige  als  radikale  Reform.  Die  Redaktion. 


in  Chicago  gibt  es  noch  heute  eine  Schule,  wie  wir  dem  Berichte 
der  Herren:  Dr.  Flexner  und  Dr.  Pritchett  entnehmen  können 
(S.  212),  die  sogenannte  „National  Medical  University“,  wo  Lohn¬ 
diener,  Kutscher,  Bahnbedienstete,  Krankenwärter  usw.  ohne 
jede  Vorbildung  als  Mediziner  aufgenommen  werden.  Alles,  was 
sie  zu  tun  haben,  ist;  die  „nötigen“  150  Dollars  zu  zahlen 
und  zahlen  sie  die  Gelder  für  die  „notwendigen  drei  Jahre“ 
im  voraus,  so  wird  ihnen  vom  „Dekan“,  der  zugleich  der  „Präsi¬ 
dent“  der  „Fakultät  und  Universität“  ist,  mit  Handdruck  ver¬ 
sprochen,  daß  sie  nach  „Absolvierung“  der  „Kurse“  vom  „In¬ 
stitute“  nach  Wien,  London  und  Paris  auf  Kosten  des  „Insti¬ 
tutes“  gesandt  werden.  Das  Geld  muß  aber'  „bar“ 'bezahlt  werden. 
Das  „Institut“  besitzt  drei  Zimmerchen,  alle  schlecht  beleuchtet, 
Das  sogenannte  „anatomische“  Institut  befindet  sich  über  einer 
Milchwirtschaft.  Sie  sollen  zehn  Immersionslinsen  gehabt  haben, 
diese  wurden  aber,  laut  Aussage  des  „Dekans“,  sämtliche  von 
den  Studenten  gestohlen.  (Nettes  Volk!  Nicht  wahr?)  Eine  andere 
medizinische  Schule  in  Chicago,  die  sogenannte  „Osteopathische“, 
besitzt  ein  chemisches  Laboratorium,  welches  über  drei  Gläser  und 
zwei  Flaschen  Alkohol  verfügt.  Zwei  Klassenzimmer,  mit  ein 
paar  Stühlen  usw. 

S.  257  des  zitierten  Werkes  finden  wir  wieder  einen  netten 
Report:  Die  sogenannte  „American  Medical  Eclectic  College“. 
Die  Zahl  der  Schüler  beträgt  28,  die  Zahl  der  Professoren  28 
und  3  Assistenten.  Die  Dispensary  weist  jeden  Tag  „einen 
Kranken“,  auf.  Diese  Schule  befindet  sich  im  Staate  Missouri. 
Im  selben  Staate  (Stadt  Kansas)  existiert  noch  eine  andere  Schule 
(S.  252),  wo  59  Studenten  immatrikuliert  sind,  die  Zahl  der  Pro¬ 
fessoren  ist  41,  bisnun  wurde  Anatomie  noch  nicht  gelehrt.  In 
Pathologie,  Bakteriologie,  Physiologie',  Chemie,  Histologie  und 
Embryologie  wird  von  einem  und  demselben  „Lehrer“  unter¬ 
richtet. 

Im  Staate  Georgia  (S.  204 — 205)  finden  wir  ein  medizini¬ 
sches  Institut  für  Medizin  und  Chirurgie!,  wo  66  Studenten  und 
20  Professoren  nebst  14  Assistenten  sind.  Alles,  was  die  Kom¬ 
mission  daselbst  fand,  waren  einige  schmutzige  Gläser  in  den 
sogenannten  Laboratorien;  für  „Pathologie“  konnte  noch  nichts 
getan  werden,  nachdem  man  in  Georgia  bis  heute  noch  nichts 
von  Pathologie  gehört  hat.  Es  ist  ein  Staat,  wo  der  größte  Teil 
der  Bevölkerung  aus  Negern  besteht. 

Eine  „medizinische“  Schule  San  Franciscos  führt  den  Titel: 
„Lelajnd  Stanford  Junior  University  School  of  Medicine,  on  the 
Cooper  Medical  College  Foundation“.  Die  Schule  besitzt  16  Stu¬ 
denten  und  21  Professoren,  ein  Lehrer  für  „sämtliche  Labora- 
toriumarbeiten“  usw. 

Aus  dem  Staate  North  Carolina  (Seite  279  des  Buches) 
finden  wir  wieder  einen  Report.  Wer  „Professor  werden  will“ 
muß  eine  gewisse  Summe  zum  Fundus  der  Schule  einzahlen. 
(4  S  t  u  d en  ten  und  87  Professoren!)  Die  Schule  .besteht  seit 
dem  Jahre  1887,  daselbst  wurde  aber  noch  nie  eine  Sektion 
vorgenommen.  Dictum,  Factum. 

In  Pittsburg,  Pennsylvanien  (S.  297),  gibt  es  eine  Schule, 
die.  sogenannte  „University  of  Pittsburgh,  Medical  Department“, 
wo  die  Kommission  im  „pathologischen  Lehrsaale“  bloß  vier  zer¬ 
brochene  Stühle  vorfand.  In  dem  dem  Institute  einverleibten 
Dispensarium  ist  eine  Wärterin  angestellt. 

In  Vermilion,  Staat  South  Dakota  (S.  301),  istidie  University 
of  South  Dakota  College  of  Medicine.  Zahl  der  Studenten  sieben. 
Fünf  Professoren  und  fünf  Assistenten.  In  einer  anderen  Schule 
werden  Anatomie,  Physiologie,  Chemie,  Histologie,  Bakteriologie 
in  einem  und  demselben  „Saale“  unterrichtet.  Ja  sogar  in  der 
„deutschestem“  Stadt  der  Vereinigten  Staaten:  Milwaukee,  gibt  es 
eine  medizinische  Schule,  wo  Pathologie  und  Bakteriologie  nur 
deshalb  nicht  unterrichtet  wird,  weil  es  den  gegenüber  wohnenden 
katholischen  Priestern  nicht  angenehm  ist.  (Unglaublich !  Nicht 
wahr  ?) 

Unzählige  Fälle  werden  in  dem  beinahe  400  Seiten  zäh¬ 
lenden  Buche  erwähnt.  Alles  wahre  Tatsachen,  offizielle  Reporte. 
Sogar  in  der  Stadt  New  York  gibt  es  drei  „medizinische“  Schulen, 
welche  vom  Erdboden  weggefegt  werden  sollten.  Es  ist  auch 
absurd,  eben  in  der  Stadt  New  York  die  Hölle  der  amerikanischen 
Medizin  zu  vermehren.  So  z.  B.  Isagte  der  Präsident  einer  hiesigen 
Schule  anläßlich  der  Eröffnung  des  Schuljahres,  daß  die  Schüler 


Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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doch  je  mehr  a.uf  dem  öffentlichen  „Schreimarkte“  die  Schule 
annoncieren  sollen.  Sie  nehmen  ja  schließlich  jeden  auf. 
ohne  Unterschied  der  Religion,  damit  nur  recht  viel  Geld  ein- 
fließen  möge.  Es  waren  Studenten,  die  aus  sämtlichen  Gegen¬ 
ständen  des  ersten  Jahrganges  durchfielen,  nichtsdestoweniger 
wurden  diese  großen  Aeskulapjünger  in  das  zweite  Jahr  aufge¬ 
nommen.  Ein  Student,  der  aus  einer  anderen  Schule,  wo  er 
durchfiel,  übernommen  wurde,  brachte  gefälschte  Zeugnisse, 
studiert  aber  weiter  in  der  Universität.  Die  sogenannte  homöo¬ 
pathische  Schule,  die  schon  seit  20  Jahren  besteht,  fängt  jetzt 
an,  pathologische  Laboratorien  zu  bauen  und  das1  wird  einem 
jeden  Besucher  von  dessen  Dekan  mit  solcher  „Schärfe“  ein¬ 
geprägt,  daß  man  faktisch  zu  glauben  anfängt,  daß  sie  wirklich 
Pathologie  studieren  wollen.  (Aber  Gift  nimm  ich  noch  immer 
nicht,  darauf!  S.  R.  K.)  Was  für  Gattung  Doktoren  und  Pro¬ 
fessoren  in  diesen  Schwindelanstalten  herangebildel  werden 
können,  benötigt  keines  Kommentars. 

Vor  ein  paar  Wochen  erschien  ein  Ruch,  welches  Doktor 
Barnes  by  zum  Verfasser  hat.  Dir.  Barnes  by  ist  ein 
tüchtiger  Arzt,  hier  und  in  Europa  herangebildet.  Er  führt  eben 
entsetzliche  und  haarsträubende  Fälle  an  und  würden  eben  nicht 
hervorragende  Männer  seinem  Buche  „Artikel“  geliefert  haben, 
so  würde  man  die  ganze  „Schriftstellerei“  Dr.  Barnesbys 
als  Reklamehascherei  betrachten.  Es  sind  aber  durchgehends  Be¬ 
weise  da,  Ta  tsacheh ,  Facta  loquuntur.  Unter  anderm  wird  ein 
Fall  erwähnt,  wobei  ein  Patient  1000  Dollars  einem  sogenannten 
„Operateur  mit  Diplom“  gezahlt  hat.  Die  Veranlassung  war  eine 
sogenannte!  Operation  wegen  der1  modernen  amerikanischen  Krank¬ 
heit:  Appendizitis.  Der  Kranke  „genas“,  litt  aber  weiter  an 
—  Appendizitis.  Darauf  wurde  er  von  einem  echten  Opera¬ 
teur  u.  zW.  einem  Wiener  Arzte  operiert,  diesmal  wurde  auch 
die  Appendix  herausgeschnitten,  welches  Körperstück  darauf  dem 
„berühmten“  Operateur  gezeigt  wurde.  Alles,  was  „er“  sagte, 
war:  „Ja,  was  habe  ich  denn  'dann  operiert ?“i —  Während  ich  als 
Pathologe  und  Bakteriologe  in  einem  der  hiesigen  staatlichen 
Irrenspitäler  gewirkt  habe,  hatte  ich  Gelegenheit  zu  sehen,  wie 
ein  solcher  amerikanischer  Operateur  während  seiner  Operation, 
eben  an  Appendizitis,  dem  Patienten  die  Harnblase  total  durch- 
schnitt.  So  einen  Kerl  sollte  man  schnurstracks  auf  den  elek¬ 
trischen  Stuhl  setzen. 

Es  geht,  Avie  meine  Wiener  Kollegen  aus  den  Blättern  darüber 
gut  unterrichtet  sind,  das  Land  einer  kleinen  Revolution,  auch 
auf  dem  medizinischen  Gebiete;  entgegen.  Denn  was  sollen  wir 
sagen,  Avenn  sich  sogar  ein  in  Deutschland  promovierter  Arzt 
hier  dem  Schwindel  ergibt,  indem  er  öffentlich  mitteilte,  daß  er 
69  Freud -Operationen  in  zwei  Spitälern  ausgeführt  hat.  Es  Avar 
alles  unwahr.  Derselbe  Arzt  wurde  aus  den  gesamten  Spitälern 
und  Gesellschaften,  denen  er  angehörte,  hinausbugsiert.  Mit  ihm 
zusammen  auch  ein  anderer,  ich  glaube,  ein  durchgefallemcr 
Wiener  Student,  der  hier  in  einer  Schwindelanstalt  „studiert“ 
hatte  und  der  dein  Kollegen  zU  seinem  Schwindel  vorhin  if.  Nie 
hatten  wir  in  Europa,  solche  Fälle  gesehen,  gehört,  nie,  unter 
Aerzten.  ( 

Ja,  meine  Herren  Kollegen,  Bücher  könnte  man  über  diese 
gräßlichen  Sachen  schreiben.  Man  findet  kaum  10%  —  so  kann 
mit  Ehrlichkeit  gesagt  werden  —  Anstand  in  den  Instituten, 
Anstand  unter  den  Kollegen.  Verleumdungen,  Hiebe  mit  Reit¬ 
peitschen,  Schwindel,  öffentliche  Fämilienskandale  unter  den  Mit¬ 
gliedern  der  ärztlichen  Zunft  —  tagtäglich  kommen  sie  vor. 
Ehre  den  Ausnahmen,  Ehre  den  ausnahmemachenden  Instituten, 
wie  Cornell,  Johns  Hopkims!,  Mc.  Gill,  Columbia,  Rush  und  einigen 
anderen.  Ja,  wie  ist  es!  denn  geschrieben  in  der  Heiligen  Bibel? 
Sie  wissen  eis  ja  alle:  „Und  ich  werde  die  Stadt  nicht  zer¬ 
stören,  wenn  du  mir  zehn  rechtschaffene  Menschen  zu  zählen 
vermagst.“  Ja,  es  gibt  deren  nur  wenige. 

Auch  sind  es  nicht,  alle,  die  alljährlich  nach  Wien  kommen, 
um  dort  angeblich  „Kurse“  zu  nehmen,  denn  ich  kenne  viele, 
die  sich  bloß  herum,  herum,  um  die  Schule  herum  getrieben 
haben  —  sie  bringen  zAvar  ein  Zeugnis  als  „Volontärarzt“  mit, 
jedoch  die  größte  Zeit  ist  in  Theatern,  Kneipen  usw.  verbracht 
worden.  Ich  kannte  einen  Arzt  in  .Iowa,  der  zirka  sechs  bis  sieben 
Monate  in  Frankfurt,  Wien,  Berlin,  Paris1,  in  Begleitung  seiner 
Gemahlin  „verstudiert“  hatte,  auf  meine  sämtlichen  Fragen  jedoch 


nicht  die  ärmlichste  Antwort  geben  konnte.  Er  hat  z.  B.  von 
Weichselbaum  in  Wien  nie  gehört,  auch  von  Kraepelin 
in  München  nicht,  Charcot  —  gab  er  mit  vollem  Ernste  an 
—  im  Grand  Vaudeville- Theatre  zu  Paris  gesehen  zu  haben, 
er  dachte  nämlich,  dieser  Herr  wäre  heute  noch  Schauspieler, 
v.  N  o  o  r  den  hatte  er  nie  nennen  gehört.  Und  diese  Herren  stellen 
dann  in  das  „offizielle“  Records-Buch  hinein,  daß  sie  in  Europa 
„studiert“  haben. 

Und  so  geht  diese  Geschichte  —  ad  infinitum. 

Dr.  S.  R.  Klein. 

* 

Allergie. 

Von  Prof.  Dr.  Clemens  Freih.  v.  Pirquet. 

Berlin  1910,  Verlag  von  Julius  Springer. 

Der  Verf.  gibt  uns  hier  eine  Zusammenfassung  seiner  eigenen 
grundlegenden  Arbeiten  über  Allergie  im  Zusammenhang  mit 
den  wichtigsten  Ergebnissen  der  Arbeiten  anderer  Autoren  auf 
diesem  Gebiete.  Analog  der  Serumkrankheit  werden  durch  die 
Kenntnis  der  Allergie  eine  Reihe  von  Erscheinungen  bei  der 
Vakzination,  der  Variola,  der  Tuberkuloseinfektion  und  der  Tuber¬ 
kulindiagnostik  unserem  Verständnisse  nahegebracht.  Der  Ver¬ 
fasser  gibt  uns  in  seiner  lesenswerten  Abhandlung  nicht  nur 
einen  raschen  Ueberblick  über  die  ganze  Frage,  sondern  verschafft 
uns  namentlich  einen  ausgezeichneten  Einblick  in  das  Wesen 
der  Allergie. 

* 

Die  Lehre  von  der  Säuglingsernährung. 

Wissenschaftlich  und  populär  von  Prof.  Dr.  Arthur  Keller. 

Ergebnisse  der  Säuglingsfürsorge,  6.  Heft. 

Leipzig  und  Wien  1911,  Verlag  von  Franz  Deut  icke. 

Eine  interessante  Zusammenstellung  der  in  den  verschie¬ 
denen  Ländern,  an  den  verschiedenen  Schulen  herrschenden  Diffe¬ 
renzen  der  Anschauungen  über  Säuglingsernährung.  Einigkeit 
täte  hier  not,  im  Interesse  des  wissenschaftlichen  Unterrichtes, 
im  Interesse  der  populären  Belehrung.  Große  Mängel  weisen 
auch  nach  Ansicht  des  Autors  die  für  die  Aerztewelt  und  das 
Laienpublikum  bestimmten  Abhandlungen  über  Pflege  und  Er¬ 
nährung  des  Säuglings  auf.  Von  den  vielen  derartigen  Büchern 
halten  nur  ganz  vereinzelte  einer  strengeren  Kritik  stand. 

* 

Bakteriologische  und  pathologisch-anatomische  Studien 
bei  Ernährungsstörungen  der  Säuglinge,  besonders  der 
chronischen  unter  dem  Bilde  der  Pädatrophie  ver¬ 
laufenden  Formen. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Hans  8cbell>le. 

Leipzig  1910,  Verlag  von  Georg  T  h  i  e  m  e. 

Der  Autor  versucht  es,  durch  eingehende  bakteriologische 
und  histologische  Studien  die  Aetiologie  der  chronischen  Ernäh¬ 
rungsstörungen  zu  klären.  Wenn  auch  bezüglich  der  Hauptfrage 
die  Arbeit  nur  zu  negativen  Resultaten  führte,  so  enthält  sie  doch 

nicht  unwichtige  bakteriologische  und  histologische  Details. 

* 

Formulaire  pour  les  maladies  des  enfants  (Ve  edition). 

Von  Dr.  Albert  Yeillard. 

Paris  1911,  Librairie  medicate  O.  B  er  Drier. 

Ein  therapeutisches  Vademekum  mit  Angabe  der  Haupt¬ 
symptome  der  einzelnen  Erkrankungen.  In  der  Einteilung  ent¬ 
hält  das  Buch  eine  kurze  Uebersicht.  über  Hygiene  und  Er¬ 
nährung  des  Säuglings. 

* 

(Ergebnisse  (1er  Sänglingsfiirsorge,  8.  n.  9.  Heft.) 

Kinderschutz  und  Säuglingsfürsorge  in  Ungarn. 

* 

Säuglingsfürsorge  und  Kinderschutz  in  England  und 

Schottland. 

Von  Prof.  Dr.  Artbnr  Keller. 

Leipzig  und  Wien  1911,  Fr.  De  u  ticke. 

In  den  vorliegenden  Abhandlungen  gibt  der  Verfasser  seine 
gelegentlich  einer  Studienreise  in  Ungarn  und  England  gewon¬ 
nenen  Eindrücke  über  die  Säuglingsfürsorge  in  den  genannten 
Ländern  wieder.  Volles  Lob  spendet,  der  Verfasser  der  muster¬ 
gültigen  Organisation  des  staatlichen  Säuglingsschutzes  in  Ungarn. 


320 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


Das  Land  verfügt  übel-  17  Asyle  in  der  Provinz  und  ein  Zentral¬ 
asyl  in  Budapest.  Die  Asyle,  die  mit  einem  Kostenaufwand  von 
fünf  Millionen  Kronen  erbaut  wurden,  sind  mit  612  Säuglings¬ 
und  360  Kinderbetten  ausgestattet.  Abgesehen  von  den  Asylen 
besteht  noch  die  Einrichtung  von  Familienkolonien,  bestimmt 
für  die  Aufnahme  von  Kindern  von  7  bis  15  Jahren.  Dem  staat¬ 
lichen  Kinderschutz  zur  Seite  steht  eine  Landeskinderschutzliga 
als  Vertreter  einer  privaten  Wohlfahrtspflege.  Die  letztere  greift 
überall  da  zu,  wo  der  staatliche  Kinderschutz  noch  nicht  oder 
nicht  mehr  seine  Wirkung  ausübt:  vor  der  Geburt  durch  die 
Fürsorge  für  Schwangere,  nach  Ablauf  des  staatlichen  Kinder¬ 
schutzes  (15.  Lebensjahr)  durch  die  Fürsorge  für  Jugendliche 
und  schließlich  durch  die  Sorge  für  alle  Kinder,  welche  von  der 
Norm  a bw eichen. 

In  England  und  Schottland  befindet  sich  der  Säuglingsschutz 
noch  in  den  ersten  Anfängen.  In  ganz  London  gibt  es  z.  B.  nur 
ein  einziges  Hospital  für  kranke  Säuglinge  mit  60  Betten.  Die 
Möglichkeit  zur  Ernährung  mit  Säuglingsmilch  ist  nirgends  ge¬ 
geben,  auch  in  dem  Säuglingsspital  nicht.  Keller  bespricht 
auch  die  Ausbildung  der  Kinderpflegerinnen  in  England.  Ein 
großer  Nachteil  der  Ausbildung  besteht  darin,  daß  die  Schüle¬ 
rinnen  über  Ernährung  der  Kinder,  über  Zubereitung  der  Nah¬ 
rung,  Asepsis  ungenügend  unterrichtet  werden. 

* 

(Sanitäfsrat  Dr.  Jessners  dermatologische  Vorträge  für  Praktiker, 

Heft  9.) 

Die  Hautleiden  kleiner  Kinder. 

Dritte,  verbesserte  Auflage. 

W ii  r z b u r g  1910,  Kurt  Kabitzsch. 

Die  Eigentümlichkeiten  der  Kinderhaut  lassen  es  völlig  be 
rechtigt  erscheinen,  daß  der  Verfasser  die  Diagnose  und  Therapie 
der  Säuglings-  und  Kinderdermatosen  in  einem  eigenen  Vortrage 
erörtert,  ln  kurzen  Schlagworten  werden  die  Hauptsymptome  der 
einzelnen  Dermatosen  besprochen  und  auch  bei  den  therapeu¬ 
tischen  Ratschlägen  vermeidet  es  der  Verfasser,  den  Leser  durch 
Aufzählung  einer  großen  Zahl  von  Medikamenten  zu  ermüden, 
sondern  bringt  nur  wirklich  erprobte  Mittel  und  ihre  Anwendungs¬ 
weise. 

Einige  Ausstellungen,  hauptsächlich  den  klinischen  Teil  be 
treffend,  mögen  dem  Referenten  gestattet  sein : 

1.  Statt  Dermatitis  exfoliativa  infantum  soll  es  Dermatitis 
exfoliativa  ne  on  äto  ru  m  (Ritter)  heißen. 

2.  Die  Säuglingsfurunkulose  kann  doch  nicht  glattweg  als 
endogene  metastatische  Infektion  aufgefaßt  werden. 

3.  Die  Hauptgefahr  bei  der  Vakzination  von  Ekzemkranken 
liegt  nicht  in  der  eventuellen  Verschlimmerung  des  Ekzems  p.  v., 
sondern  in  der  Möglichkeit  der  Lympheübertragung  auf  das  Ekzem 
(Ekzema  vaccinatum). 

4.  Die  Tuberkulide  sind,  auch  für  den  Praktiker  zu  wichtig, 
als  daß  sie  vollständig  verschwiegen  werden  können. 

C.  Deiner. 


Aus  verschiedenen  Zeitsehrifter . 

216.  Weitere  Beobachtungen  über  die  physiolo¬ 
gischen  Wirkungen  des  Thalliums.  Von  Professor  Doktor 
A.  Buschke  in  Berlin.  Das  Thallium  aceticurn  wird,  besonders 
in  Frankreich,  als  antihidi  otisches  Mittel  gegen  die  Schweiße 
der  .Phthisiker  verabreicht.  Dabei  beobachtete  man  bei  den 
Kranken  in  einzelnen  Fällen  einen,  ziemlich  weite  Partien  des 
Körpers  begreifenden  Haarausfall,  daneben  heftige  Neuralgien, 
Krämpfe,  Paresen  usw.  Die  dabei  verabreichten  Dosen  schwankten 
zwischen  0  03  bis  0-2  g,  die  in  einem  Monate  verabreichte  Dosis 
stieg  bis  zu  einem  Gramm.  Die  schwei ß vertu ind erndc  Wirkung, 
die  sich  bis  zur  Aufhebung  der  Schweißsekretion  steigerte,  trat 
nur  während  der  Verabreichung  des  .Mittels  ein,  die  Alopezie 
dagegen  entwickelte  sich  zumeist  erst  später,  schritt  eine  Zeit¬ 
lang  vor,  um  allmählich  der  Regeneration  der  Haare  wieder  Platz 
zu  machen.  Verf.  hat  schon  früher  experimentelle  Untersuchun¬ 
gen  mit  Thallium  angestellt  und  darüber  berichtet,  er  hat  neuer¬ 
dings  zahlreiche  Tierversuche  gemacht  und  referiert  jetzt  über 
deren  Ergebnisse.  Sie  sind  in  Kürze  folgende:  Mit  minimalen, 
kaum  zu  bestimmenden  Dosen  von  Thalliumsalzen,  besonders 


Thallium  aceticurn  und  carbonicum,  kann  man  bei  Mäusen,  Ka¬ 
ninchen,  Ratten  und  Affen  —  entsprechend  den  beim  Menschen 
beobachteten  Nebenerscheinungen  —  eine  Alopezie  erzeugen. 
Diese  ist.  bei  Mäusen  und  Kaninchen  fast  ausschließlich  auf  der 
Rückenfläche  deis  Rumpfes  und  Kopfes  lokalisiert.  Bei  Batten 
kann  man  eine  fast  universelle  Alopezie  erzeugen.  Entsprechend 
den  beim  Menschen  beobachteten  Fällen  von  Hypotrichosis  con¬ 
genita  kann  man  mittels  Thallium  auch  bei  Ratten  eine  Hypo¬ 
trichosis  congenita  erzeugen,  die  aber  nicht  stationär  bleibt. 
Der  physiologische  Angriffspunkt  des  Thalliums  scheint  Aveuig- 
stens  nach  Untersuchungen  seiner  antihidrotischen  Wirkung  — - 
nicht  peripherisch,  sondern  zentral,  also  wahrscheinlich  im  Nerven¬ 
system  zu  liegen.  Anhangsweise  erwähnt  Verf.  noch,  daß  eine 
Wirkung  des  Thalliums  auf  experimentelle  Tiersyphilis  nicht  zu 
beobachten  Avar,  wiewohl  eine  solche  in  Frankreich  angeblich 
bei  der  menschlichen  Lues  konstatiert  worden  Avar.  (Deutsche 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  4.)  E.  F. 

* 

217.  Weiße  Pocken.  Von  Dr.  Max  Ru,dolph  in  Estrella 
do  Sul  (Brasilien).  Verf.  berichtet  über  eine  interessante  Epi¬ 
demie  in  bestimmten  Gebieten  Brasiliens.  Es  ist  ein  akutes, 
pustuloses  Exanthem,  das  sich  auf  den  ersten  Blick  in  nichts  von 
einem  echten  Variolaexanthem  unterscheidet,  das  den  ersten 
Fieberverlauf  und  die  absolute  Schutzwirkung  der  Pockenimpfung 
mit  Variola  gemein  hat  und  bisher  in  Südamerika,  noch  nicht 
beobachtet  wurde.  Die  geringe  Mortalität  den  Pocken  gegenüber 
bildet  den  auffallendsten  Unterschied.  Nach  einer  Statistik  aus 
dem  benachbarten  Araguary  starben  von  2389  Personen  48,  also 
zirka  2%.  De  Körte  beschreibt  vom  Jahre  1904  aus  Südafrika 
eine  pockenähnliche  Epidemie,  die  mit  der  brasilianischen  viele 
Aehnlichkeitem  aufweist.  Aus  Kamerun  beschreibt  Plehn  ein 
akutes  Exanthem,  Ave'lches  sich  nach  Form  und  Verteilung  in 
nichts  von  einem  disseminierten  Variolaexanthem  unterschied. 
Es  gab  weder  Todesfälle  noch  Komplikationen.  Diese  von  ihm 
als  „Sanagapockem“  beschriebene  Erkrankung  zeigte  selbst  in 
den  schwersten  Fällen  keine  hohen  Temperaturen.  Es  dürfte 
sich  also  nicht  um  dieselbe  Epidemie  handeln.  Die  Aehnlichkeit 
mit  den  Pocken  bei  der  brasilianischen  Epidemie  liegt  schon  im 
Inkubationsstadium.  Es  beträgt,  zelm  bis  vierzehn  Tage.  Auch 
die  Initialsymptome  sind  dieselben:  Konjunktivitis,  Kopfschmer¬ 
zen,  Bronchitis,  Uebelkeit,  Magen-  und  Gliederschmerzen.  Die 
Kreuzschmerzeh  scheinen  geringer  zu  sein.  Das  Fieber  steigt 
rasch  bis  zu  40  bis  41°  an.  Am  dritten  oder  vierten  Tage  erfolgt 
ein  plötzlicher  Abfall  zur  Norm.  Nach  denn  kritischen  Fieber¬ 
abfall  befinden  sich  die  meisten  Patienten  vollkommen  wohl. 
Am  Ende  des  ersten  Fiebertages  tritt  in  den  meisten  Fällen  Diazo- 
reaktion  im  Harn  auf,  die  bis  übetr  'den  Fieberabfall  hinaus  positiv 
bleibt..  Verf.  hält,  diesen  Punkt  für  differentialdiagnostisch  wichtig 
gegenüber  Variola.  Am  drillen  oder  vierten  Tage  tritt  das  Exan¬ 
them  in  Form  kleiner,  roter,  masernähnlicher  Fleckchen  an  der 
Stirn,  Bauch,  Brust,  Rücken  und  Extremitäten  auf.  Handflächen 
und  Fußsohlen  werden  nicht  verschont.  Gleichzeitig  bildet  sich  das 
Exanthem  auf  sämtlichen  Schleimhäuten,  selbst  der  Vagina  und 
Urethra.  In  av eiteren  drei  Tagen  vergrößern  sich  die  Papeln,  fließen 
zusammen,  im  Zentrum  bilden  sich  kleine  wasserhelle  Bläschen, 
die  am  nächsten  Tage  undurchsichtig,  weißgell)  werden.  Die  Haut 
sieht  wie  mit  Kalktropfen  bespritzt  aus.  Ein  typischer  Pocken¬ 
nabel  fehlt,  was  nach  Verf.  sehr  wichtig  ist.  Es  ist  dies  ein 
Suppurationsstadium,  aber  ohne  neuen  Fieberanstieg.  Durch  Ver¬ 
größerung  und  Zusammen  fließen  der  Pusteln  wird  der  Kranke 
so  entstellt,,  daß  man  ihn  kaum  wieder  erkennt.  Es  entsteht  nie 
jener  ekelhafte  Geruch,  den  Pockenkranke  in  diesem  Stadium 
haben.  Am  neunten  Tage  beginnt  das  Stadium  exsiccatiönis.  Am 
14.  oder  15.  Tage  fällt  die  Kruste  der  eingetrockneten  Pustel 
ah  und  man  sieht  eine  livid e  Narbe,  die  in  einigen  Monaten  fast 
ganz  v  er  sch  av  in  del.  In  einzelnen  Fällen  bleiben  dauernde  Narben, 
aber  nicht  so  tief  als  Pockennarben,  welches  Moment  Emilio 
Ribas  als  different ialdiagnos tische®  Merkmal  besonders  betont, 
ln  einzelnen,  sehr  seltenen  Fällen  fließen  die  Pusteln  am  ganzen 
Körper  zusammen  und  dann  kann,  wie  bei  den  echten  Pocken, 
durch  eine  Zerstörung  der  gesamten  Hautdecke  der  Tod  ein  treten, 
wie  es  Verfasser  in  einem  Falle  beobachtet  hat.  Hämorrhagische 
Fälle  kamen  nicht  vor.  Ein  Kranker  starb  auswärts  an  Glottis- 


Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


ödem.  Einmal  sah  Verf.  Orchitis,  zweimal  Ulcera  corneae,  dreimal 
Abort,  einmal  beiderseitige  Peronäuslähmung.  Die  Todesfälle  be 
trafen  meist  dekrepide  Individuen,  vor  allem  Lepröse.  Säuglinge 
in  den  erstein  Monaten  werden  selten  befallen.  Eine  entschieden 
erhöhte  Empfänglichkeit  zeigte  die  farbige  Rasse.  Eine  eigenartige 
Rolle  spielt  die  Schutzpockenimpfung  bei  dieser  Krankheit.  Sie 
schützt,  praktisch  genommen,  absolut.  Unter  den  357  Erkrankten 
des  Verfassers  stand  keine  einzige  Person  unter  dem  Impfschutz. 
Nur  dreimal  erkrankten  erfolgreich  Geimpfte  oder  Weiße.  Aul- 
fallend  ist  nun  die  widersprechende  Tatsache,  daß  die  Krank¬ 
heit  nicht  immunisiert.  Vom  sechsten  Monate  an  nach  ihrem 
Ueberstehen  kann  die  Impfung  wieder  positiv  ausfallen.  Rück- 
sichtlich  der  Aetiologie  erwähnt  Verf.  die  große  Infektiosität 
gleich  den  echten  Pocken.  Verfasser  resümiert:  Es  existiert  in 
Brasilien  ein  akutes,  pustuloses  Exanthem,  das  den  Pocken  emi¬ 
nent,  ähnlich  ist:  im  Aussehen,  im  Fieberverlauf  des  ersten  Sta¬ 
diums,  durch  den  Befund  kleiner,  runder  Körperchen  im  Pustel¬ 
filtrat; 'in  bezug  auf  den  absoluten  Pockenimpfschutz  ihnen  sogar 
gleichbleibt.  Es  unterscheidet  sich  von  ihnen:  durch  die  Hervor¬ 
ruf  ung  von  nur  sechs  Monate  dauernder  Immunität  Vakzine  gegen¬ 
über,  .durch  seine)  Benignität  (2  bis  2 Vs0/«  Mortalität),  den  weiteren 
Fieberverlauf,  den  histologischen  Ort,  den  charakteristischen  Bau 
und  die  Na.bellosigkeit  seiner  Pustel  und  durch  ihre  typische 
Narbe.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  G.) 

G. 

* 

218.  Ueber  sogenannte  ungefährliche  Anästhe¬ 

sierung  s  verf  ah  reu.  Von  Prof.  Dr.  Dumont,  Bern.  Burk¬ 
hardt  bezeichnet  seine  Methode  der  intravenösen  Ae  themarkose 
beim  kräftigen  Erwachsenen  —  kombiniert  mit  Skopolamin- 
Morphium  —  als  die  zur  Zeit  ungefährlichste  und  angenehmste 
Methode  der  Allgemeinnarkose.  Dumont  warnt  eindringlich 
vor  Anwendung  der  intravenösen  Aethernarkose,  zumal  sich  von 
verschiedtetnen  Seiten  die  Mitteilungen  häufen,  daß  das  Ver¬ 
fahren  als  zu  gefährlich  abzulehnen  sei.  Insbesonders  wurden 
trotz  aller  Vorsicht  und  trotz  genauester  Befolgung  der  von 
Burkhardt  gegebenen  Vorschriften  Thrombenbildung  und 
Lungenembolien  beobachtet  (K üttner).  Sic k,  C 1  a i  r m  o n  t  und 
Denk  können  sich  nicht  entschließen,  Versuche  am  Menschen 
zu  machen,  da  der  Tierversuch  gezeigt  hat,  daß  Herz  und  Lungen 
bei  der  intravenösen  Aethernarkose  nicht  geschont  werden.  Auch 
sie  beobachteten  Embolien  und  finden,  daß  eine  exakte  Do¬ 
sierung  und  sparsamer  Verbrauch  des  Narkotikums  nicht  ver¬ 
bürgt.  ist.  Brüning  wieder,  verweist  darauf,  daß  die  Gefahr 
einer  hämolytischen  Schädigung  der  Blutkörperchen  so  nahe  liegt, 
daß  main  bei  fiebernden  Patienten  Hämoglobinurie  erwarten 
kann.  Endlich  berichtet  Pik  in  über  einen  Todesfall,  der  nach 
Dumont,  im  Widerspruche  mit  Pikin  selbst,  auf  Rechnung 
der  Methode  Burkhardts  zu  setzen  ist.  Nicht  minder  als  vor¬ 
der  Methode  Burkhardts  warnt  Dumont  vor  der  Spiual- 
analgesie  von  Prof.  Iones cu,  welcher  selbst  seine.  Methode 
als  nur  vorteilhaft  rühmt,  da  keine  Gegenindikation  bestehe  und 
keinerlei  Nachteile  sich  zeigen.  Die  Praxis  widerspricht  den 
Behauptungen  Ionescus,  ja  seine  Methode,  der  Dumont  die 
Eigenberechtigung  überhaupt  abspricht,  ist  gefährlicher  als  die 
gewöhnliche  Lumbalanästhesie,  die  ihrerseits  noch  immer  an¬ 
erkanntermaßen  gefährlicher  ist  als  die  Inhalationsnarkose.  Nach 
Dumont  wäre  es  im  übrigen  besser,  statt  neue  Ynästhesierungs- 
verfahrem  zu  erfinden,  wenn  die  verschiedenen  schon  alten  be¬ 
kannten  Methoden  besser  gelehrt  und  gelernt  würden.  Eine  ganz 
ungefährliche  Narkose  wird  es  ja  nie  geben,  dagegen  ist  die 
Mortalität  infolge  verbesserter  Technik  bei  den  Inhalations¬ 
narkosen  schon  bedeutend  zurückgegangen  und  ist  jedenfalls  ge¬ 
ringer  als  bei  allen  neueren,  sogenannten  besseren  Verfahren,  die 
man  an  ihre  Stelle  setzen  wollte.  Eine  exakte  \usbildung  dar 
Narkotiseure,  das  ist  die  einfachste  Lösung  der  ganzen  Narkosen 
frage.  Bei  der  allgemeinen  Narkose  kommt  es  hauptsächlich  dar¬ 
auf  an,  wer  narkotisiert;  ein  guter  Narkotiseur  ist  fast  ebensoviel 
wert,  wie  ein  guter  Operateur.  —  (Korrespondenzbla II  für 
Schweizer  Aetrzte  1910,  40.  .Tahrg.  Nr.  31,  32.)  K.  S. 

* 

219.  Natr  ium  hyp  o su  1  f  u r  o s u  m  als  .1  od  a  l>  vv  a.s’c  li 
mittel.  Von  Oberarzt  Dr.  Fritz  Snoy,  zurzeit  in  Davos  -  Platz. 


Um  den  Jodanstrich  bei  der  Gross i c  h sehen  Hautdesinfektion 
zu  entfernen  und  die  damit  in  Zusammenhang  stehenden  Ekzeme 
zu  vermeidein,  empfiehlt  Verl,  ein  altes,  scheinbar  vergessenes 
Jodentfernungsmittel,  das  Natrium  hyposulfurosum  (Thiosulfat, 
Subsulfurosum).  Sowohl  Jod  auf  der  Haut  als  in  der  Wäsche  wird 
mit  Natrium  hyposulfurosum  auf  chemischem  Wege  leicht  ent¬ 
fernt,  der  chemische  Prozeß  vollzieht  sich  rasch,  es  entstehen 
Jodnatrium  und  Tetrathionat,  die  beide  wasserlöslich  und  leicht 
abwaschbar  sind.  Nachteile  wurden  weder  für  die  Haut,  noch 
für  die  Wäsche  gesehen.  (Deutsche  medizinische  Wochenschrift 
1911,  Nr.  4.)  -  E.  F. 

* 

220.  (Aus  der  I.  chi  rurgischen  Universitätsklinik  in  Wien. 

—  Vorstand:  Prof.  Dr.  Frh.  v.  Eiseisberg.)  Zur  Frage  der 
Knochen  zysten,  zugleich  ein  Beitrag  zur  freien  Kno¬ 
chen  tr  an  sp  Tan  tati  o  n.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Hans  v.  Haberer. 
Einen  interessanten  Beitrag  zur  Frage  der  Knochenplastik  liefert 
Verf.  durch  Mitteilung  folgenden  Falles.  Es  handelte  sich  um 
eine  31jährige  Frau  mit  Spontanfraktur  infolge  Knochenzyste  des 
Oberarmes.  Es  wurde  fast  der  ganze  Oberarm  samt 'dem  Gelenks¬ 
kopf  reseziert.  Als  Ersatz  diente  eine  Fibula,  die  einem  wegen 
Fungus  genus  amputierten  Bein  unter  den  strengsten  aseptischen 
Kautelen  entnommen  wurde.  Das  Malleolarende  mit  seinem 
Knorpelüberzug  wurde  als  Humeruskopf  benützt,  das  untere  Ende 
wurde,  zugespitzt  und  in  den  Rest  des  Oberarmknochens  ein¬ 
gekeilt.  lieber  dem  transplantierten  Knochen  exakte  Naht  der 
Weichteile.  Die  Heilung  erfolgte  ganz  glatt.  Schon  nach  zehn 
Tagen  konnten  Bewegungen  mit  dem  Oberarm  ausgeführt  werden, 
die  Funktion  besserte  sich  bald  und  tat.  kann  jetzt  auch  schwere 
Arbeiten  verrichten.  Um  das  eingekeilte  untere  Ende  der  Fibula 
bat  sich,  wie  das  Röntgenbild  zeigt,  ein  fester  Kallus  entwickelt. 
Die  Transplantation  lebendigen  periostbekleideten  Knochenmate¬ 
riales  liefert  sehr  schöne  Heilungsresultate,  doch  haften  diesem 
Verfahren  auch  manche  Gefahren  an,  vor  allein  die  Möglichkeit 
der  Uebertragung  von  Krankheiten.  Auch  im  Falle  des  Verfassers 
stammte  die  Fibula  von  einer  tuberkulösen  Frau,  der  Verfasser 
bat  sich  aber  mittels  Röntgenuntersuchung  früher  überzeugt,  daß 
in  dem  zu  transplantierenden  Knochen  kein  tuberkulöser  Herd 
zu  sehen  ist.  \  erf.  hält  die  Gefahr  der  Uebertragung  von  Krank¬ 
heiten  bei  Beobachtung  von  allen  Kautelen  für  gering,  daher  die 
Methode  für  anwendbar  in  geeigneten  Fällen.  --  (Langenbecks 
Archiv,  Bd.  93,  H.  4.)  sei. 

* 

221.  (Aus  der  111.  medizinischen  Klinik  der  Universität 

in  Budapest.  Direktor:  Prof.  Baron  A.  v.  Koränyi.)  Ueber 
die  Perkussion  des  Magens.  Von  Dr.  Nikolaus  Röth.  Die 
Bestimmung  der  unteren  Grenze  des  Magens  durch  Orthodia¬ 
graphie  und  Schwellenwertsperkussion  führt  meistens  zu  über¬ 
einstimmenden  Resultaten.  Abweichungen  kommen  hauptsächlich 
bei  fettein,  stark  muskulösen  Personen  am  aufsteigenden  Teile 
der  Pars  pylorica  (Spannung  des  Rectus  abdominis?)  vor.  Im 
ganzen  aber  ist  die  Schwellenwertsperkussion  des  Magens  ver¬ 
läßlich  und  wertvoll.  (Zeitschrift  für  klinische  Medizin  1910, 
Bd.  71,  H.  3  bis  6.)  K.  S. 

* 

222.  (Aus  der  II.  medizinischen  Abteilung  des  Kranken¬ 
hauses  Hamburg-Eppendorf.  Oberarzt:  Dr.  Rumpel.)  11  a  u  1- 
b  1  u  L u n g  en,  d u r c h  S  t a  u  u  n g,  h ervorg c r  u f  en  a  ls  diagno¬ 
stisches  Hilfsmittel  beim  Sch  a r  1  a  c  h.  Von  Dr.  C.  L ee d e, 
Assistenten  der  Abteilung.  In  Anbetracht  der  diagnostischen 
Schwierigkeiten,  in  gewissen  Fällen  von  Scharlach  hat  man  stets 
nach  anderen  Kriterien  gesucht;  man  hat  die  Leukozytose,  die 
Eosinophilie,  die  Wasserm  annsche  Reaktion  des  Blutes,  das 
Auftreten  von  Azeton,  von  Urobilin  und  Urobilinogen,  letzteres 
als  Ausdruck  der  beim  Scharlach  so  oft  beobachteten'  Leberschädi¬ 
gungen,  herangezogen.  Im  Jahre  1907  hat  Hecht  gewisse  Haut¬ 
blutungen  als  charakteristisch  für  Scharlach  veröffentlicht.  Er  hob 
eine  Hautfalte  am  Rücken  oder  an  der  Brust  zwischen  Zeigefinger 
und  Daumen  und  drückte  einige  Sekunden  lang;  dabei  traten 
petechiale  Blutungen  auf.  Erfolgt  die  Blutung  nur  schwer,  so 
spricht  das  gegen  Scharlach.  Unabhängig  davon  hat  Verfasser 
auf  der  Scharlachäbteilung  bei  Venenpunktionen,  die  zu  anderen 
Zwecken  vorgeuommen  wurden,  bemerkt,  daß  distal  an  der  Stau 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  9 


322 


ungsbinde  mit  großer  Regelmäßigkeit  bald  kleinere,  bald  ganz  ge¬ 
waltige  petechiale,  in  einigen  Fällen  sogar  suffusionsartige  Blu¬ 
tungen  in  der  Haut  auftraten,  während  dieses  Phänomen  bei 
anderen  Erkrankungen  nicht  aufgefallen  Avar.  Es  wurde  nun  syste¬ 
matisch  jeder  Scharlachfall  mittels  einer  um  den  Oberarm  fest 
angelegten  Gummibinde  gestaut,  so  daß  die  Venen  deutlich  hervor¬ 
traten,  während  der  Puls  noch  gut  zu  fühlen  Avar.  Bei  mehreren 
hundert  Scharlachkranken  traten  fast  ausnahmslos  mehr  oder 
weniger  starke  Hautblutungen  auf.  Bei  der  Kontrolle  an  anderen 
Kranken  reagierten  Avohl  einzelne  Fälle  auf  Stauung  mit  ähnlichen 
Blutunlgen,  aber  es  zeigte  sich  nicht  diese  Konstanz.  Verfasser 
folgert  daraus,  daß  der  Grad  der  Verletzbarkeit  der  Hautkapillaren 
individuell  ungemein  verschieden  ist  und  daß  der  Scharlach  sich 
dadurch  auszeichne,  daß  bei  ihm  die  Widerstandsfähigkeit  der 
Kapillaren  durch  das  Gift  bedeutend  herabgesetzt  Avird.  Verf.  ging 
nun  daran,  diese  Herabsetzung  nachzuweisen  und  bestimmte  in 
jedem  Falle  mit  dem  Apparat  von  Riva-Rocci  den  systoli¬ 
schen 'und  diastolischen  Blutdruck  und  füllte  dann  die  Manschette 
bis  zu  einem  Druck,  der  erheblich  unter  dem  diastolischen  lag, 
ließ  sie  dann  mit  abgeklemmtem  Schlauch  liegen  und  untersuchte 
alle  fünf  Minuten  auf  Blutungen,  die  fin  5  bis  20  Minuten  stets 
auftraten.  Bei  den  Fällen  anderer  Erkrankung  gelang  es  nach 
dieser  Methode  nur  ausnahmsweise,  ähnliche  Blutungen  fest¬ 
zustellen.  Nur  bei  Masern  erhielt  Verf. 'ähnliche  Werte.  Wie  lange 
diese  Neigung  zu  Hautblutungen  nach  überstandenem  Scharlach 
fortbesteht,  konnte  nicht  eruiert  werden,  da  die  Patienten  meist 
am  42.  Tage  entlassen  wurden.  Die  Mehrzahl  zeigte  jedoch  am 
42.  Tage  noch  das  Phänomen.  Unter  etwa  200  Scharlach  fällen 
täuschte  die  Reaktion  bei  einer  Frau  mit  Lues',  ohne  Scharlach. 
Nur  in  einem,  klinisch  sichergestellten  schweren  Falle  Avar  die 
Reaktion  auch  bei  Aviederholten  Versuchen  nicht  zu  erzielen. 
Bei  Masern  konnte  Verf.  nur  in  elf  Fällen  über  das  Auftreten 
der  Stauungsblutungen  Untersuchungen  anstellen;  sieben  Kinder 
zeigten 'deutlich  positiven  Ausfall,  drei  Kinder  negativen.  Er  hatte 
jedoch  den  Eindruck,  als  ob  die  Kapillaren  bei  Masern  weniger 
stark  verändert  sind  als  beim  Scharlach.  Nach  diesen  Versuchen 
nimmt  Verfasser  an,  daß  beim  Scharlach  fast  ohne  Ausnahme 
eine  pathologisch  gesteigerte  Verletzbarkeit  der  Kapillaren  be¬ 
steht.  und  glaubt,  daß  dieses  Symptom  diagnostisch  zu  verwerten 
ist.  Nach  seinen  Erfahrungen  ist  der  negative  Ausfall  des  Stau¬ 
ungsversuches  als  fast  sicheres  Kriterium  gegen  den  Scharlach 
zu  verwenden,  während  der  positive  Ausfall  nur  zusammen  mit 
den  übrigen  Symptomen  zu  verwenden  ist.  —  (Münchener  medi¬ 
zinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  6.)  G. 

* 

223.  (Aus  der  chirurgischen  Poliklinik  des  Krankenhauses 
der  jüdischen  Gemeinde  in  Berlin.  —  Leiter:  Prof.  Dr.  F.  K  a- 
rewski.i  Ueber  thyreotoxische  Symptome  nach  Jod¬ 
medikation.  Von  Dr.  Georg  Wolfsohn,  Chirurg  in  Berlin. 
Auf  die  Gefahren  der  Jodmedikation  ist  gerade  in  den  letzten  Mo¬ 
naten  (Krehl,  Römheld  u.  a.),  besonders  nachdrücklich  auf¬ 
merksam  gemacht  AArorden.  Nicht  nur  bei  Strumakranken,  sondern 
auch  bei  Menschen  ohne  fühlbare  Schilddrüse  sollte  die  Darreichung 
des  Jods  keineswegs  ohne  strenge  ärztlich  e  Ueber  wach  ung 
staltfinden.  Das  lehren  auch  die  Beobachtungen  des  Verfassers.  Ein¬ 
mal  handelte  es  sich  um  eine  42jährige  Frau  mit  sehr  großen, 
auf  variköser  Basis  beruhenden  Unterschenkelgeschwüren.  Da  die 
Ulzera  auf  Bestreuen  mit  Peruformestonpulver  nach  einigen  Wochen 
keine  Heiltendenz  zeigten,  verordnete  man  ihr,  Avegen  Verdachtes 
auf  Lues,  Solut.  kali  jodati  20  :  200,  dreimal  täglich  einen  Tee¬ 
löffel  voll  zu  nehmen.  Schon  tags  darauf  zeigte  die  Kranke  eine 
deutliche,  ziemlich  Aveiche  Vergrößerung  beider  Schilddrüsenlappen, 
Aveder  schmerzhaft,  noch  druckempfindlich  ;  weiterhin  einen  deut¬ 
lichen  Tremor  der  Augenlider,  der  Zunge  und  der  Finger;  eine 
Pulsbeschleunigung  von  128  in  der  Minute  bei  starkem  Herzklopfen 
und  sehr  erregter  Herzaklion  ;  schließlich  eine  geringe  Verbreiterung 
des  Herzens  nach  links.  Kein  Fieber.  Nach  dem  Aussetzen  des 
Jods  schwinden  sämtliche  Erscheinungen  im  Laufe  einer  Woche. 
Als  sie  nach  drei  Monaten  Aviederkehrte  und  die  Ulcera  cruris  noch 
ziemlich  unverändert  Avaren,  wurde  sie  mit  Vioformpulver  ver¬ 
bunden.  Eine  halbe  Stunde  nach  Anlegung  des  Verbandes 
verspürte  Pat.  ein  starkes  Brennen  und  Jucken  auf  der  Haut  des 
Unterschenkels.  Abends  Avurde  der  Hals  Avioder  dicker  und  die 


Haut  des  ganzen  Körpers  rötete  sich.  Tags  darnach  konstatierte 
man  wiederum  die  ungemein  deutliche,  schmerzlose  SchAvellung 
beider  Schilddrüsenlappen  bei  normaler  Temperatur,  einen  deut¬ 
lichen  Tremor  der  Hände  und  ein  ausgebreitetes,  stark  juckendes 
Erythem  des  ganzen  Körpers.  Vioform  (Jodchloroxychinolin)  enthält 
Jod.  Es  wurde  entfernt  und  ein  Verband  mit  essigsaurer  Tonerde 
angelegt.  Pat.  erschien  nicht  Avieder.  Diese  Kranke,  die  früher  keine 
Schwellung  der  Schilddrüse  nachweisen  ließ,  reagierte  also  rasch 
auf  die  innerliche  oder  äußerliche  Einverleibung  von  Jod  mit 
schweren  thyreotoxischen  Symptomen.  In  biologischem  Sinne  muß 
dieser  Zustand  als  echte  Ueberempfindlichkeit  (Anaphylaxie)  be¬ 
zeichnet  Averden,  Avas  C.  Bruck  für  eine  Anzahl  von  Arznei- 
ejyanthemarten  durch  Tierversuche  strikte  beAviesen  hat.  Eine  Analogie 
der  erAvähnlen  Symptome  mit  dem  sogenannten  Jodbasedow 
(trotz  des  Fehlens  einer  Struma)  ist  nicht  zu  verkennen.  Auch 
einen  solchen  Fall  hat  Verf.  in  der  Privatpraxis  beobachtet.  Ein 
37jähriges,  von  Kindheit  an  nervöses  und  kropfkrankes  Fräulein 
erhielt  vor  fünf  Jahren  von  einem  Arzte  Jod  und  Schilddrüsen- 
tablelten.  Seit  dieser  Zeit  Avar  ihr  Zustand  plötzlich  wesentlich 
verschlimmert,  sie  bekam  Herzklopfen  und  Herzbeklemmungen, 
häufig  Anfälle  von  Zittern  und  Bewußtlosigkeit,  Schweißausbrüche, 
Heißhunger,  Durchfälle  und  Erbrechen.  Sie  hat  auch  an  Gewicht 
verloren.  Jetzt  hatte  sie  eine  Herzverbreiterung,  Tremor,  130  Puls¬ 
schläge,  eine  über  faustgroße  Schilddrüse,  zum  Teile  hinter  dem 
Sternum  gelegen,  deutlichen  Stridor,  doppelseitigen  Exophthalmus, 
G  r  a  e  fe,  M  o  e  b  i  u  s  und  S  t  e  1 1  av  a  g  positiv,  doppelseitige  Ovarie  etc. 
Dieser  echte  Jodbasedow  läßt  augenblicklich  auch  nicht  die  Strum- 
ektomie  zu.  Verf.  entnahm  der  SchAverkranken  etAvas  Blut  und 
machte  nun  folgenden  Versuch:  Er  nahm  drei  Meerschweinchen, 
injizierte  dem  ersten  5  cm3  Serum  der  Kranken,  dem  zweiten  eben¬ 
falls  5  cm3  Serum  eines  gesunden  Menschen,  das  dritte  war  ein 
unbehandeltes  Kontrolltier.  Die  drei  Meerschweinchen  bekamen 
nach  24Stunden  die  gleiche  Menge  10%ioen  Jodoformöls  subkutan 
injiziert,  u.  zav.  nach  Brucks  Vorschrift  0  33  g  Jod  pro  Kilo¬ 
gramm  Körpergewicht.  Die  Meerschweinchen  2  und  3  blieben 
gesund,  das  erste  aber  konnte  sich  schon  nach  zAvei  Minuten  nicht 
mehr  beAvegen,  bekam  bald  tonisch-klonische  Zuckungen,  atmete 
sehr  mühsam  und  slarb  nach  einer  Stunde.  Die  Sektion  hat  an 
den  inneren  Organen  keine  Veränderung  ergeben.  Es  ist  damit 
der  Nachweis  erbracht,  daß  im  Falle  von  JodbasedoAV  im  Organis¬ 
mus,  resp.  im  Blutserum  geAvisse  Stoffe  vorhanden  sind, 
welche  mit  Jodei  Aveiß  in  sp  ezi  fisc  her  W  eise  reagieren, 
so  daß  das  Bild  der  biologischen  Anaphylaxie  zustande  kommt.  — 
(Deutsche  med.  Wochenschr.  1911,  Nr.  5.)  E.  F. 

* 

224.  (Aus  der  chirurgischem  Abteilung  des  Städtischen 
Krankenhauses  am  Urban  zu  Berlin.  — -  Direktor:  Geh.  Rat  Pro¬ 
fessor  Dr.  Körte.)  Ueber  das  Schicksal  von  eiliger 
nähten  Silberdrahtnetzen  zum  Verschluß  von  Bruch¬ 
pforten.  Von  Dr.  Riem.  Verf.  hat  die  Fälle,  bei  welchen  Silber¬ 
drahtnetze  zum  Verschluß  der  Bruchpforten  eingelegt  wurden,  nach 
Jahren  Avieder  nachuntersucht,  um  sich  über  das  Schicksal  der 
eimgewachseinem  Netze  zu  orientieren.  Die  Röntgenuntersuchung, 
die  zu  Hilfe  genommen  Avurde,  hat  die  Hoffnung  zerstört,  als 
ob  die  Drahtnetzei  in  ihrer  Form  und  Festigkeit  dauernd  erhalten 
blieben  und  die  Bruchpforten  verschlossen  hielten.  Es  hat  sich 
herausgestellt,  daß  die  Netze  durch  die  Körpersäfte  arrodiert  und 
dann  durch  Muskelzuig  zerbrochen  wurden.  Von  acht  photo¬ 
graphierten  Netzen  Avar  eines  nur  in  Form  und  Struktur  er¬ 
halten,  die  übrigen  lagen  entweder  geknickt  oder  völlig  zerbrochen, 
manchmal  in  ein  regelloses  Gewirr  von  Drähten  verwandelt,  oft 
abseits  von  der  Bruchpforte.  Diese  Zerstörungen  fanden  sich 
auch  bei  alten  Frauen  und  Männern,  die  keine  schwere  körper¬ 
liche  Arbeit  verrichteten.  Die  Netze  Avaren,  Avie  die  Erfahrung 
bei  einer  Sektion  lehrte,  in  dickes  Bindegewebe  eingebettet,  das 
verhindert  aber  nicht,  daß  die  freien  Drahtenden  gefährlich  werden 
können;  da  die  Netze  sich  senken  und  wandern,;  wäre  gelegentlich 
eine  Anspießung  größerer  Gefäße  (Arteria  iliaca  externa  oder 
Arteria  epigastrica  inferior)  möglich.  Ferner  ist  auch  manchmal 
Fistelbildung  mit  Ausstoßung  von  Netzteilen  eingetreten.  In  An¬ 
betracht  dieser  Gefahren  empfiehlt  Verf.  Drahtnetze  nur  in  Aus¬ 
nahmsfällen.  bei  älteren,  dekrepiden  Personen  mit  atrophischen 
Knochen,  bei  Avelchen  eine  Knocheneinlagerung  in  die  Brach- 


Nr.  !) 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


pforte  nicht  möglich  ist,  zum  Verschluß  von  Bruchpf orten  herau- 
zuziehen.  —  (Langeibecks  Archiv,  Bd.  92,  H.  4.)  se. 

♦ 

225.  Eine  Tabakpsychose  bei  einem  13jährigen 

Knaben.  Von  Prof.  P.  K.  Pel  in  Amsterdam.  Im  allgemeinen  wird 
in  den  ärztlichen  Kreisen  die  Schädlichkeit  des  Tabakmißbrauches 
unterschätzt.  Es  ist  auch  gewiß  kein  Zufall,  daß  Verfasser 
gerade  die  schwersten  Nikotinintoxikationen  unter  den  Aerzten 
selbst  gefunden  hat.  Die  Art  und  Weise  der  Intoxikation  ist 
eine  recht  verschiedene.  Auch  hier  verleugnet  sich  die  individuelle 
Reaktion  nicht.  Der  eine  bekommt  Kopfschmerzen,  der  zweite 
wird  anämisch,  der  dritte  nervös  und  schlaflos,  der  vierte  zeigt 
Herzstörungen  (Herzklopfen,  Arhythmie,  Tachykardie,  anginöse  Be¬ 
schwerden,  sogenannte  Tabaksangina),  der  fünfte  Störungen  des 
Gesichtsvermögen  (Amblyopie  mit  konzentrischer  Einschränkung 
des  Gesichtskreises  und  des  Farbensinnes,  besonders  für  rot 
und  grün  oder  ein  zentrales  Flimmerskotom),  der  sechstel  bekommt 
prämature  Sklerose  der  Gefäße,  namentlich  der  Herz-  und  tlirn- 
gefäße  und  wieder  ein  anderer  klagt  über  Magen-,  resp.  Ver¬ 
dauungsbeschwerden  (Anorexie,  Dyspepsie,  kardialgische  Anfälle, 
Magensaftfluß  usw.),  um  von  chronischer  Pharayngitis,  Zungen¬ 
katarrh,  Leukoplakie  zu  schweigen.  In  vereinzelten  Fällen  ent¬ 
wickelte  sich  sogar  eine  veritable  Psychose.  Da  diese  Fälle  selten 
sind,  teilt  Verfasser  einen  an  seiner  medizinischen  Klinik  bei 
einem  13jährigen  Knaben  beobachteten  Fall  mit.  Ein  bis  dahin 
gesunder,  gehorsamer,  fleißiger  und  liebenswürdiger  Knabe  kam 
als  Arbeiter  in  eine  Zigarrenfabrik,  wo  er  den  ganzen  Tag  weilte 
und  fortwährend  Zigarren  rauchte  —  10  bis  20  Stück  täglich. 
Sein  Appetit  schwand  ganz,  Sein  ganzer  Charakter  änderte  sich: 
er  wurde  ungezogen,  ungehorsam,  war  stets  schlechter  Laune, 
öfters  mehr  oder  weniger  absent,  über  Zeit,  und  Ort  nicht  genau 
orientiert,  ab  und  zu  kamen  Halluzinationen  vor.  Bald  ist  er 
lebhaft,  singt  und  pfeift,  dann  kommen  wieder  lang  andauernde 
Weinkrämpfe,  während  welcher  er  nach  seiner  Mutter  ruft  usw. 
Erregung,  Verstimmung  und  Heiterkeit  wechseln  in  rascher  Reihe. 
Seine  Bewegungen,  auch  sein  Denken  sind  träge.  Von  Lues,  Alko¬ 
holismus  u.  dgl.  keine  Spur.  Er  zeigt  nur  leichte  Herzarhythmie, 
keine  Herzstörungen.,  die  Patellarreflexe  sind  abgeschwächt,  die 
Wadenmuskeln  sind  auf  Druck  empfindlich,  sonst  nichts  Ab¬ 
normes.  Bei  den  Knaben  handelte  es  sich  also  um  eine  toxische, 
u.  zw.  um  eine  Tabakspsychose.  Daß  man  in  diesem  Falle  die 
sonstigen  charakteristischen  Anzeichen  des  chronischen  Nikoti- 
nismus  (Kopfschmerzen,  zentrales  Skotom,  Amblyopie,  Herz¬ 
beschwerden  usw.)  vermisse,  sei  kein  Grund,  die  Annahme  einer 
Tabakpsychose  zu  verwerfen.  Das  komme  auch  bei  anderen 
Krankheiten  vor,  z.  B.  gebe  es  eine  urämische  Intoxikation  ohne 
Kopfschmerzen  und  Erbrechen,  eine  Pleuritis  ohne  Schmerzen, 
eine  Pneumonie  ohne  Auswurf  und  Husten,  einen  Basedow  ohne 
Augensymptome.  Hysterische  Frauen  mit  einer  hysterischen 
Hemiplegie  klagen  ferner  relativ  selten-  über  Globus-  und  Klavus- 
gefühl,  während  die  mit  diesen  Sensationen  behafteten  nur  selten 
von  einer  Hemiplegie  befallen  werden.  Es  ist  übrigens  nicht 
zu  verwundern,  daß  gerade  bei  diesem  kleinen  Jungen  die  psy¬ 
chischen  Störungen  in  den  Vordergrund  traten,  weil  das  Zentral¬ 
nervensystem  der  Kinder  für  Gifte  außerordentlich  empfindlich 
zu  sein  pflegt.  Die  Prognose  dürfte  günstig  sein,  die  Therapie  hat 
in  Ruhe,  guter  Pflege,  Verabfolgung  lauwarmer  Bäder,  Enthaltung 
von  Tabak  zu  bestehen.  Zum  Schlüsse  sagt  Verfasser,  er  wolle 
keineswegs  den  Erwachsenen  den  Tabakgenuß  ganz  und  gar  ver¬ 
bieten,  er  rate  ihnen  nur  Mäßigkeit  im  Genüsse  an;  von  drei 
Zigarren  täglich  habe  er  nie  Schaden  gesehen,  von  individuellen 
Idiosynkrasien  gegen  Nikotin  abgesehen.  —  (Berliner  klinische 
Wochenschrift  1911,  Nr.  6.)  E.  F. 

♦ 

226.  (Aus  der  kantonalen  Universitätsfrauenklinik  Zürich. 
—  Prof.  Dr.  Th.  Wyder.)  Zur  Behandlung* der  Post  par- 
tum-Blu  tungen  durch  künstliche  Blutleere  der  un¬ 
teren  Körperhälfte  nach  Momburg.  Von  Dr.  Alois  von 
Reding,  Assistenzarzt.  Das  Verfahren  nach  Momburg  be¬ 
steht  in  folgendem:  Ein  gut  fingerdicker  Gummischlauch  wird 
dem  liegenden  Patienten  unter  voller  Ausnützung  der  Elasti¬ 
zität  langsam  in  zwei  bis  vier  Touren  zwischen  Beckenschaufel 
und  Rippenrand  gelegt  bis  die  Pulsation  der  Arteria  femoralisi 


nicht  mehr  fühlbar  ist.  Dieses  Verfahren  wurde  in  der  Züricher 
Frauenklinik  seit  Ende  1909  fast  regelmäßig  bei  allen  größeren 
Nachgeburtsblutungen  angewendet.  In  28  von  30  Fällen  wurde 
der  gewünschte  Erfolg  erzielt  und  konnte  der  Schlauch  nach 
10  bis  20  Minuten  langsam  und  vorsichtig  (zur  Vermeidung  von 
gefährlichen  Nebenwirkungen)  gelockert  werden.  Die  Umschnü¬ 
rung  wurde  von  den  Frauen  größtenteils  gut  ertragen.  Nur  bei 
drei  Frauen  war  die  zirkuläre  Konstriktion  mit  sehr  heftigem 
Schmerzen  in  den  unteren  Extremitäten  und  dem  Gefühl  von 
Beklemmung  in  der  Herzgegend  verbunden;  hiebei  ist  aber  zu 
bedenken,  daß  bekanntermaßen  ausgeblutete  Frauen  sehr  oft  über 
Schmerzen  in  den  Extremitäten  klagen,  also  derartige  Schmerz¬ 
attacken  der  jMom bürg  sehen  Konstriktion  nicht  allein  zur 
Last  fallen  dürften.  Erbrechen,  Atemnot,  Lähmungen  der  unteren 
Extremitäten,  Schädigungen  des  Darmes,  Durchfall,  Urin-  oder 
Stuhlverhaltung  wurde  nicht  beobachtet.  Mißerfolg,  resp.  sein- 
geringer  Erfolg  zeigte  sich  in  zwei  Fällen.  In  einzelnen  Fällen 
wurde  bei  schwer  anämischen  Frauen,  seltener  bei  herzkranken 
und  dekrepiden  Individuen  schwerer  Kollaps,  auch  mit  tödlichem 
Ausgange  beobachtet.  Ob  derartige  Zufälle  dem  Momburgschen 
Verfahren  ausschließlich  zur  Last  zu  legen  sind,  darüber  ist 
vorläufig  keine  Entscheidung  möglich.  Es  ist  ebenso  möglich, 
daß  der  Kollaps  Folge  der  pathologischen  Zustände  war,  wie, 
daß  es  sich  bei  Anlegen  und  Abnahme  des1  Schlauches  um  eine 
Shockwirkung  handelt  (Vagusreizung  wie  beim  Goltz  schein 
Klopfversuch),  zu  dessen  Vermeidung  es  vielleicht  angezeigt  wäre, 
bei  ausgebluteten  Frauen  vor  Anlegung  des  Schlauches  oder 
wenigstens  vor  Loslösen  desselben  steile  Beckenlagerung  vor¬ 
zunehmen,  wodurch  einer  Stauung  des  Blutes  in  den  großen  Bauch¬ 
venen,  sowie  der  konsekutiven  Gehirn-  und  Herzanämie  vorge¬ 
beugt  werden  könnte.  Jedenfalls  ist  bei  stark  anämischen  oder- 
schwer  herzkranken  Frauen  Vorsicht  geboten,  anderseits  ergibt 
sich  daraus,  daß  bei  Nachgeburtsblutungen  mit  dem  Anlegen 
des  Schlauches  nicht  zu  lange  gezögert  werden  darf,  damit  nicht 
erst  größerer  Blutverlust  eintritt  und  also  die  künstliche  Blut¬ 
leere  der  unteren  Körperhälfte  ohne  Schaden  leichter  ertragen 
werde.  Im  ganzen  läßt  sich  aber  sagen,  daß  das  Momburgsche 
Verfahren  für  gesunde,  nicht  sehr  anämische  Frauen  ein  ganz 
irrelevanter  Eingriff  ist  und  dem  praktischen  Arzte  bestens  em¬ 
pfohlen  werden  kann,  weil  die  Technik  einfach  ist  und  nur  ge¬ 
ringe  Uebung  erfordert.  Der  Momburgsche  Schlauch  ist  zwar 
auch  kein  ideelles  Mittel,  vielleicht  hilft  er  aber  mit,  die  Zahl 
der  Todesfälle  infolge  Nachgeburtsblutung  weiter  herabzudrücken. 
Allerdings  dürfte  man  -es  nicht  zulassen,  daß  die  Hebammen  mit 
ihren  geringen  Kenntnissen  und  Fähigkeiten  davon  Gebrauch 
machen,  wie  sogar  einige  Geburtshelfer  vorgeschlagen  haben.  - 
Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg.,  H.  32.) 

K.  S. 

* 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

227.  lieber  die  klinische  Diagnose,  der  Amyloid¬ 
niere.  Von  P.  Vandervelde.  Das  Bestehen  einer  Amyloid¬ 
niere  kann  übersehen  werden,  wenn  die  Symptome  der  Erkran¬ 
kung,  auf  deren  Boden  sich  die  Amyloidniere  entwickelt  hat, 
oder  von  komplizierenden  Erkrankungen  im  Krankheitsbild  vor¬ 
herrschen.  In  der  internen  Medizin  kommen  hauptsächlich  die 
ini  Anschluß-  an  die  Lungenschwindsucht  entwickelten  Fälle  von 
Amyloidniere  zur  Beobachtung;  Eiweiß  findet  sich  im  Harn  bei 
ungefähr  33%  der  Fälle  von  Lungenschwindsucht.  Nach  den 
Erfahrungen  des  Verfassers,  die  sich  auf  34  Fälle  beziehen, 
geht  die  Amyloidniere  immer  mit  Albuminurie  einher  und  es 
ergibt  sich  die  Frage,  ob  es  möglich  ist,  die  durch  die  Amyloid¬ 
niere  hervorgerufene  Albuminurie  von  den  anderen  Formen  der 
tuberkulösen  Albuminurie  zu  unterscheiden.'  Es  gibt  kein  patho- 
gnomonisches  Symptom,  welches  die  Unterscheidung  der  Amyloid¬ 
niere  von  den  anderen  bei  Tuberkulösen  vorkommenden  Nieren¬ 
affektionen  gestattet;  die  spärlichen  Formelemente,  die  man  bei 
Amyloidniere  im  Harne  findet,  zeigen  gegenüber  Farbstoffen 
das  gleiche  Verhalten,  wie  die  bei  anderen  Nierenläsionen  ge¬ 
fundenen  Formelemente.  Eine  Unterscheidung  läßt  sich  nur  durch 
Messung  der  24stündigen  Harnausscheidung,  Bestimmung  des 
Harnstoffs,  der  Chloride  und  des  Eiweißgehaltes,  mikroskopische 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  Hill. 


Nr.  9 


324 


Untersuchung  des  zentrifugierten  Harns  und  die  Methylenblau¬ 
probe  gewinnen.  Für  Amyloidniere  spricht  beträchtliche  Albu¬ 
minurie  mit  bedeutenden  täglichen  Schwankungen,  eine  der  Menge 
der  eingeführten  Chloride  proportionale  Ausscheidung,  schwache 
Harnstoffausscheidung,  ferner  regelmäßige  und  rapide  Elimination 
des  eingeführten  Methylenblaus.  Die  Wahrscheinlichkeit  wird  zur 
Sicherheit,  wenn  im  Harne  nur  spärliche  Zylinder  und  Nieren- 
epithelien  gefunden  werden.  Im  Beginn  der  Amyloiddegeneration 
besteht  gewöhnlich  Polyurie,  im  vorgerückten  Stadium  wird  Oli¬ 
gurie,  selbst.  Anuri e,  beobachtet.  Die  Differentialdiagnose  gegen¬ 
über  Nierentuberkulose  bietet  keine  Schwierigkeit,  weil  bei  noch 
geschlossenen  tuberkulösen  Herden  die  Albuminurie  fehlt  und 
auch  nach  Durchbruch  der  Herde  nicht  konstant,  sondern  schub¬ 
weise  au  ftritt.  Die  bei  Tuberkulösen  beobachteten  Formen  von 
Nephritis  zeigen  das  gleiche  Verhalten  wie  andere  Nephritis¬ 
formen  Retention  der  Chloride,  Zylindrurie,  langsame  und 
unregelmäßige  Ausscheidung  des  eingeführten  Methylenblaus 
so  daß  die  Unterscheidung  von  der  Amyloidniere  nicht  schwer 
fällt.  Größere  diagnostische  Schwierigkeiten  können  entstehen, 
wenn  sich  epitheliale  Nephritis  zur  Amyloidniere  gesellt,  doch 
weist  das  Fehlen  von  Blutdrucksteigerung,  die  Seltenheit  und 
Flüchtigkeit  der  Oedeme,  sowie  die  nur  schwache  Ausprägung 
urämischer  Erscheinungen,  auf  das  Vorhandensein  der  Amyloid¬ 
niere  hin.  —  (Journ.  med.  de  Brux.  1910,  Nr.  46.)  a.  e. 

* 

228.  Ueber  einen  Fall  von  Laboratoriumsinfek¬ 

tion  mit  Maltafieber  und  die  Notwendigkeit  prophy¬ 
laktischer  Maßnahmen,  sowie  der  Anzeigepflicht. 
Von  F.  Widal,  L  e  o  n  -  K  i n  d  b erg  und  C  o  t  o n  i.  Das  Maltafieber, 
welches  von  seinem  Ausgangspunkt  auf  alle  Mittelmeerländer  sich 
ausgebreitet  hat,  wird  u.  a.  auch  sowohl  sporadisch,  als  auch 
in  Form  von  kleinen  Epidemien  in  Frankreich  beobachtet.  Als 
hauptsächliche  Infektionsquelle  des  Maltafiebers,  welches  durch 
den  Micrococcus  melitensis  hervorgerufen  wird,  sind  die  Ziegen 
anzusehen,  durch  deren  infizierte  Milch  die  Ansteckung  des 
Menschen  erfolgt.  Aber  auch  durch  bloßen  Kontakt  mit  erkrankten 
Ziegen,  sowie  durch  das  Blut  der  Tiere  kann  z.  B.  bei  Schlächtern 
die  Infektion  erfolgen.  Die  Verseuchung  des  Bodens  erfolgt  durch 
den  Harn  der  erkrankten  Menschen  und  Tiere.  Auch  die  bloße 
Manipulation  mit  Kulturen  des  Micrococcus  melitensis  kann  An¬ 
steckung  herbeiführen;  es  sind  bisher  relativ  zahlreiche  Fälle 
von  Laboratoriumsinfektion  mit  Maltafieber  beschrieben  worden, 
welchen  die  Verfasser  eine  neue  Beobachtung  hinzufügen.  Die 
Erkrankung  zeigte  die  typischen  Symptome  —  wellenförmigen 
Temperaturverlauf,  Muskelschmerzen  und  profuse  Schweiße.  Im 
Blute  und  Harne  wurde  der  Micrococcus  melitensis  nachgewiesen, 
Agglutinations-  und  Fixationsreaktion  zeigten  positiven  Ausfall. 
Bei  der  Leichtigkeit  der  Ansteckung  bei  Kontakt  mit  lebenden 
Kulturen  des  Micrococcus  melitensis  empfiehlt  es  sich,  zur  Agglu¬ 
tinationsreaktion  mit  Formal  abgetötete  Kulturen  zu  verwenden, 
wodurch  der  Ausfall  der  Reaktion  nicht  beeinträchtigt  wird.  Die 
wichtigste  Maßnahme  der  allgemeinen  Prophylaxe  ist  das  Verbot 
dies  Genusses  roher  Ziegenmilch,  sowie  der  Einführung  von 
Ziegen  aus  Malta.  Eine  Grundbedingung  der  erfolgreichen  Durch¬ 
führung  der  prophylaktischen  Maßnahmen  ist  die  Einführuüg 
der  Anzeigepflicht  bei  Maltafieber.  —  (Bull,  de  l’Acad.  de  Med. 
1910,  Nr.  36.)  a.  e. 

* 

229.  Ueber  die  Porgessche  Reaktion  bei  Idioten 
und  Geisteskranken.  Von  Olivier  und  Pellet.  Unter  den 
zahlreichen  Methoden  zum  Nachweis  spezifischer  hämolytischer 
und  präzipitierender  Substanzen  im  Serum  von  Syphilitischen 
besitzt  die  Wasserm  an n sehe  Reaktion  die  größte  Verläßlich¬ 
keit,  ist  jedoch  in  technischer  Hinsicht  kompliziert,  so  daß  als 
Ersatz  verschiedene  einfachere  Verfahren  vorgeschlagen  wurden. 
Die  P  orgessche  Reaktion,  welche  auf  der  Kombination  von  hämo¬ 
lytischen  und  präzipitierenden  Substanzen  des  Serums  oder  der 
Zerebrospinalflüssigkeit  mit  bestimmten  Lipoiden  beruht,  ist  von 
einfacher  Ausführung.  Es  wird  zu  dem  zentrifugierten  und  inak¬ 
tivierten  Serum  eine  l%ige  mit  erwärmtem  destillierten  Wasser 
bereitete  Lösung  von  Natriumglykocholat  zugesetzt.  Das  Blut 
wird  direkt  aus  der  Vena  mediana  cephalica  oder  mit  Hilfe  eines 
Schröpfkopfes  gewonnen.  Die  Untersuchungen  erstreckten  sich 


auf  50  Fälle;  von  24  Idioten  gaben  14  =  58-7 %,  von  6  Para¬ 
lytikern  5  =  83-3%  positive  Reaktion,  bei  Dementia  praecox, 
Dementia  ©pileptica  und  verschiedenen  Psychosen,  im  ganzen 
20  Fälle,  wurde  bei  30%  positive  Reaktion  konstatiert.  Bemerkens¬ 
wert  ist  der  relativ  hohe  Prozentsatz  der  positiven  Reaktionen 
•bei  Idiotie  im  Vergleich  zu  dem  sonst  festgestellten  Prozentsatz 
hinsichtlich  der  Beziehungen  zwischen  hereditärer  Syphilis  und 
Idiotie,  wo  in  keiner  Statistik  mehr  als  20%  hereditär  Syphiliti¬ 
scher  sich  finden.  Bezüglich  der  Wasser  man  naschen  Reaktion 
bei  Idiotie  gehen  die  Angaben  weit  auseinander.  Der  hohe  Pro¬ 
zentsatz  der  positiven  Porgesschen  Reaktion  bei  Idiotie  findet 
zum  Teil  darin  seine  Erklärung,  daß  positiver  Ausfall  auch  bei 
Tuberkulose,  Kachexie  usw.  beobachtet  wird,  welche  Zustände 
bei  Idioten  sehr  häufig  Vorkommen;  in  einer  Statistik  findet  sich 
hereditär©  Belastung  mit  Tuberkulose  bei  57-1%  der  untersuchten 
Idioten  notiert.  Bezüglich  des  positiven  Ausfalles  der  Reaktion 
bei  progressiver  Paralyse  geben  die  anderen  Statistiken  niedrige 
Werte  an ;  unter  den  sechs  untersuchten  Paralytikern  reagierten 
5  positiv,  darunter  4  mit  nachweisbarer  Syphilis,  bei  einem  negativ 
reagierenden  Fall  wurde  gleichfalls  anamnestisch  Syphilis  an¬ 
gegeben,  doch  lag  die  Infektion  sehr  weit  zurück.  Unter  den 
übrigen  Fällen  war  ein  Fall  von  Verworrenheit  mit  positiver 
Rieaktion  (bei  einer  Patientin,  die  vor  neun  Jahren  Syphilis 
durchgemacht  hatte,  bemerkenswert.  Unter  den  untersuchten 
Fällen  befanden  sich  acht  mit  nachgewiesener  Syphilis,  von 
welchen  sieben  positive  Porgessche  Reaktion  gaben.  —  (Pr ogres 
med.  1910,  Nr.  48.)  a.  e. 

* 

230.  Ueber  die  klinische  Diagnose  der  tuberku¬ 
lösen  Appendizitis.  Von  Le  jars.  Das  Vorkommen  von 
Fällen,  wo  die  Tuberkulose  des  Wurmfortsatzes  unter  der  Form 
der  akuten  oder  chronischen  Appendizitis  auftritt,  führt  zur 
Frage  nach  dem  Vorhandensein  von  Symptomen,  welche  die 
richtige  Diagnose  ermöglichen.  Es  sind  hier  jene  Fälle  auszu¬ 
scheiden,  wo  die  tuberkulöse  Appendizitis  zu  einer  bereits  vor¬ 
geschrittenen  Ileocökaltuberkulose  hinzutritt.  Besondere  Schwie¬ 
rigkeiten  kann  die  Unterscheidung  der  akuten  tuberkulösen  Appen¬ 
dizitis  von  den  anderen  Formen  der  Appendizitis  bieten.  Als 
einziges  verwertbares  Symptom  ist  hier  die  Distension  des  Ab¬ 
domens,  welche  auch  nach  Milderung  und  Lokalisation  der 
Schmerzen  fortbesteht,  zu  verwerten.  Die  Erfahrungen  bei  der 
Operation  zeigen,  daß  die  Distension  des  Abdomens  öfter  durch 
Ansammlung  von  Aszitesflüssigkeit  bedingt  ist.  Auch  in  nicht 
operierten  Fällen  gestattet  der  Nachweis  von  Aszites  nach  Ablauf 
der  akuten  Erscheinungen  den  Schluß  auf  die  tuberkulöse  Natur 
der  Erkrankung.  Eine  eigene  Gruppe  bilden  die  nicht  seltenen 
Fälle,  wo  die  tuberkulöse  Peritonitis  nach  latenter  Entwicklung 
sich  unter  den  Erscheinungen  der  akuten  Appendizitis  äußert. 
Auch  hier  ist  die  Distension  des  Abdomens',  insbesonders,  wenn 
ihr  Bestehen  vor  Auftreten  des  akuten  Anfalls  festgestellt  wird, 
ein  wertvoller  Behelf  der  Diagnose;  auch  sind  die  akuten  Er¬ 
scheinungen  meist  flüchtig  und  wenig  ausgeprägt,  was  bei  der 
bestehenden  starken  Auftreibung  des  Abdomens,  besonders  auf¬ 
fällig  erscheint.  In  solchen  Fällen  ist  ein  Eingriff  indiziert,  weil 
die  Entleerung  des  Aszites  durch  eine  Inzision,  eventuell  in 
Kombination  mit  der  Exstirpation  des  Wurmfortsatzes,  bei  der 
tuberkulösen  Peritonitis  das  rationelle  Heilverfahren  darstellt. 
Auch  die  chronischen  Formen  der  tuberkulösen  Appendizitis 
können  diagnostische  Schwierigkeiten  bieten,  wie  auch  ander¬ 
seits  Fälle  gewöhnlicher  chronischer  Appendizitis  durch  die  be¬ 
gleitende  Abmagerung  und  die  Ausdehnung  der  Schwellung  den 
Verdacht  auf  Tuberkulose  erwecken  können.  Für  Tuberkulose 
spricht  das  gleichzeitige  Vorhandensein  tuberkulöser  Erkrankung 
in  anderen  Organen,  z.  B.  in  der  Lunge,  ferner  das1  Bestehen 
eines  ausgedehnten  Tumors  in  der  rechten  Fossa  iliaca,  ohne 
daß  Fieber  oder  andere  Reaktionsefscheinungen  nachweisbar 
oder  anamnestisch  feststellbar  sind,  ferner  das  Vorhandensein 
von  Aszites,  wenn  auch  nur  mäßigen  Grades.  Klinisch  sind  die 
reine  tuberkulöse  Appendizitis,  die  tuberkulöse  Appendizitis  mit 
tuberkulöser  Peritonitis,  die  einfach  entzündliche  Appendizitis 
im  Gebiete  einer  tuberkulösen  Peritonitis  und  die  tuberkulöse 
Peritonitis  ohne  eigene  Läsion  des  Wurmfortsatzes1,  auseinander¬ 
zuhalten.  —  (Sem.  möd.  1910,  Nr.  47.)  a.  e. 


Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


325 


Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

231.  Die  Mischinfektion  bei  der  Tuberkulose  und 

ihre  Behandlung.  \  on  James  K.  Young.  Der  Autor  kommt 
für  die  chirurgische  Tuberkulose,  soweit  an  ihr  außer  dem  Tu¬ 
berkelbazillus  noch  andere  Bakterien  beteiligt  sind,  zu  folgenden 
Schlüssen:  1.  Bei  der  B  a  k  t  e  r  i  n  Behandlung  (Bakterie  ist  die 
allgemeine  Bezeichnung  für  ihrer  Provenienz  nach  verschiedene 
aus  abgetöteten  Bakterien  borgestellte  Vakzine),  soll  jede  Ope¬ 
ration,  welche  zur  Entleerung  abgeschlossener  Eiterherde  not¬ 
wendig  ist,  gleichzeitig  ausgeführt  werden.  2.  Wenn  möglich,  soll 
immer  der  opsonische  Index  zur  Kontrolle  der  Impfungen  be¬ 
stimmt  werden.  3.  Zur  Herstellung  des  Bakterius  sollen,  wenn 
tunlich,  autogene  Stämme  verwendet  werden.  4.  Man  beginne 
immer  mit  mäßigen  Dosen.  5.  Die  Bakterinbehandlung  gibt  nicht 
oft  befriedigende  Resultate,  wenn  Septikämie  vorhanden  ist.  6.  Die 
Behandlung  der  Tuberkulose  mit  Tuberkulin  ist  von  einigem 
Werte.  Dieser  kann  aber  gegenwärtig  noch  nicht  genau  bestimmt 
werden.  —  (Monthly  Cyklopaedia  and  Medical  Bulletin,  Dezember 
1910.)  sz. 

* 

232.  Zwei  Fälle  von  symmetrischer  Nekrose  der 
Nierenrinde  bei  puerperaler  Eklampsie  und  Harn¬ 
verhaltung.  Von  R.  Jardine  und  J.  Teacher.  Die^beiden 
Fälle  betrafen  Eklampsie  im  siebenten  und  achten  Monate  der 
Schwangerschaft,  gefolgt  von  Harnverhaltung.  Bei  der  Nekropsie 
erwies  sich  der  größere  Teil  der  Rinde  beider  Nieren  als  nekro¬ 
tisch.  Dichte  fibrinöse  Thromben  wurden  in  den  die  nekrotischen 
Gebiete  versorgenden  Arterien  gefunden  und  die  Autoren  halten 
diese  für  die  zweifellose  Ursache  der  Nekrose.  Die  Thrombose 
wurde  vielleicht  durch  lokalen  arteriellen  Spasmus  eingeleitet. 
(The 'Journal  of  Pathology  and  Bacteriology  1911,  Bel.  15,  S.  137  ) 


233.  (Aus  dem  Rockefeller-Instilut  in  New  York.)  Die  Ein¬ 
leitung  von  Sporulation  hei  zur  Gruppe  des  Aero- 
genes  cap  s u  1  a  tu s  gehörenden  Bazillen.  Von  M.  P.  F i  tz 
gerald.  Der  Autor  fand,  daß  man  die  Sporulation  bei  auf 
Peptonbouillon  wachsendem  Bacillus  aerogenes  capsulatus  durch 
Zusatz  von  Arabinose,  Raffinose,  Inulin,  Dulzit,  Isodulzit,  Mannit 
und  Amygdalin  einleiten  könnte,  wobei  die  letzten  beiden  Zusätze 
besonders  günstig  wirken.  Keine  Sporulation  wurde  mit  Glukose, 
Rohrzucker,  Laktose  und  Maltose  erzielt,  welche  von  den  Ba¬ 
zillen  unter  Säurebildung  zerlegt  werden.  Im  allgemeinen  ist 
Säure  der  Sporulation  hinderlich,  Alkali  dagegen  derselben  günstig. 
Eine  N/50 — N/100-Alkaleszenz  gibt  die  besten  Resultate.  -  (The 
Journal  of  Pathology  and  Bacteriology  1911,  Bd.  15,  S.  147.) 


234.  Ueber  die  Lymphgefäße  des  Rückenmarkes. 
Von  A.  Bruce  und  J.  W.  Dawson.  Man  glaubt  allgemein,  daß 
es  rings  um  die  Blutgefäße,  die  in  die  Substanz  ties  Rückenmarkes 
eindriugen,  zwei  voneinander  unabhängige  Lymphgefäßsysteme 
gibt:  1.  eine  Fortsetzung  des  subarachnoidalen  Lymphraumes 
im  lockeren  Gewebe  der  Adventitia  in  das  Lymphsystem  der 
letzteren.  2.  Ein  außerhalb  dieser  zwischen  der  Adventitia  und 
der  Membrana  limitans  perivascularis  liegendes,  bekannt  als  der 
perivaskuläre  Lymphraum  von  His.  Dieser  wurde  einerseits  als 
zusammenhängend  mit  dem  epispinalen  Lymphraume  von  H  i  s 
zwischen  der  Pia  und  dem  Rückenmark,  anderseits  mit  dem  peri- 
zellulären  Lymphraume  Obersteiners,  welcher  die  Ganglien¬ 
zellen  umgibt,  angenommen.  Die  Autoren  fanden,  daß  an  Ge¬ 
weben,  die  nach  der  Zenker  sehen  Methode  fixiert  und  sehr 
vorsichtig  mit  Alkohol  behandelt  werden,  kein  epispinaler,  peri¬ 
vaskulärer  oder  perizellulärer  Lymphraum  vorhanden  ist.  Sie 
betonen,  daß  künstliche  Injektionen  zu  Artefakten  führen  und 
daß  die  natürlichen  Verhältnisse  am  besten  gezeigt  werden  können 
bei  der  natürlichen  Injektion  der  Lymphräume  durch  die  granu¬ 
lierten  Zellen,  die  man  bei-  subakuter  Degeneration  des  Rücken¬ 
marks  findet.  In  diesen  Fällen  sieht  man  keine  perivaskulären 
oder  epispinalen  Räume,  sondern  die  Lymphräume  der  Adventitia 
und  der  Pia  sind  angeftillt  mit  Phagozyten,  die  voll  von  den 


Restein  des  degenerierten  Myelins  sind.  Die  epispinalen,  perivas¬ 
kulären  und  perizellulären  Lymphräume  sind  daher  Kunstpro¬ 
dukte.  Der  einzig  wirkliche  Lymphkanal  ist  der  adventiticlle, 
in  welchem  die  Lymphe  zum  größten  Teile  von  innen  nach  außen 
strömt,  obgleich  der  umgekehrte  Strom  auch  vorkommt,  wodurch 
Mikroorganismen  und  Toxine  in  das  Rückenmark  gelangen.  -~ 
(The  Journal  of  Pathology  ami  Bacteriology  1911,  Bd.  15,  S.  179.) 


235.  Weitere  Beobachtungen  über  die  ßichromat- 
H  .dm  atoxylin -  Methode  der  L  ip  o  i  d  f  ä  r  h  u  n  g.  Von 
J.  Smith,  J.  Lor  rain  und  \\ .  Mair.  Die  Autoren  glaubten 
früher,  daß  Mischungen  von  Cholestearin  und  Fettsäuren  der 
Hauptbestandteil  der  Gewebe  sei,  welche  sich  nach  der  Wei gert- 
scheu  Myelinmethode  färben,  wobei  dem  Cholestearin  die  größere 
Bedeutung  zugeschrieben  wurde.  Sie  fanden  nun,  daß  sich  ein 
Zerebrosid  aus  dem  Gehirne  nach  dieser  Methode  gut  färbe. 
Diese  Substanz  ist  relativ  unlöslich  in  den  gewöhnlichen  Fett¬ 
lösungsmitteln  und  ist  im  Gehirn  der  Neugeborenen  nur  in  Spuren 
vorhanden.  Dies  erklärt,  warum  das  Nervengewebe  trotz  der  Be¬ 
handlung  mit  Alkohol  und  Aether  noch  eine  schwache  Färbung 
nach  Weigert  zeigt  und  warum  die  Markscheide  bei  jungen 
Individuen  schwerer  zu  färben  ist  als  bei  Erwachsenen.  - —  (The 
Journal  of  Pathology  and  Bacteriology  1911,  Bd.  15,  S.  179.) 


236.  Die  Wassermannsche  Reaktion  bei  mit  Try¬ 

panosomen  von  Nagana  infizierten  Kaninchen  und 
der  Effekt  ihrer'  Behandlung  mit  Arsenophenylgly- 
zin.  Von  C.  H.  Browning  und  J.  Mac  Kenzie.  Normale 
Kaninchen  können  positive  und  mit  Trypanosomen  infizierte  Ka¬ 
ninchen  negative  W  asserm  annsche  Reaktion  zeigen.  Die  Re¬ 
aktion  kann  nach  einer  Kur  mit  Arsenophenylglyziu,  einer  sehr 
wirksamen  Substanz,  bestehen  bleiben  und  kann  auch  negativ 
bleiben,  nachdem  die  Krankheit  durch  kleine  Dosen  von  Arseno- 
phenylglyzin  in  die  Länge  gezogen  wurde.  Das  Serum  von  mit 
Trypanosomen  infizierten  Kaninchen  kann,  nachdem  es  erhitzt 
wurde,  positive  Wassermannsche  Reaktion  geben,  während 
es  nicht  erhitzt,  negativ  reagiert  hatte.  —  (The  Journal  of  Patho¬ 
logy  and  Bacteriology  1911,  Bd.  15,  S.  182.)  sz. 

* 

237.  Der  respiratorische  Gas  Wechsel  von  Mäusen 
mit  transplantiertem  Karzinom.  Von  R.  A.  Chisholm. 
Aus  einer  großen  Reihe  von  Beobachtungen  schließt  der  Autor, 
daß  in  der  Aktivität  des  respiratorischen  Gaswechsels  und  im 
respiratorischein  Quotienten  zwischen  normalen  und  tumortragen¬ 
den  Mäusen  kein  Unterschied  bestehe.  Die  Entfernung  des  Tumors 
bewirkt 'keine  Aenderung  im  Gaswechsel.  In  den  Nieren  einzelner 
Karzinommäuse  wurde  Klossiola  muris  gefunden.  —  (The 
Journal  of  Pathology  and  Bacteriology  1911,  Bd.  15,  S.  192.) 


238.  Beobachtungen  über  die  Ausscheidung  der 
H  arnsäurebei  G  i  c  h  t  u  n  d  bei  rheumatischer  Arthritis. 
Von)  W.  J.  Mallory.  Die  Arbeit  stellt  eine  Untersuchung  dar  über 
die  Ausscheidung  der  Harnsäure  von  Kranken  mit  rheumatischer 
Arthritis  und  Gicht  bei  einer  purinfreien  Kost  und  nach  Dar¬ 
reichung  von  Nukleinsäure  und  Hypoxanthin.  Unter  19  Fällen 
von  rheumatischer  Arthritis  war  bei  10  kein  Unterschied  gegen¬ 
über  der  Norm  zu  finden.  9  Fälle  zeigten  jedoch  eine  vermehrte 
Harnsäureaus'scheidung  durch  längere  Zeit,  nach  der  Verabreichung 
purinhaltiger  Substanzen.  Anfälle  von  subakuter  Arthritis  folgten 
öfters  darauf.  In  dieser  Hinsicht  ähnelten  die  Fälle  der  Gicht. 
Sie  schieden  jedoch  einen  größeren  Teil  des  exogenen  Purinstick- 
stoffes  als  Harnsäure  aus,  als  es  die  Gichtfälle  taten,  die  von 
den  Autoren  und  von  anderen  beobachtet  wurden.  - —  (The  Jour¬ 
nal  of  Pathology  and  Bacteriology  1911,  Bd.  15,  S.  207.)  sz. 

* 

239.  Die  Entwicklung  eines  primären  Sarkoms 
in  einer  zi  rrhotischen  Leber.  Von  H.  D.  Rol'lesiton 
und  R.  S.  Trevor.  Es  handelte  sich  um  einen  großen  Leber¬ 
tumor  bei  einem  46jährigen  Manne  mit  Metastas'en  in  der  Leber 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


320 


und  in  dem  Peritoneum.  Mikroskopisch  zeigte  die  Leber  typische 
multilobuläre  Zirrhose.  Der  primäre,  sehr  gefäßreiche,  Tumor 
zeigte  polymorphe,  in  Alveolen  angeordnete  Zellen,  die  sekun¬ 
dären  Knötchen  dagegen  die  Struktur  eines  Rundzellensarkoms. 
Der  Tumor  wurde  als  Häm ängiendo  thel i o m  betrachtet.  —  (The 
Journal  of  Pathology  and  Bacteriology  1911,  Bd.  15,  S.  247.) 

sz. 

* 

240.  Der  diagnostische  Wert,  d'er  lokalen  Tuber¬ 

kulinreaktionen.  Von  Th.  Sachs.  Von  zahlreichen  Beob¬ 
achtern  gesammelte  klinische  Erfahrungen,  welche  durch  Obduk¬ 
tionsbefunde  bestätigt,  wurden,  beweisen  die  Spezifizität  der  lo¬ 
kalen  Tuberkulinreaktionen.  Das  allgemeine  Urteil  geht  gegen¬ 
wärtig  dahin,  daß  eine  positive  kutane  oder  konjunktivale  Reaktion 
die  Anwesenheit  eines  tuberkulösen  Herdes  in  irgendeiner  Stelle 
des  Körpers  beweist,  ohne  die  Aktivität  oder  Latenz  des  Pro¬ 
zesses  damit  anzuzeigen.  Die  lokalen  Tuberkulinreaktionen  unter¬ 
scheiden  'sich  je  nach  der  zur  Applikation  gewählten  Körperstelle. 
Ein  vergleichendes  Studium  der  Resultate  verschiedener  Beob¬ 
achter  ist.  nur  unter  Berücksichtigung  dieses  Umstandes  möglich, 
lieber  Wolff-E  isners  Meinung,  daß  die  Konjunktivalreaktion 
Aktivität 'des  tuberkulösen  Prozesses  anzeigt,  ist  gegenwärtig  noch 
kein  sicheres  Urteil  möglich.  Die  Aktivität  eines  tuberkulösen 
Prozesses  kann  die  Ursache  für  eine  positive  lokale  Reaktion 
bei  Anwendung  sehr  kleiner  Tuberkulindosen  sein.  Weitere  Ver¬ 
suche  mit  verschiedenen  Tuberkulinverdünnungen  und  einer  ver- 
vollkommneten  Technik,  wobei  insbesonders  auf  die  gleichartige 
Resorption  der  applizierten  Tuberkulinmenge  zu  achten  wäre-, 
könnten  eine  Differenzierung  der  aktiven  von  der  inaktiven  Tuber¬ 
kulose  vielleicht  zulassen.  Tuberkuloseverdächtige  Fälle,  in  denen 
sich  die  Kutanreaktion  rasch  und  stark  entwickelt,  reagieren  im 
allgemeinen  auch  rasch  schon  auf  geringe  Mengen  subkutan  ge¬ 
gebenen  Tuberkulins.  Die  kutane  Tuberkulinprobe  hat  daher  rela¬ 
tiven  Wert  in  Fällen,  wo  die-  subkutane  Anwendung  aus  irgend¬ 
einem  Grunde  kontraindiziert  ist.  Die  entscheidende  Methode 
bei  zweifelhaften  Fällen  von  Tuberkulose  bleibt  die  subkutane, 
besonders  'wenn  eine  Herdreaktion  erwünscht  ist.  Ein  ungünstiger 
Einfluß  der  subkutanen  Methode  kann  durch  Anwendung  kleiner 
Tuberkulindosen  (0-0002  bis  00001  mg)  vermieden  werden.  Pir¬ 
quets,  Wo  Iff- Eisners  und  Calmettes  Arbeiten  eröffnen 
ein  neues  Feld  für  weitere  klinische  und  Laboratoriumsunter¬ 
suchungen,  aus  denen  sich  eine  sichere,  verläßlich©  Methode  der 
Diagnose  latenter  und  beginnender  Fälle  von  Tuberkulose  ent¬ 
wickeln  kann.  —  (The  Journal  of  the  American  Medical  Asso¬ 
ciation,  21.  Januar  1911.)  sz. 

* 

Aus  russischen  Zeitschriften. 

241.  '(Aus  der  therapeutischen  Hospitalsklinik  der  Charkower 

Universität.  —  Vorstand:  Prof.  K.  N.  Georgiewski j.)  Ver¬ 
änderungen  im  Blute  und  im  Urin  nach  Behandlung 
mit  Ehrlichs  „606“.  Von  Dr.  J.  S.  Mag  at.  Die  Zahl  der 
Leukozyten  steigt  während  der  ersten  Tage  nach  der  Injektion. 
Entsprechend  der  Vermehrung  der  roten  Blutkörperchen  zeigt 
auch  der  Hämoglobingehalt  eine-  Steigerung.  Die  Zahl  der  Leuko¬ 
zyten  steigt  einen  Tag  nach  der  Einspritzung.  Die  Urinunter¬ 
suchung  läßt  die  Schlußfolgerung  zu,  daß  von  seiten  des  sekre¬ 
torischen  Apparates  der  Nieren,  sowie  des  Nierengewebes  über¬ 
haupt  keinerlei  Reizerscheinungen  vorhanden  sind.  Einen  Tag  nach 
der  Injektion  wurde  bei  allen  Patienten  ein  Ansteigen  der  Harn¬ 
säurewerte  beobachtet;  nach  einigen  Tagen  sanken  die  Harn¬ 
säurewerte  zur  Norm  ab.  Die  Untersuchungen  stützen  sich  auf 
ein  Material  von  sieben  gut  beobachteten  Fällen.  —  (Charkowskij 
medicynskij  Journal,  Dezemberheft.  1910.)  J.  Sch. 

* 

242.  Ueber  Eventratio  diaphragmatica.  Von  G.  M. 
Malkow,  Kiew.  Die  Eventratio  diaphragmatica  - —  eine  selten 
beobachtete  Affektion  —  ist  in  streng  anatomischem'  Sinne  nicht 
als  Hernie  anzusehen,  da  ihre  Wand  von  drei  Blättern  gebildet 
wird :  dem  Bauchfell,  der  Pleura  und  dem  dazwischen  liegenden 
Zwerchfell.  Verfasser  beschreibt  einen  Fall  von  Eventratio  dia¬ 
phragmatica  bei  einem  35jährigen  Manne,  dessen  subjektive  Be¬ 
schwerden  hauptsächlich  in  starkem  Gurren  im  Bauche  und  zeit¬ 
weiligem  Kopfschwindel  bestanden.  Von  den  objektiven  Sym¬ 


ptomen  waren  die  hervorstechendsten:  eine  Zone  tympani tischen 
Schalles  in  der  Herzgegend,  welche  in  den  tympanitischen  Schall 
des  Abdomens  überging  und  eine  Verdrängung  des  Herzens  nach 
rechts.  Dieser  zunächst  perkutorisch  und  auskultatorisch  auf- 
geinommene  Befund  wurde  durch  genaue  Röntgenuntersuchung 
sichergestellt.  Verf.  legte  sich  nun  die  Frage  nach  der  Pathogenese 
der  Eventratio  diaphragmatica  vor  und  ging  dabei  von  der  Ver¬ 
mutung  aus,  daß  die  Atrophie  der  linken  Zwerchfellshälfte  -- 
als  primäre  Ursache  der  Eventratio  diaphragmatica  —  vielleicht 
trophoneurotischen  Ursprunges  sei.  Eine  Anzahl  von  Tierver¬ 
suchen.  — -  es  wurde  gemeinsam  mit  Lindemann  bei  Hunden  der 
linke  Phrenikus  durchschnitten  und  hiedurch  nach  einigen  Mo¬ 
naten  eine  streng  auf  die  linke  Seite  beschränkte  Zwerchfells¬ 
atrophie  erreicht  —  bestätigte  die  Annahme  des  Verfassers.  — 
(Russkij  Wratsch  1910,  Nr.  51.)  J.  Sch. 


\Zermisehte  jviaehriehten. 

Ernannt:  Der|  außerordentliche  Universitätsprofessor 

Dr.  Alfred  Kohlt  zum  ordentlichen  Professor  der  Histologie  an 
der  deutschen  Universität  in  Prag. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Hans  Salzer  für  Chirurgie  in  Wien. 

-  Dr.  Josef  St.  Hornowski  für  pathologische  Anatomie  in 
Lemberg.  —  Dr.  Walter  Fischer  für  innere  Medizin  in  Göttingen. 

-  Dr.  Friedr.  H ohmeier  für  Chirurgie  in  Greifswald. 

* 

Gestorben:  Der  frühere  Leiter  der  medizinischen  Poli¬ 
klinik  in  Zürich,  Prof.  Dr.  Friedr.  Ernst.  —  Dr.  C.  van  Cau- 
wenberghe,  Professor  der  Geburtshilfe  und  Frauenheilkunde 
in  Gent.  —  Dr.  Guillery,  ehemaliger  Professor  der  gericht¬ 
lichen  Medizin  in  Brüssel.  — .  Dr.  Bohr,  Professor  der  Physio¬ 
logie  in  Kopenhagen.  —  Dr.  Al  bin i,  Professor  der  Physiologie 
in  Neapel. 

* 

Sonntag,  den  5.  März  d.  J.,  um  11  Uhr  vormittags, 
findet  im  großen  Festsaale  der  k.  k.  Universität  in  Wien  die  feie  r- 
lfche,Sitzuing  der  unter  dem  Allerhöchsten  Protektorate  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  stehenden  O österreichischen  Gesell¬ 
schaft  für  Erforschung  und  Bekämpfung  der  Krebs- 
krankheit  statt.  Programm:  1.  Ansprache  des  Präsidenten 
Hofrat.  Prof.  Dr.  Anton  Frh.  v.  Eiseisberg.  2.  Das  Problem 
der  Krebskrankheit.  Vortrag,  gehalten  von  Prof.  Dr.  Alexander 
Fraenkel. 

* 

Am  18.  Februar  d.  J.  fand  je  eine  Sitzung  des  Fach¬ 
komitees  des  Obersten  Sanitätsrates  für  A  rzn  ei  mi  ttel  wesen 
sowie  des  Fachkomitees  für  Wasserversorgung  und  Abwasser¬ 
reinigung  statt.  Das  erstgenannte  Fachkomitee  hat  folgende  Gegen¬ 
stände  beraten:  1.  Ueberprüfung  der  Grundsätze  für  die  Preis¬ 
ansätze  der  Arzneitaxe.  (Referent  Hofrat  Meyer.)  2.  Abgabe 
von  Radiumemanationspräparaten  außerhalb  der  Apotheken.  (Re¬ 
ferent  derselbe.)  3.  Erklärung  eines  Präparates  als  Heilmittel. 
(Referent  Prof.  Möller.)  —  lin  Fachkomitee  für  Wasserversor¬ 
gung  und  Abwässerreinigung  wurden  Gutachten  über  folgende 
Gegenstände  erstattet:  1.  Errichtung  einer  Kläranlage  für  Ab¬ 
wässer  einer  Färberei.  (Referent  Prof.  Kabrhel.)  2.  Entwurf 
eines  Wasserrechtsgesetzes.  (Referent  Hofrat  Ludwig.) 

* 

In  der  am  21.  Februar  stattgefundenen  Hauptversammlung 
der  W  i  e  n  e  r  A  e  r  z  t e k  a  m  m  e  r  erstattete  Schriftführer  Doktor 
Frey  den  Tätigkeitsbericht  über  die  Periode  1907  bis  1910. 
Es  steht  fest,  sagt  der  Bericht,  daß  die  Kammer  in  dieser  Zeit 
ihre  Autorität  wesentlich  gesteigert  und  ihre  Machtsphäre  schritt¬ 
weise;  aber  kontinuierlich  erweitert  hat.  Die  Aerztekammer  ist 
heute  eine  Institution,  ohne  die  die  Aerzteschaft  nicht  mehr 
gedacht  werden  kann,  die  von  Hoch  und  Niedrig  in  gleicher 
Weise  respektiert  und  welcher  als  autonome  Standesvertretung 
der  Aerzteschaft  auch  von  den  politischen  Faktoren  und  den 
staatlichen  Behörden  jene  Stellung  eingeräumt  wird,  die  ihr  als 
der  legalen  ärztlichen  Standesbehörde  gebührt.  Diese  achtung¬ 
gebietende  Stellung  verdankt  sie  in  erster  Linie  dem  Umstande, 
daß  sie  als  Kompromißkammer  die  Gesamtheit  der  Aerzteschaft 
in  allen  ihren  politischen  und  wirtschaftlichen  Schattierungen 
vertritt.  Und  schon  aus  diesem  Grunde  muß  das  Kompromiß  auch 
ferner  aufrechterhalten  bleiben.  Nebst  ihrer  Zusammensetzung 
verdankt  aber  auch  die  Kammer  ihren  wachsenden  Einfluß  ihrer 
unbeugsamen  Unabhängigkeit  gegen  oben  und  unten,  ihrer  selbst¬ 
bewußten,  bloß  auf  das  Wohl  des  Standes  und  der  ärztlichen 
Allgemeinheit  gerichteten  Stellungnahme  gegenüber  den  die  ärzt- 


■ 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


Nr.  9 


327 


liehen  Interessen  tangierenden  Fragen,  endlich  der  stets  fortschrei¬ 
tenden  Erkenntnis  der  Aerzteschaft  von  der  Wichtigkeit  und  Erfolg¬ 
sicherheit  des  Bestandes  einer  autonomen  Standesbehörde  als 
Kristallisationspunkt  sozialärztlicher  Bestrebungen.  Gerade  das 
abgelaufene  I  riennium  war  besonders  reich  an  entscheidenden 
und  folgenschweren  Ereignissen,  die  die  Kammer  in  den  Bereich 
ihrer  Beratungen  zog.  Schon  im  ersten  Jahre  ihres  Bestandes 
hatte  sich  die  Kammer  mit  der  so  wichtigen  Krankenkassenfrage 
zu  befassen.  Einen  breiten  Raum  in  den  Verhandlungen  nahm 
die  Regierungsvorlage  betreffend  die  Ausübung  der  Zahnersatz¬ 
kunde  und  den  Betrieb  der  Zahntechnik  ein.  Gewissermaßen  als 
Vorläuferin  jener  für  die  Zukunft  des  ärztlichen  Standes  gerade¬ 
zu  entscheidenden  Regierungsvorlage  der  Sozialversicherung, 
dereln  Durchberatung  die  Standardaktion  des  zweiten  Jahres  der 
Kammerperiode  bildete,  wäre  auch  die  Stellungnahme  der  Kammer 
zu  dem  die  Interessen  des  Aerztestandes  so  sehr  berührende 
l'rivatbeamteh Versicherungsgesetzes  zu  erwähnen,  die  zu  dem 
Beschlüsse  führte,  daß  mit  Rücksicht  auf  das  von  der  Mehrheit 
aufgestellte 'Prinzip  der  freien  Aerztewahl  sich  die  Kammer  gegen 
die  Einbeziehung  der  Aerzte  in  das  Privatbeamtenversichernngs- 
gesetz  und  für  die  Schaffung  einer  allgemeinen  Pensionsversiche- 
ruiigskasse  Mer  Aerzte  Oesterreichs  ausspricht.  Gleichzeitig  wurde 
ihr  als  der  geschäftsführenden  Kammer  die  Vorbereitung  des 
Kammertages  übertragen.  Das  gesamte  Riesenmaterial  wurde  auf¬ 
gearbeitet  und  eine  Reihe  wichtiger  und  unaufschiebbarer  Referate 
durch  ihre  Delegierten  erstattet.  Ich  erinnere  nur  unter  anderem 
an  das  Referat  über  die  bevorstehende  Errichtung  einer  Unfall- 
und  TIa  ftp  flieh  tvcrsicherucgs  -  Aktiengesellschaft,  deren  Konstituie¬ 
rung  dem  letzten  Kammerjahre  Vorbehalten  blieb.  Im  letzten 
Jahre  der'  Kammerperiode  wurde  der  Entwurf  eines  neuen  Straf¬ 
gesetzes  einer  bis  in  die  feinsten  Details  eingehenden  Kritik 
unterworfen  und  dem  XVI.  österreichischen  Aerzteka.mmertage 
in  Brünn  vorgelegt.  Ein  weiterer  Erfolg  dieser  Periode  ist  die 
Gründung  des  ,, Kosmos“,  ferner  die  Ernennung  von  praktischen 
Verzten  zu  Mitgliedern  des  Obersten  Sanitätsrates  anläßlich  der 
Neukonstil  uierung  dieser  Körperschaft.  ’Ein  weiterer  schöner  Erfolg, 
wenn  auch  nicht  von  so  universeller  Bedeutung,  ist  der  hei  der 
Verhandlung  mit  dem  Chefärzte  der  „Lucina“  durchgesetzte  Ver¬ 
trag  anläßlich  der  Gründung  des  diesem  Wohlfahrtsinstitute  affi¬ 
nierten  Sanatoriums,  wodurch  gewissermaßen  ein  Paradigma  bei 
ler  Gründung  ähnlicher  Institute  geschaffen  und  die  Interessen 
der  praktischen  Aerzte  statutarisch  gewahrt  werden.  Wenn  ich 
noch  schließlich  der  im  Zuge1  befindlichen  Verländerungsaffäre 
ler  Kliniken  und  Krankenhäuser  ic  der  Sanierungsaktion  des 
Krankenhausfonds  gedenke  und  hinzufüge.  daß  die  Kammer  nber- 
mals  im  Einvernehmen  mit.  der  Wirtschaftlichen  Organisation 
und  dem  medizinischen  Professorenkollegium  der  Wiener  Uni¬ 
versität  die  geplante  UebeiTumpelung  des  ärztlichen  Standes  ver¬ 
hindert  und  dafür  Sorge  trug,  daß  auch  in  Zukunft  eine  ähnliche 
Febergehung  der  Aerzteschaft  in  dieser  Angelegenheit  unmöglich 
'em  acht  wurde,  so  habe  ich  damit  den  aktuellsten  Teil  der 
etzten  Kammertätigkeit  gestreift. 

* 


Der  dritte  Kongreß  der  internationalen  Gesell¬ 
schaft  für  Chirurgie  wird  vorn  2(1.  his  30.  September  1911 
n  Brüssel  stallfinden.  Folgende  drei  Hauptthemen  werden  zur 
•iskussion ’gestellt:  1.  Lungenchirurgie.  Referenten:  Garre-Bonn, 
t  au  d  i  er  -  Lille,  Girard -Genf,  Len  or  mand-  Paris,  Fergu¬ 
son-Chicago,  van  Stockum- Rotterdam .  Saoerbruch  •  Mar¬ 
burg 'und  F  r  i  e  d  r  i  ch  -  Marburg.  2.  Kolitis.  Referenten:  Sonnen- 
»urg- Berlin,  Sog  on  d  -Paris,  Gibs  on -New  York,  IVA  re  y 
’ower- London.  3.  Pankreatitis.  Referenten:  Michel-Nancy, 
V  ö  r  t  e  -  Berlin,  Giordano.  Auskünfte  erteilt,  der  Generalsekretär 
Vof.  De  page,  Brüssel  75,  Avenue  Louise. 

• 


Wien  er  medizinisches  Dok  tor  enkol'l  eg  ium.  Die 
iir  Montag,  den  6.  März  d.  J.,  7  Uhr  abends,  anberaumte, 
vissonschaftlichef Versammlung  des  Kollegiums1,  in  welcher  Privat- 
lozent  Dr.  H.  Winterberg  über  das  Elektrokardiogramm,  seine 
heoretische  und  praktische  Bedeutung  sprechen  und  Privatdozent 
Ir.  K.  J.  Rotliberger  elektrokardiographische  Aufnahmen  de¬ 
monstrieren  wird,  findet,  ausnahmsweise  im  Hörsaale  des  In¬ 
ti  lutes  für  allgemeine  und  experimentelle  Path o- 
°gie  (Hofrat  Prof.  Paltauf),  IX.,  Kiiwletrspitalgasse  15,  statt. 


Verein  zur  Erbauung  eines  Aerztekurhauses  in 
'  ranzen  sbad.iDer  Verein  zur  Erbauung  eines  Aerztekurhauses 
11  Franzensbad  eröffnet  für  den  Monat  September  d.  J.  wieder 
rim  Freiplätze  für  kurbedürftige  Kollegen  und  deren  Gattinnen. 


Dieselben  umfassen  folgende  Benefizien :  Freie  Wohnung  in  Privat¬ 
hausern,  unentgeltliche  ärztliche  Behandlung,  unentgeltliche  Kur- 
imttel,  Befreiung  von  Kur-  und  Musiktaxen,  freien  Eintritt  in  die 
w'sesäle  ,und  zu  allen  kurörtlichen  Veranstaltungen,  ferner  seitens 
der  Theaterdirektion  ein  50°/oiger  Nachlaß  der  Eintrittspreise. 
Bewerber  um  einen  Freiplatz  mögen  sich  bis  längstens  20.  August 
beim  Präsidium  des  obgenannten  Vereines  melden. 

* 

Die.  Redaktion  der  Zeitschrift  „Die  Umschau“  hat  einen 
Preis  von  1000  M.  ausgeschrieben  für  die  beste  Beantwortung 
der  t1  rage :  \\  as  kosten  die  schlechten  R a s s e n e  1  e m en t e 
den  Staat  und  die  Gesellschaft?  Es  sollen  zunächst  die 
Gesamtkosten,  welche  die  Minderwertigen  (Kranke,  Krüppel  usw.) 
in  einem  größeren  Verwaltungsgebiete  verursachen,  ermittelt  wer¬ 
den.  Sodann  soll,  soweit  das  vorhandene  Material  dies  erlaubt, 
der  Anteil,  welchen  die  angeborene  oder  ererbte  körperliche, 
geistige  oder  sittliche  Minderwertigkeit  an  diesen  Gesamtkosten 
der  Kranken,  Krüppel,  Verbrecher,  Erwerbsunfähigen  usw.  hat 
festgestellt  werden.  Die  Herren  Prof.  Dr.  B  ec  h  hold,  Heraus¬ 
geber  der  Umschau,  Frankfurt  a.  M„  Sanitätsrat  Dr.  A.  Gott¬ 
stein,  Charl Ottenburg,  Obermedizinalrat  Prof.  Dr.  v.  Gruber, 
Direktor  des  Hygienischen  Institutes  der  Universität  München, 
haben  sich  bereit  erklärt,  das  Preisrichteramt  für  die  ein¬ 
gehenden  Arbeiten  zu  übernehmen.  Die  Bewerbungen  sind  spä¬ 
testens  bis  zum  31.  Dezember  1911  hei  der  Redaktion  der 
„Umschau“  einzureichen . 

* 

Literarische  Anzeigen.  Vor  kurzem  ist  der  VI.  Jahr¬ 
gang  (1911)  des  ärztlichen  Jahrbuches'  für  Oester¬ 
reich,  von  Dr.  E.  Fuhrmann  in  Wien,  herausgegeben  bei 
W.  Fischer,  Wien  IX.,  Universitätsstraße  6,  erschienen.  Preis 
8  Kronen. 

Immunität,  Schutzimpfung  und  Serumtherapie. 
Von  Prof.  A.  Di  end  on  ne.  Siebente  Auflage.  Verlag  von 
J.  A.  Barth  in  Leipzig.  Preis  6  M.  80  Pf.  Die  Imrnunitäts- 
lehre,  von  welcher  das  vorliegende  Werk  eine  zusammenfassende 
Uebersicht  gibt,  ist  in  raschestem  Fortschreiten  begriffen.  Es 
ist  daher  selbstverständlich,  daß  auch  die  vorliegende  Auflage 
gegenüber  der  sechsten  wesentliche  Veränderungen.  Verbesse¬ 
rungen  und  Anfügungen  aufweist. 

Mit  Beginn  des  VII.  Bandes  hat  Dr.  Fr.  Keys  s er,  Assistent 
am  Institut  für  Infektionskrankheiten  in  Berlin,  die  Redaktion 
der  „F  o  1  i  a  s  e  r  o  1  o  g  i  c  a“  übernommen.  (Verlag  :  Dr.  W.  K 1  i  n  k- 
har  dt -Leipzig.)  Dem  ersten  Hefte  gibt  Geheimrat  Professor 
Dr.  v.  Wassermann  ein  Begleitwort  mit,  aus  dem1  zu  ent¬ 
nehmen  ist,  daß  das  Organ,  dessen  Untertitel  auch  entsprechend 
geändert  wurde,  den  Praktikern  eine  Uebersicht  über  die  ge¬ 
samte  Arbeitsleistung  auf  dem  'Gebiete  der  theoretischen  und 
klinischen  Serologie  geben  soll.  Außer  Gebeimrat  v.  Was¬ 
sermann  treten  in  das  Herausgeherkollegium  u.  a.  noch  ein: 
A  l  t,  A  r  r h e n  i u  s.  D ö d e r  1  e i n,  P.  Ehrlich,  Fl^xner,  G a f f  k y, 
Heubner,  Kocher,  Madsen,  A.  Neisser,  P.  Roemer.  — 
Die  Bezugsbedingungen  sind  unverändert  geblieben,  das  Organ 
erscheint  bandweise.  Der  Abonnementspreis  für  den  Band  beträgt 
16  Mark.  f 

* 

Erlaß  des  k.  k.  Ministeriums  des  Innern  vom 
17.  Februar  1911,  Z.  1062/S,  an  alle  politischen  Landesbehörden, 
betreffend  Vorkehrungsmaßregeln  zur  Verhütung 
der  Pest.  Die  Ausbreitung  der  Pest  in  der  Mandschurei  gibt 
zwar  keinen  unmittelbaren  Anlaß  zu  einer  Beunruhigung  für  das 
österreichische  Reichsgebiet,  mahnt  jedoch  zur  Vorsicht  und  ge¬ 
bietet,  die  Durchführung  jener  allgemeinen  sanitären  Maßnahmen 
iii  Betracht  zü  ziehen,  die  anläßlich  der  vorjährigen  Choleragefahr 
neuerlich  angeordnet  wurden  und  an  und  für  sich  z'ur  Hebung 
der  öffentlichen  (res  und heits  Verhältnisse  bestimmt  sind.  In  dieser 
Hinsicht  sind  vor  allem  die  Reinhaltung  der  Wohnungen,  der 
Straßen  und  Plätze,  die  Beseitigung  des  Hauskehrichtes  und  der 
Küchenabfälle  im  Auge  zu  behalten.  Desgleichen  ist  die  Ver¬ 
sorgung  mit  unbedenklichem  Trink-  und  Nutzwasser,  sowie  die 
einwandfreie  Entfernung  der  Abfallstoffe  aus  der  Umgebung 
menschlicher  Ansiedlungen  vorzusehen,  bzw.  zu  überwachen. 
Ebenso  bedarf  der  Lebensmittelverkehr  eingehender  Aufsicht.  Be¬ 
sondere  Aufmerksamkeit  ist  der  Vertilgung  von  Ratten,  Mäusen 
und  dem  die  Krankheit,  vermittelnden  Ungeziefer  (Flöhe,  Wanzen), 
welche  zweifellos  bei  der  TTebertragung  der  Pest  eine  wichtige 
Rolle  spielen,  zuzuwenden.  In  Betracht  kommt  vor  allem  die 
Ausrottung  der  Ratten  in  KclleiTüumen,  Kanälen  und  Senkgruben, 
in  Speichern,  Lagerhäusern  und  gewerblichen  Betrieben,  Als  er- 


328 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


probtes  Mittel  werden  nebst  den  Rattenfallen  das  Auslegen  von 
Gift  (Arsenik,  Phosphor,  Meerzwiebelpräparate  usw.),  der  Danysz- 
srhe  Rattelnbazillus  und  das  im  Handel  befindliche  Ratin  em¬ 
pfohlen.  Noch  größeren  Erfolg  versprechen  die  Vernichtung  der 
Brutstätten  und  Schlupfwinkel,  die  Verwahrung,  bzw.  Beseitigung 
alb  r  Abfälle'  in  solcher  Weise,  daß  sie  für  Ratten  nicht  zugäng¬ 
lich  sind,  sowie  der  Bau  moderner1  Kanalisationsanlagen  mit  glatten 
Wänden  der  Rohre  und  Durchspülung  großer  Wassermengen  und 
hiebei  die  Anbringung  von  Gittern,  welche  das  Eindringen  der 
Ratten  in  die  Wohnungen  verhindern.  Da  frei  der  Pest  nach  ver¬ 
einzelten  Erkrankungen  die  Zahl  der  Fälle  nur  allmählich  zu¬ 
nimmt,  läßt  sich  die  Verbreitung  der  Krankheit  bei  rechtzeitiger 
Ermittlung  und  sofortiger  Isolierung  der  ersten,  auch  bloß  ver¬ 
dächtigen  Kranken,  mit  Sicherheit  verhindern.  Die  k.  lc.  ..... 
wird  eingeladen,  im  besonderen  die  Bestimmungen  der  mit  Erlaß 
vom  12.  November  1899,  Z.  38.224,  hinausgegebenen  Belehrung 
über  die  Pest  und  die  sanitären  Maßnahmen  zur  Verhütung  und 
Tilgung  derselben,  sowie  der  h.  o.  Erlässe  vom  2.  Juni  und  vom 
15.  November  1899,  sowie  vom  27.  Juli  1902,  den  unterstehen¬ 
den  Behörden  und  Organen  zur  zweckmäßigen  Danachachtung 
in  Erinnerung  zu  bringen  und  gleichzeitig  auch  die  genaue  Ein¬ 
haltung  der  noch  geltenden  Ministerialverordnungen  vom  24.  Ja¬ 
nuar  1897,  vom  27.  Mai  1898,  und  vom  6.  Juni  1899,  betreffend 
das  Verbot  der  Ein-  und  Durchfuhr  gewisser  Waren  und  Gegen¬ 
stände  aus  Asien,  mit  Ausnahme  des  asiatischen  Rußlands  und 
aus  Afrika  einzuschärfen. 

* 

Die  Gesundheitsverhältnisse  der  Wiener  Ar¬ 
beiterschaft  im  Januar  1911.  Bei  dem  Verbände  der  Ge¬ 
nossenschaftskrankenkassen  Wiens  und  der  Allgemeinen  Arbeiter- 
Kranken-  und  U n terstü tz u ng sk assc  in  Wien,  welche  einen  Stand 
von  310.000  (320.000)  Mitgliedern,  davon  280.000  (290.000)  in 
Wien  aufweisen,  betrug  im  Januar  1911  die  Zahl  der  Krank¬ 
meldungen  mit  Erwerbsunfähigkeit  in  Wien  15.797  (10.844).  Davon 
entfielen  auf  Tuberkulose  der  Atmungsorgane  1201  v  1056),  andere 
Erkrankungen  der  Atmungsorgane  3437  (1763),  Anginen  068  (428), 
Lungenentzündungen  62  (41),  Influenzen  3004  (554),  Erkrankungen 
der  Zirkulationsorgane  376  (383),  Magen-  und  Darmerkrankungen 
639  (739),  rheumatische  Erkrankungen  1006  (1020),  auf  Ver¬ 
letzungen  (Betriebsunfälle)  1955  (1802)  Erkrankungen.  Die  Zahl 
der  Todesfälle  betrug  im  Jänner  1911  348  (232).  Davon  entfielen 
auf  Tuberkulose  139  (84),  andere  Erkrankungen  der  Atmungs¬ 
organe  24  (19),  der  Zirkulationsorgane  60  (35),  auf  Neubildungen 
20  ( 1 9),  Verletzungen  7  (2),  auf  Selbstmorde  11  (4)  Todesfälle. 
(Die  Ziffern  in  den  Klammern  beziehen  sich  auf  den  Januar  1910.; 

* 

Cholera.  Italien.  Die  italienische  Regierung  hat  die 
gegen  Provenienzen  aus  Konstantinopel  und  Tripolis  verfügten 
sanitätspolizeilichen  Maßnahmen  aufgehoben.  —  Schw  eiz.  Durch 
Beschluß  des  Bundesrates  vom  1.  Februar  wurde  die  Provinz 
Lecce  als  choleraverseucht,  die  Provinzen  Rom  und  Caserta, 
sowie  die  Stadt  Palermo  als  cholerafrei  erklärt.  —  Rumänien. 
Die  rumänische  Regierung  hat  alle  Sanitätsmaßregeln,  welche 
anläßlich  des  Auftretens  der  Cholera  in  Oesterreich  -  Ungarn  ver¬ 
fügt  wurden,  aufgehoben.  Rußland.  In  der  Zeit  vom  8.  bis 
14.  Januar  ereigneten  sich  in  ganz  Rußland  nur  4  (l)  Cholera,- 
erkrankungen  (Todesfälle)  u.  zw.  im  Gouvernement  Jekaterinoslaw. 
Die  Gesamtzahl  aller  im  Jahre  1910  konstatierten  C  holerafälle 
im  Russischen  Reiche  betrug  216.058,  von  denen  100.955  —  47% 
tödlich  endeten. 

Pest.  Rußland.  Seit  dem  Auftreten  der  Pest  in  der 
Kirgisensteppe  des  Gouvernements  Astrachan,  Ende  Oktober, 
wurden  bis  Anfang  Januar  dortselbst  148  Erkrankungen  und  108 
Todesfälle  an  Pest  sichergestellt  u.  zw.  bis  Mitte  November  31 
(30),  von  Mitte  November  bis  Mitte  Dezember  55  (43),  von  Mitte 
Dezember  bis  Anfang  Januar  62  (35).  — -  China.  Nach  offi¬ 
ziellen  Mitteilungen  sind  in  der  Mandschurei  in  der  Zeit  vom 
11.  Dezember  bis  14  Januar  a.  St.  Pesterkrankungen,  bzw.  Todes¬ 
fälle  an  nachstehenden  Orten  vorgekommen : 


11.  bis 

24.  bis 

1.  bis 

8.  bis 

24.  Dezemb. 

31.  Dezemb. 

7.  Jänner 

14.  Jänner 

Charbin . 

93  (93) 

78  (78) 

152  (152) 

198  (178) 

Duntsinschan  .  .  . 

7  (1) 

12  (16) 

4  (4) 

1  (1) 

Jaomyn . 

-  (  ) 

1  (1)' 

-  (-) 

-  (-) 

Chendavchedsy  .  . 

-  (-) 

4  (4) 

5  (5) 

-  (-) 

Aschiche  .... 

-  (-) 

2  (-) 

-  (-) 

-  H 

Maver  sehen  .  .  . 

-  (-) 

-  H) 

1  (1) 

-  (-’) 

Senschache  .  .  . 

-  (-)• 

-  (-) 

3  (3) 

-  (-) 

Kuantschenzy .  .  . 

-  (-) 

-  (-) 

3  (3) 

1  (1) 

Zajtsjago  .... 

-  (-) 

-  --) 

2  (2) 

-  (-) 

Die  Gesamtzahl  der  Pesttodesfälle  bis  22.  Januar  betrug 
in  Charbin  und  in  den  unmittelbar  dabei  noch  auf  dem  Gebiete 
der  Eisenbahnzone  liegenden  chinesischen  Ansiedlungen  624,  da¬ 
runter  14  Europäer.  In  Fudjadjan  ereigneten  sich  am  21.  Januar 
126,  am  22.  Januar  140  Todesfälle;  die  Gesamtsumme  der  bisher 
dort  Gestorbehen  soll  auf  mindestens  2000  gestiegen  sein,  ln 
Mukden  starben  vom  16.  bis  20.  Januar  134,  in  Dalny  (Dairen) 
10,  an  der  Balm  Antung  -  Mukden  2,  an  der  nordchinesiscben 
Eisenbahn  14,  in  Changchun  150,  in  Changtu  und  vier  anderen 
Orten  '44. 

* 

Vorläufiges  Ergebnis  der  Sanitätsstatistik  bei 
der  Mannschaft  des  k.  u.  k.  Heeres  im  D'ezem  bei  1910. 
Krankenzugang  70°/oo,  an  Heilanstalten  abgegeben  31°/oo,  Todes¬ 
fälle  0-1 2%o  der  durchschnittlichen  Kopfstärke. 

* 

In  Nr.  7,  S.  240,  dieser  Wochenschrift  hat  es  in  dem  Auf-  | 
satze  „Zur  Applikationsweise  des  Salvarsans“  von  Dt.  .1.  Hahn 
im 'vierteln  Absatz,  Zeile  5,  statt:  „gebräuchlichen  Lösung  im  \  er-  , 
gleiche  zu  deren  intravenösen  Injektion  usw.  zu  heißen .  ,,ge-  j 
bräuchlichen  Lösung  der  Fall  zu  sein,  gegen  deren  auch 
subkutane  Anwendung  ich  a  priori  kein  Bedenken 
zu  finden  vermag.“ 

* 


Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  5.  Jahreswoche  (vorn  19.  Januar  bis 


4. 


Februar  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  556,  unehelich  298,  zusammen 


854.  Tot  geboren,  ehelich  58,  unehelich  30,  zusammen  88.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  694  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
17  8  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  0,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  8,1 
Scharlach  3,  Keuchhusten  2,  Diphtherie  und  Krupp  3,  Influenza  Lj 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  7,  Lungentuberkulose  102,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  47,  Wochenbettfieber  8,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions- 
krankheiten:  An  Rotlauf  46  (+  16),  Wochenbettfieber  4  (-f  1),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  48  ( —  19),  Masern  108  (-f-  11),  Scharlach  /6  (-f-  2). 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  8  (-f-  6),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0). 
Diphtherie  und  Krupp  53  ( — 9),  Keuchhusten  26  (-f-  3),  Trachom  0  (  2), 

Influenza  3  (—  2),  Poliomyelitis  0  (0). 

6.  Jahreswoche  (vom  5.  bis  11.  Februar  1911).  Lebend  ge¬ 
boren,  ehelich  485,  unehelich  229,  zusammen  714.  Tot  geboren,  ehelich  56, 
unehelich  16,  zusammen  72.  Gesamtzahl  der  Todesfälle  686  (d.  i.  aut 
1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden  1 7  6  Todesfälle),  an 
Bauchtyphus  0,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  4,  Scharlach  2,  Keuch¬ 
husten  4,  Diphtherie  und  Krupp  4,  Influenza  1,  Cholera  0,  Ruhr  0,  Rot-: 
lauf  4,  Lungentuberkulose  111,  Bösartige  Neubildungen  45,  Wochenbett¬ 
fieber  1,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektionskrankheiten:  An  Rotlaut 
45  |)i  Wochenbettfieber  1  (-  3),  Blattern  (0),  Varizellen  95  (+  42), 

Masern  119  (+  16),  Scharlach  66  (—  10),  Flecktyphus  0  (0),  Bauch¬ 
typhus  4  (—4),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0),  Diphtherie  u.  Krupp  43  (—10), 
Keuchhusten  34  (-f-  8),  Trachom  2  (-j-  2),  Influenza  3  (=),  Polio¬ 
myelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Salinen-  und  F  o  r  s  t  a  r  z  t  e  s  s  t  e  1 1  e.  Bei  der  k.  k.  Salinen¬ 
verwaltung  in  Bad  Ischl  (Oberösterreich)  gelangt  die  Stelle  eines 
Salinen-  und  Forstarztes  II.  Kategorie  zur  Besetzung.  Die  Instruktion 
sowie  die  sonstigen  Bestimmungen  über  die  Ausübung  des  ärztlichen 
Dienstes  bei  den  k.  k.  Salinenverwaltungen  können  bei  diesen  letzteren 
sowie  auch  bei  der  k.  k.  Finanzdirektion  in  Linz  eingesehen  werden. 
Mit  der  Stelle  eines  Salin  n-  und  Forstarztes  II.  Kategorie  ist  der  An¬ 
spruch  auf  ein  Jahreshonorar  von  2200  K  einschließlich  der  Triennien-i 
und  Diensalferspersonalzulagen,  jedoch  ohne  die  den  Zivilstaatsbeamten| 
zustehende  Aktivitätszulage  verbunden.  Außer  dem  vorbezeichneten; 
Honorare  bezieht  der  Salinen-  und  Forstarzt  II.  Kategorie  noch  ein 
Fuhren-(Fahrgeld-)Pauschale  jährlicher  400  K,  dann  Brennmaterial  um 
ermäßigten  Preis  und  ein  Salzdeputat  nach  den  für  die  Salinenbeamten 
der  entsprechenden  Rangsklasse  geltenden  Bestimmungen.  Das  Vertrags¬ 
verhältnis  ist  von  beiden  Teilen  mit  dreimonatlicher  Frist  kündbar.  Be-: 
werber  um  die  ausgeschriebene  Stelle,  welche  Doktoren  der  Medizin. 
Chirurgie  und  Geburtshilfe,  bzw.  Doktoren  der  gesamten  Heilkunde  sein 
müssen,  haben  ihre  vorschriftsmäßig  gestempelten  und  belegten  Gesuche 
bis  längstens  15.  März  1.  J.  beim  Präsidium  der  k.  k.  Finanzdircktion 
in  Linz  zu  überreichen.  Diesen  Gesuchen  muß  insbesondere  angeschlossen 
sein:  1.  Die  Altersnachweisung,  2.  der  Nachweis  über  den  erlangten; 
Doktorgrad,  3.  über  die  Staatsangehörigkeit  und  4.  über  das  untadelhafte 
staatsbürgerliche  Verhalten,  5.  ein  amtsärztliches  Zeugnis  über  die  phy¬ 
sische  Eignung  und  6.  ein  Nachweis  der  bisher  zurückgelegten  ärztlicher. 
Tätigkeit.  In  dem  Gesuche  haben  die  Bewerber  auch  anzugeben,  ob  sk 
in  der  Lage  sind,  nach  Verständigung  über  die  erfolgte  Verleihung  dei 
Salinen-  und  Forstarztesstelle  ihren  Dienst  sofort  anzutreten  oder  burner 
welcher  Frist  dies  zuversichtlich  geschehen  kann.  Bewerber,  welche  em< 
besondere  Ausbildung  in  der  operativen  Chirurgie  und  Geburtshilfe  nach 
zuweisen  imstande  sind,  erhalten  den  Vorzug  vor  anderen. 


Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1011. 


329 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 
Sitzung  vom  24.  Februar  1911. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in  Wien. 
Sitzung  vom  9.  Februar  1911. 


Wissenschaftliche  Aerztegesellschaft  in  Innsbruck.  Sitzung:  vom 
17.  November  1910. 

Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte  in  Böhmen. 
Sitzung  vom  3.  Februar  1911. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  24.  Februar  1911. 

Vorsitzender:  Reg. -Rat  Prim.  Dr.  Adler. 

Schriftführer:  Priv.-Doz.  Dr.  A.  Fuchs. 

Mitteilungen  des  Vorsitzenden: 

1.  Einladung  der  Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinder¬ 
heilkunde  zur  Teilnahme  an  der  Trauersitzung  für  den  verstor¬ 
benen  Präsidenten  Hofrat  Esche  rieh  im  Sitzungssaale  der 

k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  am  9.  März,  7  Uhr  abends. 

2.  Danksagung  der  Familie  des  verstorbenen  Hofrates  Pro¬ 
fessor  Escherich  für  die  Teilnahme  der  Gesellschaft. 

Dr.  Artur  Goldreich :  Ich  gestatte  mir,  Ihnen  aus  dem 

l.  öffentlichen  Kinderkrankeninstitut  (Abteilung  des  Privatdozenten 
Dr.  Hochsinger)  einen  drei  Monate  alten  Säugling  mit  bisher 
nicht  behandelter  hereditärer  Lues  zu  demonstrieren.  Sie  sehen 
ein  makulopapulöseis  Exanthem  der  Haut  des  ganzen  Körpers, 
das  nach  Angabe  der  Mutter  bereits  seit  einem  Monate  besteht. 
Doch  nicht  wegen  des  charakteristischen  Hautausschlages  habe 
ich  das  Kind  hieher  gebracht,  sondern  wegen  einer  diffusen  lue¬ 
tischen  Skeletterkrankung,  die  wir  in  so  ausgebreiteter  und  in¬ 
struktiver  Weise  nur  selten  zu  beobachten  Gelegenheit  haben. 

Bei  Betrachtung  der  Finger  fällt  sofort  eine  starke  Ver¬ 
dickung  nahezu  sämtlicher  Grundphalangen  der 
Finger  beider  Hände  auf,  wodurch  die  Finger  ein  flaschen¬ 
förmiges  Aussehen  bekommen. 

Auch  an  den  Grundphalangen  einzelner  Zehen  und  zwar 
besonders  deutlich  der  zweiten  und  vierten  Zehe  des  rechten 
Fußes  kann  man  schon  makroskopisch  eine  deutliche  Verdickung 
der  Grundphalangen  konstatieren. 

Es  handelt  sich  hier  um  eine  multiple  Phalangitis  luetica, 
auf  die  in  zusammenhängender  und  erschöpfender  Weise  eigent¬ 
lich  erst  Hochsinger  in  seinen  „Studien  über  hereditäre  Sy¬ 
philis“  aufmerksam  gemacht  hat. 

Hoch  singer  hat  bei  seinem  hereditär-luetischen  Material 
im  ganzen  nur  65mal  die  Phalangen  der  Finger  erkrankt  ge¬ 
sehen,  darunter  nur  12m a  1  die  der  Zehen.  Die  Erkrankung,  er¬ 
streckt  sich  immer  nur  auf  die  Knochen,  die  Weichteile  sind  an 
der  Erkrankung  nicht  beteiligt.  Histologisch  handelt  es  sich  in 
diesen  Fällen  um  eine  rarefizierende  Ostitis  mit  diffuser  periostaler 
Hyperostose. 

In  manchen  Fällen  —  wie  auch  hier  —  sind  auch  die  Mittel¬ 
hand-  und  Mittelfußknochen  von  der  Erkrankung  ergriffen,  ohne 
daß  wir  dies  palpatori'sch  nachweisen  können ;  erst  das  Rönt¬ 
genogramm  gibt  darüber  Aufschluß.  Auch  hier  ist  das  ganze  Skelett 
erkrankt,  überall  sieht  man  im  Röntgenbilde  (Priv.-Doz.  Dr.  Kien¬ 
böck)  diffuse  periostale  Hyperostose  und  dabei  Rarefizierung 
der  Spongiosa  an  den  Vorderarmknochen. 

Die  Phalangen  selbst  erscheinen  gebläht,  stellenweise  sieht 
man  große  Absumptionen  und  Aufhellungen  der  Spongiosa,  dabei 
schwarze,  dicke  Begrenzungslinien  als  Ausdruck  des  periostalen 
Kn  ochenanwuchsete . 

Priv.-Doz.  P.  Clairmont  und  Dr.  Haudek :  Die  Bedeu¬ 
tung  der  Magenradiologie  für  die  Chirurgie. 

Die  Vortragenden  besprechen  an  der  Hand  von  über  hundert 
Fällen  der  v.  E  i s  el s b  er  g sehen  Klinik  den  Wert  der  klini¬ 
schen  Untersuchungsmethoden  und  der  Röntgenuntersuchung  für 
die  Diagnostik  von  Magenkrankheiten.  Hiebei  ging  der  radiologi¬ 
schen  Untersuchung,  die  im  Laboratorium  von  Dr.  Holzknecht 
vorgenommen  wurde,  der  Versuch,  eine  möglichst  exakte  klinische 
Diagnose 'zu  stellen,  stets  voraus.  Die  radiologische  Untersuchung 
erwies  sich  als  außerordentlich  brauchbar  für  die  Lokalisation  eines 
extraventrikulären  Tumors  oder  Druckpunktes,  für  die  Diagnose 
einer  grob  anatomischen  Wandläsion  im  Magen,  einer  beginnenden 
oder  voll  entwickelten  Pylorusstenose,  eines  Sanduhrmagens ;  sie 
ergab  oft  wichtige  Anhaltspunkte  für  das  Bestehen  eines  Ulkus 
oder  Karzinoms  durch  die  Prüfung  der  Motilität  oder  Auskunft 
über  die  Resezierbarkeit  eines  Neoplasmas.  Nach  wie  vor  sind 
für  die  Diagnose  von  Magenerkrankungen  sämtliche  klinischen 
Methoden  in  Anwendung  zu  bringen,  die  bestätigt,  ergänzt  oder 


korrigiert  werden  durch  die  Befunde  der  radiologischen  Unter¬ 
suchung. 

Schließlich  werden  Diapositive  von  Röntgenplatten  projiziert, 
die  als  Beweis  der  obigen  Ausführungen  gelten  können.  (Der  Vor¬ 
trag  wird  anderwärts  ausführlich  publiziert.) 

Diskussion:  Dr.  Gottwald  Schwarz:  Ich  glaube,  daß 
jeder  Radiologe  den  Vortrag  des  Herrn  Priv.-Doz.  Clairmont 
mit  Freude  begrüßen  wird.  Ist  doch  durch  ihn,  von  ganz  besonders 
berufener  Seite,  aus  einer  der  hervorragendsten  chirurgischen 
Kliniken  (v.  Eiseisberg)  an  einem  großen  Materiale  erwiesen 
worden,  daß  die  Röntgenuntersuchung  des  Magendarmtraktes,  an 
der  ein  sehr  vielfältiger,  nicht  immer  unvoreingenommener  Skepti¬ 
zismus  genagt  hat  ich  erinnere  nur  an  den  vehementen  An¬ 
griff  S tillers  -  einen  ganz  unschätzbaren  diagnostischen  Be¬ 
lnif  darstellt,  der  die  Feuerprobe  der  operativen  Autopsie  täglich 
aufs  neue  glänzend  besteht.  Und  gerade  weil  aus  Clairmonts 
Vortrag  die  enorme  Bedeutung  der  Röntgenologie  des  Magens 
so  zwingend  erkennbar  wird,  möchte  ich  doch  auch  besonders 
derjenigen  gedenken,  denen  wir  all  dies  verdanken,  ln  erster 
Linie  Hermann  Rieders,  der  uns  die  Wismutmethode  und  den 
ganzen  Bauplan  der  Magenradiologie  geschaffen  hat,  dann  Holz¬ 
knechts,  Jonas’,  Groedels,  Jolasses,  Reiches  u.  a.  m., 
welche  das  Verfahren  bis  zu  einem  Grade  ausgebaut  haben,  daß 
wir  heute  vom  chirurgisch-klinischen  Standpunkte 
zwar  vieles  Beachtenswerte,  in  röntgenologischer 
Beziehung  aber  nichts  erfahren  haben,  was  wir  nicht 
schon  seit  Jahren  als  gesichertes  Gut  der  Radio¬ 
logie  betrachten  durften. 

Für  besonders  wertvoll  und  anregend  halte  ich  diejenigen 
Stellen  des  Clairmo  nt  sehen  Vortrages,  in  denen  das  Verhältnis 
der  übrigen  klinischen  Methoden  zur  röntgenologischen  erörtert 
wird.  Clairmont  hat  mit  allem  Nachdruck  darauf  hingewiesen, 
wie  die  klinische  Beobachtung  der  röntgenologischen  vorauszu- 
geheln  habe,  er  hat  aber  auch  gezeigt,  daß  bei  am bulat^rischen 
Verhältnissen,  oft  die  Röntgenuntersuchung  allein  zu  weit¬ 
gehenden  diagnostischen  Schlüssen  berechtigt.  Dies  ist  gevdß  für 
viele  gesicherte,  oft  Aviederkebrende  Befunde  richtig,  insbesondere 
für  die  Fälle,  wo  die  Röntgenuntersuchung  ein  normales  Organ¬ 
bild  'ergibt. 

Andrerseits  aber  möchte  ich  an  der  Hand  zweier  Fälle, 
die  ich  mir  im  Bilde  vorzuführen  erlaube,  auf  ein  Moment  hin- 
weisen,  das  mir  gerade  in  der  Frage  der  ambulatorischen  Röntgen¬ 
durchleuchtung  des  Magens  von  Wichtigkeit  erscheint,  ich  meine: 
die  Notwendigkeit  der  Wiederholung  der  radiologi¬ 
schen  Untersuchung,  die  ich  schon  seit  längerer  Zeit  (siehe 
„Ein  Fall  von  narbiger  Pylorusstenose“,  Wiener  klin.  Wochen¬ 
schrift  1910,  Nr.  18)  verfechte. 

Gerade  als  Röntgenologe  einer  internen  Klinik  habe  ich 
gute  Gelegenheit  gehabt  zu  lernen,  wie  wichtig  auch  nach  der 
ersten  Durchleuchtung  noch  die.  nachträgliche  klinische 
Beobachtung  und  die  neuerliche  und  mehrfache  Durchleuch¬ 
tung  werden  kann. 

(Projektion ivon  Röntgenbildern,  die  bei  einem  und  demselben 
Kranken  zuerst  anscheinend  einen  hochgradig  destruktiv  ver¬ 
änderten,  später  und  endgültig  aber  einen  normalen  Magen  zeigten. 
Die  ausführliche  Publikation  der  beiden  Fälle  erfolgt  an  einem 
anderen  Orte.) 

Zusammen  fassen  möchte  ich  meine  Bemerkungen  dahin, 
daß  ich  glaube :  i 

Die  Röntgenologie,  isoliert  betrieben,  ist  bezüglich 
des  Mageins  ungenügend.  Ihre  Verbindung  mit  der  Chirurgie 
ist  von  größtem  praktischen  Werte  für  beide.  Das  Optimum  der 
Erkenntnis  aber  dürfte1  erreicht  werden,  wenn  sie  noch  überdies 
die  Erfahrungen  der  internen  Klinik  nach  Kräften  zu  resor¬ 
bieren  sich  bemüht. 

E.  Schütz:  Herr  Dr.  Clairmont  hat  in  seinem  Vor¬ 
trage  auch  das  Röntgen  verfahren  mit  den  übrigen  Methoden  in 
seinem  Werke  für  die  Magendiagnostik  verglichen;  er  hat  sich 
hiebei  bemüht,  die  Grenzen  der  Leistungsfähigkeit  der  radiologi¬ 
schen  Magendiagnostik  festzustellen.  Ich  betrachte  dies  als  ein 


330 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


Verdientet  'aus  dem  Grunde,  weil  seitens  mancher  Radiologen 
das  ungerechtfertigte  Bestreben  besteht,  die  Röntgenuntersuchung 
als  eine  souveräne  Methode  der  Magendiagnostik  hinzustellen. 

Wenn  ich  mir  in  dieser  Beziehung  einige  Bemerkungen  er¬ 
laube,  so  glaube  ich  mich  hiezu  berechtigt,  weil  ich  mich  schon 
seit  Beginn  der  Aera  der  radiologischen  Magenuntersuchung  mit 
dieser  Methode  eingehend  befasse  und  genügend1  Gelegenheit 
habe,  Vergleiche  zwischen  dieser  und  den  anderen  Methoden  zu 
ziehen. 

Ich  möchte  zunächst  die  Frage  aufwerfen,  worin  eigentlich 
der  praktische  Hauptgewinn  der  Anwendung  dieser  Methode  zu 
suchen  ist.  Nach  meiner  Ansicht  in  erster  Linie  in  der  Diagnose 
der  chirurgischen  Erkrankungen  des  Magens :  K a r  z  i n  o  m,  Ul cu s 
callosum  und  Folgezustände  des  Ulkus. 

Bezüglich  des  Magenkarzinoms  ist  zu  sagen,  daß  in  der 
überwiegenden  Zahl  der  Fälle,  die  uns  zu  Gesichte  kommen, 
die  (Merkmale  dieser  Erkrankung  so  in  die  Augen  springende  sind, 
daß  wir  das  Magenkarzinom  im  allgemeinen,  zu  den  am 
leichtesten  diagnostizierbaren  Magenerkrankungen  rechnen  können. 
Die 'Röntgenuntersuchung  kommt  sonach  nur  dort  in  Betracht,  wo 
kein  Tumor  palpabel  ist  und  der  Mageninhalt  keine  spezifischen 
Eigentümlichkeiten 'darbietet.  In  solchen  Fällen  scheint  der  radio¬ 
logischen  Untersuchung  recht  häufig  der  Nachweis  des  Tumors 
zu  gelingen.  Es  ist  dies  allerdings  ein  gewaltiger1  Fortschritt, 
über  delssen  praktische  Bedeutung  wir  uns  jedoch  nicht  täuschen 
dürfeh.  denn  auch  damit  ist  die  ersehnte  Frühdiagnose  nicht  er¬ 
bracht.  '  Aus  den  chirurgischen  Statistiken  geht  hervor,  daß  solche 
Fälle  kein  günstiges  Objekt  für  die  Radikaloperation  bieten  und 
erst  jüngst  hat  Finkh  aus  der  Klinik  v.  Bruns  in  Tübingen 
eine  Mitteilung  gemacht,  aus  der  hervorgeht,  daß  die  meisten 
Fälle  von  nicht  palpablem  Tumor  mit  positivem  Salzsäurehefund, 
bei  denen  radiologisch  ein  Neoplasma  nachzuweisen  war,  nicht 
mehr  radikal  operiert  werden  konnten,  während  die  Fälle  von 
palpablem  Tumor  für  die  Resektion  am  günstigsten  waren.  Hier 
handelt  hs  sich  eben  um  verschiedene  anatomische  Formen  des 
Karzinoms  oder  um  verschiedene  Lokalisation.  Pylorustumoren 
werden  eher  tastbar,  erzeugen  früher  Beschwerden  und  bieten  gün¬ 
stigere  Chancen  für  die  Resektion,  während  die  am  Korpus 
sitzendein  Tumoren  sehr  häufig  Verborgen  bleiben,  trotzdem 
sie  sich  durch  ein  rasches  Wachstum  und  Neigung  zu  Metastasen 
auszeichnen.  Wir  können  also  hier  nur  von  einer  relativen 
Frühdiagnose.  nicht  von  einer  solchen  im  eigentlichen  Sinne 
sprechet] :  von  einer  solchen  müssen  wir  für  das  Magenkarzinom 
dasselbe  verlangen,  wie  für  jede  andere  Erkrankung,  d.  h.  diese 
in 'ihrem  frühesten  Stadium  zu  erkennen;  für  das  Magenkarzinom 
also,  dieses  in  den  Anfängen  der  Tumorentwicklung  zu  diagnosti¬ 
zieren  ;  so  Aveit  hat  es  aber  die  Radiologie  bisher  nicht  gebracht. 
Der  Erkennung  des  Magenkarzinoms  im  Frühstadium  stellen  sich 
aber  auch  deswegen  Schwierigkeiten  entgegen,  weil  es  sich  in 
den1  meisten  Fällen  durch  ein  Stadium  der  Latenz  auszeichnet; 
und 'Boas  sagt  mit  Recht:  Die  Malignität  der  Intestinalkarzinome 
ist  nicht  bloß  im  Neoplasma,  sondern  in  der  Latenz  ihres  Wachs¬ 
tums  begründet. 

Vorläufig  liegt  die  Bedeutung  der  Radiologie  für  die  Diagnose 
des  Magenkarzinoms  darin,  in  zweifelhaften  Fällen  das  Vor¬ 
handensein  eines  Tumors  sicherzustellen.  Wenn,  wie  Hau  dok 
annimmt,  auch  die  Operabilität  des  Karzinoms  auf  röntgeno¬ 
logischem  Wege  festgestellt  werden  könnte,  dann  allerdings  wäre 
dies  von  größerem  praktischen  Werte;  ich  glaube,  wir  müssen 
diesbezüglich  noch  abwarten. 

Einen  weiteren  großen  Fortschritt  bedeutet  die  Möglichkeit 
der  radiologischen  Diagnose  des  Ulcus1  callosum,  um  die  sieb 
im  besonderen  M.  Haudek  verdient  gemacht  hat;  nicht  nur 
deshalb,  Aveil  die  Diagnose  Ulkus  bis  jetzt  auf  recht  schwachen 
Füßen  stand,  sondern  auch  wegen  der  engen  Beziehungen  des 
Ulcus  callosum  zum  Karzinom.  Vor  kurzem  hat  Payr  berichtet, 
daß  in  26%  der  Fälle  (Köttner  sogar  in  31%)  von  reseziertem 
Ulcus  callosum  histologisch  krehsiere  Umwandlung  nachzuweisen 
war;  Payr  bezeichnet  daher  die  Frühoperation  des  Ulcus  callo¬ 
sum  als  Frühoperation  des  Magenkarzinomte  und  man  kann  dem¬ 
gemäß  die  Frühdiagnose  des  Ulcus  callosum  als  Frühdiagnose 
des  Magenkarzinoms  bezeichnen. 

Von  großem  Belange  ist  ferner  die  Radiologie  für  die  Dia¬ 
gnose  dels  Sanduhrmägens,  wo  sie  sichere  und  präzisere  Resultate 
gibt  als  die  änderen  Methoden. 

Für  die  übrigem  Magenerkrankungen  leistet  die  Radiologie 
entweder  ebensoviel  als  die  anderen  Methoden  oder  sie  leistet 
gar  nichts. 

Das  gilt  für  die  Größe,  Lage  und  Formveränderungen,  die 
Atonie  —  die  gewöhnlich  als  die  eigentliche  Domäne  der  radio- 
logischen  Diagnostik  bezeichnet  werden.  Nach  meinen  Erfah¬ 


rungen  liefern  die  übrigen  Methoden  für  den  Nachweis  dieser  Zu¬ 
stände  bei  entsprechender  Anwendung  genügend  exakte  Resul¬ 
tate.  Das  Gleiche  gilt  auch  für  die  Diagnose  der  Pylorusstenose 
und  der  motorischen  Insuffizienz,,  selbst  bei  geringeren  Graden 
derselben. 

Dagegen  nützt  uns  die  Radiologie  bei  Bestimmung  der  sekre¬ 
torischen  Funktion  trotz  der  hiefür  angegebenen  Methoden  vor¬ 
läufig  so  gut  wie  gar  nichts.  Wir  erfahren  durch  die  Radiologie 
nichts  über  die  so  außerordentlich  wichtige  Beschaffenheit  des 
Mageninhaltes,  seine  Azidität,  das  mikroskopische  Verhalten,  seine 
pathologischen  Beimengungen,  den  Schleimgehalt  usw.  Dazu 
kommt  auch  die  Methode  des  Nachweises  okkulter  Blutungen,  die 
neuerdings  höhere  diagnostische  Bedeutung  erlangt  hat. 

Unid  nun  kommt  noch  das  große  Heer  der  übrigen  Erkran¬ 
kungen  riete  Magens,  der  Neurosen,  funktionellen,  psychogenen  und 
reflektorischen  Erkrankungen,  die  ja  die  weitaus1  überwiegende 
Mehrzahl  der  Magelnerkrankungen  bilden,  hinzu,  bei  denen  die 
Radiologie  nicht  in  Betracht  kommt. 

Damit  sind  auch  die  Grenzen  der  Leistungsfähigkeit,  der  radio- 
logischen  Magenuntersuchung  gekennzeichnet;  sie  ist  eine  hervor¬ 
ragend  wichtige  Methode,  aber  keine  Univertealm’ethode ;  sie  vermag 
auch  hur  hie  und  da  die  übrigen  Methoden  zu  ersetzen  und!  hat  in 
solchen  Fällen  allerdings  gewisse  Vorteile  —  die  größere  Sinn¬ 
fälligkeit,  dein  Umstand,  daß  ihre  Anwendung  verhältnismäßig 
selten  eine  Kontraindikation  bietet  und  keine  besondere  Fertig¬ 
keit  erfordert  besitzt  dagegen  den  Nachteil,  daß  sie  kompli¬ 
zierte  und  kostspielige  Apparate  und  einen  sehr  kostspieligen  Be¬ 
trieb  erfordert,  deshalb  nicht  Gemeingut  der  Aerzte  werden  kann, 
während  die  übrigen  Methoden  Gemeingut  der  Aerzte  Averden 
können  und  sollen,  wenn  sie  auch  zum  Teil  eingehendes  Studium 
und  große  Fertigkeit  erfordern.  Dies  gilt  natürlich  auch  für  die 
so  Aviohtige  Sondenmetbode  (deren  Anwendung  übrigens  durchaus 
nicht  häufig  kontraindiziert  ist).  Die  Unbequemlichkeiten  der¬ 
selben  für  den  Kranken  lassen  sich  durch  gewisse  Kantelen  auf 
ein  Minimum  reduzieren  und  die  vielfach  beschuldigte  Scheu 
der  Kranken  vor  der  Sonde  ist  nach  meiner  Ueberzeugung  zum 
Teil  darin  begründet,  daß  diese  Methode  durch  ungeschickte  und 
unvorsichtige  Handhabung  und  durch  Anwendung  komplizierter 
Apparatelbei  der  Aspiration  des  Mageninhaltes  an  manchen  Orten 
in  Mißkredit  geraten  ist. 

Ich  schließe  also:  Die  Radiologie  gibt  in  vielen  Fällen  für 
die  Magendiagnostik  bessere  und  sicherere  Anhaltspunkte  als 
die  anderen  Methoden,  in  anderen  ist  sie  diesen  gleichwertig  und 
vermag  sie  auch  zu  ersetzen;  in  der  überwiegenden  Mehrzahl 
tritt  sie  ihnen  gegenüber  ganz  in  den  Hintergrund.  Aus  alledem 
geht  hervor,  daß  es  für  den  Internisten  notwendig  ist,  sich  mit 
dieser  Methode  vertraut  zu  machen,  für  den  Spezialisten  ist  sie 
mi entbehr lieh  ;  anderseits  müssen  wir  aber  auch  von  dem  Radio¬ 
logen,  der  dieses  Verfahren  für  die  Magendiagnostik  verwendet, 
verlangen,  daß  er  die  übrigen  Methoden  gründlich  kennen  lerne, 
um  zur  Beurteilung  des  Wertes  derselben  und  zu  der  Ueberzeugung 
zu  'gelangen,  daß  das  Röntgen  verfahren  in  vielen  Fällen  als 
eine  notwendige,  in  anderen  als  eine  willkommene  Ergänzung 
dieser 'Methoden  zu  betrachten  sei.  ' 

Priv.-Doz.  Dr.  W.  Zweig:  Die  Radiologie  des  Magens 
besitzt  eine  so  außerordentliche  Bedeutung,  daß  sie  sich  auch 
einige  Einschränkungen  gefallen  lassen  kann,  welche  ich  vom 
Standpunkte  des  Internisten  machen  muß.  Ich  kenne  in  der  ganzen 
Magenpathologie  keine  schwierigere  Differentialdiagnose  als  die 
zaau sehen  Achylia  simplex  und  Achylia  carcinomatosa  beim  Fehlen 
eines  pal'pablen  Tumors.  Hier  läßt  uns  auch  die  Radiologie,  von 
der  man  Aufklärungen  erwarten  könnte,  vollkommen  im  Stich. 
Im  Gegenteil  ich  habe  vor  zAvei  Jahren  in  der  Wiener  klini¬ 
schen  Rundschau  Fälle  publiziert,  in  welchen  namhafte  Radio¬ 
logen  die  Diagnose  eines  Magenkarzinoms  bei  bestehnder  Achylie 
gestellt  haben  und  avo  der  weitere  Verlauf1  der  Fälle  bewiesen 
hat,  daß  es  sich  um  einfache  Achylien  gehandelt  hat.  Tmvieweit 
hiebei  spastische  Zustände  bei  der  falschen  Deutung  der  radio- 
logischen  Befunde  mitgespielt  haben,  wie-  sie  uns  eben  Kollege 
Schwarz  demonstriert  hat,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden. 
Ferner  kann  ich  nicht  genug  betonen,  Avie  wichtig  vor  allem 
die  exakteste  klinische  Untersuchung  bei  der  Diagnosenstellung 
ist.  Es  kommen  bei  der  heutigen  Aufklärung  des  Publikums  zahl¬ 
reiche  Fälle  zu  mir,  welche  den  radio-logischen  Befund  mitbringen, 
ohne  daß  sonst  irgendeine  M  a  gen  i  nh  alts  u  n  ters  iichu  n  g  vorgenom¬ 
men  worden  ist.  Charakteristisch  war  mir  folgender  Fäll.  Eine  auf 
das  äußerste  ahgemagerte  Patientin  (34  kg)  mit  Diastase  der  Rekti 
und  deutlicher  Magenperistaltik,  brachte  den  Röntgenbefund  mit, 
laut  welchem  der  Magen  noch  nach  24  Stunden  Reste  der 
Wismutspeise  enthalten  solle.  Der  Radiologe  stellte  die  Diagnose 
Pylorusstenose  und  überweist  die  Patientin  dem  Chirurgen  zur 


Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


331 


Vornahme  einer  Gastroenterostomie.  Ich  land  nach  eingehende)' 
klinischer  Untersuchung  bloß  das  Bestehen  einer  EnLeroptose 
mit  Tormina  ventriculi  Kussmaul,  ohne  die  geringsten  Anzeichen 
einer  Pylorusstenose.  Eine  Mastkur  stellte  die  Patientin,  voll¬ 
kommen  her  und  hob  ihr  Gewicht  um  8  kg.  So  sehr  ich  daher 
die  Radiologie  des  Magens  als  wertvollen  Untersuchungsbehelf 
schätze,  kann  ich  nicht  genug  eindringlich  vor  einer  ü eber¬ 
schätz  ung  derselben  warnen  und  die  peinlichste  Anwendung  aller 
klinischen  Methoden  zur  Diagnosestellung  nicht  genug  warm  be¬ 
fürworten. 

Dr.  Jonas:  Aut  die  —  zum  Teil  längst  widerlegten  An¬ 
würfe  gegen  die  Magenradiologie  zu  antworten,  muß  ich  mir 
leider  versagen,  da  ich  glaube,  diesen  Punkt  dem  Vortragenden 
überlassen  zu  müssen.  Sicherlich  werden  von  der  Verbindung 
der  Radiologie  mit  der  Chirurgie  beide  profitieren,;  daß  aber 
auch  die  interne  Klinik  radiologische  Erfahrungen  rein  mit  ihren 
Mitteln  zu  verwerten  vermag,  möchte  ich  an  den  von  Privat¬ 
dozenten  Clairmont  mit  Recht  betonten  Druckpunkten  speziell 
für  die  Differentialdiagnose  des  Ulcus  ventriculi  be¬ 
weisen.  Ich  konnte  gelegentlich  einer  Reihe  von  Durchleuchtungen 
florider  Magengeschwüre  zeigen,  daß  1.  der  epigastrische  Druck¬ 
punkt  zumeist  außerhalb  des  Magenbildes  zu  liegen  kommt,  also 
dem  Ulkus  selbst  nicht,  entspricht;  und  daß  2.  der  epigastrische 
Druckpunkt  einem  tief  gelegenen  Organ  (Ganglion  coeliacum  oder 
hier  liegenden  Drüsen)  angehören  muß ;  daß  er  verschwindet,  wenn 
man  durch  Heben  lassen  des  Kopfes  am  liegenden  Patienten  die 
Muskelwand  (der  kontrahierten  Rekti  zwischen  die  untersuchenden 
Finger  und  die  tieferen  Organe  bringt;  3.  fand  sich  in  einer  Reihe 
von  Fällen  ein  Druckpunkt,  der  seine  Zusammengehörigkeit  mit 
dem  Magen  dadurch  bewies,  daß  ersieh  mit  ihm  beim  Eindrücken 
des  Unterbauches  nach  oben  bewegte,  ein  Druckpunkt,  der  somit 
auf  .das  Ulkus  selbst  bezogen  werden  durfte.  Da  nun  dieses  selbst 
aber  (nach  Lennander)  nicht  druckempfindlich  ist,  so  mußte 
für  diese  Druckempfindlichkeit  das  mitergriffene  Peritoneum  — 
eine  Perigastritis  —  verantwortlich  gemacht  werden,  eine  Auf¬ 
fassung,  der  sich  auch  Rieder  anschließt.  Da  somit  der  epi- 
gastrische  Druckpunkt  allein,  als  auch  bei  Neurosen  und  Chole¬ 
lithiasis  vorkommend,  für  die  Diagnose  des  Ulcus  ventriculi 
(bei  Fehlen  sonstiger  Symptome)  nicht  maßgebend  sein  darf 
(Kelli ng),  so  erscheint  der  Nachweis  eines  im  Bereiche  des 
Magens  liegenden  zweiten  Schmerzpunktes  für  die  Dia¬ 
gnose  des  Ulkus  wichtig,  welcher  also  erstens  die  Bewegung  des 
Magens 'nach  oben  beim  Eindrücken  des  Unterbauches  mitmachen 
muß  und  vom  epigastrischein  Druckpunkt  durch  eine  schmerz¬ 
freie  Zone  getrennt  sein  soll.  Noch  eine  andere  radiologische 
Erfahrung  läßt  sich  klinisch  verwerten  u.  zw.  für  die  Differen¬ 
tialdiagnose  des  Ulkus  der  Pars  pylori  ca  gegenüber 
Cholelithiasis.  Während  sich  nämlich  im  radiologischen 
Bilde  —  die  Pars  pylorica,  deren  kleine  Kurvatur  bekanntlich  der 
Hauptsitz  der  Ulzera  ist,  sehr  wenig  respiratorisch  verschieblich 
erweist,  kommt  der  Xeber  eine  respiratorische  Verschieblichkeit 
von  zirka  zwei  Querfingern  zu;  darauf  gründet  sich  folgendes 
Verfahren:  Man  bestimmt  am  liegenden  Patienten  die  unterste 
Grenze  der  druckempfindlichen  Zone,  drückt  sodann  zwei  Quer¬ 
finger  Tiefer  (hier  also  ohne  Schmerz)  ein,  läßt  nun  den  Patienten 
tief  inspirieren  und  den  Atem  auf  der  Höhe  des  Inspiriums  ein¬ 
hallen;  tritt  nun  an  die  Stelle  der  früher  schmerzfreien  Zone 
Druckempfindlichkeit,  dann  kann  es  sich  (abgesehen  von  allge¬ 
meiner  Druckempfindlichkeit  der  Leber)  nur  um  den  Gallenbiasen¬ 
druckpunkt  handeln,  weil  nur  die  Leber,  nicht  aber  die  Pars 
pylorica  respiratorisch  erheblich  verschieblich  ist.  Freilich  ver¬ 
sagt  das  Verfahren  in  jenen  Fällen,  wo  der  Magen  mit  der  Leber 
verwachsen  ist  (was  sich  radiologisch  leicht  feststellen  läßt) 
und  außerdem  bergen  die  beiden  liier  besprochenen  Verfahren 
die  Fehlerquelle  des  stark  subjektiven  Zeichens  der  Druekempfind- 
lichkeit  in  sich  —  trotzdem  haben  beide  für  manche  Fälle  genug 
diagnostischen  Wert,  um  versucht  und  empfohlen  werden  zu 
können. 

Dr.  Holzknecht:  Ich  möchte  nur  zu  dem  letzten  von 
dem  seitens  des  Herrn  Priv.-Doz.  Zweig  angeführten  Fall  eine 
Bemerkung  machen.  Derselbe  soll  radiologisch  eine  hochgradige 
Motilitätsstörung  gezeigt  haben,  bei  der  klinischen  Untersuchung 
aber  keine  Anhaltspunkte  für  ein  Magenleiden  geboten  und  bei 
einem  allgemeinen,  diätetischen  Regime  zur  Heilung  gekommen 
sein.  Ich  kenne  den  Fall  nicht  und  kann  nicht  daran  zweifeln, 
daß  Zweig  ihn  richtig  beurteilt  hat.  Warum  sollten  auch  bei 
der  Röntgenuntersuchung  Irrtümer,  die  noch  in  ihr  oder  am 
Untersuchen*  lagen,  ausgeschlossen  sein.  Wollte  man  radiologi- 
scherseits  die  Fälle  publizieren,  deren  klinisch  gewonnene  dia¬ 
gnostische  Auffassung  und  therapeutische  Indikation  zum  radio- 
logischen  und.  den  mit  ihm  übereinstimmenden  au  top  tischen  Be¬ 
fund  im  krassen  Widerspruche  standen,  es  wäre  kein  Lude  und 


die  Fälle  zu  spät  gestellter  Operationsindikation  würden  be¬ 
sonders  reichlich  sein. 

V  as  'aber  und  darauf  wollte  ich  kommen  bei  der  Be¬ 
wertung  auch  der  radiologischen  Methode  als  Kriterium  heran¬ 
gezogen 'wird,  das  darf  nur  selten  der  Verlauf,  das  muß  auch  hier 
der  au  top  tische  Befund  sein.  Ohne  den  Fall  Zweigs  an¬ 
zuzweifeln,  muß  im  allgemeinen  gesagt  werden,  daß  Pylorus¬ 
stenosen,  die  ohne  Rest  über  Nacht  unter  entsprechender  Diät 
beschwerdefrei  (kompensiert)  werden,  um  bald  wieder  Dekom¬ 
pensationserscheinungen  zu  bieten  und  dann  nochmals  be¬ 
schwerdefrei  werden,  sehr  häufig  sind.  Entscheidend  kann  hier 
nur  die  Autopsie  sein. 

Wir  haben  das  gleiche  kürzlich  bei  der  Antiperistaltik  er¬ 
lebt,  einem  Symptom,  das,  soweit  die  autoptische  Kontrolle  mög¬ 
lich  war,  nur  bei  anatomischen  Magenveränderungen  vorkommt. 
Auf  (Grund  eines  Falles,  der  in  klinischer  Behandlung  beschwerde- 
frei  wurde,  wurde  die  Annahme  vertreten,  daß  sie  auch  bei 
Neurosen  vorkommt.  Aber  auch  diese  semiologische  Frage  kann 
nur  auf  Grund  von  Autopsien  weiter  ausgebaut  werden. 

Priv.-Doz.  Dr.  W.  Zweig:  Ich  möchte  auf  die  Ausführungen 
des  Kollegen  Holzknecht  nur  erwidern,  daß  ich  in  meinen 
Bemerkungen  vielleicht  nicht  genügenjd  betont  habe,  daß  hei 
meiner  Patientin  die  genaueste  Untersuchung  des  Mageninhaltes 
eine  Pylorusstenose  mit  Sicherheit  hat  ausschließen  lassen.  Der 
Mageninhalt  enthielt  keine  Reste,  keine  Sarzine,  kurz,  er  war 
vollkommen  normal. 

Dr.  Clairmont  (Schlußwort):  Im  ganzen  haben  sich  in 
deriDiskussion  wenig  Differenzen  gegenüber  unseren  Ausführungen 
ergehen.  Wir  stimmen  Herrn  Kollegen  Schwarz  in  seinem 
Vorschläge  auch  vollkommen  bei,  in  besonderen  Fällen  der  radio¬ 
logischen  Untersuchung  auch  wieder  die  klinische  Beobachtung 
folgen  zu  lassen.  Wir  haben  auch  von  wiederholten  Röntgen¬ 
untersuchungen  Erfolge  gesehen,  namentlich  dort,  wo  es  sich 
um  Fälle  handelte,  die  klinisch  äußerst  suspekt  auf  anatomische 
Wandveränderung  waren,  aber  der  sichere  Beweis  dafür  auch 
nicht  im  radiologischen  Befund  zu  erbringen  war.  Ferner  kann 
die  Warnung  deis  Herrn  Kollegen  Zweig,  Magenerkrankte  nicht 
nür  radiologisch,  sondern  auch  klinisch  zu  untersuchen,  als  mit 
unseren  Ansichten  vollkommen  übereinstimmend  bezeichnet 
werden.  Ich  möchte  nur  noch  auf  die  Bemerkungen  des  Herrn 
Koll.  Schütz  zurückkommen.  Er  sagt:  „Die  Karzinomdiagnose 
sei  die  leichteste“,  ich  kann  dem  nicht  beipflichten.  Die  Diagnose 
des  Karzinoms  kann  sehr  leicht  sein,  sie  gelingt  aber  in  vielen 
Fällen  deshalb  nicht,  zum  Schaden  der  Patienten,  weil  die  Sym¬ 
ptome  zu  wenig  ausgesprochen  sind.  Auf  der  anderen  Seite  sagt 
Herr  Kollege  Schütz:  ,,....  das  große  Heer  von  Magenerkran¬ 
kungen  bei  Neurosen  usw."  Meine  Herren!  Ich  halte  das  für 
sehr  gefährlich.  Gerade  für  die  Patieten  mit  perforierendem  kallö- 
sen  Ulkus  ist  eis  bekannt,  daß  sie  oft  in  der  Arnnese  die  An¬ 
gabe  machen,  sie  seien  jahrelang  wegen  nervöser  Magenbeschwer¬ 
den  in  ärztlicher  Behandlung  gestanden.  Ich  selbst  habe  schon 
mehrere  Fälle  von  Magenkarzinom  gesehen,  bzw.  operiert,  die 
vorher  von  Internisten  als  Magenneurose  behandelt  worden  waren. 
Diesen  beiden  extremen  Auffassungen :  Die  Karzinomdiagnose 
ist  (die  leichteste  und  das  große  Heer  der  nervösen  Beschwerden, 
möchte  ich  mich  nicht  anschließen. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  9.  Februar  1911. 

R.  Lieh  tens  tern  stellt  einen  Fall  von  Infektion  des 
Harn-  und  Genitalapparates  mit  Tuberkulose  vor.  Bei 
dem  jungen  Manne  wurde  vor  elf  Jahren  die  rechte  Epididymis 
wegen  Tuberkulose  entfernt.  Vor  neun  Jahren  bekam  er  nach 
forciertem  Reiten  Hämaturie  und  linkseitige  Epididymitis,  die 
in  Eiterung  überging;  der  Abszeß  wurde  inzidiert  und  es  blieb 
eine  Fistel  zurück.  Pat.  unterzog  sich  wiederholt  einer  Tuber¬ 
kulosekur  und  wegen  Schmerzen  in  der  linken  Niere  nahm  er 
jahrelang  Morphin.  Später  stellten  sich  Blasenbesehwerden  ein, 
die  zwei  Jahre  hindurch  mit  Spülungen  behandelt  wurden.  Vor  zwei 
Jahren  bekam  Pat.  Fieber  und  schwere  Anfälle  von  Nierenkoliken; 
er  kam  sehr  herunter,  der  Harn  war  diffus.1  trüb,  die  rechte 
Flanke  war  gedämpft.  Aus  der  linken  Niere  wurde  normaler, 
aus  der  rechten  eitriger  Harn  entleert.  Vor  einem  Monat  wurde  die 
rechte  Niere  freigelegt.  Sie  lag  in  einem  perinephritischen  Vnszeß, 
war  faustgroß  und  tuberkulös  erkrankt.  Sie  wurde  entfernt,  worauf 
Heilung  eintrat.  Die  Blase'  ist  frei  von  Tuberkulose.  Die  konser¬ 
vative  Behandlung  der  Nierentuberkulose,  bei  welcher  Hetol  unc 
Tuberkulininjektionen  in  Betracht  kommen,  ergibt  keinen  su  heien 
Erfolg,  dagegen  hat  die  Frühoperation  ein  gutes  Resultat. 


332 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  l'JIl. 


Nr.  9 


S.  Bondy  führt  aus  der  1.  medizinischen  Abteilung  einen 
Mann  mit  multipler  met, astatischen“  Hautsarkomat ose 
vor.  Pat.  bekam  vor  einem  Jahre  eine  Schwellung  der  hinter 
dein  linken  Ohre  befindlichen  Lymphdrüsen,  welche  sich  all¬ 
mählich  auf  den  Hals  aus  dehnte.  Später  traten  kleine,  hirsekorn- 
bis  erbsengroße  Knötchen  in  der  Haut  des  Stammes  und  der 
oberen  Extremitäten  auf.  Die  histologische  Untersuchung  derselben 
ergab  ein  Alveolarsarkom,  welches  dem  Melanosarkom  naliesteht, 
aber  kein  Pigment,  enthält.  Üie  Sarkomatose  ging  von  einem 
Naevus  pigmentosus  aus,  welcher  oberhalb  des  linken  Ohres  ge¬ 
sessen  war  und  welchen  sich  der  Patient  abgebunden  hatte. 

R.  Fl  eck  seder  und  Thaler  demonstrieren  aus  der  Klinik 
Neu ss er  eine  26jährige  Frau,  bei  welcher  ein  Abortus  wäh¬ 
rend  des  Ab  d ominal  ty p  hus  sich  eingestellt  hat.  Zweiein¬ 
halb  Monate  vor  der  Erkrankung  an  Typhus  waren  die  Menses 
ausgeblieben,  im  Beginne  des  letzteren  trat  der  Abortus  ein. 
Nach  demselben  zeigte  die  Temperaturkurve  einen  Aufstieg  bis 
zu  40°,  auf  Chinin  in  kleinen  Dosen  erfolgte  Entfieberung.  Die 
Involution  des  Uterus  erfolgte  normal.  Zwei  Tage  vor  dem  Abortus 
war  heftiges  Nasenbluten  aufgetreten.  Nach  der  Statistik  von 
Cur  schm  arm  tritt  in  58%  der  Fälle  bei  Graviden  während  des 
Typhus  ein  Abortus  ein  u.  zw.  am  häufigsten  in  der  zweiten 
oder  dritten  Woche  der  Erkrankung,  ln  der  Plazenta  und  im 
Fruchtwasser  waren  Typhusbazillen  nachweisbar.  Der  Uebergang 
der  letzteren  in  das  Blut  des  Fötus  scheint  kurze  Zeit  vor  dem 
Abortus  zu  erfolgen.  Trotz  des  positiven  kulturellen  Bazillennach¬ 
weises  waren  weder  in  der  Plazenta  noch  in  der  Dezidua  Verände¬ 
rungen  zu  finden.  Die  Ursache  des  Abortus  ist  weder  auf  Endo¬ 
metritis,  noch  auf  eine  Erkrankung  des  Fötus  oder  auf  ein  Ab¬ 
gestorbensein  des  letzteren  vor  längerer  Zeit  zurückzuführen.  Der 
Fötus  ergab  einen  positiven  Agglutininbefund;  dieser  ist  nicht 
in  allen  Fällen  zu  erheben.  Der  Abortus  ist  manchmal  von  starken 
Blutungen  begleitet. 

H.  Salomon  hat  in  einem  Falle  bei  einer  Graviden  einen 
Abfall  der  länger  bestehenden  Fiebertemperatur  nach  dem  Abor¬ 
tus  beobachtet.  Das  Blut  der  Mutter  war  steril,  im  Blute  des  Fötus 
fand  sich  ein  Mikroorganismus,  welcher  dem  Bazillus  der  Mäuse- 
septikämie  ähnlich  war,  die  Organe  zeigten  keine  septischen  Er¬ 
scheinungen.  Die  Agglutinine  diffundieren  schwer,  das  zeigt  sich 
darin,  daß  die  Zerebrospinalflüssigkeit  bei  Typhus  in  der  Regel 
nicht  agglutiniert. 

M.  Haudek  erstattet  eine  vorläufige  Mitteilung  über  die 
Antiperistaltik.  Vortragender  hat  bereits  früher  über  fünf 
Fälle  berichtet,  welche  Antiperistaltik  ohne  Symptome  von  Py¬ 
lorusstenose  zeigten;  in  einem  Falle  fand  sich  ein  Ulkus  in  der 
Nähe  des  Pylorus.  Vortragender  hat  damals  die  Ansicht  ausge¬ 
sprochen.  daß  die  Antiperistaltik  durch  organische  Wandverände¬ 
rungen  des  Magens  hervorgerufen  wird.  Die  Ausführungen  des 
Vortragenden  beziehen  sich  gegenwärtig  auf  40  Fälle  von  Anti¬ 
peristaltik,  von  denen  die  Hälfte  zur  Operation  kam.  ln  einer 
Anzahl  der  Fälle  wurde  eine  Pylorusstenose  gefunden,  in  anderen 
Fällen  saß  ein  Ulkus  an  der  kleinen  Kurvatur,  der  Pylorus  war 
jedoch  normal.  Eine  organische  Stenose  des  Pylorus  ist  in  solchen 
Fällen  auszuschließen,  dagegen  könnte  sie  funktioneller  Natur  sein. 
Der  Magen  enthielt  manchmal  Reste  von  einer  vor  24  Stunden 
eingenommenen  Mahlzeit,  in  anderen  Fällen  war  nach  sechs 
Stunden  kein  Nahrungsrest  im  Magen  mehr  zu  finden.  In  einem 
Fälle  lag  ein  infiltrierendes  Karzinom  des  Magens  bei  Frei¬ 
bleiben  des  Pylorus  vor.  In  einem  anderen  Falle  fand  sich  keine 
Magenerkrankung,  dagegen  eine  Duodenalstenose,  welche,  wie 
sich  bei  der  Operation  erwies1,  durch  einen  an  der  Hinterwand 
des  Magens  adhärierenden  Strang  verursacht  war.  Diese  Fälle 
geben  einen  neuen  Beweis  dafür,  daß  die  Antiperistaltik  des 
Magens  durch  organische  Wandveränderungen  desselben  hervor¬ 
gerufen  wird. 

S.  Jonas  bemerkt,  daß  nach  dem  von  ihm  und  Holz¬ 
knecht  angestellten  Untersuchungen  die  Antiperistaltik  nicht 
auf  einer  chemischen  Reizung  beruht;  sie  tritt  beim  Tiere  ein. 
wenn  sich  im  Magen  ein  Körper  befindet,  welcher  zu  groß  ist, 
um  den  Pylorus  passieren  zu  können.  Bei  Pylorusstenose  ist 
der  normale  Mageninhalt  für  den  engen  Pylorus  relativ  zu  groß. 
Man  kann  die  Peristaltik  in  solchen  Fällen  leicht  hervorrufen, 
wenn  man  den  Patienten  eine  grob  gekaute  Nahrung  (Schmken- 
semmel)  verzehren  läßt.  Die  Antiperistaltik  beruht  daher  auf 
einem  Mißverhältnis  zwischen  Mageninhalt  und  Pylorusweite. 

G.  Schwarz  hat  unter  seinem  Materiale  Antiperistaltik 
bei  Fällen  von  Verengerung  des  Pylorus  oder  in  der  Nähe  des 
Pylorus  beobachtet,  so  in  einem  Falle  von  reiner  Duodenal- 
stenose.  Die  Symptome  der  Antiperistaltik  wechseln  bei  demselben 
Patienten,  sie  können  zeitweise  oder  sogar  dauernd  verschwinden. 

W.  Falt a  hat  zwei  Fälle  von  R ei c h m an n scher  Krankheit 
mit  kolossaler  Magendilatation,  starker  Hypersekretion  und  Hyper¬ 


azidität  beobachtet.  Beide  zeigten  auch  Tetanie  und  ausgespro¬ 
chene  Antiperistaltik.  Die  Behandlung  bestand  in  Verabreichung 
fettreicher  Kost  und  in  Magenspülungen  an  jedem  Abend.  Nach 
mehrmonatiger  Behandlung  wurde  der  Magen  kleiner  und  die  Anti¬ 
peristaltik  verschwand.  Es  ist  nicht  auszuschließen,  daß  in  diesen 
Fällen  eine  Pylorusstenose  vorlag,  es  ist  aber  wahrscheinlicher, 
daß  ein  Pylorospasmus  die  Ursache  derselben  war. 

S.  Jonas  bemerkt,  daß  der  wechselnde  Befund  in  der 
Antiperistaltik  sich  durch  die  verschiedene  Größe  des  Magen¬ 
inhaltes  leicht  erklären  läßt. 

L e i m  d ö r f e r,  0.  Borges  und  Marcovici:  Zus'amm e n- 
hang  der  B 1  u t alkales z en z  mit  der  Atmung.  Die  Alka- 
leszenz  des  Blutes  im  Sinne  eines  konstanten  Niveaus  ist  eine 
unbedingte  Forderung  für  den  normalen  Ablauf  der  chemischen 
Vorgänge  im  Körper.  Die  Regulation  erfolgt  auf  dreierlei  Weise: 
Die  Niere  reinigt  den  Organismus  von  den  sauren  Produkten  des 
Fett-  und  Eiweißstoffwechsels,  die  Leber  neutralisiert  abnorme 
Säuren  durch  Ammoniak  und  die  Lunge  scheidet  die  Kohlensäure 
aus.  Die  Kohlensäure  ist  im  Blute  teils  chemisch  fest  gebunden, 
teils  physikalisch  locker  gebunden,  die  letztere  wird  durch  Atmung 
abgegebeh.  Das  Atmungszentrum  ist  gegenüber  dem  Kohlensäure¬ 
gehalt  des  Bluteis  sehr  empfindlich  und  ist  auf  eine  bestimmte 
Kohlensäurespannung  eingestellt.  Unter  abnormen  Bedingungen 
finden  sich  Abweichungen  im  Kohlensäuregehalte  des  Blutes, 
dabei  kommen  in  demselben  abnorme  Säuren  vor,  so  z.  B.  bei 
Stoffwechselstörungen.  Je  mehr  von  diesen  abnormen  Säuren  im 
Blute  vorhanden  sind,  desto  weniger  Kohlensäure  ist  notwendig, 
um  das  Atmungszentrum  zu  reizen.  Man  kann  im  allgemeinen 
sagen,  daß  das  Atmungszentrum  auf  Säuren  überhaupt  reagiert, 
die  Kohlensäure  ist  nur  ein  spezieller  Reiz.  Die  Atmung  ist  eine 
Regulation  der  Blutalkaleszenz.  Vortragende  haben  bei  verschie¬ 
denen  Krankheiten  die  Kohlensäurespannung  des  Blutes  geprüft 
und  aus  ihr  auf  die  Gegenwart  abnormer  Säuren  im  Blute  Rück- 
schlüsse  gezogen.  Die  Reaktion  des  Blutes  ist  nach  der  elektro- 
metrischen  Methode  fast,  immer  neutral  oder  schwach  sauer,  wäh¬ 
rend  die  Titrationsmethode,  welche  die  Kohlensäure  nicht  be¬ 
rücksichtigt,  eine  alkalische  Reaktion  des  Blutes  ergibt.  Die  Vor¬ 
tragenden  bedienten  sich  der  Methode  der  Bestimmung  der  Kohlen¬ 
säure  in  einem  Luftraum,  der  mit  der  Lunge  in  Kommunikation 
steht  (man  läßt  in  einen  Gummibeutel  ausatmen).  Starke  Kohlen¬ 
säureschwankungen  geben  nur  kleine  Unterschiede  bei  der  Probe, 
weil  die  Säure  schwach  ist.  Bei  Diabetes  melitus  wurde  Azidose 
gefunden,  es  treten  abnorme  Säuren  auf,  welche  die  Säure¬ 
bindungsfähigkeit  des  Blutes  herabsetzen,  das  Blut  kann  nicht 
so  viel  Kohlensäure  wie  in  der  Norm  aufnehmen 'und  die  Kohlen- 
säurespannung  wird  daher  herabgesetzt.  Durch  Einnehmen  von 
Natrium  bicarbonicum  wird  die  Blutalkaleszenz  wieder  erhöht. 
Die  Schwankungen  der  Kohlensäurespannung  gehen  parallel  mit 
der  Azidose,  man  kann  durch  Bestimmung  der  ersteren  sogar 
das  Herannahen  eines  Komas  Voraussagen.  Die  normale  Kohlen- 
säurespannung  des  Blutes  beträgt  zirka  6%.  Ein  Patient  mit  Dia¬ 
betes  melitus  zeigte  eine  Kohlensäurespannung  von  4-3%,  sie 
sank  weiter  bis  auf  Werte  von  3%,  auf  Verabreichung  von  25  g 
doppeltkohlensauren  Natriums  stieg  die  Kohlensäurespannung  an 
und  der  Zustand  des  Kranken  besserte  sich.  Die  Methode  er¬ 
fordert  zirka  zehn  Minuten  zur  Ausführung,  während  zur  Beur¬ 
teilung  des  Zustandes  aus  der  Harnuntersuchung  der  Harn  des 
ganzen  Tages  gesammelt  werden  muß,  die  Untersuchung  also  viel 
länger  auf  das  Resultat  warten  läßt.  Nach  einer  Mahlzeit  steigt  die 
Kohlensäurespannung  an.  Wenn  die  Niere  ihrer  Funktion  nicht 
voll  nach  kommen  kann,  müssen  sich  die  sauren  Endprodukte 
der  Fett-  und  Eiweißverdauung  im  Blute  anhäufen  und  die  Kohlen¬ 
säurespannung  sinkt.  Auch  bei  Karzinom  wurde  eine  Herab¬ 
setzung  der  Kohlensäurespannung  gefunden.  Die  abnormen 
Säuren,  welche  die  Kohlensäurespannung  des  Blutes  herabdrücken, 
sind  bei  Diabetes  die  Oxybuttersäure  und  Azetessigsäure,  bei  Ne¬ 
phritis  sind  es  saure  Phosphate,  bei  Karzinom  sind  dieselben 
noch  nicht  bekannt.  Bei  kardialer  Dyspnoe  ist  die  Kohlensäure¬ 
spannung  ebenfalls  herabgesetzt,  die  Oxydation  ist  unvollständig; 
Milchsäure  konnten  die  Vortragenden  bei  diesem  Zustande  nicht 
nachweisen. 

Wissenschaftliche  Aerztegesellschaft  in  Innsbruck. 

Sitzung  vom  17.  November  1910. 

Priv.-Doz.  Dr.  v.  Decastello:  Ein  Fall  von  myeloi¬ 
sche  m  C  h  1  o  r  o  m . 

3jähriger  Knabe,  vorher  stets  gesund.  Seit  2 Vs  Monaten 
zunehmende  Blässe.  Seit  einem  Monat  Vortreten  des  rechten 
Bulbus.  Gegenwärtig  exzessive  Anämie  mit  Neigung  zu  Hautblu¬ 
tungen.  Erythrozyten  1,189.000,  ohne  anämische  Veränderungen, 


Nr.  9 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


333 


keine  kernhaltigen  Riederformen.  Hämoglobin  25,  Leukozyten 
[  S3C000,  darunter  46°/o  Myeloblasten  und  neutrophile  Prämyelo- 
zyten,  2°/o  neutrophile  Myelozyten,  30  bis  40°/o  neutrophile  Meta- 
myelozyten  und  Polynukleäre,  12°/o  Lymphozyten,  0-5u/o  Eosino¬ 
phile,  0-5°, o  Plasmazellein,  2-0°/o  große  Mononukleäre,  keine  Mast¬ 
is  eilen.  Unter  den  Myeloblasten  und  Prämyelozyten  vielet  mit 
gelappten  Kernen  (Riederformen). 

Status  praesens:  Protrusio  bulbi  rechts  infolge  pal- 
pablen,  retrobulbären  Tumors.  Beiderseitige  Retinitis  ieucaenüca. 
Zahlreiche  Lymphdrüsen,  jedoch  von  geringem  Volumen,  am  Hals 
tastbar,  auch  axillar  und  inguinal.  Leber  und  Milz  deutlich  ver¬ 
größert. 

Schwellung  des  lymphatischen  Apparates  in  der  Mundhöhle, 
keine  Blutungen  oder  Ulzerationen  daselbst. 

SterUum  und  Oberschenkel  druckempfindlich. 

Im  Stuhlgang  kein  Blut  nachweisbar. 

Im  Harne  kein  Eiweiß,  kein  Urobilin  und  Urobilinogen, 
Vermehrung  der  Harnsäure. 

Im  Blutserum  positive  W  ass  er  mann  sehe  Reaktion. 

Das  anscheinend  hereditär  luetische  Kind  bietet  somit  das 
vollentwickelte  Bild  der  akuten,  myeloischen  Leukämie  dar.  Aus 
lern  Vorhandensein  des  retrobulbären  Tumors  ist  mit  größter 
Wahrscheinlichkeit  auf  den  chloromatösen  Charakter  der  Leukämie 
zu  schließen. 

Nachschrift:  Exitus  am  29.  November,  nach  zirka  drei 
Monate  langer  Krankheit.  Letzter  Blutbefund  am  Tage  des  Todes: 
Erythrozyten  453.000,  Hämoglobin  7  bis  10°/o,  Leukozyten  132.800. 

Obduktionsbefund:  Intensiv  grasgrüne  Färbung  des 
größten  Teiles  der  leukämischen  Infiltrate.  Sternum,  Rippen, 
Wirbel,  Darmbeine  und  Femur  von  grünlich  -  bräunlichem,  fett¬ 
losem  myeloischen  Mark  diffus  erfüllt. 

Diskussion:  Dr.  Wutscher,  Dr.  Pauli czek. 

Dr.  Robert  Latzei:  Abnormer  Zellbefund  bei  Pleuritis 
exsudativa. 

Vortr.  stellt  einen  Fall  von  Pyelitis,  bedingt  durch  Bac¬ 
terium  coli  vor,  welcher  von  der  Patientin  bis  zur  200fachen 
Serumverdünnung  agglutiniert  wird.  Interessant  an  dem  lalle 
ist  eine  im  Anschluß  an  die  Erkrankung  des  Nierenbeckens  auf¬ 
tretende  Pleuritis  exsudativa,  die  ins  of  erne  einen  ganz  überraschen- 
Zellbefund  ergibt,  als  in  dem  Punktat  massenhaft  Vakuolenzellen, 
zum  Teil  Siegelringform  und  reichlich  eosinophile  Zellen  vorkom- 
jmen.  Die  Genese  der  Pleuritis  wird  als  eine  toxische  aufgefaßt. 
Das  Exsudat  war  steril.  Tierversuche  waren  sowohl  im  Hinblick 
auf  Eruierung  eines  bakteriellen  Erregers,  als  auch  in  Richtung 
des  künstlichen  Hervorrufens  gleichartiger  Exsudate  negativ. 

Dr.  Kroiß  stellt  eine  16jährige  Patientin  vor,  seil  drei 
Vierteljahren  Trägerin  einer  Haarnadel  in  der  Harnblase; 
nach  Angabe  des  Mädchens  sei  die  Nadel  nachts  im  Bette  ihr 
bei  einer  unwillkürlichen  Bewegung  hineingeschlüpft  ^gegenwärtig 
hochgradige  Zystitis.  Der  Vortragende  demonstriert  die  Röntgen¬ 
bilder  der  Nadel,  die  mit  ihrem  stumpfen  Ende  die  Vofderwand 
der  Blase  perforiert  hat  und  dort  deutlich  knapp  unter  der 
Bauchhaut  zu  fühlen  ist.  Die  Spitzen  der  NadeLhaben  die  Hinter¬ 
wand  der  Blase  rechts  oben  vom  Orifizium  des  rechten  Ureters 
durchbohrt  und  sind  per  rectum  im  periproktalen  Gewebe  zu 
tasten.  Im  Zystoskop  sieht  man  einen  langen  weißen  Blasen¬ 
stein,  aus  dem  die  spitzen  Enden  der  Nadel  hervorragen,  aber 
gleich  in  der  hinteren  Blasenwand  verschwinden.  Demon¬ 
stration  des  zystoskopischen  Bildes  nach  der  Sitzung. 

Prof.  Lode  zeigt  eine  mit  Kartoffelbrei  gefälschte 
Butter. 

Dt.  Burow:  Der  Thermosterilisator  nach  Pro¬ 
fessor  A.  Bickel  und  Dr.  H.  Boeder. 

Um  dem  Säugling  eine  hygienisch  einwandfreie  künstliche 
Nahrung  bieten  zu  können,  ist  es  bekanntlich  nicht  damit  genug 
getan,  dieselbe  durch  kurzes  Kochen  zu  sterilisieren,  sondern 
man  muß  diese  vorbereitete  Milch  um'  diese  handelt  es  sich 
ja  hauptsächlich  —  danach  abkühlen  und  bei  niederer  Tem¬ 
peratur  kühl  halten.  Del*  Grund  liegt  darin,  daß  es  nicht  mögiii  b 
ist,  alle  Bakterien  und  deren  Sporen  durch  Hitze  abzutöten,  ohne 
die  Hitze  solange  einwirken  zu  lassen,  daß  dadurch  gleichzeitig 
eine  tiefgreifende  und  dem  Kinde  schädliche  Veränderung  dei 
Milch  bedingt  wird. 

Die  gewöhnliche  Folge  der  Erhitzung  ist,  daß  in  (1er  er¬ 
hitzten  Milch  die  Milchsäurebakterien  mehr  oder  minder  voll¬ 
ständig  fehlen,  die  buttersäurebildenden  und  die  peptonisierenden 
aber  vorhanden  sind  u.  zw.  in  Sporenform.  In  der  unerhitzten 
Milch  erlangen  die  Milchsäurebakteriell  in  dem  ihnen  oesondeis 
zusagenden  Nährboden  das  Uebergewicht  und  die  von  ihnen  ge¬ 
bildete  Milchsäure  hemmt  die  Entwicklung  der  anderen  Gruppen. 
Anders  in  der  erhitzten  Milch;  hier  fehlen  die  konkurrierenden 
Milchsäurebakterien  und  die  peptonisierenden,  eiweißzersetzen¬ 


den  Bakterien  können  ungestört  ihre  Tätigkeit  entfalten  und  tun 
dies  nach  Flügges  klassischen  Untersuchungen  bei  Tempera¬ 
turen  oberhalb  18°  C.  Dies  ist  aber  um  so  gefährlicher,  als  dabei 
die  Milch  längere  Zeit  in  ihrem  äußeren  Aussehen  nicht  ver¬ 
ändert  wird,  trotzdem  sie  bereits  Giftstoffe  enthält,  da  diese  Zer¬ 
setzungen  zunächst  weder  durch  Geruch  noch  Geschmack  wahr¬ 
nehmbar  sind.  Aus  diesen  Gründen  genügt  die  einfache  Sterili¬ 
sation  der  Milch,  auf  die  allein  die  bisher  angewandten  Ver¬ 
fahren  Rücksicht  nehmen,  nicht,  sondern  die  Milch  muß  nach 
der  Erhitzung  abgekühlt  und  bei  niederer  Temperatur  aufbewahrt 
werden,  damit  die  Entwicklung  der  Sporen  gehemmt  bleibe. 

Der  einfachste  Weg,  diese  Kühlhaltung  der  Milch  zu  be¬ 
sorgen,  wäre  der  Eisschrank.  Die  Durchführung  dieser  Ma߬ 
nahmen  scheitert  aber  oft  an  zwei  Punkten:  entweder  besitzt 
die  Familie  keinen  Eisschrank  oder  ein  Eisschrank  ist  vorhanden, 
aber  die  Familie  scheut  die  Kosten  der  täglichen  Eisbeschaffung, 
ln  der  Tat  sind  ja  auch  die  Anschaffungskosten  eines  .Eis¬ 
schrankes  und  seine  Unterhaltung  mit  Eis  nicht  unerheblich,  da 
ja  doch  in  unseren  Gegenden  fünf  Monate  im  Jahr!  der  Eis¬ 
schrank  dauernd  mit  Eis  zu  speisen  ist.  Ferner  möchte  ich  noch 
ganz  besonders  darauf  hinweisen,  daß  auf  dem  Lande  und  dann 
vor  allem  auch  häufig  auf  Reisen  es  überhaupt  unmöglich  ist, 
im  Sommer  Eis  käuflich  zu  erhalten. 

Der  unzulänglichste  Weg  zur  Kühlhaltung  der  Säuglings¬ 
nahrung  ist,  die  Milch  in  ein  Gefäß  mit  kaltem  Leitungswasser 
zu  stellen.  Diese  Art  der  Milchkühlung  wird  häufig  in  besser¬ 
situierten  Familien  angetroffen,  ganz  allgemein  aber  in  der  we¬ 
niger  bemittelten  Bevölkerung.  In  dieser  Milchkühlung  ruht  häufig 
der  Beginn  der  schwersten  Magendarmerkrankung  des  Säuglings, 
da  sich  dies  benutzte  Leitungswasser  in  den  warmen  lägen  des 
Sommers  sehr  schnell  bereits  innerhalb  30  bis  40  Minuten  den 
hohen  Wohnung  stem  per  aturen  von  20°  bis  25°  C  anpaßt  und 
bei  lang  dauernder  Einwirkung  für  die  Milch  gefährlich  werden 
kann. 

Diesem  Notstand  in  der  Konservierung  der  Kindermilch  im 
Hause  nach  Möglichkeit  zu  begegnen,  veranlaßte  Prof.  A.  Bickel 
und  Dr.  H.  Roe  der,  mit  möglichst  geringen  Mitteln  zur  Kon¬ 
struktion  des  Thermosterilisators,  welcher  die  Sterilisation  und 
die  Kühlhaltung  in  einem  System  gestattet. 

Der  Thermosterilisator  besteht  aus  einem  großen  Milch¬ 
gefäße,  das  sowohl  als  Kochgefäß  für  die  Milchflaschen,  wie  auch 
zur  Aufnahme  der  sogenannten  Thermobehälter,  in  welche  die 
unter  der  Wasserleitung  abgekühlten  Milchflaschen  eingesetzt 
werden,  dient. 

Der  Konstruktion  der  Thermobehälter  liegt  das  Prinzip  eines 
Gefäßes  mit  Vakuummantel  zugrunde,  welcher  den  Ausgleich 
der  Außentemperatur  mit  der  Zimmertemperatur  derart  erschwert, 
daß  die  in  den  Behältern  eingesetzten  abgekühlten  Milchflaschen 
ihre  niedere  Temperatur  genügend  lange  Zeit,  behaupten. 

Die  Milch  oder  die  betreffenden  Mischungen  werden  in  die 
Flaschen  eingefüllt  und  diese  in  das  bis  zu  den  Seitenöffnungen 
mit  Wässer  angefüllte  Blechgefäß  gesetzt  und  aufgekocht.  Sodann 
werden  die  Flaschen  direkt  unter  der  Wasserleitung  abgekühlt, ( um 
in  die  Thermobehälter,  welche  ebenfalls  mit  kaltem  Leitungs1- 
was'ser  ausgespült  und  gefüllt  sind,  eingesetzt  zu  werden.  Jeden 
Thermobehälter  verschließt  man  mit  dem  zugehörigen  Kork  und 
setzt  nunmehr  dieselben  in  das  mittlerweile  getrocknete  große 
Blechgefäß  ein.  Die  einmalige  Kühlung  genügt  bei  mittleren  und 
warmen  Temperaturen,  um  die  Milch  in  den  Thermobehältern 
von  einem  Tage  zum  andern,  also  für  ca.  24  Stunden,  genügend 
kühl  zu  halten.  An  sehr  heißen  Tagen,  also  bei  Wohnungsternpe- 
raturen  von  23°  C  an,  ist  es  erwünscht,  diejenige  Milchportion, 
die  man  die  Nacht  über  aufheben  will,  nochmals  nachzukühlen. 
Unter  besonderen  Verhältnissen,  zum  Beispiel  auf  langdauernden 
Reisen  bei  hohen  Temperaturen,  kann  man  Kältemischungen  aus 
Salzlösungen  einführen,  zum  Beispiel  von  Salmiak,  ein  bis  zwei 
Eßlöffel  zu  dem  Wässer  in  den  Thermobehältern. 

Dieser  Thermosterilisator  ist  in  liebenswürdiger  Weise  aut 
meine  Veranlassung,  von  Prof.  Bickel  der  hiesigen  Kuulei- 
klinik  zur  Benutzung  und  Bewertung  zur  Verfügung  gestellt  wor¬ 
den  und  hoffe  ich,  über  die  Resultate,  die  damit  erzielt  vvoiden 
sind,  später  wieder  einmal  ausführlicher  berichten  zu  können. 


Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte 

in  Böhmen. 

Sitzung  vom  17.  Februar  1911. 

Dr  Löwenstein:  Demonstration  eines  Falles  von  pseuilo- 
eukämi  scheni  Tumor,  der  symmetrisch  an  beiden  Augäpfeln 
lufgetreten  war.  Der  Tumor  war  glatt,  der  Sklera  es  an  ,  ’ 

lerb,  von  bläulichroter  Farbe,  Der  Bulbus  war  im  übrigen  ebenso 


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334 


WIuhEK  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9 


wie  der  somatische  Befund  normal.  Die  von  Prof.  Elschnig 
v orgenommeno  Abtragung  der  Geschwulst  am  linken  Auge  ging 
last  ohne  Verlust  von  Bindehaut  von  statten,  die  blanke  Sklera 
hatte  das  Aussehen  von  Chagrinleder. 

Die  histologische  Untersuchung  ergab  einen  äußerst  zell- 
reichen  Tumor,  der  fast  nur  aus  Rundzellen  mit  großen,  dunkel 
gefärbten  Kernen  und  sehr  wenig  Plasma  besteht;  das  reti¬ 
kuläre  Bindegewebe  ist  sehr  spärlich.  Auf  Grund  dieses  Befundes 
wurde  sofort  eine  Blutuntersuchung  eingeleitet,  die  eine  Ver¬ 
mehrung  der  großen  Lymphozyten  auf  18°/o  und  der  .großen  mono¬ 
nukleären  Leukozyten  auf  12°/o  ergab.  Es  handelte  sich  demnach 
um  eine  Geschwulst  von  Lymphomcharakter. 

Löwenstein  erwähnt  weiter  zwei  Fälle  von  Chlorom 
der  Orbita,  die  im  Laufe  der  letzten  zwei  Jahre  an  der  deut¬ 
schen  Augenklinik  zur  Beobachtung  kamen;  in  diesen  konnte 
die  Diagnose  schon  vor  der  Blutuntersuchung  gestellt  werden, 
ln  der  Literatur  werden  zwar  Fälle  von  Lymphom  der  Lider  und 
der  Uebergangslälte  beschrieben,  ein  epibulbärer,  pseudoleukämi¬ 
scher  Tumor  wurde  noch  nicht  beschrieben. 

Dr.  W  a  1  k  o :  Demonstration  einer  starken  D  e  f  e  k  L  b  i  1  d  u  n  g 
im  Bereiche  der  Halswirbelsäule.  Der  Hals  des  34jährigen 
Mannes  fehlt  anscheinend  ganz,  der  Kopf  sitzt  den  Schultern  direkt 
an.  Die  untere  Haargrenze  reicht  rückwärts  bis  zur  Höhe  des 
dritten  Brustwirbels.  Die  Beweglichkeit  des  Kopfes  ist  in  be¬ 
schränktem  Maße  nur  in  sagittaler  Richtung  möglich.  Die  Unter¬ 
suchung  der  Wirbelsäule  läßt  höchstens  das  Vorhandensein  eines 
Rudimentes  in  der  Größe  eines  Halswirbels  zu.  Auch  die  Röntgen¬ 
aufnahmen  zeigen,  daß  unmittelbar  unter  dem  Hinterhaupt  die 
Rippen  abgehen.  Weitere  Defektbildungen  finden  sich  am  Knochen¬ 
system  nicht.  Infolge  der  starken  Verkürzung  der  Wirbelsäule  und 
der  Inaktivität  durch  die  mangelnde  Bewegung  des  Kopfes  sind  fast 
alle  Halsmuskeln  nur  sehr  wenig  ausgebildet.  Der  Kehlkopf  liegt 
hoch  oben  und  hinter  dem  Unterkiefer,  bewegt  sich  beim  Schluck¬ 
akte  nur  wenig  und  ist  um  seine  vertikale 'Achse  ein  wenig  gedreht. 
Von  der  Thyreoidea  ist  nichts  zu  finden.  Die  Genese  der  Defekt¬ 
bildung  fällt  in  das  erste  Stadium  der  Entwicklung,  in  welcher  die 
erste  segmentale  Differenzierung  beginnt.  Ursache  kann  ein 
innerhalb  des  Uterus  stattgehabter  Druck  sein,  durch  ein  zu  eng 
anliegendes  Amnion  oder  durch  eine  fehlerhafte  Lage  der  Frucht. 
Es  dürften  in  diesem  Falle  eventuell  noch  Rudimente  der  Hals¬ 
wirbelsäule  vorhanden  sein,  die  der  Palpation  wie  der  Röntgen¬ 
untersuchung  entgehen,  so  daß  die  ganzen  Halswirbel  zu  einer 
schmalen  Zone  zusammengedrängt  und  knöchern  verschmolzen 
sind  und  ein  gleiches  Verhalten  zeigen,  wie  es  normalerweise 
bei  den  Walfischem  der  Fall  ist. 

Der  Fall  ist  bezüglich  des  Verhaltens  des  Rückenmarkes 
und  des  Durchtrittes  des  Plexus  brachialis  durch  die  Wirbelsäule 
interessant.  Eine  Verkürzung  des  Rückenmarkes  um  die  fehlende 
Länge  der  Halswirbelsäule,  sowie  der  Raummangel  dürften  durch 
die  bestehende  Brustwirbelkyphose  ausgeglichen  sein.  Was  die 
anderen  Drüsen  mit  innerer  Sekretion  —  abgesehen  von  der 
bereits  erwähnten  fehlenden  Schilddrüse  -  betrifft,  ist  der  Mann 
impotent  und  zeigt  beim  Zuckerversuche  eine  mäßige  alimentäre 
Glykosurie. 

Dr.  H  o  k  e :  Demonstration  eines  Elektrokardiogramms 
beim  Situs  inversus  viscerum  totalis.  (Siehe  den  in 
der  vorigen  Sitzung  von  v.  Jak  sch  demonstrierten  Fall.) 

Alle  Zacken  des  Elektrokardiogramms  sind  nach  unten  ge¬ 
lichtet,  so  daß  dasselbe  genau  das  Spiegelbild  eines  normalen 
Elektrokardiogramms  darstellt,  wie  das  Herz  am  Röntgenschirm 
das  Spiegelbild  des  normal  gelagerten  Herzens  darstellt. 

Diese  Tatsache  ist  schon  von  Waller  vermutet,  von  Niko¬ 
lai  an  einer  Reihe  von  Fällen  bestätigt  worden.  Der  Befund  zeigt, 
daß  auch  in  der  Faserrichtung  des  Herzens,  bzw.  in  seinem 
Erregungsablaufe  rechts  und  links  vertauscht  sind. 

Dr.  R.  Fi  sc  hl:  Weitere  Mitteilungen  über  mecha¬ 
nische  Erzeugung  von  Albuminurie  und  Nephritis 
bei  Tieren. 

Der  Vortragende  knüpft  an  seine  vor  mehr  als  Jahresfrist 
an  dieser  Stelle  gemachten  Mitteilungen  an  und  berichtet  über 
die  Fortsetzung  der  Versuche.  Die  Durchführung  derselben  an 
Hunden  führte  zu  analogen  Ergebnissen  wie  bei  Kaninchen. 
Die  bei  letzterer  Tierart  durchgeführte  Palpation  einer  oder  beider 
Nieren  ist  ein  schwerer  Eingriff,  welcher  sowohl  momentane  wie 
ziemlich  lange  andauernde  Folgen  hinterläßt,  die  sich  in  starker 
Albuminurie,  Ausscheidung  von  roten  und  weißen  Blutkörper¬ 
chen,  sowie  von  Nierenepithelien  äußern  und  im  histologischen 
Nierenbilde  als  hochgradige  Hyperämie  und  beginnende  Jlämor- 
rhagie  charakterisieren. 

Die  von  seiten  des  Beckenbodens  und  der  Genitalorgane 
während  der  Lordosierung  beobachteten  Reflexerscheinungen  sind 


für  den  Effekt  dieser  ohne  Belang,  da  sich  derselbe  auch  in  tiefer 
Aethernarkose  vollkommen  gleich  gestaltet,  mithin  als  rein  me¬ 
chanisch  angesprochen  werden  muß. 

Ebenso  scheint  der  allgemeine  Blutdruck  ohne  Einfluß  zu 
sein,  wie  Versuche  mit  künstlicher  Herabsetzung  desselben  durch 
Chloralhydrat  und  Bestimmungen  seiner  Höhe  in  den  verschie¬ 
denen,  als  wirksam  erkannten  Positionen  zeigten,  die  zum  Teil 
mit  hohem,  zum  Teil  mit  niedrigem  Blutdruck  einhergehen. 

_  Durch  wiederholte  Lordosierung  läßt  sich  in  ganz  gesetz¬ 
mäßiger  Weise  Nephritis  hervorrufen,  die  entweder  zum  Exitus 
führt  oder  ausheilt.  Histologisch  zeigt  sich  hämorrhagische  Ent¬ 
zündung  mit  Nekrose  des  Harnkanälchenepithels,  bei  längerer 
Dauer  des  Prozesses  auch  Verbreiterung  der  Interstitien  und° Nei¬ 
gung  zu  Schrumpfung.  , 

Die  onkometrische  Untersuchung  der  Nieren  während  der 
verschiedenen,  als  wirksam  erkannten  Positionen  ergab  als  ge¬ 
meinsame©  Moment  aller  eine  Stromerweiterung  im  Nierengebiete, 
die,  da  arterielle  Hyperämie  auszuschließen  war,  mit  Stromver¬ 
langsamung  identifiziert  werden  konnte,  die  ja  günstige  Bedin¬ 
gungen  für  die  Filtration  des  Eiweiß,  und  deu  Austritt  von  renalen 
Form elemeb ten,  sowie  für  die  Bildung  von  Zylindern  schafft. 
Stauung  scheint  dabei  nur  insofern  mitzuspielen,  als  sie  die  In¬ 
tensität  der  Ausschläge  steigert,  kann  jedoch  nicht  das  wesent¬ 
liche  Moment  sein,  weil  auch  Positionen,  welche  eine  Stase 
sicher  ausschließon,  gleichsinnige  Resultate  geben. 

Die  Ausführungen  werden  durch  Demonstration  mikroskopi¬ 
scher  Präparate,  Kurventafeln  und  der  Versuchsanordnung  bei 
den  onkometrischen  Bestimmungen  illustriert. 

Dr.  Pribram-  Frag. 


Programm 

der  am 

Freitag  den  3.  März  1911,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Hofrat  Exuer  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

I.  Administrative  Sitzung: 

1.  Aufstellung  der  Wahlliste. 

2.  Wahl  zweier  Skrutatoren. 

II.  Wissenschaftliche  Sitzung: 

1.  Dr.  S.  Federn:  Ueber  optische  Blutdruckmessung  an  der  Arteria 
radialis  und  über  den  lokalen  Blutdruck. 

2.  Priv.-Doz.  Dr.  M.  Herz:  Die  psychische  Aetiologie  und  Therapie 
der  frühzeitigen  Arteriosklerose. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Julias  Neumann  und 
Ed.  Hermann,  L.  Wiek,  Hans  Salzer,  Kobert  Breuer. 

Bergmeister,  Paltauf. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  6.  März  1911,  7  Uhr  abends,  aus¬ 
nahmsweise  im  Hörsaale  des  Institutes  für  allgemeine  und 
experimentelle  Pathologie,  unter  Vorsitz  des  Herrn  Primär  Privat- 
dozent  Lotheiseu  (Hofr.  Paltauf),  IX.,  Kinderspitalgasse  15,  stattfindenden 
wissenschaftlichen  Versammlung. 

1.  Priv.-Doz.  Dr.  H.  Winter!) erg :  Das  Elektrokardiogramm,  seine 
theoretische  und  praktische  Bedeutung. 

2.  Priv.-Doz  Dr.  K.  J.  Itothberger:  Demonstration  elektro- 
kardiographischer  Aufnahmen. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  der  pädiatrischen  Sektion  findet  im  Hörsaale  der 
Klinik  weil.  Escherich  Donnerstag  den  2.  März  1911,  um  7  Uhr 
abends,  statt.  (Vorsitz:  Priv.-Doz.  Dr.  L.  Jelile.) 
Programm: 

1.  Demonstrationen  angemeldet:  Dr.  Eggert  und  Dr.  Eisler. 

2.  Dr.  M.  Jerusalem :  Zur  Sonnenlichtbehandlung  der  chirurgischen 

Tuberkulose.  Das  Präsidium. 


Wiener  laryngologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Mittwoch  den  8.  März  1911. 

Programm: 

t.  Administrative  Sitzung.  (Wahl  eines  Sekretärs.) 

2.  Wissenschaftliche  Sitzung  (Demonstrationen). 


Gesellschaft  für  physikalische  Medizin. 

Programm  der  am  Mittwoch  den  8.  März  1911,  um  7  Uhr  abends,  im 

Uörsaale  der  Klinik  Noorden,  unter  dem  Vorsitze  von  Priv.-Doz.  Doklor 
llolzkiieclit  stattfindenden  Sitzung. 

1.  Demonstrationen. 

2.  Ingenieur  Dessauer  (Aschaffenburg):  Die  Elektronentheorie  und 
ihr  Einfluß  auf  das  physikalische  Weltbild. 

Kollegen  als  Gäste  willkommen. 

Dr.  Max  Kahane,  I.  Sekretär.  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz,  Präsident. 


Verantwortlicher  Redakteur  :  Karl  Kubasta.  Verlag  von  Wilhelm  Rranmüller  in  Wien 

Druck  von  Bruno  Bartelt,  Wien  XVIII.,  Theresiengasse  3 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner.  S.  Exner.  E.  Finger.  M.  Gruber,  F.  Hochstettar,  A.  Kolisko,  H.  Meyer.  J.  Moeller.  K.  v.  Noorden. 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer,  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 

Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig  Edmund  v.  Neusser, 

Richard  Paltauf.  Gustav  Riehl  und  .Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuohhändler,  VIII/i,  Wiokenburggasse  13.  Telephon  17.618 


XXIV.  Jahrg. 


Wien,  9.  März  1911 


Nr.  10 


INH 

(.  Originalartikel:  1.  Aus  der  serologischen  Abteilung  des  hygie¬ 
nischen  Institutes  und  der  psychiatrischen  Klinik  der  deutschen 
Universität  in  Prag.  Ueber  die  Durchgängigkeit  der  Meningen 
besonders  bei  der  progressiven  Paralyse.  Von  Dr.  E.  Weil 
und  Dr.  V.  Kafka.  S.  335. 

2.  Aus  dem  Landeskrankenhause  in  Klagenfurt.  Klinische  Be¬ 
obachtungen  über  Muskel-  und  Hautfinnen.  Röntgennachweis 
verkalkter  Zystizerken.  Bemerkungen  zur  Bandwurm-  und 
Finnenstatistik.  Von  Dr.  Karl  Pichler.  Vorstand  der  inneren 
Abteilung.  S.  338. 

3.  Aus  dem  städt.  hygienischen  und  balneologischen  Institut  in 
Marienbad.  (Vorstand:  Dr.  Zörkendörfer.)  Ueber  das  Verhalten 
von  Albuminurie  und  Zylindrurie  beim  Gebrauch  von  Sulfat¬ 
wässern.  Von  Dr.  E.  Pflanz,  Marienbad.  S.  345. 

4.  Kasuistische  Beiträge  zum  Morbus  Banti.  Von  Dr.  Karl  Ungar, 
Prosektor  in  Hermannstadt  (Ungarn).  S.  348. 

5.  Das  Problem  der  Krebskrankheit.  Von  Prof.  Alex.  Fraenkel. 
S.  350. 

11.  Oeffentliclie  Gesundheitspflege :  Sozialärztliche  Revue.  Von 
Dr.  L.  Sofer.  S.  355. 

: - - - - 

Aus  der  serologischen  Abteilung  des  hygienischen  In¬ 
stitutes  und  der  psychiatrischen  Klinik  der  deutschen 
Universität  in  Prag. 

Uebör  die  Durchgängigkeit  der  Meningen  be¬ 
sonders  bei  der  progressiven  Paralyse. 

Von  Dr.  E.  Weil  und  Dr.  V.  Kafka. 

Die  Untersuchungen,  die  uns  darüber  Aufschluß  geben 
sollen,  wie  im  Körper  vorhandene,  normale  oder  patholo¬ 
gische  Stoffe  oder  von  außen  eingeführte,  aus  dem  Blut 
in  den  Liquor  übergehen,  haben  eigentlich  nur  bei  den 
akuten  Meningitiden  ein  greifbares  Resultat  ergeben. 
Hier  fand  sich  die  Permeabilität  sicher  erhöht  und  zwar 
in  erster  Linie  bei  der  tuberkulösen,  in  zweiter  Linie  bei 
der  epidemischen  Meningitis.  Anders  bei  normalen  Menin¬ 
gen  und  in  jenen  Fällen,  wo  die  Meningen  die  Zeichen 
luetischer  und  metaluetischer  Irritation  oder  Entzündung 
bieten.  Bei  gesunden  Häuten  ist  die  Permeabilität  eine 
äußerst  geringe,  was  sich  ja  schon  aus  der  Zusammen¬ 
setzung  des  normalen  Liquors  gegenüber  dem  Blute  ergibt ; 
erhöht  —  aber  nur  vorübergehend  —  scheint  sie  hier  nur 
zu  sein,  wenn  das  Blut  mit  einem  -Stoffe  stark  überladen 
ist,  wie  z.  B.  bei  der  Urämie,  heim  Diabetes  und  im  diabe¬ 
tischen  Koma,  bei  schwerem  Ikterus,  in  welchen  Fällen 
man  Harnstoff,  resp.  Zucker,  Azeton  oder  Urobilin  im  Li¬ 
quor  finden  soll.  Doch  sind  diese  Fälle  wohl  nicht  mehr 


L  T: 

III.  Referate:  Pathologie  und  Therapie  der  Rachenkrankheiten. 
Von  A. Rosenberg.  The  voice.  Von  W.  H.  Aikin.  Ref.:Rethi. 
—  Die  Kopulation  der  Netzhaut  mit  der  Aderhaut  durch 
Kontaktverbindung  zwischen  Sinnesepithel  und  Pigmentepithel. 
Von  Dr.  R.  Halben.  Das  künstliche  Auge.  Von  Friedrich  A. 
und  Albert  C.  Müller.  Die  mikroskopischen  Untersuchungs¬ 
methoden  des  Auges.  Von  Dr.  S.  Seligmann.  Lehrbuch  der 
Augenheilkunde  in  der  Form  klinischer  Besprechungen.  Von 
Prof.  Paul  Römer.  Untersuchung  der  Pupille  und  der  Iris¬ 
bewegungen  beim  Menschen.  Von  Dr.  Karl  Weiler.  Lehrbuch 
der  Augenheilkunde.  Von  Dr.  Theodor  Axenfeld.  Atlas  der 
äußerlich  sichtbaren  Erkrankungen  des  Auges.  Von  Prof.  Doktor 
0.  Haab.  Ref.:  Salzmann.  —  Resultate  und  Probleme  der 
Badischen  Krebsstatistik.  Von  Dr.  R.  Werner.  Ref.:  Siegfried 
Rosen  fei  d. 

IV.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

V.  Vermischte  Nachrichten. 

VI.  V erhandln n geu  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


den  normalen  beizuzählen,  da  hier  jaider  osmotische  Druck 
erhöht,  die  Durchlässigkeit  der  Gefäße  vielleicht  auch  ver¬ 
ändert  sein  dürfte.  Hierher  wäre  noch  zu  zählen,  daß  man 
bei  Chloroformparkose  vorübergehend  Chloroform  im  Liquor 
naohweisen  konnte,  bei  andauernd  starker  Bromkur  auch 
Brom. 

Bei  Luetikern,  spezeill  bei  luetisc'hen  Zerehral- 
erkrankungen  sind  — -  soweit  uns  die  Literatur  bekannt  — 
die  Angaben  sehr  spärlich.  Nur  Brissaud  und  Brecy1) 
konstatierten  erhöhte  Permeabilität  der  Meningen  bei  lue- 
I  tischer  Meningitis.  In  neuester  Zeit  berichten  Sicard  und 
Bloch,2)  daß  sich  in  zehn  Fällen  von  intravenöser  Arseno- 
[  benziolinjeklion  (leider  ist  über  die  Fälle  nichts  angege¬ 
ben)  dreimal  Arsen,  aber  nur  in  sehr  geringer  Menge,  im 
Liquor  nadhweisen  ließ  u.  zw.  eine  Stunde  nach  der  In¬ 
jektion.  Am  nächsten  Tage  war  es  nicht  mehr  nachweisbar ; 
niemals  fanden  sie  es  nach  subkutaner  oder  intramuskulärer 
Injektion.  Es  wäre  aber  sehr  wichtig,  in  solchen  Fällen 
sicheres  zu  erfahren,  da  ja  die  bei  Luetikern  in  40°/o  der 
Fälle,  bei  zerebralen  Luetikern  in  80%  vorkommende  Zell¬ 
vermehrung  im  Liquor  gegen  die  Intaktheit  der  Meningen 
spricht.  Doch  scheinen  die  Erfahrungen,  die  wir  bei  Lues 


!)  Meningitp  aigue,  Guönson  par  le  tvaitement  metasyphiiitique. 
Soc.  med.  des  höpitaux.  14.  Mai  1902. 

2)  Permeability  meningee  ä  l'arsenobenzol.  Compt.  rend,  de  la  •~<n. 
de  biol.  1910.  Nr.  38,  S.  624. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


336 


c'erebri  mit  der  Wassermann  sehen  Reaktion  gemacht 
haben,  daß  sie  nämlich  im  Blute  positiv  sein  kann,  im 
Liquor  aber  immer  so  viel  wie  negativ  ist,  gegen  eine  be¬ 
sondere  Erhöhung  der  Permeabilität  der  Meningen  bei  die¬ 
sen  Affekt  ion.en  zu  sprechen. 

Bezüglich  der  metaluetischen  Erkrankung 
Tabes  und  der  Paralysis  progressiva  — -  liegen  uns  fast  nur 
negative  Angaben  der  Literatur  vor.* 3) 

Der  eine  von  uns  (Kafka)  hat  diesbezüglich  einige 
Versuche  gemacht,4)  indem  einerseits  Paralytikern,  an¬ 
derseits  luesfreien  Dementia  praecox-Fällen  abgetötete 
Vibrionen  subkutan  injiziert  und  der  Liquor  nach  einiger 
Zeit  untersucht  wurde.  Weder  durch  Agglutination  noch 
durch  Komplementbindung  ließen  sich  Antistoffe  in  dem¬ 
selben  nachweisen.  Beweisend  waren  diese  Versuche  nicht, 
da  ja  eine  körperfremde  Substanz  eingeführt  wurde,  viel¬ 
leicht  auch  nicht  in  der  genügenden  Menge. 

Die  große  Bedeutung,  die  diesem  Problem  in  theo¬ 
retischer,  eventuell  auch  in  praktischer  Beziehung  inne¬ 
wohnt,  ließ  uns  weitere  Experimente  anstellen,  besonders 
über  den  Durchtritt  von  Stoffen,  die  sich  schon  normaler¬ 
weise  im  Blute  finden,  u.  zw.  schienen  uns  hiefür  am  ge¬ 
eignetsten  die  normalen  Antikörper  des  Blutes. 

Wir  wissen  aus  den  Untersuchungen  über  die  Anti¬ 
körpergehalte  der  vorderen  Augenkammer,  wo  ähnliche 
Verhältnisse  obwalten  dürften  wie  im  Zerebrospinalraum, 
daß  daselbst  stets  die  im  Blute  immunisierter  Tiere  auf¬ 
tretenden  Antistoffe  vorhanden  sind,  nur  in  quantitativ  viel 
geringerer  Menge.  Die  ganz  unabhängig  ausgeführten  Ver¬ 
suche  von  R.  Salus5)  und  Miyashita6)  haben  das  voll¬ 
kommen  übereinstimmende  Resultat  ergeben,  daß  die  Agglu- 
1  inine  und  Hämolysine  bei  immunisierten  Tieren  in  nur 
ungefähr  1000 mal  geringerer  Menge  in  dem  ersten  Kammer¬ 
wasser  auftreten  als  im  Blutserum.  Da  wir,  um  die  Durch¬ 
lässigkeit  der  Meningealgefäße  der  Menschen  zu  studieren, 
nicht  die  künstlich  erzeugten  Immunstoffe,  sondern  die 
normalerweise  vorhandenen  benützen  wollten,  so  sind  uns 
diese  Feststellungen  der  .  quantitativen  Verhältnisse  von 
großer  Wichtigkeit.  Das  konstante  Vorhandensein  von*Ham- 
melblutambozeptoren  im  normalen  Blut  war  für  unsere 
Versuche  am  besten  zu  verwerten. 

Da  die  Menge  von  01  Cm3  Serum  gewöhnlich  aus¬ 
reicht,  umi  1  cm3  einer  5°/oigen  Hammelblutaufschwemmung 
zu  sensibilisieren,  so  müßte  man  zum  Nachweis  der  glei¬ 
chen  Menge  Ambozeptoren  100  cm3  Zerebrospinalflüssig¬ 
keit.  benutzen,  wenn  die  bei  der  vorderen  Augenkammer 
konstatierten  Verhältnisse  auch  hier  Gültigkeit  haben. 

Es  war  also  zu  erwarten,  daß  in  den  gewöhnlich  zur 
Verfügung  e teilenden  Mengen  von  normalem  Liquor  der 
Nachweis  von  Hammelblutambozeptoren  nicht  gelingen 
dürfte.  Um  so  interessanter  erschien  uns  die  Untersuchung 
der  Frage,  wie  sich  pathologische  Fälle  diesbezüglich 
verhalten. 

Wiederum  wissen  wir,  insbesondere  durch  die  Feststel¬ 
lungen  von  ophthalmologischer  Seite  (lloemer,  Wessely, 
Leber),  daß  der  Durchtritt  von  Antikörpern  aus  dem  Blut 
sehr  erhöht  ist,  wenn  die  Gefäße  des  Ziliarkörpers  ent¬ 
zündet  sind.  Bereits  Salus  hat  in  seiner  Arbeit  die  Ver¬ 
mutung  nusgesprochen,  daß  die  Vorgänge  in  der  Vorder¬ 
kammer  mit  denen  im  Zerebrospinalraum  Aehnlichkeit  haben, 
und  wir  haben  zunächst  drei  Fälle  von  akuten  Meningi¬ 
tiden,  zwei  tuberkulöse  mit  positiven  Bazillenbefund  und 
eine  epidemische  nach  der  Richtung  hin  geprüft.  Wir  fanden 
mit  der  unten  angegebenen  Methode  in  allen  drei  Fällen 
die  Hammelblutambozeptoren  und  bei  den  tuberkulösen 
Meningitiden  sogar  das  Komplement  nachweisbar.  So  wenig 
überraschend  uns  dieser  Befund  war,  so  ist  der  Nach¬ 

:!)  Bezüglich  dev  Literatur,  siehe  Kafka,  Zur  Frage  der  Permea¬ 

bilität  der  Meningen.  Mediz.  Klinik  1910,  Nr.  2. 

4)  K  a  f  k  a,  1.  c. 

*)  R.  S  a  1  u  s,  v.  Graefes  Arch.,  Bd.  75,  H.  1. 

6)  G.  Miyashita,  Klin.  Monatsbl.  f.  Augenheilk.,  Nr.  18,  Jahr¬ 

gang  1 910. 


weis  von  normalen  Antikörpern  doch  von  Inter¬ 
esse,  da  wir  mit  dieser  Methode  auf  einem  ein¬ 
fachen  Wege  eine  nichtluetische  Meningitis  kon¬ 
statieren  können,  eine  Reaktion,  welche  wohl 
neben  den  übrigen  diagnostischen  angewendet 
zu  werden  verdient,  (vorausgesetzt,  daß  metaluetische  Pro¬ 
zesse  auszuschließen  sind). 

Von  größerem  Interesse  erschien  uns  jedoch  die  Unter¬ 
suchung  chronischer  Gehirnaffektionen,  unter  diesen 
wieder  jener  mit  Beteiligung  der  Meningen,  insbesondere 
der  progressiven  Paralyse.  Als  'man  die  Wass  ermannsdhe 
Reaktion  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  in  der  Zerebro¬ 
spinalflüssigkeit  bei  Paralyse  positiv  fand,  glaubte  man, 
ihr  Auftreten  daselbst  sei  durch  lokale  Antikörperbildung 
bedingt;  als  man  aber  im  Blute  dieser  Kranken  ausnahms¬ 
los  positive  Komplementbindung  nachwies,  schien  die  An¬ 
nahme  gerechtfertigt,  daß  die  Antikörper  aus  dem  Blute 
in  die  Zerebrospinalflüssigkeit  hineingelangen,  zumal  es 
gar  nicht  sehr  selten  vorkommt,  daß  bei  negativer  Zerebro¬ 
spinalflüssigkeit  das  Blut  positiv  reagiert,  während  das  um¬ 
gekehrte  Verhältnis  zu  den  großen  Seltenheiten  gehört.  Dm  j 
letztere  Anschauung  setzt  natürlich  eine  erhöhte  Permea¬ 
bilität  der  Meningealgefäße  für  Antikörper  voraus,  welche  I 
auch  vermittels  der  von  uns  oben  skizzierten  Viethode  nach¬ 
weisbar  sein  müßte. 

Wir  bedienten  uns  folgender  Technik : 

Zu  10  cm3  blutfreier,  nicht  erhitzter  Zerebrospinalfliissig-  ; 
keit  haben  wir  i  cm3  einer  dreimal  gewaschenen  ganz  frischen 
5°Adgen  Tlanunelblutaufschwemmung  gegeben  und  eine  Stunde 
bei  37°  belassen,  nach  dieser  Zeit  werden,  die  Blutkörper-  i 
c'hen  auf  einer  Zentrifuge  mit  geringer  Tourenzahl  zentri¬ 
fugiert  und  die  überstehende  Flüssigkeit  möglichst  voll¬ 
ständig  abgegossen,  der  Bodensatz  nicht  gewaschen.  Der 
Sätz  wird  in  1  cm3  Kochsalzlösung  aufgeschwemmt  und  auf  zwei  , 
Röhrchen:  zu  je  0-5  cm3  verteilt.  Nun  wird  zu  jedem;  Röhrchen 
normales  Meerschweinchenserum  als  Komplement  hinzugefügt. 
Dasselbe  muß  jedoch  zu  jedem  Versuche  austitriert  werden,  weil 
es  manchmal  selbst  Hammelblutkörperchen  löst;  es  darf  nur  in  : 
jenen  Dosen  angewendet  werden,  in  welchen  es  allein  keine  j 
öder  nur  Spuren  von  Hämolyse  aufweist;  trotz  der  vorherigen 
Titration  muß  die  Komplementkontrolle  jedem  Versuche  noch-  ' 
mals  beigegeben  werden.  In  jenen  Röhrchen  nun,  in  welchen  ! 
stärkere  Lösung  auftritt  als  in  den  Komplementkontrollen,  haben  ; 
die  Blutkörperchen  aus  der  Zerebrospinalflüssigkeit  Hammelblut¬ 
ambozeptoren  gebunden.  Die  Hämolyse  tritt  entsprechend  der  | 
W  irkung  der  Normalhämolysine  ziemlich  langsam  auf  und  ist  i 
erst  hach  einer  bis  zwei  Ständen  deutlich.  Wir  geben  anbei  einen  | 
Versuch  wieder: 

Tabelle  I. 

Titration  der  Komp  1  e  m  e  n  t  e. 


Hammelblut 

5% 

Kochsalz¬ 

lösung 

Komplement 

Resultat 

0-5 

03 

0-2 

deutliche  Hämolyse 

0-5 

0-35 

015 

Spur  Hämolyse 

0-5 

04 

0T 

keine  Hämolyse 

0-5 

0-45 

005 

keine  Hämolyse 

Wir  können  also  das  Komplement  für  die  beiden  Pro¬ 
ben  des  Hauptversudhes  in  der  Dosis  von  015  und  0-1,  resp. 
in  der  Menge  0-1  und  005  anwenden.  Wir  haben  zum' 
Hauplversuch  die  beiden  letzteren  Dosen  gewählt. 

Wir  wählten  in  der  Tabelle  III  und  IV  die  Bezeichnung 
so,  daß  wir  nur  Hämolyse,  wie  sie  in  Fäll  II  und  XI  (Ta¬ 
belle  II)  ist,  als  H — | — b,  wie  sie  in  X  ist,  als  ++,  wie  irr 
VII 1  als  +,  wie  in  Fall  IX  als  ±  anfüjhrten. 

Mit  dieser  Methode  wurden  die  folgenden  44  Fälle7) 
untersucht.  Um  jeder  Autosuggestion  zu  entgehen,  wurden 
die  entnommenen  Liquors  numeriert  und  dann  ins  hygie¬ 
nische  Institut  zur  Vornahme  der  Untersuchung  geschickt. 

Der  besseren  Uebersichtlichkeit  halber  sind  die  Fälle 
in  zwei  Tabellen  (Tab.  Jlt  und  IV)  dargestellt,  in  der  ersten 
finden  sich  die  punktierten  Paralysen,  in  der  zweiten  die 

7)  Einige  der  Fälle  stammen  aus  der  Prager  Landesirrenanstalt 
und  es  sei  für  die  Ueberlassung  derselben  Herrn  Direktor  Dr.  Hel  lieh, 
Herrn  Primarius  Dr.  Klucina  und  Herrn  Dr.  Urban  an  dieser  Steile 
der  beste  Dank  ausgesprochen. 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


337 


Tabelle  II.  Hauptversuch. 


Satz  von  1  cm1 

5 °/lP  Hammelblut,  welches 
niit  den  verschiedenen 
Zerebrospinalflüssigkeiten 
in  Kontakt  war  und  in 
1cm3 Kochsalzlösung  auf- 
geschwemmt  wird 

Kochsalz¬ 

lösung 

Komplement 

_ _ . _ _ 

Hämolyse  nach  2  Stunden  der  Fälle 

— - 

- LJ - = 

I. 

Alkol. 

11. 

P.p. 

Hem. 

praec. 

IV. 

Dem. 

sen. 

' 

V. 

Luet. 

Herd 

VI. 

Dem. 

praec. 

VII. 

Lues 

Hl 

VIII. 

I\  p. 

IX. 

P.  p. 

X. 

P.  p. 

XL 

P.  p. 

Kontrolle 
(0  5  cm3  5°/0 
Hammelblut 
+  0T  und 

0  05  Kom¬ 
plement) 

0-5 

0-5 

0  4 

0-45 

01 

005 

0 

0 

kompl. 

0 

0 

0 

0 

/ 

'  0 

0 

0 

0 

0 

stark 

wenig 

deut¬ 

lich 

0 

stark 

stark 

kompl. 

kompl. 

0 

0 

Tabelle  III.  Paralysen. 


;  Nr. 

|.  _ 

Name  1  Datum 

Resultat 

1 

Sla. 

20.  Januar 

31. 

20.  Februar 

++ 

+  1+ 

2 

Run. 

20.  Januar 

31. 

!  w . , 

!  q 
o 

Lis. 

20.  Januar 

8.  Februar 

+ 

4-4- 

4 

He. 

20.  Januar 

+++ 

5 

Svo. 

26.  Januar 

4- 

6 

Jun. 

26.  Januar 

8.  Februar 

7 

Zu.  V 

26.  Januar 

4-4- 

8 

Smf. 

31.  Januar 

20.  Februar 

4-4-4- 

+++ 

9 

Hein.  ? 

3.  Februar 

4- 

10 

Kost.  $ 

3.  Februar 

+ 

11 

R. 

6.  Februar 

12 

D. 

6.  Februar 

+ 

13 

End. 

6.  Februar 

4 — 1 — F 

14 

Ri. 

8.  Februar 

15 

Ku. 

8.  Februar 

4-4-4- 

16 

Go.  V 

14.  Februar 

4- 

17 

And. 

17.  Februar 

+4-4- 

18 

Su. 

17.  Februar 

-P+ 

19 

Ku. 

17.  Februar 

“1 — 1 — b 

20 

Go. 

17.  Februar 

H — 1 — P 

21 

Stau. 

20.  Februar 

4- 

22 

Si. 

20.  Februar 

+4- 

23 

Staug. 

20.  Februar 

24 

Zlenk. 

11.  Januar 

4-4- 

Tabelle  IV.  Nichtparalysen. 


Nr. 

Name 

Diagnose  Datum  Resultat 

1 

Kon. 

Tabes  dors.,  Angst¬ 
psychose 

Sektion  bestätigt 

8.  Februar 

— 

2 

- - - 

Drb. 

Epilepsie 

14.  Februar 

•  - 

3 

Bit. 

Epilepsie 

17.  Februar 

— 

4 

Vyk. 

Epilepsie 

17.  Februar 

— 

Po. 

Epilepsie 

17.  Februar 

— 

6 

Ko. 

Dementia  praec. 

23.  Januar 

— 

7 

Hed. 

Dementia  praec. 

24.  Januar 

— 

8 

9 

Brej. 

Ilofm. 

Dementia  paran. 

25.  Januar 

— 

Dementia  paran. 

8.  Februar 

— 

10 

Stadl. 

Dementia  praec. 

14.  Februar 

— 

11 

Ru. 

Sexuel.  Neurastb. 

8.  Februar 

— 

12 

Dol. 

Traum.  Demenz. 

8.  Februar 

— 

13 

Fi. 

Dementia  praec. . 

14.  Februar 

— 

14 

Raj. 

Dementia  senilis 

8.  Februar 

— 

15 

Hai. 

luet.  Herd 

14.  Februar 

— 

16 

Hrn. 

Dementia  praec. 

20.  Februar 

— 

17 

Krc. 

Alkohol 

20.  Februar 

"  - 

18 

Hrazd. 

Dementia  praec. 

20.  Februar 

— 

19 

20 

Kön. 

luet.  Herd 

20.  Februar 

Köh. 

Lues  III 

20.  Februar 

Nichtparalysen.  Die  genauen  Details  über  Symptome  und 
Verlauf  der  Sektionsbefunde  der  einzelnen  Fälle  soll  in 
einer  ausführlicheren  Publikation  folgen. 

Beide  Tabellen  geben  in  theoretischer  wie  in  prak¬ 
tischer  Hinsicht  recht  bemerkenswerte  Resultate.  Es  ist 
zum  ersten  Male  sicher  nachgewiesen  worden, 
daß  die  Permeabilität  der  Meningen  bei  der  Para¬ 
lyse  erhöht  ist  u.  zw.,  wenn  wir  auf  die  obige  Berech¬ 
nung  zurückkommen,  ungefähr  um  das  Zehnfache  gegen¬ 
über  den  normalen  Verhältnissen;  trotzdem  finden  sich 
beim  Paralytiker  aber  ungefähr  lOOmal  weniger  Hämolysine 
als  im  Blute.  Der  Nachweis  von  Komplement  ist  uns  auf¬ 
fallenderweise  nur  einmal  gelungen  (Fall  13,  Tab.  III), 
ebenfalls  einmal  der  Nachweis  vom  Hammelblutagglulini- 
nen  im  Fafll  8  (Tab.  Ill)  (zweimal  untersucht).  Diese  große 
quantitative  Differenz  zwischen  Antikörpergehalt  des  Blutes 
und  der  Zerebrospinalflüssigkeit  im  Zusammenhänge  mit 
den  obigen  Versuchen  von  Kafka,  läßt  uns  vermuten,  daß 
es  sich  bei  der  Wassermann  sehen  Reaktion  im  Liquor 
von  Paralytikern  doch  nicht  um  einen  bloßen  Durchtritt 
von  Antikörpern  aus  dem  Blute  handelt,  sondern  auch  von 
Antigenen,  wodurch  in  dem  sonst  von  der  Säftezirkula¬ 
tion  ausgeschlossenen  Liquor  eine  Antikörperbi^lung, 
ähnlich  wie  in  den  sonstigen  Säften,  möglich  ist. 

ln  praktischer  Hinsicht  soll,  da  noch  zu  wenig 
Fälle  untersucht  wurden,  nichts  Engültiges  gesagt  wer¬ 
den.  Wir  sehen,  daß  von  24  'Paraly sefäillen  23,  -—  97% 
ein  positives  Resultat  ergaben,  während  die 
Kon  trollfälle  negativ  ausfielen.  Besonders  zu  er¬ 
wähnen  ist,  daß  sich  unter  den  Kontrollfällen  eine 
Lues  111,  zwei  luetische  Herde  und  eine  Tabes  be¬ 
finden.  Dieses  Verhalten  war  so  auffallend,  daß  der 
Hygieniker  wenige  Stunden  nach  der  Punktion  dem 
Psychiater  mit  Sicherheit  aus  den  mit  Zahlen  versehenen 
Proben  die  Paralysen  nennen  konnte.  Sollte  sich  dies  an 
einem  großen  Materiale  bewahrheiten,  so  hätten  wir  damit 
ein  unschätzbares  diagnostisches  Hilfsmittel,  das  dadurch 
noch  um  so  wertvoller  schiene,  als  die  Hämolysine  anschei¬ 
nend  in  jedem  Stadium  der  Krankheit  deutlich  nachweis¬ 
bar  auftreten,  bei  vorgeschrittenen  besonders  somatisch  dar¬ 
niederliegenden  Fäl len  nur  quantitativ  stärker,  lieber  den 
einen  negativen  Fall  werden  weitere  Untersuchungen  ge¬ 
pflogen  werden.  Der  eine  Fall  mit  di  Resultat  ist  eine 
Li ss au  ersehe  Paralyse  mit  positivem  Wassermann  im 
Liquor.  Die  Lösung  der  Hammelblutkörperchen  war  übri¬ 
gens  auch  hier  stark  genug,  um  deutlich  von  den  Kontrollen 
unterschieden  zu  werden. 

Wir  möchten  jedoch  nochmals  mit  besonderem  Nach¬ 
druck  darauf  hinweisen,  daß  wir  für  unsere  Feststellungen 
zunächst  nur  ein  theoretisches  Interesse  beanspruchen,  da 
nur  ein  großes  Kontrolhnaterial  über  eine  eventuelle  dia¬ 
gnostische  Bedeutung  die  Entscheidung  liefern  würde. 

Daß  die  Hämolysinreaktion  auch  bei  akuten  Meningi¬ 
tiden  positiv  ist,  ist  einerseits  für  diese  Erkrankungen  von 
praktischem  Wert,  würde  anderseits  die  Paralysediagnose 
meist  nicht  beeinträchtigen.  Da  aber  die  Liquoruntersu¬ 
chung  an  einer  sehr  großen  Zahl  von  Fällen  aus  begreifli¬ 
chen^  Gründen  auf  Schwierigkeiten  stößt,  so  wird  es,  falls 
die  Reaktion  Interesse  finden  sollte,  von  Nachuntersuchun¬ 
gen  abhängig  sein,  ob  ein  praktischer  Vorteil  aus  derselben 
gezogen  werden  kann;  vielleicht  wird  es  dann  notwendig 
sein,  die  Reaktion  noch  empfindlicher  zu  gestalten. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


338 


Nr.  10 


Aus  dem  Landeskrankenhause  in  Klagenfurt. 

Klinische  Beobachtungen  über  Muskel-  und 

Hautfinnen. 

Böntgennachweis  verkalkter  Zystizerken. 

Bemerkungen  zur  Bandwurm-  und  Finnenstalistik. 

.  Von  Dr.  Karl  Pichler,  Vorstand  der  inneren  Abteilung. 

Ziemlich  gleichzeitig  (1904)  sind  uns  zwei  zusammen¬ 
fassende  Darstellungen  über  den  Zystizerkus  in  der  Mus¬ 
kulatur  des  Menschen  von  H.  Lorenz1)  und  Danielsen2) 
geboten  worden.  Letzterer  hat  aus  der  Literatur  115  Fälle 
(zwei  eigene  aus  der  Tübinger  chirurgischen,  Klinik  v.  ß ru ns 
eingeschlossen)  gesammelt ;  davon  waren  82  Träger  meh¬ 
rerer  Finnen,  33  Fälle  solitärer  Zystizerken. 

Meine  eigenen  Beobachtungen  über  Haut-  und  Muskel¬ 
finnen  am  Lebenden  umfassen  16  Fälle  (aus  den  Jahren 
1899  bis  1910  stammend,  siehe  die  nachstehende  tabella¬ 
rische  Zusammenstellung,  in  welcher  die  Kranken  nach  der 
Zeit  der  Beobachtung  angereiht  erscheinen). 

Eine  Trennung  der  Haut-  und  Muskelfinnenfälle  ist 
besonders  in  klinischer  Beziehung  unmöglich;  so  bringt, 
G.  Lewin  (1.  c.)  in  seinen  zwei  Arbeiten  vom  „Zystizer¬ 
kus  in ( ! )  der  Haut“  natürlich  auch  Muskelfinnenfälle. 

Außerdem  habe  ich  1896  als  Assistent  Prof.  v.  Jakschs 
in  Prag  den  später  von  Posselt3)  ausführlich  beschriebenen 
Fall  von  multiplen  Finnen  zu  untersuchen  Gelegenheit  gehabt. 

Dieser  Kranke  wurde  später  (1900)  von  Prof.  May  dl -Prag 
wegen  Gehimzystizerkus,  der  zur  Jackson  scher  Epilepsie  ge¬ 
führt  hatte,  operiert.  (Siehe  May  dl,  Wiener  klinische  Rund¬ 
schau  1901,  15.  Jahrg.,  S.  273.)  May  dl  erwähnt  eigentümlicher¬ 
weise  nicht  die  Poss eit  sehe  Arbeit,  so  daß  eine  Doppelzählung 
möglich  wäre.  Der  Mann  wurde  1904  von  Prof.  Wölfl  er  wegen 
Krämpfen  der  anderseitigen  Gliedmaßen  zum  zweiten  Male  tre 
paniert;  auch  diesmal  kein  Dauererfolg.  (Siehe  O.  Fischer, 
Monatsschrift  für  Psychiatrie  und  Neurologie  1905,  Bd.  18,  S.97; 
V.  Kafka,  Zeitschrift  für  die  gesamte  Neurologie  und  Psy¬ 
chiatrie  1910,  Bd.  2,  S.  700.) 

Ehe  ich  daran  gehe,  meine  eigenen  Krankenbeobach¬ 
tungen  vom  klinischen  Gesichtspunkte  aus  zu  erörtern, 
schicke  ich,  wie  die  meisten  Autoren,  Bemerkungen  über 
die  ätiologische,  bzw.  medizinisch -geographische  Seite  des 
Krankheitsbildes  voran. 

Die  beim  Menschen  gefundenen  Zystizerken  sind  an¬ 
scheinend  ausnahmslos  Cysticerci  cellulosae,  das  heißt,  die¬ 
selben  Finnen,  wie  sie  beim  Schweine  Vorkommen;  sie 
stammen  von  der  Taenia  solium,  dem  „bewaffneten“  Band¬ 
wurme  des  Menschen,  ab. 

Die  wenigen  Fälle,  in  welchen  beim  Menschen  ein  Cysti¬ 
cercus  taeniae  saginatae  gefunden  worden  sein  soll  (Volkers, 
Arndt,  Bitot  und  Sabrazes),  werden  von  Peiper4)  als 
zweifelhaft  hingestellt.  (Siehe  darüber  noch  weiter  unten.) 

Die  Verbreitung  und  Häufigkeit  der  Zystizerkenkrank- 
heit  beim  Menschen  muß  demnach  Ln  unmittelbarer  Bezie¬ 
hung  stehen  zur  Verbreitung  und  Häufigkeit  der  Taenia 
solium  und  diese  wieder  zum  Vorkommen,  bzw.  Genüsse 
des  Fleisches  finniger  Schweine. 

Freilich  darf  man  in  dieser  Beziehung  keineswegs  ein 
allzu  enges  zeitliches  und  örtliches  Zusammenfallen  der  an 
Taenia  solium  einer-,  an  Zystizerkose  anderseits  erkrankten 
Menschen  und  der  finnigen  Tiere  verlangen.  Denn  erstens 
ist  die  Lebensdauer  der  beiden  Vegetationsformen  (der  Finne 
wie  des  Bandwurms)  eine  sicher  auf  Jahre  sich  erstreckende, 
also  auch  die  Zeitdauer  der  Ansteckungsgefahr.  Zweitens 
(und  dies  ist  gewiß  ebenso  wichtig)  sind  die  menschlichen 
Bandwurmträger  so  gut  wie  die  finnigen  Schweine  „frei¬ 
zügig“. 

')  H.  Lorenz,  Muskelerkrankungen  in  Nothnagels  Handbuch 
1904,  Bd.  11,  3.  T.,  2.  Abt.,  S.  358. 

2)  W.  Danielsen,  Beiträge  zur  klin.  Chirurgie  1904,  Bd.  44, 

S.  238. 

:i)  P  o  s  s  e  1 1,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1899,  Bd.  12,  S.  422. 

4)  Peiper,  Tierische  Parasiten.  Nothnagels  Handbuch  1904, 

Bd.  6,  2.  Aull.,  S.- 116. 


Der  Mensch  als  Finnenträger  kommt  ja  für  die  Bandwurm- 
Übertragung  so  wenig  in  Betracht,  als  wahrscheinlich  die  paar 
anderen  Wirtstiere,  bei  welchen  der  Cysticercus  taeniae  cellulosae, 
außer  beim  Schweine,  noch  gefunden  wurde:  Reh,  Schaf,  Iiund, 
Äffen,  Ratte;  freilich  soll  an  manchen  Orten  die  „Schweine“- 
Finno  beim  Rehwild  häufig  Vorkommen.5) 

Bezüglich  der  Ansteckung  des  Menschen  mit  Finnen 
(durch  Bandwurmeier,  bzw.  deren  Onkosphären)  kommt 
außer  der  Selbstinfektion  eines  Bandwurmträgers  oder 
der  Uebertragung  von  demselben  durch  direkte  Be¬ 
rührung  auf  Familiengenossen,  die  V ersc'hleppung  ent¬ 
wickln  II gsf äh ig er  Eier  im  Dünger  auf  Gemüse  in  Be¬ 
tracht.  Verse6)  meint,  daß  die  relative  Häufigkeit,  bzw.  das 
weitere  Vorkommen  der  Finnen  bei  Städtern  (in  Deutsch¬ 
land),  wo  die  Taenia  solium  so  selten  geworden  sei,  für 
die  Einfuhr  infizierten  Gemüses  vom  Lande  her  spreche. 

Virchow  war  ein  ausgesprochener  Feind  der  Lehre  von 
der  Selbstinfektion;  in  der  Arbeit  seines  Schülers  Dressei  (1.  c.) 
führt  er  an,  einerseits'  sei  in  87  Zystizerkenfällen  seines  Insti¬ 
tutes  niemals  eine  Tänie  gefunden  worden,  in  zwölf  im  gleichen 
Zeitraum  beobachteten  Tänienfällen  (offenbar  waren  es  lautet 
Taenia  solium,  was  nicht  erwähnt  ist)  kein  einziges  Mal  ein 
Zystizerkus. 

Virchow  sagt  sogar,7)  „es  finden  sich  viel  häufiger  Tii- 
chinen  mit  Tänien  zusammen  als  Zystizerken“  und  „es  fehlt 
an  jedem  Beweise,  daß  die  Koinzidenz  von  Tänien  im  Darme  und 
Finnen  in  den  Organen  einer  Leiche  keine  zufällige  sei“. 

Allerdings  bestreitet  Virchow  für  „exzeptionelle 
Fälle  nicht  die  Möglichkeit,  daß  ein  in  den  Magen  von  rück¬ 
wärts  hineingedrängter  Tänienstock  daselbst  Eier  und  Larven 
absetzen  könne“. 

Wichtiger  ist  jedenfalls  die  äußere  Selbstan- 
steckung. 

Ueber  -  das  gegenseitige  Zahlenverhältnis  der 
Träger  der  beiden  verbreitetsten  Bandwürmer  (der  Taenia 
solium  und  der  Taenia  saginata)  lauten  die  Nachrichten  der 
letzten  Jahrzehnte  aus  Deutschland  übereinstimmend 
dahin,  daß  die  erstere  an  Häufigkeit  bedeutend  abgenommen 
habe. 

So  sagt.,  um  nur  einige  Beispiele  zu  erwähnen,  Matthes,3) 
daß  in  Jena  nur  Taenia  mediocanellata  (saginata)  vorkomme; 
C u r s c h m ann9)  und  B a h r d t 9)  heben  dasselbe  für  Leipzig 
hervor,  Renda10)  (allerdings  als  pathologischer  Anatom)  für 
Berlin;  Lenhartz11)  betont  die  Seltenheit  der  Taenia  soliurr 
für  Hamburg,  L  eichtenstern  für  Köln  (Handbuch  von 
Penzoldt  und  Stintzing  1896,  Bd.  4,  erste  Auflage,  S.  623,'. 

Ueber  ö s  t e rr eichisch e  Verhältnisse  finde  ich  hei  B ettel- 
heim  (1.  c.„  S.  1479)  die  Mitteilung,  daß  in  Wien  in  den  Siebziger 
jahren  die  Taenia  saginata  viel  häufiger  als  die  Taenia  solium 
vorkam;  das  gleiche  sagt  für  Prag  Pribram  (1.  c.)  für  die 
Neunziger  jahre. 

Dagegen  fand  Monti  (Archiv  für  Kinderheilkunde  1883, 
Bd.  4,  S.  198)  an  den  kranken  Kindern  der  Wiener  allge¬ 
meinen  Poliklinik  im  Alter  von  zwei  bis  zwölf  Jahren 
(von  1872  bis  1881),  die  Taenia  solium  viel  häufiger  als  die  Taenia 
saginata :  er  bringt  aber  keine  Verhältniszahlen. 

Für  Tirol  liegt  in  der  Pos  seit  sehen  Arbeit  (S.  427) 
die  Zusammenstellung  vor,  daß  an  der  Innsbrucker  Klinik  von 
1876  bis  1879  neben  20  Fällen  von  Taenia  solium  nur  3  von 
Taenia  saginata  behandelt  wurden;  hingegen  kamen  1893  bis 
1898  nur  12  Kranke  mit  Taenia  solium  auf  66  mit  Taenia 
saginata. 

Im  Salzburger  Johannesspitale  wurden  in  den  letzten 
zehn  Jahren,  nach  freundlicher  Mitteilung  des  Kollegen  Doktor 
E.  Adler,  78  Tänien  behandelt:  62  waren  Taeniae  saginatae, 
16  Taeniae  solium.  Seit  1905  gab  es  32  Taeniae  saginatae  und 
6  Taeniae  solium. 


D  Bor  chm  ann,  Zeitschr.  für  Fleisch-  und  Milchhygiene  1904, 
Rd.  15,  S.  39;  Krabbe,  zit.  nach  Hubers  Bibliographie,  S.  63. 

6)  Verse,  Münchener  med.  Wochenschr.  1907,  Bd.  54,  S.  512. 

7)  Virchow,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1892,  Bd.  29,  S.  343 
und  Charitd-Annalen,  1875,  Bd.  2,  S.  747. 

8)  M  a  1 1  h  e  s  in  v.  Mering-Krehls  Lehrbuch  der  inneren  Medizin 
1909,  6.  Auf].,  S.  529. 

9)  Zit.  nach  J.  Ihrschberg,  1.  c. 

l0)  Ben  d  a,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1904,  Bd.  30,  S.  570. 
Vereinsbeilage. 

u)  Lenhartz  im  7  Handbuche  der  gesamten  Therapie  von  Pen¬ 
zoldt  und  Stintzing  1909,  Bd.  2,  4.  Aufl.,  S.  585. 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


339 


Zahl  I 

Alter  ; 

Geschlecht 

Jahr  der 
Beobachtung 

Angebl.  Dauer 

derZystizerken- 

krankheit 

Grund¬ 

krankheit 

Zystizerken  bei  Lebzeiten 
getastet 

Klinische 
Zeichen  für 
Gehirn- 
zystizerken 

Untersuchung 

der 

exzidierten 

Blasen 

Obduktionsbefund 

Herkunft 

der 

Finnen 

Anmerkung 

1.  Unterbaut¬ 
gewebe 

2.  Muskulatur 

1.  Muskulatur 

2.  Gehirn 

I 

67 

Mann 

1899 

ein 

Jahr 

Carcin. 

oesophag. 

zahlreiche 

viele  am 
Stamme  und  an 
den  Gliedmaßen 

keine 

Typische 
Finnen;  auf 
Hakenkranz 
wurde  nicht 
geachtet 

— 

t 

un¬ 

bekannt 

Aufschießen 
neuer  beob¬ 
achtet.  Der 
Fall  wurde 
im  Vereine  I 
der  Aorzts 
Kärntens 
September 
1899  vorge¬ 
stellt,  siehe 
Pichler, 
Oest.  ärztl. 

Vereins¬ 
zeitung  1900, 
24.  Jahrg., 
S.  13 

II 

54 

Weib 

1903 

? 

Carcin. 

ventricul. 

keine 

nur  ein  walzen¬ 
förmiger  3  cm 
langer,  l/s  cm 
breiter  Knoten 
im  rechten  M. 
cucullaris 

— 

Typische 
Finne;  auf 
Hakenkranz 
wurde  nicht 
geachtet 

keine  sonsti¬ 
gen  Finnen 
gefunden 

nicht  seziert 

un¬ 

bekannt 

III 

33 

Mann 

1904 

Catarrh. 

ventricul. 

acut. 

Knoten  in 
beiden 

Achselhöhlen 

viele  Knoten 
in  den  Mm. 
pectoral,  maior., 
deltoid.,  cucullar., 
latissim.  dorsi, 
erector  trunc., 
quadrat,  lumbor. 

— 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

— 

— 

V 

39 

1910 

einer  in  der 
rechten 
Axilla;  der 
anderseitige 
wurde  1904 
heraus¬ 
geschnitten 

neben  zysti¬ 
schen  Knoten 
in  beiden  Mm. 
pectoral,  maior, 
im  linken  M. 
latissim.  dorsi, 
linkem  quadrat. 

lumbor.  (im 
ganzen  4)  eine 
größere  Anzahl 
kalkig.  Knötchen 
in  den  Brustmus¬ 
keln,  im  M. deltoid, 
u.  latissim.  dorsi 

1907  eine 
Reihe  von  epi¬ 
leptischen  An¬ 
fällen;  weder 
vorher  noch 
später  solche 
gehabt 

Röntgen¬ 

aufnahme 

(versucht) 

IV 

64 

Mann 

1904 

p 

Arterio- 

sklei’ose 

viele 

zahlreiche  in 
den  Mm.  pectoral, 
maior  ,  cucullar., 
latissim.  dorsi, 
teres  maior, 
serrat.  antic, 
maior,  deltoid., 
biceps,  brach., 
glutae.  maxim., 
triceps  surae 

Plötzlich  bei 
der  Arbeit 
zusammenge¬ 
stürzt,  frag¬ 
liche  Krämpfe 
hiebei;  her¬ 
nach  mania- 
kalisch.  Durch 
5  Wochen  be¬ 
stand  dieses 
»transitori¬ 
sche  Irresein« 

— 

— 

p 

71 

1910 

keine  mehr 
getastet 

nur  mehr 
zwei  zystische 
bis  bohnengroße 
Knoten,  im  M. 
pectoral,  maior, 
und  im  glutaeus 
maxim,  rechts 
getastet;  in  den 
übrigen  oben  er¬ 
wähnten  Muskeln 
viele  kalkige,  bis 
stecknadelkopf¬ 
große  Knötchen 

Diesmal  psy¬ 
chisch  etwas 
wunderlich 

Typische 
Finne  (Haken¬ 
kranz  nicht 
gefunden) 

Röntgen¬ 

aufnahme 

< 

57 

Mann 

1904 

V 

Pneumon. 

lobar. 

keine 

e  i  n  bohnen¬ 
großer,  spindel¬ 
förmiger  i.  linken 
Muscul.  teres 
maior,  ein  frag¬ 
licher  im  linken 
Deltamuskel 

keine 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

. 

— 

— 

p 

Die 

Schwägerin, 
welche  in 
demselben 
Dorfe,  nicht 
im  gleichen 
Haushalte 
lebt,  er¬ 
blindete  1893 
links  an 
Augenfinne 
(Befund  von 
Dr.  O.  Purt 
scher).  | 
Röntgenauf¬ 
nahme, 
Februar  1911 

VI 

66 

1 

Mann 

1906 

p 

Arterio¬ 

sklerose 

keine 

ein  Knoten  im 
linken  M.  latissim. 
dorsi.,  ein  zweiter 
im  rechten  M. 
obliqu.  abdomin. 
extern. 

keine 

Beide  sind 
Finnen  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

negativ 

negativ 

p 

340 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


Zahl 

Aller 

Geschlecht 

bl 

C 

O  rC 

Ja 

If 

Angehl.  Dauer 

der  Zystizerken- 

krankheit 

Grund¬ 

krankheit 

' 

Zystizerken  bei  Lebzeiten 
getastet 

Klinische 
Zeichen  für 
Gehirn- 
zystizerken 

Untersuchung 

der 

exzidierten 

Blasen 

Obduktionsbefund 

Herkunft 

der 

Finnen 

~n 

a> 

1 

< 

1.  Unterhaut¬ 
gewebe 

2.  Muskulatur 

I.  Muskulatur 

2.  Gehirn 

VII 

G4 

Mann 

1904 

*? 

Em¬ 
physem, 
pul  mon. 

ein  haselnu߬ 
großer,  derb¬ 
elastischer, 
sehr  ver¬ 
schieblicher 
Knoten  in  der 
Herzgegend; 
ein  zweiter 
in  der  rechten 
Skapularlinie 

nur  ein  fraglicher 
im  rechten  M. 
teres  maior, 
(bei  der  Ob¬ 
duktion  nicht 
bestätigt) 

keine 

’ 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

* 

negativ 

negativ 

y 

VIII 

42 

Mann 

1906 

Care  in. 
ventricul. 

ein  Knoten 
unter  der 
Bauchhaut, 
einer  unter 
der  Wangen¬ 
schleimhaut 

e i n  bohnen- 
großer  Knoten  im 
rechten  M. 
latissim.  dorsi 

keine 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

nein 

nein 

Gattin  an 
Band¬ 
wurm  er¬ 
krankt 
gewesen 

1 

IX 

76 

Mann 

1906 

v 

Arterio¬ 

sclerosis 

nein 

ein  kleinbohnen¬ 
großer  Knoten 
im  linken  M. 
biceps  brachii 

keine 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

— 

Fleisch¬ 
hauer,  hat 
an  Band¬ 
wurm 
gelitten 

X 

66 

Mann 

1907 

Pneumon. 

_ 

spärliche 

zahlreiche  in 
den  Mm.  pectoral, 
maior,  deltoid., 
biceps  brach.;  in 
den  Vorderarm¬ 
streckern,  im 
latissim.  dorsi, 
in  den  Mm.  glut. 

keine 

\ 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

wie  bei  Leb¬ 
zeiten,  nur 
auch  solche 
in  der  Tiefe 

eine  große 
Anzahl  von 
Finnen  in  den 
weichen  Hirn¬ 
häuten,  im 
Marklager  u. 
in  den  Linsen¬ 
kernen 

un¬ 
bekannt; 
im  Darm 
kein  Band¬ 
wurm 

XI 

69 

Mann 

•1908 

y 

Carcin. 

ventricul. 

keine 

viele  bohnen¬ 
große  prall- 
elastische 
Knoten,  daneben 
zahlreiche 
hanfkorn¬ 
große,  kalkige 
Knötchen  in  den 
Mm  cucullar., 
pectoral,  maior, 
deltoid.,  biceps 
brach.,  brachio- 
radial.,  serrat. 
antic,  maior, 
latissim.  dors., 
obliqu.  abdomin. 
extern.,  glut.,  sarl. 

keine 

■ 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

wie  bei  Leb¬ 
zeiten,  auch 
solche  in  den 
Waden¬ 
muskeln 

mehrere 

Gehirnfinnen 

un¬ 
bekannt; 
im  Darm 
kein  Band¬ 
wurm 

Röntgen¬ 
aufnahme 
Demon¬ 
stration  im 
Vereine  der 
Aerzte 
Kärntens, 
siehe 

Pichler, 
O.-sterr. 
ärztlliche 
Vereins¬ 
zeitung  1908, 
32.  Jahrg., 
S.  91 

XII 

70 

Mann 

1908 

■ 

Paralys. 

agitans. 

nein 

ein  dattelkern¬ 
großer  Knoten  im 
link.  Deltamuskel 

keine 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

— 

— 

un¬ 

bekannt 

!  XIII 

i 

60 

Mann 

1908 

y 

Catarrh. 

ventricul. 

chronic. 

nein 

ein  klein  bohnen¬ 
großer  Knoten  im 
rechten  Delta¬ 
muskel,  fragl. 
im  M.  serrat. 
antic,  maior 

keine 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

— 

— 

un¬ 

bekannt 

XIV 

44 

Mann 

1908 

— 

Epilepsia 

sympto¬ 

matic. 

(e  cysticer- 
cosi) 

nein 

mehrere 
Knoten  i.  rechten 
M.  splenius.  capit, 
in  beiden  Mm. 
cucullar.,  beiden 
latissim.  dorsi, 
im  biceps  brach., 
serrat.  antic, 
maior,  im  quadri¬ 
ceps  crur. 

Seitl907öflers 
Schwindel¬ 
anfälle, leichte 
Trübung  des 
Bewußtseins 
von  stunden¬ 
langer  Dauer; 
echte  epilepti¬ 
sche  Krampf¬ 
an  fälle 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

un¬ 

bekannt 

XV 

51 

Mann 

1910 

über  10 
Jahre. 
Patient 
hat  das 
Schwin¬ 
den  der 
Knoten 
an  Brust 
und 
Rücken 
be¬ 
obachtet 

Pleuritis 

tuber- 

culos. 

nein 

ein  haselnu߬ 
großer  im  rechten 
M.  pectoral, 
maior,  e  i  n 
gleicher  im 
M.  obliqu.  ab¬ 
dominalis  extern., 
e  i  n  kleinerer  im 
rechten  M. 
brach  ioradial. 
Zahlreiche 
kalkige  Knöt¬ 
chen  (gersten- 
korngroß)  in 
beiden  Mm. 
deltoid.,  pectoral, 
maior,  im  M. 
cucullar. 

keine 

Finne  mit 
hakentragen¬ 
dem  Skolex 

— 

un¬ 

bekannt 

Röntgen¬ 
aufnahme  1 

Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


341 


A 

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XVI.  56  Mann 


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8>N  g 

s  t-  fJ 
_>  ©  *- 
<-o  JS 


Zystizerken  bei'  Lebzeiten 


Grund- 

krankheit 


getastet 


1.  Unterbaut¬ 
gewebe 


2.  Muskulatur 


Klinische 
Zeichen  für 
Gehirn- 
zystizerken 


[Untersuchung 

der 

exzidierten 

Blasen 


1910 


glaub¬ 
haft 
min¬ 
destens 
20  Jahre 


Tbc. 

pulmon. 

chronic. 


e  i  n  mohn- 
korngroßes 
kalkiges 
Knötchen 
unter  der 
Bauchhaut 


sehr  viele 
kalkige  Knötchen 
bis  über  roggen¬ 
korngroß  in 
beiden  Mm. 
pectoral,  maior, 
obliqu.  abdomin. 
extern  ,  serrat. 

antic,  maior, 
latissim.  dorsi, 
cucullar.,  biceps 
brachii. 


1890  durch 
2MonateKopf- 
schmerzen  u 
anfallsweise 
Zuckungen  im 
Gesichte  und 
am  Halse 
rechts.  1891 
Wiederkehr 
der  Anfälle, 
auch  rechter 
Arm  u.  Bein 
werden  er¬ 
griffen.  Da¬ 
mals  ärzt¬ 
licherseits 
typische 
Jackson- 
s c h e  Epi¬ 
lepsie  be¬ 
obachtet. 
Seither  an¬ 
geblich  ge¬ 
sund  gewesen 


Obduktionsbefund 


1.  Muskulatur  2.  Gehirn 


Herkunft 

der 

Finnen 


bß 

c 

M 

ca 

s 

c 


In  entkalk¬ 
ten  Muskel¬ 
finnen  deut¬ 
lich  Haken 
nachgewiesen 


außer  in  den 
bei  Lebzeiten 
getasteten 
Knötchen 
noch  gleiche, 
sämtlich 
kalkige  im 
Zwerchfelle, 
in  den  Inter¬ 
kostalmus¬ 
keln,  im 
Psoas  und 
Quadriceps 
cruris 


in  den 
weichen  Hirn¬ 
häuten  zahl¬ 
reich  e 
kalkige  Knöt¬ 
chen,  sowie 
je  ein  bohnen¬ 
großer 

zystischer  im 
linken  Seiten¬ 
ventrikel  und 
in  der  linken 
mittleren 
Schädelgrube 
subduial 


un¬ 

bekannt 


Röntgen¬ 

aufnahme 


Meine  eigenen  Fälle  von  Bandwürmern  aus  Kärnten  (von 
1897  bis  1910)  sind  wenig  zahlreiche.  Im  Krankenhause  habe  ich 
25,  in  der  Privatpraxis  5  Fälle  zur  Behandlung  bekommen; 
von  diesen  30  Fällen,  welche  ich  sämtlich  selbst  auf  lie  Spezies 
hin  geprüft  habe,  war  nur  eine  einzige  Taenia  solium  (im 
Jahre  1908). 

Aus  dem  Munde  von  vielbeschäftigten  Kollegen  habe  ich 
indessen  erfahren,  daß  besonders  unter  der  ländlichen  Bevöl¬ 
kerung  das  Bandwurmleidein  auch  in  Kärnten  kein  seltenes  ist. 

Allerdings  sind  es,  wie  -  ich  hörte,  gewiß  selbst  in  den 
Städten,  nur  wenige  Aerzte,  welche  die  Glieder  (oder  nach  ge¬ 
lungener  Abtreibung  den  Kopf)  regelmäßig  auf  den  Art¬ 
unterschied  prüfen.  Es  bringen  einerseits  die  Verhältnisse 
der  ärztlichen  Praxis,  besonders  am  Lande,  anderseits  die  bei 
beiden  A  r  ten  völlig  gleiche  B  eh  a  n  d  1  u n g  s  me t  h  o  d  e  mit 
sich,  daß  der  Arzt  sich  häufig  mit  der  Diagnose  „Bandwurm " 
bescheidet. 

Durch  die  Unterlassung  der  Artbestimmung  wird  das  i  n  t  «.*  r- 
esse  des  Kranken  erst  in  zweiter  Linie  berührt  (Verdacht 
einer  Finnenansteckung  bei  Taenia  solium,  schwierigere  Abtrei¬ 
bung  bei  Taenia  saginata). 

lieber  „das  mangelnde  Interesse  für  Helminthen  bei  der 
Mehrzahl  der  praktischen  Aerzte“  klagt  schon  1879  der  verdiente 
schwäbische  Entozoenforscher  J.  Ch.  Hub  er  -  Memmingen.12)  Zur 
selben  £eit  spricht  Bettelheim- Wien13)  über  die  häufigen 
Begriffsverwirrungen  in  Fragen  der  Darmparasiten;  ein  Hund 
solle!  iZystizerkeninfektion  des  Menschen  bewirkt  haben  und 
anderes  mehr. 

In  den  30  seither  verstrichenen  Jahren  ist  zudem  das 
ärztliche  Interesse  von  den  Helminthen  weg  auf  andere  Para¬ 
siten  (Bakterien,  Amöben,  Spirillen  u.  a.  m.)  gelenkt  worden. 

Erkundigung  bei  einer  Reihe  von  Kärntner  Kollegen  über 
die  Art  und  Zahl  der  von  ihnen  beobachteten  Bandwürmer,  hat 
mir  ergeben,  daß  anscheinend  auch  in  Kärnten  die  Tae¬ 
nia  saginata  im  allgemeinen  häufiger  beobachtet  wird;  doch 
hat  Koll.  Dt.  Schaumberger  in  19jähriger,  sehr  ausgedehnter, 
ärztlicher  Wirksamkeit  unter  der  Landbevölkerung  O  b  e  r  k  ä  r  n- 
tens  häufiger  Taenia  s'olium  gesehen.  Kollege  Dr.  Folger, 
seit  1900  Vorstand  der  Kinderabteilung  des  hiesigen  Kranken¬ 
hauses,  hat  unter  allen  Fällen  von  Bandwurm  der  Kranken¬ 
haus-  und  Privatpraxis  nur  eine  Taenia  solium  beobachtet. 

Da  aber  die  Literaturangaben  über  die  Verbreitung  der 
Bandwurmarten  in  verschiedenen  Städten  und  Ländern  fast 
ausschließlich  auf  Krankenhausberichten  fußen 
(freilich  meist  poliklinische  Kranke  mit  eingeschlossen)  oder 
der  Praxis  eines  einzelnen  Arztes  entstammen,  so 
erscheint  es  mir  doch  etwas  vorschnell,  daraufhin  die  ge- 
gelungene  Ausrottung  der  Taenia  solium  zu  verkünden. 

j  Qh  Huber,  Aerztl.  Intelligenzblatt  1879,  Bd.  26,  S.  289. 
,v  y  is)  Bettelheim,  Sammlung  klin.  Vorträge  von  R.  Volk  mann 

1879,  Nr.  166. 


Gewiß  wird  auch  anderwärts  die  übergroße  Mehr¬ 
zahl  der  Bandwurmkranken  vom  praktischen 
Arzte  behandelt;  es  erfassen  also  die  Krankenhaussta¬ 
tistiken  nur  einen  sicherlich  kleinen  Bruchteil  sämtlicher 
Tänien  eines  bestimmten  Gebietes. 

Es  wäre  demnach  auch  möglich,  daß  bei  dem  be¬ 
kanntlich  gegen  die  Abtreibungsmittel  hartnäckigeren 
„Rinder“- Bandwurme  in  der  Privatpraxis  mehr  Versager 
vorkämen,  welche  dann  die  Kranken  zu  einem  Versuche 
einer  Krankenhausbehandlung  bewegen  würden.  Der  leichter 
zu  besiegende  „Schweine“- Bandwurm  entginge  so  der  Kennt¬ 
nis  der  Anstaltsärzte  —  und  ihrer  Statistik! 

Eine  ähnliche  Meinung  hat  schon  vor  über  40  Jahren 
Scheuthauer- Wiein  geäußert  (Wochenblatt  der  Gesellschaft  dei 
Aerzte  in  Wien,  31.  Juli  1867,  S.  275).  Auch  H.  Vierordt 
(Medizinisches  Korrespondenzblatt  des  Württembergischen  ärzt¬ 
lichen  Landesvereines  1885,  Bd.  55,  S.  195)  sagt  ausdrücklich, 
die  Krankenhausstatistiken  könnten  aus  diesem  Grunde  vielleicht 
einen  falschen  Ausdruck  der  wirklichen  Verhältnisse  geben. 

Eine  richtige  Bandwurmsammelforschung  für 
ein  bestimmtes,  nicht  zu  klein  bemessenes  Gebiet,  wäre  etwa 
wie  folgt  zu  organisieren: 

Sämtliche  Aerzte  sammeln  von  jedem,  ihnen  in  einem  Ka¬ 
lenderjahre  vorkommenden  Tänienfalle  je  eine  Proglottide,  gehen 
sie  etwa  in  einer  schwachen  Formollösung  je  in  ein  kleines 
signiertes  Gläschen  und  senden  nach  Schluß  des  Zeitraumes 
alle  Gläschen  an  die  Sammelstelle  ab,  wo  die  Zählung  nach 
den  Arten  erfolgt.  Um  Doppelzählungen  möglichst  zu  vermei¬ 
den,  wäre  ein  Verzeichnis,  Name  und  Alter  der  Träger  enthaltend, 
au  zulegen  und  beizufügen.  So  könnte  unter  geringster  Belästi¬ 
gung  des  einzelnen  Arztes  eine  brauchbare  Statistik  gewonnen 
werden.  Man  könnte  auch  nach  Huber  (1.  c.,  S.  86)  die  Glieder 
auf  dunklem  Papier  an  trocknen  lassen,  da  dies  eine  spätere 
mikroskopische  Untersuchung  nach  Aufweichenlassen  erlaubt. 

Neuestens  ist  von  Mehner  (Referat  im  Zentralblatte  für 
Bakteriologie  1910,  Bd.  47,  S.  798)  zur  Bekämpfung  der  Finnen¬ 
krankheit  der  eigenartige  Vorschlag  gemacht  worden,  Geldbeloh¬ 
nungen  auszusetzen  für  abgelieferte  menschliche  Bandwürmer. 
Nach  dem  Referate  faßt  Mehner  zunächst  die  Taenia  saginata 
ins  Auge,  anscheinend  wegen  der  schwierigeren  Erkennung  ihrer 
Finne  bei  der  Fleischbeschau. 

Natürlich  würde  bei  der  den  Laien  unmöglichen  Unter¬ 
scheidung  der  beiden  Tänien  die  Untersuchungsstelle  beide  Arten 
bekommen  und  so  eine  Statistik  schaffen  können.  Da  aber  aus 
naheliegendem  Grunde  nur  für  den  beigebrachten  Kopf  eine  Beloh¬ 
nung  gebühren  künntei,  das  Auflinden  desselben  im  Stuhle  aber  dem 
Laien  bekanntlich  schwierig  fällt,  so  dürfte  der  Sammeleifer 
bald  erlahmen.  Ich  muß  also  diese  Anregung  für  eine  un¬ 
praktische  erklären,  besonders  für  Gewinnung  einer  Sammel¬ 
forschung. 


842 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


Nicht  getroffen  würden  von  dieser  Sammlung, 
aber  auch  von  jeder  anderen,  die  gewiß  auch  hierzulande 
nicht  seltenen  Fälle,  in  welchen  sich  die  Kranken  das  Bandwurm- 
mittel  ohne  ärztliche  Anweisung  verschaffen,  ln  dieser 
Beziehung  denke  ich  nicht  allein  an  die  heimischen  Apotheken 
und  Drogerien,  sondern  auch  an  die  Beschaffung  vom  Auslande 
her;  die  Tagesblätter  und  Kalender  enthalten  noch  immer  An¬ 
kündigungen  über  unfehlbar  wirkende  Abtreibungsmittel  gegen 
Bandwurm. 

Von  gegen  Tänien  in  Kärnten  gebrauchten  Volksheil¬ 
mitteln  habe  ich  von  Dr.  S  c  h  au  an  b  er  g  e  r- Nikelsdorf  im 
Drau  tale,  außer  Knoblauchmilch  noch  das  Terpentinöl  erfahren, 
bekanntlich  ein  altes  Bandwurmmittel  (schon  bei  Bremser  als 
in  England  empfohlen  angeführt). 

Ferner  wird  nach  Mitteilung,  des  Mag.  pharm,  v.  Be  li¬ 
sch  an  auch  hierzulande  die  Farnkrautwurzel  von  Bauern  aus¬ 
gegraben  und  daraus  ein  wirksames  Bandwunnmittel  bereitet. 

Man  vergesse  auch  nicht  darauf,  daß  besonders  die  Taenia 
solium  auch  auf  gewöhnliche,  nicht  spezifische  Abführmittel  bin 
ausgetrieben  werden  kann,  oder  in  akuten  wie  chronischen  Krank¬ 
heiten  „spontan“  abgeht,  siehe  z.  B.  Monti  (1.  c.,  S.  191)  (Ab¬ 
gang  einer  Taenia  saginata  im  Verlaufe  einer  Kapillarbronchitis) 
und  Hubers  Bibliographie,  S.  62. 

So  wurde  auch  meine  einzige  Kärntner  Taenia  solium- 
Trägerin  von  ihrem  Bandwurme  samt  Kopf  schon  bei  der  Vor¬ 
bereitungskur  befreit,  am  dritten  Hungertage  nach  drei  Eßlöffeln 
Rizinusöl. 

Auch  in  dem  merkwürdigen  Falle  von  Laker,14)  Abgang 
von  59  Bandwurmköpfen  (Taenia  solium),  bewirkte  ein  einfaches 
Abführmittel  die  Abstoßung;  ich  erwähne  den  Fall  hier  auch 
deswegen,  weil  die  Kranke  eine  Kärntnerin  aus  der  Umgebung 
unserer  Stadt  war. 

Eine  a  m  fliehe  Bandwurm  sammelforsch  u  n  g  fand 
für  die  Jahre  1868  und  1869  im  Großherzogtum  Sachsen- 
Weimar  statt. 

v.  Conta10)  hat  den  Sammelbericht  ausgearbeitet.  Da  von 
93  im  Verwaltungsgebiet  wirkenden  Aerzten  92  Berichte  ein¬ 
sandten,  einzelne  freilich  keine  Zahlenangaben  lieferten,  so  ist 
der  Belicht  ein  vollständiger  zu  nennen.  Die  Bevölkerungszahl 
des  Großherzogtums  betrug  damals  rund  282.000. 

Von  Interesse  erscheint,  daß  für  einen  Bezirk  und  zwar 
das  Oberland  des  Eisenacher  Kreises,  ausdrücklich  die  große 
Seltenheit  des  Bandwurmes  betont  wird,  während  bei  den 
Schweinen  von  den  dortigen  Amtsärzten  häufig  Finnen  gefunden 
wurden.  In  diesen  Gegenden  werde  aber  das  Schweinefleisch 
nach  allgemeiner  Sitte  stets  gut  gekocht  genossen. 

Hoher  die  relative  Häufigkeit  der  Taenia  solium  und  der  sa- 
ginata 'besagt  die  Statistik  178  Fälle  der  ersteren,  23  der  letzteren 
13  unbestimmt.  Da  aber  außerdem  37  Fälle  von  Bothriozephalus 
berichtet  werden,  wovon  nur  hei  2  ein  Aufenthalt  des  Trägers  in 
Rußland  erwähnt  wird,  bei  2  Reisen  im  Ausland,  so  hat  v.  Con  ta 
wohl  recht,  daß  von  einzelnen  Aerzten  hinsichtlich 
der  Diagnose  der  R  an  d  w  u  r  m  s  p  e  z  i  e  s,  d  e  r  e  n  D  i  a  g  n  o  s  e 
für  die  nächsten  Zwecke  der  ärztlichen  Praxis  min¬ 
destens  keine  hervorragende  Wichtigkeit  besitzt, 
Irrt ürner  begangen  worden  sind“.  (Es  sind  ja  auch  in 
seither  über  40  Jahren  aus  Thüringen  keine  Bothriozephalusfätle 
bekannt  geworden.)  Wenn  aber  schon  die  Bothriozephalusfälle 
die  Artbestimmung  verdächtig  erscheinen  lassen,  so  gilt  dies  noch 
mehr  von  der  unzweifelhaft  schwierigeren  Unterscheidung  der 
beiden  Tänienarten. 

Als  fehlerhaft  möchte  ich  noch  den  Vorgang  bezeichnen, 
daß  die  Behörde  die  Rundfrage  Ende  1869  für  die  beiden  ver¬ 
flossenen  Kalenderjahre  ergehen  ließ.  Die  Genauigkeit 
hätte  sicherlich  gewonnen,  wenn  die  Sammelforschung  für  die 
zwei  kommenden  Jahre  verfügt,  bzw.  angeregt  worden  wäre. 
Wie  viele  Aerzte  in  Sachsen  -  Weimar  (et  extra!)  kommen  auch 
heutzutage  dazu,  sich  über  alle  behandelten  Krankheitsformen 
der  reinen  Privatpraxis,  nicht  der  Kassenangehörigen,  regelmäßige 
Aufzeichnungen  zu  machen  und  dieselben  rasch  auffindbar  zu 
buchen ! 


’*)  Laker,  Deutsches  Archiv  für  klm.  Medizin  1885,  Bd.  37,  S.  491 . 
'”)  v.  Conta,  Zeitscbr  für  Epidemiologie  und  öffentliche  Ge¬ 
sundheitspflege  1872,  Neue  Folge,  III.  Jahrg..  S.  154.  Durch  gütige  Ver¬ 
mittlung  des  Herrn  Medizinalrates  Prof.  Dr.  Gu  mp  recht  (Weimar) 
erhielt  ich  Gelegenheit,  die  92  Berichte  einzusehen.  Darin  las  ich  unter 
anderem  den  Rat  eines  Amtsphysikus,  die  Staatsregierung  könne  eine 
annähernde  Statistik  nur  durch  Befragung  der  bekannten  Bandwurm- 
"Doktoren«  erzielen,  deren  einer  mehr  Bandwurmkranke  ans  dem 
Großherzogtume  habe,  als  alle  praktischen  Aerzte  zusammen. 


Da  mir  keine  Aveitere  allgemeine  Sammelforschung  L6)  bekannt 
isl,  so  habe  ich  den  Vorgang  bei  dieser  näher  besprochen,  weil 
klar  Mängel  zutage  treten,  welche  ich  in  meinem  oben  skizzierten 
Plane  zu  vermeiden  trachtete. 

Für  die  Schweiz,  wo  bekanntlich  in  einzelnen  Gegenden 
der  Bothriozephalus  heimisch,  u.  zw.  stark  verbreitet  ist,  hat 
Zaeslein17)  (Basel)  in  einer  preisgekrönten  Schrift  eine  Baud¬ 
wurmstatistik  .ausgestellt,  welche  auf  Mitteilungen  einer  ganzen 
Reihe  von  Aerzten  der  verschiedensten  Landesteile  beruht,  also 
trotz  ihrer  vom  Verfasser  selbst  betonten  Lücken  mindestens  für 
den  Bothriozephalus  auf  den  Namen  einer  Sammelstatistik 
Anspruch  machen  darf.  Neben  der  interessanten,  aber  uns  hier 
nicht  näher  berührenden  Bothriozephalusverbreitung  am  Ufer  der 
vier  westlichen  Schweizer  Seen  berichtet  Zaeslein  auch  über 
die  Verbreitung  der  beiden  Tänien- Arten,  doch  sind  gerade 
diesbezüglich  die  Zahlen  der  Gewährsmänner  (im  ganzen 
20  Aerzte)  viel  kleiner.  Neben  der  sicher  schwierigeren 
Differentialdiagnose,  als  zwischen  Tänia  und  Bothriozephalus, 
mag  wohl  in  Betracht  kommen,  daß  damals  (1881)  noch  nicht 
alle  Aerzte  die  Unterscheidung  der  beiden  Tänienarten  gelernt 
hatten. 

Eigentümlicherweise  kommt  nach  Zaeslein  in  der  Schweiz 
die  Taenia  solium  in  vielen  ländlichen  Gegenden  kaum  vor,  da 
nur  einheimisches  Schweinefleisch  genossen  wird;  die  selbst 
gezüchteten  Schweine  seien  aber  fast  nie  finnig,  weil  sie  mit 
gekochtem  Futter  ernährt  werden.  Es  scheine  in  den  Städten  sich 
die  Verhältniszahl  der  Bandwurmarten  in  dem  gleichen  Sinne  zu 
verschieben,  Avie  auch  in  anderen  Ländern  (Zunahme'  der  Taenia 
saginata,  Abnahme  der  Taenia  solium). 

Hiefür  sei  entsprechend  der  schon  von  Krabbe  (Kopen¬ 
hagen)  und  C.  Vogt  (Genf)  geäußerten  Meinung  einerseits  die 
durch  die  T r  ich  i n  e n  1  u r c  h t  seit  den  Sechzigerjahren  veran¬ 
laßt©  sorgfältigere  Zubereitung  des  Schweinefleisches,  ja  der  des¬ 
wegen  selbst  verminderte  Genuß  desselben  verantwortlich  zu 
machen,  andrerseits  die  Verordnung  rohen  Rindfleisches 
als  besonders  zuträglichen  Gerichtes  für  kranke  Kinder.  Zaes¬ 
lein  macht  dann  noch  auf  die  behördliche  Fleischbeschau  (in 
der  Schweiz  seit  zwölf  Jahren  bestehend)  aufmerksam,  Avelche 
die  Zahl  der  Taenia  solium  herabzudrücken  geeignet  sei. 

Wenn  H.  Eich  hörst  in  20  Jahren  (1884  bis  4904)  an 
der  Züricher  Klinik  vergebens  nach  einer  Taenia  solium  fahn¬ 
det©  (Handbuch  der  speziellen  Pathologie  und  Therapie  1905, 
6.  Aufl.,  Bd.  2,  S.  443),  so  besagt  dies  für  die  Verbreitung  der 
Taenia  solium  in  der  SchAveizer  Bevölkerung  schon  deshalb 
wenig,  weil  Eich  hör  st  in  diesem  Zeiträume  überhaupt  nur 
31  Randwurmträger  beobachtete. 

Hier  möchte  ich  noch  kur'z  die  Bandwurmstatistik  von 
L  Ch.  Huber18)  besprechen.  Dieser  hat  in  Memmingen  seit 
I860  ärztliche  Praxis  ausgeübt  und  nimmt,  da  „die  Leben  s- 
und  Ernäh  ru  ngs  Verhältnisse  der  Bewohner“  von 
Stadt  und  Umgegend  mit  denen  des  übrigen  Kreises 
„ganz  wesentlich  übe  re  in  stimmen“,  mit  Fug  und  Recht 
an.  daß  im  ganzen  bayrischen  Schwaben  die  gleichen  Befunde 
an  Helminthen  sein  müßten.  . 

Während  nun  Hut  ) er  in  seiner  ersten  Mitteilung  die  Selten¬ 
heit  der  Taenia  solium  betont  und  damit  begründet,  daß 
„rohes  oder  nur  geräuchertes  Schweinefleisch  in 
Memmingen  fast  gar  nie  gegessen  wird“,  schreibt  er 
1885:  ..Ich  zählte  unter  den  21  Bandwürmern,  welche  ich  in  den 
letzten  zwei  Jahren  abtrieb,  13  Taeniae  saginata©  und 
8  Taeniae  solium.“  „Es  kommt  der  Genuß  fremder 
Schinken  immer  mehr  in  Aufnahme.“ 

Es  hat  also  im  bayrischen  Schwaben  eine  re- 
1  a  five  Zunah  m  e  der  Taenia  s  o  1  i  u  m  stattgefunden ; 
doch  nur  vorübergehend  da  Herr  Medizinalrat  Huber 
nach  freundlicher  schriftlicher  Mitteilung  (1911)  seit  vielen 
Jahren  keine  Taenia  solium  mehr  zu  Gesichte  bekam. 

Wie  vorsichtig  man  mit  dem  Schlüsse  sein  muß,  aus 
der  Seltenheit  der  Taenia  solium  im  Beobachtungsfelde 
eines  Arztes,  besonders  in  einer  großen  Stadt,  auf 
die  Seltenheit  der  Finnen  in  der  Bevölkerung  dieser  Stadt 
zu  folgern,  erhellt  vielleicht  am  klarsten  aus  nachstehender 
geschichtlichen  Zusammenstellung. 

lb)  Vergleiche  hiezu  J.  Ch.  Huber,  Bibliographie  der  klin.  Hel¬ 
minthologie,  S.  91,  Lehmann,  München  1895. 

17)  Th.  Zaeslein,  Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1881, 
XI.  Jahrg.,  S.  673. 

18)  J.  Ch.  H  über  (1.  c.),  sowie  J.  Ch.  H  u  her,  Bericht  des  natur- 
historischen  Vereines  zu  Augsburg  1885,  Bd.  28.  S.  85  und  1860,  Bd.  13. 
8.  127. 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


843 


In  der  Literatur  findet  sich  die  Angabe,  in  Wien  sei  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts  nur  die  Taenia  saginata  gefunden  wurden 
so  bei  Heller  (1.  c.,  S.  604):  Bremser19)  und  Wawruch-") 
sahen  in  Wien  nur  Taenia  saginata. 

Wörtlich  sind  aber  die  Angaben  der  beiden  verdienten 
österreichischen  Helminthologen  folgende:  Bremser  (1.  c.,  S.  100) 
schreibt:  „Ich  hatte  bereits  fünf  oder  sechs  Köpfe  dieser  Würmer 
aufs  genaueste  untersucht  und  konnte  bei  keiner  Art  von  V  er¬ 
größerung,  bei  keiner  Art  von  Beleuchtung  einen  Hakenkrauz 
gewahren.“  Von  Rudolph  i  (Berlin)  erhielt  Bremser  dann 
einen  hakentragenden  Bandwurmkopf.  Doch  fügt  Bremser  bei, 
er  habe  von  einem  Wiener  Arzte  (Gör gen)  gleichfalls  einen 
bewaffneten  Wurm  erhalten.  Es  gab  also  doch  damals'  in  Wien 
die  Taenia  solium.  Bremser  hat  zwar  über  500  Menschen  mit 
Kettenwürmcrn  (so  nennt  er  die  Tänia,  den  Namen  Bandwurm 
bewahrt  er  für  den  Bothriocephalus  latus)  während  mehr  als  zehn 
Jahren  in  Wien  behandelt,  aber  keineswegs  regelmäßig  nach  dem 
Kopfende  gesucht  (1.  c.,  S.  194);  er  würde  doch  sonst  wohl  öfter 
einen  „jungen“  Kettenwurm  gefunden  haben.  Bremser  (1.  c„, 
S.  101)  meint  nämlich,  daß  der  Wurm  im  (Alter  die  Haken  verliere, 
was  wohl  schon  Wawruch  (1.  c.,  S.  34)  als  Artunterschied 
zweier  Bandwürmer  deuten  will,  aber  bekanntlich  erst  Küchen¬ 
meister  1852  durch  Beschreibung  der  verschiedenen  Organisa¬ 
tion  der  einzelnen  Glieder  bewiesen  hat. 

Wawruch  hat  in  seiner  Wiener  Klinik  von  1821  bis  1840 
173  Personen  mit  Bandwurm  behandelt;  er  sagt:  „Den  seltenen 
Hakenkranz  am  Kopfe  des  Tieres  sah  ich  nie.“  i  Nachdem  aber  lauf 
Krankengeschichten  sehr  häufig  der  Kopf  nicht  gefunden  wurde 
und  zu  vermuten  steht,  daß  dieser  nicht  jedesmal  auf  Vor¬ 
handensein  des  Hakenkranzes  geprüft  wurde,  so  liegt  auch  darin 
kein  gültiger  Beweis. 

Scheuthauer  (1.  c.)  hat  übrigens  „in  der  Wawruch- 
schen  Sammlung  die  Taenia  saginata  17mal  so  häufig  als  die 
Taenia  solium  vorgefunden“,  also  nachträglich  das  Vor¬ 
kommen  von  Taenia  solium  in  Wien  zu  jener  Zeit 

bewiesen. 

Die  Frage  der  Bandwurmstatistik  nunmehr  zusammen¬ 
fassend,  betone  ich,  weil  ich  dies  nirgends  erwähnt  finde, 
daß  ein  halbwegs  brauchbares  Urteil  über  die  Verbrei¬ 
tung  der  zwei  Tänienarten  ohne  eine  Sammel- 
forschung  zu  gewinnen,  u n  m  ö  g  1  i  c  h  i  s  t.  Diese  Samm¬ 
lung  muß  aber  am  Lebenden  erfolgen;  eine  Seziersaal¬ 
statistik  gibt  über  Tänien  kein  richtiges  Bild,  da  (siehe  oben) 
hei  Kranken  “die  Würmer  spontan  abgehen  können,  also 
an  der  Leiche  vermißt  werden. 

An  dieser  Stelle  darf  ich  vielleicht  über  den  Fund  des  d ritt¬ 
wichtigsten  menschlichen  Bandwurmes,  des  Bothriocephalus 
latus,  in  Oesterreich  und  im  besonderen  in  Kärnten  eine  Be¬ 
merkung  bringen.  Es  könnte  nämlich  in  unserem  seen-  und  fisch¬ 
reichen  Lande  nicht  wundernehmen,  diesen  Parasiten  anzu¬ 
treffen,  dessen  Finnen  in  solchen  Fischen  gefunden  wurden,  die 
durchwegs  Bewohner  unserer  Gewässer  sind,  so  Hecht,  Barsch, 
Quappe  u.  a.  m. 

Kollege  Dr.  Rudolf  Pichler  (Villach)  hat  zwar  1905  einen 
Fall  von  Bothriocephalus  latus  in  Kärnten  beobachtet,  doch,  wiesen 
die  Spuren  der  Ansteckung  auf  den  Bodensee  hin.  (Siehe  Üester- 
reichischo  ärztliche  Vereinszeitung  1906,  30.  Jahrg.,  S.  82.) 

Sonst  ist  mir  von  Kärntner  Funden  überhaupt  nichts  be¬ 
kannt  geworden.  Es  scheint  aber,  als  ob  die  österreichischen  Ge¬ 
wässer,  bzw.  deren  Fische,  überhaupt  bisher  von  Bothriocephalus- 
trägern  nicht  angesteckt  worden  seien,  da  von  heimischen  Bo- 
thriozepha lusfällen  kaum  Erwähnung  geschieht. 

Seit  dem  Funde  Val  ent  as21)  (dieser  hat  bei  einer  ge¬ 
borenen  Krainerin,  welche  die  letzten  zehn  Jahre  ununterbrochen 
in  Laibach  gelebt  hatte  —  ob  sie  und  wo  vorher  außerhalb 
Oesterreichs  gelebt,  ist  nicht  erwähnt  nach  einer  Bandwurm¬ 
kur  neben  einer  Taenia  solium  [samt  Kopf]  lange  Glieder¬ 
reihen  nebst  einzelnen  Gliedern  von  Bothriocephalus 
latus  abgehen  gesehen)  finde  ich  sowohl  in  Hubers  Biblio¬ 
graphie  (1.  c.)  als  in  Peipers  Bericht  in  den  Ergebnissen  der 
allgemeinen  Pathologie  von  Lu  barsch  und  Ostertag,  7., lahr¬ 
gang,  1900  bis  1903,  S.  536,  als  österreichischen  Fall  nur  den 
von  Mader  angeführt. 


19)  Bremser,  Lebende  Würmer  im  lebenden  Menschen.  Schaum¬ 
burg,  Wien  1819. 

20)  Wawruch,  Monographie  der  Bandwurmkrankheit.  Gerold, 

Wien  184  k 

21)  A.  Valenla,  Memorabilien  1868,  Bd.  13,  S.  181. 


Dieser-)  hat  an  Neussers  Krankenabteilung  in  Wien 
an  einem  16 jährigen  Manne  neben  einer  Taenia  solium  einen 
Bothriooepahlus  latus  abgetrieben.  Der  junge  Mann  war  die  ersten 
14  Jahre  seines  Lebens  stets  in  Wien  gewesen,  weilte  dann  durch 
14  Monate  m  V  eis,  später  wieder  in  Wien.  Die  Ansteckungsquelle 
blieb  unbekannt. 

Ein  in  Graz  1892  beobachteter'  Fall  dieses  Bandwurmes, 
den  ich  selbst  auf  der  Abteilung  meines  verstorbenen  Lehrers 
Prof.  Rem  bold23)  gesehen  habe,  betraf  einen  jungen  Mann 
aus  Rumänien,  wo  Bothriozephalus  endemisch  ist,  und  kann 
die  Ansteckungsquelle  gewiß  nicht  nach  Oesterreich,  verlegt 
werden. 

Die  drei  Fälle  von  Bothriozephalus,  welche  Bremser  in 
Wien  beobachtete  (1.  c„  S.  191)  und  die  „sechs  Fälle  Wawruchs 
ebenda  (1.  c.,  S.  200)  betrafen  sämtlich  Ausländer. 

Dasselbe  gilt  von  einem  in  Prag  von  Pribram21)  be¬ 
handelten  Bothriozephalusfalle,  welcher  aus  der  Schweiz  stammte 
und  neben  sehr  vielen  Tänien  der  einzige  Bothriozephalus  unter 
Pribram  s  Fällen  gewesen  war. 

Mit  Rücksicht  auf  das  von  Rolling  e  r  (Münchener  medi¬ 
zinische  Wochenschrift  1888,  35.  Jahrg.,  S.  516)  und  Hu  her  (1.  c) 
in  den  Siebzigerjahren  festgestellte  autochthone,  wenn  auch  seltene 
Vorkommen  des  Bothriocephalus  in  Südbayern  und  auf  den 
Fall  von  Rud.  Pichler  (siehe  oben)  habe  ich  die  Möglichkeit 
ms  Auge  gefaßt,  daß  die  Ufer  des  Bodensees,  welche  noch 
1881  nach  Za  es  lein  (1.  c.)  bothriozephalusfrei  gelten  konnten, 
inzwischen  verseucht  worden  seien.  Dr.  Lins,  seit  17  Jahren 
Arzt,  in  Dornbirn  (Vorarlberg),  war  so  freundlich,  mir  mit¬ 
zuteilen,  daß  er  in  der  ganzen  Zeit  keinen  Bothriozephalusfail 
beobachtet,  noch  auch  von  Kollegen  etwas  darüber  gehört  habe. 
Auch  an  der  Innsbrucker  Klinik  gelten  der  Bodensee,  wenigstens 
das  österreichische  Ufer  desselben,  wie  auch  der  Achensee,  als 
bothriozephalusfrei  (Mitteilungen  von  Prof.  Posselt  und  Assistent 
Dr.  Latzei). 

Dr.  Lins  hat  übrigens  auch  d  r  e  i  Fälle  der  seltenen  T  a  e  n  i  a 
canina  beobachtet. 

Als  Erklärungsgrund  für  die  anscheinend  so  auffällige 
Abnahme  der  Taenia  solium  in  Deutschland  (mindestens  in 
den  Städten)  wird  allseitig  die  gesetzlich  vorgeschriebene 
Fleisch  bes  c  h  a  u  angeführt,  welcher  die  größere  Schweine- 
finne  nicht  so  leicht  entgeht  als  die  kleinere,  meist  spärlich 
sich  findende  Rinderfinne. 

Wie  in  ganz  Oesterreich  besteht  auch  in  Kärnten  im 
Gegensatz  zu  den  strengen  Bestimmungen  im  Deutschen 
Reiche  Verpflichtung  zur  Fleischbeschau  nur  bei  gewerb¬ 
lichen  Schlachtungen  und  hei  N o t s c h  1  a e h t u n g e n 
(in  Erkrankungsfällen);  es  entgeht  also  erstlich  ein  gewal¬ 
tiger  Teil  der  Schweine  jedweder  Beschau.  Zudem  wird 
hierzulande  nur  in  der  Minderzahl  der  Fälle  die  Beschau 
von  geprüften  Tierärzten  geübt,  was  den  Werl  der  Amts¬ 
handlung  in  bezug  auf  die  Bandwurmprophylaxe  recht,  ge¬ 
ring  erscheinen  läßt. 

Die  amtlichen  Berichte  der  letzten  Jahre  über  das  Ergebnis 
der  Tier-  und  Fleischbeschau  bei  Schweinen  in  Kärnten  melden 
nur  spärliche  Fälle  von  Finnenerkrankung,  zumeist  an  von  aus¬ 
wärts,  besonders  aus  Bosnien  eingeführten  Tieren. 

Eine  allfällige  Abnahme  der  Taenia  solium  in 
Kärnten  müßte  also  in  anderen  Verhältnissen  begründet 
sein  als  in  dem  segensreichen  Walten  behördlicher  Ma߬ 
nahmen. 

* 

Gehen  wir  nun  über  zur  Frage  der  Häufigkeit  der 
Zystizerkenkrankheit  des  Menschen!  Lieblingssitze 
dieser  Finne  beim  Menschen  sind  das  Gehirn  und  seine 
Häute,  die  Muskeln  und  das  Unterhautgewebe,;  das  Auge ; 
andere  Organe  werden  selten  befallen  (vgl.  P  ei  per,  S.  128). 

Eine  zahlenmäßige  Aufstellung  über  den  menschlichen 
Zystizerkus  ist  in  zweifacher  Hinsicht  versucht  worden : 
1.  durch  Sektionsstatistiken,  2.  durch  Statistik  der 
Augenärzte. 

22)  Mader,  Jahrbuch  der  Wiener  k.  k.  Krankenanstalten  1892, 
S.  634  und  Wiener  med.  Blätter  1894,  XVII.  Jahrg.,  S.  76. 

23)  Rem  bold,  Mitteilungen  des  Vereines  der  Aerzte  in  Steier¬ 
mark  1892,  Bd.  29,  S.  80. 

24)  Pfibram  im  Handbuch  der  prakt.  Medizin  von  Ebstein  und 
Schwalbe  1900,  Bd.  2,  S.  794. 


VvIEjmüK  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


314 


Der  -Mangel  der  ersteren,  daß  sie  fast  nur  die  Angehörigen 
der  niederen  Stände  umfasse,  fällt  für  die  vorliegende  Frage 
weniger  in  die  Wagschale  als  der  Umstand,  daß  die  gerade 
hier  wichtige  Sektion  des  Schädelinhaltes  verhält¬ 
nismäßig  oft  nicht  vor  genommen  wird. 

Die  Untersuchung  des  Unterhautzellgewebes  und  besonders 
der  Muskulatur  ist  aber  bekanntlich  bei  den  „pathologisch-anatomi¬ 
schen1'  Sektionen  durchschnittlich  eine  mehr  oberflächliche  und 
stellen  Seziersaalstatistiken,  wenn  vom  Sekanten  nicht  besonders 
auf  Finnen  geforscht  wurde,  nur  Minimalzahlen  von  zweifel¬ 
haftem  Werte  dar  (siehe  R.  Virchow  bei  Hirschberg  1.  c.). 
Schon  Leukart  (1.  c.,  S.  280)  sagt,  daß  die  „praktischen  Ana¬ 
tomen“,  gemeint  sind  natürlich  die  „normalen“,  bei  ihren  Muskcl- 
zergliederungen  die  Finne  weniger  leicht  übersehen  werden  als 
die  „pathologischen“  Anatomen. 

Die  Statistik  der  Augenärzte  geht  auf  Albrecht  v.  Graefe 
zurück,  welcher  als  erster  1853  einen  Zystizerkus  im  hinteren 
Augenabschnitte  mit  dem  Spiegel  entdeckt  hat.  Die  schwere  Seh- 
störung  führt  die  Kranken  (wenigstens  in  der  Großstadt)  meist 
rasch  zum  Augenärzte;  es  könnte  also  die  okulistische  Statistik 
die  wirkliche  Verbreitung  in  dem  Organe  uns  lehren. 

In  einem  Gebirgslande  mit  schlechten  Verkehrswegen,  dessen 
Bauernbevölkerung  oft  gegen  einseitige  Sehstörungen  vhd  indo¬ 
lenter  ist,  kann  allerdings  die  Zeit  länger  dauern,  bis  das  Auge 
fachärztlich  besichtigt  wird;  auch  für  Böhmen  betonte  diesen  Um¬ 
stand,  das  sorglose  Säumen  der  Kranken,  Herrenheiser.“') 
Es  kann  die  anfangs  für  den  Kundigen  noch  durch  eigenartige 
Glaskörpertrübungen  mögliche  Finnendiagnose  schließlich  durch 
Pupillarverschluß  und  Linsentrübung  unmöglich  werden  und  wird 
man  in  dem  wegen  Sekundärglaukom  oder  entzündlicher  Atro¬ 
phie  entfernten  Augapfel  erst  bei  der  Zergliederung  die  schuldigen 
Parasiten  entdecken  können.26) 

A.  v.  Graefe27)  hat  1866  angegeben,  daß  er  in  13 
Jahren  unter  einer  Anzahl  von  etwa  80.000  Angenkranken 
80  und  einige  Male,  also  u n  g  e f ä h  r  unte r  1000  P  a t i  e  n t  e(n 
einmal  den  Zystizerkus  in  den  tieferen  Gebilden  des 
Auges  beobachtet  habe,  dazu  noch  zehnmal  im  vorderen 
Augapfelabschnitt  und  'in  der  Umgebung  des  Auges. 

Dabei  ist  allerdings  des  internationalen  Krankenkreises 
v.  Graefes  nicht  zu  vergessen,  wenn  man  örtliche  Rückschlüsse 
ziehen  will. 

Diese  Statistik  seines  Lehrers  hat  J.  Hirschberg28) 
(Berlin)  bis  zum  Jahre  1902  fortgesetzt.  Er  fand  1869  bis  1885 
auf  60.000  Augenkranke  70  Augenzystizerken,  also  dieselbe 
Verhältniszahl  (mehr  als  l%o)>  wie  vordem  v.  Graefe,  von 
1886  bis  1894  unter  73.000  Kranken  drei  Fälle,  davon  zwei 
auswärtige  (Verhältniszahl  etwa  V25°/oo)-  Von  1895  bis  1902 


fand  H  i  r  s  c  h  b  e  r  g  unter  65.000  seiner  Augenkranken  keinen 
einzigen  Fall.  1903  sah  Hirschberg  noch  ein  „Fossil“, 
eine  Finne,  welche  seit  zwanzig  Jahren  in  einem  Augapfel 
gesessen  und  diesen  zur  Schrumpfung  gebracht  hatte. 

Eine  gleich  bedeutende  Abnahme  der  Augenfinne  wird 
aus  Halle,  welches  früher  die  gleich  hohe  Häufigkeit 
(1:1000)  wie  Berlin  aufwies,  und  aus  Feipzig  berichtet 
(Hi  r sch  b erg,  1.  c.). 

Für  Oesterreich  finde  ich  in  der  Literatur  folgende 
Angaben  über  Augenfinnen. 

Wintersteiner  (1.  c.)  hat  an  der  Wiener  (I.)  Augen¬ 
klinik  nur  zwei  Zystizerkusfälle  auf  60.000  Augenkranke  gesehen, 
betont  aber  deren  Fund  in  vier  enukleierten  Augen.  Nach  W  in  [er¬ 
ste  in  er  fand  Br  et  tau  er  (Triest)  nur  einen  Fall  unter  mehr 
als  30.000  Kranken,  Wicherk  iewicz  (Posen — Krakau)  zwei 
unter  100.000. 

Lieber  Böhmen  berichtet  Hirsch,29)  daß  (zwei  eigene 
Fälle  aus  der  Klinik  Czerm-ak  eingeschlossen)  im  ganzen  mit 
20  Augenzystizerken  bekannt  geworden  sind. 

Im  folgenden  teile  ich  das  Ergebnis  einer  Umfrage 
mil,  welche  ich  über  das  Vorkommen  von  Augenfinnen 
i 1 1  den  österreichischen  A 1  p  e n  1  ä nder  n  veranstaltet 
habe.  Den  Herren,  welche  so  freundlich  waren,  mir  ihre 
Erfahrungen  zur  Verfügung  zu  stellen,  spreche  ich  hiemit 
meinen  aufrichtigen  Dank  aus. 

Primararzt  Dr.  E.  Bock  (Laibach)  hat  in  23  Jahren  augen- 
ärztlicher  Tätigkeit  in  Krain  unter  beiläufig  45.000  Kranken 
nur  einen  Fall  gesehen,  unter  der  Netzhaut  beider  Augen. 

Aus  Steiermark  berichtet  Prof.  Birnbacher  (Graz), 
daß  er  seit  1881  am  Lebenden  nur  drei  Augenzystizerken  ge¬ 
funden  habe,  zwei  subretinale,  einen  im  Unterlide,  außerdem  einen 
im  phthisischen  Augapfel  einer  Leiche;  Gesamtzahl  der  Augen¬ 
kranken  über  120.000.  Prof.  Dimmer  hat  von  1900  bis  1910  als 
Vorstand  der  Grazer  Universitäts-Augenklinik  und  in  seiner 
dortigen  Privatpraxis  unter  über  50.000  Fällen  keinen  Augen- 
zystizerkus  gehabt. 

Aus  Salzburg  habe  ich  von  keinem  Falle  einer  Augenfinne 
Kenntnis  erhalten. 

In  dem  Berichte  der  Frau  Dt.  Rosa  Ivers  chbaumer 
(Salzburg,  Kerber,  1892)  über  die  Augenheilanstalt  ist  für  den 
Zeitraum  von  1883  bis  1890  unter  rund  19.500  Kranken  keiner 
verzeichnet.  Primararzt  Dt.  Gäm pp  hat  seit  1892,  Augenarzt 
1)t.  Toldt  seil  zehn  Jahren  gleichfalls  keinen  Augenzystizerkus 
aufgefunden. 

Für  Tirol  liegt  bei  Posselt  (1.  c.,  S.  429)  die  Erfahrung 
Prof.  Dimmers  vor,  welcher  an  der  Innsbrucker  Klinik 


- 

Ort  der  Beobachtung 

Name  des  Beobachters 

Zahl  der  beobachteten 
Augenzystizerken 

Gesamtzahl  der 
untersuchten  Augen - 
kranken 

Zeitraum 

Anmerkung 

Laibach 

(Krain) 

E.  Bock 

zwei  subretinale  bei 
einem  Individuum 

45.000 

1887-1910 

Graz 

A.  Birnbacher 

zwei  subretinale, 
einen  im  Lide 

über 

120.000 

1881—1910 

einen  intraokularen 
Zystiz.  an  der  Leiche 

(Steiermark) 

P.  Dim  m  e  r 

— 

über 

50.000 

1900—1910 

!  R.  Kerschbaume  r 

- 

19.500 

1883—1890  1 

Salzburg 

K.  G  a  m  p  p 

— 

— 

1892—1910 

A.  Toldt 

— 

über 

8.000 

1900—1910 

Innsbruck 

(Tirol) 

W.  C  z  e  r  m  a  k 

ein  subretinaler 

7.000 

1892—1895 

F.  Dimmer 

zwei  intraokulare 

8.000 

1895-1899 

St.  Bernheim  er 

— 

über  50.000 

1900—1910 

Bozen 

(Tirol) 

G.  W  a  c  h  1 1  e  r 

ein  subretinaler 

16.000 

1897  1910 

kein  österreichischer 
Fall 

Klagenfurt 

(Kärnten) 

O.  Purtsche'r 

zwei  intraokulare 

über 

60.000 

1880—1910 

3#)  Herrenheiser,  Prager  med.  Wochenschr.  1889,  Bd.  14, 
Nr.  49  u.  51. 

20)  Wintersteiner  in  Enzyklopädie  der  Augenheilkund e.  Vogel, 
Leipzig  1902,  S.  212. 

27)  A.  v.  Graefe,  Archiv  für  Ophthalmologie  1866,  Bd.  12, 
2.  Abt.,  S.  174 

28)  J.  Hirschberg,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1904,  Bd.  41,  S. 661. 


von  1895  bis  1899  unter  8000  Kranken  zwei  intraokuläre  Finnen 
sah.  Unter  dessen  Vorgänger  an  der  Innsbrucker  Klinik,  weiland 
Prof.  Czermak,  wurde  nach  mündlicher  Mitteilung  meines 
Bruders,  Dr.  Al.  Pichler,  seines  damaligen  Assistenten,  nur 
ein  Fall  unter  etwa  7000  Kranken  gefunden  (1892  bis  1S96). 

*")  C.  Hirsch,  Prager  med.  Wochenschr.  1897,  Bd.  22,  S.  223. 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


345 


Pr°f  Bern  heim  er  hat  m  Innsbruck  seit  1900  weder  an  der 
Klinik  (etwa  50.000  Kranke)  noch  in  der  Privatpraxis  einen 

val  ,  ,Wachtler  (Boze«)  hat  seit  1897  unter  etwa 
tb.OOO  Augenkranken  einen  subretinalen  Zystizerkus  hei  einem 
ileichsitahener  beobachtet,  welcher  in  Tirol  nur  kurz  geweilt 

hatte. 


Auch  in  der  Praxis  des  verstorbenen  Herzogs  Karl 
Fneodoi  von  Bayern,  kam  nach  Mitteilung  seines  langjährwen 
Assistenten,  Hofrat  Dr.  Zenker,  kein  Tiroler  oder  Salzburger 

Augenzystizerkus  vor. 

y  Für  Kai  nten  selbst  kann  ich  die  Erfahrung  des  Kollegen 
Primararztes  Dr.  O.  Pur ts eher  (Klagbnfurt)  mitteilen.  Dieser 
hat.  m  mehr  als  30jähriger  augenärztlicher  Tätigkeit  unter  über 
60.000  Augenkranken  zweimal  eine  intraokuläre  Finne  gesehen, 
seit  dem  Jahre  1893  keinen  Fall  mehr.  Den 'zweiten  Pur  tsc  her- 
scheu  hall,  eine  jetzt  68jährige  Frau,  habe  ich  vor  kurzem 
zu  untersuchen  Gelegenheit  gehabt;  ich  konnte  keine  Haut-  oder 
Muskelfinnen  an  ihi  finden;  allerdings  war  eine  Röntgenauf¬ 
nahme  aus  äußeren  Gründen  unmöglich. 

Bei  lin  verfügt  bezüglich  der  menschlichen  Finne  über 
eine  auf  viele  Jahrzehnte  zurückreichende  Sezi er s aal¬ 
st  atistik.  , 

Rudolphi  (ziitert  nach  Lew  in,  1.  c.,  S.  621)  gab  1833 
mi,  unter  250  Leichen  vier-  bis  fünfmal  Zystizerken  gefunden  zu 

haben. 

R.  Virchow30)  hat  noch  1866  (mündliche  Mitteilung  an 
A.  v.  Graef  e,  1.  c.,  S.  175)  denselben  Hundertsatz,  nämlich  2, 
l'estgestellt;  1875  war  die  Zahl  ziemlich  gleich  hoch  (13  Fälle  hei 
771  Obduktionen,  also  fast  l-7°/o. 

Für  die  zehn  ’Jahre  1866  bis  1875  hat  Virchow  die 
Finnenlunde  von  J.  Dressei31)  zusammenstellen  lassen.  Enter 
.)300  Obduktionen  dieses  Zeitraumes  waren  87mal  Zystizerken 
entdeckt  worden,  also  in  über  l-6°/o  der  Fälle.  Davon  saßen  die 
Parasiten  im  Gehirne  allein  66mal,  im  Gehirne  überhaupt  72mal, 
in  den  quei gestreiften  Muskeln  allein  8mal,  in  diesen  überhaupt 
17mal,  im  Unterhautgewebe  3mal,  2mal  in  der  Leber,  darunter 
einmal  solitär. 


Erwähnen  möchte  ich  noch,  daß  Dressei  unter  seinen 
87  Fällen  in  32  solitäre  Finnen  fand,  u.  zw.  26mal  im  Ge¬ 
hirne,  3mal  in  den  Skelettmuskeln,  zweimal  im  Herzen,  einmal 

in  der  Leber. 

In  den  folgenden  Jahren32)  sinken  in  der  Berliner  Charite 
<be  Zahlen  auf  0-93,  0-74,  0-84,  0-99,  0-71,  0-5%  im  Jahre  1881. 
1882  setzt,  mit  0-26 °/o  ein,  dann  folgen  (M3,  0-22,  0-57°/o  im 
Jahre  1885.  1898  waren  0-22,  1899  0-07°/o,  weiter  015,  0-11,  0-2, 
0-16°, o  (1903).  Allerdings  sind  die  Verhältniszahlen  keine  absolut 
gültigen,  da  Virchow  (und  ihm  folgend  Orth)  ohne  Rücksicht 
auf  die  wirklich  vorgenommene  Gehirnsektion  die  Funde  auf 
die  Gesamtzahl  der  Obduktionen  berechnen. 

,  Diese  beträchtliche  Abnahme  von  L68°o  (1875)  auf  O-TiM 
,1901),  also  das  Absinken  auf  ein  Fünfzehntel,  kann  aber  kaum 
unbedenklich  der  verbesserten  Fleischbeschau  zugute  geschrieben 
werden,  da  diese  nach  Hirschberg  (1.  c.)  erst  1883  in  Kraft 
trat  und  Virchow  schon  1882  nur  mehr  0.26,  1883,  wo  doch 
der  Einfluß  auf  die  Bandwurmprophylaxei  noch  nicht  hervor- 
getreten  sein  konnte,  auch  nur  0-13°/o  finnige  menschliche  Ge¬ 
hirne  verzeichnet,  also  fast  dasselbe  Verhältnis,  wie  28  Jahve 
später. 

Die  starken  Unterschiede,  welche  sich  übrigens  in  den  Ver¬ 
hältniswahlen  ergeben,  ob  man  die  Gehirnfinnen  in  Beziehung 
setzt  zu  der  Zahl  der  Obduktionen  mit  Gehirnsektionen  oder 
mr  Zahl  sämtlicher,  ergibt  sich  aus  der  Mitteilung  Virchows 
H-  c.,  S.  342)  selbst.  Er  ließ  für  einige  Jahrgänge  die  richtige 
Statistik  ausrechnen.  Danach  war  1875  statt  mit  i-7°/o  mit 
o-45%  (!)  Zystizerken  gesegnet,  1882  statt  mit  0-26°/o  mit  3-2°/o, 
1889  mit.  0-35 °/o,  1890  und  1891  mit  l-4°/o.  Ob-  die  Zahlen  für 
die  Charite  auch  weiterhin  abgenommen  haben,  ist  mir  nicht 
G'kaimt  geworden. 

v.  Hansemann  (zitiert  nach  Hirschberg  1.  c.)  hat  in 
Merlin.  1896  bis  1902  unter  2549  Sektionen  mit  Gehirnzerglm- 
lorung  0-6°, o  Finnenträger  gefunden. 

Aus  Oesterreich  ist  mir  nur  eine  Prager  Sezier¬ 
saalstatistik  über  Zystizerken  bekannt  geworden,  welche 
Hammer33)  aus  H.  Chiaris  pathologisch -anatomischem' 


i#)  ln  siebenjähriger  Tätigkeit  zu  Würzburg  hatte  Virchow, 
Tier!  nach  Hubers  Bibliographie,  S.  49,  ein  einziges  Mal  ein  einzelnes 
‘.xemplar  einer  Finne  beim  Menschen  gefunden. 

'  31 )  J.  D  res  sei,  Inaug. -Dissert.,  Berlin  1877. 
n)  Zit.  nach  J.  Orth,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1904,  Bd.  41,  S.  794.  | 
i3;  Hammer,  Prager  med.  Wochenschr.  1889,  Bd.  14,  S.  243.  j 


institute  veröffentlichte;  diese  bringe  ich  schon  darum,  weil 
nach  freundlicher  brieflicher  Mitteilung  des  Herrn  Hofrates 
Lhiari  „fast  immer  auch  die  Schädelsektion  aus- 
gefuhrt  wurde  und  diese  nur  in  einzelnen  Fällen  (Ein¬ 
sprache  der  Familie)  unterblieb“. 

Unter  5323  Sektionen,  welche  von  1882  bis  1888  voitte- 
nommen  wurden,  fanden  sich  28mal  Zystizerken  vor,  also  in 
über  0-5°/o  der  Leichen;  davon  saßen  25mal  die  Parasiten  im 
Gehirne,  bzw.  dessen  Häuten. 


Der  Prager  Prozentsatz  von  0-5°/o  für  die  Jahre  1882 — 1888 
ist  also  niedriger  als  der  Berliner  derselben  Zeit  mit  Aus¬ 
nahme  der  Berliner  Zahlen  für  1889  (0-35 fVo). 

(Meinerseits  kann  ich  für  Kärnten  keine  Seziersaal¬ 
statistik  beibringen,  da  die  Schädeleröffnung  und  Zerglie¬ 
derung  des  Gehirnes  meist  nur  bei  Verdacht  eines  Zere¬ 
bralleidens  ausgeführt  wurde,  also  verhältnismäßig  selten 
Zudem  entgingen  gewiß  dem  nicht  spezialistisch  geschulten 
Auge  (beim  Abgänge  eines  eigenen  Proseklors  werden  die 
Obduktionen  bisher  von  den  Abteilungsärzten  selbst  vor¬ 
genommen)  so  manche  verkalkte  Gehirnfinnen. 

Aui  in  einem  einzigen  lalle  erwiesen  sich  Gehirnfinnen 
(multiple,  in  den  Hirnhäuten  gelegene)  als  Todesursache  (1897); 
vereinzelt  fand  ich  verkalkte  Zystizerken,  so  zweimal  als  Nehea- 
befund  m  Gehirnen  mit  tuberkulöser  Meningitis. 

Es  ist  schon  frühe  T  iingel  und  F  erb  er,  1862  (zitiert 
nach  Heller,  1.  c.,  S.  345),  aufgefallen  und  Oppenheim34) 
fährt  eine  Reihe  weiterer  Beobachtungen  an,  daß  der  Gehirn- 
zystizerkus  auffällig  oft  bei  anderen  zerebralen  Erkrankungen 
angetroffen  wird,  so  daß  man  den  Eindruck  gewinnt,  die  An¬ 
wesenheit  der  Finne  prädisponiere  das  Gehirn  zu  den  verschie 
den, sten  Leiden. 

Weiters  ha.be  ich  von  den  Klagenfurter  städtischen  Amts¬ 
ärzten  Dr.  Schmid  und  Dr.  Teu her  Berichte  über  Ventrikel- 
zystizerken  erhalten,  welche  Parasiten  sie  bei  zwei  sanitäts- 
polizeilichen  Sektionen  der  letzten  Jahre  gefunden  haben. 

Bei  der  Obduktion  eines  alten  Mannes  (Myodegensratio 
cordis)  —  das  Gehirn  wurde  leider  nicht  seziert.  —  fand  ich 
1909  in  der  Wand  der  linken  Herzkammer  einen  solitären  Zysti¬ 
zerkus  von  Bohnengröße.  In  den  Brust-  und  Gliedmaßenmuskeln 
fand  ich  keine  weiteren  Parasiten. 

Andere  Finnenfunde'  in  Kärnten  konnte  ich  weder  für  den 
Lebenden  noch  für  Leichen  in  Erfahrung  bringen. 

(Schluß  folgt.) 


Aus  dem  städt.  hygienischen  und  baineologischen  Institut 
in  Marienbad,  (Vorstand:  Dr.  Zörkendörfer.) 


Ueber  das  Verhalten  von  Albuminurie  und 
Zylindrurie  beim  Gebrauch  von  Sulfatwässern. 


Von  Dr.  E.  Pflanz,  Marienbad. 

In  Nummer  5  dieser  Wochenschrift  hat  Herr  Stadt- 
physikus  Dr.  Zörkendörfer,  Vorstand  des  städtischen 
hygienisch-balneologischen  Institutes  in  Marienbad,  über 
die  in  seiner  Anstalt  untersuchten  Fälle  von  Albuminurie 
und  Zylindrurie  berichtet  und  dabei  festgeste  111,  daß  bei 
einer  auffallend  großen  Anzahl  der  zur  Untersuchung  über¬ 
wiesenen  Harne  Eiweiß  und  Zylinder  gefunden  wurden  und 
ferner,  daß  in  den  meisten  Fällen  während  des  Kurgebrau¬ 
ches  eine  Veränderung  dieser  abnormen  Harnhestandteile 
im  günstigen  Sinne  konstatiert  werden  konnte. 

Diese  durch  exakte  Harnanalysen  gewonnenen  inter¬ 
essanten  Ergebnisse  finden  eine  Ergänzung  seitens  der  be¬ 
handelnden  Aerzte  in  einer  Besprechung  des  sonstigen  kli¬ 
nischen  Verhaltens  der  betreffenden  Patienten  und  einer 
Sichtung  des  Materiales,  in  der  Richtung,  wie  die  einzelnen 
Formen  von  Nierenaffeklionen  sich  diesbezüglich  verhielten. 
Dabei  werden  sich  auch  Anhaltspunkte  dafür  ergeben, 
welche  der  hei  der  Kur  beteiligten  Faktoren  und  auf  wel¬ 
chem  Wege  diese  zu  solchen  Resultaten  führen. 

Wenn  wir  heutzutage  auch  nicht  mehr  die  frühere 
scharfe  Trennung  zwischen  den  verschiedenen  Formen  der 
chronischen  Nephritis  aufrecht  erhalten  können,  sondern 


3‘)  Oppenheim,  Die  Geschwülste  des  Gehirns.  Nothnagels 
Handbuch  1902,  Bd.  9.  2.  T„  2.  Auf].,  S.  223. 


346 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


die  Einheitlichkeit  der  einzelnen  Unterarten  der  Nieren¬ 
entzündung,  sowohl  was  ihren  toxisch-hämatogenen  Ur¬ 
sprung  betrifft,  wie  auch  bezüglich  der  pathologisch-anato¬ 
mischen  Verhältnisse  und  des  Verlaufes  annehmen  müssen,  ) 
so  unterscheidet  die  ärztliche  Praxis  auch  gegenwärtig  mit 
Vorteil  verschiedene  Typen  als  die  einzelnen  Stadien  des 
entzündlich-degenerativen  Prozesses  in  den  Nieren,  bei 
welchen  aber  allerdings  fließende  Uebergänge  und  Kombi¬ 
nationen  die  Regel  sind.  Unter  dem  Vorbehalt,  damit  nicht 
etwa  eine  künstliche  Abgrenzung  der  einzelnen  Formen 
zu  statuieren  und  trotz  der  Schwierigkeiten,  welche  die 
Einordnung  mancher  Fälle  in  ein  starres  System  bietet,  wur¬ 
den  unsere  Fälle  in  verschiedene  Gruppen  zusammengefaßt, 
welche  durch  besondere,  klinisch  bedeutsame  Symptome 
charakterisiert  sind  und  die  auch,  wie  sich  zeigen  wird, 
auf  unsere  Kur  einigermaßen  verschieden  reagieren. 

Die  vom  mir  in  den  letzten  Jahren  behandelten  Fälle 
von  Albuminurie  und  Zylindrurie,  deren  Harn  fortlaufend 
zur  Untersuchung  kommen  konnte,  betrafen  53  Personen 
(39  Männer,  14  Frauen),  welche  während  68  Kurperioden 
von  durchschnittlicher  vierwöchiger  Dauer  beobachtet 
wurden.  Ein  Patient  gebrauchte  seit  fünf  Jahren  im  Sommer 
die  Kur,  einer  war  viermal  zur  Kur,  einer  dreimal,  sechs 
Patienten  je  zweimal,  die  übrigen  wurden  nur  während  einer 
Kurperiode  beobachtet.  Es  sei  hier  bemerkt,  daß  bei  Pa¬ 
tienten,  welche  die  Kur  öfter  gebrauchten,  die  Harnano¬ 
malien  immer  in  fast  ganz  gleicher  Weise  beeinflusst  wur¬ 
den,  weshalb  in  der  folgenden  Zusammenstellung  jede  Per¬ 
son  nur  einmal  gerechnet  wird.  Die  Patienten  kamen  ge¬ 
wöhnlich  nach  Marienbad  wegen  Adiposität  und  Beschwer¬ 
den,  welche  auf  diese  bezogen  wurden,  außerdem  wegen 
Gicht,  Rheumatismen,  Magen-  und  Darmstörungen,  vor 
allem  chronischer  Obstipation,  einige  mit  leichtem  Dia¬ 
betes  und  nur  sechs  Personen  auch  wegen  Affektionen  des 
Harnapparates  (darunter  drei  mit  Konkrementen).  \  on  diesen 
letzteren  abgesehen,  war  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl 
aller  anderen  von  Anomalien  seitens  der  Harnorgane  früher 
nichts  bekannt  geworden,  die  Albuminurie  wurde  gewöhn¬ 
lich  erst  bei  uns  festgestellt. 

Bei  der  ersten  Gruppe  von  acht  Fällen  (6  Männer, 
2  Frauen),  waren  die  Erscheinungen  der  Niereninsuffizienz 
mit  stärkeren  Oedemen  und  leichten  urämischen  Sympto¬ 
men  derart  ausgesprochen,  daß  über  das  Vorhandensein 
einer  chronischen  diffusen  Nephritis  kein  Zweifel 
sein  konnte.  Einmal  hatte  sich  diese  an  einen  vor  Jahren 
überstandenen  Scharlach  angeschlossen,  einmal  an  eine 
Pyelitis  nach  einer  Laparotomie,  in  einem  Falle  war  starke 
Erkältung  als  Ursache  anzusehen,  in  drei  Fällen  bei  noch 
jungen,  sonst  kräftigen  Individuen  wurde  starkes  Potato- 
rium  (Wein)  zugegeben,  einmal  lag  typische  Gicht  vor,  nur 
in  einem  Falle  war  kein  Anlaß  aufzufinden  für  das  schlei¬ 
chend  einsetzende  Nierenleiden.  Der  Blutdruck  war  in  die¬ 
sen  Fällen  stets  ein  mittlerer,  1 10  bis  140  mm  Hg  (gemessen 
mit  Riva-Rocci,  früher  palpatorisch,  seit  drei  Jahren 
auskultatorisch  nach  Korotkow). 

Außer  einem  Manne  mit  Mitral-  und  Aortenstenose,  der 
sich  in  einem  recht  mäßigen  Ernährungszustände  befand, 
waren  die  übrigen  bei  reichlichem  Essen  und  Trinken  und 
Mangel  an  Bewegung  ziemlich  fettleibig  und  kamen  nach 
Marienbad,  um  an  Gewicht  zu  verlieren.  Hier  wurde  eine 
streng  nierenschonende  Diät  mit  Kochsalzeinschränkung  ein¬ 
gehalten  und  behufs  „Durchspülung  der  Niere“  die  stark 
diuretisch  wirkende,  erdalkalische  Rudolfsquelle  verordnet, 
bei  den  Fetten  auch  außerdem  die  Kohlehydrate  und  Fette 
etwas  reduziert  und  eine  geringe  Menge  Sulfatwasser  ge¬ 
trunken,  wobei  es  zu  Rückgang  der  Oedeme,  mäßiger  Herab¬ 
setzung  des  Körpergewichtes,  erhöhter  Leistungsfähigkeit 
und  besserem  Befinden  kam. 

Der  Harnbefund  wurde  bei  diesen  Fällen  durch  die 
Kur  am  wenigsten  günstig  beeinflußt  :  in  vier  Fällen  wurde 

')  cf.  v.  Strümpell,  Die  Pathologie,  Diagnose  und  Behandlung 
der  chron.  Nephritis.  Deutsche  Klinik,  Bd.  4. 


der  , Eiweißgehalt  zwar  herabgesetzt,  in  drei  Fällen  blieb 
er  der  gleiche  und  einmal  wurde  er  vermehrt  (von  04l,/oo 
auf  0-2°/oo).  Die  Zylinder  verschwanden  zweimal  gänzlich, 
blieben  in  drei  Fällen  gleich  in  Zahl  und  Form,  in  drei 
Fällen  waren  später  auch  epitheliale  an  Stelle  der  granu¬ 
lierten  nachzuweisen. 

Daraus  möchten  wir  folgern,  daß  bei  Fällen  von  chro¬ 
nischer  diffuser  Nephritis,  welche  nicht  durch  Druckstei¬ 
gerung  kompensiert  sind,  also  bei  den  als  parenchymatös 
bezeichneten  Formen,  unsere  Kur  eine  ganz  unsichere  W  ir¬ 
kung  hat  und  daher  nur  mit  Vorsicht  anzuwenden  wäre. 

Eine  zweite  Gruppe  von  zehn  Fällen  (7  Männer, 

3  Frauen)  zeigte  durchgehends  solche  Erscheinungen  am  Zir¬ 
kulationsapparat,  daß  eine  Schrumpf niere  evident  war; 
es  fand  sich  stets  ein  dauernd  stark  erhöhter  Blutdruck  von 
170  bis  220  mm  Hg  und  wenn  es  im  Laufe  der  Kur  auch 
öfter  vorkam,  daß  der  Druck  um  20  bis  30  mm  herabging, 
so  blieb  er  doch  immer  noch  über  170  mm1,  einer  Zahl,  von 
der  an  ja  fast,  mit  Sicherheit  interstitielle  Nierenverändenm- 
gen  angenommen  werden  können. 

Hypertrophie  des  linken  Ventrikels  fand  sich  regel¬ 
mäßig,  in  drei  Fällen  war  auch  eine  Hypertrophie  des  rech¬ 
ten  Ventrikels  deutlich  nachweisbar.  Mehrere  Male  bestand 
dabei  Arteriosklerose,  in  einigen  Fällen  ausgesprochene 
Herzinsuffizienz  mit  Zyanose,  Dyspnoe,  Leberschwellung 
und  Unterschenkelödemen. 

Eiweiß  und  Zylinder  waren  in  diesen  Fällen  in  mäßi¬ 
ger  Menge  vorhanden.  Das  Eiweiß  verschwand  im  Laufe 
der  Kur  bei  einem  F alle  (0-22ü/oo)  vollständig,  es  wurde  ver¬ 
mindert  in  sieben  Fällen,  nur  einmal  blieb  die  geringe 
Menge  von  0-07°/00  die  gleiche.  Auch  die  Zylindrurie  wurde 
im  allgemeinen  günstig  beeinflußt:  zweimal  verschwanden 
die  Zylinder  vollkommen,  in  vier  Fällen  konnten  später 
nur  wenige  und  die  günstigeren  Formen  nachgewiesen  wer¬ 
den,  viermal  blieb  der  Befund  ziemlich  der  gleiche. 

Das  durchgehends  stark  erhöhte  Körpergewicht  wurde 
durch  idie  Kur  entsprechend  herabgesetzt,  und  in  den  Fällen 
mit  Zirkulationsstörungen  gelang  es  regelmäßig,  diese  zum 
Rückgang  zu  bringen.  Während  der  Kur  wurde  die  Flüssig¬ 
keitsaufnahme  eingeschränkt,  natürlich  auch  das  Brunnen¬ 
trinken  auf  ein  Minimum  herabgesetzt  und  dabei  auf  eine 
sorgfältige  Entgasung  des  Mineralwassers  Gewicht  gelegt,2) 
um  die  drucksteigernde  Wirkung  der  Kohlensäure  möglichst 
auszuschalten.  Auch  bezüglich  der  Bewegung  wurde  hier 
sehr  vorsichtig  vorgegangen,  um  Ueberanstrengung  des 
Herzens  zu  vermeiden. 

Von  diesen  zehn  Fällen  von  Schrumpf  niere  sind  im 
letzten  Jahre  drei  gestorben,  soviel  in  Erfahrung  gebracht 
werden  konnte,  unter  den  Erscheinungen  zunehmender 
Herzschwäche. 

Eine  weitere  Gruppe  von  20  Fällen  (14  Männer, 
6  Frauen.)  zeigte  die  Eigentümlichkeit,  daß  außer  einer 
geringgradigen  Albuminurie  und  Zylindrurie  sonst  keinerlei 
Zeichen  für  das  Bestehen  einer  Nierenaffektion  aufzufinden 
waren.  Bei  den  Patienten,  welche  alle  dem  reiferen  Alter, 
über  45  Jahre,  angehörten,  war  aber  stets  Arterioskle¬ 
rose  deutlich  nachweisbar,  teils  an  den  peripheren  Ge¬ 
fäßen,  teils  an  der  Aorta  oder  beides  und  so  wurde  die 
Harnanomalie  auf  sklerotische  Veränderung  der  Nierenge¬ 
fäße  bezogen.  Es  handelte  sich  hier  um  die  „Altersniere“, 
die  ja  eine  in  mancher  Beziehung  eigenartige  Stellung  eiu- 
nimmt.  In  unseren  Fällen  war  es  offenbar  noch  nicht  zu 
den  schwereren  Veränderungen  der  arteriosklerotischen 
Schrumpfniere  gekommen,  woraus  sich  auch  das  recht 
günstige  Verhalten  des  Harnbefundes  während  der  Kur 
erklärt. 

Der  (Eiweißgehalt,  in  allen  Fällen  nur  sehr  gering,  ver¬ 
schwand  vollkommen  in  sieben  Fällen,  ging  zurück  bis 
auf  Spuren  in  neun  Fällen  und  blieb  nur  dreimal  unver¬ 
ändert.  Noch  günstiger  wurden  im  allgemeinen  die  Form- 
elemente  beeinflußt,^  indem  Zylinder  in  13  Fällen  zum 

2)  Pflanz,  Zur  Entgasung  von  Mineralwässern.  Balneologiscbe 
Zeitung  1907,  Nr.  2. 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Schlüsse  nicht  mehr  nachzuweisen  waren,  in  zwei  Fällen 
an  Stelle  von  Epithelialzylindern  nur  sehr  spärliche  granu¬ 
lierte  vorkamen  und  nur  in  vier  Fällen  die  Zylinder  in 
Form  und  Menge  unverändert  blieben. 

Die  BlutdruckverhäJ tnisse  waren  hier  in  mancher  Be¬ 
ziehung  bemerkenswert.  ' 

Die  frühere,  hauptsächlich  von  Hu  chard,  v.  Basch,  Ed- 
gren  vertretene  Ansicht,  daß  Arteriosklerose  stets  mit  Druck¬ 
erhöhung  verbunden  sei,  wurde  durch  Sawada,3)  Dunin4) 
und  andere  dahin  berichtigt,  daß  es  zahlreiche  Fälle  von  Arterio¬ 
sklerose  mit  normalem  Druck  gibt.  Bei  Arteriosklerosen,  die  mit 
Albuminurie  verlaufen,  also  unter  Erscheinungen,  die  auf  sklero¬ 
tische  Veränderungen  der  Viszeralgefäße  Hinweisen  (v.  Basch’ 
manifeste  Arteriosklerose),  sollte  aber  stets  Druckerhöhung  er¬ 
wartet  werden,  da  es  doch  in  erster  Linie  das  Splanehnikusgebiet 
ist,  welches  den  Druck  maßgebend  beeinflußt  (0.  Müller,5) 
Romberg6)  und  da  durch  die  exakten  Untersuchungen  von 
Hasenfeld7)  und  Hirsch8)  festgestellt  wurde,  daß  gerade  die 
Arteriosklerose  dieses  Gefäßgebietes  zur  Hypertrophie  des  linken 
Ventrikels  führt. 

Von  unseren  20  auf  Arteriosklerose  zu  beziehenden 
Albuminurien  hatten  sieben  Fälle  normalen  Blutdruck  (un¬ 
terhalb  140  mm  Hg)  und  13  Fälle  eine  mäßige  Drucker¬ 
höhung  (zwischen  140  bis  170  mm).  Von  diesen  letzteren 
ging  in  vier  Fällen  der  Druck  von  übernormalen  Werten 
auf  die  Norm  herab  (zweimal  von  170  auf  130  mm).  Für 
solche  Fälle  muß  wohl  angenommen  werden,  daß  die  an¬ 
fängliche  Drucksteigerung  nicht,  in  den  anatomischen  Ver¬ 
änderungen  der  Viszeralgefäße  begründet  war,  sondern  daß 
dabei  noch  funktionelle  Momente,  vor  allem  eine  Steigerung 
des  intraabdominellen  Druckes  durch  Meteorismus  (Ham¬ 
burger9),  Qurin10),  Stadler  und  Hirsch11)  eine  Rolle 
spielen,  die,  wie  sich  auch  sonst  bei  Hypertonien  recht 
oft  zeigt,  einer  therapeutischen  Beeinflussung  zugänglich 
sind. 

Außer  den  drei,  im  vorstehenden  angeführten  Gruppen 
umfaßt  meine  Kasuistik  von  Albuminurie  und  Zylindrurie 
noch  15  Fälle  (12  Männer,  3  Frauen),  welche  bezüglich 
ihrer  Deutung  Schwierigkeiten  verursachen,  da  für  die  Harn¬ 
anomalie  in  dem  übrigen  klinischen  Befund  kein  rechter 
Grund  ersichtlich  war.  Es  handelt  sich  durchaus  um  Per¬ 
sonen  von  mehr  als  40  Jahrein,  meist  mit  Fettleibigkeit, 
daneben  mehrfach  mit  rheumatischen  Affektionen,  die  in 
einigen  Fällen  als  gichtische  angesehen  wurden,  ohne  daß, 
wie  so  oft  bei  derartigen  Angaben,  sichere  Anhaltspunkte 
für  Gicht  Vorlagen.  Von  Arteriosklerose  Avar  hier  nichts 
nachweisbar,  der  Blutdruck  stets  normal,  mit  Ausnahme 
\Ton  zwei  Fällen,  bei  welchen  er  mäßig  erhöht  war,  während 
der  Kur  aber  auf  normale  Werte  herabging. 

Die  Albuminurie  war  nur  eine  geringe  und  verschwand 
mit  Ausnahme  von  drei  Fällen,  welche  zum  Schlüsse  noch 
geringe  Spuren  zeigten,  vollständig.  Von  Zylindern,  anfäng¬ 
lich  meist  granulierte,  öfter  auch  epitheliale,  Avar  am  Ende 
der  Kur  in  keinem  einzigen  Falle  mehr  etvvas  nachweisbar. 

Es  ergab  sich  also  bei  dieser  Gruppe  ein  ganz  beson¬ 
ders  günstiges  Resultat  u.  zw.,  wie  hervorgehoben  werden 
muß,  bei  einer  durchaus  nicht  auf  Nierenschonung  abzie¬ 

3)  Sawada,  Blutdruckmessungen  bei  Arteriosklerose.  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1904,  Nr.  12. 

4)  Dunin,  Der  Blutdruck  im  Verlaufe  der  Arteriosklerose.  Zeit¬ 

schrift  für  klin.  Medizin,  Bd.  54. 

6)  Otfried  Müller,  Beiträge  zur  Kreislaufphysiologie  des  Menschen, 
tolkmanns  Sammlung  klin.  Vorträge,  Nr.  606/608.  N.F. 

6)  Romberg,  Die  Rolle  der  Gefäße  bei  inneren  Krankheiten, 
lolkmanns  Sammlung  klin.  Vorträge,  Nr.  552,  N.F. 

7)  A.  Hasenfeld,  Ueber  die  Herzhypertrophie  bei  Arteriosklerose. 
Deutsches  Archiv  für  klin.  Medizin,  Bd.  59. 

8)  G.  Hirsch,  Ueber  die  Beziehungen  zwischen  dem  Herzmuskel 
und  der  Körpermuskulatur.  Deutsches  Archiv  für  klin.  Medizin,  Bd.  68. 

9)  H.  J.  Hamburger,  Ueber  den  Einfluß  des  intraabdominellen 
Druckes  auf  dem  allgemeinen  arteriellen  Blutdruck.  Archiv  für  Physio¬ 
logie  1896. 

10)  A.  Qurin,  Ueber  das  Verhalten  des  normalen  und  patho¬ 

logisch  gesteigerten  intraabdominalen  Druckes  und  seine  Rückwirkung 

auf  die  arterielle  Blutzirkulation.  Deutsches  Archiv  für  klin.  Medizin,  Bd.  71. 

-  u)  E.  Stadler  und  G.  Hirsch,  Meteorismus  und  Kreislauf. 
Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Chirurgie,  Bd.  15. 


347 


lenden  Diät.  Um  der  Indikation,  welche  in  diesen  Fällen 
für  eine  Kur  in  Marienbad  als  fast  allein  maßgebend  ange¬ 
sehen  Avorden  Avar,  der  Entfettung,  gerecht  zu  werden, 
wurden  die  Kohlehydrate  und  Fette  stark  reduziert,  wo¬ 
durch  naturgemäß  die  Fleischnahrung  mehr  in  den  Vorder¬ 
grund  Bat..  Auch  der  Alkohol  konnte  meist  nicht  ganz  abge¬ 
stellt,  sondern  höchstens  nur  eingeschränkt  werden. 

Der  Mangel  aller  für  ein  Nierenleiden  disponierenden 
Momente  bei  einer  allerdings  etwas  zu  luxuriösen  Lebens¬ 
weise,  das  gänzliche  Fehlen  sonstiger  für  Nephritis  und 
Arteriosklerose  bezeichnender  Symptome  und  endlich  das 
rasche  und  fast  vollständige  VerschAvinden  von  Eiweiß  und 
Zylindern  bei  der  Kur  ist  für  diese,  anscheinend  recht  oft 
Arorkommenden  Fälle  charakteristisch.  Daß  es  sich  dabei 
doch  schon  um  die  ersten  Anfänge  einer  echten  Nephritis 
oder  einer  Viszerialsklerose  handelt,  ist  nicht  auszuschließen. 
Darin  aber,  daß  derartige  Fälle  so  leicht  beeinflußbar  sind 
und,  wie  gelegentlich  beobachtet  werden  konnte,  inner¬ 
halb  mehrerer  Jahre  kaum  merkbare  Verschlimmerungen 
erfahren  —  es  wurden  gerade  auch  hier  öfter  Zylinder  ge¬ 
funden,  längere  Zeit,  bevor  es  zur  Albuminurie  kam  — 
zeigt  sich  der  relativ  benigne  Charakter  der  Harnanomalie. 
Es  sind  dies  jene  Formen,  welche  von  Für  bring  er12) 
als  Nephrites  chronica  levis  oder  superficialis  bezeichnet 
und  im  Gegensatz  zu  den  klinisch  und  anatomisch  schwe¬ 
reren  und  tiefgreifenden  Formen  der  Brightschen  Krank¬ 
heit,  bzw.  der  Schrumpfniere  gestellt  wurden. 

Fassen  wir  die  an  unseren  Fällen  von  Albuminurie 
und  Zylindrurie  gemachten  Erfahrungen  bezüglich  ihres  Ver¬ 
haltens  während  der  Kur  zusammen,  so  ergeben  sich  ZAvi- 
schen  den  einzelnen  Gruppen  von  Nierenaffektionen  be¬ 
trächtliche  Differenzen.  Die  folgende  Tabelle  gibt  eine 
Uebersicht,  Avie  Eiweiß  und  Zylinder  am  Ende  der  Kur 
gegen  den  Anfang  sich  verändert  haben.13) 


Albumen 

Zylinder 

nicht 

vor¬ 

handen 

ver¬ 

mindert 

gleich 

ge¬ 

blieben 

ver¬ 

mehrt 

nicht 

vor¬ 

handen 

ver¬ 

mindert 

gleich 

ge¬ 

blieben 

ver¬ 

mehrt 

Nephritis 

parench. 

— 

4 

3 

l 

2 

3 

3 

Nephritis 

interstit. 

l 

7 

1 

— 

2 

4 

4 

Arterio¬ 

sklerose 

7 

9 

3 

— 

13 

2 

4 

Nephritis 
levis  (Für- 
bringer) 

11 

3 

— 

— 

14 

— 

— 

Summe  . 

19 

23 

7 

1  31 

6 

11  3 

Am  wenigsten  günstig  wurde  die  Albuminurie  und 
Zylindrurie  bei  den  als  parenchymlatöse  Nephritis  zu  bezeich¬ 
nenden  Formen  beeinflußt,  besser  bei  interstitieller  Nephri¬ 
tis,  recht  gut  die  auf  Arteriosklerose  zu  beziehenden  For¬ 
men  und  sehr  günstig  die  im  übrigen  symptomlos  verlaufen¬ 
den  Albuminurien  und  Zylindrurien. 

Fragen  Avir  uns  nun,  welche  Faktoren  bei  unserer 
Kur  für  diese  relativ  günstigen  Resultate  in  Betracht  kom¬ 
men,  so  können  äußerliche  Einflüsse,  Avie  die  klimatischen 
Verhältnisse,  ganz  außer  acht  gelassen  werden,  ebenso  die 
Badeanwendungen,  da  die  verschiedenartigsten  Bäder  (Koh¬ 
lensäure-,  Moor-,  Kaltwasser-,  Dampf-,  elektrische  Lichtbä¬ 
der)  gebraucht,  von  (mehreren  Personen  aber  überhaupt  keine 
Bäder  genommen  wurden.  Wie  schon  erwähnt  wurde,  ver¬ 
lief  die  Harnanomalie  auch  in  weiten  Grenzen  unab¬ 
hängig  von  diätetischen  Maßnahmen.  Es  bleibt  also  nur 
die  Trinkkur  u.  zw.  wie  sich  zeigen  wird,  in  einer  bestimm¬ 
ten  Form,  welcher  eine  solche  Wirkung  zuzuschreiben  ist. 

'()  Fürbringer,  Die  Prognose  der  Albuminurie  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Versicherungsmedizin.  Deutsche  med.  Wochenschr. 
1909,  Nr.  47. 

13)  Die  Zahlen  stimmen  hier  zwischen  den  einzelnen  Rubriken 
und  mit  den  im  Text  angeführten  nicht  immer  überein,  weil  einige 
Fälle  nur  Eiweiß  und  keine  Zylinder  hatten  oder  umgekehrt. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


348 


fa  dieser  Richtung  stehen  unsere  Erfahrungen  auch  im 
Einklang  mit  den  Ergebnissen  einiger  neuerer  Arbeiten  der 
Stoffwechselpatholögie  und  finden  damit  eine  plausible  Er¬ 
klärung. 

Daß  die  Alkalien,  welche  wir  in  unseren  Wässern 
einführen  —  unsere  Patienten  tranken  den  alkalisch-sali- 
nischen  Kreuz-  und  Ferdinandsbrunnen,  die  meisten  auch 
die  erdalkalische  Rudolfsquelle  —  dabei  das  eigentlich 
Wirksame  dars’tellen,  erscheint  zum  mindesten  zweifelhaft, 
v.  Hoesslin14)  hat  mehrfach  einen  Zusammenhang  zwi¬ 
schen  dem  Säuregrad  des  Harns  und  der  Albuminurie  be¬ 
obachtet  und  darauf  eine  Behandlungsmethode  durch  Alkali- 
zufuhr  angegeben.  Wir  konnten  in  unseren  Fällen  ein  sol¬ 
ches  Verhältnis  von  Harnazidität  und  Albuminurie  durch¬ 
aus  nicht  konstatieren,  sondern  es  zeigte  sich,  daß  letztere 
ganz  unabhängig  vom  Säuregrad  des  Harns  verlief.  Direkt 
gegen  einen  solchen  Zusammenhang  scheinen  jene,  aller¬ 
dings  wenigen  Fälle  zu  sprechen,  bei  welchen  die  erdalka¬ 
lische  Rudolfsquelle  allein  getrunken  wurde.  Hier  blieb 
der  Eiweißgehalt  (04°/0q  und  OT5,0/oo)  und  auch  der  Ge¬ 
lullt.  an  granulierten  Zylindern  genau  der  gleiche. 

Von  diesen  beiden  Fällen  abgesehen,  haben  aber  alle 
übrigen  Patienten  auch  unsere  Sulfatwässer  (Kreuz-  und 
f  ordin andsbrunnen)  getrunken,  sei  es  zur  Unterstützung 
der  Entfettung  oder  wegen  vorliegender  Obstipation  oder 
ans  anderen  unabweislichen  Gründen.  Die  Tatsache  nun, 
daß  die  günstigen  Harnbefunde  sich  beim  Gebrauche  der 
Glaubersalzquellen  einstellen,  lassem  erkennen,  daß  deren 
in  erster  Linie  auf  den  Darm  gerichtete  Wirkung  indirekt 
auch  der  Niere  zugute  kommt. 

Soweit  es  sich  dabei  um  die  Beseitigung  einer  Obsti¬ 
pation  handelte,  könnte  man  geneigt  sein,  diese  Fälle  als 
weiteren  Beleg  für  die  von  verschiedenen  Seiten  beschrie¬ 
benen  Beziehungen  zwischen  Koprostase  und  Albuminurie 
aufzufassen. 

Ko  bl' er15)  beschrieb  zuerst  das  Vorkommen  von  Eiweiß 
und  Zylindern  bei  Koprostase  und  ihr  Verschwinden  bei  Rege¬ 
lung  des  Stuhles,  Ebstein16)  und  andere1')  fanden  das  gleiche, 
tierexperimentelle  Arbeiten  darüber  liegen  vor  von  Waller¬ 
stein18)  und  Raubitschek.19) 

Unter  unseren  53  Albuminurikern  befanden  sich  22 
Obstipierte,  23  mit  normalen  Stuhlverhältnissen  und  8  mit 
Diarrhöen-  und  es  zeigte  sich,  daß  der  günstige  Einfluß  des 
Sulfatwassers  auf  die  Albuminurie  und  Zylindrurie  ganz  un¬ 
abhängig  davon  eintrat,  ob  die  Stuhlentleerung  vorher  eine 
reguläre  oder  in  irgend  einer  Weise  gestört  gewesen  war. 

Auch  der  Gehalt  an  Indikan,  dessen  Verminderung 
bei  Stuhlregelung  als  hauptsächlichster  Beweis  für  einenZu- 
saminenhang  zwischen  Albuminurie  und  bei  Verstopfung  im 
Darm  sich  abspielender,  nierenschädigender  Fäulnisprozesse 
angesehen  wurde,  bewegte  sich  in  unseren  Fällen  durchaus 
nicht  jm'mer  im  gleichen  Sinne  wie  die  Albuminurie,  es  kam 
recht  oft  zum  Rückgang  oder  Verschwinden  von  Eiweiß  und 
Zylindern,  auch  wenn  das  Indikan  gleich  geblieben  war  oder 
sogar  vermehrt  gefunden  wurde. 

Es  liegt  auch  sonst  kein  positiver  Anhalt  vor,  in  un¬ 
seren  Fällen  die  günstige  Beeinflussung  des  Harnbefundes 
durch  die  Beseitigung  einer  intestinalen  Autointoxikation 
allein  zu  erklären,  wenn  auch  nicht  von  der  Hand  zu 
weisen  ist,  daß  dieses  Moment  gelegentlich  mit  eine  Rolle 
gespielt  haben  mag.  Es  ist  vielmehr  anzunehmen,  daß  der 
Vorgang  in  der  Hauptsache  ein  anderer  ist  und  wir  kommen 
auch  zu  einer  auf  alle  Fälle  passenden  Erklärung  für  die 
Wirkung  der  Glaubersalzwässer  auf  die  Albuminurie  und 
Zylindrurie,  wenn  wir  folgendes  berücksichtigen: 

u)  v.  Hoesslin,  Lieber  die  Abhängigkeit  der  Albuminurie  vom 
Säuregehalt  des  Urins.  -Münchener  med.  Wochenschr.  1909,  Nr.  33. 

l5)  G.  Kohle  r,  lieber  Nierenerscheinungen  bei  Obstipation  und 
Darmkoliken.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1898,  Nr.  20. 

le)  W.  Ebstein,  Die  chronische  Stuhlverstopfung.  Stuttgart  1901. 

17)  Literatur  bei  Ko  bl  er.  Wiener  klin.  Rundschau  1910,  Nr.  15. 

18)  P.  S.  Wall  erste  in,  Experimentelle  Untersuchungen  über 
die  Entstehung  der  Harnzytinder.  Zeitschr.  für  klin.  Medizin,  Bd.  58. 

lö)  Raubitschek,  Zur  Kenntnis  der  Obstipations-Albuminurie, 
Berliner  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  47. 


v.  No orden20)  und  Ritter  fanden  bei  Nephritiden 
zeitweise  abnorm  hohe  Stickstoffzahlen  im  Kote,  unabhängig 
von  der  Nahrung,  so  daß  anzunehmen  war,  daß  es  sich 
dabei  um  eine  vikariierende  Abscheidung  von  gestauten 
Stoffwechselschlacken  handelte.  Uebereinstimmende  Befunde 
wurden  in  der  Folgezeit  von  zahlreichen  Autoren  erhoben. 
Bei  diarrhoischen  Entleerungen  fand  v.  Noorden  die  höch¬ 
sten  Werte  und  wies  nach,  daß  in  diesen  Fällen  die  Aus¬ 
fuhr  .von  Ammoniaksalzen  eine  wesentliche  Rolle  bei  der 
Vermehrung  des  Kotstickstoffes  spielt.  Rudinger21)  wies 
nach,  daß  unter  dem  Einflüsse  von  Laxantien  (Decoct. 
Sennao  und  Apentawasser)  die  Stickstoffausscheidung  stark 
ansteigt  und  daß  das  Verhältnis  von  N:N(NH3)  sich  durch¬ 
wegs  zugunsten  des  letzteren  ändert,  worin  deutlich  zum 
Ausdruck  kommt,  daß  die  Fähigkeit  des  Darmes,  Eiwei߬ 
sehlacken  auszuscheiden,  steigerungsfähig  sei  und  eben  des¬ 
halb  berufen  sein  kann,  das  erkrankte  zweite  Ausschei¬ 
dungsorgan,  die  Niere,  zu  entlasten. 

Durch  diese  Untersuchungen  ist  exakt  nachgewiesen, 
daß  der  Darm  durch  Abführmittel  zu  einer  besonderen,  sonst 
der  Niere  zufallenden  sekretorischen  Tätigkeit  angeregt  und 
so  veranlaßt  werden  kann,  einen  Teil  der  Nierenarbeit  zu 
übernehmen. 

Unter  den  Mitteln,  welche  zu  diesem  Zweck  heran¬ 
gezogen  werden  können,  dürften  sich  die  Mittelsalze  be¬ 
sonders  eignen,  da  ihr  mäßiger  längerer  Gebrauch  keine 
üblen  Folgen  hat  und  da  sie  auch  eine  krankhaft  verän¬ 
derte  Darmschleimhaut  meist  günstig  beeinflussen  und  da 
mil  wohl  eher  zu  dieser  vikariierenden  Tätigkeit  befähigen. 

Es  liegt  nahe,  anzunehmen,  daß  die  durch  „Ableitung 
auf  den  Darm“  ermöglichte  Schonung  der  Niere  auch  in 
einer  Herabminderung  der  Albuminurie  und  Zylindrurie 
ihren  Ausdruck  findet.  Und  wenn  wir  im  Sinne  v.  Noor¬ 
dens  auch  sehr  vorsichtig  darin  sein  müssen,  die  Inten¬ 
sität  der  Albuminurie  als  Maßstab  für  die  Schwere  des 
Krankheitszustandes  zu  betrachten,22)  so  glauben  wir  in 
diesem  Zusammenhang  und  vor  allem  bei  der  in  den 
meisten  Fällen  evidenten  Besserung  des  sonstigen  klinischen 
Befundes  und  des  subjektiven  Befindens,  auch  auf  eine 
wenigstens  zeitweise  eintretende  Besserung  des  Nierenpro¬ 
zesses  selbst  schließen  zu  können. 

Kasuistische  Beiträge  zum  Morbus  Banti. 

Von  Dr.  Karl  Ungar,  Prosektor  in  Hermannstadt  (Ungarn). 

Das  interessante  Krankheitsbild,  dessen  Name  auch  heute 
noch  den  Mangel  des  Verständnisses  seiner  Entstehung  und  Be¬ 
deutung  erkennen  läßt,  ist  in  dem  letzten  Jahrzehnt  Gegenstand 
fleißigen  Studiums  gewesen  und  hat  eine  Fülle  von  Beobachtungen 
geliefert,  die  hoffentlich  in  nicht  allzu  ferner  Zukunft  die  Lösung 
des  Problems  nach  dem  Wesen  der  Krankheit  ermöglichen  werden. 
Und  da  es  notwendig  und  nützlich  sein  dürfte,  möglichst  viele 
und  eingehend  studierte  Fälle  zu  sammeln,  damit  die  Zukunft 
durch  Verarbeitung  des  angesammelten  Materiales  eine  Klärung 
der  heute  noch  einander  widersprechenden  Anschauungen  bringen 
könne,  seien  im  folgenden  drei  einschlägige  Fälle  beschrieben, 
die  in  ihrer  Symptomatologie  und  ihrem  Verlauf  als  echte  Er¬ 
krankungen  im  Sinne  B  antis  erkannt  worden  sind,  wenn  auch 
ihre  Analysierung  gegenüber  den  bisherigen  Kenntnissen  keine 
wesentlich  neuen  Gesichtspunkte  hinzuzufügen  vermag. 

Die  Literatur  der  fraglichen  Krankheit  ist  in  der  letzten 
Zeit  sehr  angeschwollen ;  ihr  Studium  bietet  eine  Fülle  des  In¬ 
teressanten  und  Lehrreichen  und  offenbart  den  Fortschritt,  der 
von  den  ersten  Publikationen  B  antis  und  den  Arbeiten  von 
Senator,  Chiari  und  Umber  bis  zu  den  neuesten  Veröffent¬ 
lichungen  von  A 1  b  u,  Edens,  Thiel,  Einhorn,  Jaffe, 
Storp,  P  a  u  1  i  c  e  k,  Müller,  M  o  m  m  u.  a.  getan  worden  ist. 
Freilich  scheint  der  Symtomenkomplex  des  echten  Morbus 
Banti,  der  kurz  wiederholt  in  einer  im  Vordergrund  des  Krank¬ 
heitsbildes  stehenden  Milzschwellung  besteht,  zu  der  sich  eine 
eigenartige  Veränderung  des  Blutes  und  eine  langsam  fort- 

2")  v.  Noorden,  Handbuch  der  Pathologie  des  Stoffwechsels.  Bel.  1. 

2|)  C.  Rudinger,  Zur  Frage  der  vikariierenden  Tätigkeit  des 
Darmes  bei  Nephritis.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1908.  Nr.  14. 

2ä)  v.  No  or  den.  !.  c.,  S.  1015. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


schreitende  bindegewebige  Entartung  der  Leber  mit  ihren  Folge¬ 
zuständen  gesellt,  dieser  Symptomenkomplex  erscheint  nicht  in 
allen  mitgeteilten  Fällen  klar  und  deutlich  ausgesprochen  und 
man  geht  wohl  nicht  fehl,  wenn  man  annimmt,  daß  einerseits 
auch  nicht  hierher  gehörige  Fälle  unter  der  Flagge  B  a  n  t  i  s  ge¬ 
segelt,  andererseits  echte  Banti-Fälle  andersartig  gedeutet  worden 
sind.  Ich  erinnere  mich,  daß  in  früheren  Jahren  zahlreiche  Fälle 
von  chronischen  Milzschwellungen  mit  hochgradiger  Anämie  und 
Aszites  in  dem  Franz-Josephspitale  in  Hermannstadt  aufgenom¬ 
men  und  als  Malariakachexien  gedeutet  worden  sind,  ohne  daß 
ein  diesbezüglicher  Blutbefund  oder  die  eingeleitete  Chinin-Arsenik¬ 
therapie  eine  Bekräftigung  dieser  Annahme  gebracht  hätte  und 
so  erscheint  mir  auch  die  Behauptung  B  o  s  k  o  v  s  k  y  s  -  Tiflis 
daß  die  Aetiologie  des  Morbus  Banti  durch  die  Malaria  bedingt 
sei,  wenig  wahrscheinlich. 

In  dem  Sammelreferate  Albus  in  der  „Deutschen  medi¬ 
zinischen  Wochenschrift“  vom  Jahre  1904  wurde  noch  der  Nach¬ 
weis  zu  führen  versucht,  daß  der  Morbus  Banti  gar  keine 
selbständige  Krankheit,  sondern  nur  eine  ganz  gewöhnliche 
Leberzirrhose  sei  und  daß  die  Ausbildung  eines  so  beträcht¬ 
lichen  Milztumors  bei  der  Leberzirrhose  ein  Initialsymptom  sei, 
primär  bedingt  durch  die  supponierte  infektiöse  oder  toxische 
Noxe  —  Alkohol,  Syphilis,  Malaria  —  Beweis  dessen  die  Endo- 
und  Thrombophlebitis  der  Milzvene.  Indessen  haben  gerade  die 
letzten  Jahre  eine  reiche  Zahl  von  gutbeobachteten,  in  ihren 
Grundzügen  völlig  übereinstimmenden  Fällen  gebracht  und  sind 
auf  Grund  von  klinischen,  anatomischen  und  histologischen  Unter¬ 
suchungen,  Blut-  und  Stoffwechselbefunden  so  klare  und  ein¬ 
deutige  Umrisse  und  Paradigmen  dieser  Erkrankung  geschaffen 
worden  —  ich  hebe  nur  als  Beispiel  die  vorzügliche  Arbeit  von 
Paulicek  aus  der  Innsbrucker  medizinischen  Klinik  in  der 
Nummer  46  dieser  Wochenschrift  vom  Jahre  1908  hervor  —  daß 
wir  mit  Fug  und  Recht  den  Morbus  Banti  als  eine  Krankheit 
sui  generis  auffassen  müssen,  zu  deren  völligem  Verständnis  eben 
nur  noch  die  Kenntnis  der  auslösenden  Ursache  oder  Ursachen 
fehlt.  Uebrigens  mangelt  es  auch  in  dieser  Hinsicht  nicht  an 
Hinweisen,  die  aber  bis  noch  nur  die  Bedeutung  von  Hypothesen 
haben  und  dürfte  wohl  die  Anschauung  die  größte  Wahrschein¬ 
lichkeit  für  sich  haben,  daß  chronische  Autointoxikationen  vom 
Darme  aus  dabei  vorwiegend  eine  Rolle  spielen. 

Gegen  die  Auffassung,  daß  die  Leberzirrhose  das  primäre, 
die  Milzvergrößerung  ihre  Konsequenz  sei,  spricht  eine  Reihe  von 
schwerwiegenden  Tatsachen,  von  denen  schon  bisher  bekannt 
war,  daß  der  Milztumor  zeitlich  zuerst  da  ist,  bevor  eine  Ver¬ 
änderung  der  Leber  nachweisbar  ist.  daß  der  Milztumor  größer 
ist,  als  er  gemeiniglich  bei  der  Laen  ne  eschen  Zirrhose  ge¬ 
funden  wird,  daß  die  interstitiellen  Veränderungen  der  Leber  ge¬ 
ringgradiger  sind,  obwohl  Aszites  und  Kachexie  schon  leben¬ 
bedrohende  Fortschritte  gemacht  haben  und  endlich,  daß  eine 
Heilung  des  Morbus  Banti  durch  die  Entfernung  der  Milz  er¬ 
zielt  wurde,  was  wohl  bei  der  echten  Leberzirrhose  noch  nicht 
beobachtet  worden  ist.  Ich  möchte  zu  diesen  Argumenten  noch 
hinzufügen,  daß  in  unseren  Gegenden  die  Krankheit  nur  bei 
Frauen  beobachtet  wurde,  bei  denen  weder  anamnestisch,  noch 
durch  die  Beobachtung  der  Verdacht  des  Alcoholismus  chronicus 
irgendwie  gerechtfertigt  gewesen  wäre. 

Im  folgenden  seien  drei  Fälle  kurz  beschrieben  : 

Fall  I:  Anna  S.,  54  Jahre  alt,  aufgenommen  am  7.  De¬ 
zember  1909.  Letzte  Menses  vor  8  Jahren  ;  5  Geburten,  3  Kinder 
leben.  Seit  7  bis  8  Jahren  krank,  anfangs  mit  Husten  und  Brust¬ 
beschwerden,  in  den  letzten  4  Monaten  Anschwellung  des  Bauches 
und  der  Beine,  starke  ziehende  und  drückende  Schmerzen 
in  der  linken  Oberbauchgegend,  Potus  und  Lues  in  Abrede 
gestellt. 

Status  praesens:  Klein,  grazil,  mager,  Haut  trocken, 
gelblichblaß;  Schleimhäute  blutleer;  Temperatur  36'4  bis  37'3°C. 
Puls  klein,  weich,  regelmäßig ;  Atmung  dyspnoisch,  Lungengrenzen 
hochstehend,  Herztöne  rein,  Abdomen  aufgetrieben,  fluktuierend. 
Oedem  der  U.  E. ;  im  Harn  Spuren  von  Eiweiß,  kein  Zucker, 
'•'creinzelte  hyaline  Zylinder. 

Am  8.  Dezember  Punktion  des  Abdomens ;  es  werden 
14  Liter  trüber,  gelblicher,  eiweißreicher  Flüssigkeit  entleert.  Die 
"’ich  anschließende  Palpation  läßt  erkennen,  daß  die  Leber  ver¬ 
kleinert  und  härter  ist  und  daß  die  ganze  linke  Oberbauchgegend 
von  einem  ca.  20  cm  langen,  harten,  glatten,  beweglichen,  etwas 
empfindlichen  Milztumor  eingenommen  ist,  dessen  Rand  scharf, 
glatt  und  hart  ist. 

Die  jetzt  erst  vorgenommene  Blutuntersuchung  ergibt : 
Hämoglobin  50%  (Fleischl),  Zahl  der  Erythrozyten  4'0  Mil¬ 
lionen,  die  der  Leukozyten  2800 ;  darunter 


neutrophile,  polymorphkernige  .  .  75% 

Eosinophile . o% 

Lymphozyten . 8% 

große  mononukleäre . 17% 


Die  Erythrozyten  sind  von  ungleicher  Gestalt  und  Färb¬ 
barkeit. 

Die  vorgeschrittene  Kachexie  ließ  eine  Operation  nicht  rat¬ 
sam  erscheinen,  indessen  drängte  die  Patientin  und  wollte  selbst 
einen  ihr  vorgehaltenen  üblen  Ausgang  lieber  mit  in  den  Kauf 
nehmen,  als  die  Verlängerung  des  bisherigen  qualvollen  Lebens 
und  so  entschloß  man  sich,  da  auch  Heilungen  des  Morbus 
Banti  im  dritten  Stadium  berichtet  worden  sind,  zur  Splenek- 
tomie. 

Am  14.  Dezember  Laparotomie  (Primarius  Dr.  W.  Otto). 
18  cm  langer  Schnitt  in  der  Medianlinie;  nach  Entleerung  von 
6  bis  8  Liter  Flüssigkeit  wird  die  Leber  besichtigt,  die  klein, 
hart,  braunrot,  mit  runzeliger,  höckeriger  Oberfläche  an  zwei  Stellen 
mit  tiefer  Einziehung  und  weißlicher  Verdickung  der  Kapsel  er¬ 
scheint.  Die  Milz  wird  ohne  Mühe  aus  ihrer  Nische  herausgewälzt, 
das  Ligamentum  gastrolienale  samt  den  Gefäßen  unterbunden ; 
die  Arterie  klafft  weit,  ihre  Intima  ist  glatt,  die  Vene  stark  ge¬ 
schlängelt,  stellenweise  erweitert,  an  ihrer  Innenwand,  besonders 
an  den  Abgangsstellen  von  Seitenästen,  strahlig  weiß-sehnig- 
glänzend.  Die  Milzkapsel  ist  nicht  verdickt,  frei.  Gewicht  der 
Milz  1000  g,  Länge  21  cm,  Breite  12  cm,  Dicke  3'5  cm;  Kon¬ 
sistenz  vermehrt,  Aussehen  fleischig,  rotbraun,  sehr  blutreich  ; 
auf  dem  Durchschnitt  erscheinen  die  Gefäßlumina  erweitert,  die 
M  a  lp  i  g  h  i  sehen  Körperchen  wenig  hervortretend. 

Nach  Entfernung  der  Milz  Tamponade  und  Drainage  nach 
hinten.  Das  Netz  wird  nach  Talma  in  der  Bauchwunde  fixiert, 
letztere  durch  drei  Etagennähte  geschlossen. 

Während  am  Abend  das  Befinden  der  Kranken  ein  leidlich 
gutes  ist,  tritt  nachts  plötzlich  Herzschwäche  ein,  die  trotz 
aller  üblichen  Maßnahmen  in  kurzer  Zeit  zum  Tode  führt. 

Aus  dem  Obduktionsbefund  sei  mit  Weglassung  der  neben¬ 
sächlichen  Bemerkungen  folgendes  hervorgehoben : 

Die  Lymphdrüsen  des  Halses,  ebenso  die  mediastinalen 
und  retroperitonealen  Lymphdrüsen  sind  etwas  vergrößert,  kirsch- 
bis  nußgroß,  dunkelbraunrot,  fleckig.  Die  rechte  Lunge  ist  durch 
harte,  weiß-sehnig-glänzende  Schwielen,  die  hinten  unten  noch 
durch  Einlagerung  handbreiter,  2  bis  5  mm  dicker,  knochenharter 
Platten  verstärkt  sind,  an  den  Thorax  fest  fixiert.  Fettige  De¬ 
generation  des  Herzfleisches.  Leber  verkleinert,  27Xl4X3'5  cm, 
Gewicht  800  g,  Konsistenz  matsch,  Oberfläche  faltig-runzelig, 
stellenweise  wie  narbig  eingezogen.  Zwischen  den  Einziehungen 
gelbbraune,  vorquellende,  höckerige  Inseln  mit  deutlicher  azinöser 
Struktur  und  erweitertem  Zentralgefäß.  Gallenblase  ohne  Ab¬ 
normität.  Därme  trüb,  mit  leichten  Fibrinniederschlägen  bedeckt, 
Mukosa  schiefergrau  gefleckt.  Pankreas  klein,  schlaff,  gelblich. 
Nieren  parenchymatös  degeneriert.  Aorta  vom  Ursprung  bis  zur 
Teilung  in  die  Iliacae  glatt,  Kava  und  Vena  portae  ohne  Ver¬ 
änderung  der  Intyna.  Knochenmark  gelblich,  zerfließlich  ;  zwischen 
Uterus  und  Rektum  eine  zwei  cm  dicke,  weiße,  harte  Schwiele. 
Die  histologische  Untersuchung  der  Organe  ergibt  folgenden 
Befund  : 

Milz.  Das  von  der  Milzkapsel  eindringende  sowie  das  die 
Gefäße  begleitende  Bindegewebe  ist  bedeutend  vermehrt;  die 
Fasern  des  reticulum  verbreitert  (v.  G  i  e  s  0  n  färbung),  verein¬ 
zelte  infarktähnliche  Herde,  in  denen  neben  faserigem  zellreichen 
Bindegewebe  Reste  von  schwach  färbbaren  Lymphoidzellen  und 
Pigmentschollen  sich  vorfinden.  Die  Gefäßwände  verdickt,  das 
Lumen  verengt;  die  Follikel  klein,  gering  an  Zahl,  weit  aus¬ 
einanderliegend,  die  Papillarräume  eng,  zusammengedrängt,  wenig 
rote  Blutkörperchen  enthaltend. 

Leber.  In  den  narbig  eingezogenen  Partien  ist  das  Binde¬ 
gewebe  vermehrt,  kernreich,  fibrillär,  zuweilen  an  Granulations¬ 
gewebe  erinnernd,  die  Blutgefäße  und  Gallengänge  erweitert, 
Acini  verkleinert,  deformiert,  oft  nur  in  Inseln  erhalten,  oder 
ganz  verschwunden.  Dieser  Zustand  steigert  sich  noch  in  den 
als  Schwielenbildung  makroskopisch  erscheinenden  Stellen,  wo 
nur  kleinzellig  infiltriertes,  faseriges  Bindegewebe  mit  Rudi¬ 
menten  von  Acini  und  Pigmentschollen  vorhanden  sind.  Diese 
degenerierten  Partien  gehen  ohne  scharfe  Grenze  in  anscheinend 
hypertrophisches  Lebergewebe  über,  das  große  Acini  mit  breiten 
Zellbalken,  erweitertem  Zentralgefäß  und  weiten  Leberkapillaren 
aufweist.  Um  die  Zentralvene  werden  übrigens  die  Leberzellen¬ 
balken  dünner,  heller  und  die  Zellen  nehmen  Fett  auf. 

Fall  II.  Anna  D.,  50  Jahre  alt.  Acht  normale  Entbindungen, 
letzte  vor  fünf  Jahren,  dabei  verlor  sie  viel  Blut ;  leidet  viel  an 
Nasenbluten.  Keine  Belastung  nachweisbar.  März  1909  mil 


350 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  .1911. 


Nr.  10 


Fieber  (?)  erkrankt;  seither  abwechselnd  Hitze-  und  Kältegefühl, 
Magenbeschwerden,  kein  Alkoholismus,  keine  Lues. 

Status  praesens  (9.  November  1909):  Temperatur  37, 
Gewicht  47  kg ;  klein,  mager,  gelblichblaß ;  Drüsen  nicht  ver¬ 
größert,  Lungen  und  Herz  ohne. Befund.  Abdomen  aufgetrieben, 
keine  freie  Flüssigkeit.  In  der  Milzgegend  ein  von  der  sechsten 
Rippe  in  der  Axillaris  bis  zum  Nabel  und  fast  bis  zur  Spina 
anterior  superior  reichender,  harter,  glatter,  etwas  empfindlicher 
Tumor  mit  scharfem  Rand.  Die  Leber  überschreitet  den  Rippen¬ 
bogen  in  der  Mamillarlinie,  ist  härter  als  normal,  glatt,  empfindlich. 

Genitalien  ohne  Befund,  Sternum  und  Röhrenknochen 
nicht  empfindlich;  keine  Zeichen  von  Rhachitis;  im  Harn  kein 
Eiweiß,  kein  Zucker,  vereinzelte  hyaline  Zylinder. 

Blut:  Hämoglobin  (Fleischl)  55°/o,  rote  Blutkörperchen 
4,000.000,  weiße  Blutkörperchen  2800 ;  die  mononukleären  relativ 
vermehrt ;  es  besteht  Anisozytose,  Anisochromose,  keine  Ver¬ 
mehrung  der  Blutplättchen.  Am  10.  November  wird  eine  Röntgen¬ 
bestrahlung  mit  mittelharter  Röhre  von  fünf  Minuten  Dauer 
vorgenommen.  Am  12.  November  ist  die  Zahl  der  Leukozyten 
auf  1800  gesunken. 

Von  Malariaparasiten  im  Blut  keine  Spur,  niemals  Temperatur¬ 
steigerung.  Patientin  wird  über  ihren  Wunsch  nach  Hause  ent¬ 
lassen,  wo  sie  eine  Arsenikkur  durchmacht.  Im  März  1910  neuer¬ 
liche  Aufnahme  wegen  profuser  Magenblutungen;  der  objektive 
Befund  noch  viel  schlechter;  Aszites  mäßigen  Grades,  im  Urin 
Spuren  von  Eiweiß,  Milz  von  gleicher  Beschaffenheit,  Leber 
deutlich  verkleinert,  härter.  Hämoglobin  35%,  rote  Blutkörperchen 
3'08  Millionen,  weiße  1500.  Die  großen  Mononukleären  relativ 
vermehrt. 

Patientin  ist  einer  Operation  abgeneigt,  die  ihr  auch  nicht 
sehr  warm  empfohlen  werden  kann.  Nach  einem  Monat  Ent¬ 
lassung.  Im  Herbst  1910  stellt  sie  sich  noch  einmal  vor,  mit 
starkem  Aszites  und  Oedem  an  den  U.  E. ;  Blutbefund  : 


Hämoglobin  (Sahli)  .  .  .  .  35% 

Erythrozyten .  2,146.000 

Leukozyten  .  1500 

Polynukleäre .  51% 

Lymphozyten .  30% 

Ehrlichs  Zellen .  11% 

Eosinophile  .  20% 

Mastzellen .  0'5% 

Myelozyten .  4'5% 

Türcksche  Reizungsformen  .  1% 


Die  Erythrozyten  zeigen  starke  Anisozytose,  Makro-  und 
Mikrozyten,  ausgesprochene  Poikilozytose ;  vereinzelte  Normo- 
blasten;  beträchtliche  Polychromasie,  keine  punktierten  Erythro¬ 
zyten.  lieber  die  weiteren  Schicksale  der  Patientin  ließ  sich  nichts 
in  Erfahrung  bringen. 

Fall  III.  Johanna  U.,  43  Jahre  alt,  aufgenommen  am 
9.  Jänner  1911  mit  enormem  Aszites,  Oedem  der  U.  E.  Haut 
gebllichblaß,  trocken.  Temperatur  nicht  erhöht ;  Herz,  Lunge 
ohne  Befund;  Urin  Spuren  von  Eiweiß,  Urobilin  nicht  vermehrt. 
Dauer  der  Krankheit  angeblich  mehrere  Jahre;  kein  Alkoholismus, 
keine  Lues,  keine  Malaria. 

Nach  Punktion  der  Abdomens,  wobei  acht  Liter  gelb¬ 
licher,  trüber,  stark  eiweißhaltiger  Flüssigkeit  gewonnen  werden,  läßt 
sich  in  der  Milzgegend  ein  bis  zur  Nabelhöhe  reichender  Tumor 
tasten,  der  hart,  glatt,  schmerzhaft  ist  und  nach  oben  bis  zur 
siebenten  Rippe  reicht.  Leber  deutlich  verkleinert,  härter  als 
normal,  etwas  uneben.  W  assermann  -  Reaktion  negativ, 
Röntgendurchleuchtung  der  Brustorgane  ergibt  keine  Abnormität. 

Blutbefund :  Hämoglobin  48%.  Zahl  der  roten  Blutkörperchen 
3‘5  Millionen,  Zahl  der  weißen  Blutkörperchen  1600. 

Es  besteht  Anisozytose,  Poikilozytose  und  Polychromasie  ; 
keine  Normoblasten  ;  keine  Parasiten.  Die  Verhältniszahlen  der 


Leukozyten  sind : 

Polynukleäre . 60% 

Lymphozyten . 20% 

Eosinophile  . 4% 

große  Mononukleäre . 16% 

keine  Myelozyten. 


Am  1.  Februar  wird  über  eigenen  Wunsch  der  Kranken 
und  weil  der  Aszites  wieder  bedeutenden  Umfang  angenommen 
hat,  eine  probatorische  Laparotomie  vorgenommen,  die  Flüssig¬ 
keit  abgelassen  und  das  Netz  in  der  Bauchwunde  fixiert.  Von 
der  Entfernung  der  Milz  wird  Abstand  genommen,  teils  wegen 
des  dekrepiden  Zustandes  der  Patientin,  teils  wegen  der  bis¬ 
herigen  üblen  Erfahrungen.  Leider  übersteht  die  Patientin  auch 
diesen  kleinen  Eingriff  nicht;  eine  am  zweiten  Tage  nach  der 


Operation  auftretende  Pneumonie  führt  am  5.  Februar  zum 
Exitus  letalis.  Von  dem  Sektionsbefund  teile  ich  mit: 

Pneumonie  beider  Unterlappen.  Fettige  Degeneration  des 
Herzmuskels ;  Aortenintima  durchgehends  glatt. 

Leber:  verkleinert,  härter,  höckerig,  mit  gelben  ver¬ 
tieften  und  vorspringenden,  bis  haselnußgroßen  mehr  braunen 
Erhebungen.  Gallenblase  normal,  Pfortader  frei. 

Milz.  25X10X6  cm,  fleischig,  rotbraun,  gleichmäßig  hart. 
Bindegewebsziige  vergrößert,  Gefäße  weit,  Blutgehalt  etwas  ver¬ 
mehrt.  Milzarterie  glatt,  Intima  der  Vene  uneben,  wie  gestrickt. 
Pankreas  verkleinert,  induriert,  Degeneration  der  Niere. 

Därme  von  leichten  Fibrinniederschlägen  bedeckt,  Schleim¬ 
haut  des  Magens  dick  gewulstet,  mit  punktförmigen  Blutungen, 
Schleimhaut  des  Dünndarmes  schiefergrau. 

Die  histologische  Untersuchung  ergibt  analog  wie  beim 
Falle  I  an  der  Milz:  Septa,  perivaskuläres  Gewebe  und  Fasern 
des  Retikulums  enorm  vermehrt,  Malpighi  sehe  Körperchen 
klein,  vermindert,  das  zentrale  Gefäßlumen  oft  ganz  aufgehoben. 
Intima  der  Gefäße  oft  abgestoßen,  Kapillarräume  erweitert,  viel 
Blut  enthaltend.  Pulpazellen  ohne  Besonderheit. 

Leber:  Das  von  der  Leberkapsel  und  von  dem  peri¬ 
portalem  Gewebe  ausgehende  Bindegewebe  tritt  in  mächtigen 
Zügen  zwischen  die  Azini;  es  ist  faserig  und  auffallend  kern¬ 
weich,  an  manchen  Stellen  wie  kleinzellig  infiltriert;  oft  um¬ 
klammert  das  Bindegewebe  eine  Gruppe  von  Azini,  die  dadurch 
förmlich  vorquellen  und  zusammengepreßfc  sind  ;  die  Azini  selbst 
sind  groß ;  ihre  Zellen  intensiv  färbbar,  ebenso  die  Kerne,  die 
Gallenkapillaren  verengt. 

Mit  Bedauern  muß  ich  gestehen,  daß  Stoffwechselunter¬ 
suchungen  nach  Umber  aus  äußeren  Gründen  bei  keinem  der 
Fälle  vorgenommen  werden  konnten. 

Wenn  ich  die  Nutzanwendung  aus  der  Beobachtung  dieser 
drei  Fälle  zu  ziehen  mir  erlaube,  so  scheint  es  mir  sicher,  daß 

1.  der  Morbus  Banti  ein  selbständiges  Krankheitsbild  ist, 
dessen  primäre  Ursache  im  Magen-Darmkanal  gelegen  ist,  das 
vorerst  in  einer  Milzschwellung  mit  konsekutiver  interstitieller 
Entzündung  der  Leber  mit  allen  ihren  Folgen  sich  äußert  und 
eine  charakteristische  Veränderung  des  Blutes  hervorruft. 

2.  Syphilis,  Tuberkulose  und  Alkoholismus  spielen  in  der 
Aetiologie  des  Morbus  Banti  keine  wesentliche  Rolle. 

3.  Das  dritte  Stadium,  das  aszitische  Stadium  kann  länger 
dauern  als  ein  Jahr. 

4.  Eine  Heilung  des  Morbus  Banti  im  dritten  Stadium  durch 
Exstirpation  der  Milz  hat  wenig  Wahrscheinlichkeit,  da  dem 
Körper  nur  mehr  geringe  Abwehrkräfte  gegen  Infektion  des 
Peritoneums,  der  Lungen  usw.  zur  Verfügung  stehen. 


Das  Problem  der  Krebskrankheit.*) 

Von  Prof.  Alex.  Fraenkel. 

Soweit  die  Ueberlieferung  zurückreicht,  seit  Jahrtau¬ 
senden,  bildet  die  Krebskrankheit  ein  ständiges  Kapitel  in 
der  Leidensgeschichte  der  Menschheit.  Wie  in  unseren 
Tagen,  so  standen  seit  jeher  die  Aerzte,  so  oft  berufliche 
Pflicht  sie  an  das  Bett  eines  Krebskranken  rief,  sinnend 
vor  demselben  unheimlich  bangen,  ungelösten  Rätsel. 

Soweit  ein  erleuchteter  Sinn  für  Naturbeobachtung 
und  schlichte  Empirie  dazu  verhelfen  konnten,  sah  schon 
der  Vater  der  wissenschaftlichen  Medizin,  Hippokrates,  in 
klaren  Umrissen  das  Krankheitsbild  in  seinen  verschie¬ 
denen  Erscheinungsformen  und  täuschte  sich  nicht  über 
die  engen  'Grenzen,  die  hiebei  ärztlicher  Kunst  gezogen 
waren.  So  wie  er  es  schaute  und  so  wie  er  darüber  dachte, 
so  spiegelte  sich  die  Lehre  von  der  Krebskrankheit  in  den 
Köpfen  der  Aerzte  bis  nahe  zur  Schwelle  des  19.  Jahrhun¬ 
derts.  Seine  und  namentlich  Galens  humoralpathologi¬ 
schen  Anschauungen  bildeten  die  Grundlage  für  die  Er¬ 
klärung  der  kausalen  Genese  der  Krankheit.  Für  ihr  Zutage¬ 
treten  beschuldigte  man  die  Zurückhaltung  von  Säften,  ihre 
schlechte  Mischung,  wobei  vor  allem  die  Eindickung  der 
schwarzen  Galle,  der  Atra  bilis,  welche  man  aus  dem 
Humor  melancholicus  entstehen  ließ,  eine  Hauptrolle  spielte. 


*)  Auszugsweise  vorgetragen  in  der  am  5.  März  1911  veran¬ 
stalteten  feierlichen  Sitzung  der  unter  dem  Protektorate  Sr.  Majestät  des 
Kaisers  Franz  Joseph  I.  stehenden  österreichischen  Gesellschaft  für 
Erforschung  und  Bekämpfung  der  Krebskrankheit. 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Hieinit  in  logischem  Zusammenhang  ziehl  sich  wie 
ein  roter  Faden  zugleich  die  Lehre  vom  ursächlichen  Ein¬ 
fluß  von  Gemütsbewegungen;  Kummer  und  Sorgt1  sind  die 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  immer  wieder  betonten  patho¬ 
genetischen  Momente  in  allen  ärztlichen  Betrachtungen  und 
Beobachtungen  über  die  Krebskrankheit;  für  das  weibliche 
Geschlecht  kamen  noch  hinzu  die  in  der  Sexualsphäre  ge¬ 
legenen  mannigfachen  besonderen  funktionellen  Anhalts¬ 
punkte.  Die  kausalen  Beziehungen  all  dieser  Momente  zur 
Entwicklung  und  zum  Wachstum  tier  Krebse,  namentlich 
aber  auch  ihr  Einfluß  auf  die  ominöse  Umwandlung  des 
geschlossenen,  „verborgenen“  Krebses  in  den  offenen,  wur¬ 
den  mit  solcher  Uebereinstimmung  und  Bestimmtheit  aus¬ 
einandergesetzt,  als  handelte  es  sich  dabei  um  eine  über 
jeden  Zweifel  gesicherte  wissenschaftliche  Erfahrung. 

Diese  Doktrinen  verfehlten  naturgemäß  auch  ihren 
Einfluß  auf  die  praktisch -therapeutischen  Bestrebungen 
nicht.  Wenn  auch  schon  aus  den  ältesten  Zeiten  der  Heil¬ 
kunde  über  die  Chirurgische  Behandlung,  bzw.  Ausrottung 
dieses  hartnäckigen  Leidens  berichtet  wird  —  das  wohl 
zum  Teil  auch  seine  Benennung  dem  Eindruck  verdankt, 
daß  es  wie  ein  Krebs  mit  seinen  Scheren  am  Körper  fest¬ 
haftet  —  so  lag  doch  Jahrtausende  hindurch  —  den  herr¬ 
schenden  humoral -pathologischen  Lehren  gemäß  —  das 
Schwergewicht  aller  Therapie  und  aller  vermeintlich  vor¬ 
beugenden  Maßnahmen  in  der  Bekämpfung  der  krankhaften 
Blutmischung,  der  „Schärfen“,  als  deren  sichtbare  Wirkung 
man  eben  die  Krebskrankheit  betrachtete. 

Ein  alter  Galenischer  Speisezettel  regelte  in  diesem 
Sinne  die  Diät  der  Krebskranken  und  mit  glaubensstarker 
Zuversicht  forderten  die  Aerzte  seine  strenge  Einhaltung. 
Es  ist  gewiß  bezeichnend,  daß  noch  um  die  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  ein  so  hervorragender  Arzt  wie  Laurenz 
Heister  es  war,  die  Drüsenrezidive  eines  von  ihm  mit 
vollendeter  Meisterschaft  operierten  Lippenkrebses  über¬ 
zeugungsvoll  lediglich  darauf  zurückführte,  daß  sein  Patient 
die  vorgeschriebene  Diät  nicht  streng  genug  einhielt  und 
es  unterließ,  sich  imi  Frühjahre  einer  Kur  zur  Verbesserung 
des  „üblen“  Blutes  zu  unterziehen. 

Die  suggestive  Macht  teils  überkommener,  teils  neu 
auftretender  Doktrinen,  ließ  eben  das  Bedürfnis  nach  einer 
nüchternen  kritischen  Prüfung  ihres  wirklichen  Er¬ 
kenntniswertes  kaum  aufkommen.  Was  man  beobachtete, 
wurde  im  schwankenden  Wechsel  der  jeweilig  herr¬ 
schenden  Theorie  angepaßt  Woran  es  vor  allem  fehlte, 
das  waren  wirklich  objektive  Kriterien  für  eine  halb¬ 
wegs  stichhältige  Determinierung  der  Krebskrankheit  als 
solcher.  Indem  man  den  Einteilungsgrad  für  die  Nomen¬ 
klatur  und  Klassifikation  der  Geschwülste  lediglich  in  ge¬ 
wissen  Merkmalen  ihrer  äußeren  Erscheinung  suchte,  in 
ihrer  wechselnden  Form,  Färbe  und  Konsistenz,  fehlte  jeder 
wissenschaftliche  Ausgangspunkt  für  die  Beurteilung  •  des 
eigentlichen  Wesens  dieser  Krankheitsbilder  und  es  konnte 
nicht  ausbleiben,  daß  bei  einer  solchen  Betrachtungsweise,1  jj 
die  nur  am  grob  äußerlichen  haftete,  die  mannigfachsten,  f 
ihrer  Natur  nach  disparatesten  pathologischen  Zustände  zu¬ 
sammengeworfen  wurden  und  gar  manches  von  den  Aerzten 
als  Krebs  angesehen  und  behandelt  wurde,  was  mit  diesem 
nichts  zu  tun  hatte.  Es  mußten  für  alle  Zeiten  denkwürdige 
Etappen  medizinischer  Forschung  durchlaufen  werden,  ehe 
jene  reale  Grundlage  und  der  zielsichere  Weg  gefunden  j 
wurde,  um  auch  die  Frage  der  Lösung  des  Krebsproblems 
zu  einer  halbwegs  aussichtsvollen  zu  gestalten. 

Die  Begründung  der  Gewebslehre  durch  Bichat  und 
die  Anwendung  des  Mikroskops  auf  die  Untersuchung  der 
Krebsgeschwülste  durch  Johannes  Müller  waren  die  Mark¬ 
steine  der  neuen  Richtung.  Diese  Errungenschaften  bilden 
im  letzten  Grunde  den  Ausgangspunkt  der  modernen  Krebs¬ 
forschung,  die  namentlich  auf  der  neugewonnenen  Grund¬ 
lage  histologischer  Untersuchung  einen  steten  und  syste¬ 
matischen  Aufbau  tatsächlicher  Erkenntnisse  aufzuweisen 
hat,  in  jüngster  Zeit  noch  aufs  Wertvollste  ergänzt  durch 


die  aller  Orten  mit  größtem  Eifer  betriebene  und  geförderte 
experimentelle  Bearbeitung  des  Krebsproblems. 

Eines  dürfen  wir  heute  schon  als  hoch  anzuschlagen¬ 
den  Erfolg  all  der  Mühe  und  Arbeit,  die  im  Laufe  des 
letzten  Jahrhunderts  die  glänzendsten  Vertreter  der  Wissen¬ 
schaft  auf  die  Erforschung  des  Krebsproblems  gewendet 
haben,  verzeichnen:  nach  der  Richtung  der  formalen  Ge¬ 
nese  erscheint  das  Krebsproblem  so  gut  wie  gelöst. 

Der  genaue  Einblick  in  den  feinsten  Aufbau  der  Krebs¬ 
geschwülste,  den  wir  der  modernen  Krebsforschung  ver¬ 
danken,  hat  die  Erkenntnis  zu  einer  unumstößlichen  ge¬ 
macht,  daß  diese  Gebilde,  ihrem  geweblichen  Charakter  nach 
unmittelbare  Abkömmlinge  des  Mutterbodens,  dem  sie  ent¬ 
stammen,  in  ihrem  zeitigen  Aufbau  nichts  Körperfremdes 
und  nichts  Ortsfremdes  aufweisen  und  keine  akzidentellen 
dem1  Organismus  von  außen  sich  ansetzende  parasitäre  Bil¬ 
dungen  darstellen.  Die  mikroskopische  Analyse  der  Ge¬ 
schwülste  hat  es  zur  Gewißheit  erhoben,  daß  sie  als  Effekt 
einer  lokalen  Gewebsproliferation  zu  betrachten  sind.  Bei 
den  Krebsgeschwülsten  im  Besonderen  handelt  es  sich  vor¬ 
waltend  um;  einen  Wucherungsprozeß  der  von  den  Deck¬ 
zellen  der  Drüsen  oder  jener  der  äußeren  Haut  ausgeht. 

Die  spezielle  Eigenart  und  das  Befremdende  dieses 
Wachstunisvorganges  liegt  vor  allem  darin,  daß  uns  auch 
die  subtilste  Betrachtung  des  zugrunde  liegenden  Prozesses 
—  wenigstens  mit  den  gegenwärtig  zu  Gebote  stehenden 
Mitteln  —  über  die  eigentliche  und  unmittelbare  Ursache 
dieser  Proliferation  keinerlei  Aufschluß  gibt.  Alle  bekannten 
Anlässe  für  das  Auftreten  von  Wachstumsvorgängen  in  den 
Geweben  lassen  im  speziellen  Falle  der  Krebswucherung 
vollständig  im  Stiche.  Nichts,  was  darauf  hindeuten  würde, 
daß  der  Organismus  sich  hiemit  eines  Eindringlings  zu  er¬ 
wehren  hätte,  nichts,  was  darauf  schließen  ließe,  daß  mit 
diesem  Wachstum  (eine  Regeneration,  ein  Ersatz  für  Zer¬ 
störtes,  für  verloren  Gegangenes  geleistet  werden  soll; 
nichts,  was  annehmen  ließe,  daß  hier  eine  gewebliche  Ueber- 
produktion  sich  .eingestellt  hätte,  als  Ausdruck  einer  An¬ 
passung  an  leinen  erschwerten  funktionellen  Mechanismus. 

Geringfügige  lokale  Reaktionserscheinungen,  die  ge¬ 
rade  nur  seine  Anfangsstadien  begleiten,  sind  die  einzige 
Andeutung  einer  (Verteidigung  des  Organismus  gegen  diesen 
zur  Unzeit  sich  einstellenden  Wachstumsvorgang.  Je  weiter 
er  fortschreitet,  um1  so  widerstandsloser  ist  ihm  der  Orga¬ 
nismus  preisgegeben.  (Unaufhaltsam,  schrankenlos,  dringen 
die  neu  gebildeten  (Gewebe  in  die  benachbarten  ein,  auf 
deren  Kosten  sie  sich  ausbreiten,  um  dann  auf  dem  Blut- 
und  Lymphwege  .auch  in  die  entfernten  Organe  zu  gelangen, 
auch  dort  wachsend  ohne  Widerstand,  bis  sie  in  den  äußer¬ 
sten  Graden  autonom  und  aggressiv  nahezu  vom  ganzen 
Organismus  Besitz  ergreifen. 

Und  diese  so  verheerende,  mit  solch  unzähmbarer 
Uebermactht  den  Körper  angreifende  Invasion,  sie  geht  — 
und  das  ist  die  weitere  höchst  befremdende  Eigenart  — 
von  einem  neugebildeten  Gewebe  aus,  dessen  Elemente  von 
den  normalen  in  ihrer  äußeren  Erscheinung  kaum  abwei¬ 
chen,  die  vielmehr  nach  ihrer  ganzen  Anordnung  dem  Typus 
der  Organbildung  außerordentlich  nahekommen,  oft  genug 
auch  ausgestattet  mit  den  untrüglichen  Zeichen  einer  spe¬ 
zifischen  Funktion. 

Darin  liegt  ja  der  große  Widerspruch  und  zugleich 
ein  gut  Teil  des  Rätsels,  das  uns  das  Problem  der  Krebs¬ 
krankheit  darbietet,  daß  pathologische  Wirkungen  so  über¬ 
aus  schwerwiegender  Art  von  dem  Wachstum  eines  Ge¬ 
webes  ausgehen,  das  in  seiner  ganzen  Erscheinungsweise 
dem1  normalen  Gewebstypus  so  nahekommt. 

Nahekommt,  aber  doch  offenbar  sich  wesentlich  von 
ihm  unterscheidet!  Und  man  muß  v.  Hansemann  ent¬ 
schieden  Recht  geben,  wenn  er  immer  wieder  mit  Nach¬ 
druck  dafür  eintritt,  daß  die  Krebszelle  trotz  äußerlicher 
Aehnlichkeit  sich  durchgreifend  von  der  einfach  sich  rege¬ 
nerierenden  Zelle  unterscheidet,  daß  sie  sich  „anaplastisch“ 
verändert  haben  muß. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Wer  uns  das  sagen  könnte,  worin  diese  Wesensände¬ 
rung  dieses  unter  so  unschuldiger  äußerer  Form  sich  prä¬ 
sentierenden  Gewebes  gelegen  sei,  was  für  ein  Reiz  es 
mit  einem  Male  befähigt  und  antreibt,  zu  so  exzessivem 
Wachstum,  dem  gegenüber  der  Organismus  alle  Widerstands; 
fähigkeit  einbüßt,  wer  darüber  Aufklärung  brächte,  durch 
welche  geheimnisvolle  Aenderung  ihres  Innenlebens,  die 
immanente  Proliferationsfähigkeit  der  Zelle  so  ins  Unge¬ 
messene,  ins  Anarchische  ausartet  —  oder  wer  anderseits 
es  ausfindig  machen  könnte,  welche  Hemmungerscheinun¬ 
gen  des  Organismus  versagen,  um  eine  solche  schranken- 
und  ziellose  Vermehrung  bestimmter  Zellkategorien  zu  er¬ 
möglichen  —  wem,  in  diesem  oder  jenem  Sinne  in  dieses 
Dunkel  organischer  Vorgänge  hineinzuleuchten  gelänge,  dem 
wäre  der  große  Wurf  gelungen,  der  hätte  das  Problem 
der  Krebskrankheit  gelöst. 

Der  homogene  Aufbau  der  Geschwülste,  das  Fehlen 
von  Strukturveränderungen  in  dem  sie  umgebenden  Ge¬ 
webe,  der  auf  einen  Kampf  gegen  die  pathologischen  Ele¬ 
mente  schließen  ließe,  die  äußere  Aehnlichkeit  des  Krebs¬ 
gewebes  mit  dem  normalen,  der  Umstand,  daß  in  manchen 
Fällen  die  Gewebsneubildung,  ehe  sie  den  malignen  Krebs¬ 
charakter  annimmt,  zunächst  ein  Stadium  durchläuft,  in 
dem  sie  in  der  Form  des  Adenoms  eine  getreue  Kopie  der 
Organbildung  darstellt ;  all  dü  se  Beobachtungen  haben  der 
Anschauung  Vorschub  geleistet,  daß  es  sich  hiebei  gleichsam 
um  verspätete  organoide  Bildungen  handle,  um  „Neubil¬ 
dungen“  in  des  Wortes  eigentlichster  Bedeutung.  Es  lag 
demgemäß  nahe,  auch  zur  Erklärung  dieser  „Neubildungen“ 
auf  das  Urbild  aller  organischer  Gestaltung,  auf  die  Wachs¬ 
tumsvorgänge  des  embryonalen  Lebens  zurückzugreifen  und 
aus  der  äußeren  Aehnlichkeit  ihres  geweblichen  Aufbaues 
den  Schluß  zu  ziehen,  daßi  die  Wachstumsvorgänge,  wie 
sie  in  der  Geschwulstbildung  und  speziell  im  Karzinom  zum 
Ausdruck  kommen,  als  Leistungen  von  Zellen  embryonalen 
Charakters  anzusehen  wären.  Unter  Aegide  Cohnheims 
hat  tatsächlich  seinerzeit  diese  Theorie  viele  Anhänger  ge¬ 
funden.  Dieser  Lehre  gemäß  ginge  die  Geschwulstbildung 
aus  embryonalen  Zellen  hervor,  welche  gleichsam  als  erra¬ 
tische  Ueberbleibsel  überschüssigen,  zum  Organbau  nicht 
verwendeten  oder  verlagerten  Zellmaterials  aus  der  Keim¬ 
anlage  übrig  geblieben  und  in  das  postfötale  Leben  mit 
hinübergenommen,  nach  längerer  oder  kürzerer  Latenzzeit 
im  Simie  ihrer  immanenten  Entwicklungsfähigkeiten  zu 
selbständigem  Wachstum  gelangen- 

Als  Stütze  dieser  Theorie  dienen  namentlich  gewisse 
Geschwülste  der  Bindesubstanzgruppe,  deren  histologische 
Elemente  dem  Typus  embryonaler  Gewebe  sehr  nahestehen, 
ferner  die  schon  erwähnten  Adenome  und  eine  Reihe  an¬ 
geborener  Geschwülste,  die  von  den  unscheinbarsten  Bil¬ 
dungen  angefangen,  wie  etwa  den  angeborenen  Malen  und 
Warzen,  eine  förmliche  Stufenleiter  darstellen  bis  zu  jenen 
hochkomplizierten  angeborenen  Geschwülsten,  die  in  ihrem 
geweblichen  Aufbau  ein  Bild  buntester  Mannigfaltigkeit  und 
Anordnung,  eine  förmliche  Musterkarte  aller  organischen 
Strukturen  aufweisen.  Hiezu  kommt  noch,  daß  all  diese 
angeborenen,  aus  einer  alterierten  embryonalen  Anlage 
hervorgegangenen  Gebilde  in  einer  nicht  ganz  geringen 
Anzahl  von  Fällen  schon  die  Wachstumscharaktere  bös¬ 
artiger  Neubildungen  mit  auf  die  Welt  bringen,  oder  sie 
sehr  frühzeitig  erwerben. 

Wenn  außerdem  in  diesem  Zusammenhänge  nicht  un¬ 
erwähnt  bleiben  soll,  daß  gerade  Organe  mit  offenbarer 
angeborener  Anomalie  der  Bildung  ein  nicht  zu  unter¬ 
schätzendes  Kontingent  der  karzinomatösen  Entartung  ab¬ 
geben,  so  muß  wohl  eingeräumt  werden,  daß  eine  gewisse 
Beziehung  von  Störungen  der  Entwicklung  zur  Geschwulst¬ 
bildung  und  im  besonderen  zur  Krebskrankheit  durch  tat¬ 
sächliche  Beobachutng  gestützt  Avird. 

Aber  mit  all  diesen  Feststellungen  sind  doch  wieder 
nur  Beiträge  zur  formalen  Genese  der  Geschwülste  ge¬ 
geben  und  unerklärt  bleibt  noch  immer  das  eigentlich  ur¬ 
sächliche  Verhältnis,  unerklärt  jene  biologische  Verände¬ 


rung  des  Zellcharakters,  die  zur  schrankenlosen,  aggres¬ 
siven  Proliferation  der  neugebildeten  Gewebe  führt.  Denn 
eine  solche  liegt  nicht  im  Charakter  der  embryonalen  Zelle 
und  aus  Störungen  der  embryonalen  Entwicklung  lassen  sich 
wohl  atypische  Wachstumsformen,  keineswegs  aber  pro¬ 
grediente  Geschwulstbildungen  erklären,  die  in  so  verhee¬ 
render  Weise  in  das  normale  Gefüge  des  Organismus  ein¬ 
brechen. 

Immerhin  aber  \\7ird  man  mit  einer  gewissen  prädis¬ 
ponierenden  Bedeutung  von  Störungen  der  embryonalen 
Entwicklung  für  das  Geschwulstwachstum1  und  die  Krebs¬ 
krankheit  rechnen  müssen. 

Von  dieser  Gruppe,  die  alle  Charaktere  .angeborener 
Anlage  aufweist,  zu  trennen  sind  jene  Geschwülste,  welche 
als  Erwerbungen  im  späteren  Laufe  des  Lebens  in  Erschei¬ 
nung  treten. 

Um  von  Bekanntem  und  Anerkanntem  auszu gehen, 
kommt  nach  den  vorliegenden  Erfahrungen  für  die  Ent¬ 
stehung  der  Krebsgeschwülste  des  späteren  Lebens  eine 
ganze  Reihe  von  chronischen  krankhaften  Gewebszuständen 
in  Betracht,  denen  geradezu  die  Bedeutung  von  unmittel¬ 
baren  Vorläufern  zukommt. 

Anderseits  spricht  aber  vieles  dafür,  daß  außer  diesen 
lokal  disponierenden,  gleichsam  einleitenden  und  vermit¬ 
telnden  Prozessen  auch  allgemein  disponierenden  konsti¬ 
tutionellen  Momenten  eine  bestimmte  pathogenetische  Be¬ 
deutung  für  die  erworbene  Krebsbildung  zugeschrieben 
werden  muß. 

Nach  ersterer  Richtung  wissen  wir,  daß  Karzinome 
nach  verschiedenen,  durch  längere  Zeit  andauernden  mecha¬ 
nischen  Einwirkungen  entstehen;  wir  sehen  sie  ferner  aus 
Narbengewebe  sich  entwickeln,  wir  kennen  den  Paraffin-, 
Anilin-  und  Arsenkrebs;  es  gibt  einen  sog.  Lokomotivführer¬ 
krebs  an  der  Schienbeinhaut,  die  jahrelang  direkter  Hitze 
ausgesetzt  ist,  wir  können  Röntgenkarzinome  beobachten, 
den  Krebs  auf  lupöser,  auf  luetischer  Grundlage,  auf  dem 
Boden  chronischer  Eiterungsprozesse,  nach  Erkrankungen 
durch  Blasen-  und  Eingeweidewürmer. 

Geradezu  drastische  Hinweise  für  die  pathogeneti¬ 
sche  Bedeutung  lokaler  chronischer  Reizzustände  für  die 
Entwicklung  der  Krebskrankheit  bieten  geAvisse  mit  Recht 
immer  wieder  in  diesem  Zusammenhänge  envähnte  Beob¬ 
achtungen  englischer  Aerzte.  Während  nämlich  in  unseren 
Landen  der  Krebs  der  Wangenschleimhaut  bei  Frauen  nur 
höchst  ausnahmsweise  vorkommt,  begegnet  man  ihm  in 
Indien,  wo  auch  die  Frauen  der  Volkssitte  gemäß  Betel¬ 
nüsse  kauen,  die  sie  auch  über  Nacht  im  Munde  behalten, 
auffallend  häufig.  Ein  weiteres  hieher  gehöriges  Beispiel 
ist  der  Krebs  der  Bauchhaut,  der  mit  dem  Brauch  der 
Gebirgsbewohner  in  Kaschmir  zusammenhängt,  als  Kälte¬ 
schutz  über  dem  Bauch  primitive  Wärmeapparate  zu  tragen. 

Die  bei  all  diesen  und  den  früher  envähnten  Prozessen 
in  Betracht  kommenden  lokal  wirkenden  Reize  sind  teils 
rein  mechanischer,  teils  chemischer,  thermischer,  aktinischer 
und  infektiöser  Natur.  Schon  die  Mannigfaltigkeit  dieser 
verschiedenen  Einflüsse  läßt  es  nahezu  ausgeschlossen  er¬ 
scheinen,  daß  der  Spezifizität  des  Reizes  hiebei  eine  ent¬ 
scheidende  Bedeutung  zukommt.  Das  allen  Gemeinsame 
liegt  vielmehr  darin,  daß  in  ihrem  Gefolge  lokale  Gewebs¬ 
veränderungen  auftreten,  die  gleichsam  den  Boden  schaffen, 
für  die  Ausbildung  der  Krebswudherung.  Es  handelt  sich 
bei  all  diesen  Vorläufern  um  chronisch  entzündliche  Zu¬ 
stände,  bei  denen  dauernd  regressive  und  regeneratorische 
Gewebsvorgänge  unter  abnormen  lokalen,  die  Biologie  der 
Zellen  jedenfalls  eigenartig  alterierenden  Bedingungen  sich 
abspielen. 

* 

Von  den  allgemein  disponierenden  konstitutionellen 
Momenten  kommt  nach  aller  Erfahrung  Avohl  dem  Alter 
eine  bestimmte  Rolle  zu. 

;Um  den  konstitutionellen  Einfluß  des  alternden 
Organismus  auf  die  Krebsbildung  kausal  beurteilen  zu 
können,  'müßten  Avir  zunächst  den  Prozeß  des  Alterns 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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selbst,  präziser  zu  objektivieren  fähig  sein,  als  dies  tat¬ 
sächlich  der  Fall  ist.  Wir  müßten  vor  allem  was  riiis 
versagt  ist  —  imstande  sein,  physiologische  Altersgrenzen 
im  Ablauf  des  Lebens  aufzustellen.  Die  Forschung  hat  sich 
auch  nach  dieser  Richtung  bemüht  und  namentlich  Mühl¬ 
manns  Untersuchungen  sind  der  Ausdruck  höchst  bedeu¬ 
tungsvoller  Bestrebungen,  für  den  bisher  rein  empirischen 
und  so  relativen  Altersbegriff  exakte  wissenschaftliche 
Grundlagen  zu  schaffen.  Halten  wir  uns  an  diese  Befunde 
Mühl  man  ns,  so  stellt  sich  das  jeweilige  Alter  des  Or¬ 
ganismus  dar,  als  ein  im  einzelnen  Falle  wechselndes  Ver¬ 
hältnis  in  den  während  des  ganzen  Ablaufes  des  Lebens 
sich  geltend  machenden  progressiven  und  regressiven  Ver¬ 
änderungen  der  'Gewebe  und  Organe.  Das  Altern  würde 
demnach  schon  mit  dem  Leben  selbst  einsetzen  und 
in.  ausgesprochener  Weise  dann  sich  geltend  machen, 
wenn  in  den  Organen  die  regressiven  Vorgänge  über  die 
progressiven  die  Oberhand  gewinnen.  Das  Altern  ist  dem¬ 
nach  gleichbedeutend  mit  dem  Nachlaß  der  Wachstums¬ 
und  Regenerationsvorgänge  einer-  und  der  Persistenz  der 
regressiven  und  Degenerationsvorgänge  anderseits;  ein  Zu¬ 
stand,  der  nicht  gleichzeitig  und  gleichmäßig  alle  Gewebs- 
arten  betrifft,  sondern  gerade  an  den  physiologisch  zu 
höchststehenden  sich  morphologisch  am  allerfrühesten  ma¬ 
nifestiert. 

Für  die  Entwicklung  der  Krebsgeschwülste  ist  es  nun 
von  besonderer  Bedeutung,  daß  gerade  jenem  Gewebe,  aus 
denen  sie  sich  auf  bauen,  den  Deckzellen  der  Haut  und  der 
Drüsen,  weil  sie  unter  allen  Körpergeweben  als  die  ober¬ 
flächlichsten  unter  den  günstigsten  Ernährungsverhältnissen 
stehen,  die  Regenerations-  (und  Wachstumsfähigkeit  am 
längsten  erhalten  bleibt. 

Das  Wachstum  und  die  Regeneration  des  Epithel¬ 
gewebes  vollzieht  sich  demnach  als  der  einzig  noch  ausge¬ 
sprochenprogressive  Vorgang  im  alternden  Organismus  unter 
ganz  besonders  bevorzugten  Bedingungen  der  Ernährung,  er 
vollzieht  sich  aber  gleichzeitig  in  mehr  oder  weniger  auto¬ 
nomer  Weise,  weil  bei  der  gleichzeitigen  Prävalenz  der 
regressiven  Erscheinungen  in  den  übrigen  Geweben  und 
Organen  ein  Teil  der  regulatorischen  Einflüsse  entfällt,  der 
durch  die  Wechselbeziehungen  der  Organe  hergestellt  wird. 

Ob  nun  die  Harmonie  der  funktionellen  Korrelation 
der  Organe  und  Gewebe  durch  allgemeine  oder  lokale 
Einflüsse  gestört  wird,  jedenfalls  bewirkt  diese  Stö¬ 
rung  eine  quantitative  und  qualitative  Aenderung  in  den 
Beziehungen  der  einzelnen  Gewebsarten  zueinander  und 
zum  Stoffwechsel  und  darin  wird  gewiß  die  letzte  Ursache 
zu  suchen  sein  für  jene  biologische  Aenderung  des  Zellen¬ 
lebens,  die  der  Entwicklung  der  Krebsgeschwülste  zu¬ 
grunde  liegt. 

* 

Ueberschaut  man  zusammenfassend,  was  Empirie 
und  Forschung  in  der  Krebsfrage  beigestellt  haben,  so 
muß  —  es  sei  nochmals  betont  —  doch  dankend  aner¬ 
kannt  werden,  daß  zur  Zeit  eine  Summe  von  positiven 
Kenntnissen  vorliegt,  deren  Bedeutung  nicht  zu  unter¬ 
schätzen  ist. 

So  ist  —  wie  schon  her  vor  gehoben  —  die  Lehre 
von  der  formalen  Genese  der  Krebsgeschwülste  als  eine 
nahezu  abgeschlossene  zu  betrachten. 

Auch  über  eine  ganze  Reihe  pathogenetischer  Mo¬ 
mente,  zumal  über  die  Bedeutung  chronisch  entzündlicher 
Reizzustände  verschiedenster  Provenienz  als  Vorläufer 
der  Krebskrankheit  haben  uns  vielfältige,  den  Zusammen¬ 
hang  immer  wieder  bestätigende  Beobachtungen  aufgeklärt. 

Schon  diese  Erfahrungen  haben  großen  praktischen 
Wert,  denn  sie  sind  wichtige  Hinweise  auf  die  Möglich¬ 
keit  einer  wenigstens  teilweisen  Prophylaxe  auf  diesem  Ge¬ 
biete.  1 

Wenn  einmal  die  Erkenntnis  in  weitere  Kreise  ge¬ 
drungen  sein  wird,  daß  derlei  chronisch  entzündliche  Zu¬ 
stände  geeignet  sind,  den  Boden  für  die  Krebskrankheit  vor¬ 


zubereiten,  so  wird  man  mit  um  so  größerem  Eifer  darauf 
bedacht  sein,  unter  Eliminierung  des  kausal  schädigenden 
Momentes  diesen  Prozessen  schon  frühzeitig  alle  notwen¬ 
dige  therapeutische  Sorgfalt  zuzuwenden.  Namentlich  der 
Gewerbehygiene  und  sozialen  Medizin  fällt  dabei  ein  dank¬ 
bares  Feld  der  Tätigkeit  zu,  da  nicht  so  selten  der  Krebs 
als  ausgesprochene  Berufskrankheit  a  uf tritt. 

Soweit  es  sich  bei  diesen  präkarzinomatösen  Zustän¬ 
den  um  infektiöse  Prozesse  handelt  —  und  ein  großer  Teil 
dieser  Zustände  gehört  dieser  Gruppe  an  —  werden  sie  in 
die  allgemeine  Prophylaxe,  die  sich  gegen  jede  Art  von 
Infektion  richtet,  miteinbezogen  sein. 

So  wird  alles  und  jedes,  was  dazu  beiträgt,  die  allge¬ 
meine  Hygiene  zu  heben,  auch  der  speziellen  Krebspro¬ 
phylaxe  zustatten  kommen.  Es  verdient  dies  ganz  beson¬ 
ders  betont  zu  werden  im  Hinblick  a.uf  die  oft  geäußerte 
Meinung,  daß  die  heutigen  Tages  zu  vermerkende  erhöhte 
Krebsmorbidität  als  eine  indirekte  Wirkung  der  durch  die 
gesteigerte  sanitäre  Vorsorge  gewährleisteten  durchschnitt¬ 
lichen  Lebensverlängerung  zu  betrachten  wäre.  Seitdem 
die  Hygiene  in  so  tatkräftiger  Weise  in  alle  Lebensverhält¬ 
nisse  ein  greife,  sei  eben  die  Zahl  der  Menschen,  die  über¬ 
haupt  das  Karzinomalter  erreichen,  eine  größere  und  darauf 
sei  auch  die  erhöhte  einschlägige  Morbidität  zurückzuführen. 

Auf  eine  nach  rationellen  Gesichtspunkten  aufge¬ 
baute  Krebsstatistik  kann  erst  die  jüngste  Vergangenheit 
hinweisen.  Der  Vergleich  mit  der  Krebsmorbidität  früherer 
Zeitläufte  ist  nicht  einwandfrei,  weil  die  älteren  Statistiken 
auf  anderen  Grundlagen  beruhten,  wie  die  heutigen.  Nach 
dieser  Richtung  verläßliches,  einheitliches  Material  zu 
sammeln,  gehört  ja  mit  zu  jenen  Aufgaben,  die  den  ver¬ 
schiedenen  Krebsgesellschaften  Vorbehalten  bleiben. 

Jedenfalls  ist  es  aber  zwingend  anzunehmen,  daß 
durch  alle  prophylaktischen  Vorkehrungen,  welche  die 
früheren  Stadien  im  Ablaufe  des  Lebens  vor  Schädigungen 
wirksam  zu  schützen  geeignet  sind,  auch  im  alternden 
Organismus  der  Boden  für  die  Karzinomentiwicklung  ent¬ 
zogen  sein  wird. 

Das  Alter  hat  gewiß  bei  der  erworbenen  Krebskrank¬ 
heit  eine  höchst  wirksame  prädisponierende  Bedeutung  — 
es  wurde  ja  auch  an  dieser  Stelle  versucht,  sie  in  das  rich¬ 
tige  Licht  zu  stellen  —  aber  das  Wesen  der  Krebskrank¬ 
heit  ist  mit  dem  Prozeß  des  Alterns  und  mit  den  senilen 
Veränderungen  nicht  erschöpft;  es  muß  noch  ein  speziell 
schädigendes  gleichsam  provokatorisches  Moment  hinzu¬ 
kommen,  um  im1  alternden  Organismus  die  Entwicklung 
der  Krebskrankheit  zu  wecken,  bzw.  jene  örtlichen,  bio¬ 
logischen  Veränderungen  im  Zelleben  eines  Gewebes  her¬ 
vorzurufen,  die  zur  Autonomie  der  Zellproliferation  führen. 

In  der  Suche  nach  diesem  Moment  liegt  ja  das  eigent¬ 
lich  kausale  Problem  der  Krebskrankheit,  das  Endziel  aller 
Bestrebungen  der  einschlägigen  Forschung. 

Zur  Zeit  sind  wir  nicht  in  der  Lage  über  dieses  Grund¬ 
problem  etwas  auszusagen,  was  über  den  problematischen 
Wert  von  Mutmaßungen  hinausginge. 

Es  hat  seit  jeher  nicht  an  Vertretern  der  Ansicht  ge¬ 
fehlt  und  auch  heute  noch  hat  sie  ihre  Fürsprecher,  daß 
der  Krebs  den  Infektionskrankheiten  beizuzählen  sei. 

Wie  weit  die  Aerzte  in  ihrem  Eifer  für  und  gegen  die 
Vertretung  dieser  Ansicht  schon  gegangen  sind,  beweisen 
unter  änderen  die  Krebsimpfungen,  die  zu  Anfang  des 
vorigen  Jahrhunderts  Alibert  und  seinem  Beispiele  folgend 
einige  [seiner  Schüler  an  sich  selbst  ausgeführt  haben. 
Das  glücklicherweise  negative  Ergebnis  dieser  Experi¬ 
mente  hat  natürlich  so  wenig  Beweiskraft.,  wie  die  bisher 
vergebliche,  namentlich  im  Verlaufe  der  letzten  Jahrzehnte 
mit  geradezu  leidenschaftlichem  Eifer  betriebene  Suche  nach 
einem  spezifischen  Krebserreger. 

In  positivem  Sinne  wird  zur  Stütze  der  infektiösen 
Theorie  besonders  auf  Beobachtungen  hingewiesen,  die  ein 
zeitlich  und  örtlich  gehäuftes  Vorkommen  der  Krebskrank¬ 
heit  mit  fast  endemischem  Charakter  dartun. 


35  i 


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Nr.  10 


Das  zeitlich  und  örtlich  gehäufte  Vorkommen  einer 
Erkrankung  allein,  ist  noch  kein  hinreichendes  Kriterium, 
um  sie  als  Infektionskrankheit  zu  deklarieren.  Es  müssen 
noch  sonstige  kennzeichnende  morphologische  und  semio- 
tische  Charaktere  der  betreffenden  Erkrankung  hinzu¬ 
kommen,  um  diesen  Rückschluß  als  gerechtfertigt  erscheinen 
zu  lassen.  In  dem  Maße  als  die  Krebserkrankungen  diese 
Charaktere  vermissen  lassen  und  sie  gerade  hiedurch  ihre 
besondere  Eigenart  im  pathologischen  Systeme  behaupten, 
wird  man  auch  dann,  wenn  für  ihr  endemisches  Vorkommen 
gesicherte  Anhaltspunkte  vorliegen,  sich  daran  erinnern 
müssen,  daß  es  auch  außerhalb  der  infektiösen  Agentien 
noch  Faktoren  gibt,  die  für  die  Erklärung  eines  zeitlich 
und  örtlich  gehäuften  Vorkommens  von  Erkrankungen 
heranzuziehen  wären. 

Es  kann  im  humanitä,ren  Interesse  nicht  genug  davor 
gewarnt  werden,  heute  schon,  wo  noch  alle  wissenschaft¬ 
lichen  Grundlagen  hiefür  fehlen,  die  Lehre  von  der  in¬ 
fektiös  -  kontagiösen  Natur  der  Krebskrankheit  zu  antizi¬ 
pieren.  Wir  alle  haben  es  schon  in  unserer  Praxis  er¬ 
fahren  müssen,  wie  sehr  die  Krebskranken  unter  dieser 
durch  nichts  begründeten  Annahme  zu  leiden  haben  und 
wie  oft  die  Furcht  vor  Ansteckung  sie  um  den  so  gerecht¬ 
fertigten  Anspruch  auf  Pflege  selbst  von  seiten  ihrer  nächsten 
Umgebung  bringt. 

Auf  ein  je  kleineres  Territorium  das  Leben  einer  Gruppe 
von  Menschen  eingeengt  ist,  um  so  leichter  wird  sich  der 
Einfluß  der  ihnen  allen  gemeinsamen  Existenzbedingungen 
und  Lebensgewohnheiten,  durch  die  unter  solchen  Verhält¬ 
nissen  noch  obendrein  naturgemäß  gegebenen  verwandt¬ 
schaftlichen  Beziehungen  gefördert,  in  dem  psychischen 
und  physischen  Typus  der  Einzelindividuen  spiegeln.  Es 
wird  sich  eine  gewisse  Uniformität  in  ihrer  Art  auf  Reize 
zu  reagieren  ausbilden,  wodurch  zumal  in  ihrem  vege¬ 
tativen  Leben  gewisse  gemeinsame  Züge  vorherrschen, 
kurz  die  ganze  und  große  Bedeutung,  welche  den  äußeren 
Lebensverhältnissen  auf  die  Körperentwicklung  und  die 
einzelnen  Organfunktionen  in  förderndem  oder  hemmendem 
Sinne  zukommt,  wird  unter  solchen  Umständen  in  Form 
mehr  weniger  allen  gemeinsam  erworbenen  konstitutionellen 
Merkmalen  zum  Ausdruck  gebracht  sein. 

Es  liegen  zur  Zeit  schon  genügend  Erfahrungen  vor, 
um  in  diesem  Zusammenhänge  den  konstitutionellen  Einfluß 
der  äußeren  Lebensverhältnisse  auch  gegenüber  der  An¬ 
nahme,  daß  es  sich  dabei  um  eine  etwaige  Rassendispo¬ 
sition  handle,  ganz  besonders  zu  betonen. 

Die  tierexperimentelle  Forschung  hat  uns  in  unzwei¬ 
deutigster  Weise  darüber  belehrt,  wie  die  Empfänglichkeit 
einer  und  derselben  Tierrasse  für  die  Impfung  mit  Krebs 
je  nach  den  örtlichen  und  sonstigen  äußeren  Verhältnissen 
wechselt.  Und  aus  der  Menschenpathologie  wissen  wir  nicht 
minder,  daß  Angehörige  einer  gegen  Krebs  fast  immun  schei¬ 
nenden  Menschenrasse,  wenn  sie  ihre  Heimat  verlassen 
und  anderweitig  ihr  Domizil  aufschlagen,  mit  demselben, 
wenn  nicht  einem]  höheren  Prozentsatz  an  der  Krebsmorbi¬ 
dität  ihres  neuen  Wohnortes  partizipieren.  An  der  schwarzen 
Bevölkerung  Amerikas,  sowie  den  dort  ansässigen  Chi¬ 
nesen  im  Gegensatz  zu  den  afrikanischen  Negern  und  den 
asiatischen  Chinesen,  ist  dies  mit  aller  Deutlichkeit  zu  er¬ 
weisen. 

Solche  Erfahrungen  sind  in  hohem  Grade  geeignet, 
die  Bedeutung  äußerer  Lebensverhältnisse  für  den  Ablauf 
der  Lebenstätigkeiten  und  für  die  Ausbildung  jener  kon¬ 
stitutionellen  Momente  in  das  richtige  Licht  zu  stellen, 
welche  die  Disposition  zur  Erkrankung  an  Krebs  zu  erhöhen 
vermögen. 

Für  diese  Auffassung  spricht  gewiß  auch  —  wie  aus 
den  bisherigen  Statistiken  hervorzugehen  scheint  —  das 
in  manchen  Gegenden  gehäufte  und  prävalierende  Vorkom¬ 
men  der  krebsigen  Erkrankung  bestimmter  Organe,  ander¬ 
seits  auch  die  Unterschiede  des  Geschlechtes  in  der  Häu¬ 
figkeit  des  Karzinoms  bestimmter  Organe. 

* 


bür  die  Entwicklung  der  Krebskrankheit  kommen 
angeborene  und  erworbene  Zustände  in  Betracht.  Innere  Mo¬ 
mente  der  Organisation  konkurrieren  mit  äußeren  Anlässen. 
Konstitutionelle  Zustände,  die  aus  dem  Ablauf  der  Wachs¬ 
tums-  und  Regenerations  Vorgänge  der  Gewebe  und  Organe 
sich  ergeben,  neben  solchen,  die  dem  Einflüsse  der  äußeren 
Lebensverhältnisse  auf  den  Ablauf  der  Lebenstätigkeiten 
zuzuschreiben  sind.  Wir  kennen  das  Nacheinander  der 
Erscheinungen,  was  wir  aber  nicht  kennen,  das  ist  das 
eigentliche  Wesen  der  Vorgänge  und  ihre  gegenseitige  Be¬ 
dingtheit. 

Bekannt  sind  uns  lediglich  eine  Reihe  von  inneren 
Zuständen  und  äußeren  Verhältnissen,  welche  an  und  für 
sich,  namentlich  aber  durch  ihr  Ineinanderwirken,  das¬ 
jenige  ausbilden,  -was  wir  die  Disposition  nennen,  das  heißt 
eine  Reihe  von  Faktoren,  welche  wir  erfahrungsgemäß  für 
geeignet  halten,  jene  Wandlung  in  den  biologischen  Zustän¬ 
den  von  Zellen  und  Geweben  herbeizuführen,  welche  ihr 
Proliferationsvermögen  zu  einem  schrankenlos  aggressiven 
umgestaltet. 

Diesem  zunächst  empirischen  Begriff  der  Disposition 
eine  objektive  Grundlage  zu  verschaffen,  ihn  in  seine  realen 
Komponenten  aufzulösen,  darin  liegt  eines  der  verheißungs¬ 
vollsten  Ziele  der  Krebsforschung. 

Es  ist  hocherfreulich,  daß  wir  heute  schon  diesem 
Ziele  um  einen  Schritt  näher  gekommen  sind  durch  die 
bedeutsame  Entdeckung  des  Wiener  Chemikers,  Ernst 
Freund,  dem  der  Naclrweis  gelungen  ist,  daß  das  Serum 
Gesunder  die  Krebszellen  zerstört,  während  das  Serum 
Krebskranker  sie  nahezu  vollkommen  unverändert  läßt. 

Freund  ging  dabei  von  der  immer  wieder  bestätigten 
Erfahrung  aus,  daß  bei  der  Weiterimpfung  des  Tierkrebses 
unter  sonst  völlig  gleichen  Bedingungen  immer  nur  einzelne 
Tiere  derselben  Art  sich  als  wirklich  aufnahmsfähig  er 
wiesen. 

Es  kann  an  dieser  Stelle  an  eine  nähere  Erörterung 
dieses  wichtigen  Fundes  nicht  eingegangen  werden.  Seine 
Bedeutung  liegt  namentlich  darin,  daß  zum  ersten  Male 
in  einwandfreier  Weise  in  Verfolgung  des  Krebsproblems 
ein  biochemischer  Prozeß  eigener  Art  aufgedeckt  wurde, 
der  allem  Anscheine  nach  in  einer  bestimmten  kausalen 
Beziehung  zur  Entwicklung  der  Krebskrankheit  zu 
bringen  ist. 

Diese  und  ähnliche  Befunde  sind  deshalb  von  beson¬ 
derem  Werte,  weil  sie  an  Stelle  von  Vorstellungen 
mit  nicht  determiniertem  Inhalte  uns  den  unmittel¬ 
baren  Einblick  in  Vorgänge  ermöglichen,  die  ebenso 
durch  vorausgegangene  bedingt  sind,  wie  sie  selbst  die 
Veranlassung  von  weiteren  sein  müssen.  Indem  uns  so  ein 
Glied  aus  der  Kette  der  Erscheinungen  gleichsam  in  die 
Hand  gegeben  wird,  eröffnet  sich  die  Aussicht  in  weiterer 
Analyse  der  Vorgänge  schließlich  einer  ganzen  Reihe  von 
Gliedern,  einer  geschlossenen  Ivette  von  Vorgängen  habhaft. zu 
werden,  was  für  die  naturwissenschaftliche  Forschung  mit 
der  geschlossenen  Ivette  der  Kausalität  gleichbedeutend  ist. 

Das  sind  die  Wege,  auf  denen  vielleicht  das  Ziel  zu  er¬ 
reichen  ist,  um  es  auch  auf  dem  Gebiete  des  Krebsproblems 
—  nach  Goethes  Worten  —  „der  Natur  abzumerken,  wie  sie 
gesetzlich  zu  Werke  geht,  um  lebendiges  Gebild  als  Muster 
alles  künstlichen  hervorzubringen“.  Mit  diesen  Worten  hat 
schon  jener  Uebergroße,  dem  die  „heiligen  Rätsel“  der 
Natur  so  sehr  am  Herzen  lagen,  in  seiner  Weise  eigentlich 
das  ganze  Programm  der  biologischen  Forschung  gekenn¬ 
zeichnet.  Auch  das  Krebsproblem  hat  ihr  schon  manche 
Förderung  zu  verdanken;  es  erwartet  von  ihr  jede  weitere 
Entwicklung. 

Möge  es  der  Oesterreichischen  Krebsgesellschaft  ver¬ 
gönnt  sein,  durch  werktätiges  Interesse  für  diese  Forschungs¬ 
richtung  kräftig  beizutragen  zur  Lösung  einer  Frage, 
welche  so  tief  in  unsere  sozialen  Verhältnisse  eingreift. 
Der  griechische  Weise  könnte  leicht  im  Gedanken  an  die 
Krebskrankheif  die  Warnung  ausgesprochen  haben,  jeman- 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT,  mi. 


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den  vor  dem  Tode  glücklich  zu  preisen.  Denn  ein  qual¬ 
voller  Lebensabend  verdüstert  auch  die  schönsten  Erinne¬ 
rungen  eines  noch  so  reichen  und  sonnigen  Daseins. 

Die  aller  Orten  ins  Leben  gerufenen  Vereinigungen 
zur  Erforschung  und  Bekämpfung  der  Krebskrankheit  sind 
der  Ausdruck  eines  regen  sozialen  Solidaritätsgefühls  gegen¬ 
über  einem  überall  fühlbaren  Notstände.  Ein  Zug  von 
zuversichtlichem  Vertrauen  in  die  Leistungsfähigkeit  der 
modernen  medizinischen  Forschung  geht  durch  die  Welt 
und  bisher  nur  in  nebelhafter  Ferne  sichtbare  Ziele  er¬ 
scheinen  im  Hinblick  auf  schon  Erreichtes  in  absehbare 
Nähe  gerückt. 

I  Freilich!  Auch  ein  noch  so  großes  Aufgebot  von 
Mitteln  und  Kräften  —  wer  wollte  sich  darüber  täuschen !  — 
verschafft  noch  nicht  die  Gewähr,  ein  in  so  tiefes  Dunkel 
gehülltes  Problem1,  wie  das  der  kausalen  Genese  der  Krebs¬ 
krankheit,  zur  Lösung  zu  bringen.  Die  Erkenntnis  läßt  sich 
nicht  erzwingen.  Aber  schon  dem  Aufklärungsdienste,  der 
eine  auf  dieses  Ziel  gerichtete,  kräftig  geförderte  syste¬ 
matische  Forscherarbeit  zu  leisten  berufen  ist,  kann  mit 
froher  Erwartung  entgegengesehen  werden.  Denn  jeder  hie¬ 
bei  und  hiedurch  gewonnene,  noch  so  unscheinbare  neue 
wissenschaftliche  Fund  kann  den  Keim  einer  die  Menschheit 
beglückenden  Wohltat  bergen. 


OEFFENTLICHE  GESUNDHEITSPFLEGE. 

Sozialärztliche  Revue. 

Von  Dr.  L.  Sofer. 

Zur  gerechten  Beurteilung  der  heimischen  Verhältnisse  auf 
sozialärztlichem  Gebiete  ist  es  sehr  heilsam,  wenn  wir  uns  über 
die  Vorgänge  auf  diesem  Gebiete  im  Auslande  unterrichten;  wir 
sehen  dann,  worin  wir  vor  und  worin  wir  zurück  sind,  was  von 
den  ausländischen  Einrichtungen  für  uns  paßt  und  was  nicht. 

England,  das  in  seiner  politischen  und  industriellen  Ent¬ 
wicklung  den  Kontinent  bei  weitem  überflügelt  hat,  zeigt  im 
krassen  Widerspruche  damit  einige  Rückständigkeiten  auf  dem  Ge¬ 
biete  des  sozialen  Versicherungswesens.  Die  von  dem  jetzigen 
Schatzkanzler  eingeführten  neuen  Steuern  sollen  endlich  die  Mittel 
für  eine  Kranken-  und  Invalidenversicherung  liefern,  die  Gro߬ 
britannien  auf  diesem  Gebiete  auf  gleiche  Stufe  mit  den  anderen 
Industriestaaten  bringen  soll.  Als  die  Idee  der  staatlichen  Zwangs¬ 
versicherung  zuerst  auftauchte,  gaben  sowohl  die  Gewerkschaften, 
wie  auch  die  zahlreichen  großen  freiwilligen  Kranken-  und  Unter- 
stützungskassen  der  Regierung  zu  verstehen,  daß  irgendeine  Or¬ 
ganisationsart,  die  ihnen  Konkurrenz  mache-,  mit  ihrem  Wider¬ 
stand  rechnen  müsse.  Die  Behörden  setzten  sich  daher  mit  diesen 
Organisationen  in  Verbindung  und  beirieten  über  die  Mittel,  wie 
sich  die  widerstreitenden  Interessen  versöhnen  lassen  könnten. 
Die  Beratungen  sind  noch  nicht  abgeschlossen;  aber  einige  Haupt¬ 
punkte  des  Kompromisses  sind  bereits  bekannt  geworden.  Die 
Versicherung  soll  alle- arbeitenden  Personen  umfassen,  deren  Jahres¬ 
einkommen  weniger  als  das  einkom'mensteuerpflichtige  Einkommen 
(160  Pf.  St.,  d.  i.  3750  K)  beträgt.  Die  Zahl  dieser  Personen 
schätzt  der  Minister  auf  13  Millionen.  Die  Versicherungspflicht 
besteht  vom  16.  bis  zum  70.  Lebensjahre.  Der  Verwaltungsapparat 
soll  aus  den  bestehenden  freiwilligen  Unterstützungskassen 
(Friendly  Society)  gebildet  werden,  so  daß  jede  versicherungs¬ 
pflichtige  Person  Mitglied  einer  der  schon  bestehenden  und  von 
der  Regierung  anerkannten  Kasse  werden  muß.  Als  niedrigste 
W o chenun ter s tützuhg  sollen  5  Schilling,  d.  i.  ca.  6  K,  festgesetzt 
U’ erden.  Die  Beiträge  sollen  zur  Hälfte  vom  Arbeiter  aufgebracht 
werden;  die  andere  Hälfte  soll  zu  gleichen  Teilen  vom  Staate 
und  dem  Arbeitgeber  bezahlt  werden.  Der  Staat  garantiert  dieses 
Minimum;  die  Arbeitgeber  werden  auch  zur  Beitragsleistung  heran¬ 
gezogen.  Die  Eintreibung  der  Beträge  geschieht  in  der  Weise,  daß 
der  Arbeitgeber  die  Beiträge  der  Arbeiter  vom  Lohne  abzieht 
und  sie  samt  seinem  Beitrag  an  den  Staat  abführt,  der  das  Geld 
der  Gesellschaft  überweist.  Arbeiter,  die  schon  bei  einer  der  be¬ 
stehenden  Kassen  bis  zur  Höhe  des  Minimalsatzes  versichert 
sind,  brauchen  keine  Beiträge  vom  Lohne  zu  zahlen.  Der  Arbeit¬ 
geber  aber  muß  seinen  Beitrag  für  sie  abführen.  Höhere  Beiträge 
mit  -entsprechenden  Gegenleistungen  sind  für  die  Arbeiter  fakul¬ 
tativ.  Die  Gesellschaften  müssen  die  für  die  staatliche  Versiehe-  1 
rung  bestimmten  Gelder  getrennt  von  ihren  sonstigen  Fonds  ver¬ 
walten  und  stehen  in  betreff  der  staatlichen  Versicherung  unter 


Regierungskontrolle.  Ein  Zentralverwaltungsapparat,  dem  Ver¬ 
treter  der  Regierung,  der  Friendly  Society  und  der  Arbeitgeber 
angehören,  soll  die  ganze  Institution  überwachen. 

Bei  Beurteilung  dieses  Planes  darf  man  in  Hinblick  auf 
unsere  Verhältnisse  nicht  vergessen,  daß  es  in  England  eine  natio¬ 
nale  Frage  (abgesehen  von  den  Iren)  nicht  gibt  und  auch  die 
Klassengegensätze  nicht  so  ausgeprägt  sind,  wie  bei  uns.  Zu  be¬ 
fürchten  ist  aber,  daß  die  Einführung  des  Projektes  in  dieser  Form 
eine  Schädigung  des  Standes  bedeuten  wird  —  wie  bei  uns. 

Blicken  wir  jetzt  nach  dem  Deutschen  Reiche.  Wenn 
auf  irgendeinem  Gebiete,  ist  auf  diesem  Deutschland  maßgebend. 
Das  alte  Wort:  Germania  docet,  kommt  zu  neuen  Ehren.  Man 
gewinnt  ein  Urteil  über  die  Entwicklung  des  sozialen  Versiche¬ 
rungswesens,  wenn  man  z.  B.  den  Geschäftsbericht  des 
Reichs  v  ersiche-rungsamtes  für  das  Jahr  1910  best.  Da¬ 
nach  belief  sich  die  Zahl  der  im  Berichtsjahre  angemeldeten  Un¬ 
fälle  auf  675.905,  die  der  erstmalig  Entschädigten  auf  132. 718. 
Die  im  Jahre  1910  verausgabten  Entschädigungen  (Renten  usw.) 
betrugen  165-3  Millionen  Mark  gegen  161-3  Millionen  im  Jahre 
1909,  157-1  Millionen  .im  Jahre  1908,  150-3  Millionen  im  Jahre 
1907.  Entschädigungen  wurden  1910  gezahlt  oder  angewiesen 
an  915.968  Verletzte,  88.071  Witwen  und  Witwer  Getöteter, 
113.660  Kinder  und  Enkel  Getöteter  und  4377  Verwandte  auf¬ 
steigender  Linie.  Daneben  erhielten  14.650  Frauen  und  Männer, 
32.338  Kinder  und  Enkel  und  244  Verwandte  als  Angehörige  von 
Verletzten,  die  in  Heilanstalten  untergebracht  waren,  die  gesetz¬ 
lichen  Unterstützungen,  so  daß  im  Berichtsjahre  zusammen 
1,169.308  Personen  Bezüge  zugeflossen  sind.  Die  Entschädigungen 
aus  der  I n  v a  1  i  d  en  v er  s  i  ch e  tu n g  werden  sich  1910  einschlie߬ 
lich  des  Reichszuschusses  auf  etwa  196  Millionen  belaufen.  Seit 
dem  Bestehen  der  Invalidenversicherung  wurden  Entschädigungen 
im  Betrage  von  1.871,606.656  Mark  bezahlt.  Das  Vermögen 
der  Versicherungsträger  wird  auf  1660  Millionen  Mark  ange- 
wachsen  sein.  Dieses  wird  gegen  mäßige  Verzinsung  zur  Errich¬ 
tung  /von  Heilanstalten,  Rekonvaleszentenhäusern,  Tuberkulose- 
anstalten,  gemeinnützigen  Wohnungsbauten  usw.  verliehen. 

Eine  gewisse-  Rückständigkeit  zeigt  nur  der  Hinterblie¬ 
benen -Versicherungsfonds.  Der  §  15  des  Zolltarifgesetzes 
von  1909  bestimmte,  daß,  falls  einige  landwirtschaftliche  Zölle 
Mehrerträge-  über  den  Durchschnitt  bestimmter  Jahre  erbringen, 
sie  zur  Erleichterung  der  Durchführung  der  Witwen-  und  Waisen¬ 
versorgung  zu  verwenden  sind.  Bis  zum  Inkrafttreten  des  Hinter¬ 
bliebenenversicherungsgesetzes  sollen  diese  Mehrerträgnisse  einem 
Fonds  zugeführt  werden.  Weiters  sollten  alle  die  Erträgnisse, 
wenn  das  Gesetz  bis  zum  1.  Jänner  1 910-in  Kraft  treten  würde,  den 
Invalidemversicherungsanstalten  zur  Einführung  einer  eigenen 
Hinterbliebenenversicherung  zugeführt  werden.  Der  Termin  wurde 
dann  auf  den  1.  April  1911  verlegt.  Seine  nochmalige  Abänderung 
steht  bevor.  Es  ist  nämlich  nur  einmal  (1907)  ein  Betrag  von 
etwa  42V2  Millionen  Mark  eingelegt  worden.  Sonst  wurde  der 
Fonds  nicht  bereichert,  weil  die  betreffenden  Zölle  eben ‘nicht  die 
erwarteten  Mehrerträgniss-e  lieferten.  Man  will  nun  bei  der  eben  im 
Zuge  befindlichen  Reform  des  Reichsversicherungsgesetzes  den 
§  15  aulheben  und  an  seine-  Stelle  Zuschüsse  des  Reiches  treten 
lassen,  für  die  Zeit,  wenn  der  vorhandene  Fonds,  der  heute 
auf  ca.  50  Millionen  Mark  angewachsen  ist,  aufgebraucht  ist. 

Eine-  weitere  Aenderung,  die  bei  uns  allgemeines  Interesse, 
aber  wohl  nur  vereinzelte  Zustimmung  finden  wird,  betrifft  die 
Frage  der  Zulassung  von  Zah ntöchnike-rn  zur  Kassen¬ 
behandlung.  Nach  der  Regierungsvorlage  sollen  , .geeignete“  Zahn¬ 
techniker,  Heildiener  und  Heilgehilfen  zugelassen  werden,  wo 
im  Bezirke  eines  Versicherun-gsträgers  nicht  genug  Zahnärzte 
vorhanden  sind,  die  zu  angemessenen  (sic!)  Bedingungen  die  Be¬ 
handlung  übernehmen.  Die  parlamentarische  Kommission  hat  in 
erster  Lesung  Zahntechniker  auch  ohne  diese  Einschränkung  zu¬ 
lassen  wollen,  außer  bei  Mund-  und  Kieferkrankheiten.  In  zweiter 
L-e-sung  wurde  folgende  Fassung  des  betreffenden  Paragraphen  be¬ 
schlossen :  Boi  Zahnkrankheiten,  mit  Ausschluß  von  Mund-  und 
Kieferkrankheiten,  kann  die  Behandlung  außer  durch  Zahnärzte 
mit  Zustimmung  der  Versicherten  auch  durch  Zahn¬ 
techniker  erfolgen.  Welche  Anforderungen  für  die  Zulassung  als 
Zahntechniker  zu  stellen  sind,  wird  durch  Verordnung  der  obersten 
Verwaltungsbehörde  bestimmt..  Sie  kann  auch  bestimmen,  unter 
welchen  Voraussetzungen  auch  Heildiener  und  Heilgehilfen  ( ! ) 
bei  Zahnkrankheiten  Hilfe  leisten  können. 

Das  ist  die  Folge  der  in  Deutschland  bestehenden  Kurier¬ 
freiheit;  da  dürfen  wir  uns  in  die-  Brust  werfen  und  sagen: 
„Wir  sind  doch  bessere  Menschen.“ 

Man  hat  aber  auch  in  Deutschland  erkannt,  daß  diese  Ver¬ 
hältnisse-  auf  die  Dauer  unhaltbar  sind  und  zu  den  schlimmsten 
Auswüchsen  führen.  Die-  Regierung  hat  sich  daher  entschlössen. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


ein  Kurpfus  chereig ©setz  im  Parlamente  einzubringen.  An 
dem  Prinzipe  der  Kurierfreiheit  hält  sie  leider  weiter  fest;  sie 
will  aber  eine  Anzeigepflicht  für  alle,  die  sich  gewerbemäßig  mit 
der  Behandlung  von  Krankheiten  befassen,  einführen.  Aber  auch 
diese  kleine  Einschränkung  wurde  durch  einen  Zentrums  an  trag 
verschlechtert,  der  besagte,  daß  als  gewerbemäßig  im  Sinne  des 
Gesetzes  eine  Behandlung  nicht  anzusehen  ist,  wenn  der  dafür 
entrichtete  Betrag  entsprechend  der  Erklärung  des  Behandelnden 
ausschließlich  und  nachweisbar  für  wohltätige  Zwecke  Verwen¬ 
dung  findet.  Es  wurde  zur  Begründung  auf  den  Pfarrer  Kneipp 
hingewiesen.  Der  Antrag  wurde  angenommen;  dagegen  wurde  ein 
Antrag  auf  Verstaatlichung  des  Aerztestandes  abgelehnt. 

Das  internationale  Komitee  für  das  ärztliche  Fort¬ 
bildungswesen  in  Berlin  beschäftigt  sich  jetzt  erstens  mit 
der  Organisation  einer  Einrichtung,  die  der  schon  bestehenden 
ärztlichen  Auskunftei  im  Kaiserin -Friedrich -Hause  das  Material 
verschaffen  soll,  um  den  Aerzten  über  die  Gelegenheit  zur  Fort¬ 
bildung  in  sämtlichen  Kulturstaaten  jederzeit  unentgeltliche  Aus¬ 
kunft  geben  zu  können.  Die  Einrichtung  soll  eine  ständige  sein ; 
deshalb  werden  die  notwendigen  Recherchen  in  regelmäßigen 
Pausen  von  einem  Halbjahr  angestellt.  Die  zweite  Aufgabe  bildet 
der  Plan  einer  Sammelforschung  auf  dem  Gebiete  des  medizini¬ 
schen  Universitätsunterrichtes  und  betrifft  folgende  Gebiete:  1.  Den 
akademischen  Universitätsunterricht;  2.  das  ärztliche  Fortbildungs¬ 
wesen  ;  3.  ärztliches  Lehrmittelwesen. 

Dieses  Jahr  soll  auch  ein  Plan  verwirklicht  werden,  der 
etwas  vollkommen  Neues  beinhaltet,  nämlich  die  Errichtung  einer 
Keuchhustenkolonie.  Die  preußische  Medizinalbehörde  will 
in  irgendeinem  Seebade  eine  Kolonie  für  keuchhustenkranke 
Kinder  errichten.  Diese  Maßnahme  hat  sich  als  notwendig  heraus¬ 
gestellt,  da  sehr  viele  der  kranken  Kinder  auf  ärztliche  Verord¬ 
nung  in  ein  Seebad  geschickt,  dort  aber  nicht  aufgenommen 
werden.  Da  der  Keuchhusten  die  verbreitetste  Kinderkrankheit 
ist,  der  in  Preußen  jährlich  etwa  14.000  Kinder  im  Alter  von 
einem  bis  zwei  Jahren  zum  Opfer  fallen,  so  will  die  Regierung 
die  Idee,  zu  der  sie  etwa  300.000  Mark  benötigt,  verwirklichen; 
sie  rechnet  dabei  auf  die  private  Wohltätigkeit. 

Die  französische  Regierung  hat  die  Regierungen  der 
fremden  Staaten  eingeladen,  im  Mai  1911  in  Paris  eine  Gesund¬ 
heitskonferenz  abzuhalten.  Durch  das  Auftreten  der  Cholera  in 
Europa  und  der  Lungenpest  in  der  Mandschurei  ist  eine  neue 
Beratung  notwendig  geworden.  Der  ständige  Ausschuß  des  inter¬ 
nationalen  Gesundheitsamtes  tritt  am  8.  März  zur  Beratung  des 
der  Konferenz  vorzulegenden  Materiales  zusammen. 

Von  dem  reich  entwickelten  sozialen  Versicherungswesen 
Deutschlands  stechen  die  Verhältnisse  anderer  Länder  sehr  ab, 
doch  sind  gerade  jetzt  zwei  Länder,  in  denen  noch  die  primi¬ 
tiven  Grundlagen  fehlen,  beflissen,  wenigstens  den  Anfang  zu 
machen.  Aus  Bulgarien  werden  derartige  Bestrebungen  ge¬ 
meldet:  man  will  sogar  ein  eigenes1  Ministerium  für  öffentliche 
Gesundheitspflege  errichten.  Dann  ist  in  Bare elo  na  ein  soziales 
Museum  eröffnet  worden,  das  den  Aushau  des  in  Spanien  gering 
entwickelten  Arbeiterschutzes  anregen  will.  Das  -  Museum  ist  in 
vier  Sälen  eines  ehemaligen  Fabriksgebäudes  untergebracht,  von 
denen  je  einer  dem  Erziehungs-  und  Armenwesen,  den  Arbeiter- 
und  Lohnverhältnissen,  der  gewerblichen  Hygiene,  sowie  der 
Unfallverhütung  gewidmet  ist. 


lRe  f^.rate. 

Pathologie  und  Therapie  der  Rachenkrankheiten. 

Von  A.  Rosenberg. 

Aus  dec  speziellen  Pathologie  und  Therapie  von  weil.  H.  Noth  nage 
und  fortredigiert  von  L.  v.  Frankl -Hochwart. 

160  Seiten. 

Wien  und  Leipzig  1911,  Holder. 

In  dieser  knappen  Darstellung  der  Pathologie  und  Therapie 
der  Rachenkrankheiten  nimmt  der  allgemeine  Teil  einen  relativ 
breiten  Raum,  nämlich  50  Seiten,  ein  u.  zw*,  mit  Recht,  einmal, 
weil  da,  wie  der  Autor  betont,  der  Zusammenhang  der  Spezial¬ 
disziplin  mit  der  Gesamtmedizin  am  deutlichsten  zum  Ausdruck 
kommt,  dann,  weil  die  genaue  Kenntnis  desselben  das  Verständnis 
des  speziellen  Teiles  sehr  erleichtert  und  schließlich,  weil  lästige 
Wiederholungen  leichter  vermieden  werden.  Im  speziellen  Teile, 
der  110  Seiten  umfaßt,  sind  einzelne  besondere!  wichtige  Kapitel, 
wie  die  adenoiden  Vegetationen  und  ihre  Behandlung,  die  akuten 
und  chronischen  Erkrankungen  der  Gaumenmandeln,  ausführlicher 
besprochen.  Es  berührt  angenehm,  daß  der  Verfasser,  trotz  ge¬ 


drängter  Darstellung,  deren  er  sich  befleißigt,  auch  einzelne  noch 
zur  Diskussion  stehende  Fragen  streift. 

Bei  der  operativen  Entfernung  der  adenoiden  Wucherungen 
vermeidet  Rosenberg  möglichst  die  Narkose,  da  man,  wie 
er  sagt,  die  Operation,  wenn  man  sie  beherrscht  und  die  Kinder 
in  richtiger  Weise  fixieren  läßt,  ebenso  sicher  und  sorgfältig 
auch  ohne  Betäubung  ausführen  kann.  Ref.  befindet  sich  auch 
hierin  mit  dem  Autor  in  vollster  Uebereinstimmung.  Ferner  meint 
er,  daß  eine  Narkose  doch  immer  eine  gewisse  Gefahr  invol¬ 
viere;  nur  bei  größeren,  kräftigen  und  widerspenstigen  Kindern 
soll  von  Bromäther,  einer  halben  Chloroformnarkose  oder  Aether- 
rau.se h  Gebrauch  gemacht  werden.  Mit  Genugtuung  konstatiert 
ferner  Ref.,  daß  auch  der  Verfasser  die  Enukleation  der  Gaumen¬ 
mandeln  nur  für  gewisse  Fälle  reserviert  wissen  will.  Es  wird 
hervorgehobeln,  daß  die  Anwesenheit  des  Bacillus  fusiformis  und 
der  Spirillen  allein  kein  stringenter  Beweis  für  die  Angina  Vincenti 
sei.  Den  Lupus  deis  Rachens  bespricht  der  Autor  gesondert 
von  der  Tuberkulose  wegen  des  sehr  verschiedenen  klinischen 
Verlaufes  und  der  ganz  verschiedenen  objektiven  Erscheinungen 
und  subjektiven  Symptome. 

Das  durch  glänzende  Ausstattung  ausgezeichnete  und  mit 
50  Abbildungen  versehene  Werkchen  sei  hiemit  denn  praktischen 
Arzte  bestens  empfohlen. 

* 

The  voice. 

Von  W.  H.  Aikin. 

An  introduction  to  practical  Phonology  with  Diagrams. 

159  Seiten. 

New  York,  Bombay  u.  Calcutta  1910,  Longmans,  Green  &  Co. 

Vor  zehn  Jahren  ungefähr  hat  Aikin  in  einer  Monographie, 
betitelt  „The  voice  its  physiology  and  cultivation“,  auf  dem 
Boden  der  Physiologie  fußend,,  versucht,  den  praktischen  Gesangs¬ 
unterricht  zu  beeinflussen  und  denselben  auf  eine  wissenschaft¬ 
liche  Grundlage  zu  stellen.  Auch  in  dem  vorliegenden,  mit  großer 
Sachkenntnis  geschriebenen  Buche,  sehen  wir  dieses  Prinzip  ver¬ 
treten  und  breiter  ausgeführt.  Der  Verfasser  bespricht  vorerst  die 
Elemente  der  Tonbildung,  das  Windrohr,  den  Kehlkopf,  das  Ansatz¬ 
rohr,  ohne  sich  zu  sehr  in  anatomische  Details  zu  vertiefen,  dann 
den  Mechanismus  der  Atmung,  die  Resonanz,  die  Bildung  der 
Vokale  und  Konsonanten  und  gibt  namentlich  '  Methoden  und 
Hebungen  an,  die  er  beim  Studium  der  Tonbildung  und  Atem- 
luhrung  für  zweckmäßig  hält.  Einerseits  appelliert  er  mm  in 
dieser  Monographie  an  die  Gesangslehrer,  wie  überhaupt  an  alle, 
deren  Aufgabe  es  ist,  Berufsredner  und  Sänger  heranzubilden 
und  anderseits  an  die  Physiologen  und  meint,  die  Phonologie 
allein  sei  für  jede  Sprache  besonders  bearbeitet  —  imstande, 
dem  Sprach-  und  Gesangsunterricht  eine  sichere  Grundlage  zu 
geben.  Wir  können  hier  nicht  auf  Einzelheiten  näher  eingeben 
und  verweisen  auf  das  Original. 

Es  ist  möglich,  daß  es  dereinst  gelingen  wird,  Gesangsunter¬ 
richt,  von  physiologischen  Grundsätzen  ausgehend,  zu  erteilen. 
Vorderhand  werden  jedoch  die  Gesangslehrer  hiebei  das  Haupt¬ 
gewicht  noch  auf  ein  gutes  Nachahmungsvermögen  und  ein  feines 
kritisches  Gehör  seitens  des  Schülers  legen  müssen.  Es  wird 
allerdings  stets  unser  Bestreben  sein,  den  Gesangsunterricht  auf 
eine  wissenschaftliche  Grundlage  zu  stellen,  daher  ist  jeder  Ver¬ 
such  hiezu  freundlichst  zu  begrüßen,  besonders,  wenn  dies  in 
so  sachverständiger  Weise  der  Fall  ist,  wie  hier.  L.  R6thi. 

* 

Die  Kopulation  der  Netzhaut  mit  der  Aderhaut  durch 
Kontaktverbindung  zwischen  Sinnesepithel  und  Pigment¬ 
epithel. 

Von  Dr.  R.  Halben,  Privatdozent  in  Greifswald. 

Berlin  1910,  S.  Karger. 

Die  geläufige  Vorstellung,  die  Netzhaut  liege  der  Aderhaut 
nur  an  und  sie  sei  nur  am  Rande  und  am  Sehnerven  an  diese 
befestigt,  entspricht  nach  Hal  ban  nicht  der  Wirklichkeit.  Da¬ 
durch,  daß  die  Stäbchenaußenglieder  und  die  Pigmentfortsätze 
ineinander  greifen,  ist  eine  bedeutende  Vergrößerung  der  Ober¬ 
fläche  gegeben,  die  der  Verfasser  auf  das  fiOfache  des  ganzen 
Netzhautareales  berechnet.  Schon  dadurch  müsse  eine  festere 
Haftung  der  Netzhaut  an  der  Unterlage  gegeben  sein;  vielleicht 


Nr.  10 


357 


WIENER  KLINISCHE 


aber  kämen  noch  andere  Momente  hinzu:  Das  ist  die  Kopulation 
der  Netzhaut  mit  der  Aderhaut. 

Es  ist  nur  eine  Konsequenz  dieser  Vorstellung,  daß  der 
Autor  die  Hauptursache  der  Netzhautablösung  in  einer  primären 
Lockerung  dieser  Kopulation  sucht.  Dann  erst  könnten  die  in 
den  herrschenden  Theorien  der  Netzhautablösung  namhaft  ge¬ 
machten  Kräfte  in  Wirksamkeit  treten.  Soweit  kann  man  jeden¬ 
falls  den  Ansichten  des  Verfassers  völlig  beipflichten.  Die  wei¬ 
teren  Andeutungen  über  das  Zustandekommen  dieser  primären 
Lockerung  bewegen  sich  ausschließlich  im  Gebiete  der  Hypothese 
und  es  wird  Aufgabe  des  Experimentes  und  der  weiteren  patho¬ 
logisch-anatomischen  und  klinischen  Forschung  sein,  sie  auf 
ihre  Zulässigkeit  zu  prüfen.  Die  Erfolge  der  Therapie  dieses 
trostlosen  Leidens  sind,  so  gut  sie  auch  im  Einzelfalle  sein 
mögen,  noch  viel  zu  selten,  als  daß  man  daraus  Schlüsse  auf 
die  Entstehung  der  Ablösung  ziehen  könnte. 

5k 

Das  künstliche  Auge. 

Von  Friedrich  A.  und  Albert  C.  Müller. 

Wiesbaden  1910,  J.  F.  Bergmann. 

Es  ist  eine  zunächst  für  Laien,  das  heißt  Patienten,  be¬ 
stimmte  Schrift,  die  das  Wichtigste  über  die  Formen  und  die 
Anwendbarkeit  künstlicher  Augen  bringt  und  ihre  Handhabung 
erläutert.  Zahlreiche  nach  Photographien  hergestellte  Abbildun¬ 
gen  zeigen  die  hervorragenden  Leistungen  der  Firma  F.  Ad.  Müller 
Söhne,  um  deren  Erzeugnisse  und  Erfindungen  sich  das  ganze 
dreht.  Es  soll  nicht  bestritten  werden,  daß  die  Verfasser  in  der 
Tat  das  Beste  leisten,  was  auf  diesem  Gebiete  zurzeit  geleistet 
werden  kann,  aber  die  vorliegende  Schrift  ist  trotz  allen  histo¬ 
rischen  Aufputzes  und  der  Abschweifungen  ins  Gebiet  der  Augen¬ 
heilkunde,  eine  gewöhnliche  Geschäftsreklame. 

* 

Die  mikroskopischen  Untersuehungsmethoden  des  Auges. 

Von  Dr.  S.  Seligniann,  Hamburg. 

Zweite,  gänzlich  umgearbeitete  und  erweiterte  Auflage. 

Berlin  1911,  S.  Karger. 

In  den  13  Jahren,  die  seit  dem  Erscheinen  der  ersten  Auf¬ 
lage  dieses  Buches  verflossen  sind,  hat  die  mikroskopische  Tech¬ 
nik  so  viele  Fortschritte  gemacht,  daß  der  Umfang  des  Buches 
beträchtlich  vergrößert  werden  mußte.  Der  Verfasser  hat  sorg¬ 
fältig  alle  Neuerungen  aufgenommen ;  es  seien  nur  beispielsweise 
genannt:  die  Zelloidintrockenrnethode,  die  vitale  Färbung,  die 
neuen  Färbungen  auf  Fett  und  Glykogen,  die  Hel  »Ische  Proto¬ 
plasmafärbung,  die  Darstellung  der  Neurofibrillen,  die  Methoden 
zur  Färbung  der  elastischen  Fasern  der  Hornhaut  und  viele 
andere,  denn  es  gibt  kaum  eine  Methode,  die  nicht  wenigstens 
irgendwelche  Modifikation  erfahren  hätte.  Auch  auf  vergleichend- 
anatomische  Details  ist  der  Verfasser  vielfach  eingegangen. 

So  stellt  sich  denn  diese-  zweite  Auflage  als  ein  auf  der 
Höbe  der  Zeit,  stehendes  Buch  dar,  das  niemand  entbehren  kann, 
der  sich  mit  normaler  oder  pathologischer  Anatomie  des  Auges 
beschäftigt. 

* 

Lehrbuch  der  Augenheilkunde  in  der  Form  klinischer 

Besprechungen. 

Von  Prof.  Paul  Römer,  Greifswald. 

Berlin  und  Wien  1910,  Urban  und  Schwarzenberg. 

Es  war  nicht  anders  zu  erwarten,  als  daß  aus  der  Hand 
Römers  ein  Lehrbuch  hervorgehen  mußte,  das  die  Augenheil¬ 
kunde  vom  Standpunkte  der  Bakteriologie,  der  Serumtherapie 
und  der  Immunitätsforschung  behandelt  und  die  Widmung  des 
Buches  an  Ehrlich  ist  nur  das  äußere  Zeichen  für  die  Richtung, 
zu  der  sich  der  Verfasser  bekennt.  Diese  modernsten  Errungen¬ 
schaften  der  Augenheilkunde  in  den  Vordergrund  gestellt  zu 
haben,  verleiht  dem  Buche  einen  besonderen  Wert;  wir  finden 
hier  zum  ersten  Male  unter  den  Lehrbüchern  unserer  Disziplin 
eine  ausführliche  Darstellung  der  Komplementbindungsreaktion 
bei  Lues,  eine  Würdigung  der  Serumtherapie  bei  Ulcus  serpens 
und  der  Tuberkulintherapie,  eingehende  Erörterungen  der  Er¬ 
nährung  der  Linse,  des  Flüssigkeitswechsels  im  Auge  usw.  Es 
liegt  freilich  in  der  Natur  der  Sache,  daß  hiebei  dem  Leser  sehr 
viel  Theoretisches  und  Hypothetisches  vorgetragen  wird  und  cs 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


will  dem  Referenten  scheinen,  als  ob  der  Forscher  mehr  zum 
Worte  gekommen  sei,  als  für  den  Studenten  gut  ist. 

Der  Verfasser  hat  die  Form  klinischer  Vorlesungen  ge 
wählt  und  dadurch  der  Diktion  eine  Flüssigkeit  verliehen,  die 
von  der  trockenen  Aufzählung  der  Krankheilssymptome  und  Be¬ 
handlungsmethoden  anderer  Lehrbücher  wohltuend  absticht.  Aber 
es  kommen  dadurch  auch  eine  Menge  Weitschweifigkeiten  hinein, 
die  zwar  im  wirklichen  Vortrage  nützlich  oder  selbst  notwendig 
sind,  hei  der  Lektüre  hingegen  überflüssig  und  zwecklos  er¬ 
scheinen  und  überdies  den  Umfang  des  Buches  ungebührlich 
erweitern.  In  der  Tat  ist  das  Buch  Römers  das  gewichtigste 
von  allen  Lehrbüchern  der  Augenheilkunde  geworden. 

Die  Schilderung  der  einzelnen  Krankheitsformen  knüpft  an 
konkrete  Fälle  an;  im  Gange-  der  Untersuchung  sind  die  wich¬ 
tigsten  sich  aufdrängenden  Fragen  besonders  hervorgehoben,  doch 
hätte  die  Charakteristik  der  verschiedenen  Krankheitsformen  etwas 
prägnanter  sein  können.  Einige  Ansätze  hiezu  in  Form  übersicht¬ 
licher  Tabellen  sind  allerdings  vorhanden.  An  Abbildungen  ist 
nicht  gespart  worden;  wir  finden  hier  wieder  die  alltäglichsten 
Handgriffe  bei  der  Untersuchung  und  Behandlung  im  Bilde  fest- 
gehalten,  sowie  zahlreiche  Photogramme  und  farbige  Abbildungen 
äußerer  Erkrankungen  des  Auges  und  seiner  Anhänge.  Die  patho¬ 
logische  Anatomie  ist  hingegen  ziemlich  stiefmütterlich  behan¬ 
delt  und  Augenspiegelbilder  fehlen  gänzlich. 

Wie  die  moderne  Augenheilkunde  überhaupt,  hat  sich  der 
Verfasser  besonders  die  Pflege  der  Grenzgebiete  angelegen  sein 
lassen,  so  ist  z.  B.  die  Diagnostik  der  Hirntumoren  und  Meningitis- 
formen  vom  Standpunkte  des  Okulisten  sehr  ausführlich  bearbeitet. 
An  Reichtum  des  Inhaltes  in  Hinsicht  auf  reine  Augenverände¬ 
rungen  kann  sich  aber  das  Buch  Römers  nicht  mit  dem  von 
Fuchs  messen. 

Denn  auch  der  Lehrer  selbst  lernt  durch  das  Lehren  und 
erst,  durch  dieses  Zusammenarbeiten  von  Lehrer  und  Schüler 
gewinnt  ein  Lehrbuch  seine  volle  Brauchbarkeit. 

* 

Untersuchung  der  Pupille  und  der  Irisbewegungen 
beim  Menschen. 

Von  Dr.  Karl  Weiler,  Assistent  der  königl.  psychiatrischen  Klinik  in 

München. 

Sonderabdruck  aus  Zeitschr.  für  die  ges.  Neurologie  und  Psychiatrie. 

Berlin  1910,  J.  Springer. 

Der  von  Weiler  konstruierte  Apparat  erlaubt  .zunächst 
die  Intensität  der  Beleuchtung  entsprechend  abzustufen;  zur  Mes¬ 
sung  selbst  dient  ein  transparentes  Meßinstrument,  dessen  Bild 
durch  eine  uni  45°  geneigte  Platte  an  den  Ort  der  Pupille 
projiziert  wird.  Die  Beobachtung  erfolgt  durch  eine  Art  von 
Brückescher  Lupe.  Einrichtungen  zur  Erzeugung  beliebiger 
Konvergenz,  zur  Messung  des  zeitlichen  Ablaufes  der  Pupillen¬ 
phänomene  und  zur  Photographie  vervollständigen  den  Apparat. 
Sogar  Kinematogramme  der  Pupillenbewegungen  wurden  aufge- 
nomrnen. 

Mit  solcher  Methode  durchge-führte  Untersuchungen  ver¬ 
dienen  jedenfalls  mehr  Vertrauen  als  die  Ergebnisse  früherer, 
mit  unvollkommener  Technik  gemachter  Untersuchungen  und  wenn 
Weiler  nicht  imstande»  war,  völlig  neue  Tatsachen  aufzudecken, 
so  ist  doch  unsere  Kenntnis  der  Pupillenphänomene  durch  ihn 
beträchtlich  vertieft  und  in  manchen  Punkten  korrigiert  worden. 

Es  ist  nicht  möglich,  hier  auf  die  tatsächlichen  Ergebnisse 
der  Arbeit  genauer  einzugehen;  nur  einiges  sei  herausgegriffen. 
Bach  hatte  in  seine»r  Pupillenlehre  angegeben,  daß  die  direkte 
Lichtreaktion  über  die  kon sensuelle  überwiege.  Diese,  unseren 
früheren  Anschauungen  zuwiderlaufende  und  daher  mit  berech¬ 
tigtem  Zweifel  aufgenommene  Angabe  stellt  sich  nach  Weiler 
als  ein  seltener  Ausnahmsfall  heraus.  Den  Haabschen  Hirn¬ 
rindenreflex  konnte  Weiler  niemals  nach  weisen.  Sehr  bemer¬ 
kenswert  erscheint  die  Feststellung,  wie  sich  der  Beginn  der 
reflektorischen  Starre  gestaltet:  Neben  der  allmählichen  Abnahme 
im  Ausmaße  und  der  Geschwindigkeit  der  Irisbewegung  ist  das 
rasche  Nachlassen  des  Iristonus  und  das  Ausbleiben  der  „se¬ 
kundären  Reaktion“  charakteristisch.  Endlich  sei  noch  auf  die 
kurzen  und  für  diagnostische  Zwecke-  sehr  brauchbaren  Charak¬ 
teristiken  verschiedener  Erkrankungen  des  Zentralnervensystems 
hingewiesen. 


358 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


Lehrbuch  der  Augenheilkunde. 

Von  Dr.  Theodor  Axeufeld,  Professor  in  Freiburg  i.  Br. 

Zweite  Auflage. 

Jena  1910,  G.  Fischer. 

Die  Liste  der  Mitarbeiter  dieses  Lehrbuches  weist  drei 
neue  Namen  auf:  Stock,  Hertel  und  0  eil  er.  Der  erste  hat 
die  Erkrankungen  der  Tränenorgane,  der  zweite  die  Verletzungen 
bearbeitet,  während  0  eil  er  eine  Reihe  neuer  ophthalmoskopi¬ 
scher  Tafeln  mit  begleitendem  Texte  zur  Verfügung  gestellt  hat. 
Dadurch  und  durch  die  Ausführung  dieser  Bilder  in  Chromo¬ 
lithographie,  ist  eine  empfindliche  Schwäche  der  ersten  Auflage 
kompensiert  worden.  Die  alten  ophthalmoskopischen  Bilder  sind 
zwar  nicht  ganz  kassiert  worden,  sondern  erscheinen  mit  Aus¬ 
nahme  einiger  ganz  mißlungener  als  Textfiguren  wieder,  nicht 
gerade  zu  ihrem  Vorteile,  denn  der  Vergleich  mit  den  guten 
OeTerschen  Bildern  läßt  ihre  Mängel  nur  um  so  deutlicher 
hervortreten. 

Plan  und  Durchführung  des  Werkes  sind  dieselben  ge¬ 
blieben,  die  neuen  Bearbeiter  haben  sich  in  der  Anordnung  und 
Behandlung  des  Stoffes  auch  nicht  allzuweit  von  ihren  Vorgängern 
entfernt.  Auch  in  den  übrigen  Kapiteln  sind  keine  eingreifenden 
Aenderungen  oder'  wesentlichen  Zusätze  zu  verzeichnen,  ich  darf 
also  wohl  auf  die  Besprechung  der  ersten  Auflage  verweisen.’) 

Es  soll  jedoch  nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  das  Papier 
dieser  Auflage  sehr  viel  matter  ist  als  das  der  ersten,  ein,  großer 
Vorzug  für  das  Lesen  bei  künstlicher  Beleuchtung  und  daß  die 
Deutlichkeit  der  Abbildungen  dadurch  nicht  gelitten  hat. 

* 

Atlas  der  äußerlich  sichtbaren  Erkrankungen  des  Auges. 

Von  Prof.  Dr.  0.  Haal)  in  Zürich. 

Vierte,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage. 

München  1910,  Lehmanns  Verlag. 

Die.  ophthalmologischen  Atlanten  von  Ha  ab  bedürfen  keiner 
Empfehlung  mehr;  sie  haben  sich  längst  die  ganze  ophtbal- 
mologische  Welt  erobert.  Die  neue,  vierte  Auflage-,  weist  aber¬ 
mals  eine  Vermehrung  der  Abbildungen,  allerdings  nur  der 
schwarzen  auf;  von  diesen  sei  besonders  eine  Abbildung  der 
durch  Risse-  in  der  D  es  c em e  t sehen  Membran  hervorgerufenen 
Hornhauttrübungen  erwähnt,  ferner  zwei  Abbildungen  der  Hut¬ 
chinson  sehen  Zähne  nach  Photogrammen,  Herpes  zoster  oph¬ 
thalmicus  und  einige  andere  Lid-  und  Orbitalaffektionen.  Die  far¬ 
bigen  Tafeln  haben  gegen  die  letzte  Auflage  keine  Vermehrung 
erfahren.  Ich  muß  indessen  gestehen,  daß  mir  die  Ausführung 
der  farbigen  Tafeln  in  der  letzten  (dritten)  Auflage  besser  zu¬ 
gesagt  hat,  als  in  der  vierten.  Ein  auffallendes  Hervortreten 
der  blauen  Töne-  macht  sich  bei  dieser  störend  bemerkbar. 

Der  Text  hat  manche  durch  den  Fortschritt  unserer  Wissen¬ 
schaft  bedingte  Ergänzungen  erfahren ;  wir  finden  erwähnt :  die 
internationalen  Sehproben,  den  Trachomerreger,  die  Bedeutung 
der  Wassermann  sehen  Untersuchung  u.  a. 

So  kann  auch  diese  Auflage  getrost  ihren  Weg  in  die 
wissenschaftliche  und  studierende  Welt  antreten;  sie  wird  ebenso 
wie  die  früheren  ihres  Erfolges  sicher  sein. 

Salznia n  n. 

* 

Resultate  und  Probleme  der  Badischen  Krebsstatistik. 

Von  Dr.  ß.  Werner. 

29  Seiten. 

Tübingen  1910,  H.  Laupp. 

Das  Büchlein  ist  in  der  Hauptsache  nichts  als  ein  kurzer 
Auszug  aus  dem  Buche  des  Verfassers:  „Das  Vorkommen  des 
Krebses  in  Baden“,  dazu  bestimmt,  die  Ergebnisse  der  weitläufigen 
Untersuchungen  Werners  einem  größeren  Leserkreis©  mund¬ 
gerecht  zu  machen.  Ref.  hat  also  diesmal  nur  auf  die  frühere 
Besprechung  des  Buches  hinzuweisen,  um  auch  den  Inhalt  des 
Büchleins  kurz  zu  kennzeichnen.  Siegfr.  Rosenfeld. 

’)  Jahrgang  1909,  Nr.  34,  S.  1191. 


Aus  versehiedenen  Zeitschriften. 

243.  Ueber  die  Wirkung  von  S a  1  v a r s a n  bei  Ma¬ 

laria.  Von  Prof.  Jul.  Iversen  und  Dr.  M.  Tuschinsky  in 
St.  Petersburg.  Den  Verfassern  standen  61  Fälle  von  Malaria  zur 
Verfügung,  24  Tertiana,  3  Quartana,  29  Tropika,  2  Tertiana 
Tropika,  1  Quartana  +  Tropika,  keine  Plasmodien  nachzuweisen 
in  2  Fällen.  Intravenös  wurde  gewöhnlich  eine  Dosis  von  0-5, 
subkutan  (oder  intramuskulär  eine  Dosis  von  0-3  g  injiziert.. 
Später  wandten  sie  auch  die  kombinierte  Methode  an,  das  heißt 
etwa  zwei  Tage  nach  der  ersten  intravenösen  Einspritzung  von 
Salvarsan  wurde  noch  eine  intramuskuläre  Injektion  in  alkalischer 
Lösung  oder  eine  subkutane  nach  Wechsel  mann  gemacht. 
Ein  Fall  von  schwerer  toxischer  Form  bei  einem  23jährigen 
Manne  kam  sechs  Stunden  nach  der  Einführung  von  Salvarsan 
(Infusion  von  0-5  g)  ad  exitum.  Anatomische  Diagnose:  Malaria, 
akute  Nephritis,  Herzparalyse.  Ihre  Resultate  fassen  die  Autoren 
in  folgenden  Sätzen  zusammen:  Das  Salvarsan,  einmalig  in  einer 
Dosis  von  0-5  intravenös  eingeführt,  erweist  eine  spezifische 
Wirkung  auf  alle  Arten  von  Malariaparasiten.  Bei  der  Tertiana 
verschwinden  die  Parasiten  in  den  meisten  Fällen  schon  nach 
12  bis  48  Stunden  aus  dem  Blute,  die  Anfälle  hören  auf.  Wie 
anhaltend  diese  Wirkung  ist,  kann  noch  nicht  gesagt  werden. 
Es  ist  ratsam,  die  intravenöse  Einführung  des  Salvarsans  mit 
der  intramuskulären  zu  kombinieren.  Bei  der  Quartana  ist  die 
Wirkung  des  Mittels  nicht  anhaltend,  sogar  bei  einer  Dosis  von 
0-S.  Bei  der  tropischem  Form  kann  bei  Dosen  von  0-5  und  0-8 
nur  -eine  zeitweilige  Befreiung  des  peripheren  Blutes  von  den 
ringförmigen  Parasiten  erreicht  werden.  Die  Halbmondform  ver¬ 
schwindet  nicht,  jedoch  tritt  zuweilen  eine  zeitweise  Veränderung 
ihrer  Form  und  Färbung  ein.  In  einigen  Fällen  von  tropischer 
Malaria  trat  nach  einem  zeitweiligen  Sinken  der  Temperatur, 
Verminderung  oder  völligem  Verschwinden  der  Ringform,  eine 
deutliche  Verschlimmerung  des  Zustandes  ein,  wobei  im  Blute 
wieder  massenweise  Ringe  und  Halbmonde  vorhanden  waren.  — 
(Deutsche  med.  Wochenschrift  1911,  Nr.  3.)  E.  F 

* 

S 

244.  Ueber  Arterienrigidität  im  Kindesalter.  Von 
Priv.-Doz.  Dr.  Franz  Hamburger,  Abteilungsvorstand  der  Wiener 
Poliklinik.  Verf.  macht  seit  Jahren  die  Beobachtung,  daß  schein¬ 
bar  gesunde  Kinder  jenseits  des  siebenten  Lebensjahres  nicht 
selten  auffallend  deutlich  palpable  Arterien  haben.  Die  Arteria 
radialis  und  temporalis  fühlen  sich  oft  direkt  rigide  , an.  Normaler¬ 
weise  soll  man  beim  Kind  und  auch  beim  Erwachsenen  nur  den 
Puls,  also  eine  Bewegung,  nicht  aber  die  Arterienwand,  also  das 
Bewegte-,  palpieren  können.  Sowie  man  die  Wand  der  Radialis 
oder  Temporalis  palpieren  kann,  ist  dies  als  etwas  Abnormales 
aufzufassen.  Bei  Kindern  unter  sechs  Jahren  sind  die  Arterien¬ 
wände-  so  zart,  daß  man  sie  nur  selten  palpieren  kann.  Jenseits 
des  Sechsteln  und  siebenten  Lebensjahres  findet  man  schon  öfters 
palpable  Wände.  Es  zeigen  sich  jedoch  solche  Schwankungen 
in  der  Rigidität,  daß  man  sie  nur  auf 'den  Tonus  der  Gefäßmusku¬ 
latur  bezieheh  kann.  Auf  diese  Zustände  hat  man  bisher  nicht 
geachtet.  Verf.  fand  in  der  Literatur  nur  ähnliche  Beobachtungen 
bei  Krehl.  Doch  be-ziehen  sich  diese  nur  auf  jugendliche  Per¬ 
sonen  jenseits  des  14.  Lebensjahres.  Auch  Sch  lay  er  hat  darauf 
hing-ewies-em  und  mit  Fischer  gezeigt,  "daß  es  sich  hiebei  nicht 
um  sklerotische  Veränderungen  im  Sinne  der  pathologischen  Ana¬ 
tomen  handelt.  Eine  genauere  Beobachtung  solcher  Kinder  er¬ 
gibt,  daß  -es  sich  meist  um  reizbare,  erregbare  Kinder  handelt. 
Sie-  klagen  über  Kopfschmerz  und  Herzklopfen.  Solche  Kinder 
zeigen  gewöhnlich  die  Symptome  erhöhter  vasomotorischer  Er¬ 
regbarkeit:  plötzliches  Erröten  bei  Freude,  plötzliches  Erblassen 
bei  Angst,  Neigung  zu  kalten  Händen  und  Füßen,  zu  Schweißen, 
allgemeines  Kältegefühl,  mehr  oder  weniger  starken  Dermogra¬ 
phismus.  Ferner  findet  man  oft  einen"  Pulsus  irregularis  respira- 
torius,  d.  h.  Frequeote-rwerden  während  des  Inspiriums,  Lang- 
samerwerden  während  des  Exspiriums.  Endlich  findet  man  bei 
solchen  Kindern  öfters  lordotische  Albuminurie,  die  nach  An¬ 
sicht  vieler  Autoren  auf  einer  Labilität  der  Vasomotoren  beruht. 
Verf.  hebt  hervor,  daß  dieser  erhöhte  Arterientonus  sich  oft  zur 
selben  Zeit,  einstellt,  wie  die  nervösen  Erscheinungen,  nämlich 
im  Schulalter.  Es  scheint  eben,  daß  die  Schule  mit  den  Folgen 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


359 


geistiger  Anstrengung  und  stärkerer  psychischer  Erregung  ganz 
besonders  das  Vasomotorensyysteni  schädigt.  Die  Arterienrigidilät 
bei  chronisch  Kranken  hat  mit  den  hier  mitgeteilten  Befunden 
bei  nervösen  Kindern  nichts  zu  tun.  Verf.  wollte  mit  diesen 
Mitteilungen  nur  auf  die  relative  Häufigkeit  von  Arterienrigidität 
späteren  Kindesalter  hinweisen  und  den  nervösen,  resp.  vaso¬ 
motorischen  Charakter  derselben  feststellen.  —  (Münchener  medi¬ 
zinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  5.)  G. 

* 

245.  Motorische  Schlafstörungen.  Von  Ernst  Trüm¬ 

mer  in  Hamburg.  Die  von  Trö  miner  vertretene  Theorie  des 
Schlafes,  welche  besagt,  daß  der  Schlaf  eine  allgemein, 
waluschein  lieh  subkortikal  (Thalamus  opticus?)  ausgelöste 
Hemuiüng  der  Rindenfunktion  ist,  so  daß  während  des 
Schlafes  n;ur  zirkumskripte  und  verminderte  Reaktionsfähig¬ 
keit  besteht,  ermöglicht  eine  Reihe-  von  Schlafstörungen  nach 
physiologischen ’Gesichtspunkten  darzustellen,  welche  einer  Disso¬ 
ziation  der  Rindenfunktionen  entspringen.  Wie  die  Träume  lokale 
Erregungen  sensorischer  Rindenfelder  sind,  so  gibt  es  auch  eine 
Reihe  von  Schlafstörungen,  welche  umschriebene  Erregung  mo¬ 
torischer  Rindenbezirke  anzeigen.  Am  häufigsten  ist  das  Schlaf¬ 
sprechen,  welches  gleichsam  das  Negativbild  einer  motorischen 
Aphasie,  ein  Wachwerden  des  motorischen  Komponenten  von 
Wortvorstell ungern  ist.  Nur  bei  gehäuftem  Auftreten  ist  es  neuro- 
pathisch.  'Eher  ist  dies  das  seltenere  Schlafwandeln,  welches  aber 
trotz  Aehnlichkeit  mit  epileptischen  Dämmerzuständen  kaum  epi¬ 
leptische  Grundlage  hat.  Der  funktionelle  Gegensatz  des  Schlaf¬ 
wandeins  ist  das  gehemmte  Erwachen  (den  sensorischen  Gegensatz 
zu  Schlafsprecheh  bilden  Traumphänome),  welches  von  Pfister 
ein  verzögertes  psycho -motorisches  Erwachen,  von  Trümmer 
kataleptischer  Halbschlaf  genannt  wird  und  ebensowenig  epilep¬ 
tisch , «oder  hysterisch  zu  sein  braucht.  Eine  weitere  Art  von  moto¬ 
rischen  Schlafstörungen  sind  Zwangsbewegungen  im  Schlaf: 
Schlaftic,  Jactatio  nocturna,  woran  nur  Neuropathen  u.  zw.  fast 
nur  Kinder  bis  zur  Pubertätszeit  leiden,  lieber  Sornato-  und 
Psychotherapie  kommt  als  Heilmittel  hypnotische  Suggestion  in 
Frage,  weiche  den  Schlaftic  meist  günstig  beeinflußt  (Nacht¬ 
wandeln  läßt  sich  stets  günstig  durch  Hypnose  beeinflussen;  bei 
richtiger  Anwendung  hat  hypnotische  Behandlung  absolut  keine 
Nachteile).  Zu  den  motorischen  Schlafstörungen  gehören  auch 
verschiedene  Reflexstörungen :  Enuresis  nocturna  und  Pollutionen, 
welche  nur  außerhalb  physiologischer  Grenzen  als  pathologisch 
anzusehen  sind  und  dann  sicher  funktionelle  Erkrankungen  sind, 
was  durch  die  Heilbarkeit  mittels  hypnotischer  Suggestion  zu¬ 
meist  erweislich  ist.  Die  funktionelle  Schwäche  liegt  aber  weder 
im  Detrusor,  noch  im  Sphinkter,  sondern  hat  zwei  Ursachen: 
erstens  reizbare  Schwäche  der  sympathischen  oder  eventuell  des 
subkortikalen  Miktionszentrums  (vorderer  Thalamuskern)  und 
zweitens  die  funktionelle  Ausschaltung  des  Großhirnrindenein- 
flusses  im  Schlaf  (Enuresis  nocturna  —  bei  Enuresis  diurna  ist 
die  Aufmerksamkeit  vollkommen  nach. einer  Richtung,  zum  Bei¬ 
spiel  Spiel,  abgelenkt).  —  (Fortschritte  der' Medizin  1910,  28.  Jahrg., 
Nr.  48.)  K.  S. 

* 

246.  Erfolgreiche  Behandlung  von  Chorea  minor 

mit  Salvarsan.  Von  Hofrat  Dr.  Johann  v.  Bokay  in  Buda¬ 
pest.  Bei  einem  achtjährigen  Mädchen  verschwand  nach  subku¬ 
taner  Injektion  von  0-20  g  neutraler  Arsenobenzolemulsion  eine 
genügend  intensive,  nach  einjähriger  Pause  rezidivierende  Chorea 
minor  —  im  Verlaufe  von  vier  Wochen  —  ohne  auch  nur  eine 
Spur  zu  hinterlassen.  An  der  Injektionsstelle  entstand  eine  Haut¬ 
nekrose.  Ein  zweites,  gleichaltriges  choreatisches  Mädchen  bekam 
Solut.  Fowler i  per  os,  bisher  178  Normaltropfen,  ohne  beson¬ 
deren  Erfolg.  Eine  Erklärung  der  prompten  Wirkung  des  Salv- 
arsäns  im  ersten  Falle  wird  nicht  gegeben.  —  (Deutsche  medizi¬ 
nische  Wochenschrift  1911,  Nr.  3.)  F.  1. 

*  (' 

247.  (Aus  der  -  kg  1 .  Universitäts  -  Frauenklinik  München.  - 
Direktor :  Geh.  Rat  Prof.  D  ö der  1  e  i  n.)  Der  Pemphigus  s  y  p  h  i- 
liticus  der  Neugeborenen.  Von  Prof.  Baisch,  Oberarzt 
der  Klinik.  Verf.  berichtet  über  13  Fälle  von  Pemphigus  syphili¬ 
ticus  auf  rund  6000  Geburten.  Bei  einem  im  Dezember  1910  in 
der  Klinik  geborenen  Mädchen  mit  Pemphigus  prüfte  er  das 


Verhalten  desselben  gegenüber  dem  Salvarsan.  Die  Mutter,  die 
keine  Zeichen  von  Syphilis  an  sich  hatte,  gab  stark  positive 
W asserm an n sehe  Reaktion  und  in  den  Pemphigusblasen  des 
Kindes  fanden  sich  reichlich  typische  Spirochäten.  Verf.  injizierte 
der  Mutter  noch  am  Abend  der  Geburt  0-4  g,  Salvarsan  in  die  linke 
Kubitalvene.  Die  Mutter  stillte  das  Kind  vom  vierten  Tage  ab. 
Die  Eruption  der  Pemphigus  blasen  hatte  nicht  zugenommen;  die 
bereits  vorhandenen  hatten  sich  nicht  wesentlich  geändert.  Mit 
dem  siebeilten  Tage  traten  jedoch  zahlreiche  neue  Pemphigus¬ 
eruptionen  auf,  die  eitrig  waren.  Es  wurde  daher 'am  achten  Tage 
auch  das  Kind  mit  Salvarsan  behandelt,  zumal  sich  auch  eine 
schwere  Rhinitis  ausgebildet  hatte.  Es  wurden  0-15  cm3  Salvarsan 
in  neutraler  Emulsion  in  den  rechten  Glutäus  injiziert.  Das 
Kind  nahm  auch  in  den  nächsten  Tagen  nach  der  Injektion  noch 
an  Gewicht  ab.  Allein  der  Einfluß  derselben  auf  das  Exanthem 
war  ein  eklatanter.  Die  Blasen  fingen  schon  am  Tage  nach  der 
Injektion  an  einzutrocknen,  waren  nach  zwei  weiteren  Tagen 
vollständig  trocken  und  nirgends  waren  mehr  Spirochäten  nach¬ 
zuweisen.  Auch  die  Rhinitis  war  am  zweiten  Tage  vollständig 
geheilt,  die  Nase  trocken  und  die  Atmung  absolut  frei.  Auch  der 
starke  Soorbelag  war  verschwunden.  Am  dritten  Tage  nach  der 
Injektion  nahm  das  Kind  auch  an  Gewicht  zu.  Am  18.  Tage 
zeigten  sich  wieder  zwei  neue  Pemphigusblasen;  die  Rhinitis 
rezidivierte.  Die  Haut  an  der  Einstichstelle  war  in  Linsengröße 
nekrotisch  geworden.  Temperatur  im  Rektum  38-5°.  Es  wurde 
daher  am  18.  Tage  eine  zweite  Dosis  von  Salvarsan  (0-15)  in 
dein  anderen  Glutäus  injiziert.  Die  Wirkung  war  ebenso  frappant 
wie  das  erstemal.  Die  Pemphigusblasen;  trockneten  sofort  ein;  die 
Rhinitis  verschwand.  Dias  Körpergewicht  nahm  regelmäßig  zu 
um  40  g  täglich  bei  ausschließlicher  Ernährung  an  der  Mutter¬ 
brust.  Bei  der  Entlassung  am  31.  Tage  nach  der  Geburt  wog  es 
2560  g  gegen  2450  g  bei  der  Geburt  und  2020  g  bei  seinem  tiefsten 
Stande.  Die  Haut  war  völlig  rein.  Alle  Blasen  waren  mit  gesunder 
Epidermis  überhäutet.  In  beiden  Glutäen  fühlte  man  noch  die 
derbe  Infiltration.  Auch  zu  Hause  nahm  es  in  (den  nächsten  Tagen 
noch  an  Gewicht  zu.  Der  Fall  zeigt  somit,  daß  1.  die  intravenöse 
Injektion  der  stillenden  luetischen  Mutter  allein  nicht  genügt, 
um  Säuglinge  mit  schwerer  Lues'  zu  heilen;  2.  daß  Kinder  in  der 
ersten  Lehenswoche  das  Salvarsan  selbst  in  größerer  Dosis  aus¬ 
gezeichnet  vertragen;  3.  daß  das  Salvarsan  imstande  ist,  selbst 
bei  den  malignen  Fällen  des  angeborenen  Pemphigus  syphiliticus, 
die  bisher  jeder  Therapie  völlig  trotzten  und  eine  fast  absolut 
letale  Prognose  ergaben,  rasch  Heilung  zu  erzielen.  Die  I  herapie 
besaß  bisher  gegen  diese  schwersten  Formen  der  kongenitalen 
Lues  kaum  ein  wirksames  Mittel.  Quecksilbereinreibungen  sind  bei 
diesen  mit  eitrigen  Pemphigusblasen  übersäten  Kindern  unmög¬ 
lich.  Das  Sublimatbad  ist  ohne  nennenswerte  Wirkung  und 
die  Behandlung  mit  Protojoduret  läßt  gerade  beim  Pemphigus  fast 
immer  im  Stiche.  Ob  eine  Dauerheilung  erzielt  wurde,  muß  die 
später  vorzunehmende  Wassermann  sehe  Reaktion  ergeben. 
Jedenfalls  braucht  man  sich  nach  Verfasser  nicht  zu  scheuen, 
das  Kind  eventuell  später  noch  einmal  mit  Salvarsan^  zu  injizieren. 

—  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  5.)  G. 

* 

248.  Beobachtungen  bei  exsudativer  und  adhä¬ 
siver  Perikarditis.  Von  K.  F.  Wenkeb ach -Groningen.  Das 
Lufteinlassen  nach  der  Punktion  eines  pleuritischen  Exsudates 
wird  auf  der  Klinik  Wenckebach  seit  einigen  Jahren  regelmäßig 
angewendet,  da  die  Vorteile  der  Methode  große  sind  und  sie, 
soweit  bekannt,  keine  Nachteile  besitzt.  Wenckebach  berichtet 
nun  auch  über  einen  Fall  von  seröser  Perikarditis,  welchen  er 
ebenfalls  mit  bestem  Erfolge  mit  Lufteinlassen  behandelte.  Das 
Verfahren  ist  durchaus  einfach:  Durch  eine  Hohlnadel  oder  ein 
Troikart  wird  der  Herzbeutel  punktiert.  Das  Exsudat  quillt  aus 
der  Kanüle  hervor  und  wird  durch  einen  daran  gebundenen 
Gummischlauch  in  ein  Gefäß  geleitet.  Den  Abfluß  regelt  man 
durch  mehr  oder  weniger  Zudrücken  des  Schlauches.  W  enn  dei 
Ablauf  träger  wird,  taucht  man  das  untere  Ende  des  Schlauches 
in  die  Flüssigkeit  hinein.  Nach  Beendigung  der  Punktion  wird 
Luft  eingelassen  u.  zw.  ungefähr  halb  soviel  Kubikzentimeter, 
als  Flüssigkeit  abgelassen  wurde.  Ein  Doppelflaschenapparat,  imt 
Sublimatlösung  gefüllt  und  an  beiden  Oeffnungen  durch  sterdi- 
sierte  Watta  abgeschlossen,  wird  in  der  Weise  benutzt,  daß  man 


36U 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


durch  Höherstellen  der  gefüllten  Flasche  die  Subliraatlösung  ab- 
1  ließen  laßt  in  die  zweite  luftgefüllte  Flasche.  Ein  Papi  er  st.  reifen 
mit  experimentell  gefundenem  Kubikzentimetermaße  zeigt,  wie 
\iel  Luft  aus  der  Hasche  in  den  Herzbeutel  hineingetrieben 
wird.  Hat  man  einmal  Luft  eingelassen,  so  gelingt  es  nachher 
w  eniger  leicht,  noch  weiteres  Exsudat  abzuziehen,  weil  sich  dieses 
dann  in  die  unteren  Schlupfwinkel  des  Herzbeutels  zurückzieht. 
Eine  bis  in  die  Perikardialschwarte  geführte  Kokaininjektion  er¬ 
leichtert  die  Punktion  des  Herzbeutels  sehr  wesentlich.  Nie¬ 
mals  kam  es  zu  Unannehmlichkeiten  für  die  Patienten  bei  der 
Punktion.  W  enckebach  empfiehlt  seine  Methode  wärmstens 
zur 'Nachahmung  in  ähnlichen  Fällen.  —  Betreffend  die  adhäsive 
Perikarditis  macht  W  enckebach  auf  ein  außerordentlich  wich- 
liges  Symptom  aufmerksam,  welches  in  allen  Fällen  vorhanden 
ist.  Es  handelt  sich  hiebei  um  einen  abnormen,  bisher  der  Beob¬ 
achtung  entgangenen  Atemmechanismus.  Dadurch,  daß  die  Ver¬ 
wachsungen  die  Brustwand  in  der  Regio  cordis  fixieren,  wird  die 
\  orwärtshebung  der  vorderen  Brustwand  bei  der  Atmung  ver¬ 
hindert.  Da  dieses  Symptom  nur  noch  bei  beiderseitigen  starken 
pleuritischen  Verwachsungen  vorkommt,  so  ist  bei  Anwesenheit 
dieser  Störung  eine  adhäsive  Perikarditis  höchst  wahrscheinlich 
vorhanden  und  ist  andrerseits  eine  solche  Krankheit  bestimmt  aus- 
zuschließejn  bei  geräumiger  respiratorischer  Vorwärtsbewegung  der 
vorderem 'Brustwand.  —  (Zeitschrift  für  klinische  Medizin,  Bd.  71, 
iHj.  3  'bis  6.)  K  g 

* 

249.  Unguent. um  Glycerin  i.  Von  P.  G.  Unna  und 
P.  I  n  n  a  jun.  in  Hamburg.  Um  eine  gute  Glyzerinsalbe  zu  erhalten, 
möge  man  dem  Glyzerin  nicht  Arnylum,  Tragant  und  dergleichen 
zusetzen,  sondern  Eucerinum  anhydricum.  Das  Euzerin  wird 
zunächst  im  Mörser  kräftig  verrührt  (schaumig)  und  dann  in 
kleinen  Portionen  nach  und  nach  mit  dem  Glyzerin  gemischt. 
Man  kann  dem  Euzerin  10°/o,  20°,«,  ja  80%jlGlyzerin  ohne  Schwie¬ 
rigkeit  inkorporieren  und  macht  dabei  die  überraschende  Erfali- 
rung,  daß  alle  diese  Mischungen  die  Festigkeit  und  Konsistenz 
sehr  geschmeidiger  Salben  haben.  Euzerin  wird  aus  dem  Woll¬ 
fett  dargestellt.  Die  neue  Glyzerinsalbe  (20:80  Glyzerin)  verträgt 
sich  mit  sämtlichen  Medikamenten  (z.  B.  Jod)  und  besetzt  einen 
großem  Kreis  von  Indikationen,  auf  behaarter  (Pomade)  wie  un¬ 
behaarter  Haut.  Chirurgen,  Pflegerinnen  usw.  mögen  das  neue 
Unguentum  Glycerini  nach  abgetrockneten  Händen,  in  äußerst 
geringer  Menge  applizieren  und  werden  eine  geschmeidige,  nicht 
spröde,  nicht  schlüpfrige  Oberhaut  gewinnen.  —  (Med.  Klinik 
1911,  Nr.  3.)  E.  f 

2o0.  Zur  Kasuistik  der  Koitus  verletz ungen.  Von 
Dr.  H.  ßoshouw  ers.  1  crf.  beschreibt  eine  Koitusverletzung  bei 
einer  4  Tage  verheirateten  Frau.  Der  freie  Rand  des  ringförmigen 
Hymens  war  sehr  fleischig  und  dick,  in  seinem  ganzen  Umfange 
intakt.  In  die  eigentliche  Hymenalöffnung  konnte  mit  Mühe  nur 
die  Spitze  des  kleinen  Fingers  eingeführt  werden,  aber  es  befand 
sich  in  der  Basis  des  Hymens  ein  Riß  von  etwa  2Vs  cm  Länge, 
doi  sich  nach  links  und  hinten  bis  in  das  kleine  Labium  fort¬ 
setzte.  Naht.  Heilung.  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911 
Nr.  4.)  -  E.  V. 

* 

251 .  Radikale  0 p e. ration en  des  Schenkel  Bruches, 
durch  Faszienplastik.  Von  Prof.  Wilms  in  Heidelberg. 
Seit  einem  Jahre-  bewerkstelligt  Verfasser  den  Verschluß  der 
Schenkelbruchpforte  mit  kräftigen  Faszienlappen  von  der  Fascia 
lata.  Er  operiert  in  der  folgenden  Weise:  Inzision  der  Haut  1  cm 
über  dem  Pou part  sehen  Band,  parallel  mit  diesem,  so  daß  man 
m  der  Gegend  des  Leistenringes  Muskel  und  Faszie  trennt.  Das 
Bauchfell  wird  nicht  eröffnet,  sondern  stumpf  von  der  Hinteren 
Fläche  des  Ligamentum  Poupartii  und  dem  Schambeinast  ab¬ 
gelöst.  Ist  der  Bruch  sack  klein,  so  läßt  er  sich  in  der  Regel  ohne 
Schwierigkeit  von  innen  her  durch  den  Canalis  cruralisi  durch¬ 
ziehen  und  dann  abbinden.  Nun  folgt  die  Entnahme!  eines  Stückes 
der  Fascia  lata.  Verl,  hat,  um  diet  Fas-zie-  in  doppelter  Lage 
zur  Deckung  verwerten  zu  können,  immer  ein  beträchtliches  Stück 
von  10  bis  12  cm  Länge  und  5  bis  6  cm  Breite  genommen.  Dieses 
Stück,  doppelt  geschlagen,  wird  nun  an  der  hinteren  Seite  des 
Po  up  art  sehen  Bandes  mit  mehreren  Nähten  fixiert  und  hängt 


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dann,  wie  ein  Vorhang  von  innen  den  Canalis  cruralis  deckend 
und  die  Vene  auf  2  bis  3  cm  überlagernd,  nach  abwärts.  Eine 
besondere  Fixierung  der  relativ  kräftigen  Doppelfaszie  unten  am 
Schambeinast  ist  nicht  unbedingt  notwendig.  Schließlich  folgt 
der  Verschluß  der  Bauchdecken  durch  doppelte  Naht,  erst  von 
Fascia  transversa  und  Obliquus  internus  mit  dem-  Pou  part  sehen 
Band,  bzw.  den  gleichartigen  Gebilden  des  unteren  Schenkels 
des  Leistenkanals,  darüber  Naht  der  Faszie  des  Obliquus  ex- 
ternus.  Bei  den  acht  bis  jetzt  operierten  Fällen  ist  jedesmal 
glatte  Einheilung  der  Faszie  erfolgt  und  die  Bruchpforte  zeigt 
eine  auffallend  kräftige  Resistenz,  die  auf  Dauererfolge  hei  dieser 
Methode  rechnen  läßt.  Verf.  konzediert,  daß  bei  kleinen  ßruch- 
pforten  die  bekannten  Methoden  zum  Verschlüsse-  genügen,  doch 
sieht,  man  bei  arbeitenden  Frauen  Rezidive.  In  solchen  Fällen 
könnte  des  Verfassers  Plastik  in  Anwendung  kommen,  deren  wich¬ 
tigstes  Prinzip  (darin  besteht,- daß  nicht  der  Kruralring  einfach  ver¬ 
kleinert  oder  allein  in  seinem  Lumen  verschlossen  wird,  sondern 
daß  die  verschließenden  Faszien  sich  innen  breit  an  den  Ge¬ 
fäßen  und  den  benachbarten  Knochen  anlegen.  —  (Münchener 

medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  6.)  G. 

* 

252.  (Aus  der  Akademie  für  praktische  Medizin  in  Köln. 
Innere  Abteilung:  Prof.  Dr.  Hochhaus.)  Ueber  den  bak¬ 
teriologischen  Befund  bei  der  Meningitis  cerebro¬ 
spinalis  epidemica.  Von  Dr.  J.  Lehm a eher,  Assistenzarzt. 

I  Ueberblickt  man  die  bakteriologischen  Befunde  während  der  drei¬ 
jährigen  Meningitisepidemie  in  Köln,  so  findet  man,  daß  durch¬ 
schnittlich  in  19-49%  andere  Mikroorganismen  als  der  Weichsel¬ 
bau  in  sehe  Meningokokkus  Erreger  der  Krankheit  waren.  Inter- 
essanterweise  steigerten  sich  die  abweichenden  Befunde-  von  Jahr 
zu  Jahr  (1907:  11%;  1908:  14-8%;  1909:  55-5%!).  Pneumo¬ 
kokken  wurden  fünfmal  nachgewiesen;  Influenzabazillen  zwei¬ 
mal;  Meningokokken  -j-  Pneumokokken  zweimal;  Streptokokken 
~)~  Pneumokokken  einmal;  Pneumobazillen  -(-  Pneumokokken  ein¬ 
mal;  Diplobazillen  Frie-dlände-r  einmal;  Staphylokokken  einmal; 
unbestimmte  Erreger  dreimal.  Sechsmal  konnten  überhaupt  keine 
Mikroorganismen  nachgewiesen  werden.  Für  die  wechselnden  Be¬ 
funde  können  Technik  und  Untersuchungsmethoden  nicht  ver¬ 
antwortlich  gemacht  werden,  da  sie  immer  gleich  waren.  Es 
verbleibt  also  wirklich  nur  die  Annahme,  daß  die  Genickstarre 
ebensogut  wie  andere  Infektionskrankheiten  durch  verschiedene 
Erreger  hervorgerufen  werden  kann.  Weiterhin  auffallend  war 
bei  den  Kölner  bakteriologischen  Untersuchungen,  daß  die  Me¬ 
ningokokken  ein  sehr  wechselndes  und  verschiedenes  Färbungs¬ 
vermögen  besaßen,  wodurch  ihre  Feststellung  sehr  erschwert 
war.  Eine  Ursache  hiefür  war  nicht  ersichtlich,  zumal  die  Aus¬ 
striche  in  jedem  Falle  sofort  nach  der  Punktion  aus  dem  lebens¬ 
warmen  Punktat  angefertigt  worden  waren.  —  (Zeitschrift  für 
klinische  Medizin,  Bd.  71,  H.  3  bis  6.)  K.  S. 

* 

253.  Gholeravibrione.il  i  ni  Donaawasser.  Von 
Dr.  Eduard  Ströszner,  Assistent  am  bakteriologischen  Institute 
in  Budapest.  (Vorstand  :  Priv.-Doz.  B.  V  as.)  Einleitend  hebt  Verfasser 
hervor,  daß  pathogene  Bakterien  überhaupt  in  Flußläufen  keine 
günstigen  Bedingungen  für  ihre  Erhaltung  und  Vermehrung  finden, 
gleichwohl  haben  die  Erfahrungen  (Rotterdam  1909)  gelehrt,  daß 
sie  speziell  die  Gholeravibrionen  —  im  Flußwasser  lange  Zeit 
lebensfähig  bleiben  können.  Die  Choleravibrionen  besitzen  auch,  wie 
Christian  gezeigt  hat,  eine  sehr  große  Resistenz  gegen  Kälte, 
sie  können  auch  im  Eise  ihre  Lebensfähigkeit  lange  erhalten.  In 
der  Donau  hat  Verf.  zum  erstenmal  Gholeravibrionen  nachgewiesen. 
Am  15.  September  1910  kam  in  Budapest  ein  Frachtschiff  an,  auf 
welchem  sich  ein  Cholerakranker  befand.  Der  Kranke  kam  ins 
8pital,  in  seinen  Dejekten  fand  man  Choleravibrionen,  das  Schiff 
wurde  sogleich  unter  Quarantäne  gestellt,  u.  zw.  in  einem  Neben¬ 
arm  der  Donau  unterhalb  der  Stadt  (Winterhafen).  Es  verankerte 
sich  in  ungefähr  4  bis  5  m  Entfernung  vom  Ufer.  Am  nächsten 
Lage  wurde  knapp  neben  dem  Schiffe  1  Liter  Donauwasser  zur 
bakteriologischen  Untersuchung  entnommen.  Es  wurde  in  Erlen- 
meyerkölbchen  zu  je  100  cm3  verteilt,  dazu  kamen  10  cm3  Pepton¬ 
stammlösung,  wonach  die  Kölbchen  in  den  Thermostaten  gestellt 
wurden.  Am  nächsten  läge  war  in  allen  Kölbchen  Kammhautbildung 
zu  beobachten,  besonders  typisch  ausgeprägt  in  zwei  Kölbchen. 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


361 


Aus  diesen  beiden  wurden  Agarplatten  angelegt.  Es  entwickelten 
sich  auf  diesem  bis  zum  Abend  Choleravibrionen,  welche  sofort  zur 
orientierenden  und  am  18.  September  zur  eigentlichen  Aggluli- 
nationreaktion  verwendet  wurden.  Sie  war  positiv.  Das  Serum  agglu- 
tinierle  in  einer  Verdünnung  von  1 : 20.000  schon  in  20  Minuten 
die  Vibrionen.  Auch  die  Indolreaktion  war  positiv.  Der  Pfeiffer  sehe 
Versuch  fiel  ebenfalls  positiv  aus.  Nach  20  Minuten  war  typische 
Körnchenbildung  zu  sehen,  während  in  dem  peritonalen  Exsudate 
des  Kontrolltieres  lebhaft  bewegliche  Choleravibrionen  zu  beobachten 
waren.  Kein  Zweifel,  daß  der  aus  dem  Donauwasser  gezüchtete 
Vibrio  ein  wirklicher  Choleravibrio  war.  Mit  anderen  Beobachtern 
möchte  Verf.  auch  bei  Wasseruntersuchungen  der  Agglutination  die 
ihr  mit  Recht  gebührende  entscheidende  Bedeutung  in  der  Reihe 
der  diagnostischen  Methoden  wie  bisher  auch  in  Zukunft  zumessen. 
Damit  ist  also  auch  die  Infektiosität  der  Donau  nunmehr  durch  die 
bakteriologische  Untersuchung  bewiesen,  was  früher  nur  indirekt, 
auf  Grund  des  Auftretens  und  der  Weiterverbreitung  der  Cholera 
in  Ungarn  erschlossen  wurde.  Verf.  glaubt,  daß  die  Choleravibrioneri 
in  den  Nebenarm  der  Donau  durch  angetrocknete  Exkremente  oder 
anderes,  mit  Choleravibrionen  infiziertes  Material  etc.  gelangten,  da 
ausgedehnte  Untersuchungen  ergeben  hatten,  daß  es  unter  den 
Matrosen  des  Schiffes  keine  Bazillenträger  gegeben  habe.  Später 
derselben  Stelle  und  noch  anderwärts  entnommenes  Donauwasser 
enthielt  keine  Choleravibrionen  mehr;  sie  sind  entweder  im  Wasser 
rasch  zugrunde  gegangen,  oder  sie  wurden  vom  Wasser  weite*  ge¬ 
tragen,  oder  sie  sanken  zu  Boden,  oder  es  gelang  ihr  Nachweis 
nicht  wegen  ihrer  geringen  Anzahl.  Selbstverständlich  wurde  die 
Bevölkerung  sofort  auf  diese  Gefahr  aufmerksam  gemacht,  die  Donau 
und  ihre  Nebenarme  wurde  streng  überwacht.  Da  nun  kein  Zweifel 
darüber  besteht,  daß  in  der  Donau,  resp.  in  deren  Schlamm  die 
Choleravibrionen  überwintern  und  bei  Beginn  eines  regeren  Schiffs¬ 
verkehres  wieder  an  die  Oberfläche  des  Wassers  gelangen  können 
(Christian),  so  wäre  es  denkbar,  daß  das  Frühjahr  oder  der 
Sommer  uns  von  hier  aus  einen  neuen  Ausbruch  der  Cholera 
bringen  könnte.  Es  kommen  aber  gerade  hier  so  verschiedenartige 
Einflüsse  zur  Geltung  (die  chemische  Zusammensetzung  des  Wassers, 
seine  Temperatur,  seine  Selbstreinigung,  die  Wirkung  des  Sonnen¬ 
lichtes  und  der  verschiedenen  Wasserbakterien,  Protozoen,  sein  Ge¬ 
halt  an  Abwässern  etc.),  daß  es  ein  Zufall  wäre,  wenn  auf  diesem 
Wege  die  Cholera  wieder  ausbrechen  würde.  Doch  auch  mit  einem 
solchen  Zufall  müsse  man  rechnen,  die  Behörden  werden  also  gut 
tun,  die  Bevölkerung  rechtzeitig  und  bis  auf  weiteres  vor  der  Be¬ 
nützung  des  Donauwassers  (Donaueises),  zu  welchem  Zwecke  immer, 
eindringlich  zu  warnen.  —  (Deutsche  med.  Wochenschr.  1911, 
Nr.  5.)  E.  F. 

* 

254.  '(Aus  der  inneren  Abteilung  der  Krankenanstalt  Altstadt 
zu  Magdeburg.  —  Oberarzt:  Dr.  E.  Schreiber.)  Typhus¬ 
bazillen  in  der  Zerebrospinalflüssigkeit.  Von  Doktor 
A.  Stühmer.  Am  29.  November  1909  wurde  ein  Schiffer  unter 
der  Diagnose  „Typhusverdacht“  in  benommenem  Zustand  in  das 
Krankenhaus  eingeliefert.  Wenig  charakteristische  Typhussym¬ 
ptome.  Bauchdecken  mäßig  gespannt,  nirgends  druckempfindlich, 
kein  Ileocökalgurren.  Keine  Roseolen.  Milz  nicht  palpabel,  nicht 
vergrößert.  Normaler,  geformter  Stuhl.  Deutliche  Nackensteifig¬ 
keit.  Temperatur:  39-8.  Widal  1:50  positiv,  1:100  negativ,  ln 
den  nächstein  Tagen  Fortdauer  der  meningitiseben  Symptome. 
Delirien.  Am  2.  Dezember:  Lumbalpunktion.  Im  mikroskopischen 
Präparat  spärlich  kurze,  dicke  Stäbchen,  die  bakteriologisch  als 
unzweifelhafte  Typhusbazillen  erkannt  werden.  Am  nächsten  Tage 
Patient  klarer.  Jeden  Tag  normaler,  geformter  Stuhl.  Im  Stuhl 
jedoch  keine  Typhusbazillen.  Nach  überstandener  Bronchitis  vom 
27.  Dezember  an  normale  Temperatur.  Am  24.  Januar  19  LO  wird 
Pat.  geheilt  entlassen.  Es  handelt  sich  also  im  vorliegenden  Fälle 
um  eine  typhöse  Erkrankung,  die  eigentlich  wenige  typische  Er¬ 
scheinungen  bot.  Es  fehlten  jegliche  Symptome  des  Magen-Darm¬ 
traktes.  Pat.  entleerte  während  der  ganzen  Zeit  normalen  Stuhl. 
Es  fehlten  die  Milzschwellung,  die  Typhuszunge,  die  Roseolen 
und  so  weiter.  Dagegen  bestand  im  wesentlichen  das  reine  Bild 
einer  schweren  Meningitis,  als  deren  Erreger  durch  die  Lumbal¬ 
punktion  der  Typhusbazillus  festgestellt  wurde.  Es  ist  das  ein 
seltener  Befund  einer  echten  „Meningitis  typhosa“.  Verf.  konnte 
in  der  Literatur  nur  acht  Fälle  finden,  in  denen  intra  vitam  der 


Nachweis  von  Typhusbazillen  im  Lumbalpunktat  gelang.  Der 
Fall  von  Henry  und  zwei  Fälle  von  Schulze  zeigen  vielfache 
Analogien  mit  dem  mitgeteilten.  Auch  bei  diesen  fiel  das  Fehlen 
der  Kardinalsymptome  des  Typhus  auf,  so  daß  die  Diagnose 
lange  unklar  blieb,  bis  auch  dort  durch  den  Nachweis  des  Er 
regers  lim  Lumbalpunktat  die  Natur  des  Leidens  aufgeklärt  wurde, 
noch  bevor  irgendeine  andere  Untersuchungsmethode  (Widal, 
Blutkultur)  zum  Ziele  geführt  hatte.  Gerade  dieser  Umstand 
läßt  den  Fall  dem  Verfasser  für  die  Praxis  als  sehr  wichtig  er¬ 
scheinen.  Denn  in  solchen  Fällen,  wo  man  einen  Patienten  in 
schwer  septischem  Zustand  mit  Erscheinungen  von  meningealer 
Reizung  und  Benommenheit  in  Behandlung  bekommt,  wird  es  sehr 
schwer  möglich  sein,  die  Differentialdiagnose  zwischen  Typhus, 
Miliartuberkulose  und  Sepsis  zu  stellen.  In  solchen  Fällen  kann 
man!  sich  nur  mit  Hilf©  der  Lumbalpunktion  vor  einem  Irrtum 
bewahren.  Denn  die  Prognose  der  Meningitis  typhosa  ist  zweifel¬ 
los  bedeutend  günstiger,  als  die  der  tuberkulösen,  worauf  die 
meningitischem  und  Lungenerscheinungen  hindeuten.  Von  den 
bekannten  'Fällen  sind  sechs  geheilt  worden.  Die  Lumbalpunktion 
in  solchen  Fällen  hat  nach  Verf.  nicht  nur  diagnostischen,  son¬ 
dern  auch  therapeutischen  Wert.  Denn  nach  der  Punktion  gingen 
in  zwei  Tagen  in  dem  mitgeteilten  Falle  die  Erscheinungen  völlig 
zurück.  Auch  von  den  anderen  Autoren,  Silberberg,  Schütze, 
ist  derselbe  Effekt  beobachtet  worden.  (Münchener  medizinische 

Wochenschrift  1911,  Nr.  7.)  G. 

* 

255.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  in  Basel.)  lieber  einen 

Fall  vo  n  Leukanämie.  Von  Dr.  Ernst  Mag  n  us-  Alsleben, 
Assistent  und  Privatdozent.  Die  Literatur  der  letzten  Jahre  hat 
eine  Reihe  von  Krankheitsbildern  kennen  gelehrt,  welche  eine 
schwere  Alteration  der  hämatopoetischen  Organe  darstellen,  deren 
Zuteilung  zu  einem  der  beiden  großen  Haupttypen,  Leukämie  und 
perniziöse  Anämie,  aber  manchmal  einige  Schwierigkeiten  berei¬ 
tete.  Find  doch  ist  die  zuerst  von  Leube  und  Am  eth  und  neuer¬ 
dings  wieder  von  Masing  befürwortete  Statuierung  einer  Leuk¬ 
anämie,  das  heißt  eine  Kombination  einer  Leukämie  mit  einer 
(hämolytischen)  perniziösen  Anämie  größtenteils  nicht  akzeptiert 
worden.  Magnus -Alsleben  hat  nun  abermals  einen  derartigen 
Fall  beobachtet,  der  unter  dem  Bilde  einer  fieberhaften  Krankheit 
verlaufend,  die  Zeichen  einer  Leukämie  und  einer  perniziösen 
Anämie  in  weitgehendster  Weise  in  sich  vereinigte,  wobei  es 
nicht  möglich  war,  den  Fall  entweder  als  atypische  Leukämie 
oder  als  perniziöse  Anämie  zu  deuten.  Die  Sonderstellung  emer 
„Leukanämie“  dürfte  also  doch  gerechtfertigt  erscheinen.  —  (Zeit¬ 
schrift  für  klinische  Medizin,  Bd.  71,  H.  3  bis  6.)  K.  S. 

* 

256.  (Aus  der  chirurgischen  Abteilung  des  Epidemiespitales 
Bern.  —  Chefarzt:  ,Dr.  Steinmann.)  Die  Meniskus  Ver¬ 
letzungen  des  Kniegelenkes.  Von  Karl  Körber.  Verfasser 
referiert  über  26  Fälle  von  Meniskusverletzungen,  die  größten¬ 
teils  auf  der  Abteilung  Dr.  Steinmann  behandelt  wurden.  Die 
Operationsbefunde,  die  in  den  19  operativ  behandelten  Fällen 
erhoben  wurden,  süid  geeignet,  die  Ansichten  über  die  Pathologie 
des  Derangement  interne  des  Knies  zu  modifizieren.  Der  häufigste 
Befund  war  Zerreißung  des  Meniskus  (Auffaserung,  kleine  Risse). 
Als  typische  Verletzung  kann  die  Spaltung  des  Meniskus  in  zwei 
Teile  durch  einen  Längsschnitt  betrachtet  werden,  da  diese  Form 
in  75%  der  Meniskuszerreißungen  beobachtet  wurde.  Die  beiden 
Teile  des  Meniskus  stehen  vorne  und  hinten  an  der  Anheftungs- 
stelle  noch  in  Verbindung  miteinander,  außerhalb  des  Gelenkes 
verläuft  aber  der  innere  (gegen  die  Ligamenta  cruciata  zu  ver¬ 
laufende)  Teil  gestreckt,  während  der  äußere  Teil  seine  normale 
Anheftung  besitzt.  Die  überwiegende  Anzahl  der  Verletzungen 
betraf,  wie  bei  anderen  Autoren,  den  inneren  Meniskus.  Die  Sym¬ 
ptome  der  frischen  Meniskusverletzung  sind  in  erster  Linie  die¬ 
jenigen  der  Distoreio  genus  (Erguß,  Fixation  in  Beugestellung); 
weiters  besteht  Druckschmerzhaftigkeit  in  der  Gegend  des  Me¬ 
niskus  und  Schmerz  bei  passiver  Adduktion  des  gestreckten 
Knies  (bei  Verletzungen  des  Meniscus  internus);  bei  Läsion  des 
Meniscus  extemus  ist  die  passive  Abduktion  schmerzhaft.  Die 
Symptome  der  alten  Meniskusverletzung  sind  denjenigen  einet 
Gelenksmaus  ähnlich,  es1  besteht  aber  im  Gegensatz  zur  Gelenks 
maus  eine  lokalisierte  Druckschmerzhaftigkeit  und  eventuell  Fühl- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


barkeit  des  verdickten  Meniskus.  Nach  den  Erfahrungen  des  Ver¬ 
fassers  ist  in  frischen  Fällen  eine  konservative  Behandlung  mög¬ 
lich;  durch  länger  dauernde  Fixation  des  Gelenkes  kann  eine 
Lockerung  des  Ansatzes  sich  wieder  befestigen.  Hingegen  ist  bei 
der  habituellen  Form  die  operative  Behandlung  indiziert.  Dieselbe 
besteht  in  partieller  oder  totaler  Exstirpation  des  Meniskus.  Die 
Resultate  waren  sehr  gute,  die  Patienten  wurden  in  kurzer  Zeit 
arbeitsfähig,  die  Einklemmungserscheinungen  haben  sich  nicht 
wiederholt.  Die  von  manchen  Autoren  befürchtete  Arthritis  de¬ 
formans,  die  durch  starke  Beanspruchung  des  Knorpels  nach  Weg¬ 
fall  des  stützenden  Meniskus  entstehen  soll,  sah  Verfasser  in 
seinen  Füllen  nicht,  so  daß  er  die  Ansicht  vertritt,  daß  in  den¬ 
jenigen  seltenen  Fällen,  wo  sie  beobachtet  wurde,  sie  schon 
früher  bestanden  und  die  Ursache  für  die  Zerreißung  des  Meniskus 
abgegeben  hätte.  —  (Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie,  Bd.  106, 

H.  1  bis  3.)  se. 

* 

257.  Ueber  eine  eigentümliche  Pigmentierung 

der  inneren  Organe  von  Küstennegern  Kameruns.  Von 
Dr.  M.  Löhlein,  Privatdozent  in  Leipzig,  zurzeit  Regierungs¬ 
arzt  in  Kamerun.  Das  Fettgewebe  und  das  Gewebe  bestimmter 
innerer  Organe  (Nebennierenrinde,  Hodenparenchym,  Bauch¬ 
speicheldrüse  usw.)  erwachsener  Neger  verschiedener  Stämme 
Kameruns  zeigte  -  wie  sich  Verf.  bei  Operationen  oder  Sek¬ 
tionen  überzeugen  konnte  in  allen  Fällen  eine  eigentümliche 
goldgelbe  bis  orangerote  Färbung,  die  bei  den  Weißen  und  Hotten¬ 
totten,  welche  längere  Zeit  im  Schutzgebiet  gelebt  haben,  voll¬ 
ständig  fehlte.  Die  pigmentierten  Gewebe  waren  durchaus  nur 
solche,  die  Fette  oder  fettartige  Substanzen  in  mehr  oder  weniger 
großen  Menge  in  makroskopisch  sichtbarer  Form  enthielten  (auch 
inlder  fettig  degenerierten  Intima  der  Aorta  u.  dg].).  Verf.  beschreibt 
die  Pigmentierung  der  einzelnen  Organe,  zeigt,  daß  es  sich  nicht 
um  eine  angeborene,  sondern  um  eine  erworbene  Veränderung 
des  Fettes,  resp.  der  Gewebe  handle  (Sektion  eines  Dualakincles, 
bei  welchem  die  Pigmentierung  fehlte)  und  führt  sie  auf  den 
langjährigen,  fast  ausschließlichen  Genuß  von  Palmöl  zurück. 
Die  Neger  der  Westküste  verzehren  ausnahmslos  nahezu  täglich 
Palmöl  und  zeigen  eine  an  dessen  Farbe  erinnernde  Pigmentierung 
ihres  Fettgewebes  und  einzelner  lipoidhaltiger  Organbestandteile. 
Die  in  gleichem  Klima  lebenden  Weißen  nehmen  Palmöl  nur 
ausnahmsweise  zu  sich,  auch  die  Hottentotten  verzehren  kein 
Palmöl.  Diese  letzteren  stellen  also  gewissermaßen  die  Kontrollen 
zu  dem  Fütterungsversuch  dar.  Verf.  will  noch  bei  Affen  experi¬ 
mentell  die  Richtigkeit  seiner  Ansicht  beweisen.  (Deutsche 
medizin.  Wochenschrift  1911,  Nr.  7.)  E.  F. 

* 

258.  N  e  r  v  e n  ü  b  e  r  p  f  1  a  n  z  u  n g  von  der  einen  Seite 

auf  die  entgegengesetzte.  Von  Prof.  Dario  Marugliano. 
Zweijähriges  Kind,  welches  infolge  einer  Poliomyelitis  anterior 
eine  fast  gänzliche  Lähmung  der  rechten  unteren  Extremität  hatte. 
Marugliano  überpflanzte  einen  Teil  des  gesunden  linken  Kru- 
ralis  auf  den  rechten  gelähmten  u.  zw.  wurde  der  Zweig  des 
Vastus  medius  benützt.  Der  rechte  Kruralis  wurde  1  cm  oberhalb 
des  Ligamentum  Poupartii  durchschnitten,  durch  einen  Haut¬ 
tunnel  der  isolierte  Zweig  des  linken  Kruralis  durchgezogen 
und  an  den  ganzen  peripheren  Stumpf  des  rechten  Kruralis 
angenäht.  Etwas  über  fünf  Monate  post  Operationen!  kann  das 
Kind  vollständig  und  ziemlich  kräftig  den  Unterschenkel  gegen 
den  Oberschenkel  strecken.  —  (Zentralblatt  für  Chirurgie  1911, 
Nr.  1.)  E.  V. 

+ 

259.  (Aus  der  1.  chirurgischen  Universitätsklinik  in  Wien. 

-  Vorstand:  Prof.  Dr.  Frh.  v.  Eiseisberg.)  Zur  Behandlung 

frischer  Diaphysenbrüche.  Von  Dr.  Otto  v.  Frisch.  Ver¬ 
fasser  hat  die  Beobachtung  gemacht,  daß  in  frischen  Fällen  von 
Radiusfrakturen  nicht  nur  die  anatomische  Einstellung  der  Frag¬ 
mente  leichter  gelingt,  als  bei  alten,  sondern  daß  auch  die  Re¬ 
tention  der  Fragmente  in  diesen  Fällen  sehr  einfach  ist.  Die  Ur¬ 
sache  liegt  in  der  zunehmenden  Kontraktion  und  Retraktion 
der  Muskulatur,  die  nach  mehreren  Tagen  nur  sehr  schwer, 
in  den  ersten  Stunden  der  Verletzung  aber  sehr  leicht  zu  über¬ 
winden  ist.  Wahrscheinlich  sind  auch  die  Rauhigkeiten  der)  Bruch¬ 
flächen,  welche  bei  Schrägbrüchen  die  Retention  der  Fragmente 


unterstützen,  in  älteren  Fällen  geringer.  Die  Erfolge,  die  Verfasser 
in  frischen  Fällen  erzielte,  sind  den  Erfolgen  der  Extensions¬ 
behandlung  gleichzustellen.  Bei  Vorderarmbrüchen  hat  sich  Ver¬ 
fasser  überzeugt,  daß  die  Reposition  und  genaue  Adaption  der 
Fragmente  oft  sehr  schwer  gelingt  und  hat  für  diese  Fälle  eine 
Methode  der  Reposition  ersonnen,  die  dem  Verfahren  der  Ein¬ 
richtung  bei  der  Daumenluxation  nachgebildet  ist  und  die,  wie 
aus  den  beigeschlossenen  Röntgenbildern  zu  ersehen  ist,  sehr 
schöne  Resultate  ergeben  hat.  Es  empfiehlt  sich  daher  in  Fällen 
von  queren  Frakturen  mit  Kataplasmen  und  provisorischen  Schie¬ 
nen  keine  Zeit  zu  verlieren,  sondern  mit  Hilfe  des  Röntgen¬ 
lichtes  und  der  Narkose  den  Bruchflächenkontakt  möglichst  bald 
nach  der  beschriebenen  Methode  wieder  herzustellen,  und  man 
wird  dem  Patienten  die  für  Arzt  und  Kranken  oft  mühevolle  Ex¬ 
tensionsbehandlung  ersparen  können.  —  (Langenbecks  Archiv, 
Bd.  93,  H.  3.)  -  r  se. 

* 

260.  Subpialer,  makroskopisch  intramedullärer 

S  olitär  t  u  berked  in  der  Höhe  des  vierten  und  fünften 
Z  e  r  v  i  k  a  1  s  eg  m  e  n  t  e  s  Operation  —  Genesu  n  g.  Von 

Dr.  Otto  Veraguth  in  Zürich,  Privatdozent  für  Neurologie  und 
Dr.  Hans  Brun  in  Luzern,  Spezialarzt  für  Chirurgie.  Das  We¬ 
sentliche  aus  dem  Titel  zu  entnehmen.  Verschiedene,  zum  Teil 
noch  nicht  beschriebene  physio  -  pathologische  Einzelheiten,  die 
nicht  ohne  eine  gewisse  allgemein -neurologische  Bedeutung  sein 
dürften,  mögen  im  Originale,  welches  sich  zu  einem  kurzen 
Referat  nicht  eignet,  nachgesehen  werden.  —  (Korrespondenzblatt 
für  Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg.,  Nr.  33.)  K.  S. 

* 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

261.  Ueber  experimentellen  pankreatischen  Dia¬ 

betes  v  on  1  äng  er  er  D  au  e.r.  Von  J.  Th  i  r  o  1  oix  und  P.  J  ac  ob. 
Die  Mitteilung  bezieht  sich  auf  eine  neue  Beobachtung  von  ex¬ 
perimentellem  Pankreasdiabetes  nach  unvollständiger  Abtragung 
des  Pankreas  mit  Erhaltung  des  Ductus  Wirsingianus  und  des 
benachbarten  Drüsengewebes.  Der  nach  dieser  Methode  erzeugte 
Diabetes  kann  eine  Dauer  von  vier  Monaten  überschreiten.  Zur 
Vermeidung  der  Gangrän  des  Duodenum  müssen  die  Arteriao  pan- 
creatico  -  duodenales  geschont  werden.  Beim  Pankreasdiabetes  des 
Menschen  ist  weder  das  Drüsengewebe  vollständig  zerstört,  noch 
die  Ausführungsgänge  vollständig  obliteriert.  Man  muß  daher 
annehmen,  daß  die  Unterdrückung  der  Funktion  der  anatomischen 
Veränderung  des  Organs  vorausgeht.  Ein  analoges  Verhalten 
wird  experimentell  durch  die  oben  angegebene  Methode  der 
Pankreasexstirpation  erreicht.  Bei  der  einzeitigen  Totalexstirpation 
des  Pankreas  gehen  die  Aufhebung  der  Assimilation  vom  Darme 
aus  und  der  Zuckerverwertung  parallel,  was  beim  Pankreas¬ 
diabetes  des  Menschen  nicht  in  gleichem  Maße  der  Fall  ist,. 
Wenn  man  den  größten  Teil  des  Pankreas  exstirpiert  und  durch 
Gefäßligatur  eine  langsame  Atrophie  des  Pankreasrestes  hervor¬ 
ruft,  so  läßt  sich  der  Zeitpunkt  deis  Eintrittes  der  Glykosurie 
nicht  voraus  bestimmen;  wenn  man  jedoch  den  Ductus  Wir¬ 
singianus  verschont,  etwa  ein  Achtel  des  Gesamtdrüsengewebes 
in  seiner  Nachbarschaft  beläßt  und  den  Rest  der  Drüse  unter 
Schonung  der  Arteriae  pancreatico-duodenales  exstirpiert,  zeigen 
die  Ergebnisse,  wie  aus  den  Versuchen  an  15  Hunden  hervorgeht, 
ein  gleichmäßigeres  Verhalten.  Die  Glykosurie  tritt  sofort,  be¬ 
ziehungsweise  wenige  Tage  nach  dem  Eingriff  auf  und  dauert 
während  der  ganzen  Krankheitszeit  an.  Die  Abmagerung  tritt  spät 
ein  und  vollzieht  sich  langsam,  weil  im  Vergleich  zur  totalen 
Pankreasexstirpation  die  Ausnützung  der  Eiweißkörper  und  Fette 
weit  weniger  beeinträchtigt  ist.  Der  Diabetes  erstreckt  sich  auf 
einige  Monate,  der  Exitus  erfolgt  durch  Marasmus.  Bei  der 
Autopsie  zeigt  der  verbliebene  Teil  des  Pankreas  normales  Ver¬ 
halten  des  Drüsengewebes  und  der  Gefäße,  Bemerkenswert  ist  die 
Integrität  der  Leber,  auch  die  anderen  Drüsen  und  die  Duodenal- 
schlcimhaut  zeigen  keine  Veränderung.  Die  Versuche  lehren, 
daß  die  Ursache  der  Glykosurie  im  Drüsenparenchym  des  Pan¬ 
kreas  liegt,  darüber  hinausgehende  Schlüsse  lassen  sich  nicht 
ziehen.  —  (Bull,  et  Mein,  de  la  Soc.  med.  des  höp.  de  Paris 
1910,  Nr.  33.)  a.  e. 

♦ 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


262.  Heber  ein- neues  funktionelles  Zeichen  der 

initialen  Affektionen  clor  Lungenspitze.  Von  Gnu  di. 
Es  ist  notwendig,  die  Lungenspitzen  entweder  im  Zustande  der 
Inspiration  oder  der  Exspiration  zu  perkutieren,  weil  sonst  die 
Perkussionsergebnisse  beider  Lungenspitzen  nicht  vergleichbar 
sind.  Bei  der  Inspiration  nimmt  in  den  oberen  Anteilen  der 
Lunge,  besonders  in  den  Lungenspitzen,  die  Spannung  mehr  zu 
als  das  Volum,  so  daß-  der  Perkussionsschall  höher,  aber  leiser 
wird;  an  den  anderen  Lungenpartien  nimmt  bei  der  Inspiration 
das  Volumen  mehr  zu,  als  die  Spannung,  so  daß-  der  Perkussions¬ 
schall  lauter  und  tiefer  wird,  während  in  der  mittleren  Lungen¬ 
region  die  beiden  Faktoren  sich  ausgleichen.  Diese  Angaben 
wurden  bisher  zur  Bestimmung  der  funktionellen  Kapazität  der 
Lungen,  bzw.  der  Lungenspitzen,  wenig  verwertet.  Die  radio¬ 
graphische  Untersuchung  der  Exkursion  des  Zwerchfells  an  der 
kranken  Seite,  gibt  an  sich  keine  sicheren  Aufschlüsse  bezüglich 
des  Zustandes  der  Lunge-,  da  diese  nur  nach  beträchtlichem 
A  erlust  der  Elastizität  der  Zwerchfellsexkursion  keinen  Widerstand 
entgegensetzt.  Die  radioskopische  Untersuchung  der  Ausdehnung 
der  Lungenspitzen  bei  der  Inspiration  bietet  Schwierigkeiten, 
da  eine  konsensuelle  Bewegung  gegen  die  Höhe  der  Klavikula 
und  die  erste  Rippe  hinzutritt  und  auch  die  Volumszunahme  im 
sagittalen  Durchmesser  nicht  abgeschätzt  werden  kann.  Die  ver¬ 
gleichende  Perkussion  der  Lungenspitzen  kann  wertvolle  An¬ 
haltspunkte  geben,  doch  sind  verschiedene  Faktoren  zu  berück¬ 
sichtigen.  Ein  vollerer  und  hellerer  Schall  an  der  linken  Lungen¬ 
spitze  ist  diagnostisch  nicht  verwertbar,  während  dieser  Befund 
an  der  rechten  Lungenspitze  von  großer  Bedeutung  ist.  Bei  Tuber¬ 
kulose  kann  auch  die  Abmagerung  der  Schultergürtelmuskulatur 
den  Schall  heller  erscheinen  lassen,  als  es  dem  wirklichen  Ver¬ 
halten  des  Lungengewebes  entspricht;  außerdem  kann  sich  ein 
tiefsitzender  Herd,  wenn  er  von  geblähtem  Gewebe  überlagert 
ist,  dem  Nachweis  durch  die  Auskultation  und  Perkussion  ent¬ 
ziehen.  V,on  großer  diagnostischer  Bedeutung  ist  die  Unter¬ 
suchung  auf  die  regressive  Modifikation,  das  ist  auf  das  Höher¬ 
und  Leiserwerden  des  Perkussionsschalles  während  der  Inspi¬ 
ration.  In  jedem  Falle,  wo  das1  Lungengewebe  seine  Elastizität 
zum  Teil  verloren  hat  und  durch  Infiltration,  Sklerose,  chronische 
Pleuritis,  Bronchialdrüsenschwellung  usw.  zur  Aufnahme  des  in¬ 
spiratorischen  Luftstromes  weniger  geeignet  ist,  ist  die  regressive 
Modifikation  des  Schalles  während  der  Inspiration  weniger  aus¬ 
geprägt  oder  fehlt  vollständig.  Zur  Feststellung  reicht  die  reine 
Fingerperkussion  der  Lungenspitzen  aus.  Der  angegebene  Befund 
ist  konstant  und  wird  nicht  nur  bei  manifesten,  sondern  auch 
bei  initialen  Läsionen  angetroffen,  wo  die  anderen  diagnosti¬ 
schen  Behelfe,  auch  die  Röntgenuntersuchung,  versagen.  (Journ. 
med.  de  Brux.  1910,  Nr.  49.)  a.  e. 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

263.  Ueber  Fälle  von  primärem  Karzinom  des 
Wurmfortsatzes.  Von  Alex.  Mills  Kennedy.  Fälle  von 
Karzinom  des  Wurmfortsatzes  wurden  bisher  als  Seltenheit  be¬ 
trachtet,  doch  mehrt  sich  hei  der  Gepflogenheit,  die  operativ 
entfernten  Wurmfortsätze  histologisch  zu  untersuchen,  die  Zahl 
der  einschlägigen  Beobachtungen.  Der  Umstand,  daß  die  Lokalisa¬ 
tion  dieser  Neubildungen  Symptome  bedingt,  welche  die  Aufmerk¬ 
samkeit  auf  den  Wurmfortsatz  lenken  und  dessen  frühzeitige 
Exstirpation  bewirken,  erklärt  die  anscheinende  Gutartigkeit 
dieser  Tumoren  sowie  das  Fehlen  von  Metastasen.  In  der  Mehr¬ 
zahl  der  Fälle  präsentiert  sich  die  Neubildung  als  einfache 
Form  des  Endothelioms.  Die  Beobachtungen  des  Verf.  beziehen 
sich  auf  drei  Fälle  von  primärem  Karzinom  des  Wurmfortsatzes, 
darunter  eine  23jährige  Frau  von  blühendem  Aussehen  ;  unter 
mehr  als  350  Nekropsien  konnten  zwei  Fälle  von  sekundärem 
Karzinom  des  Wurmfortsatzes,  wo  der  primäre  Tumor  im  Magen 
saß,  nachgewiesen  werden,  der  metastatische  Charakter  ergab 
sich  auch  aus  der  Gleichartigkeit  des  Baues  des  primären  und 
sekundären  Tumors.  Die  drei  Fälle  von  primärem  Karzinom  des 
Wurmfortsatzes  zeigen  hinsichtlich  der  Ausgangsstelle  eine  Ueber- 
einstimmung,  die  auch  hinsichtlich  der  allgemeinen  Aetiologie 
der  Tumoren  Interesse  darbietet.  Im  ersten  Falle  war  der  Wurm¬ 
fortsatz  durch  eine  Narbe-  nach  Geschwür  in  zwei  Segmente 
zerlegt  und  es  lag  das  Karzinom  im  distalen  Segment.  Im  zweiten 


363 


lalle  bestand  vollständige  narbige  Verschließung  des  Lumens 
mit  Sitz  des  Karzinoms  in  der  Gegend  der  Verschließung.  Im 
dritten  Falle  bestand  vollständige  Okklusion  in  der  Nähe  der 
Spitze,  wobei  das  Karzinom  in'  dem  unterhalb  der  Verschließung 
liegenden  Teil  sich  vorfand.  Es  waren  Anfälle  von  Appendizitis 
nachweisbar,  die  wahrscheinlich  zu  Ulzeration  der  Schleimhaut 
mit  Heilung  durch  Vernarbung  führten.  Esi  ist  .inzunehmen, 
daß  durch  den  Vernarbungsprozeß  Epithelzellen  von  der  Schleim¬ 
haut  abgetrennt  wurden  und  von  hier  die  Karzinomentwicklung 
ausging.  Diese  Beobachtungen  sprechen  für  die  Ribbertsche 
Theorie,  daß  Tumorbildung  von  einer  partiellen  oder  vollständigen 
Abtrennung  von  Zellen,  resp.  Zellgruppen  vom  Mutterboden, 
das  ist  durch  mechanische  Isolierung  zustande  kommt.  —  (The 
Lancet,  17.  Dezember  1910.)  a.  e. 

* 


264.  Bemerkung  zur  kombinierten  Anwendung 
von  spinaler  und  allgemeiner  Anästhesie.  Von  A.  E. 
Johnson.  Die  Lumbalanästhesie  ist  nicht  frei  von  Gefahren, 
so  daß  sie  die  Narkose  nicht  ganz  zu  ersetzen  vermag,  doch 
gibt  es  bestimmte  Bedingungen,  z.  B.  Erkrankungen  des  Herzens 
und  der  Lunge,  Erkrankungen,  die  mit  fettiger  Degeneration  der 
Leber  einhergehen,  wie  z.  B.  Diabetes,  Rachitis,  Alkoholismus, 
Kachexie,  ferner  das  zyklische  Erbrechen  im  Kindesalter,  wo 
die  Spinalanästhesie  unbedingt  den  Vorzug  verdient.  Hinsichtlich 
der  wichtigen  Frage  der  Verhütung  von  Shock  durch  die 
Spinalanästhesie  wird  angegeben,  daß  bei  vollständigem  Cha¬ 
rakter  der  Anästhesie-  die  Bedingungen  für  das  Auftreten  eines 
von  der  Peripherie  ausgehenden  Shocks  behoben  sind.  Der  Um¬ 
stand,  daß  Shock  auch  durch  psychische  Vorgänge,  z.  B.  Furcht 
ausgelöst  werden  kann,  welche  wie  nachgewiesen  wurde,  auch 
histologische  Veränderungen  in  den  Gehirnzellen  hervorruft,  leert 
den  Gedanken  einer  Kombination  lokaler  und  allgemeiner  An¬ 
ästhesie  nahe.  Durch  Kombination  eines  leichten  Grades  allge¬ 
meiner  Anästhesie  und  spinaler  Anästhesie,  werden  die  vitalen 
Zentren  in  gleicher  Weise  vor  schädlicher  Einwirkung  des  körper¬ 
lichen  und  des  psychischen  Traumas  geschützt.  Im  allgemeinen 
empfiehlt  e:s  sich,  zuerst  die  Spinalanästhesie-  vorzunehmen  und 
wenn  der  Erfolg  eingetreten  ist,  die  Narkose  einzuleiten.  Bei 
ängstlichen  Patienten  wird  mit  der  Narkose  begonnen  und  dann 
die-  Spinalanästhesie-  durchgeführt.  Auch  bei  drohendem  Shock 
während  oder  nach  Operationen,  erscheint  die  Vornahme  einer 
Stovaininjektion  in  den  Wirbelkanal  indiziert.  In  einem  Falle 
von  Amputation  der  unteren  Extremität  wegen  Gangrän  bei  einem 
Patienten,  dem  das  andere  Bein  aus  gleicher  Ursache  früher 
amputiert  worden  war,  bewährte  sich  die  Kombination  der 
Spinalanästhesie  mit  der  Narkose  vollständig.  Die  regionäre, 
bzw.  Leitungsanästhesie  ist  in  ihrer  Ausführung  langwieriger 
und  daher  zur  Kombination  mit  der  Narkose-  weniger  geeignet, 
als  die  spinale  Anästhesie.  Bei  der  bloßen  Spinalanästhesie  er¬ 
geben  sich  aus  dem  Umstand,  daß,  der  Patient  bei  Bewußtsein 
ist,  mannigfache  Störungen,  die  auch  den  Gang  der  Operation 
beeinflussen  können.  Die  hier  vorgeschlagene  vorherige  Injek¬ 
tion  von  Morphium,  bzw.  Morphium  und  Skopolamin  ist  zur 
Verhütung  dieser  Störungen  nicht  so  wirksam,  wie  eine  leichte 
Narkose.  Bei  ganz  kleinen  Kindern  und  bei  mit  Erbrechen,  ein- 
hergehenden  Abdominalaffektionen  wird  die  Allgemeinanästhesie 
besser  unterlassen.  Zur  Spinalanästhesie  ist  das  Stovain,  zur 
Narkose  das  Chloroform  im  allgemeinen  am  besten  geeignet.  In 
Fällen,  wo  Chloroform  kontraindiziert  ist,  z.  B.  bei  Diabetes, 
empfiehlt  sich  die-  Anwendung  eines  Gemisches  von  Stickoxyd 
und  Sauerstoff.  —  (Brit.  med.  Journ.,  3.  Dezember  1910.) 

a.  e. 


\Zemnisehte  Naehriehten 

Ernannt:  Dr.  Bertarelli  zum  a.  o.  Professor  der  Hy¬ 
giene  in  Parma. 

* 


ii  \  mnn* 


H  a  b  1 1 1 1 1  e r  t :  Dr.  Gottlieb  Salus  i 
deutschen  Universität  in  Prag.  —  Dr.  Hubert  Sattler  für  Augen¬ 
heilkunde  und  Dr.  Marlin  Kürschner  für  Chirurgie  in  Königs¬ 
berg.  —  Dr.  Felix  Sieglbauer  für  Anatomie  in  Leipzig. 

Dr.  Saccetti  für  chirurgische  Diagnostik  in  Neapel. 

Dettori  für  operative  Medizin  in  Sassari. 


364 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


Gestorben:  Dr.  G.  Mya,  Professor  der  Kinderheilkunde 
zu  Florenz. 

* 

Am  5.  d.  M.  wurde  im  großen  Festsaale  der  Universität 
eine  feierliche  Sitzung  der  unter  dem1  Protektorate  des  Kaisers 
stehenden  österreichischen  Gesellschaft  für  Erforschung  und  Be¬ 
kämpfung  der  Krebskrankheit  abgehalten.  Dieser  Veranstaltung 
wohnte  in  Stellvertretung  des  Kaisers  Erzherzog  Leopold  Sal¬ 
vator  bei,  ferner  der  Kurator  der  Akademie  der  Wissenschaften, 
Erzherzog  Rainer,  Fürstin  Pauline  Metternich,  die  auch  hier 
mit  gewohnter  Tatkraft  fördernd  eingreift,  Graf  Hans  Wilczek, 
der  allverehrte  Mäzen,  der  Präsident  der  Akademie  der  Wissen¬ 
schaften,  Prof.  Eduard  Sueß,  Vertreter  der  Behörden  von  Staat, 
Land  und  .Stadt,  nahezu  vollzählig  der  Lehrkörper  der  Wiener 
medizinischen  Fakultät,  der  Vertreter  der  ungarischen  Krebs¬ 
gesellschaft  Hofrat  Prof.  Dolling  er,  des  galizischen  Zweigver¬ 
eines  Hofrat  Prof.  v.  R  yd  i  gier,  des  deutschböhmischen,  Hofrat 
v.  Jak  sch,  des  oberösterreichischen,  Reg. -Rat  A.  Brenner.  Die 
Feier 'wurde  eingeleitet  durch  die  Begrüßung  des  derzeitigen  Rektors 
der  Universität,  Hofrat  Dr.  Bernatzik.  Der  Präsident  der  Gesell¬ 
schaft  Hofrat  Prof.  Freih.  v.  Eiseisberg  legte,  nach  einem  histo¬ 
rischen  Rückblick  über  die  Krebsbekämpfung,  die  Ziele  und  Zwecke 
der  Gesellschaft  dar,  berichtete  über  den  derzeitigen  Stand  ihrer 
Mittel  und  ihrer  in  Aussicht  genommenen  Aktionen.  Erzherzog 
Leopold  Salvator  überbrachte  im  Namen  des  Kaisers  die 
Wünsche  für  ein  gedeihliches  Wirken  der  Gesellschaft,  der  Minister 
für  Kultus  und  Unterricht,  Graf  Stürgkh,  begrüßte  die  Gesell¬ 
schaft  im  Namen  der  Regierung  und  versicherte  sie  des  wohl¬ 
wollendsten  Beistandes.  Zum  Schlüsse  hielt  der  Schriftführer 
der  Gesellschaft,  Prof.  Alexander  Fraenkel  einen  Vortrag  „Ueber 
das  Problem  der  Krebskrankheit“.  (Siehe  Seite  350.) 

* 

Die  0  es  terreichische  Gesellschaft  für  Gesund¬ 
heitspflegeihält  am  14.  März,  um  7  Uhr  abends,  ihre  Jahres¬ 
versammlung  im  großen  Hörsaale  des  k.  k.  hygienischen 
Universitätsinstitutes  in  Wien  IX.,  Kinderspitalgasse  15,  ab. 
Tagesordnung:  1.  Erstattung  des  Rechenschaftsberichtes.  2.  Be¬ 
richt  des  Revisionsausschusses.  3.  Voranschlag'  für  das  Jahr 
1911.  4.  Engänzungswahlen  in  den  Gesellschaftsausschuß. 

5.  Festsetzung  der  Höhe  des  Jahresbeitrages  der  ordentlichen 
Mitglieder.  6.  Wahl  dreier  Rechnungsprüfer.  7.  Vortrag  des  Pro¬ 
fessors  ,Odo  Bujwid  aus  Krakau:  Ueber  die  Wirkung  des  Lichtes 
auf  die  Bakterien,  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  ultra¬ 
violetten  Strahlen.  (Mil  Demonstration  eines  Apparates  zur 
Wassersterilisation.) 

* 

Die  Oesterreichische  G  e  s  e  1 1  s  c  h  a,  ft  für  Z  a  h  n- 
p flöge  in  den  Schulen,  hält  Sonntag  den  12.  März,  präzise 
11  Uhr  vormittags,  im  alten  Gemeinderatssitzungssaale  Wien  I., 
Wipplingcrstraße  8,  ihre  konstituierende  Versammlung  ab. 

* 

Nach  einem  Beschluß  der  „Societä  Italiana  di  Patologia“ 
aus  dem  Jahre  1909  wird  vom  2.  bis  5.  Oktober  1911  in  Turin 
ein  internationaler  Kongreß  für  pathologische  Anatomie  stattfinden. 

* 

Cholera.  Bulgarien.  Die  Stadt  Tatar-Pazard.uk  wurde 
wieder  cholerafrei  erklärt.  Madeira.  Vom  1.  bis  15.  Januar 
erkrankten  im  Distrikte  Funchal  250  Personen  an  Cholera,  von 
denen '77  Starben;  vom  15.  bis  20.  Januar  ereigneten  sich  36  (ll), 
vom  21.  bis  25.  Januar  22  (2)  Cholerafälle  (Todesfälle).  Die 
Epidemie  scheint  demnach  dem  Erlöschen  nahe  zu  sein. 

Pest.  China.  In  Tientsin  sind  nun  auch  in  der  Chi¬ 
nesenstadt  die  ersten  fünf  Pesterkrankungen  konstatiert  worden. 
Die  dortigen  Aerzte  behaupten,  daß  die  benachbarten  Dörfer 
durchaus  der  Mandschurei  zurückkehrende  Kulis  in  hohem  Grade 
verseucht  sind  und  daß  zahlreiche  Pesterkrankungen  in  Tientsin 
selbst  verheimlicht  werden.  Die  Sanitätsbehörden  der  Tiontsiner 
Chinesenstadt  haben  die  Errichtung  eines  Pestspitals  in  Angriff 
genommen,  das  200  bis  300  Kranke  aufnehmen  könnte,  außerdem 
soll  ein  Isolierspital  für  über  1000  Personen  errichtet  werden.  — 
In  Peking  trat  der  erste  Pestfall  am  21.  Januar  in  einem  chine¬ 
sischen  Gasthause  auf  und  betraf  einen  aus  Mukden  zugereisten 
Gast.  Bei  der  behördlichen  Erhebung  erwiesen  sich  noch  vier 
andere  Personen,  Bedienstete  der  Herberge,  als  pestkrank.  Ange¬ 
sichts  der  Gefahr  einer  Weiterverbreitung  haben  die  Behörden 
strenge  Maßnahmen  ergriffen :  Pestbaracken  wurden  außerhalb 
der  Stadt  errichtet,  die  Rattenvertilgung  ist  im  Zuge,  Desinfektions¬ 
und  Isoliermaßnahmen  wurden  erlassen.  Trotzdem  soll  die  Pest, 
bereits  in  größerem  Umfange  herrschen,  doch  liegen  nähere  Be¬ 
richte  ''nicht  vor.  Die  ganze  Strecke  zwischen  Peking  und  Tientsin 
ist  angeblich  verseucht,  auch  die  nach  Süden  führende  Bahnstrecke 


Peking— IHankau  soll  nicht  mehr  pestfrei  sein.  Der  Verkehr  auf 
der  Linie  Tientsin  -Mukden  wurde  eingestellt,  da  dieselbe  direkt 
in  das  mandschurische  Pestgebiet  führt.  Nach  glaubwürdigen 
Nachrichten  liegen  längs  der  nach  Südosten  führenden  Strecke 
der  Tientsin— -Pukaubnhn  massenhaft  die  Leichen  der  aus  der 
Mandschurei  nach  der  Provinz  Schantung  zurückkehrenden  Kulis. 
Zahlreiche 'Europäer  verlassen  die  Stadt.  —  Die  Provinz  Ts  chili 
ist  an  mehreren  Punkten  verseucht,  aus  Paotingfu  an  der  Linie 
Peking— iHankau  wurden  fünf,  aus  Fütsuntschiao  30  Todesfälle 
gemeldet.  —  In  der  Provinz  Schantung  nimmt  die  Pest  gleich¬ 
falls  überhand.  Aus  dieser  Provinz  wandern  jährlich  Tausende 
von  Arbeitskulis  nach  der  Mandschurei  und  kehren  zur  Zeit  des 
chinesischen  Neujahrs  in  die  Heimat  zurück.  Durch  dieselben 
wurde  die  Pest  nach  verschiedenen  Pünkten  Schantungs  ver¬ 
schleppt  und  ist  es  zweifelhaft,  ob  es  möglich  sein  wird,  ihrem 
Vordringen  in  das  Yangtzetal,  den  am  stärksten  bevölkerten  Teil 
des  chinesischen  Reiches,  Einhalt  zu  gebieten.  Am  ärgsten  wütet 
die  Seuche  noch  immer  in  der  Mandschurei,  ln  G  har  bin 
sind  bis  zum  24.  Januar  959  Chinesen  und  28  Europäer  erkrankt, 
929  Chinesen  und  26  Europäer  gestorben,  unter  letzteren  auch 
der  französische  Arzt  Dr.  Mesny.  In  Mukden  sind  in  der 
Zeit  vom  11.  bis  19.  Januar  151  Pestfälle  vorigekommen,  von 
denen  102  tödlich  ausgingen.  Isolierspitäler  und  Beobachtungs¬ 
stationen  wurden  errichtet,  leider  macht  sich  allenthalben  der 
Mangel  an  Aerzten  und  geschulten  Hilfskräften  fühlbar.  Die 
meisten  Erkrankungen  sind  Lungenpestfälle;  wie  rapid  die  Krank¬ 
heit  wirkt,  beweist  die  Tatsache,  daß  von  den  151  Fällen  92 
an'  demselben  Tage  als  die  Meldung  erfolgte,  starben.  Die  Opfer 
sind  bisher  ausnahmslos  Chinesen,  fast  sämtlich  der  Kuliklasse 
angehörig,  während  die  zahlreichen  japanischen  Kulis  bisher  voll¬ 
ständig  verschont  geblieben  sind.  Die  Stadt  weist  ferner  für  die 
Zeit  vom  27  bis  30.  Januar  115  Todesfälle  aus,  darunter  einen 
europäischen  Arzt  Dr.  Jackson.  In  Hs  in  min  tu  ereigneten 
sich  bis  zum  30.  Januar  30  Todesfälle,  unter  denen  sich  der 
japanische  Arzt  Dr.  Morikawä  und  seine  Gattin  befand.  In 
Fudjadjan  wurden  1000  Leichen  verbrannt,  2000  liegen  noch 
un beerdigt  in  den  Straßen ;  die  Gesamtzahl  der  bisher  dort  Ver¬ 
storbenen  beträgt  rund  4000  bei  einer  Einwohnerzahl  von  15.000. 
In  Kirin  sind  innerhalb  vier  Tagen  290  Personen  an  Pest 
gestorben.  -  In  Changchun  grassiert  die  Pest  sehr  heftig; 
in  der  Chinesenstadt  sollen  160,  im  Bahngebiete  22  Menschen 
der  Seuche  erlegen  sein.  Aus  Dalny  wurden  bisher  37  Fälle 
gemeldet;  außer  den  schon  früher  genannten  Orten  sind  auch 
Kungchuling,  Supingchich,  Kaiyuan  und  Tiehling  verseucht.  Es 
kann  somit  die  ganze  Mandschurei  als  pestverseucht  angesehen 
werden. 

* 

Auf  Seite  299  der  vorigen  Nummer  soll  der  Titel  der  Arbeit 
von  Primararzt  Dr.  J.  Berze  richtig  lauten:  Zur  Pathologie 
und  Therapie  der  Affekte. 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  7.  Jahreswoche  (vom  12.  bis  18.  Fe¬ 
bruar  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  586,  unehelich  227,  zusammen 
813.  Tot  geboren,  ehelich  60,  unehelich  31,  zusammen  91.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  652  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
16  7  Todesfälle)  an  Rauchtyphus  1,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  3, 
Scharlach  2,  Keuchhusten  2,  Diphtherie  und  Krupp  7,  Influenza  2, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  2,  Lungentuberkulose  118,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  45,  Wochenbettfieber  2,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  37  ( —  8),  Wochenbettfieber  0  ( —  1),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  65  ( —  25),  Masern  115  ( —  4),  Scharlach  88  (-f-  22), 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  3  ( —  1),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0), 
Diphtherie  und  Krupp  67  (-f-  24),  Keuchhusten  36  (-)-  2),  Trachom  0  (—2), 
Influenza  3  (==),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Distriktsarztesstelle  für  den  Sanitätsdistrikt  Korit- 
sch  a  n  des  politischen  Bezirkes  Gaya  (Mähren).  Dieser  Distrikt  umfaßt 
acht  Gemeinden  mit  einem  Flächeninhalte  von  74'97  km2  und  6815  Ein¬ 
wohnern.  Der  Sitz  des  Arztes  ist  Koritschan.  Die  Bezüge  des  Arztes  sind 
folgende:  An  Gehalt  1400  K,  mit  dem  Ansprüche  auf  fünf  Quinquennal- 
zulagen  zu  140  K,  an  Fahrpauschale  488  K,  zusammen  1848  K.  Die  im 
Sinne  des  §  11  des  Gesetzes  vom  27.  Dezember  1909,  L.-G.-Bl.  Nr.  98, 
belegten  Gesuche  sind  bis  15.  April  beim  Obmanne  des  Sanitätsaus¬ 
schusses  Alfred  Thonet,  Bürgermeister  in  Koritschan,  einzubringen. 

Gemeindearztesstelle  in  der  Sanitätsgemcindegrup|ie 
Eggendorf  im  Tale  (Niederösterreich),  bestehend  aus  den  Gemeinden 
Enzersdorf,  Kleinstetteldorf,  Weierburg,  Altenmarkt  und  Eggendorf  un 
Tale  mit  1952  Einwohnern  gelangt  mit  1.  April  1.  J.  zur  Besetzung. 
Landessubvention  1000  K,  Beiträge,  der  Gemeinden  600  K.  Bewerber  um 
diese  Stelle  wollen  ihre  instruierten  Gesuche  an  das  Bürgermeistamt 
in  Eggendorf  im  Tale  (Bezirk  Oberhollabrunn)  bis  15.  März  1.  J-  cin- 
rei  chcn. 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


365 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 

Offizielles  Protokoll  (1er  k.  k.  Gesellschaft  (1er  Aerzte  in  Wien.  Wissenschaftliche  Aerztegesellschaft  in  Innsbruck  Sitzune-  vom 
.  Sitzung  vom.  3.  März  1911.  24.  November  1910.  '  '  * 

Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien.  - _ 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  3.  März  1911. 

Vorsitzender :  Präsident  Hofrat  S.  Exner. 

Schriftführer:  Hofrat  Richard  Paltauf. 

A.  Administrative  Sitzung: 

Der  Präsident  teilt  folgende  Beschlüsse  des  Verwaltungs- 
rates  mit:  - 

Der  Zentralausschuß  für  öffentliche  Gesundheitspflege,  der 
bereits  elf  Vereine,  die  einzelne  Zweige  aus  dem  Gebiete  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege  fördern,  vereint,  hat  unsere  Gesell¬ 
schaft  zum  Anschlüsse  eingeladen;  der  Verwaltungsrat  em¬ 
pfiehlt  auch  denselben.  (Wird  zugestimmt.) 

Den  vor  einigen  Wochen  von  Prof.  Königstein  und  Ge¬ 
nossen  gestellten  Antrag  auf  Einsetzung  einer  Art  Preßkomitee 
(Publikation  von  Mitteilungen  usw.  aus  den  Sitzungen  der  Gesell¬ 
schaft  in  Tageszeitungen)  hat  der  Verwaltungsrat  eingehend  be¬ 
raten,  ist  aber  nicht  in  der  Lage,  seine  Annahme  zu  empfehlen. 
(Kein  Widerspruch.) 

Von  den  Herren  Mitgliedern:  Bumm,  Alex.  Fraenkel, 
Luithle'n,  Nobl  und  Unger  wurde  dem  Verwaltungsrate  eine 
längere; ‘Eingabe  übermittelt  welche  die  Aufmerksamkeit  der  Gesell¬ 
schaft  auf  die  so  wichtige  Frage  der  körperlichen.  Erziehung 
der  Mittelschuljugend  lenkt  und  eine  Enunciation  der  Gesell¬ 
schaft  an  die  große  Oeffentlichkeit  wünscht,  da  trotz  der  von 
der  obersten  Unterrichtsbehörde  im  vergangenen  Jahre  vertilgten 
Erweiterung  der  körperlichen  Uebungen  der  Mittelschuljugend 
diese  Angelegenheit  keine  greifbaren  Formen  angenommen  hat. 
Da  allem  Anscheine  nach  im  Elternhause  das  größte  Hindernis 
zu  liegen  scheint,  so  wäre  eine  an  die  große  Oeffemt- 
lichkeit  gerichtete  Enunciation,  welche  die  Vorteile  und  den 
zweifellos  nicht  nur  für  die  körperliche,  sondern  auch  für  die 
intellektuelle  Entwicklung  der  Mittelschuljugend  bedeutungsvollen 
Einfluß  der  körperlichen  Erziehung  unserer  Mittelschuljugend 
betone  und  hervorhebe,  wünschenswert.  Der  Verwaltungsrat  hat 
natürlich  den  Motiven  der  Eingabe,  die  sozusagen  Gemeingut 
der  Aerzte  sind,  völlig  zugestimmt,  glaubt  aber,  die  Angelegenheit 
noch  inehr  zu  fördern  und  vielleicht  in  ausgiebigerer  Weise  weite 
Kreise  und  damit  die  breite  Oeffentlichkeit  für  die  Angelegenheit 
zu  interessieren,  wenn  die  Gesellschaft  den  Antrag  dem  oben 
erwähnten  Zentralaussc.husse  für  öffentliche  Gesundheitspflege  zur 
weiteren'  Propagation  übermittle.  (Zustimmung.) 

Von'  der  k.  k.  photographischen  Gesellschaft  ist  ein  Dank¬ 
schreiben  für  die  durch  einen  Delegierten  der  Gesellschaft  (Doktor 
Hinterberger)  zum  Ausdruck  gebrachte  Beglückwünschung  zu 
ihn  r  50jährigen  Stiftungsfeier  eingelängt. 

Als  SkrutatoreU  für  die  bevorstehenden  Wahlen  von  Mil¬ 
gliedern  wurden  vom  Verwaltungsrate  die  Herren  0.  Chiari. 
Khautz  v.  Eulenthal  rind  Paschkis,  zu  fungieren  ersucht, 
zur  Wahl  aus  dem  Plenum  sind,  wie  in  den  Vorjahren,  die 
Herreh  Teleki  sen.  und  Emil  Schwa, rz  vorgeschlagen.  (Wird 
zugestimmt.) 

Hierauf  legt  der  zweite  Sekretär  die  Wahlliste  vor;  sie  be¬ 
kifft  ein  Ehren-,  vier  korrespondierende  und  28  ordentliche  Mit¬ 
glieder.  Es  wird  kein  Einspruch  erhoben. 

B.  Wissenschaftliche  Sitzung: 

Dr.  Emil  Fröschels :  Meine  Herren!  Ich  erlaube  mir,  Ihnen 
heute  einen  Patienten  vorzustellen,  welcher  in  dieselbe  Gruppe 
gehört,  wie  der,  den  ich  am  28.  Oktober  1910  hier  zu  demonstrieren 
die  Ehre  hatte.  Sie  sehen  einen  7jährigen,  körperlich  gut  ent¬ 
wickelten  Knaben  vor  sich,  welcher  im  Dezember  v.  J.  in  meine 
Behandlung  im  sprachärztlichen  Ambulatorium  des  St.  Anna- 
Kinderspitales  trat.  Er  bot  damals  das  Bild  kompletter  Stumm¬ 
heit  und  benahm  sich  der  Sprache  anderer  gegenüber  vollständig 
verständnislos.  Die  Anamnese  ergibt,  daß  er  das  dritte  von  vier 
Kindern  ist,  von  denen  die  beiden  älteren  normal,  wenn  auch 
nicht  besonders  begabt  sind,  während  das  jüngste,  ein  Knabe 
von  vier  Jahren,  sich  vollkommen  analog  verhält  wie  unser 
Patient.  Die  Großmutter  mütterlicherseits  und  die  Mutter  des 
Patienten  leiden  an  heftigen  Migräneanfällen,  die  durch  keine 
Behandlungsart  dauernd  zu  beseitigen  sind.  Die  Urgroßmutter 


war  eine  schwere  Morphinistin.  Ein  Vetter  ist  Epileptiker;  dieser 
•stammt  Von  einem  Vater,  der  Alkoholiker  und  Luetiker  ist’  Unser 
Knabe  hat  Pertussis,  Skarlatina  und  Morbillcn  durchgemacht.  Er 
hat  nie  die  Zeichen  des  Myxödems  geboten.  Bis  vor  etwa  zwei 
Jahren  bot  er  das  klinische  Bild  der  Taubheit,  d.  h.  er  reagierte 
auf  keinerlei  Ton  oder  Geräusch.  Damals  wurde  von  seiten  eines 
Arztes  die  Diagnose  auf  sporadischen  Kretinismus  gestellt  und 
ihm  täglich  eine  englische  Schilddrüsentablette  ä  0-3  g  ver¬ 
ordnet.  Zur  gleichen  Zeit,  also  wohl  nicht  durch  das  Medikament 
beeinflußt,  begann  er  das  Wort  „Mama“  zu  sprechen.  Seither 
hat  sich  sein  Geisteszustand  gebessert.  Er  lernte  den  Gebrauch 
verschiedener  Gegenstände  und  verstand  auch,  wenn  man  durch 
Deuten  etwas  Einfaches  von  ihm  verlangte.  Auch  besserte  sich 
sein!  Personen-  und  Ortsgedächtnis.  Aber  die  von  seinen  Eltern 
so  heiß  ersehnte  Sprache  trat  nicht  auf. 

Zur  (Zeit  des  Eintrittes  in  meine  Behandlung  war  der  Kranke 
imstande,  spontan  einige  Silben  zu  lallen,  hatte  jedoch  absolut 
kein  Sprachverständnis.  Sein  Gehör  war  damals  mit  Sicherheit 
nachzuweisen.  Er  hörte  alle  Töne  der  Urban  t  sch  its  ch  sehen 
Harmonika  ;auf  mehl  als  6  m  und  drehte  sich  auf  lauten  Namens¬ 
anruf  um.  Von  vorgehaltenen  Bildern  konnte  er  kein  einziges 
bezeichnen.  Von  zwei  Bildern,  welche  gebräuchliche  Gegenstände 
zeigten,  war  er  nicht  imstande,  dasjenige  auszuwählen,  welches 
inan  beim  Namen  nannte.  Das  Nachsprechen  war  mangelhaft, 
einsilbige  oder  zweisilbige  Worte  wiederholte  er,  jedoch  fehler¬ 
haft.  Er  verfügte  nicht  über  alle  Laute  —  einen  Zustand,  welchen 
wir  stammeln  nennen.  Im  allgemeinen  war  er  jedoch  sehr  auf¬ 
merksam  und  gab  sich  sichtlich  Mühe,  zu  verstehen,  was  man 
von  ihm  verlangte —  jedoch  ohne  Erfolg.  Im  scharfen  Gegensätze 
dazu  stand  sein  Verhalten,  wenn  man  von  ihm  eine  Arbeit  for 
derte.  Er  kannte  den  Wert  aller  gebräuchlichen  Gegenstände  und 
hantierte  damit  ganz  geschickt.  Dadurch  war  die  Diagnose  einei 
schwereren  Intellektstörung,  wie  Idiotie  oder  Kretinismus,  von 
vornherein  ausgeschlossen.  Es  handelte  sich  vielmehr  um  eine 
isolierte'  Erkrankung  der  Sprache.  Das  Kind  verhält  sich  etwa 
so,  wie  ein  normaler,  sprechender  Mensch,  welcher  in  ein  Land 
kommt,  von  dessen  Sprache  er  kein  Wort  versteht. 

In  Anbetracht  des  guten  Gehöjrs  wurde  die  Diagnose  an! 
Hörstummheit  gestellL  und  in  weiterer  Berücksichtigung  seiner 
Aufmerksamkeit  und  seines  sichtlich  guten  Willens  suchte  ich 
den  Grund  für  seine  Stummheit  und  sein  fehlendes  Sprachver¬ 
ständnis  in  einem  angeborenen,  abnorm  schlechtem  Namensi- 
gedächtnis.  Während  es  einem  normalen  Kinde  von  einem  Jahre 
genügt,  wenn  es  hin  und  wieder  ein  Wort,  hört  und  dabei  sieht, 
daß*  mit  diesem  Worte  immer  derselbe  Gegenstand  gemeint  ist, 
um  sich  das  Wort  und  den  dazugehörigen  Begriff  zu  merken, 
genügt  dies  einem  derartigen  Patienten  nicht.  Er  vergißt  viel¬ 
mehr  von  einem  Mal  zum  anderen  den  betreffenden  Namen  und 
das  dazugehörige  Objekt.  Er  wird  demnach  nicht  in  der  Lage 
sein,  ein  Wort  zu  wiederholen  und  auch  bei  der  nächsten  Ge¬ 
legenheit  nicht  mehr  wissen,  was  damit  gemeint  war. 

Daraus  resultiert  die  Behandlungsart.  Man  muß  dem  Kinde 
zu  jedem  G  egenstände  so  oft  den  Namen  sagen,  bis  er  ihn  wieder¬ 
holen  kann  und  darf  für  den  Anfang  nur  wenige  Worte  im  Tage 
üben.  Am  besten  benützt  man  dazu  Bilder,  immer  eines  auf 
einem  Blatte  Papier.  Durch  diese  einfache  Behandlungsart  ver¬ 
fügt  ider  Patient  schon  jetzt  über  einen  großen  Reichtum  an,  Worten. 
Er  bezeichnet  die  Gegenstände  richtig  und  wählt  ans  einer  größeren 
Anzahl  von  Bildern  dasjenige  aus,  welches  man  nennt.  Er  ver¬ 
steht  jetzt  auch  schon  einfache  Sätze,  indem  er  sich  an  die  ihm 
bekannten  Worte,  welche  darin  enthalten  sind,  hält.  Seine  Auf¬ 
fassungsgabe'  wächst,  er  lernt  täglich  mehr  und  beherrscht  auch 
schon  das  kleine  und  große  Alphabet.  Ich  glaube,  daß  das  Kind 
im  nächsten  Herbst  die  Schule  wird  besuchen  können.  Ohne 
diese  einfache  Therapie  wäre  er  nicht  weitergekommen  als  der 
elfjährige  Knabe,  den  ich  im  Herbst  vors  teilte  und  der  noch 
fast  genau  so  zurückgeblieben  war  wie  unser  Patient  vor  der 
Behandlung.  Dieser  elfjährige  Knabe  hat  übrigens  seither  eine 
ganz  genügende  Stufe  sprachlicher  Entwicklung  erreicht. 

Es  ist  also  bei  allen  stummen  Kindern  darauf  zu  achten, 
wie  sie  sich  bei  Handlungen  benehmen,  die  keinen  Zusammen¬ 
hang  mit  der  Sprache  haben.  Nur,  wenn  auch  das  ungenügend 
ist,  kann  man  intellektuelle  Störungen  diagnostizieren  —  sonst 
liegt  eine  Sprachkrankheit  vor,  die  relativ  einfach  zu  heilen  ist. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Kr.  10 


360 


Was  die  Schilddrüsentherapie  he  trifft,  so  halte  ich  sie  bei 
meinem  Patienten  für  nicht  indiziert.  Diese  ist  nur  dann  am 
Platze1,  wenn  Zeichen  von  mangelhaftem  Funktionieren  der  Schild¬ 
drüse  vorhanden  sind.  Diese  Zeichen  aber  sind  vor  allem  soma¬ 
tischer  Natur  (Myxödem,  Augenstellung  usw.);  der  körperliche 
Zustand  unseres  Patienten  war  jedoch  seit  jeher  normal.  Die 
Fortschritte  in  geistiger  Beziehung,  welche 'er  seit  Einleiten  der 
Thyreoid  in  therapie  machte,  dürften  wohl  nicht  auf  diese  zurück¬ 
zuführen  sein.  Sonst  wäre  es  nicht  verständlich,  warum  die 
Sprache  sich  solange  nicht  einstellte,  als  nicht  die  einfache,  das 
Grundübel  berücksichtigende  Uebungsbehandlung  eingeleitet  wurde 
und  warum  diese  andrerseits  so  rasche  Erfollge  zeitigte. 

Priv.-Doz.  Dr.  Leopold  Freund  demonstriert  aus  der  Klinik 
Finger: 

1.  Einen  15jährigen  Burschen,  bei  dem  vor  fünf  Jahren 
zwei  Herde  von  Lupus  vulgaris  (auf  der  linken  Wange  und 
am  linken  Ellbogen)  mit  Rönt  gen  strahlen  behandelt  wur¬ 
den.  ’Ich  applizierte  damals  auf  jeden  Herd  eine  auf  sechs  Sitzun¬ 
gen  verteilte  Erythemdos.1.  Die  Affektionen  heilten  unter  dieser 
Behandlung  vollständig  und  mit  tadellosen  glatten  Narben  aus. 
Seit  jener  Behandlung  ist  keine  Rezidive  aufgetreten.  Sie  können 
sich  überzeugen,  daß  das  erzielte  Resultat  in  diesem  Falle,  so¬ 
wohl  was  Gründlichkeit,  als  auch  was  kosmetisches  Aussehen 
anlängt,  den  Vergleich  mit  den  Erfolgen  anderer  Methoden  nicht 
zu  scheuen  hat. 

Wie  bei  anderen  mit  Röntgen  behandelten  und  geheilten 
Fällen,  haben  wir  die  hier  mögliche  Nachkontrolle  des  damaligen 
Befundes  nur  dem  Umstande  zu  verdanken,  daß  sich  hei  dem 
Kranken  an  anderen,  damals  noch  gesunden  Herdstellen,  in  letzter 
Zeit  wieder  neue  Lupusherde  entwickelt  haben,  behufs  deren 
Behandlung  er  die  Klinik  wieder,  aufsuchte.  Diese  befinden  sich 
an  Körperstellen,  welche  von  der  damaligen  Lokalisation  des 
Lupus  weit  entfernt  sind:  In  der  rechten  Kniekehle  und  auf 
der  rechten  Wange.  Diese  Herde  werden  nunmehr  auch  be¬ 
strahlt  werden. 

Das  Auftreten  der  Nachschübe  erklärt  sich  aus  Knochen¬ 
narben  an  verschiedenen  Röhrenknochen  des  Kranken.  Solange 
der  tuberkulöse  Knochenprozeh  noch  vorhanden,  ist  die  Gefahr 
neuer  Aussaaten  des  Tuberkelbazillus  in  der  Haut  nicht  erloschen. 

Der  Fall  beweist  erstens  die  Richtigkeit  der  von  Finger 
vertretenen  Anschauung,  daß  auch  die  erfolgreichste  Behandlung 
lokaler  lupöser  Ha utaffek! innen  eine  bloß  palliative  Behandlung 
bleiben  kann,  wenn  tuberkulöse  Herde  im  Innern  des  Körpers 
vorhanden  sind  ;  zweitens  illustriert  dieser  Fall  die  von  mancher 
Seite  in  Abrede  gestellte  Tatsache,  daß  es  gelingt,  lokale  lupöse 
Herde  mit  Röntgenstrahlen  radikal  und  mit  tadellosen  Narben 
auszuheilen. 

2.  Das  15jährige  Mädchen  war  angeblich,  bevor  es  an 
die  Klinik  Prof.  Finger  kam,  wegen  ihres  Lupus  anderwärts 
fünf  Jahre  lang  mit  Röntgenstrahlen  behandelt  worden,  ohne 
daß  der  Prozeß  zum  Stillstände  gekommen  wäre.  Bei  der  Auf¬ 
nahme  am  30.  Juni  1910  fehlte  die  häutige  Nase  und  der  knor¬ 
pelige  Anteil  des  Seniums  bereits  vollständig,  die  Nasens'chleim- 
haut,  in  den  dem  Defekte  angrenzenden  Teilen,  war  in  1  bis 
2  mm  hohe,  schlappe,  stark  sezernierende  lupöse  Granulationen 
innig ewändelt.  Ein  lupöses  Geschwür  in  der  Größe  eines  Heller¬ 
stückes  erstreckte  sich  aus  dem  Naseneingang  auf  die  rechte 
Seite  der  Oberlippe. 

ln  Narkose  wurden  die  lupösen  Wucherungen  mit  der  Kürette 
abgetragen  und  einige  Tage  später,  nach  Entfernung  von  Krusten 
und  Borken,  mittels  Vaselin  verbunden,  die  Röntgenbestrahlung 
eingeleitet  Die  Kranke  erhielt  damals  eine  auf  sechs  Sitzungen 
verteilte  Erythemdose  und  Ende  September  desgleichen  als  Nach¬ 
behandlung. 

Seit  dem  Sommer  1910  befindet  sich  das  Mädchen  in  dem 
Zustande,  in  welchem  Sie  es  jetzt  sehen.  Alle  Defekte  sind  voll¬ 
ständig  und  glatt  überhäutet.  Die  kleinen,  stecknadelspitzengroßen 
dunklen  Pünktchen  an  der  Außenseite  der  Nase  sind  Pigment¬ 
anhäufungen,  wie  sie  nach  Röntgenbestrahlungen  oft  sichtbar 
werden.  Auch  die  kleinen  Pünktchen  an  der  unteren  Zirkumferenz 
der  Narbe  fasse  ich  als  derartige  Residuen  der  Röntgenbestrah¬ 
lung  und  nicht  als  latente  Lupusherde  auf.  Wenigstens  zeigten 
sie  seit  fast  drei  Vierteljahren  gar  keine  Tendenz  zum  Zerfalle 
oder  zur  Vergrößerung. 

Dieser  Fall  illustriert  die  Notwendigkeit  einer  zweckmäßigen 
Technik  der  Röntgenbehandlung. 

Zur  Erzielung  schneller  und  radikaler  Erfolge  der  Röntgen¬ 
behandlung  muß  den  Röntgen  strahlen  alles  aus  dem  Wege  ge¬ 
räumt  werden,  was  ihre  Wirksamkeit  schwächt.  Es’  ist  nicht 
die  Aufgabe  der  Röntgenstrahlen,  pathologische  Produkte  und 
Wucherungen  zu  zerstören,  sondern  bloß  die,  jene  Gewebskoni- 


plexe  zu  beeinflussen,  von  denen  solche  Wucherungen  ausgehen. 
Die  Zerstörung  solcher  pathologischer  Wucherungen  durch  Rönt¬ 
genstrahlen  ist  umständlich,  zeitraubend  und  erfordert  große 
Dosen,  welche  wieder  die  lästigen  Reaktionen  bedingen.  Das 
Schlimmste  dabei  ist  aber,  daß  die  pathologischen  Wucherungen 
als  Filter,  die  in  die  Tiefe  zur  Basis  der  Affektion  dringenden 
Röntgenstrahlen  wesentlich  schwächen,  so  daß  dort  nicht  mehr 
die  notwendige  große  Dosis  von  Röntgenlicht  einwirken  kann. 
Dies  ist  bei  Bestrahlung  von  malignen  Tumoren  oft  direkt  ver¬ 
hängnisvoll.  Die  zur  Basis  der  Neubildung  gelangende  Dosis  von 
Röntgenlicht  ist  durch  das  Filter  pathologischen  Gewebes  bereits 
so  geschwächt,  daß  dort  in  der  Tiefe  nicht  mehr  die  zerstörende 
Wirkung  großer  Dosen  von  Röntgenlicht,  sondern  die  anregende 
Wirkung  kleiner  Dosen  von  Röntgenstrahlen  zur  Geltung  kommt 
und  wir  können  oft  beobachten,  daß  nach  Bestrahlungen 
von  karzinomatösen  Tumoren  der  Tumor  schwindet, 
aber  das  Karzinom  wächst,  das  heißt,  sich  weiter 
verbreitet.  Deshalb  soll  vor  der  Bestrahlung  solcher  patho¬ 
logischer  Wucherungen  alles,  was  beseitigt  werden  soll,  auf  chi¬ 
rurgischem,  'chemischem  oder  thermischem  Wege  entfernt  werden. 
Die  Rönlgenstrahlen  haben  nicht  die  grobe,  sondern  die  Fein¬ 
arbeit  zu  besorgen,  das  heißt,  das  zu  zerstören,  was  jenen  an¬ 
deren  Methoden  entgangen  ist. 

Den  Nasen  defekt  bei  dieser  Patientin  haben  wir  von  Herrn 
Dr.  Karl  Mennig  durch  eine  Prothese  decken  lassen.  Wie  er¬ 
sichtlich,  ist  dies  dem  Künstler  in  geradezu  idealer  Weise  ge¬ 
lungen. 

Diskussion:  Dr.  Teleky  meint,  daß  in  dem  einen  Falle 
eine  chirurgische  Behandlung,  wie  eine  solche  von  Lang  geübt 
wird,  ein  kosmetisch  besseres  Resultat  erzielt  hätte. 

Dr.  Freund  (Schlußwort) :  1  Auf  die  Bemerkung  des  Herrn 
Dr.  Teleky,  daß,  wenn  die  hier  demonstrierte  Patientin  nach 
den  Methoden  Längs  behandelt  worden  wäre,  die  Ent¬ 
stellung  nicht  so  bedeutend  wäre,  habe  ich  zu  erwidern: 
Die  Anstalt,  in  welcher  die  _  Patientin  ihrer  Angabe  nach 
fünf  Jahre  lang  behandelt  worden  war,  bevor  sie  in  dem 
geschilderten  Zustande  in  der  Klinik  Prof.  Finger  aufgenommen 
wurde,  war  die  Wiener  Lupusheilstätte.  Wäre  bei  der  Patientin 
eine  operative  Behandlung  am  Platze  gewesen,  dann  hätte  man 
dort  eine  solche  wohl  vorgenommen. 

Prof.  Dr.  Ed.  Schiff  stellt  drei  Fälle  vor,  bei  welchen  die 
R  a d  i  u  m  t  h  e  r  a  p  i  e  in  Anwendung  kam,  respektive  kommen  wird. 

1.  Den  ersten  Fall  habe  ich  im  Jahre  1905  mit  einem  Epi¬ 
theliom  der  rechten  Wange  vorgestellt,  welches  mit  Röntgen¬ 
strahlen  behandelt  wurde  und  von  welchem  jetzt  keine  Spur 
mehr  sichtbar  ist.  Die  Behandlung  bestand  in  21  Sitzungen 
und  heute  nach  sechs  Jahren  kann  ich  den  Fall  als  absolut 
dauernd  geheilt  vorstellen.  Wenn  man  dies  im:  Jahre  1905  auf- 
genom'tnene  Bild  mit  dein  jetzigen  Zustand  vergleicht,  so  muß 
man  zugeben,  daß  die  Narbe  geradezu  ideal  ist.  Vor  vier 
Wochen  ist  ein  ep  i  t  h  e  liom  atöses  Gebilde  an  der  linken 
Nas  o-L  alii  al  fa  lte  aufgetreten.  Ich  habe  es  mit  Radium  be¬ 
handelt;  nach  fünf  Stunden  lange  dauernder  Applikation  des 
Radiums  verschwand  allmählich  das  Epitheliom  und  die  zurück¬ 
gebliebene 'Narbe  ist.  ebenso  tadellos  wie  diejenige  auf  der  Wange. 

2.  Die  zweite  Patientin,  welche  mir  von  Prof.  Finger  zu- 
gewiesen  wurde,  habe  ich  im  Jahre  1903  mit  Mycosis  f u  n- 
g  o  i  d  es  voi’frestcllt.  Pat.  hatte  über  den  ganzen  Körper  zerstreute 
Tumoren,  wie  sie  die  damals  aufgenommene  Moulage  zeigt.  Ich 
unterzog  die  Kranke  damals  der  Röntgenbehandlung  und  nach 
etwa  30  Sitzungen  war  ein  vollkommener  Rückgang  der  Ge¬ 
schwülste 'zu  beobachten;  da  sich  diese  über  den  ganzen  Körper 
zerstreut  befanden,  zog  sich  natürlich  die  Behandlung  sehr  in 
die  Länge.  Nach  längerer  Zeit  wurde  nun  Pat.  refraktär  gegen¬ 
über  Röntgenstrahlen,  so  daß  sie  hei  ihr  nicht  mehr  wirkten. 
Seit  etwa  sechs  Monaten  habe  ich  bei  dieser  Kranken  ebenfalls 
die  Radiumbehandlung  eingeleitet  und  konnte  unter  derselben 
einen ’prompten  Rückgang  der  Tumoren  beobachten,  welcher  nach 
einer  zwölf  Stunden  dauernden  Applikation  eintritt  und  nach 
acht  bis  zehn  Tagen  beendet  ist.  An  manchen  Stellen  sind 
die  Narben  geradezu  tadellos  zu  nennen,  zum  Beispiel  an  der 
Brust,  sie  sind  vollkommen  glatt.  Leider  treten  bei  der  Frau 
fortwährend  Rezidiven  auf,  so  daß  sie  immer  wieder  von  neuem 
behandelt  werden  muß. 

3.  Die  vorgestellte,  aus  der  Provinz  zugereiste  Frau  gibt  an, 
sieh  August  1910  am  Konto  angeschlagen  und  davon  eine  Beule 
bekommein  zu  haben,  welche  nachträglich  sich  zu  einem  Tumor 
entwickelte.  Dieser  Tumor  wurde  exstirpiert.  Pat.  wurde  nun 
mit  der  Diagnose  eines  rezidivierenden  Osteos'arkomls 
post,  ope  ration om  hieher  gesendet.  Ich  habe  ein  Stückchen 
der  an  der  Stelle  der  früheren  Beide  gewucherten  Geschwulst 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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exzidiert,  die  Untersuchung  derselben  durch  Herrn  Professor 
Dr.  Stoerk  ergab  keinen  bestimmten  Anhaltspunkt  für  die  ge¬ 
stellte  Diagrföse.  Wenn  man  mit  der  Sonde  in  die  Geschwulst 
eingeht,  kommt  man  aut  rauhen  Knochen.  Wenn  es;  sich  um  ein 
Osteosarkom  handelt  oder  gehandelt  hat,  ist  die  Gefahr  vor¬ 
handen,  daß  es  gegen  das  Gehirn  zu  wuchert.  Ich  werde  die 
Patientin  experimenti  causa  mit  Radium  behandeln.  Ich  kann 
es  mir  nicht  versagen,  bei  dieser  Gelegenheit  meinem  Bedauern 
darüber  Ausdruck  zu  geben,  daß  man  das  Radium,  ein  so  wirk¬ 
sames  Mittel,  sich  bei  uns  so  schwer  beschaffen  kann,  während 
linan  ein  großes  Quantum  dieses  Materials,  für  welches  in  Oester¬ 
reich  die  reichste  Fundgrube  sich  Befindet,  nach  dem  Ausland 
verkauft  hat. 

Priy-Doz.  Dr.  Wilhelm  Falta  und  Dr.  Gottwald  Schwarz 
demonstrieren  die  wachstumfördernde'  Wirkung  der  Neu- 
lemgbacher  Radium- E  man  a  ti  on  s-  Prä  parate  auf  j  u  n  g  e 
Pflanzen.  (Erscheint  anderwärts  ausführlich.) 

Dr.  Gustav  Bondy  demonstriert  einen  Fall  von  zentraler 
Neurofibromatose. 

Die  zwölfjährige  Patientin  erkrankte  anfangs  Dezember 
vorigem  Jahres  unter  Kopfschmerzen,  Schwindelanfällen  und  rasch 
zunehmender  Schwerhörigkeit,  weshalb  sie  Mitte  Januar  die 
Klinik  Prof.  Urbantschitsch  aufsuchte.  Die  Untersuchung  er¬ 
gab  normalen  Trommelfellbefund,  komplette  Taubheit  des  rechten 
Ohres,  Herabsetzung  der  Hörschärfe  am  linken  Ohre  auf  6  in 
Konversationssprache  und  3  m  Flüstersprache,  einen  spontanen 
horizontalrotatorischen  Nystagmus  zur  rechten  Seite,  sowie  voll¬ 
ständige  Unerregbarkeit  beider  Vestibularapparate,  das  heißt  der 
spontane  Nystagmus  ist  weder  durch  thermische,  noch  durch 
Drehreize  zu  beeinflussen.  Beiderseitige  Stauungspapille.  Neben 
diesen  Erscheinungen,  die  zunächst  auf  einen  rechtseitigen  Aku¬ 
stikustumor  weisen,  finden  sich  multiple  Fibrome  und  verein 
zelte  Pigmentflecke  an  der  Haut  des  Rückens  und  der  beiden 
oberen  Extremitäten,  ferner  zeigt  sich  die  rechte  Tonsille  in 
einen  blassen,  bis  zur  Medianlinie  reichenden,  zirka  nußgroßen 
Tumor  vom  ungefähren  Aussehen  normalen  Tonsillargewebes  ver¬ 
wandelt,  der  nirgends  auf  die  Umgebung  übergreift.  Nasemachen¬ 
raum  frei.  Die  histologische  Untersuchung  eines  aus  dem  Tumor 
exzidierten  Stückes,  die  Prof.  Stoerk  vorzunehmen  die  Liebens¬ 
würdigkeit  hatte,  ergab  Neurofibrom  mit  vermutlichem  Uebergang 
in  Sarkom.  Aus  dem  neurologischen  Befund  von  Professor  v  o  n 
Frankl] -H ochwart  wäre  noch  zu  erwähnen  ein  gewisser 
Grad  von  Imbezillität,  Fehlen  des  Korneal reflexes  rechts  als 
einziges  Zeichen  einer  Trigeminusaffektion,  die  übrigen  Hirn¬ 
nerven  normal. 

Es  zeigt  sich  somit,  daß  der  Akustikustumor  in  unserem 
Fälle  Teilerischeinung  einer  allgemeinen  Neurofibromatose  ist, 
es  sich  also  um  eine  zentrale  Neurofibromatose,  wie  solche 
Fälle  nach  dem  Vorschläge  von  Mosse  und  C aval  lie  genannt 
werden,  handelt.  Als  besonders  interessant  möchte  ich  neben 
der  Seltenheit  der  Erkrankung  —  es  sind  im  ganzen  17  Fälle 
veröffentlicht' —  das  Vorkommen  eines  Neurofibroms  der  Tonsille 
hervorheben,  das  ich  bisher  nicht  beschrieben  gefunden  habe. 

Es  wäre  weiters  noch  die  Frage  zu  erörtern,  ob  wir  be¬ 
rechtigt  sind,  auf  Grund  der  Ausschaltung  des  linken  Vestibular- 
, alpparates,  trotz  des  relativ  guten  Gehörs  dieser  Seite,  auch 
einen  Akustikustumor  der  linken  Seite  anzunehmen.  Ich  glaube 
diese  Frage  auf  Grund  folgender  Erwägungen  bejahen  zu  sollen. 
Von  den  17  bisher  bekannten  Fällen  —  ich  beziehe  mich  hier¬ 
auf  die  Zusammenstellungen  von  Adrian,  Funk  enstein  und 
Keuschen  —  sind  15  durch  Obduktion  sichergestellt.  In  allen 
diesen  Fällen  fanden  sich  die  Akustizi  doppelseitig  betroffen, 
trotzdem  in  drei  Fällen  (Sternberg,  Rubritius  und  Spill  er) 
die  klinischen  Erscheinungen  nur  auf  einen  einseitigen  Tumor 
wiesen.  Legt  uns  daher  schon  diese  Tatsache  den  Gedanken 
nahe,  einen  doppelseitigen  Tumor  anzunehmen,  so  findet  der¬ 
selbe  eine  weitere  Stütze  in  einer  interessanten  Angabe,  die 
Hens  eb  en  in  seiner  kürzlich  erschienenen  Monographie  „lieber 
Geschwülste  der  hinteren  Schädelgrube,  insbesonders  des  Klein¬ 
hirnbrückenwinkels“,  macht.  Derselbe  konnte  in  vier  mikrosko¬ 
pisch  genau  untersuchten  Fällen  von  Akustikustumor  feststellen, 
daß  der  Ursprung  desselben  am  Boden  des  inneren  Gehörganges 
im  oder  um  den  unteren  Endast  des  Vestibularis  zu  suchen  ist. 
Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  betrachtet,  gewinnt  die  Tatsache, 
(laß  der  Vestibül  arap p arat  auch  linkerseits  vollkommen  aus¬ 
geschaltet  ist,  für  unseren  Fäll  direkt  die  Bedeutung  eines 
Herdsymptomes.  Ich  glaube  demnach  nicht  fehlzugehen,  wenn 
ich  die  Diagnose  eines  doppelseitigen  Akustikustumors  auf  Basis 
einer  allgemeinen  Neurofibromatose  stelle. 

Was  die  Therapie  anlangt,  so  glaube  ich,  daß  eine  opera¬ 
tiver  Eingriff  wohl  kaum  in  Frage  kommen  dürfte.  Abgesehen 
davon,  daß  die  relativ  geringen  Beschwerden  das  Risiko  eines 


so  ausgedehnten  Eingriffes  kaum  rechtfertigen,  ist  im  Hinblick 
darauf, /daß  in  den  meisten  dieser  Fälle  die  Akustikustumoren  mit 
sole  mn  an  den  Austrittstellen  , anderer  Hirn-  und  Spinalnerven 
v  eiigesellschaitet  sind,  an  eine  radikale  Heilung  ja  überhaupt 
nicht  zu  denken. 

Hieraut  hält  Herr  Dr.  S.  Federn  seinen  angekündigten 
Vortrag:  Leber  optische  Blutdruckmessung  an  der  Ar- 
teria  radialis  und  über  den  lokalen  Blutdruck  (Er¬ 
scheint  ausführlich.) 


Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien. 

Sitzung  vom  14.  Februar  1911. 

Vorsitzender:  Hof  rat  Obersteiner. 

Schriftführer :  Raima  an. 

Zu  Mitgliedern  werden  gewählt  die  Herren  Doktoren:  Maxi¬ 
milian  K  ohom,  Rudolf  Leid  ler,  Otto  Wiener -Prag. 

a)  Pnv.-Doz.  Dr.  Karl  Kunn:  D  er  B eiw eg u n g s m  e c h a n i s- 
m u s  der  Augen. 

Kunn 'hat  eine  große  Zahl  von  Augenmuskellähmungen  beob¬ 
achtet,  bei  welchen  trotz  teilweiser  oder  völliger  Lähmung  eines 
Seitenwenders  keine  Abweichung  des  Auges  nach  der  Seite  des 
Antagonisten  beim  Blick  geradeaus  erfolgt  war,  das  lahme  Auge 
vielmehr  mit  seinem  Hornhautscbeitel  iu  der  Lidspaltemitte  sym¬ 
metrisch  zu  seinem  Partner  stand.  Diese  merkwürdige  Erschei¬ 
nung,  von  der  er  er  früher  geglaubt  hatte,  daß  sie  nur  hei  ange¬ 
borenen  Beweglichkeitsdefekten  des  Auges  Vorkommen  könne  und 
die,  wie  sich  jetzt  zeigt,  gar  nicht  so  selten  bei  erworbenen 
Lähmungen  anzutreffen  ist,  dient  zur  Erklärung  des  ganzen  Be- 
wegungsmechanisnius  der  Augen.  Man  muß  sich  nach  Kunn 
vorstellen,  daß  hei  Lähmung  eines  Seitenwenders  der  Bulbus 
trachtet,  seine  primäre  Ruhelage  'einzunehmen,  geradeso  wie  bei 
der  Skelettmuskulatur  die  Lähmung  eines  Muskels  zur  Folge 
hat,  daß  das  von  ihm  versorgte  Gelenk  eine  Mittelstellung  ein¬ 
nimmt,  um  idie  möglichste  Entspannung  sämtlicher  Muskeln, 
welche  die  Bewegungen  des  betreffenden  Gelenkes  beherrschen, 
herbeizutühren.  Aus  analogen  Gründen  wird  das  Auge  jene 
Stellung  einzunehmen  trachten,  bei  welcher  alle  Muskeln  möglichst 
entspannt  sind.  Diese  Stellung  fällt  aber  nicht  immer  mit  jener 
zusammen,  bei  welcher  der  Hornhautscheitel  in  der  Lidspalten¬ 
mitte  steht.  Der  Punkt,  in  welchen  sich  der  Hornhautscheitel  bei 
Entspannung  aller  Muskeln  stellt,  heißt  der  Indifferenzpunkt.  Fällt 
er  seitlich  von  dei  Lidspaltenmitte,  dann  haben  wir  bei  Lähmung 
eines  Seitenwenders  das  Bild  der  sogenannten  Sekundärkontrak¬ 
tur  vor  uns,  die  also  in  Wahrheit  überhaupt  nicht  existiert.  Fällt 
er  aber  zufällig  mit  der  Lidspaltenmitte  zusammen,  dann  ent¬ 
steht  die  sogenannte  Lähmung  ohne  Sekundärkontraktur.  Diese 
Erklärung  genügt  auch,  um  die  Seitenwenderlähmung  hei  erhalte¬ 
ner  Konvergenz  ohne  Zuhilfenahme  der  Erkrankung  eigener 
Zentren  zu  erklären.  Liegt  der  Differenzpunkt  beiderseits  in 
der  Lidspaltenmitte  und  erfolgt  eine  beiderseitige  Lähmung  des 
Rectus  lateralis,  dann  werden  die  Augen  symmetrisch  orientiert 
mit  ihren  iHornhautscheiteln  in  den  Lidspaltenmitten  stehen 
bleiben,  die  Beweglichkeit  nach  rechts  und  links  wird  aufge¬ 
hoben,  die  Konvergenz  aber  völlig  normal  sein  können.  Das 
gleiche,  was  für  den  Seidenwender  gilt,  gilt  aber  auch  für  die 
Hebung  und  Senkung.  Damit  ist  bewiesen,  daß  die  Theorie 
Schnabels,  welche  behauptet,  daß  jeder  Seitenwender  das 
Auge  aus  einem  Lidwinkel  in  den  andern  füihre  und  daß  die 
Stellring  in  der  Lidspaltenmitte  das  Resultat  der  zweckmäßigen 
Kontraktion  sämtlicher  exterioren  Muskeln  sein  müsse,  unhalt¬ 
bar-  ist.  Es  gilt  vielmehr  die  Annahme  von  Zuck  er  kan  dl 
und  Erben,  die  nach  Analogie  mit  den  übrigen  Skelettmuskeln 
behauptet  haben,  daß  jeder  Seitenwender  das  Auge  nach  seiner 
Seite  und  wieder  zurück  in  die  Lidspaltenmitte  führe,  mit  der  Ein¬ 
schränkung,  daß  eben,  wie  Ivunnis  Fälle  neuerdings  beweisen, 
die  Ruhestellung  nicht  immer  mit  der  Lidspaltenmitte  zusammen¬ 
fällt.  Jeder  Seitenwender  ist  autonom  und  führt  das  Auge-  aus 
der  primärem  Ruhelage,  hei  welcher  der  Hornhautscheitel  im  Jn- 
differenzpunkt  steht,  in  äußerste  Rechts-,  resp.  Linkswendung. 
Die  Mittelstellung  des  Auges  ist  nur  dann  das  Produkt  einer 
Muskelaktion,  wenn  der  Indifferenzpunkt  nicht  in  der  Lidspalten¬ 
mitte  liegt.  Sonst  sind  bei  Mittelstellung  sämtliche  Muskeln  ent¬ 
spannt  und  hei  Lähmung  eines  Seitenwenders  in  einem  solchen 
Falle  keine  Abweichung  des  Auges  im  Sinne  des  Antagonisten 
konstatierbar.  Somit  ist  durch  rein  klinische  Beobachtung  und 
die  daraus  gezogenen  Schlüsse  die  Lösung  des  physiologischen 
Problems,  welches  der  Bewegungsmechanismus  der  Augen  dar¬ 
stellt  und  das  bisher  völlig  kontrovers  war,  möglich.  27  aus¬ 
führliche  Krankengeschichten  mit  eingehenden  Epikrisen  illustrie¬ 
ren  die  Ansichten  des  Autors.  Besonders  hervorzuheben  sind  zwei 


WIENEU  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  IO 


Krankengeschichten  mit  Obduktionsbefunden.  In  beiden  Fällen 
hat  lös  sich  um  Ponstumoren  gehandelt,  die  zu  völliger  Zerstörung 
der  ‘Abduzontes  geführt  hatten,  während  der  Okülomotorius  intakt 
geblieben  war.  Trotzdem  bestand  intra  vitam  das  Bild  der  Ab¬ 
duzenslähmung  verschiedenen  Grades,  ohne  Sekundärkon¬ 
traktur,  bei  erhaltener  Konvergenz.  Bezüglich  der  vielfachen 
wichtigen  Bemerkungen,  welche  Details  und  benachbarte  Gebiete 
betreffen,  verweist  Vor  Ir.  auf  seine  in  den  Beiträgen  zur  Augen¬ 
heilkunde,  FI.  76  (Leopold  Voß  in  Hamburg)  erschienene  aus¬ 
führliche  Arbeit. 

Diskussion:  Priv.-Doz.  Dr.  Siegmund  Erben:  Die  ori¬ 
ginellen  Ausführungen  vom  Kollegen  Kunn  loben  wohl  die  von 
Zuckerk  and  1 'und  Erben  entwickelte  mechanische  Auffassung 
der  "Ruhestellung  des  Auges,  aber  gelten  lassen  sie  dieselbe  nicht. 
Auch  Schnabel  leugnete  die  Berechtigung  unseres  Bewegungs¬ 
mechanismus.  Die  Beobachtungen  Kunns  erscheinen  mir  viel¬ 
fach  als  Widerspruch  zu  unserer  Lehre,  wenngleich  der  Vortra¬ 
gende  sie  als  neue  Stützen  bezeichnet.  Zucker  kan  dl  und 
Erben  glaubten  zu  erkennen,  daß  das  Auge  bei  seiner  Ruhe¬ 
stellung  durch  elastischen  Zug  in  derselben  erhalten  wird,  wie 
es  auch  ohne  willkürliche  Muskelzusammenziehung  und  nur  durch 
elastische  Kräfte  von  einer  Seitenstellung  in  die  Ruhelage  zu¬ 
rückgeführt  wird.  Die  elastischen  Kräfte  sind  gegeben  durch 
den  Tonus  der  (nicht  verkürzten)  Muskeln,  durch  die  Spannung 
der  T  en  on  sehen  Kapsel,  des  Orbitalfetts,  wie  der  Konjunktiva. 

Nun  sagte  Kunn,  „selbst  wenn  der  Lähmungsgrad  des  Ant¬ 
agonisten  ein  ungleicher  ist,  kann  das  Auge  in  der  Lidspaltenmitte 
stehen,  weil  in  dieser  Stellung  die  Seitenwender  völlig  entspannt 
sind“.  Damit  verkennt  Kunn  die  Herrschaft  der  elastischen 
Kräfte  in  der  Ruhestellung.  Gewiß  ist  keiner  der  Seitenwender 
in  der  Ruhestellung  aktiv  verkürzt,  doch  haben  sie  in  dieser 
Stellung  noch  immer  Tonus,  der  zu  dem  elastischen  Zuge  bei¬ 
trägt,  womit  das  Auge  in  die  Ruhestellung  gezogen  wird.  Wenn 
einer  dieser  Muskeln  mehr  gelähmt  ist  als  der  andere,  so  wird 
der  Tonus  des  ersteren  weniger  ausgiebig  und  die  Elastizität 
des  anderen  zieht  den  Augapfel  zu  sich;  in  diesem  elastischen 
Zuge  —  nicht  in  einer  willkürlichen  Kontraktion 
liegt  die  Ursache  der  sogenannten  „Sekundärkontraktur“.  Auch 
ich  sah  Lähmung  von  Seitenwendern,  ohne  daß  das  Auge  in  Schief¬ 
stellung  stand ;  das  war  immer  eine  unvollkommene  Lähmung,  bei 
welcher  die  Parese  noch  keine  ansehnliche  Veränderung  des 
Tonus  —  also  der  Elastizität  —  hepworgerufen  hatte.  Bei  den 
weaiigen  Fällen  von  vollkommener  Lähmung,  die  ich  sah,  traf 
ich  stets  Schieistellung;  doch  hat  Kunn  wahrscheinlich  hier  mehr 
Erfahrung  als  ich.  Wenn  Kunn  anführt,  daß  bei  lang  bestehen¬ 
dem  Schielen  mitunter  die  Tenotomi©  keine  Aenderung  der  ge¬ 
wohnten  Ruhestellung  erzeugte,  so  kann  man  außer  seinen  Fol¬ 
gerungen  noch  annehmen,  daß  diese  Tenotomie  unvollkommen 
war,  oder  daß  der  jahrelang  gedehnte  Antagonist  sklerosiert  ist 
und  seine  Elastizität  verloren  hat. 

Ku  nn  nimmt  an,  daß  die  Augenmuskeln  bei  der  Ruhestellung 
„im  höchsten  Grade  der  Erschlaffung“  sind ;  das  scheint  mir 
ein  Irrtum,  denn  jeder  der  Muskeln  befindet  sich  hiebei  bloß  in 
geringster  willkürlicher  Verkürzung  und  erreicht  ein  Seitenwender 
zum  Beispiel  den  höchsten  Grad  der  Erschlaffung  erst,  bis 
der  Hornhautrand  den  entgegengesetzten  Augenwinkel 
erreicht  hat;  diese  Erschlaffung  ist  keine  gewöhnliche  Dehnung, 
sondern  (durch  Sherrington,  dann  auch  von  Topolanski 
bewiesen)  aktive  Erschlaffung,  die  gleichzeitig  mit  der  Kontraktion 
seines  Antagonisten  innerviert  wird. 

Auch  ein  praktisches  Interesse  hat  der  Neurologe  an  der 
Wirkung  der  Seitenwender.  Letztere  ermüden  oft  bei  Neuro¬ 
pathien,  wenn  sie  zu  extremen  Leistungen  eine  Minute  hindurch 
an  gehalten  'werden !  Die  Augen  verlassen  nach  wenigen  Sekunden 
den  Augenwinkel  in  langsamer  Bewegung  und  kehren  ruckweise 
wieder  zurück,  um  bald  den  Augenwinkel  zu  verlassen.  Dieses  Spiel 
wiederholt  sich.  Ein  anderes  Phänomen  der  Seitenwender  ist, 
daß  der  äußerste  Seitenblick,  der  vom  Neuropathen  in  ruhig¬ 
gleichmäßiger  Bewegung  erreicht  wird,  beim  Zurückführen  des 
Auges  anfangs  durch  rasch  oszi  1  ieren des  Augenzittern  unter¬ 
brochen  wird.  Das  Auftreten  dieser  nystagmus  artigen  Bewegungen 
erst  im  Momente  des  Verlassens  der  extremen  Blick¬ 
richtung,  findet  sich  hauptsächlich  bei  Neurasthenikern.  Beiden 
Erscheinungen  werden  die  Kollegen  schon  gelegentlich  begegnet 
sein. 

Priv.-Doz.  Dr.  M.  Sachs. 

Kunn  erwidert  den  Herren  Sachs  und  Erben,  daß  er 
eingangs  seines  Vortrages  ausdrücklich  betont  habe,  daß  er  seine 
Anschauungen  nur  skizzieren  könne,  da  die  genaue  Beweisführung 
mit  Anführung  aller  Details  den  Rahmen  eines  Vortrages  weit  über¬ 
schreiten  würde.  Er  habe  nie  behauptet,  die  Tatsache,  daß  die 
Sekundärablenkung  in  gar  keinem  Verhältnis  zu  dem  Grade  der 


Lähmung  stehe,  entdeckt  zu  haben,  sondern  nur  darauf  hinge¬ 
wiesen,  daß  sie  absolut  nicht  berücksichtigt  und  gewürdigt  wurde. 
Unter  Seitenwenderlähmung  bei  erhaltener  Konvergenz  verstehe 
er  ausschließlich,  wie  auch  aus  allen  einschlägigen  Kranken¬ 
geschichtein  hervorgehe,  die  beiderseitige  Abduzenslähmung  und 
nicht  etwa  konjugierte  Seitenwenderlähmungen,  sogenannte  Blick¬ 
lähmungen.  Daher  gehören  alle  diesbezüglichen  Einwendungen 
nicht  zur  Sache. 

b)  Prim.  Dr.  Jos.  Berze:  Zur  Psychologie  und  Patho¬ 
logie  der  Affekte.  (Ausführlich  in  dieser  Wochenschrift  er¬ 
schienen.) 

Diskussion:  Priv.-Doz.  Dr.  E.  Stransky  beschränkt 
sich  zu  Berzes  interessanten  Ausführungen, -da  der  Vortragende 
eine  zu  gewärtigende  ausführliche  Veröffentlichung  in  Aussicht 
stellt,  nur  auf  wenige  Worte,  indem  er  meint,  daß  ihm  die  intra- 
psychische  Ataxie  etwas  tiefer  zu  wurzeln  und  der  zu  suppo- 
nierenden  Primärstörung  näher  zu  stehen  scheine,  als'  dies  aus 
den  Ausführungen  des  Vortragenden,  denen  er  sonst  in  vielen 
Punkten  beipflichlen  könne,  sich  ergeben  würde;  auch  hatte 
er  nicht  den  Eindruck,  als  würden  sich  Erscheinungen  intrapsychi¬ 
scher  (Ataxie  nur  erst  in  schweren  Fällen  beobachten  lassen;  man 
kann  die  Inkoordination  der  Psyche  auch  in  leichteren  wahr¬ 
nehmen.  Stransky  möchte  auch  nicht  so  weit  gehen,  zu  sagen, 
daß  bei  Schizophrenen  der  inadäquate  Gefühlston  aktuell  eigent¬ 
lich  nicht  inadäquat  sei:  intelligentere  Kranke  dieser  Art  berichten 
manchmal  geradezu  darüber,  daß  mindestens  ihre  Affektäußerun¬ 
gen 'oft  nicht  dem  sie  in  einer  gegebenen  Situation  okkupierenden 
Bewußtseinsinhalt  adäquat  seien,  empfinden  daher  ihr  Gebaren 
wie  zwangsmäßig  oder  greifen  zu  entsprechenden  Erklärungen, 
wähnen  sich  unfrei,  beeinflußt,  zumal,  wo  auch  noch  Halluzinatio¬ 
nen  entsprechender  Art  mit  hineinspielen.  Kraepelin  hat  auf 
diese  Verhältnisse  näher  hingewiesen;  Schizophrenie  bedeutet, 
wie  hier  gegenüber  einzelnen  Autoren  per  parenthesis  erwähnt 
sei,  noch  nicht  Demenz  und  daher  ist  es  kein  Wunder,  wenn 
Kranke  dieser  Art  über  psychische  Innenvorgänge  Bescheid 
wissen,  ganz  so  wie  Manischdepressive. 

Berze:  Schlußwort. 


Wissenschaftliche  Aerztegesellschaft  in  Innsbruck. 

Sitzung  vom  24.  November  1910. 

Prof.  Merk  zeigt  eine  38jährige  Frauensperson  (Virgo),  an 
welcher  zunächst  ein  enormes  ulzero -gummöses  Syphilid  der 
linken  Stirne  unter  Anwendung  einer  suhskapularen  Injektion 
von  „606“-  Schlamm  und  nebenbei  täglichen  Dosen  von  2  g  Jod¬ 
kali  zu  ausgiebiger,  wenn  auch  dermalen  noch  nicht 'vollständiger 
Schließung  gekommen  war.  Injektion  am  15.  Oktober,  0-5  in 
4-5  cm3  neutraler  Emulsion.  Bis  28.  Oktober  verbrauchte  Jod- 
kalimenge  28  g.  Seither  nur  lokale  Therapie.  Das  obere  Augen¬ 
lid,  das  sich  von  der  Orbita  abgelöst  hatte,  war  wieder  an¬ 
gewachsen.  Das  Geschwür,  das  vor  Behandlung  gut  handflächen¬ 
groß  war,  ist,  namentlich  seit  mechanischer  Loslösung  von  gan¬ 
gränösen  Knochenstücken,  bis  auf  drei,  etwa  je  caubeneigroße 
Wunden  bereits  verheilt.  Gegen  die  Glabella  zu  besteht  eine 
Oeffnung  in  den  Sinus  frontalis,  die  wohl  chirurgisch  wird  ge¬ 
schlossen  werden  müssen.  Die  Dauer  der  Lues  und  Art  der 
Infektion  ist  völlig  unbekannt.  (Siehe  Krankenskizze  Nr.  59  am 
Schlüsse  dieses  Berichtes.) 

Als  zufälliger  Befund  zeigte  sich  bei  derselben  Kranken  eme 
Sclerodermia  maculosa  am  Stamme  und  auch  an  den 
Extremitäten.  Pat.  weiß  über  das  Auftauchen  der  größtenteils 
bohnengroßen  Herde  nichts  zu  berichten.  Die  Flecke  sind  weißlich- 
gelb,  zum  Teil  sukkulent,  zum  Teil  an  der  Oberfläche  leicht 
runzelig  oder  leicht  zum  Runzeln  zu  bringen;  offenbar  Anzeichen 
von  beginnender  Atrophie  nach  Sklerodermie.  Exstirpation  wurde 
verweigert. 

Ferner  führte  Merk  eine  30jährige  Frauensperson  vor,  an 
welcher  aus  sepiabraunen,  schwach  narbigen,  etwa  höhnen-  Ins 
kronenstückgroßen  Flecken  an  der  Stirne  (Corona  venerea-GegendJ 
und  zum  Teil  im  Haarbereiche  mit  Alopezie  die  Diagnose  Ery¬ 
thematodes  discoides  in  Ausheilung  gemacht  wurde. 
Den  Beweis  für  die  Richtigkeit  der  Diagnose  erbrachte  ein  m 
den  letzten  Tagen  zur  Aufnahme  gelangter  Fall,  der  neben  flonden 
Herden  ganz  analogei  Ausheilungsstellen  darbot.  (Siebe  folgende 

Demonstration.)  ,  .  ... 

Dr.  G  j  or gjevic:  Demonstration  einzelner  r  a i i e 
von  Lupus  erythema  to  des  disseminatus  chronicus 
und  Lupus  erythematodes  discoides. 

Eine  22jährige  Patientin  die  immer  gesund  gewesen  sein 
soll  ■  vor  drei  Monaten  bemerkte  sie  im  Gesichte,  an  der  Nase 
einen  rötlichen  Fleck,  der  in  der  letzten  Zeit  immer  großer 


Nr.  10 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


369 


wurde,  das  Aussehen  desselben  hat  sich  angeblich  im  Verlaufe 
der  Zeit  nicht  verändert.  Die  Patientin  wurde  uns  auf  die  Klinik 
mit  de*  Diagnose  Lupus  vulgaris  zur  Finsenbehandlung  geschickt. 

Der  zweitel  Fall  betrifft  eine  22jährige,  stets  gesund  ge¬ 
wesene  Patientin.  Seit  zwei  Jahren  besteht  bei  Patientin  das 
jetzige  Leiden  im  Gesichte  und  an  den  Händen,  weswegen  sie 
auch  in  ärztlicher  Behandlung  stand  und  erst  kürzlich  am 
Lande  an  beiden  Wangen  exkochleiert  wurde. 

Der  dritte  Fall  betrifft  eine  31jährige  Patientin.  Das  Leiden 
besteht  bei  der  Patientin  schon  seit  ungefähr  vier  Jahren;  die 
Erkrankung  wurde  von  der  Patientin  auf  eine  Verkühlung  zu¬ 
rückgeführt.  Vor  drei  Jahren  stand  Patientin .  durch  sechs  Mo- 
liate  auf  unserer  Klinik  in  Behandlung  und  ich  erlaube  mir  einige 
Rückblicke  in  die  frühere,  sehr  ausführliche  Krankengeschichte 
zu  werfen. 

Wie  Sie,  meine  Herren,  sehen,  handelt  es  sich  in  allen 
drei  Fällen  um  Lupus  erythematodes ;  Der  erste  Fall,  zugleich 
auch  der  leichteste,  kann  in  die  Gruppe  der  Erythematodes  dis- 
coides  eingereiht  werden;  es  ist  nur  eine  einzige  Stelle  be¬ 
fallen,  die  Form  einer  Scheibe  annehmend,  im  Zentrum  eine 
leichte  Narbe  erkennbar,  die  Peripherie  deutlich  livid  verfärbt. 

Die  zwei  anderen  Patientinnen  zeigen  uns  jedoch  das  cha¬ 
rakteristische  Bild  des  Lupus  erythematodes  disseminatus  chro¬ 
nicus.  Es  sprechen  dafür  die  zentralen  Herde,  das  Befallensein 
der  Haut  des  Gesichtes,  des  behaarten  Kopfes,  der  Handrücken, 
der  Finger  wie  auch  der  Fußrücken,  jedoch  spärlich,  der  lange 
Bestand. 

Die  1  herapie  dieser  Fälle  ist  eine  verschiedenartige. 

Der  erste  Fall  —  Erythematodes  discoides  —  ist  zweifel¬ 
los  prognostisch  der  günstigste;  entweder  werden  wir  die  meistens 
arigew  endete  Holländer -Chinin- Jodtherapie  anwenden  oder 
wir  werden  die  Patientin  mit  Kohlensäureschnee  vereisen,  von 
welchem  wir  gerade  in  der  allerletzten  Zeit  sehr  gute  Resultate 
gesehen  haben. 

Die  Therapie  der  zwei  anderen  Fälle  wird  sich  hauptsäch¬ 
lich  auf  eine  innere  Darreichung  von  Chinin  beschränken,  mit 
eventueller  Pinselung  einiger  Herde  mit  Jodtinktur.  Die  Pro¬ 
gnose  der  beiden  Fälle  ist  quoad  sanationem  eine  schlechte, 
während  sie  quoad  vitam,  wenn  keine  anderen  Komplikationen 
dazu  kommen,  keine  ungünstige  ist. 

Ein  Fall  von  Herpes  zoster  mit  Psoriasis  vulgaris 
wird  ausführlich  publiziert. 

Prof.  Merk::  Ueber  die  Erfahrungen  der  Inns¬ 
brucker  dermatologischen  Klinik  mit  „606“. 

Vortragender  berührte  zunächst  die,  seiner  Ansicht  nach, 
wenig  gewürdigte  Tatsache,  daß  im  allgemeinen  Syphilisformen 
der  Haut  aus  der  makulösen,  infiltrierten  und  zum  Teile  selbst 
destruktiven  Gruppe  therapeutischen  Eingriffen  gegenüber  nicht 
allzusehr  Schwierigkeiten  machen.  Er  verweist  dabei  auf  Er¬ 
fahrungen,  die  er  an  der  Krankenabteilung  eines  Grazer  Anti- 
merkurialisten  machen  konnte,  vor  allem-  aber  auf  die  mit  Un¬ 
recht  in  Vergessenheit  geratenen  Experimente  Ja  risch’,  der 
eine  terpentinhaltige  Salbe  nach  Art  der  Schmierkur  angewendet 
hatte  und  dabei  Syphilisfonmien,  auch  fern  von  dem  Applikations¬ 
orte  der  Salbe,  ausheilen  sah.  Aehnliches  beobachtet  man  bei 
Zittmärm-Kur,  hydriatischen  Prozeduren,  Schwitzkuren.  Allerdings 
ist  die  größte  rezidivfreie  Zeit  bislang  nur  durch  Hydrargyrum 
zu  erzielen  gewesen.  Diesem  kommt  Jodkali  am  nächsten.  Es 
darf  deshalb  nicht  wundernehmen,  wenn  im  Arsen  neuerdings 
ein  gutes  Mittel  gegen  Syphiliserscheinungen  aufgespürt  worden 
sei.  Während  aber  Quecksilber  und  Jodkali  rein  empirisch  zu 
ihrem  Rufe  kamen,  war  es  Uhlenhuths  und  Ehrlichs  Genie 
Vorbehalten,  das  Arsen  durch  wissenschaftlich  mühevolle  Studien 
in  eine  Form  zu  Innigen,  die  dem  Organismus  ungefährlich  bleibt, 
die  Erreger  der  Syphilis  dagegen  zu  töten  imstande  ist.  Der 
Weg,  der  zu  diesem  Mittel,  dem  „606“,  führt,  ist  durch  Präparate, 
wie  Atoxyl,  Arsazetin,  Arsenophenylglyzin,  markiert. 

Ehrlichs  Genialität  begnügte  sich  ,tber  nicht  damit,  ein 
solches  Mittel  aufgefunden  zu  haben,  es  sollte  auch  durch  ein¬ 
malige  oder  durch  weniger  Male  Anwendung  den  Körper  von  den 
Syphiliserregern  befreien.  Ob  dieses  Ziel  erreicht  sei,  müsse  die 
weitere  Untersuchung,  namentlich  auf  Basis  der  intravenösen 
Applikation,  erweisen. 


Sitzung  vom  1.  Dezember  1910. 


Prof.  Merk  demonstriert  in  Fortsetzung  seines  Vortrages 
in  der  Sitzung  vom  24.  November  die  Zubereitung  des  Ehrlich- 
schön  Mittels,  seine  Unlöslichkeit  in  neutraler,  wässeriger,  die 
Lösung  in  schwach  alkalischer  oder  schwach  saurer,  wässeriger 
Flüssigkeit.  Er  hält  es  für  unnötig,  das  Mittel  zunächst  alkalisch 


zu  lösen,  um  es  dann  durch  Säuren  zu  (neutralisieren,  und  wendet 
zu  diesem  Behüte,  falls  die  Neutralisationsgrenze  überschritten 


w  urde,  me  Essigsäure,  sondern  Salzsäure  an,  um  statt  Natrium- 
aze-tat  Kochsalz  als  Nebenprodukt  zu  bekommen.  Anfänglich  waren 
aut  der  Klinik  nur  Injektionen  des  ungelösten  Schlammes  gemacht 
worden.  So  überraschend  auch  die  Erfolge  waren,  so  befriedigten 
dieselben  doch  erst,  nachdem  man  zu  der  von  Ehrlich  selbst 
gelinderten  intraven  Ösen  Methode  gegriffen  hatte.  Es  entfallen- 
hiebei  die  durch  die  Depotinjektionen  bedingten  Schmerzen,  nach¬ 
folgenden  Indurationen  und  Gangränen.  Da  aber  mit  letzterer 
Methode  erst  am  4.  November  begonnen  wurde,  so  beziehen  sich 
die  Resultate  nur  auf  -erster©  Methode.  (Im  ganzen  sind  bis  4.  De¬ 
zember  1910  44  intravenöse  Injektionen,  ohne  daß  ein  Zwischen¬ 
fall  unterlaufen  wäre,  ausgeführt.*) 

Die  Zahl  der  Kranken,  auf  die  sich  die  Mitteilung  der  Er¬ 
gebnisse  stützte,  war  auf  100  festgesetzt.  (Sie  ist  'bisher  —  4.  De¬ 
zember  auf  110  gestiegen.)  Davon  sieben  Rezidiven:  bei  Dosen 
von  0-25,  0-5,  0-4,  0-45,  0-45,  0-5  und  0-6.  An  Tabellen  war  an- 
schau  lieh  gemacht :  1.  Das  A 1 1  or  dor  I  n  ,j  i  z  i  orte  n  —  Maxi- 
mum  57  Jahre,  Mehrzahl  20  bis  30  Jahre.  Zwei  Heredo-Luetiker 
von  3  /'i  Monaten  und  10  Jahren.  —  2.  Di i  e  D  au  e>r  der  Syphilis 
bis  zui  Injektion.  Maximum  37  Jahre;  Minimum  2 Vf  Wochen; 
g1  ö fites  Kontingent  etwa  acht  Monate-.  Große  Beachtung  verdient 
3.  eine  Tabelle,  in  welcher  die  Zeit  zur  .Darstellung  kam,  durch 
welche  —  mit  größeren  und  geringeren  Zwischenräumen  —  die 
Kranken  vor  und  nach  der  Injektion  in  Beobachtung  gestanden 
waren.  Vor:  Fälle  mit  291,  309,  532,  645,  716,  1051  und  einer 
mit  5342  Tagen;  Mehrzahl  etliche  Tage.  Nach:  15  Fälle  sind  noch 
in  Sicht  und  werden  es  voraussichtlich  lange  bleiben.  Die  Mehrzahl 
allerdings  verschwindet  nach  wenigen  Tagen  aus  dem  Gesichts¬ 
kreise.  4.  An  einer  Tabelle  wurden  die  serologischen  Resultate 


veranschaulicht : 

I.  Abnahme 

1.  ausbrechende  Lues . 3 

2.  ausgebrochene,  jüngere  Lues  ....  11 

3.  ältere  Lues . 10 

4.  hereditäre  Lues . 1  25 

II.  Gleichbleiben 


1.  ausbrechende  Lues  (immer  fast  negativ**)  1 

2.  ausgebrochene  Lues . 12  13 


III.  Zunahme 

1.  ausbrechende  Lues  (trotz  Behandlung**)  .  8 

2.  ausgebrochene  Lues  (nach  Abnahme)  .  5 

3.  ausgebrochene  Lues  (trotz  Behandlung, 

Zu-,  dann  Abnahme) . 1  14 

IV.  In  Beobachtung .  15 

V.  Rest .  33 


Summe  100 

Hiezu  wird  bemerkt:  Die  Behandlung  war  —  namentlich 
bei  den  Kranken  mit  langer  Beobachtungsdauer  vor  der  Injek¬ 
tion,  aber  auch  bei  solchen  mit  kürzerer  Beobachtungsdauer  — 
mitunter  eine  gemischte  u.  zw.  mit  Merkur  allein  oder  mit  Jod¬ 
kali.  Die  Blutuntersuchung  erfolgte  wennmöglich1  jede  Woche. 
Halt  man  die  Fälle  mit  ausbrechender  Luesi  zusammen,  so 
zeigten  nur  drei  von  elf  Abnahme  der  Wassermann  scheu 
Reaktion.  Dieses  Ergebnis  dürfte  durch  die  Resultate  der  intra¬ 
venösen  Methode  —  namentlich  wenn  sie  wiederholt  wird  --- 
bedeutend  zugunsten  der  Frühbehandlungsmethode  verschoben 
werden.  Bedenkt  man,  daß  alter  Erfahrung  entsprechend,  aus- 
brechende-  Lues  nicht  leicht  hintangehalten  werden  kann,  daß 
ausgebrochene  Lues  (mit  und  ohne  spezifische  Behandlung)  sym- 
ptomenlos  werden  kann,  daß  latente  Lues  wieder  manifest  werden 
kann,  so  sagt  die  Tabelle  genau  dasselbe,  nur  mit  feinerem  Titer. 
Als  Judikat  ionsnorm  kann  aufgestellt  werden,  daß  das  Mittel 
dort  bedeutungsvolle  Aussicht  auf  Erfolg  haben  wird,  wo  bisher 
Merkur ialbehandlung  oder  Jodkalibehandlung  angezeigt  war.  Probe¬ 
weise  injizierte  Tabiker  im  ersten  Beginne  des  Leidens  oder 
Fälle  mit  progressiver  Paralyse  im  allerersten  Beginne  blieben 
unverändert.  (Maximum  der  bisherigen  postinfektioneilen  Beob¬ 
achtungszeit  vier  Monate.  Die-  Fälle  sind  zumeist  noch  in  Sicht.) 
Bei  der  schwierigen  Unterscheidung  von  Fällen  letzterer  Art 
und  Fällen  von  Lues  c-erebri  erfordert  die  Ergebnisbeurteilung 
große  Vorsicht- 

Ais  Methode  der  weiteren,  Zeit  wird  vom  Vor- 
tragenden  einzig  die  intravenöse  Einverleibung  be¬ 
zeichnet.  Sie  verhindert  das  Auftreten  von  nachträglichen 
Schmerzen,  Infiltraten  und  Gangränen.  Schlamminjektionen 
werden  immer  nur  den  Charakter  einer  Auxiliarbe-h  and  lung  haben. 
Arsenintoxikationsersch-einungen  wurden  nicht  beobachtet,  es  sei 

*)  Bis  zur  Drucklegung  dieses  Berichtes,  (27.  Februar  1911)  ge¬ 
stiegen  auf  über  140  Fälle. 

**)  Prognostisch  ungünstig? 


870 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  10 


dnjji  ein  Fall  von  Zoster  pectoralis  sinister,  den  Vortr.  demon¬ 
strierte  (aut  intravenös©  Applikation).  Intravenöse  Injektion  wurde 
an  fünf,  vorher  mit  „606“-  Schlamm  -Injizierten  nachgeholt. 

Besonders  beachtenswerte  Verhältnisse  boten: 

K  r  a  nk&nskiz  z©  Nr.  3.  Frau,  geboren  am  7.  September 
1882.  158  cm  hoch,  62-7  kg,  Brust  88  cm,  Arm  30  cm.  Panniculus 
adiposus,  unter  dem  Schulterblatte  geschätzt,  1-25  cm. 

Lues  seit  Beginn  1910,  ebensolange  gravid. 

Status  praesens  vom  7.  Juli:  Kleine*  Schamlippen  teigig 
geschwellt,  hart;  hier  und  um  das  Genitale  über  dattelgroße  Ero¬ 
sionen.  Roseola  am  Stamme,  den  Extremitäten  und  den  l’lantis. 
Kindliche*  Herztöne  deutlich. 

13.  Juli  1910.  0-5  ungelöst,  fast,  neutral,  glutäal,  bdsts. 
Danach  durch  zwei  Tage  gelegentlich  37-7,  37-2  Temperatur. 

16.  Juli.  Exanthem  verschwindet,  genitale  Erosionen  über¬ 
häuten. 

28.  Juli.  Mit  noch  deutlichen,  aber  überheilten  und  ent¬ 
zündungslosen  Luesspuren  entlassen.  Kindliche  Herztöne  hörbar. 
W ass er mannsche  Reaktion  am  12.  Juli  sehr  stark,  am 27.  Juli 
schwach  positiv. 

Wiederaufnahme*  am  5.  September  1910.  Mit  Leuco- 
derma  colli.  Roseola  figurata  (Magno  maculosa).  Erosiones  infil- 
tratae  ad  et  circa  genitalia,  (sicut  scleroses).  Gewicht  66-7.  Kind¬ 
liche  Herztöne  hörbar. 

28.  September.  Entlassen  nach  drei  Injektionen  a  0-1  Hy¬ 
drargyrum  salicylicum  und  20  Einreibungen  ä  2  g  Unguentum 
cinereum  pro  die.  Was  s  er  mannsche  Reaktion  am  '■>.  und 
27.  September  stark  positiv,  am  27.  September  etwas  schwächer. 

28.  September.  Kindsbewegungen  werden  von  der  Mutter 
wahrgenommen.  Am  29.  September  früh  auf  der  Gebärklinik 
Geburt  eines  frisch  mazerierten  Knabens,  47  cm  lang,  2200  g 
schwer. 

Obduktionsbefund:  Total  mazerierte*  Frucht  mit  Gas¬ 
bildung  in  den  Organen,  in  denen  jedoch  keine  Anzeichen  von 
Lues  zu  entdecken  sind.  Keine  Milzschwellung.  Keine  Leber¬ 
veränderungen,  keine  Veränderungen  an  den  Knochenknorpel¬ 
grenzen. 

Krankenskizze  Nr.  5.  Geboren  am  1.  August  1884,  Mann, 
170  cm  hoch,  63-5  kg,  Brust  95  cm,  Oberann  27  cm.  Panniculus 
adiposus  0-5. 

Status  praesens  vom  9.  Juli:  Oedema  indurativa  prae- 
putii  permagnum.  Sclerosis  exulcerata  in  sulco  cor.  Fingerdicker 
dorsaler  Lymphstrang.  Inguinale  Adenopathie  mäßig.  Linke  Pu¬ 
pille*  größer.  Noch  keine  Eruptionen.  Infektion  Mitte  Mai  1910. 

16.  Juli.  Mittags  0-6  glutäal  bdsts.  neutrale*  Emulsion  in 
Wasser.  Danach  abends  39-3  Temperatur;  dann  Abfall. 

1.  August.  Entlassung.  Wunde  im  Sulcus  coronarius  seit 
einigen  Tagen  geschlossen.  I’räputiales  Infiltrat  zwar  weicher, 
aber  immer  noch  hart.  Dorsaler  Lymphstrang  federstieldick.  Keine 
Eruptionserscheinungen.  Pupille*  unverändert.  Wasser m  ann- 
sche  Reaktion  am  14.  und  26.  Juli  schwach  positiv ;  am  1.  August 
negativ.  Bemerkenswert  ist  der  scheinbare  Widerspruch  in  dem 
Vergehein  der  Seroreaktion  und  der  Hartnäckigkeit  der  lokalen 
Infektionserscheinungen.  (Siehe  das  Gegenteil  in  Skizze*  Nr.  59.) 

Krankenskizze  Nr.  16.  Geboren  am  7.  September  1880, 
Mann,  170  cm  hoch,  62-5  kg,  Brust  90  cm,  Arm  28  cm,  Panni¬ 
culus  adiposus  3/<t  cm. 

Infektion  am  22.  April  1910.  Sklerose  Mitte  Juni  exzidiert. 
Mitte-  Juli  spärliche  Roseola. 

Status  praesens  vom  1.  August  1910:  Macula  ©rosa  ad 
gingivam.  Roseola  sparsa.  Psoriasis  palmaris  bilateralis  et  plan¬ 
taris  sinistra. 

3.  August.  Mittags  0-4  Schlamminjektion,  neutral,  9  cm3 
in  die  Skapulargegend.  Gleich  danach  starke  Schmerzen,  die  nach 
einer  halben  Stunde  unter  Eisbeutel  schwanden.  Maximaltempe¬ 
ralu  r  8  Uhr  abends  38,  dann  Abfall. 

9.  August.  Orale  Erscheinungen  geschwunden.  Roseola  noch 
in  undeutlichen  Spuren.  Psoriasis  noch  deutlich  diagnostizier¬ 
bar,  aber  pigmentiert,  nicht  mehr  entzündlich. 

Wassermannsche  Reaktion:  Am  21.  Juni  negativ,  am 
23.  Juni  ganz  leicht  positiv,  am  5.  Juli  sehr  stark  positiv,  am 
1.,  5.  und  8.  August  schwächer,  aber  deutlich  positiv. 

16.  September.  Skleroseexzisionsnarbe  weich.  Undeutliche 
Flecke  an  der  rechten  Palma.  Rechte  Inguinalknoten  noch  etwas 
geschwellt.  Gewicht  73  kg. 

Bemerkenswert  ist  der  Anstieg  und  Abstieg  der  Seroreak¬ 
tion;  bis  1.  August  ohne  spezifische  Behandlung;  seither  Gleich¬ 
bleiben  derselben  trotz  Behandlung. 

Krankenskizze  Nr.  18.  Knabe,  geboren  am  30.  April 
1910,  59-5  cm  hoch,  4-8  kg,  Brust  38  cm,  Arm  10  cm,  Panni¬ 
culus  adiposus  ca.  cm.  _ 

Verantwortlicher  Redakteur  :  Karl  Kubasta. 


Lues  des  Vaters  seit  Juli  1909.  Kind  bei  Geburt  symptom- 
los.  Mutter  am  3.  August  1910  serodiagnoslisch  negativ.  Exan¬ 
them  des  Kindes  an  diesem  Tage  seit  wenigen  Wochen. 

Status  praesens  vom  3.  August  1910:  Lues  magno- 
maculo- papulosa,  partim  pustulosa  trunci  et  extremitatum.  Milz 
und  Leber  vergrößert  und  hart.  Icterus  levis  (luetisch?).  Spur 
Albuinen  im  Harn. 

6.  August.  0-03  in  0-7  cm3  links  skapular,  neutral.  Tem¬ 
peratur  fünf  Stunden  später  38*4,  dann  Abfall. 

15.  August.  Icterus  und  Exanthem  kaum  erkennbar. 

31.  August.  Milz  noch  immer  größer,  Leber  vielleicht  etwas 
weicher.  Beginn  mit  Kalomel,  täglich  0  01,  intern. 

2.  September.  Bisher  21  Tage  Kalomel.  Aussetzen  des¬ 
selben.  Milz  noch  als  weicher,  aber  kleiner  Tumor  fühlbar. 

6.  Oktober.  Gewicht  6-2  kg. 

Wassermannsche  Reaktion;  Am  3.  August  ausgesprochen 
positiv,  am  12.  August  sehr  stark,  am  16.  August  idem,  am 
2.  September  schwach  positiv,  am  27.  September  negativ. 

Bemerkenswert  ist  der  ausgesprochene  Erfolg  sowohl  be¬ 
züglich  der  kutanen,  als  auch  der  viszeralen  und  serologischen 
Symptome*. 

Kranken skizze  Nr.  59.  Dieselbe  betrifft  den  anfangs 
des  Berichtes  erwähnten  Fall  von  Sclerodermia  maculosa. 

Status  praesens  vom  14.  Oktober:  Ulcus  lueticum  per- 
magnum  ad  frontem  totalem  sinistram  cum  Hyperostose  margi- 
nali  et  cavo  frontale  aperto  et  cum  necrose  ossis  frontalis. 

15.  Oktober.  0-5  in  4-5  cm3,  neutral,  skapular  rechts.  Da¬ 
neben  2  g  Jodkali  täglich.  Nach  der  Injektion  keine  Beschwerden, 
keine  Temperaturerhöhung. 

Bis  28.  Oktober  28  g  Jodkali.  Aussetzen. 

18.  November.  Mit  heute  sind  alle  nekrotischen  Stirnbein¬ 
stücke*  abgestoßen.  Reichliche  Verkleinerung  der  Wunde,  reich¬ 
liche  Verschmächtigung  der  Knochenauftreibung  am  Rande. 

29.  November.  Pat.  drängt  auf  Entlassung. 

Wassermann  sehe  Reaktion:  Am  12.  und  28.  Oktober 
und  am  25.  November  immer  gleich  stark  positiv. 

Bemerkenswert  im  Gegensätze  zur  Krankenskizze  5:  Gleieh- 
bleiben  der  Seroreaktion  trotz  außerordentlichen  Rückganges  der 
sichtabren  Symptome. _ _  3 

Programm 

der  am 

Freitag  den  io.  März  1911,  uni  7  Fbr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Prof.  Dr.  M.  Großmann  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Priv.-Doz.  Dr.  M.  Herz :  Die  psychische  Aetiologie  und  Therapie 
der  frühzeitigen  Arteriosklerose. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Julius  Neumann  und 
Ed.  Herrmann,  L.  Wiek,  Haus  Salzer,  Robert  Breuer. 

_ Bergmeister,  Paltauf. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  findet  im  Saale  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in 
Wien,  Donnerstag  den  9.  März  1911,  um  7  Uhr  abends,  statt.  (Vor¬ 
sitz:  Prof.  Dr.  H.  Schlesinger.) 

Prof.  Dr.  (lern.  Frh.  v.  Pirquet  (Breslau):  Gedenkrede  für 
weil.  Hofrat  Froh  Dr.  Theodor  Eschericli. _ Das  Präsidium. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  13.  März  1911,  7  Uhr  abends,  im  Sitzungs* 
saale  des  Kollegiums  L,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz  des  Herrn 
Dr.  V.  Läufer  stattfindenden 
wissenschaftlichen  V ersammlung. 

Priv.-Doz.  Dr.  K.  Glaessner :  Neuere  Gesichtspunkte  der  internen 
Behandlung  des  Magengeschwürs. _ - _ 

Geburtshilflich-gynäkologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Dienstag  den  14.  März  1911,  im  Hörsaale  der 
II.  Univ. -Frauenklinik.  Beginn:  Punkt  7  Uhr  abends. 
Vortrag:  Heinrich  Viktor  Klein  (a.  G.):  Die  puerperale  und 
postoperative  Thrombose  und  Embolie. 

V.  Kroph,  II.  Schriftführer.  Wertheim,  Vorsitzender. _ 

Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien. 

Einladung  zu  der  am  14.  März  1911  im  Hörsaal  der  Klinik  Hofrat 
v.  Wagner  (Zugang  durch  die  Borschkegasse,  alte  Landesirrenanstr.lt), 
abends  7  Uhr,  stattfindenden  Vereinsversammlung. 

1.  Demonstrationen:  Dr.  Bauer,  Dr.  Groß,  Dr.  Pötzl,  Dr.  Löwy- 

2.  Vortrag:  Stabsarzt  Priv.-Doz.  Dr.  Mattauschek :  Die  Eriolge 
der  Salvarsanbehandlung  bei  Nervenkrankheiten. 

Nach  der  Sitzung  gesellige  Zusammenkunft  im  »Riedhof«. 

Verlag  ron  Wilhelm  Braumüller  in  Wien, 


Dmrt  von  Brune  RarteH.  Wien  XV1IL,  Theresiengasse  3. 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 


0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner.  S. 

H.  Obersteiner.  A.  Politzer. 


Exner,  £.  finger.  M.  Gruber,  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko,  H.  Meyer. 
A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E. 


J,  Moeller, 
Wertheim. 


K.  v. 


Noorden. 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 

Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel.  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser, 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 


Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 


Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 


XXIV.  Jahrg. 


Wien,  16.  März  1911 


Nr.  II 


INH 

1.  Originalartikel :  1.  Aus  der  I.  chirurgischen  Universitätsklinik 
in  Wien  (Vorstand:  Prof.  Dr.  Anton  Frh.  v.  Eiseisberg).  Unter¬ 
suchungen  über  Asepsis  Beitrag  zur  bakteriologischen  Revision 
aseptischer  Operationen.  Von  Dr.  Viktor  Hecht  und  Dr.  Robert 
Kollier,  gew.  Operateur  der  Klinik.  S.  371. 

2.  Aus  der  Heilstätte  Hörgas  in  Steiermark.  Weitere  Unter¬ 
suchungen  über  die  Einwirkung  von  Fermenten  auf  Tuberkulin 
Von  Prof.  Dr.  Th.  Pfeiffer  und  Dr.  H.  Trunk.  S.  379. 

3.  Aus  der  k.  k  Universitätsklinik  für  Ohren-,  Nasen-  und 
Halskrankheiten  in  Graz.  (Vorstand:  Prof.  Dr.  J.  Habermaiin  ) 
Ueber  Erkrankungen  des  Akustikus  bei  erworbener  Lues.  Von 
Dr.  Otto  Mayer,  gewesener  Assistent  der  Klinik,  Privatdozent 
an  der  Universität  in  Prag.  S.  381. 

4.  Uebei  das  Vorkommen  von  Erkrankungen  des  inneren  Ohres 
in  frühen  Stadien  der  Syphilis.  Ein  Beitrag  zur  Frage  der 
Salvarsanwirkungen.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Hugo  Frey,  Wien.  S.  386. 

5.  Aus  dem  Landeskrankenhause  in  Klagenfurt.  Klinische  Be¬ 
obachtungen  über  Muskel-  und  Hautfinnen.  Röntgennachweis 
verkalkter  Zystizerken.  Bemerkungen  zur  Bandwurm-  und 


L  T: 


hinnenstatistik.  Von  Dr.  Karl  Pichler,  Vorstand  der  inneren 
Abteilung.  (Schluß.)  S.  338. 

II.  Oeffentliche  Gesundheitspflege:  Zur  körperlichen  Erziehung 
der  Mittelschuljugend.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Anton  Bum.  S.  394. 

III.  Referate:  Atlas  der  Kristallformen  der  Absorbtionsbänder  der 
Hämochromogene.  Von  Walter  J.  Di  Hing.  Ref.:  0.  v.  Fürth. 

Ueber  Geschwülste  der  hinteren  Schädelgrube,  insbesondere 
des  Kleinhirnbrückenwinkels  Von  Folke  Hen sehen.  Ref.:  Otto 
Marburg.  —  Wesen  und  Behandlung  der  Achylia  gastrica. 
Von  A.  Schüle.  Das  runde  Magengeschwür.  Von  F.  Crämer. 
Diätetik  innerer  Erkrankungen.  Von  Th.  Brugsch.  Referent: 
E.  Schütz. 

IV.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

V.  Georg  Kapsammer. 

VI.  Vermischte  Nachrichten. 

III.  \  erliamllungeu  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Aus  der  I.  chirurgischen  Universitätsklinik  in  Wien. 

(Vorstand:  Prof.  Dr.  Anton  Frh.  v.  Eiseisberg). 

Untersuchungen  über  Asepsis.*) 

Beitrag  zur  bakteriologischen  Revision  aseptischer  Operationen. 

\on  Or.  Viktor  Hecht  und  Dr.  Robert  Köhler,  gew.  Operateuren 

der  Klinik. 

Die  neueste  Zeit  hat  die  Ueberzeugung  immer  mehr 
gefestigt,  daß  in  einer  möglichst  exakt  ausgebilde¬ 
ten  A  s  e  p  S  i  s  ein  großer  Teil  der  Forts  c  h  r  i  1 1  e  der 
Chirurgie  von  heute  gelegen  ist. 

Es  erscheint  daher  notwendig,  von  Zeit  zu  Zeit 
an  chirurgischen  Stationen  den  ganzen  Komplex  asep¬ 
tischer  Maßnahmen  einer  wissenschaftlichen 
bakteriologischenUnters u c hung  revidierend  zu 
unterziehen,  um  einerseits  das  Gefühl  der  Sicherheil 
m  den  bisher  geübten  Methoden  der  Asepsis  zu  stärken, 
andrerseits  eventuelle  allzu  langwierige  und  komplizierte 
Maßnahmen  der  Asepsis  durch  wissenschaftlich  begründete 
einfachere  Verfahren  zu  ersetzen.  Die  Beseitigung  selbst 
kleiner  Fehler  erscheint  um  so  wichtiger,  da  hei  den 
| heutigen  Fortschritten  der  chirurgischen  Technik  sich  auch 
die  Anforderungen  an  dieselbe  immer  mehr  steigern. 


*)  Auszugsweise  vorgetragen  in  der  Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft 
k  r  Aerzte  in  Wien  am  17.  Februar  1911. 


Es  ist  nun  selbstverständlich,  daß  bei  diesen  immer¬ 
hin  mühsamen  Untersuchungen  nicht  immer  gerade  eine 
Fülle  neuer  Tatsachen  wird  zutage  gefördert  werden  können. 
Aber  die  große  Wichtigkeit  der  Frage  der  Asepsis  bringt 
es  mit  sich,  daß  solche  Untersuchungen  in  praktischer  Hin¬ 
sich  gewinnbringender  sein  können,  als  die  Erforschung 
eines  neuen  Gebietes. 

Die  Ergebnisse  der  bakteriologischen  Untersuchungen 
über  die  seit  mehreren  Jahren  an  einer  größeren  chirur¬ 
gischen  Station  erprobte  Methode  der  Asepsis  mitznteilen, 
hat  somit  in  erster  Linie  für  den  Praktiker  Bedeutung. 

Seitdem  man  die  Notwendigkeit  erkannt  hat,  schon  rein 
lokal  das  Tätigkeitsfeld  für  septische  und  asep¬ 
tische  Operationen  zu  trennen,  war  ein  großer 
Schritt  nach  vorwärts  getan. 

Seit  mehr  als  fünf  Jahren  wird  an  unserer  Klinik, 
ebenso  wie  an  anderen  größeren  chirurgischen  Stationen, 
durch  Verwendung  eines  „aseptischen*'  Operationssaales 
dieser  Forderung  Rechnung  getragen  und  die  besseren  Re¬ 
sultate  der  Wundheilung  in  den  letzten  Jahren  haben  die  Be¬ 
rechtigung  dieser  Forderung  in  vollem  Maße  bestätigt. 

Bei  der  Beurteilung  der  Resultate  wurde  natürlich 
niemals  außer  acht  gelassen,  daßi  der 'klinische  Wand- 
verlauf,  an  großem  Materiale  beobachtet,  als  das  feinste 
Reagens  der  Asepsis  zu  gelten  hat. 

Unsere  Untersuchungen  zerfallen  in  vier 
Gruppen : 


372 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT,  1911 


Nr.  11 


1.  In  die  Untersuchung  des  verwendeten  Instru¬ 
menten-,  Naht-  und  V  erb  and  materiales,  2.  des  Ope¬ 
rateurs,  3.  des  Patienten  und  endlich  4.  des  Opera¬ 
tion  sr  au  in  es.1) 

Wirkliche  Asepsis  im  bakteriologischen  Sinne 
(Keimfreiheit)  ist  nur  bei  der  ersten  Untersuchungsgruppe, 
das  heißt  bei  dem  durch  Dampf  oder  kochendes 
Wasser  zu  behandelnden  Materiale  zu  erzielen. 

Schwieriger  gestaltet  sich  bekanntlich  die  Erzielung 
von  Keimverminderung,  respektive  Keimfreiheit  an  der 
Haut,  sowohl  des  Patienten  wie  des  Operateurs.  Hier  kann 
man  selbstverständlich  die  Hitze  in  bakterientötenden  Graden 
nicht  zur  Anwendung  bringen,  so  daß  man  von  jeher  darauf 
bedacht  war,  sei  es  durch  Rückkehr  zu  anti septischen. 
Methoden,  sei  es  durch  Zwischenschaltung  keim¬ 
freier  Medien  (Handschuhe,  Kompressen  usw.,  usw.), 
diesem  Ziele  näher  zu  kommen  oder  durch  Gerbung  der 
Haut  eine  Arretierung  der  Hautkeime  herbeizuführen,  um  so 
wenigstens  die  Keimabgabefähigkeit  der  Haut  zu  ver¬ 
mindern. 

Ganz  unmöglich  erscheint  es,  die  Luft  des  Operations¬ 
raumes  vollkommen  keimfrei  zu  machen;  hier  kann  nur  eine 
gewisse  „Hygiene  und  Prophylaxe  der  Luft“  die  Zahl  der 
Keime  einschränken. 

* 

1.  Instrumenten-,  Naht-  und  Verbandmaterial. 

A.  An  der  Dampf  sterilisation,  als  der  wichtigsten 
Grundlage  der  Asepsis,  hat  sich,  abgesehen  von  gewissen 
technischen  kleineren  Verbesserungen,  seit  Schi  mm  el- 
b usch  nichts  Wesentliches  geändert  und  hat  man  auch 
bisher  keine  Veranlassung  gefunden,  von  diesem  bewährten 
Verfahren  abzugehen.  Nur  bezüglich  der  Zeit  der  Einwirkung 
des  überhitzten  Dampfes,  bzw.  des  kochenden  Wassers, 
gehen  die  Ansichten  noch  auseinander. 

Als  Normalzeit  für  die  Sterilisation  des  Verbandmateriales 
und  der  bei  der  Operation  zur  Verwendung  gelangenden  Gaze-  und 
Wäschestücke  gilt  an  unserer  Klinik  im  allgemeinen  zweistün¬ 
diger  Aufenthalt  in  einem  Rohrbeckschen  Dampfsterili¬ 
sator.  Da  für  gewöhnlich  drei  Viertelstunden  zur  Erreichung  einer 
Temperatur  von  100°  nötig  sind,  so  ist  das  Material  fünf  Viertel¬ 
stunden  der  Einwirkung  des  strömenden  Dampfes  von  der  oben 
erwähnten  Temperatur  ausgesetzt.  Die  relativ  lange  Dauer  der 
Sterilisation  ist  dadurch  bedingt,  daß  sich  bei  diesem  Apparat 
hochgespannter  Dampf  mit  Gasheizung  nicht  erzielen  läßt.  Die 
Verpackung  in  flachen,  durchbrochenen  Blechdosen,  die  durch 
eine  Flanelleinlage  abgeschlossen  sind,  gestattet  ein  freies  Durch¬ 
strömen  des  Dampfes. 

Zur  leichteren  Orientierung  sind  gleichartige  Wäschestücke 
im  allgemeinen  in  je  einer  Blechdose  verpackt.  Für  spezielle 
Fälle  sind  einzelne  Spezialverpackungen  (Laparotomie,  Struma, 
Mamma,  Ivraske  usw.)  in  Verwendung. 

Die  bakteriologische  Untersuchung  der  nach  diesem 
Verfahren  sterilisierten  Verbamdstücke  ergab,  wie  vorauszu¬ 
setzen  war,  in  allen  diesen  Fällen  vollkommene  Keim¬ 
freiheit;  es  ist  dies  auch  selbstverständlich,  da  selbst  die 
widerstandsfähigsten  Sporen,  dieser  Temperatur  selbst  kür¬ 
zere  Zeit  ausgesetzt,  ihre  Keimfähigkeit  vollkommen  verloren 
haben. 

Werden  doch  zum  Beispiel  Milzbrandsporen  oder 
Sporen  des  Kartoffelbazillus  in  vier  bis  zwölf  Sekunden  (je 
nach  Virulenz)  im  allgemeinen  im  strömenden  Dampf  schon 
abgetötet  (Heim). 

Der  Gang  unserer  Untersuchung  gestaltete  sich  folgen¬ 
dermaßen:  Die  Verbandstücke  wurden  mit  Nährbouillon 
durchtränkt,  diese  dann  steril  aufgefangen  und  teils  als 

!)  Für  die  septischen  Fälle  steht  ein  eigener  Operations¬ 
saal  in  Gebrauch,  der  ausschließlich  für  diese  dient,  während  ja  im  soge¬ 
nannten  aseptischen  Operationssaal  doch  hie  und  da  nicht  vollkommen 
aseptische  Operationen,  allerdings  unter  denselben  Kautelen  der  Asepsis, 
vorgenommen  werden  müssen  (z.  ß.  akute  Appendizitis,  Cholezystitis  etc.). 
Immerhin  ist  bei  dieser  Anordnung  die  Verbreitung  septischen  Materials 
auf  ein  Minimum  reduziert.  -—  Im  Operationsraum  des  Hörsaals 
kann  bei  den  daselbst  vorgeführten  Operationen  eine  Scheidung  nach 
septischen  und  aseptischen  Operationen  nicht  zur  Durchführung  kommen. 
Das  gilt  auch  für  die  hie  und  da  in  der  pneumatischen  Kammer  vorzu¬ 
nehmenden  Operationen. 


solche,  teils  als  Mischagar  aerob  und  anaerob  verarbeitet, 
durch  24  bis  72  Stunden  einer  Temperatur  von  37°  aus¬ 
gesetzt. 

Bei  der  Sicherheit  des  Dampf  Sterilisationsverfahrens 
lassen  natürlich  auch  bereits  gebrauchte  Verb and- 
und  Wäschestücke,  nach  vorhergehender  mechanischer 
Reinigung,  zehnminutigem  Auskochen  und  chemischer  Blei¬ 
chung  in  Chlorwasser,  wiederholte  Sterilisation  und  Ver¬ 
wendung  zu.  Auf  diese  Weise  können  selbst  mit  dem 
virulentesten  Material  infizierte  Gaze-  oder  Wäschestücke 
wieder  verwendet  werden,  wie  auch  die  mehrere  Male  vor¬ 
genommene  experimentelle  Erprobung  erwiesen  hat  (Ver¬ 
suche  mit  Staphylokokkeneiter,  mit  kotbenetzten  Tupfern). 

Zur  Kontrolle  für  die  exakte  Durchführ ung,  der 
Sterilisation  von  seiten  der  damit  betrauten  Schwester  dient 
uns  die  von  v.  Mikulicz  angegebene  Jodstärkepapiei 
method«',  bei  welcher  in  die  Blechdosen  ein  mit  3°/oigem  Stärke¬ 
kleister  bestrichener  und  halbtrocken  durch  Jodjodkalilösung  ge¬ 
zogener  Papierstreifen  als  „Reagenzpapier“  für  Hitzegrad  und 
Dauer  der  Einwirkung  desselben  dient.  Das  durch  die  erwähnten 
Manipulationen  schwarzblau  gewordene  Papier  läßt  das  darauf 
gedruckte  Wort  „steril“  unleserlich  erscheinen  und  erst  nach 
20  Minuten  langer  Einwirkung  strömenden  Dampfes  von  100° 
kommt  die  Druckerschwärze  durch  Entfärbung  des  Papiers  wieder 
zum  Vorschein.  Erreicht  die  Temperatur  des  Dampfes  weniger 
als  100°,  dann  bedarf  es  mehr  als  einstündiger  Einwirkung  zur 
Entfärbung  des  Streifens. 

Die  in  Flügges  Laboratorium  angestellten  Untersuchungen 
zeigten,  daß  selbst  die  resistentesten  Bakterien  früher  abgetötet 
werden,  als  der  Streifen  entfärbt  wird. 

Im  Anschlüsse  an  das  sterilisierbare  Verbandmaterial 
sei  auch  der  fixierenden  Verbände  .gedacht. 

Gips  verbände  weiden,  da  sie  nicht  direkt  auf  die 
Haut  oder  Wunden  angelegt  werden,  natürlich  aus  nicht- 
sterilisiertem  Materiale  angefertigt.  1  Da  wir  früher  öfters 
Pyozy aneusinf ektion  unter  dem  Gipsverbande  beob¬ 
achteten  und  dieses  Bakterium  neben  Kartoffelpilzen 
auch  des  öfteren  in  dem  zu  Untersuchungszwecken  auf  Nähr¬ 
böden  verimpften  Gipse  des  Handels  nachweisen  konnten, 
setzten  wir  dem  Wasser,  in  welchem  die  Gipsbinden  durch- 
tränkt  wurden,  etwas  Sublimat  (1:2000)  zu. 

In  diesen  Fällen  unterblieb  jede  Infektion  mit  Pyo- 
zyaneus,  aber  es  ist  zu  bemerken,  daß  der  Gips  bei  Subli¬ 
mat zusatz  etwas  langsamer  erhärtet.  i 

Bei  dem  zu  den  Gipshanf  schienen  verwendeten 
Hanf  fanden  sich  gleichfalls  Kartoffelbakterien  (Mesenteri- 
kusgruppe),  kein  Pyozyaneus. 

B.  Instrumentarium.  Während  für  das  textile 
Material  zur  Erzielung  der  Keimfreiheit  der  strömende  Dampf 
in  Betracht  kommt,  gelangt  zur  Sterilisierung  fast  des  ge¬ 
samten  Instrumentenmateriales  das  Kochen  in  siedendem 
Wasser  (mit  Sodazusatz)  in  der  Dauer  von  15  Minuten  zur 
Anwendung. 

Kürzere  Kochzeiten  gewähren  keine  abso¬ 
lute  Sicherheit.  £ 

Versuche  mit  Instrumenten,  die  reichlich  mit  Rein¬ 
kulturen  von  hoch  virulenten,  üppig  wachsenden  Staphylo¬ 
kokken  (Staphylococcus  pyogenes  aureus)  infiziert  wur¬ 
den,  ergaben  beim  Kochen  in  siedendem  Wasser  durch  15 
Sekunden  bis  15  Minuten  bei  den  ersten  beiden  Zeiten 
(1/4  bis  V2  Minute)  noch  eine  schwache  Trübung  der 
Bouillon,  während  bei  den  länger  als  eine  Minute  ge 
kochten  Instrumenten  die  Bouillonproben  gänzlich  steril 
blieben. 


Staphylococcus  pyogenes  aureus  auf  Instrumenten. 


Kochzeit 

Bouillon 

Mikroskopisch 

15  Sekunden 

ziemlich  starke  Trübung 

) 

spärliche  Gram- 
positive  Kokken 

30  Sekunden 

schwächere  Trübung 

K 

1 

1  Minute 

fast  klar 

3  Minuten 

klar 

steril 

5  Minuten 

klar 

steril 

10  Minuten 

klar 

steril 

15  Minuten 

klar 

steril 

Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


373 


Untersuchungen,  der  nicht  verwendeten  Instru¬ 
mente  nach  der  Operation,  ergaben  bei  kurzer  Dauer  der¬ 
selben  Keimfreiheit,  während  sie  sich  hei  längerer  Dauer 
als  mit  vereinzelten  Duftkeimen  (Sarzine,  Heubazillen)  in¬ 
fiziert  erwiesen. 

Es  empfiehlt  sich  daher,  die  Instrumente  erst  kurz 
vor  Beginn  der  Operation  aufzulegen;  oder  dieselben  auf 
dem  Instrumententisch,  mit  sterilem  Tuch  bedeckt  zu  halten. 

Verwendete  Instrumente  wiesen  je  nach  dem 
Operationsterrain  verschiedene  Keimarten  und  -zahlen  auf. 
Während  sie  sich  bei  Verwendung  in  reinem  Terrain  —  zu 
wiederholten  Malen  in  den  einzelnen  Phasen  von  Opera¬ 
tionen  geprüft  —  als  keimfrei  oder  nur  mit  Luftkeimen  in¬ 
fiziert,  eiwiesen,  zeigte  sich  bei  Benützung  in  unreinem 
Gebiete  (Mundhöhle,  Magen -Darmtrakt)  stets  die  entspre¬ 
chende  Bakterienflora  an  den  Instrumenten. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  auf  diese  Weise  bei 
Laparotomien  mit  Eröffnung  des  Intestinaltraktes,  zum  Bei¬ 
spiel,  Phasen  der  Operation  Vorkommen,  die  eine  Infek¬ 
tion  der  Instrumente  im  Gefolge  haben  müssen  und  es 
braucht  nicht  erwähnt  zu  werden,  daß  in  diesen  Fällen  ein 
Wechsel  des  Instrumentariums  vorzunehmen  ist,  das  in 
der  Zwischenzeit  wieder  ausgekocht  wird.  Ein  neben  dem 
Instrumententisch  stehender,  mit  Fußhebel  zu  öffnender, 
kleiner,  elektrisch  konstant  geheizter  Sterilisier¬ 
apparat,  erwies  sich  uns  hiefür  äußerst  verwendbar. 

Instrumente,  die  das  Auskochen  nicht  vertragen,  wie 
Me rci er- Katheter,  Zystoskope  usw.,  werden  auch  bei 
uns  in  der  üblichen  Weise  mit  Formalindämpfen  (Pa¬ 
stillen  von  Schering)  durch  mindestens  24  Stunden  bei 
Zimmertemperatur  sterilisiert.  Bakteriologische  Nach¬ 
prüfung  erwies  diesen  Sterilisationsmodus  als  ausreichend. 

(Daß  glatte  Metallinstrumente,  die  eine  leichte  mecha¬ 
nische  Reinigung  gestatten,  die  aseptischen  Maßnahmen  in 
jeder  Hinsicht  erleichtern,  sei  als  selbstverständlich  nur 
nebenbei  angeführt.) 

C.  Auf  die  Untersuchung  des  Naht  material  es 
wurde  besondere  Sorgfalt  verwendet.  Sie  erfolgte  durch 
Uebertragen  von  10  bis  15  cm  langen  Seiden-,  respektive 
Katgutfäden  in  Nährbouillon  und  Bebrüten  derselben 
durch  24  bis  72  Stunden.  Die  Proben  erwiesen  sich  bei 
wiederholter  Untersuchung  stets  keimfrei. 

Von  einem  Abspülen  der  Jodkatgutfäden  vor  dem 
Uebertragen  derselben  in  die  Nährbouillon,  glaubten  wir 
absehen  zu  können,  da  wir  einerseits  der  Ansicht  waren, 
daß  damit  etwa  vorhandene  Keime  weggeschwemmt  werden 
könnten,  anderseits  wiederum  wir  dem  Hineingelangen  einer 
so  geringen  Quantität  von  Jod  in  eine  größere  Nährboden¬ 
menge,  keine  Bedeutung  beilegen  zu  müssen  glaubten  (ver¬ 
gleiche  auch  Kutscher). 

Die  Desinfektion  der  Seide  erfolgt  in  der  Klinik 
in  der  Weise,  daß  sie  auf  durchloch le  Glasspulen  in  ein, 
höchstens  zwei  Lagen  aufgewickelt,  eine  halbe  Stunde  in 
einer  2°/ooigon  Lösung  von  Sublimat  in  destilliertem  Wasser 
gekocht  und  hierauf  in  95°/oigem  Alkohol  mit  einem  Zusatz 
von  Sublimat  2-0: 10000,  in  vorher  ausgekochten  Gläsern 
aufbewahrt  wird. 

Kat  gut  wird  so,  wie  es  im  Handel  bezogen  wird, 
locker  auf  Glasspulen  gewickelt,  in  eine  Lösung  von  Jodi 
puri  30-0,  Kal.  jodat.  60-0  Aqua  destillata  30000  ein¬ 
gelegt  und  ist  erst  nach  achttägigem  Liegen  in  dieser 
Lösung  bakteriologisch  einwandfrei.  Früher  hat  die  Jod¬ 
lösung  offenbar  keine  sicher  bakterientötende 

Wirkung. 

(Da  bei  längerem  Stehen  dieser  Lösung  das  Jod  teil¬ 
weise  ausfällt  und  die  Flüssigkeit  dadurch  weniger  wirk¬ 
sam  wird,  ist  ein  Wechsel  derselben,  spätestens  nach  Mo¬ 
natsfrist,  empfehlenswert.) 

Zur  Lokalanästhesie  wurden  gewöhnlich  die  fertig 
käuflichen  Novokain-Adrenali  nt!  ab  letten  nach 
Braun  verwendet.  Diesen  Tabletten  wurde  von  verschie¬ 
denen  Seiten  der  Vorwurf  der  Keimhaltigkeit  gemacht,  ja 


Resultat  der  Untersuchung  des  Nahtmaterials  vor  der  Operation. 


Bouillon 
(24  Stunden 
bei  37u) 

Mischagar 

dieser 

Bouillon 

Agar-Strich 

Agar 

(anaerob) 

Seidenfäden 
10  cm  lang 
(18  Proben) 

steril 

steril 

steril 

steril 

Katgutfäden 
(10  cm  lang) 
20  Proben 

steril 

steril 

steril 

steril 

sogar  in  letzter  Zeit,  von  Kutscher  ein  Verfahren  zur  Ste¬ 
rilisierung  derselben  angegeben.  (Geringer  Salzsäurezusatz 
zum  Lösungsmittel,  um  die  Zersetzung  des  Adrenalins  beim 
Kochen  zu  vermeiden.) 

Wiederholt  angestellte  Untersuchungen  haben  aber 
vollständige  Keimfreiheit  derselben  ergeben.  Damit 
stimmen  auch  die  praktischen  Ergebnisse  mit  den  Tabletten 
überein. 


II.  Operateur. 

Während  wir  so  für  die  erste  Untersuchungsgruppe 
einen  vollkommen  befriedigenden  Sterilisationsmodus  be¬ 
sitzen,  gilt,  dies  nicht  in  gleicher  Weise  für  die  übrigen 
Gruppen. 

Die  größte  Aufmerksamkeit  ist  selbstverständlich  dem 
natürlichen  Werkzeuge  des  Operateurs,  der  Hand,  zuzu¬ 
wenden,  da  diese  ja  öfters  unmittelbar  mit  dem  Operations¬ 
gebiete  in  Berührung  kommt.  Die  Frage  der  Hautdesinfek¬ 
tion  steht  noch  immer  im  Mittelpunkt  des  Interesses.  Und 
obwohl  darin  in  neuerer  Zeit  große  Fortschritte  gemacht 
worden  sind,  so  sei  doch  gleich  vorweggenommen,  daß  eine 
vollkommene  Keimfreih|eit  der  Hand  im  allge¬ 
meinen  nicht  zu  erzielen  ist. 

Die  an  unserer  Klinik  übliche  H  an dr einigen gs- 
methode  besteht  bisher,  ähnlich  der  von  v.  Mikulicz 
angegebenen,  in  einer  zweimaligen,  je  fünf  Minuten  langen 
Waschung  der  Hände  mit  steriler  Bürste  in  fließendem, 
heißem  Wasser,  wobei  zwischen  erster  und  zweiter 
Waschung  eine  Reinigung  des  Unternagelraumes,  eventuell 
Kürzung  der  Nägel,  eingeschaltet  wird. 

Durch  die  energische  Bearbeitung  der  Haut,  nament¬ 
lich  des  Unternagelraumes,  erfolgt  eine  Erweichung  der 
Epidermis  und  es  ist  damit  die  Möglichkeit  gegeben,  den 
Nagelfalz  leichter  und  angenehmer  reinigen  zu  können.  Darin 
liegt  entschieden  ein  Vorteil  der  Heiß wasserwaschung  gegen¬ 
über  der  Alkoholwaschung. 

Die  zur  Reinigung  verwendeten  Bürsten  liegen  in 
einem  größeren,  i:n  strömendem  Dampf  sterilisierbaren  Ge¬ 
fäße  zu  etwa  50  Stück  und  werden  mehrere  Male  während 
der  Heißwasserwaschung  gewechselt,  da  die  erstverwen¬ 
deten  Bürsten  bei  wiederholter  Untersuchung  den  größten 
Keimgehalt  aufwiesen  und  diese  dann  bei  Verwendung  nur 
einer  Bürste  in  die  Haut  verrieben  wurden. 

Eine  wiederholt  ausgeführte  Züchtung  der 
Keime  aus  dem  dem  Holze  zunächst  gelegenen  Teile  der 
Bürste,  ergab  nach  dem  Gebrauch  stets  massenhafte  Kolo¬ 
nien  von  Hautkeimen. 

Die  Instrumente  zur  Nagelreinigung  liegen,  vorher 
ausgekocht,  in  Karbolglyzerinlösung  in  sterilem  Behälter. 


Bouillon 

Agar-Strich 

Bürsten  (nach  Stunde  in  strömendem 
Dampf) 

steril 

steril 

Bürsten  (Abspülflüssigkeit)  nach 

3  Minuten  Händewaschen 

reichlich  Keime, 
schwache  Trübg. 

einige 

Hautkeime 

Bürsten  (Basalteil  der  Borsten) 

— 

zahlreiche 

Hautkeime 

Nagelfeilen “fvor  Gebrauch) 

steril 

steril 

Auf  die  Heißwasserwaschung  folgt  mit  frischer  Bürste 
Abbürsten  der  Hände  in  fließendem,  95°/oigem  Alko¬ 
hol  durch  ©in  bis  drei  Minuten  und  Abtrocknen  mit 
sterilem  Frottierläppchen. 


371 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


Von  den  zahlreichen  Untersuchungen  sei  das  Ergebnis 
einzelner  genauer  wiedergegeben : 


Methode 

Keimzahl  pro 
Fingerspitze 

Mikroskopisch 

Ungewaschene 

Hand 

Agar  Druck  (die 
Fingerspitzen  in 
den  Agar  ein¬ 
gedrückt) 

25  bis  30 

Sarzinearten, 
Gram -positive 
Stäbchen  mit 
und  ohne  Sporen, 
Staphylocc.  alb.  j 

Nach  5  Minuten 
Heißwasser¬ 
waschung 

Agar  Druck 

ca.  20 

idem 

Staphyl.  aureus 

Nach  10  Minuten 
Heiß  wasser¬ 
wasch  ung 

Agar  Druck 

ca.  30  bis  50 

idem 

Nach  l/a  Minute 
Alkoholwaschung 

(95"/0) 

Agar  Druck 

10  bis  20 

Milchsäure¬ 
bazillenähnliche 
Stäbchen,  ziem¬ 
lich  reichlich 

Nach  3  Minuten 
Alkoholwaschung 

(95  °/0) 

Agar  Druck 

10  bis  15 

überwiegend 

Gram-positive 

Stäbchen 

einzelne  steril 

0 

Das  Resultat  von  Untersuchungen,  die  nach  einer  A  li¬ 
sp  til  met  ho  de  angestellt  wurden,  zeigen  die  folgenden 
zwei  Tabellen. 

Es  wurden  die  Hände  nach  den  bei  uns  gültigen  Vor¬ 
schriften  gewaschen,  in  den  einzelnen  Vorbereitungsstadien 
mit  5  cm3  steriler  Nährbouillon  überschüttet  und  unter 
waschenden  Bewegungen  verrieben;  die  von  den  Händen 
abfließende  Spülbouillon  wurde  sorgfältig  in  sterilen  Petri¬ 
schalen  auf  gefangen  und  je  1  cm3  davon  mit  dem 
verflüssigten  Inhalt  eines  Agarröhrchens  von  40°  Tempe¬ 
ratur  gemischt  und  als  Mischagar  gegossen. 

Gezählt  wurden  stets  zehn  Gesichtsfelder  mit  Zeiß’ 
Objektiv  A,  Okular  4,  Tubuslänge  160. 


Keimzahl 

Mikroskopisch 

Ungewaschene  Haut 

281 

. 

Sarzinearten, 
Gram-positive  Stäbchen, 
Staphylococcus  aureus  et 
albus, 

vereinzelte  milchsäure¬ 
bazillenähnliche  Kolonien 

5  Minuten  1  Heißwasser- 
10  Minuten  1  waschung 

127 

481 

1  Minute  \ 

-8  Minuten  Alkohol(95',.)- 

-  waschung 

3  Minuten  ) 

230 

118 

50 

Keimzahl 

Mikroskopisch 

Ungewaschene  Hand 

120 

Sarzinearten,  Gram-positive 
Stäbchen  mit  und  ohne 
Sporen,  vereinzelte  milch- 
säurebazillen  hnliche 
Kolonien 

5  Minuten  )  Heißwasser- 
10  Minuten  j  waschung 

54 

6Ö0 

_  1  Minute  |  Alkohol- 

2  Minuten  waschung 

3  Minuten  j  (9511/ 0) 

100 

15  bis  20 
i  5  bis  10 

Die  nach  dieser  ,,A b s p ü  1  - M is c h a g a rinel  h o d e“  ge¬ 
fundenen  Resultate  scheinen  uns  mehr  der  Wirklichkeit  zu 
entsprechen,  da  hei  dem  „Agar -Druck- Verfahren“  haupt¬ 
sächlich  die  Keimverhältnisse  des  Unternagelraumes  zum 
Ausdruck  kommen,  während  bei  der  Spül  m  e  th  o  d  e  die 
Keimhaltigkeit  der  ganzen  Hand  gezeigt  wird. 

Die  Befunde  in  beiden  Tabellen  haben  das  Gemein¬ 
same  gezeigt,  daß  durch  kurze  Heifiwasserwaschulng 
allein  bestenfalls  eine  Keimverminderung,  nie¬ 
mals  Keimfreiheit  der  Hand  zu  erzielen  ist.  Auffallend 
erscheint  die  starke  Keim  Vermehrung  bei  längerer 
Heißwasserwaschung,  die  sich  in  unseren  Versuchen 
konstant  zeigte.  Es  scheint  die  allzulange  Bearbeitung  der 
Hände  mit  heißem  Wasser  und  Bürste  eben  das  Gegenteil 
der  beabsichtigten  Wirkung  zur  Folge  zu  haben,  da  da¬ 
durch  wahrscheinlich  mehr  Keime  aus  der  Tiefe  der  Haut 
aufgewühlt  werden  und  an  die  Oberfläche  gelangen. 


Kurze  (eine  halbe  bis  eine  Minute  lange)  Abspülung 
in  Alkohol  wirkt  ebenfalls  nur  keimvermindernd. 

Dagegen  ergibt  die  länger  dauernde  (drei  bis  vier 
Minuten)  Alkohol  Waschung  mit  steriler  Bürste  in 
fließendem  Alkohol  strahle  nur  bei  einzelnen  Ope¬ 
rierenden  vollkommene  Keimfreiheit,  bei.  anderen  gleich¬ 
falls  nur  Keimverminderung.  (Um  etwa  ein  Drittel  bis 
die  Hälfte  der  Keimzahl  der  ungewaschenen  Hände.) 

Alkohol waschung  allein,  ohne  vorhergehende 
Heißwasserwaschung,  bewirkt  nach  drei  Minuten  eine  ganz 
bedeutende  Keimverminderung.  Während  sich  m 
einem  Falle  an  der  vorher  trockenen,  ungewaschenen  Hand 
bei  der  Mischagarmethode,  in  zehn  Gesichtsfeldern  726 
Keime  fanden,  konnte  man  nachher  bloß  90  Keime  zählen. 


Keimzahl 

Mikroskopisch 

Ungewaschen 

726 

(  Kokken,  Luftkeime, 

f  sporen tragende  Stäbchen 

3  Minuten  Alkohol 

90 

Die  Chlor  -  Ha  ndd  ^sinfek  I  ion,  wie  sie  von  Gibson  in 
New  York  geübt  wird  und  im  Verreiben  von  je  einer  Messer¬ 
spitze  Calcium  chloratum  und  Waschsoda  mit  warmem 
Wasser  und  nachherigem  Abspülen  mit  lauem  Wasser  be¬ 
steht,  hat  wohl  den  Vorteil  großer  Schnelligkeit  und  ge¬ 
währt  auch  eine  keimfreie  Handhautoberfläche;  allein  die 
Hände  werden  dadurch  angegriffen  und  es  haftet  ihnen 
auch  lange  der  üble  Geruch  des  Chlors  an  (vgl.  v.  Eiseis¬ 
berg). 

Auf  die  Untersuchung  der  Pathogenität  der  bei  diesen 
Versuchen  gefundenen  Keime  konnte  nicht  eingegangen  wer¬ 
den,  da  ja  einerseits  für  jede  einzelne  Kolonie  oder  min¬ 
destens  jede  Keimart  ein  Tierversuch  nötig  gewesen  wäre, 
wobei  aber  im  Falle  einer  pyogenen  Wirkung  beim  Tiere 
noch  immer  kein  sicherer  Schluß  auf  die  Pyogenität  beim 
Menschen  hätte  gezogen  werden  können. 

Wichtiger  schien  daher  die  klinische  Beob¬ 
achtung  der  W u ndheilung. 

Uebrigens  gehörte  die  Mehrzahl  der  Keime,  soweit  sich 
dies  aus  dem  morphologischen  und  kulturellen 
Verhalt  en  allein  erschließen  ließ,  den  Gruppen  der  sapro- 
p  h  y  t  i  s  c  h  e  n,  bzw.  der  Luft  eigentümlichen  Keime  an. 

Aus  der  Gruppe  der  Sarzine  fanden  sich  Sarcine  lutea.  ! 
citrea,  alba  und  rosea,  ferner  Staphylococcus  albus  et  au¬ 
reus,  häufiger  milchsäurebazillenähnliche,  Gram-positive 
lange,  unbewegliche  Stäbchen;  fast  stets  fanden  sich,  beson¬ 
ders  im  Unternagelraume,  Gram -positive,  sporentragende 
Stäbchen. 

Die  in  den  tieferen  Hautpartien  hausenden  Mikroorga¬ 
nismen  gehören  hauptsächlich  der  Gruppe  der  „weißen“ 
Kokken,  seltener  den  saprophytischen  Streptokokken  an. 
Wie  bakteriologische  und  histologische  Untersuchungen,  die 
der  eine  von  uns  (Hecht)  auf  Veranlassung  unseres  Chefs, 
Herrn  Prof.  v.  Eiseisberg,  an  bei  Operationen  gewon¬ 
nenen  Hautnarbenstücken  vorgenommen  hat,  erwiesen 
haben,  finden  sich  diese  Kokken  auch  in  den  tieferen 
Schichten  von  Hautnarben  eingeschlossen.  Sie  wurden  in 
diesen  kulturell  und  in  den  nach  Gram  gefärbten  Schnitt¬ 
präparaten  leicht  nachgewiesen;  sie  sind  offenbar  auch  die 
Ursache  der  sich  manchmal  von  Hautnarben  aus  ent¬ 
wickelnde  n  E  rysip  el  e . 

Es  ergibt  sich  aus  den  vorstehenden  Untersuchungen, 
daß  trotz  der  aus  den  günstigen  Wundverhältnissen  zu  ent¬ 
nehmenden  Nichtpathogenität  der  gefundenen  Keime,  eine 
absolute  Sterilität  der  u nbekleideten  Hand  nicht 
zuerzi  elenist,  somit  die  E  inschjaltung  eines,  s  i  c  here 
Keimfreiheit  gewährenden  Mediums  notwendig 
erscheint. 

In  dieser  Beziehung  kommt  nach  genaueren  Unter¬ 
suchungen,  die  Heile  angestellt  hat,  der  Zwirnhandschuh, 
nach  dem  Vorschläge  Zoege  v.  Manteuffels  und  den 
Erfahrungen  Döderleins,  Friedrichs  u.  a.,  der  Gummi¬ 
handschuh  in  Betracht. 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


575 


Seit  mehreren  Jahren  steht  an  der  Klinik  der  Zwirn¬ 
handschuh  allein  nicht  mehr  in| Verwendung,  da,  wie 
auch  unsere  Versuche  es  bestätigen  konnten,  wohl  der 
trockene  frische  Handschuh  Keimfreiheit  gewährt,  er  jedoch 
bei  Durchfeuchtung,  sei  es  durch  den  Schweiß  der  Hand,  sei 
es  durch  andere,  von  außen  kommende  Flüssigkeiten,  wie 
Blut,  keimhaltig  wird. 

Auch  Heile  kommt  mit  seinen  eingehenden  Unter¬ 
suchungen  zu  demselben  Resultate.  Trockene  Zwirnhand¬ 
schuhe  halten  den  größten.  Teil  der  Keime  zurück,  während 
feuchte,  besonders  bei  schwer  infizierten  Händen,  zirka 
50°/o  der  Keime  durchlassen  und  somit  keinen  genügenden 
Schutz  bilden.  Es  soll  dabei  ein  großer  Teil  im  Handschuh 
selbst  fixiert  sein,  weshalb  sich  nach  diesem  Autor  ein 
häufiger  Wechsel  der  Handschuhe  intra  operationem  em¬ 
pfiehl).  Anderseits  bildet  dieses  Festhalten  der  Keime  nach 
Heile  wieder  einen  gewissen  Vorteil  gegenüber  dem  Gummi¬ 
handschuh,  der  von  seiner  glatten  Oberfläche  die  Keime 
leicht  wieder  an  die  Wunde  abgibt. 

Der  Gummihandschuh  dagegen  ist  sowohl  ste¬ 
rilisierbar,  als  auch  absolut  keimundurchlässig.  Ein 
Nachteil  desselben  liegt  allerdings  in  der  leichten  Zerreib¬ 
lichkeit  und  Kostspieligkeit.  Doch  kann  dies  bei  ei¬ 
niger  achtsamer  Handhabung  und  vorsichtiger  Sterilisation, 
bei  der  die  Elastizität  des  Handschuhes  erhalten  bleibt, 
leicht  vermieden,  respektive  auf  ein  Minimum  reduziert  wer¬ 
den.  Uebrigens  scheint  die  Gefahr  des  Zerreißens  quoad 
größerer  Keimhai tigkeit  der  Hand  unter  dem  Gummihand¬ 
schuhe,  gegenüber  der  unbedeckten  Haut,  nicht  besonders 
hoch  einzuschätzen  zu  sein  da  wir  auch  bei  der  unter 
dem  Gummihandschuh  stärker  transpirierenden  Hand 
keineKeimvermehrung  nachweisen  konnten  (vergleiche 
folgende  Tabelle. 


Keimzahl 

Mikroskopisch 

Gummihand¬ 
schuh  vor  der 
Operation 

Agar,  Druck 

0 

0 

Nach  einer 
aseptischen 
Operation 

Agar,  Druck 

ca.  20  Keime 

Luftkeime, 
keine  Kokken 

Hand  unter  dem 
Handschuh 

Agar,  Druck 

25 — 50  Keime 

Gram-positive 
lange  und  kurze 
Stäbchen,  zum 
Teil  sporen¬ 
tragend 

Hand  vor  An¬ 
legen  des 
Gummihand¬ 
schuhes 

Agar,  Druck 

20—30  Keime 

Gram-positive 
lange  und  kurze 
Stäbchen,  zum 
Teil  sporen¬ 
tragend 

Ein  Versuch  nach  der  Mischagarmethode  ergab  fol¬ 
gendes  Resultat,  durch  das  erwiesen  ist,  daß  unter 
dem  Gummihandschuh,  entgegen  der  früheren  Anschauung, 
trotz  der  Transpiration  keine  nennenswerte  Vermehrung 
der  abgebbaren  Keime  stattfindet. 


Keimzahl 

Mikroskopisch 

Hand  nach  Waschung  mit 
Heißwasser,  1  '/.2  Minuten 
Alkohol  vor  Anlegung  des 
Gummihandschuhes 

480 

Gram-positive  Stäbchen,  teils 
sporentragend,  milchsäure¬ 
bazillenähnliche  Stäbchen 

Gummihandschuh  vor  der 

Operation 

0 

0 

Gummihandschuh  nach 
aseptischer  Operation 

20 

Luftkeime 

Hand  nach  Abziehen  des 
Gummihandschuhes 

500 

Gram-positive  Stäbchen 
etc.  etc. 

Immerhin  ist  die  durch  Läsionen  der  Handschuhe  hin¬ 
durch  tretende  Keimzahl  verschwindend  gering,  gegenüber 
der  Keimzahl  der  unbedeckten  Hand. 


Kommen,  wie  dies  bei  öfterer  Verwendung  kaum  vermeidlich 
ist,  Läsionen  des  Handschuhes  vor,  so  ist  bei  der  Reparatur 
desselben  die  größte  Sorgfalt  anzuwenden.  (Vollkommenes  Ent¬ 
fettein  des  Handschuhes  mit  Benzin,  Verwendung  tadellosen 
Gummimateriales,  Vermeidung  von  Falten-  und  Nischenbildung 
an  den  Flickstellen.) 

Vor  der  Sterilisation  werden  die  Stulpen  der  Handschuhe 
nach  außen  geschlagen,  so  daß  an  der  unteren  Hälfte  die  Innenseite 
nach  außen  sieht  und  damit  ein  Anfassen  der  Handschuhe  ohne 
Berührung  der  Außenfläche  ermöglicht  ist. 

Die  Handschuhe  werden  locker,  natürlich  in  trockenem 
Zustande,  angezogen  und  das  genauere  Anpassen  mit  der 
nunmehr  behandschuhten  Hand  ausgeführt.  Die  Stulpen  wer¬ 
den  dabei  zur  besseren  Abdichtung  über  das  untere  Aermel- 
ende  des  sterilen  Mantels  gezogen. 

Vor  der  Sterilisation  werden  die  Handschuhe  mit  vor¬ 
her  exakt  ausgeglühtem  Talk  innen  und  außen  ein- 
gestaubt,  über  einen  Zwinnhandschuh  gestreift,  außen  in 
Gaze  eingewickelt,  um  dann  bei  der  Weiterbehandlung  in 
strömendem  Dampf  (eine  halbe  bis  eine  Stunde)  nicht  zu¬ 
sammenzukleben.  Das  Ausstopfen  mit  dem  Zwirnhandschuh 
ermöglicht  nach  Franz  das  Eindringen  des  strömenden 
Dampfes. 

Eine  oberflächliche  Infektion  der  Gummihandschuhe 
durch  keimhaltiges  Material  kann  intra  operationem  durch 
wiederholtes  Abspülen  mit  Kochsalz  oder  Sublimat  leicht 
beseitigt  werden. 

Von  der  früher  geübten  Verwendung  frisch  ausge¬ 
kochter,  nasser  Handschuhe,  sind  wir  abgekommen,  da  dabei 
die  Hände  unter  der  hochgradigen  Mazeration  der  Haut 
sehr  leiden. 

Von  der  Verwendung  des  Chirosoter  wurde  deshalb 
abgesehen,  da  dabei,  wie  die  Erfahrungen  gelehrt  haben, 
leicht  Läsionen  der  überziehenden  Decke  bei  Bewegungen 
Vorkommen. 

Das  Döderleinsche  Gaudanin  war  durch  die  gründ¬ 
lichen  Untersuchungen  Thalers  an  der  Klinik  Schauta 
dem  gewöhnlichen  Waschverfahren  mit.  nachfolgender  Jodie¬ 
rung  nicht  überlegen  befunden  worden. 

Auch  Dermagummit.  ergibt  keine  absolute  Keim¬ 
freiheit,  sondern  nur  Keim  Verminderung  um  zirka 
ein  Sechste]  gegenüber  der  ungeschützten  Hand. 

Es  wurde  bei  diesen  Versuchen  zuerst  die  Keimzahl 
bestimmt,  die  in  1  cm3  der  Abspülbouillon  der  ungewasche¬ 
nen  Hand  nach  der  oben  angeführten  Mischagarmethode 
enthalten  war,  dann  die  Hände  mit  Dermagummit,  bezie¬ 
hungsweise  Chirosoter  überzogen  und  nun  nach  Eintrock¬ 
nen  analog  eine  neuerliche  Keimzählung  vorgenommen. 

Nast-Kolb  hat  mit  ausschließlicher  Alkoholdesinfektion 
der  Hände  und  des  Operationsgebietes  reaktionslose  Heilung  einer 
großen  Reihe  aseptischer  Operationen  erzielt,  praktisch  im  wesent¬ 
lichen  dabei  den  Vorschlägen  von  v.  Bruns  und  Meißner 
folgend.  Er  sagt  darüber:  „Zweifellos  wurden  schon  bisher  mit 
den  verschiedensten  Desinfektionsmethoden  ausgezeichnete  Re¬ 
sultate  erzielt . Wenn  wir  uns  erinnern,  wieviele  kostbare 

Viertelstunden  des  Tages  wir  vor  dem  Waschtisch  zu  bringen 
mußten,  beimüht,  mit.  dampfendem  Wasser,  Seife  und  scharfer 
Bürste  eine  möglichste  Keimfreiheit  der  Hände  zu  erzielen,  so 
wird  ui  an  mit.  Freude  ein  Verfahren  begrüßen,  das  unsi  in  wenigen 
Minuten  ohne  Erhitzung  und  körperliche  Anstrengung  zu  ebenso 
schönen  Erfolgen  verhilft . Wir  operieren  meist  mit  Gummi¬ 

handschuhen,  die  hier  allein  eine  absolute  Keimfreiheit  ver¬ 
bürgen.“ 

Außer  den  Händen  wird  auch  die  übrige  Aus¬ 
rüstung  des  Operateurs  und  der  Assistenten  möglichst 
aseptisch  gestaltet.  Es  stehen  zu  diesem  Behufe  bei  jeder 
Operation  jedem  einzelnen  an  der  Operalion  mitwir¬ 
kenden  Operateur  lange,  durch  einen  Gehilfen  rückwärts 
zu  schließende,  sterilisierte  Leinlenmänt  el  mit.  bis 
zum  Handgelenk  reichenden  Aermeln  zur  Verfügung. 

Zur  Verhütung  des  Hineingelangens  von  Keimen  aus 
den  Kopf-,  respektive  Barthaaren  und  zur  Hintanhaltung 
einer  Infektion  durch  Mundkeime,  werden  Kopfhauben 
und  Mundmasken,  die  über  Kinn  'und  Nase  reichen, 
angelegt  (v.  Mikulicz).  Ebenso  stehen  als  gleichwertig,  die. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


nur  die  Augen  freilassenden,  aus  einem!  Stück  verfertigten 
v.  Piostlhorn  schein  Haubein  im'  Gebrauche. 

Agarplatten,  auf  welche  in  einer  Entfernung  von  15 
bis  30  cm  gehustet,  geniest  und  einige  Zeit  gesprochen 
wurde,  sind  stets  mit  mehreren  Hunderten  von  Mundkeimen 
übersät,  während  hei  derselben  Versuchsanordnung  mit 
Maske  die  Platten  steril  bleiben  (Flügge). 


Keimzahl 

Mikroskopisch 

Behustet  auf  50  cm  Ent¬ 
fernung  ohne  Maske 

Agarplatte 

500 

Mundspirillen,  ver¬ 
einzelte  Strepto¬ 
kokken 

Behustet  auf  50  cm  Ent¬ 
fernung  mit  Maske 

Agarplatte 

1 

j  Mundkeime 
>  besonders  (weihe) 
Kokken 

2  mal  behustet  auf 

80  cm  Entfernung  mit 
Maske 

Agarplatte 

1 

2  mal  behustet  auf 

30  cm  Entfernung  mit 
Maske 

Agarplatte 

0 

steril 

Kopfstaub  des 
Operateurs  ohne  Maske 

Agarplatte 

25 

Kokken,  Stäbchen 

Kopfschütteln  mit 
Haube 

Agarplatte 

o 

Ergänzt  wird  die  Toilette  des  aseptisch  gekleideten 
Operateurs  noch  durch  Gummischuhe,  die  vor  dem  Be¬ 
treten  des  aseptischen  Operationssaales  angelegt  werden 
müssen,  um  das  Einschleppen  von  Straßenstaub  zu  ver¬ 
meiden. 

III.  Patient. 

Nicht  minder  wichtig  als  die  Vorbereitung  des  Ope¬ 
rateurs  ist  die  Vorbereitung  des  Patienten  zur  Ope¬ 
ration.  Es  ist  hiebei  in  erster  Linie  die  Aufmerksamkeit 
auf  eine  sorgfältige  Präparation  des  Operationsterrains  zu 
richten,  die  allerdings  bis  zu  einem  gewissen  Grade  schon 
geringere  Schwierigkeiten  gegenüber  der  Hand  des  Opera¬ 
teurs  darbietet. 

Auch  hier  gelingt  es  durch  bloße  ’Heißwasserwaschung 
der  [Haut  allein  [nicht,  Keinifreiheit  zu  erzielen,  jedoch  können 
anderseits  der  Haut,  des  Patienten  eher  energisch  wir¬ 
kende  Antiseptika  zugemutet  werden,  da  es  sich  ja 
in  der  Regel  nur  um  eine  einmalige  Vorbereitung 
handelt. 

Agarplatten,  die  durch  Abstrich  oder  Abdruck  der  Haut 
mittels  Tupfers,  mit  Hautkeimen  beschickt  wurden,  ergaben 
vor  der  Vorbereitung  immer  reichliche  Kolonien  von  Sapro- 
phyten,  aber  auch  von  Staphylokokken  und  Streptokokken, 
über  deren  eventuelle  Pathogenität  aber  aus  den  oben  an¬ 
geführten  Gründen  im  .einzelnen  Falle  natürlich  kein  Auf¬ 
schluß  gewonnen  werden  konnte. 


Keimzahl 

| 

Haut  vor  der  Vor-  1 
bereitung 

Agarplatte 

400 

1  Sapropbyten,  ver- 
>  einzelte  Staphylo- 
J  und  Streptokokken 

Bouillon 

starke 

Trübung 

Die  bei  uns  übliche  Technik  der  Vorbereitung  des 
Patienten  gestaltete  sich  bisher  folgendermaßen : 

Warmes  Reinigungsbad  am  Vortage  der  Operation 
nach  Rasieren  des  Operationsterrains  und  dessen  Umge¬ 
bung.  Unmittelbar  vor  der  Operation  wird  durch  fünf  Mi¬ 
nuten  mit  Spiritus  saponatus  kialinus  (Hebra),  hie¬ 
rauf  drei  bis  fünf  Minuten  mit  Alkohol  gewaschen.  Den 
Abschluß  bildet  eine  kurze  Spülung  oder  Abreibung  mit 
l%o  Sublimatlösung. 

Das  so  vorbereitete  Terrain  wird  bis  zum  ersten  Haut¬ 
schnitt  steril  bedeckt  gehalten.  Dem  Schnitte  geht  un¬ 
mittelbar  ein  „.Todstrich“  in  der  Schnittrichtung  voraus. 
Diese  Methode  der  Vorbehandlung  mit  .Todtinktur  wird 
in  der  Klinik  bereits  seit  dem  .fahre  1901  angewendet. 


Die  bakteriologischen  Ergebnisse  unserer  gewöhn¬ 
lichen  Patientenwaschung  zeigt  folgende  Tabelle  (Misch¬ 
agarmethode,  Keimzahl  von  zehn  Gesichtsfeldern  ange¬ 
geben). 


Keimzahl 

Mikroskopisch 

Ungewaschen 

151 

Saprophyten,  vereinzelte 
Streptokokken  und 
Staphylokokken 

Nach  8  Minuten  Seifenspiritus¬ 
waschung 

102 

Nach  5  Minuten  Seifenspiritus¬ 
waschung 

142 

Nach  kurzer  Alkoholwaschung 
('/2  Minute) 

89 

Nach  Sublimatspülung 

38 

Wie  aus  der  einen  hier  wiedergegebenen  Versuchs¬ 
tabelle  hervorgeht,  fanden  wir  auch  bei  der  Patientenvor¬ 
bereitung  konstant  nach  langer  Seifenspiritus-,  respektive 
Heißwasserwaschung  nicht  nur  keine  Keim  Verminde¬ 
rung,  sondern  eher  Keimlvermehrung  gegenüber 
der  kurzdauernden  und  es  scheinen  auch  hier  durch 
allzulanges  Bearbeiten  der  Haut  eher  mehr 
Keime  an  die  Oberfläche  der  Haut  zu  gelangen.  Es 
empfiehlt  sich  (also  auch  hier  eine  mehr  oberflächliche 
mechanische  Hautreinigung  durch  nur  drei  bis 
vier  Minuten. 

Bei  der  nachfolgenden  kurzen  Alkoholabreib'ung 
zeigt  sich  eine  Keim  Verminderung  um  etwa  ein 
Drittel,  bei  der  Sublimatspülung  um  etwa  zwei 
Drittel  der  vorhergehenden  Keimzahl.  Folgt  nun  noch  ein 
kurzer  Tod  strich,  so  lassen  sich  nur  mehr  wenige  Keime 
nachweisen.  Die  Probe  des  aus  dem  ersten  Schnitt  hervor¬ 
quellenden  Blutes  wurde  bei  dieser  Vorbereitungsmethode 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  steril  gefunden,  in  einem  ge¬ 
ringeren  Teile  ließen  sich  immer  noch  einige  Keime  nach¬ 


weisen. 

Vorbereitet  wird  der  Patient  von  dem  lege  artis  ge¬ 
waschenen  Operateur.  Wäscht  sich  dieser  nun  nach  dem 
oben  geschilderten  Modus  durch  mindestens  zwölf  Minuten, 
den  Patienten  durch  acht  bis  zehn  Minuten,  so  vergehen 
mit  der  Vorbereitung,  da  er  sich  nach  Waschung  des  Pa¬ 
tienten  nochmals  durch  einige  Zeit  nachwaschen  muß. 
immerhin  ca.  30  Minuten. 

Abkürzen  läßt  sich  das  Verfahren  wohl  dadurch,  daß 
man  sich  bis  zur  Anlegung  der  Gummihandschuhe  wäscht, 
den  Patienten  mit  Handschuhen  vorbereitet  und  nachher 
nach  Abspülung  der  Hände  in  Alkohol  nochmals  die  Hand¬ 
schuhe  wechselt. 

Auf  diese  Weise  wurde  an  der  Klinik  in  den  letzten 
.fahren  verfahren  u.  zw.  mit  praktisch  einwandfreien  guten 
Erfolgen. 

Da  seit  längerer  Zeit  schon  die  Bestrebungen  darauf 
gerichtet  sind,  dieses  viel  Zeit  und  Assistemte  nhände 
erfordernde  Verfahren  möglichst  abzukürzen  (Gros¬ 
sich,  v.  Her  ff,  Heusner,  Ahllfeld),  anderseits  nach  An¬ 
gaben  vieler  Autoren  und  eigenen  Erfahrungen,  namentlich 
die  alleinige  und  infolgedessen  intensive  Todierung  nicht 
von  jeder  Haut  reaktionslos  ertragen  wird,  suchten  wir 
durch  Anwendung  eines  anderen  energisch  wirkenden  Anti¬ 
septikums  die  Haut  auf  kurzem  Wege  keimfrei  zu  gestalten. 

Wir  gingen  hiebei  von  dem  Gedanken  aus,  durch  An¬ 
wendung  eines,  das  Hautfett  lösenden  Mittels  dem  eigent¬ 
lichen  Antiseptikum  das  Eindringen  in  die  tieferen  Schichten 
der  Haut  zu  erleichtern,  einem  Gedanken,  den  schon  Heus¬ 
ner  bei  Angabe  seines  Todbenzins  nähergetreten  ist.  Der 
Effekt  dieser  Todbenzinwaschung  ist  jedoch  im  bakterio 
logischen  Sinne  nicht  einwandfrei.  Bei  selbst  eine  halbe 
bis  eine  Minute  langer  Abreibung  mit  Todbenzin  ergaben 
sich  noch  immer  reichliche  Keime  an  der  Hautoberfläche 
(geprüft  auf  Agarplatten  und  in  Bouillon). 

Wir  gingen  nun  daran,  die  Wirkung  eines  anderen 
Antiseptikums,  des  Subli  mat -Alkohol- Benz  ins  auf 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


377 


die  Keimhaltigkeit  der  Haut  zu  untersuchen.  Seit  längerer 
Zeit  schon  steht  in  der  Dermatologie  l°/oige  Sublimat -Alko¬ 
hollösung  bei  verschiedenen  parasitären  Affektionen  der 
Hautim  Gebrauch,  ohne  daß  wesentliche  Reizerscheinungen 
der  Haut  nach  Anwendung  dieses  Mittels  auftreten. 

Wohl  wirkt  der  dem  Sublimat  als  Vehikel  dienende 
Alkohol  an  sich  schon  fettlösend,  doch  nur  in  geringem 
Grade.  Es  kann  daher  zur  Erzielung  der  Entfettung  der 
Haut  eine  Benzinabreibung  vorangeschickt  werden,  da  Su¬ 
blimat  weder  in  Benzin  allein,  noch  in  Benzinalkohol  zur 
Lösung  kommt. 

Die  Wirkungsweise  der  so  gestalteten  Vorbereitung 
illustriert  die  Tabelle  (die  Untersuchungen  wurden  nach 
der  „Mischagarmethode“  vorgenommen).  Zur  Anwendung 
gelangte  eine  V2%ige  Sublimatlösung  in  50%  Alkohol. 


Zeit  in 
Minuten 

Agarplatte 

Bouillon 

Ungewaschene  Haut 

Zahlreiche 

Kolonien 

sehr  starke 
Trübung 

Benzin-Sublimatalkohol- 

waschung 

v. 

1 

2 

>  steril 

>  steril 

Blutprobe  nach  Benzin- 
Sublimatalkoholwaschung 

V  2 

1 

2 

Exzidiertes  Hautstück 
nach  Benzin-Sublimat- 
alkoholwaschung 

1/ 

/  2 

1 

2 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  je  nach  Größe  des  Ope- 
rationsrerrains  die  Zeitdauer  der  Sublimatalkohol-Abrei¬ 
bung  verschieden  sein  muß,  um  jedem  Teile  desselben  die 
entsprechende  Vorbereitung  zukommen  zu  lassen.  Es  über¬ 
steigt  dabei  die  verbrauchte  Menge,  selbst  bei  größerem 
Gebiete,  niemals  50  cm3.  Gewöhnlich  findet  man  mit  viel 
weniger  sein  Auslangen.  Da  übrigens  der  größere  Teil  des 
Desinfiziens  in  dem  zur  Verwendung  gelangenden  Gaze¬ 
tupfer  zurückbleibt,  so  kommt  kaum  eine  größere  Su¬ 
blimatmenge  zur  Resorption. 

Die  anfangs  verwendete  l%ige  Lösung  wurde  wohl 
von  der  Mehrzahl  der  Patienten  ohne  Hautreaktion  ertra¬ 
gen;  nur  in  zwei  Fällen  (unter  den  ersten  40)  zeigte  sich 
Ekzem  an  der  Skrotalhaut,  die  allerdings  durch  vorher¬ 
gehendes  Rasieren  bereits  gereizt  war. 

Bei  einem  Kinde  trat  ein  Ekzem  am  Arm  auf,  doch 
handelte  es  sich  in  diesem  Falle  um  eine  Idiosynkrasie 
gegen  Sublimat,  da  gelegentlich  einer  Operation  im  Vor¬ 
jahre  bei  demselben  Patienten,  im  Anschlüsse  an  eine 
kurze  Spülung  mit  der  gewöhnlichen  l0/o>0igen  wässerigen 
Sublimatlösung,  nach  Angabe  der  Mutter  ein  ebenso  starkes 
Ekzem  aufgetreten  war.  Sonstige  toxische  E  r  s c h  e  i  nu n- 
gen  des  Sublimats,  wie  Speichelfluß,  Stomatitis,  Aloumi- 
nurie  und  Zylindrurie,  ließen  sich  in  keinem  Falle  nach- 
weisen.  V 

Bei  einem  Falle  von  Carcinoma  oesophagi,  bei  dem 
die  Gastrostomie  vorgenommen  wurde  und  der  drei  läge 
post  operationem  infolge  von  Marasmus  und  Lobulärpneu¬ 
monie  ad  exitum  kam,  zeigte  sich  bei  der  Sektion  die 
Hautmuskelwu  nd  e  und  das  Peritoneum  freivonje  d  e  r 
pathologischen  Veränderung. 

Da,  wie  aus  dem  Versuchsprotokolle  hervorgeht,  auch 
die  1/2%ige  Sublimat-Alkohollösung  in  gleicher  Weise  Keim¬ 
freiheit  gewährt,  wie  die  l%ige,  so  haben  wir  im  An¬ 
schlüsse  an  die  oben  erwähnten  Fälle  von  Hautreaktion 
in  der  Folgezeit  stets  nur  V2%ige  Lösung  verwendet,  wo¬ 
bei  auch  statt  des  früher  gebrauchten  95%igen  Alkohols 
jetzt  50%iger  genommen  wurde. 

Seit  Anwendung  der  weniger  konzentrierten  alkoho¬ 
lischen  Sublimatlösung,  beobachteten  wir  keine  patholo¬ 
gische  Hautreaktion  mehr.  ( 

Man  wird  hiebei,  ebenso  wie  es  für  das  Grossich- 
Verfahren  vielfach  angegeben  wird,  gut  tun,  bei  sich  be¬ 


rührenden  empfindlicheren  Hautpartien,  wie  Analfalte, 
Skrotum,  Axilla,  die  Berührung  je  zweier  so  vorbereiteter 
Hautstellen  durch  Einlegen  eines  Verbandstückes  zwischen 
dieselben  hintanzuhalten. 

Das  Verfahren  wurde  zunächst  an  ca.  100  größeren 
und  kleineren  (Operationen  versucht,  darunter  Hernien, 
Strumektomien,  Laparotomien,  Mammaamputationen  usw. 
Es  genügt,  bei  kleinerem  Operationsterrain  eine  je  eine 
halbe  Minute  lange  Abreibung  mit  Benzin  und  Sublimat- 
Alkohol,  bei  größerem  Operationsfeld  eine  ein-  bis  andert- 
halbminutige  Abreibung  mit  beiden  Lösungen. 

Die  Kürze  des  Verfahrens,  die  absolute  Keirrifrei- 
heit  der  Haut  in  bakteriologischem  Sinne,  sichert  dieser 
Methode  der  Vorbereitung  entschieden  den  Vorzug  gegen¬ 
über  dem  alten  Verfahren. 

Das  Jodverfahren  von  Grossich  bietet  bakte¬ 
riologisch  nicht  immer  einwandfreie  Resultate,  weshalb  wir 
es  an  der  Klinik  bei  größeren  Operationen,  die  besondere 
Asepsis  erheischen,  nicht  anwenden.  Nur  bei  kleinen  ambu¬ 
latorischen  Eingriffen  (Panaritien  usw.),  sowie  bei  frischen 
äußeren  Verletzungen  wird  eine  Jodierung  der  Haut  vorge¬ 
nommen.  Wohl  wird  von  Gros  sich  und  einer  großen  Reihe 
von  Autoren  (Bogdan,  Brewitt,  Federmann,  Unger, 
Nast-Kolb,  Kratodhwil,  Kausch  u.  v.  a.)  über  sehr 
gute  Resultate  der  Wundheilung  bei  der  „Grossich-Me- 
thode“  berichtet,  doch  konnten  wir  uns  von  einer  absoluten 
keimvermindernden  Wirkung  der  Jodtinktur  nicht  über¬ 
zeugen.  Die  Jodtinktur  verdankt  ihre  Verwendung  ihrer 
ausgezeichneten  gerbenden  Wirkirng  und  wirkt 
durch  Festhaltung  der  Keime  in  der  Haut.  Dagegen  hat 
sich  bei  unserer  Suhl i m at- A 1  k  oh olmethode  eine 
absolutkeimfreie  Haut  Oberfläche  hersteilen  lassen. 

Auch  Kutscher  hat  bei  seinen  experimentellen  Unter¬ 
suchungen  der  Jodtinkturwirkung  eine  wirklich  sterilisierende 
Wirkung  derselben  nicht  konstatieren  können.  Milzbrandbazillen, 
die  in  die  rasierte  Bauchhaut  von  Kaninchen  eingerieben  wurden, 
wurden  in  ihrer  Lebensfähigkeit  durch  Jodtinktur  nicht  beein¬ 
trächtigt.  Ebenso  blieben  auch  Staphylokokken,  Pyozyaneüs 
selbst  bei  60  Minuten  dauernder  Einwirkung  der  flüssigen  Jod¬ 
tinktur  unbeeinflußt.  Derselbe  Effekt  zeigt  sich  beim  Antrocknen 
von  Jodtinktur  auf  mit  Bakterien  infizierten  Seidenfäden.  Wir 
konnten  zeigen,  daß  sich  Staphylokokken  noch  üppig  züchten 
ließen,  wenn  man  sie  auch  zwei  Minuten  lang  energisch  mit 
Jodtinktur  Verrieben  hatte. 

Unger  hat  Grossichs  Jodtinkturverfahren  bei  25  La¬ 
parotomien  und  50  kleineren  Operationen  mit  gutem  Erfolge  ver¬ 
wendet  und  empfiehlt  es  ohne  vorhergehende  Seifenwasser¬ 
waschung,  besonders  für  dringende  Fälle. 

Feder  mann  sieht  den  Hauptwert  der  Jodmethode  in  der 
fixierenden  und  gerbenden  Wirkung  der  Jodtinktur,  gegen  welche 
die  desinfizierende  Komponente  derselben  zurücktritt.  Hiezu 
kommt  noch  die  hyperämisierende  Wirkung  des1  Jods  mit  Er¬ 
zeugung  einer  reaktiven  Entzündung.  Bei  110  größeren  Opera¬ 
tionen  hat  Federmann  nur  zweimal  Hautinfektionen  gesehen. 
Davon  abgesehen  fand  sich  auch  bei  Hämatomen  und  bei  infi¬ 
zierten  Fällen  primäre  Hautheilung. 

Günstige  Erfahrungen  mit  Grossichs  Methode  berichten 
auch  König,  Walther,  Bogdan,  Pawlowsky,  Kratoch- 
vil  u.  a. 

Brewitt  berichtet  über  günstig  beeinflußte  500  Fälle,  dar¬ 
unter  153  Laparotomien.  Als  Nachteile  machten  sich  leichte 
Hautreizungen  (Juckreiz,  Brennen,  Rötung)  geltend,  für  deren 
Behandlung  Brewitt  die  Anwendung  von  H  o u s n eüschem  Jod¬ 
benzin  empfiehlt.  Bezüglich  der  gefalteten  Skrotalhaut  meint 
Brewitt:  „Immerhin  ist  das  Skrotum  mit  seinen  Runzeln  und 
Falten  ein  Ort,  der  zuweilen  schon  bei  einfacher  feuchter  Be¬ 
netzung  mit  einem  Ekzem  reagiert,  so  daß  ich  diese  einzige 
Körperstelle,  wenn  möglich,  von  einer  intensiven  Jodpinselung 
aüsnehmen  möchte.“ 

Frank  empfiehlt  das  Jodbenzin  nicht  in  der  von  Heusner 
angegebenen  Modifikation  anzuwenden  (Tct.  Jodi,  in  Benzin  auf- 
geschwemmt),  da  diese  Lösung  pharmakologisch  unmöglich  ist, 
sondern  Jod  langsam  in  Benzin  zu  lösen  und  dann  erst  Paraffin 
zu  zu  s  etzen  .  ^ 

Knoke  hat  die  Methode  von  G r o s s i c h  bei  350  Opera 
tionen  angewendet  und  dabei  in  etwa  1  %  der  Fälle  Jodekzem 
beobachtet.  Er  hebt,  wie  früher  schon  König  und  Brewitt  u.  a., 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


878 


hervor,  claß  sich  Skrotum  und  Damm  nicht  für  diese  Haut¬ 
dosinfizierung  eignen,  wenn  man  nicht  dafür  sorgt,  daß  sich  zwei 
jodierte  Hautpartien  nicht  dauernd  berühren. 

Jungengel  hält  die  sich  in  Jodtinktur  leicht  bildende 
Jodwasserstoff  säure  als  die  Ursache  der  unangenehmen  Haut¬ 
reizungen.  Er  empfiehlt  daher  die  Anwendung  des  Jods  in  Form 
von  erhitztem  Joddampf.  Bei  Vorbereitung  zur  Operation  er¬ 
folgt  das  Aufsprayen  von  Joddampf  einige  Stunden  vor  der 
Operation. 

Es  sei  übrigens  bemerkt,  daß  das  Sterilbleiben  der 
Nährböden  bei  unseren  Versuchen  nicht  etwa  durch  ein 
Hinein  gelangen  von  Sublimat  in  den  Nährboden  zu  erklä¬ 
ren  wäre,  da  wir  bei  sekundärer  Beschickung  dieser  steril 
gebliebenen  Nährböden,  Eiterkokken  auf  denselben  zu  reich¬ 
lichem  Angehen  bringen  konnten.  Selbstverständlich  hat 
man  in  der  Nähe  von  Körperöffnungen  (Mund,  Anus,  Vagina) 
und  Augen  ein  Hineingelangen  der  Sublimatalkohol-Lösung 
zu  vermeiden.  Ueber  Tanmin-Alkoholwaschung  (5%)  nach 
Zabludowsky  sind  noch  zu  wenig  Erfahrungen  vor¬ 
handen. 

Während  man  so  die  Haut  durch  Antiseptika  möglichst 
keimfrei  machen  kann,  wird  durch  Bedecken  der  wei¬ 
teren  Umgehung  des  Operationsfeldes  mit  trocke¬ 
nen  sterilen  Tüchern  eine  aseptische  Decke  über  dem  Pa¬ 
tienten  geschaffen  und  dadurch  ein  Hineinge¬ 
langen  von- Keimen  aus  den  nicht  gereinigten  Bezirken 
des  Körpers  womöglich  verhütet..  Im  Operationsgebiete 
seihst  bleibt  durch  dichtes  Abdecken  und  Anheften  von 
eingeschnittenen  Kompressen  mittels  Klammern,  die  nach 
Art  von  Kugelzangen  gestaltet  sind,  nach  ausgeführtem 
Hautschnitte  eigentlich  nur  das  von  den  WundränJdern 
begrenzte  engere  Operationsfeld  unbedeckt. 

Gerade  in  der  exakten  Abdeckung  sehen  wir 
ein  wichtiges  Hilfsmittel  für  den  aseptischen  Ablauf 
der  Operationen.  Dabei  muß  die  Abdeckung  so 
v o  1 1  k o m m e n  sein,  daß  womöglich  kein  Körperteil 
des  Patienten  vorschaut  (außer  eventuell  der  Kopf), 
so  daß  man  auch  nicht. leicht  mit  nicht  sterilem  Gebiet  in 
Kollision  geraten  kann.  Fs  kann  allerdings  Vorkommen,  daß 
im  Verlaufe  der  Operation  die  Kompressen  durch  Aufnahme 
von  Feuchtigkeit  wieder  ,,k ei  ml  ei  tend“  werden,  weshalb 
sie  öfters  während  der  Operationen  durch  trockene  Tü¬ 
cher  überdeckt  werden  müssen. 

Bei  besonderen  Operationen  wird  auch  eine  spezielle 
Art  der  Abdichtung  beobachtet. 

So  wird  hei  Operationen  an /Kopf  und  Hals  dieses  Ziel 
durch  Einwickeln  der  Haare  mit  einer  in  Sublimat  getränkten 
sterilen  Binde  zu  erreichen  gesucht,  bei  Halsoperationen 
(Struma)  wird  vor  dem  Gesicht  auf  einem  eigenen  Gestelle 
(v.  Mikulicz)  der  Vorhang  nach  Kocher  befestigt;  außer¬ 
dem  wird  die  Narkose  mit  sterilem  Instrumentarium  von 
einem  aseptisch  vorbereiteten  Narkotiseur  vorgenommen. 

Das  Tunk  ergebläse  wird,  um  es  vor  öfterem  schäd¬ 
lichen  Auskochen  zu  bewahren,  mit  sterilem  Tuche  umhüllt 
gehandhabt,  zumal  mit  dem  langstieligen  Junkerschem 
Ansatz  eine  Kollision  mit  dem  Operationsfelde  ohnehin  leicht 
zu  vermeiden  ist. 

IV.  L u f t  d e s  Operationlsraumes. 

Die  große  Bedeutung,  die  man  in  früherer  Zeit  der 
Infektion  durch  in  der  Luft  suspendierte  Keime  heilegte, 
wird  in  der  letzten  Zeit  nicht  in  gleichem  Maße  anerkannt. 
Insbesondere  haben  die  Arbeiten  Flügges  und  seiner 
Schüler  Aufklärung  in  dieser  Frage  gebracht  und  gezeigt, 
daß  sich  durch  geeignete  Maßnahmen  die  Gefahren  der  Luft¬ 
infektion  reduzieren  lassen. 

Die  Art  des  Verbreitungsmodus  von  Luftkeimen  ist 
die  in  Form  von  Staub-  oder  Tröpfcheninfektion.  Dem  Staub, 
als  Träger  von  Keimen,  ist  eine  geringere  Bolle  zuzuschrei¬ 
ben,  da  die  meisten  der  für  uns  wichtigen  Eitererreger  durch 
Austrocknen  bald  zugrunde  gehen.  Doch  kann,  wie  v.  Miku¬ 
licz  betont,  namentlich  dort,  wo  eine  Anhäufung  dieser 
Keime  stattfindet,  also  in  Krankenhäusern,  ein  Ueberleben 
auch  von  Staphylo-  und  selbst  Streptokokken  beobachtet 


Nr.  li 


werden  und  damit  auch  eine  Uebertragung  derselben  durch 
den  Staub  möglich  sein.  Namentlich  Staphylokokken  er¬ 
weisen  sich  gegen  Austrocknung  resistent.  Wir  könnten 
wiederholt  aus  tagelang  hei  Zimmertemperatur  getrockneten 
Staphylokokken  noch  üppig  wachsende  Kolonien  erhalten. 
Der  hierin  liegenden  Gefahr  werden  wir  dadurch  Vorbeugen, 
daß  wir  die  Gelegenheit  zur  Verstaubung  derartiger  Teile 
in  unseren  Operationssälen  möglichst  verringern,  indem  wir 
die  aseptischen  Operationsräume  von  den  übrigen 
Räumlichkeiten  einer  Klinik  strenge  trennen,  die  Zahl  der 
anwesenden  Personen  möglichst  beschränken  und 
dafür  Sorge  tragen,  daß  dieselben  nur  unter  entspre¬ 
chen  d  e  n  K  aut  e  1  e  n  den  Operationssaal  betreten. 

Die  diesbezüglich  an  der  Klinik  vorgenommenen  Unter¬ 
suchungen  haben  nun  übereinstimmend  immer  zahlenmäßig 
den  Unterschied  im  Keimgehalt  der  Luft  im  aseptischen 
Operationssaale  und  im  stark  besuchten  Hörsaale  ergeben. 
Je  nach  größerer  oder  geringerer  Personenfrequenz,  ist 
der  Unterschied  in  diesen  Zahlen  auch  ein  verschiedener. 
Während  sich  z.  U.  im  Hörsaale  400,  in  dem  stark  frequen¬ 
tierten  Ambulatoriumsraume  1200  Keime  in  zwei  Stunden 
ergaben,  wiesen  Untersuchungen  im  Operationssaale  nur 
40  bis  60  Keime  in  zwei  Stunden  auf  der  Fläche  einer 
Agarplalte  von  ca.  10  cm  Durchmesser  auf. 


Keimzahl 

Mikroskopisch 

Reines  Zimmer 

200 

Sarzinearten,  Gram-positive 
Stäbchen  mit  und  ohne  Sporen. 

Reines  Zimmer 

150 

Reines  Zimmer 

220 

Schimmelpilze,  Micrococcus 
catarrh  alis 

Reines  Zimmer 

125 

Unreines  Zimmer 

450 

Sarzinearten,  Gram-positive 
Stäbchen  mit  und  ohne  Sporen. 

Unreines  Zimmer 

300 

Schimmelpilze  Micrococcus 
catarrhalis,  vereinzelte 

Unreines  Zimmer 

500 

Kolonien  von  Staphylococcus 
aureus 

Hörsaal  (Vorlesung) 

400 

j  Sarcine  lutea  etalba,  Leptothrix- 

Ambulatoriumraum 

1200 

Staphylococcus  albus  et  aureus 

Asept.  Operationssaal 

40 

1  Hauptsächlich  Sarzinearten, 
keine  Kokken 

Operationssaal  während 
der  Operation 

50 

Wohl  ist  die  Keimzahl  nur  ein  relativer  Maßstab 
für  die  Verunreinigung  der  Luft  und  für  die  Bewe¬ 
gung  derselben.  Es  sind  auch  tatsächlich  die  meisten  der 
gefundene  Keime  Saprophyten  und  gewöhnliche,  für  die 
Wundheilung  unschädliche  Bakterien.  Doch  konnten 
wiederholt,  besonders  im  Ambulatorium,  Hörsaal  und  un¬ 
reinen  Krankensälen,  auch  Strepto-  und  Staphylokok¬ 
ken  nachgewiesen  werden.  Es  ist  ja  auch  a  priori  die 
Möglichkeit  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  daß  die  bei 
gewissen  Operationen  und  Verbandwechsel  zur  Verstaubung 
und  Versprayung  gelangenden  pathogenen  Keime  auch  wei¬ 
terverbreite!  werden.  In  dieser  Hinsicht  kann  aber  nur 
ein  prophylaktisches  Einschränken  einer  überflüs¬ 
sigen  Verbreitung  der  Eitererreger  Abhilfe  schaffen. 

Zu  diesem  Behufe  müssen  Instrumente,  Gerätschaften 
und  Boden  eingeh  ends  nach  jeder  septischen  Operation 
gereinigt  und  sterilisiert  werden.  Nicht  minder  wichtig  er¬ 
scheint  auch  das  Auffangen  von  eiterdurchtränktem  Ver¬ 
band-  und  Tupfermateriale  in  eigenen,  rasch  zu  beseitigenden 
Behältern  und  dgl.  mehr. 

Ein  gleicher  Unterschied,  wie  zwischen  Hörsaal  und 
aseptischem  Operalionssaal  zeigte  sich  auch  in  den  Kran¬ 
kenzimmern,  je  nachdem  dort  sogenannte  „reine“  oder 
septische,  eitrige  „unreine“  Fälle  untergebracht  sind;  in 
letzteren  ist  die  Zahl  der  in  der  Luft  nachweisbaren  Keime 
in  der  gleichen  Zei!  etwa  doppelt  bis  dreimal  so  groß 
(cf.  Tab.). 

Zur  geringeren  Keimhälligkeit  der  Luft  im  Oeprations- 
saale  trägt  sicherlich  auch  die  geringe  Zahl  von  Zuschauern 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


379 


Nr.  11 


und  der  Umstand,  daß  vor  dem  Betreten  desselben  das 
Anlegen  eines  Schutzmantels  und  eventuell  von  Ueber- 
schuhen  obligatorisch  ist,  viel  bei. 

Auf  die  Verhinderung  der  Verbreitung  (von  Mundkei- 
men  durch  Masken  wurde  schon,  hingewiesen. 

In  gleicher  Weise  kann  auch  eine  allzu  starke  Be¬ 
feuchtung  des  Fußbodens  nicht  im  Interesse  der  Asepsis 
gelegen  sein. 

Das  wesentliche  aus  diesen  letzteren  Untersuchungen 
ist  also,  daß  die  Forderung  nach  strenger  räumlicher  Tren¬ 
nung  der  Operations-  und  Kranken  säle  von  bak¬ 
teriologischen  Gelsichtspunkten  aus,  vollkommen 

berechtigt  ist. 

S  c  h  1  u  ß  er  g  eb  n  i  s  s'e. 

1.  Vollkommene  Asepsis  läßt  sich  bis  jetzt 
nur  an  den  der  direkten  Desinfektion,  bzw.  Ste¬ 
rilisation  z  u  gän  glich  en  Me  di  en  e  r'zi  el  e  n :  Instru¬ 
mente,  Naht-  und  Verbandmaterial. 

2.  Eine  ideale  Asepsis  der  Hand  als  solche 
gibt  es  nicht;  alle  bisher  übliche n  W asch m e t ho¬ 
hen  ergeben  bestenfalls  eine  Kei  m Verminde¬ 
rung,  bzw.  eine  Verminderung  der  Keimabgabe, 
niemals  eine  Keim  frei  heit  der  Hand. 

3.  Der  sterilisierte  Gummihandschuh  allein 
bietet  zu  Beginn  der  0 p  er ati  o  n  einen  aseptischen 
Ueberzug  der  Hand  und  deren  souveränes  Kei m- 
schutz  mittel. 

4.  An  der  geschlossenen  Hautoberfläche,  im 
Gebiete  des  Operationsterrains,  läßt  sich  durch 
Anwendung  einer  Y20/0  Ige  n  Sublimat-Alkohol¬ 
lösung  vorübergehende  absolute  Keimfreiheit 
erzielen.  Jodti  nktur  wi  rkt  nicht  keimtötend  bei 
der  Hautvorbereitung,  sondernd  hautgerbend. 

5.  Ein  schädlicher  Einfluß  der  Luftinfektion 
konnte  im  allgemeinen  nicht  k  o ns  ta t i e rt  Av er d e  11. 
Die  Forderung  einer  Trennung  der  Operations¬ 
räume  nach  bakteriologischen  Gesichtspunkten 
erscheint  berechtigt. 

Literatur. 

R  0  g  d  a  n,  Zentralbl.  f.  Cbir.  1910,  Nr.  3.  —  Brewitt,  Münchn. 
med.  Wochensclir.  1910,  S.  289.  —  D  öder  lein,  Deutsche  med  Wochen¬ 
schrift  1906.  Nr.  15.  —  v.  Eiseisberg,  Wr.  kl  in .  Wochensclir.  1910, 
S.  1038.  F  rank,  Münch,  med.  Wochensclir.  1910,  S.  664.  Franz, 
Veits  Handb.  d.  Gyn.,  Bd.  1,  2.  Aufl.  —  Feder  mann,  Bert  kli'n. 
Wochensclir.  1910,  Nr.  7.  —  Friedrich,  Verb.  d.  deutsch.  Ges.  f. 
Cbir.  1898.  —  Grossich,  Zentralbl.  f  Chir.  1908,  Nr.  31  und  Deutsche 
med.  Wochensclir.  1909,  Nr.  45.  —  Heil  e,  Bruns  Beitr.,  Bd.  32. 
Heim,  Lehrb.  d.  Bakteriol.  —  v.  Her  ff,  Ther.  d.  Gegenw.  1909, 
S.  573.  —  Jungengel,  Münch,  med  Wochensehr.  1910,  S.  625. 
Knoke,  Münch,  med.  Wochensclir.  1910,  S.  965.  —  Kutscher,  Bert 
klin.  Wochenschr.  1910,  S.  390  und  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910, 
Nr.  24.  —  Mikulicz,  Verh.  d.  deutsch.  Ges.  f.  Chir.  1898  und  Zen¬ 
tralbl.  f.  Chir.  1898,  Nr.  26.  —  N  a  s  t-K  o  1  b,  Münch  med.  Wochenschr. 
1910,  S.  292.  —  Schimmelbusch,  Anleit.  z.  asept.  WundbchandL, 
Berlin  1893.  Thaler,  Wr.  klin.  Wochenschr.  1907,  S.  1316. 
linger,  Bert  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  2  — -  Zabludowsky, 

Zentralbl.  f.  Chir.  1910. 


Aus  der  Heilstätte  Hörgas  in  Steiermark. 

Weitere  Untersuchungen  über  die  Einwirkung 
von  Fermenten  auf  Tuberkulin. 

Von  Prof.  Dr.  Th.  Pfeiffer  und  Dr.  H.  Trunk. 

Bereits  in  mehreren  aus  unserer  Heilstätte  hervor¬ 
gegangenen  Arbeiten1)  wurde  der  Einfluß  von  Verdauungs¬ 
fermenten  auf  Tuberkulin  studiert,  teils  um  clen  Wert  in¬ 
terner  Darreichung  dieses  (Mittels  zu  bemessen,  teils  von 
der  Ueberlegung  geleitet,  daß  aus  der  Art  des  wirksamen 
Fermentes  vielleicht  auf  die  Natur  des  Substrates,  des  Tu¬ 
berkulins,  geschlossen  werden  könnte.  Als  Kennzeichen  einer 
fermentativen  Spaltung  konnte  in  unserem  Falle  natürlich 
nicht  das  Auftreten  etwaiger  Abbauprodukte,  sondern  nur 

l)  Zeitschr.  für  Tuberkulose,  Bd.  12,  S.  177  und  Bd.  13,  S.  465: 
Wiener  klin.  Wochenschr.  1909,  Nr.  33. 


eine  Abänderung  der  biologischen  Tuberkulinwirkungen  in 
Betracht  kommen. 

Wir  fanden  unter  Zugrundelegung  der  Fieber-  und 
der  Kutanreaktion,  daß  Tuberkulin  sowohl  peptisch  als 
Iryptisch  verdaut,  dagegen  von  Erepsin  nur  sehr  langsam 
angegriffen  werde,  also  sich  analog  einer  Albumose  ver¬ 
halte.  Seither  hat  Danielopolu2)  auch  den  Einfluß  des 
Pepsins  und  Trypsins  geprüft  und  an  der  Hand  der  Ophthal¬ 
moreaktion  unsere  Befunde  bestätigt  und  Dieter  len3)  bei 
Nachprüfung  der  Resultate  Calmettes  Tuberkulinwirkung 
vom  Darme  aus  nicht  finden  können. 

Einmal  auf  diesen  Gegenstand  aufmerksam  geworden, 
entdeckten  wir  nachträglich,  daß  bereits  früher  (1905)  Fi- 
gari  mit  Repetto  an  einer  schwer  zugänglichen  Stelle4) 
Versuche  veröffentlicht  hat,  welche  auf  ihn  Bezug  haben. 

Ausgehend  von  der  Wirkung  der  Hefe  auf  Eiterer¬ 
reger,  ließ  Figari  den  Einfhißi  von  Bierhefe,  Lab  und  Pep¬ 
sin  ohne  Säurezusatz  („Pepsina  acloridrica“)  auf  Tuber¬ 
kulin  in  ider  Weise  untersuchen,  daß  jene  Fermentmenge 
ermittelt  wurde  welche  Meerschweinchen  gegen  dessen 
kleinste  tödliche  Dosis  schützt.  Das  Ergebnis  war,  daß  der 
Hefe  eine  solche  Wirkung  nicht  zukommt,  wohl  aber  dem 
Labferment  und  Pepsin,  wenn  sie  vor  der  Injektion  dem 
Tuberkulin  zugesetzt  werden,  dem  Lab  auch  dann,  wenn 
es  gleichzeitig  mit  dem  Tuberkulin  an  einer  anderen  Körper¬ 
stelle  eingespritzt  wird. 

Das  für  die  Experimente  verwendete  Tuberkulin  Mar  a- 
glianos  jst  ein  Extrakt  der  Tuberkelbazillen  mit  heißem  Wasser, 
ergänzt  durch  Kulturfiltrate.  Angaben  über  die  Provenienz  des 
Lab-  und  Pepsinpräparates  und  über  die  Dauer  ihrer  Einwirkung 
auf  das  Tuberkelprotein  fehlen. 

Die  Erklärung  ihrer  Befunde  macht  den  Verfassern 
Schwierigkeiten.  Für  das  Labferment,  welches  auch  bei 
Injektion  an  anderer  Körperstelle  schützend  wirkt,  ziehen 
sie  den  .Vergleich  der  Fixierung  des  Tetanustoxins  und 
Strychnins  durch  das  Nervensystem  heran  und  meinen 
also,  daß  Tuberkulin  durch  Lab  fixiert  und  deshalb  vom 
Tierkörper  nicht  rasch  genug  absorbiert  werden  könne.  Für 
das  Pepsin  glauben  sie  die  Vorstellung  festhalten  zu  kön¬ 
nen,  daß  es  die  „Proteine  tübercolari“  in  weniger  giftige 
oder  weniger  lösliche  Substanzen  umwandle. 

Diese  Angaben  Fi  gar  is  sind  trotz  ihrer  Auffälligkeit 
bisher  anscheinend  nicht  beachtet  worden,  uns  aber  schien 
es  um  so  wichtiger,  nachzuprüfeu,  ob  sich  die  behauptete 
Abschwächung  der  Tuberkulinwirkung  durch  Lab  und  durch 
neutrales  Pepsin  auch  mit  anderen  Methoden  dartun  lasse, 
da  die  Anwesenheit  freier  H-Ionen  als  unerläßliche  Bedin¬ 
gung  der  Pepsinverdauung  gilt  und  die  Proteolyse  durch 
Lab  eben  in  Erörterung  steht. 

Als  Reaktion  auf  die  Wirksamkeit,  des  vorbehandelten 
Tuberkulins  (Tuberkulin  Koch  der  Hoechster  Farbwerke) 
verwendeten  wir  wieder  die  damit  angestellte  Kutanprobe, 
verglichen  mit  dem  Ausfälle  einer  nebengesetzten  gleichen 
Probe  mit  lOriginaltuberkulin  gleicher  Konzentration. 

Zur  Prüfung  der  Labwirkung  wurde  Labessenz-Merck, 
welche  Milch  im  Verhältnis  1:50  in  wenigen  Sekunden 
dicklegt,  in  gleichen  Teilen  mit  Tuberkulin  gemischt.  Bei 
der  ersten  Versuchsgruppe  erfolgte  die  Mischung  von 
Lab  und  Tuberkulin  unmittelbar  vor  der  Applikation  auf 
die  Haut,  bei  der  zweiten  blieb  das  Gemenge  vor  der  Ver¬ 
wendung  14  Stunden,  hei  der  dritten  48  Stunden  im  Brut¬ 
schränke  stehen ;  bei  dieser  letzteren  wurde  ferner  zur 
Verdünnung  der  Konirollprobe  nicht  NaCl-Lösung,  sondern 
inaktivierte  Labessenz  verwendet.  Die  Hautreaktionen  fielen 
in  allen  drei  Reihen  'gleich  oder  fast  gleich  aus ;  am  ehesten 
hätte  es  noch  scheinen  können,  als  sei  in  dem  frisch  be¬ 
reiteten.  Gemisch  eine  Abschwächung  erfolgt,  doch  waren 
die  Unterschiede  so  gering,  daß  sie  wohl  innerhalb  der 
Fehlerbreite  der  Methode  liegen.  Als  wir  jedoch  Tuber- 

2)  Danielopolu,  Soc.  de  biologie  1910,  Bd.  68,  S.  185  u.  896 

8)  Dieterlen,  Tuberkulosearbeiten  aus  dem  königl.  Gesundbeits¬ 
amte,  H.  10,  Berlin  1910. 

4)  F  i  g  a  r  i  -  R  e  p  e  1 1  0,  Annali  delT  istituto  Maragliano,  Bd.  1 
Nr.  5,  August  1905. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  11 


980 


kulin  mit  Lab  durch  16  Tage  digerierten,  erwies  es  sich, 
an  der  Kutanprobe  gemessen,  als  nahezu  unwirksam.  Durch 
K.  Petry0)  wissen  wir  nun,  daß  Lab  Kasein  abbaut;  seit¬ 
her  ist  festgestellt  worden,  daß  es  nicht  spezifisch  auf 
Kasein  eingestellt  ist,  sondern  allgemein  auf  Eiweißkörper 
spaltend  wirkt.6)  In  diesem  Sinne  beansprucht  also  der 
erhobene  Befund  als  weiterer  Beweis  für  die  proteolytische 
Wirkung  der  Labessenz  allgemeineres  Interesse,  wobei  aller¬ 
dings  die  Möglichkeit  nicht  übersehen  werden  darf,  daß 
Spuren  von  dem  Labpräparate  beigemengten  peptischen 
Fermente  bei  der  langen  Versuchsdauer  einen  merkbaren 
Effekt  haben  könnten. 

Tabelle  I.*) 

Lab -  Tuberkulin  ää,  14  St  u  n  d  en  Brutschrank;  Kontrollen 
50°/0  Tuberkulin  und  50°/0  Labessenz. 


Versuchs¬ 

nummer 

1 

I  ^ 

cc 

_  1 

(M 

5 

6 

;  7 

8  ;  9 

1 

Lab- 

i  Tuberkulin 

++ 

+  !  ?  +  -F 

-+ 

I 

! 

;  4-4- 

4- -Fi  ?■ 

|  Tuberkulin 
50" 

4-4- 

4-  -F  j  4-4- 

_F 

4- 

!++ 

+4-  ? 

Labessenz 

50% 

'  |  ' 

*)  +-f — F  sehr 

stark;  — | — |-  stark 

posilh 

r :  + 

positiv : 

-t-  schvvac 

positiv ;  fraglich;  —  negativ. 


Tabelle  II. 

I.  a  b  -  T  u  b  e  r  k  u  1  i  n  ää,  48  S  t  u  n  d  o  n  Brutschrank;  Kontrolle 


Tabelle  IV. 


Lab -Tuber  kulin  aa,  16  Tage  Brutschrank;  Kontrolle 
Tuberkulin  —  inaktiv.  Lab.  ää. 


Versuch  s- 
nuramer 

27 

28 

29 

30 

31 

32 

33 

34 

aktiv.  Lab- 
Tuberkulin 

4- 

± 

— - 

— 

y 

-  i 

inakt.  Lab- 
Tuberkulin 

+4- 

4- 

4-4- 

■  4-4- 

+ 

4- 

+4- 

+ 

Für  die  Pepsinversuche  verwendeten  wir  zunächst 
das  Pepsinum  concentr.  Lange bek  (Jensen  und  Lau- 
gebek-Petersen,  Kopenhagen).  4°/oige  Lösungen  desselben  : 
in  0-8°/oiger  CINa-Lösung  wurden  zu  gleichen  Teilen  mit  ' 
Tuberkulin  gemischt,  48  Stunden  im  Brutschrank  belassen. 
Diese  lange  Versuchszeit  wählten  wir,  um  auch  geringfügige 
Wirkungen  des  (Fermentes  zu  deutlichem  Ausschlage  zu  , 
bringen.  Mit  dem  so  gewonnenen  Präparate,  welches  also  ; 
50%  Tuberkulin  enthielt,  wurden  Kutanproben  angesetzt 
und  daneben  Kontrollen  mit  halb  verdünntem  Tuberkulin 
aus  demselben  Originalfläschchen  angeordnet. 

Wir  waren  nicht  wenig  überrascht,  aus  dem  Aus-  j 
falle  der  Proben  (Tabelle  V)  eine  beträchtliche  Abschwä¬ 
chung  des  Tuberkulins  durch  nicht  angesäuertes  Pepsin 
ablesen  zu  müssen,  die  uns  aus  fermentchemischen  Ucber- 
legungen  unwahrscheinlich  gewesen  war.  Analoge  Versuche 
mit  Pepsinum  germanic.  bei  wechselnder  Digerierungs- 
dauer  (Tab.  VI  und  IX)  zeigten  geringere  Ab  Schwächung,7) 
während  solche  mit  Merck  schein  Pepsin  (Pepsin,  pur. 
pulv.  Ph.  Austr.  Ed.  VII)  bei  nur  22-stündigem  Aufenthalte 
im  Brutschränke,  abgesehen  von  Differenzen,  die  annähernd 
ebenso  oft  nach  der  einen  wie  nach  der  anderen  Seite  aus¬ 
schlugen,  keinen  Unterschied  gegenüber  der  Vergleichs-  j 
probe  wahrnehmen  ließen.  (Tabelle  VI). 


Tabelle  V. 

T  u  b  e  r  k  u  1  i  n  -)-  4"/„  Pepsin  Langebck  ää;  Kontrolle:  Tube  r- 
kulin  50'’/.,  (48  Stunden  Brutschrank). 


Vers  uch  s- 
nu  miner 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

Pepsin 
Langebek  + 
Tuberkulin 

4- 

4- 

4- 

4-4- 

4- 

—  ■  - 

Tuberkulin 

50% 

+ 

4-4- 

-F 

4- 

+4- 

+ 

-H- 

H- 

Tabelle  VII. 

a  >  Tuberkulin  |  8%  Pepsin,  germanic.  (1  :  3);  Konti- olle:  Tuberkulin  25  %  in  Kochsalz-,  bezw.  inaktiv.  Pepsin- 

1  ö  sung  (30  Stunden  Brutschr ank);  h )  dasselbe,  frisch  gemischt. 


Versu  cb  sn  um  mer 

19 

20 

21  22 

23 

2i 

25 

26 

27 

28 

29 

30 

31 

32  !  33 

i 

34 

35 

36 

37 

38 

Pepsin  germanic. 

-}-  Tuberkulin 

4-4- 

+  4- 

+ 

+ 

■ 

+ 

— 

4- 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

+? 

4- 

4- 

+ 

+4- 

Tuberkulin  25% 

4-4- 

4-4- 

-H-f-|+4~h 

+  + 

++ 

+-F+ 

4- 

++ 

4- 

4-4- 

++ 

++ 

++ 

+ 

+  + 

+  4-  + 

++  + 

H — F 

+4- 

Pepsin  inaktiv.  -)- 
Tuberkulin  25”/., 

+4- 

+ 

++ 

+ 

++4- 

+  4- 

+-F 

++ 

Pepsin  -F  Tuberkulin 
irisch  gemischt 

-I-+ 

+ 

4- 

4- 

-F4- 

5)  P  e  t  r  y,  Hofmeisters  Beiträge  1906,  Bd.  8,  S.  339. 

8)  M.  van  Her  wer  den,  Zeitschr.  für  phvsiolog.  Chemie  1907 
ild.  52, 'S.  184. 


7)  Pepsin,  german,  wurde  doppelt  konzentrierter  als  das  dänische 
verwendet  und  in  doppelter  Menge  dem  Tuberkulin  zu  gesetzt. 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


381 


Tabelle  VIII 


40  Vl b  6  \k  U  1  ‘  \  +  f8°/o ,  ,l>  °  P  s  I11'  ,  8  e  r  m  il  n  i  c.  '  (1  :  3)  bei  Z  i  m  m  erteraperatu  , 

30  Stunden;  Kontrollen:  luberkulin  25  u/0  in  Kochsalz-,  b  z  w.  inaktiv. 


Versuchs¬ 

nummer 

39 

40 

41 

42 

43 

44 

45 

46 

47 

48 

49 

Pepsin  german, 
aktiv.  -F  Tuberk. 

± 

4* 

+  + 

4+ 

-f-f 

4 

4-4 

4 

-1- 

-f 

•i- 

Pepsin  german, 
inaktiv. -(-Tuberk. 

+ 

++ 

++ 

-f-f 

+4 

4 

4+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

Tuberkulin 

25% 

+ 

+ 

-ff 

44- 

-f 

44 

+4- 

+ 

4 

H- 

4 

Tabelle  IX. 

Tuberkulin  -f  8%  Pepsin,  german,  neutralis.  4L  Kontrollen  Tuberkulin  4-  Pepsin,  german 

n  n  < -1  /  T  .1  1.  ^  ™  I.  ..  1  ..  f  ff \  ("I  1  1  •  t  i  ,  .  1 


Versuchsnummer 

50 

T 

51 

52 

53 

54 

55 

56 

57 

58 

59 

60 

Pepsin,  german,  -f 
Tuberkulin  ää 

+ 

0 

+ 

'  _L 

— 

± 

+ 

_J_ 

1 

+ 

+ 

:  Pepsin,  german,  neutralis. 
-f  Tuberkulin  äa 

44- 

— 

-I- 

4 

— 

-4 

+  + 

4 

++ 

Tuberkulin  50°/o 

H— f-f 

44 

-f-f 

4+ 

+ 

+4- 

+ 

+++ 

+4 

+ 

+4 

Tabelle  X. 


Vergleich  von  Pepsin,  german,  neutralis.  und  Pepsin  Merck  neutralis.  8%  -f- 
Tuberkulin  aa;  Kontrolle  ÖO11^  Tuberkulin  (48  Stunden). 


Versuchsnummer 

61 

62 

63 

_ !_ 

64 

65 

i 

o 

Ci 

67 

68 

69 

Pepsin,  german,  neutralis. 
-f-  Tuberkulin 

4 

-f 

++ 

-f 

+ 

4 

4- 

Pepsin.  Merck  neutralis. 
4-  Tuberkulin 

+  • 

44 

4-f 

+ 

1 

_r 

-P+ 

+ 

+ 

+ 

Tuberkulin  50"/o 

+ 

-1-4- 

+ 

4- 

± 

4- 

-1-  4 

++ 

++ 

Um  unter  möglichst  streng  vergleichbaren  Bedingungen  zu 
irbeiten,  wurden  die  für  die  Kontrollen  dienenden  Tuberkulinver- 
lünnungen  immer  ebenso  lange  im  Blutschranke  gehalten,  wie 
lie  Fermentproben  und  zum  Teil  mit  inaktivierter  Fermentlösung 
statt  mit  Kochsalzlösung  hergestellt. 

Die  Unterschiede  in  der  Wirksamkeit  der  drei  Pepsin- 
»räparate  schienen  zunächst  aufgeklärt,  als  wir  fanden, 
laß  das  Merck  sehe  fast  neutral  ist  und  keine  Chlorreaktion 
;ibt,  Pepsinum  germanicum  aber  deutlich,  Pepsinum  Lan- 
;ebek  stark  salzsauer  ist. 

8°/oige  Lösung  von  Pepsin,  german,  entspricht  einer  Salz- 
äurelösung  von  0-22 %0,  eine  4°/oige  Lösung  von  Pepsin.  Langebek 
iner  solchen  von  2-75%o. 

Wir  glaubten  uns  nun  zu  dem  Schlüsse  berechtigt,  daß 
lie  beobachtete  Abschwächung  des  Tuberkulins  durch  nicht 
mgesäuertes  Pepsin  auf  dem  HCl-Gehalt  der  käuflichen 
^psine  beruhe,  also  prinzipiell  unseren  früheren  Beobach- 
ungen  mit  Pepsin  in  salzsaurer  Lösung  gleiche  und  des¬ 
halb  gleichsinnig  als  Proteolyse  zu  deuten  sei. 

Die  daraus  abgeleitete  Erwartung,  daß  neutral  i- 
lertes  Pepsin  die  Tuberkulinwirkung  nicht  beeinflussen 
verde,  bestätigte  sich  jedoch  nicht.  Vielmehr  schwächten 
uch  solche,  durch  Zusatz  entsprechender  Mengen  von 
>°/oiger  Sodalösung  neutral  gemachte  Pepsinlösungen  in 
enauen  Vergleichsversuchen  Tuberkulin  gleichfalls,  wenn 
uch  weniger  ab,  als  die  des  nativen  Pepsin,  germanic. 
Tabelle  IX).  Pepsin  Merck  erwies  sich,  entsprechend 
einer  überhaupt  geringeren  Verdauungskraft  auch  hier  min¬ 
er  wirksam. 

Verwendung  eben  hergestellter  Mischungen  (Tabelle 
Hb)  oder  Aufbewahrung  dieser  bei  Zimmertemperatur 
30  Stunden,  Tabelle  VIII),  ferner  die  Unwirksamkeit  in- 
ktivierten  Pepsins;  (Tabelle  VI  und  VII),  Bedingungen  also, 
■'eiche  zwar  Adsorption  im  Sinne  Figaris  gestatten,  pep- 
sche  Spaltung  aber  ausschließen,  lassen  dagegen  jegliche 
eränderung  der  Tuberkulinreaklion  vermissen.  Jedenfalls 


ist  also  ihre  Abschwächung  durch  neutralisiertes  Pepsin 
doch  eine  katalytische. 

Wir  neigen  der  Ansicht  zu,  daß  die  Handelspepsine 
eine  auch  bei  neutraler  Reaktion  wirkende  Protease  ent¬ 
halten  („Pseudopepsin“  G  laessner),  wenn  nicht  überhaupt 
der  Lehrsatz  von  der  Notwendigkeit  saurer  Reaktion  für  die 
Pepsinverdauung  einer  Revision  bedarf.  Hier,  wie  im  Falle 
des  Labfermentes  «wird  die  Wirkung  wohl  deshalb  gerade 
am  Tuberkulin  deutlich,  weil  es  sich  um  äußerst  geringe 
Mengen  eines  Substrates  handelt,  dessen  Abbau  durch  eine 
sehr  scharfe  Meßmethode  verfolgt  werden  kann. 


Aus  der  k.  k.  Universitätsklinik  für  Ohren-,  Nasen-  und 
Halskrankheiten  in  Graz. 

(Vorstand:  Prof.  Dr.  J.  Habermann.) 

Lieber  Erkrankungen  des  Akustikus  bei  er¬ 
worbener  Lues. 

Von  Dr.  Otto  Mayer,  gewesener  Assistent  der  Klinik,  Privatdozent  an 

der  Universität  in  Graz. 

Wie  bekannt,  teilte  Herr  Professor  Finger1)  in  der 
Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien  mit,  daß  an  seiner  Klinik 
bei  Fällen  von  Lues,  die  mit  Arsenohenzol  („Ehrlich  G06“) 
behandelt  worden  waren,  eigentümliche,  zum  Teil  beängsti¬ 
gende  Erscheinungen  beobachtet  wurden,  welche  nach  ein¬ 
gehender  Untersuchung  an  der  Klinik  des  Herrn  Professor 
Urhantschitsch  auf  Erkrankungen  des  Akustikus  zurück¬ 
geführt  werden  mußten.  Es  ist  nun  natürlicherweise  die 
Frage  aufgeworfen  worden,  oh  «diese  Affektion  durch  das 
Ehrlichsche  Präpärat  oder  oh  sie  durch  die  Lues  allein 
hervorgerufen  wurde.  Herr  Professor  Urbantschitsch2) 
hat  bereits  in  der  Diskussion  zum  Vortrage  des 

U  Prof.  Finger,  Die  Behandlung  der  Syphilis  mit  Ehrlichs 
Arsenohenzol.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  47,  S.  1667. 

2)  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  S.  1733. 


882 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


Herrn  Professor  Finger  darauf  hingewiesen,  daß  nach 
seinen  Erfahrungen  der  luetische  Prozeß  als  solcher  nicht 
selten  vestibuläre  und  kochleare  Störungen  hervorzurufen 
imstande  ist.  Auch  Herr  Professor  Alexander’)  berich¬ 
tete  an  derselben  Stelle  über  seine  diesbezüglichen  Erfah¬ 
rungen.  Leider  ist  das  von  Herrn  Professor  Alexander 
beobachtete  Material  viel  zu  klein,  um  ein  Urteil  über  die 
Erkrankungen  des  Akustikus  bei  Lues  zu  gestatten. 

Ich  möchte  mir  nun  erlauben,  erstens  auf  eine  Arbeit 
hinzuweisen,  welche  an  der  Hand  eines  ungleich  größeren 
Materiales  die  Pathologie  dieser  Affektion  behandelt,  zwei¬ 
tens  aber  möchte  ich  durch  Mitteilung  eines  ebenfalls  be¬ 
deutenden  Beobachtungsmateriales  weitere  Beitrage  zur 
Lösung  der  obgenannten  schwebenden  krage  liefern. 

Hie  Arbeit,  auf  welche  ich  mich  zunächst  beziehen 
möchte,  ist  betitelt:  „Die  luetischen  Erkrankungen 
des  Gehör  orgaln.es“  und  stammt  von  Herrn  Prof.  Hab  er¬ 
mann.  Sie  wurde  im  Jahre  1890  in  der  „Sammlung  kli¬ 
nischer  Vorträge  aus  dem  Gebiete  der  Otologie 
u n d  Pharyngo-Rhinologi e“,  herausgegeben  von  H a u ig, 
veröffentlicht  und  wurde  in  derselben  über  ein  außer¬ 
ordentlich  reiches  Material  berichtet,  welches  zum  größten 
Teil  aus  der  Klinik  des  Herrn  Professor  J arisch  stammte 
und  auf  der  Grazer  Ohrenklinik  otologisch  untersucht  wor¬ 
den  war.  In  dieser  Arbeit  nun  werden  sämtliche  bei  Lues 
auftretenden  Erkrankungen  des  Gehörorganes  besprochen, 
insbesondere  auch  ist  ein  Kapitel  den  „Erkrankungen 
des  Labyrinthes  und  des  Hörnerven“  gewidmet.  Da 
uns  speziell  diese  Affektion  interessiert,  möchte  ich  auf 
die  diesbezüglichen  Mitteilungen  näher  eingehen. 

U  e  b  e  r  die  Zeit  des  Auftretens  dieser  Erkran¬ 
kung  sagt  Habermann,  daß  sie  zweimal  drei  Wochen 
nach  dem  Primäraffekt,  zweimal  vier  Wochen,  zweimal 
fünf,  dreimal  sechs,  einmal  sieben,  zweimal  acht,  viermal 
neun,  in  14  Fällen  bis  zu  16  Wochen,  dreimal  erst  fünf 
bis  sechs  Monate  und  in  den  übrigen  erst  später  bis  zu 
30  Jahren  auftrat. 

Im  ganzen  wurden  66  f  älle  von  Erkrankungen  des 
Akustikus  beobachtet.  Von  diesen  war  die  Ohraffektion 
in  34  fällen  schon  im  sekundären  Stadium  der  Lues 
beobachtet  worden.  Und  zwar  wurden  die  Erscheinungen 
bei  15  Fällen  gleichzeitig  mit  Beginn  der  A 1 1  ge¬ 
rne  insy  mp  to  me  konstatiert,  ja  bei  drei  Fällen  soll 
sogar  die  Erkrankung  der  Haut  erst  einige  Tage 
später  erfolgt  sein,  ln  anderen  zehn  fällen  war  eine  be¬ 
stimmte  Angabe  darüber  nicht  vorhanden  und  nur  in  sechs 
Fällen  wurde  die  Erkrankung  des  Ohres  erst  bis  zehn  Wo¬ 
chen  nach  dem  Exanthem  auf  der  Haut  beobachtet. 

Aus  diesen  Mitteilungen  geht  also  hervor,  daß  die 
Akustikuserkrankung  bereits  in  einem  sehr  frühen  Stadium 
der  sekundären  Lues,  ja  sogar  am  Ende  des  Primärstadiums 
auf  treten  kann.  W  enn  demnach  Herr  Professor  Alexander 
unter  seinen  neun  f  ällen  nur  einen  einzigen  fand,  bei  dem 
die  Hörstörung  schon  nach  13  Wochen  zur  Entwicklung 
kam,  während  in  den  übrigen  Fällen  dieselben  nicht  früher 
als  im  vierten,  fünften  und  sechsten  Monate  auftrat,  so 
ist  dies  eben  darauf  zurückzuführen,  daß  Herr  Pro¬ 
fessor  Alexander  nur  ein  Material  von  neun  Fällen,  Herr 
Professor  Habermann  aber  ein  solches  von  66  Fällen 
überblickte. 

Ueber  die  Symptome,  unter  welchen  die  Labyrinth¬ 
erkrankung  erschien,  sagt  Hab  ermann,  daß  in  der  Mehr¬ 
zahl  der  Fälle  Ohrensausen  oder  -klingen  bestand,  gleich¬ 
zeitig  auch  starke  Kopfschmerzen.  In  sechs  Fällen  fand 
sich  ein  meist  nicht  hochgradiger  Schwindel;  einzelne 
Kranke  waren  beim  Gehen  wie  trunken  und  bei  zweien 
gesellte  sich  hiezu  auch  wiederholtes  Erbrechen.  Die  Be¬ 
funde  am  Trommelfell  hatten  in  keinem  Falle  etwas  cha¬ 
rakteristisches  ergeben.  Die  Hauptstütze  für  die  Diagnose 
bildete  außer  den  subjektiven  Symptomen  das  Ergebnis  der 
Gehörprüfung. 

3)  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  S.  1815. 


Durch  diese  konnte  festgestellt  werden,  daß  die  Kno¬ 
chenleitung  für  die  kleine  Lucaesche  c-Gabel  nur  im  Be¬ 
ginne  normal  war,  bald  sich  aber  vermindert  zeigte  und 
bei  mehrwöchiger  Dauer  der  Ohrenkrankheit  schon 
hochgradig  herabgesetzt  war.  Der  Rinnesche  Versuch  fiel 
entsprechend  dem  f  ehlen  einer  Mittelohraffektion  stets  sehr 
stark  positiv  aus.  Die  tlörschärfe  für  die  Taschenuhr  war 
meist  hochgradig  herabgesetzt,  insbesondere  wurde  sie  in 
Knochenleitung  oft  nicht  mehr  gehört  und  dementspre-  I 
chend  wurden  auch  die  hohen  Töne  (c4)  meist  verhältnis¬ 
mäßig  schlechter  gehört. 

Die  Prognose  dieser  Erkrankung  ist  nach  Haber¬ 
mann  nicht  ungünstig.  In  mehreren  seiner  Fälle,  die  län¬ 
gere  Zeit  während  der  Durchführung  der  anliluetischen  Kur 
genau  kontrolliert  wurden,  wurde  eine  wesentliche  Besse-  j 
rung  des  Gehörs  erzielt  und  hörte  auch  das  Sausen  auf, 
ebenso  der  Schwindel.  Bei  einigen  Fällen  jedoch  blieb  trotz 
Durchführung  der  antiluelischen  Kur  das  Gehör  gleich  oder  ' 
wurde  sogar  schlechter.  Auch  Besserung  des  einen  Ohres  i 
bei  Verschlimmerung  des  anderen  während  der  Kur  wurde  ■ 
beobachtet. 

Weiters  berichtet  Habermann  über  32  Fälle,  bei 
welchen  die  Erkrankung  des  Labyrinthes  oder  des  Hörnerven  ; 
ein  bis  30  Jahre  nach  der  Infektion  aufgetreten  war.  Die 
Symptome,  unter  welchen  die  Erkrankung  des  Ohres  in 
diesen  Fällen  auftrat,  war  nicht  wesentlich  verschieden 
von  denjenigen,  bei  welchen  sie  schon  im  sekundären  Sla 
dium  beobachtet  wurde,  weshalb  ich  hier  auf  diese  nicht 
mehr  näher  .einzugehen  brauche. 

Da  ich  nun  selbst  an  der  Grazer  Ohrenklinik 
eine  ganze  Reihe  solcher  Fälle  von  Ohrerkrankun¬ 
gen  bei  Lues  beobachtet  hatte,  wandte  ich  mich, 
angeregt  durch  Mitteilungen  über  die  Labyrintherkran- 
k u ngen  infolge  „Ehrlich  606“  an  Herrn  Professor  Ha¬ 
li  ermann  mit  der  Bitte,  mir  das  während  meiner  Assi¬ 
stentenzeit  an  der  Klinik  beobachtete  Material  zur  Bear¬ 
beitung  zu  überlassen,  worauf  mir  Herr  Professor  Haber¬ 
mann  in  dankenswerter  Weise  sein  gesamtes,  seit  dem 
Erscheinen  seiner  Arbeit  (1896)  an  der  Klinik  beobachtetes 
Material  zur  Verfügung  stellte,  welches  im  ganzen  86  Fälle 
umfaßt,  ln  diese  sind  aber  nicht  einbezogen  diejenigen 
Fälle,  bei  welchen  sich  eine  Erkrankung  des  Labyrinthes i 
und  des  Hörnerven  im  Verlaufe  einer  Tabes  oder  Paralyse 
einstellte  und  ebenso  nicht  die  Fälle  von  luetischer  Sklerose;- 
des  Gehörorganes. 

Von  diesen  86  mir  übergebenen  Krankengeschichten 
schied  ich  sofort  elf  aus,  weil  es  sich  in  den  betreffenden 
Fällen  um  hereditäre  Lues  gehandelt,  hatte.  Weitere  zehn 
Fälle  schied  ich  ebenfalls  aus,  weil  in  diesen  der  Zusammen¬ 
hang  zwischen  Ohrerkrankung  und  Lues  nicht  außer  Zwei¬ 
fel  stand,  indem  die  betreffenden  Patienten  entweder  schon 
lange  vorher  schwerhörig  waren,  oder  die  Schwerhörigkeit 
auch  auf  andere  Ursachen  hätte  zurückgeführt  werden 
können.  Es  blieben  daher  noch  65  Fälle  übrig,  über  welche 
ich  nun  Berichten  will. 

Unter  diesen  65  Fällen  waren  nun  sechs, -bei  welchen 
die  Ohrerkrankung  zirka  drei  bis  sechs  Wochen  nach  dem. 
Primäraffekte  aufgetreten  ist,  in  weiteren  sieben  Fällen  nach) 
sechs  bis  zehn  Wochen,  in  acht  Fällen  nach  zehn  bis  16 
Wochen,  in  fünf  Fällen  nach  vier  bis  neun  Monaten,  in 
drei  Fällen  nach  neun  bis  zwölf  Monaten.  In  35  Fällen 
lag  der  Primäraffekt  Jahre  zurück  und  es  war  in  einigen 
derselben  eine  Zeit  von  mehr  als  20  Jahren  zwischen  dem 
Auftreten  des  Primäraffektes  und  dem  Beginne  der  Ohr 
erkrankung  vergangen. 

Am  meisten  interessieren  uns  gegenwärtig  wohl  die¬ 
jenigen  Falle,  bei  welchen  der  Akustikus  bereits  im  rezenten 
Stadium  der  Lues  erkrankte.  Die  Zahl  dieser  Fälle  ist,  wie 
man  sieht,  eine  ganz  bedeutende,  denn  es  sind  13  Fälle, 
also  20%  aller  beobachteten,  bei  welchen  die  Ohraffektion 
zwischen  der  dritten  und  der  zehnten  Woche  nach  dem 
Primäraffekt  auftrat. 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1011. 


383 


Daß  die  Ohrsymptome  bereits  vor  dem  Auftreten  des 
Hautexanthems  bemerkt  worden  wären,  ist  aus  den  Ana¬ 
mnesen  nicht  mit  Sicherheit  zu  entnehmen,  doch  habe  icb 
meistens  die  Angabe  gefunden,  daß  die  subjektiven  Ge¬ 
räusche,  die  Schwerhörigkeit  und  der  Schwindel  gleich¬ 
zeitig  mit  Kopfschmerzen  und  Mattigkeit  einhergingen,  so 
daß  es  wahrscheinlich  ist,  daß  der  Akustikus  schon  im 
prodromalen  Stadium  erkrankt  war. 

Sehr  häufig  fand  ich  bei  sekundärer  Lues  die  Angabe, 
daß  die  Hörstörung  gleichzeitig  mit  einem  Haut-  oder 
Schleimhautrezidiv  sich  .einstellte. 

Die  Symptome,  unter  welchen  die  Ohrerkrankung 
auftrat,  waren  bei  rezenter  und  alter  Taies  so  ziemlich  die 
gleichen.  In  den  meisten  Fällen  begann  die  Gehör¬ 
abnahme  allmählich  und  es  sind  unter  den  65  Fällen 
nur  zwei,  wo  in  der  Anamnese  angegeben  wird,  daß  plötz¬ 
lich  eine  bedeutende  Verschlimmerung  des  Gehörs  einge¬ 
treten  ist.  In  dem  einen  dieser  Fälle  handelte  es  sich  um 
einen  44-jälirigen  Mann  (Protokoll  Nr.  391,  .1.),  der 
ein  Jahr  nach  dem  Primäraffekt  plötzlich  eine  „unter 
starkem  Klingen  und  Zischen  auftretende  Schwerhörigkeit 
bemerkte,  die  sich  schnell  verschlimmerte  und  samt  dem 
konstanten  Zischen  und  Heuschreckenzirpen  fortdauerte“. 
Bei  der  vier  Jahre  später  auf  der  Klinik  vorgenommenen 
Untersuchung  wurde  Flüsterstimimie  auf  1-20  m,  laute  Stimme 
auf  12  m  gehört  und  die  übrige  Gehörprüfung  ergab  die 
charakteristischen  Kennzeichen  einer  nervösen  Schwerhörig¬ 
keit.  In  dem  zweiten  Fälle  handelte  es  sich  um  eine  47  -  jäh¬ 
rige  Frau  (Protokoll  Nr.  1508,  R.),  welche  ungefähr 
zweieinhalb  Jahre  nach  dem  Primäraffekt  „plötzlich  ein¬ 
mal  bemerkt  hatte,  daß  sie  links  taub  sei  und  daß  sich 
Sausen  im  linken  Ohre  einstellte“.  Die  Gehörprüfung  ergab 
tatsächlich  auf  dem  linken  Ohre  eine  fast  vollständige 
Taubheit. 

Falls  es  sich  in  diesen  beiden  Fällen  wirklich  um  ein 
plötzliches  Auftreten  der  Hörstörung 'gehandelt  haben  sollte, 
was  nicht  ganz  feststeht,  weil  es  nicht  sicher  ist,  ob  die 
beiden  Patienten  vorher  tatsächlich  gut  gehört  hatten  und 
es  nicht  ausgeschlossen  werden  kann,  daß  sich  schon  vorher 
eine  geringe  Schwerhörigkeit  unbemerkt  entwickelt  hatte, 
dann  bildet  dieses  Verhalten  eine  seltene  Ausnahme,  denn 
es  ist  jedenfalls  die  Regel,  daß  sich  die  Schwerhörigkeit 
allmählich  entwickelt. 

Dadurch  unterscheidet  sich  also  die  Ohrerkrankung 
bei  der  erworbenjen  Lues  vom  der  bei  hereditärer  Lues, 
denn  hier  tritt  die  Ertaubung,  oder  wenigstens  eine  be¬ 
deutende  Abnahme  der  Hörschärfe  fast  stets  innerhalb 
weniger  Stunden,  oft  über  Nacht,  ein. 

Die  Schwerhörigkeit  war  in  vielen  Fällen  eine  sehr 
hochgradige.  Besonders  auffallend  war  stets  das  schlechte 
Gehör  für  die  Taschenuhr,  welche  häufig  weder  in  Luft¬ 
leitung,  noch  in  Knochenleitung  gehört  wurde.  Die  Herab¬ 
setzung  des  Gehörs  für  Flüstersprache  war  ebenfalls  stets 
sehr  hochgradig,  meist  war  die  Hörweite  für  dieselbe  nicht 
größer  als  ein  Meter.  Die  Gehörprüfung  mit  Stimmgabeln, 
die  in  allen  Fällen  präzise  durchgeführt  wurde,  ergab  über¬ 
einstimmend  in  allen  Fällen  eine  sehr  starke  Verkürzung 
der  Kopfknochenleitung  bei  stark  positivem  Rinne,  ferner 
eine  meist  ganz  auffallende  Verkürzung  der  Hördauer  für 
hohe  Töne,  von  welchen  stets  das  C  der  4.  Oktave  zur 
Prüfung  verwendet  wurde.  Tiefe  Töne  wurden  hingegen 
meist  auffallend  gut  gehört  und  Avar  die  untere  Tongrenze 
auch  in  Fällen  hochgradiger  Schwerhörigkeit  normal.  Nach 
diesen  Ergebnissen  war  es  n i c b t  z w e i f e  1  h  af  t,  daß 
die  Ursache  der  Schwerhörigkeit  im  perzi  pieren¬ 
den  Apparate  gelegen  sein  mußte  und  daß  der  Schall- 
leitungsapparat  normal  Avar. 

Eine  doppelseitige  komplette  Taubheit  Avar 
nur  in  einem  Fälle  vorhanden  und  zAvar  bei  einer  Lues 
gummosa.  Hingegen  kann  ich  über  zwei  Fälle  berichten, 
hei  welchen  .auf  einem  Ohre  eine  totale  Taubheit, 
nu f  dem  anderen  eine  hochgradige  Schwerhörig¬ 
keit  bestand.  In  einem  dieser  Fälle  (Protokoll  Nr.  3200, 


O.)  handelte  es  sich  um  eine  ungefähr  ein  Jahr  alte  Lues 
und  die  Ohrerkrankung  hatte  hier  ungefähr  im 
sechsten  Monate  mit  fortwährendem  Sausen  in  den 
Obren,  mäßiger  Abnahme  des  Gehörs  und  zeitweisem 
Schwindel  begonnen.  Nach  einem  Monat  war  der  Patient 
auf  dem  rechten  Ohre  total  taub,  auf  dem  anderen  Ohre 
hörte  er  die  Uhr  noch  auf  3  cm  Entfernung  in  Luftleitung, 
jedoch  nicht  in  Knochenleitung,  Konversationssprache  auf 
12  m,  Flüstersprache  auf  einen  Meter.  Die  Hördauer  der 
auf  dem  Warzenfortsatz  aufgesetzten  Stimmgabel  kleine 
Avar  bedeutend  verkürzt,  Rinne  war  dabei  sehr  stark  posi¬ 
tiv,  C  der  4.  Oktave  wurde  in  Luftleitung  bedeutend  kürzere 
Zeit  gehört,  wie  normal. 

W*) 

R  =  L 

U  0’03  m 
Uw  0 
(?)  0-03  St  12-0 
0  Fl  U0 
5"  cw  12" 

—  R  -j-  24” 

0  c 

-  23"  c4  —  10" 
c1  —  c7  H  C.2  —  c8 

In  diesem  zweiten  Falle  handelte  es  sich  um  eine 
sechs  Jahre  alte  Lues  gummosa  (Protokoll  Nr.  565,  O.). 
Der  Patient  gab  an,  daß  er  seit  drei  Jahren  Schwerhörigkeit 
und  Ohrensausen  bemerke,  Avelch  erstere  allmählich  zu¬ 
nehme. 


Er  war  links  vollkommen 
taub,  rechts  hingegen  hörte  er 
Flüsterstimme  auf  1  Meter. 
Die  Gehörpriifung  mit  Stimmgabeln 
ergab,  daß  auf  dieser  Seite  eine  typi¬ 
sche  nervöse  Schwerhörigkeit  bei  voll¬ 
kommen  intaktem  Schalleitungsapparat 
bestand. 


In  länderen  Fällen  war  die  Schwerhörigkeit  beiderseits 
sehr  hochgradig,  so  wurde  z.  B.  bei  einer  35-jährigen 
Frau,  die  vor  19  Jahren  Lues  akquiriert  hatte  und 
angab,  erst  seit  einem  Jahre  langsam  zunehmende  Schwer¬ 
hörigkeit  zu  bemerken,  festgestellt,  daß  sie  laute  Stimme 
nur  mehr  auf  einen  Meter,  Flüsterstimme  links  auf  3  cm, 
rechts  auf  10cm  Entfernung  hörte.  Die  L  ucae sehe  Stimm¬ 
gabel  klein  c  wurde  vom  Warzenfortsatze  nur  mehr  wenige 
Sekunden  gehört,  ebenso  Avar  c  4  stark  verkürzt. 

In  anderen  Fällen  Avar  dagegen  das  Hörvermögen  ein 
relativ  gutes.  Unter  den  f  ällen  von  frischer  Lues  befindet 
sich  eine  ganze  Reihe,  bei  welchen  die  Hörweite  für 
Flüstersprache  über  acht  Meter  betrug,  ln  einigen  dieser 
Fälle  sogar  12  Meter.  Diese  Kranken  klagten  nicht  über 
Schwerhörigkeit,  sondern  nur  über  verschiedene  subjektive 
Gehörsempfindungen,  doch  ergab  die  Gehörprüfung  mit 
Stimmgabeln  auch  in  diesen  Fällen,  daß  der  Kochlearis 
affiziert  war,  indem  sowohl  die  typische  Verkürzung  jder 
Hördauer  der  Lu  ca  eschen  Stimmgabel  und  ein  schlechtes 
Gehör  für  hohe  Töne  sich  nachweisen  ließen.  Will  man 
daher  in  solchen  Fällen  den  BeAveis  erbringen,  daß  der 
Kochlearis  intakt  ist,  so  genügt  die  Angabe,  daß  der  Patient 
Flüstersprache  über  sechs  Meter  hört,  keineswegs,  sondern 

*)  W  ==  Weberscher  Versuch.  U  =  Uhr  in  Luftleitung.  Uw  =  Uhr 
am  Warzenfortsatz.  St  =  laute  Stimme.  Fl  =  Flüsterstimme.  cw  =  kleine 
Lucaesche  Stimmgabel  am  Warzenfortsatz  (normal  16”).  R  =  Rinne¬ 
scher  Versuch  (normal  36”).  c  —  dieselbe  Stimmgabel  anges  hlagen  und 
vor  das  Ohr  gehalten  (normale  Hördauer  56”).  c*  normaI42”.  H  = 
Hörfeld  für  sämtliche  Stimmgabeln  in  Luftleitung. 


w 

R  +  I 
1  ü 

CO 

0  f  Us 

1  \  Uw 


0 


12-0  St  0-01  (?) 
10  Fl  0 
14”  cw  5" 

-f  26  R  - 
c  0 

—  23  c4  0 
C„ — c8  H  c1 — c3 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


dieser  Nachweis  ist  nur  durch  eine  genaue  Stimmgabel¬ 
untersuchung  zu  erbringen. 

Fast  ausnahmslos  begann  die . Ohraffektion  mit  sub¬ 
jektiven  Gehörsempfindungen,  die  verschiedenartig 
geschildert  wurden.  Meist  fand  ich  in  den  Krankengeschich¬ 
ten  Angben  über  Sausen  und  Rauschen,  namentlich 
bei  rezenter  Lues.  In  den  Fällen  von  alter  Lues  und  dort, 
wo  die  Ohraffektion  schon  Jahre  lang  dauerte,  waren 
Klagen  über  Singen,  Sieden,  Klingen,  Vogelge¬ 
zwitscher,  Grillenzirpen  häufiger.  Mehrfach  bestan¬ 
den  nur  derartige  Gehörsempfindungen,  ohne  Schwerhörig¬ 
keit.  Flingegen  bin  ich  selten  auf  die  Angabe  gestoßen, 
daß  bei  aufgetretener  und  zunehmender  Schwerhörigkeit 
subjektive  Geräusche  fehlten.  Dieselben  wurden  oft  nur 
zeitweilig  bemerkt,  oft  dauerten  diese  aber  ununterbrochen 
an,  manchmal  waren  sie  sogar  sehr  heftig  und  belästigten 
die  Kranken  sehr. 

Neben  diesen  Gehörstörungen  waren  bei  einer  großen 
Anzahl  der  Fälle  auch  Symptome  von  seiten  des  sta¬ 
tischen.  Labyrinthes,  respektive  des  Nervus  vestibula¬ 
ris  vorhanden.  Und  zwar  waren  unter  den  sechs  Fällen, 
bei  welchen  die  Ohrsymptome  nicht  später  als  drei  bis 
sechs  Wochen  nach  dem  Primäraffekt  auftraten,  zwei  Fälle, 
ferner  unter  den  24  Fällen,  bei  welchen  die  Ohraffektion 
später  als  sechs  Wochen  bis  zu  einem  Jahre  nach  der 
Infektion  beobachtet  wurde,  befanden  sich  elf  und  unter 
den  84  Fällen,  bei  denen  die  Ohraffektion  ein  bis  20  Jahre 
nach  der  Infektion  beobachtet  wurde,  befanden  sich 
14  Fälle,  bei  welchen  über  Schwindel  geklagt  wurde. 

Erkrankung  des  Vestibularis  ohne  Beteiligung  des 
Kochlearis  wurde  in  keinem  einzigen  Falle  konstatiert. 

Bezüglich  der  Prognose  kann  ich  nichts  absolut,  zu¬ 
verlässiges  berichten,  weil  nur  von  14  der  65  Fälle  ge¬ 
nauere  Angaben  über  den  Verlauf  der  Erkrankung  vorliegen. 
Von  diesen  14  Kranken  wurden  nur  bei  dreien  eine  ge¬ 
ringere  Besserung  des  Gehörs  und  in  zwei  Fällen  eine  be¬ 
deutende  Besserung  er'zielt.  Doch  glaube  ich,  daß  diese 
Zahlen  keineswegs  den  tatsächlichen  Verhältnissen  ent¬ 
sprechen  dürften,  denn  nach  meiner  Erfahrung  wurde  ge¬ 
rade  bei  den  Patienten,  welche  im  Verlaufe  einer  rezenten 
Lues  schwerhörig  geworden  waren,  durch  die  eingeleitete 
antiluetische  Kur  •  eine  Besserung  oder  Heilung  erzielt. 
Notizen  wurden  aber  gerade  bei  denjenigen  Patienten  ge¬ 
macht,  bei  denen  die  Ohrerkrankung  hartnäckig  war  und 
auf  die  eingeleitete  Therapie  nicht  zurückging  und  übri¬ 
gens  (gerade  diese  Patienten  wiederholt  das  Ambulatorium 
der  Klinik  aufsuchten. 

Ueber  die  Symptome  und  den  Verlauf  der  Erkrankung 
des  Akustikus  bei  erworbener  Lues  möchte  ich  nun  auf 
Grund  des  mir  zur  Verfügung  stehenden  Materiales  von 
65  Fällen  folgendes  feststellen. 

1.  Die  Erkrankung  des  Akustikus  kann  schon  drei 
Wochen  nach  dem  Primäraffekt,  also  bei  ungefähr  sechs 
Wochen  alter  Lues  auft.reten.  Am  häufigsten  ist  sie  während 
ties  ersten  Halbjahres  nach  der  luetischen  Infektion.  Doch 
kann  auch  25  bis  30  Jahre  nach  der  Infektion  eine  Er¬ 
krankung  des  Akustikus  stattfinden. 

2.  Die  Erkrankung  des  Akustikus  setz!  in  den  meisten 
Fällen  mit  subjektiven  Geräuschen  ein,  in  der  Hälfte  der 
Fälle  ist  außerdem  noch  Schwindel  vorhanden.  Diese 
Symptome  können  wahrscheinlich  schon  vorhanden  sein 
vor  dem  Auftreten  des  Exanthems  und  bilden  dann  einen 
'Peil  der  prodromalen  Erscheinungen  der  luetischen 
Allgemeinerkrankung.  In  den  späteren  Stadien  der 
sekundären  Lues  tritt  die  Ohraffektion  fast  stets  gleich¬ 
zeitig  mit  einem  Rezidiv  auf  und  sie  ist  dann  wohl  als 
Teilerscheinung  eines  solchen  aufzufassen. 

3.  Die  Hörstörung  tritt  fast  stets  allmählich  auf  und 
kann  die  verschiedensten  Grade  erreichen.  Meist  ist  sie 
doppelseitig  und  zwar  entweder  auf  beiden  Seiten  gleich 
oder  es  ist  eine  einseitige  stärkere  Schwerhörigkeit,  ja  sogar 
Taubheit  vorhanden.  Selten  ist  eine  Seite  vollkommen  nor¬ 
mal,  während  auf  der  anderen  eine  stärkere  Schwerhörigkeit 


besteht.  Die  Prüfung  mit  Stimmgabeln  ergab  in  den  unter¬ 
suchten  Fällen  stets  das  Vorhandensein  einer  Affektion  des 
Akustikus  und  war  eine  Affektion  des  Mittelohres  ausge¬ 
schlossen. 

4.  In  einer  großen  Zahl  der  Fälle,  ungefähr  der  Hälfte 
derselben,  wurden  neben  den  Hörstörungen  auch  vesti¬ 
buläre  Symptome  beobachtet,  welche  meistens  nur 
in  zeitweise  auftretendem  leichten  '  Schwindel,  manch¬ 
mal  jedoch  in  hochgradigen  Schwindelanfällen,  begleitet 
von  Erbrechen  und  in  auffälligen  Gleichgewichtsstörungen 
bestanden.  Doch  ist  eine  isolierte  Erkrankung  des  Vesti¬ 
bularis  nicht  beobachtet  worden. 

Zur  Beurteilung  der  Frage,  ob  die  nach  Injektion 
von  Ehrlich  606  bei  Lues  aufgetretenen  Affektionen  des 
Akustikus  auf  diese  Behandlung  zurückzuführen  seien  oder 
nicht,  ist  vor  allem  die  Tatsache  von  Bedeutung,  daß  schon 
im  rezenten  Stadium  der  Lues  und  zwar  schon  sechs 
Wochen  nach  der  Infektion,  Erkrankungen  des  Akustikus 
auf  treten  können.  Wenn  man  also  in  einigen  mit 
„Ehrlich  606“  behandelten  Fällen  solche  Erkrankun¬ 
gen  schon  bei  sechs  Wochen  alter  Lues  beobachtet 
hat,  darf  mann  daraus  allein  nicht  schließen,  daß 
hier  Folgezustände  der  Behandlung  vorliegen  müssen. 
Was  speziell  die  drei  von  Herrn  Professor  Finger  mit¬ 
geteilten  Fälle  betrifft,  ist  nach  dem  Material  der  Grazer 
Ohrenklinik  von  zusammen  131  Fällen  von  Akustikusaffek- 
tionen  bei  erworbener  Lues  nichts  auffallendes  darin  zu 
sehen,  daß  in  einem  Falle  die  Ohrerkrankung  bei  sechs 
Wochen  alter  Lues,  in  den  beiden  anderen  bei  etwa  drei 
Monate  alter  Lues  auftrat.  Auch  daß  die  Erkrankung  im 
Primärstadium  der  Lues  beobachtet  wurde,  ist  nicht  be¬ 
weisend,  denn  es  sind  von  Herrn  Professor  Haber¬ 
mann  Affektionen  des  Akustikus  im  Primärstadium  der 
Lues  beobachtet  worden.  Nur  ließ  in  diesen  Fällen  das 
Sekundärstadium  nicht  lange  auf  sich  warten,  denn  die 
Akustikusaffektion  gehörte  dort  zu  den  prodromalen  Sym¬ 
ptomen.  In  den  beiden  von  Herrn  Professor  Finger  mit¬ 
geteilten  Fällen  1  aber  blieb  die  Lues  im  Primärstadium 
stehen  und  die  Wassermannische  Reaktion,  blieb  an¬ 
dauernd  negativ.  Darin  liegt  nun,  wie  mir  scheint,  ein 
ganz  bedeutungsvoller  Unterschied  zwischen  den  Affek¬ 
tionen  des  Akustikus  infolge  von  Lues  und  den  durch  j 
Salvarsan  hervorgerufenen. 

Weiters  ist  es  sehr  auffällig,  daß  unter  den  65  Fällen, 
über  die  ich  berichtet  habe,  kein  einziger  sich  fin¬ 
det,  bei  welchem  eine  isolierte  Vestibular er- 
krankung  wahr  genommen  worden  wäre,  während 
dies  in  fünf  mit  Arsenobenzol  behanelten  Fällen  konstatiert 
wurde,  über  welche  Herr  Professor  Urbant.sehlitsch  in 
der  Gesellschaft  der  Aerzte  genaue  Mitteilungen  machte.  Ich 
habe  oben  darauf  hingewiesen,  daß  in  der  Hälfte  der  Fälle 
des  mir  vorliegenden  Materiales  eine  isolierte  Kochlearis-  i 
affektion  vorhanden  war  und  daß  nur  in  der  anderen  Hälfte  | 
der  Fälle  die  Kochlearisaffektion  mit  einer  solchen  des  Vesti-  i 
hularis  einherging.  Dieser  Verhalten  hat  nichts  auffälliges, 
denn  es  ist  bekannt,  daß  bei  einer  entzündlichen  Schädi-  , 
gung  des  Akustikusstammes  der  Ramus  cochlearis  zuerst 
leidet,  offenbar  deswegen,  weil  er  weniger  widerstands¬ 
fähig  ist  als  der  Vestibularis.  Es  ist  dieses  Verhalten 
wahrscheinlich  in  der  Art  der  Faserung  begründet.  Haben 
ja  bereits  die  alten  Anatomen  den  Nervus  vestibularis  als 
Pars  dura,  vom  Kochlearis,  der  Pars  mollis,  unterschieden. 
In  letzter  Zeit  wurde  auf  diese  Tatsache  wieder  von  Herrn 
Professor  U  r  b  a  n  t  s  c h  i  ti s  c h  hingewiesen.  Die  isolierte  [ 
Erkrankung  des  Vestibularis  hingegen  ist  eine  sehr  seltene 
Affektion,  an  deren  Vorkommen  überhaupt  gezweifelt 
wurde,  bis  in  letzter  Zeit  zwei  Fälle  mitgeteilt  wurden, 
welche  diese  Erkrankung  als  möglich  erscheinen  lassen. 

Der  erste  derartige  Fäll  wurde  von  Ruttin5)  beschrie¬ 
ben.  Es  handelte  sich  um  einen  26-jährigen,  in  voller  Ge¬ 
sundheit  stehenden  Mann,  bei  welchem  plötzlich  hoch- 

s)  Zeitscbr.  Rir  Ohrenheilkunde,  Bd.  57,  S.  327. 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


385 


gradiger  Schwindel,  Gleichgewichtsstörungen  und  Nystag¬ 
mus  auftraten  und  wo  klinisch  eine  Unerregbarkeif  des 
Vest i bularapparates  konstatiert  wurde.  Leider  ist  die  Aefio- 
logie  in  diesem  Falle  vollkommen  dunkel  geblieben  und 
da  auch  nur  eine  klinische  Untersuchung  vorliegt,  so  ist 
es  natürlich  nicht  sicher,  daß  es  sich  um  eine  isolierte 
l’asererkrankung  des  Vestibularis  gehandelt  hat. 

Der  andere  Fall  wurde  von  Leid ler6)  in  der  Oester- 
reichischen  otologischen  Gesellschaft  demonstriert.  Es  han¬ 
delte  sich  um  eine  isolierte  Vesitibular  erkra,nkung 
nach  Wurstvergiftung.  Nun  hat  bekanntlich  Ehrlich 
selbst  durch  Injektion  von  Arsazetin  bei  weißen  Mäusen 
Erscheinungen  hervorgerufen,  die  denjenigen  bei  Tanz- 
mäusen  sehr  ähnlich  sind  und  Röthig  hat  als  anatomisches 
Substrat  dieser  Erkrankung  eine  Degeneration  im  Vesti¬ 
bularis  nachgewiesen.  Diese  Tatsache  ist  deshalb  wichtig, 
weil  sie  zeigt,  daß  der  Nervus  vestibularis  für  bestimmte 
Gifte  besonders  empfindlich  ist,  für  welche  der  Nervus 
cochlearis  nicht  oder  wenig  empfindlich  ist.  Wenn  wir 
nun  wissen,  daß  das  Arsazetin  und  die  Ptomaine  des  Wurst 
giftes  eine  isolierte  Vestibularerkrankung  erzeugen  können, 
so  liegt  es  nicht  ferne,  anzunehmen,  daß  auch  die  nach 
E  h  rlic  h  606  aufgetretenen  isolierten  Vestibularaffek I  innen 
auf  einer  Giftwirkung  dieses  Präparates  beruhen. 

Es  hat  bereits  Herr  Professor  Urbantschi  tsch  da¬ 
rauf  hingewiesen,  daß  bei  dem  relativ  häufigen  Auftreten 
der  sonst  so  selten  vorkommenden  isolierten  Vestibularer¬ 
krankung,  diese  in  den  von  ihm  mitgeteilten,  mit  ,,606“  be¬ 
handelten  Fällen,  auf  eine  Einwirkung  des  Arsenobenzols 
zu  beziehen  sein  dürfte.  Da  unter  den  65  Fällen,  über 
welche  ich  hier  berichtet  habe,  ebenfalls  kein  einziger 
Fall  einer  isolierten  Vestibularerkrankung  sich  befindet, 
so  erfährt  diese  Ansicht  eine  neuerliche  Stütze.  Es  wäre 
nur  noch  die  Möglichkeit  zu  erwägen,  daß  diese  Fälle  mit 
Vestibularsymptomen  ohne  Hörstörungen  nicht  auf  der 
Ohrenklinik,  sondern  auf  der  neurologischen  Klinik  zur 
Beobachtung  gekommen  sind.  Darüber  also  müßten  die 
Neurologen  Auskunft  geben  können. 

Verschiedene  andere  Momente  sprechen  ebenfalls  da¬ 
für,  daß  für  einige  der  nach  „Ehrlich  606“  beobachteten 
Krkrankungen  des  Akustikus  das  Arsenobenzol  verantwort¬ 
lich  ist,  so  z.  R.  rdas  prompte  Auftreten  der  Affektion  wenige 
Stunden  nach  der  Injektion  und  ferner  der  Umstand,  daß 
eine  große  Zahl  von  Fällen  in  einem  relativ  sehr  kurzen 
Zeiträume  beobachtet  worden  ist.  Weitere  Beobachtungen 
werden  uns  darüber  aufklären,  ob  diese  Erscheinungen 
auf  Zufall  beruhen  oder  ob  sie  wirklich  durch  das  Eh  r¬ 
lich  sehe  Präparat.  A^erur sacht  sind. 

Jedenfalls  glaube  ich  durch  diese  Mitteilungen  einen 
neuerlichen  Beweis  erbracht  zu  haben,  daß  Affektionen  des 
Akustikus  in  allen  Stadien  der  sekundären  und  tertiären 
Lues  Vorkommen  können,  andererseits  aber  möchte  ich 
larauf  hingeAviesen  (haben,  daß  die  nach  „Ehrlich  606“ 
beobachteten  Affektionen  des  Akustikus  sich  in  mancher 
Beziehung  von  den  auf  Lues  beruhenden  unterscheiden. 


Jeher  das  Vorkommen  von  Erkrankungen  des 
nneren  Ohres  in  frühen  Stadien  der  Syphilis. 

Ein  Beitrag  zur  Frage  der  Salvarsanwirkungen. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Hugo  Frey,  Wien. 


Wie  noch  erinnerlich,  Avurde  bei  der  im  November 
''urigen  Jahres  in  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  abge- 
lalteaen  Diskussion  über  die  Behandlung  der  Syphilis  nach 
■«hrlich-Hata  von  mehreren  Rednern 'auch  auf  Erkran¬ 
kungen  des  inneren  Ohres  hingewiesen,  die  an  einzelnen 
n't-  dem  Mittel  behandelten  Patienten  zur  Beobachtung 
;amen.  Ihr  Auftreten  Avar  immerhin  auffallend  genug,  um 
uigehend  gewürdigt  zu  werden,  und  '  einzelne  Redner 
ußerten  sich  in  der  Richtung,  daß  die  eigentümlichen  Er 

6)  Sitzung  vom  13.  Dezember  1909. 


k ran kungen  dos  inneren  Obres,  die  teils  den  vestibulären 
teils  den  kochlearen,  teils  beide  Anteile  dieses  Organes 
betrafen,  als  eine  Schädigung  aufzufassen  seien,  die  mit 
einer  größeren  Wahrscheinlichkeit  als  Folge  der  Salvarsan- 
injektion  sich  ergeben  hätten.  So  sagte  Finger:1)  „Hier 
ist  also  die  Annahme  am  nächstliegenden,  daß  die  Erschei¬ 
nungen  entweder  ,ganz  auf  das  Arsenobenzol  zurückzuführen 
oder  in  der  bereits  erwähnten  Weise  zu  erklären  sind“ 
(damit  ist  die  Möglichkeit  einer  kombinierten  Wirkung  des 
Arsenobenzols  mit  der  Lues  gemeint).  Urbantschi  tsch,2) 
an  dessen  Klinik  die  von  Finger  erwähnten  Fälle  unter¬ 
sucht  worden  Avaren,  äußerte  sich  allerdings  über  den 
Zusammenhang  zAvischen  den  Ohrerkrankungen  und  der 
Salvarsaninjektion  sehr  reserviert,  indem  er  meinte,  daß 
„zu  einer  eingehenden  Beurteilung  der  Wirkungsweise  von 
„60b  auf  den  Akustikus  unsere  Beobachtungsdauer  eine 
zu  kurze  und  die  Anzahl  der  beobachteten  Fälle  eine  zu 
kleine  ist“  und  daß  „ein  Urteil  darüber  erst  nach  weiteren, 
reichlichen  und  langdauernden  Beobachtungen  ermöglicht 
sein  Avird“.  Alexander,3)  der  eine  Anzahl  von  Erkran¬ 
kungen  des  Ohres  bei  Luetikern  untersucht  hat,  glaubt, 
daß  mit  Sicherheit  hervorgehe,  „daß  die  von  Professor  Fin¬ 
ger  angezogenen  Fälle,  soAveit  es  sich  um  Oktavuserkran¬ 
kungen  im  rezenten  Stadium  der  Lues  handelt,  ätiologisch 
mit  dem  Salvarsan  in  Verbindung  gebracht  werden  müssen“. 
Diesen  Schluß  zieht  er  aus  folgenden  Gründen: 

1.  „Daß  die  akute  luetische  Neuritis  des  Nervus  octa- 
vus,  mag  isie  sich  im  cochlearen  oder  vestibulären  Teile 
des  Nerven  lokalisieren,  im  rezenten  Stadium  der  Syphilis 
sehr  selten  ist“. 

2.  Daß  „in  der  Literatur“  „bisher  Fälle  von  Labyrinth¬ 
syphilis  beziehungsweise  syphilitischer  Entzündung  des 
Nervus  octavus  im  rezenten  Stadium  der  Lues  fast  unbe¬ 
kannt“  „sind“. 

Allerdings  teilt  Alexander  selbst  einzelne  Fälle  (9) 
seiner  eigenen  Beobachtung  mit,  die  sich  auf  die  Vor-Salv- 
arsanzeit  beziehen  und  in  denen  er  ebenfalls  im  rezenten 
Stadium  der  .Lues  Akustikusaffektionen  gefunden  hatte. 

Die  Frage,  10b  es  sich  bei  den  von  Finger  erwähn¬ 
ten  Fällen  um  Salvarsanschäden  oder  um  luetische  Erkran¬ 
kungen  handelt,  die  trotz  der  Salvarsantherapie  als  Rezi¬ 
diven  aufgetreten  seien,  läßt  sich  natürlich  derzeit  mit 
Sicherheit  überhaupt  nicht  entscheiden.  Die  Otiatrie  hat 
kein  diagnostisches  Mittel,  um  eine  luetische  oder  eine 
anderweitige  toxische  Erkrankung  des  inneren  Ohres  aus- 
oinanderzuhalten.  Wir  sind  daher  darauf  angewiesen,  nach¬ 
zusehen,  ob  nein  1.  die  betreffenden  Fälle  aus  anderen 
Gründen  für  Luesrezidive  halten  darf  und  2.  ob  tatsächlich 
analoge  Fälle  .ohne  Salvarsantherapie  nicht  verzeichnet 
Avorclen  sind.  Was  den  ersten  Umstand  betrifft,  kommt 
hier  hauptsächlich  der  Ausfall  der  Wassermannsichen 
Reaktion  in  Betracht;  über  diesen  Punkt  will  ich  mich 
aber  nicht  äußern  und  ihn  den  Fachmännern  überlassen. 
Mit.  dem  zweiten  Punkte  möchte  ich  mich  aber  hier  beschäf¬ 
tigen.  Ich  glaube,  daß  er  von  größerer  AVichtigkeit  ist, 
denn,  Avie  eingangs  gezeigt,  wurde  ja  von  mehreren  Seiten 
besonderer  Wert  darauf  gelegt,  daß  im  rezenten  Stadium 
der  Lues  und  besonders  in  Iden  ersten  Wochen  und  Monaten 
nach  der  Infektion  Labyrinthsyphilis  bzw.  syphilitische 
Entzündung  des  Nervus  octavus  bisher  fast  unbekannt 
sind. 

Ein  Fäll  von  Akustikusaffektion  nach  Salvarsanin¬ 
jektion,  den  ich  gemeinsam  mit  Herrn  Professor  v.  Zeißl 
beobachtete,  und  der  sich  mit  größter  Wahrscheinlichkeit 
als  ein  Luesrezidiv  darstellte  (es  Avar  später  noch  ein  Haut- 
rezidiv  aufgetreten)4)  soAvie  einige  andere  Fälle  luetischer 
Akustikuserkrankungen  (die  demnächst  von  meinem  Assi- 

“)  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  S.  1671. 

2)  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  S.  1733. 

3)  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  S.  1815. 

4)  Ich  habe  über  diesen  Fall  in  der  Ehrlich-Debatto  berichte! 
(Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  S.  1826),  er  Avar  der  einzige  unter  zirka 
150  von  v.  Zeißl  mit  Salvarsan  behandelten  Fällen,  der  Akustikus- 
störungen 


386 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


stenten  Herrn  Dr.  I.  Braun  veröffentlicht  werden),  gaben 
mir  Gelegenheit,  mich  etwas  eingehender  mit  der  Literatur 
der  syphilitischen  Affektionen  des  Ohres  zu  befassen.  Ich 
fand  dabei  eine  große  Anzahl  von  Mitteilungen,  die  den 
oben  zitierten  Aeußerungen  so  sehr  widersprechen  und 
für  das  Vorkommen.  derartiger  Erkrankungen  auch  schon 
im  Frühstadium  der  Lues  in  Fallen,  die  nach  den  üblichen 
Methoden  behandelt  wurden,  so  vielfache  Beweise  Bei¬ 
bringen,  daß  ich  glaube,  sie  zur  Klärung  der  Sachlage 
hier  anführen  zu  sollen. 

Vorausschicken  möchte  ich,  daß  die  Zahl  der  in  der 
Literatur  verzeichneten  Fälle  sicherlich  außerordentlich 
viel  geringer  ist,  als  die  der  tatsächlich  beobachteten  und 
noch  viel  geringer  als  die  der  wirklich  vorgekommenen.  Die 
feinere  Differenzialdiagnostik  zwischen  den  Erkrankungen 
des  mittleren  und  des  inneren  Ohres  ist  eine  Errungenschaft 
der  letzten  Jahrzehnte  und  wurde  vollkommen  ausgebaut 
überhaupt  erst  im  letzten  Jahrzehnte.  Auch  war  bis  vor 
kurzem  die  Anzahl  der  otriatisch  genügend  geschulten 
Aerzte  eine  so  kleine,  daß  in  sehr  vielen  Fällen  eine  ein¬ 
wandfreie  Untersuchung  und  Diagnose  von  Erkrankungen 
des  inneren  Ohres  nicht  stattfinden  konnte.  Gewiß  ist  auch 
in  den  letzten  Jahrzehnten  das  Interesse  an  rein  kasuisti¬ 
scher  Betrachtung  der  Fälle  von  Syphilis  kein  so  großes 
gewesen,  daß  man  Störungen  des  einen  oder  des  anderen 
Hirnnerven  ohneweiters  publiziert  hätte,  wenn  sie  nicht 
besondere  und  auffallende  Umstände  mit  sich  führten. 
Endlich  aber  ist  es  gar  kein  Zweifel,  daß  leichtere  Grade 
von  Schwerhörigkeit  oder  nur  einseitig  aufgetretener  Schwer¬ 
hörigkeit  (die,  wie  die  Otiater  wissen,  ja  überhaupt  sehr 
oft  übersehen  wird),  auch  hei  Luetikern,  deren  Interesse 
vornehmlich  dem  Grundleiden  zugewendet  war,  übersehen 
würden.  Die  Beziehungen  der  Vestibularsymptome  wie 
Schwindel,  Nystagmus  usw.  zum  inneren  Ohre  waren 
ebenfalls  noch  nicht  so  ins  allgemeine  Bewußtsein  gedrun¬ 
gen,  daß  man  sie  zum  Anlässe  einer  eingehenden  Unter¬ 
suchung  des  Gehörorganes  genommen  hätte,  darum  wird 
man  sich  nicht  wundern  können,  daß  isolierte  Vestibular- 
erkrankungen  in  der  bisherigen  Literatur  nicht  oder  nur 
angedeutet  Vorkommen. 

Bei  der  folgenden  Uebersicht  der  Fälle  von  Affektionen 
des  inneren  Ohres  hei  rezenter  Lues  habe  ich  mich  auf 
diejenigen  beschränkt,  bei  welchen  aus  den  Angaben  der 
Autoren  genaue  Aufschlüsse  über  die  zwischen  Infektion 
oder  Primäraffekt  und  Auftreten  der  Ohrläsion  verstrichene 
Zeit  zu  entnehmen  sind.  Durch  die  Beschränkung  verringert 
sich  allerdings  die  Anzahl  der  Fälle,  da  für  sehr  viele 
Autoren  dieser  Gesichtspunkt  kein  Interesse  hot  und  sie 
daher  die  Zeit  gar  nicht  oder  nur  ungenau  angaben.  Trotz¬ 
dem  bleiben  noch  genug  übrig. 

In  den  gangbaren  Lehrbüchern  der  Ohrenheilkunde 
findet  man  allerdings  über  den  uns  beschäftigenden  Gegen¬ 
stand  nur  wenig  Aufschluß,  vielleicht  deshalb,  weil  die 
Frage  einer  näheren  Betrachtung  bisher  nicht  wert  schien. 
So  sagt  Politzer:5)  „Die  luetischen  Labyrintherkrankun¬ 
gen  entwickeln  sich  selten  gleichzeitig  mit  der  sekundären 
Haut-  und  Halsaffektion  (einmal  nach  meiner  Beobachtung 
schon  im  siebenten  Monate  nach  der  primären  Affektion6).“ 

Urbantschitsch7)  erwähnt  die  weiter  unten  noch 
zitierten  Fälle  von  Charazac  und  Bart.helemy. 

Geht  man  aber  den  in  der  syphilidologischen  und 
otologischen  Literatur  einzeln  zerstreuten  Angaben  nach, 
so  findet  man  eine  überraschend  große  Anzahl  hierherge¬ 
höriger  Fälle,  die  ich  im  folgenden  auszugsweise  anführe. 
Ich  beginne  mit  denjenigen  Autoren,  die  über  das  Thema 
im  Zusammenhänge  sprechen  und  gehe  dann  auf  die  Ein¬ 
zelbeobachtungen  über. 

Gradenigo8)  gibt  an,  daß  Entzündungen  des  inneren 
Ohres  auf  syphilitischer  Grundlage  zuweilen  im  Beginne 

fi)  Lehrbuch  der  Ohrenheilkunde  1908,  5.  Aufl.,  S,  606. 1 

8)  Dieser  Fall  wird  auch  von  Al  ex  an  der  erwähnt. 

7)  Lehrbuch  der  Ohrenheilkunde  1910,  5.  Aufl.,  S.  474. 

8)  Schwarzes  Handbuch  der  Ohrenheilkunde  1893,  Bd.  2,  S.423. 


der  sekundären  Periode  oder  zwei  bis  drei  Monate  später 
gefunden  werden. 

Jung:9)  „Solche  Hörstörungen  treten  beim  Aus¬ 
bruche  des  ersten  Exanthems  auf  und  bestehen  in  Schwer¬ 
hörigkeit,  in  geringem  Klingen  und  Sausen  auf  einem  oder 
beiden  Ohren.“ 

Mauriac10)  beschreiht  Erscheinungen  von  seiten  des 
Ohres  während  des  sekundären  Stadiums,  die  er  als  Laby¬ 
rinthläsionen  aus  folgenden  Gründen  diagnostiziert: 

1 .  beträchtliche  Hörstörungen, 

2.  subjektive  Geräusche  von  musikalischem  Cha¬ 
rakter, 

3.  Schwindel  und  Gleichgewichtsstörungen, 

4.  Schmerzen  in  der  Ohrgegend  (Schmerzen  in  der 
Ohrgegend  werden  häufig  von  Patienten  bei  Erkrankungen 
des  inneren  Ohres  auch  ohne  Beteiligung  des  Mittelohres 
angegeben). 

5.  der  therapeutische  Effekt  bei  hohen  Dosen  van 
Jodkali. 

Er  führt  das  Zeugnis  von  Lad  reit  de  La  Ch  ar¬ 
idere  an,  der  seine  Beobachtungen  bestätigt  und  findet, 
daß  diese  Affektionen  auch  kurze  Zeit  nach  dem  Primär¬ 
affekt  Vorkommen  können. 

Habermanfn11)  gibt  an  (S.  256):  „Die  sekundäre 
Labyrinthsyphilis  beginnt  in  den  meisten  Fällen  unmittel¬ 
bar  mit  dem  Beginne  der  Allgemeinerkrankung;  von  34 
I  Fällen  von  Labyrinth-  oder  Nervenerkrankung  im  sekun¬ 
dären  Stadium,  die  ich  beobachtete,  war  bei  15  derselben 
genau  das  gleichzeitige  Auftreten  der  Labyrintherkrankun¬ 
gen  mit  den  Allgemeinsymptomen  beobachtet  worden.  In 
drei  Fällen  soll  sogar  die  Erkrankung  der  Haut  erst  einige 
Tage  später  erfolgt  sein,  während  in  zehn  Fällen  eine  be¬ 
stimmte  Angabe  darüber  fehlt,  nach  der  übrigen  Krank- 
heitsgeschichte  aber  wahrscheinlich  auch  in  diesen  ein  glei¬ 
ches  Verhalten  da  war.  Nur  in  sechs  Fällen  wurde  die 
Erkrankung  des  Ohres  erst  drei  bis  zehn  Wochen  nach  dem 
Exanthem  auf  der  Haut  beobachtet.“  Die  von  ihm  beob¬ 
achteten  Symptome  bestanden  in  subjektiven  Geräuschen 
und  Hörstörungen,  nur  in  sechs  Fällen  Schwindel,  in  zwei 
Fällen  auch  Erbrechen.  Die  Knochenleitung  war  stark  verj 
kürzt,  der  Binnesche  Versuch  positiv.  Im  Detail  gibt  eil 
an,  daß  bei  seinen  Fällen  zwischen  dem  Primäraffekt  und 
dem  Auftreten  der  Ohrsymptome  folgende  Zeiträume  vor 
strichen:  In  zwei  Fällen  drei  Wochen,  in  zwei  Fällen  vier 
Wochen,  in  zwei  Fällen  fünf  Wochen,  in  drei  Fällen  sechs: 
Wochen,  in  einem  Falle  sieben  Wochen,  in  zwei  fällen 
acht  Wochen,  in  vier  Fällen  neun  Wochen,  in  14  Fällen 
bis  zu  16  Wochen,  'in  drei  Fällen  fünf  bis  sechs  Monate, 
in  den  übrigen  Fällen  verstrich  eine  noch  längere  Zeit. 

Jansen12)  sagt  darüber:  „Die  Labyrinthsyphilis  tritt 
häufig  in  der  sekundären  Periode  auf;  ein  halbes  bis  zwei 
Jahre  nach  der  Infektion,  nicht  selten  bald  nach  dem  Be 
ginne  der  Allgemeinerscheinungen.“ 

Gerb  e  r : 13)  „Syphilitische  Labyrintherkrankungen 
können  aber  auch  allein  in  jedem  Stadium,  zu  jeder  Zeit 
auftreten,  wenn  auch  freilich  die  Spätformen  am  inneren 
Ohre  die  häufigsten  sind.“ 

Mitteilungen  und  klinische  Beschreibungen  spezieller 
Fälle  finden  sich  bei  folgenden  Autoren: 

Barr:14)  22jähriger  Mann.  Zirka  vier  Monate  nach  de 
Infektion  mehrere  Anfälle  von  Schwindel  und  Erbrechen,  uh 
mittelbar  nach  einem  solchen  totale  Taubheit  auf  dem  linker 
Ohre  mit  subjektiven  Geräuschen,  am  nächsten  Tage  neueriicl 
Schwindel  und  Erbrechen  und  subjektive  Geräusche  auf  den: 
rechten  Ohre,  vorübergehend  trat  eine  Fazialisparese:  von  nir 

9)  Beitrag  zur  Kenntnis  der  syphilitischen  Erkrankungen  de| 
Akustikusstammes.  Würzburg  1889. 

10)  Leyons  sur  les  maladies  veneriennes.  Paris  1883,  S.  642. 

n)  Die  luetischen  Erkrankungen  des  Gehörorganes.  Jena  1896. 

12)  Ohrenerkrankungen  bei  Syphilis  in  Lessers  Enzyklopädie  de 

Haut-  und  Geschlechtskrankheiten  1900,  S.  362  ff. 

ls)  Die  Syphilis  der  Nase,  des  Halses  und  des  Ohres.  Berlin  1910 
2.  Aufl.,  S.  103.' 

u)  British  med.  Journal  1885,  S.  1192;  zit.  nach  Rosenstein. 


Nr.  tt 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


387 


eintägiger  Dauer  auf.  Besserung  auf  antiluetische  Therapie  und 

lÜIokarpin. 

Buck:15)  26jähriger  Mann,  drei  Monate  nach  der  Infek¬ 
tion  subjektive  Geräusche,  zwei  Wochen  später  plötzlich  starker 
Schwindelanfall  mit  Bewußtseinsverlust,  nach  zwölf  Stunden  hoch¬ 
gradige  Schwerhörigkeit  und  subjektive  Geräusche  links,  Nausea. 
Zwei  Monate  später  fand  sich  noch  'beiderseitige  Schwerhörigkeit 
und  leichte  Schwindelanfälle,  ein  papulöses  Exanthem  im"  Ge¬ 
sichte,  Neuritis  optica  einer  Seite. 

Charazae:16)  28jähriger  Patient,  sichergestellte  Infektion 
bei  einer  Zahnextraktion.  Nach  zwei  Monaten  Schwerhörigkeit, 
besonders  rechts,  subjektive  Geräusche,  Schwindel,  Kopfschmerz; 
normaler  Trommelfellbefund,  Kopfknochenleitung  aufgehoben,  po¬ 
sitiver  Rinne.  Auf  Jodkali  rasche  Besserung. 

Gerber13)  erwähnt  einen  Fall  von  Erkrankung  des  inneren 
Ohres  zwei  Monate  nach  der  Infektion. 

Heerm  ann : 17)  40j übriger  Arzt.  Extragenitale  Infektion, 
nach  vier  Monaten  stetig  zunehmende  Schwerhörigkeit  und  Sausen 
lechts,  Knochenleitung  stark  verkürzt,  Rinne  positiv,  Weber  zur 
gesunden  Seite.  Nach  Inunktionskur  vollständige  Heilung. 

Hoffmann:18)  26jähriger  Mann.  3 Vs  Monate  nach  dem 
Prinmraffekt  Kopfschmerzen,  Schwindel,  Erbrechen,  nach  zwölf 
Tagen  Fazialislähmung  rechts,  Abduzensparese,  Stauungspapille, 
angeblich  keine  Hörstörung. 

Der  Fall  ist  zweifelhaft;  Rosenstein  führt  ihn  als  gleich¬ 
zeitige  Fazialis  -  Akustikuserkrankung  an.  Vielleicht  handelt  es 
sich  nur  um  eine  Erkrankung  des  Ramus  vestibularis. 

Jansen:* 1 2-)  Fünf  Monate  nach  der  Infektion  stürmische 
Labyrinthsymptome  mit  dauernder  einseitiger  Ertaubung.  Neu¬ 
ritis  optica. 

Jegu:19)  43jähriger  Mann.  Drei  Monate  nach  dem  Pri¬ 
märaffekt  zunehmende  Schwerhörigkeit  bei  normalem  otoskopi- 
schen  Befunde.  Geheilt  nach  antiluetischer  Behandlung. 

Pearson:20)  Vier  Monate  nach  der  Infektion  Exanthem, 
Taubheit,  subjektive  Geräusche.  Heilung. 

Lanceraux21)  erwähnt  einen  Fall,  wo  während  der  sekun¬ 
dären  Symptome  Schwindel  und  Herabsetzung  des  Gehöres  auf¬ 
getreten  waren  und  einen  zweiten  Fall,  bei  dem  zwei  Monate 
nach  dem  Primäraffekt  und  mehrere  Tage  nach  dem  Ausbruche 
des  Exanthems:  ,,1-e  malade  fut  tout  ä  coup  pris  du  vertige,  d'etour- 
dissement  et  d’une  malaise  generale“,  Erscheinungen,  die  man 
mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  auf  eine  Vestibularaffektion  be¬ 
ziehen  kann. 

Jörgen  Möller:22)  Ein  25jähriger  Mann  infizierte  sich  im 
Dezember  1909,  im  März  1910  erschien  das  Exanthem.  Behandlung 
mit  atoxylsaurem  Quecksilber.  Zwei  Monate  später  zunehmende 
Schwerhörigkeit  rechts,  später  auch  links,  nach  weiteren  R/a  Mo¬ 
naten  totale  Taubheit,  Schwindel  und  subjektive  Geräusche-,  Zu 
dieser  Zeit  ergab  die  Untersuchung  -eine  vollständige  Ausschaltung 
beider  Vestibular-  und  Kochlearapparate.  Eine  Inunktionskur  und 
lodkali  bewirkten  eine  geringe  Besserung  des  Gehöres  und  Rück¬ 
kehr  der  Vestibulärfunktion  links,  rechts  blieb  das  Gehör  erloschen 
und  es  ergab  sich  eine  geringe  Vestibularreaktion.  Eine  3V2  Mo¬ 
nate  nach  den  ersten  Ohrsymptomen  vong-enomme-ne  Injektion 
mit  Salvarsan  bewirkte  eine  deutliche,  wenn  auch  nicht  aus¬ 
giebige  Besserung. 

Oedmans s  on : 23)  Ein  bis  zwei  Monate  nach  der  Infektion 
loppelseitige  Fazialislähmung '  und  Taubheit  des  linken  Ohres. 
Teheilt  nach  In  unktionskur. 

Ostino  und  Santa  Maria24)  beschreiben  einen  Fall  von 
lechtseitiger  Fazialis-  und  Akustik uslähnvung  während  des  se¬ 
kundären  Stadiums,  eine  genaue  Zeitangabe  ist  leider  in  dem 
Referate  Grad  enigos,  das  mir  allein  vorliegt,  nicht  enthalten, 
loch  scheint  e-s  sich  um  einen  Frühfall  zu  handeln.  Nach  dem 
Referate  ließ  die  exakte  Hörprüfung  sehr  genau  die  Besserung 
-fahrend  einer  Injektionskur  erkennen. 

16)  American  Journal  of  Otologie,  Bd.  1;  zit.  nach  Gradenigo. 

le)  Revue  de  Laryngologie  XIII,  Bd.  12,  S.  369;  zit.  nach  Jensen. 

17)  Münchener  med.  Wochenschr.  1908,  Bd.  2,  S.  2448. 

l9)  Berliner  klin.  Wochenschr.  1901,  S.  296. 

19)  De  la  Syphilis  de  l’oreille.  Paris  1884,  S.  59,  Obs.  23. 

2°)  Zit.  nach  Lagneau  fils,  Maladies  syph.  du  systOne  nerveux,  S.  376. 

21  -  La  Syphilis.  Paris  1866,  S.  125  u.  127. 

22)  Sitzung  der  Dänischen  oto-laryngologischen  Gesellschaft  vom 
*•  November  1910;  Monatsschr.  für  Ohrenheilkunde  1911,  Jahrg.  45. 

I  1,  S.  62. 

23)  Nord.  med.  Ark.  1869;  zit.  nach  Virchow  und  Hirsch,  Jahrb. 

•869,  Bd.  2,  S.  562. 

2‘)  Giornale  medico  del  R.  Esercito  Italiano.  Februar  1904;  zitiert 
iach  Zentralblatt  für  Ohrenheilkunde  190T,  Bd.  2,  S.  471. 


Ros  enstein25)  berichtet  über  zwei  Fälle.  In  dem  einen 
j  traten  vier  Monate  nach  der  Infektion  Schwindel  und  Kopf¬ 
schmerzen,  sowie  eine  Zahl  anderer  Hirnsymptome  auf.  Ein 
genauer  Befund  ist  erst  von  zwei  Monaten  später  notiert,  es 
bestand  damals  eine  Lähmung  des  linken  Okulomotorius,  Abdu- 
z-ens  und  Trochlearis,  Parese  des  linken  Trigeminus,  Lähmung 
des  linken  Fazialis  und  Rekurrens,  hochgradige  Herabsetzung 
der  Hörweite  für  Flüstersprache  und  der  Knochenleitung  links. 
Unter  einer  antilüeti sehen  Behandlung  bildeten  sich  alle  Erschei¬ 
nungen  langsam  zurück,  wenn  auch  nicht  vollständig.  Noch 
später  traten  analoge  Erscheinungen  auch  auf  dem  rechten  Ohre 
auf.  Im  zweiten  Falle  fand  die  Infektion  im  Juni  1904  statt, 
nach  ungefähr  vier  Monaten  traten  gleichzeitig  mit  einem  Exan¬ 
them  Schwerhörigkeit  und  Sausen,  bald  darauf  eine  Fazialis¬ 
lähmung  rechts  auf.  Beiderseits  verkürzte  Knochenleitung  und 
Herabsetzung  des  Gehörs  für  Flüstersprache,  bei  normalem  oto- 
skopi  sehen  Befunde  und  freien  Tuben.  Besserung  nach  Inunk- 
tionskur. 

Sch wartz-e:26)  erwähnt  folgende  zwei  Fälle  (S.  269): 
41  jähriger  Patient.  Sechs  Wochen  nach  der  Infektion  subjektive 
Geräusche  und  Hörstörung  beiderseits,  sowie  Schwindel.  Uhr 
vom  Knochen  beiderseits  nicht  gehört,  Stimmgabel  vom  Knochen 
kaum  gehört,  hochgradige  Herabsetzung  der  Hörweite  für  Sprache. 
Normale  Trommelfelle.  Bedeutende  Besserung  nach  Inunktions- 
kur.  Sodann  (S.  270):  23jähriger  Mann.  Infektion  im  August, 
im  November  Exanthem,  im  Dezember  Schwerhörigkeit,  Sausen, 
Schwindel,  Gehstörungen.  Uhr  vom  Knochen  beiderseits  nicht 
gehört,  Weber  auf  die  bessere  Seite,,  starke  Herabsetzung  der 
'Hörweite  für  Sprache  hei  normalem  Trommelfellbefunde  und 
freien  Tuben.  Während  der  folgenden  Zeit  verschlechterte  sich 
das  Gehör  noch  und  besserte  sich  erst  nach  Jodkalimedikation. 

Eine  genaue  .Durchsicht  der  Arbeit  Schwartz! es 
zeigt  aber,  daß  er  offenbar  eine  viel  größere  Anzahl  hieher 
gehöriger  Fälle  gesehen  hat,  nur  beschreibt  er  sie,  den. 
damals  noch  nicht  sehr  ausgebildeten  differenzialdiagnosti¬ 
schen  Anschauungen  entsprechend,  als  chronische  Katarrhe, 
wobei  er  aber  bemerkt,  daß  die  Trommelfelle  keine-  we¬ 
sentlichen  Veränderungen  zeigten  und  -die  Knochenleitung 
in  allen  Fällen  ungewöhnlich  früh  beeinträchtigt  oder  auf¬ 
gehoben  war  und  hervorhebt,  daß  die  Tuben  stets  gut 
permeabel  und  die  Luftdusche  ohne  Effekt  war.  Von  diesen 
Fällen,  die  wir  nach  den  gegebenen  Indizien  zweifellos 
als  Läsionen  des  inneren  Ohres  ans-ehen  müssen,  sagte 
er,  daß  zwischen  dem  Beginne  der  Schwerhörigkeit  und 
dem  Auftreten  der  sekundären  Symptome  in  der  Regel  ein 
Zeitraum  von  drei  Monaten  lag. 

Sex  ton:27)  48jähriger  Mann.  D-rei  Monate  nach  dem  Pri¬ 
märaffekt  rechtseitige  Fazialislähmung,  nach  weiteren  drei  Mo¬ 
naten  totale  Taubheit  links  und  subjektive  Geräusche;  ferner 
(zitiert  nach  Roosa,  Zeitschrift  für  Ohrenheilkunde,  Bd.  9, 
S.  310):  21  jähriger  Mann.  Fünf  Monate  nach  dem  Primäraffekt 
plötzliche  Schwerhörigkeit,  nach  -einigen  Tagen  totale  Taubheit. 
Schwindel.  Die  antiluetische  Behandlung  erzielte  nur  das  Wieder¬ 
auftreten.  von  Vokalgehör.  (Es  scheint  bei  diesem  Falle-  auch 
ein  Tubenkatarrh  vorhanden  gewesen  zu  sein,  der  aber  selbst¬ 
verständlich  die  große  Hörstörung  nicht  -erklären  kann.) 

K.  Stein:28)  Ein  45jähriger  Mann  zeigte  acht  Wochen 
nach  der  Infektion  und  -eine  Woche  nach  dem  Ausbruche  des 
Exanthems  Symptome  einer  Erkrankung  des  linken  Ohres,  be¬ 
stehend  in  subjektiven  Geräuschen,  Schwerhörigkeit  und 
Schwindel.  Weber  auf  die  bessere  Seite,  Rinne  beiderseits  po¬ 
sitiv.  Knocbenleitung  auf  der  erkrankten  Seite  verkürzt,  Herab¬ 
setzung  der  Hörweite  für  Konversations-  und  Flüstersprache  auf 
der  erkrankten  Seite,  gesteigerte  Erregbarkeit  des  Vestibularappa- 
rat-es.  Die  antilu-etisch-e  Therapie  hatte  vollen  Erfolg. 

Roosa:29)  1.  3  7 jährig  er  Patient.  Sechs  Monate  nach  der 
Infektion  plötzliche  Schwerhörigkeit  und  Sausen.  Knochenleitung 
für  die  Uhr  rechts  aufgehoben,  links  vermindert.  Weber  auf  die 
bessere  Seite,  otoskopischer  Befund  normal.  Besserung  nach  spe¬ 
zifischer  Behandlung. 


26)  Archiv  für  Ohrenheilkunde  1905,  Bd.  65,  S.  193. 

2e)  Archiv  für  Ohrenheilkunde,  Bd.  4. 

21)  American  Journal  of  Otologie,  Bd.  2:  ref.  im  Archiv  für  Ohren¬ 
heilkunde,  Bd.  17,  S.  234. 

28)  Verhandlung  der  Oesterreichischen  otologischen  Gesellschaft 
vom  26.  Oktober  1908.  Monatsschr.  für  Ohrenheilkunde  1909,  S.  183. 

2e)  Medical  record  1876.  Archives  of  Dermatology,  Bd.  1 ;  zitiert 
nach  Jung  (8)  und  Jegu  (18). 


S88 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


2.  31  jähriger  Patient.  Kaum  fünf  Monate  nach  der  Infektion 
Sausen  und  komplette  Taubheit  links,  hochgradige  Schwerhörigkeit 
rechts,  zwei  Wochen  später  Schwindel  und  Gehstörungen.  Anti¬ 
luetische  Behandlung  besserte  das  Gehör  auf  dem  rechten  Ohre; 
während  der  Behandlung  konnte  die  interessante  Erscheinung 
des  Falschhörens  beobachtet  werden. 

3.  31jähriger  Patient.  Zirka  fünf  Monate  nach  der  Infek¬ 
tion  Hörstörung  und  subjektive  Geräusche.  Die  übliche  Behand¬ 
lung,  gegen  eine  katarrhalische  Affektion  gerichtet,  blieb  er¬ 
folglos,  während  Quecksilberbehandlung  Heilung  brachte. 

Her  met:30)  1.  20jähriger  Mann.  Ungefähr  im  vierten  Mo¬ 
nate  nach  dem  Auftreten  des  ersten  Hautexanthems  Fieber,  Kopf¬ 
schmerzen.  Ertaubt  plötzlich  über  Nacht  auf  beiden  Seiten, 
Diplopie. 

2.  25 jähriges  Mädchen,  Fünf  Monate  nach  dein  Primäraffekt 
totale  Ertaubung  im  Laufe  von  zwei  Tagen. 

C  ro  u  z  i  1 1  a  c : 31)  Fünf  Monate  nach  dem  Primäraffekt 
neben  anderen  Allgemeinerscheinungen  Schwerhörigkeit,  Schwin¬ 
del,  Erbrechen,  Gehstörungen.  Knochenleitung  nahezu  null,  Rinne 
positiv,  Weber  zur  besseren  Seite,  otoskopischer  Befund  normal. 
Nach  antiluetischer  Behandlung  wesentliche  Besserung. 

Frey  tag:32)  21jähriger  Patient.  8V2  Monate  nach  dem 
ersten  Exanthem  an  Intensität  zunehmende  Schwindelanfäile,  so 
daß  der  Patient  das  Bett  nicht  verlassen  kann,  subjektive  Ge¬ 
räusche  links,  Nystagmus  nach  links,  beim  Gehen  Fallen  nach 
rechts  und  starkes  Schwanken.  Sehr  geringe  Hörstörung,  aber 
sehr  deutliche  Ddplakusie.  Trommelfellbefund  normal,  Heilung 
nach  antiluetischer  Behndlung. 

Grünberg:33)  Sechs  Monate  nach  dem  Primäraffekte 
Schwerhörigkeit  und  Sausen  beiderseits.  Eine  spezialis tische 
Untersuchung  fand  erst  nach  einem  Jahre  statt  und  ergab  das 
Bestehen  einer  kombinierten  Mittelohr-  und  Labyrinthschwerhörig¬ 
keit.  Der  Fall  wurde  obduziert  und  zeigte  Veränderungen  im  Sinne 
eines  chronischen  Adhäsivprozesses  in  den  beiden  Mittelohreu, 
chronische  Periostitis  des  Promontoriums  und  eine  Atrophie  des 
Cor  tischen  Organes,  sowie  des  Ganglion  spirale,  rechts  aus¬ 
gesprochen,  links  angedeutet. 

Magnus  Moeller:34)  1.  34jährige  Frau.  Fünf  Monate  nach 
der  Infektion  subjektive  Geräusche  und  Schwerhörigkeit  links, 
otoskopischer  Befund  normal,  Schwindel  und  Gehstörungen,  Weber 
auf  die  bessere  Seite,  Knochenleitung  verkürzt. 

2.  21  jähriger  Mann.  Ertaubt  plötzlich  sechs  Monate  nach 
der  Infektion.  Die  otiatrische  Diagnose  lautete  auf  Labyrinth¬ 
läsion.  Quecksilber  und  Pilokarpin  blieben  ohne  unmittelbaren 
Erfolg,  aber  nach  drei  Monaten  verschwand  die  Taubheit  voll¬ 
ständig. 

Stümpke:85)  1.  2p2  Monate  nach  dem  ersten  Exanthem. 
4V8  Monate  nach  der  Infektion,  plötzlich  Erbrechen,  Schwindel, 
vier  Tage  später  deutliche  Gehstörungen,  Sausen  und  Schwer¬ 
hörigkeit  links,  Nystagmus  nach  links,  beim  Stehen  und  Gehen 
mit  geschlossenen  Augen  Schwanken  mit  Fallrichtung  nach  hinten. 
Aeußeres  und  Mittelohr  normal,  Flüstersprache  1  m,  Weber  auf 
die  gesunde  Seite,  Rinne  positiv.  Ungefähr  drei  Wochen  nach 
dem  Einsetzen  dieser  Erscheinungen  war  die  W  as  s  er  mann  sehe 
Reaktion  negativ.  Behandlung  zuerst  mit  Inunktionskur, 
dann  mit  Kalomelinjektionen,  nach  vier  Wochen  bedeutende 

Besserung. 

2.  26jährige  Frau.  Drei  Monate  nach  dem  Exanthem,  fünf 
Monate  nach  der  Infektion,  Schwerhörigkeit  und  subjektive  Ge¬ 
räusche  links,  äußeres  und  Mittelohr  normal,  Flüstersprache  links 
1  m,  Weber  auf  die  gesunde  Seite,  Rinne  positiv,  kein  Nystag¬ 
mus,  Schwanken  beim  Stehen  mit  geschlossenen  Augen.  Geheilt 
(Flüstersprache  7  m)  nach  Injektionskur  mit  Kalomel. 

Wie  aus  dieser  Zusammenstellung  hervorgellt,  sind 
die  Fälle  von  Erkrankungen  des  inneren  Ohres  im  rezenten 
Stadium  der  Lues  durchaus  nicht  so  selten,  wie  von  den 
eingangs  erwähnten  Autoren  angenommen  worden  ist  und 
gewiß  nicht  in  der  Literatur  ,,fast  unbekannt“.  Damit  stimmt 
auch  folgende  Aeußerung  Rosensteins25)  überein:  ,,Die 
syphilitischen  Erkrankungen  des  Hörnerven  sind  viel  häu¬ 
figer,  als  bisher  angenommen  wurde.  Ein  sehr  großer 
Teil  der  Fälle  von  Akustikussyphilis  ist  bislang  unbekannt 
geblieben.  Dies  fand  einerseits  seinen  Grund  in  der  ,ge>- 
ringen  Beachtung,  die  dem  Hörnerven  immer  noch  geschenkt 

3U)  Annales  de  Dermatologie  1894,  S.  1352. 

81)  Annales  de  maladies  de  l’oreille  etc.  1901,  S.  143. 

32)  Zeitschr.  für  Ohrenheilkunde,  Bd.  53,  S.  108. 

3S)  Zeitschr.  für  Ohrenheilkunde  1910,  Bd.  60,  S.  260. 

3‘)  Archiv  für  Dermatologie  und  Syphilis  1895,  Bd.  38,  S.  375. 

*»)  Dermatologische  Zeitschr.  1909,  Bd.  16,  S.  339. 


wird.  Bei  der  bisher  geübten  Methode,  das  Ohr  nur  im 
Falle  grober  Hörstörung  zu  untersuchen,  mußte  ein  großer 
Teil  der  Fälle  von  syphilitischen  Erkrankungen  des  Aku- 
stikus  der  Beobachtung  um  so  sicherer  entgehen,  als  die 
luetische  Neuritis  acustica  nicht  nur  nicht  zu  bedeutenderen 
Beschwerden  zu  führen  braucht,  sondern  sogar  ohne  jedes 
subjektive  Symptom  bestehen  kann.“ 

Dem  ist  nur  wenig  mehr  hinzuzufügen.  Wenn  man  die 
einzelnen  angeführten  Fälle  im  Originale  genau  durchsieht, 
so  erkennt  Inan,  daß  sie  meistens  nur  publiziert  wurden, 
weil  sie  aus  irgend  einem  Grunde  dem  Autor  besonderes 
Interesse  zu  bieten  schienen.  Eine  systematische  Unter¬ 
suchung  eines  großen  Materiales  von  Syphilitikern  liegt  in  i 
der  Literatur  eigentlich  noch  nicht  vor.  Ihre  Ergebnisse  j 
könnten  nur  dann  als  einwandfrei  angesehen  werden,  wenn  i 
sämtliche  Luesfälle  einer  Station  einer  otiatrischen  Prüfung  | 
unterzogen  würden.  So  lange  man  sich  darauf  beschränkt,  ; 
diejenigen  Patienten,  die  spontan  Angaben  über  Hörstö-  j 
rungen  machen  oder  deren  Störungen  so  hochgradig  sind,  i 
daß  sic  ohneweiters  auffällen,  zu  untersuchen,  wird  ge¬ 
wiß  immer  ein  Teil  der  Fälle  unentdeckt  bleiben  müssen.  ; 
Daß  noch  ein  großer  Teil  hierher  gehöriger  Kasuistik  in 
den  Einzelbeobachtungen  der  Dermatologen  und  Otiater 
verborgen  liegt,  geht  schon  aus  folgendem  Umstande  hervor:  | 

Anläßlich  der  eingangs  zitierten  Aeußerungen  in  der 
Gesellschaft  der  Aerzte  hat  Benario36)  die  im  Ehrlich- 
schen  Institute  eingelaufenen  Berichte  über  die  mit  Salv- 
arsan  behandelten  Patienten  durchgesehen.  Da  diese  Be¬ 
richte  meistens  mit  mehr  oder  weniger  ausführlichen  Krank¬ 
heitsgeschichten  versehen  waren,  die  sich  auf  die  Zeit  vor  I 
der  Anwendung  dieses  Mittels  bezogen,  konnte  er  aus  ihnen 
eine  größere  Anzahl  von  Fällen  entnehmen,  in  welchen 
Störungen  von  seiten  dös  inneren  Ohres  vorhanden  waren. 
So  fand  er  in  einem  Falle  höchstens  sieben  Monate  nach 
der  Infektion,  in  einem  anderen  Falle  vier  Monate,  in 
einem  weiteren  Falle  vier  Monate  nach  dem  ersten  Exan¬ 
them,  dann  fünf  Monate  nach,  dem  Primäraffekte,  dann 
1 V2  Monate  nach  dem  'Primäraffekte,  dann  ungefähr  ein 
halbes  Jahr  nach  dem  Primäraffekte,  dann  zwei  bis  drei  j 
Monate  nach  dem  Primäraffekte  Erscheinungen  von  Er¬ 
krankungen  des  inneren  Ohres.  Es  sei  bemerkt,  daß  in 
allen  diesen  Fällen  die  Erscheinungen  nach  der  Anwen¬ 
dung  des  Salvarsans  geheilt  oder  gebessert  waren,  Aber 
es  ist  kein  Zweifel,  daß  diese  Fälle  niemals  bekannt  ge¬ 
worden  wären,  wenn  sie  nicht  durch  die  Salvarsanbehand- 
lung  Interesse  gewonnen  hätten  und  so  mag  es  mit  einer 
außerordentlich  großen,  Anzahl  anderer  Fälle  gegangen  sein, 
die  infolge  Mangels  eines  äußeren  Anlasses  niemals  in  die 
Oeffentlichkeit  gelangten. 

Die  Frage  nach  der  neurotropen  Wirkung  des  Salv¬ 
arsans  und  insbesondere  die  Frage,  ob  seine  Anwendung 
eine  besondere  Gefahr  für  den  Akustikus  bedeute,  ist  na¬ 
türlich  noch  lange  nicht  gelöst.  Aber  der  Hinweis,  daß 
man  in  der  Vor-Salvarsanzeit.  im  rezenten  Stadium  der 
Syphilis  Läsionen  des  inneren  Ohres  nicht  oder  fast  nicht 
gekannt  hätte,  wird  als  Argument  in  dieser  Frage  wohl 
nicht  mehr  verwendet  werden  können. 


Aus  dem  Landeskrankeijhause  in  Klagenfurt. 

Klinische  Beobachtungen  über  Muskel-  und 

Hauttinnen. 

Röntgennachweis  verkalkter  Zystizerken. 

Bemerkungen  zur  Bandwurm-  und  Finnenstatistik. 

Von  Dr.  Karl  Pichler,  Vorstand  der  inneren  Abteilung. 

(Schluß.) 

Da  mir  ein  Widerspruch  zu  bestehen  schien  zwischen  dem 
Mangel  an  Taenia  solium  in  meinem  Bandwurm- 
materiale  und  dem  relativ  häufigen  Funde  von  Finnen 
im  Vergleiche  zu  anderen  österreichischen  Beobachtern,  so  legte 
ich  mir  die  Frage  vor,  ob  etwa  die  gefundenen  Zystizerken  gar 

3B)  Münchener  med.  Wochensc.hr.  1911,  Nr.  1,  S.  21. 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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solche  von  Taenia  saginata  gewesen  seien.  Den  Skolex.  der 
Finnen  der  ersten  zwei  Fälle  habe  ich  leider  mikroskopisch 
nicht  untersucht;  beim  Falle  IV  fand  ich,  trotzdem  ich  einen 
wenig  geschrumpften  zystischen  Zystizerkus  zur  Untersuchung 
bekam,  keine  Haken.  In  den  übrigen  13  Fällen  konnte  ich 
hingegen  jedesmal  den  typischen  Hakenkranz  nachweisen, 
bzw.  im  Falle  XVI  an  den  entkalkten  Knötchen  deutlich  typische 
Haken;  es  ist  daher  der  Gedanke  an  Finnen  von  Taenia  sagi¬ 
nata  für  diese  Fälle  völlig  von  der  Hand  zu  weisen. 

Es  wäre  übrigens  auch  ein  negativer  Befund  (hakenlose 
Finnen)  nicht  beweisend  gegen  Taenia  solium  gewesen, 
da  schon  Lew  in35)  Schweinefinnen  ohne  Hakenkranz  beschrieben 
hat,  ebenso  der  alte  Küchenmeister  (zitiert  nach  Lewin). 

Auch  Galli  Valerio36)  (Lausanne)  beschreibt,  daß  er  bei 
einer  menschlichen  Leiche  neben  einem  typischen  Xystieercus 
cellulosae  eine  zweite  Finne  ohne  Haken  und  ohne  RosLollum 
gefunden  habe. 

Die  Nichtsichtbarkeit  eines  Hakenkranzes  (im  Augenspiegel) 
bei  einem  im  Glaskörper  frei  beweglichen  Zystizerkus,  dessen 
vier  Saugnäpfe  gut  sichtbar  waren,  bewog  übrigens  auch  Per¬ 
gens,38)  denselben  (allerdings  mit  dem  einschränkenden  (?) 
Wörtchen  „wohl“)  der  Taenia  inermis  (--  saginata)  zuzuschreiben. 

Universitätsprofessor  Th.  Pint ner  (Wien)  war  so  liebens¬ 
würdig,  mich  aufmerksam  zu  machen,  daß  die  sichere  Diagnose, 
welchem  Band  wurme  eine  hakenlose  Finne  angehöre,  nur  an 
sorgfältigen  Schnittserien  möglich  sei,  indem  die  Kopfanlage  (der 
Skolex)  von  Taenia  solium  durch  eine  sogenannte  Vorhöhl©  aus¬ 
gezeichnet  ist;  näheres  hierüber  bei  Schaaf.37) 

Küchenmeister  und  auch  Lew  in  hatten  in  ihren  Fällen 
noch  die  Möglichkeit  betont,  daß  die  Schweine  den  Zysti- 
xerkus  der  Taefnia  saginata  neben  jenen  der  Taenia  solium 
beherbergt  hätten. 

Dürfen  wir  aber  überhaupt  unsere  Finnenfälle  als 
Kärtner  Herkunft  auffassen  und  ausgeben?  War  es  viel¬ 
leicht  bloßer  Zufall,  der  die  an  verschiedenen  Orten  erworbe¬ 
nen  Finnen,  richtiger  deren  Träger,  an  einem  Ortezusannnen- 
fiihrte?  Um  diese  Frage  zu  lösen,  habe  ich  selbst  alle 
meine  Kranken  möglichst  eindringlich  über  ihren  Aufenl- 
hallsort  in  den  letzten  Jahren  befragt  und  hiebei  die  be¬ 
stimmte  Angabe  erhalten,  daß  sie  (bis  auf  einen,  Fall  X, 
welcher  aus  dem  steirischen  Draulale  stammt)  sämtlich  ent¬ 
weder  niemals  oder  schon  seit  vielen  Jahren  nicht  mehr 
die  Grenzen  Kärntens  verlassen  hatten.  Demnach  habe  ich 
das  Recht,  die  15  übrigen  Fälle  als  bi  er  lands  erwor¬ 
bene  zu  bezei ebnen. 

Nicht  unerwähnt  möchte  ich  an  dieser  Stelle  lassen, 
daß  die  Fälle  III  und  V  meiner  Beobachtungsreihe,  ferner 
der  oben  (bei  den  Obduktionsbefunden)  erwähnte  Mann  mit 
Gehirnzystizerken  und  die  an  Augenfinne  erblindete  Frau 
(Schwägerin  von  V)  aus  einer  und  'derselben  k  l  einen  L a  n d- 
gemeinde  stammen,  also  möglicherweise,  Irolz  des 
zeitlichen  Auseinanderliegens,  auf  eine  und  dieselbe  Infek¬ 
tionsquelle  zu  beziehen  sind.  Diesbezügliche  Nachfragen 
nach  einem  Bandwurmträger  blieben  vergeblich. 

Pos  sells  (1.  C.)  Kranker  hat  angegeben,  daß  zwei 
seiner  Bekannten  mit  ihm  gleichzeitig  am  selben  Leiden 
(Auftreten  zahlreicher  Hautknötchen)  erkrankt  seien;  eine 
Bestätigung  durch  ärztliche  Untersuchung  ist  allerdings 
meines  Wissens  nicht  erfolgt. 

Soviel  ich  in  der  Literatur  ersah,  ist  über  solche  fa¬ 
miliäre  „Massen“- Erkrankungen  nichts  weiter  berichtet 

worden. 

An  dieser  Stelle  möchte  ich  noch  erwähnen,  daß  in  keinem 
meiner  16  Fälle  von  mir  eine  Tänie  nachgewiesen  wurde  (niakro- 
"nil  mikroskopisch©  Stuhluntersuchung !) ;  anamnes  lisch  wurde 
'  hie  solche  im  Falle  IX  erwähnt,  in  Fall  VIII  ihr  Vorkommen 
hei  der  Ehefrau;  in  den  übrigen  Fällen  sollen  weder  der  Finnen- 
li'äger,  noch  dessen  nächst©  Umgebung  je  an  Bandwurm  ge¬ 
lten  haben.  Auch  in  den  Fällen  X  und  XT,  welche  zur  Sektion 
gelangten,  war  der  Darmkanal  tänienfrei,  ebenso  in  dein  (nicht 
>ii  die  Zusammenstellung  aufgenommenen)  Falle  der  solitären  Herz- 


:5)  Le  win,  Charite-Annalen  1875,  Bd.  2,  S.  667. 

Galli  Valerio,  Zentralblatt  für  Bakteriologie  1898,  Bd.  23,  S.  939. 
3:)  II.  Schaaf,  Zur  Kenntnis  der  Kopfanlage  der  Zystizerkon. 

■»äug. -Dissert.  Gießen  1905. 

38j  Pergens,  Klin.  Monatsblätler  für  Augenheilkunde  1896 

M.  34,  S.  134. 


muskelfinne  (siebe  oben).  Da  ich  über  die  Art  des  Bandwurmes 
in  den  Fällen  VIII  und  IX  mir  keine  Aufklärung  verschaffen 
konnte,  so  liegt  natürlich  auch  die  Möglichkeit  vor,  daß 
ein©  an  der  Fiunenkrankheit  unschuldige  Taenia,  saginata  vor- 
gelege'n  hat,  wie  z.  B.  Benda  (1.  c.)  bei  seinem  Falle  fand. 

* 

Ich  gehe  nunmehr  auf  meine  eigenen  16,  oben  zu¬ 
sammengestellten  Krankenbeobachtungen  etwas  näher  ein. 
Sämtliche  Kranken  (mit  Ausnahme  von  Fall  II)  stammten 
vom  Lande  und  waren  in  bäuerlichen  Betrieben  lätig 
gewesen. 

Nach  Hirsch  borg  (1.  c.)  gehören  die  Finnenträger  meist 
nicht  „den  besser  lebenden“  Ständen  an,  allerdings  findet  sich 
auch  ein  Herzog  (s.  ('uni  er,  zitiert  nach  Stich,  1.  e.)  unter  den 
Fällen  von  Augenzystizerkus. 

Dem  Geschlecht e  nach  teilen  sich  meine  16  Fälle  in 
15  Männer  und  nur  ein  Weib,  während  das  Verhältnis 
zwischen  den  beiden  Geschlechtern  bei  der  Gesamtzahl 
meiner  Kranken  1-38  Männer  zu  1  Weibe  sich  stellt.  Nach  den 
Literaturangaben  ist  überhaupt  (siehe  Danielsen,  S.  244) 
ein  Ueberwiegen  der  männlichen  Finnenträger  vermerkt 
(2 :  l) ;  bei  den  Muskelfinnen  im  besonderen  rechnet  Da¬ 
nielsen  das  Verhältnis  von  3-4:2  aus. 

Diese  Statistiken  beziehen  sich  nur  zum  Teil  auf  le¬ 
bende  Kranke,  zum  Teil  sind  es  Sektionstischerfahrungen. 
Das  bedeutende  Ueberwiegen  des  männlichen  Geschlechtes 
in  meiner  Beobachtungsreihe  am  Lebenden  entspricht  gewiß 
nicht  dem  wirklichen  Verhältnisse,  sondern  der  verschie- 
|  denen  Schwierigkeit  der  Diagnosenstellung  bei  den  beiden 
Geschlechtern.  Ich  komme  darauf  später  noch  zu  sprechen. 

Daß  von  meinen  30  Tä  n  i  c  n  trägem  nur  5  Männer  auf 
25  Weiber  kamen,  ist  bei  der  kleinen  Zahl  .wohl  ein  Zufall.  Uebri- 
gens  weisen,  vom  alten  Peter  Frank  angefangen,  die  meisten 
Bandwurmträger-Zusammenstellungen  ein  Ueberwiegen  des  weib¬ 
lichen  Geschlechtes  auf  (siehe  P -ei per,  1.  c.,  S.  91). 

V  ie  aus  der  Tabelle  ersichtlich,  hat  nur  ein  Kranker 
(Fall  l)  angegeben,  daß  er  die  Knötchen  erst  kurze  Zeit 
(etwa,  ein  Jahr)  an,  sich  wahrgenommein  habe ;  in  diesem  einen 
Falle  .haben  wir  während  der  Beobachtungszeit  von  sieben 
Wochen  einige  neue  aufschießen  gesehen,  ohne  daß  der 
Mann  zu  dieser  Zeit  über  irgendwelche  subjektive  Beschwer¬ 
den  geklagt,  oder  solche  aus  der  früheren  Zeit  angegeben 
hätte. 

Nach  Analogie  der  Verhältnisse  bei  der  Muskeltrichi- 
nose  und  in  Ueßereinstimmung  mit  den  Versuchen  an  Tieren 
(Moslers  akute  Z  es  to  den -„Tuberkulose“,  siehe 
Pei  per,  S.  130),  welche  bei  massenhafter  Zufuhr  von  Band- 
wurmproglotliden  schwer,  manchmal  tödlich  erkranken, 
sollte  man  für  die  Fälle  multipler  Haut-  und  Muskelfinnen 
des  Menschen  Berichte  über  ein  Krankheitsbild  erwarten, 
das  durch  „rheumatische“  Beschwerden  ausgezeichnet  wäre; 
auch  Heller39)  hat  diese  Vermutung  ausgesprochen. 

In  Villarets  Handwörterbuch  der  gesamten  Medizin 
1899,  Bd.  1,  S.  423,  lese  ich,  daß  Per  rin- Marseille  bei 
einer  Frau  subkutane  Zystizerken  unter  Dermatitis 
ähnlichen  Erscheinungen  auftreten  sah. 

Kahler40)  sah  bei  einer  Kranken,  „der  jedesmali¬ 
gen  Knotenbildung  Rötung  und  schmerzhafte 
Schwellung  der  betreffenden  Stelle  vor- 
ausge  hen“. 

Sonstige,  in  diesem  Sinne  eindeutige  Krankenge¬ 
schichten  konnte  ich  nicht  auffinden.  So  darf  ich  hier  wohl 
die  Beobachtung  Oslers41)  anführen,  welche  mir  be¬ 
weisend  klingt,  obwohl  über  den  Ausgang  des  Falles  nichts 
erwähnt  ist. 

Gewöhnlich  führt  beim  Menschen  das  Eindringen  der  Larven 
zu  sehr  wenig  ausgesprochenen  Symptomen.  Manchmal  aber  sieht 
man  ein  recht  auffallendes  Krankheitsbild.  So  wurde  ein  Kranker 
ganz  steif  und  hilflos  in  meine  Klinik  gebracht.  Er  klagte  über 
Starr©  und  Jucken  in  den  Gliedmaßen,  so  daß  zuerst  an  peri- 

3!))  A.  Heller  in  Ziemssens  Handbuch  1874,  Bd.  3,  S.  337,  wo¬ 
selbst  auch  Krankengeschichten  infizierter  Tiere  zu  finden  sind. 

4°)  KG,  h  1  e  r,  Wiener  med.  Presse  1888,' Bd.  29,  S.  1009. 

4l)  W.  Osler,  Lehrbuch  der  internen  Medizin  1909,  S.  26,  über¬ 
setzt  von  E.  H  o  k  e. 


390 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


phere  Neuritis  gedacht  wurde.  Bei  der  Untersuchung  wurde  eine  | 
Anzahl  schmerzhafter  subkutaner  Knötchen  entdeckt,  die  sich  bei  i 
der  Exzision  als  Zystizerken  erwiesen.  Im  ganzen  wurden  j 
75  derartige  subkutane  Knötchen  gefunden  und  nach  der  Empfind-  j 
liehkeit.  und  Steifheit  der  Muskeln  zu  schließen,  waren  sie  wahr-  I 
scheinlich  auch  in  diesen  in  großer  Zahl  vorhanden.  Symptome  ^ 
von  seiten  des  Zentralnervensystems  bestanden  nicht. 

Auch  die  histologischen  Befunde  (Ferber,  Ordon-  | 
nez,  Bongert,  zitiert  nach  Lorenz,  1.  c.,  S.  366),  welche 
kapilläre  Hämorrhagien  um  die  jungen  Finnen  beim  Men¬ 
schen  und  beim  Tiere  nachwiesen,  lassen  ein  solches  Krank¬ 
heitsbild  erklärlich  erscheinen. 

In  keinem  meiner  Fälle  gaben  die  Zystizerken  zu  ir¬ 
gend  welchen  Klagen  Anlaß ;  immer  wurden  sie  vom  Arzte 
„entdeckt“,  fast  immer  auch  für  den  Träger,  der  von  dem 
Dasein  der  Knötchen  überhaupt  keine  Kenntnis  gehabt 
hatte  (siehe  Tabelle). 

lieber  den  Fall  I  habe  ich  schon  oben  gesprochen.  Der 
Kranke  (XV)  gab  an,  er  habe  vor  zehn  Jahren  an  Brust  und  Rücken 
mehrere  Geschwülstchen  von  der  gleichen  Größe  bemerkt,  wie 
den  im  großen  Brustmuskel  jetzt  noch  tastbaren;  diese  seien 
sämtlich  im  Laufe  der  Zeit  symptomemlos  verschwunden.  Der 
Kranke  (XVI)  will  die  kalkigen  Knötchen  vor  wenigstens  zwanzig 
Jahren  bereits  an  sich  bemerkt  haben;  dieselben  seien  nie  größer 
gewesen  (?);  eine  Krankengeschichte  aus  jener  Zeit  (Aufnahme 
wegen  Jacks  on  scher  Epilepsie)  sagt  nichts  über  das  Vorhanden¬ 
sein  von  Knoten. 

Niemals  fand  bei  meinen  16  Kranken  die  Abszedie¬ 
rung  einer  Finne  statt,  wie  solches  wiederholt  berichtet 
worden  ist.  Eine  große  Anzahl  der  von  Chirurgen  veröffent¬ 
lichen  Fälle  kam  ja  nur  durch  diese  Komplikation  zur 
Operation  und  zur  Diagnose. 

So  veranlaßte  in  dem  ersten  lebzeitig  erkannten,  multiplen 
Zystizerkenfalle  Krukenberg-Sen  dlers,  der  Druck  der  Hut¬ 
krempe  die  Abszedierung  eines  unter  der  Stirnhaut  gelegenen 
Knotens. 

Von  Kare  w  skis 42)  neun  Fällen  von  sämtlich  solitären 
Muskel-  (5)  und  Haut  (Schleimhaut)finnen  (4)  vereiterten  nicht 
weniger  als  sechs,  vier  intramuskuläre,  zwei  subkutane.  Der  Eiter 
dieser  Abszesse  ist  öfters  blutig  gefärbt,  so  mehrmals  in  Ka- 
r  e  w  skis  Fällen,  übrigens  auch  in  dem  Falle  von  Uh  de  (Deutsche 
Klinik  1851,  S.  433). 

Danielsen  (1.  c.,  S.  243)  führt  an,  daß  eis  vorwiegend  die 
solitären  Zystizerken  sind,  welche  vereitern. 

Für  diese  solitären  Finnen  hat  Gursky43)  die  eigenartige 
Hypothese  aufgestellt,  daß  sie  nicht  durch  Einwanderung  vom 
Verdauungskanal  ihre  Entstehung  finden,  sondern  durch  eine 
solche  von  der  Körpeir (Haut)  ob  erf  läche  aus.  G-ursky 
findet,  daß  bei  der  Einfuhr  von  Tänieneiern  durch  den  Mund  ihm 
das  Auftreten  nur  eines  Zystizerkus  völlig  unerklärlich  erscheine; 
er  hält  das  Ergebnis  des  einen  Leucka  rt sehen44)  Versuches, 
in  welchem  nach  Proglottidenfütterung  eines  Schweines  nur  eine 
einzige  Muskelfinne  gefunden  werden  konnte,  für  einen  beson¬ 
deren  Zufall.  Er  meint,  daß  von  kleinen  Epithelverlusten  aus 
Bandwurmeier  in  den  Organismus  eindringen  könnten.  Auch  für 
die  Augenfinne  möchte  Gursky  diese  Eintrittspforte  als  möglich 
aufstellen,  da  auch  diese  nach  Albrecht  v.  Graef  e45)  meist  solitär 
auftrete.  Allerdings  führt  Kr  a  ein  er46)  mehrere  gegenteilige  Fälle 
an  (Glaskörperzystizerken  mit  multiplen  Haut-  oder  Gehirnfinnen). 
Gurskys  Annahme  wurde  weder  von  ihm,  noch  meines  Wissens 
auch  seither  von  anderer  Seite  durch  experimentelle  Versuche 
gestützt. 

Es  hat  übrigens  schon  Stich  (1.  c.,  S.  225)  die  Möglich¬ 
keit  des  Eindringens  von  Tänien-,, Eiern“  durch  Hautwunden  für 
die  multiple  Finneininvasion  (solitäres  Vorkommen  ist  ihm  über¬ 
haupt  fraglich)  erörtert,  übrigens  ein  solches  Zustandekommen 
für  unmöglich  erklärt. 

Für  die  Anky  lostomen  hat  bekanntlich  Looss  seit  1898 
(siehe  Zeintralblatt  für  Bakteriologie,  24.  Bd.,  S.  484)  —  anfäng¬ 
lich  verspottet  —  die  Einwanderung  der  Larven  durch  die  Haut¬ 
decken  bei  Tieren  und  beim  Menschen  bewiesen. 


42)  Karowski,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1887,  Bd.  24,  S.  571. 
*'s)  G  ursk  y,  luaug. -Dissert.  Greifswald  1890. 

44)  R.  Leuckar  t,  Die  menschlichen  Parasiten  1863,  Bd.  1,  S.  231 . 
46)  A.  v.  Graefe,  Archiv  für  Ophthalmologie  1866,  Bd.  12,. 
2.  Abt.,  S.  176. 

46)  A.  Kraemer.  Grael'e-Saemisch'  Handbuch  der  Angenheil¬ 
kunde  1899,  Bd.  10,  2.  Auf!.,  S.  100. 


Wie  das  Einschießen  der  Finnen  in  die  Muskeln 
meist  unbemerkt  zu  erfolgen  scheint,  so  gilt  dies  ge¬ 
wiß  auch  für  die  späteren  Stadien  des  Heranwachsens. 

Die  Störungen,  welche  z.  B.  Lewin47)  nach  fremden  und 
eigenen  Krankengeschichten  berichtet  (Schmerzen  und  Bewegungs¬ 
beschränkung  der  befallenen  Körperteile),  sind  bei  näherem  Zu¬ 
sehen  teils  von  größeren  Knoten,  besonders  aber  von  abszedie- 
renden  (wie  die  zwei  zitierten  Fälle  K  a r  e  w  skis  VI  und  IX) 
ausgelöst  worden,  manchmal,  wie  die  Krämpfe,  mit  viel  größerer 
Wahrscheinlichkeit,  wenn  nicht  sicher,  auf  Gehirnzystizerken  zu 
beziehen . 

Lewin  springt,  um  die  Häufigkeit  der  durch  die  Haut- 
Muskel-Finnen  bedingten  örtlichen  Störungen  darzutun,  mit  den 
Quellen  recht  willkürlich  um. 

Es  sei  mir  gestattet,  dies  an  einzelnen  Beispielen  darzutun, 
nachdem  Lewi n  auf  dem  Gebiete  als  Autorität  gilt  und  die 
Stieb  sehe  Arbeit  schwerer  zugänglich  ist !  Stichs  erster  Fall 
(l.  c.,  S.  178),  welchen  dieser  durch  Jahre  beobachtete,  an  welchem 
er  das  Heranwachsen  der  Knoten  studiert  hatte,  gab  an,  daß  ein 
anderer  Arzt  die  Zystizerken  für  „Gichtknoten“  erklärt  habe. 
Daraus  folgert  Lewin:  „Es  müssen  wohl  ziemlich  starke 
Schmerzen  vorangegangen  sein“.  Lewin  bedenkt  also  weder, 
daß  die  Tophi  meist  schmerzlos  auffahren  und  anwachsen,  noch 
daß  Stich  die  Schmerzlosigkeit  der  Knoten  besonders  betont 

In  Himlys  Falle  (Fund  massenhafter  Haut-,  Muskel-  und 
Hirnfinnen  hei  einer  Leichenöffnung)  zitiert  nach  Stich  (1.  c., 
S.  192),  ergab  die  Nachfrage,  „daß  der  Kranke  seit  einigen  Jahren 
ungewöhnlich  schläfrig  gewesen,  an  häufigen  Wadenkrämpfen 
und  auch  an  Krampf  der  Finger  bis  zu  dem’  Grade  gelitten  habe, 
daß  sie  ihm  steif  stehen  blieben“.  Schon  Stich  deutet  all  dies 
als  von  den  Hirnfinnen  abhängig;  Lew  in  erklärt  es  für  Muskel¬ 
schmerzen. 

Am  „freiesteh“  geht  Lewin  (S.  219)  in  der  Wiedergabe  von 
Stichs  zweitem  Falle  (1.  c.,  S.  179)  vor.  Stich  hatte  die  Frau 
zwei  Jahre  vor  ihrer  tödlichen  Erkrankung  entbunden  und  hiebei 
die  massenhaften  Muskelzystizerken  gefunden.  „1849  erkrankte 
die  Frau  an  Cholera  und  starb  wenige  Stunden,  nachdem  ich 
zu  ihr  gerufen  war;  sie  hatte  sehr  heftige  Muskelkrämpfe.“  Stich 
sagt,  weiter:  „Die  Kranke  hat  nie  an  Schmerzen  in  den  Muskeln 
während  des  Bestehens  der  Zystizerken  gelitten.  Sie  war  von 
großer  Muskelkraft,  obwohl  einzelne  ihrer  Muskeln  mehr  Zysti¬ 
zerken  als  Muskelfleisch  hielten.“  Lewin  schreibt  über  diesen 
Fall:  Bei  einer  Frau  Stichs  mit  Finnen  wurde  während  einer 
Choleraepidemie  auch  Cholera  angenommen,  weil  sie  Waden¬ 
krämpfe  und  diarrhoische  Stühle  hatte.  Erst  die  Sektion  klärte 
den  Irrtum  auf. 

Es  hat  übrigens  schon  Ferber  (Virchows  Archiv  1865, 
Bd.  32,  S.  249)  eine  ähnliche  Umdeutung  der  obigen  Fälle  Stichs 
und  Himlys,  wie  Lewin,  versucht. 

Ferh  ers  eigener  Fall  XII  (Archiv  der  Heilkunde  1862,  Bd.  3, 
S.  542),  welcher  hartnäckigen  Singultus  aufwies,  könnte  bei 
der  nachgewiesenen  Durchsetzung  des  Zwerchfelles  „mit  zahl- 
reichen  Blasenwürmern“  in  diesem  Sinne  am  ehesten  an¬ 
geführt  werden;  doch  liegt  auch  hier  die  Ableitung  aller  Erschei¬ 
nungen,  auch  des  plötzlichen  Todes,  von  den  reichlichen  Gehirn¬ 
finnen,  näher. 

Für  jeden  Arzt,  welcher  gewohnt  ist,  den  entblößten 
Oberleib  des  Kranken  zu  besehen,  wird  das  Wahrnehmen 
der  Knoten  ein  leichll.es  sein,  falls  nicht  das  Unter¬ 
hautfett  stärker  ausgebildet  ist.  Dieses  wird  natürlich  auch, 
der  näheren  Betastung  der  Knötchen  hinderlich  sein  und  so 
die  Diagnose  unter  Umständen  unmöglich  machen.  In  diesem 
Momente  erblicke  ich  auch  die  Erklärung  dafür,  daß  ich 
mit  Ausnahme  eines  kachoktischen  Weibes  (mit  Magenkrebs, 
Fall  II)  nur  bei  Männern  Finnen  entdecken  konnte;  von 
diesen  waren,  wie  aus  der  Tabelle  zu  ersehen,  nur  drei 
unter  50  Jahren  (Fall  III,  VIII,  XIV);  stets  handelte  es  sich 
nach  den  Krankengeschichten  um  magere  Personen. 

ln  den  Seklionsstatistikcn  steht  die  Mehrzahl  der  Er¬ 
krankten  in  mittleren  Lebensjahren. 

Wenn  ich  also  das  Entdecken  der  Finnen  in  meinen 
Fällen  für  ein  Leichtes  erklären  muß,  gebe  ich  natürlich 
gerne  zu,  daß  mir  im  Drange  der  täglichen  Arbeit  ein  oder 
auch  mehrere  Fälle  entgangen  sein  werden,  wenn  auch  das 
Auge  und  der  tastende  Finger  im  Laufe  der  Jahre  mit  der 
zunehmenden  Erfahrung  geübter  geworden  sind. 


47)  G.  Lewi»,  Archiv,  für  Dermatologie  1894,  Bd.  26.  S.  217. 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


391 


Von  meinen  16 Fällen  habe  ich  nur  in  den  Fällen  VII  (zwei 
vereinzelte  Hautzystizerken)  und  IX  (solitäre  Finne  in  einem 
Musculus  biceps  brachii)  die  Knoten  erst  beim  zweiten 
Kranken  haus  auf  enthalte  bemerkt;  doch  werden  diese 
wohl  älterer  Herkunft  gewesen  sein. 

Wer  von  schlecht  untersuchten  Fällen  hören  will,  lese  bei 
Lew  in  (1.  c.,  S.  622  und  ff.)  einige  ^drastische  Obduktionsbefunde 
nach;  man  vergleiche  auch  H.  Chiari  (Anzeiger  der  Gesell¬ 
schaft  der  Aerzte  in  Wien  1876,  S.  98),  wo  bei  einem  im  Status 
epilepticus  verstorbenen,  alten  Manne  an  der  Leiche  sofort  zahl¬ 
reiche  „Protuberanzen“  der  Hautoberfläche  auffielen,  welche  beim 
Einschneiden  als  Zystizerken  sich  erwiesen. 

Selbstredend  (können  Inspektion  und  Palpation 
uns  auejh  bei  größter  Borgfalt  im  besten  Falle  nur  die  Haut- 
und  die  oberflächlich  gelegenen  Muskelfinnen 
auffinden  lassen;  die  im  Muskelfleische  tiefsitzenden  ent¬ 
gehen  der  Diagnose  am  Lebenden;  über  ihre  allfällige  Rönt¬ 
gendiagnose  siehe  später. 

Der  Vorwurf,  welchen  1879  ein  Wiener  Dermatologe,  Eduard 
Schiff  (zitiert  nach  Posselt,  1.  c.,  S.  429)  seinen  engeren 
Fachkollegen,  aber  auch  den  österreichischen  Internisten  und 
Chirurgen  macht,  solche  Fälle  öfters  verkannt  zu  haben  —  auch 
Lew  in  (1.  c.,  S.  627)  findet  es  auffällig,  daß  zu  dem  ziemlich 
häufigen  Funde  von  Muskelfinnen  an  der  Leiche  (Rokitansky 
1844)  Hebra  unter  80.000  Kranken  keinen  Fall  von  Haut-  oder 
Muskelzystizerken  bringen  konnte  —  ist  vielleicht  dahin  abzu¬ 
schwächen,  daß  in  der  vorantiseptischen  Zeit  selbst  eine  so 
kleine  Operation,  wie  sie  eine  Probeexzision  darstellt,  zu  rein 
diagnostischen  Zwecken  nicht  gerne  äusgeführt  wurde,  daß  aber 
ohne  eine  solche,  wie  wir  weiter  unten  ausführen  wollen,  eine 
sichere  Diagnose  nicht  zu  erlangen  ist. 

Auffällig  ist  gewiß,  daß  weder  Jari  sch,48)  noch  Lorenz 
(1.  c.)  in  ihrer  Darstellung  der  Haut-,  bzvv.  Muskelfinne  sich  auf 
eigene  Beobachtungen  beziehen,  also  anscheinend  keine  solchen 
gemacht  haben. 

Für  die  Seltenheit  des  Fundes  (ob  auch  des  Vorkommens?) 
von  menschlichen  Finnenträgern  in  Wien  spricht  wohl  auch, 
daß  W.  Falta49)  (1908)  einen  Fall  von  Hautzystizerken  mit  auf 
Gehirnzystizerken  zu  beziehenden  Erscheinungen  in  der  Wiener 
Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  •  vor¬ 
gestellt  hat. 

Bremser  (1.  c.,  S.  242)  sagt  bezüglich  de.s:  Cysticercus 
cellulosae,  daß  er  seit  zehn  Jahren  „im  V  iener  All¬ 
gemeinen  Krankenhause,  wie  auf  dem  anatomischen  I  heater 
darauf  Bestellungein  gemacht,  habe“,  aber  keine  erhalten  konnte. 
Die  Menschenfinnen  seiner  Sammlung  verdankt  er  (wie  den  ersten 
haken  tragenden  Bandwunnskolex,  siehe  oben)  Rudolph  i  in 
Berlin . 

Von  meinen  16  Fällen  sind  in  11  sicher  multiple  Zy¬ 
stizerken  getastet  worden ;  in  zwei  (Fall  V  und  XIII)  war  je 
neben  der  einen,  durch  Exstirpation  sichergestellten  Finne 
noch  ein  als  Zystizerkus  fragliches  Muskelknötchen  tastbar 
gewesen;  in  drei  Fällen  (Fäll  II,  IX,  XII)  fand  sich  nur  je 
ein  Muskelzy stizerkus  u.  zw.  in  den  Musculis  cuculla- 
ris,  biceps  brachii  und  deltoideus. 

Während  aber  in  acht  Fällen  die  Zahl  der  getasteten 
Knoten  eine  sehr  reichliche  zu  nennen  war,  dieselbe  ein 
oder  mehrere  Dutzend  betrug,  konnte  ich  im  Falle  VI  mir 
zwei  Muskelknoten,  im  Fälle  VII  nur  zwei  Hautfinnen,  im 
Falle  VIII  außer  einem  Muskelzystizerkus  noch  je  einen 
Haut-  und  Schleimhautzystizerkus  (Wange)  auffinden. 

Ueber  die  Verteilung  der  Finnen  auf  die  ein¬ 
zelnen  Muskeln  findet  sich  bei  Danielsen  (1.  c.)  die 
Angabe,  daß  nicht  nur  der  solitäre  Zystizerkus  im  großen 
Brustmuskel  auffällig  oft  zu  finden  sei  (achtmal  unter  33 
Fällen),  sondern,  daß  auch  bei  multiplem  Vorkommen  dieser 
Muskel  einen  Lieblingsplatz  des  Schmarotzers  darstelle;  nach 
diesem  folgen  die  Armmuskeln,  die  des  Rumpfes  und  zuletzt 
die  der  Reine. 

Schon  der  alte  Rudolphi  hat  (zitiert  nach  Send  lev, 
Dissert.  Halle  1843)  dein  Zystizerkus  an  der  Leiche  vorwiegend 
in  den  „größeren  Muskeln“  gefunden. 

Bei  meinen  15  Muskelfinnen  trägem  (Fall  VII  wies 
nur  Hautzystizerken  auf)  war  der  Musculus  pectoralis  major 

— — -  i 

.Tarisch,  Hautkrankheiten-  in  Nothnagels  Handbuch  1900 

Bd.  24,  1.  T.,  S.  622. 

«»)  Falta,  Wiener  med.  Wochenschr.  1908.  Bd.  58,  S.  92 1. 


siebenmal  befallen,  meist  sehr  reichlich.  Ebenso  fand  ich 
(siehe  Tabelle)  die  Muskeln  des  Rumpfes  öfter  und  auch, 
wie  ich  hier  besonders  hervorheben  möchte,  reichlicher  von 
Finnen  durchsetzt,  als  die  der  Arme. 

An  den  Beinen  konnte  ich  nur  selten  Knoten  tasten, 
was  wegen  der  anders  beschaffenen  (dickeren,  bzw.  straf¬ 
feren)  Haut-  und  Fasziembedeckung  an  und  für  sich  erklär¬ 
lich  erscheint,  also  für  die  Annahme  eines  selteneren  Be¬ 
fallenseins  picht  ohne  weiteres  verwertet  werden  darf. 

Besprechein  möchte  ich  an  dieser  Stelle  noch  das  Vor¬ 
kommen  von  Zystizerken  in  der  Zunge.  Beim  Schweine 
ist  die  Zunge  nämlich  ein  Lieblingssitz  der  Finne,  so 
daß  in  der  französischen  Sprache  der  Fleichbeschauer  danach 
den  Namen  Langueyeur  führt! 

Nach  J.  Hirschberg  (Berliner  klinische  Wochenschrift 
1.892,  29.  Jahrg.,  S.  363)  erwähnt  schon  Aristophanes  die 
Untersuchungsart  der  Schweine  auf  Finnen  durch  Besichtigung 
der  vorigestreckten  Zunge. 

Beim  Menschen  hingegen  ist  die  Zunge  ein  seltener 
Sitz  des  Zystizerkus  (vgl.  Hubers  Bibliographie,  S.  59).  Auf 
unstatthafter  Uebertragung  der  Verhältnisse  des  Schweines  auf 
dein  finnigen  Menschen  beruhen  einige  Literaturangaben  zur  Dia¬ 
gnose  der  Zystizerkose  des  Menschen.  So  hat  Heller  (1.  c., 
S.  347)  bei  Verdacht  auf  Gehirnzystizerken  beim  Menschen 
Suchen  nach  Parasiten  im  Auge,  im  Unterhautzellgewebe  „und 
in  der  Zunge“  empfohlen. 

Aber  auch  in  der  neueren  und  jüngsten  Zeit  finden  sich 
noch  gleiche  fehlerhafte  Winke. 

So  sprechen  Bruns50)  und  Si  einer  ling51)  hei  der  Dia¬ 
gnosenstellung  auf  Gehirnzystizerken  gleichfalls  von  Nachschau 
„unter  der  Zunge“  I 

Beobachtungen  über  das  interessante  Phänomen  der  Orts¬ 
veränderung  der  Hautfinnen  (Lewin,  S.  635  ff.)  habe 
ich  nicht  machen  können,  obwohl  ich  einige  der  Kranken  wieder¬ 
holt.  und  durch  längere  Zeit  in  Beobachtung  hatte. 

Auf  mißverstandener  Auffassung  der  Angabe  v.  Graefes 
(1.  c.,  176)  über  die  „Sukzession“  von  Gehirn-  und  Augenfinnen, 
beruht  die  Darstellung  G.  Lew  ins  in  den  Charite- Annalen  (1. c.) 
und  noch  neuesten®  die  Bemerkung  bei  P.  Fra n  g  en  heim  (Samm¬ 
lung  klinischer  Vorträge  von  Volk  mann,  1906,  Nr.  424,  S.  470): 
Es  steht,  fest,  daß  der  Zystizerkus  im  Gehirn  seinen  Sitz  wechseln 
kann.  Kranke,  die  früher  an  epileptiformen  Krämpfen  gelitten, 
zeigten  später  einen  intraokulären  Zystizerkus,  nachdem  die  Hirn- 
erscheiiiunigen  vollkommen  geschwunden  waren. 

F.  Marc  hand  (1.  c.,  S.  187)  sagt  hingegen  ausdrücklich: 
Von  Kanälen  in  der  Hirnsubstanz,  wie  sie  infolge  der  Wande¬ 
rung  der  Blasenwürmer,  z.  B.  beim  Coenurus  der  Schafe  Vor¬ 
kommen,  ist  beim  Menschen  nichts  bekannt.  Es  scheint 
demnach,  daß  die  Embryonen  sich  dort  festsetzen,  wo¬ 
hin  sie  durch  den  Blutstrom  gelangt  sind. 

Bezüglich  der  näheren  Charakterisierung  der  Knoten 
als  Zystizerken.  kann  in  erster  Linie  auf  Stic'hs  grund¬ 
legende  Arbeit  verwiesen  werden. 

Stich,52)  Assistent  an  Rombergs  Poliklinik,  verfügte 
außer  der  damaligem  Literatur  im  ganzen  über  acht  Fälle  (fünf 
sichere  eigene,  einen  wegen  nicht,  vorgenommener  Probeexzision 
fraglichen  und  zwei  Sektionsbefunde  H.  Meckels).  Er  betont  das 
Vorkommen  unter  Id  er  Haut,  vorwiegend  unter  der 
F  a  s  z  i  e,  also  in  den  Muskeln. 

Gleich  Po ss  old  (1.  c.,  S.  425)  spricht  auch  mir  der  Nach¬ 
weis  von  Knötchen  sowohl  im  subkutanen  Zellgewebe, 
als  auch  in  den  Muskeln,  sehr  für  Finnen,  da  durch  die 
zweifache  Lokalisation  mehrere  in  Frage  kommende  Geschwülste 
aus'scheiden. 

Die  Tumoren  sind  ferner,  wenn  subkutan,  meist  allseitig 
gut  verschieblich,  die  Muskelfinnen  (natürlich  nur  mit  dem 
Muskel)  senkrecht  auf  die  Faserrichtung. 

Jeder  Zystizerkus  ist  gesondert  vom  andern;  es  gibt 
unter  der  Haut  anscheinend  keine  Razemosusform  wie  in  den 
Hirnhäuten. 

Die  Form  der  Hautfinnen  ist  meist  eine  annähernd  ku¬ 
gelige,  die  der  Muskelfinnen  eine  ovale  (Bohnen-,  Dattelkem- 
förm).  Die  Größe  ist  meist  die  einer  Erbse  bis  Bohne  oder 

'  _  ■  ,i  i  ■  a  1 

50)  L.  Bruns,  Eulenburgs  Realenzyklopädie  1895,  Bd.  8,  3.  Auf¬ 
lage,  S.  620. 

51)  S  i  e  m  e  r  1  i  n  g  im  Lehrbuch  der  Greisenkrankheitenv.  Schwalbe, 
1909.*S.  551. 

$|  »*)  A  stich,  Annalen  des  Charite-Krankenhauses  1854,  V.  Jahr¬ 
ganges.  154. 


392 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


Haselnuß.  Da  ein  öfteres  Einwandern  meist  nicht  stattzufinden 
scheint,  so  sind  die  vorfindlichen  Tumoren  durchschnittlich  alle 
von  gleicher  Größe,  was  schon  Stich  besonders  hervorhebt. 
Fon  glatter  Oberfläche,  sind  die  Knötchen  prall,  knorpelhart 
arizufühlen.  r 

Der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  ist  ferner  gewiß  die  von 
St  ich  betonte  Schmerzlosigkeit  eigen ;  kommt  es  ausnahms¬ 
weise,  besonders  bei  den  solitären  Fällen  (siehe  oben),  zu  Fnt- 
zündungserscheinungen,  so  wird  vor  der  Exstirpation  kaum  je 
eine  Vermutungsdiagnose  auf  Finnen  möglich  sein.  Dasselbe 
gilt  auch  hei  anderer  Abweichung  vom  gewöhnlichen  Bilde  (ab¬ 
norme  Größe). 

Bei  Berücksichtigung  aller  oben  ausgeführten  Eigenschaften 
der  Knoten  wird  in  den  typischen  Fällen  vielfacher  Haut-  und 
Muskelzystizerken  die  Diagnose  kaum  auf  Gummen  gelenkt 
werden,  was  zum  Schaden  der  Träger  nach  Lewin  (].  c.)  in 
zahlreichen  Fällen  geschehen  ist  und  den  Kranken  unnötigerweise 
zu  langwierigen  antiluetischen  Kuren  verhalf;  die  Zystizerken 
blieben  von  Jod  und  Quecksilber  unberührt,  ebenso  Gehirnerschei¬ 
nungen,  von  intra zerebralen  Finnen  abhängig,  die  aber  gleichfalls 
für  syphilitische  Symptome  erklärt  worden  waren. 

In  den  Fällen  multipler  Haut-Muskelfinnen  (so  in 
meinen  Fällein  I,  III,  IV,  X,  XI)  ist  gewiß  die  Wah  r  sch  einli  ch¬ 
ic -eit  s -di  agn  ose-  auf  Zysti  z-e'rken  auch  ohne  Her  aus¬ 
schneiden  eines  Knotens  wohl  begründet,  wie  diese 
nach  Stich  schon  Rom  borg  bei  den  Fällen  B oilman n  (S.  181), 
B orchard  (1.  c.,  S.  199)  gelungen  ist,  freilich  nicht  ab¬ 
solut  sicher. 

Auch  Po ss eit  (1.  c.,  S.  425)  hat  dies  schon  nach  der 
Untersuchung  eines  Falles  als  seine  feste  ITeberzeugung  hin- 
gestellt. 

Auf  Fall  IV,  als  wahrscheinlichen  Zystizerkus,  machte  mich 
der  damalige  Sekundararzt  der  Beobachtungsabteilung,  Herr  Doktor 
Weißhaupt,  aufmerksam,  welcher  auf  meiner  Abteilung  kurz 
vorher  den  Kranken,  Fall  III,  gesehen  hatte. 

Bei  solitärem  Vorkommen  eines  Knotens  in 
einem  Muskel  ist  mir  Verwechslung  öfters  vorgekommen; 
der  herausgeschnittene  Tumor  erwies  sich  als  ein  derbes 
Lipom  oder  einmal  als  ein  Lymphknoten. 

Stich  (1.  c.,  S.  231)  ist  letztere-  Verwechslung  auch  bei 
multiplen  Knoten  mehrmals  begegnet. 

In  Karewskis  (l.  c.)  neun  Fällen  solitärer  Finnen 
scheint  in  keinem  Falle  die  Diagnose  vor  der  Operation  gestellt 
worden  zu  sein  (nach  Daniels  e-n,  1.  c.,  auch  sonst  in  keinem 
Falle  der  Literatur).  Kar-ewski  betont,  daß  die  Knoten  seinen 
Kranken  sechsmal  durch  Vereiterung  Beschwerden  verursachen 
mußten;  die  übrigen  dre-i  durch  den  Ritz  (Mundschleimhaut,  Augen¬ 
lid!  dem  Träger  auffalleln  mußten. 

Unsere  Fälle  III,  IV,  XI,  XV  und  XVI  haben  uns 
aber  gelehrt,  daß  neben  derPalpation  d  e  r  z  y  s  t  i  s  c'h  e  n 
Finnen  der  Nachweis  der  rückgebildeten,  fibrös,  be¬ 
ziehungsweise  kalkig  veränderten  Zystizerken  aus¬ 
schlaggebend  für  die  Diagnose  sein  kann,  besonders  wenn 
(Fall  III  und  IV)  vo  r  sechs  Jahren  reichliche  zystische 
Knoten  vorhanden  waren,  hei  der  späteren  Untersuchung 
fast  nur  mehr  häuf-  oder  gelreidekorngroße  kalkige  Knötchen. 

Es  hat  übrigens  schon  Stich  (l.  c.),  welcher  mehrere 
seiner  Fälle  durch  Jahre  zu  beobachten  Gelegenheit  gehabt 
hatte,  über  diese  interessante  Veränderung  berichtet;  so 
wies  der  erste  überhaupt  klinisch  diagnostizierte  Fall  Kr  li¬ 
ke  nberg-Sendlers  (1843)  statt  40  tastba  rer  Knoten  nach 
ein  paar  Jahren  nur  mehr  drei  verkalkte  auf  (Stidh, 
1.  c.,  S.  173). 

In  diesen  Fällen  kann  auch  die  11  ö n t g e n aufnahme  als 
hervorragender  diagnostischer  Behelf  dienen,  worauf  meines 
Wissens  zuerst  Stieda53)  aus  Gärres  Königsberger  Klinik 
aufmerksam  gemacht  hat. 

Bei  der  Röntgenaufnahme  der  Schultergegend  eines  37jähri- 
gen  Mannes  mit  Oberarmbrurh  fanden  sich  auf  der  Platte  eine 
Reihe  annähernd  gleich  großer,  zum  Teil  verschieden 
geformter  Schatten,  welche  an  Intensität  meist  der  Hu¬ 
merus  - Kortikalis  entsprachen;  sie  lagen  teils  frei  in  den  Weich- 
tcilen,  teils  fielen  sie  in  den  Knochenschatten.  Einen  Fehler  in 

-  I  .  4 

63)  Stieda,  Beiträge  zur  klin.  Chirurgie  1904,  Bd.  42,  S.  245, 
Vergleiche  hiezu  die  Demonstration  von  Sick  (Hamburg),  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1905,  XXXI.  Jabrg.,  S.  1294,  Röntgenplalte  von  Becken  und 
Oberschenkeln  mit  zahlreichen  Zystizerken. 


der  Platte  konnte  man  ausschließen,  da  zwei  zehn  Monate  aus¬ 
einander  liegende  Aufnahmen  denselben  Befund  ergeben  hatten; 
man  wurde  der  Gebilde  erst  auf  der  zweiten  schärferen  (mit  Blende 
angefertigten)  Platte  gewahr.  Daraufhin  nahm  Stieda  die  ge¬ 
naue  Betastung  der  Schultergegend  seines  Kranken  vor  und 
konnte  die  im  Röntgenbilde  festgestellten  Gebilde  palpieren;  es 
waren  5  bis  10  mm  lange,  einige  Millimeter  breite,  wenige  mehr 
rundliche,  klein linsdngroße,  harte,  unempfindliche  Knötchen,  von 
verschieblicher  Haut  bedeckt;  sie  selbst  waren  teils  sehr  ver¬ 
schieblich  (subkutane  Lage),  teils  wenig  verschieblich  (subfaszial 
gelagerte). 

Die  Untersuchung  -eines  Iierausg-eschnittenen  Gebildes  er¬ 
wies  dasselbe  als  Zystizerkus :  nach  Entkalkung  in  Salpeter¬ 
säure-Alkohol  (5:95)  wurden  Serienschnitte  angefertigt  und  fand 
Stieda  vereinzelte,  aber  sichere  Haken. 

In  Stiedas  Fall©  haben  also  erst  die  Röntgenstrahlen 
die  Zystizerken  entdecken  geholfen,  auch  eine  Reihe  tief¬ 
liegender  überhaupt  allein  nachgewiesen,  während  uns  die 
Aufnahme  mit  X-Strahlen  nur  eine  willkommene  Bestätigung, 
Erweiterung  und  Fixierung  des  Tastbefundes  lieferte. 

S'tieda  hat  darauf  hingewiesen,  daß  nach  der  Art  der 
Schatten  (Form,  gleiche  Größe  und  Anordnung)  nicht  an 
Geschosse,  noch  an  Venensteine,  noch  etwa  an  Reste  von 
eingespritzten  Arzneien  (Jodoform,  Jodipin)  zu  denken  war, 
daß  vielmehr  Lagerung,  Größe  und  Form  den  Gedanken 
an  verkalkte  Finnen  aufdrängte. 

Hoff a  (zitiert  nach  Stieda,  S.  250)  hat  1898  in  Würz¬ 
burg  Musk-eltrichihen  im  Röntgenbilde  vorgezeigt  (Sek¬ 
tionspräparat).  Stieda  gibt  keine  Beschreibung  der  Hoffaschen 
Röntgenplatte.  Eine  Verwechslung  mit  den  viel  größeren 
Finnen  ist  jedoch  kaum  denkbar,  sind  doch  die  verkalkten 
Muskeltrichinellew  mit  bloßem  Auge  nur  als  kleinste,  weiße 
Pünktchen,  im  Fleische  zu  sehen.54) 

Wir  haben  in  allen  fünf  Fällen  mit  tastbaren  kalkigen 
Knötchen  Röntgenaufnahmen  gemacht,  teils  mit  dem  Appa¬ 
rate  der  Krankenanstalt,  teils  (in  den  Fällen  IV,  XV  und  XVI) 
mit  dem  des  Kollegen  Dr.  A.  Leopold,  wofür  ich  demselben 
hiemil  bestens  danke.  Von  diesen  Platten  ist  die  des  Falles  III 
nicht,  gelungen,  während  die  vier  übrigen  Aufnahmen,  in 
den  Fällen  IV,  XI,  XVI  vom  Oberarme,  im  Falle  XV  von 
der  Schultergegend  angefertigt,  die  verkalkten  Knötchen  deut¬ 
lich!  aufweisen. 

In  den  Platten-  der  Fälle  XI  und  XVI  (Aufnahme  ohne 
Blende)  sind  die  Knötchen  als  zahlreiche,  bei  Fall  XVI  sämt¬ 
lich  gleichgroße,  bei  Fall  XI  verschieden  große, 
bohnenförmige  Schatten,  wie  bei  Stieda,  teils  frei  in 
den  Weichteilen,  teils  auf  dem  Knochenschaitten 
zu  sehen  (siehe  bei  stehende  Photographie  vom  Fälle  XI). 


Röntgenbild  eines  Oberarmes  des  Falles  XI. 

Die  I ’feile  weisen  auf  die  zwei,  in  den  Humerusschaften  fallenden,  ver¬ 
kalkten  Zystizerken  hin;  außerdem  linden  sich  vier  »freie«;  in  der 
Originalplatte  sind  eine  noch  größere  Anzahl  deutlich  sichtbar. 

Im  Falle  IV,  welcher  auch  für  die  Palpation  nur  bis 
stecknadelkopfgroße  Knötchen  zeigte,  (bei  Fall  XI  und  XVI 

vs "  Siehe  Stäuhli,  Trichinosis.  Wiesbaden,  Bergmann  1909. 

S.  287  und  M.  B.  Schmidt  in  Aschoff,  Spezielle  patbolog.  Anatomie, 
Fischer,  Jena  1909,  S.  217. 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


393 


waren  sie  wesentlich  größer),  fanden  sich  auf  der  I  halte 
eine  Reihe  kleiner,  scharf  begrenzter,  teils  kreisrunder,  teils 
strie'hförmiger  Schatten;  durch  eine  Doppelaufnahme,  welche 
beide  Male  einen  übereinstimmenden  Befund  ergab,  konnten 
(wie  bei  S  tie  da)  Plattenfehler  auch  von  uns  ausgeschlossen 
werden  i 

Auch  wir  fanden  durch  die  Rönlgenstrahlen  tiefliegende 
Parasiten,  welche  nicht  zu  palpierein  gewesen  waren. 

Wir  können  also  nach  unserer  Erfahrung  nur  em¬ 
pfehlen,  in  allen  Fällen  von  fraglicher  Fi n nein¬ 
krank  heit  des  Menschen  die  Aufnahme  der  Mus¬ 
kulatur  (vornehmlich  der  Oberarmschultergegend,  aber 
auch  ties  übrigen  Stammes  als  dem  Lieblingssitze  der  Zysti- 
zerken)  mit  X-Strahlen  zu  versuchen.  Ein  Auffinden 
von  den  oben  beschriebenen  gleichen  oder  ähnlichen  Schat¬ 
ten  wird  besonders  beim  weiblichen  Geschlechte  oder  bei 
fetteren  Männern  die  Palpation  ersetzen  müssen;  die  sichere 
Entscheidung  wird  allerdings  erst  die  Untersuchung  eines 
herausgeschnittenen  „Schattenkörperchens“  ergeben. 

Die  Untersuchung  mit  Röntgenstrahlen  wird  es  ferner 
jetzt  ermöglichen,  allenfalls  schon  lebzeitig  zu  entscheiden, 
ob  nicht  etwa,  wie  dies  bereits  K  a r  e  w  s  k i  (i.  c.)  und  (1  u  r  s  k  y 
(l.  c.)  ausgesprochen  haben,  so  mancher  Fall  von  „solitärem“ 
Zystizerkus  der  Haut  oder  der  Muskulatur  seinen  Namen  mit 
Unrecht  führe.  Von  meinen  eigenen  Kranken  mit  wahr¬ 
scheinlich  solitären  Finnen  (Fall  V,  IX,  XII,  XIII)  habe  ich 
leider  nur  den  Fall  V  dieser  kontrollierenden  Röntgenauf¬ 
nahme  unterziehen  können  (Februar  1911);  hiebei  konnte 
ich  keine  verkalkten  Zystizerken  auffinden. 

Ob  die  Rückbildung  der  Zystizerken  auch  ohne  Kalk¬ 
einlagerung  erfolgen  kann,  erörtert  schon  Stich  (l.  c., 
S.  172),  welcher  das  „für  das  Gefühl  spurlose  Verschwinden“ 
zahlreicher  früher  tastbar  gewesener  Knoten  in  mehreren 
Fällen  sicher  feststellte.  Im  Falle  IV  tastete  ich  gleichfalls 
keine  Spur  mehr  von  den  seinerzeit  (sechs  Jahre  zuvor) 
subkutan  nachgewiesenen  Zystizerken.  Auch  fiel  mir  in 
diesem  Falle  auf,  daß  die  Anzahl  der  mit  dem  Finger  und  auf 
der  Röntgenplatte  festgestellten  kalkigen  Muskelknötchen 
weit  hinter  der  seinerzeitigen  Zahl  der  zystischen  zurück¬ 
blieb;  im  Fälle  III,  in  welchem  die  Plattenaufnahme  nicht 
gelang,  tastete  ich  gewiß  viel  weniger  kalkige  Knötchen  als 
seinerzeit  Zysten. 

Daß  in  keinem  einzigen  meiner  Fälle  eine  Augenfinne 
nachgewiesem  wurde  (auch  nicht  möglicherweise  etwa  in  einem 
phthisischen  Augapfel  verborgen),  möchte  ich  nur  kurz  erwähnen. 

Gehi  rnzystizerken  wurden  in  den  zur  Obduktion  ge¬ 
kommenen  Fällen  X,  XI  und  XVI  nachgewiesen;  im  Falle  11 
war  leider  die  Eröffnung  des  Schädels  unterblieben.  Auf  Gehirn¬ 
finnen  zu  beziehende  Symptome  fanden  sich  in  den  Fällen  Hl 
und  XIV  als  epileptische  Krämpfe,  in  Fall  IV  als  ein  „transi¬ 
torisches  Irresein“,  in  Fäll  XVI  als  Anfälle  von  Jacksons 
Epilepsie.  In  den  Fällen  X  und  XI  waren  anamnestisch  keine 
Gehimstörungen  bekannt  geworden. 

* 

Welche  Schlüsse  können  nun  etwa  aus  der  Zahl  meiner 
Kärntner  Finnenträger  (14  Männer,  1  Weib)  auf  die  Ver¬ 
breitung  der  Zystizerkose  bei  der  Kärntner  Be¬ 
völkerung  gezogen  werden? 

Die  Gesamtzahl  meiner  Fälle  (16  in  elf  Jahren)  ist  eine 
große  zu  nennein;  hat  doch  G.  Lew  in,  welcher  als  Leiter  der 
Berliner  Hautklinik  über  ein  ungleich  größeres  Krankenmaterial 
verfügte,  in  17  Jahren  (1875  bis  1892)  nur  14  Fälle  beobachtet. 

Aus  den  oben  bei  der  Diagnostik  erörterten  Gründen 
kann  beim  Weibe  von  einer  Erkennung  bei  Lebzeiten 
seltener  die  Rede  sein.  Es  besagt  also  bei  diesem  Ge¬ 
schlechte  die  Zahl  der  lebzeitig  gefundenen  Fälle  überhaupt 
nichts  über  die  tatsächliche  Häufigkeit.  Ich  trage  aber  auch 
für  das  männliche  Geschlecht  Bedenken,  eine  Verhältnis¬ 
zahl  aufzustellen. 

Unter  den  rund  11.500  männlichen  Kranken,  welche 
ich  in  13V2  Jahren  im  Krankenhause  zu  behandeln  hatte 
und  fast  ausnahmslos  selbst  untersucht  habe  (davon  gewiß 
10.000  Kärntner),  sind  kaum  bloß  die  14  von  mir  gefundenen 
mit  Haut-  und  Muskelzyst.izerken  behaftet  gewesen.  Zudem 


ist  die  absolute  Zahl  der  untersuchten  Männer  im  Verhältnis 
zur  Gesamtbevölkerung  eine  zu  geringe,  um  eine  Verall¬ 
gemeinerung  zu  erlauben. 

Es  kommt  aber  diesbezüglich  noch  ein  weiterer  Punkt 
zur  Erwägung. 

Bei  den  A ugeuf innen  ist  der  Arzt,  selbst  wenn  der  Kranke 
nicht  sofort  beim  Eintreten  der  Sehstörung  seine  Hilfe  bean¬ 
sprucht,  in  der  Lage,  nach  der  Angabe  des  Kranken  über  den 
Beginn  den  Zeitpunkt  des  „Einschießens“  genau  bestimmen 
zu  können.  Bei  den  Haut  -  Muskelfinnen  vermissen  wir,  wie  oben 
bemerkt,  eine  anamnestisclie  Angabe  über  Funktionsstörungen 
durch  das  Auftreten  der  Zystizerken  meist  völlig;  wir  sind  für 
die  Zeitbestimmung  nur  auf  die  Angabe  des  Kranken  angewiesen, 
er  habe  die  Knötchen  zu  dieser  Zeit  bemerkt,  was  möglicher¬ 
weise  erst  bei  einem  Abmagern  erfolgen  kann. 

In  dieser  Hinsicht  versagte  das  Gedächtnis  oder  richtiger 
die  Aufmerksamkeit  meiner  Kranken  auf  ihren  Körper  fast  in 
allen  Fällen.  Ich  kann  nur  bei  Fall  I  die  Infektion  mit  Wahr¬ 
scheinlichkeit  in  das  Jahr  1898  versetzen,  für  Fall  XVI 
vor  das  Jahr  1890  (Beginn  der  Jacksonschen  Krämpfe),  für 
Fall  XV  vor  das  Jahr  1900. 

Ich  'möchte  eben  überhaupt  glauben,  daß  der  Ausspruch 
Stichs  (1.  c„  S.  229),  „die  Beurteilung  der  Häufigkeit 
des  Vorkommens  der  Zystizerken  dürfen  wir  viel  eher  als 
beim  Kliniker  beim  Anatomen  voraussetzen“,  auch  heute 
noch  gültig  ist. 

Freilich  besteht  für  diese  Leichenfunde  die  Schwierigkeit 
der  Bestimmung  des  Alters  der  Parasiten  in  noch  größerem  Maße 
als  für  die  Funde  am  Lebenden,  vergleiche  hiezu 'F.  March  and, 
V 0  lkm  aims  Sammlung  klinischer  Vorträge  1904,  Nr.  371. 

Die  Seltenheit  des  Sitzes  der  Finne  im  Sehor¬ 
gane55)  muß  davor  warnen,  aus  dein  kleinen  Zahlen 
ei  11  er  solchen  Statistik  Schlüsse  auf  die  Verbrei¬ 
tung  des  Parasiten  überhaupt  zu  ziehen.  Bezüglich 
der  Haut-  und  Muskelzystizerken  mußi  die  gefundene  Zahl 
natürlich  weit  hinter  der  wirklichen  Zurückbleiben  und 
hat  daher  eine  Zahlenaufstellung  als  irreführend  keine  Be¬ 
rechtigung. 

Mir  genügt,  darauf  hinweisen  zu  können,  daß  wir 
für  unser  Land  leider  die  Finnenkrankheit  noch 
nicht  zu  den  „aussterbenden  K  rankiheiten“ 
rechnen  dürfen. 

Vielleicht  tragen  diese  Zeilen  auch  bei,  andere  Kollegen 
auf  erfolgreiche  Suche  nach  dem  Parasiten  an  der  Körper¬ 
oberfläche  ihrer  Kranken  zu  bringen. 

Zum  Schlüsse  ein  Wort  über  die  Therapie  bei  un¬ 
seren  Finnen! 

Bei  Stich  (1.  c.,  S.  233  ff.)  kann  man  lesen,  was  au 
örtlicher  lund  innerlicher  Anwendung  von  Wurm¬ 
mitteln  gegein  die  Parasiten  an  deren  Trägem  versucht  worden 
ist;  Stich  selbst  hält  im  besonderen  letzteres  Vorgehen,  die 
Eingabe  per  os,  nicht  „für  verständig“.  Daß,  Jod  und  Quecksilber 
die  Zystizerken  nicht  berühren,  haben  wir  schon  oben  berichtet; 
über  eine  Fülle  anderer  Mittel,  welche  gleich  unwirksam  gewesen 
sind,  vergleiche  D  aniels  en  (1.  c.,  S.  246). 

Niemand  wird  auch  Broca  nachahmen,  der  nach  Da¬ 
nielsen  375  Zysten  punktiert  und  ausgekratzt  haben  soll; 
Danielsen  bewundert  die  Geduld  des  „Arztes“;  vielleicht  ver¬ 
dient  der  geduldige  Kranke  mehr  Bewunderung ! 

Ich  meine,  daß  nu r  durchl G r ößei  oder  entzündliche 
Komplikation  eine  Anzeige  für  einen  operativen 
Eingriff  gegeben  erscheint.  Bei  dem  seltenen  Sitze  der 
Knoten  an  sichtbaren,  durch  die  Kleidung  nicht  gedeckten 
Körperteilen  spielt  das  kosmetische  Moment  keine  große 
Rolle.  Im  übrigen  kann  man  ja  den  Befallenen  auf  die  im 
Laufe  der  Jahre  möglicherweise  eintretende  spontane  Ver¬ 
kleinerung  tröstend  hinweisen. 

Bezüglich  der  Opelration  der  Gehi  rnzystizerken  ist 
mit  Bruns  (l.  c.)  an  die  häufige  Vi  eil  zahl  derselben,  beson¬ 
ders  der  in  den  Hirnhäuten  sitzenden,  welche  durch  Erregung 
Jacksonseber  Krämpfe  eine  Lokaldiagnose  leichter  ermög- 

55)  Für  das  Schwein  liegt  eine  bezügliche  interessante  Mitteilung 
von  Prettner  vor  (zit.  nach  Bayer,  Augenheilkunde,  ßd.  5  des 
Handbuches  der  tierärztlichen  Chirurgie,  S.  496).  Unter  400  finnigen 
Schweinen  fand  Prettner  in  Prag  zweimal  subretinale  Zystizerken 
Ob  eine  solche  Statistik  beim  Schweine  auch  für  die  Gehirnfinnen  be¬ 
steht,  habe  ich  nicht  ermitteln  können. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


894 


liehen,  nicht  zu  vergessen,  welcher  Umstand  einen  Erfolg  auch 
nach  gelungener  Auffindung  und  Entfernung  einer  Blase  ver¬ 
eiteln  kann.  Die  zwei  anscheinend  einzigen,  bisher  operierten 
Gehirnzystizerkenfälle  sind  der  oben  erwähnte  Mayd  I  (Po  sselt)- 
Fi  sch  er -Kafka  sehe,  dessen  Dauererfolg  ausblieb  und  der  Fall 
Troje56)-v.  Mikulicz;  auch  in  diesem  letzteren  bestanden 
sow  old  epileptische  Kr  ä  in  p  f  e,  als  eine  rechtsei  tige  Hemi¬ 
anopsie  nach  der  Operation  weiter;  nur  die  von  dem  Herde 
in  der  linken  Zentralwindung  abhängigen  Paresen  waren  ge¬ 
schwunden. 

Es  ist  übrigens  auch  bei  Gehimzystizerken  an  ein  spon¬ 
tanes  Schwinden  der  Störungen  durch  Involution  (Verkalkung) 
der  Parasiten  zu  denken,  wie  dies  z.  B.  in  unserem  Falle  XVI 
sich  ereignete,  vielleicht  auch  für  den  Fall  IV  gilt  (Besserung  der 
Psychose). 

Die  verhältnismäßig  oft  nicht  bloß  im  Gehirn,  sondern 
im  ganzen  Körper  „solitären“  Finnen  des  vierten  Ven¬ 
trikels  (siehe  Stern57),  welche  so  häufig  das  plötzliche  Ende 
ihrer  Träger  herbeiführen,  sind  zwar  in  den  letzten  Jahren  einige 
Male  bei  Lebzeiten  richtig  vermutet  worden,  aber  chirurgisch 
doch  besser  ein  Rührmichnichtan. 

Z  u  s  a  m  m  enfassun  g. 

1.  Der  Widerspruch  zwischen  der  angeblichen  Sel¬ 
tenheit  der  Taenia  solium  und  dem  nicht  seltenen 
Weitervorkommen  des  Zystizerkus  beim  Men¬ 
schen  könnte  nur  durch  eine  regelrechte  Bandwurm- 
Sammelforschung  aufgeklärt  werden,  die  nicht  bloß 
städtische,  sondern  auch  ländliche  Bewohner, 
also  ganze  Länderst.re  cken  einbeziehen  müßte.  Vor¬ 
schlag  hiezu  nach  Besprechung  der  bisherigen  unzu¬ 
länglichen  Literaturangaben.  Kritik  der  Finnen¬ 
statistik  beim  Menschen. 

2.  Verfasser  berichtet  über  16,  am  Lebenden  in 

Kärnten  gefundene  Zy  stizerk  enf  älle  (Haut-Muskel¬ 
finnen).  j  [  | 

3.  Bezüglich  der  Symptome,  welche  Muskelfinnen 
nach  Ferber-Lewin  liervorrufen  sollen,  bringt  Verfasser 
eine  einschränkende  Kritik. 

4.  Fs  wird  der  Wirt  des  Röntgen  Verfahrens  für 
den  Nachweis  verkalkter  Zystizerken  an  mehrerejn 
Fällen  besprochen. 

5.  Das  Vorkommen  des  Bothriozepha.lus  latus  in 
Oesterreich  ist  bisher  nur  in  drei  vereinzelten  Fällen  nach- 
gewieshn  worden. 

Zusatz  während  der  Drucklegung. 

fn  Trient  haben  weder  Dr.  Brugnara  noch  Dr.  Gentilini 
einen  Fall  gesehen;  dagegen  hat  mein  Freund  Dr.  Pattuzzi  bei  einem 
Arbeiter  aus  der  Umgebung  dieser  Stadt  eine  intraokulare  Finne  ge¬ 
funden;  Bestätigung  der  Diagnose  nach  Operation.  Dr.  Bär  (seit  1904 
Augenarzt  in  Meran)  hat  keinen  Augenzystizerkus  gehabt. 


OEFFENTLICHE  GESUNDHEITSPFLEGE. 

Zur  körperlichen  Erziehung  der  Mittelschul¬ 
jugend.* *) 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Autou  Bum. 

Ueber  Einladung  des  k.  k.  Ministeriums  für  Kultus  und 
Unterricht  ist  im  Januar  1910  in  diesem  Ministerium  eine  aus 
Schulmännern,  Aerzten,  Militärpersonen,  Abgeordneten  etc.  be¬ 
stehende  Enquete  zusammengetreten,  um  die  hygienisch  so 
außerordentlich  wichtige  Frage  der  körperlichen  Erziehung 
der  Mittelschul  jugend  zu  studieren  und  zu  fördern. 
Diese  mehrtägige  Enquete  hat  eine  ausgiebigere  und  allgemeinere 
Pflege  dieses  wichtigen  Zweiges  der  Jugenderziehung  warm  be¬ 
fürwortet  und  die  Wege  gezeigt,  aus  deren  Verfolgung  eine 
wesentliche  Verbesserung  der  Körperkultur  der  Mittelschüler 
resultieren  würde.  Hierauf  hat  das  k.  k.  Ministerium  für  Kultus 


£6)  Troje,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Bd.  20,  S.  103. 

67)  Stern,  Zeitschr.  für  klin.  Medizin  1907,  Bd.  61,  S.  64. 

*)  Diese  Ausführungen  bilden  Motivierung  und  Inhalt  eines  An¬ 
trages  des  Autors  und  der  Herren  Prof.  A.  Fraenkel,  Priv.-Doz.  F. 
L  u  i  t  h  1  e  n,  Priv.-Doz.  G.  N  o  b  1.  Dr.  H.  R  i  e  s  e  r  und  Prof.  L.  Unger 
an  das  Präsidium  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  zu  Wien.  Er  ist 
über  Vorschlag  des  Verwaltungsrates  in  der  administrativen  Plenar¬ 
sitzung  vom  3.  März  1.  J.  genehmigt  und  dem  neu  begründeten  »Zentral¬ 
ausschuß  für  öffentliche  Gesundheitspflege«  überwiesen  worden,  in 
welchem  auch  die  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  vertreten  ist. 


und  Unterricht  in  seinem  Erlasse  vom  9.  Mai  1910  verfügt,  es 
möge  der  Kreis  der  körperlichen  Uebungen  der  Mittelschuljugend 
stetig  erweitert  werden,  u.  zw.  unter  tunlichster  Förderung  der 
Bewegungsspiele  wie  der  volkstümlichen  Sportbewegungen  in 
freier  Luft,  zu  welchem  Zwecke  neben  den  von  geistiger  Arbeit 
auszuschließenden  Unterrichtspausen  zwei  Nachmittage  der  Woche 
von  Unterricht  und  Hausaufgaben  vollständig  frei  zu  halten  und 
zur  Ausführung  der  körperlichen  Uebungen  zu  benützen  seien. 
Behufs  materieller  Förderung  und  Entwicklung  der  somatischen 
Ausbildung  der  Jugend  hat  die  Unterrichtsverwaltung  für  die 
Leitung  dieser  Uebungen  durch  hiezu  geeignete  Mitglieder  des 
Lehrkörpers  Remunerationen  in  Aussicht  gestellt. 

Seit  Erscheinen  dieses  Erlasses  sind  mehr  als  acht  Monate 
verstrichen,  ohne  daß  die  Absichten  der  obersten  Unterrichts¬ 
stelle  greifbare  Formen  angenommen  hätten.  Wohl  sind  seitens 
des  Landesschulrates  zahlreicher  Kronländer  —  in  Niederöster¬ 
reich  durch  Erlaß  des  Landesschulrates  vom  8.  Dezember  1910 
-  unter  Hinweis  auf  den  zitierten,  wie  auf  die  zum  Teil  bereits 
jubilierten  Erlässe  des  Ministeriums  für  Kultus  und  Unterricht 
vom  15.  September  1890  und  vom  24.  Februar  1904  die  Direktionen 
sämtlicher  Mittelschulen  angewiesen  worden,  den  Anregungen 
dieser  sowie  anderer  einschlägiger  Ministerialerlasse  tatkräftig 
Rechnung  zu  tragen ;  gleichzeitig  wurden  Erhebungen  bezüglich 
der  für  Zwecke  der  körperlichen  Erziehung  der  Mittelschüler 
aufzuwendenden  Zeit,  der  verfüglichen  Räumlichkeiten  und  Plätze 
sowie  der  auflaufenden  Kosten  veranlaßt  und  diesbezügliche 
wertvolle  Winke  erteilt. 

Es  ist  uns  nicht  bekannt,  inwieweit  alle  diese  Maßnahmen 
geeignet  waren,  die  beabsichtigte  „tätige  Mitwirkung  der 
Lehrerschaft“  für  die  Pflege  der  Körperkultur  der  Schul¬ 
jugend  zu  erzielen,  eine  Mitwirkung,  deren  Bedeutung  neben  der 
vorbildlichen  persönlichen  Betätigung  der  Lehrer  vor  allem  darin 
zu  erblicken  ist,  daß  durch  tunlichste  Einschränkung  des  in  der 
Schule  selbst  zu  erarbeitenden  Lehrstoffes,  Verminderung  der 
schriftlichen  Hausarbeiten,  Einhaltung  der  beiden  Freinachmittage 
sowie  reichlich  zu  bemessender  Unterrichtspausen  den  Schülern 
die  für  die  Ausführung  der  geplanten,  in  der  erwähnten  Enquete 
eingehend  gewürdigten  und  detaillierten  körperlichen  Uebungen 
und  Bewegungen  nötige  freie  Zeit  gegönnt  werde. 

Das  größte  Hindernis  scheint  die  Durchführung  der  so  an¬ 
erkennenswerten  wiederholten  Anregung  der  obersten  Schul¬ 
behörde  dort  zu  finden,  wo  dies  a  priori  nicht  zu  erwarten 
stand,  im  Elternhause  der  Mittelschüler.  Von  der  in  der 
Bevölkerung  aller  Schichten  leider  sehr  verbreiteten,  so  irrigen 
Anschauung  geleitet,  daß  die  Lernjahre  des  Jünglings  lediglich 
dessen  wissenschaftlicher  Ausbildung  zu  dienen  haben 
und  daß  die  von  der  Schule  konzedierten  Freistunden  zweck¬ 
entsprechend  zur  Beschäftigung  mit  fremden,  in  der  betreffenden 
Schule  nicht  gelehrten  Sprachen,  Musik  etc.  benützt  werden 
sollen,  verschließen  sich  viele  Eltern  der  von  den  Aerzten  stets 
propagierten  dringenden  Notwendigkeit,  neben  dem  Geiste  auch 
dem  Körper  durch  bodenständige  Turnspiele  und  gemäßigten, 
der  Jahreszeit  angepaßten  Sport  jene  gleichmäßige  Ausgestaltung 
und  Kräftigung  zu  gewähren,  wie  sie  in  den  Palästren  und 
Gymnasien  der  Antike  zur  Vollendung  gebracht  worden  ist. 

Es  ist. eine  ernste  Pflicht  des  Arztes,  hier  aufklärend  und 
belehrend  einzugreifen;  vor  allem  wäre  wohl  der  Schularzt 
berufen,  auf  die  große  Bedeutung  von  ihm  zu  überwachender 
regelmäßiger  und  geeigneter  Körperübung  als  wesentlichen  Faktor 
der  Jugenderziehung  aller  Kinder,  nicht  zuletzt  der  solcher 
Körperbewegung  ganz  besonders  bedürftigen  muskelschwachen 
Adoleszenten,  hinzuweisen.  Bei  dem  fast  vollständigen  Fehlen 
der  Institution  der  Schulärzte  in  Oesterreich,  die  derzeit  lediglich 
an  den  Lehrerbildungsanstalten  und  zum  Teil  an  den  gewerb¬ 
lichen  Fortbildungsschulen  bestehen,  wo  sie  sicherlich  auch  in 
dem  hier  angedeuteten  Sinne  wirken,  fällt  diese  Aufgabe  den. 
praktischen  Aerzten  zu.  Es  würde  den  Einfluß  der 
Familienärzte  auf  das  Publikum  wesentlich  erhöhen  und  ihre 
aufklärende  Mission  erheblich  fördern,  wenn  sich  diese  auf  ein 
Votum  der  hervorragendsten  ärztlichen  Korporation  unseres 
Vaterlandes,  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  zu  Wien,  zu 
stützen  vermöchte. 

In  zahlreichen  einschneidenden  Fragen  der  öffentlichen 
Gesundheitspflege  hat  unsere  Gesellschaft  autoritative  Beschlüsse 
gefaßt  und  Institutionen  in  die  Wege  geleitet,  die  der  Gesamt¬ 
heit  zum  Wohle  gereichen. 

Wir  erachten  es  als  im  dringenden  Interesse  des  Nach¬ 
wuchses  der  Bevölkerung  und  seiner  Zukunft  gelegen,  daß  die 
k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  einer  an  die  große 
Oeffentlichkeit  gerichteten  Enunziation  es  ausspreche, 
was  die  Kräftigung  der  der  Bewegung,  Atmung  und  dem  Kreisläufe 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


395 


dienenden  Organe  auch  für  das  Zentralnervensystem  und  den 
Intellekt  gerade  dem  im  Stadium  der  Entwicklung  befindlichen 
Individuum  bedeutet,  daß  sie  darauf  hinweise,  daß  der  regel¬ 
mäßige  Wechsel  zwischen  geistiger  und  körperlicher  Tätigkeit 
die  Lust  zum  Studium  anregt,  letzteres  erleichtert 
und  nutzbringender  gestaltet,  daß  auch  die  Festigung 
der  erhabendsten  Eigenschaften  des  Mannes,  seines  Charakters, 
seines  Zielbewußtseins  wie  seines  persönlichen  Mutes,  nicht 
zuletzt  mit  der  Betätigung  seines  Körpers  Hand  in  Hand  geht 
und  daß  der  Besitz  dieser  Eigenschaften,  der  „Kalokagathia“  der 
alten  Griechen,  für  die  Zukunft  des  Jünglings  weit  wichtiger  isl, 
als  die  frühzeitige,  gehäufte,  auf  Kosten  seiner  Gesundheit  und 
zu  oft  auch  seines  Charakters  in  den  sogenannten  Freistunden 
erworbene  Kenntnis  von  Nebengegenständen,  Fertigkeiten  u.  dgl., 
die  er  in  einer  späteren,  gereifteren  Lebensperiode  leichter  und 
folgenfreier  sich  anzueignen  vermag. 

Wir  bitten  Präsidium  und  Verwaltungsrat  der  k.  k.  Gesell¬ 
schaft  der  Aerzte  zu  Wien,  unseren  Antrag  jener  Erledigung 
zuzuführen,  die  wir  anzudeuten  uns  erlaubt  haben  und  von 
welcher  wir  hoffen,  daß  sie  dazu  beitragen  wird,  den  traurigen 
Circulus  vitiosus  zu  durchbrechen,  an  welchem  derzeit  so  viele 
geistig  begabte,  körperlich  minderwertige  Mittelschüler  scheitern, 
weil  ihre  Erzieher  —  ungeachtet  der  von  den  Schulen  anderer 
Länder,  vor  allem  Großbritanniens,  Skandinaviens  und  Deutsch¬ 
lands,  in  jüngster  Zeit  auch  von  der  Wiener  Universität  ge¬ 
gebenen  Vorbilder  —  der  nötigen  Einsicht  für  den  hohen  päda¬ 
gogischen,  somatischen  und  ethischen  Wert  regelmäßiger,  korrekter 
möglichst  unreglementierter,  den  individuellen  Bedürfnissen  an¬ 
gepaßter  Körperbewegungen  entbehren. 


Referate. 

* 

Atlas  der  Kristallformen  und  der  Absorptionsbänder  der 

Hämochromogene. 

Eine  für  Physiologen,  Pharmakologen  und  Modizinalbeamte  bestimmte 

Studie. 

Von  Walter  J.  Pilling'. 

Mit  einem  Vorworte  von  Prof.  Dr.  R.  Kobert. 

Mit  einer  Textabbildung  und  36  Tafeln. 

Stuttgart  1910,  Verlag  von  Ferdinand  Enke. 

Die  vorliegende  umfangreiche  Monographie,  deren  Text  in 
deutscher  un]d  englischer  Sprache  abgefaßt  ist,  behandelt  die 
schwierige  Frage  des  Hämochromogens  unid  seiner  chemischen 
Stellung.  Der  Autor,  der  insbesondere  die  Entstehung  des  Hämo- 
chromogens  aus  Blut  und  aus  Hämatin  durch  Einwirkung  von 
Pyridin,  Piperidin  und  deren  Derivaten,  sowie  durch  Schwefel¬ 
ammonium  und  Hydrazinhydrat  auf  dem  Wege  der  Spektro¬ 
skopie  (unter  Berücksichtigung  des  Ultravioletts)  und  der  Mikro¬ 
photographie  studiert  hat,  kommt  zu  dem  Ergebnisse,  daß  die 
Pyridin-  und  Piperidinhämochromogene  keineswegs  Verbindungen 
des  Oxyhämoglobins  mit  den  betreffenden  Basen  sein  können. 
Das  Hämoglobin  wird  vielmehr  unter  Bildung  einer  Hämalin- 
verbindung  oder  von  Hämatin  selbst  zersetzt  und  sind  die  zu¬ 
tage  tretenden  Kristalle  als  solche  von  wirklichem  Hämochro¬ 
mogen  anzusehen. 

Von  forensisch- medizinischem  Interesse  ist  die  durch  die 
Untersuchung  bestätigte  Tatsache,  daß  noch  sehr  stark  verdünnte 
Lösungen  von  Hämochromogen,  welche  im  sichtbaren  Teile  des 
Spektrums  keine  Bänder  mehr  zeigen,  im  ultravioletten  Teile 
des  Spektrums  noch  ein  deutliches  Spektrogramm,  liefern.  Auch 
wurde  festgestellt,  daß  das  Hämochromogen  die  Farbenreaktionen 
des  Blutfarbstoffes  mit  Guajakonsäure,  Aloin  und  Benzidin  nicht 
mehr  gibt. 

Die  schöne  Ausführung  der  zahlreichen  Lichtdruckrepro- 
duktionen  von  Mikrophotogrammen  und  die  prächtige  Ausstattung 
des  Werkes  muß  rühmend  hervorgehoben  werden. 

0.  v.  Fürth. 

* 

Ueber  Geschwülste  der  hinteren  Schädelgrube,  ins¬ 
besondere  des  Kleinhirnbrückenwinkels. 

Von  Folke  Heusclien. 

Jena  1910,  Fischer. 

Es  ist  an  sich  eine  dankenswerte  Aufgabe,  einmal  alle 
in  der  Literatur  verstreuten  Fälle  von  Tumoren  des  Kleinhirn¬ 


brückenwinkels  gesichtet  zu  haben,  jenes  interessanten  Gebietes, 
das,  wie  der  Autor  ausführt,  kaudal  medial  von  der  lateralen 
Olivenfläche,  lateral  vom  Zerebellum,  oral  medial  von  der  Brücke, 
lateral  von  der  hinteren  Felsenbeinpyramide  begrenzt  wird.  Es 
ist  das  Unternehmen  um  so  aussichtsreicher,  wenn  28  eigene 
Beobachtungen,  durch  die  Obduktion  größtenteils  verifiziert,  zur 
Verfügung fstehen.  Freilich  erscheint  mir  die  Art  der  arithmetischen 
Behandlung  der  Symptomatologie,  wie  sie,  um  das  Wort  Grie¬ 
singers  zu  gebrauchen,  die  „Pharisäer  der  Exaktheit“  liebten, 
heute  ganz  und  gar  unangebracht.  Was  verschlägt’s,  ob  ein 
Symptom  75  oder  76mal  bei  einer  Krankheit  vorkommt,  wenn 
man  nicht  erfährt,  warum  und  unter  welchen  Bedingungen  dies 
der  Fall.  Diesen  kleinen  Vorwurf  kann  man  dem  Autor  eben¬ 
sowenig  ersparen,  als  den  der  gar  zu  aphoristischen  Behand¬ 
lung  jener  Tumoren,  die  nicht  dem  Akustikus  selbst  angehören. 

Im  Kleinhirnbrückenwinkel  finden  sich  neben  Aneurysmen 
und  Hämatomen,  Parasiten,  infektiösen  Granulationsgeschwülsten, 
Abszessen  als  echte  Geschwülste  solche,  die  von  der  Felsenbein¬ 
pyramide,  der  harten  oder  weichen  Hirnhaut,  den  verschiedenen 
Hirnteilen  (Flocke,  Lateralrezessus,  Plexus  chorioideus)  und 
den  Nerven  ausgehen.  Auf  letztere,  die  eigentlichen  Akustikus- 
tumoren,  wird  das  Hauptgewicht  gelegt.  Henschen  leitet  sie 
von  im  Meatus  auditorius  extemus  vorhandenen  embryonalen 
Bindegewebsresten  her,  die  vorwiegend  den  Vestibularisstamm 
umwuchern  und  findet  in  einer  Reihe  seiner  Fälle  und  solchen 
der  Literatur  das  proximale  Stück  des  Akustikusstammes  frei,  das 
distale  in  einen  tumorösen  Zapfen  verwandelt,  in  den  Meatus 
auditorius  eingebettet. 

Symptom atologisch  findet  er,  daß  im  Durchschnitt  die 
Lebensdauer  der  Tumoren  (nicht  operierte)  3Vs  Jahre  beträgt, 
jedoch  auch  Todesfälle  schon  nach  einem  Jahre  eintraten.  Von  den 
Allgemeinsymptomemist  die  Intensität  des  Kopfschmerzes  zu  wenig 
berücksichtigt,  wie  denn  überhaupt  hier  weniger  das  Vorkommen 
als  die  geringe  Intensität  der  Allgemeinerscheinungen  hervpr- 
zuhebem  wäre;  abgesehen  nur  von  der  Stauungspapille,  die  eip 
Frühsymptom  darstellt  und  gelegentlich  die  Tumorseite  früher 
trifft  als  die  gesunde.  Doch  gibt  es.  auch  seltene  gegenteilige 
Angaben.  Interessant  ist  die  gelegentliche  Olfaktoriusbeteiliguns 
(die  vielleicht  den  Allgemeinerscheinungen  zuzurechnen  wäre). 
Viel  zu  aphoristisch  scheinen  die  Augenmuskellähmungen 
behandelt,  wobei  es  als  fehlerhaft  bezeichnet  werden  muß, 
den  .Nystagmus  hier  miteinzübeziehen.  Seine  Bedeutung  als  Vest! 
bularissymptom  ist  außer  Zweifel  und  seine  Wichtigkeit,  speziell 
auch 'für  die  Seitendiagnose  (schneller  Ausschlag  nach  der  Tumor¬ 
seite),  allgemein  geläufig.  Dabei  sind  wir  in  der  Lage,  durch  die 
kalorische  Prüfung  die  Destruktion  des  peripheren  Vestibularis 
zu  erweisen.  Auch  die  Ptosis  verlangt  eine  Erklärung,  zunächst 
ob 'sie  nicht  nur  eine  sympathische,  durch  Medullaläsion  bedingte 
ist.  Daß  die  Hirnnerven  von  V.  bis  inklusive  VIII.  fast  immer 
Ausfälle  zeigen  (seltener  der  Abduzens),  wird  bei  der  Lage  der 
Tumoren  nicht  wundemebmen.  Insbesondere  die  Reizerscheinun- 
gen  des  Kochlearis,  die  zum  Teil  auf  Stauungslabyrinth,  Hyper¬ 
ämie,  resp.  Anämie  des  Innenohres  zurückgeführt  werden,  seien 
betont. 

Sehr  auffallend  ist  der  Umstand,  daß  von  Vagussymptomen, 
soweit  sie  Respiration  und  Zirkulation  betreffen,  keine  Erwäh¬ 
nung  [geschieht;  gerade  diese  aber  sind  für  die  Indikationsstellung 
heim  operativen  Eingriff  maßgebend.  Für  die  gelegentlich  auf¬ 
tretenden  gleichseitigen  Sensibilitäts-  und  Motilitätsstörungen 
findet  sich  eine  Erklärung  wohl  nur  in  der  durch  Druck  erfol¬ 
genden  Schädigung  der  kontralateralen  Brückenpartien.  Auch  die 
Ataxie,  an  welche  die  Reaktionsbewegung,  das  Fällen  nach  der. 
Seite  angeschlossen  erscheint,  das  besser  zu  den  Vestibularis- 
läsionen  hinzukäme,  ist  ein  wenig  zu  kurz  erledigt.  Die  Ba- 
b inskisehen  Befunde  der  Adiadochokinese,  besonders  der  oberen 
Extremität,  wie  sie  Ref.  wiederholt  erheben  konnte,  erscheinen 
hier  diagnostisch  bemerkenswert. 

Ausführliche  pathologische  Befunde,  sowie  Notizen  über  die 
Therapie  beschließen  das  Werk.  Letztere  kann  wohl  nur  eine 
chirurgische  sein,  wenn  auch  die  Resultate  (8  Heilungen  unter 
42  Fällen,  die  v.  E  i  s  e  1  s  b  e  rg  sehen  Resultate  erscheinen  noch 
nicht,  verwertet)  nicht  besonders  ermutigende  sind. 


396 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  \911. 


Nr.  11 


Eine  ganze  Reihe  guter  Reproduktionen  ergänzen  die  Aus¬ 
führungen  des  Autors,  dessen  verdienstvolles  Werk  gewiß  dem 
Neurologen  und  Chirurgen  zur  Orientierung  dienen  wird  und  das 
eine  Reihe  beachtenswerter  Anregungen  und  Ausblicke  enthält. 

Otto  Marburg. 

* 

Wesen  und  Behandlung  der  Achylia  gastrica. 

Von  A.  Schule. 

Sammlung  und  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  Verdauungs-  und 

Stoffwechselkrankheiten. 

Halle  a.  S.  1910,  C.  Mar  ho  Id. 

Nach  einigen  einleitenden  Bemerkungen  über  die  Entwick¬ 
lung  der  Lehre  von  der  Achylie  und  über  die  Sekretionsverhält¬ 
nisse  des  normalen  Magens  bespricht  Verf.  die  Pathologie  und 
pathologische  Anatomie  dieser  Erkrankungsform.  Im  Gegensatz 
zu  anderen  Autoren  (Knud  Faber,  Lange  u.  a.)  hält  er  an  der 
Existenz  einer  primären  Achylie  (Achylia  simplex  im  Sinne  von 
Martius  und  Einhorn)  fest,  die  auf  einer  angeborenen  Funk¬ 
tionsanomalie  oder  Minderwertigkeit  des  sezernierenden  Paren¬ 
chyms  beruht,  während  die  sekundäre  Form  sich  auf  dem  Boden 
einer  Neurasthenie  entwickelt  oder  im  Gefolge'  schwerer  Magen¬ 
oder  Allgemeinerkrankungen  auftritt.  Beide  Formen  sind  allerdings 
klinisch  schwer  auseinanderzuhalten  und  auch  die  Unterscheidung 
gegenüber  Karzinom  stößt  häufig  auf  Schwierigkeiten. 

Recht  ausführlich  entwickelt  der  Autor  die  bekannten  Prin¬ 
zipien  der  Therapie  dieser  Erkrankung. 

* 

Das  runde  Magengeschwür. 

Von  F.  Crämer. 

München  1910,  J.  F.  L  e  h  m  a  n  n. 

Der  Inhalt  der  vorliegenden  Monographie  unterscheidet  sich 
wesentlich  von  der  in  den  meisten  Lehrbüchern  anzutreffenden 
landläufigen  Bearbeitung  der  Ulkuslehre.  Dieser  Unterschied  be¬ 
steht  nicht  nur  darin,  daß  alle  einschlägigen  Fragen  eingehendst 
berücksichtigt  werden,  sondern  gibt  sich  auch  dadurch  kund,  daß 
der  Autor  den  sich  geltend  machenden  Bestrebungen,  die  Lehre 
vom  Magengeschwür  —  namentlich  den  klinischen  Teil  derselben 
—  in  dogmatischer  Form  abzuhandeln,  mit  den  Mitteln  einer 
strengen  objektiven  Kritik  entgegentritt,  und  im  Gegensatz  zu 
der  hiedurch  verbreiteten  Irrlehre,  die  Schwierigkeiten,  die  hin¬ 
sichtlich  vieler  theoretischer  und  praktischer  Fragen  auf  diesem 
Gebiete  bestehen,  ins  rechte  Licht  setzt. 

Schon  die  verschiedenen  klinischen  Formen,  mit  denen 
das  Ulkus  auftritt,  zeigen,  daß  es  unmöglich  ist,  ein  einheitliches 
Bild  dieser  Erkrankung  zu  entwerfen ;  dazu  kommt  auch  noch,  daß 
die  klinisch  statistischen  Angaben  meist  auf  einer  mangelhaften 
Diagnose  beruhen  und  daher  unzuverlässig  sind. 

Alle  unsere  Kenntnisse  bezüglich  der  Genese  des  Ulkus 
beschränken  sich,  wie  aus  den  Darlegungen  des  Autors  hervor¬ 
geht,  darauf,  daß  einzig  und  allein  die  lokale  Zirkulationsstörung 
als  entscheidendes  Moment  anzusehen  ist,  und  auch  die  Aetiologie 
ist  noch  in  Dunkel  gehüllt.  „Die  Diagnose  ist  in  den  meisten 
Fällen  eine  Wahrscheinlichkeitsdiagnose.“  Eine  Unterscheidung 
zwischen  Ulcus  ventriculi  und  duodeni  zu  treffen,  hält  er  für 
nahezu  unmöglich  und  auch  praktisch  wertlos  und  verhält  sich 
den  diesbezüglichen  Ansichten  englischer  und  amerikanischer 
Autoren  gegenüber  ablehnend.  Auch  bezüglich  der  Diagnose  der 
Rezidive  ist  Crämer  skeptisch;  er  glaubt,  daß  es  sich  hiebei 
meist  um  ein  latentes  Zwischenstadium  handle.  Sichere  Merkmale 
der  Heilung -gibt  es  nach  seiner  Ansicht  nicht.  Von  einer  spezifi¬ 
schen  Therapie  kann  keine  Rede  sein ;  das  wichtigste  Prinzip  ist 
Schonung  des  Organs,  die  allerdings  auf  verschiedenem  Wege  er¬ 
reicht  werden  kann.  Von  Interesse  sind  die  Angaben  über  die 
Therapie  in  verschiedenen  Ländern. 

Verf.  schlägt  die  Einleitung  einer  Sammelforschung  vor,  um 
diese  so  häufige  und  gefährliche  Erkrankung  klinisch  genauer 
kennen  zu  lernen  und  faßt  schließlich  das  Ergebnis  seiner  Studie 
in  den  Worten  zusammen :  „Die  Aetiologie  des  Ulkus1  ist  nahezu 
unbekannt,  die  Diagnose  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  zweifelhaft, 
die  Dauererfolge  der  internen  und  chirurgischen  Behandlung  ge¬ 
radezu  beschämend.“ 

Dem  Buche  (bei  dem  sich  der  Mangel  eines  Inhaltsverzeich¬ 
nisses  unangenehm  fühlbar  macht)  ist  ein  großer  Leserkreis  zu 


wünschen,  nicht  behufs  Weiterverbreitung  der  skeptischen  An¬ 
sichten  des  Verfassers,  sondern  um  manche  vielfach  eingewurzelte 
irrige  Anschauungen  über  die  Ulkuslehre  zu  zerstreuen,  unsere 
mangelhaften  Kenntnisse  betreffs  dieser  Erkrankung  zum  Bewußt¬ 
sein  der  Aerzte  zu  bringen  und  zu  neuer  (eifriger  Forschung  anzu¬ 
regen. 

* 

Diätetik  innerer  Erkrankungen. 

Von  Tli.  Brugsch. 

Berlin  1911,  S.  Springer. 

Das  vorliegende  Buch,  welches  den  Zweck  verfolgt,  den 
Arzt  praktisch  mit  den  Aufgaben  der  Diätetik  vertraut  zu  machen, 
zerfällt  in  drei  Abschnitte:  Der  erste  befaßt  sich  mit  den  physio¬ 
logischen  Grundlagen  der  Ernährungslehre;  der  zweite  mit  der 
Diätetik  in  Erkrankungen,  wobei  jedem  einzelnen  Kapitel  eine 
kurze  wissenschaftliche  Erörterung  über  den  physiologischen 
und  pathologischen  Stoffwechsel-  oder  Verdauungsmechanismus 
vorangeht.  Im  dritten  Abschnitt  „Diätetische  Küche“  werden  eine 
Reihe  küchontechn  ischer  Maßnahmen  besprochen  und  im  Anhänge' 
die  wichtigsten  künstlichen  Nährpräparate  aufgezählt. 

Das  Büchlein  wird  nicht  bloß  durch  seinen  Inhalt,  sondern 
auch  durch  den  Namen  des  durch  seine  Arbeiten  auf  dem  Ge¬ 
biete  der  Stoffwechsellehre  bekannten  Autors  Interesse  erwecken. 

E.  Schütz. 


Aus  versehiedenen  Zeitsehriften. 

265.  lieber  Anogon.  Von  Dr.  Glaser,  Assistenten  der 
Universitätsklinik  für  Syphilis  und  Hautkrankheiten  in  Straßburg 
im  Elsaß  (Direktor:  Prof.  Dr.  A.  Wolf.)  Anogon  ist  ein  neues 
Quecksilberpräparat,  welches  30%  Jod  und  ca.  60%  an  metalli¬ 
schem  Quecksilber  enthält.  Es  bildet  mit  Oel  sehr  leicht  äußerst 
fein  verteilte  Suspensionen,  welche  die  Sterilisation  von  100°  C 
längere  Zeit  aushalten,  ohne  sich  zu  zersetzen.  Angewendet  wurde 
die  Suspension  von  10-25  g  Anogon  in  100  cm3  Oleum  olivarum 
zwei  Teilstriche  einer  Pravazspritze  dieser  Emulsion  entsprechen 
1  cg  metallischem  Quecksilber.  Injiziert  wurde  eine  vorläufige 
Mischung  im  Verhältnis  von  1  Anogon  zu  10  Oleum  olivarum 
(1  g  Anogon  enthält  0-48  g  metallisches  Quecksilber,  also  eine 
Pravazspritze  0-048  g  metallisches  Quecksilber).  Verf.  teilt  einige 
Krankengeschichten  mit,  bei  welchen  sich  die  gute  Wirkung  dieses 
Präparates  am  augenfälligsten  erwies,  doch  wird  auch  über  einen 
Fall  berichtet,  bei  welchem  eine  Sklerose  auf  dem  Arme  nach 
sechs'  Jnjektionen  noch  nicht  völlig  geheilt  war.  Im  ganzen 
wurden  52  Fälle  von  Lues  behandelt.  Nach  sechs  bis  acht  Injek¬ 
tionen,  die  jeden  fünften  bis  achten  Tag  vorgenommen  wurden, 
schwanden  die  luetischen  Erscheinungen  durchwegs,  in  einzelnen 
Fällen  mußten  noch  einige  Injektionen  gemacht  werden.  Rezidive 
wurden  ebensoviele  beobachtet  wie  bei  anderen  Quecksilberpräpa¬ 
raten.  Zumeist  vertrugen  die  Kranken  die-  Einspritzungen  recht 
gut,  vier  sehr  empfindliche  Patienten  klagten  über  recht  lebhafte 
Schmerzen.  An  den  Injektionsstellen  entstanden  zuweilen  derbere 
Infiltrate,  welche  erst  langsam  resorbiert  wurden,  sonstige  nach¬ 
teilige  Wirkungen  wurden  nicht  beobachtet.  Anogon  zeigte  sich 
somit  als  ein  recht  gutes  und  sehr  wirksames  Präparat  gegen 
Lues,  welches  man  dem  Praktiker  zur  Anwendung  warm  -em¬ 
pfehlen  kann.  —  (Deutsche  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  6.) 

^  E.  F. 

* 

266.  (Aus  der  Klinik  für  Frauenkrankheiten  und  dem  Ent¬ 
bindungsheim  von  Dr.  A.  P.  S am o i  1  o w - Wladikawkas  iu  Ru߬ 
land.)  Xerasei  in  der  Gynäkologie.  Von  Dr.  A.  P.  Samoi- 
1  o  w  -  Wladikawkas  in  Rußland.  Nach  den  günstigen  Berichten 
über  die  Erfahrungen  Dr.  Otto  Abrahams  mit  Xerase  bei  Be¬ 
handlung  des  weiblichen  Fluors  fand  sich  Samoilow  veranlaßt, 
systematisch  therapeutische  Versuche  mit  Xerase  anzustellen.  Die 
Xerase  'stellt  ein  fettiges,  graues,  nach  Hefe  riechendes  Pulver  dar, 
welches  sich  dem  Einflüsse  von  Feuchtigkeit  und  schroffen  Tem¬ 
peraturveränderungen  gegenüber  als  bedeutend  widerstandsfähig 
erweist,  zugleich  aber  sehr  gärungsfähig  ist.  Ihrer  chemischen 
Zusammensetzung  nach  ist  die  Xerase  eine  Verbindung  von  in 
spezifischer  Weise  hergestellter  Bierhefe,  Traubenzucker,  Bolus 
alba  und  physiologischer  Verbindung  von  Nährsalzen.  Die  phy- 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


397 


siologische  Wirkung  der  Xerase  besteht  darin,  daß  sie,  auf  ka¬ 
tarrhalisch  entzündete  Schleimhaut  oder  sogar  auf  seiner  Epi¬ 
dennis  verlustig  gegangenes  Gewebe  gebracht,  außerordentlich 
rasch  das  wässerige,  schleimige  oder  schleimigeitrige  Sekret  aul¬ 
saugt  und  namentlich  eine  spezifische  Wirkung  auf  blennorrhoische 
und  gonorrhoische  Sekrete  der  Weiblichen  Urogenitalorgane  ausübt. 
Sam oi lo ws  Untersuchungen  haben  die  Angaben  Abrahams 
nicht  nur  bestätigt,  sondern  er  fand  auch  bakterizide  Wirkung  auf 
andere  virulente  Mikroorganismen  und  berichtet  ausführlich  über 
drei  besonders  demonstrative  Fälle.  Xerase  wurde  gewöhnlich 
verwendet  in  Form  von  Gelatinekapseln  (ä  3-0  Xerase),  welche 
nach  vorausgegangener  Scheidenspülung  und  Abtrocknung  der 
Scheide  in  diese  eingelegt  und  mit  einem  Xeroformtampon  fixiert 
wurden  (täglich  einmal  durch  acht  bis  zehn  Tage).  Eventuell 
wurden  Uterus  und  Blase  ausgespült  mit  Xeraselösung  (5:  100  Aq.) 
und  Scheideninsufflationen  mit  pulverförmiger  Xerase  auch  noch 
angewendet.  Samoilow  ist  ein  begeisterter  Anhänger  der  Xerase- 
behaihdlung  geworden  und  empfiehlt  das  Präparat  wärmstens 
allen  Gynäkologen  zur  Behandlung  von  katarrhalischen  Prozessen 
gonorrhoischer  und  nicht  gonorrhoischer  Provenienz.  —  (Fort¬ 
schritte  der  Medizin  1910,  28.  .Tahpg.,  Nr.  47.)  K.  S. 

* 

267.  (Aus  der  kgl.  Universitäts -Augenklinik  zu  München. 
—  Vorstand:  Prof.  Dr.  Eversbusch.)  Ueber  eine  schwere 
Nebenwirkung  des  Salvarsans.  Von  Dr.  IV.  Gilbert, 
Privatdozent  hind  I.  Assistenzarzt  der  Klinik.  Verf.  weist  zunächst 
kurz  auf  die  Erfolge  hin,  die  auf  der  Augenklinik  mit  dem  Salv- 
arsan  erzielt  wurden  und  berichtet  dann  ausführlich  über  sehr 
ernste  Nebenwirkungen  am  dritten  Tage  nach  der  Injektion  bei 
einem  neun  Jahre  alten  Mädchen.  Dasselbe  wurde  im  Dezember 
1910  mit  einer  beiderseitigen  parenchymatösen  Keratitis  aufge¬ 
nommen. 'Lues  wurde  von  den  Eltern  geleugnet.  Am  rechten  Bein 
eine  leichte  spastische  Parese.  Da  Wassermann  positiv  ausfiel, 
wurden  am  10.  Januar  1911  0-2  g  Salva.rsan  in  die  linke  Glutäal- 
gegend  eingespritzt.  Am  nächsten  Tage  Schmerzen  im  linken 
Bein,bis  in  die  Ferse,  außerdem  ein  morbillenähnliches  Exanthem 
am  (linken  Unterschenkel,  das  nach  24  Stunden  verschwand.  Keine 
Temperatursteigerung.  Am  dritten  Tage  abends  plötzliche  Bewußt¬ 
losigkeit,  schwere  Krampfanfälle  im  linken  Ann1  und  in  der  linken 
Gesichtsmuskulatur,  Nystagmus.  Die  Krampfanfälle  wiederholen 
sich  in  sehr  kurzen  Zwischenräumen,  heftiger  Trismus,  klonische 
Krämpfe 'der  Muskulatur  aller  Extremitäten.  Während  der  Anfälle 
der  Puls  klein,  jagend,  160.  Auf  ein  Chloralhydratklysma  hören 
endlich  die  Krämpfe  auf.  Hernach  noch  lautes  Aufschreien,  Jak¬ 
tation.  Erst  nach  vier  Stunden  Rückkehr  des  Bewußtseins.  Am 
nächsten  Tage  Erbrechen,  große  Mattigkeit.  Trommier  schwach 
positiv.  Krämpfe  wiederholen  sich,  etwas  schwächer  und  von 
kürzerer  Dauer.  Klysma  von  Chloralhydrat  und  Chloroforminhala¬ 
tion.  Vom  nächsten  Tage  ab  Wohlbefinden.  Am  17.  Januar 
neuerlich  ein  Exanthem,  das  von  fachmännischer  Seite  als  typi¬ 
sches  Arzneiexanthem  bezeichnet  wurde.  Es  handelte  sich  also 
in  diesem  Falle  um  sehr  schwere  epileptiforme  Anfälle,  die  am 
dritten  und  vierten  Tage  nach  der  Injektion  auftraten  und  be¬ 
sonders  am  13.  Januar  abends  eine  das  Leben  bedrohende  In¬ 
tensität  erreichten.  Bisher  hat  nur  Spiethoff  als  Frühsymptom 
der  Allgemeinreaktion  einen  epileptiformen  Anfall  bei  einem 
31  Jahre  alten  Manne  mit  Stupor  und  sonstigen  psychischen 
Störungen  vier  Stunden  nach  der  Injektion  beobachtet.  In  keinem 
Falle  lag  Epilepsie  vor.  Das  schon  vor  den  Krampfanfällen  auf¬ 
getretene  flüchtige  Exanthem  legte  den  Gedanken  an  eine  Ueber- 
empfindlichkeit  gegenüber  dem  Arsen  nahe;  die  Zyanose,  Kälte 
der  Haut  und  der  kleine  Puls  würden  nach  Verf.  zum  Bilde  der 
akuten  Arsenintoxikation  passen.  Der  Beginn  mit  typischen  kloni¬ 
schen  Krämpfen  in  einer  bestimmten  Muskelgruppe,  das  fast 
völlige  Fehlen  von  Diarrhoe  wäre  jedoch  mit  dieser  Annahme 
schwer  in  Einklang  zu  bringen.  Da  ja  das  Ganze  dem  Bilde 
eines  epileptischen  Anfalles  entsprach,  sieht  Verf.  die  Ursache 
in  einer  Einwirkung  des  Salvarsans  auf  das  geschädigte  Zentral¬ 
nervensystem.  Nachträglich  erfuhr  Verf.  von  den  Eltern  und 
dem  behandelnden  Arzte,  daß  das  Kind  vor  drei  Jahren  an  einer 
Nervc'nkrankheit  behandelt  wurde.  Ursprünglich  wurde  eine  tuber¬ 
kulöse,  später  eine  spezifische  Meningitis  angenommen.  Mit  Rück¬ 
sicht  auf  die  Mitteilungen  von  Spiethoff,  der  seinen  Fall 


möglicherweise  als  Folge  der  Lösung  des  Präparates  in  Methyl¬ 
alkohol  aufgefaßt  wissen  will,  betont  Verf.  ausdrücklich,  daß 
er  eine  unmittelbar  vor  der  Injektion  hergestellte  Emulsion  ver¬ 
wandte  und  daß  der  Rest  des  Mittels  von  zwei  gleich  alten 
Kindern  ohne  jede  üble  Nebenwirkung  vertragen  wurde.  Diese 
Beobachtung  mahnt  daher  zu  vermehrter  Vorsicht  bei  der  Ver¬ 
wendung  des  Salvarsans  bei  Erkrankungen  des  Zentralnerven¬ 
systems.  Es  ist  daher,  abgesehen  von  Erkrankungen  der  lebens¬ 
wichtigen'  Zentren,  auch  bei  Residuen  nach  Meningitis,  wie  sie 
Paresen  darstellen,  entweder  von  der  Injektion  abzusehen  oder 
der  Patient  unter  dauernde  sorgfältige  klinische  Ueberwachung 
zu  steilem.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  7.) 

G. 

* 

268.  Die  mam märe  Theorie  über  Entstehung  des 

Eklampsiegiftes.  Von  Hugo  Seilheim.  Eine  allseitig  be¬ 
friedigende  Erklärung,  welche  die  aus  dem  puerperalen  Zustande 
gefolgerte  Vergiftungsthese  unberührt  läßt,  ergibt  das  Herleiten 
der  Giftproduktion  oder  eines  Teiles  derselben  aus  einer  anderen 
charakteristischem  puerperalen  Erscheinung.  Die  Veränderungen 
in  der  Mamma,  die  Anbahnung  der  Brustdrüsenfunktion  in  der 
Schwangerschaft,  der  Umschwung  vom  plazentaren  zum  mam- 
mären  Nahrungspenden  unter  der  Geburt,  sowie  die  Notwendig¬ 
keit  einer  Einübung  der  ungewohnten  Bliustclrüsenfunktion  im 
Wochenbett,  weisen  auf  ein  und  dieselbe  Quelle  des  problemati¬ 
schen  Eklampsiegiftes  hin.  Der  eigentliche  Faktor,  welcher  zu 
einer  Retention  und  damit  zur  Entfaltung  schädlicher  Wirksam¬ 
keit  des  unter  normalen  Umständen  ausgeschiedenen  verdäch¬ 
tigem  Produktes  Anlaß  gibt,  darf  bei  Verlegung  der  hypothetischen 
Giftquelle  in  die  Mammaaktion  derselbe  bleiben,  wie  bei  der 
Theorie  von  Giftproduktionen  in  der  Plazenta.  Insbesondere  wird 
die  Rolle,  welche  die  Nieren  bei  der  Vergiftung  aus  dem  puer¬ 
peralem  Zustand  heraus  spielen,  durch  die  Provenienz  des  Giftes 
aus1  der  Brustdrüse  statt  der  Plazenta,  nicht  berührt.  Läßt  man 
eine  plazentare  und  mammäre  Giftquelle  nebeneinander  gelten, 
so  wohnt  der  Theorie  Seil  hei  ms  mehr  Lebensfähigkeit  inne 
als1  der  plazentaren.  Den  ersten  Anstoß  zu  der  neuen  Theorie 
gab  Sellheim  ein  Fall  verzweifelter  Eklampsie,  in  dem  er  wäh¬ 
rend  einer  Injektion  von  1-5  g  Jodkali  mit  1000  cm3  0-9%iger 
Kochsalzlösung  eine  auffallende  Besserung  herbeiführte,  die  nach 
wiederholtem  Injektionen  in  Heilung  überging.  In  einem  zweiten 
sehr  schwerem  Eklampsiefalle  schälte  Sellheim  beiderseits1  sub¬ 
kutan  das  Mammagewebe  aus,  worauf  eine  prompte  Wandlung 
zum  Bessern  eintrat,  die  in  Heilung  überging.  —  (Zentralblatt  für 
Gynäkologie  1910,  Nr.  50.)  E.  V. 

* 

269.  (Aus  dem  hauptstädtischen  St.  Stephan  -  Krankenhause 
iri  Budapest.  Abteilung  E. )  1.  Von  dem  weiteren  Schicksal 
einer  vor  13  Jahren  geheilten  perniziösen  Anämie. 
2.  Remi  ssi  on  einer  Anaemia  perniciosa  im  Anschluß 
an  Tuberkulose.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Geza  v.  Dieb  alia, 
Primararzt.  Verf.  berichtet  über  einen  Fall,  der  vor  15  Jahren 
das  Krankheitsbild  der  Bi ermer  -  E h rli ch sehen  Anämie  dar¬ 
bot  und  auf  Salolmedikation  hin  ausheilte,  nach  zweimaligen 
kleinen  Blickfällen,  die  auf  Unterbrechung  der  Saloldarreichung 
zurückzuführem  waren.  Der  Patient  starb  nach  13  Jahren  an 
einer  anderen  Krankheit  und  die  Autopsie  bestätigte,  daß  der 
Kranke  von  seiner  vor  13  Jahren  beobachteten  schweren  Anämie 
geheilt  worden  und  an  einer  hievon  vollständig  unabhängigen 
Erkrankung  zugrunde  gegangen  war.  Ueber  einen  anderen  Fall 
von  Bi  ermer -Ehr  lieh  scher  perniziöser  Anämie  berichtet  Dia- 
balla,  daß  dieser  während  der  Progredienz  einer  Lungentuber¬ 
kulose  nicht  nur  nicht  sich  verschlimmerte,  sondern  eine  fort¬ 
währende  Besserung  erfuhr,  so  daß  in  den  dem  Exitus  voraus¬ 
gehenden  Wochen  die  Zusammensetzung  des  Blutes  ungefähr  eine 
solche  war,  wie  sie  sonst  bei  schweren  Lungenleiden  gefunden 
wird.  Wenn  die  Tuberkulose  sich  gegenüber  der  perniziösen  An¬ 
ämie  nicht  mindestens  indifferent  verhalten  hat  (in  welchem 
Falle  die  Besserung  dem  Arsen  oder  dem  Einfluß  irgend¬ 
eines  unbekannten  Faktors  zuzuschreiben  wäre),  so  muß  man 
dann  annehmen,  daß  die  tuberkulöse  Infektion  auf  den  ^  unbe¬ 
kannten  Erreger  der  perniziösen  Anämie  einen  hemmenden  Einfluß 
ausgeübt  hat,  etwa  in  dem  Sinne,  wie  es  einzelne  andere  Inlek- 


398 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


tionskrankheiten  gegenüber  leukämischen  Prozessen  zu  tun 
pflegen.  —  (Zeitschrift  für  klinische  Medizin,  Bd.  71,  H.  3  bis  6.) 

K.  S. 

* 

270.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  der : Universität  in  Breslau. 

Prof.  Dt.  Minkowski.)  Herpes  zoster  und  Nieren¬ 
kolik.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  A.  Bittorf.  Es  wird  die  Beobachtung 
des  Auftretens  eines  rechtseitigen  Herpes  zoster  im  elften  Dor- 
salsegme'nt  bei  rechtseitigen  Nierenkoliken  infolge  intermittieren¬ 
der  Hydronephrose  bei  Wander-  (vielleicht  auch  Stein-)Niere  mit¬ 
geteilt.  Nachdem  schon  in  den  Monaten  vorher  des  öfteren  an¬ 
fallsweise  heftige  Schmerzen  aufgetreten  waren,  die  von  der 
rechten  Lendengegend  nach  vorne  unten  ausstrahlten,  wobei  stets 

meist  mehrtägige  —  Anurie  bestand,  wurde  Ende  November 
vorigen  Jahres  ein  heftiger  Anfall  mit  mehrtägiger  Anurie  beob¬ 
achtet,  dem  in  den  nächsten  Tagen  ein  streng  rechtseitiger  Herpes 
zoster  folgte.  Die  kleinkopfgroße  Niere  war  unterhalb  der  Leber 
zu  fühlen.  Die  Bläscheneruption  entwickelte  sich  also  während 
eines  langandauernden,  heftigen  Kolikanfalles  in  dem  Hautgebiete, 
das  seit  etwa  einem  halben  Jahre  immer  Sitz  von  Schmerz  im 
Anfälle  war.  Diese  Zone  fällt  aber  mitten  in  das  bei  Nierenerkran¬ 
kungen  von  Head  als  typisch  hyperalgetisch  bezeichnete  Haut¬ 
gebiet  —  zehntes  bis  zwölftes  Brustsegment  —  hinein.  Die 
Herpeseruption  entstand  durch  Fortleitung  der  Entzündung  vom 
Nierenbecken  auf  dem  Wege  des  Sympathikus  oder  durch  infek¬ 
tiöse  Noxe.  Letztere  Annahme  hält  Verf.  für  wahrscheinlicher, 
da  er  gerade  in  den  letzten  Monaten  Herpes  labiales  und  einige 
Male  Herpes  zoster  intercostalis  zusammen  mit  einer  influenza- 
artigen  Epidemie  sah.  Es  wäre  dann  also  der  Reizzustand  im 
Spinalganglion  nur  prädisponierend  und  bestimmend  für  Ausbruch 
und  Lokalisation  des  Herpes  gewesen.  Verf.  berichtet  über  ähn¬ 
liche  Fälle  von  Hedinger  (Herpes  zoster  im  elften  Dorsal¬ 
segment  links  bei  einem  Falle  von  chronischer  Nephritis),  von 
Reusz  (in  zwei  Fällen  Herpes  zoster  mit  Gichtanfällen  im  Zu¬ 
sammenhang),  Hause  like  (Tabiker  mit  Magen-  und  Blasen¬ 
klisen,  Herpes  zoster  in  den  von  Head  gefundenen  hyperalgeti¬ 
schen  Zonen)  u.  a.  m.  Verf.  bespricht  sodann  noch  einige  Beob¬ 
achtungen,  bei  welchen  sich  bei  Erkrankungen  innerer  Organe 
(zum  Beispiel  Ulcus  ventrieuli)  in  den  entsprechenden  hyperalgeti¬ 
schen  Zonen  eine  vermehrte  vasomotorische  Erregbarkeit  fand. 
Speziell  weist  er  auf  Fälle  hin,  bei  denen  die  Kenntnis  dieser 
Zonen  von  praktischer  Wichtigkeit  ist.  Er  beobachtete  in  den 
letzten  Jahren  öfters  Kranke,  deren  Hauptklagen  in  vorübergehen¬ 
den,  häufig  dauernden  Parästhesien  und  Schmerzen  an  der 
Innenseite  des  linken  Oberarmes  und  vor  allem  der 
Ulnarseite  des  Vorderarmes  und  der  Hand  bestanden.  Herz¬ 
beschwerden  waren  entweder  nur  beiläufig  oder  gar  nicht  er¬ 
wähnt.  In  allen  Fällen  handelte  es  sich  um  ausgesprochene 
Arteriosklerosen.  An  der  Ulnarseite  (bisher  wenigstens)  des 
linken  Unterarmes  und  der  Hand  fand  sich  ausgesprochene  llyper- 
algesie,  einmal  verbunden  mit  deutlicher  Hyperästhesie.  Auch 
hier  handelte  es  sich  um  hyperalgctische,  reflektierte  Zonen  im 
obersten  Dorsalsegment.  Diese  Fälle  bilden  gewissermaßen  das 
Dauerstadium  der  bei  stenokardischen  Anfällen  wohlbekannten 
ausstrahlenden  Schmer'zen  in  den  linken  Arm  und  ist  deren 
Kenntnis  sehr  wichtig.  —  (Deutsche  medizin.  Wochenschrift  1911, 
Nr.  7.)  E.  F. 

* 

271.  (Aus  dem  Laboratorium  der  kgl.  Universitäts-Frauen¬ 
klinik  München.  —  Vorstand:  Geh.  Rat  Dr.  D  öder  lein.)  Ein 
Beitrag  zur  E  ierstock  (0  ophorin)  th  erapie.  Von  Doktor 
R.  Einhauser,  zurzeit  Heil-  und  Pflegeanstalt  Deggendorf.  Ver¬ 
fasser  teilt  die  Erfahrungen  mit,  welche  das  Ambulatorium  der 
Münchener  Universitäts-Frauenklinik  auf  dem  Gebiete  der  Eier¬ 
stocktherapie  in  der  Zeit  vom  Winter  1908  bis  Frühjahr  1910 
gesammelt  hat.  Die  Eierstocksubstanz  wurde  in  Form  der 
Oophorintabletten 'gegeben  aus  der  Fabrik  Dr.  Freund  in  Berlin. 
Auszugsweise  folgen  sieben  Krankengeschichten.  Die  tndikations- 
stellung  ist  praktisch  schwierig :  vasomotorische  und  «auch  tro- 
phische  Störungen  des  physiologischen  Klimakteriums  wie  des 
antezipierten  postoperativen  Klimas,  gewisse  Chlorosefälle 
scheinen  im  allgemeinen  eine  Oophorintheräpie  zu  indizieren. 
Die  Fehlresultate  in  der  Eierstocktherapie  erklärt  Verf.  durch 


folgende  Momente:  1.  Es  wurde  nicht  überall  ein  gleichwertiges 
Präparat  verwandt ;  es  ist  klar,  daß  nur  ein  absolut  exakt,  aus 
ganz  frischen  Ovarien  sofort  verarbeitetes  Präparat  eine  Heil¬ 
wirkung  ohne  schädliche  Nebenwirkungen  erzielen  kann.  Gerade 
früher  waren  Mißerfolge  mit  Organpräparaten  infolge  der  minder¬ 
wertigen,  zum  Teil  schlechten,  stinkenden,  ja  sogar  giftigen  Prä¬ 
parate  nicht  so  selten  und  daher  die  Organtherapie  in  Mißkredit 
gebracht  worden.  Nun  wurden  aber  in  den  letzten  Jahren  Prä¬ 
parate  von  höchstem  Wirküngswert  und  stets  gleichbleibender 
Zusammensetzung  in  die  Pharmazie  eingeführt,  so  daß  eine  zu¬ 
verlässige  Heilwirkung  besteht.  2.  Werden  —  mehr  als  man 
meinen  möchte  —  manche  „Ausfallserscheinungen“,  „postopera¬ 
tive  Beschwerden“  mit  Ovarpräparaten  behandelt,  die  tatsäch¬ 
lich  schon  vor  der  Operation  bestanden  haben.  Nur  kamen  sie 
den  Patientinnen  unter  dem  Eindruck  der  intensiven  Schmerzen 
oder  der  anderen  Beschwerden,  wie  Blutungen,  Ausfluß,  nicht 
zum  Bewußtsein  und  so  imponieren  sie  nun  als  „Ausfallserschei¬ 
nungen“.  3.  Besteht  sicher  auch  bei  den  verschiedenen  Indivi¬ 
duen  eine  verschiedene  Empfänglichkeit  für  das  artfremde  Sub¬ 
stitutionspräparat.  4.  Die  Substanz,  die  physiologischerweise  durch 
eine  innere  Funktion  der  Keimdrüsen  dem  Körper  zugeführt  wird, 
wird  sicher  nicht  für  alle  Individuen  von  derselben  weitgehenden 
Bedeutung  sein;  für  diese  Annahme  ist  eine  Stütze:  <aj  Die  Tat¬ 
sache,  daß  die  Ausfallserscheinungen  bei  Individuen  unter  sonst 
gleichen  Bedingungen  äußerst  verschiedene  Grade  darbieten 
können,  b)  Existiert  sogar  für  typische  „Ausfallserscheinungen“ 
noch  eine  andere  Erklärungsmöglichkeit:  Gottschalk  erwähnte, 
daß  bei  dein  nach  der  Kastration  beobachteten  Ausfallserschei¬ 
nungen  auch  das  plötzliche  Sistieren  der  menstruellen  Blutaus¬ 
scheidring  als  ätiologisches  Moment  berücksichtigt  werden  müsse. 
Er  hat  junge  Frauen  beobachtet,  denen  durch  unzweckmäßige  in¬ 
trauterine  Behandlung  das  ganze  Endometrium  zerstört  worden 
war  und  die  dadurch  plötzlich  andauernd  amenorrhoisch  geworden 
waren,  bei  vollkommen  funktionierenden  Eierstöcken.  Ein  Zeug¬ 
nis  für  die  Funktion  der  Eierstöcke  waren  die  Molimina  men- 
strualia  und  die  vierwöchentlichen  vikariierenden  Blutungen  «aus 
der  Nasenschleimhaut  und  die  petechialen  Blutungen  in  die  Haut. 
Dies  Moment  darf  bei  Erklärung  der  Ausfallserscheinungen  nicht 
unberücksichtigt  bleiben.  5.  Muß  man  sich  vergegenwärtigen, 
daß  das  Gros  der  Ausfallserscheinungen,  wie  fliegende  Hitze, 
Sch  weißausbruch,  Gefühl  der  Schwere  in  den  Füßen,  Kongestionen, 
Herzklopfen,  Erscheinungen  sind,  welche  bei  alteriertem  Zirku¬ 
lationsapparat,  sowie  bei  dem  labilen  Nervensystem  der  Frau, 
das  durch  eine  Genitaloperation  irritiert  ist,  nicht  allzu  schwer 
erklärlich  sind.  Alle  diese  Momente  sprechen  nach  Verf.  dafür, 
daß  die  Oophorintheräpie  bei  gegebener  Indikation  Erfolge  «auf¬ 
weisen  muß.  Die  Unsicherheit  in  der  Indikationsstellung,  sowie 
das  Ephemere  der  Wirkung  ist  mit  ein  Grund,  daß  die  Eierstock¬ 
therapie  bei  vielen  Gynäkologen  weniger  Anklang  fand.  —  (Mün¬ 
chener  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  7.)  G. 

* 

272.  (Aus  den  medizinischen  Kliniken  der  Charite.)  Ueber 
die  Einwirkung  des  T  a  b  a  k  g  e  n  u  is  s  e  s  auf  die  Z  i  r  k  il¬ 
lations  Organe.  Von  G.  F.  Nicolai  und  R.  Staehelin. 
Fortgesetztes  stärkeres  Rauchen  schädigt  auch  dann  die  Anspruchs¬ 
fähigkeit  der  Gefäße,  wenn  es  nicht  zu  eigentlichen  Intoxikations¬ 
erscheinungen  kommt.  Ob  daneben  noch  eine  direkte  Wirkung 
auf  das  Herz  vorhanden  ist,  läßt -sich  nicht  mit  Sicherheit  sagen. 
Die  Elektrokardiogrammversuche  sprechen  nicht  dafür,  sind  aber 
auch  kein  absoluter  Gegenbeweis.  Jedenfalls  scheint  die  vaso¬ 
motorische  Wirkung  im  Vordergrund  zu  stehen.  Diese  scheint 
die  Entstehung  der  Arteriosklerose  vielleicht  zu  begünstigen,  an 
sich  erzeugt  sie  wohl  die  Arteriosklerose  nicht.  —  (Zeitschrift 
für  experimentelle  Pathologie  und  Therapie  1910,  Bd.  8,  H.  2.) 

K.  S. 

* 

273.  Zur  Kasuistik  der  plötzlichen  Todesfälle 
Während  der  Geburt.  Sectio  caesarea  in  mortua. 
Von  Dr.  E.  Venus.  38jährige  VIpara,  normale  Schwangerschaft, 
wird  nach  ganz  geringer  Wehentätigkeit  plötzlich  unwohl,  Er¬ 
brechen,  Bewußtlosigkeit,  Kollaps,  Exitus.  Fünf  bis  sieben  Minuten 
später  kam  Venus  zur  Patientin,  hörte  kindliche  Herztöne,  so¬ 
fortige  Sectio  caesarea.  Das  Kind  kam  mit  schwachem  Herz- 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


399 


schlag,  tief  asphyktisch  zur  Welt,  konnte  nicht  mehr  zum  Schreien 
gebracht  werden.  Die  Autopsie  ergab,  daß  es  sich  um  einen 
der  seltenen  Fälle  äußerst  foudroyant  verlaufender  Eklampsie 
ohne  Krämpfe  gehandelt  hat.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie 

1911,  Nr.  2.)  E.  V. 

* 

274.  Ueber  die  Eiweißreaktion  im  Sputum  und 
ihre  praktische  Bedeutung.  Von  .  Dr.  M.  Gantz  und 
R.  Hertz  in  Warschau.  Bierm.er  hat  schon  1855  Sputumunter¬ 
suchungen  angestellt  und  deren  Resultate  eingehend  beschrieben. 
Nach  ihm  hat  sich  eine  ganze  Menge  von  Klinikern  mit  dieser 
Frage  beschäftigt  und  besonders  die  Wichtigkeit  eines  Bestand¬ 
teiles  des  Sputums,  des  Eiweißes,  dessen  Anwesenheit  durch 
tiefere  Gewebsveränderungen  in  der  Lunge  verursacht  werden 
soll,  hervorgehoben.  Die  Verfasser  haben  nun  an  der  inneren  Air¬ 
teilung  des  Krankenhauses  Kindlein  Jesu  in  Warschau  (Privat¬ 
dozent  Dr.  W.  Janowski)  diese  Untersuchungen  im  Großen 
ausgeführt  und  haben  125  Fälle,  zumeist  Lungentuberkulose, 
daraufhin  geprüft.  Sie  beschreiben  die  Untersuchungsmethodik, 
analysieren  ihre  Resultate  bei  den  einzelnen  Krankheitsgruppen 
und  gelangen  schließlich  zu  nachfolgender  Zusammenfassung: 
Die  Eiweißreaktion  ist  eine  sehr  einfache  Untersuchungsmethode 
und  nimmt  so  wenig  Zeit  in  Anspruch,  daß  sie  unbedingt  als  Hilfs¬ 
untersuchung  am  Krankenbett  stets  Anwendung  finden  sollte. 
Die  Eiweißreaktion  ist  gewissermaßen  für  spezifisch  zu  halten, 
weil  sie  Ausdruck  eines  Entzündungszustandes  oder  Oedems  in 
der  Lunge  ist.  Bei  den  Bronchialkatarrhen  fällt  die  Eiweißreaktion 
negativ  aus.  Die  Lungentuberkulose  sowohl  in  den  Anfangs¬ 
stadien,  wie  auch  in  den  vorgerückteren,  gibt  mehr  oder  weniger 
deutlich  auftretende  positive  Eiweißreaktion;  eine  Ausnahme 
bildet  vielleicht  die  fibröse  Form  der  Lungentuberkulose.  Bei  Pneu¬ 
monie  und  bei  Lungeninfarkt  ist  die  Eiweißreaktion  positiv.  Das 
Lungenödem,  sogar  in  geringem  Grade,  gibt  deutlich  positive 
Eiweißreaktion.  Die  Eiweißreaktion  leistet  mithin  in  der  Praxis 
häufig  große  Dienste.  Es  sei  nur  zum  Beispiel  an  die  häufigen 
Zweifel  über  das  Bestehen  einer  beginnenden  Lungentuberkulose 
erinnert,  wenn  die  bakteriologische  Untersuchung  negativ  aus¬ 
fällt  und  eine  ganze  Reihe  von  Symptomen  zugunsten  dieser  Dia¬ 
gnose  spricht.  Der  positive  Ausfall  der  Eiweißreaktion  kann 
in  solchen  Fällen  die  Diagnose  im  erwähnten  Sinne  entscheiden. 
Die  Verfasser  beschreiben  ihre  „sehr  einfache  Untersuchungs¬ 
methode“  des  Sputums  auf  Eiweiß  in  folgender  Weise:  Um  das 
Sputum  von  verschiedenen  anderen  Bestandteilen  (Muzin,  Nukleo¬ 
albumin,  Speisereste,  Blut  usw.),  welche  die  Reaktion  stören 
könnten,  zu  befreien,  wurde  demselben  eine  gewisse  Menge  Essig¬ 
säure  zugesetzt  und  dieses  Gemenge  nach  genauer  Mischung  fil¬ 
triert.  Sie  nahmen  das  Acidum  aceticum  dilutum,  welches  zwar 
300A>ig  ist,,  setzten  aber  zu  10  cm3  Sputum  10  cm3  Aqua  destillata 
und  2  cm3  Essigsäure  zu.  Das  Gemenge  wurde  sodann  mit  einem 
Glasstabe  geschlagen;  man  tut  gut,  hiebei  das  Glas  mit  einem 
Papier  zu  bedecken  und  den  Glasstab  durch  ein  Loch  in  dem¬ 
selben  einzuführen.  Dann  Wurde  filtriert.  Man  bekam  eine 
meistenteils  klare,  nur  selten  sehr  opaleszierende  Flüssigkeit 
(Muzinspuren  ?),  welche  farblos,  mitunter  aber  leicht  gelblich  war 
und  deutlich  sauer  reagierte.  Das  Filtrat  wurde  zum  Aufkochen 
gebracht,  wobei  wenn  die  Reaktion  nicht  sauer  genug  war,  die 
Flüssigkeit  sich  sofort  nach  dem  Aufkochen  trübte  oder  sogar 
einen  flockigen  Niederschlag  ausfällte.  Viel  häufiger  aber,  bei  an¬ 
fänglich  negativem  Ausfall  der  Eiweißreaktion,  setzten  die  Ver¬ 
fasser,  um  die  Azidität  des  Filtrats  zu  vermindern,  tropfenweise 
Kalilauge  hinzu,  wonach  eine  deutliche  positive  Reaktion  in  Gestalt 
einer  Trübung  oder  eines  flockigen  Niederschlages  auftrat.  Die 
nach  dem  Aufkochen  entstandenen  leichten  Trübungen  wurden 
manchmal  nach  Laugenzusatz  zu  flockigem  Niederschlag.  Um 
Fehler  zu  vermeiden,  wurde  die  Untersuchung  zumeist  bei  federn 
Kranken  dreimal  wiederholt,  häufig  noch  öfter,  in  Intervallen  von 
einem  Tage  oder'  einigen  Tagen.  Mitunter  war  zum  Erzielen  einer 
positiven  Reaktion  (nach  Wanner)  noch  das  Zusetzen  von 
einigen  Kubikzentimetern  konzentrierter  Kochsalzlösung  notwen¬ 
dig.  —  (Berliner  klinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  7.)  E.  F. 

* 

275.  (Aus  dem  Seuchenhaus  in  Stockholm.  —  Direktor:  Chef¬ 
arzt  Dr.  Thure  Hellström.)  Ueber  größere  Serumdosen 


bei  Diphtherie.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Ivar  Wickmann  in 
Stockholm.  Wickmann  behandelte  18  schwere,  septische  (toxi¬ 
sche,  phlegmonöse)  Diphtherien  mit  größeren  Serumdosen  (12.000 
bis  35.000  Immunitätseinheiten)  und  verlor  nur  vier  Fälle,  die 
vielleicht  ohnehin  schon  verloren  waren.  Die  Ueberlebenden 
hatten  durchschnittlich  15.000  bis  lß. 000  Immunitätseinheiten  (im 
Minimum  12.000,  im  Maximum  35.000  Immunitätseinheiten)  er¬ 
halten,  'die  Einzeldosis  betrug  meist  5000  bis  7000  Immunitätsein¬ 
heiten,  morgens  wie  abends.  Das  allgemeine  Bild  der  so  behan¬ 
delten  Patienten  kontrastierte  sichtlich  mit  demjenigen,  welches 
man  bei  mit  gewöhnlichen  Dosen  behandelten,  dem  Tode  ent¬ 
rissenen  .Diphtheriefällen  zu  finden  gewohnt  ist.  Von  einer 
Kachexie  war  sehr  wenig  zu  sehen;  dagegen  entgingen  nur  vier 
Kranke  Paresen  und  Herzstörungen  (unregelmäßiger,  labiler  Puls, 
oft  mit  frustranen  Herzkontraktionen  in  fast  sämtlichen  Fällen). 
Albuminurie  trat  in  fast  allen  Fällen  auf,  niemals  stärkere  Ne¬ 
phritis.  Von  Serumnebenwirkungen  war  sehr  wenig  zu  sehen, 
nur  in  drei  Fällen  spärliche  Urtikaria,  die  in  einem  Falle  mit 
Anschwellung  der  Handgelenke  kombiniert  war.  Jedenfalls  hat 
Wickmann  aus  seinen  Beobachtungen  den  Eindruck,  daß  größere 
Serumdosen  einen  Teil,  unter  anderer  Behandlung  wahrschein¬ 
lich  tödlicher  Fälle,  über  das  akute  Stadium  hinweg  verholten 
haben  und  daß  der  weitere  Verlauf  sich  günstiger  gestaltete  als 
es  bei  kleinen  Dosen  wahrscheinlich  der  Fall  gewesen  wäre 
(Wickmann  verlor  vier  Fälle,  die  mit  weniger  als  12.000 
Immunitätseinheiten  'behandelt  worden  waren,  obgleich  keiner  kli¬ 
nisch  von  vornherein  ungünstiger  zu  sein  schien,  als  einer  der 
obigen  18.  Fälle).  Oh  durch  eine  noch  kräftigere  Serumapplika¬ 
tion  .die  nachträglichen  Erscheinungen  am  Herzen  und  an  den 
Nerven  nicht  doch  noch  hätten  vermieden  werden  können,  wagt 
Wickmann  nicht  zu  entscheiden,  Ransom  glaubt  aber  nach 
seinen  experimentellen  Untersuchungen  schließen  zu  dürfen,  daß 
große  Dosen  Antitoxin,  in  einem  frühen  Stadium  der  Krankheit 
verabreicht,  auch  beim  Menschen  günstig  auf  die  nachfolgen¬ 
den  Lähmungen  einwirken  werden.  -  Die  Wirkung  der  großen 
Dosen  auf  die  schweren  Formen  von  Diphtherie  scheinen  auch 
von  ^gewissem  Interesse  für  die  Auffassung  der  Aetiologie  zu  sein, 
denn  da  die  schweren  Formen  also  keineswegs  unempfänglich 
für  die  Behandlung  mit  Diphtherieserum  sind,  wenn  man  nur 
hinreichend  große  Dosen  nimmt,  so  handelt  es  sich  vielleicht 
doch  nicht  um  Mischinfektionen  (gegen  welche  die  Franzosen 
neben  dem  Diphtherieserum  noch  das  Marmoreksche 'Strepto¬ 
kokkenserum  empfehlen),  sondern  um  besonders  virulente  Diph¬ 
therien,  eventuell  bei  besonders  disponierten  Personen.  (Mo¬ 
natsschrift  für  Kinderheilkunde  1910,  Bd.  9,  Nr.  8.)  K.  S. 

* 

276.  Die  m ammäre  Theorie  über  die  Entstehung 
des  Eklampsiegiftes.  Von  Ed.  Martin.  Mit  Bezug  auf 
die  von  Seil  heim  mitgeteilte  mammäre  Theorie  macht.  Martin 
auf  Bolle  aufmerksam,  der  seinerzeit  von  der  den  Tierärzten 
schon  seit  1847  bekannten  Tatsache  ausging,  daß  die  Gebär¬ 
parese  der  Kühe,  eine  der  menschlichen  Eklampsie  recht  ähn¬ 
liche  Erkrankung,  durch  Einspritzungen  von  Jodkalium  in  das 
Euter,  recht  günstig  zu  beeinflussen  ist.  Bei  der  Behandlung  der 
Gebärparese  haben  die  Tierärzte  jetzt  das  Jodkalium  durch  ein¬ 
fache  atmosphärische  Luft  ersetzt.  In  einem  verzweifelten  Falle 
von  Eklampsie  hat  Martin  Sauerstoff  in  die  Brust  so  lange 
einströmen  lassen,  bis  über  beide  Brüste  und  Arme  deutliches 
Emphysem  zu  spüren  war.  Die  Anfälle  hörten  sofort  auf,  der 
Zustand  besserte  sich  andauernd.  Im  späteren  Wochenbett  erlag 
die  Patientin  einer  von  einer  Zervixwunde  ausgehenden  Peri¬ 
tonitis.  In  einem  zweiten  Fälle  war  der  Versuch  ein  vergeblicher. 

—  (Zentralblatt  für  Gynäkologie!  1911,  Nr.  2.)  L.  1  . 

* 

277.  Ueber  den  Typus  der  Tuberkelbazillen  im 
Aus wurf  der  Phthisiker.  Von  Stabsarzt  Dr.  B.  Müllers, 
kommandiert  zum  Institut  für  Infektionskrankheiten  in  Berlin 
(Direktor:  Prof.  Dr.  Gaffky).  In  dem  Sputum  von  51  Lungen¬ 
kranken,  welches  von  elf  Patienten  je  dreimal,  von  33  Patienten 
je  zweimal  und  von  7  je  einmal  auf  Meerschweinchen  verimplt 
wurde,  konnten  in  jedem  Falle  durch  den  Kaninchenveisuch 
Tuberkelbazillen  des  humanen  Typus  festgestellt  werden,  ohne 
daß  auch  nur  in  einem  einzigen  Falle  kaninchenpathogene  La- 


400 


WIENER  KLIN If-.  CUE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


zillea  gefunden  werden  konnten.  Mit  Einschluß  dieser  51  Fälle 
sind  bisher  in  der  Literatur  632  aus  Phthisikersputum  gezüchtete 
Reinkulturen  beschrieben  worden,  die  in  den  Jahren  1898  bis 
jetzt  in  den  verschiedensten  Gegenden  der  Welt  in  einwandfreier 
Weise  auf  ihre  Zugehörigkeit  zum  humanen  oder  bovinen  Typus 
untersucht  sind.  Diese  632  Kulturen  gehörten,  wenn  man  von 
einem  nicht  hinreichend  geklärten  Falle  absieht,  sämtlich  dem 
humanen  Typus  an.  Es  besteht  somit  die  Behauptung  Robert 
Kochs  vollkommen  zu  Recht,  daß  noch  kein  Fall  von  Phthisis 
bekannt  ist,  in  dem1  für  eine  längere  Zeit  von  dem  betreffenden 
Menschen  Perlsuchtbazillen  ausgehustet,  bzw.  hei  ihm  nachge¬ 
wiesen  wurden.  -Das  Fehlen  von  Perlsuchtbazillen  im  Sputum  der 
an  Lungenschwindsucht  leidenden  Menschen,  die  den  weitaus 
größten  Teil  aller  Tuberkulösen  umfassen,  zeigt  die  Richtigkeit 
der  Auffassung  Robert  Kochs,  daß  die  Perlsucht  des  Rindes 
für  die  Erkrankung  des  Menschen  an  Tuberkulose  nur  eine  unter¬ 
geordnete  Rolle  spielt.  —  Aus  demselben  Institute  für  In¬ 
fektionskrankheiten  stammt  die  folgende  Arbeit  des  Stabsarztes 
Dr.  Rothe,  betitelt:  Untersuchungen  über  tuberkulöse 
Infektion  im  K i n desalt e r .  Es  wurden  kindliche  Mesen¬ 
terial-  und  Bronchialdrüsen  auf  das  Vorhandensein  von  Tuberkel¬ 
bazillen  und  auf  die'  Eruierung  des  Typus  (Typus  humanus  oder 
Typus  bovinus)  untersucht.  Früher  schon  hat  Gaffky  selbst 
über  das  Resultat  seiner  bezüglichen  Untersuchungen  an  drei¬ 
hundert  Kinderleichen  berichtet,  Rothe  verfügte  über  hundert 
Kinderleichen.  Aus  beiden  Berichten  eigibt  sich  folgendes: 
Durch  Verimpfung  der  Mesenterial-  und  Bronchialdrüsen  von 
400  Kmderleichen  auf  Meerschweinchen  wurde  in  78  Fällen 
(19-50/c)  eine  tuberkulöse  Infektion  festgestellt.  Davon  erwiesen 
sich  42mal  beide  Drüsengruppen,  14mal  nur  die  Mesenterialdrüsen 
und  22mal  nur  die  Bronchialdrüsen  tuberkulös  infiziert.  Unter 
den  78  Fällen  waren  75,  in  welchen  die  Infektion  durch  Tuberkel¬ 
bazillen  vom  Typus  humanus  bedingt  war,  während  nur  in  drei 
Fällen  eine  bovine  Infektion  nachgewiesen  wurde  oder  doch 
mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  angenommen  werden  mußte.  Läßt 
man  zwei  Fälle  Gaffky s,  in  denen  die  Gewinnung  einer  Rein¬ 
kultur  nicht  gelungen  war,  als  unentschieden  außer  Rechnung, 
so  verbleiben  76  tuberkulöse  Fälle  mit  humaner  und  ein  Fall 
mit  boviner  Infektion.  Diese  Untersuchungen  bestätigen 
also  .ebenfalls  in  vollem  Umfange  die  Ansicht  Robert  Kochs,  daß 
auch  für  das  Kindesalter  die  Bedeutung  der  Rindertuberkelbazillen 
erheblich  zurücktritt  gegenüber  der  ihm  von  menschlichen  Tu¬ 
berkelbazillen  drohenden  Gefahr.  Nur  für  einen  Fall  ist  sicher 
erwiesen,  daß  die  bei  der  Sektion  des  Kindes  gefundenen  tuber¬ 
kulösen  Veränderungen  auf  einer  Infektion  mit  Perlsuchtbazillen 
beruhten.  Weiters  sprechen  diese  Untersuchungen  dafür,  daß 
die  Atmungsorgane  häufiger  die  Eintrittspforte  für  die  Tuberkel 
bazillen  auch  in  dem  kindlichen  Organismus  sind.  —  (Deutsche 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  8.)  E.  F. 

* 

278.  (Aus  dem  städtischen  Säuglingsheim  Dresden.  —  Ober¬ 

arzt  Dr.  Rietschel.)  Ein  Pall  von  Erythrodermia  des- 
quamativa  (Leiner).  Von  Dr.  E.  Weide.  Der  Verfasseil- 
berichtet  über  einen  schwersten  Fall  von  Erythrodermia  desqua- 
mativa,  welcher  durchaus  dem  von  Leiner  geschilderten  Krank¬ 
heitsbilde  entsprach.  Trotz  rechtzeitiger  strengster  Diätregelung 
und  mildester  externer  Behandlung  der  Haut,  führte  die  Krank¬ 
heit  unaufhaltsam  zum  Tode.  Die  Aetiologie  des  Falles  blieb 
ungeklärt.  —  (Monatsschrift  für  Kinderheilkunde  1910,  Bd.  9, 
Nr.  8.)  K.  S. 

* 

279.  Eröffnung  neuer  Abfuhrwege  bei  Stauung 
in  Bauch  und  unteren  Extremitäten.  Von  Prof.  Lanz. 
Verf.  ging  bei  einem  44jährigen  Patienten,  bei  dem  ohne  nach¬ 
weisbare  Ursache  vor  fünf  Jahren  eine  Elephantiasis  des  rechten 
Fußes  aufgetreten  war,  so  vor,  daß  in  dem  unteren,  mittleren  und 
oberen  Teil  des  Femurs  durch  je  ein  Bohrloch  die  Markhöhle 
freigelegt  wurde;  dann  wurden  aus  der  Fascia  lata  schmale 
Streifen  geschnitten,  die  in  jedes  dieser  Bohrlöcher  eingeführt 
wurden,  in  Erwartung,  daß  längs  dieser  Faszienstreifen  ein  Lymph- 
kollateralkreislauf  zustande  käme.  Nach  Naht  der  Faszie  wurden 
noch  multiple  kleine  Drainageöffnungen  in  die  Fascia  lata  ge¬ 
legt,  um  einer  Lymphableitung  in  die  Muskulatur  Vorschub  zu 


Nr.  11 

====== 

leisten.  Drei  Jahre  nach  der  Operation  ergab  sich,  daß  Patient 
wieder-  arbeitsfähig  ist,  ein  wesentlicher  Unterschied  zwischen 
rechtem  und  linkem  Oberschenkel  nicht  wahrgenommen  werden 
kann,  wohl  aber  ist  die  Haut  des  rechten  Oberschenkels  etwas 

fester.  —  (Zentralblatt  für  Chirurgie  1911,  Nr.  1.)  E.  V. 

* 

280.  Ueber  Adalin,  ein  neues  Beruhigungs-  und 

Einschläferungsmittel.  Von  Dr.  Hans  Hirschfeld  in 
Berlin.  Adalin,  ein  Bromdiäthylazethylharnstoff,  wird  hauptsäch¬ 
lich  wegen  seiner  vollkommenen  Unschädlichkeit  sowohl  als 
Sedativum  bei  nervösen  Zuständen,  als  auch  als  schlafherbei¬ 
führendes  Mittel  empfohlen.  Es  ist  in  Wasser  nicht  löslich,  wird 
aber  zweckmäßig  in  Wasser  aufgeschwemmt  verabreicht.  Für  die 
sedative  Wirkung  (an  Stelle  von  Brom  bei  Angstzuständen,  großer 
Erregbarkeit  und  Unruhe,  Herzneurosen  usw.)  genügen  dreimal 
täglich  0-5  g,  am  besten  unter  Nachtrinken  von  kaltem  Wasser, 
als  Hypnotikum  verabreiche  man  1  g,  allenfalls  —  bei  stär¬ 
keren  Erregungszuständen  —  0-5  g  in  den  Abendstunden  und 
außerdem  1  g  ungefähr  eine  Viertelstunde  vor  dem  Schlafen¬ 
gehen.  Der  Schlaf  dauert  meist  nur  sechs  Stunden  lang  an,  es 
fehlt  aber  jeder  posthypnotische  Effekt.  Selten  wird  über  Be¬ 
nommenheit  des  Kopfes  am  anderen  Tage  geklagt.  Verf.  hat 
das  neue  Mittel  in  43  Fällen  erprobt.  —  (Berliner  klinische 
Wochenschrift  1911,  Nr.  8.)  E.  F. 

•1* 

281.  lieber  das  Ehrlichsche  Heilmittel  ,,606“  bei 
Syphilis.  Von  Prof.  Br.  Erhard  Riecke  in  Leipzig.  Riecke 
behauptet  mit  Sicherheit,  daß  irgendwelche  Schädigungen,  wie 
sie  etwa  dem  Atoxyl  anhaften,  bei  dem  neuen  Heilmittel  der 
Syphilis  ausgeschlossen  sind!  Man  muß  sich  nur  an  die  von 
Ehrlich  scharf  betonten  Maximen  halten.  „Ehrlich  606“  ist  ein 
spezifisches  Heilmittel  der  Syphilis,  welches  noch  wirksamer 
ist  als  Quecksilber.  Abzusehen  von  der  Behandlung  mit  dem¬ 
selben  wäre  bei  vorgeschrittenen  degenerativen  Prozessen  des 
Nervensystems,  sowie  bei  Herzaffektionen,  speziell  bei  chroni¬ 
scher  Myokarditis.  Ebensowenig  sollte  bei  stark  geschwächten 
Individuen  -  -  bei  denen  es  sich  nicht  um  syphilitische  Kachexie 
handelt  —  bei  denen  jeder  mit  etwaigen  Fieberreaktionen  ver¬ 
bundene  differente  Eingriff  eine  Lebensgefahr  involviert,  eine 
Behandlung  mit  „606“  eingeleitet  werden.  Endlich  ist  prinzipiell 
festzuhalten,  daß  ja  von  dem  Ehrlich  sehen  Mittel  reaktive  Vor¬ 
gänge  an  dem  erkrankten  Organe  hervorgerufen  werden  können. 
Solche  entzündliche  Reaktionen  um  die  luetischen  Effloreszenzen 
herum  sind  als  Herxhe  imersches  Phänomen  bekannt;  be¬ 
treffen  nun  solche  entzündliche  Reaktionen  spezifisch  erkrankte 
lebenswichtige  Organe  oder  deren  Teil,  so  können  sich  natürlich 
unter  solchen  Umständen  lebensbedrohliche  Zustände  entwickeln. 

—  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  Jahng.,  Nr.  49.)  K.  S. 

* 

282.  Karzinombildung  im  Zervixstump  f.  Von. 
Dr.  R.  v.  Feilenberg.  Verf.  teilt  einen  Fall  mit,  in  dem 
20  Jahre  nach  einer  wegen  Fibromyoma  uteri  vorgenommenen 
supravaginalen  Amputation  des  Uterus  „sich  im  Zervixstumpfe 
ein  Karzinom  entwickelt  hat.  Laparotomie,  Exstirpation  des 
Stumpfes,  Heilung,  die  13  Monate  post  operationem  noch  anhielt. 

—  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911,  Nr.  4.)  E.  V. 

* 

283.  Ein  wasserlösliches  Gleitmittel  für  Ka¬ 
theter  usw.  Von  Dr.  Artur  Strauß  in  Barmen.  Die  folgende 
Mischung,  welche  dauernd  haltbar  ist,  kann  sich  jeder  Arzt 
selbst  hersteilen  oder  in  den  Apotheken  bereiten  lassen.  Die 
Formel  lautet:  Tragacanth.  1-6,  Tere  cum  Aqua  frigid.  50-0,  Gly- 
cerini  ad  100-0,  Coque  ad  sterilisat.,  adde  Hydrargyr.  oxeyan.  0T. 

—  (Medizinische  Klinik  1911,  Nr.  8.)  E.  F. 

* 

284.  Die  spezifische  Behandlung  von  Frambösie 
mit  S al v  ars an.  Von  Prof.  Dr.  Richard  P.  Strong  in  Manila. 
Mit  Rücksicht  auf  die  günstigen  Resultate,  welche  mit  Salvarsan 
bei  der  Behandlung  von  Syphilis  erzielt  worden  sind,  lag  für  den 
Verfasser  der  Gedanke  nahe,  das  Mittel  auch  bei  Frambösie  zu 
versuchen,  da  die  Spirochäten  als  Ursachen  beider  Krankheiten 
morphologisch  und  biologisch  „einander  nahe  stehen.  Nach  D  a- 
ni eis, 'der  die  größte  persönliche  Erfahrung  über  die  Behandlung 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


401 


der  Frambösie  gesammelt  hat,  beeinflußt  kaum  ein  Heilmittel 
die  Dauer  der  Krankheit;  Quecksilber  und  Arsen  sicher  nicht.  Die 
Wirkung  von  Jodkali  ist  ungewiß.  Bezüglich  der  Identität  von 
Frambösie  und  Syphilis  stimmen  die  meisten  Forscher  darin 
überein,  daß  beide  Krankheiten  ätiologisch  verschieden  sind.  Der 
Verfasser  hat  bis  jetzt  30  Fälle  von  Frambösie  mit  Salvarsan 
behandelt.  Die  Lösung  wurde  nach  den  Angaben  Ehrlichs  her¬ 
gestellt  und  die  Injektionen  in  der  üblichen  Weise  ausge¬ 
führt.  Seine  Schlußfolgerungen  lauten:  Salvarsan  erscheint 
als  ein  ideales  Spezifikum  gegen  Frambösie.  Drei  oder  vier 
Tage  nach  der  Injektion  beginnen  die  Granulationen  zu  ver¬ 
schwinden  und  im  Laufe  von  zehn  bis  zwanzig  Tagen  sind  sie 
gewöhnlich  gänzlich  verschwunden  und  eine  vollkommen  glatte, 
pigmentierte  Haut  bildet  sich  an  ihrer  Stelle.  Die  Absorption 
von  Tumormassen  von  mehreren  Zentimetern  im  Durchmesser 
und  zirka  1  mm  Dicke  in  so  kurzer  Zeit  ohne  Einwirkung 
irgendwelcher  lokaler  Behandlung  ist  auffällig  und  überraschend. 
Bei  den  schweren  Fällen  kann  man  in  der  Tat  das  Verschwinden 
der  Erscheinungen  und  die  Heilwirkung  nur  mit  dem  Worte 
„wunderbar“  bezeichnen.  Selbst  in  Fällen,  in  denen  heftig  granu¬ 
lierende  Massen  oder  tiefe  Ulzerationen  vorhanden  waren,  heilten 
diese  innerhalb  drei  bis  vier  Wochen.  Es  dürfte  kaum  in  der 
ganzen  Medizin  ein  frappanteres  Beispiel  für  die  spezifische  Wir¬ 
kung  eines  Mittels  geben,  als  die  des  Dioxydiamidoarsenobenzols 
bei  Frambösie.  Eine  leichte  Rötung  tritt  innerhalb  24  bis  48 
Stunden  nach  der  Injektion  am  Rande  der  Läsionen  auf.  Das 
Zentrum  derselben  erscheint  gewöhnlich  rot  oder  blau  geschwollen. 
Phagozyten  wandern  in  dieses  Gebiet  und  es  nimmt  nun  eine 
graue  oder  braune  Färbung  an.  Die  Spirochäten  verschwinden 
schnell  und  das  granulöse  Gewebe  wird  resorbiert,  an  seine 
Stelle  tritt  dunkle,  pigmentierte  Haut,  die  später  die  normale 
Hautfarbe  annimmt.  Schorfe  werden  nicht  resorbiert,  sondern 
fallen  ab.  Keiner  der  Fälle  hat  einen  Rückfall  gezeigt,  obwohl 
sie  alle  nur  eine  einzige  Injektion  erhalten  haben  und  bereits 
bei  den  meisten  Patienten  mehr  als  sechs  Monate  verflossen 
sind.  Trotzdem  glaubt  Verf.,  daß  in  den  schwersten  Fällen  der 
Krankheit  eine  zweite  Injektion  drei  Wochen  nach  der  ersten 
empfehlenswert  ist.  Die  Dosis  des  Mittels  für  Frambösie  muß  auf 
0-25  bis  0-3  g  für  Kinder  und  0-5  bis  0-7  g  für  Erwachsene 
bemessen  werden.  Außer  vorübergehenden  Temperatursteigerun- 
gen  wurden  keine  ungünstigen  Symptome  beobachtet.  Eine  lokale 
Behandlung  ist  bei  Salvarsan  absolut  überflüssig.  Die  Heilung 
der  Frambösie  durch  dieses  Präparat  und  die  günstigen  Resultate, 
die  mit  demselben  Mittel  bei  Lues  erzielt  worden  sind,  könnten 
aufs  Neue  für  eine  Identität  der  beiden  Krankheiten  sprechen. 
Es  erscheint  aber  dem  Verfasser  gar  nicht  befremdlich,  daß 
dies  Mittel  eine  so  deletäre  Wirkung  auf  die  beiden  Organismen : 
Treponema  pertenue  und  Treponema  pallidum  ausübt,  da  die 
beiden  biologisch  und  morphologisch  nahe  verwandt  sind.  Auch 
Jodkalium,  für  die  Behandlung  der  Syphilis  so  wichtig,  war  bisher 
das  beste  Heilmittel  gegen  Frambösie.  Zum  Schlüsse  erklärt 
der  Verfasser  noch,  daß  Salvarsan  ein  ebenso  bedeutsames  Spe¬ 
zifikum  gegen  Frambösie  zu  sein  scheint,  wie  Chinin  gegen 
Malaria  und  daß  damit  ein  viertes  medizinisches  Spezifikum 
entdeckt  wäre.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  8.) 

G. 

♦ 

285.  Experimenteller  Beitrag  zur  Aetiologie  der 
Rachitis.  Vorläufige  Mitteilung  von  Dr.  S.  Stocker  jun.  Ver¬ 
fasser  implantierte  einem  kräftigen,  14  Tage  alten  Kalbe  die  Ova¬ 
rien  einer  gesunden  Kuh,  die  einmal  geworfen  hat.  Vier  Wochen 
post  Operationen!  trat  Druckempfindlichkeit  der  Extremitäten¬ 
knochen,  besonders  in  der  Epiphysengegend,  auf,  sechs  Wochen 
post  Operationen!  hatte  das  Tier  eine  vier  Tage  dauernde  Diarrhoe 
und  Appetitlosigkeit,  fünf  Monate  nach  der  Operation  waren  die 
vorderen  Beine  zu  deutlichen  X- Beinen  geworden,  der  vorher 
gerade  Rücken  hatte  eine  nach  oben  konkave  Gestalt  angenommen. 
Bei  der  sieben  Monate  nach  der  Operation  vorgen ommenen  Sektion 
fand  man  die  implantierten  Ovarien  klein  und  von  normaler 
Struktur,  die  alten  Ovarien  von  normaler  Größe,  die  Nebennieren 
waren  kaum  mehr  zu  finden.  Hypophyse  und  Thyreoidea  waren 
von  normaler  Größe.  Es  handelt  sich  hier  um  den  ersten  gelun¬ 
genen  Versuch  von  Wachstumsheminung  durch  Ovarienimplan¬ 


tation.  Das  klinische  Bild  entspricht  ganz  demjenigen  der  Ra¬ 
chitis.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1910,  Nr.  3.)  E.  V. 

* 

Aus  italienischen  Zeitschriften.  ' 

286.  Klinischer  Beitrag  zur  allgemeinen  Anästhe¬ 
sie  mittels  des  Aetherr aus ches  nach  der  Methode 
von  Sudeck,  auch  bei  Operationen  von  längerer  D  au  er. 
Vorläufige  Mitteilung  von  Carlo  Mariani.  Die  Erfahrungen  be¬ 
ziehen  sich  auf  220  im  Aetherrausch  ausgeführte  Operationen; 
die  Resultate  waren  so  günstig,  daß  der  Aetherrausch,  von  we¬ 
nigen  Ausnahmen  abgesehen,  an  Stelle  der  Chloroformnarkose 
verwendet  wurde.  Das  Verfahren  basiert  auf  der  Beobachtung, 
daß  nach  Anwendung  von  ca.  30  g  Aether  ein  dem  Alkohol¬ 
rausch  analoger  Zustand  eintritt,  während  dessen  Unempfind¬ 
lichkeit  gegen  Schmerzen  besteht;  wenn  bei  weiterer  Aether- 
applikation  Exzitation  auftritt,  wird  die  Aetherzufuhr  sistiert, 
wenn  sich  Zeichen  des  Erwachens  einstellen,  dagegen  neuerdings 
10  bis  15  g  Aether  aufgegossen.  Weitere  Erfahrungen  haben 
gezeigt,  daß  nach  vorheriger  Injektion  von  0-01  bis  0  02  g  Mor¬ 
phium  der  Aetherrausch  prompter  eintritt  und  ruhiger  verläuft. 
Die  Narkose  kann  mit  einer  gewöhnlichen  mit  Wachstuch  über¬ 
zogenen  Maske  gemacht  werden.  Es  wurden  vom  Verfasser  unter 
anderem  35  Laparotomien  und  45  Hernienoperationen  im  Aether¬ 
rausch  ausgeführt.  Bedrohliche  Erscheinungen  traten  niemals 
auf;  nur  in  drei  Fällen  mußten  zur  Vervollständigung  der  Nar¬ 
kose  noch  einige  Tropfen  Chloroform  angewendet  werden.  Aus  der 
Literatur  und  den  eigenen  Erfahrungen  des  Verfassers  geht  hervor, 
daß  der  Aetherrausch  die  unschädlichste  Form  der  allgemeinen 
Anästhesie  darstellt  und  auch  bei  Operationen  angewendet  wer¬ 
den  kann,  welche  lVa  Stunden  und  darüber  dauern.  Beim  Aether¬ 
rausch  ist  nur  die  Hälfte  oder  ein  Drittel  der  bei  der  gewöhn¬ 
lichen  Aethernarkose  gebrauchten  Aethermenge  erforderlich, 
Aspirationspneumonie  kommt  nur  ganz  ausnahmsweise  vor,  weil 
der  Patient  das  Mundhöhlensekret  durch  Schlucken  beseitigen 
kann.  Das  Erwachen  aus  dem  Aetherrausch  erfolgt  rasch  und 
es  kann  der  Patient  schon  nach  sechs  bis  zehn  Stunden  Nahrung 
per  os  nehmen.  Der  einzige  Nachteil  des  Aetherrausches  besteht 
darin,  daß  besonders  kräftige  Personen  und  Trinker  eine  gewisse 
Unruhe  zeigen;  diese  wird  durch  einige  Tropfen  Chloroform  be¬ 
seitigt,  worauf  der  Aetherrausch  fortgesetzt  werden  kann.  — 
(Gaz.  degli  osped.  1910,  Nr.  137.)  a.  ie. 

* 

287.  Ueber  einen  neuen  Weg  der  experimentellen 
Erforschung  maligner  Tumoren.  Von  Paridee  Melloni. 
Eine  besonders  augenfällige  Erscheinung,  namentlich  bei  malignen 
Tumoren,  ist  die  mächtig  gesteigerte  Proliferation.  Wenn  man 
annimmt,  daßi  die  Tumorbildung  nur  von  einer  Zelle  ausgeht,  so 
liegt  ein  Vergleich  mit  dem  stürmischen,  wenn  auch  regulären 
Proliferationsvorgang  der  befruchteten  Eizelle  nahe;  es  wurde 
auch  die  Anschauung  geäußert,  daß  die  Tumoren  die  Folge  einer 
Paarung  von  Epithelzellen  und  Leukozyten,  bzw.  zwei  Epithel¬ 
zellen  sein  könnten,  welche  beide  die  Hälfte  ihrer  Chromosomen 
eingebüßt  haben.  Diese  Hypothese  würde  an  Wahrscheinlich¬ 
keit  gewinnen,  wem!  man  annimmt,  daß  eine  der  beiden  Zellen 
spezifisch  befruchtende  Eigenschaften  besitzt.  Dieser  Bedingung 
entsprechen  die  Spermatozoon,  denen  nicht  a  priori  die  Fähig¬ 
keit  abgesprochen  werden  kann,  auch  außer  der  Eizelle  auf  an¬ 
dere  Zellen  befruchtend  zu  wirken  und  einen  hier  allerdings 
atypischen  und  pathologischen  Entwicklungsvorgang  auszulösen. 
Die  Möglichkeit  der  Verschmelzung  zweier  Zellkerne  ist  nicht 
nur  in  der  Eizelle:  gegeben,  sondern  auch  in  den  von  der  Eizelle 
abstammenden  Gewebszellen,  deren  Kern  gleichfalls  der  Träger 
der  Reproduktionsfähigkeit  ist.  Während  unter  normalen  Verhält¬ 
nissen  die  Gewebszellen  ihrer  Struktur  nach  zur  Verschmelzung 
mit  den  Kernen  anderer  Zellen  nicht  geeignet  sind,  erscheinen 
Zellveränderungen  denkbar,  welche  den  Kern  zur  Befruchtung 
analog  dem  Kerne  der  Eizelle,  wieder  fähig  machen.  Zur  Be¬ 
kräftigung  der  Hypothese  von  der  Bedeutung  der  Spermatozoen 
für  die  Genese  der  Tumoren,  kann  die  hohe  Resistenz  und 
Vitalität  dieser  Elemente  herangezogen  werden,  ferner  die  große 
Häufigkeit  des  Uteruskarzinoms  bei  Frauen  und  die  Latsacue, 


402 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


daß  ein  Uteruskarzinom  bei  jungfräulichen  Individuen  bisher 
nicht  beobachtet  wurde.  Die  experimentelle  Begründung  der 
Hypothese  würde  Injektion  von  Spermatozoen  in  den  tierischen 
Organismus  auf  den  verschiedensten  Wegen,  sowie  auch  Ver¬ 
suche  an  Tieren,  denen  verschiedene  Drüsen  mit  innerer  Se¬ 
kretion  exstirpiert  wurden,  erfordern.  —  (Gaz.  ilegli  osped.  1910, 
Nr.  134.)  '  a..  e. 

* 

288.  Ueber  die  Einwirkung  von  Organextrakten 

auf  die  toxische  Aktion  des  Adrenalins.  Von  Alberto 
Farini.  Die  Versuche  zeigen  einen  Antagonismus  zwischen 
Adrenalin  und  Pankreasextrakt  in  dem  Sinne,  daß  durch  Pan¬ 
kreasextrakt  die  Glykosurie  erzeugende  Wirkung  des  Adrenalins 
aufgehoben,  dagegen  dessen  blutdrucksteigernde  Wirkung  nicht 
deutlich  beeinflußt  wird.  Es  fragt  sich,  ob  ein  chemischer  Ant¬ 
agonismus  zwischen  Adrenalin  und  Pankreasextrakt  vorliegt  oder 
ob  andere  bisher  unbekannte  Faktoren  hier  von  Bedeutung  sind. 
Es  wurden  Untersuchungen  angestellt,  oh  das  Pankreasextrakt  mit 
der  Verhinderung  der  Adrenalinglykosurie  auch  die  toxischen  Wir¬ 
kungen  des  Adrenalins  auf  hebt  und  ob  andere  Extrakte  aus  Or¬ 
ganen  mit  innerer  Sekretion  in  gleichem  Sinne  wirken,  wie 
Pankreasextrakt;  es  wurden  hiebei  Extrakte  aus  Gehirn,  Leber, 
Muskeln,  Schilddrüse,  Thymus  und  Nebenschilddrüsen  verwendet. 
Die  Versuche  wurden  an  Kaninchen  angestellt,  denen  die  ge¬ 
nannten  Organextrakte  in  einer  Verdünnung  1:5,  die  Nebenschild¬ 
drüsenextrakte  in  einer  Verdünnung  1 : 10  intravenös  injiziert 
wurden.  Als  Nebennierenextrakt  kam  l%o  Lösung  von  Adrenalin 
Clin  zur  Anwendung,  wovon  die  Injektion  eines  Tropfens  die 
letale  Dosis  pro  Vio  kg  Kaninchen  darstellt.  Es  zeigte  sich,  daß 
Pankreasextrakt  vor  oder  nach  dem  Adrenalin  injiziert,  bzw.  2  Tage 
vor  der  Injektion  oder  unmittelbar  vor  der  Injektion  mit  dein 
Adrenalin  gemischt,  nicht  die  toxische,  bzw.  letale  Wirkung  des 
Adrenalins  aufzuheben  vermag,  daß  ferner  Pankreasextrakt  für 
sich  keine  nennenswerten  toxischen  Wirkungen  besitzt.  Die  Ex¬ 
trakte  der  Nebenschilddrüse  üben  anscheinend  eine  steigernde, 
die  Extrakte  der  Schilddrüse  eine  im  geringen  Grade  abschwä¬ 
chende  Wirkung  auf  die  Toxizität  des  Adrenalins  aus.  Die  Ex¬ 
trakte  aus  Leber,  Thymus,  Gehirn  und  Muskeln  zeigten  das 
gleiche  Verhalten  wie  Pankreasextrakt,  das  heißt,  sie  übten  keinen 
Einfluß  auf  die  toxische  Wirkung  des  Adrenalins  aus.  Auch 
die  Arteriosklerose  hervorrufende  Wirkung  des  Adrenalins  wird 
durch  die  Extrakte  anderer  Organe  nicht  beeinflußt.  Die  Fähig¬ 
keit  der  Aufhebung  der  Glykosurie  erzeugenden  Adrenalinwirkung 
kommt  nicht  nur  dem  Pankreasextrakt,  sondern  auch  dem  nor¬ 
malen  Blutserum,  wahrscheinlich  auch  dem  in  verschiedenen 
Organen  enthaltenden  Cholin  zu,  so  daß  die  Wirkung  des  Pan¬ 
kreasextraktes  nicht  auf  direkten  Antagonismus,  sondern  eher 
auf  unbekannte  Organeinflüsse  zurückzuführen  ist.  (Gaz.  degli 
osped.  1910,  Nr.  135.)  a.  e. 

* 

Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

289.  Das  Yers  in-Roux-Serum  bei  der  Behandlung 
der  Pest.  Von  A.  N.  S  inclair.  Das  günstige  Urteil,  zu  welchem 
Autor  im  Gegensätze  zu  anderen  bei  der  Anwendung  des  Yersin- 
Roux-Serums  gelangt  ist,  stützt  sich  auf  die  Beobachtung  von 
23  Pestfällen  auf  der  Insel  Hawai.  Von  drei  Fällen  ist  Autor  in 
der  Lage,  die  Krankengeschichten  anzuführen,  während  die 
Krankengeschichten  der  übrigen  20  Fälle  in  Verlust  geraten  sind. 
Die  drei  durch  Krankengeschichten  belegten  Fälle  betrafen  eine 
russische  Einwandererfamilie.  Der  45jährige  Vater,  die  L5-  und 
die  8jährige  Tochter  erkrankten  an  Pest.  Alle  drei  erhielten  In¬ 
jektionen  des  Yers  in  -  R  o  ux- Serums.  Der  Vater  und  die  acht¬ 
jährige  Tochter  kamen  mit  dem  Leben  davon,  während  die  andere 
Tochter  (an  der  Krankheit  starb.  Aber  auch  in  diesem  Falle  schien 
das  Serum  eine  Schutzwirkung  zu  entfalten,  da  sich  keine  typi¬ 
sche  Lobärpneumonie  entwickelte,  sondern  es  bei  der  lobulären 
Form,  mit  der  die  Krankheit  anfing,  blieb.  Das  Fehlen  des  Ueber- 
ganges  der  lobulären  in  die  lobäre  Form  der  Pneumonie  hat  Autor 
auch  in  anderen  mit  dem  Serum  behandelten  Fällen  beobachten 
können,  so  daß  er  die  Verhinderung  dieses  Ueberganges  als  Serum¬ 
wirkung  aufzufassen  geneigt  ist.  Bei  Bubonenpestfällen,  welche 
mit  dem  Serum  behandelt  wurden,  kam  es,  trotz  vorhandener 


Lungenerscheinungen  fast  nie  zur  Ausbildung  einer  typischen 
Pestpneumonie,  sondern  die  Fälle  gingen  an  der  durch  den  Pest¬ 
bazillus  (bewirkten  Toxämie  zugrunde.  Das  Serum  verhindert  dem¬ 
nach  die  Infektion  der  Lungen  auf  dem  Blutwege.  Daß  die  eine 
Pestkranke  trotz  des  offenbar  günstigen  Einflusses  der  Serum¬ 
injektion  auf  den  Lungenprozeß  doch  der  Krankheit  erlegen  ist, 
kann  bei  der  außerordentlichen  Leichtigkeit,  mit  der  Toxine  aus 
der  Lunge  in  den  allgemeinen  Kreislauf  gelangen,  nicht  wunder- 
nehmen.  Die  drei  Fälle,  über  welche  der  Autor  berichtet,  sind 
Repräsentanten  der  drei  Gruppen,  in  welche  nach  seinen  Erfah¬ 
rungen  die  mit  dein  Serum  behandelten  Pestfälle  eingeteilt  werden 
können.  Im  ersten  Falle  hatte  das  Serum  keinen  Heilerfolg,  im 
zweiten  war  schon  die  zweite  Injektion  von  Erfolg,  im  dritten 
erwies  sich  schon  eine  Injektion  als  ausreichend.  Jeder  der 
Fälle  befand  sich  in  einem  anderen  Stadium  der  Krankheit,  als 
das  Serum  angewendet  wurde.  Im  ersten  Fälle  hatte  die  Krank¬ 
heit  schon  vier  oder  fünf  Tage  gedauert,  im  zweiten  etwa  zwei 
und  im  dritten  erst  anderthalb  Tage.  In  jedem.  Falle  war  die 
Temperatur  am  Morgen  nach  der  Injektion  um  etwa  1-6°  C  ge¬ 
sunken.  Da  jeder  Fall  in  einem  anderen  Stadium  der  Krankheit 
sich  befand,  konnte  diese  Temperaturerniedrigung  nicht  als 
Pseudokrise  ausgelegt  werden.  Der  in  allen  Fällen,  die  mit  dem 
Serum  behandelt  worden  waren,  beobachtete  Temperaturrückgang 
würde  an  sich  schon  die  Anwendung  eines  solchen  Mittels  recht- 
fertigen.  Autor  hofft,  durch  seihen  Bericht  die  zur  Pestbehandlung 
berufenen  Aerzte  wenigstens  zu  einem  Versuch  mit  einem  Mittel 
anregen  zu  können,  welches  sicher  keinen  Schaden,  wohl  aber 
unberechenbaren  Nutzen  stiften  kann.  —  (The  Journal  of  the 

American  Medical  Association,  4.  Februar  1911.)  sz. 

* 

290.  Die  Bedeutung  der  öffentlichen  Erziehung 
für  die  Krebsbekämpfung.  Von  Southgate  Leigh.  Da 
fast  allem  Karzinomen  ein  Stadium  vorausgeht,  in  welchem  das 
ursprünglich  lokale  Leiden  vollständig  beseitigt  werden  kann, 
so  liegt  es  im  eminenten  Interesse  der  Krebsbekämpfung,  die 
Aerzte  und  das  Publikum  auf  dieses  Stadium  der  Krankheit  auf¬ 
merksam  zu  machen,  damit  die  zur  Operation  geeignete  Zeit 
nicht  versäumt  werde.  Zirkulare,  von  im  Dienste  der  öffentlichen 
Gesundheitspflege  stehenden  Instituten  ausgehend  und  besonnene 
Artikel  in  den  Tageszeitungen,  können  im '.Sinne. des  von  Winter 
in  Deutschland  inaugurierten  Kampfes  zweckmäßigerweise  hiezu 
verwendet,  werden.  (American  Journal  of  Surgery,  Januar  191 1.) 


291.  Der  Verschluß  großer  Arterien  du r c h  M e t al  1- 
b  ä  n  d  e  r  z  u  m  N  a  c  h  weise  d  e  r  W  i  r  k  s  a  m  k  e  i  t  des  k  o  1 1  a  t  e- 
ralen  Kreislaufes.  Von  R.  Matas  und  C.  Allen.  Die 
Autoren  haben  den  Versuch  unternommen,  die  zirkuläre  Ligatur 
der  Gefäße  in  manchen  Fällen  durch  Abklemmung  mittels  Alu¬ 
miniumbändern  zu  ersetzen.  In  Vorversuchen  an  Tieren  haben 
sie  sich  davon  überzeugt,  daß  solche  Metallbänder  bis  zu  72 
Stunden  die  Gefäße  komprimieren  können,  ohne  ihre  Wände 
dauernd  zu  schädigen  und  ohne  zu  Thrombose  Anlaß  zu  geben. 
Das  Metallband  kann  während  der  ersten  drei  Tage  leicht  wieder 
entfernt  werden,  wenn  die  Gefäßkompression  nicht  mehr  nötig 
ist,  während  im  gleichen  Falle  die  Entfernung  einer  Ligatur  nicht 
erfolgen  könnte,  ohne  daß  an  der  Stelle,  wo  sie  angelegt  war, 
sich  ein  Thrombus  entwickeln  würde.  In  Fällen,  wo  es  die  Wirk¬ 
samkeit  des  Kollateralkreislaufes  zu  erweisen  gilt,  wie  zum  Bei¬ 
spiel  bei  der  Behandlung  des  Aneurysma,  ist  die  Bandabklemmung 
der  Gefäße  von  großer  Bedeutung.  Die  Aluminiumbänder  werden 
lang  genug  geschnitten,  um  als  Aneurysmanadeln  benützt  zu 
werden  und  zur  Form  eines  flachen  Hakens  gekrümmt,  der 
leicht  zwischen  das  Blutgefäß  und  seine  Scheide  ein  geführt  werden 
kann.  Nachdem  das  Band  um  die  Zirkumferenz  des  Gefäßes 
geführt  worden  ist,  wird  es  leicht  von  den  Fingern  des  Opera¬ 
teurs  zusammengedrückt,  bis  der  Puls  distalwärts  nicht  mehr 
zu  fühlen  ist.  Der  Ueberschuß  an  Band  wird  mit  einer  scharfen 
Schere  abgeschnitten.  Bleibt  das  Band  dauernd  angelegt,  so  um¬ 
gibt  es  sich  mit  einer  Bindegewebshülle,  ohne  das  Gewebe  zu 
reizen.  —  (The  Journal  of  the  American  Medical  Association, 
28.  Januar  1911.)  sz- 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


FOB 


Georg  Kapsammer. 


Am  8.  d.  M.  verstarb  Dr.  Georg  Kapsammer.  Er  war 
Vorstand  der  urologischen  Abteilung  des  Kaiser-  Franz-, I oseph- 
Arnbulatoriums  und  der  designierte  Primararzt  einer  großen  uro¬ 
logischen  Abteilung  des  Jubiläumsspitales  der  Gemeinde  Wien. 
Demnächst  schon  sollte  das  neue  Krankenhaus  seiner  Bestimmung 
zugeführt  werden  und  dort  hätte  sich  für  Kapsammer  ein 
Wirkungskreis  eröffnet  und  für  seine  spezielle  berufliche  Tätigkeit 
wäre  ein  Rahmen  geschaffen  worden,  dessen  sich  kaum  ein 
zweiter  Urologe  hätte  rühmen  können.  Das  war  ja  die  Form, 
in  der  sein  berühmtester  Patient,  der  verstorbene  Bürgermeister 
Dr.  Karl  Lueger,  ihm  übers  Grab  hinaus  seinen  Dank  abgestattet 
hat.  Es  war  Kapsammer  nicht  bestimmt,  diesen  Dank  zu 
ernten.  Daß  es  ihm  an  Fähigkeiten  nicht  gefehlt  hätte,  dieses 
Erbe  zu  verwalten,  dafür  hat  er  durch  anderweitige  Proben 
praktischer  und  wissenschaftlicher  Tätigkeit  Beweise  geliefert. 
Vor  allem  durch  sein  Buch  über  Nierendiagnostik  und  Nieren¬ 
chirurgie.  Die  Leser  dieser  Wochenschrift  wissen,  mit  welch 
rückhaltloser  Anerkennung  einer  der  berufensten  Sachverstän¬ 
digen,  E.  Küster,  in  ausführlicher  Besprechung  diese  Arbeit  ge¬ 
würdigt  hat.  Eine  Etappe  auf  dem  Entwicklungsgänge  der  funk¬ 
tionellen  Nierendiagnostik,  war  dieses  Werk  zugleich  ein  Zeugnis 
großen  Fleißes1  und  nicht  gewöhnlicher  Begabung.  Jedenfalls  ist 
aus  der  Reihe  der  zeitgenössischen  Urologen  mit  Kapsammer 
einer  der  rührigsten  ausgeschieden. 

Anscheinend  in  jeder  Hinsicht  von  der  Gunst  des  Schick¬ 
sals  getragen,  ausgestattet  mit  allen  äußeren  Zeichen  früh  er¬ 
rungener  Erfolge,  mitten  im  Anstieg,  hat  er  allem  weiteren  Streben, 
allen  Hoffnungen  und  Wünschen  ein  jäh  gewaltsames  Ende  be¬ 
reitet.  Es  muß  ein  überwältigendes  Maß  mit  elementarer  Wucht 
einstürmender  Widerwärtigkeiten  gewesen  sein,  um  so  viel  Lebens¬ 
lust,  wie  sie  in  seinem  ganzen  Wesen  förmlich  verkörpert  schien, 
so  plötzlich  ins  Gegenteil  zu  wandeln.  Schon  der  Gedanke, 
wie  sehr  er  darunter  gelitten  haben  'mag,  sichert  seinem  Schicksal 
allgemein  menschliche  Teilnahme.  Die  Red. 


Uermisehte  Naehriehfcen. 

Verliehen:  Dem  mit  dem  Titel  und  Charakter  eines 
irdentlichen  Universitätsprofessors  bekleideten  a.  o.  Professor 
ter  Physiologie  an  der  Universität  in  Wien,  Dr.  Alois  Kreidl, 
ler  Titel  eines  Regierungsrates  und  dem  a.  o.  Professor  der 
ingewandten  Chemie  an  derselben  Universität,  Dr.  Otto  Ritter 
f.  Fürth,  das  Ritterkreuz  des  Franz  Joseph  -  Ordens. 

* 

Habilitiert:  Dr.  R.  Cords  für  Augenheilkunde  in  Bonn, 
ln.  Rum:  Dr.  Roses  für  interne  Pathologie,  Dr.  Chidi- 

•  h in  o  für  Geburthilfe  und  Gynäkologie,  Dr.  Tanturi  für 

•  hienheilkuude,  Dr.  Serono  für  medizinische  Chemie.  —  In 
Dirin:  Dr.  Lam  pert  für  Augenheilkunde,  Dr.  Vaccari  für 
toburlshilfe.  -  Dr.  Los  io  in  Pavia  für  Chirurgie.  —  Doktor 
'accarini  für  externe  Pathologie  in  Parma.  —  Dr.  Luna 
ih'  Anatomie  in  Palermo. 

* 

Gestorben:  Dr.  Otto  Drasch,  ordentlicher  Professor  der 
listologie  und  Entwicklungsgeschichte  in  Graz. 

* 

Am  4.  März  1911  fand  je  eine  Sitzung  des  Faclikomitees 
los  Obersten  Sanitätsrates  für  die  Bekämpfung  der  Ini'ek- 
ionskrankheiten,  sowie  des  Fächkomitees  für  Wasserversorgung 
"ui  Abwässerreinigung  statt.  Im  erstgenannten  Fachkomitee 
vurden  Gutachten  erstattet:  1.  Ueber  mehrere  Gesuche  betreffend 
:eschäftsmäßige  Vornahme  von  chemisch-,  bzw.  mikroskopisch- 
liagnostischen  Untersuchungen,  sowie  über  eine  allgemeine  Rege- 
"ng  der  betreffenden  Verhältnisse  (Referenten:  Prof.  Eber¬ 
dalle  r,  Hofrat  Weichselbaum  und  Prof.  Finger).  2.  Ueber 
oi'packung  und  Postversendung  bakteriologischer  Untersuchungs- 
'hjekte  (Referent:  Prof.  Dr.  Prausnitz).  3.  Ueber  Maßnahmen 
ur  Verhütung  der  Einschleppung  der  Pest  (Referent:  Hof  rat 
'  eichselbaum).  —  Das  Fachkomitee  für  Wasserversorgung 

Abwasserreinigung  hat  Gutachten  beraten :  1.  Ueber  eine 
mnalisationsanlage  (Referent:  Prof.  Schattenfroh).  2.  Ueber 


die  Reinigungsanlage  einer  Zuckerfabrik  (Referent:  Professor 
Mauthne  r). 

* 

Erlaß  de's  k.  k.  Ministeriums  des  Innern  vom 
8.  Februar  1911,  Z.  38.953  ex  1910,  an  die  k.  k.  Landes¬ 
regierung  in  Salzburg,  betreffend  die  Anwendung  der 
Inhalationsbehandlung  mit  Radiumemanation.  (Der 
Erlaß  wurde  den  übrigen  politischen  Landesstellen  zur  Kenntnis 
und  Damachachtung  mitgeteilt.)  Unter  Rückschluß  der  Beilagen 
des  Berichtes  vom  8.  Oktober  1910,  Z.  15.019,  betreffend  die 
Errichtung  eines  Institutes  für  Radiumemanation  in  Bad  Gastein, 
wird  auf  Grund  eines  Gutachtens  des  k.  k.  Obersten  Sanitätsrates 
folgendes  eröffnet:  Gegen  die  Anwendung  der  Inhalationsbehand¬ 
lung  mit  Radiumemanation  in  öffentlichen  und  privaten  Heil¬ 
anstalten  obwaltet  unter  der  Bedingung  kein  Anstand,  daß  dieses 
Heilverfahren  nur  über  ärztliche  Anordnung  und  unter  ständiger 
persönlicher  Ueberwachung  eines  zur  Ausübung  der  ärztlichen 
Praxis  im  Inlande  berechtigten  Arztes  angewendet  und  vom  ärzt¬ 
lichen  Leiter  der  Anstalt  regelmäßig  der  politischen  Behörde 
ein  Jahresbericht  vorgelegt  wird.  Die  Betriebsordnung  solcher 
Anstalten  ist  vor  ihrer  Genehmigung  durch  die  Landesbehörde 
vom  Landessanitätsrate  zu  begutachten.  Anläßlich  der  lokalkom¬ 
missioneilen  Verhandlung  über  derartige  Gesuche  wird  insbeson¬ 
dere  auf  die  sanitären  Gefahren  Rücksicht  zu  nehmen  sein, 
welche  sich  möglicherweise  durch  die  während  des  Betriebes 
eintretende  Luftverechlechterung  im  Emanationsraume  ergeben 
können. 

* 

Aufnahme  von  A  er  z  tin  neu  in  das  Wiener  rnedi- 
z  i  n  i  s  c  h  e  D  o k  t  o ren k  o  1 1  eg  i  u m.  In  der  in  der  vorigen  Woche 
unter  dem  Vorsitze  des  Präsidenten  Regierungsrat  Dr.  Wilhelm 
Svetlin  abgehaltenen  Geschäftsratssitzung  wurde  nach  dem  Re¬ 
ferate  des  Herrn  Dr.  Josef  Krips  einstimmig  beschlössen, 
daß  graduierten  Aerztinnen  die  Aufnahme  in  das  Wiener  medi 
zinische  Doktorenkollegium  zu  gestatten  sei,  wodurch  die  lusher 
den  Aerztinnen  verschlossenen  großen  Benefizien  des  Kollegiums 
und  seiner  A\  ohlfahrtsinstitute  denselben  zugänglich  geworden 
sind.  Das  Doktorenkollegium  hat  durch  diesen  Beschluß  einen 
Akt  der  Gerechtigkeit  gegen  die  weiblichen  Kollegen  vollzogen. 

* 

Der  XVII.  internat.  mediz.  Kongreß  wird  im  Sommer 
1912  in  London  tagen.  Das  genaue 'Datum1  wird  von  der  Perma¬ 
nenten  internationalen  Kommission  festgestellt  werden,  welche 
kommenden  21.  und  22.  April  in  London  ihre  erste  Sitzung 
abhalten  wird,  unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Dr.  F.  W.  Pavy. 
In  dieser  Sitzung  wird  ebenfalls  die  Liste  der  Sektionen  des 
Londoner  Kongresses  festgestellt  werden.  Alle  die  Einrichtung 
dieser  Liste  betreffenden  Wünsche  und  Anträge  bittet  man  vor  dem 
1.  April  beim  Generalsekretär  der  Permanenten  Kommission., 
Prof.  H.  Burger,  Vondolsträat  1,  Amsterdam,  oder  an  die 
Adresse  des  Bureaus  der  Kommission:  Hugo  de  Grootstraat  10, 
im  Haag,  einzusenden.  Auch  sonstige  die  Organisation  des  Kon¬ 
gresses  betreffenden  Wünsche  und  Informationen  werden  bis 
zum  selben  Termin  und  an  dieselben  Adressen  gerne  entgegen¬ 
genommen. 

*  i 

Der  v.  Rothmundschc  Untere tützungsverein  für  arme 
Augenkranke  in  München  wird  am  1 2.  (März  in  Bad  -  Krankenheil 
Tölz  (Oberbayem)  den  Grundstein  legen  zu  einem  Genesungs¬ 
heim  für  rekonvaleszente  arme  augenkranke  Kinder,  das  den 
Namen  Prinzregent- Luitpold -Genesungsheim  tragen  wird . 

* 

(  holera.  Rußland.  In  der  Woche  vorn  15.  bis1  21.  Januar 
ereigneten  sich  im  Gouvernement  Jekaterinosläw  2  Erkrankun¬ 
gen  und  4  Todesfälle,  in  der  Woche  vom  22.  bis  28.  Januar  im 
Gouvernement  Kiew  5  Erkrankungen  und  3  Todesfälle,  in  Po- 
doliem  4  Erkrankungen  und  3  Todesfälle  an  Cholera.  Somit  sind 
im  Januar  1911  in  Rußland  17  Cholerafälle,  davon  14  mit  töd¬ 
lichem  Ausgaiige,  festgestellt  worden.  —  Madeira.  Die  Zahl 
der  im  Laufe  des  Januare  gemeldeten  Choleraerkrankungen  im 
Distrikte  Funchal  betrug  327,  die  der  Todesfälle  98.  Im  ganzen 
sind  seit,  dem  Ausbruche  der  Epidemie  auf  der  Insel  (Mitte.  No- 
vember)  1975  Personen  an  Cholera  erkrankt,  623  gestorben. 
Philippinen.  Im  Laufe  des  Jahres  1910  sind  nach  amtlichen 
Ausweisen  6795  Personen  an  Cholera  gestorben,  davon  224  in 
der  Hauptstadt  Manila.  —  Persien.  Hamadan,  Beseht  und 
Kirmainischah  sind  seit  Dezember  frei  von  Cholera;  in  Kirman 
sind  im  Dezember  106  (51)  Erkrankungen  (Todesfälle)  konstatiert 
worden.  Vereinzelte  Fälle  wurden  Ende  Dezember  in  Dehabad 
(zwischen  Kasch  an  und  Ardestan)  bei  Pilgern  festgestellt,  die 
von  den  heiligen  Stätten  auf  der  Strecke  Kirmansehah  -  Hamadan 


404 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


zurückgekehrt  waren.  —  Arabien.  Die  Cholera  nimmt  in  den  I 
Häfen  und  den  Wallfahrtsorten  Arabiens  langsam,  aber  stetig 
zu.  In  Mekka  wurden  bis1  Anfang  Februar  161  (150),  in  Yambo 
55  (42),  in  El  Tor  42  Cholerafälle  (Todesfälle)  festgestellt.  In 
Medina  sind  im  Laufe  des  Januar  558  Todesfälle  gemeldet  wor¬ 
den  ;  an  der  Hedjazbahn  wurden  in  der  Station  Maan  1,  im 
Lazarette  Tebuk  2  Cholerafälle  konstatiert.  In  Hodeidah  und 
.Umgebung  breitet  sieb  die  Seuche  unter  Zivil  und  Militär  immer 
mehr  aus. 

Pest.  Rußland.  Von  der  Kommission  für  Maßnahmen 
zur  Vorbeugung  und  zum  Kampfe  gegen  die  Pestepidemie  wurde 
ein  Betrag  von  144.000  Rubel  für  Pestvorbeugungsmaßnahmen 
auf  den  Wasserwegen  des  Amurbassins  bestimmt.  Für  Rechnung 
dieses  Kredits  müssen  bis  zur  Eröffnung  der  Schiffahrt  sieben 
ärztliche  Beobaehtüng'spunkte  eingerichtet  sein  in  Ssrjetensk, 
Petrowsk,  Blagowjeschtschensk,  Jekaterino - Nikolsk,  Chabarowsk, 
Nikolajewsk  und  Micbailowo-Ssemenowsk,  wobei  in  Chabarowsk, 
Nikolajewsk,  Blagowjeschtschensk,  Micbailowo-Ssemenowsk  und 
Petrowsk  außerdem  noch  Beobachtungspunkte  errichtet  werden 
sollen.  Für  die  sanitäre  Beobachtung  der  Fahrzeuge  mit  lang¬ 
samer  Fahrt  sollen  drei  Kreuzer  bereitstehen.  Zur  Verhütung  der 
Einschleppung  der  Pest  durch  Kirgisen  auf  den  Fischereiplätzen 
an  der  Kaspischen  Küste  werden  drei  ärztliche  Durchlaßpunkte 
in  Dschambai,  Korduansk  und  Tschaptschatsch  eröffnet,  wofür 
die  genannte  Kommission  15.000  Rubel  bewilligt  hat.  In  das 
Primorskigebiet  werden  drei  Aerzte  zur  Verstärkung  des  örtlichen 
medizinischen  Personals  allkommandiert.  Die  Stadt  Tschifu  in 
China  wurde  als  pestbedroht  erklärt.  In  der  Kirgisensteppe  des 
Gouvernements  Astrachan  sind  in  der  Zeit  vom  4.  bis  21.  Ja¬ 
nuar  29  (20),  vom  21.  Januar  bis  1.  Februar  17  (14)  Neuer¬ 
krankungen  (Todesfälle)  an  Pest  vorgekommen ;  die  meisten  dieser 
Erkrankungen  betreffen  die  Ortschaft  Sartube.  Seit  dem1  Auftreten 
der  Pest  (Ende  Oktober  1910)  hat  dieselbe  bis  Anfang  Februar 
zu  194  Erkrankungen  und  152  Todesfällen  geführt.  —  China. 
Bezüglich  des  Verkehres  auf  der  mandschurischen  Ostbahn  gelten 
gegenwärtig  nachstehende  Bestimmungen:  Die  Expreß-  und  Post¬ 
züge  'nehmen  Chinesen  überhaupt  nicht  an;idie  übrigen  Passagier¬ 
züge  gehen  nicht  über  die  Grenzen -der  Chinesischen  Bahn  hinaus 
und  werden  vor  jeder  Fahrt  desinfiziert.  In  Charbin  und  auf 
den  benachbarten  Stationen,  inklusive  Asiho,  sowie  auf  allen 
Stationen  der  Linie  bis  Ivwantschöntsi,  werden  Chinesen  nicht 
in  die  dritte  und  vierte  Klasse  gelassen;  die  Passagiere  der  ersten 
und  zweiten  Klasse  dagegen  müssen  in  besonderen  Waggons 
reisen  und  sich  vorher  einer  ärztlichen  Untersuchung  und  einer 
Temperaturmessung  unterziehen.  Von  Zizikar  aus  werden  Chi¬ 
nesen  erst  nach  fünftägiger  Quarantäne  in  die  Züge  gelassen. 
Von  den  anderen  Stationen  aus  dürfen  die  chinesischen  Arbeiter 
in  der  Richtung  nach  Osten  nur  bis  zur  Station  Juanpo,  die 
mehr  als  300  Werst  von  der  Grenze  des  Küstengebietes  entfernt 
ist  und  in  der  Richtung  nach  Westen  nur  bis  zur  Station 
Mands'churia  fahren,  wo  die  nach  dem  Transbaikalgebiet  reisen¬ 
den  sich  einer  fünftägigen  Quarantäne  unterwerfen  müssen. 
Zwischen  den  Stationen  Zizikar,  Mulin,  Kwantschöntsi  werden 
die  von  den  Chinesen  benützten  Züge  von  Feldschern  begleitet. 
Auf  14  größeren  Stationen  befindet  sich  medizinisches  Personal 
sowie  besondere  Räumlichkeiten  zur  Aufnahme  von  pestverdäch¬ 
tigen  Kranken ;  zehn  Stationen  haben  Desinfektionskammern.  Dank 
diesen  Maßregeln  ist  im  Laufe  des  letzten  Monats  kein  Pestfall 
in  den  Eisenbahnzügen  vorgefallen.  In  der  Chinesenstadt  von 
Tientsin  ereignen  sich  täglich  3  bis  4  neue  Pesterkrankun¬ 
gen,  in  Tschifu  sind  angeblich  bis  8.  Februar  201  Personen 
an  Pest  gestorben,  täglich  sollen  etwa  20  Pesttodesfälle  Zu¬ 

wachsen  Im  Nachharkreise  Tsimo  sind  49,  in  der  Stadt  K i  au¬ 
tsch  o  u  16  Todesfälle  vorgekommeh1,  das  deutsche  Schutzgebiet 
dagegen  ist  dank  der  strengen  Absperrungsmaßnahmen  bisher 
nestfrei  geblieben.  In  Charbin  wurden  bisher  ungefähr  4000 
Todesfälle  beobachtet,  in  allen  Fällen  handelte  es  sich  um  Lungen¬ 
pest.  Im  russischen  Viertel  ist  die  tägliche  Zahl  der  Sterbefälle 
von  50  auf  8  gesunken,  dagegen  beträgt  sie  in  Fudjiadjian 
noch  immer  gegen  100.  In  der  Bahnzone  von  Mukden  wurden 
bis  5.  Februar  176,  außerhalb  derselben  1354  Pesttodesfälle  beob¬ 
achtet,  von  denen  3  Japaner,  5  Koreaner,  1  Engländer,  die 

übrigen  Chinesen  betrafen.  Mit  Ausnahme  von  3  Weibern  waren 
alle  Gestorbenen  Männer.  —  Aegypten.  In  der  Woche  vom 
3.  bis  9  Februar  ereigneten  sich  39  (17,  in  der  Woche  vom 

10.  bis  16.  Februar  22  (10)  Pestfälle  (Todesfälle).  —  Brasil iien. 

Im  Laufe  des  Jahres  1910  sind  in  Rio  de  Janeiro  38  Personen 
an  Rubonenpest  erkrankt,  18  gestorben;  am  Ende  des  Jahres 
standen  noch  4  Pestkranke  in  Behandlung.  In  der  Woche  vom 
1.  bis  7.  Januar  1911  ereigneten  sich  4  neue  Erkrankungen 
und  4  Todesfälle  an  Pest.  —  Britis  ch- Indien.  Im  Hindostan 


ereigneten  sich  in  der  Zeit  vom  4.  bis  31.  Dezember  1910 
in  der  ersten  Woche  9440  (7399),  in  der  zweiten  Woche  10.736 
(8399),  in  der  dritten  Woche  11.117  (9096),  in  der  vierten  Woche 

11.850  (8892)  Pestfälle  (Todesfälle). 

* 

Literarische  Anzeigen.  Differentialdiagnostik 
derinneren  Krankheiten.  Von  Oberstabsarzt  Dr.  G.  Kühne¬ 
mann.  Dritte  Auflage.  Verlag  von  J.  A.  Barth  in  Leipzig. 
Preis  5  M.  —  Der  Verfasser  stellt  auf  je  einer  Tafel  in  über¬ 
sichtlichster  Weise  jene  Krankheiten  zusammen,  die  ein  be¬ 
sonders  hervorstechendes  Symptom'  gemeinsam  haben,  zum  Bei¬ 
spiel  Blässe  der  Haut,  Eiter  im  Urin,  Rückenmarkskrankheiten 
mit  Gangveränderungen  usw.  Zu  diesen  Tafeln  gehören  außerdem 
ergänzende  Erklärungen.  Daß  das  Buch  Anklang  gefunden,  dafür 
spricht  die  Notwendigkeit  der  dritten  Auflage  nach  zwei  Jahren. 

* 

Vorläufiges  Ergebnis  der  Sanitätsstatistik  hei 
der  Mannschaft  des  k.  u.  k.  Heeres  für  das  Jahr  1910. 
Krankenzugang  838°/oo,  an  Heilanstalten  abgegeben  372%0,  Todes¬ 
fälle  1  •80°/no  der  durchschnittlichen  Kopfstärke. 

* 

Aus  dem  S  an  i  t  ä  t  s  b  e  r  i  c  h  t  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  8.  Jahreswoche  (vom  19.  bis  25.  Fe¬ 
bruar  191 1J.  Lebend  geboren,  ehelich  546,  unehelich  223,  zusammen 
769.  Tot  geboren,  ehelich  65,  unehelich  34,  zusammen  99.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  743  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
19  0  Todesfälle)  an  Bauchtyphns  0,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  5, 
Scharlach  4,  Keuchhusten  5,  Diphtherie  und  Krupp  3,  Influenza  1, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  3.  Lungentuberkulose  113,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  60,  Wochenbettfieber  4,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  46  (-{-  9),  Wochenbettfieber  2  (+  2),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  75  (4-  10),  Masern  169  (+  54),  Scharlach  66  (—  22), 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  3  (=),  Ruhr  0  (0).  Cholera  0  (0), 
Diphtherie  und  Krupp  61  (—  6),  Keuchhusten  46  (- \ -  10),  Trachom  3  (■+-  3), 
Influenza  1  (—  2),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Im  schlesischen  Krankenhause  in  T  r  o  p  p  a  u  gelangt  mit  Wirk¬ 
samkeit  vom  1.  Juli  1911  angefangen  die  Stelle  eines  Prosektors 
zur  Besetzung.  Mit  dieser  Stelle  sind  als  Anfangsbezüge  nach  der  ersten 
Gehaltsstufe  der  VIII.  Rangsklasse  ein  .Jahresgehalt  von  4000. K,  eine 
Aktivitätszulage  von  1200  K,  ferner  ein  Fahrpauschale  von  jährlich  60  K 
und  eine  jährliche  Remuneration  im  Betrage  von  1800  K  verbunden. 
Die  weitere  Vorrückung  in  der  VIII.  und  VII.  Rangsklasse  erfolgt  nach 
dem  Artikel  III  des  Gehaltsregulierungsstatutes  vom  25.  Oktober  1910  und 
kann  zufolge  Artikel  I  des  genannten  Statutes  nach  Erreichung  der 
obersten  Gehaltsstufe  der  VII.  Rangsklasse  auch  die  systemmäßige  Vor¬ 
rückung  in  die  erste  Gehaltsstufe  der  VI.  Rangsklasse  erfolgen.  Bewerber 
um  diese  Stelle  wollen  ihre  Gesuche  bis  längstens  1.  April  1910  beim 
schlesischen  Landesausschusse  in  Troppau  einbringen.  Die  näheren  Aus¬ 
künfte  über  die  erforderlichen  Gesuchsbeilagen  und  die  besonderen  j 
Dionstesobliegenheiten  erteilt  die  Direktion  des  schlesischen  Krankenhauses 
in  Troppau. 

Sekundararztesstelle  an  der  öffentlichen  allgemeinen 
Landeskrankenanstalt  in  Czernowitz  mit  dem  Bezüge  jährlicher 
1800  K  und  dem  Naturalquartiere  in  der  Anstalt  nebst  Beleuchtung.  Be- 1 
heizung  und  Verpflegung  nach  der  I.  Klasse  aus  der  Anstaltsküche.  Die 
Dienstzeit  des  Sekundararztes  ist  auf  zwei.  Jahre  bestimmt  und  kann 
vom  Landesausschusse  von  je  zwei  und  zwei  Jahren  bis  zu  sechs  Jahren! 
verlängert  werden.  Kompetenten  um  diese  Stelle  haben  die  Nachweise 
beizubringen  über:  a)  die  österreichische  Staatsbürgerschaft;  b)  über  das 
nicht  vollendete  40.  Lebensjahr:  c)  den  Besitz  des  Grades  eines  Doktors 
der  gesamten  Heilkunde  an  einer  österreichischen  Universität  und  die 
bisherige  praktische  Verwendung;  d)  die  Kenntnis  der  deutschen  und 
mindestens  einer  der  Landessprachen  (rumänisch  oder  ruthenisch).  Die] 
gehörig  instruierten  Kompetenzgesuche  sind  beim  Bukowinaer  Landes¬ 
ausschuß,  und  zwar  von  Bewerbern,  die  sich  bereits  in  dienstlicher. 
Stellung  befinden,  im  Wege  ihrer  Vorgesetzten  Dienstbehörde,  bis  zum; 
20.  März  1911  zu  überreichen. 

Zur  Besetzung  der  erledigten  Stelle  des  Direktors  des 
Prager  k.  k.  Allgemeinen  Krankenhauses,  mit  welcher  die; 
Bezüge  der  VI.  Rangsklasse  eines  Staatsbeamten,  der  Genuß  einer  Natural¬ 
wohnung  in  der  genannten  Krankenanstalt  und  daher  der  Bezug  der 
halben  Aktivitätszulage  der  VI.  Rangsklasse  verbunden  sind,  sowie  zui 
Besetzung  der  neusystemisierten  Stelle  ein  es  Direktorstellver¬ 
treters  im  Prager  k.  k.  Allgemeinen  Krankenhaus e 'mit 
den  Bezügen  der  VIII.  Rangsklasse  eines  Staatsbeamten,  wird  der  Kon 
kurs  bis  zum  25.  März  1911  ausgeschrieben.  Die  Bewerber  um  diese 
Stellen  haben  ihre  eigenhändig  geschriebenen,  an  das  k.  k.  Statthalterei- 
präsidium  gerichteten  Gesuche,  und  zwar  soferne  sie  sich  bereits  in  eine’ 
amtlichen  Stellung  befinden,  im  Wege  ihrer  Vorgesetzten  Behörde,  som 
aber  unmittelbar  beim  Statthaltereipräsidium  in  Prag  in  der  oben  fes- 
gesetzten  Frist  einzubringen  und  haben  dem  Gesuche  beizuschließen:  dei 
Nachweis  über  ihr  Alter,  über  die  Zuständigkeit,  über  die  Kenntnis  beidei 
Landessprachen  in  Wort  und  Schrift,  über  den  erlangten  medizimschei 
Doktorgrad  und  über  ihre  bisherige  Verwendung,  insbesondere  überjen« 
in  einem  öffentlichen  Krankenhause  oder  in  einer  sonstigen  öffentliche! 
H  umanitätsanstalt. 


Nr.  11 


405 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 

Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


INHALT: 


Offizielles  Protokoll  (1er  k.  k.  Gesellschaft  (1er  Aerzte  in  Wien. 
Sitzung  vom  10.  März  1911. 

Nachtrag  zum  offiziellen  Protokoll  (1er  k.  k.  Gesellschaft  der 
Aerzte  ln  Wien.  Sitzung  vom  3.  Februar  1911. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in  Wien. 
Wissenschaftliche  Aerztcgesellschaft  in  Innsbruck. 

Verein  der  Aerzte  in  Oherösterreich. 

Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte  in  Böhmen. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte 

in  Wien. 

Sitzung  vom  10.  März  1911. 

Vorsitzender:  Prof.  Dr.  M.  Großmann. 

Schriftführer:  Dr.  J.  Erdheim. 

Prof.  Dr.  M.  Großmann :  Unsere  Gesellschaft  hat  in  den 
letzten  Tagen  abermals  den  Verlust  zweier  Mitglieder  durch  den 
Tod  zu  beklagen.  Unser  korrespondierendes  Mitglied  Professor 
Dr.  Bohr  in  Kopenhagen  ist  im  Verlaufe  dieser  Woche,  der  Todes¬ 
tag  ist  uns  nicht  genau  angegeben,  gestorben.  Vorgestern,  am 
8.  d.  M..  ist  Primarius  Dr.  Georg  Kap s am  m er  ganz  unerwartet 
unter  tragischen  Umständen  aus  dem  Leben  geschieden.  Wir 
stehen  unter  dem  tiefernsten  Eindrücke,  daß  ein  strebsamer,  ver¬ 
dienstvoller  Kollege,  in  verhältnismäßig  jungen  Jahren  —  kaum 
40  Jahre  alt  —  inmitten  seiner  erfolgreichen  Berufstätigkeit, 
urplötzlich  von  der  Bildfläche  des  Lebens '  verschwunden  ist. 

Die  Herren  haben  sich  unaufgefordert  von  ihren  Sitzen 
erhoben,  womit  sie  offenbar  ihre  Trauer  und  ihr  Beileid  zum 
Ausdrucke  bringen  wollten. 

Dr.  Zollschan  (als  Gast)  und  Dr.  Marschik  demonstrieren 
einen  Fall  von  Rezidiv  eines'  malignen  Tumors  der 
rechten  Tonsille,  der  durch  Röntgenbehandlung  geheilt  wurde. 
Zollschan  spricht  über  die  Seltenheit  derartiger  Heilungen 
tiefliegender  maligner  Tumoren.  Marschik  berichtet  über  zwei 
weitere  einschlägige  Fälle.  (Erscheint  ausführlich  an  anderer 
Stelle.) 

Diskussion:  Prof.  Dr.  Großmann:  Ich  will  hier  nur 
kurz  daran  erinnern,  daß  ich  vor  acht  Jahren  die  Ehre  gehabt 
habe,  eine  zirka  40jährige  Patientin  liier  zu  demonstrieren,  die 
wegen  einer  Neubildung  in  der  linken  Nasenhöhle  bereits  vier¬ 
mal  vor  mir  operiert  worden  war.  (Siehe  Wiener  klinische  Wochen¬ 
schrift  1904,  Nr.  4.)  Die  fünfte  Operation  wurde  bei  der  Kranken 
von  mir  ausgeführt.  Die  mikroskopische  Untersuchung  ergab,  daß 
es  sich  um  Spindelzellensarkom  handelte.  Diese  Patientin  wurde 
einer  Röntgenbehandlung  unterzogen  und  wenn  sie  auch  später 
an  einer  allgemeinen  Metastase  zugrunde  ging,  ist  die  örtliche 
Erkrankung,  im  Gegensätze  zum  früheren  Verlaufe,  wo  der  Tumor 
schon  nach  wenigen  Wochen  wieder  auftauchte,  bis  zum  Todes¬ 
tage  der  Kranken,  acht  Monate  lang,  ohne  Rezidive  geblieben. 
Ich  glaube  somit  einer  der  ersten  gewesen  zu  sein,  der  die 
Röntgentherapie  in  derlei  Fällen  angewendet  hat. 

Dr.  O.  v.  Frisch  zeigt  aus  'der  Klinik  v.  Eiselsberg  einen 
Fall  von  kallöser  Periostitis  beider  Kalkanei,  welcher  durch 
Operation  geheilt  wurde  (erscheint  ausführlich  in  dieser  Wochen¬ 
schrift).  Im  Anschluß  daran  weist  Redner  darauf  hin,  daß  in  der 
Technik  der  Röntgenphotographie  durch  die  Momentaufnahme 
ein  großer  Fortschritt  erzielt  wurde.  Dadurch,  daß  es  jetzt  ge¬ 
lingt,  ’m  Bruchteil  einer  Sekunde  Bilder  des  ganzen  Thorax 
oder  Abdomen's  zu  erhalten,  deren  Deutlichkeit  den  Zeitaufnahmen 
nicht  nachstehen,  setzen  wir  die  Gefahr  der  Röntgen  Schäden, 
wesentlich  herab  und  können  von  Organen,  die  in  steter  Bewegung 
sind,  leicht  scharfe  Bilder  erreichen.  Hierauf  projiziert  Redner 
eine  Reihe  einschlägiger  Röntgenogramme,  welche  im  Röntgen  - 
laboratorium  der  Klinik  v.  Eiseisberg  von  Herrn  Helm  aus¬ 
geführt  wurden. 

Diskussion:  Priv.-Doz.  No  bl  bemerkt,  daß  in  der  Reihe 
der  veranlassenden  Momente  des  Fersen  höck er s  von  alters 
her,  wie  bekannt,  der  Blennorrhoe  ein  dominierender  Platz1  ein- 
eeräumt  wird.  Dies  hat  vielfach  dazu  beigetragen,  daß  nament¬ 
lich  die  Franzosen  bis  in  die  jüngste  Zeit  die  Summe  der  zuge¬ 
hörigen  Veränderungen  dem  Sammelbegriff  des  ,,pied  blennor- 
rhagique“  unterordneten.  In  einer  größeren  Reihe  von  Beob¬ 
achtungen  konnte  Nobl  den  Ausgangspunkt  der  Kalkaneusauf- 
treibung  in  der  Gegend  der  Achillessehneninsertion,  auf 
entzündliche  Veränderungen  der  Rursä  achillea  profunda  beziehen, 
wobei  das  Zustandsbild  wiederholt  blennorrhoische  Sehnen¬ 
scheiden-  und  Gelenksmetastasen  komplizierte.  (Zeitschrift  für 
Heilkunde,  Bd.  24.)  Die  spezifische  Natur  dieser  subakuten,  chro¬ 
nischen  Bursitiden  konnte  indes  weder  auf  mikroskopischem  Wege 
noch  durch  den  kulturellen  Gonokokkennachweis  erhärtet  werden. 
Bei  der  innigen  Grenzbeziehnqg  dieses,  an  der  Vorderfläche  der 


Eigenwand  entratenden  Schleimbeutels  zu  dem  periostalen  Be¬ 
züge  des  Kalkaneus,  ist  es  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  daß 
der  hyperplastische  Knochenansatz  mitunter  von  ähnlichen  blen- 
norrhoischen  Bursitiden  seinen  Ausgang  nimmt. 

Es  bedarf  jedoch  kaum  der  besonderen  Hervorhebung,  daß 
für  die  Pathologie  des  Kalkameusspomes  nebst  der  Blennorrhoe 
die  verschiedensten  ätiologischen  Bedingungen  in  Frage  kommen, 
wofür  namentlich  die  neueren  radiographischen  Feststellungen 
Selka,  Jaco-bsthal)  lehrreiche  Hinweise  liefern. 

0.  v.  Frisch  (Schlußwort):  An  dem  oben  gezeigten  Fall 
wurde  natürlich  nach  verschiedenen  ätiologischen  Momenten  in- 
quiriert,  doch  hatte  der  Kranke  niemals  eine  Infektion,  noch 
ein  Trauma  erlitten  und  blieb  mir  die  Ursache  des  Leidens 
vollkommen  unklar. 

Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz:  Die  psychische  Aetiologie 
und  Therapie  der  frühzeitigen  Arteriosklerose.  (Er¬ 
scheint  ausführlich  in  dieser  Wochenschrift.) 

* 

Nachtrag  zum  offiziellen  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft 

der  Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  3.  Februar  1911. 

Priv.-Doz.  Dr.  0.  Kahler  berichtet  über  eine  22jährige 
Patientin  mit  linkseitiger  Rekurrenslähmung,  bei  der  die  broncho- 
skopische  Untersuchung  eine  beträchtliche,  durch  Abflachung  und 
Vorwölbung  der  vorderen  und  unteren  Wandzirkumferenz  ent¬ 
standene  Verengerung  des  linken  Bronchus  erkennen  ließ.  Aehn- 
liche  Befunde,  nur  graduell  im  einzelnen  etwas  wechselnd,  konnte 
Kahler  in  den  letzten  Jahren  bei  mehreren,  auf  Veranlassung 
Prof.  Kovacs  untersuchten  Mitralfehlerkranken  konstatieren,  so 
daß  er  auch  in  diesem  Falle  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  die 
Diagnose  Mitralfehler  mit  starker  Vorhofs  Vergrößerung  stellen 
konnte.  Hiermit  war  auch  die  Ursache  der  Rekurrenslähmung  fest¬ 
gestellt.  Die  interne  Untersuchung  durch  Prof.  Kovacs  bestä¬ 
tigte  die  Richtigkeit  der  Diagnose.  Diese  Befunde  bestätigen 
Stoerks  anatomische  Untersuchungen  über  die  Veränderungen 
am  Bronchialbaum  hei  Vorhofsvergrößerung. 

* 

Prof.  Dr.  0.  Stoerk  demonstriert  Ausgüsse  von  Bronchien, 
welche  unter  dem  Einfluß  der  Vergrößerung  des  linken  Vorhofs 
erlittene  Deformationen  im  Sinne  der  Hebung  und  der  Ver¬ 
krümmung  und  im  Sinne  der  Abplattung  (vornd  unten  und  rück¬ 
wärts  oben)  aufweisen. 

Unter  Hinweis  auf  das  im  Falle  Kahl  er s  erwähnte  Re- 
kurrensphänomen  bespricht  Stoerk  in  Form  einer  vo  rläufigen 
Mitte  ilu  ng  die  Ergebnisse  seiner  anatomischen  Untersuchungen 
hei  Fällein  von  Rekurrensschädigung  unter  dem  Einfluß  des  ver¬ 
größerten  linken  Vorhofes.  Diese  gemeinsam  mit  Prof.  Kovacs 
während  der  letzten  Jahre  durchgeführten  Untersuchungen,  wobei 


M return 


Kovacs  den  klinischen  Teil  der  Fragen  studierte,  ergaben  einen 
von  den  bisher  diesbezüglich  herrschenden  Anschauungen  ab¬ 
weichenden,  durchaus  einheitlichen  Schädigungsmechanismus, 
welchen  Stoerk,  ohne  im  Rahmen  des  Vorliegenden  auf  die 


m 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


bisher  formulierten  Erklärungshypothesen  (Ortner,  Fr.  Kraus, 
Frischauer,  Hofbauer  usw.)  referierend  oder  diskutierend 
erngehen  zu  können,  mit  Rücksicht  auf  die  Gleichartigkeit  des 
Bildes  in  der  nicht  unbeträchtlichen  Zahl  der  von  ihm  untersuchten 
Fälle  als  den  wesentlichsten,  vielleicht  auch  als  den  einzigen 
tatsächlich  in  Betracht  kommenden  bezeichnen  möchte. 

Die  Voraussetzungen  für  die-  Rekurrensschädigung  sind  durch 
dessen  topographisches  Verhalten  unter  normalen  Umständen  ge¬ 
geben :  Der  Rekurrens  schlingt  sich  unten  um  den  Aortenbogen  nach 
rückwärts  gerade  innerhalb  jenes  Areales,  welches  dem  Bereiche 
engster  Berührung  zwischen  Aortenbogenkonkavität  und  linkem 
Stammbronchus  entspricht.  Unter  den  pathologischen  U rn- 
ständen  der  Vergrößerung  des  linken  Vorhofs  wird 
nun  der  linke  Stammbronchus  m ei h r  und  mehr  in 
die  Aortenkonkavität  hineingepreßt  und  demgemäß 
gerät  der  Rekurrens  in  diesem  Bereiche  mehr  und 
mehr  in  die  Klemme.  Obige  Skizze  veranschaulicht  diese 
topographischen  Verhältnisse  bei  Betrachtung  der  Gebilde  von 
rückwärts  her. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  23.  Februar  1911. 

G.  Schwarz  berichtet  über  einen  Fall,  in  welchem  er 
die  Röntgendiagnose  einesUlcusventriculi  gestellt 
hat.  Ein  26jähriges  Mädchen  bekam  Ohnmachtsanfälle  und  Magen¬ 
blutungen,  welche  nach  strenger  Ruhe  und  Milchkur  verschwanden, 
so  daß  Pat.  sich  nach  14  Tagen  einer  erfolgreichen  Bandwurm¬ 
kur  unterziehen  konnte.  Bald  darauf  traten  wieder  Erscheinungen 
eines  Magengeschwürs  auf,  die  Röntgenuntersuchung  ergab  einen 
pilzförmigen  dunklen  Vorsprung  über  dem  Magenschatten  an  der 
kleinen  Kurvatur.  Nach  entsprechender  interner  Behandlung  ver¬ 
schwand  binnen  14  Tagen  der  auf  ein  trichterförmiges  Ulkus 
deutende  Schatten  (Nischensymptom).  Vortr.  weist  darauf  hin, 
daß  dieses  Symptom  von  Reiche  schon  im  Jahre  1909  be¬ 
schrieben  wurde.  In  einem  zweiten  Falle  beobachtete  Vortr. 
nach  Ulkuskur  einen  Rückgang  des  Nischensymptoms.  Unter 
800  Untersuchungen  an  der  I.  medizinischen  Klinik  konnte  Vortr. 
das  Nischensymptom  nur  in  fünf  Fällen  konstatieren,  von  welchen 
zwei  Karzinome  betrafen.  Zur  Magenfüllung  wurde  statt  des 
Wismuts  das  billige  Baryumsulfat  verwendet. 

G.  Holzknecht  bemerkt,  daß  das  Nischensymptom  von 
Jolasse  schon  im  Jahre  1907  beschrieben,  aber  unrichtig  ge¬ 
deutet  wurde,  da  dieser  glaubte,  daß  der  Schatten  durch  das 
Wismut  hervorgerufen  werde,  welches  auf  dem  Ulkus  haften 
bleibt.  Reiche  hat  im  Jahre  1909  das  Symptom  beschrieben 
und  dahin  gedeutet,  daß  die  Vorstülpung  des  Geschwürsbodens 
durch  den  inneren  Magendruck  hervorgebracht  werde.  Erst 
Haudek  hat  im  Jahre  1910  die  richtige  Erklärung  des  Nischen¬ 
symptoms  dadurch  gegeben,  daß  er  es  als  eine  Eigenschaft  des 
penetrierenden  Ulkus  erkannte. 

M.  Haudek  hat  im  Jahre  1909  nachgewiesen,  daß  das 
Ulkus  im  Röntgenbilde  dann  sichtbar  wird,  wenn  das  Wismut 
die  Nische  des  Ulkus  ausfüllt.  Solche  Fälle  können  auch  krater¬ 
förmige,  nicht  penetrierende  Geschwüre  sein.  Ein  dunkler  Fleck  in  der 
Nähe  des  Magens,  welcher  das  Nischensymptom  vortäuscht, 
kann  auch  dadurch  zustande  kommen,  daß  eine  Quantität  Wismut 
im  Jejunum  zufällig  in  der  Nähe  des  Magens  liegt. 

E.  v.  Neusser  fragt,  ob  das  Baryumsulfat  keine  schädlichen 
Nachwirkungen  hat.  Es  wäre  möglich,  daß  es  von  Mesenterial¬ 
drüsen  aufgenommen  werde  und  beim  späteren  Ausscheiden 
Vergiftungssymptome  hervorrufen  könnte. 

G.  Schwarz  erwidert,  daß  sich  bei  wiederholten  Unter¬ 
suchungen  des  Harnes  kein  abnormer  Befund  ergeben  hat.  Der 
Name  Reiches  sollte  mit  dem  von  ihm  entdeckten  Symptom 
in  Verbindung  genannt  werden. 

W.  Knöpfei  mach  er  demonstriert  ein  Kind  mit  einem 
partiellen  Schwund  der  Bauchmuskulatur.  Das 
Kind,  welches  eine  angeborene  Cataracta  anterior  hat,  zeigt  in 
der  unteren  linken  Bauchgegend  eine  kugelige,  beim  Perkutieren 
tympanitisch  klingende  Vorwölbung,  in  deren  Bereiche  die  Bauch¬ 
muskulatur  mit  Ausnahme  des  Rektus  defekt  ist.  Diese  Anomalie 
ist  angeboren  und  dürfte  wahrscheinlich  auf  einer  abgelaufenen 
Rückenmarkserkrankung  beruhen.  Die  Untersuchung  der  Muskulatur 
in  einem  obduzierten  Falle  ergab  fettige  Degeneration  der  Muskel¬ 
fasern.  Diese  Affektion  wird  meist  als  Hernia  lumbalis  bezeichnet, 
obwohl  sie  keine  Hernie  ist,  in  einzelnen  Fällen  hat  sie  jedoch 
zur  Entwicklung  eines  echten  Bruches  geführt. 


Fr.  v.  Friedländer  stellt  eine  54jährige  Frau  vor, 
welche  er  wegen  Cholelithiasis  und  eines  Pankreas¬ 
steines  operiert  hat.  Pat.  bekam  vor  einem  Jahr  typische 
Kolikanfälle,  Ikterus  und  Fieber,  die  Gallenblase  war  stark  an¬ 
geschwollen.  Bei  der  im  freien  Intervall  vorgenommenen  Ope¬ 
ration  wurde  die  verdickte  und  mit  Konkrementen  gefüllte  Gallen¬ 
blase  abgetragen  und  der  mit  Steinen  vollgepfropfte  Choledochus 
ausgeräumt,  wobei  nach  Mobilisierung  des  Duodenums  ein  in 
der  Papilla  Vateri  sitzender  Stein  durch  Einschnitt  entfernt 
wurde.  Im  Pankreaskopf  saß  ebenfalls  ein  Stein  in  einer  von 
Bindegewebe  ausgekleideten  Höhle,  in  deren  Umgebung  sich 
keine  Zeichen  von  Entzündung  fanden.  Durch  einen  von  rück¬ 
wärts  im  Pankreaskopf  geführten  Schnitt  wurde  dieses  Konkre¬ 
ment  entfernt.  Bald  nach  der  Operation  kam  es  zu  einem  schweren 
Kollaps,  während  desselben  und  einige  Stunden  nach  ihm  wurde 
keine  Galle  entleert.  Der  Pankreaskopf  wurde  ringsum  tamponiert. 
Die  Gallensteine  bestanden  aus  Cholesterin,  ebenso  merkwürdiger¬ 
weise  der  Pankreasstein.  Da  für  eine  Wanderung  desselben  aus 
der  Leber  oder  den  Gallengängen  keine  Zeichen  Vorlagen,  muß 
angenommen  werden,  daß  er  sich  im  Pankreas  selbst  gebildet 
hat.  Der  Kollaps  war  weder  von  Cholämie  noch  von  einer 
stärkeren  Blutung  hervorgerufen,  möglicherweise  war  er  die  Folge 
einer  zirkumskripten  Pancreatitis  haemorrhagica. 

R.  Fl  eck  seder  frägt,  ob  irgendwelche  klinische  Er¬ 
scheinungen  auf  die  Pankreasaffektion  hindeuteten  (Veränderungen 
im  Stuhl  oder  im  Harn). 

Fr.  v.  Fried  länder  erwidert,  daß  der  Stuhl  acholisch 
und  die  Reduktionsfähigkeit  des  Harnes  etwas  vermindert  war, 
sonst  aber  normale  Verhältnisse  gefunden  wurden,  auch  nach 
dem  Kollaps  ergab  die  Untersuchung  einen  normalen  Befund. 

H.  v.  Haberer  zeigt  aus  der  I.  chirurgischen  Klinik  eine 
45jährige  Frau,  bei  welcher  mehrere  Magenoperationen 
wegen  Ulcus  ventriculi  vorgenommen  worden  sind. 
Pat.  hatte  schon  seit  dem  16.  Lebensjahre  Magenbeschwerden, 
namentlich  nach  Mahlzeiten,  später  gesellte  sich  Erbrechen  hinzu 
und  seit  zehn  Jahren  bekam  sie  einige  Male  jährlich  Hämatemesis. 
Im  Jahre  1905  wurde  die  Laparotomie  vorgenommen  und  dabei 
ein  Sanduhrmagen  mit  einer  Narbe  nach  Ulkus  an  der  verengten 
Stelle  vorgefunden ;  es  wurde  eine  Gastroenterostomie  am  kar¬ 
dialen  Magenteile  vorgenommen.  Das  Befinden  besserte  sich, 
dann  kehrten  die  alten  Beschwerden  wieder  und  nach  einem 
Jahre  mußte  eine  neuerliche  Laparotomie  vorgenommen  werden. 
Bei  derselben  wurde  festgestellt,  daß  die  Gastroenterostomie¬ 
öffnung  und  der  Pylorus  stark  verengt  waren ;  es  wurden  Gastro- 
plastik  und  Pyloroplastik,  ferner  eine  Jejunoslomie  ausgeführt. 
Nach  vier  Monaten  traten  wieder  Beschwerden  auf,  Pat.  erbrach, 
trotzdem  sie  keine  Nahrung  per  os  aufnahm,  sie  blieb  aber  im 
Körpergleichgewicht  Vor  einigen  Monaten  bekam  Pat.  wiederJIämate- 
inesis,  der  Magen  war  druckschmerzhaft  und  Pat.  hochgradig  ab¬ 
gemagert.  Die  Röntgenuntersuchung  ergab,  daß  die  Speisen  die 
Gastroenterostomieöffnung  und  den  Pylorus  nicht  passierten  und 
daß  auch  durch  den  Pylorus  wenig  entleert  wurde.  Bei  der 
dritten  Laparotomie  fand  man  den  sanduhrförmigen  Magen  mit 
der  vorderen  Bauchwand  verwachsen,  der  Pylorus  war  stenosiert 
und  in  der  Nähe  desselben  saß  ein  penetrierendes  Ulkus  und 
ein  Geschwür  an  der  engsten  Stelle  des  Sanduhrmagens.  Es 
wurden  zwei  Drittel  des  Magens  und  ein  Teil  des  Duodenums 
entfernt  und  dann  eine  Gastroenterostomie  unter  Verwendung 
der  früher  zur  Anastomose  benützten  Schlinge  ausgeführt.  An 
der  alten  Anastomosenstelle  fand  sich  keine  Oeffnung,  sondern 
nur  eine  punktförmige  Einziehung.  Die  Jejunostomieöffnung, 
durch  welche  sich  Pat.  durch  vier  Jahre  ernährt  hatte,  verschloß 
sich  nach  Entfernung  des  Drains  bis  auf  eine  kleine  Fistel, 
welche  angefrischt  und  verschlossen  wurde. 

H.  Neumann:  Ueber  Drehempfindungen.  Der 
für  die  statische  Funktion  bestimmte  Teil  des  Ohrlabyrinthes  ist 
der  Vestibularapparat.  Während  die  normalen  Erregungen  des¬ 
selben  nicht  zum  Bewußtsein  gelangen,  sind  pathologisch  ge¬ 
steigerte  Erregungen  desselben  von  Schwindel,  Gleichgewichts¬ 
störungen,  Nystagmus,  Brechreiz  oder  Erbrechen,  Scheindrehung 
der  Objekte  oder  des  eigenen  Körpers  begleitet.  Diese  pathologi¬ 
schen  Erregungen  können  durch  krankhafte  Prozesse  (Entzündung 
des  Labyrinthes)  oder  durch  thermische  Reize  (Ausspritzen  mit 
Wasser  über  oder  unter  der  Körpertemperatur),  durch  Anwendung  des 
galvanischen  Stromes  oder  durch  Drehung  um  die  eigene  Körper¬ 
achse  verursacht  sein.  Die  Unrichtigkeit  der  allgemein  gültigen 
Anschauung,  daß  die  Empfindung  während  des  Drehens,  ebenso 
diejenige  nach  Sistierung  desselben  (Nachdrehempfindung)  aus¬ 
schließlich  durch  den  Bogengangapparat  vermittelt  werden, 
scheint  durch  die  vom  Vortr.  demonstrierten  Fälle  bewiesen  zu 
sein.  Der  vorgestellte  38jährige  Mann,  bei  welchem  beide  Vesti- 


Nr.  11 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


bularapparate  unerregbar  sind,  zeigt  eine  prompte  Drehempfindung, 
während  eine  Drehnachempfindung  vollständig  fehlt.  Der  zweite 
Fall,  ein  8jähriges  Mädchen  mit  ebenfalls  unerregbaren  Vestibular- 
appa raten,  besitzt  sowohl  die  Drehempfindung  als  auch  die  Dreh¬ 
nachempfindung.  Vortr.  und  Bondy  sind  durch  ihre  Unter¬ 
suchungen  zu  dem  Resultat  gelangt,  daß  sowohl  die  Dreh-  als 
auch  die  Drehnachempfindung  nicht  ausschließlich  durch  den 
Bogengangapparat  übermittelt  werden.  Ein  solcher  Beweis  für 
die  Behauptung,  daß  beide  nicht  ausschließlich  vom  vestibulären 
Nystagmus  abhängen,  ist.  folgender:  Wird  ein  Individuum  mit 
aufrechtem  Kopfe  nach  rechts  gedreht,  so  hat  es  während  der 
Drehung  einen  nach  rechts  gerichteten  Nystagmus  und  eine 
richtige  Drehempfindung,  nach  Sistierung  der  Rechtsdrehung 
einen  nach  links  gerichteten  Nystagmus  und  eine  richtige  Links- 
drehnachempfindung.  Wird  dasselbe  Individuum  mit  nach  vorne 
geneigtem  Kopfe  gedreht,  so  hat  es  während  der  Drehung  einen 
nach  rechts  gerichteten  rotatorischen  Nystagmus  und  eine  richtige 
Rechtsdrehempfindung,  nach  Sistierung  der  Drehung  einen  nach 
links  gerichteten  rotatorischen  Nystagmus  und  eine  prompte 
Linksdrehnachempfindung.  Wird  jedoch  das  Individuum  mit 
nach  hinten  geneigtem  Kopfe  nach  rechts  gedreht,  so  hat  es 
während  der  Drehung  einen  nach  links  gerichteten  rotatorischen 
Nystagmus  und  eine  richtige  Rechtsdrehernpfindung,  nach  dem 
Sistieren  der  Rechtsdrehung  einen  nach  rechts  gerichteten  rota¬ 
torischen  Nystagmus  mit  einer  prompten  Linksdrehnachempfindung. 
Die  allgemein  gültige  Ansicht  ist  nicht  imstande,  weder  die  Dreh¬ 
nachempfindung,  noch  die  Empfindung  des  Drehens  zu  erklären. 
Schon  der  Umstand  allein,  daß  man  während  des  Drehens  mit 
nach  hinten  geneigtem  Kopfe  eine  richtige  Empfindung  von  der 
Drehrichtung  hat,  genügt,  die  vom  Vortr.  erhobenen  Zweifel  zu 
stützen.  Bei  Richtigkeit  der  früheren  Anschauung  über  die  Dreh¬ 
empfindung  müßte  man  nämlich  bei  nach  hinten  geneigtem 
Kopfe  eine  entgegengesetzte  Nachempfindung  haben  als  bei  nach 
vorne  geneigtem  Kopfe,  also  entgegengesetzt  der  tatsächlichen 
Drehung.  Dies  ist  jedoch  nicht  der  Fall.  Die  Drehempfindung 
dauert  viel  länger  als  die  Drehung  selbst  und  ist  auch  von  viel 
unangenehmeren  Begleiterscheinungen  gefolgt.  Dauert  bei  Er¬ 
wachsenen  die  Drehung  15  bis  16  Sekunden,  schwankt  die  Dreh¬ 
nachempfindung  zwischen  35  bis  43  Sekunden  Dauer.  Kinder 
zeigen  im  allgemeinen  eine  viel  kürzere  Dauer  der  Drehnach¬ 
empfindung,  als  die  Drehdauer  selbst  betrug.  Bei  Leuten  mit 
einseitiger  Labyrintherkrankung  war  die  Dauer  der  Drehempfindung 
bei  Rotation  nach  der  gesunden  Seite  kürzer  als  die  Drehdauer, 
hingegen  bei  Drehung  nach  der  kranken  Seite  länger  als  die 
Drehdauer,  wenn  die  Untersuchung  hei  geschlossenen  Augen  und 
die  Drehung  bei  aufrechtem  Körper  vorgenommen  wurde. 

R.  Werndorf  demonstriert  ein  Kind,  welches  ein  Genu 
rec. urvatum  bei  spastischem  Gang  zeigt.  Der  spastische 
Gang  ist  auf  einen  enzephalitischen  Prozeß  zurückzuführen.  Bei 
spastischem  Gang  ist  sonst  das  Knie  gebeugt  und  der  Fuß  in 
Spitzstellung.  Das  Genu  recurvatum  ist  hier  darauf  zurück¬ 
zuführen,  daß  nur  einige  Muskelgruppen  stärker  befallen  sind 
und  das  Kind  mit  der  ganzen  Sohle  auftritt.  Bei  derartigen 
Affektionen  ist  der  logische  Vorgang  der,  zuerst  die  Kontraktur 
durch  lokale  Eingriffe  zu  beseitigen  und  dann  erst  die  Frage  der 
Indikation  zur  Vornahme  der  Förster  sehen  Operation  (Durch¬ 
schneidung  der  hinteren  Rückenmarkswurzeln  zur  Behebung  des 
Spasmus)  zu  erwägen. 

A.  Foges  stellt  eine  Frau  vor,  bei  welcher  wegen 
chronischer  Dysenterie  eine  Cökostomie  vorge¬ 
nommen  wurde.  Pat.  litt  an  Darmblutungen,  eine  Hämorrhoiden¬ 
operation  hatte  keinen  Erfolg,  Pat.  wurde  anämisch  und  magerte 
hochgradig  ab.  Die^ Untersuchung  mit  dem  Rektoskop  ergab  einen 
ulzerösen  Prozeß  vom  Anus  bis  auf  eine  Strecke  von  30  cm 
hinauf.  Um  diesen  Darmteil  auszuschalten,  wurde  die  Cökostomie 
vorgenommen,  die  kranke  Darmpartie  von  oben  und  unten  mit 
Spülungen  behandelt  und  ein  Dauerdrain  ins  Rektum  eingelegt. 
Nach  11  Monaten  war  Pat.  geheilt  und  die  Cökalfistel  wurde 
geschlossen.  In  einem  ähnlichen  Falle  wurde  eine  tuberkulöse 
Erkrankung  des  Darmes  angenommen  und  die  im  ersten  Falle 
angewendete  Therapie  nicht  durchgeführt.  Pat.  starb  und  die 
Obduktion  ergab  ebenfalls  chronische  Dysenterie. 

R.  Neurath  führt  einen  lOjähngen  Knaben  vor,  welcher 
Pankreatitis  bei  Parotitis  bekam.  Der  Knabe  erkrankte 
vor  drei  Tagen  unter  leichtem  Fieber  an  Parotitis,  außerdem 
erbrach  er  und  klagte  über  Schmerzen  und  Druckempfindlichkeil 
in  der  Nabelgegend.  Der  Harnbefund  war  negativ.  Es  handelte 
sich  um  eine  Erkrankung  der  Bauchspeicheldrüse,  deren  Symptome 
und  Zusammenhang  mit  der  Parotitis  Neurath  in  einem  Vortrage 
näher  ausführen  wird. 


407 


Wissenschaftliche  Aerztegesellschaft  in  Innsbruck. 

V  Sitzung  vom  15.  Dezember  1910. 

Prof.  Schl  offer  widmet  dem  Andenken  seines  ehemaligen 
Assistenten,  des  kürzlich  verstorbenen  Professors  der  Chirurgie 
in  Lima  (Peru)  Dr.  1 .  A.  Suter  einen  warm  empfundenen  Nach¬ 
ruf.  —  Die  Anwesenden  erheben  sich  zum  Zeichen  der  Trauer 
von  den  Sitzen. 

Dr.  Kroiß  berichtet:  a)  Ueber  die  Extraktion  der  Haarnadel 
aus  der  Blase  der  in  der  Sitzung  vom  17.  November  1910  vor¬ 
gestellten  Patientin,  die  nach  einem  vergeblichen  Versuche,  mit 
Hilfe  des  Zystoskops  die  Extraktion  zu  bewerkstelligen,  nach 
Dilatation  der  Harnröhre  mit  dem  Finger  entfernt  wurde;  die 
Trümmer  der  Inkrustationen  wurden  mittels  Bigelow  heraus- 
gewasehejn. 

Vortragender  weist  dabei  auf  die  erstaunliche  Toleranz  der 
weiblichen  Urethra  gegen  die  mechanische  Dehnung  hin,  die 
hier  um  so  auffallender  war,  als  die  Patientin  körperlich  sehr 
zurückgeblieben  ist  und  dementsprechend  über  einen  urogeni¬ 
talen 'Apparat  von  kindlichen  Dimensionen  verfügt. 

Diskussion:  Prof.  Schloffen 

Nachtrag:  Zur  Behandlung  der  Zystitis  blieb  die  Pa¬ 
tientin  bis  Ende  Januar  an  der  Klinik.  Einen  Monat  vorher  wurden 
zystoskopisch  im  Trigonum  auf  einem  oberflächlichen  Schleim¬ 
hautdefekt  ziemlich  ausgedehnte  Inkrustationen  gesehen  und  es 
bestand  die  Absicht,  diese  durch  einen  eigenen  Eingriff  zu  ent¬ 
fernen. 

Eine  neuerliche  Zystoskopie  am  30.  Januar  zeigte  jedoch 
von  all  dem  keine  Spur  mehr  und  auf  Befragen  gab  Patientin 
an,  daß  des  öfteren  mit  dem  Urin  kleine  Steinchen  abgegangen 
wären;  offenbar  wurden  diese  mit  der  Abheilung  des  Schleim¬ 
hautdefektes  frei  und  konnten  nun  per  vias  naturales  entleert 
werden. 

b)  Ueber  einen  operativ  geheilten  Fall  von  Hydronephro¬ 
sis  congenita.  (Erscheint  ausführlich  an  anderem  Orte.) 

Diskussion:  Prof.  Ortner,  Dr.  Latzei,  Dr.  Kroiß. 

c)  Ueber  einen  Fall  von  Naht  der  Arteria  poplitea. 

Am  24.  November  1910  wurde  ein  18jähriger  Arbeiter  in 

die  Klinik  gebracht,  dem  vor  vier  Stunden  ein  herabsausender 
Baumstamm  den  linken  Oberschenkel  in  der  Höhe  des  Adduk¬ 
torenkanales  von  außen  her  vollkommen  durchbohrt  hatte  und 
zwar  hinter  dem  Knochen.  Beim  Eingehen  in  die  mediale,  grö¬ 
ßere  Wunde  konnte  man  in  der  Tiefe  deutlich  den  abgerundeten 
proximalen  Stumpf  der  Arteria  poplitea  pulsieren  fühlen.  Die 
Pulse  am  Fuße  fehlten,  dieser  und  der  Unterschenkel  waren 
leicht  livid  verfärbt  und  fühlten  sich  kühler  an.  Fuß  und  Zehen 
konnten  aber  gut  bewegt  werden.  Aus  Besorgnis  vor  einer 
Gangrän  wurden  nach  sorgsamer  Exzision  aller  arg  mit  Wald- 
ei'de  verunreinigten  Wundflächen  die  Arterienstümpfe  treigelegt, 
angefrischt,  die  endständigen  Thromben  ausgestreift  und  nun 
die  beiden  Lumina  nach  Anlegung  dreier  llalteziigel  mit  durch¬ 
greifender  fortlaufender  Seidennaht  vereinigt;  die  geringe  Stich¬ 
kanalblutung  stand  rasch.  Der  Tibialispuls  kehrte  aber  nicht 
wieder.  Es  trat  allerdings  keine  Gangrän  ein,  aber  bereits  am 
dritten  Tage  nach  der  Operation  erlag  der  Kranke  einer  fou- 
droyanten  Sepsis. 

Die  Sektion  ergab  Thrombenbildung  ober  und  unter  der 
Nahtstelle;  die  Naht  hatte  im  übrigen  bis  dahin  tadellos  gehalten, 
mitten:  in  einer  verjauchten  Wunde.  1 

Vortragender  erörtert  kurz  die  Technik  des  angewandten 
(Car  eil- Stich  sehen)  Verfahrens  und  der  Methoden  von 
M  u  r  p  h  y  und  P  a  y  r. 

Er  erklärt  sich  für  die  zirkuläre  fortlaufende  durchgreifende 
Seidennaht  mit  Rücksicht  auf  deren  Einfachheit,  ausgedehnte  An¬ 
wendungsmöglichkeit  lund  ihre  Resultate. 

Der  Mißerfolg  im  vorliegenden  Falle  ist  vor  allem  wohl 
der  ausgedehnten  Quetschung  der  Gefäßwand  durch  das  Trauma 
zuzuschreiben,  die  allerdings  bei  der  Operation  nicht  festgestellt 
werden  konnte;  offenbar  ist  die  Thrombose  an  der  Nahtstelle 
rasch  eingetreten,  da  schon  einige  Minuten  nach  Vollendung 
der  Naht  an  den  peripheren  Abschnitten  der  Extremität  kein 
Puls  gefühlt  werden  konnte,  während  vor  Beginn  der  Naht  das 
Blut  im  Strahle  aus  denn  proximalen  Stampf  schoß  und  aus  dem 
peripheren  langsam  hervorquoll.  Die  Prognose  der  Naht  wäre 
aber  in  diesem  Falle  auch  sonst  ungünstig  gewesen,  da,  wie  der 
Verlauf  envies,  die  Operation  in  einer  Wunde  stattfand,  die 
trotz  ausgiebigster  Ausschneidung  der  makroskopisch  erkenn¬ 
baren  Verunreinigungen,  auf  das  schwerste  infiziert  blieb. 

Da  durch  zahlreiche  Versuche  und  klinische  Beobachtungen 
festgestellt  ist,  daß  der  Erfolg  einer  Arteriennaht  in  erster  Linie 
durch  Infektion  in  Frage  gestellt  wird,  erfährt  das  Anwendungs- 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


1-U8 


gebiet  dieser  Operation  gerade  nach  der  Richtung  der  Verletzun¬ 
gen,  für  die  sie  vor  allem  in  Betracht  käme,  bedauerlicherweise 
eine  erhebliche  Einschränkung  und  es  fragt  sich,  ob  man  nicht  bei 
solchen  schwer  verunreinigten  Wunden  von  dem  Versuche  einer 
Wiedervereinigung  der  Gefäßenden  von  vornherein  abstehen  und 
sich  mit  der  eventuell  notwendigen  Unterbindung,  selbst  auf  d’e 
Gefahr  .der  Gangrän  hin,  begnügen  sollte. 

d)  Ueber  einen  operierten  Fall  von  Atresia  i lei.  (Er¬ 
scheint  ausführlich  an  anderem  Orte.)  «■ 

Dr. Ratzel  stellt  einen  Fall  von  Paratyphi  B  vor,  dessen 
Serum  Paratyphi  in  20.000facher  Verdünnung  agglutinierte  und  der 
dadurch  bemerkenswert  erscheint,  als  aus  dem  Stuhl  nebst  Para- 
typhibazillen  auch  Vibrionen  gezüchtet  werden  können,  die  im 
Gram-Präparat  des  Stuhles  das  Bild  fast  beherrschen.  Der  Befund 
ist  wichtig  für  die  Genese  der  Erkrankung,  da  die  Art  der  ge¬ 
fundenen  Vibrio  dem  Vibrio  aquatilis  sehr  nahe  steht  und  auf 
Trinken  verdorbenen  Wassers  hindeutet. 

Sitzung  vom  19.  Januar  1911. 

Dr.  Meus  burger  demonstriert:  1.  Ein  Brüderpaar  aus 
dem  Gschnitztale,  das  einer  Familie  entstammt,  in  der  in  der 
letzten  Generation  sieben  Fälle  von  Dy  strop  hia  musculorum 
progressiva  vorgekommen  sind.  Bei  beiden  Brüdern  ist  der 
Typus  der  hereditär -hypertrophischen  Form  gut  entwickelt.  Die 
Dystrophie  ist  bei  beiden  Kranken,  sowie  auch  bei  ihrem  älteren 
Bruder,  der  vor  fünf  Jahren  an  der  Klinik  in  Behandlung  stand, 
kombiniert  mit  Schädelanomalien  (rachitisch  -  hydrozephale  Kra- 
nien).  Beide  Vorgestellten  sind  körperlich  in  der  Entwicklung 
zurückgeblieben  und  ausgesprochen  schwachsinnig. 

2.  Einen  14  Jahre  alten  Knaben  mit  faci  o-humer  oska- 
pularem  (L  an  d  ouzy-  De  j  er  ine-)  Ty  p  us  der  Muskeldystro¬ 
phie.  Das  stärkere  Ergriffensein  der  rechten  Schulter  und  des 
rechten  Oberarmes  ist  zweifellos  auf  einseitige  größere  Inan¬ 
spruchnahme  der  Muskulatur  beim  Tragen  schwerer  Lasten  zu¬ 
rückzuführen. 

3.  Ein  erwachsenes  Brüderpaar  mit  neuraler  Form  der 
Muskeldy strophie,(J.  Hoffmann)  und  ausgesprochen  träger 
Pupillenreaktion  sowohl  auf  Licht  wie  auf  Konvergenz.  Blasen- 
Mastdarmfunktion,  Augenhintergrund  und  Liquorbefund  normal. 
Beide  Kranke  klagen  über  alljährliche  Verschlechterung  ihres 
Zustandes  (Zunahme  der  Schwäche)  bei  Kälte.  Infolgedessen  ist 
der  eine  Kranke  jetzt  nur  mehr  des  Sommers  als  Kutscher  be¬ 
rufsfähig.  Das  Verhalten  erinnert  an  ähnliche  gelegentliche  Be¬ 
obachtungen  bei  Myotonie  und  findet  wohl  seine  Erklärung  in 
der  schlechteren  Blutversorgung  der  Muskulatur  bei  niederer 
Außentemperatur. 

Diskussion:  Prof.  Fick,  Prof.  Mayer. 

Dr.  De  de  kind  demonstriert:  1.  Einen  23jährigen  Patienten, 
der  in  ausgeprägter  Weise  alle  Symptome  der  hereditären 
Ataxie  vom  Typus  der  Friedreich  sehen  Krankheit  aufweist. 
Der  Fall  ist  dadurch  besonders  interessant,  daß  er  auch  beträcht¬ 
liche  Störungen  der  taktilen  Sensibilität,  der  Lagevorstellung  und 
der  Pallästhesie,  vor  allem  aber  der  unteren  Extremitäten,  zeigt. 
Der  Gang  charakterisiert  sich  als  spinalzerebellar  -  ataktischer, 
die  Knie-  und  Achillessehnenreflexe  fehlen.  Normaler  Augenhinter¬ 
grund,  Nystagmus,  verlangsamte,  monotone  Sprache.  Es  besteht 
eine  erhebliche  Skoliose  im  Brust -Lendenanteil  der  Wirbelsäule, 
die  sich  auch  bei  einem  der  sonst  gesunden  Brüder  vorfindet. 
Keine  Blasen -Mastdarmstörungen.  Wass  ermann  sehe  Serum¬ 
reaktion  negativ.  Pat.  ist  der  einzig  derartig  Kranke  in  seiner 
Familie. 

2.  Ein  zehnjähriges  Mädchen,  das  gleichfalls  als  einziges 
in  seiner  Familie  an  hereditärer  Ataxie  leidet.  Ganz  vorzüglich 
zerebellar  ataktisch.  Knie-  und  Achillessehnenreflexe  fehlen.  Leicht 
skandierende  Sprache,  keine  Blasen -Mastdarmstörungen.  Eine 
kleine  Abweichung  vom  gewöhnlichen  Friedreich  -  Typus  ist  in 
einer  beiderseitigen  Parese  der  Musculi  recti  extend  gegeben. 
Wasserm  an n sehe  Serumreaktion  negativ. 

3.  Kurzes  Referat  über  eine  kleine  Zahl  von  an  der  Klinik 
erhobenen  Liquorbefunden  bei  Tabes  und  Paralyse.  An  dem 
einem  Tabiker  entnommenen  Liquor  wird  Phase  I  (Nonne- 
Apelt)  demonstriert.  Bei  fünf  jüngst  in  der  Klinik  untersuchten 
Paralytikern  war  stets  Phase  I  positiv  und  Pleozytose  nach¬ 
weisbar.  Auch  zwei  Taboparalytiker  zeigten  deutliche  Phase  1 
und  ausgesprochene  Pleozytose.  Den  gleichen  Befund  zeigten 
unter  fünf  Tabikern  vier,  während  bei  einem  Tabiker  Phase  I 
negativ  und  keine  Pleozytose  nachweisbar  war. 

Die  Lymphozytenzählung  wurde  mit  der  Fuchs-Rosen¬ 
thal  sehen  Zählkammer  am  ungefärbten  Präparat  unmittelbar 
nach  der  Punktion  gemacht. 

Diskussion:  Prof.  Ortner,  Prof.  Mayer,  Dr.  Kroiß. 


Verein  der  Aerzte  in  Oberösterreich. 

Sitzung  vom  Februar  1911. 

Dr.  Stiefler  demonstriert  an  einem  Falle  von  Little- 
scher  Lähmung  die  durch  die  Förster  sehe  Operation  er¬ 
zielten  Erfolge.  Der  zehnjährige'  Knabe,  der  infolge  hochgradiger 
spastischer  Beinlähmung  weder  gehen  noch  stehen  konnte,  macht 
jetzt  bereits  in  der  Gehschule  andauernde,  schöne  Fortschritte. 

Stiefler  berichtet  dann  über  eine  Tabes1  dorsalis, 
bei  tier  wegen  überaus  quälender  Schmerzen  am  Thorax  die 
Förstersche  Operation  vorgenommen  wurde.  Der  Erfolg  war 
ein  zweifelloser,  leider  trat  neun  Tage  post  Operationen]  ganz 
unerwartet  Exitus  ein. 

Regierungsrat  Prim.  Dr.  Brenner  bespricht  anschließend 
die  Operationstechnik  der  Radicotomia  posterior  im  all 
gemeinen  und  geht  dann  auf  die 'beiden  von  ihm  selbst  operierten 
Fälle  näher  ein.  (Die  Fälle  wenden  ausführlich  in  dieser  Wochen¬ 
schrift  publiziert  werden.) 

Prim.  Dr.  Spechtenhauser-Wels  demons  trier  t  drei  Prä¬ 
parate  von  Rektumkarzinom,  gewonnen  durch  Operation. 

Die  drei  Präparate  sind  fast  Repräsentanten  der  drei  Typen 
von  Rektalkarzinom  dem  Sitze  nach.  Das  erste  saß  etwa  6  cm 
vom  Analring  entfernt,  seine  obere  Grenze  war  leicht  mit  dem 
Finger  zu  erreichen,  der  Tumor  nur 'im  vorderen  Teile,  gegen  den 
oberen  Prostatarand  zu,  etwas  fixiert.  Operation:  Perineale  Ain- 
putatio  recti.  Heilung. 

Das  zweite  überschritt  mit  seinem  oberen  Rande  die 
Umschlagsfalte  des  Peritoneums,  die  obere  Grenze  war  mit  dem 
Finger  mit  Mühe  zu  erreichen,  der  Tumor  zeigte  nur  Spuren 
von  Beweglichkeit.  Operation :  Perineale  Resectio  recti  mit  Er¬ 
haltung  des  Analringes,  durch  den  der  Darm  gezogen  wurde; 
wahrscheinliche  Heilung  (steht  noch  in  Behandlung). 

Das  dritte  Karzinom  saß  so  hoch,  daß  gerade  mit  Mühe 
noch  der  untere  Rand  zu  tasten  war,  gewiiß  10  bis  17  cm;  2  bis 
3  cm  unterhalb  fühlte  man  als  scharfe  Kante  die  Douglasfalte. 
Ueber  Größe  und  Beweglichkeit  ließ  sich  nichts  aussagen.  Während 
der  Vorbereitungskur  (Abführmittel)  ileusartige  Symptome  und 
Kollaps.  Operation:  Abdominell -perineale  Methode;  der  Tumor 
den  Dann  wie  ein  Wurstband  abschnürend,  kleine  lokale  Meta¬ 
stasen  des  Peritoneums.  Indikation  für  die  Operation:  Drohender 
völliger  Darmverschluß.  Nach  abdomineller  Mobilisierung  peri¬ 
neale  Resektion.  Exitus  am  zweiten  Tage  an  foudroyanter  Peri¬ 
tonitis  infolge  Darmgangrän. 

Alle  drei  Tumoren  standen  nahe  der  Operabilitätsgrenze, 
als  welche  früher  Beweglichkeit  unjd  Erreichbarkeit  des  oberen 
Randes  bezeichnet  wurde,  während  jetzt  die  Fortschritte  der 
Technik  weitere  Indikation  ziehen  lassen. 

Alle  drei  Patienten  hatten  seit  etwa  sechs  Monaten  schon 
verdächtige  Symptome  und  waren  sich  voll  bewußt,  im  Enddarm 
nicht  in  Ordnung  zu  sein.  Das 'wäre  nun  das  jammervolle  Kapitel 
der  Frühdiagnose  und  der  Frühoperation. 

Die  Diagnose  kann  nur  durch  Digitaluntersuchungen  gestellt 
werden  (ich  nehme  den  Standpunkt  des  Praktikers  ein).  Diese 
sind  eventuell  wiederholt  vorzunehmen,  sobald  die  Symptome 
eines  „Mastdarmkatarrhes“  vorhanden  sind.  In  diesem  Stadium 
ist  es  ein  Fehler,  nach  bandartigen  Stühlen  zu  fahnden,  Obsti¬ 
pation  zu  erwarten  oder  gar  Blutungen.  Diarrhöen,  besonders 
solche  Unit  erfolglosem  Stuhl  zwang  —  das  kann  nicht  oft  und 
energisch  genug  betont  werden  —  sind  feines  der  ersten  Zeichen 
von  Mastdarmkarzinom,  zu  dem  das  subjektive  Gefühl  einer 
merkwürdigen  Völle  und  das  Gefühl  „nicht  fertig  zu  sein“  auch 
nach  ausgiebigem  Stuhl  tritt  und  —  worauf  ich  nach  Gussen- 
bauer  besonders  Gewicht  lege  —  eine  durch  nichts  motivierte 
Störung  -des  guten  Schlafes.  Kommen  dazu  noch  Schleimabgänge 
mit  Blutstreifchen  und  „nasse“  Flatus,  welche  die  Leibwäsche 
beschmutzen,  so  ist  -die  Sache  schon  mehr  al's  verdächtig  und 
schon  der  Mühe  wert,  den  Kranken  „Kehrt  Euch“  machen  zu 
lassen  und  hoch  in  das  Rektum  hinauf  zu  tasten,  wobei  ich 
bemerke,  daß  ich  die  stehende,  gebeugte  Stellung  für  die  gün¬ 
stigste  halte,  nicht  das  Liegen  oder  gar  die  beliebte  Knieellen 
boigenlage,  die  ein  bewegliches  Karzinom  nach  (oben  verschwinden 
läßt.  Selbstverständlich  muß  der  Kranke  pressen  was  er  kann. 

Und  gesetzt,  wir  erkennen  ein  Carcinoma  recti  frühzeitig, 
so  beginnt  ein  Kampf  mit  dein  Kranken,  der  schwerer  ist,  als  bei 
sonst  einem  Karzinom.  „Versprechen  Sie  mir,  daß  ich  nach  der 
glücklich  überstanldenen  Operation  mit  dem  Stuhle  wieder  ganz  in 
Ordnung  bin?“  Das  ist  die  erste  Frage  des  Patienten  und  heut¬ 
zutage  fast  nie  mit  „Ja“  zu  beantworten.  Man  muß.  die  even¬ 
tuelle  —  eigentlich  sichere  —  Inkontinenz  andeuten  und  dann 
wird  auch  die  Operation  verweigert  oder  hinausgeschoben,  bis 
schwerere  Symptome  das  Leben  unerträglich  machen,  aber  auc 


Nr  il 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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die  Inoperabilität  schon  da  ist,  bei  einer  Karzinomart,  die  nach 
Operation  Dauererfolge  aufweist,  wie  sonst  keine. 

Können  wir  einst  sicher  Kontinenz  versprechen,  dann  wird 
es  besser  werden.  Die  Vervollkommnung  der  Technik  hat  ihre 
Entwicklungslinie  in  dieser  Richtung. 

Freilich,  bei  tiefsitzendem  Karzinom,  wie  das  erste  Präparat 
zeigt,  gibt  es  nichts  als  Opferung  des  Anus  —  Amputatio  recti. 
Die  Operation  ist  relativ  einfach  und  ungefährlich,  man  kommt 
mit  Weichteilschnitten  aus,  reseziert  höchstens  das  Steißbein 
und  braucht  manchmal  nicht  einmal  das  Peritoneum  zu  öffnen. 

Schwieriger  wird  die  Sache  schon  bei  höherem  Sitz  des 
Tumore  (zweites  Präparat).  Ohne  mich  in  Einzelheiten  verlieren 
zu  wollen,  bemerke  ich,  daß  die  Chirurgen  hier  schon  in  zwei 
Lager  gespalten  sind.  Die  einen  schaffen  nach  Kraske  und 
seine  Nachfolger  breite  Zugänge  durch  ausgedehnte  Knochen¬ 
resektionen  und  Aufklappung  des  Kreuzbeines,  die  anderen,  an 
der  Spitze  Kocher,  zu  welchen  auch  ich  mich  bekenne,  suchen 
auch  hier  mit  Weichteilschnitt  und  Resektion  des  Os  coccygis 
auszureichen.  Bei  mehr  als  40  eigenen  Mastdarmkrebsoperationen 
kann  ich  mich  nur  eines  Versagers  entsinnen ;  ich  fand  immer 
das  Auskommen  mit  Kochers  Vorschlägen.  Wo  überhaupt  mög¬ 
lich,  suche  ich  den  Schließapparat  zu  erhalten,  das  heißt,  ich 
strebe  in  jedem  Falle  die  Resektion,  nicht  Amputation,  an.  Freilich 
sieht  es  auch  bei  mir  mit  der  Funktion  der  Sphinkteren  nicht  gut 
aus.  Ich  bin  von  der  bisher  bekannten  Technik,  die  den  natür¬ 
lichen  Verschluß  erhalten  will,  in  keinem  einzigen  Falle  voll 
befriedigt,  ob  ich  nun  dehnte  und  durchzog  oder  sphinkterotomierte 
und  von  hinten  nähte  u.  dgl.  Ich  glaube,  der  Mann  muß  erst 
kommen,  der  uns  zeigt,  wie  man  das  wirklich  gut  und  sicher 
macht.  Dias  ist  auch  gewiß  mit  ein  Grund,  warum  weitaus  öfter 
amputiert  als  reseziert  wird;  außerdem  erleichtert  man  sich  die 
Arbeit  sehr  erheblich  und  operiert  entschieden  „radikaler“. 

Sitzen  einmal  die  Karzinome  so  hoch,  wie  mein  drittes 
Präparat  zeigt,  dann  hat  man  sich  vor  allem  zu  entscheiden,  ob 
man  den  perinealsakralen,  den  abdominellen  oder  den  aus  beiden 
kombinierten  Weg  einschlagen  soll.  Unter  den  Anhängern  der 
ersten  Methode,  die,  wie  ich  gleich  vorausschicke,  ungleich  gefahr¬ 
loser  ist,  gibt  es  wahre  Künstler,  denen  kein  Karzinom  dafür  zu 
hoch  sitzt.  Dabei  bleibt  es  höchst  beachtenswert,  daß  der  Erfinder 
der  Operation,  Kraske  selbst,  die  abdominelle  Methode  für 
die  ideale  erklärt,  wenngleich  er  mit  sämtlichen  Chirurgen 
sagen  muß,  daß  die  enorm  hohe  Mortalität  heute  noch  eine 
schwere  Gegenanzeige  ist.  Und  noch  merkwürdiger  1st,  daß  eigent¬ 
lich  keiner  unserer  Meister  sagen  kann,  worin  der  Grund  dafür 
liegt.  Die  Operation  hat  die  größte  Aehnlichkeit  mit  der  Wert¬ 
heim  sehen  erweiterten  Uterusexstirpation:  Ein  Längsschnitt 
rechts  und  links  von  der  Flexur  bis  tief  hinunter  in  den  Douglas 
geführt,  trennt  das  Peritoneum,  die  Arteria  haemorrhoidalis  su¬ 
perior  wird  aufgesucht  und  unterbunden,  der  Boden  des  Douglas 
kreisförmig  Umschnitten  und  nun  dringt  die  Hand  fast  ohne 
Widerstand  und  nennenswerte  Blutung  in  das  pelvine  Zellgewebe 
ein,  entfernt  mit  Sicherheit  jede  Drüse,  räumt  das  Cavum  ischio- 
rectale  sauber  aus  und  isoliert,  manchmal  oft  lächerlich  leicht, 
das  Rektum  selbst  bis  hart  an  den  Sphincter  extemus,  40  bis  50  cm 
Darm  mobilisierend.  Nun  läßt  sich  nach  oben  ein  vollständiger 
Abschluß  der  Peritonealhöhle  ausführen;  man  kann  zweizeitig 
operieren,  man  kann  sofort  den  Tumor  durch  den  Anus 
herausinvaginieren,  oder  durch  einen  Schnitt  in  der  Crena  ani 
die  ganze  Schlinge  vorlagern,  man  operiert  scheinbar  völlig  asep¬ 
tisch  und  kann  großartig  drainieren  —  lund  doch  so  viele  Todes¬ 
fälle  im  Shock  oder  an  Peritonitis1!  Es  ist  fast  nicht  zu  glauben 
und  hat  kein  Analogon  außer  am  „Wertheim“,  dessen  Gefahren 
nun  so  stark  herabgedrückt  wurden.  Auch  meinen  letzten  Fall 
verlor  ich  an  foudroyanter  Peritonitis  infolge  von  Darmgangrän. 
Diese  Gangrän  ist  ein  ebenso  häufiges,  als  gefürchtetes  Ereignis 
bei  jeder  ausgiebigen  Mobilisierung  des  Rektums  und  beschäftigt 
intensiv  die  besten  Chirurgen.  Sie  ist  abhängig  davon,  ob  man 
die  letzte  große  arterielle  Anastomose,  die  noch  von  der  Arteria 
meseraica  superior  versorgt  werden  kann,  bei  der  Ligatur  der 
Arteria  haemorrhoidalis  superior,  ja  des  Stammes'  der  Arteria 
meseraica  inferior  schont  oder  nicht  (S  u  decks  „kritischer 
Punkt“).  Man  sollte  glauben,  die  Laparotomie  läßt  die  Gefahren 
sicherer  vermeiden;  äuch  ich  meinte,  weit  von  der  gefährlichen 
Stelle  geblieben  zu  sein  und  trotzdem  kam  Gangrän,  merkwürdiger¬ 
weise  nur  in  der  Mitte  des  mobilisierten  Darmstückes,  das  Ende 
war  wieder  ernährt. 

Sitzen  die  Karzinome  so  hoch  (Uebergang  vom  Rektum  in 
die  Flexur),  daß  man  einen  gut  "mit  Peritoneum  bedeckten  Stumpf 
erhalten  kann,  so  ist  die  Operation  der  Wahl  Resektion,  sichere 
Vemühung  der  beiden  Stümpfe  und  Juxtappositionsanastomose. 
Mein  letzter  derartiger  Fall  lebt  seit  vielen  Jahren  völlig  gesund. 


(Anus  praeternaturalis  in  der  Privatwohnung  wegen  Ileus ;  einige 
Wochen  hernach  Laparotomie,  Resektion,  Anastomose;  nach 
Heilung  Naht  des  Anus  praeternaturalis.) 

Komme  ich  zum  Schlüsse,  so  scheint  es  auch  mir  sicher, 
daß  die  Zukunft  der  Rektumkarzinomoperationen  den  abdomi¬ 
nellen  und  kombinierten  Methoden  gehört,  weil  diese  1.  technisch 
leicht  und  schnell  ausführbar  sind,  2.  radikalstes  Vorgehen  ge¬ 
statten  und  die  Operationsmöglichkeit  erweitern  und  3.  den 
Schließ, apparat  fast  mit  Sicherheit  erhalten  lassen. 

Wir  müssen  nur  noch  die  Gefahr  der  Methode  verringern 
lernen  und  sichere  direkte  Nahtmethoden  erfinden.  Die  llaupt- 
phasen  werden  sein  müssen:  mediane  Laparotomie,  Umschneidung 
des  Peritoneums,  der  Flexur,  des  Rektums  und  des  Douglasbodens, 
Ligatur  der  Hauptarterie  mit  Schonung  der  letzten  Anastomosen, 
stumpfes  Abpräparieren  des  Darmes  samt  Drüsen  und  Fettgewebe 
bis  zum  Diaphragma  pelvi  musculare,  Abschluß  der  Peritoneal¬ 
höhle  durch  Naht.  Invagination  des  Tumors  durch  den  Anus 
oder  Verlagerung  der  ganzen  Schlinge  aus  einer  hinteren  Längs¬ 
inzisionswunde,  direkte  zirkuläre  Darmnaht  und  breite  Drainage 
gegen  das  Ende  des  Kreuzbeines  zu. 

Prim.  Dr.  v.  Bonelli-Wels  demonstriert  zwei  Nieren¬ 
präparate.  (Nierentuberkulose,  gewonnen  durch  Operation.) 

Fall  I  stammt  von  einem  22  Jahre  alten  Manne, 
F.  K.,  der  nicht  hereditär  belastet,  bis  vor  einem  Jahre  stets 
gesund  war.  Vor  einem  Jahre  Inzision  eines  kalten  Abszesses 
am  Rücken.  Wenige  Wochen  später  Pleuritis  exsudativa  links. 
Bis  vor  drei  Monaten  fühlte  sich  Pat.  dann  vollkommen  gesund, 
als  er  dann  bemerkte,  daß  er  öfters  urinieren  müsse.  Anfänglich 
war  das  Urinieren  nicht  schmerzhaft,  der  Urin  klar.  Nach  einem 
weiteren  Monat  traten  Strangurie  und  leicht  getrübter  Harn  auf. 
Blutig  war  der  Harn  nie.  Nach  jeder  Miktion  lebhaft  brennender 
Schmerz  in  der  Glans.  Geringe  Schmerzen  in  der  Lumbalgegend. 

Auf  interne  Zystitistherapie  geringe  vorübergehende  Besse¬ 
rung. 

Anfangs  Januar  Spitalsaufnahme.  Bis  auf  Spuren  der  über¬ 
standenen  Pleuritis  kein  pathologischer  Organbefund.  Nur  linke 
Nierengegend  leicht  druckempfindlich.  Harn  trüb,  V2%o  Esbach; 
im  Sediment  zahlreiche  Leukozyten,  spärliche  rote  Blutkörperchen. 
Mikroskopisch  und  im  Tierversuch  Tuberkelbazillen  nicht  nach¬ 
weisbar.  Reaktion  sauer. 

Zystoskopischer  Befund:  Blasenschleimhaut  n ur  in 
der  Umgebung  des  linken  Ureterostiums  verändert.  Die  Ureter- 
mündung  links  kraterförmig  eingezogen.  Die  Schleimhaut  in  der 
Umgebung  gerötet;  an  einer  Stelle  ein  weißes  Knötchen  (Tuberkel¬ 
knoten?).  Nach  Injektion  von  20  cm3  Indigokarminlösung  wird 
nach  8  Minuten  rechts  der  Farbstoff  in  kräftigem  Strahle  aus¬ 
gestoßen.  Links  kaum  merkbare  Ausscheidungen  nach  14  Minuten. 

23.  Januar.  Nephrektomie.  Heilung  per  primam.  Die 
Funktion  der  Niere  war  durch  breite  Verwachsungen  am  oberen 
Pol  erschwert. 

Die  Niere  ist  um  das  doppelte  vergrößert.  Im  oberen  Pol 
zwei  nuß-,  resp.  haselnußgroße  Kavernen.  Im  übrigen  Nieren¬ 
parenchym  da  und  dort  verkäste  Knoten;  die  im  unteren  Pol 
subkapsulär  besonders  zahlreich.  (Mischform  von  käsig -kaver¬ 
nöser  und  chronisch  -  disseminierter  Tuberkulose.) 

Fall  II.  Nephrolithiasis  einer  Solitärniere;  ge¬ 
wonnen  bei  der  Obduktion. 

Frau  C.  H.,  35  Jahre  alt,  schwachsinnig,  wird  mit  der 
Diagnose  Appendizitis  ins  Spital  gebracht.  Vor  sechs  Monaten 
ähnliche  Erkrankung  wie  gegenwärtig,  mit  Schmerzen  und  Tumor 
in  der  rechten  Bauchseite.  Damalige  Erkrankung  heilte  rasch  ab. 

Die  Patientin  erkrankte  am  1.  Januar  unter  heftigen 
Schmerzen  in  der  lleocökalgegend.  Erbrechen,  Stuhl-  und  Wind¬ 
verhaltung,  Tumor  rechts.  Am  5.  Januar  wird  der  Arzt  gerufen; 
am  6.  Januar  wegen  Appendizitis  dem  Spital  überwiesen. 

Die  Patientin  in  komatösem  Zustand ;  eigentümliche  krampf¬ 
hafte  Stellung  der  Arme.  Sensorium  auf  kurze  Augenblicke 
wieder  frei. 

Rechts  kindskopfgroßer  Tumor,  unter  die  Leber  reichend. 
Deutliches  Ballottememt  renal.  Zeichen  von  Lungenödem.  Puls 
klein,  120.  Temperatur  36-5. 

Per  Katheter  werden  wenige  Tropfen  einer  trüben,  dick¬ 
lichem,  braunen  Flüssigkeit  entleert.  Zystoskopie  zeigt  getrübte 
Schleimhaut,  Ureterenmündungen  werden  nicht  gefunden. 

Injektion  von  Indigokarmin,  20  cm3,  4°/o.  Es  tritt  überhaupt 
keine  Farbausscheidung  auf.  Kampfer,  Venaesectio,  Kochsalz- 
infusion.  Punktion  des  Tumors  von  der  Lende  aus.  Es  werden 
zirka  250  cm3  urinöser  Flüssigkeit  entleert,  die  später  stark 
blutig  wird.  Lungenödem  zunehmend.  Fünf  Stunden  nach  der 
Punktion  rascher  Exitus. 


iio 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  11 


Die  Obduktion  ergibt:  Linke  Niere  fehlt  vollständig. 
Rechte  Niere  kindskopfgroß.  Nierenbecken  bedeutend  erweitert. 
Au  der  Ureterennnindung  ein  fast  taubeneigroßer  Nierenstein, 
in  verschiedenen  Buchten  des  Nierenbeckens  mehrere  kleinere 
Steine.  Ureter  im  oberen  Drittel  daumendick  erweitert,  mit  san¬ 
digem  Brei  erfüllt.  Todesursache:  Urämie,  Lungenödem. 

Vortragender  bespricht  im  Anschlüsse  an  die  Demonstration 
die  einzelnen  Methoden  zur  Erkennung  der  Nierenfunktion. 

Dr.  E  be  rst aller  demonstriert  das  Laryngoskop  nach 
Ela  tau  und  einen  Kehlkopfspiegel  zur  V  erg  rüßer  u  ng.  (Finna 
Z  ei  ß.) 

Prof.  Dr.  Sch  mit  zeigt  die  Originalausgabe  des  Buches 
„Die  Chur-B  randenburgische  Hof -Wehe -M  utter"  von 
Justine  Siegesmundin  (gedruckt  1715)  und  liest  einzelne 
Stellen  aus  dem  Werke  vor,  welche  Zeugnis  geben  für  die  gute 
Beobach tunig  und  reiche  Erfahrung  dieser  seinerzeit  sehr  be¬ 
rühmten  Hebamme. 

Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte 

in  Böhmen. 

Sitzung  vom  22.  Februar  1911. 

Dr.  Ru b es ch :  Demonstration  eines  Präparates  von  einer 
Darmwandeinklemmung  in  die  seitliche  Oeffnung  eines 
D re e sm  ann sehen  Glasdrains.  Es  handelte  sich  um  einen 
Fall  von  diffuser  Peritonitis  als  Folge  einer  durch  direkte  Gewalt 
entstandenen  subkutanen  Darmruptur.  Der  Kranke  starb  infolge 
einer  Pneumonie.  Bei  der  Sektion  zeigte  sich,  daß  ein  Teil  der 
seitlichen  Wand  einer  Ileumschlinge  in  eine  Oeffnung  des  Glas¬ 
drains  eingestülpt  war.  Man  kann  diesen  Befund  mit  einer 
Li ttr eschen  Hernie  vergleichen.  Um  derartige  Vorkommnisse 
zu  vermeiden,  die  zu  Fistelbildung  führen  können,  empfiehlt 
Rubesch,  die  seitlichen  Oeffnungen  kleiner  zu  machen  und 
das  Glasdrain  mit  einem  porösen  Gazestoff  zu  überziehen;  derartig 
armierte  Glasdrains  funktionieren  gut. 

Dr.  MargulieS:  Versuche  über  die  Bäkterizidie 
im  Liquor  cerebrospinalis  ergaben:  1.  daß  der  normale 
menschliche  Liquor  keine  bakterizide  Wirkung  besitzt,  2.  daß 
er  nach  Zusatz  von  Leukozyten  hochgradig  ^bakterizid  wird,  3.  daß 
diese  Wirkung  nicht  allein  auf  Phagozytose  beruht,  sondern 
auf  Leukozytenstoffe  zurückzuführen  ist,  4.  daß  der  Liquor  selbst 
bei  der  durch  Leukozytenwirkung  erzeugten  Bakteriolyse  sich 
nicht  wie  eine  indifferente,  sondern  eine  potentiell  aktive  Flüssig¬ 
keit  verhält.  Auf  Grund  dieser  Befunde  bespricht  der  Vortragende 
weiter  die  Möglichkeit  einer  Therapie,  ins  besonders  der  akuten 
Meningitis  und  der  progressiven  Paralyse.  (Ausführliche  Mitteilung 
erscheint  anderen  Ortes.) 

Dr.  Springer:  Ueber  die  Madelungsche  Deformi¬ 
tät.  (Ausführliche  Mitteilung  erscheint  an  anderer  Stelle.) 

Sitzung  vom  3.  März  1911. 

Dr.  Kahn:  Abnorme  Herzkammer  elektrokardio- 
gramm  e. 

Von  abnormen  Kammerelektrokardiogrammen  sind  jene  Herz¬ 
kammerschläge  begleitet,  bei  denen  eine  Kammer  früher  als  die 
andere  in  Tätigkeit  gerät.  Dabei  ist  es  gleichgültig,  ob  die  Ur¬ 
sache  hiefür  darin  zu  suchen  ist,  daß  die  Erregung  künstlich 
oder  natürlich  in  der  Kammer  selbst 'entsteht,  oder  darin,  daß  die 
Erregung  auf  dem  natürlichen  Wege  kommend,  bloß  der  einen 
Kammer  zufließt. 

Dias  wird  im  Tierversuch  bewiesen:  1.  durch  künstliche 
Reizung  des  freigelegten  Hundeherzens  (Kahn),  2.  durch  Er¬ 
zeugung  natürlicher  Kammerextrasystolen  mittels  Abklemmung 
der  Arteria  pulmonalis  und  der  Aorta '(Kahn,  Roth  berge  r  und 
Winter  berg),  3.  durch  Durchschneidung  je  eines  Ta  w  ara¬ 
sehen.  Schenkels  (Eppinger  und  Rothberger),  4.  durch  Anä- 
misierung  des  Kammerseptums  (Kahn). 

Es  erscheint  bei  sorgfältiger  Berücksichtigung  der  Ablei- 
l.ungs  Verhältnisse  zulässig,  diese  Befunde  am  Hundeherzen  be¬ 
züglich  der  Kammerextrasystolen  auf  den  Menschen  zu  über¬ 
tragen.  Eine  Läsion  eines  der  Tawaraschen  Schenkel  aus  dem 
menschlichen  Elektrogramme  mit  Sicherheit  zu  erschließen,  reichen 
die  vorliegenden  experimentellen  Untersuchungen  vorläufig 
nicht  aus. 

Dr.  Kafka  und  Dr.  Weil:  Demonstration  zur  Per¬ 
meabilität  der  Meningen. 

Die  bisher  in  der  Literatur  niedengelegten  Versuche  über 
die  Durchgängigkeit  der  Meningen  für  körpereigene  normale  und 
pathologische  Stoffe,  wie  für  körperfremde  Substanzen  ergeben, 
daß  dieselbe  nur  für  Ueberjadung  des  Blutes  mit  einem  Stoffe 
oder  bei  akuten  Meningitiden  erhöht  ist.  Auch  ein  Versuch,  Para- 

Vera  utwortlicher  Redakteur  :  Karl  Kubasta. 


lytikern  und  lucisfreien  Nichtparalytikern  abgetötete  Vibrionen 
zu  injizieren,  ergab  ein  negatives  Resultat.  Nach  Analogie  der 
von  Salus  für  das  Kammerwasser  angestellten  Versuche  war 
es  klar,  daß  man  bei  normalen  Meningen  zum  Nachweis  dieser 
Stoffe  sehr  große  Mengen  des  Liquors  nehmen  mußte.  Da  aber 
wieder  in  Analogie  der  Verhältnisse  des  ^vorderen  Kamnrerwassers 
bei  Entzündung  der  transsudierenden  Gefäße  die  Ausscheidung 
eine  größere  ist,  wurden  besonders  Liquores  von  Fällen,  von  akuten 
Meningitiden  und  metaluetischen  Erkrankungen,  besonders  Para¬ 
lysen,  zur  Untersuchung  herangezogen  u.  zw.  in  erster  Linie 
auf  den  Gehalt  an  normalen  Antikörpern.  Weil  konnte  mittels 
einer  Methode,  die  besprochen  wird,  nachweisen,  daß  Hammel¬ 
bluthämolysine  sich  im  Liquor  der  Paralytiker  und  der  an  akuter 
Meningitis  Erkrankten  nachweisen  lassen,  in  allen  Kantrollfällen 
dagegen  nicht.  Dadurch  ist  zum  erstenmal  die  erhöhte  Permeabili¬ 
tät  der  Meningen  bei  der  Paralyse  nachgewiesen  und,  wenn  Nach¬ 
untersuchungen  die  Befunde  bestätigen  sollten,  auch  ein  wich¬ 
tiges  diagnostisches  Hilfsmittel  für  die  Erkennung  der  akuten,  nicht 
luetischen  Meningitiden  und  der  Paralyse  geschaffen  worden. 

Dr.  v.  Zeynek:  Ueber  den  Kalkg*ehalt  der  Aorta. 

Erörterung  der  von  Selig  und  A  niese  der  im  deutschen 
medizinisch-chemischen  Institute  gewonnenen  Aortenanalysen  j 
(zum  Teil  in  der  Zeitschrift  für  physiologische  Chemie  publi¬ 
ziert)  und  Hinweis  darauf,  daß  die  Kalkeinlagerungen,  ebenso  die 
regelmäßig  gefundenen  Kalkseifen  nur  als  ein  sekundäres 
Symptom  der  Arteriosklerose  zu  deuten  sind.  Damit  müssen  die 
Bestrebungen,  durch  Antiskierosin  und  ähnliche  Präparate  den 
Kalk  zu  entf  ernen,  für  die  Heilung  der  Arteriosklerose  als  verfehlte 
Bestrebungen  bezeichnet  werden;  übrigens  wäre  es  vom  physio¬ 
logisch-chemischen  Standpunkte  höchst  unwahrscheinlich,  den 
genannten  Salzgemischen  überhaupt  die  von  manchen  Autoren 
behaupteten  Wirkungen  anzuerkennen.  Der  Vortragende  meint, 
diesen  Verkalkungsprozeß  auf  Grund  der  Analysen,  die  fortgesetzt 
werden,  im  Sinne  von  Wells,  Klotz  und  insbesondere  Aschoff 
als  einen  für  den  Organismus  wertvollen  Prozeß  bezeichnen  zu 
müssen  und  appelliert  an  die  klinische  Mitarbeit,  betreffend  die 
Beschaffung  möglichst  eindeutigen  Untersuchungsmaterials. 

Dr.  Pribram-  Prag. 


Programm 

der  am 

Freitag  den  17.  März  1911,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Prof.  Dr.  F.  Hochstetten  statttindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1  Priv.-Doz.  Dr.  Jul.  Neuiuaun  und  Dr.  E.  Herrmami:  Biologi¬ 
sche  Studien  über  die  weibliche  Keimdrüse. 

2.  Priv,-Doz.  Dr.  L.  Wiek :  Zur  Pathogenese  der  Gicht. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Haus  Salzer,  Robert 
Hreuer.  Bergmeister,  Paltauf. 

Um  die  rechtzeitige  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen, 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerkuncen 
dem  Schriftführer  noch  am  Sitzuu^sabend  zu  übergeben. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  der  pädiatrischeu  Sektion  findet  im  Ilörsaale  der 
Klinik  weil.  Esche  rieh  Donnerstag  den  IC.  März  1911,  um  7  Uhr 

abends,  statt. 

(Vorsitz:  Dr.  Julius  Hrey.) 

Programm: 

Demonstrationen  angemeldet:  Priv.-Dr.  Dr.  Zappert,  Dr.  K.  Grün- 
leid,  Dr.  Schick,  Dr.  Preleitner.  Das  Präsidium. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  20.  März  1911,  7  Uhr  abends,  im  Sitznngs- 
saale  des  Kollegiums  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz  des  Herrn 
Hofrates  Prof.  Obersteiner  stattfindenden 

wissenschaftlichen  Versammlung. 

Dr.  A.  Neuman-Kueucker :  Die  Zahnchirurgie  und  ihre  Bedeutung 
für  den  praktischen  Arzt.  (Mit  Demonstrationen.) 


Gesellschaft  für  physikalische  Medizin. 

Programm  der  am  Mittwoch  den  22.  März  1911,  um  7  Uhr  abends,  im 

Hörsaale  der  Klinik  Noorden,  unter  dem  Vorsitze  von  Priv.-Doz.  Doktor 
Max  Herz  stattfindendsn  Sitzung. 

1.  Demonstrationen. 

2.  Priv.-Doz.  Dr.  A.  Bum:  Ueber  Kombination  physikalischer  Be- 
handlungsmethoden. 

Kollegen  als  Gäste  willkommen. 

Dr.  Max  Kahane,  I.  Sekretär.  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz,  Präsident. 

Verlag  von  Wilhelm  Hranmüller  in  Wien 


DrneV  von  Bruno  Bartelt.  Wien  Will,  Thoretnenarai«-  ä 


Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

ehiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S.  Exner,  E.  Finger,  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko,  H.  Meyer.  J.  Moeller,  K.  v.  Noorden. 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt,  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

nton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg.  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser. 

Richard  Paltauf.  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 


XXIV.  Jahrg.  Wien,  23.  März  1911  Nr.  12 


INHALT: 

1.  Oritrinalartikel:  1.  Aus  dem  pathologisch-anatomischen  Institute 
in  Wien  (Vorstand:  Hofr.  Prof.  A.  Weichselbaum)  und  der 
Universitäts-Frauenklinik  (Vorstand:  Hofr.  Prof.  F.  Schauta). 
Biologische  Studien  über  die  weibliche  Keimdrüse.  Von 
Priv.-Doz.  Dr.  Julius  Neumann  und  Dr.  Edmund  Herrmann. 

S.  All. 

2.  Notiz  zu  dem  vorstehenden  Vortrage  der  Herren  Neumann 
und  Herrmann.  Von  Siegmund  Frankel.  S.  417. 

3.  Aus  dem  pathologisch-bakteriologischen  Institut  in  Brünn. 
(Vorstand:  Prof.  C.  Sternberg.)  Zur  Frage  der  Blutbildung  in 
der  menschlichen  Thymus.  Von  Dr.  Joh.  Löw,  Grado.  S.  418. 

4.  Aus  der  chirurgischen  Abteilung  des  Rothschildspitales  in  Wien. 
(Vorstand:  Prof.  Dr.  Otto  Zuckerkand!.  Versuche  einer  Verein¬ 
fachung  des  Tuberkelbazillennachweises  im  Harn.  Von  Dr.  Robert 
Bachrach,  Sekundararzt  und  Dr.  Friedrich  Necker.  S.  419. 

5.  Aus  der  deutschen  chirurgischen  Klinik  in  Prag.  Zur  Drainage 
der  Bauchhöhle  mit  Dreesmannschen  Glasdrains.  Von  Doktor 
Rudolf  Rubesch,  Assistenten  der  Klinik.  S.  421. 


6.  Kann  die  Endocarditis  acuta  epidemisch  auftreten  und  herrscht 
gegenwärtig  eine  solche  Epidemie  in  Wien?  Von  Privatdozent 
Dr.  Max  Herz.  S.  423. 

II.  Referate :  Der  Haftapparat  der  weiblichen  Genitalien  Von 
Von  Dr.  E.  Mart i n .  Ref.:  Schauta. — ■  Beiträge  zur  praktischen 
Chirurgie.  Von  Dr.  Krecke.  700  diagnostisch-therapeutische 
Ratschläge  für  die  chirurgische  Praxis.  Von  Walter  M.  B  r  ick  ne  r. 
Ref. :  Ewald.  —  Frequence  de  la  tuberculose  parmi  la 
population  de  Kiruna.  Par  Gustav  Neander.  Klinik  der  Tuber¬ 
kulose.  Von  Bandelier  undRoepke.  Lehrbuch  der  spezifischen 
Diagnostik  und  Therapie  der  Tuberkulose.  Von  Bandelier  und 
Roepke.  Ref.:  W.  Neumann. 

III.  Ans  verschiedenen  Zeitschriften. 

IV.  Vermischte  Nachrichten. 

V.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


us  dem  pathologisch-anatomischen  Institute  in  Wien 
Vorstand  :  Hofr.  Prof.  A.  Weichselbaum)  und  der  Univer- 
täts-Frauenklinik  (Voi stand:  Hofr.  Prof.  F.  Schauta). 

iologische  Studien  über  die  weibliche  Keim¬ 
drüse.*) 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Julius  Neunianu  und  Dr.  Edmund  Herrmaun. 

Meine  Herren!  Unsere  Kenntnisse  über  die  biologische 
edeutung  der  Organe,  namentlich  der  in  ihrer  Wirkung 
is  vor  kurzem  zum  Teil  noch  rätselhaften  oder  völlig 
ubekannten  Drüsen  mit  innerer  Sekretion  wurden  durch 
euere  Forschungen  wesentlich  gefördert  und  vertieft.  So 
issen  wir  nunmehr,  daß  im  Organismus  unter  Vermittlung 
er  Hormone  chemische  Wechselwirkungen  bestehen,  welche 
ir  die  physiologische  Tätigkeit  seiner  Organe,  ja  für  den 
ugestörten  Ablauf  der  Leben, sfunktionen  überhaupt  von 
*r  größten  Bedeutung  sind. 

Dieser  Fortschritt  auf  dem  Wege  biologischer  Erkennt- 
is  und  die  Resultate  der  Immunitätsforschung,  welche 
as  wunderbare  grenzende  Eigenschaften  des  Blutes  und 
!‘s  Blutserums  lehrte,  ließen  uns  vor  mehreren  Jahren  den 
Jan  fassen,  Untersuchungen  darüber  änzustellen,  oh  die 
chwangerschaft  physiologischer  Weise  Veränderungen  im 


*)  Vortrag,  gehalten]  von  Priv.-Doz.  Dr.  J.  Neumann  in  der 
Izung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  vom  17.  März  1911. 


Blute  hervorrufe,  welche  sich  biologisch  oder  biochemisch 
nachw  eisen  ließen. 

Eine  überaus  große  Zahl  älterer  und  neuerer  Arbeiten 
hatte  bereits  die  Morphologie  der  Blutzellen,  ihre  physi¬ 
kalischen  und  chemischen  Eigenschaften,  sowie  diejenigen 
des  Blutserums  zum  Gegenstände  von  Untersuchungen  ge¬ 
macht  und  in  neuester  Zeit  wurden  auch  die  modernen 
physikalischen,  biologischen  und  experimentellen  Methoden 
für  solche  Forschungen  herangezogen. 

Die  Ergebnisse  dieser  Arbeiten  sind  außerordentlich 
interessant  und  —  wie  sich  noch  zeigen  wird  — -  auch  für 
das  Verständnis  unserer  Untersuchungsresultate  überaus 
wichtig;  aber  man  darf  doch  sagen,  daß  feie  das  Wesen 
des  eigenartig-biologischen  Zustandes  der  Schwangerschaft 
nicht  völlig  geklärt  haben. 

Bei  unseren  diesbezüglichen  biologischen  und  experi¬ 
mentellen  Untersuchungen  gingen  wir  anfangs  von  der  An¬ 
nahme  aus,  daß  die  Imprägnation  des  Eies  durch  die 
Samenzelle,  als  eine  für  den  mütterlichen  Organismus 
fremde  Substanz  und  die  darauf  folgende  Inkorporierung 
im  Blute  der  Graviden  zur  Bildung  von  Stoffen  führen 
könnte,  deren  Nachweis  auf  biologischem  Wege  gelingen 
würde.  Diese  Auffassung  wurde  auch  durch  die  Ansicht 
gestützt,  daß  die  Rekapitulation  der  phylogenetischen  Ent¬ 
wicklung  durch  den  Fötus  ein  Umstand  sein  könnte,  der 
die  Bildung  von  Antikörpern  noch  begünstige. 


412 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


Unsere  Untersuchungen  haben  aber,  wie  wir  gleich 
hervorheben  wollen,  keinen  Anhaltspunkt  dafür  ergeben, 
daß  das  fötale  Eiweiß,  für  den  mütterlichen  Organismus 
etwa  wie  artfremdes  Eiweiß  zu  betrachten  sei.  So  finden 
wir  uns  demgemäß  zu  der  Mitteilung  verpflichtet,  daß  der¬ 
artige  Bemühungen  zum  Nachweise  von  Eiantikörpern  im 
schwangeren  Organismus  durch  die  Anwendung  verschie¬ 
dener  biologischer  Methoden  als  vollständig  mißlungen  zu 
betrachten  sind  und  daß  es  uns  auch  nicht  gelungen  ist, 
durch  Eisubstanz  eine  für  diese  spezifische  Reaktion  im 
Tierkörper  hervorzurufen. 

Besonders  ließ  uns  also  das  Studium  der  Eiweißfcörper 
auf  dem  angedeuteten  Wege  im  Stiche.  Trotzdem  konnten 
wir  die  Vorstellung  nicht  unterdrücken,  daß  während  der 
Gravidität  im  mütterlichen  Blute  Veränderungen  entstünden, 
welche  mit  der  Schwangerschaft  in  ursächlichen  Zusammen¬ 
hang  zu  bringen  seien  und  wir  gingen  daher  an  die  Unter¬ 
suchung  anderer  im  Blute  vorhandener  und  in  Betracht 
kommender  Substanzen . 

Dieses  umfängliche  Studium  zeitigte  tatsächlich  Re¬ 
sultate,  von  deren  Bedeutung  für  die  allgemeine  Biologie 
und  für  die  Pathologie  wir  durchdrungen  sind  und  wir 
haben  die  Ehre,  Ihnen  hiemit  über  die  bisherigen  Ergeb¬ 
nisse  dieser  Forschungen  Bericht  zu  erstatten. 

Gestatten  Sie,  daß  wir  vor  Schilderung  der  Befunde 
Sie  zunächst  mit  der  von  uns  ersonnenen  Arbeitstechnik 
bekannt  machen.  Es  war  von  vornhinein  klar,  daß,  sollte 
es  sich  um  klinisch  anwendbare  Methoden  handeln,  wir 
mit  geringen  (Blutmengeii  unser  Auslangen  finden  müßten. 
Und  die  Methoden  zum  Nachweis  der  noch  genauer  zu 
besprechenden  Substanzen,  bzw.  zur  Veranschaulichung 
ihrer  relativen.  Mengenverhältnisse  beanspruchen  auch  nur 
einen  Kubikzentimeter  Blut  für  je  eine  Probe.  Blut  erwies 
sich  als  geeigneter  für  unsere  Untersuchungen  als  Serum. 

Das  zu  untersuchende  Blut  erhielten  wir  aus  einer 
Kubitalveme  mittels  Punktion,  ferner  post  partum  auch  aus 
dem  Uterus  und  beim  Neugeborenen  aus  der  Nabelschnur. 
Wir  verdanken  (das  so  gewonnene  Material  dem  liebens¬ 
würdigen  Entgegenkommen  des  Herrn  Hofrates  Schauta. 

Das  Blut  wurde  defibriniert,  im  Verhältnis  von  1:10 
mit  95°/oigem  Alkohol  versetzt,  einige  Zeit  geschüttelt,  der 
Alkohol  nach  24  Stunden  klar  zentrifugiert  oder  abfiltriert 
und  der  Untersuchung  zugeführt.  Die  auf  solche  Weise 
erhaltenen  klaren  Alkoholextrakte  wurden  nunmehr  mit 
Wasser  oder  verdünntem  Alkohol,  mit  salzsaurem  Alkohol, 
mit  konzentrierter  Salzsäure,  mit  konzentrierter  Schwefel¬ 
säure,  mit  alkoholischer  Platinchloridlösung  versetzt,  oder 
auch  azidometrisch  geprüft. 

Stellt  man  nun  so  eine  Prüfung  mit  dem  Alkohol¬ 
extrakte  des  Blutes  einer  frisch  entbundenen  Frau  und  dem 
alkoholischen  Blutextrakte  eines  neugeborenen  Kindes  an, 
indem  man  diese  Extrakte  mit  irgendeinem  der  vorge¬ 
nannten  Reagentien  in  einem  bestimmten  Verhältnisse  ver¬ 
setzt,  so  sieht  man  eine  außerordentlich  überraschende  Er¬ 
scheinung. 

Der  Alkoholextrakt  des  mütterlichen  Blutes  nämlich 
wird  auf  Zusatz  einer  geringen  Menge  von  Wasser  oder 
verdünntem  Alkohol,  salzsaurem  Alkohol,  konzentrierter 
Salzsäure,  konzentrierter  Schwefelsäure  sofort  stark  trüb, 
während  er  auf  Zusatz  einer  sehr  geringen  Menge  von 
alkoholischer  Platinchloridlösung  klar  bleibt. 

Der  Alkoholextrakt  des  kindlichen  Blutes  hingegen  zeigt 
geradezu  ein  konträres  Verhalten,  d.  h.  er  trübt  sich  auf 
Zusatz  von  alkoholischer  Platinchloridlösung  und  bleibt  bei 
Zusatz  aller  anderen  Reagentien  in  dem  gleichen  Verhält¬ 
nisse  vollkommen  klar. 

In  einer  (zweiten  Untersuchungsreihe  versetzten  wir 
1  cm3  Blut  mit  je  10  cm3  konzentrierter  Schwefelsäure 
und  Chloroform,  schüttelten  durch  und  ließen  die  Probe 
24  Stunden  istehen. 

Stellt  man  diese  letztere  Reaktion  gleichfalls  wie 
vorhin  mit  mütterlichem  und  kindlichem  Blute  und  zwar 
vollkommen  gleichmäßig  an,  so  ergibt  sich  schon  nach 


kurzer  Zeit,  sicher  aber  nach  mehreren  Stunden,  eine  Rot- 
färbung  des  Chloroforms  in  der  mit  mütterlichem  Blute 
angestellten  Probe,  während  die  Chloroformschicht  über 
dem  kindlichen  Blute  regelmäßig  vollkommen  farblos  bleibt. 

Sie  können  sich  leicht  davon  überzeugen, 
daß  man  auf  diese  Weise  mit  konstanter  Regel¬ 
mäßigkeit  und  absoluter  Sicherheitt  das  Blut 
eines  neugeborenen  Kindes  v  o  n  d  e  m  einer  frisc  h 
Entbundenen,  oder  —  wie  wir  gleich  hinzufügen 
wollen  von  dem  einer  Hoch'graviden,  ja  von 
dem  Blute  erwachsener  Menschen  überhaupt  zu 
u  n  I  e r  s c h e i d e n  i  n  der  L a g)e  ist. 

Die  außerordentliche  Feinheit  dieser  auf  quantitativen, 
im  gewählten  Beispiele  aber  auf  sehr  großen  Differenzen 
beruhenden  Reaktion  gestattet  es,  die  Prüfung  auch  mit 
sehr  kleinen  Mengen  Blutes,  als  auch  Extraktes  anzustellen 
und  die  Unterschiede  deutlich  sichtbar  zu  machen.  So  kann 
man  seihst,  mit  zwei  Tropfen  Blutes,  wenn  man  sie  im 
Verhältnis  von  1:10  mit  Alkohol  extrahiert,  die  analogen 
Differenzen  veranschaulichen.  ,Bei  unserem  gewöhnlichen 
Vorgänge  nahmen  wir  5  cm3  des  Alkoholextraktes  (1:10) 
zu  einer  Reaktion,  aber  auch  mit  geringsten  Mengen  des 
Extraktes,  etwa  mit  20  Tropfen  oder  mit  Verdünnungen 
1:100  gelingt  es  ohneweiters,  die  genannten  Unterschiede 
zwischen  mütterlichem  und  kindlichem  Blute  zur  Darstellung 
zu  bringen. 

Daß  es  sich  hier  um  ganz  besondere  Differenzen 
handeln  muß,  geht  ferner  aus  der  Tatsache  hervor,  daß 
die  Reaktionen  auch  sofort  angestellt  werden  kann,  ohne 
den  Alkohol  24  Stunden  auf  das  Blut  einwirken  lassen  zu 
müssen.  Man  braucht  bloß  das  Blut  mit  Alkohol  zu  über¬ 
gießen,  einige  Male  durchzuschütteln  .und  zu  filtrieren. 
Auch  ein  solcher  auf  so  einfache  und  rasche  Weise  ge¬ 
wonnener  Extrakt  läßt  mit  Sicherheit  das  mütterliche  vom 
kindlichen  Blute  unterscheiden. 

Dieser  (von  uns  in  weit  mehr  als  hundert 
Fällen  mit  konstanter  Regelmäßigkeit  erhobene 
Befund  ist  eine  feststehende  Tatsache. 

Es  war  nun  interessant,  zu  erforschen,  ob  die  eben 
gemauiten  Eigenschaften  auch  am  eingetrockneten  Blute 
nachzuweisen  sind  oder  nicht.  Wir  ließen  zu  diesem  Behufe 
sowohl  mütterliches  als  auch  kindliches  Blut  auf  Leinwand, 
Glas  und  Papier  eintrocknen,  untersuchten  es  in  verschie¬ 
denen  Zeitabständen  und  konnten  nun  konstatieren,  daß 
die  Differenzen  zwischen  mütterlichem  und  kindlichem 
Blute  auch  in  eingetrocknetem  Zustande  deutlich  in  Er¬ 
scheinung  treten.  W7ir  schnitten  z.  B.  aus  Leinen,  das  mit 
Blut  getränkt  war,  einen  Quadratzentimeter  heraus  und 
konnten  nach  (Extraktion  mit  Alkohol  auf  das  deutlichste 
unterscheiden,  welche  Blutart  vorliegt.  Aber  auch’  aut 
fester  Unterlage  eingetrocknetes  Blut  ließ  nach  mehreren 
Wochen  durch  diese  Untersuchungsmethoden  mit  Sicherheit 
mütterliches  vom  kindlichen  Blute  differenzieren. 

Die  Möglichkeit  einer  solchen  Differentialdiagnose  aus 
Blutflecken,  sowie  am  eingetrockneten  Blute  demonstriert 
wohl  in  sehr  naheliegender  Weise,  daß  diese  Reaktion  auch 
eine  forensische  Bedeutung  besitzt.  Wir  wollen  uns  gerne 
der  Aufgabe  unterziehen,  die  Methode  unter  Verhältnissen 
noch  weiterhin  zu  prüfen,  die  für  die  speziellen  Zwecke 
der  gerichtlichen  Medizin  praktisch  in  Frage  kommen. 
Namentlich  ist,  wie  Herr  Prof  Kol  is  ko  uns  mitzuteilen  die 
besondere  Güte  (hatte,  die  Frage  zu  entscheiden,  ob  das 
auf  verschiedene  Unterlagen  eingetrocknete  Blut  auch  noch 
nach  mehreren  Monaten  die  Reaktion  gibt. 

Die  geschilderte  Differenz  zwischen  mütterlichem  und 
kindlichem  Blute  war  nun  ein  Problem,  dessen  Lösung 
als  ein  erstrebenswertes  Ziel  erschien.  Wir  stellten  zunächst 
die  Frage,  ob  diese  Erscheinung  etwa  mit  dem  verschiedenen 
Entwicklungsstadium  des  mütterlichen  und  kindlichen  Orga- 
n  i  smus  zusamm einhängt. . 

Zahlreiche  einschlägige  Untersuchungen  des  Blutes 
von  Menschen  in  den  verschiedensten  Altersepochen  mit 
Ausnahme  der  ersten  Lebensjahre  lehrten  uns  vor  allem, 


'  Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


413 


aß  die  genannten  Differenzen  als  extreme  Abweichungen 
nzusehen  sind,  im  Hinblick  auf  die  Verhältnisse  beim  ge¬ 
linden  erwachsenen  Menschen,  bzw.  bei  der  Frau  im 
i  ch  t  gravi  den  Z  u  s  ta,nde . 

Wir  wollen  uns  jedoch  hier  mit  den  Ursachen  der  ab- 
eichenden  Blutheschaffenheit  des  Neugeborenen  nicht 
eschäftigen,  denn  die  einzigartigen  Firnähr  ungsvgrhältnisse, 
ater  denen  der  fötale  Organismus  sich  entwickelt  und  die 
um  großen  Teile  noch  unbekannten  inneren  Funktionen 
äiner  Organe  wären  allzu  problematische  Grundlagen  für 
waige  Erklärungsversuche.  Wir  beschränken  uns  hei 
iesem  Gegenstände  bloß  darauf,  die  Tatsache  zu  regi- 
ri eren,  daß  —  wie  beim  •  reifen  Neugeborenen  —  in 
öllig  gleicher  Weise  auch  das  Blut  von  Föten  aus  verschie- 
enen  Stadien  der  Schwangerschaft  reagiert. 

Was  aber  die  geschilderten  Verhältnisse  der  Blut- 
!  eschaffenheit  bei  eben  entbundenen  Frauen  betrifft,  sind 
ir  sehr  wohl  in  der  Lage,  anzunehmen,  daß  die  hei  der 
utter  erhobenen  außerordentlichen  Befunde  mit  der 
chwangerschaft  in  ursächlichem  Zusammenhänge  stehen. 

Zahlreiche  Prüfungen  des  Blutes  bei  Graviden  in  den 
erscliiedenen  Stadien  der  Schwangerschaft  ergaben  näm- 
ch,  daß  die  bei  frisch  Entbundenen  erhobene  Reaktion 
l  gleicher  Intensität  auch  bei  Gebärenden  und  Hochgraviden 
achzuweisen  ist,  in  den  jüngeren  Stadien  der  Schwanger¬ 
haft  aber  allmählich  u.  zw.  im  allgemeinen  entsprechend 
m  Stadium  der  Schwangerschaft  abnimmt  und  um  das 
ade  des  dritten  Lunarmonates  überaus  niedrige  Werte 
reicht. 

Bei  dieser  Sachlage  war  die  nächste,  praktisch  über- 
is  wichtige  Frage,  ob  der  geschilderten  Blutprüfung  etwa 
?r  Wert  einer  spezifischen  Schwangerschaftsreaktion  bei- 
unessen  sei. 

Um  dies  zu  entscheiden,  verglichen  wir  das  Blut  von 
raviden  aus  den  einzelnen  Monaten  der  Schwangerschaft 
it  dem  Blute  von  nichtgraviden  und  männlichen  Jndivi- 
Gen.  Das  Blut  der  männlichen  Individuen  stammt  aus  der 
linik  für  Syphilidologie  und  Dermatologie  und  wir  sind 
efür  Herrn  Prof.  Finger  zu  großem  Danke  verpflichtet. 

Das  Resultat  solcher  ebenfalls  sehr  zahlreicher  Unter- 
ichungen  bestand  in  der  wichtigen  Feststellung,  daß.  die 
eaktion  bei  Schwangeren  im  Vergleiche  mit  Männern  und 
chtgraviden  Frauen  stärker  ausfällt  und  zwar  um  so. 
ärker,  je  vorgeschrittener  die  Schwangerschaft  ist,  daß 
so  in  der  Gravidität  eine  bis  zum  Schwangerschaftsende 
wohnlich  progrediente  Veränderung  des  Blutes  vor  sich 
fit.  Dabei  ist  hervorzuheben,  daß  sich  diese  Untersuchungs- 
sultate  ausschließlich  auf  die  normale,  ungestörte  Gra- 
dität  beziehen. 

Wir  müssen  daher  den  Schluß  ziehen,  dalf  die  phy- 
olo gische  [Schwangerschaft  es  ist,  welche  zu 
esen  typischen  Blutveränderungen  die  Veranlassung  gibt. 

Wie  sich  aber  die  Reaktion  bei  gestörter  Gravidität, 
'ziehungsweise  unter  verschiedenen  pathologischen  Zu- 
änden  verhält,  soll  heute  nicht  erörtert  werden  und  bleibt 
uer  speziellen  Mitteilung  Vorbehalten. 

Eine  Sonderbesprechung  verdienen  nur  die  Verhält- 
sse  in  den  ersten  Monaten  der  Schwangerschaft,  die  wir 
nem  sehr  eingehenden  Studium  unterzogen.  Es  muß  näm- 
h  ausdrücklich  betont  werden,  daß  die  Reaktion  etwa 
s  zum  Ende  des  dritten  Lunarmonates  gegenüber  Nicht- 
aviden  in  ihrer  Intensität  etwas  herabgesetzt  ist. 

■  Eine  übersichtliche  Darstellung  der  angestellten 
eaktionen  und  der  bisher  mitgeteilten  Untersuchungsresul- 
te  ergibt  somit,  daß  an  den  alkoholischen  Blutextrakten 
vei  Erscheinungen  festgestellt  wurden: 

1.  Trübung  durch  Wasser  oder  die  genau n- 
■n  Säuren; 

2.  Trübung  durch  alkoholische  Platinchlo- 

d  1  ö  s  u  n  g. 

Diese  Reaktionen  konkurrieren  miteinander  in  nnge- 
ein  feiner  Weise  und  das  kommt  in  der  Menge  des  Reagens 
ini  Ausdruck.  Je  leichter  ein  Extrakt  durch  Wasser  oder  j 


Säure  zu  trüben  ist,  desto  schwerer  trübt  er  sich  mit  alko¬ 
holischer  Platinchloridlösung  und  umgekehrt. 

Betrachten  wir  nunmehr  die  Untersuchungsresultate 
iu  den  von  uns  aufgestellten  einzelnen  Gruppen,  so  finden 
wir  folgendes : 

Der  alkoholische  Blutextrakt  des  Neugeborenen  gibt 
die  allerschwächste  Wasser-  und  Säuretrübung,  hingegen 
die  stärkste  Trübung  mit  alkoholischer  Platinchloridlösung. 
Hiedurch  läßt  sich  dieser  Extrakt  von  allen  anderen  Gruppen 
unterscheiden. 

Die  Extrakte  aller  anderen  Gruppen  hingegen  zeigen 
ein  konträres  Verhalten ;  sie  trüben  sich  nämlich  mehr 
oder  weniger  mit  Wasser  und  Säure  und  dementsprechend 
gar  nicht  oder  schwach  mit  alkoholischer  Platinchlorid¬ 
lösung.  Unter  ihnen  bilden  die  frisch  Entbundenen,  Ge- 
bärenden  und  Hochgraviden  die  extremste  und  überaus 
hervorstechende  Gruppe ;  bei  Graviden  vom  Ende  des  dritten 
Lunarmonates  an  und  bei  Graviden  in  den  mittleren  Mona¬ 
ten  der  Schwangerschaft  ist  die  Reaktion  wohl  schwächer 
als  bei  Hochgraviden,  aber  immer  noch  erhöht  gegen  die 
Gruppe  nichtgravider  Frauen  und  erwachsener  Menschen 
im  allgemeinen,  welch  letztere  somit  den  Normalwert  reprä¬ 
sentieren. 

Endlich  gibt  die  Gruppe  der  Graviden  in  den  ersten 
drei  Lunarmonaten  im  Vergleich  zu  Nichtgraviden  und 
Erwachsenen  überhaupt  die  schwächste  Reaktion.  Sie  ist 
aber  immerhin  noch  bedeutend  stärker  als  die  Reaktion  beim 
Neugeborenen.  Andererseits  kann  man  aber  aus  dieser 
Herabsetzung  auch  nicht,  Frauen  in  den  ersten  Monaten  der 
Schwangerschaft  von  Nichtgraviden  oder  Männern  mit 
Sicherheit  unterscheiden. 

Wenn  wir  somit  diese  Reaktion  von  dem  Standpunkte 
aus  prüfen,  oh  ihr  der  Wert  einer  diagnostischen  Reaktion 
zukommt,  so  müssen  wir  sagen,  daß  dies  bis  zum  Ende 
des  dritten  Lunarmonates  nicht  der  Fall  sein  kann.  Jedoch 
vom  Ende  des  dritten  Lunarmonates  an  vermag  man  sie 
in  fraglichen  Fällen  immerhin  als  differential-diagnostisches 
Moment  heranziehen. 

Bei  der  Prüfung  der  Frage,  oh  diese  Reaktion  eine 
diagnostische  Bedeutung  für  die  Schwangerschaft  besitze, 
fanden  wir,  daß  auch  die  Nichtgraviden  untereinander  Dif¬ 
ferenzen,  wenn  auch  geringeren  Grades,  aufwiesen.  Durch 
Berücksichtigung  der  anamnestischen  Angaben  kamen  wir 
zu  der  Vermutung,  daß  die  Menstruation  mit  diesen 
Differenzen  bei  Nichtgraviden  im  Zusammenhang  stehen 
könnte.  So  ergab  sich  nunmehr  die  Notwendigkeit,  diese 
interessante  Frage,  welche  für  die  Erklärung  der  Reaktions¬ 
schwankungen  von  größter  Bedeutung  sein  mochte,  auf 
ihre  Wahrheit  zu  prüfen. 

Zu  diesem  Behufe  unterzogen  wir  eine  Reihe  von 
gesunden,  geschlechtsreifen,  zum  Teil  virginellen  Individuen 
einer  periodischen  Blutuntersuchung  in  Abständen  von 
einer  Woche.  Diese  Untersuchungen  ergaben  nun  tatsäch¬ 
lich  die  Erklärung  für  jene  geringen  Differenzen,  welche 
wir  zwischen  Nichtgraviden  fanden,  denn  es  zeigte  sich, 
daß  die  Intensität  der  Reaktion  für  Wasser  und  Säure  zur 
Zeit  der  Menstruation  herabgesetzt  ist  und  daß  somit  Indi¬ 
vidualität,  (Ernährungszustand  und  Alter  nur  von  unter¬ 
geordneter  Bedeutung  sind.  So  wie  die  Menstruation  perio¬ 
disch  wiederkehrt,  so  kann  man  auch  parallel  zu  ihr  einen 
zyklischen  Ablauf  der  Reaktionsschwankungen  konstatieren. 
Dieser  zyklische  Ablauf  besteht,  wie  eben  erwähnt,  in  einer 
Abschwächung  der  Reaktion  um  die  Zeit  der  Periode  herum 
und  in  einer  Verstärkung  im  Menstruationsintervalle.  Es 
handelt  sich  hiebei  jedoch  nur  um  geringe  Schwankungen, 
die  am  besten  festzustellen  sind,  wenn  die  Untersuchungen 
an  ein  und  derselben  und  zwar  gesunden  Person,  in  regel¬ 
mäßigen  Abständen  gemacht  werden.  Diese  Resultate 
stimmen  sehr  gut  überein  mit  den  außerordentlich  schönen 
Untersuchungen  von  Hitschmann  und  Adler. 

Wir  haben  Ihnen  bei  einzelnen  Menschengruppen  und 
unter  ganz  bestimmten  Verhältnissen  Reaktionen  des  Blutes, 


414 


WIE« lfi K  KLINISCHE  W0CHENSC11U1FT.  1911. 


Nr.  12 


sowie  seiner  alkoholischen  Extrakte  gezeigt,  die  sicherlich 
den  iebhalten  , Wunsch  nach  weiterer  Erklärung  erwecken. 

Wir  stellen  die  Frage:  Welche  Substanzen  wer¬ 
den  durch  die  Reagentien  ausgefällt  und  was 
ist  die  Ursache  der  so  überaus  auffallenden  Dif¬ 
ferenzen  zwischen  den  iBlutextrakten? 

Gestatten  Sie  abermals  hervorzuheben,  daß  es  sich 
hier  um  Extrakte  handelt,  die  mit  95°/oigem  Alkohol  bei 
Zimmertemperatur  hergestellt  wurden.  Wie  bekannt,  gehen 
bei  einem  solchen  Verfahren  gewisse  feltartige  Substanzen 
in  Lösung  über.  Wohl  wird  auch  eine  geringe  Menge  albu- 
minoider  Substanz,  vielleicht  an  Lipoide  gebunden,  gelöst. 
Aber  Eiweiß  ist  es  nicht,  das  unsere  Reaktion  hervorruft, 
denn  die  Alkoholextrakte  geben  die  Biuretreaktion  nicht. 
Dafür,  daß  es  sich  hiebei  nur  um  fettartige  Substanzen 
handeln  könne,  haben  wir  einen  d  irekten  Beweis  erbracht. 

Wir  sind  nämlich  auch  wiederholt  so  vorgegangen,  daß 
wir  den  Alkoholextrakt  abdampften,  den  Rückstand  in 
Aether  Aufnahmen,  hierauf  den  Aether  verjagten,  diesen 
Rückstand  in  95°/oigem  Alkohol  lösten  und  nun  der  Unter¬ 
suchung  zuiührten.  Auch  die  ,auf  solche  Weise  hergestellten 
Extrakte  ergaben  dieselben  Resultate. 

Versetzten  wir  also  unsere  Extrakte  mit  den  schon 
mehrfach  genannten  Reagentien  und  entstanden  hiebei  die 
geschilderten  Fällungen,  so  mußten  in  diesen  Extrakten 
wohl  fettartige  Substanzen  enthalten  sein,  denn  von  den 
benützten  Reagentien  ist  es  bekannt,  daß  sie  mit  Lipoiden 
in  alkoholischer  Lösung  Fällung  ergeben,  in  Alkohol  selbst 
aber  löslich  sind.  Dabei  ergab  sich  ferner  die  Erfahrung, 
daß  diese  Methodik,  bei  welcher  —  wie  schon  mehrfach 
erwähnt  - —  bloß  1  cm3  Blut  zur  Verwendung  kommt,  in 
ausgezeichneter  Weise  geeignet  ist,  geringste  Differenzen 
des  Lipoidgehaltes  in  Form  von  Trübungen  in  Erscheinung 
treten  zu  lassen. 

Von  der  Richtigkeit  dieser  Beobachtung  kann  man 
sich  sofort  überzeugen,  wenn  man  alkoholische  Fett-  und 
Lipoidlösungen  von  bekannter  Zusammensetzung  in  ver¬ 
schiedenen  Konzentrationen  mit  den  mehrfach  genannten 
Reagentien  versetzt.  Selbst  schon  20  Tropfen  solcher  ver¬ 
schieden  konzentrierter  Fett-  und  Lipoidlösungen  lassen 
bei  Zusatz  von  wässerigem  Alkohol  oder  einem  der  anderen 
benützten  Reagentien  den  differenten  Fett-  oder  Lipoid¬ 
gehalt  sichtbar  machen,  indem  die  Trübung  um  so  früher 
erscheint,  je  konzentrierter  die  Lösung  war. 

Auch  in  den  alkoholischen  Blutextrakten  ist  man  in 
der  Lage,  schon  mit  20  Tropfen  differente  Trübungen  zu 
erzeugen;  der  Zweckmäßigkeit  halber  nahmen  wir  aber 
wie  schon  erwähnt  —  (meist  ein  bis  fünf  Kubikzentimeter 
des  Extraktes,  weil  wir  auf  solche  Weise  die  allerfeinsten 
graduellen  Differenzen  zur  Anschauung  bringen  konnten. 

In  Analogie  mit  dem  vorhin  angeführten  Kontrollver- 
suche  halten  wir  uns  zu  der  Schlußfolgerung  berechtigt, 
daß  auch  in  den  aflkoholischen  Blutextrakten  verschiedene 
Mengen  von  fettartigen  Substanzen  enthalten  sind  und  nach¬ 
gewiesen  wurden.  Bei  der  stets  gleichartigen  Herstellung 
der  Blutextrakte  ist  wohl  auch  der  weitere  Schluß  gestattet, 
daß  die  nachgewiesenen  Differenzen  der  Extrakte  auf  den 
quantitativ  verschiedenen  Gehalt  an  solchen  Substanzen 
des  Blutes  zurückzuführen  sind. 

Wenn  wir  uns  dann  die  Frage  vorlegen,  welche  Gruppe 
von  fettartigen  Substanzen  es  sein  könnte,  die  in  den 
Alkoholextrakten  enthalten  ist,  so  kommen  wohl  in  erster 
Linie  in  (Betracht  die  physiologischerweise  im  Blut  enthal¬ 
tenen  Körper,  also  die  Verbindungen  der  Palmitin-,  Stearin- 
und  Oleinsäure  u.  zw.  vermutlich  in  Form  von  Choleste¬ 
rinestern.  Von  diesen  Substanzen  vermuten  wir,  daß  sie  zum 
großen  Teile  es  sind,  welche  in  unseren  Reaktionen  mit  ver¬ 
dünntem  Alkohol  und  Idee  angeführten  Säuren  die  Trübungen 
ergeben.  Dafür,  daß  etwa  freie  Fettsäuren  in  größeren  oder 
in  auffallend  differenten  Mengen  in  den  Alkoholextrakten 
enthalten  wären,  konnten  wir  auch  durch  azidometrische 
Prüfungen  keinen  sicheren  Beweis  erbringen. 


Da  bei  Extraktion  mit  kaltem  Alkohol  bekannterweise 
auch  andere  Lipoide  und  besonders  Phosphatide  in  Lösung 
übergeführt  werden  können,  so  darf  man  vermuten,  daß 
auch  in  diesen  Extrakten  noch  andere  lipoidartige  Körper 
enthalten  sein  dürften. 

Hiefür  könnte  als  Wahrscheinlichkeitsbeweis  angeführt 
werden,  daß  mit  alkoholischer  Platinchloridlösung  eine 
Fällung  erzielt  wurde,  welche  auf  einen  Gehalt  an  Phos- 
phatiden  oder  organischen  Basen  als  Zersetzungsprodukte 
der  letzteren  bezogen  werden  könnte.  Ueber  die  relativen 
Mengenverhältnisse  dieser  fraglichen  Substanzen  ist  es 
schwer,  ein  richtiges  Urteil  zu  gewinnen,  weil  sie  —  mit 
Ausnahme  des  Neugeborenen  —  besonders  in  den  Extrakten 
der  Graviden,  an  Cholesterinester  gebunden  zu  sein 
scheinen  und  vermutlich  ist  es  diese  Bindung,  welche  die 
Fällung  der  Phosphatide  verhindert. 

Für  die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  spricht  auch 
der  Umstand,  daß  in  den  Extrakten  der  Hochgraviden  nach 
längerem  Stehenbleiben  eigenartige  Kristalle  ausfallen,  die 
sich  auf  Zusatz  von  konzentrierter  Schwefelsäure  gelb,  re¬ 
spektive  rot  färben.  Nach  Abfiltrieren  dieser  Kristalle  gibt 
nun  der  Extrakt  der  Hochgraviden  auch  mit  alkoholischer 
Platinchloridlösung  auf  das  Deutlichste  eine  Trübung.  Aber 
ein  exakter  chemischer  Nachweis  zur  Identifizierung  der 
Lipoide  aus  1  cm3  Blut,  den  wir  verwendeten,  ist  wohl 
nach  dem  heutigen  Stande  der  chemischen  Prüfungsmetho- 
den  nicht  zu  führen.  Um  aber  dennoch  die  in  den  Extrakten 
enthaltenen  Lipoide  zu  klassifizieren,  mußten  große  Mengen 
Blutes  von  Gebärenden  gesammelt  werden.  Ueber  die  im 
Institute  des  Herrn  Prof.  Siegln.  Fraenkel  ausgeführten 
Untersuchungen  soll  noch  eingehend  berichtet  werden. 

Positives  kann  man  wohl  aussagen  in  bezug  auf  die 
chemische  Natur  desjenigen  Körpers,  der  beim  Versetzen  des 
Blutes  mit  je  10  cm3 'Schwefelsäure  und  Chloroform  in  einer 
Farbenreaktion  in  Erscheinung  tritt.  Im  Prinzip  ist  diese 
Reaktion  die  wohlbekannte  Probe  Salkowskis  auf  Chole¬ 
sterin.  Dabei  färbt  sich  das  Chloroform  blutrot,  dann  kirsch¬ 
rot  und  purpurfarben;  gießt  man  die  Lösung  in  eine  Schale 
aus,  so  färbt  sie  sich  bald  blau,  grün,  endlich  gelb.  Um 
diese  bekannte  Salko  wskische  Reaktion  unseren  Zwecken 
zugänglich  zu  machen,  stellten  wir  Vorversuche  darüber 
an,  ob  man  aus  der  Verschiedenheit  der  Farbenreaktion 
einen  Rückschluß  auf  die  Mengenverhältnisse  von  Chole¬ 
sterin  ziehen  könne.  Diese  Vorversuche  lehrten  nun,  daß 
Cholesterin  in  verschiedener  Konzentration  in  Chloroform 
gelöst,  auf  Zusatz  von  Schwefelsäure  eine  den  Mengen¬ 
verhältnissen  entsprechende,  differente  Farbenreaktion  er¬ 
gibt.  Bei  geringen  Mengen  färbt  sich  das  Chloroform  licht- 
gelb,  bei  größeren  Mengen  dunkelgelb  und  bei  noch  größeren 
Mengen  rot. 

Wir  konnten  nunmehr  erwarten,  daß,  wenn  der 
Cholesteringehalt  des  Blutes  bei  verschiedenen  Indivi¬ 
duen  different  war,  dies  sich  in  verschiedenen  Farben¬ 
nuancen  erweisen  würde.  Das  war  auch  tatsächlich 
der  Fall.  Wie  schon  eingangs  erwähnt,  nahmen  wir 
1  cm3  defi  brilliertes  Blut,  versetzten  es  mit  je  10  cm’ 
Schwefelsäure  und  Chloroform,  schüttelten  bis  zur  völligen 
Lösung  des  Blutes  in  der  Schwefelsäure  vorsichtig  durch 
und  sahen  schon  nach  kurzer  Zeit  Rotfärbung  des  Chloro¬ 
forms  in  verschiedener  Sättigung  oder  das  Chloroform  farb¬ 
los  bleiben. 

Hieraus  konnte  wohl  —  bei  völlig  gleichartiger  An¬ 
stellung  der  Proben  mit  den  zu  vergleichenden  Blutsorten 
— -  ein  Rückschluß  gezogen  werden,  daß  die  Farbenreaktion 
durch  den  Cholesteringehalt  des  Blutes  bedingt  und  die 
quantitativen  Gehalt  an  Cholesterin  oder  Cholesterinverbin¬ 
dungen  abhängig  sei. 

Wenn  wir  nun  die  Resultate  solcher  Cholesterinreak- 
tionen  des  Blutes  überblicken,  so  kann  man  kurz  sagen, 
daß  sie  mit  den  Ergebnissen  der  Wasser-  und  Säurereaktion 
der  Alkoholextrakte  übereinstimmen,  ja  daß  sie  im  all¬ 
gemeinen  mit  diesen  Reaktionen  parallel  gehen.  Man  kann 
daher  als  wahrscheinlich  annehmen,  daß  die  in  den  Alko-; 


Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE 


holextrakten  nachgewiesenen  Chölesterinester  es  sind, 
welche  im  wesentlichen  in  unseren  Cholesterinreaktionen 
in  Erscheinung  treten.  (Siehe  Notiz  von  Fraenkel  in 
dieser  Nummer.)  Auch  hier  ergeben  sich  die  größten  Diffe¬ 
renzen  zwischen  Mutter  und  Kind,  dahingehend,  daß  das 
Blut  der  frisch  Entbundenen  eine  positive,  gewöhnlich 
starke  Cholesterinreaktion  gibt,  während  die  Chloro¬ 
formschicht  über  dem  Blute  eines  neugeborenen  Kindes 
sozusagen  farblos  bleibt.  So  wie  bei  der  Lipoid¬ 
prüfung  der  Alkoholextrakte  beginnt  auch  der  eine 
Anreicherung  anzeigende  Ausfall  der  Cholesterinreaktion 
ungefähr  um  das  Ende  des  dritten  Lunarmonats,  ver¬ 
stärkt  sich  im  allgemeinen  mit  der  Dauer  der  Gravidität 
und  erreicht  das  Maximum  am  Ende  der  Schwangerschaft, 
beziehungsweise  zur  Zeit  der  Geburt.  So  wie  bei  den 
Alkoholextrakten  ergibt  sich  auch  für  die  Cholesterinreak- 
lion  des  Blutes  eine  Herabsetzung  im  Anfänge  der  Gra¬ 
vidität  und  zur  Zeit  der  Menstruation. 

Wir  müssen  aber  betonen,  daß  es  zu  vergleichenden 
Untersuchungen  unbedingt  erforderlich  ist,  die  Proben  voll¬ 
kommen  gleichmäßig  anzustellen.  Wir  würden  uns  auch 
nicht  getrauen,  aus  dieser  ungemein  heiklen  Prüfung  auf 
Cholesterin  allein  einen  bindenden  Schluß  zu  ziehen,  wenn 
uns  dazu  nicht  die  vorhin  erwähnte  Erscheinung  ermu¬ 
tigen  würde,  nämlich,  daß  die  Prüfung  der  Alkoholextrakte 
völlig  analog  der  Cholesterinreaktion  ausfällt  und  ferner, 
daß  die  Prüfung  der  Alkoholextrakte  mit  den  verschie¬ 
densten  Reagentien  stets  das  nämliche  Resultat  ergeben 
haben. 

Aus  dem  Ihnen  soeben  erstatteten  Berichte  ersehen 
Sie,  meine  Herren,  daß  es  sich  i  n  der  normal en  Schwan¬ 
gerschaft  des  menschlichen  Weibes  um  eine  An¬ 
reicherung  des  Blutes  mit  fettarfligen  Substan¬ 
zenhandelt,  um  einen  Zustand  also,  den  man  als 
Lipoidämie,  besonders  als  Ch  o lesterinester- 
ämie  zu  bezeichnen  hat,  während  das  Blut  des 
neugeborenen  Kindes  eine  außerordentliche  Ar¬ 
mut  an  C h o  1  e s te r i n  v e r b i n d  u  n  g  e n  auf  weist. 

Im  Rahmen  dieses  Vortrages  ist  es  natürlich  nicht 
möglich,  auf  den  weitläufigen  Gegenstand  der  Lipämie  im 
allgemeinen  meritorisch  einzugehen.  Kurz  sei  bloß  darauf 
hingewiesen,  daß  nach  reichlicher,  besonders  fettreicher  Nah¬ 
rungsaufnahme  vorübergehend  Lipämie  konstatiert  wurde. 
Aus  diesem  Grunde  nahmen  wir  vorsichtshalber  zu  unseren 
Untersuchungen  das  Blut  stets  vor  dem  Frühstück,  also  im 
nüchternen  Zustand.  Zu  erwähnen  ist  ferner,  daß  Lipämie 
wiederholt  festgestellt  wurde  bei  Diabetes,  Arteriosklerose, 
vorübergehend  bei  Alkoholisten,  ferner  bei  Ahwsuchstieren 
im  Hunger-  und  Mästungszustande.  In  früherer  Zeit  sprach 
man  überhaupt  häufiger  von  Lipämie,  allerdings  nur  auf 
ßrund  eines  milchartigen  Aussehens  des  Blutes  oder  des 
Serums  bei  Gelegenheit  von  Aderlässen.  Und  schon  vor 
Morgagni  war  es  bekannt,  daß  eine  milchige  Trübung 
les  Serums  namentlich  bei  schwangeren  Frauen  vorzu¬ 
kommen  pflege.  He ws on  bezog  dies  auf  die  Resorption 
von  Fett,  Puzos  glaubte,  es  sei  dem  Blute  Milch  beige¬ 
mischt,  das  zur  Ernährung  des  Fötus  nach  dem  Uterus  fließe. 
Vach  John  Hunter1)  sah  molkiges  Serum  am  häufigsten 
üei  Schwangeren,  deren  Körper  durch  die  Gravidität  zu  einer 
solchen  Veränderung  disponiert  sei  u.  zw.  aus  dem  Grunde, 
weil  der  Chylus  nicht  vollkommen  assimiliert  werde.  Die 
ersten  chemischen  Untersuchungen  des  Blutes  Schwangerer 
i'ühren  von  A.  Becquerel  und  A.  Rodier;2)  diese  Au- 
'oren  fanden  in  neun  Fällen  von  vorgeschrittener  Schwanger- 
schaf t  unter  anderem  Vermehrung  des  phosphorhaltigen 
Fettes  und  Beibehaltung  oder  Verminderung  der  normalen 
Quantität  des  Cholesterins.  Von  Interesse  ist  ferner,  daß 
Virchow3)  in  dem  milchigen  Serum  aus  den  letzten 

’)  Versuche  über  das  Blut,  die  Entzündungrimd  die  Schußwunden, 
Herausgegeben  von  C.  B.  G.  Hebenstreit,  Leipzig  1797,  Bd.  1,  S.  109. 

5)  Untersuchungen  über  die  Zusammensetzung  des  Blutes.  Er» 

angen  1845,  S.  29. 

3)  Archiv  für  patholog.  Anatomie,  Bd.  1,  S.  152. 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Schwangerschaftsmonaten  ein  durch  Schütteln  mit  Aether 
leicht  darstellbares  Fett  erkannt  hat.  Nasse1)  untersuchte 
den  Fettgehalt  des  Blutes  an  mehreren  trächtigen  Hün¬ 
dinnen  und  fand  ihn  im  Vergleich  mit  dem  Blute  außer¬ 
halb  der  Trächtigkeit  vermehrt.  Zu  denselben  Resultaten 
gelangte  neuerdings  auch  A.  Capaldi5)  in  bezug  auf  Hün¬ 
dinnen  und  Meerschweinchen.  Für  die  letztere  Tierart  gibt 
dieser  Autor  auch  an,  daß  der  Fettgehalt  des  Fötus  zur 
Zeit  des  Wurfes  dem  der  Mutter  gleichkomme. 

Diese  Mitteilungen  erklären  wohl  zur  Genüge,  warum 
man  in  früherer  Zeit  allgemein  an  die  Lipämie  der  Schwan¬ 
geren  glaubte;  in  Ineuerer  Zeit  aber  geriet  diese  Vorstellung 
allmählich  in  Vergessenheit  und  wohl  mit  Recht  aus  dem 
Grunde,  weil  sie  allzuwenig  exakt  begründet  war  und  nur 
wenige  Autoren,  wie  zum  Beispiel  Olshausen,  Fischer, 
Bar,  Hof  bau  er  erwähnen  die  Lipämie  der  Schwangeren 
als  etwas  Bekanntes.  Ein  wirklicher  Nachweis  der  Lipämie 
überhaupt  wurde  auch  in  neuerer  Zeit  nur  recht  selten  er¬ 
bracht.  Und  dieserUmstand  hängt  wohl  damit  zusammen,  daß 
die  Methoden  zur  Feststellung  dieser  Zustände  bisher  recht 
umständliche  waren,  was  wohl  am  besten  daraus  erhellt,  daß 
dazu  50  bis  200  c'm3  Blut  benötigt  wurden.  Wir  wollen 
es  nun  dahingestellt  sein  lassen,  ob  das,  was  ältere  und 
neuere  Autoren  schlechtweg  als  Lipämie  bezeichneten,  in 
direkte  Analogie  zu  setzen  sei  mit  den  von  uns  konsta¬ 
tierten  Veränderungen  des  Blutes  Gravider.  Zweifellos  ist 
die  von  uns  nachgewiesene  Lipoidämie  eine  konstante  Be¬ 
gleiterscheinung  der  physiologischen  Gravidität.  Und  bei 
Anwendung  unserer  Methoden  ist  Ihnen  nunmehr  ein  Ver¬ 
fahren  an  die  Hand  gegeben,  mit  welchem  Sie  klinische 
Untersuchungen  über  den  Lipoidgehalt  des  Blutes  in  ein¬ 
fachster  Weise  anstellen  können. 

Die  Lipoidämie  als  konstantes  Begleitsymptom  der  Gra¬ 
vidität  und  der  Umstand,  daß  um  die  Zeit  der  Menstruation 
herum  der  Lipoidgehalt  des  Blutes  herabgesetzt  ist,  ließ 
in  uns  die  Frage  aufkommen,  ob  denn  die  geschilderten 
Verhältnisse  des  Blutes  nicht  etwa  zur  Funktion  der 
Keimdrüse  in  irgendeiner  Beziehung  stünden.  Um  diese 
Frage  zu  entscheiden,  zogen  wir  zuerst  Frauen  zur  Unter¬ 
suchung  heran,  bei  denen  die  Menstruation  bereits  dauernd 
ansgeblieben  war  und  daher  angenommen  werden  konnte, 
daß  auch  die  Follikeltätigkeit  des  Eierstockes  erloschen  sei. 
Die  Prüfungsresultate  dieser  Gruppe  von  klimakterischen, 
beziehungsweise  postklimakterischen  Frauen,  ergab  eben¬ 
falls  starke  Anreicherung  des  Blutes  mit  fettartigen  Sub¬ 
stanzen. 

Die  in  diesen  Befunden  gelegene  Bestätigung  der  An¬ 
nahme,  daß  die  Lipoidämie  der  Graviden  mit  der  Funktion 
der  Keimdrüse  in  irgendeinem  Zusammenhang  stehen  könnte, 
führte  uns  nun  selbstverständlich  zur  Prüfung  von  Kastraten 
im  geschlechtsreifen  Alter.  Es  waren  dies  Frauen  ver¬ 
schiedenen  Lebensalters,  bei  denen  die  Eierstöcke  wegen 
verschiedener  Erkrankungen  des  Genitales  vollkommen  ex- 
stirpiert  werden  mußten.  Die  Blutuntersuchung  ergab  nun 
ebenfalls  wie  bei  den  Klimakterischen  das  höchst  inter¬ 
essante  Resultat  der  Anreicherung  für  fettartige  Substanzen. 
Dabei  ist  zu  bemerken,  daß  diese  Veränderung  meist  schon 
kurze  Zeit  nach  der  Operation  zu  konstatieren  ist  und  wie 
hervorgehoben  zu  werden  verdient,  im  Einzelfall  verschieden 
lang  anhält. 

Wenn  es  somit  richtig  war,  daß  diese  Beobachtungen 
an  operierten  und  klimakterischen  Frauen  mit  dem  Ausfall 
der  Eierstocksfunktion  in  ursächlichen  Zusammenhang  zu 
bringen  seien,  dann  mußte  es  uns  auch  unbedingt  gelingen, 
die  Lipoidämie  im  Tierexperiment  zu  erzeugen. 

Meine  Herren,  wir  kastrierten  eine  Reihe  von  virgi- 
nellen  Kaninchen  und  Hunden  und  konnten  konstatieren, 
daß  nach  verschieden  langer  Zeit,  bei  jugendlichen  Tieren 
aber  schon  nach  sieben  Tagen  Lipoidämie  differenten  Grades 
nachweisbar  war.  Das  Blut  erwies  sich  im  Vergleich  mit 


*)  Archivffiir  Gynäkologie,  Bd.  10. 
6)  ArchivoMie  Ost.  e  Gin.,  Bd.  11. 


416 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


dem  Verhalten,  vor  der  Operation  als  angereichert  mit  Chole¬ 
sterin  oder  Cholesterinverbindungen.  Dies  ergab  sich  auch 
im  Vergleich  mit  den  Kontrolltieren  vom  selben  Wurf  und 
selbem  Gewicht;  es  ist  bloß  hervorzuheben,  daß  bei  solchen 
vergleichenden  Untersuchungen  große  Vorsicht  am  Platze 
ist,  weil  auch  das  Kontrolltier  Schwankungen  unterworfen 
ist,  welche,  wie  beim  menschlichen  Weibe  mit  dem  Stadium 
der  Ovarialtatigkeit,  bzw.  der  Brunst  Zusammenhängen. 
Günstigere  Resultate  als  Kaninchen  ergaben  die  Unter¬ 
suchungen  an  Hunden.  Hervorzuheben  wäre  noch, 
daß  sich  die  Hündin  zur  Zeit  der  Brunst  so  verhält, 
wie  das  Weib  zur  Zeit  der  Menstruation.  In  den,  Tagen 
der  bereits  im  Gang  befindlichen  blutigen  Abscheidung  und 
unmittelbar  nach  Aufhören  dieser,  ist  nämlich  der  Lipoid¬ 
gehalt  ganz  bedeutend  herabgesetzt,  während  er  sonst  im 
Intervall  sehr  hoch  ist.  Dies  bezieht  sich  sowohl  auf  tdie 
Prüfung  der  Alkoholextrakte,  als  auch  auf  die  Cholesterin¬ 
reaktion.  Auch  während  der  Trächtigkeit  erwiesen  sich  Hün¬ 
dinnen  analog  der  graviden  Frau  als  lipoidämisch. 

Es  war  nunmehr  nur  noch  ein  Schritt  zu  machen, 
um  die  Beweiskette  der  Richtigkeit  unserer  \  orstellungen 
zu  schließen.  Wir  ließen  im  Röntgeninstitute  des  Herrn 
Priv.-Doz.  Holzknecht  mit  dessen  dankenswerter  Bewilli¬ 
gung  an  vier  virginellen  Kaninchen  die  Ovarien  dosiert  be¬ 
strahlen  und  schädigten  auf  diese,  später  durch  die  histo¬ 
logische  Untersuchung  bestätigte  Weise  in  hohem  Maße  den 
Follikelapparat  dieser  Tiere.  Schon  drei  Wochen  nach  der 
Bestrahlung  erwiesen  sich  auch  diese  Tiere  für  Cholesterin 
und  fettartige  Substanzen  des  Blutes  deutlich  angereichert. 

Wir  hatten  somit,  sowohl  durch  die  Kastration,  als  auch 
die  elektive  Zerstörung  des  Follikelapparates,  also  auf  experi¬ 
mentellem  Wege  die  Lipoidämie  erzeugt.  Wir  glauben 
daher,  den  exakten  Beweis  dafür  erbracht  zu 
haben,  daß  der  Wegfall  d;er  Ovarien,  bzw.  der 
Ausfall  der  Ovarialfuüktion,  endlich  im  beson¬ 
deren  der  Ausfall  der  Follikeltätigkeit  der  Ova¬ 
rien  zur  Lipoidämie  führt.  Wir  dürfen  daher 
annehmen,  daß  auch  im  Verlauf  der  physiologi¬ 
schen  Gravidität  des  menschlichen  Weibes  die 
Tätigk  eitdes  Follikelapparates6)  de,  rOvarienall- 
m  äh  lieh  zum  Stillstand  gelangt,  bzw.  in  irgend¬ 
einer  Weise  alter i er t  wird.7) 

Es  eröffnet  sich  eine  Perspektive  auf  verschiedene 
Erklärungsmöglichkeiten  für  das  Verständnis  dieser  Erschei¬ 
nungen.  Soviel  ist  wohl  auf  Grund  der  positiven  Beobach¬ 
tungen  gestattet,  zu  sagen,  daß  die  tätige  Keimdrüse  offen¬ 
bar  durch  ein  spezifisches  Hormon  das  Zustandekommen 
einer  Lipoidämie  verhindert.  Jedoch,  wie  man  sich  hie¬ 
bei  die  Hormonwirkung  vorzustellen  hat,  als  eine  direkte 
oder  indirekte,  das  mag  —  mangels  an  positiven  Beweisen 
—  dahingestellt  bleiben.  Ebenso  müssen  wir  unentschieden 
lassen,  wie  man  sich  das  Zustandekommen  der  Ausschaltung 
des  Ovariums,  bzw.  seines  Follikelapparates,  während  der 
Gravidität  zu  erklären  hat,  nämlich,  ob  diese  Ausschaltung 
auf  direktem  oder  indirektem  Wege  erfolgt  und  endlich,  ob 
diese  Aenderung  des  Stoffwechsels  die  einzige  Hormon¬ 
wirkung  der  weiblichen  Keimdrüse,  bzw.  ihres  Follikelappa¬ 
rates  darstellt.  Es  bleibt  natürlich  ebenso  eine  offene  Frage, 
ob  nicht  auch  andere  ßlutdrüsen  und  pathologische  Pro¬ 
zesse  den  Lipoidgehalt  des  Blutes  zu  beeinflussen  vermögen 
und  inwieweit  das  Ei  zu  den  Blutveränderungen  während 
der  Gravidität  beiträgt. 

Vielleicht  wirft  auf  diese  noch  unklaren  Verhältnisse 
einiges  Licht  die  Registrierung  folgender  Tatsachen: 

1.  Injektion  einer  Aufschwemmung  von  Corpus  luteum 
der  Kuh  (Parke,  Davis  &  Comp.)  in  isotonischer  Kochsalz¬ 
lösung  setzt  den  Gehalt  des  Blutes  an  fettartigen  Sub¬ 
stanzen  in  wenigen  Stunden  herab. 

2.  Adrenalininjektion  erhöht  bei  kastrierten  und  träch¬ 
tigen  Tieren  den  Gehalt  des  Blutes  an  solchen  Substanzen. 

B)  d.  h.  mit  Ausschluß  der  interstitiellen  Drüse. 

7)  Unsere  Untersuchungen  an  männlichen  Kastraten  sind  noch 
nicht  abgeschlossen. 


Bei  virginellen  geschlechtsreifen  Kaninchen  hingegen  konnten 
keine  einheitlichen  Wirkungen  erzielt  werden. 

3.  Dasselbe  Resultat  erhielten  wir  mit  Injektionen 
von  sauerem  Extrakte  des  drüsigen  Anteiles  der  Hypophyse 
(Parke,  Davis  &  Comp.). 

Aus  diesen  Untersuchungen  an  Versuchstieren  wollen 
wir  keine  weiteren  Schlußfolgerungen  über  den  Wirkungs¬ 
mechanismus  der  einzelnen  Hormone  während  der  Gra 
vidität  und  nach  der  Kastration  ziehen,  können  aber  nicht, 
umhin,  darauf  liinzuweisen,  daß  durch  die  Untersuchungen 
von  Erdheim  und  Stumme  eine  Hypophysenhypertrophm 
in  der  Gravidität  festgestellt  wurde  und  daß  G ui y esse, 
weiters  Stoerk  und  v.  Haber  er  u.  zw.  bei  Tieren,  Hyper¬ 
trophie  des  Interrenalsystems,  aber  auch  zugleich  eine  Zu 
nähme  der  chromaffinen  Zellen  während  der  Gravidität 
konstatiert  haben.  Analoge  Veränderungen  der  Hypophyse 
und  der  Nebenniere  wurden  auch  nach  Kastration  mehr 
fach  beschrieben. 

Wir  müssen  bei  dieser  Gelegenheit  der  sehr  wich¬ 
tigen  Untersuchung  Biedls  gedenken,  die  er  mit  Sic» 
mund  Fraenkel  über  die  Lipoidstoffe  der  Nebennieren 
des  Schweines  durchgeführt  hat.  Sie  fanden,  daß  die  Neben 
nieren  zu  den  lipoidreichsten  Organen  gehören,  indem  mein 
als  ein  Drittel  der  gesamten  Trockensubstanz  Lipoid  ist 
Die  Analyse  der  Lipoide  ergab,  daß  es  sich  hiebei  im 
wesentlichen  um  Cholesterinester  handle  u.  zw.  um  Chole 
sterinpalrnitat  und  weiters  um  Karnaubasäurecholesterin 
ester.  Mit  Rücksicht  auf  diesen  Befund  traten  sie  der  Fragi 
nahe,  ob  nicht  etwa,  die  Nebennieren  die  Quelle  der  Chole 
sterinester  im  Blute  seien.  Die  Untersuchung  des  Schweine 
blutes  ergab  aber,  daß  das  Cholesterinkarnäubat  in  nach 
weisbaren  Mengen  im  Blute  (nicht  vorhanden  war  und 
kommen  daher  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  in  den  'Nebenniere! 
produzierten  Substanzen,  nicht  als  zur  Abfuhr  ins  Blut  be 
stimmte  Sekretionsprodukte  betrachtet  werden  können.  Es 
wären  daher  diese  Untersuchungen  an  graviden  und 
kastrierten  Tieren  anzustellen. 

Wenn  wir  nunmehr  über  die  Lipoidämie,  wie  sie  wähl 
rend  der  physiologischen  Gravidität  in  Erscheinung  tritt 
ein  vollständiges  Bild  gewinnen  wollten,  war  es  notwendig 
festzustellen,  wie  lange  Zeit  dieser  Zustand  nach  der 
Geburt  anhält.  Und  da  ergaben  unsere  diesbezüglichen  Unter 
suchungen  die  bemerkenswerte  Tatsache,  daß  die  Lipoidämie 
schon  am  ersten  Tage  nach  der  Geburt  in  Abnahme  begriffet 
ist  und  unter  normalen  Verhältnissen  um  d(as  Ende  der  erste) 
Woche  des  Puerperiums  fast  völlig  verschwindet. 

Diese  Tatsache  steht  auch  im  Einklang  mit  der  ana 
logen  Erscheinung  bei  kastrierten  und  postklimakterische! 
Frauen,  denn  auch  hei  diesen  verschwindet  die  Lipoidämie 
nach  einer  individuell  verschieden  langen  Zeit,  was  offenbai 
auf  Regulierungsvorgänge  im  Organismus  zurückzuführei 
ist.  Dafür  spricht  wohl  schon  die  erwähnte  Hypertrophie 
der  Hypophyse  und  der  Nebennieren,  die  sich  nach  Ka¬ 
stration  in  analoger  Weise,  wie  während  der  Gravidität 
einstellt.  Auffallend  bleibt  nur,  daß  die  Regulierung  bei; 
kastrierten  Frauen  und  Tieren  in  kurzer  Zeit  erfolgen  kann 
während  sie  bei  Graviden  an  den  Termin  der  Geburt  ge 
bunden  ist.  Dieser  Umstand  weist  wohl  darauf  hin,  dal. 
im  Ei  ein  die  Regulierung  der  Lipoidämie  hemmendes  Prin 
zip  gelegen  sein  könnte. 

Ueber  den  kausalen  Zusammenhang  des  Verschwinden! 
der  Lipoidämie  mit  der  Laktation  soll  demnächst  berichtet 
werden. 

Die  von  Hof  bau  er  festgestellte  Tatsache,  daß  fett 
artige  Substanzen  in  ähnlicher  Weise,  wie  die  Wand  de! 
Dünndarms,  auch  die  Chorionzotten  zu  passieren  vermögen 
wirft  einiges  Licht  auf  die  Bedeutung  der  Lipoidspeiche 
rung  im  Blute  Gravider.  Auch  eine  Arbeit  Josef  Bondh 
über  histologischen  Fettnachweis  ist  von  Wichtigkeit  fiu 
diese  Frage. 

Weiters  ist  es  wichtig,  zu  erwähnen,  daß  Mehr 
geschwängerte,  deren  Kinder  bekanntlich  mit  der  za 
nehmenden  Zah  l  der  Schwa  ngerschaften  größer  und  schwere) 


417 


Nr.  12  WIENER  KLINISCHE 


werden,  regelmäßig  lauch  stärker  lipoidämisch  zu  sein, 
pflegen,  als  Erstgesehwängerle. 

In  welchem  Zusammenhänge  endlich  die  für  die  Gra¬ 
vidität  physiologische  Lipoidämie  zu  einigen  in  der  ,Lile- 
ratur  niedergelegten,  überaus  interessanten  Forschungsresul- 
laten  steht,  wie  zu  der  von  Bauer  und  Lehndorff  nach¬ 
gewiesenen  Aktivierung  der  Kobragifthämolyse  durch  das 
Serum  Gravider  und  Gebärender,  ferner  zu  dem  von  Freu  nil 
und  Kam  in  er  und  kürzlich  von  Kraus  und  v.  Graft 
festgestellten  Verhalten  gegenüber  Karzinomzellen  durch 
das  Serum  Karzinomatöser,  respektive  Hochgravider  und 
endlich  zu  der  von  Joch  mann,  Thaler  u.  a.  studierten 
Erhöhung  der  antitryptischen  Kraft  des  Serums  in  der  Gra¬ 
vidität  bleibt  für  uns  eine  offene  Frage. 

Wir  wollen  es  aber  nicht  unterlassen,  auch  unserseits 
darauf  hinzuweisen,  daß  diese  Tatsachen  und  das  von 
R.  Stern  geprüfte  Verhalten  Schwangerer  und  Wöchne¬ 
rinnen  gegenüber  lokalen  Tuberkulinreaktionen  mit  der 
Lipoidämie  sehr  wohl  in  ursächlichem  Zusammenhänge 
stehen  könnte.  Bauer  und  Lahndorff  halten  sich  auf 
Grund  ihrer  Untersuchungen  zu  der  Annahme  berechtigt, 
daß  die  erhöhte  Fähigkeit  des  Serums  Gravider,  die  Kobra¬ 
gifthämolyse  zu  aktivieren,  durch  eine  Vermehrung  wahr¬ 
scheinlich  lipoider  Substanzen  bedingt  wäre  und  werfen 
die  Frage  auf,  ob  es  nicht  Lezithin  sei,  ein  Körper,  der 
in  unseren  Extrakten  allerdings  nicht  nachgewiesen  wurde. 
Endlich  soll  noch  angeführt  werden,  daß  Kraus  und 
Poetzl  bei  verschiedenen  pathologischen  Prozessen  Unter¬ 
schiede  in  der  Empfindlichkeit  der  Erythrozyten  gegenüber 
bestimmte  Lipoide  angreifenden  Hämolysinen  nachgewiesen 
haben. 

Die  Literatur  hier  erschöpfend  zu  behandeln,  würde 
aber  zu  weit  führen.  .Es  muß  dies  für  die  ausführliche 
Publikation  Vorbehalten  bleiben. 

Wichtig  scheint  es  uns  nur,  bei  dieser  Gelegenheit 
noch  einiger  auffallender  Befunde  Erwähnung  zu  tun,  die 
wir  in  sechs  Fällen  von  Eklampsie  zu  erheben  Gelegenheit 
hatten. 

Bei  der  relativ  geringen  Zahl  der  untersuchten  Fälle 
registrieren  wir  bloß  die  folgenden  Befunde. 

Wir  fanden : 

1.  Eine  enorm  starke  Cholesterinreaktion,  die  um  so 
auffallender  war,  als  das  normale  Schwangerschaftsende 
noch  lange  nicht  erreicht  war. 

2.  Die  alkoholischen  Blutextrakte  gaben  nicht  bloß 
starke  Wasser-  und  Säuretrübung,  sondern  meist  eine  relativ 
starke  Trübung  auch  mit  alkoholischer  Platinchloridlösung. 

3.  Jene  Fälle,  die  die  Eklampsie  überstanden  halten, 
zeigten  auch  am  Ende  der  ersten  Woche  post  partum  die 
physiologische  Abnahme  der  Lipoidämie  noch  nicht. 

4.  Jene  zwei  Fälle,  in  welchen  Exitus  eintrat,  zeigten 
schon  während  der  Anfälle  eine  starke  Herabsetzung  der 
Cholesterinämie. 

Wir  unterlassen  es,  aus  diesen  an  einer  relativ  geringen 
Anzahl  von  Eklampsiefällen  erhobenen  Befunden  weitere 
Schlußfolgerungen  zu  ziehen;  halten  es  aber  nicht  für  un¬ 
wahrscheinlich,  daß  diese  Befunde  von  Wichtigkeit  sind 
für  das  Verständnis  der  im  Organismus  der  Eklamp tischen 
sich  abspielenden  Vorgänge,  ja  selbst  für  die  Aufklärung 
der  Pathogenese  der  Eklampsie.  So  ist  wohl  das  von  der 
physiologischen  Gravidität  abweichende  Verhalten  der  Li¬ 
poide,  während  der  eklamptischen  Anfälle  schwerlich  eine 
harmlose  koordinierte  Erscheinung  u.  zw.  ebenso  im  Falle 
erhöhter  Anreicherung,  als  auch  im  Falle  pathologischer 
Herairsetzung. 

Von  großem  Interesse  ist  es,  hier  zu  erwähnen,  daß 
Hosen!  al  unter  Biedls  Leitung  bei  Epilepsie  im  prä¬ 
paroxysmalen  Stadium  eine  deutliche  Vermehrung  und  nach 
dem  Anfall  eine  Herabsetzung  der  antitryptischen  Kraft 
des  Serums  konstatiert  hat  und  das  Antitrypsin  als  eine 
1  apoid  -  Alu  miniumverbindumg  auffaßt. 

Wir  dürfen  wohl  der  Hoffnung  Ausdruck  geben,  daß 
die  von  uns  beschriebenen  Methoden  zur  klinischen  Prüfung 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


der  Blutlipoide  und  die  durch  unsere  Studien  erzielten  Re¬ 
sultate  für  weitere  biologische  und  pathologische  Studien 
von  Interesse  und  Wert  sein  werden,  um  so  mehr,  als  eine 
orientierende  Prüfung  des  Blutes  an  einer  relativ  kleinen 
Anzahl  von  Karzinomkranken  ebenfalls  Vermehrung  der 
Lipoide  gezeigt  hat. 

Es  ist  uns  endlich  vor  Aufstellung  unserer  Schlu߬ 
thesen  eine  angenehme  Pflicht,  den  Herren  Hofrat  Professor 
Weichselba u m  und  Hofrat  Prof.  S c h au t a  für  das  warme 
Interesse  und  die  Unterstützung  ergebenst  zu  danken,  wo¬ 
durch  sie  unsere  Arbeiten  so  wesentlich  förderten. 

Die  Schlußfolgerungen  aber,  welche  wir  aus  unseren 
Studien  derzeit  ziehen,  lauten: 

1.  Die  mitgeteilte  Methodik  i sl t  zu  klinischen 
Untersuchungen  über  den  Lipoidgehalt  des 
Blutes  geeignet. 

2.  Der  Lipoid  geh  alt  des.  Blutes  unterliegt 
beim  ge  sch lech ts reifen  Weibe  und  bei  der  Hün¬ 
din  zyklischen  Schwan ku n g e n,  welche  in  einer 
Herabsetzung  zur  Zeit  der  Menstruation,  be¬ 
ziehungsweise  Brunst  ihren  Ausdruck  finden. 

3.  Im  Klimakterium  und  in  der  postklimak¬ 
terischen  Menopause  betstehl  Lipoidämie. 

4.  Kastration  führt  sowohl  beim  menschli¬ 
chen  Weibe  als  auch  bei  Hündinnen  und  Kanin¬ 
chen  zur  Lipoidämie. 

5.  Nach  dosierter  Röntgenbestrahlung  der 
0 v a r i  e n  entsteht  beim  Versuch s!t i  e r  (K  a n i  n  c h e n) 
L  i  p  o  i  d  ä  m  i  e. 

6.  Die  physiologische  Gravidität  ist  von  Li¬ 
poidämie,  bzw.  Cholesterin  esterämie  begleitet. 

7.  Man  kann  daher  annehmen,  daß  sich  in 
der  physiologischen  Gravidität  allmählich  eine 
Funktionsalteration,  bzw.  Funktionsausfall  des 
F  o  1 1  i  k  e  1  a  p p  ar  a Fes  der  K  e  i  m d  r  ü  s  e  ent  w  i  c  k  e  1 1. 


Notiz  zu  dem  vorstehenden  Vortrage  der  Herren 
Neumann  und  Herrmann. 

Von  Sigmund  Frankel. 

Die  von  den  Herren  Neumann  und  Herrmann 
im  Blute  Gravider  beobachteten  Kristalle  zeigten  bei  der 
Untersuchung  folgendes  Verhalten: 

Selbst  aus  kleinen  Blutmengen  konnte  man  eine  an¬ 
scheinend  reichliche  Kristallmasse  erhalten  u.  zw.  als  Hauf¬ 
werk  oder  Drusen  sehr  langer  feiner  Nadeln.  Die  Nadeln 
spitzen  sich  an  den  Enden  haarfein  zu,  verbiegen  sich  ziem¬ 
lich  leicht  und  gleichen  dadurch  täuschend  auf  den  erstell 
Blick  Pflanzenfasern.  Bei  Druck  auf  das  Deckglas  zerbrechen 
sie  aber  ohne  glatte  Bruchfläche.  Die  Auslöschung  ist  ge¬ 
rade,  a  in  der  Längsrichtung.  Im  polarisierten  lachte 
leuchten  sie  zwischen  gekreuzten  Nikols  auf. 

Die  isolierten  Kristalle  wurden  aus  Azeton  umkristalli¬ 
siert,  zeigten  dann  die  Reaktionen  der  Cholesterinester  und 
den  Schmelzpunkt  77°  C,  welcher  mit  dem  Schmelzpunkt 
des  Cholesterinpalmitinsäureesters  identisch  ist.  Dieser  Cho¬ 
lesterinester  wurde  im  normalen  Serum  bereits  von  Boudet 
(1833),  sowie  von  Hürthle  (1895)  beobachtet.  Es  handelt 
sich  also  im  Blute  Schwangerer  um  eine  anscheinend  phy¬ 
siologische  Vermehrung  einer  auch  sonst  normal  im  Blute 
vorkommenden  Substanz  u.  zw.  eines  Cholesterinesters. 

Die  Natur  der  in  den  Mutterlaugen  dieser  Kristalle 
vorkommenden  Substanzen,  welche  sich  durch  die  von  Neu¬ 
mann  und  Herrmann  beobachtete  Platinchloridreaktion 
verraten,  muß  erst  bestimmt  werden.  Vielleicht  handelt 
es  sich  um  ein  ungesättigtes  Phosphatid. 

Es  sind  nun  Versuche  im  Gange,  nach  vorhergehender 
Bestimmung  der  Natur  dieser  Substanzen  eine  Methodik 
auszuarbeiten,  welche  die  quantitative  Auswertung  der 
Körper  gestattet,  die  durch  die  klinische  Reaktion  von  Neu¬ 
mann  und  Herr  mann  als  vermehrt  angezeigt  werden. 


418 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


Aus  dem  pathologisch-bakteriologischen  Institut  in 
Brünn.  (Vorstand:  Prof.  C.  Sternberg.) 

Zur  Frage  der  Blutbildung  in  der  menschlichen 

Thymus. 

Von  Dr.  Joh.  Löw,  Grado. 

Die  Thymus  wurde  in  Anbetracht  ihres  Reichtums  an 
Lymphozyten  bis  in  die  jüngste  Zeit  als  Bestandteil  des 
lymphatischen  Apparates  und  somit  als  Bildungsstätte  lym¬ 
phatischer  Elemente  betrachtet.  Diese  Auffassung  wurde 
aber  durch  die  Untersuchungen  von  Stöhr  erschüttert, 
welcher  den  Nachweis  zu  erbringen  trachtete,  daß  die 
kleinen  Zellen  der  Thymus  nicht  Lymphozyten,  sondern 
Abkömmlinge  der  Epithelzellen  seien.  Würde  mithin  die 
Thymus  für  die  Bildung  von  Lymphozyten  nicht  in  Betracht 
kommen  —  die  Auffassung  Stöhr s  wird  allerdings  von 
manchen  Seiten  (Maxi mow,  Nägeli  u.  a.)  bestritten  ■ — 
so  könnte  ihr  immerhin  eine  Bedeutung  für  die  Bildung 
myeloischer  Elemente  zukommen,  analog  wie  etwa  Leber 
und  Milz  im  fötalen  Reben  siclh  an  der  Blutbildung  betei¬ 
ligen.  Tatsächlich  liegen  bereits  einschlägige  Mitteilungen 
in  der  Literatur  vor. 

So  beschreibt  Schaffer  in  Thymen  von  Katzen  und 
Kaninchen  das  Auftreten  kernhaltiger  roter  Blutkörperchen 
als  typisches  Vorkommnis  und  nimmt  auf  Grund  seiner 
Befunde  eine  temporäre  Blutbildung  in  der  Thymus  an, 
welche  über  die  Leber  den  Uebergang  zur  Blutbildung  im 
Knochenmark  dars'tellt. 

Maxi  mow  untersuchte  die  Thymen  von  Kaninchen¬ 
embryonen  und  fand  in  diesen  spärliche,  große  Erythro- 
blasten  und  Myelozyten.  II.  Fischer  schließt  aus  seinen 
Befunden  an  fötalen  menschlichen  Thymen  auf  starke 
Leukopoese  und  geringe  Erythropoese  extravaskulär  im 
Bindegewebe  der  Septen,  geringe  Leukopoese  und  etwas 
stärkere  Erythropoese  extravaskulär  in  den  Retikulum¬ 
maschen  von  Mark  und  Rinde. 

Schridde  fand  bei  einem  Kinde  mit  angeborener 
Lymphozythämie  außer  in  der  Leber,  Milz  und  Niere  auch 
in  der  Thymus  extravaskulär  Herde  von  neutrophilen  und 
eosinophilen  Myelozyten  und  deren  Stammzellen.  In  der 
eigentlichen  Thymussubstanz  waren  sie  nicht  zu  sehen. 

In  einer  zusammenfassenden  Darstellung  des  Baues 
der  Thymus  beschreibt  er  bei  Thymen  von  Föten  aus  dem 
7.  und  8.  Monate  eine  an  die  Marksubstanz  sich  an¬ 
schließende  Zone,  welche  aus  oft  sehr  reichlichen  eosino¬ 
philen  Myelozyten  besteht.  Doch  sei  der  Befund  von  Blut¬ 
bildungsherden  nur  ein  recht  geringfügiger  und  entspreche 
nur  den  Verhältnissen  des  gesamten  perivaskulären  Ge¬ 
webes  im  Embryo.  Die  Thymus  dürfe  daher  nicht  zu 
den  blutbildenden  Organen  gerechnet  werden. 

Dudgeon  hat  die  Thymus  in  16  Fällen  von  Status 
lymphaticus  untersucht.  In  allen  fanden  sich  eosinophile 
Zellen,  darunter  auch  solche  analog  den  Myelozyten. 

Unsere  eigenen  Untersuchungen  erstreckten  sich  auf 
57  Thymen.  Dieselben  stammten  von  8  Föten,  10  Neuge¬ 
borenen,  30  Kindern  der  ersten  zehn  Lebensjahre,  fünf 
Individuen  im  Alter  von  11  bis  20  Jahren  und  vier  über  20 
Jahre.  Den  Krankheiten  nach  waren  vier  Fälle  an  Skarlatina, 
fünf  an  Diphtherie,  einer  an  Pneumonie,  drei  an  Sepsis, 
sechs  an  Tuberkulose,  zwei  an  kongenitaler  Lues,  einer  an 
chronischem  Ekzem,  drei  an  Enteritis,  drei  an  einem  Vitium 
cordis,  einer  an  Hirnblutung,  einer  an  einer  inkarzerierten 
Hernie,  drei  an  Verbrennungen,  einer  an  Phosphorver¬ 
giftung,  einer  an  einer  Schußverletzung,  einer  an  Kohlen¬ 
oxydvergiftung,  zwei  an  einem  Status  lymphaticus  und 
einer  an  Morbus  Addisoni  gestorben. 

Die  untersuchten  Stücke  wurden  nach  Pikrin-Sublimat- 
konservierung  und  Paraffineinbettung  nach  der  Ehrlich  sehen 
rriazidmethode  gefärbt.  Doch  erhielten  wir  nicht  in  allen  Fällen 
völlig  einwandfreie  Präparate,  indem  namentlich  die  Darstellung 
der  neutrophilen  Granula  nicht  immer  vollständig  gelang.  Mög¬ 
licherweise  war  daran  der  Umstand  schuld,  daß  einzelne  Fälle 
erst  mehrere  Stunden  nach  dem  Tode  seziert  wurden,  möglicher¬ 


weise  war  auch  die  Konservierung  der  betreffenden  Stücke 
nicht  vollkommen  tadellos.  Auch  in  diesen  Fällen  waren  aber  die 
eosinophilen  Granula  durchwegs  gut  darstellbar.  Wir  legen  daher 
der  Besprechung  neutrophiler  Elemente  nur  21  Fälle  zugrunde, 
während  für  die  eosinophilen  Elemente  das  Gesamtmaterial  von 
57  Fällen  herangezogen  werden  soll. 

Aus  den  untersuchten  Fällen  seien  zunächst  die  Befunde 
an  drei  Föten  von  30  cm,  35  cm  und  40  cm,  sowie  zwei 
ausgetragenen  Früchten  hervorgehoben.  Hier  fanden  wir  beson¬ 
ders  reichlich  bei  dem  30  cm  langen  Fötus  namentlich  polymorph¬ 
kernige,  doch  auch  einkernige  eosinophile,  spärlicher  ein-  und 
mehrkernige  neutrophile  Zellen.  Diese  Zellen  fanden  sich  in 
Zügen  wechselnder  Breite  in  den  Bindegewebssepten  zwischen 
den  einzelnen  Läppchen.  Bisweilen  sind  sie  auch  reichlich  in  der 
Marksubstanz  vorhanden,  hie  und  da  auch  verstreut  in  der  Rinde, 
namentlich  in  der  Peripherie  der  Läppchen.  Zwischen  diesen  Ele¬ 
menten  trifft  man  auch  Zellen  an,  welche  nach  Größe  und 
Form,  nach  dem  gleichmäßig  dunkelorange  gefärbten  Protoplasma 
und  dem  dunklen,  radspeichenartigen,  exzentrisch  gelegenen  Kerne 
als  Erythroblasten  anzusprechen  sein  dürften.  In  den  übrigen 
Fällen  dieser  Gruppe  finden  wir  ebenfalls  ein-  und  mehrkeruige 
eosinophile  und  neutrophile  Elemente  in  der  gleichen  Lagerung, 
doch  in  viel  geringerer  Zahl ;  es  gilt  dies  namentlich  für  den 
40  cm  langen  Fötus. 

Von  den  verwertbaren  (12)  Fällen  im  Alter  bis  zu  10  Jahren 
waren  2  an  Scharlach^  2  an  Diphtherie,  1  an  Pneumonie,  1  an 
Sepsis,  2  an  Verbrennung,  1  an  Rachitis  und  Status  lympha¬ 
ticus,  1  an  kongenitaler  Lues,  1  an  Gastroenteritis  und  t  an 
einem  Vitium  cordis  gestorben.  In  allen  diesen  Fällen  fanden 
sich  ein-  und  mehrkernige  eosinophile  und  ein-  und  mehrkernige 
neutrophile  Zellen. 

Die  eosinophilen  Zellen  fanden  sich  reichlich  bei  je  einem 
Kinde  im  Alter  von  acht  Tagen  (Lues  congenita),  einem  Monat 
(Vitium  cordis),  DA  Jahren  (Rachitis  und  Status  lymphaticus), 
DA  Jahren  (Combustio),  zwei  Jahren  (Diphtherie),  vier  Jahren 
(Combustio),  fünf  Jahren  (Skarlatina)  und  sechs  Jahren  (Di¬ 
phtherie),  spärlich  bei  einem  sechs  Tage  alten  Kinde  (Gastro-  1 
enteritis),  bei  einem  drei  Monate  alten  Kinde  (Pneumonie),  bei 
einem  23/4jährigen  Kinde  (Sepsis)  und  bei  einem  siebenjährigen 
Kinde  (Skarlatina).  In  den  letzten  vier  Fällen  handelte  es  sich 
um  Kinder  von  schlechtem  Ernährungszustände,  mit  parenchym 
armer  Thymus,  in  der  mikroskopisch  reichlich  Involutionsformen 
nachweisbar  waren.  Neutrophile  ein-  und  mehrkernige  Zellen  waren 
in  allen  diesen  Fällen  vorhanden,  doch  in  der  Regel  in  viel  ge¬ 
ringerer  Zahl  als  die  eosinophilen  Zellen,  nur  bei  dem  fünf¬ 
jährigen,  an  Scharlach  verstorbenen  Kinde  ist  die  Zahl  beider 
Zellformen  annähernd  gleich. 

Endlich  kommen  noch  vier  Fälle  von  älteren  Individuen 
mit  persistierender  Thymus  in  Betracht,  u.  zw.  ein  Ißjähriges 
an  Phosphorvergiftung  verstorbenes  Mädchen,  ein  26jähriger  Mann, 
der  an  einer  Kohlenoxydvergiftung,  ein  27jähriger  Mann,  der 
an  einer  Schußverletzung  und  ein  TOjähriger  Mann,  der  an  einer 
eingeklemmten  Hernie  gestorben  war.  In  den  ersten  drei  Fällen 
waren,  wenngleich  nur  spärlich,  sowohl  eosinophile,  als  auch 
neutrophile  ein-  und  mehrkernige  Leukozyten  nachweisbar,  wäh¬ 
rend  in  dem  vierten  Falle  diese  Elemente,  bis  auf  ganz  vereinzelte 
eosinophile  Zellen,  fehlten.  Die  Lagerung  der  granulierten  Eie-  : 
mente  ist  in  allen  den  angeführten  Fällen  mehr  oder  weniger 
die  gleiche,  wie  wir  sie  bei  der  Thymus  des  30  cm  langen  Fötus  l 
beschrieben  haben.  In  sämtlichen  übrigen  36  Fällen,  in  welchen  i 
der  Nachweis  der  neutrophilen  Zellen  mißlang,  konnten,  wir- 
schon  bemerkt,  sowohl  ein-  als  auch  mehrkernige  eosinophile 
Zellen  in  größerer  oder  geringerer  Menge,  oft  sogar  sehr  reich¬ 
lich,  nachgewiesen  werden. 

Wenn  wir  unsere  Befunde  zusammenfassen,  so  ergibt 
sich,  daß  in  allen  Thymen  ein-  und  mehrkernige  eosinophile 
Zellen  gefunden  wurden,  die  häufig  in  Reihen  oder  Zügen 
in  dem  Bindegewebe  der  Septen  lagen,  aber  auch  oft  ver¬ 
streut  in  Rinde  und  Mark  vorkamen.  Die  Reichlichkeit  ihres 
Auftretens  scheint  in  einem  gewissen  Zusammenhänge  mit 
dem  Parenchymgehalt  der  Thymus  zu  stehen.  Möglicher¬ 
weise  bestehl  insofern  ein  gewisser  Zusammenhang  auch 
mit  dem  Alter  der  Individuen,  als,  soweit  unsere  spärlichen 
einschlägigen  Befunde  ein  Urteil  gestatten,  die  eosinophilen 
Zellen  in  der  persistierenden  Thymus  Erwachsener  in  ge¬ 
ringerer  Zahl  vorhanden  sind.  Andererseits  besteht  im 
Kindesalter  auch  innerhalb  weitester  Grenzen  kein  Zu¬ 
sammenhang  zwischen  dem  Auftreten  eosinophiler  Zellen 
und  dem  Alter.  Einkernige  neutrophile  Zellen  fanden  wir 


Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


in  der  Mehrzahl  der  Fülle  in  sehr  geringer  Zähl,  in  einzelnen 
Fällen  von  Infektionskrankheiten  (z.  U.  Scharlach)  waren 
sie  reichlicher  vorhanden.  Der  Nachweis  myeloischer  Zel¬ 
len  in  der  Thymus  würde  mithin  in  Analogie  zu  ähnlichen 
Befunden  in  anderen  Organen  stehen.  Solche  Befunde  wur¬ 
den  z.  U.  in  der  Milz  von  Dominici  sowohl  experimentell 
als  auch  am  Menschen,  namentlich  hei  Tuberkulose,  ferner 
bei  Eklampsie  und  Variola,  von  Wolff  bei  Erysipel  und 
anämischen  IZu ständen  und  von  C.  Sternberg  und 
Hirschfeld  bei  einer  Reihe  von  infektiösen  und  nicht- 
infektiösen  Krankheiten  .sowie  vereinzelt  auch  unter  nor¬ 
malen  Verhältnissen  erhoben;  analoge  Befunde  liegen 
auch  bezüglich  anderer  Organe  vor.  Die  ausführliche 
Literatur  über  diesen  Gegenstand  ’sowie  auch  eigene  Be¬ 
obachtungen  finden  sich  bei  R.  Fischer  zusammengestelll . 
In  allen  diesen  Fällen  macht  die  Entscheidung  Schwierig¬ 
keiten,  ob  es  sich  um  in  den  betreffenden  Organen  autoch¬ 
thon  entstandene  Elemente  oder  aus  dem  Knochenmark  ein¬ 
geschwemmte  Zellen  handelt. 

Den  gleichen  Schwierigkeiten  begegnen  wir  auch  bei 
dem  Versuche,  unsere  Befunde  in  der  Thymus  zu  deuten. 
Gegen  die  Annahme,  daß  es  sich  hier  um  eine  Blutbildung 
in  der  Thymus  handelt,  beziehungsweise  um  ein  Erhalten¬ 
bleiben  dieser  Funktion  aus  dem  fötalen  Leben  (falls  eine 
solche  tatsächlich  besteht),  würde  folgende  Ueberlegung 
sprechen.  Man  müßte  ja  a  priori  erwarten,  daßi  entsprechend 
der  Rückbildung  der  Thymus  diese  Funktion  auch  allmäh¬ 
lich  erlöschen  würde.  Wir  finden  aber,  daß  innerhalb  der 
zehn  ersten  Lebensjahre  ein  derartiges  Absinken  im  Gehalte 
der  Thymus  an  myeloischen  Elementen  nicht  nachweisbar 
ist.  Bei  persistierenden  Thymen  scheint  allerdings,  wie 
mit  einigem  Vorbehalte  schon  hervorgehoben  wurde,  ein 
derartiger  Unterschied  vorhanden  zu  .sein. 

Ebenso  steht  mit  der  Annahme  einer  Blutbildung  in 
der  Thymus  nicht  im  Einklänge,  daß  im  wesentlichen  nur 
eosinophile  Elemente  in  diesem  Organe  gefunden  wurden. 
Diesbezüglich  stehen  die  Resultate  unserer  Untersuchungen 
mit  den  Befunden  der  anderen  Autoren  in  vollem  Einklänge. 
Außer  in  den  eingangs  erwähnten  Arbeiten  wird  auf  diesen 
Umstand  auch  noch  von  Fortescue  nach  Untersuchungen 
an  menschlichen  Thymen,  und  von  Lewis  nach  Unter¬ 
suchungen  an  der  Vogelthymus  hingewiesen. 

Kernhaltige  rote  Blutkörperchen  fehlten  vollständig, 
neutrophile  Myelozyten  waren  nur  spärlich  vorhanden,  mit 
Ausnahme  mancher  Fälle  von.  Infektionskrankheiten.  Wir 
wissen  aber,  daß  bei  Infektionskrankheiten  des  Kindesalters 
Wie  manchmal  auch  bei  Erwachsenen)  Myelozyten  im 
kreisenden  Blute  vorhanden  sind  (Engel).  Es  könnte  daher 
das  Vorkommen  solcher  Zellen  in  der  Thymus  durch  Ein¬ 
schwemmung  aus  dem  Knochenmark  via  Blutbahn  er¬ 
klärt  werden. 

ln  gleicher  Weise  ließe  sich  das  Auftreten  reichlicher 
polynukleärer  eosinophiler  Zellen  in  der  Thymus  durch 
chemotaktische  Anlockung  dieser  Zellen  aus  dem  Blute 

erklären. 

E  h  r  1  i  c  h  hat  ja  bereits  die  Anschau u ng  ausgesprochen, 
daß  Zerfallsprodukte  von  Epithelzellen  und  epitheloiden 
Zellen  gewöhnlich  chemotaktisch  wirken  und  hat  für  die 
meisten  Formen  der  Eosinophilie  „die  direkte  Ursache  in 
einem  Gewebszerfall  und  seinen  Produkten“  angenommen. 
Daß  nun  ein  lebhafter  Kernzerfall  im  Thymusparenchym 
stattfindet,  ergibt  sich  aus  den  Befunden  St  Öhrs,  der 
damit  das  Auftreten  der  Leukozyten  in  der  Thymus  in  Zu¬ 
sammenhang  bringt. 

Andere  Erwägungen  müssen  wohl  bezüglich  des 
Auftretens  einkerniger  eosinophiler  Zellen  in  der  Thymus 
angestellt  werden.  Sie  finden  sich  auch  in  solchen  Fäl¬ 
len  reichlich  in  diesem  Organ,  in  welchem  Myelozyten 
,rP  strömenen  Blute  überhaupt  nicht  vorhanden  sind.  Für 
diese  Zellen  jst  es  daher  wohl  sehr  wahrscheinlich,  daß 
sie  mindestens  ,zum  Teil  in  der  Thymus  entstanden  sind. 
I's  fragt  sich  jedoch,  ob  sie  durchwegs  als  Myelozyten  auf¬ 
zufassen  sind.  Morphologisch  zeigen  sie  untereinander 


dl  9 


wesentliche  Unterschiede.  Während  hei  einem  (anscheinend) 
kleineren  Feile  derselben  der  Kern  tatsächlich  dem  Myelo¬ 
zytenkern  entspricht,  finden  sich  viele  Zellen,  in  welchen 
der  Kern  klein,  strukturlos,  intensiv  färbbar  ist  und  voll¬ 
kommen  dem  Kerne  der  (kleineren  und  größeren).  Zellen 
des  Thymusparenchyms  entspricht. 

Dieses  Verhalten  legt  die  .Vermutung  nahe,  die  sich 
ja  auch  ,aus  anderen  Erwägungen  ergibt,  daß  wir  unter 
den  einkernigen  eosinophilen  Zellen  einerseits  Myelozyten, 
andererseits  histiogene  Elemente  unterscheiden  müssen! 
die  möglicherweise  aus  Parenchymzellen  liervorgegangen 
sind.  Ein  Teil  der  in  der  Thymus  stets  vorhandenen  ein¬ 
kernigen  Zellen  dürfte  aber  als  Myelozyten  anzusprechen 
sein.  Bezüglich  dieser  müssen  wir  die  Frage  unentschieden 
lassen,  ob  sie  durch  Ausschwemmung  aus  dem  Knochen¬ 
mark  dahin  gelangt  sind,  oder  lokal  in  der  Thymus  im 
Sinne  eines  Rückschlages  in  die  embryonale  Blutbildung 
entstanden  sind. 

Sei  dem  wie  immer,  jedenfalls  zeigen  diese  Unter¬ 
suchungen,  daß  der  Thymus  im  extrauterinen 
Lehen  keine  wesentliche  Bedeutung  für  die  Blut¬ 
bildung  zukommt. 

Literatur: 


Ph.  St öhr,  Ueber  die  Natur  der  Thymuselemente.  Anat.  Hefte 
1906,  Bd.  31.  J.  Sch  af  ter,  Ueber  den  feineren  Bau  der  Thymus 
und  deren  Beziehungen  zur  Blutbildung.  Sitzungsbericht,  der  k.  Akademie 

der  Wissenschaften,  mathem.-naturw.  Klasse  1893,  Bd.  102.  _  A.  M  a- 

x  i  m  6w,  Ueber  die  Entwicklung  der  Blut-  und  Bindegewebszellen  beim 
Säugetierembryo.  Folia  haemafologica  1907.  —  Heinrich  Fischer, 
Myeloische  Metaplasie  und  fötale.  Blutbildung  und  deren  Histogenese.  Berlin 
1909,  J.  Springer.  -  H.  Schridde,  Ueber  extrasvakuläre  Blutbildung. 
Verhandlungen  der  deutschen  patholog.  Gesellschaft.  Meran  1905;  Thv- 
mus  in  Aschoffs  Lehrbuch  der  patholog.  Anatomie  1909  — .  L.  S.  D  u  d- 
geon,  A  contribution  to  the  pathology  of  the  Thymus  Gland. 
Journ.  of  Physiolog.  and  Bacter.  1905,  X.  Jahrg.  —  C.  Sternberg, 
Ueber  das  Vorkommen  von  einkernigen  neutrophil-granulierten  Leuko¬ 
zyten  in  der  Milz.  Zentralblatt  für  allgem.  Pathologie  und  patholog. 
Anatomie  1905. 


Aus  der  chirurgischen  Abteilung  des  Rothschildspital  es 
in  Wien.  (Vorstand:  Prof.  Dr.  Otto  Zuckerkandl.) 

Versuche  einer  Vereinfachung  des  Tuberkel¬ 
bazillennachweises  im  Harn. 

Von  Dr.  Robert  Bachraeli,  Sekundararzt  und  Dr.  Friedrich  Necker. 

Der  Zweck  der  nachfolgenden  Untersuchungen  war, 
den  auf  der  Abteilung  bisher  geübten  Modus  des  Bazillen¬ 
nachweises  bei  tuberkuloseverdächtigen  Fällen  unter  Zu¬ 
ziehung  der  neueren  Homogenisierungs-  und  Einengungs- 
methoden  möglichst  einfach  und  sicher  zu  gestalten  und 
diese  Methoden  a<uf  ihren  Wert  fiir  die  Klinik  der  Harn¬ 
tuberkulose  zu  prüfen. 

Der  Färbung  des  nativen  Harnsedimentes  auf  Tuber¬ 
kelbazillen  haften  zwei  Nachteile  an,  die  nicht  gleich 
hoch  einziuschätzen  sind.  Als  erster  wird  wiederholt  die 
Möglichkeit  einer  folgenschweren  Verwechslung  von  echten 
Tuberkulöseerregern  mit  Smegmabazillen  betont,  als  zweiter 
-—  und  wie  uns  scheint  wichtigerer  —  kommt  die  Schwie¬ 
rigkeit  in  Betracht,  an  bazillenarmen  aber  reichlich  eiter- 
haltigen  Harnen,  wie  sie  bei  vorgeschrittenen  tuberkulösen 
Zerstörungen  der  Niere  zu  finden  sind,  positive  Befunde 
auch-  bei  Färbung  zahlreicher  Ausstrichpräparate  zu  er¬ 
zielen.  Neben  diagnostisch  einfachen  Fällen,  bei  denen  die 
Färbung  des  zentrifugierten  Harnsedimentes  sofort  klaren 
Aufschluß  gibt,  bleibt  somit  eine  Reihe  von  Nierentuber¬ 
kulosen,  bei  denen  der  mikroskopische  Bazillennachweis 
trotz  mühsamer  Untersuchungen  nicht  gelingt. 

Daher  in  letzter  Linie  der  Tierversuch  stets  als  das 
Experimentum  crucis  für  die  Urologie  gelten  mußte. 

Mithin  wäre  der  Nachweis  von  Tuberkelbazillen  im 
Harne  in  zweifacher  Art  zu  vervollkommnen.  Einerseits 
durch  Anwendung  von  Einengungsverfahren,  die  dahin 
zielen-,-  möglichst  alle  in  einer  größeren  Harnmenge  ent¬ 
haltenen  Bazillen  auf  wenige  Präparate  verteilt  zur  Färbung 


420 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  \9ii. 


Nr.  12 


zu  sammeln  und  anderseits  durch  eine  Abkürzung  des  Tier¬ 
versuches.  . 

"Was  die  erstere  Frage  anlangt,  unterzogen  wir  die 
Antiforminmethode  von  Uhlenhut  und  Xylan  der,1)  d,as 
von  .Lange  und  Nitsche2)  beschriebene  Ligroinverfah¬ 
ren,,  die  Zahn  sehe3)  Homogenisierungsmethode  und  einige 
der  vielen  Modifikationen  und  Kombinationen  (Trunk,  ) 
Bierotte,5)  Skutezky,6)  Löffler')  u.  a.  m.),  die 
alle  zunächst  für  den  Bazillennachweis  im  Sputum  aus¬ 
gearbeitet  und  nur  von  einzelnen  Autoren  nebstbei  für 
ihre  Brauchbarkeit  bei  der  Harnuntersuchung  berücksichtigt 
wurden,  einer  systematischen  Nachprüfung. 

Auf  die  zahlreichen  Arbeiten,  die  sich  mit  der  Ver¬ 
wendung  des  Uhlenhut  sehen  Antiforminverfahrens  und 
der  verschiedenen  Modifikationen  näher  beschäftigen, 
wollen  wir  unter  Hinweis  auf  die  Publikationen  von 
Ellermann  und  Erlandsien8)  und  so  weiter  nicht 
näher  eingehen.  Wir  müssen  jedoch  hervorheben,  daß  dei 
Wert  der  Methode  für  den  Tuberkelbazillennachweis  im 
Harn  a  priori  kein  so  augenfälliger  ist  wie  beim  Sputum. 
Während  der  Antiforminzusatz  zum  Sputum  nicht  nur  eine 
Homogenisierung,  sondern  zugleich  auch  eine  Verflüssigung 
des  Sekretes  und  demgemäß  eine  Verminderung  des  Sedi¬ 
mentniederschlages  hervorruft,  begegnen  wir  bei  der  Ver¬ 
arbeitung  von  Harnen  in  dieser  Weise  einer  Schwierigkeit, 
die  den  Vorteil  der  Konzentrierung  des  Materiales,  das 
„Aufschließen“  der  Bazillen  zum  Teil  wieder  wett  macht. 
Es  ist  in  der  chemischen  Beschaffenheit  der  Harnflüssig¬ 
keit  begründet,  daß  nach  Zusatz  von  Antiformin  zwar  Form¬ 
elemente  verschwinden,  anderseits  aber  Salzniederschläge 
entstehen,  die  bei  Sediment.ierung  des  Antiformin- Hand¬ 
gemisches  meist  als  ungemein  dichter  Bodensatz  resultieren, 
der  sich  nur  schwer  auf  den  Objektträger  verteilen  läßt. 

Der  Versuch,  diesen  Nachteil  durch  Waschen  des  Harn¬ 
sedimentes  vor  Zusatz  des  Antiformins  zu  beheben,  er¬ 
scheint  nach  unserer  Erfahrung  nicht  empfehlenswert,  weil 
trotz  vorsichtiger  Arbeit  beim  Abgießen  des  Waschwassers 
Bazillenmaterial  verloren  geht.  Dieselbe  Fehlerquelle  er¬ 
gibt  sich  bei  dem  Versuch,  die  mit  Eiweiß-Glyzerinlösung 
auf  den  Objektträger  angeklebten  Salzniederschläge  zu 
lösen  oder  zu  waschen. 

Am  besten  sind  wir  mit  dem  von  Löffler  beschrie¬ 
benem  Verfahren  weggekommen. 

E ö f f  1  e r  empfiehlt  das  Auf  kochen  eines  Antiformin- 
Sputumgemisches  und  Ausschütteln  mit  Chloroform¬ 
alkohol.  Bei  diesem  Vorgang  konnten  wir  noch  am  ehesten 
die  Bildung  störender  Salzniederschläge  vermeiden. 

Die  Methode  gestaltet  sich  bei  Anwendung  von  Harnen 
folgendermaßen : 

Der  Harn  wird,  um  möglichst  viel  Material  zur  Verar¬ 
beitung  zu  gewinnen,  in  mehreren  Spitzgläsern  sedi- 
mentiert.  20  cm3  der  gut  abgesetzten  Sedimente  werden 
in  einen  Jenenser  Kolben  mit  derselben  Menge  50%iger 
Antiforminlösung  versetzt  und  rasch  aufgekocht.  Zu  je 
20  cm3  dieses  Gemisches  werden  nun  3  cm3  einer  Mischung 
von  10  Volumteilen  Chloroform  und  90  Volumteilen  Alko¬ 
hol  zugefügt,  tüchtig  durch  geschüttelt  und  exakt  zentrifu¬ 
giert.  Das  Chloroform  füllt  die  Spitze  des  Zentrifugenröhr¬ 
chens  ;  ihm  sitzt  in  Form  einer  kleinen  Scheibe  das  zu 
untersuchende  bazillenhällige  Material  auf,  das  nach  Ab¬ 
guß  der  Flüssigkeit  in  toto  auf  den  Objektträger  gebracht 
mit  Eiweiß-Glyzerin  fixiert  und  gefärbt  werden  kann. 

Zur  Färbung  der  Präparate  bedienten  wir  uns  aus¬ 
schließlich  der  'Weichselbaum sehen  Methode,  die  bei 


9  Uhlen  h  u  t  u.  Xylander,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1908 

Nr.  29. 

2)  Lange  u.  Nitsche,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1909,  Nr.  33. 

8)  Zahn,  Münchener  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  16. 

4)  Trunk,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  29. 

6)  Bierotte,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  19. 

6)  Skutetzky,  Wiener  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  35. 

7)  Löffler,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  43. 

8)  Ellermann  u.  Erlandsen,  zit.  nach  Jörgensen.  Zeitschr. 

für  Hyg.  und  Infektionskrankheiten  1910,  Bd.  66. 


großer  Einfachheit  Erwärmen  mit  Karbolfuchsin,  und  Nach¬ 
färbung  mit  konzentriertem  alkoholischen  Methylenblau)  an 
Verläßlichkeit  erfahrungsgemäß  den  anderen  gebräuchli¬ 
chen  Färbemethoden  nicht  nachsteht.  _ 

Während  wir  bisher  nur  zu  einer  negativen  Kritik  der 
A  nt  i  f  o  r  min  in  etho  de  am  Harne  kamen  und  es  uns  vor 
allem  nicht  gelang,  mit  diesem  Verfahren  oder  einet  seiner 
Modifikationen  in  solchen  Hamen  Bazillen  nachzuweisen, 
bei  denen  die  direkte  native  Sedimentfärbung  versagt  hätte, 
müssen  wir  hervorheben,  daß  es  doch  für  eine  Gruppe 
von  Harnen  wesentliche  \  orteile  zu  besitzen  scheint.  Es 
sind  dies  naturgemäß  stark  eitrige  Harne,  bei  welchen  die 
Auflösung  der  großen  Eitermengen  den  Nachweis  der  Bar 
zillen  wesentlich  erleichtert.  Tatsächlich  gelang  uns  bei 
einem  Fall  schwerer  Pvurie  bei  vorgeschrittener  Nieren- 
tuberkulose  —  der  zur  Untersuchung  gelangte  Harn  war 
offebar  der  rein  eitrige  Inhalt  einer  Nierenkaverne  —  der 
mikroskopische  Bazillennachweis  im  Harnsediment  nur  nach 
den  oben  geschilderten  Verfahren. 

Von  Wichtigkeit  für  die  Bewertung  des  Antiformin¬ 
verfahrens  war  die  Frage,  wie  sich  Smegmabazillen  dem 
Antiformin  gegenüber  verhalten.  Den  Untersuchungen  Mer-  i 
kels,9)  daß  Antiformin  die  ganze  Gruppe  der  säurefesten 
Bazillen,  Smegma  sowohl  wie  Lepra  und  echte  Fuberku- 
loseerreger  nicht  an  greift,  steht  die  Behauptung 
Schusters10)  entgegen,  der  an  Smegmabazillen  im  Sedi¬ 
mente  und  in  Reinkulter  arbeitete  und  fand,  daß  sie  in 
allen  Fällen  bereits  von  15-  und  10°/oigen  Antiforminlösun¬ 
gen  zerstört  werden. 

Wir  verwenden  nur  mit  dem  Katheter  entnommenen, 
also  Smegma-bazillenfreien  Harn  zur  bakteriologischen  Ver¬ 
arbeitung,  und  kamen  nicht  in  die  Lage,  zu  dieser  Frage, 
deren  Bedeutung  wohl  überschätzt  wurde,  Stellung  zu 

nehmen.  . 

Dieselben  oben  erwähnten  Nachteile  der  störenden 
Salzniederschläge  treten  beim  Zahnschen  Verfahren  noch 
schärfer  hervor,  weswegen  wir  es  für  die  Harnuntersuchung)) 
nicht  empfehlen  können. 

Ebensowenig  gab  uns  die  Ligroinmethode  von 
Lange  und  Nitsche  befriedigende  Resultate.  Nehmen 
wir  aber  die  vor  der  Ausschüttelung  mit  Ligroin  notwendige 
Homogenisierung  statt  mit  Kalilauge,  wie  Bernhardt1)! 
und  Haserodt12)  es  zuerst  taten,  mit  Antiformin  vor,  so; 
erzielten  wir  gleich  Bierotte  und  Skutezky  gute  An¬ 
reicherung  bei  relativ  raschem  und  sauberem  Arbeiten. 

Mit  dem  Tierversuch,  der  prinzipeil  in  fast  sämtli¬ 
chen  Fällen  in  Form  der  intraperitonealen  Impfung  auf 
Meerschweinchen  zur  Ausführung  gelangte  und  von  dem: 
bisher  nur  selten  bei  absolut  einwandfreiem  mikroskopi¬ 
schen  Befund  abgesehen  wurde,  hatten  wir  stets  vollkom¬ 
men  befriedigende  Resultate  erzielt. 

Jedoch  entsprach  dieses  Verfahren  im  Durchschnitt 
einer  fünf-  bis  sechswöchigen  Untersuchungsdauer  und, 
drängte  zu  einer  Abkürzung.  Wir  nahmen  daher  bisher; 
die  Bloch  sehe  Impfung  in  die  gequetschte  Inguinaldrüse: 
vor,  die  allerdings  die  gewünschte  Abkürzung  des  Tier 
experimentes  bot,  durch  die  histologische  Verarbeitung  der. 
exst.irpierten  Drüse  in  Serien  zur  Bazillenschnittfärbung 
aber  sehr  mühevoll  und  zeitraubend  wurde.  Seemann, 
Merkel,  Hoffmann13)  u.  a.  haben  zuerst  diese  Anwen 
dungsweise  des  Antiformin,  die  in  der  Tuberkuloseforschung 
eine  große  Bedeutung  erlangt  hat,  benützt  und  könnten 
zum  Teil  nach  wenigen  Stunden  Tuberkelbazillen  aus  Ge: 
webstücken  nachweisen.  Es  lag  daher  der  Gedanke  nahe, 
die  Eigenschaft  des  Antiformins,  Organgewebe  zu  lösen 
mit  der  Bloch  sehen  Impfung  zu  kombinieren. 

Unser  Verfahren  gestaltete  sich  folgendermaßen:  Sub 
kutane  Impfung  von  l1/2cm3  Harnsediment  in  die  Ingui 

»)  Merkel,  Münchener  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  13. 

10)  Schuster,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  39. . 

u)  Bernhardt,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1909,  Nr.  33. 

,2)  II  a  s  e  r  o  d  t,  Ilygien.  Rundschau  1909,  Nr.  12. 

I3)  Hoffmann,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  28. 


Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


421 


nalgegend  der  Meerschweinchen  nach  vorheriger  Quetschung 
der  Lymphdrüse  (Bloch).  Exstirpation  der  Drüse  samt 
dem  infiltrierten  Fettgewebe  nach  zehn  bis  elf  Tagen.  Ein¬ 
legen  des  mit  steriler  Schere  zerkleinerten  Materiales  in 
20  cm3  15°/'oige  Antiforminlösung.  In  fünf  bis  sechs  Stun¬ 
den  bei  Zimmertemperatur,  entsprechend  rascher  im  Brut¬ 
ofen,  ist  das  organische  Gewebe  vollständig  gelöst.  Die 
leichtgetrübte  Aufschwemmung  wird  gut  zentrifugiert.  Nach 
Abgießen  der  -wasserklaren  Flüssigkeit  wird  das  geringe 
Zentrifugat  mittels  Eiweißglyzerin  auf  ein  bis  zwei  Objekt¬ 
träger  verteilt  und  nach  Lufttrocknung  und  Fixation  in  der 
Flamme  auf  Bazillen  (nach  Weichsel  bäum)  gefärbt.  Im 
mikroskopischen  Präparat  finden  sich  neben  den  Tuberkel¬ 
bazillen  ausschließlich  amorphe  blau  gefärbte  Schollen. 

Nach  dem  geschilderten  Verfahren  untersuchten  wir 
insgesamt  37  Harne.  25mal  fiel  der  Versuch  positiv  aus, 
in  12  Fällen,  die  sich  bei  weiterer  Beobachtung  als 
Eiterungen  nicht  tuberkulöser  Natur  erwiesen,  negativ. 
Was  uns  veranläßt,  die  Methode  zu  empfehlen,  ist  nicht 
nur  die  durch  den  Wegfall  der  Bazillenschnittfärbung  be¬ 
dingte  Abkürzung  der  Untersuchungszeit,  sondern  in  erster 
Linie  die  ziemlich  bedeutende  Bazillenanreicherung,  die 
in  fast  sämtlichen  untersuchten  Fällen  konstatiert  werden 
konnte.  In  einigen  war  diese  so  ausgeprägt,  daß  das  Ge¬ 
sichtsfeld  im  Mikroskop  geradezu  mit  Bazillen  übersät  war, 
trotzdem  die  Drüse  makroskopisch  keine  spezifisch  tuber¬ 
kulösen  Veränderungen  darbot,  und  der  Bazillennachweis 
am  Sediment  gerade  dieser  Harne  nicht  der  leichteste  war. 

■Nichtsdestoweniger  impften  wir  nach  wie  vor  zur 
Kontrolle  ein  bis  zwei  Meerschweinchen  intraperitoneal. 

Die  Erfahrung  hat  uns  gelehrt,  daß,  wenn  auch  sehr 
selten,  bei  schwach  virulenten  Tuberkulosen,  die  Meer¬ 
schweincheninfektion  außerordentlich  protrahiert  verlaufen 
kann ;  so  erzielten  wir  zweimal  einen  positiven  Ausfall  des 
intraperitonealen  Tierversuches  nach  8,  ja  sogar  erst  nach 
13  Wochen! 

Einer  dieser  beiden  Fälle  ist  in  die  hier  verwertete 
Untersuchungsreihe  inbegriffen  und  ist  der  einzige,  bei 
dem  das  kombinierte  Bloch-Antiforminverfahren  zugunsten 
der  intraperitonealen  Impfmethode  im  Stiche  gelassen  hat. 
ln  sämtlichen  übrigen  Fällen  ergab  sich  eine  völlige  Ueber- 
einstimmung  der  eben  geschilderten  Untersuchungsresultate 
mit  dem  intaperitoneal  geimpften  Kontrolltier. 

Indem  wir  zwecks  systematischer  Untersuchung  stets 
mehrere  Tiere  nach  Bloch  impften,  und  dieselben  am 
fünften,  kochten,  zehnten  und  zwölften  Tage  verarbeiteten, 
versuchten  wir  festzustellen,  ob  sich  eine  wesentliche  Ab¬ 
kürzung  des  Impfverfahrens  durch  unsere  Methode  erreichen 
ließe.  Doch  erzielten  wir  hiebei  keine  eindeutigen  Resul¬ 
tate.  Zwar  gelang  es  einige  Male,  schon  am  vierten  und 
sechsten  Tage  Bazillen  in  der  mit  Antiformin  verarbeiteten 
Drüse  nachzuweisen,  es  konnte  aber  eine  wirkliche  An¬ 
reicherung  nicht  konstatiert  werden,  vielmehr  ist  die  Er¬ 
wägung  am  Platze,  daß  bei  diesen  Fällen  lediglich  die  mit 
dem  injizierten  Material  in  die  Drüse  eingebrachten  Bazillen 
zur  Färbung  gelangten. 

Noch  in  einer  anderen  Hinsicht  erscheint  das  Anti¬ 
forminverfahren  berufen,  den  Verlauf  des  Tierversuches 
sicherer  zu  gestalten. 

Nach  allen  vorliegenden  Erfahrungen  wird  die  Lebens¬ 
fähigkeit.  des  Tuberkelbazillus  durch  Antiformin  selbst  im 
stärkerer  Konzentration  nicht  geschädigt  (Bernhard,  Les¬ 
sing  und  Hart,14)  Lier.15)  Wir  sind  dadurch  in 
die  Lage  versetzt,  Harne,  welche  neben  Tuberkelbazillen 
virulente  Eitererreger  enthalten,  denen  das  intraperi¬ 
toneal  geimpfte  Meerschweinchen  in  Kürze  erliegt,  durch 
Verarbeitung  mit  Antiformin  von  diesen  zu  befreien  und 
tür  das  Tierexperiment  brauchbar  zu  machen.  Unsere  Un¬ 
tersuchungen  in  dieser  Richtung  sind  jedoch  noch  nicht 

")  Lessing  u.  Hart,  Wiener  klin.  Wochensehr.  1911,  Nr.  9. 

15)  Lier,  Med.  Klinik  1910,  Nr.  37. 


zahlreich  genug,  um  in  dieser  Frage  ein  abschließendes  Urteil 
zu  gestatten. 

\\  ii  fassen  unsere  Jt-rfahrungen,  die  wir  an  etwa 
40  tuberkelbazillenhälligen  Harnen  m  vielen  hundert  Ein¬ 
zeluntersuchungen  gewannen,  dahin  zusammen: 

1.  Das  Antiforminverfahren  nach  Uhlenhut  und 
Xy  land  er  bietet  nur  bei  der  Untersuchung  sehr  eiter- 
hältiger  Harne  eine  größere  Sicherheit,  als  die  Färbung 
der  nativen  nicht  vorbehandelten  Sedimente.  Am  brauch¬ 
barsten  erwies  sich  uns  die  Modifikation  der  Methode  von 
Löffler,  nach  ihr  die  Kombination  des  Antiformin- 
Ligroins  nach  [Bernhardt  und  Haserodt. 

2.  Für  den  Tierversuch  gestattet  die  Kombi¬ 
nation  der  Bloch  sehen  Impfung  mit  dem  Antifor- 
minverfahren  eine  wünschenswerte  Verein¬ 
fachung  und  Abkürzung  der  Untersuchung,  bei 
großer  Verläßlichkeit  der  Resultate. 

3.  Bei  Harnen,  die  neben  Tuberkelbazillen 
virulente  Eitererreger  enthalten,  dürfte  die  Vor¬ 
behandlung  mit  Antiformin  das  rasche  Eingehen 
der  Versuchstiere  verhüten. 


Nachtrag.  Bei  Abschluß  dieser  Arbeit  finden  wir 
einen  von  A-  Bloch  im  ärztlichen  Verein  in  Frankfurt a.M. 
gehaltenen,  im  der  Münchener  Medizinischen  Wochen¬ 
schrift  vom  29.  November  1910  referierten  Vortrag.  Bloch 
empfiehlt  in  gleicher  Weise  wie  wir  in  dieser  Mitteilung 
die  Kombination  des  Antiforminverfahrens  mit  der  von 
ihm  seinerzeit  angegebenen  Meerschweinchenimpfung. 

Aus  der  deutschen  chirurgischen  Klinik  in  Prag. 

Zur  Drainage  der  Bauchhöhle  mit  Dreesmann- 
schen  Glasdrains. 

Von  Dr.  Rudolf  Rubescli,  Assistenten  der  Klinik, 

Durch  die  Arbeiten.  Rohns11)  wurde  gezeigt,  wie  die  Bauch¬ 
höhle  bei  Peritonitis  in  zweckmäßiger  Weise  zu  drainderen  ist. 

Auch  wir  gehen  nach  seinem  Grundsätze  vor : 

Drainage  der  tiefsten  Stellen  und  Verschluß  der  Bauchhöhle 
durch  Naht  bis  an  die  Drainageöffnung,  bzw.  -Öffnungen  zum 
Zwecke  der  Wiederherstellung  des  intraabdominellen  Druckes; 
denn  nur,  wenn  dieser  sich  entsprechend  geltend  machen  kann, 
kann  das  Exsudat  der  Bauchhöhle  in  die  Drainageröhren  steigen, 
beziehungsweise  getrieben  werden. 

Mit  den  Erfolgen  sind  wir  sehr  zufrieden,  besonders  aber 
seit  dem  Gebrauche  der  von  Drees  mann  angegebenen  Glas¬ 
drains,  welche  eine  wesentliche  Verbesserung  der  Art  der  Drai¬ 
nage  der  Bauchhöhle  bedeuten. 

Eine  in  jüngster  Zeit  jedoch  mit  diesen  gemachte  Erfahrung 
erscheint  mitteilenswert. 

Der  Verlauf  war  zunächst  folgender : 

Anamnese:  K.  F.,  50  Jahre  alter  Kutscher,  wurde  am 
28.  November  1910  zur  Klinik  eingebracht.  Der  Patient  hatte 
einen  Stoß  von  der  Deichsel  eines  Lastwagens,  den  er,  vorne  an 
der  Deichsel  stehend,  dirigieren  wollte,  gegen  die1  rechte  Bauch¬ 
hälfte  erlitten  und  war  von  dem  Deichselende  an  eine  Wand 
gedrückt  worden.  Nach  dem  Unfälle  ging  der  Patient  noch  seinen 
Obliegenheiten  als  Kutscher  nach  und  ließ  sich  erst  drei  Stunden 
nach  dem  Unfälle  zur  Klinik  bringen,  wo  er  um  8  Uhr  abends 
eintraf. 

Status  praesens:  Mittelgroßer,  kräftiger  Mann  mit  ge¬ 
sunden  Thoraxorganen.  Rechts  und  etwas  unterhalb  vom  Nabel 
tastet  man  eine  von  oben  lateral  nach  unten  medial  schräg  ver¬ 
laufende  Dehiszens  der  Muskulatur  der  vorderen  Bauchdecken. 

Unter  der  nur  leicht  geröteten,  nicht  abgeschürften  Haut 
ist  in  der  Tiefe  Darm  zu  tasten.  Die  Bauchdecken  sind  allent¬ 
halben  weich  und  abgesehen  von  leichter  Druckschmerzhaftig¬ 
keit  am  Orte  der  Gewalteinwirkung  nirgends  abnorm  druck- 
schmerzhaft.  Temperatur  normal,  Zunge  feucht,  Puls  86,  rhyt- 
miseh,  von  guter  Füllung  und  Spannung.  Kein  Aufstoßen.  Be¬ 
wußtsein  seit  denn  Unfälle  nicht  (getrübt.  Im  Harne  kein  Blut, 
kein  Eiweiß. 


')  R  e  h  ii,  Ueber  die  Behandlung  infektiös-eitriger  Prozesse  im 
Peritoneum.  Archiv  für  klin.  Chirurgie  1902,  Bd.  67. 


422 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


Mit  Rücksicht  auf  diesen  nicht  gestörten  Allgemein zustand 
wurde  von  einer  sofortigen  Laparotomie  zunächst  abgesehen. 

Mit  folgendem  Morgen  (29.  November)  trat  insofern  eine 
Aenderung  im  Befinden  des  Patienten  ein,  als  die  Temperatur 
auf  38-5"  gestiegen  war  und  leichter  Meteorismus  sich  eingestellt 

hatte.  /  , 

Bei  der  nun  sofort  am  Orte  des  Traumas  (unter  allgemeiner 
Narkose)  vorgenommenen  Laparotomie  fand  sich  das  intakte  Peri¬ 
toneum  durch  eine  Lücke  der  zerrissenen  iBauchdeckenmuskulatur 
hindurchgetreten  und  frei  unter  der  Haut  liegend.  Die  i  echte 
Bauchhälfte  enthielt  reichliches  fibrinös -eitriges  Exsudat,  dem 
auch  etwas  Dünndarminhalt  beigemengt  war.  Ebenso  enthielt 
das  kleine  Becken  reichlich  Eiter.  ’ 

Eine  hohe  Dünndarmschlinge  war  vollkommen  quer  durch- 
l  issen.  Die  Ränder  des  Risses  waren  gequetscht.  Die  Dünndarm¬ 
schlingen,  besonders  die  in  der  Umgebung  der  Kontinuitätstren¬ 
nung,  °waren  stark  eitrig  -  fibrinös  belegt.  Das  dem  Darmriß  ent¬ 
sprechende  Mesenterium  zeigte  einen  radiären  Einriß  von  12  cm 

Länge.  .  .  ,  .  , 

Nachdem  das  Exsudat,  soweit  dies  möglich  wai,  cluicn 
Gazetampons  entfernt  war,  wurden  die  durehrissenen  Enden 
durch  Naht  verschlossen  und  die  blinden  Enden  side  to  side 
durch  E n te r oan astom ose  mittels  fortlaufender  Naht  wieder  ver¬ 
einigt.  Der  Riß  im  Mesenterium  wurde  vernäht.  In  das  kleine 
Becken  wurde  ein  Dreesm  a  nnsches  Glasrohr,  dessen  Inneres 
auf  das  sorgfältigste  mit  einem  Jodoformstreifen  austamponiert 
war,  eingeführt.  Das  obere  Ende  des  Glasrohres  winde  an  der 
Haut  fixiert.  Neben  das  Glasrohr  wurden  noch  zwei  Gazetampons, 
jedoch  nicht  der  ganzen  Länge  des  Rohres  entsprechend, 
eingeführt;  der  Rest  der  Bauchhöhle  wurde  mit  durchgreifenden 
Nähten  vollständig  verschlossen. 

Das  Glasrohr  drainierte  vorzüglich.  Die  durchfeuchteten 
Jodoformstreifen  des  Glasrohres  wurden  die  ersten  Tage  zwei¬ 
mal,  die  folgenden  einmal  täglich  durch  neue  ersetzt.  Hiebei  wurde 
darauf  geachtet,  worauf  Dreesm  a nn  Gewicht  legt,  daß  die 
tamponierte  Gaze  das  Blasrohr  ganz  ausfüllt.  .  Am 
vierten  Tage  nach  der  Operation  ging  der  Patient  infolge  links¬ 
seitiger  Pneumonie  zugrunde. 

Der  Fall  kam,  da  es  sich  um  einen  Unfall  handelte,  im 
gerichtlich  -  me?  d  I  z  i  n  is  c  hen  Institute  (Prof.  Dr.  Paul 
Dittrich)  zur  Sektion.  Mit  Rücksicht  auf  den  für  den  Chirurgen 
wichtigen  Befund  wurde  mir  der  Fall  von  Herrn  Professor 
Dr.  Dittrich  zur  Veröffentlichung  überlassen.  Ich  spreche  auch 
an  dieser  Stelle  Herrn  Prof.  Dr.  Dittrich  meinen  Dank  aus. 

Bei  der  am  5.  Dezember  1910  vorgenommenen  Sektion 
fand  sich  in  der  Bauchhöhle  kein  freies  Exsudat  mehr.  Die, 
wie  wir  bei  der  Operation  gesehen  draben,  ausgebreitete  und  hoch¬ 
gradige  Peritonitis  war  somit  dank  der  guten  Funktion  des 
Dreesmann  sehen  Glasrohres  beherrscht  worden.  Dis  Naht  am 
Darme  hatte  vollständig  gehalten.  130  cm  oberhalb  der  Ueocökal- 
klappe  fand  sich  ein  Teil  der  seitlichen  Wand  einer 
1 1  e  u  m  s  c  h  1  i  n  g  e 2)  in  eine  seitliche  Oeffnung  des  Glas 
drains  hineingestülpt  u.  zav.  in  der  Weise,  daß  das  im 


2)  Das  Präparat  demonstriert  in  der  wissenschaftlichen  Gesellschaft 
deutscher  Aerzte  in  Prag  am  22.  Februar  1911. 


Glasrohr  befindliche  Stück  der  Darlmwand  eine  kleinkirsch¬ 
große,  kugelige  Blase  von  blutigroter  Farbe  bildete.  Das  ein¬ 
getretene  Darmstück  hatte  einen  Durchmesser  von  15  mm  \ siehe 
Abbildung). 

Entsprechend  der  Oeffnung,  durch  welche  die  Darm w und 
in  das  Glasrohr  eingetreten  war,  erscheint  die  Darmwand  fest 
eingeschnürt;  man  kann  diesen  Befund  sehr  gut  mit  einer  Littre- 
s dien  Hernie  vergleichen,  wobei  die  Bruchpforte  von  den  Rändern 
der  seitlichen  Oeffnung  des  Glasrohres  gebildet  wird.  Der  den 
Rändern  anliegende  feil  des  Darmes  —  der  Bruchring  er¬ 
scheint.  bläulichrot  verfärbt.  Das  in  das  Glasrohr  eingetretene 
Darmwandstück  befindet  sich  seitlich  an  der  Darmzirkumferenz 
in  der  Nähe  des  Ansatzes  des  Mesenteriums,  so  daß  dieses  ver¬ 
zogen  erscheint.  Der  Darm  ist  an  dieser  Stelle  geknickt  und  auf 
die  Hälfte  seines  Lumens  eingeschnürt. 

Das  in  diesem  Falle  zur  Drainierung  benützte  Glasdrain 
hatte  eine  Länge  von  14  cm  und  einen  Durchmesser  von  15  mm. 
Die  einzelnen  seitlichen  Löcher  hatten  einen  Durchmesser  bis 

4  mm.  JH 

Aehnliche  Einklemmungen  von  Bauchiuhalt  in  seitliche  Oeff- 
ii u ngen  sind  schon  vorgekommen.  Drees  mann3)  erwähnt,  daß 
unter  seinen  200  Fällen  von  Peritonitis,  in  denen  er  seine 
Glasdrains,  deren  seitliche  Oeffnungen  1  mm  bis  3  mm  Durch¬ 
messer  hatten,  zur  Anwendung  brachte,  sich  drei-  bis  viermal  . 
Netz  oder  Granulationen  durch  die  Oeffnungen  in  das  Rohr 
gedrängt  hatten.  Die  Glasdrains  ließen  sich  aber  ohne  Schwierig¬ 
keit  durch  rotierende  Bewegungen,  im  Notfälle  nach  galvano- 
kaustischer  Abtragung  der  Granulationen,  entfernen. 

Einmal  ereignete  es  sich,  ganz  so  wie  in  unserem  Falle, 
daß  bei  einer  Patientin,  welche  wegen  Peritonitis  nach  gangrä¬ 
nöser  Darmhemie  operiert  worden  war,  Darmwand  durch  eine 
Oeffnung  in  das  Innere  des  Glasdrains  'sich  eingestülpt  hatte  und 
im  Innern  des  Glasrohres  knopfförmig  vorsprang.  Eine  Repo¬ 
sition  gelang  in  diesem  Falle  nicht.  Drees  mann  sah  sich  daher 
gezwungen,  den  knopfförmigen  \orsprung  abzutragen  und  zu 
nähen. 

Eine  solche  artefizielle  „Littresche  Hernie“  braucht  nicht 
immer  frühzeitig  genug  bemerkt  zu  werden,  besonders  dann 
nicht,  wenn  der  Eintritt  der  Darmwand  in  der  Nähe  des  Endes 
des  Glasdrains  erfolgt,  wie  in  unserem  Falle. 

In  diesem  Falle  wäre  es  zu  einer  Dünndarmfistel  gekom¬ 
men.  Wenn  diese  auch  infolge  schon  genügend  vorhandener  Ver¬ 
klebungen  der  Umgebung  voraussichtlich  wohl  zu  keiner  Peri¬ 
tonitis  geführt  hätte,  so  wäre  doch  das  Krankenlager  wesentlich 
verlängert  worden. 

Wie  am  Präparate  zu  sehen  ist,  springt  der  Mesentenal- 
ansatz  in  das  Darmlumen  vor,  bzw.  ist  in  dieses  hineingezogen, 
dies  hätte  aber  ganz  gut  als  erste  Anlage  zur  Ausbildung  eines 
kleinen  Sporns  dienen  können.  Durch  diesen  hätte  die  Fistel  den 
Charakter  eines  Anus  praeternaturalis  annehmen  können. 

Aber  auch  eine  Naht  kann  bisweilen  schwierig  werden,  wenn 
die  Darmschlinge  in  der  Tiefe  des  Beckens  fixiert  ist,  ja  eine 
an  sich  ganz  einfache  Naht  kann  unmöglich  werden,  sobald  die 
Serosa  des  Darmes  schon  mit  Granulationen  bedeckt  ist. 

Um  derartige  unangenehme  Ereignisse  zu  vermeiden,  em¬ 
pfiehlt  Dreesmann,  die  Oeffnungen  höchstens  1mm  groß  zu 
wählen  und  darauf  zu  achten,  das  Innere  der  Glasdrains  gut 
mit  Gaze  zu  tamponieren. 

Das  letztere  war  geschehen.  Das  in  Verwendung  gestandene 
Glasdrain  jedoch  war  eines  von  den  im  Handel  käuflichen  und« 
hatte  seitliche  Oeffnungen.  welche  einem  etwas  größeren  Durch¬ 
messer  hatten,  als  Dreesm  an  n  angibt,  nämlich  einen  solchen 
vom  bis  4  mm. 

Es  läßt  sich  sicher  sagen,  daß  größere  derartige  Oeffnungen 
leichter  eine  Inkarzeration  ermöglichen  als  kleinere;  ganz  ab<aj 
von  der  Hand  weisen  läßt  sich  die  Möglichkeit  nicht,  daß  auch'  . 
in  kleineren  Oeffnungen  gelegentlich  eine  Einklemmung  stattfindeM 
kann,  besonders  dann,  wenn  die  Peritonitis  mit  stärkerem  Mo- 
teori'smus  einhergehl.  Die  im  Darme  unter  Druck  stehenx-1 
den  Gase  pressen  die  gedehnte  und  dadurch  verdünnte  l>ärm- 
wand  gegen  die  seitlichen  Löcher  des  Glasdrains  und  können 
so  schließlich  zu  einer  Einstülpung'  führen.  Dabei  spielt  viel-» 
leicht  auch  die  gute  Saugkraft  der  im  Glasdrain  befindhetaj  _ 
Gaze  eine,  wenn  auch  nur  unterstützende  Rolle.  Auf  Millimeter;, 
genau  lassen  sich  im  übrigen  die  Oeffnungen  nicht  herstellcnj 
wir  müssen  daher  damit,  rechnen,  einmal  etwas  größere,  einmal 
etwas  kleinere  Oeffnungen  in  den  Glasdrains  zu  haben.  Gegen 
allzukleine  Oeffnungen  spricht  der  Umstand,  daß  sie  wenigen! 
rasch  drainieren,  als  größere. 

3)  ff.  Dreesm  an  n.  Die  Tampondrainage  in  der  Bauchhöhle.  Med. 
Klinik  1906,  Nr.  23. 


Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


423 


Es  vviirde  sich  daher  empfehlen,  die  Durchmesser  der  seit¬ 
lichen  Ooffnunigen  der  Glasdrains  nicht  auf  eine  kleinliche  und 
nicht  immer  einzuhaltende  Differenz  von  1  mm  zu  beschränken, 
sondern  sie  von  vornherein  mit  ca.  2  bis  höchstens  1  mm  zu 

wählen. 

Dann  aber  wäre  es  notwendig,  die  Glasdrains  vor  ihrer 
Einführung  in  die  Bauchhöhle  mit  einer  für  Flüssigkeit  gut  durch¬ 
gängigen  Hülle  zu  umgeben.  Das  Ei'n  hüllen  in  eine  Gaze- 
longette  empfiehlt  sich  nicht,  da  diese  in  Falten  gelegt 
würde  und  durch  das  leicht  gerinnbare  Exsudat  sehr  bald  ver¬ 
klebt.  wäre. 

Es  erscheint  mir  daher  zweckentsprechend,  über  derartige 
Glasdrains  einen  aus  poröser  Gaze  gefertigten,  gut  pas¬ 
senden  Strumpf  zu  ziehen,  der  dem  Glasdrain  straff  an¬ 
liegt.  Dadurch  würde  jede  Inkarzeration  oder  Eindringen  von 
Granulationen  oder  Netz  unmöglich  werden,  ohne  daß  durch1 
die  straff  anliegende  einfache  Lage  von  Gaze  der  Eintritt  von 
Exsudat  in  das  Glasrohr  beeinträchtigt  würde.  Von  der  guten 
Funktion  derartig  überzogener  Glasdrains  uns  zu  überzeugen, 
hatten  wir  erst  letzthin  Gelegenheit  bei  einem'  Falle  von  diffuser 
Peritonitis  infolge  Perforation  eines  Ulcus  ventriculi  und  einem 
Falle  von  diffuser  Peritonitis  infolge  Perforation  des  Wurmfort¬ 
satzes. 


Kann  die  Endocarditis  acuta  epidemisch  auf- 
treten  und  herrscht  gegenwärtig  eine  solche 
Epidemie  in  Wien? 

Von  Priy.  Doz.  Dr.  Max  Herz. 

Seit  Dezember  1910  bis  heute  sah  ich  in  Wien  um  so  viel 
mehr  Fälle  von  akuter  Endokarditis  als  in  früheren  Jahren,  claß 
mir  der  Gedanke  näher  rücken  mußte,  daß  es  sich  hier  vielleicht 
um  ein  gehäuftes  Auftreten  infolge  von  allgemein  herrschenden 
günstigeren  E n t s te Im n g s b e di rrjf un  g  en  handle,  d.  h.,  da  wir  eine 
zweifellose  Infektionskrankheit  vor  uns  haben,  um  eine  Epidemie. 

Angesichts  der  bekannten  Beziehungen  der  Endokarditis 
zum  Rheumatismus  wird  diese  Vermutung  durch  die  abnormen 
Witterungsverhiältnissie  der  letzten  Monate  gestützt. 

Meine  Fälle  betrafen  ausschließlich  sehr  jugendliche  Indivi¬ 
duen  im  Alter  von  6  bis  18  Jahren. 

Bemerkenswert  scheint  mir  die  Tatsache,  daß  '  trotz  des 
jugendlichen  Alters  der  Patienten  fast  durchwegs  Rezidiven  an 
bereits  veränderten  Klappen  Vorlagen. 

Der  Verlauf  war  überall  ziemlich  gleichmäßig: 

Beginn  mit  mäßigem  Fieber  mit  kurzen  unregelmäßigen  Ex¬ 
azerbationen,  ohne  Angina  oder  Gelenkssymptome.  Erst  im  spä¬ 
teren  Verlaufe  wurden  hie  und  da  Schmerzen  in  einem  oder  in 
beiden  Fußgelenken  angegeben.  Einen  typischen  multiplen  Ge¬ 
lenksrheumatismus  konnte  ich  nicht  beobachten. 

Meist  in  der  zweiten  Woche  Auftreten  einer  Tachykardie, 
die  von  nun  an  während  der  ganzen  Krankheitsdauer  vorherrscht, 
zugleich  Herzklopfen,  Herzschmerz,  gewöhnlich  in  der  Gegend  des 
Spitzenstoßes,  Tachypnoe,  seltener  Atemnot  und  Zyanose.  Das 
meist  bereits  vorhandene  systolische  Mitralgeräusch  ändert  seinen 
Charakter,  die  Akzentuation  des  zweiten  Pulmonaltones  nimmt  an 
Intensität  zu. 

Relativ  günstig  war  im  allgemeinen  das  Verhalten  des  Herz¬ 
muskels,  insofern  als  bedeutendere  Dilatationen  selten  zu  konsta¬ 
tieren  waren. 

Sehr  peinlich  machte  sieh  hingegen  häufig  ein  quälender, 
trockener  Husten  geltend,  der  gerne  bei  Nacht  auftrat,  durch  die 
Nahrungsaufnahme  leicht  provoziert  wurde,  nicht  selten  von  Er¬ 
brechen  gefolgt  und  durch  Narkotika  nur  schwer  zu  unter¬ 
drücken  war. 

Da  das  Materiale  eines  Praktikers  in  seiner  Zusammen¬ 
setzung  so  sehr  von  Zufälligkeiten  abhängig  ist,  daß  es  statistische 
Erwägungen  kaum  gestattet,  kann  der  Zweck  dieser  Zeilen  nur 
darin  bestehen,  die  Kollegen  zu  einer  Revision  ihrer  Erfahrungen 
und  zu  Aeußr-rungen  über  diesen  der  allgemeinen  Beachtung  gewiß 
würdigen  Gegenstand  zu  veranlassen,  besonders  diejenigen  Herren, 
welche  über  Beobachtungen  an  dem  Krankenmaterial  öffentlicher 
Heilanstalten  verfügen,  und  die  Kinderärzte. 


Referate. 

Der  Haftapparat  der  weiblichen  Genitalien. 

Eine  anatomische  Studie  von  Dr.  E.  Martin. 

I.  Teil:  •  **. 

Heckenbindegewebe.  Faszien-  und  Muskelapparat. 

Mit  16  Tafeln. 

Berlin  1911i  Karger. 

Unter'  vorstehendem  Titel  erscheint  der  erste  Teil  eines 
groß  angelegten  Werkes,  bestimmt  zur  Klärung  der  noch  immer 
und  zwar  jetzt  mehr  als  früher  strittigen  Frage  der  Befestigung 
der  Beckeneingeweide  beim  Weibe  und  deren  pathologischen  Ab¬ 
weichungen.  Trotzdem  sich  der  vorliegende  erste  Teil  vorwiegend 
mit  den  Grundlagen,  die  einer  späteren  Diskussion  über  das 
Thema,  der  Lageveränd  er-ungen  zu  dienen  bestimmt  sind;  beschäf¬ 
tigt,  sehen  wir  doch  schon  in  diesem  ersten  anatomischen  Teile 
die  deutlichen  Umrisse  des  zweiten  Teiles  vor  uns.  Bis  vor 
kurzer  Zeit  wurden  die  Befestigungsmittel  des  Uterus  und  der 
umliegenden  Beckenorgane  in  der  Weise  aufgefaßt,  daß  man  den 
Uterus  durch  gewisse  Bänder,  die  als  Verstärkungen  oder  Verdich¬ 
tungen  des  Beckenbindegewebes  erkannt  worden  waren,  sowie 
durch  die  Elastizität  des  Peritoneums  seine  Lage  behaupten  ließ. 
Mit  dieser  Auffassung  hat  das  im  Jahre  1907  erschienene  Werk 
von  Halb  an  und  Tandler,  „Anatomie  und  Aetiologie  der  Ge¬ 
nitalprolapse  des  Weihes“,  gründlich  aufgeräumt.  Hal  ban  und 
Tandler  billigen  den  sogenannten  Aufhängebändern  nur,  einen 
höchst  untergeordneten  Wert  zu,  indem  sie  nachzuweisen  suchen, 
daß  der  Uterus  und  mit  ihm  die  übrigen  Beckenorgane  nicht  durch 
jene  isehr  zarten,  dehnbaren,  wenig  widerstandsfähigen,  nur  fälsch¬ 
lich  Bänder  genannten  Bindegewebszüge  im  Becken  suspendiert, 
sondern  durch  den  Beckenboden  gestützt  und  getragen  und  da¬ 
durch  am  Tiefertreten  gehindert  werden.  Der  wichtigste  Teil  des 
Beckenbodens  ist  aber  der  Levator  ani. 

Hal  ban  und  Tandler  vertreten  also  die  Anschauung, 
daß  ein  Stützapparat  den  Uterus  trage. 

Eduard  Martin  greift  nun  auf  Grund  neuerer,  sehr  sorg¬ 
fältiger  Präparationen,  sowie  auf  Grund  klinischer  Beobachtungen 
die  alte  Lehre  vom  Haftapparat,  als  der  wichtigsten  Maßnahme 
der  Natur  zur  Erhaltung  der  normalen  Lage  des  Uterus  wieder 
auf  und  gibt  ihr  eine  neue,  moderne  Gestaltung.  Es  unterliegt 
keinem  Zweifel,  daß  diese  alte  Lehre  auch  in  dem  neuen,  glän¬ 
zenden  und  bestechenden  Gewände  Widerspruch  finden  wird. 
Referent  sieht  sich  nicht  berufen,  schon  heute  zu  diesem 
Kampfe  der  Geister  Stellung  zu  nehmen.  Es  gilt  ja  doch,  zunächst 
abzuwarten,  wie  sich  die  Vertreter  des  Stützapparates  zur  Auf¬ 
fassung  Martins  stellen  werden.  So  will  denn  der  Referent, 
abgesehen  von  einigen  kritischen  Bemeirkungen,  sich  im  wesent¬ 
lichen  darauf  beschränken,  das  Werk  E.  Martins  möglichst 
objektiv  zu  referieren. 

Der  erste  vorliegende  Teil  des  Werkes  von  E.  Martin,  dem 
in  Bälde  der  zweite  Teil  folgen  soll,  gliedert  sich  in  drei  Ab¬ 
schnitte:  Der  erste  Teil  gibt  die  über  das  angezogene  Thema  bis- 
nun  vorliegenden  Tatsachen  und  Anschauungen,  besonders  die 
grundlegenden  anatomischen  Studien  von  Waldeyer,  Holl  und 
Rief  fei,  zuletzt  aber  auch  die  von  Hal  ban  und  Tandler  in 
objektiver  Darstellung  wieder.  Der  zweite  Teil  beschäftigt  sich 
mit  der  Beschreibung  der  13  dem  Werke  zugrunde  liegenden 
Präparate,  unter  Erläuterung  ihrer  Abbildungen.  Der  dritte  Ab¬ 
schnitt  gibt  die  Zusammenfassung'  und  die  Schlußfolgerungen 
aus  den  beiden  vorstehenden  Abschnitten,  besondere  aber  des 
zweiten. 

Mit  diesem  Abschnitte,  dem  wichtigsten,  wollen  wir  uns 
im  Folgenden  beschäftigen.  Doch  sei  es  schon  jetzt  gesagt,  daß 
wir  uns  hier  bei  der  Fülle  der  Einzelheiten  nur  auf  Andeu¬ 
tungen  beschränken  können.  So  sei  denn  zunächst  hervorgeh  oben, 
daß  E.  Martin  großes  Gewicht  auf  das  Becken  bindege  wo  he 
als  Haftapparat  des  Uterus  legt.  Besondere  sind  es  die  schon 
von  Freund  erkannten  Verstärkungen  desselben,  die  nach  den 
beiden  Seiten,  nach  vorne  und  nach  hinten  von  der  Zervix  aus- 
strahlenden  Bindegewebsstränge,  denen  E.  Martin  in  Ueberein- 
stimmung  mit  früheren  Bearbeitern  dieses  Thomas  ‘den  größten 
Wert  als  Haftapparat  des  Uterus  und  der  Blase  beilegt.  Er  be- 


k 


424 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


zeichnet  diesen  Haftapparat  als  Retinaculum  uteri  und  unter¬ 
scheidet  an  ihm  drei  paarige  Abschnitte,  die  Pars  anterior,  die 
beiderseits  zur  Harnblase  verläuft,  die  Pars  media  gegen  die 
seitliche  Beckenwand  ziehend  und  die  Pars  posterior  retinaculi 
uteri,  die  nach  dem  Kreuzbein  ausstrahlt.  Den  hauptsächlichsten 
Befestigungsapparat  der  Blase  bilden  die  Ligamenta  pubo- 
vesicalia;  erst  in  zweiter  Linie  kommt  die  Pars  anterior  des 
Retinaculum  uteri  in  Betracht. 

Den  Verschlußapparat  des  Beckens  beschreibt  E.  Martin 
im  allgemeinen  konform  der  Schilderung  früherer  Beobachter, 
doch  fegt  er  großes  Gewicht  auf  die  Faszien,  die  andere  als 
sehr  zarte,  kaum  isoliert  darstellbare  und  von  dem  übrigen 
Bindegewebe  kaum  trennbare  Platten  beschreiben.  Die  obere  Aus¬ 
kleidung  des  Beckenbodens  bildet,  die  Fascia  pelvis ;  sie  bekleidet 
die  Musculi  levator  ani,  coccygeus  und  pyriformis.  Die  untere 
Verschlüßplatte  des  Beckens  ist  eine  dreifache,  die  Fascia  perinei 
alsi  Fortsetzung  der  allgemeinen  Fascia  superficialis  des  Bauches, 
die  Fäscia  diaphragmatica  inferior  und  superior.  Zwischen  der 
Fascia  perinei  und  der  Fascia  diaphragmatica  inferior  sind  ein¬ 
gelagert  die  Musculi  transversus  perinei,  bulbocavernosus,  die 
Barthol  i  n  i  'sehe  Drüse,  der  Bulbus  vestibuli,  ein  Klitoris1- 
schenkel  und  etwas  Fett..  Zwischen  Fascia  diaphragmatica  in¬ 
ferior  und  s'uperior  liegt  der  Musculus  trigoni  urogenitalis.  Alle  drei 
Faszien,  sowie  die  Fascia  pelvis,  lassen  an  Stelle  des  Durch¬ 
trittes1  der  Scheide  und  der  Harnröhre  entsprechend  große  0 Öff¬ 
nungen  frei,  an  denen  sie  mit  ihren  Rändern  verschmelzen  und 
auf  diese  Weise  einen  Faszienrand  bilden,  von  dem  Martin  be¬ 
hauptet,  er  werde  von  Vielen  mit  dem  freien  Rande  des  Levator 
ani  verwechselt.  Der  Referent  kann  sich  dieser  Ansicht  nicht 
anschließen,  da  nach  seiner  Ueberzeugung  der  freie  Rand  des 
Levators  viel  höher  oben  von  der  Scheide  aus  getastet  wird, 
als  jener  Faszienbogen. 

Obwohl,  wie  erwähnt,  der  vorliegende  erste  Teil  dieses 
Werkes  nur  die  anatomischen  Grundlagen  bringt,  beschäftigt  sich 
der  Autor  doch  schon  andeutungsweise  mit  der  Aetiologie  des 
Genitalprolapses.  Er  führt  an,  daß  die  Portio  auch  dann  an 
ihrem  Platze  bleibt,  wenn  man  die  hintere  Scheidenwand  mit 
einem  breiten  Spekulum  stark  nach  hinten  zieht,  daß  auch  nach 
totalen  Dammrissen  selten  Prolapse  entstehen.  Er  führt  ferner 
die  Prolaplse’  bei  Nulliparen  als  Stütze  seiner  Ansicht  von  der 
Unwirksamkeit  des  Beckenbodens  als  Stützapparat  an,  da  in 
solchen  Fällen  doch  der  Beckenboden  unversehrt  sei.  Doch 
kommen  solche  Prolapse  bei  Nulliparen  gerade  nach  erschöpfen¬ 
den  Krankheiten,  bei  muskelschwachen  anämischen  Individuen 
zustande,  also  in  Fällen,  in  denen  der  Levator  ani  insuffizient 
geworden  ist.  Ref.  kennt  auch  Fälle  von  Prolaps  bei  neugeborenen 
Kindern,  bei  denen  mangelnder  Tonus  des  Beckenbodens  infolge 
von  Spina  bifida  den  Prolaps  beim  ersten  Schreien  zustande 
kommen  ließ  und  zweifelt,  daß  das  Retinakulum  auch  dann 
seine  Funktion  weiter  üben  würde,  wenn  die  hintere  Scheiden¬ 
wand  nicht  nur  vorübergehend,  wie  in  jenem  Beispiele,  sondern 
dauernd  ausgeschaltet  würde,  während  bei  Rissen  strammes 
Narbengewebe  einen  teilweisen  Ersatz  bildet.  Gründe  genug,  um 
doch  dem  Beckenboden  eine  größere  Bedeutung  zuzuschreiben  als 
dies  geschieht,  wenn  man  sich  den  Uterus  ausschließlich  durch 
den  Haftapparat  im  Becken  schwebend  denkt.  Nichtsdesto^ 
weniger  gibt  auch  Martin  zu,  daß  der  Beckenboden 
aü  der  L ag  e erhal  tun g  der  Beckenorgane  mitwirkt 
und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  subseröslen 
Gewebszüge  unterstützt.  Halten  wir  diesen  Satz  fest,  so 
finden  wir  vielleicht  in  ihm  die  Brücke  zur  Einigung  der  sich 
heute  so  schroff  gegenüberstehenden  Anhänger  der  Lehre  vom 
Stützapparate  hier  und  der  Lehre  vom  Haftapparate  dort.  Ich 
glaube,  die  Natur  läßt  sich  nicht  schematisieren.  Wie  zumeist 
dürfte  auch  hier  die  Wahrheit  in  der  Mitte  liegen.  Ob  dann 
schließlich  dem  Levator  ani  selbst  oder  seiner  Faszie  die  Haupt¬ 
funktion  bei  der  Lageerhaltung  zugeschrieben  wird,  scheint  mir 
nicht  von  so  großer  Bedeutung,  denn  Muskel  und  Faszie  gehören 
doch  zusammen  und  unterstützen  und  helfen  sich  gegenseitig. 

Niemand  wird  das  Werk  E.  Martins  aus  der  Hand  legen, 
ohne  nachhaltige  Befriedigung  zu  empfinden.  Eine  gediegene 
ernste  Arbeit,  eines  noch  jungen,  aber  schon  gediegenen  ernsten 
Forschers,  von  dem  die  Gynäkologie  noch  viel  zu  erwarten  hat. 


Nicht  unterlassen  können  wir  es,  zum  Schlüsse  die  vor¬ 
zügliche  Ausstattung  des  Werkes,  die  wahrhaft  künstlerischen 
Tafeln  Lohs  es  und  die  handliche  Buchbinderarbeit,  die  als 
mustergültig  für  ähnliche  Tafelwerke  zu  empfehlen  wäre,  rühmend 
hervorzuheben. 

Die  Verlagshandlung  S.  Karger  hat  auch  mit  diesem  Werke, 
wie  schon  so  oft,  wieder  einmal  Vortreffliches  geleistet. 

Schaut  a. 

* 

Beiträge  zur  praktischen  Chirurgie. 

Von  Dr.  Krecke. 

Bericht  über  die  Jahre  1907,  1908,  1909  aus  seiner  chirurgischen 

Privatklinik. 

532  Seiten. 

München  1910,  Lehmanns  Verlag. 

Es  ist  eine  erfreuliche  Erscheinung,  daß  ein  Chirurg  den 
Jahresbericht  seiner  Tätigkeit,  wenigstens  zum  größten  Teile, 
selbst  schreibt.  Man  merkt  das  aber  diesem  Berichte  auch  auf 
jeder 'Seite  an,  denn  mit  solcher  Wärme,  solch  feinem  Gefühle  im 
Fortlassen  des  minder  Wichtigen  und  Betonen  des  Beachtens¬ 
werten,  schreibt  nur  derjenige,  der  das,  was  er  beschreibt,  erlebt 
und  empfunden  hat.  Dadurch  kommen  auch  Unsicherheiten  in 
der  Diagnosen-  und  Indikationsstellung,  alle  Unvollkommenheiten 
in  der  Behandlung  in  dem  der  Wirklichkeit  entsprechenden  Aus¬ 
maße  in  höchst  lehrreicher  Weise  zum'  Ausdruck,  zumal  der 
Autor  nichl  schönfärberisch  auftritt,  Irrtümer  freimütig  einge¬ 
steht  und  eine  sehr  nüchterne,  wohltuende  Kritik  selbst  an  weit¬ 
verbreiteten  Ansichten  furchtlos  übt.  Gerade  das  alles  ist  es 
aber,  was  den  von  Schülern  erstatteten  Jahresberichten  fehlt 
und  ihnen  jede  persönliche  Note  und  damit  auch  das  Interesse 
raubt.  Diese  jungen  Kräfte,  die  ihre  Schilderungen  aus  den 
Krankengeschichten  nehmen,  erschöpfen  sich  in  Zahlen.  In  diesem 
Jahresberichte  wird  man  damit  nicht  behelligt.  Die  Statistik  wird 
in  wenig  Zeilen  abgetan  und  nicht  viel  mehr  gesagt,  als  daß  sich 
die  Zahl  der  in  Betracht  gezogenen  Operationen  im  Laufe  der 
drei  Jahre  auf  1925  belief. 

Zu  bedauern  ist  nur  ein  Mangel  und  das  ist  der  an  Obduk¬ 
tionen  und  Nachuntersuchungen. 

Der  532  Seiten  starke,  gut  ausgestattete  Band  bietet  dem 
Chirurgen  und  dem  allgemein  medizinisch  beschäftigten  Arzte 
eine  Fülle  des  Wissenswerten  u.  zw.  nicht  nur  in  Form  von 
Kasuistik,  sondern  auch  verschiedener  Gedanken  und  Kritiken. 
Er  gewährt  Einblick  in  die  durch  die  modernsten  Einflüsse  ver¬ 
änderte  Tätigkeit,  Beobachtungs-  und  Denkweise  der  Chirurgen. 
Durch  die  Zusammenstellung  fast  aller  Gebiete  chirurgischer  Tätig¬ 
keit,  wird  es  möglich,  daß  einzelne,  immerhin  wichtige  Beob¬ 
achtungen —  wie  zum  Beispiel  ein  Fall  von  diabetischer  Gangrän 
des  Gesichtes  —  die,  weil  ihre  Mitteilung  an  sich  zu  kurz  wäre, 
unbekannt  bleiben,  doch  zur  allgemeinen  Kenntnis  kommen. 

Auf  den  ersten  102  Seiten  werden  allgemein  chirurgische 
Angelegenheiten  besprochen.  Zur  Anästhesierung  verwendet  der 
Verfasser  vorwiegend  die  Morphin  -  Aethernarkose  und  hat  mit 
Skopolamin  zwei  Todesfälle  gehabt,  die  er  auf  Rechnung  des 
Medikamentes  .setzt.  Er  empfiehlt  die  Stauungsbinde  um  den  Hals 
als  Mittel  gegen  das  Erbrechen  nach  der  Narkose.  Von  großem 
Interesse  ist  der  Aufsatz  über  das  Karzinom.  Der  Verfasser  hält 
die  sehr  umfänglichen  Operationen  beginnender  Karzinome  für 
überflüssig  und  hat  fast  den  Eindruck  gewonnen,  als  ob  durch 
die  Fortnahme  des  Drüsenfilters  die  Organmetastasen  häufiger, 
die  lokalen  seltener  würden.  Immer  wieder  wird  auf  die  wech¬ 
selnde  Bösartigkeit  der  Krebsgeschwülste  hingewiesen.  Die  lang¬ 
sam  wachsenden  Krebsgeschwülste  der  Greisinnen  operiert  der 
Verfasser  überhaupt  nicht. 

In  besonders  ausführlicher  Weise  sind  die  Kropf  Operationen 
(41  Seiten)  von  Dr.  Daeschler  abgehandelt.  Die  in  den  letzten 
zehin  Jahren  operierten  217  Fälle  bilden  die  Grundlage  dieser 
Ausführungen.  Di©  Strumektomien  werden  in  Narkose  gemacht. 
Die  Resektionen  und  halbseitigen  Exstirpationen  werden  derart 
bevorzugt,  daß  nur  sechs  Enukleationen  zur  Ausführung  kamen. 
Um  die  Verletzung  des  Rekurnens  zu  vermeiden,  wird  er  immer 
auspräpariert.  Unter  216  Strumektomien  kam  es  nur  14mal  zur 
Verletzung  des  Nerven.  Um  auch  diese  Ziffern  herabzusetzen, 
wird  jetzt  an  der  Arteria  thyreoidea  inferior  immer  ein  tauben- 


Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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eigroßes  Stück  des  Schilddrüsengewebes  gelassen.  Es  ereigneten 
sich  im  Verlaufe  der  Operationen  sechs  Tetanien.  Auf  Einpflan¬ 
zung  von  Schilddrüsengewebe  in  die  Tibia,  kam  es  zu  leichter 
Besserung.  Auch  die  Basedowstrumen  werden  in  Narkose  ope¬ 
riert,  aber  da  wird  nur  Aether  zur  Narkose  verwendet.  Der  Ver¬ 
fasser  hat  mit  dem  Serum  nach  Möbius  recht  gute  Erfolge  erzielt. 

Die  tuberkulösen  Empyeme  wurden  einige  Male  mit  gutem 
Erfolge  so  behandelt,  daß  nach  der  Thorakozentese  Jodoformemul¬ 
sion  eingespritzt  wurde. 

Die  Laminektomie  wegen  Spondylitis  und  die  Förster- 
schei  Operation  werden  auf  Grund  eigener  Erfahrungen  be¬ 
sprochen. 

Der  i Verfasser  ist  ein  Freund  des  Frühaufstehens  nach  Lapa¬ 
rotomien  und  bringt  das  bei  den  am  Magen  Operierten  besonders 
nachdrücklich  vor.  Es  wird  ferner  über  acht  Kolonkarzinome 
Bericht  erstattet,  von  denen  die  meisten  in  drei  Akten  operiert 
wurden.  Bei  den  Gallensteinoperationen  wird  noch  die  Ansicht 
ausgesprochen,  daß  Konkremente  nur  in  der  Gallenblase  ent¬ 
stehen  können. 

Einen  breiten  Raum  —  64  Seiten  —  nimmt  natürlich  auch 
die  Darstellung  der  Erfahrungen  mit  der  Appendizitis  ein.  Der 
Verfasser  ist  der  Ansicht,  daß  sich  leichte  und  schwere  Erkran¬ 
kungen  genügend  sicher  unterscheiden  lassen,  um  .jene  unoperiert 
zu  lassen.  Schwere  Fälle  operiert  er  aber  ohne  Rücksicht  auf 
die  Dauer  der  Erkrankung.  Er  ist  der  Ansicht,  daß  dem  appen- 
dizitischen  Abszesse  die  Operation  immer  folgen  müsse,  weil 
sonst  Rezidiven  sicher  eintreten  und  entfernt  bei  der  Eröffnung 
des  Abszesses  immer  die  Appendix.  Seine  Erfolge  sprechen  für 
seine  Anschauung,  denn  nur  einmal  hat  er  bei  den  zahlreichen 
derartigen  Operationen  die  Appendix  schon  vollständig  zerstört 
gefunden.  Jeder  appendizitische  Anfall  ist  dem  Autor  eine  Indi¬ 
kation  für  die  Appendektomie  im  Intervall.  Eine  chronische  Appen¬ 
dizitis  ohne  vorausgegangenes  akutes  Stadium  wird  anerkannt. 
Der  Schrägschnitt  gilt  als  Regel,  der  pararektale  wird  nur  bei  un¬ 
sicherer  Diagnose  gemacht,  oder  wenn  ausgiebige  Tamponade 
in  Aussicht  steht.  Die  Abszesse  werden  prinzipiell  von  der  freien 
Bauchhöhle  her  angegangen.  Ausspülungen  werden  nur  bei  diffuser 
Peritonitisi  und  dann  mit  20  bis  30  Litern  Flüssigkeit  unternommen. 
Bei 'umschriebenen  Eiterungen  wird  Verschleppung  der  Infektions¬ 
stoffe  befürchtet  und  nicht  gespült.  Soll  aber  die  Operation  rasch 
beendet  werden,  wird  auch  bei  diffuser  Peritonitis  nicht  gespült. 
Die  Drainage  wird  nur  in  beschränkter  Weise  u.  zw.  mit  dem 
Zigarettendrain  ausgeführt.  Als  Nahtmaterial  dient  nur  Seide. 
Feber  die  Enterostomie  bei  entzündlichem  Ileus  hat  sich  der 
Verfasser  noch  nicht  zu  einem  abschließenden  Urteile  durchge¬ 
rungen,  hegt  aber  kein  großes  Vertrauen  in  das  Verfahren.  Die 
Kochsalzinfusionen  wurden  durch  die  rektalen,  tropfenförmigen 
Eingießungen  völlig  verdrängt.  Die  Douglasabszess©  werden  vom 
Mastdarme  aus  eröffnet. 

Die  Prostatahypertrophie  operiert  der  Verfasser  lieber  von 
der  Blase  aus.  Die  Operation  der  Wanderniere  wird  abgelehnt, 
die  Krankheit  als  eine  nichtchirurgische  bezeichnet.  Es  wird  über¬ 
ein  Hypernephrom  berichtet,  das  zuerst  Erscheinungen  von  Py¬ 
lorusstenose  verursachte  und  deshalb  zur  Gastroenterostomie 
führte.  Diese  hatte  auch  Erfolg,  aber  die  richtige  Diagnose  wurde 
erst  ein  halbes  Jahr  später  gemacht,  als  sich  die  Geschwulst  im 
Epigastrium  zeigte  und  dort  eine  Probeexzision  gemacht  wurde. 
Man  hatte  bei  der  ersten  Operation  ein  infiltriertes  Magengeschwür 
angenommen.  Eine  andere  Beobachtung  hat  deshalb  Interesse, 
weil  es  nach  der  Operation  eines  Hypernephroms  vier  Jahre  bis 
zum  Tode  dauerte,  wiewohl  die  Geschwulst  nicht  vollständig 
entfernt  werden  konnte,  da  sie  schon  in  die  Venen  eingebrochen 
war. 

Im  Berichte  finden  sich  auch  nicht  wenig  gynäkologische 
Operationen.  Der  Verfasser  ist  für  die  Totalexstirpation  als  Be¬ 
handlung  des  Prolapses  sehr  eingenommen.  Die  Schenkel hemien 
operiert  der  Verfasser  so,  daß  er  das  Poup  art  sehe  Band  an  die 
Fascia  pectinea  annäht,  oder  mittels  einer  Muskelplastik  die 
Bruchpforte  verschließt.  Die  Erfolge  befriedigen  ihn.  Nabelbrüche 
wili  er  aber  nur  operieren,  wenn  die  Frauen  noch  nicht  50  Jahre 
alt  sind. 

Ueber  die  angeborene  Hüftgelenksverrenkung  wird  von 
Dr.  Baum  Bericht  erstattet.  Mit  der  Stauungsbehandlung  winden 


bei  fungösen  Gelenkserkrankungen  gute  Erfolge  erzielt.  Der  Ver¬ 
fasser  hatte  die  Ueberzeugung,  daß  es  nur  dieser  Behandlungsart 
gelingt,  bewegliche  Gelenke  nach  der  Ausheilung  zu  erzielen. 
Tuberkulin:  wird  in  sehr  geringen  Dosen,  die  kein  Fieber  erzeugen, 
verwendet.  Kinder  werden  streng  konservativ  behandelt,  selbst 
Auskratzungen  —  weil  diese  erfolglos  bleiben  —  unterlassen. 

Ueber  die  Frakturen  wird  nur  ein  kurzer  Bericht  erstattet. 
Es  wird  darauf  hingewiesen,  daß  es  Radiusfrakturen  gebe,  die 
irreponibel  sind.  Die  Fixation  wird  beim  Speichenbruche  nur 
acht  Tage  lang  fortgesetzt,  dann  eine  Gipsschiene  angelegt  und 
täglich  werden  Bewegungen  gemacht. 

Aus  diesen  Andeutungen  möge  die  Reichhaltigkeit  des  Be¬ 
richtes  erkannt  und  entnommen  werden,  wie  lehrreich  er  für 
den1  Chirurgen  und  den  der  Chirurgie  ferner  Stehenden  ist. 

* 

700  diagnostisch-therapeutische  Ratschläge  für  die 
chirurgische  Praxis. 

Von  Walter  M.  Bricluier,  Eli  Moschcowitz,  Harold  M.  Hays. 
Deutsche  Uebersetzung  nach  der  dritten  amerikanischen  Auflage  von 

E.  Schümann. 

4  Mark. 

Leipzig  1910,  A.  Barth. 

Kompendien  sind  anscheinend  für  amerikanische  Lebens¬ 
gewohnheiten  auch  schon  zu  ausführlich  und  beschwerlich.  Sie 
werden  überboten  durch  diese  Sammlung  von  fast  im  Telegramm¬ 
stile  gehaltenen  therapeutisch  -  diagnostischen  Ratschlägen.  Sie 
können  wohl  nur  dazu  dienen,  durch  Fahrten  und  Warten  er¬ 
zwungene  müßige  Stunden  auszufüllen.  Manche  erprobte  Regel 
wird  hier  in  das  Gedächtnis  zurückgerufen,  etwa  abhanden  ge¬ 
kommene  Assoziationen  werden  wieder  geweckt,  vor  versteckten 
Gefahren  wird  gewarnt.  Keinesfalls  ist  das  Buch  für  den  Ler¬ 
nenden  verwendbar,  es  kann  nur  dazu  dienen,  an  Vergessenes 
zu  erinnern. 

Ein  besonderes  Kapitel  ist  der  Narkose,  ein  anderes  der 
Nachbehandlung  Operierter  gewidmet.  Durch  sparsameren  Druck 
hätte  man  das  nur  153  Seiten  starke  Büchlein  noch  handlicher 
machen  können. 

Wir  wollen  hoffen,  daß  deutsche  Aerzte  sich  immer  noch 
lieber  von  ihren  Lehr-  und  Handbüchern  als  solcher  Quintessenz 
in  Schlagwörtern  belehren  lassen  wollen.  Ewald. 

* 

Frequence  de  la  tuberculose  parmi  la  population  de 

Kiruna. 

Par  Gustav  Neander. 

S  t  o  c  k  h  o  1  m  1910,  Nordiska  Bokhandeln. 

Eine  genaue  Statistik  über  Lungentuberkulose,  suspekte 
Fälle  und  Lymphdrüsenschwellungen  bei  2000  Personen,  größten¬ 
teils  Arbeitern  der  Societe  Luossavaara-Kiirunavaara  und  deren 
Familien,  erhoben  durch  direkte  Untersuchung  derselben.  Diese 
Untersuchungen  verdienen  deshalb  Beachtung,  da  Kiruna,  der 
Wohnort,  dieser  Leute,  in  67°  51'  nördlicher  Breite  liegt  und  die 
Gemeinde,  erst  im  Jahre  1900  gegründet,  im  Jahre  1909  bereits 
8032  Einwohner  zählte.  Diagramme  und  Tabellen  geben  uns 
Aufschluß  über  die  Verteilung  der  einzelnen  Gruppen  auf  die 
verschiedenen  Altersklassen,  ohne  daß  daraus  allgemein  gültige 
Gesetze  über  Infektionswege  oder  andere  Fragen  abgeleitet  würden. 

* 

Klinik  der  Tuberkulose. 

Von  Bandelier  und  Koepke. 

Würzburg  1911,  Kabitzscb. 

Die  bekannten  Verfasser  des  außerordentlich  verdienstvollen 
„Lehrbuches  der  spezifischen  Diagnostik  und  Therapie  der  Tuber¬ 
kulose“  versuchen  es  hier,  ein  „Handbuch  der  gesamten  Tuber¬ 
kulose“  zu  schreiben,  459  Seiten  stark.  Einzelne  Kapitel  darin 
verdienen  alles'  Lob,  so  das  über  „Tuberkulösen  Rheumatismus  . 
„Funktionelle  Störungen“  bei  Tuberkulose,  da  darin  auf  Grund 
sorgfältiger  Verwertung  der  neuen  und  neuesten  Literatur  weniger 
allgemein  bekannte  Tatsachen  und  Fortschritte  klar  und  bündig 
dargelegt  werden.  Ueberhaupt  ist  die  Heranziehung  der  neueren 
Arbeiten  auf  verschiedensten  Gebieten  in  diesem  Buche  mit  gioJF  i 
Freude  zu  begrüßen.  Freilich  würde  sich  Ref.  eine  „vollständige, 
abgerundete,  übersichtliche  klinische  Darstellung  aller  tuberku- 


426 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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lösen  Organerkrankungen“  anders  vorstellen.  Vergleicht  man  zum 
Beispiel,  was  Verfasser  über  akute  Tuberkulosen  und  über  die 
verschiedenen  Formen  der  Lungentuberkulose  sagen  mit  dem, 
was  A.  Fraenkel  in  seiner  Speziellen  Pathologie  und  Therapie 
der  Lungenkrankheiten  davon  bringt,  so  fällt  dieser  Vergleich 
sehr  zu  Ungunsten  des  vorliegenden  Buches  aus.  Zu  dürftig, 
zu  trocken  und  vom  klinischen  Standpunkte  aus  lückenhaft.  Viele 
Tonnen  der  proteusartigen  Lungentuberkulose  sind  nicht  einmal 
dem  Namen  nach  erwähnt.  Und  je  genauer  wir  spezifizieren, 
desto  besser  werden  wir  hier  Prognose  und  Therapie  beherr¬ 
schen  lernen.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  wäre  eine  Er¬ 
weiterung  des  Buches  sehr  erwünscht. 

* 

Lehrbuch  der  spezifischen  Diagnostik  und  Therapie  der 

Tuberkulose. 

Von  Bandelier  und  Roepke. 

Fünfte,  erweiterte  und  verbesserte  Auflage. 

Würzburg  1911,  Kabitzsch. 

Schon  wieder  eine  neue,  in  drei  Jahren  die  fünfte  Auflage 
dieses  trefflichen  Buches.  Und  dabei  wieder  eine  Erweiterung 
und  Vervollkommnung  des  Inhaltes  auf  Grund  der  wichtigsten 
neueren  Arbeiten  auf  diesem  gegenwärtig  so  viel  bebauten  Ge¬ 
biete.  Wenn  sich  die  spezifische  Therapie  der  Tuberkulose  zum 
Segen  der  kranken  und  leidenden  Menschheit  wieder  allmählich 
Bahn  bricht,  so  ist  das  gewiß  ein  Hauptverdienst  beider  Autoren, 
die  mit  ihrem  Buche  ein  Standardwerk  geschaffen  haben. 

W.  Neumann. 


Aus  versehiedenen  Zeitsehriften. 

292.  Die  Bedeutung  des  Pestausbruches  in  der 
Mandschurei  für  Europa,  insonderheit  für  Deutsch¬ 
land.  Von  Dt.  Trautmann,  Abteilungsvorsteher  am  staat¬ 
lich  hygienischen  Institut  in  Hamburg.  Der  Angelpunkt  der  epi¬ 
demiologischen  Beobachtung  der  Pest  ist  der  Umstand,  daß  sie 
in  letzter  Linie  eine  Tierkrankheit  ist,  aber  von  unendlich  viel 
höherer  Infektiosität  und  Pathogenität  für  den  Menschen,  als 
sonst  eine  Tierkrankheit.  Es  geht  der  Pest  ein  großes  Sterben 
der  Nager  unter  bestimmten  typischen  Erscheinungen  voraus ; 
dann  flieht  die  Bevölkerung,  verbrennt  ihre  Wohnstätten  oder 
meidet  sie  viele  Monate  lang;  sind  die  Menschen  erst  ver¬ 
seucht,  zumal  mit  Lungenpest,  so  ist  die  zweite  schwere  An¬ 
steckungsquelle  mit  allen  Möglichkeiten  der  Uebertragung  ge¬ 
geben.  Zu  uns  kann  die  Pest  kommen  auf  dem  Landwege  (sibi¬ 
rische  Bahn),  oder  auf  dem  Seewege.  Haben  wir  nun  zu  fürchten, 
daß  die  Pestkrankheit  sich  bei  uns  etwa  wie  die"Cholera  aus¬ 
breiten  werde?  Die  Frage  ist  mit  nein  zu  beantworten.  Bei  der 
Pest  sind  uns  „Keimträger“  bislang  unbekannt  geblieben.  Darin 
liegt  ein  großer  Vorteil.  Dauerausscheider  (Lungensputum,  Bubo) 
sind  dagegen  mehrfach  nachgewiesen  worden.  Eine  Pesteinschlep¬ 
pung  durch  Dauerausscheider  auf  dem  Wege  Mer  sibirischen  Bahn 
wäre  also  möglich;  freilich  ist  die  Entfernung  eine  rie¬ 
sige  und  der  Personenverkehr  auf  dieser  Bahn  ein  ge¬ 
ringer.  Von  der  Cholera  unterscheidet  sich  die  Pest  noch 
vorteilhaft,  daß  eine  Verschleppung  durch  Wasser  als  solches 
auf  weitere  Strecken  nicht  bekannt  ist.  Der  Pesterreger  gehört  zu 
den  empfindlicheren  Krankheitskeimen,  er  ist  sporenlos,  gegen 
trockene  hohe  Hitze  und  Desinfizientien  sehr  empfindlich,  nicht 
aber  gegen  Kälte.  Da  Fälle  berichtet  werden,  daß  Bekleidungs¬ 
stücke  von  Erkrankten  oder  Verstorbenen  selbst  bis  .Jahresfrist 
noch  infektiös  gewesen  sind,  so  könnten  »Sendungen  von  Kleidern, 
Wäsche  und  Waren  in  Europa  noch  Schaden  anrichten.  Gegen 
die  Einschleppung  auf  dem  Seewege  ist  Deutschland  mit  guten 
Schutzwällen  versehen,  in  gleicher  Weise  sind  die  Vorsichts-  und 
Abwehrmaßregeln  zu  Lande  genügend  geregelt.  Dazu  kommen 
unsere  guten  sanitätspolizeilichen  und  hygienischen  Einrichtun- 
gcn,  die  Nager  bilden  bei  uns  keine  Plage,  der  Hauptvermittler 
der  Pest  in  niedriger  gelegenen  Gebieten,  die  schwarze  Hausratte, 
ist  bei  uns  fast  ausgerottet  und  mit  ihr  fehlt  der  gefährliche  Pulex 
Cheopis.  Unsere  Wanderratte,  Mus  decumanus,  trägt  eine  andere 
Flohart,  die  nicht  sehr  geneigt  scheint,  auf  den  Menschen  über- 


zugehen.  Pestverschleppungen  nach  Europa  haben  daher  in  neuerer 
Zeit  keinen  Boden  gewinnen  können.  Verf.  bespricht  sodann  den 
anscheinend  recht  geringen  Schutz  des  Individuums  nach  über¬ 
standener  Pesterkrankung,  die  notwendige  staatliche  Vorsorge  nach 
Bestellung  von  Aerzten  (Kliniker,  Medizinalbeamte’,  Bakteriologen), 
welche  die  Seuche  aus  eigener  Anschauung  und  durch  Studium 
kennen  gelernt  haben,  er  erwähnt,  daß  die  Klinik  und  Pathologie 
der  Pest  noch  manche  dunkle  Punkte  enthält,  daß  es  hier  noch 
Streitfragen  gebe.  So  ist  zum  Beispiel  die  Ausscheidung  der 
Pestbakterien  durch  den  Darm,  besonders  auch  die  Frage,  ob 
es  eine  primäre  Darmpest  gebe,  noch  nicht  aufgeklärt,  der  Wert 
der  verschiedenen  Schutz-  und  Heilimpfungen  sollte  mit  zuver¬ 
lässigen  Präparaten  nochmals  geprüft  werden,  die  hygienischen 
Verhältnisse  und  Volkseigentümlichkeiten,  wie  die  behördlichen 
Maßnahmen  in  den  verschiedenen  Pestausbruchsgebieten  usw. 
sollten  sorgfältig  studiert  und  aufgezeichnet  werden.  Wohl  hat 
die  englisch  -  indische  Pestkommission  in  den  letzten  Jahren  die 
Ergebnisse  ihrer  glänzenden  Versuche  über  die  Zwischenrolle 
der  Insekten  (Flöhe)  für  Verbreitung  der  Pest  von  Tier  zu  Tier 
und  von  Tier  zu  Mensch  mitgeteilt,  doch  bleibt  noch  immer  ein 
leiser  Zweifel,  ob  bei  der  Pestübertragung  nicht  noch  weiteres  irn 
Spiele  sei.  Auffällig  und  nicht  befriedigend  erklärt  ist  die  Frage 
der  sogenannten  „Pesthäuser“,  der  Wechsel  zwischen  Lungenpest- 
und  Bubonenpestepidemie  u.  m.  a.  Also  auch  die  Pestlehre  birst, 
wie  jede  Wissenschaft,  zahlreiche  alte  und  [neue  ungelöste  Fragen. 

(Deutsche  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  8.)  E.  F. 

* 

293.  (Aus  der  1.  chirurgischen  Universitätsklinik  in  When. 

Vorstand:  Prof.  Dr.  Frh.  v.  Eis  eis  b  erg.)*  Ein  Vorschlag 

zur  blutigen  Einrichtung  der  Unterschenkel-  und 
Vorderarmbrüche.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Paul  Clairmont. 
Am  Unterschenkel  und  Vorderarm  kommen  Frakturen  vor,  die 
allen  Repositionsmethoden  trotzen  und  wo  auch  durch  dauernde 
Extension  keine  genaue  Adaption  der  Fragmente  zu  erzielen  ist. 
Nun  gehört  aber  zu  'einem  guten  funktionellen  Resultat 'bei  Unter* 
schen kel frak turein  auch  ein  gutes  anatomisches  Resultat.  Man  ent¬ 
schließt  sich  in  solchen  Fällen  daher  leichter  zur  Knochennaht. 
Für  diese  Fälle  also,  die  sonst  mit  Knochennaht  behandelt  werden 
müßten,  schlägt  Verfasser  einen  kleinen  Eingriff  vor,  durch  den 
es  gelingt,  die  Fragmente  zu  reponieren.  Verf.  hat  das  Verfahren 
einigemal  angewendet  bei  Frakturen,  bei  welchen  das  untere 
Fragment  gegen  den  Interossealraum  disloziert  war  und  erzielte 
damit  gute  Resultate.  Das  Verfahren  besteht  darin,  daß  man  über 
dem  dislozierten  Fragment  einen  kleinen  Einschnitt  macht  und 
mit  einem  kräftigen,  einzinkigen  Knochenhaken  das  dislozierte 
Knochenfragment  aus  dem  Interossealraum  herauszieht  und  in  die 
richtige  Lage  bringt.  Der  Eingriff  ist  also  für  geeignete  Fälle  als 
Ersatz  des  eingreifenderen  Verfahrens,  der  Knochennaht,  gedacht. 

(Langenbecks  Archiv,  Bel.  93,  H.  3.)  se. 

* 

294.  (Aus  der  Direktorialabteilung  des  städtischen  Kranken¬ 
hauses  Nürnberg.  —  Prof.  Dr.  Müller.)  Klinische  Erfah¬ 
rungen  mit  Adalin,  einem  neuen  bromhaltigen  Seda¬ 
tivum  und  Hypnotikum.  Von  Dr.  E.  Sch  ei  de  man, fei. 
Verf.  hat  das  Adalin,  ein  Bromdiäthylazetylhamstoff,  während 
eines  Zeitraumes  von  8  Monaten,  in  der  Gesamtmenge  von  900g  an 
einem  ausgedehnten  Krankenmaterial  der  inneren  Abteilung  auf 
seine  Wirksamkeit  als  Sedativum  und  Hypnotikum  geprüft.  Bei 
der  geringen  Wasserlöslichkeit  empfiehlt  es  sich,  das  farblose 
Pulver  in  Oblaten,  unter  Nachtrinken  von  warmem  Tee  zu  geben. 
Für  unauffällige  Darreichung  kann  man  es  wegen  der  Geschmack¬ 
losigkeit  in  etwas  Wein  oder  flüssigbreiige  Speisen  einmischen. 
Die  Einzeldosis  als  Sedativum  ist  0-25,  die  Tagesdosis  0-75. 
Schlaf  erzielt  man  durch  eine  Dosis  von  0-5  bis  1-0,  am  besten 
eine  Stunde  nach  der  Abendmahlzeit  auf  der  Höhe  der  Verdauung 
verabreicht.  Noch  bessere  Wirkung  sah  Verf.  nach  fraktionierter 
Darreichung  von  zweimal  0-5  in  Zwischenräumen  von  einer  Stunde. 
In  dieser  Form  versagte  das  Mittel  fast  nie.  Die  Unschädlichkeit 
des  Mittels  erwies  sich  durch  länger  fortgesetzte  Tagesgaben  bis 
zu  3-0  bei  schweren  Epileptikern.  Unangenehme  Nebenwirkungen 
zeigten  sich  nicht.  Auch  magenempfindliche  Personen  vertragen 
Adalin  gut.  Bromismus  tritt  bei  längerem  Gebrauche  nicht  auf; 


Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


427 


eine  ausgesprochene  Bromakne  heilte  unter  Adalintherapie  rasch 
ab.  Der  Schlaf  ist  ruhig,  gleichmäßig,  tritt  in  der  Regel  nach 
'%  bis  3U  Stunden  ein,  erstreckt  sich  bei  0-5  auf  zirka  fünf 
Stunden,  bei  1-0  auf  zirka  acht  bis  neun  Stunden.  Verzögerungen 
der  Bromausscheidung  ließen  sich  bei  Adalinzufuhr  nach  chemi¬ 
schen  Untersuchungen  am  Chloroformextrakt  des  Urins  nicht  fest¬ 
stellen.  Das  Adalin  wurde  mit  gutem  Erfolge  angewendet  in  erster 
Linie  bei  nervöser  Schlaflosigkeit,  bei  Asomnie  im  Befolge  von 
Infektionskrankheiten,  bei  innerer  Unruhe  und  Tremor  in  hyper- 
thyreoiden  Zuständen,  bei  Neurasthenikern  und  Hysterischen  mit 
gesteigerter  Affekterregbarkeit.  Schi-  gut  bewährt  hat  es  sich 
ferner  bei  leicht  schmerzhaften  Affektionen,  wie  Blasen-  und 
Nierenbeckenentzündungen  und  weniger  intensiven  Neuralgien, 
während  es  bei  stärker  schmerzhaften  Entzündungen  der  Pleura 
und  des  Peritoneums  versagte.  In  zwei  Fällen  Schwangerschafts¬ 
eibrechen  und  ganz  besonders  bei  einem  Tumor  der  hinteren 
Schädelgrube  mit  ausgesprochener  Vagusreizung  Avar  der  Erfolg 
ein  .ganz  ausgezeichneter.  In  letzterem  Falle  ließ  die  Atembeschleu¬ 
nigung,  das  Erbrechen,  heftiger  Singultus,  vereint  mit  starker 
Unruhe  im  Schlaf,  fast  ganz  nach,  ohne  daß  bis  dahin  diese 
Reizzustände  durch  große  Bromdosen  oder  Veronal  irgendwie 
beeinflußt  ‘werden  konnten.  Ein  weiteres  Anwendungsgebiet  ergab 
sich  bei  den  Herzneurosen  sowohl  rein  funktioneller  als  orga¬ 
nischer  Aetiologie.  Sehr  günstig  wurden  die  verschiedenen  De¬ 
pressions-  wie  Erregungszustände  und  Hauthyperästhesien  im  Be¬ 
folge  von  Aortenerkrankungen,  besonders  auf  syphilitischer  Basis, 
beeinflußt,  ebenso  die  Angina  pectoris  bei  Koronarsklerose.  Adalin 
kann  auf  diesem  Gebiete  nach  Verfassers  Ansicht  nicht  nur  als 
Beruhigungs-,  sondern  auch  als  Heilmittel  angesehen  werden,  da 
durch  die  Beseitigung  der  Erregbarkeit  und  die  Herbeiführung 
eines  erquickenden  Schlafes  auch  die  Herztätigkeit  in  ruhigere 
Bahnen  geleitet  wird.  Der  Bromgehalt  des  neuen  Mittels  ver- 
anlaßte  den  Verfasser  auch,  es  in  sieben  Fällen  von  Epilepsie 
anzuAvenden.  Diese  kleine  Beobachtungszahl  reicht  allerdings  nicht 
zu  einem  genügenden  Urteil  aus.  Verf.  erklärt  zum  Schlüsse: 
Adalin,  eine  Bromharnstoffverbindung  der  Fettreihe,  ist  indiziert 
hei  Zuständen,  in  denen  man  die  Zufuhr  von  Brom  mit  einer 
kräftigeren,  beruhigenden  Wirkung  vereinigen  und  nicht,  von  vorn¬ 
herein  zu  den  starken  Schlafmitteln  greifen  will.  Vermöge  seiner 
Mittelstellung  zwischen  der  Gruppe  der  einfachen  Sedativa  und 
der  reinen  Hypnotika  ist  die  Bedeutung  dieser  neuen  chemischen 
Komposition  um  so  beachtenswerter,  als  unser  moderner  Arznei¬ 
schatz  an  ähnlich  mittelstark  Avirkenden  Präparaten  nicht  sehr 
reich  ist.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  8.)  G. 

* 

295.  Gibt  es  eine  aszendierende  Neuritis?  Von 
Georg  Köster.  Lep  eile  tier  behauptete  schon  1820  das  Vor¬ 
kommen  von  aszendierender  Neuritis;  englische  Aerzte,  daun 
auch  Rokitansky  und  R.  Remak  vertreten  entschieden  die 
Ansicht,  daß  eine  Neuritis  von  der  Peripherie  aus  aufwärts  steigen 
könne  u.  zw.  sprungweise  unter  Uebergreifen  auf  andere  Nerven- 
gebiete  bis  hinauf  zum  Rückenmark,  da  nun  aber  irrtümlicher¬ 
weise  von 'der  aszendierenden  Neuritis  ganz  verschiedene  Er¬ 
krankungen  als  solche  beschrieben  wurden  (zum  Beispiel  Nerven- 
affektionen  nach  Gelenkserkrankungen,  hysterische  Lähmungen, 
neuralgische  Zustände)  und  zudem  die  Lehre  von  den  Reflex- 
lähmungen  (Stanley,  Gravis,  Henoch,  Romberg)  aufkam 
und  ferner  experimentelle  Untersuchungen  von  Rosenbach, 
Treub  und  Käst  negativ  aus  fielen,  so  geriet  die  Lehre  von  der 
aszendierenden  Neuritis  derart  in  Verruf,  daß  nur  wenige  Autoren 
sie  zu  vertreten,  wagten  (Gail,  v.  Leyden,  Erb,  Seelig- 
rnüller,  Krehl  usw.).  Auch  in  der  neuesten  Zeit  wird  die 
Existenzberechtigung  dieses  Leidens  noch  immer  von  zahlreichen 
Autoren  bezweifelt  oder  nur  mit  gewissen  Einschränkungen  zu¬ 
gegeben.  Die  Annahme,  daß  eine  eitrige  Infektion  in  den  Nerven¬ 
scheiden  aufwärts  kriechen  könne,  wird  zwar  ziemlich  allgemein 
zugegeben,  aber  die  Annahme  einer  echten  aufsteigenden  Ent¬ 
zündung  des  Nervenmateriales  findet  keine  unbedingte  Zustim¬ 
mung  (Oppenheim,  S trüm pell),  obgleich  Eulenburg,  Mies, 
Huismann  und  Curschmann  Fälle  beschrieben  haben,  avo 
im  Anschluß  an  ein  peripheres  Trauma  nicht  nur  eine  aul¬ 
steigende  Neuritis,  sondern  auch  eine  Syringomyelie  beobachtet 


wurde.  Köster  berichtet  nun  über  drei  eigene  Beobachtungen 
von  Neuritis  ascendens,  der  infizierte  Biß-,  resp.  Quetschwunden 
zugrunde  liegen.  Auch  in  den  in  der  Literatur  niedergelegten 
Fällen  ist  eine  infizierte  Verletzung  einer  Körperstelle  das  kon¬ 
stante  ursächliche  Moment  für  die  EntAvicklung  der  aufsteigen¬ 
den  Nervenentzündung  gewesen.  Die  entstandene  Neuritis  unter¬ 
schied  sich  klinisch  in  nichts  von  den  ätiologisch  anders  bedingten 
Neuritiden,  als  nur  durch  die  ausgesprochene  Neigung  auf-  und 
abwärts  zu  wandern.  Das  erste  und  auffallendste  Symptom  ist 
der  Schmerz.  Die  Schmerzbahn  entspricht  genau  dem  Verlaufe 
des  erkrankten  Nerven,  geht  aber  eventuell  auch  auf  solche 
Nerven  über,  die  mit  den  ersterkrank  ten  in  irgendeinem  Zusam¬ 
menhänge  stehen.  Ein  Uebenvandern  der  Neuritis  aber  von 
einer  Körperhälfte  über  die  Medulla  hinweg  auf  die  andere  Körper¬ 
hälfte  wurde  von  Köls'ter  nicht  beobachtet.  Nach  Köster 
geht  es  nicht  an,  die  Existenz  der  aszendierenden  Neuritis  noch 
bestreiten  zu  wollen.  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  Jahrg., 
Nr.  48.)  K.  S. 

* 

296.  Zu  meiner  Methode  der  Hyperämicbehand- 
lung  der  Lungentuberkulose.  Von  Oberstabsarzt  a.  D. 
Dr.  Eugen  Jacoby  in  Charlottenburg.  Das  vom  Verfasser  unter 
dem  Namen  der  Autotransfusion  schon  in  den  Jahren  1897 
und  1899  publizierte  Verfahren  besteht  darin,  daß  einerseits  der 
Thorax  tiefgelagert,  anderseits  das  Becken  und  die  unteren  Ex¬ 
tremitäten  hochgelagert  werden,  um  so  eine*  bessere  Verteilung 
des  Körperblutes  nach  den  Lungen  zu  erzielen.  Die  Methode 
wird  vom  Verfasser  eingehend  begründet.  Zur  besseren  Ausführung 
des  Verfahren®  ließ  Verfasser  einen  Apparat  konstruieren,  der 
—  „Elevator“  genannt  —  aus  graduierten,  ineinander  verschieb¬ 
baren,  eisernen  Röhren  besteht  und  das  Fußende  eines  Liege¬ 
stuhls  emporhebt.  Muttray  hat  das  Verfahren  lin  seiner  Lungen¬ 
heilstätte  Moltkefels  in  Niederschreiberhau  erprobt,  au  der  I.  medi¬ 
zinischen  Klinik  der  kgl.  Charite  in  Berlin  (Professor  B  is)  wurden 
in  der  Zeit  vom  August  1908  bis  Februar  1909,  also  sieben  Monate 
lang,  in  dieser  Weise  22  Kranke  des  ersten  und  zAveitcn  Turban- 
Gebhardtschon  Stadiums  behandelt.  Im  Interesse  der  Kranken 
wurden  außerdem  ausgenommen  die  Tuberkulinbehandlung 

alle  sonst  üblichen  Heilmethoden  angewandt.  Geht  man  schritt¬ 
weise  langsam  vor,  so  haben  die  Kranken  so  gut  Avie  keine  Be- 
schAverden.  Der  Nutzen  zeigte  sich  in  folgenden  Erscheinungen : 
Sieben  Kranke  gaben  spontan  an,  daß  die  Atmung  tiefer  und 
leichter  würde;  bei  vier  Kranken  löste  sich  der  Auswurf  leichter, 
offenbar  infolge  der  besseren  Durchtränkung  der  ßroiichialschleim- 
haut  mit  Blut ;  sechs  Kranke  verloren  die  vor  Beginn  der  Tief¬ 
liegekur  bestandenen  Stiche  vorne  auf  der  Brust,  in  der  Herzgegend 
oder  zAvischen  den  Schulterblättern  schon  nach  einem  bis  zwei 
Tagen,  bei  einer  Kranken  stellte  sich  14  Tage  nach  Beginn  der 
Autotransfusion  eine  durch  die  Röntgenuntersuchung  nachweis- 
bare,  auffallend  ausgedehnte  Lösung  der  Verwachsungen  ein, 
die  bis  dahin  zwischen  Lungenbasis  und  ZAverchfell  bestanden 
hatten  und  das  Allgemeinbefinden  besserte  sich.  Nützlich  war 
der  Bettelevator,  der  das  Fußende  des  Bettgestelles  .Während 
des  Nachtschlafes  eleviert,  während  früher  starke  Holzklötze  unter 
das  Fußende  des  Liegestuhls  geschoben  wurden.  Verf.  berichtet 
über  die  günstigen  Resultate,  welche  in  der  Lungenheilstätte 
Moltkefels  (Dr.  Muttray)  erzielt  wurden.  Hier  —  Avie  in  der 
Charite  —  wurde  die  Tietlagerung  von  den  Tuberkulösen  im  all¬ 
gemeinen  gut  vertragen,  es  wurde  die  Expektoration  und  damit 
die  Reinigung  der  Lungen  gefördert,  die  Kranken  konnten  besser 
durchatmen,  Stiche  und  Druck  auf  der  Bi’ust  schwanden  und  bei 
zwei  Kranken  wurde  auch  objektiv  durch  dieses  Hyperämie- 
verfahren  eine  Avesentliche  Besserung  erzielt.  Stärkere  Hämoptoe, 
Hämophilie  und  sehr  vorgeschrittene  Fälle  eignen  sich  Aveniger 
für  diese  Behandlung,  dagegen  dürften  leichtere  Hämophthisen 
keine  Kontraindikation  gehen.  Hauptsache  ist,  mit  der  Elevation 
ganz  langsam  vorzugehen  und  dabei  zu  individualisieren. 
(Deutsche  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  8.)  E.  F. 

* 

297.  (Aus  der  Heilanstalt  Hohwald  hei  Dresden.)  Erfah¬ 
rungen  mit  Hämostogen-Löff ler.  Von  Oberarzt  Doktor 
Walther.  Im  Winter  1909/10  Avurden  in  der  Heilstätte  Hob- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


wald  der  Land  es  Versicherungsanstalt  Königreich  Sachsen  syste¬ 
matische  Nährversuche  mit  dem  Löffler  sehen  Hämostogen  ge¬ 
macht.  Die  damit  behandelten  Patienten  erzielten  größere  Ge¬ 
wichtszunahmen  als  die  übrigen  Kranken,  obwohl  sie  sonst  in 
nahezu  jeder  Beziehung  einander  gleichgestellt  waren,  sowohl  was 
Jahreszeit  der  Kur,  Kostverhältnisse,  Länge  der  Kur,  Art  und 
Ausdehnung  der  Erkrankung  betrifft.  Der  erzielte  Mehransatz 
dürfte  also  sehr  wohl  dem  Hämostogen  zugeschrieben  werden 
dürfen.  --  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  46.) 

K.  S. 

* 

298.  Ein  durch  Nierenentkapselung  geheilter 

Fall  von  puerperaler  Eklampsie.  Von  Dr.  J.  C.  Rein¬ 
hardt.  Nach  normal  verlaufener  Geburt  trat  schwere  Eklampsie 
ein.  Decapsulation  beider  Nieren,  die  dunkelblaurot,  grell,  etwas 
vergrößert  sind.  Post  operationem  noch  vier  Anfälle,  dann  sistieren 
diese,  das:  Bewußtsein  kommt  wieder,  Hammenge  nimmt  zu, 
der  Eiweißgehalt  (vor  der  Operation  24%o)  sinkt  rasch,  Heilung. 
Verf.  hält  bei  schweren  puerperalen  Eklampsiefällen  mit  Nieren¬ 
insuffizienz  die  Operation  so  frühzeitig  als  möglich  indiziert. 
—  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911,  II.  3.)  E.  AL 

* 

299.  Erfahrungen  mit  der  zweizeitigen  Pro¬ 

statektomie  in  Lokalanästhesie.  Von  Stabsarzt  Dr.  Paul 
Kaiser,  derzeit  Assistent  der  I.  chirurgischen  Abteilung  des  All¬ 
gemeinen  Krankenhauses  Hamburg-Eppendorf  (Prof.  Dr.  H.  K  ti  m- 
mell).  Die  zweizeitige  Prostatektomie  soll  keineswegs  als  Normal¬ 
verfahren  aufgestellt  werden,  es  gibt  aber  Fälle,  in  welchen  man 
zu  derselben  seine  Zuflucht  wird  nehmen  müssen,  um  den  Schwer¬ 
kranken  womöglich  zu  reiten.  Die  Prostatiker  stehen  meist  in  hohem 
Lebensalter,  bei  welchem  schon  die  Narkose,  Lumbalanästhesie  etc. 
genügen,  um  sie  bei  dem  Eingriffe  der  Prostatektomie  sehr  zu  ge¬ 
fährden.  Geht  man  aber  so  vor,  daß  man  zuerst  eine  Zystotomie 
unter  Schleich  scher  Lokalinfitration  vornimmt,  daß  man  dann 
die  schwer  infizierte  Blase  bessert  und  die  durch  aufsteigende  In¬ 
fektion  und  Rückslauung  geschädigten  Nieren  entlastet,  so  schafft 
man  eine  bessere  allgemeine  Widerstandsfähigkeit  für  den  zweiten 
Akt,  für  die  Enukleation  der  Prostata,  welche  Operation  bei 
kokainisierter  Blase  unter  der  Einwirkung  von  Kognak  und  Morphium 
ausgeführt  werden  kann,  ohne  daß  der  Kranke  allzu  große  Schmerzen 
ertragen  müßte.  Leistungsfähiges  Nierengewebe  ist  Voraussetzung 
der  Prostatektomie.  Die  Sectio  alta  mit  ihrer  breiten  Kommunikation 
des  Blasenkavums  mit  der  Außenwelt  gestattet  einen  unbehinderten, 
auch  nicht  vorübergehend  gestörten  Harnabfluß,  sodann  eine  viel 
intensivere  Behandlung  der  erkrankten  Schleimhaut,  insbesondere 
auch  der  Divertikel,  als  Dauerkatheter  und  Blasensptilungen.  Schlie߬ 
lich  wird  auch  die  spätere  Wundinfektionsgefahr  durch  die  präli¬ 
minare  Zystotomie,  die  in  wenigen  Minuten  ausgeführt  ist,  sehr 
verringert,  da  ja  der  Defekt  im  Blasenboden  erst  im  zweiten  Akt, 
also  zu  einer  Zeit  gesetzt  wird,  wo  der  Harn  schon  klar  ge¬ 
worden  ist  und  seine  hohe  Infektiosität  verloren  hat.  Auch  für  die 
endgültige  Heilung  wird  ein  besseres  funktionelles  Resultat  er¬ 
zielt.  Natürlich  wird  auch  beim  zweizeitigen  Vorgehen  mancher 
urämische  Prostatiker  dem  Eingriffe  erliegen,  viele  andere  werden 
aber,  wie  die  Erfahrung  gelehrt  hat,  bei  solchem  Vorgehen  eher 
am  Leben  erhallen  werden.  —  (Berliner  klin.  Wochenschr.  1911, 
Nr.  8.)  E.  F. 

* 

300.  (Aus  der  gynäkologischen  Abteilung  der  Friedrich- 
Wilhelm  -  Stiftung  in  Bonn.)  Ueber  Wesen  und  Behandlung 
der  Osteomalazie.  Von  Dt.  H.  Cramer.  Der  Verfasser 
verweist  zunächst  auf  seine  vor  zwei  Jahren  gemachten  Mit¬ 
teilungen  über  die  Beziehungen  des  Ovariums  zur  Osteomalazie. 
Er  führte  damals  aus,  daß  die  Keimdrüse  auf  diese  eigentümliche 
Knochenkrankheit  insofeme  einen  Einfluß  gewinnt,  als  sie  physio¬ 
logischerweise  eine  erhebliche  Einwirkung  auf  das  Knochenwachs¬ 
tum  und  den  Knochenstoffwechsel  besitzt.  Es  gelang  ihm,  den 
exakten,  experimentellen  Nachweis  zu  erbringen,  daß  auch  die 
bekannte  Exazerbation  der  osteomalazischen  Symptome  während 
der  Gravidität  vom  Ovarium  abhängt.  Er  kam  dann  zu  dem 
weiteren  Schlüsse,  daß  die  Exazerbation  der  Osteomalazie  nicht 
nur  während  der  Menses,  sondern  auch  während  der  Gravidität 
durch  eine  Steigerung  der  inneren  Sekretion  des  Ovariums  be¬ 


dingt  ist.  Hanau  und  AV  ild  haben  nun  den  Nachweis  gebracht, 
daß  bei  normalen  graviden  und  puerperalen  Frauen  mikroskopische 
Veränderungen  am  Knochen  sich  finden,  die  dem  Bilde  der 
beginnenden  Osteomalazie  entsprechen,  daß  also  die  Gravidität 
allein  schon  leichte  Grade  der  Osteomalazie  bewirken  könne. 
Damit  ist  der  Abhängigkeit  der  Osteomalazie  von  der  Keimdrüse 
eine  neue  starke  Stütze  gegeben.  Nach  Verf.  ist  man  allerdings 
deshalb  noch  nicht  berechtigt,  dem  Ovarium  eine  ätiologische 
Rolle  für  diese  Knochenkrankheit  zuzuerkennen.  Zahlreiche  kli¬ 
nische  Erfahrungen  sprechen  dagegen.  So  führte  in  einzelnen 
Fällen  die  Kastration  nicht  zur  Heilung.  Ferner  sind  die  guten 
Erfolge  der  Phosphortherapie  ohne  die  Kastration  allbekannt. 
Bossi  sah  von  Adrenalininjektionen  gute  Erfolge,  auch  spon¬ 
tane  Besserungen  und  Heilungen  sind  beobachtet.  Weiterhin 
müssen  eine  Reihe  anderer  Gesichtspunkte  mit  berücksichtigt 
werden.  Die  Osteomalazie  hat  einen  ausgesprochen  endemischen 
Charakter.  In  bestimmten,  oft  eng  begrenzten  Bezirken,  tritt  sie 
gehäuft  auf.  So  ist  in  der  Nähe  von  Bonn  eine  Osteomalazie¬ 
gegend,  aus  der  von  des  Verfassers  21  Fällen  15  stammen, 
während  aus  seinem  größeren  Patientenkreis1  des  Ahr-  und  Sieg¬ 
tales  nie  eine  Osteomalazie  konstatiert  wurde.  Eigentümlich  ist 
die  Tatsache,  daß  in  der  genannten  Gegend  nicht  nur  die  Menschen, 
sondern  auch  die  Tiere,  häufig  au  Knochenerweichung  erkranken. 
Auffallend  ist,  daß  in  dieser  Osteomalaziegegend  der  Boden  ganz 
besonders  kalkarm  ist.  Dies  kann  aber  nicht  der  Grund  für  die 
Entstehung  der  Osteomalazie  sein,  da  Kalkzufuhr  auf  diese  Er¬ 
krankung  gar  keinen  Einfluß  hat.  Dies  endemische  Auftreten 
hat.  nach  Verf.  eine  auffallende  Aehnlichkeit  mit  der  Verbreitung 
der  Struma.  Das  U eberwiegen  des  weiblichen  Geschlechtes  an 
der  Erkrankung  erklärt  Arerf.  damit,  daß  dasselbe  infolge  der  Be¬ 
sonderheit  seiner  Geschlechtstätigkeit  eine  viel  größere  Dispo¬ 
sition  zu  Störungen  des  Knochenwachstums  und  Knochenstoff- 
wechisels  hat.  Auch  hier  zeigt  sich  eine  auffallende  Parallele 
zu  den  Erkrankungen  der  Schilddrüse.  Auch  diese,  Struma  und 
Basedow,  treten  beim  weiblichen  Geschlecht  viel  häufiger  aut 
als  beim  männlichen.  Die  klinische  Diagnose  der  Osteomalazie 
ist  im  Anfangsstadium  oft  äußerst  schwierig.  Charakteristisch  sind 
Schmerzen  im  Rücken,  int  Brustkorb,  besonders  bei  Kompression 
von  den  Seiten  oder  von  vorn  nach  hinten  ziehende  Schmerzen 
in  den  Armen  und  Beinen,  allgemeine  Schwäche,  watschelnder 
Gang,  Behinderung  und  Schmerzhaftigkeit  der  Abduktion  der 
Oberschenkel.  Bei  Veränderungen  am  Knochensystem  ist  die  Dia¬ 
gnose  nicht  mehr  zweifelhaft.  AVichtig  ist  noch  die  meßbare 
Verringerung  der  Körpergröße.  Der  klinische  Verlauf  ist  indi¬ 
viduell  .sehr  verschieden.  Fälle  mit  jahrzehntelangen  Beschwerden 
ohne  besondere  Knochenv'eränderungen,  dann  wieder  bei  ein¬ 
zelnen  Kranken  ein  stürmischer  Verlauf,  schnell  einsetzende  Geh¬ 
störungen  und  Knochendeformitäten.  In  der  Therapie  steht  seit 
Fehlings  Entdeckung  die  Kastration  im  Vordergründe.  Sehr 
wichtig  ist  die  restlose  Entfernung  der  Keimdrüse.  Verf.  rät, 
die  Tube  stets  mit  zu  resezieren.  Dann  folgt  die  Serum therapie. 
Die  Firma  Merck  hat  von  kastrierten  Schafen  ein  Blutserum, 
das  Antimalazin,  hergestellt.  Verf.  hat  es  versucht,  kann  aber 
kein  definitives  Erteil  darüber  abgeben.  Frank  el  hat  die  Milch 
einer  kastrierten  Ziege  bei  Osteomalazischen  versucht  und  Besse¬ 
rungen  erzielt.  Auch  Verf.  hat  dieselbe  in  einem  Falle  von 
Osteomalazie  angewendet  und  Besserung  des  Gehvermögens  er¬ 
zielt..  Mil  der  Phosphortherapie  wurden  nicht  nur  Besserungen, 
sondern  auch  Heilungen  erzielt.  Es  ist  nur  schwer,  den  Phosphor 
in  sicherer  Dosierung  zu  verabfolgen.  Das  Präparat  „Phosphaeliit“ 
(Körte- Hamburg)  soll  den  Phosphor  in  gleichbleibender  Kon¬ 
zentration  enthalten.  Bossi  hat  die  Adrenalininjektionen  in  die 
Therapie 'der  Osteomalazie  eingeführt.  Verf.  hat  keine  eigenen  Er¬ 
fahrungen  darüber.  Nach  den  Literaturangaben  scheinen  aber 
keine  dauerhaften  Heilungen  mit  dieser  Methode  erzielt  worden 
zu  sein.  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  8.)  G. 

* 

301.  Lungenemphysem  und  Volumen  pulmonum 
au c tum.  Von  Franz  C.  R.  Eschle.  Nur  bei  größter  Ruhe 
und  Schonung,  sowie  Vermeidung  aller  den  kompensatorischen 
Vorgang  beeinträchtigenden  Maßnahmen  gelingt  es,  einen  größeren 
Tonus  .  des  primär  gestörten  Organes  und  damit  zugleich  den  regu¬ 
lären  des  kompensierenden  wiederherzustellen.  Dies  gilt  nicht 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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)loß  in  erster  Linie  für  das  Volumen  pulmonum  auctum  inspi- 
atorium,  sondern  auch  noch  für  das  Volumen  pulmonum  auctum 
»ermanens,  wo  es  sich  schon  um  einen  gewissen  Grad  von 
Vtonie  handelt  und  das  eigentliche,  substantielle  Emphysem,  die 
.ungenstarre,  bei  der  die  tonischen  Kräfte  für  die  respiratorische 
,'erkleinerung  nicht  mehr  ausreichen,  also  bereits  absolute  In- 
uffizienz  des  Betriebes  eingetreten  ist.  Nur  durch  entsprechende 
.eitweilige  oder  dauernde  Einschränkung  des  äußeren  (außer- 
vesentlichen)  Betriebes  und  durch  Förderung  der  inneren  (we- 
, entliehen)  Leistung  kann  im  ersten  Falle  noch  ein  der  Norm 
ihnlicheriZustand,  das  andere  Mal  die  leidliche  Aufrechterhaltung 
les  Gleichgewichtes,  im  dritten  Fälle  das  Fortarbeiten  des  irre- 
larabel  defekten  Apparates  erzielt  werden.  In  medikamentöser 
linsicht  kommt  für  die  Regulation  des  Tonus  im  Sinne  der 
’lorm  vor  allem  das  Opium  in  Betracht,  nicht  also  als  Nar- 
:otikum,  sondern  als  ein  Mittel,  von  welchem  Rosenbach  nach- 
;ewiesen  hat,  daß  es  in  kleinen  Gaben  direkt  für  die  Energetik 
les  wesentlichen  Betriebes  von  größter  Bedeutung  ist.  Als  Ener- 
jotonikum  kommt  weiters  die  Digitalis  in  Betracht  und  endlich 
las  Ergotin.  Eschle  kombiniert  meist  alle  drei  Mittel  (Opii 
>uri  0-5,  Fol.  Digital.  3-0,  Extr.  et  pulv.  secal.  cornut.  an  a  5-0, 
ii  f.  pil.  Nr.  C.  DS. :  dreimal  täglich,  zwei  Stück  mit  wöchentlich 
Ireitägiger  Unterbrechung).  Bei  der  Lungen  starre  bleibt  aller- 
lingSi  in  der  Regel  nichts  übrig  als  die  Bekämpfung  der  lang- 
vierigen  chronischen  Katarrhe  (Catarrhus  siccus  ist  die  lästigste 
Komplikation).  Hier  erfreuen  sich  die  Senega,  das  Jodkalium 
ind  der  Liquor  ammonii  anisati  einer  durchaus  berechtigten  Be- 
iebtheit,  wobei  abermals  diese  Mittel  sehr  zweckmäßig  mit 
Jpium  oder  Morphium  zu  kombinieren  sind.  Bei  den  dyspno- 
schen  Anfällen  sind  die  gegen  Asthma  gebräuchlichen  Mittel 
'U  verwenden,  prophylaktisch  aber  eine  vorsichtige  Diät  und 
üorge  für  tägliche  Leibesöffnung.  Punkto  Klimatotherapie  ist  zu 
>eachten,  daß  Kranke  im  Stadium  der  guten  Kompensation  (Vol. 
)ulm.  auct.  inspirat.)  am  besten  mittlere  Wärme  und  mittlere 
iöhenlagen  vertragen,  während  in  den  späteren  Stadien  niedrig 
’elegene  sonnige  Orte  vorgezogen  werden,  vorausgesetzt,  daß 
lie  Luft  nicht  zu  warm  und  zu  trocken  ist.  —  (Fortschritte 

ler  Medizin  1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  50  und  51.)  K.  S. 

* 

302.  Die  Einwirkung  des  ultravioletten  Quarz¬ 
ampenlichtes  auf  den  Blutdruck,  mit  Bemerkungen 
Aber  seine  therapeutische  Verwendung  bei  Allge¬ 
nei  n  er  kr  ankungen.  Von  San. -Rat  Dir.  Hugo  Bach.  Angewandt 
vurde  die  stärkste  Quarzlampe  der  Quarzlampengesellschaft  zu 
Hanau  am  Main  für  3-5  Ampere. —  220  Volt  mit  über  3000  Kerzen 
Lichtstärke.  Die  Bestrahlungen  wurden  —  gleichzeitig  an  meh¬ 
reren  Personen  —  in  einer  Entfernung  von  einem  bis  zwei  Metern 
von  der  Lichtquelle  vorgenomüien,  es  wurde  nur  eine  Teilbestrah¬ 
lung  (Rücken  oder  Vorderseite  des  Rumpfes,  im  Liegen  oder 
Sitzen)  vorgenommen.  Die  Augen  und  der  Kopf  sind  zu  schützen, 
lie  Bestrahlung  darf  nicht  zu  lange  ausgedehnt  werden,  5  bis 
15  Minuten  lang.  Die  Bestrahlung  wurde  zumeist  gut  vertragen. 
An  19  Männern  und  10  Frauen  wurden  150  Beobachtungen  ge¬ 
macht;  26  Personen  waren  Pfleglinge  der  Lungenheilstätte  Ober¬ 
kaufungen.  Der  Körper  war  vollkommen  oder  nur  teilweise  ent¬ 
blößt,  als  Kopf-  und  Augenschutz  kam , ein  dunkles  Tuch,  bzw.  eine 
gewöhnliche  dunkle  Brille  in  Verwendung.  Bei  manchen  Kranken 
zeigte  sich  danach  mehr  weniger  heftiges  Jucken,  ein  Hauterythem, 
welches  nach  Gebrauch  einer  Salbe  in  einigen  Tagen  schwand. 
Die  Ergebnisse  der  Versuche  waren  folgende :  Der  Blutdruck  wurde 
herabgesetzt,  auch  bei  Teilbestrahlungen  des  Rumpfes,  im 
Durchschnitt  betrug  die  Blutdruckemiedrigung  (bei  105  von  109 
Bestrahlungen  konstatiert)  7-2  mm,  die  höchste  Zahl  war  17  mm, 
die  niedrigste  (ganz  vereinzelt)  1-5  mm.  Diese  Bestrahlungen 
übten  eine  beruhigende  und  belebende  Wirkung  auf  den  Gesamt¬ 
organismus  aus,  die  Diurese  steigerte  sich  auffallend,  was  tage¬ 
lang  anhielt  und  günstig  auf  den  »Schlaf  wirkte,  wenn  die  Kranken 
nicht  durch  Erythem  und  Hautjucken  belästigt  wurden.  Zwei 
bettlägerige  Kranke  mit  vorgeschrittener  Tuberkulose  erholten  sich 
nach  den  Bestrahlungen  so  gut,  daß  sie  wesentlich  gebessert  ent¬ 
lassen  werden  konnten.  Bei  drei  Kranken  schwanden  schon  nach 
den  ersten  Bestrahlungen  neurasthenische  Beschwerden  (herum¬ 
ziehende,  mit  Hautjucken  verbundene  Schmerzen,  Druck  auf  der 


Brust,  Beklemmung),  in  z\vei  weiteren  Fällen,  wo  früher  ein¬ 
genommener  Kopf,  Mattigkeit  und  Gefühl  von  Abspannung  bestand, 
trat  bald  danach  Wohlbefinden  ein.  Bei  zwei  Fällen  wurde  durch 
die  Bestrahlungen  ein  akuter  Schnupfen  sehr  schnell  beseitigt 
(vielleicht  durch  die  Inhalation  des  dabei  entwickelten  Ozons). 
Doch  wurde,  da  in  erster  Linie  doch  nur  der  Einfluß  auf  den 
Blutdruck  studiert  wurde,  von  einer  systematischen  Behandlung 
bestimmter  Krankheitserscheinungen  durch  diese  Bestrahlungen 
vorderhand  abgesehen.  Es  zeigte  sich  ferner,  daß  die  Bestrah¬ 
lungen  mit  ultraviolettem  Quarzlicht  trotz  stärkster  Lichtquelle 
bei  zweckmäßigen  Kautelen  vollkommen  ungefährlich  sind  und 
auch  von  schwächlichen  Patienten,  sowie  bei  niederem  Blutdruck 
gut  vertragen  werden.  Kontrollversuche  vor  und  nach  einem 
Zimmerluftbad  ohne  Quarzlichtbestrahlung  ergaben,  daß  ein 
Zimmerluftbad  allein  den  Blutdruck  nicht  herabsetzt,  sondern 
ihn  auf  gleicher  Höhe  erhält  oder  steigert.  Nach  Bering,  D  ie- 
sing.  Quincke,  Haselbach,  Axmann  und  anderen  Autoren 
ist  die  beruhigende,  erfrischende  und  belebende  Wirkung  nach 
den  Bestrahlungen  als  eine  Steigerung  des  Stoffwech¬ 
sels  zu  bezeichnen  (lokaler  Reiz  auf  die  Hautgefäße  und  direkte 
Beeinflussung  des  Chemismus  des  Blutes  und  der  Gewebszellen 
durch  Resorption  dieser  Strahlen).  Sie  ist  mit  den  Wirkungen 
eines  Sonnenbades  im  Hochgebirge  zu  vergleichen,  wie  sie  in 
den  Publikationen  über  die  Kuren  in  Leysin  beschrieben  sind. 
—  (Deutsche  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  9.)  E.F. 

* 

303.  Vaginaler  Kaiserschnitt  nach  Dührsen 

wegen  hyperakuten  Lungenödems.  Von  J.  C.  Llames 
Massini.  38jährige,  VI. -Gravida,  im  achtem  Lunarmonat,  wird 
plötzlich  von  einem  hyperakuten  Lungenödem  befallen.  Da  sie  auf 
der  Klinik  war,  wird  sofort  der  vaginale  Kaiserschnitt  und  Wen¬ 
dung,  Extraktion  der  Frucht  ausgeführt.  Zwischen  Ausbrach  der 
Krise  und  Beendigung  der  Geburt  vergehen  keine  20  Minuten. 
Nachher  erholte  sich  Patientin  im  Anschlüsse  an  die  Qperation 
rasch  und  konnte  23  Tage  später  auf  dem  Wege  der  Genesung 
entlassen  werden.  Verf.  empfiehlt  die  sofortige  Entleerung  des 
Uterus,  am  besten  durch  den  vaginalen  Kaiserschnitt,  einzu¬ 
leiten,  wenn  bei  einer  Schwangeren  mit  lebensfähigem  Kinde 
hyperakutes  Lungenödem  konstatiert  ist.  —  (Zentralblatt  für  Gynä¬ 
kologie  1911,  H.  3.)  E.  V. 

* 

304.  (Aus  dem  Institute  für  allgemeine  und  experimentelle 
Pathologie  der  Universität  Wien.)  Ueber  die  Beziehungen 
der  Herz  nerven  zur  atrioventrikulären  Automatic 
(nodal  rhythm).  Von  Dr.  C.  J.  Rothberger,  Privatdozent 
und  Dr.  H.  Winterberg,  Privatdozent.  Unter  atrioventriku¬ 
lärer  Automatie  versteht  man  jene  Störung  der  Reihenfolge  der 
Herzbewegung,  bei  welcher  sich  Vorhöfe  und  Kammern  nicht  wie 
gewöhnlich  nacheinander,  sondern  ungefähr  gleichzeitig  zusam¬ 
menziehen.  Die  wirksamen  Herzreize  entstehen  bei  der  atrio¬ 
ventrikulären  Automatie  nicht  mehr  an  dem  normalen  Orte  (nomo- 
top)  än  der  Einmündungsstelle  der  oberen  Hohlvene,  sondern 
heterotop  in  der  Nähe  der  Vorhofkammergrenze  u.  zw.  innerhalb 
des  Reizleitungssystems,  wahrscheinlich  im  Ta  war  a  sehen 
Knoten.  An  Hunden  läßt  sich  nachlweisen,  daß  der  linke  Akzelerans 
vorwiegend  dieses  sekundäre  Reizbildungszentram  an  der  Vorhof- 
kammengrenze'chronotrop  fördernd  innerviert.  Reizung  des  linken 
Akzelerans  beschleunigt  den  Herzschlag  in  geringerem  Maße  und 
erzeugt  in  30°/o  atrioventrikuläre  Automatie,  welche  durch  Reizung 
des  rechten  Akzelerans  (welcher  vorzugsweise  die  primäre  Reizbil¬ 
dungsstätte  an  der  Hohlvenenmündung,  bzw.  der  Keith-  Fla ck- 
schen  Knoten  chronotrop  fördernd  innerviert)  aufgehoben,  re¬ 
spektive  verhindert  werden  kann.  Bleibt  die  Automatie  nach 
Reizung  des  linken  Akzelerans  aus,  so  beruht  dies  darauf,  daß 
manchmal  auch  der  linke  Akzelerans  (individuelle  Variation,  auch 
Rasseneigentümlichkeit)  eine  größere  zum  chronotropen  Erfolgs¬ 
organ  an  der  Hohlvenenmündung  verlaufende  Fasermenge  ent¬ 
hält;  es  tritt  dann  natürlich  die  Reizwirkung  des  rechten  Akze¬ 
lerans  auf,  die  erhöhte  Schlagfrequenz  ohne  Aenderung  der  Schlag¬ 
folge  der  Vorhöfe  und  Kammern.  Bisweilen  gelingt  es,  auch  bei 
gemischtem  Faserverlauf  durch  anatomische  Präparation  die 
Zweige  zu  isolieren,  deren  Reizung  atrioventrikuläre  Automatie 
hervorruft;  in -fast  allen  Fällen  können  aber  durch  Abkühlung 


430 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


der  Hohlvenenmündung  mittels  Chloräthylsprays  die  im  linken 
Akzelerans  dahin  verlaufenden  Fasern  temporär  ausgeschaltet 
werden.  Heizung  des  linken  Akzelerans  führt;  unter  diesen  Um¬ 
stünden  regelmäßig  zur  atrioventrikulären  Automatic.  —  Sinus- 
und  A t rioventr  ikularknoten  werden  aber  nicht  nur  chronotrop 
fördernd,  sondern  auch  chronotrop  hemmend  innerviert,  doch 
sind  die  in  den  Vagis  zu  den  Hauptreizbi.ldungsstätten  verlau¬ 
fenden  Hemmungsfasern  in  der  Riegel  so  stark  vermischt,  daß 
ihre  \\  irkungen  nicht  isoliert  werden  können.  Ausnahms¬ 
weise  gelingt  es  aber,  eine  direkt  chronotrop  hemmende  Wirkung 
des  Vagus  auf  den  Atrioyentrikulafknoten  nachzuweisen.  —  (Se¬ 
paratabdruck  aus  dem  Archiv  für  die  gesamte  Physiologie,  Bd.  135.) 

K.  S.. 

* 

305.  Argentum  kali  um  cyan  a  tum  als  bewährtes 
Mittel  bei  chronischer  Gonorrhoe  empfohlen.  Von 
Dr.  A.  Philippsoll  in  Hamburg.  Beim  chronischen  Tripper 
bildet  der  Höllenstein  noch  immer  das  souveräne  Mittel.  Aber  er 
hat  seine  Fehler.  Daher  verwendet  Verfasser  zur  Vermeidung 
derselben  seit  dem  Jahre  1906  Argentum  kalium  cyanatum  zu 
Harnröhren-  und  Blasenspülungen.  Dieses  Doppelsalz  besteht  aus 
weißen,  wasserlöslichen  Kristallen.  Ein  Teil  des  Präparates  hemmt 
iii  50.000  feilen  Blutserum  das  Wachstum  der  Milzbrandbazillen. 
Es  ist  in  vier  Teilen  Wasser  bei  20°  löslich.  Nach  den  Erfahrungen 
des  Verfassers  hält  sich  ein  Teil  in  fünf  Teilen  Wasser  sehr  gut 
bei  Zimmertemperatur,  ohne  auszufallen.  Ueber  die  physiologi¬ 
schen  Eigenschaften  ist  nichts  bekannt.  Dagegen  sind  die  Bestand¬ 
teile  des  Präparates,  AgCy  und  Kal.  cy.,  wenn  auch  jetzt  ver¬ 
altet,  für  gewisse  Krankheiten  früher  in  Gebrauch  gewesen.  Ver¬ 
fasser  ging  bei  den  ersten  Versuchen  außerordentlich  vorsichtig 
zu  Werke.  Er  stellte  sich  die  jeweilige  Stärke  der  Spülflüssig¬ 
keit  durch  Zusatz  von  Tropfen  her.  Er  -machte'  sich  in  einer 
Tropfflasche  eine  Standardlösung  von  6  g  Arg.  kal.  cyanat.  in 
30  g  destilliertem  Wasser  zurecht  und  setzte  davon  einem1  Quan¬ 
tum  von  200  cm3  Wasser  einen,  zwei  und  drei  Tropfen  als 
Spülflüssigkeit  zu.  Jeder  Tropfen  enthielt  0-008  g  wirksame-  Sub¬ 
stanz.  Da  diese  Lösungen  anstandslos  vertragen  wurden,  konnte 
er  später  mit  weit  höheren  Dosen  arbeiten.  Jetzt  verwendet  er  es 
m  der  t  Stärke  von  0-032  bis  0-67  oder  4  biß  80  Tropfen  jener 
Staminiösung  auf  200  enf  Wasser,  ohne  je  -eine  Spur  von  Ver¬ 
giftung  erlebt  zu  haben.  Vorsichtshalber  verwendet,  er  es  nicht 
bei  Prostatahypertrophie  oder  anderen  Prozessen,  bei  denen  eine 
Retentio  urinae  zu  befürchten  ist.  Auch  hat  Verf.  Patienten  das 
Mittel  nicht  zur '  Injektion  in  die  Hand  gegeben.  Um  annähernd 
die  Grenzen  der  Giftigkeit  zu  kennen,  veranläßt©  Verf.  Dr.  Plaut 
in  Hamburg,'  Tierexperimente  vorzunehmen.  Es  wurden  einem 
Kaninchen  in  Ohr-  und  Oberschenkelvene  eine  halbe  bis  zwei 
Spritzen  einer  Lösung  von  0-03  auf  10,  d.  i.  0-0015  bis  0-006 
pro  dosi  eingespritzt.  Weder  Thrombose,  noch  andere '  Schädlich¬ 
keiten^  traten  ein.  Kürzlich  wurden  die  (Versuche  mit  einer  Lösung 
von  0-1  auf  10  fortgesetzt.  Einem 'Kaninehen  von  2620  g  Gewicht 
wurde  0-01  Arg.  kal.  cyanat.  intravenös  eingespritzt.  Es'  bekam 
sofort,  allgemeine  Krämpfe,  Opisthotonus,  maximale  Pupillen¬ 
erweiterung,  blieb  von  Mittag  bis  zum  anderen  Morgen  wie  leblos 
liegen,  dann  erholte  es  sich  wieder.  Auf  den  Menschen  ange¬ 
wendet,  würde  -ein  erwachsener  Mensch  von '70  kg  Gewicht  durch 
eine  Dosis  von  0-27  Arg.  kal.  cyanat.  in  Lebensgefahr  geraten. 
Die  Vorzüge  des  Mittels  sind  nach  Verf.  im  einzelnen  folgende : 

1.  Da  es  einen  hohen  Silbergehalt  hat,  muß  es  auch  eine  hohe 
antiseptische  Wirksamkeit  entfalten.  Nach  Aufrecht  hat  Ar- 
gohin  4-2Ao,  Argen  tarn  in  6-3°/o,  Protargol  8-3%,  Largin  11-1  %, 
Albangin  15%,  Ic-hthargan  30%,  Höllenstein  63-5%  ’Silber.  Diesem 
am  nächsten  steht  nun  Arg.  kal.  cyanat.  mit  54-2%  Silbergehalt. 
Die  Trübungen  des  Urins,  die  Fäden  und  Flocken  in  demselben, 
dei  Morgen  tropfen  gehen  beim  Gebrauch  der  Spülungen  mit  dem 
Zyansalz  allmählich  zurück.  Fälle  mit  geringem  Gonokokkengehalt 
werden  anstandslos  mit  schwachen  Lösungen  geheilt.  Wählt  man 
zu  starke  Lösungen,  bekommt  man,  wie  bei  jedem  Antigonorrhoi- 
kum,'  Verschlimmerungen.  2.  Da  das  Mittel  in  gewöhnlichem 
Wasser  löslich  ist,  kann  man  selbst,  die  konzentrierte  Lösung 
in  der  Tropfflasche  aus  gewöhnlichem  Wasser;  bereiten,  ohne  einen 
Niederschlag'  zu  bekommen.  Es  ist  daher  sehr  bequem,  ange¬ 
wärmtes  Leitungswasser  aus  einem  Heißwasserapparat  des  Sprech¬ 


zimmers  als  Spülflüssigkeit  verwenden  zu  können.  3,  Schätzungs¬ 
weise  wird  das  Doppeisalz  wesentlich  besser  vertragen,  falls  man 
gleich  wirksame  Höllenstein-  und  Zyansilberlösungen  verwendet 
Wohl  macht  sich  auch  hier  (bei  40  bis  80  Tropfen)  Brennen  und 
Urindrang  geltend,  aber  lange  nicht  so  stark  wie  bei  Höllen¬ 
stein.  4.  Macht  das  Zyandoppel'salz  keine  Flecke,  was  Patienten 
und  Arzt  zugute  kömmt.  Auch  das  lästige  Auskristallisieren 
an  der  [Topfflasche  ist  bei  der  Zyanverbindung  nicht  annähernd 
so  stark  wie  heim  Höllenstein.  Bei  der  frischen  Gonorrhoe  erfolgte 
die  endgültige  Heilung  nicht  rascher  als  mit  dem  vom  Verfasser 
bevorzugten  Ichthargan.  Verf.  empfiehlt  daher  das’  Mittel  in  der 
angegebenen  Stärke  zu  weiteren  Versuchen.  -1-  (Münchener  medi¬ 
zinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  9.)  G. 

* 

306.  Ueber  die  Wirkung  der  Radium  strahlen 
auf  inoperable  Uteruskarzinom  e.  Von  Sanitätsrat  Doktor 
Arendt  in  Berlin.  Mit  der  aus  Joachimstal  bezogenen  Uranpech¬ 
blende  stellte  Verf.  Heilversuche  in  der  Weise  an,  daß  er  das  von 
Beimischungen  befreite  Pulver  in  Jodoformsäckchen  legte  oder  daß 
er  mit  dem  Pulver,  je  nach  der  Größe  der  Höhle,  Kondomfinger¬ 
linge  füllte,  diese  auch  mit  Jodoformgaze  umwickelte  und  in  die 
Krebshöhle  einführte.  Zum  Schutz  gegen  das  Herausfallen  wurde 
noch  Gaze  in  die  Vagina  eingefübrt.  Man  kann  das  bei  einer 
Kranken  benutzte  Material  ausglühen  und  nach  14  Tagen  schon  .in 
einem  anderen  Falle  wieder  verwenden.  Selbstverständlich  wird  man 
jeden  noch  operablen  Fall  der  radikalen  Operation  zuführen,  doch 
gibt  es  leider  noch  vitde  Fälle,  die  inoperabel  sind  und  hier  ist 
unser  Bestreben  dahin  gerichtet,  die  drei  Kardinalsymptome :  Fluor, 
Odor  und  Dolor  —  zu  beseitigen.  Verf.  ging  so  vor,  daß  er  mit 
dem  scharfen  Löffel  die  Karzinommassen,  soweit  es  möglich  war. 
exkochleierte,  daß  er  alles  karzinomverdächtige  entfernte,  dann  die 
Höhlenwand  unter  Weißglühhilze  ausbrannte  und  gleich  hernach 
einen  in  30%iger  Chlorzinklösung  getränkten  Gazestreifen  unter 
den  bekannten  Kautelen  für  die  Scheide  einlegte.  Meist  nach  einem 
Tage,  spätestens  nach  zwei  Tagen  begann  er  mit  der  Radium¬ 
behandlung.  Die  Masse  wurde  anfangs  täglich,  später  nach  zwei, 
drei  bis  vier  Tagen  gewechselt.  Der  widerliche  Gestank  schwindet,’ 
ebenso  rasch  auch  der  lästige  Fluor,  die  Kranken  werden  frei  von 
Schmerzen  und  sonstigen  Beschwerden;  sie  nehmen  an  Gewicht 
zu  und  verlieren  die  Todesahnung.  Geheilt  sind  sie  aber  nicht,  die 
Erfolge  sind  derart,  daß  die  Frauen  in  einzelnen  Fällen  (drei  werden 
mitgeteilt)  von  anderen  Aerzten  als  geheilt  angesehen  wurden.  Die 
von  der  Uranpechblende  ausgehende  Radiumbehandlung  des  Uteras- 
krebses  ist  k  e  i  n  Heilmittel,  aber  es  ist  das  beste  Mittel,  um 
die  symptomatischen  Beschwerden  zu  beseitigen  oder  wenigstens  zu 
mildern.  —  (Berliner  klin.  Wochenschr.  1911,  Nr.  8.)-  E.  F. 

* 

307.  (Aus  dem  diagnostisch-therapeutischen  Institut  für  Herz¬ 
kranke  in  Vien.)-  Ueber  funktionelle  Herz d i ag n o st i k . 
Von  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz.  Der  Verfasser  skizziert,  inwieweit 
der  praktische  Arzt  mit  den  altgewohnten  Mitteln  der  Palpation, 
Auskultation  und  Perkussion  funktionelle  Herzdiagnostik  treiben 
kann.  Konstatiert  der  Praktiker  Pulsverlangsamung,  so  handelt 
es  sich  hauptsächlich  um  drei  Möglichkeiten :  entweder  um  habi¬ 
tuelle  Bradykardie  oder  Hyperfunktion  des  Vagus  (probatorißche 
Atropininjektion)  oder  endlich  um  eine  Störung  in  der  Reiz¬ 
leitung  (in  der  Herzmuskulatur  (Zahl  der  Venenpulse  am  Halse  um 
ein  mehrfaches  größer  als  die  Radialpulse).  Zu  belanglosen  Alte¬ 
rationen  des  Pulsrhythmus,  welche  zu  oft  Arzt  und  Patienten  be¬ 
sorgt  machen,  gehören  die  häufigen  Intermittenzen  des  Pulses, 
welche  zumeist  Extrasystolen  -entsprechen,  im  Pulse  nicht  tastbar 
sind,  aber  durch  Auskultation  sichergestellt  werden  können.  Pulsus 
intermittens  regular  is  ist  aber,  wie  die  dritte  oben  erwähnte 
Form  der  Bradykardie-,.  Ausdruck  einer  Reizleitungshemmung  im 
Herzein.  Pulsus  altem, ans  (nicht  zu  verwechseln  mit  Pülsüs  bige- 
minüs), bedeutet  Störung  der  Kontraktilität  des1  Herzmuskels'.  Pulsus 
celer  weist  entweder  au!  Aorteninsuffizienz  oder  -Erweiterung  des 
Aortenrohres  hin  oder  aber  ist  eine  rein  funktionelle  Alteration 
des  Herzmuskels,  wie  bei  Morbus  Basedow.  Die  Palpation  der 
Herzgegend  wird  in  der  Praxis’  mit.  Unrecht  in  viel  zu  geringem 
Umfang  verwendet,  obwohl  zum  Beispiel  präsystolisches  Schwirren 
allein  die  Diagnose  der  Mitralstenose  ermöglicht,  selbst  dann,  wenn 
hei  der  Auskultation  die  charakteristischen  Geräusche  fehlen 


Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


431 


(stumme  Mitralstenose).  Bei  Mitralstenose  tastet  man  häufig  noch 
am  linken  unteren  Sternaliande  eine  systolische  Erschütterung 
mul  über  der  Pulmonalis  einen  diastolischen  Anschlag.  Rein- 
systolisches  Schwirren  findet  sich  bei  stark  erregter  Herztätig¬ 
keit  (Neurasthenie,  Basedow).  Pulsatorisehe  Bewegung  der  ganzen 
Herzgegend  sind  ein  Zeichen,  daß.  das  Herz  in  einer  räumlichen 
Bedrängnis  sich  befindet  und  daß  ein  nennenswerter  Bruchteil 
seiner  Arbeit  auf  eine  außeCwesentliche  Arbeit  verwendet,  also 
vergeudet  wird.  Pulsationen  der  Interkostalräume  sind  hievon 
strenge 'auseinanderzuhalten  und  beziehen  sich  auf  Hypertrophie 
des  rechten  Ventrikels.  Beide  letztgenannte  Phänomene  lassen 
den  Eintritt  einer  Insuffizienz  des  Kreislaufes  befürchten.  In  aus¬ 
kultatorischer  Hinsicht  macht  Herz  auf  die  eigentümliche  Klang¬ 
farbe  des  ersten  Herztones  bei  nervöser  Erregung  aufmerksam : 
der  ferste  kompakte  Ton  löst  sich  in  eine  längere  geräuschähnlicbc 
Klangerscheinung  auf,  wobei  die  Ohrmuschel,  nicht  die  tastende 
Hand,  leise  Vibrationen  empfindet.  Auch  die  Ergebnisse  der  Per¬ 
kussion  sind  vielfach  für  die  funktionelle  Herzdiagnostik  vor- 
wendbar.  Doch  darf  man  sich  durch  eine  scheinbare  Herzver¬ 
größerung  nicht.  täuschen  lassen  (Gravidität,  gebückte  Haltung  bei 
Zahnärzten,  Zeichnern,  Schreibern  usw.  —  in  diesen  letzten 
Fällen  ist  natürlich  Orthopädie,  nicht  medikamentöse  Therapie 
am  Platze).  Die  wichtigste  Aufgabe  der  funktionellen  Herzdiagno¬ 
stik  besteht  darin,  eine  noch  nicht  vorhandene,  aber  nahe  be¬ 
vorstehende  Insuffizienz  zu  erkennen.  Die  vorhandenen  Arbeits¬ 
kräfte  des  Herzens  aber  zweckmäßig,  zum  Beispiel  nach  Kilo¬ 
grammetern  zu  bestimmen,  geht  nach  Herz  nicht  an,  da  ver¬ 
schiedene  Faktoren,  wie  Entwicklung  der  Körpermuskulatur,  Ge¬ 
wöhnung  an  körperliche  Arbeit,  Befangenheit  des  Patienten  im 
Momente  der  Untersuchung,  das  Untersuchungsresultat  trüben 
müssen.  Für  das  Verhalten  des  Herzens  ist  übrigens  nicht  die 
absolute  Größe  der  äußeren  Arbeit  maßgebend,  sondern  nach 
Herz  die  psychische  Anstrengung,  welche  dabei  aufgewendet 
werden  muß.  Die  von  Herz  angegebene  leicht  ausführbare 
S  e  1  b  s  t  h  am  m  u  n g  s  p  r  o  b  e  basiert  darauf :  Man  läßt  den  I ha¬ 
tten  ten.  den  rechten  Arm  so  langsam  und  gleichmäßig  als  nur  mög¬ 
lich  eine  Beugung  und  dann  eine  Streckung  ausführen,  wobei 
man  den  Oberarm  fixiert  und  die  Hand  leitet,  ohne  jedoch  die 
Bewegung  in  eine  passive  zu  verwandeln.  Ein  starkes  Sinken 
der  Pulszahl  nach  .der  'Bewegung  weist  auf  starke  Herzmuskel¬ 
schädigung  hin  (zum  Beispiel  von  140  auf  80).  Das  Gegenteil, 
eine  Steigerung  der  Pulszahl,  tritt  bei  nervösen  Herzen  ein.  Elten¬ 
falls  eine  einfache  funktionelle  Prüfung  besteht  darin,  daß  man 
den  Puls  des  Kranken  in  stehender,  sitzender  und  liegender 
Körperhaltung  zählt.  Bei  geschädigtem  Herzmuskel  fällt  die  nor¬ 
male  Verlangsamung  der  Herzaktion  beim  Niederlegen  weg  oder 
verwandelt  sich  gar  ins.  Gegenteil.  Empfehlenswert  ist  ferner,  zu 
prüfen,  wie  lange  der  Patient  seinen  Atem  anhalten  kann.  Stellt 
sich  schon  nach  Ablauf  von  etwa  15  Sekunden  heftige  Atemnot 
ein,  dann,  muß  (man  an  eine  Stauung  im  kleinen  Kreislauf 
denken.  Arteriosklerotiker  allerdings'  können,  selbst,  wenn  sie 
nachts  von  starker  Dyspnoe  geplagt  werden  und  leichte  Zyanose 
zeigen,  den  Atem  sogar  über  das  normale  Maß  hinaus  zurück¬ 
halten.  Schließlich  sei  für  den  Praktiker  noch  hingewiesen  auf 
das  Verhalten  der  Hanimeng'e  hei  Herzkranken.  Während  nämlich 
beim  gesunden  Oiganismus  die  Harnsekretion  in  der  Na<  hl  sk  h 
vermindert,  tritt  bei  Herzmuskelinsuffizienz  eine  bedeutende  Ver¬ 
mehrung  der  Harnmenge  im  Schlafe  auf,  (Fortschritte  ulei 
Medizin  1910,  28.  Jährg.,  Nr.  47.)  K-  S- 

i  -  •  *  . 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

308.  Heber  die  Behandlung  der  kongenitalen  Ha¬ 
rn  o  p  h  i  1  i  earn  d  d  er  Purpura  mit  Inj  ek  t  i  o  n  en  y  o  n  M  i  1 1  c- 
schem  Pepton.  Von  P.  Nobecourt  und  Leon  fixier.  Es 
sind  bei  verschiedenen  hämorrhagischen  Zuständen  Veränderungen 
im  Verhalten  der  Blutgerinnung  nachgewiesen  worden,  was  zur 
therapeutischem  Anwendung  der  Kalksalze,  der  Gelatine,  des  Blut- 
Serums  und  des  Witt- eschen  Peptons  namentlich  bei  kongeni¬ 
taler  Hämophilie  und  Purpura  Anlaß  gab.  Während  bei  der  Hämo¬ 
philie  die  Verlangsamung  der  Blutgerinnung  konstant  ist,  z<  ig<  n 
die  Fälle  von  Purpura  in  dieser  Hinsicht  kein  gleichaitiges  \<< 
halten.  , Die  Kalksalze  und  die  Gelatine  haben  sich  bei  Hämqphilie 
find  .Purpura,  nicht  als  verläßlich  erwiesen,  bessere  Erfolge  wurden 


mit  Injektionen  von  Blutserum  erzielt,  doch  versagt  dieses  öfter  bei 
kongenitaler  Hämophilie,  sowie  auch  in  manchen  Fällen  von 
Purpura  und  zeigt  als  unangenehme  Nebenwirkung  Auftreten  aus¬ 
gedehnter  Ekchymosen  an  der  Injektionsstelle.  Das  zur  Behand¬ 
lung 'der  Hämophilie  und  Purpura?. empfohlene  Wittesche’  Pepton 
wurde  von  den  Verfassern,  in  je  einem  Falle  von  kongenitaler 
Hämophilie,  bzw.  schwerer  Purpura  haemorrhagica,  mit  günstigem 
Resultate!  amgewendet.'  Man  verwendet  eine  warm  filtrierte  und 
bei  120°  sterilisierte  Lösung  von  5  g  Witte  schein  Pepton,  0-5  g 
Kochsalz  in  100  g  Aqua  destillata;  zur  Anwendung  ist 
nur  eine  vollkommen  klare  Lösung  geeignet.  Die  Dosis  für  sub¬ 
kutane  Injektionen  beträgt  3  bis  4  cm3  bei  Kindern  von  neun 
bis 'zehn  Jahren;  bei  Hämophilie  werden  drei  bis  vier  Injektionen 
in  zwei-  bis  dreitägigen  Intervallen  vorgenommien,  dann  durch 
drqi  bis  vier  Wochen  pausiert,  bei  Purpura  werden  die  Injektionen 
täglich  oder  jeden  zweiten  Tag  vorgenomimem,  wobei  in  der  Reget 
drei  bis  vier  Injektionen,  genügen.  Die  intrarektalen  Injektionen, 
10  cm3  bei  Kindern,  20  cm'3  bei  Erwachsenen,  sind  wenig  wirk¬ 
sam.  Von  Nebenwirkungen  wurden  lokale  Reaktion  in  Form  von 
Schmerzein  nach  Injektion  größerer  Dosen  beobachtet,  während 
Dosen  vom  3  bis  4  cm3  schmerzlos  waren ;  als  Ausdruck  der  All¬ 
gemeinreaktion  wurden  Frösteln,  Fieber,  Kopfschmerzen,  Ueb- 
lichkeitenTind  Erythem  beobachtet.  Der  Umstand,  daß  die  späteren 
Injektionen  stärkere  Reaktion  herVorrufem,  spricht  für  eine  sensi- 
b i  1  i s i eremde i Wirku ng ,  doch  kann  nicht  von  Anaphylaxie  gesprochen 
werdejn.  Das  Blutserum  wirkt  bei  Hämophilie  nicht,  wie  angegeben 
wurde,  durch  Zufuhr  eines  fehlenden  Fermentes,  sondern  wie 
Propeptön,  das  heißt  wie  fremdes  Eiweiß,  wodurch  die  Leuko¬ 
zyten  zur  Sekretion  von  Thrombozym  und  thrombopläst.iscben 
Agentien  angeregt  werden.  In  noch  höherem  Grade  wirkt  das 
Witte  sehe  Pepton,  welches  Propepton  enthält,  befördernd  auf 
die  Blutgerinnung.  Die  Zurückführung  der  V  irkung  auf  die  An¬ 
regung  der  Thrombozymsekretion  von  seiten  der  Leukozyten 
und ' Gefäßend othelien  besitzt  viel  Wahrscheinlichkeit.  Aus  diesen 
Tatsachen  erklärt  sich  die  Wirksamkeit  der  Peptoninjektion  bei 
Hämophilie,  während  die  gleichfalls  nachgewiesene  Wirksamkeit 
bei  Purpura  die  Gerinnung  des  Blutes  erklärbar  macht.  Jedenfalls 
stellt  das  Witte  sehe  Pep tom  ein  den  anderen  Mitteln,  zum 
Beispiel  -dem  Serum,  ap  Wirksamkeit  überlegenes  Mittel  zur 
Behandlung  der  schweren  Blutungen  bei  Hämophilie  und  Pur¬ 
pura  dar.  —  (Gaz.  des  höp.  1911,  Nr.  6.)  a.  e. 

+ 

309.  Ueber  die  menstruelle  Form  der  Lungen¬ 
schwindsucht.  Von  Ch.  Sabourin.  Das  menstruelle  Fieber 
der  phthisischen  Patientinnen  übt,  wenn,  es  eine  gewisse  Höhe 
erreicht,  feiinen  beträchtlichen  Einfluß  auf  den  V  erlauf  der  Lungen¬ 
affektion  aus.  In  Fällen,  die  vor  Beginn  des  Klimakteriums  stehen, 
beobachtet  man,  daß-  die  Menstrualblutung  verschv  indet,  jedoch 
die  Fieberanfälle  weiter  auftreten  und  von  vikariierenden  Blu¬ 
tungen.  wie  Epistaxis,  Hämoptoe  usw.  begleitet  sind.  In  ein¬ 
zelnen  Fällen  tritt  das  menstruelle  Fieber  derart  in  den  Vorder¬ 
grund,  daß  dadurch  das  ganze  Krankhedtsbild  beeinflußt  wird 
und  man  von  einer  menstruellen  Form  der  Lungenschwindsucht 
sprechein  kann.  In  diesen  Fällen  beobachtet  man  schon  längere 
Zeit  vor  dem  Eintritt  der  Menstruation  Ansteigen  der  Temperatur, 
welche  zur  Zeit  des  Eintrittes  der  Menstruation  eine  beträcht¬ 
liche  Höhe  erreicht  und  dann  wieder  abfällt.  In  Fällen  dieser 
Art  besteht  häufig  eine  Verkürzung  des  intermenstruellen  Inter¬ 
valls,  so  daß  relativ  kurze  Zeit  nach  dem  Fieberabfall  wieder 
die  Te'inperatur  anzusteigen  beginnt.  Die  menstruelle  Form  der 
Lungenschwindsucht  ist  trotz  dels  schweren  C  harakters  des  Fieliei- 
verlaufeis  bei  jüngeren  Patientinnen  der  Heilung  fähig;  sie  wild 
bei  weiblichen  Individuen,  Mädchen  und  Frauen,  beobachtet,  die 
sonst  keine  Affektion  des  Geschlechtsapparates  zeigen.  Bei  Ein¬ 
tritt  der  Heilung  zeigt  die  Menstruation  das  gleiche  Verhalten 
wie  vor  dem  Auftreten  der  Lungenschwindsucht,  woraus  her¬ 
vorgeht,  daß  die  Tuberkulose  eine  wesentliche  Ursache  des  ab¬ 
normen  Verlaufes  der  Menstruation  ist;  als  Hilfsursache  scheinen 
Läsionen  des  Herzens  und  Disposition  zu  Angioneurosen  zu 
wirken,  welche  die  menstruelle  Kongestion  der  erkrankten  Lunge 
fördern.  Das  menstruelle  Fieber  ist  von  großer  praktischer  Be¬ 
deutung,  da  es  unter  Umständen  mehr  Gefahr  mit  sich  bring  , 
als  die  bestehende  Lungenschwindsucht.  Eine  wirksame  lfMa4m 


432 


WIENER  KLINISCHE 


des  menstruellen  Fiebers  bei  schwindsüchtigen  Frauen  ist  bisher 
nicht  bekannt,  doch  geht  mit  der  Heilung  der  Tuberkulose  auch 
das  menstruelle  Fieber  zurück.  —  (Joum.  de  Prat.  1911,  Nr.  3.) 


310.  Ueber  das  Konstriktionsphänomen  bei 
hämorrhagischen  Erkrankungen.  Von  C.  Frugoni  und 
F.  Giugni.  Wenn  man  bei  einem  Patienten  mit  Hautblutungen 
als  Ausdruck  der  hämorrhagischen!  Di  a  these  um  eine  Gliedmaße, 
z-  B-  um  den  Arm  eine  nicht,  zu  fest  angezogene  Binde  anlegt, 
so  tretein  im  peripheren  Teil  der  umsdhnürten  Extremität  Haut¬ 
blutungen  auf,  die  in  jeder  Hinsicht  den  spontanen  Blutungen 
gleichein.  Am  deutlichsten  zeigt  sich  das  Phänomen  im  Höhe¬ 
stadium  der  Erkrankung ;  wenn  sich  nach  dein  Verschwinden  der 
spontanen  Hautblutungen  durch  Umschnürung  noch  Blutungen 
hervorrufein  {lassen,  so  ist  dies  ein  Zeichen,  daß  die  hämorrhagische 
Diathese  noch  fortbesteht,  so  daß  das  Symptom  von  praktischer 
VI  ichtigkeit  erscheint.  Man  kann  bei  den  verschiedenen  hämor- 
rhagischen  Erkrankungen  durch  verschiedene  Reize  mechanischer 
Art  Hautblutngen  hervorrufen,  auch  beobachtet  man  bei  normalen 
Individuen  schon  kurze  Zeit  nach  Anlegung  einer  ßi ersehen 
Stauungsbinde  das  Auftreten  punktförmiger  Blutungen.  Das  Kon¬ 
striktionsphänomen  wurde  bei  Purpura  simplex  und  haemorrha- 
gica,  Poliosis  rheumatica,  bei  den  hämorrhagischen  Formen 
schwerer  Anämien,  bei  Hämophilie,  sowie  beim  Erythema  nodo¬ 
sum  beobachtet.  Schädliche  1  olgen  der  Umschnürung  wurden 
nicht  beobachtet,  in  einem  Falle  von  Peliosis  rheumatica  wurde 
dadurch  die  Milderung  arthritischer  Schmerzen  erzielt.  Als  wesent¬ 
liche  Ursache  der  nach  der  Konstriktion  auftretenden  Hämorrha- 
gien  ist  die  Störung  des  Gleichgewichtes  zwischen  intra-  und 
extravaskulärer  Spannung,  sowie  die  Ausdehnung  der  kleinen 
Gefäße,  zu  betrachten.  Die  Untersuchung  des  Blutes  hinsichtlich 
der  Farbe  des  Serums,  der  Gerinnbarkeit,  der  Retraktion  des 
Gerinnsels,  der  Isotonie  ergab  vor  und  nach  der  Ligatur  das 
gleiche  Verhalten,  so  daß  das  Auftreten  der  Blutung  nicht  mit 
einer  Veränderung  des  Blutes  Zusammenhängen  kann;  auch 
konnten  weder  auto-  und  heterohämolytische  Substanzen  noch 
antihämolytische  Substanzen  im  Serum  nachgewiesen  werden. 
Die^  latsache,  daß  man  bei  hämorrhagischer  Diathese  an  ver¬ 
schiedenen  Körperstellen  sehr  leicht  Blutungen  erzeugen  kann, 
dagegen  nicht  im  Gesichte,  spricht  für  die  Bedeutung  lokaler 
Veränderungen  an  den  Gefäßen  und  es  wurden  tatsächlich  bei 
den  verschiedenen  Formen  der  hämorrhagischen  Diathese  Lä¬ 
sionen  der  Gefäßwand  nachgewiesen.  Der  Blutaustritt  erfolgt 
nicht  durch  größere  Kontinuitätstrennungen  der  Gefäßwand,  son¬ 
dern  durch  Diapedese.  —  (Sem.  med.  1911,  Nr.  3.)  a.  e. 

* 

Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

311.  (Gesammelte  Arbeiten  aus  dem  Untersuchungslabora¬ 
torium  des  Gesundheitsdepartements  von  New  York.  Heraus¬ 
gegeben  von  Direktor  Dr.  Park,  September  1910.  Band  IV.  Ar¬ 
beiten  aus  den  Jahren  1908  bis  1909.)  Das  prozentuelle 
Verhältnis  zwisch e n  d e n  d e m  humanen  und  de n  d e m 
bovinen  Typus  zuzuschreibenden  Tuberkulose¬ 
fällen.  Von  W.  Park  und  Ch.  Krumwiede.  Aus  der  Arbeit 
der  Autoren  geht  deutlich  die  mit  zunehmendem  Alter  immCfr 
mehr  zurücktretende  Bedeutung  der  bovinen  Infektion  für  den 
Menschen  hervor.  Bei  37  tuberkulösen  Kindern  unter  5  Jahren 
konnte  boviner  Ursprung  der  Tuberkelbazillen  llmal  konstatiert 
werden.  Bei  34  Kindern  zwischen  5  und  16  Jahren  ömal,  bei 
230  Erwachsenen  über  16  Jahren  nur  Imal.  Die  Art  der  Tuber¬ 
kulose  betreffend  war  bei  235  Fällen  von  Lungentuberkulose  kein 
1  inziges  Mal  der  bovine  lypus  zu  finden.  Dieser  fand  sich 
bei  Erwachsenen  lmal  bei  einer  Urogenitaltuberkulose,  bei  Kindern 
zwischen  5  und  16  Jahren  4mal  bei  Tuberkulose  der  Halslvmph- 
drüsen  und  lmal  bei  Bauch  tuberkulöse.  Die '11  Fälle  der  bovinen 
Tuberkulose  bei  Kindern  unter  5  Jahren  waren  6mal  Tuberkulose 
der  Halslymphdrüsen,  4mal  allgemeine  und  lmal  Bauchtuber¬ 
kulose.  —  Das  Vorkommen  von  Tuberkelbazillen  in 
der  Milch  der  Stadt  New  York.  Von  A.  Heß.  Virulente 
Tuberkelbazillen  wurden  in  17  unter  107,  das  ist  in  16%  der 
zur  Untersuchung  gelangten  Proben  aus  der  für  die  Stadt  New 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


York  bestimmten  Kannenmilch  gefunden.  Diese  Bazillen  konnten 
niclil  direkt  durch  mikroskopische  Untersuchung,  sondern  nur 
durch  den  Tierversuch  nachgewiesen  werden.  Sowohl  die  Sahne 
wie  das  Sediment  der  Milch  beherbergte  das  Virus,  so  daß  bei 
allen  derartigen  Experimenten  diese  Teile  der  Milch  zu  den 
Impfungen  verwendet  werden  können.  Der  Befund  von  Tuberkel- 
bazillen  m  der  als  „pasteurisiert“  ausgegebenen  Handelsmilch 
zeigt,  daß  die  Methode  der  Sterilisierung,  wie  sie  jetzt  ausgeführt 
wild,  keinerlei  Sicherheit  gewährt.  Da  die  Bezeichnung  „pasteu¬ 
risiert“  irreführend  ist,  so  soll  nur  jene  Milch  so  bezeichnet 
werden,  welche  genügend  lange  und  bis  zu  genug  hoher  Tempe¬ 
ratur  erhitzt  worden  ist,  um  sie  zu  einem  ungefährlichen  Nah¬ 
rungsmittel  zu  machen.  Bei  der  Isolierung  der  Tuberkelbazillen 
wurde  in  allen  Fällen  bis  auf  einen  boviner  Ursprung  festgestellt 
Dei  eine  Fall,  in  welchem  Tuberkelbazillen  humanen  Ursprunges 
nachgewiesen  wurden,  zeigt  jedoch,  daß  die  Milch  auch  durch 
tuberkulöse  Menschen  infiziert  werden  kann  und  daß  man  auf 
diese  Infektionsquelle  hier  wieder  achten  muß.  Eine  Anzahl 
von  Säuglingen  und  kleinen  Kindern,  welche  Tuberkelbazillen 
fühlende  Milch  trank,  wurde  ein  Jahr  später  untersucht.  Sie 
schienen  im  ganzen  gesund  zu  sein.  Vier  von  ihnen  reagierten 
jedoch  auf  Tuberkulin.  Eines  der  letzteren  war  in  schlechtem 
Gesundheitszustände  und  litt  an  einer  frischen 'Drüsenerkrankung 
Wenn  auch  über  90%  der  Tuberkulosefälle  auf  den  Menschen 
als  Infektionsquelle  zurückzuführen  sind,  so  sind  wir  doch  nicht 
berechtigt,  die  Gefahr  der  bovinen  Infektion  zu  vernachlässigen, 
da  selbst  bei  der  Annahme  von  nur  1%  boviner  Infektion  die 
Zahl  der  hiedurch  verursachten  Tuberkulosefälle  in  den  Ver¬ 
einigten  Staaten  sich  auf  mehrere  Tausend  beläuft.  Milch,  welche 
nicht  von  mit  Tuberkulin  geprüften  Kühen  stammt,  soll  pasteuri¬ 
siert  oder  aufgekocht  werden.  Die  Kühe  sollen  der  diagnostischen 
Tuberkulinimpfung  unterworfen  und  die  reagierenden  ausgeschie¬ 
den  werden.  lieber  den  Typus  der  Kulturen  a|us 
alten  Hauttuberkeln  von  Fleischern.  Von  A.  Heß.  Die 
zwei  Fälle  von  Hauttuberkulose,  über  welche  Heß  berichtet, 
beanspruchen  darum  Interesse,  weil  sie  beweisen,  daß  Infek¬ 
tionen  mit  bovinen  Tuberkelbazillen  auch  beim  Erwachsenen 
Vorkommen  können.  Die  Tatsache,  daß  sie  lokalisiert  blieben, 
kann  nicht  auf  die  geringe  Virulenz  der  bovinen  Tuberkel  bazillen 
zuruckgeführt  werden,  da  es  wohl  bekannt  ist,  daß  auch  durch 
den  humanen  Tuberkelbazillus  bewirkte  Hautaffektionen,  wie 
Lupus  oder  die  sogenannten  „Leichentuberkel“  ebensowenig  zur 
Ausbreitung  neigen.  Die  beiden  Fälle  illustrieren  jedoch  sehr 
gut  die  latsache,  daß  bovine  Tuberkelbazillen  viele  Jahre  im 
menschlichen  Gewebe  leben  können,  ohne  den  humanen  Typus 
zu  erwerben.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  betrachtet,  sprechen 
sie  gegen  die  Umwandlung  des  bovinen  in  den  humanen  Typus. 
—  Die  Verteilung  der  Bakterien  in  der  Flaschen¬ 
milch  und  die  Verwendung  der  letzteren  zur  Kinder¬ 
ernährung.  Von  A.  Heß.  In  der  Flaschenmilch  befinden  sich 
die  Bakterien  in  der  größten  Menge  in  den  oberen  Schichten 
der  Sahne  und  werden  in  den  tieferen  Teilen  der  Milch  immer 
weniger.  Dies  gilt  ebenso  von  den  Tuberkelbazillen  wie  von 
Streptokokken  und  anderen  Bakterien.  Daher  ist  es  besser,  an¬ 
statt  die  ganze  Sahne  zu  benützen,  die  obersten  Teile  derselben 
zu  entfernen.  —  Band  V.  Arbeiten  aus  dem  Jahre  1910.  Die 
relative  Bedeutung  des  Typus  bovinus  und  huma- 
nus  der  1  u  berk e  1  bazillen  bei  den  verschiedenen 
Formen  der  menschlichen  Tuberkulose.  Von  W.  Park 
und  (  h.  Krumwiede.  Die  Arbeit  der  Autoren  stellt  eine  Fort¬ 


setzung  und  Erweiterung  ihrer  im  früheren  Bande  enthaltenen 


dar.  Die  Autoren  haben  die  Rolle,  welche  der  humane  und  bo¬ 
vine  Typus  der  Tuberkelbazillen  bei  der  menschlichen  Tuber¬ 
kulose  spielt,  zum  Gegenstände  weiterer  Untersuchungen  gemacht. 
Ihre  durch  Kulturen  und  den  Tierversuch  kontrollierten  Resul¬ 
tate,  welche  ausführlich  dargelegt  werden,  zeigen,  daß,  wenn 
auch  (lie  Lungentuberkulose  fast  nur  dem  humanen  Typus  zuzu¬ 
schreiben  ist,  nicht  dasselbe  von  den  anderen  tuberkulösen  Er¬ 
krankungen  des  Menschen  gilt.  Insbesondere  beim  Kinde  ist 
deutlich  eine  geringere  Resistenz  dem  bovinen  Tuberkelbazillus 
gegenüber  oder  leichtere  Infektionsmöglichkeit  durch  den¬ 
selben  nachweisbar.  Eine  Gesamtübersicht  der  von  den  Autoren 
untersuchten  und  der  in  der  Literatur  angeführten  Fälle  ergab:  Bei 


Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


433 


688  Fällen  von  Tuberkulose  des  Erwachsenen  waren  9  bovinen 
Ursprungs.  Nur  ein  Fall  von  Lungentuberkulose  war  möglicher¬ 
weise  auf  Rinderbazilleninfektion  zurückzuführen,  die  übrigen 
Fälle  boviner  Infektion  betrafen  Abdominal-,  Drüsen-,  Knochcn- 
und  Urogenital  tuberkulöse.  Unter  132  tuberkulösen  Kindern  zwi¬ 
schen  dem  5.  und  16.  Lebensjahre  war  33mal  die  Tuberkulose 
bovinen  Ursprungs,  davon  der  überwiegend  größte  Teil  Drüsen- 
und  Bauchtuberkulose.  Von  220  tuberkulösen  Kindern  unter  fünf 
Jahren  httCh  59  an  Tuberkulose  bovinen  Ursprungs.  Diese  59 
Fälle  betrafen  überwiegend  Lymphdrüsen-,  Bauch-  und  generali¬ 
sierte  Tuberkulose.  Viermal  unter  allen  1040  Fällen  waren  beide 

Typen  von  Tuberkelbazillen  nachweisbar.  sz. 

* 

312.  Die  chirurgische  Anwendung  der  Pikrin¬ 
säure.  Von  Albert  Ehren  fried.  Die  gesättigte  wäßrige 
krinsäurelösung  ist  unzweifelhaft  allen  anderen  antiseptischen 
Flüssigkeiten  überlegen,  die  uns  zur  Behandlung  oberflächlicher 
Wunden  und  Läsionen,  bei  denen  das  Rete  Malpighi  der  Haut 
nicht  ganz  zerstört  ist,  zur  Verfügung  stehen.  Dies  ist  besonders 
bei  Verbrennungen  ersten  und  zweiten  Grades  der  Fall.  Die  Me¬ 
thode  ist  billig  und  einfach  in  der  Anwendung  und  bewirkt  rasche 
Regeneration  der  Haut  ohne  Schmerzen  und  ohne  Reizung,  'l  iefere 
Läsionen  können  zur  Heilung  gebracht  werden  durch  Bildung 
einer  weichen,  ebenen,  nicht  sezernierenden  Granulationsfläche, 
über  der  rasche  Ueberhäutung  erfolgt  oder  die  als  gute  Grund¬ 
lage  für  die  Hauttransplantation  nach  R  e  v  e  r  d  i  n  oder  Thiersch 
dienen  kann.  Die  leicht  toxischen  Symptome,  über  welche  be¬ 
richtet  wurde,  wird  man  nie  bei  entsprechender  Sorgfalt  sehen. 

—  (The  Journal  of  the  American  Medical  Association,  11.  Fe¬ 
bruar  1911.)  sz- 

* 

313.  E  i  n  F  a  1 1  v  o  n  w  a  h  r  s  c  h  e  i  n  1  i  c  h  e  r  Anaphylaxie. 

Von  Engelbert  Taylor.  Ein  Arzt  hatte  einen  Fall  von  Bubonen¬ 
pest  obduziert,  ohne  an  diese  Krankheit  zu  denken.  Als  die  mikro¬ 
skopische  Untersuchung  und  die  Kultur  der  Bazillen  mit  Sicher¬ 
heit  Pest  als  Todesursache  in,  diesem  Falle  ergab,  wurden  dem 
Arzte  30  cm3  Yersin-Roux-Serum  injiziert.  Es  traten  keinerlei 
Erscheinungen  auf.  Fünf  Jahre  später  verletzte  sich  der  Arzt  und 
sah  sich  veranlaßt,  eine  prophylaktische  Impfung  mit  Antitetanus¬ 
serum  vornehmen  zu  lassen.  Es  zeigten  sich  daraufhin  folgende 
Erscheinungen:  Allgemeine  Urtikaria,  Tachykardie,  heftige  cho¬ 
leraartige  Diarrhöen,  Neuritis  im  Bereiche  der  Schulternerven, 
allgemeine  Muskelschwäche  und  Hinfälligkeit,  welche  erst  all¬ 
mählich  verschwanden.  Der  Arzt  hat  nie  an  Asthma  gelitten. 
Die  wahrscheinlichste  Auslegung  des  Falles  ist  die,  daß  es  sich 
um  einen  anaphylaktischen  Anfall  handelte,  der  auf  eine  nach 
fünf  Jahren  erfolgte  Injektion  der  gleichen  Serumart  (Pferd)  auf¬ 
trat.  —  (The  Journal  of  the  American  Medical  Association,  11.  Fe¬ 
bruar  1911.)  _ _  sz- 

t/ermisehte  flaehriehten. 

Ernannt:  Dr.  Pellyesniczky  zum  ordentlichen  Pro¬ 
fessor  der  Anatomie  in  Pest. 

* 

Verliehen,:  Dem  Oberstabsarzte  1.  Klasse  Dr.  Artur 

Perlsee  das  Offizierskreuz  des  Franz  -  Josephs  -  Ordens. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Werner  Runge  für  Psychiatrie  in  Kiel. 

—  Dr.  Alfred  Gig  on  in  Bastei  für  innere  Medizin.  —  Dr.  E.  B  i  z  z  o- 
zero  für  Dermatologie  und  Syphilis  in  Genua.  Dr.  Gaetaui 

für  interne  Pathologie  in  Catania. 

* 

In  der  Sitzung  des  niederösterreichischen  Landes¬ 
sanitätsrates  vom  27.  Februar  1911  wurden  folgende  Gut¬ 
achten  erstattet:  1.  Ueber  Regelung  der  Bestimmungen  über  die 
Beistellung  von  Leichen  zu  anatomischen  Zwecken.  2.  Leber 
die  Neubesetzung  einer  Landesgerichtsarztesstelle.  3.  Ueber  die 
Statuten  und  die  Hausordnung  eines  Krankenhauses  in  Niedei- 
österreich.  4.  Ueber  die  Errichtung  einer  Spitalsabteilung  in  einem 

geplanten  Zubau  eines  Wiener  Ambulatoriums. 

* 

Einer  vom  Ministerium  für  Kultus  und  Unterricht  besorgten 
Statistik  über  den  Besuch  der  österreichischen  Univ e r- 
sitäten  im  Wintersemester  1910/11  entnehmen  wir  nach¬ 
stehende  Ziffern:  An  der  Universität  Wien  betrug  nach  dem 
Stande  vom  31.  Dezember  1910  die  Gesamtzahl  der  Hörer  9736. 


Der  medizinischen  Fakultät  gehören  2410  Frequentanten  an.  Unter 
diesen  befinden  sich  1996  Hörer  und  96  Hörerinnen  als  ordent¬ 
liche,  308  Hörer  und  5  Hörerinnen  als  außerordentliche,  sowie  5 
hospitierende  Hörerinnen.  — -  Die  Universität  Innsbruck  zählt 
insgesamt  1288  Studierende.  Die  medizinische  Fakultät  weist 
274  Hörer  u.  zw.  239  ordentliche,  34  außerordentliche  Jlörer 
und  1  Hospitantin  auf.  —  An  der  Universität  Graz  beträgt 
die  Gesamtzahl  der  Immatrikulierten  2063.  Die  medizinische  Fakul¬ 
tät  wird  von  412  Hörem  und  9  Hörerinnen  als!  ordentlichen,  27 
außerordentlichen  Hörern  und  einer  Hospitantin,  im  ganzen  von 
449  Studierenden  besucht.  —  An  der  deutschen  Universität 
in  Prag  sind  1844  Studierende  immatrikuliert.  Die  medizinische 
Fakultät  zählt  400  Frequentanten,  nämlich  387  Hörer  und  6  Höre¬ 
rinnen  als  ordentliche,  7  außerordentliche  Hörer.  —  Die  Prager 
böhmische  Universität  zählt  4432  Studierende.  Von  den  801 
Studierenden  an  der  medizinischen  Fakultät  sind  752  Hörer  und 
29  Hörerinnen  ordentliche,  19  Hörer  und  1  Hörerin  außer¬ 
ordentliche.  —  Die  Universität  in  Lemberg  wird  von  4824 
Studierenden  frequentiert.  Von  den  429  Studierenden  der  medi¬ 
zinischen  Fakultät  sind  356  Hörer  und  66  Hörerinnen  als  ordent¬ 
liche,  7  Hörer  als  außerordentliche  inskribiert.  —  Die  Universität 
Krakau  zählt  insgesamt  3308  Frequentanten,  mit  493  Hörern 
und  41  Hörerinnen  als  ordentliche,  19  außerordentlichen  Hörern 
und  3  Hospitantinnen  der  medizinischen  Fakultät.  —  Die  Gesamt¬ 
zahl  aller  im  laufenden  Semester  an  den  Universitäten  Oester¬ 
reichs  Studierenden  beträgt  28.662. 

* 

Der  Geschäftsausschuß  der  österreichischen  Aerztekammern 
hat  im  Sinne  eines  Beschlusses  des  letzten  Aerztekammertages 
ein  Memorandum  an  die  Regierung  gerichtet,  in  welchem  eine 
zeitgemäße  Regelung  der  Gebühren  der  gerichtsärzt¬ 
lichen  Sachverständigen  im  Strafverfahren  verlangt 
wird. 

* 

Im  Gemeinderatssaale  des  Alten  Rathauses  fand  am  12.  März 
unter  dem  Vorsitze  des  Prof.  Dr.  Scheff  die  konstituierende 
Generalversammlung  des  Vereines  für  Zahnpflege 
in  den  Schulen  statt.  Der  Vorsitzende  eröffnet©  die  Versamm¬ 
lung  und  richtete  nach  einer  kurzen  Erläuterung  des  Zweckes 
und  der  Ziele  der  Gesellschaft  an  die  Anwesenden  den  Appell,  die 
Absichten  des  Vereines  unterstützen  und  fördern  zu  wollen.  ^  Der 
Schriftführer  des  vorbereitenden  Komitees  Dr.  Gabriel  V'  o  1  f 
erstattete  sodann  dessen  Bericht,  dem  zu  entnehmen  ist,  daß. 
schon  nahezu  400  Mitglieder  der  Gesellschaft  beigetreten  sind. 

* 

Der  Verein  der  in  Rangsklassen  eingeteilten  Aerzte  der 
niederösterreichischen  Landes  -  Wohltätigkeits-  und  Humaniläts- 
aüstalten  hielt  am  Samstag,  den  11.  Märizl  d.  J.  seine  konsti¬ 
tuierende  Versammlung  ab  und  wählte  den  Primararzt  der  Anstalt 

in  Gugging  Dr.  Anton  Hockauf  zum  Obmanne. 

* 

Der  Gau  verband  Prag  der  deutschen  Aerzte  hielt 
am  5.  März:  1911  steine  erste  Jahresversammlung  ab.  Aus  dem 
Tätigkeitsbericht  sei  folgendes  hervorgehoben :  Der  Gauverband 
wurde  am  17.  April  1910  mit  160  Mitgliedern  begründet  und 
zählt  jetzt  227,  das  sind  90%  der  Prager  deutschen  Aerzte; 
die  wenigen  Fehlenden  haben  zumeist  ihr  solidarisches  Vorgehen 
zugesichert.  Die  ersten  Monate  seines  Bestandes  beschäftigte  den 
Gauverband  die  Aufstellung  eines  Minimaltarifs  für  Prag,  weicher 
gemeinsam  mit  den  tschechischen  Kollegen  festgesetzt,  dann  von 
der  Aerztekammer  genehmigt  und  als  ortsüblicher  Minimaltarif 
erklärt  wurde.  Au  600  Aerzte  Prags  sind  nunmehr  durch  die 
Organisation  auf  die  strenge  Einhaltung  dieses  larifs  verpflichtet, 
aber  auch  für  die  übrigen  ist  ein  Unterbieten  desselben  durch  die 
Standesordnung  der  Kammer  verboten  und  ehrenrätlich  strafbar. 
Der  Tarif  wurde  dem  Publikum  durch  Veröffentlichung  in  den 
Tagesblättern  und  durch  Flugblätter  bekanntgegeben.  Die  Regelung 
der  unentgeltlichen  Behandlung  und  insbesondere  jene  bemittelter 
Kranker  in  den  öffentlichen  unentgeltlichen  Ambulatorien  steht 
in  Beratung.  Das  Verhältnis  der  deutschen  Aerzte  zu  den  Kranken¬ 
kassen  in  Prag  wurde  statistisch  erhoben  und  öfters  bei  Vertrags¬ 
abschlüssen  zugunsten  der  Kassenärzte  interveniert.  Der  Gau¬ 
verband  beteiligte  sich  an  allen  Maßnahmen  zur  Abwehr  der 
Gefahr,  welche  durch  ein  Gesetzwerden  der  £?§  3  und  40  des 
Sozialversicherungsentwurfes  in  ihrer  gegenwärtigen  Fassung  den 
Aerzten  droht  und  unterzog  auch  den  Strafgesetzentwurf  menr- 
facher  Besprechung,  welche  zum  Einschreiten  an  maßgebender 
Stelle  führte.  Durch  Errichtung  eines  Inkassobureaus  wurde  den 
Mitgliedern  die  Einbringung  rückständiger  Forderungen  erleichtert 
und  durch  die  Rechtschutzabteilung  soll  auch  in  anderen  recht¬ 
lichen  Angelegenheiten,  insbesondere  bei  der  Besteuerung,  bei- 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


434 


sLuui  gewähr!  werden.  Die -bisherigen  wirtsöhaftliehen :  Standes- 
vertretungeu  (Praktiker,  Zahnärzte,  Krankenhau.särzte)  werden  auf¬ 
gelöst  und  im  Gauvexhand  zi&ntralisiert,  eine  Stellenvermittlung 
wurde  errichtet,  welche  alle  bekannt  gewordenen  freien  Steilen 
nachweist  und  über  die  Niederlassungsmögliehkeit  Erhebungen  ein¬ 
leitet.  Diese  Aktionen  und-  zahlreiche  Kleinarbeit  wurden  in 
24  Versammlungen  und  Sitzungen- und  durch  2193  Schriftstücke 
bewältigt,  mit-  den  anderen-  -ärztlichen  Vertretungen  stets  rege 
1  ü hlung  unterhalten.  Der  erfreuliche  Erfolg  der  Prager  Aerzte- 
organisation  schon  im  ersten  Jahre  des  Bestandes,  verspricht 
auch  in  Zukunft  vielen  weiteren  Nutzen  zur  wirtschaftlichen 
Hebung  des  Standes.  —  Der  Kassenbericht  weist  eine  Einnahme 
von  1615  K  95  h  (a;us.  Die  bisherigen  Vorstandsmitglieder  würden 
einstimmig  wiedergewählt,  darunter  als  Obmann  Dr.  Adolf  Ban  ti¬ 
ler,  als  Schriftführer  Dr.-  Oskar  Klauber,  als  Kassier  Privat¬ 
dozent  Dr.  Heinri c-h  Hilgen  reine  r. 

Literarische  A  n  z  e i ge n.  V on  der  vierten  Auflage  der 
B.  e  ä  len  z  y  k  1  opä  d  i  e  der  gesamten  Heilkunde,  unter  Mit¬ 
redaktion  Prof.  B  rüg  sch'  heräusgegeben  von  Prof.  A.  Eulen¬ 
burg,  ist  im  Verlage  von  Urban  &  Schwarzenberg  in  Wien 
tier  zehnte  Band  erschienen,  welcher  die  Artikel  Moorbäder — 
Oesophag uskraukheiten  enthält.  Von  den  Monographien,  welche 
der  Band  enthält,  seien  u.  a.  nur  hervorgehoben:  Myokardexkran¬ 
kungen  von  Fr.  Kraus,  Narkose  von  Kionka,  Nasenkrankheiten 
von  Br  es  gen,  Neurasthenie  von  Z  i-ehen,  Neuritis  von  Remak, 
Niereinchixux-gie  von  Suter. 

Annalen  der  städtischen  Allgemeinen  Kranken¬ 
häuser  zu  München.  Im  Verein  mit  den.  Aerzten  dieser 
Anstalten  heräusgegeben  von  Prof.  Dr.  j.  v.  Bauer,  Bd.  XIV, 
1906  bis  1908.  Verlag  von  J.  F.  Lehmann,  München  1910. 
Preis  14  M.  Nach  einem  allgemein  gehaltenen  Berichte  über  die 
städtischen  Krankenhäuser  Münchens  folgen  die  Mitteilungen  der 
beiden  städtischen  Krankenhäuser  links  und  rechts  der  Isar,  der 
Filiale  in  Schwabing  und  des  städtischen  Sanatoriums  in  Har¬ 
laching.  Den  weitaus  größten  Teil  der  Annalen  beanspruchen 
die  wissenschaftlichen  Mitteilungen  aus  den  einzelnen  Abteilungen 
der  genannten  Krankenhäuser.  -*'■* 

Medizinische  Essays.  Heräusgegeben  von  K.  L o e- 
ning,  Halle  a.  S.  1.  Band.  2.  Teil.  Verlag  von  B.  Konegen, 
Leipzig,  Preis  7  M.  —  Die  Medizinischen  Essays  stellen  nach 
den  Worten  des  Herausgebers  eine  Sammlung  kurzer  Abhand¬ 
lungen  über  die  neueren  Fortschritte  der  medizinischen  Wissen¬ 
schaft  und  neue  Beobachtungen  in  der  Praxis  dar,  welche  der 
Originalabteilung  des  ,, Reichs- Medizinalanzeigers“  entnommen 
sind.  — 

Von  Jes  sn-ers  Dermatologischen  Vorträgen  für  Praktiker  ist 
das  22.  Heft :  H a. u  t v e r ä n d e r u n ge n  bei  Erkrankungen  der 
Atmung sorga, ne,  im  Verlage  C.  Kabitzsch  in  Würzburg 
erschienen.  Preis  90  Pf. 

* 

Cholera-.  Rußland.  In  der  Woche  vom  29.  Januar  bis 
4.  Februar  ereigneten  sich  in  Rußland,  u.  zw.  im  Gouvernement 
Podolien  2  Choleraerkrankuiigen,  von  denen  1  tödlich  ausging. 

\  oni  5.  bis  12.  Februar  wurden  weder  Erkrankungen  noch  Todes¬ 
fälle  gemeldet. 

Pest.  Rußland.  Anläßlich  des  Herrschens  der  Pest  im 
Gouvernement  Astrachan  haben  die  Sanitätsbehörden  des  an¬ 
grenzenden  Dongebietes,  sowie  der  in  regem,  Schiffs  verkehre  mit 
Astrachan 'stehenden  'Stadt  Baku  strenge  Maßnahmen  zur  Ver¬ 
hütung  der  Pesteinschleppung  getroffen.  Insbesondere  wird  auf  die 
Vertilgung  der  Ratten  großes  Gewicht  gelegt.  Seit  15.  Februar 
(a.  St.)  wurden  aus  der  Kirgisensteppe,  wo  seit  Herbst  1910 
26  Pest  her  de  konstatiert  worden  waren,  keine- Pesterkrankungen 
mehr  gemeldet.  Der  letzte  Pest  herd  war  der  Aul  Dschaltir  auf  den 
Ländereien  der  Fürstin  Jusupoff,  von  dessen  Erdwohnungen  (mit 
399  Einwohnern)  ein  Teil  pestverseucht  war.  D-a  mit  Anfang 
Februar  die  Kirgisen  zu  Tausenden,  teilweise-  mit -ihren  Herden, 
an,  die  Küste  des  Kaspischen  Meeres  ziehen,  um  dort  den  Früh- 
lingsfischfang  zu  betreiben,  wurden  sechs  Observationspunkte, 
darunter  als  die  wichtigsten  Korduan,  Dschambai  und  Porocho- 
Avinskaja  (Trechbratinskaja)  Kossa  -errichtet,  woselbst  die  Kir¬ 
gisen  ärztlich  untersucht  werden,  bevor  sie  in  Arbeit  aufgenommeu 
werden  können.  Die  ,,Astrachanpes.t“,  die  in  den  höchst  unhygie- 
uischen  V  ohnungs-  und  Lebensvorhältnisscn  der  Kirgisen  einen 
günstigen  Nährboden  findet,  ist  fast  ausschließlich  Lungenpest 
mit  etwa  96%  Mortalität.  Eine  Verschleppung  der  Krankheit  nach 
der  Stadt  Astrachan  ist  bisher  nicht  vorgekommen ;  eine  Gefahr 
für  Oesterreich  ist  daher  trotz  der  bedeutenden  Einfuhr  von 
Kaviar,  Hausenblase  und  getrockneten  Fischten  kaum,  zu  befürchten. 

Aegypten.  In  der  Woche  vom  17.  bis  23.  Februar  ereigneten 


sieh  19  (0),  in  der  Woche  vom  24.  Februar  bis  2.  März,  74  (45) 
Pestlälle  (Todesfälle).  In  den  ersten  zwei  Monaten  des.  laufenden 
Jahres  wurden  in  ganz  Aegypten  196  Pesterkrankungen  gegenüber 
62  in  der  entsprechenden  Zeitperiode  des  Vorjahres  konstatiert. 

China.  Die  mandschurischen  Häfen,  insbesondere  Dalny 
(Dairen),  Port  Arthur  und  Tschifu  wurden  als  pestverseucht  er¬ 
klärt.  Gegen  Provenienzen  aus  diesen  Häfen  wurden  die  bei  Pest 
üblichen  sanitätspolizeilichen  Maßnahmen  in  Kraft  gesetzt.  Nach 
amtlichen  Nachrichten  betrug  die  Zahl  der- Pestfälle  in  der  Mand¬ 
schurei  bis  4.  Februar  9334;  hievon  entfielen  4190  auf  Charbin, 
1262  auf  Hu  hm,  990  auf  Suihua,  823  auf  Chanchun,  693  auf 
Mukden,  263  auf  Tsitsikar,  223  auf  Pinchou,  85  auf  Chailar, 
65  auf  Kirin,  62  auf  Hsinmintun,  15  auf  Tiding;  die  übrigen 
Fälle  verteilen  sich  auf  16  Ortschaften.  Im  Gebiete  der  südmand- 
s'c-hu rischen  Eisenbahn  betrug  die  Zahl  der  Pesjerkrankimgen 
188,  in  Dalny  53.  In  der  Provinz  Schantung  sind  bis  zum  18.  Fe¬ 
bruar  1260  Pesttodesfälle  vorgekommen,  davon  61  in  Kiautschou, 
S3  im  Kreise  Tsimo,  290  in  Tschifu. 

* 

Das  A\  i e n -e r  Ae r z  te o r c h  e s.te  r  veranstaltet  am  26.  cl.  M. 
um  V* ö  Uhr  'nach mittags  im  Volksbildungshause,  Wien  V.,  Stöber¬ 
gastee  11,  unter  Mitwirkung  der  k.  k.  Hofopernsängerin  Frau 
Elizza  und  des  Violinvirtuosen  Herrn  Höchste  in  ein  Konzert 
zugunsten  des  Wiener  Volksbildungs Vereines.  Das  Konzert  des 
V  iener  Aerzteorchesters  vom  5.  Februar  zugunsten  der  Hinter¬ 
bliebenen  nach  dem  Gerne indearzto  Dir.  Richard  Franz  in 
Riedau,  hat  nach  dem  Berichte  des  Kassiers  des  Wiener  Aerzte¬ 
orchesters,  Dr.  F as al,  ein  Bruttoerträgnis  von  11.478  K  84  h 
und  ein  Reiuerträgnis  von  7855  K  97  h  geliefert.  Das  Rein- 
erträgnis  Avird  nach  einem  Vorstandsbeschlusse  zu  einem  Doktor 
Franz- Fonds  des  Wiener  Aerzteorches  ters  verwendet. 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  9.  Jahreswoche  (vom  26.  Februar  bis 
4-.  März  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  640,  unehelich  238,  zusammen 
878.  Tot  geboren,  ehelich  49,  unehelich  31,  zusammen  80.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  673  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
17  2  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  0,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  6, 
Scharlach  2,  Keuchhusten  4,  Diphtherie  und  Krupp  10,  Influenza  0, 
Cholera  0,  Ruhr  1,  Rotlauf  5,  Lungentuberkulose  109,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  50,  Wochenbettfieber  2,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  52  (-j-  6),  Wochenbettfieber  2  (=),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  108  (4-  33),  Masern  136  (—  33),  Scharlach  106  (+  40), 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  5  (-|-  2),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0), 
Diphtherie  und  Krupp  86  (+  25),  Keuchhusten  50  (-)-  4),  Trachom  14  (+  11), 
nfluenza  2  (-f  1),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Gemeindearztesstelle  in  Valle,  Bezirk  Pola  (Küsten¬ 
land).  Fixer  Bezug  2400  K,  Hausapotheke.  Die  Gesuche,  belegt  mit  dem 
Nachweise  der  österreichischen  Staatsbürgerschaft,  der  physischen  Ge¬ 
sundheit  und  der  Praxisberechtigung  für  die  im  Reichsrate  vertretenen 
Königreiche  und  Länder,  sind  im  Laufe  des  Monats  März  beim  Ge- 
meindevorstande  in  Valle  einzubringen.  Die  Umgangssprache  ist  italienisch. 
Bei  gleicher  Qualifikation  erhalten  Istrianer  Aerzte  den  Vorzug.  Die  Er¬ 
nennung  erfolgt  vorläufig  provisorisch  im  Sinne  des  Landesgesetzes  vom 
12.  August  1907,  Ij.-G.-B1.  Nr.  39,  die  Dienstinstruktion  ist  geregelt  durch 
das  genannte  Gesetz  und  die  Verordnung  der  küstenländischen  Statthalterei 
vom  16.  März  1909,  L-G.-Bl.  Nr.  15. 

Gemeindearztesstelle  für  die  Sanitätsgemeindegruppe 
Wolfpassing  a.  d.  H.  (politischer  Bezirk  Floridsdorf-Umgebung, 
Niederösterreich)  mit  dem  Wohnsitze  des  Arztes  in  Wolfpassing.  Die 
Sanitätsgemeindegruppe  umfaßt  die  Gemeinden  Wolfpassing,  Bogenneu- 
siedl-Streifing  und  Traunfeld  mit  1867  EinAvohnern.  Die  von  den  be¬ 
teiligten  Gemeinden  zu  leistenden  Beiträge  betragen  jährlich  600  K,  dazu 
kommt  noch  die  vom  niederösterreichischen  Landesausschuß  für  diese 
Arztesstelle  bewilligte  Subvention  von  800  K.  Ueberdies  wird  dem  Arzte 
von  der  Gemeinde  Wolfpassing  eine  freie  Naturahvohnung  beigestellt.  Die 
Haltung  einer  Hausapotheke  ist  unbedingt  notAvendig.  Die  mit  dem 
Diplome,  dem  Tauf(Geburts)scheine,  dem  Nactnveis  der  österreichischen 
Staatsbürgerschaft,  dem  Sittenzeugnis,  einem  amtsärztlichen  Gesundheits-, 
bzAV.  Tauglichkeitszeugnis,  soAvie  mit  den  Nachweisen  über  die  bisherige 
ärztliche  Tätigkeit  ordnungsgemäß  instruierten,  an  den  niederösterreichi¬ 
schen  Landesausschuß  zu  richtenden  Gesuche  sind  bis  längstens 
31.  März  1911  an  das  Bürgermeisteramt  in  Wolfpassing  a.  d.  H.  (Post 
Schieinbach)  zu  richten,  welch  letzteres  auch  zur  Erteilung  von  etwa  ge¬ 
wünschten  Auskünften  bereit  ist. 

G  e  m  eindearztesstelle  in  Langschlag  (politischer  Be¬ 
zirk  Zwettl,  Niederösterreich)  für  die  Gemeinden  Langschlag,  Fraberg, 
Kainrathschlag,  Langschlägerwald,  Mitterschlag,  Siebenhöf  und  Stierherg 
mit  über  2500  EinAvohnern,  Landessuhvention  1600  K,  Sanitätsbeiträge 
der  Gemeinden  400  K;  Führung  einer  Hausapotheke  erfordeilich.  Die 
mit  den  gesetzlichen  Nachweisen  belegten  Gesuche  sind  bis  31.  März 
1911  bei  der  Gemeindevorstehung  in  Siebenhöf  (Post  Langschlag)  einzu¬ 
bringen. 


Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


435 


! 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 
Sitzung  vom  17.  März  1911. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  nnd  Kinderheilkunde  in  Wien. 
Sitzung  vom  2.  März  1911. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  17.  März  1911. 

Vorsitzender :  Prof.  Ferd.  Hochstetter. 

Schriftführer:  Dr.  R.  Bergmeister. 

Hofrat  Hochenegg  stellt  einen  Patienten  vor,  bei  welchem 
er  vor  14  Jahren  wegen  Darmverschlusses  die  Kolostomie  aus- 
geführt  hat.  Die  Anamnese  (Mastdarmblutungen,  Schleimabgang) 
sowie  der  Digitalbefund  sprachen  für  ein  Karzinom.  Da  dasselbe 
absolut  starr  in  das  Beckenzellgewebe  eingefügt  war,  erschien 
es  als  inoperabel.  Pat.  erholte  sich  nach  der  Kolostomie  voll¬ 
ständig  und  die  wiederholten  Nachuntersuchungen  ergaben  ein 
allmähliches  Verschwinden  des  Infiltrates,  das  zur  Diagnose  Kar¬ 
zinom  Veranlassung  gegeben  hatte,  so  daß  derzeit  auch  nicht 
eine  Spur  von  der  damals  nachgewiesenen  Schwellung  konstaticr- 
bar  ist.  Natürlich  mußte  damit  die  Diagnose  rektifiziert  werden. 

Den  Aufschluß  über  diesen  Fall  gibt  ein  im  Jahre  1.901 
kolostomierter  Patient,  der  ebenfalls  unter  dein  Bilde-  der  Dann¬ 
stenose  und  einem  Befunde  wie  beim  Rektumkarzinom  zur  Ope¬ 
ration  gekommen  war,  der  nach  der  Kolostomie  vollständig  aus¬ 
heilte.  Bei  diesem  Falle  entleerte  sich  aus  dem  abführenden 
Schenkel  und  durch  den  After  ein  großer,  mit  stinkendem  Eiter 
erfüllter  Abszeß,  worauf  die  geschilderte  Besserung  eintrat. 

Beim  dritten,  im  Jahre  1902  operierten  Falle,  verschwand 
nach  der  Kolostomie  der  bei  der  Untersuchung  als  inoperables 
Karzinom  anzusprechende.  Tumor  vollkommen. 

Prof.  Hochenegg  betont,  daß  diese  drei  Fälle,  die  er 
unter  142  von  ihm  persönlich  ausgeführten  Kolostomien  beob¬ 
achtet  hat,  die  in  der  Literatur  zerstreut  vorkommenden  Berichte 
von  jahrelanger  Besserung,  ja  Heilung  von  Karzinomen  durch  die 
Kolostomie  erklären  können.  Hochenegg  meint,  daß  auch  in 
diesen  Fällen  auf  Grund  ähnlicher  Befunde  die  falsche  Diagnose 
auf  Karzinom  gemacht  wurde,  während  es  sich,  wie  in  den  drei 
geschilderten  Fällen,  nur  um  entzündliche  Strikteren  gehandelt 
haben  dürfte. 

Diskussion:  Prof.  Schnitzler:  Hofrat  Hochenegg  hat 
in  seinen  interessanten  Ausführungen  hervorgehoben,  daß-  die  lange 
Zeit  anhaltenden  Besserungen  hei  als  Karzinom  diagnostizierten 
Erkrankungen  sich  zumeist  als  Fehldiagnosen  herausstellten. 
Mitunter  können  wir  aber  doch  nach  Palliativoperationen 
wegen  Karzinom  viele  Jahre  andauerndes  Wohlbefinden  beob¬ 
achten.  Einen  derartigen  Fall  aus  meiner  Erfahrung  will  ich 
kurz  mitteilen.  Im  Jahre  1903  operierte  ich  an  meiner  Abteilung 
im  Wiedener  Spital  einen  Mann  wegen  eines1  stenosierenden 
Cökumtumors.  Die  Laparotomie  zeigte  ein  typisches,  hartes  Kar¬ 
zinom  des  Cötkums,  das  wegen  der  bestehenden  Fixation 
nicht  radikal  operabel  war.  Ich  machte  daher  bloß-  die 
Enteröanastomose  zwischen  Ileum  und  Querkolon.  Der 
Kranke  erholte  sich  hierauf  sehr  und  ich  begann  trotz  des  ein¬ 
deutigen  Operationsbefundes  an  meiner  Diagnose  zu  zweifeln,  als 
das  gute  Befinden  mehr  als  fünf  Jahre  andauerte.  Erst 
Jahre  nach  der  Palliativoperation  ließ-  sich  der  Patient  wieder 
in  das  Spital  aufnehmen  u.  zw.  wegen  einer  von  der  Cökalgegend 
ausgehenden  Kotphlegmone  der  Bauchdecken.  Dieser  Krankheit 
erlag  der  Patient  trotz  ausgiebiger  Inzisionen.  Die  vom  Pro¬ 
sektor  Dt.  Zemann  ausgeführte  Obduktion  bestätigte  nun. 
daß  ein  Karzinom  des  Cökuins  bestand.  Von  einer  kleinen  | 
Perforation  des  Karzinoms  war  die  zum  letalen  Ende  führende 
Kotphlegmone  ausgegangen.  Das  Karzinom  hatte  sich  in  den 
7 Vs  Jahren  seit  der  Enteroanastomose  nur  sehr  wenig  vergrößert. 

In  diesem  Falle  bestellt  wohl  nach  dem  Operations-  und  Ob¬ 
duktionsbefund  kein  Zweifel,  daß  ein  Intestinalkarzinom  nach 
einer  Palliativ  operation  in  ein  mehrjähriges  Latenzstadium  ge¬ 
treten  ist. 

Prof.  Hochenegg  betont,  daß  man  in  dem  Falle  Pro¬ 
fessor  Schnitzler  den  sehr  interessanten  Verlauf  vielleicht 
dadurch  erklären  kann,  daß  man  annimmt,  daß  es1  sich  bei 
der  ersten  Operation  um  einen  jener  bekannten  chronisch  ent¬ 
zündlichen  Cökaltumoren  gehandelt  hat,  welche  zunächst  nach 


Wiener  dermatologische  Gesellschaft.  Sitzung  vom  18.  Januar  1911. 
Verein  der  Aerzte  in  Oberösterreich.  Sitzung  vom  2.  März  1911. 


der  Ausschaltung  sich  besserte,  später  aber  karzinomatös  ge¬ 
worden  sein  dürfte. 

Hofrat  Prof.  Dr.  Adam  Politzer:  Anatomisches  und 
Klinisches  zu  den  Labyrintheiterungen. 

Vortr.  erinnert  an  einen  vor  sechs  Jahren  in  dieser  Gesell¬ 
schaft  gehaltenen  Vortrag,  in  welchem  er,  auf  Grundlage  einer 
größeren  Zahl  anatomischer  Befunde  von  klinisch  beobachteten 
Fällen,  die  Wichtigkeit  der  Labyrintheiterungen  für  die  Ent¬ 
wicklung  lebensgefährlicher  intrakranieller  Komplikationen  dar¬ 
legte.  Seit,  jener  Zeit  hatte  Vortr.  in  den  letzten  Jahren  seiner 
klinischen  Tätigkeit  Gelegenheit,  eine  weitere  Reihe  hieher- 
gehöriger  Fälle  zu  beobachten  und  anatomisch  zu  untersuchen, 
welche  für  die  Praxis  neue  Gesichtspunkte  ergaben. 

Von  den  infolge  optischer  Komplikationen  letal  verlaufenen, 
klinisch  genau  beobachteten  18  Fällen  dieser  Serie,  ergab  die 
anatomische  Untersuchung  in  zehn  Fällen  gröbere  anatomische 
Veränderungen  im  Labyrinthe,  während  in  acht  Fällen  trotz 
tiefgreifender  Veränderungen  im  Mittelöhre  keine  entzündlichen 
Strukturveränderungen  im  Labyrinthe  nachweisbar  waren. 

An  den  vom  Vortragenden  mittels  des  Skioptikons  demon¬ 
strierten  Labyrinthpräparaten  sind  folgende  Veränderungen  zu  ver¬ 
zeichnen:  1.  Durchbruch  der  beiden  Labyrinthfenster  und  Ein¬ 
dringen  des  Eiters  in  die  Labyrinthhöhle.  2.  Fistelöffnungen  an 
den  Bogengängen  und  an  der  inneren  Trommelhöhlenwand.  3.  Zer¬ 
störung  der  häutigen  Gebilde  des  Labyrinths  und  des  Cortischen 
Organes.  4.  Einschmelzung  der  Knochenwände  der  Labyrinth¬ 
höhle  und  des  Modiolus  der  Schnecke  mit  Durchbruch  in  den 
inneren  Gehörgang.  5.  Entzündliche  Veränderung  im  inneren  Ge¬ 
hörgang  und  eitrige  Infiltration  des  Hörnerven.  6.  Bindegewebs- 
und  Knochenneubildung  in  der  Schnecke  als  Resultat  einer  älteren 
abgelaufenen  Entzündung  im  Labyrinthe. 

Als  optische  Komplikation  mit  letalem  Ausgange  werden 
angeführt:  Meningitis,  Extraduralabszeß,  '  Kleinhirnabszeß, 

Schläfenlappenabszeß  und  Sinusthrombose.  Nach  der  Statistik 
der  Klinik  Politzer  wird  der  letale  Ausgang  bei  den  optischen 
Komplikationen  in  der  Hälfte  der  Fälle  durch  die  vom  Laby¬ 
rinthe  induzierte  Meningitis  herbeigeführt.  Vortragender  weist 
nach,  daß  diese  Komplikation  vorzugsweise  von  der  Schnecke 
ausgeht.  Er  verwirft  daher  die  Operationsmethode,  welche  sich 
auf  die  Abtragung  der  Bogengänge  und  Eröffnung  des  Vorhofes 
beschränkt  und  befürwortet  als  wichtigstes  Postulat  die  operative 
Ausräumung  der  Schnecke,  da  nur  dadurch  der  gefährliche  Eiter¬ 
herd  im  Labyrinthe  ausgeschaltet  wird. 

Bei  tiefem  Extraduralabszeß,  ferner  hei  intrakraniellen  Kom¬ 
plikationen  ist  die  von  Jansen-Neumann  vorgeschlagene  Ab¬ 
tragung  der  hinteren  Pyramidenwand  und  die  Eröffnung  des1  Laby¬ 
rinthes  von  der  medialen  Seite  angezeigt. 

Bei  den  ohne  zerebrale  Komplikationen  bestehenden  Laby¬ 
rintheiterungen  hingegen  empfiehlt  Vortr.  die  Abtragung  der  Pro- 
montorialwand  und  die  breite  Eröffnung  des  Vorhofes  und  der 
Schnecke  und  die  gründliche  Ausräumung  derselben.  Diese  Me¬ 
thode  hat  den  Vorteil,  daß  eine  Verletzung  des1  Fazialnerven  gänz¬ 
lich  ausgeschlossen  ist. 

Dr.  Hans  Königstein  und  Dr.  Heß:  lieber  Krisen  im 
Laufe  der  Sklerodermie. 

Die  Patientin,  welche  wir  uns  aus  der  Abteilung  des  Pro¬ 
fessors  Ehrmann  vorzustellen  erlauben,  zeigt  das  typische  Bild 
einer  mäßig  vorgeschrittenen,  diffusen  Sklerodermie.  Auf  eine 
detaillierte  Schilderung  des  Krankheitszustandes  können  wir  um 
so  eher  verzichten,  als  die  Patientin  bereits  vor  Jahren  mit  der¬ 
selben  Erkrankung  auf  der  Klinik  des  Herrn  Prof.  Riehl  ge¬ 
legen  ist  und  gelegentlich' vom  Prim.  Kren  in  der  Dermatologi¬ 
schen  Gesellschaft  vorgestellt  wurde. 

Zur  Charakterisierung  der  Erkrankung  genügt  es,  auf  fol¬ 
gende,  auch  auf  Distanz  wahrnehmbare  Eigentümlichkeiten  hin¬ 
zuweisen:  Das  Gesicht  zeigt  ein  maskenartiges  Aussehen,  die 
Haut  haftet  straff  an  der  Unterläge;  dies  tritt  besonders  deutlich 
an  der  Nase  hervor,  deren  knöchernes  und  knorpliges  Stützgerüst 
sehr  prägnant  vorspringt.  Die  Haut  der  Brust  ist  zart  gefältelt, 
atrophisch,  die  Sehnen  an  den  Unterarmen  sind  deutlich  verdickt. 


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die  Hände  sind  blau  verfärbt  und  die  verkrümmten  Finger  können 
nicht  vollständig  zur  Faust  geschlossen  werden.  Im  Gesicht  fallen 
sehr  zahlreiche,  bereits  Von  den  früheren  Beobachtern  festgestellte 
Gefäßerw  eiterungen  auf.  Solche  Gefäßerweiterungen  sind  im  Laufe 
der  Zeit  auch  auf  der  Brust,  den  Oberarmen  und  den  Handflächen 
zur  Ausbildung  gelangt. 

Wir  erlauben  uns,  die  Patientin  deswegen  zu  demonstrieren, 
weil  wir  im  Laufe  der  jetzt  neunmonatigen  Beobachtung  trotz  des 
scheinbar  stationären  Zustandes  der  Erkrankung  das  Auftreten 
diverser  Symptornenkomplexe  beobachten  konnten,  welche  zuein¬ 
ander  in  einem  auffallenden  Gegensätze  stehen.  Die  erste  Sym¬ 
ptomen  reibe  ist  folgendermaßen  charakterisiert:  Ohne  immer  nach¬ 
weisbare  somatische  Ursache,  vielleicht  zeitweilig  durch  psychische 
Einflüsse  mitbedingt,  tritt  plötzlich  unter  starkem  Schmerzgefühl 
eine  zyanotische  Verfärbung  der  distalen  Partien  der  Extremitäten 
auf.  Dabei  sind  dieselben  entsprechend  der  Ray  na  u  d  sehen  Schil¬ 
derung  kalt,  schwer  beweglich,  gegen  Berührung  hypästhetisch. 
Zu  gleicher  Zeit  ist-  die  Haut  der  Patientin  absolut  trocken  und 
es1  gelingt  weder  durch  Wärm'eapplikation,  noch  durch  subku¬ 
tane  Pilokarpininjektion  Schweißausbruch  zu  erzeugen.  Nach  län¬ 
gerem  Bestände  weicht  dieses  Stadium  unvermittelt  einem  Zu¬ 
stande,  welcher  im  Gegensatz  zum  erstgeschilderten  durch  hell 
rote  Färbung  der  jetzt  leichter  beweglichen  Finger  und  durch 
spontanen,  profusen  Schweißausbruch  ausgezeichnet  ist.  Es  ver¬ 
dient.  hervorgehoben  zu  werden,  daß  das  psychische  Verhalten 
der  Patientin  in  beiden  Krankheitsphasen  insofern©  ein  gegen¬ 
sätzliches  ist,  als  in  dem  Zustande  des  Gefäßkrampfes  ein  de¬ 
pressiver  Affekt  verwaltet,  während  nach  Lösung  des  Krampfes 
eine  mehr  euphorische  Stimmung  Platz  greift.  Diese  Zustände 
scheinen  in  einem  gewissen  Zusammenhang  mit  der  Menstruation 
zu  stehen,  da  häufig  im  prämenstruellen  Stadium  Gefäßkrampf, 
auf  der  Höhe  der  Menstruation  Gefäßerweiterung  zu  beobachten  ist. 

Diese  krisenartig  auftretenden,  gegensätzlichen  Symptomen¬ 
komplexe  legen  den  Gedanken  an  die  Einwirkung  nervöser  Im¬ 
pulse  nahe.  Die  pharmakologische  Prüfung  hat  diese  Anschau¬ 
ung  nicht  nur  bestätigt,  sondern  die  Beteiligung  eines  bestimmten 
nervösen  Systems  sehr  wahrscheinlich  gemacht.  Im  Stadium  des 
Gefäßkrampfes  ist  die  Patientin  gegen  Pilokarpin,  welches  das 
autonome  System  reizt,  unempfindlich,  scheidet  nach  Einführung 
von  Traubenzucker  auf  subkutane  Adrenalininjektion  erhebliche 
Zuckermengen  aus  und  führt  schließlich  zu  dieser  Zeit  im  Serum 
eine  Substanz,  welche  die  Froschaugenpupille  erweitert.  Die  Herz- 
aktion  ist  erregt  und  die  Patientin  klagt  über  Palpitationen.  Im 
Stadium  der  Gefäßerweiterung  tritt  profuser  Schweiß  auf,  mit  Pilo¬ 
karpin.  wird  eine  prompte  Wirkung  erzielt  und  die  mydriatisebe 
Substanz  im  Serum  ist  nicht  mehr  nachweisbar. 

Wir  sind  daher  geneigt,  anzunehmen,  daßi  im  Laufe  der 
Sklerodermie  aus  endogenen  Ursachen  sympathische  Reizzustände 
Vorkommen,  die  krisenhaft  in  ihr  Gegenteil  Umschlägen  können. 
Priv.-Doz.  E  pp  in  g  er  berechtigt  mich  zu  der  Mitteilung,  daß 
er  ebenfalls  bei  Sklerodermie  zweimal  sympathikotonisebe  Zu¬ 
stände  verzeichnet  habe.  Herr  Dr.  Reines  hat  zweimal  bei 
Sklerodermie  neben  Zuckerausscheidung  eine  mydriatische  Sub¬ 
stanz  im  Serum  nacblgewiesen.  Ohne  daß  wir  auf'  Grund  dieser 
Feststellungen  weitergehende  Schlüsse  ziehen  wollen,  glaubten 
wir  doch  aut  diesen  interessanten  Symptomenkomplex  das  Augen¬ 
merk  lenken  zu  sollen. 

Prim.  Dr.  Jungmann :  Gestatten  Sie  mir,  aus  der  Heilstätte 
für  Lupuskranke,  eine  Anzahl  von  Radiumpatienten  vorzustellen. 
Zunächst  bemerke  ich,  daß  unser  Radiumbesitz  relativ  beschei¬ 
den  ist.  Wir  verfügen  im  ganzen  über  zwei  Radiumträger,  von 
denen  der  eine  30  mg  reines  Radiumbromid  enthält,  der  zweite 
beiläufig  doppelt  so  stark  beschickt  ist. 

Die  Träger  sind  in  der  Weise  hergestellt,  daß  das  Radium¬ 
pulver  durch  einen  Firniß  an  eine  darunter  liegende  Platte  fixiert 
und  das  so  fixierte  Radium  in  verdünnter  Alu m i n iumkap s el  ein- 
geseldossen  ist. 

Die  eine  von  den  Kapseln  hat  ungefähr  die  Form  eines 
runden,  dicken  Bleistiftendes  von  3/i  cm  Durchmesser,  die  zweite 
stampiglienartige  Kapsel,  hat  eine  quadratische  Fläche  von  IV2  cm 
Seitenlange 

Bei  einem  solchen  Bau  des  Radiumträgers  ist  bereits  von 
vornherein  eine  Filtration  gegeben,  in  dem  die  Alphastrahlung, 
die  normalerweise  die  Hauptpartie  der  Radiumstrahlung* ausmacht, 
schon  durch  dünne  Flächen  absorbiert  wird.  Zur  Wirksamkeit 
gelangen  nur  die  stärker  penetrierenden  Beta-  und  Gammastrahlen. 
Wir  bedienen  uns  auch  sonst  noch,  um  verschieden  tiefe  Wir¬ 
kungen  zu  erzielen,  der  Einlage  von  Filtern  und  geben  zwischen 
Metall  u'nd  Gewebe  meist  auch  noch  eine  Papierschichte,  die 
den  Zweck  bat.  die  für  die  Therapie  unerwünschte  Sefcundärstra  fi¬ 
lling  zu  beseitigen. 


Großzügige  Radiumtherapie  läßt  sich  nur  dann  ausführen, 
wenn  ein  reiches  Instrumentarium  von  Radiumträgern  verschie¬ 
denster  Form,  Größe  und  Intensität  zur  Verfügung  steht.  Doch 
sollen  die  vorzuführenden  Fälle,  bei  denen  mit  bescheidenen 
Mitteln  Erfolge  erzielt  wurden,  darauf  hinweisen,  wie  hervor¬ 
ragende  Heilwirkungen  mit  dem  Radium  zu  erreichen  sind,  so¬ 
bald  einmal  Einrichtungen  zur  Verwendung  eines  reichen  Instru¬ 
mentariums  vorhanden,  sein  werden. 

Was  die  Dosierung  anlangt,  so  ist  dieselbe  bei  dem  einmal 
gegebenen  Radiumträger  von  der  Zeitdauer  der  Applikation  ab¬ 
hängig  und  gelangt  man  durch  die  Empirie  zur  klinischen  Er¬ 
fahrung  und  Abschätzung.  Zur  Technik  möchte  ich  noch  be¬ 
merken,  daß,  sofern  es  sich  nicht  um  schwer  zugängliche  Stellen 
in  den  Schleimhauthöhlen  handelt,  dieselbe  eine  denkbar  ein¬ 
fache  ist,  doch  empfehlen  wir  an  Stelle  der  vielfach  geübten 
Methode,  den  Radiumkörper  an  die  Haut  anzukleben,  lieber  die 
manuelle  Technik;  es  kann  ja  der  Patient  meistens  selber  den 
Radiunikörper  an  die  zu  behandelnde  Stelle  hinhalten,  eventuell 
ein  anderer  Patient  ihm  dabei  helfen. 

Es  folgen  nun  zunächst  einige  ausgewählte  Fälle  von  Haut¬ 
karzinom,  Kranke,  die  von  anderen  Stationen  oder  Kollegen 
der  Heilstätte  zugewiesen  wurden. 

1.  N.  N.,  68jährige  Private.  Sie  hatte  ein  mehr  als  heller- 
großes,  eleviertes  Epitheliom  an  der  rechten  Wange,  seit  drei 
Jahren  bestanden,  nur  mit  Salben  behandelt. 

Erhielt  Oktober  1909  45  Minuten  dauernde  Radiumbestrah¬ 
lung,  seither,  das  ist.  seit  IV2  Jahren,  geheilt.  (Vergleic'hsphoto- 
graphie.) 

2.  G.  Al.,  46jährige  Frau.  Etwa  mehr  als  hellergroßes,  ele¬ 
viertes  Epitheliom  am  linken  Nasenflügel,  angeblich  drei 
Vierteljahre  dauernd,  früher  nur  mit  Salben  behandelt.  Juli  1909 
Radiumapplikation,  45  Minuten  dauernd.  November  1909  vor¬ 
sichtshalber,  weil  die  Affektion  schuppte,  nochmals  eine  halbe 
Stunde  Radium.  Seither  geheilt. 

3.  Sch.  ,T.,  60jährige  Frau.  Flaches,  serpiginöses  Haut- 
karzinom,  von  zirka  Doppelkronengröße,  in  der  Gegend  des 
linken  inneren  Augenwinkels. 

Seil  17  Jahren  erkrankt.,  mit  verschiedenen  Salben  vorbe- ' 
handelt.  Im  Januar  1 910'  erhielt  sie  eine  halbe  Stunde  dauernde 
Radiumbehandlung  in  mehreren  Partien  (der  Größe  unserer  Ra¬ 
diumträger  entsprechend)  auf  das  Karzinom,  welches  zwar  aus¬ 
gebreiteter,  aber  flacher  als  die  ersten  zwei  Fälle  war.  April  1910 
nochmalige  Bestrahlung.  Vorsichtshalber  in  mehreren  Abschnitten 
ä  30  Minuten  ;  demnach  fast  ein  Jahr  seit  der  letzten  Bestrahlung 
geheilt  geblieben.  (Vergleichsphotographie.) 

Die  folgenden  Fälle  sind  nun  schwererer  Natur. 

4.  G.  AI.,  58jährige  Frau.  Ausgebreitetes  Ulcus  rodens 
der  ganzen  Nase,  bis  an  die  Nasenflügelränder  reichend,  an  beide 
innere  Augenwinkel  und  an  der  linken  Wange  bis1  zur  Jochbein¬ 
region  sich  forlsetzend. 

Krankheitsdauer  neun  Jahre. 

Vor  acht  Jahren  war  an  einer  chirurgischen  Station,  das 
damals  angeblich  nur  am  linken  Nasenflügel  sitzende  Karzinom 
exstirpiert  und  hierauf  plastisch  gedeckt  worden.  Einige  Monate 
später  trat  Rezidive  ein.  AVir  nahmen  die  Kranke  zunächst  in 
Röntgenbehandlung  und  gaben  ihr  vom  August  1908  bis  Juli  1909 
Röntgenbestrahlung  in  oft  wiederholten  Expositionen,  die  stets 
die  doppelte  Norm  Md  ose  überschritten. 

So  hervorragend  die  Röntgentherapie  sich  auf  diesem  Ge¬ 
biete  meist  zu  bewähren  pflegt,  diesmal  hatten  wir  wenig  Erfolg. 
Es  kam  immer  zu  neuen  Nachschüben,  insbesondere  an  den 
Rand  partien. 

Wir  leiteten  August  1909  Rad iumhehandlung  ein.  Der  ge- 
samte  Erkrankungsherd  erhielt  60  Minuten  in  einzelnen  Partien, 
wie  sie  der  Größe  der  Radiumträger  entsprachen. 

Seither  blieb  der  größte  Teil  ausgeheilt,  nur  einzelne  Re¬ 
siduen  oder  suspekte  Punkte  mußten  wiederholt,  nachbestrahlt 
werden.  So  erhielt  die  Kranke  noch  im  November  1909  und 
Januar  1910  für  einzelne  Pünktchen  je  30  Minuten,  März  1910 
15  Minuten,  ferner  September,  November  und  Dezember  je 
60  Minuten. 

Zum  Schluß  tatsächlich  meist  Vorsichtsbestrahlungen.  (Ver- 
gleictephotographie.) 

5.  P.  K.,  49jährige  Frau. 

Schweres  Ulcus  rodens  der  unteren  Nasen  partie, 
welches’  bereits  einen  großen  Teil  beider  Nasenflügel,  insbesondere 
rechts  vom  Septum,  zerstört  hat.  Krankheitsdauer  neun  Jahre. 
Vor  zwei  Jahren  wurde  in  einem  Provinzspital'e  Paquelinisation 
vorgenommen.  Auch  hier  hatte  die  Röntgenbestrahlung,  die  wir 
vorn  September  1909  bis  August  1910  in  sechs  Expositionen  zu 
8  H  Vornahmen,  kein  befriedigendes  Resultat  erzielt,  so  daß  wir 


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September  1910  eine  Stunde  lang  Radium  applizierten.  (Dies 
ist  stets  so  gemeint:  in  einzelnen  Abschnitten  der  Größe  unserer 
Träger  entsprechend  je  eine  Stunde.) 

November  1910  nochmals  60  Minuten  Vorsichtsbestrahlung. 
Eine  kleine  Rhagade  von  2  mm  Länge  am  linken  Nasenflügel, 
die  ich  heute  bei  der  Kranken  bemerke,  deren  Beurteilung  nicht 
ganz  leicht  ist,  wenn  man  nicht  exzidiert,  wozu  sich  diese 
Kranken  begreiflicherweise  schwer  entschließen,  wird  vorsichts¬ 
halber  eine  kurze  Bestrahlung  erhalten.  (Vergleichsphotographie.) 

Es  sei  nun  zunächst  ein  Kranker  eingeschoben,  der  im 
Gegensatz  zu  den  zwei  letzten  Fällen  einen  vollen  Erfolg  der 
Röntgen  behandlung  darbietet. 

6.  Sch.  F.,  lljähriiger  Agent,  wurde  im  Januar  und  April 
1905  bei  uns  wegen  eines  kronenstückgroßen,  flachen,  rasenfönni- 
gen  Epithelioms  der  vorderen  Zungenpartie  und  wegen 
eines  zweiten,  p ap i  11  om a tosen,  auf  derber  Basis  aufsitzenden, 
ebenfalls  zirka  kronenstückgroßen  Karzinoms  an  der  Oberlippe 
links,  zwei  Röntgenexpositionen  von  je  10  H  unterzogen;  seither, 
das  ist  seit  sechs  Jahren,  geheilt  geblieben. 

Der  nächste  Fall  zeigt  eine  glückliche  Kombination  des 
Radium-  und  Röntgenverfahrens. 

7.  St.  M.,  63jähriger  Pfründner,  wurde  uns  im  Februar  1910 
als  inoperabel  von  einer  chirurgischen  Station  zugewiesen.  Er 
befand  sich  in  einem  desolaten  Zustande.  Er  hatte  ein  mehr 
als  kronenstückgroßes,  pilzförmig  an  der  vorderen,  seitlichen 
Ansatzstelle  der  Zunge  aufsitzendes,  irn  Zentrum  ulzeröses, 
leicht  blutendes,  äußerst  schmerzhaftes  Karzinom  und  einen 
fast  hühnereigroßen,  derben  Drüsen  tumor  in  der  charakteristi¬ 
schen  Region  am  Halse  rechts.  Nahrungsaufnahme  und  Schlaf 
minimal.  Solatii  causa  leiteten  wir  die  Behandlung  ein  uml 
zwar  gaben  wir  Radium  für  das  Zungenkarzinom'  vom  Februar 
1910  bis  Februar  1911  in  acht  ein  bis  zweistündigen  Applikationen 
(die  Techni  k  gestaltete  sich  begreiflicherweise  in  diesem  Falle 
äußerst  schwierig)  und  acht  Röntgenexpositionen  von  6  bis 
10  II  unter  Glasfilter  für  den  Drüsentumor.  Stetiger  Fort¬ 
schritt  im  Befinden  des  Patienten  ist  zu  verzeichnen.  Schon 
seit  drei  Vierteljahren  absolutes  Wohlbefinden.  Das  Zungenkarzi¬ 
nom  scheint  durch  eine  schmale  Narbe  ersetzt  zu  sein.  Von 
dem  großen  Drüsentumor  ist  noch  ein  derber,  pflaumengroßer, 
in  der  Tiefe  fest  verwachsener  Rest  zu  tasten.  Natürlich  setzen  wir 
die  Behandlung  fort,  doch  ist  schon  der  bisherige  Erfolg  bei 
dem  Kranken,  dessen  Zustand  vor  mehr  als  einem  Jahre  verzweifelt 
erschien,  sehr  befriedigend. 

8.  B.  J.,  52 jähriger  Geschäftsdiener. 

Mächtig  ausgebreiteter  Lupus  des  ganzen  Gesichtes,  seit 
48  Jahren  bestehend.  Pat.  erzählt,  daß  er  früher  vielfach  mit  Aus¬ 
schaltungen,  Brennungen  usw.,  wie  dies  üblich  war,  behandelt 
wurde.  Seit  Jahren  will  er  jedoch  seinen  Lupus  nicht  mehr 
behandeln  lassen.  Doch  trieb  ihn  Oktober  1910  ein  fast  die 
ganze  linke  Wange  vom  unteren  Augenlid  Ins  zum  Mundwinkel 
reichendes,  zirka  handtellergroßes,  infiltrierendes,  pilzförmiges, 
leicht  blutendes  Karzinom,  das  sich  auf  dem  Boden  des 
Lupusterrains  ausgebildet  hatte,  zu  uns.  Diese  Affektion 
bestand  schon  seit  mehreren  Monaten  und  war  von  ärztlicher 
Seite  mit  dem  Päquelin  behandelt  worden. 

8.  November  1910.  Unter  Chlöroformnarkose  Fulguration 
nach  der  Keati n g -Hartschen  Vorschrift,  in  Verbindung  mit 
möglichst  radikaler  chirurgischer  Entfernung.  Wir  kombinierten 
noch  mit  Röntgenbestrahlung,  die  wir  nach  Abstoßung  der  Schorfe 
in  einer  Dosis  von  12  H  applizierten.  Zunächst  täglich 
fortschreitende  Epithelisierung,  bis  in  der  dritten  Woche  plötz¬ 
lich  neue,  lebhafte  Wucherung  des  Karzinoms  an  allen  Steilen 
eintrat.  Daher  abermals  Exkochleation  im  Aetherrausch  und  im 
Anschluß  daran  Radium  zwei  Stunden.  Drei  Wochen  spätetr 
nach  rascher  Ausheilung,  zeigte  sich  im  Zentrum  fteuerdings 
ein  diesmal  nur  mehr  linsengroßes,  derbes  Infiltrat,  das  wir 
ebenfalls  abtrugen;  wir  applizierten  an  diese  zentrale  Stelle 
drei  Stunden  Radium  und  wiederholten  Radiumapplikation  in 
eineinhalbstündiger  Dauer  noch  vorsichtshalber  im  Februar  1911. 
Seither  frei.  (Vergleichsphotographie.)  Hoffentlich  werde  ich  Ihnen 
nach  einiger  Zeit  den  Patienten  als  dauernd  geheilt  wieder  demon¬ 
strieren  können. 

Nun  folgen  zwei  Fälle  von  Lupusheilung  unter  Radium. 

9.  B.  N.,  24jährigesl  Landmädchen,  eine  wegen  schwerem 
Gesichtslupus  und  einer  Anzahl  von  Lupusherden  am  Körper 
in  Behandlung  befindliche  Kranke,  zeigte  an  der  Hinterfläche 
des  linken  Unterschenkels  zwei  etwa  gleich  große,  6X4  cm  in 
den  größten  Durchmessern  betragende,  im  Zentrum  vernarbte, 
am  Rande  serpiginöse  Herde  von  Lupus  nodularis.  Der 
obere  Herd  von  den  beiden  blieb  zunächst  gleichsam  als  Indikator 
unbehandelt,  der  untere  Herd  erhielt  im  November  1909  -15  Minuten 


Radiumapplikation  längs  des  ganzen  Randes,  Juni  1910  für  ein¬ 
zelne,  noch  Testierende  Knötchen  90  Minuten,  erscheint  seither 
geheilt;  vorsichtshalber  gaben  wir  ihr  im  Dezember  1910  noch¬ 
mals  eine  Stunde  Radium.  (Vergleichsphotographie.) 

10.  F.  Th.,  26 jähriges  Ladenmädchen,  seit  15  Jahren  an 
Lupus  erkrankt.  Zwei  immens  ausgedehnte,  flache,  serpiginöse,. 
im  Zentrum  verheilte  Krankheitsherde,  einer  an  der  Hinterfläche 
des  linken  Unterschenkels,  ein  zweiter  in  der  linken  Kniekehle 
und  angrenzenden  Partie  des  Oberschenkels.  Die  Patientin  war, 
wie  sie  angab,  vielfach  vorbehandelt  worden.  Sie  erhielt  in  der 
Heilstätte  vom  Mai  1906  bis  April  1907  Radiumapplikation  in 
vier  Expositionen,  das  erste  Mal  zu  einer  Stunde,  das  zweite 
Mal  zu  drei  Viertelstunden,  dann  noch  einmal  zu  einer  halben 
Stunde  und  schließlich  zu  einer  Viertelstunde.  Seit  April  1907 
unbehandelt.  Seit  vier  Jahren  frei  von  Rezidive.  Als1  Residuen 
der  Radiumbehandlung  zeigen  sich  an  einzelnen  Stellen  Tele¬ 
angiektasien  und  Pigmentationen. 

Die  beiden  letzten,  in  ihrem  Charakter  wohl  benigneren  Fälle 
zeigen,  daß  das  Radium  auch  in  der  Lupustherapie  Erfolge  zeitigen 
kann! 

Diskussion:  Prof.  Paschkis  stellt  die  Anfrage,  ob  Pri¬ 
marius  Jungmann  vollständig  reines  Radiumbromid  ver¬ 
wendet  hat. 

Prim.  Dr.  Jungmann:  Die  Größe  unserer  Radiumträger, 
sowie  die  Menge  des  enthaltenen  Radiumbromids,  habe  ich  schon 
eingangs  meiner  Demonstration  erwähnt,  genauere  Radioaktivi¬ 
tätsmessungen  allerdings  nicht  angeführt,  weil  dieselben  bei  dem 
gegenwärtigen  Stande  der  Radiumtherapie,  für  die  Klinik  von 
geringerer  Bedeutung  sind.  Wer  mit  Radium  arbeitet,  muß  die 
biologische  Wirksamkeit  seiner  Radiumträger  empirisch  feststellen 
und  gelangt  so  zur  erforderlichen  Erfahrung  über  die  notwendige 
Zeitdos ierung  bei  den  einzelnen  Krankheitsformen.  Wir  sind  zum 
Beispiel  mit  unserer  kleinen  Kapsel  imstande,  eine  weiche  Warze 
zum  spurlosen  Schwinden  innerhalb  weniger  Tage  zu  bringen, 
wie  ich  dies  an  einem  der  gezeigten  Patienten  hätte  demon¬ 
strieren  können.  Natürlich  sind  Radioaktivitätsmessungen  von 
hohem  wissenschaftlichen  Werte  und  könnten  unter  viel  erprobten 
konsequenten  Radioaktivitätsmessungen  der  jeweiligen  Applika¬ 
tionstechnik  bei  verschiedenen  Krankheitsformen  mit  der  Zeit 
auch  Aufschlüsse  für  die  Dosierung  gewonnen  werden. 

Doch  ist  mit  der  Radioaktivitätsanlgabe  des  in  den  Trägern 
vorhandenen  Radiums  wenig  für  die  tatsächlich  verwendete  Ra¬ 
diumbestrahlung  gesagt.  Man  müßte  stets  angeben,  wie  groß  die 
Intensität  der  Bestrahlung,  u.  zw.  in  ihren  einzelnen  Qualitäten, 
nach  Alpha-,  Beta-  und  Gammastrahlung,  nach  Einschiebung  der 
Filter  ist.  Schon  eine  dünne  Papier-  oder  Kondomschicht  ändert 
ja  die  Verhältnisse.  Vielleicht  wird  sich  am  zweckmäßigsten  für 
eine  wissenschaftliche  Methodik  eine  Dosimetrie  nach  Art  der 
Röntgenstrahlendosimeter  heraussteilen.  Vorläufig  ist  aber,  wie 
gesagt,  die  Empirie  die  Basis  für  unser  klinisches  Handeln. 

Priv.-Doz.  Dr.  Loop.  Freund  ist  durchaus  nicht  der  Ansicht, 
des  Vortragenden,  daß  zur  Dosierung  der  Radiumpräparate  die 
Angabe  der  Expositionszeiten  ausreiche.  Mit  solchen  Angaben 
wird  anderen  Untersuchern,  welche  mit  stärkeren  oder  schwä¬ 
cheren  Präparaten  als  den  vom  Vortragenden  verwendeten  arbeiten, 
wenig  gedient  sein.  Vom  wissenschaftlichen  Standpunkte  muß 
im  Gegenteile  eine  möglichst  detaillierte  Qualifizierung  der  ver¬ 
wendeten  Präparate  gefordert  werden,  zum  mindesten  deren  Gehalt 
an  RaCL  oder  BaBm.  wenn  schon  die  Aktivität  der  vom  Präparate 
ausgehenden  gesamten  Strahlenmischung  oder  der  einzelnen,  sie 
zusammensetzenden  Strahlenbestandteile  nicht  angegeben  wird. 

Mit  Bezug  auf  die  demonstrierten  Fälle,  bei  denen  Radium 
einen  unvollständigen  Effekt  von  Röntgen  ergänzte,  meint 
Freund,  daß  mit  Röntgenröhren  von  zweckmäßiger  Qualität  wohl 
ähnliche  Resultate  zu  erzielen  seien  wie  mit  Radiumstrahlen. 
Bei  letzteren  sind  das  Wirksame  die  ß-  und  insbesondere  die 
Y- Strahlen,  also  Strahlungen,  welche  man  auch  in  Röntgenröhren 
entsprechenden  Vakuum'zustandes  reichlich  erzeugen  kann. 

Prim.  Dt.  Jungmann:  Zu  der  einen  Bemerkung  des  Herrn 
Privatdozenten  Freund  kann  ich  mich  kurz  fassen,  indem  ich 
auf  meine  Erwiderung  der  Anfrage  des  Herrn  Prof.  Paschkis 
h  inweise.  Natürlich  fällt  es  mir  nicht  ein,  die  Wichtigkeit  von 
Intensitätsbestimmungen  irgendwie  in  Abrede  zu  stellen.  Daß 
aber  unsere  empirische  Methode  ein  wohlgeeignetes  und  wissen¬ 
schaftlich ’gut  fundiertes  Verfahren  darstellt,  dürften  ja  am  besten 
die  vorgeführten  Fälle  gezeigt  haben.  Was  den  Vorwurf,  den 
Herr  Priv.-Doz.  Dr.  Freund  mir  wegen  zu  geringer  Einschätzung 
des  Röntgen  Verfahrens  macht,  anlangt,  so  weiß  ich  nicht,  wie  ich 
zu  demselben  gelange,  ich  habe  ja  den  Wert  der  Röntgentherapie 
gar  nicht  zur  Diskussion  gestellt  und  sogar  einen  schön  geheilten 
Röntgenfall  unter  meinen  Patienten  gezeigt. 


438 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


Daß  aus  dem  Umstände,  daß,  wie  ja  allgemein  bekannt  ist, 
das  Strahlengemisch  des  Radiums  vielfach  nahe  Verwandtschaft 
zur  Röntgenbestrahlung  aufweist,  nicht  der  Schluß  gezogen  werden 
darf,  daß  in  allen  Fällen,  wo  Radium  hilft,  auch  Röntgen, - 
Strahlung  Erfolg  haben  muß,  halte  ich  wohl  für  selbstverständlich. 
V  ir  wollen  uns  freuen,  daß  wir  beide  Verfahren  besitzen. 

Prof.  Riehl  zeigt  vier  Kranke  seiner  Klinik,  welche  an 
Xeroderma  pigmentosum  leiden  und  Pigmentation,  Atro¬ 
phie,  Teleangiektasien,  sowie  Xerosis  in  verschiedener  Ausbildung 
aufweisen.  Bei  allen  Fällen  waren  und  sind  karzinomatöse  Ge¬ 
schwülste  vorhanden.  Der  älteste  Fall  ist  ein  64  Jahre  alter 
Mann  mit  relativ  geringer  Ausbildung  des  Xeroderma,  er  zeigt 
ein  taubeneigroßes  Karzinom  am  Handrücken. 

Eei  einem  Falle  ist  der  günstige  Heileffekt  der  Kohlen  sä ure- 
schneebeh an d lung  deutlich  sichtbar.  (Die  Fälle  werden  an  anderer 
Stelle  ausführlich  beschrieben  werden.) 

Prof.  Riehl  demonstriert  einen  27jährigen  Rabbiner  aus  Pa¬ 
lästina  mit  Lepra  tuberosa.  Der  Kranke  wird  mit  Salvarsan 
behandelt  und  späterhin  wieder  demonstriert  werden. 

Prim.  Kren  demonstriert  aus  der  Klinik  Riehl  einen  25jäh- 
ligen  Patienten  mit  typischen  Erscheinungen  einer  Syringo¬ 
myelie  und  gleichzeitig  bestehenden  Hautaffektionen.  Letztere 
bestehen  einerseits  in  ausgesprochenem'  Dermographismus  und 
Quaddelbildung  auf  feinste  Nadelstiche,  andrerseits  in  ziemlich 
schweren  Störungen  der  Haut  der  Hände.  Hier  zeigen  sich  neben 
Atrophie  der  Muskeln  und  Knochenendphalangen  ulzeröse  Pro¬ 
zesse  an  den  Fingerkuppen,  die  locheisenförmig,  von  schwielig 
verdickter  Haut  umgeben,  dem  Malum  perforans  sehr  ähnlich 
sind.  Die  Nägel  sind  krallenförmig  nach  abwärts  gekrümmt  und 
blutunterlaufen. 

Außerdem  besteht  an  der  Volarseite  über  der  Articulatio 
m  eta  ca  rp  o-ph  a  1  angea  des  dritten  Fingers  eine  Schwielenbildung. 
Eine  zirka  fünfkronenstückgroße  gleiche  Kallosität  findet  sich 
auch  über  dem  rechten  Daumenballen ;  sie  ist  von  einer  drei- 
strahligen  Rhagade  durchzogen. 

Bekanntlich  sind  Hautveränderungen  bei  Syringomyelie  ein 
häufiges  Vorkommnis;  in  der  Regel  sind  es  aber  Affektionen, 
welche  durch  die  herabgesetzte  oder  ganz  aufgehobene  Schmerz¬ 
empfindung  traumatischer  und  zugleich  infektiöser  Natur  sind. 
Die  Erscheinungen  beim  vorgeführten  Kranken  beruhen  lediglich 
auf  trophischeu  Störungen. 

Dr.  Maximilian  Hirsch:  Meine  Herren!  Ich  möchte  mir  er¬ 
lauben,  Ihnen  aus  der  Abteilung  Prof.  Schnitzler  eine  sehr 
seltene  Verletzung  zu  demonstrieren,  nämlich  eine  Luxation 
des  ITT.  Metatarsus  in  seinen  beiden  Gelenken  gleich¬ 
zeitig,  sowohl  hinten  im  Tarsomctatarsalgelenk,  als  auch  vorne 
im  Metata.rsopbalaUgealgelenke.  Entstanden  ist  diese  Verletzung 
durch  Auffallen  einer  schweren  Eisenplatte  auf  den  Fuß. 

Gestatten  Sie  mir  zunächst  die  Röntgenbilder  zu  demon¬ 
strieren.  Auf  der  seitlichen  Aufnahme  sieht  man,  daß  die  Basis 
des  TH.  Metatarsus  die  Linie  des  Li  sfr a  n  eschen  Gelenkes  ver¬ 
lassen  hat  und  plantarwärts  verschoben  ist.  Auf  der  dorsoplan- 
taren  Aufnahme  sehen.  Sie  die  vordere  Luxation  gut:  es  ist  das 
Köpfchen  des  Metatarsus  medialwärts  verschoben,  die  Basis  der 
Phalanx  ist  leer.  Es  ist  also  der  TIL  Metatarsus  aus  seinen  beiden 
Gelenken  förmlich  herausgeschlagen. 

Ich  'stelle  den  Fall  aber  nicht  nur  wegen  seiner  exzeptio¬ 
nellen  Seltenheit  vor,  sondern  auch  deswegen,  weil  der 
klinische  Befund  sehr  instruktiv  ist.  In  der  Planta 
lasten  Sie  nämlich  die  laxierte  Metatarsalbasis  aufs  deutlichste, 
und  dorsal  können  Sie  auch  die  entsprechende  Grube  finden. 
Ferner  bemerken  Sie,  daß  die  dritte  Zehe  weiter  zurück  steht,  wie 
auf  der  gesunden  Seite,  was  durch  die  vordere  Luxation  bedingt 
ist.  Endlich  ist  der  Fuß  von  ausgesprochener  Valgität,  was  uns 
nicht  wundernimmt,  da  ja  gerade  der  III.  Metatarsus  eine  Haupt¬ 
stütze  des  Fußgewölbes  bildet,  welche  somit  hier  verloren  ge¬ 
gangen  ist. 

Der  Mechanismus  der  Verletzung  ist  so  zu  erklären, 
daß  die  Eisennlatte  den  HI.  Metatarsus,  der  ja  die  höchste  Stelle 
des  Fußgewölbes  bildet,  förmlich  isoliert  getroffen  und  plantar¬ 
wärts  hinausgedrückt  hat.. 

I  herapeutisch  kommt  bei  dem  Alter  der  Verletzung  — 
es  sind  neun  Monate  seit,  der  Verletzung  her  —  nur  die  Resektion 
der  in  die  Planta  dislozierten  Metatarsalbasis  in  Betracht,  die 
den  Patienten  sehr  belästigt. 

Priv.-Doz.  Dr.  H.  Salomon  und  Dr.  Paul  Saxl:  Eine 
Schwefelreaktion  im  Harne  Krebskranker.  (Erscheint 
ausführlich  in  dieser  Wochenschrift.) 

Diskussion:  Priv.-Doz.  Dr.  Salomon:  Meine  Herren!  Das 
seinerzeit  von  uns  in  die  Praxis  eingeführte  Verfahren  der  Oxypro- 
P'insäurobestimrmmg  und  seine  Verwertbarkeit  für  die  Karzinom¬ 


diagnose  ist  seitdem  von  uns  und  auf  der  I.  med.  Klinik  von 
Kon  do  an  weiteren  313  Fällen  geprüft  worden.  Es  war  schon 
anfangs  von  uns  hervorgehoben  worden,  daß  manche  Fälle  von 
Leberzirrhose,  Leberabszeß  usw.  ebenfalls  die  relative  Vermehrung 
der  Oxyprotein säure  zeigen.  Nach  unseren  .jetzigen  Erfahrungen 
möchten  wir  sagen,  daß  etwa  70°/o  der  Karzinome  positiv  rea¬ 
gieren,  etwa  10%  eines  gerade  den  Leberfällen,  perniziöser  An¬ 
ämie  usw.  entnommenen  Kontrollmaterials  ebenfalls  relative  Oxy- 
proteinsäuresteigerung  darbieten.  Die  später  von  S  a  1  k  o  w  s  k  i  und 
Ko  jo  eingeführte  Methode  der  Fällung  mit  Bleisubäzotat,  gibt  den 
unseren  korrespondierende  Resultate,  hat  aber  den  Vorzug  größerer 
Leichtigkeit  und  Bequemlichkeit.  Wenn  auch  nicht  absolut  aus¬ 
schlaggebend,  haben  uns  sich  beide  Methoden  in  der  Karzinom¬ 
diagnose  als  wichtige  Hilfsmittel  bewährt. 

Die  eben  demonstrierte  Schwefelmethode  ist  jedenfalls 
äußerst,  handlich.  Heber  ihre  praktische  Tragweite  wollen  wir  uns 
um  so  rückhaltender  äußern,  als  ja  bei  der  Chronizität  des  Krank¬ 
heitsprozesses  oft  noch  nach  langer  Zeit  Recherchen  nötig  sind, 
um  die  Natur  eines  zweifelhaft  gebliebenen  Falles  nachträglich  zu 
klären.  Vir  glauben  aber,  je  mehr  die  Forschung  davon  abkommt, 
in  parasitären  Vorgängen  die  Ursachen  des  Krebses  zu  suchen 
und  je  mehr  der  Krebs  eine  Zwischenstufe  einnimmt  zwischen 
einer  Infektionskrankheit  und  einer,  sagen  wir  Stoffwechselkrank¬ 
heit,  um  so  bestimmter,  daß  der  Organismus  beim  karzmomatösen 
Organismus  eine  Hexenküche  ganz  eigener  Art  unterhält,  deren 
Abwässer  noch  manchen  Einblick  in  den  Betrieb  bieten  werden. 

V  ir  befinden  uns  aber  da  auf  einem  spröden  und  noch 
wenig  beackerten  Boden  und  sehen  daher  die  heute  vorgeführten 
Tatsachen  nur  als  einen  weiteren  Schritt  auf  dem  vorgezeich¬ 
neten  Wege  an. 

Dr.  Weiß.  (Nicht  eingelangt.) 

Dr.  L.  Arzt:  Meine  Herren!  Durch  das  außerordentliche 
Entgegenkommen  des  Herrn  Kollegen  Saxl  hatte  ich  bereits 
vor  einigen  Tagen  Kenntnis  von  seinen  Harnbefunden  erlangt, 
so  daß  es  mir  möglich  war.  die  von  Saxl  und  Salomon  vor- 
getragene  Reaktion  mit  dem  Material  der  II.  chirur¬ 
gischen  Klinik  des  Hofrates  Hochenegg  auszuführen. 

Tn  den  mir  zur  Verfügung  stehenden  fünf  Tagen  konnte  ich 
naturgemäß  nur  eine  beschränkte  Anzahl  von  Harnen  der  Unter¬ 
suchung  zuführen.  Im  ganzen  wurden  50  Harne  untersucht,  welche, 
da  einige  Untersuchungen  bei  einem  und  demselben  Patienten 
mehrmals  angestellt  wurden,  43  Patienten  betrafen. 

Ich  glaube,  das  Material  dadurch  am  übersichtlichsten  zu  ge¬ 
stalten,  wenn  ich  es  in  vier  Gruppen  einteile  u.  zw.: 

1.  Harne  von  Patienten  mit  Karzinomen. 

2.  Harne  von  Patienten,  die  vor  längerer  oder  kürzerer  Zeit 
wegen  eines  Karzinoms  operiert  wurden. 

3.  Kon  trollfälle. 

4.  Fragliche  P'älle. 

Harne  von  Patienten  mit  Karzinomen  wurden,  wenn  man 
die  doppelt  untersuchten  abzieht,  24  untersucht,  davon  gaben  14 
einen  deutlich  positiven  Befund,  während  10  eine  negative  Re¬ 
aktion  zeigten. 

Diese  24  Karzinome  zerfallen  wieder: 

in  4  Karzinome  der  Mamma,  von  denen  3  positiv,  1  nega¬ 
tiv  reagierte, 

in  3  Karzinome  des  Oesophagus  mit  2  positiven  und 
1  negativen  Reaktion, 

in  7  Karzinome  des  Magen -Darmtraktes,  davon  reagierten 
sechs  positiv,  1  negativ,  ^ 

in  6  Karzinome  der  Mundschleimhaut  mit  2  positiven  und 
4  negativen  Reaktionen, 

ferner  1  Karzinom  der  Nase,  das  positiv  reagierte,  ein 
kleines  Ulpus  roden s  am  Augenwinkel  und  ein  Fall  von  Xeroderma 
pigmentosum,  die  beide  einen  negativen  Harnbefund  gaben. 

Von  8  operierten  Fällen  [gaben  nur  2  einen  positiven,  da¬ 
gegen  6  einen  negativen  HaFnbefund. 

Unter-  diesen  befand  sich  ein  Karzinom  der  Mamma,  das 
vor  zwei  Jahren  radikal  operiert  wurde,  heute  geheilt  ist  und 
einen  negativen  Harnbefund  gab. 

Unter  den  8  Kon  trollfällen  befand  sich  eine  schwere  tube¬ 
röse  Lues,  eine  Struma,  ein  Fall  von  Pal  tau  f- S  tern  borg  scher 
tuberkulöser  Pseudoleukämie  usw. 

Nur  ein  Fall  aus  dieser  Gruppe  mit  klinisch  sicherem  nega¬ 
tiven  Karzinombefund  reagierte  schwach  positiv.  Es  war  dies 
ein  Patient,  der  am  Tage  vor  der  Harnuntersuchung  mit  Ehr¬ 
lichs  ,.606“'  intravenös  iniiziert  wurde  und  den  ich,  wie  einige 
ändere  Fälle,  der  Freundlichkeit  des  Prof.  Riehl  verdanke, 
ein  Mittel,  das  vielleicht  aus  einem  Falle  lassen  sich  natürlich 
keinerlei  Schlüsse  ziehen  -  auch  eine  positive  Reaktion  im  Ham 
verursacht. 


439 


Nr.  12  WIENER  KLINISCHE  \\ 


Die  in  die  vierte  Gruppe  eingereihten  drei  Fälle  lassen  in 
bezug  auf  die  Verwertbarkeit  der  Reaktion  keinen  Schluß  zu, 
Ja  ja  die  klinische  Diagnose  derselben  nicht  feststeht. 

Einige  Fälle  von  sicheren  Karzinomen,  die  einen  negativen 
Befund  gaben,  möchte  ich  noch  erwähnen.  So  war  die  Harnunter¬ 
suchung  bei  einem  Patienten  mit  Oesophaguskarzinom,  welcher 
eine  Gastrostomie  besaß,  sich  fast  ausschließlich  von  flüssiger 
Kost  nährte,  zweimal  negativ ;  das  spezifische  Gewicht  betrug  aber 
auch  um- 1003. 

Vielleicht  sind  auch  die  Fehlresultate  in  der  Gruppe  der 
Karzinome  der  Mundhöhle  auf  die  gleiche  Weise  zu  erklären, 
daß  nämlich  die  Patienten  last  ausschließlich  nur  von  flüssiger 
Kost  sich  ernähren,  der  Harn  daher  außerordentlich  diluiert  ist 
und  vielleicht  infolge  dessen  auch  die  Reaktion  negativ  ausfällt. 

Einen  Patienten  mit  einer  Geschwulst  der  Nasenspitze  möchte 
ich  noch  erwähnen,  der  zweimal  zuerst  vor  und  dann  kurz  nach 
der  Operation  positiv  reagierte,  wenn  auch  das  zweitemal  be¬ 
deutend  schwächer  und  bei  dem  die  histologische  Untersuchung 
ein  Plattenepithelkarzinom  ergab. 

Im  Gegensatz  zu  diesem  Patienten  zeigte  eine  Patientin,  bei 
der  wegen  eines  Karzinoms  des  Magens  eine  Pylorusresektion 
ausgeführt  wurde,  auch  am  zweiten  und  dritten  Tage  noch  einen 
deutlichen  Niederschlag,  was  wohl  so  erklärt  werden  kann,  daß 
die  Lymphdrüsen,,  welche  auf  Metastasen  verdächtig  waren, 
nicht  entfernt  werden  konnten. 

Ich  glaube,  das  Ergebnis  meiner  Untersuchungen  wohl  dahin 
zusammenfassen  zu  können,  daß  wohl  nicht  alle  Karzinome 
eine  Reaktion  nach  Salomon  und  Saxl  im  Harne  geben, 
daß  aber  auch  kein,  sicherer  Fall  —  so  weit  ich  dies  nach  tier 
geringen  Anzahl  der  Fälle  sagen  kann  —  eines  Nichtkarzinoma- 
tösen  eine  deutliche  Reaktion  im  Harne  gibt. 

Dr.  P.  Saxl  (Schlußwort):  Gegenüber  Dr.  Weiß  muß  ich 
bemerken,  daß  ich  viele  Fälle  von  Tuberkulose  untersucht  habe, 
die  die  negative  Reaktion  ergaben.  Herr  Dr.  W  e  i  ß  hat  in  seiner 
Arbeit  über  die  Ausscheidung  des  neutralen  Schwefels  die  höchsten 
Werte  im  Harne  von  Krebskranken  gefunden  und  hat  das  auch 
heute  zugegeben.  Im  übrigen  hat  die  heute  vorgeführte  Reaktion 
mit  der  Neutralschwefelbestimmung  nur  einen  indirekten  Zu¬ 
sammenhang. 

Priv.-Doz.  Julius  Neumann  und  Dr.  Ed.  Herrmann:  Bio¬ 
logische  St udienüberdiew eibliche  Keimdrüse.  (Siehe 
unter  den  Originalien  in  dieser  Nummer.) 

Diskussion:  Prof.  S.  Fraenkel.  (Siehe  unter  den  Origi¬ 
nalien  dieser  Nummer.) 

Es  wurde  der  Antrag  auf  Eröffnung  der  Diskussion  gestellt 
und  angenommen.  In  Anbetracht  der  vorgerückten  Stunde  wurde 
dieselbe  für  die  Sitzung  am  31.  März  d.  J.  verschoben. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  2.  März  1911. 

Eisler  und  Eggert  stellen  ein  drei  Jahre  altes  Kind  mit 
Pneumothorax  vor.  Das  Kind  erkrankte  an  Pneumonie  und 
es  entwickelte  sich  ein  Eiterherd  im  rechten  überlappen,  welcher 
durch  Aushusten  entleert  wurde.  Von  da  an  sank  die  Temperatur, 
es  blieb  eine  hochgradige  Kurzatmigkeit  zurück,  die  rechte  Thorax¬ 
hälfte  nahm  an  Volumen  zu  und  die  Dämpfung  verschwand  über 
■ihr.  Das  Mediastinum  ist  nach  links  verschoben.  Die  Röntgen¬ 
untersuchung  ergab  eine  vollständige  Aufhellung  der  rechten 
Thoraxseite,  diese  nahm  ein  größeres  Areal  als  normal  ein,  die 
Lungenzeichnung  fehlte  vollständig,  der  Mittelschatten  war  nach 
links  verlagert  und  das  Zwerchfell  zeigte  eine  schaukelnde  Be¬ 
wegung,  indem  die  rechte  Hälfte  sich  beim  Inspirium  hob  und 
die  linke  sich  senkte.  Es  liegt  ein  Pneumothorax  vor,  welcher 
anläßlich  des1  Durchbruches  des  Lungenabszesses  entstanden  war. 
Die  rechte  Lunge  ist  nicht  ganz  .retrahiert,  da  sie  am  Mediastinum 
und  am  Zwerchfell  angewachsen  ist.  Die'Pirqu  et  sehe  Reaktion 
ist  negativ.  Der  Pneumothorax  ist  bedeutend  zurückgegangen, 
ein  Pleuraexsudat  ist  nicht  vorhanden. 

L.  Freund  empfiehlt  die  Prüfung  der  Thoraxresistenz, 
damit  der  radiologische  Befund  mit  dem  Perkussionsbefund  stimmt. 

Fräulein  Bien  stellt  einen  neunjährigen  Knaben  mit  Pseu- 
doleukämie  vor.  Die  tastbaren  Lymphdrüsen  sind  geschwollen, 
es  besteht  Milztumor,  Fieber  fehlt,  die  Pir quetsche  Reaktion 
ist  positiv.  Die  Blutuntersuchung  ergibt:  Hämoglobin  64%  Fleischl, 
rote  Blutkörperchen  4,140.000,  Leukozyten  12.100,  die  mono¬ 
nukleären  Elemente,  besonders  die  kleinen  und  mittleren  Arten, 
sind  vermehrt,  pathologische  Formen  sind  nur  spärlich  zu  finden. 
Die  Untersuchung  einer  exzidierten  Lymphdrüse  ergab  adenoide 
Drüsenhyperplasie. 


i'üCllEN  SCHRIFT.  1911. 


J.  Fried  jung  zeigt  einen  Säugling  mit  Naevus  flam 
me us  in  der  Mittellinie  des  Schädels.  Dieser  Nävus 
blaßt  allmählich  ab,  ohne  daß  eine  Therapie  notwendig  wäre. 

J.  Zap  pert  bemerkt,  daß  er  vor  einem  Jahre  diese  Affektion 
beschrieben  hat. 

O.  Schey  hat  auf  der  Klinik  Schauta  diesen  Befund 
sehr  oft  erheben  können.  Die  Prognose  der  Affektion  ist  sehr  gut. 

N.  Swoboda  weist  darauf  hin,  daß  dieser  Nävus  auf  einer 
harten  Unterlage  rasch  verschwindet.  Ungünstig  ist  die  Prognose 
hei  der  Lokalisation  auf  den  Augenlidern.  Wenn  das  Kind  sich 
aufregt,  so  werden  die  früher  erkrankten  Stellen  auch  im  späteren 
Leben  rot. 

J.  Fried j  ung,  erwidert,  daß  er  diesen  Fall  nur  demonstriert 
habe,  um  vor  therapeutischen  Eingriffen  zu  warnen. 

H.  Salzer  demonstriert  ein  durch  Operation  gewonnenes 
Präparat  von  offenem  Ductus  omphalomescraicus,  aus 
welchem  auch  Darminhalt  ausgetreten  ist.  Am  distalen  Ende  fand 
sich  an  demselben  Magenschleimhaut  und  eine  der  Schleimhaut 
des  Duodenums  ähnliche  Auskleidung. 

Koch  zeigt  das  anatomische  Präparat  eines  Falles  von 
Verschluß  der  Bronchien  durch  tuberkulöse  Drüsen. 
Ein  sechsjähriger  Knabe  erkrankte  unter  Husten,  Heiserkeit,  Fieber, 
Kopfschmerz  und  heftiger  Dyspnoe,  es  kam 'zu  lautem  Stridor  und 
Zyanose.  Nach  Intubation  befand  sich  das  Kind  wohl,  bekam  aber 
bald  darauf  Dyspnoe  und  Zyanose,  welche  durch  eine  neuerliche 
Intubation  nicht  mehr  behoben  wurde.  Die  Röntgenuntersuchung 
ergab,  daß  die  rechte  Zwerchfellshälfte  unbeweglich  und  die 
rechte  Lunge  gebläht  war,  mediastinal  lag  ein  großer  Drüsen¬ 
schatten.  Es  wurde  die  Tracheotomie  ausgeführt,  doch  erfolgte 
bald  Exitus.  Die  Obduktion  ergab  Vergrößerung  der  Drüsen  an 
der  Bifurkationsstelle  der  Trachea,  durch  Verkäsung  der  Drüsen 
war  die  rechte  Seite  der  Trachea iarrodiert,  so  daß  eine  Kommuni¬ 
kation  mit  dem  Oesophagus  gebildet  wurde.  An  der  Bifurkations¬ 
stelle  saß  in  jedem  Hauptbronchus  ein  aus  verkästem  Lympii- 
drüsengewebe  bestehender  Pfropf,  welcher  das  Lumen  verstopfte. 
Daneben  fand  sich  noch  Status  thymico  -  lymphaticus. 

W.  Knöp  felmach  er  hat  vor  zwei  Jahren- einen  solchen 
Fall  demonstriert;  eine  Lunge  war  stärker  gebläht  als  die  andere. 

Pollak  hat  einen  Fall  gesehen,  der  in  Heilung  ausging. 
Die  Trachea  war  durch  tuberkulöse  Drüsen  stenosiert.  Es  wurde 
die  tiefe  Tracheotomie  ausgeführt,  nach  einigen  Tagen  expek- 
torierte  der  Patient  verkäste  Lymphdrüsenpartikel. 

M.  Jerusalem:  U  e  be  r  die  Sonne nlichtbehandl u n g 
der  chirurgischen  Tuberkulose.  Die  Grundprinzipien  der 
Behandlung  der  chirurgischen  Tuberkulose  teilen  sich  in  zwei 
Arten:  Bei  der  einen  wird  operatives  Vorgehen,  bei  der  anderen 
ein  konservatives  bevorzugt.  Bei  Kindern  ist  die  zweite  Methode 
zu  empfehlen,  während  bei  Erwachsenen  häufiger  die  Indikation 
zur  Operation  igestellt  werden  muß.  Von  ■.Operationen  kommen  bei 
Kindern  namentlich  die  palliativen  Eingriffe  in  Betracht:  Punktion 
und  Injektion  von  Jodoformglyzerin,  Entfernung  umschriebener 
Herde.  Paraartikuläre  Herde  indizieren  die  Operation,  weil  die 
Tuberkulose  ins  Gelenk  durchbrechen  kann.  Nicht  nur  bei  der 
Operation,  sondern  auch  bei  der  Nachbehandlung  muß  peinlich 
aseptisch  vorgegangen  werden,  um  eine  Mischinfektion  zu  ver¬ 
hüten.  Die  konservative  Behandlung  besteht  in  der  Fixation  und 
Entlastung  des  erkrankten  Gelenkes ;  Stauungsbehandlung  ist  bei 
offenen  fistulösen  Prozessen  von  Vorteil,  bei  Fungus  ist  selten 
ein  wirklicher  Erfolg  zu  beobachten.  Bekannt  ist  die  Jod-  und 
Schmierseifenbehandlung  bei  Tuberkulose.  Von  Röntgenbestrah¬ 
lung  werden  gute  Erfolge  gemeldet,  Tuberkulinbehandlung  ergibt 
wechselnde  Resultate,  es  wird  sogar  über  Verschlimmerung  be¬ 
richtet.  Es  wird  weiter  die  Injektion  von  Wismutpasta  in  Fisteln 
empfohlen.  Allzubefriedigend  sind  weder  die  Erfolge  der  opera¬ 
tiven,  noch  der  konservativen  Behandlung.  Durch  Rolli  er  in 
Leysin  ist  die  Sonnenlichtbehandlung  in  Aufnahme  gekommen. 
Daselbst  wird  grundsätzlich  konservative  Therapie  befolgt,  ge¬ 
schlossene  tuberkulöse  Herde  werden  nicht  eröffnet,  nur  bei 
infizierten  Fällen  wird  breit  inzidiert  und  die  V  unde  der  Sonnen¬ 
lichtbestrahlung  ausgesetzt.  Die  Kranken  liegen  bei  Tage  und 
manche  auch  bei  Nacht  im  Freien.  Die  erkrankte  Stelle  wird  frei 
vom  Sonnenlicht  bestrahlt.  Der  Effekt  der  Behandlung  ist  das 
Schwinden  der  Schmerzen,  -Steigerung  des  Appetits,  rasche  Rei¬ 
nigung  der  tuberkulösen  Herde.  Hervorzuheben  ist,  daß  die  Be¬ 
weglichkeit  der  Gelenke  selbst  bei  schweren  \Fungusfällen  erhalten 
bleibt.  Die  Heilfaktoren  sind  in  Leysin  die  Mastkur,  Sonnenlicht¬ 
bestrahlung  und  reine  Luft.  Die  Geschwüre  überhäuten  sich  nicht 
nur  am  Rande,  sondern  auch  von  der  Mitte  her,  so  daß  me 
Zusammenziehung  der  Narbe  sehr  gering  ausfällt.  Die  b  es  Rah  je 
Stelle  wird  stark  pigmentiert.  Vortr.  hat  Versuche  gema<  ht,  m 
Wien  die  Sonnenlichtbeslrahlung  durchzuführen,  was  von  gutem 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


440 


Erfolg  begleitet  war.  Mehrere  Patienten  wurden  auch  im  Sana¬ 
torium  Grimmenstein  nach  dieser  Methode  mit  einem  schönen 
Resultate  behandelt.  An  trüben  Tagen  wurde iBlaulichtbehandlung 
durchgeführt. 

L.  freund  bezeichnet  die  Trockenheit  der  Luft  in  Leysin 
als  einen  wichtigen  Faktor,  welcher  auch  in  den  Dolomiten  zu 
finden  ist. 

Stern  borg  empfiehlt,  in  Seehospizen  den  Aufenthalt  im 
freien  möglichst  auszudehnen.  Staubfreie  Luft  spielt  bei  der 
ruberkulosebehandlung  eine  wichtige  Rolle.  Er  hat  bei  seinem 
Kran kenmateriale  infizierte  Tuberkuloseherde  entfernt,  geschlos¬ 
sene  Herde  mit  Jodoformglyzerin  und  Immobilisation  behandelt 
und  der  Sonnenbelichtung  .ausgesetzt,  ln  einigen  Fällen  hatten 
auch  Exkoch  leation  und  Tuberkulinbehandlung  Erfolg. 

L.  f  re  und  macht  darauf  aufmerksam,  daß-, oberflächlich  ge¬ 
legene  Knochenherde  und  Gelenkstuberkuloso  mit  Röntgenbestrah¬ 
lung  sehr  gute  Resultate  zeigen. 

N.  Swoboda  schickt  Kranke  zur  Sonnenlichtbehandlung 
in  die  Dolomiten  auf  eine  Hochfläche  bei  Kastelruth. 

M.  Jerusalem  hat  auch  tuberkulöse  Drüsen  mit  Sonnen¬ 
licht  behandelt;  der  Erfolg  war  nicht  so  gut  wie  bei  Knochen¬ 
tuberkulose,  weil  meist  schon  Mischinfektion  vorlag.  Die  Sonnen¬ 
lichtbehandlung  an  der  See  wirkt  nicht  so  günstig  wie  auf 
Höhen,  weil  auf  letzteren  die  Luft  trockener  ist. 


Wiener  dermatologische  Gesellschaft. 

Sitzung  vom  18.  Januar  1911. 

Y orsi tzender :  Finger. 

Schriftführer:  Mucha  jun. 

Sachs  demonstriert  einen  64 jährigen  Mann  mit  einer  pla¬ 
stischen  Induration  des  rechten  Corpus  cavernosum 
penis.  Die  haselnußgroße  Induration  befindet  sich  im  mittleren 
Anteile  des  rechten  Corpus  cavernosum  penis,  nahe  der  Mittel¬ 
linie,  zeigt  bei  Durchleuchtung  mit  Röntgen  keinen  Schatten  auf 
dem  Schirme.  Der  Knoten  ist  nach  diesem  Befunde  wahrscheinlich 
rein  bindegewebiger  Natur. 

S  e  i  d  e  r  demonstriert : 

1.  Einen  28jährigen  Schleifer  mit  Aetzg  ©schwüren  am 
Bücken  des  rechten  Zeigefingers.  Pat.  ist  in  einer  Lichtpause¬ 
anstalt  mit  dem  Wegwaschen  der  Kopien  auf  Zinnplatten  mittels 
Actznatron  beschäftigt. 

2.  Einen  18  Jahre  alten  Spengler  mit  Aet z'g es chwüren 
am  Dorsum  und  an  den  Volae  beider  Hände.  Pat.  ist  mit  dein 
Reinigen  von  Badewannen  mittels  roher  Salzsäure  beschäftigt. 

3.  Einen  17jährigen  Patienten,  der  erst  seit  14  Tagen  in 
einer  Kartonnagenfabrik  beschäftigt  ist.  Er  zeigt  sowohl  auf  dem 
Dorsum,  la  1  s  auch  der  Yola  beider  Hände  tiefgreifende,  kreisrunde, 
linsen-  bis  hellergroße,  scharfrandige  Geschwüre,  die  den  oben 
erwähnten  Aetzgeschwüren  gleichsehen. 

Die  Entstehung  derselben  ist  auf  die  Manipulation  mit 
Wasserglas  (kieselsaures  Natrium)  bei  der  Herstellung  von 
Papier-  und  Kartonrollen  in  Zusammenhang  zu  bringen. 

Zur  Behandlung  der  Aetzgeschwüre  verwenden  wir  den 
Perubalsam  mit  günstigem  Erfolge,  indem  dieselben  in  kürzester 
Zeit  zur  Vernarbung  gelangen. 

Nobl  bemerkt,  daß  ihm  von  einer  ätzenden  Nebenwirkung 
des  Wasserglases  nichts  bekannt  sei.  Wenn  dennoch  solche  Ne¬ 
krosen  mit  der  sonst  ganz  indifferenten  Verbindung  in  ursächlicher 
Beziehung  gebracht  werden,  so  wäre  dies  nur  mit  dem  Vor¬ 
handensein  :von  ungebundenem  Natronhydrat  zu  erklären. 

Sachs  bemerkt,  daß  in  dem  dritten  Fälle  nur  das  Wasser¬ 
glas  (k  i  e  s  e  1  s  au  re  s  Natron)  als  Noxe  für  die  Entstehung 
der  Aetzgeschwüre  anzusehen  ist. 

Sei  der:  Da  das  W  asserglas  als  nicht  ätzende  Substanz 
bekannt  ist,  so  sind  auch  wir  der  Ansicht,  daß  das  kieselsaure 
Natron  nur  unter  der  Voraussetzung  seine  ätzende  Wirkung  ent¬ 
faltet,  wenn  an  der  Haut  Läsionen  vorhanden  sind. 

Nobl  demonstriert  eine  31jährige  Fra.u  mit  dem  eigen¬ 
artigen  Zustandsbilde  des  Ski  er  Ödems.  Im  Anschluß  an  eine 
lebiil  verlaufende  Influenzaattacke  vor  drei  Wochen  entwickelte 
sich  bei  der  Kranken  eine  eigentümliche  Starre  der  Haut,  die  in 
rascher  Ausbreitung,  an  der  Nackenhaargrenze  beginnend,  über 
den  Schultergürtel,  die  Arme,  sowie  den  Rücken  und  die  Brust 
sich  ausbreitete. 

Oppenheim  demonstriert  einen  50jährigen  Mann  mit  Pso¬ 
riasis  vulgaris  acuta,  die  besonders  reichlich  an  Stellen 
sich  findet,  wo  der  Kranke  Pityriasis  versicolor  hat. 

Die  Affektion  trat  plötzlich  unter  Jucken  auf  —  sie  juckt 
heute  noch  —  und  sehr  bemerkenswert  ist  die  Lokalisation  in  den 


Herden  der  Pityriasis  versicolor;  es  ist  dieses  Verhalten  analog 
dem  von  Brandwein  er  in  der  letzten  Sitzung  demonstrierten 
Fall  von  Syphiliseruption  in  Herden  von  Pityriasis  versicolor 
Dies  beweist,  daß  die  reaktionslos  auftretende  Mi¬ 
kro  sp  o  r  on  fu  rfu  r  ans  i  eel  lung  doch  bei  in  Proruption 
befindlichen  Exanthemen  als  Reiz  wirkt  und  wir 
uns  den  eben  demonstrierten  Fall  als  durch  Psoria¬ 
sis  und  Reizung  bedingt  erklären  können. 

N  e  u  g  e  baue  r  demonstriert  eine  A  c  n  e  a  r  t  e  f  i  c  i  a  1  i  s  bei 
einem  Patienten,  der  in  einer  Drahtgitterfabrik  beschäftigt  ist  und 
die  Maschinen  mit  Oel,  Petroleum  schmieren  muß. 

L  11  mann  demonstriert:  1.  Lymph  an  goitis  acuta  go-  - 
n  o r r  h  o  i  c a  p  e n  is  sin e  G  o n  o r  r h o e a. 

Der  19jährige  Kranke  zeigt  seit  sechs  Wochen  eine  eigen¬ 
tümliche  Affektion  des  Penis.  An  dessen  Unterfläohc  zeigten  •  | 
sich  anfangs  eine  diffuse  ödematöse  Schwellung  und  düstere 
Rötung.  Es  liegt  nahe,  an  eine  Paraurethritis  im  Sinne 
Oedmanson,  Jadassohn,  Touton  u.  a.  zu  denken;  doch 
bestimmt  mich  Aussehen,  Verlauf,  die  dicke  Wandinfiltration 
und  die  multiple  Perforation  hier  eher  eine  isolierte  paraure-  1 
thrale  Lymphgangentzündung  anzunehmen,  als  welche  ich  sie 
hiemit.  auch  vorläufig  von  klinischen  Gesichtspunkten  aus  demon-  : 
striert  haben  möchte. 

Nobl:  Die  an  der  Ventralfläche  der  Penishaut  vorkom¬ 
menden  blennorrhoisch  infizierten  akzessorischen  Gänge  gehören 
sicherlich  zu  den  großen  Seltenheiten,  besonders  dann,  wenn 
sie  ohne  gleichzeitige  Blennorrhoe  der  Harnröhre  zur  Beobach¬ 
tung  gelangen.  Daß  es  sich  hiebei  um  eine  blennorrhoische  Lymph- 
angioitis  handelt,  wie  Vortragender  meint,  kann  ich  an  der 
Hand  meiner  Erfaß  run, gen  über  die  Histopathologie  der  blennor 
rhoischen  Lymphgefäßentzündung,  die  ausschließlich  die  extra- 
parenchymatösen  dorsalen  Lymphbahnen  betrifft,  widerlegen.  Das 
von  Ullmann  vorgewiesene  Präparat  scheint  vielmehr  einer 
selteneren  Variante  der  als  Urethritis  externa  ausgewiesenen  Kate¬ 
gorie  extraurethraler  follikulärer  und  Ganginfektion  anzu¬ 
gehören. 

Grünfeld  verweist  auf  einen  zweiten,  in  dieser  Gesell¬ 
schaft  demonstrierten  Fall  von  isolierter  gonorrhoischer  Erkran¬ 
kung  eines  derartigen  präformierten  paraurethralen  Ganges,  die,  .4 
in  gleicher  Lokalisation  wie  bei  dem  jetzt  demonstrierten  Falle, 
exzidiert  wurde.  Heilung  per  secundam,  im  Eiter  typische  Gono- 
kokken  (!),  Harnröhre  jederzeit  frei. 

Ullmann:  Trotz  der  Nähe  des  Stranges  an  der  Raphe 
bestimmen  mich  vorläufig  die  klinischen  Eigenschaften  und  der  - 
Verfaul  der  entzündlichen  Erscheinungen  mit  den  multiplen  Per¬ 
forationen,  auch  die  rasche  Involution  des  rückwärtigen  Teiles 
auf  lokale  Antiphlogose  hier  nicht  die  isolierte  Infektion  eines 
präformierten  Ganges,  sondern  primäre  Lymphangoitis  gonorrhoica 
anzunehmen. 

2.  Die  32jährige  Patientin  glaubt,  vor  etwa  15  Jahren  luetisch 
infiziert  worden  zu  sein.  Vor  drei  Jahren  hot  sie  gummöse 
knotige  Hautinfiltrationen  rings  mm  das  Kniegelenk,  an  einzelnen 
auch  fistulöse  Infiltrate.  Wassermann  war  1908  stark  positiv. 

Der  Rückgang  der  Infiltrate  auf  Jodtherapie,  später  graue  Oel-, 
therapie  war  deutlich,  aber  auch  damals  nicht  vollkommen.  Ein 
Jahr  später  neuerliche  Infiltrationen  am  selben  Orte.  Spezifische 
Therapie  aber  ebenso  wie  Ehrlich  0-45  subkutan  in  Emulsionsform 
erfolglos.  Verdacht,  auf  Sporotrichosis'.  Vor  mehreren  Monaten 
erbat  ich  die  Aufnahme  der  Patienten  in  die  Hautklinik  behufs 
Kulturnachweis  auf  Sporotrichium  (Beurmanni).  Impfungen 
Dr.  Krens  auf  Ratten  blieben  zweimal  negativ,  ebenso  Stich¬ 
reaktionen  und  auch  wieder  Jod  und  Einreibungskur,  dabei  traten 
ausgesprochene  Abmagerung  von  70  auf  56  kg  und  Nachtschweiße  * 
ein.  Der  Befund  gibt  derzeit  zahlreiche,  teils  derbe,  teils  weiche 
zerfallende  Hautknoten,  stellenweise  breitere  subkutane  Infiltrate, 
auch  derbe  Stränge  zwischen  den  Knoten.  Es  fragt  sich,  ob  es 
sich  hier  um  eine  Mischinfektion  mit  Lues,  das  ist  Tuberkulose 
auf  dem  Boden  luetischer  Infiltrationen  oder  um  ein  Erytheme 
indure  chronique  scrofuleuse  und  um  Gommes  scrofuleuses  handelt 
oder  um  ein  erythematonodöses  altes  Syphilid. 

3.  Das  19jährige  blasse  Mädchen  zeigt  dorsalwärts  an  sämt¬ 
lichen  zweiten  Interphalagealgelenken  der  rechten  Hand  eigen¬ 
tümliche  pernionenähnliche  Schwellungen,  die  aber  durch  ihre 
Färbung  der  Haut,  durch  die  schmerzhafte  Schwellung  der  Gelenke 
bei  stärkeren  Exkursionen,  ferner  völlig  mangelndes  Jucken  der 
Schwellungen  und  auch  durch  den  Bestand  seit  mehreren  Monaten 
auf  eine  gewisse  Spezifizität  der  Affektion  hindeuten.  Spitzen¬ 
katarrh,  Nachtschweiße  bestehen  etwa  ebenso  lange.  Es  handelt 
sich  um  jene  zuerst  von  Hutchinson  als  Chilblain  lupus  be¬ 
schriebene  Formen  von  tuberkuliden  Hautinfiltrationen  speziell 


Nr.  12 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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der  Finger  oder  der  Ohrmuscheln,  die  Besnier  später  als  Lupus 
pernio  bezeichnet  hat. 

Stein,  Klinik  Finger,  demonstriert  sieben  Kinder  mit 

Mikrosporie. 

Schramek:  Durch  das  Aufdecken  dieses  Mikrosporieherdes 
wird  jetzt  auch  das  scheinbar  sporadische  Auftreten  der  Erkran¬ 
kung  bei  einem  nicht  schulpflichtigen  Kinde,  das  im  Sommer 
in  Behandlung  der  Klinik  Riehl  stand,  erklärlich.  Dasselbe 
stammte  aus  der  Leopoldstadt  und  dürfte  doch  mit  den  eben  de¬ 
monstrierten  Kindern  in  Berührung  gekommen  sein. 

Ehrmann  stellt  einen  40  Jahre  alten  Mann  mit  Sarcoma 
Idiopathic  urn  haemorrhagic  um  Kaposi  vor,  bei  dem 
auf  dem  linken  Fuße  die  mäßige  knollige  und  blumenkohlartige 
Wucherung  der  Geschwulst  auffällt,  während  sie  links  die  be¬ 
kannte  charakteristische  Form  zeigt,  ebenso  auf  den  Händen. 
Ein  gewiß  seltenes  Vorkommen  sind  die  Knötchen  auf  dem  Penis. 
In  der  letzten  Zeit  ist  Patient  kacliiek  lisch  geworden,  zeigt  Darm¬ 
orscheinungen  —  wohl  Metastasenbildung. 

K  ö  n  i  g  s  t e  i  n  demonstriert  aus  der  Abteilung  E  h  r  m  a  n  n  : 

1.  Ein  operiertes  Karzinom  des  Unterschenkels.  Vor  vier 
Wochen  habe  ich  die  kruralen  und  inguinalen  Drüsen  ausgeräumt, 
die  Vena  saphena  magna  reseziert  und  hernach  das  Ulkus  im 
Gesunden  Umschnitten  und  den  Defekt  nach  Thiersch  gedeckt. 
Heute  findet  sich  an  der  Stelle  des  Tumors  eine  solide  glatte 
Narbe.  Ich  glaube,  daß  in  diesem,  wie  in  ähnlichen  Fällen 
die  Venenresektion  viel  zum  Erfolge  beiträgt. 

2.  Einen  Mann  mit  multiplen  Epitheliomen  des  Gesichtes. 

Weidenfeld  stellt  einen  noch  nicht  beobachteten  Fall 

von  Hemisp  orose  vor.  Die  Erkrankung  betrifft  einen  50jäh- 
rigen  Pflasterer,  der  an  der  Nase  knötchenförmige,  im  Zentrum 
pustulöse  linsengroße  Effloreszenzen  zeigt,  die  zu  pfenniggroßen 
Herden  heranwachsen,  miteinander  konfluieren  und  sich  dann 
in  eine  frambösiforme,  einer  Tuberculosis  cutis  verrucosa  oder 
einem  Bromoderma  ähnliche  Affektion  umwandeln.  Die  Lokalisa¬ 
tion  ist  an  den  Seitenteilen  der  Nase,  der  Nasenspitze  und  be¬ 
steht  seit  einem  halben  Jahre.  Die  Züchtung  ergab  zuerst  einen 
verdächtigen  Pilz,  der  dann  von  Schramek  sichergestellt 
wurde.  Die  Affektion  ist  in  dieser  Lokalisation  und  Form  zum 
erstenmal  beobachtet. 

Oppenheim:  Der  demonstrierte  Fall  erinnert  an  die  zu¬ 
erst  von  Amerikanern  beschriebene  chronische  Form  der  Haut- 
blastomykose.  Die  ersten  Fälle  dieser  Art  in  Europa  wurden 
von  mir  in  Gemeinschaft  mit  Löwenbach,  dann  von  Brand- 
weiner  und  zuletzt  noch  von  Finger  publiziert. 

Schramek  demonstriert  die  von  dem  Patienten  stammende 
Pilzkultur,  die  in  ihrem  Aussehen  vollkommen  der  Beschreibung 
der  Hemispora  stellata  entspricht.  Dieser  Pilz  wurde  von  Veille- 
min  in  der  Natur  gefunden,  auf  seine  Pathogenität  für  den  Men- 
I  schon  wurde  zuerst  von  Car  ave  n  und  Gougerot  hingewiesen. 
Die  Zahl  der  bisher  bekannten  Fälle  beträgt  im  ganzen  drei. 
Der  Pilz  wuchs  in  den  geimpften  Röhrchen  überaus  reichlich 
und  in  Reinkultur.  Gougerot  in  Paris  hatte  die  freund- 
lichkeit,  an  einem  ihm  übersandten  Röhrchen  die  Diagnose  zu 
bestätigen.  Wenn  auch  das  Aufgehen  in  allen  Röhrchen  i  u  g  ro  ß  e  r 
Zahl  und  in  Reinkultur  als  sehr  gewichtiger  Beweis  für  die 
!  Anschauung,  daß  diese  Affektion  durch  die  Hemispora  veranlaßt 
wird,  anzusehen  ist,  so  sollen  doch  noch  andere  Reaktionen  ( Kom¬ 
plementfixation,  Agglutination  usw.)  zur  Sicherung  der  Diagnose 
herangezogen  werden.  Der  Pilz  wurde  bis  jetzt  nur  in  gummösen 
Erkrankungen  gefunden  und  läge  hier  der  erste  Fall  einer  kutanen 
Affektion  vor. 

Müller:  Ich  möchte  darauf  aufmerksam  machen,  daß  in 
der  Umgehung  des  erkrankten  Herdes  zahlreiche  Komedonen 
sich  finden.  Anläßlich  anderer  Untersuchungen  konnte  ich  bei 
Komedonen  sehr  häufig  Blastomyzeteu  ähnliche  Bakterien,  die 
wohl  als  Saprophyten  anzusprechen  waren,  finden.  Es  muß  daher 
bei  allen  ähnlichen  Prozessen  immer  daran  gedacht  werden,  daß 
es  sich  um  sekundäre  saprophytische  Vorgänge  handelt. 

W  ei,  den  fei  d:  Genau  wie  bei  der  Blastomykose  ist  es 
selbstverständlich,  daß  die  gefundenen  Pilze  erst  aus  mehreren 
Momenten  als  die  eigentlichen  Krankheitserreger  angesehen 
werden  müssen,  während  sie  unter  anderen  Umständen  als  zu¬ 
fällige  Saprophyten  bezeichnet  werden  können.  Die  große  Menge, 
in  der  sie  vorhanden  sind,  fast  als1  Reinkultur,  spricht  entschie¬ 
denst,  wie  Schramek  hervorgehoben,  für  ihren  ätiologischen 
Charakter.  Die  Widal  sehe  Reaktion,  von  .vielen  Seiten  gefordert, 
ist  noch  ausständig  und  wird  noch  nachgetragen  werden.  Im 
Ausstrichpräparat  fanden  sich  keine  den  Blastomyzeteu  ähnliche 
Formen. 

Weidenfeld  stellt  einen  Fall  von  Erythromelic  an  einem 
24jährigen  Burschen  vor,  der  an  den  Knien  und  Ellbogen  kinds- 


handtellergroße,  typische,  bläulichrote,  geknitterte  Herde  aufweist 
und  an  seinen  Oberschenkeln  blaurote  Verfärbung,  die  man  sonst 
auch  bei  ausgebreiteten.  Erythromelien  zu  sehen  gewohnt  ist. 

Finger  demonstriert  einen  Patienten,  dem  auf  der  derma¬ 
tologischen  Abteilung  des  Rudolf-Spitales  wegen  rezenter  Lues 
(Sklerose  und  Exanthem)  0-5  Salvarsan  intraglutäal  appliziert 
wurde.  Ende  Juli  erkrankte  Pat.  an  heftigen,  für  Lues  nicht 
typischen  Kopfschmerzen  und  an  einer  intensiven  beiderseitigen 
Neuritis  optica.  Er  wurde  an  derselben  Abteilung  wieder  auf¬ 
genommen  und  unter  der  Annahme,  daß  es  sich  um  Lues  handle, 
merkuriell  behandelt,  worauf  sich  der  Zustand  etwas  gebessert 
haben  soll.  Im  September  stand  Pat.  auf  einer  Augenklinik, 
später  in  häuslicher  Behandlung,  nahm  Jod  und  machte  neuer¬ 
dings  18  Einreibungen.  Am  4.  Januar  dieses  Jahres  trat  Patient 
an  meiner  Klinik  ein,  zeigte  eine  zerfallende  Papel  an  beiden 
Gaumen  und  eine  beiderseitige  Neuritis  optica,  die  beiderseits 
zu  nicht  unwesentlicher  Gesichtsfeldeinschränkung  geführt  hat. 

Pick:  Ich  kann  mich  hier  nur  über  das  erste  Rezidiv 
des  Patienten  äußern,  da  die  späteren  nicht  zu  meiner  Beobach¬ 
tung  gelangten  und  ich  halte  es  für  durchaus  ausgeschlossen, 
daß  die  neun  Wochen  nach  der  Injektion  aufgetretene  Neuritis 
optica  durch  das  Mittel  selbst  bedingt  ist.  Dagegen  spricht 

1.  das  lange  Intervall  zwischen  Injektion  und  Neuritis, 

2.  die  gleichzeitig  mit.  der  Neuritis  konstatierte  typische 
luetische  Alopezie, 

3.  die  gleichfalls  von  uns  damals  konstatierte  spezifische 
Kephaleä  nocturna  und  endlich 

4.  der  prompte  Affekt  der  eingeleiteten  Schmierkur  auf  alle 
diese  Erscheinungen. 

Für  diesen  Fall,  welcher  als  der ‘einzige  unter  den  fast  400 
von  uns  mit  Salvarsan  behandelten  Fällen  Nervensymptome  zeigte, 
erscheint  demnach  die  luetische  Natur  der  Neuritis  optica  er¬ 
wiesen. 

Frühauf  berichtet  über  einen  Fall  von  beginnender  Atro¬ 
phia  nervi  optici,  der  ihm  nur  schriftlich  aus  Marburg  mit¬ 
geteilt  wurde.  Nach  zwei  Hydrargyrum  salicylic um-I n j e-ktionen 
bei  einem  luetischen  Exanthem  trat  Neuritis  optica  bilateralis 
14  Tage  post  injectionem,  acht  Wochen  nachher  Erblindung  des 
einen  Auges  auf.. 

Spitzer  berichtet  über  den  Verlauf  der  Krankheitserschei 
nungen  bei  der  von  ihm  in  der  Gesellschaft  der  Aerzte  vorgo- 
stellten  Patientin,  die  nach  0-4  Ehrlich  'eine  Neuritis  optica 
dextra  zeigte.  Jetzt  besteht  Neuritis  optica  beiderseits,  Patientin 
ist  stark  heruntergekommen  und  hat  konstant  eine  starke  Pals- 
beschleunigung,  bis  120  in  der  Minute. 

Uli  ma  nn,  lieber  das  Vorkommen  größerer  und  kleinerer 
Ne r vens c h ä d ig u n g o n ,  besonders  an  hochempfindlichen  Aerven- 
apparate'n,  also  über  die  für  viele  noch  immer  fragliche  Neuro- 
tropie  des  Salvarsans  besteht  auch  für  mich  kein  Zweifel  mehr. 
Wohl  aber  zeigen  mir  die  eigenen  Erfahrungen,  daß  für  solche 
Zufälle  doch  auch  ganz  gut  die  mangelnde  Technik  und  falschen 
Applikationsweisen  des  Mittels  und  nicht  die  individuelle  Toxi¬ 
zität  des  Präparates  selbst  daran  Schuld 'tragen  könnten.  Ich  habe 
keine  üblen  Erfahrungen,  seitdem  ich  ausschließlich  intramusku¬ 
läre  und  nur  ziemlich  diluierte  monazide  Solutionen  anwende, 
weder  allgemeine,  noch  lokale  Störungen. 

Die  intravenöse  Methode,  abgesehen  von  mehreren  tech¬ 
nischen  Schwierigkeiten  für  die  Haus-  und  ambulante  Praxis  des 
Arzteis,  hat  wohl  den  großen  Vorzug  der  Schmerzlosigkeit,  aber 
unzweifelhaft  weit  mindere  Wirkungen  auf  den  luetischen  Prozeß. 

Königstein:  Wir  haben  auf  der  Abteilung  Ehrmann 
dreimal  isolierte  Ausschaltung  des  Nervus  vestibularis  beobachtet. 
Glücklicherweise  erfuhr  die  Affektion  in  allen  diesen  Fällen  wieder 
eine  Rückbildung. 

Finger  betont,  daß  das  Auftreten  von  symptomenloser 
Neuritis  optica  in  der  Frühperiode  der  Syphilis  durch  syste¬ 
matische  Spiegeluntersuchungen,  die  an  seiner  Klinik  auch  von 
Elschnig  vorgenommen  wurden,  als  nicht  gar  so  selten  be¬ 
kannt  ist.  Dagegen  seien  Neuritiden  mit  Sehstörungen  und  Aus¬ 
gang  in  Nervenatrophie  bei  früher  Lues  eine  extreme  Seltenheit 
und  pflegen  diese  Neuritiden  sowohl  spontan,  als  auch  auf  anti¬ 
luetische  Behandlung  prompt  zurückzugehen.  Dasjenige,  was  aut- 
falle,  sei  die  Häufung  solcher  Fälle  bei  mit  Salvarsan  behan¬ 
delten  Patienten  und  die  Tatsache,  daß  diese  Neuritiden  wie  in 
zwei  eigenen  Fällen  und  im  Falle  Spitzer  auf  antiluetische 
Behandlung  nicht  oder  nur  ungenügend  reagieren. 

Mucha  (Klinik  Finger)  zeigt  neuerdings  den  Patienten 
mit  dem  psoriatiformen  Rezidivexanthem,  das  nach  Salvarsan 
behandlung  aufgetreten  war  und  trotz  neuerlicher  Salvarsau- 
injektion  nicht  zurückgegangen  ist.  Der  Patient  wurde  mit  sechs 
Hydrargyrum  salicylicum-Injektionen  behandelt.  Uas  Lxamnem 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  12 


ist  bis  auf  Pigmentationen  zurückgegangen.  Dadurch  sind  wohl 
die  hei  der  letzten  Vorstellung  geäußerten  Bedenken,  daß  es  sich 
um  eine  Psoriasis  vulgaris  handeln  könnte,  vollständig  zer¬ 
streut.  ,  j 

Oppenheim:  Diese  Lokalisation  der  Syphilis  an  den 
Streckseiten  der  Extremitäten  und  an  der  Stirne  nach  Ehrlich-Hata 
entspricht  ganz  den  Fällen,  die  von  mir  in  den  letzten  vier 
Jahren  hier  demonstriert  wurden,  wo  während  oder  im  unmittel¬ 
baren  Anschlüsse  an  energische  Quecksilberkuren  Sy¬ 
philis  er  up  ti  one  n,  ähnlich  dem  Erythema  exsudati¬ 
vum  multiforme,  sowohl  in  bezug  auf  die  Form  als 
auch  in  bezug  auf  die  Lokalisation  auftraten.  Ich 
führte,  diese  auf  das  Zugrundegehen  von  Spirochäten  und  das 
Freiwerden  von  Endotoxin  zurück. 

M  ucha  demonstriert  einen  Patienten,  der  wegen 
eines  makulopapulösen  Exanthems  am  29.  Dezember  1910 
0-4  Salvarsan  intravenös  erhielt,  am  14.  Januar  1911  wurden,  da 
das  Exanthem  unverändert  Weiterbestand,  neuerdings  0-4  g  intra¬ 
venös  einverleibt,  heute,  vier  Tage  nach  der  zweiten  Infusion, 
ist  das  Exanthem  noch  deutlich  sichtbar  und  erst  an  einzelnen 
Eifloreszenzen  zeigt  sich  langsame  Rückbildung. 

Finger  demonstriert  einen  Fall  einer  atypischen 
Psoriasis  vulgaris; 

einen  Lupus  erythematodes  acutus; 

ein  atypisches  Erythem; 

sowie  ein  pap  ulo-nekrotisches  Tuberkulid. 

Kyrie  demonstriert  einen  34jährigen  Patienten  mit  den 
Erscheinungen  des  Morbus  Recklinghausen,  bei  dem  durch 
Fibrol  y  s  i  n  -  Injektionen  eine  wesentliche  Besserung  erzielt 
w  urde.  Im  ganzen  wurden  bisher  34  Einspritzungen  verabreicht, 
die  Tumoren  sind  zum  größten  Teile  rückgebildet. 

Verein  der  Aerzte  in  Oberösterreich. 

Sitzung  vom  2.  März  1911. 

Reg.- Rat.  Prim.  Dr.  Br  enner  stellt  zwei  Kranke  vor,  welche 
durch  die  Art  der  Verletzung  interessant  sind. 

1.  Einen  46jährigen  Bahnarbeiter,  der  sich  durch  Fäll  auf 
den  Rücken  eine  Zerreißung  einer  unteren  Ileum? 
schlinge  zuzog  u.  zw.  nicht  an  der  Konvexität,  sondern  am 
Mesenterialansatze  saß  ein  4  cm  langer,  querer  Riß,  der  noch  3  cm 
in  das  Mesenterium  hineinreichte.  Naht  —  Heilung. 

2.  Einen  25jährigen  jungen  Mann,  der  nach  einer  Revolver¬ 
schuß  Verletzung  aus  der  Nähe  neun  Schußöffnungen  im 
Dünndarm  und  zwei  im  dazugehörigen  Mesenterium  erlitt,  mit 
schwerer  innerer  Blutung.  Der  Transport  in  einer  kalten  Winter¬ 
nacht,  der  schwere  Blutverlust  und  zehn  Stunden  seit  der  Ver¬ 
letzung,  hatten  den  Kranken  sehr  geschwächt,  so  daß  vor,  während 
und  nach  der  Operation  bis  zu  sechs  Liter  Kochsalzlösung  teils 
subkutan,  teils  intravenös  infundiert  wurden. 

Resektion  eines  sehr  langen  Dünndarmstückes,  da  die  Haupt¬ 
gefäße  desselben  durchschossen  waren.  Glatte  Heilung,  die  neben 
den  ärztlichen  Maßnahmen  der  Konstitution  des  als  Turner  und 
Alpinisten  gut  trainierten  jungen  Mannes  zu  Mauken  ist. 

Dr.  Riedl  demonstriert : 

1.  Einen  22jährigen  Schankburschen,  welcher  sich  beim 
Rodeln  durch  Anfahren  an  einen  Baumstamm  eine  Längsfissur 
der  rechten  Kniescheibe  zugezogen  hat.  Der  Streckapparat 
war  unverletzt  geblieben.  Vortragender  hebt  die  Seltenheit  der 
Verletzung  hervor  und  bespricht  an  der  Hand  des  Plattenbildes 
die  etwas  schwierige  röntgenographische  Darstellung  des  Bruches. 

2.  Ein  kopfgroßes  Sarkom  des  Dünndarmes,  das 
durch  Obduktion  von  einem  20jährigen  Bauernknecht  gewonnen 
wurde,  der  nach  kurzem  Spitalsaufenthalt  unter  den  Erscheinungen 
plötzlicher  Darmperforation  rasch  verstorben  war.  Das  Präparat 
war  mit  der  Blase  verwachsen  und  bildete  eine  große,  schalen¬ 
förmige  Höhle,  in  welche  der  Dünndarm  an  einer  Stelle  ein¬ 
mündete,  während  er  an  einer  anderen 'Stelle  der  Wandgung  wieder 
ausmündete.  Pat.  hat  acht  Tage  vor  seinem  Spitalseintritt  noch 
gearbeitet.  Bei  der  Aufnahme  wurde  ein  mächtiger,  das  kleine 
Becken  erfüllender,  im  Bauchraum  bis  zu  Nabelhöhe  reichender 
unverschieblicher  Tumor  nachgewiesen,  der  für  inoperabel  ge¬ 
halten  wurde,  was  die  Obduktion  auch  bestätigte. 

Der  Patient  war  vom  Gemeindearzte  Koos'  in  Randegg 
(Niederösterreich)  dem  Allgemeinen  Krankenhause  in  Linz  über¬ 
wiesen  worden. 

Dr.  Hellauer:  Ueber  das  Ulcus  cruris. 

Der  Vortragende  bespricht  die  Entstehungsart,  geht  dann 
zu  den  operativen  Methoden  der  Behandlung  über  und  wendet 
sich  dann  den  therapeutischen  Maßnahmen  zu,  die  insbesondere 
für  den  praktischen  Arzt  in  Betracht  kommen.  Vortr.  empfiehlt 


warm  den  Z  i  nk  le  im  verband,  der  es  den  Erkrankten  ermög¬ 
licht,  ohne  Schädigung  ihrer  Gesundheit  dem  Berufe  nachzugehen. 
Zur  Illustrierung  werden  einige  Krankengeschichten  angeführt. 
Zum  Schlüsse  geht  Dr.  Hel  lau  er  auf  die  soziale  Bedeutung  des 
Unterschenkelgeschwüres  über  und  bringt  Zahlen,  die  dem  Buche 
N  o b ls  entnommen  sind. 

Diskussion:  S  p  e  c  h  t  e  n  h  a  u  s  e  r  warnt  vor  Anlegung  des 
Zinkleimverbandes  bei  nicht  gereinigten  Ulzera. 

Brenner  bestätigt  die  Beobachtung  Hellauers,  daß 
im  Unfallversicherungsbetriebe  die  Ulcera  cruris  merkwürdiger¬ 
weise  nur  äußerst  selten  als  Unfallsfolgen  vom  Verletzten  ange¬ 
sprochen  werden. 

Dr.  Fröhlich  berichtet  über  die  bisherigen  Erfolge  der 
Salvarsan -Behandlung  an  der  internen  Abteilung  des  All¬ 
gemeinen  Krankenhauses. 

Seit  'Dezember  1910  wurden  50  Injektionen  bei  28  Fällen 
gemacht  u.  zw.  bei  primärer,  sekundärer  und  tertiärer  Lues  und 
in  vier  Fällen  postluetischer  Erkrankungen.  Hervorzuheben  sind 
die  Heilerfolge  bei  Schleimhautplaques’  und  bei  tertiär-luetischen 
Veränderungen.  Als  Applikationsmethode  wurde  ursprünglich  die 
intramuskuläre,  dann  eine  kombinierte  intravenöse  und  intra¬ 
muskuläre,  in  der  letzten  Zeit  die  wiederholte  intravenöse  ge¬ 
wählt.  Von  den  Erscheinungen  nach  Injektionen  von  „606“  ist 
ein  Fall  von  Ikterus  zu  erwähnen,  ziemlich  intensiv,  nach  drei 
Tagen  verschwindend. 

Demonstriert  wurden  vier  Fälle  mit : 

1.  einem  langdauernden  Infiltrat  an  der  Jnjektionsstelle  nach 
intramuskulärer  Injektion ; 

2.  eine  Angina  specifica  und  papulösem  Exanthem  nach 
der  ersten  intravenösen  Injektion; 

3.  tiefgreifenden  Exulzerationen  an  der  Stirne  und  der 
Schulter,  nach  zweimaliger  intravenöser  Injektion  im  Abheilen 
begriffen ; 

4.  maligner  Syphilis,  mit  schweren,  gummösen  Verände¬ 
rungen  der  Knochen,  nach  einer  Woche  vollständige  Konsoli¬ 
dierung,  Zunahme  des  Körpergewichtes  um  14  kg. 


Programm 

der  am 

Freitag  eleu  24.  März  19x1,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Hofrat  Exner  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Wahl  von  Vorsitzenden,  Schriftführern  und  neuen  Mitgliedern.*)**! 

2.  Prof.  Bergmeister :  Bericht  über  das  abgelaufene  Vereinsjahr. 

3.  Prof.  Pasch kis:  Bibliotheksbericht. 

4.  Prof.  Durig:  Physiologische  Wirkung  des  Höhenklimas. 

5.  Verkündigung  des  Wahlresultates. 


*)  Oie  Stimmzettel  für  die  Wahl  werden  von  V27  bis  J/28  Uhr  im  Verwaltungs- 
ratzimmer  abgegeben. 

**)  In  dieser  Sitzung  finden  nach  §  12  der  Geschäftsordnung  keine  Demon¬ 
strationen  statt. 

_ _ Bergmeister,  Paltauf. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  findet  im  Hörsaale  der  Klinik  Strümpell 
Donnerstag  den  23.  März  1911,  um  7  Uhr  abends,  statt. 
(Vorsitz:  Hofrat  Prof.  v.  Neusser.) 

Programm: 

1.  Demonstrationen  angemeldet:  Dr.  Zak. 

2.  Dr.  Mor.  W**isz:  Die  Bedeutung  des  Urochromogens  für  die 
Prognose  und  Therapie  der  Lungentuberkulose.  Das  Präsidium. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  27.  März  1911,  7  Uhr  abends,  im  Sitzungs¬ 
saal  des  Kollegiums  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz  des  Herrn 
Dr.  E.  Jahoda  stattfindenden  wissenschaftlichen  Versammlung. 
Dr.  Roh.  Lichtenstern :  Die  chirurgische  Therapie  der  Nephritis. 

Ophthalmoiogische  Gesellschaft  in  Wien. 
Programm  der  am  Montag;,  den  27.  März  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Hörsaale  der  Klinik  Fuchs  stattfindenden  Sitzung. 

1.  L.  Müller:  Demonstration. 

2.  H.  Wintersteiuer :  Carcinoma  corneae. 

8.  H.  Lauber:  Ueber  die  Farbentheorie  von  Edridge-Green  und 
I temonstration  seines  Farbenuntersuchungsapparates. 

Oesterreichische  otologische  Gesellschaft. 

Programm  dm-  Montag  den  27.  März  1911,  6  Uhr  abends,  im  Hörsaal 

der  Klinik  Urbantschitsch  staltfindenden  wissenschaftlichen  Sitzung. 

1.  Demonstrationen.  Angemeldet  die  Herren:  Bondy,  Bäräny,  Ruttin, 

Alt,  E.  Uriiautschitsch,  Beck. 

2.  Dinteufaß :  Vorläufige  Mitteilung. 

Bondy,  Schriftführer. 


Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Kubasta.  Verlag  xon  Wilhelm  Branmüller  in  Wien, 

Drnck  von  Bruno  Bartelt,  Wien  XVIII.,  Theresiengasse  3. 


Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

).  ehiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner.  S.  Exner.  E.  Finger.  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko.  H.  Meyer.  J.  Moeller.  K.  v.  Noorden. 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  2.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

\nton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs.  Julius  Hoch8negg.  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser, 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 


Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 

XXIV.  Jahrg.  Wien.  30.  März  1911  Nr.  13 


INHALT: 


1.  Originalartikel:  1.  Ueber  Pathogenese  und  Prophylaxe  der  Pest, 
Von  Prof.  Dr.  H.  Albrecht.  S.  443. 

2.  Aus  der  Universitäts-Frauenklinik  in  Graz.  (Vorstand:  Professor 
E.  Knauer.)  Nierendekapsulution  bei  Eklampsie.  Von  Doktor 
Rupert  Franz,  Assistenten  der  Klinik.  S.  447. 

3.  Aus  der  I.  mediz.  Klinik  in  Wien.  (Vorstand:  Professor  Doktor 
C.  v.  Noorden.)  Eine  Schwefelreaktion  im  Harne  Krebskranker. 
Von  Hugo  Salomon  und  Paul  Saxl.  S.  449. 

4.  Aus  dem  propädeutisch-pathologischen  Institut  und  der  chirur¬ 
gischen  Klinik  der  k.  Universität  Turin  (Vorstand:  Prof.  Daniele 
Bajardi.)  Untersuchungen  über  die  Physiologie  des  Magens  beim 
Menschen.  Von  Dr.  Candido  Mantelli,  Assistent.  S.  451. 

5.  Aus  dem  staatl.  serotherapeutischen  Institute  in  Wien.  (Vorstand: 
Hofrat  Prof.  R.  Paltauf)  Beeinflußt  Atoxyl  die  Bildung  der 
Antikörper?  Von  Dr.  So,  Tokio.  S.  452. 

6.  Aus  der  k.  k.  dermatologischen  Universitätsklinik  in  Graz. 
(Vorstand:  Prof.  Dr.  R.  Matzenauer )  Präventivbehandlung  der 
Syphilis  mit  Salvarsan.  Von  Dr.  R.  Knaur,  Assistenten  der 
Klinik.  S.  453. 

7.  Zur  temporären  Sterilisierung  der  Frau  Von  Dr.  Konstantin 
Bucura,  Privatdozent  für  Geburtshilfe  und  Gynäkologie  in 
Wien.  S.  454. 

II.  Diskussion:  Aus  der  Ohrenabteilung  der  allgemeinen  Poli¬ 
klinik  in  Wien.  Zur  Frage  der  luetischen  Erkrankungen  des 
Labyrinthes  und  des  Hörnerven.  Von  Prof.  Dr.  G.  Alexander. 
S.  455. 


Jeber  Pathogenese  und  Prophylaxe  der  Pest.*) 

Von  Prof.  Dr.  H.  Albrecht. 

Das  in  überaus  heftiger  Weise  erfolgte  Auftreten  der 
’est  in  China  um  die  Mitte  Oktober  1910,  bat  in  Europa 
vieder  neues  Interesse  für  diese  Krankheit  geweckt  und  fast 
dlerorts  denkt  man  an  jene  Maßregeln,  die  zur  Abwehr 
lieses  entsetzlichen  Feindes  der  Menschheit  zu  treffen 
vären.  Wenn  auch,  wie  ich  gleich  eingangs  erwähnen  will, 
lie  Gefahr  einer  Einschleppung  in  unsere  Monarchie  nur 
‘ine  äußerst  minimale  ist,  so  besteht  doch  ärztlicherseits 
nid  insbesonders  für  die  Amtsärzte  im  weitesten  Wortsinne 
lie  Verpflichtung,  sich  wenigstens  einigermaßen  über  die 
’athogenese  und  das  Wesen  dieser  Seuche  zu  informieren. 

Ich  will  daher  versuchen,  Sie  über  das  wichtigste 
ler  Bakteriologie,  der  pathologischen  Anatomie  und  Klinik, 
los  Infektionsmodus  und  der  Verbreitung  der  Pest  durch 
ipizootische  Erkrankungen  gewisser  Tierarten,  sowie  über 
»rophvlaklisch- immunisatorische  Maßnahmen  zu  informie¬ 
ren  u.  zw.  auf  Grund  der  Erfahrungen,  die  ich  gemeinsam 
nit  Ghon  und  Pöch  und  mit  unserem  in  so  trauriger 
Ü  eise  dahingegangenen  Freunde  Müller  im  Jahre  1897 
a  Bombay  gesammelt  habe  und  auf  Grund  der  wichtigsten 
■späterhin  erschienenen  Literatur. 

*)  Vortrag,  gehalten  für  die  Wiener  Amtsärzte  im  Gemeinderat- 
itzungssaale  des  Wiener  Rathauses  am  2.  März  1911,  mit  Projektions- 

lemonstrationen. 


III.  Referate:  Geschichte  der  Medizin.  Von  Prof.  Dr.  Max  Neu¬ 
burger.  Ref.:  Fossel.  —  Jahrbuch  für  psychopathologische 
Forschungen.  Von  E.  Bleuler  und  S.  Freud.  Ueber  den  Selbst¬ 
mord.  Von  Prof.  Robert  Gau  pp.  Neurasthenie.  Von  Privat¬ 
dozent  Dr.  Otto  Veraguth.  Das  Problem  der  Willensfreiheit  in 
theoretischer  und  praktischer  Beziehung.  Von  Dr.  Richard 
Beschoren.  Die  Psychoneurosen  und  ihre  seelische  Behandlung. 
Von  Prof.  Paul  Dubois.  Die  Neuralgien,  ihre  Diagnose  durch 
Algeoskopie  und  ihre  Heilung  durch  bestimmte  Alkohol¬ 
einspritzungen.  Von  Dr  Karl  Francke.  Heinrich  v.  Kleist. 
Klinischer  Beitrag  zur  Frage  der  Alkoholpsychosen.  Von  Doktor 
Wilhelm  Stöcker.  Die  Psychanalyse.  Von  Dr.  L.  Frank. 
Arbeiten  aus  dem  neurologischen  Institute  (k.  k.  österr.  inter- 
akademisclies  Zentralinstitut  für  Hirnforschung)  an  der  Wiener 
Universität.  Von  Prof.  Dr.  H.  Obersteiner.  Anleitung  zur 
Untersuchung  Geisteskranker  und  Ausfüllung  der  ärztlichen 
Aufnahmefragebogen  deutscher,  österreichischer  und  schweize¬ 
rischer  staatlicher  Irrenanstalten.  Von  Dr.  Max  Dost.  Referent: 
E.  Raimann.  —  Howard  Taylor  und  seine  Arbeiten  über  das 
Tabardillo  (mexikanisches  Fieber).  Ref.:  M.  Weisz.  —  Atlas 
chirurgischer  Krankheitsbilder  in  ihrer  Verwertung  für  Diagnose 
und  Therapie  für  praktische  Aerzte  und  Studierende.  Von  Doktor 
Bockenheimer.  Ref:  Alex.  Fraenkel. 

IV.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

V.  Vermischte  Nachrh  Uten. 

VI.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Im  Jahre  1894  wurde  gleichzeitig  von,  Kitas  at  o  und 
Vers i  n  in  Hongkong  der  Bacillus  pestis  entdeckt  und  damit 
die  bis  dahin  ganz  unklare  Aetiologie  dieser  Krankheit  ins 
Klare  gestellt.  Zahlreiche  nachfolgende  Untersuchungen,  ins¬ 
besonders  die  der  österreichischen  und  deutschen  Pestexpe¬ 
ditionen  im  Jahre  1897,  haben  eine  genaue  Kenntnis  dieses 
so  pathogenen  Mikroben  zutage  gefördert.  Wir  wissen  heute, 
daß  es  sich  hei  allen  Formen  (der  echten  Pest  des  Menschen 
und  der  Tiere  um  ein  bestimmtes  Bakterium  als  Er¬ 
reger  handelt,  das  eine  Länge  von  etwa  1-5  b  und  eine 
Breite  von  etwa  0-5  b  hat.  Es  ist  ein  Stäbchen  von  stark 
övaiärer  Form,  das  sehr  häufig  als  Diplobazillus  auftritt.  Es 
ist  ferner  durch  eine  charakteristische  bipolare  Färbung 
und  das  fast  konstante  frühzeitige  Auftreten  von  eigen¬ 
tümlichen  Degenerationsformen,  sowohl  im  Menschen-  und 
Tierkörper,  wie  in  der  Kultur,  ausgezeichnet.  Es  bildet 
insbesonders  eigentümliche  kokkenähnliche  Formen,  die  viel¬ 
fach  als  Bläschen  oder  Siegelringformen  auftreten.  Der 
Pestbazillus  ist  also  ausgesprochen  pleo-  oder  polymorph. 
Dazu  kommt  noch,  daß  er  oft  recht  ansehnlich  lange  Ketten 
bildet,  die  große  Aehnlichkek  mit  Streptokokken  zeigen.  Er 
ist.  ein  exquisiter  Kapseibildner,  insbesonders  im  Tierleib, 
aber  auch  in  Kulturen,  die  durch  ihren  visziden,  schleimigen 
Charakter  ausgezeichnet  sind.  (Demonstration.) 

An  allen  diesen  Bildern  wird  Ihnen  der  ungeheure 
Reichtum  dieser  Mikroben  aufgefallen  sein  und  Sie  können 
sich  daher  vorstellen,  in  welch  enormer  Menge  dieselben 


444 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


zweifellos  häufig  ausgeschieden,  werden,  worauf  icli  noch 
später  zurückkommen  werde.  Bekommt  man  nun  insbe- 
sonders  aus  menschlichem  Exsudat  oder  Blut  derartige 
Bilder  zu  Gesichte,  so  ist  es  klar,  daß  dann  die  Diagnose 
wohl  nicht  schwer  fallen  dürfte,  wenn  es  sicli  auch  um 
einen  Erstfall  handeln  würde.  .Nicht  immer  jedoch  sind 
die  Bilder  so  eindeutig  und  charakteristisch,  und  dann  wird 
der  Kulturnachweis  und  der  Tierversuch  unentbehrlich,  was 
natürlich  mit  größerem  Zeitverlust  verbunden  ist.  Ich  will 
nur  noch  kurz  hervorheben,  daß  der  Pestbazillus  unter  allen 
Umständen  Gram-negativ  und  unbeweglich,  weil  geißellos, 
ist  und  daß  er  nie  Sporen  bildet. 

Zum  kulturellen  Nachweis  eignet  sich  wohl  am  besten 
neutraler  oder  schwach  alkalischer  Agar.  Zusatz  von  Blut¬ 
serum  verbessert  den  Nährboden  wenig,  von  Glyzerin  macht 
ihn  eher  schlechter.  Auf  Agar  wächst  der  Pestbazillus  noch 
am  schnellsten  und  nur  dieser  Nährboden  kann  zur 
raschesten  Diagnosestellung  verwendet  werden.  Leider  ist 
aber  sein  Wachstum  keineswegs  besonders  schnell,  ins¬ 
besonders  nicht,  wenn  es  sich  um  die  erste  Kultur  aus 
Exsudat,  Blut  usw.  handelt.  Da  sieht  man  oft  noch  nach 
24  Stunden  makroskopisch  kein  deutliches  Wachstum,  das 
erst  nach  3t>  bis  48  Stunden  gut  entwickelt  ist,  während 
Ueberimpf  ungen  älterer  Reinkulturen  viel  schneller  an  gehen, 
so  daß  die  Kulturen  schon  nach  24  Stunden  voll  entwickelt 
sind.  Das  kann  natürlich  unter  Umständen  eine  arge  Ver¬ 
zögerung  der  Diagnose  bedeuten.  Auf  ein  Temperaturopti¬ 
mum  kommt  es  dabei  viel  weniger  an.  Der  Pestbazillus 
wächst  zwischen  30  und  37°  gleich  gut,  auch  bei  25°  ist 
seine  Entwicklung  nur  wenig  verlangsamt.  Unter  10°  zeigt 
er  auch  noch  langsames  Wachstum  und  verliert  auch  bei 
größerer  Kälte  seine  Lebensfähigkeit  nicht.  Für  den  Geübten 
zeigt  er  auf  Agar  eine  charakteristische  Kolonienform  mit 
bläulich  durchscheinenden  und  steil  abfallenden  Rändern, 
ähnlich  denen  des  Influenzabazillus.  Doch  kommen  immer 
daneben  auch  Kolonien  vor,  die  denen  des  Streptokokkus 
sehr  gleichen.  Nach  allem  kann  zur  vollständigen  Sicher¬ 
stellung  der  Diagnose  die  Agarkultur  nicht  entbehrt  werden. 
Gleichwohl  müßte  in  jedem  suspekten  Fälle  von  vornherein 
der  Tierversuch  ausgiebigst  benützt  werden.  Es  kommen 
hier  vor  allem  zwei  Tierspezies  in  Betracht,  die  für  Pest 
außerordentlich  empfindlich  sind  und  zum  raschen  Nachweis 
einer  Pesterkrankung  beim  Menschen  zu  verwenden  sind. 
Das  ist  die  graue  Ratte  und  ganz  besonders  das  Meer¬ 
schwein.  Sie  sind  so  empfänglich,  daß,  nach  Einverleibung 
von  entsprechend  bazillenreichem  Material  der  Tod  schon 
nach  24  bis  48  Stunden  eintritt  u.  zw.  unter  Verände¬ 
rungen,  die  denen  der  Menschenpest  vollko m men 
entsprechen.  Beim  Meerschwein  genügt  einfaches  Ein¬ 
reiben  von  pestbazillenhaltigem  Material  auf  die  rasierte 
Haut,  um  typische  Pest  zu  erzeugen,  auch  in  Fällen,  wo  die 
Pestbazillen  mit  anderen  Bakterien  innig  vermengt  und  in 
verschwindender  Minderzahl  sind,  wie  z.  B.  in  den  Fäzes 
von  Mensch  und  Tier.  Solche  Tiere  zeigen  dabei  einen 
enormen  Reichtum  an  Pestbazillen  im  Blute,  insbesonders 
in  der  Milz  und  in  den  serös  -  hämorrhagischen  oder  schlei¬ 
migen  Exsudaten  an  der  Infektionsstelle.  Aus  all  dem  können 
Sie  ersehen,  daß  bei  einem  Erstfalle  die  bestimmte  Diagnose 
auf  Pest  unter  Umständen  sich  verzögern  kann,  wenn  das 
mikroskopische  Präparat  kein  klares  Bild  ergibt,  die  Kultur 
sich  verzögert  oder  der  rasche  Erfolg  des  Tierversuches 
ausbleibt.  Jedenfalls  ist  eine  solche  Untersuchung  kompli¬ 
zierter  und  wohl  auch  schwieriger  —  alles  mit  Rücksicht 
auf  Erstfälle  gesagt  —  als  bei  Cholera,  wo  uns  eine  Reihe 
fast  sicherer  Behelfe  zur  Verfügung  stehen,  wie  die  Pepton¬ 
wasserkultur,  der  Dieudonnesche  Nährboden  und  die 
Agglutination.  Wir  können  und  müssen  uns  zwar  der  letz¬ 
teren  auch  zur  Pestdiagnose  bedienen,  .wenn  wir  bereits 
die  Reinkultur  besitzen,  doch  sind  die  Agglutinations  werte 
der  Pferdeimmunsera  nur  sehr  niedrige,  wenn  auch  voll¬ 
kommen  spezifische.  Wenn  ich  nun  noch  hervorhebe,  daß 
der  Pestbazillus  bei  mehr  oder  weniger  vollständiger  Aus¬ 
trocknung,  insbesonders  in  dünner  Schichte  und  bei  inten¬ 


siver  Einwirkung  des  Sonnenlichtes,  rasch  zugrunde  geht, 
daß  er  ferner  durch  die  meisten  Desinfizienzien  rasch  und 
leicht  zu  töten  ist,  so  habe  ich  Ihnen  wenigstens  in  großen 
Zügen  das  wichtigste  aus  der  Bakteriologie  und  der  bak¬ 
teriologischen  Diagnostik  des  Pestbazillus  vorgeführt. 

Ich  will  Ihnen  nun  die  so  charakteristischen  und 
schweren  Veränderungen  schildern,  die  er  im  menschlichen 
Körper  in  geradezu  typischer  Weise  erzeugt.  Die  Pest  ist 
eine  hämorrhagische  Septikämie,  manchmal  mit  pyämischem 
Charakter  und  gleicht  in  Vielem  dem  Milzbrand.  Bei  keiner 
an  deren  E  r  k  r  a  n  k  u  n  g  des  Mens  c  h  e  n  jedoch  ko  m  m  t 
es  in  der  Regel  zu  so  enormer,  rascher  und  gren¬ 
zenloser  Vermehrung  des  lebenden  Giftes  im  (4 o- 
w e b e  und  i  n s  b e s o h d e r  s  im  Blute  und  darin  liegt 
eine  Haupterklärung  für  das  Schreckliche  im  Auftreten  und 
im  Verlaufe  der  Pest.  Insbesonders  die  pathologisch -ana¬ 
tomischen  Untersuchungen,  die  Ghon  und  ich  an  einem 
ziemlich  reichen  Materiale  in  Bombay  durchführten,  haben 
über  die  Art  und  Bedeutung  der  Bubonen  Klarheit  gebracht 
und  die  primäre  Pestpneumonie  von  der  Bubonenform  der 
Pest  scharf  abgetrennt.  Es  sind  dies  also  zwei  in  ihrer 
Genese  und  ihrem  Verlaufe  recht  verschiedene  Formen. 
Bei  der  ersten  entsteht  an  irgendeiner  Stelle  des  Körpers, 
wo  Lymphknoten  Vorkommen,  ein  primärer  Bubo,  am  häu¬ 
figsten  in  der  Hals-,  Achsel-  oder  Schenkelbeugeregion.  Er 
ist  durch  seine  Größe,  Schmerzhaftigkeit,  durch  die  über¬ 
aus  reichliche  ödematös- hämorrhagische  Durchtränkung 
seiner  Umgebung  vollständig  charakterisiert  und  was  das 
wichtigste  ist,  er  deutet  mit  Sicherheit  darauf  hin,  daß  in 
seinem  Bezirke  der  Einbruch  des  Giftes  von  außen  her  er¬ 
folgt  ist.  Es  ist  dies  ein  durch  zahllose  Tierexperimente 
bewiesenes  Lokalisationsgesetz.  Von  diesem  primären  Bubo 
aus  erkranken  nun  rapid  die  zunächst  gelegenen  Lymph- 
drüsengruppen  in  Form  von  kettenartigen,  gelbrot  gespren¬ 
kelten  Lymphomen,  die  man  primäre  Bubonen  zweiter  oder 
dritter  Ordnung  nennen  kann.  Es  ist  die  Regel,  daß  an  der 
Haut  kein  Primäraffekt  zu  sehen  ist.  Die  Verletzungen, 
durch  die  der  Pestbazillus  eindringt,  sind  einerseits  in  der 
Regel  ganz  klein,  ja  mikroskopisch  und  es  ist  eine  Eigen¬ 
art  des  Pestbazillus,  daß  er  sofort  in  Lymphgefäße  ein¬ 
wuchert,  dann  höchstens  eine  Lymphangitis  unscheinbarer 
Form  erzeugt  und  erst  in  den  Lymphknoten  sein  Zerstörungs¬ 
werk  beginnt.  Es  kommt  hier  zur  hämorrhagisch- eitrigen 
Lymphadenitis  mächtigster  Form  und  zu  massenhaftem  Ein¬ 
bruch  des  Pestbazillus  in  kleine  und  große  Venen.  Dafür 
geben  die  merkwürdigen  Venenwandblutungen  Zeugnis,  die 
man  immer  in  kleinen  oder  großen  Venen  im  Bereiche  des 
primären  Bubo  findet  und  nun  entstehen  oft  wie  mit  einem 
Schlage  die  sekundären  Bubonen,  das  heißt  alle  Lymph¬ 
knoten  des  Körpers  schwellen  nun  oft  recht  mächtig  und 
schmerzhaft  an,  denn  in  ihnen  lokalisieren  sich  nun  mit 
Vorliebe  die  bereits  im  Blute  kreisenden  Pestbazillen.  So 
kommt  es  zur  allgemeinen  Lymphadenitis,  an  der  zum  Bei¬ 
spiel  auch  die  mesenterialen  Lymphknoten  teilnehmen 
können.  Dies  alles  kann  sich  innerhalb  weniger  Stunden 
abspielen,  es  kann  aber  dazu  auch  einige  Tage  brauchen. 
Aber  nicht  nur  die  peripheren  Lymphknoten  werden  in  der 
geschilderten  Weise  getroffen,  wichtiger  noch  ist  es,  daß 
so  häufig  das  lymphatische  Gewebe  der  Halseingeweide, 
insbesonders  die  Gaumen-  oder  Rachentonsillen  und  die 
Follikel  am  Zungengrund  sehr  schwer  verändert  werden, 
ähnlich  wie  bei  einer  ganzen  Reihe  anderer  menschlicher 
Infektionskrankheiten  (Variola,  Scharlach,  Typhus).  Sie 
zeigen  dann  rötlichgelbe,  nekrotische  Beläge  mit  Oedem 
der  Umgebung  und  schließlich  auch  der  Glottis,  Verände¬ 
rungen,  die  sekundär  zur  Pestbronchitis  und  Pneumonie 
führen  und  für  die  Verbreitung  der  Krankheit  natürlicher¬ 
weise  von  größter  Wichtigkeit  sind.  Sie  führen  aber  auch 
zu  schweren  Misch-  oder  Sekundärinfeklionen  durch  den 
Streptokokkus,  Diplokokkus  pneumonicus  oder  den  Staphy¬ 
lokokkus,  welche  natürlich  den  Tod  erst  recht  unabwendbar 
machen.  Wie  schon  früher  erwähnt,  sehen  wir  nur  äußerst 
selten  einen  echten  Primaraffekt  der  Haut  bei  der  Pest, 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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aber  sein'  häufig  ist  es,  daß  sekundär  über  den  primären 
Bubonen  oder  in  ihrer  Umgebung  Geschwüre  entstehen,  die 
reichlich  hämorrhagisches  Serum  und  Eiter  entleeren,  oder 
es  entstehen  über  den  Bubonen  infolge  des  enormen  Oedems 
zunächst  zahlreiche  hämorrhagische  Hautblasen,  die  dann 
alle  platzen  und  massenhaft  Pestbazillen  entleeren.  Alle 
diese  Veränderungen  sind  aber,  wie  gesagt,  als  sekundäre, 
das  heißt  als  E  olgezustände  der  mächtigen  Veränderungen 
im  Bereiche  des  primären  Bubo  zu  betrachten. 


Ich  will  noch  das  Auftreten  eines  mächtigen  Milz- 
luinors  mit  ganz  eigenartiger,  dunkelrot  schagrinierter  Pulpa 
hervorheben  und  auf  die  zahllosen  kleinen  und  größeren 
Hämorrhagien  verweisen,  die  in  der  Akrne  der  Erkran¬ 
kung,  wenn  bereits  Pestbazillen  zahllos  im  Blute  kreisen, 
in  der  Haut,  fast  sämtlichen  Schleimhäuten  und  serösen 
Häuten  auftreten  und  die  oft  nur  flohstichgroß,  in  un¬ 
zählbarer  Menge,  dicht  nebeneinander  gedrängt  auftreten. 
Insbesonders  charakteristisch  im  ganzen  Magendarmtrakt. 
Mikroskopisch  findet  man  in  allen  diesen  Blutungen  mehr 
weniger  reichliche  Pestbazillen. 

Und  nun  gehört  noch  zum  anatomischen  Bilde 
dieser  schweren  Pestform  das  Auftreten  von  käsig-eitrigen 
Metastasen,  insbesonders  in  der  Leber,  Milz  und  Nieren, 
die  ebenfalls  manchmal  außerordentlich  reichlich  er¬ 
scheinen. 


Ganz  anders  liegt  die  Sache  bei  der  zweiten  Erschei¬ 
nungsform  der  Pest,  der  primären  Pneumonie.  Hier  ent¬ 
steht  ähnlich  wie  bei  der  gewöhnlichen  kruppösen  Pneu¬ 
monie  mit  einem  Schlage  die  Pestbronchitis  und  in  unerhört 
rascher  folge  die  Pneumonie,  die  einen  ganzen  Lappen 
oder  auch  mehrere  ergreift  und  als  rasch  konfluierende 
Lobulärpneumonie  aufzufassen  ist.  Ein  primärer  Bubo  oder 
sekundäre  Lymphknotenschwellungen  fehlen  schon  oft  des¬ 
wegen,  weil  die  Zeit  zu  ihrer  Ausbildung  bei  dem  rasch 
eintretenden  Tode  zu  gering  ist. 

Wir  haben  aber  noch  eine  andere  -Pestform  in  Bom¬ 
bay  beobachtet,  bei  der  ebenso  wie  bei  der  Pneumonie 
trotz  genauester  Untersuchung  der  primäre  Bubo  fehlte, 
bei  welcher  aber  ganz  allgemeine  Lymphknotenschwellun¬ 
gen  von  der  Form  der  sekundären  Bubonen  vorhanden 
waren.  Daraus  ergibt  sich,  daß  es  besonders  rapid  ver¬ 
laufende  Fälle  gibt,  wo  ohne  Bildung  eines  primären  Bubo 
sofort  Septikämie  mit  allgemeiner  Drüsenschwellung  auf- 
tritt.  (Demonstration.) 

Diesen  schweren  anatomischen  Veränderungen  ent¬ 
spricht  auch  in  der  Regel  gleich  von  Anfang  an  ein  außer¬ 
ordentlich  schwerer  klinischer  Verlauf.  Ebenso  fabelhaft 
rasch  wie  die  Bubonen  sich  entwickeln,  ebenso  rasch  steigt 
die  Temperatur  auf  39  oder  40°  C,  es  stellen  sich  Schwindel, 
Kopfschmerz,  Taumeln,  Delirien  ein,  es  bildet  sich  fast 
plötzlich  schwerste  Konjunktivitis  aus,  die  Sprache  wird 
eigentümlich  lallend  und  in  den  Delirien  besteht  die  ganz 
auffallende  Sucht,  Bett  und  Krankenzimmer  zu  verlassen 
und  planlos  das  Weite  zu  suchen.  Der  Tod  tritt  regelmäßig 
unter  dem  Bilde  der  Herzlähmung  u.  zw.  oft  ganz  plötzlich, 
ein.  So  sterben  viele  Kranke  plötzlich  auf  der  Straße  und 
wir  erlebten  es  in  Bombay,  daß  Hindus  nach  einem  stunden¬ 
langen  Wege  zum  Spitale  vor  oder  in  demselben  angelangt, 
plötzlich  tot  zusammenstürzten.  Alle  diese  Erscheinungen 
deuten  darauf  hin,  daß  das  Pestgift,  sei  es  als  freies  oder 
den  Bazillen  fester  anhaftendes  Gift  die  schwerste  Wirkung 
aut  den  menschlichen  Organismus  ausübt,  denn  die  Sym¬ 
ptome  sind  ja  im  allgemeinen  die  einer  schwersten  Intoxi¬ 
kation.  Zum  Schlüsse  tritt  oft,  insbesonders  bei  Pestpneu- 


mome,  enorme  Zyanose  auf;  dieselbe  war  zum  Beispie 
bei  dem  verstorbenen  Ebener  Bari  sch  höchstgradig  ent 
wickelt,  so  daß  ich  glaube,  daß  von  der  blauschwarzei 
Karbe  des  Gesichtes  und  Halses  der  Name  „schwarze 
fod  stammt,  um  so  mehr,  als  das  Blut  ad  filtern  dunkel 
venöse  Farbe  annimmt. 

Ich  will  nun  kurz  den  Modus  der  Infektion  be  in 
Menschen  besprechen.  Es  kann  gar  keinem  Zweifel  unter 
liegen,  daß  der  Mensch  selbst  dabei  die  wichtigste  Rolh 


spielt.  Sie  haben  ja  aus  dem  Gesagten  und  Demonstrierten 
wohl  gesehen,  wie  viele  Quellen  der  Ausscheidung  von 
Pestbazillen  durch  den  Menschen  vorhanden  sind  und  diese 
genügen  wohl  reichlich,  um  bei  miserablen  sanitären  oder 
hygienischen  Verhältnissen  die  Uebertragung  der  Bubonen¬ 
pest  von  Mensch  zu  Mensch  zu  erklären.  Wenn  man  eine 
Krankheit  überhaupt  als  Schmutzkrankheit  bezeichnen  darf, 
so  gilt  dies  wohl  in  hervorragendem  Grade  für  die  Pest 
Ebenso  verhält  es  sich  bei  der  zweiten  Erscheinungsform! 
der  Pestpneumonie.  Es  ist  ohne  weiteres  klar,  daß  ein 
Mensch,  der  Pestbazillen  im  Rachenraum,  in  den  obersten 
Respirationswegen,  in  seiner  Trachea,  in  Bronchien  oder 
in  den  Lungen  trägt,  durch  den  eine  so  bedeutsame  Rolle 
spielenden  Modus  der  Tröpfcheninfektion  seine  ganze  Um¬ 
gebung  infizieren  kann.  So  kommt  es,  daß  die  Pestpneu¬ 
monie  sich  wiederum  als  solche  in  weitester  Form  fort¬ 
pflanzen  kann.  Aber  wie  Sie  gesehen  haben,  kann  auch 
ein  Bubonenpestkranker  mit  mehr  weniger  schweren  Lä¬ 
sionen  seines  lymphatischen  Rachenringes  bei  seiner  Um¬ 
gebung  primäre  Pestpneumonie  erzeugen,  denn  es  ist  wohl 
klar,  daß  bei  derartig  Kranken  massenhaft  Pestbazillen  von 
den  Rachenorganen  aus  in  feinster  Tröpfchenform  in  die 
Außenwelt  gelangen  können. 

Welche  Rolle  aber  spielen  gewisse  Nagetiere  bei  der 
Verbreitung  der  Pest.  Zur  Beantwortung  dieser  Frage  muß 
natürlich  auf  die  Rattenpest  hingewiesen  werden.  Erst  seit 
dem  Jahre  1897  hat  man  derselben  größere  Aufmerksamkeit 
geschenkt  und  es  dürfte  Sie  interessieren,  zu  erfahren,  daß 
als  wir  nach  Bombay  kamen,  noch  niemand  diesen  Tieren 
größere  Beachtung  schenkte,  obwohl  man  ein  Massen¬ 
sterben  derselben  beobachtete  und  daß  die  von  uns  geäußerte 
Meinung,  daß  die  Raiten  tatsächlich  mit  der  Menschenpest 
etwas  zu  tun  hätten,  von  den  Mitgliedern  der  übrigen  in 
Bombay  eingetroffenen  Pestkommissionen  einfach  nicht  ge¬ 
glaubt  wurde.  Erst  als  wir  uns  als  die  Ersten  eine  größere 
Anzahl  in  den  Straßen  Bombays  aufgefundener  toter  Ratten 
verschaffen  konnten  und  wissenschaftlich  einwandfrei  als 
lodesursache  dieselbe  Pest  wie  beim  Menschen  feststellen 
konnten,  kamen  auch  andere  allmählich  zur  selben.  Ansicht, 
die  wir  als  die  ersten  einwandfrei  bewiesen  hatten.  Es 
ist,  daher  vollkommen  sicher,  daß  die  Ratten  spontan 
dieselbe  Pest  bekommen  wie  der  Mensch  und  daß  dieselbe 
auf  den  Menschen  übertragen  werden  kann.  Das  kann  wohl 
sicherlich  durch  die  Rattenflöhe,  die  auch  auf  den  Menschen 
gehen,  geschehen,  aber  wohl  auch  dadurch,  daß  die  Ratten 
durch  ihre  sehr  bazillenreichen  Se-  und  Exkrete  einfach 
das  Gift  in  die  Nähe  des  Menschen  tragen,  insbesonders 
dann,  wenn  es  sich  um  schmutzige  und  ebenerdige  Woh¬ 
nungen  handelt.  Auch  auf  Schiffen  spielt  dies  wohl  sicher 
eine  Rolle,  um  so  mehr,  als  es  durch  zahlreiche  Beobach¬ 
tungen  feststeht,  daß  gerade  die  schwererkrankten  Ratten 
in  einer  Art  von  Delirium  die  Nähe  des  Menschen  aufsuchen. 
Wie  groß  die  Ansteckungsgefahr  durch  Ratten  für  den 
Menschen  ist,  läßt  sich  natürlich  nicht  mit  Sicherheit  sagen, 
aber  daß  es  ein  Gebot  der  Notwendigkeit  ist,  bei  Pest¬ 
gefahr  nach  Tunlichkeit  die  Ratten  zu  vernichten,  unter¬ 
liegt  keinem  Zweifel.  \\  ir  sehen  dies  an  dem  Beispiele 
von  London,  wo  aus  der  neuesten  Zeit  berichtet  wird,  daß 
angeblich  unter  den  daselbst  massenhaft  vorkommenden 
Ratten  bereits  wirklich  echte  Pest  ausgebrochen  ist,  was, 
wenn  sich  dies  bewahrheiten  sollte,  ohne  Zweifel  eine  emi¬ 
nente  Gefahr  bedeuten  würde. 

Am  häufigsten  infizieren  sich  die  Ratten,  insbesonders 
durch  Anfressen  der  Kadaver  eingegangener  Tiere,  vom 
Maule  oder  Rachen  oder  von  Darme  aus  und  bekommen 
dann  auch  typische  primäre  Bubonen,  häufig  am  Halse. 
Diese  brechen  dann  auf  und  entleeren  natürlich  den  ba¬ 
zillenhalligen  Eiter  nach  außen. 

Ghon  und  ich  konnten  übrigens  auch  als  erste  so¬ 
wohl  bei  der  Ratte  wie  beim  Meerschweinchen  nachweisen, 
daß  es  bei  diesen  eine  chronische  Pestform  gibt,  ein  Um¬ 
stand,  der  von  großer  epidemiologischer  Bedeutung  ist. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


HG 


Ein  zweites  in  der  Peslfrage  zweifellos  eine  große  Rolle 
spielendes  Tier  ist  eine  Murmeltierart,  Arctomys  babal,  die 
auf  den  Hochebenen  des  Himalaya  und  Tibet,  insbesonders  in 
der  Wüste  Gobi  und  in  der  chinesischen  Provinz  Yunnan 
vorkommt.1)  Dieses  Tier,  Tarbagan  genannt,  ist  nach  den 
Untersuchungen  russischer  Aerzte  (schon  1895)  zweifellos 
der  Träger  einer  endemischen  Pest  und  die  Quelle  der 
asiatischen  Pest  überhaupt.  Das  Tier  kommt  mit  dem1 
Menschen  insoferne  sehr  häufig  in  Berührung,  als  es  seines 
Felles  wegen  sehr  häufig  gejagt  wird  und  daß  es,  an  Pest, 
erkrankt,  sich  leicht  einfangen  läßt.  Wenn  wir  nun  wissen, 
daß  im  Jahre  1896  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  die  Pest 
in  das  Tiefland  Indiens  durch  Pilgerscharen  aus  den  nörd¬ 
lichen  Hochebenen  des  Himalaya  eingeschleppt  wurde  und 
daß  ferner  gerade  in  jenen  Gegenden  von  China,  welche 
diesen  hochgelegenen  Steppen  und  Wüsten  angrenzen,  (die 
Pest  endemisch  ist,  so  liegt  wohl  die  Annahme  sehr 
nahe,  daß  diese  Tierart  die  Quelle  für  die  asia¬ 
tische  Pesl  überhaupt  vor  stellt.  Freilich  müßten 
wir  nach  dem  Stande  unseres  Wissens  wohl  nur  annehmen, 
daß  von  diesem  Tiere  aus  die  Bubonenpest  in  der  Regel 
auf  den  Menschen  übertragen  werden  kann  und  die  An¬ 
nahme,  daß,  weil  vielleicht  diese  Tiere  häufiger  an  Lungen- 
pest  erkranken,  auch  der  Mensch  von  ihnen  wieder  die 
Lungenpest  ohne  weiteres  bekommen  müsse,  ist  wissen¬ 
schaftlich  nicht  begründet. 

Es  ist  daher  keineswegs  ganz  klargestellt,  woher  es 
kommt,  daß  allen  Berichten  zufolge  in  China  gerade  die 
Lungenpest  derartige  Ausdehnung  gewonnen  hat.  Meiner 
Meinung  nach  können  daran  nur  besondere  Eigentümlich¬ 
keiten,  die  vielleicht  in  den  Chinesen  selbst  zu  suchen  sind, 
schuld  sein.  Vielleicht  die  Lebensweise  derselben,  vielleicht 
auch  die  Art  des  Sprechens  oder  des  Hustens.  Die  hohe 
Sterblichkeit  der  chinesischen  Pest,  die  90  und  mehr  Prozent 
beträgt,  steht  wohl  damit  in  Zusammenhang,  daß  es  sich 
eben  vorwiegend  um  Lungenpest  handelt,  ebenso  die  re¬ 
lativ  große  Häufigkeit  der  Erkrankungen  von  Europäern. 
Auch  die  chinesische  Pesl  scheint  wieder  zu  lehren,  daß 
für  den  Arzt  und  das  Wärterpersonal  gerade  die  Lungenpest 
so  sehr  gefährlich  ist,  wie  wir  dies  sozusagen  am  eigenen 
Leibe  erfuhren,  während,  wie  wir  selbst  das  ja  in  Bombay 
erlebten,  die  Bubonenpest  bei  einiger  Aufmerksamkeit  und 
Vorsicht,  für  die  unmittelbare  Umgebung  keine  besondere 
Gefahr  mit  sich  bringt. 

Jedenfalls  gibt  es  zwischen  der  indischen  und  chine¬ 
sischen  Pest  bemerkenswerte  Unterschiede.  Bei  der  ersten 
fast  nur  Bubonenpestfälle,  bei  der  zweiten  offenbar  fast  nur 
primäre  Pneumonie  mit  über  90%  Mortalität.  In  Indien 
wütet  die  Pest  seit  etwa  15  Jahren  und  dezimiert  die  Be¬ 
völkerung.  Doch  scheint  sie  auch  dort  mit  Lungen¬ 
pest  begonnen  zu  haben  und  es  ist  daher  nicht 
unwahrscheinlich,  daß  es  in  China  ebenso  gehen 
Wird,  das  heißt,  daß  die  Lungenpest  allmählich 
in  die  Bubonenpest  übergehen  wird.  Dies  wäre  nun 
für  die  Bevölkerung  nicht  minder  gräßlich.  Die  Todesfälle 
in  Indien  an  Pest  belaufen  sich  bereits  auf  Millionen.  Inner¬ 
halb  vier  W  ochen,  vom  16.  Oktober  bis  12.  November 
1910,  ca.  24.500  Erkrankungen  und  18.000  Todesfälle.  Inner¬ 
halb  dreier  Wochen,  vom  13.  November  bis  3.  Dezember 
27.500  Erkrankungen  und  21.300  Todesfälle.  Die  Zeitungs¬ 
nachrichten  über  die  Zahl  der  Erkrankungen  in  der  Mand¬ 
schurei  sind  höchst  unsicher,  es  sollen  schon  an  die  50.000 
sein.  Jedenfalls  sind  in  Füdjadan  schon  mindestens  2000 
Todesfälle  vorgekommen,  in  Charbin  mehr  als  600.  Wie 
ich  privaten  Mitteilungen  unseres  Herrn  Vizekonsuls  Doktor 
Stumvoll  in  Tientsin  entnehme,  ist  die  dortige  öster¬ 
reichische  Kolonie  mit  45.000  Seelen  auch  nicht  frei  ge¬ 
blieben,  indem  daselbst  plötzlich  hintereinander  15  töd¬ 
liche  Lungenpestfälle  bei  Chinesen  vorkamen,  die  bakterio¬ 
logisch  sichergestellt  wurden  und  Tausende  von  Mikroben 


l)  Sein  Verbreitungsbezirk  soll  sich  übrigens  über  Sibirien  bis 
nach  Ost-Europa  erstrecken. 


im  Blute  nachweisen  ließen.  Durch  die  persönliche  Inter¬ 
vention  des  Herrn  Vizekonsuls  wurden  alle  Fälle  rasch 
isoliert  und  dadurch  eine  weitere  Verbreitung  bisnun  wenig¬ 
stens  abgehalten.  Der  Verkehr  aus  dem  verseuchten  Norden 
wurde  fast  vollständig  eingestellt.  Aus  eben  dieser? privaten 
Mitteilungen  ist  aber  zu  entnehmen,  daß  die  nach  Europa 
gelangten  entsetzlichen  Nachrichten  über  die  sanitären  Zu¬ 
stände  in  den  chinesischen  Peststädten  keineswegs  über¬ 
trieben  sind,  sondern  vollkommen  den  tatsächlichen  Zu¬ 
ständen  entsprechen. 

Wenn  wir  uns  nun  fragen,  wie  es  mit  der  Gefahr 
der  Einschleppung  steht,  so  erscheint  es  wohl  am  rich¬ 
tigsten,  auf  die  seit  15  Jahren  bestehende  indische  Epi¬ 
demie  hinzuweisen.  Zu  wiederholten  Malen  sind  von  dort 
aus  durch  Schiffe  Pestfälle  in  die  europäischen  Seehäfen 
eingeschleppt  worden,  auch  nach  Triest  und  Fiume,  fast  : 
ist  man  einem  solchen  Anfang  der  Seuche  Herr  ge¬ 
worden,  allerdings  mit  Heranziehung  des  ganzen  modernen 
Arsenals  gegen  einen  solchen  Feind.  Doch  zeigt  uns  die 
Ausbreitung  der  Pest  in  Oporto,  daß  dies  nicht  immer  so-  I 
gleich  und  leicht  gelingt.  In  Oporto  hatte  die  Pest  tatsächlich  1 
wenigstens  eine  Zeitlang  eine  bedrohliche  Ausbreitung  ge¬ 
wonnen,  aber  schließlich  hat  man  sie  auch  dort  nieder- 
aerungen  und  Europa  ist  frei  geblieben.  Die  große  Entfer¬ 
nung  ist  also  sicherlich  kein  absolutes  Hindernis  für  die  : 
Einschleppung  der  Pest,  wenigstens  nicht  auf  dem  See 
weg.  Bei  der  chinesischen  Pest  muß  aber  auch  an  den 
Landweg  gedacht  werden,  der  durch  Eisenbahnen  abgekürzt 
ist  und  bei  dem  es  sich  um  das  große  Rußland  mit  seiner 
territorial  so  verschiedenen  Kultur  handelt.  Es  kommt  nun 
darauf  an,  ob  Rußland  ein  Bollwerk  gegen  die  Seuche  ist 
und  ein  wie  starkes.  Wir  haben  jtü  bereits  in  neuester 
Zeit  bedrohliche  Erscheinungen  in  Odessa  gesehen,  welche 
geeignet  sind,  uns  aus  einer  absoluten  Ruhe  der  Pest  gegen¬ 
über  zu  bringen.  Wir  wissen  ferner,  daß  sowohl  nach  Zis-, 
wie  nach  Translei thanien  jährlich  viele  russische  Arbeiter 
kommen,  sie  haben  uns  ja  auch  vergangenes  Jahr  die  Cho¬ 
lera  nach  Ungarn  und  vielleicht  auch  nach  Mähren  gebracht. 
Nun  finden  sich,  wie  ich  glaube,  gerade  in  den  Grenzgebieten 
unserer  Monarchie  Gegenden,  wo  die  hygienischen  und 
sanitären  Verhältnisse  der  Bevölkerung  noch  sehr  viel  zu 
wünschen  übrig  lassen  und  wo  auch,1  die  Bevölkerung  noch 
nicht  gerade  auf  einem  sehr  hohen  Niveau  der  Kultur 
und  Zivilisation  steht  und  es  ist.  sehr  fraglich,  mit  welchen 
Gefühlen  dieselbe  strengen  sanitätspolizeilichen  Maßnahmen 
entgegen  kommen  würde. 

Auf  der  anderen  Seite  jedoch  steht  der  alte  Erfahrungs¬ 
satz,  daß  die  Pest  sicli  nur  allmählich  ausbreitet 
und  daß  es  immer  eine  gewisse  Zeit  braucht,  bis 
es  zu  einer  echten  E p i d e m i e  kommt.  Hat  man  dann 
die  Erstfälle  rechtzeitig  erkannt,  so  ist  es  gerade  bei  der 
Pest  nicht  schwer,  sie  in  ihren  Anfängen  zu  vertilgen  und 
die  Gefahr  einer  weiteren  Ausbreitung  zu  vernichten.  Wir 
sind  da  bei  der  Pest  viel  besser  daran  wie  bei  der  Cholera, 
die  ja  dem  Wasserweg,  dem  Flußlaufe  fast  immer  folgt, 
weil  ja  das  Wasser  selbst  verseucht  ist.  So  ging  es  im 
Herbste  bei  uns  mit  der  Cholera  von  Ungarn  her  und  so 
ging  es  noch  1892  in  Hamburg,  wo  die  Cholera  explo¬ 
sionsartig  auftrat  und  trotz  aller  Maßnahmen  nicht  uner¬ 
hebliche  Dimensionen  annahm.  Etwas  Derarliges  ist,  wie 
die  letzten  15  Jahre  bewiesen  haben  und  nach  allem,  was 
wir  sonst  wissen,  bei  der  Pest  nicht  zu  erwarten.  Ihre 
Ausbreitung  ist  eine  langsam  schleichende,  hat 
sie  sich  aber  einmal  gleichsam  im  Verborgenen  festgesetzt, 
dann  ist  sie,  wenigstens  für  die  niedrigen  Volksschichten, 
fast  ubiquitär  wie  ein  Genius  epidemicus. 

Und  nun  noch  einige  Worte  über  Prophylaxis  vom 
ärztlichen  Standpunkt.  Ich  glaube  nicht  besonders  aus¬ 
führen  zu  sollen,  daß  gerade  bei  der  Pest,  wo  wir  die 
Infektion  mit  nur  ganz  wenigen  oder  vereinzelten  Keimen 
annehmen  müssen,  strengste  Isolierung  der  Kranken,  Ver¬ 
dächtigen  und  mit  solchen  in  Berührung  gekommenen  Per¬ 
sonen,  sowie  die  peinlichste  Reinlichkeit  und  wirksamste 


Nr.  13 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Desinfektion  für  jedermann  und  unter  allen  Umständen  un¬ 
bedingt  vonnöten  ist.  Ebenso  wichtig  aber  müßte  eine  er¬ 
folgreiche  prophylaktische  Immunisierung  erscheinen.  Aller¬ 
orts  wird  heutzutage  ein  Pferdeimmunserum  zum  Zweck«' 
passiver  Immunisierung  gegen  Pest  hergestellt,  welches  anti- 
toxische  und  bakterizide  Kraft  besitzt.  Durch  ein«;  Reihe 
von  Tierversuchen  am  Affen  ist  esi  insbesonders  durch  die 
Arbeiten  der  deutschen  Festkommission  erwiesen,  daß  dieses 
Serum  allerdings  eine  schützende  Kraft  besitzt,  doch  ist 
dieselbe  leider  einerseits  zu  gering,  anderseits  hält  ihre 
Wirkung  kaum  länger  wie  sechs  bis  acht  Tage  an  und  es 
ist  eigentlich  bis  jetzt  nicht  gelungen,  ein  solches  mit  stark 
bakteriziderund  antitoxischer  Komponente  herzustellen.  Das 
verringert  auch  den  Wert  des  Serums  in  therapeuti¬ 
scher  Beziehung,  weil  es  nicht  imstande  ist,  die  schwere 
Intoxikation  zu  beheben. 

Ein  zweites  in  prophylaktischer  Beziehung  wichtigeres 
Mittel  ist  die  sogenannte  Haffkinesche  Lymphe.  Es  han¬ 
delt.  sich  dabei  im  wesentlichen  um  durch  Hitze  (70°)  ab¬ 
getötete  Bouillonkulturen  und  die  Methode  ist  ähnlich  der 
von  II.  Pfeiffer  vorgeschlagenen  zur  Immunisierung  gegen 
Cholera  und  Typhus.  Es  läßt  sich  nämlich  leicht  nach- 
weisen,  daß  zum  Beispiel  in  Agarkulturen  des  Pestbazillus 
Giftsubstanzen  vorhanden  sind,  die  einer  Temperatur  von 
60  bis  70°  Widerstand  leisten  und  fester  an  die  Zelleiber 
gebunden  sind.  Durch  eine  solche  aktive  Immunisierung 
mit  abgetöteten  Bazillen  kann  jedenfalls  ein  hoher  .Schutz- 
wert  erreicht  werden,  insbesonders  dann,  wenn  —  wie 
dies  auch  Haffkine  tut  —  die  Injektion  wiederholt  wird. 
Da  in  der  Regel  nun  die  Infektion  nur  durch  eine  (ganz 
geringe  Anzahl  von  Keimen  erfolgt,  kann  dadurch  gegebenen 
Falles  sicherlich  völlige  Immunität  erzielt  werden,  oder 
vielleicht,  was  nicht  zu  unterschätzen  ist,  ein  milderer  Ver¬ 
lauf  der  Krankheit.  Für  alle  diese  Annahmen  sprechen  nicht 
nur  die  Resultate  der  Tierversuche,  sondern  insbesonders 
die  Erfahrungen  Haffkines  in  einem  großen  Gefängnis 
Bombays,  in  dem  Pest  ausbrach  und  in  der  Portugiesen¬ 
stadt  Damaun,  wo  Haffkine  seine  Methode  ohne  den  regel¬ 
mäßigen  Widerstand  der  Bevölkerung  gegen  Maßnahmen 
ausgedehnt  durchführen  konnte. 

Und  so  schließe  ich  denn  mit  dem  Wunsche,  daß  wir 
gar  nicht  in  die  Lage  kommen1  mögen,  all  unser  Rüstzeug 
gegen  die  Pest  ins  Treffen  führen  zu  müssen,  daß  dieses 
Rüstzeug  aber  in  voller  Ordnung  und  Bereitschaft  stehen 
möge,  um  diesem  Erbfeinde  der  Menschheit  in  entsprechen¬ 
der  Weise  begegnen  zu  können. 


Aus  der  Universitäts-Frauenklinik  in  Graz. 

(Vorstand:  Prof,  E.  Knauer.) 

Nierendekapsulution  bei  Eklampsie. 

Von  Dr.  Rupert  Franz,  Assistenten  der  Klinik. 

Trotz  eifriger  Bemühung,  das  Wesen  der  Eklampsie 
zu  erforschen,  herrscht  bis  heute  noch  Unklarheit  über 
diese  Krankheit.  Nachdem  klinische  Beobachtung  und  pa¬ 
thologisch-anatomische  Untersuchung  nicht  zum  Ziele 
führten,  wurden  in  den  letzten  Jahren  die  Methoden  der 
Immunodiagnostik  und  Chemie  herangezogen.  Die  in  dieser 
Richtung  angestellten  Untersuchungen  vermochten  jedoch 
die  Aetiologie  des  Leidens  noch  nicht  klarzustellen.  So¬ 
lange  nun  die  Ursache  der  Eklampsie  nicht  auf¬ 
geklärt  ist,  wird  auch  die  Behandlung  keine  spe¬ 
zifische  seiin.  Man  nimmt  heute  meist  an,  daß 
es  sich  bei  der  Eklampsie  ebenso  wie  bei  den  anderen  so¬ 
genannten  Schwangerschaftstoxikosen  um  eine  Autoin¬ 
toxikation  des  Organismus  handelt,  die  dadurch  zustande 
kommt,  daß  die  in  der  Schwangerschaft  gebildeten  Gift¬ 
stoffe  durch  die  für  den  normalen  Schwangerschafts-  und 
Wochenbettverlauf  notwendigen  Gegengifte  nicht  unschäd¬ 
lich  gemacht  werden.  Auf  die  einzelnen  Theorien  soll  hier 
nicht  eingegangen  werden. 


Fast  allgemein  wird  angenommen,  daß  das  Ei  die  Stätte 
der  Giftbildung  ist.  Dafür  hatte  schon  die  klinische  Er¬ 
fahrung  gesprochen,  daß  die  Entleerung  der  Gebärmutter 
einen  günstigen  Verlauf  auf  die  Eklampsie  nehme.  Das 
Bestreben  ging  daher  dahin,  die  Plazenta  als  wahrschein¬ 
liche  Giftquelle  möglichst  bald  aus  der  Gebärmutter  zu 
entfernen.  Somit  wurde  das  exspektative  Verhalten  bei  der 
Eklampsie  aufgegeben  und  es  entstand  die  Lehre,  eine 
Eklamptische  baldigst  zu  entbinden.  Als  Methoden  zur  be¬ 
schleunigten  Entbindung  werden  Zervixdilatation,  Wendung 
und  Zange  angewendet.  In  den  letzten  Jahren  wurde  als 
radikaleres,  schnelleres  Verfahren  die  sogenannte  Schnell¬ 
entbindung  durch  Sectio  caesarea  abdominalis  oder  vaginalis 
vorgeschlagen  und  von  mehreren  Geburtshelfern  in  An¬ 
wendung  gebracht.  Die  durchschnittliche  mütterliche  Mor¬ 
talität  von  20  bis  25%  wurde  dadurch  nicht  wesentlich 
vermindert.  Die  große  Zahl  der  Hilfsmittel,  die  angewendet 
werden,  läßt  uns  erkennen,  daß,  keines  eine  besondere  Heil¬ 
wirkung  hat. 

Bei  dem  geringen  Erfolge  aller  bisherigen  Therapien 
erwächst  uns  die  Aufgabe,  neue  Methoden  zur  Bekämpfung 
der  Eklampsie  zu  suchen  und  zu  prüfen. 

Eine  solche  Methode  wurde  1902  vom  New  Yorker 
Gynäkologen  Edebohls  in  der  Nierendekapsulation  vor¬ 
geschlagen.  ln  Deutschland  stand  und  steht  man  dieser 
Operation  heute  noch  teilweise  skeptisch  gegenüber,  hier 
trat  als  erster  Sippel  1904  für  dieselbe  ein.  Kapselspal¬ 
tungen  der  Niere  wurden  von  Chirurgen  bereits  früher  bei 
Nephritiden  vorgenommen.  Die  sonstige  Therapie,  die  auf 
die  rasche  Entleerung  der  Gebärmutter  zur  Beseitigung  der 
Giftquelle  und  auf  die  Anregung  der  natürlichen  Ausschei- 
dungsvorgamge  des  Körpers  zur  Entgiftung  hinzielt,  wird 
durch  die  Edebohls  sehe  Operation  nicht  beeinflußt. 

Die  Nierenenthülsung  wird  nach  Sippel1)  zum 
Zwecke  einer  besseren ‘Durchblutung  der  Nieren 
gemacht,  um  d am i t  ei n e  Hebung  oder  W  i  e  d  e  r  h  e r- 
stellung  der  gesunkenen  oder  aufgehobenen  Nie¬ 
renfunktion  zu  erreichen. 

Die  Nierenfunklion  ist  —  gleichbleibende  Verhältnisse 
der  Ernährung  und  Flüssigkeitszufuhr  vorausgesetzt  —  ab¬ 
hängig  von  der  Blutzirkulation  in  der  Niere.  Erhöhter  ar¬ 
terieller  Druck,  bessere  Durchblutung  der  beiden  hinter¬ 
einander  geschalteten  Kapillargebiete  steigert  die  Harn- 
sekretion  quantitativ  und  qualitativ.  Vorübergehende  Unter¬ 
brechung  des  arteriellen  Zuflusses  bewirkt  Anurie  und  de¬ 
generative  Veränderungen  in  den  Epithelien,  besonders  in 
den  gewundenen  Harnkanälchen.  Die  arterielle  Durchblutung 
hemmende  Hindernisse  können  außerhalb  des  Gefäßgebietes 
oder  in  demselben  liegen.  In  letzterem  Fälle  müßte  die 
Hemmung  der  Diurese  durch  einen  Arteriospasmus  veran¬ 
laßt,  sein.  Diese  Annahme  wird  von  den  meisten  Autoren  ab¬ 
gelehnt.  Im  ersteron  Fall,  wo  ein  außerhalb  dos  Gefäßgebietes 
liegendes  mechanisches  Hindernis  als  vorhanden  angenom¬ 
men  wird,  ist  die  Kompression  der  Kapillaren  infolge  akuter 
intrareUaler  Drucksteigerung  oder  auch  durch  Druck  von 
seiten  des  in  die  Gewebe  ausgetretenen  Blutserums  be¬ 
dingt.  Dementsprechend  ist  die  Wirkung  der  Entkapselung 
durch  Beseitigung  dieses  auf  die  Kapillaren  wirkenden 
Außendruckes  herbeigeführt  oder  falls  es  sich  um  einen! 
Angiospasmus  handeln  sollte,  durch  Reizung  der  Vasodila¬ 
tatoren  oder  Lähmung  der  Vasokonstriktoren  verursacht. 

Jedenfalls  verdient  die  Operation  nach  den  bisherigen 
günstigen  Resultaten  sachlich  geprüft  zu  werden. 

Sitzenfrey2)  konnte  1910  5  Fälle  einseitiger  und 
53  Fälle  doppelseitiger  Nierendekapsulationen  bei  Eklam¬ 
psie  zusammenstellen.  Erstere  ergaben  80%,  letztere  35% 
Mortalität.  Mit  Rücksicht  auf  die  hohe  Mortalität  der  ein¬ 
seitigen  Dekapsulation  ist  dieselbe  abz  ul  ebnen.  Von  den 
53  doppelseitig  dekapsuli eiten  trat  in  18-87%  keine  Besse¬ 
rung  auf.  Diese  Fälle  endeten  alle  letal;  in  81-13%  trat 

')  Zeitschr.  für  gyn.  Urologie,  Bd.  2,  H.  2. 

s)  Beiträge  zur  klin .  Chirurgie,  Bd.  72. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


eine  Besserung  auf.  Die  Mortalität  von  35%  wäre  als  re¬ 
lativ  günstig  zu  bezeichnen,  wenn  wir  annehmen,  daß  nur 
schwere  Fälle,  wo  andere  Therapie  versagt  hat,  zur  Ope¬ 
ration  kamen  und  daß  die  Heilung  lediglich  auf  die  De- 
kapsulation  zurückzuführen  ist.  Zu  dieser  Annahme  sind 
wir  jedoch  nicht  berechtigt,  da  selbst  die  schwersten  Fälle 
von  Eklampsie  unerwartet,  ohne  Behandlung,  zur  Genesung 
kommen.  Dein  Einwand,  daß  leichte  Fälle  unter  den  De- 
kapsulierten  sich  befinden,  kann  entgegengehalten  werden, 
daß  auch  Fälle  in  die  Statistik  einbezogen  sind,  wo  die 
Indikation  zum  Eingriff  infolge  schwerer  Organverände¬ 
rung  nicht  mehr  gegeben  war.  Jedenfalls  kann  es  als  großer 
Erfolg  der  Decapsulation  bezeichnet  werden,  wenn  wir  im¬ 
stande  sind,  Falle  von  sicherer  Heilung  durch  die  Ope¬ 
ration  festzustellen. 

Um  für  die  Zukunft  ein  Urteil  in  der  Dekap- 
sulat ionsfrage  zu  erlangen,  müssen  wir  den 
Schwerpunkt  in  die  Indikationsstellung  verle¬ 
gen.  Dabei  müssen  wir  uns  vor  Augen  halten,  daß 
die  Dekapsulatiion  ein  symptomatisches  Heil¬ 
mittel  ist  und  nur  dann  angezeigt  ist,  wenn  die 
Harnsekretion  daniederliegt. 

Da  die  Erfahrungen  einer  Klinik  sich  nur  auf  wenige 
Fälle  beziehen  können,  müssen  zu  abschließender  Kritik 
ties  Verfahrens  die  Einzelmitteilungen  zusammengefaßt  wer¬ 
den.  Aus  diesem  Grunde  soll  die  Krankengeschichte  einer 
Eklarnptischen  aus  der  Knauerschen  Klinik  mitgeteilt 
werden,  bei  der  ich  Gelegenheit  batte,  die  Nierendekapsu- 
lation  auszuführen. 

L.  T.,  24jährige  Erstgeschwängerte. 

Anamnese:  Als  Kind  Rachitis,  Masern,  Scharlach.  Men¬ 
struation  im  19.  Lebensjahr  zum  erstenmal,  bis  zum  Eintritt 
der  jetzigen  Schwangerschaft  nur  fünfmal  aufgetreten,  acht  Tage 
dauernd,  unter  krampfartigen  Schmerzen  im  Unterleib,  Im  22.  Jahre 
Appendektomie  wegen  Wurmfortsätzentzündung,  im  Anschlüsse 
daran  eine  linkseitige  Pleuritis. 

Schwangerschaft:  Erste  Zeit  ohne  besondere  Störung. 
Im  siebenten  Monate  der  Schwangerschaft  wegen  Gonorrhoe 
und  Condylom  ata  ac  cum  in  at  a  in  Behandlung  der  hiesigen 
dermatologischen  Klinik.  Damals  wurde  auch  an  der  Frauen¬ 
klinik  ein  eingehender  Befund  erhoben,  der  gesunde  innere  Or¬ 
gane,  normalen  Harn  und  keine  Oedeme  aufwies.  Die  Frau  kam 
uns  erst  wieder  zu  Gesicht,  als  sie  am  Ende  der  Schwangerschaft 
von  einem  Gefangenhause  der  geburtshilflichen  Station  überstellt 
wurde. 

Befund:  Kleine,  unterernährte  Frau  mit  blasser,  pa¬ 
stöser  Gesichtshaut  und  hochgradigen  Oedemen  der 
unteren  Gliedmaßen.  Im  Harne,  der  in  normaler  Menge  entleert 
wurde,  6°/o0  Eiweiß,  hyaline  und  granulierte  Zylinder,  zahlreiche 
Leukozyten.  Körpertemperatur  normal.  Knochen  grazil.  Hoch¬ 
gradige,  linkskonvexe  Skoliose  der  oberen  Brustwirbelsäule 
mit  kompensatorischer  Verkrümmung  der  unteren  Brust-  und  der 
Lendenwirbelsäule.  Das  Kreuzbein  ist  schräg  von  links  oben  nach 
rechts  unten  gestellt.  Der  Brustkorb  ist  stark  deformiert,  die 
rechte  Hälfte  größer.  Es'  besteht  ein  rachitischer  Rosenkranz 
und  eine  Abknickung  des  Brustbeines  nach  außen.  Der  rechte 
Darmbeinkamm  steht  höher  als  der  linke.  Die  Schenkelknochen 
sind  gerade.  Das  Fußgewölbe  ist  eingesunken.  Becken:  Sp.  27, 
Cr.  29,  Tr.  81,  C.  e.  I8V2 ;  C.  d.  IU/2.  Schoßfuge  hoch,  Kreuz¬ 
bein  abgeflacht,  Lineae  transversae  und  Vorberg  stark  vor¬ 
springend.  Der  Bauch  war  durch  die  schwangere  Gebärmutter 
vorgewölbt,  deren  Grund  zwei  Querfinger  unter  dem  rechten 
Rippenbogen  stand.  Die  relativ  kleine  Frucht  befand  sich  in 
zweiter  labiler  Schädellage.  Zahlreiche  spitze  Kondylome  des 
Scheideneinganges,  der  Scheide  und  der  Portio.  Dieselben  waren 
so  stark  entwickelt,  daß  sie  das  enge  Sch'eidenrohr  fast  aus¬ 
füllten.  Der  Scheidenteil  halbfingergliedlang,  der  Muttermund 
grübchenförmig.  Im  eitrigen  Sekret  der  Harnröhre  und  der  Scheide 
Gonokokken. 

Wegen  des  Nierenleidens  wurde  sofort  mit  entsprechender 
Behandlung  eingesetzt,  salzarme  Kost,  feuchte  Packungen,  Bett¬ 
ruhe.  Daraufhin  nahmen  die  Oedeme  bald  ab.  Da  trat  am 
30.  August  1910.  sechs  Tage  nach  der  Aufnahme  in  die  Klinik, 
um  3  Uhr  früh  ein  ek  1  am  p  tische  r  Anfall  auf,  dem1  bald 
zwei  weitere  folgten.  Die  Untersuchung  ergab  einer- zweite 
Steißlage,  wobei  der  vorliegende  Kindesteil  über  dem  Becken- 
einjgang  noch  beweglich  war.  Keine  Wehen,  Portio  erhalten, 
Muttermund  geschlossen. 


Geburt:  Zur  Erweiterung  des  Halskanales  wurde 
ein  Laminariastift  eingeführt.  Bald  darauf  floß  Fruchtwasser  ab. 
Da  weiterhin  um  7  Uhr  und  <S  Uhr  35  Min.  Anfälle  folgten 
und  die  Frau  zwischen  den  Anfällen  nicht  mehr  zum  Bewußtsein 
kam,  wurde  b:  t  chlossen,  die  Geburt  zu  beschleunigen.  Wehen 
hatten  sich  bisher  noch  nicht  eingestellt.  In  tiefer  Narkose  wurde 
der  knapp  für  einen  Finger  durchgängige,  3  cm  lange  Halskanal 
mit  Metalldilatatoren  bis  Nr.  24  erweitert.  Die  Untersuchung  ergab 
cine  II.  vollkommen  gedoppelte  Steißlage  und  gesprun¬ 
gene  Blase.  Es  wurde  das  rechte  Bein  herabgeholt. 
An  dem  herabgeholten  Bein  wurde  dann  ein  dauernder  Zug 
(ein  Kilogewicht)  ausgeübt.  Um  Vall  Uhr  vormittags  wurde  der 
Steiß  in  der  Vulva  sichtbar,  worauf  sofort  die  Extraktion 
der  Frucht  vorgenommen  wurde.  Kind  lebend  2380  g  schwer. 
47  cm  lang,  frühreif.  Die  gelöste  Plazenta  wurde  exprimiert.  Die 
ziemlich  beträchtliche  Blutung  wurde  durch  Massage  und  intra¬ 
muskuläre  Injektion  von  Sekakornin  zum  Stillstand,  gebracht. 

Wochenbett:  Nach  der  Entbindung,  11  Uhr  45  Min. 
vormittags,  neuerlicher  Anfall  (6.),  durch  V  enenpunktion 
wurden  400  cm3  Blut  der  Armvene  entnommen.  Temperatur  86-8, 
Puls  120,  Blutdruck  140.  In  der  Zeit  von  2  Uhr  bis  5  Uhr 
15  Min.  nachmittags  traten  weitere  vier  Anfälle  auf  (zehn 
Anfälle).  Während  in  den  vier  Stunden  vor  der  Entbindung  die 
Harnmenge  30  cm3  betrug,  wurden  in  den  acht  Stunden  nach 
der  Entbindung  100  cm3  durch  dreimaligen  Katheterismus  (2  Uhr 
45  Min.  nachmittags:  70  cm3;  4  Uhr  15  Min.  nachmittags: 
28  cm3;  5  Uhr  30  Min.  nachmittags:  2  cm3)  entleert.  Es  war 
also  unmittelbar  nach  der  Entbindung  ein  Ansteigen  der  Harn 
menge,  bald  darauf  wieder  eine  bedeutende  Abnahme  festzustellen. 
Die  quantitative  Eiweißbestimmung  des  Harnes  ergab  vor  und 
nach  der  Entbindung  über  l°/o.  Im  Sedimente  fanden  sich  beidemal 
zahlreiche  Leukozyten,  vereinzelte  Erythrozyten,  Nieren-  und 
Blasenepithelien,  einzelne  hyaline  und  granulierte  Zylinder.  Der 
Zustand  der  seit,  morgens  bewußtlosen  Frau  verschlechterte  sich 
immer  mehr.  Um  6  Uhr ,  abends  trat  Kollaps  ein,  der  trotz 
mehrmaliger  Kampferölinjektionen  nicht  behoben  wurde.  Zya¬ 
nose,  Traehealrasseln,  Puls  klein,  140,  der  Blutdruck  war  auf  70 
gesunken. 

In  Anbetracht  der  versiegenden  Nierensekretion,  der  wieder¬ 
holten  Anfälle  (zehn)  nach  der  Entbindung  und  des'  hoffnungslosen 
Allgemeinzustandes  wurde  die  Nier  en  en t h ii  1  sung  beschlossen. 
Während  der  Vorbereitung  zum  Eingriff  trat  ein  neuerlicher 
A  11  fall  (der  elfte)  auf. 

6  Uhr  30  Min.  abends  Operation  (Dr.  Franz)  in  Billroth- 
narkose.  Schrägschnitt  in  der  linken  Regio  lumbalis,  zwei  Finger 
breit  unter  dem  Rippenbogen.  Nach  Durchtrennung  von  Faszie 
und  Muskeln  lag  die  Fettkapsel  der  Niere  vor.  Nachdem  letztere 
stumpf  abgelöst  war,  ließ  sich  bei  der  hochgradigem,  linkskon¬ 
vexen  Skoliose  der  Lendenwirbelsäule  die  Niere  leicht  vor  die 
Wunde  emporziehen.  Die  Niere  war  vergrößert  und  zeigte  durch- 
schimmemdo  Hämorrhagien  unter  der  Kapsel.  Dieselbe  wurde 
nach  Spaltung,  ohne  daß  dabei  ein  Vorquellen  der  Nierensubstanz 
wahngenommen  werden  konnte,  leicht  abgeschoben  und  nahe  dem 
iHilus  reseziert.  Nach  der  Enthülsung  quoll  die  Niere  etwas  auf, 
nahm  eine  dunkelblaurote  Farbe  an  und  fühlte  sich  mäßig  hart 
an.  Da  es1  an  der  Nierenoberfläche  leicht  blutete,  wurde  von  hier 
aus’  ein  Drainagestreifen  im  unteren  Wundwinkel  herausgeleitet. 
Vereinigung  der  durch  trennten  MuskeTschichten  mit  Katgut,  der 
Faszie  und  der  Haut  mit  Seidennähten.  Verband.  Da  der  elende 
Zustand  der  Frau  befürchten  ließ,  daß  ein  weiterer  Eingriff  nieh! 
mehr  vertragen  werde,  wollte  man  bereits  von  der  Dekapsulation 
der  zweiten  Niere  Abstand  nehmen.  Als  sich  jedoch  auf  Kampfer 
die  irreguläre,  schwache  Herztätigkeit  wieder  hob  und  die  A  timing 
kräftiger  und  gleichmäßig  wurde,  wurde  zur  Operation  auf  der 
rechten  Seite  geschritten.  Die  an  der  Konkavität  der  skolioti- 
iseheü  Lendenwirbelsäule  gelegene  rechte  Niere  wurde  wegen 
der  Gefahr,  die  Nierengefäße  ahzureißen,  nicht  vor  die  Wunde 
luxiert.  Es  wurde  deshalb  in  der  Tiefe  der  Wunde  die  Kapsel 
der  von  den  Bauohdeoken  aus  emporgedrängten  Niere  gespalten 
und  mit  dem  Finger  ringsum  abgelöst.  Schwellung  und  Hä¬ 
morrhagien.  dieser  Niere  waren  geringer,  sonst  war 
sie  wie  die  linke  beschaffen. 

Nach  der  Operation  erhielt  die  Frau  abermals  Kampfer.  Nach 
der  Dekapsulation  traten  noch  vier  Anfälle  auf,  11m 
9  Uhr  30  Min.,  10  Uhr  16  Min.  11  Uhr  14  Min.  vormittags: 
und  12  Uhr  50  Min.  nachmittags  (15.  Anfall,  10.  Anfall  nach  der 
Entbindung). 

Zwei  Stunden  nach  der  Operation  konnten  62  cm3  Harn 
mittels  Katheter  entleert  werden.  11  Uhr  abends  Temperatur 
381,  Puls  120,  voller. 


Nr.  IB 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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31.  August:  1  Uhr  früh  reagierte  die  Frau  das  erstemal 
auf  Anruf  und  brachte  einzelne  Worte  hervor.  3  Uhr  früh  nahm 
sie  Tee  zu  sich,  10  Uhr  vormittags  Temperatur  37°,  Puls  90  bis 
100,  Blutdruck  wieder  140.  Während  des  Tages  trat  auffallende 
Besserung  ein,  die  Frau  nahm  Nahrung  zu  sich.  Harnmenge 
580  cm3,  Esbach  2%o. 

1.  September:  Harnmenge  1700  cm3,  Harn  spontan. 
Eiweißgehalt  V2%o.  Reichliche  Nahrungsaufnahme;  Gehörs-  und 

Gesichtshalluzinationen. 

2.  September:  Harninenge  nicht  meßbar,  wegen  zeit¬ 
weiliger  Inkontinenz.  Eiweiß  in  Spuren.  Selbstanklagen,  Angst¬ 
zustände. 

3.  September:  1410  cm3  Harn  spontan.  Eiweiß  fehlt  im 
Harn ;  kein  Sediment.  Inkontinenz  behoben. 

5.  September:  Harnmenge  1650  cm3.  In  den  folgenden 
Tagen  schwankte  die  tägliche  Harnmenge  zwischen  1200  und 
<  2000  cm3.  Eiweiß  trat  nicht  mehr  auf.  Heilung  der  Wunde  ging 
vollkommen  glatt  und  reaktionslos  vor  sich.  Der  weitere  Wochen¬ 
bettverlauf  war  durch  eine  akute  Strumitis1,  deretwegen  die  Frau 
an  der  chirurgischen  Klinik  inzidiert  wurde  und  durch  eine  hart¬ 
näckige  Zystitis  kompliziert. 

Am  57.  Tage  nach  der  Entbindung  wurde  Patientin  voll¬ 
kommen  gesund  entlassen.  Eine  spätere  Nachuntersuchung  ergab 
Mutter  und  Kind  gesund. 

Der  günstige  Ausgang  dieser  schwer  e  1 1 
Eklampsie  darf  uns  nicht  dazu  verleiten,  den 
Heileffekt  unbedingt  der  Dekapsulation  zuzu¬ 
schreiben.  Bei  der  kritischen  Beurteilung  dieses  Ope¬ 
rationserfolges  können  wir  nur  das  subjektive  Empfinden 
in  die  Wagschale  werfen. 

Vor  Augen  halten  müssen  wir  uns  ste's,  daß  schwere 
Eklampsiefälle,  wo  die  Nierenfunktion  bereits  daniederliegt, 
wo  sich  Anfälle  auf  Anfälle  häufen  und  wo  das  Koma 
bereits  lange  besteht,  gelegentlich  noch  zur  Heilung  kommen. 

In  meinem  Falle  war  die  Besserung  nach  der  Dekap¬ 
sulation  eine  auffallende,  während  nach  der  beschleunigten 
Entbindung  der  Zustand  sich  nicht  besserte,  sondern 
schlechter  wurde.  Der  Kollaps  war  bereits  sehr  bedrohlich, 
das  Koma  bestand  bereits  seit  zwölf  Stunden,  die  Anfälle 
häuften  sich,  die  Nierenfunktion  lag  fast  völlig  danieder. 
Bald  nach  der  Dekapsulation  war  das  Bild  geändert:  |der 
Blutdruck  war  von  70  wieder  auf  140  angestiegen,  die  An¬ 
fälle  sistierten.  Das  Koma  wich  einem  somnolenten  Zu¬ 
stand,  in  welchem  jedoch  auf  Anruf  Antworten  erfolgten. 
Die  Harnmenge  stieg  gleich  auf  das  Vierfache,  der  Eiwei߬ 
gehalt  des  Harnes  fiel  um  das  Fünffache  in  den  folgenden 
Stunden. 

Der  klinische  Verlauf  erweckte  jedenfalls  den  Ein¬ 
druck,  daß  die  Frau  ohne  den  Eingriff  ihrer  Eklampsie 
erlegen  wäre.  Die  Zahl  der  eklamptischen  Anfälle  betrug 
vor  der  Dekapsulation  elf,  nach  derselben  vier. 

Die  Stellung  der  Indikation  zur  Dekapsulation  war 
in  meinem  Falle  relativ  leicht.  Trotz  Entbindung  und  an¬ 
deren  therapeutischen  Maßnahmen  bestanden  nicht  nur 
Koma,  Anfälle,  Oligurie,  Albuminurie  weiter,  sondern  es 
entwickelte  sich  schließlich  acht  Stunden  nach  der  Ent¬ 
bindung  ein  Kollapszustand,  so  daß  die  Frau  moribund 
schien. 

Nach  dem  günstigen  Ausgang  dieses  Eklampsiefalles 
würde  ich  in  einem  derartigen  Fälle  wiederum  die  E  d  e- 
bohlssche  Operation  ausführen. 

Die  Schwierigkeit  liegt  vorläufig  in  der  In¬ 
dikationsstellung  bezüglich  der  Wahl  des  Zeit¬ 
punktes  und  derVobbeding  ungen  zur  Ausführung 
des  Eingriffes.  Die  Deka p su lat i on  vor  d er  E n t bi n- 
dung,  in  der  Schwangerschaft,  oder  der  Geburt 
auszuführen,  ist  nicht  angezeigt,  da  die  Gift¬ 
quelle,  die  nach  unseren  heutigen  Ansch au u n g e u 
zur  Eklampsie  führt,  bis  ziur  Entleerung  der  Ge¬ 
bärmutter  wei  t  er  b  e  s  t  e  hi  t. 

Auch  unmittelbar  nach  der  Geburt  oder  Ent¬ 
bindung  ist  die  Opelration  verfrüht,  da  doch  erst 
der  Effekt  der  Uterusentleerung  ab  gewartet  wer¬ 
den  soll.  Wird  anderseits  bei  Fortdauer  der 
Eklampsie  nach  der  Entbindung  der  Eingriff  all¬ 


zulange  hinausgeschoben,  sio  isl  der  Erfolg 
zweifelhaft,  da  bereits  irreparable  O r g a n Ver¬ 
änderungen  vor h a n den  sei n  k ö n neu. 

Langdauernde,  wiederholte  Anfälle,  Koma, 
Herzalterationen,  Zyanose,  allein  können  noch 
keine  Anzeige  geben,  sondern  die  Dekapsulation 
soll  vorläufig  nur  in  jenen  Fällen  ausgeführt 
werden,  wo  neben  anderen  toxischen  Erschei¬ 
nungen  die  Nierenfunktion  danieder  liegt.  Puer¬ 
perale  Oligurie  oder  vorübergehende  Anurie  ohne  Anfälle 
oder  Koma  geben,  wie  Zangemeister,3)  nach  gewiesen 
hat,  im  allgemeinen  eine  günstige  Prognose. 

Wir  verlangen  daher  als  Indikation  für  den 
Eingriff: 

1.  Die  erfolgte  Entbindung. 

2.  Das  Fortbestehen  der  Oligurie,  bzw.  Anu¬ 
rie  oder  zunehmende  Albuminurie. 

3.  Das  Fortbestehen  der  Krämpfe  oder  des 
Komas. 


Aus  der  I.  mediz.  Klinik  in  Wien.  (Vorstand:  Professor 

Dr.  C.  v.  Noorden.) 

Eine  Schwefelreaktion  im  Harne  Krebs¬ 
kranker.*) 

Von  Hugo  Salomon  und  Faul  Saxl. 

Wir  nahmen  vor  fünf  Vierteljahren  Gelegenheit,  über 
die  Vermehrung  der  Oxyproteinsäuren  im  Harne  Krebs¬ 
kranker  zu  berichten.1)  An  einem  größeren  Krankenmaterial 
142  Fällen  — -  ließ  sich  zeigen,  daß  die  Relation  der 
Oxyproteinsäurenstickstoffe  im  Harne  zum  Gesamtstickstoff 
beim  Krebskranken  höhere  Werte  zeigte,  als  beim  Nor¬ 
malen. 

Wir  haben  seit  dieser  Mitteilung  bei  einer  großen 
Zahl  von  Kranken  zu  diagnostischen  Zwecken  Oxyprotein- 
säurebestimmungen  gemacht;  auch  K.  Kondo  (Japan2)  hat 
auf  unserer  Klinik  dieses  Verfahren  auf  seine  diagnostische 
Brauchbarkeit  geprüft,  so  daß  wir  alle  Fälle  zusammen¬ 
gerechnet,  über  etwa  500  untersuchte  Fälle  verfügen. 

Die  Hoffnungen,  die  wir  an  den  diagnostischen  Wert 
der  Oxyproteinsäurebestimmung  im  Harne  gestellt  hatten, 
haben  sich  im  großen  und  ganzen  erfüllt.  Es  ergaben  etwa 
70%  der  Karzinomfälle  hohe  Oxyproteinsäurewerte,  von 
Nichtkarzinomatösem  ergaben  einige  Fälle,  wie:  Schwere 
Leberizrrhosen,  Leberabszesse,  Milztumoren  fraglicher  Pro¬ 
venienz  usw.,  immerhin  vereinzelte  Fehldiagnosen.  Fast  alle 
Graviden  verhielten  sich  wie  die  Karzinome. 

Eine  Bestätigung  unserer  Befunde  sehen  wir  ferner 
in  den  mit  der  Formolti [ration  nach  Sörensen  angestellten 
Polypeptidbestimmungen  im  Harne,  wo  wir  (Falk,  Salo¬ 
mon  und  Saxl3)  gleichfalls  eine  Vermehrung  der  peptid- 
gebundenen  Stickstoffe  im  Harne  Krebskranker  fanden,  zu¬ 
weilen  aber  auch  bei  schweren  Leberzirrhosen;  Falk  und 
Hesky4)  fanden  eine  Vermehrung  der  Polypeptide  im 
Harne  Gravider. 

E.  Salkowsky5 6)  empfahl,  an  seine  alten  Befunde 
über  den  kolloidalen  Harnstickstoff  anknüpfend,  leicht  aus¬ 
zuführende  Metallsalzfällungen  im  Harne,  die  in  ihrer  Me¬ 
thodik  und  den  Zahlen,'  die  sie  ergeben,  mit  unseren  Oxy- 


3)  Zeitschr.  für  gyn.  Urologie,  Bd.  2,  H.  2. 

*)  Im  Auszug  vorgetragen  in  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in 
Wien  am  17.  März  1911. 

’)  Hugo  Salomon  und  Paul  Saxl,  Ein  Harnbefund  bei  Krebs¬ 
kranken.  Vortrag  in  der  k.  k.  Gesellschaft  dpr  Aerzte  in  Wien,  De¬ 
zember  1909  und  Beiträge  zur  Krebsforschung.  Herausgegeben  von 
H.  Salomon,  1910,  II.  2. 

3)  In  einer  im  Druck  befindlichen  Arbeit. 

3)  F.  Falk.  H.  Salomon  und  P.  Saxl,  Ueber  vermehrte 
Polypeptidausscheidung  bei  Krebskranken.  Med.  Klinik  1910,  11.  13. 

4)  F.  Falk  und  O.  Hesky.  Ueber  Ammoniak-,  Aminosäuren 
und  Peptidstickstoff  im  Harn  Gravider.  Zeitschr.  für  klin.  Medizin  1910, 

Bd.  71. 

6)  Emil  S  a  1  k  o  vv  k  y,  Ueber  die  Verwertung  des  Harnbelumles 
zur  Karzinomdiagnose.  Berliner  klin.  Wochensehr.  1910,  S.  533, 1746,  2297. 


450 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


proteinsäurebestimmungen  in  gewisser  Hinsicht  korrespon¬ 
dieren.  Das  Verfahren  Salkowskys  verdient  Anerkennung 
durch  die  relativ  große  Einfachheit  seiner  Ausführung.  Wir 
haben  einige  Fälle  mit  diesem  Verfahren  untersucht  — 
und  soweit  man  dies  nach  so  wenigen  Fällen  beurteilen 
kann  —  gute  Resultate  damit  erhalten.  —  Wenn  auch  der 
Neutralschwefel  des  Harns  nicht  völlig  identisch  ist  mit 
dem  Oxyproteinsäurescliwefel,  so  können  wir  eine  indirekte 
Bestätigung  unserer  Oxyproteinsäurebefunde  bei  Krebs¬ 
kranken  in  der  Arbeit  von  M.  W eiß* 6)  sehen,  der  im  Harne 
Krebskranker  die  relativ  höchsten  Werte  für  den  Neutral¬ 
schwefel  fand. 

•* 

Wir  waren  nun  weiterhin  bemüht,  den  erhobenen  Be¬ 
fund  der  vermehrten  Oxyproteinsäuren  heim  Krebskranken 
nach  zwei  Richtungen  auszubauen:  ihn  spezifischer  zu  ge¬ 
stalten  und  seinen  Nachweis  zu  vereinfachen. 

Ermutigt  wurden  wir  dazu  durch  die  allgemein  herr¬ 
schende  Anschauung,  daß  die  „Oxyproteinsäurefraktion“  des 
Harnes  ein  buntes  Gemisch  von  polypeptidartigen  Körpern 
mannigfaltiger  Art  ist,  von  mangelhaft  oxydierten  Eiwei߬ 
derivaten,  die  eine  Fundgrube  für  .alle  möglichen  Substanzen 
abgeben  dürften. 

Wir  bemühten  uns  zunächst  vergeblich  um  die  stick¬ 
stoffhaltigen  Gruppen  der  Oxyproteinsäuren.  Alle  möglichen 
Eiweißderivatreaktionen  wurden  angestellt,  ohne  in  der 
Oxyproteinsäuregruppe  der  Krebskranken  andere  Reaktio¬ 
nen  zu  finden  als  beim  Normalen. 

Endlich  wandten  wir  uns  dem  Schwefelbestandteil  der 
Oxyproteinsäure  zu.  Hatte  Weiß7)  eine  quantitative  Ver¬ 
mehrung  gezeigt,  so  dachten  wir  daran,  daß  eine  geänderte 
Bindungsform  beim  Krebskranken  vorliegen  könne. 

Es  fiel  uns  auf,  daß  im  (eiweißfreien)  Harne  Krebs¬ 
kranker  reichlich  bleischwärzender  Schwefel  vorkomme ;  wir 
dachten  daher  an  Zystin-  und  Zysteinschwefel,  ohne  jedoch 
diese  Substanzen  zu  finden.  Auch  war  dieser  Befund  nicht 
ganz  spezifisch.  Auch  andere  Krankheitsgruppen  lieferten 
zuweilen  bleischwärzenden  Schwefel.  Sodann  suchten  wir 
Taurin-  und  Taurocholsäure  im  Harne,  ohne  sie  jedoch  hei 
Krebskranken  aufzufinden. 

Hingegen  führte  ein  anderer  Gedankengang  zum  Ziele. 
Die  Oxyproteinsäuren  sind  mangelhaft  oxydierte  Körper; 
ebenso  ist  ihr  Schwefel  —  der  Neutralschwefel  des  Harnes 
—  unoxydierter  Schwefel;  es  ist  bekannt,  daß  man  den 
Neutralschwefel  des  Harnes  durch  mächtige  Oxydation  in 
Schwefelsäure  überführen  kann.  Wir  dachten  daher  an  die 
Möglichkeit,  daß  vielleicht  hei  Krebskrajnken,  in  deren  Harn 
sich  eine  so  beträchtliche  Menge  schlecht  oxydierter  Sub¬ 
stanzen  befindet,  durch  gelinde  Oxydation  ein  Teil  des 
Schwefels  heraus  oxydiert  werden  könnte. 

Diese  unsere  Vermutung  bestätigte  sich.  Es  läßt  sich 
beim  Krebskranken  ein  Teil  des  Neutralschwefels1  mit  H202 
in  geringer  Konzentration  (3:200)  zu  Schwefelsäure  oxy¬ 
dieren  und  als  solche  nachweisen.  Diesen  Nachweis  be¬ 
nützten  wir  zur  Anstellung  einer  einfachen  Reaktion,  die 
uns  für  Karzinome  spezifisch  zu  sein  scheint. 

Die  Ausführung  der  Reaktion  ist  folgende: 

150  cm3  Harn  werden!  mit  100  cm3  destillierten  Wassers 
verdünnt  (eiweißhaltiger  Harn  muß  aufgekocht,  mit  wenigen 
I  ropfen  Essigsäure  versetzt  und  sorgfältig  filtriert  werden) ;  sodann 
werden  150  cm3  der  Barytmischung,  wie  sie  Salkowsky  zur 
Entfernung  der  Sulfate  vorschreibt,  zugesetzt;  diese  Barytmischung 
besteht  aus  einer  bei  Zimmertemperatur  gesättigten  Lösung  von 
B aryumhy dr oxy d ,  von  der  zwei  Teile,  und  einer  bei  Zimmer¬ 
temperatur  gesättigten  Lösung  von  Baryumehlorid,  von  der  ein 
Teil  für  die  Mischung  verwendet  wird.8)  Dann  filtriert  man  klar 
und  überzeugt  sich  durch  neuerlichen  Zusatz  einiger  Tropfen  der 

8)  Moriz  Weiß,  lieber  den  Neutralschwefel  des  Harnes  etc. 

Biochem.  Zeitschr.  1910,  Bd.  27. 

7)  1.  c. 

8)  Wir  verwendeten  die  Baryumsalze  stets  »chemisch  rein  Kahl¬ 

baum«.  Die  Salze  und  ihre  Lösungen  sind  stets  gut  verschlossen  zu 
halten,  um  sie  vor  Verwitterung  zu  schützen.  Die  Lösungen  sollen 
gesättigt  und  klar  filtriert  werden. 


Mischung,  ob  vollständig  gefällt  wurde.  Sodann  werden  zur  Ent¬ 
fernung  der  Aetherschwef eisäuren  (nach  Salkowsky)  300  cm3 
Filtrat  verwendet,  denen  30  cm3  Salzsäure  vom  spezifischen  Ge¬ 
wichte  1-12  zugesetzt  werden  und  in  einen  500-Erlcnmeyerkolben 
gebracht,  der  mit  einem  kleinen  Trichter  bedeckt  wird  und  eine 
Stunde  auf  dem  Asbestnetz  bei  kleiner  Flamme  im  Kochen  er¬ 
halten,9)  nach  dem  Kochen  wird  der  Kolben  mit  einem  Becher¬ 
glas  bedeckt  auf  das  Wasserbad  gestellt  und  solange  dort  belassen 
bis  die  über  dem  Niederschlag  stehende  Flüssigkeit  sich  klar  (deut¬ 
lich  lichtdurchlässig)  abgesetzt  hat  (4  bis  24  Stunden);  nun  filtriert 
man  durch  ein  doppelt  gelegtes,  trockenes  Barytfilter  (vermeide 
größere  Trichter!)  zweimal  durch,  wasche  den  Erlenmeyerkolben 
griindlichst  mit  Lauge,  Wasser  und  destilliertem  Wasser  aus,  koche 
nochmals  im  Kolben  kurz  auf,  indem  man  Avieder  den  Trichter 
aufsetzt  und  filtriere  dann  abermals  durch  ein  doppeltgelegtes  | 
Barytfilter.  (Bleibt  jetzt  noch  ein  Rückstand  auf  dem  Filter,! 
so  stelle  man  den  Kolben  nochmals  auf  das  Wasserbad.) 
Hierauf  versetzt  man  200  cm3  des  Filtrates  mit  3  enr 
Perhydrol  Merk  und  kocht  eine  Viertelstunde  lang  wieder  mit 
aufgesetztem  Trichter  in  demselben  Erlenmeyerkolben.  Nach  dem ; 
Kochen  gießt  man  die  Flüssigkeit  in  ein  Spitzglas  und  sieht 
nun  innerhalb  einer  halben  bis  vier  Stunden  einen  deutlichen  i 
sich  zu  Boden  setzenden  Niederschlag  auftreten,  der  in  erheb-! 
lieber  Menge  nur  beim  Karzinom,  in  Spuren  auch  beim  Nor¬ 
malen  vorkommt;  in  der  Regel  fällt  jedoch  beim  Normalen 
innerhalb  vier  Stunden  überhaupt  nichts  aus;  erst  viel  später | 
zeigen  sich  minimale  Niederschläge,  die  aber  vielleicht  nur  späi- 
liche  Reste  von  Raryumsulfat  sind,  das  noch  aus  den  Aether- 
schwe felsäuren  stammt.  • —  Der  in  der  Regel  reichliche,  zuweilen) 
spärliche  Niederschlag  heim  Krebskranken  enveist  sich  als  durch 
Farbstoffe  verunreinigtes  Baryumsulfat ;  die  Farbstoffe  lassen  sich 
mit  Alkohol -Aether  entfernen.  Es  handelt  sich  Avohl  um  ein 
aus  einem  Teile  des  Neutralschwefels  durch  Oxydation  gewon¬ 
nenes  Sulfat.  — -  Die  Substanz,  welche  diesen  Neutralschwefel  I 
trägt,  findet  sich  in  dem  Barytsyrup  der  Oxyproteinsäuren,  in 
dem  sie  hei  Krebskranken  nachweisbar  ist. 

Der  Ausfall  der  Reaktion  ist.  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  unabhängig  von  der  Nahrungsaufnahme  des,  Patienten 
und  von  der  Konzentration  des  Harnes;  insofern,  als  auch 
der  konzentrierte  normale  Harn  die  Reaktion  nicht  gibt; 
Avohl  aber  gibt  der  konzentrierte  und  stickstoffreiche  Harn 
beim  Krebskranken  eine  reichlichere  Ausbeute  als  der  di- 
luierte  Harn,  AATie  ihn  manche  Krebskranke  absondern. 

Von  Substanzen,  die  die  Reaktion  hindern  oder  Vor¬ 
täuschen  können,  haben  wir  bis  jetzt  nur  das  Antipyrin 
kennen  gelernt,  das  die  Reaktion  stört;  es  kommt  bei  der 
Oxydation  mit  Perhydrol  zu  einer  diffusen  Trübung,  harzige 
Massen,  oft  schwarzbraun  gefärbt,  fallen  aus  und  können 
mit  unserem  Niederschlag  manchmal  verwechselt  werden. 
Die  Taurocholsäure  (Ikterus)  beeinflußt  die  Reaktion  nicht. 

\\  ir  haben  im  ganzen  81  Karzinome  untersucht,  von 
denen  61  eine  deutliche  Reaktion  gaben,  10  eine  schwach 
positive,  10  fielen  negativ  aus. 

Deutlich  positiv  waren :  26  Fälle  von  Magenkarzinom,  dar¬ 
unter  drei  sehr  kleine;  1  Fall  von  Zungenkarzinom,  das  sehr 
klein  Avar;  6  Fälle  von  Carcinoma  recti,  davon  zwei  recht 
kleine  Karzinome;  2  Fälle  von  Carcinoma  intestini;  16  Fälle 
von  Karzinom  der  Leberwege;  3  Fälle  von  Carcinoma  oeso-  I 
phagi;  5  Fälle  von  Carcinoma  uteri,  darunter  zwei  sehr  klein; 

1  Fall  von  Carcinoma  ovarii ;  1  Nebennierentumor. 

Schwach  positiv  waren':  4  Fälle  von  Magenkarzinom, 

3  Fälle  von  Oesophaguskarzinom,  2  Fälle  von  Uteruskarzinom, 

1  Fall  von  Rektumkarzinom. 

Negativ  waren:  4  Oesophaguskarzinome,  4  Uteruskar¬ 
zinome,  1  Fall  von  Knochenmetastasen  post  Operationen!  bei 
einem  Mammakarzinom!,  1  Fall  von  Drüsenmetastasen  post  Opera¬ 
tionen!  hei  einem  Carcinoma  ovarii. 

Unter  den  79  Kon  trollfällen  von  Nichtkrebskranken  befanden 
sich  3  Gesunde,  4  Leberzirrhosen,  10  chronische  Phthisen  und 
1  akute  Phthise,  1  Leukämie,  1  Pseudoleukämie,  6  Nephritiden, 
10  Vitien,  3  G elenksrheum atismeny;  1  Sepsis,  1  Typhus,  2  Pneu¬ 
monien,  13  (schwere  Enteritiden,  6  gutartige  Pylorusstenosen, 

8  Neurosen,  2  Basedow,  2  multiple  Sklerosen,  1  Hirntumor. 

-  .  .  ;  i  ?T':  .  TTT"  * 

9)  Es  muß  sorgfältigTdarauf  geachteßfwerden,'  daß1  die’F  Salzsäure- 
konzentration 'während  des  Kochens  hier  Tundl  im"'  Folgenden1  nicht  ge¬ 
ändert  Avird.  Daher  muß  der  Erlenmeyerkolben  Avährend  'des  Kochens 
und  auch  auf  dem  Wasserbade  stets  so,  Avie"  oben  ausgeführt1  ist,  be¬ 
handelt  werden. 


Nr.  13 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


1  Fibroin,  2  Osteosarkome),  1  Myom',  3  Cholelithiasis,  2  Icterus 
catarrhalis,  4  Anämien,  1  Ulcus  ventriculi. 

4  Gravide  waren  negativ. 

3  Fälle  blieben  klinisch  unaufgeklärt.  Sie  gaben  ein  posi¬ 
tives  Resultat.  Die  Diagnose,  ob  Karzinom  oder  kein  Kar¬ 
zinom,  blieb  offen.  Im  letzteren  Falle  wäre  die  Diagnose  der 
drei  Fälle:  Myoma  uteri,  Pseudoleukämie,  Anaemia  gravis. 

Demnach  besitzen  wir  anscheinend  in  dieser  Schwefel - 
reaktion  eine  handliche  Probe,  deren  positiver  Ausfall  für 
die  Diagnose  Krebs  sehr  zu  sprechen  scheint.  Manche  Fälle 
von  Krebs,  die  negativ  ausfielen,  erklären  sich  vielleicht 
aus  der  geringen  Nahrungsaufnahme  der  Patienten;  eine 
Nutrosezulage  zur  Nahrung  haben  wir  erst  in  letzter  Zeit 
eingeführt  und  scheinen  damit  negative  Karzinomfälle  zum 
Teil  korrigieren  zu  können. 

Wenig  kachektische  Individuen,  mit  kleinen  Karzino¬ 
men,  gaben  häufig  deutliche  Reaktion,  so  daß  wir  die  Hoff¬ 
nung  haben,  mit  dieser  Probe  die  Frühdiagnose  Krebs,  wenn 
auch  nicht  immer,  so  doch  in  einzelnen  Fällen  stellen  zu 
können.  Jedenfalls  ist  die  Reaktion  unabhängig  von  der 
Kachexie  und  in  gewissem  Sinne  auch  von  der  Größe  und 
dem  Sitze  des  Tumors.  Daß  sie  mit  dem  Tumor  in  direktem 
Zusammenhänge  steht,  dafür  spricht  das  Verschwinden  der 
Reaktion  nach  der  Operation,  das  wir  bereits  einige  Male 
beobachten  konnten. 


Aus  dem  propädeutisch-pathologischen  Institute  und 
der  chirurgischen  Klinik  der  k.  Universität  Turin. 

(Vorstand:  Prof.  Daniele  Bajardi) 

Untersuchungen  über  die  Physiologie  des 
Magens  beim  Menschen.*) 

Von  Dr.  Candido  Mantelli,  Assistent. 

Die  Physiologie  des  Magens,  wie  übrigens  fast  die 
ganze  Physiologie,  ist  in  der  Hauptsache  an  Tieren  studiert 
worden.  An  dem  Menschen  hat  man  wohl  wenig  beobachtet. 
Nur  Richet,  Hornborg,  Cade  und  Latarjet,  Bickel, 
Bogen,  Sommerfeld,  Umber,  haben  Berichte  über 
diesen  Gegenstand  veröffentlicht. 

Der  Mann,  welcher  als  Objekt  für  die  vorliegende 
Studie  diente,  war  sonst  vollständig  normal,  was  durch 
fleißige,  wiederholte  Untersuchungen  bestätigt  wurde.  Er 
litt  an  einer  gewöhnlichen  Stenose  der  Speiseröhre  und 
wurde  deswegen  der  Gastrostomie  unterworfen.  Durch  die 
Magenfistel  machte  man  eine  rückgängige  Erweiterung,  die 
bald  gute  Erfolge  brachte.  Nach  etwa  zehn  Tagen  konnte 
man  schon  eine  Sonde  von  einem  Durchmesser  von  6  mm 
einführen.  Wurde  diese  durch  einen  Katheter  ersetzt,  so 
kam  der  Speichel  und  jede  geschluckte  Flüssigkeit  aus  dem¬ 
selben  heraus,  ohne  durch  den  Magen  zu  gehen.  Auf  diese 
Weise  erzielte  man  eine  strenge  Trennung  der  Mundhöhle 
von  dem  Magen  und  es  war  dann  möglich,  einige  Beobach¬ 
langen  über  die  Magensekretion  anzustellen. 

Bei  den  Versuchen  wurde  eine  gewissenhafte  Technik 
angewendet,  wesentlich  darauf  gerichtet,  die  mechanischen 
Einflüsse,  welche  von  sehr  erheblicher  Wirkung  hätten  sein 
können,  auszuschalten.  Die  Untersuchungen  wurden  ami 
nüchternen  Magen  oder  überhaupt  sieben  bis  acht  Stunden 
nach  dem  Essen  vorgenommen.  Man  bestimmte  die  Gesamt¬ 
azidität  des  gesammelten  Saftes  nach  der  titrimetrischen 
Methode  und  die  Menge  des  Pepsins  nach  der  Methode 
von  Volhard. 

Es  wurden  19  Scheinfütte  rungs  versuche  auf  verschie¬ 
dene  Art  gemacht.  Aus  denselben  geht  hervor,  daß  sich  der 
Magen  bei  Nüchternheit,  oder  sieben  bis  acht  Stunden  nach 
dem  Essen,  in  einem  Ruhezustand  befindet,  daß  seine 
Drüsen  keinen  Magensaft  geben.  Die  Scheinfütterung  gibt 
eine  bedeutende  Saftsekretion;  dieselbe  beginnt  nach  einer 
fünf  bis  sechs  Minuten  dauernden  Latenzperiode. 


*)  Der  k.  medizinischen  Akademie  in  Turin  in  der  Sitzung  \om 

2.  Dezember  1910  mitgeteilt. 


Von  den  untersuchten  eingeführten  Substanzen  ver¬ 
anlassen  diejenigen,  die  am  meisten  schmecken,  größere, 
in  hohem  Grade  verdauungsbeförd.ernde  Saftsekretion. 

Die  Sekretion  ist  am  höchsten  in  der  ersten  Stunde, 
in  der  zweiten  nimmt  sie  ab,  noch  mehr  in  der  dritten 
und  nachher  hört  sie  auf.  Durch  eine  Reihenfolge  von. 
Versuchen  wurde  bewiesen,  daß  der  chemische  oder  me¬ 
chanische  Reiz  der  Mundschleimhaut  und  der  Speiseröhre 
allein,  wenn  er  von  der  Idee  der  Speise  getrennt  ist,  keine 
Magensaftsekretion  hervorbringt.  Es  folgten  dann  15  an¬ 
dere  Versuche,  aus  welchen  hervorgeht,  daß  man,  infolge 
eines  rein  physischen  Reizes,  eine  sehr  reiche  Magensaft- 
Sekretion  erhalten  kann;  die  psychische  Vorstellung  von 
Speisen  wurde  einfach  durch  Worte  und  durch  Gesichts-, 
Geruchs-  und  Geschmacksempfindungen  angeregt. 

Die  Sekretion  auf  psychische  Eindrücke  erscheint 
damit  sichergestellt  und  aufgeklärt:  am  Menschen  ist  dieses 
Verhalten  viel  deutlicher  ersichtlich  als  es  an  Tieren  mög¬ 
lich  ist. 

Hierauf  wurde  die  direkte  Wirkung  der  Nahrung  auf 
die  Schleimhaut  des  Magens  mit  Ausschluß  anderer  Fak¬ 
toren  studiert.  An  Tieren  machte  man  solche  Untersuchun¬ 
gen  mittels  des  kleinen  isolierten  Magens  nach  Päw- 
low;  an  dem  untersuchten  Patienten  war  es  nötig,  anders 
zu  verfahren.  Die  Speisen  wurden  in  den  Magen  einge¬ 
führt  und  dann  wurde-  die  in  der  Zeiteinheit  verdaute  Quan¬ 
tität  abgemessen.  Jedesmal  führte  man  100  g  mageren 
Fleisches  (Kalbsschenkel)  ein,  zerschnitten  in  kleine,  auf 
einen  starken  Seidenfaden  gereihte  Würfel.  Nach  einer  ge¬ 
wissen  Zeit  wurde  das  Fleisch  heraus  genommen  und  durch 
Abwiegen  die  Quantität  ermittelt,  welche  in  der  bestimmten 
Periode  verdaut  worden  war. 

Um  den  ganzen  Verlauf  der  Magenverdauung  zu  stu¬ 
dieren,  wurden  drei  Gruppen  von  Versuchen  gemacht: 

1 .  Einführung  von  rohem  Fleische  in  den  Magen  ohne 
Wissen  des  Patienten. 

2.  Idem  und  Scheinfütterung. 

3.  Idem  und  normales  Essen  (Mahlzeit). 

Aus  der  ersten  Serie  entnimmt  man  die  durch  rein 
lokale  Wirkung  der  Nahrung  Stunde  für  Stunde  bedingten 
Verdauungswerte,  aus  der  zweiten  Serie  entnimmt  man 
die  durch  lokale  Wirkung  der  Nahrung  und  dazu  durch 
physischen  Reiz  bedingten  Verdauungswerte. 

Aus  der  dritten  Serie  entnimmt  man  die  Werte  für 
normale  Verdauung.  Durch  geeignete  Rechnung  kann  man 
deutlich  für  jede  Stunde  den  durch  psychischen  Einfluß 
und  den  durch  lokale  Wirkung  bedingten  Verdauungswert 
ermitteln. 

Hier  sind  die  erhaltenen  Durchschnittszahlen. 


Stunden 

Verdauung 
bei  reiner 
lokaler  Wir¬ 
kung  auf  die 
Magen¬ 
schleimhaut 

Verdauung 
bei  reinem 
psychischen 
Reize 

Verdauung 

bei  lokalem  Verdauung 
und  bei  bei  normalen 
physischem  Essen 

Reize 

1 

350 

u-50  n) 
15-50  |) 

15 

16 

2 

4-50 

35  36 

5 

53 

2  )' 

90 

100 

Daraus  ergeben  sich  folgende  Schlüsse: 

1.  Durch  lokale  Reize  der  Nahrung  auf  die  Magen¬ 
schleimhaut  kann  Magensaftsekretion  hervorgerufen  werden. 

2.  Eine  solche  Sekretion  beginnt  gewöhnlich  in  der 

zweiten  halben  Stunde  der  Anwesenheit  des  Fleisches  im 
Magen.  ^ 

3.  Dieselbe  nimmt  allmählich  zu  und  erreicht  sehr 
hohe  Werte  in  der  dritten,  vierten  und  fünften  Stunde. 

4.  Durch  physische  Reize  kann  Magensaftsekretion  aus- 
gelöst,  werden,  die  wenige  Minuten  nach  Beginn  der  Reizung 
eintritt.  (Durchschnittlich  nach  fünf  Minuten.) 

5.  Dieselbe  ist  sehr  bedeutend  in  der  ersten  Stunde 
und  teilweise  noch  in  der  zweiten. 


•452 


WIENER  KLIN  I&  CHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


6.  In  den  folgenden  Stunden  nimmt  sie  schnell  ab 
und  verschwindet. 

7.  Wenn  man  also-  rohes  Fleisch  in  den  Magen  einführt 
und  nachher  eine  Scheinfütterung  veranstaltet,  so  wird  die 
Verdauung  in  der  ersten  Stunde  größtenteils  durch  Saft 
von  psychischem  Ursprung,  die  Fortsetzung  durch  den  von 
lokalen  Reizen  ausgelösten  Saft  bewerkstelligt. 

8.  In  den  späteren  Stunden  ist  hingegen  die  Quantität 
des  abgesonderten  psychogenen  Saftes  ganz  unbedeutend, 
während  die  Quantität  des  durch  lokale  Nahrungswirkung 
ausgelösten  Saftes  hohe  Werte  erreicht;  in  dieser  Periode 
entspricht  das  Verdauungsvermögen  der  Summe  der  Wir¬ 
kung  der  beiden  Saftportionen.  Man  muß  aber  beachten, 
daß  ein  Teil  des  Saftes  mit  dem  Chymus  vom  Magen  in 
das  Duodenum  Übertritt. 

9.  Wir  haben  gesehen,  daß  die  Werte  des  Verdau¬ 
ungsvermögens  bei  normalem  Essen,  mit  genügender  An¬ 
näherung  denen  entsprechen,  die  durch  Addition  des  Ef¬ 
fektes  des  psychischen  Faktors  und  des  Effektes  der  lo¬ 
kalen  Reizung  gewonnen  werden. 

(Bei  normalem  Essen  haben  wir  etwas  höhere  Werte 
gefunden,  offenbar,  weil  hier  der  ganze  Verdauungsverlauf 
vollkommen  natürlich  ist  und  nicht  auf  künstliche  AVeise 
zweigeteilt  wird,  wie  es  bei  isolierter  Wirkung  des  psy¬ 
chischen  Faktors  und  des  lokalen  Reizes  geschieht.) 

10.  Wir  sind  also  berechtigt,  zu  schließen,  daß  bei 
normaler  Magenverdauung  der  erste  Antrieb  zur  Saftsekre¬ 
tion  und  der  Saft  der  ersten  und  zweiten  Stunde  größten¬ 
teils  auf  Rechnung  des  psychischen  Reizes  zu  setzen  ist. 
Dagegen  stammt  die  Sekretion  in  den  folgenden  Stunden 
von  der  lokalen  Wirkung  auf  die  Magenschleimhaut.  Es 
ist  dies  übrigens  ganz  natürlich,  da  die  Scheinfütterung 
offenbar  nur  den  getrennten  und  isolierten  Anfang  des  nor¬ 
malen  Essens  darstellt,  während  die  Verdauung  der  in  den 
Magen  direkt  eingeführten  Speisen,  ohne  psychischen  Reiz, 
dessen  Folge  und  Ende  bildet. 

Zu  ganz  analogen  Schlüssen  ist  bekanntlich  Pawlow 
an  Hunden  gelangt. 

Es  handelte  sich  dann  darum,  zu  ermitteln,  welcher 
Natur  das  Reizmittel  sei,  welches  auf  die  Magenschleim¬ 
haut  örtlich  wirkt.  In  einer  Reihenfolge  von  \rersuchen 
wurde  auf  verschiedene  Art  die  Unwirksamkeit  mechani¬ 
scher  Reize  bewiesen.  Es  handelt  sich  offenbar  um  eine 
chemische  Wirkung.  Demgemäß  ergab  sich  folgende  Frage : 
Wirken  die  chemischen  Substanzen,  welche  die  Sekretion 
hervorrufen,  auf  die  peripheren  Endigungen  der  zentripe¬ 
talen  Nerven  des  Magens,  oder  gelangen  sie  in  das  krei¬ 
sende  Blut  und  reizen  auf  diese  Weise  die  Zentren  der 
Absonderungsnerven  oder  die  Magendrüsen  selbst?  Eine 
bezügliche  Entscheidung  konnte  bisher  noch  nicht  erzielt 
werden. 

* 

Die  gefundene  Azidität  wäre  viel  höher,  als  sie 
im  allgemeinen  angegeben  wird:  ungefähr  3%o,  statt  1-8 
bis  2°/oo. 

* 

Es  wurde  endlich  der  Einfluß  der  physischen  und 
der  psychischen  Arbeit  auf  den  Verlauf  der  Magensekretion 
geprüft,  was  bisher  anscheinend  noch  nicht  geprüft  wurde. 
Es  ergab  sich  folgendes: 

! .  I  mnittelbar  nach  einer  bedeutenden  Muskelanstren¬ 
gung  ist  die  Magensekreiion  psychischen  Ursprungs  erheb¬ 
lich  herabgesetzt.  Während  dieser  Periode  ist  die  durch 
örtliche  Wirkung  der  Nahrung  auf  die  Magenschleimhaut 
auslösbare  Saftsekretion  minimal  oder  null. 

2.  A\  enn  nach  einer  großen  Muskelanstrengung  eine 
Ruheperiode  von  ungefähr  einer  Stunde  eingeschoben  wird, 
zeigt  die  Sekretion  psychischen  Ursprungs  einen  Wert,  der 
ungefähr  ein  Drittel  des  normalen  ist. 

3.  Die  andere  durch  lokale  AVirkung  der  Nahrung  auf 
die  Magenschleimhaut  ausgelöste  Saftsekretion  beträgt  un¬ 
gefähr  die  Hälfte  der  normalen. 


4.  Wenn  nach  einer  großen  Muskelanstrengung  eine 
zweistündige  Ruhepause  eingeschoben  wird,  zeigt  die  Se¬ 
kretion  psychischen  Ursprungs  ungefähr  die  Hälfte  des  Nor- 
mal wertes,  ln  dieser  Zeit  ist  die  durch  rein  lokale  AVirkung 
auslösbare  Saftreaktion  beinahe  normal. 

5.  Das  A'erdau ungsvermögen  des  nach  einer  großen 
Mnskelanstrengung  abgesonderten  Saftes  ist  ein  sehr  ge¬ 
ringes. 

0.  Unmittelbar  nach  einer  großen  psychischen  An¬ 
strengung  wie  in  der  Folgezeit  (1—2—3  Stunden)  ist  die 
Hemmungswirkung  auf  die  Magensekretion  viel  größer,  als 
jene  einer  physischen  Anstrengung. 

Der  Verfasser  vermutet,  daß  bei  normalem  Essen  die 
Folgen  einer  psychischen  oder  physischen  Anstrengung  sich 
weniger  bemerkbar  machen  werden,  als  in  den  mitgeteilten 
Versuchen. 

Zum  Schlüsse  wurde  die  Wirkung  psychisch  und  phy¬ 
sisch  ausgelöster  Schmerzen  studiert;  dieselben  hemmen 
augenblicklich  die  Magensekretion,  wenn  sie  im  Gange  ist 
und  verhindern  ihre  Entstehung,  wenn  der  Magen  bisher  j 
im  Ruhestand  war. 

Es  wurden  im  ganzen  87  Einzelbeobachtungen  im 
Verlaufe  von  ungefähr  vier  Monaten  angestellt. 


Aus  dem  staatl.  serotherapeutischen  Institute  in  Wien. 

(Vorstand:  Hofrat  Prof.  R.  Paltauf.) 

Beeinflußt  Atoxyl  die  Bildung  der  Antikörper? 

Von  Di-.  So,  Tokio. 

Die  Unwirksamkeit  des  Atoxyls  in  vitro  gegen  die¬ 
jenigen  Mikroorganismen,  welche  es  im  Tierkörper  zum  Ver¬ 
schwinden  bringt,  hat  zu  der  Anschauung  geführt,  daß  das  ! 
Atoxyl  erst  mit  Hilfe  des  tierischen  Organismus  seine  mikro- 
bizide  Wirkung  entfaltet.  So  nahm  Ehrlich1)  an,  daß  das 
Atoxyl  im  Organismus  reduziert  Wird,  Levaditiund  Yama- 
no uchi,2)  daß  das  Atoxyl  mit  dem  Eiweiß  der  Gewebe  eine 
\  erbindung  eingeht  und  auf  diese  Weise  das  wirksame 
Produkt  gebildet  wird.  Nach  Blumenthal3)  wird  aus  dem 
Atoxyl  als  wirksame  Komponente  die  arsenige  Säure  ab¬ 
gespalten.  Auch  für  ein  anderes  Arsenpräparat,  das  Ehr- 
1  i ch-H at. a sehe  Arsenobenzol,  wird  von  Lesser4)  die  or- 
ganotrope  Wirkung  hervorgehoben. 

In  Anbetracht  einer  organotropen  AVirksamkeit  dieser 
Präparate  war  mil  der  Möglichkeit  zu  rechnen,  daß  auch  die 
Antikörper  produzierenden  Organe  beeinflußt  werden,  so  daß 
sich  bei  Untersuchung  des  Blutserums  derartig  vorbehan¬ 
delter  Tiere  Unterschiede  gegenüber  der  Wirkung  des  Blut¬ 
serums  normaler  Tiere  zeigen  konnten. 

Zunächst  wurde  der  Einfluß  des  Atoxyls*)  auf  den  Komple¬ 
mentgehalt  studiert.  Meerschweinchen  erhielten  subkutan  je  0-03  g 
Atoxyl.  Sowohl  nach  einmaliger,  als  auch  nach  wiederholten  In¬ 
jektionen  wurde  Blut  entnommen  und  mittels1  eines  für  Hammel¬ 
blut  eingestellten  Kaninchenambozeptors  der  Komplementgehalt 
ausgewertet.  Bei  keinem  dieser  Versuche  konnte  eine  Differenz 
im  Vergleiche  zu  normalen  Meerschweinchen  gefunden  werden. 

In  einer  anderen  Versuchsreihe  erhielten  Kaninchen  sub¬ 
kutan  0-1  bis  0-2  g  Atoxyl  und  gleichzeitig  intravenös  Vio  Oese 
Typhusbakterien  injiziert.  Nach  wiederholten  derartigen  Injek¬ 
tionen  wurde  das  Serum  dieser  Tiere  auf  Agglutinine  gegen  Bac¬ 
terium  typhi,  geprüft.  Eine  Anzahl  anderer  Kaninchen  war  in 
der  gleichen  AVeise  mit  Typhusbakterien  gespritzt  worden,  nur 
daß  bei  diesen  Tieren,  welche  als  Kontrollen  dienten,  die  Atoxyl- 
behaudlung  unterblieben  war.  Ein  deutlicher  Unterschied  zwischen 
den  vorbehandelten  und  Konfrontieren  war  auch  bezüglich  des 
Agglutiningehaltes  nicht  festzustellen. 

Nachdem  die  Untersuchung  des  Blutserums  auf  die  genannten 
Antikörper  keinen  Effekt  der  Atoxylbehandlung  hatte  erkennen 
lafeisen,  wurden  dann  noch  die  Blutkörperchen  einer  Prüfung  unter¬ 
zogen. 

Zu  diesem  Zwecke  wurden  die  Blutkörperchen  von  mit  Atoxyl 
injizierten  und  unvorbehandelten  Meerschweinchen  sorgfältig  ge- 


*)  Das  Präparat  wurde  vorher  auf  seine  Giftigkeit  geprüft;  005  g 
töteten  ein  Meerschweinchen  von  zirka  200  g. 


Nr.  13 


45S 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


waschen!  und  dann  der  Einwirkung  einer  Saponinlösung  ausgesetzt. 
Die  roten  Blutkörperchen  der  vorbehandelten  Meerschweinchen 
wurden  vom  Saponin  ungefähr  ebenso  stark  gelöst  wie  die  der 
Kontrolltiere,  vielleicht  sogar  etwas  stärker,  doch  waren  diese 
Differenzen  nicht  ausgesprochen.  Ebenso  verliefen  Versuche  mit 
Kaninchenblutkörperchen. 

Schließlich  habe  ich  auch  die  weißen  Blutkörperchen  der 
vorbehandelten  und  normalen  Meerschweinchen  bezüglich  ihrer 
Freßtätigkeit  für  Staphylokokken  untersucht.  Aber  auch  in  dieser 
Richtung  konnte  ich  keinen  Einfluß  des  Atoxyls  feststellen. 

Sämtliche  angeführten  Versuche  haben  somit  ein  nega¬ 
tives  Ergebnis  ergeben,  trotzdem  die  meisten  Tiere  zu  wieder¬ 
holten  Malen  mit  Atoxyl  vorbehandelt  waren. 

Literatur: 

i)  Beiträge  zur  exper.  Pathologie  und  Chemotherapie,  Leipzig  1909. 
_  *)  Compt.  rend.'  de  la  Soc.  de  biol.  1908.  —  3)  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1910,  Nr.  49.  —  *)  Berliner  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  48. 


Aus  der  k.  k.  dermatologischen  Universitätsklinik  in 

Graz.  (Vorstand  :  Prof.  Dr.  R.  Matzenauer.) 

Präventivbehandlung  der  Syphilis  mit 
Salvarsan. 

Von  Dr.  R.  Knaur,  Assistenten  der  Klinik. 

Unter  den  Fragen  nach  einer  wirklich  einwandfreien, 
für  den  Kranken  möglichst  beschwerdelosen,  für  den  Arzt 
nicht  allzu  umständlichen  Anwendungsweise  des  Salvarsans, 
die  energische  und  nachhaltige  Wirkung  vereint,  ferner  nach 
allenfalls  zu  befürchtenden  ungünstigen  Nebenwirkungen  und 
endlich  nach  dem  Dauererfolge  der  Ehrlichbehandlung,  hat 
wohl  die  letzte  die  größte  Wichtigkeit.  Wenn  auch,  wie  fast 
in  allen  Salvarsanarbeiten  zu  lesen  ist,  die  Kürze  der  Be¬ 
obachtungszeit  eine  abschließende  Antwort  auf  diese  Frage 
(die  von  vielen  Menschen  zu  einer  Art  Lebensfrage  gemacht 
wird)  jetzt  noch  nicht  zuläßt,  so  dürften  doch  bei  dem  regel¬ 
mäßigen  Ablauf  wenigstens  der  ersten  Syphiliserscheinungen 
einige  darauf  bezügliche  statistische  Daten,  auch  wenn  sie 
nur  einen  verhältnismäßig  kurzen  Zeitraum  umfassen,  nicht 
ganz  ohne  Interesse  sein. 

Wenn  eine  wirkliche  Heilung  durch  Salvarsan  über¬ 
haupt  vorkommt,  so  liegt  es  wohl  am  nächsten,  sie  bei  mög¬ 
lichst  frühzeitig  behandelter,  sogenannter  primärer  Syphilis 
zu  erwarten;  deshalb  und  auch  wegen  der  typisch  aufein¬ 
anderfolgenden,  leicht  zu  beurteilenden  Anfangserscheinungen 
der  Lues,  die  eine  therapeutische  Beeinflussung  ihres  Ab¬ 
laufes  leichter  erkennen  lassen,  wurden  für  die  folgende  Be¬ 
trachtung  nur  solche  Fälle  ausgewählt,  wo  Patienten  mit  Initial- 
affekten  und  Drüsenschwellung  noch  vor  dem  Auftreten  des 
Exanthems  der  606-Behandlung  unterzogen  worden  waren. 

Unter  den  200  an  unserer  Klink  mit  Arsenobenzol  be¬ 
handelten  Fällen  befinden  sich  19  männliche  Patienten,  die 
präventiv,  im  Primärstadium,  Salvarsan  erhielten.  Die  ältesten 
dieser  Fälle  sind  nun  schon  über  ein  halbes  Jahr  in  unserer 
Beobachtung;  die  drei  jüngsten,  bei  denen  erst  fünf  Wochen 
seit  der  Behandlung  vergangen  sind,  sollen  hier  nicht  weiter 
berücksichtigt  werden.  Sie  sind  bisher  ohne  Erscheinungen 
geblieben.  Unter  den  16  übrigen  Patienten  sind  zwei  sehr  »frei¬ 
zügige“,  die  brieflich  nicht  zu  erreichen  waren  und  nur  so 
lange  beobachtet  werden  konnten,  als  sie  eben  im  Kranken¬ 
hause  sich  befanden. 

Einer  von  ihnen  verließ  25  Tage,  nachdem  er  wegen  seiner 
fünf  oder  sechs  Wochen  alten  Sklerose  0‘6  Hy  in  saurer  Lösung 
intraglutäal  erhalten  hatte,  mit  überhäutetem,  weniger  indurierten 
Primäraffekt  und  unveränderter  Drüsenschwellung  das  Spital, 
ohne  daß  ein  Exanthem  aufgetreten  wäre.  Der  andere  war  nur 
eine  Woche  in  unserer  Beobachtung.  . 

Bevor  ich  auf  die  noch  verbleibenden  14  fälle  eingehe, 
die  ein  halbes  bis  ein  viertel  Jahr  alt  sind,  möchte  ich  ein 
Wort  über  die  von  uns  verwendeten  Methoden  der  Einver¬ 
leibung  sagen.  Die  ersten  fünf  der  in  Rede  stehenden  Pal. 
wurden  mit  der  möglichst  neutral  gemachten  Emulsion  nach 


Wechselmann  unter  die  Rückenhaut  gespritzt;  wegen 
der  fast  stets  zurückbleibeuden,  meist  fluktuierenden,  hin 
und  wieder  auch  derb-soliden  Geschwülste,  die  oft  eine  lang¬ 
wierige  Nachbehandlung  (Inzision  usvv.)  erforderlichen  '),  und 
wegen  der  Umständlichkeit  der  Bereitung  der  Emulsion  ver¬ 
ließen  wir  gerne  diese  Methode  und  verwendeten  seither  fast 
immer  eine  mäßig  saure  Lösung,  die  einfach  und  schnell 
herzustellen  ist.  Das  Pulver  wird  mit  ein  wenig  Alkohol  an¬ 
gefeuchtet  und  in  einigen  Kubikzentimetern  n/10-Natronlauge 
gelöst ;  die  Lösung  wird  auf  diese  Art  natürlich  etwas  weniger 
sauer,  als  wenn  man  destilliertes  Wasser  oder  Kochsalz 
nähme.  Die  Einspritzung  machen  wir  intraglutäal  oder  auch 
zur  Hälfte  intraglutäal,  zur  Hälfte  unter  die  Haut  des  Rückens 
In  einigen  Fällen  versuchte  ich  auch  eine  10°/0ige  Paraffinum 
liquidum-Emulsion  nach  Kr  o  may  er. 

Die  Salvarsanmenge  von  0'5  oder  0'6  wurde  auf  drei,  jeden 
zweiten  Tag  erfolgende  Injektionen  verteilt  und  die  Einspritzungen 
recht  gut  vertragen.  Aber  selbst  wenn  die  Wirkung  an  Energie 
nicht  hinter  der  Einverleibung  der  gesamten  Salvarsanmenge  auf 
einmal  zurückbliebe2),  hat  dieses  Verfahren  den  Nachteil,  daß 
die  Hohlnadeln  sich  sehr  oft  verstopfen  und  daß  wenigstens 
unsere,  sorgfältigst  hergestellte  Emulsion  bereits  nach  zwei  Tagen 
so  klebrig  und  harzig  wurde,  daß  sie  nicht  mehr  verwendet 
werden  konnte. 

Von  14  mit  Salvarsan  präventiv  behandelten  Patienten 
sahen  wir  bisher  bei  fünfen  Rezidive  auftreten. 

Der  erste  erhielt,  etwa  fünf  bis  sechs  Wochen  nach 
der  Infektion  (T5  nach  Wechsel  mann;  nach  einer  Woche 
wurde  er  mit  überhäuteter,  noch  indurierter  Sklerose,  unver¬ 
änderter  Drüsenschwellung  und  negativem  Wassermann  ent¬ 
lassen.  Bereits  nach  einem  Monate  bekam  er  ein  papulo- 
squamöses  Exanthem  hauptsächlich  an  den  Armen  und  ein 
krustöses  auf  der  Kopfhaut,  ein  Rezidiv,  das  schon  Neigung 
zur  Gruppenbildung  zeigte  und  überhaupt  einen  etwas 
schwereren  Charakter  aufwies,  als  es  rein  nach  der  Krankheits¬ 
dauer  zu  erwarten  gewesen  wäre.  Die  Injektionsstelle  war 
durch  eine  fluktuierende  Geschwulst  markiert;  in  der  Punk¬ 
tionsflüssigkeit  war  Arsen  in  Spuren  nachweisbar.  Aut  eine 
neuerliche  606-Einspritzung  bildete  sich  der  Ausschlag  zurück. 

Der  zweite  Patient  erhielt  05  nach  Wechselmann 
vier  Tage  vor  dem  Ausbruche  eines  sehr  flüchtigen  makulösen 
Exanthems;  der  Wassermann  war  bei  der  bald  darau1 
folgenden  Entlassung  stark  positiv.  Nach  fünfeinhalb  Monaten 
sahen  wir  ihn  mit  Roseola  annularis,  Papeln  ad  genitale  et 
ad  anum  und  fluktuierender  Injektionsgeschwulst  wieder. 

Der  dritte  Patient  (etwa  vierwöchige  Sklerose),  der  06 
nach  Wechselmann  erhalten  hatte,  bekam  nach  neun 
Wochen  ein  sehr  reichliches,  kleinfleckiges  Exanthem.  An 
der  Injektionsstelle  tastete  man  eine  Geschwulst  und  tiefe 
Fluktuation. 

Das  nächste  Rezidiv  betraf  einen  Mann,  der  mit  Sklerose 
und  kompletter  Drüsenschwellung,  also  mit  ungefähr  sechs¬ 
wöchentlicher  Krankheitsdauer,  06  in  saurer  Lösung  intra- 
gluteal  erhalten  hatte.  Nach  zwei  Monaten  bekam  er  einen 
ziemlich  reichlichen,  großfleckigen  Ausschlag,  der  sich  deut¬ 
lich  als  Rezidivroseola  darstellte.  Die  Sklerose  war  noch  voll¬ 
ständig  induriert. 

Das  fünfte  Rezidiv  sahen  wir  an  einem  mit  5  cm3  der 
K r  o  m  ay  e  r-Emulsion  behandelten  Patienten,  der  mit  Primär¬ 
affekt  und  einer  walnußgroßen  Inguinaldrüse  zu  uns  kam ; 
nach  sechs  Wochen  stellte  er  sich  mit  einem  psoriasiformen 
Exanthem  am  Kopfe,  an  den  Schultern  und  Armen  vor.  Auch 
hier  hatten  wir  den  Eindruck,  daß  dieser  gruppierte  Aus¬ 
schlag  für  ein  so  frühes  Exanthem  ein  etwas  ungewöhnliches 
Aussehen  bot,  zumal  irgend  eine  konstitutionelle  Anomalie, 


’)  Neben  diesen  von  normaler  Haut  bedeckten  »Wechselmann¬ 
tumoren«  kamen  öfters  auch  Fälle  zur  Beobachtung,  wo  ein  dunkel¬ 
brauner,  mumifizierter  Haut-  oder  Gewebsanteil  aus  einem  Hautschlitz 
hervorragte  wie  ein  Lederknopf  aus  dem  Knopfloch  und  sich  nach  innen 
in  eine  derbe  Kapsel  fortsetzte,  die  dann  stumpf  herauspräpariert  wer¬ 
den  mußte.  ... 

»)  Es  sei  hier  erwähnt,  daß  der  mit  Paraffinemulsion  gespritzte 
Patient  sein  Rezidiv  am  raschesten,  nach  sechs  Wochen,  bekam. 


454 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1 


die  für  einen  schwereren  Verlauf  der  Syphilis  verantwortlich 
gemacht  werden  könnte,  auch  bei  diesem  Patienten  nicht 

nachweisbar  war. 

Unter  den  übrigen  neun  Fällen,  die  bisher  keine  Rezidive 
bekamen,  wäre  einer  als  Fall  von  unvollständiger  Heilung  zu 
erwähnen.  Mit  Primäraffekt  und  beginnender  Leislendrüsen- 
schwellung,  also  etwa  vierwöchentlicher  Krankheilsdauer,  er¬ 
hielt  er  0‘6  in  saurer  Lösung.  Die  Sklerose  begann  wohl  vom 
Rande  her  zu  überhäuten,  die  Drüsenschwellung  nahm 
nicht  mehr  zu,  aber  als  sich  Pat.  nach  drei  Monaten 
wieder  vorstellte,  war  die  Sklerose  noch  deutlich  hart,  wenig 
verkleinert  und  zentral  noch  nicht  überhäutet.  Ein  Exanthem 
wurde,  wie  gesagt,  bei  diesem  und  den  übrigen  acht  prä¬ 
ventiv  behandelten  Fällen  nicht  beobachtet. 

Positive  Komplementablenkungsreaktion  ohne  Rezidiv¬ 
erscheinungen  fand  sich  bei  einem,  etwa  sechs  Wochen  nach 
der  Infektion  mit  O’ö  in  saurer  Lösung  gespritzten  Kranken, 
u.  zw.  zwei  Monate  nach  der  Injektion. 

Fünf  Patienten,  die  ungefähr  vier  bis  sechs  Wochen 
nach  der  Infektion  0  5  und  0-6  in  saurer  Lösung  erhalten 
hatten,  boten  nach  dreieinhalb,  bzw.  einer  nach  zwei  Monaten, 
keinerlei  neue  luetische  Erscheinungen  und  negativen  Wasser- 
mann  dar;  die  Initialaffekte  waren  bei  ihnen  durch  zarte 
Narben  ersetzt,  die  Drüsenschwellung  entweder  rückgebildet 
oder  nur  mehr  gering. 

Derselben  Gruppe  dürften  vielleicht  die  letzten  beiden 
Patienten  anzureihen  sein,  von  denen  Blutproben  nicht  zu 
erlangen  waren,  die  aber  —  drei  Monate  nach  Einspritzung 
von  0-5  und  06  in  saurer  Lösung  —  von  sich  berichteten, 
daß  sie  ganz  gesund  und  ohne  Erscheinungen  wären. 

Die  Ergebnisse  dieser  kleinen  Zusammenstellung  lassen 
doch  wohl  noch  einer  gewissen  Hoffnung  Raum,  daß  doch 
vielleicht  volle  Heilung  nach  einmaliger  präventiver  Salvarsan- 
anwendung  möglich  sein  könnte,  wenigstens  beweisen  sie 
nicht  das  Gegenteil. 

Vielleicht  ist  ja  auch  von  der  intravenösen  Einver¬ 
leibung,  eventuell  mit  nachgeschicktem  intramuskulären  Depot, 
mehr  zu  erwarten. 

Von  der  intramuskulären  und  subkutanen  Einspritzung 
abzugehen,  dazu  fordern  ja  nicht  nur  die  schmerzenden  In¬ 
filtrate  und  die  Neuralgien  im  Ischiadikus  und  Peroneusgebiet 
auf,  die  oft  so  lange  Zeit  Patient  und  Arzt  quälen,  sondern 
mehr  noch  die  pathologisch-anatomischen  Befunde,  die  es 
fraglich  erscheinen  lassen,  ob  von  der  Injektionsmasse  nicht 
ein  vielleicht  beträchtlicher  Teil  sich  der  Resorption  entzieht 
und  ungenützt  im  Depot  liegen  bleibt,  wenn  rund  um  die 
stets  Nekrose  erzeugende  Masse  die  Gefäße  thrombosieren 
und  durch  reaktive  Entzündung  eine  derbe  Kapsel  sich  an¬ 
bildet.  Bei  der  chemischen  Labilität  des  Salvarsans  ist  der 
baldige  Zerfall  in  unwirksame  andere  Verbindungen  sehr  zu 
befürchten  und  um  so  wichtiger  wäre  eine  günstigere  Resorp¬ 
tionsverhältnisse  setzende  Einverleibungsart. 

Das  Umschlagen  der  Wasser  man  n  sehen  Reaktion  in 
die  negative  Phase  ist  stets  ein  freudiges  Ereignis  für  den 
Patienten,  ohne  daß  jedoch  der  Arzt  den  Optimismus  teilen 
könnte,  da  sorgfältige  Untersuchungen  jüngerer  Zeit  gerade 
das  unberechenbare  und  scheinbar  regellose  Hin-  und  Her¬ 
schwanken  der  Komplementablenkung  erwiesen  haben. 

Wir  wissen  ja,  daß  der  negative  Ausfall  für  die  Pro¬ 
gnose  ziemlich  belanglos  ist  und  nur  der  positiven  Reaktion 
für  die  Diagnose  und  eventuell  auch  für  die  Therapie  Be¬ 
deutung  zukommt.  Immerhin  treffen  in  unseren  Fällen  nega¬ 
tiver  Wassermann  und  zarte  Vernarbung  der  Sklerose 
und  Rückbildung  der  Drüsen  meist  zusammen  und  man 
braucht  derzeit  nicht  jede  Hoffnung  aufzugeben,  daß  diese 
Fälle  vielleicht  doch  rezidivenfrei  bleiben  könnten. 

Wenn  nun  auch  die  Salvarsantherapie  die  anfangs  und 
von  einigen  Seiten  in  sie  gesetzten  Hoffnungen  auf  eine  Heilung 
der  Syphilis  in  allen  Stadien  wie  mit  einem  Schlage  nicht 
zu  erfüllen  scheint,  so  stellt  vielleicht  die  möglichst  früh¬ 
zeitige  Präventivbehandlung  eventuell  nach  einer  besseren, 


alle  Potenzen  des  Mittels  zur  Wirkung  kommen  lassenden 
Einverleibungsart  doch  ein  hoffnungsvolleres  Feld  dar.  Auf 
jeden  Fall  aber  wird  das  Arsenobenzol,  um  oft  Gesagtes  zu 
wiederholen,  seinen  großen  und  bei  richtiger  Indikations- 
Stellung  überragenden  Wert  behalten,  2.  B.  bei  maligner 
Syphilis,  bei  quecksilberfester  Syphilis,  bei  Quecksilberidio¬ 
synkrasie  und  in  allen  Fällen,  wo  rascheste  Wirkung 
anzustreben  ist 


Zur  temporären  Sterilisierung  der  Frau. 

Von  Dr.  Konstantin  Rucura,  Privatdozent  Tür  Geburtshilfe  und  Gynä¬ 
kologie  in  Wien. 

Der  Zweck  dieser  meine  gleichnamige  Veröffentlichung 
in  Nr.  46  des  23.  Jahrganges,  1910,  dieser  Wochenschrift 
ergänzenden  Zeilen,  ist  ein  zweifacher.  Vor  allem  möchte  ich 
ein  literarisches  Versehen  richtigstellen;  dann  aber  aus 
diesen  der  italienischen  Literatur  entstammenden  Publika¬ 
tionen  Beobachtungen  verwerten  und  für  die  empfohlene 
Methode  Nützliches  hervorheben. 

Aus  der  Arbeit  Pestalozzas,  ,,Der  Kaiserschnitt“,1! 
ersah  ich,  daß  der  gleiche  Operationsvorschlag  (die  Eier¬ 
stöcke  aus  der  Bauchhöhle  durch  Versenken  in  eine  Peri¬ 
tonealtasche  auszuscheiden)  von  Taddei  und  Panä  schon 
gemacht  worden  ist,  allerdings  bloß  behufs  Sterilisie 
rung,  nicht  mit  der  Absicht,  später  die  Konzep¬ 
tionsfäh  i gfk ei/ 1  wiederher zm stellen. 

Taddei  studierte  schon  1908 2)  die  Veränderungen 
des  in  einem  Peritonealsack  eingebetteten  Eierstockes  hei 
Kaninchen,  um  die  Brauchbarkeit  des  Ausscheidens  des 
Ovars  aus  der  freien  Bauchhöhle  zu  einer  Operation  fest 
stellen  zu  können;  1909 3)  empfahl  er  die  Operationsmethode 
wieder  und  berichtete  über  weitere  entsprechende  Experi¬ 
mente  am  Tiere.  Panä4)  schilderte  nun  einer  Anregung 
T  add  eis  folgend  die  Technik  dieser  Operation,  welche 
er  am  Kadaver  des  öfteren  ausgeführt  hat,  eingehend.  Die 
von  ihm  angegebene  Technik  unterscheidet  sich  von  der 
von  mir  empfohlenen  eigentlich  nur  darin,  daß  Panä  den 
Schnitt  ins  Peritoneum  mehr  bogenförmig  ausführt  und  das 
Ligamentum  tubo-ovaricum  behufs  besserer  Mobilisierung 
des  Eierstockes  durchschneidet.  So  viel  zur  Richtigstellung. 

\\  ichtig  aber  für  das  Schicksal  der  im  Bindegewebe 
eingebetteten  Eierstöcke  und  für  die  spätere  Wiederher¬ 
stellung  ihrer  Funktion  bei  neuerlich  gewünschter  Konzep- 
tionsfähigkeit  sind  die  Beobachtungen  T  add  eis  im,  Tier¬ 
experiment.  Um  das  Verhalten  der  in  einem  Peritonealsacke 
versenkten  Eierstöcke  zu  studieren,  führte  er  an  erwach¬ 
senen  Kaninchen  zahlreiche  Experimente  aus,  welche  meinen 
Versuchen  ganz  analog  sind.  Leichte  Veränderungen  wur¬ 
den  an  den  versenkten  Eierstöcken  wohl  beobachtet.  Un¬ 
verändert  und  wohlerhalten  aber  fand  er  in  allen  Ovarien 
die  Primärfollikel  und  auch  die  Follikel  aller  Entwicklungs¬ 
stadien.  Er  fand  an  manchen  Präparaten  auch  Stauungen, 
interstitielle  Blutungen  und  kleinzellige  Infiltration;  diese 
Erscheinungen  konnte  er  auch  in  solchen  Eierstöcken  fest¬ 
stellen,  in  welchen  dieselben  bloß  von  der  Tubenöffnung 
losgelöst  worden  waren.  Bis  auf  die  Stauungen  und  die 
kleinzellige  Infiltration  decken  sich  Tadel  eis  Befunde  im 
Experiment  mit  meinen ;  diese  Stauungen  dürften  wohl  die 
Folgen  sein  der  Loslösung  des  Eierstockes  von  der  Tuben¬ 
öffnung,  das  heißt,  der  Durchtrennung  des  Ligamentum 
tubo-ovaricum,  die  nach  meiner  Ansicht  in  den  Fällen, 
wo  die  Sterilisierung  der  Frau  als  eine  nur  temporäre  ge¬ 
plant  ist,  besser  zu  unterbleiben  hätte.  Weiters  aber  fand 
Taddei  —  und  dies  scheint  mir  von  ganz  besonderer 
Wichtigkeit  für  die  nur  temporäre  Sterilisierung,  die  er 
aber,  wie  schon  erwähnt,  gar  nicht  in  Betracht  zieht  — 
daß  das  Ovar,  falls  eine  Verletzung  des  Keim'epi- 
thels  vermieden .  wird,  mit  dem  ihn  bedecken¬ 
den  Gewebe  gar  nicht  verwächst. 

Ich  halte  dies  schon  deshalb  für  wichtig,  weil  auf 
diese  Eventualität  der  Schädigung  des  Eierstockes  aller- 


Nr.  13 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


455 


lings  gedacht  werden  muß  (beispielsweise  bei  Stellung  der 
Prognose  für  die  eventuelle  künftige  Zeugungsfähigkeit)  und 
ichon  hingewiesen  worden  ist  (Schauta5).  Aus  dieser 
ieobachtung  Taddeis  itn  Experiment  geht  nun  wieder 
lervor,  daß  diese  Operation  nur  auf  das  zarteste  und  scho- 
leuds.te  ausgeführt  werden  darf,  zugleich  aber,  daß,  wenn 
<>de  Berührung  des  Ovars  vermieden  wird,  eine  spätere 
öllige  Eunktionstüchtigkeit  der  Keimdrüse  bei  neuerlicher 
lervorholung  derselben  gewährleistet  erscheint,  falls  natiir- 
ich,  wie  ich  in  der  ersten  Veröffentlichung  hervorgehoben 
iahe,  auch  die  geringste  Infektion  und  jegliche  Blutung 
n  die  Einbettungsstelle  genauest  vermieden  wird,  Dinge, 
reiche  die  Verwachsung  des  Ovars  mit  seiner  Umgebung 
md  so  eine  eventuelle  Schädigung  des  späteren  Ovulations- 
organges  ebenfalls  begünstigen  würden. 

Literatur: 

')  Annali  di  ostetr.  e  ginec.  1910.  —  2)  Annali  di  qstetr.  e  ginec. 
908,  S.  861.  —  3)  Annali  di  ostetr.  e  ginec.  1909,  Nr.  1,  S.  1. 

Annali  di  ostetr.  e  ginec.  1909,  Nr.  10,  S.  431.  —  5)  Wiener  med. 
Cochenschr.  1911,  Nr.  10  und  Monatschr.  für  Geb.  und  Gyn.  1911,  II.  3. 


Diskussion. 

Lus  der  Ohrenabteilung  der  allgemeinen  Poliklinik  in 

Wien. 

!ur  Frage  der  luetischen  Erkrankungen  des 
Labyrinthes  und  des  Hörnerven. 

Von  Prof.  Dr.  G.  Alexander. 

In  Nummer  11  der  Wiener  klinischen  Wochenschrift  haben 
layer  und  Frey  in  der  Frage  der  luetischen  Akustikus-  und 
.abyrintherkrankungen  das  Wort  ergriffen.  Mit  Rücksicht  auf 
ueine  Aeußerungen  anläßlich  der  Diskussion  zum  Vortrage  Fi  ti¬ 
lers  im  November  und  Dezember  1910,  möchte  ich  folgendes 
uitteilen : 

Ich  habe  in  meiner  Diskussionsbemerkung  ausdrücklich  Jier- 
■orgehoben,  daß  mein  gesamtes,  von  mir  selbst  beobachtetes 
ihrsyphilitisches  Material  damals  68  Fälle  umfaßt  hat.  Demnach 
st  die  Behauptung  Mayers,  „daß  Herr  Prof.  Alexander  nur 
•in  Material  von  neun  Fällen,  Herr  Prof.  Habermann  aber 
•in  solches  von  66  Fällen  überblickte“,  nicht  aufrechtzuerhalten, 
len  66  Fällen,  d.  h.  der  Gesamtzahl  der  von  Habermann  be- 
ibachteten  Fälle  von  luetischer  Akustikusaffektion,  können  doch 
licht  meine  Fälle  des  rezenten  Stadiums  (neun)  gegenübergestellt 
verden,  sondern  wieder  nur  die  Gesamtheit  meiner  Fälle..  Ich 
latte  keine  Ursache,  in  meiner  Diskussionsbemerkung  die  Ge- 
■amtzahl  der  von  mir  beobachteten  luetischen  Akustikusaffek- 
ionen,  die  42  beträgt,  zu  nennen,  da,  sie  für  das  diskutierte 
fhema  nicht  in  Betracht  kam. 

Ich  gelangte  heim  Vergleich  des  von  Finger  und  des  von 
nie  beobachteten  Materials  zum  Schlüsse,  daß  die  akute  luetische 
Neuritis  des  Nervus  octavus  —  mag  sie  sich  im  vestibulären  oder 
cochlearen  Anteile  des  Nerven  etablieren  —  im  rezenten  Sta- 
lium  der  Syphilis  äußerst  selten  ist.  Zu  dieser  Erkenntnis  führte 
nich  folgender  Weg:  Die  von  Finger  beobachteten  Fälle 
iucl  durch  zwei  Momente  gekennzeichnet:  erstens  durch  das 
■’rühauftreten  der  Labyrintherscheinungen,  zweitens  durch  die 
■schwere  dieser  Erscheinungen.  Unter  den  68  von  mir  beobachteten 
iillen  waren  12  Fälle  von  Ohrerkrankungen  im  rezenten  Sta- 
liurn  der  Syphilis.  Von  diesen  konnte  ich  selbstverständlich 
mr  jene  heranziehen,  welche  beiden  obgenannten  Postulaten  ge 
recht  wurden.  Unter  den  neun  Fällen  von  Labyrintherkrankung 
Labyrinth-Nervenerkrankung)  entsprachen  jedoch  eine  noch  gc- 
angere  Anzahl  im  frühzeitigen  Auftreten  und  der  Intensität  der 
Erscheinungen  den  von  Finger  beobachteten  Fällen. 

Da  es  mir  in  meiner  Diskus'sionsbemerkung  lediglich  auf 
len  Vergleich  mit  den  Finger  sehen  Fällen  ankam,  erscheint 
meine  Aeußerung  vollkommen  berechtigt,  daß  Fälle  von  Erkran¬ 
kung  des  inneren  Ohres  und  des  Hörnerven,  (sc.  Fälle,  die  im 
i’rühauftreten  und  der  Intensität  der  Erscheinungen  den 
Ringer  sehen  gleichen)  äußerst  selten  sind.  Ungemein  auffällig 
aber  präsentiert  sich  dieses  Ergebnis  im  Vergleiche  des  Finger- 
m-hen  und  meines  Materiales.  Einerseits  das  urplötzlich  ge¬ 
häufte  Auftreten  von  Labyrinthsyphilis  im  Materiale  Fingers, 


anderseits  die  nicht  zu  bezweifelnde  Tatsache,  daß  meine 
neun  Fälle  von  Labyrinthlues  bei  rezenter  Syphilis  das  Resultat 
einer  vieljährigen  Beobachtung  daiötellen. 

Die  Mitteilungen  von  Mayer  sind  außerdem  nicht  allein 
nicht  geeignet,  meine  Behauptungen  zu  widerlegen,  sondern  bilden, 
soweit  es  sich  darin  um  aktenmäßige  Angaben  handelt,  viel¬ 
mehr  eine  Stütze  und  Bestätigung  meiner  Beobachtungen.  Mayer 
erhielt  von  seinem  Chef  Habermann  86  Krankengeschichten, 
die  Fälle  von  Ohrerkrankungen  bei  Lues  betreffen  und  teilt  mit, 
daß  dieses  Material  den  Fällen  entspricht,  die  seit,  1896  beob¬ 
achtet  wurden,  d.  h. :  im  Verläufe  von  15  Jahren  sind  86  Fälle 
von  luetischen  Ohrerkrankungen  in  der  Grazer  Ohrenklinik  zur 
Untersuchung  gekommen.  Bei  13  von  diesen  86  Fällen  ist  nun 
die  Akustikuserkrankung  im  rezenten  Stadium  der  Syphilis  auf¬ 
getreten.  Für  seine  prozentuellen  Berechnungen  scheidet  Mayer 
zunächst  die  Fälle  von  hereditärer  Lues  aus.  Da  ich  an  meinem 
Material  di-es'e  Scheidung  nicht  vorgenomtoen  habe,  muß  ich 
die  Gesamtzahl  meiner  Beobachtungen  der  Gesamtzahl  der:  Fälle 
Mayers  gegenüberstellen.  Danach  ergeben  sich  bei  Alexander 
68  Fälle,  darunter  9  Fälle  von  Erkrankungen  des'  inneren 
Ohres  im  rezenten  syphilitischen  Stadium,  dies  ist  zirka  13-25 % ; 
bei  Mayer  86  Fälle,  darunter  13  Fälle  von  Erkrankung  des 
inneren  Ohrels  im  rezenten  syphilitischen  Stadium,  dies  ist 
zirka  15°/o. 

Beide  Zahlen  sind  voneinander  wohl  nicht  sehr  verschieden, 
wenn  man  noch  bedenkt,  daß  meine  Zahlen  das  Resultat  einer 
fünf-  bis  sechsjährigen,  die  Mayers  einer  15jährigen  Sammlung 
darstellen. 

Einzeldaten,  die  einen  sicheren  Schluß  auf  die  Schwere 
der  Symptome  gestatten,  sind  in  der  May  er  sehen  Publikation 
nicht  mitgeteilt  worden.  Es  ist  jedoch  gar  kein  Grund  vorhanden 
anzunehmen,  daß  diese  13  Fälle  Mayers  durchwegs  schwer 
verlaufende  waren  und  mit  stürmischen  Erscheinungen  einher¬ 
gegangen  sind.  Nach  der  Zusammenstellung  des  Materials  der 
Grazer  Klinik  werden  somit  meine  eigenen  Beobachtungen,  be¬ 
stätigt. 

Zu  den  Ausführungen  Freys  sei  folgendes  bemerkt: 
Unter  den  Fällen  der  Literatur  kommen  selbstverständlich  gleich¬ 
falls'  nur  die  Fälle  in  Betracht,  welche  in  Frühzeitigkeit  und  Schwere 
der  Erscheinungen  für  einen  Vergleich  mit  den  Fing  er  scheu. 
Fällen  geeignet  sind.  Unter  diesen  Finger  scheu  Fällen,  die  einer 
Beobachtungszeit  von  sechs  Monaten  entsprechen,  ist  die  Ohr- 
affektion  in  einem  Falle  bei  sechs  Wochen,  in  den  übrigen 
bei  etwa  drei  Monate  alter  Lues  aufgetreten.  Diesen  Postulaten 
entsprechen  jedoch  nur  wenige  Fälle  der  Literatur.  Daß  leielit- 
gradige  Erkrankung? formen  häufiger  sind,  soll  nicht  bezweifelt 
werden,  ebensowenig,  daß  die  Mitteilungen,  seitdem  durch  den 
Fi nger sehen  Vortrag  und  die  daran  angeschlossene  Diskussion 
die  Aufmerksamkeit  der  Fachleute  auf  diese  Frage  gelenkt  worden 
ist,  fürderhin  zahlreicher  erfolgen  werden  als  bisher. 


Referate. 

Geschichte  der  Medizin. 

Von  Prof.  Dr.  Max  Neuburger. 

II.  Band.  Erster  Teil.  Zweite  Hälfte. 

Stuttgart  191 1 ,  Verlag  von  Ferdinand  Enke. 

Von  Neuburgers  Geschichte  der  Medizin,  deren  letzter 
Abschnitt  in  Nr.  44  des  Jahrganges  1908  dieser  Zeitschrift  be¬ 
sprochen  wurde,  ist  nunmehr  die  Fortsetzung  erschienen  und  damit 
das  Werk  bis  zum  Schluß  des  Mittelalters  weitergeführt.  Den  im 
früheren  Referate  erwähnten  Eigenschaften  des  Verfassers  begegnen 
wir  wiederum  im  vorliegenden  Buche.  Es  sind  dies  die  sorgsamen 
Studien  der  Quellen,  die  strenge  medizinische  und  philosophische 
Schulung  und  die  geistvolle  Analysierung  der  treibenden  oder 
hemmenden  Kräfte,  die  ausstrahlend  von  dem  ganzen  Kulturleben 
immer  die  Heilkunde  beeinflußt  haben.  Gerade  in  der  Darstellung 
der  mittelalterlichen  Medizin  im  christlichen  Abendlande  treten  die 
eben  genannten  Vorzüge  des  Autors  zutage.  Neuburger  ver¬ 
steht  es  nämlich,  den  in  ungleicher  Stärke  überlieferten  Stoff  nach 
dem  inneren  Zusammenhang  zu  sichten  und  zu  gruppieren,  bisher 
isoliert  gebliebene  oder  unbeachtete  Geschichtskenntnisse  als  organi¬ 
sche  Bindeglieder  der  Entwicklungsphasen  an  richtiger  Stelle  einzu¬ 
schalten,  vor  allem  aber  das  Gewicht  abzuschätzen,  mit  welchem 
die  christliche  Glaubens-  und  Naturlehre,  die  »Konkordanz  zwischen 


456 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


Glauben  und  Wissen«  die  ärztliche  Erkenntnis  belastet  hat.  Das 
neue  und  lebendige  Bild,  das  der  Verfasser  von  der  damaligen 
Theorie  und  Praxis  entwirft,  gestaltet  sich,  abgesehen  von  der  Auf¬ 
nahme  der  allerneuesten  Forschungsergebnisse  zu  einer  willkommenen 
Ergänzung  des  großen  Gesehichtswerkes  H  ä  s  e  r  s.  Denn  der  ge¬ 
feierte  Breslauer  Historiker  wendet  in  der  Darstellung  des  Mittel-- 
alters  seinen  bewunderungswürdigen  Sammelfleiß  mit  Vorliebe  dem 
Schrifttum  des  Zeitalters  zu  und  stellt  in  seiner  gerühmten  Sorgfalt 
und  Gelehrsamkeit  die  literarische  Tätigkeit  in  den  Vordergrund, 
nicht  überall  dringt  er  in  die  Interpretation  der  Erscheinungen  ein; 
die  wir  erst  dann  zu  deuten  vermögen,  wenn  wir  die  Geistes¬ 
prinzipien  verfolgen,  die  alles  Denken  und  Geschehen  beherrscht 
haben. 

Unter  diesem  erweiterten  Gesichtskreise  erfährt  manche  herge¬ 
brachte  Vorstellung  und  Meinung  eine  Berichtigung.  So  findet  unter 
anderem  die  konservierende  Arbeit  der  Kleriker-  und  Laienärzte 
des  früheren  Mittelalters  nicht  die  übliche  Geringschätzung,  sondern 
gleich  den  Klosterschulen  und  Hospizen  freundliche  Anerkennung 
als  Mittler  ärztlicher  Ueberlieferung.  Mit  sichtlicher  Anteilnahme 
schildert  der  Autor  die  Schule  von  Salerno,  das  isolierte  Zentrum 
des  Fortschrittes,  wo  die  Reste  der  griechischen  und  spätrömischen 
Heilkunde,  unberührt  von  der  Kirche,  als  Stütze  des  Systems  erhalten 
blieben  und  die  Lehrmeister  »nur  den  Interessen  der  Wissenschaft 
dienend  und  von  ärztlichem  Gemeinsinn  getragen,  den  Beruf  des  Heil- 
künstlers  veredelten«.  Ueberzeugend  wird  der  Nachweis  erbracht, 
wie  die  Civitas  Hippokratica  dem  von  außen  eindringenden  An¬ 
sturm  des  arabischen  Wesens  allmählich  unterliegt,  wie  kulturelle, 
selbst  politische  Einflüsse  den  Wandlungsprozeß  in  der  Arznei¬ 
wissenschaft  beschleunigen. 

Die  anschauliche  Darlegung  der  Medizin  im  13.  Jahrhundert, 
vorweg  unter  der  Ueberschrift :  »Arabismus  und  Scholastik«  bündig 
gekennzeichnet,  darf  zu  den  besten  Partien  des  Buches  gerechnet 
werden.  Neuburger  leitet  den  Abschnitt  mit  dem  Lapidarsatze 
ein  :  »Auch  in  dieser  Epoche  bestätigt  sich  das  historische  Gesetz, 
daß  neue  Geistesströmungen  in  der  Medizin  später  als  auf  anderen 
Gebieten  des  Kulturlebens  zum  Ausdruck  gelangen.«  Er  vergleicht 
die  Salem i tan ische  Lehrmethode  und  die  dort  waltende  praktische 
Nüchternheit  mit  der  emporkommenden  arabisierenden  Umstaltung 
des  Wissenschaftsbetriebes  und  entwickelt  in  geistvoller  Umschau 
einen  Kommentar  zu  allen  jenen  Ursachen,  welche  die  Ver¬ 
kümmerung  der  Heilkunde  bewirkt  haben.  Weshalb  nach  islamischem 
Vorbild  äußerliche  Formgewandtheit  und  innere  Leere,  Autoritäts¬ 
glaube  und  dogmatisches  Erstarren  zur  Signatur  des  Jahrhunderts 
geworden  waren,  wird  uns  in  großen  Zügen  wie  in  prägnanten 
Einzelheiten  vor  Augen  geführt.  Die  gesamte  Literatur  und  ihre 
Vertreter,  den  Stand  der  Chirurgie  und  anderer  Zweige  der  ärzt¬ 
lichen  Tätigkeit  lernen  wir  unter  vielseitig  neuer  Beleuchtung 
kennen. 

Ebenso  anmutend  und  belehrend  exponiert  der  Autor  die 
Grundlagen  der  Medizin  im  späteren  Mittelalter,  durch  welches  sich 
die  langwährende  Vorherrschaft  spitzfindiger  Dialektik  und  einförmiger 
Buchweisheit  erstreckt.  Und  dennoch  war,  wie  gezeigt  wird,  die 
emsige  Arbeit,  die  auf  den  neuentstandenen  Universitäten  Italiens 
und  Frankreichs  geleistet  wurde,  nicht  völlig  wertlos;  sie  bereitete 
die  Zeit  vor,  wo  eigene  Gedanken  und  Beobachtungen  sich  in  die 
medizinischen  Folianten  einschlichen  und  innerhalb  wie  außerhalb 
der  Gelehrlenstube  die  mittelalterlichen  Ideale  zu  verblassen  be¬ 
gannen.  Freilich  bot  noch  geraume  Frist  hindurch  die  Heilkunde 
ein  abseits  gelegenes  Feld,  bis  das  Zwielicht  der  Prärenaissance 
die  darüber  lagernden  Schatten  erhellte.  Lange  noch  lagen  die 
Wege  im  Dunkel,  auf  denen  die  Internisten,  in  Wesenheit  die 
Arabisten,  mühselig  sich  fortbewegten,  während  die  Wundärzte  (die 
Aerztechirurgen  in  Bologna,  Paris  und  anderen  Orten),  leichter  be¬ 
schwert  von  schalem  Weisheitskram,  frühzeitig  darangehen,  die 
chirurgische  Lehre  und  Praxis  zu  vervollkommnen  und  ihrer  eigenen 
Bildung  wegen  schüchtern  den  Versuch  unternehmen,  die  Anatomie 
des  menschlichen  Körpers  aus  tausendjährigem  Schlaf  zu  erwecken. 

Referent  ist  notgedrungen  in  die  Lage  versetzt,  den  Inhalt 
des  in  Rede  stehenden  Abschnittes  lediglich  in  Schlagworten  anzu¬ 
deuten.  Er  muß  hier,  wie  dies  Blatt  für  Blatt  die  ganze  Bearbeitung 
erheischt,  auf  den  Text'h  in  weisen,  worin  die  Schicksale  der  Medizin 
mit  den  geistigen  Elementen  des  Zeitalters  enge  verwebt  erscheinen, 
Schriften  und  Schriftsteller  gebührenden  Platz  einnehmen,  Pestlehre’ 


Harnschau  und  Astrologie  als  besondere  Attribute  des  schulgerechten 
Wissens  in  scharfem  Umriß  gezeichnet,  endlich  die  Unterrichts¬ 
und  Standverhältnisse  der  Aerzte  während  des  Mittelalters  besonders 
gewürdigt  werden. 

Eine  literarhistorische  Uebersicht  bildet  den  Abschluß  des 
Buches,  dessen  Erscheinen  wir  auf  das  allerwärmste  willkommen 
heißen,  nicht  allein,  weil  wir  uns  seiner  Gediegenheit  erfreuen,  son¬ 
dern  auch  in  der  Erwartung,  es  möge  uns  die  Vollendung  des  Werkes 
nicht  allzu  lange  vorenlhalten  werden.  Fossel. 

Jahrbuch  für  psychoanalytische  und  psychopathologische 

Forschungen. 

Herausgegeben  von  E.  Bleuler  und  S.  Freud. 

Redigiert  von  C.  GL  Jung. 

Bd.  I,  zweite  Hälfte. 

Leipzig  u.  Wien  1909,  Franz  Deu  ficke. 

Zunächst  setzt  Ludwig  Bins w anger  (siehe  Ref.  der  ersten 
Hälfte  des  ersten  Bandes)  seinen  „Versuch  einer  Hysterieanalyse' ‘ 
fort,  um  ihn  schließlich  durch  die  Freud  sehen  Lehren  über  die 
frühinfantilen  Quellen  hypothetisch  zu  ergänzen;  denn  fertig  ist 
natürlich  trotz  der  imponierenden  Ausdehnung  auch  diese  Ana 
lyse  nicht  geworden;  wohl  aber  haben  auch  ohne  dem  die  An¬ 
fälle  Fräulein  Irmas  aufgehört.  Am  interessantesten  erscheint  dem 
Referenten  ein  Punkt  aus  der  Katamnese  des  Falles.  Die  Patientin 
begann  nach  Entlassung  aus  der  Klinik  wieder  Blut  zu  spucken, 
zeigte  auch  erhöhte  Temperatur.  Darauf  reiste  Binswanger 
zu  ihr,  „erklärte  ihr  ohne  Umschweife, 'wenn  das  Blutspucken  nicht 
sofort  unterbliebe,  würde  sie  nicht  mjehr  für  mich  existieren.  Das 
half!  Nach  drei  Tagen  war  Irma  wieder  hergestellt!“  Es  geht 
also  auch  nach  einer  alten  Methode. 

Was  man  sich  hier  denken  darf,  wird  unterstützt  durch 
ein  Zugeständnis  Freuds  selbst  in  dem  folgenden  Opus:  Be¬ 
merkungen  über  einen  Fall  von  Zwangsneurose.  Man  liest  hier  auf 
S.  394 :  „Es  gelang  nicht,  dieses  Gewebe  von  Phantasieumhül¬ 
lungen  Fäden  für  Faden  abzuspinnen;  gerade  der  therapeutische 
Erfolg  war  hier  das  Hindernis.  Der  Patient  war  hergestellt  und 
das1  Leben  forderte  von  ihm  mehrfache,  ohnedies  zu  lange  auf¬ 
geschobene  Aufgaben  in  Angriff  zu  nehmen,  die  mit  der  Fort¬ 
setzung  der  Kur  nicht  verträglich  waren.  Man  mache  mir  also 
aus  dieser  Lücke  in  der  Psychoanalyse  keinen  Vorwurf.  Die 
wissenschaftliche  Erforschung  durch  die  Psychoanalyse  ist  ia 
heute  nur  ein  Nebenerfolg  der  therapeutischen  Bemühung  und 
darum  ist  die  Ausbeute  oft  gerade  bei  unglücklich  behandelten 
Fällen  am  größten.“  Andrerseits  soll  aber  gerade  der  Heilerfolg 
der  Beweis  für  die  Richtigkeit  dessen  sein,  was  Freuds  genialer 
Kopf  in  den  Patienten  hineinkombiniert. 

Eine  Vertiefung  in  seine  Gedankengänge  und, die  Reaktionen 
seines  schweren  Falles  von  Zwangsneurose  eröffnet  in¬ 
teressante  Ausblicke;  es  wäre  eine  verdienstliche  Aufgabe,  heraus- 
zuschälen,  was,  vom  Subjektiven  abgesehen,  für  die  Auffassung 
dieser  Krankbeitsfonn  allgemeine  Bedeutung  hat.  Uebrigens  nimmt 
Freud  die  eigene  Definition  der  Zwangsvorstellungen  aus  dem 
Jahre  1896  zurück,  um  in  drei  Kapiteln:  einige  allgemeine  Cha¬ 
raktere  der  Zwangsbildungen,  einige  psychische  Besonderheiten 
der  Zwangskranken,  das  Triebleben  und  die  (Ableitung  von  Zwang 
und  Zweifel  in  bekannt  geistvoller  Weise  abzuhandeln. 

S.  Ferenczi,  Introjektion  und  Uebertragung.  Der  Autor 
knüpft  an  die  Entdeckung  Freuds,  daß  die  Neurotiker  während 
der  Behandlung  in  ihren  Neuauflagen,  Nachbildungen  von  Re¬ 
gungen  und  Phantasien  frühere  Personen  durch  die  des  behan¬ 
delnden  Arztes  ersetzen.  Introjektion  nennt  Ferenczi  nun  einen 
für  die  Neurose  charakteristischen  Prozeß,  daß  ein  möglichst 
großer  Teil  der  Außenwelt  in  dals  Ich  aufgenommen  und  zum  Gegen¬ 
stände  unbewußter  Phantasie  gemacht  wird.  Wenn  Ferenczi 
den  Psychoneurotiker  darum  in  Gegensatz  bringt  zum  Paranoiker, 
so  widersprechen  dem  wohl  die  Erfahrungen  aller  Nicht- 
Freudianer;  auch  der  Paranoiker  erweitert  sein  Ich  durch  Auf¬ 
nahme  von  Außenwelt.  Warum  der  Autor  gerade  die  Psycho¬ 
analyse  verteidigt,  ist  auch  nicht,  klar,  da  er  doch  den  Beweis 
erbringt,  daß  der  Neurotiker  sich  immer  seihst  mit  Uebertragung 
behandelt,  man  mag  machen,  was  man  will.  So  lasse  man 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


anderen  Therapeuten  die  Freude,  daß  auch  sie  Erfolge  erzielen, 
hl  einem  zweiten  Falle  erklärt  Ferenc  zi  die  Hypnotisierbarkeil 
eines  Menschen  mit  der  positiven,  wenn  auch  unbewußten  sexu¬ 
ellen  Stellungnahme  des  zu  Hypnotisierenden  dem  Hypnotiseur 
gegenüber.  Die  Uebertragung  aber,  wie  jede  Objektliebe,  habe 
ihre  letzte  Wurzel  in  dem  verdrängten  Elternkomplex;  somit  unter¬ 
scheidet  er  eine  väterliche  und  eine  mütterliche  Hypnose.  Wir 
sind  weit  gekommen ! 

Wilhelm  Stekel,  Beiträge  zur  Traumdeutung,  verdanken 
wir  einige  neue  Erkenntnisse,  die  ihm  durch  die  Analyse  von 
mehr  als  tausend  Träumen  gekommen  sind.  Er  deutet  den  Traum 
im  Traume,  rechts  und  links  im  Traume,  die  Rolle  der  Ver¬ 
wandten,  den  Affekt  im  Traume,  Träume,  die  verkehrt  gelesen 
werden  sollen,  das  Problem  des  Todes  und  des  Lebens  im 
Traume,  Zahlensymbolik,  individuelle  Färbung  der  Träume,  alles 
ebenso  unwiderleglich  wie  phantastisch.  Wegen  der  Durchsichtig¬ 
keit  der  Zahlendeutungen  darf  sich  hier,  der  Leser  vielleicht  auch 
ein  eigenes  Urteil  erlauben.  Die  Spielerei  mit  den  Ziffern  6,  8, 
mit  der  Zahl  24  ironisiert  in  prächtiger,  freilich  von  Stekel 
sicher  nicht  beabsichtigter  Weise  die  Manipulationen  anderer 
Gewaltherrscher  im  Reiche  der  Zahlen. 

Herbert  Silber  er,  Bericht  über  eine  Methode,  gewisse 
symbolische  Halluzinationserscheinungen  hervorzurufen  und  zu 
beobachten.  Im  wesentlichen  eine  Untersuchung  über  hypnagogc 
Halluzinationen  in  Selbstbeobachtung,  die  zu  schönen  Ergeb¬ 
nissen  führt,  wenngleich  der  Einwand  nicht  labgelehnt  werden  kann, 
daß  das  Subjekt,  welches  Symbolisierungen  von  Gedanken  in 
Traumbilder  erwartet,  vielleicht  im  Sinne  seiner  Vorstellungen 
und  Wunschrichtungen  träumt,  das  heißt  Belege  für  seine  Theorie 
findet,  dies  um  so  mehr,  als  allgemeiner  Erfahrung  nach  das 
Material  für  unsere  Träume  rezenten  Eindrücken  und  Gedanken- 
gängen  entnommen  wird.  Merkwürdig  berührt  der  Gegensatz  zu 
den  Träumen  Stekel  s.  Man  ist  förmlich  überrascht,  zu  erfahren, 
daß  es  auch  nichtsexuelle  Träume  gibt. 

Alfred  Adler,  Heber  neurotische  Disposition,  zugleich  ein 
Beitrag  zur  Aetiologie  und  zur  Frage  der  Neurosenwahl.  Der 
Autor  versucht  die  Frage  zu  beantworten,  was  die  sexuelle  Kon¬ 
stitution  sei,  nachdem  sich  die  Freud  sehe  Lehre  allmählich 
dahin  verschoben  hat,  daß  nicht  das  sexuelle  Trauma,  sondern 
die  sexuelle  Konstitution,  eine  biologische  Nüance  des  Sexual¬ 
triebes,  die  letzte  Wurzel  der  Neurose  bilde.  Erfreulich  ist  es, 
durch  Adler  zu  erfahren,  daß  die  sexuellen  und  anderen  Kind¬ 
heitseindrücke  der  Neurotiker  in  Grad  und  Einfang  von  denen 
der  Normalen  nicht  sonderlich  verschieden  sind.  Man  linde  ein¬ 
mal  mehr,  ein  anderes'  Mal  weniger  davon,  immer  aber  ein  Maß, 
das  von  den  Gesunden  auch  erreicht  werde.  Seit  1904  kämpft 
der  Referent  für  Anerkennung  dieses  Prinzips!  Ja  sogar  die  Ver¬ 
erbung  wird  zugegeben,  die  angeborene  Minderwertigkeit !in  feiner 
Beobachtung  durch  Adler  mit  vielerlei  Zeichen  belegt. 

Resümee:  Je  nach  Art,  Ausbildung  und  Zusammenwirken 
der  vorhandenen  Organminderwertigkeiten  wird  das  Bild  der  Neu¬ 
rose  sich  gestalten.  Von  Wichtigkeit  ist  die  Größe,  Verwandlungs¬ 
fähigkeit  und  Ausdauer  des  angeborenen  Aggressionstriebes,  weil 
diese  Faktoren  Gefühlskonflikte  bedingen,  oder  ein  Ausweichen, 
„ Sublim ieren“,  gestatten.  Von  großer  Bedeutung  ist  ferner  die 
Stellung  des  zu  Neurose  disponierten  Kindes  in  der  Familie,  ins- 
besonders,-  weil  sich  daraus  die  Situation  ergibt,  die  zum  Grund¬ 
risse  der  Neurose  wird.  In  dieser  Situation  ist  bereits  alles  an¬ 
gedeutet,  was  der  fertige  Neurotiker  an  krankhaften  Erscheinungen 
aufbringt,  die  Ursachen  für  den  krankhaften  Charakter  liegen  in 
ihr  zutage.  Dem  Zustand  einer  bestimmten  psychischen  Anaphy¬ 
laxie  gleich  gerichtete  psychische  Schädigungen,  des  späteren 
Lebens  erzeugen  den  verstärkten  Zustand  der  ursprünglichen  trau¬ 
matischen  Situation:  die  besondere  Neurose. 

Den  Schluß  des  Bandes  bildet  ein  Referat  von  Abraham- 
Berlin  über  Freuds  Schriften  aus  dem  Jahre  1893  bis  1909 
und  eines  über  die  österreichische  und  deutsche  psychoana¬ 
lytische  Literatur  bis  zum  selben  Jahre. 


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Ueber  den  Selbstmord. 

Von  Prof.  Robert  (hm pp. 

Zweite,  vermehrte  Auflage. 

München  1910,  Verlag  der  ärztlichen  Rundschau  Otto  Gmelin. 

Gau  pp  hat  sich  um  die  Klarstellung  von  Ursachen  und 
Motiven  des  Selbstmordes  durch  eigene  Erhebungen  während 
zweier  Jahre  bemüht  und  festgestellt,  daß  von  124  in  die  Klinik 
eingebrachten  Selbstmordkandidaten  eine  einzige  Person  als  psy¬ 
chisch  gesund  sich  erwies.  Darüber  hinausgehend  knüpft  Gau  pp 
allgemeine  Betrachtungen  an  das  für  unsere  Kultur  so  wichtige 
Problem  des  Selbstmordes. 

* 


Neurasthenie. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Otto  Yeragnth. 

Berlin  1910,  Julius  Springer. 

Das  Buch,  das  sich  bescheiden  eine  Skizze  nennt,  ist  her¬ 
ausgewachsen  aus  einer  Abhandlung,  die  in  den  Ergebnissen 
der  inneren  Medizin  und  Kinderheilkunde  erschienen  ist  und 
gliedert  sich  in  drei  Abschnitte.  Verf.  nimmt  -  -  um  mit  seinen 
Worten  zu  sprechen  -  die  Neurasthenie  als  eine  Krankheits¬ 
entität,  deren  physio  -  pathologische  Grundlage  eine  Störung  einer 
oder  mehrerer  oder  aller  Komponenten  der  Erregbarkeit  der  Ner¬ 
venzellen  ist.  Diese  Störungen  sind  der  Ausdruck  eines  abnormen 
Tonus  der  Neurone.  Die  Ursachen  der  chronischen  Abweichung 
vom  normalen  Tonus  können  zum  Teil  in  der  Struktur  der 
Neurone  präformiert  sein  (Disposition),  sie  müssen  aber  immer, 
selbst  im  Falle  der  konstitutionellen  Neurasthenie,  auch  aus  der 
Nachwirkung  von  Reizen  entstehen,  die  nach  Quantität,  Qualität, 
Dauer  und  Kombination  tonusschädigend  gewirkt  haben.  Die  To¬ 
nusanomalie  ist  bei  der  Neurasthenie  in  allen  Neuronen  anzu¬ 
nehmen,  aber  nicht  in  allen  gleich  stark  ausgeprägt,  nach  ihrem 
Vorwiegen  in  einzelnen  Neuronprovinzen  unterscheiden  sich  die 
klinischen  Unterarten  der  Krankheit.  Diesen  allen  aber  gemein¬ 
sam  ist  eine  Schädigung  des  Tonus  der  höchstdifferenzierten 
Neurone,  deren  Funktion  das  psychische  Geschehen  involviert.  Die 
neurasthenisebe  Anomalie  der  Psyche  betrifft  die 'ober-  und  unter¬ 
bewußten  Sphären,  erstere  durch  übernormal  ausgedehnte  De¬ 
pression  der  logisch-  und  affektiv  -  kritischen  Fähigkeiten,  letztere 
durch  Begünstigung  gefühlsbetonter  Komplexe  von  relativer 
Tenazidität. 

In  ähnlich  hochklingender  Darstellung  differenziert  der  Ver¬ 
fasser  gegenüber  der  Norm,  der  Zyklothymie,  dem  manisch- 
depressiven  Irresein,  der  Zwangs-  und  Angstneurose,  der  Hysterie, 
der  Dementia  praecox.  Er  sucht  positive  Zeichen  der  Neurasthenie, 
wobei  der  p.  g.  R.  und  das  Assoziationsexperiment  berührt 
werden.  Der  Verfasser  ist  besonders  eingenommen  für  Mannig¬ 
faltigkeit  des  Behandlungsplanes,  er  macht  gute,  kritische  Bemer¬ 
kungen  zur  Psychotherapie,  um  schließlich  den  Nutzen,  der  Ar¬ 
beitstherapie,  die  Notwendigkeit  von  Nervensanatorien  für  Wenig- 

bemittelte  gebührend  zu  vertreten. 

* 

Das  Problem  der  Willensfreiheit  in  theoretischer  und 
praktischer  Beziehung. 

Von  Dr.  Richard  Bescliore». 

Hannover  1910,  H  a  h  n  sehe  Buchhandlung. 


Von  einem  praktischen  Arzte,  der  natürlich  überzeugter 
Determinist  ist,  werden  die  beiden  kontrastierenden  V  eltanschau- 
umgen  miteinander  verglichen.  Die  Freunde  werden  seine  Aus¬ 
führungen  leicht  überzeugen.  Aus  wissenschaftlichen  Diskussionen 
sind  derartige  Debatten  längst  ausgeschaltet ;  mit  großem  Nutzen 
aber  wird  das  Büchlein  sich  wenden  an  Juristen,  Geschworene, 
Schöffen,  überhaupt  an  gebildete  Laien.  Hier  mag  es.  zum  Nach¬ 
denken  anregen ! 

* 


Die  Psychoneurosen  und  ihre  seelische  Behandlung. 

Von  Prof.  Paul  Dubois. 

Zweite,  durchgesehene  Auflage. 

Bern  1 910,  A.  Francke,  vormals  Schmid  &  F  r  a  n  c  k  e. 


Die  Vorlesungen  von  Dubois,  in  deutscher  Uebersetzung 
durch  Dr.  med.  Ringier,  erscheinen  gleichzeitig  im  französi¬ 
schen  Original  in  dritter  Auflage,  gewiß  ein  Zeugnis,  dafür,  daß 
sie  in  Laien-  wie  Aerztekreisen  gut  aufgenommen  wurden.  In  dem 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Geleitworte  setzt  Dubois  sich  mit  Zweiflern  und  Gegnern  seiner 
rationellen  Therapie  auseinander;  er  bleibt  unerschütterlich  bei 
seiner  Ueberzeugung,  nur  Hebung  der  Vernunft,  Erziehung  der 
Kranken  zur  Selbstbeherrschung,  dabei  äußerste  Wahrheitsliebe, 
Verzicht  auf  jedes  suggestive  Verfahren,  könne  seine  Heilresul¬ 
tate  erklären. 

* 

Die  Neuralgien,  ihre  Diagnose  durch  Algeoskopie  und 
ihre  Heilung  durch  bestimmte  Alkoholeinspritzungen. 

Von  Dr.  Karl  Francke,  München. 

Würzburg  1910,  Kurt  Kabitzsch  (A.  Stübers  Verlag). 

Im  vorliegenden  vierten  Hefte  des  zehnten  Bandes  der 
Würzburger  Abhandlungen  aus  dem  Gesamtgebiet  der  praktischen 
Medizin,  legt  der  Autor  bei  der  Diagnose  Neuralgie  besonderen 
Wert  auf  die  Algeoskopie,  das  heißt  die  Untersuchung  auf  krank¬ 
haften  Druckschmerz.  Gewiß  ist  dieses  Untersuchungsverfahron 
älter  als  das  Wort  Algeoskopie.  Weiters  werden  günstige  Erfolge 
einer  modifizierten  Sch  lös  s  ersehen  Methode  mitgeteilt;  der 
\  erfasser  spritzt  abgestufte,  zunächst  schwächere  Alkohollösungen 
ein.  Die  Technik  ist  genau  beschrieben. 

* 

Heinrich  von  Kleist. 

Eine  pathographisch-psychologische  Studie. 

Von  Dr.  J.  Sadger. 

Wiesbaden  1910,  J.  F.  Bergmann. 

Von  den  bekannten  Deutungen  abgesehen,  enthält  diese 
Schrift  allerdings  positive  Daten ;  •  sie  rechtfertigt  sich  auch  da¬ 
durch,  daß  die  Wahl  des  zu  pathographierenden  Objektes  auf 
eine  wirklich  schwer  psychopathische  Persönlichkeit,  auf  einen 
typischen  degenere  gefallen  ist.  Wir  lassen  uns  gern  überzeugen, 
daß  Kleist  homosexuell  empfand,  daß  er  masturbiert  hat  und 
sich  darum  mit  moralischen  und  hypochondrischen  Vorstellun¬ 
gen  herumquälte ;  ebenso  nehmen  wir  sein  unstetes,  zerfahrenes 
Verhalten  Frauen  gegenüber  wahr.  Daß  auch  sein  Patriotismus 
sexuell  erklärt  wird,  muß  aber  ausschließlich  der  Brille  Sadgers 
zugeschrieben  werden. 

*  i 

Ionischer  Beitrag  zur  Frage  der  Alkoholpsychosen. 

Von  Dr.  Wilhelm  Stöcker. 

Jena  1910,  Gustav  Fischer. 

Die  Arbeit  liefert  ein  überraschendes  Ergebnis:  Unter  90 
chronischen  Alkoholisten,  welche  in  der  Erlanger  Anstalt  und 
Klinik  behandelt  wurden  und  bei  denen  es  dem  Verfasser  möglich 
war,  Nachuntersuchungen  anzustellen,  erwiesen  sich  34  Fälle 
als  trinkende  Epileptiker,  27  als  Manisch-Depressive,  respek¬ 
tive  chronische  Manien,  14  als  Fälle  von  Dementia  praecox, 

4  Fälle  als  Hysteriker,  2  als  Psychopathen,  wohinter  aber  Stöcker 
Psychosen  vermutet,  1  Imbeziller,  1  Paralytiker,  1  Korsakoff, 
vielleicht  auf  arteriosklerotischer  Basis. 

Sohin  resümiert  Verf. :  Der  chronische  Alkoholismus  ist 
wohl  immer  in  erster  Linie  das  Symptom  einer  geistigen  Er¬ 
krankung;  er  vermag  jedoch  eine  bis  dahin  latente  und  vielleicht 
ohne  Alkoholabusus  noch  lange  latent  gebliebene  Epilepsie,  chro¬ 
nische  Manie,  Dementia  praecox  usw.  so  zu  steigern,  daß  es  zu 
einem  raschen  Auftreten  turbulenter  Krankheitserscheinungei  i 
kommt;  er  vermag  auch  für  einige  Zeit  dieser  Grundkrankheit 
ein  eigenartiges  Gepräge  oder  eine  eigenartige  Färbung  zu  geben, 
die  zunächst  sinnenfällig  in  die  Erscheinung  tritt  und  so  die 
Symptome  der  Grundkrankheil  verdecken  kann.  Er  vermag  ferner 
auch  auf  dem  Boden  dieser  Grundkrankheit  selbständige  Krank¬ 
heitsbilder  zu  erzeugen. 

Die  Krankengeschichten ‘■‘’aller  Fälle  sind  vom  Verfasser 
wiedergegeben.  Vielleicht  wäre  es1  möglich,  hie  und  da  bei  stren¬ 
gerer  Kritik  eine  Diagnose  zu  bezweifeln.  In  der  Hauptsache 
aber  muß  für  die  überraschenden  Befunde  eine  andere  Erklärung 
gefunden  werden.  Zunächst  einmal  in  der  Auswahl  seines  M;r 
teriales  und  darauf  weist  Stöcker  selbst  auch  hin.  Die  er¬ 
schwerten  Aufnahmebedingungen  einer  Irrenanstalt  verhindern, 
daß  die  Tausende  von  Rauschaufnahmen  eines  Großstadtasyls 
oder  einer  Beobachtungsstation,  in  die  Irrenanstalt  weitergeleitet 
werden.  Diese  Alkoholiker  werden  einfach  wieder  entlassen;  was 
in  der  Irrenanstalt  sich  ansanuneln  kann,  sind  eben  nur  die 


geisteskranken  Trinker.  Insoferne  dürfen  die  Resultate  der  sehr 
fleißigen  Arbeit  nicht  überschätzt  werden.  Sie  regen  zu  weiteren 
Erhebungen  an,  erfordern  jedenfalls  aber  eine  Ergänzung  durch 
eine  Statistik  über  Gewohnheitstrinker,  welche  nicht  Irrenanstalts- 
insassen  sind.  Hier  lernt  man  Stammgäste  kennen,  welche  durch 
Jahrzehnte  kommen  und  wieder  gehen,  die  nichts  anderes  sind 
als  Süchtige,  Degenerierte,  Psychopathen.  So  hat  es  den  Referenten 
direkt  gewundert,  daß  der  so  häufige  Typus  des  neuras thenischen 
Säufers  von  Stöcker  nicht  erwähnt  wird;  ebenso  möchten  wir 
hier  in  Wien  der  Alkoholhysterie  eine  größere  Häufigkeit  zuer¬ 
kennen,  als  dies  aus  der  Zusammenstellung  Stöckers  hervor¬ 
gehen  würde. 

* 

Die  Psychanalyse. 

Von  Dr.  L.  Frank. 

München  1910,  Ernst  Reinhardt. 

Ein  Vortrag,  gehalten  in  der  Versammlung  schweizerischer 
Psychiater  in  Zürich,  am  21.  November  1909.  Wesentlich  ein 
Bericht  und  eine  theoretische  Begründung  der  von  Frank  per¬ 
sönlich  geübten  Behandlungsmethode.  Die  Psychoneurotiker  wer¬ 
den  in  leichten  hypnotischen  Schlaf  versetzt,  welcher  die  Affekl¬ 
entspannung  ermöglicht.  Der  unzweifelhafte  Erfolg  dieser  Me-  j 
thode  wird  an  kurzen  Beispielen  gezeigt. 

* 

Arbeiten  aus  dem  neurologischen  Institute  (k.  k.  österr. 
interakademisches  Zentralinstitut  für  Hirnforschung) 
an  der  Wiener  Universität. 

Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  H.  Obersteiner. 

Bd.  18,  2.  Heft. 

Leipzig  u  Wien  1910,  Franz  Deuticke. 

Dals  Heft  eröffnet  der  Herausgeber  selber  mit  dem  am 
XVI.  internationalen  medizinischen  Kongreß  in  Budapest  gehal¬ 
tenen  Referate,  die  Funktion  der  Nervenzelle. 

Im  ersten  Abschnitte,  die  einzelnen  Bestandteile  der  Nerven¬ 
zelle,  schreibt  Ober  st  einer  dem  Kern  eine  Beziehung  zur 
inneren  Trophik,  zur  Ernährung,  zur  Aufrechthaltung  des  bio¬ 
chemischen  Gleichgewichtes  in  der  Nervenzelle  zu,  nebst  weiteren, 
vorderhand  nicht  präzisierbaren  Aufgaben  im  Leben  und  Wirken 
der  Nervenzelle.  Im  protoplasmatischen  Zellkörper  sind  die  Funk 
tionen  der  basophilen  Nißlschollen,  der  Fibrillen  und  der  Inter- 
fibrillarsubstanz  zu  unterscheiden.  Die  Funktion  der  Nißlschollen 
ist  mit  der  Aufspeicherung  von  chemischen  Kraftquellen  keines 
wegs  erschöpft,  ihnen  sind  gewisse  weitere  spezifische  Aufgaben 
anvertraut.  Den  Fibrillen  kommt  in  erster  Linie  die  Nervenleitung 
zu,  doch  aber  spielt  auch  die  Perifibrillärsubstanz  dabei,  speziell 
mi  Bereiche  der  Nervenzelle,  eine  nicht  unwesentliche  Rolle. 
Die  Dendriten  haben  eine  sehr  wesentliche,  spezifisch -funktio- 
nellc  Bedeutung,  die  sei  last  für  einzelne!  Dendriten  derselben  Zelle 
eine  verschiedene  sein  kann.  Das  hellgelbe  Pigment  kann  als 
Abfallsprodukt  des  Stoffwechsels  der  Zelle  angesehen  werden. 

Im  zweiten  Abschnitte  seines  Referates,  die  Nervenzelle  als 
Ganzes,  hält  Oberst  ein  er  die  Stoffwechselprozesse  in  der 
ruhenden  und  tätigen  Zelle  auseinander,  um'  weiters  die  Fragen 
nach  der  allen  Zellen  gemeinsamen  Leistung  und  den  Aufgaben 
der  einzelnen  Arten  von  Zellen  zu  beantworten.  Obersteiner 
ist  der  Anschauung,  daß,  wenn  wir  von  der  sichergestellten  trophi- 
schen  V  irksamkeit  der  Nervenzelle  absehen,  alle  übrige,  von 
einer  bloßen  Leitung  verschiedene  Nerventätigkeit  auf  die  Nerven¬ 
zellen,  den  Nervenfilz  und  wohl  auch  auf  die  Zwischensubstanz 
verteilt  ist.  In  kritischer  Darlegung  erfahren  wir,  was  für  Ansichten 
die  verschiedenen  Autoren  über  die  Tätigkeit  der  Zellen  haben. 
Sicher  ist  bezüglich  der  Nervenzellen  der  höheren  Tiere  eine 
Arbeitsteilung  im  weitesten  Maße  durchgeführt.  Eine  ganz  be¬ 
sondere  Schwierigkeit  macht  es,  die  psychischen  Vorgänge  in  die 
Nervenzellen  zu  lokalisieren. 

Den  Beschluß  bilden  die  Kapitel,  vitale  Vorgänge  an  den 
Nervenzellen  und  pathologische  Funktion  der  Nervenzelle.  Wenn¬ 
gleich  der  Nachweis  für  die  supponierte  Beweglichkeit  der  Nerven¬ 
zellen  nicht  erbracht  werden  konnte,  sind  doch  zahlreiche  Ver¬ 
änderungen  bekannt,  welche  die  physiologische  Tätigkeit  der  Zelle 
begleiten  sollen.  Mit  einem  hoffnungsvollen  Ausblicke  auf  Wege 
künftiger  Forschung  schließt  das  inhaltreiche  Referat. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Paul  Schilder,  vergleichend  histologische  Untersuchungen 
über  den  Nucleus'  sacralis  Stillingii.  Eine  Untersuchungsreihe, 
die  zahlreiche  morphologische  Details  bringt.  Bei  bestimmten 
Tierklassen  bietet  der  Nucleus  sacralis  oft  charakteristische  Eigen¬ 
tümlichkeiten  der  Lage,  Größe,  Anzahl  und  Form  der  Zellen. 
Bei  seinem  Aufbau  können  sich  Mittelzellen  und  Clarkesche 
Zellen  gegenseitig  vertreten,  es  finden  sich  auch  vermittelnde 
Zwischenformen. 

Dr.  Tamaki  T  oy  of  uku-Tokio,  Zur  Frage  der  Lagerung 
der  motorischen  Kerne  im  Hirnstamme.  Eine  Stellungnahme  zu 
der  Hypothese  Ariens  Kappers  über  die  Beeinflussung  der  Lage 
von  Kernen,  durch  die  sie  am  meisten  influenzierenden  Bahnen. 
Verf.  hat  eine  Reihe  von  Mißbildungen  untersucht  und  nirgends 
einen  Lageunterschied  des  siebenten  Kerns  bei  Fehlen  der  Pyra¬ 
midenbalm  gefunden.  Hier  liegt  also  ein  Widersprach  zu  den 
Beobachtungen  von  Ariens  Kappers,  was  eine  Erklärung  ver¬ 
langt. 

Dr.  Bertold  Spitzer,  Die  Veränderungen  desi  Ganglion 
Gasseri  nach  Zahnverlust.  Der  Autor  untersucht  nach  Durch- 
sclrneidung  -des  Nervus  mandibuiaris  beim  Hunde  die  Verände¬ 
rungen  im  zugehörigen  Ganglion  Gasseri  und  findet  Degeneration 
von  Zellen  diffus1  durch  das  ganze  Ganglion.  Beim  Menschen 
können  sich  trotz  intakten  Gebisses  interstitielle  Veränderungen 
finden,  wenn  sie  durch  eine  schwere  allgemeine  Infektionskrank¬ 
heit  bedingt  sind.  Bei  Zahnlosen  hingegen  registriert  er:  Eine 
über  das  Maß  des  Normalen  hinausgehende  Atrophie  der  Zellen, 
eine  diffus  im  Ganglion  verteilte  axonale  Degeneration  einzelner 
Zellen,  das  Vorkommen  plaqueartiger  Bindegewebsherde,  die  offen¬ 
bar  im  Anschluß  an  den  Zellausfall  entstanden  sein  dürften.  Die 
einzelnen  Befunde  werden  näher  beschrieben  und  auf  den  Pa¬ 
rallelismus  zwischen  Zahnverlust  und  dauernden  Veränderungen 
im  Ganglion  Gasseri  hingewiesen. 

Zdislaw  Reich.  Beiträge  zur  Neuromenfrage.  Dem  Ver¬ 
fasser  scheinen  ebenso  Ganglienzellen  wie  Schwann  sehe  Zellen 
oder  die  den  beiden  Zellarten  gemeinsame  nicht  differenzierte 
Mutterzelle  als  Ausgangskeim  einer  nervösen  Geschwulst  a  priori 
denkbar.  Man  könnte  also  dreierlei  Neurome  unterscheiden,  die 
neben  Nervenfasern,  welche  die  Hauptmasse  des  Tumors  aus¬ 
machen,  drei  verschiedene  Arten  von  Zellen  führen,  Ganglien¬ 
zellen,  embryonale  Nervenzellen  und  Schwann  sehe  Zellen. 
Außerdem  gibt  es  Neurome,  für  die  der  Ausdruck  piale  oder 
Aberrationsneurome  als  entsprechendster  zu  akzeptieren  wäre. 
Reich  selbst  findet  solche  dreimal  unter  acht  Fällen  tabischer 
Rückenmarke,  beschreibt  und  deutet  seine  Befunde. 

Robert  Löwy,  Zur  Frage  der  superfiziellen  Körnerschichte 
und  Markscheidenbildung  des  Kleinhirns,  ihre  Beziehungen  zum 
Lokalisationsproblem  und  zur  Gehfähigkeit.  An  einer  großen  Reihe 
von  Embryonen  verfolgt  der  Autor  die  histogenetische  Entwick¬ 
lung  des  Kleinhirns  und  konnte  konstatieren,  daß  die  superfizielle 
Körnerschichte  bei  den  einzelnen  Spezies  zu  verschiedenen  Zeit¬ 
perioden  verschwindet,  nicht  an  allen  Stellen  gleichzeitig,  in 
zwei  mehr  oder  minder  ausgeprägten  Perioden.  Auch  in  bezug  auf 
die  Markscheidenbildung  fand  Löwy,  daß  dieselbe  eine  Ein¬ 
teilung  der  Spezies  in  zwei  Gruppen  verlangt,  bedeutend  rascher 
vor  sich  geht  im  Wurm  als  in  der  Hemisphäre.  Die  Lebensperiode 
kurz  nach  der  Geburt  wirkt  besonders  anregend  auf  die  Mark¬ 
scheidenbildung  in  der  Kleinhirnrinde. 

Auf  Grand  dieser  histogenetischen  Tatsachen  und  dem  bio¬ 
logischen  Verhalten  der  einzelnen  Spezies  war  zu  schließen, 
daß  die  Kleinhirnrinde  ein  Komplex  funktionell  verschieden  wir¬ 
kender  Teile  sei,  daß  das  Verschwinden  der  superfiziellen  Körner¬ 
schichte  und  die  Markscheidenbildung  im  Zusammenhang  mit  der 
Gehfähigkeit  der  Tiere  stehen. 

Dr.  Max  Landau,  Zur  Frage  der  Fettdegeneration  der  quer¬ 
gestreiften  Muskulatur.  Dem  Autor  handelte  es  sich  darum,  zu 
bestimmen,  bei  welchen  Erkrankungen  Fett  in  den  Muskelfasern 
auftritt  und  in  welchem  Grade.  Er  hat  demgemäß  Stückchen  aus 
der  Beinmuskulatur  von  60  Leichen  histologisch  untersucht,  mit 
dem  Ergebnisse,  daß  sowohl  unter  den  akuten  wie  unter  den 
chronisch  entzündlichen  Krankheiten  gewisse  Prozesse  am  ehesten 
den  Zustand  einer  Degeneration  der  Körpermuskulatur  hervor- 


rufen  können.  Alle  in  der  Literatur  vertretenen  Anschauungen 
über  die  Verfettung  der  quergestreiften  Muskulatur  sind  berechtigt. 

Den  Band  zieren  28  Abbildungen. 

* 

Anleitung  zur  Untersuchung  Geisteskranker  und  Aus¬ 
füllung  der  ärztlichen  Aufnahmefragebogen  deutscher, 
österreichischer  und  schweizerischer  staatlicher  Irren¬ 
anstalten. 

Von  Dr.  Max  Dost. 

Leipzig  1910,  F.  C.  W.  Vogel, 

Der  Verfasser  wendet  sich  an  die  praktischen  Aerzte,  denen 
er  zunächst  eine  genaue  Anleitung  zur  Aufnahme  der  Anamnese 
gibt.  Zu  unterstreichen  ist  die  Feststellung,  daß  es  im  Auf- 
nahmsparere  weniger  darauf  ankommt,  eine  spezielle  Form  von 
Geistesstörung  zu  diagnostizieren,  als  die  einzelnen,  möglichst 
gut  beobachteten  Krankheitssymptome  vollzählig  aufzuführen.  Auf 
die  Technik  der  Aufnahme  des  psychischen  und  somatischen 
Status'  folgt  ein  kurzes  Diagnostikum,  das  allerdings  den  er¬ 
strebten  Zweck  nicht  ganz  erreichen  dürfte.  Willkommen  hingegen 
ist  eine  Zusammenstellung  der  Aufnalünemodalitäten  und  Bedin¬ 
gungen  der  Irrenanstalten  deutscher  Zunge.  Alles  in  allem  ein  für 
den  Praktiker  sehr  geeignetes  Orientierungsbüchlein. 

E.  Raimann. 

* 

Howard  Taylor  Ricketts  und  seine  Arbeiten  über  das 
Tabardillo  (mexikanisches  Fieber). 

Herausgegeben  vom  Ministerium  für  den  öffentlichen  Unterricht  und  für 
die  schönen  Künste  auf  Grund  eines  Beschlusses  des  Präsidenten  der 

Republik  Mexiko. 

Das  in  spanischer  Sprache  erschienene  Werk1)  ist  dem  An¬ 
denken  Howard  Taylor  Ricketts  gewidmet,  welcher  am 
3.  Mai  1910  an  mexikanischem  Typhus  starb,  mit  dem  er  sich 
im  Verlaufe  seiner  Forschungen  über  diese  Krankheit  infizierte. 
Das  Werk  enthält:  1.  Die  Dokumente,  den  Tod  Ricketts  be¬ 
treffend.  2.  Seine  und  seines  Mitarbeiters  Sen.  Russel  M.  Wil¬ 
ders  Arbeiten,  die  Aetiologie  des  Manchadafiebers  und  des  mexi¬ 
kanischen  Typhus  betreffend.  3.  Die  Rede,  welche  Wilder  bei 
der  Enthüllung  der  Gedenktafel  im  Institute  für  Bakteriologie 
in  Mexiko  hielt.  Die  Gedenkrede  Wilders  würdigt  die  Persön¬ 
lichkeit  Howard  Taylor  Ricketts  und  seine  Verdienste  um 
die  Erforschung  des  Manchadafiebers  und  des  Tabardillo.  Das 
Manchadafieber  ist  bekannt  durch  die  großen  Unterschiede  in 
der  Heftigkeit  seines  Auftretens.  In  manchen  Gegenden  beträgt 
die  Mortalität  70  bis  80°/o,  in  anderen  weniger  als  5%.  Das 
Fieber,  welches  nur  im  Frühjahre  vorkommt,  wird  durch  die 
Zecke  übertragen.  Ricketts  konnte  die  Uebertragbarkeit  des 
Fiebers  auf  Affen  und  Hunde  nachweisen.  Das  Manchadafieber 
ist  bei  der  Zecke  auch  hereditär  übertragbar.  Die  frisch  aus  den 
Eiern  einer  infizierten  Zecke  geschlüpften  jungen  Zecken  können 
ein  gesundes  Tier  infizieren.  Ricketts  konnte  auch  die  Ent¬ 
deckung  des  Erregers  des  Manchadafiebers  ankündigen.  Es  ist 
dies1  ein  kleiner,  in  der  Regel  bipolarer  Bazillus,  welcher  dem 
Pestbazillus  außerordentlich  ähnelt.  Dieser  Mikroorganismus  findet 
sich  im  Blute  der  infizierten  Zecken  und  Menschen.  In  den  Eiern 
der  Zecken  findet  sich  der  Mikroorganismus  in  so  großer  Menge, 
daß  eine  Emulsion  derselben  zur  Anstellung  der  Agglutinations¬ 
probe  genügt.  Im  Serum  von  Tieren,  welche  diese  Krankheit  über¬ 
standen  haben,  war  agglutinierende  Fähigkeit  für  diesen  Bazillus 
selbst  bei  einer  Verdünnung  von  1:100  nachweisbar.  Normales 
Serum  hatte  diese  Eigenschaft  nicht.  Die  Spezifität  der  Reaktion 
konnte  nur  durch  die  Annahme  eines  kausalen  Zusammenhanges 
zwischen  der  Krankheit  und  dem  Bazillus  erklärt  werden.  Einige 
andere,  noch  nicht  veröffentlichte  Tatsachen  bestätigen,  daß'  die 
Aetiologie  des  Manchadafiebers  als  gesichert  angesehen  werden 
darf.  Der  Nachweis,  daß  eine  bazilläre  Infektion,  wie  das  Man¬ 
chadafieber,  durch  Insekten  übertragen  wird,  zerstört  das  Axiom, 
daß  die  durch  Insekten  übertragenen  Krankheiten  immer  para¬ 
sitären  Ursprunges  sein  müssen.  Während  der  Beschäftigung  mit 
dem  Manchadafieber  wurde  Ricketts  Aufmerksamkeit  auf  das 
mexikanische  Fieber  oder  Tabardillo  gelenkt.  Die  klinische  Aehn- 
lichkeit  zwischen  beiden  Krankheiten  war  bekannt.  Ricketts 

')  Mexiko,  Tip.  de  la  Vda  de  F.  Diaz  de  Leon,  Sues  1910. 


4-60 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


mutmaßte,  daß  diese  beiden  Krankheiten  Zweige  einer  Gruppe 
hämorrhagischer  Septikämien  seien,  zu  der  vielleicht  auch  die 
Bubonenpest  gehöre.  Er  durfte  hoffen,  daß  seine  beim  Manchada- 
fieber  gewonnenen  Erfahrungen  ihm  beim  Studium  des  mexi¬ 
kanischen  Typhus  zugute  kommen  würden.  Das  Ergebnis  dieser 
Studien  war:  Affen  der  Spezies  Macacus  rhesus  erwiesen  sich 
für  den  mexikanischen  Typhus  als  empfänglich,  wenn  sie  mit 
Blut  infiziert  wurden,  welches  an  dieser  Krankheit  Leidenden 
entnommen  worden  war.  Damit  war  erwiesen,  daß  das  Virus 
im  Blute  vorkommt.  Es  zeigte  sich,  daß,  wenn  auch  das  Man- 
chadafieber  und  der  mexikanische  Typhus  einige  gemeinsame 
Punkte  haben,  sie  doch  verschiedene  Krankheiten  darstellen. 
Affen,  die  von  mexikanischem  Fieber  geheilt  worden  waren, 
konnten  noch  mit  Manchadafieber  infiziert  werden.  Gegen  das 
Manchadafieber  immune  Affen  waren  nicht  auch  gleichzeitig 
immun  gegen  Tabardillo.  Es  konnte  ferner  gezeigt  werden,  daß 
sich  Tabardillo  abgeschwächt  beim  Affen,  durch  den  Biß  von 
Kleiderläusen  hervorrufen  lasse,  die  auf  einem  an  dieser  Krank¬ 
heit  Leidenden  gelebt  hatten.  Wenn  ein  Affe  einen  so  erzeugten 
Fieberanfall  überstanden  hatte,  erwies  er  sich  durch  einige  Zeit 
als  immun  gegen  Tabardillo.  Die.  Zahl  der  Kleiderläuse,  welche 
notwendig  war,  um  einen  Affen  zu  infizieren,  betrug  17.  Diese 
konnten  in  ihrem  Körper  höchstens  0-2  cm3  Blut  eines  Kranken 
enthalten.  Da  beim  direkten  Versuche  mit  denn  Blute  von  Kranken 
diese  Menge  sich  als  ungenügend  zur  Infektion  erwies,  mußte  an¬ 
genommen  werden,  daß  das  Virus  sich  im  Körper  der  Kleider¬ 
laus  vermehre.  Das  Virus  des  mexikanischen  Typhus  geht  zum 
größten  Teile  nicht  durch  ein  Berkefield-Filter.  Gesunde  Affen 
wurden  mit  der  gleichen  Menge  Blut  und  Serum  von  einem  an 
Tabardillo  Leidenden  infiziert.  In  einem  Falle  war  das  Serum 
früher  filtriert  worden.  Das  damit  inokulierte  Tier  blieb  gesund, 
während  das  Tier,  welches  das  nichtfiltrierte  Serum  injiziert  be¬ 
kam,  das  typische  Krankheitsbild  des  mexikanischen  Typhus 
zeigte.  Aus  diesem  Verhalten  geht  hervor,  daß  die  die  Krankheit 
erregenden  Mikroorganismen  genügend  groß  sein  dürften,  um  mit 
dem  Mikroskope  gesehen  zu  werden.  Kurze  Zeit  vor  seinem  Tode 
kündigte  Ricketts  die  Entdeckung  eines  bazillären  Mikroorga¬ 
nismus  im  Blute  von  Täbardillokranken  an.  Die  Zukunft  muß 
zeigen,  ob  dieser  Bazillus  die  Ursache  der  Krankheit  ist  oder 
nicht.  Die  mit  Wanzen  und  Flöhen  ausgeführten  Experimente 
ergaben,  daß  keines  dieser  Insekten  den  Typhus  übertragen  könnte. 
Von  der  Identität  oder  Nichtidentität  des  Tabardillo  mit  dem 
Typhus  der  Alten  Welt  wird  es  ab  hängen,  ob  diese  Experimente, 
die  Uebertragbarkeit  des  Typhus  betreffend,  als  neu  anzusehen 
sein  werden  oder  ob  sie  bloß  als  Bestätigung  früherer  Beobach¬ 
tungen  von  N  i  c  o  1 1  e  über  den  europäischen  Typhus  aufgefaßt 
werden  müssen.  Es  gibt  viele  klinische  Unterschiede  zwischen 
beiden  Krankheiten.  So  scheint  Macacus  rhesus  für  die  In¬ 
fektion  mit  europäischem  Typhus  nicht  empfänglich  zu  sein. 
Die  Inkubationszeit  beim  europäischen  Typhus  variiert  zwischen 
24  und  40  Tagen,  während  die  fieberhafte  Temperatursteigerung 
bei  mit  Tabardillo  infizierten  Affen  schon  nach  fünf  bis  zwölf 
Tagen  beginnt.  Die  Erzeugung  eines  Typhus  mit  hämorrhagischer 
Eruption  ist  Ricketts  und  Wilder  im  Gegensätze  zu  Nie  olle, 
der  mit  europäischem  Typhus  experimentierte,  bei  ihren  Ver¬ 
suchstieren  nicht,  gelungen.  Das  Ergebnis  der  Forschungen  über 
das  mexikanische  Fieber  zeigt  den  Weg,  auf  welchem  diese 
Krankheit  ausgerottet  werden  kann.  Die  Bereicherung  des  mensch¬ 
lichen  Wissens,  welches  die  Welt  Howard  Taylor  Ricketts 
verdankt,  wird  ihm  ein  dauerndes  Denkmal  im  Andenken,  seiner 
Mitmenschen  setzen.  M.  Weisz. 

* 

Atlas  chirurgischer  Krankheitsbilder  in  ihrer  Verwertung 
für  Diagnose  und  Therapie  für  praktische  Aerzte  und 

Studierende. 

\  on  Dr.  Pli.  Bockenlieimer,  Universitätsprofessor  und  Privatdozent  der 
Chirurgie  an  der  Univei’sität  in  Berlin. 

Zweite,  vermehrte  Auflage. 

150  farbige  Abbildungen  auf  120  Tafeln  nebst  ertäuterndem  Text. 

Berlin  und  W  i  e  n  1910,  V  r  b  a  n  &  Schwarzenberg. 

Nach  Ablauf  von  2*/2  Jahren  liegt  eine  zweite  Auflage  dieses 
schönen  Werkes  vor,  dem  schon  bei  seinem  ersten  Erscheinen  an 
dieser  Stelle  eine  warme  Empfehlung  mit  auf  den  Weg  gegeben 


Nr.  13 


wurde.  In  alle  Kultursprachen  übersetzt,  hat  die  Aerzteschaft  der 
ganzen  Welt  hiemit  einen  sehr  wertvollen  Behelf  gewonnen,  um  in 
Wort  und  Bild  sich  mit  dem  Studium  der  chirurgischen  Pathologie 
zu  befassen,  alle  einschlägigen  Krankheitstypen  in  getreuer  Wieder¬ 
gabe  sich  einzuprägen  und  aus  einem  gut  geschriebenen  Texte,  der 
das  Wesentliche  prägnant  zusammenfaßt,  all  das  zu  erlernen,  was 
für  Diagnose,  Differentialdiagnose,  Prognose  und  Therapie  von  Be¬ 
deutung  ist.  Alex.  Fraenkel. 


Aus  versehiedenen  Zeitsehriften. 

314.  (Aus  der  chirurgischen  Hospitalklinik  der  Universität  in 
Moskau.)  Weitere  Erfahrungen  Uber  die  Desinfektion 
der  Hände  und  des  Operationsfeldes  mittels  Alko¬ 
hol  tannin.  Von  Dr.  A.  Jabludowski,  Assistenzarzt.  Im 
»Zenlralblatt  für  Chirurgie«  1910,  Nr.  8,  hat  Vcrf.  bereits  Uber 
seine  Methode  der  Desinfektion  berichtet,  jetzt  möchte  er  manches 
ergänzen.  Die  bakteriologischen  Beobachtungen  ergaben,  daß  zwei 
Minuten  für  die  Bearbeitung  der  Hände  und  eine  Minute  für 
das  Operationsfeld  mit  50/0iger  Alkoholtanninlösung  (95°/0iger  Alkohol) 
genügen,  damit  die  Lösung  vollständig  ihre  Wirkung  ausübt.  Verfasser 
prüfte  seine  Methode  im  Vergleich  zu  anderen  Verfahren  (5  Minuten 
Bearbeitung  der  Hände  mit  Jodbenzinparaffin,  4  Minuten  Alkohol¬ 
azeton,  5  Minuten  95°/0iger  Alkohol,  2  Minuten  5°/0iges  Alkohol- 
tannin)  und  bringt  den  Nachweis  der  Sicherheit  und  größeren  Ein¬ 
fachheit  seines  Verfahrens  bei  Zeitersparnis.  Die  Hände  bekommen 
beim  Alkoholtannin  ein  trockenes,  glänzendes  Aussehen,  so  daß  man 
glauben  könnte,  man  habe  es  mit  einer  Art  Hautlackierung  zu  tun. 
Es  lehrten  weitere  Versuche,  daß  diese  Art  des  Gerbens  der  Haut 
eine  anhaltende  ist,  daß  die  Haut  die  in  ihr  enthaltenen  Bakterien 
durch  andere  spätere  Prozeduren  (Waschen  in  sterilem  Wasser,  in 
physiologischer  Kochsalzlösung,  künstliches  Schwitzen,  Einwirkung 
von  Wasserdampf)  nicht  entblößt,  daß  auch  das  vorhergehende 
Waschen  mit  Wasser  und  Seife  die  Wirkung  des  Alkohollannins 
nicht  beeinträchtigt.  Beim  Alkoholtannin  ist  also  nicht,  wie  bei 
anderen  Methoden,  welche  das  Wasser  fürchten,  das  vor!)  ergehen  de 
Waschen  kontraindiziert.  Dieses  Waschen  ist  z.  B.  da  nicht  über¬ 
flüssig.  wenn  die  Hände  Spuren  sichtbaren  Schmutzes  tragen,  es 
sollen  überhaupt  Hände  und  Nagelräume  in  gewöhnlichem  Sinne 
des  Wortes  rein  sein.  Langes  Waschen  ist  nun  beim  Alkoholtannin 
überflüssig,  was  in  manchen  Fällen  von  Dringlichkeit  des  Falles 
von  Bedeutung  sein  kann.  An  obgenannter  Klinik  haben  nun  ein¬ 
zelne  Aerzte  das  vorhergehende  Waschen  mit  Wasser  und  Seife  auf 
10  bis  12  Minuten  ausgedehnt,  andere  haben  sich  mit  2  bis 
3  Minuten  begnügt,  die  günstigen  Resultate  blieben  in  beiden  Fällen 
gut.-  Verf.  selbst  geht  so  vor:  Der  Kranke  nimmt  einen  Tag  vor 
der  Operation  ein  Bad.  Das  Operationsfeld  wird  mit  Seife  rasiert 
und  einige  Minuten  lang  gewaschen.  Zu  starkes  Reiben  ist  zu  ver¬ 
meiden,  da  es  zu  Schrunden  und  Exkoriationen  führt  und  Derina- 
litiden  mit  allen  Folgen  begünstigt.  Schon  während  der  Narkose 
reibt  man  das  Operationsfeld  mehrmals  mit  in  Alkoholtannin  ge¬ 
tränkter  Gaze,  was  1  bis  2  Minuten  beansprucht.  Die  Hände  werden 
2  bis  3  Minuten  lang  mit  Wasser  gewaschen,  dann  zieht  man  einen 
sterilen  Mantel  an  ;  unterdessen  trocknen  die  Hände,  man  reibt  sie 
mit  Alkoholtannin  ab,  schenkt  dabei  den  Nägeln  besondere  Auf¬ 
merksamkeit,  wozu  auch  2  Minuten  genügen.  In  dieser  Weise 
wurden  232  Operationen  ausgeführt,  darunter  54  Ilerniotomien. 
Einmal  Eilerung  in  den  Hautnähten  mit  Temperatur  von  höchstens 
3 7' 7°,  einmal  ein  unbedeutendes  Infiltrat,  das  am  vierten  Tage 
schwand,  zweimal  Hämatome  ohne  Eiterung.  Tadellose  Heilung  von 
neun  Herniotomiewunden,  die  bei  diesem  Desinfektionsverfahren  von 
Studenten  unter  Assistenz  junger  Aerzte  an  einem  Tage  gemacht 
wurden  etc.  Wenn  schon  Komplikationen  auftraten,  z.  B.  hei 
Appendektomien,  so  hingen  sie  nicht  von  einer  Uebertretung  der 
aseptischen  Regeln  ab,  sondern  waren  im  Organismus  selbst  be¬ 
gründet.  Es  wurde  ohne  Mützen,  Masken  und  Handschuhe  operiert, 
cs  gab  keine  Operationszimmer  für  septische  und  aseptische  Fälle. 
Unangenehm  sind  die  bei  diesem  Verfahren  zuweilen  auftretenden 
dunkelblauen  oder  schwarzen  Flecke  an  den  Händen  (bei  Benützung 
nicht  gut  vernickelter  Instrumente,  Eisenreaktion  !),  welche  Flecke 
durch  eine  l%ige  Oxalsäurelösung  entfernt  werden.  Auch  die  Dielen 
wurden  so  gereinigt.  Auch  die  Wäsche  wird  gelb,  resp.  bei  Zutritt 
von  Blut  dunkel,  man  muß  also  vorsichtig  sein,  um  solche  Flecke 


Nr.  IB 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


461 


zu  vermeiden.  Sie  schwinden  auch  bei  Anwendung  einer  Oxalsäure- 
ösung.  Die  Hände  der  Operateure  werden  sonst  in  keiner  Weise 
geschädigt.  —  (Deutsche  med.  Wochenschr.  1911,  Nr.  9.)  E.  F. 

* 

315.  Ueber  Pituitrinwirkung  bei  post  partum- 
Blutungen.  Von  Priv.-Doz.  A.  Foges  und  Dr.  R.  Hofstätter. 
v.  Frankl -Hoch wart  und  Fröhlich  beobachteten,  daß  Pitui¬ 
trin  (ein  aus  dem  infundibulären  Anteil  der  Hypophyse  herge- 
stellter  Extrakt)  die  Uterusmuskulatur  zur  Kontraktion  anregt. 
Auf  Grund  dieser  Beobachtung  versuchten  Foges  und  Hof¬ 
stätter  an  der  Klinik  Wertheim  das  Pituitrin  bei  Blutungen 
post  partum.  Es  wurde  gefunden,  daß  das  Mittel  in  jeder  Form 
der  Verabreichung  —  per  os,  intramuskulär,  intravenös  —  voll¬ 
kommen  unschädlich  ist  und  igut  vertragen  wird.  Die  Verwendung 
per  os  erscheint  wertlos;  bei  intramuskulärer  Applikation  bis 
zu  2  cm3  stellt  sich  nach  längstens  zwei  Minuten  ein  Zustand 
der  Uebererrogbarkeit  des  Uterus  ei;n,  welcher  Zustand  durch 
längere  Zeit  bestehen  bleibt.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie 

1910,  Nr.  46.)  E.  V. 

* 

316.  (Aus  der  kgl.  Universitätspoliklinik  für  Hals-  und 
Nasenkranke  zu  Königsberg.)  Die  nichtspezifischen  ulze¬ 
rösen  Erkrankunge n  d e r  M u n d r a c h e n h ö h  1  e  u n d  S a  1  v- 
arsan.  Von  Prof.  Gerber.  Verf.  befaßt  sich  mit  dem  Kapitel 
der  Spirochätenerkrankungen  der  Mundrachenhöhle,  bespricht  sehr 
eingehend  die  Morphologie  der  Spirochäten,  worüber  noch  eine 
sehr  große  Unklarheit  herrscht,  und  wendet  sich  dann  der  Frage 
zu,  ob  die  Plaut- Vincentsche  Angina  eine  Erkrankung  sui 
generis  ist?  Verf.  hat  seit  einiger  Zeit  jeden  einschlägigen  Fall 
bakteriologisch  untersucht  und  in  allen  Fällen  von  Stomatitis 
und  Gingivitis  Spirochäten  und  fusiforme  Bazillen  in  großen 
Mengen  gefunden,  in  vielen  die  Spirochäten  so  vorherrschend, 
gleichsam  in  Reinkulturen,  wie  bei  der  Plaut-Vincent  sehen 
Angina.  Auch  in  einem  der  mitgeteilten  Fälle  von  PI  aut- Vin¬ 
ce  nt  scher  Angina  bestand  gleichzeitig  eine  Gingivitis  marginalis 
und  der  Abstrich  vom  Zahnfleisch  bot  genau  dasselbe  Bild  wie 
von  der  Tonsille.  Auch  Miller  hat  für  die  Gingivitis  marginalis 
die  Spirochäten  direkt  als  Erreger  in  Anspruch  genommen,  eben¬ 
so  wie  für  eine  Form  der  Pulpitis,  für  Periostitiden  und  Abszesse. 
Weiterhin  hat  Verfasser,  ebenso  wie  Röna,  die  Spirochäten  in 
einem  Falle  von  Stomatitis  mercurialis  massenhaft  gefunden  und 
schließlich  gab  ein  mitgeteilter  Fall  von  Skorbut  Aufschluß 
über  den  Zusammenhang  der  Zahnfleischaffektionen  mit  Ulzera- 
tionen  der  Tonsillen.  Dieser  Patient,  ein  23jähriger  Matrose,  war 
auf  einer  langen  Seereise  an  Skorbut  erkrankt  und  hat  schon 
lange  an  Schwellung  und  Blutungen  des  Zahnfleisches  gelitten. 
Erst  in  der  letzten  Zeit  gesellten  sich  Schmerzen  im  tieferen 
Halse  hinzu.  Daraus,  sowie  aus  dem  mikroskopischen  Befunde 
und  aus  dem  therapeutischen  Effekt  geht  deutlich  die  Zusammen¬ 
gehörigkeit  der  Zahnfleischaffektionen  mit  der  ronsillaraffektion 
hervor.  Als  nun  feststand,  daß  Salvarsan  nicht  nur  die  Lues, 
sondern  auch  die  anderen  Spirochätenerkrankungen  zu  beein¬ 
flussen  vermag,  war  für  alle  diese  Affektionen  ein  wichtiges 
Reagens  gegeben  und  es  war  für  den  Verfasser  natürlich,  jos 
zuerst  bei  der  Plaut- Vincentschen  Angina  zu  prüfen,  fälle 
von  Ehrlich  selbst  mitgeteilt,  von  Rumpel  und  vom  Ver¬ 
fasser  zeigten  ein  promptes  Verschwinden  der  Spirochäten  und 
implicite  der  klinischen  Erscheinungen.  Nachdem  Verfasser  in 
dem  mitgeteilten  Falle  von  Skorbut  Spirochäten  in  solcher  Masse 
gefunden  hatte,  daß  an  einen  zufälligen  Befund  nicht  zu  denken 
war,  zögerte  er  nicht,  auch  hier  Salvarsan  anzuwenden.  Er  sah 
ein  promptes  Verschwinden  sowohl  der  klinischen  Erscheinungen 
wie  auch  der  Spirochäten.  Ja,  letztere  reagierten  schneller  und 
vollständiger  wie  die  beiden  Fälle  von  Plaut-  V  incen  tschei 
Angina.  In  der  Mundrachenhöhle  reinigte  sich  zuerst  und  rasch 
das  Zahnfleisch,  dann  folgte  die  Abheilung  der  Tonsillargeschwüre. 
Es  ist  also  dem  Verfasser  nicht  zweifelhaft,  daß  man  neben 
der  Plaut- Vincentschen  Angina  noch  eine  ganze  Reihe  der 
entzündlichen  und  ulzerösen  Erkrankungen  der  Mund-  und  Rachen¬ 
höhle  zu  den  Spirochätenerkrankungen  zu  rechnen  hat,  so  die 
Gingivitis,  die  Stomatitis  simplex  wie  mercurialis,  manche  peno- 
stitische  und  peribukkale  Abszesse,  den  Skorbut  und  vielleicht 
auch  die  Noma.  Alle  diese  Affektionen  gehören  demnach  zu¬ 


sammen,  sie  bilden  eine  ätiologisch  einheitliche  Gruppe,  in  der 
die  Plaut- Vincentsche  Angina  nur  ein  besonders  markantes 
Glied  ist.  Daran,  daß  Spirochäten  und  fusiforme  Bazillen  für  diese 
Gruppe  die  Erreger  sind,  ist  nicht  mehr  zu  zweifeln.  Bestand  noch 
ein  Zweifel,  so  ist  er  durch  die  Wirkung  des  Salvarsans  be¬ 
seitigt.  Die  Heilung  durch  Salvarsan  beweist,  daß  die  geheilte 
Krankheit  eine  Spirochätenerkrankung  war.  Das  hat  nach  Ver¬ 
fasser  nicht  nur  ein  wissenschaftliches,  sondern  auch  ein  prak¬ 
tisches  Interesse  für  alle  die,  die  aus  der  Heilung  eines  Ge¬ 
schwüres  der  Mundrachenhöhle  durch  Salvarsan  auf  den  syphili¬ 
tischen  Charakter  des  Geschwüres  schließen  wollen.  Es  hat  aber 
auch  ein  therapeutisches  Interesse.  Denn  wenn  man  auch  nicht 
bei  jeder  leichten  Gingivitis  zum  Salvarsan  greifen  wird,  so  wird 
es  doch  bei  den  schweren  Fällen  von  Stomakake,  Skorbut  und 
Noma  indiziert  sein.  Was  es  dabei  leistet,  zeigt  des  Verfassers 
Fall  in  eklatanter  Weise.  —  (Münchener  medizinische  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  9.)  >  G. 

* 

317.  V  or  besungen,  über  spezielle  Therapie  der 
Geisteskrankheiten.  VonNießl  v.  Mayendorf.  Man  kann 
weder  von  rein  exogenen,  noch  von  rein  endogenen  Psychosen 
sprechen,  weil  die  Veranlagung  stets  mitzuspielen  scheint,  auch 
wenn  die  nachgewiesene  auslösende  Ursache  greifbar  in  den 
äußeren  Einflüssen  wurzelt.  Veranlagung  und  Heredität  decken 
sich  nicht.  Heredität  gibt  erst  den  Boden  ab,  auf  welchem  sich 
die  Anlage  zur  Psychose  entwickelt  oder  sie  hat  überhaupt  nichts 
damit  'zu  tun  und  die  Anlage  fundiert  sich  auf  Residuen  von  Ge¬ 
hirntraumen  oder  abgelaufenen  Großhirnerkrankungen  des  Kindes¬ 
alters.  Durch  Hygiene  des  Nervensystems  kann  man  Geistes¬ 
krankheiten  nicht  wirklich  verhindern.  Durch  zweckmäßige  Wahl 
des  Keimes  könnte  allerdings  die  gefährliche  Anlage  nicht  zur 
Entwicklung  gebracht  werden.  Aber  wenn  alle  Keimgefahren  pro¬ 
phylaktisch  sicher  ausgeschlossen  werden  sollten,  gelangt  man 
zu  einem  praktisch  undurchführbaren  Extrem,  welches  erst  noch 
mehr  schaden  als  nützen  würde,  da  dann  der  Geschlechtstrieb 
unausweichlich  außerhalb  der  Ehe  um  so  maßloser  sich  mit 
unheilvollen  Konsequenzen  betätigen  würde,  der  Arzt  gebe  also 
lieber  unbedingt  die  Zustimmung  zur  Ehe,  falls  nicht  einer  der 
Heiratskandidaten  selbst  eine  Geisteskrankheit  durchgemacht 
hat  oder  Zeichen  schwerer  Neuropathie  an  sich  trägt;  er  weise 
aber  auf  die  Wichtigkeit  der  nächsten  Umstände  hin,  unter  denen 
erfahrungsgemäß  die  Vereinigung  verdächtiger  Keime  gefahr¬ 
drohend  wird  (Zeugung  im  Zustande  alkoholischer  Animiertheit, 
schwerer  Erschöpfung,  oder  syphilitischer  Durchseuchung).  Die 
ausgebrochene  Geisteskrankheit  vermag  der  Arzt  nicht  zu  heilen. 
Dies  ist  den  Angehörigen  des  Kranken  rückhaltlos  zu  eröffnen. 
Die  Therapie  kann  nur  eine  symptomatische  sein  und  die  Wir¬ 
kungsweise  der  üblichen  Mittel  ist  eine  unsichere  und  beschränkte. 
Der  Irrenarzt  ist  nicht  imstande,  die  Natur  zu  einer  Wendung 
zu  zwingen,  er  muß  sie  derselben  abscbineicheln.  Das  gelingt 
aber  nur  dem,  der  angeborene  psychiatrische  Begabung  besitzt. 
„Der  Irrenarzt  wird  geboren.“  In  therapeutischer  Hinsicht  ist 
zunächst  das  Leben  des  Kranken  zu  sichern  (suizidale  Gefähr¬ 
lichkeit  der  Melancholiker),  dann  ist  alles  zu  beseitigen,  was  einem 
günstigen  Verlauf  der  Krankheit  entgegenstehen  könnte  und  end¬ 
lich  ist  alles  in  Anwendung  zu  bringen,  was  einen  solchen  her¬ 
beiführen  und  beschleunigen  könnte.  —  Die  heutigen  Irrenanstalten 
sind  in  Wahrheit  Kerker  geblieben  und  wie  es  Gefängnispsychosen 
gibt,  so  gibt  es  sicher  auch  Anstaltspsychosen,  von  welchen 
internierte  Neuropathen  befallen  werden  können.  Indes  ist  die 
Existenzberechtigung  der  Irrenanstalten  doch  begründet  im  Inter¬ 
esse  des  Geisteskranken  selber  zum  eigenen  Schutze  vor  sich 
selber  und  als  Schutzmittel  für  die  Gesellschaft.  Zwangs-  und 
Gewaltmaßregeln  sind  nicht  unter  allen  Umständen  inhuman,  es 
kommt  vielmehr  darauf  an,  wie,  von  wem  und  in  welchen  Fallen 
diese  Maßnahmen  in  Anwendung  gebracht  werden.  Riesen¬ 
irrenanstalten,  wie  sie  heute  gebaut  werden,  sind  nicht  zweck¬ 
mäßig,  da  verantwortlicher  Leiter  und  behandelnder  Arzt  hiei 
nicht  in  einer  Person  erscheinen  können,  was  ein  Erfordernis 
vertrauenerweckender  Krankenbehandlung  ist.  Lieber  kleine  An 
stalten,  die  mit  je  120  Patienten,  einem  leitenden  Arzt  und  zwei 
Assistenzärzten,  in  den  Städten  und  Vorstädten  rationell  verteilt 
sind.  Der  Schwerpunkt  der  psychiatrischen  Therapie  rant  m  der 


462 


WIc-jmüK  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Persönlichkeit  des  behandelnden  Arztes,  der  nur  au  einer  kleinen 
Anstalt  die  notwendige  ärztliche  Freiheit  und  Selbständigkeit 
entfalten  kann.  -  -  Die  Zahl  der  Mittel,  welche  dein  Irrenarzt 
zur  Linderung  der  Geisteskrankheit  zur  Verfügung  bereitstehen, 
ist  eine  minimale:  Diätetik,  Hydrotherapie,  Medikamente.  Zu 
den  Errungenschaften  der  Neuzeit  gehört  die  Bettbehandlung  der 
Geisteskranken  bei  akuten  Psychosen  in  Zuständen  schwerer  Ver¬ 
worrenheit  und  Erregung.  Sie  ist  kontraindiziert  bei  Schwach¬ 
sinnigen  und  Blödsinnigen,  welche  zur  Bewegung  und  Arbeit 
angehalten  werden  müssen.  Bezüglich  der  Ernährung  können 
keine  Regeln  gegeben  werden,  hier  muß  individualisiert  werden. 
Zwangsernährung  ist  nur  als  ultima  ratio  anzusehen  und  nur 
indiziert  bei  sichtlich  fortschreitendem  körperlichen  Verfall,  an¬ 
dernfalls  ist  sie  eine  unbegründete,  ungerechtfertigte  Brutalität, 
die  nur  leider  zu  oft  in  den  Irrenanstalten  an  der  Tagesordnung 
ist.  Die  Hydrotherapie  wird  bei  der  Behandlung  der  Geistes¬ 
krankheiten  entschieden  überschätzt.  Das  Dauerbad  spielt  eine 
Hauptrolle  (umd  empfiehlt  sich  in  erster  Linie  für  akute  Psychosen, 
dann  auch  in  bestimmten  Phasen  chronischer  Erkrankungen.  Die 
Anwendung  des  kalten  Wassers  in  der  Behandlung  der  Geistes¬ 
krankheiten  ist  zu  perhorreszieren,  ganz  besonders  aber  der  kalte 
Wickel !  In  medikamentöser  Hinsicht  stehen  die  Hypnotika  im 
Zentrum  der  psychiatrischen  Therapie,  sowie  die  Sedativa.  Als 
letzteres  wird  Brom  nach  Erlen  meyer  noch  immer  mit  bestem 
Erfolg  angewendet.  Bei  starkem  Affekte,  welcher  das  Einschlafen 
verhindert,  wird  am  besten  Opium  verwendet,  bei  höchstem  Be¬ 
wegungsdrang  in  gesteigerter  Erregung,  Tobsucht,  empfiehlt  sich 
eine  Injektion  von  Hyoszin  -|-  Morphium  (0-0004  Hyoszin,  respek¬ 
tive  0-016  Morphium).  Mit  Hyoszin  wird  in  den  Irrenanstalten 
viel  Mißbrauch  getrieben.  Als  eigentliches  Hypnotikum  leistet 
das  Paraldehyd  die  besten  Dienste  (der  Geschmack  zu  korrigieren 
mit  Tct.  cort.  Aur.  spl.  in  einem  Glas  Zuckerwasser).  Chloral 
hydrat  und  Sulfonal  sollen  aber  ganz  gestrichen  werden. 
Psychotherapie  in  dem  Sinne,  daß  Heilung  eines  psychischen 
Symptomes  durch  fremde  seelische  Beeinflussung  erfolgen  würde, 
ist  sicher  ohne  jeden  Erfolg  in  der  Therapie  der  Geisteskrank¬ 
heiten.  —  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  46 
und  47.)  K.  S. 

* 

318.  Ueber  Vergiftung  mit  Kalium  hyper- 
manganat.  Von  Dr.  Franz  Cohn  in  Breslau.  Vergiftungen  mit 
Kalium  hypermanganicum  sind  recht  selten,  die  Literatur  weist 
nur  wenige  Beobachtungen  auf.  In  der  medizinischen  Abteilung  des 
städt.  Allerheiligenhospitales  in  Breslau  (Primararzt:  Prof.  Dr.  E  rek¬ 
le  nt.z)  wurde  ein  solcher  Fall  im  Oktober  1910  behandelt.  Die 
Polizeimeldung  lautete  auf  Salzsäurevergiftung.  Blasse,  junge  Frau, 
leicht  benommen,  Sprechen  erschwert.  Zeigefinger  der  rechten  Hand 
und  Mundwinkel  schwarzbraun  verfärbt.  Zunge,  Mund  und  Rachen¬ 
schleimhaut  zeigen  schwarzbraune  Beläge.  Puls  70,  sehr  klein,  un¬ 
regelmäßig.  Magen  absolut  unempfindlich.  Dreimalige  Magenspülung 
mit  Magnesia  usta,  Entleerung  schwarzbrauner  Flocken  und  wenig 
schwarzroter  Flüssigkeit.  Sodann  mehrmals  Erbrechen.  Injektionen 
von  Kampfer  und  Digalen,  Magnesia  usta  innerlich.  Am  nächsten 
Tage  war  der  Puls  noch  schlecht,  Blässe,  geringe  Oedeme,  nur 
300  cm3  Harn  von  1031  spez.  Gewicht,  Spuren  von  Eiweiß.  Stuhl 
schwarzbraun,  positive  Benzidinprobe.  Das  Sprechen  erleichtert. 
Exzitantia,  Kochsalzinfusionen  per  rectum.  Patientin  sagt  aus,  daß 
sie  in  selbstmörderischer  Absicht  eine  starke  Lösung  von  Kalium 
hypermanganicum  (etwa  15  bis  20  g  in  wenig  Wasser)  eingenom¬ 
men  ;  sie  rührte  mit  dem  rechten  Zeigefinger  auf  und  trank  die 
tintig  aussehende  Flüssigkeit  hinunter.  Wenig  später  Erbrechen 
schwärzlicher  Massen.  Zeugen  bestätigen  ihre  Aussage,  an  welcher 
nicht  zu  zweifeln  ist  (blauschwarze  Verfärbung  des  Zeigefingers,  der 
Mundwinkel  etc.).  Ihr  subjektives  Befinden  wurde  besser,  doch  blieb 
der  Puls  andauernd  schlecht,  im  Urin  waren  Spuren  von  Eiweiß 
und  von  Mangansalzen,  das  Blut  gerinnt  schwer.  Die  Beläge  stießen 
sich  allmählich  ab,  Puls  und  Diurese  besserten  sich,  Patientin  wurde 
1 5  Tage  später  geheilt  entlassen  und  blieb  auch  später  beschwerde¬ 
frei.  Neben  den  lokalen  Erscheinungen  (Verätzungen)  kommen  die 
allgemeinen  toxischen  Erscheinungen  (Nierenschädigung,  Herz¬ 
schwäche)  in  Betracht.  Das  Kalium  hypermanganicum  enthält  zwei 
Gifte  (Kalium  und  Mangan),  deren  jedes  als  Ursache  der  toxischen 
Symptome  gilt.  Verf.  möchte  mit  Box  u.  a.  das  Kalium  verant¬ 


wortlich  machen  auf  Grund  der  Herz-  und  Zirkulationsstörungen, 
die  dem  Bilde  einer  Vergiftung  mit  Kalisalzen  recht  nahe  kamen'. 
Bei  der  Magenspülung  mit  Magnesia  usta  gingen  schwarzbraune 
Flocken  in  Menge  ab,  in  denen  man  wohl  nicht  mit  Unrecht  das 
durch  die  Magnesia  ausgefällte  Manganhydroxydul  vermuten  kann.  Der 
Rest  desselben  dürfte  mit  dem  Stuhl  abgegangen  sein  (schwarz¬ 
braune  Stuhlfarbe,  positive  Benzidinreaktion),  es  kam  also  wenig 
Mangan  zur  Resorption,  im  Harne  wurde  daher  auch  nur  wenig 
Mangan  ausgeschieden.  Vielleicht  ist  gerade  darauf,  auf  den  Weg¬ 
fall  des  Mangangifles,  die  Leichtigkeit  des  Falles  zurückzuführen, 
denn  in  den  drei  bisher  publizierten  Fällen  erfolgte  rascher  Exitus 
infolge  Aspirationspneumonie,  Herzlähmung  etc.  Man  wird  also  in 
Hinkunft  vielleicht  gut  tun,  im  Bestreben,  das  Mangangift  auszu¬ 
schalten,  eine  Magenspülung  mit  Magnesia  usta  oder  einem  anderen 
reduzierenden  Mittel  (Zuckerwasser  nach  Robert)  an  die  Spitze 
der  Therapie  dieser  Vergiftung  zu  stellen,  wenn  nicht  bei  stärkeren 
Verätzungen  zunächst  die  Intubation  oder  die  Tracheotomie  in  Be¬ 
tracht  kommt.  Weitere  therapeutische  Maßnahmen  waren :  Mund¬ 
spülungen  mit  Zusatz  von  Menthol,  Spirit,  vini,  Tinct.  Myrrhae 
oder  Ratanhiae  etc.,  bei  starken  Verätzungen:  Nährklistiere,  Ex¬ 
zitantia  bei  Herzschwäche.  Verf.  weist  noch  darauf  hin,  daß  das 
Kalium  hypermanganicum  kein  harmloses  Mittel  sei.  Arzt  und  Apo¬ 
theker  sollten  auf  die  Giftigkeit  desselben  aufmerksam  machen,  da 
es,  selbst  in  kleinen  Dosen  eingenommen,  recht  unangenehme  Er¬ 
scheinungen,  in  großen  Dosen  sogar  den  Tod  herbeiführen  kann. 
—  Mit  solchen  Warnungen  wird  man  vielleicht  den  fahrlässigen 
Mißbrauch  des  Mittels  verhüten.  —  (Deutsche  med.  Wochenschr. 
1911,  Nr.  9.)  E.  F. 

* 

319.  Versuch©  zur  Herabsetzung  des  Wehen- 
schmerzes  bei  der  Geburt.  Vom  Dr.  Oskar  Jaejger. 
Der  Verfasser  wandte  das  Pantopon  bei  50  Geburten  als  schmerz¬ 
stillendes  Mittel  an,  in  20  Fällen  allein,  in  30  Fällen  kombiniert 
mit  relativ  kleinen  Skopolamindosen.  Das  Pantopon  wurde  sub¬ 
kutan  in  der  Eröffnungsperiode,  bei  einigen  vorgeschritteneren 
Geburten  auch  in  der  Austreibungsperiode  gegeben  (l  cm3  einer 
2°/oigen  Pantoponlösung).  Wurde  Pantopon  allein  gegeben,  so 
war  die  Wirkung  meist  prompt  und  hielt  einige  Stunden  an; 
die  Wehen,  sowie  die  Bauchpresse  wurden  nicht  ungünstig  beein¬ 
flußt,  doch  scheinen  große  Pantopondosen  nicht  ganz  gleich¬ 
gültig  für  das  Kind  zu  sein.  Wurde  jedoch  1  cm3  Pantopon  mit 
0-0003  g  Skopolamin  injiziert,  so  war  die  Wirkung  eine  gleich¬ 
mäßigere.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1910,  Nr.  46.)  E.  V. 

* 

320.  (Aus  der  II.  medizinischen  Abteilung  des  allgemeinen 
Krankenhauses  Hamburg-Eppendorf.  —  Oberarzt:  Dr.  Rumpel.) 
Zur  Frage  der  gonorrhoischen  Allgemeininfektion. 
Von  Dr.  Leede,  Assistent  der  Abteilung.  Es  ist  notorisch,  daß 
sich  die  Go'niokokken  fast  ausschließlich  in  den  Schleimhäuten 
aufhalten  und  von  hier  aus  in  die  Blutbahn  einbrechen  können, 
aber  es!  sind  doch  Fälle  bekannt,  in  denen  die  Invasion  direkt 
von  der  verletzten  Kutis  aus  erfolgte.  So  berichtet  Jadassohn 
über  einen  Fall,  bei  dem  sich  drei  Tage  nach  der  Kohabitation 
eine  Lymphangitis  am  Dorsum  penis  mit  starken  Schmerzen  ent¬ 
wickelte;  nach  einigen  Tagen  trat  eine  Arthritis1  auf  mit  peri- 
artikuläyem  Abszeß,  "in  dem  Gonokokken  in  Reinkultur  nach¬ 
weisbar  waren;  dabei  nie  Ausfluß  aus  der  Harnröhre.  Verfasser 
berichtet  über  einen  ähnlichen  Fall  von  Arthritis  gonorrhoica, 
der  letal  endigte.  Im  Frühjahre  1910  kam  ein  49 jähriger  Segel¬ 
macher  auf  die  Abteilung  mit  der  (Angabe,  vorher  nie  krank,  auch 
nicht  venerisch  infiziert  gewesen  zu  sein.  Vor  einigen  Tagen 
wiederholte  Kohabitation;  darauf  Schwellung  und  Rötung  des 
Präputiums;  kein  Ausfluß  aus  der  Harnröhre.  Bald  darauf 
Schmerzen  in  beiden  Fußgelenken,  in  der  rechten  Hand  und  der 
linken  Schulter.  Bei  der  Untersuchung  fand  sich  Rötung  und 
Schwellung  des  Präputiums.  Im  Sulcus  coronarius  ein  Geschwür 
mit  schmierig  belegtem  Grunde,  Der  dorsale  Lymphstrang,  sowie 
die  Inguinaldrüsen  geschwollen.  Aus  der  Urethra,  selbst  mit  der 
Platinöse,  kein  Sekret.  An  beiden  Fußgelenken,  zu  beiden  Seiten 
der  Achillessehne,  am  Dorsum  pedis  sehr  starke  Schwellung 
und  Rötung  der  Haut,  die  sich  sehr  heiß  anfühlt;  starker  Schmerz. 
Wassermann  im  Blute  positiv.  Diagnose :  Polyarthritis  gonorrhoica, 
Ulcus  molle,  vielleicht  auch  durum.  Unter  unsteten  Tempera- 


Nr.  13 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


463 


luren  (37-8  bis  39-2)  kam  es  zu  brennenden,  qualvollen  Schmerzen 
an  beiden  Haken,  zur  Atrophie  der  Beinmuskulatur.  Die  Haut 
daselbst  trocken,  stark  abschuppend.  Blutentnahme  stets  steril ; 
nie  Ausfluß  aus  der  Harnröhre.  Unter  Delirien,  Verfall  der  Kräfte 
trat  am  53.  Tage  durch  Herzlähmung  der  Tod  ein.  Die  Sektion 
ergab:  Myodegeneratio  cordis  adiposa,  Oedema  pulmonum,  Ar¬ 
thritis  purulenta  haemorrliagica  articulation  is  talocrural  is 
utriusque.  Im  Gelenkeiter  Gonokokken,  sowohl  im  Ausstrich,  als 
auch  bei  der  Kultur.  Leichenblut  steril.  In  beiden  Fußgelenken 
mäßige  Mengen  dicken  Eiters.  Verf.  nirrimt  nach  dem  Befunde 
und  dem  Verlaufe  der  Genitalaffektion  einen  weichen  Schanker 
an,  wenngleich  anfangs  die  Möglichkeit  einer  Lues  zugegeben 
werden  mußte.  Aus  der  Harnröhre  war  nie  Sekret  zu  bekommen; 
ein  Harnröhren  tripper  hat  also  nicht  bestanden.  Ueber  die  go¬ 
norrhoische  Natur  der  Gelenksaffektion  konnte  nach  dem  ganzen 
klinischen  Bilde  kein  Zweifel  bestehen.  Die  bakteriologische  Unter¬ 
suchung  des  Gelenkseiters  bestätigte  die  Diagnose.  Verf.  nimmt 
also  an,  daß  die  Gonokokken  vom  Ulcus  molle  aus  auf  dem  Wege 
der  Lymphbabn  ins  Blut  und  von  dort  in  die  Gelenke  gelangt 
sind,  ein  Invasionsmodus,  der  große  Aehnlichkeit  mit  dem  von 
Jadassohn  beobachteten  Falle  hat.  Verf.  erwähnt  noch  kurz 
einen  zweiten  Fall,  der  in  bezug  auf  Abmagerung,  Hautschuppung 
eine  große  Aehnlichkeit  mit  dem  mitgeteilten  Falle  hatte.  Es  wurde 
die  breite  Eröffnung  des  linken  Ellbogengelenkes  gemacht.  Verf. 
glaubt,  daß  er  durch  Entleerung  der  an  Gonotoxinen  reichen 
Oedemflüssigkeit  den  Patienten  vor  dem  Fortschreiten  der  schon 
einsetzenden  Kachexie  bewahrt  hat  und  möchte  daher  in  allen 
Fällen  von  gonorrhoischer  Arthiritis,  die  mit  einer  erheblichen 
Konsumption  der  Kräfte  einbergehen,  für  die  breite  Inzision 
des  periartikulären  Gewebes,  eventuell  auch  mit  Eröffnung  der 
Gelenke,  eintreten.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift 

1911,  Nr.  9.)  G. 

* 

321.  Ueber  innere  Sekretion  und  Autolvse.  Mit 
spezieller  Berücksichtigung  der  Eiweißautolyse  und  klinischer 
Fragen  über  Basedow  und  Myxödem,  Chlorose  und  Karzinom. 
Vom  Dr.  K.  Kottmann,  Priv.-Doz.  für  innere  Medizin  in  Bern. 
Unter  Autolyse  versteht  man  die  fermentative  Aufspaltung  der 
zusammengesetzten  Eiweiß-,  Fett-  und  Kohlehydratkörper  in  ein¬ 
fachere  Spaltprodukte  (selbsttätige  Organauflösung).  Die  proteo¬ 
lytischen,  also  eiweißspaltenden  Fermente  entfalten  ihre  Wirk¬ 
samkeit  entweder  nur  auf  dasjenige  Zellgewebe,  in  welchem  sie 
sich  befinden,  oder  sie  haben  auch  die  Fähigkeit,  fremdes  Eiweiß 
anzugreifen  (heterolytische  Fermente,  wie  sie  z.  B.  bei  der 
Lösung  des  pneumonischen  Infiltrates  oder  ganz  besonders  bei 
der 'Krebskachexie  tätig  sind).  Die  autolytischen  Fermente  können 
zu  pathologischen  Konsequenzen  führen,  wenn  sie  zu  einer  ab¬ 
normen  Verstärkung  oder  Abschwächung  veranlaßt  werden,  wozu 
sehr  verschiedene  und  verwickelte  Möglichkeiten  führen  können. 
Denn  es  können  Fermenttätigkeiten  variiert  werden  durch  akti¬ 
vierende  und  schädigende  Einflüsse,  die  auf  die  Fermente  ein¬ 
wirken  der  auf  ihre  Profermente  oder  auf  die  Aktivatoren  (Ki¬ 
nasen).  Durch  alle  solche  schließlich  resultierenden  autolytischen 
Störungen  im  Sinne  einer  pathologisch  gesteigerten  oder  ver¬ 
minderten  Autolyse  kann  der  primäre  Anstoß  zu  verschiedenen 
bedeutungsvollen  Stoffwechselstörungen  gegeben  sein.  Variationen 
der  Zellautolyse  führen  zu  Variation  der  chemischen  Zellkon¬ 
stitution  und  damit  zu  nutritiven  und  funktionellen  Veränderungen 
der  verschiedensten  Art.  Die  Wachtumsenergie  wird  in  Mitleiden¬ 
schaft  gezogen,  ebenso  die  Oxydationsprozesse.  Die  Oxydations¬ 
störungen  bei  den  Stoffwechselkrankheiten  brauchen  also  nicht 
primär  zu  sein.  —  In  der  Schilddrüse  werden  Stoffe  produziert, 
die  in  die  Zirkulation  gelangen  (innere  Sekretion)  und  im  Sinne 
von  proteolytischen  Aktivatoren  wirken.  Bei  Morbus  Basedow 
findet  sich  vermehrte  Eiweißautolyse  infolge  Hyperthyreoidismus, 
beim  Myxödem  infolge  Hypothyreoidismus  mangelhafte  Eiwei߬ 
autolyse,  welche  zu  einem  mangelhaften  pathologischen  Zellei¬ 
weißstoffwechsel  mit  Abschwächung  der  Zellenergie  führend,  in 
den  Wachstumshemmungen  des  Knochensystems  und  der  Hirn¬ 
rinde  zum  Ausdruck  kommt.  Diese  Störungen  beim  Myxödem 
sind  naturgemäß  durch  autolysenanregende  Schilddrüsenzufuhr 
in  .der  Tat  besserungsfähig,  während  bei  der  Basedowtherapie  alle 
Bestrebungen  rationell  erscheinen,  welche  direkt  oder  indirekt 


die  Schilddrüsenfunktion  herabsetzen  (Erfolge  der  Chirurgie  also 
durchaus  begreiflich).  —  Auch  bei  der  Chlorose  ist  die  Proteo¬ 
lyse  im  Sinne  einer  Abschwächung  verändert.  Die  in  der  Pubertät 
relativ  intensiv  wachsenden  Bezirke  der  Sexualsphäre  verlangen 
mit  Avidität  ihren  Eiweißbedarf  zum  Aufbau  und  nehmen  dabei 
sicher  auch  Bausteine  in  Beschlag,  die  sonst  der  Hämoglobin¬ 
synthese  zugute  kommen.  Eisen  wirkt  katalysätorisch  auf  die 
proteolytischen  Fermente;  die  gesunkene  Eiweißautolyse  mit  der 
konsekutiven  Hämoglobin-  und  Eisenverarmung  der  Zellen  wird 
stimuliert  und  mit  der  Erzwingung  einer  genügenden  Eiweißabspal¬ 
tung  können  die  Zellen  das  umspülende  Eisen  wieder  aufnehmen, 
es  kommt  auch  wieder  zur  genügenden  Abspaltung  von  Histon- 
ei weißbausteinen,  Bildung  der  Histone  und  damit  auch  des  Hämo¬ 
globins.  —  Auch  für  das  Zustandekommen  der  Krebskachexie, 
bei  der  es  in  Zusammenhang  mit  einem  gesteigerten  Eiweaß- 
zerfall  zur  Abmagerung  mit  besonderer  Beteiligung  der  Muskulatur 
kommt,  sowie  zur  Schädigung  der  roten  Blutkörperchen  mit  Ent¬ 
wicklung  einer  sekundären  Anämie,  spielen  eigenartige  autoly¬ 
tische  Ferment  lätigkei  ten  die  ausschlaggebende  Rolle.  Die  ab¬ 
norme  autolytische  Fermenttätigkeit  des  Karzinomgewebes  wirkt 
im  Sinne  einer  Heterolyse  auf  die  Eiweißkörper  anderer  Gewebe, 
ja  sie  greifen  beim  reichlichen  Uebertritt  in  die  Zirkulation  das 
Gesamteiweiß  des  Organismus  an.  Der  Uebertritt  in  die  Blut¬ 
bahn  ist  nichts  anderes,  als  innere  Sekretion  im'  weitesten  Sinne 
des  Wortes.  —  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1910, 
40.  Jährig.,  Nr.  34.)  K.  S. 

* 

322.  Einiges  über  die  Ernährung  des  gesunden 
Säuglings.  Von  Prof.  Dr.  Meinhard  Pfaundler  in  München. 
Es  gibt  günstig  veranlagte  Neugeborene,  welche  sich  durch  große 
Toleranz  hinsichtlich  der  Emährungsfunktionen  auszeichnen,  die 
also  auch  bei  einer  höchst  irrationellen,  unnatürlichen  Ernährung 
gut  gedeihen,  dann  aber  gibt  es  Neugeborene  mit  latenten  Störun¬ 
gen,  die  in  ihrer  Anlage  schon  „konstitutionelle“  Krankheitsbereit¬ 
schaften  (Diathesen  wie:  Rachitis,  Spasmophilic,  Lymphatismus) 
besitzen,  oder  sonstwie  ungünstig  veranlagt  sind.  Bei  letzteren 
treten  auch  von  der  Fütterung  unabhängige  Nährschäden  auf,  die 
aber  einer  wirksamen  diätetischen.  Prophylaxis  zugänglich  sind. 
Da  man  diese  günstige  oder  ungünstige  Veranlagung  eines  Kindes 
erst  im  Verlaufe  erkennt,  so  ergibt  sich  daraus  die  Forderung 
nach  einem  äußeret  vorsichtigen  tastweisen  Vorgehen  unter 
strenger  Kontrolle  in  jedem  Falle.  Verf.  bespricht  sodann  die  na¬ 
türliche  Ernährung  mit  Muttermilch,  verwirft  hiebei  den  Stand¬ 
punkt,  diese  vom  chemischen  Standpunkte  zu  bewerten  („den 
frommen  Selbstbetrug,  der  manche  dazu  verleitete,  auf  Grund 
der  Analyse  einer  Frauenmilch  eine  zu  fette  oder  zu  magere, 
zu  eiweißreiche  oder  zu  wässerige  Milch  zu  diagnostizieren,  kann 
man  heute  der  Vorwelt  überlasisen“),  er  stellt  sich  vielmehr  auf 
den  Standpunkt  des  Biologen,  nach  welchem  die  Frauenmilch  als 
Anpassungsprodukt  des  mütterlichen  Körpers  an  seinen  Mitesser 
(reifende  Frucht)  zu  betrachten  ist.  Georg  Hirth  hat.  es  schon 
vor  zehn  Jahren  mit  dein  Worten  ausgedrückt:  „.  .  .  .  das  eine 
erkennen  wir  deutlich,  daß  die  Mutterbrust  eigentlich  nichts  an¬ 
deres  ist,  als  die  Fortsetzung  der  Nabelschnur  und  daß  die  Mutter 
auch  durch  diesen  neuen  Kanal  dem  nun  atmenden  Embryo  das¬ 
selbe,  nur  in  anderer  Form,  zufließen  läßt,  wie  vorher:  Leben 
von  ihrem  Leben!“  Das  geht  wahrscheinlich  so  weit,  daß 
auch  pathologische  Abweichungen  der  Milch  bei  pathologischer 
Beschaffenheit  des  Eies  und  der  Frucht  zu  gewärtigen  wären,  was 
freilich  noch  in  keiner  Weise  nachzuweisen  war.  Da  hier  Ueber- 
fütterungen  stattfinden  können  (solche  kommen  auch  beim  dome¬ 
stizierten  Kalbe  bei  der  natürlichen  Ernährung  vor),  so  beachte 
man  als  allgemeine  Regel,  daß  die  kleinste  Nahrungsmenge-,  die 
ein  normales  Gedeihen  ermöglicht,  die  optimale  Nahrungsmenge 
ist.  Ein  Säugling  braucht  rund  100  Kalorien  pro  Tag  und  Kilo¬ 
gramm,  daher  sind  ihm  in  den  ersten  Monaten  rund  100  Kalorien 
pro  Kilogramm  Körpergewicht  an  Frauenmilch  täglich  darzubieten. 
Da  ein  Liter  Frauenmilch  ca.  700  Kalorien  entspricht  so  würde 
die  Formel  zur  Berechnung  lauten:  100  P  —  P,  wobei  P  das 

TOO  7 

Körpergewicht  in  Kilogramm  bedeutet.  Mit  anderen  Worten:  die 
dem  Brustkinde  täglich  zukommende  Nahrungsmenge  beträgt  im 
ersten  Quartal  den  siebenten  (in  den  folgenden  beiden  Quartalen 


m 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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den  achten,  bzAv.  neunten)  Teil  seines  jeweiligen  Körpergewichtes. 
Verf.  Aveist  auf  die  Kontrolle  durch  Stichproben  mit  Wägung 
vor  und  nach  dem  Anlegen  hin,  wobei  man  mit  erheblichen 
Differenzen  zAvischen  den  einzelnen  Tagesmahlzeiten  rechnen 
muß  und  schließt  diesen  Teil  mit  dem  Rate,  daß  man  Brust¬ 
kinder  im  allgemeinen  vom  zweiten  Lebenstage  ab  sechsmal 
oder  fünfmal  in  24  Stunden  anlege,  und  durch  Erziehung  früh¬ 
zeitig  für  eine  lange  Nachtpause  von  etwa  acht  Stunden  sorge, 
die  der  Mutter  nützt,  und  dem  Kinde  nicht 'schadet.  Die  „unnatür¬ 
liche  Ernährung“  mit  Tiermilch  bildet  den  zweiten  Teil  der  Ab¬ 
handlung.  Durch  kein  Verfahren  —  und  deren  gibt  es  schon  eine 
große  Menge  —  kann  man  aus  der  Tiermilch  einen  Nährstoff 
machen,  der  annähernd  Aehnliches  leistet,  Avie  die  Frauenmilch, 
Avenn  man  von  besonders  gut  veranlagten  Kindern  absieht,  hei 
welchen  die  Qualität  des  Nährstoffes  überhaupt  keine  Rolle  spielt. 
Aus  Kuhmilch  kann  man  also  keine  Frauenmilch  machen;  Avorin 
der  Unterschied  zwischen  beiden  in  bezug  auf  Säuglingsnahrung 
beruht,  das  ist  noch  unergründet.  In  qualitativer  Hinsicht  sind  wir 
da  lediglich  auf  die  Empirie  angewiesen.  Da  hat  es  sich  gezeigt, 
daß  man  die  Kuhmilch  verdünnen,  die  Gesamtmenge  derselben 
herabsetzen  und  dafür  Heizstoffe  zusetzen  müsse,  um  nicht  bei 
einer  großen  Zahl  von  Säuglingen  Störungen  hervorzurufen.  Dem 
praktischen  Ärzte  empfiehlt  Verf.  folgende  einfache  Merkformel, 
die  vom  ZAveiten  bis  sechsten  Lebensmonat  des  Säuglings  ver- 
wertbar  ist.  „Nimm  den  zehnten  Teil  des  jeweiligen  kindlichen 
Körpergewichtes  an  frischer  Kuhmilch,  füge  den  100.  Teil  des 
jeweiligen  Körpergewichts  an  Kohlehydrat  zu,  bringe  das  ganze 
mit  Wasser  auf  einen  Liter,  teile  in  fünf  Mahlzeiten  ab  und 
reiche  von  jeder  so  viel,  als  das  Kind  unit  Lust  trinkt“.  Als  Kohle¬ 
hydrate  verwendet  man  bei  Kindern  bis  zum  vierten  Monat  Zucker¬ 
arten  (Rohr-,  Milchzucker,  Löfflunds  Nährmaltose,  Nährzucker, 
Soxhlets  verbesserte  Liebigsuppe)  und  Hafergrütze  oder  Hafer¬ 
flocken  in  2  bis  3%igem  Schleim,  später  (nebst  Zucker)  3  bis 
4°/oige  Milchabkochungen  (Hafer-,  Weizen-,  Gerstenmehl).  Diese 
Nahrungsformen  müssen  schließlich  bei  sorgsamer  Kontrolle  des 
Kindes  im  Einzelfalle  entsprechend  abgeändert  werden.  —  (Die 
Therapie  der  Gegenwart,  Januar  1911.)  E.  F. 

* 

323.  Enterorose.  Von  Prof.  Dr.  E.  Hagenbach  in  Basel. 
Im  Baseler  Kinderspital  Avird  seit  vielen  Jahren  die  Enterorose 
als  Säuglingsnahrungsmittel  mit  Vorliebe  verwendet,  wenn  keine 
Muttermilch  zur  Verfügung  steht  und  die  Kuhmilch  weggelassen 
Averden  muß.  Nach  ein  bis  zwei  vollkommenen  Fasttagen  (Tee, 
Reisschleim)  werden  je  nach  Alter  des  Kindes,  Schwere  und 
Dauer  der  Störung,  ein  bis  zwei  Kaffeelöffel  Enterorose  mit  100 
bis  150  g  dünnem  Reisschleim  (ohne  Fleisch)  vermischt,  unter 
Zusatz  von  etwas  Zucker.  Meist  tritt  baldige  Besserung  ein, 
welche  dann  gestattet,  den  Portionen  etwas  Milch  zuzusetzen. 
Einen  Eßlöffel  Milch  kann  man  schon  anfänglich  zusetzen,  wenn 
das  Kind  anders  die  Mischung  nicht  nehmen  will,  worauf  der 
Widerstand  gegen  die  neue  Nahrung  meist  glücklich  gebrochen 
ist.  Die  Erfolge  der  Enteroroseernährung  sind  sehr  gute.  (Korre¬ 
spondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg.,  Nr.  35.) 

K  S. 

* 

324.  Z  av  e  i  Fälle  von  wiederholter  Extrauterin¬ 
gravidität.  Von  M.  Gerischun.  Der  Verfasser  teilt  zAvei 
Fälle  mit,  in  denen  wiederholt  Extrauteringravidität  auftrat,  ln 
beiden  Fällen  handelte  es  sich  um  vollkommen  einwandfreie 
Fälle,  da  die  Diagnose  in  jedem  Falle  durch  die  Operation 
bestätigt  Avorden  Avar,  im  ersten  Falle  entwickelte  sich  die  erste 
Tubenschwangerschaft  auf  der  rechten,  die  zAveite  auf  der  linken 
Seite,  im  zweiten  Falle  umgekehrt.  Beide  Frauen  konnten  durch 
die  Laparotomie  gerettet  Averden.  Im  ersten  Falle  lagen  zwischen 
der  ersten  und  zweiten  Schwangerschaft  drei  Jahre  und  ein 
Monat,  im  ZAveiten  Falle  nur  zehn  Monate.  In  beiden  Fällen  ! 
wurden  bei  der  ersten  Operation  die  Adnexe  der  anderen  Seite 
gesund  gefunden.  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1910,  Nr.  51.) 

E.  V. 

* 

325.  (Aus  der  inneren  Abteilung  des  Stadtkrankenhauses 
zu  Görlitz.  —  Dr.  Schulz.)  lieber  Polyzythämie  mit 
besonderer  Berücksichtigung  größerer  Aderlässe. 


Von  Alexander  H order.  Unter  Polyzythämie  (Synonyma:  Poly¬ 
globulie,  Erythrämie,  Erythrozytämie)  versteht  man  in  erster 
Linie  die  Vermehrung  der  roten  Blutkörperchen  im  Blute.  Ver¬ 
fasser  berichtet  ausführlich  über  eine  eigene  Beobachtung  und 
stellt  als  Ergebnis  seiner  Arbeit  zwei  Sätze  auf:  1.  Die  Poly¬ 
zythämie  ist  ein  in  sich  geschlossenes  Krankheitsbild,  Avelches 
auf  Zirkulationsstörungen  und  -anomalien  und  abnormer  Blut- 
Zusammensetzung  beruht  und  an  die  Seite  der  übrigen  ßlutkrank- 
heiten  (gestellt  werden  kann.  2.  Durch  systematisch  vorgenommene 
große  Aderlässe  ist  es  bei  der  Polyzythämie  möglich,  die  Ery 
throzytenzahl  um  drei  bis  vier  Millionen  vorübergehend  lierah- 
zusetzen,  die  übrigen,  durch  die  abnorme  Blutzusammensetzung 
gesetzten  Schädigungen  (Kopfschmerzen,  Schwindel,  Ohren¬ 
sausen,  Flimmern  vor  den  Augen,  allgemeine  Mattigkeit,  Schmer¬ 
zen  seitens  der  stark  vergrößerten  Milz,  verschiedenartige  Bin 
Innigen,  dunkelblaurote  Gesichtsfärbung,  Oedeme,  Nierenstömm 
und  so  weiter)  zu  bekämpfen  und  auf  diese'  Weise  dem  Kranken 
Erleichterung  und  Besserung  zu  verschaffen.  Hinsichtlich  der 
Aderlässe. empfiehlt  Verfasser  dringend,  mindestens  500  cm3  jedes¬ 
mal  zu  entnehmen.  Unterstützt  werden  die  Aderlässe  durch  die 
Zufuhr  von  möglichst  viel  Flüssigkeiten,  per  rectum,  in  Ge¬ 
stalt  von  Kochsalzeinläufen  oder  per  os  in  Form  Aron  Mineral- 
Wä.ssem  oder  einer  überhaupt  mehr  flüssig  gehaltenen,  mög¬ 
lichst  eisenarmen  Diät.  Von  internen  Mitteln  Avurde  die  von 
Türk  seinerzeit  empfohlene  Salut,  arsenical.  Fowled  gegeben. 
Unter  dieser  Therapie  sank  bei  dem  Kranken,  den  Verfasser  be¬ 
obachtete,  die  Erythrozytenzahl  im  Anschlüsse  an  den  ersten 
Aderlaß  und  auch  in  den  folgenden  Tagen  um  drei  bis  vier 
Millionen,  nach  dem  zweiten  Aderlässe  von  700  cm3  sogar  um 
fünf  Millionen,  freilich  fand  immer  wieder  ein  allmähliches  An¬ 
steigen  statt.  Die  Aderlässe  wirkten  auch  günstig  auf  den  Eiwei߬ 
gehalt  des  Harnes.  Das  erstemal  wurde  ein  Zurückgehen  von 
8%o  auf  2V2%j,  das  zweitemal  „>  /;•)  auf  lV2%o,  ein  ander¬ 

mal  von  3Vs%o  auf  3/4°/oo  konstatiert.  —  (Medizinische  Klinik 

191t,  Nr.  8.)  •  E.  F. 

♦ 

326.  (Aus  dem  Frauenhospital  Basel -Stadt.  —  Direktor : 
Prof.  Dr.  O.  v.  Her  ff.)  Beitrag  zur  postoperativen  Peri- 
toniti  spropliy laxe  mittels  Kampferöl.  Von  Dr.  med. 
Karl  Kolb,  stellvertretendem  Assistenzarzt,  zurzeit  Assistenz¬ 
arzt  an  der  Frauenklinik  der  Universität  Bern.  Nach  den  Unter¬ 
suchungen  Gl  im  ms  soll  Kampferöl,  welches  in  die  Bauchhöhle 
der  Versuchstiere  gebracht  wurde,  die  Lymphgefäße  des  Perito¬ 
neums  verstopfen  und  so  die  Resorption  schädlicher  Elemente 
hintanhalten.  In  der  Tat  blieben  seine  mit  Kampferöl  geschützten 
Tiere  am  Leben,  Avährend  die  Kontrolltiere  starben.  Pfannen¬ 
stiel  und  Ho  ohne  griffen  die  Sache  auf  und  berichteten  be¬ 
reits  auf  dem  Kongreß  der  gynäkologischen  Gesellschaft  zu  Strali- 
burg  1909  über  ihre  Versuche  (klinische  und  experimentelle)  zur 
Prophylaxe  der  Peritonitis  mittels  Kampferöl  und  glaubten  die 
Oelbehandlung  empfehlen  zu  dürfen.  Herff  wendet  nunmehr  übei 
ein  Jahr  die  prophylaktische  Oelbehandlung  an.  Das  Oel  wurde 
nicht  vor  (Pf  an  ne  n  s  t  i  el),  sondern  während  der  Operation  und 
vor  Schluß  der  Bauchhöhle,  sofern  eine  Drainage  mit  Glasdrain 
eingerichtet  Avurde,  auch  noch  nach  Schluß  der  Bauchhöhle  in 
Quantitäten  bis  zu  50  cm3  (des  10°/oigen  Kampferöls)  in  flic 
Peritonealhöhle  gebracht.  Irgendwelche  Schäden  wurden  nicht 
bemerkt.  Dagegen  dürften  die  Resultate  nicht  als  ungünstig  er¬ 
scheinen,  da  die  Peritonitismortalität  in  Herffs  Fällen  nur  1  -83" 
betrug,  obgleich  es  sich  in  allen  Fällen  um  infektiöses  Material 
handelte.  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1910, 

40.  Jahng.,  Nr.  35.)  K.  S. 

* 

327.  Beitrag  zur  giftigen  Wirkung  der  Scharlach¬ 
salbe.  Von  Dr.  St.  Gurbski.  Auf  eine  Verbrennung,  betreffend 
die  unteren  zwei  Drittel  des  rechten  Oberschenkels  und  den  Unter¬ 
schenkel  bis  an  die  Knöchel,  legte  Gurbski  auf  die  granulierende 
Fläche 'eine  8°,«ige  Amidoazotoluolsalbe.  15  Stunden  später  tralen 
Kopfschmerz,  'Schwindel,  heftiges  Erbrechen  und  Bauchschmerzen 
auf,  die  Temperatur  erreichte  39-1°,  Puls  110,  wenig  gespannt, 
Zyanose  der  Lippen,  Enveißspuren  im  Harn.  Nach  dem  Ver¬ 
bandwechsel  und  Milchdiät  ließen  die  Erscheinungen  binnen  we¬ 
nigen  Stunden  nach.  Nach  acht  Tagen  abermals  Scharlachsalben- 


Nr.  13 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


465 


verband,  bald  darauf  dieselben  Erscheinungen  mit  Ausnahme 
der  Albuminurie.  Dasselbe  wiederholte  sich  nach  fünf  Tagen. 
Als  mit  der  Salbe  nur  ein  Viertel  der  Gesamtoberfläche  bedeckt 
wurde,  blieben  die  Vergiftungserscheinungen  aus.  —  (Zentral 
blatt  für  Chirurgie  1910,  Nr.  49.)  E.  V. 

* 

328.  (Aus1  dem  Institute  für  allgemeine  und  experimentelle 
Pathologie>  der  Universität  Wien.)  Ueber  die  Beziehungen 
der  Herz  nerven  zur  Form  des  Elektrokardiogramms. 
Von  Dr.  J.  Rothberger,  Privatdozent  und  Dr.  II.  Winter¬ 
berg,  Privatdozent.  Eine  Beschreibung,  auch  nur  der  wichtigsten 
Veränderungen  des  Elektrokardiogramms,  erscheint  ohne  Betrach¬ 
tung  der  dazugehörigen  Kurvenschemen  fast  unmöglich.  Es  sei 
also  hiemit  nur  auf  das  Originale  selbst  verwiesen.  —  (Separat¬ 
abdruck  aus  dem  Archiv  für  die  gesamte  Physiologie,  Bd.  135.) 

K.  S. 

* 

329.  Zur  Diagnose  der  Milz  Verletzungen.  Von 

Dt.  Lorenz  Levy.  Auf  Grund  eines  beobachteten  Falles  von 
Milzruptur  (Exstirpation  der  Milz,  Heilung),  bei  dem  die  haupt¬ 
sächlichsten  Klagen  über  außerordentlich  starke  Schmerzen  in 
der  linken  Schulter  vorherrschten,  macht  Levy  auf  dieses  Sym¬ 
ptom  als  wertvolles  diagnostisches  Hilfszeichen  aufmerksam.  -  - 
(Zentralblatt  für  Chirurgie  1910,  Nr.  50.)  E.  V. 

* 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

330.  Das  kolloidale  S  i  1  b  e  r  i  n  der  R  h  i  n  o  1  o  g  i  e.  Von 

Henri  Bourgeois.  Die  rhinologische  Therapie  erfordert  wegen 
der  Sensibilität  und  Fragilität  der  Nasenschleimhaut  Vorsicht. 
Stärkere  Antiseptika  sind  nur  dort  verwendbar,  wo  die  Schleim¬ 
haut 'bereits  tiefgreifende  Veränderungen  erlitten  hat,  zum  Beispiel 
bei  Rhinitis  syphilitica  und  Ozäna,  sonst  macht  die  starke  Re¬ 
sorptionsfähigkeit  der  Schleimhaut  und  die  Möglichkeit  des  Ge¬ 
lingens  in  den  Verdauungstrakt  die  Anwendung  möglichst  un¬ 
giftiger  und  reizloser  Substanzen  notwendig.  Ein  für  die  Nase 
und  den  Nasenrachenraum  besonders  geeignetes  Antiseptikum 
ist  das  kolloidale  Silber,  welches  ungiftig  ist  und  dessen  Resorp¬ 
tion  bei  bestehender  Allgemeininfektion  direkt  erwünscht  erscheint. 
Das  kolloidale  Silber  wurde  vom  Verfasser  im  muko- purulenten 
Stadium  der  protrahierten  akuten  Rhinitis,  sowie  bei  der  chro¬ 
nischen  eitrigen  Rhinitis,  namentlich  im  Kindesalter,  angewendet  ; 
ein  Versuch  scheint  auch  bei  der  sekundären  Rhinitis  bei  Infek¬ 
tionskrankheiten,  sowie  bei  Ozäna  gerechtfertigt,  während  beim 
akuten  Schnupfen  Von  einer  Lokaltherapie  besser  abgesehen  wird. 
Die  Anwendung  des  Kollargols  erfolgte  in  Form  von  Einträu¬ 
felungen,  Salben,  Zerstäubungen  und  Einpinselungen.  Für  das 
Säuglingsalter  eignen  sich  am  besten  Einträufelungen  der  iso¬ 
tonischen  Elektrargollösung,  von  welcher  in  Rückenlage  des  Kindes 
viermal  täglich  je  vier  Tropfen  in  die  Nasenöffnungen  einge¬ 
träufelt  werden,  wonach  das  Kind  noch  fünf  Minuten  in  Rücken¬ 
lage  verharrt.  Bei  starker  Krustenbildung  wird  zweimal  täglich 
statt  des  Elektrargols  eine  Lösung  von  Gomenolöl  1  ;  30,  bei  Ver¬ 
legung  der  Nase  eine  Mischung  von  1  Teil  Adrenalin  1:4000 
mit  3  Teilen  Vaselinöl  angewendet.  Bei  Säuglingen  ist  die  Ein¬ 
träufelung  größerer  Mengen  der  Elektrargollösung  zu  vermeiden, 
ebenso  auch  die  Applikation  des  vielgebrauchten  Menthols,  weil 
dieses  einen  letalen  Glottiskrampf  hervorrufen  kann.  Bei  älteren 
Kindern  appliziert  man  zwei-  bis  dreimal  täglich  eine  Salbe: 
Kollargol,  Vaselinöl  ana  2-0  Lanolin,  Vaselin  ana  10-0.  A  or 
der  Applikation  der  Salbe  muß  der  Schleim,  eventuell  unter 
Zerstäubung  einer  Boraxlösung  entfernt  werden.  Für  Erwachsene 
ist  die  Einpinselung  einer  5  bis  10%igen  Kollargol lösung  nach 
Anästhesierung  mit  Kokain  1:30  angezeigt,  worauf  eine  halbe 
Stunde  hindurch  das  Schneuzen  zu  unterlassen  ist.  Das  Kollargol 
ist  hinsichtlich  der  therapeutischen  ’Wirkung  dem  Argentum  nili  i- 
cum  gleichwertig,  dabei  unschädlich  und  bei  jeder  Altersstufe 
anwendbar.  Der  einzige  Nachteil  besteht  in  der  Produktion 
schwarzer  Flecke,  die  von  der  Haut  durch  sofortiges  Abwaschen 
mitlSeife  und  warmem  Wasser  entfernt  werden  können.  ( Pro« res 
med.  1911,  Nr.  3.)  a- 

* 


331.  Zur  Behandlung  der  Aktinomykose.  Von  An¬ 
tonin  Poncet  und  Leon  Berard.  Ein  spezifisches  Heilmittel 
gegein  Aktinomykose  ist  bisher  noch  nicht  entdeckt  worden;  in 
jüngster  Zeit  wurde  der  Nachweis  erbracht,  daß  die  Oospora¬ 
pilze  vom  Serum  der  damit  Infizierten  nicht  agglutiniert  werden. 
Unter  den  empirischen  Mitteln  stehen  die  Jodverbindungen,  ins- 
besonders  das  Jodkalium,  in  erster  Reihe.  Als  Unterstützungs-, 
bzw.  Ersatzmittel  wurden  die  Quecksilber-  und  Arsenverbindungen 
empfohlen,  welch  letztere  auch  in  der  Syphilis-,  Tuberkulose-  und 
Karzinombehandlung,  mit  welchen  Krankheiten  die  Aktinomykose 
verwandte  Züge  aufweist,  ausgebreitete  Anwendung  finden.  Tat¬ 
sächlich  haben  sich  die  intern  dargereichten  Arsenpräparate,  dar¬ 
unter  auch  das  Natrium  cacodylicum,  bei  Aktinomykose  bewährt. 
Auch  die  Photo-  und  Radiotherapie  wurde  bei  der  Behandlung 
der  Aktinomykose  angewendet;  in  einem  Fälle  schien  durch 
die  wiederholte  Bestrahlung  die  Ausdehnung  der  Erkrankung 
wesentlich  befördert  worden  zu  sein.  Vom  Standpunkte  der  The¬ 
rapie  müssen  die  verschiedenen  Formen  der  Aktinomykose  sorg¬ 
fältig  auseinander  gehalten  werden.  Es  gibt  eine  gutartige  Form, 
welche  seltener  vorkommt  und  durch  umschriebene  indurierte 
Knoten  ohne  Fistelbildung  charakterisiert  ist;  diese  Form  ist 
der  chirurgischen  Behandlung  mit  anschließender  Anwendung  der 
.1  od Therapie  'zugänglich ,  während  die  Jodanwendung  für  sich  nicht 
ausreicht.  Die  zweite  Form  ist  durch  diffuse  Infiltration  und 
Fistelbildung  gekennzeichnet,  wobei  die  gelben  Körner  im  Eiter 
die  Diagnose  gestatten.  Auch  diese  Form  erfordert  gemischte  Be¬ 
handlung.  An  Stelle  der  hier  undurchführbaren  Radikaloperation 
treteh  Inzision,  Kürettement,  Glüheisen,  Injektionen  ätzender  und 
antiseptischer  Mittel  —  Sublimat,  Chlorzink,  Jodtinktur,  Jodipin 
—  'daneben  die  medikamentöse  Behandlung.  Es  müssen  alle  ober¬ 
flächlichen  Eingriffe  vermieden  werden,  weil  dadurch  Eingangs¬ 
pforten  für  die  Sekundärinfektion  geschaffen  werden.  Bei  Aktino¬ 
mykose  innerer  Organe  mit  Fistelbildung  ist  jeder  chirurgische 
Eingriff  zu  vermeiden,  weil  dadurch  Sekundärinfektion  und  Meta¬ 
stasenbildung  gefördert  werden.  In  diesen  Fällen  ist  die  interne 
Medikation  mit  Jod-  oder  Arsenpräparaten  angezeigt,  welche  wohl 
wenig  leistet,  aber  gefahrlos  ist.  Die  Mortalität  der  Viszerälaktino- 
mykose  beträgt  40  bis  90°/o,  je  nachdem  Darm,  Harnorgane,  Re¬ 
spirationsapparat  oder  Zentralnervensystem  ergriffen  sind.  Es  gibt 
eine  Form  der  sonst  im  allgemeinen  gutartigen  Gesichts-  und  Hals- 
aktinomykose,  welche  sich  entlang  den  Nerven  und  Gefäßen  bis 
zur  Schädelbasis  und  von  hier  durch  die  Orifizien  zur  Schädel- 
höhle  fortpflanzt,  daselbst  Meningitis  und  enzephalitische  Herde 
produziert  und  stets  letal  verläuft.  In  der  Therapie  der  Aktino¬ 
mykose  'habein  sich  die  zuerst  angegebenen  Methoden  bisher  noch 
am  besteh  bewährt.  —  (Gaz.  des  höp.  1911,  Nr.  13.)  a.  e. 

* 

332.  Ueber  2  Fälle  von  Pyelonephritis  bei  Säug¬ 
lingen.  Von  La  malle.  Die  Pyelonephritis  wird  im  Kindesalter 
nicht  sehr  häufig  beobachtet ;  sie  kann  als  Komplikation  schwerer 
Infektionen  allgemeiner  Natur  Vorkommen,  auch  wird  aszendie- 
reode  Pyelonephritis,  von  einer  Zystitis  oder  Vulvitis  ausgehend, 
beobachtet.  Häufiger  tritt  die  Pyelonephritis  im  Verlaufe  der 
Gastroenteritis  der  Säuglinge  auf  und  stellt  eine  Komplikation 
der  Kolibazilleüseptikämie  dar,  wohin  auch  die  beiden  vom  Ver¬ 
fasser  mitgeteilten  Fälle  gehören.  In  bezug  auf  bestehende  Zy¬ 
stitis  kann  die  Pyelonephritis  primär  oder  sekundär  sein,  im 
letzteren  Falle  liegt  aszendierende  Infektion  von  der  Urethra  aus 
vor  oder  es  erfolgt  die  Uebertragung  der  Infektion  vom  Darm 
aus  auf  dem  Wege  der  Lymphbahnen.  Die  größere  Häufigkeit 
der  Pyelonephritis  bei  kleinen  Mädchen  spricht  für  die  Urethra 
als  Ausgangspunkt  der  Infektion.  Die  Hauptsymptome  der  Pyelo¬ 
nephritis  des  Kindesalters  sind  intermittierendes  Fieber,  manch¬ 
mal  Von  Frösteln  und  Schweißen  begleitet,  sowie  trübe  Be¬ 
schaffenheit  des  Harns,  welche  auch  nach  Absetzung  des  Sedi¬ 
mentes  fortbesteht.  Der  Harn  ist  in  frischem  Zustand  von  saurer 
Reaktion,  die  mikroskopische  Untersuchung  zeigt  Leukozyten, 
vereinzelte  Epithelien  der  Harnwege,  Mikroorganismen  —  haupt¬ 
sächlich  Kolibazillen,  manchmal  findet  man  auch  Zylinder.  Als 
weitere  Symptome  werden  Oedeme,  Vergrößerung  und  Druck- 
empfindlichkeit.  der  Niere,  sowie  Symptome  leichter  urämischer 
Intoxikation,  wie  Erregungszustände  und  Erbrechen,  beobachtet. 
Die  Prognose  ist  relativ  günstig,  bei  in  der  Ernährung  herab- 


466 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  18 


gekommenen  Säuglingen  ist  die  Prognose  mit  Vorsicht  zu  stellen. 
Bei  schwankendem  Fieberverlauf  ist  es  ratsam,  wenn  verschiedene 
Organerkrankungen  ausgeschlossen  werden  können,  den  Harn  der 
Säuglinge  zu  untersuchen.  —  (Le  Scalpel,  5.  Februar  1911.) 


333.  Ist  das  Natriumbikarbonat  als  ein  schäd¬ 
liches  Mittel  bei  Magenaffektionen  zu  betrachten? 
Von  E.  Bi  net  (Vichy).  Es  wurde  behauptet,  daß  das  Natrium 
bicarbonicum  für  Magenkranke  schädlich  ist,  indem  es  sowohl 
bei  Hyperchlorhydrie,  als  bei  Hypochlorhydrie  den  bestehenden 
Zustand  steigert,  doch  sprechen  die  Erfahrungen  der  Praxis  nicht 
in  diesem  Sinne.  Dias  Natrium  bicarbonicum  ist,  Avie  überhaupt  die 
Alkalien,  in  großen  Dosen  nicht  schädlich,  dagegen  sind  nur 
die  kleinen  Dosen  nützlich.  Wenn  man  das  Natrium  bicarbonicum 
in  Dosen  von  0-75  bis  1  ig  mehrmals  täglich  verordnet,  so  tritt 
anschließend  an  die  Saturation  keine  sekundäre  Exzitation  der 
Saftsekretion  ein,  welche  erst  nach  Dosen  von  3  g  beobachtet  wird. 
Zur  Beruhigung  der  Schmerzen  bei  Hyperchlorhydrie  ist  keine 
vollständige  Neutralisation  der  Säure  erforderlich,  sondern  es 
genügt  die  bloße  Herabsetzung  der  Azidität.  Bei  Hunden  Avurde 
nach  ßVmionatiger  Darreichung  von  10  g  Natrium  bicarbonicum 
pro  die  eine  Läsion  der  Drüsen  der  Magenschleimhaut  beobachtet ; 
auf  das  Körpergewicht  des  Menschen  berechnet,  Avürde  dies  einer 
Tagesdosis  von  130  g  entsprechen,  welche  praktisch  nicht  zur 
Anwendung  kommt,  so  daß  die  Resultate  des  Tierversuches  in 
praktischer  Hinsicht  nicht  von  Bedeutung  sind,  um  so  mehr, 
als  auch  die  lang  fortgesetzte  Darreichung  großer  Dosen  beim 
Tiere  keine  tiefgreifenden  Veränderungen  der  Magenschleimhaut 
hcrvorruft.  Es  wurde!  auch  darauf  hinjgewiesen,  daß  bei  der 
molekuläreln  Zerlegung  des  Natrium  bicarbonicum  eine  größere 
Menge  von  Chlornatrium  in  das  Blut  übergleht  und  dadurch  eine 
Steigerung  der  Salzsäureproduktion  des  Magens  bedingt  wird.  Die 
Erfahrung  lehrt,  daß  bei  Tagesmengen  von:  3  bis  5  g  die  Gefahr 
einer  Ueberladung  des  Organismus  mit  Chloriden  nicht  gegeben 
erscheint.  Ebenso  ist  bei  mäßigen  Dosen  die  Gefahr  des  Er¬ 
brechens  durch  zu  reichliche  Kohlensäureentwicklung  nicht  ge¬ 
geben.  Die  Beobachtung  lehrt,  daß  durch  die  Verabreichung  von 

1  bis  3  g  Natrium  bicärbonicüm  vor',  mit  oder  nach  der  Ewald- 
schen  Probemahlzeit,  deren  Uebergang  in  den  Darm  beträcht¬ 
lich  beschleunigt  Avird;  die  exzitomotorische  Wirkung  mäßiger 
Dosen,  welche  für  die  Therapie  wertvoll  ist,  läßt  sich  regel¬ 
mäßig  feststellen,  während  große  Dosen  einen  direkten  Spasmus 
hervorrufein.  Ein  gewisser  Nachteil  liegt  darin,  daß  Patienten  mit 
chronischer  Dyspepsie  mit  der  Dosis  immer  mehr  steigen,  doch 
nicht  Avegen  der  Unwirksamkeit  des  Mittels,  sondern  weil  sie  jedes- 
mal'zur  Beruhigün'g  der  Schmerzen  davon  Gebrauch  machen.  Die 
Annahme,  daß  der  fortgesetzte  Gebrauch  von  alkalischen  Mitteln 
Kachexie  herbeiführt,  wird  durch  die  Erfahrungen  widerlegt, 
welche1  zeigen,  daß  selbst  nach  jahrelangem  Gebrauch  sehr  großer 
Dosen  von  Natrium  bicarbonicum  keine  Kachexie  eintritt.  In 
Einzeldosen  von  0-75  bis  1  g  und  in  Tagesdosbn,  Avelche  4  bis 
5  g  nicht  übersteigen,  ist  das  Natrium  bicarbonicum  nicht  nur 
unschädlich,  sondern  übt  auch  auf  Motilität,  Sensibilität  und 
sekretorische(F unktion  des  Maigens  eine  sehr  günstige  Wirkung  aus. 

(Progres  med.  1911,  Nr.  3.)  a.  e. 

* 

Aus  italienischen  Zeitschriften. 

334.  (Aus  dem  Institut  für  innere  Medizin  der  Universität 
in  Siena.  — -  Direktor:  Prof.  V.  Patella.)  Beitrag  zu  den 
Beziehungen  zwischen  der  Niere  und  der  Neben- 
n  ierenkapsel  bei  der  chron  i schein  Nephritis.  Von 
Fiaincelsco  d  ’  Allessandro.  Die  Beziehungen  zwischen  der 
Hyperfunktion  der  Nebenniere,  dem  erhöhten  Blutdruck,  der  Hyper¬ 
trophie  des  Herzens  und  der  Arteriosklerose,  lassen  sich  nicht 
deutlich  zeigen,  wenngleich  sie  auf  Grund  der  vorliegenden  Beob¬ 
achtungen  sehr  wahrscheinlich  sind.  Die  anatomisch- patholo¬ 
gischen  Läsionen,  welche  man  bei  chronischer  Nephritis  in  der 
Nebennierenkapsel  findet,  sind  ähnlich  jenen,  die  bei  Infektions¬ 
krankheiten  und  im  Alter  gefunden  werden  oder  sie  sind  zumindest 
sehr  verschieden  von  den  Befunden  in  der  Nebennierenkapsel  im 
Zustande  kompensatorischer  Ueberf  unktion.  Die  Nebennierenver¬ 
änderung  ist  demnach  als  sekundärer  Vorgang  zu  betrachten  und 


ebenso  Avie  die  Veränderungen  der  Niere  abhängig  von  der  pri- 
m|ä.ren  Schädigung  des  Organismus  durch  Infektion  oder  In¬ 
toxikation.  Wenn  man  in  manchen  seltenen  Fällen  bei  chronischer 
Nephritis  Adrenalinämie  findet,  so  muß  dieselbe  als  Kompen¬ 
sation  und  Abwehr  gegen  durch  andere  Faktoren  hervorgerufene 
Schäden  betrachtet  werden.  Bei  der  Verwertung  des  Adrenalin¬ 
befundes  im  Blute  muß  man  vorsichtig  sein,  weil  manche  der 
für  das  Adrenalin  charakteristischen  Reaktionen  auch  von  an¬ 
deren  Körpern  gegeben  werden.  —  (Gazzetta  degli  ospedali  e 
delle  cliniche,  5.  Februar  1911.)  sz. 

* 

335.  Die  K  oinp  lernen  tabl  enkungsreakti  on  beider 

Malaria.  Von  F.  Valerio.  Die  mit  syphilitischem  Antigen 
vorgejnommene  Komplementablenkungsreaktion  fiel  bei  frischer 
Malaria  in  40%  deJr  Fälle  positiv  aus.  Dieses  Resultat  hat  für 
die  Gegenden,  in  welchen  Malaria  endemis'ch  vorkommt,  eine 
sehr  wichtige  Bedeutung,  da  es  der  Was sermann sehen  Reaktion 
bei  frischer  Malaria  jeden  Wert  benimmt.  Bei  fortgeschrittenen 
Fällen  von  Malaria  ohne  klinische  Manifestationen  Avar  die  Kom¬ 
plementablenkungsreaktion  mit  syphilitischem  Antigen  fast  immer 
negativ  mit  sehr  Avenigen  Ausnahmen,  avo  die  Reaktion  schwach 
positiv  ausfiel.  In  veralteten  Fällen  von  Malaria  ohne  Parasiten 
im  Blute  Avar  die  Reaktion  immer  negativ.  —  (La  Riforma 
roeidica,  30.  Januar  1911.)  sz. 

* 

336.  Ein  Fall  von  Oidiomykosis.  Von  Michelangelo 
Vivaldi.  Von  seiner  wahrscheinlich  primären  Lokalisation  in 
dein  Bronchiolen  aus  rief  Oidium  albicans  bei  einer  kranken 
Frau  konfluierende  bronchopneumonische  Herde,  später  eine  En 
teroperitonitis  hervdr.  Der  Pilz  bewahrte  lange 'Zeit  seine  Vitalität 
und  erwies  sich  im  Experimente  als  pathogen  für  Tiere.  — 
(Gazzetta  degli  ospedali  e  delle  cliniche,  9.  Februar  1911.)  sz. 

♦ 

337.  (Aus  dem  Institute  für  klinische  Medizin  der  Univer¬ 

sität  in  Genua.  —  Direktor:  Prof.  Maragliano.)  Die  peri¬ 
pher  lokalisierte  Arteriosklerose  vom  klinischen 
Standpunkte  aus  betrachtet.  Von  Ettore  Tedeschi.  Die 
periphere  Lokalisation  der  Arteriosklerose  kann  Teilerscheinung 
einer  allgemeinen  Gefäßsklerose  sein  oder  sich  nur  isoliert  vor¬ 
finden.  Beispiele  der  peripher  lokalisierten  Arteriosklerose  sind 
gewisse  Formen  der  Gangrän  der  Extremitäten  und  das  inter¬ 
mittierende  Hinken.  Ferner  kann  der  für  gewisse  Berufe  charak¬ 
teristische  Krampf  auf  periphere  Gefäßsklerose  zurückgeführt 
worden.  Einige  dem  intermittierenden  Hinken  ganz  analoge  Sym¬ 
ptome  sind  wahrscheinlich  nur  indirekt  auf  Gefäßveränderungen 
zurückzuführen,  insofern  dieselben  Aeußerungen  funktioneller 
Störungen  eines  Nerven  darstellen,  welche  durch  krankhafte  Ver¬ 
änderungen  der.  ihn  ernährenden  Gefäße  bewirkt  werden.  Man 
muß  daher  neben  einem  vom  Gehirne  und  vom  Rückenmark  aus¬ 
gelösten  intermittierenden  Hinken  auch  ein  intermittierendes 
Hinken  zugeben,  das'  von  den  peripheren  Nerven  herrührt.  Das 
ätiologische  Morneint,  welches  am  häufigsten  die  Entstehung  der 
Gefäßisklerose  begünstigt  oder  bewirkt,  ist  die  Beschäftigung.  Die 
umschriebene  periphere  Arteriosklerose  ist  nicht  selten  das  Zeichen 
einer  sich  später  verallgemeinernden  Arterienverkalkung.  —  (II 
Tommasi,  30.  Januar  1911.)  sz. 

* 

338.  (Aus  der  dritten  medizinischen  Klinik  der  Universität 
von  Neapel'.  —  Direktor :  Prof.  R  u  m  m  o.)  1)  i  e  S  e  r  u  m  diagnose 
mit  Bacterium  coli.  Von  Salvatore  Fi  eher  a.  Die  Agglu- 
tinationsprobe  mit  32  Laboratoriumsstämmen  von  Bacterium  coli 
war  bei  einer  Serumverdünnung  von  1:50  nur  viermal  positiv. 
Das  Serum  verschiedener  Individuen  gab  die  stärkste1  Agglutination 
mit  verschiedenen  Bazillentypen.  Das  Serum  eines  und  desselben 
Individuums  verhielt  sich  verschieden  gegen  die  verschiedenen 
Typen  des  Bacterium  coli.  Während  die  einen  Aron  demselben 
bei  einer  bestimmten  Verdünnung  agglutiniert  Avurden,  blieben 
andere  ganz  unbeeinflußt.  Die  aus  den  Fäzes  isolierten  Kol i- 
bäzillen  wurden  meist  durch  das  Serum  desselben  Individuums 
bei  einer  Verdünnung  von  1:50  agglutiniert.  Aber  auch  hier 
zeigten  sich  mannigfache  Unterschiede,  indem  einige  Bazillentypen 
gar  nicht  agglutiniert  wurden,  was  um  so  bedeutungsvoller  er¬ 
scheint,  als  sich  daraus  ergibt,  daß  Bakterien  sehr  gut  lange 


Nr.  18 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


467 


Zeit  im  Intestinaltrakt  leben  können,  ohne  daß  der  Organismus 
mit  der  Bildung  spezifischer  Agglutinine  auf  ihre  Anwesenheit 
reagiert.  Wenn  das  Serum  dieser  Individuen  mit  den  Bazillen 
geprüft  wurde,  die  aus  den  Fäzes  anderer  isoliert  worden  waren, 
zeigte  es'  sich,  daß  die  Agglutination  selten  bei  1:50,  gewöhnlich 
nur  "bei  1:30  positiv  war.  Ferner  konnte  beobachtet  werden,  daß 
das  Serum  eines  Kranken,  aus  dessen  Stuhl  eine  bestimmte 
Koliart  isoliert  worden  war,  gegen  dieselbe  gar  keine  Wirkung 
hatte.  Dagegen  erreichte  die  Agglutinationsfähigkeit  des  Serums 
dieses  Kranken  einem  anderen  Kolistamm  gegenüber  die  Intensität 
1:100.  Die  Agglutinationsprobe  kann  bei  einer  Verdünnung  1:50, 
sei  es  mit  Kolibazillen  aus  dem  eigenen,  oder  aus  fremdem 
Stuhle,  oder  mit  Laboratoriumsstämmen,  auch  bei  ganz  gesunden 
.Menschen  positiv  ausfallen.  Positiver  Ausfall  der  Probe  bei 
stärkerer  Verdünnung  als  1:50  deutet  auf  einen  krankhaften 
Zustand  hin.  —  (La  Riforma  Medica,  20.  Februar  1911.)  sz. 

* 

339.  Der  Schüttelfrost  beim  Maltafieber.  Von 

F.  Last  aria.  Der  Schüttelfrost  ist  durch  seine  Heftigkeit  und 
seine  Konstanz  das  Hauptsymptom  der  Infektion  mit  Maltafieber. 
Derselbe  kann  durch  seine  Intensität,  seine  Dauer  und  sein  wieder¬ 
holtes  Auftreten  mitunter  alle  anderen  Krankheitserscheinungen 
überwiegen.  —  (Gazzetta  degli  Ospedali  e  delle  Cliniche,  19.  Fe¬ 
bruar  1911.)  sz. 

* 

340.  Ueber  den  gegenwärtigen  Stand  der  Lepra 

in  Sizilien.  Von  Gastorina.  Während  zur  Bekämpfung  an¬ 
derer  Infektionskrankheiten  bereits  viel  unternommen  worden  ist, 
ist  man  noch  nicht  ernstlich  daran  gegangen,  die  Lepra,  welche 
einige  blühende  Gegenden  Siziliens  bedroht,  gründlich  auszu¬ 
rotten.  Das  Volk  soll  über  die  Schwere  der  Krankheit,  über  die 
Bedeutung  der  Berührung  mit  Leprakranken  aufgeklärt  und  zu 
hygienischen  Vorsichtsmaßregeln  erzogen  werden.  —  (Gazzetta 
degli  Ospedali  e  delle  Cliniche,  23.  Februar  1911.)  sz. 


Vermisehte  fiaehriehten. 

Ernannt:  Priv.-Doz.  Dr.  Arno  Scheibe  zum  außerordent 
liehen  Professor  für  Ohren-,  Nasen-  und  Kehlkopfheilkunde  in 

Erlangen. 

* 

Verliehen:  Prof.  Dr.  Ernst  Wert  beim  in  Wien  das 
Offizierskreuz  des  Franz  Joseph- Ordens.  -  Dr.  Ed.  Miglitz 
in  Graz  das  Ritterkreuz  des  Franz  Joseph  -  Ordens. 

* 

Gestorben:  Dr.  L.  Ruß,  Professor  der  inneren  Medizin 
in  Jassy.  —  Dr.  Pouchin,  Professor  der  Pharmazie  zu  Rouen. 

* 

Am  21.  März  1911  fand  eine  Sitzung  des  Fachkomitees 
des  Obersten  Sanitätsrates  für  pharmazeutische 
Standesangelegenheiten  statt.  Hiebei  wurden  Gutachten 
über  folgende  Gegenstände  erstattet:  1.  Neuregelung  der  pharma¬ 
zeutischen  Vor-  und  Ausbildung  (Referent:  Prof.  Möller). 
2.  Rechtsfähigkeit  der  Apotheker  zum  Betriebe  von  Gewerben 
(Referent:  Gremialvorstand  Apotheker  Mag.  pharm.  Seipel). 

* 

Der  V.  internationale  Kongreß  für  Thalasso¬ 
therapie  wird  vom  5.  bis  8.  Juni  1911  in  Kolberg  stattfinden. 
Anmeldungen  sind  zu  richten  an  den  Generalsekretär  des  Kon¬ 
gresses  Dr.  Mar gulies  in  Kolberg. 

* 

Der  VII.  internationale  Tuberkuloshkongreß  wird 
vom  24.  bis  30.  September  1911  in  Ro  m  «abgehalten.  Die  Arbeiten 
des'  Kongresses  werden  in  drei  große  Sektionen  eingeteilt.  Diese 
sind:  a)  Aetiologie  und  Epidemiologie  der  Tuberkulose,  b)  Pa¬ 
thologie  und  Therapie  (medizinische  und  chirurgische)  der  Tuber¬ 
kulose.  c)  Sozialer  Schutz  gegen  die  Tuberkulose.  —  Gleichzeitig 
mit  dem  internationalen  Kongresse  wird  eine,  von  einem  be¬ 
sonderen  Komitee  vorbereitete,  sozialhygienische  Ausstellung  zur 
Bekämpfung  der  Tuberkulose  eröffnet  werden.  Behufs  Teilnahme 
ani  Kongresse,  dessen  Vorsitzender  Guido  Baccelli,  dessen 
Generalsekretär  Vittorio  As  coli  ist,  wende  man  sich  an  das 
Generalsekretariat  in  Rom,  Via  in  Lucina,  36.  Kongreßbeitrag  ist 
25  Franken.  Jedes  Familienmitglied  eines  Kongressisten  zahlt 
10  Franken.  Der  Beitrag  muß  bei  der  Einschreibung,  mittels  Post¬ 
anweisung  hinterlegt  werden.  Die  Eröffnung  des  Kongresses  findet 


am  24.  September  1911,  10  Uhr  vormittags,  in  dem  großen 
Amphitheater  des  Augusteums,  in  Gegenwart  des  Königs  und 
der  Königin  von  Italien  statt.  Die  Sitzungen  des  Kongresses  werden 
in  der  Engelsburg  abgehalten. 

* 

Vom  19.  bis  22.  April  wird  zu  Wiesbaden  unter  dem 
Vorsitze  des  Geheimen  Rates  Prof.  Dr.  Krehl  (Heidelberg)  der 
28.  Deutsche  Kongreß  für  innere  Medizin  tagen.  Als 
schon  länger  vorbereiteter  Verhandlungsgegenstand  steht  auf  dem 
Programme:  Ueber  Wesen  und  Behandlung  der  Dia- 
t  he  sen.  Referenten:  His  (Berlin):  Geschichtliches  und  Dia¬ 
thesen  in  der  inneren  Medizin.  Pfaundler  (München):  Diathesen 
in  der  Kinderheilkunde.  Bloch  (Basel):  Diathesen  in  der  Derma¬ 
tologie.  Mendelsohn  (Paris):  Die  Frage  des  Arthritismus  in 
Frankreich. 

* 

Krankenverein  der  Aerzte  Wiefrs.  Am  11.  März 
fand  die  Generalversammlung  statt.  Aus  dem  erstatteten  Berichte 
ist  zu  entnehmen,  daß  den  Verein  auch  im  Jahre  1910  sich  nach 
jeder  Richtung  hin  bedeutend  entwickelt  hat.  Vor  allem  ist 
hervorzubeben,  daß  in  diesem  Jahre  105  neue  Mitglieder  beige¬ 
treten  sind,  eine  Zunahme,  wie  sie  wohl  selten  eine  ärztliche 
Wohlfahrtsinstitution  auf  zuweisen  hat.  Die  ordentlichen  Jahres¬ 
einnahmen  betrugen  58.000  K.  Zur  Auszählung  gelangten  im  Ver¬ 
laufe  des  Jahres  an  Kranken-,  Leichen-  und  Unterstützungsgeldern 
35.000  K.  Mit  Rücksicht  auf  die  günstige  finanzielle  Lage  des 
Vereines  stellte  der  Kassier  Dr.  Max  Morgenstern  den  An¬ 
trag,  das  tägliche  Krankengeld  von  8  K  auf  10  K  zu  erhöhen. 
Der  Antrag  wurde  angenommen  und  dabei  die  Aussicht  eröffnet, 
die  Benefizien  des  Vereines  noch  mehr  zu  erweitern,  wenn  die 
Lage  des'  Vereines  sich,  weiterhin  so  günstig  gestaltet  wie  in  den 
letzten  Jahren.  Dies  ist  jedoch  nur  dann  möglich,  wenn  der 
Zufluß  an  Mitgliedern  weiterhin  so  ausgiebig  bleibt.  Der  jetzige 
Mitgliederstand  beträgt  900.  Beitrittserklärungen  sind  zu  richten 
an  den  Obmänn  Dr.  J.  Weis,  II.,  Glockengasse  2. 

Literarische  Anzeigen.  Im  Verlage  Benno  Konegen 
in  Leipzig  ist  von  Dr.  F.  Schill  ings  Taschenbuch  der  Fort¬ 
schritte  der  physikalisch-diätetischen  Heilmethode 
der  10.  Jahrgang,  von  Becks'  Therapeutischen  Almanach 
der  38.  Jahrgang  und  das  A  -  B  -  C  d  e  r  1  a  n  d ä  r  z;  1 1  i  c  h  e  n  Praxis 
in  zweiter  Auflage  erschienen.  Im  gleichen  Verlage  hat  Doktor 
W.  H.  Becker,  Anstaltsarzt  an  der  Landesirrenanstalt  Weil- 
müntster  in  Nassau,  eine  T her ap  ie  der  Geisteskrankheiten 
herausgegeben.  112  S.  Preis  2  M.  60  Pf. 

Theodor  Heller,  Direktor  der  Erziehungsanstalt  Wien- 
Grinzing  :  Ueber  Ps  ych  o-logie  und  Psychopathologie  des 
Kindes.  Wien.  Hugo  Heller.  Preis  1  M.  25  Pf.  Dias  kleine  Buch 
enthält  eine  Sammlung  von  Vorträgen,  die  der  Verfasser  über 
Einladung  des  Komitees  für  Jugendfürsorge  vor  einem  Auditorium 
von  Eltern,  Erziehern,  Lehrern,  Aerzten  und  Juristen  gehalten 
hat.  Besonders  eingehend  hat  sich  der  Verfasser  mit  dem  „schwer 
erziehbaren“  Kinde  befaßt. 

George  Stein:  Grundschema  der  Geisteskrank¬ 
heiten.  Verlag  von  J.  Safar  in  Wien.  Preis  1  K  60  h.  Der  Ver¬ 
fasser  hat  auf  sechs  Tabellen  nach  den  Vorträgen  des  Professors 
Wagner  v.  Jauregg  die  klinischen  Merkmale  und  die  diffe¬ 
rentialdiagnostischen  Momente  der  Geisteskrankheiten  in  über¬ 
sichtlicher  Weise  zusammengestellt. 

Der  von  Medizinalrat  Dr.  E.  Engel  horn  in  Göppingen 
im  Frauenverein  vom  Roten  Kreuz  für  die  Kolonien  gehal¬ 
tene  Vortrag  „Nervosität  und  Erziehung“,  ist  im  Verlage 
von  F.  Enke  in  Stuttgart  erschienen.  Preis  1  M.  20  Pf. 

Letzte  Erkenntnismöglichkeiten.  Gedanken  eines 
Arztes.  Von  Prof.  Adrian  Schücking  in  Pyrmont.  Verlag  von 

Enke  in  Stuttgart.  Preis  1  M.  60  Pf. 

* 

Pest.  Oesterreich-Ungarn.  Das  k.  und  k.  Reichs- 
Kriegsministerium  hat  mit  einem  an  alle  Korpskommandos  ge¬ 
richteten  Erlasse  Maßnahmen  gegen  die  Pest  verfügt.  Dieselben  be¬ 
treffen  die  Reinhaltung  der  Ubikationen,  Höfe  und  Umgebung  der 
Kasernen,  die  Entfernung  von  Kehricht  und  Küchenabfällen,  die 
Beschaffung  einwandfreien  Trink-  und  Nutzwassers,  die  Aus¬ 
rottung  von  Ratten  und  Ungeziefer,  sowie  die  Anzeigepflicht  bei 
starker  Rattensterblichkeit.  Deutsches  Reich.  Mit  Bekannt¬ 
machung  des  Reichskanzlers  vom  18.  Februar  1911  wurden  nach¬ 
stehende  Vorschriften  in  Vollzug  gebracht:  1.  Die  Ein-  und  Durch¬ 
fuhr  von  Leibwäsche,  alten  und  getragenen  Kleidungsstücken  oder 
von  Teilen  solcher  Kleidungsstücke,  z.  B.  sogenannter  Chinawatte, 
von  gebrauchtem  Bettzeug,  Hadern  und  Lumpen  jeder  Ai  t  a;js 
China  ist  verboten.  2.  Auf  Leibwäsche,  Bettzeug  und  Kien  lungs- 


468 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


stücke,  welche  Reisende  zu  ihrem  Gebrauche  mit  sich  führen, 
oder  welche  als  Umzugsgut  eingeführt  werden,  findet  das  Verbot 
unter  Nr.  1  keine  Anwendung.  Jedoch  kann  die  Gestattung  ihrer 
Einfuhr  von  einer  vorherigen  Desinfektion  abhängig  gemacht 
werden.  3.  Dem  Reichskanzler  bleibt  Vorbehalten,  Ausnahmen 
von  dem  Verbot  unter  Anordnung  der  erforderlichen  Vorsichtsma߬ 
nahmen  zuzulassen.  —  Rußland.  In  Odessa,  wo  im  Laufe 
des  Februar  keine  Pesterkrankungen  zur  Anzeige  gebracht  wurden, 
kam  am  4.  März  wieder  ein  Fall  von  Beulenpest  vor.  Er  dürfte 
kaum  aut  eine  Einschleppung  von  außen  zurückzuführen,  sondern 
als  zeitweiser  Ausdruck  eines  in  der  Stadt  wahrscheinlich  schon 
endemisch  gewordenen  Pestherdes  an  Zusehen  sein.  Dies  kann 
aus  dem  Umstande  gefolgert  werden,  daß  in  Odessa  von  Zeit 
zu  Zeit  pestkranke  Ratten  aufgegriffen  werden  (die  letzte  am 
5.  März).  Die  Vertilgung  der  Ratten  durch  Fallen  und  Gilt 
liefert  durchschnittlich  300  Stück  täglich.  Zur  Unterstützung 
dieser  Aktion  werden  Speicher,  Getreidemagazine,  Bäckereien  und 
ähnliche  Räume  mit  undurchdringlichen  Fußböden  versehen.  Be¬ 
hufs  einer  Pestverschleppung  nach  auswärts  hat  die  llafenver- 
waltung  die  Desinfektion  aller  den  Hafen  von  Odessa  verlassenden 
Dampfer  angeordnet.  Im  Gouvernement  Astrachan  wurden  vom 
November  his  5.  Februar  153  Todesfälle  an  Pest  konstatiert.  — 
Chin  a.  Während  in  der  nördlichen  Mandschurei,  wo  die  Pest 
zuerst  aufgetreten  ist,  die  Seuche  ständig  an  Ausdehnung  ab¬ 
nimmt,  greift  sie  in  der  Südmandschurei  immer  mehr  um  sich 
und  nähert  sich  der  Grenze  von  Korea.  Im  Jurisdiktionsgebiete 
von  Mukden,  welches  die  verseuchten  Orte  Mukden,  Changchun, 
Kungchuling,  Fushun,  Tiehling,  Kaiyuen,  Changtu,  Liaoyang,  Fa- 
kumen  und  Szupingchieh  umfaßt,  sind  bis  16.  Februar  3075 
Pestfälle  konstatiert  worden.  In  Hsinmintun  ereigneten  sich  bis 
zu  diesem  Zeitpunkte  155  Erkrankungen;  in  der  Umgebung,  zu¬ 
mal  an  der  Strecke  Hsinmintun-Fakumen  tritt  die  Epidemie,  noch 
heftiger  auf  und  hat  schon  960  Todesfälle  verursacht.  In  Kirin 
sterben  zirka  15  Personen  täglich,  in  Changchun  nimmt  die 
Mortalität  von  Tag  zju  Tag  zu.  In  Charbin  läßt  die  Sterblichkeit 
wesentlich  nach,  dagegen  sind  in  dem  zur  Durchführung  der 
Quarantäne  nach  Charbin  gesandten  Regimente,  das  sich  in  Chang¬ 
chun  infiziert  hat,  bereits  51  Todesfälle  vorgekommen.  An  der 
Nordgrenze  von  Korea,  unweit  des  russischen  Hafens  Wladi¬ 
wostok,  herrscht  in  den  mandschurischen  Städten  Hunchun  und 
Jondsinfu  große  Pestmortalität.  In  der  Provinz  Ts  chili  herrscht 
die  Pest  bisher  nur  in  mäßigem  Grade.  Die  Seuchenherde  be¬ 
schränken  sich  vorläufig  auf  die  Orte  Paotingfu,  Poyehhsien 
und  Tiangtsun  an  der  Bahnstrecke  Peking-Hank ou  und  auf  die  an 
der  Bahn  Tientsin  -  Pukau  gelegenen  Städte  Hochienfu  und 
Ershilipin.  In  Tientsin  sind  bis  11.  Februar  40  Pesterkran¬ 
kungen  in  der  Chinesenstadt  und  15  in  der  österreichisch-ungari¬ 
schen  Niederlassung  sichergestellt  worden.  In  Peking  wurden 
bis  16.  Februar-  16  Pestfälle  zur  Anzeige  gebracht,  die  auf  zwei 
Infektionsquellen  zurückgeführt  werden.  In  einer  chinesischen 
Herberge,  die  durch  einen  aus  Charbin  zugereisten  Gast  infiziert 
wurde,  ereigneten  sich  unter  den  Angestellten  und  Besuchern 
10  Falle ;  die  anderen  6  betrafen  einen  aus  Tientsin  kom¬ 
menden  Studenten,  dessen  Verwandte  und  Bekannte.  In  Chcfoo 
(Tschifu)  in  der  Provinz  Schantung  wurden  seit  21.  Januar 
bis  17.  Februar  323  Peststerbefälle  konstatiert.  Die  Gesamtsumme 
aller  bisher  in  China  erfolgten  Todesfälle  an  Pest  beträgt  nach 
amtlichen  Berichten  18.260,  doch  dürfte  diese  Zahl  weit  unter 
der  tatsächlichen  Zurückbleiben,  da  zahlreiche  Fälle  verheimlicht 
werden.  In  Charbin  wurde  am  11.  Februar  der  erste  Fall  von 
Bubonenpest  beobachtet. 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  10.  Jahreswoche  (vom  5.  bis 
11.  März  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  561,  unehelich  226,  zusammen 
787.  Tot  geboren,  ehelich  61,  unehelich  29,  zusammen  90.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  666  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
17T  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  1,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  7, 
Scharlach  5,  Keuchhusten  5,  Diphtherie  und  Krupp  4,  Influenza  0, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  5,  Lungentuberkulose  127,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  48,  Wochenbettfieber  6,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  52  (==),  Wochenbettfieber  5  (-(-  3),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  83  (—  25),  Masern  200  (4-  64),  Scharlach  109  (-f  3), 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  2  (—  3),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0), 
Diphtherie  und  Krupp  69  ( —  17),  Keuchhusten  41  ( —  9),  Trachom  8  ( —  6), 
Influenza  1  ( —  1),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Distriktsarztesstelle  in  Christianberg  (politischer 
Bezirk  Krumau,  Böhmen).  Der  Sanitätsdistriktsbezirk  umfaßt  die  Ge¬ 
meinden  Christianberg,  Andreasberg,  Tisch  und  KfHovitz,  die  Bewohner, 
3855  Seelen,  sind  deutsch.  Die  Besetzung  erfolgt  vorläufig  provisorisch. 


Bewerber  deutscher  Nationalität  werden  berücksichtigt.  Der  Jahresgebalt 
beträgt  800  K,  das  Reisepauschale  400  K,  außerdem  sind  noch  nach¬ 
stehende  Bezüge  verbunden:  Für  die  Behandlung  der  im  Revier  Christian¬ 
berg,  Ernstbrunn,  Andreasberg,  dann  der  in  den  Ortschaften  Brenten- 
berg,  Neuhäuser,  Jodlhäuser,  Altrichterwald  und  Unterschneedorf  wohn¬ 
haften  fürstlichen  kurberechtigten  Personen  ein  Jahreshonorar  von  380  K. 
Vergütung  der  verabfolgten  Medikamente.  Ferner  für  ärztliche  Behand¬ 
lung  der  in  der  Glasfabrik  in  Ernstbrunn  erkrankten  Arbeiter  ein  durch¬ 
schnittlicher  Monatsbeitrag,  respektive  Pauschale  bis  60  K  und  Ver¬ 
gütung  der  erfolgten  Medikamente  und  Verbandmittel.  Bewerber  haben 
die  mit  den  im  §  5  des  Landesgesetzes  vom  23.  Februar  1888,  L.-G.-Bl. 
.Nr,  9,  ex  1888  angeführten  Nachweisen  belegten  Gesuche,  bis  10.  M  ai  l.J. 
beim  Bezirksausschuß  in  Kalsching  einzureichen. 

Gemeindearztesstelle  für  den  Sanitätssprengel  B os¬ 
sa  n  c  z  e  mit  dem  Wohnsitze  in  Bossancze  (Bukowina).  Dieser  Sanitäts¬ 
sprengel  umfaßt  die  Gemeinden:  Bossancze,  Bunestie,  Chilischeni.  Ipo- 
testie,  Lisaura,  Reuseni,  Russmanastiora,  Russplawalar,  Russpojeni,  Sekuri- 
czeni,  Teschoulz  und  Uidestie.  Die  mit  diesem  Posten  verbundene  Jahres¬ 
dotation  beträgt  1600  K  und  eine  in  den  Ruhegenuß  anrechenbare 
Aktivitätszulage  von  400  K.  Bewerber  um  diesen  Posten  haben  nachzuweisen: 
1.  Die  Berechtigung  zur  Ausübung  der  Heilkunde  in  den  im  Reichsrale 
vertretenen  Königreichen  und  Ländern,  2.  die  österreichische  Staats¬ 
bürgerschaft,  3.  daß  sie  der  Sprache,  welche  von  der  Mehrheit  der  Be¬ 
völkerung  gesprochen  wird,  d.  i.  in  diesem  Falle  der  rumänischen,  irn 
hinreichenden  Grade  mächtig  sind.  Die  hiernach  instruierten  Gesuche 
sind  bis  inklusive  20.  April  1911  bei  der  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft 
in  Suczawa  einzureichen. 

Gemeindearztes  stelle  für  den  Sanitätssprengel  M  i  h  o- 
weni  mit  dem  Wohnsitze  in  Mihoweni  (Bukowina).  Dieser  Sanitäts¬ 
sprengel  umfaßt  die  Gemeinden:  Balaczana,  Bunince,  Illie-St.  Komanestie, 
Kostina,  Liteni,  Ludihumora,  Mihoweni,  Parhoutz,  Skeja,  Solonetz,  Stro- 
jestie,  Theodorestie  und  Zaharestie.  Die  mit  diesem  Posten  verbundene 
Jahresdotation  beträgt  1600  K  und  eine  in  den  Ruhegenuß  einrechenbare 
Aktivitätszulage  von  400  K.  Bewerber  um  diesen  Posten  haben  nach¬ 
zuweisen:  1.  Die  Berechtigung  zur  Ausübung  der  Heilkunde  in  deD 
im  Reichsrate  vertretenen  Königreichen  und  Ländern,  2.  die  öster¬ 
reichische  Staatsbürgerschaft,  3.  daß  sie.  der  Sprache,  welche  von  der 
Mehrzahl  der  Bevölkerung  gesprochen  wird,  das  ist  in  diesem  Falle 
der  rumänischen,  in  hinreichendem  Grade  mächtig  sind.  Die  hiernach 
instruierten  Gesuche  sind  bis  inklusive  20.  April  1911  bei  der 

k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  in  Suczawa  einzureichen. 

Stadtarztesstelle  in  Pr  nj  a  vor  (Bosnien).  Fixe  Bezüge 
3000  K  jährlich  und  unentgeltliche  Wohnung.  Die  Gage  wird  in  monat¬ 
lichen  Raten  gezahlt.  Der  Arzt  verwaltet  das  Stadtspital  (24  Betten), 
führt  den  gesamten  Spitalsdienst,  also  auch  die  Ambulanz  unentgeltlich, 
weiters  hat  er  in  der  1900  Seelen  zählenden  Gemeinde  den  Sanitäts¬ 
dienst  zu  verrichten  und  die  arme  Bürgerschaft  umsonst  zu  behandeln. 
Die  Gesuche  sind  bis  15.  Mai  1911  an  das  Gemeindeamt  in  Prnjavor 
zu  richten  und  sind  zu  belegen:  1.  Mit  dem  Diplome  oder  seiner  Ab¬ 
schrift;  2.  mit  dem  Nachweise  einer  mindestens  zweijährigen,  in  einem 
größeren  Spitale  abgeleisteten  Spitalspraxis;  3.  mit  einem  amtsärztlichen 
Gesundheitszeugnisse.  Kenntnis  der  serbokroatischen  oder  einer  anderen 
slawischen  Sprache  muß  nachgewiesen  werden.  Bei  gleicher  Qualifikation 
werden  die  Landessöhne  bevorzugt.  Die  Gesuche  müssen  mit  einem 
bosnisch-herzegowinischen  Stempel  versehen  sein. 

Gemeindearztesstelle  für  die  subventionierte  Sanitäts¬ 
gruppe  Walken  stein  (Niederösterreich),  mit  den  Gemeinden  Walken¬ 
stein,  Rodingersdorf,  Sallapulka,  Röhrawiesen,  Kainreith,  Maigen  und 
Posselsdorf  (Arztessitz  in  Walkenstein).  Fixe  Jahresbezüge  von  den 
beteiligten  Gemeinden  458  K  40  h.  Bisherige  Subvention  aus  dem  nieder¬ 
österreichischen  Landesfonds  400  K.  Eine  Erhöhung  dieser  Subvention 
steht  zu  gewärtigen.  Der  jeweilige  Gemeindearzt  hat  bei  nachgewiesener 
Eignung  alle  Aussicht,  auch  die  Leitung  der  dem  Stifte  Geras  in  Walken¬ 
stein  gehörigen  Wasserheilanstalt  zu  bekommen.  Ordnungsmäßig  instruierte 
Gesuche  sind  bis  längstens  15.  April  d.  J.  an  die  Gemeindevorstehung 
Walkenstein  oder  an  die  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  Horn  zu  richten, 
woselbst  auch  nähere  Auskünfte  erteilt  werden. 

Beim  Stadtmagistrate  Innsbruck  gelangt  die  Stelle 
eines  Sanitätsassistenten  mit  einem  jährlichen  Adjutum  von 
1200  K  zur  Besetzung.  Bewerber  um  diese  Stelle,  welche  deutscher  Ab¬ 
stammung,  Doktoren  der  Gesamtheilkunde  und  österreichische  Staats¬ 
bürger  sein  müssen,  wollen  ihre  gehörig  belegten  Gesuche  bis  längstens 

l.  April  1911  beim  Stadtmagistrate  Innsbruck  überreichen.  : 

Gemeindearztesstelle  für  die  Gemeinde  S  c  h  ö  n  n  a  be 
Meran,  mit  1700  Einwohnern,  sofort  zu  besetzen.  Das  Wartegeld  beträgt 
jährlich  1500  K,  samt  100  K  Holzpauschale.  Der  Arzt  erhält  ferner  eine 
geräumige  Naturalwohnung,  muß  sich  jedoch  verpflichten,  die  beigestellte 
Apotheke  zu  führen  und  die  Gemeindearmen  unentgeltlich  zu  behandeln. 
Für  die  Hereinbringung  ausständiger  Forderungen  an  Gemeindeangehörige 
bürgt  die  Gemeinde.  Der  Dienst  ist  entsprechend  den  Vorschriften  für 
Gemeindeärzte  durchzuführen.  Die  Höhe  der  Ganggelder  und  der 
Ordinationsgebühren  werden  nach  Uebereinkommen  festgesetzt.  Gesuche 
sind  bis  Mitte  April  an  die  Gemeindevorstehung  zu  richten. 


Nr.  13 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


469 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Äerzte  in  Wien. 

Feierliche  Jahressitzung  vom  24.  März  1911. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in  Wien. 
Sitzung  vom  16.  März  1911. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Feierliche  Jahressitzung  vom  24.  März  1911. 

Vorsitzender:  Hofrat  Prof.  Dr.  S.  Exner. 

Schriftführer:  Reg. -Rat  Prof.  Dt.  0.  Bergmeister. 

Der  Vorsitzende  gedenkt  des  in  Berlin  verstorbenen  Ehren¬ 
mitgliedes-  Geh.  Med.-Rates  Prof.  Lucae.  Die  Versammelten  er¬ 
heben  sich  zum  Zeichen  der  Trauer;  von  den  Sitzen. 

Der  Vorsitzende  begrüßt  Dr.  A.  Wachta  als  Gast. 

Prof.  0.  Bergmeister,  erstattet  den  J/ahresbericht. 

Hochansehnliche  Versammlung!  Ich  gestatte  mir,  Ihnen 
hienrit  den  Bericht  über  die  Leistungen  der  Gesellschaft,  sowie 
über  die  Aenderungen  im  Stande  derselben  während,  des  abge¬ 
laufenen  74.  Vereinsjahres  vorzulegen. 

Am  Schlüsse  des  Vorjahres  'zählte! die  Gesellschalt  741  ordent¬ 
liche  Mitglieder:  hiezu  kamen  durch  Neuwahl  38,  während  20 
in  Abgang  kommen,  so  daß  die  Zahl  der  ordentlichen  Mitglieder 
heute  759  beträgt. 

Ferner  zählt  die  Gesellschaft  65  Ehren-  und  181  korre¬ 
spondierende  Mitglieder. 

Durch  den  Tod  wurden  uns  13  ordentliche  Mitglieder  ent¬ 
rissen  : 

Priv.-Doz.  Dr.  Josef  Grünfeld  am  14.  Mai  1910,  Dr.  James 
Eisenberg  am  22.  Mai  1910,  Dr.  Hans  Schandelbauer  am 
25.  Mai  1910,  Hofrat  Prof.  Dr.  Emil  Zucker  kan  dl  am  28.  Mai 
1910,  Hofrat  Prof.  Dr.  Leopold  O  s  er  am  22.  August  1910,  Doktor 
Alfred  Hermann  am  29.  August  1910,  Hofrat  Prof.  Dr.  Kudolt 
Chrobak  am  1.  Oktober  1910,  Dr.  Richard  Bernert  am  15.  No¬ 
vember  1910,  Prof.  Dr.  Johann  Fritsch  am  13.  Dezember  1910, 
Hofrat  Prof.  Dr.  Johann  C-sokor  am  7.  Januar  1911,  Hofrat 
Prof.  Dr.  Gustav  v.  Braun  am  8.  Februar  1911,  Hofrat  Professor 
Dr.  Theodor  Escherich  am  15.  Februar  1911  und  Primararzt 
Dr.  Georg  Kapsammer  am  8.  März  1911. 

Außerdem  haben  wir  den  Tod  von  8  Ehrenmitgliedern: 
Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.  Eduard  Pflüger  in  Bonn,  Exzellenz 
Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Robert  Koch  in  Berlin,  Hofrat  Prof.  Dr.  Philipp 
Josef  Pick  in  Prag,  Geheimrat  Prof.  Dr.  F.  v.  Recklinghausen 
in  Straßburg,  Geh.  Med. -Rat  Prof.  Dr.  Emst  v.  Leyden  in 
Berlin,  Prof.  Dr.  Angelo  Mos  so  in  Turin,  Geh.  Med.-Rat  Professor 
Dr.  Franz  König  in  Berlin  und  Geh.  Med. -Rat  Prof.  Dr.  J.  A. 
Lucae  in  Berlin,  sowie  von  fünf  korrespondierenden  Mitgliedern: 
Geh.  Med. -Rat  Prof.  Dr.  Heinrich  Curschmann  in  Leipzig, 
Prof.  Dr.  R.  Ullrjch  Krönlein  in  Zürich,  Prof.  Dr.  F.  Ray¬ 
mond  in  Paris,  Dr.  Siegmund  Lustgarten  in  New  York  und 
Prof.  Dr.  Bohr  in  Kopenhagen  zu  beklagen. 

Friede  ihrer  Asche,  Ehre  ihrem  Andenken ! 

* 

Im  Laufe  dieses  Jahres  fanden  32  wissenschaftliche 
Sitzungen  statt,  in  denen  155  Demonstrationen  und  25  Vor¬ 
träge  abgehalten  und  6  Mitteilungen  gemacht  wurden.  An  dieser 
wissenschaftlichen  Arbeit  beteiligten  sich  insgesamt  124  Herren, 
die  mit  wenigen  Ausnahmen  unserer  Gesellschaft  als  Mitglieder 
angehören. 

Im  reichsten  Maße  fanden  Demonstrationen  klinisch  inter¬ 
essanter  Fälle  statt,  wobei  besonders  aktuelle  Fragen  des  öfteren 
zur  Erörterung  kamen;  ich  erinnere  an  die  Diagnostik  und  operative 
Behandlung  der  Hypophysentumoren,  an  die  Ergebnisse  und  Fort¬ 
schritte  der  Radiologie,  insbesondere  in  bezug  auf  die  Diagnostik 
der  Magenerkrankungen,  an  die  Resultate  der  Radiumbehandlung, 
au  die  Behandlung  der  Syphilis  mit  Arsenobenzol,  an  die  Fort¬ 
schritte  der  Hirnchirurgie. 

Aus  der  Reihe  der  Vorträge  hebe  ich  den  interessanten 
Festvortrag  über  den  Einfluß  der  innersekretorischen  Anteile  der 
Geschlechtsdi'üsen  auf  die  äußere  Erscheinung  des  Menschen 
hervor,  erinnere  an  die  „neuen  Ausblicke  auf  die  natürlichen 
Heilwege  der  Tuberkulose“,  an  die  Vorträge  über  Blutgerinnung 
in  ihren  biochemischen  und  klinischen  Beziehungen,  über  die 
gesundheitlichen  Schicksale  der  erbsyphilitischen  Kinder,  über 
Xanthelasma  bei  Ikterus,  über  Prognose  und  Therapie  der  pro¬ 
gressiven  Paralyse,  über  Veränderungen  des  Pankreas  hei  Diabetes 


Wiener  dermatologische  Gesellschaft.  Sitzung  vom  3.  Februar  1911. 
Aerztlicher  Verein  in  Brünn. 

Verein  deutscher  Aerzte  in  Prag. 

Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte  in  Böhmen. 


melitus,  über  die  Einwirkung  des  Plazentarserums  auf  menschliche 
Karzinomzellen,  über  Eosinophilie  und  Sekretion,  über  die  Ein¬ 
wirkung  des  Adrenalins  aut  einzellige  Organismen,  an  die  Unter¬ 
suchungen  über  Asepsis,  an  die  Studien  über  die  weibliche  Keim¬ 
drüse  usw. 

Gedenkreden  wurden  gehalten  auf  weil.  Emil  Zucker- 
kandl  und  Rudolf  Chrobak;  auch  nahm  die  Gesellschaft  an 
einer  Trauersitzung  der  Gesellschaft  für,  innere  Medizin  und  Kinder¬ 
heilkunde  für  weil.  Theodor  Escherich  teil. 

Neben  einer  regen  wissenschaftlichen  Tätigkeit  wendete  die 
Gesellschaft  ihre  Aufmerksamkeit  Fragen  allgemein  hygienischer 
Bedeutung  zu.  So  wurde  ein  Komitee  zur  Beratung  eines  An¬ 
trages  auf  Errichtung  einer  ärztlichen  Milch-Kontrollkommission 
gewählt,  ferner  je  ein  Delegierter  zum  II.  internationalen  Kälte- 
kongreß  in  Wien,  zum  VI.  Baineologenkongreß  in  Salzburg  und 
zur  Festversammlung  der  k.  k.  photographischen  Gesellschaft  in 
Wien  entsendet.  Ebenso  nahmen  zwei  Delegierte  unserer  Gesell¬ 
schaft  an  den  Beratungen  der  über  Gerüeinderatsbeschluß  ver¬ 
anstalteten  Enquete  über  einen  Entwurf  einer  neuen  Bauordnung 
für  Wien  teil. 

Ueber  Aufforderung  des  Zentralausschusses  für  öffentliche 
Gesundheitspflege  schloß  sich  unsere  Gesellschaft  demselben  an 
und  übermittelte  demselben  bereits  eine  aus  dem  Schoße  unserer 
Gesellschaft  kommende  Anregung  bezüglich  der  wichtigen  Frage 
der  körperlichen  Erziehung  der  Mittelschuljugend  zur  weiteren 
Propagation. 

Endlich  besichtigte  die  Gesellschaft  korporativ  das  nieder¬ 
österreichische  Landeszentralkinderheim  in  Wien. 

In  der  Sitzung  vom  21.  Oktober  v.  J.  fand  die  Neuwahl 
des  Präsidenten  und  in  der  Sitzung  vom  4.  November  die  Wahl 
des  Vizepräsidenten  statt. 

Eine  administrative  Sitzung  hielt  die  Gesellschaft  am  3.  März 
dieses  Jahres  ab. 

Ich  kann  den  Bericht  nicht  schließen,  ohne  nochmals  des 
großen  Verlustes  zu  gedenken,  den  die  Gesellschaft  durch  das 
Hinscheidens  Chrobaks  erlitten.  Seine  Verdienste  um  die  Gesell¬ 
schaft  stehen  noch  frisch  in  unserer  Erinnerung.  Er  hat  sich  durch 
seine  Tätigkeit  und  Fürsorge  ein  dauerndes  Denkmal  in  den 
Annalen  unserer  Gesellschaft  gesetzt.  Nicht  genug  an  dem,  be¬ 
dachte  er  noch  in  seinem  Testamente  die  Gesellschaft  mit  einem 
Legate  zur  Errichtung  einer  Dr.  Rudolf  Chrobak- Stiftung,  so 
daß  sein  Name  auch  künftigen  Geschlechtern  als  der  eines  För¬ 
derers  und  warmherzigen  Freundes  des  Aerztestandes  vor  Augen 
schweben  wird.  Die  Familie  Chrobaks  schenkte  der  Gesell¬ 
schaft  ein  vortreffliches  Oelbild  des  Verewigten  zur  dauernden 
Erinnerung. 

Auch  der  Name  eines  zlweiten  verstorbenen  Mitgliedes  wird 
in  der  Prof.  Dr.  Leopold  0  s  e  r  -  Stiftung  fortleben,  deren  Er¬ 
richtung  die  Gesellschaft  einer  munifizienten  Spende  der  Witwe 
des  Dahingeschiedenen  zü  danken  hat. 

Noch  ist  zu  erwähnen,  die  Ausschreibung  des  Gol  d berge r- 
Preises  für  die  beste  Beantwortung  des  Themas :  Ueber  die  bio¬ 
logischen  Grundlagen  der  sekundären  Geschlechtscharaktere. 

Beglückwünscht  wurden  Exzellenz  Geheimrat  Erb  zu  seinem 
70.  Geburtstag  und  Dr.  Emanuel  Burger  zum  50jährigen  Doktor¬ 
jubiläum. 

Ich  bin  mit  dem  Berichte  zü  Ende.  Die  Leistungen  der 
Gesellschaft  stehen  unentwegt  auf  lichter  Höhe.  Getreu  ihren 
Satzungen  verfolgt  sie  das  Ziel,  im  Interesse  des  wissenschaft¬ 
lichen  Fortschrittes  der  Förderung  und  Vervollkommnung  der 
Heilkunde  und  der  Befestigung  der  kollegialen  Verhältnisse  der 
Aerzte  untereinander  zu  dienen. 

Diese  Aufgabe  nach  Kräften  zu  erfüllen,  sei  unser  stetes 
Streben,  dessen.  Betätigung  die  sichere  Gewähr  terneren  Ge¬ 
deihens1  gibt. 

Möge  es  so  sein  und  bleiben  für  und  für. 

Prof.  Dr.  H.  Paschkis  erstattet  den 

Bibli  otheksbericht. 

Hochansehnliche  Versammlung!  Ich  habe  die  Ehre,  Ihnen 
hiemit  den  Bericht  über  die  Bibliothek  der  Gesellschaft  und  deren 
Geschäftsgang  für  das  abgelaufene  Vereinsjahr  vorzulegen.  In 


470 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


herkömmlicher  Weise  beginne  ich  mit  den  zahlreichen  und  wert¬ 
vollen  Geschenken,  welche  der  Bibliothek  gewidmet  worden  sind. 

Die  Bibliothek  hat  erhalten: 

1.  Von  unserem  Präsidenten  weil.  Hofrat  Chrobak:  Ver¬ 

handlungen  der  deutschen  Gesellschaft  für  Gynäkologie,  XIII.  Ver¬ 
sammlung,  abgehalten  zu  Straßburg  vom  2.  bis  5.  Juni  1909. 
Leipzig  1909.  8°.  —  Verhandlungen  der  Gesellschaft  deutscher 
Naturforscher  und  Aerzte,  81.  Versammlung  zu  Salzburg.  19.  bis 
25.  September  1909.  Leipzig  1909.  8°.  —  Bericht  über  den  Ersten 
österreichischen  Alkoholgegnertag,  abgehalten  in  Wien,  12.  bis 
14.  Oktober  1908.  Wien  und  Leipzig  1909.  89.  111.  Internationaler 

Kongreß  für  Irrenpflege,  Wien,  Oktober  1908.  Wien  und  Halle  a.  S. 

1909.  8°.  —  3  Einzelwerke. 

2.  Von  unseren  ordentlichen  Mitgliedern :  Hofrat  Doktor 
V.  Mauczka:  10  Einzelwerke.  Hygienische  Rundschau,  Jahrgang 
1894  bis  1897,  komplett.  Medizinisch-chirurgische  Rundschau, 
1873,  1888  bis1  1893,  6  Jahrgänge,  komplett.  Therapie  der 
Gegenwart,  Jahrgang  1895,  komplett  (als  Ergänzung  für  die 
Bibliothek).  —  Prof.  Dr.  Herzfeld:  5  Einzelwerke.  —  Doktor 
Max  Weiß:  8  Einzelwerke.  —  Dr.  Rudolf  Neurath:  5  Einzel¬ 
werke.  —  Dr.  Dem.  Galatti:  3  Einzelwerke.  L’Anjou  medical 
Angers  1910.  Annales  des  medecines  et  Chirurgie  infantiles.  Paris 

1910.  La  Pathologie  infantile.  Bruxelles1  1910.  —  Dr.  Wilhelm 
Shekel:  3  Einzel  werke  und  9  Separatabdrücke.  —  Professor 
•H.  Schlesinger:  1  Einzelwerk.  —  Priv.-Doz.  Dr.  Ilnjek: 
2  Einzelwerke.  —  Dr.  A.  Kronfeld:  2  Einzelwerke.  Annales 
d’hygiene  publique  et  de  medicine  legale  Paris  1910.  —  Professor 
H.  Pasc hk  is:  The  Pharmaceutical  Journal,  Vol.  84,  85.  London 
1910.  -  Dr.  J.  Zwilntz:  1  Einzelwerk.  — |Priv.-Doz.  Dr.  lv.  U  li¬ 
man  n:  1  Einzelwerk.  -  Prof.  Pal:  Revue  des  maladies  de 
la  nutrition.  Paris  1910.  --  Dr.  0.  Frankl:  Gynäkologische 
Rundschau.  Berlin  und  Wien  1910.  —  Prof.  A.  Strass  er: 
Monatsschrift  für  die  physikalisch -diätetischen  Heilmethoden. 
München  1910.  Heft  1  bis  6.  —  Priv.-Doz.  Dr.  E.  Schwarz: 
Zentralblatt  für  die  gesamte  Therapie.  Wien  1910.  —  Hofrat 
Prof.  Lang:  Leopoldina.  Amtliches1  Organ  der  Kaiserlichen 
Leopold  -  Karolinischen  deutschen  Akademie  der  Naturforscher. 
Halle  a.  d.  S.  1910.  Prof.  Dr.  Joannovics:  1  Einzelwerk. 

3.  Von  unseren  Ehren-  und  korrespondierenden  Mitgliedern 
haben  gespendet:  Herr  Prof.  Dr.  J.  Rille  in  Leipzig:  6  Inau¬ 
guraldissertationen  der  Universität  Leipzig.  1910.  —  Herr  Doktor 
A.  Pollatschek:  Die  therapeutischen  Leistungen  des  Jahres 

1909.  21.  Jahrg.  Wiesbaden  1910.  Herr  Prof.  Dr.  Paul  v.  Baum¬ 
garten:  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  pathologischen  Anatomie 
und  Bakteriologie.  Bd.  7,  H.  2.  Leipzig  1910.  —  Herr;  Med.-  Rat 
Direktor  Dr.  B.  N  och  t- Hamburg:  Eine  größere  Anzahl  Sepa¬ 
rata  über  Arbeiten  aus  dem  Institut  für  Schiffs-  und  Tropen, - 
krankheiten  zu  Hamburg.  —  Herr  Geh.  Med.- Rat  Prof.  Johann 
Orth:  Eine  größere  Anzahl  Separata  über  Arbeiten  aus  dem 
pathologischen  Institut  zu  Berlin.  —  Dr.  C.  Ziem:  Gataraete 
senile  et  maladies  nasales  purulentes  (Extr.).  Paris. 

4.  Ihre  eigenen  Werke  und  Zeitschriften  haben  gespendet 
die  Herren  ordentlichen  Mitglieder:  Dr.  R.  Bernert:  Kardiale 
Dyspnoe.  Leipzig  und  Wien  1910.  —  Prof.  A.  Biedl:  Innere 
Sekretion.  Berlin  und  Wien  1910.  —  Priv.-Doz.  Dr.  A.  Fog  es: 
Atlas  der  rektalen  Endoskopie.  Berlin  und  Wien  1910.  —  Hofrat 
Prof.  v.  Neusser:  Ausgewählte  Kapitel  der  klinischen  Sym¬ 
ptomatologie  und  Diagnostik.  H.  2  bis  4.  —  Hofrat  Professor 
Neusser  und  Priv.-Doz.  Dr.  Josef  Wiesel:  Die  Erkrankungen 
der  Nebennieren.  Zweite,  völlig'  umgearbeitete1  und  vermehrte 
Auflage.  Wien  und  Leipzig  1910.  —  Prof.  L.  Piskäcek:  Ueber 
Ausladungen  umschriebener  Gebärmutterabschnitte  als  diagnosti¬ 
sches  Zeichen  im  Anfangsstadium  der  Schwangerschaft.  Leipzig 
und  Wien  1899.  Beiträge  zur  Therapie  und  Kasuistik  der  Uterus¬ 
rupturen.  Wien  1899.  —  Prof.  M.  Benedikt:  Alois  Monti- 
Gedenkrede.  Wien  1909.  La  method©  cathetometrique  en  biologic. 
Paris  1910.  (Extr.)  Priv.-Doz.  Dr.  F.  Hamburger:  Allge¬ 
meine  Pathologie  und  Diagnostik  der  Kindertuberkulose.  Leipzig 
und  Wien  1910.  —  Prof.  H.  H.  Meyer  und  R.  Gottlieb:  Die 
experimentelle  Pharmakologie  als  Grundlage  der  Arzneibehand¬ 
lung.  Wien  1910.  —  Prof.  Dr.  H.  Schlesinger:  Die  Indika¬ 
tionen  zu  chirurgischen  Eingriffen  bei  inneren  Erkrankungen. 
Zweite  Auflage.  Jena  1910.  —  Prof.  M.  Kassowitz:  Praktische 
Kinderheilkunde  in  36  Vorlesungen.  Berlin  1910.  - —  Privatdozent 
Dr.  L.  Teleky:  Wiener  Arbeiten  aus  dem  Gebiete  der  sozialen 
Medizin.  Wien  und  Leipzig  1910.  —  Prof.  Urban tsuhitsch : 
Lehrbuch  der  Ohrenheilkunde.  Fünfte  Auflage.  Berlin  und  Wien 

1910.  —  Prof.  Dr.  A.  Edler  v.  Tschermak:  Ueber  das  Sehen 
der  Wirbeltiere,  speziell  der  Haustiere  (Akademische  Rede.)  Wien 
1910.  —  Prof.  A.  K  o  1  i  s  k  o :  Beiträge  zur  gerichtlichen  Medizin. 
Wien  und  Leipzig  1910—1911,  Bd.  I,  ff.,  Ed.  v.  Hofmannsi 


Lehrbuch  der  gerichtlichen  Medizin.  Neunte  vermehrte  und  ver¬ 
besserte  Auflage.  Herausgegeben  von  Dr.  A.  Kol  is  ko.  Wien 
und  Berlin  1909.  -  Prof.  C.  v.  Noorden:  Die  Zuckerkrankheit. 

Fünfte  vermehrte  Auflage.  Berlin  1910.  —  Priv.-Doz.  Dr.  Julius 
Bartel:  Probleme  der  Tuberkulosefrage.  Leipzig  und  Wien  1909. 

Prof.  F riedr.  S c h  1  a genhaufe r  und  Hofrat  v.  Wagner: 
Beiträge  zur  Aetiologie  und  Pathologie  des  endemischen  Kreti¬ 
nismus.  Leipzig  und  Wien  1910.  —  Dr.  Ed.  Hitsehmann: 
Freuds  Neufosenlehre.  Nach  ihrem  gegenwärtigen  Stande  zu¬ 
sammenfassend  dargestellt.  Leipzig  und  Wien  1911.  —  Privat¬ 
dozent  Dr.  A.  B ran dw  einer:  Die  Hautkrankheiten  des  Kindes¬ 
alters.  Wien  und  Leipzig  1910.  Dr.  A.  Kronfeld:  Führer 
durch  das  medizinische  Wien.  Geschichte  und  Organisation.  Wien 
1911.  Prof.  Dr.  Max  Neuburger:  Geschichte  der  Medizin. 
Stuttgart  1911.  zweiter  Band,  erste  Hälfte. 

5.  Eine  dankenswerte  Spende  erhielt  die  Bibliothek  auch 
in  diesem  Jahre  von  den  Redaktionen  der  in  Wiein  erschei¬ 
nenden  medizinischen  Wochenschriften,  die  je  ein  Freiexemplar 
für  das  Lesezimmer  spendeten  u.  zw. :  Die  Wiener;  medizinische 
Wochenschrift,  Redakteur  Dr.  A.  Kronfeld.  —  Wiener  klinische 
Rundschau,  Redakteure  Prof.  Dr.  F.  Obermeyer  und  Privat¬ 
dozent  Dr.  K.  Kunn.  —  Die  medizinische  Klinik,  Redakteur  Pro¬ 
fessor  De.  Brandenburg.  —  Wiener  klinisch  - therapeutische 
Wochenschrift,  Redakteur  Dr.  M.  T.  Schuir  er.  —  Wiener  all¬ 
gemeine  medizinische  Zeitung,  Redakteur  Dr.  Ed.  Kraus.  — 
Aerztliche  Zentralzeitung,  Redakteur  Dr.  Lederer. 

Eine  weitere  Spende  hat  die  Bibliothek  erhalten  von  der 
Redaktion  der  Wiener  klinischen  Wochenschrift  (Prof.  Doktor 
A.  Fraenkel)  u.  zw.:  4  Einzelwerke,  38  komplette  Jahrgänge 
von  verschiedenen  medizinischen  Zeitschriften  und  ebenso  haben 
die  Verlagsbuchhandlungen  Wilh.  Braumüller  &  Sohn- Wien 
(das  Oesterreichische  Aerzte -Kammer -Blatt),  Moriz  Perles  in 
Wien  (Zentralblatt  für  die  gesamte  Therapie),  Urban  & 
Schwarzenberg  in  Berlin  und  Wien  (Medizinische  Klinik), 
Hirzel  in  Leipzig,  Bergmann  in  Wiesbaden,  Masson  &  Cie 
in  Paris  u.  a.  der  Bibliothek  nahmhafte  Spenden  zugeführt. 

6.  Eine  größere  Anzahl  von  Geschenken  hat  die  Bibliothek 
ferner  erhalten  von  den  hohen  staatlichen  und  Landesbehörden, 
den  kommunalen  Verwaltungen,  den  wissenschaftlichen  Insti¬ 
tuten  und  Vereinen  des'  In-  und  Ausländes  u.  zw. : 

Von  der  k.  k.  Zen  tralanstalt  für  Meteorologie: 
Telegraphischer  Wetterbericht  1910.  —  Von  der  k.  k.  Geolo¬ 
gischen  Reichsanstalt:  Jahrbuch,  Bd.  60,  H.  1  bis  3,  Ver¬ 
handlungen  1910.  Vom  Landes  ausschusse  des  Erzherzog¬ 
tums  unter  der  Enns:  Die  niederösterreichischen  Landesirren- 
anstalten  und  die  Fürsorge  des  Landes  Niederösterreich  für 
schwachsinnige  Kinder.  Jahresbericht.  1907/1908.  —  Von  der 
Magistratsabteilung  XIX  lür  Statistik:  Statistisches  Jahr¬ 
buch  der  Stadt  Wien  für  das  Jahr  1908,  Wien  1910.  Mitteilungen 
der  Magistratsabteilung  XIX.  Wochenberichte,  Monatsberichte, 
Wien  1910.  Von  der  Anthropologischen  Gesell¬ 

schaft  in  Wien:  Mitteilungen,  Bd.  30.  Wien  1910.  —  Von 
der  Gesellschaft  für  innereMediz'in  und  Kinderheilkunde 
in  Wien:  Mitteilung  1910.  Vom  allgemeinen  österreichi¬ 
schen  Apotheker-Verein:  Zeitschrift  1910.  —  Von  der 
österreichischen  Gesellschaft  für  Erforschung  und 
Bekämpfung  der  Krebskrankheit:  Cancer.  Internationale 
Monatsschrift,  herausgegeben  im  Aufträge  der  Internationalen  Ver¬ 
einigung  für  Krebsforschung,  von  Generalsekretär  Professor  Doktor 
George  Meyer- Berlin.  Bd.  I,  II,  1908/1910.  —  Vom  Reichs- 
verband  österreichischer  Amtsärzte:  Der  Amtsarzt  1910. 

V orn  Z e n t r a  1  v e r b a n d  d er  österreichis c h e n  S t o rn a- 
tologen:  Oesterreichische  Zeitsclniit  für  Stomatologie  1910.  — 
Vom  Verein  „Die  Flamme“:  Phönix,  Blätter  für  fakultative 
Feuerbestattung  und  verwandte  Gebiete.  Wien  1910.  —  Vom 
Kongreß  für  innere  Medizin:  Verhandlungen  des1  Kon¬ 
gresses,  Wiesbaden  1910.  —  Vom'  schlesischen  Bädertag: 
Der  38.  schlesische  Bädertag  und  seine  Verhandlungen.  Salzbrünn 
1910.  —  Vom  Verein  der  Aerzte  in  Abbazi a:  Zentralblatt 
für  Thalassotherapie.  Abbazia  1910.  —  Vom  k.  k.  Zentral 
ge  werbei  Inspektor  at:  Berichte  der  k.  k.  Gewerbeinspektoren 
über  ihre  Amtstätigkeit  in  den  Jahren  1902,  1903,  1906  bis  1908. 

Von  der  medizinischen  Fakultät  der  japanischen 
Universität  in  Tokio:  Mitteilungen,  Bd.  VIII,  H.  4.  —  Von 
der  deutschen  Ferdinands-Universität  in  Prag:  Die 
feierliche  Inauguration  des  Rektors  für  das  Studienjahr  1909/1910. 
— -  Von  der  österreichischen  Gesellschaft  vom  Roten 
Kreuze:  31.  Generalbericht,  Wien  1910.  —  Von  den  Direk¬ 
tionen  der  Wiener  Kinderspitäler  u.  zw.  des  Karolinen- 
Kinderspitales :  Bericht  über  das  Jahr  1909 ;  des  Leopoldstädter 
Kinderspitales :  Bericht  über  das  Jahr  1909;  des  St.  Josefs-Kinder- 


471 


Nr.  13  WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


spi  tales :  Bericht  über  das  Jahr  190!).  —  Von  der  Wiener 
Urania:  Urania,  Illustrierte  populär-wissenschaftliche  Wochen 
schrift  1910.  —  Von  der  Universität,  in  Upsala:  Brei  och 
Skrifelser  of  och  tili  Carl  v.  Finne  tried.  Umlerstöd  at  Svenska 
Staten  utgifna  af  Upasala  Universitet.  Stockholm  1910.  IV.  — 
M.  Ramström:  Emanuel  Swedenborgs  Investigations  in 
Natural  science  and  the  Basis  for  his  statements  concernig  the 
Brain.  University  of  Upsala  1910.  4°.  —  Von  der;  Universität 
in  Brüssel:  L’Universite  de  Bruxelles  pendant  son  troisiemo 
quart  de  siede,  par  le  Comte  Goblet  d’Alviella  avec  la  colla 
boration  d’un  groupe  des  Professeurs.  Bruxelles  1909.  8°.  --- 
L’Universite  de  Bruxelles.  LXXe  anniversaires  de  la  fondation. 
Relation  des  fetes.  November  1909.  Bruxelles  1910.  8°.  Uni- 
versite  libre  de  Bmxelles,  LXVIIe  an, nee  academique.  Rapport 
sur  l’ännee  1909 — 1910.  Bmxelles  1910.  —  Von  der  Direk¬ 
tion  des  Z  ivilmedizinalwesens  in  Norwegen:  Norges 
officielle  Statistik  V/74.  —  Rapport  sur  l’etat  sanitaiie  et  medical 
pour  l’annee  1908.  Kristiania  14)10.  —  Vom  statistischen 
Zentralbureau  in  Stockholm1:  Bidrag1  tili  Sveriges'  offi- 
ciella  Statistik:  a)  Befolkningsstatistik  N.  F.  XLIV.  Stockholm 
1910.  —  Von  der  American  Otofogical  Society:  Trans¬ 
actions,  Vol.  XII.,  Part.  I.  New  Bedford  1910.  —  Vom  Lok  al¬ 
go  verne  ment  Board  in  London:  Report  of  the  Medical 
officier  for  1908/1909.  London  1910.  —  Von  der  Academic 
des  sciences  in  Paris:  Comptes  rendus  1910.  —  Von  der 
Associazione  Medic a  Triestina:  Bollettino.  Annata  Xllle. 
Trieste  1910.  —  Von  der  Society  for  Experimental  Bio¬ 
logy  and  Medicine:  Proceedings1.  Vol.  VII.,  New  York  1910. 

Endlich  haben  noch  gespendet  eine  Anzahl  größerer  und 
kleinerer  Einzelwerke  und  Zeitschriften  die  Herren:  Bürgermeister 
Dr.  Josef  Neu  may  er:  Die  Gemeindeverwaltung  der  Reichs- 
haupt-  und  Residenzstadt  Wien  1909.  Wien  1910.  8°.  —  A.  J  a- 
cohi  &  William  J.  Robin'son  M.  D'.-New  York:  Collected 
essays,  adresses  scientific  papers  and  miscellaneous  writings  of 
A.  Jacobi  in  8  Volume's.  Edit,  by  W.  J.  Robinson  M.  D. 
New  York  1909.  —  A.  Judsoii  M.  D. -New  York:  The  influ¬ 
ence  of  growth  on  congenital  and  acquired  deformities.  New 
York  1905.  8°.  —  Dr.  Gram  veil  und  M.  II.  Vegas  (Buenos 
Aires) :  Tratamiento  de  los  quistes  hidaticos.  Buenos  Aires  1910. 
—  A.  M.  Donald -Washington:  A  Plan  for  the  Study  of  Man. 
Washington.  1902.  8°.  —  W.  F.  Whitney -Boston  (Mass.): 
Bulletin  of  the  Warren  Anatomical  Museum  Harvard  Medical 
School.  Nr.  1:  Pathological  Anatomy.  Boston  (Mass.).  1910.  — 
A.  M.  D1.  B  ass  T  e  r-New  York:  A  new  method  of  tratement 
for  chronic  intestinal  putrefactions  by  m'eans  of  rectal  instilla¬ 
tions  of  autogenous  bacteria  and  strains  of  human  bacillus  colli 
communis.  New  York  1910.  —  Some  new  methods  of  test  meal 
and  feces'  examinations.  New  York  1910.  —  H.  G.  A.  G  jessing 
M.  D.-New  York:  Borcbgrevnik  O.  Ambulatorische  Extensions- 
behandlung  der  oberen  Extremität.  Jena  1908.  —  Dr.  II.  von 
Schrötter:  Le  travail  dans  Fair  comprime.  Bruxelles  1910. 
Hygiene  der  Aeronautik.  Berlin  1909.  8°.  (S.-A.).  —  Professor 
R.  Fick- Innsbruck:  Handbuch  der  Anatomie  und  Mechanik  der 
Gelenke  (II.  Teil.  Allgemeine  Gelenk-  und  Muskelmechanik).  Jona 
1910.  —  Dr.  Ed.  Kraus- Wien:  Revue  hebdomadaire  de  la- 
ryngologie,  otologie  et  de  rhinologie.  Paris  1909.  Archives  de 
Ginecopathia,  Obstetricia  y  Pediatria.  Anno  XXIH.  Barcelona 
1910.  —  Dr.  M.  Hirsch,  Th.  Tuffier  und  P.  Des  fosses: 
Kleine  Chirurgie.  Nach  der  zweiten  französischen  Auflage  ins 
Deutsche  übertragen,  ergänzt  und  bearbeitet  von  M.  Hirsch. 
Wien  und  Leipzig  1910.  —  R.  W.  Lovett,  L.  A.  .Tones1, 
C.  H.  Bradford  M.  D. :  Infantile  Paralysis  in  Massachusetts  in 
1908.  Boston  1910.  —  J.  Weiß- Wien :  Oesterreichisch-ungarische 
Vierteljahrschrift  für  Zahnheilkunde.  Wien  1910.  8".  —  Doktor 
Jos.  Herbst:  Pester  medizinisch  -  chirurgische  Presse,  redigiert 
von  Dr.  Josef  Herbst.  Budapest  1910.  —  Dr.  Hans  Heger 
und  Dr.  Ed.  Stiaßny:  Oesterreichische  Chemikerzeitung.  Wien 
1910.  —  Dr.  H.  Keller  und  Dr.  S.  Schwarzhart:  Oester¬ 
reichische  Aerztezeitung.  Wien  1910. 

Allen  diesen  Behörden,  Verwaltungen,  Instituten  des  Jn- 
und  Auslandes,  Vereinen,  sowie  den  Mitgliedern  unserer  Gesell 
Schaft  sage  ich  für  ihre  reichen  und  wertvollen  Geschenke  namens 
der  Bibliothek  bestein  Dank  und  ich  erlaube  mir  daran  die 
Bitte  zu  knüpfen  auch  in  Zukunft  an  die  Bibliothek,  die  ja  unser 
aller  kostbarstes  gemeinschaftlicheis  Eigentum  ist,  nicht  zu  ver¬ 
gessen. 

Der  Natur  unserer  Bibliothek  entsprechend,  sowie  in  Hin¬ 
sicht  auf  die  Vermögensverhältnisse  der1  Gesellschaft  findet  die 
Vermehrung  durch  Ankauf  hauptsächlich  auf  dem  Gebiete  der 
periodischen  Literatur  statt,  welche  möglichst  vollkommen  an¬ 
zuschaffen  und  zu  erhalten  die  Bibliotheksverwaltung  bestrebt 


sein  muß.  Bei  Einzelwerken,  Hand-  und  Lehrbüchern  müssen 
wir  unfe1  einschränken  und  der  Bibliothekar  erlaubt  sich  nach  wie 
vor,  in  dieser  Hinsicht  auf  die  Freundlichkeit  der  Mitglieder  zu 
zählen,  welche,  wie  er  hoffen  darf,  auch  in  Zukunft  ihre  eigenen 
Publikationen  der  Gesellschaftsbibliothek  zur  Verfügung  sLellen 
werden. 

A  n  ig  e  k  a  u  f  t  wurden  : 

a)  Handbücher  und  Einzel  werke.  1.  Handbuch  der 
biochemischen  Arbeitsmethoden.  Bearbeitet  von  E.  Abder¬ 
halden,  Dr.  Ackermann,  H.  Aron,  Baglioni  usw.  Heraus- 
gegeben  von  Prof.  E.  Abderhalden.  Berlin  und  Wien  1910. 
8°.  4  Bände.  Halbleder.  —  2.  Handbuch  der  Kinderheilkunde. 
Heran  »gegeben  von  Professor1  Dr.  M.  Pfaundler  und  Professor 
Dr.  A.  Schloß  mann.  2.  Auflage.  Leipzig  1910.  8°.  4  Bände. 

3.  Les  maladies  des  enfants,  par  V.  Hutinel,  avec  la  colla¬ 
boration  de  M.  M.  Bah  on  ne  ix,  Big  art,  Darre,  Jeanselme, 
Pi  erre,  L  ereboullet,  Les Ue,  G.  Leven,  Louis  Martin, 
P.  Merkten,  Nobecourt,  Pais's'eau,  L.  Tixier,  Vitry, 
Roger,  Voisin.  Paris  1909.  8°.  Vol.  1 — 5.  —  4.  Kunkel: 
Handbuch  der  Toxikologie.  Jena  1899—1901.  8°.  —  5.  M.  Bern¬ 
hardt:  Erkrankungen  der  peripherischen  Nerven.  2.  Teil  nebst 
Anhang:  Akroparästhesien.  Von  Prof.  Dr.  L.  v.  Frankl -Hoch¬ 
wart.  Wien  1904.  8°.  —  6.  Cornet:  Die  Tuberkulöse.  Zweite, 
vollständig  umgearbeitete  Auflage.  Wien  1907.  8°.  Vol.  I  und  II. 
Halbleder.  —  7.  Wickham  L.  und  Degrais':  Radiumtherapie. 
Autorisierte  deutsche  Ausgabe  von  Dr.  Max  Winkler.  Berlin 
1910.  8°.  —  8.  P.  Ehrlich  und  S.  Hata:  Die  experimentelle 
Chemotherapie  der  Spirillosen  (Syphilis,  Rückfallfieber  usw.). 
Berlin  1910.  8°.  -  9.  Arzneitaxe  zu  der  österreichischen  Pharma¬ 
kopoe,  Ed.  VIII.  (Dritte  Ausgabe.)  Wien  1910.  8°.  10.  Emil 

Kraepelin:  Psychiatrie.  Lehrbuch  für  Studierende  und  Aerzte. 
Achte,  vollständig  umgearbeitete  Auflage.  Leipzig  1909/10.  8°. 
2  Bde.  —  11.  J.  Heller:  Die  Krankheiten  der  Nägel.  Berlin 
1900.  8°. 

b)  Z  e  i  t s  c  h  r  i  f  ten  :  1.  Zeitschrift  für  die  gesamte  Neurologie 
und  Psychiatrie.  Von  A.  Alzheimer,  R.  Gaup,  M.  Lewan- 
dowsky  usw.  Berlin  und  Leipzig  1910.  ff.  8°.  —  2.  Zeitschrift 
für  Kinderheilkunde.  Herausgegeben  von  Finkeistein,  Tung¬ 
stein  und  Pfaundler.  Berlin  1911  ff.  —  3.  Zentralblatt  der 
Krebskrankheiten.  Internationales  Organ.  Unter  ständiger  Mitwir¬ 
kung  Von  Prof.  P.  Berge!  1  usw.  Herausgegeben  von  Prof.  Doktor 
Anton  Stricker.  Leipzig  1910  ff.  —  4.  Zentralblatt  für  Psycho¬ 
analyse.  Medizinische  Monatsschrift  für  Seelenkunde.  Heraus¬ 
gegeben  von  Dt.  S.  Freud.  Wiesbaden  1911  ff.  8°.  —  5.  Biblio¬ 
graphie  der  deutschen  Zeitschriften.  Literatur  mit  Einschluß  von 
Sammelwerken.  Unter  besonderer  Mitwirkung  von  Oherbiblio- 
thekar  Dr.  E.  Roth,  für  den  medizinisch-naturwissenschaftlichen 
Teil,  heraiTsgegeheiU  von  F.  Dietrich.  Leipzig  1909  ff.  — - 
6.  Heart:  A  Journal  fort  the  Study  of  the  Circulation.  Edited  by 
Thomas’  Dewy  M.  D1.  London  1910  ff.  —  7.  The  Journal  of 
medical  Researche.  Edited  by  Harold  C.  Ertast  M.  D.  Boston. 
Mass’.  1910  ff.  —  8.  Annales  of  Surgery.  A.  Monthly  Review  of 
surgical  science  and  practica.  Ed.  by  L.  S.  Pilcher,  J.  W. 
White  etc.  New  York.  1911  ff.  —  9.  Internationale  Monats¬ 
schrift  zur  Erforschung  des  Alkoholismus  und  Bekämpfung  der 
Trinksitten.  Basel  1910  ff.  —  10.  Das  Wissen  für  Alle.  Volks¬ 
tümliche  Hochschulvorträge  und  gemeinverständliche  Einzeldar¬ 
stellungen  aus  allen  Gebieten  des  Wissens.  Herausgegeben  von 
der  Vereinigung  österreichischer  Hochschuldozenten.  Wien  1911  ff. 

11.  Oesterreichische  Rundschau.  Herausgegeben  von  Dr.  Altred 
Freiherr  von  Berger  usw.  Wien  und  Leipzig  191  Iff. 

c)  Ergänzungen  lückenhafter  Archive  und  Zeitschriften : 
1 .  Aerztliche  Sachverständigen-Zeiturig,  Herausgegeben  von  Doktor 
L.  Becker  und  Dr.  A.  Leppmann.  Berlin  1895 — 1899.  lahr- 
gang  I — V.  —  2.  Skandinavisches  Archiv  für  Physiologie.  Heraus¬ 
gegeben  von  Robert  Tigers  tedt.  Leipzig  1889 — 1902.  Band 
I — XIII.  —  3.  Bericht  der  k.  k.  Gewerbeiesp-ektoren  über  ihre 
Amtstätigkeit  im  Jahre  1904/05.  Wien  1905/06. 

Im  ganzen  wurden  demnach  3  Handbücher,  8  größere 
Einzel  werke,  11  Zeitschriften  neu  angekauft  und  2  Zeitschriften 
in  größerem  Ausmaße  vollständig  komplettiert. 

Ich  gehe  nunmehr  zur  Besprechung  des  gegenwärtigen 
Standes  der  Bibliothek  über: 

Der  vorjährige  Stand  an  Einzelwerken  betrug  16.773  Num¬ 
mern'  ,  der  gegenwärtige  Stand  beträgt  16.900;  Vermehrung 
217  Numhierif. 

Der  vorjährige  Stand  an  Zeitschriften  betrug  84o  Num¬ 
mern,  der  gegenwärtige  Stand  beträgt  858  Nummern ;  . Vermehrung 
13  Nummern.  Unter  den  Zeitschriften  befinden  sich  454  ^ab¬ 
geschlossene  Nummern  und  404  fortlaufende  Nummern.  Diese 
401  Zeitschriften  mit  Fortsetzung  bilden  unseren  gegenwärtigen 


472 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


Einlauf  und  dieser  Einlauf  besteht  aus:  46  Tauschexemplaren 
und  234  abonnierten,  5  vom  Verein  für  Psychiatrie  und  Neuro¬ 
logie  in  Wien  und  1  von  der  Wiener  Otologischen  Gesellschaft 
gelieferte  und  118  gespendeten  Zeitschriften. 

Gebunden  wurden  im  abgelaufenen  Jahre  846  Einzelbände. 
Die  Volumenzahl  der  Gesamtbibliothek  hat  50.000  überschritten. 

Der  Umfang  des  Lese-  und  Leihverkehres  in  unserer  Biblio¬ 
thek  geht  aus  folgender  Statistik  hervor: 

Statistik  der  aus  der  Bibliothek  im'  Vcreii  ns  j  ab  r-e 
1910/1911  entlehnten  Zeitschriften  und  Bücher: 

a)  Zeitschriften  :  2549  Bände. 

b)  Einzelwerke:  609  Bände. 

c)  Handbücher:  342  Bände. 

Die  Bibliothek  wird  täglich  von  durchschnittlich  40  Lesenden 
besucht. 

Die  eigenen  Einnahmen  der  Bibliothek  durch  Ausgabe  von 
Gastkarten  an  Nichtmitglieder  für  die  Benützung  der  Bibliothek 
und  durch  Verkäufe  aus  der  Duplikatensaminlung  betrugen  im 
abgelaufenen  Vereinsjahre  725  Kronen.  Es  wurden  68  Gastkarten 
und  zwar :  23  Monatskarten  und  45  Semesterkarten  ausgegeben 
und  damit  eine  Einnahme  von  655  Kronen  erzielt.  Durch  Verkäufe 
aus  der  Duplikatensaminlung  sind  eingegangen  70  Kronen.  Unsere 
Duplikatensaminlung  hat  sich  wesentlich  vermindert  und  beziffert 
sich  auf  180  Nummern  Einzelwerke  mit  zirka  250  Bänden  und 
56  Nummern  verschiedener  Journale  mit  zirka  200  Bänden. 

Abgesehen  von  den  wenigen  verkauften  Werken  hat  die 
Bibliotheksverwaltung  im  Einverständnisse  mit  dem  Verwaltungs¬ 
rat  der  Universität  in  Toulouse,  deren  Bibliothek  durch  Brand 
völlig  vernichtet  wurde,  213  Bände  u.  zw.  ausschließlich  Dou¬ 
bl  etten  von  Journalfolgen  geschenkweise  überlassen. 

72  Bände  verschiedener  doubletter  Zeitschriften  hat  der 
Bibliothekar  einem  hiesigen  Antiquariatsbuchhändler  im  Tausch 
gegen  folgende  W  erke  abgegeben  u.  zw. : 

a)  als1  Ergänzung: 

R  e  v  u  e  d  e  M  e  d  e  c  i  n  e  1886 ; 

(Zeitschrift  für  Heilkunde,  Bd.  XL  1890; 

Archiv  für  p  a  t h  o  1  o  g  i  s‘c  h  e  A n  a  t  o  m  i  e  u n  d  Ph y  s  i  o- 
logie,  Bd.  XI.  1856; 

b)  für  Werke,  welche  in  Verstoß  geraten  sind : 

Handbuch  '  der  Geburtshilfe,  herausgegeben  von  F.  von 

Win  ekel,  Bd.  1,  1.  Hälfte,  Bd.  II,  1.  Teil; 

Ergebnisse  der  inneren  Medizin  und  Kinderheilkunde,  Bd.  II; 

Monatshefte  für  praktische  Dermatologie,  Bd.  IX,  1889. 

Ich  bin  hiemit  am  Ende  meines  Berichtes  und  bitte,  den¬ 
selben  zur  Kenntnis  zu  nehmen. 

* 

Der  Vorsitzen'«!  e  spricht  den  beiden  Herren  Bibliothekaren 
Prof.  H.  Pa  sc  hk  is  und  Dr.  A.  Hinterberger  für  ihre  Mühe¬ 
waltung  den  Dank  aus. 

* 

Prof.  Durig:  Vortrag:  Physiologische  Wirkung  des 
Höhenklimas.  (Erscheint  ausführlich  in  dieser  Wochenschrift.) 

Hierauf  folgt  die  Verk  ü n  d  i gu  n g  des  Wahlres  ultates. 

Protokoll  der  am  24.  März  1911  vorgenommenen  Wahlen  von 
Vorsitzenden,  Schriftführern  und  Mitgliedern  der  k.  k.  Gesellschaft 

der  A-erzte  in  Wien. 

Abgegeben  wurden  155  gültige  Stimmzettel.  Die  absolute 
Majorität  beträgt  78. 

Als  gewählt  erscheinen : 

Zu  Vorsitzenden:  Reg.-Rat  Prof.  A.  Kreidl,  Professor 
Ludwig  Unger,  Prof.  Ernst  Wertheim. 

Zu  Schriftführern :  (Dt.  Otto  v.  Frisch,  Dr.  Rudolf 
Paschkis,  Dr.  Heinrich  Reichel. 

Zum  Ehrenrnitgliede :  *)  Dr.  Pierre  Marie,;  Professor  der 
pathologischen  Anatomie  in  Paris. 

Zu  korrespondierenden  Mitgliedern  die  Professoren :  Doktor 
Pierre  Delliet.  Paris;  Dr.  Rudolf  Fick,  Innsbruck;  Dr.  S.Pozzi, 
Paris;  Dr.  Paul  Segond,  Paris. 

Zu  ordentlichen  Mitgliedern  die  Med.  Doktoren:  Moritz 
R }  ach,  Wilhelm  Ritter  von  Bucht  a,  Wilhelm  Egert,  Hans 
Finsterer,  Wilhelm  Ginsberg,  Hermann  Fr.  Grünwald, 
Susy  ela.  Guarch  Viktor  Hanke,  Albert  Hintz,  Ignaz  Kolm, 
Benjamin  Lip&chütz,  Ernst  Löwenstein,  Josef  Meller, 
Rudolf  Müller  Paul  Odelga,  Albin  Oppenheim,  Fernando 
Perez,  Armin  Petschek,  Leo  Bapoport,  Thomas  Edler  von 

-  t 

*)  Die  Wahl  von  AusländeriWzu  korrespondierenden  oder  Ehren¬ 
mitgliedern  bedarf  zu  ihrer  Gültigkeit  der  Genehmigung  der  k.  k.  Statt¬ 
halterei. 


Resch,  Max  Richter,  Hans  Sc  hei  dl,  Josef  Schiffmann 
Klemens  .1.  Scho  pp  er,  Gustav  Schreiber,  O.  Eugen  Schulz 
Dora  Teleky,  Hermann  Ulbrich. 

Die  Skru  tatoren: 

Dr.  H.  Teleky  m.  p.  Prof.  C  hia'ri  m.  p.  Dr.  v.  Khautz  m.  |>. 
Prof.  Paschkis  m.  p. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  16.  März  1911. 

R.  Grünfeld  demonstriert  einen  acht  Monate  alten  Säug¬ 
ling  mit  Klumpfüßen  und  kongenitaler  Luxation  des 
R a d i  u s  k ö p f  c h e n s  u n d  Syn d e smose  zwisc h e n  R a d i u s 
und  Ulna.  Die  Klumpfüße  wurden  orthopädisch  behandelt,  sie 
zeigen  jetzt  eine  hochgradige  Besserung.  Die  Hände  stehen  in 
fixierter  Pronationsstellung,  wenn  man  die  Supination  erzwingen 
will,  federt  die  Hand  in  die  fixierte  Pronationsstellung  zurück. 
Die  radiologische  Untersuchung  ergab,  daß  das  Köpfchen  des 
Radius  laxiert  und  dieser  mit  der  Ulna  bindegewebig  verwachsen 
ist.  In  der  Literatur  sind  bisher  36  derartige  Fälle  bekannt.  Di«: 
Funktion  der  Hände  wird  sich  voraussichtlich  bessern.  Die  Ur¬ 
sache  der  Affeklion  könnte  im  Mangel  an  Fruchtwasser  liegen. 

A .  Sou  c e k  zeigt  einen  Säugling  mit  Schwartenbild ung 
um  di  e  M  i  1  z  bei  L  nes  h  er  e  d  i  t  a  r  i  a  tarda.  Das  Ki  nd  zeigt 
Pa  rot  sehe  Pseudoparalyse,  Drüsemschwellung,  Milztumor  und 
Abschuppung  der  Fußsohlen.  Am  unteren  Pole  der  Milz  ist  Per- 
game'ntknittern  fühlbar  und  ein  Reibegeräusöh  hörbar. 

J.  Zap  pert  demonstriert  einen  16jährigen  Knaben  mit 
diffuser  Hirnsklerose.  Bis  zum  vierten  Lebensjahre  war 
das  Kind  gesund,  dann  bekam  es  nach  einem  Sturz  Konvulsionen, 
Fieber  und  verfiel  in  Benommenheit.  Nach  allmählicher  Erholung 
trat  eine  geringe  linkseitige  Schwäche  auf,  die  Konvulsionen 
nahmen  an  Häufigkeit  zu,  so  daß  sie  manchmal  60mal  am  Tage 
vorkamen;  sie  waren  manchmal  halbseitig,  aber  meist  betrafen 
sie  den  ganzen  Körper.  Nach  mehreren  Jahren  stellte  sich 
Schwachsinn  und  schließlich  allgemeine  Verblödung  ein.  Alle 
Extremitäten  sind  gelähmt  und  spastisch  an  den  Leib  gezogen, 
die  spastische  Starre  betrifft  auch  den  Rumpf.  Die  Affektion  zeigt 
das  Bild  der  Pseudobulbärparalyse,  das  Kind  ist  vollkommen 
sprachlos,  kann  kaum  mehr  schlucken,  gelegentlich  zeigt  sich 
Speichelfluß;  Störungen  von  seiten  der  Augen  oder  ReizSymptume 
an  den  Extremitäten  fehlen.  Der  Begriff  der  Hirnsklerose,  welche 
hier  vorliegt,  läßt  sich  nicht  so  scharf  abgrenzen,  wie  man  bisher 
angenommen  hat.  Sie  entsteht  im  Anschluß  an  subakute  Pro 
zesse  im  Gehirn  durch  allmähliche  Progredienz,  ihre  Symptome 
hängen  von  dem  primären  Sitz  der  Affektion  ab.  Alle  diese  Fälle 
passieren  das  Stadium  der  Pseudobulbärparalyse  und  zeigen  einen 
langsamen,  progredienten  Verlauf.  Vortragender  hat  vier  Fälle 
gesehen,  welche  in  diese  Kategorie  gehören.  Im  Wesen  der  ge. 
nuinen  Epilepsie  liegt  nicht  eine  vollkommene  Verblödung,  viel¬ 
leicht  gehören  manche  Fälle  von  Epilepsie,  die  in-  Verblödung 
übergehen,  in  die  K lasse  der  diffusen  Hirnsklerose. 

O.  Marburg  bemerkt,  daß  die  Hirnsklerose  immer  etwas 
Sekundäres  ist,  sie  folgt  einer  primären  Parenchymdegeneration. 
Es  gibt  aber  auch  primäre  Prozesse,  welche  ähnlich  aussehe-n, 
wie  die  Sklerose,  nämlich  die  durch  Tumoren  hervorge rufenen. 
Die  Einteilung  der  Hirnsklerose  ist  nach  folgendem  Prinzipe  mög¬ 
lich:  1.  Fälle  mit  vaskulärer  Aetiologie,  entstanden  durch  fötale 
oder  postfötale  Gefäßprozesse;  sie  können  diffuse  oder  zirkum¬ 
skripte  Hirnveränderungen  hervorrufen.  2.  Entzündliche  Skle¬ 
rose,  hervorgerufen  durch  eine  parenchymatöse  Entzündung  wie 
bei  akuter  multipler  Sklerose;  sie  ist  multipel  oder  diffus,  in 
bezug  auf  die-  Lokalisation  verhalten  sich  die  Fälle-  verschieden. 
3.  Fälle,  welche  auf  hereditärer  Degeneration  beruhen  und  zwar 
entweder  auf  primärer  Degeneration  der  Ganglienzellen  (Heredo- 
deg-ene  ratio  cellularis1)  oder  der  Nervenfasern  (Aplasia  axialis 
extracorticalis  congenita),  letztere  betrifft  die  Markscheiden  und 
die  Achs-enzylinder  und  bietet  ein  ähnliches  Bild  wie  die  mul¬ 
tiple  Sklerose.  4  Den  Ueb-ergang  von  der  Aplasie  zu  den  Tumoren 
bildet  die  tuberöse  Sklerose,  welche  mit  Tumoren  der  Nebenniere 
und  der  Haut  und  mit  Störungen  der  GefaßentwickTung  c-inher- 
geht.  5.  Gliom,  Gliosis  und  Gliomatosis.  6.  Pseudosklerose;  be¬ 
stehend  in  Schrumpfung  des  Gehirns  infolge  chemischer  Einflüsse. 
Die  Symptome  der  GehirnSkle-ros-e  hängen  nicht  Von  der  Form  der 
Krankheit,  sondern  von  der  Lokalisation  ab.  Die  vaskuläre  Skle¬ 
rose  ist  ‘nach  dem  Ablauf  des  Anfalles  meist  abgeschlossen,  die 
entzündliche  und  die  tuberöse  Sklerose  sowie  das  Gliom  sind 
progredient. 


Nr.  13 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


473 


,  Fr.  Spieler  weist  darauf  hin,  daß  Pseudosklerose  mit  dif- 
I user  Sklerose  nicht  identisch  ist .  Es  ist  als  plausibel  anzu¬ 
nehmen,  daß  bei  der  Pseudosklerose  die  Veränderungen  des  Ge¬ 
hirns'  durch  molekulare  Veränderungen  bedingt  sind.  Das  klinische 
Bild  der  diffusen  Rückenmarkssklerose  ist  scharf  Umrissen.  Bei 
dem  Falle  von  Zap  pert  sind  der  chronische  Verlauf,  der  trau¬ 
matische  Beginn  und  akute  entzündliche  Prozeß  im  Anfänge  der 
Erkrankung  hervorzuheben.  Bei  den  vom  Redner  beobachteten 
Fallen  war  ein  solcher  akuter  entzündlicher  Prozeß  nicht  nach 
zuweisen.  Bei  Erwachsenen  tritt  der  geistige  Verfall  in  den  Hinter¬ 
grund,  er  fängt  spät  an  und  nimmt  nicht  derartige  Dimensionen 
wie  bei  jungen  Individuen  an. 

J.  Zap  pert  stimmt  mit  dein  Vorredner  darin  überein, 
daß  die  diffuse  Sklerose  ein  umschriebenes  Krankheitsbild  bietet, 
sic  hat  aber  Uebergänge  zu  anderen  Affektionen. 

B.  Schick  stellt  ein  11  jähriges  Mädchen  mit  Lues  here¬ 
ditaria  tarda  vor.  Dasselbe  hot  bis  zum  fünften  Lebens¬ 
jahre  keine  auffälligen  luetischen  Symptome,  seither  sind  solche 
allmählich  aufgetreten.  Das  Kind  zeigt  gegenwärtig  am  Halse 
Narben  luetischer  oder  tuberkulöser  Natur,  Fisteln  an  beiden  Seiten 
des  Nasenrückens  nach  Trän ensackoperation ,  Perforation  des  Gau¬ 
mens,  eine  luetische  Infiltration  des  Larynxeinganges,  Perfora¬ 
tion  des  Nasenseptums,  Taubheit  seit  drei  Jahren,  Tumor  der 
Leber  und  der  Milz,  leichte  Keratitis’,  Hute  hin  son  sehe  Zähne, 
Verdickung  des  linken  Kniegelenkes,  Auftreibung  und  säbelschei¬ 
denartige  Verkrümmung  der  Schienbeine,  eine  abnorme  Länge  der 
unteren  Extremitäten,  namentlich  der  linken,  welche  zum  Aus¬ 
gleich  mit  der  rechten  gebeugt  gehalten  werden  muß.  Die  Pir¬ 
quet  sehe  und  die  W  a  s  s  er  man  n  sehe  Reaktion  sind  positiv. 
Schmierkur,  Z  ittmannSehes  Dekokt  und  Enesolhehandlung 
hatten  nur  einen  geringen  Erfolg. 

K.  Hoch  singer  bemerkt,  daß  es  bei  frühzeitig  erworbener 
Lues  auch  zur  Ausbildung  von  Hute  hi  n  s  on  sehen  Zähnen 
kommen  kann.  Differentialdiagnostisch  wichtig  ist  für  die  an¬ 
geborene  Lues  die  Formation  des  Schädels  (olympische  Stirne, 
Auftreibung  der  Tubera  frontalis),  weil  er  in  seiner  trühesten  Ent¬ 
wicklung  von  der  Lues  beeinflußt  wird.  Derartige  Gelenkaffek¬ 
tionen  wie  im  vorgestellten  Falle  findet  man  bei  hereditärer  Lues, 
deren  Behandlung  vernachlässigt  wurde. 

K.  Pre  leitner  demonstriert  Zellul  oid-S  tahldraht- 
v  er  bä  n  de  nach  Langes  Methode.  Diese  Verbände  bestehen  im 
Innern  aus  einer  weichen  Filzlage,  darüber  aus  einer  Wickelung 
von  Leinwandgurten,  die  mit  iu  Azeton  gelöstem  Zelluloid  (.1:3) 
bestrichen  und  durch  Stahldrähte  verstärkt  ist.  Die-  Verbände  sind 
sehr  fest,  leicht  und  billig  und  können  von  jedem  Arzte  ange¬ 
fertigt  werden.  Die  Herstellung  erfolgt  über  einem  Gipsmodell. 
Vortr.  demonstriert  nach  diesem  Verfahren  hergestellte  Platt fuß- 
einlagen,  Apparate  zur  Behandlung  des  Klumpfußes,  der  ange¬ 
borenen  Hüftgelenksluxation,  ferner  stellt  er  Kinder  vor,  hei 
welchen  er  mit  Erfolg  eine  Kluinpfußbeliandlung,  sowie  ein  Re¬ 
dressement  eines  Genu  valgum  durchgeführt  hat. 


Wiener  dermatologische  Gesellschaft. 

Sitzung  vom  3.  Februar  1911. 

Y  orsitzender :  Finge  r. 

Schriftführer:  Mucha  jun.  und  Kren. 

Finger  hält  einen  Nachruf  für  Lustgarten. 

Nobl  demonstriert  an  einem  achtjährigen  Knaben  die  spo¬ 
radisch  vorkommende  Erkrankung  der  Pseudoarea  (  elsi. 

Fasal  stellt,  aus  der  Abteilung  No  hl  vor: 

1.  Eine  Patientin,  die  am  behaarten  Kopfe  fünf  linsen-  bis 
liellergroße  kahle  Stellen  zeigt,  die1  rundlich,  scharf  umschrieben 
sind  und  das  Bild  des  Lupus  erythematodes  in  verschie¬ 
denen  Stadien  zeigen. 

2.  Aus  seiner  Ambulanz  in  der  Charite  eine  62jährige  I'rau, 
bei  welcher  vor  4V2  Jahren  eine  A  mp  u  tat  io  mammae  nebst 
Ausräumung  der  Lymphdrüsen  der  linken  Achselhöhle  vorge¬ 
nommen  wurde.  »Zwei  Jahre  später  trat  eine  leichte  Anschwel¬ 
lung  des  linken  Armes  auf,  die  in  den  letzten  Monaten  bis  zur 
derzeitigen  Größe  zunalnn.  Der  ganze  linke  Arm  erscheint  von 
der  Achsel  an  bis  zu  den  wulstig  aufgetriebenen  Fingern  außer¬ 
ordentlich  vergrößert. 

Seit  fünf  bis  sechs  Wochen  bemerkt  Patientin  das  Aul¬ 
treten  zahlreicher  Knötchen  und  Flecken  in  deir  Brustgegend 
und  am  linken  Oberarm. 

Wir 'sehen  außer  zahlreichen,  flachen,  linsenförmigen,  braun¬ 
roten  Infiltraten  eine  ganze  Aussaat  derber,  kleinster,  hirsekom- 
his  stecknadelkopfgroßer  Knötchen,  die  teils  im  Niveau  der  Haut, 
liegen,  teils  über  dasselbe  hinausragen  und  gegen  die  Klavikula 


zu  an  Größe  zunehmen  und  dort  stellenweise  Linsengröße  er¬ 
reichen. 

Ebenso  sehen  wir  auf  dem  linken  Oberarm  zahlreiche  derbe 
braunrote,  scharf  umgrenzte  Knötchen,  welche  in  gesunder  Haut 
teils  ganz  isoliert,  teils  zu  serpiginösen  Formen  an  gereiht  er¬ 
scheinen  und  nirgends  Exulzeration  zeigen. 

Die  histologische  Untersuchung  eines  exulzerierten  Knotens 
ergibt  die  Diagnose  einer  diffusen,  karzinomatösen  Infiltration 
in  den  Gewebsspalten  der  Haut. 

Brand  wein  er  demonstriert  einen  Fall  von  Lichen 
p  1  anus. 

Beck  (als  Gast):  Gestatten  Sie,  daß  ich  Ihnen  über  den 
weiteren  Krankheitsverlauf  jenes  Chauffeurs  berichte,  den  ich 
wegen  seiner  Affektion  des  Gehörorganes  am  1.  Dezember  in 
der  Gesellschaft  der  Aerzte  demonstrierte. 

Im  Februar  1910  hatte  der  Patient  eine  Inilialsklerose  ak¬ 
quiriert  und  erhielt  wegen  sekundärer  Erscheinungen  eine  Salv- 
arsan-Injektion.  Darauf  sollen  die  luetischen  Manifestationen 
prompt  geschwunden  sein.  Fünf:  Wochen  post  injectionem  be¬ 
merkte  der  Kranke,  daß  er  plötzlich  am  rechten  Ohr  sehr  schlecht 
höre.  Am  folgenden  Tage  setzte  starker  Drehschwindel  ein,  heftiger 
Brechreiz  bei  leerem  Magen  und  Erbrechen  nach  jeder  Nahrungs¬ 
aufnahme.  Der  Patient  war  nicht  imstande,  sein  Körpergleich¬ 
gewicht  zu  erhalten  und  wich  beim  Gehen  stets  nach  rechts  ab. 
Bei  der  Untersuchung  fand  ich  das  rechte  Ohr  ertaubt  und  den 
Vestibularapparat  für  sämtliche  ihm  zugeführten  Reize  unerregbar. 
Die  subjektiven  Vestibularsymptome  klangen  allmählich  ab,  hei 
weiter  bestehend  er  Ausschaltung  des  Kochlejar-  und  Vestibular- 
apparates.  Die  Wasser  mann  sehe  Reaktion  zeigte  konstant 
negativen  Ausfall.  Nach  Sistieren  des  Schwindels  bestand  ein 
diffuser  Kopfschmerz  weiter,  dem  durch  keine  Medikation  bei- 
zukommen  war.  Am  3.  Januar  wurde  der  Kranke  wieder  von  einer 
heftigen  Schwind elättacke  erfaßt,  er  mußte  das  Bett  hüten  und 
konnte  sich  nicht  aufrecht  erhalten.  Einige  Tage  später  wurde 
er  von  seiner  Frau  an  die  Ohrenklinik  gebracht.  Ich  fand  die 
Zeichen  einer  Ausschaltung  des  linken  Vestibularapparal.es  und 
einen  breitspurigen  Gang,  wie  man  ihn  hei  Taubstummen  sehen 
kann,  bei  denen  beide  Vestibulärapparate  zugrunde  gegangen 
sind.  Trotz  der  Klage  des  Patienten,  auch  auf  dem  linken  Ohre 
zeitweise  schlechter  zu  hören,  konnte  ich  am  Kochlearap parat 
dieser  Seite  nichts  Pathologisches  nachweisen. 

Seit  dem  19.  Januar  nimmt  aber  dasi  Gehör  links  derartig 
rapid  ab,  daß  heute  nur  sehr  laut  gesprochene  Worte  in  einer 
Entfernung  von  20  cm  vom  Ohre  gehört  werden. 

Bei  kritischer  Betrachtung  dieses  Falles  ergibt  sich  fol¬ 
gendes  Resümee:  Die  Lues  als  Aetiologie  für  diese  schweren 
Veränderungen  an  beiden  Gehörorganen  anzusprechen,  ist  deshalb 
nicht  sehr  plausibel,  weil  die  während  der  ganzen  Beobachtungs- 
zeit  öfters  vorgenommene  Blutuntersuchung  stets  negativen  Aus¬ 
fall  ergab.  Andrerseits  kann  man  sich  kaum  vorstellen,  daß  fünf 
Monate  nach  der  Einverleibung  von  Salvarsan  in  den  Organismus 
so  schwere  Schädigungen  durch  das  Arsen  zustande  kommen 
sollten1 .  i  _  _i  Li  i 

Es  könnte  sich  nur  noch  um  einen  intrakraniellen  Prozeß 
handeln,  der  sowohl  von  der  Lues,  als  auch  vom  Salvarsan 
unabhängig  ist.  Gegen  diese  Annahme  spricht  der  vollkommen 
negative  Nerven-  und  Augenbefund. 

Oppenhei m  demonstriert : 

1.  Einen  etwa  50jährigen  Mann  mit  einer  Affektion  der 
Urethra  und  Glans  penis.  Man  sieht  einen  runden,  etwa  heller¬ 
großen  Substanzverlust,  der  die  rechte  I  rethrallippe  in  toto,  die 
linke  nur  in  ihrem  oberen  Anteile,  zum  Teil  auch  aut  die  Schleim¬ 
haut  reichend,  oberflächlich  okkupiert.  Die  Ränder  sind  scharf, 
bogenförmig,  die  Basis  feindrusig,  uneben,  gelblich  belegt,  die  Ure¬ 
thralmündung  klaffend  und  unregelmäßig  gefranst.  Vor  drei 
Wochen  hatte  der  Kranke  nur  einen  kleinen  Defekt  an  der  rechten 
Urethrallippe,  und  ich  stellte  damals  die  Diagnose  U  leer  a 
venerea;  da.  die  Therapie  erfolglos  war,  so  ließ  ich  Wasser¬ 
mann  machen,  der  positiv  ausfiel,  so  daß  heute  die  Diagnose 
.G u  m m a  u r  e t h  r a e  et  g  1  a n d i s  zweifellos  ist. 

2.  Jenen  Fall  von  Fazialisparalyse  und  frischem  syphi¬ 
litischen  Exanthem,  der  in  der  letzten  Sitzung  der  k.  k.  Gesell¬ 
schaft  der  Aerzte  demonstriert  wurde.  Die  Fazialisparalyse  war 
damals  komplett.  Vor  vier  Tagen  habe  ich  dem  Kranken  0-6  g 
Ehrlich-Hata  subkutan  injiziert.  Daraufhin  Rückgang  des  Exan¬ 
thems  ohne  Herxheimei1  und  ebenso  der  Fazialisparalyse.  Es  folgt 
daraus,  daß  die  Fazialisparalyse  tatsächlich  durch 
Syphilis  bed  i  n g  I  vv  a  r. 

3.  Einen  40jährigen  Mann,  auf  dessen  hartem  und  weichem 
Gaumen  sich  zahlreiche  Ulzerationen  finden.  Dieselben  .sind  zum 
Teil  rund,  zum  Teil  unregelmäßig  konturiert;  einer  davon  zeigt, 


474 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


im  Grunde  in  bohnengroßer  Ausdehnung  rauhen  Knochen,  ein 
anderer  von  Kronengröße,  neben  der  Uvula  sitzend,  wird  in  dem 
medialen  Anteil  von  einer  pilzähnlichen  Wucherung  ausgefüllt. 
Die  Mehrzahl  der  Geschwüre  ist  gelblich-speckig  belegt;  an  ein¬ 
zelnen  Rändern  kann  man  hi rs'ek omgr oße,  graue  Knötchen  er¬ 
kennen.  Wassermann  ist  stark  positiv;  Patient  hatte  von  fünf 
Jahren  Lues.  Es  sind  zweifellos  Gummat  a  der  Schleimhaut 
und  des  Periostes.  Doch  bleibt  die  Frage  offen,  ob  es  sich 
um  eine  Mischinfektion  mit  Tuberkelbazillen  handelt. 

Neugebauer  demonstriert  aus  dem  Ambulätori um  0 p p e ti¬ 
li  e  i  m : 

♦ 

1.  Einen  Patienten,  der  nur  an  seiner  rechten  Thoraxseite 
eine  Gruppe  von  ulzerösen  Prozessen  der  Haut  zeigt;  die  einzelnen 
Ulzera,  von  einem  roten  Hofe  umgeben,  zeigen  einen  scharfen, 
steil  abfallenden  Rand,  an  verschiedenen  Stellen  peripheres  Weiter¬ 
schreiten.  Es  handelt  sich  um  ulzerierte  Gummen ;  der  Prozeß 
besteht  nach  Angabe  des  Patienten  zwei  Monate. 

2.  Einen  Fall  von  Lichen  ruber  planus1. 

3.  Einen  Patienten  mit  Lupus  erythematodes. 

Sprinzels  stellt  einen  Patienten  vor,  der  vor  fünf  Mo¬ 
naten  Lues  akquirierte  und  vor  vier  Monaten  eine  Sal- 
varsaninjektion  erhielt  (Garnisonsspital  Wien).  Mitte  Dezember 
(drei  Monate  nachher)  Auftreten  von  Schluck-  und  Schling¬ 
beschwerden  ;  kurz  nachher  plötzlich  Auftreten  von  Sprach¬ 
störung  (näselnde  Sprache).  In  Verbindung  damit  leichte  Gleich¬ 
gewichtsstörung.  Die  Untersuchung  ergab  eine  Lähmung  des  link¬ 
seitigen  Gaumensegels,  andere  Erscheinungen  im  Bereiche  der 
Vagus  Glossopharyngeusgruppe  nicht  nachweisbar.  Diese  Sym¬ 
ptome  bestehen  derzeit  größtenteils  fort.  Romberg  angedeuhet. 
V  assermann  positiv.  Der  ätiologische  Befund  zeigt,  eine  leichte  Stö¬ 
rung  beider  Vestibularn erven  im  Sinne  einer  mäßig  gesteigerten  Er¬ 
regbarkeit.  Die  positive  Seroreaktion,  das  zeitliche  Uebereinstim- 
men  mit  einem  Zeitpunkt,  wo  Rezidiven  einzutreten  pflegen,  spricht 
dafür,  daß  wir  es  hier  mit  einer  syphilitischen  Manifestation  zu 
tun  haben,  wobei  allerdings  die  eigenartige  isolierte  Lokalisa¬ 
tion  in  einem  Nervengebiete  in  Analogie  zu  beobachteten  Fällen 
die  dringende  Vermutung  nahelegt,  daß  diese  Art  der  Rezidive 
in  Beziehung  zur  Salvarsäninjektion  zu  bringen  ist. 

Groß  demonstriert  einen  Patienten  mit  Lichlen  planus 
cor  neu  s  an  beiden  Tibien  symmetrisch.  Außerdem  zeigt  der 
Kranke  Lichenefflöreszenzen  an  der  Wangen  Schleimhaut  und  an 
der  Zunge.  Die  Lokalisation  an  der  Zunge  gehört  zu  den  selte¬ 
neren  Vorkommnissen,  besonders  in  der  Ausbreitung,  wie  sie  der 
vorgestellte  Fall  aufweist,  zwei  guldenstückgroße,  milchweiße 
Plaques  am  Zungenrücken,  der  eine,  offenbar  ältere,  zeigt  eine 
feinwarzige  Oberfläche.  Die  Konsistenz  des  Zungenparenchyms 
ist  etwas  vermehrt. 

Bei  Untersuchung  mit  dem  Sch  muckertschen  Pharyngo¬ 
skop  erweisen  sich  Larynx  und  Pharynx  frei  von  Lichenknötchen, 
dagegen  finden  sich  am  Zungengrunde  teils  einzeln  stehende, 
teils  reihenweise  angeordnete  Knötchen  in  überaus  charakteristi¬ 
scher  Weise. 

Die  Erkrankung  ist  in  der  vorgestellten  Lokalisation  sehr 
selten. 

Ullmann:  Die  Ausdehnung  der  Plaques  ist  hier  besonders 
groß,  doch  muß  ich  nach  meinen  eigenen  Erfahrungen  diese 
Lokalisation  für  etwas  recht  Gewöhnliches  halten.  Kleinere 
streifenförmige  und  wenig  auffällige  fleckige  Verfärbungen  des 
Zungenepithels  sind  wohl  die  häufigsten  Erscheinungen  dels  Lichen 
planus  mucosae. 

Sachs:  Die  klinisch  differenten  Schleimhautaffektionen  des 
Lichen  ruber  planus  zeigen  histologisch  in  ihrem1  patholo¬ 
gisch-anatomischen  Verhalten  keinen  Unterschied. 

Groß  verweist  darauf,  daß  nach  den  Aeußerungen  der  an¬ 
wesenden  Fachmänner,  nach  seiner  eigenen  Erfahrung  und  nach 
literarischen  Angaben  der  vorgestellte  Fäll  als  große  Seltenheit 
anzusehen  sei.  Er  könne  der  von  Ullmann  geäußerten  Meinung 
nicht  beistimmen. 

Rusch  demonstriert  einen  51jährigen  Mann  mit  einer  seit 
drei  Vierteljahren  bestehenden  Schleimhautaffektion  des  Gaumens. 
Die  Schleimhaut  des  harten  und  weichen  Gaumens,  •  einschlie߬ 
lich  _  Uvula  und  Gaumenbögen,  ist  von  einem  meist  gut  um¬ 
schriebenen,  beträchtlich  elevierten  Infiltrat  okkupiert,  das  ober¬ 
flächlich  stellenweise  glatt,  glänzend,  stellenweise  durch  tiefe 
Furchen  papillär  zerklüftet  und  dunkel  gerötet  ist  oder  von  zahl¬ 
reichen,  kleineren  und  größeren,  unregelmäßig  konfigurierten,  ziem¬ 
lich  tiefen,  gelblich  -  schmierig  belegten  Geschwüren  mit  scharfen, 
feinzackigen  Rändern  bedeckt  ist.  Im  Bereiche  des  Gaumen¬ 
segels  sind  zahlreiche  miliare,  graugelbliche  Knötchen  in  die 
Schleimhaut  eingesprengt.  Die  histologische  und  bakteriologische 
Untersuchung  bestätigt  die  Diagnose  Tuberkulose  der  Gau¬ 


mensch  leimhaut.  Aehnliche  Veränderungen  finden  sich  an 
der  Schleimhaut  der  rechten  ary-epiglottischen  Falte  und  am 
rechten  Taschenband.  Ueberraschend  sind  nun  die  zu  beobach¬ 
tenden  Heilungsvorgänge  an  der  Gaumenaffektion,  die  auf  eine 
erst  seit  wenigen  Tagen  eingeleitete  Jodkalimedikation  fest¬ 
zustellen  sind.  Günstige  Beeinflussung  tuberkulöser,  namentlich 
lupöser  Haut-  und  Schleimhautprozesse  durch  Jod  und  Queck¬ 
silber  sind  bekanntlich  von  verschiedenen  Autoren  berichtet 
worden.  Diesfalls  könnte  es  sich  aber  um  eine  Kombination 
von  Tuberkulose  und  tertiärer  Syphilis  handeln,  da  die  Wasser¬ 
mann  sehe  Serumreaktion  positiv  ist  (vor  zehn  Jahren  angeblich 
weiches  Geschwür  und  Bubo).  Möglicherweise  bringt  der  weitere 
Verlauf  — -  partielle  oder  restlose  Abheilung  —  weitere  Aufschlüsse. 

Lipschiitz  demonstriert  aus  der  Abteilung  Rusch  im 
Wiedener  Krankenhaus : 

1.  Einen  Fall  von  Lichen  ruber  planus'  am  rechten 
Unterschenkel,  bei  welchem  die  mächtige  Ausbildung  eines  über 
5  cm  langen,  oberflächlich  stark  zerklüfteten,  mit  grauweißen, 
selm  stark  ausgebildeten,  in  kleinen  Höhlenbildungen  sitzenden 
Hornpfropfen  ausgestatteten  Herdes,  eine  Aehnlichkeit  mit  Fr  am 
bösie  herbeiführt.  Es  bestehen  außerdem  typische  Effloreszenzen 
von!  Lichen  ruber  planus. 

2.  Einen  Patienten  mit  tubero-seripiginösem  Syphilid  in  der 
linken  Slchultergegend  und  auf  der  Stirne,  bei  welchem  am 
Stamme,  hauptsächlich  am  Rücken,  zahlreiche,  linsengroße,  rund¬ 
liche  oder  elliptische,  nach  den  Spaltbarkeitsrichtungen  der  Haut 
ungeordnete,  weißliche  Flecke  zu  sehen  sind.  Die  Hautoberflächc 
ist  im  Bereiche  dieser  Flecke  leicht  gefältelt;  beim  Betasten  mit. 
dem  Finger  kann  man  feststellen,  daß  die  Haut  daselbst  substanz¬ 
ärmer  ist.  Patient  steht  seit  1906  in  unserer  Beobachtung  und 
wurde  das  Auftreten  der  sekundären  Hautatrophie  im  un¬ 
mittelbaren  Anschluß  an  die  Abheilung  eines  lentikulären,  papu¬ 
lösen  Syphilids  einwandfrei  festgestellt. 

3.  Eine  2Qjährige  Patientin  mit  einem  Chilblain- Lupus 
Hutchinson.  Man  findet  auf  beiden  Handrücken  und  auf 
fast  sämtlichen  Fingern  zerstreut  ungeordnete-,  leicht  e  le¬ 
gierte,  bläu  Hellrote,  bis-  hellergroße  Effloreszenzen,  die  in  ihren 
zentralen  Anteilen  eine  graugelblich©,  stark  verdickte,  leicht  schup¬ 
pende  Hornschicht  aufweisen.  An  einzelnen  Effloreszenzen  ist  auch 
eine  deutliche  Stichelung  der  Oberfläche  nachweisbar.  Besonders 
bemerkenswert  sind  die  Veränderungen  an  den  Fingerkuppen: 
lin-sengroße,  -elevierte,  von  rötlichen  Höfen  umgebene  Efflores- 
z-enzen,  die  im  Zentrum1  eine  trockene,  derbe,  mäßig  schuppende, 
schmutzig-gelbliche,  verhornte  Partie  einschließen.  In  der  linken 
Vola  imanus  bestehen  ferner  mehrere  mohnkorngroße-,  im  Zentrum 
eine  kleine  Vertiefung  aufweis-emde,  blaurote,  nur  wenig  vor- 
sprin-gend-e,  knötchenförmige  Effloreszenzen,  die  einem  Tuberkulid 
sehr  ähnlich  sehen.  Am-  äußeren  und  inneren  Fußrand  beiderseits 
findet  man  zahlreiche  lividblaue,  tiefsitzende-,  auf  Druck  eine 
bräunliche  Pigmentierung  zurücklassende  knotenförmige  Efflores¬ 
zenzen. 

Es  besteht  ferner  ein  mit  narbiger  Atrophie  abge'heilter,  aus¬ 
gedehnter  Lupus  erythematodes  der  K o p f h a u t  und  frische 
Herde  am  rechten  und  linken  Ohrläppchen. 

4.  Einen  zweiten  Fall  von  zum  Teil  noch  floriden,  zum  Teil 
bereits  in  Abheilung  befindlichen,  sehr  ausgedehnten,  aus  zahl¬ 
reichen  Herden  zusammengesetzten  Lupus  erythematodes 
der  Kopfhaut  mit  frischen  Herden  im  Gesicht-e. 

Sachs:  Ein  19 jähriger  Patient  meiner  Beobachtung  zeigte 
an1  den  Fingern  das1  Bild  des  Lupus  erythematodes  (Chil¬ 
blain- Lupus  Hutchinson);  die  histologische  Untersuchung 
ergab  keine  Aehnlichkeit  mit  dem  des1  Lupus  -erythematodes,  ent¬ 
sprach  eher  dem  Bilde  eines  Tube-rkulids. 

Lei  n  er  stellt  einen  neunjährigen  Knaben  mit  Keratoma 
her  edi  tarium  palmare  et  plantare  vor. 

Königstein  stellt  aus  der  Abteilung  Ehrmann  1.  eine 
Frau  mit  zahlreichen  gummösen  Ulzeratione-n  der  Haut,  der  Nase, 
sowie  der  Stirne  vor; 

2.  teilt  er  folgendes  mit:  Bei  den  zahlreichen  intravenösen 
Injektionen  von  Salvarsan,  welche  wir  in  der  letzten  Zeit  aus¬ 
geführt  haben,  beobachteten  wir  häufig  das  Auftreten  einer  Kon¬ 
junktivitis,  ungefähr  fünf  bis  sechs  Stunden  nach  der  Injektion, 
ln  den  meisten  Fällen  ist  diese  starke  Injektion  der  Conjunctiva 
palpabrarum  et  bulbi  vergesellschaftet  mit  einer  Herxheim. er¬ 
stehen  Reaktion,  sowie  von  einer  hohen  Teimperatursteigerung 
begleitet,  doch  sahen  wir  dieses  Phänomen  auch  ohne  Herxheimer 
und  wesentliche  Temperatursteigerung. 

Volk  stellt  eine  Frau  vor,  deren  Hauterkrankung  offenbar 
eine  besondere  Form  der  idiopathischen  Hautatrophie  ist.  Die 
Affektion  ist  besonders  stark  an  den  oberen  und  unteren  Extre¬ 
mitäten,  Weniger  am  Stamme  ausgesprochen.  Am  Halse  finden  sich 


Nr.  13 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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nur  einige  Pigmentationen,  aii  beiden  Wangen  zahlreiche,  feine 
Gefäßektasiein.  Die  eigentliche  Hauterkrankung  lokalisiert  sich 
uni  die  Follikel,  um  welche  die  Haut  in  der  Größe  etwa  eines 
Stecknadelkopfes  unter  dem  Niveau  der  Umgebung  ist,  glatt  und 
atrophisches  Aussehen  hat.  Um  diese  Stellen  finden  sich  Gefä߬ 
ektasien  und  kleinste  kapillare  Blutungen.  Durch  Aneinander¬ 
reihung  solcher  veränderter  kleinster  Hautpartien  erhält  die  Haut 
ein  ganz  eigentümlich  gegittertes  Aussehen.  An  den  oberen  Brust¬ 
partien  einzelne  Flecke  wie  von  einem  seborrhoischen  Ekzem. 

Die  Affektion  besteht  angeblich  schon  seit  mindestens  zehn 
Jahren. 

Müller:  Ich  werde  mir  später  erlauben,  aus  der  Finger- 
scheu  Klinik  einen  Fall  vorzustellen,  welcher  kn  wesentlichen 
mit  .dein  vorgestellten  Fall  identifiziert  werden  kann.  Auch  bei 
diesem  Falle  handelt  es  sich  um  eine  Atrophodermie  mit  Ektasie 
der  kleinen  Gefäße. 

Kren  demonstriert  aus  der  Klinik  Riehl  ein  19 jähriges 
Mädchen  mit  universeller  Sklerodermie,  die  vor  fünf  Jahren 
als  Sklerodaktylie  begonnen  hat.  Auffallend  erscheint  an  der 
Patientin  die  dunkle  Pigmentierung  des  ganzen  Inteigumentes,  be¬ 
sonders  der  Hände  und  des  Gesichtes.  Desgleichen  ist  auch  das 
Lippenrot  deutlich  pigmentiert;  die  Abgrenzung  der  P.raun- 
färbung  gegenüber  der  blaß  gefärbten  Lippenschleimhaut  ist  hier 
eine  unscharfe. 

Derlei  Pigmentierungen  —  besonders  der  Schleimhäute  -  - 
werden  von  den  Internisten  vielfach  als  Folgen  eines  gleich¬ 
zeitig  bestehenden  Morbus  Addisoni  aufgefaßt.  Es  wird  sogar 
behauptet,  daß  Schleimhautpigmentierungen  für  Morbus  Morbus 
Addisoni  geradezu  typsich  sind.  ' 

Es  folgt  daraus,  daß-  bei  Sklerodermiekranken  die  Diagnose 
eines  gleichzeitig  bestehenden  Morbus  Addisoni  nur  mit  großer 
Vorsicht  geteilt  werden  darf;  keineswegs  berechtigen  die  er- 
erwähnten  Symptome  zur  Diagnose  eines  kombinierten  Krankheits¬ 
bildes. 

Kerl  demonstriert  aus  der  Klinik  Riehl  eine  47jährige 
Frau  mit  Tumoren  in  der  linken  Kieferwinkelgegend.  Die  Affektion 
besteht  seit  vier  Jahren.  Stärkeres  Wachstum  bemerkt  Patient 
seit  einem  Jahre. 

Die  eine,  fast  handtellergroße,  flächenhaft  ausgebreitete  Ge¬ 
schwulst  grenzt  sich  scharf  ab,  ragt  über  das  Niveau  der  Um¬ 
gebung  ca.  0-5  cm  vor  und  erstreckt  sich  tief  in  die  Subkutis; 
die  Geschwulst  ist  auf  der  Unterlage  verschieblich,  die  Konsi¬ 
stenz  derb.  Die  Haut  erscheint  in  die  Geschwulst  einbezogen. 
Die  Oberfläche  zeigt  gelbroten  Farbenton. 

Eine  ähnliche,  kronengroße  Geschwulst,  gelagert  im  Ko- 
lium,  findet  sich  in  geringer  Entfernung  oberhall)  der  erwähnten. 
Innere  Organe  normal,  keine  Drüsenschwellung.  Blutbefund  nicht 
leukämisch.  Die  histologische  Untersuchung  ergibt  einen  Aufbau 
aus  kleinen  Lymphozyten,  daneben  reichlich  größere  Zellen  mit 
unregelmäßigem  Kern,  vereinzelt  Plasma  und  Mastzellen. 

Mit  Rücksicht  auf  das  histologische  Bild  und  den  derzeitigen 
klinischen  Befund  ist  der  Fall  in  die  Gruppe  der  Mycosis  fungoides 
demblee  einzubeziehen. 

Müller  stellt  aus  Fingers  Klinik  vor: 

1.  Einen  Fall  von  Poikilodermie  (Atrophodermia  ery- 
thematoides).  Im  Gesichte  und  an  der  Stirne  sieht  man  zahlreiche 
rote  oder  braunrote,  sowie  braune,  meist  netzförmig  konfluierende, 
makulöse  Effloreszenzen.  Freigeblieben  sind  nur  die  Partien  über 
den  temporalen  und  frontalen  Gefäßen,  die  zentralen  \\  angen- 
partien  beiderseits,  sowie  die  Gegend  um  die  Ober-  und  nie  Unter¬ 
lippe.  Sehr  ausgeprägt  ist  der  Prozeß  am  Halse,  speziell  rückwärts 
sieht  man  deutlich  die  hellrot  gefärbten,  erythemähnlichen  Efflores- 
zenzen  in  netzförmiger  Anordnung.  Die  Hautpartien  in  den  Netz¬ 
maschen  sind  ein  wenig  unter  dem  Niveau  der  übrigen  Haut 
gelegen  und  depigmentiert.  Solche  oberflächliche  Atrophien,  in 
denen  kleinste  Gefäße  besonders  deutlich  sichtbar  werden,  sind 
besonders  an  der  Vorderseite  dos  Halses  sichtbar. 

An  der  oberen  Thorax-  und  Rückenpartie  setzt  sich  der 
Prozeß  in.  eine  gleichmäßigere,  glänzend  glatte-,  weiß-- livide,  über¬ 
handgroße  Fläche  fort,  die  sich  unscharf  gegen  die  Umgebung 
absetzt.  Auf  den  Oberschenkeln  haben  sich  seit  einigen  V  ochen 
hellrote,  unregelmäßig  begrenzte  Flecken  gebildet,  wie  man  sie 
bei  künstlicher  Stas©  oder  bei  akuten  Erythemen  zu  sehen  g©- 
wohnt  ist.  Es  dürfte  sich  um  einen  jener  seltenen,  von  Jakobi 
zuerst  beschriebenen  Fälle  oberflächlicher  Atrophie  handeln,  die 
er  Poikilodermie  genannt  hat. 

2.  Einen  Fall  idiopathischer  Hautatrophie.  Bei  dem 
Patienten  sieht  man  am  rechten  Bein  von  der  Trochantergegend 
beginnend  bis  zum  Fuß-rücken  das  bekannt©  Bild  der  idiopathischen. 
Atrophie:  verdünnte,  leicht  faltbare  Haut.  Auffallend  ist  der  Le- 


fund  einer  am  Bande  dieser  Partie  bestehenden,  dein  Nervus 
ischiadicus  folgenden  sklerodonnieähn liehen  Verhärtung. 

Sachs:  Ein  von  mir  in  der  Sitzung  vom  10.  Februar  1909 
demonstrierter  Fall  hat  mit  dem  von  Müller  vorgestellten  eine 
gewisse  Aehnlichkeit. 

Stein  demonstriert  aus  der  Klinik  Finger  Reinkulturen 
von  Micro  sp  or  on  Audouini,  die  aus  den  Haaren  und 
Schuppen  der  in  der  letzten  Sitzung  gezeigten,  an  Mikrosporie 
erkrankten  Kinder  gezüchtet  wurden. 


Aerztlicher  Verein  in  Brünn. 

Sitzung  vom  6.  Februar  1911. 

Prim.  Dr.  Wilhelm  Bittner  demonstriert:  1.  Ein  großes 
embryonales  Adenosarkom  der  linken  Niere,  das  von 
einem  neun  Monate  alten  Mädchen  stammt  und  am  20.  De¬ 
zember  1910  durch  Laparotomie  gewonnen  wurde.  Die  Ge- 
schwulst  hatte  dem  Kinde  keine  Beschwerden  verursacht;  nur 
das  rasche  Wachsen  des  Abdomens,  besonders  links,  und  das 
zunehmend  schlechte  Aussehen  des  Kindes,  für  das  kein  Grund 
vorlag,  fiel  den  Eltern  auf  und  veranlaßte  sie,  Spitalshilfe  a.uf- 
zusuchen.  Bei  der  Aufnahme  des  Kindes  am  16.  Dezember  war 
ein  Tumor  nachweisbar,  der  die  ganze  linke  Bauchhöhle  fast 
ausfüllte,  auch  über  die  Medianlinie  nach  rechts  herüberreichte; 
derselbe  war  etwas  beweglich,  von  unregelmäßiger  Gestalt,  glatter 
Oberfläche,  weich,  stellenweise  scheinbar  fluktuierend,  schmerz¬ 
los.  Der  Perkussionsschall  war  darüber  gedämpft;  am  medialen 
Rande  war  ein  tympanitischer  Streifen  nachweisbar,  der  dem 
Colon  descendens  angehörte.  Durch  eine  tympanitische  Zone 
war  der  Tumor  auch  von  der  Milz  abgrenzbar.  Es  sprach  also 
alles  für  einen  Tumor  des  linken  Retroperitonealraumes.  Der 
Harn  war  normal,  ohne  Blutspuren,  wie  ja  dies  bei  der  Mehr¬ 
zahl  dieser  embryonalen  Tumoren  der  Fall  ist.  Auffallend  war 
die  Blässe  und  die  Kachexie  des  sonst  gesunden  Kindes.  Der 
Tumor  zeigte  sehr  rasches  Wachstum,  so  daß  er  in  den  vier 
Tagen  der  Spitalsbeobachtung  die  Medianlinie  sehr  weit  über¬ 
schritten  hatte.  Mit  Rücksicht  darauf  wurde  trotz  des  schlechten 
Aussehens  des  Kindes  die  Exstirpation  beschlossen  und  dieselbe 
am  20.  Dezember  mit  Erfolg  durchgeführt.  Vor  der  Operation 
erhielt  das  Kind  eine  subkutane  Kochsalztransfusion  von  zirka 
200  g  physiologischer  Kochsalzlösung  und  eine  halbe  Spritze 
Kampferöl  subkutan.  Diese  subkutanen  Kochsalz translusionen  be¬ 
währen  sich  dem  Vortragenden  bei  schweren  Operationen  an 
Kindern  vorzüglich.  -  Die  Bauchhöhle  wurde  durch  eine,  vom 
Rippenbogen  bis  fast  zur  Inguinalgegend  verlaufenden  Schnitt 
eröffnet.  Es  präsentierte  sich  der  gewaltige  Tumor,  der  die 
Atmung  mitmachte  und  von  zahlreichen  Venen  überzogen  war. 
An  seinem  medialen  Bande  zog  das  Colon  descendens  herab . 
Nun  wurde  das  hintere  Blatt  des  Peritoneums,  das  den  Tumor 
unmittelbar  überzog  und  stellenweise  mit  dessen  Oberfläche  ver 
klebt  war,  in  der  Schnittrichtung  gespalten,  dessen  Ränder  sofort 
durch  Mikulicz-Klammern  fixiert.  Dabei  wurden  einzelne  große 
Venen  ligiert.  Bei  der  nun  folgenden  vorsichtigen  stumpfen  Aus¬ 
schälung  des  Tumors  riß  derselbe  ein  und  ergoß  eine  große  Menge 
von  Geschwulstbröckeln  über  das  Operationsfeld.  Am  unteren 
Pol  wurde  der  dünne  Ureter  entdeckt  und  doppelt  ligiert,  hierauf 
die  Gefäße  des  Nierenstieles  separat  sorgfältig  ligiert,  worauf 
die  Entfernung  des  mächtigen  Tumors  anstandslos  gelang.  Nach 
sorgfältiger  Durchspülung  des  Operationsfeldes  mit  physiologi¬ 
scher  Kochsalzlösung  wurde  eine  Gegenöffnung  im  retroperr- 
tonealen  Raum  lumbalwärts  angelegt  und  hier  ein  Drainrohr  ein¬ 
gelegt,  hierauf  der  Spalt  in  dem  hinteren  Peritonealblatte  duich 
Katgutnaht  sorgfältig  geschlossen,  wobei  die  vorher  erfolgte  Fi¬ 
xierung  der  Spaltränder  durch  die  Mikulicz-Klemmen  sich  vor¬ 
züglich  bewährte.  Nach  nochmaliger  Durchspülung  der  Bauch¬ 
höhle  und  der  Darmschlingen  mit  physiologischer  Kochsalzlösung 
erfolgte  Schluß  der  Bauchwun.de  in  Etagen. 

Der  Verlauf  war  ein  vollkommen  reaktionsloser.  Es  traten 
auch  keine  Störungen  der  Nierensekretion  seitens  der  anderen 
Niere  auf,  wie  solche  vom  Vortragenden  nach  derartigen  Opera¬ 
tionen  beobachtet  wurden.  Die  Entfernung  der  Nähte  eiidgte 
nach  sechs  Tagen,  die  Entlassung  des  Kindes  am  •>.  Januar 
1911,  also  vierzehn  Tage  post  operationem.  Nur  die  Ernährung 
machte  Schwierigkeiten;  es  stellte  sich  ein  Darmkatarrh  ein,  an 
dem  das  Kind  auch  daheim  laborierte.  - 

Die  histologische  Untersuchung  des  Tumors  (Professor 
Dt.  Sternberg)  ergab  ein  embryonales  Adenosarkom 

(Birch- Hirschfeld).  .  ., 

Der  Vortragende  erwähnt  in  Kürze  die  Eigentümlichkeiten 
dieser  Tumoren  in  ihrem  Auftreten  und  Symptomen.  Sie  verlauten 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


fast  symptomlos,  ein  Umstand,  der  diese  Tumoren  so  spät  zur 
Operation  führt;  sonst  wäre  die  Mortalität  und  Prognose  nicht 
so  schlecht,  da  diese  Tumoren  seiten  Metastasen  und  Rezidiven 
machen.  Sie  sind  Geschwülste,  die  am  häufigsten  im  frühen 
Kindesalter  beobachtet  werden.  Der  Fall  eines  zehnjährigen 
Mädchens,  der  ebenfalls  eine  fast  die  ganze  Bauchhöhle  aus- 
lullen.de  Nierengeschwulst  betraf  und  vom  Vortragenden  im  Jahre 
1909  mit  Erfolg  operiert  und  im  Vereine  vorgestellt  wurde',  ge¬ 
hört  zu  den  Seltenheiten.  Das  Mädchen  lebt  heute  noch  und 
befindet  sich  wohl. 

2.  Ein  15  Monate  altes  Mädchen,  bei  dem  er  am 
7.  Januar  1911  ein  über  mannskopfgroßes  Fibrolipom 
der  rechten  Nierengegend  per  laparotomiam  entfernt 
hatte. 

Die  Geschwulst  war  symptomlos  gewachsen;  nur  die  Zu¬ 
nahme  das  Abdomens  fiel  den  Eltern  auf.  Während  der  zwölf 
Tage  während  Spitalsbeobachtung  vom  26.  Dezember  1910  bis 
zum  Operations  tage,  zeigte  der  Tumor  ein  so  rasches  Wachstum, 
daß  derselbe,  wie  man  klinisch  und  röntgenographisch  nachweisen 
konnte,  die  ganze  Bauchhälfte  ausfüllte.  Der  Tumor  war  beweglich, 
hart,  von  glatter  Oberfläche;  an  seinem  medialen  Rande  war  durch 
Perkussion  der  tympanitische  Streifen  nachweisbar,  der  dem  Colon 
ascendens  entspricht  und  der  charakteristisch  für  Tumoren  der 
Niere,  respektive  des  Retroperitoneal  raumes  ist.  Mit  Rücksicht 
auf  das  ungemein  rasche  Wachstum  und  die  harte  Beschaffenheit 
desselben  nahm  der  Vortragende  einen  malignen  Tumor  des 
rechten  Retroperitonealraumes,  ein  Lymphosarkom,  an.  Die 
Operation,  die  in  ganz  analoger  Weise,  wie  bei  dem  vorher  demon¬ 
strierten  Falle  durchgeführt  wurde,  ergab  aber,  wie  oben  erwähnt, 
■ein  Fibrolipom.  Die  rechte  Niere  lag  dicht  der  oberen,  medial- 
hinteren  Fläche  des  Tumors  an,  von  ihm  fast  eingehüllt,  so  daß 
der  Vortragende  einen  Moment  schon  entschlossen  war,  sie,  mit 
Rückssicht  auf  die  Malignität  des  Tumors,  mit  zu  entfernen.  Doch 
gelang  die  versuchte  stumpfe  Ausschälung  aus  dem  Geschwulst¬ 
bette.  Der  Tumor  war,  in  Hinsicht  auf  das  kleine  lVsjährige  Kind, 
von  außerordentlicher  Größe  und  wog  1555  g. 

Fibrolipome  der  Nierengegend,  die  teils  von  dein  Kapselfett, 
teils  von  dem  retroperitonealen  Fett  ausgeben  können,  sind  ja 
bei  Obduktionen  nicht  so  große  Seltenheiten.  Ein  Tumor  in 
jener  Größe  dürfte  aber  ein  Unikum  sein ;  wenigstens  fand  der 
Vortragende  keine  ähnliche  Mitteilung  in  der  ihm  zugänglichen 
Literatur. 

Der  Verlauf  war  ein  reaktionsloser.  Das  Kind  wurde  14  Tage 
post  operatiomem  mit  einer  Bauchbinde  vollkommen  gesund  ent¬ 
lassen. 

3.  Eine  zweifaustgroße  H y d r o n e p h r o s e,  herrührend 
von  einem  4  Vs  Monate  alten  Säugling  (Knabe),  der  am 
1.  Februar  d.  J.  operiert  wurde  und  sich  zur  Zeit  der  Demon¬ 
stration  vollkommen  wohl  und  gesund  noch  im  Kinderspitale 
befindet.  Auch  diese  Geschwulst  wuchs  symptomlos  und  wurde 
in  der  Ambulanz  des  Kinderspitals  entdeckt.  Den  Eltern  fiel 
die  Zunahme,  speziell  der  linken  Bauchhälfte,  auf.  Das  Kind  zeigt 
gar  keine  Symptome,  die  auf  ein  Nierenleiden  schließen  würden. 
Doch  wurde  der  Tumor  sofort  als  ein  Tumor  der  linken  Niere  an¬ 
gesprochen.  Der  Tumor  füllte  die  ganze  linke  Bauchhälfte  aus  und 
reichte  über  die  Mittellinie  nach  rechts.  Auch  hier  war  jenes 
charakteristische  tympanitische  Rand  an  dessen  medialer  Umran¬ 
dung  nachweisbar.  Der  Tumor  war  beweglich,  fluktuierend  und 
ließ  bei  der  Palpation  eine  größere  innere,  deutlich  fluktuierende, 
glatte,  zystenartige  „Hälfte“  und  eine  kleinere  längliche,  härtere 
Abteilung  nachweisen,  die  der  „Zyste“  förmlich  aufsaß.  Wie  man 
an  dem  Präparate  sieht,  wird  jene  innere,  zystenartige  Abteilung 
von  dem  enorm  dilatierten  Nierenbecken,  die  äußere  aber  von 
der  ebenfalls  hydronephrotisch  ausgedehnten  Niere  gebildet,  die 
in  Form  einer  länglichovalen  Kappe  der  Zyste  auf  sitzt. 

Auch  dieser  Tumor  wuchs  „unter  den  Augen“  und  der 
Vortragende  vermutete  ein  malignes  Neoplasma  der  Niere. 

Die  Operation  wurde  in  gleicher  Weise,  wie  bei  dem  ersten 
und  zweiten  Falle  (ebenfalls  nach  vorhergehender  subkutaner 
Transfusion  von  ca.  200  g  physiologischer  Kochsalzlösung  und 
Injektion  einer  halben  Spritze  Olei  camphorati)  mit  Erfolg 
in  20  Minuten  durchgeführt.  Die  Heilung  erfolgte  per  primam. 

Nur  die  Ernährung  machte  Schwierigkeiten.  Der  Mutter 
blieb  infolge  der  Angst  und  Sorge  um  ihr  einziges  Kind  die 
Milchsekretion  aus,  jede  andere  Nahrung  wurde  erbrochen.  Das 
Kind  begann  hoch  zu  fiebern,  die  Stühle  wurden  grün,  schlecht 
ausgehend,  das  Kind  verfiel  rasch,  so  daß  am  dritten  Tage 
piosjb  operatiomem  nachmittags  das  Kind  ganz  kollabiert,  mit 
trockener,  in  Falten  abhebbarer  Haut,  nahezu  sterbend,  da  lag. 
ln  dieser  kritischen  Situation  bewährte  sich,  wie  schon  unzählige 
Male,  eine  subkutane  Kochsalztransfusion  (250  g)  geradezu  als 


lebens rettender  Eingriff.  Das  Kind  envachite  förmlich,  wurde 
frischer;  zum  Glück,  wohl  unter  diesem  erfreulichen  Anblick 
stellte  sich  bei  der  nervösen  Mutter  die  Milchsekretion  ein.  Sofort 
änderte  sich  wie  mit  einem  Zauberschlag  das  Bild.  Das  Kind 
trank  kräftig  und  erholte  sich  rasch,  die  Temperatur  lief  zur 
Norm;  es  bewährte  sich  wieder  einmal  die  förmlich  heilende  Kraft 
der  Frauenmilch  bei  einem  in  seiner  Ernährung  schwer  alterierten 
Säugling.  Der  Vortragende  bemerkt,  daß  er  Säuglinge  nach  Opera¬ 
tionen  niemals  fasten,  sondern  immer  sofort  an  die  Brust 
legen  lasse  und  legt  auf  diese  Maßnahme  ein  außerordentliches 
Gewicht,  da  Säuglinge  auch  geringe  Blutverluste  und  Narkosen 
sonst  nicht  gut  vertragen. 

Von  jenem  Moment  an  war  der  Verlauf  ein  tadelloser;  das 
Kind  verließ  mach  einer  Woche  geheilt  die  Anstalt,  und  ist  an¬ 
haltend  gesund. 

Zu  bemerken  wäre,  daß  der  Ureter,  der  am  unteren  Pole 
der  Zyste  abging,  während  der  Operation  abriß.  Es  gelang  wohl, 
das  periphere  Ende  zu  finden  und  zu  unterbinden,  nicht  aber 
das  zentrale,  das  selbst  an  dem  exstirpierten  Präparate  schwer 
zu  finden  war.  Die  Folge  war,  daß  der  klare,  flüssige  Inhalt 
in  die  Bauchhöhle  während  der  Operation  abträufelte.  Doch  erwies 
sich  der  Harn  bei  der  bakteriologischen  Untersuchung  (Professor 
Dt.  ('.  Sternberg)  als  steril.  Es  handelte  sich  also  um  eine 
hochgradige,  offenbar  kongenital  angelegte  Hydrone 
p  hr  ose,  die  mit  Rücksicht  auf  den  anatomischen  Befund  (Fehlen 
einer  Narbe,  eines  Hindernisses  usw.,  Mangel  einer  Erweiterung 
des  Ureters)  wohl  auf  eine  a b n o r m e,  schräge  lmplan  tat i o n 
des  Ureters  (mit  Bildung  einer  ventilartigen  Klappe)  zurück¬ 
zuführen  sein  dürfte. 

Prijm •  B  a k  c  s  (als  G ast) :  1 .  Beit. rä g  e  z  u  r  B  ii  cke n- 
m  a  r  k  s  c  h  i  r  u  rg  i  e. 

Vortr.  demonstriert:  a)  Den  Fall  von  Riesenzellensar- 
k  o m  d er  W i  r h e  1  is ä u  1  e,  welchen  bereits  Prim .  Mager  nach 
der  Operation  vorstellte;  die  Heilung  macht  immer  erfreulichere 
Fortschritte,  die  Beweglichkeit  der  unteren  Extremitäten  ist  heute 
bereits  eine  sehr  gute,  Pat.  weist  einen  normalen  Gang  auf. 

b)  Luxation  der  Wirbelsäule  nach  einem  Sturz  aus 
einer  Höhe  von  6  m.  An  der  Hand  von  Röntgenogrammen  de¬ 
monstriert  Vortr.  die  Halswirbelsäule  mit  dem  luxierten  sechsten 
Wirbel,  welcher  außer  schwerer  Behinderung  der  Kopfbewegungen 
durch  Druck  auf  das  Rückenmark,  Parästhesien  der  oberen  Extre¬ 
mitäten,  schlaffe  Lähmung  und  Atrophie  des  linken  Armes, 
große  Scbmierzen  und  unklare  Erscheinungen  von  seiten  des 
Zentralnervensystems  verursachte.  (Der  Patient  litt  an  Anfällen 
epileptischer  Natur  und  zeitweise  an  Erscheinungen  von  Ataxie.) 
Vortr.  legte  den  fünften  bis  siebenten  Halswirbel  bloß  und  ent¬ 
fernte  die  Bögen  des  fünften  und  sechsten  Wirbels.  Man  sali 
deutlich,  wie  das  Rückenmark  durch  den  luxierten  Wirbelkörper 
vorgewölbt  war,  jedoch  gut  pulsierte.  Bei  dem  Versuche,  das 
Rückenmark  vorzuziehen,  um  den  vorspringenden  Teil  des  Wirbel¬ 
körpers  zu  entfernen,  traten  Konvulsionen  in  den  oberen  Extre¬ 
mitäten  auf  und  die  Atmung  wurde  so  oberflächlich,  daß  Vor¬ 
tragender  auf  einen  weiteren  Eingriff  verzichten  mußte.  Immerhin 
hatte  die  Operation  einen  entsprechenden  Erfolg:  die  Schmerzen, 
sowie  die  Erscheinungen  epileptoider  Natur  sind  verschwunden, 
die  Unbeweglichkeit  der  Wirbelsäule  hat  einer  ganz  beträcht¬ 
lichen,  Bewegungsmöglichkeit  im  Sinne  der  Drehung  und  des 
Nickens  Platz  gemacht.  Es  besteht  allerdings  noch  (lie  schlaffe 
Lähmung  der  linken  oberen  Extremität  geringen  Grades. 

c)  Vortr.  berichtet  über  zwei  Fälle  operativ  b  eh  a  n- 
delter  Kompressionsmyelitis  infolge  tuberkulöser 
Spondylitis.  Im  ersten  Falle  —  einem  18jährigen  Jüngling 

-  waren  alle  Symptome  der  Kompressionsmyelitis  nebst  Gibbus 
der  Dorsalwirbel  vorhanden.  Durch  Laminektomie  wurden  fünf 
dorsale  Wirbelbögen  entfernt  und  folgender  interessanter  Befund 
erhoben:  der  Wirbelkanal  war  durch  ein  sukkulentes  tuberkulöses 
Granulationsgewebe,  welches  das  Rückenmark  zirkulär  umgab 
und  komprimierte,  ausgefüllt.  Das  exakte  Entfernen  dieses  tuber¬ 
kulösen  Granuloms  mit  scharfen  Löffeln  förderte  eine  vollständig 
intakte  Dura  zutage.  Nach  vorsichtiger  Dislokation  des  Rücken¬ 
markes  entdeckte  der  Vortragende  den  tuberkulösen  Herd  in  zwei 
anstoßenden  Wirbelkörpern  und  entfernte  denselben.  Der  Befund 
der  normalen  Dura  unter  den  tuberkulösen  Massen  war  derart 
überraschend,  daß  der  Vortragende,  um  sich  zu  überzeugen,  ob  das 
Rückenmark  tatsächlich  normal  sei,  die  Dura  unter  Wahrung 
strengster  Asepsis  mittels  eines  ca.  3  bis  4  cm  langen  Längs¬ 
schnittes  inzidierte.  Das  Mark  hot  makroskopisch  ein  völlig  nor¬ 
males  Bild  dar,  weshalb  die  Inzision  sofort  durch  eine  feinste 
fortlaufende  Naht  geschlossen  wurde.  Die  per  primam  geheilte 
Operation  zeitigte  einen  guten  Erfolg,  da  die  Symptome  der  Korn 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


477 


Nr.  13 


pressionsmyelitis  allmählich  zurückgingen  und  der  Patient  wieder 
die  Beweglichkeit  seiner  gelähmten  Beine  erlangte. 

Der  eine  30jährige  Frau  betreffende  zweite  Fall  litt  eben¬ 
falls  an  einer  schweren  tuberkulösen  Kompressionsmye¬ 
litis;  es  wurden  sechs  dorsale  Wirbelbögen  entfernt,  das  blo߬ 
gelegte  Mark  vorsichtig  eleviert,  wobei  unter  demselben  ein  in 
den  Wirbelkanal  ca.  1  cm  prominierender  kleinhöckeriger,  glatter 
Tumor  von  der  Größe  eines  Zehnhellerstückes  vorgefunden  wurde. 
Derselbe  bestand  aus  tuberkulösen  Granulationen;  bei  seiner 
Entfernung  gelangter  der  scharfe  Löffel  in  zwei  para vertebrale, 
faustgroße  Abszesse.  Alles  Krankhafte  wurde  entfernt,  die  Höhlen 
ausgetrocknet  und  mit  Beck  scher  Bismutpasta  ausgefüllt.  Die 
Patientin,  welche  den  großen  Eingriff  überraschend  gut  über¬ 
stand,  starb  leider  am  zehnten  Tage  an  einer  Embolie  der  Ar 
teria  pulmonalis. 

Die  Sektion  (Prof.  Sternberg)  hat  gezeigt,  daß  die 
Operation  wohl  radikal  ausgeführt  war,  daß  aber  irreparable  Ver¬ 
änderungen  des  komprimierten  Markes  eine  Restitution  schwer¬ 
lich  zugelassen  hätten. 

Die  Operationen  der  Kompressionsmyelitiden  infolge  Wirbel¬ 
karies  gehören  zu  den  Errungenschaften  der  Rückenmarkschirur¬ 
gie  und  Vortr.  tritt  entschieden  für  dieselbe  ein,  indem  er  für 
eine  frühe  Zuweisung  der  einschlägigen  Fälle  plädiert. 

2.  Vortr.  demonstriert,  ein  17jähtriges  Mädchen,  welches 
wegen  schwerer  chronischer  bilateraler  Nephritis  nach  seiner 
Methode  mittels  beiderseitiger  Einhüllung  der  dekor- 
tizierten  Nieren  in  gefäßreiche  Partien  des  Netzes 
und  der  Mesenterien  behandelt  wurde.  Bei  dieser  Gelegenheit 
demonstriert  Bakes  seinen  neuen  plastischen  Querschnitt  auf 
die  Niere.  Der  vorgestellte  Fall  weist  vorläufig  nahezu  keine 
Besserung  auf. 

Anknüpfend  berichtet  Bakes,  daß  ein  vor  zirka  sechs 
Jahren  öperierter  Nephritiker  sich  noch  vor  kurzer  Zeit  andauernd 
gut  befand  (seitdem  noch  keine  Nachricht)  und  daß  von  einem 
im  Herbste  1910  operierten  20jährigen  Mädchen  ebenfalls  überaus 
erfreuliche  Nachrichten  vor  zwei  Tagen  eingelangt  sind.  Diese 
Erfolge  ermutigen  Bakes  zur  Fortsetzung  seiner  operativen  The¬ 
rapie  der  Nephritis,  obwohl  er  sich  gut  bewußt  ist,  daß  er  durch 
die  Omentation  kein  neues  Parenchym  produzieren  könne;  doch 
scheint  es  nach  seinen  Erfahrungen,  daß  durch  die  Einschaltung 
der  Nieren  in  neue  Gefäßbahnen  die  chronischen  Prozesse  in 
denselben  zumindest  auigehalten  werden,  was  in  der  Abnahme 
der  Albuminurie  und  in  subjektiver  Besserung  des  Befindens 
der  Kranken  zum  Ausdruck  kommt. 

3.  Der  Vortragende  berichtet  über  die  Zweckmäßigkeit  d<  r 
Spreng e Ischen  Laparotomiequerschnitte  für  Operationen  an 
den  Gallenwegen  und  demonstriert  hiezu  drei  auf  diese  W  eise 
operierte  Fälle:  Zwei  Ektomien  wegen  chronischer  Cho¬ 
lezystitis  und  Empyems  und  einen  Fall,  in  dem  die  Ektomie 
infolge  nahezu  untrennbar  fibrös  verwachsener  Blase  mit  den 
Nachbarorganen  so  gefährlich  erschien,  daß  man  hier  zur  Zys  t  u¬ 
st  o  in  ie  greifen  mußte.  Erwähnung  verdient  noch  die  latsache, 
daß,  obwohl  bei  der  Operation  die  Gallenblase  durch  Auslöffeln 
und  bimanuelles  Ausstreifen  total  entleert  wurde,  sich  dennoch 
im  Laufe  der  Rekonvaleszenz  eine  große  Menge  polyedrischer 
Cholelithem  aus  der  Zystostomieöffnung  entleerte,  deren  Gesamt¬ 
volumen  dem  Fassungsraume  der  Gallenblase  nicht  entsprach. 
Vortragender  ist  der  Meinung,  daß  die  Steine  in  einem  in  das 
Leberparenchym  eingebetteten  Divertikel  sich  gebildet  haben.  Einen 
ähnlichen  Fall  operierte  Bakes  im  Trebitscher  Krankenhause: 
Bei  einer  älteren  Frau  wurde  gelegentlich,  einer  Ektomie  im 
Leberbette  der  Gallenblase  eine  Oeffnung  gefunden,  welche  in 
einen  intrahepatalen  Sack,  der  ebenfalls  mit  kleinen  Steinen 
förmlich  ausgestopft  war,  führte.  Diese  sackartigen  Ausweitungen 
der  Blasenwand  scheinen  unechte  Divertikel  derselben  darzu¬ 
stellen,  welche  auf  Grund  von  Geschwürsprozessen  der  Wand 
sich  bilden  und  zur  primären  Steinbildung  disponieren. 

Diskussion:  Prof.  Sternberg  hatte  Gelegenheit,  den 
einen  der  beiden  Fälle  von  tuberkulöser  Spondylitis  zu  obduzieren 
und  meint  in  Anbetracht  des  erhobenen  Befundes,  der  weit¬ 
gehenden  Zerstörung  der  Wirbelkörper  und  schweren  \  ei  im  e- 
rung  des  Rückenmarkes,  daß  in  solchen  Fällen  die  operativ! 
Behandlung  wohl  keinen  Erfolg  haben  könne.  Bei  dem  anderen 
Falle  scheint  es  sich  nach  der  Schilderung  des  Prim.  Lakes 
um  die  Kahler  sehe  Pachymeningitis  caseosa  externa  gehandelt 
zu  haben.  Möglicherweise  könnte  hier  die  operative  'I  herapie 
bessere  Aussichten  haben. 

Prim.  Bittner  empfiehlt  für  die  Behandlung  der  Kom¬ 
pressionsmyelitis  die  Bay  ersehe  Extensionsbehandlung,  mit.  (<i 
er  brillante  Erfolge  erreichte.  Er  hat  in  einem  Falle  dorsolumbaler 
tuberkulöser  Spondylitis  die  Laminektomie  nach  Tr  ein  1  (  11 


bürg  gemacht  und  die  Bögen  von  fünf  Wirbeln  reseziert.  Die 
Lähmungen  gingen  nach  der  Operation  zurück,  doch  hat  ei- 
später  von  dem  Kinde  nichts  mehr  gehört.  Nach  seinen  Erfah¬ 
rungen  ist  bei  der  Behandlung  der  tuberkulösen  Spondylitis  die 
konservative  Methode  unbedingt  zu  bevorzugen  und  verhält  sich 
Redner  auch  der  Hi  ldeb  r  an  d sehen  Laminektomie  gegenüber 
in  solchen  Fällen  sehr  skeptisch. 

Dr.  Sch  mied  1  fragt,  um  welche  Formen,  der  Nephritis 
es  sich  in  den  operativ  behandelten  Fällen  von  Bakes  gehandelt 
habe  und  ob  vor  und  nach  der  Operation  Blutdruckmessungen 
gemacht  wurden,  Gerade  für  die  Beurteilung  des  therapeutischen 
Effektes  operativer  Eingriffe  bei  Nephritiden  wäre  die  Aende- 
rung  des  Blutdruckes  von  ausschlaggebender  Bedeutung. 

Prim.  Bake§  tritt  nochmals  für  die  operative  Behandlung 
der  Kompressionsmyelitiden  infolge  von  tuberkulöser  Wirbel¬ 
karies  ein  und  betont,  daß  die  Indikationsstellung  vorläufig  keine 
strikte  sein  kann,  da  ausreichende  Erfahrungen  noch  mangeln. 
Dennoch  muß  der  Chirurg  bestrebt  sein,  in  Fällen,  welche  gelähmt, 
und  hilflos  einein  unvermeidlichen  Tode  geweiht  sind,  den  einzig 
rettenden  operativen  Eingriff  zu  wagen. 

Die  operative  Behandlung  der  Nephritis  betreffend,  begrüßt 
der  Vortragende  die  Anregung  Schmie  dis,  durch  Blutdruck¬ 
messungen  die  Nierenarbeit  zu  kontrollieren,  um  so  die  even¬ 
tuelle  operativ  erzielte  Besserung  konstatieren  zu .  können.  Diu 
Form  der  operierten  Fälle  ist  durch  histologische  Hntersuchung 
der  exzidierten  Nierenstücke  festgestellt  worden. 


Sitzungen  vom  20.  Februar  und  6.  März  1911. 


Prim.  Engelmann  berichtet  über  einen  Fall  von  akuter 
myeloider  Leukämie  im  Anschlüsse  an  einen  Scharlach. 
Das  bisher  gesunde,  blühend  aussehende,  kräftige,  iOVajährige 
Mädchen  erkrankte  an  einer  leichten  Skarlatina.  In  der  zweiten 
Woche  trat  nach  einer  kurzen  afebrilen  Periode  eine  Temperatur¬ 
steigerung  bis  39-2,  begleitet  von  Kopfschmerzen,  Konjunktivitis 
und  Rhinitis,  auf,  welche  zwei  Tage  anhielt.  Ende  der  zweiten 
Woche  typische  lamellöse  Schuppung,  besonders  an  Händen  und 
Füßen.  Bis  zum  23.  Krank  belts  tage  frei  von  Symptomen  und 
Beschwerden.  An  diesem  Tage  zeigen  sich,  am  ganzen  Körper 
zerstreut,  verschieden  große,  mit  klarem  Serum  gefüllte  Bläschen, 
die  typischen  Varizellen  entsprechen.  Mehrere  darunter  pem¬ 
phigoid,  mit  einem  Durchmesser  bis  20  mm.  Temperatur  bis  40°. 
lu  den  nächsten  zwei  Tagen  stark  remittierendes  lieber.  Vom 
26.  Krankheitstage  ab  normale  Temperatur.  Die  größeren  EL 
floreszenzen  sind  geplatzt,  die  kleineren  Bläschen  eingetrocknet. 
Im  Harne  etwas  Albuinen.  Bis  auf  mehrmaliges  Erbrechen  gutes 
Allgemeinbefinden.  Am  28.  Tage  entwickelt  sich  der  Symptomen- 
komplex  einer  schweren  hämorrhagischen  Diathese  in  Form  von 
unstillbarer  Epistaxis.  Hämatemesis,  Hauthämorrhagien  und  Blu¬ 
tungen  aus  den  schon  eingetrockneten  Eifloreszenzen.  Zuletzt  noch 
Abgang  von  blutigem  Harn  und  Stuhl.  Am  30.  Krankheitstage 
Exitus  letalis.  Die  Autopsie  (Prof.  Sternberg)  ergab  den  Be¬ 
fund  einer  akuten  myeloiden  Leukämie,  der  auch  der  post  mortem 


erhobene  Blutbefund  entsprach. 

Prof.  Ste  mb  erg  hebt  die  wichtigsten  Symptome  der  akuten 
Leukämie  hervor  und  bespricht  insbesondere  die  Hauteffores- 
zenzen,  die  in  ihrem  Bilde  ungemein  wechseln  können,  die 
Neigung  zu  „hämorrhagischer  Diathese  ,  das  Blutbild  der  akuten 
lymphatischen  und  akuten  myeloiden  Leukämie  und  die  Erschei¬ 
nungen  von  seiten  der  Schleimhäute. 

Dr.  E.  Kraus:  Eperimenteller  Beitrag  zur  Ver¬ 
hütung  der  Konzeption  durch  chemische  Mittel. 

Vortr.  hat  in  dem  pathologischen  Institute  der  Brünne r  Laudes¬ 
krankenanstalt  untersucht,  ob  man  beim  Kaninchen  durch  An¬ 
wendung  der  für  den  Menschen  empfohlenen  antikonzeptionellen 
Mittel  die  Gravidität  verhindern  kann.  Es  wurden  0-8%ige  Zi¬ 
tronensäure,  4°/oige  ölige  Borsäurelösung  und  N of  f  kesche  Hygiea- 
Pessare  in  löslicher  Form  in  die  Scheide  der  Versuchstiere  vor 
der  Kohabitation  eingebracht;  diö  meisten  liere  wurden  gravid. 
Diese  Ergebnisse,  sowie  jene  von  Kontrollversuchen  führen  m 
Ueberei nsti mm ung  mit  den  Erfahrungen  der  täglichen  Praxis  zu 
dem  Schlüsse,  daß  die  antikonzeptionellen  Mittel  äußerst  unzu¬ 
verlässig  und  daher  nicht  zu  empfehlen  s  nd.  (Erscheint  ausführlich 

im  Zentralblatt  für  Gynäkologie.)  T  , 

Priv.-Doz.  Prim.  Di  L.  v.  Zumbusch  (Wien)  a.  G. :  Le  iter 
Hautkrankheiten  und  ihre  Beziehungen  zu  inneren 

Erkrankungen.  1 

Vortragender  hält  ein  Referat  der  jetzigen  Anschauungen 
über  den  Zusammenhang  von  Hautkrankheiten  mit  allgemeinen 
und  inneren  Erkrankungen.  Rel.  tut  kurze  Erwähnung  <  ei  1 
tigsten  Folgen,  welche  Hautkrankheiten  nach  sich  zu  u  n,  n 


478 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  13 


«ie  das  Allgtumfinboiiuden  h  coin  trächtigen;  weiters  derjenigen. 
Leiden,  die  zugleich,  die  Haut  und  die  inneren  Organe  hetalien. 

Als  die  interessantesten  Fragen  sind  anzusehen,  wie  Stoff¬ 
wechselanomalien  (Diabetes,  Gicht)  und  wie  die  Erkrankungen 
der  Drüsen  ohne  Ausführungsgang  die  Haut  beeinflussen.  Leider 
sind  wir,  abgesehen  von  Xanthoma  diabeticum  und  einzelnen  Haut¬ 
leiden,  welche  bei  Schilddrüsen  und  Genitalleiden  auftreten,  fast 
völlig  im  Dunkeln.  Umso  reicher  wuchern  die  Hypothesen;  wenn 
man  die  Literatm',  besonders  die  ausländische,  durchschaut,  so 
findet  man  fast  jede  Dermatose  von  irgendeiner  Seite  als  Stoff¬ 
wechselkrankheit  dargestellt. 

Interessante  und  vielleicht  für  die  Zukunft  aussichtsreiche 
Momente  gibt  uns  das  Studium  des  anorganischen  Salzstof'f- 
wechsels.  Im  großen  und  ganzen  ist  unsere  Ausbeute  an  sicherem 
Wissen  sehr  dürftig. 


Verein  deutscher  Aerzte  in  Prag. 

Sitzung  vom  10.  Februar  1911. 

Dr.  Imhofer:  Rezidive  nach  Adenotomie. 

1  ortr.  unterscheidet  echte  Rezidive,  d.  h.  neuerliche  Wuche-  ! 
i  ungen  des  entfernten  adenoiden  Gewebes  und  Pseudorezidive, 
d.  h.  Ausbleiben  des  erwarteten  Erfolges  der  Operation  ohne 
eigentliche  Neubildung  des  adenoiden  Gewebes  und  faßt  die  Er¬ 
gebnisse  seiner  Untersuchungen  in  folgenden  Sätzen  zusammen: 

1.  Rezidiven  adenoider  Vegetationen  sind  häufiger,  als  im 
allgemeinen  geglaubt  wird;  genaue  statistische  Untersuchungen 
größerer  Kliniken  in  dieser  Hinsicht  wären  wünschenswert. 

2.  Die  Ursachen  des  Rezidives  sind  in  der  allgemeinen 
Konstitution  des  operierten  Individuums  zu  suchen. 

3.  Die  Hauptursache  ist  die  Skrofulöse. 

4.  Bei  Skrofulösen  sollen  Adenotomien  nur  bei  dringender 
Indikation  vorgenommen  werden  (wiederholte  akute  Mittelohr¬ 
katarrhe,  erhebliche  Störungen  der  Atmung  und  Entwicklung, 
hartnäckige  Konjunktivitiden  ekzematöser  Art). 

5.  Antiskrofulöse  Therapie  ist  nach  der  Adenotomie  wirk¬ 
samer  als  vor  derselben. 

6.  Auch  für  die  Pseudorezidive  hat  die  Skrofulöse  ätio¬ 
logische  Bedeutung. 

Dr.  Hecht  und  Dr.  Klausner:  Moderne  Gonorrhoe¬ 
therapie.  Bericht  über  50  Fälle,  die  nach  Schindler-Berlin 
behandelt  wurden.  Die  Anwendung  kleiner  Atropinmengen  er¬ 
möglicht  es,  auch  bei  akuten  Erscheinungen  sofort  mit  der  Therapie 
zu  beginnen,  ohne  Komplikationen  befürchten  zu  müssen.  An¬ 
teriorbehandlung  mit  3-  bis  öligem  Protargol  unter  Zuhilfenahme 
von  Kokain,  Posteriorbehandlung  mit  Vr-  bis  VWoigem  Protargol 
führen  oft  in  kurzer  Zeit  zum  Schwinden  der  Gonokokken. 

Komplikationen  werden  durch  die  von  Bruck  inaugurierte 
Vakzinebehandlung  oft  in  erstaunlich  kurzer  Zeit  geheilt;  doch 
gibt  es  genügend  Fälle,  in  denen  mit  dieser  Methode  ’  allein 
kein  dauernder  Erfolg  zu  erzielen  ist.  Der  Urethralprozeß  bleibt 
stets  unbeeinflußt.  0.  Wiener. 


Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte 

in  Böhmen. 

Sitzung  am  17.  März  1911. 

1.  S  o  b  o  t  k  a  demonstriert : 

a)  Einen  12jährigen  Knaben  mit  einer  seit  8  Jahren  be¬ 
stehenden  und  zunehmenden  Hauterkrankung.  Gegenwärtig 
leicht  atrophische  Veränderungen  im  Gesichte,  schuppende  nicht 
juckende  Ilerdchen  an  verschiedenen  Körperstellen  und  bläulich- 
rote,  ausgebreitete,  weiche  und  gewebsarme  Infiltrate  mit  Horn- 
pftöpfchen  in  den  Follikelmündungen  und  mit  gewaltigen  gelben, 
Ilornzellen  enthaltenden  Retentionszysten,  besonders  an  den  Ge¬ 
schlechtsteilen  und  am  linken  Oberschenkel.  Histologisch  in 
jüngeren  Herden  uncharakteristische  Entzündung,  in  älteren  das 
ganze  Korium  umgewandelt  in  ein  Infiltrat  von  Lymphozyten 
f  ibroblasten,  Plasmazellen  und  Riesenzellen  in  einem  feinen 
Netze  als  Rest  des  Bindegewebes  bei  fast  vollständigem  Verluste 
der  elastischen  Fasern.  Diagnose:  Für  Tuberkulose  sprechen 
Halsdrusennarben,  aber  weder  physikalischer  noch  radiographischer 
Befund,  ebensowenig  das  Ergebnis  der  Pi  r  quetschen  und 
der  K  o  c  h  sehen  Reaktion;  für  leukämische  oder  pseudoleukämische 
Hautveranderungen  weder  Blutbild  noch  Histologie;  für  Mycosis 
fungoides  vielleicht  manches  im  histologischen,  aber  nichts  im 
klinischen  Bilde.  R  e  s  u  m  e :  Anscheinend  ein  Prozeß  aus  der 
Gruppe  der  infektiösen  Granulationsgewebe  mit  sehr  starkem 
Schwunde  des  autochthonen  Gewebes;  sekundärer  Hornzysten- 
bildung.  Sichere  Unterordnung  der  Affektion  unter  eines  der 
bekannten  Krankheitsbilder  vorläufig  unmöglich. 

Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Knbasta. 

Druck  von  Bruno  Bartelt.  W 


b)  Einen  22jährigen  Mann  mit  Morbus  Reckling¬ 
hausen;  ungewöhnlicherweise  auch  an  der  Wangenschleim¬ 
haut  ein  weiches  Fibrom. 

2.  F.  Pick:  Perichondritis.  Demonstration  eines 
45jährigen  Mannes  bei  dem  vor  einem  halben  Jahre  eine 
Anschwellung  am  Halse  auftrat,  später  Heiserkeit  und  Atemnot, 
dann  Aufbrechen  der  Anschwellung  mit  Fistelbildung.  In  der 
Anamnese  Rippenfellentzündung  und  Lungenspitzenkatarrh,  jetzt 
keine  manifeste  Tuberkulose.  Im  Kehlkopfe  anfangs  enorme 
das  Lumen  fast  ganz  verschließende  Schwellung,  polsterförmig 
von  den  falschen  Stimmbändern  aus.  Nirgends  Ulzeration.  Von 
der  zwei  Finger  unterhalb  des  Pomum  Adami  liegenden  Fistel- 
[  Öffnung  gelangte  die  Sonde  auf  rauhen  Knorpel,  bei  stärkeren 
j  Hustenstößen  geht  die  Luft  auch  zur  Fistelöffnung  heraus. 

\  Wassermann  negativ,  Pirquet  deutlich  positiv.  Im  reich- 
j  liehen  fötiden  Sputum  erst  nach  Verarbeitung  großer  Mengen 
spärliche  säurefeste  Bazillen,  Meerschweinchenimpfung  vor  vier 
;  Wochen,  bisher  negativ,  ebenso  eine  solche  vom  Fistelsekret, 
welches  mikroskopisch  keine  Bazillen  enthielt.  Es  handelt  sich 
demnach  wohl  um  eine  primäre  Perichondritis  des  Schildknorpels 
i  mit  äußerer  Fistelbildung.  Hiemit  stimmt,  daß  der  Mann  vor  zehn 
1  Jahren  wegen  einer  als  Struma  gedeuteten  Geschwulst  am  Halse  i 
1  operiert  wurde,  die  sich  erst  dann  als  Abszeß  erwies.  Seither 
war  er  gesund.  Im  Verlaufe  der  jetzigen  Behandlung  hat  sich 
die  Fistel  geschlossen  und  und  sind  die  Atembeschwerden  ge¬ 
ringer,  doch  ist  der  objektive  Befund  wenig  geändert,  so  daß 
doch  noch  eine  Operation  nötig  werden  dürfte.  (Schluß  folgt.) 


Programm 

der  am 

Freitag;  den  31.  März  1911,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Regierungsrat  Dr.  Adler  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Priv.-Doz.  Dr.  U.  Wiek:  Zur  Pathogenese  der  Gicht. 

2.  Diskussion  über  den  Vortrag  der  Herren  Jul.  Neumann  und 
L.  Herrmann:  Biologische  Studien  Uber  die  weibliche  Keimdrüse.  Zum 
Worte  gemeldet  Prof.  H.  Albrecht 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Haus  Salzer,  Robert 
Breuer,  K.  U II manu,  A.  Kronfeld,  F.  Dimmer. 

B  e  r  g  m  e  i  s  t  e  r,  P  a  1 1  a  u  f. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  8.  April  1911,  7  Uhr  abends,  im  Sitzungs¬ 
saale  des  Kollegiums  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz  des  Herrn 
Prim.  Priv.-Doz.  Dr.  Lotheisen  stattfindenden  wissenschaftlichen  Ver¬ 
sammlung. 

Prof.  Dr.  K.  A.  Herzfeld:  Wechselbeziehungen  zwischen  Er¬ 
krankungen  des  Processus  vermiformis  und  der  weiblichen  Becken- ' 
Organe. 


Wiener  laryngologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Mittwoch  den  5.  April  1911,  7  Uhr  abends,  in:  I 

Hörsaale  der  Klinik  Ilofrat  Ghiari. 

Programm: 

Demonstrationen  haben  angemeldet:  Dr.  J.  Pelzlbauer  und 
Dr.  0.  Hirsch. 


Unterstützungsverein  für  Witwen  und  Waisen  der 
k.  u.  k.  Militärärzte. 

Samstag  den  6.  Mai  1.  J.,  5  Uhr  nachmittags,  findet  im  Lehrsaale  1 

der  militärärztlichen  Applikationsschule  im  Gebäude  der  ehemaligen 
Josefsakademie  (IX.,  Währingerstraße  Nr.  25)  die  diesjährige  General¬ 
versammlung  mit  folgender  Tagesordnung  statt: 

L  Verifizierung  des  Protokolls  der  vorjährigen  Generalversammlung. 

2.  Vorlage  des  Rechenschaftsberichtes  für  das  Jahr  1910. 

3.  Bericht  der  Revisoren. 

4.  Mitteilungen  des  Verwaltungskomitees. 

5.  Eventuelle  Anträge  von  Vereinsmitgliedern  (selbe  müssen 
14  Tage  früher  dem  Verwaltungskomitee  angezeigt  werden)! 

6.  Wahl  von  Funktionären  in  das.  Verwaltungskomitee  nach  §  22, 
dann  der  Mitglieder  des  Schiedsgerichtes  sowie  deren  Ersatzmänner  nach 
§  30  der  Vereinsstatuten. 

Damit  die  Generalversammlung  nach  §  27  der  Statuten  beschlu߬ 
fähig  sei,  werden  die  P.  T.  Herren  Vereinsmitglieder  ersucht,  zuversicht¬ 
lich  erscheinen  zu  wollen.  Der  Präsident: 

Dr.  Florian  Ritter  Kratschmer  von  Forstburg. 

Verlag  von  Wilhelm  Branmiiller  in  Wien. 

1  XVI11.,  Theresiengasse  3. 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 


i.  ßhiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner.  S. 

H.  Obersteiner.  A.  Politzer. 


Exner,  E.  Finger,  M.  Gruber,  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko.  H.  Meyer.  J,  Moeller  K  v.  Noorden 
A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

mton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel.  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig.  Edmund  v.  Neusser, 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumuller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 

XXIV.  Jahrg.  Wien,  6.  April  1911  Nr.  14 


INHALT: 


I.  Oritrinalartikel:  1.  Beiträge  zur  Kenntnis  der  menschlichen 
Hautpigmentierung.  Yon  Dr.  Y.  Tanaka,  Professor  an  der 
medizinischen  Hochschule  zu  Osaka  in  Japan.  S.  479. 

2  Aus  der  Prosektur  des  k.  k.  Kaiser  Pranz-Josephspitales  in 
Wien.  Ueber  das  Lipoid  der  Nebennierenrinde.  Vorläufige  Mit¬ 
teilung  von  H.  Albrecht  und  0.  Weltmann.  S.  483. 

3.  Ueber  die  psychische  Aetiologie  und  Therapie  der  Arteriosklerose. 
Von  Priv.-Doz  Dr.  Max  Herz.  S.  484. 

4.  Aus  der  Abteilung  für  innere  Krankheiten  (I  B)  des  St.  Lazarus 
Landesspitales  zu  Krakau.  Ueber  paroxysmale  Hämoglobinurie. 
Von  Primararzt  Dr.  Anton  K  r  o  k  i  e  w  i  c  z.  S.  487. 

5.  Aus  der  II.  k.  k.  Universitäts-Augenklinik.  (Vorstand:  Hofrat 
Prof.  Dr. Ernst  Fuchs.)  Einseitige  komplette  Okulomotoriuslähmung 
bei  einem  Säugling.  Von  Dr.  Adolf  P  u  r  t  s  c  h  e  r,  Sekundar- 
arzt.  S.  494. 

II.  Oeffeutliclie  Gesundheitspflege :  Das  Gesetz  zum  Schutze  gegen 
übertragbare  Krankheiten.  Von  Sanitätsrat  Dr.  Eugen  Hofmokl 
in  Wien.  S.  497. 


III.  Referate:  Beiträge  zur  gerichtlichen  Medizin  Von  A.  Kolisko. 
Ref. :  F.  S  t  r  a  ß  m  a  n  n  -  Berlin.  —  Die  erweiterte  abdominale 
Operation  bei  Carcinoma  colli  uteri  (auf  Grund  von  500  Fällen). 
Von  Prof.  Dr.  E.  Wertheim.  Ref. :  K  e  i  1 1  e  r.  —  Atlas  und 
Lehrbuch  der  Histologie  und  mikroskopischen  Anatomie  des 
Menschen.  Von  J.  Sobotta.  Ref.:  Josef  Lehn  er.  —  Die 
Ohrenheilkunde  des  praktischen  Arztes.  Von  Dr.  Wilhelm 
Haßlauer,  Ref. :  Alexander. 

IV.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

V.  Sozialärztliche  Revue.  Von  Dr.  L.  Sofer.  S.  508. 

VI.  Vermischte  Naelirichten. 

VII.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kougreßbericlite. 


eiträge  zur  Kenntnis  der  menschlichen  Haut¬ 
pigmentierung. 

a  Dr.  Y.  Tanaka,  Professor  an  der  medizinischen  Hochschule  zu 

Osaka  in  Japan. 

Die  Frage  nach  der  Pigmentierung  in  der  Oberhaut  und 
den  Haaren  ist  trotz  ihrer  vielfachen  Bearbeitung  noch 
ht  endgültig  gelöst.  Der  Hauptpunkt  dieser  Frage  liegt 
der  Herkunft  der  verzweigten  pigmentierten  Zellen,  der 
genannten  Melanoblasten  oder  Chromatophoren.  Die  Tat- 
he,  daß  die  oben  genannten  Zellen  sowohl  in  der  Kutis, 

;  auch  in  der  Oberhaut  Vorkommen,  führte  zu  der  Streit¬ 
ig,  ob  sie  aus  den  bindegewebigen  Elementen  stammen 
d  dann  in  die  Epidermis  einwandern,  um  derselben  ihr 
:ment  zuzuführen,  oder  ob  sie  differenzierte  Epithelzellen 
td,  denen  die  Eigenschaft  zur  Pigmentbildung  zukommt, 
'ser  Streit  begann,  soviel  ich  weiß,  mit  einer  Arbeit  Köl¬ 
ners  aus  dem  Jahre  1860. 

Er  beobachtete  die  verzweigten  Pigmentzellen  nicht 
r  in  der  tiefen.  fSchicht  der  Epidermis,  sondern  auch  unter- 
äb  derselben  in  der  oberflächlichsten  Stelle  der  Kutis  und 
Ai  auf  Grund  dieser  Lagebeziehung  zu  der  Meinung,  daß 
Pigmentzellen  bindegewebiger  Natur  sind  und  daß  sie 
die  Epidermis  einzuwandern  vermögen.  Im  Anschluß 
an  hat  eine  Reihe  von  Autoren  eingehend  über  die  Pig- 
ntierung  an  Häuten,  Haaren  und  Federn  verschiedener 
wenienz  gearbeitet  und  behauptet,  daß  eine  primäre  Pig- 
atbildung  im  Epithel  nie  vorkommt,  sondern  die  Pigmen¬ 
ti?  durch  Einwanderung  von  pigmentführenden  Zellen 


aus  dem  benachbarten  Bindegewebe  bedingt  wird.  Bekannt¬ 
lich  hielten  Kerb  er  t,  Riehl,  Aeby  und  Karg  die  Chro¬ 
matophoren  für  die  Abkömmlinge  der  gewöhnlichen  Binde¬ 
gewebszellen,  Ehrmann  dagegen  erklärte  sie  für  die  Zellen, 
die  an  der  Grenze  von  Epithel  und  Kutis  aus  dem  Meso¬ 
derm  sich  entwickeln.  Auch  Nothnagel  fand  die  ver¬ 
zweigten  Pigmentzellen  in  der  Lederhaut  der  an  Morbus 
Addisoni  Leidenden,  bei  Negern  und  nahm  an,  daß  diese 
Zellen  aus  den  Bindegewebselementen  und  den  Epidermis- 
zellen  ihr  Pigment  transportieren. 

Im  Gegensatz  dazu  behaupteten  Waldeyer,  Ivro- 
inayer,  Rabl,  Schwalbe,  Kaposi,  J arisch,  Post, 
Grund,  Loeb,  Wieting,  Hamdi,  Favera,  Meirowsky 
und  andere,  daß  das:  Pigment  der  Epidermis  nicht  aus  der 
Kutis  stammt,  sondern  selbständig  im  Epithel  gebildet  wird 
und  daß  die  Melanoblasten  als  die  Gebilde  epithelialer  Her¬ 
kunft  aufzufassen  sind. 

Es  ist  aber  zu  bemerken,  daß  die  verzweigten  Pigment¬ 
zellen  gleichzeitig  in  der  Epidermis  und  Kutis  erscheinen 
können.  Dies  wurde  zwar  von  einer  Anzahl  von  Beobach¬ 
tern  mit  Sicherheit  festgestellt,  aber  die  Ansichten  der 
Autoren  über  die  Beziehung  der  Epidermismelanoblasten 
I  zu  den  Kutismelanoblasten  sind  auseinander  gegangen.  Cas- 
pary  meinte,  daß  die  Epidermis  durch  Elemente  pigmen 
tiert  wird,  die  a,us  demj  Bindegewebe  stammen  und  daß 
aber  die  basalen  Epithelzellen  die  Fähigkeit  haben,  selb¬ 
ständig  das  Pigment  zu  erzeugen.  Nach  Post  ist  das  Pigment 
in  der  Epidermis  das  Produkt  der  spezifischen  Bearbeitung 
eines  besonderen  pigmentbildenden  Stoffes  seitens  der  Epi¬ 
thelzellen  und,  falls  diese  nicht  ansreichen,  durch  eine  Art 


480 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  14 


vikariierenden  Eintretens  seitens  der  Kutiszellen.  Dagegen 
behauptete  Ko  dis,  daß  die  Pigmentierung  der  Kutis  da¬ 
durch  erfolgt,  daß  das  Pigment  aus  der  Epidermis  in  die 
Kutis  einwandert.  Zu  dem  gleichen  Resultate  kam  Plusch- 
koff.  Nach  ihm  tritt  die  Pigmentierung  im  subepithelialen 
Gewebe  auf,  wenn  die  Epithelzellen  stark  mit  Pigment  aus¬ 
gefüllt  sind. 

Wieting  und  Ham  di,  die  ebenfalls  nur  der  Epider¬ 
mis  die  Fähigkeit  zur  Pigmentbildung  zuerkannten,  nahmen 
an,  daß  das  Pigment  in  der  Kutis  durch  Auswanderung 
amöboid  beweglicher,  verzweigter  Epithelzellen  zustande 
kommt.  Im  Gegensatz  dazu  war  Schwalbe  der  Ansicht, 
daß  die  Epithelzellen  und  Bindegewebszellen  vollständig 
unabhängig  das  Pigment  erzeugen  können.  In  gleichem  Sinne 
spricht  sich  Meirowsky  in  seinen  Untersuchungen  über 
das  Hautpigment  aus.  Er  sagte,  daß  die  Kutis-  und  Epi- 
dermismelanoblasten  voneinander  unabhängige  Gebilde  dar¬ 
stellen. 

Nach  dem  angegebenen  kurzen  Ueberblick  der  Lite¬ 
ratur  über  die  Hautpigmentfrage  will  ich  versuchen,  die 
verschiedenen  Anschauungen  betreffs  der  Entstehung 
des  Pigmentes  in  folgende  drei  Gruppen  zu  ordnen : 

1.  Das  Pigment  entsteht  nur  in  der  Epidermis  und 
kann  aus  derselben  in  das  Korium  übertreten. 

2.  Es  wird  ausschließlich  in  den  Bindegewebszellen 
gebildet  und  dann  in  die  Oberhaut  eingeführt. 

3.  Es  tritt  sowohl  in  den  Kutis-,  wie  in  den  Epidermis- 
zellenauf. 

Es  sei  mir  daher  gestattet,  die  folgenden,  an  der  Hand 
eines  reichlichen  Materials  ausgeführten  Untersuchungen 
und  die  daraus  gewonnenen  Resultate  zu  publizieren,  um 
diese  noch  nicht  sichergestellte  Frage  über  die  Hautpigmen¬ 
tierung  etwas  zu  beleuchten. 

Häute  eines  sechs  Monate  alten  menschlichen  Embryos. 

Die  Hautstücke  wurden  in  Formalin  und  in  Alkohol  aul- 
bewahrt.  Zelluloidineinbettung,  Hämatoxilinfärbung. 

1.  Kopfhaut.  Die  Basalschicht  der  Oberhäut  ist  schon  schwach 
pigmentiert.  Das  Pigment  ist  von  hellgelber  Farbe  und  von  körniger 
Beschaffenheit.  In  der  unteren  Epithelschicht  kommen:  die  deut¬ 
lich  verzweigten  pigmentierten  Zellen  stellenweise  vor  und 
schieben  sich  ihre  langen  Ausläufer  zwischen  die  benachbarten 
Epithelzellen  ein.  Diese  Zellen  haben  teils  langspindelförmige, 
teils  unregelmäßige  Form  und  enthalten  reichlich  Pigmentkörnchen. 
Ebenso  lassen  sie  sich  hie  und  da  in  der  Matrix  Jedes  Haares 
erkennen.  Die  Epithelzellen  der  Matrix  sind  bereits  mit  nicht 
wenigen  Pigmentmassen  ausgefüllt.  Dagegen  kann  man  keine 
Pigmentzellen  in  den  Haarpapillen  finden.  Das  Bindegewebe  des 
Koriums  zeigt  jedoch  an  einigen  Stellen  sehr  spärliche,  ovale 
oder  langgestreckte  Pigmentzellen  mit  Ausläufern.  Besonders  treten 
sie  an  den  oberflächlichen  Teilen  der  Lederhaut  auf.  Aber  man 
kann  weder  eine  Einwanderung  derselben  in  die  Oberhaut,  noch 
ein  Eindringen  ihrer  Fortsätze  in  die  Epithelzellen  beobachten. 

2.  Rücken-  und  Oberarmhaut.  Die  Pigmentanhäufungen  in 
der  Epidermis  sind  noch  äußerst  schwach.  An  vereinzelten  Stellen 
der  Basalschicht  finden  sich  die  verzweigten  pigmentierten  Zellen, 
deren  lange  Fortsätze  in  den  Interzellularraum  reichen  und  die 
Epithelzellen  umfließen.  In  der  Kutis  erscheinen  nur  an  ganz 
vereinzelten  Stellen  sehr  spärliche  Pigmentzellen.  Die  Beziehungen 
der  letzteren  zu  den  Epithelzellen  sind  nicht  sichtbar. 

Häute  (Kopf-,  Rücken-  und  Oberschenkelhaut)  eines  acht 
Monate  alten  Embryos. 

Alkoholfixierung.  Zelluloidineinbettung.  Hämatoxilinfärbung. 

Die  hellgelblichen  Pigmentkörnchen  treten  in  der  basalen 
Schicht  der  Oberhaut  in  geringer  Menge  auf  und  es  finden  sich 
typische  Melanoblasten  mit  pigmenthaltigen  Fortsätzen.  Die  Epi¬ 
thelzellen  der  Matrix  der  Haare  sind  ziemlich  stark  pigmentiert, 
während  die  Papille  von  Pigment  ganz  frei  ist.  Die  Kutis  ist 
entweder  vollkommen  pigmentfrei  oder  es  sind  ah  ganz  verein¬ 
zelten  Stellen  äußerst  spärliche  Pigmentzelleil  zu  sehen. 

Auf  Grund  der  oben  erwähnten  Befunde  kann  ich 
sagen,  daß  die  verzweigten  Pigmentzellen,  sogenannte  Me¬ 
lanoblasten,  im  Epithel  sich  bilden  und  daß  die  Pigment¬ 
bildung  sowohl  in  der  Oberhaut,  als  in  den  Haaren  ohne 
irgendeine  Beteiligung  von  Bindegewebszellen  stattfinden 
kann.  ‘  ! 

Im  gleichen  Sinne  spricht  sich  eine  Reihe  von  Beob- 
tem  in  den  Untersuchungen  an  Embryonalhäuten  aus.  So 


beobachtete  Garcia,  daß  die  erste  Pigmentierung  der  Haare 
der  menschlichen  Embryonen  in  den  Epithelzellen  der  Haar¬ 
matrix  erfolgt.  Retter  er  fand  eine  selbständige  Pigmen¬ 
tierung  in  den  Epidermiszellen  und  den  Zellen  der  Haar¬ 
matrix  bei  Embryonen  von  Pferd  und  Esel.  Meirowsky 
konstatierte  das  Auftreter  der  verzweigten  Zellen  in  der 
Epidermis  ohne  eine  Beteiligung  der  Kutis  bei  Embryonen 
von  verschiedenen  Säugetieren. 

Es  ist  jedoch  hinzuzufügen,  daß  bei  Embryonen  das 
Pigment  ebenso  in  den  Kutiszellen  wie  in  den  Epithelzellen 
selbständig  entstehen  kann,  weil  ich  in  den  oben  erwähnten 
zwei  Fällen  die  Pigmentzellen  in  der  Kutis  beobachten 
konnte,  obwohl  sie  nur  in  sehr  geringer  Zahl  zutage  ge¬ 
treten  sind. 

Die  Bildung  der  verzweigten  Pigmentzellen  in  der  Epri 
dermis  dürfte,  wie  Post  sagte,  als  ein  Vorgang  der  Arbeits¬ 
teilung  anzusehen  sein,  ähnlicher  Art,  wie  die  Bildung  der! 
Schweißdrüsen-,  Talgdrüsen-  und  Milchdrüsenzellen,  Idie  sich: 
aus  ursprünglich  gleichwertigen  Zellen  der  Epidermis  diffe¬ 
renzierten.  Was  die  Bildungsweise  tier  verzweigten  Pigment 
zellen  anbelangt,  so  wurde  sie  von  Wieting  und  Hamdi 
eingehend  untersucht.  Nach  ihnen  erfolgt  die  Bildung  der 
betreffenden  Zellen  in  der  Weise,,  daß  der  Kern  der  Epi¬ 
thelzellen  durch  eilte  stärkere  Tingierbarkeit  die  Zeichen 
seiner  erhöhten  Tätigkeit  erkennen  läßt.  Gleichzeitig  treten 
im  Protoplasma  der  Zelle  feine  gelbbräunliche  Körner  auf, 
die  dann  aber  rasch  in  die  Ausläufer  übertreten.  Mei- 
rowsky  hat  bei  seiner  Untersuchung  über  die  Regeneration 
der  Epidermis  nach  tier  Finsenbestrahlung  auch  die  Ent¬ 
stehungsart  erforscht  und  geschrieben^  daß  einzelne  Epithel¬ 
zellen  sich  vergrößern  und  in  ihrem  Protoplasma  außer  dem 
feinkörnigen  Pigment  feine  Ausläufer  auftreten,  die  größer 
werden  und  sich  zwischen  den  übrigen  Epithelzellen  ver¬ 
zweigen,  wodurch  die  in  Betracht  kommenden  verzweigten 
Gebilde  entstehen.  Auch  ich  war  imstande,  an  meinen  Prä-I 
paraten  den  Entwicklungsvorgang  in  der  Epidermis  zu  ver¬ 
folgen  :  in  der  Basalschicht  vergrößert,  sich  eine  gewisse! 
Anzahl  der  Zellen  und  unterscheidet  sich  dadurch  zuerst 
von  den  übrigen  Retezellen.  Dann  kommen  die  gelblichen 
Pigmentkörner  im  Zelleib  vor  und  es  entstehen  dann  Idie 
Fortsätze,  in  welche  das  Pigment  übertreten  kann.  Die  so 
umgewandelten  Gebilde  senden  ihre  pigmentierten  Ausläufer 
zwischen  die  benachbarten  Epithelzellen  und  führen  den¬ 
selben  ihr  Pigment  zu.  Dadurch  treten  die  Pigmentkörn¬ 
chen  auch  im  Protoplasma  der  den  verzweigten  Gebilden 
zunächst  liegenden  Zellen  auf. 

Häute  der  Steißgegend  von  japanischen  neugeborenen  Kin 
dein.  ("Bei  diesem  Untersuchungsmaterial  handelt  es  sich  um  die 
sogenannten  mongolischen  Flecken:  man  findet  einige  blaue  Flecke 
an  der  Steißgegend  der  Neugeborenen,  dm  der  mongolischen  Rasse' 
angehören.  Die  histologische  Untersuchung  ergibt  das  Vorhanden¬ 
sein  der  Pigmentzellengruppe  in  den  tiefen  Lagen  der  Kutis.) 

Alkoholfixierung.  Zelluloidineinbettung.  Hämatoxilinfärbung.  1 

Die  Basalschicht  ist  ziemlich  deutlich  pigmentiert.  In  den 
Epithelzellen  der  Matrix  und  des1  Schaftes  der  Haare  ist  das: 
Pigment  so  reichlich  vorhanden,  daß  sich  Einzelheiten  nicht 
erkennen  lassen.  Die  Papille  der  Haare  aber  zeigt  kein  Pigment. 
In  den  tiefen  Lagen  der  Kutis  befinden  sich  zahlreiche  verästelte,' 
gelbbraun  pigmentierte  Bindegewebs'zellen  von  langspindelförmiger 
Gestalt.  Diese  Zellen  sind  in  mehr  oder  weniger  großem  Strängen 
angeordnet,  die  parallel  zur  Hautoberfläche  verlaufen.  Dagegen 
kann  man  an  oberflächlichen  Schichten  der  Kutis'  keine  Pigment¬ 
zellen  wahrnehmen. 

Dieser  angegebene  Befund  spricht  für  die  autochthone 
Entstellung  des  Kutispigmentes.  Außerdem  ist  er  ein  schla¬ 
gender  Beweis  dafür,  daß  die  Pigmentzellen  in  der  Kutis 
nicht  in  die  Epidermis1  und  in  den  Haarkeim  zum  Zwecke 
der  Pigmentversorgung  dieser  Schicht  einwandern,  weil  sie 
eben  nur  in  den  tiefen  Schichten  der  Kutis  Vorkommen 
und  keinen  Zusammenhang  mit  den  Epithelzellen  der  Ober¬ 
haut  und  denen  tier  Maare  aufweisen. 

Auch  Sch  wa  1  b  e  hat  bei  seiner  eingehenden  Unter¬ 
suchung  an  dem  Kutisgewebe  des  Schwanzes  des  Hermelins 
beobachtet,  daß  die  pigmentierten  Bindegewebszellen  grup¬ 
penweise  in  der  Tiefe  der  Lederhaut  Vorkommen,  während 


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lie  oberflächlichen  Stellen  und  die  Epidermis  zeitlebens 
[ligmentlos  bleiben  und  daraus  hat  er  die  Unabhängigkeit 
ler  Kulis-  und  Epidermispigmentierung  hergeleitet. 

Was  nun  die  Beschaffenheit  der  sogenannten  mongoli¬ 
schen  Flecke  anbelangt,  so  ist  sie  schon  von  einer  Reihe  von 
apanischen  Forschern  studiert  worden.  Nach  Baelz  sollte 
de  an  Embryonen  vom  fünften  Monate  an  auftreten.  Wie 
iben  erwähnt,  entstehen  diese  Flecke  durch  das  Vorhanden¬ 
sein  zahlreicher  Pigmentzellengruppen  in  der  Tiefe  der  Kutis. 
laß  die  Pigmentzellen  aber  auch  in  der  Kutis  der  Steiß. 
regend  der  neugeborenen  und  embryonalen  Europäer  vor- 
commen,  ohne  daß  sie  jedoch  wegen  ihrer  geringeren  Zahl 
mikroskopisch  als  blaue  Flecke  zutage  treten,  ist  zuerst 
on  A  da  chi  nachgewiesen  worden.  Ich  habe  gleichfalls 
lie  Häute  der  Steißgegend  einiger  neugeborener  europäischer 
under  untersucht  und  kam  zum  gleichen  Resultate. 

Warum  aber  die  Anhäufung  der  Pigmentzellen  mit 
Vorliebe  an  der  Steißgegend  vorkommt,  darauf  will  ich  nicht 
läber  eingehen,  ich  verweise  in  dieser  Beziehung  auf  die 
•inschlägigen  Arbeiten  Adachis  und  Yamagiw'-as. 

Häute  eines  brünetten,  17  Jahre  alten,  Mannes. 

Die  Häute  wurden  vom  Rücken,  Oberarm  und  Unterschenkel 
enommen  und  in  Formalin,  dann  in  Alkohol,  fixiert. 

Zelluloidineinbettung.  Hämatoxilinfärbung. 

Der  größte  Teil  der  Oberhaut  ist  sehr  schwach  pigmentiert, 
de  Kutis  ganz  pigmentfrei. 

Die  normal  pigmentierten  Häute  einer  20  Jahre  alten, 

rünetten  Frau. 

Die  Häute  entstammten  der  Brustwarze,  den  großen  Scham- 
ppen  und  der  Ellenbogengegend. 

Alkoholfixierung,  Zelluloidineinbettung,  Hämatoxilinfärbung. 


Im  allgemeinen  ist  die  Epidermisschicht,  insbesonders  die 
asalschicht,  mäßig  pigmentiert  und  an  einigen  Stellen  ziemlich 
ahlreicbes  Pigment  zu  sehen.  Die  Kutis  hat  au  vereinzelten 
teilen  spärliches  Pigment.  Der  Zusammenhang  zwischen  dem 
pidermis-  und  Kutispigment  ist  nicht  sichtbar. 

Die  beiden  Fälle  beweisen  auch,  daß  die  Anhäufung 
es  Pigmentes  in  der  Epidermis  bei  keiner  oder  äußerst 
eringfügiger  Pigmentierung  des  Koriums  zutage  tritt.  Daraus 
eht  hervor,  daß  die  Pigmentierung  der  Epidermis  unab- 
ängig  von  der  Kutis  stattfindet. 

Die  normalen,  stark  gelbbräunlich  pigmentierten  Häute  eines 
>  Jahre  alten  Arbeiters. 

Die  Hautstücke  wurden  von  dem  Gesicht  und  den  Hand-, 
ickenteilen  genommen. 

Formalin  -  Alkoholfixierung,  Zelluloid  mein  bettu  ng,  Häma- 

Lxilinfärbung. 

Die  Pigmentierung  ist  am  stärksten  in  den  unteren  Schichten 
äs  Rete  und  reicht  bis  zu  den  obersten.  Unterhalb  der  stark 
gmenthrten  Basalschicht  sieht  man  hie  und  da  feine  Pigment- 
irner  von  gelbbräunlicher  Farbe  frei  auftreten.  Diese  finden 
ch  auch  zwischen  den  untersten  Epithelien.  Es  ist  dies  wohl 
s  der  freie  Austritt  des  Pigmentes  aus  dem  Epithel  anzuseihen, 
i  der  Spitze  der  Papillen  der  Kutis  kommen  wenige  Leuko- 
ten  vor  und  diese  beladen  sich  mit  Pigmentkörnchen.  Neben 
*n  Leukozyten  finden  sich  die  größeren  rundlichen  und  spindel- 
miigen  Bindegewebszellen  mit  hellem  Kerne.  Diese  Zellen  ent- 
dten  teils  die  Pigmentkörner  und  bleiben  teils  farblos. 

Keine  dieser  pigmenthaltigen  Zellen  lassen]  sich  als  die 
iS  Pigment  den  Epithelien  zuführenden;  Melanoblasten  aner- 
'nnen,  da  ich  weder  sie  noch  ihre  Ausläufer  zwischen,  den 
tsalzellen  eindringen  sehen  konnte.  Es  liegt  daher  nahe',  die 
Frage  kommenden  bindegewebigen  Pigmentzellen,  als  diejenigen, 
e  das  aus  dem  Epithel  in  der  Kutis  ausgestoßen  e  Pigment 
ifgenommen  haben,  anzusehen.  Außer  in  den  Papillen,  liegen 
r‘  vereinzelt  in  den  oberflächlichen  Teilen  der  Kutis  und  lassen 
h  auch  an  den  Wänden  der  Lymphbahnen  erkennen,  in  den 
rmphbalmen,  die  die  Pigmentzellen  zerstreut  umgeben,  kann 
•m  nicht  selten  freie  Pigmentkörner  finden.  Daher  scheinen 
ir  die  pigmenthaltigen  Zellen  durch  ihre  Lokomotionsfähigkeit 
rischen  den  Koriumfibrillen  weiterzukriechen  und  die  Lymph- 
''ge,  auf  denen  sich  auch  die  sonstige  Pigmentabfuhr  v  Gli¬ 
cht,  aufzusueben. 


Aus  den  angeführten  Beobachtungen  kann  ich  ent¬ 
minen,  daß  das  Pigment  aus  dem  Epithel  in  das  Korium 
isgestoßen  und  dann  nicht  nur  von  Leukozyten,  sondern 
ich  von  Bindegewebszellen  in  der  obersten  Kutisschicht 
^genommen  wird.  Eine  weitere  Pigmentabfuhr  scheint,  mir 


auf  dem  W  ege  der  Lymphbahnen  in  der  Kutis  stattzufinden, 
da  sich  die  pigmentführenden  Zellen  vorzugsweise  dem 
Lymphstrang  entlang  gruppieren  und  die  freien  Pigment¬ 
körner  sogar  in  den  Lymphbahnen  gefunden  werden  können. 

Daß  das  Pigment  aus  dem  Epithel  in  die  Kutis  über¬ 
treten  kann,  haben  Post,  Pluschkoff,  Wieting,  Hamdi 
und  andere  bewiesen.  Pluschkoff  war  der  Ansicht,  daß 
dies  dann  geschieht,  wenn  die  Epithelzellen  stark  mit’  dem 
Pigment  ausgefüllt  sind. 

Wieting  und  Hamdi  schrieben,  daß  der  Austritt 
des  Pigmentes  aus  dem  Epithel  dort,  stattfindet,  wo  die  epi¬ 
theliale  Pigmentierung  lebhaft  ist  und  daß  das  in  die  Kutis 
ausgestoßene  Pigment  sowohl  von  Leukozyten,  sowie  von 
lokomotionsfähigen  Bindegewebszellen  aufgenommen  und 
verschleppt  wird.  Diese  Pigmentabfuhr  ist  nach  ihrer  An¬ 
sicht  eine  Art  Regulation,  die  eine  hervorragende  Rolle 
im  Stoffwechsel  der  Haut  spielen  kann. 

Es  wird  auch  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die 
Lymphbahnen  das  Vermögen  besitzen,  das  Pigment  weiter 
abzuführen:  Schmorl  hat  in  den  Lymphdrüsen  der  Neger 
reichliches  Pigment  gefunden.  / 

Ferner  beobachtete  Chante  messe  bei  einem 
Neger  eine  Pigmentierung  der  inneren  Organe.  Diese  Tat¬ 
sachen  sprechen  dafür,  daß  das  in  die  Kutis  übergetretene 
Pigment  von  den  Lymphbahnen  verschleppt  .wird. 

Ephelides  von  dem  Gesichtsteile  eines  45jährigen  Mannes. 

Ein  stecknadelkopfgroßer,  ganz  flacher,  gelbbräunlich  pig¬ 
mentierter  Fleck  der  Haut. 

Formalinfixierung,  Zelluloidineinbettung,  Hämatoxilin- 
Eoisin-  und  van  Gi es  on  sehe  Färbung. 

Die  Basalschicht  ist  deutlich  pigmentiert.  Auch  die  höhere 
Schicht  zeigt  schwache  Bräunung.  An  der  Grenze  zwischen  der 
Oberhaut  und  der  Kutis1  treten  die  Pigmentkörner  in  geringer 
Menge  auf.  Da,  wo  das  freie  Pigment  zerstreut  liegt,  kann  man 
wenige  Leukozyten  und  Bindegewebszellen  mit  den  Pigment- 
körnem  treffen.  Man  kann  jedoch  keinen  Zusammenhang  zwischen 
den  Epidermis-  und  den  Bindegewebszellen,  beobachten.  Die  Kutis 
enthält  stellenweise  spärliches  Pigment.  Auf  weite  Strecken  kann 
das  Kutispigment  fehlen,  obwohl  die  Oberhaut  an  solchen  Stellen 
deutlich  pigmentiert,  ist.  Das  Kutispigment  kann  man  in  spindel¬ 
förmigen  Pigmentzellen  treffen,  die  nicht  nur  in  den  oberfläch¬ 
lichen  Teilen,  sondern  auch  in  den  von  der  Epidermis  weit  ent¬ 
fernten  tiefen  Stellen  der  Kutis  erscheinen.  Um  die  Blutgefäße 
herum  sieht  man  auch  sehr  spärliche  Pigmentzellen. 

Dieser  Fall  spricht  auch  für  die  Annahme,  nach  welcher 
die  Pigmentierung  der  Epidermis  ohne  eine  Beteiligung  der 
Kutis  stattfinden  kann.  Es  ist  aber  hinzuzufügen,  daß  die 
Kutiszellen,  abgesehen  von  einem  Aufnehmen  des  aus 
der  Epidermis  ausgesteuerten  Pigmentes,  das  Melanin 
auch  selbst  bilden  können,  denn  es  gibt  einige  pigmentierte 
Bindegewebszellen,  die  sich  auch  dort  zerstreut  erkennen 
lassen,  wo  der  Austritt  des  Pigmentes  aus  dem  Epithel 
noch  nicht  stattgefunden  hat. 

Häute  von  einer  an  Morbus  Addisoni  zugrunde  gegangenen 
Person. 

Die  Hautstücke  wurden  aus  dem  Kopfe  und  dem  Oberarm 
entnommen. 

Formalin- Alkoholfixierung,  Zelluloidineinbettung,  .  Häina- 
toxilintärbung. 

Die  Keimschicht  ist  diffus  und  intensiv  körnig  pigmentiert. 
Die  Pigmentierung  reicht  oft  bis!  zum  Stratum  lucidum  und  man 
sieht  auch  zerstreut  die  Pigmentkömehen  in  den  untersten  La¬ 
mellen  des!  Stratum  corneum.  Unter!  der  Basalschicht  lassen  sich 
freie  gelbbraune  Pigmentkörner  zerstreut  erkennen,  die  wohl  aus 
den  Epithelzellen  in  die  Kutis  ausgestoßen  sind. 

Außerdem  sieht  man  bei  der  Grenze  zwischen  Basalschicht 
und  Kutis  das  Auftreten  weniger  Rundzellen  mit  chroma  tinreiclien 
Kernen.  Eine  Anzahl  derselben  ist  mit  Pigment  ausgefüllt  und 
findet  sich  nicht  nur  an  dem  angrenzenden  Kutisgebiete,  son¬ 
dern  auch  an  der  Subkutis.  Ich  fasse  diese  Gebilde  als  die 
Leukozyten  auf,  Von  denen  das  in  die  Kutis  übergegangene 
Pigment  aufgenommen  wird.  Neben  den  Leukozyten  lassen  sich 
die  pigmenthaltigen,  spindelförmigen  und  unregelmäßig  gestal¬ 
teten  Bindegewebszellen  erkennten.  Sie  kommen  dicht  an  dei 
Keimschicht  und  zum  Teil  in  derselben  vor.  Außerdem  kann 
man  sie  und  ihre  Fortsätze  zwischen  den  Epithelzellen  eingestreut 
finden.  Aber  solche  Erscheinungen  lassen  sich  nicht  überall 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


beobachten :  da,  wo  die  Pigmentierung  der  Epidennis  in  bedeu¬ 
tendem  Maße  stattfindet,  kann  man  nicht  immer  eine  Einwande¬ 
rung  der  pigmenthaltigen  Bindegewebszellen  und  eine  Einscliie- 
bung  der  Ausläufer  derselben  in  die  Epithelzellen  nach  weisen. 
Es  ist  weiterhin  hinzuzufügen,  daß  trotz  der  ausgesprochenen 
Pigmentierung  der  Epidermis  die  an  dem  angrenzenden  Kutis- 
gebiete  vorkommenden  Pigmentzellen  an  Zahl  gering  sind.  Ein 
zweiter  Sitz  der  verzweigten  Pigmentzellen  in  der  Kutis  sind 
die  Umgebungen  der  kleinen  Blutgefäße  und  der  Lymphbahnen. 
Die  Blutgefäße  zeigen  abgesehen  von  leichtgradiger  Erweiterung 
keine  Veränderung. 

Der  angegebene  Befund  weist  darauf  hin,  daß  aucli 
bei  Morbus  Addisoni  das  Pigment  hauptsächlich  in  der  Epi¬ 
dermis  gebildet  werden  kann.  Obwohl  ich  hin  und  wieder 
das  Eindringen  bindegewebiger  Pigmentzellen  und  das 
Hineingelangen  der  Ausläufer  derselben  in  die  Epidermis 
beobachten  konnte,  darf  ich  doch  daraus  nicht  schließen, 
daß  das  ganze  Pigment  in  dem  Epithel  aus  der  Kutis  zu¬ 
geführt  wird.  Wollte  man  annehmen,  daß  jedenfalls  die 
pigmentierten  Bindegewebselemente  ihr  Pigment  der  Epi¬ 
dermis  zuführen,  so  müßte  bewiesen  werden,  daß  das  Ein¬ 
dringen  von  Bindegewebszellen  in  die  Epithelzellen  überall 
da  regelmäßig  vorkommt,  wo  die  Pigmentierung  der  Epi¬ 
dermis  zutage  tritt.  Das  ist  jedoch,  wie  oben  erwähnt,  nicht 
immer  der  Fall.  Außerdem  scheint  es  mir  gegen  die  Ueber- 
tragungstheorie  zu  sprechen,  daß  bei  der  ganz  überwiegenden 
Pigmentierung  der  Epidermis  die  Zahl  der  pigmentierten 
Kuliszellen  in  der  Regel  unverhältnismäßig  gering  ist.  Daraus 
ergibt  sich,  daß  die  bindegewebigen  Pigmentzellen  für  die 
Pigmentierung  der  Epidermis  von  keiner  allzu  großen  Be¬ 
deutung  sind.  Wie  ting  und  Hamdi  erklärten  die  als  Chro¬ 
matophoren  bezeichneten  Zellen  für  diejenigen  Elemente,  die 
der  Epidermis  das  Pigment  nicht  zuführen,  sondern  das 
aus  dem  Epithel  in  die  Kutis  übergetretene  Pigment  auf¬ 
nehmen,  um  es  in  die  Lympliwege  abzuführen.  Nach  der 
Ansicht  Rabls  sollten  die  Wanderzellen  in  die  Oberhaut 
einwandern  und  sich  erst  sekundär  mit  den  in  den  Saft¬ 
spalten  vorhandenen  Pigmentkömehen  füllen  und  in  diesem 
Zustande  die  Epidermis  verlassen,  um  wieder  in  die  Kutis 
zu  kommen.  Obwohl  solche  Auffassungen  nicht  zu  allge¬ 
meiner  Geltung  kommen,  so  glaube  ich  doch,  daß  die  Fül¬ 
lung  der  Kutiszellen  mit  dem  Pigmente  zum  Teil  ein  sekun¬ 
därer  Vorgang  sein  dürfte. 

Was  die  Pigmentierung  in  der  Kutis  selbst  betrifft, 
die  sich  vorzugsweise  an  den  Gefäßen  findet,  so  könnte 
sich  die  Meinung  begründen  lassen,  daß  die  pigmjentfüh- 
renden  Kutiszellen  von  der  Umgebung  der  Gefäße  ihren 
Ausgangspunkt  nehmen  und  von  dort  aus  in  die  Epidermis 
einwandern.  So  beobachtete  Nothnagel  in  der  Haut  der 
an  Addison  scher  Krankheit  Leidenden  die  Pigmentzellen 
meist  um  die  Kapillaren  herum  und  kam  zu  der  Meinung, 
daß  die  pigmentfähige  Substanz  aus  dem  Blute  stammt 
und  daß  die  Epidermis  durch  Einwanderung  der  pigment- 
führenden  Kutiszellen  pigmentiert  werden  kann.  Aber  ich 
möchte  dagegen  die  Ansicht  aussprechen,  daß  die  Pigment¬ 
bildung  an  den  Wänden  der  Kapillaren,  besonders  auch  in 
der  Nähe  der  Lymphgefäße,  vielmehr  im  Sinne  eines  Pig¬ 
mentrücktransportes  aufgefaßt  werden  sollte,  indem  es  zur 
weiteren  Abfuhr  des  aus  dem  Epithel  in  die  Kutis  über¬ 
getretenen  Pigmentes  kommt.  Die  Untersuchungsergebnisse 
Schmorls,  der  ebenso  bei  Morbus  Addisoni,  wie  bei  den 
Negern  die  zugehörigen  Lymphdrüsen  grau  bis  grauschwärz¬ 
lich  pigmentiert  fand,  weisen  mit  Sicherheit  darauf  hin, 
daß  das  ausgestoßene  Pigment  weiter  von  den  Saftzellen 
und  den  Lymphbahnen  ab  geführt  wird.  Weiter  ist  hinzu- 
zufügen,  daß  Wieting  und  Hamdi  bei  Morbus  Addisoni 
beobachteten,  daß  die  pigmentierten  Bindegewebszellen  sich 
nur  dort  erkennen  lassen,  wo  die  Epidermis  bereits  pigmen¬ 
tiert  ist  ii.  zw.  je  dunliier  diese  ist,  desto  reichlicher  pig¬ 
mentiert  ist  jene.  Nach  diesem  Befunde  habe  ich  es  also 
auch  hier  mit  einer  Pigmentabfuhr  und  nicht  mit  .einer 
Zufuhr  von  Melanin  zu  tun. 

Die  pigmentierten  Häute  aus  der  Umgebung  eines  Karzi¬ 
noms  des  Gesichtes. 


Formalin  -  Alkoholfixierung,  Zelluloidineinbcltung,  Häma- 
toxilin -  Eosin-  und  van  G  i  e s o n sehe  Färbung. 

Die  gelbbräunlichen  Pigmentkörner  liegen  in  mehr  oder 
weniger  reichlicher  Menge  in  der  Epidermis,  besonders  in  den 
basalen  Retezellen  und  in  dein  Zellen  aller  Schichten.  An  ver¬ 
einzelten  Stellen  der  Epidermis  kann  man  zwischen  den  Epithel- 
zellen  nicht  wenige  Leukozyten  und  die  spärlichen  spindelförmi¬ 
gen  Bindegewebszellen  mit  Pigmentkörnern  finden.  Diese  Binde¬ 
gewebszellen  lassen  sich  auch  in  den  Hautpapillen  zerstreut  er¬ 
kennen  und  senden  ihre  Fortsätze  zwischen  die  benachbarten 
Epithelzellen.  Die  Kutis  ist  auf  eine  große  Strecke  mit  einer 
großen  Anzahl  von  Leukozyten  und  jungen  Bindegewebszellen 
durchsetzt.  In  diesen  Entzündungsgebieten  kann  man  auch  hin 
und  wieder  einige  Pigmentzellen  an  den  Kapillaren  finden. 

In  (diesem  Fälle  sieht  man,  daß-  die  pigmentierten  Binde¬ 
gewebszellen  in  die  Epidermis  einwandern  und  ihre  Aus¬ 
läufer  in  die  Epithelzellen  einschicken.  Es  läßt  sich  jedoch 
daraus  nicht  schließen,  daß.  die  Pigmentierung  der  Ep-i 
dermis  durch  Uebertragung  ides  Pigmentes  in  den  Kutis 
zellen  auf  die  Epithelzellen  erfolgt.  Bekanntlich  können 
ebenso  die  Bindegewebszellen  wie  die  Leukozyten  aus  der 
Kutis  in  die  Epidermis  eindringen  oder  ihre  Ausläufer  zwi¬ 
schen  die  Epithelzellen  einschicken,  wenn  irgendein  nor¬ 
maler  oder  pathologischer  Reiz  auf  die  Haut  einwirkt.  Daraus 
ist.  ersichtlich,  daß  sich)  bei  diesem  Falle  die  pigmentierten 
Bindegewebszellen  neben  den  Leukozyten  stellenweise  in 
der  Oberhaut  erkennen  lassen.  Das  Einwandern  der  Binde 
gewebszellen  in  die  Epidermis  ist  also  als  die  Folge  des 
pathologischem  Reizes  anzusehen  und  steht  daher  mit  dem 
Pigmentierungsvorgange  der  Epidermis  in  keinem  Zusam¬ 
menhänge.  .  • 

Die  Annahme,  nach  welcher  die  Pigmentierung  der 
Oberhaut  durch  Einwanderung  der  bindegewebigen  Pigment¬ 
zellen  zustande  kommt,  wird  durch  die  Versuche  Kargs 
gestützt.  Er  transplantierte  die  Läppchen  von  der  Haut 
eines  Europäers  auf  die  Wundfläche  eines  Negers  und  ex- 
zidierte  die  Hautstückchen  nach  wenigen  Wochen..  In  der¬ 
selben  Weise  verpflanzte  er  auch  die  Hautstücke  eines 
Negers  auf  einen  Weißen.  Im  ersten  Fälle  wurde  das  trans¬ 
plantierte  Hautstückchen  schwarz,  im  zweiten  weiß.  Auf 
Grund  dieser  Transplantationsversuche  kam  er  zu  der  Auf¬ 
fassung,  daß  die  Pigmentierung  der  Epidermis  durch  die 
Einwanderung  pigmentierter  Zellen  aus  der  Kutis  bedingt  ist. 

Gegen  die  Versuche  Kargs  ist  von  Schwalbe,  Post, 
Meirowsky  u.  a.  das  berechtigte  Bedenken  erhoben 
worden,  daß  es  sich  gar  nicht  um  den  Pigmentierungsvor¬ 
gang  des  transplantierten  Hautstückchens,  sondern  um  den 
bei  der  Regeneration  der  Negerepidermis  handelt. 

L  o  e  b  studierte  gleichfalls  die  Frage  der  Hauptpigmen¬ 
tierung  an  transplantierter  Haut  und  kam  zu  dem  entgegen¬ 
gesetzten  Schlüsse  als  Karg,  nämlich,  daß  das  neugebildete 
Epithelpigment  in  der  Epidermis  selbständig  entstehen  kann. 
Paul  Carnot  und  Deflandre  führten  auch  Transplanta¬ 
tionsversuche  aus  und  behaupteten,  daß  das  Pigment  in 
der  Epidermis  nicht  durch  Chromatophoren  aus  der  Kutis 
zugeführt,  sondern  in  den  Epithelzellen  gebildet  wird. 

V  iirde  die  Epidermis  durch  die  aus  dem  Bindegewebe 
stammenden  Pigmentzellen  pigmentiert,  so  müßte  jedenfalls 
m  der  'normalen  Epidermis  das  Bild  'des  Eindringens  der  pig¬ 
mentierten  Bindegewebszellen  und  des  Hineingelangens  ihrer 
Ausläufer  in  die  Epithelzellen  zur  Beobachtung  kommen. 
Das  ist  aber  nicht  geschehen,  und  auch  unmöglich.  Daraus 
komme  ich  zu  der  Ueberzeugung,  daß  das  Vorkommen  der 
pigmentierten  Bindegewebszellen  in  der  Epidermis  bei  den 
pathologischen  Hautpigmentierungen  auf  einem  ganz  von 
der  Pigmentierung  unabhängigen,  durch  den  auf  die  Haut 
einwirkenden  Reiz  verursachten  Zellwanderungsvorgang  be¬ 
ruhen  dürfte. 

Naevus  pigmentosus  von  dem  linken  Arme  eines  fünf¬ 
jährigen  Kindes. 

Ein  linsengroßer,  stark  pigmentierter,  erhabener  Nävus. 

Formalin  -  Alkoholfixierung,  Zelluloidineinbettung,  Häma- 
toxilin  -  Eosinfärbung. 

Die  Epidermis  ist  ungleichmäßig  pigmentiert,  indem  stark 
pigmentierte  mit  vollkommen  pigmentfreien  Stellen  wechseln.  Am 


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stärksten  ist  die  Basalschicht  mit  Pigmentkömehen  ausgefüllt. 
Aber  der  Pigmentgehalt  der  einzelnen  Zellen  ist  ein  sehr  wech¬ 
selnder.  Zwischen  den  Zylinderzellen  kann  man  hin  und  wieder 
stark  pigmentierte  Elemente  von  verzweigter  Gestalt  sehen,  deren 
Korn  den  Charakter  eines  Epithelkernes  hat.  Die  Ausläufer  dieser 
Pignientzellen  laufen  auf  eine  kurze  Strecke  zwischen  Korium 
und  Basalschicht.  An  einigen  Stellen  zeigt  die  Epidermis  eine 
ziemlich  starke  Wucherung  und  es  entstehen  die  gabelförmigen, 
verästelten  Epithelzapfen,  die  sich  in  die  oberflächlichen  Stellen 
der  Kutis  vertiefen.  Unter  der  Epidermis  sieht  man  im  Kutis- 
bindegewebe  die  Gruppen  der  netzartig  ungeordneten,  verzweigten 
l'igmentzellen.  Jedoch  besteht  keine  Beziehung  zwischen  der  Pig¬ 
mentierung  des  Epithels  und  derjenigen  dieser  pigmentierten  K  Iltis¬ 
fellen.  Neben  diesen  Pigmentzellanhäufungen  finden  sich  in  der 
Kutis  zahlreiche  umschriebene  Zellnester.  Diese  zeigen  meist 
eine  netzförmige  Anordnung  und  stellen  nichts  anderes  dar,  als 
die  erweiterten  und  mit  gewucherten  Endothelien  aus'ge füllten 
Lymphgefäße.  Die  Endothelzellen  dieser  Zellnester,  die  in  den 
oberflächlichsten  Teilen  der  Kutis  liegen,  sind  meist  und  stark 
pigmentiert.  Das'  Pigment  ist  von  hellgelber  Farbe  und  von  kör¬ 
niger  Beschaffenheit.  Indessen  sind  die  Pigmentkömehen  zum 
Teil  von  bedeutender  Größe  und  kontluieren  zu  größeren  Körnern. 
Es  ist. mir  aufgefallen,  daß  diese  pigmentierten  Zellhaufen  zum 
feil  mit  den  Gruppen  der  verzweigten  pigmentierten  Bindegewebs- 
sellen  in  Verbindung  stehen,  indem  die  langen  Ausläufer  der 
hgmentzellen  direkt  zwischen  den  gewucherten  Endothelien  der 
mnachb arten  Nester  eingeschoben  sind. 

Bei  diesem  Falle  handelt  es  sich  (daher  um  die  Pigmen- 
ierung  der  Epidermis  und  Kutis,  an  (die  sich  eine  Wucherung 
ind  Pigmentierung  der  Endothelien  der  Lymphgefäße  an- 
müpft. 

Bezüglich  der  Entstehung  des  Naevus  pigmentosus 
aim  ich  sagen,  daß  die  Anschauungen  darüber  noch  geteilt 
;ind.  I  nna,  Kromayer,  Hodara,  Marschand,  Favera 
aid  andere  sahen  die  Nävuszellen  als  die  Abkömmlinge  der 
’.pidermiszellen  an,  während  Virchow,  Pini  u.  a.  sie  für 
unge  Bindegewebselemente  erklärten.  Auch  Bibbert  be¬ 
obachtete  sie  als  Chromatophoren.  Dagegen  sind  Lubarsich, 

1  eckli nghausen  u.  a.  der  Meinung,  daß  sie  von  jden. 
ndothelieri  der  Lymphgefäße  stammen  können. 

Nach  meiner  Untersuchung  am  obigen  Fälle  ist  aber 
n  zu  nehmen,  daß  die  Nävuszellen  ihren  Ursprung  sowohl 
en  Epidermis-  wie  den  Kutiszellen  verdanken  können.  Was 
ine  Wucherung  und  Pigmentierung  der  Endothelien  der 
ymphbahnen  betrifft,  so  kann  ich  mit  Wahrscheinlichkeit; 
ageu,  daß  sie  ein  sekundärer  Vorgang  sei.  Es  ist  ja  von 
dieting  und  Hamdi  festgestellt  worden,  daß  die  Zel I- 
ucherung  der  Lymphgefäße  auch  bei  der  physiologischen 
igmentierung  der  Neger  vorkommt.  Diese  Wucherung  ist 
ach  ihrer  Ansicht  von  dem!  jeweiligen  Grade  der  epithe- 
alen  Pigmentation  und  der  Lebhaftigkeit  der  Pigmentabfuhr 
bhängig.  Also  ist  sie  als  eine  reaktive  Proliferation  (der 
ndothelien  der  Lymphgefäße  durch  den  Beiz  des  abge- 
ihrfen  Pigmentes  anzusehen.  Dafür  spricht  mein  Unter- 
uchimgsresultat.  Wie  oben  erwähnt,  stehen  die  reichlichen 
iitispigmentzellengruppen  mit  den  gewucherten,  pigmen- 
erten  Endothelien  der  Lymphgefäße  in  Verbindung.  Daraus 
um  man  ersehen,  daß  zuerst  das  übermäßig  gebildete 
igment  von  den  Lymphgefäßen  abgeführt  wird  und  es  in- 
»igedessen  zu  proliferativen  Reizzuständen  am  Endothel 
ommt. 

Außerdem  kann  mein  Fall  gegen  die  Uebertragungs- 
leorie  geltend  gemacht  werden.  Wäre  diese  Theorie  gültig, 

>  hätte  man  erwarten  müssen,  d aß  der  reichlichen  Anwesen- 
•‘•t  der  Kutispigmentzellen  entsprechend  auch  in  der  Epi- 
''i'mis  viel  Pigment  vorhanden  sein  müßte.  Das  ist  aber 
icht  der  Fall.  Daß  also  bei  ganz  überwiegender  Anhäufung 
er  verzweigten  Pigmentzellen  in  der  Kutis  die  Pigmen- 
crung  der  Epidermis  imverhältnismäßig  geringfügig  und 
»gar  sehr  ungleichmäßig  ist,  spricht  gegen  die  Ueber- 
agungstheorie. 

Zusamm etif  assu  n  g. 

Fasse  ich  nun  die  ausgeführten  Beobachtungen  zu- 
inunen,  so  kann  ich  folgendermaßen  schließen: 

1.  Die  Epidermiszellen  und  Bindegewebszellen  können 
abständig  und  unabhängig  voneinander  das  Pigment  bilden. 


2.  Die  verzweigten  pigmentierten  Zellen  in  der  Epi¬ 
dermis  sind  reiner  epithelialer  Herkunft. 

.  Verhältnis  zwischen  der  Epidermis-  und  der 

h utispigmentierung  ist  wechselnd  :  die  Pigmentierun«  der 
Kutis- ist  bei  dem  großen  Pigmentreichtum  der  Epidermis 
eine  geringfügige  oder  umgekehrt. 

4.  Das  übermäßig  gebildete  Pigment  in  dem  Epithel 
wird  aus  demselben  in  die  Kutis  ausgestoßen  und  dann  von 
den  Leukozyten  und  den  Bindegewebszellen  aufgenommen. 

5.  Die  weitere  Pigmentabfuhr  kann  auf  den  Lvinnh- 
wegen  stattfinden. 

6.  Die  als  Chromatophoren  bezeichneten  Zellen  in  der 
Kulis  spielen  für  die  Epidermispigmentierung  keine  Rolle, 
sondern  sind  zum  Teil  als  die  sekundär  das  ausgestoßene 

igment  aufnehmenden  Bindegewebszellen  anzusehen. 


Aus  der  Prosektur  des  k.  k.  Kaiser  Franz-Joseph-Spitales 

in  Wien. 

lieber  das  Lipoid  der  Nebsnnierenrinde. 

Vorläufige  Mitteilung  von  H.  Albrecht  und  0.  Weltmann. 

Die  interessanten  Mitteilungen  von  Neumann  und 
Herr  mann  über  die  quantitativen  Unterschiede  an  Chole¬ 
sterinestern,  die  das  Blut  Gravider  und  Neugeborener  auf- 
Yveist,  veranlassen  uns,  Ihnen  in  gedrängtester  Kürze  über 
die  allerwichtigsten  Resultate  einer  allerdings  noch  nicht 
ganz  abgeschlossenen  Arbeit  zu  berichten,  die  wir  seit  weit 
über  Jahresfrist  begonnen  haben  und  die  sich  mit  dem 
Verhalten  der  doppeltbrechenden  Substanz  der  .Nebennieren¬ 
rinde  beschäftigt. 

Es  ist  seit  laji gern  bekannt,  daß  in  der  Nebennierenrinde 
des  Menschen  fettähnliche  Substanzen  physiologisch  vorhan¬ 
den  sind,  deren  chemische  Natur  von  Untersuchungen  einer 
Reihe  von  Forschern,  vor  allem  Panzers,  Adamis  und 
Aschoffs  und  Biedls  als  Cholesterinester  gekennzeichnet 
wurde.  Diese  Lipoide  sind  außer  durch  gewisse  mikrochemi¬ 
sche  Reaktionen,  durch  ihr  Verhalten  iml  Polarisationsmikro¬ 
skop  charakterisiert,  indem  sie  bei  gekreuzten  Nicols  in 
Form  doppeltbrechender  Tropfen  aufleuchten.  Wir  haben 
uns  bei  unseren  Versuchen  nach  mühevollen,  vergleichen¬ 
den  Studien  vor  allem  an  dieses  optische  Charakteristikum 
gehalten  u.  zw.  haben  wir  Bedacht,  darauf  genommen, 
immer  die  anisotrope  Tropfenform  nachzu wei¬ 
sen,  da  es  ja  bekannt  ist,  daß  auch  viele  andere  Substanzen, 
z.  B.  Tripalmitin,  Tristearin,  Triolein,  Fettsäuren  und  Seifen, 
unter  dem  Polarisationsmikroskop  in  Kristallform  Doppel¬ 
brechung  zeigen. 

Wir  arbeiteten  daher  mit  F'ormalingefrierschnitten,  die 
wir  stets  —  und  darauf  kommt  es  besonders  an  —  auf 
ca.  80°  erhitzten.  Auf  diese  Weise  gelingt  es,  die  im'  un- 
■  eiwärmten.  Formalingefrierschnitte  vorhandenen  Kristalle 
mit  Sicherheit  in  die  doppeltbrechenden  Sphärokristalle  um¬ 
zuwandeln,  die  sehr  beständig  sind.  .  Wir  haben  so  gegen 
öoO  menschliche  Nebennieren  untersucht  und  wollen  unsere 
Befunde  in  drei  Gruppen  einteilen: 

1.  Nebennieren  mit  auffallend  reichlichen  Sphäro- 
kristallein. 

2.  Nebennieren  mit.  auffallend  verminderten  oder  ganz 
fehlen  den  Sphärokristall  en . 

3.  Nebennieren,  die  eine  Mittelstellung  zwischen  diesen 
beiden  Extremen  einnehmen. 

In  die  erste  Gruppe  gehören  die  Nebennieren  bei  fol¬ 
genden  Krankheiten:  Arleriosklerosis,  Herzfehler,  chroni¬ 
sche  Nierenentzündung  und  Lungenemphysem  mit  Herz¬ 
hypertrophie,  Cirrhosis  hepatis,  Marasmus  ohne  Infektions¬ 
prozeß,  Encephalomalacia  und  Haemorrhagia  cerebri. 

In  die  zweite  Gruppe  gehören  die  Nebennieren  bei 
akuten  oder  subakuten,  septischen  und  pyämischen  Pro¬ 
zessen,  wenn  dieselben  einigermaßen  länger  bestehen,  ins¬ 
besondere  bei  Typhus,  Influenza,  Scarlatina  seplica,  Endo¬ 
carditis  ulcerosa,  ausgedehnten  Eiterungen,  gangränösem1  De¬ 
kubitus,  exulzerierendem  Karzinom,  schwerer  kavernöser 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Phthise,  ferner  bei  allen  ganz  schweren  Enteritiden,  Wie 
Cholera,  Paratyphus  und  auch  bei  Phosphorvergiftung,,  aller¬ 
dings  hatten  wir  nur  einen  Fall  zur  Verfügung.  Wir  wollen 
aber  gleich  einschränkend  bemerken,  daß  im  Kindesalter 
ein  vollständiges  Verschwinden  der  doppeltbrechenden  Sub¬ 
stanz  nur  selten  zu  beobachten  ist,  indem  wir  hier  auch1 
bei  akuten  Infektionen  oft  noch  sehr  reichlich  doppelt¬ 
brechende  Tropfen,  vor  allem  in  der  Glomerulosa  angetroffen 
haben. 

Ferner  fanden  wir  auch  bei  sehr  akuten  Infektionen, 
bei  denen  ganz  im  „Beginn  der  Tod  durch  Herzlähmung 
eintrat,  sehr  reichlich  doppeltbrechende  Substanz. 

In  die  dritte  Gruppe  endlich  gehören  die  Nebennieren 
von  Fällen,  bei  denen  sich  eine  Konkurrenz  von  patholo¬ 
gischen  Prozessen  vorfindet,  die  scheinbar  antagonistisch 
auf  den  Lipoidgeha.lt  einwirken,  z.  B.  Arteriosklerose  und 
Erysipel  oder  Nephritis  und  Piieum'onia  cruposa,  ferner  loka¬ 
lisierte  Infektionskrankheiten  und  die  gewöhnliche  chronisch¬ 
granuläre  Tuberkulose.  Wir  wollen  aber  nicht  verschweigen, 
daß  wir  auch  wenige  Ausnahmen  fanden,  die  sich  mit  Rück¬ 
sicht  auf  den  Cholesterinestergehalt  der  Nebennieren  zwang¬ 
los  in  keine  der  aufgestellten  Krankheitsgruppen  einreihen 
ließen.  Wir  wollen  heute  nicht  mehr  sagen,  als  daßi  es  sich 
in  der  ersten  Gruppe  vorwiegend  um  endogene,  in  (der 
zweiten  Gruppe  um  exogene  Krankheitsprozesse  (Infek¬ 
tionen,  Intoxikationen)  handelt.  Wir  können  aber  mit  Sicher¬ 
heit  behaupten,  daß  unsere  von  den  Krankheitsprozessen 
abgeleiteten  Schlüsse  auf  die  Reichlichkeit  der  Cholesterin¬ 
ester  der  Nebennieren  sich  in  etwa  90%  bewahrheiteten. 

Auch  müssen  wir  betonen,  daß  der  Unterschied  zwi¬ 
schen  cholesterinesterreichen  und  einer  daran  verarmten 
Nebenniere  ein  so  enormer  ist,  daß  dem  subjektiven  Er¬ 
messen  keine  die  Exaktheit  der  Untersuchung  störende  Rolle 
zukommen  kann. 

Es  war  natürlich  unser  Bestreben,  die  Resultate  un¬ 
serer  Untersuchungen  an  menschlichen  Nebennieren  durch 
das  Tierexperiment  zu  stützen.  Da  wir  uns  bei  un¬ 
seren  Versuchen  an  die  gewöhnlichen  Laboratoriumstiere, 
Meerschweinchen  und  Kaninchen,  halten  mußten,  stießen 
wir  auf  die  größten  Schwierigkeiten,  da  sich  die  Neben¬ 
nierenlipoide  bei  diesen  Tieren,  obwohl  durch.  Zupfpräparate 
sehr  reichlich  nachweisbar,  der  von  uns  beim  mensch¬ 
lichen  Material  geübten  Methode  gegenüber  ganz  anders 
verhielten.  Da  wir  aber  bestrebt  waren,  der  Einheitlichkeit 
halber  und  auch  weil  wir  uns  von  der  Insuffizienz  des  tink- 
toriellen  und  mikrochemischen  Nachweises  überzeugt  hatten, 
die  Cholesterinnester  auch  in  den  tierischen  Nebennieren 
in  Form  der  anisotropen  Tropfen  nachzuweisen,  erfanden 
wir  uns  nach  vielen  mühevollen  Versuchen  dazu  eine  be¬ 
sondere  Methode,  welche  uns  glänzende  Resultate  lieferte 
und  uns  auch  einen  Einblick  in  das  feinere  Verhalten  der 
enorm  reichlichen  Lipoide*  gewährte.  Diese  Methode  be¬ 
steht  in  Behandlung  der  Gefrierschnitte  mit  reinem  Methyl¬ 
alkohol  und  mit  durch  Sapo  viridis  gesättigtem  Methyl¬ 
alkohol. 

Eine  Vermehrung  des  Lipoids  durch  Injektion  von  art¬ 
gleichen  und  -fremden  Nebennierenrinden  und  Gehirnbrei 
durch  reines  Cholesterin  und  Cholesterinester1)  gelang  uns 
bisher  nicht  nachzuweisen,  dagegen  konnten  wir  leicht 
das  Lipoid  zum  Schwinden  bringen.  Von  den  Fran¬ 
zosen  haben  hauptsächlich  Oppenheim  und  Löper,  Ber¬ 
nard  und  Bi  gart  die  Veränderungen  der  Nebenniere  bei 
Infektionen,  Intoxikationen  und  Vergiftungen  studiert,  doch 
beschränken  sich  ihre  Angaben  auf  die  bsmierbare  Substanz, 
das  Labilfett  oder  die  sudanroten  Tropfen  und  nirgends  ist 
auf  die  vom  Fett,  scharf  unterschiedenen  Lipoidkörper  Rück¬ 
sicht  genommen.  Auch  die  neueren  Untersuchungen  von 
Bogömolez  beschäftigen  sich  nur  mit  dem  Verhalten  der 
osmiumschwarzen  Körper.  Im  Gegensatz  dazu  beschäftigen 

')  Die  entsprechenden  Präparate  stellte  uns  in  liebenswürdiger 
Weise  Herr  Reg.-Rat  Prof.  M  authner  zur  Verfügung,  wofür  wir  ihm 
uneren  besten  Dank  aussprechen. 


sich  unsere,  wie  wir  glauben,  exakten  Studien  mit  dem  Ein¬ 
fluß  von  Infektionen,  Intoxikationen  und  Vergiftungen  zu¬ 
nächst.  ausschließlich  auf  die  doppeltbrechende  Substanz 
der  Nebennieren  von  Meerschweinchen  und  Kaninchen.  Es 
gelang  uns,  sowohl  durch  Infektion  mit  Bakterien,  als  auch 
durch  Toxinwirkung  und  Vergiftungen  die  doppeltbrechende 
Substanz  zu  vermindern  oder  zum  totalen  Schwunde  zu 
bringen.  Doch  scheinen  nicht  alle  Bakterien  und  Gifte  in 
gleicher  Weise  die  Nebennieren  zu  schädigen.  Vor  allem 
bemerkenswert,  scheint  uns  der  Befund  zu  sein,  daß  der 
Lipoidgehalt  der  Nebenniere  nach  einem'  gewissen  Inkuba 
tionsstadium  abzustürzen  scheint.  Wir  haben  durch  unsere 
Versuche  den  Eindruck  gewonnen,  als  würde  vielleicht 
nach  einem  Stadium  der  Reizung  die  Nebennieren¬ 
rindenzelle  plötzlich  erlahmen  und  ihre  Funktion,  die  Chole¬ 
sterinester  aufzustapeln  oder  zu  produzieren,  einstellen. 
Diese  Auffasung  steht  auch  im!  Einklänge  mit  einigen  Be¬ 
funden  an  menschlichen  Nebennieren,  wo  wir  bei  perakut, 
zum  Tode  führenden  Infektionen  sehr  \reichlich  oder  in 
einem  zweiten  Stadium  noch  in  einzelnen  Lagern  dicht 
angehäuft  die  doppeltbrechenden  Tropfen  antrafen.  Dieses 
Verhalten  scheint  uns  darauf  hinzuweisen,  daß  es  sich  in 
den  Nebennierenrindenzellen  doch  um  einen  sekretions¬ 
artigen  Vorgang  handeln  dürfte,  wobei  wir  allerdings  nicht 
wissen,  in  welcher  Form  von  Cholesterinestern  das  Lipoid 
der  Nebennieren  ins  Blut  gelangt.  Wir  müssen  schon  in 
Anbetracht  der  igroßen  Labiilität  des  Neben¬ 
nierenlipoids,  das  innerhalb  der  kürzesten  Zeit 
vermindert  ocleir  verschwunden  sein  kann,  die 
Nebenniere  als  eine  bedeutsame  Quelle  für  das 
Lipoid  des  Bluteis  halten.  Bestärkt  werden  wir  in 
dieser  Auffassung  dadurch,  daß  wir  bei  der  Anstellung  der 
Salkowsky  sehen  Cholesterinreaktion  mit  immer  gleich 
großen  Mengen  von  Nebenniere  zunächst  einen,  vollständigen 
Parallelismus  zwischen  den  Resultaten  des  Zupfpräparates, 
des  Gefrierschnittes  und  dem  Ausfall  der  Cholesterinreak¬ 
tion  feststellen  konnten.  Andrerseits  aber  fanden  wir  durch 
Untersuchungen  mit  Leichenblut  nach  der  von  Neumann 
und  Herrmann  angegebenen  Methode  Unterschiede,  die 
so  groß  waren,  wie  die  Reaktionsdifferenzen  zwischen  dem 
Blute  Hochgravider  und  dem  Neugeborener  und  die  einen 
auffallenden  Parallelismus  zu  dem  Cholesteringehalt,  respek¬ 
tive  dem  Reichtum  der  Nebenniere  an  doppeltbrechender| 
Substanz  aufwiesen.  Unsere  Untersuchungen  sind  noch 
nicht  zahlreich  genug,  um  daraus  endgültige  Schlüsse  zu 
ziehen  —  wir  behalten  uns  dies  für  eine  spätere  Mitteilung 
vor  —  aber  wir  wollen  doch1  heute  schon  unserer  Ansicht 
dahin  Ausdruck  geben,  d a ß  d i  e  V e r m e h r ui n g  d  e  r  C h o le¬ 
st  er  i  oester  im  Blute  Hochigravider  wahrschein¬ 
lich  der  Ausdruck  der  Schwangerschaftshyper¬ 
trophie  oder  Hyperfunktion  der  Nebennieren  ist,; 
wozu  die  Funktion  des  an  doppeltb rechender  Substanz  sehr 
reichen  Corpus  luteum  sich  addieren  kann,  welches  von  den 
Franzosen  direkt  als  temporäre  Nebennierenrinde  be¬ 
zeichnet  wird.  \ 

Ferner  möchten  wir  nach  unseren  Erfahrungen  auch 
die  Hypothese  aufstellen,  daß  es  überhaupt  unter  patho¬ 
logischen  Verhältnissen  zu  einer  vom1  Lipoid¬ 
gehalt  und  der  Funktion  der  Nebenniere  abhän¬ 
gigen  Verm  eh  ruing  oder  Verminderung  der  Cho¬ 
lesterin  oster  im  Blute  kommt. 


lieber  die  psychische  Aetiologie  und  Therapie 
der  Arteriosklerose.*) 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz. 

Meine  Herren!  Ich  erbitte  mir  heute  Ihre  Aufmerk¬ 
samkeit  nur  für  kurze  Zeit,  uml  eine  Angelegenheit  zu  be¬ 
handeln,  welche  man  wohl  mit  Fug  und  Recht  als  eine  der 
wichtigsten  Herzensangelegenheiten  des  ärztlichen  Standes 

-  I 

*)  Vortrag,  gehalten  in  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  am 
24.  Februar  1911. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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bezeichnen  darf.  Und  zwar  aus  zwei  Gründen :  Einerseits 
deshalb,  weil  die  Frage  der  Arteriosklerose  die  Menschheit, 
also  unsere  Patienten,  angeht  und  zweitens,  weil  sie  uns 
selbst,  persönlich  in  hohem  Grade  angeht.  Es  ist  Ihnen 
allen  bekannt,  wie  sehr  die  derzeitige  Menschheit  im  Banne 
der  Angst  vor  der  Arteriosklerose  lebt,,  es  ist  Ihnen  vielleicht 
weniger  bekannt,  wie  sich  diese  Angst  speziell  bei  unserem 
Stande  geradezu  zu  einer  Phobie  ausgebildet  hat.  Ich  spreche 
von  einer  Phobie  deshalb,  weil,  wie  ich  vorweg  bemerken 
muß,  diese  Angst  in  den  meisten  Fällen  glücklicherweise 
unbegründet  ist,  aber  leider  nicht  in  so  hohem  Grade  un¬ 
begründet,  daß  man  die  Sache  nicht  ernst  nehmen  und 
besprechen  sollte. 

Es  entsteht  vorerst  die  Frage:  Ist  die  Arteriosklerose 
in  den  letzten  Jahrzehnten  tatsächlich  häufiger  geworden 
oder  nicht?  Diese  Frage  läßt  sich,  wie  auf  anderen  Ge¬ 
bieten,  so  auch  hier  nicht  mit  Bestimmtheit  entscheiden,  weil 
ja  Statistiken  naturgemäß  nicht  vorliegen.  Immerhin  ist 
der  Eindruck,  den  der  praktische  Arzt  von  der  Sache  be¬ 
kommt,  derart,  daß  man  es  Wohl  als  wahrscheinlich  ansehen 
kann,  daß  die  Arteriosklerose  häufiger  geworden  ist.  Nun 
scheint  mir  aber,  als  hätte  sich1  der  Charakter  der  Arterio¬ 
sklerose  in  der  letzten  Zeit  verändert.  Der  Einwand  (darf 
wohl  nicht  erhoben  werden,  daß  sie  heute  häufigen  dia¬ 
gnostiziert  wird,  weil  sich  die  diagnostischen  Methoden  ver¬ 
feinert  haben;  das  mag  bei  anderen  Krankheiten*  möglich 
sein,  hier  trifft  dies  nicht  zu.  Hier  kommen  ganz  allein  die 
sogenannten  physikalischen  Untersuchungsmethoden  in  Bo- 
tracht,  auf  welche  die  frühere  Aerztegeneration  genau  so 
gut,  vielleicht,  noch  besser  gedrillt  war,  wie  die  jetzige. 
Der  Charakter  der  Arteriosklerose  scheint  sich  insofern  ge¬ 
ändert  zu  haben,  als  jetzt  das  Gros  der  Arteriosklerotiker 
nicht,  unter  dem  klassischen  Bilde  der  in  kurzer  Zeit  zum 
Tode  führenden  Angina  pectoris  erscheint,  sondern  unter 
dem  Bilde  jener  chronischen  kardialen  und  kardiorenalen 
Arteriosklerose,  welche  durch  Jahrzehnte  unter  zeitweilig 
auch  Jahre  hindurch  stattfindenden  Remissionen  den  Pa¬ 
tienten  mit  stenokardischen  Beschwerden  quält.  Die 
Arteriosklerose  scheint  also  häufiger  geworden  zu  sein,  aber 
sicher  nicht  bösartiger  als  früher. 

Ich  habe  die  Formten  genannt,  die  uns  hier  inter¬ 
essieren:  die  kardiale  und  die  kardiorenale  Form,  also  Er¬ 
krankungen  der  Koronargefäße,  bzw.  Erkrankungen  der 
Koronargefäße,  verquickt  mit  Erkrankungen  der  Niere.  Die 
Diskussion  über  das  Entstehen  dieser  Krankheiten  ist  des¬ 
halb  etwas  schwieriger,  weil  sie  uns  in  das  Schema,  das 
vor  uns  in  der  letzten  Zeit  gemacht  haben,  nicht  hinein¬ 
passen.  Wir  haben  uns  nämlich  gewöhnt,  die  Arteriosklerose 
im  allgemeinen,  wenn  sie  nicht  toxischer  Natur  ist,  als  Ab¬ 
nützungskrankheit  zu  betrachten.  Wir  sind  gewöhnt  bei 
Menschen,  welche  vorwiegend  die  oberen  Extremitäten  be¬ 
nützen,  die  Arterien  der  oberen  Extremitäten  arteriosklero¬ 
tisch  werden  zu  sehen.  In  unseren  Verhältnissen  ist  es 
selten,  daß  man  bei  Frauen  Arteriosklerose  der  unteren 
Extremitäten  findet,  während  sie  am  Lande,  wo  die  Frauen 
durch  ihre  Arbeit  gezwungen  sind  mehr  herumzugehen, 
ziemlich  häufig  zu  beobachten  ist.  Nun  handelt  es  (sicli 
darum :  ist  es  möglich,  die  zentrale  Arteriosklerose  unter  dem 
'Gesichtspunkte  der  Abnützung  zu  betrachten?  Ich  glaube,  ja. 

Wieden  Herren  zumeist  bekannt  sein  dürfte,  habe  ich, 
um  mir  selbst  Einblick  in  die  Aetiologie  der  Arteriosklerose 
zu  verschaffen,  Fragebogen  an  zahlreiche  Kollegen  geschickt, 
mit  der  Bitte,  mir  mitzuteilen,  wie  sich  die  einzelnen  Herren 
das  Zustandekommen  der  Arteriosklerose  vorstellen.  Es  war 
mir  natürlich  klar,  daß  auf  diese  Art  eine  strenge  Statistik 
nicht  möglich  sei.  Aber  immerhin  konnte  man  hoffen,  zu 
erfahren,  welche  Vorstellungen  sich  der  praktische  Arzt, 
der  wohl  eher  einen  Einblick  in  die  Verhältnisse  seiner 
Kranken  bekommt,  gebildet  hat.  Ich  will  auf  die  verschie¬ 
denen  Antworten,  die  ca.  1000  betragen,  heute  nicht  ein- 
gehen,  sondern  mich  auf  die  psychische  Aetiologie  be¬ 
schränken.  Es  ist  mir  vor  allem  bei  der  Durchsicht  der 
Einläufe  aufgefallen,  daß  eine  relativ  sehr  große  Anzahl  von 


praktischen  Aerzten  in  erster  Linie  die  schwere  körperliche 
und  geistige  Arbeit,  bzw.  die  psychische  Aetiologie  im  all¬ 
gemeinen  betonen.  Diese  Feststellung  hat  mir  eine  große 
Genugtuung  bereitet,  denn  es  war  für  mich  seit  langem 
eine  feststehende  Tatsache,  daß  die  zentrale  Arteriosklerose 
in  dem  größten  Teil  der  Fälle  psychischen  Ursprunges  und 
nicht,  wie  gerne  behauptet  wird,  auf  den  Abusus  von  Genu߬ 
mitteln  zurückzuführen  ist.  Natürlich  leugne  ich  toxische 
Einflüsse  nicht  und  ich  weiß  auch,  daßi  Lues  frühzeitige 
Arteriosklerose  erzeugt. 

Was  sollen  wir  nun  aber  als  frühzeitige  Arterio¬ 
sklerose  bezeichnen,  welche  ist  die  unterste  Altersgrenze, 
bei  der  ein  Mensch  schon  Arteriosklerose  haben  darf?  Ich 
glaube,  daß  jede  zentrale  Arteriosklerose  eine  frühzeitige 
ist.  Ich  glaube,  daß  auch  dem  höchsten  Greisenalter  (die 
kardiale  und  kardiorenale  Form  als  solchem  nicht  eigen¬ 
tümlich  ist  und  daß  wir  uns  in  jedem  Fälle  zu  bemühen 
haben,  die  speziellen  Ursachen  aufzuklären. ■  Wenn  ich  nun 
schon  die  psychische  Aetiologie  betone,  so  glaube  ich,  daß 
unter  den  Angehörigen  unseres  Standes  die  Meinung,  daß 
die  Arteriosklerose  aus  psychischen  Ursachen  entsteht,  so¬ 
zusagen  inoffiziell  ziemlich  verbreitet  ist  u.  zw.  im  Gegen¬ 
sätze  zu  den  Darstellungen  der  Fachliteratur,  die  sich  zu¬ 
meist  damit  begnügt,  nur  nebenbei  auch  „Kummer  und 
Sorge“  unter  den  schädigenden  Faktoren  einfach  aufzu¬ 
zählen. 

Es  ergibt  sich  dies  aus  der  Feststellung,  daß  die  meisten 
Aerzte,  wenn  sie  sich  selbst  im  Verdacht  haben,  an  zen¬ 
traler  Arteriosklerose  zu  leiden,  bei  sich  selbst  psychische 
Ursachen  beschuldigen.  Wie  verbreitet  übrigens  die  Angst 
vor  der  Arteriosklerose  in  unserem  Stande  ist,  möchte  ich 
nur  durch  eine  Zahl  belegen.  Ich  selbst  führe  jetzt  in  meinen 
Protokollen  von  sämtlichen  3000  Wiener  Aerzten  300,  also 
10°/o  aller  Wiener  Aerzte.  Sie  sind]  allein  zu  mir  getrieben 
worden  durch  die  Angst,  vor  der  Arteriosklerose,  die,  wie 
ich  betonen  muß,  größtenteils  unbegründet  ist.  Ich  darf 
wohl  bei  der  großen  Anzahl  von  Internisten  in  Wien  an¬ 
nehmen,  daß  mindestens  jeder  zweite  Arzt  seinem  Herzen, 
bzw.  seinen  Gefäßen  mißtraut. 

Ich  habe  vorhin  erwähnt,  daß  eine  große  Anzahl  von 
Kollegen  die  schwere  körperliche  Arbeit  und  die  schwere 
geistige  Arbeit,  bzw.  psychische  Momente  im  allgemeinen 
für  das  Zustandekommen  der  Arteriosklerose  in  erster  Linie 
verantwortlich  machen.  Ich  meine,  daß  man  die  schwere 
körperliche  Arbeit  und  die  schwere  geistige  Arbeit,  sowie 
psychische  Ursachen  im  allgemeinen  unter  einen  gemein¬ 
samen  Gesichtspunkt  bringen  kann  und  das  ist  derjenige 
der  Unlust.  Ich  bin  fest  überzeugt,,  daß  die  Unlustgefühle, 
unter  denen  wir  leiden,  in  erster  Linie  daran  schuld  sind, 
daß  wir  frühzeitig  an  Arteriosklerose  erkranken.  Ein  Mensch, 
der  schwere  körperliche  Arbeit  zu  leisten  gezwungen  ist, 
hat  auch  Kummer  und  Sorgen,  und  dasselbe  kann  ich  von 
der  geistigen  Arbeit  behaupten.  Wenn  ich  es  als  wahr¬ 
scheinlich  annehme,  daß  die  zentrale  Arteriosklerose  der¬ 
zeitig  häufiger  vorkommt  als  früher,  so  müssen  wir  also 
nach  psychischen  Ursachen  in  der  Gegenwart  suchen,  welche 
die  Arteriosklerose  begünstigen.  Ich  brauche  nach  dieser 
Richtung  nicht  weitschweifig  zu  werden.  Daß  sich  das 
Leben  der  Menschheit  in  den  letzten  Jahrzehnten  geändert 
hat,  daß  sich  das  eingebürgert  hat,  was  man  als  Amerika¬ 
nismus  bezeichnet,  ist  bekannt.  Es  hat  das  behagliche  Dahin¬ 
leben,  nur  belastet  durch  die  Beschaffung  der  nächsten  Be¬ 
dürfnisse  aufgehört.  Heute  will  der  Mensch  auch  für  die 
Zukunft  sorgen,  arbeitet  gewissermaßen  unter  Hochdruck; 
er  will  seine  Familie  für  die  Zukunft  sicherstellen,  weil 
es  heute  nicht  sicher  ist,  ob  selbst  der  arbeitsame  Mensch 
für  den  Moment  immer  auch  nur  seine  Nahrung  findet. 
Diesen  allgemeinen  Gesichtspunkt  sollten  wir  nun  auf  unsere 
eigene  Existenz  anzuwenden  versuchen. 

Man  darf  einmal  unter  Aerzten  auch  über  die  Aerzte 
sprechen.  Ich  habe  Ihnen  nur  Bekanntes  zu  sagen,  glaube 
aber  betonen  zu  müssen,  daß  der  ärztliche  Stand  sich  in 
einem  psychischen  Elend  befindet,  dessen  er  sich  vielleicht 


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infolge  der  Angewöhnung  und  der  Anpassung  nicht  voll¬ 
kommen  bewußt  ist.  Der  Arzt  als  Mensch,  wenn  er  mit 
seinen  Patienten  fühlt,  sieht  immer  nur  das  Elend,  wird 
fortwährend  unangenehmen  Sensationen  ausgesetzt,  sieht 
von  der  Welt  nur  die  Schattenseiten.  Er  leidet  in  seinem 
Familienleben  deshalb,  Aveil  er  niemals  eine  behagliche 
Stunde  findet,  sich  seiner  Familie  zu  widmen ;  die  eAvige 
Dienstbereitschaft  hält  ihn  in  kontinuierlicher  Spannung; 
seine  Nächte  sind  gestört.  Aber  ein  noch  viel  Avichtigerer 
Gesichtspunkt  ist,  Avie  ich  meine,  folgender:  Der  Arzt  ist 
gewöhnt,  ununterbrochen  die  Klagen  seiner  Mitmenschen 
entgegenzunehmen,  es  kommt  ihm  sonderbar  vor,  im  Mo¬ 
mente,  avo  seine  eigenen  Beschwerden  sich  geltend  machen, 
die  Rollen  zu  tauschen  und  selbst  zu  klagen,  fällt  ihm 
schwer. 

Bei  der  psychotherapeutischen  Behandlung  der  Herz¬ 
krankheiten  bin  ich  bestrebt,  zu  jedem  meiner  Patienten 
in  ein  menschliches,  intimeres  Verhältnis  zu  treten.  Sehr 
bald  bringt  man  fast  jeden  Menschen,  so  Aveit,  daß  er  einem 
sein  Herz  öffnet.  Nur  den  Kollegen  bringt  man  sclrvver 
dazu.  Er  fügt  sich  in  die  Rolle  des  Klagenden  nicht  ein, 
er  entlastet  sich  nicht.  Betrachten  wir  den  Werdegang  und 
das  Leben  des  Arztes.  Der  junge  Arzt  tritt  hinaus,  gar 
nicht  ausgerüstet  für  das  praktische  Lehen.  Er  hat  sich 
einige  theoretische  Begriffe,  Adelleicht  gründliche  klinische 
Kenntnisse  im  Laufe  seines  langwierigen  und  mühevollen 
Studiums  angeeignet,  aber  niemand  hat  ihm  gegenüber  ein 
Wort  darüber  verloren,  was  ihn  im  wirklichen  Leben  er- 
Avartet.  Die  Enttäuschungen  bleiben  nicht  aus;  wie  viele 
ungerechte  Vorwürfe  werden  ihm  zuteil,  ja,  was  noch 
schlimmer  ist.,  welche  selbstquälerischen  Grübeleien  martern 
ihn,  wenn  er  sich  unter  demj  Eindruck  eines  therapeuti¬ 
schen  Mißerfolges  selbst  beschuldigen  zu  müssen  glaubt! 
Und  schließlich  das  Verhältnis  der  Aerzte  untereinander! 
Man  kann  da  das  Wort  Goethes  anwenden,  das  er  auf 
die  deutschen  Literaten  geprägt  hat:  Wir  sind  alle  Avie  die 
Billardbälle,  jeder  schießt  auf  der  'eigenen  Bahn  dahin ;  treffen 
sich  zwei  von  uns  einmal,  dann  schießen  wir  um  so  ener¬ 
gischer  auseinander.  Ich  will  auf  diesem1  Wege  nicht  weiter 
fortschreiten,  weil  Sie  diese  Argumente  ja  selbst  ins  Unend¬ 
liche  vermehren  können. 

Nach  dieser  kurzen  Einleitung  will  ich  mich  nun  dazu 
Avon  den,  Ihnen  zu  zeigen,  daß  Erwägungen  solcher  Art  von 
einschneidender  Bedeutung  für  die  Therapie  sind.  Bei  der 
Arteriosklerose  ist  leider  von  Heilung,  Avie  wir  alle  wissen, 
nicht  die  Rede,  aber  es  ist  wichtig,  zu  wissen,  ob  man  imstande 
ist,  ihr  Fortschreiten  zu  begünstigen  oder  zu  hemmen.  Ich 
glaube,  man  kann  sie  auf  psychischem  Wege  hemmen  und 
so  bedeutende  Erfolge  erzielen.  Vor  allem  möchte  ich  Ihnen 
sagen,  daß  es  sich  hier  nicht  um  eine  Psychotherapie  han¬ 
delt,  die  sich  zu  verstecken  braucht,  es  ist  nichts  darin, 
was  einem  Schwindel  ähnlich  ist.  Die  Technik  braucht  nicht 
als  GeheimAvissenschaft  behandelt  .zu  werden,  denn  es  gibt 
ja  gar  keine.  Jeder  Arzt,  der  sich  seinem  Patienten  mit 
offenem  Gemüte  gegenüberstellt,  wird  die  Methode  leicht 
finden.  Hier  ist  der  edle  Mensch  sich  tatsächlich  des  rechten 
V  eges  wohl  bewußt.  Das  Ziel  der  .Psychotherapie  ist,  da  wir 
in  der  Unlust  dieUrsache  der  Arleriosklerose  vermuten,  in  der 
Unlust,  die  ich  nicht  anstehe,  als.  eine  Mißhandlung  der  Koro¬ 
nararterien  und  der  Nierengefäße  zu  bezeichnen,  dieser  ent- 
gegenzuAvirken,  das  heißt,  einerseits  die  Unlustgefühle,  unter 
denen  der  Patient  leidet,  zu  beseitigen  und  andrerseits  in 
ihm  Lustgefühle  zu  erzeugen. 

Wenn  wir  an  eine  Prophylaxe  der  Arteriosklerose  denken 
du n  ten,  was  naturgemäß  leider  eine  Utopie  ist,  so  müßten 
wir  das  Uebel  bei  der  Wurzel  anfassen:  bei  der  Erziehung 
Nach  meiner  Ueberzcugung  ist  die  heute  so  hochgepriesene 
Moral  ein  Krebsschaden,  der  das  Entstehen  der  Arterioskle¬ 
rose  begünstigt.  Was  predigt  man  der  Jugend  ununter-  * 
brochen ?  Nichts  als  Pflichten  und  wieder  Pflichten!  Große 
Beispiele  werden  angeführt,  die  unerreichbar  sind.  Es  ist 
ganz  natürlich,  daß  die  Jugend  sich  auf  einer  Bahn  zu  be¬ 
wegen  glaubt,  an  deren  Ziel  Phantasiegebilde  stehen,  ebenso 


verlockend  als  unwirklich.  Darum  sind  wir  alle  Enttäuschte 
Die  übermäßige  Betonung  des  Pflichtbewußtseins  bringt  es 
mit  sich,  daß  die  heutige  Menschheit  so  ziemlich  in  zwei 
Teile  geteilt  werden  kann.  Einerseits  in  die  Leichtlebigen 
denen  es  gelungen  ist,  die  guten  Lehren  ganz  zu  vergessen; 
sie  sind  in  der  Minderzahl  und  leben  nur  dem  Vergnügen 
und  anderseits  in  Menschen,  die  von  Genuß  nichts  Avissen 
und  in  ihrem  Berufe  ganz  auf  gehen  und  dazu  gehören  die 
Aerzte.  Ich  meine,  in  der  Erziehung  müßte  man  beginnen, 
dem  Menschen  zu  sagen :  Du  sollst  arbeiten,  denn  die  Ge¬ 
sellschaft  braucht  Arbeiter.  Du  hast  aber  auch  Pflichten 
gegen  dich  selbst:  nicht  nur  du  darfst  dich  freuen,  sondern 
du  sollst,  wenn  du  ein  ganzer  Mensch  sein  willst,  nach  der 
Arbeit  die  Lust  suchen.  Die  Arbeit  ist  leider  keine. 

Wie  haben  wir  bei  der  Therapie  vorzugehen?  Zu¬ 
nächst  einmal  besteht  eine  Unluist,  die  in  der  Krankheit 
selbst  Avürzelt.  Da  ist  unsere  allererste  und  wichtigste  Auf¬ 
gabe  die  Beseitigung  der  hypochondrischen  Gedankengänge 
des  Patienten.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  jeder  dau 
ernde  Kummer  oder  jede  dauernde  Sorge  für  Herz  und 
Niere  gefährlich  sind.  Ueber  derartige  Erfahrungen  verfügt 
jeder  von  Ihnen  gewiß  in  großer  Zahl.  Es  ist  ganz  selbst¬ 
verständlich,  daß,  wenn  ein  Mensch  große  Sorgen  um  sich 
selbst,  um  sein  eigenes  HePz  hat,  dieser  Kummer  min¬ 
destens  ebenso  intensiv  wirken  müsse  wie  jeder  andere, 
also  die  Sorge,  der  Verdacht,  daß  man  an  Arteriosklerose 
leide,  daß  man  eine  gefährliche  Krankheit  in  sich  trage, 
welche  die  ganze  Zukunft  in  Frage  stellt,  diese  Angst  vor 
der  Krankheit  ist  es,  welche  die  Krankheit  erzeugt  oder 
befördert. 

Es  ist  daher  wichtig,  dem  Patienten,  wenn  man  ihm, 
AAmgegen  ich  im  Prinzipe  nichts  einzuwenden  habe,  über 
die  Krankheit,  an  der  er  leidet,  aufklären  will,  dies  in  sehe 
nender  Weise  zu  tun.  Vor  allem  das  Wort ,, Gefäß verkalkmig“ 
streiche  man  aus  dem  Wörterbuch  des  Arztes,  denn  (der 
Patient  stellt  sich  unter  einer  „verkalkten“  Arterie  ein  starres, 
brüchiges  Rohr  vor.  So  zeigte  mir  einmal  ein  Patient  einen 
Hühnerknochen,  den  er  in  seinem  Nachttopf  gefunden  hatte 
und  den  er  für  das  abgegangene  Stück  einer  verkalkten  Ar¬ 
terie  hielt.  Von  Verkalkung  der  Arterien  braucht  man  also 
nicht  zu  sprechen.  Weiß  der  Patient  schon,  daß  seine  Ge¬ 
fäße  nicht  in  Ordnung  sind,  dann  muß  man  ihn  darüber 
aufklären,  daß  der  Tod  durch  Herzschlag  bei  Arteriosklerose 
relativ  selten  ist,  daß  ein  Mensch!  mit.  nicht  ganz  normalen 
Gefäßen  sich  durch  Jahrzehnte  Wohlbefinden  kann  usw. 
Man  trachte  eben,  die  hypochondrischen  Gedankengänge  des 
Patienten  zu  hemmen. 

Menschen,  die  Avir  im  Verdacht  haben,  daß  sie  zu 
angestrengt  arbeiten,  daß  sie  an  sich:  nicht  denken,  müssen 
wir  versuchen,  zu  einer  heiteren  Lebensauffassung  zu 
bekehren.  Das  gelingt  viel  leichter  als  man  meint.  Der 
Patient,  der  zu  uns  kommt,  Aveil  ihn  die  Sorge  um  sein 
Herz  drückt,  ist  für  unsere  Beeinflussungen  empfänglicher 
als  ein  gesunder  Mensch.  Wenn  wir  ihm  bloß  begreiflich 
machen,  daß  Arbeit  und  Erholung  abwechseln  müssen,  geben 
Avir  ihm  ein  Prinzip  in  die  Hand,  das  er  selbst  leicht  zum 
System  auszubauen  imstande  ist. 

Schließlich  kann  der  Gesichtspunkt  der  Psychothera¬ 
pie  bei  der  Arteriosklerose  uns  bei  der  Verwendung  anderer 
Heilmethoden  förderlich  sein.  Jeder  von  Ihnen  kennt  ge\Ariß 
Fälle,  aato  man  dem  Patienten  die  bekannten  Diätvorschriften 
gegeben  und  ihn  dadurch  einfach  ruiniert  hat.  Auf  Grund 
A-on  Theorien  versetzt  man  den  Patienten  in  eine  Situation, 
die  für  ihn  unter  Umständen  verderblich  werden  kann. 
Man  verbietet  ihm  zum  Beispiel  gänzlich  das  schwarze 
fleisch;  er  soll  eine  rein  vegetabilische  Kost  genießen  und 
dergleichen.  Der  Patient,  meist  ein  älterer  Mensch,  kommt 
dadurch  in  einen  Zustand  der  Unzufriedenheit,  des  Lebens¬ 
überdrusses,  magert  ah:  kurz  und  gut  einem  Prinzip  zu¬ 
liebe  ruiniert  man  den  ganzen  Organismus,  um  angeblich 
einen  Teil  dieses  Organismus  zu  retten.  Ich  stehe  nicht 
an,  den  Salz  aufzustellen:  Was  dem  Arteriosklerotiker  un¬ 
angenehm  ist,  das  kann  ihm  nicht  nützlich  sein.  Man.  muß 


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vorsichtig  Vorgehen,  sich  nach  den  Neigungen  und  Lebens- 
gewohnheiten  des  Kranken  erkundigen  und  das  neue  Regime 
so  einrichten,  daß  es  trotz  der  unvermeidlichen  Einschrän¬ 
kungen  ein  behagliches  Dasein  gestattet. 

Noch  weiter  geht  man  mit  dem  Verbot  von  Genuß- 
miiteln.  Es  ist  allgemein  üblich,  einem  Menschen,  den  man 
dir  arteriosklerotisch  hält,  sofort  das  Rauchen  zu  verbieten; 
ein  Glas  Wein  oder  ein  Glas  Bier  isl  etwas,  das  überhaupt 
nicht  erwähnt  werden  darf.  Bedenken  Sie,  was  das  für 
einen  älteren  Menschen  bedeutet,  wenn  man  ihm  die  wenigen 
Genüsse,  die  er  noch  hat,  entzieht.  Man  geht  bei  anderen 
Giften,  wenn  man  die  Genußmittel  schon  als  Gifte  betrachten 
will,  vorsichtiger  vor:  Morphinisten,  Arsenikessern  entziehen 
wir  nicht  sofort  die  betreffenden  Gifte.  Ich  meine,  daß  es 
selbst  dann,  wenn  es  festgestellt  wäre,  daß,  was  ich  nicht 
glaube,  Nikotin  die  gewöhnliche  Ursache  der  Arteriosklerose 
ist,  nicht  zweckmäßig  wäre,  dem  Patienten  plötzlich  das 
zu  nehmen,  woran  er  so  sehr  'gewöhnt  ist. 

Ebenso  ist  es  mit  dem  Alkohol.  Wir  verschreiben  dem 
Patienten  alle  möglichen  Gifte,  um  ihm  eine  gute  Nacht 
zu  verschaffen  und  er  berichtet  uns :  Wenn  ich  vor  dem 
Schlafengehen  ein  Glas  Bier  trinke,  dann  schlafe  ich  wie  ein 
Gott.  Dann  darf  man  ihm  wohl  sein  Glas  Bier  ruhig  ge¬ 
statten.  Eine  ältere  Frau  erzählt  uns,  ihre  Hauptnahrung 
sei  Kaffee.  Den  verbietet  man  ihr  aber,  weil  sie  herzkrank 
ist.  Koffein  hingegen  verschreibt  man  ihr  in  viel  größerer 
Menge  als  in  ihrem  Kaffee,  der  doch  reichlich  mit  Milch 
verdünnt  ist,  enthalten  sein  kann.  Ich  glaube,  vom  Stand¬ 
punkte  der  Psychotherapie  sagen  zu  dürfen:  Wir  sollen 
dem  Patienten  durch  die  ungerechtfertigte  Entziehung  von 
Genußmitteln  nicht  das  Leben  verbittern,  weil  die  dadurch 
bewirkte  Unlust  schädlicher  ist  als  im  unwahrscheinlichsten 
Falle  die  Genußmittel  selbst. 

Denselben  Gesichtspunkt  müssen  wir  auch  in  die  An¬ 
wendung  der  physikalischen  Methoden  hineintragen.  Auch 
hier  ist.es  sicher  nicht  gut,  sich  von  Theorien  leiten  zu  lassen. 
Man  suche  nichts  anderes  durch  die  Anwendung  von  phy¬ 
sikalischen  Methoden  zu  erreichen,  als  den  Patienten  an¬ 
genehme  Gefühle,  ein  allgemeines  Wohlbehagen  zu  ver¬ 
schaffen.  Man  sehe  zu,  welche  Prozeduren  dem  Patienten 
angenehm  sind,  ohne  jede  theoretische  Erwägung.  Wenn 
einem  Patienten  zum  Beispiel  am  Morgen  eine  spirituöse 
Abreibung  sehr  angenehm  ist,  so  gebe  man  sie  ihm.  Ob 
jetzt  der  Blutdruck  steigt  oder  herabsinkt,  ist  gleichgültig, 
fürchtet  ein  Patient  kalte  Prozeduren,  dann  verschone  man 
ihn  mit  diesen  usw. 

Meine  Herren!  Ich  bin  am  Schlüsse  dessen  angelangt, 
was  ich  Ihnen  sagen  wollte.  Ich  möchte  nur  mit  einem 
Salze,  der  zugleich  eine  Mahnung  an  Sie  enthält,  schließen: 
W  enn  wir  Aerzte  die  Arteriosklerose  im  großen  und  ganzen 
bekämpfen  sollen,  dann  müssen  wir  die  Erzieher  und  Seel¬ 
sorger  unserer  Patienten  sein;  um  aber  die  Eignung  hiefür 
m  gewinnen,  müssen  wir  trachten,  unsere  eigene  psychische 
Situation  auf  ein  höheres  Niveau  zu  bringen. 


ius  der  Abteilung  für  innere  Krankheiten  (I B)  des 
St.  Lazarus  Landesspitales  zu  Krakau. 

Ueber  paroxysmale  Hämoglobinurie. 

Von  Primararzt  Dr.  Anton  Krokiewicz. 

Obwohl  die  paroxysmale  Hämoglobinurie  in  Deutsch¬ 
land  bereits  im  vorigen  Jahrhundert  im  Jahre  1854  von 
Dreß ler  und  bald  darauf  in  England  von  Harley,  Pavy, 
•  ull  klinisch  (beobachtet  wurde,  blieb  trotzdem  die  Patho- 
■tenese  dieses  Krankheitsprozesses  noch  immer  unklar.  Die 
i  ntersuchungen  einer  großen  Anzahl  hervorragender  Klini¬ 
ker  und  Pathologen  wie-  Rosenbach,  Lichtheim,  Ehr- 
Dch,  Boas,  (Popper,  Pel,  Langstein,  Köhler,  Ober- 
nejer,  M  es  net,  Bristove  und  Copeman,  Ponfick, 
Dapper,  Chvostek,  Grawitz,  vermochten  diese  Frage 
tuchl  zu  lösen;  erst  durch  die  neuesten  Arbeiten  von 
Donath-Landsteiner,  E.  Meyer  und  E.  Emmerich, 


Rößle,  Benjamin,  Moro  und  Noda  und  besonders 
H  ymans  van  dem  Bergh  wurde  mehr  Licht  auf  dieses 
fehlet  geworfen.  Die  Ursache,  warum  die  Entstehungs¬ 
weise  der  paroxysmalen  Hämoglobinurie  bis  jetzt  nicht 
näher  erkannt  worden  ist,  liegt  ganz  gewiß  unter  anderem 
auch  in  leinem  relativ  sehr  seltenen  Auftreten  dieser  Er¬ 
krankung.  Deswegen  entschloß  ich  mich,  als  mir  dank  der 
Liebenswürdigkeit  des  Herrn  Hofrates  Prof.  Dr.  Wiclier- 
kiewicz  Gelegenheit  geboten  wurde,  einen  Kranken  mit 
paroxysmaler  Hämoglobinurie  einer  genauen  Beobachtung 
unterziehen  zu  können,  die  näheren  klinischen  Ergebnisse 
zu  veröffentlichen. 

M.  Gr.,  Reisender  aus  München,  48  Jahre  alt,  kam  am 
3.  November  1910  in  das  Spital.  Der  Angabe  nach  soll  er  früher 
stets  gesund  gewesen  sein;  erst  vor  sieben  Jahren  soll  er  wäh¬ 
rend  einer  längeren  Reise  im  Winter  zum  erstenmal  unter  Blut 
harnen  erkrankt  sein  und  seit  dieser  Zeit  stellte  sich  dasselbe 
anfallsweise  jeweilig  nach  einer  stärkeren  Erkältung  und  zwar 
im  Frühjahre,  Herbst  und  W  inter  öfters  ein.  Eine  größere  phy¬ 
sische  Arbeit,  wie  anstrengendes  Gehen,  Reiten,  Radfahren  und 
psychische  Aufregungen  verursachen  das  Blutharnen  nicht,  wenn 
tier  Kranke  sich  dabei  nicht  erkältet.  Das  ßlutharnen  tritt  in 
seltenen  Fällen  auch  ohne  anderweitige  bedeutendere  Störungen 
des  Befindens  auf;  gewöhnlich  werden  jedoch  zuerst  allgemeines 
Eiiiiüdimgsgeiühl  und  Muskelschniierzien,  Unruhe,  Kopfschmerz  und 
dann  zirka  20  Minuten  währender  Schüttelfrost  und  Fieber  (38°  C 
und  höher)  und  nach  ungefähr  einer  halben  bis  Dreiviertelstunde 
blutiger,  burgunderroter  Ham  wahrgenommen.  Der  Harn  klärt 
sich  nach  zwei  bis  fünf  Stunden  vollkommen  auf  und  wird  wein¬ 
gelb.  Der  Kranke  stand  in  ärztlicher  Behandlung  in  verschie¬ 
denen  Kliniken  und  Spitälern,  wie  in  München,  Würzburg,  Frei¬ 
burg  i.  B.,  Straßburg,  Bonn,  Berlin  (Charite,  II.  Klinik),  Köln, 
Greifswald,  Erlangen  und  die  betreffenden  Atteste  bestätigen  aus¬ 
drücklich,  daß  bei  ihm  überall  paroxysmale  Hämoglobinurie  nur 
nach  einer  Erkältung  klinisch  beobachtet  wurde.  Besonders  die 
betreffenden  Bestätigungen  von  Dr.  Meyer  aus  der  Klinik  in 
München,  wo  der  Kranke  vom  9.  Januar  bis  18.  Mai  1909  in 
Behandlung  stand  und  aus  der  Klinik  in  Greifswald  (vom  29.  Sep¬ 
tember  1909)  verdienen  Erwähnung.  Excessus  in  ßaccho  ac  Venere 
negantur.  .  Syphilis  soll  er  nicht  überstanden  haben;  nur  soll 
er  vor  vier  Jahren  an  epidemischer  Hodenentzündung  krank 
gewesen  sein,  während  seine  Kinder  an  Mumps  litten.  Hereditäre 
Belastung  in  jeder  Beziehung  nicht  nachweisbar.  Der  Vater  starb 
im  64.  Lebensjahre  an  Herzschlag,  die  Mutter  verschied  in  hohem 
Alter  a{n  Altersschwäche;  zwei  Brüder  und  fünf  Schwestern  im 
Alter  von  38  bis  51  Jahren  leben  und  sind  vollständig  gesund. 

Der  am  4.  November  aufgenommene  Status  praesens 
eigab:  Individuum  von  hoher  Statur,  ziemlich  gut  genährt, 
von  kräftigem  Körperbau,  Gesichtsfarbe  ein  wenig  bräunlich, 
anämisch,  an  der  Gesichtshaut  leichte,  vasomotorische  Erregbarkeit 
wahrnehmbar.  Die  Nackendrüsen  nicht  vergrößert.  Das  Muskel- 
und  Knochensystem  normal  entwickelt.  Körpertemperatur  36-8°  C. 

Brustkorb  normal  gewölbt.  Perkussionsschall  überall  hell. 
Die  untere  Grenze  der  rechten  Lunge  liegt  in  der  Mamillarlinie 
am  unteren  Rande  der  sechsten,  die  der  linken  am  unteren 
Rande  der  vierten  Rippe;  rückwärts1  beiderseits  in  der  para¬ 
vertebralen  Linie  am  unteren  Rand  der  elften  Rippe;  verschiebbar. 
Inspirium  überall  vesikulär.  Exspirium  verschärft,  mit  spärlichem 
Pfeifen  und  Giemen.  Atemzahl  18.  Im  Kehlkopf  an  der  hinteren 
Wand  eine  unbedeutende  Verdickung  vorhanden,  welche  auf  der 
laryngologischen  Klinik  als  ,, Pachydermia  laryngis“  diagnostiziert 
wurde.  Herzdimensionen  normal.  Herzspitzenstoß  weder  sicht¬ 
bar,  noch  fühlbar.  Herztöne  rein;  Pulsfrequenz  80;  Puls  normal 
gespannt,  zeitweise  aussetzend. 

Zunge  feucht,  rein,  rötlich.  Bauch  normal  gewölbt,  in  den 
Gedärmen  mäßige  Mengen  Kot  und  Gase.  Stuhlentleerung  normal. 

Leber  ein  wenig  vergrößert;  Milz  angesch wollen,  mit  ver¬ 
dicktem  derben  unteren  Rande,  reicht  von  der  sechsten  linken 
Rippe  bis  zum  Rippenbogen  und  geht  über  die  linke  vordere 
Axillarlinie  nach  vorne. 

Das  Nervensystem  weist  eine  größere  vasomotorische  Er¬ 
regbarkeit  auf.  Die  Haut  des  Gesichtes  wird  bald  rötlich,  bald 
blaß.  Die  Pupillen  ziemlich  eng,  gleichmäßig  erweitert,  reagieren 
etwas  träge  auf  Lichteinfall  und  Konvergenz.  Das  Sehvermögen, 
die  Weite  des  Gesichtsfeldes  und  der  Augengrund  verhalten  sich 
nach  dem  Ergebnisse  der  in  der  Augenklinik  vorgenommenen 
Untersuchung  ganz  normal.  Patellarsehnenreflexe  gesteigert: 
Schlaf  und  Appetit  gut. 

Urinlassen  normal.  Urin  weingelb,  rein,  sauer.  Spezifisches 
Gewicht  1-021:  enthält  weder  Eiweiß  noch  Zucker  Während 


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des  dreitägigen  Aufenthaltes  im  Spitale  (vom  4.  bis  6.  November) 
fühlt  sich  der  Kranke  ganz  wohl.  Körpertemperatur  36-3  bis 
30-8°  C;  Puls  normal,  ca.  80;  Urin  normal. 

7.  November:  Nach  einer  gut  verschlafenen  Nacht  fühlt 
sich  der  Kranke  ganz  munter.  Körpertemperatur  früh  36-3"  C. 
Puls  normal  gespannt,  ein  wenig  aussetzend,  80.  Urin  ganz 
normal,  sauer,  weingelb,  eiweißfrei.  Während  der  Spitalsvisite 
um  Vs9  Uhr  früh  wurde  dem  Kranken  ein  zehn  Minuten  langes 
eiskaltes  Fußbad  verabreicht.  Drei  Viertelstunden  danach  be¬ 
ginnt  der  Kranke  im  Gesichte  zu  schwitzen,  wird  von  Unruhe, 
Ermattung  in  den  Waden  und  den  Muskeln  des  Oberkörpers  und 
Kopfweh  befallen;  dann  traten  ein  zirka  20  Minuten  währender 
starker  Schüttelfrost  und  in  der  Folge  38°  Fieber  ein.  Um  Vs  10  Uhr 
(d.  h.  in  einer  Stunde  nach  dem  eiskalten  Fußbade)  ließ  der 
Kranke  zum  erstenmal  200  cm3  dunkelroten,  fast  schwarzen  Urin, 
dann  um  2  Uhr  nachmittags  330  cm3  dunkelroten,  jedoch  ein 
wenig  helleren,  um  3  Uhr  nachmittags  115  cm  hellroten,  fleisch- 
wasserfarbenen,  um  4  Uhr.  nachmittags  115  cm3  weingelben,  nor¬ 
malen  und '  eiweißfreien  Harn.  Im  allgemeinen  währte  der  An¬ 
fall  von  Blutharnen,  den  Schüttelfrost  inbegriffen,  zirka  sechs 
Stunden  und  während  dieser  Zeit  entleerte  der  Kranke  645  cm 
blutigen  Harnes. 

Harnanalyse  vor  dem  Anfalle  und  während  desselben,  im 
hiesigen  chemisch-pathologischen  Institute  von  Professor  Doktor 
Marchlewski  ausgeführt,  ergab: 


a)  vor  dem  Anfalle: 


Urin:  Farbe:  weingelb 
Reaktion  :  sauer 
S.  G. :  1'018 
Sediment :  nebelig 
Urochrom:  etwas  vermindert 
Indoxyl :  schwach  vermehrt 
Harnstoff 
Harnsäure 
Chloride 
Erdphosphate 
Alkaliphosphate:  etwas  ver¬ 
mehrt 
Eiweiß  :  0 


normal 


Zucker :  0 

Sediment :  vereinzelte  Epithel¬ 
zellen  der  Harnblase,  viel 
Schimmelpilze. 


ß)  während  des  Anfalles 
(erste  Portion) : 

Urin:  schwarzrot 
Reaktion :  sauer 
S.  G.:  1'019 

Sediment:  stark  vermehrt 
Urochrom  :  stark  vermehrt 
Indoxyl :  schwach  vermehrt 
Harnstoff 
Harnsäure 
Chloride 
Erdphosphate 
Alkaliphosphate :  etwas  ver¬ 
mehrt 

Eiweiß  :  0’6% ;  Hämoglobin  in 
sehr  großen  Mengen 
Zucker :  0 

Sediment :  reichlicher  Hämo¬ 
globinniederschlag  und  sehr 
spärliche  körnige  Zylinder. 


I  normal 


Die  Körpertemperatur  stieg  im  Anfalle  höchstens  bis  auf 
38-5°  C  um  12  Uhr  mittagls  und  sank  dann  langsam  bis  zur 
Norm.  Um  4  U!lu  nachmittags  war  36-6°  C.  Der  Puls  wies  keine 
bemerkenswerten  Abnormitäten  auf.  Tagsüber  und  abends  war 
der  Kranke  sehr  müde. 

8.  November:  Der  Kranke  ein  wenig  geschwächt;  Schlaf 
gut;  Körpertemperatur  früh  36-7°,  abends  36-8°;  Appetit  gut, 
Urin  normal. 

9.  November:  Subjektives  Befinden  ganz  gut,  Körpertem¬ 
peratur  36-6°  bis  36-8°,  Urin  normal. 

10.  November:  Status  idem.  Körpertemperatur  36-4°  bis 
36-5°.  Urin  normal.  Blutbefund  (Dt.  Kramar zynski)  ergab: 


Hämoglobingehalt  (Sahli)  .  80% 

•  S.  G .  1062 

Erythrozytenzahl .  5,700.000 

Leukozytenzahl .  16.000 

Färbungsindex .  07 


Frisches  Präparat:  Farbe  der  Erythrozyten  etwas  blässer, 
die  Erythrozyten  ordnen  sich  nicht  in  Geldrollen,  zeigen  in  der 
Mehrzahl  normale  Form,  nur  hie  und  da  über  die  1  läclie  ge¬ 
bogen. 

Gefärbtes  Präparat : 


Gefärbtes  Präparat :  Triazid 
(schwach) ;  Jänner  (normal) 


Lymphozyten .  15°/o 

Mehrkörnige  Neutrophile  .  .  69% 

„  Basophile  .  .  .  1% 

Lymphoide  Markzellen  .  .  .  3'5% 

Uebergangsformen  ....  11% 

Myelozyten  (Knochenmark¬ 
zellen)  .  0'5% 


Normoblasten,  einzelne  Polychromatophile. 


11.  November:  Nach  einer  gut  zugebrachten  Nacht  fühlt 
sich  der  Kranke  ganz  wohl.  Körpertemperatur  früh  36-4°,  Puls  88, 
zeitweise  intermittierend.  Urin  normal.  Um  9  Uhr,  während  der 
Frühvisite,  wurde  dem  Kranken  zum  zweiten  Male  ein  zehn  Mi¬ 
nuten  langes  eiskaltes  Fußbad  verabreicht.  In  einer  Stunde  danach, 
d.  h.  um  10  Uhr  vormittags,  entleerte  der  Kranke  70  cm3  dunkel¬ 
blutigen  Harn  (jedoch  etwas  helleren,  als  beim  früheren  Ver¬ 
suche)  und  zehn  Minuten  danach  traten  Schweiß  im  Gesichte, 
allgemeine  Mattigkeit,  zirka  20  Minuten  währender  Schüttelfrost 
und  38-5°  hohes  Fieber  auf.  Der  Kranke  entleerte  im  ganzen 
380  cm3  blutigen  Harn  u.  zw.  um 

10  Uhr  40  Min.  vormittags  20  cm3  dunkelroten  Harn 

11  „  28  „  „  30  cm3 

12  ,,  —  ,,  mittags  110  cm3  „  ,, 

1  ,,  —  ,,  nachmittags  50  cm3  „  „ 

3  „  —  „  ,-,  170  cm3  orangengelben  Harn. 

Der  Anfall  wurde  kupiert  durch  Applizierung  von  warmen 
Flaschen  auf  die  Füße,  um  14 1  Uhr  nachmittags.  Körpertemperatur 
früh  vor  dem  Anfalle  36-3°,  Pulsfrequenz  80;  um  1411  Uhr  vor¬ 
mittags,  d.  h.  in  einer  Viertelstunde  nach  dem  Schüttelfröste,  38°, 
(Puls  90);  um  11  Uhr  55  Min.  39-5°  (Puls  90);  um  2  Uhr  nach¬ 
mittags  37-5°;  um  3  Uhr  nachmittags  37-7°;  um  5  Uhr  nach¬ 
mittags  37°.  Zu  Ende  des  Anfalles,  d.  i.  um  3  Uhr,  traten; 
starke  Schweiße  ein.  Im  allgemeinen  war  der  Anfall  kürzer  und 
währte  kaum  über  vier  .'Stunden,  obwohl  schnell,  steigendes  Heber 
und  Harnbluten  vor  dem  Schüttelfröste  anfangs  auf  dessen  starke 
Intensität  hindeuteten.  Blutdruck  (nach  Riva-Rocci)  betrug 
vor  dem  Anfalle  125  bis  130  mm  Hg,  auf  dessen  Höhe,  d.  i.  bei 
39-5°  Fieber,  135  bis  140  mm  Hg  und  nach  dem  Anfalle,  um 
8  Uhr  abends,  115  bis  120  mm  Hg. 

Blutbefund  (Dr.  Kramarzynski)  auf  der  Höhe  des  An 
falles,  ergab : 


Hämoglobingehalt  (Sahli)  .  80% 

S.  G .  1058 

Erythrozytenzahl .  4,600.000 

Leukozytenzahl .  7.000 

Färbungsindex  .  .  .  .  .  .  0'8 

Frisches  Präparat  wie  früher 
Gefärbtes  Präparat:  Triazid 
(schwach);  Jänner  (normal) 

Lymphozyten .  9% 

Polynukleäre  Neutrophile  .  .  84% 

„  Eosinophile  .  .  2% 

„  Basophile  .  .  .  0'5 % 

Neutrophile  Myelozyten  .  .  3% 

Lymphoide  Markzellen  .  .  .  1% 

Uebergangsformen  ....  0'5/o 


Zahlreiche  Zerfallsleukozyten,  vereinzelte  Polychromatophile 
ein  Normoblast,  einige  ausgelaugte  Blutschatten.  Die  Untersuchung 
des  Blutkoagulums  (das  Blut  durch  Vemenpunktion  aus  der  Vena 
mediana),  von  Prof.  Dr.  March  lewski  vorgenommen,  ergab 
Zur  Verfügung  gestellte  Blutquantität  8-007  g.  Das  koaguliert: 
Blut  wies  im  allgemeinen  normale  Beschaffenheit  auf;  es  enthiel 
reines  Oxyhämoglobin  ohne  irgendeine  Beimischung  von  anderen 
Blutfarbstoffen,  wie  Methämoglobin  usw.  Die  Oxyhämoglobin 
menge,  durch  spektrokolorometrische  Methode  geprüft,  betrag 
124-8  auf  1000  Gewichtsteile  des  Blutes  (unter  normalen  Verhält, 
nissen  130  bis  150°/oo). 

12.  November:  Körpertemperatur  früh  36-3°.  Urin  normal 
Das  allgemeine  Befinden  des  Kranken  nach  gut  verschlafene 
Nacht  ganz  befriedigend.  Nach  einem  anderthalbstündigei 
Spaziergange  bei  kühlem  Wetter  und  ungenügender  Bekleidun: 
zog  er  sich  eine  Erkältung  zu.  Bald  darauf,  gegen  Mittag,  wurdt 
er  von  einem  Ermüdungs-  und  Schweregefühl  in  den  untere) 
Extremitäten  und  einem  kurz  andauernden  Frösteln  befallen 
Urin,  um  2  Uhr  nachmittags  in  der  Menge  von  220  cm3  gelassen 
war  trübe,  dunkelbraunrot  und  enthielt  einen  reichlichen  Niedei 
schlag;  Körpertemperatur  38-2°;  um  3  Uhr  nachmittags  Lr» 
in  der  Menge  von  70  cm3,  rein,  bräunlichrot,  mit  geringem  Sem 
ment,  Körpertemperatur  38-2°;  um!  6  Uhr  nachmittags1:  der  in  de 
Menge  von  75  cm3  entleerte  Urin  rein,  rötlich,  ohne  Sedimen 
Körpertemperatur  37°.  Abends  fühlt  sich  der  Kranke  ganz  wob 
Schlaf  und  Appetit  ausgezeichnet.  Der  Anfall,  durch  leichte  Er 
kältung  verursacht  (die  Außentemperatur  betrug  +8°  R),  hat  < 
eine  geringe  Intensität  und  währte  im  ganzen  zirka  sechs  Stunden 


Nr.  14 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


489 


Die  Harnanalyse  (Prof.  Dr.  Marchlewski)  ergab: 


a)  vor  dem  Anfalle  (nach 
der  Erkältung) : 

Farbe:  weingelb 
Reaktion  :  sauer 
S.  G. :  P030 

Sediment:  stark  vermehrt 
Urochrom  \ 

Indoxyl  I 
Harnstoff  I 
Harnsäure  J 

Chloride  :  normal 
Erdphosphate 
Alkaliphosphate 

Eiweiß:  004°/o 
Spuren  von  Blutfarbstoff 


normal 


vermehrt 


vermehrt 


Sediment :  reichliche  Kristalle 
von  oxalsaurem  Kalk,  ziem¬ 
lich  reichliche  phosphorsaure 
Kalkkristalle,  vereinzeltes 
Plattenepithel,  zahlreiche 
Bakterien. 


ß)  im  A  n  f  a  1 1  e  : 

Farbe:  rot-bräunlich 
Reaktion  :  sauer 
S.  G. :  1’029 

Sediment :  stark  vermehrt 
Urochrom  :  stark  vermehrt 
Indoxyl :  schwach  vermehrt 
Harnstoff  \  , 

Harnsäure  /  vermehrt 
Chloride :  normal 
Erdphosphate :  vermindert 
Alkaliphosphate :  vermehrt 
Eiweiß  :  zirka  0'07% 
Blutfarbstoff  in  bedeutender 
Menge 

Sediment:  viel  Hämoglobin, 
zahlreiche  hyaline  Zylinder. 


13.  November:  Körpertemperatur  36-2  bis  36-6°;  Puls  88, 
Urin  weingelb,  rein,  ohne  Eiweiß. 

14.  November  :  Stat.  id.  Blutbefund  (Dr.  Kram  arzy  nski) 

wie  folgt : 


Hämoglobingehalt  (Sahli) 

80% 

Zahl  der  Erythrozyten  .  .  . 

4,500.000 

Zahl  der  Leukozyten  .  .  . 

7200 

Frisches  Präparat:  Triazid 

(schwach) ;  Jänner  (normal) 

Lymphozyten . 

25% 

Polynukleäre  Neutrophile  .  . 

60% 

,,  Eosinophile  .  . 

4% 

,,  Basophile  .  . 

1% 

Uebergangsformen  .... 

8% 

Lymphoide  Markzellen  .  .  . 

2% 

Zahlreiche  Bizzozero-Blutplättchen,  zahlreiche  Zerfallsleuko¬ 
zyten,  spärliche  Polychromatophile.  Blutserum  in  anfallsfreiem 
Zeitintervall  (Prof.  Dr.  M  a  r  c  h  1  e  w  s  k  i)  normal.  Der  Farbs tof f 
gehörte  zu  der  Liprochromgruppe  und  unter  den  Eiweißstoffen 
wurden  sowohl  Albumin,  wie  auch  Globulin  festgestellt. 

15.  November:  Körpertemperatur  36-4  bis  36-5°,  Appetit 
gut.  Zunge  feucht,  rein,  Puls  72,  normal  beschaffen.  Blutdruck 
(nach  Riva-Rocci)  125  mm  Hg.  Beide  Pupillen  eng,  gleich 
weit,  reagieren  ziemlich  träge  auf  Lichteinfall  und  Konvergenz. 
Urin  weingelb,  rein,  sauer;  spezifisches  Gewicht  1-021,  Eiweiß 
nicht  vorhanden.  Das  allgemeine  Befinden  gut.  Die  Wasser¬ 
mann  sehe  Reaktion  deutlich  positiv.  (Die  Untersuchung  wurde 
gleichzeitig  zu  wiederholten  Malen  vom  Primararzt  Doktor 
Borzecki  und  Assistenten  am  Hygienischen  Universitätsinstitute 
Dr.  Eisenberg  ausgeführt. 

16.  November  bis  24.  November:  Körpertemperatur  früh 
36°  und  abends  36-8°;  Pulsfrequenz  zirka  80,  Puls  gut  gespannt, 
zeitweise  aussetzend.  Blutdruck  (nach  Riva-Rocci)  120  bis 
125  mm  Hg;  Urin  stets  normal,  enthält  kein  Eiweiß.  Allgemeiner 

Zustand  sehr  günstig. 

17.  November:  Körpertemperatur  früh  36-3,  gegen  Abend 
36-8°;  Urin  normal.  Behufs  venöser  Stauung  wurde  dem  Kranken 
ein  Druckverband  auf  20  Minuten  am  rechten  Unterschenkel 
angelegt.  Gleich  vor  dem  Abnehmen  des  Verbandes  Pulsfrequenz 
100,  Puls  normal  beschaffen  und  gleich  nach  dem  Abbinden 
war  der  Puls  deutlich  oft  intermittierend  und  seine  Frequenz 
betrug  80.  Urin  ganz  normal.  Dem  Kranken  wurde  0-0005  Atro- 
pinum  sulfuricum  in  wässeriger  Lösung  subkutan  appliziert. 

26.  November:  Status  idem.  Hypodermatische  Injektion  von 
0-0005  Atropinum  sulfuricum. 

27.  November:  Der  Kranke  fühlt  sich  ganz  wohl.  Körper¬ 
temperatur  früh  36-2°,  Urin  normal.  Nach  subkutaner  Verab¬ 
reichung  von  0-001  Atropinum  sulfuricum  in  wässeriger  Lösung 
wurde  dem  Kranken  um  V29  Uhr  während  der  Morgenvisite  ein 
eiskaltes  Fußbad,  20  Minuten  lang,  appliziert.  Der  Kranke  fühlte 
sich  vollkommen  wohl  und  erst  um  1  Uhr  nachmittags,  das 
ist  nach  4V2  Stunden  nach  dem  Fußbade,  ließ  er  zum  ersten¬ 
mal  70  cm3  blutigen,  dunkelroten  Ham;  der  letzte  blutige  Harn 
um  4  Uhr  nachmittags.  Die  Gesamtmenge  des  blutigen  Harnes 
betrug  340  cm3.  Um  5  Uhr  nachmittags;  verhielt  sich  der  Urin 
vollkommen  normal.  Abends  unbedeutende  Schweiße.  Kein  Fieber 


und  kein  Schüttelfrost;  deutliche  Hemmung  des  Anfalls  in 
jeder  Beziehung. 

28.  November:  Das  Allgemeinbefinden  recht  gut,  Urin  normal. 

29.  November:  Körpertemperatur  früh  36-8°;  Puls  72,  zeit¬ 
weise  aussetzend.  Urin  normal.  Dem  Kranken  wurde  zum  zweiten 
Male  0-001  wässerige  Lösung  Atropinum  sulfuricum  subkutan 
injiziert  und  gleich  darauf,  um  9  Uhr  20  Min.,  ein  zwölf  Mi¬ 
nuten  langes  eiskaltes  Fußbad  gegeben.  Urin  um  10  Uhr  3  Min. 
in  der  Menge  von  20  cm3  und  um  11  Uhr  in  der  Menge  von; 
200  cm3  gelassen,  zeigt  eine  bräunlichrote  Farbe;  zum  letzten 
Male  Blutharnen  um  1  Uhr  nachmittags  in  der  Menge  von 
50  cm3.  Die  Gesamtmenge  des  Blutharnes  betrug  270  cm3.  Um 
2  Uhr  nachmittags  Urin  180  cm3,  vollkommen  normal.  Der 
Anfall  von  Hämoglobinurie  währte  drei  Stunden  und 
war  weder  von  Schüttelfrost,  noch  von  Fieber  be¬ 
gleitet.  (Körpertemperatur  36-2°;  Pulsfrequenz  72  bis  90.  Puls 
aussetzend.)  Das  Blutserum,  aus  einer  Fingerbeere  gesammelt, 
enthielt  während  des  Fußbades  keinen  Blutfarbstoff;  mit  dem 
ersten  Auftreten  von  20  cm3  Blutharnes  zeigte  es  deutliche, 
ausgesprochene  Spuren  von  Oxyhämoglobin  und  um  11  Uhr 
vormittags  (die  Menge  blutigen  Harnes  betrug  200  cm3)  zeigte 
das  Blut  eine  typische  Hämoglobinurie.  Pupillen  ohne  beachtens¬ 
wertere  V  eränd  er  ungen . 

Harnanalyse  (Prof.  Dr.  Mar ch Lews ki),  wie  folgt: 


“)  I.  Portion: 

Urin  :  Farbe  dunkelblutrot 
Reaktion :  schwach  sauer 
S.  G.:  1'026 

Sediment :  stark  vermehrt 
Urochrom  :  vermehrt 
Indoxyl :  normal 
Harnstoff  \  schwach  ver- 
Harnsäure  f  mehrt 
Chloride  :  normal 
Erdphosphate  :  fast  nicht  ver¬ 
mindert 

Alkaliphosphate  :  normal 

Eiweiß  (Hämoglobin) :  0'8% 
Urin  enthält  sehr  viel  Hämo¬ 
globin.  Die  Spektralanalyse 
wies  nur  reines  Oxyhämo¬ 
globin  nach 

Sediment :  ziemlich  viel  Hämo¬ 
globin,  etwas  Schleim,  einige 
hyaline  Harnzylinder  mit 
Hämoglobinderivaten  verdeckt. 


ß)  II.  Portion: 

Urin  :  bräunlichrot 
Reaktion:  stark  sauer 
S.  G. :  1‘025 

Sediment :  stark  vermehrt 
Urochrom :  vermehrt 
Indoxyl :  etwas  vermehrt 
Harnstoff  j  schwach  ver- 
Harnsäure  /  mehrt 
Chloride :  normal 
Erdphosphate  :  normal 

Alkaliphosphate :  gering  ver¬ 
mehrt 

Eiweiß:  01%;  Blutfarbstoff  in 
bedeutender  Menge,  jedoch 
viel  weniger  wie  in  der 
I.  Portion 

Sediment :  sehr  starker  Hämo¬ 
globinniederschlag  ;  zahlreiche 
Hämoglobinzylinder. 


30.  November  bis  2.  Dezember:  Körpertemperatur  36  bis 
36-4°;  Pulsfrequenz  ca.  72,  Puls  aussetzend,  gut  gespannt.  Urin 
ganz  normal. 

3.  Dezember:  Körpertemperatur  früh  36-2°;  Pulsfrequenz 
80;  Puls  ziemlich  gut  gespannt,  intermittierend.  Harn  ohne  Ei¬ 
weiß;  normal.  Um  3/i9  Uhr,  während  der  Mogenvisite,  wurde 
dem  Kranken  0-01  Pilocarpinum  hydrochloricum  in 
wässeriger  Lösung  subkutan  injiziert  und  ein  zwölf  Minuten 
langes  eiskaltes  Fußbad  appliziert.  20  Minuten  darauf  läßt  der 
Kranke  75  cm3  rötlichgelben  Urin,  welcher  bedeutende  Mengen 
von  Blutfarbstoff  enthält  und  dann  in  einer  Stunde  35  cm3  blu¬ 
tigen  Urin ;  um  V22  Uhr  nachmittags  165  cm3  rötlichgelben  Urin 
und  um  V24  Uhr  nachmittags  170  cm3  etwas  helleren,  jedoch  Hämo¬ 
globin  und  Eiweiß  enthaltenden  Urin.  Harn  um  6  Uhr  abends 
in  der  Menge  von  190  cm3  gelassen,  vollkommen  normal  be¬ 
schaffen.  Gesamtmenge  des  blutigen  Harnes  445  cm3.  Der  An¬ 
fall  des  Blutharnens  trat  bedeutend  früher  ein,  als 
bei  den  vorigen  Versuchen  und  dauerte  längere  Zeit, 
zirka  sieben  Stunden;  der  Urin  war  heller,  rötlichgelb  (nicht 
burgunderrot)  und  enthielt  viel  Oxyhämoglobin.  Fieber  und 
Schüttelfrost  fehlten.  Körpertemperatur  hielt  an  bei  36-2°;  Puls¬ 
frequenz  schwankte  zwischen  80  bis  90  Pulsschlägen;  Puls  aus¬ 
setzend.  Die  Schweiße,  welche  gleich  nach  dem  Fußbade  auf¬ 
traten,  hatten  eine  geringere  Intensität  und  hörten  auf  mit  dem 
Entleeren  des  ersten  blutigen  Urins;  nachher  waren  sie  nicht 
mehr  zu  konstatieren.  Pupillen  ohne  Veränderungen. 

4.  Dezember  bis  5.  Dezember :  Der  Kranke  befindet  sich  ganz 
wohl;  Urin  ohne  Eiweiß,  weingelb;  Körpertemperatur  36-2°,  voller 
Puls,  80,  aussetzend. 

6.  Dezember:  Das  Allgemeinbefinden  ganz  gut;  Urin  normal. 
Nach  längerem  Spaziergange  bei  — 5°  R  und  Erkältung  bekommt 
der  Kranke  gegen  Mittag  Schüttelfrost  und  38°  C  Fieber,  läßt 


490 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  14. 


dunkelroten,  beinahe  schwarzen  Urin.  Der  Anlall  währte  zirka 
sieben  Standen  und  zeigte  mäßige  Intensität. 

7.  Dezember  bis  12.  Dezember:  Dieberloser  Zustand;  das 
Aligemeinbeiiiiüen  ganz  gut;  Urin  vollKoinmen  normal. 

Wie  zu  ersenen  ist,  sieike  unser  Krankheitsfall  ein 
typisches  l>jlu  von  iTaemogiohiriuiia  paroxysmafis  dar.  Des¬ 
wegen  richteten  wir  unser  Augenmerk  während  der  Spitals- 
beobachumg  mcht  nur  aul  den  kfiniscnen  Verlauf  a),  son¬ 
dern  auch  ,aui  das  Verhalten  des  DiuLes  ß)  und  auf  «die 
Entsteiiungsweise  der  einzelnen  Anfälle,  d.  h.  auf  die  Patho¬ 
genese  dieses  Krankheitsprozesses  T). 

u)  Während  des  fünfwöchigen  Aufenthaltes  im  Spnaie 
wurde  hei  dem  Kranken  siebenmal  paroxysmale  Hämoglo¬ 
binurie  beobachtet;  fünfmal  experimentell  hervorgeruten, 
d.  h.  durch  ein  eiskaltes  Fußbad  und  zweimal  durch  zu¬ 
fällige  Erkältung.  Die  einzelnen  Anfälle  zeigten  sich  im  | 
Zeitintervali  von  24  Stunden,  2  (zweimal),  3  (zweimal), 

4  und  15  Tagen.  Der  erste  Anfall  kam  zum  Vorschein  jj 
nach  einem  kalten  F  ußbade,  10  Minuten  lang,  nach  Stun¬ 
den  und  begann  mit  starkem,  20  Minuten  dauernden  Schüttel¬ 
frost  ;  dann  stieg  das  4  ieber  bis  38°  C  und  der  Kranke  entleerte  | 
bürg  und  erröten  Urin.  Der  volle  Anfall  währte  sechs  Stunden 
und  wies  eine  bedeutende  Intensität  auf;  die  höchste  Tem¬ 
peratur  betrug  38-5d  C.  Der  zweite  Anfall,  verursacht  durch 
ein  zehn  Minuten  langes  eiskaltes  Fußbad  (drei  Tage  nach 
dem  vorigen),  begann  nach  einer  Stunde  mit  Entleeren 
eines  dunkelroten,  beinahe  schwarzen,  blutigen  Urins;  dann 
traten  20  Minuten  anhaltender  Schüttelfrost  und  Tempe¬ 
raturanstieg  bis  39-5d  C  auf.  Der  Anfall,  welcher  anfangs 
auf  starke  fntensität  hindeuten  ließ,  wurde  durch  Erwärmen 
der  Füße  mit  warmen  Wasserflaschen  rasch  kupiert  und 
wurde  derselbe  dadurch  auf  'eine  Dauer  von  über  vier 
Stunden  eingeschränkt.  Der  dritte  Anfall  trat  spontan  auf, 
24  Stunden  nach  dem  vorhergegangenen,  infolge  einer  zu¬ 
fälligen  Erkältung  und  zeichnete  sich  durch  eine  sehr 
geringe  Intensität,  Mangel  an  Schüttelfrost  und  durch  das 
38-2°  C  hohe  Fieber  aus  und  währte  sechs  Stunden.  Nach 
45  Tagen  wurde  bei  dem  Kranken  der  vierte  Anfall  unter 
etwas  veränderten  Umständen  zustande  gebracht,  indem 
man  vorher  0-001  Atropinum  sulfuricum  in  wässeriger 
Lösung  subkutan  injizierte  und  erst  dann  ein  eiskaltes, 
20  Minuten  langes  Fußbad  applizierte.  Trotz  der  beinahe 
zweimal  so  lang  wie  bei  früheren  Versuchen  wirkenden 
Kälte  entstand  das  Blutharnen  erst  nach  Verlauf  von 
4x/2  Stunden,  wurde  nicht  von  Schüttelfrost  und  Fieber 
begleitet  und  währte  kaum  drei  Stunden.  Ueberhaupt  war 
damals  eine  ausgesprochene  Hemmung  im  Auftreten  der 
paroxysmalen  Hämoglobinurie  festzustellen,  höchstwahr¬ 
scheinlich  infolge  einer  hemmenden  Wirkung  des  Atropins 
auf  die  sekretorischen  Nerven.  Es  bestätigten  dies  weitere 
Versuche,  d.  h.  der  fünfte  und  sechste  Anfall.  Der  fünfte 
Anfall,  hervorgerufen  nach  subkutaner  Einspritzung  von 
0-001  Atropinum  sulfuricum,  durch  eiskaltes,  zwölf  Minuten 
langes  Fußbad,  war  sehr  schwach,  verlief  ohne  Schüttel¬ 
frost  und  Fieber,  manifestierte  sich  durch  Blutharnen, 
welches  in  3/r  Stunden  zustande  kam  und  zirka  drei  Stun¬ 
den  anhielt.  Dagegen  dauerte  im  sechsten  Anfalle,  nach¬ 
dem  dem  Kranken  subkutan  0-01  Filocarpinum  rnur.  zwecks 
Reizung  der  sekretorischen  Nerven  eingespritzt  und  dann 
ein  eiskaltes  Fußbad  zwölf  Minuten  lang  verabreicht  wurde, 
ungefähr  sieben  Stunden.  Der  Anfall  trat  rasch  ein,  schon 
20  Minuten  nach  dem  Fußbade  und  begann  mit  blutigem 
Urinlassen;  er  wies  im  ganzen  einen  leichten  Verlauf  auf, 
ohne  Schüttelfrost  und  F'ieber.  Der  letzte  Anfall,  welcher 
spontan  drei  Tage  später  infolge  einer  Verkühlung  wäh¬ 
rend  eines  längeren  Spazierganges  zustande  kam,  zeigte 
eine  starke  Intensität,  dauerte  ca.  sieben  Stunden  bei 
38-3°  (’  Fieber  und  begann  mit  Schüttelfrost.  In  allen  An¬ 
fällen  von  paroxysmaler  Hämoglobinurie  konnte  man  bei 
unserem  Kranken  als  unmittelbare  Ursache  immer  nur 
die  Einwirkung  einer  sehr  niedrigen,  ungefähr  e i s- 
kalten  Temperatur  konstatieren;  psychische  Auf¬ 
regungen  sowie  auch  20  Minuten  lange  Unterbindung 


des  Unterschenkels  mit  nachfolgender  venöser  Stauung 
und  Zirkulationsstörung  blieben  ohne  Einfluß. 

Der  Urin  war  im  anfallsfreien  Stadium  stets  normal 
beschaffen  und  enthielt  kein  Eiweiß.  Im  Anfälle  ging  nur 
einmal  Albuminurie  dem  Blutharnen  voran.  Die  blutige 
Beschaffenheit  des  Urins  wurde  stets  durch  reines  Oxy¬ 
hämoglobin  verursacht  (durch  Spektralanalyse  festgestellt) 
und  die  Menge  des  Oxyhämoglobins  verhielt  sich  parallel 
zur  Stärke  des  Anfalles;  sie  schwankte  auf  der  Höhe  des 
Anfalles  im  Maximum  zwischen  0-6%  bis  0-8%  und  im 
Minimum  zwischen  0-04%  bis  0-07%.  Die  Gesamtmenge 
des  blutigen  Flames  betrug  in  einem  Anfälle  von  270 
bis  045  cm3;  durchschnittlich  360  cm3.  Im  Sedimente  waren 
stets  reichlicher  Niederschlag  (Detritus)  von  Oxyhämo¬ 
globin,  Hämoglobinzylinder  und  manchmal  auch  hyaline 
Zylinder,  zahlreiche  Kristalle  von  oxalsaurem  Kalk  und 
phosphorsaurem  Kalk  vorhanden. 

Im  allgemeinen  bestätigte  der  klinische  Verlauf  in 
unserem  Falle  vollinhaltlich  die  Angaben  anderer  Autoren. 
Etwas  anders  war  der  Sachverhalt  bezüglich  des  hämato- 
logischen  Bildes  und  der  Beschaffenheit  des  Blutes. 

ß)  Das  hämatologische  Bild  sowie  auch  das  Verhalten 
des  Blutes  im  Verlaufe  der  paroxysmalen  Hämoglobinurie 
wird  verschieden  angegeben.  Im  anfallsfreien  Stadium  ist 
die  Zahl  der  Erythrozyten  normal  oder  leicht  subnormal, 
dagegen  im  Anfalle  gewöhnlich  in  stärkerem  oder  gerin¬ 
gerem  Maße  verringert,  je  nach  der  Schwere  des  Paroxys- 
mus  (Mesnet,  Bristove  und  Copeman,  Kobler,  Ober- 
mejer,  Ghvostek).  Sehr  selten,  wie  es  Pel  beschrieben 
hat,  kann  neben  Haemoglobinuria  paroxysmalis  auch  Hyper- 
globulie  zutage  treten.  Die  geldrollenartige  Anordnung  der 
roten  Bl u I  körperchen  ist  nach  Bristove  und  Cope  m  a  11, 
Boas  im  Anfälle  gestört;  die  roten  Blutkörperchen  zeigen 
neben  normaler  Gestalt  auch  vielfach  ausgebuchtete  und 
über  die  Fläche  gebogene,  an  Poikylozyten  erinnernde  For¬ 
men,  Zerfallskörperchen  und  sogenannte  Blutschatten  (Pon- 
fick),  d.  h.  mehr  oder  minder  ihres  Hämoglobingehaltes 
beraubte  ausgelaugte  Blutscheiben.  Rößle  hat  eine  eigen¬ 
tümliche  Agglomeration  der  roten  Blutkörperchen  an  die 
Leukozyten  im  defibri  liierten,  nur  auf  Zimmertemperatur 
abgekühlten  Blute  eines  Hämoglohinurikers  gesehen;  sie 
war  derart  intensiv,  daß  sich  überhaupt  kein  weißes  Blut¬ 
körperchen  fand,  welches  nicht  von  einer  Kugel  von  rings¬ 
herum  an  ihm  fest Liebenden  Erythrozyten  umgeben  war. 
Die  Regeneration  der  roten  Blutkörperchen  scheinl  schnell 
vor  sich  zu  gehen  (Köhler,  Obermejer,  Bristove  und 
Copeman,  Götze).  Nach  E.  Meyer  und  Fl.  Emmerich 
ergab  die  Prüfung  der  Resistenz  der  roten  Blutkörperchen 
bei  Flä'moglobinurikern  eine  Lädierbarkeit  dieser  gegen 
Schütteln,  gegen  Saponin,  Essigsäure.  Gegen  Kälte  sind  sie 
nicht  empfindlicher,  wohl  aber  gegen  Temperaturschwan¬ 
kungen  ;  dieses  letztere  wird  besonders  deutlich  bei  An¬ 
bringung  einer  zweiten  gleichzeitigen  Schädlichkeit,  zum 
Beispiel  von  Saponin  oder  Essigsäure.  Der  Hämoglobin¬ 
gehalt  ist  entsprechend  der  Zahlenverminderung  der  roten 
Blutkörperchen  während  und  nach  dem  Anfall  herabgesetzt. 
Die  Leukozyten  zeigen  nach  den  übereinstimmenden  An¬ 
gaben  der  Autoren  überhaupt  keine  nennenswerten  Ver¬ 
änderungen.  Manche  Autoren,  wie  E.  Meyer  und  E.  Em¬ 
merich,  beobachteten  im  Anfälle  einen  Lymphozystensturz 
und  ein  Verschwinden  der  Eosinophilen  und  Benjamin 
eine  Vermehrung  der  Mastzellen  nach  dem  Anfalle  und  am 
Tage  darauf  eine  Steigerung  der  Eosinophilen  bis  zu  ß°/o- 
Rößle  fand  Hämoglobintropfen  in  dem  Protoplasma  der 
Leukozyten.  Die  Gerinnbarkeit  des  Blutes  ist  erhöbt 
(Ha  yem,  Salle);  der  schnell  geronnene  Blutkuchen  soll 
sich  sehr  rasch  wieder  lösen.  Das  Blutserum  im  Anfalle 
und  bald  nach  dem  Anfälle  durch  Schröpfköpfe  gewonnen, 
enthält  eine  größere  oder  geringere  Menge  von  gelöstem 
Hämoglobin,  je  nach  der  Stärke  des  Anfalles  und  nach  der 
Zeit  der  Blutentnahme. 


WIEJMER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


In  unserem  Falle  hatte  man  vor  dem  Anfalle  eine 
mäßige  Vermehrung  der  Erythrozyten  (5,700.000),  dagegen 
sowohl  im  Anfalle  wie  auch  zwei  Tage  darauf  nur  eine 
leicht  subnormale  Zahl  derselben  (4,500.000),  wie  in  nor¬ 
malen  Verhältnissen  konstatieren  können.  Die  Erythro¬ 
zyten  waren  überhaupt  blässer,  zeigten  keine  geldrollen¬ 
förmige  Anordnung  und  wiesen  in  der  Mehrzahl  eine  nor¬ 
male  Gestalt,  und  nur  stellenweise  vielfach  ausgehuchtete 
über  die  Oberfläche  gebogene  Formen,  an  Poikvlozyten  er¬ 
innernd,  auf.  Ihre  Resistenz  gegen  freie  Kohlensäure,  wie 
es  die  nachstehenden  anderenorts  angeführten  Versuche 
beweisen,  war  deutlich  herabgesetzt  ;  dagegen  ganz  normal 
gegen  wässerige  Verdünnungen  von  Essigsäure.  Die  Zahl 
der  Leukozyten  war  vor  dem  Anfalle  bedeutend  erhöht 
(16.400)  und  im  Anfalle  und  zwei  Tage  darauf  normal  (7000). 
Das  Färbungsvermögen  mit  Triazid  schwach,  nach  lä  li¬ 
ners  Methode  normal.  In  den  gefärbten  Präparaten  war 
ein  verschiedenes  Verhalten  der  Leukozyten  gegeneinander 
festzustellen;  überhaupt  hat  man  auf  der  Höhe  des  Anfalles 
einen  bedeutenden  Lymphozytensturz  konstatieren  können 
(9 °/o ,  indem  die  Lymphozytenzahl  vor  dem  Anfalle  15% 
und  zwei  Tage  darauf  25%  betrug)  und  eine  Vermehrung 
der  polynukleären  Neutrophilen  (ganz  entgegengesetzt),  sowie 
ein  vollständiges  Verschwinden  der  Eosinophilen  vor  dem 
Anfälle  und  ein  Auftauchen  derselben  während  des  An¬ 
falles  (2%)  und  besonders  zwei  Tage  nach  dem  Anfalle 
(4%).  Pie  polynukleären  Basophilen  blieben  in  allen 
Stadien  fast  unverändert  (0-5%  bis  1%).  Zugleich  konnte 
man  stets  lymphoide  Knochenmarkzellen,  Uebergangsfor- 
meni  und  neutrophile  Myelozyten  feststellen,  was  für  die 
konstante  Reizung  der  blutbildenden  Organe  spricht.  Es 
verdient  erwähnt  zu  werden,  daß  während  des  Anfalles 
die  Zahl  der  lymphoiden  Knochenmarkzellen  bis  1%  sank 
und  die  der  neutrophilen  Myelozyten  bis  3%  stieg,  indem 
vor  dem  Anfalle  und  zwei  Tage  darauf  die  Zahl  der  lym¬ 
phoiden  Knochenmarkzellen  3-5%  bis  2%  und  die  der 
Myelozyten  0-5%  bis  0%  betrug.  Mikroskopisch  fand  mä|n 
an  gefärbten  Präparaten  stets  geringe  Polychromatophilie, 
spärliche  Normoblasten  vor  dem  Anfalle  und  während  des 
Anfalles;  vereinzelte  Blutschatfen  und  Zerfallskörperchen 
während  des  Anfalles;  zahlreiche  Blutplättchen  und  zer¬ 
fallene  Leukozyten  nach  dem  Anfalle.  Der  Hämoglobingehalt 
war  immer  derselbe  (80%),  obwohl  die  Zahl  der  Erythro¬ 
zyten  eine  verschiedene  war.  Färbungsindex  schwankte 
zwischen  0-7  bis  0-8;  spezifisches  Gewicht  1  062:1  058. 
Das  geronnene  Blut,  entnommen  auf  der  Höhe  des  Anfalles, 
tvies  im  allgemeinen  ganz  normale  Beschaffenheit  auf,  ent¬ 
lieh  ganz  reines  Oxyhämoglobin,  ohne  irgend  eine  Spur 
mn  anderen  Färbstoffen,  wie  Metihämoglobin  usw.  Die 
txyhämoglobinmeinge,  spektrokolorometrisch  geprüft,  betrug 
124-8  auf  1000  Gewichtsteile  des  Blutes  (normal  130  bis 
L50%o).  Das  Blutserum  enthielt  vor  dem  Anfalle  kein 
Oxyhämoglobin  und  zeigte  in  jeder  Beziehung  ganz  normale 
d  gen  schäften.  Der  Blutfarbstoff  gehört  zu  der  Lipochrom- 
I ruppe;  es  enthielt  von  den  Eiweißstoffen  Albumine  und 
dobuline.  Mit  dein  Entleeren  der  ersten  Menge  blutigen 
Lames  fand  man  im  Blutserum  ganz  deutliche  Spuren  von 
Oxyhämoglobin  und  auf  der  Höhe  des  Anfalles  stellte  das 
Hut  eine  ausgesprochene  Hämoglobinämie  dar. 

y)  lieber  das  Zustandekommen  der  Paroxysmen  bc- 
fehen  verschiedene  Theorien.  Die  älteren  Anschauungen 
'her  eine  direkte  Einwirkung  der  luetischen  oder  Malaria- 
nfektion  sind  im-  allgemeinen  verlassen  worden,  da  wäh- 
(,nd  des  Anfalles  im  Blute  weder  Plasmodien  noch  luetische 
'furochätein  (Spirochaeta  pallida)  verkommen.  Pavy, 
fackenzie,  Rose nb ach  nehmen  eine  Auflösung  der 
ulen  Blutkörperchen  in  den  Nierengefäßen  an.  Nach  Licht- 
>eirn  handelt  es  sich  um  Veränderungen  des  Blutes  und 
hr  blutbildenden  Organe,  welche  hei  gewissen  Reizen  mit 
uier  Auflösung  der  roten  Blutkörperchen  reagieren.  Pop- 
'6T,  Murri  betrachten  die  paroxysmale  Hämoglobinurie 
!s  ®ine  vasomotorische  Neurose,  welche  sich  hei  Kälte- 
•nwirkung  in  einer  abnormen  Erregung  der  vasomotorischen 


Nerven  äußere,  infolge  deren  es  zur  Erweiterung  des  Ge¬ 
fäßsystems,  Verlangsamung  des  Blutstromes  und  daher 
stärkerer  Einwirkung  der  Kälte  kommt.  Gleichzeitig  besteht 
hei  diesen  Patienten  eine  krankhafte  Störung  der  blut¬ 
bildenden  Organe,  derzufolge  die  roten  Blutkörperchen 
zum  Teil  weniger  resistenzfähig  sind  und  zugrunde  gehen. 
Ehrlich  behauptet,  daß  sich  unter  dem  Einflüsse  der 
Kälte  bei  spezifisch  disponierten  Individuen  Fermente  bil¬ 
den,  die  das  Diskoplasma  schädigen  und  die  Lösungs¬ 
erscheinungen  bedingen.  Nach  Dapper,  Ehrlich  ist  indes 
die  Kälte  zum  Zustandekommen  der  Blutdissolution  und 
der  paroxysmalen  Hämoglobinurie  überhaupt  nicht  nötig, 
sondern  einfache  Zirkulationsstörungen  durch  Abbinden 
eines  Fingers  ohne  Kälteeinwirkung  seien  imstande,  die 
Hämolyse  hervorzurufen.  Die  Erythrozyten  derartiger 
Kranken  zeigen  keine  verminderte  Resistenz  gegen  Kälte, 
sondern  gegen  mechanische  Einflüsse.  Die  Veränderung 
der  Konstitution  der  roten  Blutkörperchen  kann  durch  Lues, 
Malaria,  Inanition  usw.  bedingt  sein;  doch  ist  dabei  die 
Regenerationsfähigkeit  der  blutbildenden  Organe  intakt. 
Außer  dieser  iLeiohtlöslichkeit  eines  Teiles  der  Erythro- 
zysten  nimmt  Chvostek  Zirkulationsveränderungen  an, 
welche  infolge  abnormer  Innervation  der  Vasomotoren  durch 
Kontraktion  der  peripherischen  Gefäße  zustande  kommt.  In 
den  Fällen  von  paroxysmaler  Hämoglobinurie  nach  Marsch¬ 
anstrengungen  sollen  diese  Zirkulationsstörungen  durch 
Lageveränderung  der  inneren  Organe  bedingt  sein.  In  man¬ 
chen  Fällen  können  die  Nieren  im  hervorragenden  Maße 
an  dem  Destruktionsprozesse  beteiligt  sein.  Ueberhaupt 
vereinigt  Chvostek  manche  der  früheren  Theorien.  Nach 
Grawitz’s  Anschauung  dürfte  das  wahrscheinlichste  sein, 
daß  die  einzelnen  Fälle  von  paroxysmaler  Hämoglobinurie 
sowohl  nach  ihrer  Aetiologie  wie  nach  der  Art  und  Weise 
des  Zustandekommens  der  Hämozytolyse  verschiedenartig 
aufgefaßt  werden  müssen. 

Auf  Grund  der  neuesten  Untersuchungen  von  Donath 
und  Land  st  einer  findet  sich  in  vielen  Fällen  von  paroxys¬ 
maler  Hämoglobinurie  im  Blutserum  ein  spezifisches  Hämo¬ 
lysin  (Ambozeptor),  das  nur  bei  sehr  niedriger  Temperatur 
von  den  roten  Blutkörperchen  absorbiert  wird  und  erst 
dann  unter  Einwirkung  des  Komplementes  bei  37°  C  die 
Hämolyse  hervorruft.  Bringt  man  eine  Suspension  von 
gewaschenen  roten  Blutkörperchen  des  Patienten  im  Serum 
des  nämlichen  Patienten  zuerst  während  einer  halben 
Stunde  auf  0°  C,  dann  während  einer  bis  drei  Stunden 
in  den  Brutschrank  auf  37°  C,  so  wird  Hämolyse  statt¬ 
finden.  Bei  der  Bruttemperatur  ist  nämlich  das  in  jedem 
Serum  enthaltene  Komplement  imstande,  auf  das  Blutkör¬ 
perchen-Ambozeptorenserum  einzuwirken  Hämolyse  erfolgt 
nicht,  wenn  da;s  Serum  durch  Erhitzen  inaktiviert  wurde 
(Vernichtung  des  Komplements);  das  inaktivierte  Serum 
jedoch  kann  wieder  wirksam  gemacht  werden  durch  Hinzu¬ 
fügung  einer  kleinen  Quantität  eines  beliebigen  Serums 
(Komplement). 

Bei  niedriger  (0°  C)  Temperatur  findet  die  Trennung 
von  Ambozeptor  und  Komplement  in  dem  Immunserum 
statt.  Bei  0°  C  ist  das  Komplement  unwirksam,  während 
der  Ambozeptor  noch  an  die  roten  Blutkörperchen  fixiert 
wird.  Während  aber  in  allen  anderen  Fällen  auch  für  die 
Wirksamkeit  des  Ambozeptors  die  optimale  Temperatur  bei 
37°  C  liegt,  wenngleich  die  Wirkung  mehr  oder  weniger 
auch  noch  bei  0°  C  erfolgt,  so  liegt  für  den  Ambozeptor 
der  paroxysmalen  Hämoglobinurie  die  optimale  Temperatur 
sehr  tief  und  findet  bei  höheren  Temperaturen  eine  stets 
weiter  fortschreitende  Dissoziation  der  Verbindung  statt. 
Donath  und  Land  st  einer  behaupten,  daß  während  des 
Anfalles  der  Ambozeptorgehalt  des  Blutserums  aufgebraucht 
werde  und  demzufolge  das  kurze  Zeit  nach  dem  Anfalle 
folgende  Experiment  ein  negatives  Resultat  ergeben  könne. 
Nach  Gräfes  und  Müllers  Anschauungen  findet  der  Auf¬ 
brauch  von  Hämolysin  nur  bei  schweren  Anfällen  statt. 

E.  Meyer  und  E.  Emmerich  untersuchten  vier  Fälle 
von  paroxysmaler  Hämoglobinurie.  Nach  ihrer  Angabe 


492 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  14 


gelingt  der  Donath-Landsteinersche  Versuch  nicht 
immer.  Von  40  Versuchen  beim  ersten  Kranken  fielen 
13  positiv  aus,  beim  zweiten  von  13  sechs  Versuche,  beim 
dritten  waren  alle  drei  negativ,  beim]  vierten  waren  wiederum 
von  vier  Versuchen  zwei  positiv.  Ein  Teil  der  negativen 
Ausfälle  war  durch  Komplementmangel  zu  erklären.  Nach 
diesen  Autoren  wird  das  Komplement  im  Anfalle  verbraucht, 
deshalb  findet  sich  Komplementmangel  besonders  direkt 
nach  dem  Anfalle  und  einige  Tage  darauf.  Das  Hämolysin 
bei  paroxysmaler  Hämoglobinurie  ist  nicht  sowohl  als  die 
Ursache  des  Blutverfalles,  wie  als  dessen  Folge  anzusehen, 
vielleicht  als  das  Resultat  einer  Autoimmunisierung  (Auto¬ 
hämolysin).  Die  klinischen  Symptome  des  Anfalles,  der 
rapide  Lymphozytensturz,  das  Verschwinden  der  Eosi¬ 
nophilen,  der  Aufbruch  des  Komplements  und  das 
Auftreten  opsonischer  Eigenschaften  im  Blute  spre¬ 
chen  dafür,  daß  in  Paroxysmeri  eine  Umstimmung 
des  Organismus  nach  Art  der  bei  Infektionen  an¬ 
zunehmenden  stattfindet,  in  deren  Gefolge  sich  neue 
Immunkörper  bilden  und  deren  Antigene  die  zerfallenden 
roten  Blutkörperchen  des  eigenen  Organismus  sind.  Moro 
und  No  da  bestätigen  auf  Grund  der  Blutuntersuchung 
eines  an  paroxysmaler  Hämoglobinurie  erkrankten  4V2]äh- 
rigen  Kindes  die  Donath-Landstei  nerschen  Versuche 
„in  vitro“  und  erwähnen,  daß  der  Erfolg  sich  am 
besten  gestaltet,  wenn  das  Mischungsverhältnis  von  roten 
Blutkörperchen  und  Serum  1:8  beträgt.  Die  Hämolyse  ist 
bereits  am  dritten  oder  vierten  Tage  nach  dem  Anfalle 
eine  geringere ;  am  siebenten  Tage  fiel  der  Wärmekälte¬ 
versuch  überhaupt  negativ  aus.  Während  dieser  Zeit  war 
eine  rapide  Abnahme  des  humoralen  Komplementgehältes 
vom  Vollwert  auf  0  zu  konstatieren.  Ganz  anders  verhält 
sich  die  Sache  nach  Czernecki.  Seine  Ergebnisse  lauten: 

1.  Bei  den  an  Hämoglobinurie  Erkrankten  trat  die 
Hämolyse  nicht  konstant  auf  und  wenn  sie  festgestellt  wurde, 
so  trat  sie  auf  eben  so  gut  wie  bei  Behandlung  der  Mischun¬ 
gen  des  Serums  und  der  roten  Blutkörperchen  mit  wech¬ 
selnder  wie  auch  konstanter  Temperatur,  was  mit  der 
kategorischen  Behauptung  Donath -Landsteiners  im 
grellen  Widerspruche  steht. 

2.  Unter  denselben  Verhältnissen  wie  bei  der  paroxys¬ 
malen  Hämoglobinurie  wurde  die  Hämolyse  gleichfalls  auch 
bei  anderen  pathologischen  Zuständen  bemerkt,  ohne  Rück¬ 
sicht.  darauf,  ob  die  Mischungen  mit  wechselnder  oder 
konstanter  Temperatur  behandelt  wurden.  Dies  stimmt 
auch  nicht  mit  den  Resultaten  Donath- Landsteiners 
überein,  welche  in  195  Fällen  von  verschiedenen  anderen 
Krankheiten  ständig  negative  Resultate,  d.  h.  keine  „deut¬ 
liche  Reaktion“  erhalten  haben  sollen. 

3.  Die  Resistenz  der  roten  Blutkörperchen  in  den 
Fällen  der  paroxysmalen  Hämoglobinurie  scheint  verschie¬ 
den  zu  sein;  ebenso  zeigten  die  roten  Blutkörperchen  der 
nicht  an  paroxysmialer  Hämoglobinurie  Erkrankten  verschie¬ 
dene  und  zwar  eminent  andere  Resistenz  gegen  die  hämoly¬ 
tische  Wirkung  der  Sera,  ob  sie  nun  von  den  Fällen  der 
Hämoglobinurie  oder  von  anderen  Individuen  entnommen 
wurden. 

4.  Im  Widerspruche  mit  der  Behauptung  Donaths 
und  im  Einklänge  mit  Flayem  behauptet  Czernecki, 
daß  die  Sera  der  an  paroxysmaler  Hämoglobinurie  Er¬ 
krankten  auch  in  anfallsfreier  Zeit  oft  deutliche  Absorptions¬ 
streifen  des  Oxyhämoglobins  zeigen,  was  schon  mit  dem 
Auge  beurteilt  werden  konnte,  da  diese  Seraportionen  eine 
mehr  oder  weniger  im  rosigen  oder  roten  Scheine  spielende 
Färbung  hatten  und  das  Spektroskop  Absorptionsstreifen 
zeigte. 

Hymans  unterzog  die  Donath-Land  Steiner  sehen 
Versuche  einer  .näheren  Prüfung,  und  führt  mit  Recht 
Schwierigkeiten  an,  welche  bei  Erklärung  des  Faktums 
obwalten,  daß  ein  Kranker  tagtäglich  an  Anfällen  von 
paroxysmaler  Hämoglobinurie  leiden  kann,  sobald  er  der 
Einwirkung  einer  intensiven  Källe  ausgesetzt  wird,  wenn 
die  betreffenden  spezifischen  Körper  während  des  Anfalles 


so  weit  aufgebraucht  worden  sind,  daß  sie  durch  eine 
gewisse  Zeit  im  Blute  nicht  erzeugt  werden.  Es  be¬ 
stätigen  dies  auch  andere  Autoren  wie  Grafe  und  Mül¬ 
ler  usw.,  welche  bei  dem  betreffenden  Kranken  „den  gan¬ 
zen  Dezember  über  fast  täglich  Anfälle“  beobachteten  und 
der  Donath-Lands  feiner  sehe  Versuch,  von  den  sieben 
Malen  bloß  einmal  „deutlich  positiv“,  zweimal  „schwach 
positiv“  und  alle  anderen  vier  Male  „vollkommen  negativ“ 
ausfiel.  Ebenso  wichtig  ist  es,  daß  ein  Parallelismus  zwi¬ 
schen  der  Intensität  des  Ausfalles  des  Experimentes  in 
vitro  und  der  Schwere  des  Falles  gewöhnlich  gar  nicht 
zu  erkennen  ist.  Schließlich  erscheint  es  ausgeschlossen, 
daß  die  Bluttemperatur  des  Hämoglobinurikers  auf  so  nie 
drige  Werte  sinken  sollte,  wie  es  nach  der  Donath-Land¬ 
stei  nerschen  Theorie  notwendig  wäre.  Auch  verdient  der 
Umstand  erwähnt  zu  werden,  daß  in  manchen  Fällen  der 
Hämolyseversuch  im  Stiche  läßt,  nicht  nur  wegen  Kom¬ 
plementmangels,  sondern  auch  nach  Hinzufügung  von  Kom¬ 
plement,  sowie,  daß  in  den  meisten  Fällen  die  höchste 
Temperatur,  bei  welcher  der  Ambozeptor  von  den  Erythro¬ 
zyten  fixiert,  wird,  niedriger  ist  als  der  Kältegrad,  welcher 
zum  Zustandekommen  eines  Hämoglobinurieanfalles  in  vivo 
genügt.  Auch  steht  es  nicht  unzweifelhaft  fest.,  daß  die  von 
Donath  und  Land steiner  nachgewiesenen  Hämolysine 
die  Ursache  der  Anfälle  sind ;  sie  könnten  sogar,  wie  es 
E.  Meyer  vermutet,  die  Folge  sein. 

Flymans  kam  auf  Grund  der  Blutuntersuchung  von 
drei  an  Haemoglobinuria  paroxymalis  Kranken  zur  Ueber- 
zeugung,  daß  bei  dem  Anfälle  von  Hämoglobinurie  außer 
der  spezifischen  Hämolysine  in  vivo  irgend  ein  anderer 
Körper  und  zwar  Kohlensäure,  mitwirke.  Es  spricht  dafür 
auch  die  Beobachtung  von  Chvostek,  daß  nach  Abbin¬ 
dung  einer  Extremität  bisweilen  paroxysmale  Hämoglo¬ 
binurie  zustande  kommt.  Hymans  behauptet  auf  Grund 
seiner  Experimente  in  vitro,  daß  das  Blut  bei  den  an 
paroxysmaler  Hämoglobinurie  Kranken  einen  bemerkens¬ 
werten  Unterschied  aufweist  gegenüber  dem  Blute  einer 
gewissen  Zahl  bis  dahin  untersuchten  normalen  Personen, 
denn  das  Blut  von  Hämoglobinurikern  zeigte,  sobald  es 
um  einige  Grade  unter  37°  C  abgekühlt  wurde,  eine  deut¬ 
liche  und  bei  Zimmertemperatur  sogar  eine  intensive 
Hämolyse,  wenn  zugleich  Kohlensäure  einwirkte,  sowie, 
daß  die  abnorme  hämolytische  Eigenschaft  nur  dem  Serum 
des  Hämoglobinurikerblutes  zukommt  und  die  Erythrozyten 
sich  vollkommen  normal  verhalten.  Die  Erhitzung  auf 
50°  C  während  einer  halben  Stunde  machte  das  Serum 
unwirksam;  das  Serum  eines  Hämoglobinurikers  durch 
Erhitzen  inaktiviert,  kann  durch  Flinzufügung  von  frischem, 
normalem  menschlichen  Serum  nicht  reaktiviert  werden. 
Höchstwahrscheinlich  sind  sowohl  Ambozeptor  wie  Kom¬ 
plement  sehr  thermolabil.  Kohlensäurehämolyse  bedarf 
der  Mitwirkung  von  zwei  Substanzen,  des  Ambozeptors 
und  Komplementes  und  eine  wenn  auch  relativ  geringe 
Temperaturerniedrigung  unter  37°  C  ist  dazu  erforderlich. 
Die  Kohlensäurehämolyse  von  Hymans  zeigt  nicht  un¬ 
wichtige  Unterschiede  in  bezug  auf  die  Donath-Land¬ 
stei  ne r sehe  Kältewärmehämolyse  und  zwar: 

1.  Das  von  Donath-Landsteiner  beschriebene 
Hämolysin  wirkt  nur  bei  Erwärmung  auf  37°  C  nach  vor¬ 
hergegangener  intensiver  Abkühlung;  Kohlensäurehämoly¬ 
sin  wirkt  bei  einfacher  und  relativ  geringer  Abkühlung 
unter  37°  C. 

2.  Für  das  Zustandekommen  der  Donath-Land¬ 
stei  nerschen  Kältewärmehämolyse  ist  Kohlensäure  nicht 
erforderlich;  für  die  Wirkung  des  Hämolysins  von 
Flymans  ist  ein  starker  Kohlensäuregehalt  des  Blutes 
unbedingt  nötig. 

3.  Die  Donath-Lan  d stein! ersehe  Reaktion  scheint 
nicht  konstant  im  Hämoglobinurikerserum  nachweisbar. 
Häufig  ist  für  das  Gelingen  der  Reaktion  Hinzufügung  von 
fremdem  Komplement  erforderlich.  Der  Kohlensäureversuch 
bei  Zimmertemperatur  gelingt  ausnahmslos  und  immer  gleich 


Nr.  14 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


493 


intensiv.  Hinzufügung  von  fremdem  Komplement  war  nie¬ 
mals  notwendig. 

Der  Donath-Landstei  ne  rsche  Versuch  war  nur 
dann  positiv,  wenn  das  durch  Gerinnen  bei  37°  C  gewonnene 
Serum  benutzt  wurde.  Das  bei  Zimmertemperatur  ge¬ 
wonnene  Serum  verhielt  sich  negativ. 

Für  das  Zustandekommen  der  Kohlensäurehämolyse 
war  es  gleichgültig,  bei  welcher  Temperatur  das  Serum 
aus  dem  Blute  erhalten  wurde. 

4.  In  den  Donath -L andstei n ersehen  Versuchen 
war  es  immer  möglich,  das  bei  55°  C  inaktivierte  Serum 
durch  Hinzufügung  von  frischem  menschlichen  Serum  zu 
reaktivieren.  Das  durch  Erhitzen  auf  50°  bis  55°  inakti¬ 
vierte  Serum  erhielt  durch  Hinzufügung  von  frischem 
menschlichen  Serum  die  Fähigkeit  zur  Kohlensäurehämo¬ 
lyse  nicht  wieder. 

Wie  sich  daraus  ergibt,  entsteht  die  K  o  h  1  e  n  s  ä  u  r  e- 
hämolyse  von  Hymans  in  vitro  unter  Umständ  en, 
welche  am  meisten  an  das  Zustandekommen  die¬ 
ses  Prozesses  in  vivo,  d.  h.  im  menschlichen  Or¬ 
ganismus  erinnern. 

Angesichts  dessen  entschlossen  wir  uns,  in  unserem 
Falle  die  Donath -Land  st  einer  sehen  und  die  Hymans- 
schen  Versuche  eingehends  zu  prüfen. 

Die  Donath-Landsteiner  sehen  Experimente  mit 
dem  Blute  des  Häjmoglobinurikers  führten  wir  zweimal 
in  der  anfallsfreien  Zeit  aus,  wobei  bei  dem  ersten  Ver¬ 
suche  (18.  November),  das  ist  sechs  Tage  nach  dem  Anfalle, 
das  Resultat,  ein  schwach  positives  (+),  dagegen  bei  dem 
zweiten  Versuche  (20.  November),  das  ist  acht  Tage  nach 
dem  Anfalle,  unter  denselben  Bedingungen  vollzogen,  ein 
stark  positives  (iM — b)  war.  Die  Reaktion  mit  dem  Blute 
eines  ganz  .gesunden  Individuums  'fiel  stets  negativ  aus. 
Zugleich  wiederholten  wir  die  Experimente  von  Hymans 
ganz  genau  nach  seiner  Angabe.  Zwecks  dessen  wurde 
dem  Patienten  das  durch  Venenpunktion  aus  der  Vena 
mediana  in  der  anfallsfreien  Zeit  (20.  November)  entnom¬ 
mene  Blut  durch  Quirlen  hei  Zimmertemperatur  defibriniert 
und  sofort  zentrifugiert.  Das  vollständig  hämoglobinfreie 
Serum  wurde  labpipettiert  (S).  Die  roten  Blutkörperchen 
wurden  sorgfältig  mit  0-9°/oiger  Kochsalzlösung  von  Zim¬ 
mertemperatur  ausgewaschen  (E).  Genau  in  derselben  Weise 
wurden  das  Serum  (s)  und  die  Blutkörperchen  (e)  eines 
normalen  Individuums  behandelt.  Dann  stellten  wir  acht 
Versuche  nach  der  nachstehenden  Zusammenstellung  an, 
indem  in  jedem  einzelnen  Falle  eine  Mischung  von  zwei 
Tropfen  Blutkörperchen  Suspension  und  15  Tropfen  Serum 
während  zwei  Stunden  stehen  gelassen  wurde  bei  8°,  16°, 
37°  C  Temperatur  unter  Einwirkung  der  atmosphärischen 
Luft  oder  der  freien  Kohlensäure  (unter  mit  Kohlensäure 
gefüllter  Glasglocke).  Das  Ergebnis  dieser  Experimente 
stellte  sich  dar  wie  folgt : 


1.  S  -)-  E  während  2  Stunden  bei  8°  G  in  CO.,  :  -j — |-- 

37°  C  *  »  :  0 


2.  S  +  E  *  2 

3.  S  4-  E  »  2 

4.  s  4-  e  »  2 

5.  s  -j-  E  »  2 

b.  S  -(-  e  »  2 

7.  S  +  e  »  2 

8.  S  -j-  e  »  2 


16°  C  an  der  Luft  :  ? 
16°  C  in  CO,  :  0 
16°  C  »  *  :  0 

16°  C  »  »  ;  -| — b 

37°  C  »  »  :  0 

8°  C  an  der  Luft  :  ? 


Die  obigen  Versuche  bestätigen  vollinthaltlich  die  An¬ 
gaben  von  Hymans,  daß  im  Hämoglobinurikerblute  nur 
das  Blutserum  die  hämolytischen  Eigenschaften  besitzt  und 
die  Erythrozyten  .sieh  ganz  normal  verhalten,  sowie,  daß 
das  Zustandekommen  der  Hämolyse  im  Blute  des  Hämoglo- 
binurikers  im  hohen  Grade  durch  die  Anwesenheit  von 
freier  Kohlensäure,  bei  niedrigerer  Temperatur  (8°  bis  16°  C), 
ohne  vorhergegangene  intensive  Abkühlung,  begünstigt  wird. 
Das  Blutserum  und  die  roten  Blutkörperchen  eines  normalen 
Blutes  weisen  gar  keine  hämolytischen  Eigenschaften  auf. 

Zugleich  unternahmen  wir  eine  Reihe  von  Experi¬ 
menten  behufs  Prüfung  der  Resistenz  der  Erythrozyten 


(sorgfältig  in  0-9°/oiger  Kochsalzlösung  gewaschen)  gegen 
die  wässerigen  0-5  bis  l°/oigen  Lösungen  von  Essigsäure 
und  gegen  freie  Kohlensäure,  sowohl  aus  dem  des  an 
paroxysmaler  Hämoglobinurie  Kranken  wie  auch  aus 
normalem  Blute.  Wir  konnten  keinen  bemerkenswerten 
Unterschied  feststellen  in  bezug  auf  das  Verhalten  der  Ery¬ 
throzyten  in  beiden  Fällen  (beim  Hämoglobinuriker  und 
gesunden  Individuum)  gegen  die  Einwirkung  von  Essigsäure¬ 
lösungen;  dagegen  waren  nach  fünf  Minuten  langer  Ein¬ 
wirkung  von  freier  Kohlensäure  bei  Zimmertemperatur  auf 
die  Suspension  der  roten  Blutkörperchen  in  der  0-9°/oigen 
Kochsalzlösung  beim  Hämoglobinuriker  ganz  deutliche 
Spuren  von  Hämolyse  wahrnehmbar,  indem  die  normalen 
Erythrozyten  unter  denselben  Umständen  sich  ganz  wider¬ 
standsfähig  verhielten.  Die  Hämolyse  trat  dann  stark  posi¬ 
tiv  auf,  nachdem  Kohlensäure  bei  Zimmertemperatur  fünf 
Minuten  lang  in  die  obige  Suspension  der  roten  Blutkör¬ 
perchen  des  Hämoglobinuri kers  eingeleitet  wurde,  nach  vor¬ 
heriger  Hinzufügung  einer  ganz  geringen  Menge  Serums 
des  Hä'moglobimurikers  (S),  indem  dieselbe  hinzugefügte 
Quantität  eines  (normalen  Serums  die  Hämolyse  nicht  ver¬ 
ursachte.  Ebenso  trat  keine  Hämolyse  auf,  wenn  der  Ver¬ 
such  unter  denselben  Bedingungen  mit  Blutkörperchensus¬ 
pension  von  normalem  Blute  und  Beimischung  eines  nor¬ 
malen  Serums  ausgeführt  wurde.  Es  unterliegt  daher  keinem 
Zweifel,  daß  die  Widerstandsfähigkeit  der  Erot.hrozyten 
beim  Hämoglobinuriker  gegen  Kohlensäure  herabgesetzt  ist 
im  Vergleich  mit  normalen  roten  Blutkörperchen. 

Fassen  wir  die  Ergebnisse  der  klinischen 
Beobachtungen  .und  der  angestellten  Experi¬ 
mente  in  unserem  Fälle  zusammen,  so  kommen 
wir  zu  nachstehenden  Schlußfolgen: 

1.  Die  Anfälle  von  paroxysmaler  Hämoglobinurie  traten 
stets  nur  unter  der  Einwirkung  einer  niedrigen  Temperatur, 
d.  h.  nach  Applizierung  eines  eiskalten  Fußbades  oder  nach 
spontaner  Erkältung  des  Kranken  auf.  Die  Ahbindung  der 
Extremität  war  nicht  imstande,  den  Anfall  hervorzurufen; 
auch  alle  psychischen  Aufregungen  blieben  erfolglos.  Der 
Anfall,  welcher  anfangs  auf  starke  Intensität  hindeuten 
ließ,  wurde  bald  kupiert  nach  Verabreichung  von  warmen 
Wasserflaschen  auf  die  unteren  Extremitäten.  Die  Anfälle 
konnten  in  24  Stunden  hervorgerufen  werden. 

2.  Das  Blut  des  an  paroxysmaler  Hämoglobinurie  Er¬ 
krankten  enthält  spezifische  Hämolysine.  Die  hämolytische 
Eigenschaft  kommt  nur  ausschließlich  dem  Blutserum  und 
nicht,  den  Erythrozyten  zu.  Die  roten  Blutkörperchen  weisen 
eine  deutlich  verminderte  Resistenz  gegen  freie  Kohlen¬ 
säure  auf. 

3.  Für  das  Zustandekommen  der  Hämolyse  „in  vitro“ 
war  die  'Einwirkung  der  freien  Kohlensäure  hei  Zimmer¬ 
temperatur  (16°  C)  unbedingt  erforderlich,  was  den  dies¬ 
bezüglichen  Bedingungen  „in  vivo“  am  meisten  entspricht. 
Ueberhaupt  spielt  die  Kohlensäurehämölyse  von  Hymans 
ganz  gewiß  keine  unwichtige  Rolle. 

4.  Gleichzeitig  mit  dem  Auftreten  der  paroxysmalen 
Hämoglobinurie  konnte  man  Hämoglobinämie  feststellen. 
Das  Blutserum  enthielt  während  des  Anfalles  nur  reines 
Oxyhämoglobin,  ohne  irgend  eine  Beimischung  von  anderen 
Blutfarbstoffen,  wie  Methämoglobin  usw.  In  der  anfalls¬ 
freien  Zeit  war  in  dem  Blutserum  ein  normaler  Farbstoff  aus 
der  Lipochromgruppe  und  kein  Oxyhämoglobin  nachweisbar. 

5.  Für  das  Zustandekommen  der  Kohlensäurehämolyse 
scheint  der  Einfluß  der  vasomotorischen  und  sekretorischen 
Nerven  von  großer  Bedeutung  zu  'sein.  Ganz  kleine  Mengen 
von  Atropin,  welche  keine  Mydriasis  verursachten,  ent¬ 
falteten  eine  deutlich  hemmende  Wirkung  in  jeder  Be¬ 
ziehung  für  das  Auftreten  und  den  Verlauf  des  Anfalles 
und  eine  ganz  kleine  Dosis  von  Pilocarpinum  mur.  beföi' 
derte  den  Anfall.  Daher  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  daß 
das  Zustandekommen  der  Kohlensäurehämolyse  auf  die 
gesteigerte  sekretorische  Tätigkeit  der  Gefäßendothelzellen 
infolge  einer  größeren  Erregbarkeit  der  vasomotorischen 
und  betreffenden  sekretorischen  Nerven  zurückzu  führen  sei. 


494 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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6.  Im  Urin  war  stets  nur  reines  Oxyhämoglobin  ent¬ 
halten. 

7.  Der  Blutdruck  stieg  nur  während  des  Anfalles  un¬ 
bedeutend  an. 

8.  Der  hä, matologische  Befund  wies  einen  starken 
Lymphozytensturz  während  des  Anfalles  auf  und  sprach 
für  konstante  Reizung  der  blutbildenden  Organe.  Ueberhaupt 
stellt  sich  die  Pathogenese  der  einzelnen  Parox/smen  nach 
unserer  Ansicht  folgendermaßen  dar: 

Bei  dem  neuropathisch  veranlagten  Kranken,  dessen 
Blut  eine  bedeutend  herabgesetzte  Widerstandsfähigkeit  der 
Erythrozyten  gegen  die  freie  Kohlensäure  zeigt  und  zu¬ 
gleich  spezifische  Hämolysine  enthält,  entsteht  nach  Kälte¬ 
einwirkung  eine  abnorme  Reizung  der  vasomotorischen 
Nerven,  was  sich  durch  starke  Verengerung  der  peripheren 
Hautgefäße  und  kompensatorische  Erweiterung  der  Kapil¬ 
laren  in  den  Baucheingeweiden  manifestiert.  Infolge  der 
Erweiterung  der  Kapillaren  findet  eine  Verlangsamung  des 
Blutstromes  in  den  Baucheingeweiden  und  eine  Abkühlung 
der  Körpertemperatur  statt;  zugleich  sammelt  sich  dorthin 
eine  größere  Blutmenge  und  Kohlensäure.  Dieser  Umstand 
wirkt  erregend  auf  die  sekretorischen  Nerven  der  Endothel¬ 
zellen  in  den  erweiterten  Blutgefäßen  der  Baucheingeweide 
und  verursacht  dorthin  eine  stärkere  Sekretion  der  Endo¬ 
thelzellen.  Unter  Mitwirkung  von  spezifischen  Hämolysinen, 
größeren  Gehaltes  an  Kohlensäure,  Abkühlung  der  Körper¬ 
temperatur  infolge  einer  Verlangsamung  des  Blutstromes 
in  den  Kapillaren  und  gesteigerter  Sekretion  der  Endothel¬ 
zellen  (Komplement),  entstehen  in  dem  Blutgefäßgebiet  der 
Baucheingeweide  Bedingungen  für  das  Zustandekommen 
der  Kohlensäurehämolyse  nach  Hymans  „in  vivo“,  ganz 
analog  zu  dem  diesbezüglichen  Versuche  „in  vitro“.  Gleich¬ 
zeitig  mit  dem  Zustandekommen  der  Hämolyse  triP  Hämo¬ 
globinurie  auf.  Als  dann  nach  einiger  Zeit  die  Zirkula¬ 
tionsstörungen  zurückgegangen  (sind,  hört  die  Hämoglo- 
binämie  und  mit  derselben  auch  die  Hämoglobinurie  auf. 
Durch  den  Zerfall  von  Erythrozyten  während  des  Anfalles 
wird  ein  konstanter  Reiz  für  die  Regenerationstätigkeit  der 
blutbildenden  Organe  gegeben. 

Die  Ursache  einer  verminderten  Resistenz  der  Ery¬ 
throzyten  gegen  Kohlensäure  läßt  sich  nicht  feststellen. 
Zwar  könnte  man  in  unserem  Falle  die  positive  Wasser¬ 
mann  sehe  Reaktion,  in  Erwägung  ziehen,  jedoch  würden 
wir  uns  dafür  nicht  aussprechen,  da  Syphilis  eine  so 
häufige  und  die  paroxysmale  Hämoglobinurie  dagegen  ein 
so  seltenes  Vorkommnis  ist. 

Literatur: 

Senator,  Hämoglobinurie.  Realenzyklop,  der  ges.  Heilkunde 
v.  Eulenburg  1886.  Grawitz,  Klinische  Pathologie  des  Blutes.  1896. 

Chvostek,  lieber  das  Wesen  der  paroxysmalen  Hämoglobinurie. 
Leipzig  und  Wien  1894.  Zusammenfassende  Monographie  und  Literatur¬ 
übersicht.  --  Donath  und  Lan  dstein’er,  Münchener  med.  Wochen¬ 
schrift  1904.  —  Langstein.  Ueber  paroxysmale  Hämoglobinurie  im 
Kindesalter.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1905,  Nr.  34.  —  Pel,  Berliner 
klin.  Wochenschr.  1907,  Nr.  24.  Moro  und  No  da,  Paroxysmale 
Hämoglobinurie  und  Hämolyse  in  vitro.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1909, 
Nr.  5.  -  Erich  Meyer  und  E.  Emmerich,  Ueber  paroxysmale 

Hämoglobinurie.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1909,  Nr.  5  und  Deutsches 
Archiv  für  klin.  Medizin  1909,  Bd.  96.  —  St  sc  has  ln  yj,  Blutplättchen 
und  hämolytisches  Serum.  Berliner  klin.  Wochenschr.  i909,  Nr.  22.  — 
Hymans  v.  d.  B  e  r  g  h,  Blutuntersuchungen  über  die  Hämolyse  bei 
der  paroxysmalen  Hämoglobinurie.'  Berliner  klin.  Wochenschr.  1909, 
Nr.  27  und  1909,  Nr.  35.  —  Czernecki,  Hämoglobinurie  und  Hämo¬ 
lyse.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1909,  Nr.  42. 


Aus  der  II  k.  k.  Universitäts- Augenklinik. 
(Vorstand:  Hofrat  Prof.  Dr.  Ernst  Fuchs). 

Einseitige  komplette  Okulomotoriuslähmung  bei 

einem  Säugling 

Von  Dr.  Adolf  Purtsclier,  Sekundararzt. 

Lähmungen  von  Augenmuskeln  kommen  im  Säuglingsalter 
neckt  feel  ten  zur  Beobachtung;  dies  gilt,  um  so  mehr,  wenn 
man  noch  von  der  Gruppe  der  angeborenen  Lähmungen  absieht, 
wie  sie  durch  EntwickTungsstörungen  und  Mißbildungen  bedingt 


sein  können,  durch  intrauterin  abgelaufene,  enzephalitische  Pro¬ 
zesse,  durch  Geburtstraumen  mit  folgender  Blutung  in  die  Kern¬ 
region,  durch  basale  Veränderungen  und  ähnliches.  - 

Das  im  folgenden  Gesagte  soll  nur  auf  die  Gruppe  der  be¬ 
reits  nach  der  Geburt  erworbenen  Augenniuskellähmungen  Bezug 
haben. 

Im  Säuglingsalter  liegen  die  Verhältnisse  insofern  kompli¬ 
zierter  als  beim  Erwachsenen,  da  einerseits  die  erworbene  Lues 
-  die  häufigste  Ursache  der  Augenmuskellähmungen  im  späteren 
Lebensalter  weniger  in  Betracht  kommt,  somit  andere  krank¬ 
hafte  Veränderungen  als  veranlassendes  Moment  gelten  müssen; 
anderseits  neigt  der  Säugling  gleich  dem  älteren  Kinde  zu  Er¬ 
krankungen  -  insbesondere  des  Gehirnes  —  die  beim  Erwach¬ 
senen  ungleich  seltener  beobachtet  werden. 

So  ist  die  Annahme  wohl  gerechtfertigt,  daß  die  Augen- 
muskellä hm ungen  des  späteren  Lebensalters  mehr  in  Abhängigkeit 
von  der  Syphilis  stehen,  während  im  Kindesalter  mehr  die 
Tuberkulose  des  Gehirnes  und  seiner  Hüllen  dabei  eine  Rolle 
spielt.  Die  mannigfachen  pathologischen  Prozesse,  welche  diesen 
in  Rede  stehenden  Krankheitsbild ern^tiologisch  zugrunde  liegen, 
sind  sehr  geeignet,  die  Feststellung  einer  Diagnose  zu  beein 
trächtigen. 

Ohne  auf  alle  die  zahlreichen  Ursachen  einzeln  ein  geheil 
zu  wollen,  welche  geeignet,  sind,  bei  Erwachsenen  Lähmungen 
von  Augenmuskeln  hervorzurufen,  soll  zunächst  ein  kurzer  IJeber- 
blick  über  jene  Gruppe  von  Erkrankungen  geworfen  werden, 
die  für  das  Zustandekommen  der  fraglichen  Erscheinungen  im 
Kindesalter  in  Betracht  kommen.  Es  soll  dies  ohne  Rücksicht 
darauf  geschehen,  inwieweit  die  zu  erwähnenden  pathologischen 
Veränderungen  auf  unseren  Fall  Bezug  haben  könnten. 

Von  den  Allgemeinerkrankungen  verdienen  die  Infektions¬ 
krankheiten  zuerst  erwähnt  zu  werden. 

Lues  congenita  führt  nur  in  Ausnahmefällen  zu  Lähmungen 
vou  Augenmuskeln.  i 

Bei  Tuberkulose  kommen  —  abgesehen  von  den  Tuberkeln 
des  Gehirns  -  isolierte  Lähmungen  vor  bei  Bestehen  von  basaler 
Meningitis  mit  Druckwirkung  auf  die  austretenden  Hirn  nerven 
oder  Entzündungen  derselben.  Auch  Beeinflussung  des  Sympa¬ 
thikus  (Pupillendifferenz)  durch  vergrößerte  tuberkulöse  Bron- 
chialdrüsen  ist  beschrieben  worden. 

Influenza  und  Diphtheritis  haben  das  eine  gemeinsam,  daß 
sie  meist  nur  zu  Lähmungen  der  Akkommodation  führen  und 
solche  der  äußeren  Augenmuskeln  sehr  selten  sind.  Doch  sind 
bei  Influenza  der  Kinder  nach  den  Angaben  Strickers  (1892) 
7°'n  der  Fälle  mit  Augenkrankheiten  vergesellschaftet;  eine  noch 
größere  Rolle  spUUn  sekundäre  Erkrankungen  der  Ohren  (37°/o), 
die  wieder  in  weiterer  Folge  zu  Augenmuskellähmungen  führen 
können:  allerdings  ist  nicht  gesagt,  ob  diese  angeführten  Zahlen 
auch  für  das  Säuglingsalt U1  Geltung  haben. 

Keuchhusten  verursacht  abgesehen  von  Hirnblutungen  im 
Höhestadium  der  Erkrankung  Zustände  im  Gehirn,  die  sich  aus 
Stauung,  Oedem  und  Anämie  kombinieren  und  ebenfalls'  ein 
Moment  für  die  Entstehung  von  Lähmungen  (allerdings  vorüber¬ 
gehender  Natur)  abgeben. 

Im  Gefolge  der  Meningitis  cerebrospinalis,  die  schon  im 
ersten  Lobensiahre  zur  Beobachtung  kommt,  werden  Lähmungen 
der  äußeren  Augenmuskeln  auf  dem  Höhepunkt  der  Krankheit 
verzeichnet:  doch  sab  Uhthoff  unter  110  Fällen  niemals  eine 
isolierte  komplette  Okulomotoriuslähmung.  nur  zweimal  deutliche 
Ptosis,  daran  Erklärung  als  Manifestation  einer  teilweisen  Okulo¬ 
motoriusparese  ihm  aber  keineswegs  sicher  erscheint. 

Unter  den  akuten  Exanthemen  sind  in  erster  Linie  Masern, 
aber  auch  Scharlach  von  Folgeerscheinungen  seitens-  der  Augen¬ 
muskeln  begleitet;  allerdings  ist  die  unmittelbare  Ursache  wohl 
immer  in  einer  sekundären  Meningitis,  Orbitalphlegmone  oder 
Sinusthrombose  zu  suchen. 

Verhältnismäßig  zahlreich  sind  auch  die  Veränderungen  des 
Zentralnervensystems,  welche  hier  Erwähnung  finden  müssen, 
von  den  schon  erwähnten  Bildern  der  Hyperämie,  des  Oedems 
und  der  Anämie  des  Gehirnes  (■/,.  R  hei  Keuchhusten)  angefangen 
bis  zu  allgemeinen  Systemerkrankungen. 

Hirnblutungen  —  ebenfalls  bei  Keuchhusten  auf  tretend  — 
führen  zu  vorübergehenden  oder  bleibenden  Lähmungein.  insbe¬ 
sondere  zu  Bl'cklähtuungen. 

Enzephalitis  b°sr,nders  jmm  Formen,  die  hei  Poliomyelitis 
epidemica  Vorkommen.  nrigen  durch  direkte  Affektion  der  Augen* 
muskelkerne  oder  deren  «unrairdchvire  Zentren  und  Bahnen  zu 
häufigen  Lähmung  -erscbeitengei'  der-  Auceumuskelu.  die  oft  nur 
pa.ssaaeren  Charakter  besitzen.  S  f  »•  ii  in  n  -e  1 1  hat  bereits  im  Jahre 
1885  darauf  hinaewieR-en„  daß  sich  im  Verlaufs  des  als  zerebrale 
Kinderlähmung  bekannten  Svmnt'unenbildes  häufig  Augenmuskel- 


Sr.  14 


WIENER  KLINISCHE 


Störungen  einstellen.  In  Freuds  Monographie  über  die  i  at  an  tile 
Zerebrallähmung  finden  wir  die  Bemerkung,  daß  Augenmuskel¬ 
lähmungen  bei  der  hemiplegischen  Form  nur  vereinzelt,  jedoch 
mit  der  Bedeutung  eines  lokalen  Zeichens,  beobachtet  werden; 
diese  Bedeutung  fehlt  ihnen  aber  bei  der  diplegischen  Form,  bei 
welcher  sie  viel  häufiger  aufzutreten  pflegen.  W.  König  hat  in 
seiner  Zusammenstellung  von  72  Kranken  (der  hemiplegischen 
und  diplegischen  Form)  nur  drei  Fälle  mit  Schädigung  des 
Okulomotorius  finden  können. 

Traumen  des  Schädels  bedingen  dasselbe  Bild  durch  direkte 
Verletzung  der  Nerven  bei  Basisfrakturen  oder  durch  sekun¬ 
däre  Abszeßbildung  im  Gehirn. 

ln  diagnostischer  Hinsicht  bieten  die  Lähmungen  infolge 
von  primären  oder  sekundären  Tumoren  des  Gehirns  oder  seiner 
Häute  verhältnismäßig  oft  die  geringsten  Schwierigkeiten;  man 
findet  bei  ihnen  isolierte  und  kombinierte  Lähmungen,  auch 
Blicklähmungen  und  Nystagmus  vor. 

Außerdem  sind  noch  spinale  Erkrankungen,  insbesondere  die 
infantile  Tabes  hier  anzuführen,  die  bereits  in  frühester  Kind¬ 
heit  Lähmungserscheinungen  der  Augenmuskeln  zeitigen  können 
(Pupillenstörung  usw.),  ferner  Affektionen  unbekannter  Ursache 
nach  akuten  Infektionskrankheiten. 

Akute  und  chronische  Vergütungen  -  seien  es  nun  Auto¬ 
intoxikationen  vom  Darme  aus  oder  solche,  die  durch  Produkte 
des  eigenen  krankhaften  Stoffwechsels  bedingt  sind  —  -  zeigen 
sich  in  den  meisten  Fällen,  die  mit  Augensymptomen  einhergehen, 
in  Lähmung  der  Akkommodation,  ohne  jedoch  die  äußeren  Augen¬ 
muskeln  regelmäßig  zu  verschonen.  Die  ähnlich  wirkenden  ekto- 
genen  Vergiftungen  kommen  im  Säuglingsalter  wohl  kaum  jemals 
in  Betracht,  wohl  aber  der  Diabetes,  der  sich  bereits  im  ersten 
Lebensmonat  äußern  kann  und  dem  besonders  die  weiblichen 
Kinder  mehr  als  die  männlichen  unterworfen  sind. 

Nierenkrankheiten,  die  aus  den  verschiedensten  Ursachen 
primär  und  sekundär  im  Säuglingsalter  auftreten  können,  bewirken 
Intoxikationen,  wie  sie  bereits  weiter  oben  erwähnt  wurden  (siehe 
Vergiftungen). 

Sehr-  wichtig  sind  noch  die  Erkrankungen  der  Nase  und 
ihrer  Nebenhöhlen,  die  auf  verschiedene  Weise  zu  Schädigung 
der  Augenmuskeln  führen  können,  indem  sie  sowohl  mechanisch 
eine  Vordrängung  der  Augenhöhlenwand  zur  Folge  haben,  als  auch 
durch  orbitale  Phlegmonen  kompliziert  erscheinen  können.  Ein¬ 
zelne  Fälle  von  Lähmungen  bei  Nasen-  oder  Nebenhühlenerkran- 
kungen  lassen  sich  nicht  anders  als  durch  infektiöse  oder  toxische 
Wirkung  erklären. 

Endlich  bildet  auch  die  Otitis  media  (allenfalls  auch  Sinus¬ 
thrombose)  die  Ursache  (siehe  Influenza);  Bernheimer  zieht 
liier  die  Wirkung  der  Toxine  zur  Erklärung  heran,  während  U  r- 
bantschitsch  ein  Zustandekommen  der  Lähmungen  auf  reflek¬ 
torischem  Wege  annimmt. 

Nach  diesen  Auseinandersetzungen,  welche  die  Häufigkeit 
hühinfantiler  Augenmuskel p ares e  1 1  zeigen,  sei  nun  eine  derartige 
Beobachtung  mitgeteilt,  die  eines  gewissen  Interesses  nicht  ent¬ 
behrt;  leider  konnte  aus  äußeren  Gründen  hei  dem  Falle,  der 
letal  verlief,  keine  Obduktion  vorgenommen  werden,  so  daß  die 
pathologisch-anatomische  Bestätigung  der  Richtigkeit  der  Diagnose 
aussteht. 


Am  17.  Juni  1910  wurde  das  acht  Monate  alle  Kind  St.  Sp. 
von  der  Mutter  auf  die  Klinik  gebracht,  weil  es  vor  sechs  Wochen 
mit  dem  rechten  Auge  nach  außen  zu  schielen  begonnen  habe. 
Mit  vier  Monaten  hatte  es  einen  Darmkatarrh  durchgemacht,  der 
sich  auch  später  noch  einmal  wiederholte.  Die  Mutter  kann  nicht 
angeben,  ob  das  Schielen  plötzlich  oder  allmählich  auftrat,  es  soll 
aber  während  der  ganzen  Zeit  seines  Bestehens  nicht  zugenommen 
haben.  Im  übrigen  sind  keine  auffallenden  Erscheinungen  im 
W  esen  des  Kindes  zu  bemerken.  Es  besteht  kein  Erbrechen,  keine 
Schlafsucht;  die  Zähne  sind  noch  nicht  durchgebrochen.  Die 
Geburt  des  Kindes  war  normal;  die  Eltern  sind  angeblich  gesund, 
von  Lues  wissen  sie  nichts  auszusagen,  auch  ist  die  Familie  in 
bezug  auf  Tuberkulose  anamnestisch  nicht  belastet. 

Status  praesens  vom  17.  Juni  1910:  Das  Kind  ist  seinem 
Alter  entsprechend  groß,  etwas  schwächlich  entwickelt. 

Beide  Augen;  Leichte  Rötung  und  Sekretion  der  Lidbinde- 
Haut,  sonst  äußerlich  normal. 

Rechtes  Auge:  Die  rechte  Lidspalte  ist  4  bis  5  mm  weit 
ceöffnet ;  bei  Blick  des  linken  Auges  geradeaus  ist  das  rechte 
soweit  nach  außen  abgewichen,  daß  die  Sklera  zwischen  Canthus 
mctemus  und  äußerem  Hornhautrand  kaum  einen  Millimeter  breit 
sichtbar  ist.  Die  Pupille  ist  gut  mittelweit,  ohne  Reaktion  auf 
Licht.  Bei  Blickwendung  des  linken  Auges  nach  links  folgt  das 
rechte  nur  bis  zur  Medianlinie  nach  innen;  bei  Hebung  und 
Senkung  der  Blickrichtung  ist  kein  Zurückbleiben  des  rechten 


Wochenschrift,  mi. 


Auges  zu  bemerken,  wohl  aber  steht  dieses  eine  Spur  tiefer 
als  da.s  linke.  Außerdem  besteht  kaum  merklicher  Exophthalmus. 

Linkes  Auge* .  \Y  eite  der  Lidspalte  etwa  7  mm. 

Herr  Priv.-Doz.  Hr.  Marburg  war  so  liebenswürdig,  den 
eivenbetund  des  Kindes  aufzuneiunen,  der  bis  aut  beiderseitigen 
Babmski  normal  war. 

Die  Diagnose  wird  aui  einen  tuberkulösen  oder  luetischen 
Prozeß  im  Gehirn  gestellt. 

Therapie:  Hy  drop  y  rin.  10  :  50-0,  zweimal  täglich  ein  Kaifee- 
lotiel  voll  in  die  Milch  zu  geben. 

Am  23.  Juni  1910  wurde  das  Mädchen  im  Kinderspitaie 
aulgenommen,  im  folgenden  seien  die  dort  erhobenen  Angaben 
kurz  wiedergegeben : 

Das  vollständig  ausgetragene,  normal  geborene  Kind  wurde 
durch  die  ersten  zwei  Monate  an  der  Brust  ernährt  (2Vs-  bis 
Bstündige  Mahlzeiten),  vom  dritten  Monat  au  mit  abgekochter, 
mit  Fenchelwasser  verdünnter  xMilch  (3/4  bis  1  Liter  täglich)! 
Vom  vierten  Monate  an  Breinahrung,  vom  sechsten  Monate  an 
war  es  in  der  Kost;  die  Zahnung  ist  noch  nicht  erfolgt.  Mit 
drei  Monaten  litt  es  an  Magendarmkatarrh  mit  Erbrechen  nach 
jeder  Mahlzeit  und  fünf  bis  sieben  grünen,  dünnflüssigen  Stühlen 
täglich;  Besserung  nach  der  dritten  Woche.  Die  Nahrung  bestand 
in  russischem  Tee  mit  Milch  zu  gleichen  Teilen.  Seit  zwei  Mo¬ 
naten  hat  es  einen  Ausschlag  am  Rücken,  der  mit  Eichenrinden.- 
bädern  behandelt  wurde  und  sich  darauf  besserte.  Sonst  hat  das 
Kind  keine  Erkrankung  durchgemacht.  Seit  sechs  bis  sieben 
Wochen  steht  das  rechte  Oberlid  tiefer  und  das  rechte  Auge 
schielt  nach  außen.  Das  Kind  ist  ruhig,  erbricht  nicht,  schwitzt 
aber  stark  in  der  Nacht;  hei  beiden  Eltern  finden  sich  keine 
Anhaltspunkte  für  tuberkulöse  oder  Lues;  die  Wohnung  tier 
Familie  ist  feucht. 

Status  praesens  vom  24.  Juni  1910:  Das  6200  g  schwere 
Kind  mißt  64  cm  und  ist  in  seiner  Entwicklung  etwas  zurück¬ 
geblieben;  die  Haut  des  Rumpfes  zeigt  zahlreiche  Sudamina. 
Knochengerüst  mit  deutlichen  Zeichen  von  Rachitis;  große  Fon¬ 
tanelle,  3:3  cm,  offen,  vorspringende  Tubera,  rosenkranzartige 
Verdickungen  der  Rippenenden  und  Verdickung  der  Epiphysen  der 
langen  Röhrenknochen.  Nur  in  der  linken  Achselhöhle  mehrere 
bis  erbsengroße  Drüsen.  Kein  Fieber,  Sensorium  frei.  Kein 
Fazialisphänomen ;  Patellarsehnenreflexe  gesteigert,  Trousseau  ne¬ 
gativ,  Babinski  positiv,  Kernig  negativ.  Keine  Nackensteifigkeit. 
Bauchdeckenreflex  lebhaft.  Ptosis  des  rechten  Oberlides,  rechte 
Pupille  weiter  als  die  linke,  Strabismus  divergent.  Bindehäute 
leicht  gerötet,  etwas  sezernierend. 

Der  Befund  des  Mundes,  der  Nase  und  der  Ohren  zeigt  nichts 
Besonderes.  Ueber  den  Lungen  bestehen  keine  Schalldifferenzen, 
die  Atmung  ist  überall  vesikulär.  Spärliche  bronchitische  Rassel¬ 
geräusche.  Herzdämpfung  in  normalen  Grenzen,  Töne  rein,  keine 
Geräusche.  Bauch  leicht  auigetrieben,  nirgends  druckempfindlich; 
bisher  kein  Erbrechen;  schleimig-dyspeptiscber  Stuhl.  Leber  und 
Milz  nicht  nachweisbar  vergrößert.  Im  Harn  keine  abnormen  Be¬ 
standteile.  v.  Pir  quetsche  Reaktion:  15.  Wassermann  sehe 
Serumreaktion :  schwach  positiv. 

2.  Juli:  Nahrungsaufnahme  gut,  kein  Fieber,  Stuhl  in  Ord¬ 
nung;  Körpergewicht  stationär;  das  Ekzem  am  Rücken  etwas 
gebessert.  —  Augenbefund  unverändert,  Patellarsehnenreflexe  ge¬ 
steigert,  keine  Nackensteifigkeit;  kein  Kernig,  kein  Trousseau, 
kein  Babinski ;  Bauchdeckenreflex  lebhaft. 

Augenbefund  (Prof.  Dr.  Salz  mann):  Die  rechte  Lidspalte 
ist  um  die  Hälfte  enger  als  die  normal  weite  linke.  Das  rechte 
Oberlid  zeigt  keine  Falten;  die  rechte  Augenbraue  ebensoweit 
höher  stehend,  als  die  linke  Lidspalte  weiter  ist,  das  rechte 
Auge  uach  innen,  oben  und  unten  unbeweglich,  auch  keine 
Rollung  des  Bulbus  sichtbar.  Augenhintergrund  beiderseits  normal. 
Sonstige  Lähmungen  von  Hirnnerven  fehlen  vollständig.  Die  Ex¬ 
tremitäten  sind  frei  beweglich,  die  Reflexe  normal;  Sensorium  klar; 
kein  abnormes  Benehmen,  keine  Anzeichen  von  Kopfschmerzen. 

5.  Juli;  Augenbefund  unverändert;  Nahrungsaufnahme  gut; 
gestern  zwei  gelbe  dyspeptische  Stühle. 

Am  6.  Juli  wurde  das  Kind  ohne  wesentliche  Veränderung 
in  häusliche  Pflege  entlassen. 

Am  29.  Juli  starb  das  Mädchen —  das  seither  leider  nicht 
mehr  auf  die  Klinik  gebracht  worden  war  —  nachdem  schon 
14  Tage  vorher  Krämpfe  der  Extremitäten  und  immer  häufige; 
werdendes  Erbrechen  eingesetzt  hatten;  auch  soll  das  Kind  in 
letzter  Zeit  einen  vollständig  benommenen  Eindruck  gemacht 
haben.  In  einem  Kinderambulatorium,  wohin  die  Mutter  noch 
zweimal  gekommen  war,  wurde  Bromnatrium  verordnet. 

* 

Versuchen  wir  nun,  das  im  allgemeinen  über  Angcnmuskel- 
lähmungen  im  Kindesalter  Gesagte  auf  diesen  besonderen  Fall 


496 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  14 


cinzuwendeii  und  dessen  Entstellung  danach  zu  erklären,  so  müssen 
wir  zunächst  trachten,  durch  Berücksichtigung  und  gegenseitiges 
Abwägen  der  vorhandenen  Begleiterscheinungen  uns  über  die 
primäre  ätiologische  Veränderung  klar  zu  werden. 

Vor  allem  muß  besonders  das  lange  Bestehen  der  Lähmung 
hervorgehoben  werden,  die  während  der  ganzen  Dauer  der  Beob¬ 
achtung  jedenfalls  keine  bedeutende  Veränderung  erfuhr,  immer 
nur  auf  das  rechte  Auge  beschränkt  war  und  bei  Beteiligung  sämt¬ 
licher  Okulomotoriuszweige  auch  die  Binnenmuskulatur  und  den 
Levator  betraf.  Dabei  zeigte  das  Kind  mit  Ausnahme  der  letzten 
zwei  bis  drei  Wochen  ein  recht  gutes  Allgemeinbefinden  und 
keinerlei  Symptome  einer  anderweitigen  a usgebrei toteren  Er¬ 
krankung. 

Dieser  sehr’  langsam  fortschreitende  Zustand  der  Lähmung 
von  seiten  des  rechten  Auges  erlaubt  es  uns  auch,  hinsichtlich 
der  zugrunde  liegenden  Veränderung  einige  Vermutungen  aus¬ 
zusprechen.  Es  dürfte  sich  um  einen  ziemlich  streng  lokalisierten, 
gar  nicht  oder  nur  wenig  fortschreitenden  Krankheitsherd  im 
Gehirne  handeln,  was  schon  von  vornherein  Entzündung  aus¬ 
schließt.  Die  übrigen  Veränderungen  des  Zentralnervensystems 
—  mit  Ausnahme  des  Tumors  —  als  Grundlage  der  Störung 
lassen  sich  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  ausschalten.  Gegen 
Hirnblutungen  —  für  deren  Entstehung  anamnestisch  überhaupt 
kein  Umstand  namhaft  gemacht  werden  kann  —  spricht  das  nur 
einmalige  und  So  streng  lokalisierte  Auftreten  der  Schädigung 
und  deren  für  Blutung  zu  langsame  Progredienz ;  auch  ein  Trauma, 
das'  etwa  das  Vorhandensein  eines  Hirnabszesses  erklären  könnte, 
fehlt  in  der  Vorgeschichte,  ebenso  wie  Erkrankungen  der  Nase 
und  ihrer  Nebenhöhlen  oder  des  Ohres,  die  ebenfalls  zu  Abszessen 
führen  können.  Aus  der  ganzen  Menge  von  Infektionskrankheiten 
kommt  kaum  eine  andere  als  Lues  und  Tuberkulose  in  Betracht, 
ganz  abgesehen  von  der  bereits  erwähnten  Eigenartigkeit  der 
Kranklieitserscheinungen.  Ebenso  läßt  die  kurze  Dauer  und  der 
verhältnismäßig  leichte  Grad  der  Verdauungsstörungen  —  schon 
gar  bei  der  Einseitigkeit  des  Prozesses  —  den  Gedanken  eines 
Zusammenhanges  der  Darmstörungen  mit  der  Lähmung  nicht  auf- 
kommen.  Andere  konstitutionelle  Erkrankungen,  welche  zu  einer 
Autointoxikation  hätten  führen  können,  sind  durch  die  negativen 
Ergebnisse  der  Urinuntersuchung  ausgeschlossen. 

So  bleiben  nur  die  Möglichkeiten  einer  der  Poliomyelitis 
identischen  Polioenzephalitis  oder  eines  Tumors  im  Gehirn  übrig. 
Nimmt  man  auch  an,  die  ersterwähnte  Erkrankung  sei  ohne  der 
Umgebung  auffallende  Symptome  abgelaufen,  so  bleibt  es  immer 
noch  eigentümlich,  daß  eine  einseitige  komplette  Okulomotorius¬ 
lähmung  das  einzig  nachweisbare  Residuum  der  Krankheit  ge¬ 
blieben  wäre.  Die  spätere  Progredienz  des  Leidens  nach  einem 
scheinbar  in  völligem  Wohlbefinden  verlaufenden  Intervall,  ferner 
das  Fehlen  anderer  Symptome  trotz  der  Dissemination  des  Pro¬ 
zesses,  sowie  das  Ausbleiben  fieberhafter  Erscheinungen  sprechen 
nicht  sehr  für  eine  solche  Annahme. 

Bei  der  Voraussetzung  eines  Tumors  des  Gehirnes  —  wobei 
sich  die  vorhandenen  Erscheinungen  am  ungezwungensten  er¬ 
klären  ließen  —  kämen  vor  allem  Syphilis  und  Tuberkulose  in 
Betracht.  Der,  wenn  auch  schwach  positive  Ausfall  der  Wasser¬ 
mann  sehen  Serumprobe  erlaubt  es  nicht,  die  Möglichkeit  einer 
luetischen  Granulationsgeschwulst  ohne  weiteres  von  der  Hand 
zu  weisen. 

Andrerseits  liegt  bei  der  so  großen  Häufigkeit  der  tuber¬ 
kulösen  Hirntumoren  im  Säuglingsalter  die  Vermutung  sehr  nahe, 
daß  es  sich  hier  um  einen  solchen  handle;  es  sind  auch  gerade 
die  terminalen  Erscheinungen  einer  Meningitis,  welche  sehr  zu¬ 
gunsten  dieser  Annahme  sprechen.  Sind  doch  nach  der  Angabe 
von  Starr  unter  300  Hirngeschwülsten  des  jugendlichen  Alters 
152  Tuberkel.  Es  könnte  allerdings  dagegen  auch  der  Einwand 
erhoben  werden,  daß  eine  basale  Meningitis  tuberculosa  selbst 
ohne  Bestehen  eines  Tuberkels  den  Verlauf  der  Krankheit  voll¬ 
kommen  erklären  würde;  kommt  es  doch  vor,  daß  basale  Ent¬ 
zündungsprodukte  um  die  Austrittsstellen  der  Hirnnerven  durch 
Ernährungsstörungen,  Kompression  oder  Entzündung  derselben 
zu  ganz  denselben  Symptomen  führen;  dann  müßten  die  kurz 
vor  dem  Tode  aufgetretenen  schweren  Erscheinungen  auf  eine 
plötzlich  erfolgte  Ausbreitung  des  schon  lange  bestehenden  chro¬ 
nischen  Krankheitsbildes  bezogen  werden.  Diese  Annahme  ist  indes 
ebenfalls  ziemlich  unwahrscheinlich,  da  bei  einigermaßen  fort¬ 
schreitender  Ausbreitung  eines  exsudativen  Prozesses  wohl  auch 
andere  Gehirnnerven  in  Mitleidenschaft  gezogen  worden  wären 
und  die;  verhältnismäßige  Konstanz  des  Krankheitsbildes  sich 
schwer  damit  vereinbaren  ließe.  Wohl  aber  kann  sie  in  weitaus  der 
größten  Mehrzahl  der  Fälle  von  Hirntuberkeln  beobachtet  werden, 
die  ja  nach  der  Zusammenstellung  von  Zap  pert  zum  größten 
Teil  bei  Kindern  bis  zum  Eintritt  der  terminalen  typischen  oder 


atypischen  Meningitis  latent  verlaufen  (in  41  von  62  Fällen 
seiner  Tabelle).  Infolgedessen  wird  bei  Kindern  sehr  oft  ein 
recht  großer  Hirntuberkel  bei  der  Sektion  gefunden,  während  das 
Krankheitsbild  das  Bestehen  eines  solchen  nicht  hat  erkennen 
lassen.  Allerdings  kommt  es  sehr  auf  Sitz  und  Größe  der  Ge¬ 
schwulst  an,  auch  darauf,  ob  sie  als  solitäre  oder  multinle  Neu 
bildung  auftritt;  und  gerade  dann  bilden  sich  ausgesprochene 
Herderscheinungen  aus,  wemr  das  Wachstum  des  Tuberkels  nicht 
vorher  durch  den  Ausbruch  einer  Meningitis  unterbrochen  wird. 
Unter  den  vielfachen  Erscheinungen,  die  uns  zur  Diagnose  eines 
HirnLuberkels  führen  können,  nehmen  die  Lähmungen  cler  Hirn¬ 
nerven  eine  besondere  Gruppe  ein.  Sie  treten  oft  als  das  einzige 
Symptom  zu  Beginn  der  Erkrankung  auf,  beschränken  sich  ent¬ 
weder  nur  auf  die  Augenmuskeln  oder  betreffen  auch  den  Fazialis; 
diese  initialen  Symptome  werden  insbesondere  bei  Tumoren  der 
Brücke  oder  der  Vierhügel  beobachtet,  oft  als  einziges  Anzeichen 
der  Eikrankung,  kommen  aber  nicht  auch  allzu  selten  bei  Tu¬ 
moren  anderen  Sitzes  vor,  wenn  sie  —  in  ihrem  Wachstum 
schon  recht  vorgeschritten  —  einen  starken  Druck  auf  die  Basis 
des  Gehirnes  ausüben.  Doch  steht  wohl  zu  erwarten,  daß  diese 
letzteren  auch  Lähmungen  oder  Ausfallserscheinungen  in  der 
Funktion  anderer  Hirnnerven  oder  wenigstens  die  allgemeinen 
Symptome  vermehrten  Hirndruckes  aufweisen  würden;  im  all 
gemeinen  gilt  auch,  daß  beginnende  Tuberkel  im  Groß-  und  Klem 
him  und  den  Stammganglien  häufiger  latent  verlaufen,  als  solche 
im  Pons  und  den  Vierhügeln.  Für  diesen  von  uns  angenommenen 
Sitz  des  Tumors  spricht  auch  die  von  Zap  pert  aufgesteilte  Be 
hauptung,  die  lokalisierbaren  Tuberkel  seien  meist  schon  ziemlich 
groß  und  besonders  an  diesen  beiden  Stellen  oder  auch  im 
Kleinhirn  gelegen.  Gegen  die  Voraussetzung  des  Sitzes  im  Klein 
him  aber  läßt  sich  der  Mangel  jeglicher  zerebellarer  Erscheinungen 
anführen,  obwohl  er  auch  kein  sicherer  Gegenbeweis  ist.  üb 
wir  es  mit  einem  solitären  Tuberkel  oder  mit  multipeln  solchen 
zu  tun  haben,  von  denen  eben  nur  einer  die  sichtbaren  Sym¬ 
ptome  verursacht,  während  die  anderen  nicht  erkannt  wurden, 
was  ja  nicht  selten  geschieht,  darüber  zu  entscheiden  haben  wir 
keine  Möglichkeit;  wahrscheinlich  ist  es  nicht,  da  multiple  Tu¬ 
berkel  oft  halbseitige,  erst  spastische,  dann  paretische  Zustände 
der  kontralateralen  Körperhälfte  in  ihrem  Gefolge  haben.  Es  ist 
wohl  auch  keine  erzwungene  Erklärung,  die  zehn  bis  vierzehn 
Tage  vor  dem  Tode  aufgetretenen  konvulsiven  Zustände  einer  ter¬ 
minalen  Meningitis .  oder  einem  trotz  der  Dünne  des  Schädels  zu 
stark  werdenden  allgemeinen  Hirndruck  zuzuschreiben,  die  ja 
fast  immer  dieses  Krankheitsbild  abschließen. 

Ein  orbitaler  Prozeß  endlich  kann  nicht  in  Frage  kommen, 
da  der  von  Anfang  an  ganz  geringe,  bei  Lähmungen  der  äußeren 
Augenmuskeln  häutig  beobachtete  Exophthalmus  nicht  zugenom- 
men  hat;  zudem  hätte  ein  solcher  Tumor  irgendwelcher  AeLio 
logic  endlich  doch  zu  Veränderungen  am  Optikus  führen  müssen. 

Warum  eine  basale  Schädigung  des  Okulomotorius  nicht 
gut  als  Ursache  der  Lähmung  angenommen  werden  kann,  ist 
bereits  früher  erwähnt  worden.  (Scharf  abgegrenzte,  kaum  fort¬ 
schreitende  Störung  des  einzigen  Nervus  oculomotorius  bei  Mangel 
jeder  anderen  Erscheinungen.) 

Ein  pathologischer  Prozeß,  der  zur  Lähmung  von  Augen¬ 
muskeln  im  allgemeinen  führt,  kann  —  abgesehen  von  Orbita 
und  Hirnbasis  —  auch  in  der  Kernregion  oder  in  den  Hemi¬ 
sphären  des  Gehirnes  lokalisiert  sein.  Der  Sitz  der  Störung 
in  der  Kernregion  ist  für  unseren  Fall  nicht  sehr  wahrschein¬ 
lich,  da  totale  einseitige  Okulomotoriuslähmungen  aus  anatomi¬ 
schen  Gründen  selten  nukleär  sein  werden. 

Eine  einseitige  Okulomotoriuslähmung  könnte  auch  durch 
Fernwirkung  ausgelöst  werden,  wie  sie  z.  B.  von  Tumoren  des 
gleichseitigen  Schläfenlappens  hervorgebracht  wird.  Trotz  alledem 
glauben  wir  für  unseren  Fall  wohl  am  wahrscheinlichsten  einen 
tuberkulösen  Tumor  der  Vierhügel  voraussetzen  zu  dürfen,  obwohl 
nach  Bernheim  er  der  Sitz  der  Erkrankung  aus  der  Lähmung 
von  Okulomotoriusfäsern  allein  niemals  mit  Sicherheit  erschlossen 
werden  kann. 

Am  Ende  dieser  Arbeit  möge  noch  eine  Zusammenstellung 
jener  Fälle  von  Okulomotoriusparesen  folgen,  die  sich  innerhalb 
der  beiden  ersten  Lebensjahre  entwickelt  hatten,  soweit  sie  mir 
aus  der  Literatur  zugänglich  waren : 

1882;  Bagin  ski,  Arch.  f.  Kinderheilk.,  Bd.  3,  S.  57.  (2  Fälle.) 

1883:  M.  Crohn,  Arch.  f.  Kinderheilk.;  Bd.  4,  S.  91.  1885: 

Moebius,  Jakrb.  f.  Kinderheilk,  Bd.  22,  S.  354.  1892:  E.  Mein. 

Wiener  klin.  Woehensehr.,  Nr.  42.  —  1893:  D  Durante,  La  Pediatria 
1/6,  Juni.  (Ref.  im  Arch.  f.  Kinderheilk.  1896.  Bd.  19,  S.  417.)  1894: 

Bruns,  Arch.  f.  Psych.,  Bd.  36,  S.  300;  Ponticaccia,  La  Pediatria, 
S.  264  ff.,  294  ff.  (Ref.  im  Jahrb.  f.  Kinderheilk.,  Bd.  43.  S  269.) 
1897  :  R.  F  i  s  c  h  1,  Prag.  med.  Wochenschr.  Nr.  26—  28;  G.  A.  G  i  b  s  o  n  u. 
A.  T  urne  r,  Edinb.  med.  Journ.  (May).  (Ref.  Jahresber.  f.  Neur.)  — 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


497 


Nr.  14 


1899:  H.  Wolf,  Arch.  f.  Kinderheilk..  Rd.  24.  S.  319.  (Fall  21.) 
1901:  W.  Nissen,  .Tahrb,  f.  Kinderheilk..  Bd.  54.  S.  618  ff.  (Fall  2  u.  4.) 
-  1903:  Guinon,  Bullet,  de  la  Socidtd  de  Pädiatrie  de  Paris,  Nr  5 
(Ref.  Monatsschr.  f.  Kinderheilk.,  S.  456.)  —  1904:  Bouchaud.  Arch 
g6ner.  de  nrtd.,  Nr.  34.  _  (Ref.  Monatsschr.  f.  Kinderheilk.,  S.  536.) 
1907:  Meczkowski,  Sitzung  d.  neurol. -psych.  Ges.  in  Warschau  am 
19.  Oktober  1907.  (Ref.  Neurol.  Zentralbl.  1909,  S.  781.)  —  1908:  Ba- 
bonneix  u.  Harvier,  Gaz.  d.  Hop..  Nr.  127.  (Ref.  Michel-Nagel 
1908.)  —  1910:  Zap  pert.  Jahrb.  f.  Kinderheilk.  u.  phys.  Erziehiuw. 
Bd.  72  (Ergänzungsheft). 

Es  sei  noch  einmal  erwähnt,  daß  hiebei  von  der  Einbe¬ 
ziehung  angeborener  Beweglichkeitsdefekte  abgesehen  wurde;  das¬ 
selbe  gilt  auch  von  den  wenigen  bekannten  Fällen  der  frühzeitig 
aufgetretenen,  chronischen,  progressiven,  aber  isoliert  bleibenden 
Ophthalmoplegie  (Eliasberg,  Hanke,  .Tocqs,  Marina,  Neu¬ 
burger  u.  a.),  welche  von  Moebius  unter  der  Gruppe  des  „in¬ 
fantilen  Kemschwundes“  eingereiht  worden  war.  Zapp  er  t  hat 
gezeigt,  daß  —  trotz  des'  erwiesenen  Bestehens  kongenitaler  Kern¬ 
aplasie,  die  bei  einseitiger  Beweglichkeitsstörung  des  Auges  immer 
ausgeschlossen  werden  kann  —  kein  Grund  vorhanden  sei,  die 
Krankheit  als  eine  speziell  das  Kindesalter  betreffende  zu  be¬ 
zeichnen. 

Für  die  Ueberlassung  des  Falles  bin  ich  meinem  verehrten 
Chef  und  Lehrer,  Flerrn  Hofrat  Fuchs,  sehr  zu  Dank  verpflichtet, 
ebenso  dem  Herrn  Priv.-Doz.  Dr.  Marburg,  der  mich  bei  der 
Abfassung  der  Arbeit  wesentlich  unterstützt  hat. 

Aus  der  Literatur  wurden  —  außer  den  schon  angeführten 
Quellen  noch  folgende  Arbeiten  benützt: 

Literatur: 

Bernheime  r,  Aetiologie  und  pathologische  Anatomie  der 
Augenmuskellähmungen.  Graefe-Saemisch.  Handb.  d.  ges.  Augen- 
heilk.  1902.  2.  Teil.  Bd.  8,  Kap.  11,  Nachtr.  II.  -  Freu  d.  Die  infantile 
Zerebrallähmung.  Nothnagel,  Handb.  d.  spez.  Pathol,  u.  Ther.,  IX/3., 

1901,  S.  66,  123  ff.  — -  W.  König,  Neurol.  Zentralbl.  1895,  Sitzungsber. 
d.  Berl.  Ges.  f.  Psych,  u.  Nervenkrankh.  u.  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  1896. 
S.  284.  —  Moebius,  zit.  nach  Zappert.  —  Starr,  zit.  nach 
Oppenheim,  Geschwülste  des  Gehirnes.  Nothnagels  Handb.,  IX/2., 
1897.  S.  16.  —  Stricker,  zit.  nach  Biedert.  Lehrb.  d.  Kinderkrankh., 

1902.  S.  383.  —  Strümpell.  Ueber  die  akute  Enzephalitis  der  Kinder, 
lahrb.  f.  Kinderheilk.  1885.  Bd.  22.  —  Uhthoff,  Ueber  die  Augen- 
symptome  bei  epidemischer  Genickstarre.  Kongreßber.  d.  Heidelb.  ophth 
Ges-  1905,  Bd.  32,  S.  84  ff.  —  Wilbrand-Saenger.  Neurologie  des 
Auges  1.  Bd.,  1.  Abt.,  Tab  III  (zit.  Eliasberg,  Hanke.  Jocqs,  Ma- 
r.  nab  —  Zappert,  Der  Hirntuberkel  im  Kindesalter.  Arbeit,  aus  d. 
a  eurol.  Inst,  1907,  Bd.  16.  S.  79  ff.  Festschrift:  ITeber  infantilen  Kern¬ 
schwund.  Ergehn,  d.  int.  Med.  u.  Kinderheilk.,  Bd  5  (zit.  Neuburger) 


OEFFENTLICHE  GESUNDHEITSPFLEGE. 

Das  Gesetz  zum  Schutze  gegen  übertragbare 

Krankheiten. 

Von  Sanitätsrat  Dr.  Engen  Hofmokl  in  Wien. 

Seit  2V2  Jahren  steht  der  Regierungsentwurf  eines  ( lesetzes,1) 
betreffend  die  Verhütung  und  Bekämpfung  übertragbarer  Krank¬ 
heiten,  auf  der  Tagesordnung.  Im  November  1908  eingebracht, 
wurde  der  Entwurf  vom  Herrenhause  mit  wenigen  Abänderungen, 
welche  sich  aber  durchwegs  als  Verbesserungen  darstellen,  im 
Juni  1909  verabschiedet.  Vorschläge,  die  in  ärztlichen  Vereini¬ 
gungen  und  in  der  Fachpresse  zur  Erörterung  kamen,  fanden  unter 
diesen  Umständen  wenig  Berücksichtigung. 

Im  Sanitätsausschusse  des  Abgeordnetenhauses  begann  die 
Beratung  über  den  Gesetzentwurf  erst  im  März  d.  .1.,  sie  ging 
aber  nicht  über  die  ersten  Paragraph«  hinaus,  weil  das  Abge¬ 
ordnetenhaus  aufgelöst  wurde.  Immerhin  wurde  die  Regierungs¬ 
vorlage  durch  die  zahlreichen  Abänderungsbeschlüsse  des  Sani¬ 
tätsausschusses  ihres  bisherigen  dogmatischen  Charakters  ent¬ 
kleidet. 

Indessen  übergab  der  Zentralausschuß  für  öffent¬ 
liche  Gesundheitspflege  seine  in  Druck  gelegten  A nträge 
der  Regierung  und  dem  Sanitätsausschusse  des  Abgeordneten¬ 
hauses. 

Die  Aktion  des  Zentralausschusses  ist  geeignet,  für  den 
Werdegang  dieses  wichtigen  Sanitätsgesetzes  eine  neue  Etappe 
(u  eröffnen.  Es  kommt  nicht  bloß  die  gewichtige  Stimme  des 
Zentralausschusses,  welcher  satzungsgemäß  zu  gemeinsamer  Ver¬ 
anstaltung  der  elf  bedeutsamen  auf  dem  Gebiete  der  öffentlichen 
Gesundheitspflege  sich  betätigenden  Vereine  berufen  ist,  in  Be¬ 
fracht,  vielmehr  fällt  auch  die  fachliche  Begründung  und  die 
sorgfältige  Ausarbeitung  der  Anträge  schwer  in  die  Wagschale. 

I  m»  -—4  — 3 

*).  Vgl.  Wiener  klin.  Wochensehr.  1909,  Nr.  16  u.  17. 


Abseits  der  Kritik  beschränkt  sich  der  Zentraläusschoß 
darauf,  positive  Anträge  zu  stellen,  sie  entsprechend  zu  fassen 
und  in  den  Rahmen  des  Gesetzentwurfes  einzufügen.  Dazu  kommt 
noch  der  auf  sachliche  Momente  sich  beschränkende  Erläute¬ 
rungsbericht. 

b>o  liegt  nebst  dem  Regierungsentwurfe  unter  weitgehender 
Anlehnung  an  den  letzteren  eine  zweite  den  Rereich  des  ganzen 
Gesetzes  umfassende  Vorlage  des  Zentralausschnsses  für  Gesund¬ 
heitspflege  vor. 

Insolange  der  Grundsatz  gilt,  daß  das  Bessere  der  Feind  des 
Guten  ist  —  hier  die  gedachte  Vorlage  gegenüber  dem  Regie- 
rungsentwurfe  —  muß  angenommen  werden,  daß  an  diesen  An¬ 
trägen.  welche  in  ärztlichen  Kreisen  die  weiteste  Verbreitung  ver¬ 
dienen.2)  achtlos  nicht  vorübergegangen  werden  kann. 

Die  praktische  Seite  im  Auge  behaltend,  wurde  der,  wenn 
auch  enge  Rahmen  des  vorliegenden  Gesetzentwurfes  beibehalten. 
Infolgedessen  blieb  kein  Platz  übrig  für  Bestimmungen  zur 
Schaffung  weitergehender  prophylaktischer  Schutzmaßnahmen,  für 
Assanierungsanlagen  u.  dgl.  Auch  die  Bekämpfung  der  Tuber¬ 
kulose  und  Syphilis  soll  zum  Gegenstände  eines  besonderen  Ge¬ 
setzes  genommen  werden.  Aus  Opportunitätsgründen  ist  dieser 
Weg  der  richtige. 

Timern  Wesen  nach  beziehen  sich  die  Abänderungsanträge 
auf  die  Abgrenzung  der  Kompetenzen  bei  Handhabung  dieses 
Gesetzes,  auf  die  richtige  Vertretung  dev  für  die  Bekämpfung  ma߬ 
gebenden  sanitären  Gesichtspunkte,  sowie  auf  die  bisher  ganz 
unzulänglich  vorgesehenen  Entschädigungsansprüche.  TJeberdies 
ergab  sich  genug  Gelegenheit,  sprachliche  und  stilistische  Ver¬ 
besserungen  vorzuschlagen,  sowie  unerläßliche  Ergänzungen  hei- 
zu fügen. 

Dabei  kam  das  grundlegende  Gutachten  des  Obersten  Sani¬ 
tätsrates,  von  dessen  Anträgen  die  Regierungsvorlage  vielfach 
abweicht,  oder  einzelne  derselben  übergeht,  besser  zur  Geltung. 
Alle  (übrigens  nicht  zahlreichen)  Abänderungen  des  Herrenhauses 
wurden  beibehalten. 

Eine  klare  Umschreibung  der  Rechte  und  Pflichten 
der  zur  Bekämpfung  vorgeschobenen  Aerzte  erfolgte  in  den 
Anträgen  des  Zentralausschnsses  nicht  etwa  in  Vertretung  der 
ärztlichen  Standes  inter  essen,  sondern  aus  begründeten  Rücksichten 
auf  den  richtigen  Ablauf  der  notwendigen  Vorkehrungen.  Die¬ 
selben  soll  der  beamtete  Arzt  im  Rahmen  der  normierten  Bestim- 
müngen  aus  eigener  Machtvollkommenheit  anordnen  und  veran¬ 
lassen  u.  zw.  nur  im  Falle  dringender  Gefahr,  jedoch  stets  hei  Auf¬ 
treten  von  Pest.  Cholera,  Blattern,  Flecktyphus,  Scharlach,  Diph¬ 
therie,  Wutkrankheit  und  Bißverletzungen  durch  wutkranke  Tiere 
7).  Der  Arzt  soll  wie  in  Deutschland  befugt  sein,  auch  ohne 
speziellen  behördlichen  Auftrag  die  unaufschiebbaren  Erhebungen 
und  Untersuchungen  einzuleiten  (§  5). 

Sowohl  die  Gemeinden  wie  die  politischen  Behörden  hätten 
die  Volkehrungen  nur  „mittels  der  in  ihrem  Dienste  beamteten 
Aerzte“  zu  treffen  (§  42),  ebenso  über  die  einlangenden  Infektions- 
anzeigen  den  in  ihren  Diensten  stehenden  beamteten  Arzt  un¬ 
verzüglich  zu  verständigen  (§  4).  Es  soll  eben  hintangehalten 
werden,  daß  Erhebungen  durch  Nichtäßzte  stattfinden,  was, 
so  befremdend  es  erscheint,  tatsächlich  doch  vorkommt. 

Die  zur  Feststellung  der  Krankheit  etwa  erforderliche  Oeff- 
nung  der  Leiche  wäre  in  dringenden  Fällen  vom  Amtsärzte  der 
politischen  Behörde  erster  Instanz  anzuordnen  (§  5). 

Bei  Ausschließung  vom  Besuche  der  Lehranstalten  soll  „nach 
Weisung  des  beamteten  Arztes“  vorgegangen  werden  (§  10). 

Die  angeführten  Bestimmungen  sind  im  Regierungsentwurfe 
entweder  nicht  anfgenommen  oder  in  anfechtbarer  Weise  um¬ 
schrieben. 

Was  jene  Punkte  betrifft,  welche  mit  den  sanitären 
G  r  u  n  d  s  ä  t  z  e  n  besser  in  E  i  n  k  1  a  !n  g  g  e  b  r  a  c  h  t  w  e  r  d  e  n 
mußten,  so  war  es  unerläßlich,  vorzuschreiben,  daß  außer  den 
kranken,  gegebenen  Falles  auch  die  krankheitsverdächtigen  Per¬ 
sonen  abzusondern  sind  (§  8). 

Der  Satz  des  Regierungsentwurfes,  daß  „die  Desinfektion 
nach  Erfordernis  unter  fachmännischer  Leitung  durch'zu 
führen“  sei,  mußte  naturgemäß  als  unklar  und  unzureichend 
gestrichen  werden  (§  9).  Desgleichen  der  Satz  im  §  11,  daß 
„die  Reinigung  und  Entleerung  von  Senkgruben,  Aborten.  Kanali¬ 
sierungsanlagen  und  Stallungen  ungeordnet“  werden  kann ;  hiezu 
fügt  der  Erläuterungsbericht  des  Zentralausschusses  hinzu,  daß 
es  zweckmäßiger  wäre,  gegebenen  Falles  die  Verhinderung  der 
Entleerung  zu  Epidemiezeiten  anzuordnen. 

2)  Diese  Anträge  erscheinen  in  der  Oesterr.  Vierteljahrschrift  für 
öffentliche  Gesundheitspflege  1911.  H.  1.  Son dernbd rücke  sind  bei  der 
Redaktion  der  Vierteljabrschrifl,  IX/.,,  Kinderspitalgasse  15,  zu  erhalten. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  14 


Zu  den  in  ärztlichen  Kreisen  seit  dem  Erscheinen  des  Re¬ 
gierungsentwurfes  angefochtenen  Bestimmungen  gehören  jene  der 
§§  11  und  21,  wonach  auf  die  Wasserbenützung  zur  Erzeugung 
motorischer  Kraft,  sowie  zu  Verkehrs-  und  Industriezwecken  ein 
Verbot  , .keinesfalls“  erstreckt  werden,  ferner  daß  die  Schließung 
einer  Betriebsstätte  erst  nach  Anhörung  des  zuständigen  Gewerbe- 
inspektors  erfolgen  darf. 

Solche  Enunziationen  sind  mit  einem  geordneten  Gange 
der  Seuchenbekämpfung  nie  vereinbar,  sie  sind  auch  sachlich 
nicht  begründet.  Es  wird  daher  vorgeschlagen,  daß  das  im  ersten 
Falle  strittige  Verbot  nur  von  der  politischen  Landesbehördte, 
erlassen  werden  dürfe  und  daß  im  zweiten  Falle  bei  allfälliger 
Schließung  eines  Betriebes  aus  sanitätspolizeilichen  Gründen 
gleichzeitig  der  Ge vr eßbeinspektor  verständigt  werde. 

Wird  aus  epidemiologischen  Erwägungen  die  Benützung 
von  Quellen,  Brunnen,  Wasserleitungen  u.  dgl.  untersagt,  so  soll 
folgerichtig  die  Gemeinde  zur  Beistellung  einwandfreien  Trink¬ 
wassers  verpflichtet  werden  (§  11).  Dieser  vom  Zentralausschusse 
vorgeschlagene  Nachsatz  fehlt  im  Regierungsentwurfe. 

Zwischen  den  kontagiösen  und  den  nur  in  geringem  Grade 
ansteckungsfähigen  Krankheiten  unterscheidet  der  Regierungs¬ 
entwurf  in  nicht  ausreichendem  Maße.  Zur  Beseitigung  dieser 
Mängel  wurden  die  §§  19  und  20  dahin  abgeändert,  daß  die 
Schließung  der  Lehranstalten  oder  das  Verbot  des  Hausierhandels 
nicht  im  Sinne  der  Regierungsvorlage  „bei  Auftreten  einer  an¬ 
zeigepflichtigen  Krankheit“,  vielmehr  nur  dann  erfolgen  darf,  wenn 
sie  zum  Schutze  gegen  Weiterverbreitung  einer  übertragbaren 
Krankheit  geboten  erscheint.  Aus  dem  gleichen  Grunde  soll  ein 
Verbot  der  Abhaltung  von  Märkten,  Festlichkeiten,  Wallfahrten 
und  dergleichen  nicht  „beim  Auftreten  einer  anzeigepflichtigen 
Krankheit“  (§  16),  sondern  laut  Antrag  des  Zentralausschusses 
nur  bei  Auftreten  von  Cholera,  Pest,  Blattern,  Flecktyphus  oder 
bei  gehäuftem  Auftreten  von  Abdominaltyphus  und  Ruhr  zu¬ 
lässig  sein. 

Unter  die  anzeigepflichtigen  Krankheiten  soll  nach  dem 
Anträge  des  Zentralausschusses  auch  Wochenbettfieber  aufgenom- 
men  werden,  jedoch  nur  festgestellte  Fälle,  da.  sich  bei  unklaren 
Symptomen  geringgradiger  Störungen  im  Wochenbettverlaufe  und 
beim  Fehlen  einer  zuverlässigen  ätiologischen  Diagnose  eine  nur 
halbwegs  richtige  und  erfolgreiche  Handhabung  der  A  nzeigep  flieht 
bei  Verdacht  auf  Kindbettfieber  nicht  erwarten  läßt.  Die  fest- 
bestellten  Fälle  sollen  aber  anzeigepflichtig  erklärt  weiden,  vor 
allem  wegen  der  Gefahr  der  Verschleppung  durch  die  die  Kranken 
pflegenden  Hebammen. 

Der  Regierungsentwurf  enthält  bezüglich  der  nicht  anzeige¬ 
pflichtigen  übertragbaren  Krankheiten  nur  die  eine  unzureichende 
Bestimmung,  daß  unter  Umständen  auch  andere  Krankheiten  als 
anzeigepflichtig  erklärt  werden  können  (§  l).  Hingegen  ist  nicht 
vorgesehen,  daß  die  Sanitätsbehörde  auch  ohne  Anzeigepflicht 
einzugreifen  hat,  sobald  das  öffentliche  Wohl  gefährdet  ist.  Nicht 
anzeigepflichtig  bedeutet  nicht  dasselbe  wie  sanitär  ungefährlich. 
Im  Vordergründe  stehen  die  Maßnahmen  in  den  Schulen  (auch 
bei  Masern,  Keuchhusten.  Parotitis  epidemica,  Krätze,  Pediculosis 
und  dergleichen),  ferner  in  engen  Wohnungs-  und  Arbeitsgemein¬ 
schaften,  Massenquartieren,  Bahnbauten,  Internaten,  Naturalver- 
pflegsstationen,  Arresten  usW.  Sogar  bei  Vorkommen  von  Syphilis 
ist.  in  bestimmten  Fällen  ohne  behördliche  Intervention  nicht  aus¬ 
zukommen,  z.  B.  in  Ammeninstituten. 

In  dieser  Hinsicht  schlägt  der  Zentralausschuß  vor  f§  28  a), 
es  solle  der  Verordnungsgewalt  Vorbehalten  werden,  Maßnahmen 
anzuordnen,  welche  bei  Auftreten  übertragbarer,  der  regelmäßigen 
Anzeigepflicht  nüht  unterliegender  Krankheiten  einzuhalten  sind. 
Eine  solche  allgemeine  Bestimmung  erscheint  unerläßlich. 

Es  wäre  irrig  zu  glauben,  daß  die  Befriedigung  der  Ent¬ 
schädigungsansprüche  lediglich  die  wirtschaftliche  Seite 
berühre.  Durch  Entschädigung  wird  die  Durchführbarkeit  der 
sanitären  Maßnahmen  wesentlich  unterstützt. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  empfiehlt  der  Zentralausschuß 
nach  dem  Muster  des  preußischen  Gesetzes  den  Rückersatz  an 
leistungsschwache  Gemeinden  aus  Staatsmitteln,  sobald  einer  Ge¬ 
meinde  im  Laufe  eines  Jahres  aus  Anlaß  der  Vorkehrungen 
zum1  Schutze  gegen  Post,  Cholera,  Blattern  oder  Flecktyphus  Aus¬ 
lagen  erwachsen,  welche  die  Höhe  einer  10°'oigen  Gemeindeumlage 
überschreiten.  Um  eine  mißbräuchliche  Ausnützung  der  staat¬ 
lichen  Hilfe  durch  Gemeinden  zu  verhindern,  soll  sich  dieser 
Rückersatz  nur  auf  Auslagen  für  die  Einrichtung,  Erhaltung 
und  den  Betrieb  von  Absonderungsräumen  für  kranke  und  krank- 
h ei tsverdäch tilge  Personen,  ferner  für  Beistellung  von  Kranken- 
transnortmitteln  und  für  Desinfektion  beziehen. 

Der  Regierungsentwurf  sieht  auch  nicht  vor,  daß  die  infolge 
sanitätspolizeilicher  Verfügung  abgesonderten  mfektionsverdäch- 
tigen  Pe~s  um  für  Verdienstentgang  zu  entschädigen  sind.  Diese 


Lücke  soll  ausgefüllt  werden.  Die  Entschädigung,  auf  welche  der 
Anspruch  erhoben  werden  darf,  ist  keine  bedeutende,  sie  bewegt 
sich  in  der  Höhe  des  Krankengeldes  der  betreffenden  Kranken 
kasse.  Eine  gleiche  Entschädigung  soll  den  von  ihrem  Berufe 
ausgesperrten  K:  aukenpflegepersonen  und  Hebammen  zukommen. 

Die  vorgesehene  Zuwendung  von  Ruhe-  und  Versorgungs¬ 
genüssen  für  Aerzte  und  deren  Hinterbliebene  darf  sich  nicht  bloß 
auf  beamtete  Aerzte  beschränken  (§  34),  soll  vielmehr  zumindest 
bei  Bekämpfung  der  besonders  gefährlichen  Krankheiten,  wie 
Pest,  Cholera,  Blattern  und  Flecktyphus,  auf  jeden  mitwirkenden 
Arzt  ausgedehnt  werden,  sobald  er  in  pflichtgemäßer  Ausübung 
des  ärztlichen  Beistandes  berufsunfähig  wird  oder  den  Tod  findet 
Der  praktische  Arzt  leistet,  in  solchen  Fällen  auch  ohne  behörd¬ 
lichen  Auftrag  eine  gleich  verantwortungsvolle  Arbeit  im  Inter¬ 
esse  der  allgemeinen  Wohlfahrt  wie  sein  beamteter  Kollege, 

Einen  neuen  Punkt  bildet  der  Antrag  auf  Festsetzung  von 
Ruhe-  und  Versorgungsgenüssen  für  Krankenpflegepersonen, 
Krankenträger,  Desinfektionsdicner  und  Totengräber,  jedoch  nur 
bei  Bekämpfung  von  Pest,  Cholera,  Blattern  und  Flecktyphus. 
Diese  Entschädigung  ist  billig;  würden  sich  solche  Personen 
weigern,  ohne  materielle  Sicherung  ihrer  Existenz  und  jener  ihrer 
Angehörigen  die  ihnen  übertragenen  gefährlichen  Verrichtungen 
zu  übernehmen,  so  könnte  mancher  Fall  für  die  Oeffentlichkeit 
verhänge isvoll  werden. 

Bezüglich  der  Desinfektion  wird  der  Grundsatz  aufgestellt 
(§  9),  daß  di?  behördlich  angeordnete  Desinfektion  unentgeltlich 
sein  soll.  Nach  dem1  Regierungsentwurfe  wird  zwischen  der  behörd¬ 
lichen  und  privaten  Desinfektion  nicht  unterschieden.  Ein  Ent¬ 
schädigungsanspruch  für  bei  der  Desinfektion  beschädigte  Gegen¬ 
stände  kann  naturgemäß  nur  bei  behördlicher  Desinfektion  in 
Betracht  kommen.  Hingegen  wird  mit  Recht  die  Stellungnahme 
der  Regierungsvorlage  bekämpft,  daß  der  fragliche  Schadenersatz 
nur  dann  zu  berücksichtigen  sei,  wenn  „durch  den  verursachten 
Schaden  oder  den  Verlust  des  Gegenstandes  eine  Gefährdung  oder 
wesentliche  Beeinträchtigung  der  wirtschaftlichen  Lage  des  Ent 
schädigungsberechtigten  herbeigeführt  wird“  (§  30). 

Bei  Erörterung  der  Ver k eh ps beschrä nkun gen  gegen¬ 
über  dem  Aus  lande  (§  26)  erscheint  die  Anregung  zu  einer 
Resolution  des  Abgeordnetenhauses  höchst  beachtenswert,  dahin¬ 
gehend,  die  Regelung  der  einschlägigen  Verträge  mit  Ungarn  und 
den  anderen  Staaten  ehebaldig  st  in  Angriff  zu  nehmen  und  zwar 
hinsichtlich  der  Modalitäten  des  Nachrichtendienstes,  der  even¬ 
tuellen  unmittelbaren  Erhebung  durch  in  das  andere  Land  zu 
entsendende  Kommissäre,  ferner  der  Ein-  und  Durchfuhr  von 
infektionsverdächtigen  Waren  und  Gebrauchsgegenständen.  Als 
bedenkliches  Illustrationsfaktum  für  den  Mangel  derartiger  Verein¬ 
barungen  wird  die  Tatsache  angeführt,  daß  anläßlich  der  irn 
Herbste  1910  in  Wien  aufgedeckten  Choleraeinschleppungen,  deren 
Provenienz  nachgewiesenermaßen  auf  Ungarn  zu  nick  zu  führen  war, 
die  offizielle  Mitteilung  der  ungarischen  Regierung  über  das 
Auftreten  der  Cholera  in  Ungarn  erst  drei  Wochen  später  einlangte. 

Im  Vorstehenden  wurden  nur  die  wichtigsten  Vorschläge 
hierausgegriffen,  während  die  Zahl  der  vom  Zentralausschusse 
beantragten  Abänderungen  und  Ergänzungen  etwa  60  Punkte  um¬ 
faßt  und  begründet. 

Ueber  die  Notwendigkeit  einer  durchgreifenden  Umformung 
der  Regierungsvorlage  bestand  in  den  ärztlichen  Kreisen  kein 
Zweifel ;  es  erhob  sich  wenigstens  weder  anläßlich  der  bezüg¬ 
lichen  Verhandlungen,  noch  in  der  Fachpresse  keine  einzige 
Stimme,  welche  für  die  unveränderte  Annahme  eingetreten  wäre. 

Nunmehr  liegt  eine  alle  sanitären  Anforderungen  nach  Tun¬ 
lichkeit  berücksichtigende  ausführliche  Arbeit  vor.  Es  wäre  nur  zu 
wünschen,  daß  die  dort  vertretenen  Gesichtspunkte  zum  Gemein¬ 
gut  werden  und  im  Gesetze  Aufnahme  finden.  Denn  speziell  dieses 
Gesetz,  welches  auch  in  Zeiten  der  Gefahr  die  große  kulturelle 
Errungenschaft  der  sanitären  Sicherheit  gewährleisten  soll,  hat 
die  Aufgabe,  die  besonders  hervortretenden  Widersprüche  zwi¬ 
schen  den  Interessen  des  einzelnen  und  jenen  der  Allgemeinheit 
gerecht  und  wirksam  auszugleichen. 


Referate. 

Beiträge  zur  gerichtlichen  Medizin. 

Von  A.  Kolisko. 

Band  1. 

Leipzig  u.  Wien  1911, -Franz  Oeuticke. 

Wie  der  Herausgeber  im  Vorwort  mitteilt,  soll  das  Unter¬ 
nehmen,  dessen  erster  Band  hiemit  vorliegt,  im  wesentlichen  dazu 
dienen,  das  umfassende  Material  des  Wiener  gerichtlich  -  medi 


Nr.  14 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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zinischen  Institutes,  das  in  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  durch 
das  Wachstum  der  Stadt  sich  ganz  außerordentlich  vermehrt 
hat.  statistisch  und  "kasuistisch  zu  verwerten.  In  der  Tat  gibt  es 
kein  Institut  unseres  Faches,  das  über  ein  gleiches  Material  ver¬ 
fügt.  Wenn  andere  Weltstädte  eine  gleiche  oder  noch  größere 
Bevölkerungszahl  aufweisen,  so  bestehen  doch  in  keiner  von 
ihnen  ähnliche  Einrichtungen,  wie  sie  in  Wien  existieren,  wo 
alle  gerichtlichen  Leichenöffnungen  im  Institut  selbst  ausgeführt 
werden  und  zugleich  durch  die  Einrichtung  der  sanitätspolizei¬ 
lichen  Obduktionen  der  Anstalt  ein  Material  von  unvergleichlicher 
Reichhaltigkeit  zu  Gebote  steht.  Es  ist  gewiß  berechtigt,  daß 
für  dieses  ganz  besonders  gestellte  Institut  auch  ein  besonderes 
Publikationsorgan  geschaffen  wird  und  jeder  Fachgenosse  wird 
das  Erscheinen  der  „Beiträge“  begrüßen,  die  ihm  die  Arbeiten 
dieses  Institutes  zugänglich  machen.  Der  Referent  persönlich 
kann  allerdings  ein  leises  Bedauern  dabei  nicht  unterdrücken. 
Gehörten  die  Arbeiten  des  Wiener  Instituts  doch  zu  den  wert¬ 
vollsten  Beiträgen  der  von  ihm  herausgegebenen  Vierteljahres¬ 
schrift  für  gerichtliche  Medizin,  die  künftig  auf  jene  Arbeiten 
zum  großen  Teil,  hoffentlich  nicht  ganz,  wird  verzichten  müssen. 

Die  äußere  Veranlassung  dafür,  daß  die  Beiträge  gerade  jetzt 
ihr  Erscheinen  beginnen,  bildet  der  Umstand,  daß  die  Wiener 
Lehrkanzel  für  gerichtliche  Medizin  vor  kurzem  ihr  lOOjähriges 
Bestehen  gefeiert  hat.  Dementsprechend  wird  der  erste  Band  er¬ 
öffnet  mit  einer  Geschichte  dieser  Lehrkanzel  aus  der  Feder 
von  A.  Haberda,  Sie  füllt  in  dankenswerter  Weise  eine  Lücke 
der  bisherigen  historischen  Zusammenstellungen  der  gerichtlichen 
Medizin  aus,  in  denen,  wie  aus  Hab  erd  as  Darstellung  jsich 
ergibt,  die  Tätigkeit  der  älteren  Vertreter  des'  Faches  in  Wien 
zumeist  nicht  genügend  berücksichtigt  worden  ist. 

An  zweiter  Stelle  finden  wir  einen  Aufsatz  von  A.  Ko- 
lisko  selbst,  über  Gehirnruptur,  in  dem  vor  allem  die  An¬ 
schauung  von  der  Entstehung  eigentlicher  Gehirn rupturen  bei  in¬ 
taktem  Schädel  bekämpft  wird.  Was  man  bisher  für  Gehirn¬ 
rupturen  gehalten  hat,  sind,  wie  Kolisko  durch  eigene  Beob¬ 
achtungen  und  kritische  Prüfung  der  Literatur  nachweist,  primäre 
-Gehirnblutungen,  besonders  solche,  die  sich  in  der  Nähe  von 
Gehirn  quetschungen  als  große  Herde  finden,  die  gelegentlich  dann 
nach  außen  oder  in  die  Ventrikel  durchbrechen  und  dadurch 
noch  eher  den  Gedanken  einer  primären  Zerreißung  fälschlich 
hervorrufen  können.  Solche.  Blutungen  entstehen  in  der  Regel 
erst  allmählich  und  nach  Stunden,  so  daß  während  des  Lebens 
ein  ähnliches  Bild  bestehen  kann,  wie  bei  den  Hämatomen  der 
harten  Gehirnhaut.  Wenn  sie  —  ebenso  wie  die  Quetschungen 
seihst  —  besonders  häufig  an  der  Basis  der  Stirn-  und  Schläfen¬ 
lappen  sitzen,  so  liegt  das  offenbar  daran,  daß  hier  das  Gehirn 
direkt  dem  Knochen  anzuliegen  pflegt  und  nur  wenig  schützende 
zerebrospinale  Flüssigkeit  vorhanden  ist. 

Eine  besondere  Stellung  nehmen  die  streifenförmigen  Blu¬ 
tungen  in  der  Brücke  ein,  sie  bilden  sich  nach  Kolisko  infolge 
Herabdrängung  des’  Inhalts  der  hinteren  Schädelgrube,  wodurch 
es  zur  Zerrung  der  Blutgefäße  kommt,  die  von  der  Basis  in  Hirn¬ 
schenkel  und  Brücke  eindringen.  Sie  entstehen  sowohl  bei 
Traumen,  alb  auch  bei  spontanen  Blutungen  des  Großhirns,  wenn 
durch  sie  eine  plötzliche  sehr  starke  Drucksteigerung  in  der 
Schädelhöhle  eintritt.  Die  Blutungen  in  den  großen  Ganglien 
endlich  stimmen  mit  den  spontanen  Blutungen  insofern  überein, 
als  sich  auch  hier  fast  regelmäßig  miliare  Aneurysmen  an  den 
Aesten  der  Arteria  lenticularis  finden.  Sie  sind  danach  wohl 
in  der  Regel  nicht  als  eigentliche  Folgen  des  Traumas,  sondern  als 
solche  der  begleitenden  psychischem  Erregung  aufzufassen.  In 
einer  Reihe  von  Fällen,  in  denen  Blutungen  in  den  zentralen  Ab¬ 
schnitten  und  Zeichen  äußerer  Verletzungen  zugleich  gefunden 
werden,  war  die  Blutung  offenbar  das  primäre.  Es  handelte  sich 
um  einen  'echten  Schlaganfall  und  die  äußeren  Verletzungen 
entstanden  erst  sekundär  beim  Niederstürzen.  F ür  die  Aufklä¬ 
rung  solcher  Fälle,  deren  Begutachtung  dem  Gerichtsarzt  bekannt¬ 
lich  besondere  Schwierigkeiten  macht,  bringt  Koliskos  Arbeit 
eine  dankenswerte  Vermehrung  der  bisherigen  Kasuistik. 

An  dritter  Stelle  liefert  Haberda  auf  154  Seiten  Beiträge 
zur  Lehre  vom  Kindesmord.  Es  handelt  sich  bei  dieser  Arbeit 
um  eine  monographische  Darstellung  des  /Kindesmordes  auf  der 
Grundlage  eines  im  Verlaufe  von  zehn  Jahren  beobachteten 


Materials  von  218  Fällen.  Es  ist  unmöglich,  im  Rahmen  eines 
Referates  den  reichen  Inhalt  der  Arbeit  wiederzugeben,  die  fast 
für  jede  der  in  diesem  Kapitel  auftauchenden  gerichtsärztlichen 
Fragen  neue  und  wertvolle  Untersuchungen  und  Beobachtungen 
beibrimgt.  Wer  über  schwer  zu  beurteilende  Fälle  von  Kindesmord 
sich  künftig  zu  äußern  hat,  wird  an  dieser  Arbeit  nicht  vor¬ 
übergeben  dürfen. 

Fritz  Reuter  hat  die  Selbstbeschädigung  und  ihre  foren 
sische  Beurteilung  besprochen.  Er  erörtert  zunächst  in  Kürze 
den  Begriff  und  die  Fälle  von  Selbstbeschädigung  aus  psycho 
pathischer  Grundlage,  ausführlicher  die  Selbstbeschädigung  zum 
Zwecke  der  Befreiung  vom  Militärdienst  und  zum  Zwecke  der 
Vortäuschung  eines  Unfalles.  Für  beide  Kategorien,  besonders  für 
die  erstgenannte,  werden  eine  Anzahl  eigener  wertvoller  Beob 
achtungen  mitgeteilt.  Speziell  werden  als  häufigere  Formen  dieser 
Art  der  Selbstbeschädigung  erörtert  die  Ve  rletzungen  des  Trommel¬ 
felles  durch  Einbringen  ätzender  Flüssigkeit  in  den  äußeren  Ge¬ 
hörgang,  die  Einführung  von  Fremdkörpern  in  den  Bindehaut¬ 
sack,  der  künstlich  erzeugte  Mastdarmvorfall,  Eingeweidebrüche, 
schnellender  Finger  und  die  sonstigen  Verletzungen  der  Finger 
und  Zehen,  besonders  des  Daumens  und  Zeigefingers  der  rechten 
Hand  durch  Schuß  oder  Hieb.  Auch  auf  die  Erzeugung  von 
Hautaffektionen  durch  Anwendung  reizender  Substanzen,  auf 
die  von  Ikterus,  Abmagerung,  Herzstörungen  und  von  Pseudo¬ 
tumoren  durch  Paraffineinspritzung  wird  hingewiesen.  Den  Schluß 
bildet  eine  kurze  Darstellung  der  zur  Verhinderung  der  Empfängnis 
an  Männern  und  zumal  an  Frauen  hie  und  da  gebräuchlichen 
Operationen. 

An  letzter  Stelle  bespricht  Karl  Meixner  das  Glykogen 
der  Leber  bei  verschiedenen  Todesarten.  Bekanntlich  war  von 
Lacassagne  und  seinen  Schülern  die  Glykogenprobe  em¬ 
pfohlen  worden  zur  Feststellung,  ob  ein  Mensch  plötzlich  oder  nach 
langsamem  Todeskampfe  gestorben  ist.  In  jenem  Falle  soll  Gly¬ 
kogen  reichlich  in  der  Leber  vorhanden  sein,  in  diesem  ganz 
oder  fast  ganz  fehlen.  Mehrfache  Nachprüfungen  der  Angaben 
der  Lyoner  Schule  hatten  ein  wechselndes  Ergebnis.  Meixner 
bringt  nunmehr  eine  solche  auf  breitester  Grundlage,  gestützt  auf 
Untersuchungen  an  218  menschlichen  Leichen  und  auf  eine  An¬ 
zahl  Tierversuche.  Neben  manchen  physiologisch  und  klinisch 
interessanten  Resultaten  ist  für  die  gerichtliche  Medizin  bedeu¬ 
tungsvoll,  daß  der  Nachweis  großer  Mengen  Glykogen  einerseits, 
ein  absolut  negativer  Befund  anderseits  allerdings  gewisse 
Schlüsse  gestatten.  Im  ersten  Falle  ist  der  Tod  rasch  eingetreten, 
im  zweiten  ist  dies  auszuschließen.  Besonders  wertvoll  erscheint 
der  Glykogenbeiünd  bei  der  Sektion  Neugeborener.  Findet  man 
bei  diesen,  wenn  die  äußeren  Umstände  ein  längeres  Leben  nach 
der  Geburt  ausschließen  lassen,  kein  oder  nur  wenig  Glykogen, 
so  darf  man  annehmen,  daß  das  Kind  während  der  Geburt 
langsam  an  Erstickung  zugrunde  ging  oder  mindestens  asphyktisch 
zur  Welt  kam.  Bedeutungsvoll  ist  der  Glykogenbefund  weiter 
bei  der  Frage,  ob  eine  durch  schwere  Gewalt  zermalmte  oder 
hochgradig  verstümmelte  Leiche  im  Leben  oder  erst  nach  dem 
Tode  derart  verletzt  wurde.  Dabei  genügt  allerdings  nicht  der 
chemische  Glykogenbefund  der  Leber  überhaupt,  vielmehr  bedarf 
es  der  mikroskopischen  Untersuchung  an  Leberschnitten,  die 
Meixner  überhaupt  bei  seiner  Arbeit  in  der  Hauptsache  an¬ 
gewendet  hat.  Und  zwar  bediente  er  sich  der  Bestsehen  Gly¬ 
kogenfärbung  (Litbion — Ammonium — Karmin).  Findet  man  dabei 
Glykogen  in  großen  Mengen  nur  in  den  Leberzellen  ohne  Aus¬ 
schwemmung  in  die  Lymphspalten,  so  kommt  nur  eine  Todes¬ 
ursache  in  Betracht,  die  den  Körper  durch  schwere  Zerstörung 
sofort  tötet,  also  eine  solche  ausgedehnte  Zermalmung,  allenfalls 
eine  rasche  Verblutung  aus  einer  großen  Schlagader.  Dagegen 
ist  zum  Beispiel  ein  Tod  durch  Gehirnerschütterung  auszu¬ 
schließen.  Auch  bei  dem  Tode  durch  Herzlähmung,  die  schein¬ 
bar  plötzlich  erfolgte,  findet  sich  immer  eine  solche  Ausschwem¬ 
mung,  so  daß  man  annehmen  muß,  daß  dein  Stillstände  des 
Herzens  doch  stets  ein  gewisses  Stadium  der  Insuffizienz  vor¬ 
ausging. 

Das  Referat  ist  etwas  lang  geraten,  konnte  aber  nicht  kürzer 
gefaßt  werden,  wenn  es  der  Bedeutung  und  dem  reichen  Inhall 
des  Werkes  einigermaßen  gerecht  werden  sollte. 

F.  Straßmann-Berlin. 


500 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  14 


Die  erweiterte  abdominale  Operation  bei  Carcinoma 
colli  uteri  (auf  Grund  von  500  Fällen). 

Von  Prof.  Dr.  IC.  Wertlieim. 

.Mit  U  Textillustrationen  und  6  Tafeln. 

223  Seilen. 

Wien  1911,  Urban  u .  Schwarzenberg. 

Seit  dem  16.  November  1908,  dem  Tage,  an  dean  Wert¬ 
heim  die  erste  abdominale  Totalexstirpation  wegen  Karzinom 
nach  der  von  ihm  ausgearbeiteten  Methode  ausgeführt  hat,  sind 
von  ihm  500  Fälle  von  Kollumkrebs  abdominal  operiert  worden. 
Nicht  so  sehr  die  Erreichung  der  runden  Zahl  von  einem  halben 
lausend,  als  wohl  der  Umstand,  daß  im  Verlaüf  von  mehr  als 
elf  Jahren  eine  genügend  große  Erfahrung  über  die  Technik  und 
Leistungsfähigkeit  der  Operation  gesammelt  wurde,  gab  den  Anlaß 
zu  einem  Ueberblick  über  das  Material  und  die  Ergebnisse  der 
Operation,  welche  übrigens  schon  größtenteils  in  einer  Anzahl  von 
Publikationen  sukzessive  niedergelegt  wurden. 

Wenngleich  schon  vor  Wert  heim  die  Entfernung  des  kar- 
zinomatösen  Uterus  abdominal  ausgeführt  wurde,  auch  von  ein¬ 
zelnen  die  Ureteren  teils  bougiert,  teils  ohne  dieses  Hilfsmittel 
freigelegt  wurden,  auch  prinzipielle  Mitentfernung  der  regionären 
•Lymphdrüsen  von  Rieß  gefordert  wurde,  so  waren  dies  alles 
Bestrebungen,  welche  mangels  einer  verhältnismäßig  lebenssiche¬ 
ren  Operationsmethode  nicht  zur  Nachahmung  reizten.  Hier  setzte 
Wertheims  unermüdliche,  zielbewußte  und  mutige  Arbeit  ein, 
welcher  es  zu  danken  ist,  daß  die  nach  ihm  benannte  Operation 
ein  Allgemeingut  der  operativen  Gynäkologie  geworden  ist. 

Hie  tabellarisch  augeführten  500  Fälle  enthalten  kein  lvorpus- 
und  kein  tiefsitzendes  Scheidenkarzinom.  Von  den  einzelnen 
Details  über  die  Ausbildung  der  Operationstechnik  wären  folgende 
zu  erwähnen :  Die  Abklemmung  der  Scheide  und  Entfernung 
des  Präparates  durch  die  Bauchwunde  wird  beibehalten  bis  auf 
jene  Fälle,  bei  denen  die  ganze  Scheide  mitentfernt  werden  muß. 
Vor  der  Operation  wird  exkochleiert  und  paquelinisiert,  die  Höhle 
mit  l%o  sublimatgetränkter  Gaze  plombiert.  Eine  peritoneale 
Drainage  wird  nur  dort  angewendet,  wo  auch  sonst  bei  Laparo¬ 
tomien  drainiert  würde:  also  bei  Eitererguß  während  der  Ope¬ 
ration.  bei  größeren  Peritonealdefekten  usw.  usw. ;  sonst,  wird  der 
subperitoneale  Raum  gegen  die  Vagina  hin  drainiert;  eine  even¬ 
tuelle  Ureternekrose  ist  nie  als  Folge  dieser  Drainage  aufzufassen. 
Die  Blutstillung  wird  durch  die  Parametriumklemmen  bedeutend 
erleichtert;  den  Einwand,  daß  bei  ihrer  Anwendung  mehr  Para¬ 
metrium  zurückbleibt,  weist  Wert  heim  damit  zurück,  daß  die 
Klemme  ja  beliebig  knapp  an  die  Beckenwand  gelegt  werden 
können. 

Die  Ureterresektion  ball  Wert  heim  selten  für  nötig  und 
in  den  meisten  Fällen,  wo  sie  ausgeführt  wurde,  für  überflüssig; 
die  mikroskopisch  und  klinisch  erwiesene  außerordentliche  Wider¬ 
standsfähigkeit  des  Ureters  gegen  das  Fortschreiten  des  Kar¬ 
zinoms  ist  bekannt.  Nur  sechsmal  wurde  die  Resektion  mit 
Vorbedacht  ausgeführt,  nur  einmal  wäre  sie  nach  der  mikro¬ 
skopischen  Untersuchung  nötig  gewesen.  Elfmal  wurde  der  Ureter 
unbeabsichtigt  verletzt;  32mal  traten  Ureterscheidenfisteln  auf, 
von  denen  sich  15  spontan  schlossen,  wobei  stets  der  Ureter 
durchgängig  blieb.  Ueberall  dort,  wo  die  Heilung  der  Fistel 
ausbleibt,  ist  die  Gefahr  einer  aufsteigenden  Infektion  der  Harn¬ 
wege  eine  bedeutende.  Die  eigentliche  Ursache  der  Ureternekrose 
ist  noch  nicht,  vollständig  aufgeklärt  und  Wertheim  ist  ge¬ 
zwungen,  sich  damit  abzufinden,  daß  in  einer  gewissen  Anzahl 
von  Fällen  die  Nekrose  unvermeidlich  ist.  Von  größter  Wichtig¬ 
keit  ist  es,  zu  betonen,  daß  auch  ohne  Ureterfistelbildung  nicht 
selten  aufsteigende  Infektion,  wenngleich  meist  nicht  allzu 
schwerer  Natur,  beobachtet  wurde.  Die  postoperative  Zystitis 
wurde  auch  durch  die  Krönigsche  Elasenraffung  nicht  seltener, 
weshalb  letztere  aufgegeben  wurde.  Die  Blasenstörungen  sind 
eben  ein  unvermeidbares,  durch  die  Radikalität  der  Operation, 
bedingtes  Uebel.  Im  Gegensatz  zur  Blase  scheinen  am  Mastdarm 
nachträgliche  Nekrosen  und  Fistelbildungem  nicht,  vorzukommen. 
Die  regionären  Lymphdrüsen  entfernt  W  er  the  i  m  nur  dann,  wenn 
sie  vergrößert  sind ;  die  Exstirpation  wird  für  sich,  am  Schlüsse 
der  Operation  vorgenommen;  die  histologische  Untersuchung  er¬ 
gab,  daß  nur  ausnahmsweise  in  den  verbindenden  Lymphbahnen 
Karzinom  nachzuweisen  war. 


Die  Dauer  der  Narkose  wird  dadurch  verkürzt,  daß  die 
Auslöffelung  und  PaqueJinisierung  ohne  Narkose  vorgenommen 
wird.  Dort,  wo  die  Inhalationsnarkose  wegen  des  schlechten 
Herzzustandes  bedenklich  erschien,  wurde  (33mal)  die  Lumbal¬ 
anästhesie  angewendet. 

Daß  mit  der  Ausbildung  der  Technik  der  Operabilitäts¬ 
prozentsatz  zunahm,  liegt  in  der  Natur  der  Sache;  da  die  be¬ 
richteten  500  Operationen  1096  beobachteten  Krebsfällen  ent¬ 
sprechen,  ergibt  sich  eine  Gesamtoperabilität  von  ca.  50°/o.  Dabei 
ist  zu  berücksichtigen,  daß  ein  schlechter  Allgemeinzustand  als 
Kontraindikation  gegen  den  Schweren  Eingriff  aufgefaßt  wird.  Da 
durch  die  vaginale  Untersuchung  die  Beteiligung  der  Lymphdrüsen 
nicht  immer  zu  erkennen  ist,  auch  die  Zystoskopie  über  das  Ver¬ 
halten  der  Harnblase  keine  genügenden  Aufschlüsse  gibt,  wird 
jede  Laparotomie  wegen  Carcinoma  colli  zunächst  als  Explo- 
rativlaparotomie  aufgefaßt;  nur  dann  aber  darf  sie  als  solche 
gezählt  werden,  wenn  es  nicht  zur  Uterusexstirpation  gekommen 
ist  (79  von  1056  Fällen).  Fünfmal  wurde  wegen  hochgradiger 
Adipositas,  elfmal  wegen  Myodegeneratio  und  Kachexie,  oder 
hohen  Alters,  fünfmal,  da  ein  eben  beginnender,  nur  mikrosko¬ 
pisch  festgestellter,  Krebs  bestand,  vaginal  operiert.  Seit  sich 
die  Mortalität  der  Operation  erniedrigt  hat,  wurde  bei  Fällen 
der  letztangeführten  Gruppe  ebenfalls  laparotomiert.  Außergewöhn¬ 
liche  Adipositas  kann  dauernd  eine  absolute  Kontraindikation 
gegen  die  Laparotomie  ahgeben,  während  die  Abkürzung  der 
Narkose  und  die  Lumbalanästhesie,  sowie  auch  die  fortschrei¬ 
tende  Technik  die  Fälle  der  mittleren  Gruppe  in  größerer  Zahl 
der  Laparotomie  zuzuführen  gestatten  werden. 

Die  Operationsmortalität  hat  sich  in  den  letzten  Hunderter¬ 
serien  beträchtlich  verbessert:  so  erlagen  von  den  letzten  100 
Fällen  15  dem  Eingriff,  in  der  vorhergehenden  Serie  9,  gegen¬ 
über  30  in  der  ersten  Serie.  Auf  500  Fälle  kommen  im  ganzen 
93  Todesfälle,  gleichviel,  oh  sie  der  Operation  zur  Last  fallen 
oder  nicht.  Davon  war  39mal  Peritonitis  die  Todesursache;  bei 
diesen  39  Fällen  konnte  19ma)  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  der 
Ausgangspunkt  festgestellt  werden,  welcher  6mal  der  primäre 
Herd,  4mal  die  Laparotomiewunde,  ömal  der  subperitoneale  Raum 
war;  hervorgehoben  zu  werden  verdient,  daß  in  den  einzelnen 
Serien  zu  100  die  Peritonitisfälle  ständig  abnehmen.  Nächst 
Peritonitis  wird  als  häufigste  Ursache  Herztod  angegeben  (22mal, 
wobei  Fall  23  auch  in  der  Gruppe  „Peritonitis“  geführt  wird); 
besonders  über  60  Jahre  alte  Frauen  sind  diesem  Zwischenfall 
ausgesetzt;  durch  letztere  Tatsache  will  Wer  the  im  auch  die 
Deutung  derartiger  Fälle  als  Sepsis  als  unrichtig  beweisen;  auch 
daraus,  daß  nach  Abkürzung  der  Narkose  und  Anwendung  der 
Lumbalanästhesie  die  Herztode  seltener  wurden,  folgert  Wert¬ 
heim,  daß  es  sich  tatsächlich  um  solche  gehandelt  hat.  Zwölf 
Todesfälle  stehen  mit  dem  Harntrakt  in  Zusammenhang,  darunter 
neun  Pyelonephritiden,  einmal  Ligierung  des  Ureters  hei  Huf¬ 
eisenniere,  einmal  Ausriß  des  implantierten  Ureters,  einmal  Ureter¬ 
nekrose  mit  Urinaustritt  ins  Beckenzelligewebe. 

Außerordentlich  interessant  sind  die  Daten  über  Rezidiven. 
Unter  250  Fällen,  welche  wenigstens  fünf  Jahre  zurückliegen, 
finden  sich  78  Rezidiven;  63  Fälle  gingen  letal  aus,  drei  ver- 
starben  interkurrent.  In  den  allermeisten  Fällen  schien  die  Rezi¬ 
dive  von  den  iliakalen  Drüsen  auszugehen,  nur  in  einer  kleinen 
Minorität  saß  sie  im  Narbengewebe.  Mit  der  Beschaffenheit  der 
Rezidiven  hängt  es  zusammen,  daß  sich  eine  wirkliche  Rezidive¬ 
operation  so  gut  wie  nie  ausführen  ließ.  Wertheim  erklärt, 
daß  je  radikaler  eine  Karzinomoperation  durchgeführt,  wird,  desto 
undankbarer  eine  eventuelle  Rezidivoperation  ist.  Impfrezidiven 
sind  nach  Wertheim  gerade  bei  der  abdominalen  Operation 
relativ  leicht  zu  vermeiden.  Bemerkenswert  ist,  daß  eine  ganze 
Reihe  besonders  weit  vorgeschrittener  Fälle  rezidivefrei  befunden 
wurde.  Es  ist  ferner  kein  Zweifel,  daß  nicht  immer  die  Zervix¬ 
karzinome  schlimmer  als  die  Portiokarzinome  sind.  Auch  der 
Umstand  ist  hervorzuheben,  daß  punkto  Rezidivefreiheit  die  ju¬ 
gendlichen  Fälle  besser  abschneiden.  Mikroskopisch  fand  man 
fast  stets  Plattenepithelkarzinome.  Der  immer  wieder  behauptete 
ungünstige  Einfluß  der  Gravidität  auf  die  Prognose  hat  sich  nicht 
bestätigt.  Außerordentlich  ungünstig  ist  dagegen  das  Vorhanden¬ 
sein  von  krebsigen  Drüsen  u.  zw.  sogar  dort,  wo  der  primäre 
Herd  sozusagen  im  Beginne  seiner  Entwicklung  steht.  Von  62  Fällen 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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Nr.  14 


mit  Karzinom  der  regionären  Drüsen  (aus  den  250  über  fünf  .lahre 
beobachteten  Fällen)  haben  41  die  Operation  überlebt  und  ein 
Fall  starb  interkurrent;  von  besagten  41  Fällen  waren  nach 
fünf  Jahren  nur  fünf  rezidivefrei!  Die  bekannten  schlauchähn¬ 
lichen  Einschlüsse  in  Lymphdrüsen  werden  in  neuester  Zeit 
von  Albrecht  und  Arzt  entsprechend  der  Ries  sehen  Hypothese 
gedeutet;  auch  Wertheini  scheint  nicht  abgeneigt,  an  ver¬ 
sprengte  Teile  des  Wolff  sehen  Körpeis  zu  denken. 

Um  bei  der  Berechnung  der  Spätresultate,  bzw.  absoluten 
Leistung  besonders  rigoros  vorzugehen,  hat  Wer  the  im  die  neun 
vaginal  Operierten  den  Nichtoperierten  zugezählt.  Er  erhält  bei 
dieser  Berechnung  nach  der  von  Werner  vorgeschlagenen  Formel 
als  absolute  Leistung  18-4°/o  Rezidivefreiheit.  Begreif¬ 
licherweise  können  große  Statistiken  über  die  abdominale  Krebs- 
operatiori  bisher  kaum  vorliegen,  nur  die  Zweifel  sehe  Klinik 
verfügt  über  eine  solche,  welche  als  absolute  Leistung  nach  der 
Werner  sehen  Formel  20-46 °/o  ergibt.  Die  schlechten  Resultate, 
über  die  seinerzeit  aus  der  Grazer  Klinik  berichtet  wurde,  dürften 
nur  so  zu  deuten  sein,  daß  die  Durchführung  der  Operation  damals 
noch  nicht  radikal  genug  war. 

Von  den  vaginalen  Methoden  kommt  für  die  ärztliche  Kon¬ 
kurrenz  mit  der  abdominalen  Krebsoperation  Wert  hei  ms  einzig 
und  allein  die  von  Schauta  ausgearbeitete  erweiterte  Total¬ 
exstirpation  in  Betracht.  Bei  der  Beurteilung  ihrer  Leistungs¬ 
fähigkeit  geht  Wert  heim  von  der  Schautaschen  Monographie 
(1908)  und  den  Mitteilungen  Schaut  as  auf  dem  ßudapester 
Kongreß  (1909)  aus.  Seither  aber  haben  sich  Schau  tas  Zahlen 
nicht  unwesentlich  verändert.  Mit  zunehmender  Ausbildung  der 
Technik  stieg  der  Durchschnitt  von  12-2  im  ersten  auf  26-3  im 
letzten  Jahrgang,  der  bei  der  Berechnung  in  Betracht  kommt; 
so  daß  Schauta  jetzt  als  absolute  Arbeitsleistung  16-6°, b  Dauer¬ 
heilungen  hat.  Als  Ursache  der  Ueberlogenheit  seiner  Methode  über 
die  vaginale  betrachtet  Wertheim  erst  in  zweiter  Linie  die 
Möglichkeit,  die  regionären  Drüsen  zu  exstirpieren ;  vor  allem 
ist  es  die  größere  Zugänglichkeit  zu  den  Ureteren,  zu  Scheide, 
Parametrium  und  paravaginalem  Gewebe,  die  präparatorische 
Ueberlegenheit  des  abdominalen  Weges,  die  nach  Wertheim 
der  abdominalen  Operation  den  Vorrang  sichert. 

Sollte  die  abdominale  Methode  ihren  Vorsprung  auch  weiter¬ 
hin  beibehalten,  so  würde  man  doch  der  Exstirpation  der  regio¬ 
nären  Lymphdrüsen  einen  großen  Teil  des  Erfolges  zuschreiben 
müssen.  Die  Drüsenfrage  in  diesem  Sinne  ist  es,  die  noch  weiterer 
Untersuchung  bedarf. 

Es  ist  unstreitig,  daß  die  operative  Therapie  des  Gebär¬ 
mutterkrebses  ihren  kräftigsten  Impuls  durch  die  Einführung  der 
erweiterten  abdominellen  Operation  erhalten  hat;  daß  die  durch 
die  Operation  bedingte  Autopsie,  wie  Wertheim  sagt,  unsere 
bisherigen  Anschauungen  in  wesentlichen  Punkten  korrigierte  und 
das  gewonnene  anatomische  Material  wichtige  Aufschlüsse  über 
die  Ausbreitung  des  Karzinoms  im  Parametrium  und  in  den 
Drüsen  gab.  Daß  die  Indikationsgrenze  zur  Exstirpation  des 
krebsigen  Uterus  infolge  der  Wert  he  im  sehen  Operation  be¬ 
deutend  erweitert  und  damit  für  viele  Fälle,  welche  früher  pallia¬ 
tiv  behandelt  wurden,  die  Möglichkeit  der  Heilung  gegeben  wurde, 
steht  ebenso  fest;  und  mit  um  so  größerer  Hoffnung  muß  uns 
die  Erkenntnis  erfüllen,  daß  die  abdominale  Krebsoperation  gewiß 
noch  nicht  am  Ende  ihrer  Leistungsfähigkeit  angelangt  ist.  Wert¬ 
heim  selbst  erhofft  die  Verbesserungen  seiner  Resultate  nicht 
so  sehr  in  den  ausgedehnten  Resektionen,  als  vielmehr  in  mög¬ 
lichst  exakter  Ausführung  des  Eingriffes,  eventuell  in  der  Ver¬ 
vollkommnung  der  Drüsenexstirpation.  K  ei  tier. 

* 

Atlas  und  Lehrbuch  der  Histologie  und  mikroskopischen 
Anatomie  des  Menschen. 

Von  J.  Sobotta. 

Zweite,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage. 

München  1910,  J.  F.  Leh  m  a  n  n. 

Die  anerkennenden  Worte,  die  der  »Atlas  und  Grundriß  der 
Histologie  und  mikroskopischen  Anatomie  des  Menschen «  von 
J.  Sobotta  bei  seinem  ersten  Erscheinen  an  dieser  Stelle  gefunden 
bat  (s.  Wiener  klin.  Wochenschr.,  XV.  Jahrg.,  S.  239),  gebühren 
in  vollem  oder  noch  höherem  Maße  der  neuen  Ausgabe.  Diese  mit 
Recht  als  vermehrt  und  verbessert  bezeichnete  zweite  Auflage  des  i 


Prachtwerkes  weist  nicht  nur  eine  wesentliche  Bereicherung  an  Ab¬ 
bildungen  auf  —  die  Zahl  der  Abbildungen  ist  auf  400  ange- 
wachsen  —  sondern  ist  auch  durch  die  Ausgestaltung  des  Textes  zu 
einem,  wenn  auch  kurzen  Lehrbuch  der  Histologie  des  Menschen 
geworden. 

Auch  bei  dieser  neuen  Bearbeitung  des  Atlas  hat  der  Ver¬ 
fasser  das  Hauptaugenmerk  darauf  gerichtet,  vollkommen  naturgetreue, 
von  jeder  Schematisierung  freie  Abbildungen  zu  bieten.  Welch  große 
Mühe  und  Sorgfalt  der  Autor  darauf  verwendete  und  mit  welchem 
Erfolge  er  sich  dieser  Aufgabe  entledigte,  beweist  jede  einzelne 
Figur.  Die  vollkommen  naturgetreue  Darstellung  aller  Forinverhäit- 
nisse,  die  wunderbare  Klarheit  und  Schärfe,  mit  der  auch  die 
zartesten  Strukturen  hervortrelen  und  die  ganz  vorzügliche  Wieder¬ 
gabe  der  verschiedenen  Farben  töne  des  mikroskopischen  Präparates 
durfte  wohl  allen  Anforderungen,  die  an  derartige  Abbildungen  ge¬ 
stellt  werden  körien,  gerecht  werden. 

Ein  sehr  anerkennenswerter  Erfolg,  zumal  es  sieh  fast  aus¬ 
schließlich  um  mehrfarbige  Bilder  handelt ;  denn  die  meisten  Ab¬ 
bildungen  sind  getreu  in  den  Farben  des  Präparates  gehalten,  wo¬ 
bei  vorwiegend  die  allgemein  geübte  Hämatoxylin-Eosinfärbung, 
aber  auch  Färbungen  für  spezielle  Zwecke,  wie  die  Pal-  Weigo  rtsche 
Markscheidenfärbung,  die  Elastikafärbung  mit  saurem  Orzein  u.  dgl. 
zur  Anwendung  kamen.  Dabei  sei  auch  hervorgehoben,  daß  für  die 
Vervielfältigung  der  mehrfarbigen  Bilder  neben  der  Lithographie 
auch  ein  vom  Verfasser  angegebenes  Autotypieverfahren  angewendet 
wurde,  das  bezüglich  seiner  Brauchbarkeit  der  Lithographie  gleich¬ 
gestellt  werden  kann  und  noch  den  Vorteil  geringerer  Kosten  für 
sich  hat.  Sehr  wertvoll  macht  für  den  Praktiker  das  Buch  der  Um¬ 
stand,  daß  fast  alle  Präparate  von  menschlichem  Material  stammen. 
Die  Auswahl  der  Präparate  ist  eine  vollkommen  gelungene,  so  daß 
alle  Kapitel,  so  weit  es  seine  Bestimmung  für  den  Mediziner  und 
Praktiker  erfordert,  erschöpfend  behandelt  erscheinen.  Im  einzelnen 
möchte  ich  neuerlich  auf  Figur  6  der  Tafel  III  (Rippenknorpel), 
Figur  1,  2  und  4  der  Tafel  XX  (Schmelz  und  Schmelz-Zahnbein¬ 
grenze)  verweisen,  die  durch  typischere  ersetzt  werden  könnten. 
Figur  8  der  Tafel  II  (Plasmazelle)  läßt  keine  juxtanukleäre  Vakuole 
erkennen. 

Der  Text  stellt  ein  kurzes  Lehrbuch  oder  Repetitorium  der 
Histologie  des  Menschen  dar,  dem  noch  eine  Anzahl  von  Ab¬ 
bildungen,  vorzugsweise  Schemata,  beigegeben  sind.  Die  Darstellung 
ist  kurz  und  klar  und  beschränkt  sich  auf  die  sicheren  Tatsachen, 
während  strittige  Punkte  nicht  oder  nur  kurz  erwähnt  werden, 
Immerhin  mag  bemerkt  werden,  daß  die  Einteilung  und  Beschrei¬ 
bung  der  Bindesubstanzen,  sowie  der  Drüsen  (besonders  einige 
Schemata)  auf  Widerspruch  stoßen  dürften.  Den  Abschluß  bildet 
eine  kurze  Beschreibung  des  Mikroskopes  und  eine  kurze  Einführung 
in  die  histologische  Technik,  die  durch  den  Atlas  vorteilhaft  er¬ 
gänzt  wird. 

Dieses  prachtvoll  ausgestattete  Buch,  um  das  sich  Autor  wie 
Verleger  in  hervorragendem  Maße  verdient  gemacht  haben,  wird 
dem  Studenten  und  Praktiker  ein  willkommenes  Hilfsmittel  bei 
mikroskopischen  Arbeiten  sein  und  sieh  bald  der  wohlverdienten 
allgemeinen  Verbreitung  erfreuen,  wozu  auch  der  niedrige  Preis 
das  seinige  beitragen  wird.  Josef  Lehn  er. 

* 

Die  Ohrenheilkunde  des  praktischen  Arztes. 

Von  Dr.  Wilhelm  llaßlauer. 

München  1911,  J.  F.  Lehmann. 

Im  Anschlüsse  an  sein  für  Militärärzte  bestimmtes  Lehrbuch 
hat  der  Autor  ein  den  Bedürfnissen  des  praktischen  Arztes  ge¬ 
widmetes  Lehrbuch  der  Ohrenheilkunde  herausgegeben. 

Das  Buch  soll  den  Studierenden  der  Medizin  in  die  Klinik 
der  Ohrenheilkunde  eiuführen.  All  das,  was  den  Spezialarzt  selbst 
angeht,  sollte  nach  dem  Plan  des  Verfassers  in  dem  Lehrbuch  nur 
angedeutet,  aber  nicht  näher  behandelt  werden.  In  diesem  Sinne 
hat  der  Autor  sein  Ziel  vollständig  erreicht.  Interessant  ist  die  ein¬ 
gehende  Differenzierung  der  akuten  Mittelohreiterung.  In  diesem 
Kapitel  werden  außerdem  die  hauptsächlichsten  endokraniellen 
otogenen  Krankheiten);  behandelt  Mustergültig  ist  das  Kapitel  »Die 
Verletzungen  des  inneren  Ohres«  abgefaßt.  In  dem  Abschnitte 
»Ueber  die  Unfallsbegutachtung«  werden  alle  Möglichkeiten  berück¬ 
sichtigt  und  die  breite  Ausführlichkeit  ist  hier  auf  das  lebhafteste 


502 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


zu  begrüßen.  Eine  größere  Anzahl  gut  gewählter  Abbildungen,  die 
dein  Buche  beigegeben  sind,  werden  das  Verständnis  erheblich 
fördern.  Das  Buch  reiht  sich  vollwertig  den  vorzüglichen  Schriften, 
die  wir  bisher  dem  Autor  verdanken,  an. 

Alexander. 


Aus  verschiedenen  Zeitsehriften. 

341.  Lieber  die  Gemüseverdauung  bei  Gesunden 
und  Kranken  und  über  die  zerkleinernde  Funktion 
des  Magens.  Von  Geh.  Med.- Rat  Prof.  Dir.  Adolf  Schmidt 
in  Halle,  ln  jüngster  Zeit  angestellte  Versuche  haben  ergeben,  daß 
der  Grad  der  Gemüseverdauung,  resp.  Gemüsezerkleinerung  in 
Beziehung  steht  einmal  zur  Aufenthaltsdauer  der  Ingesta  im 
Verdauungsschlauch,  derart,  daß  er  im  direkten  Verhältnis  mit 
dieser  wächst,  sodann  aber  auch  zum  Säuregehalt  des  Magen¬ 
saftes,  derart,  daß  bei  genügendem  und  noch  mehr  bei  reich¬ 
lichem  Salzsäuregehalt  des  Mageninhaltes  unveränderte  wetnüse- 
reste  viel  spärlicher  in  den  Fäzes  wiedererscheinen,  als  bei 
fehlender  Magensäure.  Schon  Stücke  roher  Kartoffel  oder  roher 
Rübe  werden,  wenn  man  sie  zwei  bis  vier  Stunden  Jang  mjt 
Pepsinsäurelösung  im  Brutschrank  stehen  ließ,  in  einer  Pahkreatin- 
lösung  nach  10  bis  20  Stunden  völlig  erweicht,  so  daß  sie  leicht 
in  eine  breiige  Masse  verwandelt  werden  können.  Das  Pepsin  und 
die  im  Pankreatin  vereinigten  Körper  sind  hiebei  für  den  Erfolg 
anscheinend  völlig  bedeutungslos,  denn  die  Aufweichung  der  Ge¬ 
müse  findet  in  der  gleichen  Weise  statt,  wenn  man  Salzsäuie- 
und  Sodalösungen  verwendet ;  dagegen  tritt  sie  nicht  ein,  wenn 
man  zuerst  die  Sodalösung  und  dann  die  Salzsäurelösung  ein¬ 
wirken  läßt.  Wie  die  Kartoffeln  und  Wurzeln  verhalten  sich  die 
meisten  Gemüse:  Reis,  gelbe  Erbsen  (nach  Entfernung  der  äußeren 
Schale),  Blumenkohl,  Kohlrabi,  Aeptel,  Salat.  Es  ist  nachgewiesen, 
daß  Magensaft  und  Dünndarminhalt  die  Zellen  der  Gemüse  von¬ 
einander  trennen,  indem  hiebei  die  Pektinstoffe  der  Mittellamellen 
(der  Zwischensubstanz  z wüschen  den  einzelnen  Zellen)  gelöst 
werden.  Bei  den  gekochten  Speisen  (Kartoffeln,  Reis,  Kohl, 
Wurzeln)  tritt  schon  vor  der  Einnahme  eine  Lockerung  der  Zell¬ 
komplexe  ein  (Aufquellen  der  Mittellamjelle  usw.).  Veit,  bezeichnet 
nun  den  Einfluß  des  Magens  auf  die  Gemüse  generell  als  einen 
chemisch  zerkleinernden,  der  allerdings  die  Eigentümlich¬ 
keit  hat,  erst  in  dem  alkalischen  Milieu  des  Darmes  effektiv  zu 
werden.  Aehnliches  leistet  der  Magen  beim  Fleisch  (Lösung  des 
Bindegewebes)  und  beim  Brot  (Verdauung  des  die  Stärkekörner 
umspinnenden  Klebergerüstes).  Die  eigentliche  Muskelarbeit  des 
Magens  tritt  hiebei  in  den  Hintergrund.  Fehlt  die  Magensäure,  so 
gelangen  größere  Fleisch-  und  Fettreste,  aber  auch  unverkleinerte 
Gemüsestücke  in  den  Darm,  bilden  dann  sichere  Schlupfwinkel  für 
die  zersetzenden  Bakterien,  es  entstehen  Katarrhe.  Bei  Diarrhöen, 
ganz  besonders  bei  solchen  achylischen  Ursprungs,  liegt  also 
auch  die  Gemüseverdauung  in  hohem  Grade  danieder,  ln  the¬ 
rapeutischer  Hinsicht  wird  man  bei  subaziden  und  anaziden 
Zuständen  des  Magens  für  eine  genügende  Zerkleinerung 
der  eingebrachten  Speisen  (Fleisch,  Gemüse)  zu  sorgen  haben. 
Man  koche  und  brate  sie  zuvor  und  zerkleinere  sie  noch  mecha¬ 
nisch  sorgfältig;  werden  sie  gar  roh  genossen,  so  sollen  sie 
auf  das  feinste  geschabt  oder  zerrieben  sein.  Ohne  die  bakteriellen 
Vorgänge  bei  der  Verdauung  der  pflanzlichen  Zellwände  ignorieren 
zu  wollen,  zeigt  Verf.  schließlich,  daß  daneben  noch  andere 
chemisch  wirksame  Faktoren  eine  wichtige  Rolle  nn  Verdau- 
ungskanale  spielen.  Zwischen  Pektinen,  He-mizellulosen  und  Zellu¬ 
losen  gibt  es  keine  scharfen  Grenzen  und  es  wird  von  ihrer 
Mischung  in  den  Zellwänden  einerseits  und  von  der  Wirksam¬ 
keit  der  Verdauungssäfte  des  Individuums  anderseits  abhängen, 
wie  vollständig  ihre  Lösung  zustande  kommt  und  in  welchem 
Verhältnis  sich  daran  die  Verdauungssäfte  und  die  Darmbakterien 
beteiligen.  —  (Deutsche  medizin.  Wochenschrift  1911,  Nr.  10.) 

-  E.  F. 

* 

342.  Der  Einfluß  des  Salvarsans  auf  die  Lepra¬ 
bazillen.  Von  Dt.  Denis  E.  Montes  an  to  in  Athen.  Ver¬ 
fasser  berichtet  in  einem  zweiten  Artikel  über  seine  Beobach¬ 
tungen  und  Erfahrungen  bei  Leprakranken,  die  mit  Salvarsan 
behandelt  wurden.  Aus  vier  mitgeteilten  Krankengeschichten  er¬ 


Nr..  14 


sieht  man  nur  bei  einem  46jährigen  Patienten  einen  Erfolg, 
indem  alle  Geschwüre  an  den  Unterschenkeln  geheilt  sind.  Sub¬ 
jektive  und  objektive  Erscheinungen  sind  geschwunden.  Patient 
hat  seine  Arbeit  wieder  aufgenommen.  ln  vier  anderen  Fällen 
hat  Verf.  eine  Herxheim  ersehe  Reaktion  und  eine  Neigung 
zu  rascher  Ueberhäutung  der  ulzerösen  Stellen  beobachtet,  aber 
keine  Wirkung  des'  Mittels  auf  die  nichtulzeri arten  Leprome. 
Zwei  Fälle  von  Lepra  praecox,  Vater  und  Sohn,  wurden  geheilt 
Ersterer  erhielt  0-7  intravenös,  letzterer,  16  Jahre  alt,  0-3  intra 
venös.  Ob  die  Heilung  eine  definitive  ist,  muß  Verf.  dahingestellt 
.  sein  lassen.  Die  Resultate  seiner  Beobachtungen  zusaminen- 
gefaßt,  lauten :  a)  Die  kleinen  Dosen,  wie  auch  die  subkutane 
Einführung  des  Mittels  haben  fast  keinen  Einiluß  auf  die  llansen- 
bazillen.  Etwas  größere  Dosen  haben  als  erstes  Resultat  die 
Her  x he  i  morsche  Reaktion,  was  eine  gewisse  Wirkung  des 
Mittels  aut  die  Leprabazillen  bedeutet.  Die  großen  Dosen  und 
solche,  die  intravenös  eingeführt  werden,  üben  eine  positiv  de¬ 
struktive  W  irkung  auf  die  Leprabazillen,  wenngleich  ungenügend, 
um  die  ganze  Invasion  zu  vertilgen,  b)  Das  Salvarsan  führt  zur 
Ueberhäutung  der  ulzerierten  Hautstellen  und  Kontinuitätstren  ) 
nungeil,  welche  nicht  selten  bei  den  Leprakranken  Vorkommen.  | 
Diese  Krall  der  Aisenpräparate  ist  schon  aus  den  alten  Arbeiten  ! 
von  Kubier,  llebra,  Kaposi  bekannt  und  ist  auf  die  nekto-f 
fixierende  Wirkung  des  Arsens  auf  die  pathologischen  Bestand- $ 
teile  der  Haut  zurückzufühlen.  Die  äußerliche  Anwendung  großer « 
Dosen  von  Arsen  hat  auf  diese  Bestandteile  der  Haut  denselben I 
nekrotisierenden  Effekt,  c)  Das  Salvarsan  hat  keine  Wirkung  auf! 
die  m  Entwicklung  begriffenen  Leprome.  Die  Schlußfolgerung  I 
aus  diesen  Beobachtungen  ist,  daß  für  die-  Anwendung  des  Salv-| 
arsans  bei  der  Lepra  zweierlei  Indikationen  vorhanden  sind:  ' 
Erstens  in  den  Anfangsstadien,  wo  anzunehmen  ist,  daß  die 
Anzahl  der  wirkenden  Bazillen  gering  ist,  zweitens  in  Fällen,  wo 
die  Lepionie  zerfallen  oder  bereits  größere  Substanzverluste  ent¬ 
standen  sind.  Ob  nicht  eine  konsekutive,  auf  die  sukzessive  Ab¬ 
tölung  der  Leprabazillen  hinzielende  Anwendung  der  intravenösen 
Einverleibung  des  Salvarsans  zu  bedeutenden  Erfolgen  führen 
könnte,  wird  erst  durch  die  weitere  Erfahrung  gezeigt  werden. 

(Münchener  niediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  10.)  G. 

* 

343.  (Aus  dem  medizinisch-chemischen  und  pharmakologi¬ 
schen  Institute  der  Universität  Bern.  —  Direktor:  Prof.  Doktor 
E.  Biirgi.)  Ueber  die  Morphium- Chlor alhydrat-  und 
die  Morphium-Urethan-Narkose  bei  intravenöser  In¬ 
jektion.  Von  Dr.  Wilhelm  Hammerschmidt,  Tierarzt.  Durch 
die  \ ersuche  Hammerschmidts  wird  die  Vermutung  (nach 
Hauckolds  und  Lindemanns  Untersuchungen),  daß  die  Ver¬ 
stärkung  der  narkotischen  Wirkung  eines  Medikamentes  durch  ein 
zweites  Narkotikum  bei  intravenöser  Injektion  beider  Sub¬ 
stanzen  nicht  zu  erreichen  sei,  widerlegt.  Die  Narkotika  verschie¬ 
dener  Arzneigruppen  verhalten  sich  bei  dieser  Applikationsform 
auch  nicht  anders  als  wie-  bei  der  Einverleibung  per  os  oder  unter’ 
die  Haut.  W  enn  man  berücksichtigt,  daß  die  verschiedenen  Nar¬ 
kotika,  wenn  sie-  in  die  Venen  eing-espritzt  werden,  eine  ver- 
schie-den  lange  Zeit  brauchen,  bis  sie  das  Zentralnervensystem 
zu  lähmen  beginnen  und  wenn  man,  darauf  gestützt,  die  In¬ 
jektionen  ,so  vornimmt,  daß  die-  Höhepunkte  der  narkotischen  Wir¬ 
kungen  zweier  Medikamente  einigermaßen  zusammenfallen,  end¬ 
lich,  wenn  man  mehr  die  Dauer  der  Narkose  als  die  minimalen 
narkotisierenden  Mengen  untersucht,  dann  kann  man  eine  gegen¬ 
seitige  Verstärkung  der  Narkoseaffekte  zweier  Medikamente,  die 
weit  über  der  einfachen  Addition  steht,  auch  bei  intravenöser 
Applikation  mit  voller  Sicherheit  konstatieren.  Bei  gar  zu  kleinen 
Mengen  verwischt  sich  diese  Eigentümlichkeit  namentlich  infolge 
der  relativ  kurzen  Dauer  der  Narkose  bei  intravenöser  Injektion 
und  das  ist  wohl  auch  der  Hauptgrund,  weshalb  II au ck old 
und  Lindemann  die  sonst  von  ihnen  beobachteten  auffallenden 
Verstärkungen 'der  Narkosewirkung  bei  intravenöser  Injektion  ver¬ 
mißt  haben.  —  (Zeitschrift  für  experimentelle  Pathologie  und 
Therapie  1910,  Bd.  8,  H.  2.)  K.  S. 

* 

344.  Ein  Fall  vongummösem  Magentumor,  geheilt 
durch  S a  1  v a r s an b-eh a  n d lung.  Von  Dr.  Hausmann  in 
Tula.  D-er  vom  Verfasser  mitgeteilte  Fall  bietet  ein  hervorragen- 


Nr.  14 


WIEN  Eli  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


503 


des  Interesse  zunächst  wegen  der  Seltenheit,  der  syphilitischen 
Geschwülste  des  Magens  überhaupt  und  wegen  der  noch  größeren 
Seltenheit  ihrer  klinischen  Diagnostizierbarkeit.  Auf  Grund  einer- 
genauen  klinischen  Untersuchung,  auf  Grund  der  Anamnese  und 
der  schwach  positiven  W  a  ss  e r  m ann sehen  Reaktion,  stellte 
der  Verfasser  die  Diagnose:  gummöser  Magentumor,  unterließ 
die  Operation,  derentwegen  der  Kranke  ins  Tulascbe  Spital  auf¬ 
genommen  wurde  und  leitete  die  Salvarsanbehandlung  ein.  Es 
handelte  sich  um  eine  diffuse  gummöse  Infiltration  der  großen 
Kurvatur,  um  gummöse  Tumoren  um  den  Pylorus  herum  und  um 
eine  extraperitoneale  Infiltration  unterhalb  des  Pylorus  und  der 
Gallenblasengegend,  welche  periodische  Anfälle  von  Ikterus  und 
Aszites  hervorgerufen  hatte.  Leber  und  Milz  stark  hypertrophisch. 
Achylie,  keine  Stenosenerscheinungen  von  seiten  des  Magens, 
Blut  weder  im  Magen  noch  im  Stuhl.  Der  Kranke  erhielt  innerhalb 
sechs  Wochen  dreimal  Salvarsan :  0-6  intravenös,  nach  zwölf 
Tagen  0-6  intramuskulär,  nach  40  Tagen  0-5  intravenös.  Unter 
dieser  Behandlung  resorbierte  sich  der  Tumor  zwar  langsam,  aber 
stetig,  so  daß  er  nach  IV2  Monaten  vollständig  geschwunden  war. 
Auffallend  besserte  sich  der  Chemismus  des  Magens,  nach  zwei 
Monaten  trat  Ireie  Salzsäure  auf;  jetzt  drei  Monate  nach  Beginn 
der  Behandlung  ist  der  Chemismus  vollständig  normal.  Sämtliche 
Krankheitssymptome  sind  geschwunden.  Die  Leber  von  normaler 
Größe,  nur  derber,  die  noch  derbe  Milz  erheblich  verkleinert, 
was  auf  der  irreparablen,  zirrhotischen  Komponente  beruht.  Die 
vorher  schwach  posi live  W  asser  m a n  11  sehe  Reaktion  ergab 
schon  nach  drei  Wochen  ein  negatives  Resultat.  Der  Verfasser 
wollte  mit  der  Veröffentlichung  dieses  Falles,  der  in  der  Literatur 
über  Magensyphilis  kaum  seinesgleichen  findet,  zeigen,  daß  auch 
bei  viszeraler  Lues  das  Salvarsan  prompt  wirkt.  —  (Münchener 
inediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  10.)  G. 

* 

■345.  Der  Einfluß  dreifacher  intravenöser 
Salvarsaninjektion  auf  die  Wassermannsche  Re¬ 
aktion.  Von  Dr.  C.  Gntmann  in  Wiesbaden.  An  der  inneren 
Abteilung  des  städtischen  Krankenhauses  zu  Wiesbaden  (Professor 
Dr.  Wein  tr  and)  wurden  seit  Anfang  Oktober  v.  J.  40  Luetiker 
in  der  Weise  behandelt,  daß  man  ihnen  in  der  Gesamtzeit  von 
2  bis  6  Wochen  drei  Injektionen  von  Salvarsan  intravenös  ver¬ 
abfolgte.  Männer  bekamen  0'4  bis  0'5,  Frauen  0  3  bis  0'4  pro  dosi, 
die  Gesamtdosis  betrug  bei  ersteren  höchstens  U5,  bei  den  letzteren 
P2  g.  Sämtliche  Patienten  haben  diese  gehäuften  Injektionen  gut 
vertragen,  wenn  man  von  den  der  Injektion  selbst  folgenden  Er¬ 
scheinungen  absieht.  Da  einige  Fälle  noch  frisch  sind,  andere  sich 
der  Beobachtung  entzogen,  so  bleiben  27  zur  statistischen  Ver¬ 
wertung  übrig.  In  einzelnen  Fällen  ward  überdies  die  W  a  s  s  e  r- 
mannsche  Reaktion,  die  hier  in  erster  Linie  in  Betracht  kommt, 
schon  zu  Beginn  der  Behandlung  negativ.  Von  den  Wasser m  an  n- 
schen  positiven  27  Fällen  wurden  nach  den  3  Injektionen  25  ne¬ 
gativ,  2  blieben  positiv.  In  diesen  2  Fällen  handelte  es  sich  um 
Personen,  deren  Infektion  12,  bzw.  14  Jahre  zurücklag.  Der  eine 
halte  vier  Kuren  durchgemacht,  die  letzte  1899  bis  1900.  Beim 
Beginn  der  Behandlung  hatte  er  eine  rechtsseitige  Trochlearisparese 
und  eine  stark  positive  Reaktion.  Er  erhielt  dreimal  Salvarsan 
intravenös  und  später  Jodkali;  dennoch  blieb  die  W  ass  er  m  an  n- 
sche  Reaktion  noch  unverändert  positiv  und  die  Trochlearisparese 
war  wohl  gebessert,  aber  nicht  behoben.  Der  zweite  Kranke  war 
überhaupt  nicht  spezifisch  behandelt  worden,  er  zeigte  Tabes  dorsalis 
superior,  Myokarditis  und  die  Residuen  eint  r  vor  fünf  Jahren  er¬ 
littenen  rechtsseitigen  Hemiplegie.  Wassermann  stark  positiv. 
Trotz  dreimaliger  Injektion  positiver  Wassermann,  keine  Ver¬ 
änderung  in  den  Symptomen,  nur  Steigerung  der  früher  so  gut 
wie  erloschenen  Potenz.  In  den  übrigen  25  Fällen  (primäres  und 
sekundäres  Sladium  der  Lues)  wurde  die  Probe  negaliv,  bei  10 
schon  nach  der  zweiten  Injektion,  u.  zw.  wurde  dieses  Ergebnis 
14mal  schon  2  bis  6  Wochen  nach  der  ersten  Injektion  festgeslellt, 
zweimal  erst  ca.  12  Wochen  nach  Applikation  der  ersten  Dosis,  da 
sie  erst  so  spät  wiederkamen.  9  Fälle  wurden  erst  nach  der  dritten 
Injektion  Wassermann  negativ.  Es  zeigte  sich  wieder,  daß  bei 
Spätformen  der  Lues  die  Reaktion  nur  sehr  schwer  beeinflußt  wird. 
Diese  Behandlungsmethode  soll  fortgesetzt  werden,  u.  zw.  sollen  die 
Infusionen,  wenn  irgend  möglich,  in  ca.  14tägigen  Intervallen  er¬ 
folgen.  —  (Berliner  klin.  Wochenschr.  1911,  Nr.  9.1  E.  F. 


346.  Parotitis  und  Wochenbett.  Von  Dr.  J.  Fischer. 

Es  handelte  sich  in  dem  von  Fischer  beschriebenen  Falle  um 
eine  einseitige,  links  aufgetretene  Schwellung  der  Parotis  nach 
der  spontan  verlaufenen  Geburt,  bei  welcher  durch  eine  ganz 
kurze  Zeit  eine  tlalbnärkose  durchgeführt  worden  war.  Lokale 
Schwellung,  geringe  Schmerzhaftigkeit  bei  den  Kieferbewegun¬ 
gen  und  eine  Temperatursteigerung  von  vielleicht  einigen  Zehnteln, 
waren,  die  einzigen  Symptome  der  Erkrankung  gewesen.  Fisch  e  r 
glaubt  die  Aetiologie  für  diese  Parotitis  in  dem  Falle  in  dem  an¬ 
dauernden,  forcierten  Schreien  der  Gebärenden  sehen  zu  müssen, 
also  traumatische  ..Grundlage.  -  (Zentralblatt  für  Gynäkologie 
1910,  Nr.  49.)  -  E.  V. 

* 

347.  (Aus  dem  biologischen  Laboratorium  des  städtischen 

Krankenhauses  am  Urban.  Die  Bedeutung  und  Messung 
der  Magensaftazidität.  Von  Leonor  Michaelis  und  Hein¬ 
rich  Davidsohn.  Für  die  Beurteilung  der  proteolytischen  Wir¬ 
kungsfähigkeit  eines  Magensaftes  ist  die  Kenntnis  seiner  wahren 
Azidität,  d.  h.  seiner  Wasserstoffionenkonzentration  notwendig, 
da  die  Konzentration  der  Wasserstoffionen  das  allein  richtige 
Maß  für  die  Azidität  einer  Flüssigkeit  ist,  während  die  bisher 
üblichen  Titrationsmethoden  nicht  imstande  sind,  die  wahre  Azi¬ 
dität  anzugeben.  Es  kommen  für  diesen  Zweck  lediglich  in  Be- 
trachtldie  Methode  der  Konzentrationsketten  und  die  für  klinische 
Zwecke  hinreichend  genaue  Indikatorenmethode.  Das  Optimum 
der  Pepsinverdauung  liegt  bei  einer  Wasserstoffionenkonzentra- 
tion  von  0-016  n.  Eine  merkliche  Zerstörung  des  Pepsins  durch 
die  (Säure  tritt  bei  einem  Säuregrade  von  0-03  an  auf,  ein  völliges 
Versiegen  bei  0-0014  n.  Es  erscheint  zweckmäßig,  nach  diesen 
Zahlen  zu  beurteilen,  oh  ein  Magensaft  normal  sauer,  hyperL 
oder  hypazid  ist.  (Zeitschrift  für  experimentelle  Pathologie  und 
Therapie '1910,  Bd.  8,  H.  2.)  K.  S. 

* 

348.  Ueber  eine  Reaktion  tuberkulöser  Prozesse 
nach  Salvarsaninjektion.  Von  Prof.  Dr.  K.  Herxheim  er 
und  Dr.  K.  Äl’tmann  in  Frankfurt  a.  M.  In  neun  Fällen  von  Haut-, 
Lungen-  und  Drüsentuberkulöse,  in  welchen  wegen  gleichzeitige: 
Lues1  Salvarsaninjektionen  gemacht  wurden,  trat  danach  eine 
Herdreaktion  auf.  Vier  Fälle  betrafen  teils  manifeste,  teils  latente 
Veränderungen  in  den  Lungen,  resp.  Hal'sdriisen,  die  weiteren 
Fälle  waren  Lupuserkrankungen.  Während  die  luetischen  Ver¬ 
änderungen  nach  den  Injektionen  abheilten,  flackerten  die  klinisch 
latenten  Tuberkulosen  der  Lungen  aut,  schmolz  tuberkulöses  Ge¬ 
webe  einer  Halsdrüse  ein,  resp.  zeigte  sich  in  den  Lupusfällen 
vier  bis  sechs  Stunden  nach  der  Injektion  eine  Reaktion,  die 
den  Charakter  einer  akuten  Entzündung  aufwies  (Rötung,  Schwel¬ 
lung,  Hitzegefühl,  Schmerzhaftigkeit).  Die  Reaktion  hielt 
24  Stunden  an,  dann  gingen  die  entzündlichen  Erscheinungen 
(bei  den  Lupusfällen  unter  Schuppenbildunlg)  zurück.  Bei  Reinjek- 
tion  wiederholten  sich  die  Erscheinungen,  aber  in  deutlich  gerin¬ 
gerem  Grade.  Die  Reaktion  hat  Aehnlichkeit  mit  ,1er  Tuberkulin¬ 
reaktion.  Die  Verfasser  stellen  sich  vor,  daß  durch  das  \rseno 
benzol  in  den  tuberkulösen  Herden  Tuberkelbazillensubstanz,  also 
Tuberkulin  mobilisiert  wird,  das,  in  die  Umgebung  gelangend, 
eine  typische  Tuberkulinwirkung  ausübt.  Die  Verfasser  entwickeln 
diese  Anschauung  in  ausführlicher  Weise  und  weisen  darauf 
hin,  daß,  wenn  sie  auch  einen  heilenden  Einfluß  des  Salvarsaus 
auf  den  tuberkulösen  Prozeß  bisher  nicht  beobachtet  haben,  doch 
die  theoretische  Möglichkeit  einer  therapeutischen  Beeinflussung 
möglich  sei.  Die  praktische  Erfahrung  allein  lasse  hier  ein  Urteil 
zu  und  hiefür  ist  die  bisher  behandelte  Zahl  eine  noch  zu 
kleine.  Luetische  Phthisiker  könnten  mit  Salvarsan  behandelt 
werden,  nur  wäre  in  solchen  Fällen  eine  vorsichtige,  fraktio¬ 
nierte  Dosierung  den  einmaligen  größeren  Dosen  vorzuziehen. 

(Deutsche  medizin.  Wochenschrift  1911,  Nr.  10.)  E.  F. 

* 

349.  Influenza?  Von  Prof.  Dr.  ,1.  Trump  p.  In  einem 
in  der  Münchener  Gesellschaft  für  Kinderheilkunde  am  10.  Fe¬ 
bruar  1911  gehaltenen  Vortrage  skizziert,  Verf.  zunächst  das  Bild 
der  typischen  Influenza,  wie  es  allgemein  bekannt  ist,  schildert 
dann  die  Variabilität,  des  Krankheitshildes  nach  den  akuten  Ini¬ 
tialsymptomen,  welches  bereits  diagnostische  Schwierigkeiten  be- 


504 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  14 


reiten  kann.  Noch  größer  köntaen  aber  dies1©  Schwierigkeiten 
bei  den  leichten  und  abortiven  Fällen  stein,  die  oft  nur  zur 
Verlegenheitsdiagnose  Influenza  führen  und  eine  diagnostische 
Unsicherheit  beim  Arzte  erzeugen.  Verf.  hat  in  den  vergangenen 
Monaten  eine  große  Anzahl  teils  sicherer,  teils  zweifelhafter  In¬ 
fluenzafälle  gesehen,  so  Ende  des  Jahres  1910  37  Fälle,  worüber 
er  sich  genaue  Aufzeichnungen  gemacht  hat.  Von  diesen  Fällen 
boten  nur  sieben  das  typische  Bild  der  Influenza.  Alle  übrigen 
30  Fälle  verliefen  ziemlich  gleichmäßig  folgendermaßen:  Die 
Kinder,  die  morgens  noch  ganz  munter  aufgestanden  waren, 
zeigten  mittags  verringerte  Eß-  und  Spiellust,  später  Hitzegefühl. 
Die  Temperatur,  39°  bis  40°  C,  stand  in  keinem  Verhältnis  zu 
den  geringen  subjektiven  Erscheinungen.  Schon  nach  mehrstündi¬ 
ger  Bettruhe  verlor  sich  jedes  Krankheitsgefühl.  Die  Augen  waren 
klar,  nicht  gerötet,  die  Respiration  gleichmäßig,  die  Haut  weder 
besonders  trocken,  noch  feucht  oder  klebrig,  frei  von  Exanthemen, 
die  Frequenz  des1  Pulses  dem  Alter  und  der  Temperatur  ent¬ 
sprechend,  etwas  trockener  Husten  und  Verstopfung.  Die  übrige 
Untersuchung  ergab  gleichfalls  geringe  Ausbeute.  In  Mund-  und 
Rachenhöhlte  ein  dünner,  weißlicher  Belag  der  Zunge,  gleichmäßige 
Rötung  der  aufgelockerten  Rachenschleimhaut  ;  auf  dem  Gaumen¬ 
segel  ab  und  zu  kleine,  rote  Flecken,  die  in  Verbindung  mit  vter- 
einzelten  roten  Süppchen  auf  der  Wanigenstehleimhaut  an  be¬ 
ginnende  Masern  denken  ließen.  Verf.  hebt  diesen  Befund  hervor, 
weil  er  zeigt,  daß  man  mit  der  Frühdiagnose  Masern  vorsichtig 
sein  muß,  auch  wenn  alle  bisher  dafür  geforderten  Symptome 
vorhanden  sind,  wie :  hohes  Fieber,  Husten,  Hyperämie  der  Kon¬ 
junktiven  und  Exanthem  des  Gaumens.  Außerdem  fand  sich  stets 
eine  teigige  Infiltration  der  ziemlich  großem,  plattgeformten  Sub- 
maxillardrüsen  u.  zw.  so  regelmäßig,  daß  sie  dem  Verfasser  fast 
pathognomonisch  vorkam.  Die  inneren  Organe  lieferten,  abgesehen 
von  vereinzelten  Ronchis  über  den  Unterlappen,  keinen  Befund. 
Verf.  verordnete  Einlauf,  heißes  Bad,  wärmte  Getränke,  eiwei߬ 
arme  Kost,  sorgfältige  Mund-  und  Zahnpflege1.  Nach  zwei  bis 
drei  Tagen  standen  die  Kinder  auf.  Es  steht  für  den  Verfasser 
außer  Zweifel,  daß  es  sich  um  eine  ansteckende  Krankheit  han¬ 
delte,  denn  sie  ging  in  14  Fällen  nach  ein-  bis  dreitägigem  Inku¬ 
bationsstadium  auf  Angehörige,  manchmal  auf  alle  Personen  eines 
Hausstandes  über,  bei  denen  sie  stets  dasselbe  leichte  Krankheits¬ 
bild  erzeugte.  Verf.  fragt  nun,  ob  und  mit  welcher  Berechtigung 
diese  Krankheit  als  Influenza  bezeichnet  werden  darf.  Sie  hat 
mit  diester  gemeinsam :  1  die  verbreitete  Disposition,  2.  das 
kurze  Inkubationsstadium.  3.  den  meist  plötzlichen  Beginn,  4.  das 
hohe,  häufig  ephemere  Fieber,  5.  die  Reizerscheinungen  von 
seiten  des  Respirationstraktes,  6.  die  Hyperämie  der  Konjunktiven. 
Es  fehlen  aber  an  typischen  Influenzasymptomen:  I.  das  cha¬ 
rakteristische  Bild  des  Influenzaräch  ens,  2.  die  Affektion  des 
Zentralnervensystems;  Prostration,  Schlafsucht,  Depression,  all¬ 
gemeine  Reizbarkeit  und  Ueberempfindlichkeit  aller  Sinnes¬ 
organe,  3.  jede  stärkere  Affektion  des  Respirations-  oder  Dige¬ 
stionsapparates:  Rhinitis,  Bronchitis,  Erbrechen,  Diarrhöen,  4.  die 
Erkrankung  des  Ohres,  5.  Komplikationen.  Verf.  hat  bei  der 
Untersuchung  des  spärlichen  Nasen-  und  Rachenschleimes  in  acht 
Fällen  vergeblich  nach  dem  Pfeifferschen  Bazillus  gefahndet. 
Dagegen  fiel  ihm  in  den  Präparaten  ein  häufig  intrazellulär  gela¬ 
gerter,  zu  großen  Nestern  gruppierter,  sehr  kleiner  Diplobazillus 
auf,  der  zweimal  so  lang  als  dick  war,  torpedoförmige  Enden 
zeigte  und  sich  mit  Anilinfarben  in'  ganzer  Ausdehnung  gleich¬ 
mäßig  färbte.  Verf.  bezeichnet  sonach  den  heutigen  Stand  der 
Influenzadiagnostik  als  recht  unbefriedigend  und  möchte  hiemit 
die  Anregung  gehen,  daß  sich  die  Aerzte  mit  vereinten  Kräften 
bemühen,  die  Diagnose  Influenza  präziser  zu  gestalten.  Das 
wird  nur  mit  Hilfe  regelmäßiger  bakteriologischer  Untersuchung 
des  Nasen-  und  Rachensekretes  aller  zweifelhaften  Fälle  möglich 
sein.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  10.)  G. 

* 

350.  Metritis  dissecans  und  Uterusabszeß.  Von 
Dr.  J.  Risch,  Assistenzarzt  der  Universitäts-Frauenklinik  zu  Gießen 
(Prof.  v.  Franque).  Eine  19jährige  Hausschwangere,  Primipara, 
bekam  im  Anschluß  an  eine  leichte  Angina  eine  entzündliche  Hals- 
driisenschwellung  mit  hoher  Temperatur.  Am  zweiten  Tage  darauf 
spontane  Gehurt  ohne  innere  Untersuchung.  Einige  Stunden  nach 
dem  Partus  Schüttelfrost,  Temperatursteigerung  über  39°.  Die  Tem¬ 


peratur  blieb  auch  in  den  nächsten  Tagen  hoch,  während  die  Hals¬ 
drüsenschwellung  zurückging.  Es  fiel  nur  die  langsame  Involution 
und  eine  etwas  stärkere  Druckempfindlichkeit  des  Uterus  auf.  Erst 
nach  dem  fünften  Tage  Auftreten  von  eitrigem  Ausfluß,  der  immer 
stärker  wurde.  Am  zwölften  Tage  Einlegen  des  S  i  tz  e  n  f  re  y  sehen 
Saugschlauches  mit  ziemlich  langer  Saugung.  (Dieser  Saugapparat 
besteht  aus  einer  Wasserstrahlluftpumpe,  deren  Saugwirkung  durch 
ein  Hg-Manometer  auf  das  genaueste  reguliert  werden  kann ;  die 
Säugpumpe  wird  mit  einem  in  den  Uterus  eingeführten  Schlauch 
oder  Glasdrain  in  Verbindung  gebracht  durch  einen  Schlauch  oder 
eine  Rohrleitung,  in  die  ein  zum  Auffangen  des  Uterussekretes  be¬ 
stimmtes  Gefäß  eingeschaltet  ist.)  Nach  dreitägiger  Saugbehandlung 
sehr  reichlicher  Eiterabfluß,  worauf  sich  mit  einem  Schlage  der 
Zustand  der  Kranken  ganz  auffallend  besserte.  Am  25.  Wochen¬ 
bettstage  wurde  dann  mit  einer  reichlichen  Eitermenge  ein  großes 
Stück  Uterusmuskulatur  (11:5 1/2  cm,  bis  zu  3  cm  dick,  von 
pestilenzähnlichem  Geruch)  ausgesloßen,  worauf  die  Temperatur  zur 
Norm  abfiel  und  die  Genesung  ziemlich  rasch  fortschritt.  Es  war 
dies  ein  seltener  Fall  von  Metritis  dissecans  (der  58.  bisher  ver¬ 
öffentlichte  Fall).  Die  reichliche  Eitermenge  stammle  mit  größter 
Wahrscheinlichkeit  aus  einem  Uterusabszeß,  wofür  auch  die  sicht¬ 
liche  Besserung  der  Kranken  nach  Entleerung  des  Uterus  sprach, 
der  Umstand,  daß  die  Parametrien  frei  waren  etc.  Die  Infektion 
kam  wohl  auf  dem  Blutwege  von  den  erkrankten  Mandeln  her  zu¬ 
stande.  Franque  hat  1901  einen  ähnlichen  Fall  beschrieben,  der 
im  Anschlüsse  an  einen  Abortus  aufgetreten  war.  In  allen  bisher 
beschriebenen  Fällen  von  Metritis  dissecans  wurden  Streptokokken 
gefunden,  in  großer  Zahl,  meistens  in  Reinkultur.  Die  Diagnose 
wird  meistens  erst  nach  Lösung  oder  Ausstoßung  des  Sequesters 
gestellt  werden  können,  was  in  der  Regel  in  der  vierten  Woche 
geschieht.  In  keinem  Falle  ist  bisher  eine  nachfolgende  Gravidität 
beobachtet  worden.  Die  oberwähnte  Saugbehandlung  hat  sich  sehr 
gut  bewährt.  —  (Med.  Klinik  1910,  Nr.  5.)  E.  F. 

* 

351.  (Aus  der  Ill.  medizinischen  Klinik  der  Universität 

zu  Budapest.  —  Direktor:  Prof.  Baron  Alexander  v.  Koränyi.) 
Beiträge  zur  Frage  der  Tuberkulin-Anaphylaxie.  Von 
Dr.  Geza  Ivirälyfi.  Im  Serum  der  Tuberkulösen  ist  irgendeine 
Substanz  vorhanden,  welche  dem  Tuberkulin  auch  in  vitro  eine 
toxische  Eigenschaft  verleiht  oder  aus  demstelben  toxisch  wirkende 
Substanzen  freimacht.  Diese  Wirkung  des  Serums  des  tuber¬ 
kulösen  Kranken  ist  nicht  in  jedem  Fälle  genügend  stark  dazu, 
daß  sie  nachweisbar  werde;  daß  sie  öfters  doch  nachzuweisen  ist, 
ist  eine  Tatsache1,  welche  bei  der  Klärung  des  Problems  der 
Anaphylaxie  in  Rechnung  zu  ziehen  ist.  —  (Zeitschrift  für  klini¬ 
sche  Medizin,  Bd.  7.1,  H.  3  bis  6.)  K.  S. 

* 

352.  (Aus  der  chirurgischen  Klinik  zu  Heidelberg.  —  Di¬ 
rektor:  Prof.  Dr.  Wilrns.)  Die  Anwendung  der  Lokal¬ 
anästhesie  bei  größeren  Operationen  an  Brust  und 
Thorax  (Mammakarzinom,  Thorakoplasdik).  Von  Pri¬ 
vatdozent  Dr.  Georg  Hirschei.  Die  Lokalanästhesie  hat  sich 
in  den  letzten  Jahren  an  der  Heidelberger  Klinik  ein  sehr  großes 
Gebiet  erobert.  Manche  Operationen,  Avie  Hernien  oder  Strumen, 
werden  fast  nur  unter  Lokalanästhesie  ausgeführt.  Verf.  hat  nun 
in  der  letzten  Zeit  auch  drei  Fälle  von  Mammakarzinom  mit 
Ausräumung  der  Achselhöhle  und  zwei  Fälle  von  Thorakoplastik 
mit  Resektion  mehrerer  Rippen  in  Lokalanästhesie  operiert.  Die 
Veranlassung  bei  den  Mammakarzinomen  Avar  das  Vorhandensein 
eines  scliAveren  Herzfehlers  und  bei  den  Thorakoplastiken  die 
Tatsache,  daß  der  sehr  schAvere  operative  Eingriff,  in  Narkose 
ausgeführt,  nicht  zu  selten  schwere  Komplikationen  schafft  und 
zum  Exitus  führt.  Als  Anästhetikum  kommt  eine  l°/oige  Novo¬ 
kainlösung  in  Anwendung ;  das  Adrenalin  wird  nach  Bedarf  hin¬ 
zugetropft,  gewöhnlich  auf  50  cm3  vier  bis  fünf  Tropfen.  Unan¬ 
genehme  Nebenwirkungen  bei  oder  nach  der  Operation  fast  gar 
keine.  Verf.  hebt  noch  hervor,  daß  tes'  sich  in  den  drei  Fällen 
von  Mammakarzinom  um  verhältnismäßig  einfache  Karzinome 
handelte,  wobei  ein  bis  zwei  Quadranten  der  Mamma  von  Kar¬ 
zinom  befallen  Avaren,  mehr  höckerige,  knollige,  als'  infiltrierende 
Form  hatten,  beweglich  waren,  mit  deutlich  fühlbaren,  bohnen- 

I  großen  Drüsen  in  der  Tiefe  der  Axilla.  Supraklavikulär  Avaren 


Nr.  14 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


505 


keine  Drüsen,  Hautmetastasen  außerhalb  des  Mammagebietes  nicht 
vorhanden.  Außerdem  waren  die  Patientinnen  nicht  sehr  fettreich, 
so  daß  auch  von  dieser  Seite  keine  Schwierigkeiten  im  Wege 
lagen.  Der  erste  und  einzige  schmerzhafte  Nadelstich  wurde 
in  der  Achselhöhle  gemacht.  Von  hier  aus  wurde  zunächst  sub¬ 
kutan  das  ganz©  Operationsgebiet  umspritzt.  Nach  dieser  Um¬ 
spritzung  handelte  es  sich  darum,  die  in  den  Bereich  der  Operation 
fallenden  Nervi  intercostales  zu  anästhesieren.  Man  tastet  sich 
mit  der  Nadel  erst  nach  dem  einen,  dann  nach  dem  anderen 
Rippenrande  und  spritzt  an  jedem  derselben  etwa  3  bis  5  cm3 
ein.  Dann  wird  in  zwei  bis  drei  Richtungen  in  und  unter  dem 
Musculus  pectoralis  bei  erhobenen  Annen  in  die  Umgebung  der 
Armgefäße  injiziert.  Man  kann  weit  nach  oben  unter  die  Pek- 
torales  gelangen  bis  zur  ersten  Rippe  und  den  ganzen  Plexus 
brachialis1  treffen.  Hiefür  müssen  40  bis  50  cm3  verwendet  werden. 
Die  für  diese  Anästhesie  des  Mammakarzinoms  notwendige  Zeit 
beträgt  10  bis  15  Minuten.  Wenn  man  an  die  Anästhesie  die 
weitere  Desinfektion  des  Operationsfeldes  und  der  Hände  an¬ 
schließt,  ist  gerade  die  nötige  Zeit  verflossen,  die  bis  zur  Wirkung 
des1  Anästhetikurbs  notwendig  war.  Die  Musculi  pectorales  mußten 
in  den  drei  Fällen  nicht  völlig  entfernt  werden,  sondern  es  ge¬ 
nügte  das  Mitnehmen  der  Faszie  und  eines  Teiles  der  Muskulatur 
des  Pectoralis  major.-  Die  zweite  größere  Thoraxoperation,  die 
der  Verfasser  für  Vornahme  unter  Lokalanästhesie  für  sehr  ge¬ 
eignet  hält,  ist  die  Thorakoplastik.  Denn  es  handelt  sich  meist 
um  heruntergekommene,  durch  die  lange  Eiterung  geschwächte 
Patienten,  für  die  gerade  die  länge  Narkose  von  großem  Schaden 
ist  und  oft  zürn'  Verhängnis  wird.  In  den  zwei  Fällen  des  Ver¬ 
bs  sers  handelte  es  sich  um  einen  21jährigen  und  60jährigen 
Patienten.  In  dein  einen  Falle  wurden  sechs,  im  zweiten  fünf 
größere  Rippenstücke  entfernt.  Beide  Thorakoplastiken  waren 
durchaus  schmerzlos  verlaufen.  Verf.  gedenkt  noch  der  Gefahr, 
di©  vielleicht  bei  Injektion  in  der  Gegend  der  Pleura  und  der 
großen  Gefäßstämme  des  Armes  besteht..  Irgendeine  Verletzung 
dies'er  Organe  kam1  nicht  vor;  doch  liegt  dieselbe  im  Bereiche 
der  Möglichkeit.  Die  ganze  Technik  des'  Anästhesierens  erfordert 
Geschick  und  Uebung  und  darf'  keinem1  Anfänger  anvertraut  wer¬ 
den.  Auch  möge  man  sich  für  jede  Anästhesie  die  nötige  Zeit 
lassen  und  die  Geduld  nicht  verlieren.  Weiterhin  ist  es  not¬ 
wendig,  sich  die  einzelnen  Fälle  änzuseheh,  ob  sie  zur  Anästhesie 
geeignet  sind.  Allzu  große  Aengstlichkeit  ist  eine  Gegenindikation. 
Morphium  ist  bei  jeder  Lokalanästhesie  unbedingt  zu  empfehlen. 
Allzu  großes  Fettpolster  kann  ebenfalls  die  Anästhesie  unmöglich 
machen;  besonders  beim  Mammakarzinom  könnte  ein  dickes  Fett¬ 
polster  das  Aufsuchen  der  Rippen  nicht  ermöglichen.  (Mün¬ 
chener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  10.)  G. 

* 

353.  Beiträge  zur  Behandlung  der  lebensgefähr¬ 
lichen  M  ag  en  b  1  u  tu  n  gen.  Von  Dr.  Ludwig  Kraft,  Ober¬ 
chirurg  am  Frederiksborg-Hospital  in  Kopenhagen.  Die  Anzahl 
der  wegen  Blutung  operierten  Fälle  von  Magengeschwür  ist  eine 
verhältnismäßig  geringe  und  die  Ursache  dafür  liegt  zum  Teil 
darin,  daß  die  Internisten  mit  den  Erfolgen  der  internen  Behand¬ 
lung  zufrieden  sind;  zum  Teil  aber  darin,  daß  die  Indikationen 
für  die  Operation  unklar  sind.  Die  einen  sind  für  die  operative 
Behandlung  der  kleineren,  sich  öfter  wiederholenden  Magenblu¬ 
tungen,  während  andere  Chirurgen  profuser©,  lebensgefährliche 
Blutungen  für  die  Operation  geeignet  halten.  Der  wichtigste  Grund 
für  die  geringe  Ausbreitung  der  operativen  Behandlung  liegt  aber 
darin,  daß  in  den  meisten  bekannt  gewordenen  Fällen  die  opera¬ 
tive  Technik  versagte.  Zwar  gelang  es  in  einigen  Fällen  durch 
direkte  Unterbindung  des  blutenden  Gefäßes  oder  durch  Ver¬ 
schorfung  des  Geschwürs  die  Blutung  zu  stillen,  aber  bei  dem 
oft  tiefen  Sitze  der  Geschwüre  ist  manchmal  eine  Unterbindung 
nicht  möglich,  oder  man  findet  das  blutende  Gefäß  nicht;  es 
passiert  sogar  manchmal,  daß  man  das  Geschwür  weder  bei 
der  Palpation,  noch  bei  der  direkten  Inspektion  nach  Eröffnung 
des  Magens  findet.  Die  anderen  operativen  Eingriffe,  wie  die 
MageinausSchaltung  oder  die  Gastroenterostomie,  wiesen  auch  nicht 
immer  unmittelbare  Erfolge  auf.  Diesen  unsicheren  Erfolgen  der 
bisherigen  Behandlung  gegenüber  hat  sich  die  vor  zwei  Jahren 
von  Rovsing  angegebene  Methode  zur  Behandlung  blutender 
Magengeschwüre  in  den  vom  Verfasser  beobachteten  fällen  sein 


gut  bewährt.  Die  Methode  besteht  darin,  daß  nach  Eröffnung 
der  Bauchhöhle  der  Magen  mittels  des  von  Rovsing  angegebenen 
Diaphanoskops,  das  von  einer  Gastrotomiewunde  in  den  Magen 
eingeführt  wird,  genau  untersucht  wird.  Mittels  dieser  Methode 
gelingt  es,  nicht  nur  große,  sondern  auch  kleine  (erbsengroße) 
Geschwüre  zu  entdecken,  man  sieht  gewöhnlich  auch  das1  blutende 
Gefäß.  Sowohl  die  Vorderfläche,  als  auch  die  Hinterfläche  des 
Magens,  sowie  das  Duodenum  können  mit  dem  Diaphanoskop 
genau  inspiziert  werden.  Das  blutende  Gefäß  wird  durch  eine 
durch  die  ganze  Dicke  der  Magenwand  greifende  Ligatur  unter¬ 
bunden  und  die  Stelle  wird  mittels  ein  bis  zwei  Tabaksbeutel¬ 
nähten  versenkt.  Zum  Schlüsse  wird  das  Diaphanoskop  aus  dem 
Maigen  entfernt  und  die  Magenwunde  verschlossen.  Verfasser 
hat  dieses  Verfahren  in  fünf  Fällen  angewendet  und  in  vier 
Fällen  Stillstand  der  Blutung  erzielt.  In  einem  Falle  kam  es 
durch  einen  Kurzschluß  im  Instrument  zu  einer  schweren  Ver¬ 
schorfung  des  Magens1;  die  Patientin  ging  zugrunde.  —  (Langen- 
becks  Archiv,  Bd.  93,  H.  3.)  se. 

* 

354.  Kinnbildung  bei  Mikrognathie.  Von  Dr.  Esau. 
Ein  18jähriges  Mädchen  hatte  angeblich  seit  dem  Beginn  des 
zweiten  Lebensjahres  nach  Krämpfen  Kieferklemme  und  Vogel¬ 
gesicht.  Um  diesen  Fehler  zu  beseitigen,  ging  Esau  in  fol¬ 
gender  Weise  vor:  In  zwei  Sitzungen,  zwischen  denen  knapp 
drei  Wochen  Zeit  lagen,  wurde  zuerst  beiderseits  das  ankylo- 
sierte  Kiefergelenk  entfernt  und  die  Temporalisfaszie  interponiert. 
Ih  der  zweiten  Sitzung  wurde  aus  der  achten  Rippe  rechts  ein 
etwa  12  cm  langes  Stück  mit  Belassung  des1  inneren  Periostes 
reseziert,  darauf  von  einem  kleinen  Schnitt  am  Unterkinn  nach 
oben  beiderseits  di©  Haut,  möglichst  entfernt  von  der  Ober¬ 
fläche  und  nicht  zu  nahe  der  Mundschleimhaut,  unterminiert, 
dann  das  winklig  eingeknickte  Rippenstück  versenkt,  durch  tiefe 
Nähte  fixiert  und  darüber  eine  sorgfältige  Hautnaht  angelegt. 
Der  Wundverlauf  war  ein  ungestörter,  der  Mund  konnte  weit 
geöffnet  werden.  —  (Zentralblatt  für  Chirurgie  1910,  Nr.  52.) 

:  i  !  E.  V. 

* 

355.  (Aus  der  I. medizinischen  Klinik  —  Vorstand:  Professor 
v.  N o orden  —  und  der  I.  Universitäts-Frauenklinik  —  Vorstand: 
Hofrat  Prof.  Schauta  —  in  Wien.)  lieber  Ammoniak-, 
Aminosäuren-  und  Peptid-Stickstoff  im  Hann  Gra¬ 
vider.  Von  Dr.  Fritz  Falk  und  Dr.  Oswald  Hesky.  Die  Ver¬ 
fasser  untersuchten,  ob  die  funktionelle  LebersChädigung  bei 
Graviden,  wie  sie  in  der  alimentären  Lävulosurie  zum  Ausdrucke 
kommt,  sich  auch  im  Eiweißabbau  geltend  mache.  Sie  weisen 
nach,  daß  während  deir  Gravidität  eine  ziemlich  konstante  Ver¬ 
schiebung  in  der  Zusammensetzung  der  stickstoffhaltigen  Sub¬ 
stanzen  des  Harnes  vorkommt,  die  sich  in  einer  relativen  Ver¬ 
mehrung  des  Ammoniak-,  des  Aminosääuren-  und  peptidartig 
verketteten  Stickstoffs  gegenüber  dem  nicht  graviden  Zustand 
zeigt.  Der  Aminosäurenstickstoff  ist  ungefähr  in  73%,  der  Peptid- 
stic.kstoff  in  76%  der  Fälle  um  das  Zwei-  bis  Dreifache  ver¬ 
mehrt.  '  Nach  der  Entbindung  verbleibt  der  Ammoniak-,  respektive 
Aminosäurenstickstoff  auf  seiner  Höhe,  während  der  Peptidstick¬ 
stoff  unter  die  Norm  herabsinkt.  Im  Harn  Eklamptischer,  kurz 
nach 'der  Entbindung  ist  die  Peptidstickstoffausscheidung  oft  noch 
stark  vermehrt  und  sinkt  nur  allmählich  wieder  ab.  Alimen¬ 
täre  Lävulosurie  und  vermehrte  Peptidstickstoffaus'scheidung  ver¬ 
laufen  während  der  Gravidität  meist  parallel.  Die  Vermehrung 
des  Aminosäurenstickstoffes  ist  auf  Leberschädigung  während 
der  Gravidität  zurückzuführein,  die  Vermehrung  des  Peptidstick¬ 
stoffes  möglicherweise  auf  die  gesteigerte  Ausfuhr  von  mit  Glyko- 
koll  gepaarten,  aromatischen  und  hydroaromatischen  Säuren. 
(Zeitschrift  für  klinische  Medizin,  Bd.  71,  H.  3  bis  6.)  K.  S. 


Aus  französischen  Zeitschriften. 

356.  Ueber  einen  mit  Arseno benzol  behandelten 
Fall  von  Nephritis  syphilitica.  Von  Widal  und  Javal. 
Bei  dem  Patienten  bestand  seit  14  Monaten  eine  typische  Ne¬ 
phritis  syphilitica  mit  starker  Albuminurie  von!  1  bis  3%  Eiweiß. 
Es  bestand  ferner  hochgradiges  Oedem  als  Ausdruck  der  Un- 
d urchgängigkeit  der  Niere  für  Chloride  und  hartnäckige  Lipämie. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  14 


Es  wurden  0-6  g  Arsenobenzol  intravenös  injiziert  und  abgesehen 
von  einmaligem  Erbrechen  keine  Reaktion  beobachtet.  In  der 
auf  die  Injektion  folgenden  Woche  zeigte  die  Albuminurie  noch 
keine  Veränderung,  in  der  Zeit— vom  8.  bis  17.  Tage  nach  der 
Injektion  sank  sie  von  1%  auf  0-25°/o,  in  der  folgenden  Zeit 
schwankte  sie  zwischen  0-1  bis  0-25°/o.  Da  die  Oedeme  schon 
früher  zurückgegangen  waren,  so  läßt  sich  die  Wirkung  nur  hin¬ 
sichtlich  der  Albuminurie  beurteilen  und  es  hat  den  Anschein, 
daß  hier  der  Rückgang  der  Albuminurie  mit  der  Injektion  von 
Arsenobenzol  in  Zusammenhang  steht.  Ueber  die  Einwirkung  des 
Arsenobenzols  auf  die  Niere  liegen  widersprechende  Mitteilungen 
vor.  Es  findet  sich  die  Angabe,  daß  nach  der  Injektion  bei 
einer  größeren  Anzahl  von  Fällen  Albuminurie,  hyaline  und  gra¬ 
nulierte  Zylinder,  sowie  Erythrozyten  auftraten.  In  Fällen  von 
Nierensyphilis  wurde  öfter  Heilung,  bzw.  Abnahme  der  Albu¬ 
minurie,  in  vereinzelten  Fällen  aber  auch  Zunahme  der  Albu¬ 
minurie  nach  Arsenobenzolinjektion  beobachtet.  In  der  ersten 
Zeit  Avurde  Nephritis  unter  den  Kontraindikationen  der  Arseno- 
benzolanwendung  angeführt.  Der  mitgeteilte  Fall  ist  Aveder  für 
die  Frage  der  Heilwirkung,  noch  der  Schädlichkeit  des  Arseno¬ 
benzols  unbedingt  verwertbar.  Zur  Zeit,  der  Injektion  bestand 
keine  Retention  der  Chloride  und  das  Arsen  wurde  in  wenigen 
Tagen  vollständig  ausgeschieden;  es  fragt  sich,  ob  bei  Ausführung 
der  Injektion  zur  Zeit,  avq  noch  die  Retention  der  Choride  be¬ 
stand,  ein  gleiches  Resultat  erzielt  worden  wäre.  Bezüglich  der 
Wirkung  des  Quecksilbers  bei  Nephritis  lauten  die  Angaben  wider¬ 
sprechend  ;  in  dem  mitgeteilten  Falle  hatten  sich  wiederholte 
Injektionen  von  Jodquecksilber  und  benzoesaurem  Quecksilber 
als  wirkungslos  erwiesen.  Die  Beobachtung  lehrt,  daß  jeden¬ 
falls  nicht  alle  Formen  der  Nierensyphilis  und  alle  Stadien  der 
Erkrankung  eine  Kontraindikation  hinsichtlich  der  Arseno- 
benzolanwendung  darbieten.  —  (Bull,  et  mein,  de  la  Soc.  med. 
des  höp.  de  Paris  1911,  Nr.  2.)  a.  e. 

* 

357.  Ueber  die  Behandlung  der  vom  Wurmfort¬ 
satz  ausgehenden  generalisierten  Peritonitis.  Von 
Mauclaire.  Die  generalisierte  Peritonitis  geht  in  der  großen 
Mehrzahl  der  Fälle  vom  Wurmfortsatz  aus;  wobei  zwischen  der 
septischen  und  eitrigen  Form  zu  unterscheiden  ist.  Die  septische 
Form,  durch  eine  geringe  Menge  trüben  Exsudates,  diffuse 
Schmerzhaftigkeit  und  Auftreibung  des  Abdomens,  Blässe,  Zya¬ 
nose  und  Sefnveiße  bei  relativer  Euphorie  gekennzeichnet,  ist 
überhaupt  keiner  Therapie  zugänglich,  während  die  rein  eitrige, 
diffus  oder  in  Form  großer  Abszesse  auftretende  Peritonitis,  bessere 
Chancen  für  die  Therapie  darbietet.  Die  Behandlung  besteht  in 
Entleerung  des  Eiters  und  Drainage.  Für  die  Drainage,  die  auch 
an  sichreren  Stellen  zugleich  vorgenommen  werden  kann,  sind 
verschiedene  Methoden  angegeben  worden,  so  zum  Beispiel  die 
multiple  Drainage  des  Hypogastriums  und  beider  Iliakalgegenden, 
die  Drainage  in  Etagen,  die  lumbale,  abdomino  -  vaginale,  trans¬ 
mesenteriale  und  prärektale  Drainage,  Avelc.h  letztere  auf  direktem 
oder  indirektem  Wege  vorgenommen  werden  kann.  Die  Aus¬ 
waschung  der  Peritonealhöhle  mit  antiseptischen  Substanzen  ist 
größtenteils  verlassen  Avorden;  kürzlich  wurde’  die  Durchleitung 
eines  Sauerstolfstromes.  bzAv.  die  intraperitoneale  Injektion  von 
10  'rigem  Kampferöl  vorgeschlagen.  Bei  Stauung  des  Darminhaltes, 
sowie  ausgesprochener  Darmparese,  können  Appendikostomie  oder 
Cökostomie  rettend  wirken.  Es  wurden  verschiedene  Lagerungen 
nach  der  Operation  empfohlen,  darunter  die  Fowler  sehe  Lage¬ 
rung,  wo  der  Körper  des  Patienten  mit  der  Ebene  des  Bettes 
einen  Winkel  von  45°  bildet;  in  manchen  Fällen  empfiehlt  sich 
die  Ergänzung  der  Fowler  sehen  Lagerung  durch  perineale  Drai¬ 
nage  beim  Manne,  durch  abdomino- vaginale  Drainage  beim  Weibe. 
Die  Bauchlage,  durch  welche  die  Entleerung  des  Eiters  wesentlich 
befördert  wird,  ist  schmerzhaft  und  kann  daher  nicht  durch  längere 
Zeit  beibehalten  werden.  Die  kontinuierliche  Enteroklysc  mit 
physiologischer  Kochsalzlösung  ist  in  jüngster  Zeit  von  Arer- 
schiedenen  i  Sei  ten  als  wertvoller  therapeutischer  Behelf  empfohlen 
worden.  Die  statistischen  Angaben  lauten  hinsichtlich  der  Resul¬ 
tate  verschieden;  es  finden  sich  Statistiken  mit  bis  zu  86% 
Heilungen,  während  die  eigene,  70  operierte  Fälle,  umfassende 
Statistik  des  Verfassers  nur  10%  geheilte  Fälle  aufweist.  Aus 
den  Statistiken  geht  hervor,  daß,  je  frühzeitiger  die  Operation, 


um  so  größer  die  Aussicht  auf  Erfolg  ist,  während  die  Art  der 
Operations-  und  Nachbehandlungsmethoden  mehr  von  sekundärer 
Bedeutung  ist.  (Gaz.  des  höp.  1911,  Nr.  4.)  a.  e. 

* 

358.  Ueber  die  Der  m  oreak  t  i  o  n  mit  Natriumgly- 
kocholat.  bei  Syphilitikern.  Von  Loepler,  Desbouifö 
und  Duroeux.  Die  Häufigkeit  der  Po rg  es  sehen  Präzipitations¬ 
reaktion  bei  Syphilis  veranlaßte  Untersuchungen,  ob  das  Natrium- 
glykocholat,  welches  vom  Blutserum  Syphilitischer  sehr  leicht 
gefällt  wird,  bei  intradermäler  Einspritzung  eine  charakteristische 
Lokalreaktion  hervorruft.  Bei  der  leichten  Zersetzlichkeit  des 
Natrium  glykocholicum  Avurden  nur  frisch  bereitete  oder  in  ver¬ 
schlossenen  Ampullen,  bei  Licht  und  Luftabschluß  aufbewahrte 
Lösungen  zur  Anstellung  der  Reaktion  verwendet  und  zwar  ein 
bis  zwei  Tropfen  einer  2%igen,  bzw.  5%igen  Lösung  injiziert. 
Die  erste  Gruppe  umfaßt  63  Personen  u.  zw.  Gesunde  und  ver¬ 
schiedene  nichtsyphilitische  Erkrankungen;  hier  wurde  bei  An¬ 
wendung 'der  2%igen  Lösung  durchwegs  negative,  bei  Anwendung 
der  5%  igen  Lösung  in  sieben  Fällen  ganz  schwache  positive 
Reaktion  erhalten.  Die  zweite  Gruppe  umfaßt  die  syphilitischen 
und  parasyphilitischen  Erkrankungen;  die  zehn  Fälle  von  pri¬ 
märer  und  die  56  Fälle  von  sekundärer  Syphilis  gaben  bei  An- 
Avendung  der  5%igen  und  der  2%igen  Lösung  durchwegs ‘positive 
Reaktion,  ebenso  mit  Ausnahme  eines  Falles  die  15  Fälle  tertiärer, 
bzAv.  hereditärer  Syphilis.  Innerhalb  einer  Gruppe  von  neun 
Fällen  mit  Tabes,  bzw.  progressiver  Paralyse  und  Leukoplakie, 
Avurde  nur  einmal  bei  Anwendung  der  5%igon  Lösung  positive 
Reaktion  beobachtet.  Es  geht  daraus  hervor,  daß  die  R.eaktion 
bei  der  in  Entwicklung  begriffenen  Syphilis  nahezu  konstant, 
bei  parasyphilitischen  Erkrankungen  und  quaternärer  Syphilis 
nur  ausnahmsweise  auftritt.  Die  positive  Reaktion  tritt  als  lenti¬ 
kuläres  Erythem  oder  als  hirsekorn-  bis  linsengroßes,  schmerz¬ 
haftes  Knötchen  oder  als  kleines  Geschwür  mit  langsamer  Ver¬ 
narbung  zwischen  der  18.  bis  36.  Stunde  nach  der  Injektion 
aul  und  persistiert  durch  zwei  bis  fünf  Tage,  Avobei  intensive 
Reaktionen  von  Schmerzen  und  Fieber  begleitet  sein  können. 
Bei  den  untersuchten  Fällen  ließ  sich  ein  Parallelismus  zwischen 
Wasser  mann  scher,  Porg  es  scher  und  Intradermoreaktion 
nachvveisen.  Die  Reaktion  zeigt  die  tiefgreifende  biologische  Ver¬ 
änderung,  welche  durch  die  Infektion  veranlaßt  wird  und  kann, 
wenn  ihr  auch  kein  absolut  spezifischer  Charakter  zukommt, 
Avie  einige  Beobachtungen  zeigen,  mit  Erfolg  differentialdiagno- 
stisch  verwertet  werden.  —  (Progres  med.  1911,  Nr.  3.)  a.  e. 

* 

359.  B  e  in  e  r  k  u  ngen  zu  einem  Falle  von  Rogers  che  r 
Krankheit.  Von  Andre  Petit.  Unteir  Rogerscher  Krankheit 
versteht  man  das  Vorhandensein  einjer  angeborenen  Kommuni¬ 
kation  zwischen  den  beiden  Herzkammern.  Die  Erkrankung  wird 
selten  beobachtet  und  Avird,  Avenn  man  die  Möglichkeit  ihres 
Bestehens  nicht  in  Betracht  zieht,  gewöhnlich  als  Klappenfehler 
diagnostiziert.  Auf  das  Bestehen  der  Affektion  Aveist  das  Vor¬ 
handensein  eines  systolischen  Geräusches  hin,  welches  weder 
an  der  Spitze,  noch  an  der  Basis,  sondern  in  der  Mitte  der 
Präkordialgegend  sein  Maximum  zeigt.  Die  funktionellen  Be- 
schAverden  sind  bei  der  Roger  sehen  Krankheit,  falls  keine  ander¬ 
weitige  Mißbildung  des  Herzens  daneben  besteht,  nur  wenig  aus¬ 
geprägt.  Die  Dyspnoe  ist  nicht  hochgradig  und  tritt  in  der 
Regel  nur  bei  Anstrengung  auf. »Zyanose  fehlt  in  unkomplizierten 
Fällen,  weil  wegen  des  höheren  Druckes  im  linken  Ventrikel 
das  Blut  aus  dein  rechten  Ventrikel  trotz  der  Kommunikation 
nicht  in  den  linken  Ventrikel  ei nd ringen  kann;  wen n  durch  eine 
Lungenaffektion  eine  Störung  im  Lungenkreisläufe  eintritt,  so 
sind  die  Bedingungen  für  die  Entstehung  von  Dyspnoe  und  Zya¬ 
nose  gegeben.  In  unkomplizierten  Fällen  fehlen  Dyspnoe  und 
Zyanose,  so  daß  das  Hauptgewicht  auf  den  Auskultationsbefund 
zu  legen  ist.  Man  hört  ein  intensives,  rauhes,  in  der  Regel  von 
Schnurren  begleitetes  Geräusch,  welches  in  gleichbleibender  Inten¬ 
sität  sich  über  die  ganze  Systole  erstreckt  und  sein  Maximum 
entsprechend  der  Artikulation  ZAvischen  dem  dritten  linken  Rippen¬ 
knorpel  und  dem  Brustbein  aufweist.  Gelegentlich  findet  man 
Verstärkung  des  zweiten  Pulmonaltons,  Dilatation  und  Hyper¬ 
trophie  des  rechten  Ventrikels,  soAvie  Hypertrophie  des  linken 
Ventrikels.  Die  Erkrankung  ist  an  sich  gutartig;  beim  Hinzutritt 


Nr.  14 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1‘JIL. 


interkurrierender  Erkrankungen'  können  Zyanose,  Dyspnoe  und 
Asystolie  auf  treten,  _  bei  Infektionen  kommt  es  leichter  zu  Endo¬ 
karditis,  w.pbei'Vögen  der  bestehenden  kongenitalen  Mißbildung 
sich  ’leichter  Kompensationsstörungen  entwickeln  können.  Im 
Gegensatz  zur  angeborenen  Stenose  der  Pulmonalarterienkl  ippen 
schafft  die  Roger  sehe  Krankheit  keine  Prädisposition  zur  Tuber¬ 
kulose.  Bei  reiner  Pulmonalarterienstenose  findet  man  das  Maxi¬ 
mum  des  systolischen  Geräusches  im  zweiten  linken  Interkostal¬ 
raum,  neben  dem  Sternum  und  es  wird  das  Geräusch  gegen  die 
Klavikula  zu  am  deutlichsten  fortgeleitet,  während  bei  der  R  og er¬ 
sehen  Krankheit  die  Propagation  in  horizontaler  Richtung  erfolgt. 
Die  Behandlung  der  Roger  sehen  Krankheit  besteht  in  Vermeidung 
von  Anstrengungen  und  Gemütsbewegungen,  sowie  in  der  Ver¬ 
hütung  v-on  Erkrankungen  des  Respirationsapparates  und  Infek¬ 
tionen.  —  (Progres  med.  1911,  Nr.  4.)  a.  e. 

* 

Aus  italienischen  Zeitschriften. 

360.  (Aus  dem  S.  M . -Maddalenensp i ta  1  in  Triest.  Direktor 

Dr.  Markovich.)  „Ehrlich  606“  bei  der  Lepra.  Von 
M.  Gioseffi.  In  einem  veralteten  Falle  von  Lepra  mit  nega¬ 
tiver  Wassermannscher  Reaktion  hatte  die  Injektion  des  Prä¬ 
parates  „Ehrlich  606“  weder  irgendeinen  Einfluß  auf  den  spe¬ 
zifischen  Lepraprozeß,  noch  -eine  Degeneration  (Leprölyse)  der 
Hansenschen  Bazillen  zur  Folge.  (Gazzetta  degli  Üspedali 
e  delle  Cliniche,  29.  Januar  1911.)  sz. 

* 

361.  (Aus  der  III.  medizinischen  Klinik  der  Universität  in 

Neapel.  Direktor:  Prof.  G.  Rummo.)  Die  Bildung  von  spe¬ 
zifischen  Antikörpern  u n  d  d  i  e  Koinple m  e n  t a  b  1  e n- 
kungsr  eakti  on  bei  der  Malaria.  Von  Luigi  Ferranini. 
Das  Serum  von  Malariakranken  wurde  wiederholt  in  verschiedenen 
Zeitintervallen  auf  Komplementablenkung  mit  Benützung  des  Ex¬ 
traktes  einer  Malariamilz  als  Antigen  untersucht.  Das  Resultat 
war  stets  ein  negatives.  Autor  schließt  daraus  auf  den  Mangel 
jeder  Antikörperbildung  bei  der  Malaria.  Bei  dieser  Krankheit  ist 
ja  auch  sonst  das  Fehlen  aller  Immunitätsphänomene,  besonders 
das  der  Bildung  von  spezifischen  Agglutininen  und  Präzipitinen 
bekannt. (Daher  ist  auch  die  Malaria  nicht  leicht  radikal  zu  heilen 
und  ihr  Ueberstehen  verleiht  auch  keine  Immunität.  (La  Ri- 
forma  medica,  13.  Februar  1911.)  sz. 

* 

362.  (Aus  dem  Pathologischen  Institute  der  Universität  in 

Padua.  —  Direktor  Prof.  Lucatello.  lieber  die  Patho¬ 
genese  der  Akromegalie.  Von  G.  A.  Pari.  Die  Lehre,  welche 
die  Akromegalie  dem  Hyperpituitarismus  zuschreibt,  erklärt  auf 
sehr  einfache  Weise  90%  der  Fälle,  in  welcher  ein  Tumor  der 
Hypophyse  sich  findet  und  die  Tatsache,  daß  bei  akuten,  bösartigen 
Fällen  von  Akromegalie  ausnahmslos  ein  Tumor  der  Hypophyse 
vorhanden  ist.  Diese  Lehre  wird  nicht  erschüttert  durch  den 
Einwand,  daß  es  Fälle  von  Akromegalie  mit  Tumoren  der  Hypo¬ 
physe  ohne  chromophile  Zellen  gibt,  da  anatomisch«'  Tatsachen 
ein  unzuverlässiges  Element  darstellen,  wo  man  über  die  noch 
dunkle  Funktion  eines  Organes  urteilen  soll  und  da  es  ferner 
noch  nicht  erwiesen  ist,  daß  die  chromophile  Substanz  der  Hypo¬ 
physe  ein  Sekretionsprodukt  darstellt,  welches  auf  den  Organis¬ 
mus  einwirkt,  noch  weniger  aber,  daß  sie  das  einzige  Sekre¬ 
tionsprodukt  der  Hypophyse  sei.  Auch  der  Einwand,  daß  es 
sehr  viele  Fälle  von  Strumen  der  Hypophyse  mit  zahlreichen 
chromophilen  Zellen  gibt,  ohne  daß  Akromegalie  besteht,  kann 
dieser  Lehre  nicht  ihren  Wert  nehmen,  nachdem  innere  Sekre¬ 
tion  ja  kompensiert  werden  kann.  Die  Lehre  wird  ferner  nicht 
erschüttert  durch  die  Tatsache,  daß  sich  in  wenigen  Fällen  von 
Akromegalie  eine  maligne  Transformation  der  Drüsensubstanz 
der  Hypophyse  in  ein  Adenokarzinom  findet,  da  auch  bösartige 
Tumoren  die  gleiche  Wirkung  entfalten  können,  wie  das  Organ, 
aus  welchem  sie  hervorgegangen  sind.  Die  Lehre,,  welche  in  der 
Akromegalie  einen  auf  eine  unbekannte  Alteration  des  Stoll-  : 
Wechsels  zurückzuführenden  Symptomenkomplex  sieht,  verliert  j 
lim.  so  mehr  an  Wahrscheinlichkeit,  je  mehr  die  Lehre  vom  Hyper-  | 
pituitarismus  gewinnt.  — -  (Gazzetta  degli  ospedali  e  delle  Cli¬ 
niche,  7.  Februar  1911.)  sz. 

♦ 


363.  (Aus  dem  Institute  für  klinische  Medizin  in  Neapel. 

Direktor :  Prof.  A.  Cardarelli.)  lieber  Eiweißverbin¬ 
dungen  der  Metalle  und  Metalloide.  Versuche  über 
mit  Metallen  und  Metalloiden  kombinierte  Organo¬ 
therapie.  Von  Amaldo  Cantani.  Die  vom  Autor  unternom¬ 
menen  interessanten  Versuche,  auch  komplexe  Eiweißverbin¬ 
dungen,  fwie  die  in  verschiedenen  Organen,  Gehirn,  Hoden,  Leber, 
Eierstock,  enthaltenen,  durch  Kombination  mit  Metallen  und  Me¬ 
talloiden  in  ihrer  Gesamtheit  zur  Wirkung  zu  bringen,  hatten 
folgendes  Ergebnis:  Es  war  möglich,  ohne  die  Konstitution  des 
Eiweißmoleküls  zu  stören,  eine  Verbindung  von  Proteinsubstanzen 
mit  Halogenen  zu  erhalten.  Arsen,  Eisen  und  Quecksilber  da¬ 
gegen  übten  auf  die  chemische  Zusammensetzung  der  Eiwei߬ 
substanzen  einen  Einfluß.  Durch  die  Kombination  der  Proteine 
mit  den  Halogenen  lassen  sich  zwei  therapeutische  Vorteile  er¬ 
zielen  u.  zw.  die  sterilisierende  Wirkung  der  Halogene  vereint 
mit  ihrer  stimulierenden  Wirkung  auf  die  Gewebe  und  der  der 
jeweiligen,  mit  dem  Halogen  verbundenen  Eiweißsubstanz  eigene 
o rg a n o t h erapeu t i sc h e  Einfluß.  Bei  den  Arsen-,  Eisen-  und  Queck- 
. Silberverbindungen  geht  die  Wirkung  dieser  Metalle  nicht  ver¬ 
loren,  dagegen  scheint  die  organotherapeutisebe  Wirksamkeit 
zu  leiden.  Doch  dürfte  die  kleine,  in  Betracht  kommende  Menge 
dieser  Metalle  in  ihren  Eiweißverbindungen  auf  die  chemische 
Zusammensetzung  der  letzteren  einen  nennenswerten  Einfluß  nicht 
ausüben.  Die  Wirkung  dieser  Metall-  und  Metalloideiweißverbin¬ 
dungen  entspricht  der  Wirkung  des  in  reinem  Zustande  einge¬ 
führten  Metalle®  oder  Metalloides.  Sie  bieten  den  Vorteil  einer 
besseren  Tolerabilität  und  der  raschen  Elimination  durch  den 
Harn.  Die  organotherapeutisebe  Wirkung  der  Eiweißkomponenten 
wird  durch  die  Halogene  nicht  zerstört.  Durch  die  Verbindung  mit 
Eiweiß  scheint  die  toxische  Wirkung  der  Halogene  eliminiert  zu 
werden.  Bei  der  Jod  Verbindung  kann  man  der  Eiweißkomponente 
eine  entgiftende  Wirkung  auf  Jod  nicht, absprechen.  Der  Mechanis¬ 
mus  dieser  Entgiftung  ist  allerdings  bisher  unklar.  Weitere  Experi¬ 
mente  sollen  dies  aufklären.  Auf  dem  Wege  der  Eiweißkombina¬ 
tionen  erscheint  es  möglich,  Proteinsubstanzen  sozusagen  in  natür¬ 
lichem  Zustande  in  den  Organismus  einzuführen  und  die  Aus¬ 
nützung  von  so  komplexen  Substanzen,  wie  z.  B.  des  Eigelb, 
zu  ermöglichen  und  außerdem die  Gesamtwirkung  von  Organen 
zu  erreichen.  Die  mit  den  Eiweißkombinationen  erzielten  thera¬ 
peutischen  Erfolge  sind  sehr  gute.  Nach  den  vorliegenden  Experi¬ 
menten  an  Menschen  und  Tieren  läßt  sich  eine  Anregung  auf  den 
Stoffwechsel  der  Zellen  und  ein  wohltätiger  Einfluß  auf  den  Ge¬ 
samtorganismus  nicht  leugnen.  Die  Präparate  erzeugen  eine  Ver¬ 
mehrung  der  roten  und  weißen  Blutkörperchen,  eine  Gewichts¬ 
zunahme  und  eine  Erhöhung  der  Widerstandskraft  des  Organismus. 
—  (II  Tommasi,  30.  Januar  1911.)  sz. 

* 

364.  Die  chirurgische  Behandlung  der  tuberku¬ 

lösen  Peritonitis.  Von  Vincenzo  Ruffo.  Die  chirurgische 
Behandlung  der  Bauchfelltuberkulose  ist  bei  allen  ihren  Formen 
von  großer  Wirksamkeit.  Die  Spülung  des  Bauchraumes  ist  für  die 
Therapie  nicht  unumgänglich  notwendig,  bei  manchen  Formen 
der  Bauchfelltuberkulose  kommt  ihr  aber  der  Haupteinfluß  zu. 
Die  Indikation  für  das  operative  Verfahren  besteht  bei  allen 
Formen  der  tuberkulösen  Peritonitis  mit  Ausnahme  «1er  Fälle 
mit  ausgedehnter  Lungentuberkulose  oder  bei  Beteiligung  vieler 
Eingeweide  an  dem  tuberkulösen  Prozeß  und  in  den  Fällen, 
wo  der  allgemeine  Zustand  einen  operativen  Eingriff  nicht  mehr 
zuläßt.  —  (II  Tommasi,  30.  Januar  1911.)  sz. 

* 

Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

365.  Die  D  i  I  f  e  r  e  n  t  i  a  1  d  i  a  g  n  o  s  e  der  alkoholischen 
von  anderen  Formen  der  Bewußtlosigkeit,  mit  be¬ 
sonderer  Berücksichtigung  der  Fürsorge  für  unbe¬ 
kannte  Personen,  weile  he  von  der  Polizei  in  bewußt¬ 
losem  oder  halb  bewußtlosem  Zustande  gefunden 
werden.  Von  Lewis  D.  Mason.  Für  das  alkoholische  Koma 
gibt  es  kein  pathognomonisches  Zeichen.  Auch  der  Geruch  aus 
dem  Munde  ist  nicht,  beweisend,  weil  komatöse  Zustände  anderer 
Provenienz,  zum  Beispiel  infolge  von  Apoplexie  bei  Alkoholikern, 
nicht  selten  Vorkommen  und  weil  zur  Labung  Ohnmächtiger  häufig 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Alkohol  gegeben  wird.  Die  bei  alkoholischem  Koma  häufig  beob¬ 
achtete  geringe  Pulsfrequenz  —  60  Pulsschläge  und  darunter  — 
kommt  bei  allen  Zuständen  vasomotorischer  Lähmung  vor.  Auch 
die  Pupillen  zeigen  nichts  unbedingt  Charakteristisches.  Die  Tem¬ 
peratur  ist  im  alkoholischen  Koma  niedriger  als  normal.  Dies 
kann  differentialdiagnostisch  gegenüber  Geliimerkrankungen  ver¬ 
wertet  werden,  bei  denen  die  Temperatur  normal  ist.  Das  Fehlen 
der  Reflexe  ist  nur  ein  Zeichen  tiefer  Bewußtlosigkeit.  Die  Haut¬ 
anästhesie,  welche  im  Alkoholrausche  soweit  geht,  daß  selbst 
größere  Operationen  vorgenommen  werden  können,  ist  für  die 
Volltrunkenheit  recht  charakteristisch,  aber  auch  nicht  sicher 
differentialdiagnostisch  zu  verwerten.  Es  besteht  meist  Inkon¬ 
tinenz  der  Blase.  Manche  komatöse  Zustände  gleichen  dem  alko¬ 
holischen  Koma  außerordentlich.  Als  differentielle  Momente 
kommen  in  Betracht:  Bei  epileptischen  Anfällen  ist  der  Zungen¬ 
biß  charakteristisch  und  das  Koma  pflegt  nur  kurze  Zeit 
zu  dauern.  Hitzschlag  verrät  sich  meist  durch  die  äußeren  Um¬ 
stände  seines  Auftretens.  Koma  infolge  Chloroformvergiftiing 
kommt  nicht  oft  vor  und  verrät  sich  durch  den  Geruch.  Für  die 
Opiumvergiftung  ist  die  stecknadelkopfgroße,  starre  Pupille  cha¬ 
rakteristisch.  Akute  Bromvergiftung  führt  meist  nicht  zu  tiefem 
Koma,  sondern  nur  zu  halber  Bewußtlosigkeit  mit  Gedächtnis¬ 
verlust,  taumelndem  Gang  und  Selbstmordabsichten.  Schwindel, 
kardiale  Synkope,  pflegen  vorübergehender  Art  zu  sein.  Es  ist 
nicht  angezeigt,  in  Fällen  von  Bewußtlosigkeit  eine  Diagnose  zu 
stellen,  bevor  genügend  Zeit  verstrichen  ist,  um  die  Mutmaßung 
der  Trunkenheit  zu  bestätigen.  Die  subkutane  Verabreichung  von 
Strychnin  ist,  wenn  nicht  direkte  Kontraindikation  dagegen  vor¬ 
handen  ist,  bei  akuter  Alkoholvergiftung  von  großem  Werte.  Die 
bisher  in  solchen  Fällen  geübte  schematische  Methode  des  Aus¬ 
schlafenlassens  ist  zu  verwerfen.  Sie  kann  leicht  der  Anlaß  zu 
einem  Kunstfehler  sein.  Alle  Fälle  von  Bewußtlosigkeit,  ob  alko¬ 
holisch  oder  nicht,  sollen  in  das  nächste  Spital  geschafft  und  unter 
sorgfältige  Beobachtung  gestellt  werden.  So  sind  zum  Beispiel 
in  Paris  im  Hospital  St.  Anne  50  Betten  für  derartige  Fälle  re¬ 
serviert.  Nur  so  kann  die  geeignete  Hilfe  rasch  geboten  und  ein 
fataler  Irrtum  in  der  Diagnose  vermieden  werden.  —  (The  Vir¬ 
ginia  Medical  Semi-Monthly,  23.  Dezember  1910.)  sz. 

* 

366.  Syphilis  bei  Kindern.  Meine  Erfahrungen 
mit  Salvarsan;  unmittelbare  Resultate  und  spätere 
toxische  Manifestationen.  Von  Louis  Fischer.  Autor 
kommt  zu  folgenden  Ergebnissen :  Die  toxische  Wirkung  des  Salv- 
arsans  kann  auf  Ueberempfindlichkeit  des  Körpers,  möglicher¬ 
weise  auf  Idiosynkrasie  zurückzuführen  sein.  Die  Dosis  von 
0-3  g  ist  zu  groß  für  Kinder.  Autor  würde  nicht  mehr  als  0-1  g 
des  Ehrlic  h-Hataschen  Präparates  bei  Kindern  empfehlen. 
Diese  Dosis  soll  durch  wenigstens  einige  Wochen  nicht  oder  nur 
dann  wiederholt  werden,  wenn  keinerlei  Grund  zur  Annahmie 
besteht,  daß  die  erste  Dosis  von  irgendwelchen  Symptomen  ge¬ 
folgt  war.  Nach  seinen  gegenwärtigen  Erfahrungen  würde  Autor 
die  Injektion  bei  ambulanten  Patienten  abraten  und  verlangen, 
daß  dieselben  entweder  in  einem  Spital  oder  in  einem  Sanatorium 
vorgenommen  werde,  wo  die  geeignete  Ueberwachung  durch  Aerzte 
und  Wartepersonen  möglich  ist  und  toxische  Symptome  so  früh 
als  möglich  bemerkt  werden  können.  —  (The  Journal  of  the 
American  Medical  Association,  11.  Februar  1911.)  sz. 


Sozialärztliche  Revue. 

Von  Dr.  L.  Sofer. 

Anläßlich  der  bei  uns  herrschenden  Teuerung,  die  die  Lebens¬ 
haltung  weiter  Kreise  ungünstig  beeinflußt,  wird  der  Bericht 
einer  vom  Deutschen  Städtetag  entsandten  Kommission  von 
Interesse  sein,  die  die  Einfuhr  und  den  Verbrauch  gekühlten 
und  gefrorenen  Fleisches  in  England  untersuchte.  Gekühltes 
Fleisch  kommt  bisher  nur  aus  Süd-  und  Nordamerika,  gefrorenes 
hauptsächlich  aus  Südamerika,  Australien  und  Neuseeland;  von 
beiden  letzteren  Ländern  ist  die  Reise  nach  Europa  zu  weit 
für  gekühlte  Ware,  indes  wird  man  nach  Lind  ley  scher  Methode 
(Kühlung  mit  gekälteter  sterilisierter  Luft)  auch  gekühltes  Fleisch 
von  Australien  zuführen  können ;  dabei  würde  das  Fleisch  vor 
der  Verladung  Dämpfen  von  Formaldehyd  ausgesetzt  werden. 
London  und  Liverpool  haben  zahlreiche  Kühllager.  Die  Lon¬ 


doner  Hafenbehörde  hat  seit  vier  Jahren  deren  sechs  eingerichtet 
das  umfangreichste  für  25.000  Rinder.  Diese  dem  öffentlichen 
Verkehr  dienenden  Anlagen  werden  von  Einführern  benützt,  die 
keine  eigenen  besitzen;  andere  Anlagen  gehören  Gesellschaften. 
In  den  Anlagen  werden  die  gefrorenen  Hammel  durch  Teihmgs- 
maschinen,  die  Ochsenviertel  mit  elektrischen  Bandsägen  zer¬ 
schnitten  werden.  Die  Kälte  wird  durch  Ammoniak  erzeugt  und 
ebenso  Avie  in  den  Schiffen  verbreitet.  Elektrische  Hebewerke 
nehmen  die  Rinderviertel  von  den  Schiffen  auf;  die  Temperatur 
ist,  Avie  in  den  Schiffen,  etAva  — 8°  für  gefrorenes  und  — 1° 
für  gekühltes  Fleisch. 

Gefrorenes  Fleisch  sollte  innerhalb  vier  Wochen  in  Gebrauch 
genommen  werden,  wenn  es  sich  auch  im  Kühlhause  länger  hält; 
gekühltes  leidet  bei  mehr  als  14 tägigem  Lagern.  Auf  dem  Gro߬ 
markt  sucht  man  das  gekühlte  Fleisch  noch  an  demselben  Tage 
in  den  Laden  zum  Verkauf  zu  bringen.  Gefrorenes  kann  länger 
hängen,  muß  aber  nach  dem  Auftauen  auch  in  zwei  Tagen  ver¬ 
braucht  werden.  Dec  Gesundheitszustand  des  gefrorenen  und 
gekühlten  Fleisches  ist  nach  Auskunft  der  englischen  Unter¬ 
suchungsbehörden  sehr  günstig,  was  darauf  zurückzuführen  ist, 
daß  es'  sich  um  Weidevieh  handelt.  Die  amtliche  Untersuchung 
besteht  in  einer  Beschau  bei  der  Löschung,  hauptsächlich  auf 
Unverdorbenheit  und  in  einer  Marktbesichtigung  mit  allgemeiner 
Kontrolle,  Finnenprobe  usw.,  eingehender  Stichprobe  der  Drüsen 
Die  Hauptinspektoren  sind  tierärztlich  gebildet,  die  Nebenbeamten 
geschult.  In  den  Herkunftsländern  besteht  eine  Untersuchung  für 
lebendes  Vieh,  über  die  eine  Bescheinigung  ausgestellt  wird. 
In  Argentinien  erhält  jedes  Stück  des  zu  versendenden  Fleisches 
einen  besonderen  Untersuchungsstempel. 

Wir  sehen  also,  daß  man  in  England  auf  Grund  langjähriger 
Erfahrung  zu  einem  sehr  günstigen  Urteil  über  die  Einfuhr  über¬ 
seeischen  Fleisches  gekommen  ist.  Die  schüchternen  Versuche, 
die  mit  argentinischem  Fleische  in  Oesterreich  gemacht  Avurden, 
haben  jedenfalls  es  nur  bestätigen  können.  Wir  müssen  betonen, 
daß  nicht  die  geringsten  hygienischen  Bedenken  gegen  die  Einfuhr 
bestehen,  sondern  im  Gegenteil,  die  Rücksicht  auf  das  allgemeine 
Volkswohl  die  Wiederholung  der  Einfuhr,  in  großem1  Maßstabe 
erfordert. 

In  der  reichsdeutschen  Versicherungskommissiondes 
Parlaments  wurde  bezüglich  des  Verhältnisses  zwischen  Aerzten 
und  Krankenkassen  folgendes  Kompromiß  angeommen:  Die 
Beziehungen  zwischen  Krankenkassen  und  Aerzten  werden  durch 
schriftlichen  Vertrag  geregelt;  die  Bezahlung  anderer  Aerzte  kann 
die  Kasse,  von  dringenden  Fällen  abgesehen,  ableimen.  SoAveit 
es  die  Kasse  nicht  erheblich  mehr  belastet,  soll  sie  ihren  Mit¬ 
gliedern  die  Auswahl  zwischen  mindestens  zwei  Aerzten  frei- 
lassen,  die  Satzung  kann  jedoch  bestimmen,  daß  der  Behandelte 
während  desselben  Versicherungsfalles  oder  Geschäftsjahres  den 
Arzt  nur  mit  Zustimmung  des  Vorstandes  wechseln  darf.  Wird 
hei  einer  Krankenkasse  die  ärztliche  Versorgung  dadurch  ernstlich 
gefährdet,  daß  die  Kasse  keinen  Vertrag  zu  angemessenen  Be¬ 
dingungen  mit  einer  ausreichenden  Zahl  von  Aerzten  schließen 
kann,  oder  daß  die  Aerzte  den  Vertrag  nicht  einhalten,  so  er¬ 
mächtigt  das  Oberversicherungsamt  (Beschlußkammer)  die  Kasse 
auf  ihren  Antrag  widerruflich,  statt  der  Krankenpflege  oder  sonst 
erforderlichen  ärztlichen  Behandlung,  eine  bare  Leistung  bis  zu 
zAvei  Dritteln  des  DurchschnittsbetragesThres  gesetzlichen  Kranken¬ 
geldes  zu  gewähren.  Das  Oberverwaltungsgericht  kann  zugleich 
bestimmen:'  1.  wie  der  Zustand  dessen,  der  die  Leistungen  er¬ 
halten  soll,  anders  als  durch  ärztliche  Bescheinigung 
nachgewiesen  werden  darf,  2.  daß  die  Kasse  ihre  Leistungen  so 
lange  einstellen  oder  zurückhalten  darf,  bis  ein  ausreichender 
Nachweis  erbracht  ist  und  3.  daß  die  Leistungsfähigkeit  der  Kasse 
erlischt,  wenn  binnen  einem  Jahre  nach  Fälligkeit  des  Anspruches 
kein  ausreichender  Nachweis  erbracht  ist  und  daß  4.  die  Kasse 
diejenigen,  denen  sie  ärztliche  Behandlung  zu  gewähren  hat, 
in  ein  Krankenhaus  verweisen  darf. 

Soll  ein  Aerztevertrag  geschlossen,  verlängert  oder  geändert, 
werden,  so  können  die  Krankenkassen  und  die  Aerzte,  die  darüber 
miteinander  verhandeln  av ollen,  die  Bildung  von  Einigungsaus- 
Schüssen  bestinünen  und  zu  diesen  je  die  Hälfte  der  Vertreter 
wählen.  Die  Verträge  zwischen  Krankenkassen  und  Aerzten  dürfen 
für  kürzere  Zeit  als  ein  Jahr  nicht  geschlossen  oder  verlängert 
werden.  Die  Kündigungsfrist  darf  nicht  längere  Zeit  als  sechs 
Monate  betragen.  Bei  Streitigkeiten  aus  dem  Vertrag  entscheidet 
ein  Schiodsausschuß,  zu  dem  jeder  Teil  zwei  Vertreter  benennt. 
Die  Krankenkasse  kann  aus  einem  wichtigen  Grunde  die  Ver¬ 
längerung  des  auf  bestimmte  Zeit  geschlossenen  Vertrages  ab¬ 
lehnen,  oder  einen  Vertrag  kündigen.  Verneint  das  Schiedsgericht 
die  Frage,  ob  ein  wichtiger  Grand  vorliegt,  so  gilt  der  Vertrag  als 
auf  ein  Jahr  verlängert.  Ein  wichtiger  Grund  liegt  jedenfalls 


Nr.  14 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


5U9 


dann  vor,  wenn  die  Kasse  nachweist,  daß  sie  den  Vertrag 
zu  ihr  günstigeren  Bedingungen  auf  mindestens  ein  Jahr 
schließen  kann,  doch  ist  in  diesem  Falle  der  neue  Vertrag  mit  den 
alten  Aerzten  zu  schließen,  wenn  die  Kasse  nur  mit  bestimmten 
einzelnen  Aerzten  abgeschlossen  hat,  ohne  anderen  Aerztein  einen 
Anspruch  auf  Beitritt  einzuräumen  und  die  alten  Aerzte  die  (neuen, 
schlechten)  Bedingungen  annehmen  wollen.  Ein  wichtiger  Grund 
liegt  ferner  vor,  wenn  die  Kasse  bereit  ist,  den  Vertrag  nicht  mehr 
mit  bestimmten  einzelnen  Aerzten,  sondern  mit  allen  dazu  be¬ 
reiten  Aerzten  abzuschließen,  gegen  deren  Zulassung  kein  wich¬ 
tiger  Grund  vorliegt. 

Das  Schiedsgericht  besteht  aus  dem  Vorsitzenden,  zwei 
ständigen  Mitgliedern,  sowie  in  einem  Aerztevertreter  und  Kassen¬ 
vertreter  als  Beisitzer.  Die  Krankenkasse  hat  dem  Versicherungs¬ 
amte  bis  spätestens  zwei  Monate  vor  Ablauf  des  Vertrages  oder, 
wenn  sie  neu  errichtet  wird,  vor  dem  Beginn  ihrer  Tätigkeit  nach¬ 
zuweisen,  daß  sie  den  Vertrag  mit  einer  ausreichendem  Anzahl 
von  Aerzten  geschlossen  hat.  Kann  sie  es  nicht,  so  hat  sie, 
oder  wenn  sie  es  unterläßt,  das  V e-rs i c h erungjsam t  alsbald  die 
Vermittlung  des  Schiedsamtes  anzurufen.  Das  Gleiche  gilt,  wenn 
das  Vertragsverhältnis  infolge  unvorhergesehener  Ereignisse  vor¬ 
zeitig  gelöst  wird  und  Gefahr  besteht,  daß  die  Kasse  den  Vertrag 
nicht  rechtzeitig  mit  einer  ausreichenden  Zahl  von  Aerzten 
schließen  kann.  Das  Schiedsgericht  stellt  die  Bedingungen  fest, 
die  für  einen  Vertrag  der  Aerzte  mit  den  Kassen  als  angemessen 
zu  gelten  haben. 

Wir  müssen  gestehen,  daß  dieses  Kompromiß  höchstens  ein 
Kompromiß  zwischen  Regierung  und  Krankenkassen  darstellt;  für 
die  Aerzteschaft  ist  es  direkt  unannehmbar.  Denn  es  bedeutet 
eine  direkte  Verschlechterung  der  bisherigen  Situation.  Da 
—  im  Deutschen  Reiche  —  keine  Behandlungspflicht  für  Aerzte 
besteht  (entsprechend  der  allgemeinen  Kurierfreiheit),  konnten 
bisher  die  Aerzte  durch  Sperrung  einer  Kasse  einen  Druck  auf 
sie  ausüben,  da  diese  gesetzlich  eine  Verpflichtung  für  die  ärzt¬ 
liche  Behandlung  haben.  Die  oben  angeführten,  verwickelten 
Bestimmungen  sollen  in  Zukunft  die  Kassen  vor  diesem  Druck 
schützen.  Die  Regierung  motiviert  dies  damit,  daß  heute  im 
Streite  zwischen  Kassen  und  Aerzten  die  Kassen  den  schwächeren 
Teil  darstellen.  Angenommen,  daß  dies  richtig  ist,  so  muß  man 
an  die  Regierung  die  Frage  stellen:  Was  hat  sie  für  die  Aerzte 
getan,  solange  sie  der  schwächere  Teil  waren.  Und  der  begeisterte 
Lobredner  der  Regierung  muß  darauf  antworten :  Nichts,  gar 
nichts.  Bloß  durch  Selbsthilfe-,  durch  den  Leipziger  Verband, 
ist  es  den  Aerzten  gelungen,  das  Gleichgewicht  in  dem  Kampfe 
herzustellen.  Sofort  springt  aber  die  Regierung  herbei,  um  durch 
gesetzliche  Maßregeln  den  Kassen  wieder  das  Uebergewicht  zu 
verschaffen. 

Infolge  des  einmütigen  Widerstandes  der  Aerzteschaft  ließ 
die  Kommission  den  Schluß  des  Kompromisses,  die  Schieds¬ 
gerichte  betreffend,  fallen  und  es  gelangt  in  der  verkürzten 
Form  vor  das  Plenum.  Hier  ist  allerdings  sein  Schicksal  un¬ 
bestimmt. 

Neuerdingte  läßt  die  Pensionskatese  für  die  Arbeiter  der 
Preußisch-Hessischen  Eisenbahngemeinschaft  in  Berlin  Lungen¬ 
kranke,  die  bereits  eine  Kur  in  einer  ihrer  Heilstätten  durchgemacht 
haben,  ambulant  von  dem  Kassenarzte  auf  ihre  Kosten  mit  T  uber¬ 
kulin  weiter  behandeln,  wenn  dies  die  Heilstätte  zur  Sicherung 
eines-  dauernden  Heilerfolges  für  wünschenswert  hält.  Die-  Fort¬ 
setzung  der  in  der  Heilstätte  begonnenen  Tuberkulinbehandlung, 
die  auf  ausgesuchte  Fälle  beschränkt  wird,  erfolgt  unter  beson¬ 
deren  Vorsichtsmaßregeln  an  der  Hand  einer  genauen  Anleitung 
der  Heilstätte  für  die  Nachbehandlung  und  eines  ausführlichen 
Krankheits-  und  Behandlungsberichtes  mit  bildlicher  Darstellung 
des  Lungenbefundes.  Gleichzeitig  ist  die  Eisenbahnpensionskasse 
mit  der  Einführung  von  Lehrkursen  über  die  Tuberkulinbehandlung 
für  Bahnärzte  vorausgegangen.  Die  Kasse  hat  sich  zur  ambulanten 
Tuberkulinnachbehandlung  mit  Zustimmung  des  Ministers  der 
öffentlichen  Arbeiten  entschlossen,  nachdem  auch  die  ärztlichen 
Sachverständigen  des  Wohlfahrtsausschusses,  der  zur  Beurtei¬ 
lung  derartiger  Fragen  bestellt  ist,  die  Einführung  befürwortet 
hatten. 

In  der  Schweiz  steht  ebenfalls  die  Frage  der  Einfuhr 
überseeischen  Fleisches  trotz  der  reich  entwickelten  V  iehzucht 
des  Landes  auf  der  Tagesordnung.  In  den  Städten  Zürich, 
St.  Gallen,  Lausanne  und  Basel  wird  bereits  argentinisches 
Ochsenfleisch  ausgewogen;  Bern  folgt,  die  Konsumenten  -er¬ 
klären,  daß  es  in  bezug  auf  Qualität  hinter  dem  frisch  geschlach¬ 
teten  Fleisch  nicht  zurückstehe.  Anderseits  rüstet  sich  die 
Schweiz  zu  der  im  Jahre  1914  in  Bern  stattfindenden  Allgemeinen 
Landesausstellung.  Mit  ihr  wird  eine  soziale-  Ausstellung 
verbunden  sein.  Zur  Darstellung  sollen  die  Zusammensetzung 


der  schweizerischen  Arbeiterschaft  nach  Alter,  Geschlecht,  Zivil¬ 
stand  und  Nationalität  gelangen,  ferner  die  Fabriksstatistik  und 
die  Verschiebungen  in  den  letzten  60  Jahren,  die  Haushaltungs¬ 
und  W oh nungs Verhältnisse,  die  Arbeitslöhne-,  Arbeitszeiten,  Be¬ 
rufskrankheiten  und  Unfälle,  die  Gewerkschaftsorganisationen,  die 
Lohnkämpfe  und  die  Tarifverträge  und  die  Bildimgsbestre-bungen. 


\/ermisehte  Haehriehten. 

Ernannt:  Der  ordentliche  Professor  an  der  Universität 
in  Innsbruck  Dr.  Norbert  Ortner  zum  ordentlichen  Professor 
der  speziellen  medizinischen  Pathologie  und  Therapie  und  zum 
Vorstände  der  dritten  medizinischen  Klinik  und  der  mit  dem 
Titel  eines  ordentlichen  Universitätsprof-essors  bekleidete  außer¬ 
ordentliche  Professor  an  der  Universität  in  Wien,  Prinrarazt 
D-r.  Franz  Chvostek,  zum  ordentlichen  Professor  der  speziellen 
medizinischen  Pathologie  und  Therapie  und  zum  Vorstände  der 
zu  aktivierenden  vierten  medizinischen  Klinik.  - —  Stadtphysikus 
Obersanitätsrat  D-r.  August  Böhm,  zum  Oberstadtphysikus  in 
Wien.  —  Priv.-Doz.  Prof.  Dr.  Fischer  in  Greifswald  zum  Lehrer 
der  Zahnheilkunde  in  Marburg.  —  Prof.  Winter  st  ein  an  Stelle 
des  verstorbenen  Prof.  Nagel  zum  ordentlichen  Professor  der 
Physiologie  in  Rostock. 

* 

Verliehen:  G eneralstabsarzt  Dx.  Paul  M  y  r  d  a c  z,  aus 
Anlaß  seines  Ueb-ertrittes  in  den  Ruhestand,  das  Komturkreuz 
des  Franz  Joseph  -  Ordens.  —  Den  Oberstabsärzten  Dr.  Friedrich 
Maurer  und  Dr.  B.  Longchamps  de  Berier  der  Orden  der 
Eisernen  Krone  dritter  Klasse.  —  Das  Ritterkreuz  des  Franz 
Joseph- Ordens :  den  Oberstabsärzten  zweiter  Klasse:  Dr.  Karl 
Pavlecka  und  Dr.  Johann  Merlin;  das  Goldene-  Verdienst¬ 
kreuz  mit  der  Krone :  den  Regimentsärzte-n :  Dr.  Leon  W  e  i  ß- 
berg,  Dr.  Desiderius  Fischer,  Dr.  Johann  Hruby,  Dr.  Georg 
David,  Dr.  Franz  Gößl,  Dr.  Karl  Bartäk,  Dr.  Emmerich 

Ho  11  an  und  Dr.  Bernhard  Fuchs. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Günter  Freih.  v.  Saar  für!  Chirurgie¬ 
in  Graz.  —  Dr.  A.  Elfer  für  medizinische  Diagnostik 
in  Klausenburg.  —  D-r.  Arthur  Böhme  für  innere-  Medizin 
in  Kiel. 

* 

Gestorben:  Dr.  Theodor  Bakody,  gewesener  Professor 
der  speziellen  Pathologie  ,und  Therapie,  sowie-  Primarius  der 
homöopathischen  Abteilungen  dreier  Spitäler  in  Budapest.  — 
D-r.  Arloing,  Professor  der  experimentellen  Medizin  in  Lyon. 

* 

D  r  i  tter  inter  nationaler  W ohnungshygienekon- 
greß.  Die  Leitung  des  Kongresses,  der;  vom  2.  bis  7.  Oktober 
in  Dresden  tagen  wird,  gibt  nunpi-e-hr  den  allgemeinen  Plan 
für  die  Arbeiten  des  Kongresses  bekannt.  Danach  gliedert  sich 
der  ganze  Kongreß  in  neun  Sektionen,  die  in  vier  Gruppen  zu¬ 
sammengefaßt  werden.  Die-  Gruppe  A  hat  die  Aufgaben  allge¬ 
meiner  Natur  zu  bearbeiten,  sie  ist  daher  die-  umfangreichste 
und  begreift  vier  Sektionen  in  sich.  Von  diesen  behandelt  die 
Sektion  1  die  Bebauungsart  des  Geländes,  also  alle  Fragen  des 
Gesamtbildes  (Städtebau,  ländliche  Besiedelungsformen,  Garten¬ 
städte  usw.),  Sektion  II  befaßt  sich  mit  der  Bauausführung  (Bau¬ 
planung,  Raumabmessung,  Baumaterial,  Grundmauern,  Keller, 
Küchen,  Aborte,  Zwischendecken,  Treppen,  Aufzüge,  Dächer),  der 
Sektion  III  ist  die  innere  Ausgestaltung  (Belichtung,  Heizung, 
Lüftung  und  Ausstattung)  zugewiesen,  während  Sektion  IV  speziell 
die  Wohnungspflege  (Reinhaltung,  Beseitigung  der  Abfallstoffe, 
Desinfektion)  erörtert.  Gruppe  B,  das  Wohngebäude  betreffend, 
gliedert  sich  in  je  eine-  Sektion  für  städtische  (Sektion  V)  und 
ländliche  Wohngebäude  (Sektion  VI).  Der  Gruppe  C  sind  die 
besonderen  Wohnungsformen  zugewiesen  u.  zw.  soll  Sektion  \  II 
Schulgebäude,  Gefängnisse,  Gasthäuser,  Krankenhäuser,  Badean¬ 
stalten,  Kirchen,  Theater  usw.  behandeln,  während  sich  die 
Sektion  VIII  den  Arbeitsräumen  für  gewerbliche  Tätigkeit  und 
den  Verkehrsmitteln  (Bahnen,  Schiffen,  Wagen  usw.)  zuzuwenden 
hat.  Gruppe  D  behandelt  die  Wohnungsfragen  vom  verwaltungs¬ 
technischen  Standpunkte  aus  und  die  Sektion  IX  erörtert  dem¬ 
nach  die  hier  einschlagenden  Fragen  der  Gesetzgebung,  Ver¬ 
waltung  und  Statistik.  Als  offizielle  Sprachen  des  Kongresses 
sind  Deutsch,  Englisch  und  Französisch  bestimmt  worden.  Nähere 
Auskunft  gibt  das  Generalsekretariat,  Dresden,  Reichsstraße  4,  IL 

* 

Der  Vorstand  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Urologie  hat 
den  Beschluß  gefaßt,  an  Stelle  des  verstorbenen  Herrn.  Dr.  Kap- 
s  a mm  er,  Herrn  Dr.  Viktor  Blum  als  Sekretär  provisorisch 


510 


VV  I  KN  Kit  KLINISCHE  W  UClIENSClililFT.  1911 


Nr.  14 


in  den  Ausschuß  zu  kooptieren.  Die  Wiener  Geschäftsstelle, 
an  welche  alle  Zuschriften  in  Angelegenheit  des  nächsten  Kon¬ 
gresses  zu  richten  sind,  befindet  sich  von  nun  an  Wien  VliL, 
Alserstraße  43. 

* 

III.  Internationaler  Kongreß  für  Säuglings¬ 
schutz  in  Merlin  1911.  [Jeher  Einladung  des  Ürganisatioms- 
komitees  des  111.  Internationalen  Kongresses  für  Säuglingsschutz 
(Gouttes  de  Lait),  Berlin,  11.  bis  15.  September  1911,  hat  der 
Ausschuß  des  Kaiser- Jubiläumsfonds  für  Kinderschutz  und 
Jugendfürsorge  beschlossen,  sich  als  Ocsterreichisches  Aktions¬ 
komitee  für  diesen  .Internationalen  Kongreß  zu  konstituieren. 
Aus  dem  Ausschüsse  wurde  ein  kleineres  Exekutivkomitee  (Ge¬ 
schäftsstelle)  gebildet,  dem  der  geschäftsführende  Vizepräsident 
des  Kaiser- Jubiläumsfonds,  Erbgraf  Trauttmannsdorff  und 
Priy.-Doz.  Dr.  Leopold  Moll  angehören  und  das  durch  Zuziehung 
von  Fachmännern  verstärkt  werden  soll.  Dieser  Geschäftsstelle 
wird  zunächst  die  Vermittlung  des  Verkehres  zwischen  dem  Or¬ 
ganisationskomitee  in  Berlin  und  jenen  inländischen  Amtsstellen, 
Korporationen,  Vereinen  und  Persönlichkeiten  obliegen,  die  an 
dem  Kongresse  teilzunehmen  beabsichtigen.  Alle  gegenständlichen 
Zuschriften,  wie  Anmeldungen  von  Referaten  und  dergleichen, 
wollen  an  das  Präsidium  des  Kaiser- Jubiläumsfonds  für  Kinder¬ 
schutz  und  Jugendfürsorge,  Wien  1.,  Herrengasse  7,  II.  Stock, 
gerichtet  werden. 

Leipziger  Verband  der  Aerzte  Deutschlands.  Der 
Vorstand  des  Leipziger  Verbandes  hat  in  seiner  letzten  Sitzung 
beschlossen,  dem  Dr.  Franz-  Ried  au -Fonds  500  Mark  zu 
widmen.  Diese  hochherzige  Gabe  gibt  dem  Solidaritätsgefühle 
der  Aerzte  Deutschlands  mit  ihren  Kollegen  in  Oesterreich  ein 
glänzendes  Zeugnis.  Das  die  Spende  begleitende  Schreiben  stellt 
lest,  daß  das  tragische  Geschick  des  unglücklichen  Kollegen  Doktor 
Franz  nicht  nur  die  innigste  Teilnahme,  sondern  auch  die 
lebhafteste  Erbitterung  gegen  seine  Peiniger  und  die  bestehenden 
ärztefeindlichen  Verhältnisse  in  Deutschland  wie  in  Oesterreich 
hervorgerufen  hat. 

* 

Literarische  Anzeigen.  Von  der  vierten  Auflage  des 
P  e  n  7.  o  1  d  t .  -  S  t  i  n  z  i  n  g  s  e  h  e  n  Handbuches  d  er  gesamt  e  n 
Therapie,  ist  hei  G.  Fischer  in  Jena  die  16.  Lieferung  er¬ 
schienen.  Die  I  herapie  der  Hautkrankheiten,  unter  besonderer 
Berücksichtigung  der  Röntgen-  und  Radiumhehandlung  wird  zu 
Ende  geführt.  Einem  Kapitel:  Behandlung  der  Muskelerkrankun¬ 
gen,  von  Lenhar tz-Stintzing,  folgt  der  Beginn  des  nächsten 
größeren  Abschnittes:  Behandlung  der  Erkrankungen  des  Auges, 
von  Prof.  Eversbusch. 

Cholera.  Türkei.  In  Konstantinopel  ist  seit  Ende  Januar 
die  Cholera  erloschen,  nachdem  die  Woche  vom  16.  bis  '22.  Ja¬ 
nuar  noch  einen  Zuwachs  von  86  (51)  Erkrankungen  (Todes¬ 
fällen)  gebracht  hatte.  Insgesamt  hat  in  dieser  Stadt  die  Cholera 
seit  ihrem  Ausbruche  bis  zu  ihrem  Erlöschen  zu  1404  Erkrankungs¬ 
fällen  geführt,  von  denen  844  letal  endeten.  Nachdem  Smyrna 
seit.  7.  Februar  cholerafrei  schien,  sind  am  22.  Februar  neuer¬ 
lich  zwei  Choleraerkrankungen  daselbst  vorgekömmen.  Die  Ge¬ 
samtzahl  der  Erkrankungs-  und  Todesfälle  beläuft  sich  bisher 
auf  343,  bzw.  213.  ln  Damaskus  sind  Ende  Januar  t3  Cholera- 
iälle,  davon  3  mit  tödlichem  Ausgange,  aufgetreten,  die  zweifel¬ 
los  durch  Hedjazpilger  eingeschleppt  worden  sind.  Seither  ist 
diese  Lokalepidemie  angeblich  wieder  erloschen.  Arabien, 
ln  Medina  wurden  in  der  ersten  Hälfte  des  Februar  211  Cholera¬ 
todesfälle  sichergestellt;  in  El  Tor  kommen  noch  immer  verein¬ 
zelte  Choleraerkrankungen  auf  Pilgerschiffen  vor.  Auf  der  Insel 
Camaran  wurden  mehrere  Cholerafälle  konstatiert. 

Pest.  Rußland.  'Da  bei  den  ungünstigen  sanitären  Ver¬ 
hältnissen  in  den  von  Tartaren  bevölkerten  Teilen  der  Stadt 
Baku  das  epidemische  Auftreten  der  Pest  im  Falle  der  Ein¬ 
schleppung  derselben  zu  befürchten  stellt,  wurden,  um  eine  solche 
Einschleppung  zu  verhüten, ‘an  drei  Punkten  der  Strecke  Derbent 
Baku  Quarantänestationen  organisiert,  in  welchen  clic  aus  dem 
Gouvernement  Astrachan  kommenden  Reisenden,  vornehmlich  die 
Arbeiter,  einer  ärztlichen  Untersuchung  und  Desinfektion  unter¬ 
zogen  werden.  Britisch-Indien.  Im  Hindostan  ereigneten 
sich  in  der  Zeit  vom  1.  bis  28.  Januar  1911  nachstehende  Pest¬ 
erkrankungen  (Todesfälle):  in  der  ersten  Woche  15.415  (12.671), 
in  der  zweiten  Woche  15.003  (12.143),  in  der  dritten  Woche 
24.783  (20.167),  in  der  vierten  Woche  25.251  (20.929). 
Aegypten.  In  der  Zeit  vom  2.  bis  9.  März!  1911  ereigneten 
sich  in  Aegypten  103  (80)  Pestfälle  (Todesfälle)  u.  zw.  in  den  . 
Provinzen  Assiout  4  (l),  Assouan  50  (35),  Gharhieh  1  fl),  I 


Ken  eh  46  (42),  Minieh  2  (l);  in  der  Woche  vom  10.  bis  16.  März 
151  (76)  Pestfälle  (Todesfälle)  u.  zw.  in  Alexandrien  1  (0)  in 
den  Provinzen  Assiout  9  (5),  Assouan  67  (32),  Gharhieh  4  m 
Keneh  59  (32),  Menoufieh  3  (2),  Minieh  9  (4).  Die  Gesamt¬ 
zahl  der  seil  Beginn  des  Jahres  bis  11.  März  sicherges  tell  ten 
Pestlällc  beträgt  399  gegenüber  104  in  der  entsprechenden  Zeit¬ 
periode  des  Vorjahres.  China.  Nach  den  letzten  amtlichen 
Nachrichten  beträgt  die  Gesamtzahl  der  Todesfälle  in  der  Mand¬ 
schurei  bis  zum  12.  Februar  14.729,  im  Gebiete  der  südmandschu- 
riseben  Eisenbahn  205.  In  den  Provinzen  Kirin  und  Holung- 
kiang  (nördliche  Mandschurei)  sind  allein  12.960  Personen  der 
Pest  zum  Opfer  gefallen;  auch  gegenwärtig  herrscht  dort  die 
Seuche  in  großer  Ausdehnung.  Dagegen  ist  sie  in  Charbin  und 
Fudjadjen  so  gut.  wie  erloschen,  ln  Mukden,  Changchun  und 
Paotingfu  ist  die  Sterblichkeit  noch  immer  eine  hohe.  Peking 
ist  seit  Mitte  Februar  pestfrei. 

* 

Die  Ges u n d h e itsve r h ä ltnisse  der  Wiener  A  r- 
beiter schaff  im  Februar  1911.  Bei  dem  Verbände  der  Ge 
nossenschaftskrankenkassen  Wiens  und  der  Allgemeinen  Arbeiter- 
Krankem-  und  Unterstützungskasse  in  Wien,  welche  einen  Stand 
von  310.000  (320.000)  Mitgliedern,  davon  280.000  (290.000)  in 
Wien  aufweisen,  betrug  im  Februar  1911  die  Zahl  der  Erkran¬ 
kungen  mit  Erwerbsunfähigkeit  in  Wien  10.654  (9688).  Davon 
entfielen  auf  Tuberkulose  der  Atmungsorgane  817  (864),  andere 
Erkrankungen  der  Atmungsorgane  1481  (1546),  Anginen  191  (388), 
Lungenentzündungen  48  (32),  Influenzen  1146  (617),  Erkrankungen 
der  Zirkulaiinnsorgane  304  (387),  Magen-  und  Darmerkrankungen 
518  (681),  rheumatische  Erkrankungen  866  (820),  auf  Verletzungen 
(Betriebsunfälle)  1859  (1560  Erkrankungen.  Die  Zahl  der  Todes¬ 
fälle  betrug  im  Februar  1911  269  (244).  Davon  entfielen  auf 
Tuberkulose  105  (93),  andere  Erkrankungen  der  Atmungsorgane 
20  (20),  der  Zirkulationsoigane  45  (51),  auf  Neubildungen  21  (12), 
Verletzungen  10  (7),  auf  Selbstmorde  8  (9)  Todesfälle.  (Die 
Ziffern  in  den  Klammern  beziehen  sich  auf  den  Februar  1910.) 

Vorläufiges  Ergebnis  der  Sanitätsstatistik  bei 
d-e,r  Mannschaft  des  k.  u.  k.  Heeres  im  Januar  1911. 
Krankenzugang  93%o,  an  Heilanstalten  abgegeben  38%0,  Todes¬ 
fälle  0-14%«  der  durchschnittlichen  Kopfstärke. 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  11.  Jahreswochc  (vom  12.  bis 
18.  März  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  609,  unehelich  235,  zusammen 
844.  Tot  geboren,  ehelich  70,  unehelich  19,  zusammen  89.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  718  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
184  Todesfälle)  an  ßauchtyphns  0,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  7, 
Scharlach  5,  Keuchhusten  2,  Diphtherie  und  Krupp  3,  Influenza  1, 
j  Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  5,  Lungentuberkulose  134,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  50,  Woebenbettfieber  4,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  50  ( —  2),  Wochenbettfieber  5  (=),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  93  (+  10),  Masern  167  (—  33),  Scharlach  129  (+  20) 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  2  (==),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0) 
Diphtherie  und  Krupp  64  (—  5),  Keuchhusten  30  (—  11),  Trachom  2  (—6) 
Influenza  3  (-1-  2),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Die  Gemeinde  arztessteile  der  Sanitätsgemeinde  L  a  m- 
b  r  e  c  h  t  e  n,  politischer  Bezirk  Ried  i.  I.  (Oberösterreich),  kommt  an¬ 
fangs  Mai  1911  zur  Besetzung.  Die  Sanitätsgemeinde  umläßt  derzeit  die 
politische  Gemeinde  Lambrechten  mit  1500  Einwohnern.  Im  Laufe  des 
Jahres  1911  steht  jedoch  wahrscheinlich  eine  erhebliche  Vergrößerung 
der  Sanitätsgemeinde  durch  Anschluß  von  Teilen  zweier  angrenzender 
Gemeinden  bevor.  Mit  diesem  Posten  ist  ein  Fixum  von  1000  K  nebst 
freier  Wohnung,  bestehend  aus  fünf  Zimmern  im  Gemeindehause,  Garten 
und  Pferdestall  verbunden.  Auf  Subventionierung  des  Postens  durch  den 
oberösterreichischen  Landesausschuß  ist  Aussicht  vorhanden.  Die  nörd¬ 
lich  gelegenen  Nachbargemeinden  Eggerding  und  St.  Marienkirchen  mit 
4000  Einwohnern  sind  derzeit  ohne  Aerzte.  Nähere  Auskünfte  erteilt  die 
k  k.  Bezirkshauptmapnschaft  Ried  i.  I.  und  die  Gemeindevorstehung 
Lambrechten. 

Distriktsarztesstelle  für  die  Gemeinden  Metnitz  und 
Grades  mit  dem  Wohnsitze  in  Grades  (Kärnten).  Mit  derselben  ist 
eine  Jahresremuneration  von  600  K  aus  dem  Landesfonds  und  800  K 
von  den  Gemeinden  verbunden,  sowie  der  Bezug  der  für  Avmenbehand- 
lung,  Totenbeschau,  Durchführung  der  öffentlichen  Impfung  und  sonstige 
Dienstreisen  normierten  Gebühren.  Die  gegenseitige  Kündigungsfrist  be 
i  trägt  zwei  Monate.  Der  Distriktsarzt  hat  die  Verpflichtung,  eine  Haus¬ 
apotheke  zu  führen.  Bewerber  um  die  Stelle  werden  eingeladen,  ihre 
vorschriftsmäßig,  d.  i.  auch  mit  einem  ärztlichen  Gesundheitszeugnis  be¬ 
legten  und  gestempelten  Gesuche  direkt  oder  im  Wege  ihrer  Vorgesetzten 
Behörde  bis  längstens  1.  M  a  i  1.  J.  bei  der  k.  k.  Bezirkshauptmannschalt 
St.  Veit  zu  überreichen,  beziehungsweise  an  dieselbe  einzusenden. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  19U 


Bll 


•4  - 


Nr.  U 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzie  in  Wien. 

Sitzung  vom  31.  März  1911. 

Verein  fiir  Psychiatrie  and  Neurologie  in  Wien. 


INHALT: 


Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerate  in  Böhmen. 


Sitzung  am  17.  März  1911. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  31.  März  1911. 

Vorsitzender:  Reg.- Rat  Prim.  Dr.  Adler. 

Schriftführer:  Priv.-Doz.  Dr.  A.  Fuchs. 

Mitteilungen  des  Vorsitzenden: 

1.  Einladungen  der  Deutschen  anthropologischen  Gesell¬ 
schaft  zur  V.  gemeinsamen  Versammlung  der  Deutschen  und 
Wiener  anthropologischen  Gesellschaft  in  Heilbronn,  6.  bis 
9.  August  1911,  verbunden  mit  dem  Besuch  deutscher  Städte 

(10.  bis  15.  August). 

2.  Einladung  zum  IV.  allgemeinen  österreichischen  Taub- 
stumtoenlehrertag  (18.  und  19.  April  1911)  in  Wien. 

Assistent  Dr.  med.  et  phil.  Hermann  Algyogyi:  Gestatten 
Sie  mir,  daß  ich  Ihnen  aus  Priv.-Doz.  Kienböcks  Röntgen 
Abteilung  an  der  Wiener  Allgemeinen  Poliklinik  einen  sehr 
seltenen  Fall  von  traumatischer  Verletzung  der  Hand¬ 
wurzelgegend  vorstelle.  Der  26jährige  Patient  ist  von  Beruf 
Luftakrobat  und  stürzte  in  Turin  am  23.  Februar  d.  J.  während 
‘iner  Produktion  im  Zirkus  von  ungefähr  neun  Meter  Höhe  hinab 
ind  fiel  auf  die  Kante  der  rechten  Hand  auf.  Es  trat  sofort  starke 
Schwellung  des  Handrückens  und  der  Handpurzelgegend  ein 
mcl  Patient  konnte  nur  die  Finger  bewegen.  Drei  Tage  später 
wurde  er  im  dortigen  Ospedale  Maggiore  röntgenisiert ;  es  wurde 
lort.  eine  „Fraktur  des  Skaphoids“  diagnostiziert,  in  Chl'oro- 
ormnarkose  „der  Bruch  so  gut  wie  möglich  reponiert“  und  dann 
an  Gipsverband  angelegt.  Anfangs  dieses  Monats  kam  er  nach 
Arien  und  einige  Tage  darauf  erschien  er  auf  unserer  Abteilung 
)ehufs  neuerlicher  Röntgenuntersuchung.  Ehe  ich  jedoch  auf 
lnseren  Röntgenbefund  eingehe,  möchte  ich  mit  einigen  Worten 
len  klinischen  Befund  schildern.  Die  Hand  war  in  toto  ge¬ 
schwollen,  namentlich  am1  Handrücken  und  in  der  Handwurzel- 
jegend.  An  der  Volärseite  der  Handwurzel-  und  der  Vorderarm- 
egion  war  die  Schwellung  Vorwiegend  eine  radiale.  Druckcmpfind- 
ichkeit  war  namentlich  an  der  Dorsalseite  des  Schiffbeins  und 
nn  griffelförmigen  Fortsatz  der  Speiche  nachweisbar.  Die  Hand 
rurde  in  leichter  Ulnarabduktion  gehalten,  die  Finger  in  mäßiger 
»eugung;  sie  konnten  'nicht  gut  gestreckt  werden.  Bei  der  Prüfung 
ler  Beweglichkeit  zeigte  es  sich,  daß  die  Beugung  bloß  in  sehr 
eringem  Grade  ausführbar  war,  während  die  Dorsal-,  Ulnar-  und 
tädialbewegung  kaum  an  gedeutet  war.  Durch  Massage  hat  die 
Schwellung  inzwischen  abgenommen  und  auch  die  Beweglichkeit 
at  sich  dabei  etwas  gebessert. 

Die  Röntgenaufnahmen  ergaben,  nun  einen  sehr  interessanten 
lefund.  Auf  der  dorsovolaren  Aufnahme  sieht  man  außer 
iner  kleinen  Absprengung  des  Stylus  radii  eine  ungeheilte  Navi- 
ulärefraktur,  ungefähr  in  der  Mitte,  mit  starker  Drehung  des 
roximalen  Bruchstückes  um  mehr  als  90°,  so  daß  dessen  Bruoh- 
läche  statt  radialwärts  -  distalwärts  radialwärts  -  proximalwärts 
ieht.  Man  würde  nun  fast  allgemein  danach  einfach  die 
•iagnose  einer  Navikul'arefraktur  mit  Absprengung  am  Stylus 
adii  stellen.  Diese  Diagnose  wäre  aber  höchst  mangelhaft,  denn 
ei  näherer  Betrachtung  der  Platte  zeigt  es  sich,  daß  auch  eine 
ursch iebung  von  Handwu rzelk n oc hen  vorhanden  ist.  Aber  erst 
io  radio-ulnare  Kantenaufnahme  der  Hand  zeigt  dies  deutlich : 
as  Mondbein  hat  seine  normale  Lage  beihehalten,  ist  aber  dabei 
rieht  gebeugt;  dagegen  ist  das  Os  cäpitatum,  hamatum,  triquetrum 
nd  pisiforme  sehr  stark  dorsal'wärts  verschoben ;  auch  das  distale 
avikularef'ragment  ist  gegen  das  proximale  verschoben. 

Wir  haben  es  demnach  nicht  bloß  mit  einer  einfachen  Nave 
ularefraktur  und  Absprengung  am  Stylus  radii,  sondern  gleich 
citig  auch  mit  einer  dorsalen  Luxation  der  Hand  zu  tun.  Die 
ußerl'ich  durch  Ales  sung  infolge,  der  Schwellung  allerdings  schwer 
Mchweisbare  Verkürzung  zusammen  mit  der  starken  Vergrüßc 
ung  des  dorsovolaren  Durchmessers  der  Handwurzelgegend 
önnte  schon  klinisch  auf  die  richtige  Fährte  führen. 

Kienböck  will  diese  Verletzungsart  als  „dorsale  Luxa- 
on  der  Hand  in  unreiner  interkarpaler  Gelenkslinie“  bezeichnet 
rissen,  u.  zw.  in  „periluruir-transnavikularer  Trennungslinie“. 

«s  ist  dies  eine  Abart  der  reinen  porilunären  Luxation,  welche 
'’ine  Navrik  ularefraktur  enthält. 

Dr.  Leopold  Arzt:  Meine  Herren!  Ich  möchte  mir  er 
luben,  aus  der  II.  chirurgischen  Klinik  des  Hofrates 


Höchen  egg.  über  zwei  Fälle  zu  berichten,  die  beide  Indivi¬ 
duen  betrafen,  welche  in  der  Kopf-  und  Gesichts  regio  n 
lokalisierte  Geschwülste  besaßen. 

Im  ersten  Fall  handelte  es  sich  um  eine  57jährige  Pa¬ 
tientin,  die  wegen  eines  Tumors  am  linken  Scheitelbein, 
die  Klinik  aufsuchte.  Sie  sehen  an  den  beiden  Diapositiven,  die 
ich  mir  zu  demonstrieren  erlaube,  deutlich  den  Sitz  der  Ge¬ 
schwulst  u.  zw.  in  der  Ansicht  von  vorne  und  von  der1  Seite. 
Die  Geschwulst  war  faustgroß,  saß  beweglich  am  Schädel  mit 
einer  schmalen  Basis  auf  und  hatte  harte  Konsistenz.  Sie  bestand 
schon  seit  sechs  Jahren,  hatte  damals  die  Größe  und  das  Aus¬ 
sehen  einer  kleinen  Warze  und  war  seit  einem  Jahre  zu  der 
jetzigen  Größe  angewachsen.  Die  Palpation  ergab  einen  außer¬ 
ordentlich  derben  und  harten,  nicht  druckschmerzhaften  Tumor. 

Mit  der  Wahrscheinlichkeitsdiagnose,  daß  es  sich  um  einen 
epithelialen  Tumor,  vielleicht  um  Cylindroma  epitheliale  handle, 
kam1  die  Patientin  zur  Operation,'  bei  welcher  die  Basis  der  Ge¬ 
schwulst  Umschnitten  und  die  ganze  Geschwulst,  die  keinerlei 
Fortsetzung  in  die  Tiefe  hatte,  entfernt  wurde;  die  Wundränder 
wurden  hierauf  zum  größten  Teile  durch  Nähte  vereinigt  und 
konnte  die  Patientin  nach  wenigen  Tagen  geheilt  die  Klinik  ver¬ 
lassen. 

Schon  am  Durchschnitt  durch  den  entfernten  Tumor,  der 
nur  mit  der  Säge  herzustellen  war,  zeigte  es  sich,  daß  •  es  sich 
um  eine  Geschwulst  handelte,  die  Vornehmlich  aus  Knorpel 
und  dann  auch  aus  Knochen  aufgebaut  war. 

Sie  können  an  dem’  nach  Kais  er  ling  konservierten  Prä¬ 
parat  der  Geschwulst,  welches  ich  mir  herumzugeben  erlaube, 
leicht  die  verschiedenen  Gewebsbestandteile  erkennen:  mikro¬ 
skopisch  fanden  sich  aber  auch  neben  Knorpel'  und 
Knochen  zerstreute  Inseln  vo'n  Fettgewebe  und  dann 
sehr  reichlich  teils  Schlauch-,  teils  zystenartige  Ge¬ 
bilde,  die  teils  einem1  niedrigen  endothelähnlichen  Be¬ 
lag,  teils  aber  auch  von  einem  hohen  epithelähnlichen 
Z  ell  be  lag  ausgekleidet  waren. 

Wie  ihnen  das  eine  Diapositiv  zeigt,  finden  sich  diese 
den  Tumor  aufbauenden  Gewebsarten,  Knorpel1  und  Knochen 
und  schlaucbartigen  Gebilde  im  wirrsten  Durcheinander  und 
wir  haben  es  daher  mit  einer  Mischgesch wulst  vom 
Typus  der  ParotisgeschwüTste  im1  Sinne  Wilms  zu 
tun.  Insbesondere  glaube  ich,  daß  Sie  diese  histologischen  Ver¬ 
hältnisse  in  dem  nach  van  Gieson  gefärbten  Mikrophotogramm 
deutlich  erkennen  können. 

Solche  Geschwülste  finden  sich  nicht  nur  in  der  Parotis- 
gegend,  sondern  an  dein  verschiedensten  Stellen  des  Gesichtes 
und  würden  —  ich  will  aluf  die  Literatur  nicht  näher  eingehen  — 
v.  Pupovac,  Volkmann,  Semjoneff  u.  a.  auf  der  Lippe, 
am  harten  Gaumen  usav.,  beschrieben. 

Heber  solche  Tumoren  am  behaarten  Schädel  konnte  ich 
nur  zwei  Angaben  in  der  Literatur  finden.  Die  eine  von  einem 
italienischen  Autor  Penis i  hemihrend,  der  einen  gleichen  Tumor 
unter  dem  Namen  Endotheliom,  der  in  der  rechten  Fronto¬ 
parietalg  egend  saß  und  zirka  mandelgroß  Avar,  beschrieb 
und  eine  zAveite  kleine  Notiz  findet  sich  in  einer  vor  kurzen: 
erschienenen  Arbeit  v.  Hansemarins,  über  die  Histogenese 
der  Parotistumoren  überhaupt,  in  welcher  er  einen  haselnu߬ 
großen  Tumor  am  Kopf.e  eines  Mannes,  der  als  Atherom 
entfernt  wurde,  erwähnt. 

Der  zweite  Fall,  über  den  ich  kurz  berichten  möchte, 
betrifft  einen  68jährigen  Mann,  der  mit  einem  klein  apfel¬ 
großen  Tumor  auf  der  Nasenspitze,  der  exquisit  gestielt 
aufsaß,  die  Klinik  aufsuchte. 

Der  Tumor  bestand  als  kleines  Gewächs  seit  zirka  sechs 
Jahren,  war  ebenfalls  im  letzten  Jahre  etwas  rascher  gewachsen 
und  an  der  Oberfläche  im  geringen  Grade  exulzeriert  und  von 
mäßig  harter  Konsistenz. 

Auch  diese)-  Tumor  wurde  mit  der  Wrahrscheinlichkeits- 
diagnose  einer  mesodermalen  Geschwulst  - —  man  dachte  auch 
an  eine  Rhinophym  -  operiert  u.  zw.  wurde  er  an  der  Basis 
in  der  normalen  Haut  in  Schlei  ch  scher  Anästhesie  Um¬ 
schnitten  und  dann  entfernt. 

Am  Schnitt  durch  die  GeschAvnlist,  die  ich  mir  herum¬ 
zugehen  erlaube,  war  schon  die  weiße,  w  <*  i  r  h  o  S  ch  n  i  1 1  fl  ach  e 
I  auffallend. 


513 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  U 


Mikroskopisch  zeigte  es  sich  nun,  daß  sich'  der  Tumor 
in  seiner  Gänze  aus  Plattenepithelien  aufbaut,  die  in 
schrankenloser  Weise  gewuchert  sind  und  einte  ausgesprochene 
Polymorphie  und  Polychromasie  zeigen. 

Dabei  finden  sich  stellenweise  —  an  einzelnen  Schnitten 
recht  zahlreich  —  einzelne  Zellen  verhornt,  aneinander- 
gelagert  und  typische  Hornperlen  bildend,  so  daß  an  der 
Diagnose,  daß  es  sich  um  ein  verhornendes  Platt enepii- 
thelkarzinom  handelt,  wohl  nicht  zu  zweifeln  ist. 

Ich  möchte  mir  nur  noch  erlauben,  einige  Lumierephoto- 
graphien  des  Falles  u.  zw.  die  eine  in  der  Ansicht  von  vorne 
mit  dem  bis  über  die  Oberlippe  herabhängenden  Tumor  und  die 
zweite  in  seitlicher  Ansicht,  um  den  gestielten  Sitz  desselben 
zur  Anschauung  zu  bringen,  zu  zeigten.  Auf  den  beiden  folgen¬ 
den  Bildern,  einem  Diapositiv  und  einem  Lumierephotogramm, 
kann  man  wohl’  die  histologischen  Verhältnisse  des  Tumors  deut¬ 
lich  erkennen. 

Ich  habe*  mir  erlaubt,  Ihnen,  meine  Herben,  diese  beiden 
Fälle  zu  demonstrieren,  weil  sie  beide  Tumoren  vorstellen 
mit  einer  nicht  gewöhnlichen  Lokalisation  und  in 
beiden  Fällen  erst  durch  die  histologische  Unter¬ 
suchung  die  richtige  Diagnose  gestellt  werden 
könnt  e. 

Priv.-Doz.  Dr.  Barany  'demonstriert  d i e  temporäre  reiz¬ 
lose  Ausschaltung  der  Kleinhirnrinde  mitels  Ab¬ 
kühlung,  nachgewiesen  durch  den  Zeigeversuch. 

Meine  Herren!  Ich  erlaube  mir,  Ihnen  über  Versuche  von 
temporärer1  Ausschaltung  bestimmter  Bezirke  des  Kleinhirns  durch 
Abkühlung  zu  berichten.  Es  handelt  sich  um  Versuche  am  Men¬ 
schen  und  ich  muß  vorweg  nehmen,  daß  bei  wiederholter  Aus¬ 
führung  dieses  Versuches  an  verschiedenen  Personen  nicht  die 
geringste  Schädigung  der  Patienten  sich  gezeigt  hat.  Wie  Ihnen 
vielleicht  bekannt  ist,  hat  Trendelenburg  auf  dem  inter¬ 
nationalen  Physiologenkongreß  in  Wien  1910  seine  Methode  der 
reizlosen  Ausschaltung  des  Großhirns  durch  Abkühlung  demon¬ 
striert.  Trendelenburg  entfernte  bei  Tieren  den  Schädel¬ 
knochen  über  der  Extremitätenreeion,  legte  die  Dura  frei  und 
setzte  nu  nauf  die  Dura  eine  Art  Eisbeutel,  genauer  gesagt,  eine 
Gummikapsel,  durch  welche  eine  Kältemischung  von  ca.  — 3°  C 
zirkulierte.  Kühlte  er  nun  auf  diese  Weise  die  Oberfläche  des 
Gehirns  ab,  so  trat,  wenn  die  Abkühlung  z.  B.  das  Zentrum 
des  Armes  betraf,  ohne  jede  Reizerscheinung  eine  Monoplegie 
des  kontralateralen  Armes  auf,  die  so  lange  anhielt,  als  die 
Eislösung  zirkulierte.  Sowie  er  wieder  körperwarmes  Wasser 
zirkulieren  ließ,  stellte  sich  die  Funktion  wieder  her.  Trendel  e  n- 
burg  hat  bei  stundenlangen  Versuchen  am  Tiere  keine  Schädi¬ 
gung  der  Funktion  gesehen.  Ich  wurde  durch  Priv.-Doz.  Doktor 
Kollmer  auf  diese  Versuche  aufmerksam  gemacht,  der  gelegent¬ 
lich  einer  Diskussion  über  Kleinhirnstörungen  niteinte,  man  könnte 
ja  diese  Methode  auch  am  Kleinhirn  versuchen.  Ich  bin  nun 
vorsichtig  daran  gegangen,  diese  Methode  am  menschlichen  Klein¬ 
hirn  anzpwenden.  Zunächst  handelte  es  sich  darum,  eine  ge¬ 
eignete  Versuchsperson  zu  finden.  Einte  solche  sieht  mir'  zur 
Verfügung  Es  ist  ein  junger  Bursche,  den  ich  schon  in  dieser 
Gesellschaft  demonstriert  habe,  ein  Fäll,  bei  welchem  ich  eine 
rechtseitige  Sinusthrombose  und  einen  rechtseitigen  Kleinhirn- 
abs'zteß  operiert  und  geheilt  hatte.  Boi  diestem1  Patienten  liegt  das 
Kleinhirn,  nur  von  Dura  und  einer,  dünnen  Haut  bedeckt,  hinter 
dem  rechten  Ohre  im  Umkreise  von  über  Fünfkronenstückgröße 
frei.  Ich  habe  nun  bei  diesem  Patienten  meine;  Versuche  angestellt. 
Zunächst  verwendete  ich  Wasser  von  20°  und  spritzte  die  Haut 
längere  Zeit  hindurch  an.  Es  zeigte  sich  jedoch  kein  Effekt. 
\uch  als  ich  Wasser  von  12°  f!  nahin1,  ergab  sich  kein  Effekt. 
Der  Patient  vertrug  aber  die  Abkühlung  ausgezeichnet  und  hatte 
keinerlei  Beschwerden,  weder  vor,  noch  nach  dem  Versuche. 
Da  auch  12°  C  keine  Reaktion  ergab,  so  ging  ich  daran,  die 
Haut  mittels  Chloräthylsprays  zu  gefrieren.  Ich  ließ  zuerst  eine 
halbe  Minute  den  Spray  wirken,  aber  ohne  Erfolg'.  Auch  nach 
diesem  Eingriff  hatte  Patient  keine  Beschwerden.  Nun  steigerte 
ich  die  Zeitdauer  und  hei  zwei  Minuten  währender  Einwirkung 
habe  ich  nun  ganz  deutliche  Ausfallserscheinungen  erhalten.  Auch 
adzt  hat  Patient  weder  während  der1  Abkühlung,  noch  nachher 
irgendwelche  subjektive  Beschwerden  bis  auf  die  Kälteempfindung 
und  ein  leichtes  Brennten  der  Haut  während  des  Versuches.  Fm 
die  Ausfallserscheinungen  zu  verstehen,  muß  ich  wenige  Worte 
vorausschicken.  Wenn  ich  einen  normalen  Menschen  hei  ge1- 
schlossenen  Augen  auf  meinen  Finger  zeigen  lasse,  so  gelingt 
dies  ohneweiters.  Bei  Wiederholung  des  Zeigens  trifft  er  meinen 
Finger  stets  prompt.  Rufe  ich  jetzt  durch  Drehen  oder  Aus- 
spritzen  einen  Nystagmus  nach  rechts  hervor,  so  zeigt  der  Pa¬ 
tient  nach  links  vorbei.  Erzeuge  ich  einen  Nystagmus  nach  links 


so  zeigt  er  nach  rechts  vorbei.  Es  sind  zwei  Zentren  in  der 
Kleinhirn  rinde  vorhanden,  deren  eines  das  Abweichen  nach  rechts 
deren  anderes  das  Abweichen  nach  links  bewirkt.  Ist  durch  eine 
Erkrankung  eines  dieser  Zentren  gelähmt,  z.  B.  das  Zentrum 
für  die  Linksbewegung,  dann  tritt  beim  Zeigen  (in  vertikaler 
Richtung)  spontanes  Vorbeizeigen  nach  rechts  auf.  Das  heißt 
wenn  ich  'den  Patienten  ohne  vorhergegangene  Drehung  auffordere 
bei  geschlossenen  Augen  meinen1  Finger  zu  berührten,  dann  den 
Arm  zu  senken  und  ihn  wieder  zu  meinem  Finger1  zu  führen, 
so  zeigt  er  nach  rechts  vorbei.'  Sie  können  sich  vors  teilen,  daß 
die  beiden  Zentren  wie  zwei  Zügel  wirken,  die  den  Arm  gleich 
mäßig  ionisieren,  so  daß  er  bei  Bewegungen  in  vertikaler  Bi  de 
tung  mit  Leichtigkeit  immer  die  intendierte  Bewegung  wiederholen 
kann.  Fällt  aber  jetzt  der  eine  Zügel  weg,,  so  muß  Vorbeizeigen 
in  der  Richtung  des  anderen  Zügels  auftreten.  —  vorausgesetzt, 
daß  die  intendierte  Bewegung  dieselbe  bleibt.  Selbstverständlich 
läßt  sich  der  Ausfall  des  linken  Zügels  auch  dadurch  nachweisen. 
daß  ich  einen  Nystagmus  nach  rechts  hervorrufe.  Während  der 
Normale  dabei  nach  links  vorbeizeigt,  fehlt  bei  diesem  Patienten 
das  Vorbeizeigen  nach  links  und  er  zeigt  richtig  oder  sogar  nach 
rechts.  Beim  Patienten,  den  ich  Ihnen  vorstelle,  kann  ich  nun 
durch  Abkühlung  einer  bestimmten  Partie  der  Kleinhirnrinde 
rechts,  unmittelbar  hinter  dem  Ansatz  der  Ohrmuschel,  das  Zen¬ 
trum  für  die  Linksbewegung  der  oberen  Extremität  lähmen,  so 
daß  jetzt  einerseits  spontanes  Vorbeizeigen  nach  rechts  auftritt 
und  andrerseits  nach  Linksdrehung,  wenn  ich  einen  Nystagmus 
nach  rechts  hervorgerufen  habe,  die  Reaktion  nach  links  ausbleibt. 
Diese  Lähmung  dauert  nur  zwei  bis  drei  Minuten,  nach  zwei 
Minuten  Abkühlung  mittels  Chloräthyl.  Dann,  ist  wieder  das  nor¬ 
male  Verhalten  vorhanden.  Unmittelbar  hinter  diesem  Zentrum 
für  den  rechten  Arm  befindet  sich  das  Zentrum  für  die  Links¬ 
bewegung  des  rechten  Fußes.  Kühlte  ich  dieses  Zentrum  ah. 
so  bleibt  der  Arm  unbeeinflußt  und  es  tritt  jetzt  Vorbeizeigen  des 
rechten  Fußes  und  Ausfall  der  Linksreaktion  im  rechten  Fuße 
auf.  Ich  habe  schon  theoretisch  dieses  Verhalten  postuliert.  Beim 
vorgestellten  Falle  habe  ich;  wie  erwähnt,  einen  Kleinhirnabszeß 
operiert.  Zur  Zeit  der  Fernwirkung  des  Abszesses,  der  unmittel¬ 
bar  vor  dein  durch  Abkühlung  nachgewiesenen  Armzentrum  ge¬ 
legen  war,  bestand,  auch  eine  Lähmung  des1  Armzentrums  für 
die  Bewegung  nach  links  und  es  bestand  spontanes  Vorbeizeigen 
nach  rechts,  Fehlen  der  Reaktion  nach  links.  Als  dann  aber 
der  Abszeß  ausheilte  und  die  Fernwirkung  verschwand,  stellte 
sich  die  Reaktion  im  rechten  Arm  nach  links'  wieder  ein.  Ich 
muß  also  annehmen,  daß  das1  Zentrum  für  die  Linksbewegung  des 
Armes  unmittelbar  vor  oder  hinter  dem  Abszeß  gelegen  ist. 
Erscheinungen  von  seifen  des  Fußes  warten  bei  diesem  Patienten 
auch  zur  Zeit  der  schwersten  Erscheinungen  niemals  nachweis¬ 
bar.  Es  entspricht  dies  der  Tatsache,  daß  das  Fußzentrum  weiter 
rückwärts  gelegen  ist.  Weitere  Beobachtungen  müssen  lehren, 
wo  die  anderen,  theoretisch  zu  fordernden  Zentren  für  die  Be¬ 
wegungen  der  Verschiedenen  ExtremitätengeTenke  in  verschiedenen 
Richtungen  in  der  Kleinhirnrinde  lokalisiert  sind. 

Prof.  Ehrmann  stellt  vor: 

1.  Eine  Patientin  mit  fast  die, ganze  Haut  einnehmen¬ 
den  Formen  von  Hauttub e'rkul'ose. 

Bei  dieser  Patientin  besteht  ein  ausgesprochener  Infantilis¬ 
mus.  Es  wird  Ihnen  klär  sein,  wenn,  ich  hervorhebe,  daß  die 
Patientin,  deren  Aussehen  demjenigen  eines  zwölfjährigen  Kindes 
entspricht,  bereits  17  Jahre  vorüber  ist;  Patientin  hat  nicht 
menstruiert  und  die  sekundären  Geschlechtsmerkmale  sind  nicht 
einmal  andeutungsweise  entwickelt.  Sie  sehen  an  dieser  Patientin 
eine  seltene  Kombination  verschiedener  Formen  der  Hauttuber- 
kul’ose.  In  der  Höhe  der  Kinnfurche  zieht  quer  über  den  Hals 
ein  Ring  dicht  nebeneinander  stehender  Narben.  Neben  diesen 
Residuen  früherer  Skrophul'odermen  sehen  sie  noch  ein  frisches 
Skrophulodermä.  Die  teicigc  Schwellung  des  Gesichtes  ist  wohl 
zum1  Teil1  auf  die  nach  Verödung  der  Lvmphdrüsen  entstandene 
Stauung  zurückzuführen,  zum  Teil  ein  Folgezustand  wiederholt, 
überstandener  Erysipele  des  -  Gesichtes. 

Die  zweite  Form  der  Hau ttuberku lose  wird  durch  einen 
Liehen  s  er  oph  u  l'os  oru  m  von  ungewöhnlicher  Ausbreitung 
und  seltenen  Lokalisationsstellen  dargestellt;  Nicht  nur  der  ganze 
Stamm  und  die  Extremitäten  sind  mit  den  charakteristischen 
'bläulich-  und  bräunlich  roten  Scheiben,  die  dicht  mit  weißen 
Schuppen  besät,  sind  und  hei  näherer  Besichtigung  die  Zusammen¬ 
setzung  aus  kleinsten  Knötchen  erkennen  lassen,  bedeckt,  son¬ 
dern  diese  Effl'oreszenzen  finden  sich  an  der  Stirnhaargrenze,  an 
den  Augenbrauen  und  Lidern,  an  den  Ohrmuscheln,  sowie  in  der 
Umgehung  der  Ohren,  an  der  Oberlippe  und  an  den  Wangen. 

Drittens  sehen  Sie  an  den  Fußsohlen  einen  exnlzerierten 
Lupus  verrucosus.  ’ 


Nr.  14 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


513 


Viertens  zeige  ich  Ihnen  bei  dieser  Patientin  die  Zeichen 
einer  beginnenden  Sklerodermie.  Neben  einer  Sklerodaktylie 
erweisen  sich  auch  die  Sehnen  der  Unterarme  verdickt  und  der 
Hals  zeigt  die  von  mir  wiederholt  hervorgehobene  Pigmentzeich¬ 
nung.  Trotz  dieser  Affektion  ist  die  der  inneren  Organe  (der 
Lungen)  gering,  wie  es  bei  bazillenarmen  Formen,  welche  die 
hier  vorhandenen  Hauterscheinungen  darstellen,  vorkommt.  Es 
fehlt  hier  die  bazillenreiche  Miliartuberkulose  der  Haut,  bei  der 
die  Erkrankung  der  Lungen  oder  Abdominalorgane  immer  eine 
intensivere  ist. 

2.  Einen  Fall  von  ungewöhnlich  ausgedehnter  gummöser 

H  au  t  er  k  r  a  nku  ng. 

Der  Kranke  ist  47  Jahre  alt,  akquirierte  vor  23  Jahren  die 
Lues  und  wurde  damals  mit  Schmierkur  behandelt  (wie  exakt 
diese  durchgeführt  wurde,  läßt  sich  nicht  konstatieren).  1899 
bekam  er  Geschwüre  auf  den  Unterschenkeln,  deren  Narben  auch 
heute  zu  sehen  sind.  1893  bis  1894  serpiginöse  Geschwüre  in  der 
Gegend  des  Mons-  veneris,  die  nach  der  Narbenform  zweifellos 
serpiginöse  Guminen  waren.  Die  jetzig  e  ausgedehnte  Affek¬ 
tion  besteht  seit  1909 ;  sie  nimmt  die  ganze  linke  Hals-  und 
Brustgegend  ein,  besteht  aus  dichtgedrängten,  gegen  die  gesunde 
Haut  sich  scharf  festonartig  begrenzenden,  in,  der  Mitte  ulzo- 
rierten  Knoten.  Seither  ist  keine  Behandlung  vorgenommen 
worden.  An  dem  Falle  ist  das  bemerkenswert,  daß,  während 
bei  solchen  ausgedehnten,  jahrzehntelang  bestehenden  unbehan¬ 
delten  Erkrankungen  höchst  selten;  metaluetische  Erkrankungen 
des  Nervensystems  zu  beobachten  sind,  hier  eine  beginnende 
Tabes  durch  reflektorische  Pupillenstarre  und  Steigerung  der  Pa- 
tellarreflexe  sich  kundgibt.  (Diagnose  auch  von  Professor 
Hirsch!  bestätigt.)  Bekanntlich  wird  von  neurologischer  Seite 
ein  gewisser  Antagonismus  zwischen  Haut-  und  Nervensystem 
angenommen  und  in;  der  Tat  habe  ich  nur  wenige  Fälle  (zwei  bis 
drei)  dieser  Art,  wie  der  heute  vorgestellte,  gesehen.  Adrian 
hat  solche  Fälle  gesammelt. 

Diskussion  über  den  Vortrag  von  Dr.  Julius  Neumann 
und  Dr.  E.  Herr  mann:  Biologische  Studien  über  die 
weibliche  Keimdrüse. 

Prof.  H.  Albrecht.  (Siehe  unter  den  Originalien  dieser 

Nummer.) 

Dr.  Lehndorff:  Die  wichtigen  und  sehr  interessanten 
Ergebnisse  der  Forschungen  von  Neumann  und  Herrmann 
werfen  ein  charakteristisches  Licht  auf  manche  serologische  Be¬ 
funde.  Der  chemische  Nachweis  der  Lipoidvermehrung  im  Blute 
der  Schwangeren  kann  zur  Erklärung  einiger  mittels  biologischer 
Methoden  gefundener  diesbezüglichen  Tatsachen  beitragen. 

Bei  den  von  Bauer  und  mir  unternommenen  Studien  über 
die  Kobragifthämolyse  war  uns  aufgefallen,  daß  die  intensivsten 
Reaktionen,  d.  h.  die  stärkste  Aktivierung  der  Hämolyse  durch 
die  Sera  von  Gebärenden  und  Schwangeren  auftrat.  Wir  gingen 
dieser  Erscheinung  nach  und  fanden  bei  der  Untersuchung  von 
150  Seris  im  Blute  von  Gebärenden  konstant  die 
erhöhte  Fähigkeit  der  Kobragift-Hämolyseakti¬ 
vierung  und  schlossen  daraus  auf  eine  gesetzmäßige 
Vermehrung  der  lösungsfördernden  Substanzen 
im  Schwange  rense  rum.  Dasselbe  fand  sich  im  Serum 
Gravider  aus  den  letzten  Monaten  und  bei  stillenden  Frauen. 
Hingegen  fehlte  die  Lösungsförderung  im  Blute 
von  Neugeborenen.  (Folia  serologica  1909,  Bd.  3.  Das 
Verhalten  des  Serums  Schwangerer  zur  Kobragift-Pferdeblut¬ 
hämolyse.) 

Bezüglich  der  Natur  der  aktivierenden  Substanzen  mußten 
wir  nach  allen  über  die  Kobragifthämolyse  vorliegenden  Erfahrungen 
annehmen,  daß  es  sich  um  lipoid  artige  Körper  handelt. 

Insoweit  es  sich  um  die  Konstatierung  der  Lipoidver¬ 
mehrung  überhaupt  im  Blute  während  der  Gravidität  handelt, 
befinden  wir  uns  in  erfreulicher  Uebereinstimmung  mit  den  durch 
exakt  chemische  Methodik  erhobenen  Befunden  von  Neumann 
und  Herrmann. 

Dagegen  steht  unsere  Meinung  über  das  Wesen  dieser 
lipoidartigen  Körper  zu  den  Befunden  der  genannten  Autoren  in 
weitgehendem  Gegensätze.  Die  Untersuchungen  von  Kyes  und 
Sachs  haben  gezeigt,  daß  die  Aktivierung  der  Kobragifthämo¬ 
lyse  durch  Lezithin  bewirkt  wird,  Noguchi  konnte  dasselbe 
für  Fette  und  Fettsäuren  nachweisen.  In  vitro  wird  die  Kobra¬ 
gifthämolyse  durch  ganz  geringe  Mengen  des  käuflichen  Lezithins 
(O'l  einer  Verdünnung  von  1  :  15.000)  prompt  aktiviert.  Ander¬ 
seits  wird  dieselbe  durch  Cholesterin  gehemmt  (Noguchi).  Auf 
Grund  des  mittels  biologischer  Methodik  gefundenen  Antagonismus 
zwischen  der  Wirkung  des  Lezithins  und  Cholesterins  auf  die 
Kobragifthämolyse  müßten  wir,  in  vorsichtiger  Vermutung,  uns 
dahin  äußern,  daß  der  die  Hämolyse  aktivierende  Körper 


im  Serum  der  Schwangeren  ein  Lipoid  von  lezithinartiger 
Struktur  ist. 

Nun  ist  aber  durch  die  Untersuchungen  von  Neumann 
und  Herr  mann  und  S.  Fränkel  eine  Vermehrung  eines 
Cholesterinesters  im  Schwangerenblut  festgestellt,  eines 
Körpers,  der  nach  den  vorliegenden  Erfahrungen  die  Kobragift¬ 
hämolyse  nicht  nur  nicht  fördert,  sondern  sogar  hemmt.  Weiterhin 
wird  von  den  Autoren  ausdrücklich  das  Fehlen  des  Lezithins  in 
ihren  Extrakten  betont.  Durch  diese  Befunde  erscheint  das  Phä¬ 
nomen  der  außerordentlich  starken  Aktivierung  der  Kobragift¬ 
hämolyse  durch  Schwangerenserum  ungeklärt.  Wir  können  gegen¬ 
wärtig,  da  ja  unsere  Kenntnisse  über  die  Lipoidsubstanzen  im 
Blute  noch  lange  nicht  abgeschlossen  sind,  zur  Deutung  der  von 
uns  gefundenen  Tatsache  der  Kobragiftaktivierung  durch  Schwan¬ 
gerenserum,  uns  nur  dahin  äußern,  daß  in  der  Schwangerschaft 
wohl  Veränderung  und  Vermehrung  verschiedenartiger  Lipoide 
stattfinden  dürfte  und  daß  der  die  Lyse  aktivierende  Körper 
möglicherweise  unter  den  in  der  Mutterlauge  der  Cholesterin¬ 
kristalle  vorhandenen  Substanzen  enthalten  sei,  die  Neumann 
und  Herr  mann  durch  die  Platinchloridreaktion  charakterisiert 
haben  und  die  S.  F  rän  kel  vermutungsweise  als  ungesättigte 
Phosphatide  anspricht 

Dr.  Erwin  v.  Graff:  Die  Untersuchungen  von  Neumann 
und  Herr  mann  bedeuten  eine  Bestätigung  und  Ergänzungen 
auf  chemischem  Wege  für  Tatsachen,  die  seit  einigen  Jahren  auf 
dem  Gebiete  biologischer  Forschung  bekannt  geworden  sind.  Seit 
den  Untersuchungen  von  Kyes  und  Flexner  wissen  wir,  daß 
das  Kobragift  zwar  allein  nicht  imistande  ist,  Blutkörperchen 
aufzulösen,  daß  es  aber  gelingt,  die  lösende  Fähigkeit  desselben 
durch  Zusatz  von  Lezithin  zu  aktivieren. 

Kyes  fand,  daß  die  Blutkörperchen  gewisser  Tierarten  ge¬ 
löst,  andere  wieder  nicht  gelöst  werden.  Der  Lezithinversuch 
deutet  daraufhin,  daß  das  Ausbleiben  der  Lösung  auf  einen 
Mangel,  das  Auftreten  der  Hämolyse  dagegen  auf  das  Vorhanden¬ 
sein  gewisser  Lipoide  zurückzuführen  ist. 

Diese  Versuche  wollten  Kyes  und  Sachs  für  die  klinische 
Diagnostik  verwerten,  indem  sie  Blutkörperchen  vom  Menschen 
bei  verschiedenen  Infektionen  auf  ihre  Resistenz  gegenüber  der 
Kobragifthämolyse  prüften.  Zu  abschließenden  Resultaten  sind 
diese  Autoren  zwar  nicht  gekommen,  meinten  aber,  daß  es  viel¬ 
leicht  doch  auf  diesem  Wege  gelingen  würde,  eine  verschie¬ 
dene  Resistenz  der  Blutkörperchen  bei  den  verschiedenen  Erkran¬ 
kungen  festzustellen. 

Much  wollte  auf  diese  Weise  zu  einer  Diagnose  der  Psy¬ 
chose  gelangen. 

Kraus,  Pötzl,  Ranzi  und  Ehrlich  haben  sich  dann 
systematisch  mit  der  Resistenz  der  roten  Blutkörperchen  von 
karzinomkranken  Menschen  und  Tumormäusen  beschäftigt  und 
konnten  zeigen,  daß  die  Blutkörperchen  von  Tumorkranken  in 
73%  ein  abweichendes  Verhalten  gegenüber  der;  Kobragifthämo- 
lyse  aufweisen,  während  die  Blutkörperchen  von  normalen  Men¬ 
schen  im  Resistenzversuch  nur  in  20%  von  der  Norm  abweichen. 

Nach  Untersuchungen  von  Weil  dürften1  auch  die  Erythro¬ 
zyten  von  syphilitischen  Menschen  ein  anderes  Verhalten  zeigen 
als  die  von  normalen. 

Schon  diese  Resultate  weisen  darauf  hin,  daß  die  Blutkörper¬ 
chen  bei  verschiedenen  Erkrankungen  von  Menschen  und  Tieren 
einen  anderen  Lipoidgehalt  besitzen,  als  die  von  normalen. 

Untersuchungen,  die  ich  gemeinsam  mit  Kraus  über  das 
Verhalten  von  Karzinomblut-  und  Nabelschnurserum  gegenüber 
menschlichen  Karzinonizellen  ausgeführt  und  hier  besprochen 
habe,  gaben  Veranlassung  dazu,  auch  die  Blutkörperchen  von 
Graviden  und  aus  dem  Nabelschnurblut  mittels  Kobragift  auf 
ihre  Resistenz  zu  prüfen. 

Die  gemeinsam  mit  Dr.  v.  Zubrzycki  an  einer  größeren 
Anzahl  von  Fällen  gemachten  Versuche,  haben  nun  in  der  Tat 
ergeben,  daß  die  Nabelschnurblutkörperchen,  so  wie  dies  von 
K raus  und  seinen  Mitarbeitern  für  K ar z i n o m blütk ö rper ch e n  nach¬ 
gewiesen  wurde,  nur  in  noch  weit  stärkerem  Maße  eine  erhöhte 
.Resistenz  gegen  Kobragift  besitzen,  als  die  Blutkörperchen  ge¬ 
sunder  Menschen  und  schwangerer  Frauen.  Wir  glaubten  dieses 
Verhalten  der  Erythrozyten,  das  sich  eng  an  die  Befunde  von 
Bauer  und  Lelindorff  anschließt,  wie  diese  Autoren  auf  ein 
Plus  an  Lipoiden,  oder  eine  für  die  Hämolyse  günstigere  Mischung 
derselben  im  mütterlichen  gegenüber  dem  nichtgraviden  und  kind¬ 
lichen  Blut,  zurückführen  zu  müssen. 

Wenn  nun  tatsächlich,  wie  Neumann  und  Herrmann 
mitgeteilt  haben,  eine  chemisch  nachweisbare  Anreicherung  de« 
Blutes  an  lipoiden  Substanzen  während  der  Schwangerschaft 
besteht,  das  kindliche  Blut  dagegen  arm  an  solchen  Stoffen 
ist,  so  wäre  damit  der  exakte  chemische  Beweis  für  die  von 


514 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  U 


uns  auf  Grund  biologischer  Untersuchungen  gehegte  Vermutung 
gegeben.  , 

Aber  nicht  nur  an  Blutkörperchen  ließ  sich  mittels  der 
Kobragifthämolyse  eine  Verschiedenheit  des  Lipoidgehaltes  nach 
weisen,  sondern  auch  im  Serum. 

Calmette  hat  als  erster  gezeigt,  daß  Serum  von  tuber¬ 
kulösen  Menschen,  im  Gegensatz  zum  Serum  normaler  Menschen, 
imstande  ist,  das  Kobragift  zu  aktivieren,  indem  Pferdeblut¬ 
körperchen  mit  'Normalserum  und  Kobragift  versetzt,  keine  Lösung 
zeigen,  während  das  Serum  Tuberkulöser  das  Kobragift  aktiviert 
und  so  Lösung  herbeiführt. 

Bauer  und  Lehndorff  haben  dann  ganz  ähnliche  Unter¬ 
schiede  zwischen  dem  Serum  gravider  Frauen  und  dem  Nabel¬ 
schnurserum  ermittelt. 

Die  von  uns  gefundenen  und  vorhin  erwähnten  Beziehungen 
zwischen  Karzinomserum  und  dem  Serum  Hochschwangerer,  be¬ 
züglich  der  Karzinomzellreaktion,  ließen  uns  vermuten,  ob  nicht 
auch  in  bezug  auf  die  Aktivierung  der  Kobrahämoiyse  sich  ähn¬ 
liche  Abweichungen  von  der  Norm  würden  nachweisen  lassen, 
wie  von  Bauer  und  Lehndorff  für  das  Serum  schwangerer 
Frauen. 

Die  einschlägigen,  derzeit  noch  nicht  abgeschlossenen  Ver¬ 
suche,  die  Kraus,  Ranziund  ich  gemeinsam  ausgeführt  haben, 
zeigen  tatsächlich,  daß  Karzinomserum  in  der  größten  Zahl  der 
Fälle  sich  anders  gegenüber  der  Kobragift -Pferdebluthämolyse 
verhält,  als  normales  Serum. 

Es  zeigt  sich,  wie  uns  die  bisherigen  Versuche  lehren,  daß 
sich  das  Karzinomserum  so  verhält  wie  das  Serum  Tuberku¬ 
löser  (nach  Calmette)  und  das  Serum  gravider  Frauen  nach 
Bauer  und  Lehndorff.  Vergleicht  mian  quantitativ  Serum 
von  normalen  Menschen  und  Karzinomkranken,  bei  Zusatz  von 
Kobragift  und  Pferdeblutkörperchen,  so  zeigt  sich,  daß  die  Pferde¬ 
blutkörperchen  dort,  wo  Karzinomserum  zugesetzt  wurde,  früher 
gelöst  werden  als  bei  Zusatz  von  normalem  Serum. 

Es  wäre  möglich,  daß  die  früher  besprochene  Resistenz¬ 
erhöhung  der  roten  Blutkörperchen  Karzinomkranker  gegen  Kobra¬ 
gift  einerseits,  die  Fähigkeit  des  Karzinomserums,  die  Kobra¬ 
hämolyse  zu  beeinflussen  anderseits,  klinisch  praktische  Ver¬ 
wertung  finden  könnten,  worüber  aber  erst  weitere  Untersuchungen 
Aufschluß  geben  können. 

F.  Bauer  bemerkt,  daß  er  die  Much  sehe,  sogenannte 
Psychoreaktion,  die  dieser  irrtümlich  als  charakteristisch 
für  Dementia  praecox  beschrieben  hat,  regelmäßig  im  Nabel¬ 
schnurserum  des  Neugeborenen  nachgewiesen  hat.  Diese  Reak¬ 
tion,  ebenso  wie  die  von  Lehndorf f  und  Bauer  im  Schwan- 
gerenserum  gefundene,  gestattet  in  jedem  Falle,  Serum  des  Neu¬ 
geborenen  von  dem  der  Schwangeren  oder  Gebärenden  einwandfrei 
und  sicher  zu  unterscheiden.  In  beiden  Reaktionen  wird  nur  das 
Serum1  gebraucht,  während  Neumann  und  Herrmann  auch  die 
Blutkörperchen  bei  ihrer  Reaktion  mit  verwenden.  Das  mag  viel¬ 
leicht  Differenzen  im  Befunde  der  Lipoidart  erklären. 

Dt.  0.  Fellner:  Ich  möchte  mir  erlauben,  gegen  die  zwar 
sehr  vorsichtig  vorgebrachte  Schlußfolgerung  der  Herren  N  eu- 
mann  und  Herr  man  In  Stellung  zu  nehmen.  Sie  schlossen 
aus  den  Vorgängen  bei  der  Menstruation,  Kastration,  nach  Röntgen¬ 
bestrahlung  und  in  der  Schwangerschaft,  daß  die  hier  in  Beob¬ 
achtung  tretende  Cholesterinesterämie  auf  Sekretionsstillstand  der 
Follikel  beruhe.  Die  Röntgenbestrahlung  ist  besser  auszuschließen, 
da  durch  die  Röntgenstrahlen,  wie  wir  wissen,  chemische  Ver¬ 
änderungen  des  Blutes  gesetzt  werden,  wobei  Körper  entstehen, 
die  dem  Cholesterinester  ziemlich  nahe  stehen  dürften.  Es  wären 
die  Röntgenbefunde  nur  zu  verwerten,  wenn  Kontrollversuche 
ergeben  würden,  daß  bei  Abdeckung  der  Ovarien  keine  Chol'esterin¬ 
esterämie  auftrete.  Zudem  kommt  ja  die  Röntgenbestrahlung  einer 
völligen  Kastration  gleich.  Im  Intervall  wurde  von  den  Herren 
( Cholesterines terämie  in  mäßiger  Menge  gefunden,  die  nach  den 
ersten  Tagen  der  Menstruation  abnimmt.  Die  Ansichten  hinsicht¬ 
lich  der  Tätigkeit  der  Ovarien  in  der  Menstruation  gehen  stark 
auseinander.  Mit  der  am  meisten  propagierten  Theorie,  daß  der 
Hochstand  der  Eierstocksekretion  kurz  vor  und  im  Beginne  der 
Menstruation  statthat,  stimmt  der  C h oles  teri nes t erärn iebefu n d  nicht 
ganz.  Doch  fällt  dies  vielleicht  weniger  schwer  ins  Gewicht  als  der 
Umstand,  daß  Follikel  degeneration  im  Intervall  nicht  vorkommt, 
höchstens  geht,  der  eine  Follikel  zugrunde,  aus  dem  sich  das  Corpus 
luteum  bildet.  Das  Schwergewicht  scheinen  die  Herren  Neu¬ 
mann  und  Herrmann  auf  die  Identität  der  Befunde  unmittel¬ 
bar  nach  der  Kastration  und  in  der  Schwangerschaft  zu  legen.  Sie 
schließen  daraus,  daß  auch  in  der  Schwangerschaft  der  die 
<  holesterinesterämie  hemmende  Faktor  zugrunde  gehe  und  da 
dies  die  interstitielle  Drüse  und  das  Corpus  luteum  nicht  sein 
könne,  schließen  sie  diese  beiden  Gebilde  in  einer  Anmerkung 


vollkommen  aus  und  rekurrieren  auf  die  Follikel.  Daß  diese 
letzteren  in  der  Schwangerschaft  in  größerer  Zahl  zugrunde  gehen, 
kann  ich  am  allerwenigsten  leugnen,  da  ich  dieses  Vorkommnis 
ausführlich  beschrieben  habe1.  Aber  es  geht  nur  ein  Teil  der 
Follikel  zugrunde,  es  könnte  sich  also  nur  um  eine  Hyposekretiun. 
nicht  aber  um  einen  Stillstand  der  Sekretion  der  Follikel  handeln 
und  trotzdem  ist  die  Cholesterines terämie  bedeutender  als  nach 
der  Kastration.  Dies  die  erste,  vielleicht  weniger  ins  Gewicht 
fallende  Unstimmigkeit.  Es  ist  nun  aber  weiters  von  Seitz  und 
mir  nachgewiesen  worden,  daß  der  Follikelschwund  nur  etwa  bis 
zum  achten  Monate  andauert,  dann  aber  sieht  man  wieder  recht 
zahlreiche  wachsende  normale  Follikel.  Sind  doch  auch  sprun^- 
reile  Follikel  in  der  Schwangerschaft  wiederholt  beobachtet 
worden.  Einen  weiteren  Beweis  für  die  Neubildung  und  dos 
Heranwachsen  der  Follikel  bildet  die  Tatsache,  daß  Frauen  ebenso 
wie  die  tierischen  Weibchen  unmittelbar  nach  der  Geburt  kon¬ 
zipieren  können.  Es  ist  am  dritten  Tage  nach  der  Geburt  eine 
Konzeption  beobachtet  worden.  Wir  müßten  also  eigentlich  unter 
Rücksichtnahme  auf  die  Neubildung  von  Follikeln  im  letzten 
Drittel  der  Schwangerschaft  eine  Abnahme  der  Cholesterinester¬ 
ämie  beobachten.  Nach  Neumann  und  Herrmann  nimmt 
aber  die  Cholesterinesterämie  gegen  Ende  der  Schwangerschaft 
ganz1  bedeutend  zu  und  erreicht  eine  solche  Höhe,  wie  nicht 
einmal  nach  der  Kastration.  Es  kann  also  schon  aus  diesem 
Grunde  der  Follikel  nicht  für  die  Cholesterinesterämie  verantwort¬ 
lich  gemacht  werden.  Einwandfrei  hätte  dies  durch  Kontroll¬ 
versuche  nachgewiesen  werden  können.  Follikelflüssigkeit  hätte 
bei  kastrierten  Fieren  und  trächtigen  die  Cholesterinesterämie 
aufheben  müssen.  Der  Versuch  wurde  von  den  Herren  Neumann 
und  Herrmann  nicht  gemacht  und  ich  konnte  mir  in  der  Kürze 
der  Zeit  keine  passenden  Ovarien  verschaffen.  Aber  ich  habe 
weitere  Kontrollversuche  angestellt.  Daß  das  trächtige  Ovarium 
die  Cholesterinesterämie  nicht  aufhebt,  haben  bereits  die  Herren 
Neumann  und  Herr  mann  gezeigt.  Aber  auch  das  nicht- 
trächtige  Ovarium  kann  dies, bei  kastrierten  und  trächtigen  nicht, 
wie  ich  mich  in  einer  freilich  sehr  beschränkten  Anzahl  von 
Versuchen  überzeugen  könnte.  Eines  ist.  mir  aufgefallen,  daß  die 
Herren  bei  Betrachtung  der  Verhältnisse  in  der  Schwangerschaft, 
an  ein  so  lipoidreiches  Organ  wie  die  Plazenta  nicht  gedacht 
haben.  Ich  habe  zehn  verschiedenen  Tieren  Plazenta  injiziert 
und  fünfmal  sehr  starke,  fünfmal  schwächere  Cholesterinesterämie 
beobachtet.  Es  liegt  daher  nahe,  die  Plazenta  als  eine  Quelle 
des  Cholesterinesters  in  der  Schwangerschaft  anzusehen.  Fragen 
wrir  uns  aber,  was  denn  allen  diesen  Zuständen,  insbesondere  der 
Kastration  und  der  Schwangerschaft  gemeinsam  ist  und  als 
Quelle  des  Cholesterinester s  angesehen  werden  kann,  so 
werden  wir  vor  allem  auf  die  Nebenniere  hingewiesen.  Die  Herren 
haben  in  ihrer  prächtigen  Arbeit  ja  alles  aus  der  Literatur  zu- 
sammenget  ragen,  was  direkt  auf  die  Nebenniere  hinweist,  so 
daß  es  mir  eigentlich  rätselhaft  erscheint,  warum  sie  auf  die 
Follikel  verfallen  sind.  Sie  erwähnen  die  Hypertrophie  der  Neben¬ 
niere  in  der  Schwangerschaft  und  nach  der  Kastration,  d.  i.  auch 
eine  Verbreiterung  der  Rindenschicht,  den  starken  Cholesterin¬ 
estergehalt  nach  Biedl  und  weisen  darauf  hin,  daß  sich  nor¬ 
malerweise  Cholesterinester  im  Blute  nicht  findet,  man  müsse 
diesbezüglich  Gravide  und  Kastrierte  untersuchen.  Da  sie  nun 
tatsächlich  C  holesterinesterämie  bei  solchen  Zuständen  gefunden 
haben,  wo  eine  Vergrößerung  der  Nebennierenrinde  vorliegt,  so 
ist  es  doch  am  Wahrscheinlichsten,  die  Verbreiterung  der 
Nebennierenrinde  als  Ursache  der  Chol  es  teri  n  es  ter- 
ämic  anzüsehen.  Auch  bei  den  Vorgängen  der  Menstruation 
ist  etwas  Aehnliches  möglich.  Cholesterinesterämie  sehen  wir 
in  Zunahme  begriffen,  solange  der  Blutdruck  ansteigt  und  wahr¬ 
scheinlich  geht  mit  der  Hypertrophie  des  Markes  die  der  Rinde 
Hand  in  Hand.  Freilich  muß  auch  die  Hypertrophie  der  Neben-  - 
niere  ihre  Ursache  haben.  Sie  liegt  vielleicht  im  Ovarium  in  dem 
Sinne,  daß  sowohl  Wegfall,  als  auch  Steigerung  der  Sekretion 
des  Ovariums  zur  Hypertrophie  der  Nebenniere  führt,  wie  ich  dies 
schon  einmal  auszufiihren  Gelegenheit  hatte.  Es  scheinen  also 
die  schönen  I  ntersuehungon  der  Herren  Neumann  und  Herr¬ 
mann  daran!  hinzuweisen,  daß  die  Cholesterinesterämie  ihre  Ur¬ 
sache  in  der  Hypertrophie  der  Nebenniere,  in  der  Schwanger¬ 
schaft  vielleicht  auch  in  der  Plazenta  hat. 

Dt.  0.  Frankl:  Von  den  interessanten  Ausführungen  des 
Herrn  N  e  n  m  a  n  n  möchte  ich  bloß  einen  Punkt,  berühren,  nämlich 
die  Lipoidanreicherunig  bei  der  Eklampsie.  Ich  habe  gemeinsam 
mit  J.  Richter  an  der  Klinik  Hofrat  Schauta  im  letzten  Jahre 
zehn  Fälle  von  Eklampsie  bezüglich  ihres  Verhaltens  zur  Kobra¬ 
lyse  untersucht  und  gefunden,  daß  das  Serum  der  Eklamptischen 
eine  enorme  Vermehrung  der  die  Kobralyse  aktivierenden  Suit¬ 
stanzen  enthält.  Inwieweit  unsere  Befunde  mit  jenen  von  Neu- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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mann  und  Herrmann,  sich  decken,  muß  vorerst  unentschieden 

bleiben. 

Dr.  0.  Forges:  Die  Untersuchungen  der  Herren  Neu  m  a  n  n 
und  Herrmann  scheinen  zu  ergeben,  daß  in  der  Gravidität  der 
Lipoidgehalt  des  Blutes  vermehrt  ist,  wie  sich  ja  auch  in  der 
Literatur  zahlreiche  Hinweise  auf  eine  Lipämie  bei  Schwangeren 
linden.  Halten  wir  nach  Zuständen  Umschau,  die  ebenfalls  zu 
Lipämie,  bzw.  Lipoidämie  führen,  so  ist  in  erster  Linie  der 
Diabetes  melitus  zu  erwähnen.  Die  diabetische  Lipämie,  die 
auch  gleichzeitig  nach  Klemperers  Untersuchungen  eine  Li¬ 
poidämie  ist,  tritt  im  Zustande  der  Azidosis  auf,  ohne  daß  wir 
bisher  die  Art  des  Zusammenhanges  mit  der  Azidosis,  die  Her¬ 
kunft  der  Fettstoffe  erklären  könnten.  Mit  Rücksicht  auf  diese 
Verhältnisse  wäre  es  von  Interesse,  auch  bei  Schwangeren  nach 
einer  etwa  bestehenden  Azidosis  zu  fahnden.  Wir  sind  nun  in 
Gemeinschaft  mit  Leimdörfer  und  Novak  seit  einiger  Zeit 
mit  derartigen  Untersuchungen  beschäftigt.  Veranlassung  bot  zu 
diesen  Untersuchungen  die  von  uns  gefundene  Azidosis  bei  Kar¬ 
zinomen,  was  mit  Rücksicht  auf  die  in  letzter  Zeit  festgestellten 
Beziehungen  zwischen  Karzinom  und  Schwangerschaft  analoge 
Verhältnisse  bei  der  Gravidität  erwarten  ließ.  Unsere  Unter¬ 
suchungsmethode  war  die  Bestimmung  der  Kohlensäurespannung 
in  einer  mit  dem  Lungenblut  ins  Gleichgewicht  gesetzten  Respi¬ 
rationsluft.  Ist  die  Kohlensäurespannung  herabgesetzt,  so  kann 
man  auf  die  Gegenwart  von  abnormen  sauren  Substanzen  im 
Blute  schließen.  Wir  fanden  nun  in  der  Tat  eine  verminderte 
Kohlensäurespannung  bei  Graviden  in  den  letzten  Monaten.  Die 
Azidosis  ist  hier  allerdings  viel  geringfügiger  als  die  diabetische 
Azidosis,  die  zu  viel  höhergradigem  Abfall  der  Kohlensäurespannung 
führt,  immerhin  aber  zeigten  sich  deutliche  Unterschiede  gegen¬ 
über  der  Norm.  Die  Natur  der  vorhandenen  Säuren  ließ  sich 
nicht  feststellen.  Die  Säuren  der  diabetischen  Azidosis  (ß-Oxy- 
buttersäure,  Azetessigsäure)  spielen  hier  jedenfalls  keine  Rolle. 

Im  Zusammenhang  mit  dem  vorliegenden  Vortragsthema 
ergibt  sich  demnach  die  interessante  Beziehung,  daß  die  Lipoidämie 
der  Schwangerschaft  ebenso  wie  die  diabetische  Lipoidämie  von 
einer  Azidosis  begleitet  ist. 

Prof.  S.  Frankel:  Zu  den  interessanten  Befunden  von 
Prof.  Albrecht  ist  zu  bemerken,  daß  es  wünschenswert  wäre, 
die  mikroskopischen  Untersuchungen  durch  quantitative,  even¬ 
tuell  mikrochemische  Bestimmungen  in  den  Organen  mittels  Digi- 
tonin  zu  kontrollieren  und  sicherzustellon. 

Die  Untersuchungen  der  Kollegen  Bauer  und  Lehn  d  or  ff 
gehen  meiner  Ansicht  nach  völlig  parallel  mit  den  Funden  von 
Neumann  und  Herr  mann,  in  deren  Extrakten  ja  ein  unge¬ 
sättigtes  Phosphatid  in  reichlicher  Menge  neben  dem1  Cholesterin¬ 
ester  vorhanden  ist,  so  daß  die  Resultate  beider  Untersuchungs¬ 
reihen  sich  decken. 

Koll.  Fellner  will  ich  nun  fragen,  ob  er  über  quantitative 
Untersuchungen  der  Plazentalipoide  verfügt.  Wir  wissen  nur, 
daß,  nach  denn  Gehalt  geordnet,  Rückenmark,  Gehirn  und  Neben¬ 
nierenrinde  die  lipoidreichen  Organe  sind  (Dim  it  z,  L  innert, 

Biedl). 

Es  ist  nun,  gleichgültig,  ob  die  Theorien  der  Vortragenden 
sich  bestätigen  werden  oder-  nicht,  doch  ein  großer  Fortschritt, 
den  diese  Befunde  gezeitigt  und  wir  haben  nun  die  Möglichkeit, 
die  im  Blute  enthaltenen  angereicherten  Substanzen  aus1  dear  Ex¬ 
trakten  darzustellen  und  ihre  Eigenschaften  chemisch  und  physio¬ 
logisch  zu  studieren.  Ich  lege  nur  auf  den  Fortschritt  durch 
die  gefundene  Tatsache  Gewicht. 

Bei  dem  Parallelgehen  einiger  Erscheinungen  im  Blute  Gra¬ 
vider  und  Karzinomatöser,  wird  es  durch  das  Studium  des  Blutes 
Gebärender  möglich  sein,  die  so  wertvollen  Befunde  von  Ernst 
Freund  einigermaßen  zu  erklären  und  deren  Chemie  zu  ver¬ 
stehen. 

Priv.-Doz.  Dr.  J-  Neumann  und  Dr.  Edm.  Herrmann 

(Schlußwort) :  Im1  Schlußworte  können  wir  uns  um  so  kürzer 
fassen,  als  Herr  Prof.  Franke  1  die  wesentlichsten  Bemerkungen 
bereits  vorweggenommen  hat,  welche  auch  wir  zu  den  Ausfüh¬ 
rungen  der  Herren  Diskutierenden  machen  wollen. 

Ueberblickt  man  die  Diskussion,  so  kann  man  dahin  resü¬ 
mieren,  daß  sie  sich  hauptsächlich  mit  zwei  Fragen  beschäftigte, 
nämlich  mit  der  Herkunft  der  von  uns  im  Blute  Gravider 
nachgewiesenen  Lipoide  und  mit  der  Bedeutung  dieser  Sub¬ 
stanzen  für  die  biologischen  Eigenschaftein  des  Serums  und  der 
Blutzellen  von  Karzinomatösen  und  Graviden,  bzw.  Neugeborenen. 

Bezüglich  der  Herkunft  der  die-  Lipoidämie  bedingenden  Sub¬ 
stanzen  hat  Herr  Prof.  Albrecht  wertvolle  Beiträge  geliefert  und 
den  Hinweis  auf  die  Nebennierenrinde  als  Quelle  der  Cholesterin¬ 
ester  noch  weiterhin  gestützt,  welchen  wir  auf  Grund  der  vor- 
liegendenLiteraturangaben  und  eigenen  Beobachtungen  in  vor¬ 
sichtiger  Weise  gemacht  hatten. 


Es  scheint  uns  aber  nicht  möglich  zu  sein,  diese  Frage  einer 
weiteren  Klärung  oder  ihrer  Lösung  zuzuführen,  durch  Injek¬ 
tionen  von  Plazentarsubstanz,  über  welche  heute  Herr  Fellner 
berichtet,  denn  man  schafft  auf  diese  Weise  keineswegs  eine  leicht 
verständliche  oder  einwandfreie  Versuchsanordnung;  überhaupt 
folgt  Herr  Fellner  einer  anderen  U  eher  leg  ung,  als  der,  welche 
man  aus  unseren  tatsächlichen  Befunden  ziehen  muß.  Hingegen 
wollen  auch  wir  betonen,  daß  ein  Widerspruch  zwischen  unseren 
Studien  und  denjenigen  von  Bauer  und  Lehndorff  nicht  be¬ 
steht,  ja  daß  im  Gegenteil  (wie  schon  in  unserem  Vortrage  erwähnt) 
hier  ebenso  ein  auffallender  Parallelismus  zu  konstatieren  ist, 
wie  zu  den  Forschungen  über  den  Karzinomzellschutz  von 
Freund  und  Kaminer,  von  Kraus  und  v.  Graff.  Jedoch, 
welchem1  Körper  im  Blute  eine  die  Karzinomzellen  schützende, 
bzw.  die  Kobragifthämolyse  aktivierende  Eigenschaft  zukommt, 
bleibt  noch  eine  offene  Frage.  Es  ist  uns  von  Wichtigkeit,  hier 
nochmals'  hervorzuheben,  daß  in  unserem  Extrakten  nicht  bloß 
Cholesterinester,  sondern  auch  durch  Platinchlorid  fällbare  Sub¬ 
stanzen,  wie  Herr  Prof.  Fraenke-l  heute  berichtete,  besonders 
Phosphatide  nachgewiesen  wurden  und  daß  diese  Substanzen  an¬ 
einander  physikalisch  gebunden  zu  sein  scheinen. 

Diese  und  andere  positive  Ergebnisse  unserer  Studien  wurden 
nur  allzu  wenig  zum  Gegenstände  von  Erörterungen  gemacht;  wir 
aber  legten  in  unserem  Vor  trage  das  Hauptgewicht  auf  das  dar¬ 
gelegte  Material  von  Tatsachen. 

Von  diesem  Standpunkte  erachten  wir  als  das  wichtigste 
Ziel  weiterer  Forschungen  die  definitive  Feststellung  der  chemi¬ 
schen  Natur  der  nachgewiesenen  Substanzen,  das  Studium  ihrer 
biologischen  Eigenschaften,  sowie  ihrer  Bedeutung  unter  physio¬ 
logischen  und  pathologischen  Verhältnissen.  Dieses  praktisch  wich¬ 
tigste  Problem  ist  natürlich  die  Auffindung  derjenigen  Substanz, 
welche  Karzinomzellen  schützt. 

Ich  schließe  mit  dem  Ausdrucke  unseres  Dankes  für  das 
rege  Interesse,  mit  dem  Sie  unserem  Vortrage  gefolgt  sind. 

Der  Vorsitzende  spricht  den  Herren  Priv.-Doz.  Doktor 
Julius  Neumann  und  Dr.  Ed.  Herrmann  den  Dank  der  Gesell¬ 
schaft  aus.  _ 

Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien. 

Sitzung  vom  14.  März  1911. 

V orsitzender :  Hofrat  Obersteiner. 

Schriftführer:  Priv.-Doz.  Dr.  Marburg. 

Regimentsarzt  D-r.  Glaser  stellt  aus  der  v.  Wagner  sehen 
Nervenklinik  einen  Fall  von  traumatischer  Epilepsie  vor, 
eine  28jährige  Bauerntochter,  mit  folgender  Anamnese:  Im  Alter 
von  zwei  Jahren  Sturz  aus  Armhöhe  ihrer  damals  zwölfjährigen 
Schwester  auf  eine  Steintreppe  mit  schon  seinerzeit  konstatierter 
Schädelfraktur.  Hierauf  drei  Tage  Anfälle  von  Schwindel  und 
Uebelkeit.  Vor  sechs  Jahren  Auftreten  von  epileptischen  Anfällen 
universellen  Charakters  in  halbjährigen  bis  dreiwöchigen  Inter¬ 
vallen  mit  kurzer,  nicht  visueller  Aura  und  von  Kopfschmerzen 
gefolgt.  Die  Untersuchung  ergab  einen  ca.  7X4  cm  großem,  ovalen, 
mit  einem  Knochenwall  umgrenzten,  an  die  Mittellinie  reichenden 
Defekt  des  linken  Hinterhauptknochens  (Demonstration  der  Rönt¬ 
genbilder),  in  dessen  Tiefe  deutliche  Gehirnpulsation  sicht-  und 
fühlbar  ist,  Püpillendifferenz  lj>r,  bei  unausgiebiger  Reaktion 
der  rechten  Pupille,  einen  Strabismus  concomitans,  keine'  Pa¬ 
resen  oder  Reflexdifferenzen  der  Extremitäten,  keine  Ataxie,  keine 
Seelenblindheit,  keine  Störung  des  Tiefenisehens ;  Sehschärfe  beider¬ 
seits  normal. 

Die  Aufnahme  des  Gesichtsfeldes  ergab  nun  eine  recht¬ 
seitige  Hemianopsie,  die  mehr  einer  rechten  unteren  Quadranten- 
anopsie  sich  nähert.  Der  Blick  in  der  Richtung  des  Gesichts¬ 
felddefektes  ist  erschwert,  die  Patientin  klagt  dabei  über  Schwindel 
und  Schm'erzen  und  kann  die  Bulbi  in  der  dieser;  Blickrichtung 
entsprechenden  Stellung  nicht  fixieren. 

Die  beiden  letzten  Symptome  sind  Schwankungen  insoferne 
unterworfen,  als  der  Gesichtsfeldausfall  an  manchen  Tagen  — 
meist  solchen,  an  denen  die  Patientin  über  Kopfschmerzen  klagt 
— -  beinahe  die  ganze  rechte  Gesichtshälfte  betrifft  und  die 
Blickerschwerung  an  solchen  Tagen  deutlicher  in  Erscheinung 
tritt,  während  sie  oft  ganz  fehlt,  oft  nur:  durch  mechanische 
Erschwerung  des  Blickes  nach  unten  (passives  Emporziehen  der 
oberen  Augenlider)  hervorgerufen  werden  kann,  wobei  jedoch 
der  Blick  nach  links  unten  prompt  erfolgt. 

Im  vorliegenden  Falle  handelt  es  sich  um  eine  traumatiscae 
Läsion  im  linken  Okzipitallappen  mit  einem  Defekt  des  Knochens 
darüber.  Der  Gesichtsfeldausfall  ist  der’  Effekt  einer  Läsion  der 
zur  dorsalen  Kalkarinalipp-e  ziehenden  Sehstrahlungsbahnen,  viel¬ 
leicht  der  Lippe  selbst  oder  beider  dieser  Faktoren.  Man  muß 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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in  diesem  Falle  an  die  Möglichkeit  denken,  daß  es  sich  um  eine 
der  im  Okzipitallappen  so  seltenen  traumatischen  Porenzephalien 
handelt. 

Das1  Schwanken  der  Gesichtsfeldweite,  sowie  der  Blick¬ 
parese  fände  dann  durch  Druckschwankungen  in  dem  derartige  Por¬ 
enzephalien  in  der  Regel  und  wohl  auch  hier  begleitenden  Hydro¬ 
zephalus  eine  zwangslose  Erklärung. 

Die  Augenmuskelstörungen  hängen,  soweit  sie  sich  auf  die 
inneren  Augenmuskeln  beziehen  (Pupillendifferenz,  J>  Reaktion  der 
rechten  Pupille)  wohl  auch  mit  der  oben  angeführten  Läsion  zu¬ 
sammen  ;  der  Strabismus  muß  wohl  als  zufälliger  Nebenbefund  an¬ 
gesehen  werden,  da  die  einzige  Möglichkeit  eines,  wenn  auch 
entfernteren  Zusammenhanges,  eine  Visusschädigung,  nicht  vor¬ 
liegt. 

Der  Vortragende  erwähnt  im  Anschluß  kurz  einen  fast 
gleichen  Fall  aus  dem  Jahre  1909  mit  traumatischer  Jackson¬ 
epilepsie  bei  einem  lOVsjährigen  Mädchen  mit  gleichfalls  links¬ 
seitiger  Porenzephalie  des  Okzipitallappens  und  rechtseitiger 
Hemianopsie. 

Sachs  demonstriert  einen  Patienten  der  Klinik  Fuchs 
mit  eigenartiger  Kopfhaltung  bei  Augenmuskel¬ 
lähmung. 

Anamnese:  Vor  sechs  bis  sieben  Jahren  verlor  Patient, 
während  er  in  einem  Wagen  fuhr,  plötzlich  das  Bewußtsein,  war 
„wie  eingeschlafen“,  14  Tage  blieb  er  in  bewußtlosem  Zustande 
liegen.  Er  Aveiß  von  keinen  Symptomen,  insbesonders  Muskel¬ 
lähmungen,  oder  anderen  Erscheinungen  nach  jener  Zeit.  Vor 
einem  Jahre  wurde  Pat.  durch  ein  scheues  Pferd  am  Boden 
geschleift,  die  ganze  rechte  Gesichtshälfte  war  verletzt  und  er 
Avar  den  ganzen  Tag  bewußtlos.  Schon  tags  darauf  merkte  er  den 
Beweglichkeitsdefekt  des  rechten  Auges  nach  außen  und  dos 
Doppeltsehen. 

Status  praesens:  Visus  beiderseits  Fundus  normal, 
kein  Gesichtsfelddefekt.  Nervenbefund  (Priv.-Doz.  Dr.  Marburg): 
negativ.  Ohrenbefund  (Dr.  Rutin):  negativ.  Die  Störungen  be¬ 
treffen  den  Augenmuskelapparat.  Wir  sehen  an  dem  Patienten: 
1 .  Eine  vollständige  Abduzenslähmung  des  rechten  Auges  mit 
deutlicher  Einwärtswendung  desselben  (sogenannte  Sekundärkon¬ 
traktur),  Hebung  und  Senkung  sind  intakt.  2.  Das  linke  Auge 
zeigt  intakte  Beweglichkeit  nach  auswärts  (links),  beim  Blick 
nach  rechts  treten  heftige  nystagmische  Zuckungen  auf;  auch 
dieses  Auge  zeigt  keinerlei  Störungen  im  Bereiche  der  Fieber 
oder  Senker. 

3.  Zur  Fixation  wird  ausschließlich  das  rechte  Auge  benützt; 
um  es  zum  Geradeaussehen  verwenden  zu  können,  wird  der 
Kopf  stark  —  mindestens  30°  nach  rechts  —  gewendet;  es  ist 
dies  die  habituelle  Kopfhaltung  des  Patienten. 

4.  Bei  Anstellung  des  Tastversuches  wird  bei  Verwendung 
des  rechten  Auges  richtig  getastet  —  wofern  der  Versuch  unter  den 
üblichen  Kautelen  im  hellen  angestellt  wird.  Wird  das  rechte 
Auge  verdeckt  und  der  Tastversuch  unter  Benützung  des  linken 
Auges  wiederholt,  dann  wird  in  allen  Teilen  des  Gesichtsfeldes 
mit  großem  sogenannten  „spastischen“  Fehler  getastet.  Ich  habe 
für  diesen  von  mir  des  öfteren  beschriebenen  Tastfehler  die 
Bezeichnung  „spastisch“  gewählt,  weil  der  Fehler  der  Richtung 
niaich  dem  bei  Paresen  auftretenden  entgegengesetzt  ist.  Der 
Fehler  nimmt  mit  zunehmender  Rechtslage  des  Objektes  zu. 

Ich  will  zunächst  nicht  die  Frage  erörtern,  wieso  es  kommt, 
daß  der  Patient  zur  Fixation  ausschließlich  das  rechts  schlechter 
bewegliche  Auge  verwendet,  sondern  auf  eine  von  mir  in  einem 
anderen  Falle  zuerst  beobachtete  und  im  Zentralblatt  für  Physio¬ 
logie,  Bd.  18,  beschriebene  Folgeerscheinung  der  dauernden  Ver¬ 
wendung  eines  abnorm  gestellten,  mangelhaft  beweglichen  Auges, 
hinweisen,  resp.  zu  demonstrieren :  der  Patient  lokalisiert  näm¬ 
lich  den  Kopf  falsch;  aufgefordert,  die  Richtung  „der  Nase  nach“ 
anzugeben,  zeigt  er  stark  nach  links.  Soll  er  bei  ausschließlicher 
Verwendung  des  die  gesehenen  Gegenstände  falsch  lokalisierenden) 
linken  Auges  die  Richtung  des  Kopfes  angeben,  so  wird  hiebei 
kein  Fehler  begangen.  Meine  Annahme,  daß  dieser  Patient,  gleich 
dem  früher  beobachteten,  bei  Wiederholung  des  Versuches  mit 
dem  rechten  Auge  im  Dunklen,  wenn  als  zu  tastendes  Objekt 
eine  zwar  deutlich  sichtbare,  den  Raum  jedoch  nicht  weiter 
erhellende  Lichtlinie  verwendet  wird,  diese  falsch  mit  dem  der 
Augenmuskellähmung  entsprechenden  Fehler  tasten,  die  Lage  des 
Kopfes  jetzt  aber  richtig  angegeben  Averde,  erwies  sich  als  richtig. 
Der  Kopf  wird,  insoferne  er  selbst  Objekt  der  Gesichtswahrnehr 
mung  ist,  vom  Patienten  falsch  lokalisiert,  Avodurch  die  Fehler 
in  der  Lokalisation,  die  sich  aus  der  abnormen  Stellung  und  Be¬ 
weglichkeit  des  Auges  ergeben  mußten,  eine  Kompensation  er¬ 
fahren  und  die  richtige  Lokalisation  des  Gesehenen  herbeigeführt 
wird, 


Ich  wende  mich  nun  der  Frage  zu,  wieso  es  kommt,  daß 
der  Patient  es  vorgezogen  hat,  das  weitaus  schlechter  bewegliche 
rechte  Auge  statt  des  linken  Auges  zur  Fixation  zu  verwen¬ 
den.  Dem  Okulisten  ist  es  wohl  bekannt,  daß  oft  ein  paretisches 
Auge  bei  intaktem  zweiten  zur  Fixation  gebraucht  wird;  so  gut 
Avie  immer  ist  die  Veranlassung  in  der:  zufällig  besseren  Seh¬ 
schärfe  des  von  tier  Lähmung  betroffenen  Auges  gelegen;  ein 
Grund,  der  hier  nicht  vorliegt.  Meiner  Ansicht  nach  bestand  von 
Anfang  an  zugleich  mit  der  Abduzenslähmung  eine  starke  Kon¬ 
vergenz  (entweder  als  Folge  einer  bestandenen,  durch  die  Abdu¬ 
zenslähmung  manifest  gewordenen  Esophorie,  oder  infolge  eines 
mit  der  Abduzenslähmung  unmittelbar  zusammenhängenden  lleber- 
Aviegens  der  Konvergenz  —  worauf  der  spastische  Fehler  im 
Gebiet  des  linken  Internus  hinweist);  hiedurch  war  der  Patient 
außerstande,  durch  irgendeine  Kopfhaltung  sich  binokulares  Ein¬ 
fachsehen  zu  verschaffen.  Er  hatte  die  Wahl,  durch  die  Wendung 
des  Kopfes  nach  rechts  oder  links,  das  rechte  oder  linke  Auge 
dem  gerade  vor  ihm  gelegenen  Gegenstände  gegenüber  zu  bringen. 
Um  es  zu  verstehen,  daß  er  es  vorzog,  das  rechts  schlecht  nach 
außen  bewegliche  Auge  zur  Fixation  zu  verwenden,  müssen  wir 
folgendes  beachten:  Jede  Seitenwendung  des  Blickes  kann  ent- 
Aveder  durch  eine  Augenbewegung  bei  richtig  gehaltenem  Kopfe 
oder  durch  eine  Bewegung  des  Kopfes  bei  unveränderter  Steilung 
der  Augen  im  Kopfe,  oder  endlich  durch  eine  Kombination  dieser 
beiden  Bewegungsvorgänge  erfolgen.  Unter  den  gewöhnlichen  Um¬ 
ständen  des  Sehens  beteiligen  sich  sowohl  der  Kopf  als  auch 
die  Augen  an  den  Blickbewegungen.  Wird  der  Kopf  nach  einer 
Seite  gedreht,  so  wird  damit  ein  Reiz  für  die  gleichmäßige  Seiten- 
Avendung  gesetzt.  (Näheres  in  meiner  Abhandlung:  „[Jeher  die 
Beziehungen  zwischen  den  Bewegungen  des  Auges  und  denen 
des  Kopfes“,  Zeitschrift  für  Augenheilkunde,  Bd.  3.) 

Hätte  der  Patient  im  Interesse  der  ’linksäugigen  Fixation 
den  Kopf  nach  links  gewendet  gehalten,  dann  wären  die  gleich¬ 
zeitig  damit  gesetzten  Reize  zur  Linkswendung  des  Kopfes  der 
richtigen  Festhaltung  der  Fixation  hinderlich  gewesen,  da  ja  diese 
Impulse  zur  Linkswendung  zu  dem  intakten  Linkswender  des 
linken  Auges  gelangt  wären.  Dagegen  war  die  Rechtswendung 
des  Kopfes,  die  der  rechtsäugigen  Fixation  zuliebe  ausgeführt 
wurde,  zwar  auch  von  Impulsen  zur  Rechtswendung  der  Augen 
gefolgt;  diese  Impulse  trafen  aber  am  rechten  Auge  auf  einen 
gelähmten  Muskel,  so  daß  das  Auge  in  seiner  Fixationsstellung 
ungestört  belassen  Avurde. 

Einerseits  das  U eberwiegen  der  Konvergenz,  anderseits  der 
mit  der  Linkswendung  des  Kopfes  auf  die  Linkswender,  speziell 
auf  den  linken  Rectus  internus  gesetzte  Reiz,  sind  meiner  An¬ 
sicht  nach  die  Ursache,  daß  das  linke  Auge  beim  Blick  nach  links 
in  heftige  Nystagmuszuckungen  gerät  und  beim  Tastversuch  ver¬ 
wendet  -—  den  „spastischen“  Fehler  begeht. 

Auf  die  höchst  lehrreichen  Folgen  der  experimenti  causa 
vorgenommenen  Ausschaltung  des  Fixierauges  (durch  zweitägiges 
Verbinden  desselben)  und  Verwendung  des  linken  Auges,  sowie 
auf  die  Erörterung  einer  Reihe  von  Fragen,  die  durch  diesen 
Fall  aufgeworfen  werden,  soll  in  einer  ausführlichen  Mitteilung 
eingegangen  werden. 

Dr.  Robert  Löwy:  Fall  von  0 es o p h ag u s s p as mus. 

Aus  der  Anamnese  dieses  Patienten  der  dritten  medizini¬ 
schen  Universitätsklinik,  den  ich  mir  hier  vorzustellen  erlaube, 
sei  kurz  folgendes  berichtet:  Der  Patient,  ein  20jähriger  Schmied¬ 
gehilfe,  gibt  an,  daß  er  seit  vier  Wochen,  an  heftigem  Erbrechen 
leide.  Gleich  nach  der  Nahrungsaufnahme  verspüre  er  ein  eigen¬ 
tümliches  Druckgefühl  oberhalb  der  Magengrube  und  kurz  darauf 
müsse  er  die  aufgenommene  Nahrung  erbrechen,  nur  mitunter 
gelinge  es  ihm,  durch  Nachtrinken  einer  größeren  Flüssigkeits¬ 
menge,  das  Erbrechen  zu  verhindern.  Das  Druckgefühl1  nach  dem 
Essen,  das  darauffolgende  Erbrechen,  legten  deü  Gedanken  einer 
Oesophagusveränderung  nahe.  Es  wurden  dem’  Patienten  nun 
200  cm3  Milch  verabreicht ;  nach  20  Minuten  wurde  er  aus¬ 
gehebert,  dabei  ging  der  Magenschlauch  ohne  irgendwelche  Hin¬ 
dernisse  durch  die  Kardia  in  den  Magen.  Besondere  Rückstände 
wurden  nicht  vorgefunden.  Damit  konnte  wohl  eine  organische 
Stenose  ausgeschlossen  werden,  was  auch  durch  den  weiteren 
Verlauf  bestätigt  Avurde.  Die  nach  einigen  Tagen  im  Röntgen¬ 
institute  und  auf  der  Klinik  ausgeführte  Röntgenuntersuchung 
ergab  den  übereinstimmenden  Befund,  daß  eis  sich  um  eine  Passage¬ 
störung  an  der  Kardia  für  flüssige  und  breiige  Ingesta  handle,  mit 
gleichzeitiger  Dehnung  des  Oesophagusrohres.  Eine  verschluckte 
Wismutkapsel  blieb  auf  einem  Flüssigkeitsspiegel  liegen.  Es 
blieb  also  noch  die  Frage  offen,  ob  es  sich  um  eine  primäre 
Atonie  oder  um  einen  spastischen  Zuständ  handle,  von  dem  wir 
nach  Mendelsohn  drei  Arten  unterscheiden,  einen  sympto¬ 
matischen,  reflektorischen  und  idopathischen,  Aus  der  Anamnese 


Nr.  14 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


517 


sei  nun  nachgetragen,  daß  der  Patient  angab,  er  habe  den  Mund 
immer  voll  Speichel,  was  auf  einen  Hypertonus  der  Chorda  lin 
gualis  hindeutet,  wie  ihn  K .auf mann  und  Löwi  an  einem 
Patienten  feststellen  konnten.  Ich  bestimmte  nun  die  Toleranz 
des  Patienten  gegen  Dextrose.  Dabei  ergab  sich,  daß  200  g  Dex¬ 
trose  auf  nüchternem  Magen  verabreicht  werden  konnten,  ohne 
daß  der.  Hain  reduzierte.  Erst  bei  100  g  Dextrose  und  gleich¬ 
zeitiger  subkutaner  Injektion  von  0-001  Adrenalin  wurden  0-3  g 
Dextrose  ausgeschieden.  Auf  0-01  Pilokarpin  trat  heftiger  Speichel¬ 
fluß,  profuse  Schweißsekretion  und  Erbrechen  ein.  Die  Zahl  der 
Eosinophilen  betrug  6°/'o,  also  ein  Verhalten,  das  Eppinger 
und  Heß  als  charakteristisch  für;  gesteigerten  Vagustonus  ansehen. 
Weiters  sei  auf  die  verschiedenen  Befunde  bei  der  Magenson¬ 
dierung  hingewiesen.  Am  25.  Februar  wurde  er  auf  nüchternen 
Magen  ausgehebert  und  dabei  200  cm3  einer  mit  Speiserückständen 
reichen  Flüssigkeit  entleert,  wobei  der;  Abstand  von  der  Zahnreihe 
37  cm  betrug.  Bei  54  cm  Entfernung  entleerte  sich  eine  gallig 
gefärbte  Flüssigkeit.  Erwähnt  sei,  daß  keine  Resistenz  verspürt 
wurde.  Am  2.  März;  bei  37  cm  wurden  150  cm3  entleert,  bei 
44  cm  verspürte  man  einen  federnden  Widerstand,  der  erst  nach 
einigem  Zuwarten  überwunden  werden  konnte.  Ein  eingegebenes 
Probefrühstück  wurde  nach  einer  halben  Stunde  fast  vollkommen 
wieder  entleert.  Bei  vorgenommener  Bougierung  fühlte  man  so¬ 
wohl  für  dicke  als  auch  für  dünne  Sonden  bei  43  cm  einen 
federnden  Widerstand,  der  nicht  überwunden  werden  konnte. 

Völlige  Klarheit  ergab,  sich  aber:  erst  aus  den  Röntgen¬ 
befunden.  Dabei  zeigte  sich,  daß  wir  nicht  nur  an  der  Kardia, 
sondern  auch  ungefähr  in  der  Höhe  der  Bifurkation  der  Trachea 
Spasmen  haben,  die  zu  verschiedenen  Zeiten  auftraten.  So  zeigte 
sich  am  10.  Februar-,  nach  Aufnahme  von  Wismutbrei  eine  tumor¬ 
artige  Ausbauchung  des  'Oesophagus  in  der  Höhe  des  Aorten¬ 
bogens.  Am  3.  Februar  konnte  man  folgenden  interessanten  Be¬ 
fund  erheben:  Eine  Wismutkapsel  blieb  etwa  in  der  Höhe  der 
Bifurkation  der  Trachea  stecken,  nachgetrunkenes  Wismutwasser 
staute  sich  oberhalb  derselben  an  und  bahnte  sich  allmählich  in 
dünnem  Strahle  einen  Weg  zwischen  Kapsel  und  Oesophagus- 
wand.  Durch  Nachtrinken  einer  großen  Flüssigkeitsmenge  wurde 
dieser  Widerstand  überwunden  und  ruckartig  stürzte  Kapsel  und 
Wismutwasser  bis  an  die  Kardia,  wo  sie  liegen  blieben.  Der 
hochsitzende  Spasmus  konnte  durch  Atropin  beseitigt  werden, 
der  Spasmus  an  der  Kardia  zeigte  keine  merkliche  Beeinflu߬ 
barkeit. 

Wir  haben  es  also  bei  einem  vagotonischen  Individuum 
mit  Spasmen  des  Oesophagus  zu  tun,  von  denen  nur  die  höheren 
durch  Atropin  beeinflußbar  waren;  der  Spasmus  an  der  Kardia 
nicht,  wahrscheinlich  deshalb,  weil  durch  die  Stauung  oberhalb 
der  Kardia  es  zu  sekundären  Ulzerationen  der  Oesophagus- 
schleimhaut  gekommen  war,  die  den  idiopathischen  Kardiospas- 
mus  in  einen  reflektorischen  verwandelt  hatten.  Weiters  dürfte 
man  vielleicht  in  diesem  Falle,  bei  dem  sich  schon  eine  hoch¬ 
gradige  Oesophagusdilatation,  nebst  den  teilweise  durch  Atropin 
beeinflußbaren  Spasmen,  entwickelt  hat,  einen  jener  Uebergangs- 
fälle  sehen,  die  Kaufmann  und  Kienboeck  postuliertem. 

Dr.  O.  Pötzl  stellt  aus  der  psychiatrisch  -  neurologischen 
Klinik  Hofrat  v.  Wagner's  eine  gemeinsam  mit  Professor 
E.  Redlich  untersuchte  Kranke  vor,  bei  der  eine  bilaterale 
Affektion  beider  Okzipitallappen  zu  einem  eigenartigen 
Symptomenkomplex  geführt  hat:  Ausfall  des  peripheren  Sehens 
bei  erhaltener  Lichtperzeption  und  erhaltenem  Farbensehen, 
Seelenblindheit  und  Störung  der  Orientierung  im  Raume,  Hyper- 
prosexie  auf  Lichtreize. 

B.  L.,  58jährige  Frau.  Bis  Ende  1907  gesund,  intelligent; 

gute  Schulbildung. 

Ende  1907  begann,  ohne  daß  ein  Insult  beobachtet  worden 
war,  ein  eigentümliches,  als  „Hörstörung“  bezeichnetes  Verhalten: 
wenn  sie  angerufen  wurde,  drehte  sie  sich  nach  der  falschen 
Seite.  Zugleich  soll  das  Sehvermögen  abgenommen  haben.  1908 
hatte  die  Patientin  einen  Ohnmachtsanfall  von  kurzer  Dauer. 
Danach  soll  sich  die  frühere  Orientierungsstörung  verstärkt  haben; 
auch  konnte  die  Patientin  nicht  mehr  lesen  und  erkannte  viele 
Gegenstände  nicht,  beim  Sprechen  verwechselte  sie  häufig  die 
Worte. 

Die  Störungen  blieben  bestehen.  Eine  Parese  war  bei  der 

Patientin  nie  zu  beobachten. 

15.  Dezember  1910  auf  die  Klinik  aufgenommen,  zeigt  die 
Patientin  ein  Zustandsbild,  das  auf  eine  bilaterale  Affektion  der 
Okzipitallappen  hinweist.  Der  Symptomenkomplex  ist  bisher 
im  ganzen  konstant  geblieben ;  nur  hat  die  psychische  Ermüdbar¬ 
keit  der  Patientin  stark  zugenommen,  ebenso  die  Einschränkung 
des  Wortschatzes,  das  Suchen  nach  Worten  und  die  Unaufmerk¬ 
samkeit. 


In  psychischer  Beziehung  ist  zu  bemerken :  Sie  ist  stets 
heiter,  gutwillig,  zu  kindlichen  Scherzen  geneigt,  dabei  fast 
neckisch  und  wie  kokett  in  ihrem  Benehmem.  Delirien,  Hallu¬ 
zinationen,  Konfabulationen  fehlten  bisher. 

Ihr  gesamtes  Verhalten  ist  durch  eine  sehr  charakteristische 
Orientierungsstörung  bestimmt :  sie  kennt  ihr  Zimmer  nicht,  findet 
sich  in  keinem  Raume  zurecht,  legt  sich  in  fremde  Betten  usw.; 
sich  selbst  überlassen,  steht  sie  ratlos  still  oder  geht  auf  helle 
Flächen  (Fenster),  auf  die  Lichtquelle,  zuweilen  auf  Flächen 
in  satten,  hellen  Farben  zu. 

Akustische  Eindrücke  (Anruf,  Geräusche,  Klänge)  lokalisiert 
sie  falsch;  dabei  zeigt  sich  eine  konstante  Differenz  in  der 
Reaktion,  je  nach  der  Richtung,  aus  der  die  Schalleindrücke 
kommen:  von  rechts  her  kommende  akustische  Reize  werden 
entweder  gar  nicht  oder  nach  links  hin  lokalisiert;  nur  relativ 
selten,  am  ehesten  noch  nach  Einübung  stellt  sie  zögernd  und 
unschlüssig  den  Kopf  nach  rechts  hin  ein,.  Schalleindrücke,  die 
von  links  her  kommen,  lokalisiert  sie  immer;  prompt  und  richtig ; 
akustische  Eindrücke,  die  von  rückwärts1  kommen,  lokalisiert 
sie  entweder  gar  nicht  oder  nach  links  hin;  häufig  lokalisiert  sie 
auch  einen  von  oben  oder-  von  unten  kommenden  Schallreiz 
falsch,  zumal,  wenn  er  nicht  aus  unmittelbarer  Nähe  erfoigt. 
Sie  ist  auf  iSchalleindrücke  von  rückwärts  her  zuweilen,  aber 
nicht  immer,  wenig  aufmerksam. 

Anders  projiziert  sie  aber  die  akustischen  Eindrücke  in  den 
Raum,  wenn  eine  starke  Lichtquelle  sich  im  Zimmer  befindet.  Eine 
solche  hält  sofort  ihre  ganze  Aufmerksamkeit  gefesselt;  von 
welcher  Seite  immer  her  der  Schallreiz  kommt,  auf  welcher  Seite 
auch  die  Lichtquelle  sich  befindet,  sie  lokalisiert  den  akusti¬ 
schen  Eindruck  immer  zum  Licht  hin. 

Unterschieden  werden  Gehörseindrücke  ganz  gut;  nur  zeigt 
sich  bei  der  Benennung  zuweilen  ihre  amnestische  Aphasie. 

Die  linke  Seite,  nach  der  sie  spontan  (ohne  Lichtreiz)  die 
akustischen  Eindrücke  regelmäßig  lokalisiert,  ist  die  Seite,  nach 
der-  hin  sie  besser  sieht.  Allerdings  ist  eine  infolge  einer  chro¬ 
nischen  Mittelohreiterung  rechts  bestehende  leichte  Störung  der 
Funktion  im  schalleitenden  Apparat  nicht  ohne  Einfluß  auf  die 
Halbseitendifferenz  der  Störung  ihrer  akustischen  Orientierung. 
Im  ganzen  aber  erweckt  ihr  Verhalten  den  Eindruck,  daß  ihre 
Einstellung  auf  akustische  Perzeptionen  von  der  Richtung  durch¬ 
aus  abhängt,  nach  der  optische  Perzeptionen  tatsächlich  erfolgen 
oder  wenigstens  am  ehesten  möglich  sind. 

Tasteindrücke  am  eigenen  Körper  lokalisiert  sie  auf  beiden 
Seiten  prompt  und  richtig.  Die  rechte  Körperseite  benennt  sie 
dabei  prompt,  die  linke  nicht,  deutet  aber  richtig  hin.  Bei  der 
Lichtperzeption  benennt  sie  die  Richtungen  über  Fragen  hin 
prompt  und  richtig. 

Ihre  optische  Perzeption  ist  folgendermaßen  gestört:  Be¬ 
wegte  Objekte,  etwas  rascher  angenäherte  Gegenstände  fixiert 
sie  weder  von  links  noch  von  rechts  her;  der  Lidschlußreiljex 
ist  von  rechts  her  nie,  von  links  her  nur  sehr  selten  auszulösen. 
Bringt  man  Gegenstände  in  ihre  linke  Gesichtsfeldhälfte  und  läßt 
sie  eine  Weile  dort,  so  kommt  sie  zuweilen  dazu,  sie  zu  fixieren, 
um  so  eher,  je  heller  die  Objekte  beleuchtet  sind,  je  mehr  sie 
eine  helle,  satte  Farbe  zeigen,  je  mehr  sie  durch  simultanen 
Helligkeitskontrast  wirken.  Sie  hat  dann  die  Tendenz,  die  Gegen¬ 
stände  in  die  Hand  zu  nehmen,  greift  dabei  so  ziemlich  in  die 
richtige  Distanz;  am  schlechtesten  trifft  sie  die  Distanz  bei 
relativ  schwach  beleuchteten  Objekten.  Hat  sie  ein  Objekt  fixiert, 
verliert  sie  es  doch  meist  bald  wieder,  aus  der  Fixation,  sucht 
dann  eine  Weile  mit  den  Blicken  herum,  zumeist  gegen  links  hin. 
Nach  rechts  hin  fixiert  sie  nur  eine  stärkere  Lichtquelle,  andere 
Objekte  nie. 

Jedes  Licht,  zumeist  auch  jedes  größere,  hell  und  satt 
in  den  Grundfarben  gefärbte  Objekt  fesselt  sofort  ihre  ganze 
Aufmerksamkeit.  Auf  einen  stark  leuchtenden  Punkt  stellt  sie  von 
rechts  wie  von  links  her  sofort  prompt  ein  und  benennt  ihn  als 
Licht.  Nur  vom  rechten  oberen  Netzhautquadranten  her  erfolgt 
diese  Einstellung  deutlich  etwas  weniger  prompt.  Auf  farbige 
Objekte  stellt  sie,  wie  schon  bemerkt,  nur  von  links  her  prompt 
und  gut  ein. 

Licht,  etwas  weniger  gut  auch  Farben,  behält  sie  im  Fixier¬ 
punkte.  Die  (Grundfarben  agnosziert  sie  prompt,  benennt  sie 
auch  meistens  prompt.  Sie  unterscheidet  sie  gut,  sucht  zu  einer 
vorgelegten  Färbe  unter  anderen  vorgelegten  Farben  die  passende 
gut  aus,  ermüdet  aber  bei  diesen  Prüfungen  rasch.  Ton  den 
Farben  perzipiert  und  benennt  sie  am1  raschesten  das  Rot,  dann 
(der  Raschheit  und  Promptheit  nach  in  absteigender  Reihe)  Gelb, 
Blau,  Grün,  Lila.  Hellen  reinen  Flächen  wendet  sie  von  links 
her  immer  sofort  den  Blick  zu ;  zuweilen  auch  von  rechts. 
Schwarz  und  Weiß  werden  nur  im  simultanen  Kontrast  erkannt 


518 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


und  benannt;  bei  nicht  sehr  heller  Tagesbeleuchtung  (bedeckten 
lagen)  übersieht  sie  schwarze  Objekte  oft  vollkommen. 

Kleinere  Objekte  fixiert  sie  (nur  von  links  her)  überhaupt 
viel  schwerer  und  weniger  prompt  als  Farben.  Sie  erkennt  sie 
von  der  optischen  Sphäre  aus,  ohne  Zuhilfenahme  des  Tast¬ 
sinnes,  fast  nie ;  ganz  selten  und  ausnahmsweise  indessen  be¬ 
nennt  sie  doch  ein  Objekt,  das  sich  in  der  linken  Hälfte  ihres 
Gesichtsfeldes  befindet;  wenn  ihr  das  gelingt,  so  ist  stets  er¬ 
sichtlich,  daß  die  Benennung  von  einer  lebhaften  Farbe  aus 
angeregt  worden  ist  oder  daß  eine  hellglänzende  Fläche  des  Ob¬ 
jektes  ihre  Aufmerksamkeit  gefesselt  und  ihr  eine  längere  Fixation 
ermöglicht  hat  (Schmetterling,  Thermometer,  goldene  Uhr,  Wachs¬ 
stock,  brennendes  Zündholz).  Bilder  erkennt  und  benennt  sie 
nicht;  sie  bezeichnet  aber  häufig  sofort  eine  auf  dem  Bilde  be¬ 
findliche,  helle  und  gesättigte  Farbe  prompt  und  richtig. 

Große  Objekte  zu  erkennen  ist  ihr  vollkommen  unmöglich, 
desgleichen  selbstverständlich  das  Erkennen  der  Personen  von 
der  optischen  Sphäre  aus. 

Abgetastete  Gegenstände  erkennt  und  benennt  sie  gut;  nur 
tritt  auch  hier  in  der  letzten  Zeit  mehr  und  mehr  ihr  Suchen 
nach  Worten  zutage. 

Gibt  man  ihr  einen  Spiegel  in  die  Hand,  so  erkennt  sie  die 
spiegelnde  Fläche  nicht,  ebensowenig  ihr  Spiegelbild  und  andere 
Objekte,  die  den  geschilderten  Bedingungen  ihrer;  optischen  Per¬ 
zeption  nicht  entsprechen.  Wirft  man  aber  ein  Licht  in  den 
Spiegel  oder  läßt  man  in  ihm  eine  hell  und  satt  gefärbte  Fläche 
sich  spiegeln,  so  greift  sie,  vorausgesetzt,  daß  ihre  Hand  bei  der 
Bewegung  nicht  an  den  Spiegel  stößt,  an  ihm  vorbei  und  hinter 
den  Spiegel,  in  genauer  räumlicher  Projektion  nach  dem  Schein¬ 
bild  des  Lichtes  oder  der  Farbe. 

Lesen  von  Schrift,  Ziffern  usw.  ist  vollkommen  unmöglich. 
Zum  Schreiben  gebracht,  nimmt  sie  den  Bleistift  richtig  in  die 
Hand  und  zieht  ein  paar  Krähenfüße,  in  denen  zuweilen  die 
richtige  Konzeption  des  B  (aus  ihrem  Namenszug)  erkennbar  ist. 

Ihr  optisches  Erinnerungsvermögen  ist  in  bezug  auf  Farben, 
die  man  ihr  in  der  jüngsten  Vergangenheit  (auf  zwei  bis  drei  Tage 
zurück)  gezeigt  hat,  auffallend  gut;  auch  bei  Bildern,  die  sie 
nicht  benannt,  auch  nicht  erkannt  hat,  zeigt  sich  zuweilen  das¬ 
selbe:  „Das  haben  wir  schon  gehabt.“  Dagegen  scheint  ihr  Ge¬ 
samtmaterial  von  optischen  Erinnerungsbildern  aller  Qualitäten 
doch  stark  defekt  zu  sein,  am  wenigsten  noch  die  Reproduktion 
von  Farben  bestimmter  Objekte  aus  der  Erinnerung;  allerdings 
macht  sie  auch  dabei  häufig  grobe  Fehlreaktionen,  die  nicht  Be¬ 
nennungsfehler  sind.  Von  Formen  unterscheidet  sie  aus  der  Er¬ 
innerung  :  „Rund“  und  „Eckig“,  dieselben  Qualitäten,  die  sie  auch 
bei  der  unmittelbaren  Untersuchung  unter  den  früher  geschildertm 
Bedingungen  zuweilen  erkennt  und  benennt.  Im  ganzen  wird  eine 
exakte  Prüfung  ihres  optischen  Gedächtnisses  durch  ihre  amne¬ 
stische  Aphasie  besonders  schwer  beeinträchtigt. 

Läßt  man  im  Dunkelzimmer  eine  starke  Lichtquelle  in  lang¬ 
samerer  oder  schnellerer  Bewegung  auf  sie  wirken,  scheint  sie 
die  Bewegung  des  Objekts  nicht  zu  apperzipieren ;  sie  bezeichnet 
das,  was  sie  sieht,  als  „mehrere  Lichter“.  Zwei  oder  mehrere 
Lichter  im  Dunkelzimmer  bezeichnet  sie  ebenso;  die  Zahl  der 
gezeigten  Lichter  gibt  sie  nie  an  („mehrere“) ;  sie  tastet  nach 
jedem  einzelnen  richtig,  bezeichnet  aber  ihre  räumliche-  Entfernung 
von  einander  nie,  gibt  auch  sonst  nicht  zu  erkennen,  daß  sie  sie 
simultan  richtig  erfaßt. 

Die  Sprache  zeigt,  wie  schon  bemerkt,  eine  hochgradige 
Einschränkung  des  Wortschatzes,  dazu  vielleicht  neben  der  peri¬ 
pheren  Hörstörung  eine  geringe  Erschwerung  des  Sprachverständ¬ 
nisses  bei  komplizierterer  Konversation.  In  der  Spontansprache 
zeigt  sich  neben  dem  charakteristischen  Suchen  nach .  Worten 
zuweilen  verbale  Paraphasie,  während  sie  doch  aus  den  vor¬ 
gesagten  Worten  fast  immer  das  Richtige  auswählt. 

Das  Handlungsvermögen  zeigt,  eingehend  geprüft,  k-üne 
apraktischen  Störungen. 

Sensibilität  und  Motilität  sind  intakt. 

(Schluß  folgt.) 


Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte 

in  Böhmen. 

Sitzung  am  17.  März  1911. 

(Schluß.) 

3.  Luksch  demonstriert : 

a)  Ein  Präparat  von  Amyloidose  der  Trachea  bei 
einem  an  Herzfehler  zugrunde  gegangenen  65jährigen  Manne. 
Es  fanden  sich  hiebei  eine  deutliche  Wucherung  von  Knorpel¬ 
gewebe.  Interessant  war  das  gleichzeitige  Vorhandensein  von 
Corpora  amylacea  in  den  Schleimdrüsen. 

Verantwortlicher 


b)  Das  Präparat  von  einem  13V2jährigen  Knaben,  dem 
einige  Monate  vorher  ein  typisches  dreiblättriges  Embryo  m  in 
der  Steißgegend  entfernt  worden  war.  Es  fand  sich  bei  der 
Sektion  ein  die  Gegend  der  linken  Gesäßbacke  einnehmender, 
das  Becken  ausfüllender  Tumor,  der  in  den  Lungen  Metastasen 
gesetzt  hatte ;  histologisch  nahm  er  seinen  Ausgangspunkt  von 
der  Außenwand  der  Gefäße  und  konnte  derselbe  durch  die  An¬ 
wesenheit  glatter  Muskulatur  als  Mischgeschwulst  und  als  Rezidiv 
des  Embryoms  angesprochen  werden. 

4.  H  e  r  i  n  g  :  Demonstration  des  A  t  r  i  o  v  e  n  t  r  i. 
k  ularbündels. 

5.  Münzer:  Ueber  das  Verhalten  des  Herz¬ 
gefäßsystems  in  zwei  Fällen  von  Bradykardie 
nebst  kurzer  Besprechung  der  neueren  Unter- 
suchungsmethodik. 

Der  Vortragende  bespricht  anläßlich  der  Mitteilung  zweier 
Fälle  von  Bradykardie  ganz  kurz  eine  Reihe  von  Methoden, 
welche  der  Lösung  bestimmter  Fragen  in  der  Physiologie  und 
Pathologie  des  Kreislaufes  dienen. 

Was  die  Krankenbeobachtungen  betrifft,  handelte  es  sich 
in  dem  einen  Falle  um  den  bereits  einmal  (Wiener  klin.  Wochen¬ 
schrift  1910,  Nr.  38)  mitgeteilten  Fall  von  hypnotischer  Brady¬ 
kardie,  dessen  Elektrokardiogramm  normale  Verhältnisse  darbot. 
Während  Münzer  zur  Erklärung  der  Hypotonie  an  eine  mög¬ 
licherweise  vorliegende  Affektion  des  chromaffinen  Systems  er¬ 
innerte,  möchte  er  die  Bradykardie  und  Arhythmie  in  diesem 
Falle  auf  Störungen  der  Reizerzeugung,  bzw.  der  Reizbarkeit 
zurückführen.  Es  würde  sich  also  um  eine  echte,  wahre 
Arhythmie  handeln. 

Im  zweiten  Falle  handelte  es  sich  um  eine  34jährige 
Kranke,  welche  eine  Pulsfrequeuz  von  30  bis  36  Schlägen  in 
der  Minute  und  einen  Blutdruck  von  230/130  bis  160  aufwies. 
Das  Elektrokardiogramm  lehrte,  daß  es  sich  hier  um  totale 
Dissoziation  der  Vorhöfe  und  Kammern  handelte. 

Der  Vortragende  hat  in  der  letzten  Zeit  drei  Fragen  der 
Kreislaufphysiologie  besonders  studiert : 

1.  Den  Einfluß  der  Atmung  auf  den  Kreislauf. 

2.  Die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  und 

3.  den  Arbeitswert  der  Pulswellen. 

Indem  Münzer  bezüglich  der  methodischen  und  sonstigen 
Einzelheiten  auf  die  ausführlichen  Publikationen  verweist,  teilt 
er  mit :  ad  1)  daß  der  Einfluß  der  Atmung  auf  das  Herz,  bzw. 
das  Schlagvolumen  und  die  Dauer  der  Pulswelle  bei  hypnotischen 
Zuständen  ganz  deutlich  sei,  auch  im  vorliegenden  Falle  deutlich 
in  Erscheinung  trat  (die  graphische  Aufnahme  wurde  herum¬ 
gereicht),  daß  sich  aber  bei  vaskulärer  Hypertonie,  bei  Herzver¬ 
größerung,  bei  Arteriosklerose  der  großen  Gefäße  dieser  Einfluß 
kaum  oder  viel  weniger  geltend  macht.  Aenderungen  des  Blut¬ 
druckes  infolge  der  Atmung  wurden  nur  sehr  selten  gesehen. 

Ad  2)  Die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Pulswelle, 
welche  zwischen  Aorta  und  Wade  normal  ca.  9  bis  11  m  in  der 
Sekunde  beträgt,  war  in  dem  Falle  von  Hypotonie  auf  ca.  7'2  m 
gesunken,  im  Falle  von  Hypertonie  auf  ca.  13  m  erhöht. 

Ad  3)  Das  gleiche  gegensätzliche  Verhalten  ergab  die 
Energiebestimmung  der  Pulswelle ;  normalerweise  ca.  1700  bis 
2500  betragend,  war  sie  im  Falle  der  Hypotonie  auf  ca.  1200 
bis  1500  abgesunken,  um  im  Falle  der  Hypertonie  einen  Wert 
von  ca.  4000  zu  erreichen.  Dr.  Pribram  (Prag). 


Programm 

der  am 

Freitag  den  7.  April  1911,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Hofrat  Exner  stattfindenden 
Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Priv.-Doz.  Dr.  L.  Wiek:  Zur  Pathogenese  der  Gicht 

2.  Prof.  Dr.  M.  Benedikt:  Zur  Therapie  der  Beschäftigungs¬ 
neurosen  und  über  Autogymnastik.  (Mitteilung.) 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Hans  Salzer,  Robert 
Breuer,  K.  Ullniann,  A.  Kronfeld,  F.  Dimmer. 

Bergmeister,  Paltauf. 


Wiener  med.  Doktoren -Kollegium. 

Programm  der  Montag  den  10.  April  1911,  7  Uhr  abends,  im  Sitzungs¬ 
saal  des  Kollegiums.  I.,  Rotenturmstraße  19,  unter  Vorsitz  des  Herrn 
Hofrates  Prof.  (Jhiari  stattfindenden  wissenschaftlichen  Versammlung. 

Priv.-Doz.  Dr.  Erwin  Stransky :  Das  manisch-depressive  Irresein 

in  der  ärztlichen  Praxis. 

(Die  nächste  wissenschaftliche  Versammlung  findet  im  Herbst 
d.  J.  statt.) 


Redakteur:  Karl  Kubasta.  Verlag  von  Wilhelm  Branmttller  in  Wien 

Druck  von  Braue  ti artel t,  Wien  XV 111.,  Theresien itaaae  8. 


Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S.  Exner,  E.  Finger,  M.  Gruber,  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko,  H.  Meyer,  J.  Moeller,  K.  v.  Noorden, 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J,  Tandler,  G.  Toldt,  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

inton  F reih.  v.  Eiseisberg,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs,  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 


XXIV.  Jahrg. 


Wien,  13.  April  1911 


Nr.  15 


INH 

1.  Orierinalartikel:  1.  Aus  dem  k.  k.  serotherapeutischen  Institut 
in  Wien.  (Vorstand:  Hofrat  Prof.  Dr.  II.  Paltauf.)  Die  Schutz¬ 
kräfte  der  Zellen.  Von  Dr.  Ernst  Pribram,  Assistenten  am 
k.  k.  serotherapeutischen  Institut.  S.  519. 

2.  Aus  dem  pharmakologischen  Institut  der  deutschen  Universität 
in  Prag.  Ueber  die  Zuverlässigkeit  des  Peptonnachweises  als 
Abbaureaktion  bei  der  Anaphylaxie.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Ferdinand 
Schenk.  S.  521. 

3.  Ueber  einen  Fall  ausgedehnter  Lymphdrüsentuberkulose.  Ein 
Beitrag  zur  Lehre  von  den  Beziehungen  der  Lymphdriisen- 
tuberkulose  zur  Hodgkinschen  Krankheit.  Von  Doktor 
0.  M.  Chiari,  Assistenten  am  pathologisch-anatomischen 
Institut  der  Universität  Zürich.  S.  523. 

4.  Aus  dem  bakteriologisch-anatomischen  Institut  der  Landes¬ 
krankenanstalt  in  Czernowitz  (Vorstand:  Priv.-Doz.  Doktor 
Raubitschek).  Die  diagnostische  Verwertbarkeit  des  Tuberkel¬ 
bazillennachweises  in  den  Fäzes.  Von  Dr.  Frieda  Rittel- 
W  i  1  e  n  k  o.  S.  527. 

5.  Zur  Therapie  der  koordinatorischen  Beschäftigungsneurosen 
und  über  Autogymnastik  in  chronischen  Fällen  derselben.  Von 
Prof.  M.  Benedikt.  S.  529. 


~~ . 

Aus  dem  k.  k.  serotherapeutischen  Institut  in  Wien. 

(Vorstand:  Hofrat  Prof.  Dr.  R.  Paltauf.) 

Die  Schutzkräfte  der  Zellen.*) 

Von  Dr.  Ernst  Pribram,  Assistenten  am  k.  k.  serotherapeutischen  Institut. 

Jedes  organisierte  Lebewesen  hat  sich  vom  ersten 
Augenblick  seines  Lebens  im  Kampf  ums  Dasein  zu  be¬ 
tätigen.  Welcher  Art  sind  die  Schutzkräfte,  die  ihm  hiebei 
zur  Verfügung  stehen  und  woher  stammen  sie  ? 

Die  Schutzkräfte  der  organisierten  Zellen  sind  bedingt 
durch  das  Gleichgewicht  der  physikalischen  und  chemischen 
Kräfte,  das  in  jeder  lebenden  Zelle  besteht.  Dieses  Gleich¬ 
gewicht.  ist  ein  labiles,  dynamisches.  Labil,  weil  es  durch 
Eintreten  dritter  Kräfte  leicht  gestört  wird,  dynamisch,  na¬ 
mentlich  das  Gleichgewicht  der  chemischen  Kräfte,  weil 
die  Reaktionsprodukte  leicht  wieder  in  ihre  Komponenten 
zerlegt  werden,  indem  sie  eine  reversible  Reaktion  ein- 
gehen.  Jede  Störung  dieses  Gleichgewichtes  kann  unmittel¬ 
bar  dazu  führen,  daß  Kräfte  (Energien)  frei  werden,  die 
durch  Erhaltung  oder  Wiederherstellung  des  gestörten  Gleich¬ 
gewichtes  dem  Organismus  als  Schutzkräfte  dienen.  Wir 
wollen  die  physikalischen  und  chemischen  Kräfte,  welche 
der  Zelle  zur  Verfügung  stehen,  einzeln  betrachten  und  an 
Beispielen  erörtern,  wie  diese  Kräfte  zu  Schutzkräften  wer¬ 
den  können  und  wie  mit  der  Differenzierung  der  Zellen 
auch  ihre  Schutzkräfte  sich  in  bestimmter  Richtung  weiter 

*)  Probevorlesung,  gehalten  am  22.  März  1911  zur  Erlangung  dei 
Venia  legendi  für  allgemeine  und  experimentelle  Pathologie  an  der 

Universität  Wien. 


L  T: 

6.  K.  u.  k.  Marinespital  in  Pola.  (Kommandant:  Marineoberstabs 
arzt  Dr.  Georg  Kugler.)  Aus  der  chirurgischen  Abteilung 
(Chefarzt:  Linienschiffsarzt  Dr.  Gustav  Ne£por.)  Isolierte  Karpal 
knochenfrakturen.  Von  k.  u.  k.  Fregattenarzt  Dr.  Anton 
v.  Posch.  S.  530. 

II.  Diskussion :  Zur  Frage  der  Erkrankung  des  Akustikus  und 
des  Labyrinthes  bei  erworbener  Lues.  Von  Dr.  Otto  Mayer. 
S.  532. 

III.  Oeffeutliche  Gesundheitspflege :  Die  Enquete  zum  Bauordnungs¬ 
entwurf  im  Winter  1910/11.  Von  Dr.  A.  H  i  n  t  er  b  er  g e r.  S.  532. 

IV.  Samiuelreferat :  Tuberkulose.  Von  Dr.  M.  Weisz. 

V.  Referate :  Ribeiro  Sanchez  a  sua  vida  e  a  sua  obra.  Por  Maximiano 
Le  mos.  Klassikerder  Medizin.  Von  Karl  Sud  ho  ff.  Ref. :  Neu¬ 
burger. 

VI.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

VII.  Vermischte  Nachrichten. 

VIII.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


entwickeln  und  differenzieren.  So  treten  dann  im  hoch¬ 
differenzierten  Organismus  ganze  Zellverbände  als  Schutz¬ 
organe  für  ihn  ein,  unabhängig  voneinander,  aber  doch 
wieder  miteinander  verbunden  durch  den  rasch  kreisenden 
Blutstrom  und  die  noch  schnellere  Nervenleitung. 

Die  physikalischen  Kräfte  (Druckkräfte,  ther¬ 
mische,  elektrische  Kräfte)  sind  durchwegs  Oberflächen¬ 
kräfte,  das  heißt,  sie  können  nur  dort  zur  Wirkung  gelangen 
und  in  kinetische  Energie  umgesetzt  werden,  wo  Niveau¬ 
differenzen  bestehen.  Dadurch  sind  sie  zu  Schutzwirkungen 
besonders  geeignet,  denn  die  stärksten  Niveaudifferenzen  be¬ 
stehen  naturgemäß,  dort,  wo  Zelle  und  Milieu  aneinander 
grenzen. 

Die  kleinste  Oberfläche  bei  gleichem  Volumen  ist  in 
der  Kugelgestalt  gegeben.  Tatsächlich  sehen  wir  den  be¬ 
drohten  einzelligen  Organismus  im  flüssigen  Medium  Kugel¬ 
gestalt  annehmen  und  so  seine  Oberflächenkräfte  auf  mög¬ 
lichst  engem  Raume  konzentrieren.  Dies  ist  aber  nur  dann 
der  Fall,  wenn  die  Oberflächenkräfte  allseitig  in  gleicher 
Weise  in  Anspruch  genommen  werden.  Andernfalls  werden 
diese  Spannkräfte  nur  an  der  Stelle  der  stärksten  Niveau¬ 
differenz  konzentriert,  nur  dort  die  Oberfläche  verkleinert. 
Auf  diese  Weise  entsteht  eine  Gleichgewichtsstörung  im 
System,  hervorgerufen  durch  ein  Potentialgefälle,  das  von 
der  Seite  des  kleinsten  Krümmungsradius  nach  der  des 
größten  gerichtet  ist.  ln  dieser  Richtung  wird  durch  Ver¬ 
wandlung  potentieller  in  kinetische  Energie  eine  Bewegung 
des  Zellinhaltes  erzielt.  Dies  ist  der  Grundtypus  aller  be¬ 
wegungsformen,  die  für  den  Organismus  so  wichtige  Schu  z- 


520 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


Wirkungen  entfalten.  Ist  die  Zelle  an  einer  Stelle  fixiert.,  so 
bewegt  sie  sich  um  den  fixen  Punkt  (zum  Beispiel  Flimmer¬ 
bewegung).  Ist  sie  an  zwei  Punkten  fixiert,  so  können  diese 
Punkte  einander  genähert  werden  (so  kann  die  Muskelzelle 
durch  ihre  Kontraktion  Bindegewebe,  benachbarte  Muskel¬ 
elemente  und  in  letzter  Linie  die  fixen  Knochenpunkte  ein¬ 
ander  nähern).  Dieselben  Oberflächenkräfte,  welche  diesen 
einfachsten  Formen  der  Schutzvorrichtungen  des  Organis¬ 
mus  zugrunde  liegen,  bewirken  auch  die  wunderbaren,  kom¬ 
plizierten  Schutzvorrichtungen  des  hochdifferenzierten  Orga¬ 
nismus,  die  wir  unter  dem  Namen  Immunreaktionen  zu¬ 
sammenfassen.  'Die  Hämolyse,  Zytolyse,  Agglutination,  Prä¬ 
zipitation,  sind  alle  aus  Kräften  hervorgegangen,  deren  Prä¬ 
existenz  wir  bereits  im  einzelligen  Organismus  nach  weisen 
können.  Wir  finden  dort  auch  schon  die  Grundlage  für  die 
Artspezifität. 

Al.  Schnitze,  später  P.  .lensen,  haben  die  Vorgänge 
bei  der  Berührung  von  Rhizopodenz'ellen  gleicher  und  ver¬ 
schiedener  Art  studiert  und  fanden,  daß  die  Pseudopodien 
zweier  Rhizopoden  gleicher  Art  sich  gegenseitig  ausweichen, 
während  die  Pseudopodien  artverschiedener  Rhizopoden  ein¬ 
ander  umfließen  und  auflösen.  In  beiden  Fällen  findet  eine 
Aenderung  der  Oberflächenkrümmung  statt,  welche  im  erste- 
ren  Falle  einer  Verkleinerung,  im  letzteren  einer  Vergröße¬ 
rung  der  Oberfläche  entspricht.  Die  Spannung  der  Ober- 
flächenkräfte  wird  also  im  ersten  h  alle  vermehrt,  im  zweiten 
vermindert.  Nun  wissen  wir  nach  einem  physikalischen 
Lehrsätze,  den  wir  Thomson  verdanken,  daß  im  kolloiden 
Medium  —  um  ein  solches  handelt  es  sich  hier  —  eine 
Erhöhung  der  Oberflächenkräfte  stets  dann  stattfindet,,  wenn 
eine  Substanz  in  das  Kolloid  eindringt,  welche  im  Disper¬ 
sionsmitte]  des  Kolloids  schwer  löslich  ist.  Umgekehrt  setzt 
eine  leichtlösliche  Substanz  die  Spannung  der  Oberflächen¬ 
kräfte  bedeutend  herab.  Wir  dürfen  also  annehmen,  daß 
die  mit  Vermehrung  der  Oberflächenspannung  einhergehende 
Verkleinerung  der  Oberfläche,  die  bei  der  Berührung  der 
Pseudopodien  artgleicher  Individuen  zustande  kommt,  darauf 
zurückzuführen  ist,  daß  das  Zellmaterial  dieser  beiden  Zellen 
ineinander  nicht  oder  nur  schwer  löslich  ist.  Dies  stimmt 
auch  damit  überein,  daß  bei  der  Entwicklung  artgleicher 
Tochterzellen  aus  einer  Mutterzelle  ein  Entmischungsvor¬ 
gang  stattfindet,  der  deutlich  erkennen  läßt,  daß  das  Ma¬ 
terial  dieser  Zellen  ineinander  unlöslich  ist. 

Den  entgegengesetzten  Vorgang  haben  wir  bei  der 
Begegnung  der  Pseudopodien  artverschiedener  Rhizopoden 
vor  uns.  Hier  deutet  schon  die  ^Vergrößerung  der  Oberflächen 
an  der  Berührungsstelle,  die  mit.  Verminderung  der  Ober¬ 
flächenspannung  einhergeht,  an,  daß  das  Material  der  einen 
Zelle  in  dem  der  anderen  leicht  löslich  ist.  Dies  können 
wir  auch  optisch  feststellen,  denn  nach  der  Aufnahme  des 
einen  Pseudopodiums  durch  das  andere  kommt  es  zur  Auf¬ 
lösung  des  Inhaltes  der  artfremden  Zelle.  Wir  haben  hier 
die  Grundlagen  für  die  analogen  Erscheinungen  im  höher 
differenzierten  Organismus,  wo  sie  allerdings  durch  die  kom¬ 
plizierten  Verhältnisse  in  ihrer  Entstehung  nicht  so  leicht 
zu  verfolgen  sind. 

Bringen  wir  die  Blutkörperchen  eines  Tieres  in  das 
Serum  eines  artverschiedenen,  so  werden  sie  darin  auf¬ 
gelöst,  nicht  aber  im  Serum  eines  Tieres  gleicher  Art.  Also 
auch  hier:  Gute  Löslichkeit  des  Zellinhaltes  einer  Tierart 
in  dem  einer  artfremden,  schlechte  Löslichkeit  der  Zellsub¬ 
stanzen  artgleicher  Tiere  ineinander.  Das  Gleiche  gilt  für 
die  Zytolyse.  Etwas  komplizierter  liegen  die  Verhältnisse 
bei  der  Präzipitation  und  Agglutination. 

Bringen  wir  das  Serum  eines  Tieres  mit  dem  Serum 
eines  entsprechend  vorbehandelten  Tieres  verschiedener  Art 
zusammen,  so  nehmen  wir  ein  Phänomen  wahr,  das  darin 
besteht,  daß  bisher  suspendierte  Partikelchen  ausgeflockt 
werden  (Präzipitation).  Die  Ursache  dieser  Erscheinung  ist 
die  Abnahme  von  Oberfläch enkräften,  welche  die  Suspension 
bedingt,  haben.  Diese  Abnahme  der  Oberflächenkräfte,  mögen 
es  elektrische  oder  Spannungskräfte  anderer  Art  sein,  deutet 
wiederum  darauf  hin,  daß  bei  der  Mischung  der  Sera  gut 


lösliche  Substanzen  in  das  Dispersionsmittel  des  Kolloids 
gelangt  sind.  Wir  dürfen  also  auch  hier  annehmen,  daß 
die  Sera  artverschiedener  Tiere  aus  Stoffen  bestehen,  welche 
ineinander  leicht  löslich  sind.  Artgleiche  Sera  geben  nie¬ 
mals  Präzipitation,  also  keine  Aenderung  der  Oberflächen¬ 
spannung,  sie  sind  also  ineinander  offenbar  unlöslich.  Aehn- 
lich  ist  die  Agglutination  hervorgerufen  durch  eine  Ab¬ 
nahme  der  Oberflächenkräfte  des  Serums.  Wir  können  auch 
hier  schließen,  daß  die  Bakterien  Zellsubstanzen  enthalten, 
die  im  Serum  gut  löslich  sind,  eine  Tatsache,  die  als  Bak- 
teriolyse  in  der  lmmimitätslehre  wohl  bekannt  ist. 

Die  genannten  Immunreaktionen  (Zytolyse,  Hämolyse, 
Agglutination,  Präzipitation)  kann  man  künstlich  steigern, 
wenn  man  das  entsprechende  Material  dem  artfremden  Tiere 
wiederholt  injiziert.  Die  physikalische  Grundlage  dieser  Er¬ 
scheinung  ist  durch  einen  Lehrsatz  gegeben,  der  in  der 
Physik  als  G  i  b  b  s  sch  es  Theorem  bekannt  ist.  Dieses  besagt, 
daß  Stoffe,  welche  die  Oberflächenspannung  des  Disper¬ 
sionsmittels  eines  Kolloids  erniedrigen,  sich  in  der  Ober¬ 
fläche  des  Kolloids  konzentrieren.  Leicht  lösliche  Stoffe 
des  Zellmaterials  jenes  Tieres,  dem  wir  artfremde  Zell¬ 
bestandteile  injizieren,  werden  auf  diese  Weise  im  Blute 
dieses  Tieres  angereichert.  Bei  der  Mischung  der  betreffen¬ 
den  artverschiedenen  Zellsubstanzen  zum  Zwecke  der 
Prüfung  auf  die  entsprechenden  Reaktionen,  wird  dann  die 
Oberflächenspannung  noch  rascher,  leichter  und  vollstän¬ 
diger  herabgesetzt  werden,  die  Lösungs-  und  Ausflockungs¬ 
erscheinungen  also  in  verstärktem  Maße  zur  Beobachtung 
gelangen. 

Ein  anderes  Beispiel  möge  illustrieren,  wie  durch  Tem¬ 
peraturerhöhung  chemische  und  physikalische  Kräfte 
der  Zellen  freiwerden  können  und  Schutzwirkungen  aus¬ 
üben.  Die  Folgen  einer  Temperaturerhöhung  der  Zellen  um 
1  bis  2°C,  also  Temperaturen,  wie  sie  bei  der  Entzündung 
oder  beim  Fieber  leicht  zustande  kommen,  bewirken  un¬ 
mittelbar  eine  Verschiebung  des  Gleichgewichtes  zwischen 
Säuren  und  Basen,  also  eine  Reaktionsänderung  des  Proto¬ 
plasmas.  Die  Dissoziationskonstante  für  Wasser  steigl  näm¬ 
lich  viel  schneller  mit  der  Temperatur,  als  die  der  schwachen 
Säuren  (Kohlensäure,  Alonophosphate).  Da  das  Wasser  als 
schwache  Base  wirkt,  findet  auf  diese  Weise  eine  nicht  un¬ 
beträchtliche  Erhöhung  der  alkalischen  Reaklion  der  Ge¬ 
webe  statt  (ein  Drittel  bis  ein  Viertel  des  normalen  Betrages) 
Saure  Reaktionsprodukte,  mögen  sie  bakterieller  Herkunft 
sein,  oder  solche,  die  dem  Organismus  selbst  entstammen, 
können  auf  diese  Weise  neutralisiert  werden.  Eine  zweite 
Bedeutung  dieser  Reaktionsänderung  der  Zellen  besteht 
darin,  daß,  das  Wasserverbindungs vermögen  jeder  einzelnen 
Zelle,  das  bei  erhöhter  Temperatur  ohnehin  gesteigert  ist, 
durch  die  Zunahme  der  Alkaleszenz  noch  weiter  steigt.  Das 
Durstgefühl,  die  Trockenheit  der  Schleimhäute,  die  Harn 
retention,  deuten  alle  auf  dieses  gesteigerte  Wasserbedürfnis 
der  Zellen  im  Lieber  hin.  So  können  toxische  Produkte  ver¬ 
dünnt  und  der  Entgiftung  leichter  zugänglich  gemacht 
werden. 

Die  chemischen  Schutzkräfte  des  Organismus 
sind  zum  Teil  dieselben,  welche  uns  der  Chemiker  kennen 
lehrt.  Oxydationen,  Reduktionen,  Synthesen,  Spaltungen. 
(Vgl.  das  Schema.)  Sie  wirken  alle  in  dem  Sinne,  daß 
giftige  (reaktionsfähige)  Substanzen  in  mindergiftige  (minder 
reaktionsfähige),  verwandelt  werden.  So  entstehen  aus  Ami 
den  durch  Oxydation  der  chemisch  indifferente  Harnstoff, 
aus  giftigen  Aldehyden  (Chloral)  durch  Reduktion  minder- 
giftige  Alkohole  (Trichloräthylalkohol)  usw.  Eine  besondere 
V  ichtigkeit  kommt  den  Synthesen  zu.  Die  Substitutions¬ 
synthesen  und  Paarungen  erschweren  meist  die  Angreifbar¬ 
keit  chemischer  Substanzen  durch  Verlegung  der  r?aktions- 
fähigen  Seitenketten.  Die  Kondensationen  bilden  größere 
Moleküle  aus  kleineren.  Solchen  großen  Molekülen,  welche 
durch  Wasser  nicht  mehr  ohne  weiters  in  Ionen  zerlegt 
(dissoziiert)  werden,  kommt,  die  Fähigkeit  zu,  sich  nach 
dem  Älassenwirkungsgesetze  zu  Komplexen  aneinander  zu 
lagern.  Auf  diese  Weise  entstehen  große  Oberflächen,  denen 


521 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Beispiele  für  die  wichtigsten  ent. gi 


1.  Oxydationen 
von  Aldehyden  zu  Säuren 
»  Alkoholen  »  » 

»  Nitriten  »  Nitraten 
>n  aromatischen  Substanzen  zu 
tienolen,  welche  nach  3.  Syn¬ 
thesen  eingehen. 


2.  Reduktionen 
von  Aldehyden  zu  Alkoholen 
(z.  B.  Chloral  — >  Trichloräthyl- 
alkohol) 

von  Nitraten  zu  Nitriten*) 
von  Nitrogruppen  zu  Amino¬ 
gruppen 

(z.  B.  Nitrobenzol  — >  Anilin) 


ttenden  Vorgänge  in  den  Zellen: 

3.  Synthesen  und  Konden¬ 
sationen 

(unter  Wasserabspaltung) 

Bildung  von: 

Estern  (z.  B.  Fett  aus  Fettsäuren 
und  Glyzerin,  Aetherschwefel- 
säuren  durch  Paarung  von  Pheno¬ 
len  an  Schwefelsäure) 

Glykosiden  (z.  B.  Glykogen  aus 
Aldosen,  Glykuronsäurebildung) 
Hippursäure  (aus  Glykokoll  u.  Ben¬ 
zoesäure)  ;  Harnsäure,  Kynuren- 
säure,  Nukleinsäure,  Chondroitin- 
schwefelsäure,  Gallensäuren, 
Uraminosäuren  aus  Karbamin- 
säure  und  Aminosäuren 
Säureamiden  aus  Säuren  und 
Aminosubstanzen  (z.  B.  Harnstoff 
aus  C02  und  NH3) 

Peptiden  und  Polypeptiden  aus 
Aminosäuren 

Eiweißkörpern  aus  Polypeptiden 
Rhodaniden  aus  Zyanresten 
Cholesterin  und  Cholesterinestern. 


4.  Spaltungen 

Desamidierung,  Entmethylierung, 
Hydrolysen  (unter  Wasserauf¬ 
nahme) 

(Polysaccharide  — Monosaccha¬ 
ride,  Eiweißkörper  — *■  Amino¬ 
säuren) 


*)  Diese  sind  mit  NH3  leicht  umsetzbar,  eine  Reaktion,  die  im  höheren  Organismus  wahrscheinlich  nicht  läuft. 


e  genannten  Oberflächenkräfte  (Adsorptionskräfte,  elek- 
ische  Kräfte  usw.)  zukommen.  Sie  vermögen  Wasser  zu 
[sortieren  und  mit  großer  Energie  festzuhalten.  Durch 
ese  Bildung  von  Molekülkomplexen  mit  großen  Oberflächen 
id  spezifischem  Wasserbindungsvermögen  entstehen  Kol- 
ide  aus  Kristalloiden.  So  entstehen  Polysaccharide  aus 
onosacchariden  (Glykogen  aus  Aldosen),  Eisweißkörper  aus 
dypeptiden  und  diese  aus  Aminosäuren.  Die  reversible 
rtur  all  dieser  Synthesen  geht  aus  beistehendem  Schema 
>rvor. 

Außer  diesen  rein  chemischen  Entgiftungsprozessen 
nnen  wir  noch  Schutzwirkungen  mehr  physikalisch-che- 
ischer  Natur.  So  seien  jene  Wirkungen  erwähnt,  welche 
irch  die  verschiedene  Beeinflussung  von  Kolloiden  durch 
ilze  verschiedener  chemischer  Natur  bedingt  sind.  Hie- 
■r  gehören  die  von  J.  Loeb  beobachteten  antagonistischen 
irkungen  von  Kalzium-  und  Natriumsalzen  und  die  in 
ngster  Zeit  von  Chiari  und  Januschike  beobachteten 
sudationshemmenden  Wirkungen  der  Kalziumsalze.  Ein 
deres  Beispiel,  das  gleichzeitig  zeigt,  wie  die  einzelnen 
gane  sich  gegenseitig  zu  schützen  vermögen,  ist  das  Ver¬ 
ben  der  Muskelzellen  und  Hautzellen  bei  großen  Wasser¬ 
dosten  (Cholera,  Säuglingsdiarrhöen).  Wie  wir  aus  dem 
scheinen  von  Kaliumsalzen  und  Phosphaten  im  Harne 
d  dem  Ansteigen  der  Natriumsalze  im  'Muskel  schließen 
nnen,  vertauscht  die  Muskelzelle  bei  großen  Wasserver- 
sten  ihre  Kaliumsalze  gegen  Natriumsalze.  Aus  Unter- 
chungen  voir  J.  Loeb  wissen  wir,  daß  Kaliumseifen  viel 
ehr  Wasser  zu  binden  vermögen  als  Natriumseifen.  Es 
rd  also  durch  diese  chemische  Umsetzung  die  Muskelzelle 
fähig!,  Wasser  für  den  Organismus  disponibel  zu  machen 
d  auf  diese  Weise  andere,  lebenswichtige  Organe,  ins- 
1  sonders  das  wasserreichste  Organ,  das  Gehirn,  vor  Wasser 
'Güsten  zu  schützen. 

Neben  den  physikalischen  und  chemischen  Schutz¬ 
haften  des  Organismus  ist  noch  ein  Faktor  zu  nennen,  der 
i  der  Besprechung  der  Schutz-  und  Heilwirkungen  nicht 
'ergangen  werden  darf:  Der  Einfluß  der  Zeit.  Besonders 
t  fällig  sehen  wir  bei  Ferment  Wirkungen,  wie  der 
;  Bliche  Ablauf  der  Reaktion  im  Organismus  wechselt.  Je 
1  ch  der  Aktivität  der  Fermente  können  alle  obengenannten 
'  emischen  Prozesse  sehr  langsam  oder  äußerst  rasch  ab 
hfen,  so  beispielsweise  die  Entgiftung  durch  Synthesen, 
»ndensationen,  Oxydationen  usw.  Die  Auslösung  des  Pre¬ 
ises  muß  mit  der  Beschleunigung  nicht  Hand  in  Hand 
dien. 

Da  wir  wissen,  daß  katalytische  Prozesse  häufig  durch 
1 'erflächenwirkungen  ausgelöst  werden  (Beschleunigung 
<r  Zersetzung  des  Wasserstoffsuperoxyds  durch  Platin- 
nor).  da  wir  weiter  wissen,  daß  fermentäbnliche  und  fer¬ 


mentative  Prozesse  sich  durchwegs  im  kolloiden  Medium 
abspielen  und  dieses,  wie  erwähnt,  sich  vom  kristalloiden 
insbesondere  durch  die  große  Oberfläche  seiner  Kolloid¬ 
komplexe  unterscheidet,  werden  wir  kaum  fehlgehen,  wenn 
wir  die  fermentativen  Prozesse  mit  Oberflächenwirkungen 
in  einen  ursächlichen  Zusammenhang  bringen.  Ein  Beispiel 
dafür,  daß  chemische  Reaktionen  durch  die  Gegenwart 
kleinster  Mengen  von  anorganischen  Kolloiden  in  spezifi¬ 
scher  Weise  intensiv  beschleunigt  werden  können,  ver¬ 
danken  wir  Abelous.  Von  den  drei  Dioxybenzolen  nehmen 
Hydrochinon  und  Brenzkatechin  aus  der  Luft  innerhalb 
einer  bestimmten  Zeit  eine  bestimmte  Menge  von  Sauerstoff 
auf.  Dieser  Prozeß  wird  durch  Spuren  von  kolloidem  Man- 
gansulfat  oder  Eisenhydrat  enorm  beschleunigt.  Die  be¬ 
schleunigende  Wirkung  ist  für  das  Mangansalz  viel  stärker 
bei  Verwendung  von  Hydrochinon  als  für  das  Eisensalz.  Für 
das  letztere  hingegen  viel  stärker  bei  Verwendung  von  Brenz¬ 
katechin. 

Die  Schutzkräfte  der  Zellen  entstehen  also  dadurch, 
daß  bei  jeder  Störung  des  Kräftegleichgewichtes  der  che¬ 
mischen  und  physikalischen  Kräfte  der  Zelle  Kräfte  für 
den  Organismus  disponibel  werden,  welche  bisher  ander¬ 
weitig  gebunden  waren.  Die  potentielle  Energie  dieser  Kräfte 
wird  in  chemische,  elektrische,  kinetische,  thermische  Ener¬ 
gie  umgesetzt  und  kann  als  solche  zur  Erhaltung  des  Gleich¬ 
gewichtes  oder  zur  Wiederherstellung  des  gestörten  Gleich¬ 
gewichtes  dienen.  Durch  das  kolloide  Milieu,  in  welchem 
sich  solche  Energiewandlungen  abspielen,  können  derartige 
Kräfte  in  sehr  kurzer  Zeit  intensive  Wirkungen  entfalten, 
weil  ihnen  durch  Bildung  von  Molekülkomplexen  große 
Oberflächen  dargeboten  werden,  an  denen  sich,  wie  gezeigt 
wurde,  chemische  und  physikalische  Vorgänge  in  anderen 
Zeiträumen  und  mit  anderer  Intensität  abspielen,  als  in 
den  dissozierten  Molekülbestandteilen  der  kleinen  Moleküle 
kristalloider  Medien. 


Aus  dem  pharmakologischen  Institut  der  deutschen 
Universität  in  Prag. 

Ueber  die  Zuverlässigkeit  des  Peptonnach¬ 
weises  als  Abbaureaktion  bei  der  Anaphylaxie. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Ferdinand  Schenk. 

Die  von  Biedl  und  Kraus  angenommenen  Beziehun¬ 
gen  des  anaphylaktischen  Shocks  zum  Bilde  der  Pepton¬ 
vergiftung  einerseits,  die  Tatsache  anderseits,  daß  sich  nach 
Friedberger,  in  vitro  durch  Eiweiß -Eiweißanlikörper  und 
Komplement  giftig  wirkende  Spaltprodukte  vom  Typus 
des  Anaphylaxiegiftes  bilden,  veranlaßten  Pfeiffer,  dem 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


es  gelungen  war,  weitere  übereinstimmende  Symptome 
beider  Vergiftungsbilder  beim  Meerschweinchen  festzustellen, 
Untersuchungen  in  der  Richtung  zu  unternehmen,  ob  sich 
der  hypothetische  Abbau  des  Eiweißmoleküls  im  Gefolge 
der  Eiweiß-Antieiweißreaktion  nicht  auf  dem  Wege  che¬ 
mischer  Reaktionen  in  vitro  nachweisen  lasse.  Die  Unter¬ 
suchungen,  welche  Pfeiffer  in  Gemeinschaft  mit  Mita 
vornahm,  sollten  feststellen,  ob  sich  erstens  während  des 
anaphylaktischen  Shocks  im  Serum  der  Versuchstiere  Spalt¬ 
produkte  des  Eiweißes  von  Peptoncharakter  nachweisen 
lassen  und  zweitens,  ob  ein  Abbau  des  Eiweißmoleküls 
stattfindet,  wenn  das  Antigen  auf  das  Serum .  anaphylakti¬ 
scher  Tiere  in  vitro  unter  geeigneten  Versuchsbedingungen 
einwirkt,  bzw.  ob  ein  solcher  Abbau  ausbleibt,  wenn  statt 
des  Antigens  der  Vorbehandlung  ein  anderartiger  Eiwei߬ 
körper  mit  dem  Serum  des  Versuchstieres  zusammen¬ 
gebracht  wird. 

Die  Versuche  an  Tieren  während  des  anaphylaktischen 
Shocks  ergaben,  daß  im  Serum  keine  Abbauprodukte  des 
Eiweißes  von  Peptoncharakter  nachzuweisen  sind. 

Wurde  hingegen  unter  entsprechenden  Versuchsbedin¬ 
gungen  das  Serum  anaphylaktischer  Meerschweinchen  mit 
dem  Antigen  der  Vorbehandlung  gemischt,  die  Mischung 
durch  24  Stunden  im  Brutschrank  digeriert,  so  konnte  jedes¬ 
mal  in  den  enteiweißten  Flüssigkeiten  ein  intensiver,  aus 
dem  positiven  Ausfall  der  Biuretreakiion  erschlossener  Ab¬ 
bau  des  Eiweißmoleküls  bis  zu  Spaltprodukten  von  Pepton¬ 
charakter  nachgewiesen  werden. 

Die  Reaktion  erwies  sich  als  spezifisch,  da  ein  solcher 
Abbau  weder  durch  die  Sera  normaler  Meerschweinchen 
an  dem  geprüften  Antigen  (Fferdeserum)  noch  durch 
die  Sera  anaphylaktischer  Meerschweinchen  (Pferdeserum) 
gegen  ein  andersartiges  Antigen  (Rinderserum)  nachweisbar 
war;  es  ist  ferner  nach  Pfeiffer  und  Mita  das  proteoly¬ 
tische  Vermögen  der  Sera  anaphylaktischer  Meerschweinchen 
als  eine  ganz  konstante  Erscheinung  aufzufassen,  welche 
schon  bei  einer  intraperitonealen  Vorbehandlung  mit 
0  01  cm3  Antigen  nach  fünftägiger  Inkubation  deutlich  nach¬ 
weisbar  ist  und  erst  zwischen  dem  45.  bis  80.  Tage  ver¬ 
schwindet. 

Diese  von  Pfeiffer  und  Mita  als  konstant  und  spe¬ 
zifisch  bezeichnete  Fähigkeit  der  anaphylaktischen  Sera, 
im  Reagensglasversuch  mit  dem  Antigen  der  Vorbehandlung 
Spaltprodukte  von  Peptoncharakter  zu  liefern,  schien  mir 
die  geeignetste  Methode,  um  die  Richtigkeit  der  von  mir  in 
einer  früheren  Mitteilung  aufgestellten  Behauptung,  daß  eine 
Uebertragung  des  anaphylaktischen  Reaktionskörpers  auch 
durch  das  Sperma  erfolgen  könne,  zu  prüfen. 

In  einer  großen  Versuchsreihe  konnte  ich  damals  einer¬ 
seits  die  Angaben  anderer  Autoren  bestätigen,  daß  beim 
Meerschweinchen  die  Ueberc  mplindlichkeit  für  Pferdeserum 
regelmäßig  von  der  Mutter  auf  die  Jungen  übergeht,  ander¬ 
seits  habe  ich  im  Gegensatz  zu  Rosenau  und  Ander¬ 
son  gefunden,  daß  unter  einer  größeren  Zahl  von  Neu¬ 
geborenen,  welche  von  anaphylaktischen  Männchen  und  'nor¬ 
malen  Weibchen  abstammten,  über  ein  Drittel  nach  Injek¬ 
tion  von  2  cm3  Pferdeserum  Symptome  aufwiesen,  wie  sie 
sonst  nur  anaphylaktische  Tiere  nach  Reinjektion  des  ent¬ 
sprechenden  Serums  zeigen. 

Da  aber  auch  von  normalen  Eltern  abstammende  Neu¬ 
geborene  in  einer  gewissen  Zahl  auf  die  Injektion  (von 
2  cm3  Pferdeserum  mit,  wenn  auch  leichteren  Erscheinungen 
reagierten,  so  war  es  mir  erwünscht,  in  der  Pfeif  fern 
Mitaschen  Reaktion  eine  Methode  zu  besitzen,  welche  ge¬ 
eignet  schien,  eine  definitive  Entscheidung  in  dieser  Frage 
bringen  zu  können. 

Ehe  ich  auf  die  Untersuchungen  der  Neugeborenen 
einging,  hielt  ich  es  für  geboten,  die  von  Pfeiffer  und 
Mita  mitgeteilten  Befunde  an  erwachsenen  Tieren  mit  ge¬ 
nauer  Einhaltung  der  Versuchsanordnung  und  Methodik  einer 
Nachprüfung  zu  unterziehen. 

Es  wurden  je  sechs  Meerschweinchen  einmal,  be¬ 
ziehungsweise  dreimal  mit  0  01  cm3  Pferdeserum  intraperi¬ 


toneal  injiziert  und  nach  verschiedenen  Zeiten  (20.  bis 
40.  Tag)  entblutet.  Das  •  Serum  wurde  in  der  Menge  voi 
4  cm3  mit  2  cm3  Pferdeserum  gemischt,  diese  Mischung 
24  Stunden  bei  37°  gehalten.  Zur  Kontrolle  wurde  Serun 
von  normalen  unvorbehandelten  Meerschweinchen  ver 
wendet,  welches  in  der  gleichen  Weise  mit  Pferdeseurm  ge 
mischt  und  behandelt  wurde,  ferner  Serum  anaphylaktische] 
Meerschweinchen  mit  Rinderserum  gemischt  und  24  Stun 
den  bei  37u  digeriert,  weiters  Pferde-,  bzw.  Rinderserun 
allein. 

Was  die  Enteiweißung  der  Sera  anbelangt,  so  wurch 
dieselbe  genau  nach  Pfeiffer  und  Mita  durch  Erhitzen  be 
schwach  essigsaurer  Reaktion  vorgenommen,  wobei  aller 
von  diesen  Autoren  geforderten  Kautelen  volle  Beachtum 
geschenkt  wurde. 

Die  Versuche  ergaben,  daß  wohl  in  den  meisten  ana 
phylaktischen  Seris  —  in  neun  von  zwölf  Fällen  —  ir 
dem  nach  erfolgter  Koagulation  eingeengten  Filtrat  Stoffe 
nachzuweisen  waren,  die  positive  Biuretreakiion  gaben,  dal 
dasselbe  Verhalten  jedoch  bei  nahezu  ebensoviel  noimaUi 
Fällen  —  acht  von  zwölf  —  ebenso  bei  Pferde-  und  Rinder 
serum  allein  konstatiert  werden  konnte,  so  daß  daraus  de> 
Schluß  gezogen  werden  muß,  daßi  das  Auftreten  voi 
Körpern  mit  positiver  Biuretreaktion  n i c h 
als  für  anaphylaktische  Meerschweinchei 
spezifisch  angesehen  werden  kann. 

Es  lag  nahe,  zu  vermuten,  daß  es  hauptsächlich  ai 
der  Methode  des  Auskoagulierens  liegt,  ob  biurete  Körpe 
im  Filtrat  nachgewiesen  werden  können  oder  nicht.  Jeder 
der  öfters  Eiweißlösungen  auskoaguliert,  weiß,  daßes  äußers  j 
schwer,  ja  fast  unmöglich  ist,  durch  bloßes  Aufkochei 
einer  Eiweißlösung  bei  schwach  essigsaurer  Reaktion  voll 
kommen  eiweißfreie  Filtrate  zu  erhalten.  Denn  selbst  Sera 
deren  Eiweiß  beim  Aufkochen  in  großen  Flocken  ausfäll 
und  die  vollkommen  klar  durchs  Filter  gehen  und  derer 
klares  Filtrat  sich  bei  weiterem  Kochen  nicht  mehr  trübt 
geben  oft  noch  eine  positive  ■  Essigsäure  -  Ferrozyankali 
reaktion.  t 

Winternitz  hat  durch  vergleichende  Eiweißbesthn 
mungen  auf  gewichtsanalytischem  und  refraktometrischen 
Wege  gezeigt,  wieviel  Eiweiß  der  Koagulation  entgehei 
kann. 

Wir  wissen,  daß  der  Salzgehalt  und  die  Reaktion  deij 
Lösung  die  Koagulierbarkeit  des  Eiweißes  beeinflußt. 

In  vollkommen  dialysierten  Eiweißlösungen  ist.  dar 
Eiweiß  überhaupt  nicht  koagulabel.  Pfeiffer  und  Mita 
haben  auf  die  erhöhte  Koagulationsfähigkeit  durch  Salzzu 
satz  wohl  Rücksicht  genommen  und  führen  an,  daß  siel 
die  Uebersättigung  der  Filtrate  mit  Kochsalzlösung  als  nicht 
gangbar  erwies,  da  die  in  Frage  kommenden  Körper  ir 
der  Hitze  bei  schwach  essigsaurer  Reaktion  nicht  mein 
koagulieren,  wohl  aber  durch  eine  Kochsalzsättigung  mit 
gerissen  werden.  Dasselbe  Verhalten  zeigten  sie  der  Fäl 
lungsmethode  von  L.  Michaelis  und  P.  Rona  gegenüber 

Die  Fällung  von  Eiweißkörpern  durch  kolloides  Eisen 
hydroxyd  ist  heute  wohl  die  beste  Enteiweißungsmethode 
und  wir  konnten  uns  davon  überzeugen,  daß  auch  Albu 
mosen  und  Peptone  diesem  Fällungsmittel  nicht  entgehen, 
so  daß  die  Methode  für  die  vorliegenden  Untersuchungen 
nicht  in  Frage  kommt. 

Was  hingegen  die  Erhöhung  des  Salzgehaltes  anlangt 
so  müssen  wir  auf  die  Versuche  von  Friedberger  ver 
weisen,  der  auch  bei  Verwendung  der  Enteiweißungsmelhode 
von  Hohlweg  und  Meyer  positive  Biuretreakiion  bei  den 
Anaphylatoxinbildung  in  vitro  fand.  Diese  Methode  besteh1 
darin,  daß  Serum  mit  einer  Mischung  gleicher  Teile  1  °/oiger 
Essigsäure  und  5°/oiger  Monokaliumphosphatlösung  bis  zur 
sauren  Reaktion  gegen  Lackmus,  aber  noch  neutralen  Re¬ 
aktion  gegen  Kongo  versetzt  und  nach1  entsprechender  Ver¬ 
dünnung  mit  Wasser  unter  Zusatz  von  Kochsalz  bis  zui 
Halbsättigung  der  Gesamtflüssigkeit  koaguliert  wird.  Bei 
Anwendung  dieser  Methode  fand  Friedberger  in  lieber 
einstimmung  mit  den  Befunden  von  Pfeiffer  und  Mita 


Nr  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


523 


ii  dom  von  den  Präzipitaten  abzentrifugierten  Mcerschwein- 
hensenim  gleichfalls  positive  Biuretreaktion,  sowohl  bei 
I  Verwendung  von  Hammelserum,  als  auch  von  Pferdeserum 
ur  Präzipitatbildung.  Bei  Digerierung  der  mit  inaktivierten 
lestandteilen  hergestellten  Präzipitate  mit  inaktiviertem 
[eerschweinchenserum  wurde  dagegen  keine  Biuretreaktion 
■rzielt. 

Nun  führen  aber  Hohlweg  und  Meyer  in  der  er¬ 
mähnten  Arbeit  selbst  an,  daß  es  ihnen  bei  Verwendung 
on  wenig  gefärbtem  Serum  ausnahmslos  gelang,  ein  voll 
ommen  klares  und  eiweißfreies  Filtrat  zu  erhalten,  welches 
>ei  nochmaliger  Koagulation  weder  mit  noch  ohne  weiteren 
•äurezusatz  irgendwelche  Trübung  erkennen  ließ.  Essig- 
äure  und  Ferrozyankalium  erzeugten  keinen  Niederschlag, 
'annin  gab  deutliche  Fällung,  während  die  mit  Milions 
teagens,  mit  Quecksilberjod idjodkalium  und  ebenso  die  Biu- 
etreaktion  im  nicht  eingeengten  Filtrate  negativ  ausfielen. 

Das  nach  genauer  Neutralisation  etwa  auf 
/io  bis  V20  seines  ursprünglichen  Volumens  ein- 
eengte  Fi  1 1 r alt  ergab  dagegen  deutliche  Biuret- 
eaktion,  sehr  stiark  positiv  Moli  sch  s  Reaktion, 
ositive  Reaktion  mit  Milions  Reagens,  während 
nderseits  mit  d’en  Alkaloidreagenzien:  Pikrin- 
ä  11  r e,  Jodqueckjsilberjodk a  1  i  u  m,  J o d w i s m u  t- 
alium  und  auch  mit  Kaliumf errozy anid  und 
Essigsäure  eihe  Reaktion  nicht  zu  er  re  ichen  war. 
us  diesen  Angaben  von  Hohlweg  und  Meyer  geht  her- 
or,  daß  das  Auftreten  von  Körpern  im1  Serum,  die  positive 
iiuretreaktion  geben  und  die  selbst  bei  Erhöhung  des  Salz¬ 
ehaltes  nicht  koagulabel  sind,  als  normal  angesehen  werden 
mß.  Es  stimmt  dies  also  mit  meinen  Beobachtungen  über¬ 
in,  daß  nicht  nur  im  anaphylaktischen,  sondern  auch  im 
ormalen  Meerschweinchenserum,  sowie  auch  im  normalen 
’ferde-  und  Rinderserum  nach  dem  Auskoagulieren  fposi- 
ve  Biuretreaktion  im  Filtrate  erhalten  werden  kann,  die 
ei  der  von  Pfeiffer  und  Mita  angewandten  Methode 
enigstens  zum  Teile  auf  native,  nicht  koagulierte  Eiweiß- 
örper  zu  beziehen  sein  dürfte. 

Eine  quantitative  Bestimmung  des  nicht  koagulablen 
leststickstoffes  in  den  verschiedenen  Seris  zeigte  ebenfalls 
einen  spezifischen  Ausschlag,  der  etwa  in  dem  Sinne  Pfeif¬ 
ers  gedeutet  werden  könnte.  Um  festzustellen,  ob  vielleicht 
insichtlich  des  Gehaltes  an  Reststickstoff  ein  nennenswerter 
nterschied  zwischen  Pferde-  und  Rinderserum  besteht,  wo- 
nrch  eventuell  die  Versuchsergebnisse  von  Pfeiffer  und 
Uta  erklärlicher  erscheinen  würden,  habe  ich  je  50cm'3 
on  frischem  Pferde-  und  Rinderserum  nach  der  Methode 
on  Hohlweg  und  Meyer  auskoaguliert  und  deren  De¬ 
alt  an  Reststickstoff  bestimmt. 

Dabei  fand  ich,  berechnet  für  50  cm3  Pferdeserum 
■0233,  für  50  cm3  Rinderserum  0-0212  g  Stickstoff.  Die 
eiden  Zahlen  zeigen  einerseits  eine  gute  Uebereinstimmung 
lit  den  von  Hohlweg  und  Meyer  angegebenen  Werten 
on  Reststickstoff,  anderseits  differieren  sie  nicht  in  einem 
olchen  Grade,  daß  dadurch  die  Einheitlichkeit,  und  Konstanz 
er  Resultate  von  Pfeiffer  und  Mita  verständlicher  und 
rklärlicher  erscheinen  könnten. 

Zusammenfassend  möchte  ich  noch  einmal  hervor¬ 
eben,  daß  es  erstens  bei  keinem  der  in  Retracht  kom- 
tenden  Sera  durch  bloßes  Auskoagulieren  in  der  Hitze 
ei  schwach  essigsaurer  Reaktion  (ohne  Erhöhung  der  Salz- 
onzentration)  mit  positiver  Sicherheit  gelingt,  ein  Filtrat 
u  erhalten,  welches  auf  das  ursprüngliche  Volumen  ein¬ 
oengt,  keine  Biuretreaktion  gibt  und  daß  zweitens  infolge¬ 
essen  das  Auftreten  der  Biuretreaktion  im  Serum  ana- 
hylaktischer  Meerschweinchen,  das  man  mit  dem  Antigen 
er  Vorbehandlung  in  Reaktion  treten  läßt,  nicht  als  für 
>e  Anaphylaxie  spezifisch  angesehen  werden  kann. 

Literatur: 

H.  Pfeiffer  und  S.  Mita,  Experimentelle  Beiträge  zur  Kennt- 
s  der  Eiweiß- Antieiweißreaktion.  Zeitschrift  für  Immunitätsforschung 
>d  exper.  Therapie  1910,  Bd.  6,  H.  1.  —  F.  Schenk,  lieber  den 
ebergang  der  Anaphylaxie  von  Vater  und  Mutter  auf  das^Kind.  Mün- 
'ener  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  48.  —  R.  Winternit  z.  Zweiter 


i  Beitrag  zur  chemischen  Untersuchung  des  Blutes  rezent  luetischer 
Menschen.  Archiv  für  Dermatologie  und  Syphilis  1910,  Bd.  101,  H.  2  u.  3. 

I  —  E.  Friedberger,  lieber  Anaphvlaxie.  X.  Mitteilung.  Zeitschr.  für 
j  Immunitätsforscbung  und  exper.  Therapie  1910,  Bd.  8,  H.  2.  — 

II.  Hohlweg  und  H.  Meyer,  Quantitative  Untersuchungen  über  den 
Reststickstoff  des  Blutes.  Hofmeisters  Beiträge  1908,  Bd.  11,  S.  381. 


Aus  dem  pathologisch-anatomischen  Institut  der  Univer¬ 
sität  Zürich.  (Direktor:  Prof.  Dr.  M.  B.  Schmidt.) 

lieber  einen  Fall  ausgedehnter  Lymphdrüsen- 

tuberkulose. 

Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  den  Beziehungen  der 
Lymphdrüsentuberkulose  zur  Hodgkinschen  Krankheit. 

Von  Dr.  O.  M.  Cliiari,  Assistenten  am  Institut. 

Ich  erlaube  mir,  hier  über  einen  Fall  zu  berichten, 
der,  wie  ich  glaube,  von  einigem  Interesse  ist,  weil  er  einen 
Beitrag  zur  Charakteristik  des  vielgestaltigen  Bildes:  gibt, 
unter  dem  die  Tuberkulose  im  menschlichen  Körper  auf- 
treten  kann.  Vielleicht  tragen  derartige  Beobachtungen  auch 
zur  Klärung  der  Frage  bei,  in  welchem  Zusammenhang  ge¬ 
wisse  Formen  der  Pseudoleukämie  mit  tuberkulösen  Er¬ 
krankungen  stehen,  eine  Frage,  die  gerade  jetzt  wieder  durch 
die  Untersuchungen  von  Fränkel  und  Much,1)  Sticker 
und  Löwenstein,“)  Li  chte  nstern3)  und  andere  neuer¬ 
dings  aktuell  geworden  ist. 

Ich  beginne  mit  der  Wiedergabe  der  Krankengeschichte 
des  Falles,  für  deren  Ueberlassung  ich  dem  Direktor  der 
hiesigen  chirurgischen  Klinik,  Herrn  Prof.  Dr.  Sauerbruch, 
zu  Dank  verpflichtet  bin. 

B.  M.,  49  Jahre  alte  Hausfrau. 

Bis  zur  jetzigen  Erkrankung  niemals  ernstlich  krank  ge¬ 
wesen,  nie  bettlägerig.  Vor  zirka  fünf  Jahren  bemerkte  sie  zum 
ersten  Male  das  Auftreten  von  rechtseitig  gelagerten  Halsdrüsen; 
diese  hätten  bald  ihre  jetzige  Größe  erreicht,  seien  aber  zuweilen 
auf  Jodbehandlung  etwas  kleiner  geworden;  die  Drüsen  seien 
nie  schmerzhaft  gewesen. 

Erst  im  Laufe  des  Sommers  1910  bemerkte  die  Patientin, 
daß  sie  schwerer  atmen  mußte  als  sonst;  eine  kleine  Anstren¬ 
gung  schon  genügte,  um  intensives  Keuchen  hervorzurufen.  Dabei 
hustete  die  Patientin  viel  und  konsultierte  deswegen  nacheinander 
mehrere  Aerzte,  die  ihr  erfolglos  Medizin  aufschrieben. 

Seit  Oktober  1910  v  erseht  i  nitrierte  sich  der  Zustand 
rapid.  Die  kleinste  Bewegung  rief  pfeifende  Atmung  hervor,  der 
Husten  verstärkte  sich  jedoch  nicht.  Auswurf  war  immer  spär¬ 
lich  vorhanden;  nur  ein  einziges  Mal  war  derselbe  blutig.  In 
den  letzten  Monaten  starke  Gewichtsabnahme,  Appetit  mangel¬ 
haft.  Die  Patientin  beobachtete,  daß  sie  nach  Nahrungsaufnahme 
stets  schlechter  atmete  als  sonst. 

Status  praesens:  Mittelgroße  Frau  von  leicht  kachek- 
tischem  Aussehen;  fehlendes  Fettpolster,  atrophische  Musku¬ 
latur,  graziler  Knochenbau.  Die  Patientin  geht  langsam  und 
müde,  hörbarer  Stridor  beim  Gehen;  muß  schon  nach  wenigen 
Schritten  wegen  wachsender  Dyspnoe  stehein  bleiben.  Stimme 
klar  und  laut,  nicht  belegt.  Gesicht  gebräunt,  leicht  zyanotisch, 
Pupillen  gleich  weit  reagieren  prompt.  Die  Atmung  geht  bei 
geschlossenem  Munde  vor  sich,  kaum  merkliches  Nasenflügel- 
atnien,  starke  Beteiligung  der  auxiliären  Halsmuskeln,  inspira¬ 
torischer  Stridor  und  inspiratorische  Einziehung  in  den  Inter¬ 
kostalräumen  ;  kein  Zurückbleiben  einer  Thoraxhälfte.  Bauch¬ 
muskulatur  betätigt  sich  schwach  bei  der  Atmung. 

Vor  dein  Ansatz  des  rechten  Muscülus  sternocleidomastoi- 
deus„  am  Processus  mastoideus,  liegt  eine  nußgroße  harte,  be¬ 
wegliche,  nicht  druckempfindliche  Drüse;  zwei  weitere  von  gleicher 
Beschaffenheit  und  Bohnengröße  am  vorderen  Skalenusrand. 
Schilddrüse  in  normaler  Lage,  nicht  vergrößert. 

Thorax:  Infra-  und  Suprakläviku  largruben  beiderseits 
gleichmäßig  eingesunken.  Rippenknorpel  stark  verknöchert. 
Thorax  nicht  federnd.  Rechte  Lunge:  Oben  normaler  Schall, 
vorne  von  'der  vierten  Rippe,  hinten  vom  fünften  Processus 
spinosus  an  nach  abwärts  eine  rasch  absolut  werdende  Dämpfung. 
Aufgehobener  Stimmfremitus  über  der  Dämpfung.  Oberhalb  der 
selben  verlängertes  und  verschärftes  In-  und  Exspirinm,  ah-  und 
zu  vereinzelte  Rhonchi.  lieber  der  Dämpfung  verschärftes  Atmen, 
keine  Rasselgeräusche.  Nach  unten  geht  die  Dämpfung  in  die 
Leberdämpfung  über.  Punktion  ergibt  klares,  bernsteingelbes,  ei¬ 
weißreiches  Exsudat.  Linke  Lunge:  Ueberall  normale  Verhält¬ 
nisse.  Herz  etwas  nach  links  verschoben.  Auskultationsbefund 


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normal.  Spitzenstoß  etwas  hebend  und  verbreitert,  1  cm  außer¬ 
halb  der  Mamillarlinie. 

lieber  dem  Sternum  liegt  eine  handtellergroße  Dämpfungs¬ 
zone,  die  bis  zur  Incisura  costalis  II.  nach  oben  reicht  und 
nach  links  in  die  Herzdämpfung,  nach  rechts  in  die  beschrie¬ 
bene  absolute  Dämpfung  übergeht.  (Tumor?)  Im  Röntgenbildo 
sieht  man  der  Dämpfung  entsprechend  einen  deutlichen,  helleren 
Schatten,  der  links  ausgeprägter  als  rechts,  dem  Herzschatten 
aufsitzt. 

Pharynx  und  Larynx  normal. 

Bronchoskopie:  Der  Tubus  kann  bis  zur  Bifurkation 
leicht  eingeführt  werden.  Am  Abgang  des  rechten  Bronchus  er¬ 
scheint  eine  höckerige,  granulationsähnliche  Wucherung  von  etwa 
Bohnengröße,  die  in  das  Lumen  hineinragt  und  es  verengt.  Diese 
Wucherung  wird  für  Tumor  (Karzinom)  gehalten. 

Abdomen  ohne  pathologische  Veränderungen,  Temperatur 
normal,  Urin  frei  von  abnormen  Bestandteilen. 

Diagnose:  Auf  Grund  des  ganzen  Befundes  wurde 
primäres  Karzinom  des  rechten  Stammbronchus  angenom¬ 
men,  das  sekundär  zu  einem  metastatischen  Lymphdrüsen- 
tumor  im  Mediastinum  geführt  hatte. 

Mit  Rücksicht  auf  das  gute  Allgemeinbefinden  hielt 
man  trotz  des  Vorhandenseins  vom  Lymphdrüsentumoren 
den  Versuch  einer  Radikaloperation  für  gerechtfertigt. 

0 per a t i o n  (Prof.  Dr.  Sauerbruch):  U eberdruckäther- 
narkose.  Großer,  quer  über  dem  Sternum  verlaufender  Haut¬ 
schnitt,  in  der  Höhe  des  zweiten  Interkostalraumes,  beiderseits 
bis  an  die  Knorpelknochengrenze  der  Rippen  reichend.  Die  Weich¬ 
teile  werden  bis  auf  den  Knochen,  respektive  das  Brustfell  durch¬ 
trennt. 

Um  an  den  rechten  Bronchus  zu  gelangen,  erscheint  es 
am  besten,  das  Mittelfell  von  der  rechten  Pleurahöhle  aus  zu¬ 
gänglich  zu  machen.  Zu  diesem  Zwecke  wird  die  Pleura  im 
zweiten  Interkostalraum  durchtrennt  und  außerdem  die  zweite 
Rippe-  vom  sternalen  Ansätze  an  10  cm  weit  reseziert.  Bei  der 
Durchtrennung  der  Pleura  entleert  sich  ziemlich  reichlich  klares, 
gelbes  Exsudat.  Die  Arteria  mammaria  interna  wird  verletzt; 
ihre  Unterbindung  ist  wegen,  des  Zurückschlüpfenß  des  oberen 
Endes  erschwert.  Durch  Einsetzen  des  Rippensperrers  wird  der 
Zugang  zur  Brusthöhle  noch  erweitert,  so  daß  man  jetzt  bequem 
den  oberen  Abschnitt  der  Pleurahöhle  und  das  Mittelfell  der 
rechten  Seite-  übersieht.  Am  Lungenhilus  fühlt  man  unmittelbar 
an  der  Umschlagstelle  des  Mittelfelles  am  Bronchus  einen  derben, 
knolligen  Tumor,  der  seiner  Lage-  nach  vom  Bronchus  ausgeht 
und  zunächst  mit  dem  bronchoskopisch  festgestellten  Tumor  iden¬ 
tifiziert  wird. 

Das  Mitte-lfell  wird  durch  einen  Längsschnitt  von  rechts 
gespalten  und  der  Mittelfellraum  dadurch  eröffnet.  Es  stellt  sich 
nun  heraus,  daß  der  vorher  gefühlte  Tumor  größer  ist,  als  zuerst 
konstatiert  werden  konnte  und  sich  aus  drei  Teilen  zusammen¬ 
setzt.  Ein  Knoten  liegt  am  Abgang  des  rechten  Bronchus  von 
der  Trachea  und  erstreckt  sich  bis  in  die  Lungenwurzel  hinein. 
Ein  zweiter  Knoten  liegt  oberhalb  der  Bifurkation,  ist  mit  der 
trachea  verwachsen  und  der  dritte  Tumoranteil1  lie-gt  noch  höher 
und  setzt  sich  aus  einzelnen  kleineren  Knoten,  die  zu  beiden 
Seiten  der  Trachea  liegen,  zusammen.  Während  der  untere  Teil 
des  Tumors  sich  gut  isolieren  läßt,  Vena  anonyma  und  Arteria 
pulmonalis  sich  gut  aus  der  Umgebung  ausschälen  lassen,  kann 
man  von  hier  aus  noch  nicht  volle  Einsicht  in  die  Verhältnisse 
im  oberen  Mittelraum  gewinnen.  Deshalb  wird  das  Brustbein 
in  der  Höhe  des  zweiten  Interkostal'raumos  quer  gespalten  und 
der  obere  Abschnitt,  des  Brustkorbes  nach  oben,  der  untere  nach 
unten  durch  eingesetzte  Haken  auseinandergezogen.  Man  über¬ 
sieht  jetzt  sehr  schön  den  ganzen  Mittelraum,  erkennt  aber,  daß 
die  Entfernung  des  oberen  Tumorknotens  infolge  zu  fester  Ver¬ 
wachsung  mit  der  Nachbarschaft  unmöglich  ist.  Aus  diesem 
Grunde  wird  von  einer  Radikaloperation  Abstand  genommen. 
Außerdem  entdeckt  man  jetzt  in  der  Pleura  parietalis  zahlreiche 
graue  Knötchen,  die  den  Eindruck  einer  Karzinose  derselben 
machen. 

Die  Operation  wird  deshalb  abgebrochen,  das  Sternum  durch 
Knochennähte  wieder  zusammengefügt  und  die  Weichteilwunde 
in  zwei  Etagen  geschlossen. 

Während  der  Operation  waren  bedrohliche  Zustände  bei 
der  Patientin  nicht  eingetreten,  trotz  des  großen  Eingriffes  waren 
Puls  und  Atmung  unmittelbar  nach  der  Operation  gut.  Erst 
einige  Stunden  später  wird  die  Atmung  oberflächlicher,  der  Puls 
kleiner  und  unter  Zeichen  von  Herzschwäche  erfolgte  am  Abend 
des  17.  Januar  der  Tod. 


Die  Sektion,  die  von  mir  am  18.  Januar  1911  aus. 
geführt  wurde,  ergab  folgenden  Befund: 

Mittelgroße  weibliche  Leiche  von  ziemlich  kräftigen 
Knochenbau,  mäßig  gut  entwickelter  Muskulatur,  mit  geringen 
Fettpolster.  Die  Haut  blaß,  am  Rücken  ziemlich  gut  sichtbar- 
Totenflecke.  Pupillen  mittelweit,  gleich,  Lippen  blaß,  Hals  dick 
kurz.  An  der  rechten  Halsseite,  längs  des  Musculus  sternocleid-- 
mastoideus  angeordnet,  mehrere  bis  Nußgröße  geschwellte,  vei 
schiebliehe  Drüsen  in  der  rechten  Axilla,;  ebensolche  auch  ai 
der  linken  Halsseite.  5  cm  unterhalb  der  Incisura  juguiaris  stern 
verläuft  quer  über  den  Thorax  eine  22  cm  lange  Operationswunde 
Die  Brustdrüsen  schlaff,  die  Mammillae  eingez-ogen.  Die  Hau 
des  Thorax  gibt  bei  Berührung  das  Gefühl  des  Knisterns,  h 
der  Bauchhaut  alte  Schwangerschaftsnarben.  Zwerch  fellstam 
rechts  Unterrand  der  sechsten,  links  Oberrand  der  Siebentel 
Rippe. 

Bei  Eröffnung  der  Brusthöhle  ergibt  sich  folgender  Befund 
zweite  Rippe  rechts  im  vorderen  Anteil  entfernt,  rechte  Lunge 
teilweise  kollabiert,  durch  einige  Nähte-  an  die  parietale  Pleuu 
fixiert.  Im  Pleuraraum  etwa  zwei  Liter  blutig  tingierter  Flüssig 
keit ;  die  Pleura  costalis  und  diaphragmatica  übersät  mit  dick 
stehenden  miliaren  und  etwas  größeren  grauen,  durchscheinende! 
Knötchen.  An  der  größten  Krümmung  der  fünften  Rippe  ist  dir 
Pleura  durch  eine  taubene-igroße  Geschwulst  vorgetrieben,  an¬ 
der  sich  beim  Einscbneiden  dicker,  rahmiger  Eiter  entleert;  ahn 
liehe  Anschwellungen  an.  der  fünften  und  sechsten  Rippe,  naht 
der  Wirbelsäule;  diese  bestehen  aus  weißem,  weichem  Gewebe 
das  den  Knochen  völlig  usuriert  hat.  Das  He-rz  stark  nach  links 
verdrängt.  Gaumentonsillen  groß,  höckerig;  die  rechte  schließ 
mehrere  käsige,  unregelmäßig  begrenzte  Herde  ein ;  Zungenpapillcr; 
stark  prominent.  Thyreoidea  in  Größe  und  Bau  normal.  Von  ihi 
an  ziehen  beiderseits  der  Luftröhre  geschwellte  Lymphdrüsen 
die-  besonders  rechts  teilweise-  verkäst  sind.  Ihre  Größe  schwank- 
zwischen  Erbsen-  und  Nußgröße;  die  kleineren  vorwiegend  aii 
der  linken  Halsseite,  ziemlich  derb,  von  rötlich-grauer  Schnitt 
fläche;  einzelne  am  Oesophagus  gelegene  Drüsen  von  rein  weißei 
Farbe  und  eher  markiger  Beschaffenheit.  Am  Uebertritt  in  der 
Thoraxraum  bilden  die  Drüsen  der  rechten  Seite-  ein  größeres 
Paket,  in  dem  die  einzelnen  Drüsen  miteinander  ganz  verschmölze!’ 
sind.  An  der  Bifurkation  der  Trachea  liegt  ein  annähernd  kn 
g-eliger,  an  den  Rändern  stellenweise  anthrakotischer  Lymph 
drüsentumor  von  einem  Durchmesser  von  etwa  6  cm,  der  mil 
dem  Sporn  der  Trachea  und  mit  beiden  Hauptbronchien  inn io 
zusammenhängt.  Er  durchsetzt  die  Hinterwand  beider  Haupt j 
bronchi-en  unter  Zerstörung  der  Knorpe-lspangen  und  bildet  an 
der  Innenfläche  ein  Polster  von  höckerigen,  mehrere  MillimeÜ! 
hoben,  recht  derben  Knötchen,  das  sich  in  beiden  Stammbronchieni 
von  der  Abgangstelle  6  cm  weit  peripher  erstreckt;  der  vordere 
Anteil  der  Innenfläche  der  Hauptbronc'hien  zeigt  normale  Schleim 
haut.  A-ehnliche  Knötchen  finden  sieh  noch  in  einzelnen  Bronchien 
erster  Ordnung.  Während  der  Tumor  im  allgemeinen,  auch  dort 
wo  -er  in  die  Bronchial  wand  eindringt,  von  derber  Konsistenz; 
und  weißer  Farbe  mit  angedenteter  Streifung  ist,  findet  sich  im 
Zentrum  eine  kirschsteingroße  Erweichungshöhle,  von  der  eine 
Fistel  in  den  hier  durch  den  Tumor  stark  nach  links  verdrängten 
Oesophagus  führt.  Beiderseits  am  Lungenhilus  mehrere  stark 
anthrakotisch-e  Drüsen  mit  zentralen  Käseherden.  Auch  an  der 
Pleura  visceralis  der  rechten  Seite,  besonders  an  der  Hinter- 
Hache,  nahe  dem  Hilus,  zahlreiche  miliare  Knötchen.  Beide 
Lungen  stark  anthrakotisch,  überall  lufthaltig,  die  Ünterlappen 
blutreich.  Im  Herzbeutel  wenig  ganz  leicht  getrübtes  Serum. 
Das  Herz  von  entsprechender  Größe,  Mitralklappen  am  freien 
Rande  leicht  verdickt,  der  Klappenapparat  im  übrigen  intakt. 
Keine  Thromben  in  den  Pulmonalarterien.  In  der  Aorta  nur  un¬ 
bedeutende  Intimaverdickungen.  Die  Milz  nicht  vergrößert,  von 
schlaff  elastischer  Konsistenz,  Trabekel  deutlich.  Nebennieren 
ohne  Veränderungen.  Nierenoberfläche  glatt,  das  Parenchym  an¬ 
scheinend  normal.  An  der  Kardia  mehrere  auffallend  derbe,  leicht 
rötliche,  kirschgroße  Lymphdrüsen.  Die  Magenschleimhaut  im 
Fundus  stark  injiziert.  Gallenwege  ohne-  pathologischen  Befund. 
In  der  Leber  finden  sich  sowohl  an  der  Oberfläche,  als  auf  der 
Schnittfläche  ziemlich  zahlreich  (etwa  drpi  bis  vier  auf  dem 
Hauptschnitt)  gelbweiße,  runde  Knoten  von  Hanfkorn-  bis  Erbsen¬ 
große,  die  manchmal  miteinander  konfluieren,  häufig  binde¬ 
gewebig  gegen  die  Umgebung  abgekapselt  erscheinen  und  von 
recht  derber  Konsistenz  sind;  im  übrigen  bietet  die  Leber  das 
Bild  der  Stauungsleber  mäßigen  Grades.  Pankreas,  Darmkanal 
ohne  pathologischen  Befund. 

D-er  Uterus  dickwandig,  seine  Schleimhaut  leicht,  gerötet, 
an  der  Portio  mehrere  Ovula  Nabothi.  Die  Mesenterialdrüsen 
nicht  vergrößert,  die  Inguinaldrüsen,  besonders  rechts,  hyperä- 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


misch  und  etwas  derb.  Desgleichen  die  Axillardrüsen  links,  die 
etwas  vergrößert  erscheinen.  Die  Axillardrüsen  der  rechten  Seite 
bis  zu  Nußgröße  geschwellt,  verhalten  sich  wie  die  Halsdrüsen 
rechts.  Kopfsektion  unterblieben;  im  Knochenmark  des  Sternums 

keine  Veränderungen. 

P  a  t  h  o  1  o  g  i  s  c  h!-  a  n  a  to  mische  Di  a  g  n  ose:  Media 
stinaler  tuberkulöser  Lymphdrüsentumor  mit  starker  Stenn 
sierung  beider  Stammbronchien  und  teilweiser  Durchsetzung 
ihrer  Wand.  Pleuritis  tuberculosa;  Rippenkaries;  ausge¬ 
dehnte  Lymphdrüsentuberkulose  (Hodgkin  ?). 

Die  histologische  Untersuchung  ergab  in  allen 
erkrankten  Organen  den  Befund  von  tuberkulösem  Granu¬ 
lationsgewebe.  Ich  kann  mich  daher  hierüber  kurz  fassen 
und  möchte  nur  auf  einige  hauptsächliche  Momente  Inn- 
weisen. 

An  dem  mediastinal  gelegenen  Tumor  ist  nur  mehr 
am  Rande,  wo  er  anthrakolisch  ist,  Lymphdrüsengewebe 
vorhanden,  im  übrigen  ist  er  aus  derbem,  größtenteils  hya¬ 
linem  Bindegewebe  aufgebaut,  in  dem  zahlreiche  epitheloide 
i'uberkel,  meist  mit  Langhansschen  Riesenzellen,  liegen; 
zwischen  den  Bindegewebsbalken  ziehen  stellenweise 
Stränge  von  dicht  liegenden  Lymphozyten,  unter  denen  sich 
sehr  viele  Plasmazellen  (Methylgrün - Pyroninfärhung)  finden. 
Lymphozytäre  1  uberkel  sind  nicht  zu  sehen.  Der  geschilderte 
Aufbau  bleibt  an  verschiedenen  Stellen  des  Tumors  an¬ 
nähernd  derselbe;  nur  dort,  wo  dieser  die  Bronchialwaml 
lurchsetzt,  ist  das  Bindegewebe  schwächer '  entwickelt  und 
cs  liegen  die  epitheloiden  Herde  näher  aneinander;  auch 
die  sich  in  das  Bronchiallumen  vorwölbenden  Teile  des 
Tumors  bestehen  größtenteils  aus  epitheloiden  Knötchen, 
zwischen  denen  das  Bindegewebe  ganz  zurück! ritt  und  durch 
sehr  dichte  Lymphozytehstränge  ersetzt  wird.  Von  der  ur¬ 
sprünglichen  Bronchialwand  ist  nichts  mehr  außer  einzelnen 
Resten  der  Knorpelspangen  und  allseits  umwachsenen 
Truppen  von  Schleimdrüsenzellen  zu  erkennen.  Vielleicht 
können  aus  so  isolierten  Drüsenzellen  Riesenzellen  ent¬ 
stehen;  der  Knorpel  erleidet  eine  bindegewebige  Metamor¬ 
phose,  die  sich  an  den  Präparaten  gut  verfolgen  läßt.  Wäh- 
•end  sich  hier  nirgends  Anzeichen  von  Nekrose  finden,  ist 
ps  am  unteren  Pole  der  Geschwulst  zu  Erweichung  und 
Durchbruch  in  den  Oesophagus  gekommen.  Mikroskopisch 
st  die  Wand  dieser  Zerfallshöhle  durch  außerordentlichen 
Reichtum  an  Lymphozyten  und  polynukleären  Leukozyten 
lusgezeichnet,  doch  ist  hier  keine  fortschreitende  Verkäsung 
cii  konstatieren.  Vielleicht  rührt  der  Reichtum  an  Leuko- 
cyten  in  der  Wand  von  einer  vom  Oesophagus  aus  erfolgten 
sekundären  jnfektion  her. 

Schon  makroskopisch  erwies  sich  ein  großer  Teil  des 
-ymphdrüsenapparates  erkrankt.  Histologisch  wiederholt 
-ich  hier  das  eben  vom  Mediastinaltumor  geschilderte  Bild, 
uir  ist  der  Prozeß  in  verschiedenen  Stadien  zu  verfolgen. 
Vusgedehnte  \  erkäsung  findet  sich  in  den;  Drüsen  der  rechtein 
lalsseite,  kleinere  verkäste  Herde  auch  in  solchen  der 
inken  Halsseite  und  der  rechten  Axilla.  Es  muß  hervor- 
kehoben  werden,  daß  auch  hier  fast  ausschließlich  Riesen- 
.ellen  führende  Epitheloidzellentuberkel  vorhanden  sind 
nid  daß  größere  Lymphozytenansammlungen  nur  hie  und 
lain  den  Spalten  zwischen  den  epitheloiden  Knötchen  liegen, 
n  einer  noch  nicht  verkästen  rechtseitigen  Zervikaldrüse 
lüden  sich  Züge  zellreichen  Granulationsgewebes,  in  dem 
ereinzelt  mehrkernige  Zellen  vom  Typus  der  von  Stern- 
>erg  bei  Hodgkin  scher  Krankheit  beschriebenen  Riesen- 
lollen  Vorkommen.  Auf  diesen  recht  vereinzelten  Befund 
:ann  man  natürlich  nicht  zu  viel  Wert  legen,  doch  glaubte 
Oi,  ihn  anführen  zu  sollen.  Sehr  stark  prävalierl  das  Binde- 
ewebe  an  den  Drüsen  der  Kardia,  die  sich  durch  besonders 
lerbe  Konsistenz  ausgezeichnet  hatten;  Verkäsung  ist  an 
luien  nicht  zu  konstatieren.  Die  Anfangsstadien  des  Pro- 
f'sses  finden  sich  wohl  in  den  von  der  mutmaßlichen  Ein 
eil tspfovte  —  der  Tonsille  entferntest  liegenden  Inguinal - 
Irüsen.  Diese  zeigen  außer  beträchtlicher  Hyperämie  eine 
anfallend  starke  Entwicklung  des  Bindegewebes  um’ -die 
"däße  und  an  den  Sepien,  ferner  aber  auch  eine  fleckweise 


auftretende  Verdickung  des  Retikulums  selbst.  Noch  deut¬ 
licher  ist  dies  an  den  linkseitigen  Axillardrüsen  ausge¬ 
sprochen.  Hier  ist  herdweise  das  lymphatische  Gewebe  ganz 
verdrängt  durch  die  Verbreiterung  der  Retikulumfasern.  So 
entstehen  helle,  zellarme  Herde  im  Lymphdrüsengewebe,  (die 
aber  natürlich  leicht  von  Keimzentren  unterschieden  werden 
können.'  Wenn  auch  die  eben  geschilderten  Veränderungen 
nichts  für  den  tuberkulösen  Prozeß  Charakteristisches  auf¬ 
weisen,  glaube  ich  doch,  besonders  im  Hinblick  auf  die 
vielfachen  Versuche  über  die  Wirkung  abgeschwächter  Tu¬ 
berkelbazillen  auf  das  Gewebe,  in  denen  ebenfalls  ähnliche, 
nichl  mehr  für  den  Erreger  spezifische  Veränderungen  er¬ 
zeugt  werden  konnten,  in  ihnen  ein  Teilstadium  ries  tuber¬ 
kulösen  Prozesses  erblicken  zu  können.  Manche  Schnitte 
von  Kardiadrüsen  zum  Beispiel,  die,  wie  aus  dem  bakterio¬ 
logischen  Befunde  entnommen  werden  kann,  sicher  tuber¬ 
kulös  affi ziert  waren,  lassen  ein  ganz  ähnliches  Bild  er¬ 
kennen,  in  dem  nur  die  bindegewebige  Hyperplasie  des 
-Retikulums  eine  noch  bedeutendere  Ausdehnung  erfahren 
hat,  als  hier. 

Ich  glaube  überhaupt,  daßi  die  Rolle  des  Bindegewebes 
hei  manchen  Formen  tuberkulöser  Lymphadenitis  eine  kom¬ 
pliziertere  ist,  als  man  gewöhnlich  annimmt.  Seine  Hyper¬ 
plasie  bedeutet  keineswegs  einen  lokalen  Stillstand  des  Pro¬ 
zesses,  es  erliegt  im  Gegenteil  gerade  auch  das  hyalin 
gequollene  Bindegewebe  leicht  Veränderungen,  die  zur  Bil¬ 
dung  von  epitheloiden  Tuberkeln  oder  direkt  zur  Verkäsung 
des  Bindegewebes  führen.  Ein  derartiger  Aufbau  und  Zerfall 
des  Bindegewebes  kann  wohl  öfters  hintereinander  erfolgen, 
bis  entweder  völlige  Verkäsung  oder  schließliche  binde¬ 
gewebige  Induration  und  wirkliche  Vernarbung  eintritt. 

Interesse  hot  noch  das  histologische  Verhalten  der 
Leberherde.  Sie  bestehen  im  allgemeinen  aus  einem  binde¬ 
gewebigen  Zentrum,  in  dem  einzelne  epitheloide  Knötchen 
und  typische  L  an  gh  a  ns  sehe  Biesenzellen  liegen.  Der  Rand 
des  Herdes  wird  von  zellreichem  Granulationsgewebe  ein¬ 
genommen.  Dieses  breitet  sich  von  hier  aus  radiär  in  den 
Leberkapillaren  aus,  dringt  in  die  Leberzellbalken  ein  und 
es  entstehen  so  an  der  Peripherie  des  großen  Knotens  kleine 
Herde  von  netzartig  aufgebautem  Granulationsgewebe,  das 
in  seinen  Maschen  noch1  einzelne  Leberzcllen  und  Blutzellen 
aus  den  Kapillaren  einschließt.  Allmählich  verliert  das  junge 
Bindegewebe  seinen  Zellreichtum  und  durch  Quellung  seiner 
fasern  werden  die  eingeschlossenen  Zellen  förmlich  er¬ 
drückt,  so  daß  auch  hier  ein  ähnliches  Bild  wie  in  den 
Lymphdrüsen  und  den  älteren  Leberherden  entsteht,  ein 
grobbalkiges  Bindegewebe,  in  dem  sich  weiterhin  epi¬ 
theloide  Knötchen  etablieren.  In  Analogie  zu  den  Ver¬ 
änderungen  des  Lymphdrüsenretikulums  scheint  mir  auch 
hier  der  Prozeß  wenigstens  in  seiner  ersten  Entwicklung 
durch  entzündliche  Hyperplasie  des  Stützgerüstes  charak¬ 
terisiert  zu  sein,  während  die  Bildung  von  lymphozytären 
Knötchen,  wenigstens  in  den  Frühstadien,  nicht  zu  beob¬ 
achten  ist.  An  einem  größeren  Herde  fanden  sich  zahlreiche 
kleine  verkäste  Bezirke  im  Zentrum.  Eine  Beziehung  der 
Tuberkel  zu  Gallengängen  konnte  nicht  erwiesen  werden. 
Im  übrigen  bietet  die  Leber  das1  Bild  venöser  Stauung  mit 
starker  Dilatation  der  zenl raten  Gefäßabschnitte. 

Die  Tuberkel  der  Pleura  sind  ausschließlich  epitheloide 
Riesenzellentuberkel,  es  findet  sich  an  ihnen  nirgends  Ver¬ 
käsung.  An  den  affizierten  Rippen  ist  der  Knochen  bis  auf 
kleine  Reste  durch  das  tuberkulöse  Granulationsgewebe  ver¬ 
drängt,  das  sich  auch  hier  wieder  bei  bedeutender  Tendenz 
zur  Verkäsung  durch  seinen  Reichtum  an  hyalinem  Binde¬ 
gewebe  und  au  großen  Epitheloidzellenknoten  auszeichnet. 
Die  übrigen  Organe  bieten  keine  erwähnenswerten  histo¬ 
logischen  Veränd  e  ru  ng  e  n . 

Es  gelang  mir  weder  in  zahlreichen  Schnittpräparaten, 
noch  vermittels  des  Anliforminverfahrens,  Tuberkidbazillen 
nachzuweisen.  Dagegen  konnte  ich  an  Schnitten  des  Haupt- 
lumors,  der  Leberherde,  der  Pleura  und  der  meisten  Drüsen 
Gram  -  positive  Granula  nachweisen,  die  morphologisch  völlig 


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den  Much  sehen  Granulis  glichen  und  gleich  diesen  nach 
Antiforminbehandlung  und  im  Schnittpräparat  mit  der 
Gram  II -Methode  darstellbar  waren.  Ich  möchte  gleich 
betonen,  daß  ich  den  Befund  im  Schnittpräparat  nur 
dann  als  positiv  ansah,  wenn  ich  an  den  Granulis  noch 
deutlich  die  Lagerung  innerhalb  eines  allerdings  ungefärbten, 
in  seinen  Konturen  aber  gerade  noch  sichtbaren  Stäbchens 
konstatieren  konnte,  das  Vorhandensein  von  einzeln  lie¬ 
genden  Granulis  oder  solchen  ohne  deutlichen  Stäbchenver¬ 
band  aber  nicht  als  entscheidend  erachtete,  wenn  ich  auch 
der  Ueberzeugung  bin,  daß  es  sich,  auch  hiebei  um  Muc la¬ 
sche  Granula  gehandelt  habe.  Am  reichlichsten  u.  zw.  in 
ganzen  Häufchen  oder  längere,  leicht  gebogene  Ketten  bil¬ 
dend,  lagen  sie  im  Haupttumor,  jedoch  ähnlich  den  Tuberkel¬ 
bazillen  auch  hier  nur  streckenweise  und  in  ganz  ungleich¬ 
mäßiger  Verteilung.  Nächstdem  waren  sie  am  Rande  der 
Käseherde  in  den  Lymphdrüsen  ziemlich  reichlich,  am  spär¬ 
lichsten  aber  in  den  Leberherden  zu  finden. 

Durch  den  Befund  der  Much  sehen  Granula  ist  die 
schon  aus  dem  histologischen  Befunde  leicht  zu  stellende 
Diagnose  auf  Tuberkulose  bestätigt  worden,  die  freilich  aus 
dem  makroskopischen  Verhalten  der  Bronchienaffektion  nicht 
leicht  zu  stellen  war.  Soweit  mir  die  diesbezügliche  Lite¬ 
ratur  bekannt  ist,  ist  eine  derartige,  als  Tumor  imponie¬ 
rende  tuberkulöse  Erkrankung  der  Bronchialwand  noch  nicht 
beschrieben  worden.  Eine  sekundäre  tuberkulöse  Affektion  der 
Bronchien,  die  durch  Durchbruch  verkäsender  Lymphdrüsen 
durch  die  Wand  erfolgt,  ist  ja  an  sich  nichts  Seltenes;  das 
Besondere  meines  Falles  scheint  mir  aber  darin  zu  liegen, 
daß  das  tuberkulöse  Granulationsgewebe  ganz  nach  Art  eines 
malignen  Neoplasinas  die  Lymphdrüsenkapsel  durchbrochen 
und  die  Bronchialwand  durchsetzt  hat,  ohne  daß  es  ,zu 
einer  Erweichung  und  Einschmelzung  in  ihm  gekommen 
wäre.  Auch  die  mediastinal  gelegene  Lymphdrüsen- 
geschwulst  selbst  ließ  an  Neoplasma  denken  u.  zw.  weniger 
wegen  ihrer  Größe,  als  wegen  der  derben  Konsistenz  und 
der  homogenen  Beschaffenheit  ohne  verkäste  Einschlüsse. 
Derartige  Fälle,  wo  große  tuberkulöse  Lymphome  als  echte 
Tumorknoten  angesehen  wurden,  sind  nicht  allzuselten.  A  s- 
kanazy4)  hat  in  einer  Arbeit  aus  dem  Jahre  1897  die 
bezügliche  Literatur  gesammelt  und  selbst  zwei  Fälle  von 
Pleuratumoren  tuberkulöser  Natur  beschrieben.  1905  be¬ 
schrieb  v.  Schrötter5)  einen  außergewöhnlich  großen 
mediastinalen  Lymphdrüsentumor  tuberkulöser  Genese.  In 
teressant  ist  es,  daß  sich  in  beiden  Fällen  Askanazys, 
sowie  in  meinem  Falle  große  Lebertuberkel  fanden,  die  ja 
an  sich  schon  ziemlich  selten  sind;  die  weitaus  überwie¬ 
gende  Form  der  disseminierten  Lebertuberkulose  bleibt  das 
miliare  Knötchen. 

In  meinem  Falle  lag  fernerhin  eine  über  den  größten 
Teil  des  Lymphdrüsenapparates  ausgedehnte  tuberkulöse  Er¬ 
krankung  vor,  ein  Moment,  auf  das  ich  noch  etwas  ein- 
gelien  möchte.  Die  Beziehungen  generalisierter  Lymph- 
drüsentuberku losen  zu  gewissen  Formen  der  Pseudoleuk¬ 
ämie,  nämlich  den  sogenannten  Granulomatosen  des  lym¬ 
phatischen  Apparates,  erfahren  noch  recht  verschiedene  Deu¬ 
tungen.  Sternberg  hatte  bekanntlich  für  die  von  ihm 
beschriebenen  Fälle  von  Pseudoleukämie,  die  durch  ein 
spezifisches  Granulationsgewebe  charakterisiert  sind,  das 
Tuberkulosevirus,  allerdings  vielleicht  in  abgeschwächter 
Virulenz,  als  ätiologischen  Faktor  angenommen.  Während 
dieser  Ansicht,  von  amerikanischer  Seite  besonders,  heftig 
widerstritten  wurde  und  man  jeden  ursächlichen  Zusammen¬ 
hang  zwischen  dieser  Erkrankung  und  Tuberkulose  leugnen 
wollte,  war  man  in  Deutschland  wenigstens  zum  Teil  geneigt, 
einen  solchen  anzuerkennen.  Gerade  in  letzter  Zeit  scheint 
aber  Sternbergs  Ansicht  durch  neue  Untersuchungen 
gestützt  zu  werden.  Es  gelang  nämlich  Fränkel  und 
Much  unter  13  Fällen  dieser  jetzt  gewöhnlich  Hodgkin- 
sche  Krankheit  benannten  Erkrankung,  zwölfmal,  antifor- 
minfeste  Granula  nachzuweisen,  die  sich  in  morphologischer 
Hinsicht  nicht  von  den  Much  sehen  Tuberkulosegranulis 
unterschieden,  nach  der  Ansicht  der  Autoren  zumindest  also 


eine  dem  Tuberkulosevirus  nahe  verwandte  Form  darstellen. 
Sticker  und  Löwenstein  haben  kürzlich  berichtet,  daß 
sie  durch  neuerliche  Tierversuche  die  tuberkulöse  Natur 
der  Hodgkin  sehen  Krankheit  feststellen  konnten;  wahr¬ 
scheinlich  handle  es  sich  um  den  Typus  bovinus.  Ferner 
ist  eine  Mitteilung  von  Lichtenstern  von  Interesse,  der 
durch  Ueberimpfung  von  Drüsenpartikelchen  eines  an  Hodg- 
kin scher  Krankheit  Verstorbenen  auf  Meerschweinchen, 
bei  diesen  eine  wenig  aktive  Tuberkulose  erzeugte,  die  der 
Hodgkinschen  Krankheit  völlig  identische  Lymphdrüsen 
Veränderungen  hervorrief. 

Den  Fällen  H  o  d  g  k  i  n  scher  Krankheit  stehen  die 
echter  tuberkulöser  Lymphadenie  gegenüber;  auch  von 
solchen  ist  eine  größere  Anzahl  beschrieben  worden.  Sie 
sind  durch  das  typische  histologische  Bild  der  Lymphdrüsen- 
tuberkulose  gekennzeichnet.  N  a  e  g  e  1  i  G)  hat  die  Hodgkin- 
sche  Krankheit,  die  tuberkulöse  und  syphilitische  Lymph¬ 
adenie  unter  dem  Namen  der  Lymphogranulomatosen  ver¬ 
einigt  und  eine  unter  seiner  Leitung  von  Chotimsky7) 
geschriebene  Arbeit  handelt  von  einem  Falle  tuberkulöser 
Pseudoleukämie.  Hier  wäre  auch  mein  Fall,  wenn  man  die 
Ausbreitung  des  Prozesses  als  für  den  Namen  Lymphadenie 
genügend  erachtet,  einzureihen,  wenn  er  auch  anatomisch 
durch  seine  Verbreitung  auf  die  Bronchien,  durch  die  auf¬ 
fallende  Härte  einzelner  befallener  Drüsen  an  Hodgki  ti¬ 
sche  Krankheit  erinnerte.  Vielleicht  ist  diese  Aehnlichkeit 
doch  keine  zufällige,  sondern  durch  die  Eigenart  des  Er¬ 
regers  verursacht.  Es  fanden  sich,  wie  schon  erwähnt,  nur 
Much  sehe  Granula,  keine  säurefesten  Stäbchen  in  den 
erkrankten  Organen.  Freilich  ist  es  ja  eine  Erfahrungssache, 
daß  die  Tuberkelbazillen  gerade  bei  Lymphdrüsenaffektion 
oft  nur  ungemein  spärlich  vorhanden  sind  und  man  kann 
sich  stets  den  Einwurf  machen,  daß  man  bei  fortgesetztem 
Suchen  auch  noch  Bazillen  gefunden  hätte.  Ich  glaube,  daß 
ein  derartiger  Befund  keine  wesentliche  Bedeutung  gehabt 
hätte;  die  Mehrzahl  der  Erreger  befand  sich  sicher  im  Zu¬ 
stande  der  granulären  Form  und  darauf  möchte  ich  das 
Hauptgewicht  legen. 

Die  Anschauungen  darüber,  welche  Rolle  die  granu¬ 
läre  Form  des  Tuberkulosevirus  in  dessen  Lebensschick¬ 
salen  spielt,  sind  ja  heute  noch  ziemlich  different.  Das 
darf  man  wohl  als  feststehend  betrachten,  daß  sie  eine 
weniger  virulente  Form  darstellt..  Es  ist  nun  nicht  uninter¬ 
essant,  wenn  man  das  Eigenartige  der  tuberkulösen  Affek¬ 
tion  meines  Falles  mit  den  Veränderungen,  die  am  tierischen 
Körper  durch  Einverleibung  künstlich  abgeschwächter  Tu¬ 
berkelbazillen  erzeugt  werden,  vergleicht.  Bartel8)  hat 
die  durch  geschwächtes  Tuberkulosevirus  gesetzten  histo¬ 
logischen  Veränderungen  dahin  gekennzeichnet,  daß  er  sagt, 
der  Tuberkelbazillus  behalte  nach  Verlust  seiner  exsuda¬ 
tiven  Wirkung  auf  das  Gewebe  eine  produktiv  wirkende 
Komponente.  Das  wird  durch  vielfache,  von  verschiedenen 
Seiten  mit  abgeschwächten  Bazillen  vorgenommene  Ver¬ 
suche  erhärtet,  auf  die  hier  nicht  näher  eingegangen  werden 
kann. 

Diese  Tendenz  zu  Bindegewebsproliferation  verleiht 
auch  dem  tuberkulösen  Prozeß  in  meinem  Falle  ein  etwas 
abweichendes  Gepräge  und  nähert  ihn  in  etwas  dem  histo¬ 
logischen  Bilde  der  Hodgkin  sehen  Krankheit,  mit.  der 
er  auch  das  Vordringen  in  die  Nachbarorgane  nach  Art  eines 
malignen  Neoplasinas  gemeinsam  hat. 

Literaturangaben: 

')  Fränkel  und  Much,  Hodgkinsche  Krankheit.  Zeitschr.  für 
Hygiene  1910,  Bd.  67,  H.  2.  —  2)  Sticker  und  Löwen  stein. 
Lymphosarkom  und  Tuberkulose.  Freie  Vereinigung  der  Chirurgen  Berlins. 
Mai  1910.  Ref.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  S.  1L68.  —  3)  Lichten¬ 
stern,  Pseudoleukämie  und  Tuberkulose.  Virchows  Archiv  1910,  Bd.  202, 
II  2.  —  ')  Askanazy,  Ueber  tumorartiges  Auftreten  der  Tuberkulose. 
Zeitschr.  für  klin.  Medizin  1897,  Bd.  32.  —  s)  v.  S  c  h  r  ö  tt  e  r,  Wiener 
klin.  Wochenschr.  1905,  S.  1110.  —  6)  Nägeli,  Blutkrankheiten  und 
Blutdiagnostik,  1908.  —  7)  Chotimsky,  Inaug.-Diss.,  Zürich  1907.  — 
8)  Bartel,  Probleme  der  Tuberkulosefrage,  1909. 


Nr.  15 


WIENEU  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


527 


Aus  dem  pathologisch-bakteriologischen  Institut  der 
Landeskrankenanstalt  in  Czernowitz  (Vorstand:  Priv- 
Doz.  Dr.  Raubitschek). 

Oie  diagnostische  Verwertbarkeit  des  Tuberkel¬ 
bazillennachweises  in  den  Fäzes. 

Von  Dr.  Frieda  Rittel-Wilenko. 


Der  Nachweis  des  Tuberkelbazillus  bei  klinisch  fes  (gestellter 
Tuberkulose  bezog  sich  bis  vor  kurzem  hauptsächlich  auf  den 
Auswurf  der  Kranken.  In  den  Exkrementen  war  der  Nachweis  von 
Tuberkelbazillen  mit  so  vielen  Schwierigkeiten  verbunden,  daß 
mau  nur  in  Ausnahmefällen  diese  Arbeit  unternahm.  Eine  ganze 
Reihe  von  Methoden  älteren  und  neueren  Datums,  die  zum  Nach¬ 
weis  von  Tuberkelbazillen  im  Sputum  angegeben  wurden,  konnten 
überhaupt  nicht,  oder  nur  schwer  zum  Nachweis  im  Stuhl  an¬ 
gewendet  werden.  Dazu  gesellte  sich  der  Umstand,  daß  bei  den 
meisten  Methoden,  wie  besonders  bei  denen,  die  auf  Kochen 
des  Materials  mit  verschiedenen  Reagenzien :  Soda,  Kalk¬ 
wasser,  Natronlauge  usvv.,  beruhen,  sich  ein  Geruch  entfaltet,  der 
ganz  unerträglich  ist  und  die  Verbannung  dieses  Untersuchungs¬ 
materiales  aus  dem  Laboratorium  zur  Folge  hatte.  Die  große 
Zahl  anderer  Bakterien,  welche  sich  im  Stuhle  finden,  und  vor 
allem  die  Sporen,  die  bekanntlich  auch  die  Karbolfuchsinfärbung 
nach  Ziehl-Neelsen  annehmen,  machte  die  Auffindung  der 
Tuberkelbazillen  schwierig.  Alle  diese  Schwierigkeiten,  wie  Un¬ 
annehmlichkeiten  beseitigte  erst  die  Antiforminmethode  und  er¬ 
möglichte  die  Untersuchung  des  Stuhles  auf  Tuberkelbazillen 
häufiger  vorzunehmen.  Bei  diesen  Untersuchungen  kommen  sehr 
deutlich  alle  Vorteile  dieser  heute  so  bekannten  Methode  zur 
Geltung:  Das  Untersuchungsmaterial  wird  vollständig  desodoriert, 
binnen  sehr  kurzer  Zeit  homogenisiert,  alle  anderen  Bakterien, 
bis  auf  die  säurefesten,  vollständig  aufgelöst,  der  ganze  Inhalt 
an  Tuberkelbazillen  auf  eine  kleine  Fläche  konzentriert. 


Wie  bekannt,  hat  diese  brauchbaren  Eigenschaften  des  Anli- 
fonnins  U  h  1  e n  h  u  t  erkannt  und  zusammen  mit  X  y  1  a  n  d  e r 
eine  Methode  ausgearbeitet,  welche  solche  Vorteile  gegenüber 
allen  bis  jetzt  bekannten  Methoden  zum  Nachweis  des  Tuberkel¬ 
bazillus  bietet,  daß  sie  in  kurzer  Zeit  alle  verdrängen  mußte. 
Die  Antiforminmethode  vereinigt  alles  dies,  was  jede  von  den 
früher  angegebenen  Methoden  einzeln  angestrebt  hat.  Da  die 
Methode  allgemein  bekannt  ist  und  von  vielen  Seiten  an  zahl¬ 
reichem  Material  nachgeprüit  wurde,  wollen  wir  hier  von  der 
näheren  Besprechung  derselben  absehen.  Auch  die  vielen  Modifi¬ 
kationen,  die  anläßlich  der  Nachprüfung  der  ursprünglichen  Me¬ 
thode  zum  Zwecke  der  Verbesserung  und  der  Vereinfachung,  um 
die  Methode  um  so  eher  in  den  Dienst  des  praktischen  Arztes 
zu  stellen,  gemacht  wurden,  sollen  nur  kurz  erwähnt  werden. 

Bernhardt  hat  die  Antiforminmethode  mit  der  von  L  a  n  g  e 
und  Nits  che  angegebenen  Ligroinmethode  kombiniert. 

See  man  beschleunigt  die  Sedimentierung,  indem  er  das 
spezifische  Gewicht  der  Lösung  herabsetzt. 


Thilenius  gebraucht  durchwegs  öO'Vnge  Antiforminlösung 
mit  Zugabe  von  Alkohol.  Er  konstruierte  eigene  Zentrifugenröhr¬ 
chen,  um  die  Einengung  des  Sedimentes  auf  eine  möglichst  kleine 

Fläche  zu  gewinnen. 

Thilenius  gebraucht  durchwegs  50%ige  Antiforminlösnng 
und  gibt  dann  eine  Mischung  von  Chloroform  und  Alkohol  hinzu. 

Lorenz  kocht  das  Material,  nachdem  er  es  mit  15%iger 
Antiforminlösung  ausgeschüttelt  hat  und  zentrifugiert  ohne  irgend¬ 
welchen  Zusatz. 

Haserodt  kombiniert  die  Antiforminmethode  mit  einem 
Kohlenwasserstoff. 

Schultes  Modifikation  besteht  im  Zusatz  von  Brenn¬ 
spiritus  zum  Antiforminverfahren. 

Die  von  Kozlow  angegebene  Aether-Azeton-  Kombination 
der  Antiforminmethode,  die,  soweit  uns  die  Literatur  zugänglich 
war,  nicht  nachgeprüft  wurde,  wollen  wir  eingehender  besprechen, 
da  wir  im  Laufe  der  mehrmonatigen  Untersuchungen  gelegentlich 
fast  alle  bis  jetzt  angegebenen  Modifikationen  der  Antiformin- 
metliode  nachgeprüft  haben  und  zur  Ueberzeugung  gekommen  smd, 
daß  die  Kozlow  sehe  Kombination  uns  am  schnellsten  und 
sichersten  zum  Ziele  führte.  Besonders  bewährt  hat  sich  die 
Methode  hei  der  Untersuchung  des  Stuhles.  Das  Material  wird 
mit  reinem  Antiformin  homogenisiert.  Während  wir  das  Spu¬ 
tum  fünf  Minuten  lang  mit  Antiformin  unter  mehrmaligem  Schüt¬ 
teln  homogenisierten,  mußten  wir  den  Stuhl  zehn  Minuten  dem 
Einfluß  des  Antiformins  überlassen.  Das  Quantum  des  Anti- 
form  ins  hängt  von  der  Beschaffenheit  des  Materials  ab.  Bei 
Sputum  haben  wir  zu  dünnerem  ein  halbes  Volumen,  zu  dickerem 


ein  gleiches  Volumen  Antiformin  dazugegeben,  beim  Stuhl  die 
doppelte  oder  dreifache  Menge. 

Die  homogenisierte  Mischung  wird  mit  destilliertem  Wasser 
im  Verhältnisse  1 :  lü  verdünnt.  Nachher  gibt  man  zu  dieser 
Lösung  zu  gleichen  Teilen  Aether  und  Azeton,  von  gleichem 
Volumen  wie  das  destillierte  Wasser  dazu.  Die  ganze  Mischung 
wird  in  einem  Scheidetrichter  kräftig  geschüttelt  und  dann  ruhig 
stehen  gelassen.  Nach  einigen  Minuten  hellt  sich  die  trübe  Fiüssig- 
keitkeit  auf  und  teilt  sich  in  drei  Schichten.  Die  Tuberkelbazillen 
befinden  sich  mit  den  unaufgelösten  Resten  des  Materials  in 
der  mittleren  Schichte  und  aus  der  wird  das  Präparat  hergestellt; 
getrocknet,  i'ixiert  und  gefärbt. 

Um  ein  gutes  Haften  des  Materials  am  Objektträger  oder 
Deckgläschen  zu  erzielen,  haben  wir  die  Präparate  24  Stunden 
an  der  Luft  getrocknet  oder  ein  bis  zwei  Stunden  im  Paraffinofen. 

Nun  haben  wir  in  der  Antiforminmethode  eine  Methode,  die  an¬ 
getan  zu  sein  scheint,  Klärung  in  die  Frage  der  diagnostischen 
Verwertbarkeit  des  Tuberkelbazillusnachweises  in  den  Fäzes  bei 
vorhandener  offener  Lungentuberkulose  zu  bringen.  Die  Meinung, 
daß  Tuberkelbazillen  im  Stuhl  von  verschlucktem  Sputum  her¬ 
rühren  und  daß  der  positive  Befund  gar  keinen  Aufschluß  über 
die  Beschaffenheit  des  Darmes  gibt,  kann  vielleicht  doch  nicht 
so  ohne  weiteres  hingenommen  werden,  wenn  auch  bei  der  Em¬ 
pfindlichkeit  der  Antiforminmethode,  bei  welcher  die  Tuberkel¬ 
bazillen  im  Stuhle,  wenn  auch  noch  so  gering  an  Zahl,  dem 
Suchenden  kaum  entgehen,  zugegeben  werden  muß,  daß  mau 
ein  positives  Resultat  nur  vorsichtig  verwerten  darf.  Diese 
Meinung  setzt  uns  in  einen  Gegensatz  zu  den  anderen 
Autoren,  die  letzthin  diesbezügliche  Arbeiten  publiziert  haben. 
Klose;  sowie  Wilson  und  Rosenberger,  Philip  und  Porter 
haben  alle  ausschließlich  an  einem  klinischen  Material  gearbeitet 
und  sind  übereinstimmend  zur  Ansicht  gekommen,  daß  dem 
positiven  Tuberkelbazillenbefund  gar  keine  diagnostische  Bedeu¬ 
tung  zukommt,  da  man  fast  in  jedem  Falle  von  offener  Lungen¬ 
tuberkulose  Tuberkelbazillen  im  Stuhle  nachweisen  kann,  ja  sogar 
viel  öfters  als  im  Auswurf,  ohne  daß  die  klinischen  Zeichen  einer 
tuberkulösen  Darmaffektion  vorhanden  wären.  Klose  hat  in  60  Fäl¬ 
len  von  offener  Lungentuberkulose  55mal  Tuberkelbazillen  in  den 
Fäzes  nachgewiesen,  also  in  90°/o,  wobei  nur  in  sechs  Fällen 
klinische  Symptome  für  eine  Darmtuberkulose  sprachen.  Er 
kommt  zum  Schlüsse,  daß  Tuberkelbazillen  im  Stuhle  vom  ver¬ 
schluckten  Sputum  herriiliren  und  es  nicht  zulässig  ist,  aus  dem 
positiven  Befund  von  Tuberkelbazillen  im  Stuhle  in  Fällen,  in 
denen  Tuberkelbazillen  im  Auswurf  gefunden  wurden,  eine  Diarm- 
tuberkulo'se  zu  diagnostizieren.  Wilson  und  Rosenberger 
haben  in  100  Fällen  von  Tuberkulose  lOOmal  Tuberkelbazillen 
im  Stuhle  nachgewiesen,  überdies  in  21°/o  der  Fälle,  bei  denen 
die  klinischen  Symptome  weder  auf  Lungen-,  noch  Darm¬ 
tuberkulose  hin  weisen.  Sie  führen  aus,  daß  die  Tuberkel¬ 
bazillen  in  den  Blutstrom  gelangen,  mit  welchem  sie  bis  zur 
Darmwand  getragen  werden,  durch  welche  sie  ausgeschieden 
werden. 

Philip  und  Porter  haben  häufiger  Tuberkelbazillen  im 
Stuhl  als  im  Auswurf  gefunden.  Auf  100  Fälle  von  Lungen¬ 
tuberkulose  ohne  Darmtuberkulose,  hatten  sie  79  positive  Befunde 
im  Stuhl,  während  in  42  von  diesen  100  Fällen  keine  Tuberkel¬ 
bazillen  im  Sputum  nachzuweisen  waren  (!).  Diese  Autoren  be¬ 
trachten  daher  die  Untersuchung  der  Fäzes  bei  tuberkulösen 
Kranken  als  wichtiger  wie  die  Untersuchung  des  Sputums. 

Imman  hat  von  26  Fällen  in  18  Fällen  ruberkelbazillen 
im  Sputum  und  von  diesen  in  16  Fällen  Tuberkelbazillen  im  Stuhl 
gefunden.  Auch  Imman  nimmt  an,  daß  die  Tuberkelbazillen  im 
Stuhle  die  Folge  von  verschlucktem  tuberkulösen  Sputum  ist. 

Da  alle  diese  Ergebnisse  ausschließlich  an  einem  klinischen 
Material  gewonnen  wurden,  ohne  daß  die  Obduktion  die  klinische 
Diagnose  verifiziert  hätte,  schien  es  wünschenswert,  festzustellen, 
wie  sich  der  Obduktionsbefund1  zlu  den  bakteriologischen  Resultaten 
in  der  Klinik  verhält. 

Wir  haben  ein  zahlreiches  Abteilungsmaterial  untersucht  und 
die  Ergebnisse  am  Sektionstische  kontrolliert.  Bei  jedem  Patienten, 
.bei  dem  klinisch  eine  tuberkulöse  Affektion  der  Lungen  oder  des 
Darmes  festgestellt  wurde,  wurde  der  Auswurf  und  der  Stuhl 
untersucht,  wobei  keinerlei  Rücksicht  auf  die  Beschaffenheit  des 
Stuhles  genommen  wurde. 

Das  Sputum,  sowie  der  Stuhl  (natürlich  ohne  Beimengung 
von  Urin)  wurde  zuerst  nicht  vorbehandelt  nach  Ziehl-Neelsen 
gefärbt  und  nachher  mit  der  Antiforminmethode  behandelt.  Zur 
Anwendung  kam  sowohl  die  ursprüngliche  U  h  1  e  n  h  u  th  sehe  Me¬ 
thode,  wie  fast  alle  im  Laufe  der  Untersuchungszeit  veröffentlichte 
Modifikationen  ;  in  einem  großen  Teile  der  Fälle  jedoch  bedienten 
wir  uns,  wie  schon  erwähnt,  der  Kozlow  sehen  Aether-Azeton- 


528 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


Kombination  der  Antiforminmethode,  indem  wir  diese  für  unsere 
speziellen  Zwecke  anpaßten. 

Wir  stellten  uns  die  Frage,  inwiefern  der  pathologisch  -  ana¬ 
tomische  Befund  des  Darmes  mit  den  bakteriologischen  Ergeb¬ 
nissen  im  Stuhl  in  Einklang  zu  bringen  wäre. 


In  der  dritten  Kolonne  ist  lediglich  das  klinische  Material 
verwertet,  das  aus  äußeren  Umständen  bei  uns  nicht  zur  Obduktion 
kam.  (Entlassung  aus  dem  Spital.)  Schließlich  erscheinen  die  kli¬ 
nischen  Diagnosen  von  jedem  einzelnen  Falle  angeführt,  wobei 
hervorgehoben  zu  werden  verdient,  daß  wir  im  Zeitraum  der 


Leichenmaterial  ohne 

Leichenmaterial  mit  klinischem 

Klinisches  Material  ohne 

klin.  Befund 

Befund 

Obduktionsbefund 

Sektionsprotokoll 
oder  Name 

Tuberkel¬ 
bazillen- 
be  fund  im 

Ulzera 

Tuberkelbazillenbefund 

Ulzera 

Tuberkelbazillenbefund 

Klinische  Diagnose 

Stuhl 

im  Darm 

Sputum 

Stuhl 

im  Darm 

Sputum 

Stuhl 

n.  v.* 

n.  v. 

V. 

n.  v. 

V. 

n.  v. 

V. 

n.  v. 

V. 

S.  227 

+ 

4- 

+ 

Tbc.  pulmon. 

S.  28 

10-  7-+ 
3./1.4- 

•+ 

+ 

— 

+ 

4-  (rec.) 

Tbc.  pulmon. 

E.  H. 

— 

— 

— 

— 

Peritonitis  tbc. 

N.  N. 

— 

— 

— 

— 

Peritonitis  tbc. 

S.  248 

4- 

4- 

— 

4- 

4- 

Tbc.  pulmon.  et  laryngis 

S.  272 

~T 

4- 

4" 

4- 

— 

Tbc.  pulmon.  destructiva 

S.  C. 

4- 

~b 

— 

— 

Tbc.  pulmon. 

S.  235 

_ 

_ 

_ 

Arteriosclerosis,  Enteritis 

S.  238 

+ 

+ 

4- 

+ 

+ 

Tbc.  pulmon.  et  intestini 

K.  P. 

4- 

4- 

— 

4- 

Tbc.  pulmon. 

L.  H. 

. 

4- 

— 

Tbc.  pulmon. 

E.  M. 

"b 

•  4- 

— 

4- 

Tbc.  pulmon. 

M.  D. 

4- 

+ 

“b 

4- 

Tbc.  pulmon.  et  intestini 

D.  B. 

4- 

4- 

Juli  — 
Jan.  — 

+ 

Tbc.  pulmon. 

S.  251 

_ 

_ 

— 

Strictura  intestini  a  tuberculos 

S.  249 

4- 

4- 

4- 

+ 

4- 

Tbc.  pulmon. 

P.  S. 

4- 

4- 

4- 

4- 

Tbc.  pulmon.  et  intestini 

S.  254 

S.  257 

— 

— 

— 

Pleuritis  serosa,  Tbc.  pulmon.  ' 
Enteritis  cbron.,  Marasmus 

S.  S. 

+ 

4~ 

4- 

Tbc.  pulmon. 

J.  J. 

— 

— 

Tbc.  pulmon. 

A.  N. 

+ 

4- 

+  ’ 

+ 

Tbc.  pulmon. 

W.  P. 

— 

4- 

— 

Tbc.  pulmon. 

W.  0. 

4- 

+ 

v- 

4- 

+ 

Tbc.  pulmon. 

W.  K. 

4- 

+ 

4- 

_b 

4- 

Tbc.  pulmon.  et  intestini 

J.  Z. 

4- 

+ 

— 

4- 

+ 

Tbc.  pulmon. 

J.  S. 

+ 

4- 

— 

Tbc.  pulmon. 

W.  K. 

+ 

4- 

4- 

4- 

Tbc.  pulmon. 

S.  22 

“b 

+ 

4- 

4- 

Tbc.  pulmon. 

S.  32 

+ 

— 

+ 

4- 

Tbc.  pulmon.  et  laryngis 

R.  B. 

+ 

+ 

— 

4- 

4- 

CO 

CO 

1  1 

Tbc.  pulmon. 

P.  B. 

4- 

+ 

4- 

Tbc.  pulmon. 

S.  74 

4- 

4- 

Tbc.  pulmon.  et  laryngis 
Peritonitis  tbc., Tbc.  pulm.,  Enteritis 

E.  P. 

S.  72 

+ 

+ 

— 

Tbc.  pulmon. 

S.  P. 

— 

— 

— 

— 

Tbc.  pulmon. 

P.  M. 

4- 

4- 

'  — 

— ■ 

Tbc.  pulmon. 

D.  H. 

4- 

+ 

— 

-  — 

Tbc.  pulmon. 

B.  B. 

S.  83 

+ 

+ 

4- 

+ 

— 

— 

Tbc.  pulmon. 

Tbc.  pulm.,  Gastroenteroan. 

facta 

S.  58 

S.  61 

+ 

-f 

+ 

4- 

+ 

+ 

Lues  ulcer.,  Peritonit.  tbc.  perforat. 

M.  G. 

4- 

4- 

— 

— 

Tbc.  pulmon. 

J.  F. 

+ 

+ 

— 

4- 

Tbc.  pulmon.  et  intestini 

J.  N. 

4~ 

4- 

4- 

4- 

Tbc.  pulmon. 

S.  79 

+ 

4- 

4- 

Dementia,  Tbc.  pulmon. 

S.  81 

+ 

4-- 

Dementia,  Tbc.  pulmon. 

S.  1 

+ 

4- 

4- 

Tbc.  pulmon. 

S.  78 

S.  85 

4- 

4r 

4- 

4- 

4- 

Epilepsia,  Tbc.  pulmon. 
Dementia,  Tbc.  pulmon. 

Pawlink 

4- 

4- 

— 

4- 

Tbc.  pulmon. 

M.  R. 

4- 

4- 

+ 

4- 

Tbc.  pulmon. 

D.  R. 

+ 

4- 

— 

— 

Tbc.  pulmon. 

J.  W. 

— 

+ 

— 

— 

Ulcus  tbc.  lingu.  tbc.  pulmon. 

*)  n.  v.  =  nicht  vorbehandelt. 

**)  v.  =  vorbehandelt  mit  Antiformin. 


Zur  Erklärung  der  beigegebenen  Tabelle  sei  hervorgehoben, 
daß  in  der  ersten  Kolonne  ausschließlich  das  Leich'enmaterial 
angeführt  erscheint,  das  wir  aus  verschiedenen  äußeren  Gründen 
bei  Lebzeiten  zu  untersuchen  nicht  Gelegenheit  hatten;  es  waren 
ausnahmslos  schwere  Tuberkulosen  der  Lunge  und  teilweise  auch 
des  Darmes  „Ulzera  im  Darme“  und  das  Untersuchungsmaterial 
wurde  während  der  Obduktion  unter  Beobachtung  von  Kanteten 
entnommen,  die  eine  sekundäre  Verunreinigung  ausschließen 
lassen.  In  der  zweiten  Kolonne  erscheint  das  Material  zu¬ 
sammengestellt,  das  sowohl  bei  Lebzeiten,  als  auch  nach 
der  Obduktion  bakteriologisch  untersucht  und  pathologisch  veri¬ 
fiziert  werden  konnte. 


Untersuchungen  lediglich  auf  die  bekannten  klinischen  Sym¬ 
ptome  einer  Darmtuberkulose  bei  der  Diagnosestellung  reflektierten 
und  uns  naturgemäß  bei  Abwesenheit  derselben  auch  durch  den 
Nachweis  von  Tuberkelbazillen  im  Stuhle  in  der  Diagnose  nicht 
beeinflussen  ließen. 

Schon  aus  dieser  Zusammenstellung  zeigen  die  in  der  Ta¬ 
belle  niedergelegten  Befunde,  wie  häufig  die  tuberkulösen  Verände¬ 
rungen  des  Darmes  ohne  klinisch  manifeste  Symptome  einher¬ 
gehen,  was  bei  den  früher  erwähnten  Befunden  von  Klose,  W  il 
son  und  Rosenberger,  Philip  und  Porter  und  Imman 
zu  Fehlschlüssen  Anlaß  geben  mußte.  Ueberdies  zeigt  die  Tabelle 
die  allseitig  anerkannte  und  gebührend  gewürdigte  Verwendbarkeit 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHEN  SCHRIET.  1911. 


529 


des  Antiformins,  indem  in  einer  nicht  geringen  Anzahl  der  Fälle 
trotz  peinlichster  Untersuchung  des  nicht  vorbehandelten  Materials 
erst  die  Durchführung  einer  Antiforminmethode  den  positiven 
Nachweis  von  Tuberkelbazillen  ermöglichte. 

Auf  Grund  unserer  Befunde  können  wir  uns  nicht 
den  Ansichten  der  Autoren  anschließen,  welche  im  Stuhl  genau 
so  häufig  oder  gar  häufiger  Tuberkelbazillen  gefunden  haben  wie 
im  Auswurf.  v/ir  haben  im  allgemeinen  weit  seltener 
Tuberkelbazillen  im  Stuhl  als  im  Sputum  gefunden.  Hingegen 
konnten  wir  konstatieren,  daß  in  einer  überwiegenden  Zahl  der 
Fälle  der  bakteriologische  Befund  im  Stuhl  durch  die  Obduktion 
bestätigt  wurde.  Bis  auf  verschwindend  kleine  Ausnahmen  hat 
überall  dort,  wo  wir  Tuberkelbazillen  im  Stuhl  nachgewiesen 
haben,  die  Autopsie  tuberkulöse  Geschwüre  des  Darmes  ergeben. 
Nur  in  sehr  wenigen  Fällen  hatten  wir  einen  positiven  Tuberkel¬ 
bazi  llcnbef  und  im  Stuhl,  bei  welchen  hei  der  Sektion  keine 
Darmgeschwüre  gefunden  wurden.  Unter  den  Sektionsfällen  be¬ 
fanden  sich  solche,  die  schon  klinisch  eine  vorgeschrittene  Lungen- 
und  Darm  tu  berkul  ose  zeigten,  in  diesen  Fällen  war  natürlich 
der  bakteriologische  und  pathologisch  -  anatomische  Befund  über¬ 
einstimmend  mit  dem  klinischen.  Nun  aber  soll  auf  diese  Fälle 
besonders  aufmerksam  gemacht  werden,  in  welchen  keine  kli¬ 
nischen  Symptome  einer  Darmerkrankung  zu  konstatieren  waren, 
der  Tuberkelbazillenbefund  im  Stuhl,  aber  positiv  war  und  die 
Obduktion  nur  mit  wenigen  Ausnahmen  tuberkulöse  Geschwüre 
des  Darmes  gezeigt  hat.  Die  Sektion  also  ergibt  viel  häufiger 
eine  tuberkulöse  Erkrankung  des  Darmes,  als  man  es  in  der 
Klinik  vermutet,  eine  Tatsache,  die  die  früher  erwähnten  häufigen 
Tuberkelbazilienbefunde  in  den  Fäkalmassen  bei  fehlenden  klini¬ 
schen  Symptomen  einer  Darmtuberkulose  plausibel  erklärt.  Daß 
der  positive  Tuberkelbazillenbefund  im  Stuhl  doch  in  einem  Zu¬ 
sammenhang  mit  dem  Auftreten  von  tuberkulösen  Veränderungen 
des  Darmes  steht  beweisen  vor  allem  Fälle,  bei  denen  mehr¬ 
malige  Untersuchung  des  Stuhles  in  mehrwöchigen  Zeitmter- 
v allen  ein  negatives  Resultat  ergaben,  bei  immer  positivem  Befund 
im  Auswurf,  um  schließlich  in  ein  positives  Ergebnis  der  Stuhl 
Untersuchungen  umzuschlagen.  In  diesen  Fällen  ergab  die  Sektion 
ganz  frische  tuberkulöse  Geschwüre  im  Darme. 

Noch  überzeugender  wäre  der  Beweis  des  Zusammenhanges 
des  bakteriologischen  mit  dem  pathologischen  Befunde,  wenn  der 
negative  Tuberkelbazillenbefund  im  Stuhl  mit  intakter  Darm¬ 
schleimhaut  einhergeht.  Da  wir  am  Sektions  tisch  eine  nur  auf 
die  Lungen  beschränkte  Tuberkulose  seltener  sehen,  muß  jeder 
einzelne  Fall  berücksichtigt  worden.  In  solchen  Fällen  (zum  Bei¬ 
spiel  .1.  S.  und  E.  P.  der  Tabelle)  unseres  Sektionsm.atoria.les  wies 
die  Lunge  tuberkulöse  Veränderungen  auf  —  im  Sputum  waren 
Tuberkelbazillen  nachweisbar  —  die  Darmschleimhaut  war  intakt, 
entsprechend  dem  negativen  Tuberkelbazillenbefund  im  Stuhl. 

Wie  erwähnt,  hatten  wir  in  einem  kleineren  Prozentsatz 
der  Fälle  keine  Uebereinstimmung  des  bakteriologischen  mit  dem 
pathologisch-anatomischen  Befund.  In  diesen  Fällen  müssen  wir 
den  positiven  Befund  äußerst  spärlicher  Tuberkelbazillen  im  Stuhl 
allerdings  auf  Rechnung  der  verschluckten,  mit  Tuberkelbazillen 
beladenen  Auswurfpartikelchen  schreiben.  Hier  müssen  wir  aber 
bemerken,  daß  die  Zahl  der  gefundenen  Tuberkelbazillen  in  diesen 
Fällen  eine  viel  geringere  wie  sonst  war  und  daß  sie  erst  nach 
der  Vorbehandlung  mit  Antiform  in  gefunden  wurden,  hn  all¬ 
gemeinen  möchten  wir  die  Behauptung,  daß  verschluckte  Tuberkel 
bazillen  sehr  oft,  durch  den  Dann  ausgeschieden  werden,  ohne 
irgendwelche  Veränderungen  der  Schleimhaut  hervorzurufen,  sehr 
vorsichtig  aufnehmen.  Im  Frühstadium  der  Tuberkulose,  wo  die 
Kranken  noch  nicht  gelernt  haben,  ihr  Sputum  heraus- 
zubefördern  und  es  gewiß  viel  öfters  verschlucken  wie 
später,  haben  wir  Tuberkelbazillen  im  Stuhle  sehr  selten 
nachweisen  können  bei  positivem  Befund  im  Answurf.  Die 
Tuberkelbazillen  treten  vielmehr  im  Stuhle  in  der  Regel 
erst  in  den  vorgerückten  Stadien  auf.  Auf  Grund  unserer 
Sektion  sbef  u nde  können  wir  k  a. u m  d e m  positiv  e  n 
Tuber k  elbazillenbefun  d  im  Stuhle  jede  diagnosti¬ 
sch  e  B  e  d  e  u  tun  g  ab  sprechen,  i  niGegenteil,  wir  m  ii  s  s  o  n 
das  Auftreten  von  Tuberkelbazillen  im  Stuhl  als 
diagnostisch  wichtig  für  eine  spezifische  M  i  1.  a  ff  e  k- 
tion  des  Darmes  bezeichnen. 

Literatur. 

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für  die  Diagnose  Darmluberkulose  verwertbar?  Münchener  med.  Wochen¬ 
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zember  1910.  —  Hammerl,  Ein  Beitrag  zur  Homogenisierung  des 
Sputums.  Münchener  med.  Wochenschr.  1909,  Nr.  38.  —  II  ii  n  e,  Anti¬ 
formin  zur  Anreicherung  der  Tuberkelbazillen  im  Auswurf,  Stuhl  usw. 
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Mayer,  Zum  Nachweis  von  Tuberkelbazillen  im  Sputum  mittels  Anti- 
fofmins.  Tuberkulosis  1909,  Nr.  2.  —  Nakao,  Der  Nachweis  des  Tu¬ 
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Ueber  Tuberkelbazillenzüchlung  aus  Sputum  und  Exsudat.  Zeitschr.  f. 
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1910,  Nr.  19,  S.  877  —  Teleman,  Tuberkelbazillennachweis.  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1910,  S.  891.  —  Lange  und  Nit  sehe,  Eine  neue 
Methode  des  Tubcrkelbazillennachweises.  Deutsche  med.  Wochenschr. 

1909,  Nr.  10.  —  Eil  er  mann  und  Erlandsen,  Nachweis  von  Tu¬ 
berkelbazillen  im  Sputum.  Zeitschr.  f.  Hyg.,  Bd.  61,  H.  2,  S.  219.  — 
Kögel,  Ueber  den  Nachweis  von  Tuberkelbazillen  im  Sputum  nach 
der  Doppelmethode  von  Ellermann-Erlandsen.  Deutsche  med.  Wochen¬ 
schrift  1909,  Nr.  48,  S.  2105.  —  Jörgensen,  Ueber  den  Wert  ver¬ 
schiedener  Homogeniesierungsmethoden  behufs  Nachweises  von  Tuberkel¬ 
bazillen  im  Sputum.  Zeitschr.  f.  Hyg.,  Bd.  66,  H.  2.  —  Trunk,  Neuere 
Methoden  der  Anreicherung  und  Färbung  des  Tuberkelbazillus.  Wiener 
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weis  mit  Antiformin  und  der  Ligroinmethode.  Wiener  med.  Wochenschr. 
Nr.  35.  —  Hart  und  Le  s  sing,  Ueber  den  Wert  der  Antiformin¬ 
methode  für  den  Tuberkelbazillusnachweis  im  Gewebe.  Wiener  klin. 
Wochenschr.  1911,  Nr.  9.  —  Reicher,  Tuberkelbazillennachweis  im 
Sputum  nach  der  Uhlenhutschen  Methode.  Med.  Klin.  1910,  Nr.  21.  — 
B  o  g  a  s  o  n,  Eine  neue  Methode  zum  Nachweis  von  Tuberkelbazillen  im 
Sputum  Und  Urin.  Zeitschr.  f.  Tub.,  Bd.  15,  H.  6.  —  G  o  e  r  r  e  s,  Ueber 
Nachweis  der  Tuberkelbazillen  im  Sputum  mittels  der  Antiformin¬ 
methode.  Zeitschr.  f  klin.  Med.,  Bd.  70,  H.  1  u.  2.  —  Kava  i,  Neuere 
Methoden  zum  Nachweis  von  Tuberkelbazillen  im  Sputum,  pathologi¬ 
schen  Sekreten  und  Geweben.  Med.  Klin.  1911,  Nr.  4  u.  5.  —  Fink  ei¬ 
st  ein,  Ueber  die  neuesten  Methoden  zum  Nachweis  von  Tuberkel¬ 
bazillen  im  Sputum  und  anderen  Exkreten.  Berliner  klin.  Wochenschr. 

1910,  Nr.  23,  S.  1059.  —  H  u  z  e  1  a,  Der  Nachweis  sehr  spärlicher 

Mengen  von  Tuberkelbazillen.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  20, 
S.  932.  —  Hoffmann,  Anwendung  des  Uhlenhutschen  Verfahrens 
zum  Nachweis  spärlicher  Tuberkelbazillen  in  Gewebsstücken.  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1910,  S.  1309.  —  Herzfeld,  Die  vergleichenden 
Untersuchungen  mit  der  Antiformin-Ligroin  und  Ellermann-Erlandsen- 
schen  Methode  zum  Nachweis  von  Tuberkelbazillen  im  Sputum.  Zeit¬ 
schrift  f.  Hyg.,  Bd.  66,  H.  2.  —  Merkel  und  Nenner,  Der  Tuberkel¬ 
bazillennachweis  mittels  der  Antiforminmethode  und  seine  Verwendung 
für  die  histologische  Diagnose  der  Tuberkulose-.  Miinehener  med. 
Wochenschr.  1910,  Nr.  13  —  Zahn,  Ein  neues  einfaches  Anreiche- 

rungsverfahrungs  für  Tuberkelbazillen.  Münchener  medizinische 
Wochenschr.  1910,  Nr.  16.  —  M  ende,  Zu  den  Zahnschen  Anreiche¬ 
rungsverfahren  für  Tuberkelbazillen.  Münchener  med.  Wochenschr.  1910, 
Nr.  25. 


Zur  Therapie  der  koordinatorischen  Be¬ 
schäftigungsneurosen  und  über  Autogymnastik 
in  chronischen  Fällen  derselben. 

Von  Prof.  M.  Benedikt. 

Therapeutische  Anregungen  und  klinische  Tatsachen 
und  ihre  Urheber  haben  ihre  Schicksale.  Man  braucht  nicht 
in  die  große  Geschichte  zurückzugreifen.  Jeder,  der  selb¬ 
ständig  gearbeitet  hat,  besitzt  darüber  Erfahrungen. 


530 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


Als  ich  vor  Jahren  als  wichtige  Heilmethode  zur  Be¬ 
kämpfung  der  Konstipation  die  Faradisation  der  Eingeweide 
perkutan  durch  die  Bauchdecken  —  oder  später  mit  der 
Modifikation  der  Anwendung  eines  Mastdarmreophors  — 
empfahl,  hat  sich  diese  Methode  rasch  sozusagen  die  Welt 
erobert,  ohne  daß  man  kurze  Zeit  darauf  mehr  an  den  Ur¬ 
heber  dachte.  Die  Verbreitung  war  von  Marienbad  ausge¬ 
gangen.  Die  dortigen  Aerzle  waren  häufig  in  Verlegenheit, 
weil  die  Mineralwässer,  statt  die  Konstipation  der  Kranken 
zu  heben,  dieselbe  oft  noch  verstärkten;  sie  sahen  sich  ge¬ 
nötigt,  die  Salze  zu  Hilfe  zu  rufen,  oder  sonstige  Maßnahmen 
zu  treffen,  welche  dem  Ansehen  des  Kurortes,  respektive, 
der  spezifischen  Wirkung  der  Wässer  desselben  abträglich 
waren. 

Basch  begriff  die  Bedeutung  meiner  Angabe  in  ihrem 
vollen  Umfange  und  von  ihm  ging  meiner  Erinnerung  nach 
die  allgemeine  Verbreitung  aus. 

Ebenso  raschen  Erfolg  hatte  meine  Entdeckung  des 
pathologischen  Daltonismus  (Gräfes  Archiv  1864).  Die 
Tatsache  erregte  allgemeine  Beachtung  und  es  gibt  kaum 
einen  Augenarzt  der  Welt,  der  sich  nicht  täglich  mit  diesem 
Thema  beschäftigt.  Als  ich  einst  Nothnagel  fragte,  ob 
er  der  Entdeckung  des  pathologischen  Daltonismus  eine 
Bedeutung  für  die  Ophthalmologie  und  Neurologie  zu¬ 
schreibe,  antwortete  er  natürlich  bejahend.  Als  ich  ihn 
dann  fragte,  ob  er  wisse,  von  wem  diese  Entdeckung  her¬ 
rühre,  verneinte  er  es ;  es  gibt  vielleicht  selbst  in  Wien 
keinen  Augenarzt,  in  dessen  Bewußtsein  die  Autorschaft 
fortlebt. 

Ein  ganz  anderes  Schicksal  hatte  meine  vor  vielen 
Jahren  gemachte  Angabe,  daß  frische  Fälle  von  koordina- 
torischen  Beschäftigungsneurosen  (Schreiber-,  Klavierspieler, 
krampf  usw.)  rasch  geheilt  werden  könne,  wenn  die  von 
mir  angegebene  Methode  angewendet  wird.  Man  kann  wohl 
behaupten,  daß  das  Chronischwerden  dieser  Leiden  in  den 
meisten  Fällen  mit  der  Außerachtlassung  der  angegebenen 
Methoden  z  u  s  amm  e  nhän  g  t . 

Ich  hatte  nämlich  beobachtet,  daß  bei  den  frischen 
Fällen  in  einzelnen  oder  mehreren  Sehnen,  besonders  am 
Handgelenk  und  in  der  Hand,  oder  in  den  Muskelsehnen¬ 
ansätzen  der  Pronatoren  oder  Supinatoren  am  Ellenbogen¬ 
gelenk,  seltener  auch  in  den  Muskelansätzen  am  Schulter¬ 
gelenk,  Schmerzhaftigkeit  gegen  Druck  besteht  und  daß  man 
durch  Einspritzung  von  2°/oiger  Karbolsäure  an  diesen 
Stellen  frische  Fälle  in  der  kürzesten  Zeit  heilt. 

Ich  wenigstens  habe  bis  jetzt,  keinen  Fall  gesehen,  in 
dem  diese  Methode,  im  ersten  Moment  angewendet,  chro¬ 
nisch  geworden  wäre  und  ich  kenne  keinen  Fall,  ider 
chronisch  wurde,  wenn  er  im  Beginne  in  angegebener 
Weise  behandelt  wurde.  Ich  will  natürlich  meine 
persönliche  Erfahrung  nicht  als  ein  allgemeines  Gesetz 
hinstellen.  Diese  Schmerzhaftigkeit  verschwindet  auch 
ohne  Behandlung  mit  der  Zeit  und  das  Leiden  ent¬ 
wickelt  sich  immer  weiter  fort.  Nur  selten  beob¬ 
achtet  man  noch  bei  chronisch  gewordenen  Fällen  Reste 
dieser  Schmerzhaftigkeit  und  auch  bei  diesen  haben  noch 
die  Injektionen  den  Erfolg,  nicht  nur  die  Schmerzhaftig¬ 
keit  zu  heben,  sondern  auch  eine  Besserung  hervorzurufen. 

Die  Tatsache,  daß  mit  Sehnen-  und  Muskelhyper¬ 
ästhesien,  die  in  der  Regel  nicht  einmal  spontane  Schmerzen 
auslösen,  sich  das  Leiden  entwickelt,  ist  der  Grund,  weshalb 
wir  dasselbe  als  zentrale  koordinatorische  Neurose  ansehen 
müssen.  Diese  Neurose  ist  also  eigentlich  ein  Reflexleiden, 
das  durch  Behebung  des  ursprünglichen  Ausgangsleidens 
in  den  Sehnen  und  Muskeln  in  seiner  Entwicklung  gehemmt 
und  behoben  wird. 

Ich  hatte  oft  Gelegenheit,  Examinanden  unmittelbar 
vor  den  Prüfungen  im  Konservatorium  oder  Virtuosen  kurze 
Zeit  vor  ihren  Konzerten  zu  beobachten  und  sie  waren  in 
der  Ausübung  ihrer  Kunst  vollkommen  gehemmt.  Wenn 
das  Leiden  ganz  frisch  war,  genügten  einige  wenige  Injek¬ 
tionen,  welche  zugleich  antiphlogistisch  und  narkotisierend 
wirkten,  sie  der  Ausübung  ihres  Berufes  wieder  zuzuführen. 

Ich  erinnere  mich  besonders  lebhaft  an  einen  Fall,  wo 


die  Schmerzhaftigkeit  an  der  Innenseite  des  Ellenbogen¬ 
gelenkes  vorhanden  war.  In  diesem  Falle  rief  die  Injektion 
eine  leichte  Anästhesie  im  Gebiete  des  Nervus  ulnaris  her¬ 
vor;  nichtsdestoweniger  konnte  die  Künstlerin  bereits  im 
Laufe  der  kommenden  Woche  ihr  angekündigtes  Konzert 
geben. 

1st  das  Anfangsstadium  und  dessen  spezifische  Behand¬ 
lung  versäumt,  dann  bedarf  es  bekanntlich  viefacher  und 
komplizierter  Methoden,  um  das  Leiden  zu  beheben,  beson 
ders,  wenn  dieses  aus  jener  Stufe,  die  ich  als  paretische 
Koordinationsstörung  bezeichnet  habe,  in  das  Tremorartige 
oder  gar  in  das  Spastische  übergegangen  ist.  Beim  Schreibe! - 
krampte  wird  das  erste  Stadium  gewöhnlich  versäumt,  weil 
die  Kranken  lange  warten,  bis  sie  einen  Arzt  fragen. 

Ich  will  hier  von  den  verschiedenen  elektrischen  Me¬ 
thoden  nicht  sprechen,  aber  man  weiß,  'daß  ihre  Anwen¬ 
dung  und  die  Verbindung  verschiedener  Anwendungsarten, 
lange  Zeit  benötigen,  um  Heilung  herbeizurufen.  Ich  habe 
zum  Beispiel  bei  der  Frau  eines  Freundes  und  Kollegen, 
deren  Kunstausübung  vollständig  gehemmt  war,  fast  andert¬ 
halb  Jahre  gebraucht,  um  die  Künstlerin  ihrem  Berufe 
wiederzugeben. 

Zu  den  Heilmethoden  gehört  weiters  die  Massage  und 
ich  übe  mit  Vorliebe  die  Nervenmassage,  indem  ich  di;' 
drei  Nerven  des  Oberarmes  quer,  wie  zum  Beispiel  die 
Saiten  einer  Guitarre,  zur  Vibration  bringe.  Therapeutisch 
kommen  noch  die  Aenderung  der  Schreibemechanik  hinzu 
und  weiters  mechanische  Hilfsmittel,  wie  zum  Beispiel  die 
von  mir  modifizierte  Vorrichtung  der  Z  a  b  1  u  d  o  w  s  k  i  sehen 
Feder. 

Zu  den  Behandlungsmethoden  gehören  auch  Hebun¬ 
gen  und  man  hat  mannigfaltige  Vorrichtungen,  selbst  die 
kompliziertesten  Zan  d  e  r  sehen  herbeigezogen.  Besonders 
die  instrumenteilen  Uebungen  sind  nicht  für  jedermann  zu¬ 
gänglich  und  ich  will  hier  eine  Methode  beschreiben,  die 
ich  als  Autogymnastik  bezeichnen  will. 

Das  Instrument,  mit  dessen  Hilfe  die  Uebungen  vor¬ 
genommen  werden,  übertrifft  an  Feinheit  der  Intensitäts- 
anwendung  und  des  zu  leistenden  Widerstandes  alle  mecha¬ 
nischen  Vorrichtungen.  Dieselbe  rührt  von  der  Natur  selbst 
her  —  es  ist  für  den  Schreiberkrampf  die  linke  Hand  und 
der  linke  Arm.  Da  die  rohe  Kraft  bei  den  koordinatorischcn 
Beschäftigungsneurosen  eigentlich  nicht  leidet,  so  ist  die  Kraft 
immer  ausreichend.  Wo  es  sich  um  beiderseitige  Störung 
handelt,  treten  beide  Extremitäten  in  Funktion.  Ich  lasse  alle 
möglichen  Bewegungen  der  Finger,  der  Metakarpophalangeal- 
gelenke,  ferner  der  Hand-  und  des  Ellbogengelenkes,  sel¬ 
tener  des  Schultergelenkes,  ausführen  und  dabei  spielt  hei 
den  aktiv -passiven  Bewegungsübungen  die  linke  Hand  oder 
der  linke  Arm  die  Widerstandskraft..  Diese  Methode  hat 
den  Vorteil,  daß  der  Kranke  genau  das  Gefühl  hat,  bis  zu 
welcher  Kraftanwendung  für  die  Bewegung  und  für  den 
Widerstand  er  gehen  kann. 

Ebenso  kann  die  linke  Hand,  respektive  der  linke 
Arm  die  betreffenden  Bewegungen  ausführen  und  die  rechte 
Hand  das  richtige  Maß  des  Widerstandes  leisten.  Wichtig 
zu  bemerken  ist,  daß  die  antagonistischen  Bewe¬ 
gungen  in  der  Regel  mit  sehr  verschiedener  Kraft  aus¬ 
geführt  werden  und  darum  ist  die  Feinheit  des  Gefühles 
für  den  zu  leistenden  Widerstand  .so  wichtig. 

Es  genügt  eine  kurze  Zeit  der  Unterweisung,  um  den 
Kranken  die  Methode  dieser  Uebungen  beizubringen  und 
ihnen  so  die  Vorteile  derselben  zu  verschaffen. 


K.  u.  k.  Marinespital  in  Pola.  (Kommandant :  Marine¬ 
oberstabsarzt  Dr.  Georg  Kugler.) 

Aus  der  chirurgischen  Abteilung:  (Chefarzt:  Linien¬ 
schiffsarzt  Dr.  Gustav  Nespor.) 

Isolierte  Karpalknochenfrakturen. 

Von  k.  u.  k.  Fregattenarzt  Dr.  Auton  v.  Poscli. 

Pen  Röntgenstrahlen,  die  in  so  manchen  Winkel  chirurgisch- 
interner  Diagnostik  erfolgreich  hineingeleuchtet  haben,  kommt 
auch  das  Verdienst  zu,  die  Diagnose  der  Karpalfrakturen  erleich- 


Nr.  15 


531 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


tert  bzw.  sichergestellt  zu  haben,  so  daß  nunmehr  viele'  der 
früher  unter  der  falschen  Flagge  einer  einfachen  Distorsion  oder 
chronischen  Arthritis  segelnden  Karpalfrakturen,  als  solche  er¬ 
kannt  werden  können.  Demzufolge  häufen  sich  auch  jetzt  Be¬ 
richte  über  solche  Frakturen.  Immerhin  sind  sie  aber  auch  jetzt 
noch  als  Seltenheit  zu  bezeichnen,  so  daß  es  mir  wohl  gestattet 
sein  mag,  zwei  solche  Fälle  zu  veröffentlichen.  Bezüglich  der 
einschlägigen  Literatur  sei  auf  eine  Veröffentlichung  des 
Assistenten  der  Innsbrucker  chirurgischen  Klinik  Dr.  Kindl  hin¬ 
gewiesen,  der  einer  im  68.  Bande  der  Beiträge  zur  klinischen 
Chirurgie  erschienenen  Publikation  seltener  Karpalverletzungen 
eine  umfassende  Literaturangabe  vorausgeschickt  hat. 

I.  Iso  Her te  Fraktur  des  Os  navicular e. 

A.  W.,  Bauarbeiter,  30  Jahre  alt,  stürzte  am  25.  Novem¬ 
ber  1910  von  einem  21k  m  hohen  Gerüste  auf  einen  Zementboden 
derart  herab,  daß  er  auf  beide,  stark  dorsal  flektierten  Handflächen 
auffiel.  Gleich  nachher  verspürte  er,  besonders  links,  einen 
stechenden  Schmerz  in  den  Handgelenken ;  diese  schwollen  stark 
an  und  er  war  unfähig  noch  zu  arbeiten.  Dieser  Zustand  hielt 
mehrere  Tage  lang  an,  besserte  sich  jedoch  nur  rechterseits,  wäh¬ 
rend  das  linke  Handgelenk  auch  nach  dem  Abklingen  der  akuten 
Erscheinungen  schmerzhaft  und  weniger  beweglich  blieb.  Eine 
Woche  nach  dem  Unfälle  wurde  objektiv  folgender  Befund  er¬ 
hoben  :  Das  linke  Handgelenk  nicht  geschwollen,  von  normaler 
Konfiguration.  An  der  Dorsalfläche  wölbt  sich  im  Gebiete  des 
Os  naviculare  ein  stumpfer  Höcker  vor,  der  auf  Druck  unbeweg¬ 
lich  bleibt,  nicht  krepitiert  und  nur  wenig  schmerzhaft  ist.  Er 
fühlt  sich  beinhart  an,  die  Haut  über  demselben  ist  nicht  ver¬ 
ändert.  Die  Beugebewegung  ist  nur  wenig  eingeschränkt,  stark 
jedoch  die  Randflexionen.  Alle  Bewegungen  sind  schmerzhaft. 
Der  für  die  Fraktur  als  pathognomonisch  geltende  Druckschmerz 
in  der  Gegend  der  Tabatiere  ist  nicht  vorhanden.  Vorderarm¬ 
knochen  und  Muskulatur  normal. 


Fall  I. 

Röntgenbefund  (Platte  Nr.  260  vom  26.  November  1910; 
s.  Fig.  1):  D  ie  Handwurzelknochen  links  zeigen  im  Vergleiche 
zu  denjenigen  der  rechten  Seite  eine  deutliche  Atrophie,  bis 
auf  das  durch  einen  breiten  Spalt  halbierte  Os  naviculare,  dessen 
Spongiosa  verdichtet  erscheint  (Ostitis).  In  dem  gerade,  nicht 
wellig  verlaufenden  Bruchspalt,  sowie  in  den  benachbarten  Ge- 
lcnksspaltcn  sind  kleine,  scharf  gezeichnete  Schatten  (Knochen¬ 
splitter)  sichtbar.  Alle  übrigen  Knochen  des  Handgelenkes  nor¬ 
mal.  Die  Stellung  der  Fragmente  gibt  die  normale  Konfiguration 
des  Navikulare  wieder. 

Hervorhebenswert  ist,  daß  an  der  anderen,  scheinbar  un¬ 
verletzten  Hand  als  Folge  des  gleichzeitigen  Traumas  eine  Fis- 
sura  radii  loco  classico  sich  befand,  die  nur  röntgenographisch 
nachgewiesen  werden  konnte. 

Therapie:  Warme  Bäder,  Heißluft,  Massage  und  mäßige  Be¬ 
wegungen.  Einen  operativen  Eingriff  verweigerte  der  Patient  von 

vornherein. 

Nach  acht  Wochen  derselbe  Befund,  röntgenographisch  kein 
Kallus  nachzuweisen,  dagegen  eine  Zunahme  der  Atrophie  der 
übrigen  Handwurzelknochen,  während  die  t  Spongiosa  der  Frag¬ 
mente  derb  verdichtet  erscheint,  ganz  im  Gegensätze  zu  einer 
vor  einigen  Jahren  von  Marineoberstabsarzt  Dr.  Okunievski 
veröffentlichten  Navikularefraktur,  wo  die  Bruchenden  deutliche 
Sud  ek sehe  Atrophie  zeigten. 

Die  DifferentialdiaghO'se  zwischen  Fraktur  und  Os  navi- 
culare  bipartitum  kommt  in  Hinsicht  auf  die  typische  Actio- 
logie,  die  ausgesprochene  Ostitis  und  Osteoporose  und  die  Splitter 


nicht  in  Betracht.  Die  Prognose  des  Falles  dürfte  zweifellos 
ungünstig  zu  stellen  sein,  da  sich  der  Arbeiter  aus  sozialen 
Gründen  einer  konsequent  durchzuführenden  Behandlung  im 
Spitale  nicht  unterziehen  kann. 

II.  Fr a c tu r a  ossis  lunati. 

A.  F.,  Rekrut,  M.  4.  KL,  2L  Jahre  alt,  gab  bei  der  Unter¬ 
suchung  an,  daß  er  sein  rechtes  Handgelenk  seit  sechs  Monaten 
nicht  mehr  beugen  könne.  An  eine  Verletzung  will  er  sich  nicht 
erinnern  können,  gibt  jedoch  auf  näheres  Befragen  zu,  daß  er 
vor  zirka  sechs  Monaten  beim  Erdschaufeln  einmal  einen  heftigen 
Schmerz  im  rechten  Handgelenke  gespürt  habe.  Der  genaue  Ver¬ 
letzungsmechanismus  ist  bei  der  Beschränktheit  des  Mannes  nicht 
zu  eruieren,  jedoch  kann  der  Vermutung  Raum  gegeben  werden, 
daß  ein  Trauma  dadurch  zustande  kam,  daß  der  Mann,  die 
Schaufel  in  der  linken  Hand  haltend,  mit  der  rechten  Handfläche 
einen  kräftigen  Stoß  gegen  deren  Stiel  ausführte,  um  die  Schaufel 
in  die  Erde  zu  treiben  und  dadurch  auch  ein  kräftiger  Stoß  gegen 
die  Karpalknochen  ausgeübt  wurde. 

Der  objektive  Befund  ergab  eine  diffuse  Verdickung  des 
rechten  Handgelenkes,  an  dessen  volarer  Fläche  sich  eine  harte, 
unverschiebliche,  nicht  krepitierende,  unscharf  begrenzte  Vor¬ 
treibung  findet,  die  stark  druckschmerzhaft  ist.  Die  Beweglichkeit 
des  Handgelenkes  ist  äußerst  beschränkt  und  auch  die  passiv  aus¬ 
geführten  Bewegungen  sind  anscheinend  mit  großen  Schmerzen 
verbunden. 

Atrophie  der  Knochen  und  der  Muskulatur  fehlt,  dagegen  be¬ 
steht  eine  deutliche  Herabsetzung  der  Hautsensibilität  im  Ge¬ 
biete  des  Handrückens. 

Röntgenbefund  (Platte  Nr.  272  vom  4.  Dezember  1910; 
siehe  Fig.  2) :  läßt  im  Gegensätze  zu  dem  der  anderen  Seite 
eine  deutliche  Verkürzung  der  Handwurzel,  sowie  eine  zirka 
2  mm  breite,  deutlich  wellig  verlaufende  Bruchlinie  im  Os  luna- 
tum,  die  zuerst  radioulnar  verläuft  und  dann  gegen  das  distale 
Ende  der  Extremität  umbiegt,  erkennen.  Die  Spongiosa  der  Frag¬ 
mente  ist  deutlich  verdichtet,  die  Fragmente  verbreitert  und  man 
gewinnt  den  Eindruck,  als  sei  das  Os  lunatum  in  distalproximaler 
Richtung  zusammengequetscht  worden.  Bruchspalt  und  benach- 


Fall  II. 

barte  Gelenksspalten  sind  frei,  nirgends  Splitter  oder  Zeichen 
von  Arthritis.  Die  übrigen,  an  der  Bildung  des  Handgelenkes  sich 
beteiligenden  Knochen  sind  normal,  nur  das  Os  naviculare  er¬ 
scheint  im  Vergleiche  zu  dem  der  Gegenseite  verkürzt,  da  es, 
wie  aus  dem  genauen  Studium  der  Schattentiefen  ersichtlich, 
um  eine  radioulnare  Achse  gedreht  ist. 

Therapie  gleichfalls  konservativ,  der  Erfolg  aber  trotz  der 
im  Marinespitale  konsequent  durch  zwei  Monate  fortgesetzten  Be¬ 
handlung  minimal. 

D|ie  Prognose  dieses  Falles  (Operation  wird  verweigert) 
dürfte  noch  infauster  als  die  des  ersten  sein,  da  ja  die  Beweglich¬ 
keit  von  Anfang  an  fast  gleich  Null  war  und  auch  zwischen  Ver¬ 
letzung  und  Behandlung  ein  sehr  großer  Zeitraum  liegt.  Allerdings 
wird  dem  letztgenannten  Umstande  seitens  namhafter  Chirurgen 
wenig  Bedeutung  beigemessen,  da  sie  Erfolge,  wie  über  einen 
solchen  auch  K  i  n  d  1  berichtet,  auch  durch  konservative  The¬ 
rapie  noch  nach  vielen  Monaten,  die  zwischen  Trauma  und  Behand¬ 
lung  verstrichen  waren,  verzeichnen  konnten.  Jedoch  wir  müssen 
bei  Beurteilung  der  Prognose  und  eventueller  Entscheidung  über 
die  Art  der  Therapie  trotz  der  fast  immer  günstig  lautenden  Be¬ 
richte  über  konservative  Therapie  auch  den  Gegnern  derselben 
ein  Ohr  leihen,  da  selbst  nach  mit  Erfolg  durchgeführter  konser¬ 
vativer  Therapie  nach  Jahren  noch  Verschlimmerungen  beob¬ 
achtet,  werden,  wie  einen  solchen  Fall  Hirsch  (Münchener  medi¬ 
zinische  Wochenschrift,  Dezember  19101  veröffentlicht  hat,  wo 
noch  nach  einer  Frist  von  drei  Jahren  Versteifung  des  Hand¬ 
gelenkes  beobachtet  wurde. 


532 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


Diskussion. 

Zur  Frage  der  Erkrankungen  des  Akustikus 
und  des  Labyrinthes  bei  erworbener  Lues. 

Von  Dr.  Otto  Mayer. 

In  Nummer  13  dieses  Jahrganges  der  Wiener  klinischen 
Wochenschrift  hat  Alexander  behauptet,  daß  durch  die  von  mir 
mitgeteilten  Beobachtungen  von  luetischen  Akustikusaffektionen 
seine  eigenen  Mitteilungen  bestätigt  würden.  Demgegenüber  möchte 
ich  folgendes  bemerken:  1.  Alexander  sagte  in  der  Gesellschaft 
der  Aerzte  am  6.  Dezember  1910:  „Unter  den  neun  Fällen  meiner 
Beobachtung  kann  ich  nur  einen  einzigen  finden,  in  welchem 
die  Hörstörung  nach  13  Wochen  zur  Entwicklung  kam,  in  allen 
anderen  Fällen  ist  die  Hörstörung  zwar  innerhalb  des  rezenten 
Stadiums  der  Lues  aufgetreten,  jedoch  nicht  früher  als  im  vierten, 
fünften  oder  sechsten  Monate.“ 

Ich  habe  nun  an  dem  mir  von  Herrn  Professor  Hab  ermann 
übergegebenen  Materiale  konstatiert  (S.  382  1.  c.),  daß  in  13  Fällen 
die  Akustikusaffektion  schon  zwischen  der  dritten  und  zehnten 
Woche  nach  dem  Primäraffekte  aufgetreten  war. 

Ich  kann  somit  feststellen,  daß  Alexander  nach 
seinen  eigenen  Angaben  keinen  einzigen  Fall  be¬ 
obachtet  hat,  in  welchem  die  Akustikusaffektion  in 
einem  so  frühen  Stadium  der  Lues  aufgetreten  war. 
Die  Bedeutung  dieser  Tatsache,  daß  Akustikusaffektionen  schon 
in  diesem  Stadium  der  Lues  sich  entwickeln  können,  habe  ich  in 
meiner  Arbeit  bereits  besprochen. 

2.  Die  Berechnung,  die  Alexander  anstellt,  ist  demnach 
unrichtig,  denn  diese  Von  mir  genannten  13  Fälle  lassen  sich 
mit  den  neun  Fällen  Alexanders  überhaupt  nicht  in  Parallele 
stellen.  Hiefiir  kämen  nur  die  weiteren  Fälle  meiner  Statistik 
in  Betracht,  bei  welchen  die  Akustikusaffektionen  in  einem  spä¬ 
teren  Stadium1  auftraten  u.  zw.  sind  dies  acht  Fälle,  bei  welchen 
die  Akustikusaffektion  nach  10  bis  16  Wochen,  fünf  Fälle,  wo 
dieselbe  nach  4  bis  9  Monaten  und  drei  Fälle,  wo  sie 
nach  9  bis  12  Monaten  auftrat.  Es  wären  also  zusammen 
16  Fälle,  welche  sich  den  von  Alexander  beobachteten 
9  Fällen  insoferne  gegenüberstellen  ließen,  als  sie  ungefähr  dem¬ 
selben  Stadium  der  Lues  entsprechen.  Zähle  ich  aber  die  eingangs 
genannten  13  Fälle,  in  welchen  die  Akustikusaffektion  in  einem 
noch  früheren  Stadium1  der  Lues  aufgetreten  war,  hinzu, 
so  befanden  sich  also  unter  den  65  Fällen  von  Akustikusaffek¬ 
tionen  bei  erworbener  Lues  29  Fälle,  wo  sich  diese  Erkrankung 
bereits  innerhalb  des  ersten  Jahres  nach  der  luetischen  Infektion 
entwickelt  hatte. 

Alexander  hingegen  hat  42  Fälle  von  Akustikusaffek¬ 
tionen  bei  Lues  (hereditärer  und  erworbener!)  beobachtet  und 
von  diesen  neun,  bei  welchen  die  Akustikusaffektion  im  rezenten 
Stadium  aufgetreten  war. 

Würde  ich  die  Erkrankungen  des  Akustikus  bei  here¬ 
ditärer  Lues  mitrechnen,  wozu  aber  gar  keine  Veranlassung 
vorlag,  weil  für  die  diskutierte  Frage  nur  die  erworbene  Lues 
in  Betracht  kam,  so  würde  diese  Zahl  nicht.  86,  wie  Alexander 
meint,  sondern  nur  76  betragen,  weil  die  Zahl  dieser  Fälle  nur 
elf  betrug,  wie  ich  mitgeteilt  habe. 

Alexander  hat  ferner  angenommen,  daß  sich  unter  meinen 
65  Fällen  solche  mit  Veränderungen  im  Mittelohre  befanden. 
Tatsächlich  aber  handelte  es  sich  in  allen  diesen  Fällen 
um  reine  Akustikusaffektionen,  was,  wie  ich  glaube, 
aus  meinen  Ausführungen  deutlich  hervorging.  Es  hätte  ja  auch 
keinen  Sinn  gehabt,  bei  Besprechung  der  Erkrankungen  des 
Akustikus  die  des  Mittelohres  einzubeziehen. 

Es  ergibt  sich  also,  daß  die  von  Alexander  auf¬ 
gestellte  Berechnung  unrichtig  ist. 


OEFFENTLICHE  GESUNDHEITSPFLEGE. 


Die  Enquete  zum  Baiiord"ungsentwurf  im 
Winter  1910/11. 

Von  Dr.  A.  Hinterberger. 

Ich  will  in  folgenden  Zeilen  einen  Bericht  von  der  Tätigkeit 
der  Delegierten  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  der  Enquete 
über  den  Bauordnungsentwurf  geben  und  zugleich  in  aller  Kürze 
eine  ganz  ungefähre  Vorstellung  von  der  zu  erwartenden  Bau¬ 
ordnung  für  Wien  verschaffen,  sowie  einige  Orientierung  betreffs 
einiger  wirtschaftlicher  Anschauungen,  die  während  der  Enquete 
als  Gründe  und  Gegengründe  einwirkten,  bieten. 

Die  jetzige,  für  Wien  geltende  Bauordnung  stammt  aus  dem 


Jahre  1883.  Nachdem  eine  Reihe  von  Jahren  nach  dieser  Bau¬ 
ordnung  gearbeitet  worden  war,  litt  unsere  Stadt,  welche  nach 
verschiedenen  Gesichtspunkten,  wie  Untergrund,  Umgebung,  Mög¬ 
lichkeit  guter  Wasserversorgung  und  Abwässerableitung  von  der 
Natur  begünstigt  zu  nennen  ist,  an  einer  enorm  dichten  Ver¬ 
bauung  zum  Nachteile  ihrer  gesundheitlichen  Verhältnisse.  Die 
Absicht,  durch  eine  neue  Bauordnung  bessere  hygienische  Ver¬ 
hältnisse  zu  schaffen,  gewann  daher  immer  mehr  an  Boden. 

Im  Jahre  1892  wurde  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  ein 
Bericht  über  die  Bauordnung  von  einer  Anzahl  angesehener  Autori¬ 
täten  auf  dem  Gebiete  der  Hygiene  und  des  öffentlichen  Sanitäts¬ 
wesens  vorgelegt.  Im  Jahre  1906  wurde  ein  Entwurf  einer  neuen 
Bauordnung  geschaffen,  der  aber  diesem  Berichte  durchaus  nicht 
vollkommen  entsprach.  Im  Jahre  1907  erschien  ein  weiterer  Ent¬ 
wurf,  im  Jahre  1909  ein  Antrag  und  Bericht  des  Stadtrat.es 
über  die  Bauordnung.  Es  gingen  also  der  Schaffung  des  jetzt  vor¬ 
liegenden  Bauordnungsentwurfes  lange  Arbeiten  und  Beratungen 
voraus,  die  aber  leider  nennenswerte  Herabsetzungen  der  wich¬ 
tigsten  sanitären  Anforderungen  zur  Folge  batten. 

Nachdem  Oberbaurat  Dr.  Kapp  au  n  in  der  Oeffentlich- 
keit  wiederholt  mit  großer  Sachkenntnis  und  Energie  die 
Mängel1  des  neuen  Bauordnungsentwurfes  hinsichtlich  Belichtung 
und  Lüftung  von  Dienerzimmern  und  Küchen  betont  hatte', 
hat  Prof.  Grassberger  in  einem  Vortrage1)  in  der  Oester- 
reichischen-  Gesellschaft  für  Gesundheitspflege  am  1.  Dezember 
1909  darauf  hingewiesen,  daß  an  dem1  ursprünglichen  Entwurf 
der  Bauordnung  durch  die  neue  Fassung,  die  er  bei  den  Durch¬ 
beratungen  im  Stadtrat  erhielt,  gerade  in  hygienischer  Hinsicht 
sehr  einschneidende  Veränderungen,  die  vom  ärztlichen  Stand¬ 
punkte  als  Verschlechterungen  zu  bezeichnen  send,  vorgenommen 
wurden  und  hat  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  insbesondere  die 
wichtigen  Paragraphen  über  die  Belichtung  der  Haupt-  und  Neben¬ 
räume  in  der  gegenwärtigen  Fassung  vollkommen  unzureichend 
sind. 

Am  3.  Dezember  1909  wurde  eine  von  zahlreichen  hervor¬ 
ragenden  Mitgliedern  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  Unter¬ 
zeichnete,  die  Unterschiede  des  Berichtes  und  der  beiden  Entwürfe 
vom  Jahre  1906  und  1909  in  einer  Tabelle  anführende  Eingabe 
dem  Präsidium  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  eingereicht, 
worin  die  Vermutung  ausgesprochen  wurde,  daß  bei  der  Abfassung 
des  Entwurfes  vom  Jahre  1909  hygienisch  geschulte  ärztliche 
Sachverständige  nicht  angehört  wurden.  In  dieser  Eingabe  wurde 
schließlich  der  Antrag  gestellt,  die  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte 
möge  beim  Bürgermeister  der  k.  k.  Beichshaupt-  und  Residenzstadt 
Wien  in  Angelegenheit  der  neuen  Bauordnung  deputativ  vor¬ 
sprechen. 

Im  Spätherbste  1910  wurde  die  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte 
vom  Magistrate  eingeladen,  einen  oder  höchstens  zAvei  Delegierte 
für  die  über  den  neuen  Bauordnungsentwurf  einzuberufende  En¬ 
quete  zu  nominieren.  Das1  Präsidium  der  k.  k.  Gesellschaft  der 
Aerzte  nannte  als  Delegierte:  Prof.  Dr.  Roland  Grassberger 
und  Dr.  Alexander  Hinter  berge r. 

* 

Seit  dem  Jahre  1883  waren  wesentliche  Veränderungen  im 
Umfange  der  Stadt,  soweit  diese  als  Reichshaupt-  und  Residenz¬ 
stadt.  Wien  der  Bauordnung  von  1883  zu  entsprechen  hatte, 
eingetreten.  Durch  die  Schaffung  von  Groß- Wien  Avar  ein  unge¬ 
heures  Gebiet  diesen  Bestimmungen  unterworfen,  ein  Gebiet,  in 
welchem  sowohl  der  Begriff  der  Großstadt,  als  auch  des  Dorfes, 
des  landwirtschaftlich  gepflegten  und  des  brachliegenden,  aber 
doch  noch  Aveit  von  der  Periode  der  Verbauung  entfernten  Bodens, 
ebenso  Avie  des  einzeln  stehenden  Fabrikskomplexes  vertreten 
waren. 

Es  Avar  daher  vor  allem  eine  Abstufung  der  Vorschriften 
je  nach  der  Wertigkeit  und  der  voraussichtlichen  Bestimmung 
der  verschiedenen  Gebietsteile  nötig  und  das  geschah  durch  die 
Einführung  einer  Zoneneinteilung,  deren  genauere  Durchbildung 
ein  zur  Zeit  noch  in  Bearbeitung  stehender  Generalregulierungs¬ 
plan  uns  in  Bälde  zeigen  wird. 

Die  Straßenbreiten,  die  absolute  Höhe  der  Gebäude  und  deren 
Geschoßzahl  sind  je  nach  Zonen  verschieden,  ebenso  die  Größe 
der  Haushöfe.  Diese  ist  in  der  alten  Bauordnung  in  sehr  un¬ 
vollkommener  Weise  bestimmt.  Wir  finden  hier  nach  einem  sehr 
allgemein  gehaltene^  gan'z  willkürliche  Auslegungen  zulasseri- 
den  Einleitungsparagraphen  die  Bestimmung,  daß  15%  des  Ce- 
samtausmaßes  des  Bauplatzes  frei  bleiben  müssen,  daß  Licht¬ 
höfe,  durch  Avelche  Wohnräume  oder  Küchen  erhellt  werden, 
mindestens  12  m2,  Lichthöfe  für  Korridore,  Aborte  oder  sonstige 

*)  Erschienen  als:  Der  Entwurf  der  neuen  Wiener  Bauordnung- 
Von  Prof.  Dr.  Roland  Grassberger,  Wienr1910.  Verlag  von  Moritz. 
Perles. 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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unbewohnte  Räume  mindestens  6  m2  Grundfläche  erhalten  müssen 
und  daß  Luftschachte  für  die  Ventilation  von  Aborten  nicht 
unter  1  m2  Grundfläche  haben  dürfen. 

Wer  sich  die  Mühe  nimmt  und  solche  Lichthöfe  von  2  zu 
3  m  ansieht,  wer  sich  die  Luftbewegung  (von  der  Belichtung  der 
Aborte  wollen  wir  ja  gar  nicht  reden)  in  Aborten,  die  an  einen 
Hof  von  1  in2  Grundfläche  angeschlossen  sind,  vorstellt,  wird 
olmeweiters  die  Unhaltbarkeit  solcher  Normen  verstehen. 

Es  ist  klar,  daß  diese  Bestimmungen  in  ihren  Wirkungen 
auch  sonst  oft  recht  ungünstig  waren.  Einerseits  gestattete  die 
8ö%ige  Verbauung  des  Bauplatzes  eine  enorme  Ausnützung  des 
Rodens  auf  Kosten  der  Belichtung  und  Lüftung  der  Räume,  andrer¬ 
seits  bestand  nicht,  der  geringste  Zwang  in  Hinblick  auf  die  Ver¬ 
teilung  und  Konfiguration  der  Höfe,  so  daß  ungeschickte  Grundri߬ 
lösungen,  wo  beispielsweise  zur  Belichtung  von  Räumen  die 
oft  sehr  bedeutend  kleinere  Dimension  eines  Hofes  statt  der 
größeren  in  Dienst  gestellt  war,  nicht  beanständet  werden  konnten, 
wofern  nur  die  prozentuelle  Verbauung  nicht  überschritten  war. 

Der  neue  Entwurf  ließ  das  Prinzip  eines  prozentuellen 
Verbauungsverbotes  vollkommen  fallen  und  führte  an  dessen 
Stelle  Minimalabstände  zwischen  Fenster  und  Nachbarwand  oder 
Nachbargrenze  ein. 

Dieser  Gedanke  ist  ein  sehr  glücklicher  zu  nennen,  denn  das 
Entscheidende  betreffs  der  Belichtung  eines  in  den  Hof  gehenden 
Raumes  ist  selbstredend  nicht  die  absolute  Größe  des  Hofes,  son¬ 
dern  die  Entfernung  des  betreffenden  Fensters  von  der  nächsten 
bestehenden  oder,  bei  einer  Nachbargrenze,  eventuell  in  Zu¬ 
kunft  dort  erstehenden  Mauer  und  deren  Höhe. 


Der  neue  Bauordnungsentwurf  stuft  dieses  Mindestverhältnis 
einerseits  je  nach  den  Verbauungszonen  ab.  in  welchem  ja  je  nach 
ihrer  Entfernung  vom  Zentrum  die  hygienischen  Anforderungen 
steigen  können  und  sollen,  andrerseits  unterscheidet  er  zwischen 
sogenannten  Haupt-  und  Nebenfenstern, 

Unter  Hauptfenstern  Versteht  er  Fenster  von 
Räumen,  welche  zum  längeL dauernden  Aufenthalte 
von  Menschen  bestimmt  sind,  unter  Neben  f  enstern 
aber  Fenster  von  Vorzimmern,  Stiegenhäusern,  Gän¬ 
gen  außerhalb  der  Wohnungen,  Aborten,  Speisekam¬ 
mern,  Badezimmern,  Ställen  u.  dgl. 

Diese  Gesichtspunkte,  so  vorzüglich  sie  gedacht  sind,  werden 
aber  im  Entwürfe  durch  verschiedene  Nebenbemerkungen  in  ihrer 
konsequenten  Durchführung  durchbrochen  und  hier  vor  allem 
war  es  die  Aufgabe-Mer  Vertreter  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte 
ihre  warnende  Stimme  zu  erbeben. 

Nicht  nur.  daß  die  sowohl  durch  das  Aussprechen  eines 
absoluten  Flächenausmaßes,  als  auch  durch  die  Kleinheit  der  Aus¬ 
maße  geradezu  ganz  indiskutablen  Bestimmungen  der  alten  Bau¬ 
ordnung  (Höfe  von  12,  resp.  6,  resp.  1  m2  Fläche)  wieder  auf¬ 
tauchten,  es  fand  sich  auch  ein  Absatz  vor,  der  Küchen  und 
Diener  zimmern  den  Rang  von  Räumen  für  länger  dauernden 
Aufenthalt  von  Menschen  raubte  und  auf  Gänge  mündende  Fenster 
derselben  unter  bestimmten  Bedingungen  erlaubte.  Bemerkt  sei 
dazu,  daß  Stallfenster  ins  Freie  münden  sollen,  bogar  nach 
diesem  Entwurf. 


Auch  die  Bestimmungen  über  die  Höbe  der  Häuser  waren 
nicht  in  wünschenswerter  Klarheit  und  Schärfe  geh  tue  nt.  Es  hieß 
im  §  54,  Absatz  1  :  ...  dürfen  ...  an  breiteren  Straßen  eine 
Höhe  erreichen,  die  der  anderthalbfachen  Straßenbreite  entspricht. 
Dadurch  war  für  manche  Stellen  Wiens  dem  plötzlichen  Au 
tauchen  des  Wolkenkratzers  in  den  Häuserzeilen,  einer  ebenso 
sonderbaren  und  scheußlichen,  wie  sanitär  nach  verschiedenen 
Richtungen  hin  sehr  bedenklichen  Erscheinung  Tür  und  Toi  ge- 
öffnet.  ,  ,  ,  , 

Wenn  auch  im  Entwürfe  die  Geschoßzahl  auf  höchstens 
sechs  in  der  ersten  Zone  festgesetzt  war,  so  war  es  doch  mehr 
als  wahrscheinlich  zu  erwarten,  daß  in  dem  Momen  ,  wo  man 
an  gewissen  Plätzen  durch  die  Erlaubnis  einer  Verbauung  bis 
zu  einer  die  anderthalbfache  Straßenbreite  erreichenden  Hohe 
wahre  Türme  von  Häusern  ermöglicht,  daraus  der  Schluß  gezogen 
wird,  daß  eine  Vermehrung  der  Geschoße  mindestens  von  lat 
tu  Fall,  also  einfach  jedesmal  bei  besonders  hohen  Hausern  ei 

^Die  Merkwürdig  starke  Betonung,  weiche  im  weiteren  Von 
laufe  der  Enrruete  die  Besprechungen  über  Dachboden  wohn  angn 
gewannen,  zeigte,  daß  man  nicht  vorsichtig  genug  sein  kanm 
um  unsere  Stadt  vor  einer  den  Grundsätzen  europäischer  Hvgiene 
und  endlich  auch  der  Individualität  Wiens  widersprechenden 

Verbauung  zu  schützen.  .  ..  , 

Speziell  für  Bureaugebäude  und  Industnegebaude ■win •  ■ _ 
größere  gestattete  Gebäudehöhe  verlangt  als  sons  .  | 

Standpunkte  wurde  natürlich  dagegen  gesproc  en. 


Gebäuden,  wo  viele  Menschen  lange  Zeit  dicht  gedrängt  arbeiten, 
gleichgültig,  ob  dies  mit  dem  Hirn  oder  der  Muskulatur  oder 
mit  beiden  geschieht,  muß  den  Anforderungen  strenger  Hygiene 
entsprochen  werden.  Ebensowenig  darf  selbstverständlich  so  ein 
Arbeitsgebäude  durch  abnorme  Höhe  die  sanitären  Verhältnisse 
der  angrenzenden  Wohnhäuser  schädigen.  Gleiches  Recht  für 
alle  ist  wohl  das  erste  Grundgesetz  für  jedes  unter  den  Segnungen 
westeuropäischer  Kultur  stehende  Gemeinwesen. 

Da  es  sowohl  klarer  als  auch  kürzer  ist,  die  Forderungen, 
welche  die  ärztlichen  Vertreter  teils  gleichlautend  mil  dem  Gesetz¬ 
entwürfe,  vielfach  aber  diesen  verschärfend  aufstellten,  in  Form 
einer  Tabelle  wiederzugehen,  sei  eine  solche  hier  einer  lang¬ 
weiligen  und  doch  nur  schwer  kurz  und  verständlich  zu  stili¬ 
sierenden  Auseinandersetzung  vor  gezogen. 

Während  der  Enquete  wurde  eine  ähnliche  Tabelle  von 
Prof.  May  red  er  vorgelegt  und  im  stenographischen  Protokolle 
abgedruckt.  Diese  Tabelle  ist  also  eine  erweiterte  und  stellen¬ 
weise  umgearbeitete  Nachahmung  der  Tabelle  l’rof.  Mayreders. 
(Siehe  umstehende  Tabelle.) 

Aus  der  sechsten  Kolonne  der  Tabelle  ersieht  .man,  daß 
für  bereits  verbaute  Gründe  der  ersten  und  zweiten  Zone  die 
alte  Haushöhe  gestattet  wird.  Das  schließt  zwar  eine  Verbesse¬ 
rung  der  hygienischen  Verhältnisse  in  bezug  auf  die  Höhe  der 
Häuser  in  so  manchen  Fällen  aus,  hat  aber  ebenso  wie  die 
aus  der  zehnten  Kolonne  (1er  Tabelle  zu  entnehmenden,  yon 
den  Vertretern  der  ärztlichen  Vereine  zulässig  erklärten  Erleich¬ 
terungen  in  bezug  äuf  die  Fensterdistanzen  beim  Lmbau  be¬ 
stimmter  Haustypen  seinen  guten  Grund. 

Wenn  man  die  strengeren  Bestimmungen  der  neuen  Bau¬ 
ordnung  in  allen  Zonen  auch  auf  alle  Umbauten  ausgedehnt  hätte, 
so  wäre  die  Folge  gewesen,  daß  so  manches  alte  Haus,  dessen  Um¬ 
bau  jeder  Hygieniker  begrüßt  hätte  (entweder  weil  der  Grund¬ 
riß  ganz  veraltet  oder  unzweckmäßig  war  —  Fehlen  von  Diener- 
zimmem  Speisekammern  und  Badezimmern,  Munden  der  Fenster 
von  Küchen  auf  Gänge  oder  Stiegen,  fensterlose  Vorzimmer  oder 
sogar  Wohnzimmer  —  oder  weil  das  Haus  entsetzliche  Aboit- 
und  Kanalverbältnisse  aufwies,  oder  endlich,  weil  die  jahrhunderte- 
lainige  Benützung  das  Gebäude  hochgradig  verschmutzt  hatte], 
nicht  zum  Umbau  gekommen  wäre,  weil  dieser  nicht  nur  keine 
Rentabilität  geboten  hätte,  sondern  eventuell  sogar  einem  Ver¬ 
mögensverlust.  Da  Wien  derzeit  kein  Expropriationsrecht  hat, 
was  jeder  Hvgieniker  nur  bedauern  muß,  kann  bekanntlich  keine 
Macht  der  Welt  den  Umbau  eines  Hauses  erzwingen,  solange  dieses 
nicht  baufällig  ist.  Daher  haben  sich  auch  die  ärztlichen  Vertreter 
nicht  o-egen  alle  Ausnahmebestimmungen  für  Umbauten  gewendet. 
Sie  betrachteten  einen  Umbau  unter  milderen  baugesetzlichen 
Bestimmungen  für  das  kleinere  Uchel  gegenüber  dem  Fortbestände 
alter,  schmutziger  und  —  last  not  least.  —  schlechter  Hause 
und  wollten  schließlich  auch  nicht  Bestimmungen  vorschlagen, 
durch  welche  bestehendes  Eigentum  geschädigt  wird. 

Ein  weiterer  Grund  dafür,  daß  man  den  in  diesen  Para¬ 
graphen  zugestandenen  Erleichterungen  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  zustimmte,  war  folgender:  Wenn  die  Bauordnung  so 
schaffen  ist,  daß  sie  bestehenden  Gebaudebesitz  der  erste 
und  zweiten  Zone  für  den  Fall  einer  Wiederverbau ung  eventuell 
sugar  im  Werte  herabsetzt,  dann  verliert  sie  noch  mehr  Stirnmen 
in  den  gesetzgebenden  Körperschaften  und  ihr  Rechtskrafüg- 
werden  wird  wieder  auf  Jahre  hinausgeschoben 

Bezüglich  der  die  Umbauten  begünstigenden  P^asmae  en 
wurde  gewünscht,  daß  zwischen  Neuparzellierung  und  W  lecler- 
verbauung  streng  unterschieden  werde,  damit  dieser  Paragrap] 
aicht  die  Handhabe  dazu  gibt,  daß  große  Gebäudekomplexe  (diese 
sind  meist  im  Besitze  der  toten  Hand  des  Aerars  usw )  m 
einer  allen  Forderungen  der  Hygiene  hohnisprechenden  Meise 

vmb^es'onderes  Interegse  wurcle  den  kleinen  und  kl.einst^ 
numeen  entgegengebracht.  Bekanntlich  ist  gerade  bei  Däusern, 
wdebe  Ären  und  kleinsten  Wohnungen  bestehen  che 
größte  Gefahr,  daß  eine  zu  laxe  Bauordnung,  d.  h.  ‘Dso  gesetzi  ch 
erlaubte  Verstöße  gegen  die  Lehren  der  Hygiene  zu  Gefahren 

die  Allgemeinheit  werden.  .  flpr 

Die  Forderungen  der  Delegierten  der  k.  k.  Gesellschaft  der 
Aerzte  gingen  dahin,  daß  bei  jeder  Wohnung,  )velche  riur  aus 
Wohnraum  und  Küche  besteht,  der  Wohnraum  mindestens  -0  ■ 

die  Küche  mindestens  6  m2  Grundfläche  habe,  <  aß  m  jeder 
Wohnung  eine  Speisekammer  oder  ein  ins  Freie  entluftbarer  Spe^s 
schrank  sei  und  daß  jeder  Wohnung  ein  eigener  Abort  ent 
spreche.  Es  wurde  dringend  empfohlen,  diesen  Abor' 

Schlüsse  der  Wohnung  zu  schaffen,  aber  dieser  Mim.'  inaachen 
als  unbedingte  Forderung  ausgesprochen,  da  1  ';"s  qf.uw;erin'keiten 
Fällen  bei  der  Grundrißlösung  sehr  bedeutende  S 


534 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


Gebiet 

derselben 


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I.  Bezirk 

II.-IX.  Bezirk 
und  die  der¬ 
zeit  dichtver¬ 
bauten  Teile 
des  X.  u.  XX. 
Bezirkes 


Jene  Teile  des 
XL— XIX.  u. 
XXI.  Bezirkes, 
die  bereits  ge¬ 
schlossen  u. 
viergeschos¬ 
sig  verbaut 
sind  und  die 
ebenso  ver¬ 
bauten  Teile 
des  X.  u.  XX. 
Bezirkes,  so¬ 
weit  sie  nicht 
in  die  II.  Zone 
fallen 


Unverbaute 
od.  landhaus¬ 
mäßig  ver¬ 
baute  Teile, 
insoweit  sie 
nicht  in  die 
5.  u.  6.  Zone 
fallen 


Gebiete  die 
für  die  Land- 
u.  Forstwirt¬ 
schaft  erhal¬ 
ten  bleiben 


Gebiete  für 
Industrie-, 
Handels-  und 
Gewerbe¬ 
zwecke 


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Hauptfenster 
sind  alle  jene,, 
welche  in  ! 
zum  länger  : 
dauernden  ; 
Aufenthalte  j 
von  Menschen 
bestimmten 
Räumen  sind, 
wozu  auch  j 
Küche  und  1 
Dienerzimmeri 
gehören. 


Nebenfenster 
sind  Fenster 
von  Vor¬ 
zimmern, Stie¬ 
genhäusern, 
Gängen 
außerhalb  der 
Wohnungen, 
Aborten,  Spei¬ 
sekammern. 

Bade¬ 
zimmern, 
Ställen  u.  dgl. 


h  ist  die 
Höhe  der  Ge¬ 
bäudewand, in 
welcher  die 
Fenster  sich 
befinden,  von 
der  Sohlbank  j 
des  am 
tiefsten  ge¬ 
legenen  Fen¬ 
sters  auf-  [ 
wärts  ge¬ 
messen. 


und  bei  der  Ausführung  wesentliche  Kosten  bedingt  hätte.  Für 
die  Fälle,  wo  relativ  viel  Aborte  außer  dem  Verschlüsse  der 
Wohnungen  anzulegen  wären,  wurde  an  die  Erbauung  von  „sani¬ 
tary  towers“  erinnert,  die  dann  auch  Gelegenheit  für  Unterbringung 
von  Bädern,  Waschküchen  usw.  geben  würden.  Dia  speziell  wegen 
der  Aborte  wiederholt  von  Baufachleuten  in  der  Enquete  eine 
Herabstimmung  dieser  Forderungen  versucht  wurde,  wurde  mehr¬ 
fach  unter  eindringlichem  Hinweis  auf  die  Möglichkeit  der  (Jeher¬ 
tragung  von  Infektionskrankheiten  durch  unreine  Aborte  und  die 
daraus  sich  weiters  ergebende  Notwendigkeit,  unter  Umständen 
einen  Abort  zu  sperren,  ferner  mit  Erinnerung  an  den  Begriff 
„Bazillenträger“  und  Betonung  der  Tatsache,  daß  bei  so  kleinen 
Wohnverhältnissen  nur  dieser  Baum  zur  Unterbringung  nasser 
oder  schmutziger  Kleider,  Schmutzwäsche,  Stiefel  u.  dgl.  zur 
Verfügung  stehe,  die  Forderung  je  eines  Aborts  für  jede  Woh¬ 
nung  als  schlechterdings  unabweisbar  erklärt. 

Der  Anforderung  der  Schaffung  einer  Speisekammer  oder 
eines  ins  Freie  lüftbaren  Speiseschrankes,  dessen  Wichtigkeit  be¬ 
sonders  in  bezug  auf  die  Reinhaltung  der  Milch,  also  hauptsächlich 
in  Hinsicht  der  Gesundheit  der  Kinder  jedem  Mediziner  klar  ist, 
erwuchs  kein  Widerspruch. 

Dagegen  war  es  nötig,  sehr  eindringlich  zu  betonen,  daß 
eine  Küche  stets,  also  auch  hei  der  Kleinwohnung,  ein  ins  Freie 
führendes  Fenster  haben  muß.  Die  Forderung  wurde  ausführ¬ 
lich  begründet  und  dabei  auf  die  jetzt  festgestellten  Einflüsse  der 
Wärmestau unig  hei  Anwesenheit  von  hohem  Wassergehalt  der 


Luft  und  auf  die  Bedeutung  von  Luft  und  Licht  in  bezug  auf  die 
T  u  b  erku  1  ose  v  e  r  w  i  es  ein . 

Eine.  Wohnung  mit  einem  Zimmer  von  20  m2  und  einer 
Küche  von  6  m2,  einer  Speisekammer  oder  einem  lüftbaren  Speise« 
schrank  und  einem  zugehörigen  Abort  ist  nach  Ansicht  der  Aerzte 
als  die  kleinste  zulässige  selbständige  Wohnung  für  Wien  zu  be¬ 
trachten.  Sogar  die  nur  ausnahmsweise  Schaffung  von  selbstän¬ 
digen  Wohnungen,  die  nur  aus1  einem  Raume  bestehen,  die  so¬ 
genannte  Wohnküche,  wurde  als  nicht  rätlich  bezeichnet. 

Daß  diese  „kleinste  Wohnung“  auch  in  bezug  auf  die  Raus- 
besorgerwohnung  als  Minimum  anzusehen  ist,  war  sehr  nötig 
zu  betonen.  Bekanntermaßen  sind  die  Hausbesorger  in  Wien 
gerade  in  neuen  Häusern  oft  sehr  merkwürdig  untergebracht. 
Glücklicherweise  ist  im  Entwurf  einiges  über  diese  Frage  enthalten. 
In  Hinkunft  wird  der  Hausbesorger  wirklich  eine  Wohnung  haben, 
das  Haus  bewachen  können,  auffindbar  sein  u.  dgl.,  das  heißt 
-  wenn  der  Entwurf  durchgeht! 

Bei  allen  Fragen  über  Nebenräume  mußte  während  der  En¬ 
quete  immer  und  immer  wieder  darauf  hingewiesen  werden, 
daß  die  Belichtung  der  Räume  ein  außerordentlich  wichtiger 
Faktor  sei.  In  den  laienhaften  Vorstellungen  über  Bauhygiene 
spielt  die  Belüftung  eines  Raumes  eine  viel  größere  Bolle 
al's  die  Belichtung.  Es  ist  dies  begreiflich,  denn  auch  in  der 
Hygiene  wurde  früher,  bevor  man  über  das1  Wesen  der  Infektions¬ 
krankheiten  unterrichtet  war,  der  verdorbenen  Luft  eine  sehr 
große,  sagen  wir,  die  größte  Rolle  zugewiesen.  Wie  hat  früher 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE 


der  Begriff  des  „Miasma“  die  Lehre  von  der  Malaria  beherrscht! 
Was  in  der  Wissenschaft  als  wahrscheinliche  Hypothese  ange¬ 
nommen  wird,  dringt  häufig  langsam  in  das  Wissen  der  Allge¬ 
meinheit  ein  und  bildet  dort  einen  oft  recht  festsitzenden  geistigen 
Besitz  zu  einer  Zeit,  wo  die  Forschung  dem  Fachmann  die  Frage 
geklärt  hat  und  für  diesen  nur  Teile  dieser  seinerzeit  wahrschein¬ 
lichen  Hypothese,  jetzt  aber  als  Wissen,  bewahrt  hat.  Der  Hygie¬ 
niker  unterschätzt  heute  die  Belüftung  keineswegs,  aber  er  schätzt 
noch  höher  die  Belichtung  und  die  daraus1  resultierende  Rein¬ 
lichkeit. 

Die  Erbauung  sogenannter  Kleinwohnungshäuser 
(Häuser  von  höchstens  180  m2  Grundfläche  mit  mindestens  zwei 
Wohnungen  in  jedem  Geschoße),  denen  mit  Ausnahme  der  ersten 
und  zweiten  Zone  und  der  landhausmäßig  zu  verbauenden  Teile 
der  vierten  Zone  um  ein  Geschoß,  mehr  erlaubt  ist,  wäre  gewiß 
im  Interesse  des  heute  sehr  bedrängten  ärmeren  Mittelstandes 
gelegen.  Damit  aber  gerade  diese  Häuser  ihren  Charakter  auch 
beibehalten,  wurde  für  diese  ausdrücklich  die  Notwendigkeit  einer 
Wohnungsinspektion  hervorgehoben,  ein  Verbot  des  Bettgeher¬ 
wesens  gewünscht,  sowie  eine  Beschränkung  dieser  Begünsti¬ 
gung  auf  160  m2  Grundfläche  empfohlen. 

Auch  sonst  wurde  verhältnismäßig  häufig  während  der 
Sitzungen  der  Ruf  nach  einer  Wohnungsinspektion  laut.  Diesem 
Wunsche  schlossen  sich  die  ärztlichen  Vertreter  selbstredend  an, 
ermangelten  aber  doch  nicht,  bei  einzelnen  Paragraphen  des 
Entwurfes,  z.  B.  §§  42,  50,  worin  schon  in  der  Bauordnung 
der  Behörde  ein  Einfluß,  auf  die  Benützung  der  Räume  eingeräumt 
wird,  kleine  verschärfende  Aenderungen  vorzuschlagen. 

In  bezug  auf  den  Bau  von  Einfamilienhäusern,  der  ja  für  den 
Hygieniker  das  anzustrebende  Ideal  des  Wohnhausbaues  über¬ 
haupt  ist,  waren  die  Delegierten  bestrebt,  sowohl  durch  genauere 
Bestimmungen,  als  auch  durch  erleichternde  Ausnahmen  günstige 
Verhältnisse  zu  schaffen. 

Betreffs  der  Zwischenräume  zwischen  einzelstehenden  Cot¬ 
tages  wurde  bei  Seitenfrontlängen  bis  16  m  ein  Abstand  von 
mindestens  8  m  und  für  längere  Fronten  ein  Zuschlag  von  je 
einem  Viertelmeter  für  jeden  Meter  Frontlänge  verlangt.  Es  ist 
klar,  daß  der  gesundheitliche  Vorteil  des  Einfamilienhauses  nur 
dann  voll  und  ganz  eintritt,  wenn  das  Nachbarhaus  entsprechend 
entfernt  steht.  Wer  sich  vorstellt,  wie  breit  4  m  sind,  und  für 
die  Dachtraufe  60  cm,  die  begehbare  Wegbreite  140  cm  und 
für  einen  lebenden  Zaun  50  cm  rechnet,  sieht,  daß.  eigentlich 
nur  eine  Breite  von  150  cm  für  Rasen  oder  eine  Baumreihe, 
Gebüsch  usw.  neben  dem  ums  Haus  führenden  Weg  übrig  bleibt 
—  wahrlich  nicht  unbillig  viel.  Wer  sich  die  ganze  Distanz  von 
8  m  von  Haus  zu  Haus  im  Hinblick  auf  hustende  tuberkulöse, 
schuppende  Exantheme,  Keuchhusten  oder  auch  Klaviere  und 
Grammophone  und  ähnliches  vor  Augen  hält,  wird  diese  Distanz 
(früher  war  ein  größeres  Zimmer  so  lang)  auch  nicht  unerhört 
finden. 

Speziell  erwähnt  wurde  auch,  daß  ein  Reihenbau  von  Ein¬ 
familienhäusern  zweckmäßiger  ist  als  das  Zugestehen  zu  kleiner 
Abstände  zwischen  Einzelhäusern. 

Eine  Anregung  von  Baudirektor  Müller,  bei  landhaus- 
mäßiger  Verbauung  nicht  mehr  als'  ein  Viertel  der  Parzelle  ver¬ 
bauen  zu  lassen,  enthob  die  Aerzte  der  Pflicht,  durch  diesen 
Vorschlag  entstehende  und  besonders  auch  bestehende  Cottage¬ 
anlagen  vor  der  Zerstörung  ihrer  Gärten  und  dadurch  ’Vernich¬ 
tung  eines  Hauptmomentes  ihrer  sanitären  Vorzüge  durch  gewinn¬ 
süchtige  Bauspekulation  bewahren  zu  müssen. 

Ferner  wurde  vorgeschlagen,  die  landhausmäßig  verbauten 
Teile  der  vierten  Zone  prinzipiell  von  Industrieanlagen  freizuhalten 
und  ersucht,  die  Benützung  dortiger  unverbauter  Parzellen  zu 
Materiallagerplätzen  der  Bestimmung  dieser  Gebietsteile  Wiens 
entsprechend  zu  regeln  und  dadurch  die  Cottageanlagen  in  ihrer 
Eigenart  zu  erhalten  und  zu  schützen. 

Dagegen  wurden  für  diese  Bauten  Hausbesorgerwohnungen 
im  Souterrain  als  zu  gestattende  Ausnahme  bemerkt.  Die  liiefür 
inaißgebenden  Gesichtspunkte  waren,  daß  in  solchen  Häusern 
doch  vielfach  dem  Bau  selbst  eine  erhöhte  Sorgfalt  gewidmet 
werde,  weil  es  meist  Privatbauten  vermögenderer  Menschen  sind 
'infolgedessen  auch  die  Souterrainwohnung  oft  wirklich  technisch 
erstklassig  ausgeführt  wird)  und  daß  es  gerade  in  Einfamilien¬ 
häusern  oft  besonders  schwierig  und  kostspielig  ist,  die  Haus- 
besorgerwobnung  anders  unterzubringen  als  in  dem^  ohnedies 
für  die  Bedürfnisse  des  Hauses  meist  viel  zu  großen  Souterrain. 

Gegen  das  Münden  von  Stall-,  Abort-  oder  Remisenfenstein 
auf  die  Straße  erklärten  die  Delegierten  keine  Einwendung  zu 
haben,  da  es  in  so  manchen  Fällen  besser  ist,  wenn  diese  lenster 
auf  die  Straße  münden,  statt  in  einen  Hof  oder  in  den  Gärten 


WOCHENSCHRIFT.  1914  535 


eines  Einfamilienhauses.  Auch  ist  es  besonders  bei  Cottage¬ 
häusern  deren  Gassenfronten  nach  Norden  sehen,  deren  Gassen¬ 
fronten  also  für  Schlafzimmer,  Kinderzimmer  u.  dgl.  nicht  ge¬ 
eignet  sind,  eine  ganz  unnötige  Erschwerung  der  Aufgabe  der 
Grundrißlösung,  Abortfenster  nicht  auf  die  Straße  münden  zu 
lassen. 

In  bezug  auf  die  Dachbodenwohnungen,  deren  Erbauung 
in  der  vierten,  fünften  und  sechsten  Zone  im  Entwürfe  gestattet 
ist,  wurde  nur  verlangt,  daß  detailliertere  Bestimmungen  über 
deren  Deckenkonstruktionen  geschaffen  werden,  um  den  gerade 
dort  besonders  wichtigen  Schutz  gegen  zu  starke  Wärmeeinstrah¬ 
lung  im  Sommer  und  hinwieder  Wärmeverlust  im  Winter  zu 
gewährleisten.  Es  wurde  besonders  auf  die  nachgewiesene  hohe 
Säuglingssterblichkeit  in  Dachwohnungen  durch  das  häufige  Ver¬ 
derben  der  Milch  infolge  der  hohen  Temperaturen  im  Sommer 
hingewiesen. 

Es  ist  zu  erhoffen,  daß  durch  diese  vielfachen  Erleichterungen 
der  Bauvorschriften  für  Einfamilienhäuser,  die  sowohl  im  Ent¬ 
würfe  enthalten  sind,  als  auch  von  den  Aerzten  angeregt  wurden, 
der  Cottagebau  in  Wien  neue  Impulse  erhalte. 

Daß  eine  Wohnung  nur  dann  den  Benützungskonsens  er¬ 
halten  darf,  wenn  alle  ihre  Teile  brauchbar  sind,  ist  ja  selbst¬ 
verständlich,  mußte  aber  doch  ausdrücklich  erwähnt  werden,  da 
gegenteilige  Ansichten  laut  wurden. 

Zweimal  aber  wurde  erklärt,  daß  es  sich  empfehle,  der 
Baubehörde  die  Rechtsmittel  an  die  Hand  zu  geben,  auch  nach¬ 
träglich,  trotz  erteilten  Benützungskonsenses  eine  Wohnung  für 
untauglich  zu  erklären,  da  es  immerhin  da  und  dort  vorkommt, 
daß  gesundheitsschädliche  Zustände  in  Wohnungen  erst  später 
(etwa  bei  höherem  Stande  des  Grundwassers)  manifest  werden. 
Dabei  wurde  speziell  auch  erwähnt,  daß  manchmal  in  forciert 
ausgeheizten  Gebäuden  trotz  getrockneten  Verputzes  doch  noch 
nachträglich  Räume  feucht  werden  können.  Die  Beschüttung  eines 
Rohbaues  vor  dessen  Vollendung  wurde  als  bedenklich  bezeichnet. 

Von  unterirdischen  Stallungen  für  Rindvieh  wurde  abgeraten, 
ebenso  die  Gefährlichkeit  zu  nieder  gespannter  Stacheldrahtzäune 
beleuchtet,  für  die  Erzielung  genügender  Sehalldichtigkeit  zwischen 
den  einzelnen  Wohnungen  und  Wohnungsbestandteilen  gesprochen, 
sowie  auf  die  Gefahren  der  Leuchtgasvergiltungen  und  die  Schäd¬ 
lichkeit  von  Heizkörpern  mit  relativ  hoch  erhitzten,  aber  nicht 
tadellos  und  leicht  reinigbaren  Oberflächen  hingewiesen  und  Heiz- 
barkeit  jedes  zum  dauernden  Aufenthalte  von  Menschen  be¬ 
stimmten  Raumes  verlangt. 

Den  Hausfrauen  wird  es  angenehm  sein,  zu  erfahren,  daß 
eine  Vermehrung  der  Waschküchen  angeregt  wurde,  indem  in 
größeren  Häusern  für  je  sechs  Parteien  eine  Waschküche  ver¬ 
langt  wurde. 

* 

Mit  diesen  hier  in  aller  Kürze  vorgebrachten  Vorschlägen 
erklärten  sich  alle  in  der  Enquete  wirkenden  Vertreter  anderer 
ärztlicher  Vereinigungen2)  solidarisch,  ebenso  wie  die  Delegierten 
der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aer'zte  den  Aeußerungen  der  Herren  Fach¬ 
kollegen  vollinhaltlich  zustimmten.  Es  zeigte  sich  auch  hier  wieder, 
daß  es  in  bereits  gelösten  wissenschaftlichen  Fragen  keine  Meinungs¬ 
verschiedenheiten  zwischen  medizinischen  Fachleuten  gibt  und 
daß  der  Arzt  stets  im  Interesse  der  Allgemeinheit  zu  wirken  bereit 
ist,  ohne  Rücksicht  auf  seinen  eigenen  Vorteil.  Denn  es  wird  wohl 
niemand  behaupten  wollen,  daß  der  Arzt  seine  Existenz  gesunden 
und  in  gesunden  Wohnungen  wohnenden  Menschen  verdanke. 

* 

Von  vielen  nichtärztlichen  Teilnehmern  an  der  Enquete 
wurde  immer  und  immer  wieder  darauf  hingewiesen,  daß.  eine 
etwas  straffere  Bauordnung  die  Wohnungen  verteuere  und  die 
ohnedies  bestehende  Wohnungsnot  verschärfe. 

Beide  Ansichten  sind  meiner  Ansicht  nach  entschieden  un¬ 
richtig. 

Es'  sei  mir  erlaubt,  das  näher1  zu  besprechen. 

Wenn  jemand  ein  Kapital  in  Form  eines  Hausbesitzes 
fruchtbringend  anlegen  will,  so  geht  er  (entweder  selbst  oder 
durch  Fachleute)  folgendermaßen  vor:  Er  faßt  irgendeinen  ver¬ 
käuflichen  Bauplatz  ins  Auge  und  läßt  für  diesen  Platz  einen  Plan 
eines  Miethauses  entwerfen.  Dann  berechnet  er,  wieviel  dieses 
entworfene  Haus  jährlich  rein  abwerfen  kann  und  kapitalisiert 
diesen  Jahresertrag  nach  einem  bestimmten  Zinsfuß,  der  von  der 
Lage  des  Bauplatzes  abhängt.  Von  der  nun  erhaltenen  Summe 
zieht  er  die  Baukosten  des  Hauses  ab  und  weiß  nunmehr,  bis 

2)  Oesterrefchische  Gesellschaft  für  Gesundheitspflege:  Professor 
Dr.  A.  Schattenfroh  und  Regierungsrat  Dr.  A  Merta;  christlicher 
Aerztebund  für  Oesterreich :  Dr.  L.  Senfeider  und  Dr.  A.  Kapl;  uienei 
Aerzte  verein :  Dr.  K.  v.  G  e  c  z  und  Oberbezirksarzt  Dr.  R.  .1  a  h  n. 


536 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


zu  welcher  Summe  er  beim  Ankauf  des  Bauplatzes  gehen  darf, 
um  sein  Kapital  durch  das  Haus  noch  in  rationeller  Weise  ver¬ 
zinsen  zu  können. 

Von  diesen  Faktoren  ist  für  die  Zeit  dieser  Berechnung 
feststehend  der  Mietzins,  d.  h.  die  Summe,  welche  man  für 
den  Quadratmeter  Wohnungsfläche  oder  sagen  wir  für  ein  Zimmer 
mit  dem  dafür  entfallenden  Teile  der  Nebenräume  in  dem  be¬ 
treffenden  Stadtteile,  je  nach  der  Qualität  des  Hauses  usw.  usw., 
jährlich  verlangen  kann  und  voraussichtlich  bekommt.  Feststehend 
sind  auch  für  den  Tag  der  Berechnung  die  Baukosten. 

Von  der  Bauordnung  hängt  aber  ab,  wie  viele  Quadratmeter 
Wohnfläche,  wie  viele  Zimmer  auf  dem  betreffenden  Bauplatz 
untergebracht  werden  können,  folglich  hängt  von  der  Bauordnung 
ab,  wieviel  jährlichen  Gesamtzins  die  Baufläche  abwerfen  kann, 
folglich  hängt  die  Differenz  zwischen  kapitalisiertem 
Nettogesamt  in  ietzins  und  Baukostenbetrag,  das  ist 
der  Preis,  der  Wert  des  Baugrundes,  von  der  Bauord¬ 
nung  ab. 

Eine  laxe  Bauordnung  steigert  den  Wert  der  Baugründe, 
eine  straffere  Bauordnung  verbilligt  den  Boden.  Der  Zins  bleibt 
aber  derselbe. 

Zur  Orientierung  für  jene,  welche  gar  keine  Kenntnis  von 
Grundwerten  haben,  sei  hier  bemerkt,  daß  bei  einem  neu  ge¬ 
bauten  Miethause  in  besseren  Lagen  der  Stadt  der  Grundwert 
oft  die  Baukosten  des  Gebäudes  um  das  Doppelte  und  Dreifache 
übersteigt.  Die  Fassung  einer  Bauordnung  kann  sehr  bedeutende 
Wertveränderungen  bei  Baugründen  bedingen,  besonders  in  zen¬ 
tralen  Lagen,  wo  ganz  märchenhafte  Preise  für  den  Quadratmeter 
bewohnbaren  Raumes,  speziell  für  Erdgeschoße  und  das  an¬ 
schließende  zweite,  eventuell  sogar  auch  dritte  Geschoß  bezahlt 
werden.  Weniger  einschneidend,  wenn  auch  immerhin  noch 
sehr  verhängnisvoll,  wirkt  die  Bauordnung  bei  weiter  von 
der  Mitte  der  Stadt  oder  weiter  von  Hauptverkehrsadern 
und  Nebenzentren  entfernten  Plätzen.  Dort  sind  die  reinen  Bau¬ 
kosten  das  Ueberwiegende  im  Preis  eines  Hauses,  weil  die  dort 
erzielbaren  Zinse  wesentlich  niedriger  sind  und  folglich  der  kapi¬ 
talisierte  Nettozins  die  Baukosten  nicht  mehr  so  bedeutend  über¬ 
steigt.  Dort  steigt  also  der  Grundwert  weit  nicht  so  stark  mit 
jedem  Quadratmeter,  der  verbaut  werden  darf,  wie  im  Zentrum. 

Vielfach  wurde  auch  betont,  daß  eine  strengere  Bauord¬ 
nung  die  Bautätigkeit  hemme,  dadurch  die  Wohnungsnot  steigere 
und  folgerichtig  die  Wohnungszinse  erhöhe.  Vielleicht  stimmt  das 
auf  die  (nächsten  ein  oder  zwei  Jahre,  vielleicht  aber  auch 
nicht.  Viel  mächtiger,  viel  einschneidender  als  jede;  Bauordnung 
wirken  da  gewiß  die  Verhältnisse  des  Geldmarktes  (Geldknapp¬ 
heit  und  Geldflüssigkeit),  des  Hypothekenwesens,  die  größere  oder 
kleinere  Wahrscheinlichkeit  eines  „Kraches“  bei  Anlagepapieren, 
die  Art  und  Weise,  wie  die  Steuerbehörden,  die  Gebührenbemes¬ 
sungsämter  und  dergleichen  Gewalten  ihre  Gesetze  handhaben 
und  noch  andere  Faktoren,  wie  Streikbewegungen,  Kriegsgefahr, 
kurz  politische  Unruhen  und  ähnliches. 

Am  meisten  befruchtend  auf  die  Bautätigkeit  wirkt  aber  der 
Zustand  der '  Straßen  und  der  Verkehrsmittel.  Man  kann  ruhig 
sagen;  Wo  der  Schienenstr.ang  der  Straßenbahn  hinkommt,  dort 
wächst  ein  Haus,  wo  eine  ordentliche  Straße  gute  Verbindungen 
mit  Nachbarstraßen  herstellt,  wo  die  Hochquellenleitung  Anschluß 
ermöglicht,  wo  der  Kanal  zur  Einfügung  der  Abvyässerrohre  bereit 
ist,  wo  das  Gasrohr,  das  Kabel,  der  Telephondraht  zur  Verfügung 
steht,  wo  die  Sicherheit  der  Menschen  entsprechend  gewährleistet 
ist,  dort  suchen  und  schaffen  sich  Menschen  Wohnungen. 

Wie  viele  neue  Häuser  also  in  einem  gegebenen  Zeiträume 
entstehen,  wie  viele  neue  Wohnungen  durch  ihre1  Konkurrenz 
die  Preise  der  alten  Wohnungen  drücken  können,  das  liegt  zum 
großen  Teile  auch  in  der  Hand  der  Gemeindeverwaltung.  Eine 
laxe  Bauordnung  wird  da  viel  weniger  leisten  können.  Sie  würde 
in  erster  Linie  schlechte,  gesundheitsschädliche  Wohnungen 
schaffen.  Wesentlich  mehr  Wohnungen  aber  wohl  kaum  und  daher 
auch  keine  billigeren  Wohnungen. 

Es  ist  entschieden  unrichtig,  daß  eine  strenge  Bauordnung 
zur  Folge  hätte,  daß  die,  auf  eine  durch  das  Wachstum  der  Stadt 
eintretende  Grundwertsteigerung  spekulierenden  „Großgrund¬ 
besitzer“  von  Groß-Wien  ihre  Gründe  einfach  unverbaut  liegen 
lassen.  Zweierlei  spricht  dagegen :  Erstens  sind  diese  Gründe 
meist  mit  Hypotheken  belastet  und  das  Zahlen  der  entspre¬ 
chenden  Zinsen  hält  der  betreffende  Spekulant  nur  eine  gewisse 
Zeit  aus,  wie  ein  den  Untemeh merkreisen  angehörendes  Mitglied 
der  Enquete  mitteilte.  Zweitens  aber  würde  der  Spekulant  Gefahr 
laufen,  allmählich  in  die  Periode  einer  „vernewerten“  Bauordnung, 
etwa  vom  Jahre  1930,  zu  kommen.  Jeder,  der  den  Wechsel  der 
Anschauungen  über  Besitz  und  Geschäft  im  Gegensatz  zu  den 
Vonteilungen  über  Interessen  der  Allgemeinheit  und  soziale  Für¬ 


sorge  im  Laufe  der  Zeiten  sich  vor  Augen  hält,  wird  sich  sofort 
darüber  klar  sein,  daß  eine  Bauordnung  von  1930  viel  strenger 
sein  wird,  als  eine  in  unserer  Zeit  geschaffene.  Der  denkende 
Unternehmer  wird  es  vorziehen,  sich  mit  der  jetzt  zu  schaffenden 
Bauordnung  zu  befreunden,  und  zu  bauen  oder  zu  verkaufen, 
sobald  es  ihm  nur  irgend  gewinnbringend  erscheint.  Je  mehr 
Jahre  verfließen,  je  unwahrscheinlicher  wird  es,  daß  eine  Bau¬ 
ordnung  Rechtskraft  erlangt,  welche  besonders  dichte  und  hohe 
Verbauungen  zuläßt.  Bei  einem  höheren  Kulturniveau  werden 
die  Bauordnungen  nicht  laxer,  sondern  schärfer  und  unsere  Kultur 
ist  Gott  sei  Dank  im  Steigen ! 

Ob  viel  oder  wenig  Häuser  in  einem  Jahre  neu  gebaut 
werden,  hängt  auch  sehr  viel  von  Angebot  und  Nachfrage  in 
bezug  auf  Wohnungen  ab.  Nach  einer  Periode  reger  Bautätigkeit 
stehen  mehr  Wohnungen  leer,  die  Rentabilität  eines  neuen  Hauses 
ist  weniger  sicher,  folglich  kaufen  die  Sparer  lieber  Papiere,  als 
daß  sie  Häuser  bauen  oder  kaufen,  die  Bautätigkeit  sinkt  daher. 
Und  umgekehrt!  So  schwankt  das  immer  auf  und  ab,  genau 
so  wie  die  Frequenz  einer  Fakultät  davon  abhängt,  ob  deren 
Absolventen  mit  mehr  oder  weniger  Sicherheit  auf  eine  ent¬ 
sprechende  Fruktifizierung  ihrer  beim  Studium  geleisteten  Arbeit 
und  der  hiefür  aufgewendeten  Gelder  rechnen  können. 

Da  dieser  Bauordnungsentwurf,  wie  schon  erwähnt,  ohne¬ 
dies  für  viele  bestehende  Gebäude  im  Falle'  des  Umbaues  ganz 
bedeutende  Ausnahmeverfügungen  im  Sinne  der  Erleichterung  der 
Bestimmungen  getroffen  hat  und  daher  für  viele  bestehende  Ge¬ 
bäude  ohnedies  ein  sehr  laxer  zu  nennen  ist,  tritt  die  Wirkung 
einer  neuen  Bauordnung,  bei  welcher  die  ärztlichen  Vorschläge 
berücksichtigt  werden,  zumeist  nur  bei  noch  unverbauten,  oder 
mit  niederen  Häusern  verbauten  Gründen  ein.  Da  bei  diesen 
Gründen  ohnedies  eine  unter  Umständen  sehr  bedeutende  Wert¬ 
steigerung  eingetreten  ist,  kann  von  einer  Schädigung  bestehen¬ 
den  Besitzes  keine  Rede  sein.  Man  kann  höchstens  sagen,  daß 
die  Erwartungen,  die  Spekulanten  in  bezug  auf  Preissteigerungen 
von  Gründen,  welche  zu  Spekulationszwecken  angekauft  wurden, 
hegten  und  frühzeitig  eskomptierten,  von  einer  modernen  Bau¬ 
ordnung  etwas  herabgestimmt  werden  dürften.  Allerdings  zu  Nutz 
und  Frommen  der  Gesundheit  aller  Bewohner  der  Stadt. 

* 

Es  ist  klar,  daß  eine  so  genaue  Fassung  der  Bestimmungen, 
wie  sie  der  gegenwärtige  Entwurf  hat,  unter  Umständen  einen 
Baumeister  oder  Architekten  beim  Entwerfen  der  Pläne  beengt. 
Das  ist  aber  das  kleinere  Uebel  zu  nennen.  Das  weit  größere 
Uebel  ist  es,  wenn  eine  Bauordnung  unklar  und  dehnbar  ist.  Es  ist 
auch  sicher,  daß  ein  unterrichteter  und  tüchtiger  Fachmann  so 
straffe  Gesetze  nicht  braucht,  um  gute  Häuser  zu  schaffen.  Aber 
man  braucht  genaue,  klare  und  straffe  Gesetze,  um  den  minder 
tüchtigen  und  weniger  unterrichteten  Fachmann  oder  den  rück¬ 
sichtslosen  Geldmenschen  hindern  zu  können,  schlechte 
Häuser  zu  bauen  und  man  braucht  eine  ordentliche  Bau¬ 
ordnung,  um  zu  verhindern,  daß  unsere  Stadt  an  ihrem  Fort¬ 
schritte  in  gesundheitlicher  Beziehung  durch  zu  weitgehende  Aus¬ 
beutung  von  Grund  und  Boden  gehindert  werde. 

Dem  während  der  Enquete  ausgesprochenen  Wunsche,  die 
Bauordnung  durch  ein  Subkomitee  beraten  zu  lassen  und  dann 
erst  die  Enquete  weiterzuführen,  verweigerten  die  Vertreter  der 
Gesellschaft  der  Aerzte  entschieden  ihre  Zustimmung.  Es  wäre 
das  nur  eine  Verschleppung  der  ganzen  Frage  gewesen  und  hätte 
höchstens  Gelegenheit  gegeben,  statt  einer  Enquete  mit  nur  be¬ 
ratenden  und  aufklärenden  Erörterungen  berufener  Fachleute  eine 
Art  Parlament  mit  Abstimmung  unter  den  Mitgliedern  dieses 
Subkomitees  zu  schaffen.  Daß  dabei  die  Vertreter  der  Hygiene 
ebenso  wie  manche  Vertreter  der  höher  gebildeten  Techniker¬ 
schaft  majorisiert  worden  wären,  war  mehr  als  wahrscheinlich. 

Es  wird  vielleicht  manchem  Kollegen  den  Eindruck  machen, 
daß  die  Hygieniker  in  ihren  Forderungen  zu  bescheiden  waren.  Es 
ist  aber  ein  vollkommen  richtiges  Prinzip,  bei  Anforderungen 
für  die  Gesundheitspflege  immer  nur  das  unbedingt  Nötige  zu 
verlangen.  Sowie  der  Gegner  (sit  venia  verbo!)  weiß,  daß  über 
das  Mindestmaß  hinausgegangen  wird,  fühlt  er  sich  berechtigt, 
Abstriche  zu  machen  und  führt  dann  die  Abstriche  als  Laie  oft 
dort  durch,  wo  sie  absolut  nicht  berechtigt  sind,  so  daß  einer¬ 
seits  wirkliche  Gefahren  für  die  Gesundheit  nicht  hintangehalten, 
anderseits  Sicherungen  behördlich  anbefohlen  bleiben,  die 
den  entsprechenden  Aufwand  nicht  rechtfertigen.  Was  als  unbe¬ 
dingt  nötig  zu  bezeichnen  ist,  ist  aber  wieder,  je  nach  dem 
Kulturniveau  der  Orte,  je  nach  ihrer  Eigenart,  je  nach  dem 
Besitzstände  des  Gemeinwesens  verschieden. 

Wenn  die  Delegierten  sich  möglichst  bemühten,  ihre  Vor¬ 
schläge  in  den  denkbarst  bescheidenen  Grenzen  zu  halten,  so 
taten  sie  dies  in  der  Absicht,  mit  keinem  Worte  etwas  zu  ver- 


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langen,  was,  sei  es  durch  wissenschaftliche  Gründe,  sei  es  durch 
wirtschaftliche  Erwägungen,  sei  es  auf  Basis  besonderer  Ver¬ 
hältnisse  unserer  Stadt,  zurückgewiesen  werden  kann. 

Ein  Exemplar  des  Bürstenabzuges  des  stenographischen 
Protokolles  der  Enquete,  sowie  des  Bauordnungsentwurfes  wurde 
der  Bibliothek  der  Gesellschaft  der  Aerzte  einverleibt,  damit 
jene  Herren,  welche  sich  genauer  über  die  Angelegenheit  unter¬ 
richten  wollen,  die  Aeußerungen  der  Delegierten  im  Wortlaute 
zur  Kenntnis  nehmen  können. 


Sammelreferat. 

Tuberkulose. 

Von  Dr.  M.  Weisz. 

Als  Robert  Koch  im  Jahre  1901  auf  der  internationalen 
Tuberkulosekonferenz  in  London  erklärte,  daß  der  Infektion  des 
Menschen  durch  das  Rind  keine  oder  fast  keine  praktische  Be¬ 
deutung  zukomme,  schienen  viele  Maßregeln  der  Tuberkulose¬ 
bekämpfung,  die  bis  dahin,  hauptsächlich  durch  Behrings  Auto¬ 
rität  gestützt,  fast  dogmatische  Bedeutung  hatten,  überflüssig  ge¬ 
worden  zu  sein.  Das  Aufsehen,  welches  Kochs  Erklärung  hervor¬ 
rief,  war  bei  der  außerordentlichen  praktischen  Tragweite  der¬ 
selben  begreiflich.  Die  Bedeutung  des  Rindes  für  die  Epidemiologie 
der  Tuberkulose  trat  gegenüber  der  des  Menschen  weit  zurück. 
Koch  wies  nachdrücklichst  auf  den  lungenkranken  Menschen 
als  Quelle  der  tuberkulösen  Infektion  hin  und  forderte  Maßregeln 
zur  Eliminierung  der  von  den  Schwindsüchtigen  den  Gesunden 
drohenden  Gefahr. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  Kochs  Auffassung  nicht  gleich 
ungeteilte  Anerkennung  fand.  Mußte  ja  doch  Koch  naturgemäß 
den  direkten  Beweis  für  seine  Behauptung,  daß  der  Rindertuberkel¬ 
bazillus  für  den  Menschen  nicht  krankmachend  sei,  den  Versuch 
am  Menschen,  schuldig  bleiben.  Aber  Kochs  Autorität  genügte, 
um  die  Frage  ins  Rollen  zu  bringen  und  an  verschiedenen  Stellen 
beschäftigte  man  sich  mit  der  Untersuchung  der  Beziehungen 
zwischen  der  Rinder-  und  Menschentuberkulose,  mit  der  Diffe¬ 
renzierung  der  beim  Rinde  und  Menschen  gefundenen  Tuberkol¬ 
bazillen  und  mit  der  Prüfung  von  Kochs  Behauptung  durch 
Anlegung  von  Kulturen  und  durch  den  Tierversuch. 

Eine  nunmehr  zehnjährige  Arbeit  auf  diesem  Gebiete  hat 
Kochs  Anschauungen  über  die  Beziehungen  zwischen  Menschen- 
und  Rindertuberkulose  als  zu  Recht  bestehend  erwiesen.  Im 
Jahre  1908  konnte  Koch  auf  der  internationalen  Tuberkulose¬ 
konferenz  in  Washington  erklären,  daß  bisher  kein  einziger  Fall 
von  Lungentuberkulose  beim  Menschen  nachgewiesen  sei,  in  dem 
Rindertuberkelbazillen  durch  längere  Zeit  ausgehustet  worden 
wären.  Auch  in  den  letzten  zwei  Jahren  ist  es  nicht  gelungen, 
einen  Fall  von  Perlsuchtinfektion  der  Lunge  beim  Menschen  mit 
Sicherheit  nachzuweisen.  Noch  unter  der  persönlichen  Mitwir¬ 
kung  Kochs  hat  Mo  eil  er1)  wieder  diesbezügliche  Untersuchun¬ 
gen  des  Sputums  Lungenkranker  vorgenommen.  Von  51  Phthisi¬ 
kern  wurde  zur  Erlangung  von  Reinkulturen  Sputum  auf  106  Meer¬ 
schweinchen  überimpft.  Es  wurden  80  Reinkulturen  angelegt. 
Mit  diesen  Reinkulturen  wurden  215  Kaninchen  geimpft  und  die¬ 
selben  nach  drei  bis  vier  Monaten  zur  Feststellung  des  Infek¬ 
tionstypus  getötet.  Als  Ergebnis  der  subkutanen  Verimpfung  der 
Reinkulturen  auf  Kaninchen  konnte  in  allen  untersuchten  Fällen 
einwandfrei  das  Vorhandensein  von  Tuberkelbazillen  des  humanen 
Typus  festgestellt  werden.  Dieses  Ergebnis  deckt  sich  mit  dem 
von  Kitasato  in  152  und  dem  von  Dieter  len  in  50  Fällen 
von  Phthise  erhaltenen.  Ueber  235  systematisch  nach  dem  gleichen 
Ge^lbhtsp  unkte  untersuchte  Fälle  von  Lungentuberkulose  berichten 
Park  und  K rum wiede2)  aus  dem  Gesundheitsdepartement  der 
Stadt  New  York.  In  keinem  dieser  Fälle  konnte  der  bovine  lu- 
berkelbazillus  als  Ursache  der  Lungenaffektion  nachgewiesen 
werden.  Dagegen  erwies  sich  derselbe  in  einer  nicht  allzu  ge¬ 
ringen  Zahl  der  angeführten  Fälle  von  chirurgischer  und  ander¬ 
weitiger  Tuberkulöse  als  Erreger  der  Krankheit.  Bei  37  Kindern 
unter  fünf  Jahren  konnte  llmial,  bei  34  Kindern  zwischen  o  und 
16  Jahren  5mal,  bei  230  Erwachsenen  über  16  Jahre  lmal  der 
bovine  Tuberkelbazillus  durch  Kultur  und  durch  den  Impfversuch 
nachgewiesen  werden.  Bei  Lungentuberkulösen  war,  wie  erwähnt,- 
in  235  Fällen  kein  einziges  Ma.1  der  bovine  Typus  zu 


finden.  Dieser  fand  sich  dagegen  in  einer  nicht  geringen 
Zahl  bei  chirurgischer  und  allgemeiner  Tuberkulose  als 
Erreger  der  Krankheit,  zumeist  allerdings  bei  Kindern.  In 
einer  zweiten  Arbeit  setzten  Park  und  Krum wiede3)  ihre  frü¬ 
heren  Untersuchungen  fort  und  ergänzten  dieselben.  Eine  Gesamt¬ 
übersicht  der  von  den  Autoren  untersuchten  und  der  in  der 
Literatur  angeführten  Fälle  ergibt:  Bei  688  Fällen  von  Tuber¬ 
kulose  der  Erwachsenen  waren  neun  bovinen  Ursprungs,  nur  ein 
Fall,  bei  dem  aber  nur  einmal  das  Sputum  untersucht  worden 
war,  betraf  Lungentuberkulose.  Die  übrigen  Tuberkulosefälle  bo¬ 
vinen  Ursprungs  bei  Erwachsenen  waren :  Bauch-,  Drüsen-, 
Knochen-  und  Urogenitaltuberkulose.  Unter  132  Kindern  zwischen 
5  und  16  Jahren  war  33mal  Tuberkulose  bovinen  Ursprungs 
nachzuweisen,  davon  war  der  überwiegend  größte  Teil  Drüsen- 
und  Bauchtuberkulose.  Von  220  Kindern  unter  fünf  Jahren  litten 
59  an  Tuberkulose  bovinen  Ursprungs.  Diese  betrafen  überwiegend 
Lymphdrüsen-,  Abdominal-  und  allgemeine  Tuberkulose. 

Aus  diesen  Arbeiten  geht  deutlich  hervor,  daß  mit  zu¬ 
nehmendem  Alter  die  Bedeutung  der  bovinen  Infektion  für  den 
Menschen  immer  mehr  zurücktritt.  Das  häufigere  Vorkommen 
der  bovinen  Infektion  beim  Kinde  kann  wohl  auf  nichts  anderes 
zurückzuführen  sein  als  auf  die  leichtere  Infektionsgelegenheit 
des  Kindes  mit  vom  Rinde  stammenden  Tuberkelbazillen.  Dies 
muß  aber  auf  die  größere  Rolle  zurückgeführt  werden,  welche 
der  Milchgenuß  in  den  ersten  Lebensjahren  spielt.  Es  war  daher 
eine  sehr  erwünschte  Ergänzung  der  Arbeiten,  die  bovine  Infektion 
betreffend,  daß  die-  zum  Verkaufe  in  New  York  gelangende  Milch 
auf  ihren  Tuberkelbazillengehalt  von  Heß4)  untersucht  wurde. 
Unter  107  zur  Untersuchung  gelangten  Proben  der  Kannenmilch 
wurde  dieselbe  17mal,  das  ist  in  16%,  als  tuberkelbazillenhaltig 
befunden.  Die  Bazillen  waren  sowohl  in  der  Sahne  wie  im  Sedi¬ 
mente  enthalten.  Diese  Milch  gelangte  als  „pasteurisiert“  in  den 
Handel.  Dies  beweist,  daß  die  Methode  des  Pasteurisierens,  wie  sie 
gegenwärtig  geübt  wird,  keinerlei  Sicherheit  bezüglich  des  Ba¬ 
zillengehaltes  gewährt.  Bei  der  Isolierung  der  Tuberkelbazillen 
wurde  in  allen  Fällen  mit  Ausnahme  eines  boviner  Ursprung 
festgestellt.  Der  eine  Fall,  in  welchem  Tuberkelbazillen  humanen 
Ursprunges  nachgewiesen  wurden,  zeigt,  daß  die  Milch  auch  durch 
tuberkulöse  Menschen  infiziert  werden  kann  und  daß  man  auf  diese 
Infektionsquelle  auch  bei  der  Milch  achten  muß. 

Die  angeführten  Untersuchungen  beweisen  die  Richtigkeit 
von  Kochs  Behauptung,  daß  für  die  Lungentuberkulose 
des  Menschen  wieder  nur  der  Mensch  die  Infektionsquelle  darstellt. 
Da  jedoch  in  einer  nicht  allzu  geringen  Zahl  von  Fällen  der  bovine 
Tuberkelbazillus  als  Ursache  tuberkulöser  Erkrankungen  gleich¬ 
falls  nachgewiesen  wurde,  so  sind  wir,  wie  Heß  betont,  nicht 
berechtigt,  die  Gefahr  der  bovinen  Infektion  zu  vernachlässigen. 
Selbst  bei  der  Annahme  von  nur  1%  boviner  Infektionen 'beläuft 
sich  die  Zahl  der  hiedurch  in  einem  größeren  Staate  verursachten 
Tuberkulosefälle  auf  viele  Tausende.  Heß  verlangt  daher,  daß 
die  Milch,  welche  von  nicht  mit  Tuberkulin  geprüften  Kühen 
stammt,  verläßlich  pasteurisiert  oder  aufgekocht  werde.  Wie  Heß 
im  allgemeinen,  so  verbürgt  Hohlfeld,5)  daß  speziell  bei  der 
Bekämpfung  der  Tuberkulose  im  Kindesalter  die  Perlsuchtinfektion 
nicht  vernachlässigt  werden  darf,  wenngleich  die  Infektion  durch 
den  Menschen  die  Hauptrolle  spiele. 

Rothe6)  untersuchte  bei  100  Kinderleichen  im  Alter  bis 
zu  fünf  Jahren  die  Bronchial-  und  Mesenterialdrüsen  auf  Tu¬ 
berkelbazillen.  21  ergaben  bei  der  Verimpfung  positives  Resultat. 
In  13  von  diesen  2l  Fällen  haben  sowohl  die  Mesenterial-  wie 
die  Bronchialdrüsen  Meerschweinchen  tuberkulös  infiziert.  In  drei 
Fällen  waren  nur  die  Mesenterial-,  in  fünf  Fällen  'nur  die  Bron¬ 
chialdrüsen  infektiös.  Dieses  Ergebnis  spricht  nach  Rothe  nicht 
für,  sondern  eher  gegen  die  Ansicht,  daß  im1  Kindesalter  die  tubei- 
kulöse  Infektion  in  der  Regel  vom  Darme  aus  erfolgt.  Von  34  Rein¬ 
kulturen  erwiesen  sich  32  als  dem  humanen  und  2  als  dem 
bovinen  Typus  angehörend.  Diese  zwei  Reinkulturen  entstammten 
den  Bronchial-  und  Mesenterialdrüsen  eines  Falles.  Es  stehen 
somit  20  Fällen  von  humaner  1  Fall  von  boviner  Infektion 
gegenüber.  In  diesem;  Falle  wurde  noch  der  Rinderversuch  ange¬ 
schlossen,  welcher  den  bovinen  Ursprung  dieses  Stammes  be 
stätigte.  Der  beim  Rinderversuche  verimpfte  Stamm  war  berei  s 


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elf  Monate  durch  Meerschweinchenpassage  und  weitere  elf  Mo¬ 
nate  in  der  Kultur  fortgezüchtet  worden. 

Die  Artbeständigkeit  der  verschiedenen  Tuberkelbazillen 
kann  heute  wohl,  soweit  praktische  Fragen  dadurch  tangiert 
werden,  als  gesichert  angesehen  werden.  Zwei  Fälle  von  llaut- 
tuberkulose  bovinen  Ursprungs,  über  welche  Heß7)  berichtet, 
beanspruchen  darum  Interesse,  weil  sie  die  Tatsache  illustrieren, 
daß  bovine  Tuberkelbazillen  im  menschlichen  Gewebe  viele  Jahre 
leben  können,  ohne  den  Charakter  des  humanen  Typus  zu  er¬ 
werben.  Y  on  diesem  Gesichtspunkte  betrachtet,  sprechen  sie  gegen 
die  Umwandlungsfähigkeit  des  bovinen  Typus  in  den  humanen. 
Die  Artspezifität  der  Tuberkelbazillen  machen  zum  Gegenstände 
einer  besonderen  Untersuchung  N.  Janes o  und  Elfer.3)  Sie 
kommen  zu  folgenden  Ergebnissen :  Nicht  nur  die  verschiedenen 
säurefesten  Gruppen,  sondern  auch  die  säurefesten  Bazillen  im 
engeren  Sinne  weisen  verschiedene  Eigenschaften  auf,  die  sich 
sowohl  im  kulturellen  Verhalten  wie  in  den  natürlichen  Lebens¬ 
verhältnissen  der  Bazillen  manifestieren.  Dies  konnte  mit  natur¬ 
wissenschaftlicher  Genauigkeit  für  den  humanen,  bovinen  und 
für  den  Hühnertuberkelbazillus  gezeigt  werden.  Die  genaue  Ana¬ 
lyse  der  humanen  Tuberkelbazillenkulturen  zeigte  jedoch,  daß 
in  ihnen  Bazillen  Vorkommen  können,  welche  alle  jene  charak¬ 
teristischen  Eigenschaften  besitzen  wie  die  unter  natürlichen  Ver¬ 
hältnissen  in  anderen  Tieren  sich  entwickelnden  säurefesten  Ba¬ 
zillen.  Es  ist  schwer,  wahrhaft  wesentliche  Eigenschaften  der 
Bazillen  kennen  zu  lernen.  Die  spezifisch  pathogene  Wirkung 
der  verschiedenen  säurefesten  Bazillen  konnte  abgestumpft  werden. 
Wenn  diese  aber  innerhalb  von  Versuchsfristen  vermindert  werden 
kann,  so  liegt  die  Annahme  nahe,  daß  die  verschiedenen  säure¬ 
festen  Bazillen  ihrer  pathogenen  Eigenschaft  schließlich  auch 
beraubt  werden  können.  Die  Aneignung  oder  Uebertragung  neuer 
spezifischer  Eigenschaften  zu  bewirken,  ist  bisher  noch  nie¬ 
mandem  gelungen.  Die  praktisch  wichtigeren,  säurefesten  Gruppen 
der  Tuberkelbazillen  entfernen  sich  im  Haushalte  der  Natur  immer 
mehr  voneinander. 

Die  Ausarbeitung  einer  nach  jeder  Richtung  zufriedenstellen¬ 
den  Methode  des  Tuberkelbazillennachweises  beschäftigt  noch 
immer  zahlreiche  Forscher.  Als  Grundlage  aller  dieser  Versuche 
wird  gegenwärtig  allgemein  das  von  Uhlenhuth  angegebene 
Antiforminverfahren  benützt.  Das  Antiformin  ist  durch  seinen 
Gehalt  an  unterchloriger  Säure  und  Lauge  imstande,  das  Sputum 
zu  homogenisieren,  indem  es  Schleim,  Eiweiß  und  Hombestand- 
teile  auflöst,  dagegen  die  Tuberkelbazillen,  welche  durch  ihre 
Fetthülle  geschützt  sind,  nicht  angreift.  Diese  bleiben  sogar  hiebei 
kulturfähig.  Das  Antiforminverfahren  eignet  sich  zum  Nachweise 
der  Tuberkelbazillen  nicht  bloß  im  Sputum,  Stuhl  und  Harn,  son¬ 
dern  auch  zur  Untersuchung  von  Geweben.  Lorenz9)  modifi¬ 
zierte  die  U  hlenh  u  thsche  Methode  in  der  Weise,  daß  er  das 
erhaltene  Sputum-Antiformingemisch  kochte.  Nach  ihm  gestaltet 
sich  das  Verfahren  folgendermaßen:  1.  2  bis  10  cm3  Sputum 
werden  mit  der  zwei-  bis  dreifachen  Menge  10%igen  Antiformins 
etwa  fünf  Minuten  kräftig  bis  zur  völligen  Homogenisierung  ge¬ 
schüttelt.  2.  Die  Mischung  wird  im  Reagenzglase  aufgekocht. 

•  i.  15  Minuten  zentrifugiert.  Hierauf  gießt  man  alles  Antiformin 
vom  Sedimente  ab,  welches  äußerst  klein  ist  und  im  positiven 
1  alle  fast  nur  aus  Tuberkelbazillen  besteht.  Hierauf  fügt  man  zum 
Sedimente  einige  Oesen  Wasser  hinzu  und  breitet  es  dann  unter 
Häufung  auf  dem  Objektträger  aus.  Der  Ausstrich  ist  fast  immer 
gleichmäßig  und  bildet,  fixiert,  eine  feine  milchglasähnliche 
Schichte,  die  gut  haftet  und  beim  Entfärben  nur  zwei-  bis  drei¬ 
maliges  kurzes  Eintauchen  in  salzsauren  Alkohol  benötigt.  Die 
Anreicherung  ist  entsprechend  dem  sehr  kleinen  Sedimente  sehr 
groß.  Die  Dauer  der  Manipulation  beträgt  20  bis  30  Minuten.  Bei  der 
Beurteilung  des  Ergebnisses  ist  darauf  zu  achten,  daß  im  Wasser 
säurefeste  Stäbchen  Vorkommen  können,  worauf  Beitzke10)  be¬ 
sonders  hingewiesen  hat.  Des  Aufkoclhens  zur  besseren  Ein¬ 
wirkung  des  Antiformins  bediente  sich  schon  früher  Löffler.11) 
Außerdem  benützte  er  das  in  der  Technik  des  Tuberkelbazillen¬ 
nachweises  von  Lange  und  Nit  sehe  eingeführte  Prinzip  der 
Adhärenz  der  Tuberkelbazillen  zu  Kohlenwasserstoffen  durch  Ver¬ 
wendung  von  Chloroform.  Lange  und  Nitsche12)  haben  fest¬ 
gestellt,  daß  aus  einer  Mischung  von  Tuberkelbazillen  mit  anderen 
nicht  säurefesten  Bazillen  Ligrointropfen  bei  ihrem  Aufsteigen 


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nur  die  Tuberkelbazillen  mitnehmen.  Löffler  bediente  sich 
statt  des  Ligroins  des  Chloroforms.  Sein  Verfahren  gestaltet 
sich  folgendermaßen:  Der  Auswurf  wird  mit  der  gleichen  Menge 
50°/oigen  Antiformins  aufgekocht.  Zu  10  cm3  der  Lösung  werden 
15  cm3  einer  Mischung  von  10  Teilen  Chloroform  und  90  Teilen 
Alkohol  hinzugesetzt.  Nach  tüchtigem  Durchschütteln  wird  zen¬ 
trifugiert.  Das  Chloroform  setzt  sich  ganz  unten  ab  und  darüber 
eine  Scheibe  fester  Bestandteile,  in  der  auch  die  Tuberkelbazillen 
sind.  Die  Scheibe  wird  im  Ganzen  herausgenommen  und  in 
der  gewöhnlichen  Weise  auf  Tuberkelbazillen  untersucht.  Dieses 
sogenannte  Chloroformvierfahren  ist  in  15  bis  20  Minuten  aus¬ 
zuführen. 

Lange  und  Nitsche  kombinieren  nach  ihrer  letzten  Pu¬ 
blikation13)  auch  das  Ligroin-  mit  dem  Antif ormin verfahren : 
Zu  einem  Teil  Sputum  kommen  vier  Teile  10°/oigen  Antiformins. 
Nach  mehrmaligem  kräftigen  Schütteln  bleibt  die  Mischung 

1  bis  IV2  Stunden  bei  Zimmertemperatur  stehen.  Dazu  kommen 

2  cm3  Ligroin.  Es  wird  wieder  durchgeschüttelt.  Dann  fügt  man 
fünf  Teile  Wasser  hinzu,  schüttelt  wieder  und  läßt  bei  Zimmer¬ 
temperatur  stehen.  Schon  nach  vier  bis  fünf  Stunden  läßt  sich 
dann  das  Material  zur  Untersuchung  entnehmen.  Die  Anreiche- 
rungszahl  betrug  die  40-  bis  öOfache  Menge  Tuberkelbazillen,  wie 
im  gewöhnlichen  Ausstriche.  Lange  und  Nitsche  haben  ihr 
Verfahren  mit  anderen  Anreicherungsmethoden  "verglichen.  Nur 
das  Verfahren  von  Eller  mann  und  Erlandsen14)  ergab 
stärkere  Anreicherung.  Die  Methode  der  letzteren  Autoren  be¬ 
ruht  auf  Autodigestion  des  Sputums.  Durch  Kochen  mit  ver¬ 
dünnter  Sodalüsung  wird  das  Sputum  homogenisiert,  dann  auf 
24  Stunden  in  den  Brutschrank  gestellt,  hierauf  zentrifugiert. 
Diese  sogenannte  „Autodigestions-Doppelmethode“  hat  den  Nach¬ 
teil,  daß  sie  nicht  sofort  zu  Ende  geführt  werden  kann  und  daß 
das  24  Stunden  im  Brutschrank  gestandene  Sputum  stark  stinkt. 

Das  Ligroinverfahren  von  Lange  und  Nitsche  wurde  von 
Jörg  en  sen10)  einer  Kritik  unterzogen.  Der  wesentlichste  Vor¬ 
wurf,  welchen  dieser  Autor  erhebt,  besteht  darin,  daß  er  die 
von  Lange  und  Nitsche  angenommene  besondere  Adhäsion 
der  Tuberkelbazillen  zu  Kohlenwasserstoffen  bezweifelt.  Lange 
und  Nitsche10)  halten  jedoch  in  ihrer  Erwiderung  an  dieser 
Eigenschaft  der  Kohlenwasserstoffe  fest. 

Die  uns  heute  zu  Gebote  stehenden  Verfahren  der  Tuberkel¬ 
bazillenanreicherung  sind  somit  auf  dreierlei  Grundtatsachen  auf- 
gebaut.  1.  Auf  der  Verdauung  des  Sputums  im  Brutschränke. 
2.  Auf  der  Adhäsion  der  Tuberkelbazillen  zu  den  Kohlenwasser¬ 
stoffen.  3.  Auf  der  besonderen  Resistenz  der  Tuberkelbazilien  dem 
Antiformin  gegenüber.  Für  praktische  Zwecke  wird  sich  jenes 
\  erfahren  am  besten  eignen,  welches  die  besten  Chancen  bezüg¬ 
lich  des  Bazillennachweises  bietet  und  dabei  am  wenigsten  Zeit 
in  Anspruch  nimmt.  Daß  in  dieser  Hinsicht  das  A n t if 0 rm i n v er¬ 
fahren  allein  oder  mit  Benützung  von  Kohlenwasserstoffen  am 
allermeisten  verspricht,  ist  wohl  weiter  nicht  zweifelhaft.  In  der 
jüngsten  Zeit  empfehlen  Hart  und  L es  sing16)  das  Antiformin¬ 
verfahren  auch  zum  Nachweise  von  Tuberkelbazillen  in  Gewebs- 
schnitten  und  zur  Verarbeitung  von  ganzen  Lymphdrüsen.  Da  die 
1  uberkelbazillen  bei  diesem  Verfahren  nicht  an  Kulturfähigkeit 
und  Virulenz  einbüßen,  so  kann  das  so  gewonnene  Sediment  als 
Grundlage  weiterer  Versuche  dienen.  Auf  diese  Weise  müßte 
sich  die  Untersuchung  der  Gewebe  auf  Tuberkelbazillen  verein¬ 
fachen  und  dabei  größere  Sicherheit  bieten. 

Mehrere  Arbeiten  beschäftigen  sich  mit  der  Bedeutung  der 
Darminfektion  bei  der  Lungentuberkulose.  Strauß17)  konsta¬ 
tierte,  daß  bei  Verfütterung  von  Tuberkelbazillen  vom  Darme  aus 
eine  direkte  Resorption  derselben  in  das  Blut  stattfinde.  Die  Auf¬ 
nahme  der  Tuberkelbazillen  in  das  Pfortaderblut  kann  sechs 
bis  sieben  Stunden  nach  der  Verfütterung  nachgewiesen  werden. 
Bei  Darmtuberkulose  konnte  er  fast  regelmäßig  Tuberkelbazillen 
im  Pfortaderblute  nachweisen.  In  zwei  Fällen  fanden  sich  Tu¬ 
berkelbazillen  im  Pfortaderblute,  während  dieselben  im  Blute 
der  Vena  cava  nicht  nachweisbar  waren.  In  vier  Fällen  waren  die 
I  uberkelbazillen  im  Pfortaderblute  reichlicher  zu  finden  als  im 
Blute  des  übrigen  Körpers.  Niemals  fanden  sich  im  Pfortaderblute 
wie  im  Blute  überhaupt  Tuberkelbazillen,  wenn  der  Darm  nicht 
tuberkulös  war.  Mit  dem  Verhalten  der  Lymphe  beschäftigte  sich 
Betke.18)  Er  kommt  zu  folgenden  Ergebnissen:  Bei  einer  hohen 


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Prozentzahl  aller  vorgeschrittenen  Phthisen  enthält  der  Ductus 
thoracicns  Tuberkelbazillen,  ohne  daß  eine  Wanderkrankung  des¬ 
selben  vorliegt.  Die  Hauptquelle  dieser  Infizierung  der  Duktus 
lymphe  sind  tuberkulöse  Erkrankungen  des  Intestinaltraktes.  Durch 
die  mit  Tuberkelbazillen  überschwemmte  Duktuslymphe  erfolgt 
vielfach  eine  Neuinfizierung  der  Lunge.  Anatomisch  ist  die  durch 
den  Duktusinhalt  hervorgerufene  Neuerkränkung  der  Lunge  durch 
kleinknotige  disseminierte  Form  der  Tuberkelaussaat  charakteri¬ 
siert.  Die  Verhütung  der  Darmtuberkulose  ist  daher,  um  einen 
Circulus  vitiosus  zu  vermeiden,  dringendes  Erfordernis. 
Fischer19)  faßt  das  Resultat  seiner  und  seiner  Schüler  Unter¬ 
suchungen  folgendermaßen  zusammen :  Bei  Darm  tuberkulöse 
werden  große  Mengen  von  Tuberkelbazillen  ständig  durch  die 
Pfortader  in  die  Leber  und  durch  den  Ductus  thoracicns  in  die 
Lunge  geführt  Regelmäßig  treten  bei  Darmtuberkulose  Tuberkel 
oder  entzündliche  Prozesse  in  der  Leber  auf,  die  aber  keine 
Tendenz  zum  Fortschreiten  haben.  Die  Leber  dient  als  Filter 
für  die  Bazillen.  Durch  primäre  Infektion  des  Pfortaderblutes 
vom  Darme  aus  kann  in  seltenen  Fällen  eine  primäre  isolierte 
Ix'bertuberkulose  entstehen.  Die  Miliartuberkulose  kann  nicht 
allein  durch  Infektion  des  Blutes  mit  Tuberkelbazillen  erklärt 
werden.  Selbst  ziemliche  Mengen  von  Bazillen  können  beim  Phthi 
siker  ins  Blut  übertreten,  ohne  daß  eine  miliare  Tuberkulose  ent¬ 
stehen  muß.  Die  Miliartuberkulose  kann  ihre  Quelle  auch  in  einer 
Darmtuberkulose  haben.  Die  Ueberschwemmung  des  Blutes  und 
der  Lunge  mit  Tuberkelbazillen  bei  der  Darmtuberkulose  kann 
eine  große  Bedeutung  für  den  Verlauf  der  Lungentuberkulose 
und  für  die  immunisatorischen  Prozesse  bei  derselben  bähen. 

Der  Verhütung  und  Behandlung  der  Darmtuberkulose  muß 
sonach  eine  große  prophylaktische  Bedeutung  zugesprochen 
werden.  Es  ist  ja  auch  aus  der  klinischen  Beobachtung  bekannt, 
wie  sehr  sich  die  Prognose  der  Lungentuberkulose  verschlechtert, 
sobald  eine  Darmtuberkulose  dazukommt.  Lungenkranke  müssen 
daher  darauf  aufmerksam  gemacht  werden,  nicht  ihr  Sputum  zu 
schlucken.  Glücklicherweise  sind  wir,  was  bei  der  Lunge  leider 
nicht,  der  Fall  ist,  in  der  Lage,  die  Tuberkelbazillen  im  Darme 
abzutöten  oder  wenigstens  in  ihrem  Wachstum  zu  beeinflussen. 
Die  Darreichung  der  Kreosotpräparate  entspricht  dieser  Indika¬ 
tion.  Vielleicht  ist  dies  der  wahre  Grund,  warum  das  Kreosot 
und  seine  Derivate,  trotzdem  sie  so  oft  schon  bei  der  Medika¬ 
tion  der  Tuberkulöse  beiseite  gestellt  schienen,  doch  immer  wieder 
aufgenommen  wurden.  Das  Ziel,  welches  lange  Zeit  den  Tüber- 
kulosetherapeuten  vorgeschwebt  hatte,  einen  solchen  Kreosotgehalt 
im  Blute  zu  erreichen,  daß  das  Wachstum  der  Tuberkelbazillen 
aufhöre,  konnte  nicht  erreicht  werden.  Im  Darm  aber  dies  zu 
erreichen,  ist  wohl  auch  ohne  besonders  forcierte  Kreosottherapie 
möglich. 

Die  Frage,  ob  das  Tuberkulin  per  os  oder  subkutan  gegeben 
werden  soll,  dürfte  nun  endlich  zugunsten  der  subkutanen  Me¬ 
thode  entschieden  sein.  Pfeiffer30)  und  Pfeiffer  und  Lev- 
acker31)  haben  im  Anschlüsse  an  Studien  über  die  Einwirkung 
der  Magen-  und  Darmfermente  auf  das  Tuberkulin  mehrere  zur 
Darreichung  per  os  empfohlene  Tuberkelbazillenpräparate  (Tuberal, 
Tubertoxyl  und  Phthisoremidkapseln)  geprüft.  Das  Resultat,  das 
sich  für  Tuberkulin  und  für  die  Bazillenemülsion  ergeben  hatte, 
daß  sie  bei  interner  Darreichung  bedeutend  an  Wirksamkeit  ver¬ 
lieren,  gilt,  für  alle  Tuberkelbazillenpräparate.  Dieselben  werden 
als  Eiweißsubstanzen  durch  die  Magen-  und  Pankreasverdauung 
angegriffen  und  soweit  sie  intakt  bleiben,  nur  unvollkommen 
resorbiert.  Zweifellos  tuberkulinempfind  liehe  Patienten  reagierten 
auf  die  interne  Darreichung  relativ  großer  Dosen  der  genannten 
Präparate  nicht.  Moeller22)  will  auch  bei  stomachaler  Dar¬ 
reichung  seiner  Tuberoidkapseln  Erfolge  erzielt  haben.  Durch  eine 
Gelodurathülle  vor  der  Einwirkung  des  Magensaftes  geschützt, 
sollen  die  Tuberoidkapseln  erst  im  Dünndarm  zur  Resorption 
gelangen.  Moeller  hat  auch  mit  diesem  Präparate  charakteri¬ 
stische  Tuberkulinreaktionen  erhalten.  Die  Tuberoidkapseln 
können  nach  ihm  auch  neben  der  Injektionsbehandlung  zur  Unter¬ 
stützung  der  letzteren  gegeben  werden. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  es  die  Schwierig¬ 
keiten  der  Tuberkurinbehandlung  sehr  vermehren  heißt,  wenn  man 
an  Stelle  der  genau  dosierbaren  subkutanen  Injektionen  ein  Ver¬ 
fahren  setzt,  welches  eine  sichere  Beurteilung  der  zur  Resorp¬ 


tion  gelangenden  Tuberkulinmengen  unmöglich  macht.  Ist  schon 
die  Dosierung  des  Tuberkulins  bei  der  subkutanen  Methode  nicht 
leicht,  so  entzieht  sich  die  bei  der  Darreichung  per  os  wirklich 
in  den  Kreislauf  gelangte  Tuberkulinmenge,  mit.  der  wir  allein 
rechnen  müssen,  jeder  Beurteilung.  Denn  zwei  recht  variable 
Faktoren  kommen  bei  der  internen  Verabreichung  des  Tuber¬ 
kulins  dazu,  die  Einwirkung  der  Magen-  und  Darmfermente  und  die 
Resorptionsfähigkeit  der  Schleimhäute  des  Intestinaltraktes.  Mit 
Rücksicht  auf  den  Verlust,  mit  dem  bei  der  stomachalen  Dar¬ 
reichung  des  Tuberkulins  gerechnet  werden  muß,  müssen  be¬ 
trächtlich  größere  Mengen  gegeben  werden  als  bei  der  subkutanen 
Methode.  Wer  bürgt  aber  dafür,  daß  einmal  nicht  zuviel  Tuberkulin 
resorbiert  wird  und  damit  ein  Tuberkulinschaden  entsteht?  Und 
wer  kann  die  Möglichkeit  in  Abrede  stellen,  daß  hei  dem  heute; 
verabreichten  Tuberkulin  gar  nichts  zur  Wirksamkeit  gelangt  ist, 
weil1  alles  durch  die  Magen-Darmsäfte  abgebaut  worden  ist?  Das 
Tuberkulin  stomachal  geben,  heißt,  dasselbe  unberechenbaren  Zu¬ 
fällen  aussetzen  und  der  Tuberkulinbehandlung  die  ihr  so  not¬ 
tuende  Sicherheit  der  Dosierung  gänzlich  rauben. 

Heber  eine  eigenartige,  aber  für  gewisse  Fälle  brauchbare 
Methode  der  therapeutischen  Verwertung  der  Kutanimpfung  nach 
Pirquet  berichtet.  Münch.23)  Von  dem  Standpunkte  ausgehend, 
daß  das  resorbierte  Tuberkulin  durch  die  Hautpassage  einen 
wesentlichen  Teil  seiner  giftigen  Eigenschaften  verliert,  empfiehlt 
er  die  Anlegung  von  kleinen  Tuberkulindepots  auf  der  mit  dem 
Pirquet-Bohrer  skarifizierten  Haut.  Geeignet  sind  vor  allem 
solche  Patienten,  die  gegen  Tuberkulininjektionen  besonders  em¬ 
pfindlich  sind  (Skrofulöse,  Knochen-  und  Gelenkstuberkulose,  so¬ 
wie  beginnende  Lungentuberkulose).  Ungeeignet  sind  solche  Fälle, 
die  trotz  wiederholter  Impfung  keine  Zunahme  der  Reaktionspapel 
zeigen.  Man  beginnt  mit  zwei  Impfpunkten  und  steigt  sukzessive 
um  einen  Impfpunkt.  Die  höchste  Zahl  der  Impfpunkte,  die  ein 
Patient  erhielt,  war  90.  Es  wurden  Temperatursteigerungen  und 
Herdreaktionen  wie  bei  der  subkutanen  Methode  beobachtet. 
Wiederholt  wurde  die  Vakzination  dann,  wenn  die  Papel  ab- 
zublassen  begann:  meist  war  dies  nach  fünf  bis  acht  Tagen 
der  Fall. 

Ein  neues  Tuberkelbazillenpräparat  wird  unter  dem  Namen 
Tuberk ul o se- Ser o: V acci n  von  den  Höchster  Farbwerken 
in  den  Handel  gebracht.  Seine  Darstellung  basiert  auf  den  Arbeiten 
von  Ru p pel  und  B  ickmann,24)25)  welche  den  Beweis  erbracht 
haben,  daß  komplementbindendes  Tuberkuloseserum  das  Tuber- 
kulotoxin  sowohl  im  Tuberkulin,  als  auch  in  den  Tuberkelbazillen 
selbst  zu  entgiften  vermag.  Die  Darstellung  von  hochwertigem 
komplementbindenden  Tuberkuloseserum  gelang  durch  systema¬ 
tische  Behandlung  von  tuberkulinempfindlichen  Tieren  mit  Tu¬ 
berkelbazillen  oder  mit  Tuberkulin.  Als  Versuchstiere  eignen  sich 
Maulesel,  Rinder  und  Pferde.  Die  Tiere  tuberkulinempfindlich 
zu  machen,  gelingt  nach  dem  von  Behring  für  die  Bovovakzina- 
tion  eingeführten  Prinzip  der  Einimpfung  lebender  humaner  Tu¬ 
berkelbazillen.  Wenn  man  einem  solchen  nach  Behring  ge¬ 
impften  Tiere  systematisch  Tuberkelbazillenpräparate  einverleibt, 
so  gelingt  es,  ein  hochwertiges  Immunserum  zu  erzeugen,  welches 
sowohl  prophylaktische  wie  direkt  heilende  Wirkung  bei  Meer¬ 
schweinchen  gezeigt  hat.  Es  ist  gelungen,  Meerschweinchen,  bei 
welchen  die  serotherapeutische  Behandlung  am  5.,  8.,  ja  selbst 
am  17.  Tage  nach  erfolgter  Infektion  begonnen  wurde,  über  neun 
Monate  am  Leben  zu  erhalten,  während  die  Kontrolliere  vorn 
gleichen  Infektionsdatum  bereits  vor  langer  Zeit  an  generali¬ 
sierter  Tuberkulöse  zugrunde  gegangen  waren.  Einige  der  vakzi¬ 
nierten  Tiere  wurden  gelötet  und  bei  ihnen  nur  sehr  geringe 
tuberkulöse  Veränderungen  gefunden. 

Das  Zusammenbringen  irgendeines  Tuberkelbazillenpräpa¬ 
rates  mit  dem  Immunserum  erzeugt  Präzipitation  des  Antigens 
und  entgiftet,  nach  Ruppel26)  dasselbe  derart,  daß  selbst  die 
fünf-  bis  sechsfach  tödliche  Dosis  von  Alttuberkulin  ohne  weiteres 
vertragen  wird.  Bei  tuberkulösen  Patienten  sind  derartige  neutrale 
Gemische  von  Alttuberkulin  und  Immunserum  nicht  mehr  im¬ 
stande1,  Pi  r  quetsche  Reaktion  hervorzu  rufen.  Tuberkulöse  Meer¬ 
schweinchen  können  0-5  g  mit  solchem  Serum  behandelter  zer¬ 
riebener  Tuberkelbazillen  vertragen,  während  die  tödliche  Dosis 
sonst  bei  Vorbehandlung  mit  normalem  Serum  oder  ohne  Vor¬ 
behandlung  0-001  g  beträgt. 


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Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Von  allen  Eigenschaften  ries  Tuberknlosesemms  erweckt  nach 
Kuppel  die  Möglichkeit,  mit  ihm  abgetötete  Tuberkelbazillen  zu 
entgiften,  das  größte  Interesse,  nachdem  von  jeher  das  Bestreben 
auf  dieses  Ziel  gerichtet  war.  Die  mit  dem  Immunserum  behan¬ 
delten  Tuberkelbazillen  beladen  sich  mit  spezifischen  Immun- 
stoffen.  Deshalb  wurde  dieses  Tuberkulin  auch  als  sensibilisiert 
bezeichnet,  weil  es  dadurch  befähigt  wird,  Komplement  zu  binden. 
Die  Emulsion  dieser  so  sensibilisierten  Tuberkelbazillen  findet 
bereits  Anwendung  in  der  Tuberkulosetherapie.  Ueber  zwei  Fälle, 
die  mit  sensibilisierter  Tuberkelbazillenemulsion  mit  gutem  Er¬ 
folge  behandelt  wurden,  nachdem  Alttuberkulin  wegen  fieber¬ 
hafter  Reaktionen  aufgegeben  worden  war,  berichtet  Roden¬ 
acker.27) 

Das  T uberku  1  oseimmu ns erutn  der  Höchster  Farbwerke  be¬ 
ansprucht  auch  darum  Interesse,  weil  es  sich  zur  Wertbemes¬ 
sung  der  verschiedenen  Tuberkuline  sehr  gut  eignen  soll.  Ein 
Serum,  von  welchem  1  cm3  mit  0-01  cm3  eines  Standardtuber¬ 
kulins  komplette  Komplementablenkung  liefert,  wird  als  einfach 
komplementbindend  bezeichnet.  Die  in  0-01  cm3  eines  Standard¬ 
tuberkulins  enthaltene  Antigenmenge  wird  als  Tuberkulineinheit 
bezeichnet.  So  berechnet,  enthält  1  g  trockener  Tuberkelbazillen 
(12.500  Tuberkulineinheiten  an  spezifischem  Antigen.  Dieselbe 
Menge  enthält  1  g  trockener  Substanz  von  TO  und  TR  1  cm3 
Bazillenemulsion  enthält  200,  1  cm3  Alttuberkulin  1000  Tuber¬ 
kulineinheiten. 

Vielleicht  wird  es  auf  diese  Weise  möglich  sein,  dem  Streite, 
welcher  über  ein  neues  Tuberkelbazillenpräparat,  das  sogenannte 
Endotin,  ausgebrochen  ist,  ein  Ende  zu  machen.  Gabrilo- 
witsch“8')  hat  bekanntlich  ein  neues  Tuberkulin  hergestellt,  das 
frei  von  Glyzerin.  Kochsalz  und  Albumose  sein  soll  und  welches 
er  als  Endotin  (abgekürzt  aus  Endotoxin)  bezeichnet  hat.  Das 
Endotin  wird  als  die  wirksame  Substanz  des  Tuberkelbazillus 
und  der  verschiedenen  Tuberkuline  von  ihm  angesprochen.  Ein 
besonderer  Vorzug  des  Endotins  wäre  nach  Gordon,29)  daß  es 
keine  fieberhaften  Reaktionen  hervorruft.  Dagegen  ist  es  im¬ 
stande,  Eierdreaktionen  zu  erzeugen,  wodurch  es  seine  Spezifität 
anzeigt.  Den  Behauptungen  Gordons,  daß  das  Endotin  ein 
entgiftetes  Tuberkulin  da.rstelle,  tritt  W ol ff- E i stier 30)  entgegen. 
Dieser  Autor  verweist  mit  Recht  darauf,  daß  ein  entgiftetes  und 
gleichzeitig  wirksames  Tuberkulin  eine  Contradictio  in  adjec.to 
sei.  Das  Tuberkulin  wirkt  vermöge  seiner  toxischen  Eigenschaften. 
Die  Eigenschaft,  des  Endotins,  Herdreaktionen  hervorzurufen,  sei 
nicht,  nur  kein  Vorzug  des  Präparates,  sondern  ein  Nachteil  des¬ 
selben,  da  Herdreaktionen  wegen  ihrer  Gefährlichkeit  absolut 
vermieden  werden  müssen.  Gegenüber  der  Herdreaktion  trete 
das  Fieber  an  Bedeutung  zurück.  In  ähnlicher  Weise  wenden 
sich  auch  Jochmann  und  Möllers31)  gegen  das  Endotin, 
das  nicht  als  reines  Tuberkulin  angesprochen  werden  kann.  Auch 
könne  es  mit  dem  von  Koch  hergestellten  albumosefreien  Tuber¬ 
kulin  nicht  Verglichen  werden.  Es  sei  überhaupt  arm1  an  spezi¬ 
fischen  Stoffen  und  stelle  eher  einen  Rück-  als  einen  Fortschritt 
dar.  Gegen  Wo  Iff-  Eisner  führt  wieder  Gordon32)  eine  Reihe 
von  Gründen  ins  Feld.  Als  „entgiftet“  sei  Endotin  nur  in  dem 
Sinne  bezeichnet  worden  als  es  frei  von  Albumosen  und  Peptonen 
sei,  welche  Anaphylaxieerscheinungen  hervorrufen  könnten.  Ein 
gewisser  Eiweißgehalt  und  eine  gewisse  Giftigkeit  müsse  aber 
bei  jedem  Tuberkulin  vorausgesetzt  werden,  soweit  diese  eben 
durch  die  spezifischen  Substanzen  selbst  bedingt  sind.  Das  Endotin 
zeichne  sich  aber  dadurch  aus,  daß  es  nicht  durch  toxische  All¬ 
gemeinwirkungen  überrasche.  Untersuchungen  über  den  thera¬ 
peutischen  Wert  des  Endotins  liegen  von  Walterhöfer33)  vor. 
Er  hat  das  Endotin  bei  25  Kranken,  13  des  dritten,  10  des  zweiten 
und  2  des  ersten  Stadiums,  angewendet.  Zusammenfassend  kommt 
er  zum  Resultate,  daß  die  Erwartungen,  die  nach  dem  Berichte 
von  Gabrilowitsch  an  das  Präparat  geknüpft  wurden,  sich 
bisher  nicht  erfüllt,  haben.  Vom  Alttuberkulin  sei  Autor  ganz 
andere  Erfolge  zu  sehen  gewohnt  als  die«  beim  Endotin  der  Fall 
war.  Doch  müßten  weitere  Berichte  abgewartet  werden,  ehe  ein 
abschließendes  Urteil  über  dasselbe  möglich  sein  werde. 

Literatur: 

’)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1911.  S.  341.  —  3)  Arbeiten  aus 
dem  Gesundheitsdepartement  der  Stadt  New  York  1908  bis  1909,  Bd.  4. 
—  3)  Arbeiten  aus  dem  Gesundheitsdepartement  der  Stadt  New  York 
1910,  Bd.  5.  —  *)  Arbeiten  aus  dem  Gesundheitsdepartement  der  Stadt 


New  York  1908  bis  1909,  Bd.  4.  —  5)  Münch,  med.  Wochenschr.  1910, 
Nr.  5.  —  6)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1911,  S.  343.  —  7)  Arbeiten 
aus  dem  Gesundheitsdepartement  der  Stadt  New  York  1908  bis  1909 
Bd.  4.  —  8)  Beitr.  z.  Klin.  d.  Tub.  1911,  Bd.  18,  S.  175  —  9)  Berl.  klin'. 

Wochenschr.  1911,  S.  118.  —  10)  Berl.  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  31. 

—  ")  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  S.  1987.  —  n)  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1910,  S.  435.  —  13)  Zeitschr.  f.  Hyg.  1910,  Bd.  67,  S.  1.  — 
u)  Zeitschr.  f.  Hyg.  1908,  Bd.  61,  S.  239.  —  15)  Zeitschr.  f.  Hyg.,  Bd.  36 
S.  315.  —  l6)  Wiener  klin.  Wochenschr.  1911,  S.  303.  —  17)  Frankfurter 
Zeitsch.  f.  Path.  1910,  Bd.  5,  S.  447.  —  >9)  Ebendort,  S.  446.'  —  >»)  Eben¬ 
dort,  S.  419.  —  2,>)  Wiener  med.  Wochenschr.  1911,  Nr.  7.  —  21)  Wiener 
klin.  Wochenschr.  1910,  S.  1797.  —  2i)  Berl.  Klinik  1911,  II.  271.  — 
ä:i)  Beitr.  z.  Klin.  d.  Tub.,  Bd.  16,  S,  259.  —  24)  Deutsche  med.  Wochen¬ 
schrift  1910,  S.  2446.  —  2:>)  Zeitschr.  f.  Immunitätsforschung  u.  exper. 
Eher.  1910,  Bd.  6,  S,  344.  —  26)  Münch,  med.  Wochenschr.  1910,  S.  2393. 

-1)  Klin.  Jahrb.  1911,  Bd.  24,  H.  4.  —  28)  Zeitschr.  f.  Ther.  1907, 

Bd.  11,  II.  1.  —  2S)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  Bericht  über  die 
Naturforschervers.  in  Königsberg.  —  3u)  Berl.  klin.  Wochenschr.  1910 
S.  2200.  —  31)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  S.  2141.  —  3-)  Berliner 
klin.  Wochenschr.  1911,  Nr.  9.  —  n)  Beitr.  zur  Klinik  der  Tub.  1911 
Bd.  18.  S.  333 


Heferate. 

Ribeiro  Sanchez 

a  sua  vida  e  a  sua  obra. 

Por  Maxiniiano  Leinos. 

Porto  1911,  Eduardo  Tavares  Martins. 

Den  Monographien  desselben  Verfassers  über  Amatus  und 
Zacntus  Lusitanus  reiht  sich  die  vorliegende  würdig  an  und  es 
ist  nicht  zu  viel  behauptet,  wenn  man  sagt,  daß  Lemos  durch 
seine  jüngste  Musterleistung  eine  Lücke  in  der  Geschichte  der 
Medizin  des  18.  Jahrhunderts  ausfüllt.  Zwar  wußte  man  bisher,  daß 
Ribeiro  Sanchez  der  eigentliche  Begründer  der  Sublimattherapie 
gegen  Syphilis,  der  erste  Beschreiber  der  Lues  hereditaria  tarda  ge¬ 
wesen  ist,  daß  er  energisch  die  Lehre  vom  amerikanischen  Ursprung 
der  Syphilis  bekämpft  hat  —  aber  Genaueres  Uber  das  Leben  und 
Wirken  des  merkwürdigen  Mannes,  der  eine  Zeitlang  am  russischen 
Kaiserhofe  als  Leibarzt  wirkte  und  zu  den  Gelehrtenkreisen  des 
18.  Jahrhunderts  in  regster  Beziehung  stand,  ist  aus  den  verbreiteten 
medikohistorischen  und  biographischen  Werken  neueren  Datums 
nicht  zu  ermitteln.  Wohl  haben  einst  Andry  und  Vicq  d’Azyr 
Biographien  des  berühmten  Maranenstämm lings  verfaßt,  aber  diese 
Arbeiten  sind  gegenwärtig  vergessen  und  entbehren  zudem  genügender 
dokumentarischer  Grundlagen.  Der  Sache  von  neuem  mit  dem 
nötigen  Spürsinn  nachzugehen,  ein  völlig  erschöpfendes  Bild  von 
der  Bedeutung  des  portugiesischen  Arztes  zu  geben,  dazu  war  in 
der  Gegenwart  niemand  so  sehr  berufen  wie  Lemos,  der  mit 
glühender  Liebe  zu  seiner  Nation  eine  sozusagen  deutsche  Gelehrten- 
gründlichkeit  vereinigt  und  davon  in  seiner  Geschichte  der  portu¬ 
giesischen  Medizin  in  seinen  Archivaufsätzen  usw.  hinreichende 
Proben  geliefert  hat.  Was  in  der  gesamten  Literatur  vorhanden  ist, 
was  sich  in  den  Archiven  und  Bibliotheken  Portugals  und  Frank¬ 
reichs  über  Ribeiro  Sanchez  ausfindig  machen  ließ,  ist  mit  be¬ 
wundernswertem  Eifer  zusammengetragen  und  kulturhistorisch  ver¬ 
arbeitet  worden  und  bei  der  Lektüre  des  360  Seiten  starken,  reich 
illustrierten  Werkes  bemerkt  man  deutlich,  wie  bei  dem  Verfasser 
die  Begeisterung  für  den  Gegenstand  wuchs,  je  mehr  er  auf  uner¬ 
wartete  Funde  stieß.  Begeisterung,  nicht  Ueberschwenglichkeit  führte 
ihm  die  Feder  und  wir  glauben  es  gerne,  wenn  er  in  der  Vorrede 
sagt  »comecei  a  trabalhar  com  verdadeira  devoijao«,  denn  nur  durch 
völlige  Hingebung  an  die  Sache  kann  ein  solches  Buch  zustande 
gebracht  werden  !  Ein  eingehendes  Referat  würde  den  zugemessenen 
Raum  weit  überschreiten,  nur  so  viel  sei  erwähnt,  daß  die  neun 
ersten  Kapitel  dokumentarisch  gestützte,  auf  die  kleinsten  Einzel¬ 
heiten  eingehende  Angaben  über  die  Abstammung,  Familiengeschichie 
und  Lebensschicksale  S  a  n  c  h  e  z’  enthalten,  wobei  Portugal,  England, 
Holland,  Rußland  und  Frankreich  den  Schauplatz  bilden.  Kapitel  10 
bis  12  schildern  Sanchez  als  Syphilidologen,  Hygieniker  und 
Reformator  des  medizinischen  Unterrichts,  Kapitel  13  entwickelt 
seine  noch  heute  höchst  bemerkenswerten  Ideen  Uber  Religion, 
Politik  und  Volkswirtschaft.  Man  gewinnt  den  Eindruck  eines  Voll¬ 
menschen,  der  medizinisch  dachte,  aber  dem  das  Nil  humani  a  me 
alienum  puto  zum  Leitsatz  diente.  Jetzt  erst  wird  e.s  begreiflich, 
weshalh  Boerhaave  so  sehr  an  seinem  Schüler  Sanchez 
hing,  weshalb  Haller  und  van  Swieten,  um  nicht  die  vielen 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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anderen  zu  nennen,  seine  Freundschaft  suchten  und  in  ehrenvollster 
Weise  seinen  Namen  in  ihren  Schriften  erwähnten.  Widmete  ihm 
doch  Haller  sogar  den  zweiten  Band  seiner  Ausgabe  von  Boer- 
haaves  Institutionen.  Jetzt  begreift  man,  weshalb  das  Vaterland  den 
wegen  der  Inquisition  geflüchteten  Sohn  so  gerne  wieder  zurück¬ 
gewonnen  hätte,  besaß  es  doch  keinen,  der  das  medizinische  Re¬ 
nommee  Lusitaniens  so  groß  gemacht,  so  weil  zu  verbreiten  wußte 
wie  Ribeiro  Sanchez.  Die  anhangsweise  beigegebene  Bibliographie 
gibt  Aufschluß  nicht  bloß  Uber  die  zum  Teil  selten  gewordenen  ge¬ 
druckten  Schriften  des  Sanchez,  sondern  auch  über  die  viel 
zahlreicheren,  meist  in  Paris  vorhandenen  Manuskripte  des  Autors ; 
daran  reihen  sich  noch  35  höchst  interessante  Dokumente,  die 
bisher  unbeachtet  in  den  Archiven  schlummerten.  Daß  eine  Menge 
Porträts  von  Zeitgenossen,  mit  denen  Sanchez  in  mündlichem 
oder  schriftlichem  Verkehr  stand,  den  Text  beleben,  soll  nicht  an¬ 
zuführen  unterlassen  werden.  Eines  nur  ist  zu  bedauern,  daß  das 
Buch,  welches  einen  ganz  ausgezeichneten  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Medizin  und  der  Kultur  überhaupt  liefert,  in  einer  Sprache  ge¬ 
schrieben  ist,  mit  der  nicht  gar  viele  vertraut  sind,  doch  schließlich 
bildet  das  Idiom  keine  unübersteigliche  Schranke  und  wir  sind 
dessen  gewiß,  daß  das  Geleistete  bald  in  der  medizinischen  Universal¬ 
geschichte  aufgenommen  werden  wird.  Die  ärztlichen  Kreise  Portu¬ 
gals  haben  wahrlich  Grund,  Lemos  für  seine  unermüdliche 
historische  Forschertätigkeit  dankbar  zu  sein,  denn  wie  keinem 
anderem  gelang  es  ihm,  den  alten  Ruhm  Lusitaniens  auf  medizi¬ 
nischem  Gebiete  aufzufrischen. 

* 

Klassiker  der  Medizin. 

Herausgegeben  von  Karl  Sudlioll-. 

Bd.  5  bis  9. 

Leipzig  1910,  Verlag  von  Joh.  Ambr.  Barth. 

Feber  die  höchst  anerkennenswerten  Ziele,  welche  den  Her¬ 
ausgeber  dieser  Sammlung  leiten,  wurde  bereits  bei  Gelegenheit 
des  Erscheinens  der  ersten  vier  Bändchen  gesprochen.  Das  Lob, 
das  wir  damals  dein  Textausgaben,  bzw.  Uebersetzungen  zollten, 
gilt  auch  für  die  neuen  Nummern.  Band  5  bietet  in  form¬ 
vollendeter  und  doch  treuer  Uebertragung  Fracas  t or  os  wert¬ 
volle  Schrift  De  contagionibus  et  coutagiosis  morbis, 
Band  6  Sydenham's'  unveraltete  Abhandlung  über  die 
Gicht.  Bilden  für  diese  beiden  Werke  aus  dem  16.,  beziehungs- 
'  weise  17.  Jahrhundert  die  bekannten  medizinischen  Fachhistoriker 
F  os  sei  und  Pagel  die  berufensten  Interpreten,  so  werden  die 
folgernden  Bändchen,  welche  Virchows  berühmte  Arbeit  über 
Thrombose  und  Embolie,  sodann  R.  Kochs  fundamentale 
Schrift  über  die  Aetio  logic  der  Milzbrand  krank  heit  ent¬ 
halten,  zweckmäßig  durch  Vertreter  der  aktuellen  Forschung 
R.  Beneke,  bzw.  M.  Ficker,  eingeleitet.  Mögen  der  Sammlung 
noch  viele  Nummern  beschieden  sein.  Neuburger. 


fl us  versebie denen  Zeitschriften. 

367.  Zur  biologischen  Wirkung  der  Radium¬ 
emanation.  Von  J.  Plesch,  klin.  Assistent  an  der  II.  med. 
Klinik  in  Berlin  (Prof.  Dr.  F.  K  r  a  u  s).  Es  wird  über  mehrere 
Versuche  und  Messungen  berichtet,  welche  sich  zunächst  auf  die 
Aufnahme  der  Radiumemanation  von  unversehrtem  und  frischem 
defibrinierten  Blute  bezogen.  Als  Resultat  ergab  sich,  daß  das 
menschliche  Blut  weniger  (etwa  um  1 0°/0  weniger)  Emanation 
aufnimmt  als  das  Wasser  und  dadurch  ist  auch  festgelegt,  daß  eine 
spezifische  Affinität  des  Hämoglobins  zur  Emanation  nicht  bestehen 
kann.  Da  im  allgemeinen  die  indifferenten  Gase  durch  das  Blut 
nur  zu  9O°/0  ihres  Wasserabsorptionskoeffizienten  absorbiert  werden 
(Bohr),  so  dient  das  bei  der  Radiumemanation  gefundene  Resultat 
auch  als  weitere  Stütze  für  die  Anschauung,  daß  die  Emanation 
sich  wie  ein  indifferentes  Gas  verhält.  Weiters  lehrten  diese  Ver¬ 
suche,  daß  die  absorbierten  Mengen  der  Emanation  sich  proportional 
der  Tension  ändern  ;  je  höher  die  Tension  der  Emanation  in  der 
Einatmungsluft  ist,  um  so  größer  wird  die  von  dem  Blute  absor¬ 
bierte  Menge  sein.  Das  aus  der  Lunge  nach  den  Geweben  ab¬ 
fließende  Blut  gibt  sodann  seine  Emanation  im  Körper  ab,  wonach 
sich  die  Lungen  wieder  mit  Emanation  sättigen,  dies  dauert  so 
lange,  bis  sich  endlich  das  Spannungsgleichgewicht  zwischen  der  in 


derGesamtkörperllüssigkeil  und  der  in  der  Einatmungsluft  befindlichen 
Emanation  eingestellt  hat.  Je  länger  der  Aufenthalt  in  emanations- 
reicber  Luft  dauert,  um  so  gründlicher  wird  die  Sättigung  des 
Organismus  mit  Emanation  sein.  Und  besonders  werden  auch  die¬ 
jenigen  Organe  in  Emanationsspannungsgleichgewicht  geraten,  die, 
wie  Gehirn,  Rückenmark,  Fettgewebe  etc.,  eine  geringere  Durch¬ 
blutung  haben  als  die  übrigen  Körperorgane.  Wie  lange  kann  nun 
die  Emanation  nach  erfolgter  Einverleibung  im  Organismus  ver¬ 
weilen?  Die  Emanation  wird  aus  dem  Blute  in  die  Lungen  trans¬ 
portiert  und  hier  wieder  nach  den  Spannungsgesetzen  abgegeben. 
Unter  Hinweis  auf  die  Abgabe  des  Stickstoffes  zeigt  Verf.,  daß  die 
Dauer  der  Entgasung  des  Körpers  im  direkten  Verhältnis  zu  der 
Zirkulationsgeschwindigkeit  stehe.  Je  ruhiger  sich  also  das  Individuum 
verhält,  um  so  länger  muß  die  Emanation  in  ihm  verweilen,  je 
mehr  es  sich  bewegt,  um  so  schneller  wird  es  mit  Emanation  ge¬ 
sättigt  werden  und  umgekehrt.  Die  wirksame  Dosis  der  Emanation, 
bzw.  das  Optimum  für  den  Organismus  ist  noch  nicht  feslgcslellt. 
Da  die  größte  Masse  der  Emanation  rasch  abgegeben  wird,  so  wird 
man,  um  eine  Wirkung  zu  erzielen,  das  betreffende  Individuum 
stundenlang  im  Emanatorium  halten  müssen,  denn  nur  so  ist 
es  möglich,  den  ganzen  Körper  mit  Emanation  zu  sättigen.  Der 
Verfasser  bespricht  schließlich  die  Trinkkur,  bei  welcher  die  Emanation 
langsamer  eindringt,  dafür  aber  eine  länger  andauernde  Wirkung 
entfaltet.  Die  in  den  Magen  und  Darm  einverleibte  Emanation  ge¬ 
langt  auf  dem  Blut-  oder  Lymphwege  ins  rechte  Herz,  sodann  in 
die  Lungen,  von  wo  sie,  ohne  in  das  arterielle  System  überzugehen 
(ohne  also  in  dem  Körper  verteilt  zu  werden),  abgegeben  wird. 
Wollen  wir  also  auf  das  Blut,  resp.  nur  auf  die  im  Blute  ent¬ 
haltenen  Substanzen  wirken  (Gicht,  zirkulierende  Harnsäure),  so  wird 
auch  die  getrunkene  oder  gegessene  Emanation  wirksam  sein. 
Ueberhaupt  wird  die  kombinierte  Emanations-Inhalalions-Trinkkur  zu 
empfehlen  sein,  um  praktisch  eine  intensive  und  lang  dauernde 
Wirkung  zu  erzielen.  — -  (Deutsche  med.  Wochenschr.  1911,  Nr.  11.) 

E.  F. 

* 

368.  (Aus  dem  Samariterhaus  zu  Heidelberg.  —  Direktor: 
Exzellenz  Geheimrat  Prof.  Dr.  V.  Czerny.)  Heber  die  Vor¬ 
lagerung  intra  abdomineller  Organe  zur  Röntgen¬ 
bestrahlung.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  R.  Werner  und  Dr.  A.  Caan. 
Die  beiden  V  erfasser  haben  auf  Veranlassung  C  zernys  im  Sama¬ 
riterhaus  die  von  Karl  Beck  im  Jahre  1907  angeregte  temporäre 
Eventrierung  inoperabler  Magen-Darmkarzinome  oder  anderer  Ab¬ 
dominalorgane  behufs  Röntgenbestrahlung  nachgeprüft  und  bisher 
bei  14  Kranken  angewandt,  von  denen  neun  an  inoperablen  Magen¬ 
krebsen,  zAvei  an  weit  vorgeschrittenen  Rektumkarzinomen  und 
je  einer  an  Kolonkrebs,  an  Gallenblasen-,  bzAv.  an  Ovarialtumor 
litten.  Der  vorbereitende  operative  Eingriff  gestaltet  sich  ver¬ 
schieden.  Bei  Magenkrebsen  in  der  Regio  pylorica  wurde  ein 
medianer  Längsschnitt  gemacht.  Der  erste  Akt  bestand  in  einer 
zirkulären  Vereinigung  des  Peritoneums  mit  der  Haut  dur'ch  Katgut- 
nähte,  dann  wurde  der  Tumor  in  möglichst  großem  Umfange  in 
die  Wunde  gezogen,  von  Adhäsionen  befreit  und  mit  Silkworm- 
nähten  derart  an  dem  Haut-Peritonealrand  befestigt,  daß  eine  breite 
und  feste  Verklebung  der  Peritonealflächen  erfolgen  konnte.  Es 
erwies  sich  als  vorteilhaft,  nicht  den  zerreißliehen  Tumor  seihst 
zur  Fixation  zu  verwenden,  sondern  benachbarte  gesunde  Teile. 
Bei  den  Karzinomen  an  der  Hinterfläche  des  Magens,  die  zu 
stark  fixiert  waren,  um  sie  zu  dislozieren,  wurde  der  Rand  der 
Maigenwunde  so  weit  verzogen,  daß  die  Hauptmasse  des  Tumors 
nur  durch  die  Vorderwand  des  Magens  bedeckt  war.  In  diesen 
Fällen  ist  eine  vollkommene  Freilegung  zur  direkten  Bestrahlung 
kaum  möglich.  Dagegen  ließ  sich  ein  Tumor,  der  teilweise  von  der 
Leber  bedeckt,  war  und  nicht  losgelöst  werden  konnte,  dadurch 
'unmittelbar  zugänglich  machen,  daß  der  Leberrand  durch  Ma¬ 
tratzennähte  mit  dem  Hautrande  vereinigt  wurde.  Die  Silkworm- 
iäden  wurden  immer  lang  gelassen,  um  als  Zügel  zur  Distraktion 
der  Wundränder  während  der  Röntgenbestrahlung  zu  dienen. 
Eine  schädliche  Folge  dieses  Eingriffes,  eine  Infektion  wurde 
nie  beobachtet.  Die  meisten  Patienten  konnten  nach  zAvei  bis 
drei  Wochen  mit  einer  festen  Bandage  das  Rett.  verlassen.  Die 
freiliegenden  Tumor-  und  Magenteile  bedeckten  sich  mit  Granu¬ 
lationen,  die  vom  Rande  her  zu  epidermisieren  begannen.  Ein 
Patient,-  der  vor  sieben  Monaten  operiert  wurde,  ist  seit  sechs 


542 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


Wochen  wieder  arbeitsfähig  und  hat  keine  Beschwerden  von  der 
Oeffnung  in  seiner  Bauchwand.  Bei  dem  Gallenblasentumor,  der 
auf  das  Kolon  Übergriff,  wurde  durch  Vorziehen  des  Kolons 
der  Ilauptteil  der  Geschwulst  in  die  Wunde  gebracht  und  die 
Darmwand  zur  fixation  an  dem  Hautperitonealrand  benützt.  Auch 
hier  war  der  Abschluß  des  Peritoneums  ein  so  fester,  daß  die  Kranke 
nach  drei  Wochen  aufstehen  konnte.  Das  Ovärialkarzinomrezidiv 
saß  im  Mesenterium,  wurde  zuerst  exkochleiert  und  dann  direkt 
an  den  Hautrand  an, genäht.  Sehr  schwierig  waren  die  hingriffe 
zur  Freilegung  der  beiden  Rektumkarzinome.  Es  waren  außer¬ 
ordentlich  umfangreiche  Tumoren,  die  sowohl  am  Sakrum  wie 
an  der  Blase  breit  festsaßen.  Nach  Resektion  des  Steißbeines 
wurde  der  Tumor  teils  stumpf,  teils  blutig  abgelöst,  ein  Teil  der 
Tumor-  und  Darmpartien  abgetragen,  der  eingenähte  Teil  der1  Ge¬ 
schwulst  bis  zum  Sakrum  hinauf  gespalten,  so  daß  die  Innen¬ 
fläche  des  Darmes  und  die  ulzerierten  Tumorpartien  freigelegt 
wurden.  Bei  beiden  Kranken  war  schon  früher  eine.  Kolos tomie 
gemacht  worden.  Der  eine  Kranke,  der  vor  sechs  Monaten  operiert 
wurde,  hat  in  der  Gegend  des  Afters  jetzt  einen  normalen  Haut- 
und  Schleimhautüberzug  und  ist  im  Gehen  und  Sitzen  nicht,  be¬ 
hindert,  der  andere  ist  inzwischen  an  einer  septischen  Infektion 
des  Tumors  gestorben.  Beim  Kolonkarzinom  kam  es  nach  Vor¬ 
lagerung  zu  einer  rapiden  Verkleinerung  der  Geschwulst;  subjektiv 
vollkommenes  Wohlbefinden.  Darmfunktion  normal.  Die  Verfasser 
ziehen  aus  ihren  Beobachtungen  folgende  Schlüsse:  l.  Es  ist 
möglich,  nach  der  von  Karl  Beck  angeregten  Methode  der  Ver¬ 
lagerung  intraabdomineller  Organe  behufs  Röntgenbestrahlung  Er¬ 
folge  zu  erzielen,  die  weit  über  die  bisherigen  hinausgehen. 
2.  Die  Vorzüge  der  direkten  Bestrahlung  beruhen  einerseits  auf 
einer  besseren  qualitativen  und  quantitativen  Ausnützung  der 
Röntgenstrahlen,  anderseits  auf  der  Möglichkeit,  neben  der  bisher 
allein  üblichen  diakutanen  homogenen  oder  konzentrischen  Be¬ 
strahlung,  noch  eine  rücksichtslose,  lokale  Behandlung  durchzu¬ 
führen,  wobei  die  benachbarten  Organe  geschont  und  etwaige 
schädliche  Folgen,  wie  Nekrosen,  Blutungen,  Perforationen  usw. 
durch  die  bessere  Kontrolle  leichter  verhütet  werden  und,  wenn 
sie  eintreten  sollten,  harmloser  verlaufen  würden.  3.  Es  empfiehlt 
sich,  die  vorgenähten  Organe  lange  Zeit,  eventuell  dauernd  in 
ihrer  Position  zu  belassen,  da  einerseits  den  Kranken  hiedurch 
keine  wesentlichen  Beschwerden  verursacht  werden,  anderseits 
eine  längere  Nachbehandlung  von  besonderem  Werte  zu  sein 
scheint  und  jedenfalls  so  eine  bessere  Ueberwachung  der  weiteren 
Entwicklung  des  Leidens  möglich  ist.  4.  Zu  diesem  Zwecke 
dürfte  es  ratsam  sein,  speziell  bei  den  Magenkarzinomen  die 
von  den  Verfassern  angewandte  exakte  Methode  des  Peritoneal¬ 
verschlusses  und  bei  Rektumkarzinomen  das  von  Werner  an¬ 
gegebene  Verfahren  zu  benützen.  5.  Einfache  Probelaparotomien 
und  Gastroenterostomien  bei  inoperablen  Magenkarzinomen  sollten 
daher,  wenn  irgend  möglich,  vermieden  und  durch  das  geschil¬ 
derte  Verfahren  ergänzt  oder  ersetzt  werden.  Etwas  ähnliches 
gilt  von  der  Kolostomie  bei  inoperablen  Rektumkarzinomen,  ferner 
von  der  Enterostomose  bei  karzinomatösen  Stenosen  der  übrigen 
Darmabschnitte.  Es  liegt  nahe,  auch  für  andere  innerhalb  des 
Abdomens  gelegene  Tumoren  (Niere,  Blase,  Pankreas),  sowie  für 
die  intrathorakalen  und  intrakraniellen  Geschwülste  ein  analoges 
Verfahren  einzuschlagen,  das  in  sehr  vielen  Fällen  ohne  allzu¬ 
große  technische  Schwierigkeiten  gestatten  dürfte,  auf  chirurgi¬ 
schem  Wege  eine  erfolgreichere  Intervention  der  Röntgenstrahlen 
vorzubereiten  und  die  Radiochirurgie  in  den  Dienst  der  Therapie 
maligner  Tumoren  zu  stellen.  —  (Münc,hener  mediz.  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  11.)  G. 

► 

369.  (Aus  dem  Laboratorium  von  Prof.  J.  Pa  w  low  zu 
Petersburg.)  Die  Kernprobe  von  Prof.  Ad.  Schmidt.  Von 
Priv.-Doz.  N.  van  Westenrijk.  Nach  den  Untersuchungen  van 
Westenrijks  ist  die  Ivernprobe  von  Prof.  Ad.  Schmidt  in 
der  Art,  wie  sie  vom  Verfasser  angestellt  wird,  nicht  verwert¬ 
bar,  da  dann  viele  gesunde  Personen  als  pankreaskrank  aufge¬ 
faßt  werden  müßten.  Nur  in  dem  Falle,  wenn  der  Fleischwürfel 
ganz  intakt  oder  wenig  mikroskopisch  vermindert  im  Kote  er¬ 
scheint,  wäre  dies  auf  eine  mangelhafte  Pankreassekretion  zu 
beziehen,  z.  B.  kann  dies  bei  Achylia  gastrica  der  Fall  sein. 
Bei  Leuten  mit  normaler  Magensekretion  aber  wären  die  Gaze¬ 


beutel  mit  den  Fleischwürfeln  in  Keratinkapseln  zu  geben,  nur 
dann  würde  die  Probe  dasselbe  bedeuten  können  wie  bei  Achy, 
likern.  -  (Zeitschrift  für  experimentelle  Pathologie  und  The¬ 
rapie  1910,  ßd.  8,  H.  2.)  k.  S. 

* 

370.  Z  u  )•  41  a gen-Kolonresektion.  Von  Prof.  Dr.  Rudolf 

Goebel  1.  »Verf.  nahm  in  einem  Falle  von  einem  zwischen  Magen 
und  Kolon  liegenden  Karzinom  in  erster  Sitzung  Resektion  des 
Colon  transversum  (40  cm),  drei  Viertel  des  Magens,  vor.  Da 
eine  Vereinigung  des  Colon  transversum  unmöglich  war,  wurde 
die  Appendikostomie  ausgeführt.  Nach  günstigem  Verlaufe  wurde 
zirka  sieben  Wochen  später  vorgenommien :  Durchtrennung  des 
untersten  Ileums.  Schluß  durch  Tabaksbeutelnähte  und  Vereinigung 
iles  Ileums  mit  dem  Colon  descendens  side  to  side  mit  drei¬ 
facher  Naht.  Fat.  wurde  geheilt  entlassen.  Vier  Monate  später 
bestand  nur  mehr  in  der  rechten  Unterbauchseite  eine  Fistel  von 
3  mm  Durchmesser,  die  in  das  Cökum  führt  und  kaum  sezerniert. 
Es  wurde  demnach  eine  totale  Ausschaltung  des  Cökums,  Colon 
ascendens  und  der.  Flexura  coli  dextra  gemacht.  —  (Zentralblatt 
für  Chirurgie  1910,  Nr.  45.)  E.  V. 

* 

371.  Arbeitstherapie.  Von  Direktor  Dr.  Dees  in  Haber¬ 

see.  Verf.  hat  auf  dem  internationalen  Kongreß  zur  Fürsorge 
für  Geisteskranke  einen  Vortrag  über  obiges  Thema  gehalten, 
der  manches  Interessante  bietet.  So  wird  es  selbst  wenigen  Psy¬ 
chiatern  bekannt  sein,  daß  es  schon  im  Mittelalter  Anstalten  gab, 
in  denen  die  Beschäftigung  der  Geisteskranken  in  mustergültiger 
Weise  gepflegt  wurde.  Sehr  interessant  sind  auch  die  Aeuße- 
rungen  Goethes  über  Arbeitstherapie  in  „Wilhelm  Meisters  Lehr¬ 
jahre“.  Selbstverständlich  ist  die  Forderung  der  Arbeitstherapie 
ausschlaggebend  bei  der  Auswahl  des  Ortes  und  der  Anlage  einer 
Anstalt.  Verf.  ist  ein  Gegner  der  Entlohnung  der  von  Geistes¬ 
kranken  in  einer  Anstalt  geleisteten  Arbeit.  Das  Erträgnis  dieser 
Arbeit  könnte  zu  Freiplätzen  für  Bedürftige,  für  HilsVereine,  für 
Entlassene  oder  für  solche  entlassene  Pfleglinge  verwendet  wer¬ 
den,  die  unter  der  Kontrolle  der  Anstalt  stehen.  —  (Allgemeine 
Zeitschrift  für  Psychiatrie  und  psychisch-gerichtliche  Medizin, 
Bd.  68,  H.  1.)  '  S. 

* 

372.  Ein  Beitrag  zur  Frage  des  Impfschutzes. 
Von  Dr.  Ernst  Levy  in  Essen  a.  d.  Ruhr.  Um  der  in  neuester 
Zeit  immer  regeren  Gegen  agitation  den  Boden  abzugraben  und  um 
auf  die  jüngeren  Zeitgenossen  überzeugend  einzuwirken,  bringt  Verf. 
eine  Reihe  von  Tatsachen  vor,  welche  fast  die  Beweiskraft  eines 
Experimentes  haben.  Ein  Schiffskapitän,  zuletzt  vor  etwa  40  Jahren 
geimpft,  kehrte  aus  Rußland  zurück,  erkrankte  leicht  mit  Ausschlag 
im  Gesicht,  war  dabei  nicht  bettlägerig.  Seine  74jährige  Mutter,  die 
nie  im  Lehen  geimpft  war,  starb  nach  kurzer  Krankheit  an  Va¬ 
riola  vera.  Zur  Beerdigung  fuhr  diejganze  Familie  des  Schwieger¬ 
sohnes  (Mann,  Frau,  ein  sechs-  und  ein  vierjähriges  Kind,  dann  ein 
zweijähriges  ungeimpftes  Kind)  aus  Essen  hin,  ohne  aber  mit  der 
schon  eingesargten  Frau  in  Berührung  zu  kommen,  resp.  ohne 
Sachen  der  Frau  mitzunehmen.  Drei  Wochen  später  erkrankte  der 
nichtgeimpfte  zweijährige  Knabe  an  echten  Pocken  in  schwerer 
Form.  Die  ganze  Familie  kam  ins  Barackenspital.  Das  Kind  genas. 
Die  übrige  Familie,  sofort  revakziniert,  blieb  gesund,  bis  auf  ein 
zweitägiges  hohes  Fieber  (bis  40'4°),  das  sich  am  fünften  und 
sechsten  Tage  nach  der  Aufnahme  bei  dem  Mädchen  und  am 
sechsten  und  siebenten  Tage  bei  dem  Vater  einstellte.  Bei  letzterem 
war  auch  ein  masernähnliches  Exanthem  aufgetreten,  das  unter 
Nachlaß  des  Fiebers  am  anderen  Morgen  schwand  und  welches 
Verf.  als  eine  gemilderte  Form  der  Variola  (Variola  sine  exanthe- 
mate)  auffaßt.  Letztere  rührte  natürlich  von  dem  in  Essen  erkrankten 
Kinde  her.  Es  haben  sich  also  fünf  Personen  in  gleicher  Weise  der 
Ansteckung  von  Pockengift  ausgesetzt,  das  eine  nicht  geimpfte 
Person  gelötet  halte;  von  diesen  fünf  erkrankte  wieder  die  eine 
nicht  geimpfte,  u.  zw.  schwer,  zwei  Personen  erkrankten  späte»' 
u.  zw.  in  allerleichtester  Weise.  Es  gehört  schon  sehr  viel  vorge¬ 
faßte  Meinung  dazu,  hier  an  einen  Zufall  und  nicht  an  die  Wirkung 
der  Impfung  zu  denken.  Verf.  zitiert  im  weiteren  die  Vorschriften 
zur  Bekämpfung  der  Pocken,  zeigt,  daß  viele  Personen  zum  zweiten 
Male  die  echten  Blattern  bekamen  (auch  der  Kapitän  behauptete, 
schon  die  echten  Blattern  überstanden  zu  haben),  daß  eine  vor  fünf 


I 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


543 


Jahren  vorgenommene  Impfung  keinen  absoluten  Schutz  vor  Er¬ 
krankung  biete,  daß  Leute  mit  Pockennarben  (meist  vor  10  bis 
20  Jahren  akquiriert)  gegen  die  Impfung  mit  Kälberlymphe  positiv 
reagieren  etc.,  und  gelangt  zum  Schlüsse,  daß  eine  fünfjährige 
Durchimpfung  keinen  genügenden  Schutz  für  das  Pflegepersonal  von 
Pockenkranken  (Aerzte,  Wärter)  gewährleiste.  Alle  Personen,  die 
außer  mit  den  Kranken  auch  noch  mit  anderen  Zusammenkommen, 
in  erster  Linie  die  Aerzte,  sollten  sich  daher  sofort  bei  Erkennung, 
bzw.  Behandlung  eines  Pockenkranken  wieder  impfen  lassen,  falls 
die  letzte  Impfung  über  ein  Jahr  zurückliegt.  Abgesehen  von 
der  prophylaktischen  wohnt  der  Impfung  noch  ein  kurativer  Wert 
bei  für  den  Fall,  daß  ein  Arzt  noch  vor  der  Impfung  oder  bald 
nach  ihr,  zu  einer  Zeit,  wo  noch  keine  Schulzwirkung  entwickelt 
war,  sich  infiziert.  Verf.  führt  dies  aus  und  zeigt,  daß  man  bei 
sofortiger  Impfung  (Revakzination)  die  Chancen  habe,  daß  die 
Vakzine  die  Variola  (gleichzeitige  Infektion  mit  Pocken  vorausgesetzt) 
überholt  und  dadurch  mildert.  Dies  kann  sogar  noch  der  Fall  sein, 
wenn  die  Variola  schon  kurze  Zeit  früher  von  dem  Körper  Besitz 
ergriffen  hat.  Die  bezügliche  Vorschrift  sollte  daher  lauten:  »Zur 
Pflege  und  Behandlung  von  Pockenkranken  sind  nur  solche  Per¬ 
sonen  zuzulassen,  welche  sich  einer  sofortigen  Impfung,  bzw.  Wieder¬ 
impfung  unterwerfen,  die,  wenn  nötig,  jährlich  zu  wiederholen 
ist.«  Das  gilt  auch  für  Geistliche,  Urkundspersonen,  Desinfektoren 
und  Leichenwärter.  —  (Deutsche  med.  Wochenschr.  1911,  Nr.  11.) 

’  E.  F. 

* 

373.  (Aus  der  dermatologischen  Abteilung  des  Rudolf 
Virchow -Krankenhauses  zu  Berlin.  —  Dirigierender  Arzt:  Sani¬ 
tätsrat  Dr.  Wechselmann.)  Das  Verhalten  des  Blut¬ 
druckes  bei  intravenösen  Salvarsaninjektione n.  Von 
Dr.  Richard  Sieskind,  Assistenzarzt.  Der  Verfasser  hat  bei 
Patienten,  die  intravenös  mit  Salvarsan  injiziert  wurden,  syste¬ 
matisch  den  Blutdruck  gemessen,  um  fostzustellen,  ob  überhaupt 
nach  der  Injektion  mit  Salvarsan  Blutdruckünd er ungen  eintreten, 
welcher  Art  letztere  sind  und  ob  sie  irgendwelche  Störungen  be¬ 
dingen  können.  Die  Untersuchungen  wurden  mit  dem  Reckling¬ 
hausen  sehen  Tonometer  vorgenommen.  Injiziert  wurde  eine 
schwach  alkalische  Salvarsanlösung  0-3  bis  0-45  auf  200  cm3 
P  lüssigkeit ;  in  einzelnen  Fällen  wurde  das  Flüssigkeitsquantum 
auf  300  bis  500  cm3  erhöht.  Die  Messungen  wurden  zwei-  bis 
vierstündig  durch  drei  bis  vier  Tage  ausgeführt.  Stark  fiebernde 
Patienten  und  solche,  die  längere  Zeit  an  Kopfschmerzen,  Nausea 
und  Erbrechen  litten,  wurden  von  der  Blutdruck  Untersuchung 
ausgeschlossen.  Auch  auf  die  psychische  Erregbarkeit  der  Pa¬ 
tienten  wurde  Rücksicht  genommen.  Nicolai  hat  zuerst  bei 
subkutan  mit  Salvarsan  behandelten  Patienten  auf  die  nachher 
eintretende  Biutdrucksenkung  aufmerksam  gemacht.  Seine  Fälle 
waren  allerdings  nur  poliklinisch  untersucht.  Der  Verfasser  hat 
nun  bei  seinem  klinischen  Material  gefunden,  daß  in  der  Mehr¬ 
zahl  der  Fälle  eine  deutliche,  in  einzelnen  Fällen  sogar  eine  er¬ 
hebliche  Blutdrucksenkung  eintritt.  In  zwei  Fällen,  wo  die  Blut- 
drucksenkung  vermißt  wurde,  war  die  verabreichte  Salvarsan- 
dosis  sehr  gering.  In  drei  Fällen  bestand  die  Blutdrucksenkung 
einen  Tag,  in  fünf  Fallen  zwei  Tage,  in  zehn  Fällen  drei  Tage. 
Die  ursprüngliche  Druckhöhe  wurde  nicht  wieder  erreicht  in  | 
fünf  Fällen,  das  heißt,  die  Blutdrucksenkung  dauerte  länger  als 
drei  Tage.  Die  Resultate  des  Verfassers  stimmen  im  wesentlichen 
mit  denen  von  Gennerich  überein,  der  ebenfalls  in  den  meisten 
Fällen  mit  dem  Riva-Rocci  nach  der  Salvarsaninjektion  Blut¬ 
drucksenkung  beobachtet  hat.  Die  Ursache  der  Biutdrucksenkung 
kann  nach  Verf.  nicht  durch  die  Flüssigkeitsmenge,  sondern  nur 
durch  das  Arsen  bedingt  sein.  Nach  Hans  Meyer  und  Gottlieb 
bringt  das  Arsen  in  toxischen  Dosen  ein  tiefes  Sinken  des  ar¬ 
teriellen  Blutdruckes  durch  Lähmung  der  kontraktilen  Elemente 
der  Mesenterialgefäße  zustande.  Es  erfolgt,  wie  Krehl  sich  aus¬ 
drückt,  eine  Verblutung  des  Organismus  in  seine  eigenen  Unter¬ 
leibsgefäße  hinein,  während  die  Peripherie  ungenügend  Blut  er¬ 
hält.  Auch  Hering  fand  eine  Biutdrucksenkung  beim  Kanin¬ 
chen  und  Hunde  mit  toxischen  Salvarsandosen.  Aber  auch  die 
Dosis  tolerata  nach  Ehrlich  und  Data  ist  auf  Grund  der 
Hering  sehen  Tierversuche  nicht  wirkungslos  auf  den  Kreislauf. 
Die  Frage,  ob  diese  Biutdrucksenkung  dem  Syphilitiker  schaden 
kann,  verneint  der  Verfasser.  Graßmann  konnte  eine  Verminde¬ 


rung  des  Blutdruckes  auch  im  Verlaufe  der  Quecksilberbehandlung 
beobachten.  Verf.  zieht  aus  seinen  Untersuchungen  die  folgenden 
Schlüsse:  1.  Es  ist  zweifellos,  daß  das  Salvarsan  genau  wie  die 
übrigen  Arsenpräparate  intravenös  appliziert,  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  eine  Biutdrucksenkung,  ähnlich  wie  es  Nicolai  schon 
nach  subkutaner  Injektion  festgestellt  hat,  hervorruft.  Bei  geringen 
Dosen  kann  in  einzelnen  Fällen  die  Blutdruckdepression  auch 
fehlen.  2.  Die  Biutdrucksenkung  ist  bei  den  gewöhnlich  auge- 
w  lendeten  Dosen  nie  so  hochgradig,  daß  sie  das  Leben  der 
Patienten  gefährdet.  3.  Die  Gefahren  für  einen  gesunden  Zirku¬ 
lationsapparat  sind  nicht  größer  als  die  einer  intravenösen  Koch¬ 
salzinfusion.  Die  injizierte  Flüssigkeitsmenge  spielt  nur  insofern 
eine  Rolle,  als  mit  der  größten  Verdünnung  die  Toxizität  des 
Mittels  abzunehmen  scheint.  4.  Ob  man  auf  Grund  der  bisherigen 
Erfahrungen  berechtigt  ist,  wie  Weint r  au d,  Gerönne,  Gra߬ 
mann  dies  befürworten,  den  Kreis  der  Indikationen  bei  Erkran¬ 
kungen  des  Zirkulationsapparates,  besonders  auf  luetischer  Basis, 
zu  erweitern,  ist  noch  fraglich.  Die  von  Spiet  hoff  publizierten 
Fälle  von  Herzkollaps  mahnen  zur  Vorsicht.  5.  Kontraindiziert 
erscheint  die  intravenöse  Salvarsaninjektion  bei  Fällen  mit  primär 
sehr  niedrigem  Blutdruck.  —  (Münchener  mediz«  Wochenschrift 

1911,  Nr.  11.)  CL 

* 

374.  (Aus  denn  Institute  für  allgemeine  und  experimentelle 
Pathologie  in  Wien.  —  Vorstand:  Hofrat  Pal  tauf.)  Unter¬ 
suchungen  über  das  Brustdrüsenhormon  der  G r a vi¬ 
di  tät. .  Von  Prof.  Dr.  Artur  Biedl  und  Dr.  Robert  König  stein. 
Um  die  Tätigkeit  der  Brustdrüse  verständlich  zu  machen,  genügt  es 
nicht,  wie  bei  anderen  Drüsen,  die  Abhängigkeit  des  Sekretions¬ 
vorganges  von  nervösen  Erregungen  oder  chemischen  Reizstoffen 
(Hormonen)  klarzulegen,  sondern  es  muß  zunächst  auch  festgestellt 
werden,  durch  welche  Momente  diese  Organe,  bekanntlich  in 
zeitlichem  oder  ursächlichem  Zusammenhänge  mit  der  Funk¬ 
tion  der  Gemitalorgane,  derart  zum  Wac’hstume  angeregt  werden, 
daß  sie  zu  einer  bestimmten  Zeit  zur  Sekretion  bereit  sind.  Alle 
Laktationstheorien  nehmen  bekanntlich  die  Wirkung  chemischer 
Reizstoffe  an,  wobei  aber  noch  die  Frage  nach  der  Produktions¬ 
stätte  dieser  Hormone  in  Diskussion  steht.  Hal  ban  bezeichnet 
die  Plazenta  als  den  Ursprungsort  der  die  Mamma  während  der 
Schwangerschaft  zur  Hypertrophie  anregenden  Substanzen.  Star¬ 
ling  und  Lane  Clayton,  ebenso  wie  Foä  aber  erzielten 
Versuchsergebnisse,  aus  denen  sich  zAvanglos  der  Schluß  er¬ 
gibt,  daß  unter  normalen  Verhältnissen  das  Wachstum  der  Milch¬ 
drüse  durch  eine  chemische  Substanz,  ein  Hormon,  bedingt  ist, 
welches  hauptsächlich  im  heranwachsenden  Embryo  erzeugt  und 
durch  die  Plazenta  hindurch  auf  dem  Wege  des  ßlutstromes 
der  Drüse  zugeführt  wird.  Die  experimentellen  Untersuchungen 
von  Biedl  und  und  König  stein  stützen  die  Ansicht  von 
Starling  u.  a.  und  stehen  im  Gegensätze  mit  den  Deduktionen 
Hai  bans,  da  ihre  Versuche  mit  Plazenten  in  bezug  auf  Wachs- 
tumsanregnng  der  Brustdrüse  stets  negativ  ausfielen,  positiv  aber 
bei  Verwendung  von  Föten  zu  den  Experimenten.  —  (Zeitschrift 
für  'experimentelle  Pathologie  und  Therapie  1910,  Bd.  8,  H.  2.) 

K.  S. 

* 

375.  Niere  neu  thii  lsung  wegen  Eklampsie.  Von 
Dr.  Bollenhagen.  Ein  Fall  von  Dekapsulation  beider  Nieren 
bei  sehr  schwerer  Eklampsie  nach  Versagen  des  Accouchement 
force  und  bei  fast  totalem  Darniederliegen  der  Nierenfunktion. 
Post  (Operationen!  noch  mehrere  Anfälle,  doch  Eintritt  sehr  starker 
Diurese,  rapides  Sinken  des  Eiweißgehaltes  des  Harnes.  Heilung. 

(Zentralblatt  für  Gynäkologie  1910,  Nr.  4.)  E.\. 

* 

37ü.  Zur  Aetiologie,  Diagnose  und  Therapie  der  tief- 
j  sitzenden  Mastdarms  trikturen.  Von  Dr.  P.  Dorsemagen, 
Assistent  an  der  Poliklinik  für  Magen-  und  Darmkrankheiten  des 
Prof.  Albu  in' Berlin.  An  besagter  Poliklinik  wurden  während  der 
letzten  10  Jahre  28  Mastdarmstrikturen  beobachtet,  von  welchen 
26  Frauen  und  nur  2  Männer  betrafen.  Der  Sitz  der  Stenosen  war 
7mal  dicht  oberhalb  des  Anus,  llmal  3  cm,  in  den  übrigen  Fällen 
4  bis  6  cm  ab  ano.  Bei  8  F'ällen  war  Lues  in  der  Anamnese  oder 
Residuen  einer  alten  Syphilis,  bei  4  Fällen  Gonorrhoe,  in  den  übrigen 
:  Fällen  war  ein  ätiologisches  Moment  nicht  zu  eruieren.  In  einem 


544 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


sehr  großen  Prozentsatz  aller  Mastdarmstenosen  spielt  demnach  die 
Lues  ein  wichtiges  ätiologisches  Moment.  Das  erwies  auch  die 
Wassermann  sehe  Reaktion  bei  13  daraufhin  untersuchten 
Fällen  wurde  9mal  ein  positives,  4mal  ein  negatives  Resultat  ge¬ 
funden.  Bezüglich  des  Palpationsbefundes  erwähnt  Verf.,  daß  luetische 
und  karzinomatöse  Strikturen  in  dieser  Hinsicht  eine  so  frappante 
Aehnlichkeit  zeigten,  daß  eine  Verwechslung  auf  Grund  des  Pal¬ 
pationsbefundes  sehr  leicht  möglich  ist.  Das  karzinomatöse  Gewebe 
besitzt  aber  erfahrungsgemäß  einen  erheblich  größeren  Härtegrad 
als  das  durch  Periproktitis  infiltrierte  luetische  Narbengewebe ;  zu¬ 
dem  fehlt  bei  letzterem  die  außerordentlich  charakteristische,  brett¬ 
harte,  mauerartige  Infiltration  der  Nachbarschaft.  Von  den  4  Fällen 
mit  negativer  Wassermann  sehen  Probe  betraf  1  Fall  eine  tuber¬ 
kulöse  Stenose  mit  multipler  Fistelbildung,  bei  3  Fällen  handelte 
es  sich  um  ganz  scharfrand ige  Strikturen,  die  wie  eine  Darmsaite 
entweder  zirkular  sich  im  Rektum  ausspannte  oder  nur  halbmond¬ 
förmig  die  Hälfte  desselben  einnahm  ;  die  Mastdarmschleimhaut  war 
sonst  völlig  intakt.  Diese  Fälle  beruhten  auf  Gonorrhoe.  Verf.  be¬ 
spricht  sodann  den  rektoskopischen  Befund,  die  Symptomatologie 
(elendes  Aussehen,  schlechten  Ernährungszustand  auch  bei  nicht 
karzinomkranken,  blutig-schleimige  eitrige  Ausscheidungen,  Passage- 
sperre,  hartnäckige  Verstopfung  oder  scheinbar  diarrhoische  Ent¬ 
leerungen,  Tenesmus  etc.),  endlich  die  Therapie.  Die  Resektion  der 
Stenose  wäre  freilich  das  idealste  Verfahren,  doch  stehen  demselben 
große  Schwierigkeiten  entgegen  :  der  allgemeine  Schwächezustand 
des  Kranken,  die  Morschheit  und  Zerreiblichkeit  der  Rektalwand, 
die  Infiltration  des  umgebenden  Gewebes,  dann  periproktale,  jauchende 
Abszesse,  besonders  im  Douglas  u.  dgl.  Dann  käme  die  Anlegung 
eines  Anus  praeternaturalis  mit  anschließender  Lokalbehandlung  in 
Frage.  Die  eigentliche  Therapie  ist  die  lange  fortgesetzte  Bougie- 
behandlung.  Neben  den  vielen  Mastdarmbougien  (Grede-K  oerte, 
Allingh  am  u.  a.)  haben  sich  dem  Verfasser  die  Uterusdilatatoren 
von  Hegar  und  der  R  o  s  e  n  b  e  r  gsche  Dilatator  gut  bewährt. 
Die  Bougiebehandlung  ist  zumeist  sehr  schmerzhaft  (Einlagen  von 
mit  Kokainadrenalin  getränkten  Wattetampons),  doch  gehe  man  da¬ 
bei  nicht  brüsk  vor,  denn  bei  der  Brüchigkeit  der  Rektalwand  ist 
eine  Zerreißung  der  unnachgiebigen  Stenose,  Beckcnphlegmone  und 
Peritonitis  eine  große  Gefahr.  Jeder  Bougieeinführung  ist  eine 
Digitalexploration  vorauszuschicken.  Eine  spezifische  Behandlung  hat 
erfahrungsgemäß  keinen  Erfolg.  Fibrolysin,  das  sonst  bei  Narben 
gutes  leistet,  hat  sich  als  wertlos  erwiesen.  Nach  Erreichung  der 
Durchgängigkeit  steuere  man  nach  Möglichkeit  dem  jauchigen 
Katarrh  mit  Adstringentien,  lokalen  Aetzungen  oder  Spülungen  mit 
nachfolgender  Trockenbehandlung.  Die  konservative  Behandlung 
(Bougierung)  hat  sich  nur  auf  solche  Fälle  zu  beschränken,  wo  ans 
äußeren  Gründen  die  ideale  chirurgische  Behandlung  nicht  anwend¬ 
bar  ist.  —  (Mediz.  Klinik  1911,  Nr.  9.)  E.  F. 

!  t 

* 

377.  (Aus  der  medizinischen  Abteilung  des  Krankenhauses 
München  rechts  der  Isaar.  —  Direktor:  Prof.  Littmann.)  Ueber 
ein  neues  Digitalispräparat  (Digitalis  Win  ekel).  Von 
Dr.  Ileinr.  Ehlers.  Der  Münchener  Chemiker  Dr.  Max  Win  ekel 
hat  ein  enzymfreies  Digitalispräparat  hergestellt,  das  er  jetzt  unter 
dem  Namen  „Digitalis  Winckel“  auf  den  Markt  bringt.  Die  zwei 
auffallenden  llebclstände  der  anderen  Präparate,  die  große  La¬ 
bilität  der  Wirkung  und  üble  Nebenwirkungen  auf  den  Magen¬ 
darmkanal  sollen  daran  beseitigt  sein.  Das  Präparat  wird  in 
Röhrchen  mit  15  Tabletten  ä  0-05  Fol.  Digit,  in  frisch  konser¬ 
vierter,  haltbarer,  titrierter  Form  und  frei  von  Zersetzungsstoffen 
in  den  Handel  gebracht.  Diese  Tabletten  hat  Verf.  auf  seiner 
Abteilung  bei  etwa  00  Fällen  angewendet.  So  bei  Myokarditis 
mit  Dilatation  nach  Polyarthritis  rheumatica,  bei  Dilatatio  cordis 
nicht  rheumatischer  Aefiologie,  bei  alten  Herzaffektionen  mit 
Pulsus  irregularis  perpetuus;  ferner  bei  höheren  Graden  der  Kreis¬ 
laufstörungen,  bei  Dyspnoe  in  völliger  Ruhe,  stärkeren  Oedemen, 
bei  Angina  pectoris  oder  bei  schwerem,  kardialem  .Asthma  in¬ 
folge  Herzinsuffizienz,  in  allen  diesen  Fällen  hatten  die  Tabletten 
sehr  guten  Erfolg  und  die  Stauungserscheinungen  gingen  zuiüek. 
Bei  hohem  Blutdruck  bis  250/150  Riva-Rocci  sah  Verf.  in  drei 
Fällen  ein  Sinken  des  systolischen  Druckes.  Es  wurden  im  all¬ 
gemeinen  drei  bis  vier  Tage  hindurch  täglich  sechs  bis  acht 
Tabletten  gegeben,  oder  in  drei  bis  vier  Einzelgaben  zwei  Ta¬ 
bletten.  Von  gutem  Erfolge  war  auch  die  fortgesetzte  Darreichung 


kleiner  Dosen,  zweimal  zwei  Tabletten  pro  die,  selbst  oft  nur 
eine  Tablette  im  Tage.  Verf.  fand,  daß  eine  Tablette  eine  kräftigere 
Wirkung  entfaltet,  als  dieselbe  Dosis  der  Pulv.  fol.  digit.  Nach 
diesen  Beobachtungen  kann  daher  gesagt  werden,  daß  „Digitalis 
Winckel“  allen  Anforderungen,  die  an  die  gute,  frische  Digitalis¬ 
droge  gestellt  werden  können,  entspricht,  ja,  daß  es  den  Ersatz¬ 
mitteln  der  Droge  sich  überlegen  gezeigt  hat.  Es  wurde  ausnahms¬ 
los  gut  vertragen  und  konnte  dauernd  verabreicht  werden.  Es 
entfaltet  keinerlei  ungünstige  Nebenwirkungen  auf  den  Verdau¬ 
ungstrakt.  Neben  der  gleichbleibenden  Wirkung  möchte  der  Ver¬ 
fasser  gerade  das  Ausbleiben  von  Magen -Darmstörungen  als  die 
wichtigste  und  verdienstvollste  Eigenschaft  des  neuen  Präparates 
betrachten.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  11.) 

G.  ' 

*  •  ■  C 

378.  (Aus  der  kgl.  Nervenklinik  der  Charite.  —  Direktor: 
Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.  Th.  Ziehen.)  Wirkungen  von  Tem¬ 
peratur-  und  anderen  Hautreizen  auf  das  Gefä߬ 
system.  Von  Dr.  Fritz  Munk.  Bei  allen  Bädern  haben  nach 
Munk  nur  die  Temperaturreize  reflektorischen  Wert  auf  die 
periphere  Blutverteilung.  Die  Wirkung  eines  Temperaturreizes 
ist 'nur  vorübergehend,  indem  durch  ausgleichende  Veränderungen 
der  Pulsfrequenz,  des  peripheren  Blutdruckes,  der  peripheren 
Blutfülle  (wohl  auch  des  Schlagvolumens)  das  Gleichgewicht  in 
möglichst  kurzer  Zeit  wieder  hergestellt  wird.  Die  üblichen  Unter¬ 
suchungen  der  Pulsfrequenz  und  des  Blutdruckes  vor  und  nach 
dem  Bade  sind  daher  meist  nutzlos.  Dem  gesunden  Gefäßsystem 
gelingt, die  U Überwindung  eines  Reizes  in  gewissen  Grenzen  durch 
die  physikalische  Wärmeregulation.  Bei  dem  weniger  elastischen, 
arteriosklerotischen  Gefäßsystem  dagegen  ist  die  Funktion  ge 
stört,  an  Stelle  der  nicht  mehr  genügend  möglichen  Gefäßkon¬ 
traktion  bei  einem  Kältereiz  kann  Frostzittern  eintreten.  Elek¬ 
trische,  Gas-  und  Salzreize  im  Bade  haben  keinen  merklichen 
Einfluß  lauf  die  periphere  Blutfülle.  Die  Hyperämie  beim  CO2-  und 
die  Anämie  beim  Sauerstoffbade  sind  nur  lokale  Wirkungen 
der  Gase,  wahrscheinlich  auf  chemischem  Wege  hervorgebracht. 
Mit  einer  thermischen  Kontrastwirkung  lassen  sich  diese  Erschei¬ 
nungen  nicht  erklären,  die  Senator -Frankenhaus  ersehe 
Theorie  trifft  daher  das  Wesen  der  Gasbäderwirkung  nicht.  — 
Die  Resultate  des  Usk  off  sehen  Sphygmotonometers  weichen 
im  allgemeinen,  bei  höheren  Temperaturen  mehr,  bei  niederen 
weniger  von  dem  nach  Riva-Rocci  gewonnenen  Werten  ab. 

—  (Zeitschrift  für  experimentelle  Pathologie  und  Therapie  1910, 

Bd.  ,8,  H.  2.)  ~  K.  S. 

* 

379.  A  d  r  e  n  a  1  i  n  -  K  och  s  a  1  z  i  n  f  u  s  i  on  und  Schüttel¬ 
frost.  Von  Dr.  Karl  Haeberlin.  Der  Patient  wurde  wegen 
Wurmfortsätzperforationsperitonitis  durch  Appendektomie  und 
Drainage  operiert.  Am  dritten  Tage  wegen  Verschlechterung  des 
Allgemeinbefindens  intravenöse  Infusion  von  1500  cm3  Kochsalz¬ 
lösung  mit  acht  Tropfen  1:1000  Adrenalin  Takamina,  frisch 
bereitet.  Schon  während  der  Infusion  Rückgang  des  Pulses  von 
140  auf  120,  bei  besserer  Füllung  der  Arterie.  Eine  Stunde  später 
schwerer  Schüttelfrost,  danach  kontinuierliches  Ansteigen  von 
Puls  und  Temperatur  auf  160  und  39-5°.  Nächster  Tag  Exitus. 
H  aeb  er  l  ein  faßt  Schüttelfröste  bei  septischen  Kranken  nach 
Adrenalin  -  Kochsalzinfusionen  als  den  Ausdruck  einer  unter  dem 
rasch  zunehmenden  Blutdrucke  gesteigerten  Giftresorption  auf. 

—  (Zentralblatt  für  Chirurgie  1910,  Nr.  47.)  E.  V. 

*  t 

>  1 

380.  (Aus  der  Universitäts-Frauenklinik  in  Erlangen.  — 
Direktor:  Prof.  Dr.  Seitz.)  Ueber  die  epbemiire  trauma¬ 
tische  Glykosurie  bei  Neugeborenen.  Von  cand.  me<L 
Ei  ich  Hoeniger.  Es  werden  vier  Fälle  von  Geburtstraumen 
(operativ  beendete  Geburten)  milgeteilt,  bei  welchen  im  Harn  der 
Neugeborenen  eine  ephemäre  Zuckerausscheidung,  nur  einige  Tage 
andauernd  und  dann  völlig  verschwindend,  beobachtet  wurde.  Man 
ist  zu  der  Annahme  berechtigt,  daß  die  plötzlich  einwirkendo 
Kraft  des  operativen  Eingriffes  die  Zuckerausscheidung  (zumeist  sehr 
gering)  verursacht.  In  normalen  Fällen  und  in  zwei  Fällen  mit 
starker  Kopfgeschwulst  und  langer  Dauer  der  Austreibungsperiode 
konnte  kein  Zucker  nachgewiesen  werden.  Hier  paßt  sich  der  Orga¬ 
nismus  den  veränderten  Druckverhältnissen  an,  während  dies  die 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


545 


Plötzlichkeit  des  operativen  Eingriffes  nicht  zuläßt.  Verf.  regt 
zu  weiteren  Nachuntersuchungen  an,  insbesondere  auch  nach  der 
Richtung  hin,  ob  sich  etwa  aus  diesen  transitorischen  Glykosurien 
ein  echter  Diabetes  mellitus  infantum  entwickelt.  Hinsichtlich  der 
Technik  der  Untersuchungen  erwähnt  Verf.,  daß  er  bei  Knaben 
eine  Glasvorlage  mittels  Bändern  anbrachte  und  Reibung  und  Druck 
mit  eingelegter  Watte  verhütete  (zumeist  urinierten  diese  Kinder 
erst  mit  starkem  Druck,  wenn  man  die  Vorlage  entfernte),  während 
man  bei  Mädchen  eine  sterile  Gaze  vorlegt  und  diese  dann  auslaugt, 
wenn  man  sich  nicht  zum  Katheterisieren  entschließt,  was  sicher 
einige  Schwierigkeiten  hat.  —  (Deutsche  med.  Wochenschr.  1911, 

Nr.  11.)  E.  F. 

* 

381.  Ueber  die  Anwendung  des  Röntgeuvorfah- 

rens  bei  der  Diagnoseder  Schwangerschaft.  Von  Doktor 
Lars  Edling,  Vorstand  der  radiologischen  Abteilungen  der 
Krankenhäuser  zu  Malmö  und  Lund  (Schweden).  Der  Verfasser 
hat  im  letzten  Jahre  eine  Anzahl  von  Schwangeren  röntgeno¬ 
graphisch  untersucht  und  ist  zu  folgenden  Ergebnissen  gekommen  : 
Schon  irn  Beginn  des  dritten  Schwangerschaftsmonates,  vielleicht 
auch  früher,  ist  es  möglich,  gute  und  für  die  Diagnose  vollkommen 
ausreichende  Röntgenbilder  vom  Fötus  zu  erhalten.  In  den  folgen¬ 
den  Monaten  gelingt  die  Röntgendiagnose  der  Schwangerschaft 
meist  ohne  Schwierigkeit.  Auch  die  Diagnose  der  mehrfachen 
Schwangerschaft  ward  schon  in  der  ersten  Hälfte  der  Gravidität 
unschwer  gelingen.  Anormale  Geburtslagen,  wie  Steiß-  oder  Quer¬ 
lage,  können  ebenso  wie  auch  wahrscheinlich  Hydrozephalus  und 
gewisse  Formen  von  Doppelmißbildungen  des  Fötus  durch  das 
Röntgenv erfahren  diagnostiziert  werden.  Bei  der  extrauterinen 
Schwangerschaft  gelingt  es,  ebenso  gute  Bilder  des  Fötus  zu 
bekommen,  wie  bei  der  normalen;  die  röntgenologische  Differen- 
tialdiagnose  dieser  Zustände  wird  aber  hauptsächlich  von  der 
eventuell  asymmetrischen  Lage  desselben  im  Becken  der  Mutter 
abhängen.  Die  Aufnahmetechnik  muß  den  Verhältnissen  des  ein¬ 
zelnen  Falles  Rechnung  tragen.  Die  Methode  des  Verfassers 
besteht  in  Benutzung  der  Gehler-Folie,  möglichst  kurze  Aufnahme¬ 
zeiten,  sowie  in  der  Anwendung  möglichst  scharf  zeichnender 
Röhren.  Uebermäßige  Fettleibigkeit  und  größere  Myome  der  Mutter, 
sowie  höhere  Grade  von  Hydramnion  können  die  Untersuchung 
erschweren,  bisweilen  deren  Resultate  ganz  vereiteln.  Schädliche 
Einwirkung  der  Röntgenuntersuchung  auf  den  Fötus  hat  der  Ver¬ 
fasser  bisher  nicht  wahrnehmen  können.  —  (Münchener  medi¬ 
zinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  11.)  D- 

* 

382.  (Aus  der  I.  medizinischen  Klinik  der  kgl.  Charite  zu 
Berlin.  —  Geheimrat  His.)  Anatomische  und  experimen¬ 
telle  Untersuchungen  über  das  Reizleitungssystem 
im  Eidechsenherz.  Von  Dr.  Külbs,  Assistenzarzt  der  Klinik 
und  cand.  med.  W.  Lange.  Die  Atrioventrikularverbindung  beim 
Herz  der  Eidechse,  welches  aus  vier  miteinander  muskulär  ver¬ 
bundenen  Abschnitten  besteht,  wird  hergestellt  durch  eine  breite 
Lage  quergestreifter  Muskelfasern,  die  vom  Vorbof  in  den  Ventiikel 
sich  einstülpt.  Eine  größere  Verletzung  der  Verbindungsmuskulatui 
macht  Koordinationsstörungen,  nicht  aber  die  Verletzung  eines 
an  der  Hinterseite  des  Herzens  liegenden  Nervenbündels.  — 
(Zeitschrift  für  experimentelle  Pathologie  und  Therapie^  1910, 

Bd.  8,  H.  2.)  K-  S- 

* 

383.  Oedem  der  Plazenta  und  kongenitale  akute 
Nephritis  mit  hochgradigem  universellem  Oedem  bei 
Zwillingen,  die  von  einer  an  akuter  Nephritis  lei¬ 
denden  Mutter  stammen.  Von  Dr.  Anton  Sitzenfrley. 
Es  handelt  sich  um  eine  an  akuter  Nephritis  mit  ausgedehnten 
Oedemen  (nach  Influenza)  erkrankte  Schwangere,  die  infolge  dieser 
Erkrankung  gegen  Ende  des  neunten  Schwangerschaftsmonats 
spontan  gebar.  Von  den  beiden  Zwillingen  staib  dei  erste  15, 
'der  zweite  20  Minuten  post  partum.  Die  Plazenta  war  hoch¬ 
gradig  ödematös.  Die  Obduktion  ergab  bei  beiden  ,.willingen 
hochgradige  Oedeme,  Aszites,  Milz-  und  Lebervergiöbej  uiigeii, 
Fibringerinnsellin  der  Bauchhöhle.  Die  Nieren  zeigten  das  Epithel 
der  Harnkanälchen,  insbesondere  der  gewundenen  Harnkanälchen, 
stark  geschwollen;  die  Zellkerne  in  der  Regel  nicht  färbbar, 
außerdem  ausgedehnte  interstitielle  Infiltrate  und  Blutungen,  a  so 


akute  Nephritis.  Die  Nephritis  der  Mutter'  heilte  post  partum 
vollständig  aus.  Wassermann  wiederholt  negativ,  auch  sonst 
keine  Spuren  einer  Lues  bei  den  Eltern  zu  finden.  —  (Zentral- 

blatt  für  Gynäkologie  1910,  Nr.  43.)  E.  V. 

* 

384.  Ueber  einige  mit  Serum  geheilte  Fälle  von 
Urtikaria.  Von  Prof.  Dr.  Lins  er  in  Tübingen.  An  der  Tü¬ 
binger  Frauenklinik  befand  sich  eine  Erstgebärende,  welche  zu¬ 
erst  an  heftigem  Erbrechen,  später  —  etwa  14  Tage  post  partum, 
nach  Sistieren  des  Erbrechens  —  an  heftiger,  den  ganzen  Körper, 
besondere  die  Rauchgegend  betreffender  Urtikaria,  mit  schreck¬ 
lichem  Juckreiz  lilt.  Eine  zweimalige  intravenöse  Injektion  von 
je  20  cm3  Serum  einer  gesunden  Schwangeren  führte  in  ganz 
kurzer  Zeit  eine  Abheilung  der  Urtikaria  und  des  Juckreizes 
herbei.  Auch  in  anderen  Fällen  von  Schwangerschaitsderma- 
tosein  hatte  Verf.  im  Vereine  mit  Priv.-Doz.  Dr.  Mayer  in  Tü¬ 
bingen,  speziell  in  einem  schweren  Falle  von  Impetigo  herpeti¬ 
formis,  mit  solchen  Seruminjektionen  auffallend  rasche  Besse¬ 
rungen  und  Heilungen  erzielt.  Er  versuchte  daher  an  der  Ab¬ 
teilung  für  Hautkranke  auch  andere  Fälle  von  Urtikaria  in  dieser 
Weise  zu  beeinflussen.  Ein  46jähriger  Schmied  hatte  seit  drei 
Wochen  ohne  bekannte  Ursache  eine  sehr  heftige  Urtikaria. 
Bäder,  Salben,  Pinselungen,  Arsen  innerlich  brachten  bei  dem 
sonst  gesunden  Manne  keine  Besserung.  Am  14.  Dezember  erhielt 
er  30  cm3  Serum  von  einem  sonst  gesunden  Mannt;  intravenös 
injiziert.  Einige  Stunden  danach  war  das  Jucken  verschwunden 
und  am  Tage  darauf  konnte  von  der  Urtikaria  nichts  mehr  fest- 
gestellt  werden.  Pat.  ist  seitdem  gesund.  Ebenso  günstig  verlief 
der  zweite  Fall:  Seit  einem  halben  Jahre  in  Behandlung  stehende 
chronische  Urtikaria,  innere  und  äußerliche  Behandlung  bisher 
ohne  Effekt,  Pat.  sonst  gesund,  Ursache  nicht  zu  entdecken. 
Dieser  Patient  erhielt  30  cm3  Serum  von  einem  gesunden  Manne 
subkutan,  seitdem  keine  Urtikaria,  kein  Juckreiz.  Der  dritte  Fall 
wurde  an  der  Tübinger  medizinischen  Klinik  beobachtet.  Ein 
Mann  bekam  wegen  suspekter  Lungenspitzenaffektion  eine  In¬ 
jektion  von  Alttuberkulin  (Vio  mg),  nach  sechs  Tagen  eine  zweite 
Injektion  von  Va  mg.  Danach  Allgemeinreaktion  und  tags  darauf 
Urtikaria,  fast  den  ganzen  Körper  bedeckend,  heftiger  Juckreiz. 
Drei  Stunden  später  bekam  Pat.  intravenös  25  cm3  frischen  Se¬ 
rums  von  einem  Gesunden.  Nach  etwa  einer  Viertelstunde  war 
die  Urtikaria  his  auf  geringe  Reste  geschwunden,  nach  einer 
Stunde  kein  Juckreiz,  keine  Urtikaria,  bald  darauf  Temperatur¬ 
steigerung  und  Schüttelfrost.  Bei  der  schwangeren  Frau  konnte 
man  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  eine  Schwangerschaftstoxi- 
kodermie  a  an  eh  men,  für  den  letzten  Fall  kam  möglicherweise 
Anaphylaxie  in  Betracht,  bei  den  zwei  anderen  Kranken  war 
die  mögliche  Ursache  der  Urtikaria  nicht  zu  entdecken.  Die 
Aetiologie  dieser  vier  Fälle  ist  also  gewiß  keine  einheitliche, 
gleichwohl  war1  die  Serumtherapie  hei  allen  von  Erfolg  begleitet. 
Hinsichtlich  der  Technik  erwähnt  Verf.,  daß  von  verschiedenen 
gesunden  Leuten  ca.  50  cm3  Blut  aus  der  Vena  cubitalis  in  der 
bei  den  W asserm  an n sehen  Blutuntersuchungen  üblichen  Weise 
entnommen,  daß  es  dann  in  der  elektrischen  Zentrifuge  ausge¬ 
schleudert  und  10  bis  15  Minuten  nach  der  .Entnahme  ganz  frisch, 
meist  noch  warm,  teils  intravenös,  teils  subkutan,  in  Mengen 
von  20  bis  30  cm3,  injiziert  wurde.  Selbstverständlich  möglichst 
steril.  Die  subkutane  Injektion  wirkte,  nach  den  bisherigen  Er¬ 
fahrungen,  ganz  ähnlich,  wenn  auch  nicht  so  rasch.  Auf  welche 
Weise  diese  frappanten  Heilungen  zustande  kommen,  darüber 
konnte  sich  der  Verfasser  bisher  noch  kein  Urteil  bilden. 

(Medizinische  Klinik  1911,  Nr.  4.)  E.  1. 

* 

385.  Ueber  Unterschiede  zwischen  septischen  und 
S ch a r  1  a c  h s  t r e p  1 0 k o k ken.  Von  Dr.  Felix  Schleißner  und 
Regimentsarzt  Dr.  W ilhelm  S  p  a  e  t.  Schleißner  und  S  p  a  e  t 
ist  es  gelungen,  Scharlachstreptokokken  und  andere  menschen- 
pathogene  Streptokokken  biologisch  zu  differenzieren  (vermittels 
des  etwas  abgeänderten  Verfahrens  von  Weil  und  Toyosumi). 

—  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  Jahrg-,  Nr.  48.)  K.  S. 

* 

386.  (Aus  dem  Kaiserin- Augusta- Viktoria- Haus  zur  Be¬ 
kämpfung  der  Säuglingssterblichkeit  im  Deutschen  Reiche.,  Zui 
Kenntnis  eosinophiler  Darmkrisen  im.  Säuglings- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


alter.  Von  Prof.  Leo  Langstein.  Verl',  hat  bereits  im  .fahre 
1908  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  bei  Säuglingen  plötzliche 
Abgänge  von  Schleim  und  Eiter  Vorkommen,  in  denen  große 
Mengen  eosinophiler  Zellen  vorhanden  sind.  Er  betrachtete  es 
als  Teilerscheinung  jenes  Symptomenkomplexes,  den  Czerny 
unter  dem  Namen  der  exsudativen  Diathese  zusammengefaßt  hat. 
Seither  hat  Verf.  bei  schleimig -eitrigen  Stuhlgängen  im  Säug- 
lingsalter  immer  nach  eosinophilen  Zellen  gesucht  und  gesehen, 
daß  dieser  Befund  durchaus  nicht  so  selten  ist,  als  er  anzunehmen 
geneigt  war.  Er  teilt  nun  einen  Fall  ausführlich  mit,  bei  dem  die 
Entleerung  großer  Mengen  eosinophiler  Zellen  im  schleimig-eitrigen 
Stuhlgang  sogar  ein  Frühsymptom  der  exsudativen  Diathese  dar¬ 
stellte.  Im  Alter  von  fünf  Wochen  traten  bei  einem  Säugling 
ein  Gesichtsekzem  und  plötzlich  fünf  schleimige,  eitrige  Stühle 
mit  zahlreichen  eosinophilen  Zellen  auf.  So  plötzlich  wie  sie 
gekommen  waren,  sistierten  die  abnormen  Stuhlentleerungen  und 
wurden  durch  vollständig  normale  ersetzt.  Die  Entleerung  schlei¬ 
mig-eitriger  Stühle  bei  einem  wenige  Wochen  alten  Kinde  wird 
allgemein  als  ein  ernst  zu  nehmendes  Symptom,  als  Ausdruck 
einer  alimentären,  respektive  infektiösen  Darmerkrankung  auf¬ 
gefaßt,  deren  Prognose  bei  künstlicher  Ernährung  zweifelhaft  ist. 
Auf  Grund  des  Befundes  eosinophiler  Zellen  hat  der  Verfasser 
die  Durchfälle  nicht  als  Ausdruck  einer  Ernährungsstörung  im 
engeren  Sinne,  sondern  als  Symptom  der  exsudativen  Diathese 
betrachtet  und  in  der  Diätetik  bis  auf  eine  geringe  Einschränkung 
der  Nahrung  nichts  geändert.  So  ist  der  Nachweis  eosinophiler 
Zellen  in  schleimig  -  eitrigen  Stühlen  von  Säuglingen  nicht  nur 
von  diagnostischer  Bedeutung  und  theoretischem  Interesse,  sondern 
er  beeinflußt  auch  die  Ernährungstherapie.  Es  ist  nicht  nötig, 
solche  Kinder  auf  Hungerdiät  zu  setzen,  auch  nicht  die  künst¬ 
liche  Nahrung  sofort  durch  Frauenmilch  zu  ersetzen.  Der  Ver¬ 
fasser  erwähnt  noch,  daß  es  sich  bei  diesen  eosinophilen  Darm¬ 
krisen,  einer  Art  „Darmasthma“  (Strümpell)  des  Säuglings, 
nicht  um  schwere  Allgemeinerscheinungen  handelt.  Temperatur¬ 
steigerung  und  Gewichtssturz,  welche  bei  einer  alimentären  oder 
infektiösen  Schädigung  kaum  vermißt  werden,  fehlen  hier.  - 
(Münchener  mecliz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  12.)  G. 

* 

387.  Stoffwechselvers uohe  an  Säuglingen  mit 

exsudativer  Diathese.  Yon  F.  Steinitz  und  B.  Wei- 
g e r t '.in  Breslau.  Steinitz  und  Weigert  wollten  auf  dem  Wege 
der  Stoffwechseluntersuchung  eine  Erklärung  dafür  finden,  daß 
Brustkinder  mit  exsudativer  Diathese  trotz  ausreichender  Nah¬ 
rungszufuhr  in  der  Gewichtszunahme  in  den  ersten  Lebenswochen 
und  -monaten  hinter  den  gleichaltrigen  gesunden  Kindern  Zurück¬ 
bleiben.  Dieses  Ziel  wurde  allerdings  aus  äußeren  Gründen  nicht 
erreicht,  aber  die  Untersuchungsergebnisse  bringen  immerhin 
eine  Erweiterung  unserer  Kenntnisse  des  Stoffwechsels  der  Neu¬ 
geborenen.  Hauptsächlich  wurde  bei  Kindern  mit  exsudativer 
Diathese  eine  erheblich  schlechtere  Stickstoff-  und  eine  ebenso 
schlechte  Fettresorption  konstatiert.  Iliemit  parallel  verläuft  die 
Körpergewichtskurve  durch  mehrere  Wochen  sehr  flach,  trotz 
ausreichenden  Angebotes  von  Ammenmilch.  .  Die  Körpergewichts- 
kurve  nimmt  erst  einen  normalen  Aufschwung  bei  Einleitung  des 
Allaitemeint  mixte.  Falls  in  weiteren  Versuchen  die  Gesetzmäßig¬ 
keit  dieses  Verhaltens  sich  herausstellt,  so  hätten  Steinitz, 
und  Weigert  zuerst  einen  positiven  Beweis  erbracht  für  die 
Annahme  Czernys, ‘daß  die  exsudative  Diathese  eine  Störung 
des  Fettstoffwechsels  mit  sich  bringe.  —  (Monatsschrift  für  Kinder¬ 
heilkunde  1910,  Bd.  9,  Nr.  8.)  K.  S. 

* 

388.  Die  Behandlung  des  Fluor  albus.  Von  Privat¬ 
dozent  Dr.  IV.  Liepmann  in  Berlin.  Verf.  befürwortet  die 
Trockenbehandlung  statt  der  noch  vielfach  gebrauchten  Spülungen. 
Die  letzteren  haben  folgende  Nachteile:  Es  findet  eine  Keimver¬ 
schleppung  in  die  oberen  Partien  des  Vaginalschlauchs  statt, 
zweitens,  wTas  noch  schlimmer  ist,  eine  Auflockerung,  Erweichung 
und  Desquamation  des  Scheidenepithels  und  drittens  bei  Spü¬ 
lungen  mit  Sublimatlösungen,  eine  biologische  Abschwächung 
des  Gewebsapparafes,  welche  die  Keimansiedlung  noch  fördert. 
Vermieden  werden  alle.  Schädigungen  durch  die  Austrocknungs¬ 
therapie  mittels  eingeführter  Pulver.  Nach  Einstellung  der  Portio 


mit  einem  Milchglasspekulum  wird  mit  einem  in  eine  Komzange 
gefaßten  trockenen  Wattebausch  die  Portio,  dann  —  mit  immer 
neuen  Stieltupfem  nach  und  nach  die  ganze  Scheidenschleim 
haut,  einschließlich  des  Introitus  und  der  Vulva,  gereinigt,  das 
heißt  von  dem  anhaftenden  Sekret  ohne  heftiges  Reiben,  ohne 
jede  hastige  Bewegung  beim  Verschieben  des  Spekulums,  befreit. 
Dann  stellt  man  wieder  die  Portio  ein,  schüttet  einen  Teelöfllel 
des  zu  verwendenden  Pulvers  in  das  Spekulum  und  trägt  mit  einer 
mit  Watte  umwickelten  Play  fair  sehen  Sonde,  von  Bezirk  zu 
Bezirk  fortschreitend,  vorsichtig,  aber  exakt,  das  Pulver  ziemlich 
dick  auf  die  Scheidenschleimhaut  auf.  Man  vergesse  keine  Stelle 
zu  bepulvem.  Als  Trockenpulver  dienen  Isoform,  Bolus  alba  oder 
20°/oiges  Lenizet  (Aluminiumazetat),  welches  Verf.  seit  zirka 
drei  Jahren  ausschließlich  gebraucht.  Tags  danach  werden  die 
feuchten  Lenizetmassen  entfernt  und  durch  neue,  trockene,  er¬ 
setzt.  Sn  werden  die  Frauen  äm  1.,  2.,  4.,  6.  8.,  10.,  14. 
und  18.  Tage  behandelt,  sie  dürfen  absolut  nicht  spülen  und 
erst  am  achten  Tage  der  Behandlung  ein  Bad  nehmen,  ln  90°/# 
der  Fälle  war  voller  Erfolg.  Allenfalls  war  bei  hartnäckigen  Zer¬ 
vikalkatarrhen  noch  eine  Jodätzung  oder  eine  Kürettage  not¬ 
wendig.  (Therapeutische  Monatshefte,  Dezember  1910.)  E.  F. 

* 

389.  Der  Milchmangel  der  Frauen,  heilbar  durch 

Thyreo  id  in.  Von  Dr.  Arnold  Siegmund.  Der  Verfasser  ver¬ 
suchte  in  drei  Fällen  von  Milchmangel  das  Thyreoidin,  jedoch 
ohne  Erfolg,  erst  als  er  in  zwei  anderen  Fällen  Thyreoidin  schon 
vom  dritten  Schwangerschaftsmonate  an  nehmen  ließ,  stellte  sich 
ein  ausgezeichneter  Erfolg  ein.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie 
1910,  Nr.  43.)  E.  V. 

* 

390.  (Aus  dem  medizinisch -chemischen  und  pharmakologi¬ 

schen  Institut  der  Universität  Bern.  —  Direktor:  Prof.  Dr.  Emil 
Biirgi.)  lieber  die  Empfindlichkeit  verschieden  alter 
Tiere  gegen  die  Opiumalkaloide.  Von  Dr.  Emil  Döbeli, 
Spezialarzt  für  Kinderkrankheiten  in  Bern.  Bei  Kindern,  nament¬ 
lich  bei  kleinen  Kindern,  Opiumpräparate  im  weitesten  Sinne 
des  Wortes  anzuwenden,  gilt  offiziell  beinahe  als  ein  Kunst- 
fehler,  obwohl  die  Opiumalkaloide  in  der  Tat  sehr  viel  gegeben 
werden.  Theorie  und  Praxis  stehen  mithin  in  schreiendem  Wider¬ 
spruch,  .den  Döbeli  auf  experimentellem  Wege  zu  beseitigen  ver¬ 
suchte,  zumal  die  klinische  Literatur  nicht  die  gewünschten  Auf¬ 
klärungen  über  die  Empfindlichkeit  gegen  Opiumalkaloide  gibt. 
Wohl  sind  verschiedene  schwere,  auch  tödliche  Opium-  und  Moi- 
phiumvergiftungen  in  der  Literatur  niedergelegt,  aber  es  handelte 
sich  in  jedem  Falle  um  hohe-,  ja  sehr  hohe  Dosen;  keinesfalls 
kann  man  sich  aber  aus  den  enthaltenen  Angaben  überzeugen,  daß 
wirklich  Kinder,  die  über  ein  Jahr  alt  sind,  eine  höhere  Em¬ 
pfindlichkeit  ,als  Erwachsene  gegen  die  Opiumalkaloide  auf¬ 
weisen.  Nur  bei  Säuglingen  erscheint  einige  Vorsicht  in  der 
Verabreichung  von  Opiumalkaloiden  geboten.  Da  nun  also  die 
Frage  der  Darreichung  der  Opiate  im  Kindesalter  klinisch  nicht 
eigentlich  gelöst  erscheint,  so  trat  Döbeli  der  Sache  durch  das 
Experiment  am  Tiere  näher.  Er  fand,  daß  saugende  Kaninchen 
gegen  Tinctura  opii,  Pantopon  und  Morphium  (auf  das  Kilogramm 
Körpergewicht  berechnet)  mehr  als  doppelt  so  empfindlich  sind 
Avie  die  ausgewachsenen  Tiere.  Etwas  ältere  Kaninchen  dagegen 
zeigen  diesem  Medikamente  gegenüber  genau  die  gleiche  Empfind¬ 
lichkeit  wie  ausgewachsene.  Für  das  Kodein  aber  ist  die  Em¬ 
pfindlichkeit  aller  Altersstufen  dieselbe.  —  (Monatsschrift  für 
Kinderheilkunde  1910,  Bd.  9,  Nr.  8.)  K.  S. 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

391.  Weitere  Mitteilungen  über  die  abortive  und 
kurative  Behandlung  der  Syphilis  mit  Hektin.  Von 
H.  Hailope  au.  Zur  Behandlung  des  Primäraffektes  reichen  die 
lokalen  Ilektininjektionen  aus,  da  von  hier  aus  das  Hektin  in 
den  Kreislauf  übergeht,  so  daß  die  früher  geübte  gleichzeitige 
Anwendung  subkutaner  Injektionen  von  Hydrargyrum  benzoicum 
überflüssig  wild.  Zur  Lokalbehandlung  des  Primäraffektes  sind 
die  unlöslichen  Quecksilberpräparate  überhaupt  ungeeignet,  auch 
das  Hydrargyrum  oxycyanatum  ist  nicht  frei  von  unerwünschten 
Nebenwirkungen.  Die  goAvöhnliche  Dosis  des  Hektins  beträgt  0-2  g 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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in  1  cm3  sterilisierten  Wassers  gelöst.  Die  Injektion  erfolgt  in 
das  Frenulum,  bzw.  dessen  Nachbarschaft  und  ruft  durch  einige 
Stunden  ziemlich  heftige  Schmerzen  hervor,  welche  durch  kalte 
Umschläge  gelindert  werden  können;  Eiterung  kommt  nur  bei 
ungenügender  Asepsis  vor.  Bei  Frauen  wird  die  Injektion  unter 
die  Schleimhaut  des  Labium  majus  gemacht.  Die  ersten  Injek¬ 
tionen  werden  möglichst  nahe  am  Primäraffekt  vorgenommen, 
die  anderen  an  verschiedenen  Stellen  des  Organes;  in  der  Regel 
genügen  BO  täglich  vorgenommene  Injektionen.  In  allen  in  dieser 
Weise  unmittelbar  nach  dem  Auftreten  des  Primäraffektes  be¬ 
handelten  Fällen,  bisher  25,  wurde  das  weitere  ELortschreiten  der 
Syphilis  endgültig  aufgehalten.  Die  ältesten  Fälle  stehen  schon 
seit  anderthalb  bis  zwei  Jahren  in  Beobachtung.  Auch  die  Mit¬ 
teilungen  anderer  Autoren  lauten  in  gleichem  Sinne,  wobei  sich 
die  vereinzelten  Mißerfolge  durch  Abweichungen  von  der  an¬ 
gegebenen  Behandlungstechnik  erklären  lassen.  Die  Wasser 
mann  sehe  Reaktion  war  bei  den  erfolgreich  behandelten  Fällen 
durchaus  negativ.  Für  den  Erfolg  der  Therapie  spricht  die  Be¬ 
obachtung,  daß  ein  Patient  vier  Monate  nach  Ablauf  der  Be¬ 
handlung  sich  neuerdings  infizierte.  Man  kann  mit  Rücksicht 
auf  die  bisherigen  Erfahrungen  die  Ehe  gestatten,  wenn  die 
Wasserm  annsche  Reaktion  negativ  geworden.  Bei  manifesten, 
sekundären  und  tertiären  Formen  der  Syphilis  lassen  sich  durch 
die  Hektinbehandlung  gleichfalls  sehr  günstige  Resultate  erzielen. 
—  (Bull,  de  l’Acad.  de  Med  1911.  Nr.  3.)  a.  e. 

* 

392.  Ueber  die  beim  Menschen  durch  Uebertra- 
gung  der  Skabies  der  Katze  h erVorgeruf ene  Haut¬ 
eruption.  Von  Georges  Thibierge.  Die  Möglichkeit  der  Ueber- 
tragung  der  Skabies  der  Haustiere  auf  den  Menschen  ist  genauer 
bekannt,  als  die  aus  dieser  Uebertragung  resultierenden  Krank- 
heitsbilder.  Die  durch  Sarcoptes  minor  hervorgerufene  Skabies  der 
Katze  ist  meist  an  der  Ohrmuschel  lokalisiert.  Es  bilden  sich 
zunächst  flohstichartige  Eruptionen,  die  sich  in  Knötchen  und 
Bläschen  umwandeln;  schließlich  erfolgt  Krustenbildung  und  Haar¬ 
ausfall  im  erkrankten  Gebiete.  Die  Uebertragung  der  Erkran¬ 
kung  erfolgt  leicht  auf  andere  Katzen,  während  bei  der  Ueber- 
tragung  auf  Kaninchen  eine  lange  Inkubationsdauer  besteht.  Die 
Uebertragung  auf  den  Menschen  kommt  hauptsächlich  bei  Per¬ 
sonen  vor,  welche  sich  berufsmäßig  mit  kranken  Tieren  befassen, 
aber  auch  durch  Spielen1  mit  erkrankten  Tieren  wird  die  Affek¬ 
tion  übertragen.  Die  Erkrankung  ist  beim  Menschen  durch  die 
Bildung  pruriginöser  Papeln  charakterisiert.  Zunächst  bildet  sich 
eine  spitze,  stark  gerötete  Papel,  in  deren  Zentrum  sich  ein 
miliares  Bläschen  entwickelt;  das  Bläschen  wird  durch  den  Juck¬ 
reiz  aufgekratzt  und  bedeckt  sich  mit  einer  Kruste,  die  durch 
blutige  Infiltration  eine  schwärzliche  Färbung  annimmt,  wie  sie 
an  Prurigoknötchen  beobachtet  wird.  Bei  längerem  Bestand  zeigt 
die  Eruption  ein  polymorphes  Aussehen,  doch  zeigt  eine  nähere 
Betrachtung,  daß  sich  die  verschiedenen  Elemente  von  der  glei¬ 
chen  Grundform  ableiten  lassen.  Bei  stark  entwickelter  Ä Rektion 
wird  ein  der  Urticaria  papulosa  ähnliches  Bild  beobachtet.  Die 
Eruption  ist  von  kontinuierlichem  Jucken  begleitet;  hinsichtlich 
der  Verteilung  ist  eine  umschriebene  und  eine  generalisierte  Form 
zu  unterscheiden.  Bei  der  umschriebenen  Eruption  ist  die  Stelle 
erkrankt,  welche  direkt  mit  dem  erkrankten  Tiere  in  innigerem 
Kontakte  stand,  während  die  generalisierte  Form  sich  hauptsäch¬ 
lich  auf  die  bekleideten  Partien  des  Körpers  ausdehnt.  Die  Dia¬ 
gnose  der  Erkrankung  ist  leicht,  wenn  man  die  Möglichkeit  ihres 
Vorhanldenseins  berücksichtigt;  sie  stützt  sich  auf  die  Inten¬ 
sität  des  Juckens,  die  ausschließlich  papulöse  Form  der  Eruptionen 
und  ihre  Verteilung.  Durch  das  Verschontbleiben  der  bekannten 
Prädilektionsstellen  läßt  sich  die  gewöhnliche  Skabies,  durch 
das  Fehlen  linearer  Kratzaffekte  und  pustulöser  Eruptionen  die 
Pediculosis  vestimentorum,  durch  die  rasche  Entwicklung  die 
Prurigo  Hebra  ausschließen.  Die  durch  die  Geflügelmilbe  hervor¬ 
gerufene,  gleichfalls  papulöse  Affektion  ist  vorwiegend  an  Hand¬ 
rücken!  und  Vorderarm  lokalisiert,  welche  bei  der  Uebertragung 
der  Katzenskabies  in  der  Regel  verschont  bleiben.  Meist  läßt 
sich  auch  anamnestisch  der  Kontakt  mit  erkrankten  Katzen  fest¬ 
stellen,  während  der  Nachweis  der  Milbe  auf  oder  in  der  Haut 
bis  jetzt  noch  nicht  gelungen  ist.  Die  Erkrankung  geht  nach  dem 
Wegfall  des  Kontaktes  mit  den  kranken  Vierten  rasch  und  voll¬ 


ständig  zurück,  pie  Behandlung  besteht  in  Stärkebädern  und 
Applikation  L as sar scher  Pasta  mit  einem  Zusatz  von  VW» 
Menthol  oder  Phenol;  die  Anwendung  schwefelhaltiger  Präpa¬ 
rate  ist  wegen  der  dadurch  hervorgerufenen  starken  Hautreizung 
strikte'zu  vermeiden.  - —  (Gaz.  des  höp.  1911,  Nr.  12.)  a.  e. 

* 

Aus  italienischen  Zeitschriften. 

393.  Ueber  die  Salzsäuresekretion  des  Magens 

bei  Nephritis'.  Von  Giacomo  Tri a.  Bezüglich  der  Salzsäure¬ 
sekretion  des  Magens  bei  Nephritis  mit  Herabsetzung  der  Permeabi¬ 
lität  der  Niere  bei  Nephritis  besteht  keine  Uebereinstimmung  der 
Autoren.  Bei  reinen  Untersuchungen  konnte  der  Verf.  ein  charak¬ 
teristisches  Verhalten  des  Magenchemismus  renalen  Ursprungs 
feststellen.  Die  bei  vielen  Fällen  von  Nephritis  bestehende  In¬ 
suffizienz  der  Ausscheidung  der  Chloride  ruft  eine  Steigerung 
der  intraorganischen  Tension  des  Chlornatriums  hervor,  welche 
auf  die  Salzsäureproduktion  des  Magens  rück  wirkt.  Die  Angabe, 
daß  die  Herabsetzung  der  Nierenfunktion  mit  einer  Herabsetzung 
der  Magenfunktion  einhergeht,  erscheint  nicht  begründet.  In 
einem  Falle  mit  schwerer  Beeinträchtigung  der  Nierenfunktion, 
Oligurie,  Verminderung  der  Chloride,  Albuminurie  und  Zylindrurie 
konnte  Hyperchlorhydrie  und  Hypersekretion  des  Magens,  dem¬ 
nach  ein  direkter  Antagonismus  zwischen  Magen-  und  Nieren¬ 
funktion  festgestellt  werden.  Die  Angabe,  daß  die  akute  Nephritis 
konstant  mit  herabgesetzter  Magensaftsekretion  einhergeht,  ist 
nicht  zutreffend.  In  einem  Falle  wurde  Hypersekretion  direkt 
nachgewiesen ;  die  oft  beobachtete  Herabsetzung  der  Sekretion 
läßt  sich  aus  der  bei  Nephritis  auftretenden  Schädigung  der 
Magenschleimhaut  durch  Hyperämie  oder  Oedem1  erklären.  Die 
Kochsalzretention  kann  durch  gesteigerte  intraorganische  Ten¬ 
sion  des  Chlornatriums  eine  vorübergehende  Hypersekretion  er¬ 
zeugen.  Bei  kochsalzarmer  Diät  beobachtet  man  nicht  nur  Zu¬ 
nahme  der  Ausscheidung  der  Chloride  durch  die  Niere,  sondern 
auch  Steigerung  der  Magensaftsekretion.  Bei  chronischer,  paren¬ 
chymatöser  Nephritis  mit  Hydrops  wurde  in  Uebereinstimmung 
mit  den  meisten  Autoren  Hypochlorhydrie,  selbst  Anachlorhydrie 
beobachtet.  Bei  chronischer  Nephritis  von  langsamer  Entwicklung 
und  interstitieller  Nephritis  zeigt  der  Magenchemismus  verschie¬ 
denes  Verhalten.  Anfälle  von  Hyperchlorhydrie  können  als  erstes 
Zeichen  latenter  Nephritis  auftreten,  so  daß  diesem  Symptom 
besondere  Aufmerksamkeit  zugewendet  werden  muß.  Es  liegt 
darin  eine  Analogie  mit  den  gastrischen  Krisen  bei  Tabes,  mit 
dem  Erbrechen  bei  Gehirntumoren,  welche  lange  Zeit  vor  dem 
Auftreten  der  charakteristischen  Symptome  sich  einstellen  können. 
Die  Koinzidenz  von  Magensymptomen  und  Albuminurie  spricht 
aber  nicht  unbedingt  für  Nephritis,  da  auch  digestive  Albumin¬ 
urien  häufig  Vorkommen.  Die  digestive  Albuminurie  geht  in  der 
Regel  mit  Herabsetzung  des  Blutdruckes  einher,  während  Hyper¬ 
tension  für  den  renalen  Charakter  der  Albuminurie  spi’icht.  — 
(Rif.  med.  1910,  Nr.  46.)  a.  e. 

* 

394.  Neue  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Kala-azar. 
Von  U.  Gabbi.  In  Süditalien  und  Sizilien  ist  Kala-azar  weit 
mehr  verbreitet,  als  bisher  angenommen  wurde  und  verursacht 
zahlreiche  Todesfälle  bei  Kindern.  Im  Initialstadium  zeigt  Kala- 
azar  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  Typhus,  Paratyphus  und 
Maltafieber.  Diese  Aehnlichkeit  legt  den  Gedanken  nahe,  daß  der 
Krankheitserreger,  Leishmania  Donovani,  vom  Darm  aus  in  den 
Organismus  eindringt,  doch  sprechen  verschiedene  Gründe  da¬ 
gegen.  Verschiedene  Umstände  sprechen  für  das  Zustandekommen 
der  Erkrankung  durch  Inokulation  u.  a.,  die  sehr  kisurze  Inkuba¬ 
tionszeit,  der  septische  Charakter  der  Erkrankung  und  das  \  or- 
handensein  zahlreicher  Parasiten  im  Blute  während  des  Initial¬ 
stadiums.  Von  großer  Wichtigkeit  ist  der  in  Indien  erbrachte 
Nachweis  von  lebenden  Kala-azarerregern  in  zwei  Wanzenarten 
und  der  Entwicklung  des  Parasiten  im  Organismus  des  Wirtes. 
Dieser  Befund  würde  erklären,  daß  nur  die  Kinder  der  armen 
Bevölkerung  von  der  Erkrankung  betroffen  werden.  Die  Beobach¬ 
tung  zeigt  ferner,  daß  die  Erkrankungen  fast  ausschließlich  im 
Frühjahr  auftritt,  insbesondere  in  den  Monaten  April  und  Mai  ; 
dieses  Verhalten  würde  auch  hinsichtlich  der  angenommenen 
Uebertragung  durch  Insekten  von  Wichtigkeit  sein,  weil  dann 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


der  Zwischenwirt  ein  Insekt  sein  müßte,  welches  gerade  in  dieser 
Jahreszeit  seine  blutsaugende  Tätigkeit,  entfaltet.  Betrachtung  des 
territorialen  Auftretens  des  Kala-azar  in  Messina  und  Umgebung 
zeigt,  daß  in  den  dichtbevölkerten  Gebieten  mit  ungünstigen  hygie¬ 
nischen  Verhältnissen  die  Erkrankung  weit  häufiger  vorkommt, 
als  in  den  Gebieten  mit  dünnerer  Bevölkerung  und  besseren  hygie¬ 
nischen  Verhältnissen.  Die  Untersuchung  zeigte  weiter,  daß  die 
fieberhafte  I  orm  der  Anaemia  splenica  ausschließlich  bei  Kindern 
der  armen  Bevölkerung,  die  apyretische  Form  nur  bei  den  Kindern 
der  wohlhabenden  Bewölkerung  vorkommt.  Besonders  häufig 
tritt  die  Erkrankung  bei  der  in  Holzhäusern  lebenden  Bevölkerung 
auf,  welche  der  Einwirkung  der  Sommerhitze  und  der  Winter¬ 
kälte  in  gleichein  Maße  ausgesetzt  ist.  Für  die  Bekämpfung  des 
Kala-azar  wäre  die  Möglichkeit  einer  rein  klinischen  Diagnose 
von  Wichtigkeit,  da  die  Diagnose  jetzt  nur  auf  Grund  der  Punk¬ 
tion  der  Milz  und  des  Knochenmarkes  gestellt  werden  kann.  — 
(Rif.  rnedica  1910,  Nr.  47.)  a.  e. 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

395.  lieber  das  häufige  Vorkommen  der  ,, nodu¬ 

lären"  Fi  bromyositis  und  ihre  Identität  mit  dem  so¬ 
genannten  chronischen  Muskelrheumatismus.  Von 
W  .  H.  Maxwell-Telling.  Der  sogenannte  chronische  Muskel¬ 
rheumatismus  wird  durch  eine  Exsudation  in  das  fibröse  Gewebe 
hervorgerufen,  welche  akut  oder  chronisch  sich  entwickeln  kann, 
von  Schmerzen  begleitet  ist,  verschiedene  Lokalisation  zeigt  und 
bei  stärkerer  Intensität  zu  deutlicher  Knotenbildung  führt.  Die 
Exsudation  wird  wahrscheinlich  durch  bakterielle  Toxine  her¬ 
vorgerufen  und  betrifft  da,s  fibröse  Gewebe,  während  die  Muskel¬ 
substanz  selbst  zunächst  nicht  betroffen  ist.  Eine  Exsudation  in 
das  fibröse  Gewebe  der  Nervenscheiden  liegt  vielen  Fällen  von 
Ischias  und  Supraorbitalneuralgie  zugrunde.  Das  Hauptsymptom 
der  Fi  bromyositis  sind  Schmerzen,  die  spontan  auftreten  und 
durch  Druck  gesteigert  werden.  Die  Infiltrate  sind  nicht  immer 
leicht  nachweisbar;  bei  der  Untersuchung  müssen  die  Muskeln 
im  erschlafften  Zustande  beiderseitig  sorgfältig  abgetastet  werden. 
Bei  hochgradiger  Infiltration  sind  die  Schmerzen  von  extremer 
Heftigkeit,  es  treten  oft  sekundär  nervöse  Symptome  hinzu  und 
es  kann  sich  schließlich  ein  Zustand  ausgesprochener  Invalidität 
entwickeln.  Die  hauptsächlichsten  Lokalisationen  der  Erkrankung 
sind  die  Lumbal-,  Nacken-  und  Bauchmuskulatur,  bzw.  das  zu¬ 
gehörige  fibröse  Gewebe.  Die  Affektion  der  Lumbalmuskulatur 
gibt  sich  klinisch  als  Lumbago  kund,  die  Affektion  des  Trapezius, 
Stemokleidomastoideus  und  der  Schläfenaponeurose  als  hart¬ 
näckige  Form  von  Kopfschmerz,  die  Affektion  der  Bauchmusku¬ 
latur  k ann  Magengeschwür,  Appendizitis,  Gallenstein-  und  Nieren¬ 
kolik,  bei  Lokalisation  im  oberen  Anteil  des  Rectus  abdominis 
auch  Herzaffektionen  Vortäuschen.  Die  Ursachen  der  Exsudation 
und  Knotenbildung  inr  fibrösen  Gewebe  sind  verschiedener  Art: 
vorangegangene  Influenza,  Einwirkung  von  Kälte  und  Nässe, 
Traumiep,  'gastrointestinale  Autointoxikation,  während  ein  Zu¬ 
sammenhang  mit  akutem  Gelenksrheumatismus  nicht  besteht.  Die 
Ursache 'der  einzelnen  Attacken  liegt  in  Schwankungen  der  Witte¬ 
rung,  traumatischen  Einwirkungen  und  Indigestion.  Die  Behand¬ 
lung  der  akuten  Anfälle  besteht  in  Anwendung  schmerzstillender 
Mittel  und  Massage.  Bei  der  Behandlung  der  chronischen  Form 
müssen  die  nachweisbaren  Schädlichkeiten  beseitigt  werden.  Die 
Salizylderivate  besitzen  nur  symptomatische  Wirkung.  Für  die 
Lokalbehandlung  erweist  sich  das  Gaultheriaöl  in  Form  von  Ein¬ 
reibungen  als  besonders  wirksam.  Das  Hauptgewicht  ist  auf 
Massage  und  Gymnastik  zu  legen;  die  Massage  muß  sich,  wenn 
sie  wirksam  sein  'soll,  direkt  auf  die  Infiltrate  erstrecken,  welche 
durch  sorgfältige  Untersuchung  eruiert  werden  müssen.  Lange 
Bettruhe  ist  bei  der  chronischen  Form  nicht  angezeigt,  sondern 
Durchführung  entsprechender  gymnastischer  Hebungen.  In  nicht 
zu  weit  vorgeschrittenen  Fällen  können  Massage  und  Gymnastik 
bei  richtiger  Durchführung  vollständige  Heilung  herbeiführen.  - 
(The  Lancet,  21.  Januar  1911.)  a.  e. 

* 

396.  Die  klinischen  Symptome  und  die  Behand¬ 
lung  der  chronischen  subkutanen  Fibrosis.  Von  Ralph 
Stockman.  Hielier  gehörige  Krankheitsbilder  wurden  unter  der 


Nr.  15 


Bezeichnung  symmetrisches  diffuses  Lipom  und  Adipositas  dolo¬ 
rosa  beschrieben,  letztere  durch  irreguläres  Auftreten  hochgradig 
druckempfindlicher  Massen  von  Fettgewebe  charakterisiert.  Zeit¬ 
weilig  treten  heftige  Schmerzen  in  den  Fettmassen  auf,  welche 
hart  und  geschwollen  erscheinen,  außerdem  stellen  sich  Symptome 
von  seiten  des  Nervensystems  ein :  IJypästhesie,  Schwäche,  An¬ 
hidrosis  usw.  Die  Adipositas  dolorosa  wurde  auf  eine  Störung 
der  Schilddrüsenfunktion  zurückgeführt  und  dem  Myxödem  ver 
glichen.  Die  Erfahrungen  des  Verfassers  sprechen  dafür,  daß 
chronische  Fibrosis  des  subkutanen  Gewebes  häufig  ist  und  die 
Adipositas  dolorosa  eine  bei  reichlicher  Fettansammlung  im  sub¬ 
kutanen  Gewebe  beobachtete  Form  der  Erkrankung  darstellt.  Das 
Wesen  der  Erkrankung  besteht  in  einer  chronischen  Entzündung 
des  subkutanen  Gewebes,  welche  sich  in  unregelmäßiger  Form 
ausbreitet,  auf  die  peripheren  Nerven  und  Gefäße  übergreift. 
wobei  sich  die  spontane  Schmerzhaftigkeit  und  Druckempfiml- 
lichkeit  durch  die  Beteiligung  der  Nerven  erklärt.  Die  Affektion 
entwickelt  sich  im  Anschluß  an  verschiedene  'Infektionen,  nament¬ 
lich  nach  akutem  Gelenksrheumatismus  und  Influenza,  aber  auch 
nach  generalisierter  Gonokokkeninfektion,  Kolitis  usw.  Die  Er¬ 
krankung  findet  sich  bei  beiden  Geschlechtern,  in  nllen  Alters¬ 
stufen  und  ist  von  Fettleibigkeit  unabhängig.  Die  Beteiligung  der 
peripheren  Nerven  führt  zu  Schmerzen,  Gefühl  von  Schwäche 
und  Steifigkeit,  sowie  Parästhesien.  Bei  Personen  mit  stärkerem 
Panniculüs  adiposus  lagert  sich  das  Fett  in  Knollen  verschiedener 
Größe  um  das  hypertrophierte  Bindegewebe,  wobei  die  Fettmassen 
im  Gefolge  der  interstitiellen  Neuritis  hochgradige  Druckempfind¬ 
lichkeit  zeigen;  die  Adfpositas  dolorosa  kann  nicht  als  Erkran¬ 
kung  süi  generis  aufgefaßt  werden.  Die  Behandlung  besteht  bei 
der  nicht  mit  Fettleibigkeit  verbundenen  Form  in  Massage,  Gym¬ 
nastik  und  Aufenthalt  in  freier  Luft.  Die  Massage  muß  energisch 
und  direkt  an  den  erkrankten  Stellen  auslgeführt  werden;  bei 
fettleibigen  Personen  ist  die  Massage  zunächst  nicht  anwendbar, 
sondern  zunächst  Entfettung  durch  strenge  Diabetesdiät,  Schild¬ 
drüsenpräparate  und  flüssiges  Extrakt  von  Fungus  vesiculosus  an¬ 
zustreben,  worauf  mit  der  Massage  begonnen  wird.  Mit  zuneh¬ 
mender  Entfettung  Verschwinden  oft  auch  die  paroxysmalen  neur¬ 
algischen  Schmerzen.  Vorherige  Applikation  von  heißer  Luft  und 
heißen  Bädern  erleichtert  die  Ausführung  von  Massage  und  Gym¬ 
nastik.  Jodpräparate,  Antirheumatika,  Gichtmittel1,  Thiosinamin 
und  Gegen  reize'  zeigen  keine  deutliche  Wirkung.  Von  den  fünf 
mitgeteilten  Fällen  sind  zwei  rheumatischer  Natur,  in  einem  ■ 
Fälle  entwickelte  sich  die  Erkrankung  anschließend  an  Kolitis,  j 
in  einem  anderen  Fälle  traten,  wie  dies1  öfters  beobachtet  wird, 
die  ersten  Symptome  während  der  Schwangerschaft  auf.  —  (Brit. 
med.  Journ.,  18.  Februar  1911.)  a.  e. 

* 

397  lieber  die  Behandlung  von  Hautkrankheiten 
mit  Hyperämie  nach  der  Methode  von  Bier.  Von 
W.  Knowsley  Libley.  Zur  Erzielung  von  passiver  Hyperämie 
wurde  zunächst  die  Stauungsbinde,  später  Sauggläser  angewendet.  , 
deren  Formen  den  verschiedenen  Körperteilen  angepaßt  wurden,  j 
Das  Gefäß  setzt  sich  in  ein  Glasrohr  fort,  welches  einen  Gummi-  , 
ball  trägt,  die  Auspumpung  der  Luft  aus  größeren  Gefäßen  ge¬ 
schieht  durch  entsprechend  konstruierte  Luftpumpen.  Die  Hervor- 
rufung  von  passiver  Hyperämie  durch  Applikation  von  Saug¬ 
gläsern  hat  bei  zahlreichen  Hautkrankheiten  überraschend  gün¬ 
stige  Erfolge  ergeben.  Fast  alle  Hautaffektionen  beruhen,  wenn 
man  von  den  parasitären  Hautkrankheiten  absieht,  auf  Ernährungs¬ 
störungen,  so  daß  sich  für  die  Behandlung  die  Aufgabe  ergibt, 
die  Ernährungsverhältnisse  innerhalb  des  erkrankten  Gebietes 
zu  bessern.  Dieser  Zweck  wird  am  besten  durch  Erzeugung 
passiver  Hyperämie  unter  Anwendung  von  Sauggläsern  erreicht. 

Es  wird  die  zu  behandelnde  Stelle  fünf  Minuten  der  Saugwirkung 
ausgesetzt,  dann  mit  Intervallen  von  drei  Minuten  das  Ansaugen 
wiederhol I,  wobei  zwei  bis  fünf  Applikationen  genügen.  Die-  Be¬ 
handlung  wurde  meist  zweimal  wöchentlich,  in  einer  Anzahl  von 
Fällen  täglich  durchgeführt.  Die  erkrankten  Hautstellen  ertragen 
eine  -stärkere  Hyperämie,  als  Entzündungsprozesse,  doch  kommt 
es  darauf  an,  jenen  Grad  von  Hyperämie  zu  erzielen,  welcher  die 
günstigste  Wirkung  mit  sich  bringt.  Die  Behandlung  wurde  bei 
Acne  vulgaris,  Acne  rosacea.  Alopecia  areata,  Kongelatio,  Ekzem, 
Keloid,  Lupus  vulgaris,  Milium,  Narben,  Psoriasis,  Seborrhoe, 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


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Sykosis,  Syphilis,  Ulzerationen,  sowie  Urticaria  chronica  und 
pigmentosa  angewendet.  Einzelne  Gebiete  wurden  nur  mit  Hyper¬ 
ämie  behandelt,  andere  Stellen  mit  Hyperämie  und  nachfolgender 
Salbeniapplikation.  Es  zeigte  sich,  daß  die  lokale  Hyperämie 
die  Wirkung  der  lokalen  medikamentösen  Behandlung  wesentlich 
befördert;  ferner  wirkt  die  lokale  Hyperämie  durch  Besserung 
der  Ernährung  und  Beseitigung  schädlicher  Stoffe  auf  dem  Wege 
des  venösen  Blutstromes.  Die  günstigsten  Erfolge  wurden  bei 
Psoriasis  erzielt,  namentlich  bei  chronischen  umschriebenen  For¬ 
men.  Bei  Lupus  vulgaris  wurden  durch  Stauungshyperämie  manch¬ 
mal  laschere  Erfolge  erzielt,  als  durch  Röntgenbehandlung,  wäh¬ 
rend  Akne  eine  länger  dauernde  Behandlung  erforderte.  Durch  die 
venöse  Hyperämie  wird  die  Perspiration  angeregt,  bei  bestimmten 
Formen  von  Ekzem  und  Seborrhoe  tritt  starke  Schweißsekretion 
ein,  in  anderen  Fällen  beobachtet  man  seröse  Exsudation,  bei 
,  nicht  ulzeriertem  Lupus  wurde  Austritt  blutig  gefärbten  Serums 
beobachtet.  —  (The  Lancet,  4.  Februar  1911.)  a.  e. 

* 

398.  lieber  di e  äu ß er  e  Anw e n du  ng  von  M  ag  n  es i u  m- 

sulfat  zur  Behandlung  des  Erysipels.  Von  Khan  Bahadur 
N.  H.  Cli  oksy  (Bombay).  In  neuester  Zeit  ist  festgestellt  worden, 
daß  das  Magnesiumsulfat  außer  der  bekannten  Abführwirkung 
eine  schmerzlindernde  Wirkung  bei  Entzündungen  verschiedener 
Organe,  in  Form  subkutaner  Injektionen  angewendet,  ent¬ 
faltet.  In  Form  intraspinaler,  subarachnoidaler  und  subku¬ 
taner  Injektionen,  wurde  das  Magnesiumsulfat  mit  Erfolg 
gegen  die  Spasmen  bei  Tetanus,  sowie  gegen  die  lanzi- 
nierenden  Schmerzen  bei  Tabes  angewendet,  wobei  die  Dosis 
1  cm3  der  25°/oigen  sterilisierten  Lösung  pro  10  kg  Körpergewicht 
betrug.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  das  Magnesiumsulfat  intern 
verabreicht,  falls  die  Abführwirkung  ausbleibt,  toxische  Wirkun¬ 
gen  entfaltet,  wobei  einerseits  tetanische  Kontraktionen  der  quer¬ 
gestreiften  Muskeln,  anderseits  Lähmung  der  glatten  Muskulatur 
des  Magens,  der  Blase  und  der  Blutgefäße  beobachtet  wurde.  Bei 
Erysipel  und  anderen  Entzündungsprozessen  hat  die  äußerliche 
Applikation  von  Magnesiumsulfat  nach  Angabe  mehrerer  Autoren 
sehr  günstige  Resultate  ergeben.  Man  appliziert  auf  die  erkrankte 
Stelle  und  deren  Umgebung  Gaze  in  10-  bis  löfacher  Schichtung 
oder  hydrophile  Watte,  welche  mit  einer  gesättigten  Lösung  von 
Magnesiumsulfat  durchtränkt  wird,  darüber  kommt  eine  Schichte 
von  impermeablen  Stoff.  Der  Verband  wird  zweistündlich  frisch 
durchfeuchtet,  nach  zwölf  Stunden  zum  Zwecke  der  Inspektion 
entfernt  und  sofort  wieder  angelegt;  eine  Waschung  der  erkrankten 
Stelle  während  der  Behandlung  ist  zu  vermeiden.  Als  Wirkung 
der  Umschläge  wurden  Herabsetzung  der  Sensibilität  und  Auftreten 
von  Parästhesien  beobachtet.  Während  die  Wirksamkeit  der  Be¬ 
handlung  bei  Erysipel,  akutem  Gelenksrheumatismus  und  akuten 
Entzündungsprozessen  fast  allgemein  anerkannt  wird,  läßt  sich 
der  Mechanismus  der  Wirkung  der  äußerlich  applizierten  Magne¬ 
siumsulfatlösung  nicht  in  befriedigender  Weise  erklären.  Der  Ver¬ 
fasser  wendete  die  angegebene  Behandlung  in  75  Fällen  von 
Erysipel  und  Phlegmone  an.  In  fast  allen  Fällen  wurde  schon 
nach  kurzer  Zeit  Abnahme  der  Schwellung,  der  Schmerzhaftigkeit 
und  des  Fiebers  beobachtet.  Am  günstigsten  waren  die  Erfolge 
bei  Kopferysipel.  In  sechs  Fällen  wurde  die  Ausbreitung  des 
Entzündungsprozesses  nicht  aufgehalten,  so  daß  Antistrepto- 
kokkenserum  injiziert  wurde,  welches  sich  nur  in  einem  Falle 
als  wirksam  erwies.  Nach  Ausschaltung  dieser  Fälle,  sowie  der 
in  moribundem  Zustand  zur  Behandlung  gekommenen,  verbleiben 
59  Fälle,  wovon  46  geheilt  wurden,  so  daß  die  Mortalität  22"," 
beträgt.  Nach  den  vorliegenden  Erfahrungen  ist  die  Anwendung 
der  äußerst  billigen,  einfachen  und  dabei  wirksamen  Methode 
bei  Erysipel  und  Phlegmone  durchaus  zu  empfehlen.  (  Ehe 
Lancet,  4.  Februar  1911.)  a.  c. 

* 

399.  Ueber  die  Auskultation  der  Gelenke.  \  on 
A.  E.  Garrod.  Das  Vorkommen  von  Geräuschen,  welche  von 
den  Gelenken  ausgehen  und  in  größerer  Distanz  hörbar  sind, 
ist  allgemein  bekannt,  doch  lehrt  die  Erfahrung,  daß  die  Stärke 
der  Geräusche  keinen ’Maßstab  für  die  Intensität  der  Erkrankung 
gibt.  Es  gibt  ferner  schwächere  Geräusche,  welche  nur  mit  dem 
Stethoskop  wahrnehmbar  sind  und  denen  ein  diagnostischer  Wert 
bei  verschiedenen  Gelenksaffektionen  zukomml.  Zur  Auskultation 


wird  ein  binaurales  Stehtoskop  verwendet  und  das  Gelenk  langsam 
gebeugt  und  gestreckt  u.  zw.  in  Form  aktiver  oder  passiver 
Bewegung.  Am  leichtesten  sind  Knie-  und  Schultergelenk  zu 
auskultieren,  doch  bietet  auch  die  Auskultation  der  anderen, 
selbst  der  kleinen  Gelenke  keine  Schwierigkeit.  Normale  Ge¬ 
lenke  jugendlicher  Individuen  geben  keine  Geräusche  oder  es 
lassen  sich  die  gelegentlich  beobachteten  Geräusche  auf  den 
Luftdruck  zurückführen.  Bei  älteren  Individuen  finden  sich  Ge¬ 
räusche  häufig  auch  in  Fällen,  wo  nicht  über  Schmerz  odeir 
Steifigkeit  des  Gelenkes  geklagt  wird.  Bei  beginnender  Osteo¬ 
arthritis  kann  das  Geräusch  vor  allen  anderen  Symptomen  auf- 
treten,  doch  ist  Fehlen  des  Geräusches  kein  Zeichen  der  Gesund¬ 
heit  eines  Gelenkes.  Bei  Synovitis  mit  Erguß  wird  kein  Geräusch 
gehört,  tritt  aber  auf,  wenn  der  Erguß  zurückgegangen  ist.  Diese 
Geräusche  sind  häufig,  von  langer  Dauer  und  erinnern  in  ihrem 
Charakter  an  das  Geräusch  bei  Hautemphysem.  Bei  Tuberkulose 
und  bei  den  akuten  Formen  der  rheumatischen  Arthritis  ist  der 
Auskultationsbefund  meist  negativ.  Bei  älteren  Individuen,  be¬ 
sonders  bei  Frauen  zur  Zeit  der  [Menopause,  kommen  Klagen  über 
Schmerzen  und  Steifigkeit  in  den  Knien,  insbesondere  beim 
Treppensteigen  vor;  die  Auskultation  ergibt  in  diesen  Fällen 
zu  beiden  Seiten  der  Kniescheibe  oft  ein  Geräusch  von  ganz  eigen¬ 
tümlichem  Charakter,  welches  an  Rauhigkeit  der  Knorpel  als 
Ursache  denken  läßt.  Die  Wahrnehmung  dieses  von  dem  Geräusch, 
welches  die  verdickte  Synovialmembran  hervorruft,  verschiedenen 
Geräusches  rechtfertigt  die  Annahme  einer  Erosion  und  Zer¬ 
faserung  des  Knorpels  mit  Chondro-  und  Osteophytenbildung.  Es 
kommt  auch  ein  Reibegeräusch  an  Gelenken  vor,  welches  auch 
palpatorisch  wahrgenommen  werden  kann  und  meist  bei  vor¬ 
gerückteren  Formen  der  rheumatischen'  Arthritis  beobachtet  wird. 
Dieses  Geräusch  ist  von  dem  bei  Erkrankungen  der  Sehnen¬ 
scheiden  beobachteten  Reibegeräusch  zu  unterscheiden.  Nach  den 
vorliegenden  Erfahrungen  gestattet  die  Gelenksauskultation  die 
Diagnose  beginnender  Affektionen,  sowie  bei  ausgebildeter  Er¬ 
krankung  die  Unterscheidung  der  Von  den  Knorpeln  und  Knochen, 
sowie  von  der  Synovia  ausgehenden  Geräusche.  —  (The  Lancet, 
28.  Januar  1911.)  a.  e. 

* 

400.  Ueber  das  Argyll-Robertsönsche  Symptom 
bei  zerebraler  und  spinaler  Syphilis.  Von  J.  Michell 
Clark  e.  Die  Häufigkeit  und  Bedeutung  des  A  r  g  y  1 1  -  R  o  b  e  r  t- 
s  on  sehen  Symptoms  bei  Tabes  und  progressiver  Paralyse  ist 
allgemein  anerkannt,  während  über  das  Verhalten  des  Symptoms 
bei  zerebraler  und  spinaler  Syphilis  noch  keine  Uebereinstim- 
mung  der  Ansichten  herrscht.  Das  Ar  g  yl  1  -  Roberts  onsche 
Symptom  wird  als  Beispiel  elektiver  Wirkung'  eines  Toxins  auf 
das  Zentralnervensystem  betrachtet,  indem  nur  eine  besondere 
Gruppe  von  Neuronen  mit  genau  abgegrenzter  Funktion  betroffen 
erscheint;  eine  Analogie  besteht  mit  der  Akkomodationslähmung 
bei  Diphtherie.  Auch1  sonst  werden  bei  parasyphilitischen  Erkran¬ 
kungen,  z.  B.  Tabes1,  solche  elektive  Wirkungen  des  Virus  beob¬ 
achtet,  die  zur  Erkrankung  bestimmter  Fasern  der  hinteren  Wur¬ 
zeln  führen.  Bei  zerebrospinaler  Syphilis  werden  die  Lähmun¬ 
gen  nicht  durch  den  beschriebenen  Mechanismus,  sondern  durch 
Ernährungsstörungen  .  im  Gefolge  von  Gefäßerkrankung,  durch 
Exsudate  oder  Gummen,  welche  alle  sekundär idie  Nervenelemente 
schädigen,  hervorgerufen.  Aus  diesem  Grunde  wäre  das  Auf¬ 
treten  eines  Symp tomes,  welches  wie  das  A  r  g  y  1 1  -  R  o  b  ert- 
s  o  n  sehe  Symptom  auf  elektive  Toxinwirkung  zurückgeführt  wird, 
nicht  zu  erwarten.  Auf  Grund  von  37  Fällen  von  zerebraler 
und  spinaler  Syphilis  gelangte  der  Verfasser  seinerzeit  zu  dem 
■Schlüsse,  daß  die  Syphilis  an  sich  nicht  das  Symptom  hervor¬ 
zurufen  vermag,  ’welches’  auf  einen  degenerativen  Prozeß  im 
Nervensystem  hinweist,  der  manchmal  frühzeitig  zum  Stillstände 
kommen  kann.  Bei  einer  späteren  Analyse  wurde  es  unter  42 Fällen 
von  Hirnsyphilis  zweimal,  unter  21  Fällen  von  Rückenmarks¬ 
syphilis  gleichfalls  zweimal  beobachtet;  Trägheit  der  Pupillen 
reaktion  wurde  bei  sechs  Fällen  von  zerebraler  und  bei  einem 
Falle  von  spinaler  Syphilis  konstatiert.  Die  Fälle  von  reflekto¬ 
rischer  Pupillenstarre  bei  Spinalsyphilis  gehörten  zur  Gruppe 
der  spastischen  Paraplegie  des  Erb  sehen  Typus;  es  ist  anzu¬ 
nehmen  ,  daß  das  A  r g  y  1 1  R  o  b  e  r  t  s  o  n  sehe  Symptom  nur  bei 
Fällen  auftritt,  wo  eine  reine  Degeneration  der  Pyramidenbahn 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


vorliegt,  so  daß  diese  Fälle  den  parasyphilitischen  Erkrankungen 
zuzurechnen  sind.  In  der  Literatur  findet  sich  das  Vorkommen 
reflektorischer  Pupillenstarre  bei  chronischer  Poliomyelitis  syphi¬ 
litica  erwähnt.  Die  einseitige  Pupillenstarre  wurde  nicht  in  die 
Betrachtung  einbezogen,  weil  sie  durch  verschiedene  lokale  Ur¬ 
sachen,  vor  allem  Okulomotoriuslähmung  bedingt  sein  kann.  Aus 
dem  vorliegenden  Material  ist  zu  entnehmen,  daß  das  Argyll  - 
R  o  her  t  s  on  sehe  Symptom  nicht  zur  reinen  zerebrospinalen 
Syphilis  gehört,  sondern  auf  das  Bestehen  degenerativer 
Läsionen  hinweist,  wofür  seine  große  Häufigkeit  bei  Tabes  und 
progressiver  Paralyse  spricht,  wo  es  bei  '70%  der  Fälle  vorkommt. 
Das  A r gy  11  -  R o b  er  t s  o n sehe  Symptom  wurde  auch  bei  Zysten 
im  III.  Ventrikel,  Tumoren  des  Sehhügels  und  des  Vierhügels 
beobachtet,  findet  sich  auch  bei  Atrophie  des  Sehnerven,  aber 
niemals  bei  Neuritis  optica.  —  (Brit.  med.  Journ.,  11.  Februar 
1911.)  a..  e. 


Vermisehte  Naehriehten. 

Ernannt:  Prof.  Dr.  v.  Eicken  zum  Ordinarius  für  Oto- 
Laryngo-Rhinologie  in  Gießen.  —  Priv.-Doz.  Dr.  V.  Maar  zum 
Dozenten  der  Geschichte  der  Medizin  in  Kopenhagen. 

* 

Verliehen:  Dem  mit  dem  Titel  eines  kaiserl.  Rates  aus¬ 
gezeichneten  Inspektor  der  Generalinspektion  der  österreichischen 
Eisenbahnen  Dr.  med.  Siegmund  F  r  i  ed  der  Titel  eines  Regierungs¬ 
rates.  —  Dem  Marinestabsarzt  Dr.  Emil  Waldek  das  Ritterkreuz 
des  Franz  -  Joseph  -  Ordens.  —  Dem  Regimentsarzt  Doktor 
E.  Kalamuniecki  das  Goldene  Verdienstkreuz  mit  der  Krone. 

Dem  Privatdozenten  für  Ophthalmologie  in  Kiel  Di'.  Karl 
S  t  a  r  g  a  r  d  t  der  Professortitel. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Richard  Stumpf  für  allgemeine  Patho¬ 
logie  und  pathologische  Anatomie  in  Königsberg  i.  Pr.  —  Doktor 
Perusini  für  Neurologie  und  Psychiatrie  in  Rom.  —  Dr.  Dialti 
für  externe  Pathologie  in  Siena.  —  Dr.  Capelli  für  operative 
Medizin  in  Modena.  —  Dr.  Cargin  a  le  für  Semeiologie  in 
Neapel.  —  Dr.  Zambelli  für  Kinderheilkunde  in  Padua  — 
Dr.  Sarlo  für  externe  Pathologie  in  Pisa. 

Gestorben:  In  Smichow  der  LandessanitätsinsjJektor  Re¬ 
gierungsrat  Dr.  St.  Gell n er. 

* 

Pest.  Aegypten.  In  der  Zeit  vom  17.  bis  23.  März  1911 
ereigneten  sich  in  Aegypten  148  (95)  Pestfälle  (Todesfälle)  und 
zwar  in  den  Provinzen  Assiout  14  (8),  Assouan  87  (56),  Favoum 
5  (3),  Gharbieh  0  (l),  Keneh  36  (23),  Menoufieh  4  (2),  Mi- 
nieh  2  (2).  —  Arabien.  In  Djeddah  sind  seit  Ausbruch  der 
Pest  (Mitte  Januar)  bis  23.  März  21  Pesterkrankungen,  sämtliche 
mit  tödlichem  Ausgange,  sichergestellt  worden.  —  China.  Nach 
amtlichen  Meldungen  betrug  die  Zahl  der  Todesfälle  an  Pest 
in  der  Mandschurei  bis  3.  März  26.623;  davon  entfielen  auf  die 
Provinzen  Kirin  und  Heilungkiang  22.293  und  auf  die  Provinz 
Fengtien  4330.  Auf  den  Stationen  der  Ostchinesischen  Eisenbahn 
sind  insgesamt  1445  Chinesen  und  51  Europäer,  im  Gebiete  der 
südmandschurischen  Eisenbahn  238  Personen  der  Pest  zum  Opfer 
gefallen.  In  Tschifu  wurden  bisher  insgesamt  827  Pesttodesfälle 
konstatiert 

* 

Generalversammlung  des  Vereines  „Wiener 
Aerzte  Orchester“.  Die  Generalversammlung  des  Vereines 
„Wiener- Aerzteorchester“  fand  am  3.  d.  M.  im’  kleinen  Sitzungs¬ 
saal«  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  statt.  Der  Präsident  Pro¬ 
fessor  Ret.hi  hob  die  intensive  künstlerische  Arbeit  und  die. 
großen  Erfolge  hervor,  welche  der  Verein  im!  zweiten  Jahre  seines 
Bestandes  errungen  hat  und  welche  das  „Wiener  Aerzteorchester“ 
zu  einem  Faktor  im  musikalischen  und  gesellschaftlichen  Lehen 
Wiens  gemacht  haben.  Hierauf  erstatteten  Dr.  Kronfeld  den 
Jahresbericht  und  in  Abwesenheit  des  Kassiers1  Dr.  Fasal 
Priv.-Doz.  Dr.  Schüller  den  Kassabericht.  Aus  den  Einnahmen 
des  satutenmäßigen  Konzertes  wurde  ein  namhafter  Betrag  für 
arme  Rigorosanten  an  der  Wiener  medizinischen  Fakultät  ver¬ 
wendet,  das  Reinerträgnis  des  großen  Konzertes  zugunsten  der 
Hinterbliebenen  des  Gemeindearztes  Dr.  Franz  in  Riedau  seiner 
Bestimmung  zugeführt.  Die  Wahlen  ergaben  folgendes  Resultat: 
Ehrenmitglieder  Hofrat  Exner  und  Hofrat  Freiherr  v.  Eiseis¬ 
berg;  Präsident  Professor  Rot  hi,  Vizepräsidenten  Professor 


Joannovics  und  Priv.-Doz.  Schüller,  1.  Schriftführer  Doktor 
Kronfeld,  Dirigent  Priv.-Doz.  v.  Jagic,  1.  Konzertmeister  Pro¬ 
fessor  S  t  r  a  ß  e  r ;  ferner  wurden  in  den  Ausschuß  gewählt  die 
Doktoren:  Prof.  Stoerk,  F  asal,  Kühnei,  Bauer,  Weiß,  Volk, 
Oberstabsarzt  Franz,  Ma  r  sch  i  k,  Sch  idler,  Schwarz. 

* 

Aus  dem  Sanitätsbe  riebt  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  12.  Jahreswoche  (vom  19.  bis 
25.  März  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  615,  unehelich  230,  zusammen 
845.  Tot  geboren,  ehelich  65,  unehelich  21,  zusammen  86.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  739  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
189  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  1,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  8, 
Scharlach  4,  Keuchhusten  2,  Diphtherie  und  Krupp  4,  Influenza  1, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  4,  Lungentuberkulose  131,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  51,  Wochenbettfieber  5,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  45  ( —  5),  Wochenbettfieber  1  ( —  4),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  78  (—  15),  Masern  163  ( —  4),  Scharlach  107  (—  22) 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  5  (— |—  3),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0) 
Diphtherie  und  Krupp  00  ( —  0),  Keuchhusten  00  ( —  00),  Trachom  0  ( — 0) 
Influenza  0  (-4-  0),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Distriktsarztesstelle  in  Böhmisch-Aic  ha  (Böhmen). 
Der  Jahresgehalt  beträgt  1000  K,  das  Reisepauschale  600  K.  Be¬ 
werber  haben  die  mit  den  im  §  5  des  Landesgesetzes  vom  23  Februar 
1888,  L.-G.-Bl.  Nr.  8,  ex  1888,  angeführten  Nachweisen  belegten  Ge¬ 
suche  bis  15.  April  1.  J.  beim  Bezirksausschuß  in  Böhmisch-Aicha  ein¬ 
zureichen. 

Gemeindearztesstelle  der  subventionierten  Sanitäls- 
gemeindegruppe  Harmannsdo  r  f  (Niederösterreich)  mit  dem  Arztes¬ 
sitze  in  Harmannsdorf.  Fixe  Bezüge  von  den  Gemeinden  682  K. 
fixe  Bezüge  seitens  der  Gutsinhabung  300  K,  bisherige  Landes¬ 
subvention  1000  K,  zusammen  1982  K.  Erhöhung  der  Landessubvention 
um  200  K  in  Aussicht.  Der  Arzt  ist  zur  Führung  einer  Hausapotheke 
berechtigt.  Ordnungsmäßig  instruierte  Gesuche  sind  bis  längstens  15.  Mai 
1911  an  die  Gemeindevorstehung  von  Harmannsdorf  oder  an  die  k.  k.  Be¬ 
zirkshauptmannschaft  Horn  zu  richten,  woselbst  auch  nähere  Auskünfte 
erteilt  werden. 

Gemeindearztesstelle  für  die  Sanitätsgemeindegruppe 
J  agenbach  (Niederösterreich),  politischer  Bezirk  Zwettl,  umfassend 
die  Gemeinden  Jagenbach,  Rieggers,  Dorf  Rosenau  und  Schloß  Rosenau 
mit  31.  Mai  1911  zu  besetzen.  Flächenraum  40  km'2,  Einwohnerzahl 
1942,  Gemeindebeiträge  400  K,  bisherige  Subvention  aus  dem  Landes¬ 
fonds  800  K,  freie  Wohnung  in  für  diesen  Zweck  neugebautem  ein¬ 
stöckigen  Hause  steht  zur  Verfügung,  Haltung  einer  Hausapotheke  er¬ 
forderlich.  Das  an  den  niederösterreichischen  Landesausschuß  zu  rich¬ 
tende,  mit  den  Nachweisen  der  österreichischen  Staatsbürgerschaft,  der 
Praxisberechtigung  in  Oesterreich,  der  physischen  Eignung  und  sittlichen 
Unbescholtenheit  belegte  Gesuch  ist  bis  längstens  30.  April  1911  an 
den  Bürgermeister  in  Jagenbach  als  Obmann  der  Sanitätsgruppe  einzu¬ 
senden. 

Die  Stelle  des  Direktors  der  Landes-Irrenanstalt 
Feldhof  bei  Graz  kommt  mit  1.  Juni  1911  zur  Besetzung.  Mit 
dieser  Stelle  sind  die  Bezüge  der  VI.  Rangsklasse,  Naturalwohnung  an 
der  Anstalt  samt  Beheizung  und  Beleuchtung,  Gartenanteil  und  Fahr¬ 
gelegenheit  für  den  Verkehr  mit  der  Stadt  Graz  verbunden.  Bewerber 
um  diese  Stelle  wollen  ihre  Gesuche  mit  dem  Nachweis  der  entsprechen¬ 
den  Qualifikation,  persönlichen  Verhältnisse  und  bisherigen  Tätigkeit  bis 
20.  April  1911  an  den  steiermärkischen  Landesausschuß  einsenden. 

Stelle  eines  Stadt-  und  zugleich  Spitalarztes  für 
die  Stadt  Brixen  mit  dem  Sitze  in  Brixen  (Tüol).  Die  Bewerber, 
welche  an  einer  inländischen  Hochschule  den  Doktorgrad  erworben 
haben  müssen,  haben  ihr  mit  den  Personaldokumenten  und  Zeugnissen 
belegtes  Gesuch  bis  längstens  5.  Mai  d.  J.  an  den  Stadtmagistrat  Brixen 
einzubringen.  Bemerkt  wird,  daß  die  Stadt  Brixen  im  Begriffe  steht,  an 
Stelle  des  bisherigen  alten  Spitales  ein  modernes,  mit  den  neuesten  Ein¬ 
richtungen  ausgestattetes  Krankenhaus  mit  Zahlstock  (Sanatorium)  zu  er¬ 
richten,  welches  ein  Bedürfnis  für  die  weite  Umgebung  ist.  Bei  der  An¬ 
stellung  werden  Operateure  bevorzugt.  Mit  dieser  Stelle  ist  ein  Grund¬ 
gehalt  von  3600  K  mit  Aussicht  auf  Nebenverdienst  verbunden,  dessen 
nähere  Feststellung  der  vertragsmäßigen  Vereinbarung  Vorbehalten  bleibt. 

In  Gemäßheit  des  Landesgeselzes  vom  31.  August  1910,  L.-G.-  und 
V.-Bl.  Nr.  57,  wird  behufs  Besetzung  der  Stelle  des  Gemeinde¬ 
arztes  für  den  Sanitätssprengel  Dorna kandreny  (Bukowina)  der 
Konkurs  ausgeschrieben.  Die  Jahresdotation  beträgt  1600  K  und  eine  im 
Rubegenuß  anrechenbare  Aktivitätszulage  von  400  K.  Als  Sepa¬ 
rathonorar  erhält  der  Gemeindearzt  das  von  der  Gemeinde  Dornakan- 
dreny  für  die  Versehung  der  Funktionen  des  Badearztes  in  Aussicht  ge¬ 
stellte  Honorar  von  700  K  für  die  Dauer  der  Badesaison.  Für  Dienst¬ 
reisen  erhält  der  Gemeindearzt  die  mit  der  Kundmachung  der  Buko- 
winaer  k.  k.  Landesregierung  vom  27.  April  1895,  L.-G.-  und  V.-Bl.  Nr.  12, 
normierten  Gebühren.  Bewerber  um  diesen  Posten  haben  nachzuweisen: 
1.  Die  Berechtigung  zur  Ausübung  der  Heilkunde  in  den  im  Reichsrate 
vertretenen  Königreichen  und  Ländern  2.  Die  österreichische  Staats¬ 
bürgerschaft.  3.  Die  Kenntnis  der  deutschen  und  im  hinreichenden  Maße 
der  rumänischen  Sprache.  Die  gehörig  instruierten  Gesuche  sind  spätestens 
bis  10.  Mai  1.  J.  bei  der  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  in  Kimpolung  ein¬ 
zureichen.  Der  k.  k.  Bezirkshauptmann. 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


551 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


INHALT: 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  (1er  Aerzte  iu  Wie». 
Sitzung  vom  7.  April  1911. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  nnd  Kinderheilkunde  in  Wien. 


Verein  fiir  Psychiatrie  und  Neurologie  iu  Wien. 
II.  russischer  Internisteiikongreß. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte 

in  Wien. 

•  Sitzung  vom  7.  April  1911. 

Vorsitzender:  Hofrat  S.  Exner. 

Schriftführer :  Hofrat  Richard  Paltauf. 

Herr  Dr.  A.  Selig  aus  Franzensbad  als  Gast. 

Der  Präsident,  macht  Mitteilung  von  einer  Zuschrift  der 
wirtschaftlichen  Organisation  der  Aerzte  Wieus,  laut 
welcher  diese  beschlossen  hat,  jene  von  der  Hamburg- Amerika- 
Linie  projektierte  ärztliche  Studien-  und  Erholungsreise  (vom 
8.  bis  zum  29.  Juli  1911),  zu  welcher  bereits  vor  einigen  Wochen 
eine  Einladung  mitgeteilt  wurde,  zu  fördern,  nachdem  die  Gesell¬ 
schaft  sich  erbötig  gemacht  hat,  den  Mitgliedern  der  Organisation 
einen  Nachlaß  zu  gewähren.  Der  Obmann  der  Organisation,  Herr 
Dr.  Skorscheban,  ist  bereit,  Aufklärungen  zu  geben  und  Vor¬ 
merkungen  entgegenzunehmen  (bis  5.  Mai  1911). 

Der  Präsident  teilt  ferner  mit,  daß  der  Zentralausschuß  für 
öffentliche  Gesundheitspflege,  in  welchem  nach  einem  jüngsten 
Beschlüsse  auch  die  k.  k.  Gesellschaft  vertreten  ist,  eine  Emen- 
dierung  des  Regierungsentwurfes  für  ein  Gesetz,  betreffend  die 
Verhütung  und  Bekämpfung  übertragbarer  Krankheiten,  einge¬ 
sendet  hat.  Einige  Exemplare  des  mit  den  vorgeschlagenen  Aen- 
derungen  versehenen  Entwurfes  stehen  Herren,  welche  sich  dafür 
interessieren,  zur  Verfügung. 

Der  Präsident  teilt  ferner  mit,  daß  durch  Vermittlung  des 
Kollegen  v.  Eiseis  b erg  der  bekannte  deutsche  Chirurg  Dr.  Beck 
aus  Chicago  in  der  nächsten,  am  28.  April  stattfindenden  Sitzung 
der  k.  k.  Gesellschaft  einen  Vortrag  über  die  Bismutbehandlung 
der  kalten  Abszesse  halten  wird. 

Endlich  teilt  der  Präsident  mit,  daß  er  die  Sitzungsfolge 
für  das  begonnene  Vereinsjahr  in  einer  handlichen  Form  von 
Taschenkarten  drucken  ließ,  welche  Karten  den  Mitgliedern  zur 
Verfügung  stehen. 

Prof.  M.  Benedikt :  Zur  Therapie  der  k  o  o  r  d  i  n  a  t  o  r  i- 
schen  B  e  s  chäftigung  s  neuro  s  en  und  über  Autogymna¬ 
stik  in  chronischen  Fällen  derselben.  (Siehe  unter  den 
Originalien  in  dieser  Nummer.) 

Diskussion:  Priv.-Doz.  Dr.  A.  Bum  begrüßt  die  neuerliche 
Empfehlung  der  ,, Autogymnastik“  bei  der  Behandlung  der  Be¬ 
schäftigungsneurosen,  eines  Verfahrens,  dessen  sich  die  Mediane 
therapie  seit  langer  Zeit  erfolgreich  bedient.  Voraussetzung  für 
seine  Anwendung  ist  Behebung  der  hier  so  häufigen  Myitiden  und 
Tenosynitiden,  die  Benedikt  auf  „falsche  Technik“  zurück¬ 
führt.  Redner  hat  unrichtige  Handhaltung  beim  Schreiben,  Violin- 
und  Klavierspielen  in  fast  jedem  Falle  von  Graphospasm us  und 
Musikerkrampf  beobachtet  und  einmal  das  epidemieartige  Auftreten 
von  Klavierspielerkrampf  in  einer  Klasse  einer  Musikschule  ge¬ 
sehen,  in  welcher  technisch  unrichtig,  d.  i.  unter  Anstrengung 
lind  Ueberanstrengung  ungeeigneter  Muskeln,  gespielt  worden  ist. 
Prophylaktisch  nicht  minder  wichtig  ist  die  Konfiguration 
der  Hände.  Junge  Mädchen  mit  zu  kleinen  Händen,  Menschen 
mit  zu  kurzen  Fingern  (zumal  mit  kurzem  fünften  Finger)  be¬ 
kommen,  wenn  sie  sehr  fleißig  spielen,  sehr  leicht  Ermüdungs¬ 
zustände,  die,  wenn  '"sie  im  Eifer  des  Trainings  nicht  beachtet 
werden,  zu  Klavier-  und  Violinspielerkrampf  führen.  Derartigen 
Individuen  drohen  immer  Schwierigkeiten  im  Verlaufe  einer  Vir¬ 
tuosenkarriere;  sie  sollten  daher  von  Aerzten  und  Musikiehrern 
rechtzeitig  davor  gewarnt  werden,  eine  solche  einzuschlagen. 

Prof.  Dr.  Benedikt:  Daß  falsche  Technik  bei  den  Be¬ 
schäftigungsneurosen  eine  Rolle  spielen,  sehen  wir  besonders 
beim  Schreiberkrampfe.  Wir  lernen  mit  den  Fingern  schreiben 
und  nicht  mit  den  Armen,  wie  bei  der  amerikanischen  Methode. 
Jedoch  darf  fehlerhafte  Technik  nicht  allein  beschuldigt  werden, 
sondern  Ueberanstrengung,  in  Aufregung,  wie  vor  den  Prüfungen 
oder  Konzerten.  Auch  heilt  der  Uebergang  zu  einer  besseren 
Technik  nicht  von  seihst;  es  bedarf  in  der  Regel  der  Therapie, 
wobei  die  angegebenen  Methoden  eine  wichtige  Rolle  spielen. 

Priv.-Doz.  Dr.  L.  Wiek  hält  einen  Vortrag:  Zur  Patho¬ 
genese  der  Gicht.  1 

Der  Vortragende  erwähnt  die  neueren  Anschauungen  über 
die  Entstehung  und  das  Wesen  der  Gicht  und  teilt  unter  Demon¬ 
stration  von  histologischen  Bildern  eines  Gichtknotens  und  von 


Röntgenaufnahmen  Fälle  von  Gicht  mit,  welche  auch  auf  das 
Verhältnis  der  Gicht  zu  anderen  Krankheiten,  zu  denen  eine 
gewisse  Verwandtschaft  angenommen  wird,  wie  Gelenksrheumatis- 
mus  und  Osteoarthritis  deformans,  ein  Licht  werfen.  Aus  dem 
demonstrierten  Knoten  ist  man,  da  er  schon  zu  alt  ist,  nicht 
mehr  in  der  Lage,  etwas  über  die'  Art  seiner  Entstehung  aus¬ 
zusagen,  er  weicht  in  seiner  Beschaffenheit  nicht  von  dem  bis 
jetzt  Bekannten  ab,  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  die  Rest¬ 
masse,  welche  nach  Lösung  der  Urate  hinterbleibt,  nekrotisches 
Gewebe  oder  sonstige  Einschlußmasse  oder  Gerüstsubstanz  der 
Kristalle  sei,  ließ  sich  nicht  mit  Bestimmtheit  lösen.  Er  trägt 
den  Charakter  einer  Fremdkörperwirkung  an  sich  und  unter¬ 
scheidet  sich  histologisch  derart  vom  Bilde  eines  rheumatischen 
Knotens,  daß  man  daraus  keine  Schlüsse  auf  eine  Verwandtschaft 
der  Gicht  mit  Rheumatismus,  etwa  derart,  daß  die  Nekrose  bei 
beiden  Leiden  durch  das  gleiche  Gift  bewirkt  werde,  ziehen 
kann.  Die  Untersuchung  eines  frisch  entstandenen  Knotens  könnte 
mehr  Aufschlüsse  darüber  geben.  Von  vier  Gichtfällen  werden 
die  Röntgenbilder  demonstriert,  aus  denen  sich  ergibt,  daß  bei 
fortgeschrittener  Krankheit  in  der  Tat  Veränderungen  im  Knochen 
Vorkommen,  welche  man  bei  den  anderen  genannten  Krankheiten 
nicht  findet;  teils  stammen  sie  von  Druckwirkungen  der  Tophi 
in  der  Umgebung,  teils  von  Uratablagerungen  in  der  Knochen¬ 
substanz  selbst.  Einer  dieser  Fälle  repräsentierte  den  reinen 
Typus  der  Gicht,  in  zwei  anderen  liegt  wahrscheinlich  eine  Kom¬ 
bination  mit  Gelenksrheumatismus  vor  und  im  vierten  eine  Kom¬ 
bination  mit  Osteoarthritis  deformans.  Da  man  dem  Gelenks- 
iheumatismus  die  Eigenschaft  zuschreiben  könnte,  daß  er  für 
Gicht  prädisponiere,  da  auch  die  Anschauung,  daß  beide  Leiden 
auf  einer  gemeinsamen  Anlage  beruhen,  ihre  Vertreter  hat,  so  geht 
der  Vortragende  auf  diese  Frage  näher  ein  und  zieht  zu  deren 
Beantwortung,  nachdem  histologische  und  klinische  Tatsachen 
keine  eindeutige  Beantwortung  zulassen,  die  Statistik  zu  diesem 
Zwecke  heran.  Er  findet  in  seinem  aus  dem  Badespital  in  Bad- 
gastein  stammenden  Material  von  fast  4000  Personen  die  Gicht 
so  wenig  (0-28%),  dagegen  die  rheumatischen  Gelenksleiden  so 
zahlreich  (34%)  vertreten,  daß  man  irgendwelche,  in  der  Natur 
dieser  Leiden  liegende  Beziehungen  zwischen  ihnen  ausschließen 
und  in  jenen  seltenen  Fällen,  in  denen  man  sie  als  zusammen  vor¬ 
kommend  annehmen  kann,  eine  zufällige  Kombination  sehen  muß. 
Die  Krankengeschichten  bestätigen  diese  Annahme  und  sprechen 
zugleich  für  die  Richtigkeit  der  jetzigen  Theorie  der  Gicht.  Die 
Benützung  der  Statistik  hat  eben  dermalen  noch  ihre  Mängel,  da 
wir  bei  den  komplizierten  Untersuchungsmethoden  nicht  in  der 
Lago  sind,  Blut-  und  Stoffwechseluntersuchungen  in  einem  grö¬ 
ßeren  Materiale  zu  machen,  was  zur  Entscheidung  dieser  fragen 
notwendig  wäre:  erleichterte  Untersuchungsmethoden,  wie  sie 
jetzt  auch  schon  versucht  werden,  könnten  die  Seltenheit  der 
Gicht  auf  ein  geringeres  Maß  beschränken  und  die  Wirksamkeit 
unserer  Heilmethoden,  eine  jetzt  aktuelle  Frage,  durch  Aufdeckung 
leichterer,  darum  auch  heilbarer  Fälle  in  ein  anderes  Licht 
stellen. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  23.  März  1911. 

M.  Weisz:  Die  Bedeutung  des  Urochr omogens  für 
die  Prognose  und  Therapie  der  Lungentuberkulose. 
Di©  Urochromogenausscheidung  im  Verlaufe  der  Lungentuber¬ 
kulose  darf  als  Zeichen  eines  phthisischen  Prozesses  angesehen 
werden.  Die  ungünstige  prognostische  Bedeutung  des  Urochromo- 
gens  bei  dieser  Krankheit  deckt  sich  im  wesentlichen  mit  der 
schlechten  Prognose  der  Lungenphthise.  Eine  Unterscheidung  zwi¬ 
schen  vorübergehendem  und  konstantem  Auftreten  des  Urochromo 
gens  in  bezug  auf  die  Prognose  der  Lungentuberkulose  kann  um 
in  dem  Sinne  gemacht  werden,  als  das  vorübergehende  Auf¬ 
treten  dieses  Körpers  einen  —  wenn  auch  nach  den  Erfahrungen 
des  Vortragenden  meist  nur  scheinbaren  —  Rückgang  des  Leidens, 
wie  er  auch  im  Verlaufe  der  Phthise  beobachtet  wird,  nicht  aus¬ 
schließt,  während  das  konstante  Vorhandensein  des  Urochromo- 
gens,  insbesondere  aber  seine  deutliche  Zunahme  im  Haine  von 
Lungentuberkulosen  den  alsbald  zu  gewärtigenden  Lod  anzeig  . 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Das  Urochromogen  JnuJj  aber  mit  Sicherheit  nur  auf  einen  tuber¬ 
kulösen  Prozeß  der  Lunge  zurückgeführt  werden  können,  da 
Komplikationen  der  Lungentuberkulose,  darunter  auch  chirut- 
gische  Tuberkulose  und  influenza,  auch  mit  Urochroinogenaus- 
scheidung  einhergehen  können,  ohne  die  gleichen  prognostischen 
Schlüsse  zu  erlauben.  Eine  positive  Urochromogenprobe  kann 
ferner  im  Anschlüsse  an  Chloroformnarkose  und  Tuberkulininjek¬ 
tionen  auftreten  und  läßt  auch  nicht  die  gleichen  prognostischen 
Schlüsse  zu.  Die  Urochromogenausscheidung  kann  als  Indikator 
des  jeweiligen  Standes  der  Lungentuberkulose  angesehen  und  zur 
Beurteilung  der  therapeutischen  Maßnahmen  bei  der  Behandlung 
dieser  Krankheit  mit  Nutzen  herangezogen  werden.  Von  den  gegen¬ 
wärtig  geübten  Heilmethoden  •kann  Vortragender  auf  Grund  seiner 
Untersuchungen  über  die  Urochromogenausscheidung  mit  Sicher¬ 
heit  nur  der  Pneumothoraxbehandlung  eine  heilende  Wirkung 
auf  die  Lungenphthise  zuschreiben,  während  der  Anstaltsbehand- 
lung  ein  lebensverlängernder,  möglicherweise  aber  auch  ein  lebens¬ 
erhaltender  Einfluß  bei  der  Phthise  zukommt.  Die  Tuberkulin¬ 
behandlung  läßt  in  den  Fällen,  wo  schon  Urochromogen  im  Harne 
ausgeschieden  wird,  kaum  mehr  einen  Erfolg  erwarten,  doch 
sind  zur  Sicherstellung  dieser  Frage  noch  weitere  Untersuchun¬ 
gen  notwendig.  Die  Urochromogenausscheidung  ist  die  Folge  einer 
Toxämie,  welche  bei  der  Lungentuberkulose  im  wesentlichen  durch 
die  Toxine  des  Tuberkelbazillus  hervorgerufen  wird.  Sie  ist  in 
den  meisten  Fällen  das  Symptom  eines  Massenimportes  von 
Toxinen  in  die  Blutbahn,  welcher  von  so  ausgedehnten  Lungen¬ 
veränderungen  herrührt,  daß  schon  danach  eine  Heilung  un¬ 
möglich  ist.  Die-  Fälle  aber,  in  denen  die  Urochromogenausschei¬ 
dung  durch  die  Ausdehnung  des  Lungenprozesses  allein  nicht 
erklärt  werden  kann,  zeigen  an,  daß  die  Ausscheidung  dieses 
Körpers  auch  das  Symptom  einer  besonderen  Hinfälligkeit  des 
Organismus  den  Tuberkelbazillen  gegenüber  darstellt,  resp.  ein 
Zeichen  dessen,  was  man  Disposition  nennt.  Die  Abwehr  des 
Organismus  gegen  den  Tuberkelbazillus  und  seine  Gifte  muß  in¬ 
folgedessen  mit  dein  chemischen  Vorgänge,  der  zur  Urochrom- 
und  Urochromogenbildung  führt,  auf  das  innigste  Zusammen¬ 
hängen.  Dieser  chemische  Prozeß  ist  die  oxydative  Tätigkeit  des 
Zellprotoplasmas.  In  ihr  müssen  wir  daher  die  Hauptwaffe  des 
Organismus  gegen  den  Tuberkelbazillus  erblicken.  Die  Beobach¬ 
tung  von  Urochromogenausscheidung  im  Beginne  der  Tuberkulin¬ 
behandlung  und  ihr  späteres  Verschwinden  im  Verlaufe  dieser 
Behandlung  weisen  auf  die  allmählich  eintretende  Giftwirkung 
der  Zelle  bin,  in  welcher  die  eine  Komponente  der  Tuberkulin¬ 
wirkung  zu  sehen  ist.  Das  Auftreten  von  Urochromogen  während 
der  Tuberkulinbehandlung  deutet  darauf  hin,  daß  besonders  hohe 
Tuberkulinempfindlichkeit  besteht  oder  daß  die  gewählte  Dosis 
zu  groß  war.  Die  Kontrolle  der  Tuberkulinbehandlung  durch 
die  Harnuntersuchung  kann  daher  vor  Tuberkulinschäden  he- 
Avahren.  Das  vorübergehende  Auftreten  des  Urochromogens  wäh¬ 
rend  der  Tuberkulinbehandlung  ist  keine  Kontraindikation  gegen 
die  Fortsetzung  dieser  Behandlung,  mahnt  aber  zur  Vorsicht. 
Da  im  allgemeinen  nach  den  Untersuchungen  über  die  Diazo- 
reaktion  bei  Kindern  und  Frauen  größere  Tuberkulinempfindlich¬ 
keit  angenommen  werden  muß,  so  sind  bei  diesen,  Avenigstens 
im  Beginne  der  Tuberkulinbehandlung,  niedrigere  Dosen  ange¬ 
zeigt  als  bei  Erwachsenen. 


Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien. 

Sitzung  vom  14.  März  1911. 

Vorsitzender:  Hofrat  Obersteiner. 

Schriftführer:  Priv.-Doz.  Dr.  Marburg. 

(Schluß.) 

Augenspiegelbefund  (Dr.  Ruttin):  Fundus  normal.  Rechts 
Drusen  in  der  Makula. 

Ohr  befund  (Priv.-Doz.  Dr.  Heinrich  Neumann) :  Rechts 
in  Verheilung  begriffene  Mittelohreiterung.  Rinne  negativ.  Weber 
nach  links.  Verkürzung.  Links  normal. 

Ihr  Gedächtnis  im  allgemeinen  ist  in  bezug  auf  Aveiter 
zurückliegende  Ereignisse  und  Erinnerungen  sclnverer  gestört  als 
in  bezug  auf  die  jüngste  Vergangenheit.  Einzelheiten  aus  früheren 
Untersuchungen,  aus  Gesprächen  vom  Tag  vorher,  reproduziert 
sie  oft  auffallend  gut.  Dagegen  erinnert  sie  sich  nur  mit  Mühe 
an  den  Namen  ihrer  Kinder,  weiß  so  gut  wie  nichts  von  ihrem 
früheren  Wohnort,  Aveiß  nur  ganz  Allgemeines  von  ihrem  Wirts¬ 
geschäft,  besinnt  sich  nicht  auf  ihre  Adresse  usw.  Die  Prüfung 
der  Merkfähigkeit  mit  Merkworten  ergibt  schwere  Defekte:  sie 
reproduziert  das  Merkwort  schon  nach  zwei  Minuten  nicht  mehr. 

Die  optischen  Störungen  der  vorgestellten  Kranken  erinnern 
an  das  Benehmen  des  Patienten  mit  doppelseitiger  zerebraler 
Hemianopsie  und  erhaltenem  zentralen  Sehen ;  auch  hei  ihr 


ist  ja  die  Fixation  erschwert  und  es  ist  ihr  in  den  meisten;  Fällen 
unmöglich,  eine  gCAvonnene  Fixation  festzuhalten.  Die  Prüfung 
mit  Licht  und  Farben  aber  zeigt,  daß  diese  Störungen  liier  nur 
bestimmte  Qualitäten  des  Sehens  betyifft,  Avährend  andere  von 
ihnen  nicht  betroffen  sind. 

Ein  helles  Licht,  große  Flächen  in  hellen  und  gesättigten 
Farben,  kontrastreiche  helle  und  dunkle  Flächen  erkennt  sie  sofort. 
Von  diesen  erhaltenen  Komponenten  ihrer  optischen  Wahrnehmung 
aus  vermag  sie  zuweilen  sogar  Objekte  zu  erkennen  und  richtig 
zu  bezeichnen,  während  sie  sich  sonst  wie  eine  Agnostischo 
verhält. 

Bei  der  Wahrnehmung  der  Farben  zeigt  sie  eine  besonders 
leichte  Perzeption  für  langwelliges  Licht  und  für  die  hellsten 
Stellen  im  hellen  Farbenspektrum,  Avas  mit  den  physiologischen 
Verhältnissen  der  Farbenperzeption  im  sogenannten  Helligkeits¬ 
sehen  übereinstimmt. 

Dagegen  erscheint  bei  ihr  das  Sehen  von  Bewegungen  und 
die  Wahrnehmung  geringer  Helligkeitsunterschiede  als  unmöglich. 
Aus  diesem  Defekt  resultiert  der  Wegfall  Avichtiger  formgebender 
und  raumbildender  Komponenten  des  Sehens.  So  erklärt  es  sich, 
daß  die  Patientin  zunächst  den  Eindruck  macht,  als  fehle  ihr 
überhaupt  das  räumliche  Sehen  ganz,  während  sie  doch  die 
Objekte,  die  innerhalb  der  Grenzen  ihrer  Wahrnehmungsfähigkeit 
liegen,  richtig  in  den  Raum  projiziert. 

Wie  schon  bemerkt,  macht  Pat.  in  ihrem  Gesamtverhalten 
den  Eindruck  der  Seelenblindheit.  Eine  Abgrenzung  der  agno- 
stischen  Komponente  ihres  Symptomenkomplexes  von  den  Stö-  ‘ 
rangen  ihrer  Wahrnehmung  ist  indessen  im  besonderen  schwierig; 
jedenfalls  erscheint  bei  ihr  soAvohl  die  apperzeptive,  als  auch  die 
assoziative  Tätigkeit  stark  beeinträchtigt.  Die  assoziative  Ver¬ 
arbeitung  optischer  Eindrücke  ist  indessen  zweifellos  nicht  völlig 
unmöglich  geworden;  sie  läßt  sich  ja  von  den  erhaltenen  Kompo¬ 
nenten  ihrer  optischen  Wahrnehmung  aus  zuAveilen  in  einer  über 
raschenden  Weise  anregen. 

Auch  die  Störung  ihrer  Orientierung  im  Raume  scheint 
ganz  von  der  Art  ihrer  optischen  Wahrnehmung  abhängig  zu 
sein.  Auch  die  akustischen  Eindrücke  ordnet  sie  vielfach,  Avie 
zAvangsmäßig,  dorthin  ein,  wo  sich  aus  den  erhaltenen  Ele¬ 
menten  der  optischen  Wahrnehmung  der  Raum  gewissermaßen 
partiell  bildet.  Der  Fall  bildet  so  ein  Beispiel  für  die  Präponde- 
ranz  der  optischen  Sphäre  bei  der  Bildung  des  Raumbegriffes.  _ 

Mit  dem  Wegfall  der  Untersuchung  wichtiger  Komponenten 
des  Sehens  verbindet  sich  bei  der  Patientin  eine  Art  von  Ueber- 
aufmerksamkeit  auf  die  optischen  Eindrücke,  die  sie  leicht  und 
mühelos  aufzufassen  vermag:  in  erster  Linie  auf  das  Licht,  so¬ 
dann  auf  Farben  und  auf  simultanen  Kontrast.  Man  könnte  bei 
ihr  von  einem  durch  zerebrale  Störungen  bedingten  Phototropis¬ 
mus  sprechen,  da  sie  wie  ein  Nachtschmetterling  auf  jedes  Licht 
Aviderstandslos  zustrebt;  sie  Avcndet  sich  in  ähnlicher  Weise 
den  Farben  zu;  nach  Licht  und  nach  Farbenflächen  greift  sie 
hinter  den  Spiegel  oder  in  den  Spiegel  hinein ;  Avenn  sie  dem 
Lichte  nachzieht,  stößt  sie  sich  Avie  ein  Insekt  an  der  gläsernen 
Fläche  des  Fensters  oder  der  Türe. 

Die  Analyse  der  eigenartigen  zerebral  bedingten  Wahrneh¬ 
mungsstörung,  die  die  Patientin  aufweist,  bringt  somit  Adele  Einzel¬ 
heiten,  die  (mit  der  Theorie  von  v.  Kries  übereinstimmen, 
v.  Kries  unterscheidet  bekanntlich  ein  Dämmerungssehen  (Sehen 
hei  schwacher  Helligkeit),  für  das  er  den  Stäbchenapparat  der 
Retina  in  Anspruch  nimmt  und  ein  Helligkeitssehen  (Sehen  der 
Farben  usav.),  das  er  dem  erst  durch  stärkere  Lichtreize  aktivier¬ 
baren  Zapfenapparat  der  Netzhaut  zuschreibt.  Das  Signal  für 
das  Einsetzen  der  Tätigkeit  des  Helligkeitsapparates,  die  Wir¬ 
kung  einer  starken  Beleuchtung  ist  auch  bei  der  Patientin  die 
Bedingung,  unter  der  die  Reste  ihrer  optischen  Wahrnehmungs¬ 
fähigkeit  vortreten;  der  Kategorie  nach  (Sehen  starker  Licht¬ 
quellen,  stärkerer!  Kontraste  zwischen  Hell  und  Dunkel,  Sehen 
der  Farben)  decken  sich  diese  Reste  mit  den  Leistungen  des 
Helligkeitsapparates.  Im  Gegensatz  dazu  fehlen  die  Leistungen 
des  sogenannten  Dämmerungsapparates:  die  Wahrnehmung 
schAvacher  Helligkeitsunterschiede,  die  Einstellung  auf  schwache 
Lichtreize  und  jene  Kontinuität  der  Perzeption,  die  das  Sehen 
der  Bewegung  eines  Objektes  ermöglicht. 

Der  Fall  läßt  somit  an  die  Möglichkeit  denken,  daß  jene 
beiden  Komponenten  des  Sehens,  deren  gesonderte  Vertretung  in 
der  Retina  v.  Kries  behauptet,  auch  in  der  Projektion  der 
Retina  auf  die  Großhirnrinde  gesondert  vertreten  sind  und  iso¬ 
liert  geschädigt  Averden  können. 

Die  rein  hirnpathologische  Betrachtung  des  Falles  führt 
ihrerseits  zu  Vermutungen,  die  mit  einer  solchen  Annahme  ganz 
Avohl  in  Einklang  gebracht  werden  können.  Die  Regio  calcarina, 
das  „Lirhtfeld“,  gilt  ja  als  Einstrahlungsbezirk  jener  Projektion»- 


Nr.  15 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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fasern,  an  deren  Integrität  die  Farben  Wahrnehmung  geknüpft  ist. 
Lichtfeld  und  Farbenfeld  der  Hirnrinde  ist  somit  aller  Erfahrung 
zufolge  eine  anatomische  Einheit.  Die  Konvexität  des  Okzipital 
lappens  bis  zum  Gyrus  angularis  hin  wird  als  optisch- motorisches 
Feld  bezeichnet  und  mit  dein  Sehen  von  Bewegungen  mit  dem 
t  onnensehen,  mit  dem  räumlichen  Sehen  und  mit  der  tiefen 
Sensibilität  des  Auges  in  Verbindung  gebracht.  Wir;  werden  nach 
den  bisherigen  Erfahrungen  für  unseren  Fall  eine  bilaterale  Affek¬ 
tion  an  der-  Konvexität  der  Hinterhauptlappen  annehmen  müssen; 
die  erkrankten  Partien  würden  in  der  linken  Hemisphäre  mehr 
in  die  'Tiefe  reichen,  und  (dadurch  inehr  von  den,  saigittalen  Schichten 
des  Marklagers  durchbrechen,  als  auf  der  Gegenseite.  Oder  wir 
müssen  eine  bilaterale  Durchbrechung  der  zur  Konvexität  des 
Hinterhauptlappens  ziehenden  Projektionsfaserung  annehmen. 

Die  anatomischen  Bedingungen  für  das  Zustandekommen 
einer  derartigen  Läsion  sind  in  unserem  Falle  am  ehesten  durch 
symmetrische  doppelseitige  Erweichungen  im  Gefaßgebiet  der;  Ar¬ 
terial  temporales  von  Dur  et  gegeben.  Dafür  spricht,  daß  die 
tiefe  Sensibilität  der  Augen  und  Augenmuskeln  in  unserem  Falle 
allem  Anschein  nach  nicht  isoliert  gestört  ist  und  daß  keine 
Störungen  der  Blickbewegung  vorhanden  sind.  Wie  das  Licht¬ 
feld,  ist  also  auch  die  Region  des  Gyrus  angularis  als  intakt  an¬ 
zunehmen;  die  lädierte  Partie  dürfte  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  zwischen  den  beiden  genannten  Regionen,  also  mehr  gegen 
den  Okzipitalpol  und  an  der  lateralventralen  Kante  des  Hinter¬ 
hauptlappens  liegen,  während  sie  basalwärts,  dem  Getäßbereich 
der  genannten  Arterie  entsprechend,  wohl  die  ganzen  lateralen 
Anteile  des  Gyrus  occipito- temporalis  bis  in  den  Schläfelappen 
und  gegen  den  Enkus  hin  umfassen  könnte.  Daneben  allerdings 
scheint  eine  zunehmende  arteriosklerotische  Atrophie  des  Gehirns 
zu  bestehen. 

Der  Fall  zeigt  wieder,  daß  jene  „optisch -motorischen“  Funk¬ 
tionen,  von  denen  die  Hirnpathologie  spricht,  nicht  eine  einheit¬ 
liche  Kategorie  für  sich  darstellen,  sondern  aus  Teilkomponenten 
bestehen,  die  isoliert  geschädigt  werden  können  und  die  möglicher¬ 
weise  nicht  nur  in  der  Retina  selbst,  sondern  auch  in  ihrer  Pro¬ 
jektion  auf  die  Großhirnrinde  ihren  gesonderten  anatomischen 
Ausdruck  haben. 

Dt.  Karl  Groß  stellt  aus  der  Nervenklinik  des  Herrn  ilof- 
rates  v.  Wagner  zwei  Fälle  mit  Benediktschem  Sym¬ 
ptomen  komplex  vor,  bei  denen  die  im  Institut  Holzkneclit 
vorgenommene  Röntgenuntersuchung  der  Schädel  kalkdichte  Ge¬ 
bilde  im  Hirnstamm  erkennen  ließ.  Zahlreiche  Befunde  von  Kalk- 
herden  im  Gehirn  so  anatomische  Befunde  von  Infeld,  Red¬ 
lich,  Berger,  besonders  Schüllers  röntgenologischer  Nach¬ 
weis  gewisser  Verkalkungsherde  bei  einem  Epileptiker  —  legten 
die  Vermutung  nahe,  daß  sich  Kalkkonkremente  als  Desorgani- 
sationsprodukte  enzephalitischer  oder  tuberkulöser  Prozesse  häu¬ 
figer  röntgenologisch  würden  nachweisen  lassen.  Diese  Vermutung 
hat  sich  unter  drei  röntgenologisch  untersuchten  Fällen  mit  S^  n- 
drom  de  Benedict  zweimal  bestätigt. 

In  beiden  Fällen  trat  die  Krankheit  nach  einem  Trauma  im 
frühesten  Kindesalter  auf.  In  beiden  Fällen  besteht  linkseitige 
Hemiparese  und  Athetoso  sowie  z’echtseitige  inkomplette  Okulo¬ 
motoriuslähmung.  (Die  Krankengeschichten  werden,  demnächst 
ausführlich  publiziert.)  Die  klinische  Diagnose  lautete  auf  eine 
—  wahrscheinlich  tuberkulöse  — -  Herderkrankung  der  Hirn- 
schenkelhaube  u.  zw.  beim  Fehlen  von  auf  die  Beteiligung  der 
f’yramiden-  und  Schleifenbahn  hinweisenden  Symptomen,  speziell 
des  Nucleus  ruber.  Die  Röntgenuntersuchung,  auf  Veranlassung 
des  Herrn  Dr.  v.  Econom  o  vom  Vortragenden  vorgenommen, 
ergibt  in  beiden  Fällen  ein  positives  Resultat  im  Sinne  von 
kalkdichten  Herden  des  Hirnstammes,  die  der  Gegend  des  Nu¬ 
cleus  ruber  entsprechen  dürften. 

Dr.  F erd .  Bauer  demonstriert  das  Präparat  e  i  n  e  s 
alveolären  Endothelioms  der  Dura  mater. 

Bei  der  Pat.  K.  P.,  65  Jahre  alt,  bestand  seit,  zwei  Jahren 
eine  zunehmende  Verschlechterung  des  Sehvermögens.  Vor  sechs 
Monaten  begann  die  Frau  zu  halluzinieren,  wurde  immer  hin- 
1  älliger  und  hilfloser.  Am  24.  November  1910  der  psychiatrischen 
Klinik  übergeben,  bot  sie  das  Bild  einer  arteriosklerotischen  De¬ 
menz;  sie  war  zeitweise  delirant,  verworren,  erwies  sich  als 
zeitlich  und  örtlich  desorientiert,  zeigte  hochgradige  Störungen 
Jes  Gedächtnisses  und  der  Merkfähigkeit.  Die  Kranke  war  auf¬ 
fallend  schwer  besinnlich.  Die  Pupillen  gleich,  lichtstarr;  am 
linken  Auge  bestand  eine  Cataracta  senilis,  am  rechten  Auge 
Atrophie  der  Papille.  Beide  untere  Extremitäten  paretisch,  kon- 
1  fakturiert. 

Der  Exitus  trat  am  27.  Dezember  1910  plötzlich  unter  Er¬ 
scheinungen  von  Konvulsionen  ein. 

Sektionsbefund  (Assistent  Dr.  Wiesner):  Im  Bereiche 
der  Sella  turcica  und  der  vorderen  Schädelgrube  befindet  sich 
an  der  Hirnbasis  ein  ca!.  6  zu  41/»  zu  31/«  cm’  messender  Tumor 


von  unregelmäßig,  leicht  höckeriger1  und  derber  Beschaffenheit, 
der  in  seiner  vorderen  unteren  Partie  mit  der  Dura  mater  ver¬ 
wachsen  ist,  nach  aufwärts  sich  in  der  unteren  und  medialen 
I  lache  der  beiden  Stirnlappen  ein  tiefes,  konkav  ausgehöhltes 
Bett  bildet,  aus  welchem  er  allseits  vollkommen  glatt  auszu¬ 
lösen  ist. 

Die  beiden  Iractus  olfactorii  liegen  rückwärts  lateral,  vorne 
über  dem  Tumor  und  sind  stellenweise  bis  zur  Papierdünne  ab¬ 
geplattet.  Der  rechte  Nervus  opticus  zieht  neben  dem  Tumor 
nach  vorwärts  und  wird  an  einer  Stelle  von  diesem  und  der 
Arteria  cerebri  dextra,  kurz  vor  deren  Abgang  von  der  Carotis 
interna,  derart  eingeklemmt,  daß  er  daselbst  eine  tiefe  Furche 
zeigt.  Der  linke  Nervus  opticus  ist  nur  eine  kurze  Strecke  nach 
seinem  Abgänge  von  dem  mächtig  komprimierten  und  atrophischen 
Chiasma  zu  verfolgen  und  verliert  sich  bald  in  der  Tumor¬ 
masse.  i 

Auch  die  linke  Karotis  ist  durch  den  Tumor  nach  rückwärts 
verdrängt;  die  mediale  Fläche  des  linken  vorderen  Schläfepols 
wird  durch  den  'Tumor  etwas  abgeplattet. 

An  der  knöchernen  Schädelbasis  sind  keine  Veränderungen 
sichtbar. 

Die  histologische  Untersuchung  ergab  ein  alveoläres  Endo- 
theliom  der  Dura  mater. 

Dr.  Julius  Bauer:  Ueber  regressive  Veränderungen 
der  Körnerzellen  des  Kleinhirns. 

Es  wurden  an  Kaninchen  aseptische  Schnittwunden  am 
Kleinhirn  gesetzt  und  die  Kleinhirnrinde  der  nach  verschiedenen 
Zeiträumen  getöteten  Tiere  histologisch  untersucht,  um  die  Ver¬ 
änderungen  jener  eigenartigen  Elemente,  die  als  Kürnerzellen 
bezeichnet  werden,  zu  studieren.  Es  ergab  sich,  daß  bereits 
zwei  Stunden  nach  der  Operation  die  Körnerzellein  in  der  nächsten 
Umgebung  der  linearen  Schnittwunde  die  Zeichen  der;  Pyknose, 
der  homogenen  Kernschrumpfung  aufweisen.  Außerordentlich 
rasch  schreitet  nun  die  pyknotische  Degeneration  von  der  Läsions¬ 
stelle  aus  nach  allen  Seiten  hin  gleichmäßig  fort  und  ergreift 
fast  sämtliche  Körnerzellen,  die  sich  in  derselben  Distanz  von 
der  Läsionsstelle  befinden,  gleichzeitig,  so  daß  sich  eine  haar¬ 
scharfe  Abgrenzung  der  immer  weiter  vorrückenden  Degenerations 
zone  von  der  Zone  normaler  Körner  ergibt.  Die  Pyknose  der 
Körnerzellen,  bzw.  ihrer  Kerne,  beginnt  aber  schon  nach  vier 
Stunden  von  Deformierungen  des  Kerns,  Abschnürungen  des¬ 
selben  und  schließlich  von  typischer  Karyorrhexis  gefolgt  zu 
werden.  Die  in  kürzester  Zeit  entstehenden  Trümmer  und  Ueber- 
reste  der  Körner  werden  durch  den  Lymphstrom  teils  frei,  größten¬ 
teils  aber  durch  phagozytäre  Elemente  aller  Art  aufgenommen, 
gegen  die  Rindenperipherie  fortgeschleppt,  worauf  eine  Wuche¬ 
rung  und  Vermehrung  des  gliösen  Gewebes  den  Abschluß  des 
Prozesses  bildet. 

Während  der  schmale  Protoplasmasaum  der  Körnerzellen 
bei  Verwendung  der  N iß I- Färbung  unter  normalen  Verhältnissen 
kaum1  wahrnehmbar  ist,  tritt  er  mitunter  bei  pyknotischen  Zellen 
in  der  Form  eines  ein  Drittel  bis  drei  Fünftel  des  Umfanges 
einnehmenden  Halbmondes  von  feingranulierter  Struktur  und 
intensiver  Färbbarkeit  deutlich  hervor.  Diese  FIalbrnon.de  pflegen 
sich  dann  an  einem  Ende  vom  Kern  abzuheben  und  erscheinen 
schließlich  ganz  ohne  Zusammenhang  mit  den  Kernen.  Sie  ver¬ 
lieren  rasch  ihre  Färbbarkeit  und  verschwinden. 

Die  Pur  kin  je  sehen  Zellen  gehen  im  Bereich  der,  Degene¬ 
rationszone  der  Körnerschicht  und  über  diese  noch  eine  kleine 
Strecke  hinaus  zugrunde.  Der  bei  den  experimentell  erzeugten 
Läsionen  schließlich  resultierende  Endzustand  gleicht  vollkommen 
dem  histologischen  Bilde  einer  Kleinhirnsklerose,  bei  der 
ebenfalls  die  Körner  und  Pu  rk  i  n  j  eschen  Zellen  geschwunden 
sind  und  nur  ein  schmales  Band  von  Gliazellen  die  Körnerschicht 
markiert.  (Erscheint  ausführlich  anderen  Ortes.) 

Stabsarzt  Priv.-Doz.  Dr.  Ma  t  tausch  ek :  Die  bisheri¬ 
gen  Erfolge  der  Salvarsanbehandlung  bei  Nerven¬ 
krankheiten. 

Dias  Hauptergebnis  dür  Ausführungen  läßt  sich  in  folgen¬ 
den  Sätzen  zusammenfassen : 

Das  Salvai’san  ist  bei  einwandfreier  Technik  und  zweck¬ 
mäßiger  Methode  ein  nahezu  ungefährliches,  für  echt  syphili¬ 
tische  Erkrankungen  des  Nervensystems  der  tertiären  Syphilis¬ 
periode  ungemein  energisches  und  günstig  wirksames  Heilmittel. 
Hinsichtlich  der  Raschheit  des  zu  erreichenden  Effektes  erweist 
es  sich  dem  Quecksilber  und  Jod  überlegen.  Es  ist  daher  dessen 
Anwendung  bei  frischen  Fällen  zerebraler  und  spinaler  Erkran¬ 
kungen,  wo  es  auf  eine  besonders  rasche  Wirkung  ankommt, 
direkt  indiziert,  ebenso  in  Fällen,  bei  welchen  Quecksilber  ver¬ 
sagt  oder  unanwendbar  ist.  Auch  bei  Tabes,  besonders  bei  den 
aktiven  Formen,  gibt  die  Salvarsanbehandlung  häufig  sehr  gute 
Erfolge  hinsichtlich  der  Reizerscheinungen. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  15 


Boi  unkomplizierten  beginnenden  Paralysen  ist  ein  Behand¬ 
lungsversuch  erlaubt,  bei  ausgesprochenen  Fällen  ist  keine  Wir¬ 
kung  zu  erwarten.  Als  relative  Kontraindikation,  das  heißt  als 
Kontraindikation  gegen  die  intravenöse  Anwendung,  kann  die 
Komplikation  mit  Herzfehlern,  schweren  Herzneurosen,  stärkerer 
Arteriosklerose,  sowie  mit  höhergradigem  Alkoholismus  und  Dia¬ 
betes  gelten.  Absolut  kontraindiziert  ist  die  Salvarsanbehandlung 
überhaupt  nach  Vorbehandlung  mit  Atoxyl,  Enesol  und  der¬ 
gleichen,  bei  Nervenkrankheiten  mit  Lokalisation  in  wichtigen 
Zentren,  bei  größeren  Hirnherden,  speziell  bei  Tumorformen, 
bei  sehr  fortgeschrittenen  degenerativen  Erkrankungen,  beson¬ 
ders  aber  bei  vorgeschrittener  Paralyse  und  bei  allen  Antalls- 
paralytikern. 

II.  russischer  Internistenkongreß 

abgehalten  zu  St.  Petersburg  am  19.  bis  23.  Dezember  1910  (a.  St.). 

Referent:  Dr.  Julius  S  c  h  ü  t  z  -  Marienbad. 

P.  S.  Us s  ow-Moskau :  Ueber  Darmneurosen  (Referat). 

Vortr.  beantragt  folgende  Einteilung  der  Darmneurosen : 
1.  Motorische  (Tormina  intestini  nervosa,  Diarrhoea  nervosa, 
Enterospasmus,  Atonia  intestinalis);  2.  sensible  (Hyperaesthesia 
et  Anaesthesia  intestinalis,  Colica  intestinalis) ;  3.  sekretorische 
(Diarrhoea  nervosa,  Colica  mucosa).  Hiebei  kann  die  nervöse 
Diarrhoe,  wie  aus  dem  Schema  ersichtlich,  doppelte  Aetiologie 
haben  —  Hypermotilität  und  Hypersekretion  des  Darmes.  Neben 
anderen  strittigen  Punkten  beansprucht  die  Colica  mucosa  ein 
besonderes  Interesse.  Von  dieser  sind  besonders  drei  Formen 
wichtig:  1.  Obstipation,  abwechselnd  mit  Schmerzanfällen,  unter 
Abgang  von  Schleimmembranen,  2.  kontinuierlicher  Sehleim- 
abgang  mit  zeitweisen  Schmerzanfällen,  3.  zeitweiser  Abgang  von 
Schleimietzen  ohne  Schmerzanfälle  (=  Colitis  membranacea 
Nothnagel).  Im  Zentrum  des  ganzen  Erscheinungskomplexes 
steht  nach  dem  Vortragenden  eine  vasomotorische  Neurose.  Eine 
Reihe  von  Fragen  ist  noch  als  offen  zu  betrachten. 

Th.  G.  J  an  o  w  s  k  i  j  -  Kiew  (Korreferat). 

Vortr.  weist  u.  a.  darauf  hin,  daß  bei  der  akuten  Form  der 
Colica  mucosa  die  psychische  Komponente  eine  große  Rolle  spielt. 
So  wurde  die  Affektion  im  Verlaufe  von  lokalen , Choleraepidemien 
beobachtet.  Veränderung  des  Ortes  wirkt  heilend.  Ferner  spieltauch 
die  Idiosynkrasie  gegenüber  gewissen  Speisen  eine  Rolle  für  die 
akute  Entstehungsl’orm  der  Colica  mucosa.  Bei  der  chronischen 
Form  muß  die  Grundursache  (Neurasthenie  usw.)  von  gelegent¬ 
lichen  Anlässen  (Erregungen,  Diätfehler  usw.)  unterschieden  wer¬ 
den.  Es  ist  zwar  nicht  notwendig,  in  der  Zwischenzeit  zwischen 
den  einzelnen  Anfällen  eine  besonders  strenge  Diät  einzuhatteri, 
doch  ist  immerhin  am  Grundsatz  festzuhalten,  daß  die  Diät  so 
beschaffen  sein  muß,  daß  dabei  der  Darm  nicht  unnützerweise 
gereizt  werde.  Bei  der  ganzen  Therapie  muß  nicht  nur  auf  die 
Beseitigung  der  Symptome  geachtet  werden,  sondern  in,  erster 
Linie  auf  die  Bekämpfung  der  Grundkrankheit. 

A.  J.  B  u  1  aw  i  nz  o  w- St.  Petersburg  :  Zur  Aetiologie 
und  Behandlung  der  Colitis  membranacea. 

Vortr.  weist  auf  die  große  Bedeutung  der  Schmidt  sehen 
Probekost  für  die  feinere  Analyse  der  Colitis  membranacea  hin. 
ln  einigen  der  von  ihm  beobachteten  Fälle  lenkte  die  schlechte 
Bindegewebsausnützung  zu  der  Annahme  eines  Magenleidens  als 
primärer  Ursache  hin.  Die  funktionelle  Magenuntersuchung  be¬ 
stätigte  diese  Annahme  insofern,  als  verminderte  Salzsäure-  und 
Pepsinabscheidung  nachgewiesen  werden  konnte.  Die  eingeleitete 
Therapie  bestand  im  Wesen  in  morgendlichen  Magenausspülungen, 
Salzsäuredarreichung,  Beschränkung  der  Fettzufuhr  usw.  Die  The¬ 
rapie  hatte  prompten  und  dauernden  Erfolg  (jetzt  bereits  andert¬ 
halb  Jahre  lang  keine  Rezidive).  In  anderen'  Fällen  war  ein 
Magenleiden  als  primäre  Ursache  nicht  nachzuweisen. 

D.  0.  Krylow-St.  Petersburg:  Ueber  die  Wirkung  des 
Alkohols  auf  den  Blutdruck  und  die  Blutversorgung 
bei  Neurasthenikern. 

Unter  dem  Einfluß  mäßiger  Alkoholdosen  sinkt  bei  Neur¬ 
asthenikern  in  drei  Vierteln  der  Fälle  der  Blutdruck  (nach 
Gärtner),  bei  den  übrigen  findet  eine  Erhöhung  statt.  Der 
Maxima  Id  ruck  (nach  Korotk  ow)  sinkt  häufig  (meist  nach  vorher¬ 
gehender  Erhöhung),  der  Minimaldruck  pflegt  zu  steigen.  Die 
Blutversorgung  ist  in  einem  Drittel  der  Fälle  erhöht,  in  zwei 
Dritteln  vermindert.  Lokale  Gymnastik  erhöht  und  erniedrigt  gleich 
oft  die  Blutversorgung,  allgemeine  Gymnastik  erniedrigt  häufiger 
als  sie  erhöht.  Bei  Alkoholgenuß  ändern  sich  die  Verhältnisse 
etwa  im  entgegengesetzten  Sinne.  Lokale  heiße  Bäder  erhöhen 
gewöhnlich  die  Blutversorgung,  lokale  kalte  Bäder  vermindern 
sie,  sowohl  ohne  als  mit  Alkohol. 

R.  J.  G  er  owsk  i  j  -  St.  Petersburg:  Zur  Frage  des 
Appendixkarzinoms. 


Im  Gebiete  der  Appendix  findet  man  kleine  Geschwülstchen 
von  Erbsengroße,  welche  histologisch  sehr  an  Karzinom  erinnern, 
aber  sich  nach  mancher  Richtung  von  demselben  unterscheiden. 
(Demonstration  von  Präparaten.) 

E.  A.  She  browskij -Kiew :  Zur  Frage  der  funktio¬ 
nellen  Diagnostik  des  Herzens. 

Vortr.  hat  an  1032  Fällen  den  Einfluß  des  Atemanhaltens 
auf  die  Herzfunktion  studiert  und  ist  zu  folgenden  Ergebnissen 
gelangt:  Das  Atemanhalten  hat  bei  gesunden  Individuen  jugend¬ 
lichen  und  mittleren  Alters  stets  eine  Verlangsamung  der  Herz¬ 
aktion  zur  Folge,  bei  älteren  Leuten  wird  diese  Erscheinung  manch¬ 
mal  vermißt.  Man  vermißt  die  Verlangsamung  der  Herzaktion 
nach  Atemanhalten  weitaus  häufiger  bei  Arteriosklerose  und 
Lungentuberkulose,  als  bei  anderen  Erkrankungen. 

K.  W.  Punin-St.  Petersburg:  Ueber  Reaktion  der 
Gefäße  a u  f  wi  ed er h  ölte  K omp r  es si onen  b  ei  Gesunden 
u  n  d  bei  Herzkranken. 

Das  Gefäßsystem  ist  imstande,  selbständig  eine  ungenügende 
Blutversorgung  einzelner  Organe  bei  temporären  Kompressionen 
des  Hauptarterienstammes  zu  kompensieren. 

Di.  P 1  e  t  n  e  w  -  Moskau  :  Zur  F  r  ag  e  d  e r  Bradykardie. 

Die  Bradykardien  müssen  nach  ihrem  klinischen  Charakter 
in  zwei  Gruppen  geteilt  werden:  1.  wahre  Bradykardien,  weiche 
entweder  nervösen  Ursprunges  sind  oder  auf  Veränderungen  des 
Myokards  beruhen ;  2.  Pseudobradykardien,  welche  entweder  a)  als 
Resultat  einer  Dysrhythmie  zwischen  Vorkammer  und  Ventrikel 
auftreten  —  manche  dieser  Fälle  entsprechen  dem  Morgagni- 
Adams-Stokes  sehen  Symptomenkomplex  - —  diese  Gruppe 
könnte  ,.Bradysystolie“  genannt  werden,  oder  b)  Fälle,  die  einei 
dauernden  Extrasystolie  entsprechen,  wenn  je  zwei  Ventrikel¬ 
kontraktionen  nur  eine  systolische  Pulselevation  entspricht;  diese 
Gruppe  könnte  man  mit  „Bradysphygmie“  bezeichnen.  Vortra¬ 
gender  illustriert  seine  Ausführungen  durch  eine  Reihe  von  Kurven 
der  Vorhof-  und  Ventrikelkontraktionen,  sowie  Sphygmo-,  Phlebo- 
und  Kardiogrammen  unter  gleichzeitiger  Heranziehung  der  ent¬ 
sprechenden  Elektrokardiogramme. 

P.  A.  T  r  o  i  z  k  i  j  -  St.  Petersburg  :  Pathogene  se  und  T  h  e- 
rapie  des  Morbus  Basedowi  (Referat). 

Die  klinische  Klassifikation  des  Morbus  Basedowi  ergibt 
eine  Anzahl  Formen,  welche  in  vieler  Hinsicht  sowohl  bezüglich 
Aetiologie,  als  auch  Symptomatologie  voneinander  abweichen. 
Als  gemeinsamen  Ausgangspunkt  kann  man  die  thyreogene  The¬ 
orie  betrachten  und  die  Basedowsche  Krankheit  nimmt  nur 
die  äußerste  Stelle  in  dieser  Gruppe  ein,  wobei  sie  sich  von  den 
anderen  Gliedern  nicht  prinzipiell,  sondern  nur  quantitativ  unter¬ 
scheidet.  Bezüglich  der  Anwendung  der  thyreogenen  Theorie  auf 
den  Morbus  Basedowi  gibt  es  verschiedene  Anschauungen.  Die 
meisten  Autoren  nehmen  einen  Hyperthyreoidismus  an,  andere 
nur  die  Folgen  einer  qualitativ  veränderten  Schilddrüsenfunktion 
(Dysthvreoidismus),  wieder  andere  sogar  einen  Hypothyreoidis¬ 
mus.  Gleichzeitig  mit  den  primären  Veränderungen  der  Schild¬ 
drüsenfunktion  müssen  aber  auch  solche  Veränderungen  in  Be¬ 
tracht  gezogen  werden,  welche  sich  unter  dem  Einfluß  des  Zentral¬ 
nervensystems  entwickeln.  Der  gegenwärtige  Stand  der  Frage 
vereint  in  sich  zum  Teil  beide  Anschauungsweisen,  indem  einer¬ 
seits  die  Möglichkeit  eines  nervösen  Einflusses  auf  die  SehiUI- 
drüsenfunktion  zugegeben  wird,  anderseits  Rücksicht  genommen 
wird  auf  sekundäre  Affektionen  des  Nervensystems  toxischen  Ur¬ 
sprungs.  In  dieser  Wechselbeziehung  ist  eine  der  Ursachen  der  Man¬ 
nigfaltigkeit  des  klinischen  Bildes  zu  suchen.  Die  2.  Ursache  liegt 
in  der  Polyvalenz  des  Avirksamen  Prinzips  der  Schilddrüse,  die 
dritte  in  der  Wirkung  der  übrigen  Drüsen  mit  innerer  Sekretion, 
deren  Mitbeteiligung  gegenwärtig  erwiesen  ist  und  viertens  in  der 
individuellen  Verschiedenheit  der  Organismen.  Das  klinische  Bild 
entspricht  im  allgemeinen  einer  Affektion  verschiedener  Körper¬ 
gewebe  im  Sinne  einer  Erregung. 

Diese  Auffassung  des  klinischen  Bildes  läßt  gewisse  Richt¬ 
linien  für  die  Therapie  gewinnen.  Welche  Methode  für  den  Morbus 
Basedowi  auch  vorgeschlagen  werden  mag,  als  Grandlage  der  Be¬ 
handlung  müssen  allgemein  diätetische  Maßnahmen,  Ruhe  und 
manchmal  Klimatotherapie  angesehen  werden.  Die  medikamen¬ 
töse  Therapie  des  Basedow  zerfällt  in  einige  Systeme,  von  denen 
jedes  seine  Indikationsgruppen  hat.  Die  Serumtherapie  hat  zu 
Beginn  ihrer  Anwendung  Resultate  ergeben,  Avelche  zu  größeren 
Hoffnungen  Anlaß  gaben,  als  wir  derzeit  als  berechtigt  ansehen 
können.  Eine  spezifische  Wirkung  kann  der  Serumtherapie  nicht 
zugeschrieben  werden.  In  manchen  Fällen  gibt  die  llöntgen- 
therapie  gute  Resultate,  hat  aber  auch  in  der  letzten  Zeit  Gegner 
gefunden.  Die  besten  Resultate  wurden  bis  jetzt  bei  chirurgischer 
Behandlung  publiziert,  doch  läßt  sich  auch  diese  Methode  nicht 
als  die  alleinherrschende  ansehen.  (Fortsetzung  folgt-) 


Verantwortlicher  Redakteur :  Earl  Eubasta. 

Druck  von  Brune  Bartelt,  Wien  XVIII.,  Theresien nasse  8 


Verlag  von  Wilhelm  BraumHller  in  Wiw> 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 


0  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S.  Exner,  E.  Finger,  M.  Gruber,  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko,  H.  Meyer,  J,  Moeller,  K.  v.  Noorden 
H.  Obersteiner,  A,  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  ?on  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 


XXIV.  Jahrg.  Wien,  20.  April  1911  Nr.  16 


INHALT: 

II.  Soziale  Medizin:  Die  Schwierigkeiten  bei  clev  Verwertung  der 
Krankenkassenstatistik.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Ludwig  Teleky. 
S.  568. 

III.  Diskussion:  Bemerkungen  zu  der  in  Nr.  15  veröffentlichten 
Arbeit  von  F.  Schenk,  das  Abbauvermögen  anaphylaktischer 
Seren  betreffend.  Von  H.  Pfeiffer,  Graz.  S.  573. 

IV.  Referate:  Operative  Chirurgie  der  Harnwege.  Von  J.  Albarran. 
lief.:  Viktor  Blum.  —  Harnsäure  als  ein  Faktor  bei  der  Ent¬ 
stehung  von  Krankheiten.  Von  Alexander  Haig.  Die  Vagotonie. 
Von  Prof.  C.  v.  N  o  o r  d  e  n.  Ref. :  K.  Glaessner.  —  Franz 
Mraceks  Atlas  und  Grundriß  der  Hautkrankheiten  Von  Doktor 
Albert  J  e  s  i  o  n  e  k.  Der  Lupus,  seine  Pathologie,  Therapie  und 
Prophylaxe.  Von  Dr.  J.  Philipp  son.  Die  Syphilisbehandlung 
mit  Salvarsan.  Von  Dr.  Kurt  v.  Stokar.  Abhandlungen  über 
Salvarsan.  Von  Paul  Ehrlich.  Ref.:  Nobl. 

V.  Ans  verschiedenen  Zeitschriften. 

VI.  Vermischte  Nachrichten. 

Franzensbad).  S.  566. 


3. 


4. 


5. 


Originalartikel:  1.  Aus  dem  bakteriologischen  Laboratorium 
des  k.  u.  k.  Militärsanitätskomitees  und  der  Heilstätte  für 
Lupuskranke  in  Wien.  Die  Wirkung  des  ultravioletten  Lichtes 
auf  das  Eiweißantigen  und  seinen  Antikörper.  I.  Mitteilung. 
Von  Priv.-Doz.  Dr.  R.  D  o  e  r  r  und  Dr.  J.  Moldova  n.  S.  oop. 
Zur  Cholesterinesterämie  der  Schwangeren.  Von  L.  Aschoff 
in  Freiburg  i.  Br.  S.  559.  _  ,  . 

Aus  der  serodiagnostischen  Station  der  Klinik  für  Geschlechts¬ 
und  Hautkrankheiten  (Prof.  E.  Finger)  und  der  Heilanstalt 
Alland  (Chefarzt:  Priv.-Doz.  J.  Sorgo).  Vergleichende  serologische 
Untersuchungen  bei  Tuberkulose  und  Syphilis.  (Peptonreaktion 
bei  Tuberkulose,  Lues  und  Lepra.)  Von  Dr.  Rudolf  Müller 
und  Dr.  Erhard  Sueß.  S.  559.  _ 

Aus  dem  Odessaer  Stadtkrankenhause.  Einige  Falle  von  Atoxyl- 
behandlung  der  Tuberkulose.  Von  Dr.  Bruno  Kn  o  the.  S.  562. 
Aus  dem  Institut  für  exper.  Pathologie  der  deutschen  Uni¬ 
versität  in  Prag.  (Vorstand:  Prof.  H.  E.  Hering.)  Untersuchungen 
über  die  Giftwirkung  von  Typhusexsudaten  auf  den  Kreislauf. 
Von  Priv.-Doz.  für  innere  Medizin  Dr.  Edmund  Hocke  (Prag- 


Aus  dem  bakteriologischen  Laboratorium  des  k.  u.  k. 
Militärsanitätskomitees  und  der  Heilstätte  für  Lupus¬ 
kranke  in  Wien. 

Die  Wirkung  des  ultravioletten  Lichtes  auf 
das  Eiweißantigen  und  seinen  Antikörper. 

I.  Mitteilung. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  R.  Doerr  und  Dr.  J.  Moldovan. 

Bald  nach  der  Entdeckung  der  bakteriziden  Wirkung 
des  weißen  Sonnenlichtes  durch  Downes  und  B 1  u  n  t 
stellte  es  sich  heraus,  daß,  die  Bakterienschädigung  nicht 
auf  der  die  Belichtung  begleitenden  Temperaturerhöhung 
beruhen  kann,  da  die  Bakterizidie  (des  Lichtes  erhalten  bleibt, 
wenn  'man  dasselbe  durch  adiathermane  filter  seiner  dunklen 
Wärmestrahlen  völlig  beraubt  (D  i  e  u  d  o  n  n  e,  B  u  c  h  n  e  r). 
Die  genauere  Untersuchung  der  verschiedenen  leite  des 
Sonnenspektrums  ergab,  daß,  die  ultraroten,,  roten  und  ge  k  n 
Strahlen  ganz  unwirksam  sind  und  daß,  nur  die  am  stärksten 
brechbaren  ultravioletten  Strahlen  das  Leben  der  Baktenen- 
zelle  zu  vernichten  vermögen;  dementsprechein  ti wiesen 
sich  auch  solche  Lichtquellen,  die  an  ultravioletten  Kom¬ 
ponenten  relativ  reich  waren,  als1  besonders  bakteiizic ,  wie 
z.  B.  die  elektrischen  Lichtbogen  zwischen  Aluminium-  und 
Eisenelektroden  (S  t  r  e b  e  1,  C  h at i n  und  N i  c o  l  au  ,  doch 
war  auch  hier  zur  Keimabtötung  eine  so  erhebliche  Be¬ 
strahlungsdauer  erforderlich,  daß  an  eine  praktische  .  (1 
Wertung  der  Tatsache  nicht  gedacht  werden  konnte.  Erst  die 
Verwendung  eines  für  ultraviolettes  Licht  leicht  peimea  en 
Materials  (Quarz)  und  die  Benützung  des  Quecksilbers  ge¬ 


stattete  der  Technik,  das  wirksame  Ultralicht  derart  zu  kon¬ 
zentrieren  und  zu  verstärken,  daßi  pathogene  und  sapro- 
phytische  Mikroben  in  durchsichtigen,  wässerigen  Suspen¬ 
sionen  schon  in  kürzester  Zeit  abtötbar  waren;  bekanntlich 
konstruierte  N  o  g  i  e  r  einen  auf  diesem  Prinzipe  beruhen¬ 
den  Apparat,  in  welchem  klares)  Wasser  durch  bloßes  Vor¬ 
beiströmen  an  einer  Quecksilberdampflampe  sterilisiert 
werden  kann. 

Das  Wesen  des  Prozesses  blieb  indessen  unklar.  In 
früherer  Zeit  stellte  man  sich  auf  Grund  der  Versuche  von 
Duel  au  x,  Kruse,  Richardson,  Novy  und  Freer 
und  anderen  vor,  daß  das  ultraviolette  Licht  photochemische 
Zersetzungen  der  flüssigen  Medien  hervorruft,  in  welchen 
die  Bakterien  suspendiert  sind ;  bei  länger  dauernder  Be¬ 
lichtung  ließ'  sich  nämlich  das  Auftreten  von  Spaltprodukten 
nachweisen  und  da  dieselben  zum  Teile  schon  längst  als 
hochwirksame  chemische  Desinfizienzien  bekannt  waren,  wie 
Ozon,  H202,  organische  Peroxyde,  so  faßte  man  die  Licht- 
bakterizidie  in  diesem  Sinne  als  einein  mehr  indirekten  V  or- 
gang  auf.  Bei  der  Bakterienabtötung!  durch  das  Licht  der 
-Quarzlampe,  die  in  wenigen  Sekunden)  bis  Minuten  erfolgt, 
bleibt  aber  die  Entwicklung  von  Ozon  oder  H202  gänzlich 
aus  (No  gier),  so  daß,  wir  hier  an  eine  direkte,  wenn  auch 
vorläufig  nicht  aufgeklärte  Wirkung  der  ultravioletten  Strah¬ 
len  auf  die  Mikroorganismen  zu  denken  haben. 

Es  lag  nun  nahe,  die  Wirkungen  des  ultravioletten 
Lichtes  nicht  nur  an  der  Funktionsstörung  des  lebenden 
Protoplasmas  zu  studieren,  sondern  auch  unbelebte,  hoch¬ 
molekulare  Stoffe,  die  zu  den  Lebensprozessen  in  engei 


B58 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Beziehung  stehen,  diesem  Einflüsse  zu  unterwerfen,  vor¬ 
nehmlich  diejenigen  Kölner,  welche  wir  als  Träger  der  Im¬ 
munitätsphänomene  betrachten.  Damit  hot  sich  einerseits 
die  Aussicht,  ein  neues  Agens  in  die  Analyse  der  Immuni¬ 
tätserscheinungen  einzuführen  und  auf  diesem  Wege  zur 
materiellen  Identifizierung  oder  Differenzierung  bekannter 
Immunfunktionen  zu  gelangen,  andrerseits  eröffnete  sich 
die  Möglichkeit,  die  näheren  Ursachen  der  plötzlichen  Ver¬ 
nichtung  des  Zellebens  durch  ultraviolettes  Licht  zu  er¬ 
gründen. 

Ueber  die  Veränderung,  welche  Immunkörper  und  Anti¬ 
gene  durch  Bestrahlung  erleiden,  liegen  bereits  verschie¬ 
dene  positive  Ergebnisse  vor.  Cernovodeanu  und 
II  enri  fanden,  daß  Tetanustoxin  durch  idas  Licht  der  Quarz¬ 
lampe  zerstört  werden  kann;  No  gier  zeigte,  daß  man  zu 
diesem  Zweck  die  Telanusgiftlösungen  verdünnen  müsse,  weit 
diese  als  Bouillonkulturfiltrate'  Peptone  und  Albumosen, 
also  kolloidale  Substanzen  enthalten,  deren  Teilchen  selbst 
in  der  Lösung  eine  bedeutende  Größe  besitzen  und  aus 
diesem  Grunde,  sowie  wegen  ihrer  Undurchlässigkeit  als 
Lichtschirme  fungieren,  welche  ein  tieferes  Eindringen  der 
Strahlen  in  die  exponierten  Flüssigkeitsschichten  verhin¬ 
dern,  falls  man  ihre  Zahl  nicht  durch  Diluition  reduziert. 
Zu  demselben  Schlüsse  gelangten  auch  Baro  n  i  und  I  o- 
nesco-Mihai  e  s  t  i ;  sie  konstatierten  ferner,  daß  auch 
das  Komplement  des  Normalserums,  die  Ambozeptoren,  Ag- 
glutinine  und  Antitoxine  der  Immunsera  durch  ultraviolettes 
Licht  zerstört  werden  können,  und  daß  der  vollständigen 
Destruktion  ein  Stadium  vorausgeht,  in  welchem  sich  die 
Abschwächung  meist  durch  eine  Verzögerung  der  spezifi¬ 
schen  Funktion  zu  erkennen  gibt. 

Besonderes  Interesse  schienen  uns  die  Wirkungen  des 
ultravioletten  Lichtes  auf  das  artspezifische  Eiweiß  zu 
bieten,  da  man  dasselbe  wohl  zu  den  integrierenden  Fak¬ 
toren  der  Lebensfunktionen  des  Protoplasmas  rechnen  darf. 
Baroni  und  Ionesco-Mihaiesti  sind  nun  auf  diesem 
Gebiete  zu  Resultaten  gelangt,  welche  sich  mit  anderen 
Ergebnissen  der  Immunitätsforschung  nicht  in  Einklang 
bringen  lassen.  Sie  bestrahlten  frisches  Pferdeserum  in  ent¬ 
sprechender  Verdünnung  mit  einer  H  e  r  a  e  u  s  -  Lampe 
(Westinghouse)  und  konnten  dasselbe  nunmehr  aktiv 
anaphylaktisierten  Meerschweinchen  ohne  Schaden  inji¬ 
zieren:  es  war  also  „atoxisch“  geworden,  während  sein 
Gehalt  an  prazipitabler  Substanz  keine  Ab¬ 
schwächung,  sondern  eine  Zunahme  erfahren 
hatte.  Die  Autoren  schließen  daraus,  daßi  es  sich  hier 
um  zwei  verschiedene,  durch  Licht  isolierbare  Eigenschaften 
artfremder  Seren,  d.  h.  der  darin  enthaltenen^ Eiweißanti¬ 
gene  handeln  müsse  und  trennen  die  „toxische“  Wirkung 
auf  das  sensibilisierte  Tier  (das  Antisensibilisin  Bes- 
rcdkas)  prinzipiell  von  dem  Präzipitinogen  oder,  wie  es 
richtiger  heißen  sollte,  von  der  präzipitablen  Substanz,  ln 
einer  zweiten  Mitteilung  berichten  Ionesco-Mihaiesti 
und  Baroni,  daßi  eine  sehr  lange  Bestrahlung  von  ver¬ 
dünntem  Pferdeserum  schließlich  auch  die  spezifische  Prä- 
zipitabilität  vernichtet  und  daßi  in  der  gleichen  Zeit  auch 
das  sensibilisierende  (anaphylaktogene)  Vermögen  eine  be- 
beträchlliche  Reduktion  erfährt.1) 

In  der  ungleichmäßigen  Beeinflussung  der  „Toxizität“ 
einerseits,  d.  h.  des  Vermögens  artfremder  Sera,  beim  ana¬ 
phylaktischen  Tiere  Symptome  zu  provozieren,  der  Präzipita- 
bilität  und  sensibilisierenden  Wirkung  andrerseits  lag  nun 
ein  Widerspruch  gegen  die  von  Friedberger,  Doerr 
und  R  u  ß,  Doer  r  und  Moldovan  vertretene  Auffassung, 
daß  das  Eiweißäntigen  und  seine  biologischen  Funktionen 
einheitlicher  Natur  sind  und  daß  es  theoretisch  nicht  ge¬ 
rechtfertigt  ist,  im  artfremden  Eiweiß  Präzipitinogene,  Ana¬ 
phylaktogene,  Ambozeptorenantigene,  toxische  Substanzen 
(Antisensibilisine)  als  besondere  koexistierende  Körper  zu 
unterscheiden. 


!)  Aehnlich  verliefen  Bestrahlungsversuche  mit  Tuberkulin  (Henri, 
Jousset,  Compt.  rend.  Soc.  Biol.). 


Nr.  16 


Wir  haben  daher  die  Frage  experimentell  geprüft  und 
sind  dabei  zu  abweichenden  Schlüssen  gelangt,  die  wir 
soweit  sie  sichergestellt  sind.,  hier  mitteilen. 

Technik.  Als  Lichtquelle  diente  die  Kr omayersch« 
Quarzlampe  mit  kontinuierlicher  Wasserkühlung  u.  zw.  ein  ganz 
neues  Exemplar,  da  nach  den  exakten  Messungen  von  Bordiei 
bei  lange  benützten  Lampen  das  Quarzgehäuse  des  Lichtbogens 
durch  die  Bildung  von  Merkurosilikaten  undurchlässiger  wird 
und  die  Intensität  der  ultravioletten  Lichtemanation  infolgedessen 
eine  beträchtliche  Einbuße  erfährt.  Die  Spannung  betrug  no 
Volt,  die  Stromintensität  4  Ampere. 

Die  Exposition  der  Flüssigkeiten  erfolgte  in  eigens  kon¬ 
struierten  Dosen,  die  an  der  Vorderseite  ein  Quarzfenster  hatten 
und  entweder  3  oder  6  min  Tiefe  besaßen.  Das  Quarzfenster 
war  derart  eingesetzt,  daß  tote  Winkel  und  Ecken  nicht  be¬ 
standen,  daß  mithin  jeder  Teil  der  Flüssigkeit  der  Strahlenwirkung 
ausgesetzt  war.  An  der  Zirkumferenz  und  der  hinteren  Fläche 
waren  die  Dosen  während  der  Versuche  beständig  von  kaltem 
Wasser  umströmt,  so  daß  eine,  wenn  auch  geringe  Erwärmung 
der  Flüssigkeit  sicher  ausgeschlossen  werden  konnte.  Die  Distanz- 
des  Quarzfensters  von  der  vorderen  Fläche  der  Lampe  variierte 
zwischen  5  und  10  Cm. 

I.  Eiweißäntigen. 

Die  Veränderungen  des  Eiweißantigens  wurden  in  der 
Weise  studiert,  daßi  bestimmte  Normalsera  (Hammel¬ 
serum,  Rinderserum,  Pferdeserum)  durch  .verschiedene 
Zeiten  dem  Lichte  der  Kromayer  - Lampe  ausgesetzt i 
wurden.  Sodann  prüften  wir  bestrahlte  und  unbestrahlte 
Proben  desselben  Normalserums  nach  zwei  Richtungen ; 
u.  zw.  1.  auf  ihre  spezifische  Präzipi  tierhark  eit  mit  einem 
hochwertigen  Antiserum  vom  Kaninchen,  2.  auf  ihre  Fähig¬ 
keit,  hei  anaphylaktischen  Meerschweinchen  Shock  aaszu¬ 
lösen  ;  hiezu  wurden,  um  absolut  sichere  Vergleichswerte  j 
zu  gewinnen,  passiv  präparierte  Tiere  benützt  u.  zw.  solche,  j 
welche  vor  24  Stunden  1  cm3  des  zur  Präzipitation  ver¬ 
wendeten  Antiserums  (vom  Kaninchen)  intraperitoneal  er- 
halten  hatten. 

Unverdünnte  Normalseren  erlitten  durch  ultraviolette 
Strahlen  selbst  bei  langer  Einwirkung  meist  keine  nachweis¬ 
bare  Veränderung,  konform  den  Angaben  von  No  gier,  sowie! 
von  Baroni  und  Ionesco-Mihaiesti.  Verdünnte  Sera | 
(mit  Kochsalzlösung)  zeigten  dagegen  in  einer  Zeit,  welche 
dem  Diluitionsgrade  umgekehrt  proportional  war,  eine  deut¬ 
liche  Abschwächung,  die  sich  bis  zum  Schwunde  von  prä- 
zipitabler  und  „toxischer“  Substanz  steigern  ließ.  Sie  wurden 
dabei  auch  für  die  grobe  Betrachtung  verändert,  indem 
sich  eine  deutliche  Opaleszenz  (wie  bei  stark  verdünnten 
und  erhitzten  Eiweißlösungen)  einstellte;  die  Farbe  wurde 
dunkler,  schlug  ins  Tiefgelbe  oder  Bräunliche  um  und  der 
Geruch  erinnerte  an  verbranntes  Horn,  ganz  ähnlich  jenem, 
der  bei  Verbrennung  organischer,  st  ick  stoff  hat  tiger  Substan¬ 
zen  auf  dem  Platinblech  auftritt. 

Präzipi  tahilität  und  shockauslösendes  Vermögen 
nahmen  stets  parallel  ah  und  zeigte  sich  nirgends  eine  Dis¬ 
kontinuität,  allerdings  nur  unter  einer  Voraussetzung.  Schon 
Baro  n  i  und  Ionesco-Mihaiesti  geben  kurz  an,  daß 
die  partielle  Abschwächung  von  Antikörpern  nach  erfolgter 
Bestrahlung  ihren  Ausdruck  meist  in  einem  verlangsamten 
Reaktionsverlauf  mit  dem  betreffenden  Antigen  findet.  Nun 
konnten  wir  zeigen,  daß  auch  das  Antigen,  im  vorliegenden 
Falle  das  Eiweißäntigen,  in  gewissen  Fällen  zuerst  derart 
modifiziert  wird,  daß  es  zwar  präzipitabel  bleibt  u.  zw.  in 
absolut  gleichen  Mengenverhältnissen  wie  im  unbestrahlten 
Zustande,  daß  aber  die  Reaktionsgeschwindigkeit  mit  dem 
Präzipitin  stark  verzögert  ist.  So  wurde  zum  Beispiel  ein 
Rinderserum  durch  die  Belichtung  in  dem  Sinne  alteriert, 
daß  es  erst  nach  einer  Stunde  in  jenen  Verdünnungen  aus¬ 
geflockt  wurde,  die  beim  nativen  Serum  schon  in  15  Mi¬ 
nuten  Präzipitation  gaben ;  später  glichen  sich  die  Diffe¬ 
renzen  aus  und  waren  in  zwei  Stunden  gering,  in  drei 
Stunden  kaum  mehr  angedeutet. 

Ob  es  sich  hier  um  eine  Aviditätsherabsetzung  im 
chemischen  Sinne  (Kraus,  P.  Th.  Müller)  handelt  oder 
um  physikalische  xklieralionen,  die  das  Zustandekommen 


Nr.  16 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


557 


der  Kolloidreaktion,  hindern,  sei  dahingestellt.  Sicher  ist 
jedoch,  daß  im  angezogenen  Beispiele  die  Ablesung  nach 
15  Minuten  zur  Annahme  eines  erheblichen  Unterschiedes 
der  präzipitablen  Substanz,  nach  zwei  Stunden  aber  dazu 
geführt  hätte,  jede  Differenz  in  Abrede  zu  stellen.  N'un 
sehen  wir  im  anaphylaktischen  Experiment  (Versuch  2), 
daß  das  Serum  durch  die  Bestrahlung  seine  Gefährlichkeit 
für  gleichgradig  anaphylaktische  Meerschweinchen  partiell 
eingebüßt  hatte  u.  zw.  war  die  Dosis  letalis  minima  inter¬ 
essanterweise  gerade  um  das  Vierfache  gestiegen  (von  0  025 
auf  0-1  cm3).  Aus  den  obigen  Angaben  ist  aber  zu  ersehen, 
daß  die  Reaktionsfähigkeit  (gemessen  an  der  Reaktions¬ 
geschwindigkeit)  in  vitro  gerade  auf  ein  Viertel  abgenommen 
hatte.  Diese  Uebereinstimmung  ist  gewiß  nicht  zufälligen 
Charakters ;  das  Zustandekommen  des  anaphylaktischen 
Shocks  hängt  sehr  wesentlich  von  der  Avidität  des  Eiweißi- 
antigens  zu  seinem  Antikörper  ab  und  die  anaphylaktischen 
Symptome  bedrohen  das  Leben  nur  dann,  wenn  sie  sich 
in  wenigen  Minuten  abspielen.  Protrahiertes  Eintreten  von 
Krankheitserscheinungen,  langsamer  Verlauf  ist  für  den  Ex¬ 
perimentator  ein  sicheres  Zeichen,  daß  das  Tier  mit  dem 
Leben  davon  kommen  und  sich  bald  erholen  dürfte. 

Es  ist  unschwer  zu  erkennen,  daßi  diese  Tatsachen 
auch  sonst  für  die  Vergleichung  verschiedener  Antigenfunk¬ 
tionen  von  nativem  Eiweiß  oder  seiner  Antikörper  Bedeu¬ 
tung  haben  und  daß  bei  parallelen  Versuchsreihen,  welche 
die  Identität  von  Präzipitin  und  anaphylaktischem  Reaktions¬ 
körper,  von  präzipitabler  Substanz  und  shiockauslösender 
(toxischer)  Wirkung  beweisen  oder  widerlegen  sollen,  nicht 
nur  absolute  Zahlenwerte,— sondern  auch  der  zeitliche  Ab¬ 
lauf  der  Prozesse  in  Betracht  zu  ziehen  sind.  Zweifellos 
beruhen  auf  der  Vernachlässigung  dieses  Momentes  die  so 
verschiedenen  Angaben  der  Autoren,  welche  sich  mit  der- 


Präzipitation  nach  Uhlenhuth,  Ablesung  des 
nach  zwei  Stunden  hei  37°. 

vor  nach 


Verdünnung 
des  Pferdeserums 
800 
1.600 
3.200 
6.400 
12.800 


der  Bestrahlung. 


++++ 
-I — I — i — h 
++++ 
++-P+ 
0 


Resultates 


Sodann  wurde  eine  Reihe  von  Meerschweinchen  mit  je 
1  cm3  Serum  von  Kaninchen  Nr.  26  intraperitoneal  präpariert 
und  nach  24  Stunden  mit  fallenden  Mengen  des  bestrahlten 
und  unbestrahlten  Pferdeserums  intravenös  reinjiziert. 


Toxizität  des  Pferdererums 


0T 

005 

vor 

cm3 

» 

und 

+  5' 

ß-  5- 

nach  der  Bestrahlung 

002 

» 

+  5‘ 

+  5' 

0005 

» 

-f  5' 

T* 

0002 

» 

leichte  Symptome 

leichte  Symptome 

Es  hatte  also  im  unverdünnten  Serum  weder  die  prä- 
zipitable,  noch  die  toxische  Substanz,  letztere  auch  nicht 
im  mindesten  abgenommen,  was  doch  der  Fall  sein  müßte, 
wenn  die  toxische  Fähigkeit  gegen  ultraviolettes  Licht  em¬ 
pfindlicher  wäre. 

2.  Versuch.  Rinderserum,  auf  das  fünffache  Volumen  mit 
physiologischer  Kochsalzlösung  verdünnt,  wird  drei  Stunden 
in  3  mm  dicker  Schichte  bestrahlt.  Sodann  wird  seine  Präzipi¬ 
tabilität  mit  einem  Antirinder  serum  vom  Kaninchen  Nr.  340 
nach  Uhlenhuth  bestimmt  und  die  Stärke  der  Ausflockung 
von  15  zu  15  Minuten  abgelesen.  Es  ergaben  sich  folgende 


Reihen : 


Verdünnung 
des  Rinderscrums 


50 

100 

200 

400 

800 

1600 

3200 

6400 


Resultat  nach  verschiedenen  Intervallen 


15  Minuten 

30  Minuten 

45  Minuten 

60  Minuten 

90  Minuten 

120  Minuten 

vor*) 

nach 

vor 

nach 

vor 

nach 

vor 

nach 

vor 

nach 

vor 

nach 

+++ 

+++ 
+++ 
ß~ß — h 
++ 

ß — P 
ß- 
+ 

0 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

-p 

0 

tut 

Tß-ß-ß- 
+++ 
+++ 
++ 
ß — H 
”1“ 

+ 

+  + 

+  + 

+  + 

+ 

+ 

0 

ß — 1 — 1 — b 

ß — 1 — 1 — r 
++++ 
H — bß~ 
++ 
++ 

P 

+ 

+  + 

+  + 

+  + 

+  + 

+  + 

+ 

o 

+H++ 

++++ 
ß — 1 — 1 — b 
+++-F 
++ß- 
ß — b 
ß~ 

+ 

+ß- 
ß — b 
++'+ 
ß-ß- 
++ 

4" 

0 

++ß-ß- 
ß-++  + 
ß — 1 — 1 — b 
ß — 1 — 1  1 
+ß-ß-  + 
+ß-ß-+ 
+++ 
+ 

+ 
ß — b 
++ß- 
ß-ß — 1 — b 
++ß- 

+4+ 

++ 

+ 

ß — 1 — ! — b 
ß-ß-+ß- 
ß-ß-++ 
ß-+ß-+ 

ß — H- 
+ 

+ 

++ 

++ß-ß- 

+ß-ß-+ 

++ß-+ 

ß-ß-ß-+ 

ß-ß- 

+ 

artigen  Fragen  befaßten,  wie  1  r  i  e  d  e  m  a  n  n  sehr  richtig 

vermutet. 

Wichtig  erscheint  es  ferner,  (laß  sich  Reaktionsände¬ 
rungen  im  Sinne  einer  verminderten  Avidität  künstlich  und 
zwar  durch  Modifikation  des  Antigens  erzeugen  lassen. 
Betrachtet  man  Versuch  2  genauer,  so  findet  man  überdies 
bei  der  Bestimmung  der  Präzipitabilität,  daß  sich  infolge 
der  Belichtung  des  Antigens  eine  untere  H  e  m  m  u  n  g  s- 
zone  gebildet  hat,  ein  Phänomen,  das  man  meist  auf  eine 
besondere  Beschaffenheit  des  Antikörpers  bezieht.  Daraus 
ergibt  sich,  daß  bei  den  Reaktionen  zwischen  Eiweiß  und 
Antieiweiß  die  Avidität,  bzw.  die  Reaktionsgeschwindigkeit 
sowie  die  Ausbildung  einer  unteren  Hemmungszone,  sowohl 
durch  besondere  Eigenschaften  der  Antigenlösung  als  des 
Immunserums  bedingt  sein  kann  und  weiter  die  Wahrschein¬ 
lichkeit,  daß  im  letzteren  Falle  ebenfalls  das  Eiweiß  des 
Immunserums,  an  welchem  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
die  Immunwirkungen  haften,  als  Träger  der  veränderten 
Funktion  anzusehen  sei. 

Nach  diesen  einleitenden  Bemerkungen  seien  folgende 
Beispiele  angeführt: 

1.  Versuch.  Unverdünntes  Pferdeserum  wird  in  3mm 
dicker  Schichte  drei  Stunden  behandelt.  Sein  Gehalt  an  prazi- 
pitabler  Substanz  vor  und  nach  der  Belichtung  wird  mit  c  em 
Antipferdeserum  von  Kaninchen  Nr.  26  festgestellt. 


Hierauf  wurden  Meerschweinchen  mit  je  1  cm1  des  Anti¬ 
rinderserums  Nr.  340  vorbehandelt  und  nach  24  Stunden  mit 
bestrahltem  und  unbestrahltem  Rinderserum  in  fallenden  Dosen 
intravenös  reinjiziert. 


Toxizität  des  Rinderserums 


vor 

und 

nach  der  Bestrahlun 

02  cm3 

+  5‘ 

+  5' 

01 

+  5' 

+  F 

005  » 

+  5' 

leichte  Symptome 

0  025  » 

+  5‘ 

keine  Erscheinungen 

Das  Rinderserum  hatte  also  in  doppelter  Richtung 
abgenommen:  1.  an  Präzipitabilität  u.  zw.  derart,  daß  die 
Reaktionsgeschwindigkeit  verlangsamt  war  und  eine  deut¬ 
liche  untere  Hemmungszone  bestand.  Die  Geschwindigkeit 
war  auf  zirka  ein  Viertel  reduziert;  nach  zwei  Stunden  waren 
diese  Differenzen  ausgeglichen  und  die  absoluten  erte 
für  die  Fällbarkeit  bei  bestrahltem  und  nicht  bestrahltem 
Serum  annähernd  gleich ;  2.  an  Toxizität  für  gleich  stark 
sensibilisierte  Meerschweinchen,  in  dem  die  Dosis  letalis 
minima  um  das  Vierfache  zunahm. 


3.  Versuch.  Auf  das  zehnfache  Volumen  verdünntes 
mmelserum  wird  in  3  cm3  dicker  Schichte  fünf  Stunden  he 
ihlt.  Seine  Präzipitierbarkeit  vor  und  nach  der  Behchtung 
prüft  mit  einem  Antihammelserum  vom  Kaninchen  Nr.  üuyj 
hielt  sich,  wie  folgt: 


558 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  16 


Serumverdauung 

vor 

nach  der  Bestrahlung 

100 

++++ 

Spur  Trübung 

200 

4 — 1 — i — P 

» 

400 

4 — 1 — 1 — p 

» 

800 

++d  + 

» 

1.600 

+  +  -P+ 

0 

3.200 

+-H- 

0 

6.400 

4 

0 

12.800 

leichte  Trübung 

0 

25.600 

0 

0 

Meerschweinchen,  präpariert  mit  1  cm3  Serum  409 
reagierten  auf  das  bestrahlte  und  nicht  bestrahlte  Hammel¬ 
serum  in  fallender  Dosis  intravenös  : 


Reinjektionsdosis  vor  und 

05  cm3 
02 


0-1  » 
0-05  » 
0  025  » 
001 
0005 
0-002 


-f  5' 

+  5' 

+  5' 

4-  5' 

+  5‘ 

protrahierte,  deutl.  Symptome 


nach  der  Bestrahlung 
0,  keine  Erscheinungen 
0 
0 


Die  mit  bestrahltem  Serum  injizierten  Tiere  verhielten  sich 
nach  weiteren  24  Stunden  gegen  eine  intravenöse  Injektion  von 
0-1  cm"  unhestralilten  Hammelserums,  zum  Teil  refraktär: 

Das  mit  0-5  cm3  belichtetem  Serum  reinjizierte  Tier  rea¬ 
gierte  auf  0-1  cm3  unbelichtet  nur  mit  leichten  Symptomen; 

das  mit  0-2  cm3  belichtetem  Serum  reinjizierte  Tier  rea¬ 
gierte  auf  0-1  cm3  unbelichtet  mit  starker  Dyspnoe; 

das  mit  01  cm3  belichtetem  Serum  reinjizierte  Tier  rea¬ 
gierte  auf  0-1  cm3  unbelichtet  mit  Tod  in  fünf  Minuten. 

Es  waren  also  noch  Antigenreste  entsprechend  der 
spurweisen  Präzipitation  vorhanden,  die  in  großen  Dosen 
(0-2  bis  0-5  cm3)  Antianaphylaxie  hervorriefen. 


II.  Ei  weiß  antikörper. 


ln  dieser  Versuchsreihe  wurden  Antieiweißsera  von 
Kaninchen  belichtet  und  ihr  Gehalt  an  Präzipitin,  sowie 
ihr  passives  Präparierungsvermögen  für  normale  Meer¬ 
schweinchen  vor  und  nach  dem  Eingriff  bestimmt. 

Auch  liier  konnte  die  Reaktionsgeschwindigkeit  der 
Präzipitation  verlangsamt  werden  u.  zw.  bei  gleichbleiben- 
dem  absoluten  Titer;  Tiere,  die  mit  solchen  Seris  vorbe- 
handelt  waren,  reagierten  auf  die  Antigeninjektion  protra¬ 
hiert  und  erst  auf  bedeutend  höhere  Dosen.  Auch  gelang 
durch  Belichtung  tier  Präzipitine  die  Erzeugung  der  „un¬ 
teren  Hemmungszone“  ebenso  wie  durch  Bestrahlung  der 
präzipitablen  Substanzen. 

4.  Versuch.  Ein  Hammelantiserum  von  Kaninchen  S4 
wird  in  6  mm  dicker  Schichte  drei  Stunden  bestrahlt. 

Präzipitingehalt  (abgelesen  nach  2  Stunden  bei  37°  C.) 

vor  und  nach  der  Bestrahlung 


100 

H — 1 — 1 — P 

+ 

200 

+-P-P+ 

4 

400 

P++4- 

4 

800 

'1 — l — 1 — P 

4 

1600 

4-4 — p-p 

4 

3200 

+ 

+ 

6400 

4 

0 

Präparierungsvermögen.  Meerschweinchen  in  Ko¬ 
lonne  1  !mit  unbestrahltem,  in  Kolonlne  2  mit  bestrahltem  Serum  84 
u.  zw.  je  mit  1  cm3  intraperitoneal  vorbehandelt,  reagieren  auf 
fallende  Dosen  Hammelserum,  wie  folgt : 


1.  2. 

leichte  Symptome 

0-05  ;  1 

0-02  4-5' 

0  01  4  5*  0 


0‘008  schwere  Symptome 
0005 


Es  waren  also  Präzipitin  und  anaphylaktischer  Reak- 
fionskörper  intensiv  abgeschwächt. 

5.  Versuch.  Antihammelserum  von  Kaninchen  409  in 
3  nun  dicker  Schichte  und  in  dreifacher  Verdünnung  mit  Koch¬ 
salzlösung  durch  90  Minuten  bestrahlt. 


100 

1000 

2000 


Präzipitine  (abgelesen  nach  4  ständigem  Stehen  bei  37°  C.) 
vor  und  nach  der  Belichtung 


++++  0  (keine  Spur  von  Trübung) 

+  +  ++  0 

+  4  0 


Präparierungsvermögen  des  bestrahlten  und  unbestrahlte 
Serums,  Versuchsanordnung  wie  im  4.  Versuch. 


1.  2. 

0  2  cm3  o 

0-1  »  o 

0  05  »  4  5'  0 

0‘02  »  leichte  Symptome  0 


Präzipitine  und  anaphylaktische  Reaktionskörper  wäret 
also  völlig  zerstört. 

G.  Versuch.  Antihamimelserum  vom  Kaninchen  409  b 
doppelter  Verdünnung,  90  Minuten  in  6  mm  dicker  Schichte  k 
strahlt. 

Der  Präzipitingehalt,  von  30  zu  30  Minuten  abgelesen  (nae, 
U  h  1  e  n  h  u  t  h)  ergab  : 


Antigen- 

verdünnung 

— - = - -  -  — —  - ■ 

Ablesung  nach 

30  Minuten 

60  Minuten 

90  Minuten 

120  Minuten 

vor 

nach 

vor 

nach 

vor 

nach 

vor 

nach 

50 

4- 

0 

++ 

0 

+++ 

0 

++  + 

+ 

100 

+ 

0 

“I — b 

0 

+++ 

0 

+++ 

++ 

200 

++ 

0 

~b++ 

0 

+++ 

++ 

_b“b“b 

++ 

400 

++ 

+++ 

-P+ 

+++ 

++-P 

++~b 

+++ 

800 

H — b 

+ 

+++ 

++ 

++-P 

H — i — b 

+++ 

+++ 

1600 

++ 

+ 

++-P 

++ 

+~b+ 

+++ 

+~b-b 

+++ 

Das  Präparierungsvermögen  war  insofern  geändert 
als  mit  002  cm3  Hammelserum  intravenös  injizierte  Tier< 
(die  mit  1  cm3  bestrahltem  Serum  intraperitoneal  vorne 
handelt  waren)  -schwere,  aber  sehr  protrahiert  verlaufend» 
und  in  Erholung  übergehende  Symptome  zeigten.  Das  rtich 
belichtete  Serum  machte  dagegen  so  stark  anaphylaktisch 
daß  mit  1  cm3  präparierte  Meerschweinchen  auf  0-005  cm 
Hammelserum  intravenös  akut  eingingen  und  es  entwickeltet 
sich  die  Erscheinungen  selbst  nach  kleineren  Doset 
momentan. 

Auch  hier  war  also  eine  Verminderung  der  Aviditä 
hei  der  Präzipitation  und  das  Entstehen  einer  unteren  Hem 
mungszone  bei  gleichbleibenden  absoluten  Werten  die  Folgt] 
der  Bestrahlung  mit  ultraviolettem  Lichte.  Die  vermindertu 
Reaktionsgeschwindigkeit  des  Immunkörpers  in  vitro  fan  ! 
in  dem  abgeschwächten  und  protrahierten  Verlauf  der  ana 
phylaktischen  Reaktion  einen  Ausdruck. 


Schlußfolgerungen. 

1.  Durch  die  Bestrahlung  mit  ultraviolettem  Lichte  er¬ 
folgt  eine  Denaturierung  der  spezifischen  Eiweißkörper  na| 
tiver  Sera,  welche  ebenso  wie  bei  der  Erhitzung  auf  dem 
Entstehen  einer  Trübung,  d.  li.  auf  der  Bildung  einer  koa-j 
gulierten,  irreversiblen  Modifikation  beruht. 

2.  Bei  normalen  Seris  findet  diese  Veränderung  ihren} 
Ausdruck  im  Verschwinden  der  spezifischen  Präzipitabilitätl 
und  der  Fähigkeit,  heim  anaphylaktischen  Meerschweinchen! 
Symptome  auszulösen. 

3.  Bei  Eiweißanti seris  bewirkt  ultraviolettes  Licht  die 
Zerstörung  des  präzipitierenden  und  passiv  anaphylaktisie-j 
renden  Vermögens. 

4.  Die  Abschwächung  der  antigenen  Eigenschaften  der, 
Normalsera  und  der  limmmfunktionen  der  Immunsera  er¬ 
folgt  für  Präzipitation  und  anaphylaktische  Reaktion  völlig 
gleichmäßig,  wenn  man  außer  den  absoluten  Werten  die 
Reaktionsgeschwindigkeit  in  Betracht  zieht. 

5.  Bestrahlung  von  Antigen  und  Antikörper  in  ge¬ 
wissen  Abstufungen  gestattet  eine  künstliche  Herabsetzung 
der  Reaktionsgeschwindigkeit  und  die  Erzeugung  der  soge¬ 
nannten  unteren  Hemmungszone. 

Die  letztere  beruht  daher  auch  beim  Immunserum 
nicht  auf  einer  besonderen  Beschaffenheit  der  Immunsub- 


Nr.  16 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


559 


<lanz  im  engeren  Sinne,  sondern  höchstwahrscheinlich  auf 
lein  Zustande  des  Eiweißes,  an  welchem  die  Antikörper 

laften. 

Wie  weit  sich  die  mitgeteilten  Ergebnisse  mit  den  Re¬ 
sultaten  von  Baroni  und  Ionesco-Miliaiesti  decken 
kIci-  von  denselben  abweichen  und  als  neu  zu  betrachten 
und,  geht  aus  der  Einleitung  hervor. 

Literatur: 

Downes  und  Blunt,  Proc.  London  Royal  Soc.,  Bd.  26. 
tieudonnd,  Arbeiten  aus  dem  Kaiserl.  Gesundheitsamte,  Bd.  9.  — 
iüchner,  Archiv  für  Hyg.,  Bd.  17.  —  St  rebel,  Deutsche  med. 
Vochenschr.  1901.  —  Ch  atin  und  Nicol  an,  Compt.  med.  Acad. 
lienee  1903.  —  No  gier,  Archiv  d’Electr.  1910.  —  Bordier,  ebenda. 

Duclaux,  Annal.  Part.  1892.  —  Richardson,  Deutsche  ehern. 
Gesellschaft,  Bd.  26.  —  Kruse,  Zeitschr  für  Hyg.,  Bd.  19.  —  Novy 
md  Freer,  Zentralblatt  für  Bakt.,  Bd.  31.  —  Baroni  und  Ionesco- 
Vlihaiesti,  Compt.  rend.  Soc.  Biol.  1910  u.  1911.  —  Cernovodeanu 
md  H  e  n  r  i,  Compt.  rend.  Acad.  Science  1909. 


Zur  Cholesterinesterämie  der  Schwangeren. 

Von  L.  Aschoff  in  Freiburg  i.  Br. 

Die  in  Nummer  12  dieser  Wochenschrift  mitgeteilten 
interessanten  Befunde  von  Neu m a n n  und  Herrma n n 
über  die  Cholesterinesterämie  der  Schwangeren  sind  für  den 
pathologischen  Anatomen  von  besonderer  Bedeutung,  so 
daß  ich  mir  einige  kurze  Bemerkungen  dazu  gestatten 
möchte.  Seit  einer  Reihe  von  Jahren  mit  der  Pathogenese 
der  Gallensteine  beschäftigt,  hatte  ich  im  Gegensatz  zu  der 
bisher  herrschenden  Lehre  Naunyns  die  Behauptung  auf- 
gestellt,  daß  unter  den  Gallensteinen  eine  besondere 
Gruppe,  nämlich  die  reinen  Cholesterinsteine,  von  allen 
übrigen  ahzusondern  seien,  weil  sie  meines  Erachtens  nach 
nicht  durch  einen  entzündlichen  Prozeß,  sondern  durch 
einfache  Stauung  der  Galle,  besonders  hei  gleichzeitiger 
Anreicherung  von  Cholesterin  oder  Cholesterinestern,  in 
der  Galle  selbst  zustande  kämen.  Die  Beweise  dafür  habe 
ich  in  mehreren  mit  meinem  Schüler  Baumeister  zu¬ 
sammen  unternommenen  Untersuchungen  geliefert.  Wir 
haben  dabei  mehrfach  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß 
die  eigentümliche  Tatsache  des  ersten  fieberfreien  Anfalles 
von  Cholelithiasis  im  Wochenbett  auf  die  Bildung  reiner 
Cholesterinsteine  während  der  Schwangerschaft  zurück¬ 
geführt  werden  müßte  und  daß  diese  Steinbildung  wiederum 
in  einem  erhöhten  Cholesterinstoffwechsel  der  Schwangeren 
begründet  sein  möchte.  Die  von  Baumeister  unternom¬ 
menen  Untersuchungen  über  den  wechselnden  Cholesterin¬ 
gehalt  der  Galle  in  Abhängigkeit  von  der  Nahrung  konnten 
aus  äußeren  Gründen  nicht  weiter  ausgedehnt  werden  und 
einwandfreies  Material  von  Schwangeren  stand  ihm  nicht 
zur  Verfügung.  Nun  bringen  die  bemerkenswerten  Unter¬ 
suchungen  von  Neumann  und  Herrmann  einen  sehr 
willkommenen  Beweis,  daß  in  der  Tat  während  der 
Schwangerschaft  der  Cholesterinesterspiegel  des  Blutes  er¬ 
höht  ist,  woraus,  wenn  auch  mit  gewissem  Vorbehalt,  auf 
eine  erhöhte  Cholesterinausscheidung  in  der  Galle  ge¬ 
schlossen  werden  darf.  Jedenfalls  steht  jetzt  die  Erklärung 
der  Bildung  radiärer  Cholesterinsteine  während  der 
Schwangerschaft  auf  einem  viel  gesicherteren  Boden  und 
die  noch  von  K r e tz  vertretene  Anschauung,  daß>  die  reinen 
Cholesterinsteine  durch  Umwandlung  aus  Cholesterinkalk¬ 
steinen  entstehen,  dürfte  sich  nur  schwer.. aufrecht  erhalten 
lassen.  Ich  bin  jetzt  mehrfach  in  der  Lage  gewesen,  aus 
dem  eigenartigen  Aufbau  eines  sogenannten  Kombinations¬ 
steines  in  Fällen,  die  ich  der  Freundlichkeit  des  Kollegen 
Bertelsmanns  in  Kassel  verdanke  und  in  welchen  der 
Kern  des  Kombinationssteines  aus  besonders  großen  radiären 
Cholesterinsteinen  bestand,  die  von  mir  geäußerte  \  er- 
mutung,  daß  hier  dielprimäre  Cholesterinsteinbildung  wäh¬ 
rend  der  Gravidität  eingetreten  war,  im  Wochenbette  zu  ur¬ 
sprünglich  leichten  und  späterhin  durch  nachträgliche  In¬ 
fektion  zu  schwereren  Anfällen  geführt  hat,  durch  den  Kli¬ 
niker  bestätigt  zu  erhalten. 

In  der  an  den  Vortrag  von  Neumann  und  Herr¬ 
mann  sich  anschließenden  Diskussion  ist  lebhaft  die  Frage 


diskutiert  worden,  woher  die  Cholesterinester  des  Blutes 
stammen  und  es  ist  dabei  einerseits  die  Plazenta,  andrer¬ 
seits  die  Nebenniere  in  den  Vordergrund  gestellt  worden. 
Insbesondere  hat  Albrecht  geglaubt,  auf  Grund  um¬ 
fassender  Untersuchungen  über  den  wechselnden  Gehalt  der 
Nebennierenrinde  an  doppeltbrechender  Substanz  und  auf 
Grund  von  Experimenten  eine  Bildung  von  Cholesterinestern 
in  der  Nebenniere  und  nachfolgende  Ausschüttung  in  das 
Blut  bei  der  Gravidität  annehmen  zu  müssen.  Diese  Hypo¬ 
these  verdient  jedenfalls  alle  Beachtung,  wenn  es  mir  auch 
fraglich  erscheint,  ob  damit  schon  die  letzte  Erklärung 
der  Cholesterinesterämie  der  Schwangeren  gefunden  ist.  In 
einer  kürzlich  erschienenen  Monographie  meines  Schülers 
Kawamur  a  habe  ich  die  bis  jetzt  vorliegende  Literatur 
über  die  Morphologie  der  Cholesterinesterbildung  im  mensch¬ 
lichen  und  tierischen  Körper  zusammenstellen  und  dabei 
auch  systematische  Untersuchungen  über  den  Lipoidgehalt 
der  Nebenniere  mitteilen  lassen.  Wie  weit  diese  Unter¬ 
suchungen  mit  denjenigen  Albrechts  übereinstimmen, 
bzw.  von  ihm  abweichen,  soll  hier  nicht  weiter  diskutiert 
werden.  In  der  Tat  bestehen,  wie  diese  Untersuchungen 
gezeigt  haben,  eigenartige  Beziehungen  zwischen  dem  Chole¬ 
sterinestergehalt  der  Nebenniere  und  dem  übrigen  Chole¬ 
sterinstoffwechsel,  so  wie  es  Albrecht  auch  für  die  Gra¬ 
vidität  behauptet.  So  ließ  sich  nachweisen,  daß  bei  den 
Huftieren  die  doppeltbrechende  Substanz  in  den  Neben¬ 
nieren  so  gut  wie  völlig  fehlt  und  es  paßt  dazu  die  schon 
von  Naunyn  hervorgehobene  Tatsache,  daßi  beim  Rindvieh 
wohl  Bilirubinkalksteine,  aber  keine  Cholesterinsteine  ge¬ 
funden  werden.  Eine  andere  Frage  ist  nur,  ob  tatsächlich 
die  Nebenniere  als  Quelle  der  Cholesterinesterverbildungen 
im  Blute  angesehen  werden  darf.  Ich  möchte  das  vorläufig 
noch  dahingestellt  sein  lassen.  Wie  schon  Albrecht  her¬ 
vorhebt  und  wie  es  auch  die  Untersuchungen  von  Kawa- 
mura  gezeigt  haben,  ist  der  Gehalt  der  Nebennierenrinde 
an  doppeltbrechender  Substanz  ein  außerordentlich  schwan¬ 
kender  und  ehe  nicht  vergleichende  Untersuchungen  der 
verschiedenen  Organe  und  der  Blutcholesterinestermengen 
mit  Hilfe  der  von  Windaus  eingeführten  Digitöninmethode, 
die  wir  mit  so  großem'  Erfolge  bei  der  Nierenverfettung  und 
der  Gefäßatherosklerose  anwenden  konnten,  durchgeführt 
sind,  läßt  sich  kein  sicheres  Urteil  fällen.  Denn  auch  die 
Cholesterinestermengen  des  Blutes  sind,  wie  besonders  die 
Untersuchungen  von  Chauffard  gezeigt  haben,  bei  den 
verschiedensten  krankhaften  Zuständen  einem  sehr  starken 
Wechsel  unterworfen  und  die  Ursache  dafür  wird  wohl 
in  den  verschiedensten  Organen  oder  in  einer  Störung  des 
Gesamtstoffwechsels  zu  suchen  sein.  So  möchte  ich  auch 
für  die  Gravidität  annehmen,  daß  nicht  eine  Quelle  der 
Cholesterinesterbildung  besteht,  sondern  daßi  infolge  der 
Eibefruchtung  überall  im  Körper  eine  erhöhte  Cholesterin¬ 
esterbildung  vor  sich  geht  oder  vor  sich  gehen  kann,  eine 
förmliche  Speicherung  von  Cholesterinester  in  den  Organen 
und  so  auch  in  der  Nebenniere  zustande  kommt,  ein  Zu¬ 
stand,  den  ich  mit  Kawamura  als  „Cholesterinsteatose“ 
bezeichnet  habe  und  deren  eines  mich  besonders  interessie¬ 
rendes  Symptom  die  Bildung  reiner  Cholesterinsteine  (sein 
kann. 


Aus  der  serodiagnostischen  Station  der  Klinik  für 
Geschlechts-  und  Hautkrankheiten  (Prof.  E.  Finger)  und 
der  Heilanstalt  Alland  (Chefarzt:  Priv.-Doz.  J.  Sorgo). 

Vergleichende  serologische  Untersuchungen 
bei  Tuberkulose  und  Syphilis. 

(Peptonreaktion  bei  Tuberkulose,  Lues  und  Lepra.) 

II.  Mitteilung. 

Von  Dr.  Rudolf  Müller  und  Dr.  Erhard  Sueß. 

In  unserer  ersten  Mitteilung1)  konnten  wir  nachweisen, 
daß  die  Komplementablenkung  tuberkulöser  Sera  mit  Tuber¬ 
kulin  nichl  auf  einer  Wechselwirkung  von  Tuberkulose- Anti- 

')  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  Nr.  16. 


560 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  16 


gen  und  Antikörper  beruht,  sondern  daß  man  mit  denselben 
Seris  qualitativ  identische  Reaktionen  mit  Bouillon  und  mit 
Peptonlösungen  erhält.  Eine  Abhängigkeit  positiver  Ausfälle 
von  Tuberkulininjektionen  konnten  wir  nicht  nachweisen. 
A  usdiesenErgebnissenfolgerten  wir,  daß  Tu¬ 
berkulin  als  Antigen  zum  Nachweise  spezifi- 
f  i  s  c  h  e  r  komplementbindender  Substanzen 
unbrauchbar  ist  und  daher  die  positiven  Resultate 
jener  Autoren,  die  in  ihren  Versuchen  das  gewöhnliche 
Tuberkulin  (Kochs  Alttuberkulin)  verwendeten,  nicht  zum 
Beweis  für  das  Vorhandensein  von  spezifischen  Immun¬ 
substanzen  im  untersuchten  Serum  herangezogen  werden 
dürfen.  Nur  solche  Tuberkuline,  welche  nicht  Nährsub¬ 
stanzen  für  das  Bazillenwachstum  enthalten,  die  für  sich 
allein  imstande  sind,  mit  Tuberkuloseserum  Komplement 
zu  fixieren,  könnten  vielleicht  hiezu  dienen.  Eine  weitere 
Stütze  unserer  Ansicht  über  die  Rolle  des  Peptons  bei  der 
Komplementbindung  mit  Alttuberkulin  als  Anligen  zeigten 
folgende  von  uns  seither  angestellte  Versuche. 

Wir  bereiteten  uns  ein  Tuberkulin  aus  der  Kultur 
eines  aus  Sputum  gezüchteten  Tuberkelbazillenstammes,  auf 
Bouillon,  welche  n  i  c  h  t  w  i  e  die  zur  Erzeugung 
des  Koch  sehen  Alttuberkulins  verwendete 
Bouillon  einen  Zusatz  von  1  %  i  g  e  m  Pepton 
enthielt.  Sera,  welche  mit  Koch  schein  Tuberkulin  kom¬ 
plette  Hemmungen  zeigten,  ergaben  in  den  gleichen  Dosen 
verwendet  keine  Ablenkung  mit  diesem  (auf  das  Zehntel 
Volumen  eingedickten)  peptonarmen  Präparat.  Dieselben 
Sera  ergaben  jedoch,  wie  nach  unseren  früheren  Versuchen 
zu  erwarten  war,  mit  einer  auf  ein  Zehntel  Vo¬ 
lumen  eingedickten  Bouillon,  auf  welcher 
keine  Tuberkelbazillen  kultiviert  wurden, 
der  jedoch  1  °/o  'Pepton  Witte  zugesetz  t  war,  Hem¬ 
mungen,  welche  qualitativ  gleich  den  mit  Alttuberkulin  er¬ 
zielten  waren. 


deutliche  Stichreaktion  bei  Dosen  von  0-01  mg  und  in  zwo 
Fällen  nach  0  05  mg  und  bei  Wiederholungen  dieser  Dosi 
Fieberreaktionen  bis  über  38°. 

Trotz  der  eindeutigen  Ergebnisse  diese 
Versuche  möchten  wir  die  Möglichkeit  de 
Nachweises  spezifischer  Immunsubstanze 
im  S  e  r  u  m  tuberkulöser  Menschen  und  Tier 
durch  die  K  o  mp  1  e  men  t  bi  nd  u  n  gs  metho  de  be 
Verwendung  hiezu  geeigneter  Tuberkulin 

präparatealsAntigennichtinAbredestellen 

Zu  dieser  Anschauung  führen  uns  nicht  nur  weitere  eigen 
Versuche,  bei  denen  wir  auch  mit  peptonarmem  Tuber 
kulin  Ablenkungen,  wenn  auch  viel  schwächeren  Grades,  al 
mit  Alttuberkulin,  erhielten,  sondern  auch  die  in  der  Eite 
ratur  erwähnten  und  als  spezifisch  betrachteten  Ablenkun 
gen  mit  verschiedenen  Tuberkulinen,  welche  auf  eiweiß 
armen  oder  eiweißfreien  Nährflüssigkeiten  dargestell 
wurden. 

So  berichtet  Beranek2)  über  den  Nachweis  eine: 
komplementbindenden  Sensibilisators  im  Serum  eines  tuber 
kulösen  mit  Tuberkulin  vorbehandelten  Pferdes  bei  Ver 
Wendung  seines  auf  peptonarmen  Nährböden  gewonneneil 
Tuberkulins  als  Antigen.  Nach  Jochmann  und  M ö  1 1  e r,3 
sowie  nach  R  u  p  p  e  1  und  R  i  c  k  m  a  n  n  4)  soll  auch  das  au 
Asparaginnährflüssigkeit  dargestellte  albumosefreie  Tuber 
kulin  imstande  sein,  mit  hochgradigen  Immunseren  voi 
Tieren  Komplement  zu  fixieren.  Allerdings  erwähnen  diese 
Autoren  nichts  über  das  Fehlen  der  Komplementbindungs 
fähigkeil  der  Nährflüssigkeit  als  solcher  und  auch  der  Nach 
weis,  daß  es  sich  bei  diesen  Reaktionen  nicht  doch  un 
Bindungen  mit  Bazillenei weißsubslanzen  nichtspezifiscbejl 
Natur  handelt,  steht  noch  aus.  Auf  die  Resultate  der  Koni 
plementbindungsversuche  mit  Bazillenemulsionen  wollen  wi: 
vorläufig  nicht  näher  eingehen.  Unsere  diesbezüglichen 
Versuche  ließen  keine  völlige  Uebereinstimmung  der  mi 


Tabelle  I. 


Peptonarmes  Tuberkulin 

Kochsches  Alttuberkulin 

Bouillon  mit  1%  Peptonzusatz 

Diagnose 

Prot. 

des 

Falles 

Nr. 

kleine 

mittlere 

große 

deine 

mittlere 

große 

kleine  mittlere 

große 

Dosis 

Dosis 

Dosis 

Tuberkul.  III  St.,  febril 

59 

— 

— 

 '  I 

+ 

+++ 

+++ 

++  !  +++ 

+++ 

* 

III  »  » 

60 

' - 

— 

— 

++ 

+-H- 

++  ++ 

111  »  afebril 

61 

: 

+  P 

+++ 

+++ 

++  1  +++ 

I — 1 — h 

Tabelle 

II. 

Peptonarmes  Tuberkulin, 

Tuberkulin  mit  Peptonzusatz, 

Nicht,  eingedickte  Bouillon  |  Nicht  eingedickte 

Bouillon 

Diagnose 

Prot.- 

mein 

eingeengt 

nicht  eingeengt 

ohne  Peptonzusatz  mit  1  /0  Pepton sus atz 

des  1  alles 

Nr. 

kleine  [  mittlere 

große 

kleine 

mittlere  j 

große 

kleine 

mittlere 

große  kleine 

mittlere 

große 

Dosis 

Dosis 

Dosis 

1 

Dosis 

Tuberkul.  III 

57 

•  I 

Tuberkul.  III 

"T-T 

— 

— 

-  +  + 

++ 

++ 

febril 

OO 

— 

_  1  _ 

— 

— 

Ein  gleichsinniges  Resultat  erhielten  wir  mit  ent¬ 
sprechend  höheren  Dosen  der  nicht  auf  das  Zehntel 
ihres  Volumens  eingedickten  filtrierten  Kulturflüssigkeit 
dieses  Stammes  (Tuberculin  filtre) :  Nur  das  auf  der  Nähr¬ 
flüssigkeit.  mit  Peptonzusatz  gewonnene  Tuberculin  filtre 
war  imstande,  Komplement  zu  fixieren,  ebenso  wie  die 
entsprechende  Konzentration  von  peptonhaltiger  Bouillon 
ohne  spezifische  Komponente.  Dabei  konnten  wir 
uns  überzeugen,  daß  unser  peptonarmes  Tuberku¬ 
lin  bei  kutanen  Impfungen  von  tuberkulösen 
Patienten  Reaktionen  von  der  gleichen  Art 
und  Stärke  erzeugte,  wie  das  Koch  sehe  Alt¬ 
tuberkulin  in  der  gleichen  Dosierung  bei  denselben 
Patienten.  Subkutan  injiziert  gab  es  in  mehreren  Fällen 


Tuberkulin  einerseits  und  Bazillenemulsion  anderseits,  er¬ 
zielten  Resultate  erkennen. 

ir  stimmen  hierin  Citron5)  bei  im  Gegensatz  zu 
Michaelis  und  E  i  s  n  e  r,6)  welche  mit  beiden  Antigenen 
vollkommen  identische  Resultate  erhielten.  Die  letzteren 
Autoren  konnten  auch  ganz  im  Gegensatz  zu  unseren  Be¬ 
funden  und  denen  von  H.  Koch7)  in  keinem  Fälle  von 


")  ^it.  ‘n  tl.  Sahli,  ruberkulinbehandlung  und  Tuberkulose- 
l  mmumtät  1910. 

3)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  46. 

4)  Zeitschr.  für  Immunitätsforschung,  Bd.  6,  H.  2  u.  3, 

5)  Kongreß  für  innere  Medizin.  Wiesbaden  1910. 

6)  Zeitschr.  für  Immunitätsforschung  1910,  Bd.  6. 

7)  Münchener  med.  Wochenschr.  1910. 


Nr.  16 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


561 


Tuberkulose,  also  auch  nicht  in  den  mit  Tuberkulin  vor¬ 
behandelten,  mit  Peptonbouillon  auch  nur  eine  And eu lung 
von  positiver  Reaktion  nachweisen  und  betrachten  die  posi¬ 
tive  Reaktion  mit  Tuberkulin  als  streng  spezifisch  und  ab¬ 
solut  beweisend. 

Auch  Much  und  Hoessli8)  fanden  bei  ihren  späteren 
Untersuchungen  in  keinem  Falle  von  nicht  spezifisch  be¬ 
handelter  Tuberkulose  Ablenkung  mit  Bouillon-  oder  Pep¬ 
tonlösungen,  Jedoch  Ablenkungen  geringen  Grades  mit  den 
beiden  genannten  Antigenen  nach  vorausgegangener  Tuber¬ 
kulinbehandlung.  Möglicherweise  finden  diese  wider¬ 
sprechenden  Resultate  zum  Teil  in  nur  quantitativen  Diffe¬ 
renzen  ihre  Erklärung. 

Wir  haben  außer  den  oben  zitierten  Versuchen  noch 
dadurch  den  Beweis  vom  Vorhandensein  einer  nichtspezi¬ 
fischen  Komponente  bei  der  Komplementbindung  tuberku¬ 
löser  Seren  mit  Tuberkulin  erbracht,  daß  wir  gerade  bei 
Seren,  welche  mit  Tuberkulin  Hemmungen  geben,  auch  Hem¬ 
mungen  mit  alkoholischen  Herzextrakten  fanden,  allerdings 
nur  in  geringem  Grade  und  meist  nur  im  Vergleich  mit 
Normalseren  und  bei  hoher  Extraktdosis  erkennbar,  wäh¬ 
rend  anderseits  auch  Luetiker  mit  Tuberku¬ 
lin  oft  Komplementbindung  zeigten. 

Much  und  Hoessli  werfen  uns  mit  Unrecht  vor, 
daß  wir  wegen  des  pulmonal-negativen  Befundes  der  mit 
Tuberkulin  positive  Ablenkung  ergebenden  Luetiker  bei  den¬ 
selben  das  Vorhandensein  von  Immunstoffen  gegen  Tuber¬ 
kulose  im  Serum  ausschließen. 

Bei  eingehenderem  Studium  unserer  Arbeit  hätten  sie 
sehen  müssen,  daß-  wir  in  richtiger  Erkenntnis  der  Un¬ 
möglichkeit  den  negativen  physikalischen  Befund  zur  Ent¬ 
scheidung  über  stattgehabte  Infektion  heranzuziehen,  ü  b  e  r- 
h  a  u  p  t  nicht  von  dem  Fehlen  o  d  e  r  V  o  r  h  a  n  d  e  n- 
s  e  i  n  von  Sympt  o  m  e  n  von  Tuberkulose  bei  den 
zitierten  Fällen  von  Lucs  sprachen.  Allerdings 
nahmen  wir  nur  an  klinisch  nichttuberkulösen,  kräftigen, 
rezentluetischen  Patienten  unsere  serologischen  Unter¬ 
suchungen  vor.  Daß.  die  bestehende  Lues  und  nicht  eine 
bei  den  luetischen  einmal  etwa  vorangegangene  tuberku- 


zeilig  auch  die  Ursache  für  eine  frisch  akquirierte  oder  neu 
zum  Ausbruch  kommende,  klinisch  nicht  konstatierbare  Tu¬ 
berkulose  sei.  Uebrigens  wäre  nach  Unseren  Resultaten  die 
Tuberkulinbindung  auch  dann  untauglich  zur  Beweisführung 
für  das  Vorhandensein  spezifischer  tuberkulöser  Antikörper, 
d  a  auc  h  d  i  e  L  u  e  t  i  k  e  r  wie  die  Phthisiker  bei 
geeigneter  Dosierung  gleichsinnige  Reak¬ 
tionen  mit  Peptonlösungen  ohne  Tuberkuli n 
gaben.  Wir  möchten,  also  nochmals  auf  das  Resultat  un¬ 
serer  Arbeit  hinweisen,  in  der  wir  durch  Vergleich  tuber¬ 
kulöser  und  luetischer  Seren  miteinander  feststellen  konnten, 
daß  manche  Tuberkulöse  schwache  Bindungen  mit  alkoho¬ 
lischem  Herzextrakt  gleichzeitig  relativ  starke  mit  Tuber¬ 
kulin  und  Pepton  geben  können,  und  daß  anderseits  luetische 
Seren  gleichfalls  Reaktionen  mit  Tuberkulin,  resp.  Pepton 
zeigen,  die  aber  im  Vergleiche  zu  den  Ausfällen  mit  alkoho¬ 
lischem  Herzextrakt  von  bedeutend  geringerer  Intensität  sind. 

Es  schien  uns  nun  weiterhin  interessant,  oh  nicht 
auch  ein  ähnliches  Verhalten  bezüglich  der  quantitativen 
Differenzen  der  Affinitäten  von  Lepraseren  zu  Herzextrakt 
und  zu  Pepton  nachweisbar  wäre.  Bekanntlich  hat  ja 
Meier9)  zuerst  darauf  hingewiesen,  daß  Lepraseren  die 
Bindung  mit  Luesextrakt  gaben,  auch  mit  Tuberkulin  positiv 
reagierten. 

Nach  den  bei  Tuberkulose  von  uns  festgestellten  Ver¬ 
hältnissen  schien  es  uns,  wie  wir  schon  in  der  zitierten 
Arbeit  betonten,  durchaus  nicht  unwahrscheinlich,  daß  zur 
Erklärung  auch  hier  Peptonaffinitäten  vor  allem  in  Betracht 
kämen. 

Zu  unseren  diesbezüglichen  Untersuchungen  dienten 
uns  sechs  Fälle  von  Lepra  tuberosa  und  tuberoanaesthetica 
aus  der  dermatologischen  Abteilung  des  bosnischen  Landes- 
spitales  in  Sarajevo,  für  deren  Ueberlassung  wir  Herrn 
Hofrat  G.  Kahler  bestens  danken;  daneben  verwendeten 
wir  gesunde  Kontrollseren  und  drei  rezent  luetische  Seren. 
Um  möglichst  starke  Reaktionen  zu  erhalten,  wurden  die 
Seren  nur  im  aktiven  Zustande  mit  aufsteigenden  Mengen 
von  alkoholischem  Herzextrakt  und  1  %iger  Peptonlösung 
(in  physiologischer  Kochsalzlösung)  untersucht. 


Tabelle  III. 


Quantitativer  Komplementbindungsversuch  von  Lepra-  und  Luesseren  mit  aufsteigenden  Mengen  von  Herzextrakt  und  I  eptonlösung  als  Antigen. 


1 

Diagnose 

H, 

P 

P 

P 

H, 

P 

p 

1 

p 

p 

P 

p 

Kein 

Antigen 

Lepra  I 
»  II 

+  ++ 

+++ 

+++ 

4-4-4- 

++1- 

4  + 

+++ 

+++ 

+++ 

+++ 

4-4 — h 

— 

+++ 

+++ 

4 — H4- 

4-4-4- 

+++ 

+ 

+++ 

+++ 

4-4-4- 

4-4-4" 

4~  4- 4- 

— 

»  III 

++ 

+++ 

4-4-4- 

+++ 

— 

s 

s 

+ 

4- 

++ 

— 

»  IV 

+ 

+ 

+4-4- 

+++ 

— 

s 

+ 

4 — h 

++ 

+++ 

— 

»  v 

+++ 

+++ 

+++ 

+++ 

+++ 

. — 

s 

4h 

++ 

++ 

+++ 

— 

»  VI 

s 

+ 

+++ 

+++ 

- _ 

— 

— 

s 

4- 

4 — b 

— 

Lues  secund.  1 4936 

4  1  1~ 

++4- 

+4  + 

4 — b+ 

+++ 

_ 

— 

s 

s 

s 

+ 

s 

»  14937 

+++ 

+++ 

4-4-4- 

+++ 

+++ 

— 

— 

— 

— 

14939 

+++ 

+++ 

4-4-4- 

+++ 

+++ 

— 

— 

— 

— 

— 

Normalkontrolle 

— 

— 

— 

— 

— : 

— 

_ 

_ 

Kein  Serum  \  Antigen- 
»  »  j  Kontrolle 

— 

— 

— 

- 

— 

— 

~ 

— 

— 

— 

H  =  Herzextrakt. 

p  —  l°/nige  Peptonlösung  (Pepton  Witte)  in  physiologischer  Kochsalzlösung. 

Die  Zahlen  neben  H.  und  P.  bedeuten  die  Anzahl  der  verwendeten  Anligeneinheiten. 


löse  Infektion  für  die  positive  Bindung  mit  Tuberkulin  aus¬ 
schlaggebend  war,  glauben  wir  wohl  mit  Sicherheit  an  den 
gleichzeitig  zur  Kontrolle  ausgeführten  (und  in  den  Proto¬ 
kollen  verzeichneten)  Untersuchungen  an  Gesunden  (klinisch 
nichtluetischen  und  nichttuberkulösen  Individuen)  bewiesen 
zu  haben,  welche  immer  negativ  ausfielen. 

Man  müßte  denn  zu  der  wohl  gewagten  Schlußfolge¬ 
rung  gelangen,  daß  die  frische  luetische  Infektion  gleich- 


-  .  .  ✓ 

Wie  die  Tabelle  zeigt,  reagierten  alle  sechs  Fälle  von 
Lepra  in  den  höheren  Antigendosen  komplett  positiv 
mit  Herzextrakt,  die  Mehrzahl  positiv  in  den  nie¬ 
drigeren  Dosen.  Von  den  Luesseren  reagierten  alle 
auch  mit  der  kleinsten  Herzdosis  komplett  positiv.  Mit 
Pepton  reagierten  zwei  Leprafälle  komplett,  zwei  stark 
positiv,  zwei  zeigten  eine  nur  angedeutete  Reaktion.  (Von 
den  Luesfällen  zeigte  einer  schwache  Reaktion,  die  beiden 


8)  Beiträge  zur  Klinik  der  Tuberkulose  1910,  Rd.  17. 


')  Berliner  klin.  Wochenschr.  1907,  Nr.  51. 


562 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


anderen  reagierten  negativ.  Um  die  auch  mit  der  kleinsten 
Antigendosis  mit  Herzextrakt  komplett  positiv  reagierenden 
Leprafälle  gegenüber  den  Luesfällen  qualitativ  zu  verglei¬ 
chen,  wiederholten  wir  den  Versuch  nach  Inaktivierung  der 
Seren.  Die  Reaktion  der  Luetiker  blieb  komplett  positiv 
auch  in  der  kleinsten  verwendeten  Herzextraktdosis,  mit  der 
keines  der  Lepraseren  positive  Reaktion  zeigte. 

Wir  können  aus  diesen  Resultaten  schließen,  daß 
—  durchschnittlich  —  bei  starker  Affinität  zu 
Herzextrakt  sowohl  der  Lues-  als  der  Lepra¬ 
seren  sich  die  letzteren  durch  die  relativ 
s  t ä  r kere  P e p  tonbind ung  von  den  Luessere n 
unterscheiden  lassen.  Es  wäre  denkbar,  diese  Tat¬ 
sache  der  Differentialdiagnose  zwischen  Lepra  und  Lues 
nutzbar  zu  machen.  Diese  Affinität  zu  Pepton  scheint  uns 
genügend  die  von  Meier  und  anderen  gefundenen  posi¬ 
tiven  Reaktionen  mit  Tuberkulin  bei  Lepra  ähnlich  wie  bei 
Tuberkulose  zu  erklären.  Auch  hier  handelt  es  sich  also 
wohl  nicht  um  spezifische  Bindung  zwischen  Antikörper  und 
Antigen,  sondern  nur  um  eigentümliche  Affinitätsverhältnisse 
des  Serums  der  genannten  Krankheiten  zu  nicht  spezifischen 
Substanzen,  deren  Zusammenhang  mit  Immunkörpern  der¬ 
zeit  durchaus  unbewiesen  ist. 

Wie  hei  Tuberkulose,  wollen  wir  jedoch  auch  bei  Lepra 
durch  diese  Feststellung  durchaus  nicht  die  Möglichkeit  aus¬ 
schließen,  mit  geeigneten  Antigenen  spezifische 
Reaktionen  zu  erzielen. 


Aus  dem  Odessaer  Stadtkrankenhause. 

Einige  Fälle  von  Atoxylbehandlung  der  Tuber¬ 
kulose.*) 

Von  Dr.  Bruno  Knotlie. 

Meine  Beobachtungen  über  die  Wirkung  des  Atoxyls 
auf  die  Tuberkulose  habe  ich  in  den  Jahren  1907  und  1908 
angestellt.  Das  von  mir  erprobte  Mittel  ergab,  wie  man 
weiter  sehen  wird,  positive  Resultate.  Während  aber  die 
erwähnten  Beobachtungen  sich  dem  Ende  näherten,  tauchten 
in  der  Literatur  immer  häufiger  Mitteilungen  über  die  schäd¬ 
lichen,  ja  sogar  äußerst  gefährlichen  Nebenerscheinungen 
(Erblindung)  bei  der  Wirkun  ■  des  Atoxyls  auf.  Infolgedessen 
verloren  meine  Forschungen  ihre  Bedeutung,  ich  konnte 
sie  nicht  fortsetzen  und  beeilte  mich  nicht,  sie  zu  veröffent¬ 
lichen. 

Heute  jedoch,  beim  Erscheinen  eines  neuen,  dem 
Atoxyl  verwandten  Arsenpräparates  —  des  Arsenobenzols 
(Ehrlich  -  Hata  ,,606“)  —  welches  sich  überhaupt  bei 
denjenigen  Krankheiten,  bei  denen  das  Atoxyl  angewendet 
wurde,  geeignet  erwiesen  hat  —  nur  daß  es  in  seiner  Wir¬ 
kung  unendlich  stärker  ist  und  gleichzeitig  fast  keine  Neben¬ 
wirkungen  hervorruft  —  gewinnt  auch  meine  Arbeit  über 
das  Atoxyl  bei  der  I  uberkulose  wieder  Bedeutung,  als  Per¬ 
spektive  für  die  Behandlung  dieser  Krankheit  durch  ein 
stärkeres  Sterilisationsmittel  für  den  Organismus,  durch  das 
Arsenobenzol.  Es  ist  dies  um  so  wahrscheinlicher,  als  letz¬ 
teres  Präparat  eine  sehr  energische  Gewichtszunahme  her¬ 
vorruft  und  hat  doch  schon  dieser  Faktor  allein  einen  so 

wichtigen,  erprobten  Einfluß  auf  die  Tuberkulose. 

* 

Das  Arsen  wird,  wie  bekannt,  schon  längst  in  ver¬ 
schiedener  Form  bei  der  Behandlung  der  Tuberkulose  an¬ 
gewandt.  Den  Nutzen  einer  solchen  Therapie  schreibt  man 
der  heilsamen  Wirkung  des  Arsens  auf' die  Zusammensetzung 
des  Blutes  und  (die  Ernährung  des  Organismus  zu,  nicht  aber 
der  spezifischen  Wirkung.  Mir  persönlich  hat  es  jedoch 
immer  wahrscheinlich  geschienen,  daß  Arsen  auf  die  Tu¬ 
berkelbazillen  im  Innern  des  Organismus  in  gewissem 
Sinne  bakterizid  wirkt.  Da  Arsen  überhaupt  ein  Gift  ist, 
wirkt  es  zerstörend  auf  die  Gewebe  (Dekapillation  der  Haare’ 
Nekrotisation  des  Nerven  in  der  Zahntechnik),  andrerseits 
jedoch  wird  es  bei  der  Behandlung  verschiedener  Krank- 

Q  ....  iJ-Uag,  gehalten  in  der  Odessaer  medizinischen  Gesellschaft  am 
9.  Marz  1911.  Kurz  mitgeteilt  in  der  Odessaer  dermatologischen  Gesellschaft. 


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beiten  infektiösen  Ursprungs  angewandt.  So  ersetzt  es  oft 
mit  großem  Erfolge  das  spezifische  Mittel  gegen  die  Malaria, 
das  Chinin.  Ferner  wird  Arsen  —  auf  Anraten  von  CzernV- 
Tranecek1)  —  nicht  ohne  Erfolg  hei  der  Behandlung  des 
inoperablen  Krebses  angewandt. 

Seit  der  Einführung  in  die  Therapie  des  von  Lands¬ 
berger3)  erfundenen,  neuen,  stark  arsenhaltigen  (36-7 %) 
Präparates,  des  Atoxyls  (das  amidophenylarsensaure  Na¬ 
trium),  welches  sich  nach  den  Tierversuchen  von  B lu¬ 
men  t  ha  l3)  als  40mal  weniger  giftig  als  gewöhnliche 
Solutio  Fowled  erwiesen  hat  und  daher  die  Einführung 
von  sehr  großen  Dosen  Arsen  in,  den  Organismus  gestattet, 
kann  man  sagen,  daß  die  Anwendung  dieses  Mittels,  in  Ge 
statt  seines  neuen  Vertreters,  schnell  sein  Gebiet  erweitert 
hat  und  sozusagen  in  eine  neue!  Phase  getreten  ist.  Uebri- 
gens  wurde  das  Atoxyl  anfangs  eher  alslRoborans  angewandt 
und  zudem  in  kleinen  Dosen  —  bei  der  Blutarmut  (Zeißl,4) 
Mendel5),  verschiedenen  Hautkrankheiten  (Schild,6) 
Zeißl,')  Bringer8)  und  verschiedenen  Neurosen  (Men¬ 
del,  Möller9).  Die  neue  Phase,  von  der  ich  gesprochen 
habe,  begann  mit  den  Arbeiten  von  Thomas  W  o  1  f  e  r  s  t  o  n,*°) 
Ayres  Kopke10)  und  besonders  Koch,11)  welche  die  spezi¬ 
fische  Wirkung  des  Atoxyls  in  großen  Dosen  gegen  die 
Trypanosomen  bei  der  Schlafkrankheit,  der  Menschen  und 
ähnlichen  Erkrankungen  der  Tiere  bewiesen. 

Einen  besonderen  Ruf  aber  erlangte  das  Atoxyl  als 
neues  spezifisches  Mittel  gegen  die  Syphilis  von  da  an. 
als  Paul  Salmon12)  in  Frankreich  und  Uhlenhuth,  Hoff¬ 
mann  und  Roscher13)  in  Deutschland  anfingen,  das  Prä¬ 
parat  in  großen  Dosen  einzuspritzen  (0-4  bis  0-6  g).  Und 
auch  heutzutage  erkennen  eine  ganze  Reihe  von  Autoren 
(Hallopeau,14)  Neislser,  Lassar,15)  Metschnikoff) 
das  Atoxyl  als  wirkliches  drittes  Spezifikum  an. 

Neisser16)  hat  das  Atoxyl  auch  bei  der  der  Syphilis 
verwandten  Krankheit  —  Frambösie  —  angewandt. 

Babes  und  Vasiliu17)  erprobten  das  Atoxyl  in 
Dosen  von  1  0  g  mit  besonderem  Erfolge  in  zwölf  Fällen 
von  Pellagra,  einer  Krankheit,  deren  infektiöser  Ursprung 
in  letzter  Zeit  immer  wahrscheinlicher  wird. 

Glaub  ermann,18)  T  seih  er  k  as  soff,19)  die  das 
Atoxyl  beim  Typhus  recurrens  —  im  ganzen  in  59  Fällen  — 
angewandt  haben, ^  erlangten,  im  Gegensatz  zu  vier  Fällen 
von  Drobinsky,-20)  einen  zweifellosen  Erfolg. 

J.  Brault21)  erzielte  mit  einer  Atoxylkur  in  drei 
Fällen  von  Lepra,  einer  Krankheit,  die  sich  zufolge  (der 
Morphologie  ihres  Erregers  (Leprastäbchen)  und  den  patho¬ 
logisch-anatomischen  Bildungen  (Knötchen),  noch  mehr  zu¬ 
folge  der  Komplementablenkungsreaktion  in  Verbindung  mit, 
Tuberkulin  (Georg  Meier),  ein  wenig  der  Tuberkulose 
nähert. 

Ausgehend  von  der  oben  ausgesprochenen  Voraus¬ 
setzung,  daß  dem  Arsen  überhaupt  und  besonders  bei  der 
Tuberkulose,  eine  gewisse  bakterizide,  antiseptische  Wir¬ 
kung  im  Innern  des  Organismus  eigen  ist  und  daß  Arsen 
den  höchsten  Grad  dieser  Wirkung  in  der  Form  des  Ato¬ 
xyls,  das  große  Dosen  gestattet,  erreicht,  versuchte  ich  das 
Atoxyl  bei  der  Behandlung  der  Tuberkulose  zu  gebrauchen, 
nicht,  im  gewöhnlichen  Sinne  als  stärkende  Arsenkur,  wie 
auch  dieses  Präparat  (Atoxyl)  bei  dieser  Krankheit  von 
Rohden  ")  angewandt  wurde  (übrigens  in  Verbindung  mit 
seinen  Ichthyolsalizylpillen),  sondern  behufs  bakterizider 
Einwirkung  und  deswegen  in  großen  Dosen,  wie  bei  (der 
Syphilis. 

Abseits  von  meinen  Beobachtungen  liegt  auch  die  kom¬ 
binierte  Behandlung  der  Tuberkulose  mit.  Atoxyl  und  Tuber¬ 
kulin,  welche  Mendel“3)  im  Jahre  1909  vorgeschlagen  hat.. 
(Meine  Beobachtungen  wurden  1907  bis  1908  angestellt.) 

Ich  habe  im  ganzen  18  Fälle  mit  Atoxyl  behandelt  — 
acht,  stationäre  und  10  ambulatorische.  Die  stationären,  die 
ich  im  Odessaer  Stadtkrankenhause  behandelte,  waren  weit 
voi geschrittene  Formen  von  Tuberkulose,  einige  von  ihnen 
sogar  in  extremis.  Ich  führe  hier  die  Krankengeschichten 
dieser  acht  Fälle  an. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Fall  I.  A.  T.,  20  Jahre  alt,  verheiratet.  Einige  Monate 
vor  der  Beobachtung  fieberte  sie  eine  Zeitlang. 

Status  (8.  März  1908):  Erscheinungen  von  Pneumonia 
caseosa  des  Oberläppens  der  linken  Lunge :  intensive  Dämpfung, 
Bronchialatmen,  klingendes  Rasseln  hinten  bis  zur  Mitte  der 
Skapula,  sowie  in  der  unteren  Lungenpartie.  Unbestimmtes  Atmen 
unterhalb  des  rechten  (Schulterblattes.  Kachexie.  Husten,  Aus¬ 
wurf,  Nachweis  von  Tuberkelbazillen  und  Staphylokokken.  Tem¬ 
peratur  38-5  bis  40°.  Puls  110  bis  120.  Hautreaktion  (Pirquet) 
und  Ophthalmoreaktion  (Calmette)  auf  l°/oiges  Tuberkulin 
negativ. 

Vom  27.  März  bis  21.  April  1908  wurden  neun  10°/oige 
Atoxylinjektionen  subkutan  gemacht,  in  Gaben  von  0-3  bis  0-4  g, 
ungefähr  alle  drei  Tage.  Keine  Nebenerscheinungen,  kein  Eiweiß 
im  Harn.  Der  Prozeß  schreitet  rapid  fort  und  führt  zu  letalem 
Ausgang  bald  nach  Abschluß  der  Behandlung.  Die  Temperatur 
jedoch,  die  Vor  der  Behandlung  bis  auf  40°  gestiegen  war,  war  fast 
bis  zur  Norm  abgefallen  und  die  Temperaturkurve  (Tabelle  l) 
zeigt,  daß  das  Sinken  der  Temperatur  ziemlich  systematisch 
immer  am  folgenden  Tage  nach  der  Atoxylinjektion  eintrat. 

Fall  II.  D.  G.,  42  Jahre  alt,  Mädchen.  Blässe  und  Mager¬ 
keit  machten  sich  .in  den  letzten  Jahren  bemerkbar.  Größerer 
Gewichtsverlust  im  Jahre  1907  (6-2  kg).  Am  Anfang  des  Jahres 
1908  Husten,  Temperaturerhöhung  (bis  38°).  Ophthalmoreaktion 
schwach  ausgedrückt,  Hautreaktion  (Pirquet)  positiv. 

Status  (19.  Februar  1908):  Dämpfung  und  abgeschwächtes 
Atmen  rechts:  vorne  bis  zur  dritten  Rippe,  hinten  bis  zur 
Mitte  der  Skapula.  Daselbst  etwas  niedriger  und  vorne  von  der 
lünften  Rippe  an  pleuritisches  Exsudat.  Kein  Rasseln  zu  hören. 
Geringer  Husten,  wenig  Auswurf,  keine  Tuberkelbazillen  (fest- 
gestellt  zur  Zeit  des  zweiten  Kurses')..  Puls  100  bis  120. 

Vom  17.  Februar  bis  zum  7.  Juni  1908  wurden  drei  Kurse 
von  jo  zehn  bis  zwölf  Injektionen  mit  10%igeim  Atoxyl  ge¬ 
macht;  von  ihnen  der  mittlere  in  großen  Deusen  (0-3  bis  0-5  g  alle 
Tage),  die  übrigen  in  kleinen  Gaben  (0-1  g  alle  zwei  Tage). 
Alle  Erscheinungen  —  Husten,  Auswurf,  das  Infiltrat  des  rechten 
Oberlappens  und  das  pleuritische  Exsudat  -  -  gingen  immer  mehr 
zurück,  wobei  ihr  Schwinden  besonders  rapid  während  des  zweiten 
Kurses  (in  großen  Gaben)  vor  sich  ging.  Zeitweilig  trat  hin  und 
wieder  subkrepitierendes  Rasseln  auf,  hauptsächlich  während  der 
Intervalle  und  verringerte  sich  oder  schwand  während  der  Kurse. 
Beim  Ausgange  der  Kur  vollständige  Resorption  des  Exsudates, 
die  Verdichtung  des  linken  Oberläppens  beschränkt  sich  auf 
die  Lungenspitze,  der  Husten  hatte  fast  ganz  nachgelassen,  gar 
kein  Auswurf  mehr.  Besonders  charakteristisch  ist  die^  tem¬ 
peraturkurve  (Tabelle  2).  Daselbst  ist  ersichtlich,  daß  die  Steige¬ 
rung  des  Fiebers,  die  mit  dem  Anfang  des  ersten  Kurses  (kleine 
Dosen)  zusammengefallen  war,  sich  gegen  Abschluß  desselben 
verringert,  um  während  des  Intervalls  wieder  zu  steigen ;  ferner 
steigt  das  Fieber,  das  sich  während  der  ganzen  Zeit  des  zweiten 
Kurses  energisch  zurückgehalten  hat,  wieder  gegen  Ende  des 
zweiten  Intervalls,  sinkt  dagegen  wieder  während  des  dritten 
Kurses  —  obgleich  in  kleinen  Dosen  —  und  auch  nach  Abschluß 
desselben.  Endlich  fiel  die  Temperatur  der  Kranken  vollständig  zu: 
Norm  ab,  nachdem  sie  gegen  acht  Monate  gefiebert  hatte.  Wäh¬ 
rend  der  Kur  dauerte  der  Gewichtsverlust  fort  (bei  den  großen 
Dosen  jedoch  unbedeutender),  nach  dein  Fieberabfall  aber  trat 
Gewichtszunahme  ein.  Im  Laufe  von  vier  bis  fünf  Monaten 
schien  die  Patientin  gesund  zu  sein  und  nahm  3-2  kg  zu. 
Dann  aber  zeigte  sich  ein  hartnäckiges  Infiltrat  der  linken  Ma- 
millardrüse,  das  eine  nicht  verheilende  Fistel  ergab.  Die  Kranke 
fing  wieder  zu  fiebern  an  und  der  Lungenprozeß  schritt  foit.. 
Es  zeigten  sich  noch  zwei  große  kalte  Geschwüre  in  der  Lenden¬ 
gegend.  Diesmal1  wurde  eine  vorsichtige  Behandlung  mit  Endotm 
(„Tuberculinum  purum“)  Versucht  —  20  Injektionen  in  zwei 
Kursen  - —  jedoch  erfolglos.  Die  Kranke  starb  1  Jahr  4/2  Mo¬ 
nate  nach  Abschluß  der  Atoxylkur. 

Fall  III.  U.  W.,  23jähriges  Mädchen.  Hartnäckige  Nah¬ 
rungsverweigerung.  In  zwei  Jahren  hatte  sie  19  I<g  verloren. 
Nicht  selten  Durchfall.  Im  Februar  1908:  Gewicht  34-6  kg;  Tem¬ 
peratur  38  bis  39°,  weder  Husten,  noch  Auswurf.  Puls  120.  Ver¬ 
dichtung,  des  linken  Oberlappens,  daselbst  hinten  mittelblasiges 
Rasseln  beim  Ein-  und  Ausatmen,  vorne  über  den  beiden  Schlüssel 
beinen  scharfes  Atmen  und  die  sogenannten  Frottements  rallies, 
die  auch  in  den  anderen  Luing en parti en  hie  und  da  Vorkommen. 
Der  linke  Unterlappen  ist  emphysematisch  (vikar.).  Haut-  und 
Augenreaktion  auf  l°/oiges  Alttuberkulin  deutlich  ausgesprochen. 

Vom  17.  Februar  bis  zum  21.  April  wurden  zwei  Atoxylkurse 
vorgenommen:  der  erste  in  kleinen  Dosen  (12  Injektionen  n0-l) 
alle  zwei  Tage,  der  zweite  (9  Injektionen  ä  0-3  bis  0-5)  alle  diei 
Tage.  Die  Kurve  zeigt,  daß  die  Temperatur,  die  gegen  39  be¬ 


tragen  hatte,  während  dos  ersten  Kurses  unter  38°  sinkt  (unge¬ 
achtet  eines  Gewichtsverlustes  von  1-8  kg),  dann  wieder  während 
des  Intervalle®  bis  auf  39°  steigt  (ungeachtet  einer  Gewichts¬ 
zunahme  von  1-3  kg),  um  während  des  zweiten  Kurses  (in  großen 
Dosen)  wieder  energisch  zu  sinken.  Dieser  ergab  eine  Gewichts¬ 
zunahme  von  1-8  kg,  wobei  die  Patientin  anfing,  besser  zu  essen. 
Die  feuchten  Rasselgeräusche  verringerten  sich  an  Zahl  und  In- 
feensivität,  die  trockenen  verschwanden.  Das  rauhe  Atmen  der 
rechten  Lungenspitze  wurde  vesikulär.  Ueber  der  linken  Brust¬ 
warze  erschienen  drei  bis  vier  sehr  dumpfe,  mittelblasige  Ge¬ 
räusche  mit  bronchialem  Charakter  des  Exspiriums.  Patientin! 
verließ  das  Krankenhaus. 

Fall  IV.  N.  R.,  28jähriges  Mädchen.  Krank  seit  einem 
Jahre.  Hereditäre  Belastung. 

15.  Januar  1907 :  Nachweis  Koch  scher  Stäbchen  im  Spu¬ 
tum1.  Auch  im  gegebenen  Falle  wurde  die  Atoxylkur  unter  ganz 
denselben  Bedingungen  und  sogar  auf  demselben  Bette  vorge¬ 
nommen,  auf  dem  die  Kranke  schon  seit  acht  Monaten  gelegen 
hatte.  Der  einzige  Unterschied  im1  Rejgime,  u.  zw.  im  ungünstigen 
Sinne  für  das  Atoxyl,  bestand  darin,  daß  die  Periode  bis  zu  dieser 
Kur  während  des  Sommers  verflossen  war,  wo  die  Fenster  zum 
Garten  offen  standen ;  die  Atoxyl'behandlung  aber  wurde  im 
Herbste  begonnen,  noch  bevor  man  an|gefangen  hatte  zu  heizen, 
als  es  in  den  Krankensälen  plötzlich  kalt  und  feucht  wurde. 

Status  praesens:  Beständig  starker  Husten,  eine  etwas 
heisere  Stimme,  charakteristisch  für  die  Laryngophthise.  Reich¬ 
licher  dicker  Auswurf :  einige  zehn  Schleimstückchen  in  24  Stun¬ 
den.  Während  der  ganzen  Zeit  der  Beobachtung  wurde  eine 
24stündige  Berechnung  der  Hustenanfälle  geführt  und  die  Quan¬ 
tität  des  Auswurfes  (die  Anzahl  der  Schleimstückchen)  festg  es  teilt. 
Diese  Beobachtung  ist  in  der  Hinsicht  interessant,  weil  der  Atoxyl¬ 
kur  zweimonatige  Injektionen  mit  Arsen  in  der  gewöhnlichen 
Form  von  Na.tr.  Kakodyl.  (je  0-05  g  täglich)  vorangegangen  waren 
wobei  die  Kranke,  die  in  den  vorhergehenden  sieben  Monaten 
10-2  kg  verloren  hatte,  2-8  kg  zunahm,  w, ährend  Husten  und  Aus¬ 
wurf  sich  nur  auf  ganz  kurze  Zeit  verringerten  und  die  Tem¬ 
peratur,  wie  die  Kurve  (Tabelle  3),  die  zlu  Anfang,  des  zweiten  Mo¬ 
nats  der  Kakodylatkur  begonnen  wurde,  zeigt,  subfebril  blieb. 

Befund  arm  4.  Oktober  1907:  Verdichtung;  der  linken 
Lunge:  oben  Schrumpfung  auf  3U  cm,  vorne  Dämpfung  bis  zur 
dritten  Rippe,  hinten  über  den  ganzen  Lungenbezirk ;  hie  und 
da  (hauptsächlich  mittelblasiges)  feuchtes  Rasseln.  Unterhalb  der 
Mitte  der  Skapula  eine  große  Kaverne  mit  sehr  starker  ampho¬ 
rischer  Bronchophonie  und  unbedeutendelml  Rasseln.  In  der  rechten 
Lunge  unbedeutendes  vikariierendesi  Emphysem,  aber  auch  mit 
hin  und  wieder  vorkommendem  subkrepitierendem  Rasseln. 

Vom  4.  Oktober  1907  bis  zum  5.  Februar  1908  wurden  zwei 
Kurse  von  je  16  und  20  subkutanen  Injektionen  in  Zwischen¬ 
räumen  von  ein  bis  drei  Tagen  mit  großen  Dosen  von  Atoxyl 
(0-4  bis  0-8)  vorgenommen,  mit  einem  Intervall  von  23  Tagen 
zwischen  den  Kursen;  im  ganzen  wurden  18-6  g  des  Präparates 
eingespritzt.  Schon  von  den  ersten  Tagen  der  Kur  au 
fiel  die  rapide  und  plötzliche  Verminderung'  des  Hustens  und 
der  Auswurfsmienge  auf,  die  fast  während  eines  Jahres  so  reichlich 
und  beständig  gewesen  war.  Während  eines,  jeden  Kurses 
gab  es  drei  Tage  nach  der  Reihe  ganz  ohne  Auswurf,  was 
außerhalb  der  Kurse  absolut  nicht  beobachtet  worden  war.  Die 
Untersuchung  des  Auswurfes  —  zehn  Tage  nach  Abschluß  des 
ersten  Kurses  —  ergab  das  Verschwinden  der  Tuberkelbazillen, 
während  sie  anderthalb  Monate  nach  dem  zweitem  Kurse  einen 
„unbedeutenden“  und  nach  3 Ei  Monaten  einen  „bedeutenden 
Stäbchengehalt  nachwies.  Die  Stimlme  war  schon  während  des 
ersten  Kurses  klar  geworden.  Die  objektiven  Veränderungen  in 
den  Lungen  lassen  nach,  die  Rasselgeräusche  sind  fast  ver¬ 
schwunden,  die  Ausdehnung  der  Kaverne  hat  sich  vermindert,  der 
bronchiale  Charakter  der  Atmung  in  derselben  ist  verschwunden 
und  sie  ist  noch  trockener  geworden.  Die  Temperatur,  die  dein 
Kakodylate  nicht  gewichen  war,  wurde  gegen  Ende  des  zweiten 
Kurses  ganz  normal  und  beständig,  blieb  auch  so  während  der 
ganzen  Dauer  des  Intervalls  (Tabelle  4).  Während  des  zweiten 
Kurses  machte  sich  bisweilen  schon  die  Neigung  zu  Steige¬ 
rungen  bemerkbar,  die  gegen  Ausgang  der  Kur  deutlich  hervor¬ 
tritt.  Gegen  Ende  des  zweiten  Kurses  zeigten  sich,  augenschein¬ 
lich  als  Nebenwirkung  des  Atoxyls,  Schwächezustände  und  gleich¬ 
sam  Erscheinungen  von  Polyneuritis.  Drei  läge  lang  konnte  die 
Patientin  sich  nicht  auf  den  Füßen  halten,  dann  blieb  eine  ge¬ 
wisse  Atrophie  derselben  zurück.  Diese  Zustände  schwamden 
übrigens  ziemlich  schnell.  Während  des  ersten  Kurses  Gewichts¬ 
zunahme  von  2-4  kg,  in  den  23  Tagen  des  Intervalls  w  2  kg, 
während  des  zweiten  Kurses  Verlust  von  4-6  kg  (die  besagte  Neben¬ 
wirkung  und,  wahrscheinlich  im  Zusammenhang  damit,  zeitweise 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Schwankungen  des  erlangten  Heilerfolges).  Die  Patientin  blieb 
noch  ein  Jahr  in  der  Anstalt,  die  erreichte  Besserung  glich  sich 
aus  und  hielt  bis  fast  ganz  zuletzt  an,  besonders  die  objektiven 
Erscheinungen  und  die  Temperatur,  die  wieder  ganz  normal 

geworden  war. 

Fall  V.  0.  W.,  27  Jahre  alt.  Im  Februar-März  1900  eine 
langsam  verlaufende  Pneumonie.  Die  Kranke  erholte  sich  wieder 
und  nahm  in  einem  halben  Jahre  zu  ihren  35-8  kg  94  kg  zu. 
Dann  fing  sie  aber  wieder  an  abzumagern  und  seit  Januar  1908 
zu  fiebern  und  zu  husten.  Affektion  der  beiden  überlappen, 
Veränderungen  der  Perkussion,  des  Atmens,  feuchtes  Rasseln, 
teilweise  auch  über  anderen  Partien  zerstreut.  Temperatur  38 
bis  39°.  Hautreaktion  (Pirquet)  positiv,  im  Sputum  Tuberkel¬ 
bazillen. 

Vom  17.  Februar  bis  zum  21.  April  1908  wurden  zwei 
Atoxylkurse  vorgenommen:  12  Injektionen  in  kleinen  Dosen  (04) 
und  10  in  großen  (0-3  bis  0-4).  Hier  hatte  die  Behandlung  gar 
keinen  Erfolg.  Die  Krankheit  nahm  die  galoppierende  Form  an. 
Es  bildeten  sich  eine  Menge  Kavernen  (bestätigt  durch  die  Sek¬ 
tion,  die  auch  die  Darmtuberkulose  an  den  Tag  brachte).  Exitus 
am  2.  Mai  1908. 

Fall  VI.  E.  P.,  29jähriges  Mädchen.  Der  Fall  ist  mit  dem 
vorhergehenden  analog  (galoppierende  Form).  Seit  Anfang  1908 
rapide  Abmagerung ;  schon  im  März  trat  beständiges  Fieber  auf 
(39°  und  mehr),  bei  verbreiteten  Lungenherden,  mit  anfangs  spär¬ 
lichem  Rasseln,  aber  Bronchialatmen  in  einigen  Partien.  Puls 
beschleunigt  (bis  130).  Auswurf  sehr  reichhaltig  an  Tuberkel¬ 
bazillen.  Es  wurden  zwei  Kurse  durchgemacht:  11  und  7  In¬ 
jektionen  in  Dosen  von  0-3  bis  0-5.  Im  Verlaufe  des  ersten 
Kurses  nahm  die  Kranke  um  0-8  kg  (=  39-2  kg)  zu,  während  sie 
vor  der  |Kur  in  2x/2  Monaten  5-6  kg  verloren  hatte.  Die  Temperatur 
sank  während  dieses  Kurses  rapid  auf  mehr  als  1°  und  verblieb 
sc  fast  bis  zum  Abschluß  desselben.  Leider  erkältete  sich  die 
Patientin  und  eine  katarrhalische  Pneumonie  komplizierte  den 
Prozeß.  Der  zweite  Kurs  erwies  sich  als  wirkungslos,  ergab 
aber  dennoch  ein  unbedeutendes  Abfallen  der  Temperatur.  Am 
28.  Juni  1908  Exitus. 

Fall  VII.  Sch.  Sch.,  ungefähr  26  Jahre  alt.  Tuberculosis 
Chirurg ica.  Zeichnete  sich  in  früheren  Jahren  durch  guten 
Ernährungszustand  aus  (66  kg),  frische  Gesichtsfarbe.  Seit  1905 
fing  sie  an  abzumagern.  Gegen  Mitte  1908  erschienen  in  rapider 
Folge  und  progressierten  große  Infiltrate  im  Bereiche  des  linken 
und  dann  des  rechten  Fußgelenkes,  in  Gestalt  von  kalten  Ab¬ 
szessen,  mit  oft  blutenden  Fisteln,  die  zeitweilig  in  warme  über¬ 
gingen  (besonders  links,  mit  großer  Eiteranhäufung  —  ohne  K  o  c  h- 
scbe  Bazillen  - —  die  Inzision  erforderten) ;  ferner  ein  kalter 
Abszeß  am  rechten  Unterarm,  der  so  verblieb ;  eine  Hautaffek¬ 
tion  an  der  linken  Hinterbacke,  von  der  Größe  eines  Fünffranken- 
stückes,  in  Gestalt  eines  Ulkus  mit  tiefer  Höhlung,  die  eine 
korrespondierende  Oeffnung  hatte;  schließlich  ein  kleines  kaltes 
Geschwür  an  der  Wange,  das  auch  akut  wurde  und  nach  der 
Entleerung  nicht  zuheilte.  Die  Patientin  fieberte  periodisch,  Puls 
bis  130.  Lungen  gesund.  Vom  8.  Oktober  1908  bis  zum  12.  Mai 
1909  wurden  vier  Kurse  vorgenommen :  zu  5,  13,  4  und  11 
Atoxylinjektionen  alle  zwei  bis  drei  Tage,  in  mittleren  Dosen 
ä  0-3  bis  04,  die  letzte  0-25.  Dabei  die  gebräuchliche  örtliche 
Behandlung.  Einen  bestimmten  Einfluß  auf  das  Fieber,  das  über¬ 
haupt  unbeständig  war,  konnte  in  diesem  Falle  nicht  festgestellt 
werden.  Das  Geschwür  an  der  Hinterbacke  verheilte  gegen  Ab¬ 
schluß  der  Behandlung.  Der  Verlauf  der  Abszesse  war  in  den 
ersten  Monaten  günstig :  sie  bluteten  seltener  und  zeigten  Nei¬ 
gung  zu  Granulationsbildungen;  in  der  Folge  im  Gegenteil:  Ka¬ 
chexie,  Febris  continua.  Exitus  am  20.  Juni  i909. 

Fall  VIII.  A.  S.,  39  Jahre  alt,  Mädchen.  Vater  an  der 
Schwindsucht  gestorben,  Mutter  hustete  einige  Jahre.  Appetit¬ 
losigkeit,  allmähliche  Reduktion  des  Ernährungszustandes :  im 
Jahre  1904  wog  die  Kranke  64  kg,  am'  1.  März  1908  43  kg, 
Husten,  Auswurf.  Verdichtung  beider  Lungenspitzen,  daselbst 
(sowie  auch  unter  den  Achselhöhlen)  scharfes  Atmen,  mit  ge¬ 
dehntem  Exspirium,  in  der  linken  dabei  abgeschwächt,  in  der¬ 
selben  unbestimmtes  subkrepitierendes  Rasseln,  unterhalb  der 
Spina  scapulae.  Frottements  railles.  Unten  in  der  linken  Lunge 
und  längs  der  Axillarlinie  ein  Streifen  von  Dämpfung  mit  klin¬ 
gendem,  mittel-  und  feinblasigem  Rasseln.  Im  Auswurf  Kochsche 
Stäbchen.  Unregelmäßiges  Fieber  (37°  bis  39°).  Vom  10.  März  Ins 
zum  8.  April  1908  wurden  zwölf  Atoxylinjektionen  in  kleinen 
Dosen  (04 ;  zwei  Injektionen  ä  045)  gegeben.  Die  Temperatur 
fiel  fast  zur  Norin  ab;  +  2-6  kg.  Die  Rasselgeräusche  ver¬ 
schwanden  fast  gänzlich;  nur  das  rauhe  Atmen  und  Exspirium 
in  den  Spitzen  blieb.  Die  Kranke  verblieb  noch  einige  Monate 
in  der  Anstalt  und  die  erlangte  Besserung  hielt  an. 


Was  die  ambulatorischen  Kranken  anbelangt,  so  boten 
sie  selbstverständlich  weniger  stark  ausgeprägte  Tuberkulose 
und  bei  ihnen  machte  sich  die  Wirkung  des  Atoxyls  viel 
häufiger  bemerkbar,  dafür  aber  gelang  es  mir  leider  nicht 
immer,  die  Kurse  zu  wiederholen  und  den  weiteren  Effekt 
zu  verfolgen. 

Als  Beispiel  führe  ich  hier  einen  dieser  Fälle  an,  in 
welchem  drei  Kurse  gemacht  wurden. 

N.  Bl1.,  37  Jahre  alt,  unverheiratet.  Aus  tuberkulöser  Fa¬ 
milie.  Hustet  seit  Jahren.  Auswurf,  bisweilen  leichtes  Fieber 
gefühl.  Seit  zwei  Jahren  an  Heroin  gewöhnt,  ohne  welches  ihn 
der  Husten  nicht  schlafen  läßt. 

Status  praesens  im  November  1907.  Dämpfung  beider 
Lungenspitzen  vorn  und  hinten  mit  abgeschwächtem  Atmen  und 
vereinzelten,  unbeständigen  Rasselgeräuschen,  die  auch  oberhalb 
der  rechten  Brustwarze  zu  hören  sind ;  über  den  Schlüsselbeinen 
scharfes  Exspirium.  Hinten  unten  in  den  Lungen  von  beiden 
Seiten  ein  ziemlich  dichter,  drei  Querfinger  breiter  Streifen  von 
Subkrepitation,  welcher  bis  über  die  Axillarlinien  reicht.  Der 
Auswurf  wurde  gegen  die  Mitte  des  ersten  Kurses  untersucht: 
Keine  Tuberkelbazillen.  Temperatur  normal.  Vom  14.  November 
bis  zum  30.  Dezember  1907  wurden  17  subkutane  Injektionen 
mit  10®/oigem  Atoxyl'  in  gesteigerten  Dosen  von  0-07  bis  0-6  g 
gemacht  (im  ganzen  wurden  6-6  des  Präparates  injiziert). 

Pat.  unterbrach  seine  zwölfjährige  anspannende  Kanzlei¬ 
arbeit  eines  Zollbeamten  nicht  und  unterwarf  sich  überhaupt 
keinem  Regime.  Die  bis  zum  Atoxyl  verordneten  Mittel,  teilweise 
auch  das  gewohnte  Heroin,  wurden  schnell  aufgegeben.  Es  ist 
wichtig,  zu  bemerken,  daß  das  Gewicht  des  Kranken  sich 
eher  verringerte,  gegen  Ende  des  Kurses  aber  unverändert 
blieb  (69-2  kg).  Der  Husten  und  Auswurf  verringerten  sich  rapid, 
die  Rasselgeräusche  waren  nur  noch  rechts  hinten  unten  übrig 
geblieben  und  reichten  schon  nicht  mehr  bis  über  die  Axillar¬ 
linie;  in  der  Mitte  der  linken  Skapula  erschien  undeutliches, 
vereinzeltes  Rasseln.  Nach  einem1  einmonatigen  Intervall,  wäh¬ 
rend  dessen  die  energisch  in  Anwendung  gebrachten  Mittel  (Thio- 
kol',  Mentholinhalationen,  Glyzerophosphate)  einen  kaum1  merk¬ 
lichen  Fortschritt  in  der  Besserung  hervorgebracht  hatten,  wurden 
alle  Mittel  beiseite  gelassen  und  vorn  2.  Februar  bis  zum  7.  März 
1908  wurde  ein  zweiter  Kurs  der  A  to  x  y  1  be  h  a  n  d  lung  vorgenommen. 
Zwölf  Injektionen'  ä  0-13  bis  0-55  (im’  ganzen  5-75  des  Präpraates). 
Dieselbe  Lebensweise,  derselbe  Dienst.  Das  Gewicht  blieb 
auch  dieses  Mal  unverändert.  Von  den  ersten  Tagen  an 
aber  machte  sich  rapide  Besserung  bemerkbar:  Das  Kratzen  im 
Larynx  wurde  viel  schwächer,  der  Husten  ebenfalls.  Das  sub¬ 
jektive  Befinden  wurde  auch  „viel  besser  als  zur  Zeit  des  Inter¬ 
valles“.  Nach  Abschluß  des  zweiten  Kurses  war  in  den  Lungen 
nirgends  ein  Rasseln  deutlich  zu  unterscheiden;  ab¬ 
geschwächtes  Atmen  über  den  Schlüsselbeinen  (Schrumpfung?). 
Dann,  nach  neunmonatigem  Intervall,  während  dessen  die  sub 
jektive  Besserung  vollkommen  andauerte,  wurden  wieder  (6.  Mai 
1908)  hie  und  da  —  hauptsächlich  an  den  früheren  Stellen 
—  äußerst  spärliche  Rasselgeräusche  konstatiert.  Es  wurde  der 
dritte  Kurs  vorgenommen  —  neun  Atoxylinjektionen  a  0-3  bis 
0-4.  Diesmal'  ergab  das  Gewicht  -f-  1-2  kg.  Am  22.  Mai  1908 
nirgends  ein  Rasseln.  Ich  treffe  den  Kranken  bis  jetzt  (No¬ 
vember  1910).  Eine  Nachuntersuchung  habe  ich  nicht  anstellen 
können,  aber  er  behauptet,  daß  er  sich  fast  ebenso  gut  fühle 
und  daß  er  nur  in  der  letzten  Zeit  angefangen  habe  ein  wenig 

zu  husten.  . 

Die  von  mir  angeführten  Beobachtungen  sind  natürlich 
nicht  genügend.  Leider  konnte  ich  sie  nicht  fortsetzen, 
da  die  Literatur  Mitteilungen  brachte  über  die  bisweilen 
schädliche  Wirkung  des  Atoxyls  auf  die  Sehnerven.  Den¬ 
noch,  scheint  mir,  kann  man  ausl  den  von  mir  mitgeteilten 
Tuberkulosefällen  —  fast  alle  im  letzten  Stadium  —  den 
Schluß  ziehen,  daßi  das  Atoxyl  bei  besagter  Krankheit  eine 
heilsame  Wirkung  ausübt,  eine  Wirkung,  die  in  einzelnen 
Fällen,  wo  sich  die  Möglichkeit  eines  Vergleiches  bol,  die 
Behandlung  mit  gewöhnlichem  Kakodylate,  sowie  auch  mit 
Tuberkulin  übertraf  und  die  sich  nicht  selten  auch  ohne 
Einfluß  auf  die  Ernährung  des  Organismus  und  bisweilen 
auch  bei  Gewichtsverlust  geltend  machte.  Ich  bleibe  daher 
bei  meiner  Meinung,  daß  die  positiven  Behandlungsresultate 
einer  gewissen  spezifischen  bakteriziden  Wirkung  aut  die 
Tuberkelstäbchen  im  Organismus  zuzuschreiben  sind. 

Wen  ich  mir  dennoch  erlaube,  _  meine  so  wenig 
zahlreichen  Beobachtungen  zu  veröffentlichen,  so  geschieht 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  16 


dies  in  Anbetracht  des  Erscheinens  des  Salvarsans,  eines  ge¬ 
nügend  unschädlichen  Präparates,  das  sich  als  anwendbar 
erwiesen  hat  —  und  zudem  mit  viel  größerem  Erfolge  — 
bei  allen  denjenigen  Krankheiten,  bei  denen  auch  das  Atoxyl 
gebraucht  worden  ist  (Syphilis,  Trypanosen,  Frambösie, 
Typhus  recurrens,  Malaria,  Lepra).  Bis  jetzt  haben  Autoren, 
die  das  Arsenobenzol  bei  der  Syphilis  angewandt  haben, 
uns  mitgeteilt,  daß  die  Tuberkulose  keine  Kontraindikation 
zum  Gebrauche  dieses  Mittels  ist.  Ich,  meinerseits,  erlaube 
mir  mitzuteilen,  daß  meine  ersten  Eindrücke  über  die  Wir¬ 
kung  von  ,,606“  bei  der  Tuberkulose  von  der  Zeit  an, 
seit  das  Präparat  in  den  Handel  gekommen  ist,  mich  dazu 
bewegen,  diese  Krankheit  im  Gegenteil  als  Indikation  zur 
Anwendung  des  Arsenobenzols  zu  halten.  Ob  auch  hier  die 
Methode  der  Therapia  sterilisans  magna  oder  Therapia 
fractionata  zugrunde  liegen  soll  oder  die  Behandlung  mit 
gesteigerten  Dosen,  wie  ich  es  bei  der  Parasyphilis  vorge¬ 
schlagen  habe,  das  wird  freilich  die  Zukunft  lehren. 

Literatur: 

*)  G  z  e  r  n  i  -  T  r  a  n  e  c  e  k,  Wochenschr.  für  Ther.  und  Hyg.  der 
Aerzte  1901,  S.  43.  —  2)  Landsberger,  Atoxyl  bei  der  Behandlung 
von  Trypanosomenkrankheiten.  Ther.  der  Gegenw.  1907,  Bd.  3. 

3)  Blumenthal,  Med.  Wochenschr.  1902,  Nr.  15.  —  4)  Zeißl,  Wiener 
med.  Presse  1907,  Nr.  33.  5)  Mendel,  Therap.  Monatsschr.  1903, 

H.  4,  S.  180.  -  6)  Schild,  Dermat.  Zeitschr.,  Bd.  10,  H.  1;  Berliner 
klm.  Wochenschr.  1902,  Nr.  23.  -  ’)  Zeißl,  Wiener  med.  Wochenschr. 

1903,  Nr.  17.  —  8)  Bringer,  Therap.  Monatsschr.  1903,  H.  8,  S.  839. — 
ö)  Möller,  Klin.  therap.  Wochenschr.  1904,  Nr.  9.  —  10)  Thomas 
\\  o  1 1  e  r  s  t  o  n,  Ayres  K  o  p  k  e,  Zitiert  nach  Landsberger.  Ther.  der 
Gegenw.  190/,  III.  —  »)  Koch,  Sonderbeilage  zu  Nr.  51  der  Deutschen 
med.  Woche  1906.  —  12)  P.  Salmon,  Nouveau  traitement  de  la  syphilis 
par  Parsonic  org.  Gaz.  mödic.  de  Paris  1907,  Nr.  6.  -  13)  Uhlenhut, 

Hoffmann  und  Roscher,  Untersuchungen  über  die  Wirkungen  des 
Atoxyls  auf  die  Syphilis.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1907,  Nr)  22.  — 
-  I4)  Hallopeau,  Sur  le  trait,  d.  1.  svphl.  par  l’anilarsinate  de  soude 
suiv.  le  procedö  d.  Mr.  P.  Salmon.  Revue  scientif.  1907,  Nr.  24. 
l5)  Lassar,  Atoxyl  bei  Syphilis.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1907, 
Nr.  22.  —  16)  Ne  iss  er,  Atoxyl  bei  Syphilis  und  Frambösie.  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1907,  Nr.  38  —  ,7)  Babes  und  Vasiliu,  Atoxvl- 
behandlung  der  Pellagra.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1907,  Nr.  28.  -- 
‘’)  Glaubermann,  Klinische  Beobachtungen  über  die  Wirkung  des 
Atoxyls  auf  den  Verlauf  des  Typhus  recurrens.  Prakt.  Wratsch  1907,  Nr.  35 
(russisch).  la)  Tcherkassotf,  Zur  Frage  des  Atoxylgebrauchs  bei 
der  Behandlung  des  Typhus  recurrens.  Prakt.  Wratsch  1908,  Nr.  47 
(russisch).  ~r."J)  Urobinsky,  Ueber  die  therap.  Anwendung  des 
Atoxyls  beim  Typhus  recurrens  und  Sumpffieber.  Charkow,  med.  Zeitschr. 
190/  (russisch).  **)  J.  Brault  (Alger),  Quelques  cas  de  lepre  tuber- 
culeuse  traites  par  1  atoxyle.  —  22)  Rohden,  Memoranda  medica  1903, 
E  "f)  E-  Mendel,  Die  kombinierte  Behandlung  der  Tuberkulose 
mit  Atoxyl  und  Tuberkulin.  Münchener  med.  Wochenschr.  1909. 


Aus  dem  Institut  für  exper.  Pathologie  der  deutschen 
Universität  in  Prag. 

(Vorstand:  Prof.  H.  E.  Hering). 

Untersuchungen  über  die  Giftwirkung  von 
Typhusexsudaten  auf  den  Kreislauf. 

Von  I  iiv.-Doz.  tür  innere  Medizin  Dr.  Edmund  Hoke  (Prag-Franzensbad). 

Die1  Einwirkung  von  Bakteriengiften  auf  die  Zirku¬ 
lationsorgane  isl  mit  verschiedenen  Bakterien  und  von  ver¬ 
schiedenen  Autoren  studiert  worden.  Romberg,  Päßler, 
Brüh  ns  und  Müller1)  arbeiteten  mit  Diphtheriebazillen, 
Diplokokken  und  dem  Pyozyaneus.  Radczynski2)  stu¬ 
dierte  den  Einfluß  der  Toxine  der  Streptokokken  und  des 
Bacterium  coli,  Charrin  und  Gley3)  beschäftigten  sich 
ebenfalls  mil  dem  Bacillus  pyocyaneus  und  Arloing4)  stu¬ 
dierte  den  Einfluß  von  Staphylokokkenprodukten  auf  die 
Vasodilatatoren.  Rothberger5)  machte  dann  die  Gifte  der 
El  I  or -Vibrionen  zum  Inhalte  seiner  Studie.  In  der  vorlie¬ 
genden  Arbeit  wurde  nicht  der  Typhusbazillus  selbst,  son¬ 
dern  von  ihm  in  dem  infizierten  Tiere,  nicht  in  vitro  ge¬ 
bildete  Stoffwechselprodukte,  als  Ausgangsmaterial  ver¬ 
wendet.  Anläßlich  seiner  Studien  über  die  aggressive  Eigen¬ 
schaft^  von  Körperflüssigkeiten  mit  typhusinfizierten  Tieren 
land  Bail  )  eine  hohe  Giftigkeit  von  Typhusexsudaten,  wäh¬ 
rend  andere  Exsudate,  wie  die  unter  dem  Einfluß  der  Diplo¬ 
kokkeninfektion  entstandenen,  gar  keine  Giftigkeit  aufweisen, 


sondern  einzig  und  allein  eine  aggressive  Wirkung  entfaltei 

(Hoke7). 

Diese  giftigen  Exsudate  als  Ausgangspunkt  zu  verwen 
den  und  nicht  den  Bacillus  typhi  selbst,  lag  um  so  näher 
als  beim  Menschen  die  Toxämie  beim  Typhus  das  Bild  be 
herrscht,  während  die  im  Blute  zirkulierenden  Bazillen  sichei 
erst  in  zweiter  Reihe,  wenn  überhaupt,  zur  Erklärung  de: 
Erscheinungen  am  Zirkulationsapparat  herangezogen  werden 
können.  Noch  ein  weiterer  Punkt  war  maßgebend.  Briiwi 
man  einem  Tiere  eine  größere  Bazillenmenge  direkt  ins  Blut 
und  zur  Erzielung  eines  „akuten“  Versuches  sind  dazu 
sehr  große  Bazillenmengen  notwendig,  so  war  immer  der 
Eimvand  berechtigt,  daß  durch  die  gewaltige  Ueberschwem 
mung  des  Organismus  rein  mechanisch  durch  Embolie  Er¬ 
scheinungen  ausgelöst  werden  konnten,  welche  natürlich 
nicht  auf  die  Wirkung  des  Typhusbazillus  als  solchen  be¬ 
zogen  werden  konnten. 

V  e  rsuchsanor  d  n  u  n  g. 

Verwendet  wurde  ein  Typhusstamm  „H“,  welche: 
aus  dem  Harne  eines  Typhusbazillenträgers  irisch  gezüchtet 
worden  war.  Derselbe  wurde  durch  zwei  Kaninchenpassagen 
„tierisch  gemacht  in  der  Weise,  daß  das  erste  Kaninchen  mit 
zwei  Bouillonkulturen  intrapleural  infiziert  wurde,  das  Exsudat 
dieses  Tieres  (ca.  10  Cm3)  sofort  auf  ein  zweites  (intrapleural ' 
übertragen  wurde  und  erst  dieses  von  dem  zweiten  Kaninchen 
stammende  Exsudat  zu  dem  Versuche  verwendet  wurde.  Zur 
weiteren  Exsudatgewinnung  wurde  immer  Exsudat  von  dem  vori¬ 
gen  Versuche  im  Eiskasten  aufgehoben,  so  daß  niemals  „Kultur- 
bazillen“  zur  Infektion  verwendet  wurden.  Nur  in  einem  Ver¬ 
suche  wurde  dies  getan  und  wie  zu  erwarten  war,  erwies  sich 
das  so  gewonnene  Exsudat  bedeutend  weniger  giftig.  Immer 
wurden  die  Exsudate  auf  ihre  Reinheit  durch  Anlegung  von 
Agarkulturen  geprüft,  um  Mischinfektionen  auszuschließen. 

Die  Herstellung  eines  derartigen,  zu  den  Kreislaufstudien 
verwendeten  Exsudates  war  folgende:  Ein  großes  Kaninchen  (es 
wurden  immer  fiere  über  2000  g  zur  Exsudatgewinnung  ver¬ 
wendet)  erhielt  1  cm3  Vollexsudat  in  die  rechte  Pleurahöhle. 
Kam  es  vor,  daß  die  Lunge  verletzt  wurde  und  daher  eine 
Mischinfektion  von  der  Lunge  her  zu  befürchten  war,  so  wurde 
das  Tier  nicht  weiter  verwendet.  Dieses  recht  unliebsame  Er¬ 
eignis  zeigt  sich  dadurch,  daß  dem  Tiere  die  injizierte  Flüssig  j 
keit  aus  der  Nase  fließt.  In  meist  24  Stunden  war  das  Tier 
verendet.  Zur  Exsudatgewinnung  wurde  das  Tier  aufgetnageil. 
die  Haut  abgezogen,  die  entblößten  Thoraxpartien  ausgiebig  ab 
gesengt,  mit  glühender  Schere  ein  Fenster  in  die  Thoraxwaud 
geschnitten  und  das  Exsudat  mit  steriler  Pipette  aus  den  Pleura¬ 
höhlen  gewonnen.  Auf  eine  genauere  Beschreibung  dieser  Typhus 
exsudate  muß  hier  verzichtet  werden.  Gewöhnlich  gelingt  es, 
von  einem  Tiere  10  bis  15  cm3  Exsudat  zu  gewinnen.  Das  Exsudat 
wurde  in  einer  sterilen  Eprouvette  mit  einer  rasch  lautenden 
Zentrifuge  durch  zwei  Stunden  zentrifugiert,  um  es  von  zelligen 
Elementen  und  der  Hauptmasse  der  darin  enthaltenen  Bazillen 
zu  befreien.  Dann  wurde  es  entweder  sofort  ,  zu  gleichen  Teilen 
mit  0 •  9  °/o ige  r  Kochsalzlösung  verdünnt  und  zu  dem  Versuche 
verwendet,  oder  es  wurden  durch  Zusatz  von  einigen  Tropfen 
Toluol  und  zweistündigem  Schütteln  (bei  Luftabschluß)  die  im 
Exsudat  vorhandenen  Bazillen  getötet,  das  Toluol  abdampfen 
gelassen  und  dann  das  Exsudat  wieder  zu  gleichen  Teilen  mit 
OUGAger  Kochsalzlösung  verdünnt. 

Zum  Studium  der  Kreislaufwirkung  dieser  so  gewonnenen 
Exsudate  wurden  ausschließlich  größere  Kaninchen  im  Gewichte 
von  1950  g  bis  3020  g  verwendet.  Die  Tiere  wurden  kurari- 
siert,  die  rechte  Vena  jugu laris  mit  einer  Bürette  verbunden, 
durch  welche  das  Exsudat  infundiert  wurde.  Die  linke  Karotis  j 
stand  mit  einem  Quecksilbermanometer  in  Verbindung,  welches 
den  Blutdruck  auf  dem  Hering  sehen  Kymographion  verzeichnete. 

V  urde  die  Ausführung  der  Aortenkompression  beabsichtigt,  so 
wurde  die  Aorta  am  Bogen  ohne  Thoraxöffnung  so  weit  frei¬ 
gelegt,  daß  man  um  sie  einen  Faden  schlingen  und  sie  mit 
einer  stärkeren  Klemmpinzette  bequem  fassen  konnte.  Zum 
Zwecke  der  Splanchnikusreizung  wan'd e  der  linke  Splanchnikus 
unterhalb  seines  Durchtrittes  durch  das  Zwerchfell  freigelegt, 
durchschnitten  und  das  periphere  Ende  über  ein  durch  Hartgummi 
geschütztes  Elektrodenpaar  gelegt. 

Im  ganzen  wurden  acht  Versuche  angestellt. 

Ergebnisse  der  intravenösen  Exsudatinjektion. 

Die  Typhusexsudate  erwiesen  sich  als  für  den  Kaninehen¬ 
körper  enorm  giftig  u.  zw.  kam  es  in  einem  Versuche  zu  einer 


Nr.  16 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Drucksenkung  so  rapid,  daß  das  Tier  zugrunde  ging,  ehe 
,lie  beabsichtigte  Analyse  der  Blutdrucksenkung  ausgeführt  werden 
konnte.  Das  Krankheitsbild  derartig  vergifteter  Tiere  wurde  von 
Bail  in  der  bereits  erwähnten  Mitteilung  beschrieben,  auf  die 
verwiesen  werden  muß.  Es  sei  nur  erwähnt,  daß  die  von  Bail 
beobachteten  Diarrhöen  nur  einmal  konstatiert  werden  konnten, 
offenbar  deshalb,  weil  die  Tiere  zu  rasch  starben. 

Als  Beispiel  einer  solchen  rapiden  Drucksenkung  sei  ein 

Versuch  genauer  angeführt. 

7.  Versuch.  Typhusexsudat  steril;  zu  gleichen  Teilen  mit 
0-9°oiger  Kochsalzlösung  verdünnt.  Kaninchen  1910;  das  I  ier 
,var  kurarisiert,  die  Aorta  zur  Abklemmung  freipräpariert.  Beginn 
,les  Versuches  12  Uhr  16  Minuten  mittags.  Druck  100  mm  Queck¬ 
silber,  Puls  330.  Die  wenige  Sekunden  später  ausgeführte  Aorten- 
kornpression  steigert  den  Blutdruck  auf  154  mm  Quecksilber. 
Um  12  Uhr  23  Minuten  wird  die  künstliche  Atmung  durch  15  Se¬ 
kunden  ausgesetzt,  was  eine  Druck erhebung  bis  auf  161  nun 
Quecksilber  zur  Folge  hat.  Wenige  Sekunden  nach  12  Uhr 
27  Minuten  wird  mit  der  Infusion  des  Typhusexsudates  begonnen 
und  zwar  laufen  in  Intervallen  von  je  sieben  Sekunden  je  1  cm 
Flüssigkeit  ein.  Im  ganzen  wurden  5  cm3  infundiert.  Schon  wenige 
Sekunden  nach  Sistierung  der  Infusion  sinkt  der  Druck  auf 
60  mm  Quecksilber  ab  und  ehe  noch  der  Effekt  der  Aorten¬ 
kompression  und  'des  Aussetzens  der  künstlichen  Ventilation 
auf  den  Blutdruck  geprüft  werden  konnte,  geht  das  Tier  zugrunde. 

Im  Herzen  fand  sich  Gerinnung. 

Analyse  der  B 1  u  t  d  r  u  c  k  s  e  n  k  u  n  g . 

Die  immer  beobachtete  Drucksenkung  konnte  durch  .'ver¬ 
schiedene  Möglichkeiten  bedingt  sein.  Das  Gift  konnte  primär 
das  Herz  schädigen,  was  namentlich  bei  der  gewählten  Einfuhr 
des  Giftes,  der  intravenösen,  wohl  möglich  war,  es  konnte  feiner 
die  Gefäße  als  primären  Angriffspunkt  haben  und  endlich  konnten 
beide  Möglichkeiten  gleichzeitig  auftreten.  Dann  war  noch  zu 
entscheiden,  ob  der  Angriffspunkt  des  Giftes  ein  zentraler  oder 

ein  peripherer  war.  .  ,r  , 

Zur  Entscheidung  dieser  Fragen  wurden  folgende  Versuche 

Die  Aortenkompression,  die  dyspnoische  Blutdrucks teigenmg 
durch  Aussetzen  der  künstlichen  Atmung,  die  reflektorische  Er¬ 
regbarkeit,  der  Gefäße  durch  faradische  Reizung  der  Nasenschleim¬ 
haut,  die  Splanchnikusreizung  und  endlich  der  Erfolg  einer  intra¬ 
venösen  Adrenalininjektion  auf  den  abgesunkenen  Druck. 

I.  A  o  r  t  en  ko  mp  re  s  s  i  on  und  Reizung  der  Nasen¬ 
schleimhaut. 

2  Versuch.  Typhusexsudat  nicht  sterilisiert,  wieder  zu 
gleichen  Teilen  mit  0-9°/oiger  Kochsaislösung  verdünnt.  Kaninchen 
3020  g  Aorta  freigelegt  ;  in  die  Nase  des  Tieres  wird  ein  Messing¬ 
knopfelektrodenpaar  eingeführt.  Blutdruck  im  Beginne  des  Ver¬ 
suches  92  mm  Quecksilber  Pulsfrequenz  300.  Nun  wurde  die 
Nasenschleimhaut  des  Tieres  faradisch  gereizt.  Bei  10  cm  Dollen¬ 
abstand  und  durch  drei  Sekunden  fortgesetzter  Reizung  erhellt 
sich  der  Blutdruck  auf  98  mm,  bei  8  cm  Rollenabstand  auf  146  mm. 
Um  11  Uhr  45  Minuten  wurde  mit  der  Infusion  begonnen,  so 
zwar,  daß  um-  11  Uhr  48  Minuten  5  cm3  eingelaufen  waren.  Nun 
wurde  die  Infusion  sistiert;  der  Blutdruck  war  m  diesem  Momente 
104  mm,  war  also  höher  als  vor  der  Infusion.  Pulsfrequenz  o,  . 
Der  Druck  sinkt  nun  langsam1  ab,  um  11  Uhr  52  Minuten  betrug 
er  nur  mehr  54  mm.  Die  jetzt  durch  fünf  Sekunden  ausgefuhrto 
Aortenkompression  steigert  den  Blutdruck  bis  aut  %  nun,  wahrem 
die  Reizung  der  Nasenschleimhaut  bei  8  cm  Rollenabstand  und 
zehn  Sekunden  langer  Reizung  schon  versagt.  Um  12  Uhr  Mi¬ 
nuten  mißt  der  Druck  54  mm,  die  Aortenkompression  steigert 
ihn  auf  86  min.  Um  12  Uhr  32  Minuten  versagt  die  Reizung 
der  Nasenschleimbaut  auch  bei  Null  R.ollenabstand,  wahrend 
die  Aortenkompression  den  Blutdruck  von  42  mm  noch  auf  84  mm 
erhebt.  Ja  selbst  bei  einem  Druck  von  nur  mehr  14  mm  Queck¬ 
silber  erhebt  er  sich  nach  einer  neuerlichen  Kompression  noch 
auf  64  mm  Quecksilber. 

Aus  dem1  oben  angeführten  Versuche  geht  wohl  unzweifel¬ 
haft  hervor,  daß  die  Hauptursache  der  Blutdrucksenkung  nicht 
in  einer  Schädigung  des  Herzens  gesucht  werden,  kann,  da  dieses 
sich  noch  bis  zum  letzten  Moment  als  sehr  reaktionsfähig  ei¬ 
wies.  Das  Versagen  der  Trigeminusreizung  wies  dagegen  auf  eine 
Aenderung  des  Gefäßapparates  als  Ursache  der  Blutdrucksenkung 
hin.  Diese  konnte  nun  peripherer  oder  zentraler  Natur  sein  Uii 
.lies  zu  entscheiden,  wurde  der  Einfluß  einer  peripheren  Splanch- 
nikusreizung  studiert  und  gleichzeitig  -die  Beeinflussung  des  Blut¬ 
druckes  durch  das  Aussetzen  der  künstlichen  Atmung  und  durch 
eine  intravenöse  Adrenalininjektion  beobachtet. 


II  A us setzen  der  künstlichen  Atmung,  Splanchnikus¬ 
reizung  und  Adrenalininjektion. 

6.  Versuch.  Typhusexsudat,  steril,  der  linke  Nervus 
splanchnicus  zur  Reizung  frei  präpariert.  Kaninchen  2500  g. 

Blutdruck  im  Beginne  des  Versuches  78  mm  Quecksilber; 
Pulsfrequenz  360.  Das  Aussetzen  der  künstlichen  Atmung  durch 
20  Sekunden  führt  zu  einer  Drucksteigerung  bis  auf  100  mm  Die 
fünf  Sekunden  ausgeführte  Reizung  des  Nervus  splanchnicus  bei 
14  cm  Rollenabstand  zu  einer  Drucksteigerung  von  90  inni  Queck¬ 
silber.  Um-  6  Uhr  36  Min.  wurde  mit  der  Infusion  des  Typhus¬ 
exsudates  begonnen  u.  zw.  wurde  in  je  fünf  .Sekunden  1  cm3 
infundiert.  Nach  der  Infusion  von  5  cm3  wurde  die  Infusion  vor¬ 
läufig  abgebrochen.  Um  6  Uhr  40  Min.  erhält  das  Tier  neuerlich 
1-5  cm3  Exsudat.  Wenige  Sekunden  später  wurde  wieder  bei 
14  cm  Rollenabstand  der  Splanchnikus  durch  fünf  Sekunden  ge¬ 
reizt.  D-er  Druck  erhebt  sich  von  vorher  64  mm  Quecksilber  auf 
80  min.  Um  6  Uhr  44  Min.  wird  die  künstliche  Atmung  aus- 
gesetzt,  worauf  der  Druck  auf  90  mm  ansteigt.  Um  6  Uhr  51  Min. 
beträgt  der  Blutdruck  nur  mehr  50  mm  Quecksilber,  Puls  330. 
Ungefähr  30  Sekunden  später  wird  abermals  1  cm3  Exsudat  in¬ 
fundiert.  Die  15  Sekunden  später  vor, genommene  Splanchnikus¬ 
reizung  bei  14  cm  Rollen abstand  und  5  Sekunden  langer^  Reiz¬ 
dauer  führt  noch  zu  einer  Erhebung  des  Blutdruckes  von  36  mm 
auf  64  mm  Quecksilber.  Das  Aussetzen  der  künstlichen  Respira¬ 
tion  durch  20  Sekunden  steigert  den  Druck  von  36  mm  auf 
54  nim.  Um  7  Uhr  gelingt  es  nicht  mehr,  durch  das  Aus¬ 
setzen  der  künstlichen  Respiration  den  Blutdruck  jn  die  Höhe 
zu  bringen,  während  die  Splanchnikusreizung  bei  5  cm  Rollen¬ 
abstand  (Reizdauer  5  Sekunden)  den  Blutdruck  immer  noch  von 
30  auf  36  mm  erhebt.  Um  7  Uhr  5  Min.  erhält  das  lier  2-5  cm 
einer  1:10.000  Adrenalinlösung,  worauf  sich  der  Blutdruck  noch 
bis  auf  50  mm  Quecksilber  erhebt. 

Aus  dem  eben  beschriebenen  Versuche  geht  hervor, 
daß  unter  dem  Einflüsse  des  Typhusgiftes  die  Splanchnikus¬ 
reizung  und  das  Aussetzen  der  künstlichen  Atmung  ziemlich 
gleichzeitig  .versagen,  etwas  früher  versagt  der  Einfluß  der 
Erstickung,  während  die  Splanchnikusreizung,  allerdings  erst 
bei  viel  stärkerer  Reizung  und  in  viel  geringerem  Grade 
den  Blutdruck  noch  beeinflußt.  Die  Adrenalinwirkung  zeigt, 
daß  die  Gefäße  selbst  in  ultimis  noch  reaktionsfähig  waren. 

Schlußfolgerungen.  1 

Die  Versuche  drängen  zu  der  Annahme,  daß  im  akuten 
Versuch,  denn  nur  dieser  wurde  untersucht,  die  Blutdruck¬ 
senkung  durch  zweierlei  Ursachen  bedingt  ist.  Erstens 
durch  eine  zentrale  Komponente,  wie  das  Erlöschen  der 
reflektorischen  Erregbarkeit  des  Blutdruckes  durch  die  Tri¬ 
geminusreizung  zeigt  und  wie  sie  sich  ferner  in  dem  all¬ 
mählichen  Versagen  derlWirkung  der  -dyspnoischen  Blutdruck¬ 
steigerung  kundgibt.  Daß-  die  Gefäße  noch  in  ultimis  durch 
das  hauptsächlich  peripher  angreifende  Adrenalin  erregt 
werden  konnten,  ist  ein  Grund  mehr,  die  zentrale  Wirkung 
des  Typhusgiftes  in  die  erste  Reihe  zu  stellen.  Daß  es  bei 
einer  so  schweren  und  rasch  verlaufenden  Vergiftung,  wie 
sie  in  den  Versuchen  gewählt  wurde,  schließlich  auch  zu 
einem  Versagen  der  peripheren  Organe,  id  est  den  Gefäßen, 
kommen  muß,  wie  es  die  immer  geringer  werdende  bteige- 
rung  des  Blutdruckes  durch  die  periphere  Splanchnikus¬ 
reizung  anzeigt,  erscheint  begreiflich.  In  praktischer 
Hinsicht  kommen  bei  außerordentlich  akutem  Verlauf  des 
Typhus  abdominalis  nach  den  hier  gemachten  Ausführun¬ 
gen  die  zentral  wirkenden  Analeptika  in  allererster  Reihe 
in  Betracht  und  dann  -das  Adrenalin,  welches  in  dem  Stadium 
der  eintretenden  Blutdrucksenkung  den  drohenden  Kollaps 
vielleicht  noch  aufhalten  kann. 

Literatur: 

i)  Romberg,  Päßler,  Brüh  ns  und  M  ü  Ile  r,  Experimentelle 
Untersuchungen  über  die  allgemeine  Pathologie  der  Kreislaufstörungen 
bei  Infektionskrankheiten.  Deutsches  Archiv  für  klinische  Medizin,  Bd.  tre 

—  2)  Rade zyn ski,  Ueber  den  Einfluß  der  Toxine  von  Streptococcus 
pyogenes  und  des  Bacillus  coli  commune  auf  den  Kreislauf.  Ebenda, 

—  3)  Charrin  und  G 1  e  y,  Recherches  experimentales  sur  1  action 
des  produits  sdcrttds  par  le  bacille  pyocyanique.  Archiv  de  Physiologie 
1890  u.  1891.  —  *)  Arloing,  De  l’influence  des  produits  de  culture 
de  staphylococce  dort  sur  le  Systeme  nerveux  vasodilatateui  etc.  Lomp  . 
rendus,  Bd.  113.  -  ’)  R  ot  h  b  e  r  g  e  r,  Ueber  die  Wirkung  des  Giftes 


568 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  16 


M  *  f  f«r  wer.  Pathologie  und  Therapie  1907, 

StWh^hr.  ÄÄ'Äf*,  SS!7 

SOZIALE  MEDIZIN. 

Die  Schwierigkeiten  bei  der  Verwertung  der 
Krankenkassenstatistik. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Ludwig  Teleky. 

Krankheits-und  Sterblichkeitsverhältnisse  in  der  Orts- 
kraokenkasse  für  Leipzig  und  Umgebung.  -  Unter¬ 
suchungen  mber.  den  Einfluß  von  Geschlecht,  Alter  und 

Beruf.*) 

Krankheits^nn??!  Erlangung  einer  beruflichen 

V ankneits-  und  Sterblichkeatsstatistik  setzten  in  Deutschland  — 

vSichelnVlio^n'™^  ~  1)!f  Mch  Schaffung  der  Kranken- 
Versicherung  ein.  Die  Schwierigkeiten,  eine  solche  zu  erlangen 

sind  in  Deutschland  größer  als  sie  in  Oesterreich  wären,  weifbei 

uns  sämtliche  Krankenkassen  zur  Führung  einer  Statistik  nach 

einheitlichen  vom  Ministerium  des  Innern  herausgegebenen  For 

iSind>  Während  in  ß-tsddand8  eine  derartige 
erpflichtung  nicht  besteht.  Nach  verschiedenen  erfolglosen  Er¬ 
hebungen  bei  anderen  Krankenkassen  zeigte  es  sich,  daß  die  Lefn- 
führt  hSr?RnkaSSe  lbre  Aufschreibungen  in  solcher  Art  gl- 
KraukJ^ 

Mi“-  3ä50()0  ** 

der  Leip/igor  Ortskrankenkasse  wurde  nun  in 

t  ve/Xitefnnd  r11 1“'  statlstisth-^hnerisch  gründlichsten 
Alt  verarbeitet  und  liegt  nun  in  vier  stattlichen  Bänden  vor  von 

denen  der  zweite  bis  vierte  Band  Tabellen,  der  erste  Bmrd  den 

enthält1'  emn  Ta^el]e'n^erk>  Ergänzungen  und  Erläuterungen 
enthalt.  Ueberall  ist  die  Trennung  nach  Geschlecht  nach  ver 

Und  f^willigen  Mitgliedern,  innerhalb  dieser 
ui uppen  die  Trennung  nach  Altersklassen  durchgeführt 

l,r.;t«iXaCdASt  Trd  die  Verteilung  von  Krankheitsfällen,  Krank- 
lcitstagen,  Aussteuerungs-  und  Todesfällen,  Unfällen  Betriebs 
Unfällen  und  einzelnen  Krankheitsarten  auf  alle  diese  Gruppen 
1  ar  gestellt.  Dann  werden  die  männlichen  v'ersic'herungspflichfiaen 
Mitglieder  in  einzelne  Berufsgruppen,  innerhalb  dieser  in  Alters 
gruppen  ,  geteilt  und  die  Verteilung  von  Krankheitsfällen  Krank- 
eits tagen,  Aussteuerungs-  und  Todesfällen,  Unfällen  und  Betriehs- 
*ode  telteU;d  S1chheßhd11  auch  die  der  Krankheitsfälle,  -läge  und 
heitsf ormen U  auf  ®  ^^nze  nen  Krankheitsgruppen  und  einige  Krank- 

llacswCg  gctoacht  8C”annten  Bem'S-  U"d 

,  .Im  dritten  Bande  erfolgt  die  Darstellung  aller  dieser  Ver¬ 
hältnisse  nach  Berufsarten,  wobei  in  den  Berufsarten  mit  stärkster 

S  ^,35-000  rerSOnen)  die  Verhältnisse  mU  deSt 

■irten  hinat  I  a»*  T  X  Xng.  in  die  einzelrr«n  Krankheits- 
ten  hinab  dargelegt  werden,  wie  oben  für  die  Gesamtheit  der 

■M  lonC  iaiiUI>gSpf  lChtlgeni  Mitgliöd'er  angegeben.  Die  übrigen  Berai's- 
arden  gelangen  je  nach  der  Zahl  ihrer  Mitglieder  insoweit  zu 
weniger  detaillierter  Darstellung,  als  einzelne  Krankheitsarten  zu 

liUteT  f XT engefaßt  werde'n  und  die  Altersteilung  nicht  bis 
auf  Jahi  fünfte-  herab  vorgenommen  wird. 

Dann  werden  noch  die  freiwilligen  Mitglieder  bestimmter 

seeks-  emw  Beira<:htimg  „,ld  «.1,1«»  «e 

,r,  rT  V^,eite  Eaud  enthält  die  Tabellen  über  die  weiblichen 
Mitglieder  deren  Abfassung  der  über  die  männlichen  entspricht  ■ 
den  Abschluß  bilden  Tabellen  fiber  die  WochenbeUen  P  ' 
Eine  Anzahl  von  detaillierten  Einzeldarstellungen  und  Er¬ 
gänzungen  zu  dem  I  ab  eilen  werk  enthält  der  erste  Band 

fv  ri  ■  enthalten  in  reichem  Maße  Verhältniszahlen 

K  ankhedsfalle  -tage  usw..  auf  1000  Personen  berechnet)  die 
Berechnung  weiterer  Verhältniszahlen  wird  durch  Hinzufügun- 
von  weiteren  Daten  ünd  Rechnungsbehelfen  erleichtert. 

st  .  das  Werk  die  umfassendste  und  detaillierteste 

ss  rrfÄk,TensiaMk  :du- ein  wahreä  «°™- 

aHasas  «au» 


,  r -  ß ^  * 6  l.  aber  auch  Material,  das  ohneweiters  als 
verläßliche  und  richtige  Darstellung  der  Berufs¬ 
morbid  itat  und  -m o rtalität  angesehen  werden  kann-? 

Bei  Feststellung  der  Grundzahlen  ging  die  Bearbeitung  nicht 
von  der  Zahl  der  Mitglieder  an  einem  bestimmten  Tage,  sondern 
von  der  Zahl  der  Tage,  für  die  das  Erkrankungsrisiko  durcli 
Versicherung  gedeckt  war,  aus.  Ueber  468,000.000  RisikoüJ 
umfaßt  die  Statistik,  das  entspricht  1,284.576  Personen,  die  cm 
■fahr  lang  unter  Beobachtung  standen.  Das  ist  rechnerisch  zweifel- 
los  richtig,  aber  wo  es  sich  um  Erkrankungshäufigkeit  oder  Mor¬ 
talität  handelt  sind  nicht  alle  Tage  gleichwertig  Jn 
den  Monaten  Januar,  Februar  ist  z.  B.  -  nach  Ausweisen  des 
Wiene!  Verbandes  der  Genossenschaftskrankenkassen  —  die  Mor 
talitat  die  höchste,  m  einem1  der  Monate  August  bis  Oktoben 
stets  die  niedrigste  des  ganzen  Jahres,  obwohl  der  Stand  der  Mil¬ 
glieder  nur  unbedeutende  Differenzen  zeigt. 

Durchschnittlicher  Krankenstand  per'  Woche  (bei  dem  Ver 
band  der  Genossenschaftskrankenkas'sen  in  Wien): 


1905 

1909 

I.  Quartal 

7899 

6401 

II.  „ 

5580 

6326 

III.  „ 

4945 

4807 

iv.  „ 

4928 

4813 

Daraus  folgt,  daß  sich  gegen  die  rechnerische  Ermittlunc 
inneS\JfhueS  gewlSsf  Bedenken  ergeben,  daß  ceteris  paribus 
4  G  T  VOn  denen  jeder  während  des  ersten  Quartals  be 
schaf ügt  ist,  eine  andere  Erkrankungshäufigkeit  zeigen  müssen 
als  WO  von  denen  jeder  alle  Vier  Quartale  beschäftigt  ist.  Solche 
Jaüre  aber,  die  sich  vorwiegend  aus  bestimmten  Monaten  zu- 
sammensetzen,  müssen  bei  allen  Saisonarbeitern  Vorkommen. 

der  X  Tfibli?en  freiwilligen  Mitglieder  stellt 

dei  Beucht  folgendes  fest:  Da  schwangere  Versicherungspflichtige 

Xt  'er  Jer?lcbeningspflichtigen  Beschäftigung  austreten,  mit  Blick - 
slcht  aut  die  Wochnennnemmterstützung  als  freiwillige  Mitglieder 
aber  m  der  Kasse  bleiben,  hat  das  rechnerische  Beobachtung*- 

n  rte.  A ifeflmr  '  da  i  Waäend  der  Beobachtungszeit  eines  Jahres 
wp-Kl  i,A  rSf  dor  20'  bls  24jährigen  auf  1000  freiwillige 

99ul  F  Ti  ■  Mi tg  iedei  aUS  der  Gruppe  der  Metallverarbeitung 
2-44  Entbindungen  kommen.  Ebenso  müßte  es  —  wie  wir  hinzu- 

UWP-  ™öcbten  “7  ceteris  paribus  hei  nur  im  Winter  Be¬ 
schäftigten  z.  B  Arbeiterinnen  der  Modewarenerzeugung,  zu  einer 
lechnenschen  Häufung  von  Krankheiten  überhaupt,  speziell  von 
Erkältungskrankheiten,  kommen. 

Trotzdem  sich  in  dem  Werke  kein  Anhaltspunkt  zur  Kor¬ 
rekter  dieser  Verhältnisse  oder  zur  Abschätzung  ihrer  Bedeutung 
findet,  wurden  wir  deren  Bedeutung  nicht  allzu  hoch  anschlagen 
~T  sie  Xei!  weit  zurück  hinter  andere  Umstände  (wir  haben  ja 
ob«,  stets  betont  ceteris  paribus"),  über  die  noch  späterVe 
sprechen  werden  soll.  ,  1  g 

Ehe  wir  darauf  eingehen,  sei  noch  auf  ein  en  weit  schlim¬ 
meren  Fehler  des  Materials  hingewiesen,  der  sich 
frei  Berechnung  der  Mortalität  geltend  macht. 

c  der  Krankenkassenstatistik  werden  nur  jene  Todesfälle 

wirr ii  d’eTV?  Xi  Kasse'  entschädigt  werden  müssen.  Sterbegeld 
,  X  X  0desfa,  C1'1PS  Mitgliedes  gewährt  und  dann,  „wenn 
nach  Beendigung  der  Krankenunterstützung“  (z.  B.  Aussteuerung) 
„die  Erwerbsunfähigkeit  bis  zum  Tode  fortgedauert  hat  und  der 
Jod  infolge  derselben  Krankheit  vor  Ablauf  eines  Jahres  nach 
des  KV  G  j  dei  Krank  enu  nterstützung  eingetreten  ist“.  (§  20 

l  Xu  Tr  durcb  den  Wegfall  der  übrigen  Todesfälle  die 
Bteiblichkeit  m  der  vorliegenden  Statistik  beeinträchtigt  wird,1) 

r-  ht  i  ar;u!s  bervor>  daß  die  Mortalität  der  versicherungspflich- 
tigen  Mitgheder  einer  Berufsgruppe,  die  in  Morbidität  und  Mor- 
a  fiZU,den  ungünstigsten  gehört,  der  „Freiluftarbeiter“,  das 
n  i  oo  smannei,  Eisarbeiter,  Jvanalarbeiter,  Schleusenmänner 
i  1  andere  mehr  noch  beträchtlich  günstiger  erscheint  (l6-03°/oo). 

j  S  i  '!  au ,  Tl  und  der  Baten  der  Gothaer  Lebensv’ersichei'ungs- 
bank  berechnete  Mortalität  der  Aerzte  (23-0°/0o). 

nflirU t"1  ^inV'!,SCbn'*!  des  Kapitels  über  die  „Versicherungs- 
pilichtigen  Mitglieder  nach  Berufsarten“,  wird  auf  Grund  dieses 

S3  aUf  dl!  Mrgdhafbgkpit  der  Krankenkassenstatistik  hin- 
g  l  sen,  gesagt,  daß  (außer  den  oben  erwähnten)  nur  weiter 

oiwLeU1  rwer  (;d  der1  erbefälle  unter  den  freiwilligen  Mit 
i  jf  'II  Cr  a.  1WGrde  UP'  geschlossen:  „Krankenkassensterblic'h- 
keitsziflern  sind  daher  für  Lehensversicherungszwecke  unbrauch- 

-  '  ■  '  :  !  I  _  TT^)  rM 

KontrrpR  iS  KailPs  Annahme  (Referat  auf  denUUI.  internationalen 
de,  ToL?ilile  enfgeh'eT  en)  **•"  60  b“  7W" 


Nr.  16 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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bar.  Sie  haben  nur  einen  gewissen  Wert  für  vergleichende 
Betrachtung  zur  Kennzeichnung  der  in  den  verschiedenen  ßerufs- 
arten  der  Krankenkasse,  vornehmlich  bei  den  Berufs  trägem 
herrschenden  Gesundheitsverhältnisse.“ 

In  früheren  Abschnitten  des  Textbandes  aber  sind  die  Mor¬ 
talitätsziffern  zu  Berechnungen  benützt  worden,  zu  denen  sie 
nach  dem  gesagten  keineswegs  geeignet  erscheinen :  so  vor  allem 
(einschließlich  der  freiwillig  versicherten)  zu  einem  Vergleich 
der  Sterblichkeit  in  der  Ortskrankenkasse  Leipzig  mit  der  all¬ 
gemeinen  deutschen  Sterblichkeit  und  zu  einer  Berechnung  der 
Letalität  mit  Teilung  nach  Altersklassen. 

Der  erstgenannte  Vergleich  muß  schon  nach  der 
oben  zitierten  Aeußerung  selbst  als  unstatthaft  er¬ 
scheinen;  die  Berechnung  der  Letalität  nach  Alters¬ 
klassen  und  ihr  Vergleich  untereinander  könnte  nur 
dann  durchgeführt  werden,  wenn  man  annehmen 
könnte,  daß  der  Fehler  in  allen  Altersklassen  der¬ 
selbe.  Welche  Unterschiede  in  der  Erfassung  der  Todesfälle  in 
den  verschiedenen  Altersklassen  sich  ergeben,  zeigen  aber  aufs 
deutlichste  die  Daten  der  Invalidenversicherungsstatistik. 

In  den  Jahren  1891  bis  1899  wurden  (Amtliche  Nachrichten 
des  Reichsversicherungsamtes  1901,  Bd.  1,  Beiheft)  .zuerkannt 
an  Rentenempfänger 


im  Alter  von  20 — 34 

Jahren 

12.699 

Renten 

25—34 

>» 

34.617 

>) 

35—44 

>> 

46.904 

>> 

45—54 

>> 

87.285 

n 

55—64 

>> 

165.851 

>  i 

65—69 

>  J 

95.820 

)  j 

Absolut  und  in  noch 

höherem 

Grade  relativ 

zur  Zahl 

Versicherten  der  gleichen  Altersstufe  —  denn  diese  zeigt  ihren 
Höhepunkt  im  dritten  Dezennium,  von  da  ab  aber  ein  sehr 
rasches  Sinken  —  nimmt  die  Zahl  der  Invalidenrentner  mit  dem 
Alter  zu,  das  heißt,  die  Zahl  jener,  die  infolge  eines  chronischen 
Leidens  arbeitsunfähig  im  Sinne  des  Invaliditätsversicheruugs- 
gesetzes  sind  und  die  —  nachdem  sie  die  Kasse  längere  Zeit 
in  Anspruch  genommen  zum  Teil  von  ihr  ausgesteuert  wurden 
—  aus  den  Mitgliederlisten  der  Krankenkassen  verschwinden. 
Uebrigens  können  wir  auch  aus  der  Kassenstatistik  die  Zunahme 
der  Zahl  der  Aussteuerungen  in  den  höheren  Altersklassen  fest- 
steilen. 

Auf  100.000  ein  Jahr  lang  beobachtete  versicherungspflich¬ 
tige  männliche  Personen  entfielen  Aussteuerungsfälle: 


Alter 

18  wöchige 

26  u.  34  wöchige 

Zusammen 

15-24 

213 

134 

347 

25—34 

380 

192 

572 

35—44 

604 

391 

995 

45—54 

945 

552 

1497 

55 — 64 

1335 

1107 

2442 

65—74 

1437 

2667 

4104 

Bei  einem  Teile  der  Todesfälle  der  Ausgesteuerten,  bei 
denen,  die  unter  bestimmten  Bedingungen  innerhalb  eines  Jahres 
nach  der  Aussteuerung  sterben,  hat  die  Krankenkasse  Sterbegeld 
zu  zahlen  und  werden  nur  diese  Fälle  von  der  Krankenkassen¬ 
statistik  erfaßt. 

Die  Bearbeiter  des  Textbandes  nun  meinen,  daß  manche 
der  so  bei  Betrachtung  der  versicherungspflichtigen  Mitglieder 
der  Erfassung  entgehenden  Todesfälle  sich  unter  den  Todesfällen 
der  freiwilligen  Mitglieder  verzeichnet  finden.  Aber  abgesehen 
davon,  daß  dies  nur  ein  kleiner  Teil  sein  kann,  entgehen  auch 
von  den  freiwilligen  Mitgliedern  (und  ebenso  von  sämtlichen  Mit¬ 
gliedern)  in  höherem  Alter  mehr  der  Erfassung. 

Von  100.000  Mitgliedern  (Versicherungspflichtige  und  Frei¬ 
willige)  kamen  zur  Aussteuerung : 

Alter  lßwöchige  26  u.  34wöchige 


15—34  303  181 

35—54  746  547 

55—74  1321  1687 


Dazu  kommt  nun  noch,  daß  die  Wahrscheinlichkeit  aus  dem 
Invalidenrentengenuß  im  Laufe  des  ersten  Jahres  auszuscheiden 
in  den  jüngeren  Altersklassen  viel  größer  ist  als  in  den  höheren. 
Nach  Beiheft  I  1906  zu  den  erwähnten  Amtlichen  Nachrichten 
ist  diese  Wahrscheinlichkeit  im1  Alter  von  20  bis  24  Jahren 
0-5120  und  sinkt  kontinuierlich  mit  dem  Alter,  im  Alter  von 
60  bis  64  Jahren  ist  sie  0-1320. 

Da,  im  ersten  Jahre  Ausscheiden  durch  Wiedererlangung  der 
Erwerbsfähigkeit  numerisch  kaum  in  Betracht  kommt,  zeigen  uns 
diese  Zahlen,  daß  in  höheren  Jahren  nicht  nur  die  Zahl  der 
infolge  Krankheit  als  dauernd  Erwerbsunfähigen  aus  der  Kranken¬ 


versicherung  entschwindenden  ungemein  zunimmt,  sondern  auch 
die  Wahrscheinlichkeit,  daß  diese  noch  innerhalb  des  ersten 
Jahres  sterben  —  und  also  von  der  Kassenstatistik  erfaßt  werden 
erheblich  abnimmt.  In  den  höheren  Altersklassen  werden 
also  mehr  Todesfälle  (absolut  und  relativ  zur  Zahl  der  Ver¬ 
sicherten)  der  Erfassung  entgehen  als  in  den  jüngeren.  Da  also 
mit  zunehmendem  Alter  eine  immer  wachsende  Zahl  von  Todes¬ 
fällen  der  Erfassung  durch  die  Statistik  entgeht,  so  ist  der  Fehler 
in  den  verschiedenen  Jahrzehnten  sowohl  bei  der  Krankheitsfall-  als 
auch  bei  der  Krankheitstageletalität  ein  verschiedener  und  würden 
so  auch  die  entsprechenden  Kurven  einen  anderen  Verlauf  nehmen. 
Durch  die  Fehler  aber,  die  diesen  beiden  Letalitäts¬ 
berechnungen  anhaften,  muß  auch  die  Morbiditäts¬ 
tafel  für  das  Deutsche  Reich,  die  mit  Zuhilfenahme  dieser 
Zahlen  und  der  allgemein  deutschen  Sterbetafel  aufgestellt  wird, 
beeinflußt  werden. 

Daß  die  Berechnung  der  Letalität  der  einzelnen  Krankheits¬ 
formen  und  der  Vergleich  dieser  untereinander,  auf  schwere  Be¬ 
denken  stoßen  muß,  braucht  ja  nicht  erst  erörtert  zU  werden : 
es  ist  ja  klar,  daß  bei  den  akuten  Krankheiten  sämtliche  Todes¬ 
fälle  erfaßt  werden,  bei  den  chronischen  aber  nur  ein  Bruchteil 
derselben. 

Wird  durch  die  erwähnten  Fehler  des  Materiales  die  Ver¬ 
gleichbarkeit  der  Mortalität  verschiedener  Altersklassen  beein¬ 
flußt,  so  müssen  wir  uns  nun  die  Frage  vorlegen,  welchen  Wert 
für  eine  vergleichende  Betrachtung  der  Berufsarten  diesen  Mor¬ 
talitätsstatistiken  der  Krankenkasse  (uncf  der  Krankenkassen¬ 
statistik  überhaupt)  zukommt. 

W  i  r  w  ollen  diese  Fragezusammen  mit  der  Frage 
nach  dem  Werte  der  Morbiditätsstatistik  für  solche 
vergleichende  Betrachtungen  erörtern. 

Bei  der  Statistik  werden  nur  die  Erkrankungen  mit  Berufs¬ 
unfähigkeit,  die  Tage  des  Krankengeldbezuges,  berücksichtigt. 

Derjenige,  der  die  Krankenversicherung  nur  aus  der  Theorie 
kennt,  wird  meinen,  daß  die  Krankmeldung  nur  dann  erfolge, 
die  ärztliche  Bestätigung,  daß  das  Mitglied  arbeitsunfähig  ist, 
n  u  r  d  ann,  aber  in  a  ITen  jenen  Fällen  ausgestellt  werde,  in  denen 
auf  Grund  von  durch  objektive  Zeichen  festgestellter  Erkrankung 
die  Unmöglichkeit  besteht,  den  Beruf  auszuüben ;  wäre  dies  so, 
dann  würde  die  Krankenkassenstatistik  ein  eindeutiges  sicheres 
Bild  der  Gesundheitsverhältnisse  geben :  und  von  dieser  theo¬ 
retischen  Anschauung  gehen  leider  viele  Medizinalstatistiker  — 
und  auch  die  Bearbeiter  des  Textbandes  unseres  Werkes  — 
aus  und  vernachlässigen  viele  jener  Momente,  auf  die  wir  im 
folgenden  hinweisen  werden. 

Nun  aber  handelt  es  sich  bei  der  Krankmeldung  nicht  um 
Feststellung  der  Frage,  ob  die  Ausübung  des  Berufes  —  in  der 
Krankenversicherung  handelt  es  sich  im  allgemeinen  um  die 
Berufs-  und  nicht  um  die  Arbeitsunfähigkeit  —  unmöglich 
ist,  sondern  darum,  ob  der  Betreffende  einerseits  ohne  über 
das  normale  Maß  hinaus  gehen  de  Gefährdung  seiner  Ge¬ 
sundheit  seinen  Beruf  ausüben  kann,  anderseits,  ob  die  Un¬ 
lustgefühle,  die  er  infolge  seines  körperlichen  Zustandes  zu 
überwinden  hat,  so  starke  sind,  oder  durch  die  Arbeit  so  ge¬ 
steigert  werden,  daß  ihm  die  Ueberwindung  derselben  billiger¬ 
weise  nicht  zugemutet  werden  kann. 

Schon  aus  dieser  Fassung  ersieht  man,  daß  die  Krank¬ 
meldung  in  nicht  geringem  Umfange  von  den  subjektiven  Angaben 
des  Patienten  abhängig  ist  und  dies  um  so  mehr,  als  im  all¬ 
gemeinen  die  objektiven  Untersuchungsmethoden  nicht  so  feine 
sind,  daß  wir  die  subjektiven  Angaben  genau  kontrollieren 
könnten. 

Vor  allem  aber  -  niemand  kann  krank  gemeldet  werden, 
der  nicht  selbst  die  Krankmeldung  wünscht  —  niemand  in  Kran¬ 
kenstand  behalten  werden  gegen  seinen  Willen.  Voraussetzung 
der  Krankmeldung  ist  ja,  daß  der  Kranke  den  Arzt  aufsucht, 
Voraussetzung  des  Verbleibens  im  Krankenstände,  daß  er  sich 
der  Berufsarbeit  enthält.  Nun  haben  aber  sehr  viele  ein  chro¬ 
nisches  Leiden  (z.  B.  Tuberkulose)  in  einem  mittleren  Stadium, 
sehr  viele  kleine  Beschwerden,  die  ihnen  die  Möglichkeit,  Krank¬ 
meldung  zu  erlangen,  ja  sogar  das  Recht  auf  dieselbe  geben:  eine 
Möglichkeit  aber  und  ein  Recht,  von  dem  sie  keinen  Gebrauch 
machen,  wenn  sie  davon  eine  schwere  materielle  Schädigung 
erwarten,  von  dem  sie  aber  sofort  umfassenden  Gebrauch  machen, 
wenn  es  für  sie  materiell  von  Vorteil.  Schwertuberkulöse,  Leute 
mit  fieberhafter  Angina,  mit  akuter  Bronchitis  arbeiten  weiter, 
suchen  den  Arzt  nicht  auf,  oder  —  wenn  sie  ihn  aufgesucht 
verweigern  sie  die  Einstellung  der  Arbeit,  solange  sie  lohnende 
Beschäftigung  haben ;  tritt  aber  t.  B.  Arbeitsmangel  ein,  dann 
verlangen  alle  diese  und  eine  ganze  Schar  Leichtkranker  die 
Krankmeldung. 


570 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Da  so  die  Krankmeldung  in  weitem  Umfange  von  dem 
subjektiven  Krankheitsgefühl  und  von  dem  Wunsche  des  Ver¬ 
sicherten  abhängig  ist,  gewinnen  äußere  Momente,  die  den 
W  unsch  im  Krankenstand  zu  sein  im  Versicherten  verstärken, 
erwecken  oder  unterdrücken,  großen  Einfluß  auf  das  Zu¬ 
standekommen  der  Krankmeldung  und  damit  auch 
uul  die  Statistik  der  Krankheitsfälle.  Dieselben  Mo¬ 
mente  wirken  aber  nicht  nur  auf  die  Krankmeldung,  sondern 
auch  —  zum  Teil  in  verstärktem  Maße  —  auf  das  Verbleiben  im 
Krankenstand,  auf  die  Dauer  desselben,  auf  die  Statistik  der 
Krankheitstage. 

Diese  äußeren  Momente,  die  im  wesentlichen  ihre  Wirkung 
aus  dem  Einfluß  schöpfen,  den  Krankwerden  und 
Kranksein  —  immer  im  Sinne  des  Krankenversicherungs¬ 
gesetzes  —  auf  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  der 
Kasse  nmitgl'ieder  a  u  s  ii  b  e  n,  werden  aber  in  verschiedenen 
Berufen  und  zu  verschiedenen  Zeiten  sich  in  ganz  verschiedener 
Weise  geltend  machen. 

Bei  der  Krankmeldung  tritt  an  Stelle  des  Arbeitsverdienstes 
die  Krankenunterstützung.  Die  Höhe  des  letzteren  (absolute 
Höhe  des  Krankengeldes),  vor  allem  aber  das  Verhältnis  zwischen 
Arbeitsverdienst  und  Krankenunterstützung  (relative  Höhe  des¬ 
selben)  wird  von  ausschlaggebender  Bedeutung  für  die  wirtschaft¬ 
lichen  Folgen  der  Krankmeldung  sein. 

Die  Höhe  des  Krankengeldes  steht  in  einem  bestimmten,  bei 
der  Leipziger  Ortskrankenkasse  stets  annähernd  gleichen  Verhält¬ 
nis  (50%)  zum  Arbeitslöhne;  das  Statut  sieht  zehn  Lohnklassen 
vor,  wovon  die  zwei  niedrigsten  für  Kinder  bestimmt  sind. 

Die  Erkrankungshäufigkeit  nach  Lohnklassen  hätte  viel¬ 
leicht  auch  manchen  interessanten  Einblick  gewährt,  lag  aber 
leider  außerhalb  des  Rahmens  der  Erhebungen. 

Eine  Angabe  aber,  wie  sich  die  verschiedenen  Angehörigen 
eines  bestimmten  Berufes  auf  die  verschiedenen  Lohnklassen 
verteilen,  wäre  wünschenswert,  weil  sie  doch  einen  gewissen 
Anhaltspunkt  dafür  geben  würde,  wie  weit  zur  Erklärung  der 
von  der  Statistik  gegebenen  Daten  berufliche,  wieweit  rein  soziale 
Momente  heranzuziehen  sind. 

Die  ab  so  lute  Höhe  des  Krankengeldes  wird  in  den  höchsten 
Klassen  (15  M.  wöchentlich)  vielleicht  von  einem  gewissen, 
die  Krankmeldung  fördernden  Einfluß  sein ;  vor  allem  wird  sie  — 
und  zwar  hemmend  —  auf  die  Krankmeldung  in  jenen  Lohn¬ 
klassen  einwirken,  wo  mit  Aufgabe  der  Beschäftigung  und  Ange¬ 
wiesensein  auf  die  Krankenunterstützung,  die  Einnahmen  unter 
das  Existenzminimum  sinken:  Das  ist  in  den  untersten  Lohn¬ 
klassen  für  weibliche  Arbeiter  mit  einem  wöchentlichen  Kranken¬ 
geld  von  4-5  und  6  Mi  der  Fäll. 

Mehr  aber  als  die  absolute,  ist  die  relative  Höhe  des 
Krankengeldes  von  Einfluß.  Diese  ist  nur  scheinbar  bei  allen 
Mitgliedern  dieselbe.  Daß  die  freiwilligen,  nicht  versicbe- 
i  ungspflichtigen  Mitglieder  häufig  durch  die  Krankmeldung 
Krankengeld  gewinnen,  ohne  aber  dadurch  Arbeitsverdienst  — 
entweder  überhaupt  oder  in  entsprechendem  Maße  —  einzubüßen, 
daß  ein  Teil  gerade  der  freiwilligen  männlichen  Mitglieder  eine 
Doppelversicherung  eingegangen,  sei  hier  nur  nebenbei  erwähnt 
und  dabei  darauf  hingewiesen,  daß  die  große  Morbidität  der  frei¬ 
willigen  Mitglieder  auch  diesen  Umständen  und  nicht  nur  der  im 
Fextwerke  immer  betonten  Auslese  der  Ungünstigen  zuzu¬ 
schreiben  ist. 

Aber  auch  bei  den  versicherungspflichtigen  Mit¬ 
gliedern  sind  die  ihnen  während  und  durch  die  Krankheit  zu¬ 
fließenden  Einnahmen  keineswegs  auf  das  Krankengeld  der  Orts¬ 
krankenkasse  beschränkt.  Bei  jenen,  die  gut  organisierten 
Gewerkschaften  mit  weitgehendem  Unterstützungs¬ 
wesen  angehören,  kommt  zu  dem  Krankengeld  die  Kranken¬ 
unterstützung  der  Gewerkschaft  und  dadurch  ist  der  materielle 
Verlust  bei  Krankmeldung  ein  geringerer.  In  Berufen,  wo  fast 
sämtliche  Berufsangehörige  der  Gewerkschaft  angehören  (Schrift¬ 
setzer),  oder  avo  ein  sehr  großer  Teil  der  Gewerkschaft  angehört 
(polygraphische  Gewerbe)  muß  dieser  Umstand  auf  die  Häufig¬ 
keit,  der  Krankmeldung,  weit  mehr  aber  noch  —  wie  wir  sehen 
werden  -  auf  die  Dauer  der  Erkrankung  von  Einfluß  sein;  es  ist 
ja  nur  natürlich  (und  hat  mit  Simulation  gar  nichts  zu  tun) : 
Jb  geringer  die  Einbuße  an  Einkommen  ist,  die  durch  die  Krank¬ 
meldung  verursacht  wird,  um  so  geringerer  Unlustgefühle  bedarf 
cs,  um  die  Krankmeldung  zu  verlangen,  um  so  weniger  wird  — 
Avenn  einmal  die  Krankmeldung  erfolgt  ist  —  der  Wunsch,  mög¬ 
lichst,  bald  zur  Arbeit  zurückzukehren,  sich  geltend  machen. 
Stehen  noch  der  Krankmeldung  gewisse  Bedenken  gegenüber: 
Rücksichtnahme  auf  die  Stellung  im  Betriebe  und  auf  Mitarbeiter, 
auf  die  Unterbrechung  der  gewohnten  Tätigkeit,  so  besteht  dann' 


Nr.  16 


wenn  einmal  die  Krankmeldung  erfolgt  ist,  nur  mehr  der  Wunsch, 
ja  nicht  zu  früh  und  möglichst  vollständig  hergestellt  wieder  zur 
Arbeit  zurückzukehren. 

Das  Krankengeld  Avird  aber  auch  dann  relativ  hoch 
sein,  Avenn  der  Arbeitsverdienst  sinkt  —  bei  Saison¬ 
arbeiten  gegen  Ende  der  Saison  —  oder  wenn  er  ganz  auf¬ 
hört,  bei  Arbeitslosigkeit;  in  solchen  Zeiten  strömt  alles  zum 
Kassenarzt,  sucht  Krankmeldung  zu  erreichen  und  —  Avenn  diese 
erreicht  den  Termin  der  Gesundmeldung  möglichst  Aveit  hinaus¬ 
zuschieben,  möglichst  lange  „krank“  zu  bleiben. 

Es  werden  also :  Berufe  mit  gutem  Unterstützungswesen, 
Berufe  mit  Saisonarbeit,  Berufe,  in  denen  ein  Wechsel  des  Ar¬ 
beitsplatzes  häufig  stattfindet  —  ceteris  paribus  —  eine  größere 
Zahl  der  Krankheitsfälle  und  eine  größere  Zahl  der  Krankheits¬ 
tage  ausAveisen  müssen;  wobei  die  gute  Organisation  des  Unter- 
stützungsAvesens  unter  Umständen  noch  stärker  die  Zahl'  der 
Krankheitstage,  als  die  Zahl  der  Krankheitsfälle  vermehrt. 

Anderseits  aber  wirkt  wieder  die  Ständigkeit  des  Arbeits¬ 
platzes,  die  Seltenheit  und  größere  Schwierigkeit  des  Arbeits¬ 
wechsels,  die  Furcht,  durch  Krankmeldung  den  Arbeitsplatz  zu 
verlieren,  in  manchen  Berufen  der  Häufigkeit  der  Krankmeldung 
entgegen  (Bureau person al) . 

Alle  diese  Dinge  sind  jedem,  der  mit  Kassenpraxis  zu  tun 
hat,  so  bekannt  und  so  selbstverständlich,  daß  sie  für  ihn  kaum 
erwähnt,  noch  weniger  mit  Zahlen  belegt  zu  werden  brauchen. 
Für  den  theoretischen  Medizinalstatistiker  aber  hoffe  ich,  ihren 
Einfluß  auch  aus  den  Daten  der  Statistik  selbst  nachweisen  zu 
können. 

Der  Textband  erwähnt  neben  dem  Einfluß  des  Berufes  zur  Er¬ 
klärung  der  Differenzen  noch  den  der  sozialen  Lage  und  den  der  Aus¬ 
lese;  der  Einfluß  aller  der  eben  genannten  äußeren  Momente  findet  sich 
nur  einmal  erwähnt  u  zw.  wird  gegen  Schluß  des  Bandes  bei  den  frei¬ 
willigen  Mitgliedern  auf  die  Wirkung  der  Saisonarbeit,  resp.  der  durch 
dieselbe  bedingten  beschäftigungslosen  Zeit  hingewiesen,  eine  solche 
Wirkung  aber  geleugnet  mit  Hinweis  darauf,  daß  diese  Berufe  auch  bei 
den  Pflicht mitgliedern  hohe  Morbidität  zeigen,  also  auch  erhöhtes  »Krank¬ 
sein  während  der  Beschäftigungszeit«.  Pflichtmitglieder  ist  aber  nicht 
identisch  mit  Beschäftigten  und  noch  Aveniger  mit  Vollbeschäftigten:  Mit 
Vollbeschäftigten  nicht,  weil  gegen  das  Ende  der  Saison  zunächst  Arbeits¬ 
stunden  und  Arbeitstage  in  Wegfall  kommen  —  mit  Beschäftigten  nicht, 
weil  ja  nach  aufhören  der  Beschäftigung  noch  eine  längere  Zeit  —  im 
Falle  dor  Erwerbslosigkeit  durch  drei  Wochen  (nach  §  28  Krankenver¬ 
sicherungsgesetz),  in  Leipzig  22  Tage,  im  Falle  Uebergang  zu  einer  nicht¬ 
versicherungspflichtigen  Beschäftigung  sieben  Tage  (§  27  Krankenver¬ 
sicherungsgesetz)  das  Erkrankungsiisiko  durch  die  Versicherung  »gedeckt« 
wird. 

Der  Einfluß  der  erwähnten  wirtschaftlichen  Momente  wird 
sich  in  allen  Berufen  geltend  machen,  in  dem  einen  mehr,  in 
dem  anderen  weniger.  In  einzelnen  Berufen  werden  diese 
Momente  von  ganz  ausschlaggebender  Bedeutung 
sein,  in  den  anderen  das  Bild  nur  in  geringem  Maße 
beeinflussen;  immer  aber  wird  die  Morbiditäts¬ 
statistik  d e r  Krankenkassen  beeinflußt  werden:  Nicht 
nur  von  der  Auslese  für  den  Beruf,  von  der  Wirkung  der  Berufs¬ 
tätigkeit  und  der  mit  dem  Beruf  zusammenhängenden  sozialen 
Lage  auf  die  Gesundheit,  sondern  auch  von  den  eben  er- 
Avähnten  äußeren  Momenten. 

Als  weiteres,  die  Statistik  beeinflussendes  Moment,  kommt 
noch  die  Verschiedenheit  der  Anforderungen  hinzu,  die  der  Beruf  an 
die  Körperkräfte  stellt:  In  einem  Stadium  der  Tuberkulose,  in  dem 
Schmiedearbeit  nicht  mehr  verrichtet  werden  kann,  ist  Schreib¬ 
arbeit  gut  möglich.  Bei  gleichem  Verlaufe  des  Rrankheitspro- 
zesses  wird  der  Bureauangestellte  viel  später  arbeitsunfähig  werden 
als  der  Schmied ;  dieser  wird  Aveit  mehr  Krankheitstage  aufweisen 
als  jener.  Die  Schwere  der  Arbeit  beeinflußt  so  die  Statistik 
weit  mehr  als  die  Gesundheitsverhältnisse. 

Dieser  Umstand  aber  - —  ebenso  Avie  alle  oben  erwähnten 
Momente  wirtschaftlicher  Natur,  beeinflussen  nicht  nur  Krank¬ 
meldung  und  Dauer  der  Krankheit  —  sie  beeinflussen  durch 
diese  auch  die  Zahl  der  von  der  Statistik  erfaßten 
T  odes  fälle.  In  einem  je  späteren  Krankheitsstadium  der  Kranke 
sich  krank  meldet  -  um  so  größer  die  Wahrscheinlichkeit,  daß 
sein  Tod  noch  in  die  Zahlungspflicht  der  Krankenkasse  fällt;  je 
früher  er  sich  krank  meldet,  um  so  Avahrscheinlicher,  daß  bei 
seinem  Tode  die  Verpflichtungen  der  Krankenkasse  schon  er¬ 
loschen  sind. 

Daß  der  Zeitpunkt  der  Krankmeldung  in  verschiedenen  Be¬ 
rufen  infolge  äußerer  Umstände  ein  verschiedener  ist,  Avurde 
dargelegt,  damit  muß  auch  der  Prozentsatz  der  der  Kasse  ent¬ 
gangenen  Todesfälle  ein  verschiedener  sein.  Verstärkt  wird  diese 
Differenz  noch  dadurch,  daß  nach  dem  Kassenstatut  Unterstüt- 


Nr.  16 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Zungsansprüche  in  verschiedener  Länge  vorgesehen  sind.  Daß 
im  Jahre  1896  die  Unterstützungszeit  allgemein  von  26  auf  31 
Wochen  verlängert  wurde,  ist  für  unsere  Betrachtung  kaum  von 
Bedeutung:  wichtig  hingegen  ist,  daß  bis  1.  Januar  1904  (also 
für  die  ganze  Beobachtungszeit,  mit  Ausnahme  eines  geringen 
Bestes)  für  vier  Gruppen  eine  nur  13wöchige  Unterstützungsfrist 
bestand:  Für  die,  deren  ununterbrochene  Mitgliedschaft  weniger 
als  sechs  Wochen  betrug;  für  die,  die  während  der  oben  er¬ 
wähnten,  durch  die  Versicherung  gedeckten  erwerbslosen  /eit 
von  22  Tagen  erkrankten;  für  die  infolge  eines  Betriebsunfalls 
\rbeitsunfähigen,  schließlich,  für  die,  die,  nachdem  Aussteue¬ 
rung  nach  26  oder  34  Wochen  eingetreten  war,  innerhalb  sechs 
Monaten  an  derselben  Krankheit  abermals  erkrankten.  Daß  die 
Fälle  der  ersten  drei  Gruppen  in  verschiedenen  Berufen  eine  ganz 
verschiedene  Bedeutung  haben  müssen  —  die  ersten  zwei  in 
Berufen  mit  stärkerem  Arbeitswechsel,  die  dritte  in  Berufen  mit 
erhöhter  Unfallhäufigkeit  relativ  zahlreicher  sein  müssen,  ist  ja 
klar  und  ebenso,  daß  dadurch  die  Zahl  der  nicht  erfaßten  Todes¬ 
fälle  in  verschiedenem  Maße  beeinflußt,  bei  Berufen  mit  starkem 
Arbeitswechsel  und  großer  Unfallsgefahr,  vermehrt  werden  muß. 
Daß  auch  die  verschiedene  Altersbesetzung  der  Berufe  auf  das 
Erfassen,  respektive  Nichterfassen  von  Todesfällen  von  Einfluß 
sein  muß,  ergibt  sich  nach  dem  oben  bei  Besprechung  der  Letalität 
nach  Altersstufen  Gesagten  von  selbst. 

* 


Wir  wollen  nun  nach  diesen  allgemeinen  Ausführungen 
uns  den  speziellen  Fällen  zuwenden,  die  im  Textteil  (erster  Band) 
des  Werkes  ausführlicher  behandelt  werden. 

Bei  einem  Vergleich  der  Morbiditäts-  und  Mortalmitsvei- 
hältnisse  der  sechs  größten  Berufsarten  (S.  156)  zeigen  die  IIills- 
arbeiter  im  Maurergewerbe  die  meisten  Krankheitsfälle  und  -Lage, 
dabei  die  geringste  Zahl  der  Todesfälle,  das  Bureau-  und  Kontoi- 
personal  die  gerade  entgegengesetzten  Verhältnisse  (weitaus  ge¬ 
ringste  Zahl  der  Krankheitsfälle  und  -tage,  höchste  Zahl  der  Todes¬ 
fälle):  Auf  1000  männliche  versicherungspflichtige  Personen  nn 
Alter  von  25  bis  34  Jahren  kommen: 

Kranhheitsfälle  Krankentage  Todesfälle 


bei  Maurerhilfsarbeitern  645 

Bureau-  u.  Kontorpersonal  195 


11.691  387 

4.702  6'88 


Das  vorliegende  Werk  sucht  diese  Gegensätze  durch  Aus¬ 
lese  (schwächliche  zu  den  Bureauarbeiten),  hohe  Arbeitsanstren¬ 
gung  (welche  die  Gesundheit  schädigt  bei  Mauiern)  sow  u 
durch  folgende  Ausführungen  zu  erklären:  „Die  Mehr¬ 
behandlung  und  ausgedehntere  Behandlung  bei  den  Mau  um 
hilfsarbeitern  ist  ein  Grund,  daß  weniger  Mitglieder  starben, 
anderseits  aber  liegt  in  den  ersparten  Todesfällen,  da  du 
troffenen  Personen,  wenn  sie  auch  nicht  gestorben  sind,  nun 
doch  nicht  gleich  völlig  gesund  geworden  sein  werden,  ein 
Grand  dafür,  daß  mehr  Krankheitsfälle  und  Erkrankungen  zur  Er¬ 
scheinung  kommen).,“  So  schmeichelhaft  der  erste  feil  uieses 
Erklärungsversuches  für  uns  Aerzte  ist  —  so  können  wir  weder 
in  ihm,  noch  in  den  anderen  angeführten  Momenten  eine  Erklärung 
für  die  eigenartigen  Zahlen  finden  —  abgesehen  davon,  da  .> 
ja  doch  eine  Erklärung  dafür  gegeben  werden  müßte,  warum  die 
intellektuell  so  hoch  stehenden  Bureauarbeiter  wenig  und  nicht 
rechtzeitig  ärztliche  Hilfe  in  Anspruch  nehmen,  wobei  nebenbei 
bemerkt  sei,  daß  Behandlung  mit  Krankmeldung  nicht  identische 

Begriffe  sind.  .  , 

Wir  bedürfen  keiner  so  gezwungenen  Erklärung,  sie  ist 

nach  dem  oben  Gesagten  einfach. 

Maurerhilfsarbeiter:  Saisonarbeit,  häufiger  Wechsel  des  Ar¬ 
beitsplatzes,  große  Ansprüche  an  körperliche  Leistungsfähigkeit, 
daher  zahlreiche  Krankmeldungen  und  zahlreiche  Krankentage, 
frühzeitige  Krankmeldung.  Ferner:  Zahlreiche  Fälle  mit  nur 
13wöchiger  Unterstützungsdauer.  Aus  allen  diesen  Gründen  Ent- 
gang  relativ  vieler  Todesfälle. 

Bureau-  und  Kontorpersonal :  seh  r  ständige  Arbeiter,  leichio 
körperliche  Arbeit,  daher  späte  Krankmeldung,  daher  wenig  Krank¬ 
heitsfälle  und  -tage  aber  Erfassen  relativ  zahlreicher  Lodestalle. 

Als  statistischen  Beleg  dafür,  wie  gegensätzlich  diese  Le- 
rufe  in  den  von  uns  erwähnten  Punkten  sind,  wollen  wir  nei 
die  Daten  über  die  „gedeckten“  Tage  —  deren  Zahl  uns  einen 
Rückschluß  auf  die  Häufigkeit  des  Arbeitswechsels  und  btellen- 
losigkeit  gestaltet  —  sowie  die  über  die  Aussteuerung  folgen 
lcissen 

Auf  100  Risikotage  fallen  bei  männlichen  Versicherungs- 
Pflichtigen  in  der  Altersklasse  von  25  bis  34  Jahren: 


Beitragstage 
85 '5 


gedeckte  Tage 
nach  §  27  nach  §  28 
8-3 


96'5 

93'8 


3'0 

0T 


Krankheitstage 

32 


0'7 


21 


35 


13 


20 


männliche  V ersicher urigs- 
bis1  34  Jahren  fielen: 

26—  34  wöchige 


1000 

1'23 

3'80 


Aussteuerungsfälle 

1’59 

126 

192 


Todesfälle 

3'87 

6'88 

5‘32 


Maurerhilfsarbeiter 
Bureau-  u.  Kontor¬ 
personal 

sämtliche  Versiche¬ 
rungspflichtige 

Auf  1000  ein  Jahr  beobachtete 
pflichtige  in  der  Altersklasse  von  25 

13  wöchige 
Aussteuerungsfälle 

Maurerhilfsarbeiter 
Bureau-  u.  Kontor¬ 
personal 

sämtliche  Versiche¬ 
rungspflichtige 

Wir  glauben,  daß  gerade  diese  beiden  Berufsgruppen  als 
Schulbeispiel  dafür  gelten  können,  daß  bei  einem  Berufe,  in  dem 
alle  auf  die  Krankenstatistik  einwirkenden  äußeren  Um¬ 
stände  (nebst  den  aus  den  Ansprüchen  an  körperliche  Leistun¬ 
gen  sich  ergebenden)  mit  vollster  Kraft  und  in  dem¬ 
selben  Sinne  zur  Wirkung  kommen,  diese  Momente 
alle  anderen,  vor  allem  den  uns  ja  allein  interessie¬ 
renden  Einfluß  der  Berufstätigkeit  auf  die  Gesund¬ 
heit,  so  sehr  an  Gewicht  übertreffen,  daß  beim  Ver¬ 
gleiche  mit  der  Gesamtheit  der  Berufe,  vor  allem 
aber  beim  Vergleiche  mit  einem  anderen  Berufe,  bei 
dem  alle  diese  Momente  in  entgegengesetztem  Sinne 
wirken,  nur  der  Einfluß  dieser  Momente  in  Erschei¬ 
nung  tritt. 

Natürlich  können  wir  nicht  erwarten,  daß  bei  allen  Be¬ 
rufen  und  beim  Vergleiche  der  verschiedenen  Berufe  immer  vor 
allem  und  in  erster  Linie  diese  äußeren  Momente  zur  Geltung  kom¬ 
men;  die  Wirkung  selbst  der  einzelnen  äußeren  Momente  kann 
einander  durchkreuzen,  die  günstigen  oder  ungünstigen  Berufs¬ 
einflüsse,  die  Ausleseverhältnisse  —  all  diese  Kräfte  wirken  ja 
zusammen  zum  Entstehen  den  der  Resultierenden,  die  uns  die 
Zahlen  der  Krankenkassen  zeigen.  Immer  aber  werden  am 
Entstehen  derselben  auch  jene  äußeren  Einflüsse 
mit  wirken,  immer  werden  wir  uns  deshalb  bemühen  müssen, 
ihr  Gewicht  wenigstens  abzuschätzen  und  dann  das 
aus  den  Zahlen  erhaltene  Bild  entsprechend  zu  korrigieren. 

Um  so  notwendiger  wird  dies  sein,  je  mehr  die  in  Betracht 
gezogenen  Berufe  voneinander  oder  von  dem  Durchschnitt  in 
bezug  auf  die  oben  erwähnten  äußeren  Verhältnisse  abweichen. 

Wir  werden  deshalb  auch  bei  dem  Vergleiche  zwischen  den 
polygraphischen  Gewerben  einerseits,  Gärtnerei,  Land-  und  Forst¬ 
wirtschaft  andrerseits,  mit  dem  sich  der  Textband  ausführlich 
beschäftigt,  mit  größter  Vorsicht  Vorgehen  und  nicht  ohneweiters 
die  Daten  der  Kassenstatistik  einander  gegenüberstellen  und  die 
Differenzen  .ausschließlich  auf  Einfluß  der  Berufstätigkeit,  der 
Lebenshaltung  und  der  Auslese  zurückführen  dürfen. 

Zunächst  sei  wieder  auf  dieselben  Daten  wie  oben  hin¬ 
gewiesen.  Es  fallen  in  der  Altersklasse  von  25  bis  34  Jahien 
bei  den  männlichen  Versicherungspflichtigen : 

Auf  100  Risikotage  Auf  1000  Personen 


Polygraphische 
Gewerbe 
Gärtnerei  etc. 
sämtliche  Ver¬ 
sicherungs¬ 
pflichtige 

Da  die  Zahl  der  nach  13  Wochen  Ausgesteuerten  in  der 
Gärtnerei  viel  größer  ist  als  in  den  polygraphischen  Gewerben,  so 
entgehen  mehr  Todesfälle  in  der  Gärtnerei  der  Eifassung  conc  1 
die  Krankenkassenstatistik  als  in  der  Polygraphie  (was  nur  zum 
Teil  durch  eine  größere  A;nzahl  der  nach  2(3  und  34  Wochen 
in  den  obersten  Altersklassen  Ausgesteuerten  wettgemacht  wird) 
und  auch  etwas  mehr  als  in  der  Allgemeinheit,  in  der  Polygraphie 
abeir  _  mit  Rücksicht  auf  die  geringe  Zahl  der  nach  13  Wochen 
Ausgesteuerten  —  weniger  als  in  der  Allgemeinheit  der  Versichc- 
rungspflichtigen  (Männer).  Wir  können  also  annehmen,  daß  die 
Kurven  über  die  Todesfälle  beider  Berufsgruppen  mehr  von  dei 
abweichen  müßten  als  die  Figur  des  lext- 
mehr  in  jenem  Sinne,  den  die  Kurven 


Beitrags¬ 

tage 

gedeckte  Tage 
nach §27  nach §28 

Aussteuerungsfälle 

....  26-34 

13  wöchige  wöchige 

Todes¬ 

fälle 

95'6 

0'2 

1'8 

224 

2‘64 

6'38 

921 

0'9 

5'4 

4'00 

0'57 

4'00 

93‘8 

0'7 

35 

3’80 

U92 

5’32 

allgemeinen  Kurve 
bandes  anzeigt  u.  zw. 


i  an  des  anzeigt  u.  zw.  menr  m  jenem  7  r  ■  n  ^  ,• 

ihnedies  zeigen  (mit  Ausnahme  der  jüngsten  Altersklasse  , 


572 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  .1911. 


Nr.  16 


Kurven  der  Gärtner  müßten  noch  ungünstiger,  die  der  Polygraphie 
noch  günstiger  verlaufen. 

Aus  den  anderen  Daten  geht  hervor,  daß  die  Bedeutung  der 
gedeckten  Tage  eine  sehr  viel  größere  bei  Gärtnerei  als  bei  den 
polygraphischen  Gewerben  und  im  Durchschnitt  aller  Versiche- 
^fÄh^en  k-  da  gerade  die  gedeckten  Tage  aus 

')  7'  ,  s0.  se“r  überwiegen,  daß  Arbeitswechsel,  vor  allem 

Aibeitslosigkeit  in  der  Gärtnerei  eine  größere  Rolle  spielen.  Wir 
weiden  deshalb  annehmen  müssen,  daß  diese  Momente  auch  die 
Ausweise  über  die  Krankheitsverhältnisse  der  Gärtner  usw.  un- 
gunstig  beeinflussen  und  werden  dies  bei  Betrachtung  der  Kurven 
und  Zahlen  in  Betracht  ziehen  müssen. 

Von  größter  Bedeutung  aber  für  die  Statistik  im  polygraphi¬ 
schen  Gewerbe  ist  ein  Moment,  das  aus  den  Tabellen  nicht  her- 
ausgefunden  werden  kann;  die  hohe  Krankenunterstützung,  die 
die  Organisation  der  gelernten  polygraphischen  Arbeiter  gewährt 
sowie  der  Umstand,  daß  fast  alle  gelernten  Arbeiter  dieser  Gruppe 
der  Organisation  angehören.  Diese  Unterstützung,  die  bewirkt 
claß  das  gesamte  Krankengeld  (Krankengeld  von  der  Kranken¬ 
kasse  und  Krankengeld  von  der  Organisation)  häufig  nicht  sehr 
viel  unter  dem  Arbeitsverdienst  zurückbleibt,  muß  natürlich  von 
größter  Wirkung  auf  die  Zahl  der  Krankmeldungen  und  Zahl  der 
\i  an  heritage  se™'  Retardierend  auf  die  Zahl  der  Krankmeldungen 

wirkt  der  geringe  Arbeits Wechsel  und  alle  die  Krankmeldung 
gerade  bei  geringem  Arbeitswechsel1  und  höher  stehendem  Per¬ 
sonal  hemmenden  oben  erwähnten  Umstände.  Diesen  Momenten, 
nn  Verein  mit  der  relativ  hohen  Lebenshaltung  der  Berufsange- 
h origen,  sowie  den  —  abgesehen  von  der  Bleigefahr  •—  guten 
hygienischen  Verhältnissen  des  Berufes,  ist  es  zuzuschreiben, 
(lall  die  Berufsgruppe  mit  ihrer  Erkrankungshäufigkeit  unter  dem 
Durchschnitt  bleibt;  um  so  mehr  aber  zeigt  sich  die  Wirkung 
der  hohen  Unterstützung  in  der  Länge  der  Krankheitsdauer. 

Nach  der  vorliegenden  Statistik  überschreitet  die  durch¬ 
schnittliche  Krankheitsdauer  in  den  polygraphischen  Gewerben 
die  der  Gesamtheit  der  Versicherungspflichtigen  (stets  nur  das 
männliche  Geschlecht  berücksichtigt)  in  allen  Altersklassen  und 
zwar  —  wenn  wir  von  den  jüngsten  absehen  —  um  ca.  20  bis50°/o. 

Nun  gehören  aber  nur  die  gelernten  polygraphischen  Ar¬ 
beiter  fast  vollzählig  der  Organisation  an,  von  den  ungelernten 
ist  nur  ein  geringerer  Teil  organisiert  und  deren  Organisation 
nicht  so  leistungsfähig.  Die  die  Krankheitsdauer  verlängernde 
Wirkung  der  reichlichen  Unterstützung  muß  sich  daher  am  aus¬ 
gesprochensten  in  jener  Berufsart  des  polygraphischen  Gewerbes 
zeigen  deren  Angehörige  Ausschließlich  gelernte  Arbeiter  sind 
Ibcbn  setzer),  am  wenigsten  in  jener,  deren  Angehörige  aus¬ 
schließlich  ungelernte  Arbeiter  sind  (Hilfsarbeiter  in  Buch¬ 
druckereien). 


Durchschnittliche 


Alter 

15—24 

25—34 

35—44 

45—54 

55—64 

65—74 


aller  Versiche¬ 
rungspflichtigen 

17’5 
20 ‘5 
237 
273 
32'8 
414 


Dauer  eines  Krankheitsfalles  in  Tagen. 


Polygraphi¬ 
sche  Gewerbe 

19'8 
27’4 
34'2 
36  7 
41*6 
51*2 


Schriftsetzer 

209 
31'4 
386 
410 
45'5 
530 


Hilfsarbeiter  in 
Buchdruckereien 

187 

21'8 

28'0 

296 

343 

44'0 


^ enn  ,w‘r  weiter  sehen,  daß  diese  Steigerung  der  Krank¬ 
heitsdauer  im  polygraphischen  Gewerbe  sich  in  allen  Alters¬ 
klassen  bei  allen  Krankheitsgruppen,  über  die  genügend  große 
Zahlen  vorliegen  —  mit  Ausnahme  der  Nervenkrankheiten  — 
findet,  so  ist  es  wohl  ganz  unmöglich,  anzunehmen,  daß  alle  diese 
Krankheitsgruppen  durch  die  Berufseinwirkung  in  ihrer  Heilungs¬ 
dauer  ungünstig  beeinflußt  werden,  noch  dazu  in  einem  Berufe 
bei  dem  Unterernährung  keine,  jedenfalls  aber  eine  viel  geringere 
RoHe  spielt,  als  m  den  anderen  Berufen.  Eine  solche  Konstanz 
der  Verlängerung  der  Heilungsdauer  beweist  wohl  klar,  daß  sie 
auf  äußere  Verhältnisse  zurückzuführen  ist. 

Was  aber  die  Nervenkrankheiten  anbelangt,  so  bleibt  hier 
die  durchschnittliche  Krankheitsdauer  zwar  hinter  dem  Durch- 
s<  ujiilt  zurück,  dafür  aber  ist  die  Zahl  der  Erkrankungsfälle  über 
t  em  Durchschnitt  (so  daß  die  Zahl  der  Krankheitstage  beträcntlich 
über  dem  Durchschnitt) ;  und  der  Textband  klärt  uns  darüber 
auf,  daß  es  gerade  die  funktionellen  Nervenerkrankungen  sind 
—  also  Erkrankungen  mit  meist  kürzerer  Krankheitsdauer  bei 
denen  mehr  als  bei  den  anderen  fast  ausschließlich  auf  subjektive 
Angaben  hin  mit  der  Krankmeldung  vorgegangen  wird  —  die  in 
uen  polygraphischen  Gewerben  häufiger  zur  Ausweisung  ge- 
langen.  Die  Häufigkeit  funktioneller  Nervenkrankheiten  in  den 
statistischen  Ausweisen  ist  unserer  Erfahrung  nach  teils  durch 
den  Beruf  eigentümliche  Verhältnisse  (Berufseinflüsse,  soziale 


Stellung,  Auslese)  bedingt,  teils  durch  die  oben  geschilderten 
äußeren  Momente. 

Bei  diesem  bestimmenden  und  so  ganz  hervorragendem 
Einfluß  der  hohen  Krankenunterstützung  auf  die  Dauer  der  Er¬ 
krankungen  in  den  polygraphischen  Gewerben  —  ein  Einfluß 
auf  die  Erkrankungshäufigkeit  besteht  ja  ebenfalls  zweifellos,  läßt 
sich  aber  nicht  so  klar  nachweisen  —  müssen  doch  Bedenken 
auftauchen,  ob  es  angängig  sei,  sich  bei  Betrachtung 
und  Vergleich  so  ausschließlich  auf  Krankheits¬ 
tage  zu  beschränken,  wie  es  der  Text  band  tut. 

Was  den  Wert  der  statistischen  Betrachtung  von  Krank¬ 
heitstagen  anbelangt,  so  wird  in  Band  I  ausgeführt,  daß  bei  Be¬ 
trachtung  der  Gesamtmorbidität  den  Krankheitstagen  eine  größere 
Bedeutung  als  den  Krankheitsfällen  zukommt,  da  dem  ersteren 
Begriff  doch  eine  größere  Bestimmtheit  zukommt  als  dem  Begriff 
„Fäll“,  bei  deren  Zählung  Fälle  mit  200  und  Fälle  mit  2  Krank¬ 
heitstagen  gleich  gewertet  werden.  „Erst  wo  es  sich  um  die  Zahl 
der  , Fälle  an  bestimmten  Krankheiten“  handelt  ....  und  durch 
diese  zusätzliche  Angabe  der  Begriff  Krankheitsfall  selbst  eine 
größere  Bedeutung  gewinnt,  ist  auch  der  Fallzahl  eine  gewisse 
Bedeutung  beizumessen“,  sagt  der  Bericht  (SZ  31),  fügt  aber 
hinzu,  daß  auch  hier  die  Summe  der  Krankheitstage  das  Genauere 
und  mehr  Besagende  sei.  Dieser  Ansicht  können  wir  nicht  ganz 
beipflichten.  Es  sollten  im  allgemeinen  beide  Arten  der  Berech¬ 
nung  nebeneinander  zur  Geltung  kommen  (was  im  Ta¬ 
bellenwerk  auch  geschieht),  dringend  aber  wäre  eine  Neben¬ 
ei  n  an  d  er  s  teil  u  ng  beider  Buchungsarten  (i m  T extteil) 
bei  den  polygraphischen  Gewerben  notwendig,  wo  nach  dem 
oben  Gesagten  der  Zahl  der  Krankheitsfälle  wohl  größere  Bedeu¬ 
tung  zukommt  als  der  der  Krankheitstage. 

Wir  wollen  hier  —  als  Beweis  für  die  Wichtigkeit  solchen 
Vorgehens  —  diese  Nebeneinanderstellung  beider  Tabellen  für  die 
„Krankheiten  der  Kreislaufsorgane“  vornehmen. 

Auf  1000  männliche  Pflichtmitglieder  entfielen  Krankheits¬ 
tage  an  Krankheiten  der  KreisTauforgane : 

Alter 


Polygraphische 

15-24 

25—34 

35-44 

45-54 

55-64 

65-74 

Gewerbe 

Alle  Versiche¬ 

347 

292 

330 

630 

691 

2379 

rungspflichtigen 

zusammen 

258 

234 

315 

476 

857 

1834 

Auf  1000  männliche  Pflichtmitglieder  entfielen  Krankheits¬ 
fälle  an  Krankheiten  der  Kreislaufsorgane: 

Alter 


15-24 

25-34 

35-44 

45-54 

55-64 

65—74 

Polygraphische 

11*5 

9*6 

Gewerbe 

9'3 

125 

171 

33*2 

Alle  Versiche¬ 
rungspflichtigen 

9'67 

870 

9'84 

1303 

17*57 

3121 

zusammen 


Während  man  also  bei  Betrachtung  der  Krankheitstage  zu 
dem  Schlüsse  kommt,  daß  die  polygraphischen  Gewerbe  in  allen 
Altersklassen,  mit  Ausnahme  einer  einzigen,  ungünstiger  da¬ 
stehen  als  der  Durchschnitt,  so  zeigen  bei  Betrachtung  der  Krank¬ 
heitsfälle  die  drei  Altersklassen  vom  35.  bis  64.  Lebensjahre 
günstigere  Verhältnisse,  als  der  Durchschnitt  aller  Mitglieder. 

Bemerken  wollen  wir  noch,  daß  auch  die  Zahl  der  Erkrankten 
zu  kennen,  von  einer  gewissen  Bedeutung  wäre;  es  ist  für  die 
Beurteilung  der  Berufsmorbidität  nicht  gleichgültig,  ob  zum  Bei¬ 
spiel  drei  Erkrankungen  an  Tuberkulose  ein  tuberkulöses  Mitglied 
oder  drei  Mitglieder  betrafen. 

Eine  weitere  ausführliche  Untersuchung  des  Textbandes  ist 
der  Gicht  als  Berufskrankheit  gewidmet.  Die  Morbiditätsstatistik 
der  Gicht  stößt  schon  vor  allem  auf  die  Schwierigkeit,  daß  wohl 
von  den  Aerzten  nicht  immer  scharf  zwischen  Gicht  und  rheumati¬ 
schen  Prozessen  unterschieden  w i rd ,  auch  nicht  immer  leicht 
unterschieden  werden  kann.  Dazü  kommt  noch  die  Kleinheit 
der  Zahlen,  die  um  so  weniger  maßgebend  erscheinen,  da  nur 
Krankheitstage  veröffentlicht  werden:  Bei  den  Blei-  und  Zink¬ 
gießern  sollen  erwartungsgemäß  (wenn  die  Verhältnisse  ebenso 
wären  wie  bei  den  Nichtbleiberufen)  sechs  Krankentage  auf  Gicht 
entfallen  —  statt  dessen  aber  entfallen  42 :  Stammen  diese  42 
Tage  von  sieben  leichten  Gichtfällen,  oder  einem  schweren?  Das 
wäre  doch  von  wesentlicher  Bedeutung,  aber  man  kann,  nach 
dem  oben  über  die  Sicherheit  der  Diagnose  und  dein 
noch  früher  über  den  Einfluß  äußerer  Momente  auf  die  Krank¬ 
meldung  Gesagten  solch  kleinen  absoluten  Zahlen,  un¬ 
serer  Meinung  nach,  überhaupt  keinerlei  Bedeutung 
beimessen. 


Nr.  16 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1'JIL 


578 


Zum  Zwecke  der  Untersuchung  über  Gicht,  werden  die 
Berufe  in  Bleiberufe  und  Nichtbleiberufe  unterschieden. 

Als  Bleiberufe  gelten  jene,  in  denen  Krankheitsfälle  an  Bleiver¬ 
giftung  in  mehr  als  zwei  von  den  zwölf  fünfjährigen  Alters¬ 
klassen  Vorkommen.  Nicht  der  technische  Nachweis,  daß  Blei  im 
Berufe  Verwendung  findet,  sondern  nur  der  statistische  Gesichtspunkt 
war  für  die  Einteilung  maßgebend.  Es  können  also  als  Bleiberufe  auch 
solche  figurieren,  in  welche  Leute  mit  Bleivergiftung  nur  eingewandert 
sind  Ein  Beruf  —  gleichgültig  wie  groß  die  Zahl  seiner  Angehörigen  — 
ült  als  Bleiberuf,  sobald  in  ihm  drei  Personen,  die  verschiedenen  Alters¬ 
klassen  angehürten,  mit  Bleivergiftung  behandelt  wurden:  ob  eine  solche 
Einteilung  statistisch  einwandfrei,  erscheint  mir  fraglich,  sie  führt  zu 
der  Merkwürdigkeit,  daß  es  „Bleibende“  gibt,  die  weniger  Bleivergiftungs- 
ta»-e  aufweisen,  als  man  nach  dem  Durchschnitt  der  Nichtbleiberufe 
erwarten  würde.  Das  Kontor-  und  Bureaupersonal  ist  ein  solcher 
„Bleiberuf“. 

Will  man  den  Zusammenhang  zwischen  Bleivergiftung  und 
Bleieinwirkung  mit  der  Gichthäufigkeit  feststellen,  so  muß  man 
jene  Berufe  herausgreifen,  bei  denen  alle,  fast  alle,  oder  wenigstens 
die  weitaus  überwiegende  Majorität  dauernd  oder  wenigstens  zeit¬ 
weise  mit  Blei  oder  seinen  Verbindungen,  Legierungen  usw.,  zu 
tun  hat.  Besteht  ein  Zusammenhang  zwischen  Bleiaufnahme  und 
Gicht,  dann  wird  sich  hier  in  einer  relativ  großen  Zahl  von  Fällen 
Gicht  finden  müssen.  In  Berufen,  in  denen  unter  einer  großen 
Zahl  von  Berufsangehörigen  nur  ein  kleiner  Teil  bleigefährdet 
ist,  wird  natürlich  die  erhöhte  Neigung  dieser  wenigen  zu  Gicht¬ 
erkrankung  auf  die  Zahl  der  Gichterkrankungen  der  ganzen  großen 
Masse  keinen  sichtbaren  Einfluß  ausüben  können,  es  wird  ihr 
Einfluß  vollkommen  verdeckt  werden  durch  die  anderen  Ein¬ 
flüsse,  die  auf  die  große  Masse  der  Berufsangehörigen  wirken. 

Die  umfangreiche  Untersuchung  sagt  uns  deshalb  nicht  mehr 
als  das,  was  die  Betrachtung  einiger  besonders  ausgesprochener 
31eiberufe  —  die  ja  daneben  auch  vorgenommen  wird  —  und 
was  uns  die  Betrachtung  der  kolossalen  Häufigkeit  der  Gicht 
bei  Bierbrauern,  Kellnern  und  Köchen  lehrt. 

Weiter  sei  noch  darauf  hingewiesen,  daß  die  Gruppenzusam- 
lnenfassungen,  wie  sie  das  „Ausführliche  Verzeichnis  der  Krank¬ 
heiten  und  Todesursachen“  bietet  —  und  wie  sie  alle  bisher  be¬ 
stehenden  Schemata  bieten  —  der  statistischen  Erfassung  von 
Berufseinfiüssen  große  Schwierigkeiten  bereitet.  Was  soll  man 
mit  der  Zusammenfassung  der  „Infektions-  und  parasitären  Krank 
beiten“  anfangen,  die  die  Wundinfektionen,  die  akuten  Infektions¬ 
krankheiten  und  die  Tuberkulöse  umfassen,  was  mit  den  Krank¬ 
heiten  des  Nervensystems,  die  Apoplexie,  Migräne  und  Neur¬ 
asthenie  in  sich  schließen,  mit  den  Krankheiten  der  \eidauungs- 
organe,  die  Zahnkaries,  die  Angina,  den  Magenkatarrh  und  die 
Hernien  einschließen.  Da  war  es  ein  sehr  glücklicher  Gedanke 
der  Bearbeiter  der  Statistik,  für  jene  Berufe,  bei  denen  eine 
Wiedergabe  der  einzelnen  Krankheitsformen  nicht  stattfinden 
konnte,  wenigstens  einige  kleine  charakteristische  Kranitheits- 
gruppen  zur  Darstellung  zu  bringen. 

Wer  den  Einfluß  des  Berufes  ermitteln  will,  wird,  soweit 
es  irgend  möglich,  auf  die  einzelnen  Krankheitsarten  zurück¬ 
greifen  und  diese  in  der  seinem  Zwecke  entsprechenden  Art 
gruppieren  müssen.  Er  wird  z.  B.  aus  der  Gruppe  „Krankheiten 
der  Kreislauforgane“  den  „Aderbruch“,  die  „Venenentzündung  , 
die  „Hämorrhoidalknoten“  und  die  „Drüsenentzündung“  ausschei- 
den  müssen,  wenn  er  die  Wirkung,  z.  B.  von  schwerer  Arbeit  oder 
Bleiarbeit  auf  Herz  und  Gefäße  feststellen  will,  er  wird  Aderbruch 
und  Venenentzündung  gesondert  betrachten  müssen,  wenn  ei  die 
Wirkung  von  im  Stehen  verrichteter  Arbeit  ermitteln  will,  wiid 
aber  in  letzterem  Falle  zu  dieser  noch  aus  der  Gruppe  der 
„Krankheiten  der  äußeren  Bedeckung“  das  Ulcus  cruris  hinzu¬ 
fügen  müssen  (und  weiter  die  betreffenden  „Krankheiten  der 
Bewegungsorgane“  —  Plattfuß  —  in  Betracht  ziehen  müssen). 

Da  aber  die  von  den  Kassenärzten  auf  den  Kassen¬ 
scheinen  verzeichneten  Diagnosen  oft  wenig  verläßlich  sind 
—  wozu  mancherlei  hier  nicht  zu  erörternde  Ursachen  führen  ■ 
so  müssen  bei  statistischer  Betrachtung  stets  alle  jene  Krank¬ 
heitsarten  herangezogen  werden,  zwischen  denen  erfahiungsgema  > 
bei  der  Diagnosenstellung  nicht  scharf  unterschieden  wird  Man 
wird  sich  z.  B.  nie  damit  begügen  dürfen,  in  einem  Berufe  die 
Mortalität  und  Morbidität  an  Tuberkulose  allein  für  sich  /-n  be¬ 
frachten,  sondern  wird  stets  daneben  die  Mortalität  und  '  01- 
bidität  an  akuter  und  chronischer  Bronchitis  studieren  müssen. 
Krankheiten,  bei  denen  die  Diagnose  dem  ja  nicht  mit  allen  lli  ts- 
mitteln  arbeitenden  Kassenarzte  größere  Schwierigkeiten  inac  1 
(z.  B.  Ulcus  ventriculi),  sind  zu  statistischen  Betrachtungen  über¬ 
haupt  nicht  geeignet. 

Wenn  ich  auf  alle  diese  Fehlerquellen  und  all  diese  Viel¬ 
deutigkeit  der  Krankenkassenstatistik  hinweise,  so  geschieht  es 


nicht,  um  das  Werk  des  Kaiserlichen  statistischen  Amtes  herab¬ 
zusetzen;  es  hat  in  musterhafter  Bearbeitung  das  gegeben,  was 
es  geben  konnte:  die  Daten,  die  sich  aus  dem  Material  der 
Leipziger  Ortskrankenkasse  gewinnen  lassen.  Für  die  Verwaltung 
der  Kassen  —  für  bestehende  und  erst  zu  gründende  —  bieten 
die  Tabellen  ein  ungemein  schätzbares  Material. 


Will  man  aber  aus  dem  Material  Schlüsse  auf  den  Gesund¬ 
heitszustand  in  den  einzelnen  Berufen,  auf  schädliche  Berufs¬ 
einflüsse  ziehen,  dann  muß  man  bedenken,  daß  die  Zahlen 
der  Krankenkassenstatistik  nicht  nur  durch  die  tatsäch¬ 
lichen  Einwirkungen  des  Berufes  und  der  mit  dem  Beruf  ver¬ 
bundenen  sozialen  Lago  auf  den  Gesundheitszustand  der  Arbeitei 
—  auch  nicht  durch  diese  Einwirkungen  auf  den  von  vorn¬ 
herein  (durch  Auslese  bei  der  Berufswahl)  verschiedenen  Ge¬ 
sundheitszustand  der  verschiedenen  Arbeitergruppen  —  beeinflußt 
werden,  sondern  in  weitgehendem  Maße  (unter  Umständen 
in  ganz  ausschlaggebender  Weise)  durch  äußere  Be¬ 
rufsverhältnisse,  die  auf  den  tatsächlichen  Gesund¬ 
heitszustand  ohne  Einfluß  sind. 

Der  vorsichtige  Bearbeiter  —  aber  nur  dieser  —  wird  aus 
der  Arbeit  des  Kaiserlichen  statistischen  Amtes  so  manch  Wert¬ 
volles  über  Berufsmortalität  und  -morbidität  ermitteln  und  er¬ 
schließen  können  und  es  wäre  nur  zu  wünschen,  (laß  das  Werk 
die  Grundlage  für  viele  mit  Vorsicht  und  Sachkenntnis 
abgefaßte  Monographien  biete.  Zu  befürchten  ist  aber,  daß  gar 
mancher  glaubt,  man  könne  aus  dem  Tabellenwerk  schon  allein 
mit  Zuhilfenahme  der  Schere  Erkenntnis  schöpfen. 

Ich  wollte  mit  meinen  Ausführungen  Warnungszeichen  auf- 
steilen  für  jene,  die  das  gebotene  Material  weiter  benützen  und 
verarbeiten  wollen;  Mahnungen  zur  Vorsicht  und  (Jeberlegung , 
Warnungszeichen,  die  mir  um  so  notwendiger  erscheinen,  als  die 
Bearbeiter  des  vorliegenden  Werkes  sie  auszustecken  leider  unter¬ 
lassen  haben. 


Bemerkungen  zu  der  in  Nr.  15  veröffentlichten 
Arbeit  von  F.  Schenk,  das  Abbauvermögen 
anaphylaktischer  Seren  betreffend. 

Von  H.  Pfeiffer,  Graz. 

Zu  den  in  Nr.  15  dieser  Zeitschrift  mitgeteilten  Ergeb¬ 
nissen  von  F.  Schenk  über  Abbau  versuche  mit  den  Seren  ana¬ 
phylaktischer  Meerschweinchen  möge  hier  nur  das  folgende  be¬ 
merkt  werden : 

Unsere  sehr  zahlreichen,  unter  den  verschiedensten  Versuchs¬ 
bedingungen  gewonnenen,  durchaus  eindeutigen  positiven  Resul¬ 
tate  haben  unzweifelhaft  ergeben,  daß  das  Serum  von  mit  art¬ 
fremdem  Eiweiß  vorbehandelten  Meerschweinchen  im  Sinne  eines 
Abbaues  auf  das  Eiweiß  der  Vorbehandlung  und  nur  auf  dieses 
einwirkt  Zu  diesem  Schlüsse  berechtigen  uns  nicht  nur  die 
zahlreichen  und  konstant  positiven  Ergebnisse  bei  Digestion  von 
Anaphylaxieserum  mit  dem  Antigen  der  Vorbehandlung,  sondern 
ebenso  die  negativen  Kontrollen  mit  normalen  Seren.  Aus  diesen 
Versuchen  ergibt  es  sich  zur  Evidenz,  daß  die  gegenteiligen  Resul¬ 
tate  Schenks  durch  vermeidbare  Fehler  in  der  Enteiweißung 
bedingt  sind  und  unsere  Schlußfolgerungen  dadurch  in  keiner  ei 
Weise  eine  Einschränkung  erfahren.  Es  gelingt  und  ich  muß 
daran  auch  heute  festhalten,  bei  genügender  Uebung  und  Sorg¬ 
falt  in  der  Enteiweißung  und  mit  den  von  uns  angewendeten 
kleinen  Versuchsmengen  der  Seren  konstant,  alles  native  Eiweiß 
zu  entfernen  und  zu  Filtraten  zu  gelangen,  die  durchaus  negative 
B iur  etreakti  onen  geben,  demnach  auch  auf  demselben  Versuchs¬ 
wege  mit  Seren  anaphylaktischer  Tiere  Abbauprodukte  von  Pep¬ 
toncharakter  nachzuweisen.  In  derselben  Richtung  vor  kurzer 
Zeit  neuerdings  unternommene  Versuche  lieferten  gleichfalls  das 
konstante  und  regelmäßig  positive  Resultat  bei  Verwendung  dei 
Eiweißanaphylaxieseren,  das  Fehlen  der  Biuretreaktion  bei  den 
Kontrollen. 

Uebrigens  sind  mittlerweile,  wenn  ich  selbst  von  der  Be¬ 
stätigung  unserer  Ergebnisse  durch  E.  Friedberger  absehe 
die  Schenk  gleichfalls  in  Zweifel  zieht,  auf  anderen,  wohl 
völlig  einwandfreien  Versuchswegen  und  von  anderen  unter¬ 
suchen!  kongruente  Erfahrungen  gemacht  worden  E.  Ahoe 
halden  und  seine  Mitarbeiter  haben  bekannthehfestgesteüt 
daß  bei  Digestion  und  darauf  folgender  Dialyse  der  Gern  sehe won 
■Eiweißimmunseren  mit  Antigen  die  Außen!  ussig  erfoM 

tion  gibt,  also  eine  tiefgehende  Spaltung  v  ° 


574 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


sein  mußte.  Derselbe  Autor  hat  in  seinen  zahlreichen  und  um¬ 
fassenden  Versuchen,  in  jüngster  Zeit  speziell  auch  für  den  Fall 
der  Meerschweinchenanaphylaxie,  mit  Hilfe  der  optischen  Me¬ 
thode  einen  fermentativen  Abbau  des  Antigens  durch  sein  zu- 
ge  lunges  Immunserum  in  einer,  alle  Zweifel  ausschließenden 
t  ise  dargetan,  ln  Anbetracht  aller  dieser  Umstände,  ferner  in 
l.erucksichtigung  der  Analogie  des  Erkrankungsbildes  im  ana¬ 
phylaktischen  Shock  und  bei  Peptonvergiftung,  in  Berücksich¬ 
tigung  meiner  erst  vorläufig  mitgeteilten  Resultate  mit  den  Harnen 
anaphylaktisch  geschädigter,  mit  Pepton  vergifteter  oder  in  an¬ 
deren  Formen  des  akuten  parenteralen  Eiweißzerfalles  befindlicher 
liere,  können  Schenks  Reusltate  wohl  nur  durch  v'ermeid- 
b  a  r  e  Fehler  in  der  Enteiweißung  erklärt  werden.  'Unsere  früheren 
Angaben  erleiden  dadurch  weder  hinsichtlich  der  Methodik  noch 
insbesondere  hinsichtlich  der  damit  erzielbaren  Resultate  und 
der  daraus  gezogenen  Schlußfolgerung,  eine  Einschränkung 


Referate. 

Operative  Chirurgie  der  Harnwege. 

Normale  Anatomie  und  chirurgische  pathologische  Anatomie. 

Von  J.  Albarraii. 

Ins  Deutsche  übertragen  von  Dr.  Emil  0 innert,  Dresden. 

1068  Seiten  mit  541  teils  farbigen  Figuren  im  Texte. 

Jena  1910,  G.  Fischer. 

Als  vor  mehr  als  zwei  Jahren  das  französische  Originalwerk 
A  1  b  a  i  r  a  n  s  über  die  operative  Chirurgie  der  Harnwege  erschien 
hatte  wohl  jeder,  der  das  Euch  studiert  hatte,  die  Empfindung,  daß 
durch  dasselbe  die  medizinische  Literatur  um  ein  großes,  klassisches 
Werk  bereichert  worden  sei. 

Es  bestand  damals  ein  Mangel  an  einem  derartigen  groß  an¬ 
gelegten  Werke  und  daß  ein  Bedürfnis  nach  einem  solchen  tat¬ 
sächlich  bestanden  hat,  beweist  der  Umstand,  daß  kurze  Zeit  hierauf 
den  gleichen  Inhalt  behandelnde  Werke  anderer  Autoren  erschienen 
sind .  Watson  und  Cunningham,  Oppenheimer. 

Dr.  E.  Grunert  unternahm  es,  das  Meisterwerk  A 1  b  a  r- 
r  an  s  ins  Deutsche  zu  übertragen;  wir  müssen  ihm  für  diese  Arbeit 
unumwunden  danken;  denn  die  Uebersetzung  ist  trefflich  gelungen. 
Das  Originalwerk  hat  hier  nicht  wie  in  anderen  Fällen  durch  ""die 
Wiedergabe  in  eine  fremde  Sprache  gelitten  ;  sie  erhöht  im  Gegen¬ 
teile  die  lebendige  Wirkung  des  französischen  Textes  auf  unsere 
Empfindung. 

Da  in  dieser  Zeitschrift  das  französische  Originalwerk  seiner¬ 
zeit  nicht  referiert  worden  ist,  sei  es  gestattet,  in  Kürze  auf  den 
Inhalt  desselben  einzugehen. 

Der  Plan,  der  dem  Buche  zugrunde  lag,  war  nicht  der,  eine 
vollständige  Liste  aller  urologischen  Operationsmethoden  und  deren 
genaue  Beschreibung  zu  bringen,  sondern  nur  die  nach  den  Erfah¬ 
rungen  Albarrans  besten  und  erprobtesten. 

Und  gerade  durch  dieses  persönliche  Moment  —  der  Name 
des  Autors  und  seine  wohl  einzig  dastehende  urologisch-chirurgi- 
sche  Erfahrung  bürgt  für  die  Zweckmäßigkeit  der  getroffenen  Aus¬ 
wahl  tritt  das  Werk  aus  dem  Rahmen  einer  kompilatorischen 
Darstellung  der  urologischen  Operationslehre  heraus  und  wirkt  wie 
ein  unmittelbarer  Vortrag  des  berühmten  Meisters.  Wir  müssen  diesen 
Umstand  um  so  mehr  betonen,  da  die  Operationslehre  A 1  h  a  r- 
r  a  n  s  seit  geraumer  Zeit  die  letzte  wissenschaftliche  Arbeit  ist,  die 

wir  der  Feder  des  leider  seit  langem  erkrankten  Meisters  ver¬ 
danken. 

Das  praktische  Ziel  des  Werkes,  für  angehende  und  erfahrene 
Chirurgen  ein  lebendig  wirkendes  Bild  der  Operationsmethodik  an 
der  Pariser  urologischen  Klinik  zu  entwerfen,  konnte  am  besten 
dadurch  erreicht  werden,  daß  der  gewiß  sehr  spröde  Stoff  durch 
t-*ine  besonders  glücklich  gewählte  Anordnung  in  die  Form  des 
klinischen  Vortrages  eingepaßt  wurde,  eine  Anordnung,  die  gerade 
iUi  eine  Operationslehre  genug  der  Schwierigkeiten  geboten 
haben  mag. 

Und  doch  ist  diese  Art  der  Darstellung  vollkommen 
ungezwungen,  lebendig  und  natürlich  gelungen.  Jeder  Operation  ist 
die  normale  Anatomie  des  Organes,  jeder  Krankheit  die  chirurgische 
pathologische  Anatomie  des  erkrankten  Teiles  vorangeschickt,  dann 
folgt  in  präziser  Logik  die  Indikationsstellung,  die  Wahl  derOpera- 
tionsmethode,  ihre  Technik,  Beschreibung  möglicher  Zwischenfälle  und 


Nr.  16 


vermeidbarer  technischer  Fehler  und  endlich  eine  »ausführliche  und 
zuweilen  minutiöse  Beschreibung  der  Nachbehandlung  der  Opera¬ 
tion«.  Auf  den  letzten  Punkt  legt  Al  harr  an  grundsätzlich  die 
größte  Bedeutung. 

Gekrönt  wird  diese  Darstellung  noch  durch  die  Abbildungen 
die  von  Meisterhand  gefertigt,  die  deskriptive  und  topographische 
Anatomie  der  Organe,  das  Instrumentarium  und  in  unübertrefflich 
plastischer  Weise  die  einzelnen  Phasen  der  wichtigsten  Operationen 
illustrieren. 

Auf  die  einzelnen  Kapitel  des  Werkes,  die  Chirurgie  der 
Nieren,  Blase,  Prostata,  Urethra  detailliert  einzugehen,  verbiete! 
das  Ausmaß  eines  Referates.  Es  ist  jeder  Abschnitt  mit  der  gleichen 
Liebe  und  der  gleichen  meisterhaften  Prägnanz  dargestellt. 

Das  klassische  Werk  Albarrans  der  Lektüre  und  dem  ein¬ 
gehenden  Studium  allen  denen,  die  sich  für  unser  Fach  inter¬ 
essieren,  wärmstens  zu  empfehlen,  ist  der  Zweck  dieses  Berichtes 
Wir  glauben,  daß  dasselbe  auf  lange  Zeit  die  Grundlage  für  jeden 
sein  wird,  der  sich  der  operativen  Chirurgie  der  Harnorgane  widmen 
will ;  man  wird  hier  alles  das  in  kurzer  präziser  Darstellung  finden, 
was  man  ehedem  mühsam  aus  Lehrbüchern  der  Anatomie,  Physio¬ 
logie,  den  Lehrbüchern  der  Urologie  und  den  monographischen  Dar¬ 
stellungen  einzelner  chirurgischer  Urogenitalerkrankungen  zusammen¬ 
suchen  mußte. 

Es  wird  sich  wohl  jedem,  der  das  Werk  mit  dem  gleichen 
Genüsse  studiert  hat  wie  der  Referent,  der  lebhafte  Wunsch  auf¬ 
drängen,  daß  Meister  Alb  ar  ran  nach  möglichst  rascher  Wider¬ 
erlangung  seiner  bewunderungswürdigen  Arbeitskraft  unsere  Wissen¬ 
schalt  und  die  ganze  medizinische  Literatur  mit  neuen  Meister- 
leislungen  beschenken  möge.  Viktor  Blum. 

* 

Hai’nsäure  als  ein  Faktor  bei  der  Entstehung  von 

Krankheiten. 

Von  Alexander  Haig. 

Autorisierte  Uebersetzung  der  siebenten  englischen  Ausgabe. 

Zweite,  vermehrte  deutsche  Ausgabe. 

Von  Dr.  med.  Max  Birch-Beimer,  Arzt  in  Zürich. 

62  Abbildungen. 

661  Seiten. 

Berlin  1910,  Otto  Salle. 

Bekanntlich  hat  Haig  an  sich  selbst  den  Purinstoffwechsel 
in  einem  Versuch,  der  eine  große  Reihe  von  Jahren  —  2990  Tage  — 
umtaßt,  studiert  und  schon  um  dieser  Leistung  willen  verdient  sein 
Buch,  mit  Interesse  gelesen  zu  werden.  Ebenso  bekannt  ist,  daß 
die  Lehren  Haigs  namentlich  in  Deutschland  auf  scharfen  Wider¬ 
spruch  gestoßen  sind  und  es  ist  besonders  seine  Methodik  der 
Harnsäure-  und  Purinbasenbestimmung,  ferner  seine  durch  Experi¬ 
mente  nicht  begründete  Ansicht  von  der  Blutdruckmessung,  welche 
jene  Kritik  herausforderte. 

Es  ist  nicht  leicht,  sich  durch  das  vorliegende  große  Buch 
hindurchzuarbeiten.  Die  ersten  Kapitel  sind  der  Bildung  und  Aus¬ 
scheidung  der  Harnsäure  gewidmet;  Haig  stellt  das  Gesetz  auf, 
daß  die  Harnwassermenge  sich  umgekehrt  zur  Harnsäuremenge  ver¬ 
hält,  daß  ferner  die  Höhe  der  Harnsäure  über  Harnstoff  den  Ma߬ 
stab  für  die  in  der  betreffenden  Zeit  durch  das  Blut  gehende  Harn- 
säuiemenge  abgibt.  Die  Ursache  aller  krankhaften  Erscheinungen 
erblickt  er  in  der  Retention  der  zugeführten  Harnsäure.  Der  Ueber- 
schuß  von  Harnsäure  im  Blut  erzeugt  ein  Krankheitsbild :  die 
K  o  1 1  ä  m  i  e,  welche  ihrerseits  zur  Obstruktion  der  Kapillaren  und 
sekundär  zur  Erhöhung  des  Blutdruckes  und  zur  mangelhaften 
Versorgung  der  Gewebe  führen  soll.  Besondere  im  Kapitel  »Harn¬ 
säure  und  Kreislauf«  fällt  der  unwissenschaftliche  Ton  auf,  der 
dem  ganzen  Buch  seinen  Charakter  verleiht;  so  äußert  der  Ver- 
lasser  z.  B.  bei  der  Besprechung  eines  Falles  von  ausgesprochener 
Mitralstenose  :  »Hätte  Pat.  von  jeher  diese  (harnsäurefreie)  Diät  be¬ 
folgt,  so  wäre  ihr  schlimmes  Herzleiden  überhaupt  nicht  aufgetreten«. 
Diese  und  zahlreiche  ähnliche  naive  Feststellungen,  so  über  die 
Ursache  des  Kopfschmerzes,  der  Epilepsie  und  Hysterie,  der  Geistes¬ 
krankheiten  u.  a.,  klingen  allzusehr  nach  Naturheillehre,  als  daß 
sie  ernst  genommen  werden  könnten.  Ebenso  überholt  sind  seine 
Beobachtungen  über  die  Harnsäure  als  Ursache  der  paroxysmalen 
Hämoglobinurie,  der  Raynaud  sehen  Krankheit,  der  Bright- 
schen  Krankheit,  des  Diabetes  etc.  Dagegen  ist  ein  gewisser  Scharf¬ 
blick  bei  der  Auffassung  der  Zusammenhänge  zwischen  Hautkrank- 


575 


Nr.  16  WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


heiten  und  Harnsäureübetladung  des  Blutes,  der  Disposition  zu 
artbritischen  Erkrankungen,  zu  Chorea  und  anderen  Infektionen 
nicht  abzuleugnen.  In  der  Th  e  r  a  p  i  e  steht  II  a  i  g  auf  dem  ziemlich 
allgemein  angenommenen  Standpunkt,  daß  bei  gichtischen  Erkran¬ 
kungen  Harnsäurebildner  in  der  Nahrung  zu  vermeiden  sind. 

Es  wäre  angezeigt  gewesen,  wenn  Haig  lediglich  seine 
eigene  Krankheitsgeschichte  ohne  den  ungeheuren  Ballast  von 
Theorien  und  mit  schlechten  Methoden  gewonnenen  Anschauungen 
wiedergegeben  hätte.  So  ist  es  eine  Anhäufung  von  Kranken¬ 
geschichten  mit  der  oft  allzu  naiven  Erklärung  der  Symptome  und 
der  Zuriickführung  aller  auf  das  Grundübel :  die  Kollämie.  Vielleicht 
entschließt  sich  der  Verfasser  oder  sein  Uebersetzer  dazu,  einen 
genießbaren  Extrakt  aus  dem  Buche  zu  erzeugen.  Ein  solcher 
könnte  besser  empfohlen  werden,  als  man  es  mit  dem  vorliegenden 
Buche  tun  kann. 

* 

Die  Vagotonie. 

Eine  klinische  Studie  von  Priv.-Doz.  Dr.  Hans  Eppiuger 
und  Dr.  Leo  Heß  -Wien. 

Sammlung  klinischer  Abhandlungen  über  Pathologie  und  Therapie  der 
Stoffwechsel-  und  Ernährungsstörungen. 

Herausgegeben  von  Professor  C.  v.  Noorden. 

98  Seiten.  / 

Berlin  1910,  A.  Hirschwald. 

Es  muß  als  ein  großes  Verdienst  der  beiden  Autoren  be¬ 
zeichnet  werden,  das  erstemal  einen  konkreten  neurologischen  Begriff 
der  viszeralen  Organe  angebahnt  zu  haben,  wie  das  in  der  vorlie¬ 
genden  Studie  in  klarer,  überzeugender  Weise  durchgeführt  ist.  Auf 
Grund  klinischer  und  pharmakologischer  Beobachtungen  gelingt  es, 
einen  Typus  von  Störungen  der  inneren  Organe  zu  konstruieren, 
der  als  Vagotonie  bezeichnet  wird.  Dieser  Typus  ist  dadurch 
charakterisiert,  daß  der  Vagotonus  leicht  erregt  werden  kann.  Als 
Hauptagens  für  die  Diagnose  der  Vagusübererregbarkeit  benützen 
Verff.  aus  guten  Gründen  das  Pilokarpin,  welches  auf  eine  Reihe 
von  durch  den  Vagus  innervierten  Organen  erregend  wirkt.  Die 
leichte  Ansprechbarkeit  der  Vagotoniker  durch  Pilokarpin  (Reizung 
des  autonomen  Nervensystems),  die  schwere  Beeinflußbarkeit  durch 
Adrenalin  (Reizung  des  sympathischen  Nervensystems)  lassen  eine 
gute  und  genügend  präzise  Abgrenzung  des  Krankheitsbegriffes  zu. 
Dies  wird  nun  in  der  Broschüre  für  die  einzelnen,  durch  den  Vagus 
innervierten  Organe  durchgeführt,  dann  ein  klinisches  Bild  der 
Vagotonie  gegeben  und  der  Einfluß  der  Vagotonie  auf  die  Symptomen- 
komplexe  anderer  Krankheiten  geschildert. 

Durchwegs  originelle  und  geistreiche  Deutung  von  bisher  un¬ 
klaren  Erscheinungen  —  ich  erwähne  nur  die  vagotonischen  Magen¬ 
affektionen,  das  Asthma  bronchiale,  gewisse  nervöse  Darmerkran¬ 
kungen,  Reizerscheinungen  des  Herzens,  der  Augenmuskeln,  des 
Blutes  (Eosinophilie)  —  sind  die  Frucht  der  wichtigen  Unter¬ 
suchungen  der  Verfasser.  Aber  nicht  nur  diagnostische,  auch 
therapeutische  Errungenschaften  werden  uns  geboten.  Im  Atropin 
haben  wir  das  Mittel,  die  Uebererregbarkeit  des  Vagus  zu  paraly¬ 
sieren  und  zahlreiche  vagotonische  Zustände  zu  beheben. 

Jedenfalls  haben  die  Verfasser  einen  neuen  klinischen  Begriff 
scharf  umgrenzt,  der  jedem  Arzt  nunmehr  wird  geläufig  sein  müssen 
und  der  auch  der  vielfach  mißbrauchten  Diagnose  Neurasthenie  oder 
funktionelle  Neurose  das  Terrain  abgraben  wird.  Nur  eines  wird 
man  vermeiden  müssen :  eine  ernste,  organische  Grundkrankheit 
durch  vorschwebende  vagotonische  Erscheinungen  zu  übersehen.  Es 
gilt  das  vor  allem  für  die  Arteriosklerose  in  ihrem  proteusartigen 
Verlauf.  Hoffentlich  lernen  wir  bald  außer  den  pharmakologisch 
differenzierenden  Symptomen  noch  andere  klinisch  brauchbare 
diagnostische  Momente  kennen,  die  das  begonnene  System  ausbauen 
helfen  und  ist  die  Zeit  nicht  allzufern,  wo  wir  eine  Neurologie  der 
inneren  Organe  besitzen  werden.  _  K.  Glaessner. 

* 

Franz  Mraceks  Atlas  und  Grundriß  der  Hautkrankheiten 

Herausgegeben  von  Dr.  Albert  Jesiouek,  a.  o.  Professor  für  Dermatologie 
und  Syphilis  an  der  Gr.  Landesuniversität  Gießen. 

Dritte,  teilweise  umgearbeitete  und  erweiterte  Auflage. 

Mit  109  farbigen  Tafeln  und  96  schwarzen  Abbildungen. 
München  1911,  Verlag  von  J.  F.  Lehmann. 

Das  dem  reichen  Krankenmaterial  der  Wiener  Rudolfstiflung 
entlehnte  Bilderwerk  findet  nunmehr  mit  Beiträgen  der  Mün¬ 


chener  und  Gießener  Hautklinik  die  ergänzende  Ausgestaltung, 
gleichzeitig  auch  der  Text  die  dem  heutigen  Wissensstände  ent¬ 
sprechende  erweiterte  Behandlung.  Mraceks  knapper  Leitfaden 
wurdet  derart  zu  einer  kompletten  Dermatologie,  die"  dem  Ler¬ 
nenden  die  in  dem  Fachgebiete  erforderliche  Wissenssumme  ver¬ 
mittelt.  Die  hinzugekommenen  farbigen  Tafeln  jedoch  können 
nur  zum  Teil  als  Bereicherungen  des  Atlas  angcslproc'hen  werden. 
Für  die  Wiedergabe  der  plastischen  und  koloristischen  Fein¬ 
heiten  der  Dermatosen  erweist  sich  der  Oeltechnik  breite  Pinsel¬ 
führung  völlig  ungeeignet  und  ist  von  den  Meistern  der  medizi¬ 
nischen  Malkunst,  El  fing  er,  Heitzmann  und  anderen,  nie¬ 
mals  verwertet  worden.  So  wirken  denn  auch  die  der  Klinik 
Posselt  entstammenden  Reproduktionen  von  Oclbildcrn  zwar 
als  farbenreiche  Köpfe  und  Gestalten,  deren  der'matodiagnosti- 
sche  Charakteristik  jedoch  selbst  der  Text  vergebens  zu  inter¬ 
pretieren  trachtet.  Die  46  eingeschalteten  Photographien  der  Neu¬ 
auflage  ermöglichen  eine  zutreffende  Vorstellung  der  festgehaltenen 
Zustandsbilder. 

* 

Der  Lupus.  Seine  Pathologie,  Therapie,  Prophylaxe. 

Für  den  praktischen  Gebrauch  geschrieben  von  Prof.  Dr.  L.  Pliilipppsou, 

Direktor  der  Dermatologischen  Universitätsklinik  zu  Palermo. 

Aus  dem  italienischen  Manuskript,  übersetzt  von  Dr.  Fritz  Juliusberg'. 

Mit  8  Tafeln. 

Berlin  1911,  Verlag  von  Julius  Springer. 

Die  genauere  Verfolgung  der  pathogenetischen  Verhältnisse 
hat  gelehrt,  daß  die  dem  Lupus  zugehörigen  llautphänomene  in 
innigster  Abhängigkeit  zu  der  spezifischen  Erkrankung  des 
Knochenapparates  und  des  lymphatischen  Systems  stellen  und 
in  besonderer  Häufigkeit  nur  als  auf  das  dermale  Reaktions¬ 
feld  projizierte  Teilerscheinungen  des  Gesamtprozesses  einzu¬ 
schätzen  sind.  Von  dieser,  der  modernen  Tuberkuloseforschung 
entsprechenden  Betrachtungsweise  ausgehend,  entwirft  Phi¬ 
lipps  on  eine  in  markanten  Umrissen  skizzierte  Darstellung  des 
Entwicklungsganges  der  primären  und  sekundären  Lupusformen, 
der  Bedingungen  ihres  Fortschreitens  und  Stillstandes,  sowie  der 
Voraussetzungen  einer  rationellen  kausalen  Bekämpfung.  Daten 
der  Eigenstatistik  und  gut  gewählte  Photographien  erläutern  die 
Wechselbeziehungen  der  Drüsen-  und  Schleimhauttuberkulose  zu 
den  destruktiven  Veränderungen  der  äußeren  Decke  und  lehren 
gleichzeitig,  in  welch  verheerendem  Umfang  der  Prozeß  selbst 
unter  den  günstigen  klimatischen  Verhältnissen  Siziliens  seine 
Opfer  fordert. 

* 

Die  Syphilishehandlung  mit  Salvarsan. 

Von  Dr.  Kurt  v.  Stokar. 

München  1911,  Verlag  von  J.  F.  Lehmann. 

Eine,  das  Jahr  1910  umfassende,  sorgfältig  redigierte  Studie, 
der  alle  Erfahrungen  zu  entnehmen  sind,  welche  in  der  Literatur 
in  bezug  auf  Dosierung,  Applikationsform1,  Wirkungsweise  und 
klinische  Indikation  des  Arsenobenzols  festgehalten  erscheinen. 

* 

Abhandlungen  über  Salvarsan. 

Gesammelt  und  herausgegeben  von  Paul  Ehrlich. 

München  1911,  Verlag  von  J.  F.  Lehmann. 

An  dieser  Sammlung  Von  Aufsätzen  über  die  kurative 
Wirkung  des  D i oxy d i am idoarsenobenz ols  ist  P.  Ehrlich  nur 
insoferne  beteiligt,  als  er  den  aus  der  Münchener  medizinischen 
Wochenschrift  vereinten  Aufsätzen  einige  einleitende  Worte 
widmet  und  die  nach  technischen,  pbarmakodynaniischen  und  noso¬ 
logischen  Gesichtspunkten  geordnete  große  Reihe  von  Mitteilungen 
mit  dem  vielvermerkten,  in  Frankfurt  gehaltenen  Fortbildungs¬ 
vortrag  zum  Abschluß  bringt.  Es  ist  dies!  die  im  Dezember 
1910  an  gleicher  Stelle  veröffentlichte  übersichtliche  Formulie¬ 
rung  des  Anzeigegebietes  der  Salvarsananwendung  und  die  mit 
anerkannter  Objektivität  geführte  Widerlegung  der  deletärenNeben- 
wirkungen  des  Präparates.  Nobl. 


576 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  16 


Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

401.  Die  Bedeutung  der  Zy stoskopie  für  die  Dia¬ 
gnose  undBehandlung  derSchwangerschaftspyelitis. 
Von  Dr.  A.  Cal  mann  in  Hamburg.  Die  Zusammenfassung  des 
Verfassers  lautet:  Die  Zys  to  skopie  bedeutet  für  die  Schwanger¬ 
schaftspyelitis  einen  Fortschritt  in  der  Erkenntnis  des  Krankheits¬ 
bildes  und  eine  Erweiterung  der  therapeutischen  Leistung.  Mit 
ihrer  Hilfe  gelingt  es:  1.  Fälle  zu  erkennen,  die  sonst  unklar 
bleiben;  2.  in  dringender  Situation,  z.  B.  bei  der  Unterscheidung 
von  akuter  Appendizitis  oder  Cholezystitis,  schnell  zur  Entschei¬ 
dung  und  Indikationsstellung  zu  kommen ;  3.  den  Sitz  der  Erkran¬ 
kung  zu  bestimmen;  4.  therapeutisch  weiter  zu  kommen,  wo  die 
interne  Medikation  versagt  und  wo  früher  Schwangerschaftsunter¬ 
brechung  oder  Nierenoperationen  notwendig  wurden.  Diese  seine 
Leitsätze  stützt  Verfasser  auf  die  reiche  Literatur  und  auf  eigene 
Erfahrung,  aus  welcher  er  vier  Fälle  ausführlich  mitteilt.  In  der 
Norm  ist  sowohl  für  die  Diagnostik,  wie  für  Therapie  die  Endo¬ 
skopie  entbehrlich;  aber  es  gibt  Fälle,  sie  sind  nicht  so  selten, 
wo  die  sonst  schon  makroskopisch  sichtbare  charakteristische 
intensive  Trübung  des  Urins  fehlt  und  in  welchen  selbst  die  mikro¬ 
skopische  Untersuchung  des  Harnes  resultatlos  bleibt,  da  der  Harn 
aus  dem  erkrankten  Nierenbecken  zeitweilig  nicht  in  die  Blase 
gelangt  (Ureterverschluß  oder  Verstopfung  durch  Eiterflocken). 
Auch  Schmerz  und  Fieber  können  fehlen  und  die  wenig  aus¬ 
gesprochenen  Symptome  (Abgeschlagenheit,  Ziehen  im  Leib,  Urin¬ 
drang  usw.)  werden  als  Molimina  graviditatis  gedeutet.  Ist  aber 
der  Urin  etwas  eitrig  oder  bakterienhaltig,  so  beruhigt  man  sich 
mit  der  Diagnose  einer  Zystitis,  bis  endlich  die  Ureterensondie- 
rung  das  Wesen  der  Erkrankung  aufdeckt.  Von  seinen  vier  zysto- 
skopisch  kontrollierten  Fällen  waren  zwei  doppelseitig  erkrankt. 
In  allen  vier  Fällen  war  der,  wenn  nicht  heilende,  so  doch  gründ¬ 
lich  bessernde  Einfluß  der  Nierenbeckenspülung  (200  bis  300  cm3 
einer  Silberlösung  1  :2000  oder  erst  Ausspülung  mit  Borlösung,  so¬ 
dann  50  cm3  einer  l%igen  Kollargollösung)  unverkennbar.  Da 
diese  Umstimmung  (Schwinden  des  Fiebers,  Wohlbefinden)  oft 
einer  einzigen  Ausspülung  folgte,  so  hat  es  den  Anschein,  als  ob 
es  sich  in  der  Hauptsache  um  die  Beseitigung  einer  Stauung 
im  Nierenbecken  handelte.  Die  Häufigkeit  einer  solchen  Stauung 
erhellt  auch  aus  der  Erfahrung  daß  bei  Einführung  des  Ureteren- 
katheters  sich  manchmal  eine  größere  Menge  eitrigen  Urins  plötz¬ 
lich  mit  einem  Guß  und  nicht  —  wie  sonst  —  tropfenweise  ent¬ 
leerte,  sowie  aus  dem  wechselnden  Eitergehalt  des'  Urins  über¬ 
haupt.  Einzelne  Autoren  haben  auch  tatsächlich  mit  einfachem 
Katheterismus  des  Nierenbeckens  dasselbe  erreicht  wie  mit  der 
Spülung,  hie  und  da  sahen  sie  sich  aber  doch  gezwungen,  noch 
eine  Spülung  nachzuschicken.  Die  Spülung  wirkt  so  schnell  wie 
die  Spaltung  und  Entleerung  eines  Abszesses,  sie  beseitigt 
Schmerzen,  Fieber  und  Allgemednbeschwerden  und,  soweit  man 
jetzt,  bereits  ein  Urteil  wagen  darf,  auch  die  Gefahren  für  die 
Erhaltung  der  Schwangerschaft.  In  den  vier1  Fällen  des  Verfassers 
wurde  die  Eiterung  wesentlich  eingeschränkt,  zum  Teil  auf  ein 
Minimum,  ein  kleiner  Rest  und  vor  allem  die  Bakteriurie  blieben 
bestehen  bis  zum  Ablauf  der  Schwangerschaft.  Erst  einige  Wochen 
nach  der  Geburt  verschwanden  Eiter  und  Bakterien  völlig.  Sehr 
oft  genügt  auch  die  übliche  interne  Behandlung  der  Schwanger¬ 
schaftspyelitis  (von  neun  Fällen  der  letzten  anderthalb  Jahre 
hat  Verf.  drei  mit  Nierenbeckenspülüng  behandelt,  einmal  den 
Ureterenkatheterismus  zur  Stellung  der  Diagnose  angewandt); 
wo  die  interne  Behandlung  versagt,  muß  aber  die  Nierenbecken¬ 
spülung  herangezogen  werden,  da  die  mit  der  Schwangerschaft 
innig  verbundene  Pyelitis  so  wie  die  Schwangerschaftsniere  schäd¬ 
lich  und  gefährlich  werden  kann.  Opitz  hat  eine  Statistik  zu¬ 
sammengestellt,  nach  welcher  von  53  Frauen  nur  20  austrugen. 
Bei  2o  trat  die  vorzeitige  Geburt  von  selbst  ein  und  zehnmal 
wurde  die  künstliche  Unterbrechung  ausgeführt.  —  (Deutsche 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  12.)  E.  F. 

* 

402.  (Aus  dem  Laboratorium  des  Prof.  Dr.  J.  H.  Muss  er.) 
Ueber  die  Isolierung  von  Kupfer  aus  Harn  und 
Schweiß  eines  Messingarbeiters.  Von  Edward  H.  Good¬ 
man,  M.  D.  Philadelphia,  Pa.  Verf.  berichtet  über  den  Fall  eines 
Messingarbeiters,  aus  dessen  Schweiß  und  Urin  Kupfer  isoliert 


werden  konnte.  Der  59jährige  Patient  kam  in  die  Poliklinik  des 
University  of  Pennsylvania  Hospitals  Ende  Oktober  1910  und 
klagte  über  Schmerzen  im  Epigastrium.  Gewichtsabnahme  und 
Schwäche.  Er  ist  in  einer  Messingfabrik  seit  47  Jahren  tätig 
und  hat  in  jeder  Abteilung  der  Fabrik  gearbeitet.  Manchmal  hatte 
er  einen  Geschmack  wie  Kupfer  im  Munde  und  grünen  Schweiß 
Der  Harn  und  die  grünen  Flecken  des  Arbeitshemdes  wurden  am 
Kupfer  untersucht.  Der  Harn  wurde  in  einer  Por'zellanschale  j 
auf  dem  Wasserbade  verdunstet,  der  Rückstand  verascht  und  int 
Salzsäure  unter  gelindem  Erhitzen  gelöst.  Diese  Lösung  wurde 
in  einem  Becherglase  auf  80°  erwärmt  und  durch  ein  Glasrohr 
Schwefelwasserstoff  in  langsamem  Strom  eingeleitet;  nach  zirka 
halbstündigem  Erhitzen  läßt  man  den  Niederschlag  absitzen  und 
filtriert  ihn.  Der  Niederschlag  wird  mit  heißem  Wasser  und 
etwas  Salzsäure  ausgewaschen  und  auf  dem  Filter  getrocknet. 
Zur  Bestimmung  hat  sich  Verfasser  eines  Roseschen  Tiegels 
bedient.  Das  Filter  samt  Niederschlag  wird  in  diesem  Tiegel  ver¬ 
brannt  und  jetzt  das  Kupfersulfit  mit  fein  gepulvertem  Schwefel 
überstreut,  M  asserstoff  in  den  Tiegel  eingeleitet  und  dann  langsam 
erhitzt.  Nun  wird  das  Gewicht  des  Tiegels  und  Rückstandes 
bestimmt  und  es  findet  sich  0-0980  g  Kupfersulfit.  Nach  dein 
Wägen  wurde  der  Rückstand  in  starker  Salpetersäure  unter  Er¬ 
wärmen  gelöst,  verdünnt  und  qualitativ  Proben  mit  Ferrozyan- 
kalium,  Natriumsulfit,  Glukose  und  Ammoniak  angestellt.  Alle 
Proben  bis  auf  Ammoniak  fielen  positiv  aus,  so  daß  es  sich 
zweifellos  um  Kupfer  handelt.  Dann  wurde  auch  ein  grüngefärbtes 
Stückchen  aus  dem  Hemde  herausgeschnitten,  in  starker  Salpeter¬ 
säure  unter  Erwärmen  gelöst  und  die  üblichen  Proben  gemacht. 
Es  wurde  auch  hier  Kupfer  gefunden.  Verf.  fand  in  den  Lehr¬ 
büchern  der  Toxikologie  keinen  ähnlichen  Fall.  Inwieweit  das 
Messing  selbst  die  Ursache  einer  Vergiftung  ist,  läßt  sich  schwer 
sagen.  Die  meisten  Autoren  betrachten  Kupfer  als  das.  schädliche 
Agens.  -  -  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  12.) 

G. 

* 

403.  Erfahrenen  der  inneren  Klinik  auf  einigen 
medizinischen  Grenzgebieten.  Von  De.  Gerhardt,  Basel. 
Bezüglich  der  Perityphlitis  hält  Gerhardt  dafür,  daß  für  die 
Fälle,  Welche  nicht  von  vornherein  für  die  Operation  zu  bestimmen 
sind  (nach  den  von  Wilms  aufgestellten  Regeln),  die  konsequente 
Opiumbehandlung  durchgeführt  werden  sollte,  nach  der  alten 
bewährten  Regel:  Knappe,  flüssige  Diät  und  Opium  durch  min-  j 
destens  acht  Tage  lang.  Daß  Opium  Meteorismus  erzeuge,  sei  i 
sicher  unrichtig  und  daß  es  die  Beurteilung  des  Krankheitsbildes  j 
erschwere,  sei  nicht  von  ernster  Bedeutung. !  Nachteile  der  Opium¬ 
behandlung  hat  G  e  r  h  a  r  d  t  nie  gesehen,  wohl  aber  wiederholt 
ausgesprochene  Verschlimmerung  der  Krankheit  prompt  nach  Ge¬ 
brauch  von  Rizinusöl  und  anderen  Abführmitteln.  —  Betreffs  j 
des  Mag emkar zin omls  bestätigen  die  Erfahrungen  Gerhardts  | 
ilie  Klagen  der  Chirurgen,  daß  die  Patienten  zu  spät  zur  Opera-  i 
tion  kommen,  woran  allerdings  nicht  so  sehr  späte  Diagnose-  j 
Stellung,  als  vor  allem  der  heimtückische  Verlauf  des  Leidens  i 
schuldtragend  ist.  Es  erwiesen  sich  nämlich  beinahe  die  Hälfte  I 
der  Fälle  Gerhardts  bei  der  Operation  als  radikal  nicht  mehr  1 
operabel,  obwohl  Beschwerden  erst  viel  weniger  als  ein  Viertel¬ 
jahr  bestanden !  Der  Wunsch  der  Chirurgen,  bei  älteren  Leuten 
mit  verdächtigen  Magenbeschwerden  die  Probelaparotomie  mög¬ 
lichst  bald  zu  empfehlen,  ist  durchaus  ein  berechtigter,  zumal 
die  bloße  Probelaparotomie  keinerlei  Schaden  bringt  und  die 
V  unde  rasch  heilt.  —  Die  Mehrzahl  Ider  Magengeschwüre  wurden 
bei  Gerhardt  nach  dem  Schema  von  Lenhartz  behandelt; 
die  Patienten  erhielten  also  nicht  ausschließlich  flüssige  Kost.  1 
sondern  schon  vom  fünften  Tage  an  Fleisch,  Reis  und  Zwieback 
in  geringen  Quantitäten,  aber  doch  in  (steigender  Mengel,  hiebei  er- 
holten  sie  sich  gewöhnlich  gut  und  rasch;  trotzdem  waren  sie 
nicht  wesentlich  früher  arbeitsfähig  als  die  nach  Leu  be  be¬ 
handelten.  Die  durchschnittliche  Dauer  des  Spitalsaufenthaltes 
war  in  jedem  Falle  ungefähr  40  Tage.  Bei  der  exspektativen  Be¬ 
handlung  kamen  auch  sehr  schwere  Magenblutungen  zum  Still¬ 
stände;  immerhin  wäre  bei  hartnäckiger  Hämatemesis  nicht  zu 
späte  Operation  indiziert,  wobei  aber  eine  scharfe  Fixierung  der 
Regel,  wann  bei  solchen  rezidivierenden  Blutungen  operiert  werden 
soll,  wohl  sehr  schwierig  erscheint.  —  Was  die  Fälle  von  tuber- 


Nr.  16 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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kulöser  Peritonitis  anbelangt,  so  konnte  Gerhardt  gut  ein 
Drittel  seiner  Fälle  bei  exspektativer  Behandlung  wesentlich  ge¬ 
bessert  oder  geheilt  entlassen.  Bemerkenswert  ist  ferner,  daß  von 
sechs  ad  exitum  gekommenen  Fällen  drei  ein  Alter  von  62  bis 
64  Jahren  hatten  und  daß  die  »Krankheit  ganz  akut,  typhusähnlich, 
verlief.  Bei  Oesophagusstenose  gelang  es  regelmäßig,  idurch  Verab¬ 
reichung  von  Morphium  und  Narkotizis  vor  der  Nahrungsaufnahme 
die  Schluckbeschwerden  soAveit  zu  lindern,  daß  der  Zustand  er¬ 
träglich  war  und  sogar  in  einzelnen  Fällen  Gewichtszunahme 
zu  verzeichnen  war,  während  die  Operation  (Gastrotomie),  in  zwei 
Fällen  ausgeführt,  wegen  vollständiger  Undurchgängigkeit  des 
Oesophagus  nicht  lange  überlebt  wurde.  —  Bei  Rückenmarks¬ 
kranken  mit  der  Möglichkeit  eines  Tumors  empfiehlt  Gerhardt, 
die  chirurgische  Behandlung  wenigstens  zu  versuchen,  da,  Avenn 
auch  die  erhoffte  operative  Heilung  nicht  immer  gelingt,  die 
Prognose  sonst  eine  sehr  triste  ist  und  anderseits  die  Operation 
keine  oder  keine  wesentlichen  Nachteile  bringt.  —  Thorakoplastik 
bei  Lungenemphysem  (Freund)  brachte  Gerhardt  nach  jeder 
Richtung  eine  Enttäuschung.  —  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer 

Aerzte  1910,  40.  Jahrg.,  Nr.  36.)  K.  S. 

* 

404.  Das  Zucht-  und  Tollhaus  zu  Celle.  Von  Ober¬ 
arzt  Dr.  Mönkemöller  in  Hildesheim.  Aus  alten  Akten,  die 
MönkemölTer  auf  den  Böden  der  Heil-  und  Pflegeanstalt,  in 
Hildesheim  entdeckte,  ließ  sich  Manches  entnehmen,  Avie  man 
im  18.  Jahrhunderte  außerhalb  der  Anstalt  über  Geisteskrank¬ 
heiten  dachte  und  mit  ihren  Krankheitsäußerungen  sich  abzu¬ 
finden  suchte  und  wie  man  in  der  Anstalt  selbst  lebte.  M  o  n  k  e- 
möller  hat  diese  Akten  zu  einer  höchst  anziehenden  Publi¬ 
kation  verwertet.  Es  ist  erstaunlich,  mit  welcher  Humanität  schon 
zu  damaliger  Zeit  die  Geisteskranken  in  dieser  Anstalt  behandelt 
wurden  und  wie  große  Aehnlichke.it  das  Leben  in  jener  ver¬ 
alteten  Anstalt,  mit  dem  in  unseren  Anstalten,  welche  mit  dem 
modernsten  Raffinement  ausgestattet  sind,  aufweist.  —  (Allgemeine 
Zeitschrift  für  Psychiatrie  und  psychisch -gerichtliche  Medizin, 

Bä.  68,  H.  2.)  S. 

* 

405.  Zur  Behandlung  der  Pankreaszysten  und 
-pseudo  zysten.  Von  Prof.  Dr.  W.  Körte,  Direktor  der  chi¬ 
rurgischen  Abteilung  des  städtischen  Krankenhauses  am  Liban 
in  Berlin.  Es  wird  zuerst  die  Krankengeschichte  einer  31  Jahre 
alten  Frau  mitgeteilt,  die  in  Rußland  Avegen  eines  multilokularen 
Zystadenoms  des  Pankreas  mit  Einnähung,  Drainage  usw.,  zwei¬ 
mal  erfolglos,  sodann  vom  Verfasser  mit  Exstirpation  operiert 
wurde  und  die  zur  Heilung  kam.  Die  Ausheilung  konnte  in  diesem 
Falle  früher  nicht  erfolgen,  Aveil  stets  nur  die  größte  oder  einige 
der  größeren  Zysten  eröffnet  worden  waren,  während  andere 
Zysten  im  Grunde  uneröffnet  blieben  oder  schnell  nachwuchsen. 
Ferner  war  die  Ausheilung  durch  Einnähung  und  Drainage  nicht 
möglich,  weil  die  Zysten  mit  Epithel  ausgekleidet  waren  und  dem¬ 
zufolge  eine  Verschrumpfung  der  Höhle  durch  Granulationsbildung 
und  Vernarbung  nicht  zustande  kömmen  konnte.  Verf.  Aveist  aus 
der  Literatur  (P.  Lazarus  u.  a.)  nach,  daß  nur  ein  geringer 
Teil  der  als  Pankreaszysten  bezeichneten  Bildungen  wirkliche 
Zysten,  Zystadenome,  waren,  ein  großer  Teil  aber  waren  Pseud  o- 
zvsten,  d.  h.  entzündliche  oder  traumatische  Ergüsse,  welche 
infolge  von  Pankreatitis  oder  infolge  von  Traumen  der  Drüse  in 
deren  Umgebung,  meist  in  der  Bursa  o mentalis,  entstanden.  lür 
diese  „Pseudozysten“  war  in  der  Tat  die  Einnähung  und  Prämie¬ 
rung  der  vorgeschriebene  Weg  zur  Heilung,  während  die  wahren 
Kystome  mit  bindegewebiger,  innen  mit  Epithel  ausgekleideter 
Wand,  von  der  Umgebung  meist  leicht  abzutrennen,  nur  durch 
Exstirpation  beseitigt  werden  können.  Nur  bei  malignen  lu- 
moren  mit  Zystenbildung  kann  die  Exstirpation  infolge-  von  Ein¬ 
wachsen  von  Tumormassen  in  die  Umgebung  unmöglich  werden. 
Verf.  berichtet  über  die  Schwierigkeiten  und  Gefahren,  welche  bei 
der  Exstirpation  bestehen  und  beschreibt  sodann  sechs  Fälle  von 
entzündlichen  Pankreaszysten,  welche  er  mittels  Einnähung  und 
Drainierung  zur  Heilung  brachte.  Die  ersten  zwei  Fälle  sind 
schon  veröffentlicht  worden.  Der  dritte  Fall  kam  wegen  f  hole- 
dochus Verschlusses  durch  eine  Pankreasgeschwulst  zur  Operation, 
bei  Avelcher  eine  Zyste  im  Pankreaskopf  freigelegt  und  drainiert 
wurde;  sodann  Anlegung  einer  Gallenblasen-Dünndarm listed,  ln 


der  Anamnese  dieses  Falles  Avird  über  wiederholte  entzündliche 
Erkrankungen  der  rechten  Oberbauchgegend  (interstitielle  Entzün¬ 
dung  und  Zystoidbildung  im  Pankreas)  berichtet.  Drei  Aveitere 
Fälle  betrafen  Pseudozysten,  entzündliche  abgekapselte  Ergüsse 
in  die  Umgebung  des  Pankreas,  Avelche  bei  noch  bestehender  Ent¬ 
zündung  operiert  wurden.  In  zwei  Fällen  bestanden  Schmerz¬ 
anfälle,  Avelche  Gailensteinkoliken  glichen,  während  bei  der  Opera¬ 
tion  die  Abwesenheit  von  Steinen  und  von  Entzündung  der  Gallen¬ 
wege,  dafür  aber  zystische  Tumoren  konstatiert  wurden.  Da  die 
entzündlichen  oder  hämorrhagischen  Ergüsse  dieser  Pankreas¬ 
pseudozysten  sich  nicht  dazu  eignen,  aufgesaugt  zu  Averden,  da 
sie  oft  schubweise  unter  neuen  Entzündungsattacken  wachsen, 
ist  deren  Operation  (Inzision,  Prämierung)  angezeigt.  Schließlich 
ist  anzunehmen,  daß  durch  die  jetzt  immer  allgemeiner  geübte 
Frühoperation  der  akuten  Pankreatitis  Avie  der  Pankreasverletzun¬ 
gen  die  Entstehung  solcher  Zysten  verhütet  werden  wird. 
(Deutsche  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  12.)  E.  F. 

*  'I  t  ) 

406.  Ein  einfaches  Verfahren  zur  Bekämpfung 
des  Medi  astinalemphysems.  Von  Dr.  Max  Tiegel.  Ein 
Patient,  hatte  durch  ein  Trauma  Fraktur  der  dritten  bis  siebenten 
rechten  Rippe,  etwa  vier  Querfinger  von  der  Wirbelsäule  entfernt 
erlitten.  EtAva.  20  Stunden  später  trat,  offenbar  durch  Eindringen 
des  Luftergusses  von  dem  subkutanen  GeAvebe  des  unteren  Hals¬ 
abschnittes  in  das  Mediastinum,  ein  bedrohliches  Merliastinal- 
emphysem  auf.  Da  Lebensgefahr  infolge  hochgradiger  Dyspnoe 
bestand,  machte  Verf.  einen  4  cm  langen  Längsschnitt  im  Jugu- 
lum  und  ging  nach  Durchtrennung  der  Faszie  mit  dem  Finger 
stumpf  in  die  Tiefe,  bis  die  Trachea  und  der  hintere  Rand  der 
Incisura  jugularis  sterni  zu  tasten  war.  lieber  die  Schnittwunde 
wurde  eine  Bi  er  sehe  Saugglocke  gestülpt,  die  mit  einer  Wasser¬ 
strahlsaugpumpe  in  Verbindung  gesetzt  wurde.  Eklatanter  Erfolg. 
In  kontinuierlichem  Strome  sprudelte  aus  der  Inzisionsöffnung 
Luft.  Der  Patient  fühlte  sich  sofort  wesentlich  erleichtert,  freiere 
Atmung,  rasches  Zurückgehen  des  Emphysems  im  Hals  und  Kopf. 
Nächsten  Tag  wurde  die  Frakturstelle  freigelegt  und  ein  Ventildrain 
in  die  Pleurahöhle  eingeführt.  Die  Saugglocke  mußte  bis  zum 
dritten  Tage  liegen  bleiben.  Der  Aveitere,  zwar  durch  ein  auf¬ 
tretendes  Delirium  tremens  gestörte  Heilungsverlauf  war  dennoch 
ein  günstiger.  —  (Zentralblatt  für  Chirurgie  1911,  Nr.  12.1  E.  V. 

* 

407.  Die  Behandlung  der  Syphilis  mit  Ehrlich- 
Hata  „606“.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Hübner,  Marburg.  Wenn  auch 
die  richtigste  (wirkungsvollste  und  dabei  unschädliche)  Där- 
reichungsform  für  das  Ehrlichsche  Mittel  erst  gefunden  Averden 
muß,  So  kann  man  doch  heute  schon  sagen,  daß  man  Ehrlich- 
Hata  ,,606“  in  demselben  Sinne  gebrauchen  darf  wie  Quecksilber, 
dem  esi  an  Schnelligkeit  der  Wirkung  Avohl  in  jedem  Fälle  über¬ 
legen  ist.  Die  Heilung  der  ansteckenden  Symptome  dauert  jetzt 
im1  Durchschnitt  so  viele  Tage  Avie  früher  Wochen.  Die  Möglich¬ 
keit  der  Verbreitung  der  Krankheit  wird  hiedurch  allein  schon 
enorm  eingeschränkt  und  die  Ausgaben  der  Krankenkassen  für 
die  Heilung  der  Luetiker  werden  bedeutend  verringert.  Schon 
hieraus  muß  sich  eine  starke  Einschränkung  der  Zahl  der  Neu¬ 
erkrankungen  an  Syphilis  in  der  nächsten  Zeit  geltend  machen. 
Ob  das  neue  Mittel  in  gleicher  Weise  prophylaktisch  gegen  das 
Auftreten  der  schweren  Nachkrankheiten  der  Syphilis  wirkt,  das 
läßt  sich  heute  noch  nicht  sagen.  Keinesfalls  wird  man  Ehrlich- 
Hata  „606“  in  der  Therapie  der  'Syphilis’  mehr  entbehren  können, 
wenngleich  sich  die  überschwenglichen  Hoffnungen,  die  man  an 
das  neue  Mittel  im  ersten  Moment  geknüpft  hat,  bisher  noch 
nicht  voll  erfüllt  haben.  Eis  liegt  aber  auch  gar  kein  Grund  vor, 
jetzt  in  dieser  Enttäuschung,  vor  der  niemand  mehr  als  Ehrlich 
selbst  gewarnt  hat,  die  eminent  günstigen  Eigenschaften  des  Mittels 
gering  zu  veranschlagen.  —  (Fortschritte  der  Medizin  1911, 

29.  Jahrg.,  Nr.  1.)  i  K.  S. 

* 

408.  (Aus  der  inneren  Abteilung  des  städtischen  Kranken¬ 
hauses  St.  Rochus  in  Mainz.  —  Dirigierender  Arzt :  Dr.  H.  Our  s c  h- 
mann.)  Ueber  Bantische  Krankheit  bei  hereditärer 
Lues  und  ihre  Behandlung  mit  Salvarsan.  Von  V  illi 
Schmidt.  Verf.  berichtet  über  einen  Fall  von  Bantischer  Krank¬ 
heit,  der  diagnostisch  und  therapeutisch  als  ('in  eklatanter  Erfolg 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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der  Salvarsanbehandlung  von  Interesse  ist.  Banti  beschrieb 
bekanntlich  1897  einen  Symptomenkomplex,  den  er  als  ,, Spleno¬ 
megalie  mit  Leberzirrhose“  bezeichnete.  Klinisch  charakterisiert 
er  dieses  Krankheitsbild  als  eine  primäre  Milzschwellung  mit  an¬ 
schließender  Kachexie  und  Anämie  und  einer  chronischen  Hepa¬ 
titis,  aus  der  zuletzt  das  Bild  der  Laenne eschen  Zirrhose 
resultiere.  Im  Blute  linde  sich  Poikilozytose  und  Erythrozyto- 
penie,  dagegen  keine  Leukozytose  oder  Leukopenie.  Anatomisch 
wird  die  Milzschwellung  als  eine  Fibroadenie  und  in  späteren 
Stadien  als  eine  ausgiebige  bindegewebige  Umwandlung  der  Pulpa 
bezeichnet.  Aetiologisch  schließt  Banti  ausdrücklich  Lues,  Ma¬ 
laria  und  Intoxikationen  aus  und  nimmt  als  primäre  Ursache 
eine  Schädigung  des  Verdauungsapparates  an.  Später  haben  andere 
Autoren  eine  Reihe  von  Theorien  über  die  Krankheit  aufgestellt. 
Unter  anderen  wiesen  Chiari  und  Marse  hand  bei  einigen 
Fällen  auf  das  Vorhandensein  einer  Lues  hereditaria  tarda  hin. 
Die  Entdeckung  der  luetischen  Aetiologie  mußte  auch  der  Therapie 
der  Ban  tischen  Krankheit  einen  neuen  Weg  weisen,  der  aber 
noch  wenig  beschritten  wurde.  Im  Sinne  von  Banti,  der  die 
Erkrankung  primär  in  die  Milz  verlegte,  wurde  eine  Totalexstirpa¬ 
tion  der  Milz  von  chirurgischer  Seite  vorgeschlagen  und  in  einer 
Reihe  von  Fällen  mit  sehr  gutem  Erfolge  ausgeführt.  Der  Erfolg 
der  Röntgentherapie  war  wechselnd,  der  Eisen-Arsentherapie  nega¬ 
tiv.  Der  Fall  des  Verfassers  war  folgender:  Ein  14jähriger  Junge, 
von  Jugend  auf  schwächlich,  mit  einer  der  Lues  stark  verdäch¬ 
tigen  Familienanamnese,  erkrankt  allmählich  unter  Erscheinungen 
eines  starken  Milztumors  und  knotiger  Veränderung  der  Leber. 
Dabei  leicht  sekundäre  Anämie  mit  deutlicher  Leukopenie.  Dia¬ 
gnose:  Morbus  Banti.  Therapie:  Zunächst  Liquor  ferri  albuminati, 
Liquor  Kali  arsenicosi.  Der  Erfolg  war  absolut  negativ.  Auch  die 
Röntgenbestrahlungen  ließen  jeden  Erfolg  vermissen.  Inzwischen 
war  das  Vorhandensein  einer  Lues  hereditaria  durch  ausführlichere 
anamnestische  Momente  und  die  Krankheit  der  Mutter  (Tabes 
dorsalis),  sowie  durch  den  positiven  Ausfall  der  Wassermann- 
schen  Reaktion  sicher  geworden.  Es  wurde  daher  am  15.  August 
1910  0-4  Salvarsan  subkutan  injiziert.  Zehn  Tage  nachher  be¬ 
reits  deutlicher  Rückgang  der  Milzschwellung  zu  konstatieren. 
Auch  die  Leberknoten  waren  zurückgegangen.  Subjektives  Be¬ 
finden  erheblich  besser.  Der  Blutbefund  zeigte  immer  noch  eine 
deutliche  Leukopenie.  Bei  der  Entlassung  am  4.  Oktober  fühlt 
sich  der  Knabe  so  wohl,  daß  er  wieder  als  Goldschmiedlehrling 
seine  Arbeit  aufnehmen  Avollte.  Bei  der  Nachuntersuchung  am 
15.  Oktober,  also  nach  zwei  Monaten,  ist  das  Befinden  des  Jungen 
andauernd  ausgezeichnet.  Milz  6(4  Cm  lang,  4V2  cm  breit,  gegen¬ 
über  einer  Länge  von  16  cm  und  einer  Breite  von  8  cm  bei  der 
Aufnahme;  sie  hat  also  an  Länge  um  10  cm,  an  Breite  um 
3V«  cm  abgenommen.  Es  ist  also  in  diesem  Fälle,  wenn  auch 
keine  völlige  Restitutio  ad  integrum,  so  doch  eine  geradezu  er¬ 
staunliche  und  in  ihrem  prompten  Eintreten  verblüffende  Wir¬ 
kung  mit  Salvarsan  erzielt  worden,  die  einer  klinischen  Heilung 
fast  gleichkommt.  Von  den  derben  Knoten  der  Leber  ist  über¬ 
haupt  nichts  mehr  nachweisbar,  der  Milztumor  ist  ganz  erheblich 
kleiner  geworden  und  in  stetem  Rückgang  begriffen.  Das  subjektive 
Befinden  ist  ausgezeichnet,  der  Ivnajie  ist  wieder  völlig  arbeitsfähig. 
Das  einzige  Symptom,  das  dauernd  unverändert  bleibt,  ist  die 
Leukopenie  mit  relativer  Vermehrung  der  Lymphozyten.  Die 
Frage,  ob  diese  Fälle  Banti  scher  Krankheit,  die  auf  Lues  here¬ 
ditaria  beruhen,  wirklich  in  das  Banti  sehe  Kränk'heitsbild  sensu 
strictiori  gehören,  beantwortet  Verf.  mit  ja.  Es  sind  also  auch  die 
syphilidogenen  Fälle  zur  Gruppe  des  Morbus  Banti  zu  rechnen. 
Nur  ist  ihre  Aetiologie  besonders  scharf  horVorzUkehren,  weil  sie 
von  der  größten  Wichtigkeit  für  die  Therapie  ist.  Während  die 
Fälle  des  von  Banti  ursprünglich  aufgestellten  Krankheitsbildes 
immer  noch  in  das  Gebiet  der  Chirurgie  gehören,  so  ist  doch 
vor  einer  kritiklosen  Milzexstirpation  in  allen  Fällen  von  Morbus 
Banti  eindringlich  zu  warnen.  Jeder  dieser  Fälle  bedarf  einer 
genauen  Erforschung  auf  vorausgegangene  oder  ererbte  Lues  und 
der  Anstellung  der  Was  s er  m  annschen  Reaktion.  Verf.  glaubt, 
daß  in  diesen  Fällen  durch  Salvarsan  bedeutende  Erfolge  zu  er¬ 
zielen  sind  und  daß  der  chirurgische  Eingriff  nur  als  ultima 
ratio  anzusehen  ist.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift 
1911,  Nr.  12.)  a 


409.  Heilungsvorgänge  bei  Schizophrenen.  Von 

Dr.  H.  Bertschi  nger,  Direktor  der  kant.  Heilanstalt  Breitenau. 
Verf.  kennzeichnet  den  Ausbruch  der  Krankheit,  der  als  De¬ 
mentia  praecox  bezeichnet  wird,  als  Einbruch  des  Unterbewußt¬ 
seins  ins  Oberbewußtsein.  Verf.  hat  an  seinem  Krankenmateriale 
gefunden,  daß  es  hauptsächlich  drei  Wege  sind,  auf  denen  es 
den  Kranken  gelingt,  die  Herrschaft  übeir  ihr  Unterbewußtsein 
zu  erlangen :  Die  Korrektur  der  Wahnideen,  die  Umsymbolisie- 
rung  (allmähliche  Veränderung  der  Wahngebilde)  und  die  Um¬ 
gehung  des  Komplexes.  Möglich,  daß  die  Ausführungen  des  Ver- 
iassers  einige  prognostisch  brauchbare  Anhaltspunkte  geben,  die 
Therapie  wird  durch  dieselben  wenig  gefördert  werden.  -  (All¬ 
gemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie  und  psychisch -gerichtliche 
Medizin,  Bd.  68,  H.  2.)  g_ 

* 

410.  Zur  Klinik  der  Lungen-  und  Pleura¬ 
geschwülste  (Endothelioma  pleurae).  Von  Professor  j 
Dr.  A.  Franke  1  in  Berlin.  Unter  den  Primärtumoren  der  Lungen  i 
steht  hinsichtlich  der  Häufigkeit  des  Vorkommens  das  Karzinom 
obenan,  dann  kommen  die  primären  Lungensarkome,  die  schon 
seltener  zur  Beobachtung  gelangen  und  von  den  bronchialen  oder 
mediastinalen  Lvmphdrüsen  oder  von  der  Thymus  ausgehen.  Durch 
Lebergreifen  auf  die  Lunge  können  diese  einen  so  großen  Umfang 
erreichen,  daß  man  dann  von  einem  Tumor  der  Lunge  sprechen 
kann.  Der  Verfasser  bespricht  die  durch  Lungenkarzinom,  re¬ 
spektive  Sarkome  zustande  kommenden  Bronchostenosen  und  die 
durch  diese  wiederum  bedingten  klinischen  Symptome  (Atelektase, 
indurative  Veränderungen  im  zugehörigen  Parenchym  der  Lunge, 
Verhalten  des  Auswurfes  usw.)  und  erörtert  eingehend  die  Pleura¬ 
ergüsse  im  Verlauf  eines  Karzinoms  oder  Sarkoms  der  Lunge. 
Noch  seltener  sind  primäre  Tumorbildungen  des  Brustfells.  Ein 
echtes  primäres  Sarkom  der  Pleura  hat  Verf.  niemals  beobachtet, 
dagegen  verfügt  er  über  vier  einwandfreie,  klinisch  und  anato¬ 
misch  gut  beobachtete  Fälle  von  Endothelkrebs  oder  so¬ 
genanntem  Pleuraendotheliom.  Verf.  beschreibt  den  Krank¬ 
heitsverlauf,  den  Befund  bei  der  Sektion  und  das  Ergebnis  der 
histologischen  Untersuchung  dieser  vier  Fälle  und  fährt  sodann 
fort:  Drei  Fälle  boten  bei  der  Autopsie  die  charakteristische,  zu 
diffuser  Schwartenbildung  führende  Form  des  Pleuraendothelioms. 
Sie  zeigten  nicht  bloß  anatomisch,  sondern  auch  klinisch  die 
denkbar  größte  Uebereinstimmung :  verhältnismäßig  schnelle  Ent¬ 
wicklung  und  schnellen  Verlauf  der  Krankheit,  Bildung  umfäng¬ 
licher  Pleuraergüsse  von  außergewöhnlich  starkem  Blutgehalt, 
rapide  Erneuerung  des  Exsudates  nach  den  Punktionen  und  in¬ 
folge  davon  nur  vorübergehend  Erleichterung  der  Kranken,  deren 
Beschwerden  sogar  nach  einigen  Tagen  bereits  einen  höheren  Grad 
wie  zuvor  erreichten.  Sieht  man  die  Pleura  an,  so  fällt  an  ihnen 
die  eigentümliche  Oberflächenbeschaffenbeit  auf;  grubige  Ver¬ 
tiefungen  und  leistenförmige  Erhabenheiten,  ferner  Knoten  und 
Platten  an  der  Pleura  costalis  lassen  die  Besonderheit  des  Falles 
ahnen.  Einer  der  vier  Fälle  zeigte  anatomisch  einen  anderen 
Befund,  es  fehlte  die  diffuse  Schwielenbildung  der  Pleura,  statt 
ihrer  bestand  nur  ein  knolliger  Tumor  von  mäßiger  Größe.  Es 
werden  übrigens  auch  bei  der  schwielenartigen  Verdickung  der 
Serosa  daneben  auch  Knoten  und  Knollen  von  zuweilen  ganz 
erheblichen  Dimensionen  beobachtet.  In  allen  vier  Fällen  wurde 
endlich  die  auch  sonst  schon  betonte  auffallend  geringe  Neigung 

zu  Metastäsenbildung  beobachtet.  Verf.  bespricht  sodann  ein¬ 
gehend  die  Stellung  dieses  Prozesses  in  der  Geschwulstklassifika- 
tion,  erwähnt  hiebei  die  Ansichten  anderer  Bearbeiter  dieser 
frage  und  gelängt  sodann  zu  dem  Schlüsse,  daß  bei  dem  Endo- 
theliom  der  serösen  Häute,  mag  man  es  nun  zu  dem  echten 
Karzinom  rechnen  oder  nicht,  sehr  wahrscheinlich  sowohl  eine 
Vv  ucherung  ties  Oberflächenepithels  wie  der  zelligen  Auskleidung 
der  Lymphgefäße  der  Schwielen  statthat,  wobei  die  Frage  offen¬ 
bleibt,  ob  die  exzessive  V  ucherung  des  Epithels  oder  der  Endo 
thelien  das  Primäre  ist.  Verf.  kommt  zum  Schlüsse  nochmals 
auf  die  klinischen  S  y  m  p  t  o  m  e  des  Pleuraendothelioms  zu¬ 
rück.  Eine  sichere  Diagnose  am  Krankenbette  ist  nicht  möglich. 
Stark  hämorrhagische  Ergüsse  kommen  gelegentlich  auch  bei 
Karzinom  der  Pleura  oder  bei  Sarkomen  der  Lunge  mit  Betei¬ 
ligung  der  Pleura  vor,  anderseits  gibt  es  Pleuraendotheliome  mit 
einfach  serösen  Ergüssen.  Bei  Krebs  der  Lunge  und  Pleura  werden 


* 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


579 


Nr.  16 


oft  ganz  ähnliche  polymorphe  Goschwulstzellen  im  Exsudat  an¬ 
getroffen,  wie  sie  beim  Endotheliom  der  Pleura  gefunden  wurden. 
Immerhin  wäre  die  Diagnose  möglich,  wenn  bei  einem  auf  Tumor 
der  Brusthöhle  verdächtigen  Menschien  das  Pleuraexsudat  außer¬ 
gewöhnlich  stark  bluthaltig  ist,  zumal  wenn  der  Kranke  vor  und 
nach  der  Punktion  über  besonders  heftige  Schmerzen  (Zug  und 
komprimierende  Wirkung  der  -Schwielen)  klagt..  Mancher  Fall 
wurde  vielleicht  auch  am  Leichentische  nicht  erkannt,  weil  man 
einfach  eine  alte  kallöse  Pleuritis  vor  sich  zu  haben  glaubte. 

—  (Deutsche  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  12.)  E.  F. 

* 

411.  Schwangerschaftsunterbrechung  bei  perni¬ 
ziöser  Anämie.  Von  Dr.  Siegfried  Kamin  er,  Berlin.  S  tied  a 
hat  in  einem  Fälle  von  perniziöser  Anämie  die  Frühgeburt  mit 
dem  Erfolge  eingeleitet,  daß  die  Patientin  einen  Monat  nach; 
der  Geburt  bedeutend  gebessert  entlassen  werden  konnte  Und 
überhaupt  nach  drei  Vierteljahren  vollkommen  gesund  wurde. 
Trotzdem  kann  man  die  Einleitung  des  künstlichen  Abortus  oder 
der  künstlichen  Frühgeburt  bei  perniziöser  Anämie  nicht  als  in¬ 
diziert  erachten,  da  bisher  ähnliche  Erfolge  durch  Einleitung 
der  Frühgeburt  bei  perniziöser  Anämie  niemals  erzielt  wurden, 
dagegen  die  Erfahrung  gemacht  wurde,  daß  in  den  meisten  Fällen 
die  Geburt  selbst  nur  den  Tod  beschleunigt.  Die  Einleitung  der 
Frühgeburt  ist  demnach  ziellos,  wie  Jaworski  und  Klein¬ 
wächter  mit  Recht  betonen.  —  (Fortschritte  der  Medizin  1911, 

29.  Jahrg.,  Nr.  1.)  1 

♦ 

412.  Leber  paroxysmale  Tachykardie  im  An¬ 
schluß  an  Spontangeburten.  Von  Dr.  Erwin  Langes.  Der 
Verfasser  beobachtete  an  der  Klinik  Stoekel  einen  Fall,  in 
dem  gegen  Ende  der  normalen  Geburt  der  Puls  bis  160  Schläge 
sich  hob,  um  in  der  Nachgeburtsperiode  auf  180  Schläge  empoi- 
zugehen.  Da  keine  Blutung  bestand,  wurde  eine  Spritze  Morphin 
gegeben.  Das  subjektive  Befinden  der  Patienten  war  ausgezeichnet, 
doch  war  der  Puls  zwölf  Stunden  post  partum  auf  210  gestiegen. 
Am  Herzen  war  eine  Verbreitung  der  Herzdämpfung  nach  links 
bis  zwei  Querfinger  breit  außerhalb  der  Mamillarlinic  wahrzu- 
nehrnen.  Es  war  also  fraglos  eine  akute,  starke  Dilatation  ein¬ 
getreten.  Subjektiv  klagte  Pat.  nur  über  starkes  Herzklopfen. 
Der  Puls  ging  dann  langsam  mit  einigen  geringeren,  kurzen 
Steigerungen  zur  Norm  herab.  Es  trat  eine  Verbreiterung  der  Hmz- 
dämpfung  nach  rechts  auf,  ein  deutlich  systolisches  Geräusch 
an  der  Herzspitze  und  ein  klappender  zweiter  Pulmonalton.  Vier 
Wochen  später  konnte  ein  Zurückgang  der  Herzvergrößerung- und 
der  Intensität  des  Geräusches  konstatiert  werden,  während  eine 
Vergrößerung  des  linken  Vorhofes  nicht  mehr  zu  konstatieren 
war.  Verf.  teilt  noch  zwei  von  Zangemeister  beobachtete 
ähnliche  Fälle  mit;  hier  trat  erst  unmittelbar  post  partum  eine 
starke  Pulsbeschleunigung  auf,  die  mit  anämischen  Symptomen 
einherging.  Nach  wenigen  Tagen  fiel  die  Pulszahl  ebenso  rapid 
wie  sie  emporgeöchnellt  war.  Verf.  erklärt  die  Fälle  so,  daß 
bei  vorher  gesundem  Herzen  die  vermehrte  Arbeit  in  der  Geburt 
in  Gemeinschaft  mit  den  dabei  unvermeidlichen  psychischen  Ei 
regungen  einen  Anfall  paroxysmaler  Tachykardie  ausgelöst  hat. 

—  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911,  Nr.  9.)  E.  V. 

* 

413.  Ein  geheilter  Fall  von  jauchigem  Pyo¬ 
pneumothorax  nach  Verschlucken  eines  Gebiß 
Stückes.  Von  Dr.  K.  Nicol,  im  Inf.-Reg.  Nr.  113  in  Freiburg 
im  Breisgau.  Ein  21  Jahre  alter,  bis  dahin  gesunder  Soldat  hatte 
das  Unglück,  daß  ihm  in  der  Nacht  ein  lockeres  Gebißstück  m  die 
Luftwege  gelangte,  worauf  sich  heftige  Hustenanfälle  einstellten  bei 
stark  behinderter  Atmung.  Plötzlich  wurde  die  Atmung  hei,  cei 
Mann  hatte  das  Gebißstück  geschluckt.  Er  wurde  auf  die  Umversi- 
täts-Halsklinik  gebracht  und  daselbst  wurde  ihm,  8  Stunden  nach 
dem  Umfalle,  der  Fremdkörper  entfernt,  gewiß  ohne  Verletzung  der 
Oesophagusschleimhaut.  Es  war  ca.  2/s  einer  Gaumenplatte  mil 
einem  Metallhaken  und  einem  Schneidezahn.  Er  befand  sich  darnach 
wohl,  bekam  aber  schon  am  nächsten  Tage  unter  Frösteln  1  m  >ei , 
Stiche  in  der  rechten  Lunge  beim  Atmen  etc.  und  winde  ins  ,aza 
rett  gebracht.  Hier  bildete  sich  im  Verlaufe  der  nächsten  Tage  ein 
jauchiger  Pyopneumothorax  aus;  die  gleichzeitige  Anwesenheit  \ on 
Luft  (bzw.  Gas)  und  einer  größeren  Menge  von  freier  jauchiger 


Flüssigkeit  wurde  durch  die  physikalischen  Symptome,  durch  die 
Röntgendurchleuchtung  und  die  Probepunktion  erwiesen.  Bei  der 
Operation  (Resektion  eines  Stückes  der  7.  Rippe)  entleerte  sich  mit 
Luft  gemischte,  stark  fötid  riechende  Jauche  in  großer  Menge,  nach 
einigen  Tagen  gingen  mehrere  grünschwarze,  gangränöse  Gewebs- 
fetzen  ab,  die  sich  als  abgestoßenes  faules  Lungengewebe  erwiesen. 
Dasselbe  trat  noch  mehrmals  auf,  der  Schwerkranke  wurde  schlie߬ 
lich  fieberfrei  und  mit  einer  Gewichtszunahme  von  7  kg  entlassen. 
Verf.  bespricht  eingehend  die  Frage,  wann  und  wodurch  der  Pneu¬ 
mothorax  entstanden  sei  und  woher  die  Pleuraerkrankung  ihren 
Ausgang  genommen  habe.  Er  gelangt  unter  Ausschließung  anderer 
Ursachen  zu  der  Annahme,  daß  hier  eine  Aspiration  von  Schleim, 
eventuell  von  Speiseresten,  die  an  dem  Gebißstücke  saßen,  statt¬ 
fand,  daß  infolgedessen  eine  lobäre  Pneumonie  entstand  (klinisch  : 
Pneumoniesymptome)  und  daß  sich  hieran  durch  Einwirkung  von 
Fäulnisbakterien  eine  Gangrän  des  erkrankten  Lungengewebes  an¬ 
schloß.  Die  Infektion  hat  von  der  Lunge  auf  die  Pleura  überge¬ 
griffen,  es  bildete  sich  eine  Kbmmunikation  der  Pleurahöhle  mit 
dem  Bronchialbaum  und  der  Pyopneumothorax  war  vorhanden.  Der 
Pneumothorax  hat  hier  vollkommen  symptom  los  eingesetzt. 
Ortner  hat  auf  diese  Form,  »den  schleichenden  indolenten  Pneu¬ 
mothorax«,  aufmerksam  gemacht  und  gezeigt,  daß  in  solchen 
Fällen  nicht  eine  große  Kommunikation  in  Gestalt  eines  Loches  be¬ 
stand,  vielmehr  die  Pleura  siebartig  durchlöchert  aussah . 
»Hiedurch  sickert  der  Eiter  wie  durch  ein  Filter  hindurch  und 
soviel  Eiter  mit  jeder  Exspiration  in  die  Lunge  und  Bronchien  ein- 
tritt,  soviel  wird  mit  jeder  Inspiration  durch  aus  den  Lungen  aus¬ 
tretende  Luft  ersetzt«,  es  findet  also  ein  langsamer  Austausch  von 
Empyemflüssigkeit  und  Bronchialluft  statt.  Verf.  warnt  die  prakti¬ 
schen  Aerzte  zum  Schlüsse,  in  Fällen  von  Anwesenheit  von  Fremd¬ 
körpern  in  den  oberen  Luft-  und  Speisewegen  Extraktionsversuche 
anzustellen.  In  vielen  Fällen  hat  man  genug  Zeit,  den  Patienten 
einem  spezialistisch  ausgebildeten  Kollegen  zuzuweisen,  eventuell  von 
einem  Chirurgen  die  Tracheotomie  oder  Oesophagolomie  ausführen  zu 
lassen.  Man  kann  dem  praktischen  Arzt  nur  raten,  den  Münzen¬ 
länger  und  andere  derartige  Instrumente  zu  den  historischen  In¬ 
strumenten  zu  legen  und  dem  Patienten  lieber  die  Errungenschaften 
der  modernen  ärztlichen  Technik  angedeihen  zu  lassen.  —  (Berliner 

klin.  Wochenschr.  1911,  Nr.  11.)  E.  F. 

* 

414.  Die  Braccosche  Becken-Bauchbinde.  Von 
Dr.  Otto  Hug,  Frauenarzt  in  Zürich.  Es  ist  hinreichend  bekannt, 
daß  die  Bauchbinden  von  heute  wohl  alle  in  ihrer  Funktion 
ungenügend  sind.  Dr.  Bracco,  Direktor  der  luriner  Poliklinik, 
führte  nach  jahrelangem  Studium  eine  neue  Binde  in  die  Praxis 
ein,  bei  der  alle  Schäden  der  bisherigen  Bauchbinden  wegfallen. 
Die  Binde  umfaßt  das  ganze  Becken,  von  der  Mitte  der  Ober¬ 
schenkel  bis  hinauf  zum  und  über  den  Nabel.  Sie  besteht  aus 
einem  Gitterwerk  von  unelastischen  Streifen,  welche  nach  Art 
der  Spica  pelvica  in  Achtertouren  Becken,  Bauch  und  Ober¬ 
schenkel  umfassen  und  welche  in  gesetzmäßig  bestimmten  Win¬ 
keln  zueinander,  entsprechend  dem  Parallelogramme  der  Kräfte, 
geführt  werden.  Diese  mathematisch  genaue  Anordnung  der  ein¬ 
zelnen  Streifen  ermöglicht,  mit  einem  Minimum'  von  Material, 
was  bei  dicken,  leicht  schwitzenden  Patientinnen  sehr  ins  Ge¬ 
wicht  fällt,  ein  Maximum  von  Druck  auszuüben,  wodurch  Bauch 
und  Eingeweide  fixiert  werden.  Das  wesentlich:  Neue  an  dieser 
Binde  ist  ferner  noch,  daß  sie  erst  nach  einem  Modell  des 
Bauches  (hergestellt  durch  einen  Stärkebindenverband,  der  bereits 
den  Bauch  wünschenswert  korrigiert  hat)  angefertigt  wird.  Auf 
diese  Weise  erhält  man!  eine  genaue,  wirklich  minutiös  sitzende 
Binde,  die  nicht  nur  den  Vorteil  der  Solidität  hat  (weil  ganz 
unelastisch),  sondern  auch  gleich  den  Bauch  so  korrigiert,  wie 
es'  vom  Arzte  gewünscht  wird.  Hug  hat  diese  „Orthopädie  des 
Bauches“  an  der  gynäkologischen  Klinik  in  München  kennen  und 
sehr  schätzen  gelernt.  —  Die  Binde  ist  sehr  leicht,  waschbar 
und  dauerhaft.  Jederzeit  kann  nach  dem  Modell  wieder  eine 
gleiche  Binde  angefertigt  werden.  Doch  nehmen  unter  dem  Tragen 
der  Binde  die  Zirkulationsstörungen  der  Bauchdecken  so  sehr 
ab  und  kräftigt  sich  die  Bauchmuskulatur  in  solchem  Maße, 
daß  ein  Tragen  der  Binde  über  zwei  Jahre  hinaus'  nur  selten 
'notwendig  wird.  Die  Indikationen  ztnn  Fragen  dei  Bracco 
sehen  Binde  sind  selbstverständliche;  als  Gegenindikationen 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  16 


werden  angegeben :  Leute  über  70  Jahre,  hochgradige  Nervosi¬ 
tät,  Eventrationen  mit  schwerer  Verwachsung  der  Eingeweide. 

(Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1910,  40.  Jahrg., 
Nr.  36.)  K.  S. 

* 

415.  Normales  Schwangerenserum  als  Heilmittel 

gegen  Schwangerschaftsdermatosen  im  besonderen 
und  Schwangerschaftstoxikosen  überhaupt.  Von 
Privatdozent  Dr.  A.  Mayer.  Verf.  gelangte  auf  Grund  folgender 
Ueberlegungen  zu  seinen  Versuchen :  Gewisse,  durch  den  wach¬ 
senden  Keim  in  dem  mütterlichen  Organismus  normaliter  gebildete 
Giftstoffe  können  diesem  in  pathologischen  Fällen  schädlich 
werden.  Es  ist  daher  für  den  normalen  Ablauf  der  Schwangerschaft 
nötig,  daß  jene  Giftstoffe  durch  Gegengifte  unschädlich  gemacht 
werden,  da  sonst  blutfremde  Stoffe  im  mütterlichen  Blute  ent¬ 
stehen,  die  zu  nutologischen  Erkrankungen  führen.  „Man  kann 
also  sagen,  daß  eine  an  einer  Graviditätstoxikose  erkrankte  Frau 
an  einem  Defizit  von  Gegengiften  leidet,  die  eine  gesunde  Schwan¬ 
gere  besitzt.“  So  versuchte  Verf.,  dieses  Defizit  der  kranken 
Schwangeren  durch  Einverleibung  von  Blutserum  einer  gesunden 
Schwangeren  zu  ersetzen.  Es  wurde  einmal  in  einem  Falle  von 
Herpes  gestationis  und  einmal  von  Urtikaria  in  der  Gravidität, 
ferner  zweimal  hei  in  verschiedenen  Schwangerschaften  rezidi¬ 
vierenden  Pruritis  Serum  gesunder  Schwangerer  intravenös  (bis 
40  cm"  auf  zwei-  bis  dreimal)  mit  gutem  Erfolge  injiziert.  Ver¬ 
fasser  fordert  daher  zu  dem  Versuche  auf,  alle  Graviditätstoxi¬ 
kosen,  Dermatosen,  Eklampsie,  Schwangerschaftsalbuminurie,  ge¬ 
wisse  Formen  von  Emesis,  Tetanie  und  vielleicht  auch  Osteo¬ 
malazie  nur  mit  Serumeinspritzung  zu  behandeln.  —  (Zentral¬ 
blatt  für  Gynäkologie  1911,  Nr.  9.)  E.  V. 

* 

416.  Ueber  die  wirksamen  Bestandteile  des 
Mutterkorns.  Von  Dt.  E.  Bernouilli- Basel.  Wegen  der 
großen  Veränderlichkeit  in  der  Wirkung  der  Sekalepräparate  hat 
man  schon  früh  versucht,  dieselben  durch  Isolierung  der  wirk¬ 
samen  Bestandteile  haltbarer  zu  machen.  Dabei  ist  man  jedoch 
infolge  der  komplizierten  chemischen  Zusammensetzung  des 
Mutterkornes  auf  ganz  besondere  Schwierigkeiten  gestoßen.  Weder 
das  Ergotinin,  noch  die  Ergotinsäure  oder  Sphazelinsäure  oder 
das  Kornutin,  haben  sich  als  charakteristisch  wirksamer  Mutter¬ 
kornbestandteil  erwiesen.  Erst  1906  ist  es  zum  ersten  Male  ge¬ 
lungen,  einen  wirksamen  Mutterkornbestandteil  rein  zu  gewinnen 
(Barger  und  Carir,  Kraft)  u.  zw.  in  dem  stark  wirkenden 
Alkaloid  Ergotoxin  (Hydroergotinin  Kraft).  Das  Ergotinin  zeigt 
schon  in  kleinen  Dosen  die  typischen  Mutterkornwirkungen,  indem 
es  Gangrän  des  Hahnenkammes,  Blutdrucksteigerung  und  Kon¬ 
traktionen  des  Uterus  hervorruft.  Außer  dem  Ergotoxin  fanden 
Barger  und  Dale  im  p - Oxyphenyläthylamin  noch  eine  weitere 
Substanz,  welche  für  die  Mutterkornwirkung  von  Bedeutung  ist 
und  dabei  geringere  Giftigkeit  für  das  Zentralnervensystem  be¬ 
sitzt.  Wenngleich,  je  weiter  die  Sekaleforschung  fortschreitet, 
es  sich  um  so  mehr  zeigt,  daß  es  sich  im  Mutterkorn  um  ein 
kompliziertes  und  inkonstantes  Gemisch  verschieden  wirkender 
Substanzen  handelt,  so  ist  doch  schon  anzunehmen,  daß  wir  in 
absehbarer  Zeit  in  den  Besitz  unveränderlicher,  einheitlicher  und 
genau  dosierbarer  Sekalepräparate  kommen  werden.  —  (Korre¬ 
spondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1911,  41.  Jahrg.,  Nr.  5.) 

K.  S. 

* 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

417.  Ueber  die  rektale  Drainage  der  appendiku- 
Ihren  Beckenabszesse.  Von  Chifoliau.  Der  Beckenabszeß 
nach  Appendizitis  ist  kein  seltenes  Vorkommnis;  bei  Beckenlage¬ 
rung  des  Wurmfortsatzes  sammelt  sich  der  von  dessen  Ende 
ausgehende  Eiter  gewöhnlich  im  D  ouglas  sehen  Raume.  Bei 
Zunahme  des  Abszesses  erfolgt  Aufsteigen  in  das  große  Becken 
und  selbst  gegen  das  Hypogastrium.  Beim  Manne  ist  die  Drai¬ 
nage  der  Beckenabszesse  vom  Mastdarm  aus  der  einzige  Weg, 
bei  weiblichen  Individuen  wird  die  hintere  Kolpotomie  vorgenom¬ 
men  und  selbst  bei  virginalem  Zustande  des  Genitales  der  vagi¬ 
nale  Weg  gewählt,  wodurch  verschiedene  Uebelstände  geschaffen 
werden.  Die  Diagnose  des  appendikulären  Beckenabszesses  läßt 


sich  nur  durch  wiederholte  rektale  Untersuchung  stellen,  da  die 
Symptome  der  Beckenappendizitis  sich  nicht  von  den  anderen 
Formen  unterscheiden  und  auch  die  Harnretention  nicht  als  cha¬ 
rakteristisch  betrachtet  werden  kann.  Die  stürmischen  Initial¬ 
symptome  gehen  unter  Diät,  Bettruhe  und  Eisapplikation  zu¬ 
rück.  Die  Beckenappendizitis  hat  eine  ausgesprochene  Tendenz 
zur  Abkapselung  und  es  kann  der  nach  Ablauf  des  akuten  Sta¬ 
diums  vorgenommene  operative  Eingriff  große  Gefahren  bringen, 
wenn  nicht  durch  vorherige  genaue  Untersuchung  vom  Mastdami 
aus  der  lokale  Befund  kontrolliert  wird.  Bei  nachweisbarer  In¬ 
duration  im  D  ouglas  sehen  Raume  muß  man  mit  der  Operation 
länger  zuwarten  als  sonst,  weil  bei  zu  frühzeitigem  Eingriff  die 
vollständige  Exstirpation  des  Wurmfortsatzes  unmöglich  ist.  Wenn 
im  Anschluß  an  Diätfehler  die  Entzündung  wieder  angefacht 
wird,  und  der  Abszeß  gegen  das  große  Becken  aufsteigt,  ist  die 
dringende  Indikation  zu  einem  Eingriff  gegeben.  In  jenen  Fällen, 
wo  der  Abszeß  gegen  den  Mastdarm  sich  vorwölbt,  ist  die  rektale 
Eröffnung  von  selbst  gegeben.  Der  vorgeschlagene  prärektale  Weg 
ist  komplizierter;  die  Befürchtung  von  Blutung,  sowie  Verletzung 
der  Prostata  oder  einer  Darmschlinge  bei  rektaler  Inzision  ist 
unbegründet,  ebensowenig  ist  eine  Einwanderung  von  Infektions¬ 
keimen  zu  befürchten.  Nach  Inzision  und  Drainage  sieht  man  die 
Eiterung  rasch  versiegen.  Auch  tuberkulöse  Ergüsse  im  kleinen 
Becken  'können  mit  Erfolg  durch  die  rektale  Inzision  entfernt  wer¬ 
den.  Zur  Eröffnung  des  Abszesses  auf  rektalem  Wege  genügt 
eine  gekrümmte  Klemme  von  genügender  Länge,  dann  wird  ein 
dickes  Drainrohr  eingeführt,  dessen  Ende  aus  dem  Anus  ragt 
und  es  wird  der  Abszeß  einige  Tage-  hindurch  mit  gekochtem 
Wasser  oder  Wasserstoffsuperoxyd  ausgespült.  Das  Drain  wird 
am  vierten  Tage  entfernt,  am  achten  Tage  kann  der  Patient  das 
Bett  verlassen.  Nach  Eröffnung  des  Abs'zess-es  wird  nach  Ablauf 
von  ein  bis  zwlei  Monaten  der  Wurmfortsatz  exstirpiert.  — 
(Progres  med.  1911,  Nr.  2.)  a.  e. 

* 

418.  Das  Erysipel  der  Säuglinge.  Von  Milhit  und 
ll.  Steven  in.  Neben  den  typischen  Formen,  zum  Beispiel  dem 
von'lder  Nabelwunde  ausgehenden  Erysipel,  gibt  es  beim  Säugling 
Formen,  die  vom  Typus  so  weit  abweichen,  daß  die  wahre  Natur 
der  vorliegenden  Erkrankung  übersehen  werden  kann.  Es  gibt 
Erysipelformen  beim  Säugling,  welche  sich  nur  durch  Auftreten 
eines  Oedenis  kundgeben,  welches  umschrieben  oder  generalisiert, 
von  harter  oder  weicher  Konsistenz  sein  kann;  das  Oedem  ist 
nicht  entzündlicher  Natur,  das  Allgemeinbefinden  ist  wenig  gestört, 
doch  ist  die  Prognose-,  besonders  bei  Kindern  im  ersten  Lebens¬ 
monat,  höchst  ungünstig.  Eine  besondere  Gruppe  bilden  hier  die 
Fälle  mit  außerordentlich  schnell  wanderndem  Oedem.  Bei  einer 
anderen  Gruppe  von  Fällen  gibt  sich  die  Erkrankung  durch  rasch 
aufeinanderfolgendes  Auftreten  von  Abszessen  an  verschiedenen 
Körperstellen  kund,  ohne  daß  die  für  das  Erysipel  als  typisch 
geltenden  Symptome  bestehen.  Die  Erfahrung  lehrt,  daß  das  Ery¬ 
sipel  des  Säuglings,  auch  dort,  wo  es  sich  vom  Typus  nicht 
so  weit  entfernt,  wie  bei  den  beschriebenen  Formen,  in  seinem 
Bilde  weniger  deutlich  ausgeprägt  ist,  wie  das  Erysipel  beim  Er¬ 
wachsenen.  Die  ödematöse  Form  des  Säuglingserysipels  kann 
auf  den  ersten  Blick  mit  kardialem,  bzw.  renalem  Oedem  oder 
Sclerema  neonatorum  verwechselt  werden.  Bei  aufmerksamer 
Beobachtung  findet  pian  am  Rande  einer  ödematösen  Stelle 
einen  rötlichen  Saum  oder  stellenweise  Desquamation,  welche 
für  Erysipel  charakteristisch  sind,  auch  lassen  sich  nicht  selten 
Streptokokken  in  der  Oedemflüssigkeit  nachweisen.  Auch  bei 
der  mit  multipler  Abszeßbildung  einhergehenden  Form  kann  der 
Befund  umschriebener  Oedeme  mit  rotem  Saum  auf  die  richtige 
Diagnose  führen.  Die  Hypeiieukozytose  ist  beim  Säuglingsery¬ 
sipel  wenig  ausgeprägt,  Temperatur,  Allgemeinbefinden  und  Kör¬ 
pergewicht -zeigen  kein  charakteristisches  Verhalten.  Die  Prognose 
ist 'bei  Säuglingen  in  den  ersten  drei  bis  vier  Lebensmonaten  fast 
durchaus  ungünstig,  bei  älteren  Säuglingen  wird  die  Prognose 
mit  der  Zunahme  des  Alters  immer  günstiger.  Die  Therapie  besteht 
in  Injektionen  von  Kampferöl,  äußerlicher  Applikation  von  feucht¬ 
warmen  Umschlägen,  Einreibungen  und  Injektionen  von  Kollargol, 
heißen  Bädern,  Darreichung  von  Brustnahrung  usw. ;  das  Anti¬ 
streptokokkenserum  hat  sich  in  einem  Falle  bewährt,  in  anderen 
Fällen  versagt.  Ein  Versuch  mit  Vakzinetherapie  u.  zw.  mit 


Nr.  16 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


581 


Autovakzine,  erscheint  prinzipiell  gerechtfertigt.  Die  Prophylaxe 

erfordert  auch  die  Isolierung  der  erkrankten.  Säuglinge.  —  (Progres 

med.  1911,  Nr.  4.)  a.  e. 

* 

419.  Ueber  die  Hydrämie  bei  Morbus  Bright  ii 
und  kardialem  Oedem,  sowie  ihren  Nachweis  mittels 
der  refraktometrischen  Methode;  Vergleich  ihrer 
Schwankungen  mit  den  Variationen  des  Körperge¬ 
wichtes.  Von  F.  Widal,  Rene  Bernard  und  £.  Vaucher. 
Die  Flüssigkeitsansammlung  im  Organismus  läßt  sich  lange  vor 
dem  Auftreten  sichtbarer  Oedeme  durch  Kontrolle  des  Körper¬ 
gewichtes  nachweisen.  Zur  Bestimmung  des  Wassergehaltes  des 
Blutes  sind  verschiedene  Methoden  angegeben  worden,  welche  in 
ihrer  Ausführung  kompliziert  sind.  Ein  einfaches  Verfahren, 
welches  die  Feststellung  des  Eiweißgehaltes  des  Blutplasmas  ge¬ 
stattet,  ist  die  Bestimmung  der  Refraktion  eines  durch  das  zu 
untersuchende  Serum  durchgehenden  Lichtstrahles  mit  Hilfe  des 
Refraktometers.  Einschlägige  Untersuchungen  haben  ergeben,  daß 
beim  kardialen  Oedem,  kardialem  Morbus  Brightii  und  epithelialer 
Nephritis  der  Eiweißgehalt  des  Blutes  herabgesetzt  ist.  Durch 
die  gleichzeitige  Bestimmung  des  Körpergewichtes  und  des  Ei¬ 
weißgehaltes  'des  Blutes  konnte  festgestellt  werden,  daß  das 
Oedem  des  Zellgewebes  mit  erhöhtem  Wassergehalt  des  Blutes 
einhergeht.  Mit  dem  Rückgänge  des  Oedems  und  der  Abnahme 
des  Körpergewichtes  steigt  der  refraktometrische  Index.  In  der 
Regel  geht  die  Gewichtsabnahme  der  Zunahme  der  Konzentration 
des  Blutes  voraus,  so  daß  die  Wägung,  welche  auch  leichter 
durchführbar  ist,  raschere  Aufschlüsse  gibt,  als  die  refraktoi- 
metrische  Bestimmung.  Aus  dem  Vergleich  beider  Methoden  geht 
hervor,  daß  zunächst  das  Oedem  abnimmt  und  die  llydrämie 
noch  fortbesteht,  dann  erst  die  erhöhte  Konzentration  des  Blutes 
folgt.  Nach  Darreichung  von  Digitalis  beobachtet  man  mit  der 
Aufsaugung  der  Oedeme  zunächst  eine  rasche  Steigerung  der 
Hydrämie,  welche  passagerer  Natur  ist.  Die  Bestimmung  des 
Eiwejißgehaltes  des  Blutes  durch  das  Refraktometer  ist  auch 
für  die  Kontrolle  der  kochsalzarmen  Ernährung  von  großer 
Wichtigkeit.  Wenn  das  Körpergewicht  zuninimt  und  gleichzeitig 
der  refraktometrische  Index  absinkt,  so  weist  dies  auf  V  iedex- 
ansammlung  von  Flüssigkeit  im  Organismus  hin,  während  statio¬ 
näres  Verhalten  des  Index  darauf  hinweist,  daß  die  Gewichts¬ 
zunahme  durch  Ansatz  von  Substanz  bedingt  ist.  Die  Abnahme 
des  refraktometrischen  Index  bei  einem  Brightiker,  der  zui  nom¬ 
inalen  Ernährung  zurückgekehrt  ist,  weist  auf  die  Notwendigkeit 
der  neuerlichen  Einleitung  der  kochsalzarmen  Diät  bin.  Die 
refraktometrische  Untersuchung  des  Blutes  gestattet  nicht  nur 
einen  tieferen  Einblick  in  die  Pathogenese  der  Oedeme,  sondern 
gibt  auch  wichtige  Anhaltspunkte  für  die  Behandlung.  (Sem. 

med.  1911,  Nr.  5.)  a-  a 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

420.  Einige  Bemerkungen  über  Pantop  onanästhe- 
sie.  Von  C.  Louis  Seipoldt.  Das  Pantopon  ist  eine  Mischung, 
welche  sämtliche  Alkaloide  des  Opiums,  in  Form  von  Chloriden 
enthält  und  ein  gelblich  -  braunes,  leicht  wasserlösliches  tulvei 
daxstellt,  von  welchen  lg  5g  einer  10°/oigen  Morphinlösung 
entsprechen  soll.  Das  Pantopon  hat  eine  ausgebreitete  Anwendung 
als  narkotisches  und  schmerzstillendes  Mittel  gefunden.  In  neu¬ 
ester  Zeit  hat  vielfach  die  kombinierte  Narkose  Anwendung  ge¬ 
funden,  wobei  es1  sich  zeigte,  daß  zwei  nebeneinander,  oder  noch 
besser,  in  kurzem  Intervall  nacheinander  gegebene  Anästhetika 
eine  stärkere  Wirkung  entfalten,  als  es  der  Summe  der  Einzel- 
wirkungen  entsprechen  würde.  Für  Zwecke  der  kombinierten  An¬ 
ästhesie  wurde  auch  das  Pantopon  in  Form  von  1  cm  dm 
2 ‘Ligen  Lösung,  welche  eine  Stunde  vor  der  Operation  injiziert 
wird,  verwendet.  Das  Pantopon  wirkt  beruhigend  auf  1  uls, 
Temperatur  und  psychisches  Verhalten,  während  das  Skopo- 
morphin  in  letzterer  Hinsicht  öfter  unbefriedigende  Resultate  gibt. 
In  einzelnen  Fällen  genügten  zwei  Pantoponinjektionen  zur  Er¬ 
zielung  der  für  die  Operation  notwendigen , Anästhesie,  so  daß  von 
der  Narkose  Abstand  genommen  werden  konnte,  doch  ist  dieses 
Verfahren  im  allgemeinen  nicht  anzuraten.  Ein  Nachteil  es 
Skopomorphins  bei  nachfolgender  Aether- Sauerstoffnarkose  ist 


das  Auftreten  länger  anhaltender  Apnoe  und  die  Entwicklung 
von  Kongestion  der  Lungenbasis,  wodurch  das  Auftreten  postnarko¬ 
tischer  Komplikation  begünstigt  wird,  als  weitere  Nachteile  sind 
die  erhöhte  Exzitation,  die  längere  Dauer  des  Stupors,  das  häu¬ 
figere  Auftreten  von  Leblichkeiten  und  Erbrechen  nach  dem  Er¬ 
wachen  aus  der  Narkose  anzuführen.  Bei  Anwendung  von  Pan¬ 
topon  ist  die  Atmung  regelmäßig  und  ruhig,  auch  kommt  Apnoe 
nicht  vor;  Erbrechen  während  oder  nach  der  Narkose  wurde 
uicht  beobachtet,  die  Patienten  befinden  sich  nach  der  Narkose 
wohl.  Besonders  gestaltet  sich  das  Initialstadium  der  Narkose 
nach  Pantoponinjektionen  nahezu  ideal;  die  Patienten  sind  ruhig, 
die  Atmung  tief  und  regelmäßig,  der  Puls  voll  und  nicht  be¬ 
schleunigt,  zur  Aufrechterhaltung  der  Muskelerschlaffung  genügen 
kleine  Mengen  des  Narkotikums.  Die  Gesamtmenge  des  Narko¬ 
tikums  ist  geringer,  wenn  nicht  gleichzeitig  Sauerstoff  gebraucht 
wird.  Kontraindikationen  der  Pantoponanwendung  wurden  bis¬ 
her  nicht  festgestellt;  das  Pantopon,  kann  fauch  hei  Klappenfehlern 
und  Ikterus  verwendet  werden,  ebenso  im  Kindesalter.  Das  Pan¬ 
topon  bewirkt  Austrocknung  der  Schleimhäute,  so  daß  der  Durst 
gesteigert  ist  und  starke  Schweißsekretion.  In 'der  Literatur  lindet 
sich  bisher  ein  Todesfall  nach  einer  unter  Anwendung  von 
Pantopon  bewerkstelligten  Anästhesie,  doch  ist  nicht  sichergestellt, 
daß  das  Pantopon  die  Todesursache  darstellt.  Falls  Zeichen  von 
Opiumvergiftung  auftreten,  ist  die  intravenöse  Injektion  einer 
stärkeren  Lösung  von  Kalium  hypermanganicum  indiziert. 

(The  Lancet,  11.  Februar  1911.)  a-  e- 

* 

421.  Ueber  die  antihämolytische  Wirkung  des 
Arsens.  Von  James  A.  Gunn  und  Wilfred  J.  Feltham.  Stark 
verdünnte  Lösungen  von  arseniger  Säure  üben  in  vitro  eine  deut¬ 
liche  Schutzwirkung  gegenüber  der  Hämolyse  durch  hypotonische 
Salzlösungen  aus.  Es  wurde  dieses  Verhalten  zur  Erklärung 
der  Heilwirkung  des  Arsens  bei  Blutkrankheiten,  speziell  bei  per¬ 
niziöser  Anämie  herangezogen  und  Untersuchungen  angestellt, 
ob  die  antihämolytische  Wirkung  auch  anderen  Arsenoverbin- 
dungen  | zukommt  und  sich  auch  gegenüber  anderen  hämolytischen 
Agentien  äußert.  Mit  Rücksicht  darauf,  daß  die  arsenlge  Säure 
im  Organismus  als  arsenigsaures  und  arsensaures  Natrium  Auf¬ 
tritt,  wurden  auch  mit  diesen  beiden  Arsenverbindungen  Versuche 
angestellt  und  als  hämolytische  Agentien  u.  a.  destilliertes  Wasser, 
Zyklamin  und  Natriumglykocholat  verwendet.  Als  Probeobjekt 
diente  eine  Suspension  von  0-025  cm3  Blut  in  2-5  cm3  0-85%iger 
Kochsalzlösung;  bei  einer  Reihe  von  Versuchen  wurden  auch 
dreimal  mit  Kochsalzlösung  zentrifugierte  Erythrozyten  ange¬ 
wendet.  Es  zeigte  sich,  daß  das  arsenigsaur'e  Natrium  in  einer 
Verdünnung  his  1 : 200,000  Erythrozyten  gegen  die  Hämolyse  durch 
destilliertes  Wasser  zu  schützen  vermag.  Weitere  Versuche  wur¬ 
den  bezüglich  der  Schutzwirkung  des  arsensauren  Natriums  gegen¬ 
über  Zyklamin,  einer  stark  hämolytischen  Substanz  der  Saponin¬ 
gruppe,  angestellt.  Es  zeigte  sich,  daß  eine  Verdünnung  bis  zu 
100.000  vor  Hämolyse  schützte,  während  eine  Verdünnung  von 
1 : 200.000  bis  1 : 500.000  die  Hämolyse  durch  Zyklamin  verzö¬ 
gerte.  'Die  Schutzwirkung  kommt  hier  nicht  dem  Arsensalz  allein, 
sondern  einer  Kombination  mit  einem  Bestandteil  der  Erythio- 
zyten  zu.  Bei  den  Versuchen  mit  Natriumglykocholat  wurde 
festgestellt,  daß  eine  Lösung  des  Arsensalzes  1:20.000  einen  we¬ 
sentlichen,  eine  Lösung  1:100.000  einen  deutlichen  Schutz  gegen 
die  Hämolyse  durch  Natrium  glykocholicum  gewährt.  Analoge 
Versuche  wurden  mit  Lösungen  des  arsensauren  Natriums  an¬ 
gestellt  und  konstatiert,  daß  auch  diese  die  Erythrozyten .  vor 
der  Hämolyse  durch  destilliertes  Wasser,  Zyklamin  und  Natrium¬ 
glykocholat  schützen.  Es  scheint  die  Annahme  berechtigt,  daß 
der  Schutz  der  Erythrozyten  vor  normalen  und  pathologischen 
hämolytischen  Prozessen  die  therapeutische  V  irksamkeit  dei 
Arsenpräparate  bei  Blutkrankheiten  zum  Teile  erklärt.  (Bi  it. 
med.  Journ.,  21.  Januar  1911.)  a-  e- 


X/ermisehte  f4aehriehten. 

Ernannt:  Der  mit  dem  Titel  und  Charakter  eines  Re- 
jierungsrates  bekleidete  Hofarzt  erster  Klasse,  Dr.  Viktor ‘ 
n eng  er,  zum  Regierungsrate  extra  statum.  1  rivatoozeni 
Dr.  Ernst  Frey  in  Jena  zum  außerordentlichen  Professor  < 


582 


WIErmK  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  16 


Pharmakologie.  —  Dr.  Gunnar  Forssner  zum  Professor  der 
Pädiatrie  in  Upsala.  —  Dr.  Luga r a  zum  Professor  der  Psy¬ 
chiatrie  in  Turin. 

* 

Verliehen:  Dem  Privatdozenten  für  innere  Medizin, 
Dr.  Klieneberger  in  Königsberg,  das  Prädikat  Professor. 

* 

Habilitiert:  Dr.  C lernen ti  für  allgemeine  Pathologie 
in  Florenz.  —  Dr.  Poggenpohl  für  innere  Medizin  an  der 
militärmedizinischen  Akademie  in  Petersburg. 

* 

Ge s  t o r  b e n :  Der  Professor  der  Oto - Rhinologie,  Dr.  Cozz  u- 
lino,  in  Neapel.  —  Dr.  Sadun,  ehemaliger  Professor  der  ge¬ 
richtlichen  Medizin  in  Pisa. 

* 

tll.  internationaler  Tuberkulosekongreß.  Im  Juni 
1910  hat  sich  ein  ständiges  „0  österreichisch  es  Komitee 
zur  Vorbereitung  internationaler  Tu b erku  1  os ekon- 
f eren zen  und  -Kongresse“,  mit  dem  Sitze  in  Wien  I., 
Waltischgasse  8,  konstituiert,  welches  aus  den  in  Oesterreich 
wohnenden  ordentlichen  Mitgliedern  der  „Internationalen  Ver¬ 
einigung“  gegen  die  Tuberkulose  besteht.  Dem  Ausschüsse  des 
Komitees  gehören  an :  Der  Präsident  des  Hilfsvereines  für  Lungen¬ 
kranke  „Viribus  unitis“,  Dr.  Hans  Graf  Larisch  als  Präsi¬ 
dent,  der  Sanitätsreferent  im  Ministerium  des  Innern  Ministeriah 
rat.  Dr.  Franz  R.  v.  Haberl  er  und  Hofrat  Professor  Doktor 
Anton  Weichsel  bäum  als  Vizepräsidenten,  Dr.  Hermann  von 
Schrott  er  und  Priv.-Doz.  Dr.  Ludwig  Teleky  als  Schrift¬ 
führer.  Da  vom  24.  bis  30.  September  d.  J.  in  Rom  der  VII.  inter¬ 
nationale  Tuberkulosekongreß  stattfindet,  hat  das  Komitee  gemäß 
dem  in  der  Sitzung  vom  5.  Februar  d.  J.  gefaßten  Beschlüsse, 
an  die  Professorenkollegien  der  medizinischen  Fakultäten,  sowie 
an  die  Vereine  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose,  die  Einladung 
gerichtet,  diesen  Kongreß  recht  z!ahl reich  zu  beschicken  und  Vor¬ 
träge  für  den  Kongreß,  sowie  eventuell  Objekte  für  die  im  An¬ 
schluß  an  den  Kongreß  stattfindende  Tuberkuloseausstellung  an 
das  österreichische  Komitee  bis  zum  1.  Mai  d.  J.  anzumelden. 
Die  gleiche  Einladung  richtet  das  Komitee  auch  an  alle  Persön¬ 
lichkeiten,  welche  sich  mit  der  Frage  der  Tuberkulosebekämpfung 
beschäftigen. 

* 

Cholera.  Türkei.  In  Smyrna  wurde  am  3.  März  ein 
tödlicher  Cholerafall  sichergestellt.  Die  Erkrankung  datierte  seit 
drei  Tagen,  war  aber  verheimlicht  worden.  —  Tripolis.  Die 
im  Herbste  vorigen  Jahres  in  der  Stadt  Tripolis  aufgetretene 
Choleraepidemie  hat  in  der  Zeit  vom  20.  September  bis  8.  De¬ 
zember  1910  zu  323  Erkrankungsfällen  geführt,  von  denen  233 
tödlich  endeten.  Außerdem  sind  in  der  benachbarten  Ortschaft 
Amrousse  6  (5),  in  Hani  3  (2)  Erkrankungen  (Todesfälle)  vor¬ 
gekommen.  —  Arabien.  In  Mekka  ist  die  Cholera  erloschen, 
in  Djeddah  dem  Erlöschen  nahe;  in  der  Zeit  vom  5.  bis  25.  Fe¬ 
bruar  sind  hier  nur  vier  Erkrankungen  an  Cholera  aufgetreten. 
In  Medina  hat  die  Seuche  vom  4.  Januar  bis  13.  Februar  667 
'Todesopfer  gefordert,  seit  dieser  Zeit  aber  wurden  keine  wei¬ 
teren  Erkrankungen  gemeldet,  so  daß  auch  hier  von  einem  Er¬ 
löschen  der  Epidemie  gesprochen  werden  kann,  zumal  die  Rück¬ 
kehr  der  Pilger  nahezu  abgeschlossen  ist  und  das  letzte  Piiger- 
scliifl  den  Hafen  von  Jambo  verlassen  hat.  Dagegen  trägt  im 
südlichen  Teile  Arabiens  (Yemen)  die  Anhäufung  von  Truppen 
zur  neuerlichen  Ausbreitung  der  Krankheit  bei.  In  Hodeidah 
erkrankten  vom  27.  Februar  bis  5.  März  23  Mann  im  Truppen- 
spitale,  von  denen  11  starben.  Auch  unter  einem  Militärtrans¬ 
porte  von  50  Soldaten,  der  aus  Hodeidah  nach  Mokha  und 
Djibuti  befördert  wurde,  ist  im  Lazarette  von  Camaran  die  Cho¬ 
lera  konstatiert  worden. 

Pest..  Rußland.  In  Odessa  ist  am  5.  März  ein  neuer 
Pestfall  vorgekommen,  der  zweite  im  Laufe  des  Monats.  Von  den 
beiden  erkrankten  Personen  ist  eine  der  Krankheit  erlegen,  die 
andere  genesen.  —  Nieder  ländisch- In  dien.  Zeitungsnach¬ 
richten  zufolge  ist  die  Beulenpest  im  östlichen  Teile  der  Insel 
,1  a  v  a  aufgetreten ;  die  ersten  Erkrankungen  ereigneten  sich  in 
der  Umgebung  von  Malang.  Von  Anfang  Februar  bis  1.  April 
sollen  105  Personen  erkrankt,  75  gestorben  sein.  Am  2.  April 
ereigneten  sich  weitere  13  Erkrankungen  und  7  Todesfälle.  Die 
Seuche  beschränkt  sich  bisher  auf  die  Bergdistrikte  von  Penan- 
goengan  und  Karangle.  —  Türkei.  Provenienzen  aus  allen 
ägyptischen  Häfen  unterliegen  einer  24stündigen  Observation,  der 
Desinfektion  und  Deratisation,  Provenienzen  aus  arabischen  Häfen 
zwischen  Akaba  und  Konfudah  einer  fünftägigen  Quarantäne, 
Provenienzen  aus  Djeddah  außerdem  noch  der  Deratisation.  — 


China.  Nach  der  amtlichen  Pestzeitung  vom  12.  März  betrug 
die  Zahl  der  Pesttodesfälle  in  der  Mandschurei  bisher  31.450 
Davon  entfielen  auf  die  Provinzen  Kirin  und  Heilungkiang  25.814 
auf  die  Provinz  Fengtien  5636;  außerdem  sind  im  Gebiete  der 
Südmandschurischen  Eisenbahn  239  Personen  an  Pest  gestorben. 
In  Charbin  und  Fudjadjen  scheint  die  Seuche  erloschen  zu  sein- 
dagegen  wurden  aus  Mukden  für  die  Woche  vom  4.  bis  12.  März 
165,  aus  Changchun  und  Umgebung  154  neue  Pestfälle  gemeldet, 
ln  Tientsin  wurden  im  Februar  36  Pesterkrankungen  in  den 
Eingeborenenquartieren  sichergestellt.  In  der  Provinz  Schantung 
ereigneten  sich  bis  zum  5.  März  2451  pestverdächtige  Todes¬ 
fälle,  in  Tschifu  sind  seit  12.  Januar  937  Personen  der  Epidemie 
zum  Opfer  gefallen. 

* 

Im  Jahre  1911  werden  Fortbildungskurse  für  prak¬ 
tische  Aerzte  durch  die  Professoren  und  Privatdozenten  der 
Universität  Heidelberg  abgehalten  werden.  Die  Kurse  finden 
in  der  Zeit  vom  17.  bis  29.  Juli  d.  J.  statt.  Anmeldungen 
zur  Teilnahme  an  den  Kursen  sind  bis  spätestens  1.  Juli  d.  J. 
bei  dem  Schriftführer  des  Lokalkomitees  für  das  ärztliche  Fort- 
bildungswesen  in  Heidelberg,  Priv.-Doz.  Dr.  Wilmanns  (Psy¬ 
chiatrische  Klinik)  einzureichen;  dieser  Herr  ist  auch  bereit, 
weitere  Auskunft  über  die  Kurse  zu  erteilen.  —  An  der  Uni¬ 
versität  Freiburg  finden  in  diesem  Jahre  Fortbildungskurse 
nicht  statt. 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  13.  Jahreswoche  (vom  26.  März  bis 
L  April  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  525,  unehelich  217,  zusammen 
742.  Tot  geboren,  ehelich  63,  unehelich  29,  zusammen  92.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  714  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
18  3  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  1,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  2. 
Scharlach  2,  Keuchhusten  4,  Diphtherie  und  Krupp  3,  Influenza  0, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  6,  Lungentuberkulose  115,  bösartige  Neu-  , 
bildungen  47,  Wochenbettfieber  3,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  57  (+12),  Wochenbettfieber  7  (-|-  6),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  105  (-U  27),  Masern  208  (-f-  45),  Scharlach  105  (—  2) 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  2  (—3),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (01 
Diphtherie  und  Krupp  64  (+13),  Keuchhusten  40  (4-  4),  Trachom  4  (+3) 
Influenza  0  ( —  1),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Behufs  Besetzung  von  zwei,  eventuell  mehreren  S  a  n  i  t  ä  t  s-  I 
konzipistensteilen  in  der  X.  Rangsklasse  mit  den  systemmäßigen 
Bezügen  in  dem  galizischen  Staatssanitätsdienste'  wird 
hiemil  im  Sinne  der  Bestimmungen  von  §  2  des  Gesetzes  vom  5.  Janua’-  I 
J896,  R.-G.-BI.  Nr.  17,  der  Konkurs  bis  30.  April  1911  ausgeschrieben. 
Die  Kandidaten  um  diese  Stellen  haben  ihre  Gesuche  mit  dem  Nachweise 
über  die  mit  der  Ministerialverordnung  vom  21.  März  1873,  R.-G.-Bl.  Nr.  37. 
vorgeschriebene  Qualifikation  sowie  die  Kenntnis  der  Landessprachen  zu 
versehen  und  innerhalb  des  Konkurstermines  beim  k.  k.  Statthalterei¬ 
präsidium  in  Lemberg  zu  überreichen  u.  zw.  die  im  Staatsdienste 
stehenden  Kompetenten  im  vorgeschrienenen  Dienstwege,  sonst  aber  im 
Wege  der  zuständigen  Bezirkshauptmannschaft,  bzw.  der  Polizeidirektion. 

Gemeindearztesstelle  der  Sanitätsgemeindegruppe  S  o  1- 
1  e  n  a  u,  Niederösterreich  (bestehend  aus  den  Gemeinden  Sollenau,  Matzen¬ 
dorf,  Holles,  Steinabrückl  des  politischen  Bezirkes  Wr. -Neustadt  und  der 
Gemeinde  Schönau  am  St.  des  politischen  Bezirkes  Baden).  Die  Stelle  ist 
mit  einem  Bezüge  von  800  K  seitens  der  Gemeinden  verbunden.  Ueber- 
dies  sind  zirka  3600  K  fixe  Bezüge  als  Fabriksarzt  der  Fabriken  in  Sol¬ 
lenau  und  Schönau  sowie  der  Krankenkassa  der  Pulverfabrik  Blumau 
bisher  mit  dieser  Stelle  verbunden  gewesen.  Außerdem  gibt  die  Sollenauer 
Spinnlabrik  Ireie  Wohnung.  Bewerber  um  diese  Steile  haben  ihre  vor- 
schriltsmäßig  belegten  Gesuche  bis  5.  Mai  1911  beim  Bürgermeisteramte 
in  Sollenau  zu  überreichen. 

Gemeindearztesstelle  der  Sanitätsgemeindegruppe  W  i  1- 
d  endürnbaeh  (Niederösterreich),  umfassend  die  Gemeinden  Wilden¬ 
dürnbach  und  Neuruppersdorf  mit  2346  Einwohnern.  Sitz  des  Arztes  ist 
Wildendürnbach.  Jährlicher  Gemeindebeitrag  500  K,  Landessubvention 
600  K,  Naturalwohnung,  Hausapotheke.  Gesuche  sind  bis  1.  Mai  1911 
an  das  Bürgermeisteramt  in  Wildendürnbach  zu  richten. 

Gemeindearztesstelle  der  Sanitätsgemeindegruppe  G  r  o  ß- 
S  c  h  ö  n  a  u  (Niederösterreich),  40  62  km2  groß,  mit  1525  Einwohnern. 
Beiträge  der  Gemeinden  400  K,  bisher  Landessubvention  1200  K,  Haus¬ 
apotheke  erforderlich.  Ordnungsgemäß  belegte  Gesuche  sind  an  das  Bürger¬ 
meisteramt  Groß-Schönau  bei  Weitra  bis  längstens  15.  Mai  1911  zu 
richten. 

Aus  dem  Erträgnisse  der  Dr.  Gustav  Lorenz  L  e  itn  e  r  -  Stiftung 
kommt  im  Jahre  1911  ein  Betrag  von  200  K  an  ein  hilfsbedürftiges  Mit¬ 
glied  des  Wiener  medizinischen  Doktorenkollegiums  zur  Verleihung.  Be¬ 
werber  um  diese  Stiftung  haben  ihre  mit  dem  Nachweise  der  Hilfs¬ 
bedürftigkeit  belegten  Gesuche  bis  längstens  30.  April  1911, 12  Uhr  mittags, 
beim  Wiener  medizinischen  Doktorenkollegium,  I.,  Rotenturmstraße  19 
(Van  Swietenhof),  zu  überreichen.  Alle  nach  dem  30.  April  1911  ein¬ 
langenden  oder  nicht  ordnungsmäßig  belegten  Gesuche  können  nicht 
berücksichtigt  werden.  Vom  Wiener  medizinischen  Doktorenkollegium. 


Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Kubasta.  Verlag  von  Wilhelm  Bianmdller  in  Wien. 

Druck  von  Bruno  Bartelt,  Wien  XVIII.,  Theresienaasao  3. 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 


0.  ehiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner.  S.  Exner,  E.  Finger,  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko.  H.  Meyer.  J.  Moeller,  K.  v.  Noorden, 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  Q.  Toldt.  J.  v.  Wagner,  E.  Wertheim. 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Heransgegeben  von 

Anton  F reih.  v.  Eiseisberg,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser, 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k-  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 


Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 


XXIV.  Jahrg.  Wien,  27.  April  1911  Nr.  17 


— 

=— — = - 

INH 

1.  Originalartikel:  1.  Mitteilung  aus  der  mit  dem  „Stephanie“- 
Kinderspitale  verbundenen  Universitäts-Kinderklinik  zu  Buda¬ 
pest.  Die  Heilwix-kung  des  Salvarsans  bei  der  Lues  des  Kindes¬ 
alters.  Mitgeteilt  von  Dr.  Johann  v.  Bökay,  ord.  öffentl.  Uni¬ 
versitätsprofessor,  unter  Mitwirkung  von  Priv.-Doz.  Dr.  Ludwig 
Vermes,  Primararzt  der  ophthalmol.  Abteilung  und  Doktor 
Zoltän  v.  B  o  k  ä  y,  Sekundararzt.  S.  583. 

2.  Zur  Diagnostik  und  Pathogenese  der  Gallensteine.  Von  Professor 
Dr.  E.  Biernack  i,  Lemberg.  S.  601. 

3.  Aus  der  IV.  Abteilung  des  k.  u.  k.  Garnisonsspitales  Nr.  2 
in  Wien.  (Vorstand:  Stabsarzt  W.  Raschofsky.)  Ein  Fall  von 
Tetanieepilepsie.  Von  Dr.  Alfred  L  u  g  e  r.  S.  604. 

4.  Mitteilung  aus  dem  chemisch-bakteriologischen  Institute 
Bronstein,  Levinson  und  Bernhardt,  Moskau.  Ein  neuer  Indikator 
zur  Bestimmung  des  titrierbaren  Alkalis  im  Blute.  Von  Paul 
Bernhardt.  S.  606. 


ALT: 

II.  Referate :  Ueber  Kinderschutz  und  Volksvermehrung  mit  be¬ 

sonderer  Beachtung  der  Verhältnisse  in  Böhmen.  Von  Professor 
Dr.  Alois  Epstein.  Ueber  die  Bedeutung  der  Inanition  bei 
Ernährungsstörungen  der  Säuglinge.  Von  Prof.  Ad.  Czerny. 
Die  akute  Poliomyelitis,  bzw.  Heine-Medinsche  Krankheit.  Von 
Priv.-Doz.  Dr.  Ivar  Wickmann.  Ueber  Bantische  Krankheit 
und  Leberzirrhose  im  Kindesalter.  Von  Karl  Vogel.  Kinder¬ 
pflege-Lehrbuch.  Von  Prof.  Dr.  Artur  Keller  und  Dr.  Walter 
Birk.  Grundzüge  für  die  Mitwirkung  des  Lehrers  bei  der  Be¬ 
kämpfung  übertragbarer  Krankheiten.  Von  Dr.  Fritz  Kir  stein. 
Ref. :  C.  Leiner. 

III.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

IV.  Vermischte  Nachrichten. 

V.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Mitteilung  aus  der  mit  dem  „Stephanie“-Kinderspitale 
verbundenen  Universitäts-Kinderklinik  zu  Budapest. 

Die  Heilwirkung  des  Salvarsans  bei  der  Lues 
des  Kindesalters. 

Mitgeteilt  von  Dr.  Joliaun  v.  Bökay,  ordentl.  öffentl.  Universitäts- 
prot'essor,  unter  Mitwirkung  von  Priv.-Doz.  Dr.  Ludwig  Vennes,  Primar¬ 
arzt  der  ophthalmol.  Abteilung  und  Dr.  Zoltän  v.  Bökay,  Sekundararzt. 

Ueber  die  Wirksamkeit  der  Ehrlichschen  Behand¬ 
lung  bei  der  Lues  des  Kindesalters  stehen  uns  noch  immer 
trotz  der  sonst  reichen  Literatur  nur  spärliche  Mitteilungen 
zur  Verfügung1)  und  die  Art  der  Wirkung  bei  kleinen  Kin¬ 
dern  ist  klinisch  kaum  genügend  klargestellt. 

Dieser  Umstand  veranlaßt  mich,  von  meinen  neueren 
Beobachtungen  abgesehen,  über  26  relativ  längere  Zeit  be¬ 
obachtete  Fälle  zu  berichten  und  meine  aus  meinen  Wahr¬ 
nehmungen  geschöpften  Ansichten  darzulegen.  Ich  halte  die 
Mitteilung  meiner  Erfahrungen  für  wichtig,  da  meines  Er¬ 
achtens  durch  meine  Fälle  nebst  anderen  strittigen  Fragen 
auch  jene  praktisch  wichtige,  von  Ehrlich  auf  der  Frank¬ 
furter  Versammlung2)  besonders  hervorgehobene  Frage  ge¬ 
nügend  geklärt  werden  kann,  ob  bei  an  Lues  congenita  lei¬ 
denden  Säuglingen  die  direkte  Anwendung  des 
Salvarsans  gleich  im  Anfänge  infolge  der  etwa 
in  großer  Menge  freiwerdenden  Endotoxine  nicht  schädlich 

*)  Wechselmann,  Hirschfeld,  Michaelis,  Taege, 
Duhot,  Raubitschek,  Dobrowits,  Scholtz,  Esche  rieh, 
Freund,  Baisch,  Torday,  Marschalk  o,  Hochsinger, 
Peiser,  Junkermann,  Lesser,  Myrowsky,  Döblin  u.  A. 

s)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  41,  S.  1893. 


wirke  oder  ob  die  vorhergängige  Behandlung  der 
stillenden  Mutter  mit  S  a  1  v  a  r  s  a  n  nicht  empfeh¬ 
lenswerter  sei,  wobei  mit  der  Milch  in  den  Körper  des 
Säuglings  eingeführte  Antikörper  infolge  ihrer  Wirksamkeit 
den  etwaigen  Schaden  einer  späteren  direkten  Injektion 
bei  dem  durch  die  indirekte  Behandlung  schon  gebesserten 
Säuglingen  paralysieren,  respektive  ganz  zunichte  machen 
können. 

* 

Meine  26  Fälle  verteilen  sich  dem  Alter  nach  fol¬ 
gendermaßen  : 

von  0—  1  Jahr  =  13  Fälle 
„1-2  „  =4  „ 

„2—3  „  =1  Fall 

„  4 —  5  „  =  2  Fälle 

„8-9  „  =2  „ 

„  10-11  „  =  4  „ 

Von  meinen  26  Fällen  betrafen  23  Lues  congenita, 
3  akquirierte  Lues. 

Von  unseren  an  Lues  congenita  leidenden  Kran¬ 
ken  standen  13  unter  einem  Jahre,  10  jenseits  des  ersten 
Jahres. 

Die  Altersverteilung  der  13  Säuglinge  nach  Monaten 
war  wie  folgt: 

2  Monaten  =  5  (minimales  Alter  5  Wochen) 

2-3  „  =  4 

3  „  <  =  4 

Es  handelte  sich  in  allen  13  Fällen  Um  ziemlich  gut 
entwickelte  und  genährte,  insgesamt  von  den 
Müttern  g e stillte  Säuglinge,  welche  samt  den  Müt- 


II  Nummer 


584 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  17 


A.  Fälle  von  kongenitaler  Lues, 
a)  Lues  congenita  bei  Säuglingen. 


Name  und 
Alter, 

Körpergewicht 


Diagnose 


Wassermannsche 
[  Reaktion  vor  der 
Behandlung 


Salvarsan 


Wiederholung 


der 

Injektion 


Ergebnis 


Karl  D.,  |  Exanthema  papulo- 

5  Wochen  alt,  j  maculosum.  Osteo- 
3710  g  chondritis  luetica 


Aranka  D.,  L,  .,  , 

5  Monate  alt,  I  Exanthema papulo- 

5000  g 


maculosum 


Marie  Sch.,  I  Exanthema  papulo- 
5  Wochen  alt,  |  maculosum.  Osteo¬ 
chondritis  luetica 


3300  g 


BMa  M„ 

7  Wochen  alt, 
4210  g 


Exanthema  macu¬ 
losum 


Emmerich  Bi, 
8  Wochen  alt. 
3320  g 


Franz  P., 

7  Wochen  alt, 
4700  g 


10 


11 


Stephan  L., 

6  Wochen  alt, 
4230  g 


Helene  F., 

4  Monate  alt, 
5300  g 


Exanthema  papulo- 
sum.  Rhagades 
labior.  oris 


Exanthema  papulo- 
maculosum 


Exanthema  macu¬ 
losum.  Ulcera  lue¬ 
tica  anguli  oris. 
Paronychia  digito- 


rum  manus 


Exanthema  macu¬ 
losum.  Rhagades 
labii  superoris.  Ony- 
chorhexis 


2VsHMonateB  alt,  Exanthema  papulo- 
3  11  maculosum 


4950  g 


Josef  H., 

2  Monate  alt, 
4900  g 


Exanthema 

maculosum 


Rudolf  O., 

6  Monate  alt, 
6500  g 


Marie  K., 

12  |  7  Monate  alt. 

6600  g 


Facies  luetica. 
Hydrocephal.  int. 
chron.  minor,  grad. 


13 


Condylomata  lata 
circa  anum,  et  labii 
major.,  papulae 
inguin. 


Tnsef  M  •  Exanthema  maculo- 

3  Monate  alt,  .  W1“  ^ider 
4300  o-  I  Mutter  Exanthema 


maculosum 


intraglutä- 


15.  Juli:  -J — | — |- 


29.  Juli:  +  + 


3.  Sept.:  -f-  4 


12.  Sept.:  4 


11.  Sept. 


2.  Okt.:  +  4  + 


11.  Okt.:  0 


21.  Okt.:  +  +  + 


16.  Juli: 

ale  Injektion  von 
002  g  in  methyl¬ 
alkoholischer  Lö¬ 
sung 


1 10.  Aug.:  0  05  g. 
]  Glykolische  Lö¬ 
sung.  Intraglu- 
täal 

31.  Aug.:  0  05  g. 
Glykolische  Lö¬ 
sung.  Intraglu- 
täal 


Genesung. 

DieWassermannsche 
Reaktion  ist  nach 


107  Tagen  am  19. 


22.  Juli:  005  g  in 
glykolischer  Lö¬ 
sung,  intraglutäal 


3.  Sept.:  003  g. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 


13.  Sept.:  0045  g. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 


13.  Sept.:  0-035  g. 
Neutrale  Emulsion 
(W  echselmann) . 
Intraglutäal 


4.  Okt.:  0'04  g. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 


4.  Okt.:  004  g. 
Neutrale  Emul¬ 
sion  (Wechsel¬ 
mann).  Intraglu¬ 
täal 


Februar  1911  nega¬ 


tiv.  Vollkommene 
Heilung 


Besserung. 
(Abreise  des  Kindes 
nach  8  Tagen,  keine 
Nachricht.) 


Genesung. 

Wassermannsche 
Reaktion  nach  76 
Tagen :  sch  wach  po¬ 
sitiv;  am  10.  Fe¬ 
bruar  1911:  negativ. 


W  assermannsche 
Reaktion  nach  49 
Tagen :  negativ.  Am 
13.  Jänner  1911:  4 
27.  Jänner  1911: 
U  n  zwe  i  felhafte 
Rezidive. 


28.  Okt.:  0-05  g. 
(Id.)  Neutrale 
Emulsion. 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 


12.  Okt.:  0-04  g. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 


21.  Okt,:  0054  g. 
(Id.) 

Mit  Salzsäure  neu- 1 
tralisierte  Emulsion. 
Intraglutäal. 


28.  Okt.:  4  +  4 


28.  Okt.:  +  +  + 


28.  Okt.:  0-05  g. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 


3.  Nov.:  +  +  4 


28.  Okt.:  0.05  g. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 


Genesung. 

7.  Dez.:  Wasser¬ 
mannsche  Reaktion: 


4 


5.  März  1911: 


Genesung? 


Wassermannsche 

Reaktion? 


Genesung  ? 


Genesung. 
Wassermannsche 
Reaktion  nach  35 
Tagen:  negativ. 


Genesung. 
Wassermannsche 
Reaktion  20.  Dez.: 
negativ 


3.  Nov.:  005  g. 
(Id.) 

Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal. 


|  3.  Nov.:  0'06  g. 

I  (Id.) 

3.  Nov.:  -| — | — L  |  Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal. 


10.  Nov.:  +4  + 


10.  Nov.:  0'50  g 
(Hy)  der  Mutter. 
24.  Nov.:  0-045  g 
(Id.)  dem  Kinde. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Der  Mutter  subku¬ 
tan,  dem  Säugling 
intraglutäal 


Bedeutende  Besse¬ 
rung;  (später  Exitus 
letalis  infolge  eines 
Erysipels) 


Besserung  der  Haut¬ 
farbe,  Wasser¬ 
mannsche  Reaktion 
20.  Feb.  1911:  4  — 


Genesung. 
Wassermannsche 
Reaktion  27.  Jänner 
1911:  negativ. 

3.  Februar  1911: 
Unzweifelhafte 
Rezidive 


Genesung. 
Wassermannsche 
Reaktion  24.  Jänner 
1911:  negativ; 

W  assermannsche 
Reaktion  20.  Feb. 
1911:  4—,  6.  März 
1911:  Unzweifel¬ 
hafte  Rezidive 


Bemerkung 


Gewichtszunahme  in  un¬ 
gefähr  3  Monaten  3100  g. 
Hautnekrose  der  Gluläal- 
gegend  von  ungefähr  4  cm 
Durchmesser.  Ernährung 
an  der  Mutterbrust 


Gewichtsabnahme  in  8  Ta¬ 
gen  130  g.  Ernährung  an 
der  Mutterbrust 


Gewichtszunahme  in  3  Mo¬ 
naten  2200  g.  Ernährung 
an  der  Mutterbrust 


Gewichtszunahme  von 
1500  g  in  3  Monaten.  Den 
zwei  Injektionsstellen  ent¬ 
sprechend  zwei  umschrie¬ 
bene  Abszesse.  Ernährung 
an  der  Mutterbrust 


Gewichtszunahme  v.  l'/8  kg 
in  2 */2  Monaten.  Ernährung 
an  der  Mutterbrust 


Gewichtszunahme  in  5  Wo¬ 


chen  beinahe  1  kg.  Ernäh¬ 


rung  an  der  Mutterbrust 


Gewichtszunahme  von  Vs  kg 


in  6  Wochen.  Ernährung 
an  der  Mutterbrust.  Um¬ 
schriebene  Nekrose  der 
Glutäalgegend 


Nekrose  der  Glutäalgegend  . 
von  ungefähr  4  cm  Durch¬ 
messer.  Während  des  Ver¬ 
laufes  Auftreten  v.  Gesichts-  I 
erysipel.  Ernährung  an  der  1 
Mutterbrust.  Gewichtszu-  , 
nähme  von  900  g  in  35 
Tagen 


Ernährung  an  der  Mutter¬ 
brust.  Gewichtszunahme 


von  80  g  während  eines 


Monates 


Während  des  Verlaufes 
Erysipel  aus  der  retroauri¬ 
kulären  Gegend  ausgehend. 
Ernährung  an  der  Mutter-  j 
brust 


Lumbalpunktion:  Entlee¬ 

rung  von  25  cm3  Liquor. 
Ernährung  an  der  Mutter¬ 
brust 


Ernährung  an  der  Mutter¬ 
brust 


Wassermannsche  Reaktion 
bei  der  Mutter  10.  Novem¬ 
ber:  +  4  +.  Gewichtszu¬ 
nahme  in  3  Wochen  '/*  kg-  i 
Ernährung  an  der  Mutter¬ 
brust 


Nr.  17 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


585 


em  im  Spitale  aufgenommen  wurden.  D.er  Spitalsaufenthalt 
letrug  10  bis  14  Tage,  die  weitere  Beobachtung  war  eine 

loliklinische. 

Die  mehr  als  ein  Jahr  alten  Kranken  blieben  längere 
'eit  im  Spitale  und  wurden  größtenteils  erst  nach  dem 
Schwinden  der  manifesten  Lueserscheinungen  entlassen  und 
ier  ambulanten  Beobachtung  zugewiesen. 

.Eine  tabellarische  Zusammenstellung  und  eingehende 
ieschreibungen  meiner  Fälle  gebe  ich  im  folgenden : 

Fall  I.  K.  D.,  fünf  Wochen  alt.  Zwei  Abortus  gingen  vor- 
er.  Seit  einer  Woche  Schnupfen,  seit  einigen  Tagen  Hautausschlag. 
Vird  von  der  Mutter  gestillt.  Bei  der  Mutter  keine  manifesten 
.ueserscheinungen.  W  as s  er  m annsche  Reaktion  bei  der 
lütter  negativ. 

Mäßig  entwickelter  und  genährter  Säugling.  Gewicht  3710  g. 
laut  bleich,  fahlbraun.  Auf  dem  Gesichte,  der  behaarten  Kopf- 
aut,  sowie  auf  den  oberen  und  unteren  Extremitäten  ein  ziem- 
ich  reichliches,  hauptsächlich  papulöses,  stellen¬ 
eise  makulöses  und  vesikulöses  Exanthem.  Die 
beren  E  xtremitäten  werden  nicht  bewegt,  bei  passiver 
ewegung  Schmerzen  in  beiden  Ellbogen,  besonders  intensiv  in 
era  linken;  hier,  zeigt  auch  das  Gelenk  mäßige  Schwellung 
Osteochondritis  luetica).  Mäßiger  Schnupfen,  Milz  leicht  palpier- 
ar.  Die  Sohlen  sind  fettglänzend,  daselbst  Desquamation. 
,'assermann sehe  Reaktion :  H — | — H 

16.  Juli  1910:  Um  10  Uhr  vormittags  injizieren  wir  0-02  g 
rsenobenzol  (Methyl- Alkohollösung,  Gesamtmenge  12  cm3) 
itramuskulär  in  beide  Glutäalgegenden. 

In  den  der  Injektion  folgenden  2mal  24  Stunden  fand  sich 
ei  zweistündiger  Messung  im  Mastdarm  am  ersten  Tage  eine 
saximaltemperatur  von  38-6,  am  zweiten  Tage  eine  solche 
on  38-4. 

18.  Juli:  Den  Papeln  entsprechend  H  e  r  x  heim  ersehe  Re¬ 
gion.  Sonst  keine  Veränderung,  kein  Fieber,  gutes  Allgemein¬ 
efinden,  trinkt  kräftig. 

20.  Juli:  Schwinden  der  Her xheim ersehen  Reaktion;  die 
apt  ln  werden  auffallend  flacher. 

22.  Juli:  Die  Papeln  im  Schwinden  begriffen,  die  sohlen 
eniger  glänzend,  keine  Desquamation.  Die  Schm  erzhaftig- 
eit  in  den  beiden  Ellbogen  geschwunden,  beginnt 
ei  de  Arme  zu  heben. 

28.  Juli:  Exanthem  kaum  sichtbar.  Gewicht  3880  g.  Das 
llgeineinbefinden  einwandfrei.  Die  Injektionsstelle  in  den  Glutäal- 
genden  kaum  merkbar  geschwollen,  schmerzlos. 

2.  August :  Bei  einwandfreiem  Allgemeinbefinden,  ohne 
ieber,  auf  den  Extremitäten  zerstreut  neuerliche  papulöse 
ruption.  Wassermann  sehe  Reaktion:  H — | — h 

10.  August :  Zahl  der  Papeln  etwas  vermehrt.  Neuerliche 
rseno  benz  o li n  j  ek  t i  on  (0-05  g,  8  cm3  Glykollösung,  in  der 
■chten  Glutäalgegend,  intramuskulär).  Gewicht  4350  g. 

In  den  folgenden  24  Stunden  ist  das  Maximum  der  Tem- 
:ratur  im  Mastdarm  38-8°  C.  Nach  48  Stunden  ist  die  Mastdarm- 
mperatur  normal. 

12.  August:  An  der  Injektionsstelle  stärkere  Infiltration  und 
ohmerzhaftigkeit.  Allgemeinbefinden  sonst  gut. 

13.  August:  Den  Papeln  entsprechend  H  e  r  x  h  ei  m  er  sehe 

eaktion. 

15.  August:  Die  Papeln  werden  auffallend  flacher. 

19.  August :  Die  Papeln  sind  zum  großen  T  e  i  1  e  ver- 
I  sh  wunden.  Die  oberen  Extremitäten  werden  frei  bewegt. 

a  der  Injektionsstelle  nur  kleines  Infiltrat.  Allgemeinbefinden 
nwandfrei,  trinkt  gut,  Körpergewicht  4600  g. 

29.  August:  Die  Sohlen  nicht  mehr  glänzend.  Zerstreut  noch 
nige  kleinere  blasse  Maculae.  W  assermann  sehe  Reak- 
on :  -|-. 

31.  August :  Die  Maculae  aufs  neue  etwas  vermehrt, 
euer  liehe  Arseno  benzolin  jekti  on  (0-05  g,  Glykollösung,, 
der  linken  Glutäalgegend,  intramuskär). 

In  den  folgenden  24  Stunden  höchste  Mastdarmtemperatur 

56°  C. 

3.  September :  Stärkeres,  schmerzhaftes,  entzündliches  ln- 
Itrat  in  der  linken  Glutäalgegend.  Die  Maculae  blassen 
tufen weise  ab. 

7.  September :  Das  Exanthem  ist  Vollständig  geschw u n- 
en.  Die  Schwellung  der  linken  Glutäalgegend  läßt  etwas  nach, 
Jiltrat  in  der  rechten  Glutäalgegend  kaum  bohnengroß. 

12.  September:  Die  H  aut  Oberfläche  hat  sich  voll- 
tändig  gereinigt.  Die  Anämie  bessert  sich  zusehends.  Der 
’hwellung  an  d«r  linken  Glutäalgegend  entsprechend  begin-  I 


nende  zirkumskripte  Hautnekrose.  Körpergewicht: 
5400  g. 

17.  September:  Luessymptome  sind  spurlos  zurück¬ 
gegangen.  Die  beiden  oberen  Extremitäten  werden 
frei  und  lebhaft  bewegt.  Gesunde  Hautfarbe,  Milz  nicht 
palpierbar.  Auf  der  linken  Glutäalgegend  hellergroße  Haut¬ 
nekrose. 


m 


Fig.  1. 


4.  Oktober :  Abstoßung  der  nekrotisierten  Haut,  verbliebener 
Substanzverlust  kaum  hellergroß  (s.  Fig.  1).  Allgemeinbefinden 
ausgezeichnet;  Körpergewicht  6150  g.  Was  s  er  man  n  sehe  Re¬ 
aktion  :  -j — K 

Die  Menge  des  zu  den  drei  Injektionen  (16.  Juli,  10.  August, 
31.  August)  benützten  Arsenobenzols  beträgt  insgesamt  0-12  g, 
d.  i.  0-02+0-05+0-05. 

Gewichtszunahme  in  beinahe  drei  Monaten  2400  g. 

1.  November:  Körpergewicht  6800  g.  Auf  der  linken  Glu¬ 
täalgegend  eine  kaum  bohnengroße  granulierende  Wundfläche. 
Auf  der  rechten  Gwutäalgegend  schlaffer,  hellergroßer  Abszeß. 
Luessymptome  sind  spurlos  verschwunden.  Blühendes  Aussehen. 

10.  November:  Was  sermannsche  Reaktion:  . 

21.  November:  Auf  beiden  Glutäalgegenden  etwas  retra- 
hierte  Narbe.  Unterer  Rand  der  Milz  kaum  zu  tasten.  Blühende 
Hautfarbe.  Körpergewicht  7200  g. 

19.  Februar  1911 :  Vollständig  geheilt.  Prächtig  entwickelt. 
Körpergewicht  7820  g. 

Fall  II.  A.  D.,  fünf  Monate  alt,  aus  dem  Komitate  Maros- 
Torda.  Das  erste  Kind  lebte  fünf  Tage,  das  zweite  wurde  tot 
geboren,  das  dritte  lebte  14  Tage,  das  vierte  einen  Tag. 

Wurde  im  achten  Monate  geboren,  wird  gestillt.  Gut  ent¬ 
wickelt,  gut  genährt.  Auf  dem  Rumpfe  zerstreut  rost¬ 
braune  p  apulo-makulöse  Eff  loreszenzen.  Sohlen 
und  Handflächen  von  speckigem  Glanze,  Desquama¬ 
tion.  Seborrhoea  superciliorum.  Hautfarbe  ein  wenig  kaehek- 
tisch.  Milz  gut  zu  tasten,  Leber  etwas  vergrößert.  Hinter  beiden 
Sternocleidomastoidei,  in  der  Inguinal-  und  linken  Ellbogenbeuge 
Polymikroadenie.  W  as  s  er  m annsche  Reaktion:  H — H“.  Körper¬ 
gewicht  5000  g. 

22.  Juli :  Injektion  von  0-05  g  Arseno  benzol  (Glykol¬ 
lösung,  Gesamtmenge  12  cm3,  appliziert  in  der  Muskulatur  der 
linken  Glutäalgegend). 

Maximaltemperatur  im  Mastdarm  am  Tage  der  Injektion 
38°  C,  an  dem  der  Injektion  folgenden  Tage  38-6°  C,  nach  zwei 
Tagen  kehrt  die  Temperatur  zur  Norm  zurück.  An  dem  der  In¬ 
jektion  folgenden  Tage  ist  die  Farbe  des  papulo- 
maku lösen  Ausschlages  von  lebhafterer  Röte  (Herx¬ 
heim  er  sehe  Reaktion).  ^ 

Die  Injektionsstelle  ist  ein  wenig  geschwollen,  empfindlich. 
Allgemeinbefinden  gut,  trinkt  gut.  Am  dritten  Tage  nach 
der  Injektion  sind  die  Papeln  ab  geflacht,  das  Exan- 


586 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911, 


Nr.  17 


them  im  allgemeinen  blässer  und  die  Konturen  ver¬ 
schwommene  r. 

26.  Juli:  Das  Exanthem  ist  noch  blässer,  an  der  Injek¬ 
tionsstelle  Infiltrat  in  der  Ausdehnung  eines  Guldens,  welches 
auf  Druck  etwas  schmerzhaft  ist;  die  Haut  über  ihm  ist  etwas 
rötlich  verfärbt  und  ein  wenig  glänzend. 

27.  Juli:  Exanthem  kaum  mehr  sichtbar,  auch  der  speckige 
Glanz  auf  den  Sohlen  ist  bedeutend  geringer.  An  der  Injektions¬ 
stelle  hat  die  Röte  nachgelassen,  auch  ist  das  Infiltrat  weniger  fest. 

29.  Juli:  Das  luetische  Exanthem  wird  nur  .mehr  durch  eine 
blasse,  fahlbraune  Pigmentation  bezeichnet.  Die  Empfindlich¬ 
keit  des  Infiltrates  in  der  Glutäalgegend  ist  beinahe  geschwunden, 
der  Umfang  desselben  ist  aber  kaum  verändert. 

31.  Juli:  Die  Mutter  reist  gegen  unseren  Rat  ab.  Bei  der 
Entlassung,  d.  i.  am  neunten  Tage  nach  der  Injektion,  ist  das 
Exanthem  am  Rumpfe  kaum  sichtbar.  Körpergewicht  4870  g. 
Gewichtsverlust  130  g. 

Konnte  weiter'  nicht  beobachtet  werden. 

Fall  III.  M.  Sch.,  fünf  Wochen  alt,  wurde  am  2.  Sep¬ 
tember'  1910  aufgenommen.  Erstes  Kind.  Die  luetischen  Symptome 
zeigen  sich  seit  der  dritten  Lebenswoche;  wird  gestillt.  Gut  ge¬ 
nährter  und  entwickelter  Säugling.  Gewicht  3300  g.  Die  Haut 
ist  im  allgemeinen  blaß,  i  a  h  1  b  r  ä  u  n  1  i  c  h.  Auf  dem  Gesichte 
(der  Stirne),  sowie  den  Extremitäten  ein  ausgespro¬ 
chen  pap  ulo-makulöses  Exanthem.  Die  Sohlen  von 
stark  speckigem  Glanz,  Desquamation;  laute,  schnau¬ 
bende  Atmung,  aus  den  Nasengängen  reichlicher 
seröser  Ausfluß.  Auf  der  Oberlippe  charakteristische 
Rhagaden;  keine  aktive  Bewegung  der  oberen  Extre¬ 
mitäten,  bei  passiver  schmerzliches  Wimmern.  Stär¬ 
kere  schmerzhafte  Schwellung  des  rechten  Ell¬ 
bogen  gelenkes  (Osteochondritis  luetica  cubitorum).  An  den 
Fingernägeln  geringe  Onychorhexis.  Stärkere  Milzschwellung, 
Leber  mäßig  vergrößert.  Wassermannsche  Reaktion:  -J — 1 — h, 
bei  der  Mutter  H — K 

Am  3.  September,  nachmittags  5  Uhr,  0-03  g  Arsen  ei¬ 
ben  zol  injektion  (neutrale  Suspension,  Menge  der  Flüssig¬ 
keit  7  cm3,  intramuskuläre  Injektion  in  der  rechten  Glutäal- 
region). 

In  den  der  Injektion  folgenden  24  Stunden  Maximal  temp  e- 
ratur  im  Mstdarm©  38-5°  C.  An  den  darauffolgenden  Tagen  sinkt 
die  Temperatur  zur  Norm. 

5.  September:  Die  Maculae  sind  blässer,  die  Sohlen 
weniger  glänzend,  die  Atmung  durch  die  Nase  ist 
freier.  An  der  Injektionsstelle  mäßige,  nicht  schmerzhafte  In¬ 
filtration. 

7.  September:  Die  Maculae  sind  kaum  sichtbar.  Die 
linke  obere  Extremität  wird  gut  gehoben  und  beginnt  auch  die 
rechte  zu  bewegen.  An  der  Injektionsstelle  kleinnußgroßes,  festes, 
schmerzloses  Infiltrat. 

9.  September:  Bewegt  auch  die  obere  rechte  Extre¬ 
mität  freier,  auch  ist  die  Schwellung  des  Ellbogens 
auf  dieser  Seite  bedeutend  geringer  und  kaum  em¬ 
pfindlich.  Oberfläche  der  Haut  rein.  Das  nußgroße  In¬ 
filtrat  in  der  Glutäalgegend  ist  schmerzlos.  An  den  Sohlen  Glanz 
kaum*  mehr  vorhanden. 

15.  September:  Die  Haut  ist  rein  und  hat  ihren 
kachek  tischen  Charakter  verloren.  Bewegung  der 
oberen  Extremität  eine  gute  und  ziemlich  lebhafte. 
Infiltrat  in  der  Glutäalgegend  kaum  haselnußgroß.  Allgemein¬ 
befinden  gut. 

19.  September:  Allgemeinbefinden  einwandfrei.  Hautfarbe 
normal,  blaß  rosafarben.  Infiltrat  in  der  Glutäalregion  minimal. 
Wassermannsche  Reaktion  -j — h 

3.  Oktober:  Von  der  Lues  keine  Spur  mehr.  Die 
Extremitäten  werden  vollständig  frei  bewegt.  Lebhaft.  In¬ 
filtrat  in  der  Glutäalgegend  vollständig  geschwunden.  Seit  dem 

2.  September,  das  heißt  während  vier  Wochen,  Zunahme  des 
Körpergewichtes  800  g. 

Das  am  17.  Oktober  vorgestellte  Kind  zeigt  keine  Spur 
von  Lues.  Es  sieht  blühend  aus  und  entwickelt  sich 
prächtig.  Körpergewicht  4420  g. 

21.  November:  Wassermannsche  Reaktion:  +.  Körper¬ 
gewicht  5200  g. 

5.  Dezember :  Blühendes  Aussehen.  Glutäalgegend  normal. 
Gewicht  5500  g. 

2.  Januar  1911 :  Die  Heilung  ist  von  Dauer. 

9.  Februar  1911:  Vollständig  gesund.  Körpergewicht  6200  g. 
Wasser  m  a  n  n  sehe  Reaktion  — . 

Fall  IV.  B.  M.,  sieben  Wochen  alt,  wurde  am1  11.  Sep¬ 
tember  1910  aufgenommen.  Die  erste  Schwangerschaft  endete 


mit  Abortus,  das  zweite  Kind  starb  mit  sechs  Wochen,  das! 
dritte  im  Alter  von  sechs  Monaten.  Luessymptome  an  dem  auf- : 
genommenen  Säugling  seit  der  vierten  Lebenswoche.  Wird  gestillt. 

Gut  entwickelt  und  genährt,  Gewicht  4210g.  Haut  blaß 
fahl.  .Ziemlich  reichliche,  blaß-rostbraune  Macu¬ 
lae,  auf  dem  Gesichte,  den  oberen  und  unteren  Ex 
t  rem  i  täten.  Glänzen  d  e  H  an  dt  eil  er  und  Fußsohlen  mi  i 
Desquamation.  Schnarchen,  gestörte  Nasenrespira-j 
t  i  o  n.  Milz  kaum  vergrößert,  W  a  s  s  er  m a n n  sch.'  Reaktion  —RH — f  i 
bei  der  Mutter  +-j — h 

13.  September,  10  Uhr  vormittags :  0-045  g  Arseuobenzol- 
injektion  (neutrale  Suspension,  Menge  der  Flüssigkeit  7  .cm3, 
intramuskulär,  in  der  linken  Glutäalgegend). 

ln  den  folgenden  24  Stunden  maximale  Temperatur  im 
Mastdarm,  37°  C,  welche  nächsten  Tag  zur  Norm  sank. 

14.  September:  An  der  Injektionsstelle  ein  etwas  straffes, 
glänzendes,  aber  mit  blasser  Haut  bedecktes  nußgroßes,  schmerz¬ 
loses  Infiltrat. 

15.  September.  Die  Maculae  sind  im  allgemeinen 
blässer,  das  Schnarchen  hat  nachgelassen.  Das  Jnfiltrai 
in  der  Glutäalgegend  unverändert,  an  der  Injektionsstelle  eine 
hanfkorngroße  Pustel. 

17.  September:  Gutes  Allgemeinbefinden,  trinkt  gut,  die 
Maculae  blassen  noch  mehr  ab.  Die  Anämie  wird  besser. 

27.  September:  Die  Stellen  der  Maculae  sind  noch  sichtbar! 
In  der  linken  Glutäalregion  ein  haselnußgroßes,  nicht  schmerz 
haftes  Infiltrat. 

4.  Oktober:  Status  idem.  Neuerliche  Arsenobenzol 
injektion  ambulanter  (004  neutrale  Emulsion,  Menge  der 
Flüssigkeit  7  cm3,  intramuskulär  in  die  rechte  Hinterbacke). 

10.  Oktober:  An  der  ersten  Injektionsstelle  ein  bohnen] 
großes,  an  der  zweiten  ein  nußgroßes,  nicht  schmerzhaftes  In¬ 
filtrat.  Allgemeinzustand  einwandfrei,  trinkt  gut.  Spuren  dei 
Maculae  im  Gesicht. 

18.  Oktober:  Die  Stellen  der  Maculae  bloß  zu  vermuten 
B  1  ü  h  e  n  des  Aussehen.  In  der  rechten  Glutäalgegend  haselj 
nußgroßes,  in  der  linken  kaum  bohnengroßes  Infiltrat.  Gewiclu 
4780  g. 

1.  November:  In  der  rechten  Glutäalgegend  Abszeß  bi  1 
dung,  Eitersickern.  Anämie  auffallend  gebessert.  Kein  Glam; 
an  den  Sohlen,  keine  Spur  von  Lues.  Gewicht  5200  g. 

3.  November:  Wassermannsche  Reaktion  — .  Körper 
gewicht  5200  g. 

16.  November:  In  den  beiden  Glutäalgegenden  schlaff  a 
Schwellung,  die  Haut  über  derselben  ein  wenig  livid,  rötlich 
Unterer  Rand  der  Milz  kaum’  zu  palpieren.  Hautfarbe  lebhaft! 
Gewicht  5400  g. 

4.  Dezember:  Körpergewicht  5850  g.  Auf  beiden  Glütäal 
regionen  mäßige  Retraktion. 

21.  Dezember:  Körpergewicht  6200  g.  Mäßige  Kraniotabesj 
Unterer  Rand  der  Milz  kaum  tastbar.  Die  Haut  ist  rein. 

6.  Januar  1911:  In  den  Glutäalgegenden  mäßiges  Sickerrj 
dünnen  Eiters.  Seit  einigen  Tagen  unruhig.  Auf  den  Sohlen 
einige  blasse,  kaum  wahrnehmbare,  fahl-bräun 
liehe  Flecken.  Gewicht  6600  g. 

13.  Januar:  Wassermannsche  Reaktion  +.  Auf  deij 
Sohlen  sind  die  fahlen  bräunlichen  Flecken  auf 
fallender.  Gewicht  6750  g. 

27.  Januar:  Rezidive  zweifellos:  reichlichere,  pa 
pulo-m  akulöse  Eruption  auf  den  unteren  E xtrenrij 
täten.  Körpergewicht  7020  g.  Kalomel. 

Fall  V.  E.  B.,  acht  Wochen  alt,  wurde  am  11.  Septembe 
1910  aufgenommen.  Sechstes  Kind.  Vier  Abortus,  das  fünft 
Kind  starb  mit  drei  Wochen.  Bei  dem  eingebrachten  Säusln) 
bestehen  die  Luessymptome  seit  der  zweiten  Lebenswoche.  Wir« 
gestillt. 

Schwach  entwickelt  und  genährt,  Körpergewicht  3320  g 
Reichliche  papulöse  Eruption  auf  beiden  Glutäa 
g  egenden,  welche  sich  auf  den  Schenkel  erstreck 
(die  Papeln  sind  stellenweise  exulzeriert) ;  die  Sohlen  habe: 
einen  starken  speckigen  Glanz.  Desquamation.  Au 
der  behaarten  Kopfhaut  ausgebreitete  starke  Seborrhoe.  Stark 
Desquamation  auf  dem  Rumpfe  und  den  Extremitäten.  Die  Har 
ist  blaß  rosafarben,  mit  einem  Stich  ins  Fahle.  Auf  den  Lippe 
einige  Rhagaden.  Schnauben,  Nasenrespiration  ausgesprochen  b< 
hindert.  Unterer  freier  Rand  der  Milz  gut  palpierbar,  Wasse 
mann  sehe  Reaktion:  +;  bei  der  Mutter:  H — I — h 

13.  September,  um  10  Uhr  vormittags:  0-035  g  Ar  sent 
benz  ol  in  jektion  (neutrale  Suspension,  Menge  der  Flüssg 
keit  7  cm3,  Injektion  subkutan  in  der  unteren  Partie  der  linke 
Thoraxhälfte). 


587 


WIENER  KLINISCHE 


In^den  folgenden  24  Stunden  Maximaltemperatur  im  Mast- 
arm  <37-8°  0,  welche  alsbald  zur  Norm  zurückkehrt,  um  nicht 
|  Jeder  zur  Fieberhöhe  anzusteigen. 

14.  September:  Injektionsstelle  vollständig  reaktionslos,  Sym- 
tome  unverändert. 

15.  September:  Allgemeinbefinden  gut,  trinkt  gut.  Die 
Oberfläche  der  ex  u  1  z  er  ier  ten  Papeln  in  der  Glu- 

Lalregion  schön  rotfarben,  der  speckige  Grund  hat 
ich  überall  gereinigt,  beginnende  Epithelisierung, 
u  der  Injektionsstelle  zweihellerstückgroßes,  ein  wenig  cntzün- 
etes  In  filtrat.  Das  Schn  au  be  n  h  a  t  au  f  g  e  h  ö  r  t,  d  i  e  A  t  m  u  n  g 
urch  die  Nase  ist  frei. 

20.  September:  Die  Papeln  der  Glu  täal  region  sind 
ollständig  abgeflacht,  haben  eher  makulösen  Cha- 
akter  und  sind  bedeutend  blässer. 

27.  September:  An  der  Injektionsstelle  das  Infiltrat  in  Rück- 
ildung  begriffen,  in  der  Glutäalgegend  das  Exanthem  tvie  oben. 

11.  Oktober:  Infiltrat  an  der  Injektionsstelle'  spurlos  ver- 
hwunden.  Die  Stelle  der  Papeln  bloß  angedeutet.  All¬ 
meinbefinden  einwandfrei,  trinkt  gut.  Gewichtszunahme  binnen 
ier  Wochen  600  g. 

18.  Oktober:  Keine  Spur  des  Ausschlages.  Kein  speckiger 
lanz  der  Sohlen.  Körpergewicht  4  kg.  Wa  ss  er  mann  sehe 

eaktion  :  +  — . 

6.  November:  Körpergewicht  4200  g.  Befinden  ganz  normal. 

28.  November:  Gewicht  4930  g.  Die  Sohlen  sind  ein  wenig 
Duzend,  Milz  gut  palpierbar.  Blässe  der  Haut  besteht  noch. 

7.  Dezember :  Wasser  m  a  n  n  sehe  Reaktion :  -j-  — . 

22.  Dezember:  Milz  noch  gut  zu  tasten.  Gesicht  blaß.  Re¬ 
icht  5400  g. 

4.  Januar  1911 :  Status  normal. 

12.  März  1911:  Was  sermannsche  Reaktion:  — . 

Fall  VI.  F.  P.,  sieben  Wochen  alt.  Aufgenommen  am 
Oktober.  2.  Kind.  Das  1.  Kind  wurde  am  normalen  Ende  der 
(  hwangerschaft  geboren,  starb  im  Alter  von  vier  Wochen  angeb- 
eh  an  Glottiskrampf.  Gut  entwickelt  und  genährt.  Wird  von 
jer  Mutter  gestillt.  Körpergewicht  4700  g.  Haut  auffallend  anä¬ 
misch.  Auf  dem  Gesicht  und  den  Extremitäten,  haupt¬ 
pich  lieh  auf  Hand-  und  Fuß  rücken,  ein  reichliches, 
ap  u  1  o -m  aku  1  ö  ses  Exanthem,  ln  der  Inguinal  beuge 
nd  Sk r  o  t a  1  f  al  te  e x u  1  z  e  r i er  t e  Pap  eln.  Sohlen  stark  glän- 
’rid.  Auf  den  Nägeln  der  Finger  und  Zehen  mäßige  Onycho- 
nexis.  Atmung  schnaubend,  reichlicher  seröser  Ausfluß  aus  der 
ase.  Stark  vergrößerte  Milz.  Wassermann  sehe  Reaktion: 
"T+  (bei  der  Mutter  Wasser  mann  sehe  Reaktion:  -t—j-). 

4.  Oktober:  Injektion  von  004  g  A  rs  eno  benzol  (neutrale 
mulsion  in  der  Gesamtmenge  von  7  cm3,  intramuskulär  in  die 
iikr  Hinterbacke). 

In  den  der  Injektion  folgenden  24  Stunden  Maximum  der 
emperatur,  acht  Stunden  nach  der  Injektion,  im  Mastdarm  39-1°  C. 
m  nächsten  Tag  ist  die  Temperatur  im  Mastdarm  normal. 

6.  Oktober:  An  der  Injektionsstelle  ein  kleinapfelgroßes, 
stes,  schmerzhaftes  Infiltrat,  über  welchem  die  Haut  ein  wenig 
llzündet  ist.  Ausfluß  aus  der  Nase  besteht  noch.  Das  papulo- 
lakulöse  Exanthem  ist  etwas  blässer.  Die  exulz'erierten  Pa  nein 
t  InguinaTfalte  reinigen  sich  ein  wenig. 

7.  Oktober:  Das  Infiltrat  in  der  Glutäalgegend  ist  kindsfaust- 
oß,  schmerzhaft;  die  Haut  über  demselben  wenig  entzündet, 
as  papulo- makulöse  Exanthem  blaßt  weiter  ab.  Die  Papeln 
I'  Inguinalgegend  sind  abgeflacht,  trocken.  Der  Ausfluß  aus 
i'  Nase  hat  aufgehört.  Die  Nasenrespiration  ist  frei.  Das  A 11  - 
meinbefinden  ist  gut.  Körpergewicht  5050  g. 

9.  Oktober:  Die  Schwellung  der  Glutäalgegend  beginnt  zu- 
•i'kx.ugehen,  ist  nicht,  mehr  schmerzhaft. 

13.  Oktober:  Die  Schwellung  der  Glutäalgegend  beginnt 
i  rück  zu  gehen,  ist  nicht  mehr  schmerzhaft. 

15.  Oktober:  Das  Infiltrat  der  Glutäalgegend  ist  haselnußgroß, 
'n  fester  Konsistenz.  Das  papulo -makulöse  Exanthem  wird 
'ii'  mehr  durch  blasse  Pigmentflächen  angedeutet.  Die  Sohlen 
ml  nicht  mehr  glänzend,  die  Hautblässe  hat  bedeutend  nach- 
lassen.  Das  Allgemeinbefinden  ist  einwandfrei.  Körpergewicht 

100  g. 

24.  Oktober:  Die  Schwellung  in  der  Glutäalgegend  kaum 
hnengroß,  dem  makulo  -  papulösen  Ausschlag  entsprechend  blaß- 
4e  Verfärbungen.  Wassermann  sehe  Reaktion  :  -j — | — h 

28.  Oktober:  Das  Exanthem  zeigt  denselben  Status,  tves- 
i'gen  eine  neuerliche  Arseriobenzoli n j ek t i o n  vorgenom - 
mn  wird  (0-05  g,  Gesamtmenge  der  neutralen  Emulsion  6-5  cm3, 
i  die  rechte  Hinterbacke)  u.  zw.  diesmal  ambulant. 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


30.  Oktober :  An  der  Injektionsstelle  eine  kaum  haselnuß- 
gioße  Schwellung.  Das  Exanthem  zeigt  keine  Veränderung 
Körpergewicht  5500  g.  Allgemeinbefinden  gut. 

5.  November:  Schwellung  in  der  rechten  Glutäalgegend  kaum 
hasclnußgroß,  nicht  schmerzhaft;  in  der  linken  Glutäalgegend 
ander  Stelle  des  Exanthems  eine  fahlbraune  Pigmentation. 
Körpergewicht  5600  g. 

Fall  VII.  St.  L.,  sechs  Wochen  alt,  wurde  am  11.  Ok¬ 
tober  1910  aufgenommen.  Drittes  Kind,  kam  am  normalen  Ende 
der  Schwangerschaft  zur  Welt.  Das  zweite  Kind  lebt  und  ist 
gesund,  das  erste  starb  plötzlich  im  Alter  von  neun  Monaten. 
Todesursache  unbekannt.  Das  Kind  ist  seit  zwei  Wochen  krank. 
Es  wird  gestillt. 

Gut  genährt,  gut  entwickelt.  Atmung  stark  schnau¬ 
bend.  Aus  der  Na,se  serös  -  blutiger  Ausfluß.  Auf  der  Ober¬ 
lippe,  in  der  Gegend  des  Filtrums,  ein  etwa  bohnen¬ 
großes,  speckig  aussehendes,  schar  fr  an  d  i  g  es  Ge¬ 
schwür,  dessen  Grund  nicht  infiltriert  ist.  In  dem  rechten 
und  linken  Mundwinkel  je  ein  Geschwür  von  dem¬ 
selben  C  h  a  r  a  k  t  e  r,  n  u  r  von  Lins  e  n  g  r  ö  ß  e.  A  u  f  j  e  d  e  m 
Handrücken  je  zwei  rostbraune  blasse  Maculae.  Die 
morschen  Nägel  überragen  die  Fingerspitzen,  an  den  gesamten 
Fingern  Paronychie,  die  Geschwüre  mit  schmutzigem 
Belage.  Die  erste  Phalanx  des  linken  Zeige-  und  Mittelfingers 
zeigt  in  geringem  Grade  das  Bild  der  Spina  ventosa.  Die 
Sohlen  zeigen  starken  speckigen  Glanz  und  Desqua¬ 
mation  und  sind  ein  wenig  infiltriert.  An  der  Kuppe  der  letzten 
Phalanx  beider  großen  Zehen  von  Epithel  entblößte  Stellen  mit 
mißfarbigem  Beläge.  Leber  und  Milz  deutlich  vergrößert. 
W  a  s  se  r  m  an  n  sehe  Reaktion:  bei  dem  Säugling:  — ,  bei  der 
Mutter  gleichfalls :  — .  Das  Körpergewicht  4230  g.  Das  Kind 
fiebert.  Temperatur  im  Mastdarm  38-6  bis  39-2°  C. 

12.  Oktober:  Temperatur  im  Mastdarm,  nachmittags  4  Uhr, 
38-2° C.  Trotz  des  Fiebers  Injektion  von  0-04  Ars e  n obenz  ol 
(7  cm-:’  neutrale  Emulsion,  intramuskulär  in  die  linke  Hinterbacke). 

In  den  folgenden  24  Stunden  ist  die  Temperatur  im  Mast¬ 
darm  39-8°  C,  sinkt  aber  alsbald  und  fällt  unter  das  normale 
Niveau. 

14.  Oktober:  An  der  Injektionsstelle  kleine  kindsfaustgroße 
Schwellung  von  fester  Konsistenz,  über  welcher  die  Haut  keine 
Verfärbung  zeigt.  Allgemeinbefinden  gut,  kein  Fieber. 

17.  Oktober:  Die  Paronychie  ist  an  allen  Fingern 
bedeutend  gebessert.  Die  m i  ß f ar  b  i g  e n  Geschwüre  a  n 
den  Lippen  und  großen  Zehen  reinigen  sich  auf¬ 
fallend  schnell.  Das  Infiltrat  in  der  Glutäalgegend  ist  nu߬ 
groß,  das  Allgemeinbefinden  gut,  kein  Fieber. 

25.  Oktober:  An  der  Injektionsstelle  kleine  nußgroße  Infil¬ 
tration.  über  welcher  sich  eine  bohnengroße  Nekrose  de¬ 
markiert  hat.  Die  Paronchien  sind  geheilt,  die  Ge¬ 
schwüre  an  der  Lippe  haben  sich  vollständig  ge- 
r einigt  und  granulieren.  Der  speckige  Glanz  der  Sohlen 
ist  geschwunden,  das  Allgemeinbefinden  gut.  Körpergewicht  4325  g. 

28.  November:  Körpergewicht  4760  g.  In  der  linken  Glutäal- 
gend  ist  das  nekrotische  Gewebsstück  abgestoßen.  Tiefgreifender, 
aber  nicht  sehr  ausgebreiteter  Hohlgang,  dessen  Ränder  noch  ein 
wenig  infiltriert  sind.  Kein  Sekret.  Milz  noch  ein  wenig  palpierbar. 
Die  Nägel  sind  frei,  die  gedunsenen  Phalangen  schwellen  sicht¬ 
lich  ab. 

Fall  VIII.  I.  F.,  vier  Monate  alt,  aufgenommen  am  21.  Ok¬ 
tober.  Der  Vater  wurde  gegen  Lues  behandelt.  An  dem  Kinde  be¬ 
steht  das  Exanthem  seit  Wochen.  Gut  entwickelt  und  genährt, 
etwas  blaß.  Körpergewicht  5300  g.  Erstes  Kind,  wird  von  der 
Mutter  genährt. 

Seborrhoen  superciliorum.  Behinderte  Nasenrespiration. 
Seröser  Ausfluß  aus  der  Nase.  An  d  e  r  O  berl  i  p  p  e  m  eh¬ 
ret1  e  flache,  l  eicht  bluten  de  Rhagad  en.  Auf  den  Glu¬ 
täon  und  den  unteren  Extremitäten  mehrere,  rost¬ 
braune,  linsen-  bis  bohlten  große  Flecken,  besonders 
zahlreich  auf  der  rechten  Hinterbacke,  s  t  e  1 1  en w  e  i  s  e 
annuläre  Roseolen.  Speckiger  Glanz  der  Handteller  und 
der  Sohlen  mit  mäßiger  Desquamation,  an  den  Nägeln  der  Zehen 
starke  Onvchorhexis.  Milz  deutlich  vergrößert.  Wassermann- 
schr  Reaktion:  Bid  Mutter  und  Kind  -| — \ — K 

21.  Oktober:  0-054  g  A  rsenobenz  olinjekti  o  n  (mittels 
Salzsäure  neutralisierte  Emulsion  in  der  Menge  von  7  cm3  in  die 
linke  Hinterbacke). 

In  den  der  Injektion  folgenden  24  Stunden,  sechs  Stunden 
nach  der  Injektion  Temperatur  im  Mastdarm  38-1°  C,  welche  zehn 
Stunden  nach  der  Injektion  auf  39-3°  0  ansteigt.  Tn  den  nächst¬ 
folgenden  24  Stunden  ist  das  Kind  schon  fieberfrei. 


588 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  17 


23.  Oktober :  Gutes  Allgemeinbefinden.  Der  Ausfluß  aus 
der  Nase  hat  aufgehört,  die  Rhagade  an  der  Oberlippe  im  Schwin¬ 
den  begriffen.  Das  fleckige  Exanthem  ist  überall  ab  geblaßt. 
An  der  Injektionsstelle  kleinapfelgroße  und  sehr  schmerzhafte 
Schwellung,  über  welcher  die  Haut  gerötet  ist. 

24.  Oktober:  Um  die  Injektionsstelle  eine  runde  Blase  von 
Kronengröße  mit  dunklem  Inhalt. 

25.  Oktober:  Gutes  Allgemeinbefinden,  dauernd  fieberfrei. 
Nasenrespiration  vollständig  frei.  Ausfluß  aus  der  Nase  hat  auf¬ 
gehört.  Die  Rhagaden  an  der  Lippe  sind  beinahe  geschwunden. 
Das  fleckige  Exanthem  ist  ganz  abgeblaßt,  kaum  pig¬ 
mentiert.  Die  Infiltration  der  Sohlen  zurückgegangen,  kaum 
etwas  Glanz.  Auf  der  Glutäalregion  silberguldengroße,  scharf 
umschriebene,  bräunlichschwarze  Nekrose;  beginnende  Ab¬ 
stoßung  (siehe  Fig.  2). 


Fig.  2. 

Entlassung  aus  dem  Spital;  wird  der  ambulanten  Pflege 
zugewiesen. 

29.  Oktober :  Erysipel  der  linken  Gesichtshälfte,  welches 
von  einer  retroaurikulären  Intertrigo  seinen  Ausgang  nahm.  Mä¬ 
ßiges  Fieber,  Allgemeinbefinden  wenig  gestört.  Glutäalnekrose 
unverändert.  Um  den  nekrotischen  Herd  keine  entzündlichen  Er¬ 
scheinungen. 

31.  Oktober:  Das  Erysipel  im  Rückgang  begriffen,  an  den 
Stellen  des  luetischen  Exanthems  sehr  blasse  Pigmentflecken. 
Nekrotische  Hautpartie  der  Glutäi  abgestoßen,  die  Ränder  etwas 
unterminiert. 

5.  November:  Gewicht  5450  g.  Erysipel  geschwunden.  All¬ 
gemeinbefinden  gut.  Die  die  Stellen  der  Maculae  einnehmende 
Pigmentation  beinahe  vollständig  geschwunden,  Haut  lebhaft  rosa¬ 
farben.  An  der  Glutäalgegend  keine  Veränderung. 

12.  November:  Körpergewicht  5680  g.  Allgemeinbefinden  ein¬ 
wandfrei.  Die  Glutäalwunde  granuliert. 

25.  November:  Körpergewicht  6200  g.  Haut  vollständig  rein. 
Wässer m an n sehe  Reaktion:  0. 

20.  Dezember:  Heilung.  Gewicht  6450  g.  An  Stelle  der  glu- 
täalen  Infiltration  narbige  trichterförmige  Einziehung. 

13.  Februar  1911 :  Blühendes  Aussehen,  Haut  vollständig 
rein.  Milz  kaum  zu  tasten.  Körpergewicht  7200  g. 

Fall  IX.  I.  B.,  214  Monate  alt,  aufgenommen  am  28.  Ok¬ 
tober  1910.  Das  erste  Kind  wurde  zum  siebenten  Monate  ge¬ 
boren,  das  zweite  und  dritte  Kind  am  normalen  Ende  der  Schwan¬ 
gerschaft.  Beide  gingen  im  Alter  von  zwei,  resp.  18  Monaten 
an  Lues  zugrunde.  Bei  dem  aufgenommenen  Kinde  bestehen  die 
luetischen  Symptome  seit  drei  Wochen.  Schwach  entwickeltes, 
gut  genährtes  Kind.  Haut  blaß.  Auf  dem  Gesichte,  dem 
Rumpfe  und  den  Extremitäten  ein  ziemlich  reich¬ 
liches,  rostbraunes,  papulo-makulöses  Exanthem;  At¬ 
mung  schnaubend,  reichlicher,  seröser,  ätzender 
Ausfluß  aus  der  Nase.  Auf  der  Oberlippe  leicht  blu¬ 
tende  Rhagade  mit  etwas  speckigem  Grund.  Mikropoly- 
adenie.  Größerer  Milztumor.  Körpergewicht  4590  g.  Wird  von 
der  Mutter  gestillt.  Wasser  mann  sehe  Reaktion  bei  dem  Säug¬ 
ling  :  -H — b ;  bei  der  Mutter :  +. 

An  dem  Tage  der  Aufnahme  0-05  g  A  r  s  e  n  0  b  e n  z  o  1  (6V2  cm3 
neutrale  Emulsion,  intramuskulär  in  die  linke  Hinterbacke). 

In  den  folgenden  24  Stunden  Maximaltemperatur,  zwölf 
Stunden  nach  der  Injektion,  38-8°  0,  in  den  darauffolgenden 
24  Stunden  fieberfrei. 


29.  Oktober:  An  der  Injektionsstelle  haselnußgroße,  von  nor¬ 
maler  Haut  bedeckte,  nicht  schmerzhafte  Schwellung. 

30.  Oktober:  Die  Glutäalschwellung  nußgroß,  etwas  empfind¬ 
lich.  Ausfluß  aus  der  Nase  hat  aufgehört.  Die  Papeln 
sind  flacher,  die  Maculae  bedeutend  blässer. 

31.  Oktober:  Glutäalschwellung  etwas  mehr  als  nußgroß,  von 
normaler  Haut  bedeckt,  schmerzhaft.  Das  papulo-makulöse 
Exanthem  im  Schwinden  begriffen.  Das  Allgemein 
befinden  gut. 

1.  November:  Glutäalschwellung  unverändert,  das  Exan¬ 
them  nur  schwach  sichtbar.  Auf  Bitten  der  Mutter  aus  dem 
Krankenhause  entlassen.  Weitere  Beobachtung  ambulant. 

4.  November:  An  der  Stelle  des  Exanthems  kaum  sicht¬ 
bare,  blasse,  fahlbräunliche  Pigmentflecken.  Glutäalschwellune 
kaum  haselnußgroß,  nicht  empfindlich.  Mäßige  Bronchitis.  Körper- 
geAvicht  4970  g. 

21.  November:  Glutäalschwellung  kaum  palpierbar.  Auf  der' 
Haut  noch  sehr  blasse  Pigmentflecken  zu  sehen.  Milz  kaum  zu 
tasten.  Körpergewicht  4930  g. 

30.  November:  Pigmentflecken  bloß  angedeutet.  Glutäal- 
schwellung  kaum  bohnengroß.  Körpergewicht  5030  g. 

20.  Dezember:  Heilung.  Was  sermannsche  Reaktion:  - 

Fall  X.  J.  H.,  zwei  Monate  alt,  aufgenommen  am  28.  Ok 
tober  1910.  Erstes  Kind,  wurde  am  normalen  Ende  der  Schwanger 
schaff  geboren.  Der  Vater  wurde  längere  Zeit  gegen  Lues  be¬ 
handelt.  Das  Exanthem  ist  an  dem  Kinde  seit  zwei  Wochen 
sichtbar. 

Gut  -entwickelt,  ziemlich  gut  genährt.  Mutterbrust.  Körper¬ 
gewicht  4900  g.  Fahlblasse  Haut,  behinderte  Nasen-I 
atmung,  reichlicher  Nasenfluß.  Auf  dem  Gesichte) 
dem  Rumpfe  und  den  Extremitäten  ein  reichliches) 
dunkelf  arbiges,  makulöses  Exanthem.  Milz  gut  palpier 
bar.  Sohlen  infiltriert,  speckig  glänzend,  desquamie- 
rend.  Was  sermannsche  Reaktion:  Bei  der  Mutter  ++;  bei 
dem  Säugling:  4"! — h 

Noch  am  Tage  der  Aufnahme  (28.  Oktober)  Arsenobenzol 
injektion  (0-05  g  in  6-5  cm3  Emulsion  intramuskulär  in  die  link- 
Hinterbacke).  In  den  folgenden  24  Stunden  ist  die  Temperatur! 
im  Mstdarm,  zwölf  Stunden  nach  der  Injektion  38-7°  C.  In  den 
darauffolgenden  24  Stunden  ist  die  Temperatur  im  Mast  dann! 
schon  normal. 

29.  Oktober:  An  der  Injektionsstelle  haselnußgroßes,  niehl 
empfindliches,  von  normaler  Haut  bedecktes  Infiltrat.  Nasen 
floß  bedeutend  geringer.  Allgemeinbefinden  einwandfrei! 

30.  Oktober :  Glutäalinfiltrat  etwas  größer,  mäßig  schmerz 
haft,  Nasenfluß  hat  vollständig  aufgehört.  Das  Exanj 
them  blaßt  ab. 

2.  November :  Glutäalschwellung  haselnußgroß,  nicht 

schmerzhaft.  Das  Exanthem  ist  auffallend  blasser.  Der  Glanz 
an  den  Sohlen  hat  wesentlich  nachgelassen.  Die  Desquamation] 
ist  geringer.  Das  Allgemeinbefinden  ist  gut,  trinkt  gut.  Körper 
gewicht  4850  g. 

Wird  aus  dem  Krankenhause  entlassen  und  weiter  ambulant! 


beobachtet.  .1 

7.  November:  Dyspeptische  Stühle,  auch  ist  das  Allgemein 
befinden  ein  wenig  gestört.  Ist  bei  der  Vorstellung  fieberfrei: 
Die  Glutäalschwellung  ist  haselnußgroß,  nicht  schmerzhaft.  Dar 
Exanthem  ist  bloß  durch  sehr  blasse  Pigmentf lecke) 
angedeutet. 

10.  November:  Fieber;  Unruhe.  Auf  dem  Scheitel  Erysipel 
sonst,  ist  der  Zustand  unverändert. 

12.  November:  Glutäalinfiltrat  ist  etwas  mehr  als  höhnen 
groß.  Den  Maculae  entsprechend  sehr  blasse  Pigmentation.  Ery 
sip-el  etwas  verbreitert,  jedoch  auf  den  Kopf  beschränkt. 

16.  November:  Das  Erysipel  hat  sich  über  den  Nacken  und 
den  oberen  Teil  des  Rumpfes  ausgebreitet;  luetische  Symptom 
gänzlich  geschwunden.  Wässerige  Stühle,  Verfall. 

17.  November :  Exitus  letalis. 


Aufgenommen 


an 


O.,  sechs  Monate  alt. 

Erstes  Kind  wurde  mit  sieben  Monaten  ge 
der  ersten  Lebenswoche  gegen  Lues  be 


Fall  XL  R. 

3.  November  1910. 
boren  und  schon  in 
handelt. 

Mäßig  entwickelt  und  gut  genährt.  Körpergewicht  6500  ß 
Mäßiger  Hydrocephalus  internus  congenitus  (SchädelumtaiV- 
42  cm,  Brustumfang  41-5  cm).  Ausgesprochene  Facies  lue 
tica,  blasse,  fahlbräunliche  Hautfarbe. 

Avurzel  etwas  eingesunken.  Leber  und  Milz  vergrößert 
Glanz  der  Sohlen.  W  a  s  s  e  rm  an  n  sehe  Reaktion  :  -| 
an  der  Mutterbrust  genährt. 


Win 


Nr.  17 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


3.  November:  Injektion  von  0-05  g  A  rseno  benzol  (neu¬ 
trale  Emulsion  in  der  Gesamtmenge  von  7  cm3,  intramuskulär, 
in  die  rechte  Hinterbacke). 

Am  nächsten  Tage  Maxim  altem  peratur  im  Mastdarm  38°  t', 
acht  Stunden  nach  der  Injektion. 

5.  November:  Nußgroßes  Infiltrat  an  der  Injektionsstelle, 
die  Haut  über  demselben  normal.  Allgemeinbefinden  gut,  trinkt 
gut.  Lumbalpunktion :  25  cm3  wasserklarer  Liquor  cerebrospinalis 
bei  starkem  Druck. 

7.  November:  Das  glutäale  Infiltrat  ist  etwas  stärker,  kaum 
empfindlich.  Das  Kind  ist  lebhaft,  die  Gesichtsfarbe 
etwas  frischer,  der  Glanz  an  den  Sohlen  hat  nach¬ 
gelassen. 

9.  November:  Körpergewicht  6600  g.  Das  glutäale  Infiltrat 
kleiiuiußgroß,  nicht  schmerzhaft. 

20.  Februar  1911:  Was  ser  man  n  sehe  Reaktion: 

Frisches  Aussehen,  lebhaft. 

Fall  XII.  M.  K.,  sieben  Monate  alt.  Auf  genommen  am 
3.  November  1910,  zehntes  Kind.  Die  zweite  Schwangerschaft 
brachte  totgeborone  Zwillinge.  Wurde  schon  im  Alter  von  einigen 
Wochen  gegen  Lues  behandelt. 

Mäßig  entwickelt  und  gut  genährt.  Körpergewicht  6600  g. 
Fm  den  Anus  ausgebreitete,  stark  vorragende,  ex- 
ulzerierte  breite  Kondylome  von  speckigem  Aus¬ 
sehen.  Auf  der  Innenfläche  der  linken  großen  Scham¬ 
lippe  2  1  i n sen g r o ß e,  speckig  aussehende  Kondylome. 
Etwas  mehr  als  linsengroßes,  stark  nässendes  Kon¬ 
dylom  an  der  linken  Inguinalfalte.  Nasenwurzel  etwas 
ingesunken.  Heisere  Stimme,  Haut  blaß.  Unterer  Milzrand  nicht 
palpierbar.  Mu tterbrust.  W  a  s  s  e  r  m  a  n  n  sehe  Reaktion  :  -f — | — \- ; 
bei  der  Mutter  — . 

3.  November:  Injektion  von  0-05  g  Arsenobenzol  (neutrale 
Emulsion  in  der  Gesamtmenge  von  7  cm3  intramuskulär  in  die 
linke  Hinterbacke).  In  den  folgenden  24  Stunden  keine  be¬ 
deutendere  Temperaturerhöhung. 

5.  November:  Die  Kondylome  nässen  im  allgemeinen  we¬ 
niger,  ihre  Oberfläche  hat  sich  überall  gereinigt.  An  der  In- 
jektionsstelle  etwa  nußgroßes,  kaum  empfindliches  Infiltrat. 

7.  November:  Die  Kondylome  werden  kleiner, 
[lachen  ab,  ihre  Oberfläche  ist  vollständig  gerei¬ 
nigt,  fortschreitende  Epithelisierung.  Glutäales  In¬ 
filtrat  größer,  konsistenter,  ein  wenig  schmerzhaft. 

8.  November:  Körpergewicht:  6709  g.  Allgemeinbefinden  gut, 
trinkt  gut.  Die  Kondylome  flachen  weiter  ab,  die  Epithelisierung 
ist  vollständig. 

27.  Januar  191 1  :  Heilung.  W asser m a n n sehe  Reaktion 
negativ,  Körpergewicht  7030  g. 

3.  März  1911  :  R  ez  idive  zweifellos.  Auf  der  linken  Scham¬ 
lippe  eine  linsengroße  nässende  Papel. 

Fal  l  XIII.  J.  M.,  drei  Monate  alt,  wurde  am  10.  November 
1910  aufgenommen.  Erstes  Kind,  wurde  mit  acht  Monaten  geboren. 
Luetisches  Exanthem  seit  einem  Monate  sichtbar.  Rei  der  stil¬ 
lenden  Mutter  manifeste  Lues  (Exanthema  maculosum). 

Ziemlich  gut  entwickelt  und  genährt;  Körpergewicht  4300  g. 
Hautfarbe  von  fahler  Blässe.  Ueber  der  ganzen  Haut,  be¬ 
sonders  aber  auf  denGlutäen  und  den  unteren  Glied¬ 
maßen  reichlich  dunkles,  rotbraunes,  p apu  1  o- maku¬ 
löses  Exanthem.  Sohlen  glänzend,  Milz  gut  palpierbar. 
Wasser  mann  sehe  Reaktion:  H — | — 

Hei  der  Mutter  über  den  g  a  n  z  e  n  K  ö  r  p  er  z  e  r  streut 
I)  lasse  Maculae.  Wasser  man  nsche  Reaktion:  -f — ! — H 

11.  November:  Bei  der  Mutter  0-50  g  Arsenobenzol- 
injektion  (neutrale  Emulsion  in  der  Gesamtmenge  von  7  cm3, 
Injektion  in  der  interskapularen  Region). 

12.  November:  Die  Injektionsstelle  zeigt  bei  der  Mutter 
kaum  irgendwelche  Reaktion.  Das  Kind  ist  ruhig,  sein  Ausschlag 
in  verändert. 

13.  November :  Injektionsstelle  reaktionslos.  B  e  i  d  e  m  S  ä  u  g- 
ling,  den  einzelnen  Flecken  entsurechend,  deut¬ 
liche  He  rxh  ei  morsche  Reaktion  wahrnehmbar.  Mäßige 
Oyspepsie.  Das  Exanthem  der  Mutter  blässer. 

14.  November:  Bei  dem  Säugling  hält  die  Horx- 
heimersche  Reaktion  noch  an.  Dyspepsie  auf  Regelung 
les  Stillens  gebessert.  Injektionsstelle  der  Mutter  kaum  empfind¬ 
lich.  Exanthem  der  Mutter  auffallend  blässer. 

15.  November.  Die  Her xheimersche  Reaktion  ist  bei 
hm  Säugling  geschwunden,  das  Exanthem  ist  gleich  wie  an  dem 
läge  der  Aufnahme.  Dyspepsie  besteht  noch  in  geringem  Grade. 
Mlgemeinbefinden  gut. 

18.  November:  Bei  der  Mutter  sind  die  Maculae  beinahe 
-'änzlich  geschwunden;  die  Injektionsstelle  ist  kaum  empfind¬ 


lich.  Das  Exanthem  des  Säuglings  ist  unverändert.  Körper¬ 
gewicht  :  4400  g. 

24.  November:  Die  Maculae  der  Mutter  sind  spurlos  ver¬ 
schwunden.  Das  Exanthem  des  Säuglings  ist  nicht  abgeblaßt. 
0-045  g  Ar  so  nobenzolinjektion  bei  dem  Säugling  (neu¬ 
trale  Emulsion,  Gesamtmenge  7  cm3  intramuskulär  in  die  linke 
Hinterbacke).  ’ 

ln  den  folgenden  24  Stunden  keine  nennenswerte  LVmperatur- 
erhöhung.  (Maximum  im  Mastdarm  37-9°  C.) 

25.  November:  Injektionsstelle  etwas  schmerzhaft,  keine 
Entzündung,  trinkt  gut. 

26.  November:  An  der  Injektionsstelle  nußgroßes,  ein  wenig 
entzündetes  Infiltrat.  Exanthem  etwas  blässer.  Körpergewicht 
4500  g. 

27.  November:  Glutäales  Infiltrat  weniger  entzündet.  Das 
Exanthem  beginnt  stärker  abzubl'assen. 

3.  Dezember:  Glutäales  Infiltrat,  kaum  hasolnußgroß,  nicht 
schmerzhaft.  An  der  Stelle  des  Exanthems  Pigmentflecken  nur 
angedeutet.  Körpergewicht:  4550  g. 

19.  Dezember:  Glutäales  Infiltrat  unbedeutend,  Pigment¬ 
flecken  kaum  sichtbar.’  Körpergewicht  4950  g.  Wassermann- 
sehe  Reaktion:  +  — . 

28.  Dezember :  Körpergewicht  5000  g. 

24.  Januar  1941:  Haut  vollständig  rein,  blühendes  Aus¬ 
sehen,  Körpergewicht  5550  g.  Glutäales  Infiltrat  spurlos  ver¬ 
schwunden.  Wasser  m  a  n  n  sehe  Reaktion  :  -  . 

20.  Februar  1911:  Wassermann  sehe  Reaktion:  -(-  — . 

8.  März  1911 :  Zweifellose  Rezidive. 

(Siehe  umstehende  Tabelle.) 

Fall  XIV.  P.  S.,  zehn  Jahre  alt.  Aufgenommen  am  14.  Ok¬ 
tober  1910.  Zweites  Kind,  wurde  am  normalen  Ende  der  Schwan¬ 
gerschaft  geboren.  Ein  Abortus  ging  voran.  Das  dritte  Kind, 
eine  Frühgeburt,  lebte  fünf  Tage.  In  der  zweiten  Ehe  des  Vaters 
ein  Abortus.  Das  Augenleiden  besteht  angeblich  seit  zwei  Monaten ; 
zuerst  erkrankte  das  linke  und  dann  das  rechte  Auge. 

Schwach  entwickeltes,  schlecht  genährtes  anämisches  Mäd¬ 
chen  ;  Körpergewicht  25  kg.  Mikropolyaidenie.  Ausgesprochene 
Hutchinson  sehe  Zähne,  das  Gehör  etwas  herabge- 
s  e  t  z  t.  W  asser  m  a  n  n  sehe  Reaktion  :  -) — [ — |- ;  Pirquet  sehe  Re¬ 
aktion  :  — .  i 

Augenbefund.  Rechtes  Auge:  Bei  mäßiger  konjunk- 
tivaler  Vaskularisation  blaß  rosafarbige  ziliare  Injektion.  Aus 
den  tieferen  Gefäßen  dringen  einzelne  Schlingen  bloß  in  clem 
äußeren  oberen  Quadranten  in  das  Gewebe  der  Kornea,  welche 
ihrem  ganzen  Umfange,  aber  nicht  gleichmäßig  ge¬ 
trübt  ist.  Wie  an  Fig.  3a  zu  sehen,  ist  die  dem  unteren 
Kornearande  zunächst  befindliche  breite  gürtelförmige  Trübung 
am  gesättigtsten,  während  der  äußere  obere  Sektor,  wo  diel  pinsel¬ 
förmige  GefäßneubiMung  sichtbar  ist,  den  am  wenigsten  grauen 
Teil  bildet.  Die  Oberfläche  der  Kornea  ist  besonders  an  den 
stärker  infiltrierten  Stellen  gesprenkelt.  Die  Zeichnung  der 
Iris  ist  nicht  sichtbar,  die  Konturen  d e r  P u p i IT o 
sind  bloß  angedeutet.  V  =  zählt  Finger  auf  1  m. 


a  b 

Fig.  3. 


Linkes  Auge:  Bei  geringer  konjunktivaler  Injektion  sehr 
blasse,  ziliare  Vaskularisation  bloß  neben  dem  unteren  äußeren 
Kbrnearande.  Die  peripheren  Teile  der  Kornea  sind  glänzend 
und  vollständig  durchsichtig,  das  Zentrum  ist  ein  wenig  ge¬ 
sprenkelt  und  trübe.  Dem  entsprechend  scheint  auch  die  Pupille 
wolkig  trübe  durch.  Die  Zeichnung  der  Iris  ist  gut  sichtbar.  Die 
Tension  des  Auges  ist  normlaj.  V  =  zählt  Finger  auf  3  m.  Gefäß 
bildung  in  dem  Gewebe  der  Kornea  ist  nicht  wahrzunehmen. 
Das  KrankhedtsbiM  entspricht  auf  diesem  Auge  dein  Aufhcllungs- 
stadium  der  Keratitis  parenchymatosa. 

Auf  Atropin  reagieren  beide  Pupillen  nur  mit  mittlerer 
Erweiterung. 


59Q 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  17 


A.  Fälle  von  kongenitaler  Lues, 
b)  Lues  congenita  bei  Kindern  über  einem  Jahre. 


Nummer  J 

Name  und 
Alter, 

Körpergewicht 

Diagnose 

Wassermannsche 
Reaktion  vor  der 
Behandlung 

Salvarsan 

Wiederholung 
der  Injektion 

Ergebnis 

Bemerkung 

14 

Palma  Sz., 

10  Jahre  alt, 

25  kg 

Keratitis  parenchy- 
matosa 

20.  Sept.:  +++ 

21.  Sept.:  0-21  g. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 

— 

Genesung.  Wasser¬ 
mannsche  Reaktion 
nach  36  Tagen 
negativ 

Während  des  Verlaufes  eine 
milde  Rachendiphtherie.  Ge¬ 
wichtszunahme  in  6  Wochen 
1-5  kg 

15 

Andreas  K., 

10  Jahre  alt, 

27  kg 

Keratitis  parenchy- 
matosa 

3.  Sept.:  i — ) — 1— 

3.  Sept:  0-215  g. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 

27.  Sept.:  0-230  g. 
Neutrale  Emul¬ 
sion  (Wechsel¬ 
mann).  Intraglu¬ 
täal 

Bedeutende  Klärung 
der  Tr  Übung.  Wasser- 
mannsche  Reaktion 
nach  62  Tagen 
negativ 

Gewichtszunahme  in  zwei 
Monaten  3  kg 

16 

Karl  S., 

472  Jahre  alt, 
14  kg 

Keratitis  parenchy¬ 
matös  a 

2.  Okt.:  +  +  + 

1.  Okt.:  0-14  g. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 

21.  Okt..:  0  16  g. 
(Id.)  Mit  Salzsäure 
neutralisierte 
Emulsion.  Intra¬ 
glutäal 

Bedeutende  Klärung 
der  Trübung.  Bei  der 
Wassermannschen 
Reaktion  nach  45 
Tagen  entsteht  ge¬ 
ringe  Hämolyse 

Gewichtszunahme  in  zwei! 
Monaten  2  5  kg 

17 

Viktor  H„ 

4  Jahre  alt, 

19  kg 

Keratitis  parenchy- 
matosa 

10.  Okt.':  -f-P-f 

21.  Okt.  :019  g.  (Id.) 
Mit  Salzsäure  neu¬ 
tralisierte  Emulsion. 
Intraglutäal  , 

— 

Besserung.  Wasser¬ 
mannsche  Reaktion 
nach  18  Tagen 
schwach  positiv 

'•Ja 

1 

18 

Marie  F., 

2  Jahre  alt, 

10  kg 

Condylom  ata  lata 
circa  anum 

12.  Sept.:  — f — 1 — j— 

13  Sept.:  009  g. 
Neutrale  Emulsion. 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 

12.  Okt.:  0T1  g. 
Neutrale  Emul¬ 
sion  (Wechsel¬ 
mann).  Intraglu¬ 
täal 

Genesung?  Wasser¬ 
mannsche  Reaktion 
nach  22  Tagen,  nur 
geringe  Hämolyse. 
10.  Dez.  noch  immer 
eine  geringe  Hämo¬ 
lyse 

1 

; 

Gewichtszunahme  in  fünf 
Wochen  1/i  kg 

• 

19 

Alexander  Cs., 

2  lL  Jahre  alt, 
10  %  kg 

Plaques  muqueuses 
der  Uvula  und  der 
linken  Tonsille.  Mä¬ 
ßiger  Hydrocephalus 
chron.  intern.  Para- 
plegio  spastica 

20.  Sept,:  ++  + 

27.  Sept:  0T1  g. 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 

21  Okt..:  0-10  g. 
(Id.)  Mit  Salzsäure 
neutralisierte 
Emulsion.  Intra¬ 
glutäal 

Vollständiges 
Schwinden  der  Pla¬ 
ques.  Spastische  Er¬ 
scheinungen  kaum 
verändert 

— 

20 

Therese  R., 

8  Jahre  alt 

21V*  kg 

Plaques  muqueuses 
palati  et  anguli  oris. 
Condylomata  lata 
circa  anum 

8,  Okt.:  +  +  -f 

3.  Nov.:  0  22  g.  (Id.) 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 

- 

Genesung?  Wasser¬ 
mannsche  Reaktion 
10.  Dez.:  -j- 
Steht  noch  weiter 
unter  Beobachtung 

Aussehen  bedeutend  ge¬ 
bessert 

21 

Samuel  L., 

10  Jahre  alt, 
31-60  kg 

Tumor  cerebri  (vero- 
similiter  lueticus). 
Hydrocephalus  int. 
chron.  minor  grad. 
Papillitis  in  atrophia 
vergens  oculi  utri- 
usque 

2.  Nov.:  — ( — [ — [— 

9  Nov.:  0-31  g.  (Id.) 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Subkutan 

1.  Dez.:  0  29  g. 
(Id.)  Neutrale 
Emulsion  (Wech¬ 
selmann).  Intra¬ 
glutäal 

Weitere  Beobachtung 
Wassermannsche 
Reaktion.  l.Dez.:  — 

27.  Nov.:  Lumbalpunktion 
(25  cm3  Liquor). 
Pirquetsche  Reaktion : 
negativ 

22 

Elisabeth  G., 

8  l/j  Jahre  alt, 
19-20  kg. 

Ausgebreitete  tiefe 
speckige  Ulzeration 
der  Rachenwand 

5.  Nov.:  -| — | — |— 

17.  Nov  :  0-20  g.  (Id.) 
Neutrale  Emulsion 
Intraglutäal 

— 

Genesung?  Wasser¬ 
mannsche  Reaktion 
7.  Dez.:  -)- 

Zahlreiche  Spirochäten. 
Pirquetsche  Reaktion:  -p 

23 

Elisabeth  T., 
21/,  7ahre  alt, 
97 j  kg. 

Condylomata  lata 
circa  anum 

15.  Nov.:  +  +  + 

17.  Nov.:  010g.  (Id.) 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Intraglutäal 

— 

Genesung?  Wasser¬ 
mannsche  Reaktion 
5.  März  1911:  -[ - 

— 

21.  September:  0-21  g  Arsenoben  z;olinj-ektion  (neu¬ 
trale  Emulsion,  7  cm3  in  die  linke  Hinterbacke  intramuskulär). 

Acht  Stunden  nach  der  Injektion  38-4°  C  in  der  Achsel¬ 
höhle,  welche  14  Stunden  nach  der  Injektion  ihr  Maximum, 
39-2°  C,  erreicht.  Das  Fieber  besteht  noch  in  den  der  Injektion 
f  dgenden  24  Stunden  und  hält  in  geringem'  Grade  noch  zwei 
Tage  an.  (Tonsillitis  follicularis,  welche  alsbald  das  Bild 
einer  auch  bakteriologisch  bestätigten  milden  Diphtherie  an¬ 
nimmt). 

23.  September:  Auf  der  linken  Hinterbacke  Infiltrat  von 
etwas  strafferer  Konsistenz;  keine  Schmerzen.  Augenbefund 
unverändert. 

24.  September:  Die  ziliare  Injektion  ist  auf  dem  rechten 
Auge  etwas  stärker,  das  linke  zeigt  keine  Reaktion. 

26.  September:  Die  ziliare  Injektion  auf  dem  rechten  Auge 
ist  geschwunden. 

27.  September.  Die  Pupillen  zeigen  Neigung,  sich 
zu  erweitern,  das  glutäale  Infiltrat  ist  bedeutend  zurück¬ 
gegangen. 


29.  September:  Die  Injektionsstelle  ist  vollständig  nur 
mal,  das  Infiltrat  ist  geschwunden.  Bei  subjektiver  Besserung  des 
Visus  ist  zu  konstatieren,  daß  die  zirkuläre  Trübung  auf  dein 
rechten  Auge  nicht  mehr  scharf  konturiert  ist  und  die 
Pupille  schw ä  r  z  e r  durchscheint. 

4.  Oktober:  Beide  Pupillen  sind  von  Tag  zu  Tag  mehr 
sichtbar.  _ 

8.  Oktober:  Oc.  dext. :  Die  Trübung  ist  bloß  in  der 
nasalen  Fläche  der  Kornea  sichtbar.  Zählt  Finger  auf  3  m. 
Oc.  sin. :  Zählt  Finger  auf  5  m. 

13.  Oktober:  Oc.  dext.:  Die  Pupille  scheint  schön  schwarz 
durch.  V  —  5/30.  Oc.  sin. :  Auch  die  zentralen  Teile  der  Kor¬ 
nea  sind  glänzend,  feine  Trübungen.  V  =  5/20. 

16.  Oktober:  Oc.  dext.:  Im  Umfange  der  Pupille  bloß  lünf 
Punkte  auf  der  Kornea,  in  dem  unteren  Quadranten  eine  feiue, 
3  mm  breite  streifenförmige  Trübung  (s.  Figur  3  b). 

27.  Oktober,  Beide  Augen  sind,  von  einigen  konjunktivalen 
Gefäßen  abgesehen,  blaß.  D ie  0 be r fläche  der  Kornea  glän¬ 
zend;  mit,  freiem  Auge  ist  auf  dem  rechten  Auge, 


Nr.  i: 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


591 


über  dem  unteren  Pupillenrande,  bloß  eine  feine  Trü¬ 
bung  sichtbar  —  sonst  ist  die  Kornea  durchsichtig 
-  doch  auch  durch  die  Trübung  scheint  die  Zeich¬ 
nung  der  Iris  und  der  Pupillenrand  scharf  hind u roh. 
Am  linken  Auge  ist  bloß  in  dem  Zentrum  der  Kornea  eine 
kleine  fleckförmige  scharf  konturierte  Trübung  zu  sehen,  ln 
der  Substanz  der  Kornea  ist  keine  Gefäßbildung  wahrnehmbar. 
Die  Tension  des  Auges  ist  normal.  Visus:  Oc.  dext.  —  5/15, 
Oc.  sin.  =  5/10. 

Wasser  man  nsche  Reaktion:  — .  Körpergewicht:  26-5  kg. 
Wird  entlassen,  bleibt  aber  in  weiterer  Beobachtung. 

1.  Februar  1911:  Nach  brieflichem  Bericht  Befinden  gut. 

Tall  XV.  A.  K.,  zehn  Jahre  alt,  aufgenommen  am 
31.  August  1910.  Sehkraft  wird  seit  einem  Monat  unter  Tränen¬ 
träufeln  und  Lichtscheue  schlecht.  Die  Knie  schmerzen  seit  fünf 
Monaten  und  sind  geschwollen.  Der  Vater  hat  vor  20  Jahren 
Lues  akquiriert,  gegen  welche  er  behandelt  wurde.  Von  acht 
Kindern  leben  drei,  von  den  nicht  am  Leben  befindlichen  Kin¬ 
dern  wurden  drei  tot  geboren. 

Schwach  entwickelt,  schlecht  genährt,  Körpergewicht  27  kg. 
Blasse  Hautfarbe.  Beide  Kniegelenke  geschwollen,  die  Konturen 
verwischt,  die  Patella  stark  balottierend.  Auf  dem  Halse  und 
in  der  Inguinalgegend  empfindliche  geschwollene  Drüsen.  Gehör 
gut,  Zähne  gesund.  Pirquet  sehe  Reaktion  :  + ;  Wasser  m  an  n- 
sche  Reaktion  :  -j — [-+. 


Fig.  4. 

Augenbefund:  Das  rechte  Auge  ist  gesund.  Auf  dem 
linken  Auge  bei  mäßigem  Tränenträufeln  und  Photophobie  mittlere 
ziliare  Injektion.  Die  Kornea  ist  von  einem  oberen  1  nun 
breiten  Streifen  abgesehen,  getrübt,  die  Oberfläche 
gesprenkelt.  Durch  die  in  verschiedenem  Niveau 
des  Korneagewebes  befindlichen  wolkigen  Trübun¬ 
gen  sehe  int  die  Iris  nur  durch  die  oberen  Teile  durch 
'Keratitis  parenchymatös a).  Die  Trübungen  bilden  auch 
zerstreut  Flecken.  Pupillenerweiterung  auf  Atropin  gut  (siehe 
Fig.  4  a). 

3.  September:  In  den  letzten  24  Stunden  trübte  sich  der 
untere  äußere  Sektor  der  rechten  Kornea  unter  Tränenfließen 
und  Photophobie.  Die  Trübung  verdeckt  mit  ziemlich  scharfer 
Grenze  beiläufig  ein  Drittel  der  Pupille  (siehe  Fig.  5  a). 

An  demselben  Tage  0-215  g  Arsenobenzol  (7  cm3  neutrale 
Emulsion  intramuskulär  in  die  rechte  Hinterbacke),  ln  den  der 
Injektion  folgenden  24  Stunden  keine  nennenswerte  Temperatur¬ 
erhöhung. 

4.  September :  Auffallend  ist,  daß  Tränenfließen  und  Photo 
phobic  auf  beiden  Augen  vollständig  aufhörte  und  die  ziliare 
Injektion  auf  dem  rechten  Auge  bedeutend  geringer  wurde.  Die 
I  riibung  auf  dem  rechten  Auge  verbreiterte  sich  kaum,  die  Trü¬ 
bungen  der  linken  Kornea  sind  unverändert. 

10.  September:  Die  Trübungen  auf  beiden  Augen  sind  durch¬ 
scheinender,  besonders  die  peripheren  Teile  der  Kornea  hellen 
'ich  auf.  Die  Schmerzen  in  den  Knien  sind  geringer,  die  Schwel¬ 
lung  kaum  verändert.  Gipsschiene,  Massage.  Wassermann- 
'Che  Reaktion :  H — h 


Fig.  5. 

16.  September :  Zustand  der  Kniegelenke  unverändert,  die 
schmerzen  sind  geringer,  stellt  sich  ziemlich  leicht  auf  die 


Beine.  Visus:  Oc.  dext.:  —  o/30.  Visus:  Oc.  sin.:  —  Finger¬ 
zählen  auf  1  m. 

21.  September:  Auf  der  rechten  Kornea  sind  die 
I  riibungen  höher  gerückt,  während  die  untere  Randpartie 
durchsichtiger  wurde  (siehe  Fig.  5  b).  Die  Trübungen  auf  dem 
linken  Auge  ziehen  sich  mehr  auf  das  Zentrum  zurück  und 
grenzen  sich  gegeneinander  ab. 

27.  September:  Neuerlich  geringe  Photophobie.  Auf  der 
rechten  Kornea  breitet  sich  die  Trübung  aus.  Neuerliche 
Arseno  benzolinjektion  (0-23  g  neutrale  Emulsion  in  der 
Gesamtmenge  von  7  cm3  intramuskulär  in  die  linke  Hinterbacke). 
Das  rechtseitige  glutäale  lnliltrat  ist  beinahe  schon  geschwunden. 

In  den  folgenden  48  Stunden  ist  die  Maximaltemperatur 
in  der  Achselhöhle  37-6°  C,  an  der  Injektionsstelle  kindsfaustgroßes, 
mäßig  schmerzhaftes  Infiltrat. 

29.  September:  Photophobie  hat  bedeutend  nachgelassen, 
die  linke  Kornea  ist  etwas  durchscheinender. 

2.  Oktober:  Die  Infiltration  der  rechten  Kornea  breitet  sich 
aus,  die  Trübung  verdeckt  beinahe  vollständig  die  Pupille.  In¬ 
jektionsstelle  unverändert,  ein  wenig  schmerzhaft,  die  Haut  nicht 
entzündet. 

4.  Oktober :  Auf  der  linken  Kornea  erstreckt  sich  die  Trübung 
bloß  auf  3  bis  4  mm  vor  der  Pupille.  Die  peripheren  Teile 
haben  sich  vollständig  aufgehellt.  (Fig.  4  b.) 

8.  Oktober:  Auf  dem  rechten  Auge  hat  die  Infiltration 
der  Kornea  das  Niveau  des  oberen  Randes  der  Pupille  erreicht, 
während  der  untere  Pupillenrand  schon  schwarz  durchzuscheinen 
beginnt.  Das  glutäale  Infiltrat  ist  beiläufig  nußgroß,  kaum  em¬ 
pfindlich. 

11.  Oktober:  Auch  die  Trübungen  der  rechten  Kornea  sind 
durchscheinender.  Auch  die  linke  Kornea  hellt  sich  auffallend 
rasch  auf.  Visus:  Oc.  dext.  — 3/70;  Oc.  sin.:  — 5/15. 

18.  Oktober:  Die  obere  Hälfte  der  rechten  Kornea  ist  getrübt, 
die  untere  hat  sich  größtenteils  aufgehellt  (Fig.  5  c). 

21.  Oktober:  Kniegelenke  sind  unverändert,  nicht  schmerz¬ 
haft.  Glutäales  Infiltrat  etwa  nußgroß,  kaum  empfindlich.  Visus: 
Oc.  dext.  — 5/50;  Visus:  Oc.  sin.:  — 5/10. 

27.  Oktober:  Die  Trübungen  der  rechten  Kornea  zeigen 
eine  rasche  Aufhellung.  Visus:  Oc.  dext.  — 5/20;  Visus:  Oc.  sin.: 

5/10. 

2.  November:  Trübung  der  linken  Kornea  mit  freiem  Auge 
kaum  sichtbar. 

8.  November:  Was  sermannsche  Reaktion:  — . 

15.  November:  Das  rechte  Auge  sieht  5/20,  das  linke  5/10 
sieht  schärfer.  Die  glutäale  Infiltration  kaum  zu  tasten. 

26.  Februar  1911:  Nach  brieflichem  Berichte  sind  die  Augen 
vollkommen  gesund,  die  Sehkraft  gut.  Die  Schwellung  der  Knie, 
wie  auch  die  Steifigkeit,  ist  geschwunden. 

Fall  XVI.  K.  S.,  4Va  Jahre  alt,  wurde  am  1.  Oktober 
1910  alufgenommen.  Wurde  am  normalen  Ende  der  dritten 
Schwangerschaft  geboren;  die  ersten  beiden  Kinder  wurden  tot 
geboren.  Angeblich  ist  da,s  linke  Auge  des  Knaben  erst  seit 
einigen  Taigen  krank. 

Mäßig  entwickelt  .und  gut  genährt.  Körpergewicht  14  kg. 
Die  Haut  ist  blaß.  Mikropolyadenie.  Was  s  ermann  sehe  Reak¬ 
tion  :  ++'+ ;  P  i  r  q  u  et  sehe  Reaktion:  — . 

Augen  beif  und  :  Auf  dem  r  ech  teil  Auge  kaum  wahrnehm¬ 
bare  Erscheinungen.  Bei  sehr  geringer  konjunktivaler  und  ziliarer 
Vaskularisation  ist  ein  1  mm  breites  Segment  des  oberen  und 
äußeren  Randes  der  Kornea  ein  wenig  getrübt.  Auf  dem  inneren 
Teile  des  linken  Auges  geringere,  sonst  bedeutend  ziliare  In¬ 
jektion;  dem  entsprechend  ist  die  größere  äußere  Hälfte 
der  Kornea  getrübt,  ihre  Ober  fläche  gesprenkelt.  Die 
Trübung  ist  diffusen  0 harakters  und  so  star k  d a ß 
die  Farbe  der  Iris  durch  sie  nicht  hindurchscheint. 

Noch  am  Tage  der  Aufnahme  (l.  Oktober)  0-14  g  Arseno¬ 
benzol  in  jekti  on  (neutrale  Emulsion  in  der  Gesamtmenge  von 
7  cm3  intramuskulär  in  die  rechte  Hinterbacke). 

In  den  der  Injektion  folgenden  24  Stunden  ist  die  maximale 
Temperatur  im  Mastdarm  37-8°  C,  in  den  nächsten  Tagen  ist 
die  Temperatur  normal. 

2.  Oktober:  Auf  dem  rechten  Auge  ist  die  Injek¬ 
tion  vollständig  geschwunden,  auf  dem  linken  be¬ 
deutend  geringer.  Die  Infiltration  der  Kornea  hat  sich  nicht 
verbreitet. 

3.  Oktober:  Die  Injektion  des  Auges  ist  ausgespro- 
c  h  e  n  e  r. 

6.  Oktober:  An  dem  äußeren  oberen  Rande  der  rechten 
Kornea  beginnt. sich  eine  segmentförmige  Trübung  gegen  das 
Zentrum  der  Kornea  zu  entwickeln.  Das  glutäale  Infiltrat  ist  etwas 
über  nußgroß,  nicht  empfindlich,  die  Haut  über  demselben  normal. 


592 


Nr.  1? 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


8.  Oktober:  Oie  Infiltration  der  rechten  Kornea  schreitet 
kaum  fort;  das  linke  Auge  ist  unverändert. 

16.  Oktober:  Die  Infiltration  der  rechten  Kornea  verrät 
eine  geringe  Tendenz  zum  Fortschreiten.  Auf  dem  linken  Auge 
konzentrierten  sich  die  Trübungen  auf  die  innere  Hälfte  der  Kor¬ 
nea,  dabei  ist  besonders  das  obere,  aber  auch  das  äußere  Segment 
durchscheinender ;  das  glutäale  Infiltrat  ist  unverändert. 

20.  Oktober:  Das  äußere -obere  Segment  der  rechten  Kornea 
zeigt  eine  bündelförmige  Trübung  von  4  mm;  daselbst  ist  die  Ober¬ 
fläche  der  Kornea  gesprenkelt. 

21.  Oktober:  Neuerliche  Injektion  (016  g  A  rsenobenzol, 
mittels  Salzsäure  neutralisierte  Emulsion  in  der  Gesamtmenge 
von  7  cm3  intramuskulär  in  die  linke  Hinterbacke). 

ln  den  folgenden  24  Stunden  maximale  Temperatur  im  Mast¬ 
darm,  38°  C. 

22.  Oktober:  An  der  Injektionsstelle  nußgroßes  Infiltrat. 
Geringe  Schmerzhaftigkeit. 

23.  Oktober:  In  der  Glutäalgegend  kindsfaustgroßes,  stark  | 
schmerzendes  Infiltrat,  über  welchem  die  Haut  keine  Verfärbung  | 
zeigt.  An  der  ersten  Injektionsstelle  ist  das  Infiltrat  in  Rück-  « 
bildung  begriffen. 

25.  Oktober:  Die  Trübungen  der  rechten  Kornea  verbreiten 
sich  gegen  die  Peripherie.  Die  Trübungen  der  linken  Kornea  , 
sind  durchscheinender;  die  glutäale  Schwellung  ist  etwas  ge¬ 
ringer. 

1.  November:  An  der  rechten  Kornea  ist  nur  mehr  aas 
innere  Drittel  noch  durchsichtig.  Die  äußere  obere  Hälfte  der 
linken  Kornea  ist  schon  glänzend  und  durchsichtig. 

5.  November :  Die  rechte  Kornea  ist  vollständig  trübe, 
doch  scheinen  die  stärker  gefärbten  Stellen  der  Iris  und  die 
Pupille  gut  durch. 

Die  Oberfläche  der  linken  Kornea  ist  glänzend. 

10.  November:  Die  rechte  Kornea  beginnt  sich  am  äußeren 
oberen  Limbus  aufzuhellen. 

15.  November:  Auf  der  linken  Kornea  vor  der  Pupille  zieht 
bloß  eine  3  mm  breite  durchscheinende  Trübung  schräg  von 
oben  innen  nach  außen  unten.  Auf  der  rechten  Kornea  schreitet 

die  Aufhellung  fort.  . 

Was  s  er  mann  sehe  Reaktion:  + — .  Die  erste  Injektions¬ 
stelle  vollkommen  normal,  an  der  zweiten  nußgroße  schmerzlose 
Schwellung  in  der  Tiefe. 

21.  November:  Beinahe  vollständige  Aufhellung  des  äußeren 
oberen  Segmentes  der  rechten  Kornea,  wobei  auch  die  übrigen 
Partien  schon  durchsichtig  sind.  Die  linke  Kornea  ist,  abgesehen 
von  einem  beiläufig  IV2  mm  langen,  schrägen  Streifen  vollständig 
klar  und  durchsichtig.  Das  glutäale  Infiltrat  ist  geschwunden. 

28.  November:  Die  Iris  scheint  schon  durch  die  innere 
untere  Hälfte  der  rechten  Kornea.  Auf  der  linken  Kornea  befindet 
sich  bloß  eine  mit  freiem  Auge  kaum  sichtbare  wolkige  Trübung, 
welche  die  Sehkraft  kaum  beeinträchtigt. 

15.  Dezember:  Auf  der  rechten  Kornea  vollständig  durch¬ 
scheinende  Trübungen;  die  linke  Kornea  ist  geheilt. 

Fall  XVII.  V.  H.,  vier  Jahre  alt,  aufgenommen  tun  10.  Ok¬ 
tober  1910.  Zweitgeborenes  Kind;  vor  und  nach  ihm  tote  Früchte. 
Wurde  als  Säugling  längere  Zeit  gegen  Lues  behandelt.  Das  linke 
Auge  ist  angeblich  seit  einer  Woche  krank. 

Mäßig  entwickelt.  Das  Skelett  zeigt  die  Residuen  abgelaufener 
Rachitis.  Ausgesprochene  Sattelnase.  Auf  den  Lippen 
typische  strahlenförmige  Narben.  Die  linke  Tibia  ist 
in  der  Mitte  etwas  verdickt,  schmerzlos.  Die  Maxillardrüsen 
bohnengroß,  bilden  eine  Geschwulst  von  fester  Konsistenz.  Pir¬ 
quet  sehe  Reaktion  stark  positiv.  Wassermannsehe  Reaktion. 
-| — (-+.  Körpergewicht:  19  kg. 

Augenbefund:  Ohne  jede  Reizerscheinung  befindet  sich 
im  horizontalen  Meridian  der  linken  Kornea  eine  5  mm  und  3  mm 
breite,  vollständig  undurchsichtige,  gelblichgraue,  trübe  Stelle. 
Die  Trübungen  befinden  sich  im  Stratum  der  Kornea  und  trägt 
zu  ihrer  Bildung  auch  eine  hochgradige  Sprödigkeit  des  kor- 
nealen  Epithels  bei.  Der  scharf  konturierten  Trübung  entspre¬ 
chend,  macht  das  Stratum  der  Kornea  den  Eindruck  eines  aul¬ 
gelockerten  Gewebes.  Diese  Stelle  zeigt  gegen  das  Niveau  der 
gesunden  Oberfläche  eine  Ausbuchtung.  Bei  mittelweiter  Pupille 
erscheint  der  obere  und  untere  Pupillenrand  schwarz.  Lie  peri¬ 
pheren  Teile  der  Kornea  sind  vollkommen  klar.  Tiefere  Gefäße 
sind,  nicht  wahrzunehmen,  so  daß  nicht  anzunehmen  ist,  daß 
die  Trübung  sich  von  hier  gegen  das  Zentrum  gezogen  hätte 
(Fig.  6).  Die  äußeren  Häute  des  rechten  Auges  sind  gesund,  der 
ophthalmoskopische  Befund  ist  normal. 

Während  einer  Beobachtungszeit  von  18  Tagen  zeigt  die 
Infiltration  der  Kornea  weder  zum  Fortschreiten,  noch  zur  Rück¬ 
bildung  eine  Tendenz. 


21.  Oktober:  0-19  g  A r senob enz olin j ekti on  (mittels 
Salzsäure  neutralisierte  Emulsion  in  der  Gesamtmenge  von  7  cm3, 
intramuskulär  in  die  linke  Hinterbacke). 


In  den  folgenden  24  Stunden  kaum  nennenswerte  Tem¬ 
peraturerhöhung. 

23.  Oktober:  An  der  Injektionsstelle  kindsfaustgroßes  und 
schmerzhaftes  Infiltrat  von  fester  Konsistenz,  über  welchem  die 
Haut  etwas  verfärbt  ist. 

28.  Oktober:  Glutäales  Infiltrat  unverändert,  die  Hautröte 
etwas  mehr  verbreitet. 

2.  November:  Der  Umfang  der  kornealen  Trübung 
unverändert,  doch  weicht  die  ursprünglich  gelbe  Farbe  einer i 
rein  grauen.  Die  Injektionsstelle  ist  weniger  schmerzhaft,  die 
Hautröte  hat  nachgelassen. 

4.  November :  Der  infiltrierte  Teil  der  Kornea  ist  gesprenkelt, 
aber  nicht  mehr  von  so  rauher  Oberfläche  als  ursprünglich. 

8.  November:  W  as  ser  mann  sehe  Reaktion:  +. 

11.  November:  Das  Infiltrat  ist  etwas  kleiner. 

14.  November:  Die  korneale  Trübung  ist  etwas  durchsich¬ 
tiger.  Die  glutäale  Schwellung  von  etwas  mehr  als  Nußgröße. 

21.  November:  Langsame  Aufhellung,  Pupille  mittelweit. 

30.  November:  Die  Aufhellung  der  Trübung  ist  eine  fort¬ 
schreitende,  doch  beginnt  das  Auge  in  schielende  Stellung  zu 
geraten.  Glutäales  Infiltrat  nicht  zu  tasten. 

23.  Februar  1911:  Nach  brieflichem  Bericht  befindet  sich 
auf  dem  linken  Auge  noch  eine  geringe  Trübung,  doch  ist  die; 
Sehkraft  gut,  ist  auch  sonst  gesund. 

Fall  XVIII.  M.  F„  zwei  Jahre  alt,  am  5.  September  auf¬ 
genommen.  Fünftes  Kind,  wurde  zur  normalen  Zeit  geboren) 
die  um  den  Anus  befindlichen  Kondylome  bestehen  seit  drei 
Monaten.  Erstes  Kind,  neun  Jahre  alt,  ist  gesund,* das  zweite, 
dritte  und  vierte  wurden  tot  geboren. 

Gut  entwickelt  und  genährt.  Die  Haut  ist  ausnehmend 
blaß,  mit  einem  Stich  ins  Fahle.  Um  die  Analöffnung 
drei  Kondylome  von  mehr  als  Bohnengröße,  mit  m;ß 
farbiger  Oberfläche  und  speckigem  Glanz.  Die  Milz 
zwei  Querfinger  breit  unter  dem  Rippenbogen  zu  tasten.  Körper 
gewicht  10  kg.  Was  sermannsche  Reaktion:  +H  h 

13.  Sep tember :  0-09  g  A  r  s  e n  o  b  e n  z  0 1  i  n  j  e k  t  i  0  n  (7  cm 
neutrale  Suspension,  intramuskulär  in  die  rechte  Glutäalgegend; 

Höchste  Temperatur  im  Mastdarm  37-8°  C  16  Stunden  naclj 
der  Injektion,  zwei  Stunden  nachher  37-1°  C,  die  Temperatur  bleib1 
auch  weiterhin  normal. 

14.  September:  Verbrachte  eine  ruhige  Nacht,  die  Injek 
tionsstelle  ist  reaktionsfrei.  Kondylome  sind  unverändert.  j 

15.  September:  Das  speckige  Aeußere  der  Kondy 
1 0 m e  ist  geschwunden  und  es  ist  b e g i n n e n d e  E p i 
thelisierung  wahrnehmbar.  An  der  Injektionsstelle  in  clej 
Tiefe  schmerzloses  Infiltrat.  Gutes  Allgemeinbefinden. 

17.  September:  Injektionsstelle  unverändert.  Die  Kondylom« 
flachen  ab.  Mäßige  Diarrhoe.  x 

19.  September:  Infiltrat  beiläufig  kindsfaustgroß,  die  Hai' 
über  demselben  etwas  gespannt,  glänzend,  aber  wenig  empfindlicl 
und  nicht  gerötet.  Die  Kondylome  sind  ganz  abgc 
flacht,  die  Epithelisierung  ist  beinahe  vollständig 
Diarrhoe  gering. 

23.  September:  Infiltrat  etwa  nußgroß,  schmerzlos,  die  Kon 

dvlome  unverändert.  .  I 

26.  September:  Das  Infiltrat  ist  bloß  ganz  in  der  liefe  zv 
fühlen,  kleiner  als  Nußgröße.  An  den  Stellen  der  Kondylom- 
noch  immer  lebhafter  gerötete  Flecken.  Die  Anämie  bestem 
unverändert.  Wasse  r  mann  sehe  Reaktion:  +  — .  (Schwach 

Lysis.)  .  .  I 

12.  Oktober:  Neuerliche  Arsenobenzolinjektioi 
(011g  Arsen  0  benzol,  7  cm3  neutrale  Emulsion  in  die  link 

Hinterbacke).  vj 

Höchste  Temperatur  im  Mastdarm  16  Stunden  nach  ‘ 

Injektion  37-6°  C. 


593 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


14.  Oktober:  An  der  Injektionsstelle  apfelgroße,  schmerz¬ 
hafte  Schwellung  von  fester  Konsistenz.  Haut  zeigt  keine  Ym- 
färbung.  Allgemeinbefinden  gut. 

15.  Oktober:  Schwellung  unverändert.  An  Stelle  der  Kon¬ 
dylome  blaßrosafarbene  Flecken. 

21.  Oktober:  Glutäales  Infiltrat  von  etwa  Apfelgröße,  in 
der  'Fiele  der  Schwellung  Fluktuation  fühlbar,  aber  von 
normaler  Haut  bedeckt,  nicht  schmerzhaft.  Die  Stellen  der 
Kondylome  sind  bloß  durch  blasse,  fahlbraune 
Flecken  angedeutet.  Körpergewicht  10 ’4  kg. 

7.  November:  Glutäale  Schwellung  links  haselnußgroß. 

10.  Dezember:  An  Stelle  der  Kondylome  nur  eine  kaum 
sichtbare  Pigmentation.  Glutäales  Infiltrat  kaum  bohnengroß.  Die 
Hautfarbe  ist  besser. 

F  all  XIX.  A,  C.,  2lh  Jahre  alt,  aufgenommen  am  20.  Sep¬ 
tember  1910.  Drittes  Kind.  Der  Vater  akquirierte  vor  14  Jahren 
Lues,  war  lange  Zeit  heiser,  die  Mutter  ist  scheinbar  gesund ; 
die  beiden  ersten  Kinder  waren  Frühgeburten  und  lebten  einen 
Tag.  Bei  dem  Kinde  wurde  schon  im  Alter  von  einem  Jahre 
Lues  konstatiert  und  wurde  es  wegen  eines  Rachenprozesses 
längere  Zeit  einer  Inunktionskur  unterzogen.  Konnte  wegen  Steifig¬ 
keit  der  Glieder  noch  nicht  gehen. 

Schwach  entwickelt,  schlecht  genährt.  Die  Haut  blaß.  Poly- 
mikroadenie.  Mäßige  Makrozephalie  (Schädelumfang  49cm). 
Fontanellen  schon  geschlossen.  Die  obere  Wand  der  Orbita  beider¬ 
seits  etwas  herabgedrückt;  dementsprechend  sind  die  Achsen 
der  Bulbi  ein  wenig  nach  innen  gerichtet.  Die  Rachengebilde  sind 
etwas  injiziert,  an  der  linken  Seite  der  Uvula  bohnen¬ 
große  Plaques  mit  ungleichen  Rändern  und  einem 
mißfarbigen,  weißlichen,  speckigen,  Belage  sicht¬ 
bar.  Auf  der  linken  Tonsille  beiläufig  hell  er  große 
Plaques  von  gleichem  Charakter.  Beiderseitige  subangu- 
läre  Drüsen  ein  wenig  infiltriert.  Hyperästhesie.  Beide  untere 
Extremitäten  sind  rigid,  hypertonisch,  hält  die  Beine  gekreuzt. 
Beim  Aufheben  stellt  er  sich  auf  die  Fußspitzen,  kreuzt  die 
Füße  und  preßt  die  Knie  krampfhaft  aneinander.  Bauch-,  Kre¬ 
master-  und  Plantarreflex.  Patellarreflexe  sind  stark  gesteigert. 
Babinsky.  Fußklonus  nicht  auslösbar  Augenhintergrund  normal. 
\\  as  s  er  mann  sehe  Reaktion:  -j — | — Beider  vorgenommenen 
Lumbalpunktion  entleeren  sich  unter  ziemlich  starkem  Druck  45  cm3 
wasserklare  Zerebrospinalflüssigkeit.  Körpergewicht  10-60  kg. 

27.  September:  0-11  g  Arsenobenzol  (7  cm3  neutrale 
Emulsion,  intramuskulär  in  die  linke  Hinterbacke). 

In  den  ersten  24  Stunden  höchste  Temperatur  im  Mastdarm 
37-4°  C,  in  den  zweiten  24  Stunden  38-2°  C. 

28.  September:  Injektionsstelle  ohne  Reaktion.  Prozeß  im 
Rachen  unverändert. 

30.  September:  An  der  Injektionsstelle  ist  die  Hinterbacke 
im  ganzen  von  festerer  Konsistenz,  die  Haut  über  derselben 
glänzend,  etwas  gerötet,  schmerzlos.  Beide  Plaques  reini¬ 
gen  sich.  Allgemeinbefinden  gut. 

1.  Oktober:  An  der  Injektionsstelle  kleine,  apfelgroße,  feste, 
kaum  empfindliche,  von  ein  wenig  entzündeter  Haut  bedeckte 
Schwellung.  Die  Plaques  im  Rachen  kaum  sichtbar.  Die 
spastischen  Erscheinungen  unverändert. 

3.  Oktober:  Die  Plaques  im  Rachen  sind  geschwun¬ 
den.  Die  Schleimhaut  schwach  injiziert.  Glutäales  Infiltrat  nicht, 
verkleinert,  schmerzlos. 

5.  Oktober:  Glutäales  Infiltrat  kaum  taubeneigroß,  schmerz¬ 
los.  Das  Kind  setzt  sich  oft  auf  und  hält  sich  fest  an  dem 
Bettrand.  Der  Spasmus  der  Extremitäten  ist  übrigens  unver¬ 
ändert. 

8.  Oktober:  Glutäales  Infiltrat  erbsengroß,  Rachen  rein, 
das  Kind  heiter. 

20.  Oktober:  Neuerliche  Lumbalpunktion:  unter 
sehr  starkem  Druck  45  cm3  wasserklarer  Liquor  cerebrospi¬ 
nalis  abgeflossen.  Spastische  Erscheinungen  unverändert.  Gluta- 
ales  Infiltrat  gänzlich  geschwunden.  Allgemeinbefinden  ein¬ 
wandfrei.  Rachen  rein. 

21.  Oktober:  Neuerliche  Arsenobenzolinjektion 
IÖ-10  g  in  7  cm3  durch  Salzsäure  neutralisierte  Emulsion  intra¬ 
muskulär,  in  die  linke  Hinterbacke). 

In  den  nächsten  24  Stunden  Temperatur  normal.  Am  nächst¬ 
folgenden  Tage  Temperatur  im  Mastdarm  etwas  erhöht.  Maximum 
37-8°  C. 

22.  Oktober:  An  der  Injektionsstelle  haselnußgroßes,  wenig 

empfindliches  Infiltrat. 

23.  Oktober:  Infiltrat  kleinapfelgroß,  schmerzhaft.  Allge¬ 
meinbefinden  übrigens  kaum  gestört. 

29.  Oktober:  Infiltrat  nußgroß,  schmerzhaft.  Allgemein¬ 
befinden  gut.  Spastische  Erscheinungen  unverändert. 


6.  November:  Linkseitige  glutäale  Schwellung  spurlos  ge¬ 
schwunden. 

Fall  XX.  T.  A.,  acht  Jahre  alt,  aufgenommen  am  28.  Ok¬ 
tober  1910.  Erstes  Kind,  wurde  zur  normalen  Zeit  geboren.  Der 
Vater  leidet  an  Lues.  An  dem  Mädchen  beobachteten  die  Eltern 


Fig.  8. 

seit  zwei  Monaten  das  Entstehen  von  Kondylomen.  Ueber  den 
Gesundheitszustand  de«  Mädchens  im  Säuglingsalter  kann  bei  der 
geringen  Intelligenz  der  Eltern  schwer  etwas  in  Erfahrung  ge¬ 
bracht  werden. 

Schwach  entwickelt,  schlecht  genährt.  Blasse  Hautfarbe. 
Plaques  mit  speckigem  Belag  im  rechten  Mundwinkel, 
auf  beiden  Tonsillen,  an  der  Uvula,  aus  gebreitete, 
mißfarbige,  stark  vorragende  Kondylome  um  den 
Anus,  flachere,  von  geringerer  Ausdehnung  an  der 
Innenfläche  beider  großen  Labien  (s.  Fig.  8).  Wasser¬ 
mann  sehe  Reaktion:  -j — | — |-,  Körpergewicht  21-25  kg. 

3.  November :  0-22  g  Arsenobenzolinjektion.  Neutrale 
Emulsion  in  der  Gesamtmenge  von  9  cm3,  intramuskulär  in  die 
linke  Hinterbacke. 

Flöchste  Temperatur  in  den  nächsten  24  Stunden  37-9°  C. 

In  den  beiden  folgenden  Tagen  ist  die  Temperatur  noch  nahe 
der  Fiebergrenze,  wird  aber  am  vierten  Tage  nach  der  Injektion 
normal. 


Fig.  9. 

5.  November:  Die  Plaques  im  Rachen  sind  kleiner,  die 
Ränder  gerötet-  Die  Plaques  am  Mundwinkel  in  Rückbildung 


594 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  1? 


begriffen.  Die  Oberfläche  der  perianalen  Kondylome  gerei¬ 
nigt,  weniger  nässe n  d.  Die  Kondylome  rin  den  Labien  sind 
trocken,  bedeutend  abgeflacht.  Das  glutä&le  Infiltrat  von 
der  Größe  eines  halben  Apfels  ist  schmerzhaft.  Die  Haut  über 
demselben  ein  wenig  gerötet. 

7.  November:  Die  Kondylome  mit  Epithel  bedeckt,  flachen 
weiter  ab.  Der  Prozeß  im  Rachen  im  Schwinden  begriffen, 
der  Mundwinkel  beinahe  geheilt.  An  der  Injektionsstelle  die 
Schwellung  nicht  gefallen,  schmerzhaft. 

9.  November:  Die  Kondylome  an  den  Labien  sind  voll¬ 
kommen  abgeflacht.  Die  perianalen  Kondylome  sind  auf  ein 
Drittel  zurückgegangen  (s.  Fig.  9).  Ihre  Oberfläche  ist 
trocken,  mit  Epithel  bedeckt. 

Das  glutüale  Infiltrat  beginnt  sich  zu  verkleinern,  ist  noch 
schmerzhaft. 

13.  November:  An  der  Innenfläche  der  großen  Labien  nur 
blasse  Pigmentflecken,  Rachen  rein.  Mundwinkel  frei.  Glutäales 
Infiltrat  nußgroß,  kaum  empfindlich.  Allgemeinbefinden  einwand¬ 
frei.  i 

20.  November:  Die  perianalen  Kondylome  erheben  sich  kaum 
über  das  Niveau  der  Haut,  werden  nach  und  nach  kleiner  (siehe 
Fig.  10-).  Rachen,  Mundwinkel  frei.  Das  glutüale  Infiltrat  von 
der  Größe  einer  kleinen  Nuß  ist  schmerzlos. 


Fig!  10. 


Fall  XXL  S.  L.,  zehn  Jahre  alt,  aufgenommen  am  2.  No¬ 
vember  1910.  Wurde  im  vergangenen  Jahre  durch  zwei  Monate 
im  Krankenhause  behandelt.  Die  damalige  Diagnose  war:  T  um  or 
cerebri  (verosimiliter  lueticus).  Wahrscheinliche  Lokalisation: 
Die  Gegend  des  Nucleus  ruber.  Auf  Quecksilbersalbe  bedeutend 
gebessert.  Bei  der  zweimal  vorgenommenen  Lumbalpunktion  ent¬ 
leeren  sich  25,  respektive  36  c;m3  Liquor  cerebrospinalis.  Seit 
einigen  Wochen  hat  sich  der  Zustand  verschlimmert,  namentlich 
wurde  die  Sehkraft  schwächer,  der  Gang  wieder  schwankender. 

Gut  entwickelt  und  genährt.  Körpergewicht  31-60  kg.  Schädel 
etwras  vergrößert  (Kopfumfang  53  cm). 

Bauch-  und  Kremasterreflexe  fehlen.  Babinski  negativ. 
Die  tiefen  Reflexe  gesteigert.  Das  Kind  geht  breitspurig,  unge¬ 
schickt,  schwankend;  das  Umwenden  geschieht  taumelnd  und 
schwerfällig.  Kein  Kopfschmerz,  ist  heiter  und  außer  Bett. 

Aug e n b e f u n d :  Geringe  Protrusion  der  Bulbi,  der  Blick 
ist  starr.  Die  Pupillen  sind  gleich,  mittelweit,  reagieren  kaum 
auf  Licht.  Beweglichkeit  der  Augen  ist  gut,  nur  das  Aufwärts¬ 
blicken  geschieht  etwas  schwerer.  Visus  :  Oe.  dext. :  zählt 
Finger  auf  1  m.  Visus:  Oc.  sin.:  zählt  Finger  auf  2  m. 
Gesichtsfeld  frei.  Ophthalmoskop! s eher  Bef-und  (s.  Fig.  11) : 
Die  lichtbrechenden  Medien  sind  klar.  Beide  Papillae  nervi  op¬ 
tici  sind  graurot..  Die  Ränder  der  Papilla  sind  auf  der  nasalen 
Seite  verwischt,  auf  der  temporalen  Seite  scharf.  Die  Venen 
sind  weiter  als  normal,  einige  sind  geschlängelt.  Die  Arterien 
sind  eng.  Sowohl  Venen-  als  Arterien  sind  von  weißen  Streifen 
begleitet.  Beide  Papillae  nervi  optici  sind  mittels  +  3-0  noch 
scharf  sichtbar.  Diagnose:  Papillitis  in  atrophiam  vergens 
Oc.  u. 


Bei  der  Lumbalpunktion  entleeren'  sich  bloß  2  cm3  wasser¬ 
klare  Flüssigkeit,  welche  langsam  abtropft.  Wasser  mann  siche 
Reaktion:  -f-f — \~. 


9.  November:  0-31  g  A  rsen  o  benzol  (neutrale  Emulsion, 
7  cm3  subkutan).  ! 

Der  Injektion  folgte  keine  nennenswerte  Temperaturerhöhung. 

11.  November:  Die  Injektionsstelle  ist  schmerz-  und  re¬ 
aktionsfrei. 

16.  November:  Reaktion  der  Pupillen  auf  Licht  sehr  träge. 
Visus:  Oc.  u. :  5/50.  Das  Gesichtsfeld  frei.  Die  Venen  im  Augen¬ 
hintergrund  nicht  mehr  so  gefüllt  und  geschlängelt.  Die  innerem 
Ränder  der  Papillae  nervi  optici  werden  sichtbar.  Allgemein 
befinden  gut,  an  der  injektionsstelle  geringes  Infiltrat. 

23.  November:  Augenbefund:  Visus:  Oc.  dext.:  5/15; 
Visus:  Oc.  sin.:  5/20.  Die  Papillen  sind  um  eine  Schattierung! 
röter,  der  innere  Papillenrand  verwischter. 

27.  November :  Klagtü  be  r  Kopfschmerz,  ist  wenige i| 
heiter.  Lumbalpunktion:  25  cm3  wasserklarer  Liquor  cere¬ 
brospinalis  unter  starkem  Druck.  Die  Papillen  etwas  blässer, 

28.  November:  Seit  der  Punktion  sind  die  Kopfschmerzen 
geschwunden,  die  Heiterkeit  ist  wiedergekehrt,  die  Ränder  deij 
Papillen  besser  wahrnehmbar. 

1.  Dezember:  Neuerliche  Arsenobenzolinjektion 
(0-29  g,  7  cm3  neutrale  Emulsion  in  die  rechte  Hinterbacke). 

Der  Injektion  folgt  keine  nennenswerte  Temperaturerhöhung! 
Die  Injektionsstelle  kaum  empfindlich. 

5.  Dezember:  An  der  Injektionsstelle  kindshandgroßes,  kaum 
empfindliches  Infiltrat.  Heiter.  Visus:  Oc.  dext.:  5/15;  Visus 
Oc.  sin.:  5/10.  Gesichtsfeld  zeigt  keine  wesentlichere  Verän 
de  rung. 

7.  Dezember:  Visus:  Oc.  dext.:  5/30;  Visus:  Oc.  sin.:  5/201 
Der  Verschlimmerung  des  Visus  entsprechende  Veränderung,  außen 
den  schon  erwähnten,  nicht  zu  konstatieren.  Wasse  rmannscha 
Reaktion  (Blutentnahme  am  1.  Dezember):  0. 

19.  Dezember:  Beginn  von  Quecksilberinunktionen. 

16.  Januar  1911:  Zustand  nicht  verändert.  Lumbalpunktion ! 
30  cm3  Liquor  cerebrospinalis. 

Fa  11  XXII.  E.  G.,  8Va  Jahre  alt.  Aufgenommen  am  15.  No 
vtember  1910.  Sechstes  Kind,  wurde  zur  normalen  Zeit  geboren 
Seit  dem  Säuglingsalter  werden  Luessymptome  be; 
obacht et  und  wiederholt  Quecksilberkuren  angel 
wendet. 

Gut  entwickelt  und  genährt.  Körpergewicht  19-20  kg.  Bei 
Nasenrücken  mäßig  verdickt,  Nasenwurzel  etwas  abgeflacht.  Uebe! 
riechender  Ausfluß  aus  der  Nase.  Von  der  rechten  Tonsille 
bis  zur  hinteren  Rachen  wandsich  hi  n  z  i  eh  ende,  ziem 
lieh  tiefe  Destruktion  , aufweisende  kraterförmige 
mißfarbige  Exulzeration.  Erschwertes  Schlucken.  Uiü.ci 
dem  rechten  Kieferwinkel  nußgroße,  feste,  nicht  entzündete  Drüsen 
Schwellung.  Haut  blaß,  rein.  Spirochäten  zahlreich,  in  lebhafter 
Bewegung.  Wasser  mann  sehe  Reaktion:  H — I — h;  Pi  r  quetsch* 
Reaktion:  +.  Histologisches  Bildeines  aus  dem  Rachengeschwiin 
-ex'zind  ierten  Gewebsstückes :  von  kleinzelligem  Infiltrat  umschlos  j 
senes  Granulationsgewebe,  in!  welchem  Riescnzie’.b  n  zu  stehen  sind 
Intima  und  Media  der  kleineren  und  mittleren  Arterien  sinn 
verdickt  und  zeigen  hyaline  Degeneration. 

17.  November:  0-20  g  Arsenobenzol  (7  cm3  neutrale 
Emulsion  in  die  linke  Hinterbacke  injiziert). 

Keine  nennenswerte  Temperaturerhöhung  weder  in  dei 
ersten,  noch  in  den  zweiten  24  Stunden. 


Nr  17 


595 


WIENER  KLINISCHE 


19.  November:  Das  Rachenbild  nicht  verändert.  Injektions¬ 
stelle  kaum  empfindlich. 

20.  November:  Das  Rachengeschwür  hat  sich  be¬ 
deutend  gereinigt  und  beginnt  den  speckigen  Glanz 
zu  verlieren.  Schlucken  freier.  In  der  Glutäalgegend  Infiltrat 
kaum  zu  fühlen.  Allgemeinbefinden  gut. 

21.  November:  Rachengeschwür  auffallend  gerei¬ 
nigt,  beginnt  sich  zu  epithelisieren.  Subangulare  Drüseu- 
hchwellung  unverändert. 

24.  November:  Glutäales  Infiltrat  taubeneigroß,  kaum  em¬ 
pfindlich.  R a  c h  e  n ge  s  c h w ü  r  v  o  1 1  s  tä n  d  i  g  g e r  e i  n  i  g  t,  s  i  n  k  t 

auf  das  Niveau  der  Umgebung.  Epithelisierung 
schreitet  rasch  vorwärts.  Schlucken  frei;  Allgemeinbefin¬ 
den  einwandfrei. 

29.  November:  Fortschreitende  Granulation  des  tonsillären 
Geschwüres,  reine  Wundfläche,  Nasenrücken  flacher.  Schwellung 
der  Halsdrüsen  bedeutend  geringer.  Glutäalgegend  frei. 

1.  Dezember:  Rachengeschwür  vollständig  gereinigt,  ver¬ 
kleinert  sich  rasch,  lebhafte  Granulation.  Frischere  Gesichtsfarbe. 
Allgemeinbefinden  gut. 

20.  Dezember:  Rachengeschwür  beinahe  geschwunden,  an 
seiner  Stelle  eine  buchtige  Einsenkung.  Nasenrücken  abgeflacht. 
Uebler  Geruch  aus  der  Nase  geringer,  wenig  sanguinolentes  Sekret. 
W  a  s  s  e  r  m  a  n  n  sehe  Reaktion :  +. 

5.  Januar  1911:  Rachengeschwür  geheilt.  Nasensymptome 
unverändert.  Hautfarbe  bedeutend  besser. 

Fall  XXIII.  E.  T.,  2V2  Jahre  alt,  aufgenommen  am  15.  No¬ 
vember  1910.  Nach  drei  xAborten  das  erste  ausgetragene  lebende 
Kind.  Wurde  schon  im  Alter  von  zwei  Monaten  län¬ 
gere  Zeit  gegen  Lues  behandelt. 

Mäßig  entwickelt  und  genährt.  Körpergewicht  9-50  kg.  Nasen¬ 
wurzel  ein  wenig  eingesunken.  In  beiden  Mundwink e  1  n 
linsengroße,  speckig  aussehende  Plaques.  Um  den 
Anus  rechts  zehnhellergroßes,  links  kronengroßes, 
auffallend  mißfarbiges,  stark  vorragendes,  breites 
Kondylom  (s.  Fig.  12).  Durch  das  Ultramikroskop  zahlreiche 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


2.  Dezember:  An  Stelle  der  Kondylome  bloß  eine  rötliche 
Verfärbung. 


Fig.  12. 


7.  Dezember:  Die  rötliche  Verfärbung  ist  abgeblaßt. 
1.  März  1911:  Vollständige  Heilung. 


B.  Fälle  von  Lues  acquisita. 


J  Nummer  || 

Name  und 
Alter, 

Körpergewicht 

Diagnose 

Wassermannsche 
Reaktion  vor  der 
Behandlung 

Salvarsan 

Wiederholung 

der 

Injektion 

Ergebnis 

Bemerkung 

24 

Rosa  Sp., 

11  Jahre  alt, 

32  kg 

Plaque  muqueuse 
der  rechten  Ton¬ 
sille,  mit  Propa¬ 
gation  auf  den  Arcus 
palatoglossus 

10.  Juli:  +  +  + 

11.  Juli:  0T6  g. 
Methylalkobolische 
Lösung. 
Intraglutäal 

22.  Juli:  016  g. 
Glykolische 
Lösung. 
Intraglutäal 

Genesung? 
Wassermannsche 
Reaktion,  nach  112 
Tagen  entsteht 
schwache  Hämolyse. 

3.  Dez.:  +  — 

10.  Feb.  (1911):  +  — 

Mäßige  Eiterung  an  der 
Stelle  der  Injektion.  Ge¬ 
wichtszunahme  in  2  Mo¬ 
naten  2  kg 

25 

Franz  O., 
l'/>  Jahre  alt, 
ll'/i  kg 

Condylomata  lata 
circa  anum.  Ulcus 
induratum  glandis 

10.  Aug.:  +  +  + 

10.  Aug. :  010  g. 
Glykolische  Lösung. 
Intraglutäal 

31. Aug.:  0T0  g. 
Glykolische 
Lösung. 
Intraglutäal 

Genesung. 
Wassermannsche 
Reaktion  nach  55 
Tagen:  negativ 

Gewichtszunahme  in  2  Mo¬ 
naten  beinahe  2  kg 

26 

. 

Dionys  R., 

3  Jahre  alt, 

13  7*  kg 

Exanthema  macu- 
losum.  Ulcus  anguli 
oris.  Plaque  mu¬ 
queuse  der  Tonsille 

6.  Nov.:  +  +  + 

9. Nov.:  014g.  (Id.) 
Neutrale  Emulsion 
(Wechselmann). 
Subkutan 

— 

Genesung? 

Was  s  er  m  anns  ch  e 
Reaktion :  1.  Dez.  + 

( 

Gewichtszunahme  in  3  Wo¬ 
chen  '/j  kg 

Spirochäten  in  lebhafter  Bewegung  zu  sehen.  Leber  und  Milz 
ausgesprochen  vergrößert.  W  assermann  sehe  Reaktion  :  |-  J — K 

17.  November:  0-10  g  Arsenobenzol  (8  cm3  neutrale 
Emulsion  intramuskulär  in  die  rechte  Hinterbacke). 

In  den  der  Injektion  folgenden  Tagen  keine  größere  Tem¬ 
peratur  Steigerung. 

19.  November:  An  der  Injektionsstelle  nußgroßes,  schmerz¬ 
haftes  Infiltrat,  die  Haut  über  demselben  nicht  verfärbt.  Die 
Kondylome  sind  nicht  mehr  nässend,  beginnende 
Epithelisierung  an  den  Rändern.  Die  Plaques  in  den 
Mundwinkeln  gereinigt.  Epithelisierung. 

22.  November:  Plaques  in  den  Mundwinkeln  im  Schwin¬ 
den  begriffen.  Die  perianalen  Kondylome  flachen 
ab,  sind  beinahe  vollständig  cpithelisiert.  An  der 
injektionsstelle  kaum  nußgroßes,  schmerzloses  Infiltrat. 

24.  November:  Kondylome  flachen  weiter  ab,  sind  voll¬ 
ständig  mit  Epithel  bedeckt  (s.  Fig.  13).  Glutäales  Infiltrat  nicht 
stärker. 

29.  November:  Inliltrat  geschwunden.  Kondylome  vollständig 

abgeflacht. 


Fall  XXIV.  R.  Sp.,  elf  Jahre  alt,  wurde  am  27.  Juni 
1910  aufgenommen.  Erstes  Kind,  kein  Abortus  vorher.  Begann 
vor  einigen  Monaten  über  Halsschmerz  zu  klagen.  Der  behan¬ 
delnde  Arzt  konstatierte  schon  damals  Plaques  muqu  crises  im 
Rachen  und  wendete  Quecksilberinunktionen  an;  die  Infektion 
ging  von  einem  an  florider  Lues  leidenden  Dienstmädchen  aus. 

Gut  entwickelt  und  genährt,  etwas  blaß.  Auf  der  rechten 
Tonsille  eine  auf  den  Arcus  palatoglossus  sich  e  r- 
I  streckende  hellergroße,  speckig  glänzende  Plaque. 
Unter  dem  rechten  Kieferwinkel  etwa  nußgroße, 
feste,  nicht  schmerzhafte  Drüse.  Wassermann  sehe  Re¬ 
aktion:  -} — | — K  Körpergewicht  32-20  kg. 

11.  Juli:  0-16  g  Arsenobenzol  (Methylalkohollösung, 
18  cm3,  in  zwei  Gaben  verteilt,  intramuskulär  in  die  beiden  Glu- 
täalgegenden  injiziert). 

Die  Temperatu r  ist  sechs  Stunden  nach  der  I  n  j  e  k- 
t i 0 n  in  der  Achselhöhle  37-8° C.  Diese  Temperatur  lä.llt 
nach  und  nach  und  ist  am  nächsten  Tage  normal. 

12.  Juli :  Die  Injektionsstellen  sind  kaum  empfindlich  und 
mäßig  infiltriert. 


596 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  17 


13.  Juli :  Die  Glutäalgegenden  sind  ganz  schmerzfrei,  so 
daß  das  Mädchen  außer  Bett  sein  kann.  Die  tonsilläre 
Plaque,  welche  an  dem  der  Injektion  folgenden  Tage 
von  einer  stärkeren  Röte  umgeben  war,  hat  sich  we¬ 
sentlich  gereinigt,  die  sie  umgebende  Röte  ist  ge¬ 
schwunden. 

16.  Juli.  Die  Plaque  im  Rachen  ist  nur  sehr  schwach 
sichtbar  und  bildet  e i n  e  k  au  in  1  i n s e n gr  o ß e,  opal  is  i  e r  end e 
Fläche.  Die  Drüsenschwellung  unter  dem  rechten  Kieferwinkel 
ist  unverändert. 


Fig.  13. 

20.  Juli:  An  der  Stelle  der  Plaque  hirsekorngroßer,  opali¬ 
sierender  Fleck.  Die  Drüse  ist  unverändert.  Wass  er  mann  sehe 
Reaktion :  ++. 

22.  Juli:  Neuerliche  Injektion:  0-16  g  Arsenobon- 
zol  (in  den  rechten  Glutäus,  10-5  cm3  Glykollösung). 

In  den  der  Injektion  folgenden  24  Stunden  maximale  Tem¬ 
peratur  in  der  Achselhöhle  38-5°  C,  welche  alsbald  auf  das  nor¬ 
male  Niveau  fällt. 

27.  Juli:  Der  Rachen  ist  rein,  die  subangulare  Drüse  we¬ 
niger  geschwollen.  Die  Injektionsstelle  ist  induriert,  schmerzhaft. 
Die  Haut  über  derselben  handtellerbreit  entzündet. 

31.  Juli:  An  der  Injektionsstelle  minimales  Eitersickern, 
das  Infiltrat  ist  weniger  konsistent,  Entzündung  geschwunden. 
Hachen  vollständig  rein,  die  subanguiäre  Drüse  bohnengroß. 

10.  August:  An  der  Injektionsstelle  minimales  Infiltrat,  un¬ 
bedeutendes  Eitersickern. 

29.  August:  W  as  s  er  mann  sehe  Reaktion:  H — K  An  der 
Stelle  der  auf  der  rechten  Tonsille  beobachteten  Plaque  nichts 
Abnormes;  subangulare  Drüsenschwellung  geschwunden.  Allge¬ 
meinbefinden  einwandfrei . 

Gewichtszunahme  seit  dem  11.  Juli,  das  ist  in  kaum  zwei 
Monaten,  beinahe  2  kg.  Gesamtmenge  des  zu  den  beiden  Injek¬ 
tionen  (11.  und  22.  Juli)  verbrauchten  Arsenobenzols  016  -f- 
0-16  =  0-32  g. 

10.  Oktober:  Was  sermannsche  Reaktion:  +  ■— .  Rachen 

rein. 

6.  November:  Rachen  vollständig  rein.  Unbedeutendes  Eiter¬ 
sickern  aus  der  minimalen  Wunde  des  rechten  Glutäus. 

10.  November :  Wasserm a n n sehe  Reaktion :  +  — . 

10.  Februar  1911:  Heilung  von  Dauer.  Was  sermannsche 
Reaktion :  +  — . 

Fall  XXV.  F.  O.,  fVb  Jahre  alt,  aufgenommen  am  10.  August 
1910.  Zweites  Kind.  Das  erste  lebt  und  ist  gesund ;  kein  Abortus. 
Seit,  vier  Wochen  werden  Heiserkeit,  Schnupfen  und  breite  Kon¬ 
dylome  um  den  Anus  wahrgenommen.  Angeblich  war  die  Amme, 
welche  aber  nicht  mehr  bei  dem  Kinde  ist,  luetisch. 

Gut  entwickelt  und  genährt.  Körpergewicht  11-550  kg.  Auf¬ 
fallende  Anämie.  An  der  Falte  zwischen  Präputium  und 
Glans,  in  der  Nähe  des  Frenulum  linsengroß e 's,  i n- 


duriertes  Geschwür  mit  speckigem  Belage.  Die  Ingui¬ 
naldrüsen  stark  infiltriert  (beiderseits  mehrere  bohnengroße  Drüsen 
sichtbar).  An  dem  Anus  beiderseits  je  drei  breite  Kondylome 
mit  speckigem  Belage.  Was  sermannsche  Reaktion:  +++-. 

10.  August:  0-10  g  Arsenobenzol  (12  cm3  Glykollösung 
in  den  rechten  Glutäus  intramuskulär). 

In  den  der  Injektion  folgenden  24  Stunden  höchste  Tem 
peratur  im  Mastdarm  37-3°  C. 

12.  August:  An  der  Injektionsstelle  schmerzhaftes  Infiltrat 

13.  August:  Das  auf  dem  Penis  befindliche  Ulkus 
ohne  Belag,  der  Grund  weniger  induriert,  um  die 
Kondylome  ein  lebhaft  roter  Saum.  Allgemeinbefinden 
gut. 

15.  August:.  Das  Ulkus  auf  dem  Penis  im  Schwin 
den  begriffen,  die  Induration  kaum  zu  fühlen.  Kon 
dylome  flacher,  ihr  Sekret  geringer.  Das  glutäale  ln 
filtrat  in  Abnahme. 

18.  August:  An  der  Stelle  der  Kondylome  rostbraune  Fleckei 
sichtbar.  Das  Geschwür  auf  dem  Penis  geheilt,  die  Inguinal 
d rüsen  wesentlich  kleiner. 

25.  August:  An  der  Stelle  der  Kondylome  blaßbräunlich 
rote  Flecken.  Infiltration  an  der  Injektionsstelle  minimal.  Was 
s  e  r  m  a  n  n  sehe  Reaktion  :  -j — h 

30.  August:  Um  den  After  statt  der  Kondylome  helle  rosa 
farbige  Flecken.  Anämie  noch  ziemlich  augenfällig. 

31.  August:  Neuerliche  Injektion:  0-10  g  Arseno 
benzol  (12  cm3  Glykollösung  intramuskulär  in  den  linkei 
Glutäus.) 

Maximale  Temperatur  nach  der  Injektion  37-2°  C  im  Mast 
darin.  Am  Tage  der  Injektion  ist  die  Einstichstelle  sehr  schmerz 
halt,  das  Kind  unruhig. 

2.  September:  In  der  linken  Glutäalgegend  handtellerbreites 
festes  Infiltrat,  über  welchem  die  Haut  ein  wenig  entzündet  ist 

3.  September:  Schwellung  an  der  Injektiongsstelle  wir« 
kleiner;  Allgemeinbefinden  gut. 

6.  September :  Schwellung  wie  oben. 

12.  September:  Linke  Glutäalschwellung  nußgroß,  die  Hau 
über  ihr  blaß. 

26.  September :  Inguinaldrüsen  zeigen  keine  Schwell  ui 
mehr.  An  der  Stelle  der  Kondylome  ganz  blasse  Pigment 
flecken.  Glutäale  Schwellung  bohnengroß.  Allgemeinbefinde 
ausgezeichnet. 

11.  Oktober:  An  der  Stelle  der  Kondylome  blaßrote  Pigmen’ 
flecken,  in  beiden  Inguinalgegenden  Mikroadenie;  im  linken  Gli 
täus  haselnußgroßes,  schmerzloses  Infiltrat.  Blühendes  An¬ 
sehen.  Wassermann  negativ. 

25.  Oktober:  Im  linken  Glutäus  noch  zwei  haselnußgroß 
Infiltrate. 

Seit  dem  10.  August,  d.  i.  in  zwei  Monaten,  Gewicht 
Zunahme  2  kg.  Die  Gesamtmenge  des  zu  den  zwei  Injektion** 
(10.  und  31.  August)  benützten  Arsenobenzols  betrug  0-10H0T 

=  0-20  g. 

3.  November:  An  der  Stelle  der  Kondylome  eine  ganz  blaß 
Röte.  Rachen  frei. 

22.  Dezember:  Blühende  Gesichtsfarbe.  An  Stelle  der  Kor 
dylome  blasse  Pigmentation.  Im  rechten  Glutäus  haselüußgrolif 
dunkel  fluktuierende,  links  bohnengroße,  konsistente  Schwellum 

19.  Februar  1911:  Vollständige  Restitution. 

Fall  XXVI.  D.  R„  drei  Jahre  alt,  aufgenommen  am  6.  N< 
vember  1910.  Zwilling.  Wurde  zwei  Monate  vor  der  normalen  Ze 
geboren.  Der  Zwillingsbruder  lebte  14  Tage.  Wurde  angeblich  clurc 
eine  luetische  Familie  infiziert. 

Gut  entwickelt  und  genährt.  Körpergewicht  13-25  kg.  In  doi 
rechten  Mundwinkel  linsengroßes,  graues,  speckige 
Geschwür.  Auf  der  linken  Tonsille  linsengroß' 
speckig  glänzende  Plaque.  Halsdrüsen  ein  wenig  gc 
schwollen.  Auf  der  Haut  disseminierte  blaßrote  M; 
culae.  Milz  gut  palpierbar.  Haut  blaß.  Wa  s sermannsche  R< 
aktion  :  H — I — j~. 

4.  November:  0-14  g  Arsenobenzol  (neutrale  Emulsio 
7  cm3  subkutan). 

In  den  der  Injektion  folgenden  24  Stunden  maximale  Ten 
peratur  38-3°  f  im  Mastdarm  acht  Stunden  nach  der  b 
jektion. 

10.  November:  Injektionsstelle  kaum  empfindlich. 

11.  November:  Das  Exanthem  ist  ein  wenig  abgeblab 
Ulkus  im  Mundwinkel  und  tonsilläre  Plaque  etwas  geremig 

12.  November:  An  der  Injektionsstelle  ist  die  Haut  weni 
entzündet  Exanthem  auffallend  abgeblaßt.  Geschwür  ai 
Mundwinkel  rein,  tonsilläre  Plaque  im  Sch  w  i  n  d  e  n  b  e  g  r  i  f  *’ 1 


Nr.  17 


597 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


15.  November:  An  Stelle  der  Maculae  ganz  blasse 
Pig m e n  t f  1  eck en.  Das  Geschwür  am  Mundwinkel  ist 
geheilt,  die  ton  s  il  lar  e  Plaque  is  t  geschwunden.  An  der 
Injektionsstelle  talergroßes,  flaches,  entzündetes  Infiltrat. 

20.  November:  Pigmentflecke  von  der  Haut  geschwunden. 
Infiltrat  an  der  Injektionsstelle  kleiner.  Hautfarbe  von  letzterer 
Röte.  Sehr  gutes  Allgemeinbefinden. 

27.  November:  Infiltrat  kaum  empfindlich,  wird  nach  und 
nach  kleiner.  Körpergewicht:  13-7  kg. 

* 

Wir  wandten  im  Anfänge  die  von  E  hrl  ich  ursprüng¬ 
lich  empfohlene  Dosis  von  0  005  g  pro  Kilogramm  Körper¬ 
gewicht  an.  Später  aber  gingen  wir  auf  die  Dosis  von 
0-008,  resp.  001  g  pro  Kilogramm  Körpergewicht  über. 
Größere  als  diese  Dosen  gaben  wir  auch  späterhin  nicht, 
da  nach  unserer  Wahrnehmung  das  Mittel  in  diesen  Gaben 
sich  als  wirksam  erwies. 

In  den  Fällen,  wo  die  Besserung  uns  nicht  befrie¬ 
digte,  stellten  wir  mit  Rücksichtnahme  auf  den  Zustand 
des  Kindes  die  Indikation  einer  wiederholten  Injektion  nach 
drei  bis  fünf  Wochen  auf,  ausgenommen  unseren  ersten 
Versuch,  in  welchem  wir  wegen  der  fehlerhaften  Technik 
die  zweite  Injektion  schon  nach  elf  Tagen  Vornahmen.  Die 
Dosis  der  zweiten  Injektion  bestimmten  wir  unabhängig 
von  der  ersten  nach  dem  jeweiligen  Körpergewicht.  Die  In¬ 
dikationen  einer  solchen  zweiten  Injektion  bildeten:  1.  Der 
langsame  'Rückgang  der  Symptome  und  2.  die 
Standard-  Positivität  der  Wasser  m  a  n  n  sehen  Reäk- 
lion. 

Intravenöse  Injektion  wandten  wir  mit  Rücksicht  auf 
das  Alter  unserer  Patienten  in  keinem  einzigen  Fälle  an; 
wir  applizierten  im  Anfänge  hei  unseren  Fällen  mit  Aus¬ 
nahme  eines  Falles,  in  welchem  eine  schwere  Dermatitis 
der  Glutäalregion  bestand  und  wir  daher  die  Injektion  unter 
dem  Rippenbogen  subkutan  gaben,  die  Injektionen  intra¬ 
muskulär  in  die  Glutäalmuskeln.  Später  geschah  die  Injek¬ 
tion  der  Salvarsanemulsion  noch  in  drei  Fällen  subkutan. 
Wegen  der  anfangs  allzu  großen  Flüssigkeitsmenge  (12  bis 
17  cm3)  verabreichten 'wir  die  Injektionen  in  beide  Hinter¬ 
backen,  später  aber,  als  bedeutend  geringere  Mengen,  durch¬ 
schnittlich  7  cm3,  zur  Injektion  gelangten,  nur  in  die  eine. 

Das  Verfahren  bei  Bereitung  der  Flüssigkeit  war  ein 
verschiedenes.  In  den  zwei  ersten  Fällen  wandten  wir  die 
von  Ehrlich  empfohlene  Methode  der  Methylalkohollösung 
an  und  injizierten  die  genau  neutralisierte,  ja  sogar  ein 
wenig  alkalisierte  Lösung.  Von  dieser  Methode  standen  wir 
aber,  wegen  der  an  der  Prager  dermatologischen  Klinik  ge¬ 
machten  unangenehmen  Erfahrungen  ab.  Die  auf  ähnliche 
Weise  bereitete  Glykollösung  verließen  wir  alsbald  wegen 
der  großen  Flüssigkeitsmenge  (12  cm3)  und  der  durch  sie 
hervorgerufenen  schmerzhaften  Infiltrationen. 

Später  benützten  wir  ausschließlich  die  von  Wech¬ 
sel  mann  empfohlene,  mittels  Essigsäure  und  Natronlauge 
bereitete  neutrale  Suspension.  Bei  dieser  war  die  Infiltra¬ 
tion  verhältnismäßig  weniger  hochgradig,  verschwand  auch 
ziemlich  rasch  und  bereitete  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  den 
Kranken  keine  Leiden.  Wir  können  im  allgemeinen  be¬ 
haupten,  daß  die  Applikation  der  neutralen  Suspension,  im 
Gegensatz  zu  den  Glykol-  und  Methylalkohollösungen,  nie¬ 
mals  mit  größeren  Schmerzen  verbunden  war.  Die  Infil¬ 
trate  an  den  Injektionsstellen  verhielten  sich  verschieden. 
Die  größten  Veränderungen  sahen  wir  bei  Verwendung  der 
Glykollösungen,  die  geringsten  bei  Applikation  der  mittels 
Essigsäure  neutralisierten  Natronlaugesuspensionen.  Die 
mittels  Salzsäure  bereiteten  neutralen  Suspensionen  ver¬ 
ursachten  in  vier  Fällen  große  Infiltrate  und  in  einem 
Falle  eine  mit  dem  Infiltrat  verbundene,  ziemlich  bedeu¬ 
tende  Nekrose  (Fall  VIII.  s.  Fig.  2h  Um  Nekrose  handelte 
es  sich  auch  bei  der  dritten  Injektion  des  K.  D.  (Fall  I, 
s.  Fig.  1),  wo  Glykollösung  zur  Verwendung  kam.3) 

3)  Bei  einem  Choreakranken  (Deutsche  med.  Wochensc.hr.  1911, 
Nr.  3),  bei  welchem  wir  das  Arsenobenzol  mit  Erfolg  anwandten,  ent¬ 
stand  auf  Injektion  der  We  ch  s  e  1  m  an  n  sehen  neutralen  Suspension 


Bloß  hei  einem  einzigen  unserer  Säuglinge  ver¬ 
suchten  wir  als  Einleitung  der  Behandlung  die  indirekte 
Anwendung  des  Salvarsans,  indem  wir  die  M  u  1 1  e  r,  welche 
manifeste  Luessymptome  zeigte,  einimpften.  In  diesem 


HBÜBi 


Fig.  14 


unseren  Falle  trat  eine  Woche,  nachdem  wir  die  stillende 
Mutter  geimpft  hatten,  an  dem  intensiv  makulösen  Exan¬ 
them  des  Säuglings  ausgesprochene  Herxheim  er¬ 
sehe  Reaktion  auf,  welcher  eine  ziemliche  Abblassung 
folgte,  jedoch  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade,  worauf  die 
weitere  Rückbildung  des  Ausschlages  aus¬ 
blieb.  Das  vollständige  Schwinden  des  luetischen 
Exanthems  erfolgte  erst  später  auf  direkte  Anwendung 
des  Salvarsans. 

In  diesem  unseren  Fälle  erfolgte,  wie  wir  weiter 
unten  sehen  werden,  zehn  Wo  c  h  e  n  nach  der  direkten 
Injektion,  trotzdem  inzwischen  die  Wasser  m  a  n  n  sehe  Re¬ 
aktion  negativ  wurde,  ein  zweifelloses  Rezidiv  mit  milden 
Symptomen. 

Wiederholte  Injektionen  gaben  wir  in  10  von  unseren 
27  Fällen: 

Fall  I.  5  Wochen  alt,  Körpergewicht  3710  g. 

16.  Juli  .  .  .  0  02  g 

10.  August  .  .  0'05  ,, 

31.  „  .  .  0'05  „ 

Insgesamt  .  0T2  g 

Fall  IV.  7  Wochen  alt,  Körpergewicht  4210  g. 

13.  September  .  0  045  g 
4.  Oktober  .  .  0  040  ,, 

Insgesamt  .  0  085  g 

Fall  VI.  7  Wochen  alt,  Körpergewicht  4700  g. 

4.  Oktober  .  .  0‘04  g 

28.  „  .  .  0  05  „ 

Insgesamt  .  0'09  g 

Fall  XV.  10  Jahre  alt,  Körpergewicht  27  kg 
3.  September  .  .  0'215  g 

27.  „  .  .  Q-230  „ 

Insgesamt  .  0'445  g 

Fall  XVI.  4 V-2  Jahre  alt,  Körpergewicht  14  kg. 

1.  Oktober  .  .  .  0T4  g 

21.  „  .  .  •  0T6  „ 

Insgesamt  .  0'30  g 


eine,  dem  ziemlich  großen  Infiltrate  entsprechende  Hantnekrose  in  der 
Größe  einer  Krone  (s.  Fig.  14.) 


598 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  \911. 


Nr.  17 


Fall  XVIII.  2  Jahre  alt,  Körpergewicht  10  kg. 

13.  September  .  .  0  09  g 

12.  Oktober  .  .  0  11  ,, 

Insgesamt  .  0'20  g 

Fall  XIX.  2 Va  Jahre  alt,  Körpergewicht  10 1/2  kg. 

27.  September  .  .  0T1  g 

21.  Oktober  .  .  0  10  ,, 

Insgesamt  .  0'21  g 

Fall  XXII.  10  Jahre  alt,  Körpergewicht  3L60  kg. 

4.  November  .  .  0'31  g 

1.  Dezember  .  .  0  29  ,, 

Insgesamt  .  0'60  g 

Fall  XXV.  11  Jahre  alt,  Körpergewicht  32  kg. 

11.  Juli . 016  g 

22.  „  .  .  .  .  .  016  „ 

Insgesamt  .  0’32  g 

Fall  XXVI.  IV2  Jahre  alt,  Körpergewicht  ll'/s  kg. 

10.  August  .  .  .  O'IO  g 

31.  „  .  .  ■  O'IO  „ 

Insgesamt  .  0’20  g 

Stärkeres  Fieber  sahen  wir  kaum  nach  den  Injektionen. 
Die  fieberhafte  Temperatur  zeigte  zumeist  einen  kaum  höhe¬ 
ren  Anstieg  und  wenn  schon  ein  solcher  sich  ergab,  so 
sank  er  in  den  zweiten  24  Stunden  spontan  und  schwand 
alsbald. 

Stärkeres  Fieber  sahen  wir  in  unserem  Fall  VI,  VII 
und  VIII,  wo  die  Temperatur  im  Mastdarm  in  den  ersten 
24  Stunden  39  1,  39  8,  resp.  39-3°  C  betrug.  Unser  Fall  VII 
(sechswöchiger  Säugling),  wo  die  Temperatur  im  Mastdarm 
auf  39-8°  anstieg,  hatte  schon  vor  der  Injektion  Fieber 
(38-2°),  doch  fiel  auch  hier  die  Temperatur  schon  am 
nächsten  Tage  und  am  dritten  Tage  war  das  Kind  fieber¬ 
frei.  In  unserem  Fall  VI,  wo  die  Temperatur  im  Mastdarm 
am  ersten  Tage  auf  391°  emporschnellte,  war  dieses  Ma¬ 
ximum  schon  acht  Stunden  nach  der  Injektion  nicht  mehr 
zu  beobachten. 

In  zweien  unserer  Fälle,  wo  sich  am  dritten  und  vierten 
Tage  nach  der  Injektion  ausgesprochene  Herxheimer- 
sche  Reaktion  zeigte,  war  das  Auftreten  derselben  mit  keinem 
Fieber,  resp.  mit  keinem  Wiederaufflackern  des  Fiebers 
verbunden. 

Das  Körpergewicht  der  behandelten  Säuglinge  zeigte 
nach  Anwendung  des  Salvarsans  folgende  Veränderung: 


1.  Fall  na 

ihm  in  3  Monaten 

3100 

3.  „ 

„  „  3 

2200 

4.  „ 

„  3 

1500 

5.  ,, 

2‘b 

1500 

6.  „ 

”  ”  1V2 

1500 

7-  „ 

„  lV-2  ,. 

500 

8.  „ 

„  1 

900 

9.  „ 

„  „  1 

90 

10.  „ 

„  „  1 

250 

ln  unserem  zweiten  Falle,  dem  einzigen,  bei  wel¬ 
chem  wir  in  der  der  Injektion  folgenden  Woche  einen  nen¬ 
nenswerten  Gewichtsverlust  beobachteten,  erfolgte  ein 
Gewichtssturz  von  230  g.  Wie  sich  das  Körpergewicht  in 
diesem  Falle  weiter  verhielt,  entzieht  sich  unserer  Kenntnis, 
da  der  Patient  eine  Woche  später  endgültig  unseren  Augen 
entschwand.  In  unserem  Fall  X  trat  bald  nach  der  Injektion 
aber  unabhängig  von  ihr  —  Erysipel  auf.  Die  Gewichts¬ 
änderung  ist  daher  hier  nicht  zu  verwerten.  Fall  XI  und 
XII  wurden  nach  einwöchiger  Spitalsbehandlung  auf  das 
Land  gebracht;  wir  konnten  daher  die  Gewichtsschwankun¬ 
gen  nicht  länger  beobachten,  doch  nahm  Fall  XI,  100  g, 
Fall  XII  200  g  während  einer  Woche  zu. 

Die  G<  wichtszunahme  kann  daher  bei  einem  guten 
Teil  unserer  Säuglinge  als  ziemlich  günstig  a  n  ge¬ 
sprochen  w  e  r  d  e  n,  was  ich  um  so  mehr  hervorheben 
muß,  da  bei  Quecksilberbehandlung  die  Gewichts¬ 
zunahme  ziemlich  lange  unter  dem  Mittel  zu 
bleiben  pflegt. 

Bedeutendere  Verdauungsstörungen  beobachteten  wir 
bei  unseren  Säuglingen  im  Verlaufe  der  Behandlung  nicht 


und  wenn  sich  solche  geringeren  Grades  einstellten,  waren 
sie  nicht  Folgen  des 'Salvarsans,  Isondern  des  unregelmäßigen 
Stillens. 

Bei  unseren  Patienten  jenseits  des  ersten  Jahres  kamen 
Verdauungsstörungen  überhaupt  nicht  vor. 

Die  Beobachtungsdauer  in  unseren  Fällen  war  wie 

folgt : 

L  ä  n  g  e  r  als  vie  r  M  o  n  a  t  e  beobachteten  wir 
14  Fälle,  zwei  bis  vier  Monate  6  Fälle,  während 
in  6  Fällen  die  Beobachtungsdauer  kaum  zwei  Mo- 
n  a  t  e  betrug. 

Von  14  lange  beobachteten  Fällen  währte  die  Beob¬ 
achtung  hei  zweien  (Fäll  I  Und  XXV)  8  Monate,  bei 
dreien  (Fall  III,  IV  und  XXVIII)  6,  resp.  7  Monate. 
Von  diesen  drei  Fällen  trat  bei  dem  einen  (Fall  IV)  drei 
Monate  nach  der  wiederholten  —  zweiten  — 
Injektion  ein  Rezidiv  auf.  In  einem  weiteren  Fälle  (Fall 
XII),  wo  die  Beobachtung  vier  Monate  währte  und  bei 
welchem  die  erste  Injektion  am]  3.  November  vorgenommen 
wurde,  konstatierten  wir  das  Rezidiv  am  3.  März,  ob¬ 
wohl  die  W  as  s  e  r  m  an  n  sehe  Reaktion  fünf  Wochen 
vorher  schon  negativ  war.  In  einem  dritten  unserer  Fälle 
(Beobachtungszeit  4V2  Monate),  wo  wir  zuerst  die  luetische 
stillende  Mutter  injizierten  und  die  direkte  Injektion  bei  dem 
Säugling  erst  nachträglich  Vornahmen,  erfolgte  das  Rezi 
div  zehn  Wochen  später,  während  die  Wassermann- 
sche  Reaktion  inzwischen  negativ  wurde.  Von  unseren 
26  Fällen  sahen  wir  bisher  diese  drei  Rezidive. 

Bei  makulo-papu losem  Exanthem  trat  im  Anschlüsse 
an  die  Injektion  in  jedem  einzelnen  Falle  eine  solche  au  gen- 
scheinlich’e  V  e  r  ä  n  d  e  r  u  n  g  u.  zw.  in  v  e  r  h  ä  1 1  n  i  s- 
mäßig  kurzer  Zeit  ein,  daß  wir  schon  hieraus  auf  die 
unzweifelhafte  Heilwirkung  des  Salvarsans  schließen  konnten. 
Schon  den  zweiten,  noch  mehr  den  dritten  Tag  nach  der 
Injektion  sahen  wir  den  in  allen  unseren  Fällen  ziemlich 
intensiven  Ausschlag  augenfällig  abblassen;  während  der¬ 
selben  Zeit  schrumpften  Papeln  mit  exulzerierter  Oberfläche 
zu  bräunlichen  warzenähnlichen  Gebilden  ein,  wurden  nach 
und  nach  flacher,  um  sich  alsbald  kaum  über  das  Niveau 
der  Haut  zu  erheben.  Alle  diese  Veränderungen  erfolgten 
in  solch  rascher  Reihenfolge,  daß  binnen  fünf  bis  zehn 
Tagen  das  intensive,  makulöse,  resp.  makulo-papulöse  Exan¬ 
them  bloß  durch  fahlbräunliche  Pigmenflecken  angedeutet 
war.  Besonders  auffallend  war  die  rasche  Epithelisierung 
exulzerierter  Papeln,  welche  nicht  selten  schon  nach  Verlauf 
von  drei  bis  vier  Tagen  erfolgte,  ohne  daß  wir  lokal  außer 
der  gewöhnlichen,  alltäglichen  Reinigung  irgend  etwas  an¬ 
gewandt  hätten. 

Aehnliche  günstige  Erfahrungen  machten  wir  in  un¬ 
seren  Fällen  mit  breiten  Kondylomen.  Wie  durch  die  Serie 
unserer  Abbildungen  dargetan  wird,  ging  die  Rückbildung 
der  Kondylome  mit  ungewöhnlicher  Raschheit  vor 
sich.  Vernachlässigte,  sukkulente  Kondylome  mit  miß- 
farbiger,  speckiger  Oberfläche  reinigten  sich  schon  in  zwei 
bis  drei  Tagen;  sie  hörten  auf  zu  nässen  und  die  Epitheli¬ 
sierung  war  binnen  vier  bis  sechs  Tagen  vollendet.  Die 
vollständige  Abflachung  und  das  Schwinden  der  Kondylome 
erfolgte  in  allen  unseren  Fällen  so  rasch,  daß  nach  den 
der  Behandlung  folgenden  zwei  Wochen  die  Stelle  der  Kon¬ 
dylome  von  ziemlich  imposanter  Größe  um  den  After  bloß 
durch  einige  blaßrote  Flecken  angedeutet  war. 

Eine  ähnlich  schnelle  Wirkung  sahen  wir  vom  Salv- 
arsan  hei  den  Rhagaden  der  Lippe.  Mißfarbige,  blu¬ 
tende  Rhagaden,  welche  den  Kranken  sehr  belästigten, 
reinigten  und  epithelisierten  sich  binnen  einigen  Tagen, 
wobei  auf  dem  Lippenrot  kaum  merkbare  Spuren  zurück 
blieben. 

Die  schmierigen,  speckigen  Geschwüre  auf  der  Schleun- 
haut  der  Mund-  und  Rachenhöhle,  welche  bekanntlich  der 
Quecksilberbehandlung  lange  und  hartnäckig  widerstehen, 
reinigten  sich  auf  Salvarsan  rasch  und  schon  zwei  bis 
drei  Tage  nach  der  Injektion  konnten  wir  nebst  der  Reini- 
i  gung  eine  Verkleinerung  der  Wundflächen  konstatieren. 


Nr.  17 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


599 


Die  beigegebene  Figur  (Kg.  15)  stellt  in  beiläufiger 
natürlicher  Größe  das  perforierende  Gaumengeschwür  eines 
zehnjährigen  Mädchens  vor  der  Behandlung  mit  Salvarsan 
dar.  Dieses  Geschwür,  aus  dessen  Grund  Spirochäten  zahl 


rig.  n>. 

reich  nachgewiesen  werden  konnten,  verkleinerte  sich  nach 
der  am  1.  Dezember  (1910)  applizierten  Injektion  von  0-29  g 
Salvarsan  in  solchem  Maße,  daß  es  am  22.  Januar  1911 
sozusagen  vernarbt  war  und  bloß  eine  stecknadelkopfgroße 
Oeffnung  sich  an  Stelle  des  zweihellergroßen  Geschwürs 
befand.  (Dieser  einer  späteren  Beobachtungszeit  ungehörige 
lall  figuriert  nicht  unter  den  oben  erwähnten.) 

In  lauffallender  Weise  wurden  bei  unseren  Säuglingen 
die  charakteristischen  Veränderungen  an  den  (Hand¬ 
flächen  und  Sohlen  durch  Salvarsan  beeinflußt.  Das 
Bild  der  Infiltratio  diffusa  glabra,  desquama¬ 
te  v a  u nderos a  auf  der  Haut  der  Sohlen  und  Handflächen 
änderte  sich  binnen  einigen  Tagen  und  eine  Woche  nach 
der  Injektion  zeigte  die  Haut  der  Handflächen  und  Sohlen 
beinahe  das  (normale  Bild,  höchstens,  daß;  ein  geringer 
speckiger  Glanz  noch  wahrzunehmen  war,  welcher  aber  auch 
alsbald  schwand.  Aehnlich  verhielt  sich  die  diffuse  Infil¬ 
tration  der  Gesichtshaut,  welche  in  zweien  unserer  Fälle 
sehr  ausgesprochen  war,  gegen  Salvarsan. 

In  zwei  Fällen  bestand  neben  dem  charakteristischen 
Exanthem  Osteochondritis  cubitoru m  mi I  d em 
Bilde  der  Pseudoparalysis  lue  tic  a  (Parrot)  und 
(vir  sahen  (Fall  I  und  III),  daß  schon  am  vierten  bis 
fünften  lag  nach  der  Injektion  die  Schmer z- 
b  a  f  t  i  g  k  e  i  t  d  e  r  E  1 1  b  o  g  e  n ,g  e  1  e  n  k  e  n  a  c  h  1  i  e  ß,  die 
Säuglinge  anfingen  die  oberen  Extremitäten  zu  bewegen  und 
laß  nach  zwei,  resp.  drei  Wochen  die  Symptome  der  Osteo- 
hondritis  vollständig  und  ohne  eine  Spur  zu  hinterlassen, 
surückgingen  und  die  Kinder  die  vorher  stark  schmerzenden 
Bieder  lebhaft  bewegen  konnten.  Hochsinger4)  machte 
n  einem  Falle  ähnliche  günstige  Erfahrungen.  Hier  ging  die 
Isteochondritis  mit  Epiphysenlösung  einher  und  trotzdem 
legann  der  siebenwöchige  Säugling  schon  am  sechsten  Tage 
'ach  Salvarsan  die  Glieder  zu  bewegen  und  die  Vereinigung 
ler  Knochenenden  erfolgte  sehr  bald. 

.  Dei  einem  unserer  Säuglinge  bestand  neben  schweren 
uetischen  Hautveränderungen  eine  auf  alle  Nägel  sich 
^streckende  Paronychia  ulcerosa  mit  mißfarbi- 
jen  Geschwüren.  Nach  Anwendung  des  Salvarsans 
leilte  der  Prozeß  binnen  kaum  zwei  Wochen,  wobei  außer 
gewöhnlicher  Reinlichkeit  nichts  Lokales  einwirkte. 

Das  Salvarsan  beeinflußte  in  jedem  unserer  Fälle  anf¬ 
allend  rasch  in  günstiger  Weise  die  luetische  Koryza 
iud  die  stark  beeinträchtigte  Nasenrespiration  wurde  in  zwei 
•is  drei  Tagen  frei.  In  den  Fällen  Ilf,  VI,  VII,  Vlll  und  X, 
f°  Rhinitis  specifica  mit  reichlichem  eitrig-blutigem 
sekret  einherging,  konnten  wir  schon  24  Stunden  nach 


4)  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinder- 
leilkunde  in  Wien  1911,  Nr.  2,  S.  30. 


S a  1  va l sanin j ek lion  eine  augenfällige  Abnahme  der  Menge 
des  Sekretes  wahrnehmen  und  in  drei  bis  vier  Tagen  hörte 
die  Absonderung  endgültig  auf.  liiere  meine  Beobach¬ 
tung  steht  im  Gegensatz  zu  den  auf  weniger  Fälle  sich 
stützenden  negativen  Erfahrungen  E  s  c  h  e  r  i  e  h  s.5) 

Von  den  im  Gefolge  der  Lues  hereditaria  auftretenden 
Augenleiden  beziehen  sich  unsere  Erfahrungen  zumeist  auf 
Erkrankungen  der  Kornea.  Wie  wir  sahen,  wandten  wir  das 
Salvarsan  in  vier  solchen  Fällen  an,  von  welchen  drei 
typische  Keratitis  parenchymatosa  waren,  einer  aber,  bei 
welchem  die  Infiltration  wohl  im  Stratum  der  Kornea  statt¬ 
halte,  jedoch  keinen  diffusen  Charakter  besaß,  sondern  einen 
zirkumskripten  Herd  bildete,  zu  jenen  selteneren  Formen 
dei  Keiatitis  parenchymatosa  gehörte,  welche  von  einigen 
als  Keratitis  gummosa  bezeichnet  werden.  Wir  müssen  so¬ 
gleich  bemerken,  daß  außer  Mydriatika,  um  der  Irishyper¬ 
ämie  und  etwaigen  Komplikationen  vorzubeugen,  keine 
lokale  Behandlung  stattfand. 

Wie  aus  den  Krankenbeschreibungen  hervorgeht  (Fäll 
Xl\ ,  XV,  X\  I,  XVII),  handelte  es  sich  in  Fall  XIV  um  einen 
kornealen  Prozeß,  welcher  auf  dem  einen  Auge  in  Rück¬ 
bildung  begriffen,  auf  dem  anderen  auf  seinem  Höhepunkt 
wai,  in  Fall  XV  um  Infiltration,  welche  auf  dem  einen  Auge 
voll  zur  Entwicklung  kam,  auf  dem  anderen  sich  sektor- 
iöimig,  rapid  einstcllte,  irn  Fall  XVI  um  gänzliche  Trübung 
dei  ( inen  Kornea,  auf  der  anderen  um  die  allerersten  Sym¬ 
ptome  beginnender  Keratitis  parenchymatosa,  im  Fälle  XVII 
aber  um  umschriebene,  torpide  Keratitis. 

Geradezu  der  \\  irkung  des  Arsenobenzols  müssen  wir 
es  zuschreiben,  daß  in  Fall  XV  das  stark  ausgesprochene 
rräiienträufeln  und  die  Photophobie  plötzlich  schwanden, 
w.is  aber  nicht  von  Dauer  war.  Die  in  diesem  Falle  wieder¬ 
holte  Injektion  hatte  die  gleiche  Wirkung.  Auffallend  war 
weiterhin  der  günstige  Einfluß  auf  die  ziliare  Injektion,  mit 
welchem  die  raschere  Erweiterung  der  hartnäckig  verengten 
Pupille  Schritt  hielt. 

Fall  XV  und  XVI  können  zur  Entscheidung,  ob  das 
Salvarsan  imstande  ist,  den  Ausbruch  der  Keratitis  paren¬ 
chymatosa  auf  dem  anderen  Auge  zu  verhindern,  respektive 
in  ihrer  Entwicklung  hintanzuhalten,  herangezogen  werden. 
Auf  die  erste  Frage  müssen  wir  im  Anschluß  an  Fall  XVI 
mit  X  e  i  n  antworten,  da  sich  trotz  der  Injektion  aus  den 
allerersten  Anfängen  eine  vollständige,  wenn  auch  milde 
Keratitis  parenchymatosa  entwickelte;  in  betreff  der  letz¬ 
teren  Frage  können  wir  uns  nicht  (dem  Eindruck  verschließen, 
daß  die  Infiltration  der  Kornea  nach  Salvarsanan Wendung 
langsamer  fortsebritt.  Lebhaft  spricht  hiefür  Fall  XV,  bei 
welchem  von  einem  Tage  auf  Iden  andern  ein  großes  Segment 
fiel  Kornea  von  der  Infiltration  ergriffen  wurde,  welche  nach 
der  an  diesem  Tage  verabfolgten  Injektion  sich  langsam  und 
in  einer  Weise  entwickelte,  wie  wir  sie  gewöhnlich  bei  Kera¬ 
titis  parenchymatosa  nicht  beobachten,  sie  wandern  nämlich 
von  der  unteren  Korneahälfte  vor  das  Zentrum  und  von  hier 
auf  die  oberen  Partien,  indem  sie  aufgehellte  Teile  hinter 
sich  zurückließ  (s.  Fig.  5  a,  b,  c). 

Was  den  Heilerfolg  betrifft,  sind  Fall  XIV  und  XV  ge¬ 
heilt,  in  Fall  XVI  und  XVII  ist  die  Aufhellung  der  Kornea 
im  Zuge  u.  zw.  in  einem  Maße,  daß;  in  beiden  Fällen  die 
vollständige  Aufhellung  zu  erwarten  steht.  Wenn  wir  in 
Betracht  ziehen,  daß  wir  neben  dem  Salvarsan,  abgesehen 
von  der  üblichen  reizenden  lokalen  Behandlung,  bloß  My- 
driatica  benützten  und  daß  trotzdem  die  Infiltration  der 
Kornea  in  verhältnismäßig  geringer  Zeit  schön  zurückging, 
so  dürfen  wir  vielleicht  trotz  der  geringen  Anzahl  der  beob¬ 
achteten  Fälle  der  Meinung  Ausdruck  geben,  daß  wir  durch 
das  Salvarsan  in  der  Behandlung  der  im  Gefolge  der 
Lues  hereditaria  bei  Kindern  auf  tretenden  Keratitis  pa¬ 
renchymatosa  in  den  Besitz  eines  wertvollen 
Heilfaktors  gelangte  n.6) 

'')  Wiener  med.  Wochen  sehr.  1910,  Nr.  46,  S.  2749. 

b)  Mit  dieser  Erklärung  geraten  wir  einigermaßen  in  Gegensatz 
mit  einer  ganzen  Reihe  von  Beobachtern.  Tomasczewski  schreibt 
nämlich  in  seiner  Broschüre  »Zusammenfassende  Uebersicht  der  Salv- 


600 


Nr.  17 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


In  unserem  Fall  XXI,  wo  wir  einen  luetischen  Gehirn¬ 
tumor  annahmen,  hot  der  Augenhefund  in  der  ersten  Zeit 
das  Bild  der  Stauungspapille,  an  welche  sich  nach  und  nach 
neuritische  Erscheinungen  anschlossen,  welche  in  der  Farbe 
der  Papille,  sowie  den  weißlichen,  die  Blutgefäße  beglei¬ 
tenden  Streifen  zum  Ausdruck  kamen.  Der  atrophische  Pro¬ 
zeß  war  schon  vor  der  Salvarsananwendung  an  der  äußeren 
Hälfte  der  Papillae  nervi  optici-  zu  konstatieren,  während 
an  der  nasalen  Hälfte  di.e  Papillargrenzen  noch  verwischt 
waren,  die  Papilla  selbst  abeT  höher  war,  als  auf  der  tem¬ 
poralen  Seite.  Die  stark  herabgesetzte  Sehkraft  zeigte  eine 
Woche  nach  der  ersten  Injektion  eine  bedeutende  Besserung, 
indem  Fingerzählen  auf  1,  resp.  2  m  sich  auf  fragliche  5/50 
besserte.  Zu  gleicher  Zeit  waren  (schon  die  nasalen  Ränder 
der  Papilla  durchscheinender.  Die  Farbe  der  Papilla  übergeht 
immer  mehr  ins  Graue,  wobei  der  Visus  sich  rechts  auf  5/15, 
links  auf  5/20  bessert.  Zwei  Wochen  nach  der  Injektion 
wurde  die  Farbe  der  Papilla  wieder  röter,  gleichsam  den 
drei  Tage  später  eintretenden  Kopfschmerz  vorher  verkün¬ 
dend,  aber  ohne  wesentliche  Herabsetzung  des  Visus.  Auf 
die  dazumal  angewendete  Lumbalpunktion  (25  cm3  Liquor 
cerebrospinalis)  blaßten  die  Papillen  wieder  ab  und  wurden 
die  Konturen  auf  der  nasalen  Hälfte  wieder  schärfer. 

Vier  Tage  nach  der  zweiten  Salvarsäninjektion  er¬ 
reichte  der  Visus  seinen  bisher  höchsten  Stand.  Visus: 
Oc.  dext.  5/15;  Visus:  Oc.  sin.:  5/10  (??),  aus  unbekannter 
Ursache  sank  dieser  Visus  den  zweiten  Tag  auf  5/30,  re¬ 
spektive  5/20;  nach  zwei  Tagen  wieder  5/15.  Das  ophthal¬ 
moskopische  Bild  zeigt  gegen  den  ursprünglichen  Zustand 
in  der  mehr  grauen  Farbe  der  Papillae  nervi  optici  und 
in  der  schärferen  Konturierung  der  nasalen  Hälfte  der  Pa¬ 
pilla  eine  Veränderung. 

Bei  der  Bestimmung  des  Visus  fällt  es  auf,  daß  das 
Kind  die  Buchstaben  gleichsam  zu  suchen  scheint,  während 
es  sich  im  Raume  gut  und  leicht  zu  orientieren  weiß.  Wahr¬ 
scheinlich  sind  im  Gesichtsfelde  mehrere  kleine  Skotome 
vorhanden. 

Bei  einem  Säuglinge,  wo  es  sich  um  mäßigen  Hy  dro- 
ceplialus  internus  ohne  funktionelle  Störungen  han¬ 
delte,  gewann  ich  nach  mehrmonatiger  Beobachtung  den 
Eindruck,  als  ob  das  Fortschreiten  des  Hydrozephalus  aus¬ 
geblieben  wäre.  In  einem  anderen  Falle,  wo  neben  mäßigem 
Hydrozephalus  schwere  spastische  Erscheinun¬ 
gen  in  den  Gliedmaßen  vorhanden  waren,  sah  ich  vom 
Salvarsan  keine  Heilwirkung  auf  diese  Symptome. 

Unter  meinen  hier  angeführten  Fällen  sind  keine  mit 
gummösen  Knochenveränderungen,  später  unterzog  ich 
mehrere  solche  Fälle  der  Salvarsanbehandlung  und  will 
ich  hier  nur  kurz  bemerken,  daß  die  Heilwirkung  des  Salv- 
arsans  sich  auch  da  in  jedem  Falle  bewährte  und  die  gum¬ 
mösen  Auftreibungen  schon  drei  und  vier  Tage  nach 
der  Anwendung  augenfällig  abflachten.  Da  diese  f  älle 
erst  seit  zwei  bis  drei  Wochen  in  meiner  Behandlung  stehen, 
will  ich  mich  an  dieser  Stelle  nicht  eingehender  mit  ihnen 
befassen. 

Die  bei  unseren  Säuglingen  beobachteten,  ziemlich  im¬ 
posanten  Milztumoren  gingen  parallel  mit  dem  Nach¬ 
lassen  der  luetischen  Symptome  zurück,  doch  konnte  ich 
fast  in  jedem  meiner  Fälle,  selbst  nach  Eintritt  vollständiger 
Heilung,  nach  Wochen,  ja  Monaten  eine  persistierende 
leichte  Hypertrophie  d e r  M i  1  z  konstatieren,  selbst 
in  Fällen,  wo  die  stark  positive  Wass  ermannsche  Re¬ 
aktion  vollständig  und  dauernd  negativ  wurde. 

Genauere  Blutuntersuchungen  nahmen  wir  bei  unseren 
Fällen  nur  hie  und  da  vor,  doch  auch  ohne  sie  fiel  uns 

arsanbehandlung  der  Syphilis«  (Wien  1911)  folgendes:  Die  Erfolge  der 
Syphilisbehandlung  bei  Fällen  kongenitaler  Syphilis  mit  Keratitis  paren- 
chymatosa  sind  nur  geringe.  Nach  I  ge  r  she  im  er  ist  das  Fazit  der 
bisherigen  Reobachtungen  von  ihm  selbst,  Treupel,  Neisser  und 
Kuzmitzky,  Linden  m  eye  r,  Schanz,  Sandmann,  Wechsel¬ 
mann  u.  Seeligsohn,  Fehl-,  Glück,  Fraenkel  und  Grouven 
(auch  Jadassohn),  daß  der  Hornhautprozeß  fast  nie  oder  nie  mit 
Sicherheit  durch  Applikation  des  Ehrlich  sehen  Mittels  —  in  welcher 
Form  es  auch  gegeben  wurde  —  bis  jetzt  beeinflußt  wurde. 


das  ziemlich  rasche  Schwinden  der  Blässe  bei  den  Kindern, 
besonders  den  Säuglingen,  auf.  ln  dem  einen  und 
anderen  Falle  löste  schon  nach  einigen  Wochen  eine 
lebhafte,  gesunde  Farbe  die  fahle  Blässe  ab.  Bei 
unseren  neueren  Beobachtungen  machten  wir  eingehende 
Blutuntersuchungen  und  verfolgten  mit  Aufmerksamkeit, 
welche  Veränderungen  das  histologische  Blutbild  erleidet. 
Die  Ergebnisse  dieser  Untersuchungen  werden  wir  seinerzeit, 
(gesondert  publizieren. 

Das  Verhalten  der  Wasser  m ann sehen  Reaktion 
nach  der  Injektion  konnten  wir  in  folgenden  Fällen  beob¬ 
achten  :  7) 


1.  Fall 

nach  107  Tagen 

negativ 

3.  ,, 

76  „ 

schwach  positiv  (2 

4.  „ 

>> 

49  „ 

negativ  (nach  3 

8.  „ 

35  „ 

negativ 

9-  „ 

>  j 

52  „ 

negativ 

11.  „ 

HO  „ 

schwach  positiv 

12.  „ 

61  „ 

negativ  (nach  5 

13.  „ 

» ? 

75  „ 

negativ  (nach  6 

14.  „ 

„ 

36  „ 

negativ 

15.  „ 

62  „ 

negativ 

16.  „ 

)  > 

45  „ 

geringe  Lysis 

17.  „ 

»> 

18  „ 

schwach  positiv 

18.  „ 

> ) 

22  „ 

geringe  Lysis 

21.  „ 

43  „ 

schwach  positiv 

93.  „ 

33  „ 

schwach  positiv 

95.  „ 

J  J 

112  „ 

geringe  Lysis 

26.  „ 

55  „ 

negativ 

27.  „ 

>> 

26  „ 

schwach  positiv 

Unsere  hierauf  bezüglichen  Erfahrungen  stimmen  daher 
mit  den  in  der  Literatur  publizierten  Ergebnissen  überein. 
Das  Verfahren,  nach  welchem  wir  die  Reaktion  ausführten, 
war  die  ursprüngliche,  von  Wasser mann-Neisser- 
Bruck  beschriebene  Methode.8)  [-* 

Die  Abschwächung  der  Reaktion  ist  nach  unseren  Er¬ 
fahrungen  insoferne  individuell,  daß,  während  v\ii  in  ein-  . 
/.einen  Fällen  schon  am  22.  Tage  wahrnahmen,  daß  die 
Reaktion  bloß  als  schwache  Lysis  bestehe,  indessen  in  an¬ 
deren  Fällen,  z.  B.  im  XXV.  (R.  S.)  eine  so  hochgradige 
Abschwächung  der  Reaktion  erst  am  112.  Page  eintrat.  1 
Im  allgemeinen  können  wir  aber  auf  Grund  unserer  Erfah¬ 
rungen  behaupten  —  abgesehen  von  unseren  ersten  Fällen, 
wo  wir  relativ  kleinere  Dosen  gaben  und  die  Reaktion  daher 
länger  positiv  blieb  —  daß,  die  negative  Veränderung  bei 
stufenweiser  Abschwächung  am  Ende  der  sechsten  bis 
achten  Woche  zu  erwarten  steht.  Wir  wollen  bemerken, 
daß  im  Falle  der  R.  S.  (Fall  XXV)  die  schon  schwache 
Lysis  zeigende  Reaktion  bei  der  vier  Wochen  späteren  Unter- i 
suchung  mittelstark  wurde  (++),  trotzdem  das  Mädchen  als 
vollständig  geheilt  betrachtet  werden  kann. 

In  unserem  vierten  Falle  (zweimonatiges  Kind),  wo 
trotz  der  wiederholten  Injektion  (Gesamtmenge  0-085  g  Salv¬ 
arsan),  nach  drei  Monaten  eine  unzweifelhafte 
Rezidive  erfolgte,  wurde  die  negative  Reaktion  mit  Ein¬ 
tritt  der  Rezidive  schwach  positiv. 

ln  der  Novembernummer  1910,  Nr. 22,  der  ,,La  Clinique 
Infantile“  erschien  unter  dem  Titel  ,,Une  juste  revendi-i 
cation  ä  propos  du  606“,  ein  kurzer  polemischer  Artikel, 
in  welchem  unter  Sternchen  folgende  Anmei’kung  stellt. 
„D’a  pres  les  renscignements,  que  nous  avons 
p  u  r  e  c  u  e  i  1 1  i  r,  1  e  „606“  s  e  r  a  i  t  u  n  remede  des; 
plus  dangereux  ä  manier  dans  la  syphilis  de 
l’enfance.  On  au r ait  observe  plusieurs  acci 
dents  morteis  apres  son  emploi  chez  les  nour 
rissons.“  Meine  eigenen  Beobachtungen  bestätiget 
keinewegs  die  Skepsis  des  anonymen  französischen  Autors 

7)  In  allen  diesen  Fällen  war  die  Reaktion  vor  der  Injektioi 

stark  positiv  +-(-  +  •  ,  .  ,  .  „  n„ni 

8)  Herrn  Kollegen  Dr.  Geza  Turan  spreche  ich  meinen  uani 
aus  für  die  freundliche  Mitwirkung  bei  der  Ausführung  der  Was  sei 
m  ann  sehen  Reaktion. 


Nr.  17 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


601 


Ja,- sie  beweisen  sogar  im  Gegenteil  und  ich  betrachte  dies 
als  bedeutendstes  Ergebnis  meiner  Versuche  —  daß'  in  be¬ 
friedigendem  Zustande  befindliche,  n  a  Ui  r- 
1  i c h  genährte  Säuglinge,  das  Salvarsan,  1  cg  auf 
1  kg  Körpergewicht  genommen,  intragluläal  appliziert,  ohne 
Schaden  und  gut  vertragen.9)  Das  in  unserer  Be¬ 
handlung  gewesene  SäuglingsmateriaHst  sehr  geeignet  dazu, 
bei  meinen  Pädiaterkollegen,  jene  Befürchtungen,  die  direkte 
Anwendung  des  Salvarsans  bei  Säuglingen  betreffend,  welche 
Prof.  Ehrlich  selbst  auf  der  Frankfurter  Versammlung 
so  betonte,  zu  zerstreuen. 

Auf  Grund  meiner  bisherigen  Erfahrungen  bin  ich 
der  Meinung,  daß  das  ,,606“  bei  der  Lues  des  Kindes¬ 
alters,  des  Säuglingsalters  mitinbegriffen,  in  betreff  der 
Raschheit  der  symptomatischen  Heilwirkung 
die  Quecksilberpräparate  übertrifft.  Ob  die 
Wirkung  bei  dem  von  uns  befolgten  Verfahren  von  Dauer 
ist,  darauf  kann  natürlich  nur  eine  längere,  auf  Monate 
sich  erstreckende,  genaue  Beobachtung  unserer  Fälle  Ant¬ 
wort  geben.  Unsere  drei  Rezidiven  weisen  jeden 
falls  darauf  hin,  daß  die  Einzelheiten  der 
Salvarsan  behandlung  heute  auch  bei  der  Hei¬ 
lung  der  Lues  des  Kindesalters  noch  nicht 
endgültig  festgestellt  sind. 

Zur  Diagnostik  und  Pathogenese  der  Gallen¬ 
steine. 

Von  Prof.  Dr.  E.  ßiernncki,  Lemberg. 

Wenn  auch  die  Diagnostik  der  Gallensteine  als  einiger¬ 
maßen  erschöpft  und  gut  geigründet  gilt,  so  daß  gegen¬ 
wärtig  der  Gallensteinanfall  nicht  so  leicht  und  häufig  wie 
noch  vor  25  Jahren  als  „Magenkrämpfe“  (dazu  „nervöse“) 
aufgefaßt  wird,  so  belehren  mich  doch  eigene  zahlreiche, 
im  Laufe  von  sieben  Jahren  in  Karlsbad  gesammelte  Beob¬ 
achtungen,  daß  es  noch  manches  in  dieser  Hinsicht  zu 
ergänzen  gibt.  Zugleich  bringen  meine  empirischen  Erfah¬ 
rungen  einige  Tatsachen,  welche  zur  Klärung  der  Aetiologie 
bzw.  der  Pathogenese  der  Gallensteinkrankheit  beitragen 
können. 

Vor  allem  in  bezug  auf  die  Diagnostik  der  Cholelithia¬ 
sis.  Allgemein  bekannt  ist  es  einerseits,  daß  Konkremente 
in  der  Gallenblase  ganz  ohne  Beschwerden  vorhanden  sein, 
ja  auch  ohne  Beschwerden  mit  dem  Kote  abgehen  können; 
als  klinische  Aeußerung  der  Gallensteinkrankheit  ist  an¬ 
dererseits  der  Schmerzanfall  die  Gallensteinkolik 
bekannt.  Tatsache  ist  es  indessen,  daß  die  C  h  o  1  e  1  i  t  h  Las  e 
auch  durch  eine  Gelbsucht  ohne  die  geringsten 
Schmerzen  sich  mitunter  kundgibt,  eine  Gelbsucht, 
die  zwar  meistens  langdauernd  ist,  doch  im  großen  und 
ganzen  als  Icterus  catarrhalis  imponiert  und  als  solcher 
auch  in  der  Regel  diagnostiziert  wird. 

Im  Jahre  1905  wurde  an  mich  in  Karlsbad  eine  über 
60jährige  Dame  wegen  einer  seit  etwa  zehn  Wochen  existieren¬ 
den  starken  Gelbsucht  gewiesen.  In  der  Anamnese  nicht  die  ge¬ 
ringsten  Schmerz-  oder  Druckanfälle,  keine  Schmerzhaftigkeit  der 
Leber  bei  der  Palpation,  überhaupt,  abgesehen  von  einem  ziem¬ 
lich  starken  Schwächegefühl,  subjektiv  und  objektiv  negativer 
Befund.  Am  dritten  Tage  des  Kurgebrauches  (Brunnen trinken) 
ein  starker  Schmerzanfall  von  zehn  bis  zwölfstündiger  Dauer  im 

9)  Diesen  meinen  Erfahrungen  stehen  diejenigen  D  ö  b  1  i  n  s 
gegenüber,  der  in  der  Berliner  klin.  Wochenschr.  1911,  Nr.  12,  sich 
folgendermaßen  äußert:  »Es  ergibt  sich  aus  diesen  Beobachtungen, 
betreffend  das  Allgemeinbefinden,  daß  bei  den  —  allein  gegebenen  — 
subkutanen  und  intramuskulären  Injektionen  von  Salvarsan  größte  Vor¬ 
sicht  zu  bewahren  ist,  welche,  abgesehen  von  der  Auswahl  der  ge¬ 
eigneten  Säuglinge,  insbesondere  sich  auf  die  Größe  der  Dose  richtet. 
Elende  wird  man  völlig  ausschließen.  Die  auffälligen  individuellen 
Schwankungen  der  Arsentoxizität  wird  man  sich  liier  besonders  vor 
Augen  halten  müssen.  Es  wird  sich  vielleicht  empfehlen,  003  g  als 
Dosis  letalis  bei  Säuglingen  bis  zum  dritten  Monat  anzunehmen.  Da  die 
einmalige  Injektion  auch  von  003  nicht  vor  Rezidiv  schützt,  auch  mit 
0025  g  gute  antiluetische  Wirkung  zu  erreichen  ist,  so  wird  man  bei 
so  jungen  Kindern  0-01  bis  002  g  Salvarsan  als  die  Dosis  tolerata 
geben  dürfen,  das  ist  5  bis  6  mg  pro  Kilogramm.« 


Epigastrium  —  der  erste  Anfall  der  Art  im  ganzen  Leben  der 
Kranken  —  worauf  die  Gelbsucht  rasch  zurückzutreten  begann 
und  die  Kranke  sich  mit  jedem  l  äge  besser  fühlte. 

Ein  Jahr  später  kam  in  meine  Behandlung  wieder  ein 
über4  ßOjähriger  Herr,  bei  welchem  der  „katarrhalische“  Ikterus 
wie  zu  Hause  diagnostiziert  wurde,  schon  seit  etwa  einem  halben 
Jahre  ohne  auffallendere  Schwankungen  der  Intensität  persistierte. 
Wieder  nicht  die  geringsten  Schmerzen  im  Beginn  oder  im  Ver¬ 
lauf  der  Gelbsucht,  keine  Schmerzhaftigkeit  der  Lebergegend,  über¬ 
haupt,  abgesehen  von  einem  bedeutenden  Schwächegefühl  und 
Appetitverlust,  subjektiv  und  objektiv  negatives  Untersuchungs¬ 
ergebnis.  Doch  in  der  Anamnese  etwa  vor  15  Jahren  Gallen¬ 
steinanfälle  verzeichnet,  wegen  deren  der  Kranke  nach  Karlsbad 
geschickt  wurde.  Da  sich  aber  hier  die  Schmerzanfälle  zu  wieder¬ 
holen!  begannen,  verließ  der  Kranke  gemäß  dem  Rate  des  ordi¬ 
nierenden  Arztes  nach  zwei  Wochen  unseren  Kurort  und 'kehrte 
nach  Hause  zurück.  Seitdem  fühlte  er  sich  bis  auf  letztere  Gelb¬ 
sucht  vollkommen  gesund. 

In  den  ersten  Tagen  des  Kurgebrauches  fühlte  sich  der 
Kranke  bei  ganz:  mäßigen  Brunnendosen  verhältnismäßig  wolii : 
auf  einmal  zeigten  sich  am  zehnten  Tage  schwarzblutige  Stuhl- 
ontleerungen,  welche  trotz  Bettruhe,  Unterbrechung  des  Brunnen¬ 
gebrauches,  Styptizis  innerlich  usw.  fortdauerten  und  ging  der 
Kranke  nach  zwei  Tagen  zugrunde.  Unter  solchen  Umständen 
schien  eine  Neubildung  (ventriculi  et  hepatis)  als  Ursache  der 
Gelbsucht  und  der  tödlichen  Blutungen  kaum  zweifelhaft.  Und 
trotzdem  entpuppten  sich  bei  der  Autopsie  als  Ursache  der  Gelb¬ 
sucht  zwei  kirschgroße  Cholestearinsteine  im  Ductus  choledochus 
und  als  Ursache  der  Blutung  zwei  aneinander  grenzende  gulden¬ 
große  Magengeschwüre  in  der  Nähe  des  Pylorus  in  einem  der¬ 
selben  ein  angefressenes  Gefäß. 

Daß  die  Gallensteine  sich  durch  eine  schmerzlose  Gelb¬ 
sucht  (Occlusio  duct,  choled.)  dokumentieren  können,  ist 
—  um  nach  einigen  Stellen  der  Riede  Ischen1)  Arbeit  zu 
urteilen  —  den  Chirurgen  besser  als  den  Internisten  be¬ 
kannt.  Für  letztere  —  mögen  sie  auch  die  obige  Tatsache 
schon  kennen  —  wird  die  diesbezügliche  Diagnose  kaum 
möglich  sein,  bis  das  Auftreten  einer  Gallensteinkolik,  was 
eben  bei  der  Karlsbader  Kur  so  häufig  vorkommt,  über  das 
Wesen  der  Erkrankung  entscheidet.  Sonst  wird  der  Arzt 
einen  Icterus  catarrhalis,  ja  vielleicht  noch  'häufiger,  be¬ 
sonders  wenn  es  sich  um  einen  älteren  Kranken  handelt, 
oder  angesichts  einer  fortschreitenden  Abmagerung,  Appetit¬ 
verlust  und  ( 1  gl.,  eine  Neubildung  vermuten.  Rei  wenig 
angegriffenem  Allgemeinzustande  dürfte  aber  die  Vermu¬ 
tung  eines  „Steinicterus“  doch  genug  für  sich  haben,  wenn 
anamnestisch  Anfälle  von  Gallensteinkolik  zu  eruieren 
sind,  mag  es  sich  dabei  um  jahrelange  Intervalle  zwischen 
den  Koliken  und  dem  Erscheinen  der  Gelbsucht  handeln. 

Auch  werden  meiner  Meinung  nach  die  Gallenkon¬ 
kremente  als  Ursache  des  Ikterus  in  Fällen  von  rezidi¬ 
vierender  Gelbsucht  wahrscheinlich  sein,  ln  einem 
Falle  der  Art  mit  monatelangen  Intervallen  zwischen  den 
lkterusaufällen  (von  mehrwöchentlicher  Dauer)  habe  ich 
doch  bei  der  abermaligen  Karlsbader  Kur,  die  zwei  Jahre 
nach  der  ersten  vorgenommen  wurde,  einen  kurz  dauernden 
Anfall  von  lästigem  Drücken  im  Epigastrium  und  Kreuz 
beobachten  können.  Bei  dem  ersten  Anfall  der  Gelbsucht 
war  dies  nicht  einmal  geschehen. 

Es  scheint  mir  weiter  auch  sicher,  daß  die  Gallen¬ 
steinkrankheit  das  Bild  einer  „gichtischen“  oder 
„nervösen“  Dyspepsde,  wie  sie  angesichts  von  Anfällen 
von  Blähung  im  Epigastrum,  reichlichem  leeren  oder  säuer¬ 
lichem  Aufstoßen  diagnostiziert  wird,  Vortäuschen,  be¬ 
ziehungsweise  verursachen  kann;  denn  ich  beobachte 
bei  manchen  derartigen  Kranken,  schwächere  oder  stärkere, 
doch  ganz  typische  Gallensteinkolikanfälle  während  der 
Karlsbader  Kur  nicht  selten.  Ja  —  bei  einer  55-jährigen 
Kranken  mit  allgemeinen  gichtischen  Symptomen  nebst, 
gichtischer  Dyspepsie  trat  ein  schwerer,  einige  Tage  an¬ 
dauernder  Anfall  von  Gallensteinkolik  nebst  Gelbsucht  und 
Fieber_uwst  beim  dritten  Aufenthalt  in  Karlsbad  (drei  Jahre 
nach  dem  ersten  und  zwei  Jahre  nach  dem  zweiten)  ein. 

*)  Riedel,  Die  Pathogenese,  Diagnose  und  Behandlung  des 
Gallensteinleidens.  Erweiterter  Abdruck  aus  Penzoldts  und  Stintzings 
Handbuch  der  Therapie  innerer  Erkrankungen  Jena  1903,  Fischer. 


602 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  17 


Es  War  das  zugleich  der  erste  Schmerzanfall  im  Epigastrium 
im  ganzen  Leben  der  Kranken. 

Bekanntlich  gesellt  sich  auch  typischen  Schmerzan¬ 
fällen  der  Gallensteine  Gefühl  von  Yrölle,  Blähung  im  Epi¬ 
gastrium  nebst  leerem  oder  saurem,  bitterem  Aufstößen 
recht  häufig  hinzu:  es  geht  damit  eine  akute  Magenatonie 
(vielstündiges  Verbleiben  von  Ingesta,  Medikamenten  im 
Magen)  Hand  in  Hand.  (N.  Reich  mann).  Bei  starkem 
Drücken  und  /Schmerzen  werden  aber  diese  Sensationen 
meistens  wenig  beachtet.  Andererseits  ist  der  „nervösen“ 
oder  „gichtischen“  Dyspepsie  sogar  bei  starken  Blähungs¬ 
anfällen  ein  Schmerz,  ja  auch  lästiges  Drücken  in  der 
Magengegend  in  der  Regel  nicht  eigen;  sind  also  „gich¬ 
tische“  Blähungsanfälle  mit  solchem  Druck,  ja  zugleich  mit 
einer  psychischen  Depression  vergesellschaftet,  so  ist  der 
Fall  als  eine  „reine“  gichtische  Dyspepsie  kaum  mehr 
sicher  und  ist,  wie  ich  aus  eigener,  gar  nicht  spärlicher 
Erfahrung  schließe,  mit  der  Möglichkeit  eines  typischen 
Gallensteinanfalles  vor  allem  während  der  verordneten 
Karlsbader  Kur  im  voraus  zu  rechnen. 

Endlich  sei  hervorgehoben,  daß,  wenn  es  im  Laufe 
der  Gallensteinkrankheit  zu  einem  Schmerzanfall  einmal 
gekommen  ist,  die  Lokalisation  des  Schmerzes  ganz  eigen¬ 
tümlich  sich  gestalten,  bzw.  ganz  außerhalb  der  Magen-  und 
Lebergegend  fallen  kann.  So  empfinden  manche  Kranken 
beim  Fehlen  jeglicher  Sensationen  im  Epigastrium  lästi¬ 
ges  Drücken  zwischen  den  Schulterblättern  und 
zugleich  anscheinend  „rheumatische“  Schmerzen  in  den 
Oberarmen.  Es  klagte  auch  eine  meiner  Kranken,  die  sonst 
typische  Koliken  durchgemacht  halte,  über  „lästigen  Rheu¬ 
matismus“,  den  sie  die  ganze  Nacht  hindurch  an  diesen 
Stellen  verspürte;  bei  Druck  auf  die  Gallenblasengegend 
nahm  aber  der  „Rheumatismus“  auffallend  zu.  In  anderen 
Fällen  wunderten  die  Schmerzen  erst  gegen  Schluß  Ides 
Anfalles  oder  nach  einer  Morphiumeinspritzung  nach  dem 
Epigastrium  hin;  doch  bin  ich  im  Besitz  eines  Falles,  in 
welchem  erst  mach  10  bis  12  ganz  unklaren  Schmerzan¬ 
fällen  in  den  Oberarmen  und  zwischen  den  Schulterblättern 
(fast  täglich)  sich  die  Herkunft  der  Schmerzen  zu  klären 
begann,  indem  sie  allmählich  im  Epigastrium  am  stärksten 
empfunden  wurden.  Zum  Schlüsse  hat  sich  ein  typischer, 
etwa  20 ständiger  Anfall  mit  Fieber  und  Ikterus  entwickelt 
und  wurde  die  Sache  ganz  klar. 

Inwieweit  solche  abnorme  Schmerzlokalisationen  mit 
verschiedenen  Entzündungslokalisationen  (z.  B.  mehr  in 
intrahepatischen  Gängen)  im  Zusammenhang  stehen,  wage 
ich  nicht  zu  entscheiden.  Bekanntlich  klagen  die  Kranken 
auch  bei  typischen  Anfällen  nicht  nur  über  Schmerzen  im 
Epigastrium  oder  der  Lebergegend,  sondern  auch  im  Kreuz 
nicht  selten  und  lassen  sich  gleichzeitig  warme  Umschläge 
auf  das  Epigastrium  und  das  Kreuz  oder  unter  die  Schulter¬ 
blätter  legen.  Auch  kommt  dabei  Schmerz  im  rechten  Arm¬ 
gelenk  vor.  Es  handelt  sich  eben  um  diagnostisch  dunkle 
Fälle,  in  welchen  beim  Fehlen  der  Beschwerden  im  Epi¬ 
gastrium  oder  in  der  Lebergegend  die  Schmerzempfindungen 
sich  ausschließlich  rückwärts  und  in  den  Oberarmen  kon¬ 
zentrieren. 

Es  können  derartige  Fälle  den  Verdacht  auf  eine  An¬ 
gina  pectoris  hervorrufen.  Nicht  nur  diese  Fälle,  ln  man¬ 
chen  anderen  strahlen  die  Schmerzen  nicht  nach  rückwärts, 
sondern  vorne  nach  oben  hin  aus  und  gehen  zugleich  mit 
einem  Gefühl  des  Zusammenziehens  im  Rachen,  überhaupt 
nicht  selten  mit  einem  Oppressionsgefühl  einher.  Es  wer¬ 
den  auch  Fälle  der  Art  an  mich  in  Karlsbad  mit  der  Dia¬ 
gnose  :  „Angina  pectoris“  —  freilich  hie  und  da  mit  einem 
Fragezeichen  versehen  —  von  Zeit  zu  Zeit  gerichtet  und 
lassen  sie  sich  tatsächlich  meistens  nicht  so  leicht  lösen, 
ehe  im  Laufe  der  Karlsbader  Kur  eine  typische  Gallenstein¬ 
kolik  eintritt  und  der  Kranke  sich  als  leberkrank  erweist. 
Uebrigens  gibt  es  zweifellos  Kombinationen  zwischen  der 
Cholelithiasis  und  der  Angina  pectoris. 


Bekanntlich  fassen  wir  gemäß  den  Untersuchungen 
von  Naunyn,2)  den  chirurgischen  .^Erfahrungen  von  Rie¬ 
del,  Kehr  u.  a.  den  Gallensteinanfall  als  eine  Entzündung 
der  Gallenblase  (Cholezystitis)  auf,  wobei  durch  die  Zu¬ 
nahme  der  Flüssigkeitsmenge  in  der  Gallenblase  die  darin 
enthaltenen  Konkremente  in  den  Duktus  getrieben  sein  kön¬ 
nen.  Nach  Naunyn,  Gilbert  ist  diese  Entzündung  haupt¬ 
sächlich  durch  Bacill.  coli  clommune,  ja  in  speziellen 
Fällen  auch  durch  andere  Mikroorganismen  (Typhusbazil¬ 
lus)  bedingt.  Sie  ist  zugleich  Ursache  der  Konkremente¬ 
bildung,  indem  die  gelockerten  Gällenblasenepithelien,  zu¬ 
gleich  als  Quelle  des  Cholesterins,  zum  Kern  und  Ausgangs¬ 
punkt  werden,  um  welchen  sich  Pigmente,  Kalksalze  usw. 
ansammeln. 

Daß  tatsächlich  nicht  die  Steinwanderung,  wie  man 
es  noch  vor  20  Jahren  angenommen  hatte,  sondern  die 
Cholezystitis  das  Primum  movens  des  S  c  h  m  e  r  z  anfalles 
ist,  —  wenigstens  wenn  es  sich  um  langsam  einsetzende, 
länger  dauernde,  auch  langsam  abklingende,  mit  Fieber  ver¬ 
bundene  Anfälle  handelt3)  —  dafür  sprechen  die  gar  nicht  so 
seltenen  Fälle,  wo  auch  trotz  zahlreicher  Gallensteinkoliken 
in  der  Anamnese,  keine  Konkremente  in  der  Gallenblase 
bei  der  Operation  gefunden  werden.  Vor  einigen  Jahren 
konnte  ich4)  einen  derartigen  Fall  aus  eigener  Beobachtung 
anführen,  wo  auch  bei  abermaliger  Operation,  etwa  ein 
Jahr  nach  der  ersten,  nichts  in  der  Gallenblase  konsta¬ 
tiert  werden  konnte.  Freilich  deuten  manche  derartige  Vor¬ 
kommnisse  in  der  Weise,  daß  die  Konkremente  in  der  Chlo¬ 
roformnarkose  bei  der  allgemeinen  Relaxation  der  Gewebe 
leicht  durch  das  Diverticulum  Vateri  ins  Duodenum  hinein 
durchschlüpfen,  oder  auch,  was  in  der  Tat  geschehen  kann, 
daß  sie  bei  der  Operation  nicht  auf  gefunden  werden.  Beides 
erscheint  aber  recht  unwahrscheinlich,  in  bezug  auf  Fälle, 
wie  der  meinige,  welcher  zweimal  operiert  worden  ist  und 
bei  der  Operation  keine,  die  Steinextraktion  erschwerende 
Momente  (Verwachsungen)  bot. 

Durch  die  Naunyn  sehen  Forschungen  ist  nicht  nur 
der  Mechanismus  der  Gallensteinkolik  anders  aufgefaßt 
worden  als  früher.  Hauptsache  ist  es,  daß  die  Gallenstein¬ 
krankheit  zu  einer  Infektionskrankheit,  zugleich  auch  zu 
einer  lokalen  lOrganerk'rankung  wurde.  Für  eine 
lokale  Krankheit  paßt  eine  lokale  Therapie  am  besten.  So 
beobachten  wir  auch  in  den  letzten  20  Jahren  starke  chi¬ 
rurgische  Strömungen  in  der  Therapie  der  Gallenstein¬ 
krankheit. 

Kann  es  nun  als  eine  festgestellte  Tatsache  gelten, 
daß  die  Cholelithiasis  eine  Infektionskrankheit,  dazu  eine 
lokale  Organerkrankung  ist? 

Es  mehren  sich  nun  in  der  letzten  Zeit  wenn  nicht 
Tatsachen,  so  doch  Einwände  gegen  die  ausschließliche 
Auffassung  der  Cholelithiase  als  einer  bakteriellen  Erkran¬ 
kung.  Es  finden  tatsächlich  die  Chirurgen  (Riedel,  Rov¬ 
sing)  den  Inhalt  der  Gallenblase  trotz  Anwesenheit  der 
Konkremente  nicht  selten  ganz  steril :  freilich  ist  es  noch 
eine  Frage,  wie  er  sich  hiebei  vor  und  während  der  Bildung 
der  Konkremente  verhielt.  Ja,  man  kann  auch  in  be¬ 
zug  auf  Naunyn,  der  nebst  seinen  Schülern  keine  Ver¬ 
änderungen  der  Gallenzusammensetzung  bei  Anwesenheit 
der  Steine  konstatierte,  die  Frage  aufwerfen,  ob  es  so  in 
dieser  Hinsicht  auch  vor  und  während  deren  Bildung  war. 

Auf  Grund  verschiedener  Befunde  und  Erwägungen 
halten  nun  Aschoff  und  B ac mlei s ter 5)  den  solitären 

-  .  :  i  ü-J-ULLi 

3)  Nauny n,  Klinik  her  Cholelithiasis.  Leipzig  1892. 

3)  Dagegen  scheinen  kurze,  intensive,  aber  plötzlich  abbrechende 
Schmerzanfälle,  wie  sie  bei  Gallensteinkranken  mitunter  Vorkommen, 
unmittelbar  vom  Steindurchgang  durch  den  Duktus  und  das  Divertikulum 
herzu  rühren. 

•*)  Nach  der  Saison  in  Karlsbad.  Medycyna  1904  (polnisch). 

5)  L.  Aschoff  und  A.  Bacmeister,  Die  Cholelithiasis.  Jena 
1909,  Fischer.  Nach  Aschoff  und  Bacmeister  bilden  sich  die 
radiären  Cholesterinsteine  in  gesunder  Gallenblase  durch  einfaches 
Auskristallisieren  des  Cholesterins  aus  der  gestauten  Galle,  anderweitige 
Gallenkonkremente  in  entzündlich  veränderter  Gallenblase.  Dagegen 
geht  J.  Boy  sen  vom  Standpunkte  aus.  daß  die  Cholesterinsteine  eben 


Nr.  17 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


003 


Cholesterinstein  (sog.  „radiären“  Cholesterinstein)  durchaus 
nicht  für  ein  Produkt  bakterieller  Entzündung,  sondern  „ste¬ 
riler  autochthoner“  Zersetzung  der  Galle  selbst.  Andere 
Gallensteinformen  sollen  dagegen  von  der  infektiösen  Cho¬ 
lezystitis  herrühren.  Die  Entstehung  einer  solchen  wird 
auch  durch  die  Anwesenheit  eines  sterilen  Cholesterinsteines 
in  der  Gallenblase  begünstigt.  In  Uebereinstimmung  mit 
Naunyn  halten  die  Verfasser  die  Stauung  der  Galle  für 
eine  wichtige  Vorbedingung  sowohl  der  „sterilen  autoch¬ 
thonal“  Zersetzung  nebst  Auskristallisierung  des  Choleste¬ 
rins  als  auch  des  Zustandekommens  der  bakteriellen  Ent¬ 
zündung. 

Bei  anderen  Autoren  (z.  B.  Bi  edel)  finden  wir  wieder, 
daß  zur  Entstehung  der  Gallensteinkrankheit  eine  „Anlage“ 
unentbehrlich  ist,  und  daß  diese  Anlage  im  großen  und 
ganzen  hereditär  erscheint.  Worin  diese  Aidage  bestehen 
soll,  wird  aber  nicht  näher  auseinandergesetzt. 

Als  Beitrag  zu  letzterer  Frage  mag  auf  Grund  meiner 
zahlreichen  Erfahrungen  folgender  Satz  aufgestellt  werden  : 
Nur  ausnahmsweise  begegne  ich  den  Fällen  von 
Cholelithiasis,  die  nicht  mit  diesen  oder  jenen 
Symptomen  der  „harnsauren  Di  a  these“  —  wie  ich 
sie  vor  zwei  Jahren  klinisch  besprochen  habe,* * * * * 6) 
behaftet  wären  —  also  Schmerzen  in  den  Extre¬ 
mitäten.  sternokostale  Druckempfindlichkeit,  Nierenkolik, 
Hautjucken  (auch  ohne  Ikterus),  Ekzeme,  Harnveränderungen 
und  so  weiter.')  Fälle  ohne  gichtische  Symptome  kamen 
mir  a'.m  häufigsten  noch  im  jungen  Alter  (25  bis  35  Jahre) 
vor;  bei  älteren  Patienten  mit  Cholelithiasis  und  keinen 
nennenswerten  arthritiseben  Beschwerden  kam  es  öfters 
vor,  daß  der  Kranke,  der  nach  dem'  ersten  Karlsbader  Auf¬ 
enthalt  von  seinen  Koliken  sich  frei  fühlte,  im  folgenden 
oder  zwei  Jahre  später  wegen  der  neu  hinzugetretenen 
Gelenks-  und  Gliederschmerzen,  neuerlich  die  Karlsbader 
Kur  gebrauchen  mußte. 

Angesichts  letzterer  Tatsache  könnte  man  meinen,  daß 
durch  die  Gallensteinkrankheit  die  Entwicklung  der  harn- 
sauren  Diathese  begünstigt  und  gefördert  werde.  Demgegen¬ 
über  bin  ich  aber  im  Besitz  von  sehr  zahlreichen  Beob¬ 
achtungen  von  Patienten,  welche  wegen  der  Gelenk-  und 
Gliederschmerzen,  auch  anderen  gichtischen  Beschwerden, 
mehrere  Jahre  Trencsin,  Wiesbaden  oder  auch  Karlsbad 
aufgesucht  hatten,  um  dann  speziell  wegen  der  Gallen¬ 
steinkoliken  in  Karlsbad  wieder  zu  erscheinen.  So  ein 
Krankheitsverlauf  entrollte  sich  in  einer  Reihe  von  eigenen 
Fällen  unter  meinen  Augen. 

So  hege  ich  auch  die  feste  Ueberzeugung,  daß  das 
allgemeinste  und  häufigste  Agens,  welches  zur 
Entstehung  der  Gallen  stei n  k rankh'ei  t  veranlagt, 
diejenige  Störung  "der  tierischen  Oxydationen 
ist,  die  man  mit  dem  Namen  „harnsaure  Diathese“ 
bezeichnet.  Ob  die  Entstehung  der  Cholelithiasis  auch 
ohne  harnsaure  Diathese,  nur  durch  rein  lokale  Momente 
(„Gallenstauung“)  möglich  ist,  das  wage  ich  nicht  zu  ent¬ 
scheiden.  Sehr  interessant  wäre  es  zu  erfahren,  wie  häufig 
lie  Anlage  zur  Gallensteinkrankheit  auch  in  ärmeren  Volks¬ 
klassen  (wo  diese  Krankheit  gar  nicht  so  selten  vorkommt) 
lurch  die  harnsaure  Diathese  geschaffen  wird. 

Worauf  die  durch  die  gichtische  Oxydationsstörung  ge¬ 
bildete  „Anlage“  beruht,  ob  es  sich  dabei  nur  um  ein  leich¬ 
teres  Entstehen  von  Katarrhen  in  der  Gallenblase  und  den 
Gallenblasengängen  handelt,  in  'analoger  Weise,  wie  Katarrhe 
der  oberen  Luftwege  so  leicht  durch  die  Gicht  verursach I 

in  der  Regel  in  anatomisch  veränderter  Gallenblase,  andere  dagegen 

in  intakter  entstehen  und  daß  den  ersten  Ursprung  der  Gallenstcine- 

Pigmentsteine  (Bilirubinkalksteine)  bilden.  (.1.  Boysen,  Ueber  die  Struktur 

und  die  Pathogenese  der  Gallensteine.  Berlin  1909,  Karger.'  Mit  einem 

Vorwort  von  Prof.  Dr.  Th.  Rovsing  in  Kopenhagen.) 

6)  Zur  Symptomatologie  und  Diagnostik  der  »harnsauren  Diathese«. 
Wiener  med.  Wochenschr.  i 909,  Nr.  8. 

•(  7)  Speziell  habe  ich  mein  Augenmerk  in  der  obigen  Hinsicht  schon 

un  Jahre  1905  gerichtet  urrrt  besonders  seit  dem  Jahre  1906  wenigstens 
1200  bis  1300  P at  ienten  nach  der  obigen  Richtung  bin  genau  ausgefragt 
"nd  objektiv  untersucht. 


werden,  oder  ob  im  Gegensatz  zu  Naunyn  die  Haupt¬ 
sache  auf  die  qualitativen  Veränderungen  der  Gallensekre¬ 
tion  ankommt,  ähnlich,  wie  Anomalien  der  Magen-  und 
Darmsekretion  so  häufig  bei  Gichtikern  nachweisbar  sind, 
endlich,  welcher  Anteil  den  Mikroorganismen  bei  der 
Bildung  der  Konkremente  einerseits  und  der  Gallenstein¬ 
kolik  andererseits  zukommt—  es  sind  alles  Fragen,  die  erst 
beantwortet  werden  müssei^.  Die  Aufgabe  erscheint  um 
so  mehr  entwickelt,  als,  wenn  auch  in  einer  Reihe  von 
Fällen  keine  auffallenden  Diätfehler  zu  verzeichnen  sind, 
in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  übrigen  übermäßiger 
Genuß  von  überfetteten  und  scharfen  Speisen 
und  Zulagen  vor  liegt,  wie  ich  mich  persönlich  durch 
genaues  Ausfragen  in  Hunderten  von  Fällen  überzeugen 
konnte.  Ja,  es  kennen  die  Kranken  selbst  den  unmittelbaren 
Zusammenhang  zwischen  dem  Auftreten  der  Kolik  und  dem 
Genuß  solcher  Speisen.  Uebrigems  empfehlen  auch  seit 
altersher  viele  Lehrbücher  den  Gallensteinkranken,  der¬ 
artige  Speisen  zu  vermeiden. 

Bei  Anerkennung  einer  „allgemeinen“  Grundlage  er¬ 
weisen  sich  manche  Erscheinungen  im  Verlaufe  der  Chb- 
lelithiase  verständlicher  als  früher.  Eine  noch  wenig  be¬ 
achtete  Tatsache  ist  es  z.  B„  daß  die  Cholelithiasis  bei  man¬ 
chen  Kranken  eine  gewisse  Regelmäßigkeit  ihres  Verlaufes 
zeigt:  es  treten  nämlich  die  Anfälle  nicht  vereinzelt,  son¬ 
dern  sozusagen  gehäuft  im  Zeitraum  von  sechs  bis  acht 
Wochen  auf,  worauf  längere,  manchmal  monatelange  Pausen 
folgen.  Es  weisen  die  Kranken  selbst  darauf  hin,  daß 
solche  Anfallsperioden  mit  den  Jahreszeiten,  z.  B.  Früh¬ 
lings-  oder  Herbstanfang,  nicht  selten  im  Zusammenhang 
stehen,  ln  den  Anfallsperioden  kommen  häufig  die  Koliken 
durch  die  geringsten  Diätfehler  zustande,  während  in  den 
Intervallen  auch  größere  Diätsünden  ganz  straflos  ver¬ 
bleiben  können. 

Mit  anderen  Worten,  zeigt  der  Verlauf  mancher  Gal- 
lensteinkrankheit  eine  große  Aehnliclikeit  bzw.  Verwandt¬ 
schaft  mit  dem  der  harn  sauren  Diathese,  deren  Erschei¬ 
nungen,  z.  B.  Gelenk-  und  Gliederschmerzen,  vor  allem 
typische  Podagraanfälle,  auch  eine  Regelmäßigkeit,  Koin¬ 
zidenz  mit  den  Jahreszeiten  u.  dgl.  nicht  selten  erweisen. 

Man  könnte  sich  die  in  Rede  stehende  Erscheinung 
(bei  der  Cholelithiase)  in  der  Weise  deuten,  daß  die  Kolik¬ 
anfälle  so  lange  wiederkommen,  Iris  die  Konkremente  durch 
das  Diverticulum  Vater!  ins  Duodenum  hinein  geschaffen 
werden.  Dieser  Deutung  würde  freilich  nichts  im  Wege 
stehen,  wenn  die  Kolikanfälle  durchwegs  von  der  Stein¬ 
wanderung  herrühren  würden,  was,  wie  oben  hervorge- 
hoben,  durchaus  nicht  immer  der  Fall  ist. 

Ich  hebe  die  besprochene  Tatsache  speziell  hervor,  als 
durch  die  Kenntnis  derselben  erst  die  Beurteilung  mancher 
therapeutischen  Effekte  ermöglicht  wird.  Bei  häufigen  und 
lästigen  Anfällen  wenden  sich  die  geplagten  Kranken  an 
allerlei  patentierte  geheime  Mittel,  ja  auch  Kurpfuscher 
nicht  selten,  um  tatsächlich  nach  einer  gewissen  Zeit  eine 
„Heilung“  bzw.  Besserung  zu  empfinden.  Es  kommt  hierbei 
die  Besserung  sicher  nicht  früher  zustande,  bis  sich  die 
Anfallsperiode  „erschöpft“,  d.  h.  etwa  im  Intervall  von 
sechs  bis  acht  Wochen. 

Die  Annahme  einer  allgemeinen  Grundlage  bei  der 
Entstehung  der  Cholelithiasis  „paßt“  andererseits  zu  man¬ 
chen  therapeutischen  Ergebnissen  bei  der  Behandlung  dieser 
Krankheit  und  zwar  zu  den  Ergebnissen  der  lokalchirur¬ 
gischen  Behandlung  ausgezeichnet.  Au  diesem  Orte  will 
ich  diese  Behandlung,  bzw.  deren  Indikationen  speziell  gar 
nicht  besprechen.  Nur  das  eine  will  ich  hervorheben,  daß 
ich,  abgesehen  von  manchen  speziellen  Fällen  (Occlusio 
ductus  choledochi),  die  Bedeutung  dieser  Behandlung  als 
einer  rationellen  und  radikalen  Methode  im  Gegensatz  zu 
manchem  Chirurgen  (Riedel)  gar  nicht  zu  hoch  halte: 
Denn  alle  Jahre  habe  ich  in  meiner  Beobachtung  in  Karlsbad 
Kranke,  die  vor  einem  bis  anderthalb  Jahren  operiert  worden 
sind  und  trotzdem  wieder  an  Schmerzanfällen  mit  Fieber 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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und  Ikterus  leiden.  Unter  meinen  Kranken  gibt  es  auch 
in  der  chirurgischen  Literatur  bekannte  Fälle. 

Freilich  kann  man  sofort  einwenden,  daß  es  sich 
dabei  meistens  nur  um  Pseudo  rezidive  handle,  indem 
bei  der  Operation  nicht  alle  Konkremente  aufgefunden  und 
entfernt  worden  sind  und  daß  mit  Vervollkommnung  der 
Technik  (z.  B.  Kehr  sehe  Drainage)  derartige  Fälle  immer 
seltener  sein  'werden.  Das  Rezidivieren  der  Anfälle  nicht 
gleich  nach  der  Operation,  sondern  eben  erst  nach  ein-  bis 
anderthalb  Jahren,  spricht  aber  an  sich  zugunsten  der 
echten  Rezidiven;  und  daß  solche  existieren,  dürfte  man 
kaum  bezweifeln.  Sie  sind  auch  durchaus  verständlich 
schon  vom  Standpunkte  der  Theorie  aus,  welche  sowohl 
das  Krankheitswesen,  wie  die  Anfälle  von  Koliken  grund¬ 
sätzlich  auf  die  Entzündung  der  Gallenblase  und  -gänge 
zurückführt  und  die  Konkremente  als  Produkt  der  KrankV 
heit  auffaßt.  Von  der  Entfernung  der  Gallensteine  können 
wir  unter  solchen  Umständen  nur  eine  temporäre  Weg- 
schaffung  der  Schmerzanfälle  erwarten:  So  lange  die  Nei¬ 
gung  zur  Cholezystitis  fortbesteht,  wird  die  Neubildung 
von  Konkrementen  stattfinden. 

Letzteres  ist  desto  mehr  zu  erwarten,  unter  Aner¬ 
kennung  der  „Anlage“,  als  einer  „inneren“  Ursache  der 
Gallensteinkrankheit.  Die  rationelle  Behandlung  der 
Cholelithiasis  muß  dann  vor  allem  gegen  die  „Anlage“  ge¬ 
richtet  werden.  Soweit  nun  meine  persönlichen  Erfahrun¬ 
gen  reichen,  sind  hierbei  diätetische  M  a ß  n ah m e  n  von 
großer  Bedeutung:  Einerseits  Vermeidung  der  Ueberer- 
nährung,  andererseits  nicht  nur  monate-,  sondern  auch 
jahrelange  Vermeidung  von  überfetteten  und  scharfen  Spei¬ 
sen  nach  Art  der  Karlsbader  Küche,  auch  Vermeiden  von 
Getränken  mit  größerem  Alkoholgehalt.  Es  gilt  diese  Regel 
eben  so  gut  für  die  operierten  wie  für  die  nicht  operierten 
Kranken. 

Aus  der  IV.  Abteilung  des  k.  u.  k.  Garnisonsspitales 
Nr.  2  in  Wien.  (Vorstand:  Stabsarzt  W.  Raschofsky.) 

Ein  Fall  von  Tetanieepilepsie. 

Von  Dr.  Alfred  Luger. 

Gegenstand  dieser  Mitteilung  ist  ein  Fall  von  Tetanie¬ 
epilepsie,  welcher  durch  seinen  klinischen  Verlauf,  vor  allem 
durch  das  bei  ihm  beobachtete  Alternieren  der  Symptome 
von  allgemeinerem  Interesse  ist. 

Schon  im  Jahre  1891  wies  Frankl-Hochwart  auf 
Grund  eigener  und  fremder  Fälle  darauf  hin,  daßi  epileptische 
Insulte  als  Symptom  der  Tetanie  auftreten  können,  nach¬ 
dem  er  bereits  früher  (1888)  das  Fäzialisphänomen  bei  Epi¬ 
leptikern  nachgewiesen  hatte. 

Wenn  auch  die  Zahl  der  Beobachtungen  hieher  ge¬ 
höriger  Fälle  keine  geringe  ist,  lichtet  sich  doch  die  Reihe, 
wenn  man  sich  auf  jene  Fälle  beschränkt,  bei  welchen  die 
epileptischen  Anfälle  erst  mit  oder  nach  Einsetzen  der  Te¬ 
tanie  auftraten  und  alle  ausscheidet,  bei  welchen  mit  Rück- 
sicht  auf  das  oft  lange  Zeit  vorhergehende  Einsetzen  der 
epileptischen  Anfälle  oder  Aequivalente  an  ein  zufälliges 
Zusammentreffen  beider  Krankheitsbilder  gedacht  werden 
könnte.  Hieher  gehören  die  Beobachtungen  von  V  e  1  i  c  s, 
die  Fälle  von  S  tief  ler,  Hirschl,  Mattauschek,  der 
erste  der  von  Fries  demonstrierten  Kranken,  sowie  ein 
Teil  der  von  Frankl-Hochwart  beobachteten  Fälle. 
Daß  es  anderseits  Fälle  gibt,  in  welchen  ein  gewiß  sehr 
enger  Zusammenhang  zwischen  Tetanie  und  epileptischen 
Krämpfen  angenommen  werden  muß,  beweist  das  Auftreten 
parathyreopriver  Tetanie  und  Epilepsie,  wie  sie  von  W  est- 
phal,  Infeld,  Hoffmann,  Pineies  gesehen  wurde. 
Im  gleichen  Sinne  sprichl  die  genaue  klinische  Beobachtung, 
welche  oft  das  Auftreten  epileptischer  Krämpfe  mit  dem 
Einsetzen  einer  Tetanie  konstatieren  konnte,  Anfälle,  die 
mitunter  nach  Aussetzen  der  Tetanie  schwanden,  um  mit  ihr 
später  wieder  zu  kommen. 


Natürlich  ermöglicht  nur  das  Vorhandensein  sowohl 
tetanischer  als  epileptischer  Krämpfe  oder  wenigstens  der 
Nachweis  sicherer  Symptome  latenter  Tetanie  die  Stellung 
der  Diagnose,  eine  Forderung,  welcher  vereinzelte  Fälle, 
der  Literatur,  wie  der  von  J.  Gibb,  nicht  entsprechen. 
Auch  ein  Fall  H.  Freunds  läßt  sichere  Tetaniesymptome 
vermissen,  wenn  auch  dieser  ähnlich  einem  Falle  Gott¬ 
steins  als  Uebergangsform  aufgefaßt  werden  könnte.  Eine 
verhältnismäßig  geringe  Beachtung  erfährt  in  den  haupt¬ 
sächlich  in  Betracht  kommenden  Krankengeschichten 
(F  r  a  n  k  1  -  H  ocliwart,  Herold,  G  o  1 1  s  t  e  i  n,  Erie  s, 

C ursc  b  m  a  n  n,  S  a  i  z)  das  Verhalten  der  Tetaniesymptome 
während  und  unmittelbar  nach  dem  epileptischen  Anfall. 
E.  Freund  betont  in  der  Krankengeschichte  einer  Frau, 
bei  welcher  im  Anschluß  an  eine  protrahierte  Laktation 
zuerst  Tetanie,  später  epileptische  Anfälle  auftraten,  die  mit 
der  Tetanie  wieder  schwanden,  daß  (das  Chvostek sehe 
und  Trousseau  sehe  Phänomen  immer  nachweisbar 
waren,  doch  fehlt  jede  genauere  Angabe.  Cur sclim a nn 
erzählt  von  einem  neunjährigen  Mädchen,  welches  seit  meh¬ 
reren  Jahren  an  Epilepsie  und  an  typischen  tetanischen 
Krämpfen  litt.  „Nicht  nur  nach  jedem  Tetanieanfall,  son 
dern  auch  nach  jedem  epileptischen  oder  petit- mal  Anfall 
nahmen  sowohl  das  Chvostek  sehe,  als  das  T  r  o  u  s  s  e  a  ti¬ 
sche  Phänomen  deutlich  und  erheblich  zu.“  Aehnliches 
berichtet  Saiz,  er  erwähnt  auch,  daß  mitunter,  aber  nicht 
immer,  die  Tetaniekrämpfe  gleichsam  als  Vorboten,  stunden- 
bis  tagelang  jenen  schweren  Anfällen  mit  Bewußtlosigkeit 
und  allgemeinen  Konvulsionen  vorangingen,  um  nach  statt¬ 
gehabter  Entladung  zu  verschwinden. 

Mit.  Rücksicht  auf  die  geringe  Zahl  genauere?*  Beobach¬ 
tungen  dieser  Verhältnisse  und  der  relativen  Seltenheit  der 
Affektion  (Frankl-Hochwart  berichtet  über  11,  be¬ 
ziehungsweise  sechs  Fälle,  Mattauschek  erwähnt  in 
seiner  Tetaniestatistik  nur  eine  Kombination  mit  Epilepsie) 
scheint  die  Mitteilung  unseres  Falles  berechtigt. 

Auszug  aus  der  Krankengeschichte : 

Der  23jährige  L.  G.  (Z.-Nr.  5136),  früher  Bauer  in  Sieben¬ 
bürgen,  seit  März  1910  in  Wien,  wurde  am  30.  Dezember  1910 
ins  Spital  geschickt,  nachdem  er  am  vorhergehenden  Tage  von 
Krämpfen  befallen  worden  war.  Die  Anamnese  ergab,  daß  Pat. 
aus  nervengesunder  Familie  stammt,  bisher  stets  ohne  Beschwn- 
den  geblieben  war.  Keine  Kinderkrankheiten,  namentlich  nie 
Fraisen,  keine  Enuresis  nocturna,  von  sechs  Geschwistern  alle 
gesund,  keine  Anfälle.  Gestern  bekam  Patient  während  einer 
Uebung  im  Freien  Krämpfe  in  Händen  und  Füßen,  im  Laute 
des  Tages  traten  auch  Krämpfe  mit  Bewußtlosigkeit  auf,  über  die 
Pat.  nichts  Genaueres  anzugeben  vermag.  Für  Lues  kein  Anhalts¬ 


punkt,  Potus  negiert. 

Die  Untersuchung  des  Patienten  ergibt  folgende  Verhält¬ 
nisse  (31.  Dezember):  Patient  ist  von  kräftigem  Knochenbau, 
gut  entwickelter  Muskulatur,  in  gutem  Ernährungszustand,  sicht¬ 
bare  Schleimhäute  gut  injiziert.  Haut  von  leicht  gelblichem  Ko¬ 
lorit  auffallende  Pigmentierungen  in  der  Taille  und  in  der  Linea 
alba  ausgesprochen  weiblicher  Behaarungstypus  derCnnes  pubis 
spärliche  Axillarhaare.  Genitale  normal  entwickelt.  Patient  ist 
Linkshänder,  dementsprechend  ein  geringes  UebietrWiegen  der 
Masse  der  linken  oberen  Extremität  über  der  rechten.  Schaar 
mesozephal,  bis  auf  leicht  vorspringende  Squama  occipitalis  von 
normaler  Konfiguration,  nirgends  klopfempfmdlich,  kerne  au  um 
lende  Asymmetrie,  weder  des  Gesichtes,  noch  des  IlirnschadeE 
Hirnnerven,  Bulbi  frei,  Fazialis  symmetrisch  innerviert.  L  upim  i 
gleich  weit,  rund,  reagieren  auf  Licht  und  Akkomodation.  Kon- 
junktival reflex  prompt.  Chvostek  I,  Schultze  x  • 

Rachengebilde  normal,  Tonsillen,  Zungenbälge  von  mäßigcij 
Größe,  keine  Drüsen  am  Halse,  keine  abnormen  Puisatic^en. 
mäßige,  weiche  Struma.  Im  Bereiche  der  Extremitäten  die  Motilität 
frei  keine  Spasmen,  keine  Atrophien,  ferner  keine  Druckemptinü 
lich'kc-it  der  peripheren  Nervenstämme,  während  ihre  mechanise  i 
Erregbarkeit  deutlich  eihöht  ist.  Trousseau,  Schlesinger  nicht  au- 
lösbar.  Hautstrichreflexe  vorhanden,  Sehnen-  und  Penostreiiex 
normal  auslösbar,  keine  Differenzen,  kein  Klonus, ,  babm^ 
Mendel  Oppenheim  negativ.  Sensibilität  in  allen  Qualitäten 
halten,  kein  Tremor,  keine  Ataxie,  Rhomberg  'negativ. 

Die  inneren  Organe  ohne  pathologischen  Befund.  Ins 
sondere  nichts  Auffallendes  im  Bereiche  des  Gefäßsystems 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


druck  120).  Entsprechend  dem  vorderen  Mediastinum  keine  Däm¬ 
pfung. 

Fundus  oculi  normal,  keine  Einschränkung  des  Gesichts¬ 
feldes.  Gehör,  Geschmack,  Geruch  normal.  Keine  Veränderungen 

im  Blutbilde. 

Im  Harn  weder  Eiweiß  noch  Zucker,  Indikan  nicht  vermehrt. 
1.  Januar:  Trousseau  positiv,  Schlesinger  positiv,  Chvostek  I. 
Elektrischer  Befund:  Faradische  Erregbarkeit  nicht  wesent¬ 
lich  gesteigert. 

Galvanische  Erregbarkeit : 


N. 

Facialis 

N.  median. 

N.  peron. 

N.  ulnar. 

KSZ 

0  8  MA 

0‘4  MA 

10  MA 

0  3  MA 

ASZ 

12  „ 

PO  „ 

15  „ 

0*8  „ 

AÖZ 

P8  „ 

PO  „ 

20  „ 

PO  „ 

KST 

3  „ 

3  auch  bei  Ein¬ 
schleichen 

35  „ 

3  „ 

KÖZ 

— 

3'5  MA 

— 

35  „ 

3.  Januar:  Spontane  Krämpfe  in  der  rechten  unteren  Extre¬ 
mität,  extreme  Streckstellung  und  Supination  des  Fußes,  dabei 
anfangs  Blässe,  dann  Rötung  der  Haut. 

6.  Januar:  Schlaflosigkeit,  häufige  Wadenkrämpfe  nachts. 

7.  bis  11.  Januar:  Häufige  spontane  Krämpfe  von  wech¬ 
selnder  Intensität,  Parästhesien  im  Ulnarisgebiete  beider  Hände. 

15.  Januar:  Chvostek  lebhaft,  Trousseau  positiv,  Schlesinger 
nicht  auslösbar. 

22.  Januar:  Keine  spontanen  Krämpfe,  ab  und  zu  Waden¬ 
krämpfe,  Schlesinger,  Trousseau  negativ. 

27.  bis  30.  Januar:  Wiederauftreten  der  Krämpfe. 

31.  Januar:  Beobachtung  unmittelbar  nach  einem  Anfall 
(angeblich  tonische  Krämpfe  in  den  oberen  und  unteren  Extre¬ 
mitäten  mit  nachfolgenden  klonischen  Zuckungen).  Patient  ist  be¬ 
wußtlos,  Augen  fest  geschlossen,  Zyanose,  Puls  50,  eine  ober¬ 
flächliche  Verletzung  der  rechten  Schläfengegend,  trage  Reaktion 
der  Pupillen,  leichte  Parese  des  linken  Mundfazialis.  Petechien 
auf  Stirn  und  Hals.  Links  Babinski  auslösbar.  Nach  zirka  andert¬ 
halb  Stunden  beginnt  Patient  langsam  auf  Anrufe  zu  reagieren. 
Sprache  unverständlich  lallend.  Am  linken  vorderen  Zungenrand 
3mm  lange  Bißwunde.  Unmittelbar  nach  dem  Anfalle  Eiweiß  stark 
positiv,  Fundus  normal.  (Während  und  nach  dem  Anfalle  Chvo¬ 
stek,  Trousseau  und  Schlesinger  negativ.)  Patient  bis  zum  Abend 
somnolent. 

1.  Februar:  Sensorium  frei,  vollständig  orientiert,  Amnesie 
für  den  gestrigen  Anfall,  Sprache  gedehnt,  langsam,  keine  dvsarthri- 
tischen,  keine  aphasischen  Störungen,  Fazialis  vollständig  sym¬ 
metrisch,  Chvostek  I,  Schnitze,  Trouseeau  positiv.  Während  der 
Prüfung  des  Schl  es  inger  sehen  Beinphänomens  wird  Patient 
plötzlich  unbesinnlich,  reagiert  nicht  auf  Anrufe,  Kopf  und  Bulbi 
nach  links  gewendet,  Streckkrämpfe  in  allen  Extremitäten,  Opisto- 
tonus,  tonische  Verzerrung  der  Gesichtsmuskeln,  Apnoe,  tiefe  Zya¬ 
nose,  Schaum  vor  dem  Mund,  es  folgen  durch  eine  bis  zwei 
Minuten  heftige  klonische  Zuckungen  im  Fazialisgebiet  und  in  den 
oberen  Extremitäten.  Patient  verfällt  in  tiefen  Schlaf,  Puls  von 
anfänglich  40  bis  50  auf  72.  Während  des  Anfalles  beiderseits 
Babinski,  Pupillen  reaktionslos,  keine  Fazialisparese,  keine  Reflex¬ 
differenzen,  Hautstrichreflexe  auslösbar. 

5  Uhr  nachmittags  neuerlicher  Anfall,  Dauer  zirka  eine 
Viertelstunde,  Drehung  des  Kopfes  nach  links,  keine  Parese,  Ba¬ 
binski,  reaktionslose  Pupillen.  Chvostek,  Trousseau,  Schlesinger 
während  der  Dauer  beider  Anfälle  negativ,  mechanische  Erregbar¬ 
keit  des  Ulnaris  und  Peroneus  deutlich  herabgesetzt. 

2.  bis  10.  Februar:  Chvostek,  Trousseau,  Schlesinger  gut 
auslösbar,  keine  Spontankrämpfe. 

10.  bis  18.  Februar:  Zeitweise  spontane  Krämpfe  und  Par¬ 
ästhesien. 

18.  Februar  bis  4.  März:  Keine  Spontankrämpfe,  Chvostek, 
Trousseau,  Schlesinger  positiv.  Heute  148  Uhr  früh  neuerlicher 
epil'eptiformer  Anfall  von  mehreren  Minuten.  Nach  einer  Stunde 
Chvostek  positiv,  Trousseau  negativ,  Schlesinger  positiv,  Babinski 
negativ,  keine  Reflexdifferenzen,  keine  Parasen ;  elektrischer  Re¬ 
bind  wie  oben.  Petechien  an  der  Stirne,  Ekchymosen  der  Con¬ 
junctiva  bulbi  und  palpebrarum. 

5.  März:  9  Uhr  vormittags  epileptifouner  Anfall  wie  oben. 
Chvostek,  Schlesinger,  Trousseau  negativ,  nachmittags  positiv. 

6.  März:  Ein  Anfall,  keine  spontanen  Krämpfe,  abends  wieder 
Auftreten  von  Chvostek,  Trousseau,  Schlesinger  und  Schnitze. 

9.  März:  Leichte  Angina,  Temperatur  bis  38-2°,  schmerz¬ 
hafte  tetanische  Krämpfe  in  beiden  Armen,  bis  13.  März  häufige, 
sehr  intensive  Krämpfe. 

Bis  19.  März :  Krämpfe  seltener.  5  Uhr  epileptiformer  Anfall. 

(  hvostek  beiderseits  nach  dem  Anfall  fehlend. 


G05 


Bis  24.  März :  Selten  Krämpfe  von  geringer  Intensität,  häufig 
Parästhesien. 

25.  März:  Ein  epileptiformer  Anfall. 

26.  März  :  Zwei  epileptiforme  Anfälle  in  Intervallen  von  einer 
Stunde.  Wiederauftreten  von  Chvostek  zirka  eine  Stunde  nach 
dem  Anfall. 

Die  Psyche  des  Patienten  zeigt  in  der  Zeit  unserer  Beob¬ 
achtung  keine  wesentlichen  Veränderungen.  Intelligenz  dem  Bil¬ 
dungsgrade  entsprechend. 

Durch  Wochen  fortgesetzte  Verabreichung  von  Parathyreoidin- 
tabletten  ließ  keinen  Einfluß  auf  Häufigkeit  und  Intensität  der 
Krämpfe  erkennen,  ebensowenig  eine  zeitweise  Brommedikation. 

Wenn  wir  das  Gesagte  kurz  zusammenfassen,  'so 
handelt  es  sich  in  unserem  Falle  um  einen  früher  stets 
gesunden  23jährigen  Mann  der  nach  mehrmonatigem  Auf¬ 
enthalte  in  Wien  an  Krämpfen  erkrankte,  welche  bald  typisch 
tetanische,  bald  epileptiforme  Charaktere  tragen.  Die  eirste- 
ren  treten  in  unregelmäßigen  Intervallen  mit  wechselnder 
Intensität  auf,  während  die  letzteren  deutlich  die  Neigung 
zeigen,  gehäuft  in  kleinen  Serien  zu  erscheinen.  Dabei  in 
der  anfallsfreien  Zeit  sichere  Symptome  der  Tetanie.  So¬ 
wohl  durch  diese  (Chvostek  I,  Schnitze,  Erb,  Hoffmann, 
Trousseau,  Schlesinger),  als  auch  durch  die  selbst  beob¬ 
achteten  spontanen  Krämpfe  mit  typischer  Hand-  und  Fu߬ 
stellung,  mit  initialem  Gefäßkrampf,  erscheint,  die  Diagnose 
Tetanie  gesichert.  Oh  die  oben  erwähnte  auffallende  Pig¬ 
mentierung,  wie  sie  ja  in  der  Literatur  auch  gelegentlich 
beschrieben  wird,  in  das  Symptomenbild  der  Tetanie  ein¬ 
zureihen  ist,  scheint  bei  dem  akuten  Verlauf  in.  unserem 
Falle  wohl  sehr  zweifelhaft. 

Die  allgemeinen,  mit  Bewußtlosigkeit  verbundenen 
Krämpfe  sind  durch  das  tiefe  Koma,  die  Pupillenstarrer 
Zyanose,  Zungenbiß,  vor  allem  durch  die  auftretende,  wenn 
auch  nur  ganz  passagere  Fazialislähmung,  sowie  durch  das 
Auftreten  des  Babinski  sehen  Phänomens  genügend  cha¬ 
rakterisiert,  um  sie  von  den  tetanischen  Krämpfen  im  engeren 
Sinne  des  Wortes  einerseits,  anderseits  von  hysterischen  An¬ 
fällen  zu  scheiden  und  sie  als  epileptische  zu  bezeichnen. 

Hysterische  Stigmata  fehlen,  wie  ich  noch  betonen 
möchte,  vollständig.  Für  eine  lokalisierte  organische  Ge- 
himaffektion,  welche  differentialdiagnostisch  eventuell  noch 
in  Betracht  käme,  fehlen  gleichfalls  genügende  Anhalts¬ 
punkte.  Keine  Symptome  eines  gesteigerten  Hirndruckes 
in  der  anfallsfreien  Zeit,  keine  Stauungspapille,  kein  Kopf¬ 
schmerz,  nie  Erbrechen,  auch  der  Röntgenbefund,  welchen 
wir  der  Güte  des  Herrn  Dr.  Robins ohn  verdanken,  ergab 
völlig  normale  Verhältnisse.  Außerdem  möchte  ich  hervor¬ 
heben,  daß  der  Beginn  der  epileptischen  Anfälle  kein  konstant 
gleiches  Bild  bot.  Bald  fingen  sie  mit  starrer  Blickrichtung 
nach  rechts,  bald  nach  links  an,  mitunter  war  das  erste 
eine  langsame  Drehung  des  Kopfes  nach  der  einen  oder  an¬ 
deren  Seite  hin,  mitunter  tonische  Krämpfe  in  beiden  Fa¬ 
zialis.  Auch  die  im  Anfalle  folgende  leichte  Fazialisparese 
konnte  nur  einmal  beobachtet  werden. 

Wenn  wir  auf  die  Beziehungen  der  tetanischen  und 
epileptischen  Symptome  zueinander  eingehen  wollen,  müssen 
wir  zunächst  hervorheben,  daß  wir  weder  eine  Steigerung 
der  tetanischen  Krämpfe  vor  dem  epileptischen  Anfall,  noch 
eine  Zunahme  des  Chvostek  sehen  und  Troussea  ri¬ 
schen  Phänomens  nach  demselben  beobachten  konnten,  im 
Gegensätze  zu  den  oben  zitierten  Fällen  der  Literatur. 

Wir  konnten  vielmehr  konstant  bei  sämtlichen  epilep¬ 
tischen  Anfällen  ein  oft  plötzliches  Schwinden  des  C  ve¬ 
st  e  k  sehen,  Trousseau  sehen  und  des  Beinphänomens 
beobachten,  zugleich  war  die  mechanische  Erregbarkeit  des 
Nervus  ulnaris  und  peronaeus  deutlich  herabgesetzt.  Im 
Laufe  einer  halben  Stunde  bis  zu  einem  Tage,  scheinbar  je 
nach  der  Intensität  des  Anfalles,  kehrten  die  genannten 
Symptome  wieder  langsam  zurück.  Die  elektrische  Erreg¬ 
barkeit  konnte  aus  äußeren  Gründen  nicht  unmittelbar  nach 
dem  Anfalle  geprüft  werden,  doch  ergaben  wiederholte  Unter¬ 
suchungen  in  Intervallen  von  einer  Stunde  bis  zu  einem 
Tage  nach  dem  Anfälle  stets  ungefähr  gleiche  Werte.  Das 
plötzliche  Schwinden  der  oben  erwähnten  Symptome  unter 


GOG 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  17 


dem  Einfluß  der  einsetzenden  epileptischen  Attacke  machte 
den  Eindruck  einer  Shoekwirkung  und  spricht  wohl  nicht 
gegen  den  tetanischen  Charakter  der  Anfälle.  Um  so  we¬ 
niger,  als  es  ja,  wenn  auch  nur  einmal,  gelungen  ist,  bei 
Prüfung  des  Beinphänomens  einen  generalisierten  Anfall 
von  epileptischem  Charakter  auszulösen. 

Der  Grund,  warum  die  Tetanie  gelegenllich  zu  schweren 
allgemeinen  Krämpfen  führen  kann,  muß'  wohl  in  einer  er¬ 
höhten  Konvulsihilität  des  Gehirnes  gesucht  werden,  ähn¬ 
lich,  wie  ja  bei  Kindern,  worauf  auch  Pineies  hinweist, 
die  Tetanie  so  leicht  zu  allgemeinen  Konvulsionen  führt 
(E  scher  ich).  Auch  experimentelle  Tatsachen  (Kr  ei  dl) 
sprechen  für  diese  Erklärung. 

Diesbezüglich  ist  bei  unserem  Kranken  vielleicht  die 
Linkshändigkeit  nicht  ohne  Bedeutung.  Der  Patient  ist  der 
einzige  Linkshänder  in  der  Familie  und  es  ist  nicht  aus¬ 
geschlossen,  daß'  es  sich  um  eine  singuläre  pathologische 
Linkshändigkeit  im  Sinne  Redlichs  handelt,  wenn  auch 
sonst  keine  Anhaltspunkte  für  eine  etwa  überstandene  Halb¬ 
seifenlähmung  vorhanden  sind,  keine  wesentliche  Asym¬ 
metrien,  keine  Reflexdifferenzen,  keine  Hyperästhesien 
(R.  Stern),  keine  Störungen  der  Stereognose.  In  diesem 
Falle  wäre  ja  die  Disposition  unseres  Kranken  zu  epilep- 
lischen  Zuständen,  die  epileptische  Reaktion  erklärt  und 
es  wäre  immerhin  nicht  ausgeschlossen,  daßi  unter  diesen 
Verhältnissen  auch  nach  Ausklingen  der  Tetanie  oder  hei 
völliger  Latenz  derselben  die  epileptische  Veränderung  dau¬ 
ernd  bestehen  bleibt,  worüber  jetzt  ja  ein  Urteil  nicht  mög¬ 
lich  ist. 

Inwieweit  die  körperlichen  Eigentümlichkeiten,  welche 
vielleicht  im  Sinne  eines  Status  hypoplasticus  zu  deuten 
wären,  disponierend  für  den  schweren  Ablauf  der  Tetanie 
sind,  können  erst  weitere  Beobachtungen  lehren.  Bemer¬ 
kenswert  ist,  daß'  der  von  Falt a  beschriebene  Fall  von 
Tetanie,  welcher  allerdings  weit  auffälligere  Konstitutions¬ 
anomalien  auf  Grund  von  Störungen  im  Gebiete  mehrerer 
Blutdrüsen  zeigte,  gleichfalls  an  epileptiformen  Anfällen  litt. 

Zum  Schlüsse  erfülle  ich  die  angenehme  Pflicht,  Herrn 
Stabsarzt  Dr.  W.  Raschofsky  für  die  gütige  Ueber- 
lassung  des  Falles  zu  danken. 

Literatur: 

Chvostek,  Wiener  med.  Presse  1878,  S.  821.  —  v.  Frankl' 
Hoch  wart,  Deutsches  Archiv  für  klin.  Medizin  1888,  Bd.  4-3,  S.  2D 
Die  Tetanie  1891;  Die  Tetanie  der  Erwachsenen  1907.  —  Velicsi 
Pester  medizinische  und  chirurgische  Presse  1887,  Bd.  23,  S.  489.  — 
H  e  r  o  1  d,  Deutsche  militärärztL.  Zeitschr.  1888,  S.  127.  — -  v.  Jak  sch, 
Zeitschr.  für  klin.  Medizin  1890,  Suppl.  17,  S.  144.  —  E.  Freund, 
Deutsches  Archiv  für  klin.  Medizin  1903,  Bd.  76,  S.  10  —  H  i  r  s  c  h  1, 

Wiener  klin.  Wochenschr.  1904,  S.  608.  —  E.  Fries,  Wiener  klin. 
Wochenschr.  1907,  S.  150.  —  G.  Stiefler,  Wiener  klin.  Wochenschr. 
1907,  S.  959.  —  J.  A.  Gibb,  Wien.  Brit.  med.  Journ.  1908,  Bd.  2.  S.  77. 

Pineies,  Wiener  klin.  Rundschau  1909,  Nr.  47,  S.  760.  — 
C  u  r  s  c  h  mann,  Deutsche  Zeitschr.  für  Nervenheilkunde  1910,  Bd.  39, 
S.  36.  —  Saiz,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1908;  Berliner  klin.  Wochen¬ 
schrift  1911,  S.  245.  —  E.  Mattausche k,  Wiener  klin.  Wochenschr. 
1907,  Bd.  16,  S.  470.  —  R.  Stern,  Jahrbücher  für  Psych.  1911,  XXXII., 
S.  184.  —  Falta,  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  innere  Medizin 
1910.  S.  24.  —  E.  Redlich,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1907,  Bd.  10, 
S.  300. 


Mitteilung  aus  dem  chemisch-bakteriologischen  Institute 
Bronstein,  Levinson  und  Bernhardt,  Moskau. 

Ein  neuer  Indikator  zur  Bestimmung  des  titrier¬ 
baren  Alkalis  im  Blute. 

Von  Paul  Bernhardt. 

Ueber  die  Reaktion  des  Blutes  ist.  viel  geschrieben 
und  gestritten  worden.  Gewöhnlich  nimmt,  man  an,  daß 
die  Reaktion  des  Blutes  eine  alkalische  sei.  Dieses  ist  von 
anderer  Seite  bestritten  worden,  so  weist  zum  Beispiel  Maly 
darauf  hin,  daß  dem  Blute  eigentlich  eine  saure  Reaktion 
zuzuschreiben  sei,  da  das  saure  kohlensaure  -Natrium  und 
ebenso  das  Dinatrinmphosphnt,  denen  das  Blul  seine  alka¬ 
lische  Reaktion  (Lackmus  gegenüber)  verdankt,  noch  ein 
freies  Wasserstoffatom  enthält,  das  durch  Metalle  ersetz-  I 


har  ist.  Man  ist  also  bei  der  Bestimmung  der  Reaktion  des 
Blutes,  ganz  ebenso  wie  hei  manchen  anderen  Flüssig¬ 
keiten,  sehr  von  der  Wahi  des  Indikators  abhängig.  Einen 
ähnlichen  Fall  können  wir  bei  der  Reaktionsbestimmung 
der  Kuhmilch  konstatieren:  Kuhmilch  reagiert  Lackmus 
gegenüber  amphoter  oder  schwach  alkalisch,  Phenolphtha¬ 
lein  gegenüber  jedoch  ganz  ausgesprochen  sauer. 

Seit  Zuntz  hat  man  fast  immer  nur  Lackmus  als  Indi¬ 
kator  für  die  Reaktionsbestimmung  des  Blutes  angewendet, 
woher  sich  auch  allgemein  die  Ansicht  ausgebildet  hat, 
daß  das  menschliche  Blut  eine  alkalisch  reagierende  Flüs¬ 
sigkeit  sei.  Weiter  hat  man  sich  an  der  Hand  dieses  Indi¬ 
kators  vielfach  bemüht,  die  sogenannte  Alkaleszenz  oder 
den  Alkaleszenzgrad  des  Blutes  möglichst  genau  durch 
Zahlen  auszudrücken  und  es  ist  eine  stattliche  Reihe 
von  Arbeiten  erschienen,  die  den  Alkaleszenzgrad 
des  Blutes  unter  normalen  und  pathologischen  Um¬ 
ständen  beleuchten.  Es  sei  jedoch  auch  hier  dessen 
gedacht,  daß  man  bei  der  Alkaleszenzbestimmung  des 
Blutes  zwei  Gesichtspunkte  auseinanderzuhalten  habe: 
einerseits  den  wahren  Alkaleszenzgrad,  welcher  uns 
über  den  Gehalt,  des  Blutes  an  Hydroxylionen  aufklärt; 
derselbe  wird,  wie  bekannt,  am  besten  durch  Bestimmung 
der  Leitfähigkeit  ausgedrückt,  anderseits  die  Ermittlung  des 
sogenannten  titrierbaren  Alkalis  oder  der  alkalisch  reagie¬ 
renden  Substanzen  (gewissen  Indikatoren  gegenüber),  die 
durch  Säuren  neutralisiert  werden.  Was  den  ersten 
Gesichstpunkt  anbelangt,  so  haben  die  Arbeiten  von  Höher 
und  anderen  dargetan,  daß  sich  die  Hydroxylionen 
und  Wasserstoffionen  im  Blute  die  Wage  halten  und  somit 
dem  Blute  eine  neutrale  Reaktion  zukonune.  Es  liegt  somit 
nahe,  daß  der  Alkaleszenzbestimmung  des  Blutes  vermittels 
Titrieren  häufig  der  Vorwurf  gemacht  wird:  sie  könne  den 
wirklichen  Alkaleszenzgrad  des  Blutes  nicht  bestimmen.  Un¬ 
geachtet  dessen  ist  jedoch  folgendes  zur  Rechtfertigung  der 
Titriermethode  ins  Auge  zu  fassen,  daßi  es  sich,  wie  häufig 
hei  den  meisten  Methoden,  um  eine  gewisse  Uebereinkunft 
handelt,  die,  streng  unter  denselben  Bedingungen  geliand- 
habt,  uns  gewisse  Normen  aufstellen  und  auch  ebenso  Ab¬ 
weichungen  von  denselben  bemerken,  läßt;  hiebei  ist  noch  in 
Betracht  zu  ziehen,  daß  der  Titriermethode  entschieden  von 
praktischer  Seite  ein  großer  Vorzug  gebührt,  der  durch 
die  Einfachheit  der  Handhabung  und  Schnelligkeit  der  Aus¬ 
führung  berechtigt  ist. 

Eine  große  Schwierigkeit  hei  der  Bestimmung  des  titrier¬ 
baren  Alkalis  hat  immer  die  Auswahl  eines  passenden  In¬ 
dikators  verursacht,  da  ja  das  Blut  selbst  eine  intensiv 
gefärbte  Flüssigkeit  ist;  es  lag  somit  nahe,  daß  man  sich 
der  Tüpfelmethode  auf  Lackmus  oder  Lackmoidpapier  be¬ 
diente.  Es  ist  nicht  Aufgabe  dieser  Zeilen,  alle  verschie¬ 
denen  vorgeschlagenen  Methoden  näher  zu  beleuchten,  hier 
sei  nur  einer  Methode  gedacht,  die  in  der  ärztlichen  Praxis 
viel  Anwendung  und  Anklang  gefunden  hat.  Es  ist  dies  die 
Methode  nach  Engel,  dieselbe  hat  folgende  Vorteile:  große 
Einfachheit,  arbeitet  mit  möglichst  kleinen  Mengen  Blut 
und  ist  sehr  schnell  auszuführen;  auch  sei  hier  noch  des 
sehr  portativen  Apparates  gedacht,  der  von  Engel  behufs 
Ausführung  seiner  Methode  zusammengestellt  ist,  es  kann 
somit  gleich  am  Krankenbette  das  titrierbare  Alkali  im  Blute 
bestimmt  werden.  Die  schwache  Seite  dieser  sonst  recht 
brauchbaren  Methode  liegt,  in  der  Wahl  des  Indikators; 
als  solcher  dient  nach  Engel  Lackmoidpapier.  Manist  hiebei 
von  vielfachen  Zufälligkeiten  abhängig:  so  von  der  Güte 
und  Empfindlichkeit  des  Papiers,  dann  braucht  man  immer 
einen  gewissen  Ueberschuß  der  stark  verdünnten  Säure, 
um  eine  überzeugende  Reaktion  zu  erhalten,  auch  ist  das 
Bemerken  der  sauren  Reaktion  auf  solche  Manier  recht 
großen  individuellen  Schwankungen  von  seiten  des  Analy¬ 
sators  unterworfen;  auf  den,  wenn  auch  kleinen,  Material¬ 
verlust  hei  Tüpfehnethoden  will  ich  gar  nicht  näher  ein 
gehen.  Wenn  man  alle  diese  Bedenken  zusammenfaßt,  so 
ist,  es  wohl  berechtigt,  daß  man  einen  Indikator  zu  finden 
sitrhte.  der  ein  direktes  Titriefen  nach  der  Methödb  Engel 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


60/ 


möglich  machte.  Ein  solcher  Indikator  hätte  also  folgende 
Ansprüche  zu  rechtfertigen: 

1.  Er  mußt  die  Eigenfarbe  des  Blutes  ausschalten. 

2.  Er  mußt  die  Neutralisation  der  Karbonate  und  Phos¬ 
phate  bei  gewöhnlicher  Temperatur  anzeigen. 

3.  In  Wasser  löslich  sein. 

4.  Genügend  scharf  sein,  da  nach  der  Methode  Engel 
nur  minimale  Mengen  Blut  in  Arbeit  genommen  werden. 

Nach  reiflicher  Ueberlegung  und  vielfachen  Versuchen 
entschloß  ich  mich,  dem  Alizarinsulfazid,  einem  Indikator, 
der  schon  lange  in  der  Alkalimetrie  angewendet  wird,  vor 
anderen  den  Vorzug  zu  geben,  da  er  mir  den  Forderungen 
der  drei  letzten  Punkte  zu  entsprechen  scheint.  Um  ihn 
hinsichtlich  des  ersten  Punktes  gebrauchsfähig  zu  machen, 
kombinierte  ich  ihn  mit  einem  dem  Blute  und  stark  ver¬ 
dünnten,  organischen  Säuren  gegenüber  indifferentem 
blauen  'Farbstoff;  als  dazu  geeignet  erschien  mir  eine  Indigo¬ 
lösung.  Der  neue  Indikator,  den  ich  zur  Bestimmung  (des 
titrierbaren  Alkalis  im  Blute  in  Vorschlag  bringen  möchte, 
hat  folgende  Zusammensetzung:  Zwei  Raumteile  einer 
wässerigen  l°/oigen  Alizarinsulfazidlösung  und  einen  Raum¬ 
teil  einer  wässerigen  l°/oigen  Indigokarminlösung  (Grüb¬ 
ler).  Ein  solches  Gemisch  besitzt  bei  neutraler  und  saurer 
Reaktion  eine  intensiv  dunkelgrüne  Färbung,  die  durch  den 
geringsten  Beberschuß  von  Alkali  in  eine  rotviolette  Färbung 
umschlägt.  Die  Empfindlichkeit  dieses  Indikators  ist  eine 
ganz  bedeutende,  man  kann  unter  anderem  sehr  überzeugend 
destilliertes  (völlig  neutrales)  Wasiser  von  demj  natürlich  vor¬ 
kommenden,  welch  letzteres  immer  saure -kohlensaure  Salze 
enthält,  unterscheiden;  setzt  man  einige  Tropfen  des  neuen 
Indikators  völlig  neutralem  Wasser  zu,  so  färbt  sich  dasselbe 
intensiv  grün,  nicht  destilliertes  Wasser  nimmt  hiebei  oben 
erwähnte  rotviolette  Färbung  an;  diese  Erscheinung  kann 
man  auch  bei  sehr  weichem  Wasser  (zwei  bis  drei  deutsche 
Härtegrade)  konstatieren. 

Es  dürfte  wohl  den  Rahmen  dieses  Aufsatzes  über¬ 
schreiten,  wenn  ich  alle  Versuche,  die  ich  mit  dem  neuen 
Indikator  angestellt  und  die  im  allgemeinen  seine  Brauch¬ 
barkeit  für  unsere  Zwecke  bekundeten,  hier  aufzählen  wollte, 
es  sei  hier  nur  des  folgenden  gedacht: 

Seit  Lassar  benützt  man  zur  Bestimmung  des  titrier¬ 
baren  Alkalis  im  Blute  an  Stelle  der  von  Z  u  n  t  z  vorgeschla¬ 
genen  Phosphorsäure  Weinsäure.  Eine  solche  wird  auch 
bei  der  Methode  Engel  benutzt,  Engel  titriert  mit  V75- 
Xonnal-  Weinsäure.  Es  galt,  also  bei  den  Hauptversuchen 
mit  dem  neuen  Indikator  sich  in  diesen  Grenzen  zu  halten. 
Zuerst  verglich  ich  den  neuen  Indikator  mit  Phenolphthalein; 
behufs  dessen  stellte  ich  mir  eine  genaue  V75-  Normallösung 
von  kohlensaurem  Natron  her  und  titrierte  dieselbe  mit 
V75  -  Normal  -  Salzsäure,  einmal  vermittels  Phenolphthalein 
unter  dauerndem  Kochen,  das  andere  Mal  mit  dem  neuen 
Indikator  kalt;  die  Resultate  waren  fast  übereinstimmend, 
Phenolphthalein  zeigte  unter  obigen  Bedingungen  Neutrali¬ 
sation  von  10  cm3  der  Sodalösung  bei  Zusatz  von  genau 
10  cm3  iSalzsäure,  bei  Anwendung  des  neuen  Indikators 
wurden  bis  zum  bleibenden  Farbenumschlag  von  Rotviolett 
bis  Grün,  einige  Minuten  beständig,  9-9  cm3  verbraucht. 
Weiter  bereitete  ich  mir  eine  V75- Normal -Weinsäure,  ein¬ 
gestellt  vermittels  V75- Normal -kohlensauren -Natrons.  Als 
Indikator  verwendete  ich  auch  hiebei  sowohl  Phenolphthalein, 
als  auch  den  neuen  Indikator  unter  obigen  Bedingungen, 
auch  hier  waren  die  Resultate  die  obigen.  Zum  Schlüsse 
wurde  eine  wässerige  Lösung  von  Blutasche  mit  stark  ver¬ 
dünnten  Säuren  titriert,  als  Indikatoren  dienten  hier  auch 
Phenolphthalein  (Kochen)  und  der  neue  Indikator  (kalt),  die 
Ergebnisse  waren  fast  übereinstimmend. 

Nachdem  somit  die  Brauchbarkeit  des  neuen  Indikators 
für  unsere  Zwecke  im  großen  und  ganzen  dargetan  sein 
dürfte,  wandte  ich  mich  der  Bestimmung  des  titrierbaren 
Alkalis  im  Blute  zu.  Ich  benütze  hiebei  den  von  Engel 
konstruierten  Alkalimeter.  Aus  der  Fingerkuppe  wurde  nach 
erfolgtem  Einstich  mit  dem  Melangeur  0-05  Blut  angesogen, 
mit  völlig  neutralem,  destilliertem  Wasser  bis  auf  5  cm3 


verdünnt,  die  Mischung  in  das  dem  Apparate  beigegebene 
Gläschen  gebracht,  fünf  bis  sechs  Tropfen  vom  neuen  Indi¬ 
kator  zugegeben  und  durchgemengt,  wobei  bedingt  durch 
die  alkalische  Reaktion  (dem  neuen  Indikator  gegenüber) 
eine  deutliche  rotviolette  Färbung  auftrat,  jetzt  sofort  aus 
der  Bürette  V75- Normal  -Weinsäure  behutsam  zugefügt,  bis 
bei  auffallendem  Lichte  auf  weißem  Untergründe  eine  deut¬ 
lich  grüne  Verfärbung  der  Flüssigkeit  sich  bemerkbar  machte. 
Bei  einiger  Gewöhnung  an  den  neuen  Indikator  kann  man 
bis  auf  einen  Tropfen  genau  das  titrierbare  Alkali  im  Blute 
bestimmen.  Der  Alkaleszenzgrad  kann  nun,  wie  üblich,  in 
Milligrammen  Aelznatron,  auf  100  cm3  Blut  berechnet, 
zahlen  gemäß  ausgedrückt  werden.  Im  Menschenblut,  unter 
normalen  Verhältnissen,  beobachtete  ich  bei  beschriebener 
Arbeitsweise  einen  Verbrauch  von  0-45  bis  0-55  V75-  Normal- 
Weinsäure,  was  in  Zahlen  ausgedrückt,  eine  Alkaleszenz 
von  467  bis  583  gibt.  Auf  verschiedene  Abweichungen, 
die  ich  von  obiger  Norm  während  der  Arbeit  erhielt,  kann 
ich  hier  nicht  näher  eingehen,  da  mir  dazu  die  nötigen 
klinischen  Daten  nicht  zugänglich  waren,  nur  konnte  ich 
konstatieren,  daß  mit  Abnahme  der  Alkaleszenz  auch  ein 
entsprechend  geringer  Hämoglobingehalt  Hand  in  Hand  ging. 


Referate. 


Ueber  Kinderschutz  und  Volksvermehrung  mit  beson¬ 
derer  Beachtung  der  Verhältnisse  in  Böhmen. 

Von  Obersanitätsrat  Prof.  Dr.  Alois  Epstein. 

Wien  und  Leipzig  1910,  W.  B  r  a  11  ni  ü  1 1  e  r. 

Wie  in  allen  Ländern  beginnt  auch  in  Böhmen  die  Frage  des 
Säuglings-,  bzw.  des  Kinderschutzes  in  den  Vordergrund  des  Inter¬ 
esses  zu  treten.  Der  Verfasser  bespricht  kurz  die  bisher  bestehenden 
Institutionen  in  den  verschiedenen  Staaten  und  geht  dann  speziell 
auf  die  diesbezüglichen  Verhältnisse  in  Böhmen  ein.  Epstein 
hebt  die  besondere  Notwendigkeit  einer  Förderung  dieser  Institu¬ 
tionen  für  Böhmen  hervor,  nicht  allein  vom  rein  menschlichen, 
volkswirtschaftlichen,  sondern  auch  vom  nationalen  Standpunkte 
aus.  Gerade  die  deutsche  Bevölkerung  weist  eine  höhere  Säuglings¬ 
sterblichkeit  als  die  tschechische  auf,  was  wiederum  eine  Rück¬ 
ständigkeit  der  natürlichen  Volksvermehrung  im  deutschen  Sprach¬ 
gebiete  zur  Folge  hat.  Die  Hauptursache  der  hohen  Mortalität  ist 
in  dem  Mangel  der  natürlichen  Ernährung  zu  suchen. 

Es  werden  daher  die  Aufgaben  der  Säuglingsfürsorge  in  den 
deutschen  Bezirken  Böhmens  vor  allem  dahin  streben  müssen,  daß 
durch  eine  entsprechende  und  beharrliche  Belehrung  der  Bevölke¬ 
rung  die  Ausübung  der  Mutterpflicht  wieder  angeregt  und,  wo  es 
nottut,  durch  geeignete  Einrichtungen  und  Mittel  ermöglicht  werde. 

* 

Ueber  die  Bedeutung  der  Inanition  bei  Ernährungs¬ 
störungen  der  Säuglinge. 

Von  Prof.  Ad.  Czerny. 

Sammlung  zwangloser  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  Verdauungs¬ 
und  Stoffwechselkrankheiten,  Bd.  3,  Heft  2. 

Halle  a.  S.  1911,  Karl  AI  ar  hold. 

Die  Inanition,  die  häufig  von  dem  Säugling  gut  vertragen 
wird,  bringt  auf  der  anderen  Seite  gar  nicht  so  selten,  mag  sie 
beabsichtigt  sein  durch  zu  lange  eingehaltene  Hungerdiät  hei  akuten 
Ernährungsstörungen,  oder  ungewollt,  veranlaßt  durch  den  Krankheits¬ 
prozeß  (Infektion)  selbst,  mancherlei  Gefahren  mit  sich.  Czerny 
bestätigt  die  Angaben  von  Guest,  daß  die  Folgen  der  Inanition 
bei  einem  Körpergewichtsverlust  von  einem  Drittel  der  Körpermasse 
die  Rettung  eines  Kindes  mit  unseren  gewöhnlichen  Hilfsmitteln 
meist  ausschließt.  Die  Inanition  führt  zu  schweren  Funktionsstörun¬ 
gen  im  Organismus,  die  bisher  noch  nicht  genügend  erforscht  sind. 
Nur  bezüglich  der  Kohlehydrate  läßt  sich  zeigen,  daß  die  Assimila¬ 
tionsschwelle  für  Zucker  während  der  Inanition  sinkt,  daß  infolge¬ 
dessen  schon  bei  geringer  Zuckerzufuhr  alimentäre  Glykosurie 
auftritt. 

Das  beste  Mittel,  den  drohenden  Gefahren  der  Inanition  zu  be¬ 
gegnen,  haben  wir  in  der  Frauenmilch. 

Steht  diese  nicht  zur  Verfügung,  so  leistet  bisweilen  auch  eine 
der  salzreichen  Flüssigkeiten,  so  die  von  II  e  i  m  empfohlene  Lösung 


Ü08 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  17 


von  Kochsalz  und  Natrium  bicarbonicum,  die  Gemüsesuppe  von 
Mery,  die  Karottensuppe  von  Moro  oder  die  Molke  nach  Czerny 
gute  Dienste.  Die  eigentliche  Reparation  kann  mit  diesen  Salzen 
nicht  erzielt  werden,  sondern  erst  durch  Zufuhr  von  Kohlehydraten. 
Dieser  Uebergang  bereitet  oft  neue  Schwierigkeiten.  Rasche  Steige¬ 
rung  der  Nahrungsmengen  ist  zu  vermeiden,  da  hiedurch  sogar  letal 
verlaufende  Toxikosen  ausgelöst  werden  können. 

Der  Organismus  bleibt  durch  die  Inanition  lange  geschädigt. 

* 

Die  akute  Poliomyelitis,  bzw.  Heine-Medinsche  Krankheit. 

Von  Priv.-Doz.  I)r.  Ivar  Wickman. 

Berlin  1911,  J.  Springer. 

Wickman,  dem  wir  bereits  eine  Reihe  ausgezeichneter 
grundlegender  Arbeiten  über  die  Poliomyelitiserkrankung  verdanken, 
gibt  uns  in  der  vorliegenden  Monographie,  die  einen  unveränderten 
Abdruck  des  gleichnamigen  Abschnittes  aus  dem  Handbuche  der 
Neurologie  (M.  Lewandowsky)  bildet,  einen  Ueberblick  über 
den  jetzigen  Stand  der  ganzen  Frage.  Klinik,  Anatomie,  Pathogenese 
und  experimentelle  Forschung  werden  auf  Grund  der  neuesten 
Poliomyelitisarbeiten  eingehend  erörtert.  Es  muß  nach  Ansicht  des 
Referenten  besonders  hervorgehoben  werden,  daß  die  wichtigsten 
Schlußfolgerungen,  zu  denen  Wickman  durch  seine  eigenen 
klinischen  Beobachtungen  und  histologischen  Befunde  gekommen  ist 
(lymphogener  Infektionsweg,  Vorkommen  von  abortiven  Fällen  u.  a.), 
durch  die  neueste  experimentelle  Poliomyelitisforschung  vollauf 
Bestätigung  gefunden  haben. 

* 

Ueber  Bantische  Krankheit  und  Leberzirrhose  im 

Kindesalter. 

.  Inauguraldissertation  von  Karl  Vogel. 

München  1911,  R.  Müller  und  S  t  e  i  n  i  c  k  e. 

Es  ist  nicht  immer  leicht,  die  beiden  Krankheiten  voneinander 
zu  differenzieren. 

Verf.  bespricht  an  der  Hand  von  eigenen  Beobachtungen  und 
einer  Reihe  von  einwandfreien  Literaturfällen  die  wichtigsten 
differentialdiagnostischen  Symptome,  die  in  einer  eigenen  Tabelle 
zusammengestellt  sind. 

Für  den  B  a  n  t  i  sehen  Symptomenkomplex  spricht  hauptsäch¬ 
lich  der  auffallende  Milztumor,  der  Blutbefund  (Anämie,  Leukopenie, 
Oligozytämie  und  Oligochromämie),  das  fast  regelmäßige  Fehlen  von 
Ikterus  u.  a.  m. 

* 

Kinderpflege-Lehrbuch . 

Bearbeitet  von  Prof.  Dr.  Artur  Keller  und  Dr.  Walter  Birk. 

Mit  einem  Beitrag  von  Dr.  Axel  Tagessou  Möller. 

Berlin  1911,  Julius  Springer. 

Nicht  nur  jeder  Pflegerin  von  Beruf,  sondern  überhaupt  jeder 
Mutter  kann  das  Buch  zur  Lektüre  empfohlen  werden.  Die  wich¬ 
tigsten  Prinzipien  der  Ernährung  und  Pflege  des  gesunden  Kindes 
erfahren  von  Dr.  Keller  und  Dr.  Birk  eine  sorgfältige  Erörterung ; 
in  dem  Kapitel  » Kindererziehung«  bekommen  wir  von  Prof.  Keller 
eine  Reihe  beherzigender  Winke  und  guter  Ratschläge  zu  hören. 
Besonders  belehrend  —  auch  für  Aerzte  —  ist  der  Abschnitt 
»Zimmergymnastik  bei  Kindern«,  besprochen  von  Dr.  Möller. 
Zum  Schlüsse  gibt  Prof.  Keller  noch  einen  kurzen  Ueberblick 
Uber  die  Frage  der  Säuglingsfürsorge. 

* 

Grundzüge  für  die  Mitwirkung  des  Lehrers  bei  der 
Bekämpfung  übertragbarer  Krankheiten. 

Von  Dr.  Fritz  Kirsteiu. 

Zweite,  völlig  umgeänderte  und  erweiterte  Auflage. 

Berlin  1911,  Julius  Springer. 

Das  vorliegende  Büchlein  ist  hauptsächlich  für  Lehrer  bestimmt ; 
es  enthält  gute  Fingerzeige,  wie  die  Lehrer  sich  beim  Auftreten  von 
Infektionskrankheiten  in  der  Schule  zu  verhalten  haben  und  hebt 
die  Wichtigkeit  hervor,  die  Infektionskrankheiten  so  früh  wie 
möglich  zu  erkennen,  da  hiedurch  oftmals  die  weitere  Ausbreitung 
der  Epidemien  verhindert  werden  kann.  Allerdings  verlangt  nach 
Ansicht  des  Referenten  der  Verfasser  gerade  in  diesem  Punkt  zuyiel 
von  den  Lehrern.  Die  Frühdiagnose  setzt  eine  besonders  gute  ärzt¬ 
liche  Schulung  und  reiche  Erfahrung  voraus,  die  ja  doch  wohl  den 


meisten  Lehrern  fehlt.  Hier  müßten  eigentlich  die  Schulärzte  ihres 
Amtes  walten. 

Bei  der  Aufzählung  der  in  Frage  kommenden  Krankheiten, 
die  vom  klinisch-diagnostischen  Standpunkt  kurz  besprochen  werden, 
hätte  auch  der  Herpes  tonsurans  capillitii  und  die  Mikrosporie  Auf¬ 
nahme  finden  sollen.  C.  L  einer. 


Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

422.  (Aus  dem  staatlichen  serotherapeutischen  Institute  in 
Wien.  —  Vorstand:  Hofrat  Prof.  R.  Paltauf.)  Zweiter  Be¬ 
richt  über  die  Behandlung  des  Typhus  abdominalis 
mit  Heilserum.  Von  Prof.  R.  Kraus  und  Dr.  R.  v.  Ste- 
nitzer.  Die  Verfasser  verwerten  die  Mitteilungen  des  Dr.  Forß- 
mann  in  Stockholm,  des  Dr.  Ungar  in  Hermannstadt  und  des 
Dr.  Ruß  jun.  in  Jassy,  welche  über  ihre  Erfahrungen  mit  dem 
antiendotoxischen  Typhuspferdeserum  berichteten.  Forßinann 
hat  20  Fälle  mit  Serum  behandelt,  er  injizierte  durchschnittlich 
20  cm3  Serum  subkutan,  viermal  intravenös.  Injiziert  wurden 
in  der  ersten  Woche  sieben  Fälle,  die  übrigen  in  der  zweiten 
und  dritten  Woche.  Schon  die  Laibacher  Epidemie  '..über  welche 
schon  früher  berichtet  wurde,  Wiener  klinische  Wochenschrift 
1909,  Nr.  41)  hat  gelehrt,  daß  eine  Serumwirkung  nur  dann  zu 
erwarten  sei,  wenn  die  Injektion  im  Beginn  der  Erkrankung, 
womöglich  in  der  ersten  Woche,  erfolgt.  Von  den  sieben 
Fällen  Forßmanns  ist  ein  zweifelhafter  Fall  abzuziehen  (keine 
Roseola,  Widal  negativ,  Angina,  Diphtherieserum,  Tod,  keine 
Obduktion),  es  bleiben  somit  sechs  früh  injizierte  Fälle,  in  welchen 
sich  der  erkennbare  Einfluß  des  Typhusheilserums  in  der  Ab¬ 
nahme  der  Somnolenz  post  injectionem  und  (in  fünf  Fällen)  in  der 
abgekürzten  Krankheitsdauer  (zwei  bis  drei  Wochen)  kundgab, 
wiewohl  schon  nach  früheren  Erfahrungen  der  Verfasser  die 
Menge  von  20  cm3  etwas  zu  niedrig  gegriffen  scheint.  Von  den 
sieben  frühzeitig  Injizierten  verliefen  sechs  (85-7°/o)  leicht,  obwohl 
vier  Fälle  von  Anfang  an  als  schwer  imponierten.  Bei  den  in 
einem  späteren  Stadium  injizierten  Fällen  verzeichnete  Forß- 
mann  Besserung  des  Allgemeinbefindens  mit  Abnahme  der  Som¬ 
nolenz,  wenn  auch  nur  vorübergehend.  Der  zweite  Bericht  stammt 
von  Dr.  Ungar  in  Hermanstadt  (Epidemie  1908  und  1909).  Die 
Gesamtzahl  der  Typhusfälle  betrug  G15  mit  70  Todesfällen  (11-380# 
Mortalität).  32  dieser  fälle  wurden  im  Zivilspitale  mit  dem 
Wiener  Serum  injiziert,  davon  28  frühzeitig',  3  später.  Em  Todes¬ 
fall  infolge  Noma,  mithin  nur  3-2°/o  Mortalität  bei  den  Injizierten. 
In  einem  späteren  Bericht  (1909)  sind  die  Resultate-  der  Serum¬ 
behandlung  nicht  so  günstig:  von  13  behandelten  fällen  sind 
11  geheilt,  2  gestorben  (l5-38°/o),  8  ohnie,  3  mit  Komplikationen. 
Nur  drei  Fälle  wurden  früh  injiziert,  davon  zeigten  zwei  abge¬ 
kürzte  Verlaufszeit,  ein  Fall  vorübergehende  Fieberremission. 
Dr.  Ruß  jun.  in  Jassy  hat  das  Wiener  Heilserum  in  44  Typhus¬ 
fällen  (1909  bis  1910)  injiziert  und  hebt  in  seinem  Berichte 
hervor,  daß  diese  Injektionen  dann  den  größten  Erfolg  aufwiesen, 
wenn  sie  im  Verlauf  der  ersten  Krankheits woche  (längstens  zehn 
Tagen)  gemacht  wurden  u.  zw.  intravenös.  Reinjektionen  müßten 
sofort  gemacht  werden,  wenn  ein  neuer  Fieberanstieg  sich  zeigt 
und  zwar  längstens  nach  sieben  Tagen.  Nicht  komplizierte  fälle 
zeigten  meistenteils  den  besten  Erfolg.  In  einzelnen  Fällen  wurde 
der  Krankheitsverlauf  abgekürzt,  mit  dem  Abfall  der  Temperatur 
war  auch  die  Erkrankung  beendet,  ln  anderen  Fällen  erfolgte 
nicht  vollkommene  Apyrexie,  wohl  aber  (unmittelbar  danach  oder 
nach  einigen  Tagen)  eine  Abnahme  der  Temperatur,  die  nicht 
wieder  zur  früheren  Höhe  anstieg.  Zwei  Rezidiven  (nach  12, 
respektive  30  Tagen)  wurden  beobachtet.  Sonst  wurde  danach 
Abnahme  der  Kopfschmerzen,  Freierwerden  des  Sensoriums  und 
Besserung  des  Allgemeinbefindens  beobachtet.  Am  Schlüsse  ihres 
ersten  Berichtes  über  die  Behandlung  der  Typhusfälle  in  der 
Epidemie  Laibach  und  Hermannstadt  sagten  die  Verfasser,  daß  die 
subkutane  oder  intravenöse  Injektion  von  20  bis  40  cm3  des 
antiendotoxischen  Typhusserums,  namentlich  in  unkomplizierten 
Fällen,  bei  frühzeitiger  Injektion,  eine  Besserung  des  Krank¬ 
heitsverlaufes  bedingen  dürfte.  Die  Temperatur  kann  einige  rage 
nach  der  Injektion  rasch  zurückgehen  und  auch  das  subjektive 
Befinden  bessert  sich.  Der  vorliegende  zweite  Bericht  spricht 


Nr.  17 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


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ebenfalls  dafür,  daß  eine  frühzeitige  Serumbehandlung  (subku¬ 
tan  oder  intravenös)  des  Typhus  abdominalis  weiter  zu  versuchen 
sei,  da  &ie  den  Krankheitsverlauf  günstig  zu  beein¬ 
flussen  scheint.  —  (Deutsche  mediz.  Wochenschrift  1911, 

Nr.  Iß.)  E.  F. 

* 

423.  (Aus  dem  Physiologischen  Institut  Direktor :  Geheini- 
rat  Hürthle  —  und  der  Universitäts-Kinderklinik  -  Direktor: 
v.  Pirquet  —  in  Breslau.)  Anaphylaxie  und  Lymphbil¬ 
dung.  Von  Dt.  Martin  Calvary,  Assistenzarzt  der  Kinderklinik. 
Die  anaphylaktische  Vergiftung  tritt  je  nach  der  Spezies  der  unter¬ 
suchten  Tiere  und  nach  der  Art  und  dem  Orte  der  zweiten  Ein¬ 
verleibung  des  Antigens  in  verschiedener  Weise  in  die  Erschei¬ 
nung.  Beim  Menschen  äußert  sich  die  Serumkrankheit  nach  der 
zweiten  Injektion  in  Exanthem,  Fieber,  Allgemeinerscheinungen 
und  lokal  bei  subkutaner  Injektion  in  dem  „spezifischen  Oedem“. 
Das  Meerschweinchen  stirbt  nach  einer  intravenösen  Reinjektion 
desselben  artfremden  Serums  unter  schwersten  Krankheitserschei¬ 
nungen,  während  das  Kaninchen  selten  akut  eingeht.  Hunde  über¬ 
leben  gewöhnlich  den  anaphylaktischen  Shock,  bieten  aber  eine 
Reihe  von  charakteristischen  Krankheitssymptomen.  Biedl  und 
Kraus  fanden  als  regelmäßige  Erscheinung  dabei  eine  typische 
Senkung  des  arteriellen  Blutdruckes,  die  ihrer  Ansicht  nach  in 
einer  hochgradigen,  peripheren  Vasodilatation  ihre  Ursache  hat. 
Dazu  kommen  Veränderungen  der  Gerinnbarkeit  des  Blutes  und 
des  morphologischen  Blutbildes.  Diese  Erscheinungen  stimmen 
auffallend  überein  mit  denen  der  Vergiftung  durch  Witte-Pepton. 
Auch  diese  ruft  eine  hochgradige  Blutdrucksenkung  mit  starker 
Gefäßerweiterung  hervor,  Ungerinnbarkeit  des  Blutes,  Krämpfe, 
Benommenheit  und  Schwäche.  Dazu  kommt  die  lymphagoge  Wir¬ 
kung,  die  Heidenhain  festgestellt  hat.  Er  fand  eine  Reihe  von 
Stoffen,  welche,  in  die  Blutbahn  gespritzt,  die  Lymphmenge  auf 
das  Dreifache  und  mehr  vergrößern  und  nannte  diese  Stoffe  Lym- 
phagog a  erster  Ordnung.  Ist  nun  die  Peptonvergiftung  beim  Hunde 
tatsächlich  identisch  mit  dem  anaphylaktischen  Shock,  so  müßte 
sich  auch  hier  ein  deutlicher  Einfluß  auf  die  Lymphbildung  zeigen. 
Verf.  stellte  daher  darauf  abzielende  Untersuchungen  an  Hunden 
an,  bei  denen  er  die  aus  dem  Ductus  thoracicus  ausfließende 
Lymphe  vor  und  nach  der  Reinjektion  eines  artfremden  Serums 
maß.  Es  wurde  Hunden  im  Körpergewicht  von  8  bis  21  kg  zuerst 
10  cm3  Normalpferdeserum  gegeben.  14  bis  16  Tage  später  wurde 
in  Narkose  in  den  Ductus  thoracicus<  kurz  vor  seiner  Mündung  in 
die  Vena  subclavia  eine  Glaskanüle  eingebunden,  durch  die  die 
Lymphe  in  graduierte  Gefäße  geleitet  wurde.  Von  zehn  zu  zehn 
Minuten  wurde  die  so  erhaltene  Lymphmenge  notiert.  Nach  einer 
halben  Stunde  gab  Verf.  die  Reinjektion  von  10  cm3  Pferdeserum 
in  die  rechte  Vena,  facialis.  Die  Lymphmenge,  die  vor  der  Re¬ 
injektion  3-7  bis  3-9  cm3  in  je  zehn  Minuten  betragen  hatte,  stieg 
nachher  auf  die  71/2fache  Menge*,  um  dann  langsam  abzusinken. 
Auch  bei  Versuchen  mit  Baryumchlorid  trat  vierfache  Vermehrung 
der  Lymphmenge  nach  der  Reinjektion  von  Pferdeserum  auf. 
In  drei  Hundeversuchen  war  das  Resultat  übereinstimmend.  Gleich¬ 
zeitig  beobachtete  Verf.,  daß  die  Lymphe,  welche  vorher  binnen 
zehn  Minuten  einen  Lymphkuchen  gebildet  hatte,  nun  ungerinnbar 
war.  Die  Frage,  ob  nicht  schon  die  erste  Injektion  eines  art¬ 
fremden  Serums  Einfluß  auf  die  Lymphbildung  habe,  wurde  durch 
einen  vierten  Versuch  des  Verfassers  verneint.  Um  zu  zeigen,  daß 
die  Reaktion  eine  spezifische  ist,  gab  Verf.  einem  mit  Pferdeserum 
sensibilisierten  Hunde  10  cm3  Rinderserum  in  die  Vene.  Die 
Lymphe  veränderte  sich  nach  der  Einführung  des  Rinderserums 
weder  nach  Menge,  noch  Beschaffenheit.  Biedl  und  Kraus 
stellten  experimentell  fest,  daß  das  Baryumchlorid  die  Blutdruck¬ 
senkung  des  anaphylaktischen  Hundes  verhindern  kann.  Verf. 
hat  nun  in  seinem  zweiten  Versuche,  als  der  Blutdruck  nach  Re¬ 
injektion  zu  sinken  begann,  durch  intravenöse  Injektion  von 
0-02  g  BaCL  in  l°/oiger  Lösung  tatsächlich  den  Blutdruck  wieder 
gesteigert.  Die  lymphagoge  Wirkung  wurde  aber  dadurch  nicht 
behindert.  Das  Chlorkalzium,  dem  'von  N etter  eine  heilende*  Wir¬ 
kung  bei  der  Serumkrankheit  zugesprochen  wurde,  fand  Verfasser 
wirkungslos.  Es'  wräre  möglich,  daß  diese  Versuche,  einen  kleinen 
Beitrag  zur  Urtikariafrage  u.  zw.  zur  Pathogenese  der  Urtikaria¬ 
quaddel  bringen.  Wenn,  wie  des  Verfassers  Versuche  zeigen, 
das  anaphylaktische  Gift  sich  wie  ein  Lymphagogon  erster  Ord¬ 


nung  verhält,  die  Anaphylaxie  andrerseits  meist  (von  Urtikaria 
begleitet  ist,  so  erhält  die  Vermutung  Heiden  ha, ins1,  die  Urti- 
kaiiaeruption  stehe  in  ursächlichem  Zusammenhang  mit  ver¬ 
meinter  Lymphsekretion  aus  den  Kapillaren,  eine  weitere  Stütze. 
Verf.  erklärt  zum  Schlüsse:  Hunde,  die  mit  Pferdeserum  vorbe¬ 
handelt  sind,  zeigen  nach  einer  zwei  Wochen  später  folgenden 
Reinjektion  desselben  Serums  eine  starke  Vermehrung  der  Lymph¬ 
menge.  Gleichzeitig  wird  die  Lymphe  ungerinnbar.  Die  Erstinjek¬ 
tion  eines  artfremden  Serums,  sowie  die  Reinjektion  eines  hetero- 
logen  Serums  sind  ohne  Einfluß  auf  die  Lymphbildung.  Baryum- 
chlojrid  und  Kalziumchlorid  sind  wirkungslos'  gegenüber  dieser 
Erscheinung.  — -  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1911 
Nr.  13.)  G. 

* 

424.  (Aus  der  I.  medizinischen  Abteilung  des  Allgemeinen 

Krankenhauses  in  Wien.  —  Professor  Pal.)  Studien  über 
die  Wirkung  der  Azetylsalizylsäure.  I.  Die  Anwendung 
und  Wirkung  der  Azetylsalizylsäure  beim  Typhus  abdominalis. 
\  on  Dr.  S.  Bondi.  Viele  in  der  klinischen  Praxis  beobachtete 
\\  irkungen  der  Azetylsalizylsäure  (wie  Beseitigung  der  heftigen 
Schmerzen  bei  Uteruskarzinom,  der  lanzinierenden  Schmerzen 
bei  Tabes,  bei  Migräne,  hypnotische  Wirkung)  lassen  sich  nur 
durch  eine  spezifische  Wirkung  erklären,  welche  ihre  Muttersub¬ 
stanz,  die  Salizylsäure,  nicht  besitzt.  Da  Pal  schon  seit  vielen 
Jahren  den  Typhus  mit  kleinen  Dosen  von  Azetylsalizylsäure  be¬ 
handelt  (0-25  bei  jeder  Erhöhung  der  Temperatur  über  39-5°),  so 
ergab  sich  Gelegenheit,  zu  untersuchen,  ob  sich  auch  an  der 
Hand  der  besonders  starken  antipyretischen  Kraft  des  Mittels 
eine  spezifische  Wirksamkeit  feststellen  lasse,  welche  der  Salizyl¬ 
säure  mangelt.  Die  Versuche  ergaben,  daß  weder  Salizylsäure 
noch  Essigsäure  in  entsprechenden  Dosen  die  gleiche  antipyretische 
\\  irkung  hervorrufen,  wie  dies  fast  immer  mit  kleinen  Aspirin- 
dosen  nach  P  a  1  gelingt.  Auch  andersartige  Paarungen  dieser 
Komponenten,  der  Salizylsäure  im  Diaspirin  und  Diplosat,  der 
Essigsäure  im  Triazetin,  lassen  ebenfalls  in  der  geringen  Dosis 
keine  gleich  erhebliche  antipyretische  Wirkung  erkennen.  So 
muß  also  die  auffällige  antipyretische  Wirkung  als  eine  der  Azetyl¬ 
salizylsäure  spezifische  angesehen  werden.  Die  Pal  sehe  Typhus¬ 
behandlung  ist  einfach  und  praktisch.  —  II.  Experimentelle  Bei¬ 
träge.  Von  Dr.  S.  Bondi  und  cand.  med.  Hans  Katz.  Für  die 
Erklärung  der  spezifischen  Wirkung  der  Azetylsalizylsäure  er¬ 
scheint  von  Bedeutung,  daß  die  Spaltung  im  Darme  wahr¬ 
scheinlich  sehr  langsam  verläuft,  so  daß  auch  noch  ungespaltene 
Azetylsalizylsäure  resorbiert  wird,  die  dann  im  Körperinnern 
erst  völlig  gespalten  wird,  da  im  Urin  doch*  nur  Salizylsäure 
erscheint.  Die  Spaltung  im  Körperinnern  geschieht  nicht  bloß 
durch  die  alkalische  Reaktion  des  Blutes  und  der  Gewebe,  sondern 
auch  durch  fermentative  Prozesse.  —  ((Zeitschrift  für  klinische 
Medizin  1911,  Bd.  72,  H.  1  und  2.)  K.  S. 

* 

425.  Ueber  B eck enh o ch  1  a g erung  in  der  Geburts¬ 

hilfe.  Von  E.  Bumm.  Nachdem  Verfasser  auf  die  Vorzüge 
der  T  r  en  de  len  b  u  rg sehen  Beckenhochlagerung  zuerst  bei  der 
Ausführung  des  suprasymphysären  Kaiserschnittes  aufmerksam 
wurde,  empfiehlt  er  diese  für  jene  Fälle,  wo  es  sich  darum  han¬ 
delt,  den  vorliegenden  Teil  vom  Beckeneingang  zu  entfernen, 
um  Platz  für  die  eindringende  Hand  zu  schaffen,  also  bei  der 
inneren  Wendung,  bei  der  Herabholüng  des  Fußes  in  Fällen  von 
Steißgeburt,  bei  der  Umwandlung  von  Stirn-  in  Gesichtslagen,  bei 
Nabelschnurvorfall  usw.  Je  fester  der  vorliegende  Teil  schon  in  das 
Becken  eingepreßt  ist,  desto  mehr  macht  sich  die  günstige  Wir¬ 
kung  der  Hochlagerung  geltend.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie 
1911,  Nr.  9.)  E.  V~ 

* 

426.  Heilversuche  bei  Paralytikern.  Von  Waiter 
PI  an  ge,  Assistenzarzt  in  Uchtspringe.  Neuere  Untersuchungen 
haben  die  Zugehörigkeit  der  Syphilis  zu  den  Protozoenkrankheiten 
wahrscheinlich  gemacht  und  die  nahe  biologische  Verwandtschaft 
zwischen  Trypanosomen  und  Spirochäten  festgestellt.  Es  lag  daher 
nahe,  Mittel,  welche  die  Schlafkrankheit  günstig  beeinflussen, 
zur  Behandlung  der  (Syphilis  und  der  metasyphilitischen  Er¬ 
krankungen  des  Zentralnervensystems  heranzuziehen.  Man  hat 
zuerst  an  einigen  Orten  Atoxyl  (nach  Ehrlich  das  Mononatrium- 


wiener  klinische  Wochenschrift.  1911. 


Nr.  17 


tilO 


salz  der  Paraaminophenylarsinsäure)  bei  Paralytikern  versucht, 
hatte  jedoch  nur  negative  Erfolge.  Dennoch  hielt  man  an  dem 
Gedanken  fest,  durch  Arsenpräparate  die  Paralyse  zu  beeinflussen, 
ein  Gedanke,  der  aus  der  Möglichkeit  seine  Berechtigung  schöpfte, 
daß  noch  tätiges  Virus  im  Körper  vorhanden  ist,  während  der 
paralytische  Prozeß  sich  bereits  abspielt.  Nun  hat  Ehrlich 
im  Arsenobenzolglyzin  ein  Präparat  gefunden,  das  jedes  Tier 
mit  experimentell  erzeugter  Schlafkrankheit  mit  Sicherheit  heilt. 
Mit  diesem  Präparat  hat  PI  an  ge  20  Patienten,  welche  alle  po¬ 
sitiven  Wassermann  aufwiesen,  behandelt  und  deren  Blut  vor 
und  nachher  in  bezug  auf  den  Hämoglobingehalt,  das  spezifische 
Gewicht  und  die  Zahl  und  Beschaffenheit  der  Blutkörperchen 
untersucht.  Er  fand  nach  der  Behandlung  mit  Arsen ophenolglyzin 
eine  einwandfreie  Leukozytose  und  eine  bedeutende  Vermehrung 
der  Mastzellen  (über  0-5  hinausgehend).  Ob  diese  Leukozytose 
und  die  Mastzellen  einen  (vielleicht  mittelbaren)  Einfluß  auf 
die  Zusammensetzung  des  Blutes  bei  Paralytikern  haben,  muß 
weiteren  Versuchen  Vorbehalten  bleiben.  —  (Allgemeine  Zeit¬ 
schrift  für  Psychiatrie  und  psychisch  -  gerichtliche  Medizin, 
Bd.  68,  H.  2.)  S. 

* 

427.  Zur  Ursache  und  spezifischen  Behandlung 

des  Heufiebers.  Von  W.  P.  Dunbar,  Direktor  des  staat¬ 
lichen  hygienischen  Instituts  in  Hamburg.  Das  Pollenantitoxin, 
welches  durch  Verimpfung  der  Extrakte  von  wirksamen  Pollen 
auf  Pferde  hergestellt  wird,  wurde  nunmehr  seit,  vielen  Jahren 
von  vielen  Tausenden  von  Heufieberkranken  benützt.  Von  rund 
1000  dieser  Kranken  bekam  Verf.  Nachrichten.  Einige  von  diesen 
sind,  nachdem  sie  das  Mittel  zwei  bis  drei  Jahre  hindurch  ge¬ 
braucht  hatten,  definitiv  immunisiert  worden,  die  Kinder  hatten 
nach  kurzem  Gebrauch  des  Pollantins  überhaupt  nie  wieder  An¬ 
fälle  gehabt.  Verf.  rät  dringendst,  mit  größter  Vorsicht  den  Aus¬ 
bruch  eines  Anfalles  zu  verhüten,  indem  man  bei  dem  Auftreten 
der  leisesten  Reizwirkung  eine  sehr  geringe  Menge  des  Pollen¬ 
antitoxins  auf  die  entsprechende  Stelle  (Auge,  Nase)  bringt.  Die 
Empfindlichkeit  der  Patienten  gegen  das  Pollentoxin  läßt  all¬ 
mählich  nach,  so  daß  sie  auch  ohne  Gebrauch  des  Pollen¬ 
antitoxins  von  Heufieberanfällen  freiblieben.  Dunbars  Pollan- 
tin  (flüssige  Form)  enthält  außer  Vrf/o  Karbolsäure  keinen  anderen 
Zusatz,  das  getrocknete  Pollantin  stellt  eine  reine  Mischung  von 
anti toxischem  Pferdeserum  mit  Milchzucker  dar.  Beide  Präpa¬ 
rate  sind  sonst  frei  von  entwicklungsfähigen  Keimen.  Jetzt  soll  ein 
drittes  Pollantinpräparat  in  Salbenform  dargestellt  werden.  Sind 
einmal  die  Schleimhäute  gereizt,  so  möge  das  Pollenantitoxin  in 
denkbar  geringster  Menge  an  gewendet  wenden,  da  die  Kranken  sonst 
an  einer  lästigen  Nebenerscheinung  (Pferdeserumanaphylaxie)  zu 
leiden  haben.  Auch  möge  es  dann  nur  alle  zwei  bis  drei  Tage  ein¬ 
mal  in  sehr  geringer  Menge  angewendet  werden.  Der  Verfasser 
resümiert:  Das  im  Frühjahr  auftretende  Heufieber  wird  fast  aus¬ 
nahmslos  durch  Gramineenpollen  hervorgerufen :  dar  amerikani¬ 
sche  Herbstkatarrh  durch  die  Pollen  von  Solidagineen  und  Am- 
brosiaceen  und  das  Heufieber  in  China  durch  Ligusterpollen.  Die 
Heufiebersympiome  sind  als  Abwehrreaktion  gegen  die,  durch 
abnorme  Durchlässigkeit  der  Mukosa  und  Kutis  ermöglichte  par¬ 
enterale  Zufuhr  des  Eiweib  der  genannten  Pollen  aufzufassen. 
Um  einen  rein  anaphylaktischen  Vorgang  im  Sinne  der  heute 
gültigen  Definition  handelt  es  sich  jedoch  nicht.  Denn  es  gelingt, 
die  Symptome  durch  ein  antitoxisch  wirkendes  Pollenimmunserum 
zu  beseitigen  und  dadurch  gleichzeitig  die  individuelle  Disposition 
allmählich  bis  zu  dem  Grade  herabzusetzen,  daß  die  Anfälle 
auch  ohne  weitere  Behandlung  ausbleiben.  —  (Deutsche  medizini- 
Wochenschrift  1911,  Nr.  13.)  E.  F. 

♦ 

428.  Ueber  die  Anwendung  des  Mastixverbandes 
und  der  Blutstillungszange  Blunk.  Von  Stabsarzt  Doktor 
Thomschke  in  Metz.  Verf.  bespricht  seine  Erfahrungen,  die  er 
in  den  letzten  Jahren  über  den  Mastixverband  gesammelt  hat. 
Letzterer  bietet  ein  Mittel,  um  die  Verwunde' ten  auf  dem  Schlacht¬ 
felde  in  einem  Zukunftskriege  schnell  und  aseptisch  mit  einem 
ersten  Wundverband  zu  versehen.  Die  Mastixlösung  hat  folgende 
Zusammensetzung:  Mastix  200,  Chloroform  50-0,  Ol.  lini  gtt.  XX. 
Die  Klebekraft  dieser  Lösung  hat  sich  in  jeder  Beziehung  glän¬ 
zend  bewährt.  Verf.  hat  jeden  Verband,  wo  es  irgend  möglich  war, 


mit  Mastix  befestigt  und  die  Bindenanwendung  möglichst  ver¬ 
mieden.  Der  Mastixverband  gilt  ihm  beute  als  der  ideale  Ver¬ 
band.  Die  Mastixlösung  wird  bis  an  die  Wundränder  heran¬ 
gestrichen,  die  Wunde  mit  aseptischem  Mull  je  nach  Bedarf  be¬ 
deckt  und  der  Verband  mit  einem  sogenannten  Schleier  befestigt. 
Nimmt  man  weitere  Verbandstoffe,  so  fixiert  man  diese  am  besten 
mit  zwei  bis  drei  Heftpflasterstreifen,  die  außerdem  in  den  ersten 
Tagen  nach  der  Operation  bei  Laparotomien  ein  Zusammenhalten 
der  Wundränder  bewirken.  Auf  diese  Art  ist  jede  Operations¬ 
wunde  aseptisch  abgeschlossen  gegen  die  Umgebung  und  auch 
für  die  Hand  des  Patienten.  Der  Verbandwechsel  ist  ungeheuer 
einfach.  Der  mit  Mastixlösung  befestigte  Verbandstoff  läßt  sich 
leicht  abziehen,  wenn  man  an  einer  Ecke  anfaßt.  Bei  empfind¬ 
lichen  Patienten  kann  man  vorher  mit  Benzin  anfeuchten.  Ebenso 
einfach  ist  die  Anwendung  des  Mastixverbandes  bei  Verletzungen. 
Verf.  hat  bei  frisch  zugehenden  Verletzungen  auf  jede  Reinigung 
der  Umgebung  verzichtet  und  nur  bei  groben  Verunreinigungen 
von  Benzin  Gebrauch  gemacht.  Nach  Bestreichen  der  Umgebung 
der  Wunde  mit  Mastixlösung  bis  an  die  Wundränder  heran  wird 
die  Wunde  selbst  versorgt,  nachdem  aseptische  Mullkompressen 
bis  an  die  Ränder  herangelegt  worden  sind,  so  daß  nur  '.ein 
schmaler  Spalt  frei  bleibt,  in  dem  sich  die  Verletzung  befindet. 
Nach  dieser  Methode  wurden  vom  Verfasser  unzählige  Verlet¬ 
zungen  behandelt  u.  zw.  mit  ausgezeichnetem  Erfolge.  Vorbedin¬ 
gung  für  eine  glatte  Heilung  ist  nur,  daß  man  die  Verletzungen 
bekommt,  ohne  daß  von  ärztlicher  oder  anderer  Seite  Unter¬ 
suchungen  an  der  Wunde  vorgenommen  wurden.  Prädestiniert 
geradezu  ist  der  Mastixverband  bei  Finger-  und  Gesichtsverlet¬ 
zungen,  aber  auch  an  den  Extremitäten,  da  die  anderen  Verbände 
leicht  zu  rutschen  pflegen.  Besonders  hervorzuheben  ist  der  Mastix¬ 
extensionsverband  aus  gerauhten  Köper-  oder  Flanellstreifen. 
Dieser  Extension sverbänd  kann  sofort  einer  größeren  Belastung 
ausgesetzt  werden  und  wochenlang  liegen  bleiben,  ohne  daß  ein 
wesentliches  Nachgeben  zu  bemerken  wäre.  Hautreizungen  durch 
die  Mastixlösungen  sind  außerordentlich  selten.  Es  gibt  allerdings 
Personen,  besonders  Frauen,  die  eine  ungewöhnliche  Empfindlich¬ 
keit  gegen  Mastix  besitzen.  In  diesen  Fällen  muß  man  von  dieser 
Verbandmethode  Abstand  nehmen.  Die  Vorteile  des  Mastixver¬ 
bandes  sind  seine  Billigkeit,  Ersparnis  an  Binden1  und  Verband¬ 
mull,  die  einfache  Anwendungsart  und  Schmerzlosigkeit  beim  Ver¬ 
binden.  Aber  unvergleichlich  höher  sind  die  Vorteile  auf  dem 
Schlachtfelde,  weil  die  Anw'endung  des  Mastixverbandes  bei  einem 
großen  Teil  der  Verwundeten  die  Gefahr  einer  Wundinfektion 
ausschließt,  wie  dies  bereits  praktisch  im  russisch-japanischen 
Kriege  von  Oettingen  erprobt  wurde.  Es  ist  nur  notwendig,  die 
Krankenträger  mit  Mastixlösung  und  sterilen  Tupfern  auszurüsten. 
O  e  1 1  i  n  g  e  n  hat  Mullwattebäusche  geldrollenartig  in  Pergament¬ 
papier  eingeschlagen  und  sterilisiert.  Man  faßt  den  Bausch  an  der 
zusammengeschlagenen  Seite  und  drückt  die  gegenüberliegende 
glatte  Seite  auf  die  Wunde.  Nur  der  oberste  Bausch  wird  berührt. 
Der  Mastixverband  dürfte  demnach  als  erster  Verband  in  den  künf¬ 
tigen  Kriegen  eine  große  Rolle  spielen.  Im  Anschlüsse  hieran  be¬ 
spricht  Verf.  die  Blutstillungszange  „Blunk“.  Er  ist  außerordent¬ 
lich  befriedigt  vom  einfachen  und  sicheren  Gebrauch  dieser  Gefä߬ 
klemmen.  Unter  den  in  den  letzten  Monaten  ausgeführtem  Opera¬ 
tionen  gibt  es  nur  vereinzelte,  bei  denen  Verf.  zur  Blutstillung 
eine  Ligatur  verwendet  hat.  Fälle  von  Nachblutungen  wurden  nie¬ 
mals  beobachtet.  Die  Operationsdauer  läßt  sich  bei  Anwendung 
der  Bl  unk  sehen  Zange  bedeutend  herabsetzen;  die  Operations¬ 
wunde  ist  frei  von  Fremdkörpern,  was  nicht  zu  unterschätzen  ist. 
Bei  Verletzungen  mit  starker  Blutung  hat  Verf.  in  zwei  Fällen 
mit  der  Gefäßklemme  eine  sofortige  sichere  Blutstillung  erzielt. 
Diese  Klemme  sollte  in  keines  Chirurgen  Instrumentarium  fehlen. 

-  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  13.)  G. 

* 

429.  (Aus  dem  städtischen  Krankenhaus  an  der  Jausa  in 
Moskau.)  Eine  Reinfektion  beim  Rückfallfieber  und 
ihr  Einfluß  auf  den  Verlauf  der  K  r  a  n  k  h  e  i  t.  Von  Doktor 
Sergius  Jarussow.  Bei  der  Rekurrensepidemie  in  Moskau 
1907/08  erwiesen  sich  zirka  ein  Drittel  aller  Erkrankten  als  Rein- 
fizierte.  Bei  der  Reinfektion  verläuft  die  Krankheit  in  der  Mehr¬ 
zahl  der  Fälle  mit  einem  einzigen  Anfall.  Im  allgemeinen' sind 
die  Anfälle  bei  der  Reinfektion  kürzer,  die  Apyrexien  länger, 


Nr.  17 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


611 


<lie  Durchschnittsdauer  der  Reinfektion  ist  dementsprechend  zwei¬ 
mal  so  kurz  als  die  Krankheitsdauer  bei  Erstinfizierten.  Die  Frist 
einer  Reinfektion  schwankt  in  weiten  Grenzen  (Minimum  37  Tage). 
Im  höheren  Alter  scheint  die  Reinfektionsfrist  länger  zu  sein 
und  die  Krankheit  häufiger  mit  nur  einem  Anfall  zu  verlaufen 
alä  in  jüngeren  Jahren.  In  Anbetracht  einer  möglichen  Rein¬ 
fektion  sind  die  Kranken  auf  den  Rekurpensabtei Jungen  nicht 
länger  als  14  bis  15  Tage  nach  dem  ersten  und  17  Tage  nach 
dem  nächsten  Anfalle  zu  behalten.  —  ([Zeitschrift  für  klinische 
Medizin  1911,  Bd.  72,  H.  1  und  2.)  K.  S. 

* 

430.  Zur  Aetiologie  und  Prophylaxe  der  TJterus- 
myome  (Anteflexio  uteri  als  ätiologisches  Moment). 
Von  Prof.  Dm.  v.  Ott.  Yerf.  fand  bei  langjähriger  Beobachtung, 
daß  er  bei  Patientinnen,  die  unter  dem  Symptomeinkomplex  der 
Anteflexio  uteri  seine  Hilfe  suchten,  sehr  oft  die  Entwicklung  von 
Fibromyomen  —  anfangs  als  ganz  kleine  Knoten,  welche  sich 
später  in  'mehr  oder  weniger  umfangreiche  Geschwülste  ausbildeten 

—  verfolgen  konnte.  Verf.  ist  der  Ueberzeugung,  daß  der  unter 

dem  Namen  Anteflexio  uteri  bekannte  pathologische  Zustand  vom 
ätiologischen  Standpunkte  unbestreitbar  als  ein  zur  weiteren  Ent¬ 
wicklung  von  Uterusfibromyom  prädisponierendes  Moment  be¬ 
trachtet  werden  kann.  Verf.  betont,  daß  man  auf  die  schon  von 
Virchow  vertretene  Theorie  der  Entstehung  der  Fibromyome 
aus  den  Blutgefäßen  zurückgreifen  müsse.  Durch  die  Anteflexio 
uteri  wird  hauptsächlich  infolge  passiver  Hyperämie  eine  Stau- 
ungshyperämie  hervorgerufen,  die  durch  den  Einfluß  der  Form 
des  Uterus  auf  die  Gefäße  leicht  erklärbar  ist.  Als  Folge  der 
venösen  Hyperämie  erhalten  wir  das  Anschwellen,  das  Austreten 
der  Blutelemente  aus  der  Blutbahn  und  im  weiteren  ihre  Organi¬ 
sation  in  junges  und  später  in  älteres  Bindegewebe  bei  immer 
mehr  und  mehr  sich  vermindernder  Blützirkulation  im  ganzen 
Uterus.  Verf.  erklärt  es  als  falsch,  die  Anteflexio  uteri  in  einer 
Zeit,  da  sie  noch  symptomlos  ist,  als  einen  harmlosen  Zustand 
zu  bezeichnen  und  ferner  als  unbedingt  nötig,  die  die-  Entwick¬ 
lung  der  Anteflexio  uteri  begleitenden  schädlichen  Momente  ohne 
langes  Abwarten  zu  beseitigen.  Vor  allem  befürwortet  Verf.  die 
gynäkologische  Massage  und  die  Anwendung  von  Mitteln  zur 
Beseitigung  der  Sterilität,  wobei  er  der  Excisio  portionis  vaginalis 
sehr  das  Wort  redet.  — -  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911, 
Nr.  12.)  E.  V. 

* 

431.  Ueber  die  Nachteile  der  Arbeitstherapie  bei 
Geisteskrankheit.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  M.  Kauffmann  in 
Halle  a.  d.  S.  Verf.  scheint  kein  Freund  der  Arbeitstherapie  bei 
Geisteskranken  zu  sein.  Er  will  den  günstigen  Einfluß  der  Arbeit 
bei  manchen  Kindern  nicht  leugnen,  aber  er  vermißt  den 
Beweis  der  Heilwirkung  der  Arbeit.  In  bestimmten  Fällen 
ist  aber  —  wie  er  hervorhebt  -  die  Arbeitstherapie  so¬ 
gar  schädlich,  in  Fällen  nämlich,  in  welchen  es  sich 
um  Störung  der  ^Wärmeregulation  handelt,  in  Fällen  ferner,  bei 
denen  Muskelarbeit  Erregung  hervorruft.  Den  Heiltendenzen  bei 
Geisteskranken  entspricht  am  besten  die  Bettruhe,  welche  durch 
geeignete  Unterhaltungsmittel,  durch  Liegestätten  im  Freien  usw. 
abwechslungsreicher  gemacht  werden  könnte.  Geisteskranke  be¬ 
dürfen  endlich  einer  rationellen  Diät.  Besonders  Stickstoffreteu- 
tionen  und  ein  Plus  von  Brennwerten  sollten  vermieden  werden. 

—  (Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie  und  psychisch -gericht¬ 
liche  Medizin,  Bd.  68,  H.  2.)  S. 

* 

432.  Ein  Fall  v' o n  Exstirpation  eines  Le b e r k a v e r- 
uomjs.  V,o!n  Prof.  Dr.  J.  Israel  in  Berlin.  Kavernöse  Ge¬ 
schwülste  der  Leber  sind  zumeist  durchaus  gutartig,  verlaufen 
symptomlos  und  werden  höchstens  fünf-  bis  zehnpfennigstiick- 
groß.  Sehr  selten  wachsen  sie  zu  großen  Geschwülsten  aus. 
bn  ganzen  wurden  derlei  größere  Leberkavemome  6mal  operiert, 
las  erstemal  1893  von  v.  Eiseisberg.  Im  Falle  des  Verfassers, 
ler  eine  39  Jahre  alte  Frau  betraf,  ist  wohl  zum  erstenmal  die 
Giagnose  einer  kavernösen  Geschwulst  der  Leber  gestellt  und 
lie  Patientin  auf  diese  Diagnose  hin  operiert  worden.  Seit  einem 
lahre  fühlte  sie  eine  Geschwulst  im  Epigastrium,  welche  sie  seit 
Ger  Monaten  durch  Schmerzen,  Druck  auf  den  Magen  und  liäii 
bges  Aufstoßen  belästigte.  Man  fand  daselbst  eine  halbkugelige 


\  orwölbung,  bedingt  durch  eine  weit  über  faustgroße  Geschwulst 
des  linken  Leberlappens,  nach  abwärts  durch  den  gerade  noch  er¬ 
haltenen,  ganz  schmalen  scharfen  Ueberrand  umsäumt,  welcher 
in  der  Mitte  zwischen  Nabel  und  Process'us  ensifonnis  verlief. 
Diese  Geschwulst  wurde  durch  einen  allmählich  zunehmenden 
Druck  mit  der  flachen  Hand  zum  Verschwinden  gebracht  und 
erreichte  beim  Nachlassen  des  Druckes  ihr  altes  Volumen  wieder. 
Auf  Grund  dieses  Phänomens  der  Kompressibilität  wurde  die 
Diagnose  auf  kavernöse  Lebergeschwulst  gestellt.  Operation.  Der 
große,  dunkelblaue  Tumor  ragte  weit  über  das  Niveau  des  Leber¬ 
lappens  vor,  seine  Oberfläche  war  von  weißen,  sehnigen  Narben¬ 
zügen  durchzogen.  Im  rechten  Leberläppen  saßen  noch  zwei 
oder  drei  kleine  Geschwülstchen  von  Kirschkerngröße'.  Durch- 
schneidung  des  Ligamentum  Suspensorium  hepatis,  Heraus  wälzung 
der  Leber,  Abtragung  des  linken  Leberlappens,  teils  nach  An¬ 
legung  großer  Umstechungsnähte  mit  Seide,  teils  (da  wo  das 
Parenchym  dicker  war)  durch  Anlegung  eines  festen  Gummi- 
schlaucbes  und  Abbindung.  Unblutige  Resektion.  Die  Enden  des 
Gummischlauches  wurden  zur  Bauchwunde'  herausgeführt,  diese 
im  übrigen  geschlossen.  Heilung  per  primam;  nach  14  Tagen 
wurde  der  Knoten  des  Gummischlauches  durchschnitten,  der 
Schlauch  entfernt.  Hier  befindet  sich  noch  eine  kleine  sezernie- 
rende  Stelle,  sonst  ist  die  Frau  geheilt.  Die  Geschwulst,  die  nach 
der  Entblutung  375  g  wog,  war  ein  echtes  Kavemom  und  grenzte 
sich  scharf  durch  eine  mehr  oder  minder  starke  Bindegewebs- 
kapsel  von  dem  gesunden  Lebergewebe  ab.  —  (Berliner  klinische 
Wochenschrift  1911,  Nr.  15.)  E.  F. 

* 

433.  Beitrag  zur  Wundbehandlung  mit  „Mastisol“ 
(v.  Oettingen).  Von  Dr.  med.  F.  W.  Voos,  Medical  officer 
of  the  Mexican  Ligth  u.  Power  Co.  Necaxa,  Estada  de  Puebla, 
Mexico.  Verf.  hat  in  seiner  ausgebreiteten  Unfallspraxis  Wa¬ 
schungen  mit  aniiseptischen  Lösungen  schon  länge  aufgegeben 
und  wendete  den  Trocken  verband  an.  Ein  Jahr  läng  arbeitete  er 
mit  Jodtinktur,  hatte  aber  zahlreiche  Fälle  von  Erythem,  von  Pu¬ 
steln  und  Ekzemen,  so  daß  er  sich  dem  im  Jahre  1909  von  Oet- 
ti  ngen  veröffentlichten  Ma,stixVerband  zuwandte.  Die  daselbst 
mitgeteilte  Mastixlösung  zeigte  eine  Reihe  von  Nachteilen  die  an 
feine  Reizwirkung  des  Chloroforms  zurückzuführen  waren.  Dieses 
ist  im  Mastisol  durch  Benzol  ersetzt  und  die  an  Stelle  des  Lein¬ 
öls  genommenen  Ester  erhöhen  die  Klebrigkeit  der  Harze  so  sehr, 
daß  nach  Verdunstung  des  Lösungsmittels  das  Harz:  nicht  mehr 
pulvert.  Im  Jahre  1910  begann  Verf.  mit  der  Mastisolbehandlung 
und  ist  heute,  nachdem  er  damit  Tausende  von  leichten  und 
schweren  Fällen,  auch  komplizierte  Knochenbrüche,  behandelte, 
ein  entschiedener  Anhänger  dieser  einfachen  Methode.  Nach  Ver¬ 
zicht  auf  alle  weiteren  Desinfizientien  genügt  die  Mastisolflasche 
mit  dem  Pinsel  für  alle  Quetschwunden  mit  zerrissenen  Rändern, 
Stoß-,  Hieb-,  Stich-  und  Schußwunden,  wie  sie  dem  Verfasser 
täglich  in  die  Hände  kommen.  Es  wird  nur  mit  Pinzette  oder 
Wundbausch  der  gröbere  Schmutz  aus  der  Wunde  entfernt,  mit 
Mastisol  gepinäelt,  kurz  darauf  wird  der  Wundbausch  aufgedrückt 
und  die  ganze  Prozedur  ist  zu  Ende.  Zeigte  sich  nach  einiger  Zeit 
Eiter,  was  sehr  selten  der  Fäll  war,  wird  der  Bausch  durch 
leisen  Zug  entfernt,  wieder  gepinselt  und  ein  neuer  Wundbausch 
aufgedrückt.  Bei  den  Unterschenkelbrüchen,  die  bei  den  Ge¬ 
steinsarbeitern  sehr  häufig  sind,  hat  Mastisol  niemals  solche  Ent¬ 
zündungen  verursacht  wie  die  Jodtinktur.  Bei  Schußwunden  hat 
Verf.  nicht  nur  die  Umgebung,  wie  Oettingen  es  vorschreibt, 
sondern  auch  die  Perforation  selbst  gepinselt.  Anfangs  legte  er 
über  den  mit  Mastisol  fixierten  Wundbausch  noch  eine  Gaze¬ 
bindentour,  heute  genügt  ihm  der  Mastisolgazebausch  allein  zur 
Fixation.  Bei  blutenden  Wunden  pinselt  Verf1.  einfach  über  das 
Blut  weg  und  näht  ruhig  durch  die  Mastisolpinselung.  Während 
früher,  als  Verf.  noch  wusch  oder  trocken  behandelte,  die  Zahl 
der  Infektionen  groß  war,  ist  sie  bei  der  Mastisolbehandlung 
enorm  heruntergegangen.  Von  320  klinischen  Verletzungen,  die 
im  Hospital  behandelt  wurden,  zeigten  nur  22  Fälle  Eiterung,  bei 
weiteren  700  ambulant  behandelten  Fällen  ist  das  Resultat  genau 
so  günstig.  Nur  6%  der  Fälle  zeigten  Eiterbildung.  Nicht  gleich¬ 
gültig  sind  ferner  die  Ersparnisse  an  Verbandmaterial.  Nach  des 
Verfassers  Erfahrungen,  die  er  unter  den  schwierigsten  Verhält¬ 
nissen,  im  Urwald,  ausgiebig  gesammelt  hat,  zweifelt  er  nicht, 


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daß  nicht  nur  für  diese  Verhältnisse,  sondern  auch  für  den 
Krieg  und  für  alle  F riedens Verletzungen  inmitten  der  Zivilisation 
die  Mastisolmethode  das  bedeutet,  was  der  chirurgischen  Therapie 
bis  jetzt  gefehlt  hat.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift 

1911,  Nr.  13.)  G. 

* 

434.  Untersuchungen  über  das  Ratte  n  vertil¬ 

gungsmittel  „Liverpool virus“.  Von  Dt.  med.  Karl  Stef¬ 
fenhagen,  wissenschaftlicher  Hilfsarbeiter  im  Kaiserlichen  Ge¬ 
sundheitsamte.  Wegen  der  prinzipiellen  Bedeutung,  ob  die  Aus¬ 
legung  von  Rattenvertilgungsmitteln  (bakteriellen  Ursprungs)  der 
menschlichen  Gesundheit  schädlich  werden  kann  oder  nicht,  unter¬ 
zog  Steffenhagen  das  von  England  aus  propagierte  Liverpool¬ 
virus  einer  eingehenden  bakteriologischen  Untersuchung,  um  das¬ 
selbe  zu  identifizieren.  Gleichzeitig  wurden  die  bereits  auch  in 
Deutschland  bekannten  Ratin-,  Danysz-  und  Tssatschenkobakterien 
einer  erneuten  Prüfung  unterzogen.  Hiebei  wurde  festgestellt, 
daß  alle  genannten  Bakterien,  inklusive  des  Liverpoolvirus,  sich 
weder  kulturell  bei  Verwendung  der  zurzeit  gebräuchlichen  Nähr¬ 
böden,  noch  durch  die  Agglutination  und  die  Komplementbindungs¬ 
methode  von  den  Bakterien  der  Gärtnergruppe  unterscheiden, 
ferner,  daß  sie  im  allgemeinen  für  Haustiere  nicht  schädlich 
sind,  dagegen  bei  Ratten  eine  von  Tier  auf  Tier  übertragbare 
Seuche  zur  Folge  haben  können,  allerdings  nicht  müssen.  Fälle 
menschlicher  Erkrankungen,  welche  auf'  die  Auslegung  bakterieller 
Rattenvertilgungsmittel  zurückgeführt  werden,  sind  bisher  in 
größerem  Umfange  nicht  bekannt  geworden,  ausgenommen  einmal 
in  London,  wo  eine  an  zwölf  Personen  eines  Geschäftshauses 
epidemisch  auftretende  Enteritis  allerdings  erst  nach  Genesung 
der  Erkrankten  mit  Sicherheit  auf  Infektion  mit  Liverpoolvirus 
zurückgeführt  werden  konnte.  Als  Krankheitssymptome  waren 
mehr  oder  weniger  ausgesprochen:  Schwindel,  Koliken,  Durchfälle, 
Erbrechen,  belegte  Zunge,  Durst,  Harnverhaltung,  Kollapse,  Fieber, 
Milzvergrößerung,  Kopfschmerzen,  aufgetreten.  Bei  allen  Patienten 
trat  nach  zehn  Tagen  Genesung  ein,  aber  die  Mehrzahl  sah  aus, 
als  ob  sie  eine  schwere  Krankheit  durchgemacht  hätten.  Dem¬ 
nach  ist  bei  Auslegung  von  Rattenvertilgungsmitteln,  speziell  des 
Liverpoolvirus,  immerhin  mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen,  daß 
die  betreffenden  Bakterien  der  menschlichen  Gesundheit  schädlich 
werden  können  und  es  ist  Vorsicht  bei  der  Handhabung)  sehr 
wohl  angezeigt.  —  (Arbeiten  aus  dem  Kaiserlichen  Gesundheits¬ 
amte,  1910,  Bd.  46,  H.  2.)  K.  S. 

* 

435.  Neue  rad  io  therapeutische  Erfahrungen  in 

der  Gynäkologie  auf  Grund  von  100  gutartigen  Blu¬ 
tungen  und  Tumoren  des  Uterus.  Von  Priv.-Doz.  Doktor 
C.  J.  Gauß.  Verf.  hat  an  der  Freiburger  Frauenklinik  die  Radio¬ 
logie  durch  mehrere  Jahre  zur  Therapie  gutartiger  Blutungen  und 
Tumoren  des  Uterus  herangezogen.  Durch  systematisch  ausge¬ 
bildete  Technik  gelang  es  ihm,  die  früheren  Uebelstände  flange 
Dauer  der  Behandlung,  Ungleichmäßigkeit  der  Erfolge,  häufige 
Nebenwirkungen)  zu  beseitigen  und  damit  die  operative  Therapie 
der  Myome  wesentlich  einzuschränken.  In  100  Fällen  der  letzten 
zwei  Jahre,  in  denen  Frauen  mit  gutartigen  Blutungen  und  Myo¬ 
men  der  Tiefenbestrahlung  unterzogen  wurden,  wurde  bei  der 
großen  Majorität  Amenorrhoe  bei  den  älteren,  Oligorrhoe  bei  dear 
jüngeren  Frauen,  Schrumpfung  der  Tumoren  bis  zu  völligem 
Verschwinden  in  einigen  Fällen,  in  anderen  Ausstoßlang  sub¬ 
muköser  Myome  erzielt.  Eine  Kontraindikation  findet  Gauß  nach 
dem  heutigen  Stande  der  Technik  nicht.  —  (Zentralblatt  für  Gynä¬ 
kologie  1911,  Nr.  10.)  E.V. 

* 

436.  (Aus  der  Universitäts -Frauenklinik  der  Kgl.  Charite 
— ■  Prof.  Franz.)  Serumtherapie  bei  Schwangerschafts¬ 
toxikosen.  Von  Prof.  Dr.  R.  Freund  in  Berlin.  In  der  Er¬ 
wägung,  daß  bei  den  durch  Schnellentbindung  nicht  geheilten,  be¬ 
ziehungsweise  bei  den  erst  puerperal  ausbrechenden  Eklampsien 
noch  wirksame  fremde  Stoffe  im  Blute  kreisen,  nahm  Verf.  in 
anderthalb  Jahren  bei  sechs  Fällen  puerperaler  Eklampsie  intra¬ 
venöse  Injektionen  mit  frischem  Pferdeserum  in  Dosen  von 
20  bis  80  cm3  vor,  worauf  in  allen  Fällen  nach  weiteren  ein  bis 
vier  Anfällen  die  Erscheinungen  abklangen.  Auf  Grund  weiterer 
Untersuchungen  und  bei  Annahme  einer  mangelhaft  abbauenden 


Tätigkeit  des  Serums  in  gewissen  Fällen  hat  Verf.,  dein  Vorgehen 
von  Mayer  und  Linser  folgend,  vier  Fälle  von  schweren  Gravi¬ 
ditätstoxikosen  mit  Serum  von  gesunden  Schwangeren 
behandelt.  Auch  Mayer  und  Linser  injizierten  in  einem  Falle 
schwerer  Schwangerschaftstoxikodermie  (Herpes  gestationis) 
30  cm3  Serum  einer  normalen  Schwangeren  vom  achten  Monat  und 
sahen  einen  auffallenden  Erfolg,  nachdem  vorher  injizierte  10  cm3 
Serum  einer  Nichtgraviden  bis  zum  dritten  Tage  post  injectionem 
keinen  Einfluß  zeigten.  Im  ersten  Falle  des  Verfassers  (Graviditas 
mens.  Ill,  Hyperemesis,  Ikterus,  Schwangerschaftsniere,  ferner 
beginnende  Schwangerschaftspsychose  und  -dermatose  in  Form 
einer  Prurigo)  wurde  zweimal  Serum  von  gesunden  Schwangeren 
von  neun  bis  zehn  Monaten  in  Dosen  von  24,  resp.  25  cm3  intra¬ 
venös  injiziert.  Schon  die  erste  Injektion  hatte  nach  drei  Tagen 
deutliche  Besserung  des  Gesamtzustandes,  die  nach  sieben  Tagen 
wiederholte  Injektion  rasches  Verschwinden  aller  Erscheinungen 
zur  Folge.  Die  drei  weiteren  Fälle  beziehen  sich  auf  puerperale 
Eklampsie.  Im  ersten  Falle  wurden  nach  einem  Aderlässe  von 
400  cm3  58  cm3  Serum  einer  normalen  Kreißenden  vom  zehnten 
Monat  injiziert,  im  zweiten  Falle  40  cm3  Serum  einer  jungen 
I  para  vom  zehnten  Monat,  zuvor  Aderlaß  von  400  cm3,  im  dritten 
Falle  36  cm3  Serum  einer  gesunden  Kreißenden  vom  neunten 
Monat,  zuvor  Aderlaß  von  350  cm3.  In  allen  drei  Fällen  erfolgte 
rasche  Besserung  und  vollkommene  Heilung.  Am  sinnfälligsten 
sind  zweifellos  die  Erfolge  der  Seruminjektion  in  dear  Fällen  von 
Schwangerschaftstoxikosen,  in  welchen  leicht  kontrollierbare  Sym¬ 
ptome  (Dermatosen,  anderseits  Erscheinungen  seitens  der  Leber, 
der  Niere,  des  Nervensystems)  tatsächlich  zum  Schwinden  gebracht 
wurden,  viel  weniger  überzeugend  sind  nach  Verf.  die  Resultate 
bei  den  puerperalen  Eklampsien,  in  Hinblick  auf  die  bisweilen 
durch  andere  Maßnahmen  oder  spontan  genesene  Fälle.  Immer¬ 
hin  muß  hervorgehoben  ■werden,  daß  in  einem  Fälle  einer  juve¬ 
nilen,  außerordentlich  schweren  Form  von  Eklampsie,  bei  der 
bereits  als  Ultima  ratio  die  Nierendekapsulation  in  Frage  kam, 
der  Erfolg  ein  überraschender  war.  Verf.  empfiehlt  schließlich, 
in  Hinkunft  nicht  bloß  diese  Methode  der  Serumbehandlung  zu 
üben,  sondern  gleichzeitig  die  experimentelLwissenschaftlicheai 
Untersuchungen,  zunächst  mittels  der  von  Abderhalden  ein¬ 
geführten  „optischen  Methode“,  weiterzuführen,  um  sich  übel 
etwaige  Veränderungen  des  Blutes  vor  und  nach  der  Injektion 
Rechenschaft  abzulegen.  Nur  auf  diese  kombinierte  Weise  und 
unter  strengster  Ausschaltung  jedweder  anderen  Therapie  kann 
der  Einfluß  der  Serumbehandlung  kontrolliert  werden,  bzw.  an  - 
Beweiskraft  gewinnen.  —  (Medizinische  Klinik  1911,  Nr.  10. ) 

E.  F. 

* 

437.  Zur  Frage  der  direkten  Bluttransfusion 
durch  Gefäßnaht.  Von  Dr.  H.  Flörcken.  24jährige  Pa¬ 
tientin,  ohne  hämophile  Belastung,  erkrankte  schon  in  der  Re¬ 
konvaleszenz  nach  einer  Staphylokokkenbakteriämie  unbekannter 
Eintrittspforte  an  sehr  schweren  allgemeinen  Blutungen,  die  jeder  j 
Therapie  trotzte.  Als  ultimum  refugium  wurde  die  direkte  Trans¬ 
fusion  von  der  älteren  Stiefschwester  ausgeführt,  indem  die  linke  j 
Arteria  radialis  der  Gesunden  mit  der  linken  Vena  mediana 
cubitalis  der  Kranken  durch  Gefäßnaht  nach  Carell-Stich  ver 
bunden  und  diese  Verbindung  ca.  30  Minuten  lang  aufrecht  er-  | 
halten  wurde.  Von  der  Zeit  der  Transfusion  an  hörten  die  Blu¬ 
tungen  bei  der  Patientin  vollständig  auf.  Heilung.  Irgendeine 
Schädigung  wurde  nicht  beobachtet.  —  (Zentralblatt  für  (  hirurgie 

1911,  H.  4.)  E-V- 

* 

438.  (Aus  der  psychiatrischen  und  Nervenklinik  in  Greifs¬ 
wald.)  Die  Sicherung  der  Gesellschaft  gegen  gemein¬ 
gefährliche  Geisteskranke  und  der  Vorentwurf  zu 
einem  deutschen  Straf  gesetzbuche..  Von  E.  Schnitze,  j 
Verf.  beschäftigt  sich  in  vorliegender  Arbeit  namentlich  mit  dem 
§  65  des  obengenannten  Vorentwurfes,  welcher  Paragraph  von  der  ; 
strafgerichtlichen  Nachbehandlung  der  vermindert  Zurechnungs 
fähigen  handelt.  Erscheint  durch  solche  Individuen  die  offen  -  > 
liehe  Sicherheit  gefährdet,  so  werden  dieselben  in  einer  Heil-  un 
Pflegeanstalt,  eventuell  wenn  Bewußtlosigkeit  durch  selbs 
verschuldete  Trunkenheit  vorliegt  —  in  einer  Trinkerheilanstalt 
verwahrt  und  die  Landespolizeibehörde  hat  auf  Grund  Her  richter- 


Nr.  17 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


lichen  Entscheidung  für  die  Unterbringung  zu  sorgen.  Verfasser 
beschäftigt  sich  nun  mit  der  Frage,  ob  die  angeführte  Gesetzes¬ 
bestimmung  eine  Sicherung  der  Gesellschaft  gegen  Straftaten 
unzurechnungsfähiger  oder  vermindert  (zurechnungsfähiger  Indi¬ 
viduen  gewährleistet  und  bespricht  die  Forderungen,  die  eine  sach¬ 
gemäße  Durchführung  obiger  Bestimmung  zur  Voraussetzung  hat. 
—  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten ,  Bd.  48,  U.  1.) 

S. 

* 

439.  Warum  ist  es  berechtigt,  der  granulären 

Form  des1  Tuberkulosevirus  Sporencharakter  zuzu¬ 
schreiben?  Von  Dr.  W.  Knoll,  Frauenfeld.  Der  alte,  starre 
Sporenbegriff  ist  dahin  zu  modifizieren,  daß  man  darunter  alle 
diejenigen  kugeligen  und  ovoiden  Wuchsformen  von  Bakterien 
versteht,  die  imstande  sind,  die  Art  unter  ungünstigen  natür¬ 
lichen  Bedingungen  auch  dann  noch  zu  erhalten,  wenn  die  vege¬ 
tative  Form  dazu  versagt,  um  beim  Eintritt  günstigerer  Existenz¬ 
möglichkeiten  zu  der  vegetativen  Form  der  Art  auszukeimen. 
In  dieser  Definition  ist  sowieso,  die  größere  Widerstandsfähigkeit 
der  Sporen  gegenüber  demjenigen  Milieu  enthalten,  dem  sich  der 
betreffende  Mikroorganismus  angepaßt  hat.  Von  dem  Postulat  einer 
Sporenmembran  wäre  grundsätzlich  abzusehen,  da  sie  nicht  als 
unbedingtes  und  wesentliches  Merkmal  gelten  kann.  Betrachtet 
man  von  diesem  Standpunkte  eine  Reihe  von  Tatsachen,  die  von 
Knoll  zusammengestellt  und  wissenschaftlich  beleuchtet  wurden, 
so  kann  man  die  Körner  der  Tuberkelbazillen  nur  als  Sporen 
anseben,  nicht  mehr  als  bloß  im  höchsten  Grade  sporenähnliche 
Gebilde  (Lichtenhalm).  —  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer 
Aerzte  1911,  41.  Jahrg.,  Nr.  2.)  K.  S. 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

440.  Ueber  die  kurative  Wirkung  der  Röntgen¬ 

strahlen  bei  Malaria.  Von  Bruce  Skinner  und  II.  W. 
Carson.  Der  Einfluß  der  Röntgenstrahlen  auftdie  pathologischen 
Veränderungen  bei  verschiedenen  Erkrankungen,  z.  B.  Leukämie 
und  Lupus,  führte  zu  der  Annahme,  daß  auch  die  Bestrahlung 
der  Milz  bei  Malaria,  insbesondere  zur  'Bekämpfung  der  durch  die 
Milzvergrößerung  hervorgerufenen  Schmerzen  von  Nutzen  sein 
könnte.  Auch  die  Möglichkeit,  daß  die  Röntgenstrahlen  auf  die 
Parasiten  direkt  oder  indirekt  auf  dem  Wege  der  Blutveränderung 
zerstörend  wirken  könnten,  war  zu  erwägen.  Es  ist  denkbar,  daß 
die  Röntgenstrahlen  stimulierend  auf  die  Leukozyten  wirken 
u.  zw.  im  Sinne  der  Zerstörung  der  Parasiten  oder,  daß  das 
Blutserum  eine  Veränderung  erleidet,  wodurch  die  Wirkung  der 
Parasiten  aufgehoben  wird.  Die  (schmerzstillende  Wirkung  'auf  die 
Milzregion  applizierter  Wärme  ließ  eine  ähnliche  Wirkung  auch 
von  der  Bestrahlung  der  Milzgegend  erwarten.  Die  Behandlung 
wurde  bei  fünf  Fällen  unkomplizierter  Malaria,  zwei  Fällen  von 
durch  Darmblutungen  charakterisiertem  Peshawar-Fieber,  einem 
Falle  von  Malaria  mit  Hirnsymptomen  und  drei  Fällen  von  mit 
Milzschwellung  einhergehendem  Fieber  durchgeführt,  wobei  die 
Dauer  der  Bestrahlung  meist  fünf,  bei  Wiederholung  der  Be¬ 
strahlung  drei  Minuten  betrug.  Es  zeigte  sich,  daß  durch  die 
Röntgenstrahlen  die  Milzschmerzen  gemildert  werden  und  der 
frische  Milztumor  verkleinert  wird,  daß  ferner  die  Temperatur 
meist  endgültig  abfällt;  die  bei  der. Chininbehandlung  die  Heilung 
begleitende  Anämie  wurde  nach  der  Röntgenbehandlung  nicht 
beobachtet.  In  den  bestrahlten  Fällen  war  eine  Chininbehandlung 
nicht  erforderlich,  während  gegen  Chinin  refraktäre  Malariafälle 
durch  die  Bestrahlung  geheilt  wurden.  In  (Fällen  von  chronischem 
Milztumor  bei  Malaria  waren  die  Erfolge  der  Röntgenbestrahlung 
weniger  deutlich  ausgesprochen.  —  (Brit.  med.  Journ.,  25.  Fe¬ 
bruar  1911.)  '  a.  e. 

♦ 

441.  Ueber  die  Behandlung  des  Karzinoms  mit 
Radium.  Von  Charles  J.  Morton.  Die  Behandlung  geschah  in 
der  Weise,  daß  reines  Radiumsulfat  auf  eine  mit  Firnis  versehene 
Metall-  oder  Leinenschichte  gebracht  und  Schirme  verschiedener 
Dichte  zwischen  Radiumschicht  und  dem  behandelten  Teil  ein¬ 
geschaltet  wurden.  Es  wurden  zwei  Applikatoren  von  4-5,  be¬ 
ziehungsweise  9  cm3  verwendet,  welche  pro  Quadratzen timeter 
2-5  mg  reines  Radium  enthielten.  Die  Mehrzahl  der  behandelten 
Fälle  betraf  weit  vorgeschrittene  Karzinome,  nur  in  zwei  Fällen  lag 


eine  operable  Neubildung  vor;  diese  zwei  Fälle  waren  Karzinome 
des  Mundhöhlenbodens,  wovon  das  eine  von  .langsamerem  Wachs¬ 
tum  durch  die  Radiumbehandlung  günstig  beeinflußt  wurde,  wäh¬ 
rend  das  andere,  rascher  wachsende  Karzinom 'unbeeinflußt  blieb, 
so  daß  zur  Operation  geschritten  wurde.  Im  allgemeinen  sind 
die  Chancen  der  Radiumbehandlung  um  so  günstiger,  je  lang¬ 
samer  das  Karzinom  wächst,  doch  wurde  auch  bei  einem  rasch 
wachsenden  Mammakarzinom  ein  gutes  Resultat  erzielt.  In  lang¬ 
samer  verlaufenden  Fällen  kann  das  Radium  auch  bei  ausge¬ 
breiteter  Metastasenbildung  noch  Besserung  bewirken.  In  einem 
Falle  von  relativ  gutartigem  Mammatumor,  der  noch  vier  Jahre 
nach  der  Operation  nicht  rezidivierte,  und  wo  ein  sehr  bösartiges 
Rezidiv  in  den  Supraklavikulardrüsen  auftrat,  blieb  die  Radium¬ 
behandlung  nicht  nur  erfolglos,  sondern  bewirkte  anscheinend 
Verschlimmerung.  In  einer  Anzahl  von  Fällen  in  vorgerückterem 
Stadium,  zum  Teil  mit  Geschwürsbildung  und  Drüsenmetastasen, 
darunter  Fälle  von  inoperablem  Uterus-  und  Mastdarmkarzinom, 
wurde  zeitweilig  Besserung  erzielt.  In  der 'Regel  hören  Jauchung 
und  Blutung  auf,  die  Schmerzen  las'sen  fnach  und  es  wird  manch¬ 
mal  Verkleinerung  des  Tumors  beobachtet.  Bei  in  oder  unterhalb 
der  Haut  gelegenen  Tumoren  wurde  der  Applikator  1-5  cm  oder 
noch  weiter  von  der  Haut  entfernt  gehalten,  so  daß  ein  größeres 
Feld  bestrahlt  wurde,  wobei  infolge  der  (Entfernung  und  zwischen¬ 
gelagerter  Watteschichten  die  Haut  nicht  durch  die  weicheren 
Strahlen  geschädigt  werden  konnte.  Bei  tief  gelegenen  Tumoren 
muß  das  Radium  unter  Zwischenschaltung  eines  2  bis  3  mm 
dicken  Bleischirmes  auf  die  Haut  appliziert  werden ;  noch  bessere 
Resultate  werden  durch  die  Versenkung  des  Radiums  in  den 
Tumor  erzielt.  Radiumemanation  und  interne  Darreichung  von 
Radiumbromid  blieb  wirkungslos.  Die  mit  Radium  behandelten 
Fälle  wurden  an  der  Peripherie  mit  Röntgenstrahlen  bestrahlt. 
Die  Wirkung  des  Radiums  tritt  in  den  Fällen,  wo  es  überhaupt 
wirkt,  relativ  rasch,  d.  i.  nach  einigen  Wochen,  zutage.  Die  Ra¬ 
diumbehandlung  soll  nicht  als  Ersatz,  sondern  als  Unterstützung 
der  anderen  Behandlungsmethoden  angewendet  werden.  —  (Brit, 
med.  Journ.,  25.  Februar  1911.)  /  a.  e. 

* 

Aus  italienischen  Zeitschriften. 

442.  (Aus  der  III.  medizinischen  Klinik  der  Universität  in 
Neapel.  —  Direktor:  Prof.  Rummo.)  Die  Farbe  und  das 
Spektrum  des  normalen  Blutserums.  Von  Domenico 
de  Sandro.  Aus  seinen  Untersuchungen  folgert  der  Autor,  daß 
das  Blutserum  eine  ungefärbte  Flüssigkeit  zu  sein  scheine,  welcher 
keinerlei  Spektrum  zukommt.  Die  Farbe  und  das  gewöhnliche 
Spektrum  des  Blutserums  ist  auf  Spuren  von  Hämoglobin  zurück¬ 
zuführen,  welche  von  den  bei  seiner  Gewinnung  aufgelösten 
roten  Blutkörperchen  herrührt.  Die  Methode  der  Serumgewinnung 
von  Daremberg  —  stärkstes  Zentrifugieren  bei  niederer  Tem¬ 
peratur  —  ergibt,  daß  das  Serum  eine  fast  wasserkläre  Flüssig¬ 
keit  darstellt.  Der  von  Gilbert  aufgestellte  Unterschied  zwischen 
Hypo-  und  Hyperserochromie  besteht  in  absolutem  Sinne  nicht 
zu  Recht.  Dagegen  kann  diese  Unterscheidung  Gilberts  für 
die  Resistenz  der  roten  .  Blutzellen  verwertet  werden  und  ist 
von  klinischem  Werte.  —  (La  Riforma  Medica,  13.  März  1911.) 

sz. 

* 

443.  Der  Aetherrausch  nach  Sudeck,  mit  beson¬ 
derer  Berücksichtigung  von  Operationen  längerer 
Dauer.  Von  Giuseppe  Gheza.  Der  Autor  kommt  zu  folgenden 
Schlußfolgerungen:  Der  Aetherrausch  ist  die  unschädlichste  Form 
aller  Allgemeinanästhesien.  Der  Aetherrausch  nach  Sudeck 
kann  auf  eine  Stunde  und  darüber  verlängert  werden  und  ergibt 
•genügende  Anästhesie,  um  jede  beliebige  Operation  auszuführen. 
Der  Rausch  beginnt  nach  den  ersten  Inhalationen  des  Aethers. 
Derselbe  läßt  Operateur  und  Narkotiseur  vollständig  beruhigt 
betreffs  des  Lebens  des  Patienten  während  und  nach  der  Ope¬ 
ration,  was  namentlich  in  kleineren  Spitälern  die  Beschaffung 
von  Narkotiseuren  erleichtert,  da  die  Aerzte  vielfach  die  Ge¬ 
fahren  der  Chloroformnarkose  fürchten.  Aspirationspneumonien, 
welche  infolge  der  pharyngooralen  Hypersekretion  leicht  ent¬ 
stehen,  treten  höchst  selten  beim  Aetherrausch  auf,  sei  es  wegen 
der  geringeren  Menge  des  angeAvendeten  Anästhetikums  oder  weil 


614 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  17 


der  Patient  zu  jeder  Zeit  den  im  Munde  angesammelten  Schleim 
schlucken  kann.  Der  Patient  erwacht  sehr  rasch  aus  deni  A ether¬ 
rau  sch  und  kann  bereits  nach  sechs  bis  acht  Stunden  in  der 
gewöhnlichen  Weise  Nahrung  zu  sich  nehmen.  Die  einzige  Un¬ 
annehmlichkeit  des  Aetherrausches  besteht  darin,  daß  manche 
kräftige  Männer  —  besonders  Trinker  —  trotz  der  Bewußtlosig¬ 
keit  während  der  Operation  unruhig  sein  können,  auch  dann, 
wenn  früher  1  bis  2  cg  Morphin  injiziert  worden  sind.  In  solchen 
Fällen  kann  man  etwas  Chloroform  verabreichen,  mit  dem  man 
rasch  die  gewünschte  Beruhigung  erzielt.  Die  richtige  Anwendung 
des  Aetherrausches  ist  geeignet,  in  der  großen  Mehrzahl  der 
Fälle  die  Gefahren  der  Chloroformnarkose  zu  beseitigen.  —  (La 

Riforma  Medica,  13.  März  1911.)  sz. 

♦ 

444.  Ueber  die  Persistent  der  Choleravibrionen 
in  den  Dejekten  der  Rekonvaleszenten  nach  Cho¬ 
lera.  Von  Alfonso  Montefusco.  Bloß  bei  18  von  107  Re¬ 
konvaleszenten  nach  Cholera  wurde  nach  einem  negativen  Er¬ 
gebnisse  der  Stuhluntersuchung  auf  Cholerabazillen  bei  einer 
späteren  Untersuchung  ein  positives  Ergebnis  festgestellt.  Einige 
Male  wurde  selbst  nach  zweimaligem  negativem  Befunde  bei 
einer  dritten  Untersuchung  ein  positiver  konstatiert.  Bei  allen 
Rekonvaleszenten  wurde  noch  ein  viertes  Mal  untersucht,  nach¬ 
dem  früher  keine  Vibrionen  gefunden  worden  waren.  Ein  drei¬ 
maliges  negatives  Ergebnis  erwies  sich  immer  als  verläßlich, 
da  niemals  in  solchen  Fällen  bei  einer  vierten  Untersuchung  ein 
positiver  Befund  erhoben  wurde.  —  (La  Riforma  Medica,  6.  März 
1911.)  sz. 


Vermisehte  Naehriehten. 

Verliehen:  Primararzt  Dr.  Karl  Tenner  in  Beneschau 
das  Ritterkreuz  des  Franz  -  Joseph  -  Ordens.  Dr.  Alois  Neu¬ 
mann  in  Wien  das  Ehrenkreuz  IV.  Klasse  des  Schaum burg- 
Lippeschen  Hausordens. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Giulio  Bonvicini  für  Neurologie  und 
Psychiatrie  in  Wien.  -  Dr.  Anton  Garkisch  für  Geburtshilfe 
und  Frauenheilkunde  und  Dr.  Jose  Vcrocay  für  pathologische 
Anatomie  an  der  deutschen  Universität  in  Prag.  —  Dr.  Ascoli 
für  innere  Medizin  in  Pavia. 

* 

Gestorben:  Geh.  Hofrat  Dr.  Oskar  Königshofer,  Pro¬ 
fessor  der  Augenkrankheiten  an  der  Tierärztlichen  Hochschule 
in  Stuttgart,  bekannt  als  Vorkämpfer  für  wirtschaftliche  Standes¬ 
interessen  der  Aerzte  des  Deutschen  Reiches.  —  Prof.  G.  Berru  ti 
in  Turin. 

* 

Im  Mai  d.  .1.  wird  das  definitive  Programm  des  VH.  Inter¬ 
nationalen  Kongresses  für  Dermatologie  und  Syphi- 
lographie  (Rom,  September  1911)  erscheinen.  xAlle  Kongre߬ 
mitglieder,  welche  Vorträge  ankündigen,  werden  gebeten,  späte¬ 
stens  bis  zum  15.  Mal  ein  kurzes,  tunlichst  mit  der  Schreib¬ 
maschine  geschriebenes  Referat,  entweder  an  den  Generalsekretär 
Dr.  Gaetano  Ciarrocchi  (Rom,  5.  Piazza  Grazioli)  oder  .an 
den  Sekretär  für  Oesterreich  Prof.  Eduard  Schiff  (Wien  I., 
Maximilianstraße  5)  zu  senden.  Auf  Grund  der  Kongreßkarte 
werden  Preisermäßigungen  auf  den  italienischen  Bahnen  gewährt 
werden.  Um  den  Kongreßmitgliedern  entsprechende  Wohnungs¬ 
gelegenheit  und  sonstige  Vorteile  zu  bieten,  hat  sich  das  römische 
Komitee  mit  dem  Reisebureau  Cook  (Esedradi  Termini,  Rom)  und 
mit  Chiari  -Sommariva“  (Piazza  Venezia  in  Rom)  in  Ver¬ 
bindung  gesetzt,  an  welche  in  Betreff  der  Wohnungen  Anfragen 
und  Wünsche  zu  richten  sind. 

* 

Für  die  VIII.  Tuberkulose- Aerzte- Vervain mlung 
(Dresden,  12.  und  13.  Juni)  ist  folgende  Tagesordnung 
festgesetzt  worden  :  Bericht  über  die  Organisation  der  Tuberkulose¬ 
bekämpfung  in  Sachsen,  lieber  Kläranlagen  für  Anstalten  und 
Einzelgebäude.  Hydriatische  Behandlung  in  den  Lungenheilstätten. 
Erfahrungen  über  das  Koch  sehe  a  lbu  mosefreie  Tuberkulin.  Tu¬ 
berkulinreaktion  und  Anaphylaxie.  —  Mit  der  Versammlung  ist 
eine  gemeinsame  Besichtigung  der  Hygieneausstellung  und  im  An¬ 
schluß  an  die  Versammlung  ein  Besuch  der  sächsischen  Tuber¬ 
kuloseeinrichtungen  vorgesehen.  Näheres  ist  in  der  Geschäfts¬ 
stelle  des  Deutschen  Zentralkomitees  zur  Bekämpfung  der  Tuber¬ 
kulose,  Berlin  W.,  Königin  Augusta, straße  11,  zu  erfragen. 

* 


Pest.  Aegypten.  In  der  Zeit  vom'  24.  bis  30.  März 
1911  ereigneten  sich  in  Aegypten  152  (87)  Pestfälle  (Todesfälle) 
und  zwar  in  den  Provinzen  Assiout  14  (9),  Assouan  82  (45), 
Fayoum  1  (l),  Keneh  44  (29),  Menoufieh  6  (l),  Minieb  5  (2). 
Die  Gesamtzahl  der  seit  Beginn  des  Jahres  bis  25.  März  sicher- 
gestellten  Pesterkrankungen  beträgt  697  gegenüber  140  in  der 
entsprechenden  Zeitperiode  des  Vorjahres.  —  Nieder  ländisch- 
Indien.  Der  Hauptherd  der  in  Ost- Java  ausgebrochenen  Bu¬ 
bonenpest  ist  in  Batoe  (Distrikt  Malang)  in  der  Provinz  Pasoeroean. 
Im  Distrikt  Koranglo  hat  die  Seuche  sowohl  unter  den  Menschen, 
als  auch  bei  den  Ratten  beträchtlich  abgenommen.  —  Singa¬ 
pore.  In  Singapore  sind  mit  Anfang  März  sporadische  Erkran¬ 
kungen  an  Pest  (darunter  1  Todesfall)  vorgekommen.  Es  steht  zu 
befürchten,  daß  es  hier  —  wie  schon  in  früheren  Jahren  -- 
zum  epidemischen  Auftreten  der  Pest  kommen  wird. 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  14.  Jahreswoche  (vom  2.  bis 
8.  April  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  583,  unehelich  211,  zusammen 
744.  Tot  geboren,  ehelich  41,  unehelich  23,  zusammen  64.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  653  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
16'7  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  1,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  4, 
Scharlach  5,  Keuchhusten  5,  Diphtherie  und  Krupp  3,  Influenza  0, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  3,  Lungentuberkulose  104,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  35,  Wochenbettfieber  3,  Genickstarre  0.  An  gezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  47  (—  10),  Wochenbettfieber  5  (—  2),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  100  (—  5),  Masern  199  (—  9),  Scharlach  93  (-f-  12) 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  2  (=),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0) 
Diphtherie  und  Krupp  66  (-)-  2),  Keuchhusten  43  (-(-  3),  Trachom  1  (—  3) 
Influenza  1  (-f-  1),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Behufs  Durchführung  der  M  a  1  a  r  i  a  t  i  lg  u  n  g  s  a  k  t  i  o  n 
im  Küstenlande  im  Jahre  1911  sind  —  vorbehalllich  der  ministe¬ 
riellen  Genehmigung  des  beantragten  Aktionsprogrammes  —  nachfolgende 
Endemiearztesstellen  zu  besetzen:  1.  In  der  Gemeinde  Terz  o, 
im  politischen  Bezirke  Monfalcone  mit  den  Fraktionen  Terzo,  St.  Martino 
und  Murucis,  mit  dem  Sitze  in  Terzo.  2.  In  den  nördlichen  Untergemein- 
den  der  Gemeinde  Cherso,  im  politischen  Bezirke  Lussin,  mit  dem  Sitze 
in  C  a  i  s  o  1  e.  3.  Um  gebung  von  P  o  1  a,  I.  Zone,  begrenzt  durch 
Promontore,  Bagnole,  Porto,  Veruda,  Villa  Ranfild,  Valdibecco,  Stanzia 
Petris,  Stanzia  Peric,  Giadreschi,  Montirone  und  Pomer,  mit  dem  Sitze 
in  Promontore.  4.  Umgebung  von  Pola  und  Dignano,  III.  Zone, 
begrenzt  durch  Porto  di  Badö  und  die  Ortschaften  Cavrano,  Momorano, 
Carnizza  und  Castelnuovo  (einschließlich  Prostimo  Peruschi  usw.)  mit  dem 
Sitze  in  Carnizza.  5.  Valle,  im  politischen  Bezirke  Pola,  meerseits  be¬ 
grenzt  dnreh  St.  Damiano,  bis  V.  Marichio,  gegen  Osten  von  der  Reichs¬ 
straße  Dignano- Valle  bis  Stanzia  Bagozzi  und  nördlich  bis  zur  Ortschaft 
Valle  in  einer  Linie  die  von  Valle  zur  Capelia  Madonna  piccola,  weiters 
zur  Kapelle  Madonna  alta  und  von  dieser  gerade  zum  Meere  reicht,  mit 
dem  Sitze  in  Valle.  Mit  diesen  Stellen  ist  ein  Honorar  von  monatlich  ad  1 
400  K,  ad  2  600  K,  ad  3  600  K,  ad  4  500  K,  ad  5  500  K  verbunden, 
welche  Beträge  im  Wege  der  k.  k.  Postsparkassa  in  monatlichen  Posti- 
zipativraten  flüssig  gemacht  werden.  Die  Aufnahmsbedingungen  sind: 
Der  Nachweis  der  österreichischen  Staatsbürgerschaft,  der  Besitz  des  an 
einer  österreichischen  Universität  erworbenen  Aerztediploms,  sowie  Zeug¬ 
nisse  über  die  allfällige  bisherige  Dienstesverwendung,  ferner  die  Kennt¬ 
nis  ad  1  der  italienischen,  ad  2  der  kroatischen  Sprache,  ad  3  der  ita¬ 
lienischen  und  womöglich  der  kroatischen,  ad  4  der  italienischen  und 
kroatischen  und  ad  5  der  italienischen  Sprache,  schließlich  die  Beibringung 
eines  staatsärztlichen  Zeugnisses  über  eine  gesunde  und  kräftige  Körper¬ 
beschaffenheit.  Der  Dienst,  welcher  am  15.  Mai  1.  J.  angetreten  werden 
müßte,  dauert  bis  31.  Oktober  I.  J.  Bewerber  haben  ihre  gehörig  belegten 
Gesuche  bis  zum  30.  April  1.  J.  bei  der  k.  k.  Statthalterei  in  Triest 
einzubringen  und  erhalten  vom  Staatsdepartement  nähere  Informationen. 

Im  Stande  der  Sanitätsbeamten  der  politischen  Verwaltung  Kärn¬ 
tens  kommt  ein  Sanitätskonzipistenstelle  mit  den  system- 
mäßigen  Bezügen  der  X.  Rangsklasse  zur  Besetzung.  Bewerber  um  diesen 
Dienstposten  haben  ihre  diesfälligen  Gesuche  mit  den  Nachweisen  über 
die  nach  dem  Gesetze  vom  2L.  Mai  1873,  R.-G.-Bl.  Nr.  87,  erforderliche 
Befähigung  und  ihre  bisherige  Verwendung,  wenn  sie  bereits  im  öffent¬ 
lichen  Staatsdienste  stehen,  im  Wege  ihrer  Vorgesetzten  Behörde,  sonst 
aber  unmittelbar  beim  Präsidium  der  k.  k.  Landesregierung  in  Klagenfurt 
bis  1.  Mai  1.  J.  einzubringen.  Noch  nicht  im  Staatsdienste  stehende  Be¬ 
werber  haben  ihren  Ansuchen  überdies  auch  den  Tauf-  oder  Geburts¬ 
schein,  den  Heimatschein  sowie  ein  amtsärztliches  Zeugnis  über  ihre 
physische  Eignung  beizuschließen. 

Gemeindearztesstelle  in  der  Sanitätsgemeindegruppe 
Feuers  b  r  u  n  n,  politischer  Bezirk  Tulln,  Niederösterreich.  Die  Sanitäts¬ 
gemeinde  umfaßt  die  Gemeinden  Feuersbrunn  und  Wagram,  mit  zusammen 
1097  Einwohnern  und  12'. 3  km2  Flächenräum.  Gemeindebeiträge  500  K. 
bisherige  Subvention  des  n.-ö.  Landesausschusses  800  K,  sonstige  fixe  Be¬ 
züge  ungefähr  400  K.  Haltung  einer  Hausapotheke  erforderlich  Der  in 
den  n.-ö.  Landesauschuß  zu  richtende,  mit-  den  Nachweisen  des  Alters, 
der  österreichischen  Staatsbürgerschaft,  der  Praxisberechtigung  in  Oester¬ 
reich,  der  physischen  Eignung  und  sittlichen  Unbescholtenheit,  sowie  über 
die  bisherige  Verwendung  belegte  Gesuch  ist  bis  längstens  5.  Mai  1911 
an  das  Bürgermeisteramt  in  Feuersbrunn  einzusenden,  wo  auch  nähere 
Auskünfte  über  diese  Stelle  erleilt  werden. 


I 


Nr.  17 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


615 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


INH 

40.  Versammlung'  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu 
Berlin. 


40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  zu  Berlin 

vom  19.  bis  22.  April  1911  (im  Langenbeckhausej . 

Referent :  Dr.  M.  Katzen  stein  - Berlin . 

Nach  einer  stimmungsvollen  Feier  durch  Gesang  und  einer 
Rede  des  Vorsitzenden  zum  Andenken  an,  den  100.  Geburtstag 
von  Langen  beck,  in  der  auf  dessen  Bedeutung  für  die  deutsche 
Chirurgie  hingewiesen  wurde,  trat  man  in  die  Tagesordnung  ein. 

I.  Hauptthema: 

K  ü  1 1  n  er  -  Breslau :  Die  Desinfektion  der  Hände  und 
des  Operationsfeldes. 

Küttner  legt  seinen  Ausführungen  die  Antworten  zugrunde, 
die  er  bei  210  Umfragen  erhalten  hat.  Danach  sind  folgende  Aen- 
d erringen  der  Anschauung  zu  konstatieren.  Die  Ursache  der  Un¬ 
möglichkeit  einer  wirklichen  Hautdesinfektion  ist  nicht  die  Folge 
des  Eindringens  von  Bakterien  in  die  Haarbälge.  Vielmehr  werden 
die  Bakterien  mechanisch  bald  ausgespült.  Wir  müssen  als  Ur¬ 
sache  der  mangelhaften  Desinfizierbarkeit  der1  Flaut  die  Tatsache 
annehmen,  daß  die  üblichen  Antiseptika  in,  der  Zeit,  die  man 
gewöhnlich  zur  Desinfektion  verwendet,  die  Bakterien  abzutötem, 
nicht  imstande  sind.  Um  hier  weiterzukommen,  bedarf  es  also : 

1.  Einer  wirkungsvolleren  chemischen  Desinfektion.  Die  neu¬ 
eren  Quecksilberpräparate,  wie  Quecksilberjodid,  Quecksilberoxy 
zyanüre  und  Sublamin  sind  in  keiner  Weise  dem  Sublimat  vorzu¬ 
ziehen.  f  ortschritte  aui  diesem  Gebiete  scheinen  die  ganz  neuer¬ 
dings  aus  Halogenen  der  Phenolpräparate  hergestellten  Stoffe  zu 
ergeben,  die  eine  raschere  Abtötung  der  Bakterien  bewirken. 

2.  Die  mechanische  Desinfektion  bezweckt  eine  Arretierung 
der  in  der  Haut  befindlichen  Bakterien  durch  Schrumpfung  der 
Haut,  um  So  die  Bakterien  unwirksam  zu  machen.  Die  besten  Resul¬ 
tate  ergibt  die  Alkoholdesinfektion,  wie  sie  in  der  B  r  u  n  s  sehen 
Klinik  gehandhabt  wird,  oder  die  Heißwasserdesinfektion  nach 
A  hl feld.  Eine  wesentliche  Besserung  scheint  die  von  Herr 
in  neuerer  Zeit  empfohlene  Anwendung  des  Tietrachlorseifenspii  itus 
zu  sein. 

Vortr.  bespricht  alsdann  die  Möglichkeit  der  Abdeckung 
des  Operationsfeldes  sowie  die  Vorteile  der  Verwendung  von 
Gummihandschuhen,  deren  Verletzlichkeit  allerdings  eine  große 
Infektionsgefahr  darstellt,  insofern,  als  sich  unter  ihnen  mehr 
Keime  ansammeln.  Küttner  hält  die  Anwendung  der  Jodtinktur 
als  Desinfektionsmittel  der  Haut  des  zu  Operierenden  als  wich¬ 
tigsten  Fortschritt  auf  diesem  Gebiete  und  von  den  210  angefragten 
Chirurgen  sind  187  Anhänger  dieser  Methode.  Zur  Ver¬ 
meidung  der  Ekzeme  empfiehlt  Küttner  statt  der  10°/oigen  Jod¬ 
tinktur  eine  5%ige  zu  benützen.  Außerdem  nur  irische  Jod¬ 
lösungen,  da  sich  in  alten  Lösungen,  die  das  Ek'z'ern  hervorrufende 
Jodwasserstoffsäure  bildet.  Gleichfalls  ist  die  Entfernung  des  Jods 
von  der  Haut  nach  der  Operation,  sowie  die  Vermeidung  anderer 
Desinfizientien  neben  dem  Jod  aus  dem  gleichen  Grunde  er¬ 
forderlich. 

N  o  e  t  z  e  1  -  Saarbrücken  :  U  eb  er  Wundbehandlung. 

In  der  Keimabhaltung  bei  aseptischen  Operationen  ist  ein 
befriedigender  Zustand  der'  Sicherheit  und  auch  eine  völlige  Einig¬ 
keit  hinsichtlich  der  Prinzipien  der  Technik  erreicht,  so  daß 
als  ein  strittiger  Punkt  dieses  Kapitels  fast  nur  noch  die  Katgut- 
frage,  bzw.  die  „Fadenfrage“  bezeichnet  wenden  kann.  Anders 
steht  es  mit  der  Bekämpfung  der  Infektion  in  bereits  infizierten 
Wunden,  in  welcher  wir  von  gleichmäßig  befriedigenden  Resultaten 
noch  weit  entfernt  sind.  Ein  Beweis  für  die  allgemeine  Anerken¬ 
nung  dieser  Tatsache  ist  die  große  Zahl  der  in  Gebrauch  befind¬ 
lichen  Antiseptika,  auf  deren  Anwendung  hei  infizierten  Wun¬ 
den  nur  eine  sehr  kleine  Anzahl  von  Chirurgen  völlig  verzichtet. 
Eine  nüchterne  Prüfung  und  ein  Vergleich  der  mit  Aseptik  und 
Antiseptik  oder  besser  nach  Lexer  ausgedrückt,  mit  physi¬ 
kalischer  und  mit  chemischer  Antiseptik  erzielten  Resultate  er¬ 
gibt  aber,  daß  die  gebräuchlichsten  chemischen  Antiseptika  einen 
Einfluß  auf  die  Heilung  nicht  ausüben,  und  daß  sie  den  Verlauf 
der  Wundinfektion  tatsächlich  nur  durch  die  physikalisch-mechani¬ 
schen  Maßnahmen  der  offenen  Wundbehandlung  beherrschen 
können,  bekanntlich  eine  Errungenschaft  der  vorantiseptischen 


ALT: 

I  II.  russischer  InteriiisteiikongTeß. 

Wiener  laryugologiselie  Gesellschaft.  Sitzung  vom  8.  Februar  1911. 


Zeit,  deren  Technik  durch  die  physikalische  Antiseptik  allerdings 
vervollkommnet  ist.  Ein  sicher  wirksames  Antiseptikum  ist  aber 
zweifellos  ein  dringendes  Bedürfnis  für  viele  Aerzte  bei  infi¬ 
zierten  Wunden,  an  denen  unser  jetziges  Können  versagt,  und  wei¬ 
tere  Bemühungen,  solche  Mittel  zu  finden,  sind  durchaus  notwendig. 

Diskussion:  Kocher  - Bern  hat  hei  seinen  Untersuchun¬ 
gen  den  desinfizierenden  Wert  der  Jodtinktur  nicht  bestätigen 
können. 

E.  Israel -Berlin  verwendet  zur  Anlegung  von  Gipsver- 
bänden  wildlederne  Handschuhe. 

Blu  mb  erg  -Berlin  empfiehlt  Gummihandschuhe  mit  etwas 
rauher  Oberfläche  und  außerdem  Netze  aus  vernickeltem  Draht¬ 
ringen,  in  die  die  Handschuhe  gelegt  werden,  um  sie  auszu¬ 
kochen. 

v.  Oettin g en- Berlin  empfiehlt  Mastisol  zur  Herbeiführung 
einer  mechanischen  Asepsis  und  bevorzugt  dieses  Präparat  vor  der 
Jodtinktur. 

!Pe.u  sn  er  -  Barmen  empfiehlt  zur  Drainierung  neue  Drains, 
aus  Aluminiumspiralen  bestehend. 

Lau  enstein -Hamburg  hält  die  Joddesinfektion  der  Haut 
nicht  immer  für  ausreichend. 

Hei  necke- Leipzig  teilt  mit,  daß  nach  seinen  Erfahrun¬ 
gen  das  Eindringen  der  Jodtinktur  in  die  Wunde  nichts  schadet, 
daß  man  aber  die  Berührung  der  Därme  mit  Jodtinktur  wegen  der 
großen  Gefahr  der  Adhäsionen  unter  allen  Umständen  vermeiden 
müsse. 

Thö  le -Hannover  hat  Experimente  darüber  angestellt,  ob  die 
in  der  Jodtinktur  enthaltene  Jodwasserstoffsäure  wirklich  die  Ur¬ 
sache  der  entstehenden  Ekzeme  ist,  und  kann  diese  in  der  Lite¬ 
ratur  oft  ausgesprochene  Behauptung  nicht  bestätigen.  Länger 
dauernde  Umschläge  mit  Jodwasserstoff  machen  auf  der  Haut 
kein  Ekzem.  Das  Entstehen  eines  solchen  muß  vielmehr  auf 
eine  Idiosynkrasie  zurückgeführt  werden. 

Weiterhin  hat  Herr  Thöle  Untersuchungen  anges teilt  dar¬ 
über,  wie  lange  die  Alkoholdesinfektion  die  Bakterien  in  der 
Haut  zurückzuhalten  vermag  und  er  hat  gefunden,  daß  die  Ver¬ 
wendung  von  Gummihandschuhen  diese  Zeit  wesentlich  verkürzt. 
Er  empfiehlt  daher  das  Operieren  ohne  Hand  mit  Instrumenten 
im  König  sehen  Sinne. 

D  r  e  y  er- Breslau  hat  an  Kaninchenkniegelenken  Versuche 
angestellt  über  die  Wirksamkeit  der  Jodtinktur  bei  Infektion  mit 
Staphylokokkken. 

Die  Gelenkeiterung,  die  in  den  Kontrollversuchen  prompt 
eintrat,  blieb  aus,  wenn  außer  den  Staphylokokken  Jodtinktur 
in  das  Gelenk  gebracht  wurde. 

Jung  en  ge  1  hat  einen  Apparat  konstruiert,  mit  dem  es 
möglich  ist,  Joddämpfe  in  statu  naseendi  auf  die  Wunden  zu 
bringen. 

Kön  i  g  -  Greifswald  wendet  in  neuerer  Zeit  an  Stelle  der  sehr 
oft  die  Uebersicht  störenden  braunen  Jodtinktur  farblosen  Thymol 
Spiritus  an,  der  nach  bakteriologischen  Untersuchungen  außer¬ 
ordentlich  wirksam  ist. 

Steinmann- Bern  weist,  auf  eine  wenig  bekannte  grund¬ 
legende  Arbeit  Walthers  über  die  bakterizide  Wirkung  der  Jod¬ 
tinktur  hin. 

Hof  f  mann  -Karlsruhe  wendet  Jodtinktur  bei  eitrigen  Pro¬ 
zessen  in  der  Bauchhöhle  ausgiebig  an,  ohne  je  Schaden  davon 
gesehen  zu  haben. 

R. e  h  n  -  Frankfurt  a.  M.  warnt  vor  dieser  Anwendung,  da 
danach  zahlreiche  Adhäsionen  und  Ileus  auftreten. 

II.  Hauptthema. 

Th.  Koch  er -Bern:  Morbus  Basedowi. 

In  allen  Fällen  dieser  Erkrankung  zeigen  sich  Verände¬ 
rungen  der  Schilddrüse  mit  Uebersekretion  dieses  Organes  und 
Vermehrung  des  Jodgehaltes  des  abgesonderten  Sekretes.  Man 
konnte  die  Erkrankung  beim  Tier  experimentell  erzeugen  durch 
Injektion  von  Schilddrüsenpreßsaft,  Schilddrüsensubstanz  oder 
Jodo-Thyreoidin.  Dieses  Experiment  wurde  unabsichtlich  beim 
Menschen  durch  Verabreichung  von  Jod  ausgeführt. 

Außer  der  Schilddrüsenvergrößerung  ist  charakteristisch  für 
den  Morbus  Basedowi  die  Veränderung  des  Blutbildes.  Ein  typi¬ 
sches  Based owzeichen  ist  die  Leukopenie  und  Mononukleose  und 


616 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  17 


die  Adrenalinämie.  Letztere  Veränderung  weist  auf  die  Einwir¬ 
kung  der  Drüsen  mit  innerer  Sekretion  aufeinander  hin.  Auf  Grund 
dieser  Blutbefunde  kann  man  die  Diagnose  auf  Hyperthyreosis 
stellen.  Dazu  kommt  noch  eine  Beschleunigung  des  Stoffwechsels. 

Die  von  der  Norm  abweichenden  Bilder  des  Basedow  lassen 
sich  einfacher  erklären  dadurch,  daß  das  Schilddrüsensekret  in 
manchen  Fällen  mehr  auf  den  Sympathikus  und  in  manchen 
mein-  auf  den  Vagus  einwirkt.  Bei  der  sympathikotropen  Form 
des  Basedow  sehen  wir  Exophthalmus,  Tachykardie,  Ggykosurie. 
Bei  der  vagotropen  Form  keine  Beschleunigung  des  Pulses,  kein 
Exophthalmus,  keine  Glykosurie,  wohl  aber  Verdauungsstörungen 
und  die  typischen  Blutveränderungen. 

Für  die  Entstehung  des  Morbus  Basedowi  kommen  ätiologisch 
in  Betracht :  1.  heftige  Gemütserschütterungen,  2.  Jodzufuhr  bei 
Schilddrüsenerkrankungen  (Jod-Basedow),  3.  Infektionskrank¬ 
heiten,  4.  Hypersekretion  der  Geschlechtsdrüsen.  (Entstellung  des 
Basedow  zur  Zeit  der  Menstruation  und  nach  Geburten.) 

Da  der  Morbus  Basedowi  eine  Hyperthyreosis  ist,  muß  die  . 
Behandlung  eine  chirurgische  sein  und  zwar  entspricht  die  Bes¬ 
serung  nach  der  Operation  der  Größe  und  Menge  exzidierten 
Drüsengewebes.  Mißerfolge  treten  nur1  dann  ein,  wenn  zu  wenig 
Schilddrüse  entfernt  wurde. 

Kocher  hat  an  535  Fällen  von  Basedow  721  Operationen 
ausgeführt  und  hiebei  17  Fälle  verloren ;  das  entspricht  einer 
Mortalität  von  3-1  %.  Drei  Fälle  starben  an  der  Narkose,  drei  an 
Nephritis,  drei  infolge  eines  Status  thymicus  (in  fünf  Fällen  ohne 
Operation  wurde  ebenfalls  ein  solcher  Thymustod  beobachtet.  Be¬ 
stätigung  der  Auffassung  Garres).  Zwei  Fälle  gingen  an  Em¬ 
bolie  zugrunde  und  sechs  an  Pneumonie.  Das  typische  Blutbild 
wurde  nach  der  Operation  verändert. 

Die  Behandlung  des  Morbus  Basedowi  soll  eine 
chirurgische  sein,  die  im  Frühstadium  der  Krank¬ 
heit  ausgeführte  Operation  ist  als  gefahrlos  und 
erfolgreich  zu  bezeichnen. 

A.  Kocher -Bern:  Neue  Untersuchungen  der  Schild¬ 
drüse  und  Hyperthyr eoidismus. 

Vortr.  hat  bestimmte  Beziehungen  des  histologischen  Bildes 
zu  den  klinischen  Krankheitserscheinungen  gefunden.  Bei  akut 
auf  tretenden  Fällen  findet  man  wenig  Kolloid  in  den  Präparaten, 
beim  typischen  Basedow  mit  Exophthalmus  Zyiinderzellen- 
wucherung. 

Klinisch  atypische  Fälle  lassen  bei  der  mikroskopischen 
Untersuchung  der  Präparate  unregelmäßig  polymorphe  Zellen  mit 
einer  Desquamation  lymphoiden  Gewebes  erkennen ;  Kolloid  findet 
sich  dann  wenig.  In  diesen  Fällen  sind  die  Symptome  außer¬ 
ordentlich  schwer  und  die  Prognose  ungünstig. 

In  den  Präparaten  ist  der  Jodgehalt  sehr  wechselnd,  eine 
Gesetzmäßigkeit  läßt  sich  nicht  nachweisen.  Das  Thyreoglobulin 
ist  in  sämtlichen  Fällen  relativ  herabgesetzt.  Das  phosphorhaltige 
Nukleoprotein  ebenfalls  sehr  wechselnd.  Auch  hier  läßt  sich  eine 
Gesetzmäßigkeit  nicht  nachweisen. 

Heinrich  Klose-Frankfurt  a.  M. :  Experimentelle 
Untersuchungen  über  die  Basedowsche  Krankheit. 

K 1  o  se  hat  im  Institut  für  experimentelle  Chirurgie  in 
Frankfurt  a.  M.  Untersuchungen  angestellt  über  die  Kardinal  frage, 
ob  der  Morbus  Basedowi  durch  einen  Hyper-  oder  einen  Dys- 
thyreoidismus  entsteht.  Bei  Hunden  gelingt  es  durch  Injektion 
von  frischem  Basedowpreßsaft  eine  typische  Basedowsche 
Krankheit  zu  erzeugen.  Die  Hunde  bekommen  selbst  auf 
Injektionen  kleiner  Mengen  Fieber,  einen  unregelmäßigen 
Puls,  jaktierende  Atmung,  Zittern,  Schwitzen,  Eiweiß-  und  Zucker¬ 
ausscheidung.  In  seltensten  Fällen  tritt  Exophthalmus  ein.  Das 
Blutbild  geht  nach  kurzdauernder  geringer  Polynukleose  in  das 
typische  Bild  einer  Basedowlymphozytose  über.  Der  Blutdruck 
sinkt  von  100  mm  Queckselber  auf  80  mm  Quecksilber.  Nach 
spätestens  acht  Tagen  ist  die  schwere  Basedowreaktion  ahee- 
klungen.  Die  Reaktion  ist  so  eklatant,  daß  sie  ein  differential- 
diagnostisches  Merkmal  für  Fälle  ist,  in  dem  klinisch  nicht  ent¬ 
schieden  werden  kann,  ob  ein  Morbus  Basedowi  oder  eine  ge¬ 
wöhnliche  Struma  vorliegt. 

Injiziert  man  Hunden  selbst  exzessiv  große  Mengen  von 
gewöhnlichem  Stramapreßsaft,  so  treten  außer  einer  atypischen 
Blutreaktion  auf  das  körperfremde  Eiweiß  keinerlei  klinische 
Folgen  ein. 

Klose  kommt  zu  folgenden  Schlüssen : 

1.  Morbus  Basedowi  und  der  hypothetische  Hyperthyreoi- 
dismus  sind  etwas  qualitativ  Unterschiedliches. 

2.  Basedow  und  Jodvergiftung  sind  wahrscheinlich  dasselbe. 
Nach  Kloses  Arbeitshypothese  hat  beim  Morbus  Basedowi  ein 
Teil  der  Schilddrüse  die  Fähigkeit  verloren,  das  Jod  in  organi¬ 
scher  Form  aufzuspeichern.  Es  wird  vielmehr  direkt  als  anor¬ 


ganisches  Jod  oder  wahrscheinlicher  in  einer  Form  deponiert, 
die  es  leicht  als  anorganisches  dem  Körper  abgibt.  Der  Körper 
muß  so  dauernd  unter  Wirkung  von  anorganischem  Jod  stehen: 
Es  handelt  sich  beim  Basedow  also  um  mangelnde  Jodentgiftuug. 
Kloses  Theorie  steht  in  Einklang  mit  den  Erfahrungen  am 
Krankenbett.  Denn  nach  neueren  physiologischen  Untersuchungen 
kreist  das  per  os  eingeführte  Jodothyrin  —  wodurch  man  be¬ 
kanntlich  einen  künstlichen  Basedow  erzeugen  kann  —  nicht 
als  solches,  sondern  größtenteils  als  anorganisches  Jod. 

Klose  kommt  zu  folgenden  Schlußthesen:  Die  Basedow¬ 
sche  Krankheit  ist  keine  Hyper-,  sondern  eiire  Dysthyreosis.  Diese 
Dysthyreosis  entsteht  dadurch,  daß  die  Schilddrüse  nicht  die 
Fähigkeit  besitzt,  das  Jod  in  der  normalen  Form  als  Jodothyrin  auf¬ 
zuspeichern,  sondern  es  in  einer  Form  deponiert,  die  vorerst  beider 
Unkenntnis  der  genaueren  Zusammensetzung  als  „Basedowjod*' 
bezeichnet  werden  mag,  welches  leicht  anorganisches  Jod  aus 
sich  frei  werden  läßt.  Dieses  übt  die  gleiche  Wirkung  aus  wie 
das  intravenös  gegebene  anorganische  Jod. 

G  a,  r  r  e  -  Bonn :  Ueb-er  Thyinektomie  bei  Basedow. 

G arre  hält  den  Morbus  Basedowi  für  Dysthyreosis,  Er  fand 
bei  der  Zusammenstellung  einer  größeren  Statistik  in  95%  der  nach 
der  Operation  erfolgten  Todesfälle  eine  Thymuspersistenz  und 
er  ist  der  Meinung,  daß  die  Thymus  bei  diesem  Endausgange  ur¬ 
sächlich  beteiligt  sein  muß. 

Er  selbst  hat  65  Fälle  von  Basedow  operiert,  hiebei  zwei 
Todesfälle  erlebt,  beide  infolge  einer  hyperplastischen  Thymus. 
In  zwei  Fällen  wurde  mit  Erfolg  die  Thymektomie  gemacht, 
davon  einmal  in  Gemeinschaft  mit  Strumektomie,  einmal  als 
alleinige  Operation.  .  ( 

Hiebei  wurde  zwar  der  Exophthalmus  und  die  Struma  nicht 
beeinflußt.  Indessen  besserte  sich  der  Allgemeinzustand,  es  hat 
Gewichtszunahme  ein  und  das  schwer  veränderte  Blutbild  kehrte 
zur  Norm  zurück.  Nach  der  Meinung  Garres  erhöht  mithiß 
die  Thymuspersistenz  die  Basedowsymptome  und  verschlecntert 
die  Prognose.  Denn  es  bestehen  zwischen.  Basedow  und  Thymus¬ 
persistenz  gewisse  Wechselbeziehungen,  wie  auch  die  experimen¬ 
tellen  Untersuchungen  Geb  eis  dargetan  haben. 

Diskussion:  L.  Bircher- Aarau  bestätigt  diese  Auf 
fassung  Garres,  denn  er  hat  im  Tierexperiment  durch  Im¬ 
plantation  pathologischer  Thymus  Basedowerscheinungen1  hervor¬ 
gerufen:  Struma,  Tachykardie,  Tremor,  Pfotrusio  bulbi.  Nach 
seiner  klinischen  Erfahrung  sind  die  schweren  Basedowfälle  meist 
durch  Thymuspersistenz  beeinflußt. 

Bircher  ist  nicht  der  Meinung  Kochers,  daß  die  Heilung 
des  Basedow  eine  um  so  bessere  ist,  eine  je  größere  Menge 
Strumagewebe  entfernt  ist. 

Hal  stead -Baltimore  teilt  die  Meinung  Kochers  und  ent¬ 
fernt  den  größeren  Teil  beider  Lappen  in  zwei  oder  mehreren 
Akten.  Man  muß  einen  Teil  der  Lappen  zurücklassen,  um  die 
Epithelkörperchen  zu  schützen.  Halstead  teilt  dann  weiter¬ 
hin  interessante  Einzelheiten  seiner  Tierversuche  über  Trans¬ 
plantation  von  Epithelkörperchen  mit. 

Hildebrand -Berlin  hat  100  Fälle  von  Basedow  operiert 
und  hievon  fünf  Fälle  verloren.  Zweimal  lag  ein  Status  thymicus 
vor  und  in  den  anderen  drei  Fällen  gingen  die  Kranken  an 
Herzschwäche  zugrunde. 

Als  ein  wesentliches  Hilfsmittel  in  prognostischer  Beziehung 
hat  sich  das  Elektrokardiogramm,  das  in  jedem  Talle  vor  und- 
nach  der  Operation  aufgenommen  wird,  ergeben.  Hilde  brand 
zeigt,  an  Tafeln  das  normale  Elektrokardiogramm  zum  Vergleich, 
alsdann  mehrere  Elektrokardiogramme  von  Basedowkranken.  Sie 
zeigen  schwere  Veränderungen  der  Vorhofzacke  sowie  der  Ini¬ 
tialzacke.  Nach  der  Operation  wurde  jedesmal  das  Elektrokardio¬ 
gramm  desselben  Individuums  annähernd  normal. 

Julius  D  ol  linger- Budapest  hat  bei  einem  sehr  hochgradi 
gen  beiderseitigen  Exophthalmus,  der  von  heftigen  Augen-  und 
Kopfschmerzen,  beiderseitiger  Chemosis  und  Hornhautgeschwuren 
am  linken  Auge  begleitet  war,  die  seitliche  Knochenwand  ne  Met 
Orbitalhöhlen  samt  der  Periorbita  entfernt  und  hiedurch  bewirkt, 
daß  der  nach  vorne  strebende  Exophthalmus  auch  nach  der 
Seite  hin  ausweichen  konnte.  Hiedurch  verschwanden  alle  itn- 
angenehmen,  sehr  schweren  Symptome  und  subjektiven  e- 

schw-erden.  . 

v.  Eiseisberg- Wien  betrachtet  den  Basedow  als  einen 
toxischen  Symptomenkomplex,  bei  dem  die  innere  Therapie  vo  - 
kommen  Fiasko  gemacht  hat.  Die  Operation  des  Basedowkroptes 
ist  allerdings  gefährlicher  als  die  des  gewöhnlichen  Kroptes. 
alten  Fällen  macht  vor  allen  Dingen  die  Myodegeneratio  1 
schlechten  Resultate,  außerdem  aber  der  Status  thymicus.  v  o 
Eiseisberg  hat  bei  seinen  71  Fällen  sechs  Todesfälle  g 
sehen.  Die  Endresultate  sind  als  vorzüglich  zu  bezeichnen,  w 


Nr.  17 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


617 


23  Fällen  sah  er  absolute  Heilung,  in  den  anderen  wesentliche 
Besserung  und  nur  zAvei  Fälle  -blieben  ungeheilt.  Im  allgemeinen 
verwendet  v.  Eiseisberg  Lokalanästhesie,  nur  bei  sehr  ner¬ 
vösen  Individuen  Allgemeinnarkose. 

K  ü  t  tn  er- Breslau  hat  zur  Feststellung  der  endgültigen  Er¬ 
folge  die  iu  den  letzten  18  Jahren  in  der  Breslauer  Klinik 
beobachteten  85  schweren  Fälle  von  Basedow  zusammengostellf. 
'Sämtliche  nicht  Operierten  (21)  blieben  ungeheilt.  11  Operierte 
iu  desolatem  Zustande  gingen  nach  der  Operation  zugrunde  (2  an 
Pneumonie,  2  infolge  starken  Thymikus  und  7  an  Herzschwäche). 
Von  den  52  Ueberl ebenden  konnte  er  von  37  Fällen  Nachricht  be¬ 
kommen,  darunter  von  15  ganz  schweren  Fällen.  Hievon  sind  5 
vollkommen  geheilt,  8  arbeitsfähig,  2  ungeheilt.  Von  allen 
Fällen  sind : 

33-2 %  vollkommen  geheilt, 

36%  weitgehend  gebessert,  mit  geringen  Symptomen,  aber 
vollkommen  arbeitsfähig. 

16-6%  gebessert, 

13%  ungeheilt,  davon  waren  2  Fälle  unvollständig  operiert. 

Im  Gegensatz  hiezu  ergaben  die  ohne  Operation  Behandelten 
keine  einzige  Heilung  und  35%  Mortalität,  während  die  Ope¬ 
rierten  nur  17%  Mortalität  nachweisen  ließen. 

Hönicke  betrachtet  den  Basedow  als  eine  Hyperihyreosis. 

Schultze-Berlin  berichtet  über  die  Fälle  aus  der  Bier- 
schen  Klinik.  Unter  20  mit  dein  Röntgenschirm  untersuchten 
Fällen  konnte  18mal  das  Vorhandensein  einer  Thymus  festgestellt 

werden. 

Bei  neun  Todesfällen  wurde  bei  der  Sektion  achtmal  das 
Vorhandensein  einer  Thymus  festgestellt. 

Mar  tens -Berlin :  Nach  Strumektomie  doppelseitige  Re¬ 
kurrenslähmung.  Stimmbänder  standen  unbeweglich  straff  ge¬ 
spannt  in  Medianstellung  (infolge  tonischer  Kontraktur  der  Muscu  li 
thyreocricoidei).  Wegen  schwerer  Atemnot  wurde  auf  Vorschlag 
Grabow  er  s  der  motorische  Nerv  dieses  Muskels,  der  R.  ext. 
des  Nervus  laryngeus  superior,  einseitig  unterschnitten,  infolge¬ 
dessen  trat  die  eine  Stimmlippe  einseitig  nach  außen  und  die 
Atemnot  verschwand. 

Wolfsohn- Charlottenburg  hat  versucht,  bei  Basedow- 
kranken  eine  Jod-,  resp.  Jodeiweißanaphylaxie  auf  serologischem 
Wege  nachzuweisen.  Er  ist  dabei  ähnlich  vorgegangen  wie  Br  uck, 
zum  Nachweis  der  Jod  of  orm  übe  r  emp  f  i  nd  li  c  hkei  t :  5  cm3  Serum 
von  Basedowkranken  wurden  Meerschweinchen  einverleibt ;  nach 
24  bis  48  Stunden  wurden  dieselben  Tiere  mit  Jodoformöl  in  untöd- 
licher  Dosis  gespritzt.  Bei  positivem  Ausfall  des  Experim  mts 
reagierten  die  Meerschweinchen  mit  einem  schweren  anaphylak¬ 
tischen  Shock  (Temperaturabfall,  Dyspnoe,  Krämpfe,  Lähmungen, 
Abgang  von  Kot  und  Urin  u.  a.). 

Die  Tiere  können  in  diesem  Shock  sterben,  sie  können  sich 
aber  auch  nach  sechs  bis  zwölf  Stunden  erholen.  Von  17  so 
untersuchten  Fällen  reagierten  8  positiv.  Es  waren  das  diejenigen, 
bei  denen  schwere  neurotische  und  vasomotorische  Störungen 

im  Vordergrund  standen. 

Rhen- Frankfurt  a.  Al.  hat  bei  einem  Morbus  Basedow 
mit  schwerer  Psychose  durch  die  Operation  eine  wesentliche 
Besserung  der  Psychose  gesehen. 

Auch  Kocher -Bern  sah  eine  Besserung  des  psychischen 
Verhaltens  und  jedenfalls  ohne  Operation  des  Basedow  häufiger 
Psychosen.  Kocher  kann  einen  wesentlichen  Unterschied 
zwischen  seinen  Anschauungen  und  denen  des  Herrn  Klose 

nicht  wahmehmen. 

D  ern  o  ns  trat  i  ons  abend.  Lichtbilder  Projektionen. 

A.  W  ö  rner-  Schwäbisch- Gmünd  demonstriert  etwa  100 
ausgezeichnete  Lichtbilder,  um  die  Brauchbarkeit  der  Farbenphoto- 
üraphie  nach  dem  Lumi  er  eschen  Verfahren  für  die  Chirurgie 
zu  beweisen.  Es  werden  die  Originalplatten,  die  von  Wörner 
selbst  während  des  täglichen  Krankenhausbetriebs;  angefertigt  sind, 
mit  dem  Projektionsapparat  vorgeführt.  Sie  betreffen  eine  Anzahl 
Hautkrankheiten,  namentlich  Lupus  vor  und  nach  der  Behandlung, 
Gesichtskrebs,  Brustkrebs,  ferner  Operationen  von  Zungenkrebs, 
kippenkrebs,  Brustkrebs  und  von  Brüchen;  Aufnahmen  von  zahl¬ 
reichen  durch  Operation  gewonnenen  Präparaten,  einige  für  ge¬ 
richtliche  Zwecke  wichtige  Objekte  und  zum  Schluß  noch  einige 
Sektionspräparate,  die  sehr. schön  und  naturwahr  zur  Darstellung 
kommen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


II.  russischer  Internistenkongreß 

abgehalten  zu  St.  Petersburg  am  19.  bis  23.  Dezember  1910  (a.  St.). 

Referent:  Dr.  Julius  S  c  h  ü  t  z  -  Marienbad. 

(Fortsetzung.) 

W .  E.  Pre  dtetschenski  j -Moskau  :  Resultate  eige¬ 
ner  Untersuchungen  zur  Frage  des  Typhus  exanthe- 
m  a  t  i  c  u  s  e  r  r  e  ig  e  r  s. 

Bei  Verwendung  der  Methode  des  Vortragenden  (doppeltes 
Zentrifugieren  usw.)  findet  sich  im  Blute  eines  jeden  Flecktyphus¬ 
kranken  ein  Stäbchen  mit  abgerundeten  Enden  und  einem  Lumen 
in  der  Mitte.  Die  Menge  der  Stäbchen  variiert.  Das  Stäbchen  läßt 
sich  aus  \  enenblut  in  Bouillon  rein  züchten,  am1  besten  zwischen 
deni  fünften  und  neunten  Krankheitstag.  Das  Stäbchen  stellt 
eine  Art  für  sich  dar  und  ähnelt  noch  am  ehesten  dein  Erreger 
der  Bubonenpest.  Durch  Agglutination  kann  es  sicher  identifiziert 
werden.  Es  läßt  sich  auch  im  Sputum  gut  nachweisen,  beziehungs¬ 
weise  rein  züchten.  Dasselbe  gilt  für  den  Harn.  Der  Vortragende 
hält  das  Stäbchen  mit  Vorbehalt  von  Uebertragungsversuchen 
auf  Affen,  für  den  Erreger  des  Flecktyphus.  Die  Verbreitung  des 
Flecktyphus  scheint  hauptsächlich  durch  Harn  und  Sputum  be¬ 
wirkt  zu  werden,  vielleicht  auch  durch  „Bazillenträger".  Die 
Uebertragung  auch  durch  Insekten  ist  nicht  ausgeschlossen. 

A.  N.  Shitkow-St.  Petersburg:  lieber  Behandlung 
der  Cholera  asiatica. 

Der  Ausdruck  der  Vergiftung  mit  dem  Cholera  asiatica-Gift  ist 
nicht  der  algide,  sondern  der  typhoide  Zustand.  Ersterer  ist  haupt¬ 
sächlich  auf  Wasser-  und  Chloridverlust  zurückzuführen,  denn  ei 
tritt  auch  bei  europäischer  Cholera  auf,  ferner  wird  er  bei  Krank¬ 
heiten  beobachtet,  welche  mit  starkem  Chlor-  und  Wasserverlust 
einhergehen  und  läßt  sich  durch  Kochsalzinfusionen  rückgängig 
machen,  am  besten  intravenös.  Ein  Schaden  durch  intravenöse 
Injektionen  ist  wohl  auszuschließen.  Die  diesbezüglichen  Schlu߬ 
folgerungen  stützen  sich  auf  Versuche  an  gesunden  Tieren  und 
sind  nicht  auf  chlor-  und  wasserverarmte  übertragbar.  Die  Sterb¬ 
lichkeit  wird  durch  systematische  Anwendung  intravenöser  Infu¬ 
sionen  herabgesetzt.  Das  typhoide  Stadium  wird  durch  die  In¬ 
fusionen  nicht  beeinflußt.  Da  liier  die  Entfernung  des  Virus  das 
maßgebende  ist,  so  muß  die  Selbstheilungstendenz  des1  Organis¬ 
mus  (Erbrechen,  Durchfall)  künstlich  unterstützt  werden.  (Ab¬ 
führmittel,  Flüssigkeitszufuhr,  Magenspülungen).  Wichtig  sind 
neben  genügender  Kochsalzzufuhr  Sodaklysmen  zwecks  Erhöhung 
der  Blutalkaleszenz. 

S.  J.  Slatogorow-St.  Petersburg:  Differential  dia¬ 
gnose  zwischen  Abdominaltyphus  und  den  Para¬ 
typ. he  n. 

Auf  Grund  von  Literaturstudien  und  eigenen  Beobachtungen 
auf  der  Sir oti nin sehen  Klinik  teilt  Vortragender  die  Para¬ 
typhusexkrankungen,  soweit  sie  dem  klinischen  Bilde  nach  dem 
Typhus  ähnlich  sind,  in  folgende  zwei  Gruppen:  Die  erste  Gruppe 
entspricht  den  Fällen,  welche  sich  klinisch  vom  Typhus  nicht 
unterscheiden  lassen,  die  zweite  denjenigen,  welche  nach  ge¬ 
wissen  Besonderheiten  diese  Unterscheidung  möglich  machen. 
Von  diesen  Besonderheiten  sind  folgende  zu  nennen:  Der  Beginn 
der  Erkrankung  ist  meist  ein  plötzlicher  unter  dem  Bilde  der 
akuten  Gastroenteritis  und  rascher  Teniperatursteigerung.  Außer 
der  Affektion  der  oberen  Verdauungswege  werden  Katarrhe  des 
oberen  Respirationstraktes  beobachtet,  ebenso  wie  Herpes  labialis. 
Die  für  den  echten  Typhus  so  charakteristische  Milzvergrößerung 
tritt  bei  dieser  zweiten  Krankheitsgruppe  früher  auf,  verschwindet 
schneller.  Der  Stuhl  hat  meistens  stark  stinkenden  Charakter  und 
keine  Erbssuppenkonsistenz.  Die  Temperaturkurve  zeigt  als  Cha¬ 
rakteristika  häufige  Remissionen  mit  wiederholten  profusen 
Schweißen  und  kritischem  Temperaturabfall.  Zur  Unterscheidung 
des  Paratyphus  von  Typhus  ist  die  Serodjagnostik  nicht  als 
absolutes  Hilfsmittel  anzusehen;  dies  gilt  von  der  Widalschen 
Reaktion,  der  Koplementbindung,  der  Bakterizidie,  den  Opsoninen, 
der  Aland  el  bäum  sehen  Reaktion,  der  Präzipitinreaktion  und 
der  Aleiostagminreaktion.  Für  die  genaue  Diagnose  ist  eine  bak¬ 
teriologische  Untersuchung  mit  Reinkultivierung  erforderlich.  Der 
Bacillus  paratyphi  muß  auf  Grund  einer  ganzen  Reihe  von  bio¬ 
logischen  Eigenschaften  in  eine  bestimmte  Gruppe  der  Typ'na- 
zecnfamilie  eingereiht  werden.  Das  Interesse  beim  Studium  dieser 
Gruppe  ist  nicht  nur  auf  rein  praktischem  Gebiete  zu  suchen,  son¬ 
dern  auch  auf  theoretischem,  da  sich  hier  die  Variabilität  der 
Mikroben  besonders  deutlich  zeigt. 

G.  A.  Smirnow  und  M.  K.  P  e  t  r  o  w  -  St.  Petersburg  :  U  e  b  e  r 
das  Typhustoxin. 

Das  Typhusbakterium  produziert  ebenso  wie  der  Diphtherie¬ 
bazillus  unter  gewissen  Umständen  ein  freies  Toxin,  welches  sehr 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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stark  wirkt.  Die  Symptome,  welche  bei  Vergiftung  von  Tieren 
mittels  Typhustoxin  erhalten  werden,  unterscheiden  sich  sehr 
genau  von  denen,  welche  nach  Einspritzung  von  Endotoxin  aul¬ 
treten.  Dias  Typhustoxin  wird  sowohl  durch  Erwärmen,  als  auch 
bei  längerem  Stehen  an  der  Luit  leicht  zerstört,  während  das  Endo¬ 
toxin  eine  Erwärmung  bis  zu  137°  C  verträgt.  Die  Endotoxin- 
Typhus-Sera  weisen  aus  dem  Grunde  keinen  deutlichen  thera¬ 
peutischen  Elfekt  auf  den  Typhusverlauf  von  Menschen  auf,  weil 
die  Bereitung  dieser  Sera  mittels  Zerfallsprodukten  des  Bak¬ 
terienstromas  und  nicht  mittels  ihrer  Toxine  geschieht.  Zur  Pro¬ 
duktion  von  Toxinen  sind  spezielle  Kulturbedingungen  nötig, 
denn  auf  Nährböden,  auf  denen  der  Typhusbazillus  ein  stark  wirk¬ 
sames  Toxin  produzierte,  war  dies  bei  dem  Cholerabazillus  nicht 
der  Fall. 

N.  E.  Kus  chew-Ssaratow :  Beobachtungen  über  die 
Wirkung  des  Präparates  Ehrlich-Hata. 

Das  Präparat  ,,606“  stellt  kein  Spezifikum  gegenüber  dem 
Tropenfieber  dar.  Die  Fieberparoxysnien  erscheinen  nach  intra¬ 
venöser  Injektion  des  Arsenobenzols  nach  einigen  Tagen  vom 
neuen.  Unter  dem  Einfluß  des  Arsenobenzols  verschwinden  die 
ringförmigen  Plasmodien  bald  aus  dem  peripheren  Blut;  die 
halbmondförmigen  bleiben  nach  'zweimaliger  Einführung  von  „606“ 
ins  Blut  bestehen.  In  einem  Falle  von  komatösem  Fieber  ver¬ 
schwand  das  Koma  (nach  „606“)  nach  einem  Tage  und  kehrte 
nicht  wieder.  Bei  Persistenz  des  Fiebers  nach  ,,606“-lnjektionen 
muß  zum  Chinin  gegriffen  werden. 

P.  J.  Sarnizin-Kasan:  Eine  neue  Methode  der 
Gewinnung  von  Dmnndarminhalt. 

Das  Prinzip  der  Methode  besteht  darin,  daß  ein  stark  kom¬ 
primiertes,  trockenes  Stückchen  Schwamm  in  einer  Glutoid-  oder 
Silberkapsel,  resp.  in  einer  kombinierten  Glutoid-Silberkapsel  per 
os  gereicht  wird.  Der  Schwamm  saugt  den  Dünndarminhalt  ein 
und  hält  ihn  auf  seinem  Wege  durch  den  Darinkanal  fest,  so  daß 
im  Stuhle  mit  größerer  Sicherheit,  als  dies  bisher  möglich  war, 
Pankreassekret  nachgewiesen  werden  kann. 

N.  M.  Ru  d  ni  z  kij  -  Charkow  :  Neurasthenie  und  Tu- 
berk  ul  ose. 

Der  Begriff  der  Neurasthenie  läßt  sich  derzeit  als  noso¬ 
logische  Einheit  nicht  mehr  gut  festhalten.  Von  den  Neurastheni¬ 
kern,  die  Vortragender  beobachtete,  ließ  sich  eine  recht  ansehn¬ 
liche  Gruppe  abgrenzen,  welche  eine  Anzahl  nur  für  sie  allein 
charakteristischer  Symptome  aufwies  und  sich  gleichzeitig  von 
dem  Krankheitsbild  der  echten  Beard  sehen  Krankheit  unter¬ 
schied.  Diese  Gruppe  charakterisiert  sich  durch  die  Anwesen¬ 
heit  von  Lungenspitzenverdichtungein,  manchmal'  auch  latenten 
Pleuritiden.  Man  muß  diese  Gruppe,  welche  in  wesentlichen  Zügen 
dem  Krankheitsbilde  der  Tuberkulose  entspricht,  von  der  Neur¬ 
asthenie  streng-  abgrenzen  und  der  Tuberkulöse  zuteilen.  Man 
könnte  sie  als  Pseudoneurasthenia  tuberculosa  bezeichnen. 

G.  J.  Gurewitsch- Warschau:  Ueber  die  Verschie¬ 
denheiten  des  klinischen  Bildes  bei  Typhus. 

Vortragender  klassifiziert  das  klinische  Bild,  des  Typhus 
im  wesentlichen  nach  folgenden  Gesichtspunkten:  1.  Grad  der 
Entwicklung  des  Bildes  (rudimentäre,  abortive,  typische,  protra¬ 
hierte,  zyklische  Form);  2.  Charakter  der  Erscheinungen  (typi¬ 
sche,  atypische) ;  3.  nach  dein  Charakter  der  Infektion  (Misch¬ 
infektion,  Sekundärinfektion  usw.). 

G.  F.  Lang-St.  Petersburg:  Der  arterielle  Blutdruck 
bei  Cholera  und  seine  Beeinflussung  durch  reich¬ 
liche  intravenöse  Infusionen. 

Vortragender  sah  bei  Anwendung  von  2  bis  2Va  Litern 
physiologischer  Lösung  gute  Erfolge. 

G.  J.  Jawein-St.  Petersburg:  Demonstration  eines 
Falles  von  Adams- Stokes  scher  Krankheit. 

N.  G.  Kuk  owjerow-St.  Petersburg:  Zur  Diagnostik 
der  beginnenden  Arteriosklerose. 

Demonstration  des  S  ir  o  tin  in  sehen  Symptoms,  welches  an 
Tausenden  von  Fällen  nachgeprüft  wurde  und  darin  besteht, 
daß,  wenn  der  Patient  seine  Hände  auf  den  Kopf  legt,  an  der 
Auskultationsstelle  der  Aorta  anstatt  des  Tones  ein  deutliches 
schabendes  Geräusch  hörbar  wird.  Bei  Jodbehandwung  pflegt  das 
Geräusch  zu  verschwinden. 

M.  W.  Jan  owski  j-St.  Petersburg:  Anomalien  der  von 
Korotkow  beschriebenen  Erscheinungen  im  Zusam¬ 
menhang  mit  der  rhythmischen  Kontraktilität  der 
Gefäße. 

Vortragender  beschreibt  die  Schallphänomene,  welche  bei  der 
Kor  otk  ow sehen  Methode  auftreten  und  führt  die  Abweichungen 
auf  selbständige  rhythmische  Kontraktionen  der  Gefäße  zurück. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Wiener  laryngologische  Gesellschaft. 

Sitzung  vom  8.  Februar  1911. 

Vorsitzender:  Hofrat  Prof.  0.  Chiari. 

Schriftführer :  Dr.  Kotier. 

In  der  ordentlichen  Generalversammlung  wurden  für  das 
Jahr  1911  gewählt  als  Präsident  Hofrat  Prof.  Chiari,  Vizepräsi- 
den  Priv.-Doz.  Dr.  W.  Roth,  Sekretär  Priv.-Doz.  Dr.  M.  Hajek, 
Oekonom  Prof.  L.  Rethi,  Bibliothekar  Priv.-Doz.  Dr.  0.  Kahler. 
Schriftführer  Dr.  Braun,  Dr.  0.  Hirsch,  Dr.  J.  Neumann. 
Als  neue  Mitglieder  werden  aufgenommen  Dr.  Erhard  Sueß 
und  Dr.  Karl  T schiaßny. 

In  der  wissenschaftlichen  Sitzung  demonstriert  Privatdozent 
Dr.  J.  Fein  einen  59jährigen  Mann,  bei  dem  wegen  starker 
Schwellung  der  Taschenbänder  tracheotomiert  werden  mußte, 
lieber  die  Natur  der  Wülste  kann  sich  Vortr.  nicht  mit  Bestimmt 
heit  aussprechen,  doch  schließt  er  insbesondere  Tuberkulose  und 

Skleroml  aus.  ,  I 

Prof.  Rethi  spricht  sich  für  eine  einfach  entzündliche 
Infiltration  der  Mukosa  und  Submukosa  aus. 

Dr.  Braun  stellt  eine  Tonsillarsklerose  vor.  Anfangs  war 
das  Bild  einer  Angina  phlegmonosa  vorhanden.  Der  auftretende 
Bubo,  das  sich  entwickelnde  speckige  Ulkus,  der  Spirochäten¬ 
befund  und  ein  makulo-  papulöses  Syphilid  sicherten  die  Dia 
gnose. 

Dr.  Mar  sch ik  zeigt  einen  Speichel’stein  aus  dem  Ductus 
submaxillaris ;  er  wurde  nach  Schlitzung  der  Schleimhaut  und 
des  Duktus  herausbefördert  und  besteht  aus  einer  leicht  zer¬ 
bröckelnden  schalenartig  aufgebauten  Masse. 

Hofrat  Prof.  0.  Chiari  berichtet  über  einen  Knochen  im 
linken  Bronchus,  der  vor  fünf  Wochen  aspiriert  wurde,  anfangs 
Husten,  Brechreiz,  nach  zwei  Wochen  Bronchoskopie  ;  die  Bron¬ 
choskopie  ergab  einen  gelblichen  Fremdkörper  2  cm  unter  der 
Bifurkation.  Entfernung  per  vias  naturales.  Heilung  nach  einigen 
Tagen. 


Programm 

der  am 

Freitag  den  28.  April  19x1«  um  7  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Prof.  Dr.  L.  Unger  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Dr.  Emil  Beck  (Chicago)  als  Gast :  Ueber  Wismutbehandlung 

kalter  Abszesse. 

2.  Dr.  Demetrius  Cliilaiditi  (als  Gast):  lieber  willkürliche  1 
Hebung  von  Abdominalorganen  und  ihren  Einfluß  auf  die  Darmtätigkeit. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Hans  Salzer,  Robert 
Breuer,  K.  Ullmann,  A.  Kronfeld,  F.  Dimmer. 

Um  die  recl»t*eitijfe  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen, 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerltungcn 
dem  Schriftführer  noch  am  Sltzungsabend  zu  übergeben. 

Bergmeister,  Paltauf. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  findet  im  Hörsaale  der  Klinik  No  or  den 
Donnerstag  den  27.  April  1911,  um  7  Uhr  abends,  statt. 
(Vorsitz:  Prof.  Dr.  v.  Noorden.) 

Programm: 

1.  Demonstrationen  angemeldet:  Dr.  Zak,  Dr.  Landesberg. 

2.  Dr.  Jonas:  Ueber  die  Abhängigkeit  der  Darmmotilität  vom 

Verhalten  des  Magens  (speziell  von  seinem  Säuregrad).  . 

3.  Dr.  Cliilaiditi:  Zur  Palpationstechnik  des  Abdomens,  zugleich 

ein  Beitrag  zur  Mobilitätsprüfung  der  Abdominalorgane  (mit  Demon¬ 
stration). _ Das  Präsidium. 

Wiener  laryngo-rhinologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Mittwoch  den  3.  Mai  1911,  7  Uhr  abends,  1;! 

Hörsaale  der  Klinik  Hofrat  Chiari. 

a)  Außerordentliche  Hauptversammlung  (Vorlage  einer  Ge¬ 
schäftsordnung).  . ,  , 

b)  Wissenschaftlicher  Teil.  Eine  Demonstration  hat  angemeidei 

Dr.  M.  Weil:  Ueber  einen  Fall  von  Trachealstenose  und  dessen  Ke 
handlung.  _ ^  cTjrj 

Wiener  dermatologische  Gesellschaft. 

Einladung  zu  der  am  3.  Mai  1911  stattfindenden  Sitzung  (halb  6  Bhi 
abends,  Hörsaal  Klinik  Riehl). 

Tagesordnung: 


Demonstrationen  von  Kranken. 

Mucha  juu. 


Finger. 


Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Kubasta. 

Druck  von  Bruno  Bartelt,  .Wien  XVIII.,  Theresiengaase  8. 


Verlag  von  Wilhelm  Braumitller  in  Wien. 


Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

0  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S.  Exner,  E.  Finger,  M.  Gruber,  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko.  H.  Meyer.  J.  Moeller  K.  v.  Noorden 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 


Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser. 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k-  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 


Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 


XXIV  Jahrg.  Wien,  4.  Mai  1911  Nr  18 

-  -   


INHALT: 


1.  Origiualartikel:  1.  Physiologische  Wirkungen  des  Höhen¬ 
klimas.  S.  619. 

2.  Zur  Pathogenese  des  Kretinismus.  Von  Oberbezirksarzt 
Dr.  Arnold  Flinker,  Czernowitz.  S.  631. 

3.  Aus  der  mährischen  Landesgebäranstalt  in  Olmiitz.  (Direktor  : 
Prof.  Dr.  Eduard  Frank.)  Ueber  einen  Fall  von  Tetanie  nach 
Adrenalininjektionen  bei  Osteomalazie.  Von  Dr  Richard 
Marek,  Frauenarzt  in  Proßnitz.  S.  633. 

4.  Aus  der  IV.  med.  Abteilung  des  allgemeinen  Krankenhauses 
in  Wien.  (Vorstand :  Prof.  Koväcs.)  Zum  Vorkommen  von 
„Herzfehlerzellen“  im  Harn.  Von  Dr.  Ewald  Koller,  Assistenten 
der  Abteilung.  S.  636. 

5.  Aus  dem  pathologischen  Institut  der  königl.  Universität  Turin. 
(Vorstand :  Prof.  B.  Morpurgo.)  Ueber  die  Meiostagminreaktion 
bei  den  weißen  Ratten  nach  Exstirpation  der  beiden  Neben¬ 
nieren.  Von  Dr.  Franco  Cattoretti.  S.  637. 


Physiologische  Wirkungen  des  Höhenklimas.*) 

Von  Prof.  A.  Durig. 

Es  gereicht  mir  zu  großer  Ehre,  in  dieser  festlichen 
Versammlung  das  Wort  ergreifen  zu  dürfen  und  bei  diesem 
Vnlasse  in  einer  Uebersicht  über  die  Versuchei  berichten 
n  können,  die  meine  Mitarbeiter  und  mich  schon  seit 
ahren  beschäftigen  und  deren  Ergebnisse  in  dem  86.  Bande 
ler  Denkschriften  der  Wiener  Akademie  ausführlich  behan- 
lelt  sind. 

Wenn  ein  Wanderer,  der  ziel  bewußt  seine  Bahn  ver- 
olgt,  ein  tüchtiges  Stück  Weges  zurückgelegt  hat,  so  hält,  er 
n  und  blickt  zurück  auf  den  durchmessenen  Raum,  bald 
ber  schweift  sein  Blick  wieder  vorwärts,  dem  Ziele  ent- 
egen,  das  er  erreichen  will  und  er  wägt  die  Kraft  und  wählt 
ich  den  Weg,  der  ihn  führen  soll. 

Ein  tüchtiges  Stück  Weges  ist  es  auch,  das  die  Phy- 
iologie  in  der  Frage  nach  der  Wirkung  des  Höhenklimas 
uf  den  Menschen  zurückgelegt  hat  und  es  lohnt  sich  darum 
mhl  der  Mühe,  auch  hier  ein  wenig  Rückschau  zu  halten, 
amit  wir  die  Bahn  richtig  erkennen,  auf  der  die  Forschung 
ich  weiterbewegen  soll. 

Ueberblicken  wir  die  ältere  Literatur  über  unseren 
'egenstand,  so  scheint  auf  den  ersten  Blick  so  vieles  —  ,ja 
ist.  alles  —  geklärt.  Eine  Fülle  von  Gesetzen  liegt  schein- 
ar  sonnenklar  zutage  und  doch  hat.  sich  in  den  letzten 

*)  Vortrag,  gehalten  in  der  Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte 

24.  März  1911. 


II.  Referate:  Die  Krankheiten  der  Prostata.  Von  Prof.  Doktor 

A.  v.  Frisch.  Ref.  Schloffer. —  Chirurgische  Krankheiten 
der  unteren  Extremitäten.  Von  Prof.  M.  v.  Brunn.  Leit¬ 
faden  für  die  chirurgische  Krankenpflege.  Von  Dr.  med.  John 
Blumberg.  Ref.:  Siegmund  Erdheim.  —  Ueber  die  Be¬ 
wertung  des  „sozialen  Faktors“  in  der  Indikationsstellung  zur 
tubaren  Sterilisation  der  Frau.  Von  H.  Offer  geld.  Ref.: 
Bucura. 

III.  Ans  verschiedenen  Zeitschriften. 

IV.  Vermischte  Nachrichten. 

V.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreöberichte. 


Jahren  gar  manches  Fundament  als  morsch  erwiesen  und 
manches  Gesetz  ist  zum  zufälligen,  nicht  typischen  Befund 
geworden.  Doch  dies  bedeutet  keinen  Rückschritt,  denn 
festgefügt  muß  der  Rau  der  Erkenntnis  sein  und  darum 
fördert  ihn  auch  jedes  Steinehen,  sei  es  noch  so  klein,  selbst 
dann  noch,  wenn  es  nur  älteres  Material  durch  besseres 
ersetzt. 

Mag  die  Theorie,  mag  kunstvolle  naturphilosophische 
Wortakrobatik  und  Spekulation  dem  Wissen  von  Heute 
voraneilen,  das  Künftige  ahnend,  oder  mag  sie,  das  Wissen 
von  gestern  nicht  einmal  fassend,  auf  Irrwege  leiten,  immer 
fällt  die  Entscheidung  erst  im  Experiment.  In  diesem  ent¬ 
hüllt  die  Natur  ihre  wahre  herrliche  Form;  befreit  von.  be¬ 
engender  Theorie,  verweist  sie  uns  im  Resultat  wieder  auf 
den  richtigen  Weg,  der  meist  auch  der  einfachste  ist. 

Tappend  im  Dunkeln  legen  wir  unserer  großen  Lehr¬ 
meisterin  die  Fragen  vor,  die  sie  freimütig  beantwortet. 
Doch  leicht  ist  das  Fragen,  schwerer  das  Verstehen  ider 
Antwort,  besonders  dann,  wenn  wir  nicht  weise  maßhaltend 
zuviel  auf  einmal  gefragt  haben.  W ie  oft  müssen  wir 
zufrieden  sein,  nur  die  Antwort  zu  kennen,  ohne  sie  deuten 
zu  können!  Froh  genug,  auf  der  so  (gewonnenen  empirischen 
Erfahrung  weiter  bauen  und  weiter  fragen  zu  können. 

Auf  solcher  Empirie  fußt  auch  heute  die  Höhen¬ 
klimatherapie  und  solche  Erfahrung  ist  es,  welche  in  das 
Rewußtsein  der  breiten  Massen  gedrungen,  diese  über¬ 
zeug!  hat,  daß  der  Höhenaufenthalt  von  günstiger  Wirkung 
auf  den  Gesunden,  aber  auch  auf  gar  manchen  Kranken  sei. 


620 


WIENEU  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  18 


Welche  Theorie  hätte  es  auch  vermocht,  wenn  [nicht 
die  empirische  Erfahrung  gewesen  wäre,  die  Hunderttau¬ 
sende  jährlich  in  die  Berge  zu  führen,  oder  welche  Lehr¬ 
meinung  hätte  die  Wintersportplätze  bevölkert  und  die 
Listen  der  alpinen  Vereine  gefüllt?  Immer  und  immer 
wieder  hat  die  eindeutige  Antwort  der  Natur  die  Heim¬ 
kehrenden  ausgesendet  als  Verkünder  der  Herrlichkeit,  die 
sie  geschaut  und  immer  neue  Scharen  führten  diese  Send¬ 
boten  hinaus,  die  alle  dem  Lichte  der  Alpenhöhen  zu¬ 
strebten,  Gesundheit,  Kraft  und  Erholung  suchend  —  und 
findend  —  die  neu  gestählt, 'nur  ungern  wieder  aus  dem 
Bannkreis  schieden,  in  dem  sie  so  glücklich  waren. 

Doch  selbst  dieser  Erfahrung  stand  die  Theorie  ent¬ 
gegen,  war  es  doch  einem  Rostocker  Gelehrten  Vorbehalten, 
vor  der  Luft  der  Alpen  zu  warnen,  da  diese  ungesund  sein 
müsse,  weil  sie  zwischen  Bergen  eingeschlossen,  dumpf, 
feucht  und  schädlich  sei. 

Zu  groß  ist  die  Antwort  der  Natur,  als  daß  wir  sie 
auf  einmal  verstehen  könnten.  Dem  Theoretiker  kann  es 
auch  nicht  genügen,  sie  bloß  zu  kennen  und  bloß  zu  wissen, 
daß  nach  tausendfältiger  Erfahrung  die  Wirkung  des  Höhen¬ 
klimas  eine  günstige  sei.  Ihm  drängt  sich  das  „Warum“ 
entgegen  und  mit  Recht  trachtete  er  durch  Vereinfachung 
der  Fragestellung  das  Wesen  der  Wirkung  zu  ergründen, 
um  eindeutige,  klare  Antworten  von  der  Natur  zu  erhalten. 

.Manches  haben  wir  auf  diesem  Wrege  erfahren,,  gar 
manches  ist  uns  dunkel  gehlieben  und  soll  erst  erforscht 
werden.  Wollen  Sie  mir  nun  gestatten,  in  einem  Ueberblick 
wenigstens  die  Grundzüge  der  Wirkungen  des  Höhenklimas 
auf  den 'Gesunden  zu  entwerfen.  Mögen  Sie  es  mir  dabei 
nicht  als  eine  Unterschätzung  der  verdienstvollen  Arbeiten 
der  anderen  Autoren,  die  auf  diesem  Gebiete  gearbeitet 
haben,  auslegen,  wenn  in  dieser  Besprechung  unsere 
eigenen  neueren  Untersuchungen  (schematisierend  im  Vorder¬ 
grund  der  Darstellung  stehen  werden,  da  doch  ein  tieferes 
Eindringen  in  die  Literatur  in  der  mir  zugemessenen  Spanne 
Zeit  nicht  möglich  wäre. 

Es  dürfte  sich  lohnen,  vor  einem  Eingehen  auf 
die  spezifischen  Wirkungen  des  Höhenklimas  den  Blick 
jenen  klimatischen  Faktoren  zuzuwenden,  deren  Einflüsse 
wir  auch  im  Flachlande  verfolgen  können,  um  losgelöst  aus 
dem  Gesamtkomplex  der  Erscheinungen,  die  der  Mensch 
in  Höhenstationen  zeigt,  einzig  jene  Veränderungen  und 
deren  Ursachen  bewerten  zu  können,  die  als  ausschließlicher 
Ausdruck  einer  Höhenwirkung  aufzufassen  sind. 

* 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  „Luft  und  Lieht.“  die 
günstigen  Heilerfolge  in  den  Höhenkurorten  bewirken, 
schreibt  Speck  in  einem  seiner  Aufsätze.  Wenn  auch  an 
dieser  Wahrheit  auf  den  ersten  Blick  niemand  zweifeln 
dürfte,  so  muß  doch  erst  im  Experiment  die  Wirkung  von 
Luft  und  Licht  getrennt  und  gesondert  der  Klärung  zuge¬ 
führt  werden,  um  erkennen  zu  können,  ob  diese  Annahme 
zu  Recht  besteht  und  welcher  Anteil  der  Wirkung  des 
Lichtes,  welcher  jener  der  Luft  zuzuschreiben  sei. 

Fragt  man  nach  den  Unterschieden  in  der  Zusammen¬ 
setzung  der  Luft,  so  findet  man,  daß  diese  verschwindend 
kleine  sind.  Selbst  dann,  wenn  man  die  Luftproben  in  Fä- 
brikszentren,  auf  freiem  Felde  oder  im  Walde  entnimmt, 
ja  auch  dann,  wenn  man  die  Luft  im  höchsten  Hochgebirge 
untersucht,  findet  man  immer  dieselben  Zahlen  für  den 
prozentuellen  Gehalt  an  Kohlensäure  und  Sauerstoff  wieder. 
Die  Unterschiede  im  Ozongehalt  der  Luft  scheinen,  so  sehr 
man  diesen  eine  Bedeutung  beizumessen  glaubte,  für  den 
Menschen  vollkommen  belanglos  zu  sein,  dient  uns  doch 
der  Ozongehalt.  der  Luft  heute  nur  mehr  als  ein  indirekter 
Indikator  für  die  Verunreinigung  der  Luft  mit  Staub.  Voll¬ 
kommen  in  Unkenntnis  sind  wir  darüber,  ob  die  Unterschiede 
in  den  übrigen,  gasförmigen  Bestandteilen  der  Atmosphäre 
von  einem  Einfluß  auf  den  Ablauf  physiologischer  Vorgänge 
im  Menschen  sind. 

nfs  wesentlich  kommen  daher  nur  die  Verunreinigun¬ 
gen  der  Luft  durch  Bakterien,  Staub  und  Gase  in  Betracht, 


durch  die  die  Schleimhäute  geschädigt  werden.  Doch  selbst 
diese  Schädlichkeiten  dürfen  in  der  Luft  der  Städte  nicht 
allzusehr  überschätzt  werden,  denn  trotz  der  staubfreien 
Luft  der  Hochtäler  folgt  die  Infektionsgefahr  dem  Menschen 
bis  in  die  höchsten  Gebirge.  An  Stelle  der  Granitsplitter 
und  der  Tuberkulose  tritt  bei  ungenügender  Wetterfestig¬ 
keit  die  Gefahr  der  sogenannten  Erkältungskrankhei  ten  in  den 
Vordergrund  und  Pneumonie  wie  septische  Angina  fordern 
auch  in  der  Höhe  Non  Tausenden  von  Metern  noch  ihre  Opfer. 
Selbst  die  Tuberkulose  hat  manche  Alpendörfer  heute  schon 
so  durchseucht,  daß  man,  sorglos  gemacht  durch  die  lleber- 
zeugung  vollständiger  Sicherheit,  unter  ungünstigen  Verlmli- 
nissen  der  Reinlichkeit  und  Wohnungshygiene,  dort  nichl 
minder  gefährdet  ist,  als  in  der  Großstadt  und  Jahr  für 
Jahr  beobachtet  man  im  Zusammenleben  mit  dem  se߬ 
haften  Alpenvolk,  im  Sommer  endemisch  ablaufende  Erkran¬ 
kungen  infektiöser  Natur,  die  oft  recht  schweren  Charakter 
aufweisen.  Es  scheint  auch  recht  fraglich,  wie  eine  Sta¬ 
tistik  der  Sterblichkeit  dann  ausfallen  würde,  wenn  man 
nur  jene  Leute  in  Stadt  und  Land  in  Parallele  stellen  würde, 
die  unter  sonst  gleich  günstigen  Verhältnissen  der  Ernäh¬ 
rung,  der  Wohnung  und  körperlichen  Uebung  gelebt  haben.  i 
Man  muß  bedenken,  daß  ein  solches  Elend,  wie  es  in  den  ' 
Massenquartieren  der  meist  unterernährten  ärmeren  Stadt¬ 
bevölkerung  zur  Steigerung  der  Mortalität  führt,  niemals  und 
selbst  nicht  bei  den  allerärmsten  Bauerntaglöhnern  in  den 
Alpenländern  getroffen  wird. 

So  selbstverständlich  es  ist,  daß  der  Wegfall  der  stän¬ 
digen  Reizung  der  Atmungsorgane  durch  den  Staub  der 
Großstadt  günstig  wirken  muß,  iso  bedeutungsvoll  dürfte  aber 
auch  die  Tatsache  sein,  daß  der  ständige  Kampf  gegen  die  : 
Schädlichkeit  einer  Atmosphäre  auch  die  Widerstands¬ 
fähigkeit  und  Reaktionsfähigkeit  gegen  diese ! 
Schädigung  steigern  muß  und  so  den  geborenen  Städter  mit 
Schutzeinrichtungen  ausstattet,  die  dem  Höhenbewohner 
fehlen. 

Die  erhöhte  Gefahr  der  Infektion  mit  Tuberkulose  bei 
den  Alpenbewohnern  und  den  Bosniaken,  wenn  sie  in  die ' 
Großstadt  kommen,  die  häufigen  Erkrankungen  an  Tuber¬ 
kulose  hei  den  Bewohnern  der  Hoch-Anden,  wenn  sie  aus 
ihren  Berghöhen  ans  Meer  herabsteigen,  ja  die  Jahr  für 
Jahr  wiederkehrenden  Katarrhe  bei  der  Rückkehr  nach 'Wien 
nach  längerem  Landaufenthalt,  sind  wohl  Zeichen  dafür, 
welche  Bedeutung  dieser  Anpassung  und  Steigerung  der 
Widerstandsfähigkeit  beim  Städter  zukommt,  die  dem  Land¬ 
bewohner  fehlt.  Ueberraschend  ist  ja  auch  die  Erfahrung, 
daß  abgehärtete  Städter  und  Stadtkinder  vielfach  am  Lande 
atmosphärischen  Schädlichkeiten  gegenüber  weniger  em¬ 
pfindlich  sind,  als  die  Eingeborenen,  deren,  Wetterfestigkeit 
von  den  Stadtbewohnern  wie  von  den  Landleuten  selbst 
meist  weit  überschätzt  wird.  Bezeichnend  scheint  es  auch, 
daß  wir  kaum  irgendwo  die  Bevölkerung  so  einmütig  husten 
hörten,  wie  —  in  der  paradiesischen,  mit  balsamischen  Düften 
durchsättigten,  aber  reizlosen  Luft  Teneriffas.  Wohl  mag 
diese  auf  die  Abheilung  entzündlicher  Prozesse  an  den 
Schleimhäuten  des  Respirationstraktes  zu  glänzenden  Er¬ 
folgen  führen,  keinesfalls  wird  sie  die  Schleimhaut  aber 
widerstandsfähig  gegen  jene  Schädlichkeiten  der  Atmosphäre 
machen,  denen  sich  der  Mensch  auf  die  Dauer  nie  voll¬ 
kommen  zu  entziehen  vermag. 

Die  Unterschiede  im  Sättigungsgrade  der  Luft  mit 
Wasserdampf  sind  wesentlich  geringer,  als  man  erwarten 
möchte,  denn  es  finden  sich  Werte  für  die  relative  Feuch¬ 
tigkeit,  wie  wir  sie  im  Höhenklima,  ja  selbst  auf  dem  Monte! 
Rosa  fanden,  ebenso  in  der  Ebene,  am  Meere  und  in 
Großstädten.  Sie  können  also  nicht  die  Ursache  der  Wir¬ 
kungen  auf  den  Menschen  sein,  die  man  im  Höhenklima 
beobachtet. 

Innig  verknüpft  mit  dem  Einflüsse  der  Feuchtigkeit 
ist  jener  der  Temperatur  und  von  dem  Verhalten  beider 
zusammen  hängt  ja  das  Urteil  über  die  Annehmlichkeit  ernes 
Klimas  ab.  Folgt  der  erschlaffenden  Hitze  des  Tages  die 
kurze  dunstige  Nacht,  so  erlahmt  physische  und  geistige 


Ar.  18 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


(121 


•beilskrall,  die  Muskelspannungcn,  die  Bewegungen  wer- 
n  eingeschränkt  und  der  Tagesumsatz  sinkt.  Neu  belebt 
wachen  wir  zu  reger  Arbeitslust,  wenn  wir  den  heißen 
mem  der  Stadt  entfliehen.  Die  erquickende  Kühle  der 
ich!  verwischt  selbst  die  lähmende  Wirkung  des  heißesten 
nnendurchglühten  Tages.  So  ist  es  selbstverständlich,  daß 
i  Höhe  des  Gesamtumsatzes  mit  dem  Wechsel  des  Klimas 
'ischen  Stadt  und  Land  und  unter  dem  Einflüsse  ieb- 
fterer  Bewegung  wachsen  muß.  Darin  liegt  jedoch  nicht 
r  Schwerpunkt  der  Frage.  Für  die  Klärung  der  Wirkung 
r  Temperatur  im  Klima  auf  den  Stoffumsatz,  ist  es  nötig, 

.  s  dem  Gesamtkomplex  des  Umsatzes  jenen  Teil  loszu- 
;en,  der  für  die  Deckung  variabler  Körperarbeit  ver- 
.  sgabt  wird  und  den  Grund-  oder  Erhaltungsumsatz  des 
irpers  für  sich  zu  bestimmen,  der  unter  allen  Umständen 
stritten  werden  muß,  dann  läßt  sich  erst  entscheiden, 
das  Klima  anregend  auf  die  Verbrennungsvorgänge  im 
i.rper  eingewirkt  habe,  oder  ob  die- Veränderung  im  Stoff- 
lsatz  nur  als  Folge  von  verschieden  großer  Leistung  der 
iskulatur  aufzufassen  sei. 

Die  nachstehenden  Tabellen  mögen  zur  Erläuterung  der  Ver¬ 
misse  dienen.  Sie  enthalten  Werte  über  den  Erhaltungsuinsatz, 
Ehe  aus  \ ersuchen  an  Zuntz,  Reichel  und  mir  stammen, 
wie  unter  ähnlichen  Bedingungen  ausgeführte  Beobachtungen 
l  Lindhard,  Geppert  und  Eijkman,  in  denen  jedoch 
Versuchspersonen  nicht  frei  von  Muskeilspannungen  gewesen 
■  l  dürften. 


Ort 

COa  cm3  pro  kg  und  Stunde 

Batavia . 

236  (Malayenj 

»  ... 

228  (Europäer) 

Deutschland  ... 

234 

N0.  Grönland  .... 

236 

Ort 

Jahreszeit 

Cal.  pro  m2 

Durig 

und  Minute 

Reichel 

Vien . 

Juli 

0-542 

0-572  j 

» 

Januar 

0-540 

0-576 

März 

0-545 

0-557 

eramering  1000  m 

Januar 

0-585 

0563 

Jagna  .  .  1200  » 

September 

0550 

0-557 

porner  A.  1320  » 

Juli 

0-580 

— 

Wie  die  Tabellen  beweisen,  war  der  Erhaltungsumsatz  in 
Tropen  genau  gleich  jenem,  der  bei  Europäern  gefunden  wurde, 
selbst  im  Nordosten  Grönlands,  im  arktischen  Klima,  konnte 
‘dgt  werden,  daß  die  Lebensflamme  unter  der  Wirkung  der 

■  te  nicht  lebhafter  brennt  als  in  der  Glutsonne  Indiens.  Ent¬ 
ladend  geht  daraus  hervor,  daß  höhere  Umgebungswärme  nicht 
pend,  niedere  Temperatur  der  umgehenden  Luft  nicht  beför- 

id  auf  den  Grundumsatz  des  Körpers  im  Sinne  einer  chenu- 
*n  Regulation  eingewirkt  hat. 

Auch  Sommer  und  Winter  setzt  keinen  Unterschied, 

■  m  wir  den  Erhaltungsumsatz  berücksichtigen.  B.  wie 
•gingen  während  des  ziemlich  strengen  Winters  1906/07 

h  zur  Zeit,  als  das  Thermometer  auf  —  20°  C  sank,  im 
lachen  Rock  und  genau  denselben  Kleidern  und  Unter- 
dem,  die  sie  im  Juli  in  Wien  und  in  der  Po  -  Ebene 
1  agen  hatten.  Im  ungeheizten  Zimmer  ließen  sie  die 
•  te  während  Tag  und  Nacht  ausgiebig  auf  sich  wirken 

I  dennoch  sind  die  Werte  für  den  Erhaltungsuinsatz  im 
nmer  wie  im  Winter  ganz  analoge  u.  zw.  sowohl  dann, 
in  wir  die  Beobachtungen  in  Wien  oder  jene  aus  den 
efähr  gleich  hoch  gelegenen  Höhenstationen  miteinander 
gleichen. 

Lehrreich  ist  wohl  auch  das  Beispiel  der  Versuche, 
ich  gemeinsam  mit  meinem  hochverehrten  Lehrer  und 
unde  Zuntz,  auf  der  Seefahrt  ausführte.  In  den  ein- 
(ien  Stationen,  in  Berlin,  wie  auf  dem  Schiffe,  im 
i  von  Biscaya,  vor  Lissabon  und  an  der  Westküste 
ikas,  begegnen  wir  immer  wieder  denselben  Werten  für 
'  Erhaltungsumsatz,  der  sich  dadurch  in  Meereshöhe,  bei 

■  und  derselben  Versuchsperson,  als  eine  ganz  außer- 
cnllich  konstante  Größe  darstellt.  Es  kann  demnach  als 


Lai.  pro  Quadratmeter  und  Minute 
Zuntz 


Berlin .*  1  0-534 

Wien . 

Golf  von  Biskaya .  0-538 

|  vor  Coruna . .  .  0568 

Bucht  von  Vigo  . !  0  545 

Lissabon .  0552 

30u  Breite .  0  544 

bestimmt  feststehend  erachtet  werden,  daß  der  Faktor  Tem- 
peratur  an  und  für  sich  im  Klima  die  Höhe  der  Verbrennungs¬ 
vorgänge  in  Körperruhe  nicht  beeinflußt. 

In  sich  selbst  bergen  die  beschriebenen  Versuche  noch 
das  weitere,  ganz  interessante  Ergebnis,  daß  die  Eigentüm¬ 
lichkeiten  des  Seeklimas  und  die  besonderen  während  einer 
Seefahrt  herrschendenRedingungen,  ja  selbst  Zeichen  leichter 
Erkrankung  an  der  Seekrankheit  (D.  hatte  unter  dieser 
etwas  zu  leiden),  ebensowenig  einen  Einfluß  auf  die  Höhe 
der  Verbrennungsvorgänge  ausgeübt  haben,  wie  die  größere 
Sättigung  der  Luft  mit.  Wasserdampf  oder  der  mögliche 
Salzgehalt  der  eingeatmeten  Luft. 

}  Ich  möchte  an  dieser  Stelle  nicht  unerwähnt  lassen, 
daß  die  Tropenbewohner  sich  nach  den  neuesten  Unter¬ 
suchungen  Glogners  und  Caspar  is,  auch  in  bezug 
auf  den  Stoffwechsel  nicht  von  den  Bewohnern  der  ge¬ 
mäßigten  Zonen  unterscheiden.  Es  zeigt  sich,  daß  die  Nah¬ 
rungsaufnahme,  die  Ausnützung  der  Kost  in  allen  ihren 
Teilen,  wie  der  Nahrungsbedarf  und  Appetit  der  Tropen¬ 
bewohner  ganz  dem  der  Europäer  entspricht,  ja  selbst  die 
Annahme,  daß  Fett,  Eiweiß,  ja  sogar  Alkohol  in  mäßigen 
Mengen  dem  Tropenbewohner  schädlicher  sei  als  dem 
Menschen,  der  in  kaltem  Klima  lebt,  hat  sich  nicht  be¬ 
stätigt. 

Sieht  man  die  roten  Backen  schlittschuhlaufender 
Kinder,  so  möchte  man  meinen,  daß  dem  Winde  eine  an¬ 
regende  \\  irkung  auf  den  Stoffwechsel  zuzuschreiben  -sei, 
doch  war  ein  solcher  Einfluß  in  den  Versuchen,  die  ich 
gemeinsam  mit  Zuntz  anstellte,  nicht  nachzuweisen.  Wir 
hatten  uns  im  Firne  des  Grenzgletschers  eingegraben 
und  ließen  den  eisigen  Wind  über  uns  streichen,  der  die 
Salzlösungen  in  unseren  Sammelröhren  noch  zum  Gefrieren 
brachte;  wir  lagen  auf  dem  Dache  der  Capanna  Margherita, 
windgeschützt,  in  wohliger,  behaglicher  Wärme  und  doch 
waren  die  V  erte,  die  wir  für  den  Umsatz  ermittelten,  über¬ 
einstimmende.  Die  entgegengesetzte  Angabe  aus  dem  Respi¬ 
rationsapparat  ist  wohl  unzweifelhaft  auf  die  Entstellung 
der  betreffenden  Versuche  durch  unkontrollierbare  Muskel¬ 
arbeit  zurückzuführen,  was  man  auf  Grund  der  betreffenden 
Werte  unschwer  beweisen  kann,  zudem  können  die  Wir¬ 
kungen,  die  in  einer  „zugig“  gemachten  Respirationskammer 
gefunden  werden,  keinesfalls  mit  jenen  eines  Windes  im 
Freien  verglichen  werden. 

Wesentlich  scheint  nur  der  Einfluß  eines  Windes  zu 
sein,  nämlich  jener  des  Föhns,  der  so  manches  unserer 
Alpentäler  im  Sturm  durchbraust  und  dem  Klima  ganzer 
Ortschaften  einen  eigenen  Charakter  aufprägt.  Wir  ver¬ 
danken  Traber  t  eine  interessante  Studie  über  die  physio¬ 
logischen  Wirkungen  dieses  Windes.  Die  ganze  Volksmei¬ 
nung  ist  dort,  wo  der  Föhn  sich  geltend  macht,  davon  über¬ 
zeugt,  daß  die  Beschwerden,  wie  Kopfschmerz,  Unlust  und 
Unfähigkeit  zur  Arbeit,  Mattigkeit  und  Appetitlosigkeit,  die 
sich  ,  bei  vielen  Leuten  vor  dem  Eintritt  einer  Föhnperiode 
ausbilden,  auf  die  Wirkung  der  Südwinde  znrückzu/führen 
sei.  „Die  Kinder  sind  wieder  schrecklich  laut,  es  kommt 
der  Wind“,  ist  eine  geläufige  Redensart  und  die  Tatsache, 
daß  die  epileptischen  Anfälle,  die  Erregungszustände  hei 
Kranken,  sich  vor  Ausbruch  einer  Föhnperiode  häufen,  ist 
nach  den  exakten  Feststellungen  Traberts  auch  vom 
skeptischesten  Theoretiker  nicht,  mehr  zu  bestreiten;  man 
wird  daher  auch  an  der  Angabe  praktischer  Aerzte  in 
töhngegenden  kaum  mehr  zweifeln,  nach  denen  die  Todes¬ 
fälle  moribunder  Personen  sich  gerade  in  den  Föhnperioden 


Durig 


0553 

0-537 

0538 

0-554 

0-551 

0541 


622 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  18 


häufen.  Es  ist  gewiß  nicht  uninteressant,  aus  den  Beobach- 
I  ungen  Traberts  zu  entnehmen,  daß  die  Leistungen  der 
Schüler,  deren  Fleiß  und  Aufmerksamkeit  zur  Zeit  des 
Herannahens  von.  Baromelerdepressionen  wesentlich  schlech¬ 
tere  waren,  als  an  Tagen  mit  hohem  Barometerstand.  Vom 
physiologischen  Standpunkte  aus  ist  cs  unwahrscheinlich, 
daß  die  Höhe  des  Luftdruckes  oder  die  Veränderung 
im  Drucke  dabei  eine  entscheidende  Rolle  spielt,  denn  man 
muß  bedenken,  daß  zum  Beispiel  bei  einer  Fahrt  mit  der 
Seilbahn  auf  das  Mittelgebirge  wesentlich  größere  Luftdruck¬ 
unterschiede  nicht  nur  ohne  Beschwerden  ertragen,  sondern 
sogar  als  Annehmlichkeit  empfunden  werden.  Da  aber  der 
Einfluß  des  Föhns  unleugbar  besteht  und  auch  eine  Ab¬ 
hängigkeit  des  Befindens  zur  Zeit  eintretender  Depression 
nachgewiesen  ist,  wird  man  wohl  annehmen  müssen,  daß 
es  uns  derzeit  unbekannte  Komponenten  im  Klima  sein 
müssen,  die  für  diese  Wirkung  verantwortlich  zu  machen 
sind.  Eine  solche  V  erschiebung  der  Erklärung  auf  spätere 
Zeit  ist  aber  keineswegs  nur  alsein  bequemes  Zurückweichen 
vor  einer  möglichen  Lösung  des  Problems  zu  betrachten, 
denn  man  muß  bedenken,  daßi  nach  den  jüngsten  Ergeb¬ 
nissen  der  physikalischen  Forschung  wohl  mit  Sicherheit 
in  absehbarer  Zeit  eine  weitere  Fülle  neuer  Tatsachen  zu 
erwarten  ist,  die  bedeutungsvoll  für  die  Physik  der  Atmo¬ 
sphäre,  vielleicht  die  erwünschte  Klärung  bringen  dürfte. 

Pedersen  und  Lehmann  glaubten  übrigens,  in 
einer  umfangreichen  Abhandlung  den  Nachweis  des  Be¬ 
stehens  eines  Einflusses  örtlicher  Barometerschwankungen 
auf  die  Muskelkraft  erbracht  zu  haben,  doch  fehlt  diesen 
Untersuchungen  die  exakte  wissenschaftliche  Durcharbei¬ 
tung,  die  wir  bei  Trabert  finden. 

Ein  weiterer  Faktor  in  der  Wirkung  des  Klimas  ist, 
das  Licht,  dessen  Bedeutung  Rubner  richtig  bemißt,  in¬ 
dem  er  sagt,  daß  von  der  Zahl  der  Sonnenscheinstunden 
hauptsächlich  die  Ausnützbarkeit  eines  Klimas  abhängt.  Be¬ 
kanntlich  hat  Fi  ns  en  angegeben,  daß  unter  dem  Einflüsse 
des  Lichtes  eine  Zunahme  des  Hämoglobins  zustande  komme, 
so  daß  der  Mensch  während  des  Sommers  hämoglobinreicher 
sei  als  während  des  Winters.  Auch  Oer  um  hat  an  Ka¬ 
ninchen  die  Beobachtung  gemacht,  daß  He.lltiere  an  Hämo¬ 
globin  reicher  waren,  als  Dunkeltiere,  doch  steht  diesen 
Angaben  die  Beobachtung  Blessings  von  der  Nansen- 
schen  Nordpolexpedition  gegenüber,  während  welcher  in 
der  Polarnacht  weder  eine  Polaranämie,  noch  eine  Vermin¬ 
derung  des  Hämoglobins  nachgewiesen  werden  konnte.  Auch 
Meyer  und  ebenso  Borissow  konnten  den  Einfluß  des 
Lichtes  auf  die  Blulbildung  nicht  bestätigen.  Neue  Versuche 
Lind  hards  aus  Grönland  sprechen  zwar  wieder  für  eine 
Veränderung  der  Atemmechanik  und  des  Stoffumsatzes  wäh¬ 
rend  der  Polarnacht,  doch  kann  auf  Grund  der  Versuchs¬ 
methodik  dieses  Ergebnis  für  die  Frage  nach  der  Wirkung 
der  Belichtung  nicht  als  einwandfrei  angesehen  werden. 

Bei  intensiver  Belichtung  führten  Zuntz  und  ich 
Schon  im  Jahre  1903  und  weiters  im  vergangenen  Frühjahr 
in  den  Canadas  auf  Teneriffa  Versuche  aus,  an  welch 
letzteren  sich  auch  v.  Schrotte f  beteiligte. 


0*  Verbrauch  pro  Minute  in  cm3 

Durig 

Zuntz 

Oien . 

2623 

246*9 

»  . 

269*6 

242*4 

Margheritahütte  . 

255-7 

284-2 

. 

2730 

272*0 

!  Cafiadas  (Teneriffa)  .... 

287-8 

226-4 

255*0 

244*2 

246*8 

232-5 

• 

2603 

281*6 

235-7 

2447 

238-6 

— 

241-5 

243*8 

264*6 

230-4 

Die  bei  Belichtung  gewonnenen  Werte  sind  feil  gedrucl 
Auf  Col  d’Olen  wie  auf  der  Margheritahütte  und  auf  de 
Grenzgletsoher,  wo  eine  niedere  Temperatur  herrschte,  w. 
nicht  der  geringste  Einfluß  der  Besonnung  auf  den  Umsa 
zu  erkennen.  Dasselbe  gilt  auch  von  den  Beobachtungen  a 
Teneriffa,  in  denen  sich  die  Schwankungen  leicht  durch  <1 
großen  Temporalurdil'forenzon  erklären  lassen.  Bei  Zuut 
bei  dem  die  Belichtung  nur  eine  relativ  kurze  war  Und  P 
tensive  Hitzewirkung  hinlangehalten  wurde,  findet  sich  g,: 
kein  Einfluß  der  Belichtung.  Bei  Durig  ist  der  erste  Wh 
bei  bedecktem  Körper  außergewöhnlich  hoch;  er  findet  seid 
Erklärung  aber  darin,  daß  Durig  mit  einer  dunklen  Dec 
bedeckt,  im  glühenden  Sonnenbrand  lag  und  bei  nahe: 
vollkommen  verhinderter  Wärmeabgabe  wesentlich  übt 
wärmt  wurde.  Die  folgenden  beiden,  bei  55°  Sol.  Then 
ausgeführten  Besonnungen  des  ganzen  Körpers  hatten  ab 
keine  höheren  Werte  für  den  Erhaltungsumsatz  zur  FoL 
als  jenen,  den  wir  nachher  im  bedeckten  Zustand  fanden  (2 
240,  200  cm3);  etwas  niederer  fallen  die  folgenden  beid 
Zahlen  aus  (235  und  238),  was  darin  seine  Erklärung  find 
daß  die  Temperatur  inzwischen  nach  Sonnenuntergang  a 
6°  C  gefallen  war  und  zugleich  auch  eine  Enfcwärmung  d 
bewegungslos  ruhig  liegenden  nackten  Körpers  stattfaij 
die  natürlich  eine  Herabsetzung  des  Erhaltungsumsa.lzj 
zur  Folge  hatte.  In  der  folgenden  Versuchsreihe  deckt  sij 
der  erste  Besonnungsversuch  ganz  mit  dem  Versuche  oh 
Belichtung,  da  diese  aber  eine  volle  Stunde  dauerte  u| 
das  Brennen  der  Haut  recht  fühlbar  wurde,  mag  etwas  -g 
ßere  Unruhe  den  Wert  in  diesem  Versuch  (260-3)  wohl  <j 
wenig  in  die  Höhe  getrieben  haben.  Die  Verbrennung  w 
nämlich  so  stark  gewesen,  daß  sich  die  ganze  Vorderse 
des  Körpers  mit  kleinen  Brandblasen  bedeckte,  in  dei 
Gefolge  eine  Pigmentierung  auftrat,  die  auch  nach  ein« 
Jahre  noch  nicht  verschwunden  ist. 

In  neuester  Zeit  hat  man  auch  die  Vermutung  auf 
stellt,  daß  das  Potentialgefälle  und  die  Luftioi 
sation  von  großer  Bedeutung  für  die  Wirkung  des  Höhl 
klimas  seien.  Zu  dieser  Annahme  trug  die  Angabe  bei,  di 
Bergkrankheit  besonders  zur  Zeit  von  Gewittern  und 
Stellen  beobachtet  wurde,  an  denen  sich  mehr  oder  inind 
stagnierende  Luft  findet,  ausgehend  von  der  Erfahrung,  d 
an  solchen  Stellen  ausgesprochene  Unipolarität  gemes> 
wurde.  Schon  im  Jahre  1903  konnten  Zuntz  und  ich  f( 
stellen,  daß  ein  Zusammenhang  zwischen  dem  Auftret 
der  Bergkrankheit  und  der  Ionisation  oder  der  Höhe  t; 
Polentialgefälles  nicht  nachweisbar  sei. 

Auch  unsere  neuen  Versuche  aus  dem  Jab 
1906,  welche  mit  verbesserter  Methodik  durchgefü 
wurden,  ließen  keinen  Zusammenhang  mit  diesen 
scheinungen  erkennen.  Dem  steht  jedoch  die  Angfj 
von  Knoche  gegenüber,  der  aus  dem  Umstande,  d 
er  in  einem  engen,  wesentlich  tiefer  gelegenen  Tale  be) 
krank  wurde,  während  er  auf  5000  m  nicht  erkrankt  w: 
schließt,  daß  Ionisation  die  Ursache  der  Erkrank  mg  d 
die  auch  in  La  Paz  in  manchen  engen,  steilen  Straf 
besonders  leicht  auf  treten  soll.  Messungen  und  ßeobat 
tungen  Ducceschis  aus  den  Anden,  die  der  allerj tings 
Zeit  entstammen,  beweisen  aber  entschieden,  daß'  kein  , 
sammenhang  zwischen  Ionisation,  Potentialgefälle  •' 
Höhenwirkung  nachgewiesen  werden  könne.  Auch  auf  d 
Pik  von  Teneriffa  sollte  nach  Knoche  die  hohe  Ionisat 
besonders  leicht  Bergkrankheit  hervorrufen.  Wir  selbst  ' 
krankten  daselbst  auch  bei  einem  recht  forcierten  Aj 
und  Abstieg  nicht  und  ebensowenig  in  der  Höhle  <| 
Pik,  in  der  doch  ganz  besonders  hohe  Unipolarität  zu 
warten  gewesen  wäre.  Daß  beim  Ungewöhnten  das  V 
schieren  in  mehr  als  3500  m  Höhe,  an  der  heißen,  sonrüt: 
Lehne  des  Pik  und  die  anstrengende  Muskelarbeit  b( 
Waten  durch  den  rutschigen  Schutt  und  Bimstein  an  i 
für  sich  sehr  leicht  die  Bedingungen  für  das  Auftre 
von  Bergkrankheit  schaffen  kann,  ist  wohl  nicht  zu 
zweifeln,  es  kann  darum  an  diesem  Orte  das  Auftreten  \ 
Bergkrankheit,  nicht  wundernehmen. 


Nr.  18 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


623 


Bemerkenswert  isl  übrigens  die  Talsache,  daß  noch 
emals  beschrieben  wurde,  daß  in  den  Kellern  der  hoch- 
•legenen  Orte  von  Südamerika  oder  Tibet  oder  in  den 
»chgclegenen  Bergwerken,  wo  man  doch  ganz  besonders 
»he  Ionisations  werte  erwarten  sollte,  die  Bergkrankheit 
ichter  eintreten  soll,  als  an  anderen  Orlen.  Von  verscliie- 
>nen  Autoren  wird  übrigens  das  von  Knoche  beschrie- 
■ne  Auftreten  der  Puna  in  Südamerika  zu  einem  beträch I- 
hen  Teile  auf  Wirkungen  zurückgeführt,  die  mit  dem 
nßen  Gehall  der  Gesteine  an  Antimon  und  Arsen  zu 
inmenhängen  sollen.  Versuche  über  den  Einfluß,  der  Ein- 
irkung  ionisierter  Luft  im  Laboratorium  haben  übrigens 
»enfalls  zu  einem  negativen  Ergebnis  geführt. 

Auch  zwischen  der  Höhe  des  Poteutialgefälles  und  dom 
‘finden  der  Versuchspersonen  konnte  bisher  ein  Zusam¬ 
enhang  nicht  aufgedeckt  werden,  so  daß  nach  unseren 
■rzeitigen  Kenntnissen  Unterschiede  in  der  Luftionisalion 
id  in  der  elektrischen  Spannung,  wie  sie  in  der  Atmo- 
häre  beobachtet  werden,  keinen  nachweislichen  Einfluß 
d  die  physiologischen  Vorgänge  beim  Menschen  ausüben. 

Nun  wäre  noch  der  Einfluß  des  letzten  und  wichtigsten 
■r  derzeit  bekannten  klimatischen  Faktoren,  jener  des  Ab- 
ikens  des  Luftdruckes  bei  zunehmender  Meereshöhe,  zu 
örtern. 

Schon  per  exclusionem  kommt  man  zu  dem  Resultat, 
ß  die  Verminderung  des  Gesamtdruckes  und  damit  die 
»nähme  des  Teildruckes  des  Sauerstoffes  das  enlsehei- 
nde  Moment  bei  der  Wirkung  des  Höhenklimas  vorstellen 
isse.  Dieser  Schluß  wird  fest  fundiert  durch  das  Ergebnis, 
ß  auch  im  pneumatischen  Kabinett  die  nämlichen  Erschei- 
ugen  wie  im  Höhenklima  eintreten,  wenn  der  Aufenl- 
it  in  der  Kammer  hinreichend  lange  dauert. 


* 


Will  man  die  Wirkung  der  Luftdruckverminde- 
tig  studieren  und  prüft  man  zu  diesem  Zwecke 
>s  Verhalten  von  Personen  während  des  Aufenthaltes 
Höhenstationen,  so  muß  als  Grundbedingung  gelten, 
»ß  diese  unter  genau  analogen  Verhältnissen,  wie 
der  Ebene  untersucht  werden.  Es  ist  begreiflich, 
iß  reichlichere  Bewegung,  häufiger  Aufenthalt  im 
eien,  die  Zeit  zum  Essen  und  das  Sich-freuen  auf  die 
dilzeit,  wie  überhaupt  der  Wegfall  der  Hemmungen,  die 
mühevollen  Alltagsleben  naturgemäß  ungünstigere  Ee- 
jnsbedingungen  schaffen,  die  Größe  der  Nahrungseinfuhr 
ul  die  Ausnützung  der  Kost  im  Höhenklima  wesentlich 
ul  zwar  günstig  zu  beeinflussen  vermögen.  Solche  Wir- 
I  ngen  müssen  natürlich  ausgeschaltet  werden,  wenn  man 
(s  reine,  unverzerrte  Bild  der  Höhenwirkung  erkennen 
'II.  In  diesem  hat  vor  allem  der  Einfluß  des  Höhenklimas 
f  die  Zusammensetzung  des  Blutes  und  die  Blutbildung 
s  Interesse  erregt. 


Schon  die  teleologische  Ueberlegung  allein  zwingt  fast 
dem  Gedanken,  daß  die  Abnahme  des  Sauerstoffdruckes 
d  damit  die  Verschlechterung  der  Bedingungen  für  die 
'  uerstoffversorgung  zn  einer  kompensatorischen  Vermeh- 
1  ig  des  Hämoglobins  führen  müsse.  Gegen  die  älteren 
I  tersuchungen,  die  in  der  Tat  eine  Zunahme  der  Bluf- 
•  rperchen,  des  Sauerstoffbindungsvermögens  und  desllämo- 
■ 'bins  im  Höhenklima  nachwiesenl,  sind  aber  bald  Einwände 
leben  worden,  um  so  mehr  als  Gaule  bereits  während 
Aufstieges  im  Luftballon  eine  Zunahme  des  Hämoglobins 


Rehen  haben 
Mit  Recht 
der  Menge 
1  ''den  müsse, 
es  sich 
!  igen  des 


wollte. 

stellte  man  daher  die  Forderung  auf,  daß 
des  Gesa  m  I  h  ä  m  o  g  1  o  bins  erwiesen, 
ob  eine  solche  Vermehrung  stattfindel  oder 
nur  um  Verteilungs-  oder  Konzentrationsünde- 
Blutes  handle,  denn  sowohl  die  Vermehrung  der 


'bl  der  Blutkörperchen,  wie  die  Erhöhung  des  Sauerstoff 
Edungsvermögens  einer  Blutprobe,  wie  auch  die  Steigerung 
sllämoglobingehaltes  in  einer  solchen  können  immerhin 
1 1’  einen  rein  örtlichen  Befund  vorstellen,  der  je  nach  dem 
bißgebiet,  aus  dem  das  entnommene  Blut  stammt  und 


I 

I 


je  nach  der  Gesamtblutmenge  ganz  verschieden  einzu¬ 
schätzen  ist. 

Bekanntermaßen  sind  drei  Theorien  aufgestellt  worden, 
die  ausgehend  von  der  Annahme,  daß  die  Vermehrung  der 
Zahl  der  Blutkörperchen  im  Kubikmillimeter  nicht  einer 
tatsächlichen  Zunahme  derselben  im  Gesamlblut  entspreche, 
den  auffallenden,  immer  wiederkehrenden  Befund  erklären 
sollten.  Es  isl  dies  die  Eindickungstheorie  Billiges,  die 
Verteilungstheorie  von  Zimtz  und  die  Theorie  der  Wasser¬ 
verarmung  des  Blutes  von  Grawitz.  Obno  auf  eine  Dis¬ 
kussion  über  diese  Theorien  einzugehen,  seien  nur  einige 
der  wichtigsten  Tatsachen  angeführt. 

Immer  wieder  begegnet  man  in  der  Literatur  der  An¬ 
gabe,  daß  Menschen  und  Tiere,  wenn  sie  ins  Hochgebirge 
aufsteigen,  nahezu  plötzlich  eine  Vermehrung  der  Zahl  der 
roten  Blutkörperchen,  aber  aui h  eine  V  ermehrung  des  Hämo¬ 
globins  aufweisen,  die  mit  der  Zunahme  der  Blutkörperchen- 
zald  allerdings  nicht  parallel  geht.  Nahezu  sofort  nach  der 
Rückkehr  aus  der  llöhenstation  verschwand  auch  in  allen 
Bällen  die  Vermehrung  der  Blutkörperchen.  Die  in  der  Lite¬ 
ratur  vorliegenden  Zahlen  lauten  sogar  dahin,  daß  bereits 
in  löü  m  über  dem  Meeresspiegel  eine  grüßen1  Blutkör¬ 
perchenzahl  vorhanden  sein  soll,  als  am  Meeresspiegel  und 
dementsprechend  eine  Vermehrung  der  Blutkörperchen  be¬ 
obachtet  werden  würde,  die  um  so  größer  sei,  je  größer 
die  Meereshöhe,  in  der  die  Probe  entnommen  wurde,  ln 
der  Tat  wurde  dieser  Befund  von  zahlreichen  Autoren  be¬ 
stätigt  und  [Mi  es  eher  baute  darauf  seine  Theorie,  daß 
der  Sauerstoffmangel  die  Steigerung  der  Blutbildung  durch 
Beizung  des  Knochenmarks  herbeiführe.  Daß  dem  nicht 
so  sein  kann,  ergibt  sich  wohl  schon  aus  einer  Ueberlegung 
über  den  Verlauf  der  Dissoziations-spannungskurve  des  Hä¬ 
moglobins  und  über  die  alveolare  Sauerstoffspannung,  nach 
der  bis  in  Höhen  von  wesentlich  mehr  als  1000  m  wohl  keine 
nennenswerte  Aenderung  der  Sauerstoff  Versorgung  zu  er¬ 
warten  ist. 


| 

Blutkörperchen  (Millionen) 

500  m 

2130  in 

4560  ni 

Brienz 

Rothorn 

Margheritahütte 

Zuntz . 

560 

5-85 

6T4 

Loewy . 

5-76 

5  46 

558 

Caspari  .... 

6  T0 

6  81 

5-71 

Kolmer  .... 

633 

5-95 

5-65 

Müller  ..... 

.  1  6  T0 

626 

6T7 

H  u 

n  d  e 

Zahl  der  Blutkörperchen  (Millionen) 

Bern 

Rothorn 

7T9 

6-80 

7-07 

7-57 

8 '92 

8-82 

9-03 

911 

Mittel  8  05 

8:07 

Bemerkenswert  ist,  daß  die  vorzüglichen  Versuche  von 
Zunlz  und  seinen  Mitarbeitern,  ebenso  wie  jene  von  den 
Brüdern  Loewy  und  L.  Z  tin  t  z,  keinen  Anhaltspunkt 
für  eine  Vermehrung  der  Zahl  der  Blutkörperchen  ge¬ 
geben  haben.  Auch  die  Hunde,  sowohl  die  alten,  wie 
mich  die  jungen,  zeigten  am  15.  .Juli,  nachdem  sie  seit 
5.  Juni,  also  rund  sechs!  Wochen,  auf  dem  Rothorn  gewesen 
waren,  keinerlei  Abweichungen  in  der  Zahl  der  Blutkörper¬ 
chen  und  doch  hätte  in  dieser  Zeit  das  Maximum  des  Aus¬ 
schlages  beobachtet  werden  müssen.  Nach  diesen  mit  größter 
Vorsicht  ausgeführten  Beobachtungen  ergibt  sich,  daß  sogar 
die  relative  Veränderung  der  Zahl  der  Blutkörperchen  als 
keine  gesetzmäßig  im  Höhenklima  sich  einstellende  Erschei¬ 
nung  zu  betrachten  ist,  wenn  auch  keineswegs  bestritten 
werden  kann,  daß  in  den  allermeisten  Fällen  eine  höhere 
Zahl  von  Blutkörperchen  im  Kubikmillimeter  der 
entnommenen  Blutmenge  gefunden  worden  ist.  Be¬ 
zeichnend  mag  es  für  die  Bedeutung  der  Werte,  die  bei  der 
Blulkörperchenzählung  im  Hochgebirge  gefunden  wurden. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


624 


Nr.  U 


sein,  daß  Loewy  und  ebenso  Abderhalden  angeben, 
daß  man  bei  ein  und  derselben  Versuchsperson  in  derselben 
Station  und  zur  selben  Tagesstunde,  je  nach  den  Begleit¬ 
umständen  drei  bis  acht  Millionen  Blutkörperchen  im  Kubik¬ 
millimeter  zählen  kann. 

Interessant  ist  jedenfalls  auch  die  Angabe  Knoches, 
daß  er  an  sich,  seiner  Frau  und  seinem  Diener  ein  wesent¬ 
liches  Zurückgehen  der  anfangs  gefundenen  Erhöhung  der 
Blutkörperchenzahl  fand,  so  daß  nach  etwa  dreimonatigem 
Aufenthalt,  in  5000  m  Meereshöhe  endlich  sogar  niederere 
Blutkörperchenzahlen  als  vor  dem  Aufstieg  im  Meeresniveau 
ermittelt  wurden. 

Nicht  viel  anders  steht  es  mit  der  Beweiskraft  der 
Ergebnisse  jener  Untersuchungen,  in  denen  nach  morpho¬ 
logischen  Veränderungen  an  den  Blutkörperchen,  die  Zeichen 
von  Neubildung  oder  Untergang  sein  sollten,  gefahndet 
wurde.  Gerade  in  den  einwandfreien,  im  Höhenklima  ange- 
stellten  Beobachtungen,  wurden  kernhaltige  Blutkörperchen 
oder  Jugendformen  niemals  gefunden,  auch  im  Luftballon 
konnten  Z  u  n  t  z  und  v.  Schrötter  solche  nicht  nach- 
weisen.  Denselben  negativen  Befund  erhoben  v.  Schrötter 
und  D  o  u  glas  auf  dem  'Pik  von  Teneriffa.  Auffallend  mag  es 
sein,  daß  nur  bei  Versuchen,  in  denen  die  Tiere  unter 
Glasglocken  gehalten  wurden,  kernhaltige  Blutkörper¬ 
chen  unzweifelhaft  beobachtet  worden  sind.  Es  müßte 
übrigens  erst  erwiesen  werden,  daß  das  Auftreten  kern¬ 
haltiger  Blutkörperchen  und  der  Befund  röteren  Kno¬ 
chenmarkes  bei  Tieren,  welche  im  Gebirge  unter  ver¬ 
mindertem  Luftdruck  lebten,  im  Sinne  einer  Vermeh¬ 
rung  der  Blutköreprc'hen  gedeutet  werden  dürfe,  da 
es  naheliegend  ist,  den  Einwand  zu  erheben,  daß 
eine  solche  eventuelle  Neubildung  nur  dem  Ersätze  reich¬ 
licher  zugrunde  gegangener  Erythrozyten  gedient  habe.  Bei 
der  intensiven  Besonnung  der  Haut,  die  bis  zum  Abstoßen 
der  oberflächlichen  Epidermisschichten,  eventuell  sogar  bis 
zur  Blasenbildung  führt,  ist  ein  rascheres  Zugrundegehen 
der  Blutkörperchen  in  den  Gefäßen  der  belichteten  Haut¬ 
partien  keineswegs  von  der  Hand  zu  weisen,  ja  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  sogar  recht  wahrscheinlich,  wenn  wir  an 
die  gleichzeitige  Wirkung  von  Sensibilatoren  denken. 

Ausschlaggebend  könnte  die  Vermehrung  der  Blut¬ 
körperchen  nur  durch  die  Untersuchung  des  Gesamtblutes 
erwiesen  werden,  doch  auch  in  diesen  kann  nur  die  Be¬ 
stimmung  des  Gesamthämoglobins  oder  des  Gesamtsauer¬ 
stoffbindungsvermögens,  als  sicher  zum  Ziele  führend,  an¬ 
erkannt  werden.  Beiden  Untersuchungsmethoden  stehen 
aber  große  technische  Schwierigkeiten  entgegen.  Gegen  die 
Bestimmung  der-  kreisenden  Blutmenge  am  Lebenden  mit 
Hilfe  'der  Kohlenoxydmethode,  wurden  Einwände  wegen  der 
Bindung  des  Kohlenoxydes  an  andere  Zellen,  außer  an 
die  Blutkörperchen,  erhoben  und  die  Feststellung  der  Ge¬ 
samtblutmenge  im  entbluteten  Tiere  stößt  in  erster  Linie 
auf  die  Schwierigkeit,  daß  die  Untersuchung  auf  Konfron¬ 
tiere  angewiesen  ist,  bei  denen  schwer  zu  entscheiden  ist, 
ob  sie  sich,  abgesehen  von  der  Höhenwirkung,  unter  voll¬ 
kommen  analogen  Lebens-  und  Ernährungsbedingungen  be¬ 
funden  haben. 

Jaquet  und  seinen  Schülern  gebührt  das  Verdienst, 
in  mühevollen  Versuchen  die  Frage  des  Hämoglobingehaltes 
bei  den  Höhentieren  in  dem  Sinne  entschieden  zu 
haben,  daß  eine  Vermehrung  des  Gesamthämoglobins 
stattfindet.  In  der  Tat  weisen  die  Versuche  an  Ka¬ 
ninchen  (s.  folgende  Tabelle)  auf  eine  solche  Steigerung 
des  sauerstoffbindenden  Anteiles  des  Blutes  hin,  doch  ist 
die  Zunahme  des  Hämoglobins,  abgesehen  von  einem  Ver¬ 
suche,  der  ganz  aus  der  Beihe  fällt,  gar  nicht  so  bedeutend 
und  es  finden  sich  Versuchstiere  in  Davos  und  in  Basel, 
die  ganz  genau  gleich  hohe  Zahlen  für  den  Hämoglobin¬ 
gehalt  aufweisen,  ja  auch  Tiere  in  der  Flbene,  deren  Hämo¬ 
globingehalt  höher  ist,  als  jener,  die  in  Davos  gehalten  wur¬ 
den.  Immerhin  darf  nicht  übersehen  werden,  daß  die  Mittel¬ 
werte  im  Sinne  einer  Zunahme  im  Höhenklima  sprechen. 
Auch  bei  Tieren,  die  in  der  Ebene  unter  vermindertem  Luft- 


Ilb  °/00  des  Körpergewichtes 


Jaquet 

Kaninchen 


Davos 

Basel 

6-6B 

6-76 

6-78 

538 

6-59 

518 

6-74 

5-94 

5-5 

5-61 

6-6 

513 

6-48 

528 

597 

536 

8-14 

5-30 

druck  gehalten  wurden,  wie  bei  solchen,  die  sauerstoffarn 
Gemische  atmen  mußten,  wurde  eine  analoge  Zunahme  beoj 
achtet. 

Im  selben  Sinne  spricht  das  Ergebnis  der  Entblutui 
eines  auf  dem  Rothorn  von  Zuntz  gehaltenen  Versuch 
Inindes,  der  mehr  Hämoglobin  enthielt,  als  das  Berner  Ko 
trolltier.  Allerdings  kann  dieser  Versuch  darum  nicht  a 
einwandfrei  angesprochen  werden,  weil  das  Rothorntier  w 
sentlich  mehr  an  Gewicht  zugenommen  hatte,  als  das  Bern 
Tier,  so  daß  anzunehmen  ist,  daß  letzteres  sich  unter  ul 
günstigeren  Ernährungsbedingungen  befunden  haben  müss 

Diesen  Angaben  stehen  jene  von  Weiss,  der  bei  sein» 
auf  'dem  Pilatus  gehaltenen  Tieren  keine  Zunahme  des  Häm 
globins  gefunden  hatte  und  jene  von  Abderhalden  gegej 
über,  die  sich  auf  so  ungeheures  Material  stützen,  wie 
eben  nur  die  Arbeitskraft  di  es  es  Autors  bewältigen  könnt] 
Gegen  die  Schlüsse  von  Weiss,  wie  jene  von  A  b  d  e 
h  a  I  d  e  n,  sind  von  J  a  quet  und  Zuntz  Bedenken  (j 
hoben  worden.  Immerhin  ist  selbst  für  das  Tier  im  Höhe] 
klima  eine  Vermehrung  des  Hämoglobins,  die  sich  typisc 
einstellen  würde  und  so  groß  wäre,  daß  sie  das  Absink«] 
des  Sauersloffdruckes  in  größerer  Höhe  zu  kompensier« 
vermöchte,  noch  nicht  nach  gewiesen  worden,  wet 
auch  am  Vorkommen  einer  Zunahme  des  Hämoglobins  wo] 
nicht  zu  zweifeln  ist. 

Jedenfalls  liegt  für  den  Menschen  aber  zurzeit  keif 
Angabe  vor,  die  die  'Annahme  einer  Neubildung  und  Vermei 
rung  des  atmenden  Teiles  des  Blutes  erweisen  würd 
Bestimmungen  der  Bindungsfähigkeit  des  Gesamtbildes,  d 
Douglas  während  unseres  Teneriffa -Aufenthaltes  in  d«l 
Canadas  und  auf  der  Alfa  Vista  ausführte,  lieferten  nepj 
live  Resultate  hinsichtlich  einer  Steigerung,  die  Beobac: 
lungert  sind  aber  noch  nicht,  zahlreich  und  einwandfr 
genug.  Auch  die  Prüfung  des  Sauerstoffbindungsvermögeij 
des  Hämoglobins,  die  durch  Barcroft  in  den  Caflad 
und  auf  der  Alta  Vista  ausgeführt  wurde,  lieferte  keinen  B 
weis  zugunsten  einer  Kompensation  des  Druckabfalles  d 
Luft  durch  die  Beschaffenheit  des  Blutes. 

Bemerkenswert  ist  es  jedenfalls,  daß  das  spezifiscl 
Gewicht  des  Blutes  keine  Aenderung  zeigt,  die  einen  Schli; 
auf  eine  scheinbare  Vermehrung  der  Blutkörperchen  dun 
Eindickung  gestatten  würde. 

Dem  Gedankengange  folgend,  daß  der  Ei  seng  eh  a 
des  Blutes  ein  Kriterium  für  das  Sauerstoffbindungsve 
mögen  des  Blutes  liefern  könnte,  wurden  auch  Eisenbestii 
mungen  an  Höhentieren  ausgeführt.  Mit  Recht  hebt  jedo< 
Oerum  hervor,  daß  solche  Analysen  nicht  zu  Schlüsse 
auf  den  Hämoglobingehalt  des  Blutes  geeignet  seien,  inde 
er  als  merkwürdigen  Befund  unter  anderem  auch  den  U) 
stand  hervorhebt,  daß  der  Eisengehalt  des  Blutes  (F 
Schweizer  nur  vier  Fünftel  des  Blutes  der  Dänen  betrag«! 
solle. 

Kine  Entscheidung  in  der  Frage  nach  der  Vermehruii 
des  Sauerstoff  bindenden  Anteiles  im  Blute  beim  Höhe 
aufenthalt  wird  wohl  erst  dann  fallen  können,  wenn  d 
Methoden  zur  Bestimmung  des  Gesamthämoglobins  und  d« 
Gesamtsauerstoffbindungsvermögens  des  Blutes  vervo 
kommnet  sein  werden,  bis  dahin  bildet  die  Tatsache,  dt 
die  Atmung  auch  bei  lange  dauerndem  Aufenthalt  in  groß' 


Nr.  18 


625 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Höhe  keine  Anpassung  gezeigt  hat,  ein  ziemlich  gewich¬ 
tiges  Gegenargument.  Auch  der  Umstand,  daß,  .nach  der 
Rückkehr  aus  der  Höhe  keine  Mehrausscheidung  an  Stick¬ 
stoff,  Eisen  oder  Schwefel  beobachtet  wird  und  noch  nie¬ 
mals  das  Auftreten  eines  Ikterus  als  Folge  eines  rasch 
unterbrochenen  Höhenaufenthaltes  nachgewiesen  worden  ist, 
spricht  nicht  zugunsten  des  immer  wieder  beobachteten 
raschen  Verschwindens  der  Vermehrung  der  Blutkörperchen. 
Auf  eine  weitere  Tatsache  sei  ferner  noch  hingewiesen, 
welche  von  Nothnagel  betont  worden  ist.  Es  gelingt 
keineswegs,  Chloranämien  oder  Chlorosen  ohne  entspre¬ 
chende  andere  Therapie  im  Höhenklima  zur  Heilung  zu 
bringen  und  selbst  dann,  wenn  sich  Therapie  und  Klima¬ 
wirkung  unterstützen  sollten,  ist  keine  beschleunigtere  Neu¬ 
bildung  von  Blutkörperchen,  sowie  kein  schnellerer  Ersatz 
des  Hämoglobins  nachzuweisen  gewesen.  Auffallend  ist  es 
wohl  jedem  Alpenbewohner,  der  in  die  Großstadt  kommt, 
wie  selten  man  in  dieser  gegenüber  den  Landstädten  Chlo¬ 
rose  oder  Chloranämie  bei  Mädchen  beobachtet.  Ganz  über¬ 
raschend  ist  es  auch,  bei  wievielen  Leuten  man  in  den 
Alpengegenden  trotz  lebhaft  geröteter  Gesichtsfarbe  ganz 
ausgesprochene  Zeichen  von  Blutarmut  findet.  Ein  eigen¬ 
tümliches  Licht  auf  die  Bewertung  der  Ergebnisse  von 
Glockenversuchen  bei  vermindertem  Luftdruck  werfen  übri¬ 
gens  die  Beobachtungen  Bornsteins  im  Caisson  unter 
Ueberdruck,  bei  denen  eine  Ver m  e h  r u  n g  des  Ge¬ 
samthämoglobins  erwiesen  wurde. 

Eindeutig  und  durch  das  Absinken  des  Sauerstoff¬ 
druckes  leicht  erklärlich  istdie  der  Sauerstoffspannung  in  den 
Alveolen  entsprechende  Verminderung  im  Sauerstoff  gehall 
des  Blutes  und  ebenso  unbestreitbar  ist  wohl  auch  die 
Abnahme  der  Blutalkalinität  festgelegt  worden. 

* 

ln  bezug  auf  das  Herz  wissen  wir  auf  Grund  viel¬ 
facher  Angaben,  daß  im  Höhenklima  u.  zw.  besonders  nach 
Anstrengungen,  Zeichen  abnormer  Herztätigkeit  eintreten. 
Nicht  selten  hört  man,  daß  sonst  rüstige  Gänger  im  Ge¬ 
birge  einem  akuten  Herztode  erlegen  sind,  doch  darf  man 
keineswegs  annehmen,  daß  immer  vorangegangene  Ar¬ 
beit  die  Ursache  der  Veränderungen  der  Herzarbeit  im 
Gebirge  sein  müsse,  da  Pulsbeschleunigung,  Herzklopfen 
und  Veränderungen  im  Charakter  des  Pulses  auch  nach 
passiver  Beförderung  in  die  Höhenregion  beobachtet  wurden. 

Eine  einwandfreie  Entscheidung  über  das  Verhalten 
der  Herzarbeit  konnte  erst  dann  getroffen  werden,  als  man 
die  peinlichste  Sorgfalt  darauf  verlegte,  das  Verhalten  des 
Pulses  in  vollkommener  Körperruhe,  morgens,  nüchtern  in 


Bettruhe  zu  zählen,  da  sonst  nur  allzuleicht  u.  zw.  be¬ 
sonders  im  Hochgebirge,  wesentliche  Veränderungen  beob¬ 
achtet  werden  können,  die  nicht  rein  auf  eine  Höhenwirkung 
zurückgeführt  werden  dürfen.  In  dieser  Hinsicht  sind  die 
Zählungen  von  Zuntz  und  seinen  Mitarbeitern  vorbild¬ 
lich  geworden.  Die  nachstehenden  Kurven  sollen  als  Bei¬ 
spiel  das  Verhalten  von  zweien  unserer  Versuchspersonen 
wiedergeben. 

Wie  die  Kurven  zeigen,  war  die  Pulsfrequenz  bis  zu 
einer  Höhe  von  3000  m  (Col  d’Olen)  nahezu  unverändert 
geblieben;  zum  selben  Resultat  waren  auch  Zuntz  und 
seine  Mitarbeiter  im  Jahre  1901  gekommen,  bei  anderen 
Personen,  so  bei  einem  unserer  Begleiter  auf  der  Teneriffa¬ 
expedition,  war  aber  schon  in  2000  m  Höhe  eine  Pulsbe¬ 
schleunigung  ganz  deutlich  ausgesprochen,  die  sich  bei  uns 
allen  in  4560  m  Höhe  auf  dem  Monte  Rosa  einstellte.  Plötz¬ 
lich,  mit  dem  Tage  des  Aufstieges,  war  die  Pulsfrequenz 
in  die  Höhe  geschnellt  und  wenn  auch  die  Beschleunigung 
der  Herzarbeit  sich  anfänglich  rascher,  später  aber  langsamer 
rückbildete,  sank  die  Pulsfrequenz  doch  auch  im  Laufe 
eines  Monats  nicht  auf  die  in  der  Ebene  beobachteten  Werte 
ab.  Trotz  dieser  Anpassung  blieb  die  Pulsfrequenz  doch 
immer  noch  eine  außerordentlich  labile.  Obwohl  die  Ver¬ 
suchsbedingungen  stets  ganz  gleichartige  waren,  schnellte 
doch  an  diesem  oder  an  jenem  Tage  plötzlich  ohne  ersicht¬ 
lichen  Grund  die  Pulsfrequenz  wieder  in  die  Höhe,  um 
am  folgenden  Tage  wieder  abzusinken.  Ganz  auffallend 
war  das  Verhalten  bei  der  Rückkehr  ins  Tal.  Mit  einem 
Schlage  war  nicht  nur  die  Steigung  der  Frequenz  und  die 
Labilität  verschwunden,  sondern  es  sank  die  Pulsfrequenz 
noch  weiter,  auf  unter  der  Norm  liegende  Werte  ab. 

Deutet  schon  das  Herzklopfen,  unter  dem  die  meisten 
Menschen  in  großen  Höhen  zu  leiden  haben,  darauf  hin,  -daß 
sich  abnormale  Vaguswirkungen  im  Höhenklima  geltend 
machen,  so  ist  es  naheliegend,  daran  zu  denken,  daß  das 
Herabdrücken  der  Pulsbeschleunigung  neben  der  Abnahme 
der  Körpertemperatur,  auf  die  Ausbildung  einer  erhöhten 
Hemmungswirkung,  also  auf  gesteigerten  Vagustonus,  zu¬ 
rückzuführen  sei.  Diese  Hemmung  scheint  nur  allmäh¬ 
lich  zur  Ausbildung  zu  kommen  und  darum  dürfte  sie 
auch  nur  allmählich  wieder  ausgeschaltet  werden.  Eine 
solche  Vermutung  findet  eine  gewisse  Stütze  in  dem  Auf¬ 
treten  der  subnormalen  Werte  beim  Wechsel  zwischen 
Höhen-  und  Talaufenthalt.  Während  mit  dem  Abstieg  die 
in  der  Höhe  wirksamen,  herzbeschleunigenden  Reize  plötz¬ 
lich  wegfallen  und  dadurch  die  Pulsfrequenz  zur  Norm 
absinken  müßte,  dürfte  das  Fortdauern  der  nur  allmählich 


Pulsfrequenz  und  Körpertemperatur  am  Morgen. 


puls  . . Temperatur  W  =  Wien  150m  0-  Co!  d’Olen  Alagna  1200m. 


626 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  18 


wieder  verschwindenden,  daher  noch  immer  gesteiger¬ 
ten  Hemmung  die  Pulsfrequenzen  auf  stibnormale  Werte 
herabdrücken.  Diese  werden  normalen  Werten  erst  dann 
wieder  Platz  machen,  wenn  das  ursprüngliche  Gleichgewicht 
zwischen  Akzeleration  und  Hemmung  wieder  hergestellt  ist. 

Die  Form  der  Pulskurve  dürfte  sich  beim  Gesunden 
unter  dem  Einflüsse  des  Höhenklimas  selbst  in  sehr  be¬ 
deutenden  Höhen  nicht  ändern,  insolange  zum  mindesten 
eine  Ueberanstrengung  des  Herzens  nicht  stattgefunden  hat, 
wenigstens  sprechen  unsere  neuen  Untersuchungen  dafür, 
daß  selbst  recht  anstrengende  Aufstiege  im  Hochgebirge 
von  Leistungsfähigen  durchgeführt  werden  können,  ohne 
daß  der  Charakter  des“  Sphygmogrammes  dadurch  irgend¬ 
welche  Aenderung  erfährt.  Man  wird  dabei  allerdings  nicht 
übersehen  dürfen,  daß  die  Aussagen  des  Sphygmogrammes 
nur  mit  größter  Vorsicht  gedeutet  werden  dürfen.  Einige 
Kurven  sollen  als  Belege  der  bei  uns  in  der  Höhe  zwischen 
4000  und  5000  m  erhobenen  Befunde  dienen. 


Es  dürfte  sich  daher  bei  dieser  ab  und  zu  auftretenden. 
Veränderung  wohl  nicht  um  eine  typische  Höhenwirkung 
handeln. 

Auch  der  Blutdruck  erfährt,  trotz  gegenteiliger  An¬ 
gaben,  beim  Gesunden  im  Höhenklima  keine  typische  Ver¬ 
änderung.  Während  in  manchen  Fällen  unter  der  Ein¬ 
wirkung  von  Radiumemanation  im  Laboratorium  Blutdruck¬ 
senkungenbeobachtet  wurden,  streb  t  im  Höhenklima  der  Blut¬ 
druck  trotz  ausgesprochen  erhöhter  Ionisation  eher  erhöhten 
Werten  zu;  eine  ganz  auffallende  Steigerung  beobachteten 
wir  an  Zuntz  auf  dem  Pik  von  Teneriffa.  Als  sicher  fest¬ 
stehend  kann  daher  die  Tatsache  gelten,  daß  die  inr 
Hochgebirge  beobachtete  Zyanose  nicht  auf  Stauungsver¬ 
hältnisse,  sondern  nur  auf  die  Einwirkung  der  niederen 
Temperatur  und  auf  die  verminderte  Sättigung  des  Blutes 
mit  Sauerstoff  zurückzuführen  ist.  Ich  muß  es  mir  dabei 
versagen,  in  eine  Diskussion  der  Theorie  Krön  eck  ers 
einzugehen.  Ebenso  gestattet  die  zugemessene  Zeit  es  nicht, 


Durig 


_9./VIIIy  Monte  Rosa  (dritter  Ta 


In  vorstehenden  Abbildungen  ist  es  besonders  das 
Pulsbild  des  sehr  muskelkräftigen  und  gewandten  Rainer, 
das  die  Aufmerksamkeit  fesselt.  Der  für  ihn  typische  Cha¬ 
rakter  des  Pulses  ist  auch  auf  dem  Monte  Rosa  deutlich 
erhalten  geblieben  und  selbst  unmittelbar  nach  der  Bestei¬ 
des  Lyskammes  und  Rückkehr  zur  4560  m  hohen  Punta 
Guifetti  weist  der  Puls  genau  den  nämlichen  Charakter  auf, 
wie  in  Wien,  oder  wie  nach  einmonatigem  Aufenthalt  auf 
dem  Gipfel  (2.  September).  Ebenso  wie  bei  Rainer,  ist 
auch  bei  Reichel,  K  o  1  m  e  r  und  D  u  r  i  g,  abgesehen  von 
Aenderungen  in  der  Pulsfreuqenz,  eine  nennenswerte  Aen¬ 
derung  im  Sphygmogramm  nicht  zu  beobachten  gewesen. 
Für  jeden  von  uns  sind  alle  seine  Pulsbilder  so  charakte¬ 
ristisch,  daß  die  ihm  zugehörige  Kurve  sofort  aus  der  ganzen 
Fülle  des  Kurvenmateriales  erkannt  werden  konnte,  wäh¬ 
rend  es  ohne  Signatur  nicht  möglich  gewesen  wäre,  zu 
entscheiden,  ob  das  Sphygmogramm  in  der  Ebene  oder 
auf  dem  Monte  Rosa-Gipfel  aufgenommen  worden  war. 

Darüber,  daß  bei  Ueberanstrengung  Veränderungen  im 
Sphygmogramm  beobachtet  werden  müssen,  kann  ein 
Zweifel  wohl  nicht  bestehen,  in  bezug  auf  diese  werden 
aber  dieselben  Erscheinungen  in  der  Ebene,  wie  im  Hoch¬ 
gebirge,  zu  gewärtigen  sein.  Auffallend  ist  das  häufige  Auf¬ 
treten  von  Arhythmien  im  Hochgebirge,  das  auch  bei  voll 
leistungsfähigen,  keineswegs  überanstrengten  Personen  be¬ 
obachtet  wird.  Vielleicht  steht  damit  die  von  Mos  so 
und  dann  auch  von  Fuchs  gemachte  Beobachtung  des 
Vorkommens  von  Frequenzperioden  in  gewissem  Zusam¬ 
menhang.  Wir  konnten  allerdings  derartige  Perioden  tauf 
dem  Monte  Rosa  niemals  erkennen,  dagegen  waren  sie 
deutlich  während  der  Seefahrt  nach  Teneriffa  ausgesprochen. 


die  Beobachtungen  Henderso  n  s,  Mannsfel  d  s  und  der 
englischen  Autoren  über  die  Bedeutung  des  Kohlensäure¬ 
reizes  für  die  Tätigkeit  des  Herzens  eingehender  zu  be¬ 
sprechen.  Wichtig  scheint  mir  dagegen  der  Hinweis,  daß 
die  Zahl  der  Beobachtungen  über  das  Verhalten  der  Herz¬ 
arbeit  in  mäßigen  Höhen  noch  eine  ganz  unzulängliche  ist 
und  daß  es  dringend  erwünscht  wäre,  wenn  diese  besonders 
durch  Beobachtungen  von  Aerzten,  die  in  Höhensanatorien 
tätig  sind,  ergänzt  werden  würden.  Im  Seitengalvanometer 
besitzen  wir  in  neuester  Zeit  zudem  ein  Instrument,  das 
geeignet  ist,  objektiv  richtige  Befunde  zu  registrieren.  Da 
in  Davos,  St.  Moritz,  und  am  Semmering  elektrischer  Strom 
zur  Verfügung  steht,  können  derartige  Untersuchungen  der¬ 
zeit  nicht  mehr  auf  allzugroße  Schwierigkeiten  stoßen  und 
sicherlich  würden  solche  Studien  bei  Kranken  und  zwar 
insbesondere  solchen,  welche  sich  Terrainkuren  unterziehen, 
auch  physiologisch  interessante  Ergebnisse  liefern. 

♦ 

Wenn  Anpassungen  im  Sauerstoffbindungsvermögen 
des  Blutes  und  in  der  Herzarbeit  imstande  sein  könnten, 
die  Folgen  der  \  erminderung  des  Sauerstoffanbotes  im  Hoch¬ 
gebirge  zu  kompensieren,  so  scheint  es  doch  in  erster  Linie 
die  Aufgabe  der  Atmung,  durch  Steigerung  der  Ventilation 
die  Abnahme  des  Sauerstoffteildruckes  wett  zu  machen. 
Es  ist  darum  begreiflicherweise  auch  die  Mechanik  wie  der 
Chemismus  der  Atmung  im  Hochgebirge  eingehendem  Stu¬ 
dium  unterzogen  worden. 

Ganz  auffallenderweise  ist  aber  kein  einheitlicher 
Typus  der  Anpassung  der  Atemmechanik  beobachtet  wor¬ 
den.  Frequenz  und  Tiefe  der  Atmung  und  selbst  die  Resul¬ 
tierende  aus  beiden,  das  Minutenvolum,  sind  in  mäßigen 


Nr  18 


627 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Höhen  ab  und  zu  vergrößert.,  meist  aber  verkleinert  ge¬ 
funden  worden.  Erst  von  Höhen  von  etwa  3000  m  an,  be¬ 
ginnt  eine  ausgesprochene  Steigerung  der  Ventilation  (siehe 

folgende  Tabelle). 


Atemvolum. 


Aenderung 

und  Zahl  der 

Personen. 

Höhe  m 

Zahl  der 
untersuchten 
Personen 

Zunahme  des 
Atemvolums 
gefunden 
bei  Personen 

Abnahme  des 
Atemvolums 
gefunden] 
bei  Personen 

Konstanz 

unter 

600 

7 

_ 

3 

4 

» 

1000 

2 

1 

1 

— 

bis 

1500 

11 

8 

2 

1 

2000 

1 

1 

— 

, 

2500 

10 

4 

4 

2 

» 

3000 

13 

8 

3 

2 

* 

4000 

16 

11 

2 

3 

.  » 

5000 

29 

24 

3 

2 

Man  möchte  nun  meinen,  daß  dieses  Ergebnis  im  Sinne 
ler  Mos  so  sehen  Theorie  der  Luxusatmung  gedeutet  wer¬ 
ten  müsse,  doch  dem  ist  nicht  so.  Käme  schon  die  von 
Mo sso  gedachte  Zweckmäßigkeit  einer  solchen  zur  Er¬ 
sparung  an  Arbeit  gedachte  Regulation  darum  nicht  in  Be- 
racht,  weil  wir  ja  in  der  Ebene  stets  auf  '  die  neben-, 
sächlichsten  Reize  hin  das  Atemvolum  ändern  und  schon 
isychische  Erregungen,  ja  Aufmerksamkeit  allein  genügt, 
lie  Frequenz  und  Tiefe  der  Atmung  zu  variieren,  so  zeigt  sich; 
luch  bei  genauerem  Zusehen,  daß  die  Atmung  in  der  Ebene 
vie  in  der  Höhe  vollkommen  den  Reizen  angepaßt  ist,  die 
las  Atemzentrum  treffen.  Allerdings  ist  es  eine  Summe  von 
Kompromissen,  die  zu  einem  bestimmten  Typus  der  Atmung 
md  zu  einem  gegebenen  Minutenvolum  führt. 

Während  die  Reizung  der  Nervenenden  an  den  Alve¬ 
olen  bei  der  Dehnung  in  der  Inspiration  und  das 
Anwachsen  der  Atemarbeit  bei  zunehmender  Defor- 
nation  des  Thorax  im  Sinne  einer  Verflachung  wirken, 
nüssen  die  Reize,  welche  das  Atemzentrum  durch  das 
Steigen  der  Kohlensäurespannung  und  das  Sinken  der 
Sauerstoff  Spannung  treffen,  bei  Verflachung  der  Atmung 
m  Sinne  einer  Steigerung  der  Ventilation  durch  Vertiefung 
ler  Atemzüge  wirken,  da  durch  Vermehrung  der  Frequenz 
illein,  wegen  des  schädlichen  Raumes,  nur  wenig  geholfen 
vürde.  Zu  diesen  einander  entgegenwirkenden  Kompo¬ 
nenten  tritt  noch  der  Einfluß  der  Blutversorgung,  sowie 
ener  des  Nervensystems  überhaupt  und  die  Wirkung  der 
Temperatur,  so  daß  begreiflicherweise  jede  Veränderung  im 
deichgewichte  dieses  ausäquilibrierten  Systems  den  Typus 
ler  Atmung  ändern  muß. 

Ein  lehrreiches  Beispiel  dafür,  was  allein  schon  ein 
Unwohlsein  für  die  Atemmechanik  bedeuten  kann,  mag  es 
mn  eine  Veränderung  in  der  Empfindlichkeit  des  Atem¬ 
zentrums  herbeigeführt,  oder  eine  Verminderung  der  Lei¬ 
stungsfähigkeit  der  Atemmuskulatur  bedingt  haben,  liefert 
iiner  der  Marschversuche  an  Rainer  in  Neuwaldegg  bei 
Vien.  Rainer  war  zu  dieser  Versuchsserie  in  „über- 
lächtigem“  Zustand  gekommen  und  hätte  mit  15  kg  Last 
sergauf  marschieren  sollen.  Während  des  Versuches  stellte 
sich  bei  ihm  nun  eine  derartige  Verflachung  der  Atmung 
inter  Frequenzsteigerung  ein,  daß  er,  trotzdem  sein  Atem- 
.olum  ganz  der  Leistung  entsprach,  zu  einem  guten  Teile 
iur  den  schädlichen  Raum  seiner  Lunge  mit  Frischluft 
spülte.  Dadurch  sank  die  Sauerstoffspannung  in  den  Alve- 
»len  von  105  (normal  für  Wien)  auf  57  mm,  während  die 
vohlensäurespannung  mächtig  anstieg.  Die  Folge  dieser  Aen- 
lerung  der  Alveolarluft  war,  idaßi  sein  Blut,  das  auf  dem 
' tonte  Rosa  noch  mehr  als  85%  mit  Sauerstoff  gesättigt 
var,  bei  diesem  Versuche  in  Wien  nur  noch  ca. '70%  seiner 
■  ollen  Sättigung  zu  erreichen  vermochte,  so  daß  die  Ver- 
lältnisse  für  die  Sauerstoffversorgung  wesentlich  ungün¬ 
stigere  waren,  als  in  4560  m  Höhe  in  Ruhe  oder  bei  Arbeit, 
is  kann  daher  auch  nicht  wundernehmen,  wenn  Menschen, 
lie  infolge  von  Ueberanstrengung  des  Herzens  und  der  Atem- 
nuskulatur,  nach  einem  vorhergehenden  Forcieren  verflacht 


zu  atmen  beginnen,  Zeichen  von  Sauerstoffmangel  auf¬ 
weisen,  die  wir  ganz  mit  den  Symptomen  der  Bergkrank¬ 
heit  in  großer  Höhe  identifizieren  können. 

Da  unter  normalen  Verhältnissen  die  Sättigung  des 
Hämoglobins  wegen  des  asymptotischen  Verlaufes  der  Dis¬ 
soziationsspannungskurve  selbst  in  2000  m  Höhe  nur  um 
wenige  Prozente  verschieden  von  der  Sättigung  in  der  Ebene 
sein  kann,  so  ist  es  begreiflich,  daß  verschlechterte  Sauer¬ 
stoffversorgung  bis  zu  diesen  Höhen  noch  nicht  den  Anlaß 
zur  Ventilationssteigerung  geben  wird.  Wohl  aber  sinkt 
mit  der  Abnahme  des  Luftdruckes  die  Kohlensäurespannung 
in  den  Alveolen,  dieser  feine  Regulator  für  die  Größe  der  Ven¬ 
tilation,  meist  merklich  ab,  so  daß  die  Wirkung  des  Kohlen¬ 
säurereizes  mit  abnehmendem  Barometerstand  immer  mehr 
in  den  Hintergrund  gedrängt  wird.  Untersucht  man  näm¬ 
lich  den  Prozentgehalt  der  Lungenluft  an  Kohlensäure  in 
verschiedenen  Meereshöhen  bei  Ruhe  und  Arbeit,  so  sieht 
man,  daß  dieser  eine  ganz  auffallend  geringe  Verschiebung 
erfährt.  Da  aber  der  Luftdruck  mit  zunehmender  Höhe 
eine  Verminderung  erfährt,  entspricht  einem  gleichen  Kohlen¬ 
säureprozent  in  der  Lungenluft  in  größerer  Höhe  naturgemäß 
ein  geringerer  Teildruck,  der  sich  als  niedrigere  alveoläre 
Kohlensäuretension  ausdrückt. 

Daß  dies  in  der  Tat  der  Fall  ist,  zeigen  die  in  fol¬ 
gender  Tabelle  angeführten  Versuchsbeispiele. 


Wien . 

Semmering .... 

Alagna  . 

Sporner  Alpe  .  . 
Margh. -Hütte,  Beg 
»  »  Ende 


co2 

o2 

Durig 

Reichel 

Durig 

Reichel 

150  m 

320 

35T 

1098 

1059 

1000  m 

290 

34T 

992 

934 

1200  m 

289 

339 

972 

89-3 

1326  m 

27  0 

- - 

96-3 

_ 

4560  m 

196 

208 

572 

57-9 

4560  m 

20-9 

215 

567 

56-6 

Man  könnte  nun  vermuten,  daß  der  Wegfall  der  Reiz¬ 
wirkung  der  Kohlensäure  durch  die  Zunahme  der  Reize, 
die  auf  das  Atemzentrum;  infolge  des  verminderten  Sauerstoff¬ 
anbotes  in  größerer  Höhe  wirken,  kompensiert  würde.  Doch 
dem  ist  nicht  so.  Ein  Absinken  der  Sauerstoffspannung  in  der 
Alveolarluft  von  109  mm  oder  106  mm  auf  96  mm  gibt 
schon  an  und  für  sich  zu  keiner  nennenswerten  Aenderung 
der  Sättigung  des  Hämoglobins  mit  Sauerstoff  Anlaß,  noch 
weniger  kann  aber  eine  solche  darum  zustande  kommen,  weil 
mit  dem  Sinken  der  Kohlensäurespannung,  die  Fähigkeit 
des  Blutes,  Sauerstoff  zu  binden,  erhöht  ist.  Während  das 
Hämoglobin  in  unserem  Falle  in  der  Ebene  etwa  zu  96-5% 
mit  Sauerstoff  gesättigt  gewesen  sein  dürfte,  muß  die  Sätti¬ 
gung  in  1326  m  Höhe  noch  immer  rund  96%  betragen 
haben,  so  daß  wir  in  der  Tat  eine  Steigerung  der  Ventilation 
zur  Deckung  des  erforderlichen  Sauerstoffbedarfes  gar  nicht 
zu  erwarten  haben.  Daß  dagegen  eine  Verminderung  des 
Kohlensäurereizes  das  Atemvolum  zu  drücken,  eine  leichte 
Zunahme  der  Kohlensäure  dieses  zu  steigern  vermag,  kann 
man  ja  sofort  in  dem  bekannten  Sehifl versuch  'nachweisen, 
indem  man  sieht,  daß  Spuren  von  Kohlensäure,  der  Inspi¬ 
rationsluft  zugemischt,  sofort  eine  Steigerung  der  Venti¬ 
lation  auslösen,  während  Wegschaffung  der  Kohlensäure 
zur  vorübergehenden  Apnoe  führt. 

Die  Verminderung  der  Ventilation  infolge  der  Abnahme 
des  Kohlensäurereizes  findet  eine  schöne  Illustration  in 
den  Versuchen  aus  dem  pneumatischen  Kabinett,  die  in  der 
folgenden  Tabelle  angeführt  sind.  Ganz  auffallenderweise 


Pneumatisches  Kabinett,  Ventilation  in  cm3  (unreduziert)  pro  Minute 
bei  verschiedenen  Drucken 


Loewy  .  .  . 
Müller .  ,  .  . 
Waldenberg. 
Caspari  .  .  . 


760  mm 


480  mm 


450  mm  j  unter  400  mm 


5041 

5801 

5662 

5837 


4850 

5495 

5290 

4588 


4544 

4092 


5380 

7731 

7388 

7468 


628 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  18 


ist  erst  von  Drucken,  von  450  mm  an  eine  ausgesprochene 
Vergrößerung  des  geförderten  (nicht  reduzierten)  Atem¬ 
volums  beobachtet  worden. 

Nach  diesen  Verhältnissen  kann  der  Befund,  der 
oben  in  der  Tabelle  über  das  Atemvolum  niedergelegt 
ist,  nicht  mehr  verwundern.  Finden  wir  auch  Per¬ 
sonen,  bei  denen  die  Abnahme  der  Ventilation  in 
mäßigen  Höhen  nicht  ausgesprochen  ist,  oder  finden  wir 
auch  Menschen,  die  schon  in  geringer  Höhe  eine  Steige¬ 
rung  der  Ventilation  aufweisen,  so  kann  dies  nicht  befrem¬ 
den,  wissen  wir  doch,  daß  ganz  wesentliche  Unterschiede 
individueller  Art  im  Ansprechen  des  Atemzentrums  auf  den 
Kohlensäurereiz  bestehen,  was  die  Tatsache  beweist,  (daß 
die  Kohlensäurespannung  in  der  Alveole  bei  einzelnen  Per¬ 
sonen  in  der  Ebene  mit  32  mm,  bei  anderen  mit  46  mm 
gefunden  wird,  also  Werte  erreicht,  die  bei  vielen  schon 
mächtige  Ventilationssteigerung  auslöst.  Vergessen  dürfen 
wir  schließlich  ja  auch  nicht,  daß  die  Reize,  welche  als 
Kohlensäuregehalt  oder  Folge  des  Sauerstoffmangels  das 
Atemzentrum  treffen,  ja  nicht  die  einzigen  sind,  die  die  Atem¬ 
mechanik  bestimmen.  Keinesfalls  darf  aber  nach  dem  Ge* 
sagten  der  Klimatherapeut  voraussetzen,  daß  der  Aufent¬ 
halt  in  mäßiger  Höhe,  zu  einer  gesetzmäßigen,  er¬ 
wünschten  kräftigeren  Ventilation  der  Lunge  führen 
müsse. 

Es  ist  jedoch  klar,  daß  mit  der  Verminderung  der 
Ventilation  infolge  der  Abnahme  des  Kohlensäurereizes  end¬ 
lich  jene  Grenze  erreicht  wird,  bei  der  der  Sauerstoffdruck 
durch  ungenügende  Zufuhr  von  Sauerstoff  in  die  Lunge 
so  niedrig  wird,  daß  ein  Mißverhältnis  zwischen  Sauerstoff¬ 
anbot  und  Verbrauch  entsteht.  Dieses  wird  sich  endlich 
auch  dann  einstellen  müssen,  wenn  die  Ventilationsgröße 
konstant  geblieben  war,  oder  in  geringem  Maße  zugenommen 
hat.  Von  dieser  Grenze  ab  muß  die  Ventilation  durch  die 
Entstehung  saurer,  unvollständig  oxydierter  Stoffe,  die  das 
Atemzentrum  reizen,  wesentlich  gesteigert  werden  und  um 
so  mehr,  als  diese  Steigerung  in  den  Vordergrund  tritt, 
wird  die  Spannung  an  Kohlensäure  in  der  Lungenluft  eine 
weitere  Verminderung  erfahren,  da  jetzt  reichlicher  Kohlen¬ 
säure  abventiliert  wird.  In  seinen  schönen  Untersuchungen 
hat  W  i  n  t  e  r  s  t  e  i  n  in  neuester  Zeit  darauf  hingewiesen, 
daß  es  die  Summe  der  H  -  Ionen,  jener  der  Kohlensäure 
und  jener  der  sauren  Abbauprodukte  sein  dürfte,  deren 
Gesamtheit  die  Intensität  der  chemischen  Reizung  des  Atem¬ 
zentrums  bedingt.  Diese  Annahme  stimmt  vollkommen  mit 
dem  überein,  was  wir  schon  auf  Grund  unserer  Versuche 
in  verschiedenen  Höhenlagen  gefolgert  hatten  und  gibt  eine 
schöne  plausible  Erklärungsmöglichkeit  für  die  geforderte 
S  u  m  m  e  der  Reizwirkungen  von  Kohlensäuregehalt  und 
Sauerstoffmangel. 

Dem  Beweis  dafür,  daß  nur  in  der  Ebene  und  in 
mäßiger  Höhe  der  Kohlensäurebestand  die  hauptsächliche, 
fein  abgestufte  Reizwirkung  für  das  Atemzentrum  bedinge, 
den  wir  auch  in  unseren  Versuchen  auf  dem  Bilkengrat  .an¬ 
getreten  haben,  möge  die  folgende  Tabelle  dienen. 


Pro  cm3 

02-Verbrauch,  cm3  geatmet  (reduziert) 

mkg  pro 

Geatmetes  Volum  pro  cm3  Oä- 

Ort 

Arbeit. 

Minute 

_ 

tfedart 

ca. 

Durig 

Reichel 

Kolmer 

Wien  .  .  .  150  m 

Ruhe 

0 

27-4 

343 

256 

Semmering  1000  » 

0 

252 

25-0 

— 

Sporner  A.  1326  » 

y> 

0 

259 

— 

— 

Monte  Rosa  4560  m 

Kulte 

0 

20-4 

183 

20-5 

Wien  .  .  .  150 » 

Arbeit 

1200 

19'4 

176 

192 

Arbeit 

auf  Schnee 

800 

170 

16-0 

183 

Semmering  1000  » 

Horizontal- 

marsch 

560 

197 

163 

— 

Sporner  A.  1326  » 

Horizontal 

500 

195 

— 

— 

ßilkengrat  2400  » 

Arbeit 

1100 

17-2 

— 

— 

Monte  Rosa  4560  » 

Arbeit 

600 

170 

163 

171 

Die  Zahlen  zeigen,  daß  hi  Wien,  auf  dem  Semmering 
und  lauf  der.'Sporne|r  Alpe,  in  Körperruhe  rund  25  cm3  Luft  ge¬ 
atmet  wurden.  An  diesen  Orten  mußte  nach  der  Dissoziations¬ 
kurve  des  Hämoglobins  die  Sauerstoffversorgung  in  nahezu 
vollkommen  gleicher  Weise  erfolgen.  Ganz  anders  fallen 
jedoch  die  Werte  aus,  wenn  man  jene  Versuche  überblickt, 
in  (denen  Arbeit  geleistet  Wurde  und  der  Sauerstoffverbrauch 
ein  großer  war  oder  bei  geringem  Sauerstoffverbrauch  in 
Körperruhe  das  Sauerstoffanbot  ein  niedriges  war.  Einheit¬ 
lich  schwankt  in  allen  diesen  Versuchen  die  Größe  der  Venti¬ 
lation  um  etwa  19  cm3,  seien  nun  die  Versuche  in  Wien 
bei  1200  mkg  Arbeit,  oder  auf  dem  Monte  Rosa  in  be¬ 
wegungsloser  Körperruhe  ausgeführt  worden.  Und  doch 
hatte  der  Sauerstoffverbrauch  von  260  bis  2800  cm3  pro 
Minute  geschwankt!  Dieses  Bild  deutet  darauf  Irin,  daß  bei 
einem  Mißverhältnis  zwischen  Sauerstoffanbot  und  Sauer¬ 
stoffverbrauch,  wo  immer  dies  auch  auftreten  möge,  in 
ihrem  Hauptwesen  die  Regulation  eine  andere  wird,  als 
dann  wenn  der  Deckung  des  Sauerstoffbedarfes  keine 
Schwierigkeiten  entgegenstehen.  Die  Unterschiede,  welche 
wir  zwischen  den  einzelnen  Werten  beobachteten,  die  an 
und  für  sich  nicht  erheblich  sind,  finden  einerseits  in  Ver¬ 
änderungen  der  BlutaJkalinität  und  der  Erregbarkeit  des 
Atemzentrums,  auf  die  Haldane  und  Douglas  hinge¬ 
wiesen  haben,  leicht  ihre  Erklärung,  anderseits  muß  dabei 
auf  tdie  Wirkung  des  schädlichen  Raumes  Bedacht  genommen 
werden. 

Eine  andere  Ueberlegung  ergibt  sich  noch  aus  den 
eben  besprochenen  Verhältnissen.  Da  die  Ventilation  bei 
einem  Arbeiter  in  der  Ebene  bei  großer  Anstrengung  ebenso 
auf  ca.  50  Liter  pro  Minute  steigt,  wie  bei  einem  Menschen, 
der  in  großer  Höhe  marschiert,  so  ist  die  Atemanstrengung 
in  beiden  Fällen  dieselbe  und  jedenfalls  eine  größere  als 
bei  Körperruhe  im  Hochgebirge.  Dennoch  wurde  die  Deckung 
des  Sauerstoffbedarfes  in  allen  drei  Fällen  genau  nach 
dem  Konsum  reguliert,  obwohl  dieser  in  Körperruhe  nur 
ein  Zehntel  desjenigen  bei  Arbeit  betrug.  Es  müßte  sich 
daher  für  den  Arbeiter  in  der  Ebene  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  wohl  ebenso  die  Forderung  nach  einer  Erhöhung  des 
Hämoglobinbestandes  ergeben,  wie  beim  Höhenbewohner, 
um  ihm  die  Deckung  seines  Sauerstoffbedarfes  zu  erleich¬ 
tern  oder  seine  Arbeitsfähigkeit  zu  steigern. 

Wie  genau  bei  einer  und  derselben  Person  die  Atem¬ 
mechanik  sich  unter  der  Einwirkung  dieser  Regulation  ein¬ 
stellt,  beweisen  die  Versuche  auf  dem  Bilkengrat,  in  denen 
sich  trotz  verschiedener  Größe  der  Arbeit  (800  bis  1200  mkg 
pro  Minute)  in  jeder  Höhenlage  die  Sauerstoffspannung 
immer  wieder  auf  einen  so  konstanten  Wert  einstellte,  daß 
man  fast  wie  mit  dem  Barometer  nach  ihr  die  Meereshöhe 
hätte  bestimmen  können  (siehe  folgende  Tabelle).  Es  ist 
dabei  zu  bedenken,  daß  die  Versuche  sich  über  zwei  Monate 
erstreckten  und  auch  sonst  unter  recht  wechselnden  Grund¬ 
bedingungen  ausigeführt  wurden. 


Alveoläre  Sauerstoffspannung  nun  Hg 
ßilkengrat  (Durig). 

Die  Oa Spannung  betrug  in  den  einzelnen  Versuchsstrecken 

Effekt 

in 

1790  m 

in 

1960  m 

in 

2410  m 

84  4  mm 

863  » 

84-8  » 

85T  » 

78  8  mm 

80T  » 

819  » 

81-2  » 

74'2  mm 

76-7  » 

759  » 

75T  * 

800  mkg  ! 
1000  » 
1000  » 
1200  »  ! 

Diese  Ausführungen  dürften  wohl  erwiesen  haben,  daß 
in  der  Tat  die  Regulation  der  Atmung  und  damit  die  Größe 
des  Atemvolums  genau  der  Summe  der  Reize  angepaßt 
ist,  die  das  Atemzentrum  treffen  und  daß  daher  die  An¬ 
nahme  einer  Luxusventilation  wohl  keinen  Boden  mehr 
findet. 

* 

Gestatten  Sie  mir  nun,  mich  der  Frage  nach  der  Beein¬ 
flussung  des  Stoffwechsels  im  Höhenklima  zuzuwenden. 


Nr.  18 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


629 


Erhaltungsumsatz 


Cal.  pro  m2 


Durig 

Kolmer 

Reichel 

Wien . 

0540 

0-541 

0-546 

Semmering . 

0-585 

— 

0-600 

Monte  Rosa,  Beginn  .  .  . 

0-674 

0-617 

0-661 

»  »  Ende  . 

0-701 

0-617 

0-668 

Bestimmt  man  die  Größe  des  Energieumsatzes  (s.  vor- 
ehende  Tab.)  in  verschiedenen  Höhen,  so  zeigt  sich  deutlich, 
iß  in  großer  Höhe  eine  Steigerung  der  Verbrennungsvor- 
inge  eintritt,  die  in  geringerer  Höhe  bereits  angedeutet  ist. 
iese  Steigerung  war  auf  dem  Monte  Rosa  in  der  Stunde 
jr  Ankunft  vorhanden  und  erst  mit  der  Rückkehr  ins  Tal 
ar  sie,  so  wie  sie  gekommen  war,  plötzlich  wieder  ver- 
hwunden.  Während  eine  Flamme  in  reichlicherer  Sauer- 
offatmosphäre  lebhafter  brennt,  zeigt  unser  Körper  Ras 
ltgegengesetzte  Verhalten.  Reichlichere  Sauerstoffzufuhr 
trmag  seine  Oxydationsprozesse  nicht  zu  beleben,  vermin- 
rtes  Sauerstoffanbot  steigert  sie  und  gerade  diese  Wirkung 
uß  doppelt  unzweckmäßig  erscheinen,  wenn  man  als  Kom- 
msation  bei  der  Druckverminderung  eine  Vermehrung  des 
ämoglobins  fordert. 

Ist  diese  Steigerung  der  Verbrennungsvorgänge  nun 
n  Zeichen  erhöhten  Zellzerfalles  —  ein  Zeichen  geistei- 
•rten  Sterbestoffwechsel  —  infolge  von  Sauerstoffmangel 
ler  handelt  es  sich  dabei  um  eine  anregende  Wirkung  jder 
eize  des  Höhenklimas?  Obwohl  wir  ein  großes  Versuchs- 
aterial  überblicken,  das  fast  250  Versuchstage  umfaßt, 
denen  wir  den  Gesamtstoffwechsel  untersuchten  und  Bi¬ 
nzen  über  den  Energieumsatz,  über  Stickstoff,  Fett  und  die 
ilze  auf  stellten  und  in  einer  Fülle  von  Harnen  die  Ver¬ 
dung  des  Stickstoffes  untersuchten,  vermögen  wir  heute 
ne  Antwort  auf  diese  Frage  nicht  zu  geben.  Nur  das 
ne  können  wir  mit  gewisser  Sicherheit  aussagen,  daß 
lbst  in  großer  Höhe  eine  Verschiebung  im  Ablaufe  der 
xydationsvorgänge  nicht  stattfand.  Dosen  von  120  g  Trau- 
'nzucker,  die  wir  morgens  nüchtern  einführten,  wurden 
d  dem  Monte  Rosa  in  derselben  Zeit  und  ebenso  glatt 
ubrannt  wie  in  der  Ebene  und  auch  die  respirator i- 
ihen  Quotienten  (folg.  Tab.)  zeigten  auf  dem  Monte 
osa  genau  dieselbe  Höhe,  wie  in  den  V ersuchen 
Wien,  bei  Verabreichung  derselben  Kost.  Es  darf  natür- 
h  nicht  wundernehmen,  wenn  im  Gegensatz  .dazu, 


Respiratorische  Quotienten 


Durig 

Kolmer 

Rainer 

Reichel 

Wien . 

0-827 

0-791 

0-833 

0-816 

Semmering  . 

0-843 

— 

.  - 

0-823 

Alagna.  .  .  . 

0-817 

0-854 

0-877 

0856 

Margh.-Hütte 

0-804 

0-785 

0-806 

0-855 

der  pneumatischen  Kammer  ein  Anwachsen  der  Quo- 
rnten  bei  Druckverminderung  beobachtet  wird,  denn  dieses 
irhalten  hat  nichts  mit  den  im  Höhenklima  zu  beobach- 
nden  Erscheinungen  gemein  und  ist  nur  ein  Ausdruck 
;r  Abventilation  von  Kohlensäure  aus  dem  Körper,  wäh- 
'nd  sich  dieser  gegenüber  dem  verminderten  Luftdruck 
s  Gleichgewicht  setzt. 

Wir  wissen  demnach  heute  nicht,  wie  wir  die  Urn- 
-tzsteigerung  zu  deuten  haben,  ja  wir  wissen  nicht  ein- 
al,  ob  wir  diese  als  ein  günstiges  oder  ungünstiges  Zeichen 
ir  Höhenwirkung  aufzufassen  haben,  da  unsere  bergkranke 
■rsuchsperson  die  Zunahme  der  Verbrennungsvorgänge 
nau  in  derselben  Weise  zeigte  wie  wir,  die  wir  nicht 
krankt  waren. 

Nur  mit  einer  Erscheinung  im  Höhenklima  kann  die 
insatzsteigerung  verglichen  werden,  das  ist  die  ausge- 
'rochene  Tendenz  zum  Stickstoffansatz,  die  schon  von 
iquet  auf  dem  Chasseral  beobachtet  wurde.  Folgende 
ibelle  gibt  einen  Ueberblick  über  die  bei  uns  im  Höhem 
iina  beobachtete  Stickstoffretention.  Wie  die  Tabelle  zeigt, 


N-Bilanz  Tagesmittel 

.unter  Berücksichtigung  der  N-Verluste  durch  die  Haut) 


Durig 
(15  g) 

Kolmer 
(16-3  g) 

Reiner 

(16  g) 

Reichel 

(16-8  g) 

Wien . 

Ruhe 

-0113 

-  0-124 

+  0-778 

-  1-683 

Margherit.ahütte 

» 

+  2-894 

+  2-195 

+ 1-486 

- 1-403 

Arbeit 

+  2-404 

+  2-399 

+ 1-565 

-  0-638 

(9  g) 

(io  g) 

Arbeit 

+ 1-241 

-  0004 

+  2-400 

+  1-341 

Ruhe 

+ 1-270 

+  1091 

+  3-214 

+  0  494 

» 

+  0-308 

+  0446 

+  1  260 

-0-432  , 

Alagna  . 

» 

+  0101 

-  0-960 

+  0-850 

-0-350  1 

Wien . 

Arbeit 

-  0-431 

-  0-737 

- i 

-1-736 

Ruhe 

-0139 

-  0-745 

-  0-759 

-1-485  ! 

Semmering  .  .  . 

+  0-909 

— 

_ 

-0-970 

Wien . 

+  0-027 

~ 

-1-846 

war  bereits  auf  dem  Semmering  ein  Stickstoffansatz  be¬ 
merkbar;  bei  mir  wurde  die  in  Wien  bei  derselben  Kost 
negative  Stickstoffbilanz  positiv,  bei  Reichel  weniger  ne¬ 
gativ.  Selbst  unter  ungewöhnlich  niedriger  Stickstoff  zufuhr 
auf  dem  Monte  Rosa  (9  g  pro  die)  trat  die  Stickstoffretention 
deutlich  hervor  (bis  zu  1-2  g  Ansatz  im  Tage),  nur  zeigt 
diese  die  Tendenz,  sich  allmählich  zu  verringern  und  einem 
Gleichgewicht  zuzustreben.  Den  Versuchen  ist  die  .Stick¬ 
stoffausscheidung  im  Schweiß,  die  in  Wien  im  Winter  bei 
Ruhe  und  Arbeit  bestimmt  wurde,  zugrunde  gelegt.  Es 
ergibt  sich  demnach,  daß  auch  in  sehr  großen  Höhen  die 
Tendenz  zum  Stickstoffansatz  unverändert  wie  in  mäßigen 
Höhen  beobachtet  wird,  daß.  aber  auch  der  zurückgehaltene 
Stickstoff  nach  der  Rückkehr  ins  Tal  nicht  wieder  ausge- 
stoßen  wird,  wie  man  erwarten  möchte,  wenn  unter  der 
Höhenwirkung  neu  gebildete  Blutkörperchen  zugrundegehen 
würden. 

Zwei  Fragen  sind  in  bezug  auf  diese  Retention  von 
Stickstoff  zu  beantworten,  die  dahin  lauten  werden,  ob 
der  Stickstoff  in  Form  von  Eiweiß  zurückgehalten  wird 
und  ob  die  Stickstoffretention  als  eine  erwünschte,  vorteil¬ 
hafte  Wirkung  des  Höhenklimas  aufzufassen  ist.  ,Erstere 
Frage  können  wir  auf  Grund  unserer  eigenen  umfassenden 
Versuche  über  den  Stickstoff-  und  Salzumsatz,  wie  auf  Grund 
der  Versuche  v.  W'endts  bejahen  —  die  Stickstoff  reten¬ 
tion  entspricht  einem  Eiweißiansatz  — letztere  Frage  jedoch 
muß  vorläufig  unentschieden  bleiben,  denn  wir  können  nur 
feststellen,  daß  der  bergkranke  Dr.  K  ohne r  genau  so  zum 
Stickstoffansatz  neigte,  wie  wir  alle,  ohne  daß  sich  bei  ihm 
irgendwelche  Zeichen  einer  Anpassung  gezeigt  hätten.  Auch 
die  Frage  nach  der  Form,  in  der  das  Eiweiß  angesetzt  wird, 
ist  heute  nicht  zu  entscheiden,  denn  der  Vermutung 
v.  Wendts,  daß  in  niederen  Höhen  Hämoglobin  und  Blut, 
in  größeren  Muskeleiweiß  gebildet  werden  solle,  stehen 
wohl  noch  Bedenken  gegenüber. 


- 

Cal./N 

im  Harn 

Durig 

Kolmer 

Rainer 

Reichel 

Wien . 

8-96 

10-24 

1007 

9-29 

Monte  Rosa  1 

9-74 

9-51 

9-14 

7-97 

»  »3 

— 

9-36 

914 

8-18 

»  »6 

11-19 

11-86 

8-94 

7-74 

Alagna .... 

10-46 

9-75 

9-75 

7-33 

Wien . 

9-79 

9-18 

9-19 

8-57 

Semmering  . 

9-83 

— 

— 

7-92 

'Nach  älteren  Angaben  sollte  eine  charakteristische 
Wirkung  des  Höhenklimas  darin  bestehen,  daß.  sich  unter 
dem  Einflüsse  schlechterer  Sauerstoffversorgung  Störungen 
im  Eiweißabbau  einstellen.  Die  Resultate  der  Untersuchun¬ 
gen  über  die  Höhe  des  Brennwertes  des  Harnes  wieseln 
nämlich  darauf  hin,  daß  sauerstoffärmere,  stickstoffhältige 
Verbindungen  zur  Ausscheidung  gelangen,  die  eine  Steige¬ 
rung  der  kalorischen  Quotienten  des  Harnes  bedingen.  Die 
Bestimmung  der  Aminosäuren  im  Harne  schien  diesen  Be¬ 
fund  zu  bestätigen.  Auffallenderweise  hatte  man  aber  schon 
in  einer  Höhe  von  500  m  ein  vermehrtes  Auftreten  von 


630 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  18 


Aminosäuren  im  Harne  gefunden.  Unsere  neuen  Beobach¬ 
tungen  (s.  obige  Tab.)  ergaben  keine  Anhaltspunkte  für  eine 
solche  Annahme,  denn  die  kalorischen  Quotienten  zeigten 
auf  dem  Monte  Rosa  keine  Tendenz  zum  Steigen  und  auch 
die  Menge  der  Aminosäuren  war  nicht  erhöht,  ja  die  höchsten 
Werte  für  Aminosäuren  im  Harne  fanden  wir  an  einem 
Versuchstage  in  Wien,  hiezu  ist  allerdings  zu  bemerken, 
daß  diesem  Befund  keine  Bedeutung  zukommt,  da  die  Be¬ 
stimmung  der  Aminosäuren  nach  der  Isozyanatmethode,  die 
wir  zur  Kontrolle  der  älteren  Angaben  anwenden  mußten, 
keine  quantitative  ist.  Bemerkenswert  ist  jedoch  jedenfalls 
die  Tatsache,  daß:  in  neuester  Zeit  nach  Blutverlusten 
ebenfalls  eine  Vermehrung  der  Aminosäuren  im  Harne  ge¬ 
funden  wurden. 

Gegen  gesetzmäßig  im  Höhenklima  eintretende  Aen- 
derungen  im  Eiweißabbau  spricht  auch  das  Resultat  der 
Untersuchung  der  Stickstoffverteilung  in  unseren.  Harnen, 
die  Befunde  ergab,  welche  ganz  mit  jenen  aus  der  Ebene 
übereinstimmen. 

Noch  einige  Worte  seien  mir  in  bezug  auf  die  Aus¬ 
nützung  der  Kost  gestattet.  Bis  in  eine  Höhe  von  3000  m 
war  auch  in  den  älteren  Untersuchungen  kein  Einfluß  des 
Höhenklimas  auf  die  Ausnützung  der  Nahrung  zu  beobachten 
gewesen.  In  großer  Höhe  hatte  sich  aber  unter  dem  Einflüsse 
ausgesprochenen  Unwohlseins  und  bei  bestehender  Berg¬ 
krankheit  Appetitmangel  und  eine  wesentliche  Verschlechte¬ 
rung  der  Ausnützung,  die  das  Eiweiß  der  Kost  betraf,  ein¬ 
gestellt.  Die  Stickstoffverluste  im  Kot  stiegen  von  6%  bis 
auf  20%  im  Maximum.  Lhisere  Versuche  ergaben,  daß 


N  pro  Tag  im  Kot 


Durig 

Kolmer 

Reichel 

Rainer 

Wien . 

0999 

1-349 

1-543 

1-506 

Monte  Rosa  1 

0968 

1-568 

2  306 

1-775 

»  »5 

0955 

1-791 

2073 

1-881 

»  »6 

1013 

1-872 

1-747 

1-892 

Alagna .... 

1094 

1-997 

1-613 

2064 

Wien . 

1112 

1-441 

•  1-707 

2-282 

Semmering  . 

1157 

— 

1-668 

Wien . 

1-165 

— 

1-900 

— 

das  Höhenklima  auch  in  fast  5000  m,  bei  Durig  und 
Rainer,  an  und  für  sich  die  Ausnützung  des  Ei¬ 
weiß  nicht  beeinflußt  hat.  Es  zeigte  sich  auch,  daß 
das  Unbehagen,  das  uns  die  schlechte  Fleischkonserve  be¬ 
reitete  und  das  um  so  ärger  wurde,  je  länger  wir  diese  essen 
mußten,  die  Ausnützung  immer  mehr  verschlechterte,  so  daß 
schließlich  bei  uns  beiden,  in  Wien  am  Schlüsse  der  Ver¬ 
suche  die  größten  Mengen  von  Stickstoff  im  Kot  erschienen. 
Es  darf  uns  daher  nicht  wundernehmen,  wenn  bergkranke, 
den  (Aufenthalt  in  der  Höhe  nicht  gewöhnte  Personen,  denen 
das  Essen  zum  Ekel  kvird,  unter  ausgesprochener  Verschlech¬ 
terung  der  Ausnützung  im  Hochgebirge  leiden.  So  ist  bei 
dem  bergkranken  Kolm  er  die  Verschlechterung  der  Aus¬ 
nützung  des  Eiweißes  auf  dem  Monte  Rosa  deutlich  zum 
Ausdruck  gekommen. 

Jene  Erscheinungen,  die  sich  im  Hochgebirge  beson¬ 
ders  störend  bemerkbar  machen,  sind  Schlaflosigkeit  (und 
Kopfschmerz.  Frau  Bullok  Workman,  die  bisher  den  Höhen¬ 
rekord  hält,  gibt  der  Ueberzeugung  Ausdruck,  daß  die  größte 
Schwierigkeit  für  die  Erreichung  der  höchsten  Gipfel  der 
Erde  in  der  Schlaflosigkeit  gelegen  sei.  Verminderte  Lei¬ 
stungsfähigkeit  und  die  Größe  der  Entfernungen  zwingt  ja 
bei  solchen  Besteigungen  zu  längerem  Aufenthalte  in  der 
Hochregion  und  es  steigt  daher  die  Zahl  der  schlaflosen 
Nächte  mit  der  Höhe  der  Gipfel. 

Merkwürdigerweise  konnten  wir  experimentell  keiner¬ 
lei  Störungen  von  seiten  des  Nervensystems  nachweisen. 
V  ir  fanden  auf  dem  Monte  Rosa  dieselben  Werte  für  Re¬ 
aktionszeit  und  Unterscheidungszeit  wie  in  Wien.  Auch  für 
das  Auftreten  des  Bückschwindels,  'den  man  in  großen  Höhen 
häufig  beobachtet,  konnten  wir  in  den  eigens  angestellten 
Versuchen  keine  Erklärung  finden.  Die  Gasspannungen  in 


der  Lunge  und  der  Puls  zeigten  keine  Abweichungen  von  der 
Norm  und  bekanntermaßen  ändert  sich  auch  die  Zirkulation 
in  den  Hirngefäßen  unter  dem  verminderten  Luftdruck  nicht. 

Gar  manche  der  Erscheinungen  im  Höhenklima  ist  uns 
daher  heute  noch  rätselhaft,  viele  Veränderungen  haben  sich 
als  mehr  oder  minder  zufällig  erwiesen  und  nur  wenige 
können  als  typischer  Refund  bezeichnet  werden.  Darüber 
daß  eine  Höhenwirkung  besteht,  kann  aber  kein  Zweifel  be¬ 
stehen,  doch  ist  das  Bild  ein  mannigfaltiges,  individuell  recht 
verschiedenes. 

Es  scheint  ein  Postulat,  daß  die  im  Höhenklima  wir¬ 
kenden  Reize  wie  viele  andere  Reize  bei  geringerer  Reiz¬ 
stärke  anregend,  bei  größerer  schädigend  wirken.  Wo  aber 
die  Schwelle  liegt,  die  nicht  überschritten  werden  soll,  wird 
nicht  durch  ein  Gesetz  festzuiegen  sein.  Es  steht  zu  er¬ 
warten,  daß  leichter  zum  Zerfall  neigende  Zellbestände  auch1 
leichter  auf  den  Reiz  des  Sauerstoffmangels  ansprechen  uni 
diese  Zellen  werden  auch  leichter  hei  Vergrößerung  der  Reiz¬ 
stärke  geschädigt  werden.  Es  ist  darum  begreiflich,  daß  die 
Symptome  der  Schädigung  im  Höhenklima  wechselnd  sein 
müssen,  je  nach  dem  Organe,  das  den  locus  minoris  resi- 
stentiae  hei  bestehendem  Sauerstoffmangel  vorstellt.  So  kann 
es  der  Darm,  das  (Herz,  der  Atemapparat  oder  die  Hirnhaut 
das  Organ  sein,  das1  die  Reize  durch  abnormales  Funktio¬ 
nieren  beantwortet  und  dazu  Veranlassung  gibt,  daß  eint 
Symptom  aus  der  latenten  Bergkrankheit  besonders  her¬ 
vorgehoben  wird.  Doch  welches  und  wieviele  Symptome! 
oder  in  welcher  Höhenlage  diese  auftreten,  das  läßt  sich 
von  vornherein  nicht  entscheiden,  weil  es  ja  keinen  gleich 
förmigen  Typus  Mensch  gibt.  Wozu  also  die  Natur  in  die 
zwängende  Fessel  von  Gesetzen  schlagen,,  aus  denen  sie  sich 
doch  wieder  mit  Sicherheit  befreit. 

Es  wird  uns  nach  dem  Gesagten  auch  nicht  wunder¬ 
nehmen,  daß:  die  Anpassung  an  das  Höhenklima  nur  eine 
teilweise  sein  kann  und  sich  nur  auf  die  akuten,  mehr  in¬ 
dividuellen  Symptome  beschränkt,  während  die  typischen, 
auf  verschlechterter  Sauerstoffversorgung  des  Gesamtkörper? 
beruhenden  Erscheinungen  in  großer  Höhe,  wie  die  Umsatz- 
Steigerung  sich  nach  den  bei  uns  gefundenen  Werten  an¬ 
scheinend  nicht  verändern  (Tabelle  über  den  Erhaltrrngs-! 
umsatz,  Beginn — Ende  des  Aufenthaltes  auf  dem  Monte! 
Rosa).  Die  Erklärung  hiefür  ist  wohl  eindeutig  in  der  un¬ 
veränderlichen  Höhe  der  alveolaren  Sauerstoffspannung  ge¬ 
geben  (s.  die  betreffende  Tabelle),  die  keinerlei  Anpassung! 
der  Wirkung  der  Atemmechanik'  an  die  ungünstige  Sauer 
Stoffversorgung  erkennen  läßt.  Auch  gegen  das  Auftreten 
der  Bergkrankheit  dürfte  es  eine  vollkommene  Gewöhnung 
nicht  geben.  Alan  sieht  dies  an  dem  Verhalten  ausgesprochen 
bergkranker  Personen ;  so  blieb  einer  unserer  Begleiter  wäh¬ 
rend  eines  Monates  dauernd  erkrankt,  wenn  auch  die  ersten 
akuten  Symptome  verschwunden  waren  und  doch  handelte 
es  (sich  dabei  um  einen  sonst  vollkommen  gesunden,  muskel¬ 
kräftigen  Alenschen,  der  schon  zahlreiche  Hochgipfel  erstiegen: 
hatte.  Bezeichnend  ist  das  Verhalten  eines  jungen  italie¬ 
nischen  Aleteorologen,  der  so  sehr  unter  der  Bergkrankheit  zul 
leiden  hatte,  daß  ihm  endlich  nichts  übrig  blieb,  als  in  das  Tal 
zurückzukehren,  da  sein  Zustand  sich  nicht  besserte.  Ganz) 
analog  scheinen  die  Verhältnisse  aber  auch  bei  Eingebo-. 
renen  in  der  Hochregion  zu  liegen,  denn  Ducceschi  be¬ 
richtet  ebenso  wie  Sven  II  e  d  i  n,  daß  solche  Hocklands¬ 
bewohner  gleichfalls  in  Höhen  zwischen  4000  bis  5000  m; 
von  Bergkrankheit  befallen  werden  und  auch  die  Arbeiter 
der  hochgelegenen  Bergwerke  in  den  Anden  erkranken  noch!, 
ab  und  zu,  selbst  wenn  sie  schon  seit  ihren  Jugendjahren, 
sich  an  den  Aufenthalt  in  den  Alinen  gewöhnt  haben. 

Trotz  reichlicher,  mühevoller  Arbeit,  kann  der  Theore 
tiker  dem  Kliniker  daher  heute  nur  wenig  gesetzmäßige 
Befunde  über  das  Verhalten  des  Menschen  im  Höhenklima 
an  die  Hand  geben.  Man  sieht  nur  die  gesteigerte  Tendenz 
zum  Stickstoffansatz,  die  Neigung  zu  einer  Erhöhung  der 
Verbrennungsvorgänge,  wie  zu  einer  Steigerung  der  Tempe¬ 
ratur  und  der  Pulsfrequenz  in  mäßigen  Höhen  ziemlich  all¬ 
gemein  ausgesprochen  oder  doch  angedeutet  und  doch  wissen 


Nr.  18 

===== 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


ir  von  allen  diesen  Symptomen  nicht,  ob  wir  sie  als 
iinstige,  erstrebenswerte  bezeichnen  dürfen  und  wir  sind 
einesfalls  in  der  Lage,  in  diesen  den  Ausdruck  der  unbe- 
veifelt  vorteilhaften  Wirkung  des  Höhenklimas  erkennen 

l  können. 

Ungeklärter  als  beim  Gesunden  liegen  noch  die  Ver¬ 
di  nisse  beim  Kranken  und  es  ist  vielleicht  das  wichtigste 
esu I tat,  das  bisher  die  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  ge- 
rdert  haben,  daß  der  Individualität  des  einzelnen  im  Höhen- 
ima  ganz  besonders  Rechnung  getragen  werden  müsse. 

Viele  Fragen  sind  noch  zu  beantworten  und  gerade 
■m  Pathologen  verspricht  das  Studium  der  Erscheinungen 
l  Höhenklima  wertvolle  Aufschlüsse,  die  als  Basis  für 
ne  wissenschaftlich  fundierte  Klimatherapie  dienen  werden, 
e  aber  auch  befruchtend  zurückwirken  müssen  auf  das 
jebiet  der  Physiologie  und  Biologie.  Möge  darum  das  Halten 
ii  heutigen  Festtage  keinen  Stillstand,  sondern  nur  den 
iginn  neuer  Arbeit  bedeuten! 

Munter  und  hoffnungsfreudig  sei  (daher  der  Wanderstab 
ieder  zur  Hand  genommen  und  herzlichst  sei  jeder  will- 
’  oimen,  welcher  mitziehen  will  auf  unserer  Bahn, 
■in  Ziele  der  Erkenntnis  entgegen,  dem  jeder  Naturforscher 
strebt,  getreu  dem  Wahlspruche 

Excelsior! 


Zur  Pathogenese  des  Kretinismus. 

Von  Oberbezirksarzt  Dr.  Arnold  Flinker,  Czernowitz. 

Die  Frage,  ob  der  Kretinismus  erblich  ist,  wird  seit 
ersher  diskutiert.  Fodere  bezeichnet©  den  Kretinismus 
o  „Erb-  und  Familienkrankheit“  und  suchte  seine  An- 
•ht  in  einer  Reih©  von  Thesen  zu  begründen.  Iphofen 
dt  die  Ansicht  Foderes  für  unrichtig  und  war  be- 
’  iht,  dieselbe  Punkt  für  Punkt  zu  widerlegen.  Sehr  be¬ 
lohnend  ist  es  für  diese  Polemik,  daß  die  Frage  sich  haupt- 
dilich  darum  dreht,  ob  die  Kinder  als  Kretinen  geboren 
Tden.  Es  wird  also  angenommen,  daß  die  vererbte  An¬ 
te  immer  sofort  in  die  Erscheinung  treten  müsse  und  über- 
'S  wird  die  angeborene  Anlage  mit  der  Vererbung  veir- 
'  chselt,  ein  Irrtum,  der  auch  heute  noch  in  verschiedenen 
Handlungen  über  den  Kretinismus  sich  findet  und  der 
-  gt,  wie  notwendig  es;  ist,  in  so  wichtigen  Fragen  vorerst 
•ire  Begriffe  zu  gewinnen.  Wir  müssen  uns  gegenwärtig 
tteiR  daß  ein  Leiden  angeboren  sein  kann,  ohne  auf 
'  rerbung  zu  beruhen  und  daß  ein  angeborenes  Gebrechen 
nsowenig  wie  ein  vererbtes'  sofort  bei  der  Geburt  zum 
irschein  kommen  muß'.  So  ist  z.  B.  der  Leistenbruch 

■  nein  Ursprünge  nach  sicherlich  angeboren.  Dennoch  ge¬ 
bt  ein  bereits  beirder  Geburt  bestehender  Bruch  zu  den 
!  ‘rgrößten  Seltenheiten.  In  der  Regel  macht  sich  derselbe 

t  mehrere  Jahre  nach  der  Geburt,  nicht  selten  erst  in  der 
bertät,  bemerkbar.  So  führen  ferner  die  Dermoidzysten, 

■  zweifellos  schon  während  des  intrauterinen  Lebens  ent- 
;  tiden  sind,  erst,  zur  Zeit  der  Pubertät  zu  sichtbaren  Ver¬ 
haltungen. 

Von  Vererbung  einer  Krankheit  kann  doch  wohl  nur 
1  in  die  Rede  sein,  wenn  die  krankhafte  Anlage  bereits 
den  Aszendenten  nachweisbar  ist.  Von  diesem  Gesichts- 
ikte  müßte  eine  Vererbung  des  Kretinismus  schon  des- 
b  a  priori  abgelehnt  werden,  weil  in  der  Mehrzahl  der 
de  die  Eltern  gar  keine  kretinis tischen  Symptome  dar- 
len.  Es  ist  jedoch  dem  Kropfe  der  Eltern  in  dieser  Hin- 
Bit  eine  Bedeutung  beigelegt  worden  und  von  einzelnen 
Boren  ist  der  Kropf  geradezu  als  der  Beginn  der  kretini- 
;en  Degeneration  angesehen  worden.  Ich  will  hier  nicht 
!  Frage  aufrollen,  ob  Kropf  und  Kretinismus  als  erwor- 
ie  Eigenschaften  vererbbar  sind,  es  scheint  mir  jedoch 
1  <r  gewagt,  von  einer  Vererbung  des  Kretinismus 
ß  aus  dem  Grunde  zu  sprechen,  weil  vielleicht  bei  einem 
' '  Aszendenten  Kropf  vorgekommen  ist. 

Damit  soll  jedoch  keineswegs  gesagt  sein,  daß  der 

■  ßd  der  Eltern  vollständig  bedeutungslos  ist.  Im  Gegen- 
'  ’  es  sprechen  sehr  viele  Zeichen  dafür,  daß  der  Kropf 


der  Aszendenten  für  die  Entstehung  des  Kretinismus  hei  den 
Deszendenten  verantwortlich  zu  machen  ist. 

Daß  in  der  Aszendenz  der  Kretinen  Kropf  sehr  häufig 
vorkommt,  ist  schon  seit  langem  aufgefallen.  Schon  Fodere 
behauptet,  daß-  das  kretinische  Kind  immer,  wenn  nicht 
kretinische,  so  doch  kropfige  Eitern  voraussetze.  Bail- 
1  arg  er  fand,  daß-  von  393  Kretinen  315  kropfige  Eltern 
hatten.  Hiebei  ist  zu  berücksichtigen,  was  schon  Virchow 
hervorgehoben  hat,  daß  der  Kropf  unter  Formen  vorkommt, 
die  sich  äußerlich  nur  in  sehr  geringem  Maße  darstellen. 
Die  Angaben  der  Laien  in  dieser  Hinsicht  sind  vollends 
unverläßlich.  Ich  selbst  habe  mich  oft  genug  überzeugt, 
daß  Eltern  eines  Kretins'  sagten,  sie  seien  nicht  mit  Kropf 
behaftet,  während  sich  bei  der  Untersuchung  herausstellte, 
daß  sie  auffallend  große  Kröpfe  hatten.  Und  doch  gründet 
sich  die  Statistik  zum  großen  Teile  auf  solche  von  Laien 
ausgehende  Angaben.  —  Von  vielen  Autoren  wird  insbe¬ 
sondere  auf  die  Häufigkeit  des  Kropfes  bei  den  Müttern  von 
Kretins  hingewiesen.  Auch  meine  Beobachtungen  lassen  eine 
vorwiegende  Beteiligung  der  Mütter  zweifellos  erscheinen. 
Unter  62  von  mir  genau  beobachteteten  Kretinen  konnte 
bei  12  der  Zustand  der  Eltern  nicht  mehr  erhoben  werden. 
Dagegen  war  bei  50  mit  aller  Sicherheit  mindestens  bei 
einem  der  Eltern  Kropf  zu  konstatieren.  Hievon  waren  in 
1 7  Fällen  beide  Eltern  kropfig,  in  32  die  Mutter  und  in  einem 
bloß  der  Vater.  Demnach  war  in  49  Fällen  nur  die  Mutter 
mit  Kropf  behaftet.  Auch  wenn  man  mit  einzelnen  Autoren 
annehmen  wollte,  daßi  die  Frauen  an  Kropf  häufiger  er¬ 
kranken  (als  die  Männer,  erscheint  die  Beteiligung  der  Frauen 
an  der  Kropferkrankung  unter  den  Eltern  der  Kretinen  noch 
immer  unverhältnismäßig  groß. 

Läßt  sich  das  so  häufige  Vorkommen  des  Kropfes 
unter  den  Aszendenten  der  Kretinen  als  bloßer  Zufall 
deuten? 

v.  Wagner,  welcher  sich  mit  dieser  Frage  in 
der  ihm  eigenen  lichtvollen  Weise  beschäftigt  hat, 
sucht  das  häufige  Vorkommen  des  Kropfes  in  der 
Aszendenz  der  Kretinen  einfach1  dadurch  zu  erklären,  daß 
dieses  Uebel,  wo  es  eben  endemisch  auftritt,  überhaupt 
sehr  häufig  vorkommt.  Auch  der  Nachweis,  daß  Kropf  bei 
den  Eltern  von  Kropfigen  und  Kretins  viel  häufiger  vor¬ 
kommt  als  bei  den  Eltern  nicht  mit  diesem  Uebel  Behaf¬ 
teter  oder  daßi  die  Kinder  von  Kropfigen  viel  häufiger  Kropf 
oder  Kretinismus  bekommen,  als  die  Kinder  Nichtkropfiger, 
ist  nach  v.  Wagner  wertlos,  da  diese  beiden  Uebel  ende¬ 
misch  sind  und  die  endemischen  Schädlichkeiten  innerhalb 
der  einzelnen  Territorien  in  verschiedenem  Grade  sich 
geltend  machen. 

Die  Ansicht  v.  W  agners  ist  insofern  zweifellos  richtig, 
als  Kropf  und  Kretinismus  neben-  und  miteinander 
Vorkommen,  sie  reicht  aber  nicht  aus,  um  die  auffallend  und 
unverhältnismäßig  vorwiegende  Beteiligung  der  Mütter  zu 
erklären,  denn  es  sind  ja  beide  Eltern  derselben  Schädlich¬ 
keit  ausgesefzt.  Das  fast  regelmäßige  Vorkommen  des  Krop¬ 
fes  unter  den  Eltern  der  Kretinen  kann  demnach  meines 
Erachtens  nicht  anders  gedeutet  werden,  als  daß  zwischen 
beiden  ein  ursächlicher  Zusammenhang  besteht. 

Wenn  gesagt  wird,  daß  kretinische  Kinder  von  ge¬ 
sunden  Eltern  geboren  werden,  die  in  Kretinengeigendeü 
eingewandert  sind,  so  muß  ich  darauf  hinweisen,  daß-  hiebei 
niemals  der  Beweis  erbracht  wurde,  daß  nicht  doch  eine 
Schädigung  der  Schilddrüse  vorausgegangen  ist,  die  in  nach¬ 
teiliger  Weise  auf  die  Nachkommenschaft  eingewirkt  hat. 
Ich  meinerseits  habe  in  allen  Fällen,  bei  denen  Gelegenheit 
geboten  war,  die  Eltern  zu  untersuchen,  bei  einem  derselben 
immer  eine  kropfige  Entartung  der  Schilddrüse  konstatiert. 

Es  wirft  sich  nun  die  Frage  auf,  inwiefern  der  Kropf 
dabei  beteiligt  sein  kann,  um  bei  den  Deszendenten  Kreti¬ 
nismus  zu  erzeugen.  Wenn  wir  von  der  Vererbung  absehen, 
so  gibt  es  wohl  nur  zwei  Möglichkeiten,  welche  diese  Er¬ 
scheinung  erklären  können. 

Wir  können  uns  vors  teilen,  daß  infolge  der  mit  dem 
Kropfe  verbundenen  Schädigung  der  Schilddrüsenfunktion 


632 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


der  Eltern  im  Stoffwechsel  solche  Veränderungen  vor  sich 
gehen,  die  eine  Schädigung  der  Keimzellen  zur  Folge 
haben.  ImHinbiek  auf  die  innigen  Beziehungen,  die  unter  den 
Drüsen  mit  innerer  Sekretion  bestehen,  erscheint  ein  solcher 
Einfluß  des  Kropfes  nicht  unwahrscheinlich.  Ich  erinnere 
hier  bloß  an  die  Veränderungen,  die  während  der  einzelnen 
Entwicklungsphasen :  in  der  Pubertät,  im  Klimakterium  und 
im  Greisenalter,  ferner  hei  gewissen  Krankheiten,  wie  Base¬ 
dow,  Chlorose  usw.,  mit  der  Schilddrüse  einerseits  und  mit 
der  Keimdrüse  andrerseits  vor  /sich  gehen.  Da  nun  nach  dem 
Ergebnisse  der  neuesten  Forschungen  die  Eizelle  und  die 
Samenzelle  für  die  Nachkommenschaft  nicht  gleichwertig 
zu  sein  scheinen,  sondern  der  mütterlichen  Keimzelle  eine 
größere  Bedeutung  beigemessen  wird,  so  würde  sich  die  häu¬ 
figere  Beteiligung  in  bezug  auf  den  mütterlichen  Kropf  in 
der  Aszendenz  der  Kretinen  in  einfacher  Weise  erklären. 

Es  ist  aber  auch  möglich,  daß  die  durch  die  Schädi¬ 
gung  der  Schilddrüse  bedingte  Schädlichkeit  erst  währenddes 
Embry  on  all  ehe  ns  einwirkt.  Ob  es1  sich  dabei  um  eine 
durch  den  Plazentarkreislauf  vermittelte  Uebertragung  Von 
giftigen  Stoffen  auf  den  Embryo  oder  um  eine  anderweitige 
Schädigung  desselben  handelt,  wollen  wir  vorläufig  dahin¬ 
gestellt  lassen.  Jedenfalls  aber  wäre  bei  dieser  Annahme 
die  größere  Beteiligung  der  Mutter  in  noch  viel  einfacherer 
Weise  erklärt  als  hei  der  Keimes  Vergiftung. 

Ich  habe  hier  bloß  hypothetisch  die  Frage  erörtert, 
in  welcher  Weise  die  Entartung  der  Schilddrüse  schädigend 
auf  die  Nachkommenschaft  einwirken  kann,  gebe  jedoch  die 
Möglichkeit  zu,  daß  auch,  unabhängig  von  der  Schilddrüsen¬ 
entartung  der  Eltern,  auf  den  Embryo  eine  noch  unbekannte 
Noxe  im  Sinne  einer  kretinösen  Entartung  einwirken  kann. 
Unter  allen  Umständen  aber  halte  ich  meinerseits  dafür, 
daß  der  Kretinismus  als  ein  angeborenes  Leiden  anzusehen 
ist,  das  nicht  selten  schon  bei  der  Geburt  wahrzunehmen 
ist,  in  der  Regel  'aber  erst  in  den  ersten 'Lebensjahren  in  die 
Erscheinung  tritt. 

Daß'  der  Kretinismus  in  vielen  Fällen  schon  bei  der 
Geburt  besteht,  kann  überhaupt  nicht  angezweifelt  werden, 
v.  Wagner,  der  die  Ansicht  vertritt,  daß  der  Kretinismus 
in  der  weitaus  überwiegenden  Zahl  der  Fälle  eine  in  den 
ersten  Lebensjahren  erworbene  Krankheit  ist,  beschreibt 
selbst  einen  Fall,  indem  eine  Mutter  vier  Kinder  mit  an¬ 
geborenem  Kretinismus  zur  Welt  gebracht  hat.  Die  Wahr¬ 
nehmung,  daß  die  kretinischen  Symptome  bald  nach  der 
Geburt  sich  zeigten,  ist  oft  genug  gemacht  worden. 
Der  Umstand  aber,  daß  die  krankhaften  Symptome 
in  den  meisten  Fällen  nicht  schon  bei  der  Geburt 
wahrgenommen  wurden,  sondern  erst  später  in  die  Er¬ 
scheinung  traten,  veranlaßte  die  meisten  Autoren  anzuneh¬ 
men,  daß  der  Kretinismus  ein-  in  frühester  Kindheit  erwor¬ 
benes  Leiden  ist.  Bloß  der  alte  Rösch  scheint  mir  die 
Sachlage  genau  erkannt  zu  haben,  indem  er  annahm,  daß 
die  Anlage,  die  Disposition  zum  Kretinismus  immer  ange¬ 
boren  ist,  daß  die  Entartung  selbst  ebenfalls  zuweilen  an¬ 
geboren  ist  und  zur  Stunde  der  Geburt  schon  wahr¬ 
genommen  wird,  daß-  dieselbe  dagegen  häufiger  erst  nach 
der  Geburt,  zu  allermeist  in  der  frühesten  Kindheit,  selten 
erst  im  Knabenalter,  sehr  selten  noch  später  beginnt. 

Es  gibt  aber  eine  Reihe  von  Tatsachen,  die  mit  aller 
Entschiedenheit  dafür  sprechen,  daß  der  Kretinismus  an¬ 
geboren  ist.  So  wird  von  vielen  Autoren  hervorgehoben, 
daß  die  Kretinen  meistens  mit  Leistenbruch  behaftet  sind. 
Auch  mir  ist  das  unverhältnismäßig  häufige  Vorkommen 
von  Leistenbrüchen  hei  dep  Kretinen  aufgefallen.  Wie  will 
man  nun  diese  Tatsache  anders  erklären,  als  durch  die 
Annahme  einer  angeborenen  Anlage?  In  diesem  Sinne  kann 
auch  ein  Tierversuch  v.  W  agners  und  Schlagenhau- 
fer  s  gedeutet  werden.  Eine  Hündin  mit  Totalexstirpation 
der  Schilddrüse  warf  fünf  Junge.  Von  diesen  gingen  vier 
an  Peritonitis,  resp.  Vorfall  der  Eingeweide  zugrunde,  weil 
sich  'bei  ihnen  der  Nabel  nicht  geschlossen  hatte. 
Die  thyreogene  Idiotie,  die  in  Kretinengegenden  so  oft  beob¬ 
achtet  wird  und  die  zweifellos  mit  dem  Kretinismus  nahe 


Nr.  18 


verwandt  ist,  ist  wohl  immer  angeborenen  Ursprunges.  — 
Auch  verschiedene  Tierexperimente  machen  es  wahrschein¬ 
lich,  daß  der  Kretinismus  angeboren  ist.  So  teilt  Lanz 
mit,  daß  die  Jungen  einer  thyreopriven  Ziege,  die  von  einem 
thyreopriven  Bock  konzipiert  hatte,  kretinoiden  Typus 
zeigten,  indem  sie  körperliche  Merkmale  des  Kretinismus 
aber  keine  geistigen  Defekte  äufwiesen.  Allerdings  sind  diese 
Angaben  von  Sch  läge  nhaufer  und  v.  Wagner  nicht 
bestätigt  worden.  Ich  möchte  hier  nur  noch  kurz  auf  die 
experimentellen  Untersuchungen  Hoennickes  hinweisen.  Man 
mag  über  H  o  ennickes  Theorie  der  Rachitis,  die  er  als 
eine  einfache  Entwicklungshemmung  definiert,  im  Mittel¬ 
punkte  von  deren  Wesen  eine  funktionelle  Insuffizienz  der 
Schilddrüse  steht,  denken,  wie  man  will,  das  eine  geht  doch 
mit  größter  Wahrscheinlichkeit  aus  seinen  an  Säugetieren 
angestellten  \  ersuchen  hervor,  daß  ganz  allgemein  ein 
Kranksein  von  gewisser  Intensität  und  Dauer  vor  oder  wäh¬ 
rend  der  Zeugung,  hzw.  der  Gravidität,'  imstande  ist,  em¬ 
bryonale  oder  i  n  f  a  n  t  i  1  e  Entwicklungshemmungen  zu  ver¬ 
anlassen. 


Abbildung  1:  Zwillinge.  Der  Bruder  ein  Kretin  höchsten  Grades,  di 

Schwester  normal. 

Alles  in  allem,  scheint  mir  denn  die  gegenwärtig  ben¬ 
schende  Lehre,  der  zufolge  der  Kretinismus  ein  in  dec 
j  Kindheit  erworbenes  Leiden  ist,,  einer  strengen  Kritik  nich 
standzuhalten. 


3 


Abbildung  2:  Die  Zwillinge,  neben  ihren  kretinösen  Geschwistern. 

Ich  bin  zu  diesen  Betrachtungen  durch  eine  Beob 
achtung  veranlaßt  worden,  die  wohl  einzig  in  der  Literatu ' 
dastehen  dürfte  und  die  ich  hier  kurz  mitteilen  will.  Ef 
handelt  sich  um  Zwillinge,  von  denen  der  Zwillingsbrudei 
i  den  höchsten  Grad  des  Kretinismus  darstellt,  während  dit 


Nr.  18 


633 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Zwillingsschwester  in  jeder  Beziehung  normal  ist.  (Abb.  1 
und  3.)  Sie  sind  am  4.  Mai  1884  in  der  Kretinenortschaft 
fspas  geboren  und  sollen  beide  gut  entwickelt  auf  die  Welt 
gekommen  sein,  der  Bruder  zuerst.  Im  dritten  Lebensjahre, 


Abbildung  3:  Der  männliche  Zwilling, 
ds  der  männliche  Zwilling  zu  gehen  und  zu  reden  anfing, 
zeigte  sich,  da.ßi  er  physisch  und  psychisch  zurückgeblieben 
var.  Der  Vater,  eih  berüchtigter  Trunkenbold,  ist  im  Alter 
on  57  Jahren  gestorben.  Ob  er  Kropf  hatte,  ist  unbekannt, 
lie  Mutter,  die  mit  einem  großen  Kropf  behaftet  war,  ist 
m  Alter  von  40  Jahren  gestorben.  Von  den  Geschwistern 
änd  die  zwei  ältesten  normal  entwickelt  und  geistig  gesund, 
line  'ältere  Schwester  und  ein  älterer  Bruder  sind  mit  Kropf 
»ehaftet  und  tragen  ausgesprochene  Symptome  des  Kreti- 
lismus.  (Abb.  2.) 

Das  höchste  Interesse  beansprucht  aber  das  Zwillings¬ 
paar.  Welch  ein  merkwürdiges  Widerspiel  der  Natur!  Beide 
haben  gleichzeitig  in  demselben  Mutterleibe  das  fötale  Leben 
turchlebt,  beide  sind  von  derselben  Mutter  ernährt  worden, 
leide  sind  in  (demselben  Haushalte  unter  denselben  äußeren 
'erhältnissen  aufgewachsen.  Dieselbe  Nahrung,  dasselbe 
Vasser,  dasselbe  Klima,  die  gleichen  Sitten  und  Gebräuche, 
iid  doch !  welch  gewaltige  Disharmonie  schon  in  der  äuße¬ 
rn  Gestalt.  Er  gegenwärtig  127  cm  (vor  sechs  Jahren  bloß 
16  cm),  sie  148  cm,  er  mit  dem  Stempel  des  Kretinismus 
ezeichnet,  die  Nase  breit,  an  der  Wurzel  sattelförmig  ein- 
esunken,  mit  großen,  nach1  vorne  gerichteten  Löchern,  die 
dime  kurz,  die  Zähne  klein,  braun  belegt,  im  Unterkiefer 
wei  Backenzähne  doppelt,  die  Schilddrüse  nicht  zu  tasten, 
m  ganzen  Körper  deutliches1  Myxödem,  die  Haut  trocken, 
thl,  Geschlechtsorgane  zurückgeblieben.  Sie  vollständig  nor¬ 
mal  entwickelt,  vom  kleinen  Kropf  abgesehen,  ohne  jedes 
iebrechen,  die  Züge  regelmäßig1  und  schön,  von  Myxödem 
eine  Spur,  die  Geschlechtsorgane  normal.  Und  noch  ge¬ 
waltiger  ist  der  Unterschied  in  intellektueller  Beziehung.  Er 
i  jeder  Hinsicht  geistig  zurückgeblieben,  die  Sprache  Inl¬ 
and,  sehr  schwer  verständlich,  alle  Bewegungen  linkisch 
nd  unbeholfen,  nicht  einmal  für  die  einfachsten  häuslichen 
arbeiten  verwendbar,  sie  ein  durchaus  intelligentes,  auf- 
ewecktes  Mädchen,  mit  einem1  den  Durchschnitt  ihrer  ge¬ 
linden  Umgehung  weit  überragenden  Bildungsgrad. 

Wie  tnun  soll  man  dieses  merkwürdige  Widerspiel  er 
lären?  —  Es  kann  wohl  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß 
er  Unterschied  auf  die  ungleiche  Entwicklung  der  Schi D I - 
riise  zurückzuführen  ist.  Denn  während  bei  ihm  absolut 
eine  Schilddrüse  aufzufinden  ist,  ist  hei  ihr  ein  nahezu 
pfelgroßer  Kropf  vorhanden.  Es  muß  also  angenommen 
werden,  daß  bei  ihm  eine  vollständige  Athyreosis  Platz 
egriffen  hat,  während  bei  ihr  noch  gesunde  Schilddrüse 
orhanden  ist.  Es  entsteht  nun  die  Frage,  wie  dieser  Unter- 
<hied  zu  erklären  ist. 

Da  eineiige  Zwillinge  immer  gleichen  Geschlechtes, 
nsere  Zwillinge  verschiedenen  Geschlechtes  sind,  so  folgt, 
iiß  diese  Zwillinge  sich  aus  zwei  Eiern  entwickelt  haben. 


Es  ist  nun  schwer  anzunehmen,  daß  der  eine  mütter¬ 
liche  Keim  vergiftet,  der  andere  aber  intakt  war.  Da  ferner 
gar  kein  Anhaltspunkt  dafür  vorhanden  ist,  daß  die  Zwil¬ 
lingseier  durch  Sperma  von  verschiedenen  Männern  bei¬ 
fruchtet  wurden  (Superfoekundation),  so  erscheint  eine  Kedm- 
vergiftung  sehr  unwahrscheinlich,  wiewohl  dieselbe  nicht 
ganz  ausgeschlossen  werden  kann.  Eher  schön  kann  man 
an  eine  Schädigung  während  der  ersten  Zeit  des  Fötallehens 
denken.  Da  bei  Zwillingen  eine  der  beiden  Früchte  in  der 
Entwicklung  erheblich  zurückbleibt,  so  ist  vielleicht  die  An¬ 
nahme  gestattet,  daß  einer  von  den  Zwillingen  für  die  Schäd¬ 
lichkeit  eher  disponiert,  war,  so  daß  es  bei  ihm  zu  einer 
vollständigen  Athyreosis  gekommen  ist,  die  sich  in  den 
ersten  Lebensjahren  bemerkbar  machte,  als  das  Kind  zu 
gehen  und  zu  sprechen'  anfing. 

Allerdings  könnte  man  auch!  sagen,  daß  der  vielleicht 
in  Seiner  Ernährung  beeinträchtigte  männliche  Zwilling  eine 
erhöhte  Disposition  mit  auf  die  Welt  gebracht  hat  und  es 
erst  in  der  Kindheit  zu  einer  so  schweren  Schädigung  der 
Schilddrüse  gekommen  ist,  die  dann  zum  Kretinismus  ge¬ 
führt  hat.  —  Das  Aber  ist  sicher:  wir  stehen  hier  vor  einem 
Problem,  dessen  Lösung  hei  dem  gegenwärtigen  Stande 
der  Lehre  vom  Kretinismus  sehr  schwierig  ist. 


Aus  der  mährischen  Landesgebäranstalt  in  Olmütz. 
(Direktor :  Prof.  Dr.  Eduard  Frank.) 

Ueber  einen  Fall  von  Tetanie  nach  Adrenalin¬ 
injektionen  bei  Osteomalazie. 

Von  Dr.  Richard  Marek,  Frauenarzt  in  Proßnitz. 

Die  günstige  Wirkung  des  Adrenalins  auf  die  Kno¬ 
chenerweichung  läßt  sich  in  manchen  Fällen  nicht  bestreiten; 
es  gelingt  in  der  Tat,  manchmal  eine  auffallende  Besserung 
aller  Symptome  durch  diese  Behandlung  zu  erzielen.  Wir 
haben  (Gelegenheit  gehabt,  das  B  o  s  s  i  sehe  Verfahren  in  der 
hiesigen  Gebäranstalt  in  zwölf  Fällen  auszuprobieren:  es 
wurde  dabei  8mal  eine  Heilung,  eventuell  bedeutende  Besse¬ 
rung  der  Symptome  beobachtet,  in  drei  Fällen  war  die 
Besserung  nicht  so  deutlich  und  nur  einmal  versagte  diese 
Therapie. 

Inder  Zahl  unserer  Patientinnen,  welche  mit  Adrenalin¬ 
injektionen  behandelt  wurden,  befindet  sich  eine,  bei  welcher 
sich  im  Laufe  der  Behandlung  typische  Tetanie  eingestellt 
hatte.  Dieser  Fall  ist  meiner  Ansicht  nach  in  mancher  Be¬ 
ziehung  interessant,  deshalb  erlaube  ich  mir  denselben  hier 
mitzuteilen : 

M.  K.,  35jährige  Pferdehändlersgattm,  wurde  am  9.  Sep¬ 
tember  1909  in  die  hiesige  Gebäranstalt  aufgenommen.  Sie  ist 
zum  siebenten  Male  schwanger.  Die  ersten  drei  Schwangerschaften 
verliefen  normal.  In  der  vierten  Gravidität  stellten  sich  gleich 
zu  Beginn  derselben  Schmerlen  im  ganzen  Körper  ein,  welche 
durch  die  ganze  Dauer  anhielten;  die  Patientin  konnte  dabei 
herumgehen  und  arbeiten,  jedoch  schwieriger  als  sonst.  Am  nor¬ 
malen  Termine  erfolgte  spontane  Geburt  eines  lebenden  Kindes. 
Bald  darauf  sind  die  Schmerzen  verschwunden,  so  daß  sich  die 
Patientin  die  nächsten  drei  Jahre  vollkommen  gesund  fühlte. 
Ein  Jahr  später  ist  sie  wieder  schwanger  geworden  und  die  Be¬ 
schwerden  kehrten  in  demselben  Maße  zurück.  Der  zur  Geburt 
geholte  Arzt  machte  Wendung  auf  den  Fuß  und  entwickelte  ein 
lebendes  Kind,  welches  nach  vier  Monaten  an  einer  Bronchitis 
gestorben  ist.  Zwei  Jahre  später  die  sechste  Schwangerschaft. 
Die  Schmerzen  waren  wiederum  nicht  stärker  wie  sonst,  die 
Patientin  konnte  der  häuslichen  Arbeit  nachgehen.  Nach  drei¬ 
tägiger  Wehentätigkeit  mußte  schließlich  das  Kind  perforiert  wer¬ 
den  (November  1907-).  Ebenfalls  nach  dieser  Geburt  sind  die 
Schmerzen  bald  verschwunden.  Letzte  Periode  war  Mitte  De¬ 
zember  1908,  die  ersten  Kindesbewegungen  verspürte  sie  gegen 
10.  Mai  1909.  Die  ersten  sieben  Monate  dieser  letzten  Schwan¬ 
gerschaft  verliefen  ganz  schmerzlos,  in  den  letzten  drei  Monaten 
traten  die  alten  Beschwerden  in  derselben  Intensität  wie  sonst 
auf.  Die  Patientin  wurde  zur  erwartenden  Niederkunft  von  ihrem 
Hausarzte  in  die  Anstalt  geschickt. 

Die  äußere  Untersuchung  der  mittelgroßen,  mittelkräftigen, 
schlecht  genährten  Patientin  ergab  folgendes:  sämtliche  Knochen, 
besonders  die  des  Thorax  und  der  Oberschenkel,  sowie  die  Becken- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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knochen  sind  auf  Druck  äußerst  schmerzhaft.  Der  Gang  ist  müh¬ 
sam,  watschelnd.  Der  Uterus  ist  längsoval  vergrößert,  sein  Fundus 
reicht  drei  Querfinger  unter  den  Processus  xiphoideus.  Die  Frucht 
befindet  sich  in  erster  Kopflage;  Herztöne  der  Frucht  links  unter 
dem  Nabel  gut  hörbar,  Kopf  hoch,  beweglich.  Bei  der  inneren 
Untersuchung  findet  man,  daß  die  Beckenknochen  ebenfalls  sehr 
druckempfindlich  sind ;  die  Symphyse  ist  schnabelförmig,  das 
Promontorium  ist  nach  vorne  geschoben  und  steht  sehr  hoch. 
Beckenmaße:  Sp.  23,  Cr.  30,  Tr.  33,  C.  d.  9  cm. 

Am  18.  September  stellen  sich  schwache  Wehen1  ein;  der 
Scheidenteil  ist  dabei  erhalten  (2  cm  lang),  der  äußere  Mutter¬ 
mund  für  zwei  Finger  durchgängig.  Vom  19.  bis  21.  September 
zeitweise  schwache  Wehen,  Temperatur  normal.  Herztöne  der 
Frucht  kräftig.  Am  21.  September,  um  10  Uhr  abends,  stellen 
sich  kräftige  Geburtswehen  ein.  Da,  trotz  derselben  der  Kopf 
nicht  eintritt,  wurde  am  22.  September,  um  VklO  Uhr  vormittags, 
in  ruhiger  Billrothnarkose,  die  typische  Sectio  caesarea  sec.  Porro 
mit  Entfernung  beider  Adnexe,  ausgeführt  und  ein  lebendes  Kind 
weiblichen  Geschlechtes  entwickelt  (52  cm,  3820  g).  Am  22.  Sep¬ 
tember  mußte  die  Patientin  katheterisiert  werden,  am  24.  Sep¬ 
tember  ist  die  Druckempfindlichkeit  der  Rippen,  sowie  der'  Becken¬ 
knochen  fast  verschwunden.  Am  4.  Oktober,  nachmittags,  plötzlich 
Temperatursteigerung  bis  38-5°  C,  die  Patientin  bekommt  ein 
Klysma  und  nach  gründlicher  Stuhlentleerung  kehrt  die  Tem¬ 
peratur  ad  normam  zurück.  Seither  fieberloser,  Verlauf. 

Am  5.  Oktober  wurde  der  Stumpf  entfernt;  die  nekrotischen 
Massen  in  der  Tiefe  stoßen  sich  langsam  ab.  Heilung  der  Wunde 
per  primam. 

Am  12.  Oktober  steht  in  der  Geburtsgeschichte  folgendes 
notiert :  Beim  Liegen  fühlt  sich  die  Patientin  ganz  wohl ;  sie 
kann  sich  jedoch  nicht  aufstellen.  Der  Gang  ist  nur  dann  möglich, 
wenn  sie  von  beiden  Seiten  unterstützt  wird.  Weil  die  Besserung 
keine  erhebliche  ist,  wird  zur  Adrenalinbehandlung  geschritten. 

Am  13.  Oktober  erste  Injektion  Adrenalin -Takamine  (lern3). 
Temperatur  dabei  36°  C,  Puls  80,  kräftig,  voll.  Im  Urin  keine 
pathologischen  Elemente.  Bald  nach  der  Injektion  Spannungs¬ 
gefühl  in  beiden  Händen,  sonst  keinerlei  Nebenbeschwerden. 

Am  nächsten  Tage  fühlt  sich  die  Patientin  angeblich  wohler. 

19.  Oktober:  Die  Patientin  kann  sich  selbst  aufstellen,  sic 
geht  langsam  herum,  indem  sie  sich  am  Bettrande  hält,  was  früher 
nicht  möglich  war.  Sie  bekommt  dabei  jeden  Tag  1  ein3  Adrenalin- 
Takamine. 

Am  20.  Oktober  stellen  sich  gegen  Abend  plötzlich  und  ohne 
Veranlassung  heftige  Schmerzen  in  dem  linken  Oberschenkel  ein, 
so  daß  die  Patientin  überhaupt  nicht  auftreten  kann.  Durch  die 
Röntgenaufnahme  lassen  sich  an  beiden  Oberschenkelknochen 
nur  osteomalazische  Veränderungen  nachweisen.  Im  Urin  0. 

26.  Oktober :  Die  Schmerzen  sind  geringer  geworden,  sie  ver¬ 
lieren  sich  jedoch  nicht.  Die  Patientin  liegt  den  meisten  Tag, 
geht  nur  mit  Hilfe  herum. 

30.  Oktober :  Der  Zustand  hat  sich  nur  insofern  geändert, 
daß  die  Patientin  langsam  und  mühsam  einige  kleine  Schritte 
machen  kann.  Sie  verträgt  die  Injektionen  ganz  gut,  klagt  nur 
über  ein  zusammenziehendes  Gefühl  in  beiden  Händen. 

3.  November:  Pat.  geht  wieder  leichter  herum,  klagt  nur 
über  Schmerzen  in  den  oberen  Partien  des  linken  Femurs,  welcher 
auch  d ru cke'mp f i n d  1  i ch  ist. 

Bis  zum  15.  November  ändert  sich  das  Krankheitsbild  fast 
nicht.  Am  16.  November  stellet  sich  bald  nach  der  In¬ 
jektion  tonische  Kräinpfe  in  beiden  Händen  ein,  bei 
welchen  die  H  a,  n  d  die  charakteristische  G  eb  u  r  I,  s- 
helfer einstellung  einnimnft  (Tetanie!);  die  Krämpfe  dau¬ 
ern  ungefähr  eine  Viertelstunde  und  verlieren  sich  dann  von 
selbst.  C  h  v  os  teksches  Phänomen  positiv,  Trouss  ©au Rehes 
Phänomen  läßt,  sich  nicht  nachweisen.  Am  17.  November  das¬ 
selbe  Bild. 

18.  November:  Die  Krämpfe  erscheinen  fünf  Minuten  nach 
der  Injektion,  dauern  wie  sonst  ungefähr  15  Minuten.  Pupillen- 
rcaktion  normal,  im  Urin  weder  Eiweiß  noch  Zucker. 

Am  19.  November  wurde  nur  Vs  cm3  Adrenalin  injiziert; 
die  Krämpfe  Avurden  nur  in  der  linken  Hand  beobachtet,  in  der 
rechten  sehr  schwach.  20.  November:  Status  idem. 

21.  November:  Trousseausches  Symptom  positiv  und 
leicht  zu  erzielen. 

23.  November:  Der  Anfall  dauerte  diesmal  eine  halbe  Stunde, 
erschien  erst  15  Minuten  nach  der  Injektion,  war  nicht  \be*- 
sonders  stark.  Die  Situation  ändert  sich  bis  zum  26.  November 
nicht.  Am  27.  November  wurden  die  Injektionen  ausgesetzt. 

28.  bis  30.  November:  Keine  Anfälle  von  Krämpfen. 
Fhvos teksches  Phänomen  deutlich,  Trousseausches  Phäno¬ 
men  läßt  sich  erst  nach  längerer  Zeit  hervorrufen.  Im  Urin  0. 


1.  Dezember:  Um  12  Uhr  mittags  abermalige  Injektion  von 
1  cm8.  Keine  Krämpfe. 

2.  Dezember:  Zweite  Injektion.  Keine  Krämpfe. 

Am  3.  bis  4.  Dezember  wurde  je  1  cm3  injiziert,  ohne  daß 
sich  die  Krämpfe  eingestellt  hätten.  Chvosteksches  Phänomen 
positiv,  Trousseausches  Phänomen  erst  nach  längerer  Zeit 
und  weniger  deutlich  ausgeprägt. 

Am  4.  Dezember  Avurde  die  Patientin:  auf  eigenes  Verlangen 
entlassen.  Befund  am  Entlassungstage:  Wunde  durch  feste  Narbe 
verschlossen,  Avelche  nur  in  der  Mitte  eine  kleinlinsengroße,  rein 
granulierende  Fläche  zurückläßt.  Die  Knochen  sind  auf  Druck 
nicht  empfindlich,  es  besteht  nur  leichte  Druckempfindlichkeit 
der  Beckenknochen  bei  der  vaginalen  Exploration. 

Die  Patientin  geht  freier  herum,  der1  Avatschelnde  Gang 
ist  kaum  angedeutet.  Zeitweise  klagt  die  Patientin  über  leichte 
Kopfschmerzen. 

Während  der  ganzen  Zeit  hat  die  Patientin  ihr  Kind  selbst 
gestillt;  das  Kind  zeigte  keine  Störungen  von  seiten  des  lu- 
testinaltraktus,  hat  an  Gewicht  zugenommen  (4890  g  gegen  3820  g 
bei  der  Geburt). 

Ueber  das  spätere  Befinden'  der  Patientin  erhielt  ich  durch 
die  Güte  des  Herrn  Kollegen  Dr.  Kral  zwei  Berichte,  welche 
ich  hier  in  kurzem  Aviedergebe : 

Bericht  vom  3.  März  1910:  Subjektiv  ziemlich  Wohlbefinden, 
guter  Schlaf.  Stillt  bis  jetzt  das  Kind,  Avelches  gut  gedeiht.  Die 
leichteren  Hausarbeiten  kann  die  Patientin  gut  besorgen.  Beim 
Gehen  ist  der  Oberkörper  nach  vorne  gebückt;  nach  längeren: 
Gehen  (etwa  nach  einer  Viertelstunde)  fühlt  sich  die  Patientin 
ziemlich  matt.  Lungen-  und  Herzbefund  normal.  Im  Urin  keine 
pathologischen  Bestandteile.  Im  unteren  Wundwinkel  eine  kleine 
Fistel,  aus  welcher  ein  Vereiterter  Faden'  entfernt  wurde.  Im 
linken  Hüftgelenk  ausstrahlende  brennende  Schmerzen,  welche 
auch  bei  aktiven  und  passiven  Bewegungen  gespürt  werden.  Sonst 
sind  die  Knochen  nicht  druckempfindlich. 

Ungefähr  14  Tage  nach  ihrer  Entlassung  aus  der  Gebär¬ 
anstalt  bekam  die  Patientin  einen  geschwürigen  Ausschlag  an 
beiden  unteren  Extremitäten ;  diese  Geschwüre,  acht  im  ganzen, 
heilten  sehr  langsam  aus  und  ließen  dunkelbraun  pigmentierte, 
kronen-  bis  guldenstückgroße  Flächen  zurück.  Leider  sind  in 
der  Nachricht  keine  Angaben  vorhanden,  Avelche  uns  über  die 
überstandene  Tetanie  berichten  Avürden. 

Laut  der  zweiten  Mitteilung  von:  6.  Februar  1911  hat  sich 
der  subjektive  Avie  der  objektive  Zustand  der  Patientin  kaum 
geändert. 

Wenn  ich  nun  die  Krankengeschichte  kurz  rekapitu¬ 
liere,  so  sehen  Avir,  daß  sich  bei  einer  Multipara,  welche  sei! 
ihrer  vierten  Gravidität  au  einer  nicht  besonders  schweren 
Osteomalazie  gelitten  hatte,  trotz  der  Kastration  nach  aus¬ 
geführter  iSectio  caesarea  sec.  Porro  keine  wesentliche  Besse¬ 
rung  der  Beschwerden  eingestellt  hatte;  deshalb  wurde  die 
Adrenalinbehandlung  angewendet.  Die  Injektionen  wurden 
anstandslos  vertragen.  Im  Laufe  rder  Behandlung  entwickelte 
sich  typische  Tetanie;  die  Krämpfe  traten  nach  jeder  In¬ 
jektion  auf,  verschwanden,  wenn  die  Injektionen  ansgesetzt 
wurden.  Nach  erneuten  Injektionen  kehrten  die  Krämpfe 
nicht  zurück. 

Ob  die  heftigen  Schmerzen  im  linken  Oberschenkel 
mit  der  Therapie  Zusammenhängen,  läßt  sich  bezweifeln. 
Wir  wissen  im  Gegenteil,  daß  in  einigen  Fällen  nach  Adre¬ 
nalinbehandlung  die  Schmerzen  verschwunden  sind,  obzwar 
die  anderen  Symptome  in  derselben  Intensität  anhielten. 
Ueher  einen  solchen  Fall  berichtet  Bossi,  in  letzter  Zeit 
Cristofoletti;  auch  Avir  haben  zwei  solche  Fälle  beob¬ 
achten  können,  wo  die  Adrenalininjektionen  nur  das  be¬ 
wirkt  haben,  daß'  die  quälenden  Schmerzen  aufhörten.  Nach 
Aussetzen  der  Injektionen  erschienen  die  Schmerzen  von 
neuem,  so  daß  uns  die  eine  Patientin  von  selbst  bat,  die 
Injektionen  fortzusetzen.  Eine  langsame  Besserung  des  Geh¬ 
vermögens  trat  in  diesem  Fälle  erst  nach  ausgeführter  Ka¬ 
stration  auf ;  diese  Patientin  hat  spontan  vorzeitig  entbunden. 
In  dem  zweiten  Falle  handelte  es  sich  um  eine  äußerst 
schwere  Osteomalazie,  wo  durch  die  Adrenalinbehandlung 
wenigstens  das  erzielt  wurde,  Idaß  die  Krankheit  nicht  weiter 
fortschritt;  es  ist  uns  gelungen,  die  Schwangerschaft  bis 
gegen  'Ende  zu  erhalten  und  dann  ein  lebendes  und  lebens¬ 
fähiges  Kind  durch  die  Sectio  caesarea  sec.  Porro  zu  ent- 
wickeln. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


635 


Nr.  18 


Die  sogenannte  MaternitätsLetanie  (Hie  Tetanie  der 
Schwangeren,  Gebärenden  und  Säugenden)  ist  zwar  keine 
seltene  Erkrankung.  Auch  in  der  hiesigen  Anstalt  wurde 
eine  größere  Anzahl  schwerer  Fälle  beobachtet  und  über 
diesbezügliche  Erfahrungen  wurde  erst  vor  kurzer  Zeit  von 
Prof.  F  rank  berichtet. 

Nach  den  jetzigen  Anschauungen  entsteht  die  Tetania 
gravidarum  dann,  wenn  die  Epithelkörperchen  insuffizient 
werden.  Es  sind  nach  Frank  zwei  Möglichkeiten  vor¬ 
handen.  Es  ist  möglich,  daß  die  von  Tetanie  befallenen 
Schwangeren  a  priori  wenig  oder  kranke  Epithelkörperchen 
besitzen,  welche  wohl  in  nichtgravidem  Zustande  die  im 
Körper  vorhandenen  Toxine  zu  neutralisieren  vermögen, 
aber  erst  in  der  Schwangerschaft  durch  die  Toxine,  welche 
von  der  Plazenta  produziert  werden,  insuffizient  werden; 
oder  daß  bei  gewissen  Frauen  die  Produktion  der  Toxine 
eine  so  reichliche  ist,  daH  sie  allein  auch  bei  gesunden  Epi¬ 
thelkörperchen  nicht  neutralisiert  werden  können. 

Diese  Hypothesen  werden  wesentlich  gestützt  durch 
die  Veränderungen  der  Tätigkeit  der  Blutdrüsen  in  der 
Schwangerschaft. 

Wir  wissen  heute,  daß  der  Adrenalinbedarf  in  der 
Schwangerschaft  gesteigert  ist.  Dieses  kennzeichnet  sich 
durch  die  Vermehrung  des  Adrenalingehaltes  im  Blutserum, 
wie  es  von  Neu  und  Höfbauer  nachgewiesen  wurde. 
Das  chromaffine  System  wirkt  aber  hemmend  auf  die  Epi¬ 
thelkörperchen,  es  ist  also  anzunehmen,  daß  durch  diese 
hemmende  Wirkung  eine  Insuffizienz  der  Epithelkörperchen 
entsteht,  welche  dann  den  Ausbruch  der  Tetanie  zur  Folge 
haben  kann.  Diese  Annahme  ist  um  so  wahrscheinlicher, 
wenn  wir  uns  vergegenwärtigen,  daß  der  Adrenalingehalt 
im  Serum  der  Schwangeren  bis  um  das  Zehn-  Ins  Zwölffache 
^egen  die  Norm  vermehrt  werden  kann  (Neu). 

Die  gesteigerte  Tätigkeit  des  chromaffinen  Systems 
tnider  Gravidität  hat  also  eine  Insuffizienz  der  Epithelkörper¬ 
chen  zur  Folge,  welche  sich  in  geeigneten  Fällen  durch  Auf¬ 
treten  (der  Tetanie 'kundgibt.  Nach  diesen  Ausführungen  wäre 
dso  jede  Schwangere  mehr  oder  weniger  der  Gefahr  einer 
Tetanie  ausgesetzt;  daß  aber1  die  Telanie  nur  in  einzelnen 
Fällen  beobachtet  wird,  ist  vielleicht  dadurch  zu  erklären, 
laß  durch  die  gegenseitige  Wirkung  sämtlicher  Blutdrüsen 
lie  Insuffizienz  der  Epithelkörperchen  in  der  Schwanger¬ 
schaft  ausgeglichen  wird. 

Nach  Frank  ist  der  Verlauf  der  Gravidilätstelanie 
ein.  rezidivierender;  in  jeder  folgenden  Schwangerschaft  tritt 
lie  Tetanie  wieder  auf!  u.  zw.  stellen  sich  die  Krämpfe  in 
ler  zweiten  Hälfte  der  Schwangerschaft  ein.  Auch  dieses  läßt 
sich  mit  der  oben  genannten  Hypothese  gut  in  Zusammen¬ 
hang  bringen:  Stellt  sich  bei  einer  Patientin  Insuffizienz 
ler  Epithelkörperchen  ein,  dann  ist  es  sehr  wahrscheinlich, 
laß  sich  dieses  Ereignis  in  der  nächsten  Schwangerschaft 
wiederholen  wird,  daß  aber  in  der  Zwischenzeit,  wo  sich 
lie  Adrenalinausscheidung  in  normalen  Grenzen  bewegt, 
lie  Insuffizienz  der  Epithelkörperchen  ganz  verschwinden 
sann.  Nach  Neu  scheint  das  Adrenalin  in  der  graviden 
iebärmutter  chemisch  gebunden  zu  werden.  Die  Masse  der 
lebärmuttermuskulatur  nimmt  aber  in  der  Gravidität  und 
besonders  zu  Beginn  der  zweiten  Hälfte  derselben  außer¬ 
ordentlich  stark  zu;  deshalb  imacht  sich  der  vermehrte  Adre- 
aalinbedarf  besonders  in  der  zweiten  Hälfte  der  Schwanger¬ 
schaft  merkbar,  dadurch  wird  zu  dieser  Zeit  die  Insuffizienz 
ler  Epithelkörperchon  größer  werden  und  die  Möglichkeit 
‘iner  Tetanie  wahrscheinlicher. 

Die  obigen  Ausführungen  gelten  aber  nur  für  die 
Schwangerschaft  ohne  Osteomalazie.  Bei  der  Knochenenvei- 
hung  finden  wir  im  'Gegenteil,  daß  das  chromafiine  System 
insuffizient  wird.  Deshalb  läßt  sich  auch  die  günstige  Wir¬ 
kung  der  Adrenalinbehandlung  sowie  der  Kastration  bei 
Osteomalazie  erklären.  Der  therapeutische  Effekt  der  Ka¬ 
stration  liegt,  wie  bekannt,  darin,  daß  durch  Wegfall  der 
Ovarien  eine  Hypertrophie  der  Nebennieren  zustande  kommt; 
durch  diese  wird  der  vermehrte  Adrenalinverbrauch  gedeckt. 
Es  ist  also  gar  nicht  notwendig,  wie  Cra  m  e  r  in  seiner 


letzten  Publikation  meint,  anzunehmen,  daß  durch  die  Ka¬ 
stration  ein  knochenbildendes  Prinzip  im  Organismus  frei 
wird  und  daß  dieser  Stoff  im  Blute  der  Kastrierten  kreist. 

Wir  fnüssen  uns  also  bemühen,  für  die  Komplikation 
Osteomalazie  +  Tetanie  eine  andere  Erklärung  zu  finden. 

Es  sind  zwar  Fälle  bekannt,  wo  die  verschiedensten 
Affektionen,  deren  Ursache  in  der  Störung  der  Tätigkeit 
der  innersekretorischen  Organe  zu  suchen  ist,  bei  einer  und 
derselben  Patientin  beobachtet  wurden.  M  ü  1 1  e  r  konnte  bei 
einer  Patientin  folgende  Affektionen  demonstrieren:  Die  seit 
1889  an  Akromegalie  leidende  Patientin  akquiriert  Struma, 
Tetanie  (Chvostek  +,  Trousseau  +)  und  neuerdings  Osteo¬ 
malazie.  Fall  Köppen-v.  Recklinghausen:  23jährige 
Frau.  Basedow,  Tetanie,  Osteomalazie.  Exitus.  Große  Thy¬ 
mus.  Großes  Hirngewicht.  Ganglion  supremum  des  Sym¬ 
pathikus  beiderseits  sehr  lang.  Herz  vergrößert.  Lymph- 
drüsenschwellung. 

E  r  d  h  e  i  m  untersuchte  Epithelkörperchen  bei  Osteo¬ 
malazie  in  sechs  Hällen.  Bei  einem  Falle  mit  hochgradiger 
osteomalazischer  Deformität  des  Beckens  fand  er  eines  der 
vier  Epithelkörperchen  in  einen  nicht  unbeträchtlichen  Tu¬ 
mor  umgewandelt,  an  dem  sich  mikroskopisch  eine  Wuche¬ 
rung  feststellen  ließ  vom  Charakter  einer  adenomatösen 
Hyperplasie.  Untersuchungen  an  fünf  weiteren  Fällen  er¬ 
gaben  bei  vieren  mehr  odeir  weniger  ausgeprägte  gleich¬ 
sinnige  Verhältnisse,  während  ein  Fall  makro-  und  mikro¬ 
skopisch  ein  negatives  Resultat  lieferte.  Es  wurde  aber  in 
diesen  Fällen  keine  Tetanie  beobachtet;  jedoch  nimmt  Erd¬ 
heim  einen  Zusammenhang  beider  Krankheiten  an. 

Diese  Befunde  Erd  hei  ms  lassen  sich  vielleicht  da¬ 
durch  erklären,  daß,  nachdem  Nebennieren  und  Epithel¬ 
körperchen  Antagonisten  sind  und  sich  gegenseitig  hemmen, 
die  Hypofunktion  der  Nebennieren  mit  Hyperfunktion  der 
Parathyreoideä,  welche  sich  mit  hyperplastischen  Vorgängen 
kundgeben  kann,  einhergeht.  Eine  Analogie  sehen  wir  zum 
Beispiel  in  dem  Antagonismus  zwischen  Nebennieren  und 
Ovarien  (T  h  u  m  i  m,  B  a  r  t  z) ;  in  dem  von  diesen  Autoren 
beschriebenen  Falle  wurde  bei  der  Autopsie  neben  Atro¬ 
phie  der  Ovarien  eine  mäßige  Vergrößerung  der  Schild¬ 
drüse  und  eine  beiderseitige,  besonders  links  enorme  Hyper¬ 
plasie  des  Nebennierengewebes  (Struma)  gefunden. 

Es  ist  also  begreiflich,  wenn  Erdheim  in  seinen 
Fällen  keine  Tetanie  beobachten  konnte;  denn  es  beruht 
die  Tetanie  in  einer  Insuffizienz  der  Epithelkörperchen,  in 
Erdheims  Fällen  aber  eine  Hyperplasie  derselben  ge¬ 
funden  wurde.  Im  Gegenteil  wäre  diese  Aenderung  der 
Epilhelkörperchenstruktur  eher  als  ein  normaler  Befund  bei 
der  Osteomalazie  zu  betrachten,  weil  eben  zwischen  Neben¬ 
nieren  und  Epithelkörperchen  ein  Antagonismus  besteht. 

Es  ist  deshalb  keine  leichte  Aufgabe,  die  Osteomalazie 
mit  der  Tetanie  in  Zusammenhang  zu  bringen,  denn  die 
Ursache  dieser  beiden  Erkrankungen  ist  in  einer  Hypofunk¬ 
tion  der  betreffenden  Systeme  zu  suchen. 

Es  könnte  Vorkommen,  daß  die  während  der  Schwan¬ 
gerschaft  in  dem  mütterlichen  Organismus  gebildeten  Gifte 
auf  die  Epithelkörperchen  in  dem  Sinne  einwirken  können, 
daß  es  trotz  des  verminderten  Adrenalingehaltes  im  Blute 
und  unabhängig  davon  zu  einer  Insuffizienz  der  Epithel¬ 
körperchen  kommt,  welche  dann  trotz  bestehender  Osteo¬ 
malazie  Idie  Tetanie  zur  Folge  hat.  Diese  Annahme  ist  um  so 
wahrscheinlicher,  wenn  wir  die  Hypothese  akzeptieren,  daß 
die  Epithelkörperchen  der  von  Tetanie  befallenen  Schwan¬ 
geren  a  priori  erkrankt  sind  oder  wenn  die  Bildung  der 
Toxine  eine  enorm  reichliche  ist. 

Es  'wurde  weiter  bereits  mehreremal  erwähnt,  daß  bei 
der  Osteomalazie  mehrere  Blutdrüsen  erkrankt  sein  müssen. 
In  letzter  Zeit  wurde  dies  besonders  durch  Cristofoletti 
hervorgehoben.  Cristofole  1 1  i  schreibt  folgendermaßen  : 

„Wenn  auch  die  ßeteiligung~des  chromaffinen  Systems 
bei  der  Osteomalazie  festgestellt  ist,  so  kann  andrerseits 
in  der  Störung  dieses  Systems  allein  keineswegs  eine  Erklä¬ 
rung  für  die  Pathogenese  dieser  Erkrankung  gefunden 
werden.  Wir  müssen  daher  zur  Erklärung  des  osteomala- 


6B6 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  18 


zischen  Prozesses  unbedingt  auch  auf  jene  Drüsen  rekur¬ 
rieren,  welche  in  Beziehung  zum  Kalkstoffwechsel  stehen 
(Schilddrüse,  Hypophyse  und  Epithelkörperchen).“ 

Inwieweit  diese  Drüsen  auf  dem  osteomalazischen  Pro¬ 
zesse  mitbeteiligt  sind,  läßt  sich  heute  nicht  entscheiden. 
Es  ist  aber  möglich,  daß  es  infolge  Störung  des  Gleich¬ 
gewichtes  der  Funktion  innersekretorischer  Organe  in  ge¬ 
eigneten  Fällen  zu  solchen  Veränderungen  in  der  Tätigkeit 
der  Epithelkörperchen  kommen  kann,  welche  dann  eine 
Tetanie  hervorzurufen  imstande  sind. 

Für  einen  Zusammenhang  zwischen  Nebennieren  und 
Epithelkörperchen  sprechen  die  Versuche,  über  welche  Gu- 
1  e  k  e  vor  kurzer  Zeit  referiert  hatte.  Er  fand,  daß'  bei 
Hunden  und  Katzen,  denen  die  Epithelkörperchen  und  die 
Schilddrüse  exstirpiert  waren,  die  danach  auftretende  mani¬ 
feste  Tetanie  verschwand,  wenn  die  Nebennieren  zu  Be¬ 
ginn  des  Anfalles  exstirpiert  wurden.  Die  Unterbindung  der 
Nebennierenvenen  hatte  ein  vorübergehendes  Verschwinden 
der  Anfälle  zur  Folge.  Wurden  nur  die  Epithelkörperchen 
entfernt,  ein  Teil  der  Schilddrüse  zurückgelassen,  so  blieb 
die  Nebennierenexstirpation  ohne  Erfolg.  Aus  diesen  Ver¬ 
suchen  geht  hervor,  daß  zwischen  Epithelkörperchen  einer¬ 
seits,  Nebennieren  und  Schilddrüse  andrerseits  ein  Anta¬ 
gonismus  besteht.  Zur  Aufklärung  unserer  Frage  sind  diese 
Versuche  ebenfalls  ungeeignet. 

Was  weiter  unseren  Fäll  anbelangt,  möchte  ich  noch 
betonen,  daß  die  Tetanie  nach  der  Kastration  aufgetreten  ist. 
Daß.  die  Adrenalinzufuhr  mit  dem  Auftreten  der  Tetanie¬ 
erscheinungen  im  Zusammenhänge  war,  geht  daraus  hervor, 
daß  sich  die  typischen  Krämpfe  jedesmal  eine  kurze  Zeit 
nach  den  Injektionen  eingestellt  haben;  wurden  diese  aus¬ 
gesetzt,  blieben  die  Krämpfe  aus.  Merkwürdig  ist  es  aber, 
daß  die  letzten  vier  Injektionen  keine  Krämpfe  hervorriefen. 
Vielleicht  ist.  durch  das  mehrtägige  Aussetzen  der  Adrenalin¬ 
zufuhr  ein  Adrenalingleichgewicht  eingetreten;  eine  länger 
dauernde  Adrenalinkur  hätte  vielleicht  wieder  zur  Tetanie 
geführt.  Die  trophischen  Erscheinungen,  welche  in  der  Form 
eines  gesc.hwürigen  Ausschlages  beobachtet  wurden,  können 
als  ein  Teil  der  Veränderungen  betrachtet  werden,  welche 
sich  auch  sonst  bei  der  chronisch  verlaufenden  Tetanie  ein¬ 
zustellen  pflegen. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  bemerken,  daß  wir 
auch  später  hei  einer  schweren  Osteomalatika,  welche  nach 
ausgeführter  Sectio  caesarea  sec.  Porro  mit  Adrenalininjek¬ 
tionen  behandelt,  wurde,  nach  Tetaniesymptomen  forschten, 
jedoch  ohne  Erfolg.  Dagegen  ist  es  uns  gelungen,  in  zwei 
Fällender  Osteomalazie  in  der  Schwangerschaft  eine  erhöhte 
galvanische  Erregbarkeit  der  Nerven  nachzuweisen  (Er la¬ 
sches  Symptom). 

Ich  bin  mir  zwar  ganz  bewußt,  daß  diese  Erklärung 
eine  ungenügende  ist,  leider  ist  aber  bei  unserer  heutigen 
mangelhaften  Kenntnis  der  Funktion  und  der  wechselseitigen 
Beziehungen  sämtlicher  Blutdrüsen  eine  genaue  Erklärung 
kaum  möglich.  Ich  habe  mich  indessen  bewogen  gefühlt, 
diesen  Fall  zu  publizieren,  weil  unsere  klinische  Beobach¬ 
tung  einem  experimentellen  Beweise  nahe  kommt  und  viel¬ 
leicht  geeignet  ist,  in  den  noch  immerhin  nicht  vollkommen 
geklärten  gegenseitigen  Verhältnissen  der  Drüsen  mit  innerer 
Sekretion  gelegentlich  als  Beweis  in  der  einen  oder  anderen 
Dichtung  zu  gellen. 

Es  Wäre  sehr  “wünschenswert.,  in  jedem  Falle  der  Osteo¬ 
malazie,  welcher  zur  Sektion  gelangt,  neben  den  Neben¬ 
nieren  auch  die  Epithelkörperchen,  die  Schilddrüse  und 
die  Hypophyse  gründlich  zu  untersuchen. 

Literatur: 

Bossi,  Archiv  für  Gyn.,  Bd.  83.  —  Cristofoletti,  Gyn. 
Rundschau  1911,  Nr.  4.  —  Frank,  Monatsschr.  für  Geb.  und  Gyn., 
Bd.  32.  —  Ne  u,  Ref.  Zentral!)],  für  Gyn.  1910,  Nr.  44  und  Verhand¬ 
lungen  der  deutschen  Gesellschaft  für  Gynäkologie,  Bd.  12.  —  Ho  f- 
bauer,  Ref.  Zentralbl.  für  Gyn.  1910,  Nr.  44.  —  Bab,  Sammlung  klin. 
Vorträge,  Nr.  538  bis  540-  —  E  r  d  h  e  i  m,  Ref.  Zentralbl.  für  Gyn.  1909, 
Nr.  35.  —  Thumin,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1909,  Nr.  3.  — 
Bartz,  Archiv  für  Gyn.,  Bd.  88.  —  Guleke,  Ref.  Münchener  med. 
Wochenschr.  1911,  Nr.  3.  —  Gramer,  Münchener  med.  Wochenschr 
1911,  Nr.  8. 


Aus  der  IV.  med.  Abteilung  des  allgemeinen  Kranken¬ 
hauses  in  Wien.  (Vorstand:  Prof.  Koväcs.) 

Zum  Vorkommen  von  „Herzfehlerzellen“  im 

Harn. 

Von  Dr.  Ewald  Koller,  Assistenten  der  Abteilung. 

In  Nr.  35,  Jahrg.  1909,  der  Münchener  med.  Wochen¬ 
schrift  hat  A.  Bittorf  auf  das  Vorkommen  von  ganz  be¬ 
sonderen  pigmenthaltigen  Zellen  im  Harnsediment  von  Stau¬ 
ungsnieren  aufmerksam  gemacht,  die  Analogie  mit  den  so¬ 
genannten  Herzfehlerzellen  des  Sputums  betont  und  auf  die 
eventuelle  diagnostische  Verwertbarkeit  dieses  Befundes  hin¬ 
gewiesen. 

Diese  Zellen  isind  nach  Bittorf  dadurch  gekenn¬ 
zeichnet,  daß  sie  goldgelbes,  körniges  Pigment  enthalten 
und  sich  im  übrigen  als  „mehr  oder  weniger  gequollene, 
polymorphe,  meist  aber  noch  angedeutet  oder  deutlich  poly¬ 
gonale  Zellen  von  wechselnder,  oft  recht  erheblicher  Größe, 
mit  einem  meist  schwer  sichtbaren,  großen,  runden  Kern“ 
präsentieren. 

Um  der  Bedeutung  dieser  Zellen  nachzugehen,  habe 
ich  in  sämtlichen  Fällen  kardialer  Stauung,  die  ich  in  den 
letzten  (Monaten  beobachten  konnte,  nach  denselben  gesucht 
und  die  Resultate  auf  folgender  Tabelle  zusammengestelll. 
Hiebei  wurde  auf  das  Bestehen  von  Ikterus,  der  jaiauch  das 
Auftreten  pigmentierter  Zellen  im  Harnsediment  bedingen 
kann,  besonders  geachtet  und  dasselbe  jedesmal  notiert. 

Von  den  24  Fällen,  in  deren  Urin  die  „Herzfehlerzelieu  ‘ 
nachweisbar  waren,  enthielten  21  Fälle  im  Sediment  noch  freie 
Erythrozyten,  12  Fälle  freies  Pigment  und  21  Fälle  diffus  gelb 
gefärbte  Zellen. 

Es  ergibt  sich  aus  der  Tabelle,  daßi  von  40  Fällen 
mit  kardialer  Stauung  in  24  Fällen  die  sogenannten  Herz¬ 
fehlerzellen  im  Harnsediment  zu  finden  waren.  In  diesen 
24  Fällen  waren  die  allgemeinen  Stauungserscheinungen 
meist  besonders  hochgradig  und  langdauernd. 

Bezüglich  der  Morphologie  dieser  Zellen  kann  ich  die 
oben  zitierten  Angaben  Bittorfs  bestätigen  und  möchte 
dazu  nur  bemerken,  daß  eine  sichere  Klassifikation  dieser 
Zellen  wegen  vorgeschrittener  Degenerationserscheinungen 
fast  durchwegs  unmöglich  war.  Die  Beriinerblaureaktion, 
welche  Bittorf  äußerst  selten  erhielt,  gelang  mir  am  ein¬ 
geschlossenen  Pigment  trotz  oftmaliger  Versuche  nie. 

Für  die  Auffassung  der  Entstehung  dieser  Zellen 
scheint  mir  aber  folgendes  von  Bedeutung  zu  sein: 

Fast  in  allen  ;Sedimentpräparaten, ^  welche  die  besagten 
Zellen  enthielten,  konnten  immer  auch  freie  Erythrozyten 
mikroskopisch  nachgewiesen  werden.  Dieselben  zeigten  nur 
zum  ganz  geringen  Teil  unverändertes  Aussehen,  meistens 
waren  sie  vielmehr  entweder  ganz  abnorm  klein,  oder  ihre 
Kontur  war  unregelmäßig,  mit  Ausstülpungen  und  Einbuch¬ 
tungen  versehen  und  aus  einzelnen  Bildern  wurde  der 
direkte  Zerfall  von  roten  Blutkörperchen  zu  kleinen,  scharf¬ 
begrenzten,  meist  intensiv  gelb  gefärbten  Schollein  wahr¬ 
scheinlich.  Solche  freie  Schollen,  an  welchen  ich  nie  eine 
positive  Beriinerblaureaktion  erzeugen  konnte,  fanden  sich 
in  den  untersuchten  Sedimenten  sehr  oft.  Gu  mp  recht1) 
hat  diese  Fragmentation  roter  Blutkörperchen  bei  renalein 
Blutungen  ausführlich  beschrieben  und  diese  Degenerations- 
form  mit  Berücksichtigung  von  experimentellen  Untersuchun¬ 
gen  auf  die  Einwirkung  der  mit  Harnstoff  beladenen  Nieren- 
epilhelien  zurückgeführt.  Er  hält  aus  diesem  Grunde  solche 
Fragmentationen  diagnostisch  verwertbar  für  den  renalen 
Ursprung  der  Blutung,  während  sie  bei  Blasenblutungen, 
fehlen  sollen.  Vergleicht  man  nun  sowohl  die  freien  Mikro¬ 
zyten,  als  auch  die  erwähnten  Schollen  mit  den  intrazellu¬ 
lären  Pigmenteinschlüssen,  so  findet  man  weder  in  Farbe, 
noch  in  Form  und  Reaktion  einen  Unterschied  und  es  liegt 
wohl  die  Vermutung  überaus  nahe,  daß,  diese  Pigment¬ 
einschlüsse  nicht  etwa  durch  chemische  Zelltätigkeit  ent¬ 
standene  Umwandlungsprodukte  vorstellen,  sondern  so,  wie 


*)  Deutsches  Archiv  für  klin.  Medizin  1894,  Bd.  53. 


Nr.  18 


63? 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Falle  von  kardialer 
Stauung 

Sogenannte  Herz¬ 
fehlerzellen  fanden 
sich  im  Sediment 

Erythrozyten 
fanden  sich  im 
Sediment 

Freies  Pigment  in 
Form  von  lichtgelben 
Körnern  und  Schollen 
fand  sich  im  Sediment 

Diffuse  Gelbfärbung 
der  Zellen  fand  sich 
im  Sediment 

Leicht  subikterische 
Verfärbung  der  Haut 
bestand 

infolge  dekompensierten 
Mitralfehlers 

von 

von 

von 

von 

bei 

27  Fälle 

15  Fällen 

20  Fällen 

10  Fällen 

17  Fällen 

3  Fällen 

infolge  dekompensierten 
kombinierten  Herz¬ 
klappenfehlers 

von 

von 

von 

von 

bei 

3  Fälle 

2  Fällen 

3  Fällen 

2  Fällen 

3  Fällen 

1  Fall 

infolge  dekompensierten 
Aortenfehlers 

4  Fälle 

von 

1  Fall 

von 

3  Fällen 

von 

2  Fällen 

von 

1  Fall 

— 

infolge  Myodegeneration 

2  Fälle 

von 

2  Fällen 

von 

2  Fällen 

- 

von 

1  Fall 

— 

infolge  Emphysems 

3  Fälle 

von 

3  Fällen 

von 

1  Fall 

von 

2  Fällen 

von 

3  Fällen 

— 

infolge  kyphoskoliotischer 
Thoraxdeformität 

von 

von 

von 

1  Fall 

1  Fall 

1  Fall 

1  Fall 

zusammen  40  Fälle 

von 

24  Fällen 

von 

30  Fällen 

von 

16  Fällen 

von 

26  Fällen 

bei 

4  Fällen 

sie  sind,  fertig  von1  den  Zellen  aufgenommen  wurden  und 
zwar  vermutlich  vor  noch  nicht  langer  Zeit,  denn  das  Fehlen, 
resp.  das  äußerst  seltene  Gelingen  der  Berlinerblaureaktion 
an  dem  eingeschlossenen  Pigment  macht  einen  länger  dau¬ 
ernden  intrazellulären  Aufenthalt  desselben  unwahr¬ 
scheinlich. 

Es  würden  demnach  als  Bedingung  für  den  Befund  von 
„Herzfehlerzellen“  im  Harn  nur  ausgetretene,  in  einer  ganz 
bestimmten  Art  zugrunde  gehende  Erythrozyten  und  phago- 
zytierende  Zellen,  die  später  zur  Abstoßung  gelangen,  not¬ 
wendig  sein,  ohne  daß.  man  deshalb  unbedingt 
auf  eine  Stauungsniere  schließen  dürfte.  Be¬ 
stätigt  wird  diese  Meinung  durch  Sedimenl  Untersuchungen 
an  acht  Fällen  mit  renaler  Blutung  ohne  kardiale  Stauungs¬ 
erscheinungen.  In  sieben  von  diesen  acht  Fällen  (es  han¬ 
delte  sich  bei  allen  um  hämorrhagische  Nephritiden)  fanden 
sich  Zellen  mit  eingeschlossenem  lichtgelben  Pigment,  die 
sich  in  keiner  Weise  von  den  bei  kardialen  Stauungszustän- 
den  auftretenden  Pigmentzellen  unterscheiden  ließen.  Hin¬ 
gegen  fehlten  in  einem  Fälle  von  Blasenblutung  sowohl  die 
Fragmentationsformen  der  Erythrozyten  als  auch  pigment¬ 
haltige  Zellen  überhaupt  im  Sediment. 

Aus  alledem  muß  man  den  Schluß  ziehen,  daß  den 
pigmenthaltigen  Zellen  im  Harnsediment  nur  die  Bedeu¬ 
tung  eines  klinischen  Nebenbefundes,  nicht 
aber  eine  praktische  Verwertbarkeit  für  die 
Diagnose  der  Stauungsniere  zuzuschrei¬ 
ben  ist. 


Aus  dem  pathologischen  Institut  der  königl.  Universität 
Turin  (Vorstand:  Prof.  B.  Morpurgo.) 

Ueber  die  Meiostagminreaktion  bei  den  weißen 
Raiten  nach  Exstirpation  der  beiden  Neben¬ 
nieren.*) 

Von  Dr.  Franco  Cattoretti. 

Bei  Gelegenheit  einer  Reihe  von  Untersuchungen  über 
die  Veränderungen  des  Blutes  bei  weißen  Ratten  nach  Ex¬ 
stirpation  der  Nebennieren,  führte  ich  die  Meiostagminreak¬ 
tion  mit  dem  Blutserum  der  operierten  Tiere  aus. 


Allerdings  hatten  mir  vorhergehende  Untersuchungen 
mit  Pankreasextrakt  an  verschiedenen  normalen  Tierseren 
gezeigt,  daß  solche  Seren  im  allgemeinen  und  Rattenserum 
im  besonderen  eine  beim  Serum  von  normalen  Menschen 
nicht  vorhandene  Reaktionsfähigkeit  zeigen.1) 

Es  'handelte  sich  also,  zu  bestimmen,  ob  nach  Neben¬ 
nierenexstirpation  die  Meiostagminreaktion  wesentlich  ver¬ 
ändert,  erscheint. 

Bekanntlich  gehören  die  weißen  Ratten  zu  jenen  Tieren, 
welche  nach  totaler  Nebennierenexstirpation  verhältnis¬ 
mäßig  lange  am  Leben  bleiben  und  nicht  selten  die  Opera¬ 
tion  endgültig  überstehen.  In  meinen  Fällen  starben  die 
Ratten  zwischen  dem  10.  und  30.  Tage  nach  der  Operation. 
Die  hauptsächlichsten  Erscheinungen  nach  der  Nebennieren¬ 
exstirpation  sind  die  fortschreitende  Abmagerung  und  die 
Herabsetzung  der  Körpertemperatur;  letztere  Erscheinung 
tritt  in  Nähe  des  Todes  besonders  klar  hervor,  so  daß  man 
eine  rasch  und  tief  (bis  zu  34°  C)  gesunkene  Körpertem¬ 
peratur  als  Vorboten  des  Todes  ansehen  kann.  Diese  Er¬ 
fahrung  habe  ich  benützt,  um  die  Tiere  in  der  möglichst 
weit  von  der  Operation  entfernten  Periode  zur  Entnahme 
des  Blutes  zu  benützen. 

Zur  Ausführung  der  Reaktion  war  die  Blutmenge,  die 
ich  durch  Eröffnung  des  Herzens  gewinnen  konnte,  ge¬ 
nügend,  da  ich  in  jedem  Falle  aus  der  Blutmasse  2  bis 
2V2  cm3  Serum  erhielt. 

Die  von  einer  jeden  operierten  Ratte  gegebene  Reak¬ 
tion  wurde  mit  jener  von  einem  normalen  Tiere  gleicher 
Rasse,  gleichen  Gewichtes  und  Geschlechtes  verglichen. 
Außerdem  stellte  ich  die  Reaktion  an  dem  Serum  von  einigen 
große  Spindelzellensarkome  tragenden  Ratten  derselben 
Rasse 2)  an. 

Die  Technik  der  Reaktion  in  allen  diesen  Fällen  war 
im  wesentlichen  die  von  Micheli  und  mir  in  unseren 
früheren  Arbeiten  angegebene  3) ;  bei  der  Anfertigung  der 
Antigene  folgte  ich  den  von  M.  Ascoli  und  Izar  ange- 


*)  Comunicaz.  alia  R.  Acc.  di  Medic,  di  Torino.  16.  Dezember  1910. 

2)  Diese  wurden  mir  von  Herrn  Prof.  B.  Morpurgo  gütigst  zur 
Verfügung  gestellt. 

3)  Micheli  und  Cattoretti,  »Biochemia  e  Terapia  sperim. 
II.  Jahrgang,  4.  Heft. 


*)  Comunicaz.  alia  R.  Acc.  di  Medic;  di  Torino.  10.  Februar  1911. 


638 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  18 


gebenen  Vorschriften.4)  Als  Antigone  kamen  Hundepankreas 
und  menschliches  Karzinomextrakt  in  Anwendung;  mei¬ 
stens  machte  ich  mit  beiden  die  Reaktion.  Beim  Serum 
der  Sarkomträger  gebrauchte  ich  Extrakte  von  zwei  Ratten¬ 
sarkomen. 

Die  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  sind  in  fol¬ 
gender  Tabelle  zusammengestellt: 


Operierte  Ratten 


Normale  Ratten  (Kontrolle) 


Hundepankreas-Extraktverdürinung  1:100  FLO 


n 

fr 

Lebensperiode 
des  Tieres 
nach  der  Ope¬ 
ration  in  Tagen 

Tropfenzahl  nach  ein- 
stündigem  Verweilen  bei 
50»  der 

Differenz 

15 

fr 

Tropfenzahl  nach  ein- 
stündigem  Verweilen  bei 
50»  der 

Differenz 

Serum- 
verdünnung 
+  H,0 

Serum- 
verdünnung 
+  Antigen 

Serum - 
Verdünnung 
+  HaO 

Serum¬ 
verdünnung 
-f-  Antigen 

1 

14 

58-0 

69- 1 

+  111 

1 

56-6 

625 

+  5-9 

2 

8 

556 

64-7 

+  91 

2 

55'8 

600 

+  4-2 

3 

7 

552 

65-2 

+  iO'O 

3 

56'4 

61  8 

+  5-4 

4 

7 

56-2 

67-2 

+  110 

4 

56-2 

6P7 

-t-  5-5 

5 

3 

560 

64' 7 

+  8-7 

5 

562 

609 

+  4'7 

6 

7 

55T 

65  1 

+  100 

6 

58-2 

641 

+  5-9 

7 

5 

552 

637 

+  8'5 

7 

570 

595 

+  2  5 

8 

19 

56-3 

64-5 

+  8'2 

8 

558 

595 

+  3-7 

9 

21 

56-5 

65-2 

+  8-7 

9 

560 

596 

+  3-6 

Operierte  Ratten 


Normale  Ratten 


Mamrnakarzinom-Extraktverdünnung  1:50  H.,0 


15 

fr 

Lebensperiode 
des  Tieres 
nach  der  Ope¬ 
ration  in  Tagen 

Tropfenzahl  nach  ein- 
stündigem  Verweilen  bei 
50°  der 

Differenz 

& 

fr 

Tropfenzahl  nach  ein- 
stündigem  Verweilen  bei 
50"  der 

Differenz 

Serum- 
verdünnung 
+  H.,0 

Serum- 
verdünnung 
-f  Anligen 

Sernm- 

verdiinnung 

+  h2o 

Serum- 
verdünnung 
+  Antigen 

1 

7 

55-2 

58'0 

+  2-8 

1 

56-4 

566 

+  0-2 

2 

7 

562 

591 

+  2  9 

2 

56'2 

57-2 

+  PO 

3 

3 

56-2 

598 

+  36 

3 

562 

57-1 

+  0-9 

4 

8 

55'6 

59-4 

+  3-8 

4 

565 

57'3 

+  08 

5 

19 

56'3 

59-2 

+  2'9 

5 

571 

581 

+  10 

6 

14 

58'0 

611 

+  31 

6 

59-3 

60-2 

+  0-9 

Sarkom  tragend 

e  Ratten 

H  undepankreasexti  akt- 

Rattensarkomexti  akl- 

Verdünnung  1:  100  HaO 

Verdünnung  i  :  50  fLO 

Tropfenzahl  nach  ein- 

N 

Tropfenzahl  nach  e>n- 

N 

-3 

stiindigem  Verweilen  bei 

<S> 

— 

stündigem  Verweilen  bei 

CD 

cö 

fr 

50" 

der 

<5 

eö 

fr 

50"  der 

.0) 

Serum- 

Serum- 

Q 

Serum- 

Serum- 

Q 

Verdünnung 

Verdünnung 

Verdünnung 

Verdünnung 

+  HaO 

Antigen 

+  h2o 

+  Antigen 

1 

56-7 

62-8 

+  61 

1 

56-7 

608 

+  41 

2 

552 

62'3 

+  71 

2 

55-2 

598 

+  4'6 

3 

56-8 

633 

+  6-5 

3 

56-8 

593 

+  2'5 

4 

6P8 

68-5 

+  6-7 

4 

61-8 

671 

+  5-3 

Aus  dieser  Tabelle  kann  man  folgende  Schlüsse  ziehen : 

1.  Der  Zusatz  von  Pankreasexi rakt  zum  Blutserum 
der  von  beiden  Nebennieren  auf  einmal  beraubten  Ratten 
bewirkt  eine  sehr  starke  Verminderung  der  Oberflächen¬ 
spannung  im  Vergleiche  zu  der  bei  normalen  Rattenseren. 
Mit  anderen  Worten  gesagt,  weisen  die  Seren  der  operierten 
Ratten  eine  bedeutend  stärkere  Reaktionsfähigkeit  als  die 
der  normalen  gegenüber  denselben  Pankreasextraktverdün¬ 
nungen  auf;  mit  diesen  war  die  Meiostagminreaktion  bei 
normalen  menschlichen  Seren  stets  negativ. 

2.  Die  Intensität  der  Reaktion  fiel  bei  den  operierten 
Tieren  immer  viel  stärker  aus  als  bei  den  sarkom tragenden 
Ratten  u.  zw.  sowohl  mit  Pankreasextrakt  als  mit  Extrakt 
von  Rattensarkom. 

3.  Bei  den  operierten  Ratten  fiel  die  Meiostagmin¬ 
reaktion  mit  dem  menschlichen  Karzinomextrakt  mehr  oder 
minder  deutlich  positiv  aus,  während  dieselbe  in  den  Kon- 
trollversuchen  bei  normalen  tierischen  und  menschlichen 
Seren  stets  negativ  war.  Die  Extrakte  von  Geschwülsten  er¬ 
wiesen  sich  bei  der  Meiostagminreaktion  mit  Rattenserum 

4)  M.  0  s  e  r  1  i  und  S  z  a  r,  Zur  Technik  der  Meiostagminreaktion. 
Münchner  med.  Wochenschrift  1910,  Nr.  41. 


überhaupt  weniger  wirksam  als  das  Extrakt  von  Hunde¬ 
pankreas.5) 

Es  schien  mir  nicht  ohne  Interesse,  vorliegende  Unter¬ 
suchungen  bekannt  zu  machen,  da  dieselben  den  Nach¬ 
weis  liefern,  daß  man  eine  ganz  beträchtliche  Verminde¬ 
rung  der  Oberflächenspannung  in  einem  mit  der  Geschwulst¬ 
entwicklung  in  keinem  Zusammenhänge  stehenden  patho¬ 
logischen  Prozesse  nachweisen  kann. 

Referate. 

Die  Krankheiten  der  Prostata. 

Von  Prof.  Dr.  A.  v.  Frisch. 

305  Seiten. 

Wien  und  Leipzig  1910,  Alfred  Holder. 

Nach  elf  Jahren  ist  die  zweite  Auflage  des  v.  Frisch- 
schen  Werkes  herausgekommen,  das  sich  schon  nach  seinem 
eisten  Erscheinen  eine  ebenso  allgemeine  wie  wohlverdiente 
Wertschätzung  erworben  hat.  ln  der  vorliegenden  Auflage  sind 
die  Forschungen  und  Erfahrungen  des  letzten  Dezenniums  berück¬ 
sichtigt,  einzelne  Kapitel  beträchtlich  erweitert  und  umgearbeitet 
worden. 

Die  Einteilung  des  Stoffes  ist  dieselbe  geblieben.  Es  gehen 
wieder  Anatomie,  Physiologie  der  Prostata  und  Untersuchung 
derselben  am  Lebenden  voran,  dann  folgen  angeborene  Mißbil¬ 
dungen,  Entzündung,  Neurosen  und  Tuberkulose.  Ein  umfang¬ 
reicher  Teil  des  Buches  behandelt  die  Prostatahypertrophie;  zum 
Schlüsse  folgen  Atrophie,  Konkretionen,  Neubildungen  und  Para¬ 
siten  der  Prostata,  insbesondere  di©  Hypertrophie  der  Prostata 
hat  eine  gründliche  Umarbeitung  erfahren.  Schon  die  Anordnung 
des  Stoffes  erfuhr  hier  eine  neue  Gliederung,  einzelne  Abschnitte 
wurden  neu  eingefügt.  Zu  den  letzteren  gehört  jener  über  die 
Röntgenbehandlung  und  die  radioaktiven  Thermalwässer.  Recht 
zurückhaltend  spricht  sich  v.  Fri  sch  übler  die  Erfolge  der  Röntgen¬ 
behandlung  aus.  Bei  Prostatikern  mit  chronischer  Retention  und 
Komplikation  der  Hypertrophie  mit  Prostatitis  könne  zwar  die 
Röntgenbehandlung  eine  wesentliche  Besserung  der  subjektiven 
Beschwerden  zur  Folge  haben,  auch  der  Residualharn  könne  vor¬ 
übergehend  abnehmen,  aber  Fälle  von  unkomplizierter  Prostata¬ 
hypertrophie  mit  kompletter  oder  inkompletter  chronischer  Reten¬ 
tion  bleiben  durch  die  Bestrahlung  völlig  unbeeinflußt.  Hingegen  er¬ 
wies  sich  nach- der  Bestrahlung  die  Prostata  mit  der  Kapsel  fest  ver¬ 
wachsen  und  die  letztere  verdickt,  wodurch  die  spätere  Ausschälung 
in  hohem  Grade  erschwert  wurde.  Günstiger  spricht  sichv.  Frisch 
über  die  radioaktive  Wirkung  der  Gasteiner  Thermen  und  über 
die  Ergebnisse  eines  Verfahrens  aus,  mit  dem  Dr.  Altman  n 
auf  v.  F risch'  Veranlassung  Versuche  gemacht  hat  (Blasenspülun¬ 
gen  und  rektale  Applikation  von  Thermalwasser).  Auf  die  anfäng¬ 
lichen  Reizerscheinungen  folgte  gewöhnlich  eine  rasch  eintretende 
Depletion  der  Drüse  mit  Besserung  des  Urins  und  der  Harn¬ 
entleerung. 

v.  Frisch’  Anschauungen  über  die  verschiedenen  Methoden 
der  Radikaloperation  der  Prostatahypertrophie  haben  in  den  ver¬ 
gangenen  elf  Jahren  dieselben  Wandlungen  erfahren  wie  die  der 
meisten  Chirurgen.  So  ist  er  von  einem  bedingungsweisen  An¬ 
hänger  der  Bottin  i sehen  Operation  zu  einem  entschiedenen 
Gegner  derselben  geworden;  alle  seine  Operationen,  selbst  jene, 
welche  anfangs  ein  vollkommenes  Resultat  hatten,  waren  von 
Rezidiv  gefolgt.  —  Die  Abtragung  des  Mittellappens  von  der 
durch  Sectio  alta  eröffneten  Blase  aus  gab  nur  in  einem  Drittel 
der  Fälle  ein  gutes  Resultat  und  zu  verschiedenen  Malen  konnte 
v.  Frisch  die  erstaunliche  Schnelligkeit  beobachten,  mit  welcher 
exstirpierte  Prostatamittellappen  wieder  .nachwuchsen. 

Sehr  'beherzigenswert  ist  die  Mahnung  v.  Frisch’,  die 
totale  Prostatektomie  mit  Rücksicht  auf  ihre  noch  immer 
recht  hohe  Mortalität  nur  für  Ausnahmefälle  zu  reservieren  und 
bei  der  Indikationsstellung  stets  eingedenk  zu  sein,  daß  die 
Schwere  der  Krankheitserscheinungen  in  einem  richtigen  Verhält- 

5)  Aehnliches  Verhalten  des  von  mir  angewendeten  Pankreas¬ 
extraktes  im  Vergleich  zu  jenem  von  Geschwülsten  konnte  ich  bei  Ge¬ 
legenheit  einer  Reihe  von  Untersuchungen  an  menschlichen  Seris,  die 
ich  mit  Prof.  J.  Micheli  angestellt  habe,  feststellen. 


Nr.  18 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


639 


nisse  zur  Schwere  des  chirurgischen  Eingriffes  stehen  müsse. 
Insbesondere  chronische  inkomplette  und  komplette  Retention 
mit  großer  Schmerzhaftigkeit,  häufigen  Blutungen,  Steinbildung, 
Schwierigkeiten  beim  Katheterismus  und  Infektion  der  Blase 
können  die  Prostatatektomie  erfordern  und  ihre  Erfolge  sind  auch 
bei  septischen  Prostatikern  nicht  ungünstig.  Ob  man  dabei  supra- 
pubisch  oder  perineal  operiere,  will  V.  Frisch  der  Erfahrung 
und  Uebung  des  einzelnen  überlassen.  Die  sexuellen  Operationen, 
insbesondere  die  Kastration,  werden  natürlich  ebenso  verworfen 
wie  vor  elf  Jahren.  Nur  für  die  Resektion  der  Vasa  deferentia 
bleiben  einzelne  Indikationen  bei  gewissen  Komplikationen  der 
Prostatahypertrophie  übrig. 

Im  Abschnitte  über  die  Neubildungen  der  Prostata  sind 
gleichfalls  verschiedene  Erweiterungen  vorgenommen  und  auch 
der  dürftigen  Ergebnisse  der  operativen  Behandlung  beim  Pro¬ 
statakarzinom  gedacht  worden. 

Ein  näheres  Eingehen  auf  den  Inhalt  des  Buches  erübrigt 
sich  mit  Rücksicht  auf  das  ausführliche  Referat  über  die  erste 
Auflage  in  dieser  Wochenschrift  (1899,  Nr.  43).  Zweifellos  hat 
dasselbe  durch  die  weitgehende  Berücksichtigung  alles  Wissens¬ 
werten,  was  die  letzten  Jahre  auf  diesem  Gebiete  gebracht  haben, 
in  seiner  neuen  Form  wesentlich  gewonnen.  Es  ist  nicht  nur  ein 
verläßlicher,  sondern  auch  durchaus  moderner  Ratgeber  für  jeden 
geworden,  der  sich  mit  den  Krankheiten  der  Prostata  zü  be¬ 
schäftigen  hat.  Schlöffe  r. 

* 

Chirurgische  Krankheiten  der  unteren  Extremitäten 

II.  Hälfte. 

Von  Prof.  M.  v.  Brunn  in  Tübingen. 

Stuttgart  1910,  Verlag  von  Ferdinand  Enke. 

Nach  langer  Pause  erschien  endlich  die  II.  Hälfte  der 
66.  Lieferung  der  Deutschen  Chirurgie  aus  der  Feder  des 
Prof.  v.  Brunn,  während  die  vor  13  Jahren  erschienene  I.  Hälfte 
weil.  Prof.  Nasse  zum  Verfasser  hatte. 

Prof.  v.  Brunn  befaßt  sich  vor  allem  mit  den  Mißbildungen 
des  Oberschenkels,  dann  mit  den  entzündlichen  Erkrankungen  der 
Muskeln  und  der  Knochen  und  schließlich  mit  den  Neoplasmen  des 
Oberschenkels.  Bei  den  Erkrankungen  der  Hüftgelenksgegend  be¬ 
spricht  Verf.  zwei  der  vielleicht  wichtigsten  Kapitel  der  chirurgischen 
Pathologie :  die  angeborene  Hüftgelenksluxation  und  die  Koxitis, 
entsprechend  ihrer  großen  Bedeutung,  die  sie  sowohl  für  den  Ope¬ 
rateur  als  auch  für  den  Praktiker  haben,  auf  das  Genaueste ; 
Anatomie,  Pathologie,  Therapie  sind  ausführlich  dargelegt,  die 
neueren  Arbeiten  entsprechend  berücksichtigt  und  eine  große  Zahl 
von  Abbildungen  und  Röntgenogrammen  illustriert  den  Text. 

Hingegen  muß  folgende  Unterlassung  hervorgehoben  werden. 
Trotz  der  ausgiebigen  Berücksichtigung  der  sonstigen  Literatur  hat 
Verf.  bei  der  Behandlung  der  Osteomyelitis  und  Koxitis  die  Jodo¬ 
formplombe  von  Mosetig  nirgends  erwähnt,  obwohl  die  Methode 
die  allgemeine  Anerkennung  der  Chirurgen  gefunden  hat.  Der  auf 
dem  Gebiete  der  Knochenchirurgie  so  verdienstvolle  Forscher 
Mosetig  hätte  mehr  verdient,  als  nur  einmal  im  Literatur¬ 
verzeichnis  und  kein  einziges  Mal  im  Text  erwähnt  zu  werden. 

* 

Leitfaden  für  die  chirurgische  Krankenpflege. 

Von  Dr.  med.  John  Blumberg  in  Moskau. 

Mit  einem  Vorwort  des  Geh.  Medizinalrates  Prof.  Dr.  0.  Hildebran  d 

in  Berlin. 

Mit  54  Abbildungen. 

Wiesbaden  1911,  Verlag  von  J.  F.  ßergma  n  n. 

Verf.  trachtet,  in  dem  sehr  schön  ausgestatteten  und  reich 
illustrierten  Leitfaden  das  Pflegepersonal  in  die  chirurgische  Kranken¬ 
pflege  einzuführen  und  schildert  auf  Grund  seiner  reichen  persön¬ 
lichen  Erfahrung  alle  die  Handgriffe  und  Hilfeleistungen,  welche 
die  zielbewußte  Krankenpflege  bedeuten  und  die  geeignet  sind,  dem 
Patienten  das  schwere  Los  des  Krankseins  erträglicher  zu  machen. 

Siegmund  Erd  heim. 

* 


Ueber  die  Bewertung  des  „sozialen  Faktors“  in  der 
Indikationsstellung  zur  tubaren  Sterilisation  der  Frau. 

Von  H.  Offergeld. 

Würzburger  Abhandlungen  aus  dem  Gesamtgebiet  der  praktischen 
Medizin  1911,  Bd.  11,  Heft  5. 

Offergeld  vertritt  den  Standpunkt,  daß  die  Entscheidung4 
ob  die  tubare  Sterilisation  im  Einzelfalle  angezeigt  sei,  ganz  wesent¬ 
lich  von  den  sozialen  Verhältnissen  der  in  Frage  stehenden  Person 
abhängig  gemacht  werden  müsse. 

Auf  Grund  eines  Beispieles  —  durch  Unvernunft  des  Mannes, 
der  sein  eigenes  und  seiner  Angehörigen  Vermögen  durchgebracht 
hat  und  nicht  imstande  war,  Frau  und  Kinder  ordentlich  zu  er¬ 
nähren,  kommt  eine  Taglöhnersfamilie  ins  Elend,  die  Kinder  ver¬ 
kommen  usw. ;  hier  soll  die  tubare  Sterilisation  die  Familie  vor 
weiterem  Zuwachs  und  tieferem  Verfalle  bewahren  —  will  Verf. 
zeigen,  daß  unter  sorgfältiger  Berücksichtigung  aller  Nebenumstände 
der  gegenwärtigen  und  mutmaßlich  zukünftigen  Lage  der  Familie, 
die  sozialen  Verhältnisse  an  sich  gelegentlich  die  tubare  Sterilisation 
der  Frau  indizieren  können,  auch  bei  sonst  durchaus  körperlich  und 
geistig  gesunden  Eheleuten. 

Die  äußeren  Verhältnisse,  unter  denen  die  Frau  lebt,  seien 
aber  erst  recht  imstande,  das  diesbezügliche  Handeln  zu  beeinflussen, 
wenn  es  sich  um  kranke  Frauen  handelt.  Unter  Mitberücksichti¬ 
gung  des  sozialen  Faktors  geht  Offergeld  die  in  einer  früheren 
Arbeit  (Arch.  f.  Gyn.,  Bd.  91)  schon  erörterten  medizinischen  Indi¬ 
kationen  durch  und  erörtert  inwieferne  das  soziale  Moment  die  Indi¬ 
kation  dieses  Eingriffes  verschiebt.  Offergeld  streift  die  aus 
prophylaktischen  Gründen  eventuell  angezeigte  Sterilisation  bei  Ge¬ 
fahr  der  Vererbung  von  Tuberkulose  und  psychischen  Erkrankungen 
und  bespricht  dann  in  bezug  auf  das  soziale  Moment  die  einzelnen 
Erkrankungen,  welche  schon  an  und  für  sich  die  Anzeige  zur 
Operation  abgeben  können :  Konstitutionskrankheiten,  Anämien  ver¬ 
schiedener  Art,  Herzkrankheiten,  Osteomalazie,  Diabetes,  Hyperemesis, 
Vorfall  der  Geschlechtsorgane,  Verletzungen  des  Uterus,  rezidivierende 
Eklampsie  und  Placenta  praevia,  hochgradige  Beckenverengungen 
und  gelangt  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  enorme  Wichtigkeit  des 
sozialen  Faktors  in  der  Indikationsstellung  zur  Sterilisation  der  Frau 
außer  Frage  stehe,  daß  aber  die  Indikation  zu  diesem  Eingriffe  im 
allgemeinen  eine  sehr  enge  ist ;  sie  setzte  sich  vor  der  exakten 
Wissenschaft  zusammen  aus  medizinischen  Anzeigen  unter  weitest¬ 
gehender  Berücksichtigung  und  Bewertung  der  den  einzelnen  Fall 
begleitenden  und  komplizierenden  sozialen  Begleitumstände. 

(Die  einzige  Indikation,  die  Ref.  für  die  Sterilisierung  der  Frau 
gelten  lassen  möchte  ist  die  medizinische;  die  sozialen  Faktoren 
wären  hiebei  nach  seiner  Meinung  am  besten  ganz  auszuschalten 
u.  zw.  einerseits  wegen  der  Unmöglichkeit  hier  eine  Grenze  zu 
ziehen,  anderseits  deswegen,  weil  jeder  Stand  das  gleiche  Recht  auf 
Schutz  seiner  Gesundheit  haben  muß.  Es  ist  übrigens  dies  ein  schon 
viel  diskutierter  Punkt,  in  welchem  eine  Einigung  kaum  zu  erzielen 
sein  wird.)  B  u  c  u  r  a. 


Äus  verschiedenen  Zeitsehriften. 

445.  Kala- Az ar- Fälle  in  Griechenland.  Von  Doktor 
A.  Christ  omanos,  Direktor  der  Pathologischen  Klinik  in 
Athen.  Seit  langer  Zeit  (1842,  Pall  is,  Kl  acl  es  usw.)  haben 
die  Aufmerksamkeit  griechischer  Aerzte  nicht  zu  selten  zu  beob¬ 
achtende  Fälle  auf  sich  gezogen',  die  sich  durch  Blutarmut,  chro¬ 
nische  Kachexie,  eine  ungeheure  Milzvergrößerung  und  hektisches, 
jeder  Behandlung  trotzendes  Fieber  charakterisieren  und  deren 
Ausgang  gewöhnlich  ungünstig  ist.  Man  hat  diese  Fälle  bald  als 
Pseudoleukämie  oder  als  Ban  tische  Krankheit  gedeutet,  doch 
stimmte  der  liämatologische  Befund  oder  der  Verlauf  nicht,  daher 
die  Diagnose  nicht  befriedigte.  1903  und  1904  beschrieben  aber 
Leishnpan  und  Donowan  im  British  med.  Journal  eigen¬ 
tümliche  rundliche  oder  ovale  Körperchen,  welche  sie  in  der 
Leber  und  der  Milz  an  Kala-Azar  Verstorbener  gefunden  hatten 
und  dieser  Befund  —  man  nannte  den  Parasiten  Leishmania  Dono- 
wani  —  wurde  seither  vielfach  bestätigt.  Verf.  beschreibt  ein¬ 
gehend  zwei  Fälle,  die  er  im  Krankenhaus  „Evangelismos“  zu 
beobachten  Gelegenheit  hatte  und  bei  welchen  durch  Punktion 
der  Milz  oder  Leber  usw.  die  für  Kala-Azar  charakteristischen 
Körperchen  gefunden  wurden.  Er  ist  nun  überzeugt,  daß  sehr 


64U 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  18 


viele  andere  Fälle,  die  früher  anders  gedeutet  wurden,  durch 
besagten  Parasiten  verursacht  wurden,  es  ist  ihm  wahrscheinlich, 
daß  der  „Ponos“  von.  Spetzae  usw.  identisch  mit  Kala-Azar 
sei,  ja  daß  diese  Erkrankung  in  Griechenland  schon  im  Alter¬ 
tum  bestand,  daß  es  sich  bei  einer  Erkrankung,  welche  Hippo- 
krates  andeutet,  um  Kala-Azar  gehandelt  habe.  „Mit  der  Auf¬ 
findung  der  Parasiten  in  Griechenland  klären  sich  viele,  bei 
Kinderh  sowohl  wie  bei  Erwachsenen  Vorkommende,  dem  Chinin 
nicht  weichende,  diagnostisch  bis  jetzt  nicht  zu  erklärende,  fieber¬ 
hafte  Megalosplenien,  die  somit  in  der  Zukunft  einer  richtigeren 
Behandlung  und  Korrekturen  prognostischer  Schätzung  unter¬ 
worfen  werden  können.“  lieber  die  Ansteckungsart  weiß  man 
nichts  Sicheres  und  auch  die  Therapie  scheint  noch  im  Argen 
zir  liegen.  Verf.  versuchte  Atoxyl  in  größeren  Dosen  und  Arsa,- 
zetin  (4mal  je  0  05  g)  viele  Tage  nacheinander,  mit  nur  schein¬ 
barer  Besserung.  In  einem  Falle  wurde  Salvarsan  (0-35  g)  in¬ 
jiziert,  doch  fand  man  48  Stunden  später  im  Milzblute  unver¬ 
änderte  Parasiten.  —  (Deutsche  mediz.  Wochensehr.  191t,  Nr.  14.) 

E.  F. 

* 

446.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  zu  Jena.  —  Direktor : 
Geh.  Med. -Rat  Prof.  Dr.  Stintzing.)  Zur  Bestätigung  des 
Rumpel — Leedeschen  Phänomens  bei  Scharlach.  Von 
Priv.-Doz.  Dr.  Benne  c  ke.  Wenn  man  an  einem  Oberarme 
Scharlachkranker  eine  Stauung  erzeugt,  die  den  Venösen  Blut¬ 
abfluß  aufhebt.,  den  arteriellen  Zufluß  nicht  oder  nur  wenig  be¬ 
hindert,  so  treten  in  der  Ellenbeuge  nach1  5  bis'  20  Minuten  Blu¬ 
tungen  auf,  deren  Größe  Von  kleinsten  Spritzern  bis  zu  großen 
suffusionsartigen  Blutungen  in  der  Haut  schwankt.  Durch  um¬ 
fangreiche  systematische  Untersuchungen  stellte  Lee  de  fest,  daß 
die  Blutungen  sich  am  besten  mittels  des  ,,Ri  va-  R  o  cci  sehen 
Apparates“  erzeugen  lassen,  wen'n  in  der  Manschette  ein  Druck 
hergestellt  wird,  der  unter  dem  minimalen  Blutdruck  zurück¬ 
bleibt,  also  bei  ca.  45  bis  60  mar  Quecksilber.  Es  genügt  aber 
auch  eine  breite  Gummibinde,  die  mäßig  fest  um  den  Oberarm 
gelegt  wird,  wie  es  bei  der  Venenpunktion  gebräuchlich  ist.  Nach 
fünf  bis  zehn  Minuten'  wird  die  Binde  gelöst  und  die  Haut  der 
Ellenbeuge  inspiziert.  Nach  Leedes  Erfahrungen  ist  der  nega¬ 
tive  Ausfall  des  Stauungs Versuches  als  fast  sicheres  Kriterium 
gegen  den  Scharlach  zu  verwenden',  während  der  positive  Ausfall 
nur  zusammen  mit  den  übrigen  Symptomen  zu  verwenden  ist. 
Verf.  hatte  schon  früher  anläßlich  seiner  systematisch  durch 
geführten  bakteriologischen  Blutuntersuchu'ngen  bei  Scharlach  das 
Phänomen  beobachtet  und  unter  32  Fällen  26mal  ein  positives 
Ergebnis  gefunden.  Seitdem  hat  er  in'  mehr  als  30  Fällen  die 
Beobachtung  fortgesetzt  und  bei  der  größeren  Hälfte  wieder  die 
Bestätigung  gefunden.  Sehr  charakteristisch  war  das  Phänomen 
in  den  Fällen,  bei  denen  bereits  ein  mehr  oder  weniger  ausgebrei- 
tetes,  typisches  Scharlachexanthem  auf  Brust  und  Rücken  bestand, 
die  Extremitäten  aber  noch  frei  waren.  Es  fragt  sich  nun,  ob 
das  Phänomen  auch  bei  anderen  Krankheiten  auftritt,  zweitens,  ob 
es  sich  wirklich  um  Blutungen  handelt.  Verf.  beobachtete  es 
auch  einige  Male  bei  Masern  anläßlich  der  Blutentnahme  für 
Wassermann,  ferner  bei  zwei  Kranken  mit  hochgradiger  Blut¬ 
drucksteigerung  infolge  chronischer  Nephritis.  In1  den  zwei  letzten 
Fällen  Avaren  die  Blutungen  14  Tage  bis  3  Wochen  lang  deutlich 
zu  sehen  und  ließen  eine  noch  längere  Zeit  anhaltende  Pigmen¬ 
tierung  zurück.  Dann  sah  er  es  bei  einem  Studenten,  bei  dem 
wegen  eines  Hautausschlages  und  einer  Angina,  die  Diagnose  auf 
Scharlach  gestellt  war.  Das  Exanthem  war  nicht  ganz  charak¬ 
teristisch  für  Scharlach,  außerdem  bestand  eine  Bronchitis,  ein 
geringer  Milztumor.  Der  Fäll  qualifizierte  sich  als  Influenza.  Es 
zeigt  sich  also,  daß  die  Von  Leede  gemachte  Angabe,  daß  auch 
bei  anderen  Krankheiten  das  Phänomen  positiv  sein  kann,  richtig 
ist.  Eine  Eigentümlichkeit  der  Blutungen  ist,  daß  sie  nur  in 
der  Ellenbeuge  auftreten  und  daß  sie  auffallend  schnell  ver¬ 
schwinden.  Nach  zw  ei  bis  drei  Tagen  waren  sie  ohne  Id  g  men¬ 
tation  en  verschwunden.  Einen  Gegensatz  hiezu  bilden  die  beiden 
erwähnten  Fälle  von  Stauungsblutungen  bei  nephrogener  Blut¬ 
drucksteigerung,  bei  denen  sich  die  Blutungen  von  den  hier  ge¬ 
schilderten  sehr  wesentlich  dadurch  unterscheiden,  daß  sie  sofort 
entstanden,  das  ganze  gestaute  Gebiet  betrafen,  wochenlang  zu 
erkennen  Waren  und  unter  Pigmentumwandlung  verschwanden. 


Um  das  Phänomen  womöglich  zu  erklären,  hat  Verf.  ein  Haut¬ 
stückchen  von  einer  23jährigen  Patientin  am  sechsten  Krank¬ 
heitstage  mikroskopisch  untersucht  und  gefunden,  daß  es  sich 
tatsächlich  um  Blutextraväsate  handelt,  die  im  Korium  von  ver¬ 
schiedener  Größe  sind.  Nur  gelang  es  nicht,  festzustellen,  ob  die 
Blutung  per  diapedesin  oder  per  rhexin  zustande  gekommen 
Avar.  Dagegen  fand  er  in  seinen  Präparaten,  daß  zwischen  den 
Blutextravasaten  und  der  Epidermis  zahlreiche  mit  Pigment  be¬ 
ladene  „Chromatophoren“  nachweisbar  waren.  Diese  möchte  der 
Verfasser  nicht  als  Zerfall  von  roten  Blutkörperchen  ableiten, 
sondern  als  die  letzten  Reste  des  ursprünglichen,  hämorrhagischen 
Scharlachexsudates  ansehen.  Da  an  anderen  Stellen  derartige 
pigmentführende  Zellen  vermißt  Avurden,  so  kann  gefolgert  wer¬ 
den,  daß  die  Blutungen  des  „Rumpel  -  Leedeschen  Phänomens’ 
an  den  Stellen  auftraten,  die  früher  Sitz  des  Scharlachexanthems 
waren,  das  wahrscheinlich  unter  der  direkten  Eimvirkung  des 
Scharlachgiftes  entsteht.  Sollte  durch  weitere  Untersuchungen 
diese  Behauptung  sich  bestätigen,  so  würde  das  Phänomen  noch 
nähere  Beziehungen  zu  dem  Scharlachprozesse  bekommen,  als 
Leede,  der  das  Wesen  des  Phänomens  gan'zl  allgemein  in  der 
gesteigerten  Verletzbarkeit  der  Kapillaren  bei  Scharlach  erblickt, 
anzunehmen  geneigt  erscheint.  —  (Münchener  mediz.  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  14.)  G. 

* 

447.  Beiträge  zur  Frage  der  Anaphylaxie.  Von 

Dr.  Paul  N.  Clough,  Assistent  resident  physician  the  John 
Hopkins  Hospital,  Baltimore,  freiAvilliger  Hilfsarbeiter  im  Kaiser¬ 
lichen  Gesundheitsamte.  MeerschAveinchen,  denen  durch  die  un¬ 
verletzte  und  skarifizierte  Haut  Pferdeserum  mit  Lanolin  ein¬ 
gerieben  wurde,  zeigen,  daß  nach  Skarifikation  eine  Sensibili¬ 
sierung  des  Organismus  ausnahmslos  eintritt,  daß  sie  hingegen 
durch  die  unverletzte  Haut  nur  unter  Umständen  möglich  ist. 
Auch  durch  die  unversehrte  Konjunktiva  kann  soviel  Antigen 
aufgenommen  werden,  daß  eine  Reinjektion  den  typischen  ana¬ 
phylaktischen  Shock  auslöst.  Eine  Sensibilisierung  vom  Rektum 
aus  ist  möglich,  während'  sie  von  der  Vagina  aus  nicht  ausge¬ 
schlossen  erscheint,  offenbar  aber  von  der  Einführung  großer 
Eiweißmengen  abhängt.  Einbringung  von  Katgutfäden  in  die  Peri¬ 
tonealhöhle  führten  ebensowenig  zu  Sensibilisierung  der  Tiere, 
ails  Anlegung  , einer  Katguthautnaht  mit  einem  30  cm  langen 
Faden.  Verf.  nimmt  an,  daß  das  in  dem  als  Nahtmaterial  ver¬ 
wendeten  Katgut  enthaltene  Eiweiß  so  verändert  ist,  daß  es  nicht 
mehr  imstande  ist,  Antikörperbildung  auszulösen.  Nachdem 
Clough  durch  Versuche  festgestellt  hatte,  daß  Antiformin' in 
20°/oiger  Lösung  und  bei  kurzer  Einwirkung  die  sensi¬ 
bilisierenden  Eigenschaften  getrockneter  Epidermis  nicht  aufhebt, 
verwendet  er  Haarantiforminlösuügen  als  Antigen.  Die  Resul¬ 
tate  dieser  Versuche  scheinen  dafür  zu  sprechen,  daß  es  auch 
auf  diese  Weise  gelingt,  eine  Sensibilisierung  der  Tiere  zu  er¬ 
zeugen,  doch  darf  durch  allzulange  Einwirkung  des  Antiformins 
auf  die  Haare  ihr  Eiweiß  nicht  zerstört  werden.  Dies  ist  aller¬ 
dings  nur  bei  Aveichen,  blonden  Kinderhaaren  der  Fall,  die  schon 
innerhalb  einer  halben  Stunde  restlos  gelöst  werden,  während 
die  Haare  erwachsener  Menschen  und  verschiedener  Tiere  einer 
weit  längeren  Antiforminbehandlung  zur  vollständigen  Auflösung 
bedürfen.  —  (S.  A.,  Arbeiten  aus  dem  Kaiserlichen  Gesundheits¬ 
amte  1910,  Rd.  31.  H.  2.)  J. 

* 

448.  (Aus  der  dritten  medizinischen  Klinik  in  Wien.  -  - 
Vorstand:  Geheimrat  A.  v.  Strümpell.)  Orthod  iagraphi- 
sche  Untersuchungen  über  die  Herzgröße  bei  Tuber¬ 
kulösen.  Von  Dr.  Rudolf  Beck,  Hospitanten  der  Klinik.  Sind 
die  kleinen  Herzen  der  Tuberkulösen  nur  die  Folge  des  geringen 
Gewichtes  und  des  engbrüstigen  Habitus  dieser  Kranken?  Oder 
spielen  noch  andere  Faktoren  mit?  Stehen  die  kleinen  Herzen 
immer  oder  doch  in  einem  Teile  der  Fälle  etwa  in  einer  innigen 
Beziehung  zur  Lungentuberkuloste?  Um  diese  Fragen  zu  lösen, 
orthodiagraphierte  Bec.k  eine  Anzahl  von  Lungen  tuberkulösen 
mit  normal  gebautem  Thorax  und  mit  einem1  der  Länge  ent¬ 
sprechenden.  also  nicht  herabgesetzten  KörpergeAvichte.  Beck 
erwies  nun  durch  seine  Untersuchungen,  daß  bei  einem  großen 
Teile  der  Lungentuberkulosen  die  Relation,  Avelche  in  der  Norm 
zAviscben  Körpergröße  und  Körpergewicht  einerseits  und  Herz- 


Nr.  18 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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volumen  anderseits  besteht,  eine  Aenderung  erfährt  im  Sinne 
einer  Verringerung  des  Herzvolumens.  Die  Erklärung  dieser  fest¬ 
gestellten  Tatsache  kann  nur  eine  hypothetische  sein,  da  das 
Herzvolumen  von  verschiedenen  Faktoren,  wie  Pulszahl,  Blut¬ 
druck,  Verteilung  des  Blutes  im  Körper,  abzuhängen  scheint. 
—  (Deutsches  Archiv  für  klinische  Medizin  1910,  Bd.  100.)  K.  S. 

* 

449.  Ueber  einen  Versuch,  die  lokale  Immunität 
für  die  Praxis  brauchbar  zu  machen.  Von  Geh.  Med. -Rat 
A.  v.  Wassermann  und  Dt.  R.  Led  ermann.  Die  lokale  Im¬ 
munität  wird  dadurch  erzielt,  daß  man  den  Infektionsstoff  direkt 
auf  das  zu  immunisierende  Gewebe  lokal  einwirken  läßt.  Das 
ist  schon  vielfach  gelungen,  wie  v.  Wassermann  an  meh¬ 
reren  Beispielen  zeigt.  Er  ging  nun  so  vor,  daß  er  lebende  Sta¬ 
phylokokken  mit  Wasser  im  Schüttelapparate  durch  längere  Zeit 
extrahierte,  dann  zentrifugierte  und  auf  diese  Weise  die  immuni¬ 
sierenden  Stoffe  in  Lösung  erhielt.  Da  aber  diese  Substanzen  als 
kolloidale  Moleküle  nicht  lange  haltbar  waren,  so  setzte  er  als 
Schutzkolloid  eine  verdünnte  Gelatinelösung  zu,  die  sich  als  sehr 
geeignet  erwies.  Das  Präparat,  welches  er  wegen  seiner  Eigen¬ 
schaft,  örtlich  auf  das  Gewebe  zu  wirken,  als  ,,Histopin“  be¬ 
zeichnen  möchte,  besteht  also  aus  den  immunisierenden  Sub¬ 
stanzen  der  Stapholokokken,  ist  völlig  steril  und  wird  zur  Halt¬ 
barmachung  mit  Gelatine  versehen.  Es  ist  dann  entweder  in  dieser 
Form  oder  in  Verarbeitung  von  Salbe  durch  Pinselung  oder  in 
anderer  Weise  auf  die  Haut  aufzutragen.  Es  wurde  B lasch  ko, 
Leder  mann  und  Wechselmann  zur  Prüfung  übergeben, 
v.  Wassermann  legt  Nachdruck  darauf,  daß  das  Hauptaugen¬ 
merk  darauf  zu  richten  sei,  ob  das  Präparat  imstande  sei,  mittels 
lokaler  Immunisierung  der  Haut  das  Weiter  schreiten,  bzw. 
das  Rezidivieren  der  Staphylokokkenprozesse,  besonders  der 
Furunkulose,  zu  verhüten.  Das  Präparat  hat  keine  Nebenwir¬ 
kungen,  ist  mit  V2%igem  Karbol  versetzt,  enthält  keine  lebenden 
Staphylokokken,  ist  völlig  reizlos  und  erzeugt  keine  fieberhafte 
Reaktion.  Es  kann  also  wochenlang  in  beliebigen  Quantitäten 
vom  Patienten  selbst  auf  die  Haut  aufgetragen  werden,  um  seinen 
immunisierenden  Zweck  erfüllen.  Durch  Tierexperimente  (Pro¬ 
fessor  G.  Michaelis)  konnte  man  sich  schließlich  überzeugen, 
daß  die  kleinsten  Mengen,  die  eventuell  resorbiert  werden,  daneben 
zu  einer  Erhöhung  des  opsonischen  Index  gegen  Staphylokokken 
führen,  so  daß  also  außer  der  lokalen  Immunität  noch  auf  eine 
durchaus  schmerz-  und  reaktionslose  Weise  nach  einiger  Zeit 
eine  gewisse  allgemeine  Immunität  durch  das  Hi  stop  in  hervor¬ 
gerufen  wird.  —  R.  Led  er  mann  macht,  hieran  anknüpfend, 
eine  vorläufige  Mitteilung  über  seine  wenigen  Versuche  an  Men¬ 
schen.  Fälle  von  Impetigo  contagiosa  und  Furunkel  schienen  ihm 
hiezu  geeignet.  Erstere  Erkrankung  nur  in  beschränkterem  Maße, 
einmal,  weil  sich  Staphylokokken  nicht  immer  als  Krankheits¬ 
erreger  allein  in  dem  Blaseninhalte  und  in  den  sekundären  Borken 
finden,  sondern  oft  noch  Streptokokken,  sodann  aber,  weil  die 
Impetigo  contagiosa  bekanntlich  auch  spontan  oder  unter  Ein¬ 
wirkung  verschiedener  Mittel  (Salizyl-,  Schwefel-,  Quecksilber- 
Präzipitatsalben)  rasch  abheilt.  Die  Von  ihm  angestellten  Versuche 
zeigten,  daß  tatsächlich  durch  Bepinseln  nässender  Stellen  mit 
Histopin  oder  durch  Einfetten,  resp.  Bedecken  impetiginöser  Stellen 
mit  15-  bis  50%iger  Staphylokokkenextrakt-Lanolinsalbe  die  Af¬ 
fektion  zur  Heilung  kam.  Bei  der  Furunkulose  kommen  dagegen 
nur  Staphylokokken  in  Betracht.  Es  gelingt  nun  häufig,  die  Ent¬ 
wicklung  kleiner,  eben  entstehender  Furunkel  durch  Bepinseln 
der  erkrankten  Stellen  mit  dieser  Staphylokokkenextrakt-Gelatine 
zu  hemmen  und  die  Abheilung  abortiv  zu  gestalten.  Bei  kleinen 
Furunkehi  findet  eine  Abheilung  auch  öfters  mit  25-  bis  50°/oiger 
Extraktsalbo  statt,  ohne  daß  sich  der  Prozeß  weiter  entwickelt. 
Größere  Furunkel  wurden  so  behandelt:  kleine,  stichförmige, 
nicht  zu  oberflächliche  Inzisionen,  Absaugen  des  Eiters  mit  der 
Bi  ersehen  Saugglocke,  Bedecken  des  ganzen  Furunkels  mit  Ex¬ 
traktkompressen  oder  ExtraktsalbenVerband.  Bei  tiefsitzenden  Fu¬ 
runkeln  und  Furunkelabszessen  ist  der  Eiter  ausreichend  zu  ent¬ 
leeren  und  dami  die  Stelle  mit  der  Extraktsalbe  zu  bedecken.  Bei 
oberflächlichen  Pusteln  und  Follikulitiden  (Impetigo  Bockhart) 
hat  sich  diese  Staphylokokkenextrakt-Gelatine  als  besonders  nütz¬ 
lich  erwiesen.  Nicht  so  sehr  in  der  Heilung  der  schon  bestehenden 
Affektion,  als  vielmehr  in  der  Verhütung  des  Auftretens  neuer 


Furunkel  ist  der  Hauptwert  der  Was serm ann sehen  Gelatine 
zu  suchen.  Es  ist  dem  Verfasser  (Leder mann)  in  einigen 
Fällen  gelungen,  jahrelang  bestehende,  immer  wieder  rezidivie¬ 
rende  Furunkelbildung  dadurch  zum  Stillstand  zu  bringen,  daß 
er  weite,  anscheinend  gesunde  Hautstellen  mit  der  Gelatine  be¬ 
streichen  ließ.  Die  Gelatinepinselung  der  Umgebung  der  Furunkel 
dürfte  sich  ganz:  besonders  als  Prophylaktikum  empfehlen.  — 

(Med.  Klinik  1911,  Nr.  13.)  E.  F. 

* 

450.  (Aus  dem  Heidelberger  Institut  für  Krebsforschung. 

Direktor:  Exzellenz  Geheimrat  Prof.  Dr.  V.  Czerny.)  Ueber 
Komplementablenkung  bei  Karzinom.  Von  Dr.  Albert 
Caan,  erster  Assistenzarzt  am  Samariterhaus.  Dio  Was  ser¬ 
in  ann  sehe  Reaktion  läßt  sich  nicht  nur  bei  Lues  und  post- 
luetischen  Erkrankungen,  sondern  auch  bei  Scharlach,  Lepra, 
Malaria,  Framboesia  tropica,  Lungentuberkulose,  myeloider  Leuk¬ 
ämie,  Typhus  recurrens  usw.  nachweisen.  Der  Verfasser  hat  das 
Phänomen  auch  in  vier  Fällen  von  Hodgkinscher  Krankheit  ge¬ 
funden  und  infolgedessen  alle  Karzinome  systematisch  nach  dieser 
Richtung  hin  geprüft.  Es  wurden  im  ganzen  85  Karzinomfälle 
untersucht  u.  zw.  nur  solche,  deren  Charakter  histologisch  sicher 
festgestellt  war  und  bei  denen  anamnestisch  Lues  ausgeschlossen 
werden  konnte.  Außerdem  gab  in  allen  Fällen  der  klinische 
Befund  für  das  Vorhandensein  einer  syphilitischen  Infektion  keinen 
Anhaltspunkt.  Von  den  85  Karzinomfällen  zeigten  35  eine  posi¬ 
tive,  resp.  schwach  positive  Reaktion.  Am  auffälligsten  ver¬ 
hielten  sich  die  Lippenkarzinome;  von  sieben  Fällen  reagierten 
seefhs  positiv.  Von  15  Hautkarzinomen  zeigten  10  eine  positive 
Seroreaktion;  ebenso  2  Unterkieferkarzinome,  während  3  Ober- 
kieferkrebse  negativ  reagierten.  Bei  11  Mammakarzinomen  fand 
sich  einmal,  bei  4  Gebärmutterkrebsen  zweimal  Kompleinent¬ 
ablenkung.  Die  Kehlkopfkrebse  und  die  der  Mundhöhle  hemmten 
verhältnismäßig  wenig.  Unter  den  Karzinomen  der  Verdauungs¬ 
organe  war  der  Befund  bei  4  Kolohkarzinomen  dreimal  ein  posi¬ 
tiver,  während  bei  13  Magenkrebsen  dreimal,  bei  6  Oesophagus¬ 
karzinomen  einmal  und  bei  8  Rektumkarzinomen  dreimal  die 
Hämolyse  ausblieb.  Bemerkenswert  nach  Verf.  ist  also  der  posi¬ 
tive  Ausfall  der  Wasser mannschen  Reaktion  in  ca.  41%  der 
untersuchten  Karzinomfälle,  dann  aber  auch  das  Resultat  der 
Untersuchungen  bei  den  Lippenkrebsen  und  Hautkarzinomen  im 
Gegensatz  zu  den  Brustkrebsen  und  einigen  Karzinomen  des  Ver¬ 
dauungstraktes.  Bemerkenswert  ist  ferner,  daß  es  in  einigen 
Fällen  zu  einer  schwach  positiven  Reaktion,  also  nicht  zu  einer 
eigentlichen  Luesreaktion  kam.  Lieber  diese  Tatsachen  vermag 
Verf.  keine  genügende  Erklärung  zu  geben.  Es  wäre  denkbar,  daß 
in  manchen  Fällen  von  Karzinom  und  besonders  bei  Lippen- 
und  Hautkrebsen  eine  Spirillose  als  Ursache  des  positiven  Aus¬ 
falles  der  Wasser  mannschen  Reaktion  in  Frage  kommt,  es 
wäre  aber  auch  denkbar,  daß  das  zerfallende  Karzinom  Stoff¬ 
wechselprodukte  liefert,  die  denen  der  syphilitischen  Affektion 
entsprechen,  bei  der  es  sich  um  eine  Art  von1  Lipoidreaktion 
handeln  soll.  Nach  Verf.  ist  es  jedenfalls  wünschenswert,  diese 
Untersuchungen  fortzusetzen,  da  vielleicht  biologische  Differenzen 
bei  verschiedenen  Tumoren  festgestellt  werden  könnten,  die  mög¬ 
licherweise  für  die  Therapie  eine  Bedeutung  haben  könnten.  — 
(Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  14.)  G. 

* 

451.  Pathologie  der  angeborenen,  familiären  und 
hereditären  Krankheiten,  speziell  der  Nerven-  und 
Geisteskrankheiten.  Von  Dr.  Heinrich  Higier  (Warschau). 
Seit  Jahrzehnten  beschäftigte  sich  die  Naturwissenschaft  mit  der 
Hereditätsfrage,  aber  vielleicht  keine  Disziplin  hat  auf  dem  Ge¬ 
biete  der  Erblichkeitslehre  solche  Erfolge  aufzuweisen,  wie  die 
Psychiatrie,  deren  Resultate  zu  Forschungen  Anlaß  gaben,  die 
die  ganze  ältere  Lehre  von  der  Heredität  zu  erschüttern  geeignet 
sind.  Wie  sehr  die  Hereditätsfrage  mit  vielen  aktuellen  Zeit-  und 
Streitfragen  der  Neurologie  und  Psychiatrie  enge  verknüpft  ist, 
hat  Higier  in  einem  umfangreichen  Referate  gezeigt,  welches  er 
auf  dem  internationalen  medizinischen  Kongreß  zu  Budapest 
zum  Vortrag  brachte  und  welches  in  der  vorliegenden  Arbeit  den 
engeren  Fachgenossen  zur  Kenntnis  gebracht  wird.  Die  Materie 
ist  eine  zu  große,  um  hier  im  engen  Rahmen  eines  kurzen  Re¬ 
ferates  besprochen  werden  zu  können,  so  daß  es  genügen  muß, 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  .1911. 


Nr.  18 


612 


wenn  darauf  verwiesen  wird,  daß  der  Verfasser1  mit  rühmens¬ 
wertem  Fleiß  und  mit  großer  Umsicht  alles  zusammengetragen 
hat,  was  den  Neurologen  und  Psychiater  in  der  großen  Gruppe 
hereditärer  Leiden  interessiert  und  daß  er  bemüht  war,  mit  mög¬ 
lichster  Vollständigkeit  alle  zu  der  Hereditätsfrage  in  Beziehung 
stehenden  Fragen  zu  erörtern.  —  (Archiv1  für  Psychiatrie  und 

Nervenkrankheiten,  Bd.  48,  H.  1.)  S. 

# 

452.  Ueber  bakteriologische  Beobachtungen  bei 
Irrenruhr,  insbesonders  über  die  Erscheinung  der 
Paragglutination.  Von  Dr.  Philalethes  K ü h n,  Dr.  E.  Gilde¬ 
meister  und  Dr.  Woithe.  Die  vorliegenden  Untersuchungen 
schließen  sich  an  die  interessante,  von  Kuhn  und  Woithe 
gemachte  Beobachtung  von  Ruhrbazillen  vom  Typus  Flexner, 
Kolihazillen  und  Kokken  im  Stuhle  einer  ruhrkranken  Irren, 
welche  Bakterien  sämtlich  die  Eigenschaft  zeigten,  selbst  in  hohen 
Verdünnungen  von  Flexnerseris  agglutiniert  zu  werden.  Außer¬ 
dem  gelang  es  durch  Vorbehandlung  von  Kaninchen  mit  diesen 
Bakterien,  ein  Immunserum  zü  gewinnen,  welches  nicht  nur  die 
entsprechenden  Mikroorganismen,  sondern  auch  Flexnerbazillen 
agglutiniert.  Dieses  eigentümliche  Phänomen,  daß  drei  verschie¬ 
dene  Bakterienarten  in  engen  Beziehungen  zu  Stoffen  des  Ruhr¬ 
serums  stehen,  bezeichneten  die  beiden  Autoren  als  Paraggluti¬ 
nation.  Das  weitere  Studium1  dieser  Ruhrepidemie  in  einer  pri¬ 
vaten  Irrenanstalt  ergab,  daß  die  Ausbreitung  durch  Kontaktinfek¬ 
tionen  erfolgte,  wobei  chronische  Ruhrkranke  die  gleiche  Rolle 
spielten,  wie  Typhusbazillenträger  in  der  Epidemiologie  des 
Typhus.  Die  bakteriologische  Untersuchung  der  Stühle  ließ  noch 
weitere  paragglutinierende  Kolistämme  au fd ecken.  Der  mit  den 
frisch  aus  dem  Stuhle  gezüchteten  Kolistämmen  festgestellte  agglu- 
tinatorische  Titer  geht,  allmählich  zurück.  Während  die  gewöhn¬ 
lichen  Bacterium  coli  -  Stämme  in  der  Regel  nur  ein  Iminun- 
serum  liefern,  welches  bloß  den  zur  Immunisierung  verwen¬ 
deten  Stamm  agglutiniert,  erhält  man  mit  den  paragglutinieren1- 
den  Kolistämmen  ein  Serum,  Welches  auf  alle  diese  Kolistämtme 
und  auf  Flexnerstämme  einwirkt.  Die  Untersuchung  des  Serums 
der  Irren  zeigte,  daß  auch  eine  Reihe  nicht  Ruhrkranker1  FleixneP- 
stämme  verschieden  hoch  zu  agglutinieren  vermochten,  eine  Beob¬ 
achtung,  die  den  Schluß  zuläßt,  daß  auch  diese  scheinbar  gesund 
gebliebenen  eine  ganz  leicht  verlaufene  Dysenterie  durchgemacht 
hatten.  Endlich  dienten  die  Vorliegenden  Untersuchungen  den 
Verfassern  als  Material  zür  Bewertung  der  Leistungsfähigkeit  von 
Agglutino-  und  Sedimentoskop.  Sie  empfehlen  die  Beobachtung 
der  Agglutination  mittels  des  Agglutinoskops  ohne  Vorbehalt, 
auch  die  sedimentoskopische  Methode  möchten  sie  für  wissen¬ 
schaftliche  Untersuchungen  nicht  missen,  doch  soll  sie  nur  für 
bestimmte  Bakterienarten  (Typhus,  eventuell  Paratyphus,  Dysen¬ 
terie,  Rotz,  Strepto-  und  Menin'gokokkeln)  reserviert  bleiben.  - 
(S.-A.,  Arbeiten  aus  dem  Kaiserlichen  Gesundheitsamte  191.1, 

Bd.  31,  H.  2.)  '  J. 

-  * 

453.  Ueber  Magenwandphl  egmone  im  subakuten 
S  t a  d  iu  m  und  eine  HeiluUg  durch  M agenres  ekti  o  n.  Von 
Prof.  Dr.  Fritz  König  in  Greifswald.  Eibe  28jährige  Frau  wurde 
der  chirurgischen  Klinik  Von  der  medizinischen  Klinik  zur  Ope¬ 
ration  überwiesen.  Ihre  Erkrankung  hatte  mit  hohem  Fieber, 
Kopfschmerz  und  Erbrechen  eingesetzt,  dann  wären  die  akuten 
Erscheinungen  zurückgegangen,  es  blieben  Magenschmefzen, 
Druckgefühl  u.  zw.  unabhängig  Vom1  Essen,  ferner  Erbrechen 
gelblich  -  braungelber  Massen.  Nie  war  Blut  im  Stuhle,  keine' 
Durchfälle,  Appetit  stets  vorhanden,  trotzdem  starke  Abmagerung, 
weit  über  50  Pfund.  Befund  ah  der  chirurgischen  Klinik  :  Obere 
Hälfte  des  linken  Rectus  abdominis  leicht  gespannt,  vorgewölbt. 
In  Nabelhöhe  quergestellter,  länglicher  Wulst,  der  unter  den 
Fingern  nach  oben  zu  gleiten  scheint.  Bei  Aufblähung  rückt  er 
etwas  unterhalb  des  Nabels.  Laparotomie.  Mittellinie.  Vorliegen¬ 
der  Magenteil  zeigt  Rötung,  flächenhäfte,  ziemlich  zarte,  injizierte 
Adhäsionen.  An  der  großen  Kurvatur  dicke  Infiltration  der  ge¬ 
röteten  Wand,  etwa  auf  10  ein,  fast  bis  zum  Pylorus  reichend ; 
an  der  Vorderwand  und  Rückwand  aufwärts  ziehend,  jedoch  nicht 
bis  zur  kleinen  Kurvatur.  Die  Infiltration  hat  die  größte  Breite 
in  der  Mitte,  Verjüngt  sich  nach  beiden  Seiten  hin.  Es  scheint 
ein  Tumor  vorzuliegen  von  ganz  auffallend  av  ei  eher  Kon¬ 


sistenz,  schwammig,  etwa  wie  ein  medullärer  Krebs;  ein  Ulkus 
ist  nicht  durchzufühlen.  Die  zarten  Adhäsionen  bluten  auffallend 
stark  bei  der  Durchtrennung.  Im  Netz  und  Mesenterium  zahl¬ 
reiche,  weiche,  geschwollene  Drüsen.  Auch  hier  bluten  alle  Teile, 
sehr  stark.  Quere  Durchtrennung  des  Magens  unter  Mitnahme 
des  Pylorus,  es  bleibt  ein  ziemlich  großer  kardialer  Teil  übrig. 
Einstülpung  und  Verschluß  der  Magenresektionsfläche  usw.  Glatter 
Wundverlauf.  Nach  einigen1  Wochen  sah  die  Operierte  blühend 
aus,  hatte  keine  Beschwerden  und  schon  26  Pfund  an  Körper¬ 
gewicht  zugenommen.  Der  herausgenommene  Magen  zeigte  keinen 
Tumor,  kein  Ulkus,  dagegen  war  die  Schleimhaut,  entsprechend 
der  an  der  Serosa  geröteten  und  injizierten  Partie,  weich,  ge- 
schwollen,  Vorgebuchtet,  gerötet;  an  vielen  Stellen  fanden  sich 
linsengroße  Defekte.  Zwischen  den  Defekten  war  die  Schleimhaut 
abgehoben;  man  kann  mit  einer  Sonde  von  einer  Oeffnung  zur 
anderen  unter  der  Schleimhaut  herfahren.  Die  Magenwand  war 
stark  verdickt  und  erfüllt  mit  einem  weichen  Brei,  Avie  eingeL 
dickter  Eiter.  Muskulatur  kaum  zu  erkennen,  macht  den  Eindruck 
von  S etnvart engewebe.  Verf.  gibt  den  mikroskopischen  Befund  und 
resümiert:  Es  handelte  sich  an  dieser  entzündlich  geröteten,  saft¬ 
geschwellten,  an  der  Serosa  peritonitischen,  an  der  Schleim¬ 
haut.  durchlöcherten  Magenpartie  um  eitrige  Entzündung 
der  Magen  wand,  um  eine  Gastritis  purulenta,  oder  wie  der 
Verfasser  sie  treffender  bezeichnen1  möchte,  um  „Phlegmone 
der  Magenwand“.  Die  Erkrankung  hat  ganz  akut  eingesetzt, 
ist  dann  in  ein  subakutes  Stadium  eingetreten  und  anscheinend 
zum  ersten  Male  hat  eine  Resektion'  die  Möglichkeit  gegeben, 
dieses  Stadium  noch  intra  vitam  autoptisch  zu  stu¬ 
dieren.  Verf.  bespricht  eingehend  den  mannigfachen  Verlauf 
solcher  Prozesse,  die  Beteiligung  des  Peritoneums,  das  Entstehen 
sogenannter  Magenwandabszesse,  er  hält  den  Befund  eines  eigen¬ 
tümlich  weichen,  querverlaufenden:,  verSchwimmenden  Tumors 
in  der  Magengegend  als  diagnostisch  sehr  beachtenswert,  ferner 
die  Angaben  des  Erbrechens  bräunlich  -  gelber  Massen  bei  unver¬ 
ändertem  Chemismus.  Der  Fall  beweist  ferner,  daß  selbst  eine  viel¬ 
fache  Spontanperforation  in  den  Magen  noch  lange  keine  Heilung 
bedeutet,  denn  trotzdem  War  die  Entleerung  des  Eiters  völlig 
unzureichend,  es  kam  allmählich  zu  einer  derben  Schwarte.  Die 
rationelle  Therapie  kann  hier  nur  die  Entfernung  der  erkrankten 
Magenpartie  sein,  Avas  der  Erfolg  bewiesen  hat.  Die  frühere 
probatorische  Eröffnung  der  Magenwand  hält  Verf.  schließlich  für 
unzulässig.  —  (Deutsche  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  14.) 

E.  F. 

* 

454.  Stickstoff-  un  d  Kochsalzstof  fwech  sei  bei  der 
Karelischen  Milchkur.  Von  C.  Hegler.  An  zahlreichen  Fällen 
teils'  reiner,  teils  mit  Kompensationsstörungen  komplizierter  Fett¬ 
sucht  vorgenommene  Untersuchungen  des  Kodhsalz1-  und  Stickstoff- 
Stof  fwechsels  ergaben,  daß  die  Karell-Kur  (sieben  Tage  lang  je 
800  cm3  Milch  mit  einer  täglichen  Zufuhr  von  rund  520  Kalo¬ 
rien  und  etwa  27  g  Eiweiß)  sich  ganz1  beträchtlich  unter  dem 
Eiweiße,  resp.  Kalorien1  minimum  hält,  also  eine  rigorose  Hunger¬ 
kur  darstellt,  von  der  man  eigentlich  Schädigungen  des  Organis¬ 
mus  erwarten  sollte.  Indes  ist  das  durchaus1  nicht  der  Fall. 
Es1  Avird  rasche  subjektive  und  objektive  Besserung  Iris  zur  Ar¬ 
beitsfähigkeit  erzielt.  —  (Fortschritte  der  Medizin  1911,  29.  Jahrg., 

Nr.  1.)  K.  S. 

* 

455.  (Aus  der  Heidelberger  chirurgischen  Klinik.  —  Direktor: 
Prof.  Dr.  Wilms.)  Die  Entstehung  der  Pankreatitis 
bei  Gallensteinen.  Von  PriV.-Doz.  Dr.  LudAvig  Arnsper- 
ger,  erster  Assistent  der  Klinik.  Pankreasaffektionen  und  Chole¬ 
lithiasis  sind  sehr  häufig  kombiniert.  Meist  schließt  sich  die  Pan¬ 
kreatitis  an  das  primäre  Gallensteinleiden  an.  Die  Ursache  führen 
die  meisten  Autoren  (Körte,  Ebner,  Kehr1)  auf  die  anatomi¬ 
schen  Beziehungen  der  Lage  der  Ausführungsgänge!  des  Pankreas 
und  des  Gallensystems  zurück,  besonders  bei  den  Choledochus¬ 
steinen.  Verf.  hat  in  einer  Reihe  Von  Fällen  an  der  Heidelberger 
Klinik  die  Kombination  von  chronischer  Pankreatitis  mit 
Gallensteinerkrankungen  des  Reservoirsystems  beobachtet;  ein¬ 
mal  eine  akute  Pankreatitis  mit  Fettgewebsnekrose  bei  sub¬ 
akuter  (Cholezystitis,  Avährend  jedoch  der  Ductus  chole- 
dochus  sicher  nicht  beteiligt  Avar  und  einer  Pankreaszyste. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1Ü1L 


643  j 


Nr.  18 


In  fast  all  diesen  Fällen  konnte  er  eine  entzündliche  Schwellung 
der  in  der  Gegend  des  Zystikus  und  Choledochus  gelegenen  Lytnph- 
driisen  und  des  retroperitonealen  Gewebes  im  Sinne  einer  Lymph¬ 
angitis  nachweisen  und  es  lag  nahe,  auch  die  Pankreasaffektion 
als  auf  lymphangitischem  Wege  entstanden  zu  denken.  Daß  tat¬ 
sächlich  die  Lymphb, ahnen  von  der  Gallenblase  zum  Pankreas 
verlaufen,  ergibt  sich  sowohl  aus  klinischen,  als  auch  pathologisch¬ 
anatomischen  Beobachtungen  und  ist  auch  den  Anatomen  be¬ 
kannt.  Verf.  hat  bei  seinen  Gallensteinoperationen,  besonders 
bei  der  Cholezystektomie,  mehrfach  Gelegenheit  gehabt,  derartige, 
von  der  Gallenblase  ausgehende  lyinphangi tische  Prozesse  in 
jeder  Abstufung  zu  sehen  und  zu  studieren,  üb  es  sich  dabei 
in  allen  Fällen  um  eine  wirkliche  Pankreatitis  handelt,  ist  zweifel¬ 
haft.  In  vielen  Fällen  dürfte  nur  eine  Pankreasschwell  uug  vor¬ 
handen  sein,  die  auf  den  Pankreaskopf  beschränkt  bleibt,  wobei 
das  Lymphgewebe,  das  zwischen  den  Drüsenläppchen  eingestreut 
ist,  den  Hauptanteil  hat.  Es  würde  sich  also  in  diesen  Fällen 
um  eine  Lymphadenitis  pancreatica  handeln.  Damit  würde  sich 
die  Tatsache  gut  vereinigen  lassen,  die  Verf.  klinisch  häufig  beob¬ 
achtete,  daß  nämlich  bei  Fällen  von  akuter  Cholezystitis  der 
hifolge  der  entzündlichen  Pankreasschwellung  auftretende  ent¬ 
zündliche  Ikterus  nach  Entfernung  der  entzündeten  Gallenblase 
auch  ohne  Drainage  der  tiefen  Gallenwege  in  wenigen  Tagen  ver¬ 
schwindet  und  die  Passage  für  die  Galle  wieder  frei  wird,  also 
das  Pankreas  abgeschwollen  sein  muß.  Für  die  große  Rolle,  die 
die  Lymphdrüsen  des  Pankreaskopfes  als  Abführwege  des  Lymph¬ 
systems  der  Gallenblase  spielen,  findet  Verf.  einen  weiteren  Beweis 
in  der  Verbreitung  der  Metastasen  des  Gallenblasenkarzinoms. 
Man  findet  dabei  auffallend  häufig  Metastasen  im  Pankreaskopfe 
und  in  dessen  Umgebung.  In  der  Klinik  wurden  acht  solcher 
Fälle  beobachtet.  Die  Versuche  von  Franke,  durch  Farbstoff¬ 
injektion  von  der  Gallenblasenwandung  aus  die  abführenden 
Lymphwege  der  Gallenblase  darzustellen,  bestätigen  die  Ausfüh¬ 
rungen  des  Verfassers.  In  der  Mehrzahl  dürfte  auch  die  Erklärung 
des  entzündlichen  Ikterus  in  dieser  lymphangitischen  Schwellung 
des  Lymphdrüsengewebes  oder  des  Pankreaskopfes  zu  suchen  sein. 
Die  Schlußsätze  aus  des  Verfassers  Beobachtungen  lauten:  1.  Wäh¬ 
rend  die  akute  und  chronische  Pankreatitis  bei  Gallensteinen  im 
Ductus  choledochus,  die  in  der  Regel  die  ganze  Drüse  betrifft, 
in  den  innigen  anatomischen  Beziehungen  beider  Ausluhrungs- 
gänge  ihre  natürliche  Erklärung  findet,  kann  die  bei  einfacher 
Cholezystitis  ohne  Beteiligung  der  tiefen  Gallenwege  auf  tretende 
Anschwellung  des  Pankreaskopfes  nicht  so  gedeutet  werden. 
2.  Diese  entsteht  wahrscheinlich  auf  dem  Lymphwege  von  der 
entzündeten  Gallenblase  aus.  Sie  ist  in  vielen  Fällen  vielleicht 
keine  echte  Pankreatitis,  sondern  eine  nach  Entfernung  der  ent¬ 
zündeten  Gallenblase  rasch  zurückgehende  Anschwellung  der 
Lymphapparate  des  Pankreaskopfes,  eine  Lymphadenitis  pancre¬ 
atica.  3.  Als  Beweis  für  diese  Anschauung  dienen:  a)  Der  ana¬ 
tomische  Nachweis  der  von  der  Gallenblase  zum  Pankreas  ziehen¬ 
den  Lymphhalmen  (Farbstoffinjektion  Franke),  b)  Die  klinisch 
beobachteten  Stadien  der  Ausbreitung  des  lymphangitischen  Pro¬ 
zesses  auf  die  Drüsen  an  der  Ampulle  der  Gallenblase  und  am 
Zystikus,  die  Drüsen  in  der  Umgebung  des  Ductus  hepaticus 
und  Choledochus  bis  zum  Pankreas  hin  und  c)  der  Verbreitungs¬ 
weg  des  primären  Gallenblasenkarzinoms,  hei  dem  Metastasen 
im  Pankreaskopfe,  aut  dem  Lymphwege  entstanden,  auffallend 
häufig  Vorkommen.  4.  Diese  lymphangitische  Schwellung  des 
Pankreaskopfes  und  der  Lymphdrüsen  im  Ligamentum  hepato- 
duodenale,  sind  in  vielen  Fällen  die  Ursache  des  bei  einfacher 
Cholezystitis  auf  tretenden  entzündlichen  Ikterus.  —  (Münchener 
mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  14.)  G. 

* 

456.  (Aus  der  chirurgischen  Universitätsklinik  zu  Göttingen. 
—  Direktor:  Geh.  Med.- Rat  Prof.  Dr.  Braun.)  Beiträge  zur 
Appendizitisfrage  auf  Grund  der  Erfahrungen  der 
Göttinger  Klinik  in  den  letzten  11  Jahren.  Von  Privat- 
dozent  Dr.  Albert  Fromme.  In  einer  ausführlichen  Arbeit  be¬ 
spricht  Verf.  die  Erfahrungen,  die  an  fast  700  Fällen  von  Appen¬ 
dizitis  gewonnen  wurden  und  legt  die  Grundsätze  lest,  nach 
welchen  bei  der  operativen  Behandlung  der  Appendizitis  iu  den 
verschiedenen  Stadien  der  Erkrankung  vorgegangen  wurde.  Vor 
allem  ist  Verf.  ein  entschiedener  Anhänger  der  Frühoperation, 


die  er  jedem  mit  irgendwie  akuten  Symptomen  erkrankten  Pa¬ 
tienten  zu  empfehlen  rät,  da  mit  den  jetzigen  Hilfsmitteln  einer¬ 
seits  eine  einwandfreie  Prognose  nicht  gestellt  werden  kann, 
anderseits  nur  durch  die  Frühoperation  die  schweren  Zufälle 
(Abszeß,  Peritonitis)  verhindert  werden  können.  Im  Intermediär- 
stadium  (dritter  bis  fünfter  Tag)  empfiehlt  Verf.  zuzuwarten,  bis 
sich  ein  Abszeß  entwickelt  hat  oder  bis  die  Erscheinungen  zurück¬ 
gegangen  sind.  Verf.  ist  der  Ansicht,  daß  sich  in  den  ersten 
18  Stunden  das  Schicksal  der  Appendixkranjken  entscheidet,  das 
heißt,  entweder  kommt  es  hei  fehlenden  Verwachsungen  zu  Peri¬ 
tonitis  und  der  Fäll  muß  operiert  werden,  oder  es  bestehen  Ver¬ 
wachsungen  und  die  Erkrankung  des  Peritoneums  bleibt  eine 
zirkumskripte.  In  diesem  Stadium  ist  es  leichter,  als  im  Früh¬ 
stadium,  die  Prognose  zu  stellen  und  bei  mangelnder  Progredienz 
der  Erscheinungen  zuzuwarten.  In  diesem  Stadium  wird  nur 
bei  vitaler  Indikation  operiert  und  die  Appendix  gleichzeitig 
weggenommen.  Hingegen  hält  Verf.  die  Resektion  der  Appendix 
bei  der  Abszeßinzision  im  Spätstadium  auf  Grund  seiner  Er¬ 
fahrungen  nicht  für  nötig.  Die  Entleerung  des  Eiters  durch  eine 
kleine  Inzision  genügt  nicht  nur,  um  die  akuten  Erscheinungen 
zum  Abklingen  zu  bringen,  sondern  auch  später  traten,  wie  die 
Nachfrage  bei  den  Patienten  ergeben  hat,  Rezidive  nur  in  einer 
geringen  Anzahl  auf,  so  daß  Verf.  annimmt,  daß  entweder  der 
den  Reiz  unterhaltende  Kotstein  durch  die  Eiterung  entfernt  wurde 
oder  andere,  die  Rezidive  begünstigende  Verhältnisse  (Knickung, 
Verengerung)  beseitigt  wurden  und  auf  diese  Weise  eine  Heilung 
ohne  Rezidive  erfolgte.  Deswegen  empfiehlt  Verf.  den  Patienten 
mit  Abszeß  nicht  in  jedem  Falle  die  Intervalloperation,  er  macht 
sie  nur  aufmerksam,  sich  beim  Beginn  neuer  Krankheitssymptome 
sofort  am  ersten  Tage  operieren  zu  lassen.  Bei  nicht  abszedierten 
Fällen  traten  Rezidive  häufiger  auf  und  hier  ist  die  Intervall¬ 
operation  angezeigt,  dieselbe  kann  in  leichteren  Fällen  einige 
Tage  nach  Beginn  der  Erkrankung,  in  schwereren  Fällen  nach 
vier  bis  sechs  Wochen  ausgeführt  werden.  Bei  Peritonitis  besteht 
die  Indikation  zur  sofortigen  Operation  in  jedem  Falle,  wobei 
die  Appendix  als  die  Ursache  der  Erkrankung  in  jedem  Fälle 
mitgenommen  werden  soll.  —  (Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie, 
Bd.  108,  H.  5  bis  6.)  se. 

* 

457.  Die  Behandlung  der  Gicht  und  des  Rheuma¬ 
tismus  mit  Radiu  m.  Von  Geh.  Rat  W.  H  i  s.  Im  ganzen  wurden 
mehr  als  200  Fälle  behandelt,  von  welchen  nur  128  in  der  Charite 
oder  in  Privatkrankenhäusern  durch  längere  Zeit  genau  beobach¬ 
tete  Fälle  in  Betracht  kommen;  von  diesen  gehörten  100  dem 
chronischen  Rheumatismus  und  28  der  Harnsäuregicht  an.  Von 
den  100  Fällen  chronischer  Rheumatismen  sind  17  gebessert 
worden,  erheblich  gebessert  29,  nahezu  geheilt  5,  ungebessert 
bleiben  13  und  bei  6  entzog  sich  der  Erfolg  der  Beurteilung.  Verf.  er¬ 
wähnt  einige  markante  Fälle.  Ein  8V2jähriges  Kind  litt  seit  drei 
Vierteljahren  an  symmetrischen  Schwellungen  fast  aller  Extremi¬ 
täten,  es  konnte  weder  Hände  noch  Füße  gebrauchen.  Nach  acht¬ 
wöchiger  Behandlung  war  die  Gehfähigkeit  und  der  Gebrauch 
der  Hände  wiedergekehrt.  Ein  20jährigeis  Mädchen  verlor  subakute 
Schwellung  der  beiden  Sprunggelenke,  die  seit  zwei  Monaten 
bestanden,  innerhalb  drei  Wochen  und  konnte  als  geheilt  entlassen 
werden.  Ebenso  heilte  eine  subakute  Schwellung  der  beiden 
Fußgelenke  innerhalb  drei  Wochen.  Ein  Mädchen  von  19  Jahren 
litt  seit  drei  Jahren  an  exsudativer  Polyarthritis  aller  Extremi¬ 
tätengelenke;  zahlreiche  Kuren  konnten  das  Fortschreiten  des 
Prozesses  nicht  hindern.  Emanations-  und  Trinkbehandlung.  An¬ 
fangs  vermehrte  Schmerzen,  dann  lange  Zeit  stationärer  Zustand, 
schließlich  —  nach  drei  Monaten  —  erhebliches  Abschwellen 
der  Gelenke,  Gebrauchsfähigkeit  der  Hände  und  Füße.  Nach 
den  letzten  Nachrichten  tanzt  das  Mädchen  wieder.  Ein  ebenso 
ausgesprochener  Erfolg  wurde  bei  einer  schon  ziemlich  veralteten 
Myalgie  erzielt.  So  hervorragende  Resultate  lassen  sich  indessen 
nur  ausnahmsweise  erzielen.  Schwere  anatomische  Veränderun¬ 
gen  an  den  Knochen,  Knorpeln,  Muskeln  usw.  lassen  sich  eben 
durch  kein  Mittel  mehr  rückgängig  machen.  Am  meisten  Erfolg 
versprechen  also  von  vornherein  die  Erkrankungen,  die  noch 
nicht  allzulange  gedauert  haben  und  bei  denen  die  Hauptver¬ 
änderung  in  einer  Schwellung  und  Infiltration  der  Gelenkskapsel 
besteht.  Aber  auch  die  trockene  Form  (die  Kapsel  bleibt  lange 


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Zeit  unverändert,  der  Knorpel  aber  degeneriert  stark  und  die 
Muskeln  beteiligen  sich  fast  immer)  weist  recht  günstige  Re¬ 
sultate  auf,  die  Schmerzen  nehmen  ab,  die  Muskelkontraktionen 
weiden  geringer  und  die  Beweglichkeit  nimmt  zu.  Einzelne  Fälle 
von  Myalgien  (druckempfindliche  und  verhärtete  Stellen  in  den 
Muskeln,  Aetiologie  unbekannt)  haben  auf  die  Radiumbehandlnng 
glänzend  reagiert,  andere  sind  gebessert,  wieder  andere  blieben 
ungeiheilt.  Im  ganzen  läßt  sich  sagen,  daß,  je  jünger  das  Indi¬ 
viduum,  je  frischer  die  Krankheit,  um  so  besser  der  Erfolg, 
daß  aber  zum  mindesten  eine  schmerzlindernde  Wirkung  auch 
bei  sehr  veralteten  Fällen  nicht  ausgeschlossen  ist.  Weit  auf¬ 
fallender  sind  die  Erfolge  bei  der  Harnsäuregicht.  Von  28  längere 
Zeit  behandelten  Personen  erfuhren  24  eine  beträchtliche  Er¬ 
leichterung  ihres  Zustandes,  4  blieben  ungebessert.  Einige  Pa¬ 
tienten  sind  etwa  seit  einem  Jahre  nach  Abschluß  der  Kur 
beschwerdefrei  geblieben.  Unter  dein  Einflüsse  der  Radiumema¬ 
nation  verliert  das  Blut  der  Gichtkranken  innerhalb  einiger 
Wochen  seine  Harnsäure.  Von  18  daraufhin  vor  und  nach  der 
Behandlung  untersuchten  Fällen  wurde  bei  15  das  erwähnte 
Resultat  konstatiert  (bei  einem  schwer  Gichtkranken  schon  nach 
lltägiger  Trinkkur),  während  in  drei  Fällen  die  Harnsäure  auch 
nach  intensiv  durchgeführter  Kur  im  Blute  erhalten  blieb.  Zwei¬ 
mal  (harnsäure-freies '  Blut)  schwanden  Ohrtophi  während  der 
Behandlung.  In  einem  Falle  konnte  ausgezeichnete  Besserung 
konstatiert  werden,  obwohl  das  Blut  seine  Harnsäure  beibehielt, 
dann  war  wieder  ein  Kranker  da,  der  von  .Gichtknoten  ganz  durch¬ 
setzt  war,  dabei  weder  zu  Beginn,  noch  zu  Ende  der  Behand¬ 
lung  Harnsäure  im  Blute  hatte;  dabe-i  wurde  er  während  der 
ganzen  Zeit  von  Anfällen  befallen.  Es  ist  eine  alte  Erfahrung, 
daß  nicht  nur  die  Ablagerung,  sondern  auch  die  rasche  Auf¬ 
lösung  harnsaurer  Salze  eine  Entzündung  aus-lösen  kann.  Der 
Verfasser  bespricht  sodann  die  einzelnen  Methoden  der  Radium¬ 
anwendung  (Einatmung  der  Emanation,  Bade-  und  Trinkkur)  und 
hält  als  die  wirksamste  Anwendung  der  Emanation  diejenige,  bei 
welcher  der  Körper  in  einer  Atmosphäre  atmet,  welche  mit  einer 
gewissen  Menge  Radiumemanation  beschickt  ist.  Die  Erfahrung 
hat  ihn  gelehrt,  daß  zur  Erzielung  deutlicher  Heilerfolge  und 
zur  Befreiung  des  Blutes  Gichtkranker  von  Harnsäure  ein  zwei¬ 
stündiger  Aufenthalt  täglich  in  einer  Luft,  die  pro 'Liter  etwa  zwei 
bis  vier  Macheeinheiten  enthält,  in  der  Regel  ausreicht.  Benützt 
wurden  die  von  der  Radiogengesellschaft  Charlottenburg  in  den 
Handel  gebrachten,  von  Löwenthal  und  Gudze-nt  konstru¬ 
ierten  Emanatorian.  Bei  manchen  Rheumatikern  wurde  die  All¬ 
gemeinwirkung  noch  günstig  unterstützt  durch  Injektion  unlös¬ 
licher-  oder  öfteres  Einbringen  löslicher  Radiumsalze  in  die  un¬ 
mittelbare  Umgebung  der  erkrankten  Gewebe.  Sterile  Ampullen 
solcher  Salze  werden  jetzt  von  mehreren  Seiten  in  den  Handel 
gesetzt.  Der  Verfasser  bespricht  sodann  eingehend  die  Art  der 
Einwirkung  des  Radiums  und  äußert  die  Ansicht,  daß  bei  der 
Gicht  sehr  verschiedenartige  Einwirkungen  tätig  sind,  die  alle 
im  gleichen  Sinne  auf  -eine  Auflösung  der  gichtigen  Ablagerungen 
und  auf  eine  Zerstörung  der  Harnsäure  hinwirken.  Neben  der 
autolytischen,  entzündungshemmenden  und  schmerzlindernden 
Wirkung  kommt  bei  der  Gicht  noch  eine-  spezifische  Wirkung 
auf  die  Harnsäure  und  ihre  Salze  und  auf  die  Stoff¬ 
wechselvorgänge,  welche  die  Menge  der  Harnsäure  im 
Körper  regeln,  hinzu ;  daher  die  größere  Sicherheit  der 
Wirkung.  Die  Behandlung  dauert  wochen-  und  monate¬ 
lang  und  verursacht  nicht  unerhebliche-  Kosten.  Bei  der 
Gicht  muß  unbedingt  auch  bei  der  Anwendung  der  .Radiumkur  die 
diätetische  Behandlung  eingeleitet  werden  (purinfrei-e  Kost  usw.). 
Zum  Schlüsse  bespricht  Verf.  die  zuweilen  recht  schwierige  Diffe¬ 
renzierung  der  Gicht  vom  chronischen  Rheumatismus,  den  Nach¬ 
weis  der  Harnsäure  im  Blute  Gichtischer,  endlich  die  Schwierig¬ 
keiten  der  individuell  richtigen  Dosierung  und  der  besten  An- 
we-ndungsfoim  'des  Radiums.  —  (Berliner  klinische  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  5.)  E.  F. 

* 

458.  (Aus  dein  allgemeinen  Krankenhause  Hamburg-Eppen¬ 
dorf.  —  Abteilung:  Oberarzt  Dr.  Nonne.)  Das  Verhalten  des 
Blutdruckes  im  Deliriulm  tremens.  Von  Dr.  Friedrich 
Wohl  will,  Assistenzarzt.  Die  Untersuchungen  des  Verfassers 
über  den  Blutdruck  im  Delirium  tremens  ergaben,  daß  im  Beginne 


desselben  und  bei  leichten  und  mittelschweren  Fällen  während 
des  ganzen  Verlaufes  der  systolische  und  diastolische  Blutdruck 
gesteigert  sind,  ebenso  der  Pulsdruck  und  das  Amp-litüdenfrequenz- 
produkt,  während  der  Blutdruckquotient  in  der  Regel  nicht  wesent¬ 
lich  von  der  Norm  abweicht.  Wahrscheinlich  führt  das  Zusammen¬ 
wirken  vasomotorischer  Einflüsse  und  eines  vermehrten  Schlag¬ 
volumens  (weil  die  funktionierende  Muskulatur  ein  größeres  Blut¬ 
bedürfnis  hat)  zu  diesen  Erscheinungen.  Pulsdruck,  Blutdruck¬ 
quotient  und  Amplitüdenfrequenzprodukt  zeigen  in  späteren  Sta¬ 
dien  schwerer  Delirien  oft  einen  jähen  Abfall.  In  der  Rekonvales¬ 
zenz  ist  der  Blutdruck  sehr  stabil.  Der  Blutdruckmessung  bei  Al¬ 
koholdeliranten  mangelt  jede  praktische  Bedeutung,  namentlich 
hinsichtlich  der  Prognose.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Nerven¬ 
krankheiten,  Bd.  48,  H.  1.)  S. 

* 

459.  Experimentelle  Beiträge  zur  Infektion  mit 

T r  yp an o  s  oma  g ambiense  und  zur  Heilu ng  der  mensch¬ 
lichen  Trypanosomiasis.  Von  Prof.  Dr.  M.  Beck,  Re¬ 
gierungsrat  nn  Kaiserlichen  'Gesundheitsamte.  Becks  Unter¬ 
suchungen  über  die  Infektiosität  des  Trypanosoma  gambiense  bei 
einer  Anzahl  von  Tiergattungen  -ergaben,  daß  mit  Ausnahme  der 
Feldmaus  alle  Mäusespezies  für  den  genannten  Parasiten  em¬ 
pfänglich  sind,  ferner  Ratten,  Meerschweinchen.  Beim  Kaninchen 
verursacht  er  eine  Erkrankung,  deren  klinischen  Symptome  Aehn- 
lichlve.it  mit  den  Infektionen  dieser  Tiere  durch  Durine  haben,  wobei 
sich  aber  wilde  Kaninchen  resistenter  erweisen  als  zahme.  Sehr 
geeignet  für  die  Infektion  mit  Trypanosoma  gambiense  sind  junge 
Hunde,  die  infolge  Iritis  und  Trübung  der  Korneen  erblinden; 
ähnlich  verhalten  sich  auch  die  Katzen.  Im  Gegensätze  zu  La¬ 
ver  an  und  Me  s nil  gelang  e-s  dem  Verfassei*,  auch  Schweine 
mit  dem  genannten  Parasiten  zu  infizieren.  Sie  können  aber  auch 
gleich  den  Ziegen  längere  Zeit  Trypanosomen  im  Blute  beher¬ 
bergen,  ohne  Krankheitserscheinungen  aufzuweisen  und  so  unter 
Umständen  Parasitenträger  werden.  Während  beim  Cercopi- 
thecus  fuliginosus  eine  tödliche  Erkrankung  mit  intermittierendem 
Fieber  zu  erzielen  ist,  erwiesen  sich  Hühner  und  Tauben,  ferner 
Eidechsen  und  Frösche  der  Infektion  mit  Trypanosoma  gambiense 
gegenüber  refraktär.  Die  Möglichkeit  der  Uebertragung  der  Schlaf¬ 
krankheit  durch  unsere-  einheimischen  Insekten  ei'scheint  durch 
das  Ergebnis  der  Versuche-  von  Beck  so  gut  wie  ausgeschlossen. 
Aus  den  Untersuchungen  des  Verfassers  über  Heilung  von  künst¬ 
lichen  Infektionen  mit  Trypanosoma  gambiense  geht  hervor,  daß 
das  Arsenophenolglyzin  außerordentlich  i*asch  und  sicher  ebenso 
Trypanosoma  Bruc-ei,  als  auch  das  Trypanosoma  gambiense 
dm  Tierkörper  zum  Verschwinden  bringt  und  sich  auch 
prophylaktisch  anwenden  läßt,  was  vom  Atoxyl  nicht  gilt.  Dem 
Arsenophenylglyzin  kann  in  seiner  Wirksamkeit  das  Antimonatoxyl 
gleichgestellt  werjd-en,  welches  überdies  den  Vorteil  geringerer 
Zersetzbarkeit,  dagegen  den  Nachteil  schwerer  Löslichkeit  besitzt. 
Sowie  es  gelingt,  durch  Vorbehandlung  größerer  Tiere  ein  das 
Trypanosoma  gambiense  spezifisch  »agglutinierendes  Serum  zu 
gewinnen,  zweifelt  Verf.  auf  Grund  seiner  Versuche  auch  nicht, 
daß  es  möglich  sein  wird, s  durch  fortgesetzte  Behandlung  mit  großen 
Mengen  von  Trypanosomen  bei  geeigneten  Tieren  einen  so  hohen 
Grad  von  Immunität  zu  erreichen,  wie  er  zur  praktischen  Ver¬ 
wendung  nötig  ist.  Dagegen]  dürfte  mit  Rücksicht  auf  die  außer¬ 
ordentlich  ungleichmäßigen  Ausschläge,  welche  die  verschiedenen 
Tierseren  ergeben,  die  Verwendung  der  Komp-lementbindungs- 
m-ethode  zur  Diagnose  der  menschlichen  Trypanosomiase  kaxun 
in  Betracht  kommen.  —  (S.-A.,  Arbeiten  aus  dem  Kaiserlichen 
Gesundheitsamte,  1910,  Bd.  34,  H.  3.)  J- 

* 

460.  D ie  tub-erkulö sen  Intoxikationen,  eine  klinisch¬ 
experimentelle  Studie.  Von  Dr.  Josef  Hollös,  Prosektor  am 
allgemeinen  Krankenhause  in  Szeged.  Unter  dem  Namen  tuber¬ 
kulöser  Intoxikationen  faßt  Hol  lös  die  Symptome  latenter  Tu¬ 
berkulose  zu  -einem  äußerst  wechselnden,  aber  doch  einheitlichen 
klinischen  Krankenbilde  zusammen,  da  er  im  Laufe  der  spezi I. 
sehen  Behandlung  bei  mehr  als  1000  Kranken  durch  zeitweilige 
oder  gänzliche  Beseitigung  jener  Krankheitssymptome  oder  durch 
absichtliche  Hervorrufunjg  der  Intoxikation  deren  tuberkulöse 
Natur  sicherstellen  konnte,  eventuell  unter  Bestätigung  der  Tuber¬ 
kulose  durch  physikalische  oder  spezifische  Untersuchung.  Der 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


645 


Verfasser  gruppiert  diese  Intoxikationssymptome  in  folgen¬ 
der  Weise:  1.  Kopfschmerzen,  Schwindel;  2.  Schlafstörungen: 
Schlaflosigkeit  oder  große  Schläfrigkeit,  aufregende  oder  ver¬ 
worrene  Träume;  3.  vasomotorische  und  Temperaturstörungen; 
4.  Schwitzen;  5.  Mattigkeitsgefühl,  rasches  Ermüden;  (3.  Erreg¬ 
barkeit,  Nervosität,  Verminderung  der  geistigen  Arbeitsfähigkeit; 
7.  MagenJscbmerzen,  Appetitstörungen,  Brechreiz;  8.  habituelle 
Obstipation;  9.  Menstruationsstörungen;  10.  Basedowsche 
Krankheit.  Das  genaue  Erkennen  der  tuberkulösen  Natur  dieser 
Intoxikationssymptome  ist  sehr-  wichtig,  weil  die  Tuberkulose  im 
anfänglichen  Intoxikationsstadium  meist  sicher  und  endgültig 
heilbar  ist  und  weil  diese  Intoxikationssymptome  bis  jetzt  klinisch 
meist  falsch  beurteilt  wurden,  indem  sie  als  Symptom  von  Anämie, 
Neurasthenie,  Hysterie  und  sonstigen  Neurosen  galten.  Manch¬ 
mal  sind  von  diesen  Symptomen  (zu  welchen  eigentlich  auch  noch 
ein  Teil  jener  Gelenksaffektionen,  welche  Poncet  in  Lyon  unter 
dein  Namen  „Rhumatisme  tuberculeux“  zusammenfaßt,  gehört) 
nur  ein  einziges  oder  einige  wenige  vorhanden,  wovon  eventuell 
eines  dominiert,  ein  anderes  Mal  werden  aber  die  Kranken  von 
ganzen  Haufen  dieser  Symptome  gequält,  suchen  einen  Arzt 
nach  dem  anderen  auf,  weder  Eisen,  Arsen,  Phosphor  noch 
hydrotherapeutische,  klimatische  oder  suggestive  Heilversuche 
wollen  gelingen,  während  spezifische  Behandlung  Heilung  bringen 
könnte,  wenn  die  Natur  der  Erkrankung  richtig  gedeutet  würde, 
was  natürlich  oft  nicht  der  Fall  ist,  weil  die  Intoxikationssym¬ 
ptome  schon  Jahre  vor  Husten  und  physikalischer  Nachweisbar¬ 
keit  der  Tuberkulose  vorhanden  sein  können.  Diese  Intoxikations¬ 
symptome  sind  nach  Hollös  zu  erklären  mit  Giftempfindlichkeit 
der  Organe,  welche  mit  partieller  Autoimmunität  des  Organismus 
zusammenhängt  und  eigentlich  nichts  anderes  ist,  als  die  spon¬ 
tane  Reaktion  der  einzelnen  Organe  gegenüber  der  Vergiftung. 
(Bei  solchen  Tuberkulösen,  bei  denen  sich  keinerlei  Immunität 
findet,  treten  diese  Symptome  nicht  auf,  weshalb  der  tuberkulöse 
Prozeß  dominiert  und  sich  um  so  mehr  verbreitet.)  Was  die 
spezifische  Behandlungsmethode  Hollös’  anbelangt,  so  arbeitet 
er  nur  mit  dem  Tuberkuloseimmunkörper  (IK)  Spenglers, 
welcher  für  Gesunde  auch  in  konzentriertem  Zustande  indifferent 
ist,  aber  bei  Kranken  auch  in  lOO.OOOiächer,  ja  millionenfacher 
Verdünnung  imstande  ist,  nicht  nur  das  tuberkulöse  Fieber,  son¬ 
dern  auch  den  Husten  und  sämtliche  toxische  Symptome  zu  be¬ 
heben  und  die  Bazillen  aus  dem  Sputum  verschwinden  zu  lassen. 
Mit  dem  IK  wird  dem  Organismus  ein  fertiges  Antitoxin  zugeführt. 
Die  Behandlung  ist  anscheinend  eine  passive  Immunisation ;  es 
entwickelt  sich  aber;  oft  ein  aktiv  -  passives  Immunisations  ver¬ 
fahren  durch  Resorption  der  Toxine  der  von  Lysinen  aufgelösten 
Bazillen,  was  kurze,  mehr  oder  minder  starke  Temperatursteige¬ 
rungen  zur  Folge  haben  kann,  worauf  dann  aber  die  Temperatur 
meist  vollständig  und  dauernd  normal  wird.  Die  IK- Behandlung 
beginnt  mit  lOO.OOOfach  bis  l,000.000fach  verdünnten  Lösungen 
des  Stoffes  mit  Vio  cm3  bis  2/io  cm3  fortschreitend,  in  Zwischen¬ 
räumen  von  vier  bis  sechs  Tagen;  in  manchen  Fällen  kann  man 
auch  rascher  steigen,  bei  giftempfindlichen  Fällen  aber  hat  man 
möglichst  vorsichtig  vorzugehen,  um  toxische  Reaktionen  zu  ver¬ 
meiden.  Die  Behandlung  geschieht  etappenweise,  bis  Ueberzeugung 
von  der  gänzlichen  Heilung  gewonnen  ist.  Die  IK  -  Behandlung 
geschieht  nicht  nur  durch  Injektionen,  sondern  auch  durch  Ein¬ 
reibungen,  also  perkutan.  Besonders  bei  giftempfindlichen  Pa¬ 
tienten  ist  die  letzte  Methode  noch  viel  geeigneter.  Die  IK  -  Be¬ 
handlung  ist  bedeutend  milder  in  der  Wirkung  als  die  Tuber¬ 
kulinbehandlung,  trotzdem  muß  man  vorsichtig  und  individuali¬ 
sierend  Vorgehen,  da  man  sonst  die  toxischen  Symptome  erzeugt 
oder  gar  verstärkt.  Je  ausgesprochener  die  toxischen  Symptome 
sind,  desto  sicherer  ist  auf  partielle  Immunität  und  damit  auf 
Ueberempfindlichkeit  zu  rechnen,  desto  geringer  müssen  die  1K- 
dosen  sein  und  in  desto  größeren  Abständen  sind  die  Injektionen 
oder  Einreibungen  zu  machen  (bei  Einreibungen  werden  täglich 
oder  in  größeren  Intervallen  fünf  Tropfen  einer  30.000fach  ver¬ 
dünnten  IK- Lösung  gebraucht).  In  ganz  frischen  Fällen  kann 
man  mit  einer  gewissen  Sicherheit  darauf  rechnen,  mit  einer 
einzigen  Behandlung  Heilung  zu  erzielen.  In  vorgeschrittenen 
l'ällen,  wo  toxische  oder  manifeste  Symptome  schon  Jahre  be¬ 
stehen,  ist  Etappenbehandlung  erforderlich,  da  sonst  Rezidive 
entstehen.  In  den  meisten  Fällen  wird  also  die  Behandlung  durch 


mehrere  Monate  geführt  werden  müssen,  um  nach  drei-  bis  vier- 
monatiger  Pause  wieder  fortgesetzt  zu  werden,  selbst  wenn  gerade 
keine  neuen  Intoxikations-  oder  andere  Symptome  eine  Erneue¬ 
rung  der  Behandlung  erfordern.  —  (Zeitschrift  für  experimen¬ 
telle  Pathologie  und  Therapie  1911,  Bd.  8,  H.  3.)  K.  S. 

* 

461.  Neues  zur  lechnik  der  Gaumenspaltopera¬ 
tionen.  Von  Prof.  Dx.  Karl  Helbing.  Der  Verfasser  führte 
in  einem  Falle,  in  dem  es  aussichtslos  erschien,  die  kollossal 
breite  Gaumenspalte  nach  der  üblichen  v.  Lang  en  beck  sehen 
Methode  zum  Verschluß  zu  bringen,  die  Annäherung  der  beiden 
Oberkiefer  auf  blutigem  Weg^  aus.  Helbing  mobilisierte  den 
rechten  Oberkiefer  durch  Durchtrennung  des  Os  zygomaticum 
und  verband  beide  Oberkiefer  durch  Silberdrähte.  Vier  Tage 
später  wurde  die  Gaumenspalte  durch  Anfrischung  und  Naht 
in,  der  gewohnten  Weise  ausgeführt.  Der  Erfolg  der  Operation 
war  ein  tadelloser.  —  (Zentralblatt  für  Chirurgie  1910,  Nr.  48.) 

E.  V. 

* 

462.  Die  Behandlung  der  Gicht  mit  Phenylchino¬ 
linkarbon  säure  (Atophan)  nebst  Bemerkungen  über 
die  diätetische  Therapie  der  Krankheit.  Von  Prof.  Doktor 
W.  Wein  fraud  in  Wiesbaden.  Es  ist  eine  Tatsache,  daß  der  Or¬ 
ganismus  der  Gichtkranken  größere  Harnsäuremengen  beherbergt 
als  der  des  Gesunden  und  diese  Harnsäureüberladung  des  Körpers 
spielt  bei  den  gichtischen  Prozessen  eine  Rolle.  Verf.  bespricht 
die  Ursache  dieser  Harnsäurestauung,  hält  für  wesentlich  die  bei 
allen  Gichtkranken  vorhandene  übergroße  Dichtigkeit  des  Nierem- 
filters,  indem  die  Niere  des  Gichtikers,  wenn  sie  auch  keine  un¬ 
passierbare  Barriere  für  die  Harnsäure  darstellt,  doch  insofern 
insuffizient  ist,  daß  sie  den  erhöhten  Harnsäurespiegel  im  Blut 
nicht  genügend  herabzusetzen  vermag.  Nun  haben  vor  einigen 
Jahren  Nicolai  er  und  Dohm  von  den  Chinolinkarbonsäuren 
und  ihren  Derivaten  die  Eigenschaft  bekanntgegeben,  eine  erheb¬ 
liche  Steigerung  der  Hamsäureausscheidung  hervorzurufen.  Ver¬ 
fasser  hat  diese  Versuche  seit  ca.  2  Jahren  bei  einer  größeren  An¬ 
zahl  von  Gichtkranken  mit  Stoffwechselanalysen  wiederholt  und 
berichtet  hierüber  eingehend.  Wie  die  genannten  Autoren  hat  auch 
Verf.  höchst  befriedigende  Resultate  erzielt.  Das  Atophan  (Phenyl- 
chinolinkarbonsäure)  beeinflußt  den  akuten  Gichtanfall  in 
Dosen  von  viermal  0-5  g  bis  dreimal  1-0  g  sichtlich  günstig 
(rascher  Nachlaß  der  Schmerzen,  schnelles  Zurückgehen  der  akuten 
Entzündung,  freiere  Beweglichkeit  der  affizierten  Gelenke  usw.). 
Persönlich  halte  Verf.  den  Eindruck,  daß  die  Wirksamkeit  des 
Atophans  zuverlässiger  sei  als  die  der  Kolchikumpräparate ;  es  ist 
ihm  kein  einziger  typischer  Gichtanfall  begegnet,  der  von  der  Dar¬ 
reichung  des  Atophans  unbeeinflußt  geblieben  wäre.  Freilich  da. 
wo  sich  schon  von  früheren  Anfällen  her  chronische  Arthritis  und 
Synovitis  etabliert  haben,  kann  Atophan  auch  nicht  heilend  wirken, 
es  kann  auch  die  Schmerzen  nicht  beseitigen,  welche  chronische 
Gichtkranke  in  ihren  deformierten  Gelenken  —  auch  außerhalb 
akuter  Anfälle  —  aufweisen.  Man  verordne  das  Mittel  möglichst 
frühzeitig  und  dann  mehrere  Tage  hindurch  bis  zu  einem  be¬ 
friedigenden  Erfolge.  Wenn  nun  der  Gichtanfall  vorüber  ist,  möge 
man  in  solchen  Fällen,  wo  der  Organismus  manifeste  Harnsäure¬ 
depots  enthält  und  von  diesen  Beschwerden  ausgehen,  auch  außer¬ 
halb  der  eigentlichen  Gichtanfälle  das  Mittel  in  Dosen  von  2  bis  3  g 
täglich  durch  längere  Zeit  nehmen  lassen.  Es  hat  sich  in  solchen 
1  ällen  gezeigt,  daß  die  durch  das  Atophan  horvorgenifene  Ver¬ 
mehrung  der  Harnsäureausscheidung  bei  dem  Aussetzen  des1  Mittels 
sofort  wieder  wie  abgeschnitten  war,  daß  sogar  in  den  nächsten 
lagen  ein  starkes  Absinken  der  Hamsäurekurve  folgte,  welche 
zuweilen  auch  zu  neuen  Beschwerden  (Gichtanfall)  führte.  Das 
Mittel  bedingt  auch  Gefahren,  wenn  man  nicht  kunstgerecht  vor¬ 
geht.  Die  massenhaft  ausgeführte  Harnsäure  verleiht  dem  Harne 
die  Eigenschaften  wie  bei  der  sogenannten  harnsauren  Diathese, 
welche  ihrerseits  bekanntlich  Nierensteinkolik  bedingen  kann.  Tat¬ 
sächlich  haben  zwei  Gichtkranke,  welche  Verf.  beobachtete,  im 
Anschlüsse  an  die  Atophanbehandlung  Nierensteinkoliken  be¬ 
kommen.  Das  läßt  sich  aber  vermeiden  durch  reichliche  Auf¬ 
nahme  von  Flüssigkeiten  und  sodann  durch  gleichzeitige  Dar¬ 
reichung  von  Alkalien  (alkalische  Wässer  und  überdies  15  g 
Natrium  bicarbonicum  am  ersten  Tage,  späterhin  5  bis  10  g 


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täglich),  um  einen  neutralen  oder  alkalischen  Ham  zu  erzielen  und 
bessere  Lösungsbedingungen  für  die  reichlich  ausgeschiedene  Harn¬ 
säure  im  Harnwasser  herbeizuführen.  Auch  Urizedin  (2mal  täg¬ 
lich  einen  Teelöffel  in  reichlicher  Menge  Wasser)  oder  Urotropin 
sind  hiezu  geeignet.  Zum  Schlüsse  weist  Verf.  darauf  hin,  daß 
nach  seiner  Erfahrung  bei  Gichtkranken  nicht  die  purinfreie 
Ernährung  den  Kernpunkt  der  ganzen  Behandlung  bilde,  daß 
vielmehr  die  physikalischen  Heilmethoden  —  Bewegungskuren, 
Thermalbäder  und  Mineralwässer  —  hier  die  Hauptrolle  spielen. 
Die  Diät  soll  anderseits  nicht  vernachlässigt  werden,  speziell  ist 
die  Vermeidung  des  Alkohols  wichtig,  die  Einschränkung  des 
Eleischgenusses  oft  empfehlenswert.  —  (Therapie  der  Gegenwart, 

März  1911.)  E.  F. 

* 

463.  (Aus  der  königlichen  chirurgischen  Klinik  zu  Kiel. 

—  Direktor:  Prof.  Dr.  Willy  ;Ans  chü  tz.)  Ueber  Behandlung 
von  Fisteln  mit  Beckscher  Wismutsalbe.  Von  Doktor 
Max  Brandes.  Die  Becksche  Wismutpaste  hat  sich  in  zwei¬ 
facher  Beziehung  glänzend  bewährt,  vor  allem  zur  Vervollständi¬ 
gung  und  Unterstützung  ider  Diagnose.  Die  Röntgenbilder,  die 
nach  der  Injektion  von  chronischen  eiternden  Fisteln  aufgenommen 
wurden,  zeigten  den  genauen  Verlauf  der  Eitergänge  und  konnten 
über  die  Ausdehnung  und  über  den  Ursprung  derselben  genaue 
Auskunft  geben;  dementsprechend  wurde  auch  die  nachfolgende 
Operation  vereinfacht.  Aber  ebenso  glänzend  hat  sich  die  In¬ 
jektion  der  Beck  sehen  Pasta  in  therapeutischer  Hinsicht  be¬ 
währt.  Obenauf  stehen  die  Erfolge  bei  Empyemfisteln.  Es  gelang 
in  vier  Fällen  chronische  Empyemfisteln  von  beträchtlicher  Länge 
in  sehr  kurzer  Zeit  dauernd  zu  heilen  und  so  den  Patienten 
eingreifende  Operationen  zu  ersparen.  In  einem  Falle,  bei  dem 
ein  Mißerfolg  verzeichnet  wurde,  handelte  es  sich  um  ©ine  Bron¬ 
chusfisted.  (Waiters  gelang  es  in  einer  größeren  Anzahl  von 
Weichteilfisteln  (nach  Niereimexstirpation,  Bursitis,  nach  Seque- 
strotomie  usw.)  in  kurzer  Zeit,  manchmal  nach  einer  Injektion, 
Heilung  zu  erzielen.  Aber  auch  bei  Fisteln;,  die  von  Knochen 
ausgingen,  wurde,  wenn  auch  nicht  in  so  kurzer  Zeit,  Heilung  er¬ 
zielt.  Nur  bei  stark  herabgesetztem  Kräftezustand  des  Patienten, 
bei  massenhafter  Sekretion  der  Fisteln  und  bei  Progredienz  des 
primären  Krankheitsprozesses,  waren  ausgesprochen©  Mißerfolge 
zu  verzeichnen.  Die  Gefahren,,  die  der  Methode  anhaften,  be¬ 
stehen  in  der  Nitritvergiftung  und  in  der  Wismutvergiftung.  Die 
erstero  hat  Verf.  in  seinen  Fällen  nicht  zu  verzeichnen,  von  Wis- 
mutvergiftung  erlebte  er  einen  Fall,  in  dem  die  Injektion  zu 
diagnostischen  Zwecken  gemacht  wurde.  Einige  Male  wurden 
leichte  Fiebersteigerungen,  die  Verf.  auf  Sekretretention  bezieht, 
beobachtet.  Den  Gefahren  trachtet  Verf.  durch  eine  kleine  Aende- 
rung  der  Technik  zu  begegnen.  Vor  allem  benützt  er  nur  die 
weiche  Pasta,  die  aus  60  Teilen  Vaseline  und  30  Teilen  Wismut 
besteht;  die  von  Beck  seinerzeit  angegebene  Paste  enthielt  noch 
Paraffin  und  Wachs,  verstopfte  daher  die  Fisteln  und  konnte 
zur  Retention  leichter  führen,  während  die  weichere  Paste  durch 
den  nachdrängenden  Eiter  leichter  aus  dem  Gange  entfernt  wird. 
Weiters  füllt  Verf.  die  Gänge  vom  Grunde  aus  mittels  eines 
dünnen  Katheters  aus,  er  vermeidet  daher  hohen  Druck  und 
Gewebsläsionen.  Die  Nitritvergiftungen  könnten  für  die  Zukunft 
durch  Ersatz  des  Bismutum  subnitricum  durch  Bismutum  car- 
bonicum  vermieden  werden;  die  Gefahr  der  Vergiftung  mit  mer 
tallischem  Wismut  bleibt  aber  auch  bei  diesem  Präparat  bestehen. 
Ueber  die  Wirkungsweise  der  Injektion  ist  sich  Verf.  nicht  ganz 
klar,  das  Wesentlichste  scheint  ihm  eine  chemotaktische  Wirkung 
des  Wismuts  auf  die  Leukozyten  zu  sein,.  —  (Deutsche  Zeitschrift 
für  Chirurgie,  Bd.  108,  H.  3  bis  4.)  se. 

* 

464.  Ueber  die  Veränderungen  des  Rückenmarkes 
und  der  Medulla  oblongata  bei  Beriberi.  Von  Doktor 
J.  Shimazono,  Assistenten  an  der  med.  Klinik  zu  Tokio. 
In  zehn  Fällen  von  Beriberi  findet  Verf.  in  Rückenmark  und 
Medulla  oblongata  ähnliche  Veränderungen  an  den  Ganglienzellen, 
wie  sie  bereits  von  Rodenwaldt  und  Dürck  beschrieben 
wurden.  Bei  einigermaßen  längerem  Bestand©  der  Lähmung 
sind  sie  nach  Shimazono  ausnahmslos  zu  finden  und  be¬ 
treffen  vorwiegend  die  laterale  Ganglienzellengnippe  der  Lenden- 
und  Halsanschwellung.  Aehnliche  Läsionen  zeigen  auch  die  Zellen 


des  Vaguskernes  im1  Nucleus  ambiguus,  dorsalis  und  tractus  soli- 

tarii ;  sie  äußern  sich  in  Schwellung  der  Ganglienzellen,  die  Chro- 

matolyse,  Verlagerung  des  Kemes  und  Vakuolenbildung  erkennen 

lassen.  Namentlich  letztere  kann,  lange  Zeit  bestehen  bleiben, 

während  die  übrigen  Veränderungen  einer  Rückbildung  fähig  sind. 

Erst  bei  schwerer  Lähmung  werden  auch  die  Hinterstränge  und 

die  Pyramidenbahnen,  sowie  die  vorderen  und  hinteren  Wurzeln 

in  ihrem  intramedullaren  Verlauf  ergriffen  und  degenerieren.  — - 

(S.  A.  Mitteilungen  der  medizinischen  Fakultät  der  k.  japanischen 

Universität  zu  Tokio  1910,  Bd.  9,  H.  2.)  J. 

* 

465.  (Aus  der  rheinischen  Provinzial-Heil-  und  Pflegeanstalt 
Grafenberg.  —  Direktor:  Geh.  Sanitätsrat  Dr.  Peretti.)  Ein 
Beitrag  zur  Symptomatologie  und  pathologischen 
Anatomie  der  Akromegalie.  Von  Oberarzt  Dr.  Fr.  Witte. 
Bei  einem  55jährigen,  bis  dahin  gesunden  Manne  entwickelten 
sich  Sehstörungen  und  Wachstumsstörungen  der  distalen  Körper- 
Partien;  erster©  führten  im  Verlaufe  von  neun  Jahren  zur 
völligen  Erblindung.  Allmählicher  Marasmus,  Exitus  nach  14jähr- 
rigem  Leiden  im  Kräfteverfall.  An  nervösen  Störungen  waren 
im  Verlaufe  dieses  typischen  Falles  Schwindel,  Kopfschmerz,  Rück¬ 
gang  der  geistigen  Fähigkeiten,  Sinnestäuschungen,  Beeinträchti¬ 
gungsideen  zu  bemerken  gewesen.  Die  Wahnideen  waren  nicht 
systematisiert,  bestanden  unvermittelt  nebeneinander  und  wech¬ 
selten  häufiger.  Mit  fortschreitender  Demenz  wurden  sie  weniger 
und  verworrener.  Im  letzten  Halbjahr  ein  Anfall  von  Bewußt-  j 
lösigkeit.  Obduktion:  Pflaumengroßes  Adenom  der  Hypophyse. 
—  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten,  Bd.  48,  H.  1.1 

S. 

* 

466.  Zwei  mit  hohen  Antitoxingaben  behandelte 
Fälle  von  Tetanus.  Von  Dr.  Ever  ling,  Assistenzarzt  am 
herzoglichen  Krankenhaus-  zu  Braunschweig  (Oberarzt:  Doktor 
Bingel).  Der  eine  Patient  zeigte  zwölf  Tage-  nach  einer  Ver¬ 
letzung  die  ersten  Anzeichen  des  Tetanus.  Bei  der  Aufnahme  j 
am  17.  Tage  bestanden  starker  Trismus  und  titanische  Erschei¬ 
nungen  in  den  Gesichtsmuskeln.  Trotz  Serumtherapie  verschlim¬ 
merte  sich  der  Zustand  noch  weitere  neun  Tage,  schließlich 
erfolgte  Heilung.  Er  bekam  im  ganzen  1300  Antitoxineinheiten 
subkutan,  gleich  23  Antitoxineinheiten  pro  Kilogramm  seines 
Körpergewichtes.  Der  zweite  Patient  erkrankte  schon  acht  Tage 
nach  einer  Verletzung  an  Trismus.  Die  Serumtherapi©  setzte  am  I 
zwölften  Tage  ein.  Die  Erkrankung  blieb  auf  die  Masseteren  be¬ 
schränkt.  Am  18.  Tage  nach  der  Verletzung  noch  Spannungs-  : 
gefühl  in  den  Beinen.  Er  erhielt  920  Antitoxineinheiten.  Gewicht 
57-4  kg.  Auch  er  genas  vollkommen.  Hier  kann  man  wohl  bei  I 
der  kurzen  Inkubationszeit  den  Stillstand  der  Erkrankung  als 
einen  Heilerfolg  der  Serumtherapie  ansehen.  Der  Preis  des  Anti¬ 
toxins  ist  noch  sehr  hoch.  Es  gehört  eine  gewisse  Ueberwindung 
dazu,  für  eine  Therapie,  die  noch  ihre  Existenzberechtigung  nach- 
weisen  muß,  100  und  mehr  Mark  für  den  einzelnen  Fall  auszu¬ 
geben.  —  (Die  Therapie  der  Gegenwart,  März  1911.)  E.  F. 

* 

467.  Erfahrungen  über  die  Behandlung  der  Sy-; 
phili smitDioxydiamido a rsenobenzol  (Ehrlich  ,,606“)-  \ 
Von  Dr.  Bruno  Bloch,  Dozent  für  Dermatologie,  Basel.  Die! 
Injektion  des  Arsenobenzols  birgt  nach  Bloch  in  sich  keine 
irgendwie  [schwerere  Gefährdung  und  kann,  richtige  Technik 
vorausgesetzt,  ebenso  unbedenklich  angewendet  werden  wie  die 
üblichen  wirksamen  Quecksilberverbindungen.  Im  speziellen  hat 
Bloch  nie  bedrohliche  Symptome  von  seiten  des  Zirkulations 
und  Nerv-enapparates  oder  der  Ausscheidungsorgane-,  nie  Stö¬ 
rungen  im  Gebiete  des  Zentralnervensystems,  auch  nicht  der 
Augen,  des'  Herzens  und  der  Nieren,  beobachtet.  Ein  vorgekom¬ 
mener  Todesfall  war  sicherlich  nicht  auf  Rechnung  der  Injektion 
zu  setzen,  da  sie  an  einem  schon  moribunden  Patienten  jnit 
schwerster  Leberzirrhose  und  Degeneratio  cordis  gemacht  wurde, 
als  letzter  therapeutischer  Versuch.  Dagegen  zeigte  sich,  daß  das 
Arsenobenzol  gegen  alle  Manifestationen  der  Syphilis  in  allen  Sta¬ 
dien  eine  unzweifelhafte,  prompte,  überaus  intensive  Wirksamkeit 
besitzt.  Nicht  nur  Primäraffekte,  makulöse,  papulöse  Exantheme, 
breite  Kondylome,  Plaques  muqueuses,  Hautgummen,  tertiäre  Ver¬ 
änderungen  der  inneren  Organe,  schwinden  oft  schon  nach  einer 


Nr.  18 


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Injektion  mit  erstaunlicher  Raschheit,  sondern  auch  der  bis¬ 
herigen  Therapie  trotzende  luetische  Affektionen:  wie  immer 
wieder  rezidivierende  Schleimhautplaques,  maligne  Lues  und 
Labyrintherkrankungen  sind  durch  das  Arsenobenzol  einer  Hei¬ 
lung  oder  wenigstens  erheblichen  Besserung  zugänglich  geworden. 
Ranz  erstaunlich  günstig  ist  die  Wirkung  des  Arsenobenzols  auf 
die  subjektiven  Symptome  und  ferner  auf  das  Allgemeinbefinden 
und  den  Ernährungszustand.  Ehrlich  „606“  erfüllt  im  großen 
und  ganzen  die  Bedingungen,  die  an  ein  Antisyphilitikum  gestellt 
werden  dürfen,  bis  auf  die  eine  der  absoluten  Sicherheit  einer 
definitiven  Dauerheilung,  was  allerdings  bisher  überhaupt  noch 
nicht  möglich  war,  von  wegen  der  noch  zu  kurzen  Beobachtungs¬ 
zeit.  —  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1911,  41.  Jahrg., 

Nr.  3-)  K.  S. 

* 

468.  Ein  Fall  tödlicher  Arsen  Vergiftung  bei  Be¬ 
handlung  von  Gehirnsyphilis  (Dementia  paretica) 
mit  Ehrlich-Hata  606.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Axel  Jorgen¬ 
sen,  erster  Assistenzarzt  am  Kommunalspital  in  Kopenhagen. 
Der  40  Jahre  alte  Kranke  hatte  vor  elf  Jahren  Lues  akquiriert, 
wurde  nach  wiederholten  Inunktionskuren  gesund,  erlitt  1908  einen 
apoplektiformen  Anfall,  kam  dann  wegen  Erscheinungen  der  pro¬ 
gressiven  Paralyse  ins  Irrenhaus,  von  wo  er,  da  er  ruhiger  wurde, 
entlassen  werden  konnte.  1910  abermals  apoplektischer  Anfall! 
von  welchem  er  sich  wieder  erholte.  Am  25.  August  1910  intra¬ 
muskuläre  Injektion  von  0-5  g  Ehrlich-Hata  606.  Tod  am  2.  Sep¬ 
tember.  Die  leichte,  akute,  parenchymatöse  Degeneration  der 
Organe,  besonders  der  Nieren,  die  Fettdegeneration  einzelner 
Fäden  der  Nervi  vagi  und  der  Nerven  im  Plexus  brachialis  dexter 
lassen  auf  Arsienvergiftung  schließen.  Das  klinische  Bild  war 
folgendes:  Starke  Blässe,  Schweißausbrüche,  Tremor  und  fibril¬ 
läre  Zuckungen,  völlige  Kraftlosigkeit;  der  Harn  enthielt  viel 
Eiweiß  (8°/oo),  körnige  und  hyaline  Zylinder,  rote  Blutkörperchen, 
dann  reichlich  Zucker,  bis  zu  8°/o.  An  der  Injektionsstelle  das 
seither  oft  beschriebene  Restdepot  des  Pulvers,  um  dasselbe 
Infiltration  und  Nekrose,  welche  wohl  eine  völlige  Resorption 
unmöglich  machten.  —  (Med.  Klinik  1911,  Nr.  10.)  E.  F. 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

469.  Ueber  die  Heilwirkung  von  Salvarsan  („606“) 
in  Fällen  von  Frambösie.  Von  Henri  Alston  (Trinidad). 
Es  wurden  zunächst  fünf  Fälle  von  Yaws,  drei  Erwachsene 
und  zwei  Kinder,  der  Behandlung  unterzogen,  wobei  die  Dosis 
ür  Erwachseine  0-6  g  Salvarsan  in  einer  mit  5  bis  6  cm3  ste- 
ilisierten  Olivenöls  hergestellten  Emulsion  betrug.  Die  Injek- 
ion  wurde  intraglutäal  appliziert  und  schon  nach  24  Stunden 
leutliche  Besserung  konstatiert,  wobei  die  Knoten  peripher  ein- 
rockneten  und  von  einem  weißlichen  Kreis  umgeben  erschienen, 
fon  der  Beobachtung  ausgehend,  daß  hereditär  -  syphilitische  Säug- 
inge  durch  Salvarsanbehandlung  der  Amme  geheilt  wurden,  was 
ml  Antikörperbildung  hinweist,  wurden  bei  mit  Salvarsan  be- 
landelten  Yaws -Fällen  durch  Kantharidenpflaster  Blasen  erzeugt 
md  das  darin  enthaltene  Serum  in  Dosen  bis  zu  16  cm3  an- 
leren  Yaws -Fällen  injiziert.  Das  Serum  zeigte  ebenso  rasche, 
'■um  Teil  selbst  raschere  Wirkung,  als  das  Salvarsan.  Das  Sah 
irsan  scheint  das  einzige  bisher  bekannte  Mittel  zu  sein,  welches 
he  Bildung  eines  antitoxischen  Serums  mit  kurativen  Eigen- 
(haften  hervorrult.  Es  zeigte  sich,  daß  klas  Serum  aus  den  durch 
Kantharidenpflaster  hervorgerufenen  Blasen  von  Patienten,  die 
oil  dem  aus  Kantharidenblasen  gewonnenen  Serum  mit  Salv- 
1  räan  injizierter  Patienten  behandelt  worden  waren,  gleichfalls 
loilwirkung  entfaltete.  Normales  menschliches  Serum  erwies  sich 
L  unwirksam,  während  das  Serum  von  'mit  Salvarsan  injizierten 
atienton  seine  Wirksamkeit  auch  durch  starkes  Erhitzen  nicht 
inbüßte.  Es  wurden  bei  Yaws -Fällen  Blasen  erzeugt  und  das 
igene  Serum  den  Patienten  injiziert,  wobei  der  Erfolg  negativ 
var-  Diese  Versuche  lassen  die  Annahme  einer  Komplement- 
ixation  durch  das  Toxin  ausgeschlossen  erscheinen.  Injektion 
011  kantha riden haltiger  Lösung  erwies  sich  als  unwirksam,  In- 
oktion  von  Natrium  cacodylicum  als  wenig  wirksam ;  weitere 
ersuche  sollen  mit  der  Behandlung  von  Kranken  mit  der  Milch 
1:11  mR  Salvarsaninjektion  vorbehandelten  Ziegen  angestellt  wer¬ 


den.  I  n angenehme  Nebenwirkungen  des  Salvarsans  wurden  nicht 
beobachtet,  die  Schmerzen  nach  der  Injektion  hielten  einige 
Stunden  an,  waren  aber  nicht  bedeutend.  In  den  mitgeteilten 
Fällen  wurde  neben  der  Salvarsanbehandlung  keine  andere  The¬ 
rapie,  auch  nicht  Bäder,  angewendet.  —  (Brit.  med.  jouru., 
18.  Februar  1911.)  a  e 

* 

470.  Ueber  die  Anwendung  von  Schilddrüsen¬ 
extrakt  bei  Karzinom.  Von  E.  Hughes  Jones.  Unter  den 
organotherapeutischen  Präparaten  nimmt  das  Schilddrüsenextrakt 
die  erste  Stelle  ein,  welches,  außer  bei  Myxödem  und  bestimmten 
Kropfformen,  wo  es  spezifisch  wirkt,  auch  bei  Oedem,  Psoriasis, 
Uterusfibrom,  Wachstumsstörungen  des  Kindesalters  usw.  An¬ 
wendung  gefunden  hat.  In  einem  Falle  von  multipler  Karzinom¬ 
bildung  in  der  Haut  und  im  'subkutanen  Zellgewebe  wurde  durch 
Darreichung  von  Schilddrüsenextrakt,  zunächst  0-3  g,  dann  stei¬ 
gend  0-6  und  0-9  g  pro  die  nicht  nur  wesentliche  Besserung  des 
Allgemeinbefindens,  sondern  auch  Verschwinden  der  Tumoren 
erzielt;  jedenfalls  ist  in  Fällen,  wo  eine  Operation  verweigert 
wird  oder- nicht  indiziert  erscheint,  ein 'Versuch  mit  Schilddrüsen¬ 
therapie  gerechtfertigt.  In  einer  Anzahl  von  Fällen  wurde  das 
vollständige  Verschwinden  von  Karzinomen  durch  die  Schild¬ 
drüsentherapie  festgestellt;  noch  größer  ist  die  Anzahl  der  Fälle, 
wo  Besserung  des  Allgemeinbefindens  und  Verkleinerung  des 
Tumors  und  etwaiger  sekundärer  Knoten  erzielt  wurde.  In  Fällen 
von  inoperablen  Tumoren,  namentlich  Mammakarzinom  hei  Frauen 
im  klimakterischen  Alter,  wurde  doppelseitige  Oophorektomie  mit 
anschließender  Darreichung  von  Schilddrüsensubstanz  empfohlen, 
während  nach  der  Menopause  die  Exstirpation  der  Ovarien  über¬ 
flüssig  erscheint.  Aus  einer  größeren  Statistik  ist  zu  entnehmen, 
daß  die  Oophorektomie  allein  wenig  wirksam  ist,  so  daß  das 
Hauptgewicht  auf  die  Schilddrüsentherapie  gelegt  werden  muß. 
Bei  Vorhandensein  viszeraler  Metastasen  ist  kein  Erfolg  von  der 
Schilddrüsentherapie  zu  erwarten,  sondern  nur  in  Fällen,  wo 
sich  die  Metastasen  auf  Haut-  und  Lymphdrüsen  beschränken. 
In  Fällen  von  operablem  Karzinom  kanmdie  Schilddrüsentherapie 
zur  Unterstützung,  speziell  hinsichtlich  der  Verhütung  von  Rezi¬ 
diven,  herangezogen  werden.  Bezüglich  der  Wirkung  der  Schild¬ 
drüsentherapie  können  nur  Vermutungen  aufgestellt  werden.  Durch 
Beobachtungen  ist  festgestellt,  daß  karzinomatöse  Tumoren,  ferner 
Haut-  und  Knochenmetastasen,  nicht  nur  partiell,  sondern  auch 
vollständig  spontan  sich  rückbilden  können,  wobei  die  Rück¬ 
bildung  als  rein  lokaler  Prozeß  aufzufassen  ist.  Es  ist  weiter 
erwiesen,  daß  die  Karzinomzelle  ein  Schmarotzer  der  Binde¬ 
gewebszellen  ist  und  daß  reichliche  Zellbildung  im  subepithelialen 
Bindegewebe  die  Karzinomentwicklung  begünstigt,  während  fibröse 
l  Umwandlung  der  Zellen  das  Wachstum  des  Tumors  hemmt.  Es 
ist  denkbar,  daß  die  Schilddrüsentherapie  in  zwei  Richtungen 
wirkt,  indem  sie  einerseits  durch  Steigerung  des  Eiweißstoff- 
wechsels  die  Lebensdauer  der  Krebszelle  verkürzt,  andrerseits 
die  fibröse  Umwandlung  der  Bindegewebszellen  begünstigt  und 
so  dem  Karzinom  den  Boden  seiner  Entwicklung  entzieht.  —  (Brit. 
med.  Journ.,  25.  Februar  1911.)  a.  e. 

* 

471.  Ueber  die  Anwendung  von  Leukozytcn- 
o x  t r a k  t  bei  Infektionskrankheiten.  Von  Dt.  Moore  Alex¬ 
ander.  Die  Injektion  lebender  Leukozyten,  bzw.  von  Leuko¬ 
zytenextrakten  hat  bei  experimentellen  Infektionen  derartig  gün¬ 
stige  Wirkungen  in  prophylaktischer  und  ku  rat  Wer  Hinsicht  ent- 
1  ultet,  daß  auch  klinische  Versuche  in  den  letzten  Jahren  angestellt 
wurden.  Die  bisher  mitgeteilten  Erfahrungen  beziehen  sich  auf 
die  Anwendung  von  Leukozytenextrakt  bei  epidemischer  Zerebro- 
spinalmeningitis,  Lobärpneumonie,  Erysipel,  Furunkulose  usw., 
wobei  günstige  Erfolge  verzeichnet  wurden.  Zur  Verwendung 
gelangte  das  Extrakt  von  Leukozyten  aus  der  Pleurahöhle  von 
Kaninchen;  es  wurde  eine  sterilisierte  10%igc  Suspension  von 
Mellin  s  -  Nahrung  in  destilliertem  Wasser  in  Menge  von  5  bis 
10  cm3  beiderseits  in  die  Pleurahöhle  injiziert,  das  Kaninchen 
nach  24  Stunden  getötet,  das  Exsudat  aspiriert  und  dann  zentri¬ 
fugiert.  Nach  erfolgter  Sedi  mentioning  der  Leukozyten  wird  die 
Flüssigkeit  abgegossen,  dann  die  gleiche  Menge  sterilen  Wassers 
zu  dem  mit  einem  Glasstab  verriebenen  Leukozytensediment 


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zugesetzt  und  die  Röhrchen  durch  vier  Stunden  hei  37°  im  Brut¬ 
ofen  gehalten.  Nach  Prüfung  der  Röhrchen  auf  Sterilität  wird 
der  Inhalt  mehrerer  Röhrchen  gemischt  und  in  Glasampullen 
von  10  cm3  verteilt,  welche  im  Eiskasten  aufbewahrt  werden. 
Es  wurden  Fälle  von  Streptokokkenendokarditis,  Osteomyelitis, 
Koxitis,  Furunkulose,  Anthrax  und  Schlafkrankheit  mit  Injek¬ 
tionen  von  Leukozytenextrakt  behandelt,  wobei  die  Einzeldosis 
10  cm3  betrug.  Irgendwie  bemerkenswerte  Erfolge  waren  außer 
länger  anhaltender  Besserung  in  einem  Falle  von  Schlafkrank¬ 
heit  nicht  zu  verzeichnen,  wobei  zu  berücksichtigen  ist,  daß  die 
Fälle  zum  Teil  in  zu  weit  vorgerücktem  Stadium  sich  befinden 
und  auch  die  Fortsetzung  der  Injektionen  von  den  Patienten 
wiederholt  verweigert  wurde,  obwohl  danach  Besserung  einge¬ 
treten  war.  Die  Injektionen  wurden  in  die  Flanken-  oder  Glutäal- 
region  appliziert.  Bezüglich  der  Wirkung  des 'Leukozytenextraktes 
wurden  verschiedene  Theorien  aufgestellt,  u.  a.  auf  die  bak¬ 
terizide  und  bakteriolytische  Wirkung  in  vitro,  die  jedoch  zur 
Zerstörung  größerer  Mengen  von  Milzbrandbazillen  nicht  hin¬ 
reicht,  sowie  auf  die  Produktion  von  Endolysinen  hingewiesen. 
Der  Verfasser  konnte  feststellen,  daß  nach  Injektion  von  Leuko¬ 
zytenextrakt  beträchtliche  Leukozytose  auftrift,  worin  die  haupt¬ 
sächliche  Wirkung  erblickt  werden  kann.  —  (Brit.  med.  Journ., 
18.  Februar  1911.)  a-  e- 

* 

Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

472.  Transfusion  bei  Pellagra.  Eine  Uebersicht  über 
20  Fälle.  Von  H.  P.  Cole.  Bei  Bluttransfusionen  in  20  Fällen  von 
Pellagra  fand  Autor  keinerlei  schlechten  Einfluß,  welcher  direkt 
von  der  Operation  ausgegangen  wäre.  Man  kann  beruhigt  bei 
schwereren  Fällen  zur  Transfusion  seine  Zuflucht  nehmen.  Ein 
Vorteil  in  der  Anwendung  des  Blutes  Von  jemandem,  der  Pellagra 
überstanden  hat  gegenüber  dem  Blüte  von  Leuten,  welche  niemals 
diese  Krankheit  hatten,  wurde  nicht  gesehen.  Es  besteht  an¬ 
scheinend  auch  kein  Unterschied  zwischen  der  Wirkung1  des  Blutes 
von  Blutsverwandten  und  Fremden.  Der  Vergleich  der  Heilungen, 
welche  in  den  schweren  Fällen  durch  Transfusion  erreicht  wurden 
(60 °/o )  mit  den  durch  andere  therapeutische  Maßnahmen  erzielten 
(10  bis  20%)  fällt  zugunsten  der  Transfusion  aus.  Die  Anwendung 
der  Transfusion  in  den  letzten  Stadien  der  Pellagra  muß  mit 
voller  Kenntnis  der  Schwierigkeiten  und  Gefahren  der  Operation 
geschehen.  Ohne  sorgfältige  Auswahl  der  Fälle  muß  diese  Me¬ 
thode  einem  unverdienten  schlechten  Rufe  verfallen.  —  (Tue 
Journal  of  the  American  Medical  Association,  25.  Februar  1911.) 

sz. 

* 

473.  U  eher  die  Gegenwart  eines  V  e  n  e  n  g  e  r  ä  u  s  c  h  e  s 
im  Epigastrium  bei  Leberzirrhose.  Von  William  Sydney 
Thayer.  Ein  venöses  Geräusch,  welches  manchmal  von  einem 
deutlichen  Schnurren  begleitet  ist,  kann  im  Epigastrium  in 
manchen  Fällen  von  Leberzirrhose  Vorkommen.  Das  Schnurren 
und  das  Geräusch  kann  zurückgeführt  werden  entweder  direkt 
auf  ausgedehnte  Hautvarizes  oder  in  Fällen,  wo  diese  nicht  deut¬ 
lich  sind,  auf  venöse  Stauung.  In  den  meisten  Fällen,  in  welchen 
ein  epigastrisches  Venengeräusch  bei  Zirrhotikern  beim  Fehlen 
von  Hautvarizes  zu  hören  war,  war  das  Geräusch  am  besten  in 
der  Nabelgegend  und  entlang  der  Medianlinie  zü  hören,  mit  anderen 
Worten,  entlang  dem  Verlaufe  des  Ligamentum  rotundum.  In 
wenigen  dieser  Fälle  zeigte  es  sich,  daß  die  unvollständig  oblite- 
rierte  Umbilikalvene  sich  im  Gefolge  des  vermehrten  Portaldruckes 
stark  erweitert  hatte.  In  anderen  Fällen  wurde  eine  große  dilatierte 
Vene  im  Ligamentum  rotundum  entlang  der  obliterierten  Umbili- 
kalgefäße  gefunden,  zweifellos  eine  Erweiterung  einer  kleinen 
paraumbilikalen  Vene.  Dieses  Geräusch  muß  unterschieden  wer¬ 
den  von  dem  venösen  Geräusch,  welches  man  manchmal  bei 
Anämischen  gerade  über  und  rechterseits  vom  Nabel  über  der 
Vena  cava  inferior  hört,  ein  Geräusch,  welches  durch  Druck  bei 
mageren  Individuen  erzeugt  werden  kann.  Ein  deutliches 
Schnurren  und  ein  starkes  venöses  Geräusch  kann  bei  Leber¬ 
zirrhose  mitunter  über  einem  begrenzten  Teile  des  epigastrischen 
Winkels  in  unmittelbarer  Nachbarschaft  des  Processus  xyphoides 
wahrgenommen  werden.  Diese  Stelle  ist  so  weit  oberhalb  des 
unteren  Randes  der  vergrößerten  Leber,  daß  das  Geräusch  nicht 


von  Wirbelbildung  in  einer  varikösen  Umbilikal-  oder  Parum- 
bilikalvene  abhängen  kann.  Solche  Geräusche  können  in  manchen 
Fällen  in  varikösen  kleineren  Gefäßen  entstehen,'  während  in 
anderen  Fällen  ihr  Sitz  wahrscheinlich  in  Anastomosen  zwischen 
den  Wurzeln  der  Mammaria  interna  und  den  unteren  tiefen 
epigastrischen  Gefäßen  liegt  oder  vielleicht  an  einer  erweiterten 
Einmündungsstelle  einer  paraumbilikalen  Vene  von  Braune  in 
die  tiefen  epigastrischen  Gefäße.  —  (The  American  Journal  of 
the  Medical  Sciences,  11.  März  1911.)  sz. 

* 

474.  (Laboratoriumsbericht  aus  dem  Gesundheitsdepartement 
von  Pennsylvanien.)  Mikroorganismen  im  Blute  akuter 
Fälle  von  Poliomyelitis.  Von  Samuel  G.  Dixon,  Herbert 
Fox  und  James  B.  Rucker.  Bei  der  Prüfung  des  Blutes  akuter 
Fälle  von  Poliomyelitis  bei  Menschen  und  ebenso  bei  Affen,  hei 
welchen  die  Krankheit  experimentell  erzeugt  worden  war,  wurde 
ein  Mikroorganismus  besonderer  Art  gefunden,  dessen  ätiologisch' 
Bedeutung  bei  dieser  Krankheit  weitere  Untersuchungen  bestä¬ 
tigen  müssen.  Blutausstriche  wurden  eine  Minute  in  Methyl¬ 
alkohol  fixiert  und  mit  Karbol -Thionin  gefärbt.  Der  Mikroorga¬ 
nismus  erscheint  schwach  blaurot  gefärbt,  hat  eine  deutliche 
Zellwand  und  ist  etwa  zehn  Mikren  lang  und  acht  Mikron  breit 
und  an  einem  Ende,  gelegentlich  an  beiden  Enden,  gebogen. 
Manchmal  sind  die  gebogenen  Enden  verdickt.  Einige  dieser 
Mikroorganismen  zeigen  ein  sehr  fein  granuliertes  Protoplasma 
bei  stärkster  Vergrößerung.  Man  kann  sie  am  besten  mit  Immer¬ 
sion  erkennen.  Man  findet  sie  sowohl  frei  im  Serum  wie  inner¬ 
halb  der  roten  Blutkörperchen.  Sie  sind  G  r  a  m  -  negativ.  Das 
untersuchte  Blut  stammte  von  zehn  verschiedenen  Fällen  akuter 
Poliomyelitis  bei  Kindern  und  von  13  Affen,  bei  welchen  die 
Krankheit  experimentell  erzeugt  worden  war.  Blutausstriche  ver¬ 
schiedener  normaler  Individuen  und  von  13  gesunden  Affen 
wurden  auf  diesen  Mikroorganismus  mit  ganz  negativem  Resultat 
untersucht.  Das  Blut  derselben  Affen  zeigte  nach  der  Inokulation 
des  poliomyelitischen  Virus  die  Mikroorganismen;  das  Blut  an¬ 
derer  gesunder  Affen  war  hingegen  frei  von  ihnen.  Ausstriche 
vom  Herzen  und  vom  Gehirne  gelähmter  Affen  und  von  einem 
Poliomyelitisfalle  beim  Menschen  wurden  gleichfalls  untersucht, 
aber  in  keinem  Falle  der  Organismus  gefunden.  Filtriertes  Virus 
zeigte  ihn  nicht.  Defibriniertes,  drei  Wochen  bis  zwei  Monate 
altes  Blut,  von  zwei  gelähmten  Affen  stammend,  zeigte  die  Bak¬ 
terien  in  vermehrter  Zahl.  Kulturen,  welche  mit  dem  Blute  eines 
gelähmten  Affen  in  Blutbouillon,  Vollbouillon,  Blutagar  angelegt 
wurden,  zeigten  nach  drei  Wochen  den  Mikroorganismus  in  ver¬ 
mehrter  Menge.  Dagegen  gelang  die  Kultur  auf  dem  Einährboden 
von  Dorset  t  nicht.  Die  Isolierung  des  Mikroorganismus  glückte; 
bis  jetzt,  nicht.  —  (The  Journal  of  the  American  Medical  Asso¬ 
ciation,  4.  März  1911.) 

* 

475.  Abortive  Fälle  von  Poliomyelitis.  Experimen¬ 
teller  Nachweis  spezifischer  Immunkörper  in  ihrem  Serum.  Von 
John  F.  Anderson  und  Wade  H.  Frost.  Normales  Blutserum, 
kann  eine  keimtötende  Wirkung  auf  das  Virus  der  Poliomyelitis 
ausüben.  Diese  Wirkung  ist  jedoch  weit  größer  beim  Serum  von 
Personen,  die  diese  Krankheit  überstanden  haben.  In  der  Wirkung 
des  Blutserums  auf  das  Virus  besteht  kein  Unterschied  zwischen 
Kindern  und  Erwachsenen.  Das  Serum  von  sechs'  unter  neun 
Patienten,  welche  sich  erst  von  einer  Krankheit,  die  auf  Polio¬ 
myelitis  verdächtig  war  (abortive  Formen)  erholt  hatten,  zeigte 
dieselbe  keimtötende  Wirkung  wie  das  Serum  eines  sicheren 
Falles  von  Poliomyelitis.  Im  Serum  der  anderen  drei  auf  abortive 
Poliomyelitis  verdächtigen  Kranken  war  es  nicht  möglich,  eine 
stärkere  germizide  Wirkung  auf  das  Virus  der  Poliomyelitis  zu 
zeigen,  obwohl  ihre  Krankheit  der  Poliomyelitis  außerordentlich 
glich.  —  (The  Journal  of  the  American  Medical  Association, 

4.  März  1911.)  «• 

* 

476.  Die  Pest  in  Nordchina.  Von  J.  J.  Mullownev 
Peking.  Der  Autor  kommt  zu  folgenden  Ergebnissen :  Die  Krank¬ 
heit  nahm  von  Charbin  ihren  Ausgang.  Bis  zum  24.  Jamiai 
1911  starben  ungefähr  1500  Chinesen  und  27  Europäer,  untn 
denen  zwei  Aerzte  und  ein  Gehilfe  waren.  Es  wurde  haupt- 


Nr.  18 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


649 


sächlich  die  pneumonische  und  septikämische  Form  der  Krank¬ 
heit  angetroffen.  Die  Impfung  mit  dem  Serum  von  Haffkin 
scheint  von  bedeutendem  Werte  als  vorbeugende  ’Maßnahme  zu 
sein.  Die  Anwendung  des  Yersinschen  Serums  zur  Behandlung 
Pestkranker  scheint  nicht  von  großem  Werte  zu  sein,  obgleich 
man  sagen  muß,  daß  hierüber  noch  nicht  genügende  Erfahrungen 
vorliegen.  Wenn  es  möglich  wäre,  40  oder  50  Fälle  mit  dem 
Serum  zu  behandeln  und  ihnen  ebensoviele  nicht  behandelte 
Fälle  gegenüberzustellen,  könnte  man  Sicheres  über  den  Wert 
des  Mittels  aussagen.  Aber  soweit  bekannt,  ist  dieser  Versuch 
während  dieser  Epidemie  nicht  gemacht  worden.  Es  wurde  mit 
Sicherheit  gezeigt,  daß  die  pneumonische  Form  der  Krankheit 
durch  das  Sputum  und  durch  die  Berührung  mit  Pestkranken 
übertragen  wird  und  daß  das  Tragen  von  Respiratoren  einen 
guten  Schutz  gewährt.  Die  Ratte  oder  der  Rattenfloh  scheinen 
mit  der  Verbreitung  der  Pestpneumonie  nichts  zu  tun  zu  haben, 
wie  es  bei  der  Bubonenpest  der  Fall  ist.  Die  herrschende  Epi¬ 
demie  scheint  die  erste  von  ausgesprochener  Lungenpest  zu  sein. 
Die  Krankheit  verbreitete  sich  entlang  den  Linien  des  Eisenbahn¬ 
verkehres,  von  Charbin  'nach  Mukden,  nach  Shankhaikwan, 
Tientsin  und  nach  Peking  und  kleineren  Städten.  Sie  gelangte 
auch  nach  der  Küstenstadt  Chefu,  wahrscheinlich  durch  einige 
chinesische  Kulis,  die  aus  dem  Norden  in  Fischerbooten  heim¬ 
kehrten.  —  (The  Journal  of  the  American  Medical  Association, 
11.  März  1911.)  sz 


J/ermisehte  fJaehtiehten. 

Ernannt:  Der  ordentliche  Professor  an  der  Universität  in 
Innsbruck,  Dr.  Franz  Hof  mann,  zum  ordentlichen  Professor 
der  Physiologie  an  der  deutschen  Universität  in  Prag.  —  Die 
mit  dem  Titel  eines  außerordentlichen  Universitätsprofessors  be¬ 
kleideten  Privatdozenten  Dr.  Roman  Rencki  und  Dr.  Maximilian 
Hermann  zu  außerordentlichen  Professoren  für  spezielle  Patho¬ 
logie  und  Therapie  der  inneren  Krankheiten,  bzw.  für  Chirurgie  an 
der  Universität  in  Lemberg.  Dr.  Wilson  zum  Professor 
der  Geburtshilfe  in  Dublin.  -  Dr.  Donaggio  zum  ordentlichen 
Professor  der  Neurologie  und  Psychiatrie  in  Modena.  —  I  m 
Militärärztlichen  Offizierskorps:  zum  Generaloberstabs¬ 
arzt  außer  Dienst:  Dr.  Josef  Kerzl;  zu  Generalstabsärzten  die 
Doktoren  :  Anton  W  e  i  ß,  Wenzel  S  c  hull  er ;  zu  Oberstabsärzten 
erster  Klasse  die  Doktoren:  Nikolaus  Thomän,  Franz 
Radev,  Paul  Winternitz,  Viktor  Olexy;  zu  Oberstabsärzten 
zweiter  Klasse  die  Doktoren:  Josef  Löwenthal,  Marian  Gra¬ 
bows  ki,  Dusan  Grig  orie  vies,  Maximilian  Herzog;  zu  Stabs¬ 
ärzten  die  Doktoren:  Wenzel  Kal  end  a,  Eduard  Neumann, 
Eugen  Rönai,  Albert  Schwarz,  Abraham  Stepler,  Leon  Wei߬ 
berg,  Oskar  Steinhaus,  Bernhard  Bardach,  Marzeil  Feder, 
Gustav  Po llak,  Karl  Diwald.  Im  Marineärztlichen 
Offizierskorps:  zum  Marinestabsarzt:  Dr.  Leopold  Majdic. 

-  Im  Landwehrärztlichen  Offizierskorps:  zum  Oberstabs¬ 
ärzten  erster  Klasse  die  Doktoren:  Johann  Burkl,  Stanislaus 
Lech,  Franz  Pick;  zu  Oberstabsärzten  zweiter  Klasse  die 
Doktoren:  Ludwig  Glück,  Emil  Taussig  und  Wilhelm 
Zeliska. 

* 

Verliehen:  Dem  Privatdozenten  für  interne  Medizin  in 
Lemberg,  Dr.  Julius  Marischier,  der  Titel  eines  außerordent¬ 
lichen  Universitätsprofessors. 

*  I 

Habilitiert:  Dr.  Mircoli  für  interne  Pathologie  in  Rom. 
—  In  Neapel:  Dr.  Paladino  für  physiologische  Chemie,  Doktor 
Ronchi  für  Dermatologie  und  Syphiligraphie.  —  ln  Florenz: 
Dr.  Franchetti  für  allgemeine  Pathologie,  Dr.  C  o n f  o r t i  f ii r 
externe  Pathologie.  —  In  Siena:  Dr.  Moriavi  für  pathologische 
Anatomie,  Dr.  Malatesta  für  Chirurgie.  Dr.  Uivalleri 
für  Anatomie  in  Turin. 

* 

Gestorben:  Der  frühere  Professor  der  Augenheilkunde 
in  Freiburg  i.  B.  Dr.  Wilhelm  Mauz.  Dr.  Botsc  harlot  f, 
Privatdozent  für  Chirurgie  an  der  militär- medizinischen  Aka¬ 
demie  in  St.  Petersburg. 

* 

Am  22.  April  d.  J.  fand  eine  Sitzung  des  Fachkomitees 
des  Obersten  Sanitätsvates,  für  Angelegenheiten  der  Be¬ 
kämpfung  Von  Infektionskrankheiten,  statt.  Hiebei  wurde  die 


Herausgabe  einer  Cholerahelehrung  für  Aerzte  in  Beratung  ge¬ 
zogen.  (Referent:  Prof.  Norbert  Ortner.) 

* 

Donnerstag  den  27.  April  begannen  im  Festsaale  der  Tech¬ 
nischen  Hochschule  die  Beratungen  der  vom  Rektor  der  Tech¬ 
nischen  Hochschule,  Freiherrn  v.  Jüptner,  einberufenen  Kon¬ 
ferenz  der  Rektoren  sämtlicher  österreichischer 
Hochschulen.  Die  Konferenz  wird  sich  in  erster  Linie  mit 
der  Frage  der  Regelung  der  Stellung  und  der  Bezüge  der  Hoch¬ 
schullehrer,  Privatdozenten  und  Assistenten  befassen. 

* 

Oesterreichieehes  Zentralkomitee  zur  Bekäm¬ 
pfung  der  Tuberkulose.  I.  Oesterreichischer  Tuber¬ 
kulosetag.  Samstag  den  13.  Mai  werden  sich  im  Hause  der 
k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  die  Delegierten  jener  österreichischen 
Vereine,  die  sich  die  Bekämpfung  der  Tuberkulose  auf  wissen¬ 
schaftlichem  oder  sozialem  Gebiete  zur  Aufgabe  gestellt  haben, 
versammeln,  um  ein  „Oesterreichisches  Zentralkomitee  zur  Be¬ 
kämpfung  der  Tuberkulose“,  dessen  Statuten  vom  Ministerium 
des  Innern  bereits  genehmigt  wurden,  zu  konstituieren.  Das  Zen¬ 
tralkomitee  hat  den  Zweck,  den  gegenseitigen  Meinungsaustausch 
unter  den  bestehenden  Vereinen  zu  ermöglichen,  gemeinsame 
Aktionen  anzuregen  und  durchzuführen.  Nach  seiner  Konstituie¬ 
rung  wird  das  Zentralkomitee  sofort  mit  praktischer  Arbeit  be¬ 
ginnen  und  über  eine  Stellungnahme  zum  Sozialversicherungs¬ 
entwurf  über  die  Versorgung  Tuberkulöser  in  Spitälern,  sowie 
über  Tuberkulosemuseen  beraten.  Im  Anschluß  an  diese  Sitzung 
des  Zentralkomitees  findet  Sonntag  den  14.  Mai  im  Hause  der 

k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte,  Wien  IX.,  Frankgasse  8,  der 

l.  Oesterreichische  Tuberkulosetag  statt.  An  diesem  Tuberkulose¬ 
tage  kann  jeder  Arzt  und  jeder,  der  sich  für  die  Tuberkulose¬ 
bekämpfung  interessiert,  teilnehmen.  Die  Tagesordnung  ist  fol¬ 
gende:  I.  Oesterreichischer  Tu  berkul  os  etag.  Sonntag 
den  14.  Mai,  Haus  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte,  Wien  IX., 
Frankgasse  8.  9  Uhr  vormittags:  I.  Mitteilung  über  die  Grün¬ 
dung  des  „österreichischen  Zentralkomitees  zur  Bekämpfung  der 
Tuberkulose“  und  über  den  Stand  der  Tuberkulosebekämpfung  in 
Oesterreich.  (Dr.  Llans  Graf  L arisch.)  II.  Tuberkulose  und 
Kindheit.  (Priv.-Doz.  Dr.  Franz  Hamburger- Wien.)  III.  Ueber 
Tuberkulin’wirkung  und  die  Spezifität  der  Tuberkulinreaktion. 
(Priv.-Doz.  Direktor  Josef  S  o  r  g  o- A  Hand.)  Körperkonstitution 
und  Tuberkulintherapie  (nach  Obduktionsbefunden).  (Privat¬ 
dozent  Dr.  Julius  Bartel -Wien.)  2  Uhr  nachmittags:  IV.  Die 
Tuberkulose  in  den  öffentlichen  Krankenanstalten.  (Professor 
Dr.  Maximilian  S  tern  berg- Wien.)  V.  Zur  Organisation  der 
Tuberkulosebekämpfung.  (Prim.  Dr.  Wilhelm  Mag  er- Brünn.)  Die 
Tuberkulosebekämpfung  auf  dem  Lande.  Ihre  Organisation.  (Ober¬ 
bezirksarzt  Dr.  Re  i  s  i  n  g  er- Prag.  Nach  jedem  Punkte  der  Tages¬ 
ordnung  findet  eine  Diskussion  statt.  Die  Tuberkulosetage  sollen 
von  nun  an  alljährlich  abgehalten  werden  und  hofft  man,  daß 
der  gegenseitige  Austausch  von  Erfahrungen  und  der  persönliche 
Kontakt  zwischen  den  in  den  verschiedenen  Kronjändern  an 
der  Tuberkulosebekämpfung  mitwirkenden  Personen  allseits  an¬ 
regend  und  befruchtend  wirken  wird.  Die  Vorarbeiten  für  die 
Schaffung  des  Zentralkomitees  sowie  für  den  Tuberkulosetag  wur¬ 
den  von  dem  österr.  Komitee  für  den  intern.  Tuberkulosekongreß 
in  Rom,  unter  dem  Präsidium  des  Herrn  Dr.  Graf  L arisch, 
Hofrat  v.  Haberler,  Hofrat  Prof.  Weichselbaum,  geleistet. 
Nähere  Auskünfte  über  diese  Veranstaltungen  erteilen  die  Schrift¬ 
führer  des  Komitees,  Dr.  H.  v.  Schrötter- Wien  IX.,  Mariannen¬ 
gasse  Nr.  3  und  Priv.-Doz.  Dr.  I,.  Tel  eky- Wien  IX.,  Türken¬ 
straße  Nr.  23. 

* 

Einen  Preis  von  1000  Mark  hat  Prof.  Dr.  Theodor  Jaensch 
zu  Berlin  -  Halensee  für  die  Bearbeitung  folgender  physio- psy¬ 
cho  logischer  Preisaufgabe  ausgesetzt:  „Es  ist  durch 
umfassende  und  sachgemäße,  wissenschaftlich  einwandfreie  physio¬ 
logische  Versuche  festzustellen,  welche  Grundeigenschaften  für 
die  leichte  und  schnelle  Lesbarkeit  einer  Weltschrift  —  zumal 
Druckschrift  in  Betracht  kommen  und  welche  der  zurzeit  ge¬ 
bräuchlicheren  Schriftformen  *)  diesen  Bedingungen  am  meisten 
entsprechen,  Die  Versuche  sinfd  nach  strengen  physiologi¬ 
schen  Grundsätzen  und  unter  strengster  kritischer  Behand¬ 
lung  aller  in  Betracht  kommenden  -Voraussetzungen  aus¬ 
zuführen.“  Die  näheren  Bestimmungen  der  Preisausschrei- 

*)  Nicht  unerwünscht  wäre  die  Mitberücksichtigung  einzelner  neuer 
Schriftgattungen  —  soweit  sie  im  Hinblick  auf  Uebersichtlichkeit  der 
Wortbilder  in  Frage  kommen  können  —  und  der  Kurzschriftfrage.  Auch 
die  Frage,  ob  Buchstabenschrift  oder  unmittelbare  Augenschrift,  soll 
wenigstens  im  allgemeinen  kritisch  in  Betracht  gezogen  werden. 


650 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


bung  werden  noch  bekanntgegeben  werden.  Die  Bewerbung  ist  an 
keinerlei  formale  Vorbedingungen  geknöpft;  auch  soll  es  gestattet 
sein,  daß  sich  mehrere  Bewerber  zu  gemeinschaftlicher  Lösung 
vereinigen.  (Um  Mißverständnissen  vorzubeugen,  wird  bemerkt, 
daß  die  obige  Preisausschreibung  schon  seit  Jahresfrist  geplant 
war.  Nachdem  durch  das  Vorgehen  der  Reichstags  -  Petitions- 
Kommission  diese  ganze  Angelegenheit  eine  unvermutete  und 
unwissenschaftliche  'Wendung  genommen  hat,  ist  ihre  Lösung 
um  so  dringlicher  geworden.  Dies  allein  ist  der  Grund  obiger 
Vorankündigung.) 

* 

Literarische  Anzeigen.  Unter  dem  Titel  „Hand¬ 
buch  der  V  ol ks g esu ndheitspf  leg  e“  hat  das  Mitglied  des 
Beirates  des  Deutschen  Vereines  für  Volkshygiene',  Oberstabs¬ 
arzt  Ph.  Neumann,  eine  Broschüre  bei  G  m  el  i  n-  München  er¬ 
scheinen  lassen,  welches  einen  kurzen  Wegweiser  für  das  Volks¬ 
wohl  darstellen  soll.  Verfasset  hat  sich  besonders  zur  Aufgabe 
gestellt,  die  die  verschiedenen  Momente  der  \  olksgesundheit 
bestimmenden  Bestrebungen  Ernährungs-,  Wohnungs-,  Klei¬ 
dungs-,  Schulhygiene,  sexuelle  Aufklärung  usw.  in  einem 
Buche  zusammenzufassen.  Preis  des  Werkes  3  M. 

Soziale  S anglings-  und  Jugendfürsorge.  Von  Pri.- 
vatdozent  Dr.  A.  Uff  enh  eimer.  (Wissenschaft  und  Bildung 
Bd.  90.)  Preis  1  M.  25  Pf.  Verlag  von  Quelle  &  Meyer  in  Leipzig. 
Die  Darstellung  zerfällt  in  zwei  Hauptabschnitte.  Der  erste  be¬ 
handelt  die  Säuglingsfürsorge.  Ausgehend  von  der  Statistik  der 
Säuglingssterblichkeit,  die  namentlich  in  Deutschland  betrübliche 
Verhältnisse  auf  deckt,  zeigt  Verf.  die  Mittel  und  Wege  zu  einer 
Besserung.  Wohnungshygiene,  Mutterschutz;  und  Mutterschafts- 
Versicherung,  Pflege  und  Ernährung  der  Säuglinge,  Anstalten  und 
Einrichtungen  für  ihre  Pflege  werden  eingehend  besprochen,  so 
die  Beratungsstellen,  Milchküchen,  Krippen,  Stillstuben,  Säuglings¬ 
heime,  die  Ammenfrage  usw.  Ein  besonderer  Abschnitt  ist  den 
unehelichen  Kindern  gewidmet,  und  es  werden  die  verschiedenen 
Einrichtungen  für  ihren  Schutz  und  ihre  Erziehung  kritisch  ge¬ 
würdigt.  Von  nicht  geringerem  Interesse  ist  der  zweite  Teil  des 
Buches,  der  sich  mit  der  Fürsorge  für  die  außerhalb  des  Säug¬ 
lingsalters  stehenden  Kinder  befaßt.  Der  Verfasser  führt  die 
Kinderbewahranstaltcn,  Kindergärten,  Ferienkolonien,  Seehospize, 
Heilstätten,  Walderholungsstätten  usw.  vor. 

* 

Cholera.  Siam.  In  Bangkok  sind  in  der  Zeit  vom 
4.  Dezember  bis  28.  Januar  338,  und  in  der  Zeit  vom 
29.  Januar  bis  25.  Februar  243  Personen  an  Cholera  gestorben; 
die  Gesamtzahl  der  Choleratodesfälle  seit  Juni  vorigen  Jahres 
beträgt  somit  1046.  Hawaii.  In  Honolulu  wurden  am  25.  Fe¬ 
bruar  4,  am  26.  und  28.  Februar,  sowie  am  1.  März  je  zwei 
Choleraerkrankungen  gemeldet.  Von  diesen  10  Fällen  sind  9 
tödlich  verlaufen.  Die  Herkunft  der  Seuche  konnte  bisher  nicht 
sichergestellt  werden.  Bis  10.  März  sind  weitere  16  Erkrankungs¬ 
und  12  Todesfälle  festgestellt  worden,  so  daß  die  Gesamtzahl 
der  amtlich  konstatierten  Fälle  bisher  26  beträgt,  wovon  21 
mit  dem  Tode  endeten. 

Pest.  Aegypten,  ln  der  Zeit  vom  31.  März  bis  6.  April 
1911  ereigneten  sich  in  Aegypten  133  (92)  Pestfälle  (Todesfälle) 
und  zwar  in  den  Provinzen  Assiout  2  (2),  Assouan  80  ',49), 
Fayoum  1  (l),  Giurgueh  4  (2),  Keneh  43  (33),  Menoufieh  1  (2), 
Minieh  2  (3),  in  der  Zeit  vom  7.  bis  13.  April  116  (91)  Pest¬ 
fälle  (Todesfälle)  u.  zw.  in  der  Stadt.  Port  Said  2  (l),  in  den 
Provinzen  Assiout  11  (9),  Assouan  16  (14),  Fayoum  2  (2),  Ga- 
lioubieh  1  (0),  Guirgueh  11  (10),  Keneh  63  (51),  j  Menoufieh 
8  (3),  Minieh  2  (l).  Die  Gesamtzahl  der  seit  Beginn  des  Jahres 
bis  8.  April  sichergestellten  Pesterkrankungen  beträgt  1000  gegen¬ 
über  176  in  der  entsprechenden  Zeitperiode  des  Vorjahres.  In 
der  Hafenstadt  Suakim  am  Roten  Meere  ist  am  7.  April  ein 
Eingeborenenweib  an  Pestpneumonie  gestorben.  —  Arabien. 
Die  Stadt  Maskat.  (Sultanat  Oman)  wurde  wegen  des  amtlich 
festgestellten  Auftretens  von  Pestfällen  als  pestverseucht  erklärt. 
In  Djeddah  sind  in  der  Zeit  vom  25.  März  bis  6.  April  9  töd¬ 
liche  Pesterkrankungen  gemeldet  worden.  Siam,  ln  der  Haupt¬ 
stadt  Bangkok  wurden  bis  29.  Januar  8,  bis  28.  Februar  14  Pest¬ 
erkrankungen  amtlich  festgestellt.  Britisch -Indien,  im  Hin¬ 
dustan  ereigneten  sich  in  der  Zeit  vom  29.  Januar  bis  25.  Fe¬ 
bruar  1911  u.  zw.  in  der  ersten  Woche  26.211  ((22.239),  in 
der  zweiten  Woche  24.715  (22.278),  in  der  dritten  Woche  22.632 
(18.978),  in  der  vierten  Woche  27.716  (22.138)  Pesterkrankungen 
(Todesfälle). 

* 

Vorläufiges  Ergebnis  der  S a n i t ä ts Statistik-  bei 
der  Mannschaft  des  k.  u.  k.  Heeres  im  Februar  1911. 


Krankenzugang  78%o,  an  Heilanstalten  abgegeben  30%o,  Todes¬ 
fälle  0-13%o  der  durchschnittlichen  Kopfstärke. 

* 

Die  Gesundheitsverhältnisse  der  Wiener  Ar-, 
b  e  i  terse  1  i  a  f  t  i  in  M  ä  r  z  19 1 1 .  Bei  dem  Verbände  der  Genoss  m- 
schaltsk rankenkassen  Wiens  und  der  Allgem.  Arbeiter-Kranken-  und 
Unterstützungskasse  in  Wien,  welche  einen  Stand  von  310.000 
(320.000)  Mitgliedern,  davon  280.000  (290.000)  in  Wien  aufweisen, 
betrug  im  März  1911  die  Zahl  der  Erkrankungen  mit  Erwerbs¬ 
unfähigkeit  in  Wien  10.902  (10.150).  Davon  entfielen  auf  Tuber¬ 
kulose  der  Atmungsorga, ne  953  (938),  andere  Erkrankungen  der 
Atmungsorgane  1655  (1577),  Anginen  543  (446),  Lungenentzün¬ 
dungen  53  (44),  Influenzen  882  (576),  Erkrankungen  der  Zirku¬ 
lationsorgane  335  (325),  Magen-  und  Darmerkrankungen  566  (607), 
rheumatische  Erkrankungen  944  (852),  auf  Verletzungen  (Betriebs¬ 
unfälle)  1899  (1899).  Die  Zähl  der  Todesfälle  betrug  im  März  1911 
332  (290).  Davon  entfielen  auf  Tuberkulose  238  (126),  andere 
Erkrankungen  der  Atmungsorgane  29  (17),  der  Zirkulationsorgane 
55  (56),  auf  Neubildungen  21  (14),  Verletzungen  (Betriebsunfälle) 
10  (8),  auf  Selbstmorde  11  (15)  Todesfälle.  (Die  Ziffern  in  den 
Klammern  beziehen  sich  auf  den  März  1910.) 

+ 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  15.  Jahreswoche  (vom  9.  bis 
15.  April  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  506,  unehelich  217,  zusammen 
723.  Tot  geboren,  ehelich  43,  unehelich  19,  zusammen  62.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  688  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
17  4  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  0,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  9, 
Scharlach  4,  Keuchhusten  1,  Diphtherie  und  Krupp  3,  Influenza  2, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  4.  Lungentuberkulose  115,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  50,  Wochenbeltfieber  4.  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  53  (T-  6),  Wochenbett fieber  0  ( —  5),  Blattern  0 
(O),  Varizellen  85  (—  15),  Masern  156  ( —  43),  Scharlach  110  (+  17) 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  4  (-f-  2),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0) 
Diphtherie  und  Krupp  35  ( —  31),  Keuchhusten  34  ( —  9),  Trachom  3  (-j-  2) 
Influenza  1  (=),  Poliomyelitis  0  (0). 


Eingesendet. 

Ein  medizinisches  Warenhaus  versendet  an  die  Aerzte  ein 
Zirkular  mit  Anpreisung  eines  „Silberkappenpessais  nach  Pro¬ 
fessor  Halb  an“.  Ich  bitte,  zur  Kenntnis,  zu  nehmen,  daß  ich 
dieser  Angelegenheit  vollkommen  ferne  stehe  und  mir  alle  er¬ 
forderlichen  Schritte  Vorbehalte,  um  diesen  mit  meinem;  Namen 
getriebenen  Mißbrauch  abzustellen. 

Prof.  Dr.  Jose!  Hal  ban. 


Freie  Stellen. 

Gemeindearztesstelle  für  den  Sanitätssprengel  D  o  r  n  a- 
kandreny  mit  den  Gemeinden  Dornakandreny  und  Pojana'stampi  mit 
dem  Standorte  in  Dornakandreny  (Bukowina).  Die  mit  diesem  Posten 
verbundene  Jahresdotation  beträgt  1600  K  und  eine  für  den  Ruhegenuß 
anrechenbare  Aktivitätszulage  von  400  K.  Als  Separathonorar  erhält  der 
Gemeindearzt  das  von  der  Gemeinde  Dornakandreny  für  die  Versehung 
der  Funktionen  des  Badearztes  in  Aussicht  gestellte  Honorar  von  700  K 
für  die  Dauer  der  Badesaison.  Für  Dienstreisen  erhält  der  Gemeindearzt 
die  mit  der  Kundmachung  der  Bukowinaer  k.  k.  Landesregierung  vom 
27.  April  1898,  L.-G.-  u.  V.-Bl.  Nr.  12,  normierten  Gebühren.  Bewerber  um 
diesen  Posten  haben  nachzuweisen:  1.  Die  Berechtigung  zur  Ausübung  der 
Heilkunde  in  den  im  Reichsrate  Vertretenen  Königreichen  und  Ländern; 
2.  die  österreichische  Staatsbürgerschaft;  3.  die  Kenntnis  der  deutschen 
und  in  hinreichendem  Maße  der  rumänischen  Sprache.  Die  gehörig  in¬ 
struierten  Gesuche  sind  spätestens  bis  10.  Mai  1.  J.  bei  der  k.  k.  Be¬ 
zirkshauptmannschaft  in  Kimpolung  einzureichen. 

Im  Status  der  k.  k.  Sanitätsbeamten  in  Böhmen  gelangt  die 
Stelle  eines  Landessanitätsinspektors  mit  den  Bezügen 
der  VII.,  beziehungsweise  eines  Oberbezirksarztes  mit  den  Be¬ 
zügen  der  VIII.,  ferner  die  Stelle  eines  Bezirks arztes  mit  den  Be¬ 
zügen  der  IX.,  eines  Sanitäiskonzipisten  mit  den  Bezügen  der 
X.  Rangsklasse  und  eventuell  die  Stelle  eines  Sanitätsassistenten 
mit  einem  Adjutum  jährlicher  1000  K  zur  Besetzung.  Bewerber  um 
diese  Stellen  haben  ihre  ordnungsmäßig  instruierten  Gesuche,  welche 
seitens  der  dem  Staatsdienst  noch  nicht  angehörenden  Bewerber  über¬ 
dies  mit  den  Nachweisen  über  das  Alter,  die  Zuständigkeit,  die  zurück¬ 
gelegten  Studien,  die  körperliche  Eignung,  sowie  über  die  mit  Erfolg 
abgelegte  Physikatsprüfung  zu  belegen  sind,  bis  längstens  10.  Mai  1911 
entweder  unmittelbar,  oder  sofern  sie  bereits  im  öffentlichen  Sanitäts¬ 
dienste  slehen,  im  Wege  tier  Vorgesetzten  Behörde  beim  k.  k.  Stalthallerei- 
präsidium  in  Prag  einzubringen.  •  ._•  'I 

Gemeindearztesstelle  in  Grisignana  (Istrien).  Ge¬ 
halt  2400  K.  Quatiergeld  300  K.  Gesuche  mit  dem  Nachweise  der 
österreichischen  Staatsbürgerschaft,  der  Berechtigung  zur  Ausübung  der 
Heilkunde  und  der  Kenntnis  der  italienischen  Sprache  sind  bis  20.  Mai 
an  den  Gemeindevorstand  in  Grisignana  zu  richten. 


Nr.  18 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


651 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 

28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin.  I  U.  russischer  Internistenkougreß. 

10.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  fiir  Chirurgie  zu  Berliu.  1 


Des  Feiertags  (1.  Mai)  wegen  mußte  diese  Nummer  früher 
fertiggestellt  werden  und  erscheint  deshalb  das  Protokoll  der  Sitzung 
der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien  vom  28.  April  erst  in 
nächster  Nummer. 


28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin 

vom  19.  bis  22.  April  zu  Wiesbaden. 

Referent :  K.  Reich  e  r  -  Berlin . 

1.  Sitzung  am  Mittwoch,  den  19.  April  1911. 

Kr  eh  1- Heidelberg  hält  als  Präsident  des  Kongresses  die 

Eröffnungsrede. 

Der  uralte  Begriff  der  Diathesen  hat  sich  bis  in  die  zweite 
Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  erhalten.  Durch  hervorragende 
Forscher  wurde  er  mittels  der  exakten  Methoden  der  Physio¬ 
logie,  Pathologie  und  des  Tierexperimentes  gänzlich  zurückgedrängt 
und  schien  bis  vor  kurzem  abgetan  wie  die  Lebenskraft  und  die 
Naturphilosophie.  In  dieser  streng  naturwissenschaftlichen  Auf¬ 
fassung  krankhafter  Vorgänge  wurden  die  meisten  von  uns  er¬ 
zogen  und  auch  der  Kongreß  geboren.  Es  sollen  nun  auch  ferner¬ 
hin  Chemie,  Physik  und  Experiment  in  ihren  Rechten  nicht 
verkümmert  werden,  anderseits  aber  ist  nicht  zu  vergessen,  daß 
wir  Aerzte  vielfach  den  Begriff  der  Erfahrung  mit  einer  Reihe 
dunkler  Eindrücke  verwechseln.  Trotzdem  haben  wir  in  der 
Medizin  nur  einen  Weg  zur  Erkenntnis,  den  der  Beobachtung, 
der  Empirie,  sowohl  am  Krankenbette,  als  im  Laboratorium. 
Sie  ist  gerade  in  unserer,  zu  phantastischer  Spekulation  neigen¬ 
den  Zeit  von  außerordentlichem  Werte.  Vor  Irrtümern  der  Beob¬ 
achtung  und  Erinnerungstäuschungen  schützt  uns  nur  Registrie¬ 
rung,  diese  ist  aber  bei  der  wechselnden  Tätigkeit  des  Arztes 
undurchführbar.  Deswegen  verfallen  wir  in  den  Fehler  der  Speku¬ 
lation.  Trotz  der  hartnäckigen  Ignorierung  der  unerklärlichen 
Begriffe  Disposition  und  Konstitution,  konnten  wir  uns  endlich 
der  Einsicht  nicht  verschließen,  daß  die  physiologische,  die  ana¬ 
tomisch-lokal  is  tische  und  die  ätiologische  Auffassung  der  Krank¬ 
heitszustände  nicht  die  ganze  Summe  des  krankhaften  Geschehens 
umfaßt.  Daher  die  Rückkehr  zu  den  alten  Begriffen  mit  fliegenden 
Fahnen!  Sie  sind  aber  so  von  Phantasie  und  Speku¬ 
lation  um  woben,  daß  wir  hei  ihrer  Erforschung  alle 
Energie  werden  au  f wie n d e n  müssen,  um  auf  dem 
festen  Boden  der  Skepsis  und  der  Tatsachen  zu 
bleiben. 

Peber  Wesen  und  Behandlung!  der  Diathesen  (Referat). 

1.  His-Berlin:  Geschichtliches  und  Diathesen  in 
der  inneren  Medizin. 

Die  Notwendigkeit  für  die  innere  Verwandtschaft  größerer 
Krankheitsgruppen  einen  Ausdruck  zu  finden,  leitet  uns  wieder 
zu  dem  Begriffe  der  „Diathesen“,  welcher  schon  in  der  griechi¬ 
schen  Medizin  eine  große  Rolle  spielte.  In  der  unrichtigen  Mischung 
der  Elemente  und  Temperamente  und  der  damit  begründeten  Stö¬ 
rung  des  körperlichen  Gleichgewichtes  war  nach  Galen  die  Ur¬ 
sache  der  Krankheiten  gegeben,  die  Organveränderung  bloß  ihre 
Folge.  In  zahlreichen  Wandlungen  erhielt  sich  diese  alte  Lehre 
und  ihre  letzten  Verfechter  waren  Wunderlich  und  Roki¬ 
tansky,  welch  ersterer  für  Krankheiten  ohne  bestimmten  Aus¬ 
gangspunkt  den  Namen  Konstitutionskrankheiten  "einführte,  wäh¬ 
rend  letzterer  der  K rasen  lehre  neues  Leben  einhauchte.  Nach 
deren  Widerlegung  durch  Virch’ow  löste  sich  die  Pathologie 
in  eine  Summe  von  Organkrankheiten  auf.  Durch  die  Bakterio¬ 
logie  bröckelte  ein  weiterer  Teil  der  Konstitutionskrankheiten 
ab.  In  Frankreich  dagegen  wurde  bis  heute  der  Konstitutions-  und 
Diathesenbegriff  unverändert  aufrecht  erhalten  (Tissier,  Ba¬ 
zin,  Lancereaux)  und  auch  in  Deutschland  lebt  in  letzter 
Zeit  der  Konstitutionsbegriff  in  der  Kinderheilkunde  (Luxuskon- 
sumption,  einseitige  Ernährung,  Nährschaden)  wie  auch  in  der 
Dermatologie,  wieder  auf.  In  der  inneren  Medizin  wurde  der¬ 
selbe  von  0.  Rosen b ach,  F.  Kraus  und  F.  Martins  er¬ 
schöpfend  bearbeitet.  His  definiert  die  Diathese  als  Spezialfall 
der  Konstitutionsgruppen  folgendermaßen :  Diathese  ist  ein 
individueller,  angeborener,  oft  vererbbarer  Zustand, 
bei  dem  physiologische  Reize  eine  abnorme  Reak¬ 
tion  auslösen  und  für  die  Mehrzahl  der  Gattung  nor¬ 
male  Lebensbedingungen,  krankhafte  Zustände  be¬ 


wirken.  Bis  zur  Auffindung  der  Aetiologie  und  bestimmter  Re¬ 
aktionen  ist  jede  Systematik  provisorisch  und  läßt  sich  nur  auf 
ein  Ensemble  häufig  gleichzeitiger  Symptome  stützen.  (lieber  ge¬ 
hören  der  Arthritismus,  mehrere  Kinderdiathesen,  der  Infantilis¬ 
mus,  die  eosinophile  Diathese,  gewisse  Neuropathien  und  die 
hämophilen  Diathesen,  alles  in  allem  ein  dankbares  Forschungs¬ 
gebiet  ! 

Pfaundler-München:  Diathesen  in  der  Kinderheil- 
k  u  n  d  e. 

Vortragender  versteht  gleich  His  unter  Diathese  (SidiGjais) 
erhöhte  Bereitschaft  zu  Erkrankungen  u.  zw.  zum  Auftreten  be¬ 
stimmter  Zeichen  und  Zeichengruppen. 

Der  Skrofulöse  zum  Beispiel  liegt  eine  erhöhte  Bereitschaft 
zu  entzündlichen  Reaktionen  zugrunde,  Diathesis  inilammatoria 
(Th.  White).  Am  besten  ist  die  entzündliche  oder  exsudative 
Diathese  an  jüngsten  Kindern  ohne  Tuberkulose  zu  studieren. 
Verwandt  sind  ihr  der  Status  thymico - lymphaticus  (Pal tauf, 
Es  eher  ich)  und  der  infantile  Arthritisme  der  Franzosen.  Die 
Manifestationen  dieser  Trias  stellen  sich  dar  als  exsudative  Inte¬ 
gumentprozesse,  Schwellung  lymphatischer  Gewebe,  Ernährungs- 
und  Stoffwechselstörungen,  vasomotorische  und  vagotonische  Er¬ 
scheinungen,  allgemein  neuropathische  Zeichen  und  tetanoide 
Phänomene.  Charakteristisch  ist  bei  ihnen  die  Entstehung  auf 
geringfügige  Anlässe  hin,  oft  scheinbar  spontan  und  paroxysmal, 
ferner  ihr  Auftreten  bei  starker  Körperfülle.  Aetiologisch  er¬ 
scheint.  eine  elektive  Schädigung  des  Mesenchyms,  in  dessen  Ab¬ 
kömmlingen  die  Trias  ihren  Sitz  hat,  möglich,  oder  eine  Hormon¬ 
verminderung.  Wahrscheinlich  haben  wir  es  dabei  mit  einem 
plurizentrischen  System  zu  tun.  Die  Zeichenkreise  kommen  in 
vielfacher  Kombination  und  Mutation  vor,  wie  es  auch  aus  Stamm¬ 
bäumen  hervorgeht.  Aus  minderwertigen  Determinanten  im  elter¬ 
lichen  Keimplasma  gehen  funktionell  minderwertige  Organe  und 
Systeme  hervor,  die  bei  höheren  oder  auch  schon  bei  physiologi¬ 
schen  Ansprüchen  versagen.  Bei  den  Geschwistern  von  Kindern 
mit  exsudativer  Diathese  läßt  -sich  sechsmal  häufiger  eine  neuro- 
pathische  Anlage  nachweisen  als  bei  normalen  Kindern.  Die 
weiblichen  Ueberträger  sind- ferner  doppelt  so  häufig  als  die  männ¬ 
lichen.  Unter  den  Empfängern  überwiegen  wieder  die  männ¬ 
lichen  mit  doppelter  Zahl.  Manchmal  hat  auch  ein  zeitliches  Ante- 
ponieren  der  Manifestationen  statt.  Alle  diese  Züge  sprechen 
für  echte  Vererbung.  Die  Forderung  einer  strengen  Abgrenzung 
der  Gesamtdialhesen  wäre  eine  verfehlte,  zuverlässige  Kriterien 
sind  nur  für  die  Teilbereitschaften  zu  erwarten.  Den  angeborenen 
kindlichen  Diathesen  sind  auch  die  Rachitis,  die  Spasmophilie  und 
die  Heterodystrophie  zuzurechnen,  welch  letztere  erst  bei  art¬ 
fremder  Nahrung  in  Erscheinung  tritt.  Krankheitsbereitschaften 
können  auch  erworben  werden  (Sensibilisierung,  Anaphylaxie). 

Bloch-Basel:  Diathesen  in  der  Dermatologie. 

Die  frühere  französische  Schule,  allen  voran  Bazin,  hat 
hauptsächlich  drei  Diathesen  postuliert,  die  herpetische,  die  lym¬ 
phatische  und  die  arthritische.  Letztere,  die  wichtigste,  besagt 
folgendes :  Im  Säuglingsalter  treten  nässende,  impetiginüse  und 
papulo  -  vesikulöse  Ekzeme  auf,  später  urtikarielle  Symptome,  ade¬ 
noide  Vegetationen,  Gastrointestinalkrisen,  Pernionen  usw.,  in 
der  Pubertät  Kopfschmerzen,  Akne,  Seborrhöe  und  später  richtige 
Asthmaanfälle.  Beim  Erwachsenen  gesellen  sich  Viszeralkrisen,  Mi¬ 
gräne,  Neuralgien,  Gallen-  und  Nierensteinkoliken,  rheumatische 
und  gichtische  Beschwerden  hinzu,  im  Greisenalter  endlich  Ar¬ 
teriosklerose,  Pruritus  und  Prurigo.  Die  arthritischen  Derma¬ 
tosen  sind  das  Produkt  der  latenten  pathologischen  Disposition, 
die  wir  als  Diathese  bezeichnen  und  einer  Gelegenheitsursache. 
Eine  allen  diathetischen  Dermatosen  gemeinsame  Stoffwechsel- 
anomalie  hat  sich  nicht  fassen  lassen.  Es  bleibt  daher  nichts 
übrig,  als  aus  Anamnesen  und  Stammbäumen  Tatsachenmaterial 
zu  sammeln,  zumal  die  deutsche  Dermatologie  seit  Hebra  und 
Kaposi  der  Diathesenlehre  ganz  ablehnend  gegenübersteht.  Bloß 
die  Eosinophilie  des  Blutes  ist  eine  ziemlich  konstante  Beglei¬ 
terin  der  hier  in  Frage  kommenden  Dermatosen.  Bei  der  soge¬ 
nannten  Idiosynkrasie  kann  man  durch  Einverleibung  eines  Medi¬ 
kamentes  oder  eines  alimentären  Stoffes,  also  durch  funktionelle 
Prüfung  (Jadassohn),  die  Diathese  jederzeit  sichtbar  machen. 
Die  Analogie  dieser  als  chemische  Allergie  aufzufassenden  ana¬ 
phylaktischen  Reaktion  mit  der  bakteriellen  Allergie  Pirquets, 


052 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  18 


liegt  auf  der  Hand.  Aehnlich  könnten  auch  die  krisenartigen 
Erscheinungen  des  großen  arthritis eben  Symptomenkomplexes 
auf  der  Haut  und  den  Schleimhäuten  (Urtikaria,  Quinckesches 
Oedem,  Asthma  und  Dannkrisen)  nichts  anderes  sein  als  ana¬ 
phylaktische  Vorgänge.  Bei  der  Jodoformdermatitis  scheint  eine 
histogene  Diathese,  eine  zelluläre  Allergie  gegen  den  Methanrest 
des  Jodoforms  vorzuliegen.  Zu  den  diathetisehen  Hautzuständen 
rechnet  Vortr.  auch  die  multiplen  Xanthome,  die  nach  Pinkus 
und  Pick  aus  Cholesterinestern  bestehen  und  denen  eine  Hyper - 
cholesterämie  (Chauffard,  La  Roche  und  Thibierge)  zu¬ 
grunde  liegt.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  Jadas sohns  Fall  von 
Kalkdiathese.  Andere  Diathesen  beruhen  auf  einer  Lichtüber- 
empfindlichkeit  (Xeroderma,  Pellagtra,  Fagopyrismus,  Hydroa 
aestivalis). 

Bei  Hunden  läßt  sich  nach  Pankreasexstirpation  eine  viel 
schwerere  Dermatitis  durch  Staphylokokken  und  Hefepilze  hervor- 
rufen  als  vorher.  Hier  tritt  nach  Ausfall  einer  Drüse  mit  innerer 
Sekretion  eine  Allergie  der  Haut  ein. 

(Fortsetzung  folgt.) 


40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  zu  Berlin 

vom  19.  bis  22.  April  1911  (im  Langenbeckhause). 

Referent:  Dr.  M.  K at z  en  s  tei  n -Berlin. 

(Fortsetzung.) 

Katzenstein -Berlin:  Ueber  die  Möglichkeit  eines 
Kollateralkreislaufes  der  Niere  und  die  operative 
Behandlung  der  Nephritis. 

Demonstration  schematischer  Zeichnungen  zur  Erläuterung 
der  Bedingungen,  die  Vortr.  für  unerläßlich  hält  zur  Hervorrufung 
eines  arteriellen  Kollateralkreislaufes  der  Niere  im  Tierexperiment. 

Diese  Bedingungen  sind:  1.  Vermeidung  der  Dekapsulation. 
2.  Erhöhung  der  Widerstände  in  der  Nierenarterie,  3.  Umhüllung 
der  Niere  mit  Muskulatur. 

Demonstration  dreier  Versuchsreihen  in 
Bildern. 

1.  Ausbildung  eines  Kollateralkreislaufs  der  Niere,  Unter¬ 
bindung  beider  Nierenarterien  an  der  Aorta.  Präparation  der  Aorta 
und  Injektion  des  Arteriensystems  mit  Karmingelatine.  Die  In¬ 
jektionsmasse  gelangte  in  die  Nieren. 

2.  Versuchsreihe :  Ausbildung!  eines  Kollateralkreislaufs 
beider  Nieren,  Unterbindung  beider  Nierenarterien,  Unterbindung 
der  Aorta  ober-  und  unterhalb  beider  Nierenarterien,  Injektion  des 
Arteriensystems  mit  Wismutbrei,  Röntgenphotographie.  Das 
Wismut  ist  in  die  Nieren  gelangt,  was  außer  an  makroskopischen 
Präparaten  auch  an  herausgeschnittenen  Nierenstückchen  demon¬ 
striert  werden  kann.  Ausbildung  eines  ähnlichen  Kollateralkreis¬ 
laufs  in  der  Thyreoidea  und  in  der  Milz.  Transplantationen 
von  Organen,  die  unabhängig  von  der  Arterie  gemacht  sind. 

3.  Versuchsreihe:  Durch  Ligatur  der  Nierenarterien  nach¬ 
einander  und  sonst  in  unveränderter  Versuchsanordnung,  gelang 
es,  drei  Tiere  längere  Zeit  nach  Unterbindung  beider  Nieren¬ 
arterien  am  Leben  zu  erhalten.  Ein  Hund  starb  zehn  Tage  nach 
Unterbindung  der  zweiten  Nierenarterie  an  interkurrenter  Krank¬ 
heit,  ein  Hund  zwei  Monate  nachher  infolge  Aortenunterbindung, 
der  dritte  Hund  überlebte  die  Unterbindung  der  Aorta  oberhalb 
der  Nierenarterie  um  fünf  Wochen  und  die  Unterbindung  der 
beiden  Nierenarterien  um  vier  Monate  und  ging  an  einem  Aneu¬ 
rysma  dissecans  an  der  Stelle  der  Unterbindung  der  Aorta  zu¬ 
grunde. 

Bei  beiden  Hunden  hatten  Stoffwechseluntersuchungen  auf 
der  Kr  aus  sehen  Klinik  annähernd  normale  Nierenfunktion  er¬ 
geben. 

Katzenstein  hält  danach  den  Beweis  für  erbracht,  daß  ein 
Nierenkollateralkreislauf  möglich  ist  und  daß  dieser  den  nor¬ 
malen  Kreislauf  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zu  ersetzen  vermag. 

Diskussion:  Li  eck,  der  früher  ohne  Erfüllung  der  von 
Katzenstein  als  notwendig  bezeichneten  Bedingungen  ähnliche 
Untersuchungen  mit  negativem  Erfolge  gemacht  hat,  ist  von  den 
gemachten  Demonstrationen  nicht  überzeugt. 

B  au  e  r -Breslau :  Röntgendurchleuchtung  ohne 

Schirm. 

In  Kürze  möchte  ich  Ihnen  eine  neue  Methode  der  Piöntgen- 
durchleuchtung  demonstrieren,  die  eine  solche  ohne  Zuhilfenahme 
eines  fluoreszierenden  Schirms,  des  Röntgenschirms,  möglich 
macht.  Eine  Reihe  von  Umständen  bei  dem  allgemein  üblichen 
Durchleuchtungsverfahren  war  es,  die  mich  veranlaßte,  eine  Va¬ 
riation  dieser  Methode  anzustreben. 


Einmal  war  es  die  Schwierigkeit,  die  bei  der  Durchleuch¬ 
tung  erhaltenen  Bilder  von  Knochen,  Organen,  Geschwulstgrenzen, 
Fremdkörpern,  direkt  graphisch  auf  der  Körperoberfläche  ohne 
Hilfe  großer  komplizierter  Apparate  festzuhalten;  ein  weiteren 
Mangel  lag  in  der  Schwierigkeit  einer  genaueren  Lokalisation  von 
Fremdkörpern,  die  bei  einfacher  Durchleuchtung  wenig  genau 
und  selbst  bei  Aufnahmen  von  vorn  und  von  der  Seite  nicht 
vollkommen  möglich  war.  Fernerhin  war  die  Vornahme  irgend¬ 
welcher,  in  manchen  Fällen  direkt  während  der  Röntgendurch¬ 
leuchtung  erstrebten  Manipulationen,  wie  zum  Beispiel  die  Re¬ 
position  von  Knochenfrakturen,  durch  die  Behinderung  des  gleich¬ 
zeitig  zu  haltenden  Schirmes  erschwert.  Endlich  konnte  man 
bei  mehreren  Durchleuchtungen  in  verschiedenen  Zeitintervallen, 
wie  sie  zur  Kontrolle  der  Therapie  oder  zur  Feststellung  von 
Wachstumsveränderungen  bisweilen  notwendig  wurden,  hei  der 
immer  wechselnden  Stellungsabweichung  des  Schirmes  selbst  hei 
tangential  angelegtem  Schirme  keine  ganz  konstanten  Bilder  er¬ 
zielen. 

Diese  hier  nur  kurz  präzisierten  Mängel  versuchte  ich  da¬ 
durch  zu  beheben,  daß  ich  die  Körperoberfläche  zur  Fluoreszenz 
brachte  und  dadurch  auf  sie  direkt  projizierte. 

Ein  einfacher  Anstrich  mit  fluoreszierender  Masse  war  aus 
selbstverständlichen  Gründen  nicht  möglich,  wohl  aber  konnte 
man  mit  fluoreszierenden,  mit  Platinbaryumzyanat  imprägnierten 
Binden,  die  man  um  die  Extremität  oder  den  Rumpf  wickelte, 
diese  gewollte  Fluoreszenz  der  Körperoberfläche  erreichen. 

Mit  diesem  Verfahren,  bei  dem,  anders  wie  beim  Röntgen¬ 
schirm,  das  Verhältnis  zwischen  schattengebendem  Körper  und 
Projektionsfläche  immer  ein  konstantes  bleibt,  werden  auf  der 
Haut  des  im  ganzen  aufleuchtenden  Weichteils  die  schattengeben¬ 
den  Gebilde  zu  Gesicht  kommen.  Man  wird  deshalb  zu  einer- 
exakteren  Vorstellung  bei  Brüchen,  zu  einer  besseren  Lokalisation 
von  Fremdkörpern  kommen  können;  man  wird  durch  aufgelegtes 
Pauspapier  die  gefundenen  Verhältnisse  direkt  auf  der  Körper¬ 
oberfläche  festzuhalten  imstande  sein  und  etwaige  Manipulationen, 
wie’  Reposition  von  Brüchen,  unmittelbar  während  der  Röntgen¬ 
durchleuchtung  und  ohne  durch  einen  Schirm  behindert  zu  sein, 
vornehmen  können. 

K.  W  es  s  el  y- Würzburg :  Ueber  Angewöhnungser¬ 
scheinungen  hei  örtlichen  Reizen. 

Die  Frage  der  Angewöhnung  an  örtliche  Reize  ist  an  keinem 
anderen  Organ  so  gut  zu  entscheiden  wie  am  Auge. 

Der  Grad  der  Wirkung  eines  an  der  Bindehaut  gesetzten 
Reizes  läßt  sich  nämlich  genau  messen  dadurch,  daß  er  sich  auf 
dem  Wege  des  Reflexes  in  bestimmtem  Verhältnis  auch  auf  das 
innere  Auge  überträgt  und  hier  zu  einer  Vermehrung  des  Eiwei߬ 
gehaltes  im  Kammerwasser  führt,  die  bis  auf  1/ioo°/°  zu  bestimmen 
ist.  Auf  diese  Weise  gelingt  es,  den  Nachweis  zu  führen,  daß  bei 
den  verschiedensten  örtlichen  Reizen,  wie  subkonjunktivalen  Koch¬ 
salzinjektionen,  Pinselungen  mit  Jod  und  Höllenstein,  eine  schnelle 
Angewöhnung  an  den  Reiz  eintritt.  Schon  bei  der  dritten  Wieder¬ 
holung  pflegt  die  Abnahme  der  Reaktion  eine  auffällige  zu  sein 
und  bei  der  siebenten  oder  achten  kann  sie  bereits  völlig  aus- 
bleiben.  Am  schönsten  tritt  die  Erscheinung  zutage  bei  Pinse¬ 
lungen  der  Lidbindehaut  mit  l°/oiger  Lösung  von  Argentum  nitri- 
cum.  Kaninchen  reagieren  mit  starker  Chemosis,  die,  wie  Vor¬ 
tragender  hierauf  an  Photogrammen  demonstriert,  bei  mehrfacher 
Wiederholung  des  Reizes  von  einem  zum  anderen  Male  abnimmt. 
Auch  die  Abnahme  der  reaktiven  Wirkung  auf  den  Eiweißgehalt 
des  Humor  aqueus  wird  an  Photogrammen  von  Kammerwasser¬ 
proben  erläutert. 

Aber  nicht  nur  für  die  gleichen  Reize  erfolgt  eine  Ange¬ 
wöhnung,  sondern  auch  eine  durch  andere  Mittel  erzeugte  Hyper¬ 
ämie  hinterläßt  für  einige  Zeit  einen  refraktären  Zustand.  Ein 
einmal  zur  Hyperämie  gebrachtes  Gefäßgebiet  scheint  demnach 
durch  gleiche  und  andere  lokale  Reize  für  einige  Zeit  viel  schwerer 
zu  einer  erneuten  Hyperämie  zu  bringen  zu  sein.  Es  liegen  also 
zwei  verschiedene  Erscheinungen  vor,  eine  ausgesprochene  lokale 
Angewöhnung  an  das  Reizmittel  selbst  und  eine  Gewöhnung 
der  Gefäße  an  den  hyperämisierenden  Reiz,  welch  letztere  nicht 
spezifisch  ist. 

Sch m  i  e  de  n -  Berlin  :  Zur  D if  f  e r  en  t  i  a  1  d  i  a g  n o s e 

zwischen  Magenulkus  und  Magenkarzinom. 

Vortr.  bespricht  die  wichtigsten  Faktoren,  welche  die  mo¬ 
derne  Magendiagnostik  ermöglichen.  In  der  Bierschen  Klinik 
werden  außer  allen  anderen  Hilfsmitteln  der  internen  Medizin  in 
erster  Linie  folgende  drei  Hilfsmittel  zur  Entscheidung  herbei¬ 
gezogen:  Anamnese,  Palpation  und  Röntgenuntersuchung.  Vor¬ 
tragender  zeigt  nun  an  einer  großen  Reihe  ausgezeichneter  charak¬ 
teristischer  Bilder  die  wichtigsten  differentialdiagnostischen  Kri¬ 
terien  des  Magenulkus  und  dos  Magenkarzinoms  und  betont  he- 


Nr.  18 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


653 


sonders,  daß  auch  schon  für  das  frische  Magenulkus  sichere 
Kriterien  im  Röntgenbilde  sichtbar  gemacht  werden  können. 

Haudek-Wien  demonstriert  Röntgenplatten  zur  Diifcren- 
tialdiagnose  zwischen  Magengeschwür  und  Magenkarzinom.  Die 
unterscheidenden  Merkmale  sind  folgende:  Morphologisch:  1.  Das 
Ulkus  erscheint,  sofern  es  am  Röntgenbild  des  Magens  direkt 
sichtbar  wird,  als  ein  Schattenvorsprung  (Nisehensymptom).  Das 
medulläre  Karzinom  als  Schattenaussparung,  indem  es  ins  Lumen 
vorspringt. 

2.  Führt  ein  hochliegendes  Ulkus  (an  der  kleinen  Kurvatur) 
durch  Schrumpfung  zur  i  Verkleinerung,  so  erhält  der  Magen 
Schnecken form,  indem  die  kleine  Kurvatur  eingerollt  wird,  wobei 
die  Hubhöhe  erhalten  bleibt. 

Beim  diffus  infiltrierenden  Krebs  zeigt  der  Schrumpfmagen 
den  Pylorus  als  tiefsten  Punkt,  die  Hubhöhe  ist  aufgehoben.  Der 
Magen  erscheint  gestreckt,  nicht  mehr  hakenförmig. 

3.  Beim  Sanduhrmagen  auf  Ulkusbasis  liegt  der  Verbindungs¬ 
kanal  stets  an  der  kleinen  Kurvatur,  die  Enge  betrifft  nur  eine 
kleine  umschriebene  Stelle. 

Bei  Sanduhrmagen  auf  Karzinombasis  (sehr  selten)  ist  die 
Enge  oft  median  gelegen  und  betrifft  einen  längeren  Magen¬ 
abschnitt. 

Beim  Ulkus  ist  die  Austreibungszeit  verlängert,  beim  Kar¬ 
zinom  im  allgemeinen  verkürzt. 

M e rkens  - Oldenburg  :  Seltene  Verletzung  des  Penis. 

Ein  Mann  urinierte  durch  einen  Türspalt.  Durch  Zuschlägen 
der  Tür  Einklemmung  des  Penis.  Der  Mann  suchte  ihn  ver¬ 
gebens  durch  einen  kräftigen  Zug  zu  befreien.  Resultat:  voll¬ 
ständige  Abquetschung  des  Penis  in  der  Mitte  der  Länge  bis 
auf  den  Hautschlauch.  Wegen  Gangrän  wurde  die  Amputation 
des  Gliedes  nötig.  —  Demonstration  von  Diapositiven. 

Pels -Leus  den -Berlin  demonstrierte  eine  Serie  von  Rönt¬ 
genbildern  von  verschiedenen  Formen  von  Spina  bifida  occulta 
und  aperta.  Er  weist  besonders  auf  die  so  häufigen  gleichzeitig 
vorhandenen  Anomalien  an  den  Wirbelkörpern  und  speziell  den 
Rippen  hin.  Da  die  letzteren  sich  unabhängig  von  der  Wirbel¬ 
säule  entwickeln,  so  ist  nicht  recht,  einzusehen,  weshalb  eine 
primäre  Störung  am  Medullarrohr  auch  zu  einer  Veränderung  des 
Rippenwachstums  führen  sollte.  Im  allgemeinen  nimmt  man  an, 
daß  die  mangelhafte  Trennung  der  Medullarplatte  von  dem  Horn¬ 
blatt  zum  Teil  auch  von  Teilen  des  mittleren  Keimblattes  das 
Primäre  bei  der  Entwicklung  der  Raehisohisisi  sei,  die  Anomalien 
der  Wirbelsäule  und  der  Rippen  aber  das  Sekundäre.  Vortr.  ist 
demgegenüber  geneigt,  beide  Vorgänge  als  koordinierte  zu  be¬ 
trachten.  Einer  der  demonstrierten  Fälle  war  deswegen  beson¬ 
ders  interessant,  weil  eine  Spina  bifida  occulta  mit  kongenitaler 
Skoliose  kombiniert  war.  Zum  Vergleich  wird  ein  Fall  einer 
kongenitalen  Skoliose  als  reine  intrauterine  Belastungsdeformität 
gezeigt. 

I mm e lm an n- Berlin :  Demonstration  von  Röntgen¬ 
bildern  aus  dem  Gebiete  der  Knochenbrüche. 

C.  H ä b e r  1  i n-Bad  Nauheim  :  Demonstration  zu r  F r a g e 
der  Ostitis  fibrosa. 

OeTecker-Hamburg :  Demonstration  von  Röntgon- 
bildern  aus  dem  Gebiete  der  Pyelographie. 

Durch  Kollargoleinspritzungen  in  das  Nierenbecken  durch 
den  Ureter  kann  man  das  ganze  Harnsystem  röntgenologisch 
darstellen.  Herr  Oelecker  hat  nun,  um  vergleichen  zu  können, 
beide  Seiten  zu  gleicher  Zeit  photographiert  und  demonstriert 
eine  größere  Anzahl  won  Röntgenbildern. 

D enck s - Rixdorf  Kinematographisc h e  D e m oust r a- 
tion  der  Hormonalwirkung. 

Physostigmin  macht  Krampf  des  Darmes,  Hormonal  gleich¬ 
mäßig  peristaltische  Bewegung. 

Dies  Experiment  wird  kinematographisch  vorgeführt. 

(Fortsetzung  folgt.) 


II.  russischer  Internistenkongreß 

djgehalten  zu  St.  Petersburg  am  19.  bis  23.  Dezember  1910  (a.  St.). 
Referent :  Dr.  Julius  Schütz-  Marienbad. 

(Fortsetzung  und  Schluß.) 

L.  E.  Golubinin  -  Moskau :  Heber  Behandlung  des 

Diabetes  mellitus. 

Bei  manchen  Fällen  von  Diabetes  ist  die  Ursache  in  einer- 
allgemeinen  Verlangsamung  der  Ernährung  zu  suchen  („ralen- 
tissement  de  nutrition“).  Die  meisten  Formen  des  Diabetes  sind 
auf  Funktionsstörung  der  Drüsen  mit  innerer  Sekretion  zurück¬ 
zuführen.  Diese  Funktionsstörung  kann  entweder  primär  sein, 
°der  durch  nervöse  Einflüsse  bedingt  sein.  Solche  Organe  sind 


vor  allem :  das  Pankreas,  die  Schilddrüse,  die  Nebenniere,  viel¬ 
leicht  auch  die  Hypophyse  und  die  Epithelkörperchen.  Bei  dem 
heutigen  Stande  unserer  Kenntnisse  läßt  sich  eine  wirklich  kausale 
Therapie  lange  nicht  in  allen  Fällen  durchführen;  doch  manch¬ 
mal  ist  dies  möglich.  Hierzu  gehören  zunächst  die  Fälle,  wo 
als  primäre  Ursache  eine  nervöse  Störung  anzusehen  ist.  Kommt 
hierbei  Lues  ätiologisch  in  Betracht,  so  kann  spezifische  Thera¬ 
pie  manchmal  von  Nutzen  sein.  Bei  Störungen  der  inneren  Sekretion 
hat  die  Organotherapie  bisher  noch  keine  greifbaren  Erfolge 
gehabt,  doch  sollte  auf  diesem  Gebiete  weiter  gearbeitet  werden. 
Wenn  die  Funktionsstörung  des  Pankreas  ihre  Ursache  in  ge¬ 
störter  Magen-Darmtätigkeit  hat,  kann  eine  rationelle  Therapie 
in  diesem  Sinne  nicht  selten  gute  Erfolge  zeitigen.  Auch  dort, 
wo  der  Diabetes  seine  Ursache  in  einer  Verringerung  der  Stoff¬ 
wechselenergie  hat,  leistet  eine  kausale,  auf  Erhöhung  der  Oxy¬ 
dationsvorgänge  gerichtete  Therapie  in  vielen  Fällen  gute  Dienste. 
Bei  Unmöglichkeit  einer  kausalen  Therapie  tritt  individualisierende 
diätetische  Behandlung  in  ihr  Recht.  Die  medikamentöse  Behand¬ 
lung  spielt  eine  nur  sekundäre  Rolle.  Eine  rationelle  Therapie 
des  Diabetes  erfordert  stete  Ueberwachung,  am  besten  in  einer 
Heilanstalt,  welche  der  Kranke  periodisch  aufsucht  und  wo  jedes¬ 
mal  das  genaue  therapeutische  Programm  ausgearbeitet  wird. 

J.  F.  0  rl  o  w  s  k  i  j  -  Kasan  :  Diagnostik  der  Pankreas¬ 
erkrankungen. 

Charakteristisch  für  Pankreastumoren  ist  der  Mangel  an 
respiratorischer  Verschieblichkeit,  ferner  die  Unverschieblichkeit 
bei  Palpation  und  Lagewechsel  des  Körpers,  tympanitischer  Schall 
bei  schwacher  Perkussion,  Verschlechterung  bis  Verschwinden 
der  Palpabilität  bei  Aufblähung  des  Magens  und  des  Darmes. 
Bei  Mangel  eines  Tumors  dienen  als  diagnostische  Anhaltspunkte: 
Druck  auf  benachbarte  Organe  (Vergrößerung  der  Gallenblase, 
Ikterus,  Neuralgia  coeliaca  etc.)  und  Funktionsprüfung.  Keine  der 
beschriebenen  Fnnktionsprüfungsmethoden  hat  absolute  Gültigkeit. 
Eine  Diagnose  läßt  sich  nur  durch  entsprechendes  Abwägen  der 
einzelnen  Symptome  gegeneinander  machen.  Wichtig  ist  die 
Feststellung  von  gestörter  Fett-  und  Eiweißverdauung,  Abwesen¬ 
heit  von  Trypsin  im  Mageninhalt  nach  Oelprobefrühstück.  Die 
meisten  anderen  Methoden  haben  einen  sehr  begrenzten  Wert. 

P.  J.  Sarnitzin  -  Kasan  :  Ueber  klinische  Bedeu¬ 
tung  der  Cammidgeschen  Pankreasreaktion. 

Die  Cammidgesche  Reaktion  wird  bei  den  meisten  Pankreas¬ 
erkrankungen  beobachtet  und  unabhängig  von  dem  Grade  der 
Affektion,  jedoch  auch  bei  anderen  Erkrankungen  und  bei  ganz 
gesunden  Leuten.  Ein  einmaliger  negativer  Ausfall  spricht  nicht 
gegen  die  Diagnose  einer  Pankreaserkrankung,  ein  mehrmaliger 
nur  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit.  Die  erhaltenen  Kristalle  sind 
chemisch  nicht  von  einheitlichem  Charakter.  Die  Abwesenheit 
der  Cammidgeschen  Reaktion  bei  karzinomatösen  Prozessen  der 
Bauchhöhle  spricht  gegen  Karzinom  des  Pankreas. 

A.  S.  Man  ui  1  o  w- Nowotscherkask  :  Diagnose  der 
primären  malignen  Pankreastumoren. 

Am  häufigsten  wild  der  Pankreaskopf  befallen.  Für  die 
klinische  Beurteilung  sind  folgende  Momente  vor  allem  wichtig : 
völlige  oder  partielle  Unterbrechung  der  externen  Sekretion  der 
Drüse,  Mitbeteiligung  anderer  Abdominalorgane  (Leber,  Darm¬ 
trakt),  hämorrhagische  Diathese,  Herzveränderungen,  Stoffwechsel¬ 
störungen,  Metastasen. 

M.  M.  Wolkow  -  St.  Petersburg :  Ein  Fall  von  Pan¬ 
kreasnekrose. 

Das  klinische  Bild  erinnerte  sehr  an  Gallensteineinklemmung. 

W.  P.  0  b  r  a  s  t  z  o  vv  -  Kiew :  Zur  Diagnose  der 
Treitzschen  Hernie. 

In  dem  vom  Vortragenden  beschriebenen  Falle  traten  die 
ersten  Symptome  nach  Heben  einer  Last  auf.  Nach  einem  Jahre 
deutliche  Geschwulst  im  Abdomen  (mannskopfgroß).  Die  Ope¬ 
ration  bestätigte  die  Diagnose.  Exitus  infolge  Perforationsperitonitis. 

W.  N.  M  i  c  h  a  i  1  o  w -Kiew  :  Zur  Frage  der  klinisch 
bestimmbaren  Symptome  von  Pankreasaffektion 
bei  verschiedenen  Lebererkrankungen. 

Mittels  des  Boldyrewschen  Fett-Frühstücks  ist  es 
möglich,  die  sekretorische  Funktion  des  Pankreas  zu  prüfen. 
Dasselbe  gibt  nur  bei  starker  Verminderung  der  äußeren  Sekretion 
des  Pankreas  klinisch  verwertbare  Anhaltspunkte.  Bei  Leberaffek¬ 
tionen  ist  das  Pankreas  meist  mitbeteiligt.  Bei  Leberzirrhosen 
pflegt  die  Pankreassekretion  infolge  indurativer  Pankreatitis  meist 
sehr  herabgesetzt  oder  ganz  aufgehoben  zu  sein.  Der  sogenannten 
katarrhalische  Ikterus  ist  manchmal  auf  katarrhalische  Pankrea¬ 
titis  zurückzuführen. 

J.  Schütz-  Marienbad :  Ueber  erhöhte  Azidität 
des  Mageninhaltes  und  ihre  diagnostische  Be¬ 
deutung. 


G54 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  18 


Vortragender  macht  neuerdings  auf  den  wichtigen  Unter¬ 
schied  zwischen  prozentualem  und  absolutem  HChGehalt  des 
Mageninhalts  aufmerksam  und  führt  aus,  daß  diese  beiden  Größen 
häutig  nicht  parallel  gehen.  Auf  Grund  angeführter  klinischer 
Daten  ergibt  sich,  daß  nur  der  absolute  HCl-Gehalt  für  die 
Entscheidung,  ob  Sekretionsstörungen  vorliegen  oder  nicht,  ma߬ 
gebend  sein  kann.  Fälle  mit  hohem  absoluten  HCl-Gehalt 
erwiesen  sich  fast  stets  als  Ulkus  oder  Ulkusnarbe. 

F.  F.  Holzinger-St.  Petersburg :  Ueber  das  zahlen¬ 
mäßig  e  Verhältnis  der  Summe  der  Erkrankungen 
der  Atmung  s-  und  Verdauungsorgane  zur  all¬ 
gemeinen  Morbidität  und  über  die  Stabilität, 
sowie  Gesetzmäßigkeit  dieses  Verhältnisses. 

Der  Koeffizient  für  die  Erkrankung  der  Atmungsorgane  in  der 
russischen,  deutschen,  österreichischen  und  preußischen  Statistik 
bleibt  konstant :  15 — 16%  der  allgemeinen  Morbidität,  der  Koeffizient 
für  die  Affektionen  der  Verdauungsorgane  beträgt  ca.  10%.  Die 
Zahlen  sind  als  Pauschalzahlen  für  die  gemischte  Bevölkerung 
jenseits  des  fünften  Lebensjahres  anzusehen. 

M.  M.  W  o  1  k  o  w  -  St.  Petersburg :  Beobachtungen  bei 
akutem  Morbus  B  r  i  g  h  t  i . 

Vortragender  sieht  den  akuten  Morbus  Brighti  für  eine 
Infektionskrankheit  an.  Dafür  spricht  unter  anderem  der  zyklische 
Verlauf  und  der  Umstand,  daß  die  Krankheit  oft  kritisch  abschließt. 

A.  0.  Ignatowskij  -  Odessa  :  Zur  Frage  der  hämo¬ 
lytischen  (acholischen)  Gelbsuchtformen. 

An  der  Hand  einer  Krankendemonstration  entwickelt  Vor¬ 
tragender  die  Pathologie  und  das  klinische  Bild  der  hämolytischen 
Gelbsucht,  welche  in  den  beiden  von  ihm  beobachteten  Fällen 
einen  benignen  Verlauf  zeigte. 

N.  J.  S  s  o  b  o  1  e  w  -  St.  Petersburg  :  Gas-  und  Wärme¬ 
wechsel  bei  Gesunden  hei  Bädern  verschiedener 
T  e  m  pe-ratu  r. 

Ein  Parallelismus  findet  nicht  statt.  Die  Kälte  verlangsamt 
die  Oxydationsprozesse. 

G.  .T.  Gurjevit  sch  -  Warschau  :  H  i  s  t  o  1  o  g  i  s  c  h  e  S  tr  uk- 
tur  der  chronisch  entzündeten  Leber. 

J.  P.  Schapowalenko-St.  Petersburg :  Ueber  nega¬ 
tiven  Druck  in  der  Brusthöhle. 

Vortragender  macht  auf  die  große  Bedeutung  des  negativen 
Druckes  in  der  Brusthöhle  für  den  Blutkreislauf  aufmerksam. 

M.  J.  Breitmann  -  St.  Petersburg :  Indikationen 
und  Kontraindikationen  desSalvarsans  bei  Herz- 
k  rankheiten. 

M.  J.  P  e  w  s  n  e  r  -  Moskau  :  Ueber  Diagnose  und 
Therapie  des  Ulcus  duodeni. 

Die  Symptomatologie  des  unkomplizierten  Ulcus  duodeni 
war  bis  jetzt  wenig  bekannt.  Bei  Fällen  von  unerklärlicher 
Schwäche,  Blässe  etc.  hei  Kindern  und  Adoleszenten  muß  an 
die  Möglichkeit  eines  Duodenalulkus  gedacht  werden.  Für  Ulcus 
duodeni  sprechen  unter  anderem :  Schmerzen  in  der  rechten 
Oberbauchgegend  2  bis  4  Stunden  nach  Aufnahme  der  Nahrung, 
unabhängig  von  der  Qualität  der  letzteren  und  unmittelbar  nach 
Aufnahme  von  Speisen  oder  Getränken  sistierend.  Charakteristisch 
ist  das  Vorhandensein  von  Hyperaziditäts  b  e  s  c  h  w  e  r  d  e  n, 
ohne  erhöhte  Azidität  des  Mageninhaltes.  Auch  bei  fortgeschrittenen 
Fällen  können  die  Schmerzen  inkonstant  sein.  Die  Schmerzen 
erinnern  ihrem  Charakter  nach  an  die  gastrischen  Krisen  und 
könnten  daher  „Crises  ulceroduodenales“  genannt  werden.  Die 
sekretorische  Funktion  des  Magens  kann  normal,  verstärkt  oder 
abgeschwächt  sein.  Den  Anfällen  können  nervöse  Störungen, 
Erkältung  oder  Ueberinüdung  vorausgehen;  bei  Frauen  treten 
die  Schmerzen  manchmal  vor  den  Menses  auf.  Die  Abwesenheit 
von  Blut  im  Stuhl  schließt  Ulcus  duodeni  nicht  aus.  Die  Therapie 
besteht  bei  Frühdiagnose  in  diätetischer  Behandlung  und  nur  bei 
komplizierten  Fällen  in  operativem  Eingriff. 

Th.  Th.  Hausmann  -  Tula  :  Ueber  Behandlungvon 
Syphilis  des  Magens  mit  „606“. 

An  der  Hand  eines  demonstrierten  Falles  entwickelt  Vor¬ 
tragender  die  Krankengeschichte  desselben.  Es  handelte  sich  um 
eine  Geschwulst  in  der  Magengegend  bei  positiver  W  a  s  s  er¬ 
mann  scher  Reaktion.  Vortragender  diagnostizierte  Lues  des 
Magens.  Durch  Salvarsanbehandlung  ließ  sich  ein  Zurückgehen 
der  Geschwulst  erzielen. 

S.  S.  S  i  mniz  k  i  j  -  Kasan  :  Zur  Frage  der  Sero¬ 
therapie  der  kruppösen  Pneumonie. 

Vortr.  sah  in  50  Fällen  gute  Erfolge  von  subkutaner  In¬ 
jektion  (10  bis  40  cm3  unter  die  Bauchhaut)  monovalenten  Serums. 
Das  Serum  war  nach  der  Methode  von  Ssawtschenko  be¬ 
reitet  worden.  Vortr.  schreibt  dem  Serum  sowohl  antitoxische 
als  auch  bakteriotrope  Eigenschaften  zu. 


A.  M.  Le  win- St.  Petersburg:  Ueber  Mo  not  her mL 
bei  kruppöser  Pneumonie. 

Während  die  Temperaturkurve  des  Gesunden  eine  physic 
logische  Hebung  und  Senkung  aufweist,  fehlt  dieses  Charakteristik^ 
bei  manchen  Leuten,  welche  eine  kruppöse  Pneumonie  übe: 
standen  haben.  Diese  „Monothermie“  beobachtete  Vortr.  voi 
120  Fällen  in  15%.  Ohne  die  Erscheinung  völlig  erklären  zu  können 
hält  er  Pneumoniepatienten,  so  lange  sie  Monothermie  zeigen 


für 


h  ä  1 
k  u 


nicht  völlig  genesen. 

A.  J.  S  te  r  n  b  e  r  g  -  St.  Petersburg:  Ueber  das  Vei 
t  n  i  s  entzündlicher  Hautbildungenzum  Tuber 
i  n. 

Wird  in  einen  dermatitisch  affizierten  Hautbezirk  Tubei 
kulin  injiziert,  so  tritt  keine  spezifische  Reaktion  auf,  währem 
sie  von  normalen  Häutbezirken  aus  prompt  ausgelöst  wird.  Is 
die  Hautaffektion  spezifischer  Natur,  so  hat  die  Reaktion  stürm! 
sehen  Charakter. 

L.  S.  Schernwal- St.  Petersburg:  Ueber  t  her  mi  sein 
Wirkung  von  Hochfrequenzströmen. 

D.  M.  Gortscherenko  -  Moskau  :  Ionoelektrischi 
Theorie  in  ihrer  medizinischen  Anwendung. 

W.  W.  G  o  m  o  1  i  t  z  k  i  j  -  St.  Petersburg  :  Ueber  den  Ei  n 
fluß  der  Körperlage  auf  die  Diurese. 

N.  W.  Georgijewskij-St,  Petersburg :  Hydro 
t  h  e  r  a  p  i  e  bei  Lungentuberkulose. 

Die  Tuberkulintherapie  befindet  sich  noch  im  Stadium  del 
Entwicklung  angesichts  des  Mangels  eines  strengen  Systems  um 
infolge  der  Vielgestaltigkeit  der  Tuberkulinpräparate. 

Die  Hydrotherapie  ist  ein  Hilfsmittel  für  den  Organisinu, 
bei  Bereitung  seiner  natürlichen  Schutzkräfte  gegen  die  zei 
störenden  Kräfte  des  Tuberkelbazillus.  Als  richtiger  Indikato 
für  das  Zerstörungswerk  seitens  der  Bazillen  dient  das  Fiebei 
dessen  Kurve  derjenigen  des  Typhus  im  amphibolen  Stadinn 
ähnelt.  Vortr.  zeigt  an  Krankengeschichten  von  ihm  beobachtete 
Fälle  die  günstige  Wirkung  allmählich  abgekühlter  Bäder  bej 
Lungentuberkulosen. 

A.  W.  R  o  s  c  h  d  e  s  t  w  e  n  s  k  i  j  -  St.  Petersburg :  Z  u 
Frage  der  Bestimmung  fest  gebundener  Kohlen 
säure  in  Flüssigkeiten. 

Demonstration  eines  Apparates  zwecks  genauer  und  gleich 
zeitig  einfacher  Bestimmung. 


Programm 

der  am 

Freitag  den  5.  Mai  1911,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Hofrat  Prof.  Dr.  S.  Exner  stattfindende 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

Priv.-Doz.  Dr.  Hans  Salzer:  Ueber  Blinddarmentzündung  beii 

Kinde. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Robert  Breuer,  K.  Uli 
mann,  A.  Kronfeld,  F.  Dimmer,  v.  Fürth. 

Um  die  rechtzeitige  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglicher 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerkunge 
dem  Schriftführer  nocli  am  Sitzungsabend  zu  übergeben. 

B  e  r  g  m  e  i  s  t  e  r,  P  a  1 1  a  u  f. 


Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien. 

Einladung  zu  der  am  9.  Mai  1911  im  Hörsaal  der  Klinik  llofra 
v.  Wagner  (Zugang  durch  die  Borschkegasse,  alte  Landesirrenanstalt 
abends  7  Uhr,  stattfmdenden  Jahresversammlung. 

1.  Administrative  Sitzung. 

2.  Demonstration:  Assistent  Dr.  Pötzl. 

3.  Vortrag  Priv.-Doz.  Dr.  A.  Fachs:  Analogien  im  KrankheitsbiU 

des  Ergotismus  und  der  Tetanie. 

Prof.  Dr.  R  a  i  m  a  n  n,  Schriftführer.  , 


Geburtshilflich-gynäkologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Dienstag  den  9.  Mai  1911,  im  Hörsaale  der 
II.  Univ. -Frauenklinik.  Beginn:  Punkt  7  Uhr  abends. 
Programm: 

1.  Diskussion  zum  Vortrage  von  H.  V.  Klein:  Die  puerperal 
und  postoperative  Thrombose  und  Embolie. 

2.  Vortrag.  Hans  Hermann  Schmid:  Appendizitis  und  Graviditäl 

K  r  0  p  h,  Schriftführer.  Wertbeim,  Vorsitzender. 


Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Knhusta.  Verlag  von  Wilhelm  Branmüller  in  Wien. 

Ihuck  ton  Hmnc  KarteJt.  Wien  XVIII.,  Theresiengaajm  !! 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 


0.  Chian,  F.  Dimmer,  V  R.  '-  Ebner.  S.  Exner.  E.  finger.  M.  Gruber,  F.  Hochstetten,  A.  Kolisko.  H.  Meyer  J  Moeller  K  ,  Noorden 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schettenfrolt.  F.  Scheute,  j.  Tandler.  0.  Tollt.  J.  ».Wagner.  E.  Werthelm 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs,  Julius  Hochenegg.  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser. 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 


Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 


Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 

XXIV.  Jahrg.  Wien,  II.  Mai  1911  nTTijT 


INHALT: 

1.  Originalartikel:  1.  Aus  der  I. Universitäts-Frauenklinik  in  Wien. 
(Vorstand:  'Hofrat  Schauta.)  Zur  Pathologie  und  Klinik  des 
malignen  Chorioepithelioms.  Yon  Priv.-Doz.  Dr.  F.  Hi  t  sch¬ 
ul  a  n  n  und  Dr.  Robert  Cristofoletti.  S.  655. 

2.  Aus  der  medizinischen  Klinik  in  Florenz.  Ueber  vertebrale  und 
linksseitige  paravertebrale  Leberdämpfung.  Von  Professor 
P.  Grocco,  Direktor  der  Klinik.  S.  667. 

3.  Aus  der  dermatologischen  Klinik  der  k.  k.  Universität  Innsbruck. 
(Vorstand:  Prof.  Merk.)  Koinzidenz  von  Herpes  zoster  und 
Psoriasis  vulgaris.  Von  Dr.  Georg  Gjorgjevic,  Assistenten 
der  Klinik.  S.  669. 

4.  Lichtschädigungen  der  Haut  und  Lichtschutzmittel.  Von  Privat¬ 
dozent  Dr.  Leopold  Freund  in  Wien.  S.  670. 

5.  Aus  der  II.  mediz.  Universitätsklinik  in  Wien.  (Vorstand: 

Hofrat  v.  Neusser.)  Zur  Technik  der  Venaepunktion  und  intra¬ 
venösen  Infusion.  Von  Dr.  Richard  Bauer,  Assistenten  der 
Klinik.  S.  673. 

11.  Referate:  Culture  in  vitro  des  cellules  cancereuses.  Par  Marie 
Bra.  Leucopathies  metastases,  albuminuries  et  icteres  leuco- 
pathiques.  Par  le  Dr.  Emile  Feuillie.  Die  bösartigen  Ge¬ 


schwülste.  Von  Prof.  Dr.  Carl  Lewin.  Recherches  experi¬ 
mentales  sur  les  tumeurs  malignes.  Par  le  docteur  Jean  Cl  u  net. 
Vorlesungen  über  Infektion  und  Immunität.  Von  Dr.  Th  Paul 
Mulle  r.  Memorias  do  Instituto  Oswaldo  Cruz.  Erkältung  als 
Krankheitsursache.  Von  Dr.  Karl  Chodounsky.  Luftzug 
atmosphärische,  klimatische  Einflüsse  und  die  Erkältung.  Von 
Dr.  B.  Ernst.  Das  Radium  in  der  Biologie  und  Medizin.  Von 
Prof.  P.  S.  London.  Hämolysine,  Zytotoxine  und  Präzipitine. 
Von  Prof.  Dr.  A.  v.  Wassermann.  Die  Immunitätswissenschaft. 
Von  Dr.  Hans  Much.  Die  experimentelle  Chemotherapie  der 
Spii illosen.  Von  Paul  Ehrlich  und  S.  Hata.  Jahresbericht 
über  die  Ergebnisse  der  Immunitätsforschung.  Von  Dr.  Wolfgang 
Weichardt.  Ueber  Anaphylaxie  (Ueberempfindlichkeit)  im 
Lichte  moderner  eiweißchemischer  Betrachtungsweisen.  Von 
Priv.-Doz.  Dr.  Wolfgang  Weichardt.  Die  übertragbare  Genick¬ 
starre.  Von  Prof.  Dr.  Otto  Busse.  Ref. :  Joannovics. 

III.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

IV.  Vermischte  Nachrichten. 

V.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Aus  der  I.  Universitäts-Frauenklinik  in  Wien. 

(Vorstand:  Hofrat  Schauta.) 

Zur  Pathologie  und  Klinik  des  malignen  Chorio¬ 
epithelioms. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  F,  Hitschmanu  und  Dr.  Robert  Cristofoletti. 

I. 

Die  Geschichte  des:  malignen  Chorioepithelioms  ist  noch 
jung,  aber  reich  an  Ueberraschungen  jeglicher  Art;  21  Jahre 
sind  es  her,  daß  Sänger  den  ersten  Fall  beschrieb  und 
als  Deziduom  deutete.  Bald  kamen  andere  Beobachtungen, 
jeder  deutete  seinen  Fäll  anders,  bis  March  and  mit 
seinen  beiden  klassischen  Arbeiten  die  feste  pathologisch- 
anatomische  Basis  schuf. 

Heute  herrscht  in  der  pathologischen  Anatomie  des 
malignen  Chorioepithelioms  unter  allen  Autoren  Einigkeit, 
alle  abweichenden  Ansichten  sind  der  herrschenden  Lehre 
Marchands  gewichen.  Im  ganzen  und  großen  haben  wir 
<“s  wenigstens  nach  der  histogenetischen  Seit©  mit  einer 
abgeschlossenen,  wohl  fundierten  Lehre  zu  tun. 

Aber  kaum  war  man  durch  die  Marchand  sehen  Ar¬ 
beiten  zu  einem  gewissen  Abschluß  gelangt,  als  neue  kli¬ 
nische  Beobachtungen  von  eminenter  Bedeutung  auf- 
auchten,  die  uns  die  größte  Ueberraschung  brachten.  Es 
'varen  dies  Fälle  von  „gutartigem  Chorioepithe- 
i  o  m. 

Bis  dahin  war  mit  der  Diagnose  des  malignen  Chorio- 
“Pithelioms  der  Inbegriff  der  Bösartigkeit  gegeben;  nun  ge¬ 
lten  alle  unsere  klinischen  Begriffe  ins  Wanken,  zumal 
s'ch,  wie  wir  gleich  vorwegnehmen  wollen,  diese  gutartigen 


I  älle  anatomisch  in  gar  nichts  von  den  bösartigen  unter¬ 
scheiden. 

Damit  verschoben  sich  aber  auch  manche  anatomi¬ 
schen  Begriffe;  zwar  blieb  die  ganze  Marc  hand  sehe 
Lehre  unberührt,  aber  die  an  und  für  sich  unsichere  ana¬ 
tomische  Fixierung  der  Malignität  wurde  noch  schwieriger 
und  entsprechend  dieser  zunehmenden  Unsicherheit  wird  die 
Definition  der  Malignität  jetzt  so  weit  gefaßt,  daß 
sie  jede  praktische  Bedeutung  verliert.  Hatte  es  früher  ge¬ 
nügt,  bei  vorangegangener  Schwangerschaft  das  Vorhanden¬ 
sein  eines  uterinen  Tumors,  der  aus  fötalen  Zellen  aufge¬ 
baut  war,  zu  konstatieren,  um  alle  Konsequenzen  auch  be¬ 
züglich  der  Prognose  daraus  abzuleiten,  so  erklärt  jetzt 
Veit,  daß  anatomisch  die  Malignität  erst  dann  mit  Sicher¬ 
heit^  gegeben  ist,  wenn  Metastasen  von  dieser  Geschwulst 
in  Feilen  bestehen,  in  die  sie  durch  den  Vorgang  der  Ver¬ 
schleppung  nicht  hineingelangen  können.  Maligne  ist  nach 
Veit  das  Chorioepitlieliom  erst  dann,  wenn  außerhalb  des 
Uterus  und  der  paravaginalen  Venen  sich  Metastasen  durch 
neues  Wachstum  des  Chorioepithelioms  bilden. 

Und  doch  ist  diese  Definition  nur  der  Ausdruck  un¬ 
serer  Verlegenheit;  sie  zeigt  nur  an,  daß  pathologische  Ana¬ 
tomie  und  klinischer  Verlauf  sich  nicht  mehr  decken.  Das 
geht  so  weit,  daß  wir  am  Krankenbette  nicht 
mehr  zu  sagen  vermögen,  ob  es  sich  um  eine 
spontane  B  ü  c  k  b  i  1  d  u  n  g  oder  um  einen  schran¬ 
kenlos  bösartigen  Verlauf  handeln  wird.  An 
diesem  Zustande  wird  au ch  in  der  Regel  durch 
die  mikroskopische  Untersuchung  des  Tu¬ 
mors  nichts  geändert,  so  d  a  ß  w  i  r  bis  jetzt  für 


WIENEU  KLINISCHE  WUCHENSCliUlET.  U)il. 


Nr.  19 


65(5 


die  Beurteilung  der  Malignität  des  Tumors  ^ 
gar  keinen  sicheren  Anhaltspunkt  besitzen. 

Dies  war  aber  nicht  immer  der  Fall.  Ursprünglich  1 
wurde  das  maligne  Chorioepitheliom  für  den  bösartigsten 
Tumor  gehalten  und  auch  heute  noch  wird  diese  Auffassung 
von  vielen,  wenn  nicht  den  meisten,  Autoren  geteilt.  Da-  ( 
mals  war  mit  der  Diagnose  auch  die  bestimmte  Prognose  | 
gegeben.  Es  ist  gar  keine  Frage,  daß  viele  Fälle  derartig  . 
stürmisch  verlaufen,  daß  sie  in  wenigen  Wochen  zum  Tode 
führen  und  daßi  Rezidiven,  resp.  Metastasen,  förmlich  unter  , 
unseren  Augen  wie  Pilze  emporschießen.  Es  prägen  sich  ; 
naturgemäß  solche  f  älle  dem  Gedächtnisse  so  fest  ein,  daß 
die  günstiger  verlaufenden  Fälle  in  der  Erinnerung  ver¬ 
blassen. 

Je  kleiner  die  Erfahrungen  der  Allgemeinheit  und  damit 
natürlich  auch  des  Einzelnen  waren,  desto  pessimistischer  ; 
lautete  das  Urteil;  leicht  begreiflich,  daß  die  Autoren  aus  ! 
früherer  Zeit  die  ungünstigsten  Prognosen  stellten. 

Die  ersten  fünf  von  |S  ä  n  g  e  r  als  Sarcoma  de- 
ciduocellulare  anerkannten  Fälle  endigten  alle  sechs  bis 
sieben  Monate  nach  dem  Abortus,  resp.  Partus  letal;  es 
waren  dies  nicht  operierte  Fälle. 

Noch  i  m  Jahre  1896  konnte  A  p  f  e  1  s  t  a  e  d  t 
schreiben,  daß  die  Therapie  gegen  diese  bösartigste 
aller  bisher  bekannten  Neubildungen  absolut  ohnmächtig  sei. 

Aber  schon  ein  Jahr  später,  1897,  berichtet 
Eiermann  über  zahlreiche  Heilerfolge. 

Polano  (1902)  nimmt  bereits  50%  Dauerheilungen  an. 

Teacher  (1903)  gibt  gar  das  Heilungsprozent  mit 
63-3%  an.  Doch  beruht  diese  Angabe  auf  einem  Irrtum. 

Diese  ungeheure  Wandlung  der  Ansichten,  von  der 
Annahme,  daß  jede  Therapie  gegen  das  maligne  Chorio¬ 
epitheliom  ohnmächtig  sei  bis  zur  Angabe  Polano  s  und 
Teachers  von  50,  resp.  63%  Dauerheilungen,  vollzieht 
sich  in  einem  Zeiträume  von  sechs  Jahren,  ein  Zeichen  der 
ungeheuren  Arbeitsleistung. 

Wenn  auch  die  Zahlen  Polano  s  nicht  auf  ihre 
Richtigkeit  geprüft  werden  können  und  die  Zahlen 
Teachers  richtiggestellt  werden  müssen,  so  ist  doch  heute 
nicht  mehr  daran  zu  .zweifeln,  daß  die  Zahl  der  operativ 
geheilten  f  älle  eine  viel  größere  ist,  als  man  anfangs  zu 
hoffen  wagte.  'Wir  kennen  auch  heute  Fälle,  die  nicht  radikal 
operiert  wurden,  wo  notgedrungen  Tumormassen  zurück¬ 
gelassen  werden  mußten  und  in  denen  dennoch  Heilung 
eintrat.  Es  sind  ferner  Fälle  aus  der  Literatur  bekannt,  in 
denen  Erscheinungen  der  Lunge,  die  nur  als  Metastasen 
gedeutet  werden  konnten,  wieder  zurückgingen. 

Aber  erst  die  letzte  Zeit  brachte  die  größte  Ueber- 
raschung.  Nicht  nur,  daß  ektopische  chorioepitheliale  Tu¬ 
moren  der  Vagina  durch  einfache  Exzision  zur  Heilung  ge¬ 
bracht  wurden,  wir  und  andere  sahen  maligne  Chorioepi- 
theliome,  selbst  solche,  die  schon  Metastasen  in  die  Vagina 
gesetzt  hatten,  sich  spontan  und  dauernd  zurück  bilden. 

Solche  Fälle  gibt  es  bereits  eine  kleine  Reihe  und 
wir  selbst  berichten  später  über  einen  solchen  genau  beob¬ 
achteten,  klassischen  fäll. 

Wir  sehen  also  im  klinischen  Bilde  die 
denkbar  größten  G e g ens ä tz e,  von  de m  stur m i- 
schesten,  bösartigsten  Verlaufe  bis  zur  spon¬ 
tane  n  und  dauernd  e  n  R  ü  c  k  b  i  1  d  u  n  g. 

Dieser  widerspruchsvolle,  ganz  unberechenbare-  Ver¬ 
lauf  stellte  uns  vor  neue  Aufgaben. 

Uns  fesselte  vor  allem  die  Frage,  warum  der  klinische 
Verlauf  speziell  der  operierten  Fälle  sich  so  verschieden 
gestaltete,  oder  mit  anderen  Worten,  was  wohl  die  Ursache 
der  besonderen  Malignität  einzelner  Fälle  ist,  nämlich  die 
Ueberseb wcmmung  des  Organismus  mit  Tumormassen  und 
wie  sic  sich  verhindern  lasse.  Auch  die  spontane  Rück¬ 
bildung  gehört  in  den  Kreis  unserer  Beobachtungen. 

Aber  allen  Fragen  geht  wohl  die  voran,  ob  ein  anatomi¬ 
scher  Unterschied  zwischen  den  gut-  und  bösartigen  Fällen 


besteht;  ihre  Entscheidung  ist  die  Voraussetzung  für  jeden 
weiteren  forts  ch  r i  1 1 . 

Bis  zu  den  Beobachtungen  von  P  i  c  k  und  Schlagen 
häuf  er  war  die  Malignität  der  chorioepitlielialen  Tumorei 
überhaupt  nicht  fraglich  gewesen,  hier  lernen  wir  zum  erstei 
Male  „gutartige  Fälle“  kennen. 

Beide  Beobachtungen  haben  sehr  viel  Aehnlichkeit 
in  beiden  Fällen  handelt  es  sich  um  vaginale  Tumoren 
der  Uterus  im  f  alle  Pick  enthielt  eine  Blasenmole,  im  Fall» 
Schlagenhau fe'r  war  ein  Abortus  vorangegangen,  abe 
in  beiden  Fällen  war  der  Uterus  frei  von  Tumor ;  die  Kranket 
blieben  nach  Entfernung  des  vaginalen  Tumors  vollkommei 
gesund.  Aber  die  Deutung,  die  beide  Fälle  finden,  ist  ein» 
ganz  verschiedene. 

Pick  will  den  vaginalen  Tumor  trotz  seiner  histo 
logischen  Identität  mit  einem  typischen  Chorioepilhclion 
gar  nicht  als  ein  solches  anerkennen;  er  hält  den  vaginalei 
Tumor  für  die  Metastase  einer  gutartigen  Blasenmol»' 
Keineswegs  sei  etwa  die  Bildung  von  Metastasen  in  Forn 
von  Zottenverschleppung  von  der  Plazenta-  oder  Blasenmol 
aus  ein  Zeichen  der  Malignität. 

Maßgebend  für  diese  Deutung  Picks  war  de 
Umstand,  daß  die  Frau  nach  Entfernung  des  vaginale« 
Tumors  gesund  blieb,  was  vollständig  unvereinbar  mi 
der  bekannten  Bösartigkeit  des  Chorioepithelioms  war  um 
I  dann  der  Umstand,  daßi  die  in  situ  befindliche  ßlasenmol 
|  kein  Zeichen  einer  Tumorbildung  aufwies. 

Heute  müssen  wir  den  Fall  Picks  als  typisches  vag 
i  nales  Chorioepitheliom  ansehen:  daß  die  Blasenmole  kein»' 
Tumor  im  Uterus  bildete,  daß  insbesonders  die  Frau  g» 

:  sundete,  ist  heute  mit  dem  Wesen  des  malignen  Chord 
'  epithelioms  nicht  mehr  unvereinbar. 

Anders  Schlagenhaufer;  er  erkennt  seinen  Fa ; 
j  als  Chorioepitheliom  an.  Aber  auch  dieser  Fall  war  durc 
einfache  Exzision  m  Heilung  übergegangen! 

Da  dies  einerseits  im  Gegensätze  zu  der  allgemeine 
Anschauung  über  die  Bösartigkeit  dieses  Tumors  stanc 
anderseits  histologische  Differenzen,  wie  Schlagei 
häuf  er  sofort,  klaren  Auges  erkannte,  gegenüber  den  typ 
scheu  Tumoren  nicht  bestanden,  s  o  g  e  1  a  n  g  t  e  S  c  h  1  a  g  e  i 
h  a  u  f  e  r  d  a  hin,  zwei  klinische  Formen  diese 
G  eschwuls  t  arizune h m e n.  Die  ein e,  u n g e in e i 
bösartig,  überschwemmt  rasch  den  0  r  g  a  n  i  ;i 
in  us  mit  Geschwulstkeime  n. 

Die  zweite  For m  is  t  von  Haus  aus  benign 
u  n d  w i r  d  durch  Schlag enhaufers  B  e  o  b  a  c  1 
t  u  n  g  repräsentiert. 

Also  bei  gleichem  histologischen  Bau 
eine  benigne  und  eine  maligne  Form  des  0  h » 
rioepithelioms. 

Eine  andere  Erklärung  für  die  „Benignität“  ga 
Schmit  an  der  Hand  einer  Beobachtung  aus  der  Klixii 
Schauta.  Hier  handelte  es  sich  um  einen  primären  v 
ginalen  Tumor,  dessen  Trägerin  durch  Exzision  des  Tumoi 
gesundete.  Es  war  ein  typisches  malignes  Chorioepitheliouj 

Er  zeigte,  daß  der  günstige  klinische  Verlauf,  d»| 
Sch  läge  n  häuf  er  zu  der  Annahme  eines  benignen  Chj 
rioepithelioms  geführt  hatle,  darin  seine  Erklärung  finde,  da 
'  der  vaginale  Tumor  zum  großen  Teile  aus  Koagulis  bc[ 
!  stehe,  die  »leu  eigentlichen  winzigen  Tumor  einschließej 
umwallen.  Dadurch  werde  der  eigentliche  Tumor  nicht,  m 
von  der  gesunden  Umgebung  abgegrenzt,  sondern  dun 
seine  Lage  und  die  Blutungen  zu  einer  sehr  frühen  Z» 
diagnostiziert,  und  damit  Gelegenheit  zu  einer  radikal» 
Heilung  geboten.  Risl  widerspricht  dieser  Erklärung  dur» 
Umwallung,  macht  aber  die  anderen  Argumente  Schaut, 

[  S  c  h  m  i  t  s  zu  seinen  eigenen. 

Schon  die  nächsten  Beobachtungen  (S  cbm  or 
Hübel,  Peters,  Lindfors  u.  a.)  zeigten,  daß  die  p» 
mären,  vaginalen  Tumoren  den  uterinen  an  Bösarligk» 

;  nicht  nachstelien,  wenn  die  oben  geschilderten  Zustänc 
!  nicht  zutreffen. 


Nr.  i'J 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1U11 


Aber  die  Frage,  ob  die  Gut-  oder  Bösartigkeit  der 
Fälle  auf  anatomische  Unterschiede  zurückzuführen  ist,  ver¬ 
schwindet  nicht  mehr  von  der  Tagesordnung  und  es  wird 
die  Diskussion  darüber  bis  zur  Stunde  weitergeführt.  Ge¬ 
rade  in  der  letzten  Zeit  hat  diese  Frage,  als  wir  spontane 
Heilungen  von  malignem  Chorioepitheliom  kennen  lernten, 
an  Wichtigkeit  noch  gewonnen. 

Wir  lassen  die  Ansichten  der  bedeutendsten  Autoren 
über  diese  Frage  hier  kurz  folgen. 

Schlagenhauf  er  hatte  schon  in  seiner  ersten  Pu¬ 
blikation  erklärt,  daß  anatomische  Unterschiede  zwischen 
gutartigen  und  bösartigen  Formen  nicht  vorhanden  sind. 
Ebenso  Marc  hand  und  Aschoff. 

Im  selben  Sinne,  nur  noch  entschiedener,  äußert  sich 
Hi s  1.  „Was  die  Beurteilung  der  Malignität  der  ehorioepithe- 
lialen  Wucherungen  in  den  anscheinend  primären  Scheiden- 
tumoren  sowohl,  wie  im  Uterus  anlangt,  so  müssen  wir 
daran  festhalten  (was  übrigens  Aschoff  neuerdings  noch¬ 
mals  besonders  hervorgehoben  hat),  daß,  histologisch  ein 
Unterschied  zwischen  gutartiger  und  bösartiger  Wucherung 
nicht  besteht. 

Der  Charakter  des  Tumors  wird  sich  nur  unter  genauer 
Berücksichtigung  aller  Nebenumstände  des  einzelnen  F  alles 
beurteilen  lassen;  für  eine  sichere  Entscheidung  könne  nur 
ler  weitere  Verlauf  maßgebend  sein.“ 

Sehr  interessant  sind  die  Auseinandersetzungen  Za- 
rorianski-Kissels,  auf  die  wir  später  noch  zurück- 
(ommen  werden. 

Mit  Bezug  auf  die  uns  interessierende  Frage  erklärt 
£agorianski-Kissel,  daß  eine  rein  histologische  Dia- 
mose  der  „unbedingten“  Bösartigkeit  im  nämlichen  Sinne 
vic  beim  Karzinom  an  chorioepithelialen  Produkten,  gleich¬ 
gültig  welcher  Lokalisation,  nicht  zu  erheben  ist.  Zweitens, 
laß  die  exakte  Diagnose  „bösartiges  Chorioepitheliom“  für 
■ine  Geschwulst  dieser  Art  weder  auf  Grund  der  Bildung 
on  Metastasen,  noch  der  Destruktion  seitens  ehorialer  Ge- 
vebewucherung,  sondern  allein  nach  beendetem  Ablauf  des 
alles  gestellt  werden  kann. 

Eine  andere  Stellung  nimmt  v.  Franque  ein.  Er 
»eschreibt  Fälle  von  malignem  Chorioepitheliom,  die  nach 
weifacher  Ausschabung,  nach  Ausräumung  und  Aetzung, 
usheilten,  sich  coupieren  ließen,  v.  F  r  a  n  q  u  e  hält  diese 
alle  für  wirkliche  Chorioepitheliome.  Er  betont,  daß  es 
ich  in  diesen,  wie  in  den  meisten  zweifelhaften  Fällen  um 
as  Bild  eines  atypischen  Chorioepithelioms  handelt, 
r  bringt  damit  die  typischen  Fälle  in  Gegensatz  zu  den 
typischen,  als  ob  damit  klinisch  verwertbare  Unterschiede 
ogeben  wären.  Hörmann  lehnt  diese  Auffassung  ab  und 
ir  können  uns'  damit  nur  einverstanden  erklären.  Aber 
rhon  March  and  hat  erklärt,  daß,  typische  und  atypische 
ormen  von  gleicher  oder  annähernd  gleicher  Malignität  zu 
ein  scheinen. 

Die  eben  zitierten  Anschauungen  beziehen  sich  auf 
relativ  benigne“  Fälle,  wo  durch  einfache  Exzision  Heilung 
i zielt  wurde,  wo  unvollständig  operierte  Fälle  gesundeten 
nä  Metastasen  zurückgingen. 

Als  dann  später  spontane  dauernde  ltückbildungen 
es  malignen  Chorioepithelioms  bekannt  wurden,  war  na 
1  rgemäß  wieder  der  erste  Gedanke,  Stru kturu n terschied e 
i  suchen, 

'Hörmann,  einer  der  ersten  Autoren,  die  über  spön¬ 
ne  Rückbildung  berichten,  ist  der  Ueberzeugung,  daß  der 
egrifl  der  absoluten  Malignität  für  das  Chorioepilhelioiu 
icht  existiere,  wie  für  das  Sarkom  und  Karzinom  und  daß 
u  kein  einziges  sicheres  histologisches  Kriterium  hiefür 
filzen.  Hör  mann  schließt  sich  der  Ansicht  der  bereits 
Werten  Autoren,  speziell  Zagorianski-Kissel,  an. 

Auch  Albrecht  ist  der  Ueberzeugung,  daß  eine  histo- 
gische  Differenzierung  zwischen  dem  benignen  und  ma- 
aa'u  Chorioepitheliom  nicht  möglich  ist. 

Nur  v.  Velits  glaubte  anatomische  Unterschiede  ge- 
n|len  zu  haben:  „Das  mikroskopische  Bild  der  Spontan 
“ilung  offenbart  sich  in  der  sich  herabsetzenden  Vilaliläl 


057 


der  Langhanszellen  und  in  dem  mit  dem  Schwunde  derselben 
in  gerader  Proportion  stehenden  Auftreten  der  die  Auf¬ 
lösung  des  Synzytiums  anzeigenden  Wanderzellen,  welche 
die  Degenerationsprodukte  des  in  Zerfall  begriffenen  Chorio¬ 
epithelioms,  sowie  der  Blasenmole  sind.“ 

Doch  fand  v.  Velits  keine  Anhänger  für  seine  An¬ 
sichten;  Hörmann  weist  sie  ausdrücklich  zurück. 

Auch  alle  anderen  Autoren,  die  über  relativ  gutartige 
Fälle,  über  spontane  Rückbildung  des  Tumors  berichten, 
kennen  keinen  anatomischen  Unterschied  zwischen  gut-  und 
bösartigen  Fallen. 

Dasselbe  gilt  für  unsere  eigene  Beobach¬ 
tung,  eine  spontane  Rückbildung  eines  m a  1  i- 
g n e n  Chorioepithelio m s. 

Wir  hatten  zum  vergleichenden  Studium  das  große 
und  vielseitige  Material  der  Klinik  Schauta  herangezogen. 

Auf  der  einen  Seite  stand  uns  der  eben  erwähnte  Fall 
mit  spontaner  Ausheilung  und  Fälle,  die  durch  die  Opera¬ 
tion  geheilt  wurden,  zur  Verfügung;  auf  der  anderen  Seite 
Fälle  vom  bösartigsten  Typus  und  auch  solche, 'die  spontan, 
ohne  Operation  zugrunde  gingen,  kurz,  ein  umfassendes 
Material,  das  uns  erlaubte,  alle  strittigen  Fragen  zu  be¬ 
rühren. 

Für  wichtig  halten  wir  es,  zu  erwähnen,  daß  wir  nicht 
nur  die  Falle  mit  verschiedenem  klinischen  Ausgang  mit¬ 
einander  verglichen,  sondern  auch  mit  Nachdruck  das  phy¬ 
siologisch  fötale  Gewebe,  den  Trophoblast,  heranzogen. 

Die  histologische  Beschreibung  findet  sich  bei  den 
einzelnen  Beobachtungen.  Flier  wollen  wir  nur  erklären, 
daß  auch  wir  anatomische  Unterschiede  zwischen  gut-  und 
bösartigen  Fällen  zu  konstatieren  nicht  in  der  Lage  waren. 

Daß  es  bei  dem  Mangel  einer  anatomischen  Aufklärung 
an  anderen  Versuchen  nicht  gemangelt  hat,  braucht  kaum 
erwähnt  zu  werden;  aber  alle  Erklärungen  sind  hypotheti¬ 
scher  Natur,  ohne  Nutzanwendung  für  den  konkreten  Fall. 

Schon  Schlage nhaufer  hatte  sich  vorgestellt,  daß 
die  Zeit,  in  welcher  die  Verschleppung  von  Geschwulst¬ 
keimen  erfolge,  von  großer  Bedeutung  ist.  Er  nimmt  an, 
daß  einerseits  der  mütterliche  Organismus  mil  der  Zeit  eine 
Art  Angewöhnung  an  die  Schwangerschaftsprodukte  zeige, 
anderseits  die  fötalen  Zellen  nach  einer  gewissen  Zeit  in 
ihrer  vitalen  Energie  erlahmen.  Wenn  nun  die  Verschlep¬ 
pung  der  Geschwulstkeime  zu  einer  Zeit  erfolge,  wo  das 
eine  oder  andere  Moment  zutrifft,  so  gelangen  die  ver¬ 
schleppten  Elemente  eben  nicht  zur  Entwicklung,  das  Ent¬ 
stehen  der  Metastasen  wird  vermieden. 

Sehr  interessant  sind  die  Vorstellungen,  die  Zago¬ 
rianski-Kissel  in  seiner  bereits  erwähnten  Arbeit  ent¬ 
wickelt.  Er  geht  von  der  Voraussetzung  aus,  daß  die  Ele¬ 
mente  des  Chorioepithelioms  gegenüber  den  Eigenschaften 
des  normalen  Chorioepithels  ausschließlich  quantitative 
Differenzen  zeigen.  Für  die  bösartigen  Eigenschaften  des 
Chorioepithels 'komme  weniger  ein  veränderter  Zellcharakter 
oder  die  Neuerwerbung  besonderer  Eigenschaften,  als  viel¬ 
mehr  eine  Veränderung  der  geweblichen  Umgebung,  ein 
Fortfall  sonst  vorhandener  Schranken  in  Betracht. 

F  ürs_Gewöhnliche  habe  das  Körpergewebe  die  Eigen¬ 
schaft,  die  über  eine  gewisse  Schranke  vordringenden  Io  der 
embolisierten  Epithelien  aufzulösen  oder  unschädlich  zu 
machen. 

Komme  es  nun  für  die  Möglichkeit  einer  exzessiv  de- 
struktierenden  Wucherung  des  Chorioepithels  auf  die  ge¬ 
schädigte  oder  verloren  gegangene  Widerstandsfähigkeit  der 
l ;  tngebung  an,  so  sei  es  klar,  daß  in  dem  Momente,  (wo 
diese  sich  wieder  herstellt,  auch  der  chorialen  EpitheL 
wucherung  ein  Ziel  gesetzt  wird,  das  Chorioepithel  im 
Wachstum  stille  steht  und  nunmehr  der  Auflösung,  der 
spontanen  Rückbildung  verfällt,  zumal  wenn  durch  reich¬ 
liche  Extravasate  der  eingeschlossenen  Zellen  das  Nähr¬ 
material  mehr  oder  weniger  abgeschlossen  ist. 

Schmauch,  Sch  olten-Veit,  führten  diese  Ge¬ 
danken,  die  die  Annahme  von  Synzyliolysinen  nahe  legten, 


658 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911.  Nr.  19 


näher  aus;  doch  sind  wir  bis  heute  über  Hypothesen  nicht 
hinausgekommen. 

*  1  ; 

Histologische  Unterschiede  sind  aber 
a  u  c  h  nach  unserer  Ueberzeugung  ganz  u  n- 
wahrscheinlich. 

Es  wird  die  Tatsache,  daß  wir  zwischen 
d  e  m  physiol  ogischeüfö  tale  n  Gewebe  und  dem 
pathologischen  keinen  sicheren  morpholo¬ 
gischen  und  biologischen  Unterschied  kennen, 
viel  zu  wenig  betont  und  gewürdigt. 

Je  intensiver  man  sich  speziell  mit  den 
jüngsten  Stadien  der  P 1  a  z  e  n  t  a  t  i  o  n  b  e  s  c  h  ä  i- 
I  i  g  t  hat  und  dann  das  Chorioepitheliom  zum 
Vergleiche  h  e  r  a  n  z  i  e  h  t,  um  so  mehr  wird  man 

von  derRichtigkeitdes  Satzes  durchdrungen, 

daß  es  zwischen  Tro  p  h  o  b  1  a  s  t  u  n  d  m  a  1  i  g  n  e  m 
Chorioepitheliom  keinen  wesentlichen  Unter¬ 
schied  gibt.  Allerdings  ältere  Stadien  der  Plazenta  darf 
man  zum  Vergleich  nicht  heranziehen. 

Wie  sollen  wir  da  Differenzen  im  Baue 
der  gut-  und  bösartigen  fötalen  Tumoren  er¬ 
wart  e n,  w  o  w i  r  d o  c h  e i  n e n  p  r i  n z i  p i  e  1 1  e n U  n  ter¬ 
se  h  i  e  d  zwischen  dem  Trophoblast  u  n  d  d  e  m 
malignen  Chorioepitheliom  nicht  kennen,  viel¬ 
mehr  alle  diese  fötalen  Zellen  ohne  einen 
durchgreifenden  Unterschied  dastehen! 

Und  in  biologischer  Beziehung?  Auch  kein  Unter¬ 
schied.  ■. 

Denn  alle  Eigentümlichkeiten  der  Tumorzellen  finden 
wir  bereits  als  integrierenden  Funktionszusiand  im  Tropho¬ 
blast.  Die  enorme  Wachstumsfähigkeit  der  fö¬ 
talen  Zellen,  die  Zerstörung  des  mütterlichen  Gewebes 
zum  Zwecke  des  Einbruches  in  die  mütterlichen  Gefäße, 
finden  wir  hier  wie  dort,  nur  daß  wir  bei  dem  physiologi¬ 
schen  Gewebe  eine  lokale  und  zeitliche  Begrenzung  haben. 
Aber  das  Verhalten  der  fötalen  Zellen  zum 
mütterlichen  Gewebe  selbst  ist  immer  das¬ 
selbe.  _  • 

Die  wichtigste  Funktion  des  Trophoblastes  ist  die  D  e- 
struktion  des  mütterlichen  Gewebes,  speziell  die  Aro- 
sion  der  Gefäße.  Das  Verhalten  des  Trophoblastes  zu  den 
mütterlichen  Gefäßen  ist  ein  geradezu  elektives  zu  nennen. 
Es  werden  an  der  normalen  Nidationsstelle  Kapillaren  in 
der  Tube,  sogar  auch  Venen,  eröffnet.  Dadurch  kommt 
das  junge  Eichen  erst  in  Verbindung  mit  dem  mütter¬ 
lichen  Blute,  der  interviliöse  Kreislauf  wird  gebildet,  die 
Ernährung  des  Eichens  ist  gesichert.  Das  ganze  Eichen 
sitzt  in  den  mütterlichen  Gefäßen  und  wird  vom  mütter¬ 
lichen  Blute  umspült. 

Dasselbe  konstatieren  wir  beim  Chorioepitheliom,  wir 
finden  dieselbe  Destruktionsfähigkeit,  dasselbe  elektive  Ver¬ 
halten  der  Zellen  zum  mütterlichen  Blute,  daher  auch  die 
Ausbreitung  fast  ausschließlich  auf  dem  Wege  der  Blut¬ 
bahn.  Beide  haben  kein  Stützgewebe,  keine  eigenen  Ge¬ 
fäße,  beide  sind  in  ihrer  Ernährung  auf  das  zirkulierende 
mütterliche  Blut  angewiesen.  Beide  Zellarten  sind  labil. 

Auch  M  archand,  Langhans,  Durante  weisen 
auf  die  iknalogie  zwischen  den  Bildern  des  Chorioepithe- 
lioms  und  des  ersten  Entwicklungsstadiums  der  Plazenta  hin. 
Zagorianski-Kissel  und  R i  s  1  führen  dies  näher  aus. 

Zwar  werden  von  mancher  Seite  Unterschiede  an¬ 
gegeben,  so  Kerndegeneration,  Veränderungen  im  Synzy- 
tium  und  andere,  sie  sind  aber  nicht  mit  Sicherheit  verwert¬ 
bar.  Sie  sind  von  verschiedenen  Momenten  abhängig  und 
kommen  ebenso  oft  bei  Neubildungen  wie  ohne  diese  vor. 

DiefötalenZellendesTrophoblastessind 
also  morphologisch  und  biologisch  mit  den 
Zellen  des  malignen  Chorioepithelioms  iden¬ 
tisch! 

D e m nach  ist  auch  aus  der  Des  tru  k- 
t  i  o  n  des  mütterlichen  Gewebes  f  ü  r  d  i  e  Dia¬ 
gnose  des  Chorioepithelioms  kein  sicherer 

/ 


Schluß  zu  ziehen,  weil,  wie  wir  schon  beton1 
haben,  Destruktion  des  mütterlichen  Gew< 
bes  die  wichtigste  Funktion  des  TrophobUj 
s  t  e  s  ist. 

Damit  wird  einerseits  zur  Genüge  dargetan,  daß  w 
anatomische  Unterschiede  im  Baue  dieser  Tumoren  bei  k! 
nisch  ganz  differentem  Verlaufe  nicht  zu  erwarten  habei 
andrerseits  wird  damit  die  Schwierigkeit  enthüllt,  die  si< 
der  mikroskopischen  Diagnose  entgegenstellen  kann. 

Seil  March  and  wissen  wir,  daß  die  Blasenmo 
mit  einer  ganz  bedeutenden  Infiltration  der  Dezidua  in 
fötalen  Zellen  bis  an  die  Muskulatur  gewöhnlich  einhe 
geht  und  daß  die  Infiltration  längere  Zeit,  )  bis  secl 
Wochen,  bestehen  kann.  Auch  bei  Abortus  bleibt 
größere  oder  kleinere  Mengen  von  Trophoblast  einige  Zc 
im  Uterus  zurück;  in  erhöhtem  Maße  kann  dies  bei  d 
Hyperplasie  und  Persistenz  des  Trophoblastes  geschehe 
einem  wichtigen  Zustande  des  Trophoblastes,  den  wir  glei<; 
beschreiben  werden.  Kurz,  wir  wissen,  daß  einige  Ze 
nach  Ausstoßung  des  Schwangerschaftsproduktes  ein  v< 
schieden  großer  Reichtum  an  fötalen  Zellen  in  der  Schlei; 
haut  und  den  oberflächlichen  Schichten  der  Muskulat 
nachweisbar  ist.  Aber  gerade  in  diese  Zeit  fällt  in  ein 
bedeutenden  Zahl  von  Fällen  der  Beginn  der  Erkrankui 

Wenige  Wochen  nach  der  Geburt  einer  ‘  Blasenmc 
treten  zum  Beispiel  Blutungen  auf,  die  den  Verdacht  a| 
ein  malignes  Chorioepitheliom  lenken.  Die  mikroskopisch 
Untersuchung  soll  die  Diagnose  sicherstellen  u.  zw.  si 
wir  in  den  meisten  Fällen  gezwungen,  auf  Grund  von  At 
schabungen  unser  Urteil  zu  bilden. 

Häufig  liegt  nur  Schleimhaut  zur  Untersuchung  v 
wenn  nicht  ein  Tumor  vorhanden  war  und  nur  in  selten 
Fällen  werden  die  so  wichtigen  tieferen  Partien,  die  Mi 
kulatur,  mit  herausbefördert,  gewiß  auch  ein  die  Diagni 
erschwerendes  Moment.  j? 

Und  als  ob  noch  nicht  genug  Schwierigkeiten  in  t 
mikroskopischen  Diagnose  vorhanden  wären,  müssen  \ 
jetzt  auch  noch  mit  den  Fällen  von  Litt  au  er,  Al 
feld,  v.  Franque  usw.  rechnen,  in  denen  klinisch  u 
mikroskopisch  wohl  begründeter  Verdacht  auf  ein  maligr 
Chorioepitheliom  vorlag  und  bei  denen  eine  spätere  Unt 
suchung  oder  Operation  normale  Verhältnisse  im  Uten 
ergab. 

Wir  können  in  diesen  Fällen,  auf  die  wir  noch  spä 
zurückkommen  werden,  nicht  mit  Sicherheit  entscheid 
ob  wirklich  ein  malignes  Chorioepitheliom  vorlag  oder  nie 
wenn  ja,  ob  es  spontan  oder  infolge  Kürettage  aushei 

Leider  sind  wir  nicht  einmal  in  der  Lage,  aus  sold 
Fällen  viel  zu  lernen,  weil  die  klärende  Entscheidung  fe 
und  scheinbar  ganz  ähnliche  Fälle  einen  ganz  verscl 
denen  Ausgang  nehmen,  wie  die  Beobachtungen  v 
Blum  r  e  i  c  h  und  K 1  i  e  n  beweisen. 

Es  vereinigen  sich  tatsächlich  zahlreiche  Momert 
welche  die  Unsicherheit  in  der  mikroskopischen  Diagnci 
speziell  der  Ausschabung,  begründen. 

Es  liegen,  twie  aus  unseren  Untersuchungen  hervorge 
ganz  spezielle  Verhältnisse  beim  malignen  Chorioepitheli 
vor,  die  es  dringend  erheischen,  schon  bei  der  ersten  A- 
schabung  mit  tunlichster  Sicherheit  die  Diagnose  zu  stell 
Der  rasche  Verlauf  der  Krankheit  läßt  aber  ein  langes 
warten  nicht  zu,  jeder  Tag  des  Zuwartens  erhöht  die  Geh 
daß  Metastasen  sich  bilden.  Und  dann  stellt  der  Eing 
der  Kürettage  selbst,  den  bisher  wir  alle  für  einen  ha| 
losen  hielten,  bei  bestehendem  Chorioepitheliom  eine  a  - 
gesprochene  Gefahr  dar,  so  daß  eine  zweite  AJj 
schabung  wohl  die  Diagnose  sicherstellt,  aber  eventuell  ■' 
Chancen  der  Operation  vernichtet. 

Die  Schwierigkeiten  zeigen  sich  praktisch  darin,  >- 
bei  vorhandenem  klinischen  Verdachte  auf  den  inikrofcj< 
pischen  Befund  hin  Frauen  operiert  wurden  und  der 
stirpierte  Uterus  sich  als  gesund  erwies  (v.  franq1 
Graefe).  Im  letzteren  .Falle  sprach  sich  Risl,  ein  kon ■ 
tenter  Beurteiler,  auf  Grund  des  mikroskopischen  Befun 


Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


659 


auf  das  bestimmteste  für  ein  Chorioepitheliom  aus  —  und 
der  daraufhin  exstirpierte  Uterus  zeigte  keinerlei  patholo¬ 
gische  Veränderung.  Das  sind  publizierte  Fälle;  wie  vied 
falle  dieser  Art  nicht  veröffentlicht  wurden,  läßt  sich  gar 
nicht  sagen.  Auf  der  anderen  Seite  sind  die  Fälle  gar 
nicht  so  spärlich,  in  denen  die  Untersuchung  der  Ausscha¬ 
bung  kein  genügend  scharfes  Bild  ergab  und  eine  zweite 
spätere  Ausschabung  notwendig  machte.  Die  Diagnose 
wurde  jetzt  sichergestellt,  aber  es  war  schon  zu  spät,  Meta¬ 
stasen  waren  bereits  vorhanden  (A  u  s  t  e  r  1  i  t  z,  Buss  e, 
Freu  nd). 

Die  Schwierigkeiten  der  mikroskopischen  Diagnose, 
besonders  aus  ausgeschabtem  Materiale,  wurden  bald  an¬ 
erkannt  und  namhafte  Autoren  schenkten  dieser  Frage  ihr 
Interesse.  Hier  feind  vor  allein  Rüge,  Pick,  Asc h o f  j f  und 
Krukenbe-rg  zu  nennen. 

v.  Franque  hat  zwei  hieher  gehörende  Fälle  mit¬ 
geteilt;  den  einen  Fall  haben  wir  schon  erwähnt,  in  dem 
klinische  und  mikroskopische  Diagnose  zur  Operation 
drängten  und  der  exstirpierte  Uterus  sich  dann  als  gesund 
erwies.  Auch  im  zweiten  Falle  bestand  klinisch  und  mikro¬ 
skopisch  Verdacht  auf  ein  Chorioepitheliom;  allein  eine 
zweite  spätere  Ausschabung  zeigte  normale  Schleimhau  t- 
irerhältnisse.  v.  Franque  betont,  daßi  der  von  verschie¬ 
den.  Autoren  geforderte  Nachweis  des  Eindringens  von 
ötalen  Elementen  in  die  Muskulatur  nichts  beweise  und 
sagt:  Fördert  die  Kürette  längere  Zeit  nach  der  Entbindung 
loschwulstmassen  von  typischem  Baue  und  nur  solche 
uitage,  so  wird  man  an  der  Diagnose  nicht  zu  zweifeln 
»rauchen.  Finden  sich  dagegen,  namentlich  kurze  Zeit  nach 
ler  Ausstoßung  des  Schwangerschaftsproduktes,  noch  Zotten 
ind  Deziduareste  mit  nur  einzelnen  gewucherten  Partien 
los  Chorioepithelioms  oder  ganz  atypische  Bilder,  wie  die 
»ben  geschilderten,  so  muß  man  die  Diagnose  in  suspenso 
assen  und  nach  einiger  Zeit  die  Ausschabung  wiederholen, 
or  allem  aber  ist,  wie  Aschoff  betont,  in  verzweifelten 
allen  die  _  klinische  Beobachtung  zu  Hilfe  zu  ziehen. 

Sehr  interessant  und  lehrreich  ist  die  Diskussion  in 
er  Leipziger  .gynäkologischen  Gesellschaft,  die  sich  an 
en  Vortrag  L  i  1 1  a  u  e  r  s  anschloß. 

Li 1 1 a u er  hatte  einen  Fall  vorgestellt,  der  klinisch 
ad  mikroskopisch  für  ein  malignes  Chorioepitheliom  nach 
'lasenmole  sehr  verdächtig  war,  es  hatte  schon  ein  Tumor 
estanden  und  die  Uteruswand  war  tief  zerstört.  Auf  AI  a  r- 
liands  Rat,  der  es  bei  der  anscheinend  noch  sehr  be- 
sh rankten  Verbreitung  des  Prozesses  für  möglich  hielt, 
aß  derselbe  nach  der  gründlich  ausgeführten  Ausschabung 
um  Stillstand  kommen  könne,  wurde  von  der  Totalexstir- 
alion  abgesehen  (und  das  weitere  abgewartet.  Die:  Blutungen 
Orten  nach  (der  Ausschabung  auf.  Später  trat  ein  schmutzig- 
rauner  Ausfluß  auf,  es-  wurde  eine  zweite  Ausschabung 
'((’genommen,  die  durchaus  normale  Verhältnisse  ergab! 

R  i  s  1  vertrat  in  der  Diskussion  seine  bereits  zitierte 
asicht,  daß  histologisch  ein  Unterschied  zwischen  gül¬ 
tiger  und  bösartiger  Wucherung  des  Epithelüberzuges  der 
horionzotten  nicht  bestehe.  Von  der  Epithelwucherung, 

|(J  man  sie  in  der  gewöhnlichen  Blasenmole  finde,  zu 
men  malignen  Charakters,  seien  die  Uebergänge  so 
(eßend,  daß;  man  aus  dem  mikroskopischen  Bilde  der  Epi- 
U proliferation  ,an  solchen  ausgeschabten  Chorion- 
hen  allein  die  Diagnose  nicht  stellen  könne. 

Bei  der  Entscheidung,  ob  im  einzelnen  Falle  eine 
■digno  Wucherung  bestehe,  müsse  neben  dem  mikrosko- 
schen  Befund  das  klinische  Verhalten,  vor  allem  der  ina- 
utopische  Befund  berücksichtigt  werden. 

Demgegenüber  betont  Menge,  daß  nach  Risls  An f- 
ssung  eine  Indikation  für  die  Operation  überhaupt  nicht 
äglich  sei,  denn  auch  die  klinischen  Erscheinungen  seien 
wh  dem  Falle  Littauers  nicht  mehr  maßgebend.  (M  enge 
özisiert  seinen  ^Standpunkt  dahin,  daß  er  sich  hüten  würde, 
ll,,n  Lterus  zurückzulassen,  aus  welchem  Finger  oder  Kü- 
te  na,,h  vorausgegangener  Blasenmole  zusammen- 
mgende  Epithelkomplexe  von  durcheinander  gewucherten 


synzytialen  und  ektodermalen  Zellen  herausbefördert  hätte, 
besonders  wenn  die  Austastung  des  Uterus  nach  Ausstoßung 
der  Blasenmole  eine  leere  Höhle  und  späterhin  neuge¬ 
wucherte  Massen  oder  gar  eine  knotige  Verdickung  der 
Wand  ergeben  hätte. 

Rob.  Meyer  faßt  seine  Erfahrungen,  insbesondere 
mit  Rücksicht  auf  die  choriale  Invasion  in  folgendem  zu¬ 
sammen  : 

„So  lange  Plazentarreste  vorhanden  sind,  genügt  der 
Nachweis  hämorrhagischen  und  nekrotischen  Gewebes,  klein¬ 
zellige  Infiltration,  Langhanszellen  innerhalb  der  Schleim¬ 
haut  keineswegs,  weil  diese  im  Bilde  der  Plazentarretention 
ebenfalls  Vorkommen.  Viel  schwerwiegender  ist  der  gleiche 
Befund  innerhalb  der  Muskulatur.  Erst  wenn  man  sicher 
sein  kann,  daß  alle  Zottenreste  entfernt  sind,  dann  kann 
man  etwa  binnen  zwei  bis  drei  Wochen  auf  den  Untergang 
der  Chorionepithelien  in  der  Muskulatur  rechnen.  Kommt 
es  auch  nach  dieser  Zeit  zur  Ausstoßung  verdächtiger 
Massen,  oder  erbringt  ein  neues  Kürettement  den  Nachweis 
frischer  Chorionepithelien,  dann  mögen  sie  geartet  sein  wie 
immer  sie  wollen,  dann  sind  sie  bedenklich.  Vorher  aber 
genügen  die  (großen  einzelligen  epithelialen  und  epitheloiden 
Elemente  wechselnder  Form  mit  großen,  klumpigen,  klexigen 
Kernen  und  die  mehrkernigen  Riesenzellen  keineswegs  zur 
Diagnose  auf  maligne  Neubildung,  auch  wenn  sie  in  Reihen 
und  breiten  Strängen  auf  Ire  ten  und  die  Gefäßwand  ersetzen 
und  durchbrechen,  da  diese  , choriale  Invasion'  ohne  jede 
maligne  Neubildung  vorkommt.“ 

V  e  i  t  schließt  sich  im  ganzen  und  großen  den  Aus¬ 
führungen  R.  Meyers  an,  betont  aber  insbesondere  die 
Dignität  des  rezidivierenden  Plazentarpolypen. 

Risl  faßt,  die  bis  zum  Jahre  1907  in  dieser  Frage 
gemachten  Erfahrungen  zusammen  und  sagt:  „Es  ist  nicht 
zu  leugnen,  daß  sich  der  Praktiker  unter  diesen  Umständen 
in  einei  äußerst  schwierigen  Lage  befindet.  Er  kann,  wie 
Marclia  n  d  in  seiner  letzten  Publikation  sagt,  in  ’  dem! 
einen  Falle  dem  Irrtum  verfallen,  daß  er  einein  Uterus  ohne 
hinreichenden  Grund  entfernt,  in  anderen  kann  er  durch 
Hinausschieben  der  Operation  das  Leben  der  Patientin  in 
die  giöß  te  Gefahr  bringen.  Man  darf  gewißi  der  Vis  medicatrix 
bis  zu  einer  gewissen  Grenze  vertrauen  und  muß  nament¬ 
lich  in  der  Stellung  einer  infausten  Prognose  vorsichtig  sein, 
aber  sonst  darf  man  wohl  dem  Bate  des  praktischen  Gynäko¬ 
logen  folgen,  in  zweifelhaften  Fällen  den  Prozeß  lieber  als 
einen  malignen  anzusehen  und  dementsprechend  zu  handeln, 
als  durch  längeres  Beobachten  den  für  die  Operation  gün¬ 
stigen  Zeitpunkt  zu  versäumen  (Polano,  v.  Franque) 
auch  auf  die  Gefahr  hin,  daß  einmal  unnötigerweise  ein 
gesunder  Uterus  entfernt  wird  (Lit  tau  er).“ 

Diese  ganze  Zusammenstellung  zeigt,  wie  wenig  exakt 
die  mikroskopische  Diagnose  des  malignen  Chorioepithe¬ 
lioms  an  ausgeschabtem  Materiale  ist.  Und  wenn  doch  in 
der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  die  richtige 'Diagnose  gestellt 
wird,  so  liegt  dies  daran,  daß  die  typischen  Fälle  häufig 
sind  und  daß  wir  durch  die  genaueren  Kenntnisse  der  nor¬ 
malen  und  pathologischen  Plazentation  besser  abschätzen 
gelernt  haben,  was  für  und  was  gegen  die  Annahme  eines 
malignen  Chorioepithelioms  spricht.  Aber  in  vielen  Fällen 
bleibt  es  doch  eine  Schätzung,  keine  exakte  Diagnose. 

Und  deshalb  sehen  wir  in  der  mikroskopischen  ’Unter¬ 
suchung  der  Kürettage  bei  Verdacht  auf  ein  Chorioepithe¬ 
liom  nur  ein  unterstützendes,  nicht  das  ausschlaggebende 
Moment.  Dieses  liegt  aber  in  der  klinischen  Untersuchung. 

Man  muß  sich  aber  darüber  klar  sein,  was  man  bei 
Verdacht  auf  malignes  Epitheliom  durch  die  mikroskopische 
Untersuchung  der  Ausschabung  erreichen  kann  und  man 
muß  immer  daran  festhalten,  daß  wir  keine  merkliche  Diffe¬ 
renzierung  zwischen  den  fötalen  Zellen  verschiedener  Pro¬ 
venienz  besitzen. 

Wird  bei  der  Kürettage  nur  Schleimhaut  gewonnen, 
so  verlieren  wir  gleich  eines  der  wertvollsten  Momente  für 
die  Diagnose,  das  ist  die  Beurteilung  der  Tiefe  der  De¬ 
struktion. 


WIENER  KLINISCHE  .WOCHENSCHRIFT.  1011. 


Nr.  19 


GGO 


Der  Befund  in  der  Schleimhaut  selbst  kann  sich  nun  j 
verschieden  gestalten;  oft  findet  man  das  ganze  Bild  he-  j 
herrscht  von  fötalen  Zellen,  die  Langhanszellen  in  größeren 
Gruppen,  die  synzytialen  Zellen  in  zusammenhängenden, 
größeren,  verschieden  gestalteten  Protoplasmamassen.  Eine 
weitere  Durchmusterung  der  Schnitte  zeigt,  daß  das  ganze 
oder  nahezu  ganze  ausgeschabte  Material  aus  fötalen  Zellen 
besteht.  Hier  kann  wohl  kein  Zweifel  bestehen,  daß  es  sich 
um  eine  Neubildung  handelt  —  typisches  Chorioepitheliom. 

Aber  sowie  dieser  Verband  fehlt,  die  fötalen  Zellen 
einzeln  innerhalb  der  Schleimhaut  auftreten,  ist  es  um 
unsere  Sicherheit  getan,  auch  wenn  die  Infiltration  der 
fötalen  Zellen  eine  noch  so  dichte  wäre.  Wir  selbst 
(Hitschmann-F reu n d)  und  R.  M a y e r,  beschrieben 
so  dichtes  Vorkommen  von  fötalen  Zellen,  daß  die  Dezidua- 
z eilen  förmlich  verdeckt  werden,  ohne  daß  eine  Neubildung 
vorliegen  würde. 

Hier  sind  alle  Möglichkeiten  vorhanden,  von  dem  iso¬ 
lierten  Vorkommen  der  Wanderzellen  bis  zu  dem  dichtesten 
Infiltrate;  dabei  sind  Uebergänge  von  diesen  zu  den  atypi¬ 
schen  Formen  der  Neubildung  so  fließend,  so  allmählich, 
daß  die  Entscheidung,  was  in  dem  einzelnen  vorliegt,  nur 
eine  subjektive  sein  kann. 

Daher  auch  der  Hinweis  von  v.  F  r  a  n  qu  e,  K  r  u  k  e  n- 
berg,  Mayer,  Veit  auf  -  Nebenumstände,  die  die  Dia¬ 
gnose  erleichtern  sollen,  so  zum  Beispiel  das  Vorhanden¬ 
sein  von  Zotten.  Diese  können  uns  doch  nur  vielleicht  leb¬ 
hafter,  als  es  sonst  der  Fall  wäre,  daran  erinnern,  daß  erst 
vor  kurzem  Schwangerschaftsprodukte  ausgestoßen  wurden. 
Aber  ein  verdächtiger  Befund  bleibt  in  unseren  Augen 
verdächtig,  wenn  Zotten  noch  nachweisbar  sind,  denn 
das  Einsetzen  der  Epithelwuch'e'rung  ist  unabhängig  vom 
Vorhandensein  des  Zottenbindegewebes,  ein  organischer  Zu¬ 
sammenhang  zwischen  den  beiden  besteht  nicht.  Beginnt 
doch  die  zur  Neubildung  führende  Epithelwucherung  oft 
genug  zur  Zeit,  wo  noch  Zotten  in  der  Schleimhaut  vor¬ 
handen  sind. 

Auch  die  Dignität  der  proliferierenden  Zellen  wurde 
verschieden  beurteilt,  je  nachdem  diese  Zellen  noch  im  Zu¬ 
sammenhang  e  mit  den  Zotten  stehen  oder  nicht.  Es  wurde 
in  dem  Loslösen  der  Zellen  aus  dem  ursprünglichen  Zu¬ 
sammenhänge  mit  eine  Ursache  für  das  schrankenlose 
Wachstum  gesehen  und  dementsprechend  auch  dieses  Vor¬ 
kommen  hoch  angeschlagen.  Doch  hat  March  and  selbst 
entgegen  seiner  ursprünglichen  Ansicht  sich  später  dagegen 
ausgesprochen  (Risl). 

Selbstverständlich  ist  es  auch  für  die  Diagnose  nicht 
gleichgültig,  wie  lange  nach  der  Ausstoßung  des  iSchwanger- 
schaftsproduktes  die  Kürette  noch  fötale  Zellen  zutage  för¬ 
dert  ;  ein  neuer  Beweis,  welche  Rolle  Nebenumstände  in 
der  Verwertung  des  mikroskopischen  Befundes  spielen. 

Ganz  anders  verhält  sich  die  Sache,  wenn  tiefe  Par- 
den,  speziell  Muskulatur,  zur  Untersuchung  vorliegt,  weil 
wir  hier  das  wichtigste  Moment  für  die  Diagnose,  die  De¬ 
struktion,  zu  beurteilen  vermögen.' 

Das  isolierte  Vorkommen  von  synzytialen  Elementen 
in  der  Muskulatur  ist  schon  lange  bekannt  und  hat  für  die 
Diagnose  keinerlei  Bedeutung.  Aber  die  Destruktion  der 
tiefen  Schleimhautschichte,  insbesondere  der  Muskulatur, 
halten  wir  diagnostisch  für  bedeutungsvoll. 

Zwar  ist  die  Destruktion  der  fötalen  Zellen  ein  phy¬ 
siologischer  Akt,  es  besteht  das  ganze  erste  Stadium  der 
Nidation  aus  Destruktionsvorgängen,  aber  diese  sind  zeitlich 
und  örtlich  genau  begrenzt,  indem  die  Destruktion  nur  in 
den  ersten  Wochen  sich  bemerkbar  macht  und  sich  in  der 
Regel  auf  die  Decidua  comp  acta  beschränkt,  so  daß  an  der 
geborenen  Plazenta  noch  immer  ein  Rest  der  Decidua  com- 
pacta  erhalten  bleibt. 

In  diesem  Vertrauen  in  die  diagnostische  Bedeutung 
der  in  die  Tiefe  greifenden  Zerstörung  werden  wir  aber 
durch  die  folgende  Beobachtung  erschüttert.  Sie  ist  prin¬ 
zipiell  wichtig;  sie  zeigt  uns,  daß-  die  Invasion  der  fötalen 
Zellen  und  die  damit  verbundene  Destruktion  des  mütter¬ 


lichen  Gewebes  weit  die  normalen  Grenzen  überschreiten 
könne,  ohne  daß  eine  maligne  Neubildung  vorliegen  würde. 

Anläßlich  unserer  (Hitschmann-Freund)  Stu¬ 
dien  über  die  Adhärenz  der  Plazenta  konnten  wir  den  zum 
ersten  Male  von  J.  N  e  u  m  a  n  n  erhobenen  Befund,  daß 
eine  Dezidua  im  ganzen  Reiche  der  Plazenta  fehle,  als  für 
die  Adhärenz  der  Plazenta  pathognostisch  erklären,  lieber 
die  Ursache  und  Entstehungsart  der  Adhärenz  waren  nur 
Vermutungen  vorhanden,  die  von  der  Wirklichkeit  weit  ent¬ 
fernt  waren,  bis  es  uns  an  der  (Hand  der  folgenden  Beobach¬ 
tungen  zu  zeigen  gelang,  daß1  die  Decidua  serolina  fehle, 
weil  sie  von  dem  hypertrophischen  und  persistierenden 
Trophoblast  vernichtet  wird. 

Wir  beschreiben  in  der  erwähnten  Arbeit  ein  Ei  in  I 
situ  —  zufälliger  Obduktionsbefund  —  aus  dem  Anfang 
des  vierten  Monats,  das  durch  folgenden  •  ungewohnten 
Befund  ausgezeichnet  ist.  _  _  -  f 

1 .  Das  Zerstörungswerk  ist  nicht  auf  die  physiologische 
Destruktion  der  Decidua  compacta  beschränkt,  sondern  die 
Decidua  serotina  ist  in  ihrer  ganzen  Dicke,  also  mit  Ein¬ 
schluß  der  Spongiosa,  zerstört,  ja  die  Infiltration  geht  auch 
noch  in  die  Muskulatur  hinein. 

2.  Dieses  Ei  aus  dem  Anfang  des  vierten  Monats  wies 
den  Trophoblast  noch  in  solchem  Reichtum  auf,  wie  man 
ihn  sonst  nur  bei  ganz  jungen  Eichen  findet,  also  zu  einer 
Zeit,  wo  er  nur  noch  in  Spuren  vorhanden  zu  sein  pflegt, 
oder  bereits  ganz  verschwunden  ist. 

Die  infiltrierenden  Zellen  bringen  die  Deziduazellenj 
zur  Nekrose,  sie  vernichten  die  Drüsen,  sie  dringen  in  did 
Gefäße  und  Muskulatur  ein,  an  manchen  Stellen  in  sd 
dichten  Zügen,  daß  leicht  der  Gedanke  an  ein  Chorioepi 
theliom  entstehen  könnte. 

Wir  nannten  diesen  Zustand  Hyperplasie  und 
P e r s i  s t e n z  des  Trophoblastes;  er  ist  pathologisch 
und  von  ernster  Bedeutung  für  die  Lösung  der  Plazenta,  ei- 
bedingt.  die  Adhärenz  der  Plazenta,  stellt  aber  keine  maligne 

Neubildung  dar.  ,  “  j 

Wir  sind  iaber  überzeugt,  daß,  wenn  wir  in  einem  Falk 
klinischen  Verdacht  auf  ein  Chorioepitheliom  hegen  würdeij 
und  diesen  mikroskopischen  Befund  erhoben  hätten,  wb 
darin  eine  sichere  Bestätigung  unseres  Verdachtes  geseheij 
hätten.  Man  muß  diese  Veränderungen  genau  kennen,  si<| 
sind  außerordentlich  wichtig  für  das  Verständnis  der  Pia: 
zentaradhärenz,  sie  müssen  genau  gekannt  werden,  uni 
Fehler  in  der  Diagnose  des  malignen  Chorioepithelioms  zij 
vermeiden. 

Ein  Jahr  nach  unserer  wenig  bekannt  gewordener 
Arbeit  im  Handbuche  von  Winkel  wurde  derselbe  Proze 
von  R.  Mayer  als  choriale  Invasion  beschrieben  und  vie; 

beobachtet.  .  j 

Wir  finden  groß-e  Aehnlichkeit  zwischen  diesem  Bcj 
funde  und  dem  von  Marc  hand  für  die  Blasenmole  all 
pathognomonisch  erklärten. 

Schon  daraus  allein  würde  erhellen,  welche  grolij 
Bedeutung  die  von  uns  beschriebene  Veränderung  für  di 
Diagnose  des  malignen  Chorioepithelioms  besitzt;  allerding 
sehen  wir  auch  in  der  Hyperplasie  und  Persistenz  de| 
Trophoblastes  das  Verbindungsglied  zwischen  dem  normale 
Ei  und  dem  Chorioepitheliom. 

W  ennwiralso  zur  Diagnose  aus  der  Küro 
tage  zurückkehren,  so  e  r  g  i  b  t  sich,  da  ß  w  ij 
n  i  c  h  t  ei  n  mal  aus  der  in  die  Tiefe,  i  n  d  i  e  M  u  I 
k  u  1  a  t  u  r  greifenden  Des  t  r  u  k  t  i  o  n  m  it  Sich  e  i 
heil  Schlüsse  ziehen  d-ü  r  f  e  n. 

Wir  sehen  so,  daß  der  mikroskopischen  Diagnose  au 
küreliiertem  Gewebe  enge  Grenzen  gezogen- sind,  daß- grob 
|  Vorsicht  in  'der  Verwertung  solcher  mikroskopischer  Befund 
;  notwendig  ist  und  daß  eine  umso  größere  Bedeutung  d< 
j  klinischen  Untersuchung  zukommt.  Und  hier  legen  wir  de 
I  größten  Nachdruck  auf  die  Austastung  des  Uterus,  auf  de 
Nachweis  eines  Tumors,  wie  es  bereits  Sänger,  Got 
1  schal  k,  M  enge,  Zweifel,  Risl  empfohlen  haben. 


Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  19IL 


661 


Der  Tumor  kann  ein  chorioepilhelialer  Tumor  oder 
ein  Plazentarpolyp  sein.  1st  der  Tumor  nur  aus  fö¬ 
talen  Epithelzellen  aufgebaut,  gleichgültig,  oh  die  fö¬ 
talen  Zellen  in  zusammenhängenden  Komplexen  oder  in 
infiltrierender  form  aui'treten,  so  ist  die  Diagnose  ganz 
sicher;  fast  eben  so  sicher  ist  der  klinische  Nachweis 
der  W  andzerstörung.  Daran  ändern  auch  Fälle,  wie  der 
von  L  i  ttau  e  r  'beschriebene,  nichts,  der  trotz  Tumorbildung 
und  Wandzerstörung  nach  einer  Kürettage  ausheilte.  Be¬ 
steht  der  Tumor  aus  retiniertem  lebenden  oder  abgestor¬ 
benen  Platzenlargewebe,  so  ist  trotzdem  eine  genauere 
Durchmusterung  notwendig,  da  schon  häufig  unter  diesem 
bilde  beginnende  maligne  Chorioepitheliome  übersehen  wer¬ 
den  sind.  Auch  hier  kann  das  Vorkommen  von  zirkum¬ 
skripten,  epithelialen  Haufen  die  Entscheidung  schwer 
machen,  ob  es  sich  um  normale  Trophoblastreste  oder  um 
ueoplastische  Epi  diel  Wucherung  handelt. 

Ist  die  Uterushöhle  leer,  die  Schleimhaut  glatt,  so  isl 
die  Situation  viel  schwieriger  und  wir  verweisen  auf  das 
bereits  Gesagte.  Das  typische  Chorioepitheliom  werden  wir 
auch  ohne  Tumorbildung  leicht  erkennen,  aber  die  Infil¬ 
tration  mit  isolierten  Zellen  läßt,  mag  sie  noch  so  dicht, 
sein  und  bis  in  die  Muskulatur  eindringen,  keine  exakte 
Diagnose  zu.  Wir  müssen  dieses  diagnostische  Defizit  eili¬ 
ges  Lehen  und  abwarten,  ob  später  die  Diagnose  mit  großer 
Sicherheit  zu  stellen  sein  wird.  Fehlgriffe  lassen  sich  nicht 
ganz  vermeiden,  sei  es  daß  man  die  klinischen  Symptome 
und  den  mikroskopischen  Befund  überschätzte,  sei  es,  daß 
man  den  richtigen  Zeitpunkt  zur  Operation  verpaßte. ' 

Aber  alle  Autoren  sind  einig,  lieber  einmal  ohne  die 
voll  gesicherte  Diagnose  zu  operieren,  als  durch  zu  langes 
Zuwarten  auf  die  sichere  Diagnose  zu  spät  zur  Operation 
zu  gelangen. 

Wenn  wir  nun  kurz  resümieren,  so  kennen  wir  keine 
anatomischen  Unterschiede  im  Baue  der  chorioepithe- 
üalen  Tumoren,  trotz  des  so  differenten  klinischen  Ver¬ 
laufes,  ja  wir  kennen  nicht  einmal  sichere  morphologische 
Unterschiede  zwischen  Trophoblast  und  Chorioepitheliom. 

Es  ist  also  gerade  bei  fötalen  Epithel- 
w u cherungen  die  Grenze  des  mikroskopisch- 
diagnostisch  Erreichbaren  früher  gegeben, 
als  bei  allen  anderen  W  u  c  h  e  r  u  n  g  e  n. 

In  dieser  Erkenntnis  wird  von  den  besten  Kennern 
der  anatomischen  Verhältnisse,  so  von  Marc  hand,  Risl, 
Pick,  der  Klinik  die  Entscheidung,  ob  gut-  oder  bösartig, 
überlassen.  Aber  auch  die  Klinik  vermag  heute  nach  den 
Erfahrungen  über  die  spontane  Rückbildung  der  Tumoren 
bei  anscheinend  schon  verlorenen  Fällen  keine  Entschei¬ 
dung  mit  voller  Sicherheit  zu  treffen. 

Wir  sind  der  Ueberzeugung,  daß  bei  zwei  Fällen  von 
malignen  Chorioepitheliomen  unter  ganz  gleichen  Verhält¬ 
nissen  ein  ganz  verschiedener  Ausgang  möglich  ist,  wobei 
die  Ursache  weder  in  dem  Tumor,  noch  im  mütterlichen 
Organismus  gelegen,  sondern  akzidenteller  Natur  ist. 

Zu  dieser  Ueberzeugung  sind  wir  auf  Grund  der  Lite¬ 
ratur  und  des  eigenen  Studiums  gelangt;  sieizwingt  uns,  die 
unfruchtbare  Suche  'nach  anatomischem  Unterschied  im  Bau 
der  (verschiedenen)  Tumoren  aufzugeben  und  andere  Wege 
zu  betreten,  die  einerseits  die  morphologische  und  biolo¬ 
gische  Identität  der  Tumoren  zur  Voraussetzung  haben  und 
anderseits  die  notwendigen  Konsequenzen  aus  den  be¬ 
kannten  physiologischen  Eigenschaften  der  fötalen  Zellen 
zu  ziehen. 

II. 

Es  ist  gewiß  bemerkenswert,  daß  die  Klinik  des  ma¬ 
lignen  Chorioepithelioms  nicht  gleichen  Schritt  mit  der  patho¬ 
logischen  Anatomie  gehalten  hat.  Es  war  die  enorme,  von 
den  Autoren  geleistete  Arbeit  auf  die  Anatomie  und  Histo¬ 
genesis  des  Tumors  gerichtet,  die  Klinik  schien  aber  bereits 
mil  den  Schilderungen  der  ersten  Autoren  erschöpft  zu  sein. 
Es  basieren  aber  diese  Schilderungen  auf  den  ersten  sehr 
schlimmen  Erfahrungen;  gingen  doch  die  von  Sänger  als 


Sarcoma  deciduocellularo  anerkannten  fünf 
und  die  bis  1895  (Schauta)  operierten 
alle  letal. 


Fälle  zugrunde 
Fälle  endigten 


Seitdem  sind  Jahre  vergangen,  die  Zahl  der  Publi¬ 
kationen  über  das  maligne  Chorioepitheliom  ist  unüber¬ 
sehbar  groß  geworden.  Spätere  Erfahrungen  über  opera- 
live  Heilungen  haben  die  Ansichten  der  ersten  Autoren 
über  die  Bösartigkeit  dieses  Tumors  nicht  bestätigt,  viel¬ 
mehr  liegen  zahlreiche  Berichte  über  erzielte  Heilungen  vor, 
so  daß  es  an  der  Zeit  wäre,  die  Erfahrungen  der  einzelnen 
zusammenzufassen  und  unser  klinisches  Wissen  über  das 
maligne  Chorioepitheliom  zu  revidieren.  Leider  ist  dies  in 
exakter  Weise  nicht  möglich,  da  das  ganze  Material  in 
roim  von  hunderten  kasuistischen  Mitteilungen  nieder¬ 
gelegt  ist. 

Die  einzelnen  Mitteilungen  selbst  pflegen  mehr  die 
pathologisch-anatomische  als  die  klinische  Seite  des  Falles. 
Sehr  viele  Berichte  sind  ganz  kurze  Zeit  nach  der  Opera¬ 
tion  erschienen,  res  fehlen  bis  auf  wenige  seltene  Ausnahmen 
jegliche  Mitteilung  von  Nachforschungen  nach  den  ope¬ 
rierten  Fällen,  so  daß  wir  hei  einer  Publizistik  von  über 
400  Arbeiten  über  das  maligne  Chorioepitheliom  nicht  wis¬ 
sen,  wie  groß  der  Prozentsatz  der  geheilten  Fälle  ist,  wann 
wir  einen  Fall  als  geheilt  betrachten  dürfen  usw. 

Aber  noch  mehr  ist  zu  verwundern,  daß  die  so  glän¬ 
zende  anatomische  Charakterisierung  des  malignen  Chorio¬ 
epithelioms  für  die  operativen  Maßnahmen  ganz  unberück¬ 
sichtigt  geblieben  ist!  Ueberall  nur  der  Hinweis,  das  ma¬ 
ligne  Chorioepitheliom  sei  wie  das  Uteruskarzinom  zu  ope¬ 
rieren,  vaginal,  seltener  abdominal,  als  ob  wir  nicht  gerade 
heim  Uteruskarzinom  gelernt  hätten,  daß  die  Operations¬ 
methode  nur  von  der  Kenntnis  der  Ausbreitung  des  Tumors 
diktiert  werden  dürfe.  Und  trotzdem  allgemein  bekannt  ist, 
daß  die  Ausbreitung  des  Karzinoms  und  des  Chorioepithe¬ 
lioms  eine  ganz  verschiedene  ist,  doch  immer  der  Hinweis 
auf  das  Karzinom.  Fast  überall  wird  die  vaginale  Total- 
exstirpation  empfohlen  und  geübt. 

So  schreibt  Veit  im  Kapitel:  „Therapie  des  Chorio¬ 
epithelioms“,  in  seinem  Handbuche  wörtlich:  „Die  Technik 
lolgt  sonst  ganz  der  vaginalen  Uterusexstirpation  bei  Kar¬ 
zinom  und  Myom  Und  es  kann  hier  auf  die  oben  gegebene 
Darstellung  verwiesen  werden.“ 

Brenner  schreibt:  „Bei  der  Operation  ist  im  all¬ 
gemeinen  der  vaginalen  Methode  der  Vorzug  zu  geben, 
wenn  nicht  Veränderungen  der  Adnexe  oder  des  Para- 
metriums  den  abdominalen  Weg  indizieren.“  Ebenso  spre¬ 
chen  sich  aus  P o  1  a n o,  v.  Wenzel,  Schmi  t  u.  a. 

Tatsächlich  wurden  auch  bei  weitem  die  meisten 
Fälle  vaginal  operiert;  wo  laparotomiert  wurde,  waren  es 
zum  Teil  ähnliche  Indikationen  wie  die  oben  angeführten. 
F ü  r  die  meisten  L  a p  a r  o  t o  m ien  1  ä  ß  t  s i  c  h  aber 
zeigen, .  daß  nicht  eine  bestimmte  klare  E  r- 
k  e  n  n  t  n  i  s  dafür  'maßgebend  war,  so  n  d  ern  i  n 
d  e  n  m  e  i  s  t  e  n  F  ä  1 1  e  n  e  i  li  e  f  a  1  s  c  h  e  D  i  a  g  n  o  s  e  o  d  e  r 
Blutungen  unbekannter  A e t i  o  1  o  g i e  dazu  v e r- 
anlaßten.  Nur  C  z  y  c  z  e  w i  c z  empfiehlt  die  L  a p  a- 
rotomie. 

Aber  niemand  dachte  daran,  bei  der  0  p  e- 
ration  des  malignen  Chorioepithelioms  d e r 
Ausbreitung  des  Tumors  Rechnung  zu  tragen. 

Wie  sehr  die  Sachlage  noch  heute  verkannt  wird,  zeigt, 
ein  Vorschlag  Krömers.  Aus  dem  Umstande,  daß  auch 
einmal  die  regionären  Lymphdrüsen  erkranken  können,  em¬ 
pfiehlt.  K  r  ö  m  e  r,  die  Freieren  nach  Art  der  W  e  r  t  h  ei  iri¬ 
schen  Operation  zu  präparieren  und  die  Lymphdrüsen  aus¬ 
zuräumen  ! 

Osterloh  folgte  dieser  Anregung  und  machte  in 
seinem  Falle  die  Laparotomie  zum  Zwecke  der  Drüsen¬ 
suche;  ebenso  Bauer  und  Sellheinr. 

Sicherlich  k  ö  n  nen  auch  die  r  e  g  i  o  n  ä  ren 
L  y  mphdrüse  n,  aber  nur  auf  dem  Wege  derBlu  t- 
bahn  erkranken.  Genau  so,  wie  der  Blutstrom  Tumor¬ 
massen  in  entfernte  Organe  verschleppt,  können  auch  Tu- 


662 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


morteile  in  regionäre  Lymphdrüsen  gelangen.  Es  fehlt  aber 
im  Gegensatz  zum  Karzinom  jede  Prädisposition  für  die 
Erkrankung  der  regionären  Lymphdrüsen.  Ja  M  a  r- 
chand  führt  z.  B.  die  Erkrankung  der  Beckendrüsen,  wie 
sie  im  Ealle  P  a  vi  o  t  angegeben  werden,  neben  anderen  Um¬ 
ständen  als  Grund  gegen  die  Einreihung  dieses  Falles  als 
Chorioepitheliom  an.  Die  Metastasierung  in  die  Lymph¬ 
drüsen  ist  gegenüber  der  in  andere  Organe  eine' seltene  und 
wo  sie  vorkommt,  kann  sie  ebensogut  in  den  peribronchialen 
wie  in  den  regionären  Lymphdrüsen  Vorkommen.  —  Aus 
der  großen  Reihe  von  Obduktionsbefunden,  die  wir  zu¬ 
sammengestellt  haben,  geht  hervor,  daß  die  Erkrankung 
der  entfernter  gelegenen  Lymphdrüsen,  speziell  der  peri¬ 
bronchialen  ebenso  häufig  verzeichnet  wird  als  die  der 
regionären  Lymphdrüsen. 

Ist  aber  der  Gedanke,  das  anatomische 
Verhalten  des  Tumors  bei  der  Operation  zu 
berücksichtigen,  nun  einmal  a u f g e t a u c h t,  so 
ist  der  weitere  Weg  jedermann  klar  vorge- 
zeichnet. 

Man  braucht  sich  nur  ganz  naiv  von  den 
anatomischenVorstellungen  1  e  i  t  en  z  u  lassen, 
um  sich  a  priori  sagen  zu  müssen:  beim  ma¬ 
lignen  Chorioepitheliom  sitzen  die  Tumor¬ 
massen,  ebenso  wie  die  fötalen  Zellen  des 
Trophoblastes  in  den  mütterlichen  Gefäße n 
und  zwar  in  den  offenen  Gefäßen  mit  zirku- 
Heren  dem  Blute.  Der  Tumor  selbst  ist  enorm 
brüchig,  ohne  bindegewebiges  Stützgewebe. 

Es  besteht  also  beim  malignen  Chorio¬ 
epitheliom  vermöge  seines  Wachstums  in  den 
offenen  mütterlichen  Gefäßen  die  größte  Ge¬ 
fahr,  daß  durch  jede  grobe  Manipulation  E m- 
b  o  1  i  e  n  en  masse  erzeugt  werden.  Eine  solche 
grobe  Manipulation  stellt  nun  jede  Opera¬ 
tion  dar. 

Wenn  wir  nun  bei  einem  Individuum  sehen,  daß 
vor  der  Operation  der  lokale  Tumor  im  Vordergrund 
der  Erscheinungen  steht,  daß  bei  genauer  Untersuchung  der 
inneren  Organe  von  Metastasen  keine  Spur  vorhanden  ist, 
dagegen  gleich  nach  der  Operation  Metastase  auf  Meta¬ 
stase  erfolgt,  der  ganze  Organismus  förmlich  mit 
den  Tumormassen  überschwemmt  wird  und  ein  stür¬ 
mischer  Verlauf  rasch  zum  Tode  führt,  muß  man  sich  da 
nicht  mit  zwingender  logischer  Konsequenz  sagen :  hier 
ist  durch  die  Operation  die  Metastasierung 
provoziert  worden,  hier  ist  die  besondere  Ma¬ 
lignität  des  Tumors  eine  artefiziell  erzeugte! 
Dieser  Gedanke  wurde  bei  uns  zum  erstenmal  anläßlich 
der  folgenden  Beobachtung  ausgelöst: 

K.  B.,  aufgenornmen  am  13.  Januar  1901,  gestorben  am 
am  12.  Februar  1901. 

Erste  Periode  mit  18  Jahren,  regelmäßig,  achttägig. 

Zwei  spontane  Geburten  am  normalen  Ende,  eine  Früh¬ 
geburt  mit  acht  und  ein  Abortus  mit  drei  Monaten. 

Wochenbett  afebril. 

Letzte  regelmäßige  Periode  Juli  1900.  Die  Periode  im  Monat. 
August  blieb  aus.  Im  September  trat  eine  Blutung  auf,  über  deren 
Natur  sich  die  Patientin  nicht  im  klaren  ist,  sie  vermag  speziell 
nicht  anzugeben,  ob  Eiteile  abgingen.  Seitdem  Aviederholten  sich 
öfters  Blutungen  aus  dem  Genitale,  ohne  das  Allgemeinbefinden 
zu  alterieren.  Erst  im  Dezember  trat  eine  stärkere  Blutung  auf, 
welche  die  Patientin  veranlaßte,  die  Klinik  aufzusuchen. 

Somatischer  Befund:  Kräftig  gebaute  Frau,  in  gutem 
Kräftezustand,  etwas  blaß.  Die  inneren  Organe,  speziell  die  Lunge 
zeigt  bei  genauer  Untersuchung  durchaus  normale  Verhältnisse. 

Gynäkologischer  Befund:  Uterus  kugelig,  ungefähr 
einer  viermonatigen  Schwangerschaft  entsprechend.  Zervix  für 
die  Fingerkuppe  durchgängig.  In  seinem  oberen  Anteile  fühlt  man 
ein  Stückchen  weichen  Gewebes,  das  in  die  Korpushöhle  hinein¬ 
reicht  und  dort  mit  einem  die  Korpushöhle  ausfüllenden,  weichen, 
unregelmäßig  höckerigen  Tumor  in  Verbindung  steht. 

Die  Diagnose  schwankt  zwischen  gestörter  Schwangerschaft 
und  malignem  Chorioepitheliom.  Es  wird  daher  ein  Stückchen 
digital  entfernt  und  mikroskopisch  untersucht. 


Mikroskopische  Diagnose:  Chorioepithelioma  malignum. 

Operation  am  18.  Januar.  Vaginale  Totalexstirpation.  Glatter 
Verlauf  der  Operation,  glatte  Wundheilung. 

Der  Tumor  war  handtellergroß,  saß  an  der  hinteren  Wand, 
war  braunrot,  leicht  zerreißlich.  Schon  auf  dem  Durchschnitt 
sah  man  mit  freiem  Auge,  daß  am  Sitze  des  Tumors  die  Gefäße 
mit  Geschwulstgewebe  erfüllt  waren. 

Der  Krankheitsverlauf  gestaltete  sich  äußerst 
stürmisch.  J  ’ 

Bereits  am  30.  Januar  konnten  Metastasen  in  der  Lunge 
nachgewiesen  werden. 

Am  6.  Februar  traten  zerebrale  Symptome  auf,  Krämpfe  in 
der  linken  Körperhälfte,  die  auf  Metastasen  in  der  rechten  Ge¬ 
hirnhälfte  hinwiesen.  Gleichzeitig  wurde  der  Bauchumfang  größer, 
unter  unseren  Augen  nahm  die  Leber  rapid  an  Größe  zu  und  i 
ließ  faustgroße  Knollen  erkennen.  Die  Milz  war  rasch  auf  Manns 
kopfgröße  angewachsen. 

Am  12.  Februar  trat  der  Exitus  ein. 

Die  Obduktion  ergab,  daß  der  Organismus  mit  Metastasen  : 
ubersät  war.  Kaum  ein  Organ,  das  nicht  Metastasen  auf  ge¬ 
wiesen  hätte.  Die  Tumoren  in  Leber  und  Milz  geradezu  monströs,  I 
In  den  Lungen  zahllose  Knollen.  Tumoren  im  Gehirn,  Schilddrüse.  ! 
Niere,  Dünn-  und  Dickdarm.  Die  Beckenvenen  waren  throm  j 
Dosiert  und  von  Geschwulstgewebe  erfüllt.  In  der  vorderen  Va¬ 
ginalwand  saß,  von  intakter  Schleimhaut  bedeckt,  ein  haselnuß- 
großer  Knoten. 

Wenn  wir  nun  diese  Beobachtung  besprechen,  ; 
so  ist  die  Wandlung  zum  schlechteren,  welche  die 
Krankheit  gleich  nach  der  Operation  genommen  hat,  die 
auffälligste  und  wichtigste  Erscheinung. 

Die  Frau  war  bei  so  gutem  Kräftezustande  an  die  , 
Klinik  gekommen,  daß  sie  sich  kaum  krank  fühlte;  wir  selbst 
konnten  klinisch  nicht  entscheiden,  ob  Abortus  oder  Chorio-  ! 
epitheliom  vorliege. 

Die  sorgfältige  Untersuchung  bot  nicht  den  ge-  j 
längsten  Anhaltspunkt  für  Veränderungen  der  inneren  Or¬ 
gane.  Wir  dürfen  daher  mit  einem  gewissen  Recht  sagen,  | 
daß  zur  Zeit  der  Operation  Metastasen  nicht  bestanden  I 
haben. 

Mit  voller  Bestimmtheit  können  wir  das  bezüglich 
des  vaginalen  Tumors  behaupten.  Dieser  war  zur  Zeit  der  i 
Operation  bestimmt  nicht  da,  er  hätte  unmöglich  übersehen  ; 
werden  können. 

Bereits  zwölf  Tage  nach  der  Operation 
sind  die  ersten  Metastasen  zu  konstatieren, 
gleich  darauf  folgen  Metastasen  fast  in  allen 
inneren  Organen  und  24  Tage  nach  der  O  p  e-  j 
ration  erliegt  die  Kranke  der  allgemeinen 
M e  t  a  s 1 asier u  n g ! 

Bei  der  Obduktion  zeigten  sich  die  inneren  Organe 
geradezu  überschwemmt  mit  Tumormassen;  die  Leber,  die 
Milz,  die  zur  Zeit  der  Operation  normale  Grenzen  auf¬ 
wiesen,  waren  bei  der  Obduktion  durch  zahllose  Knoten  i 
monströs  vergrößert. 

Mikroskopisch  zeigt,  der  Tumor  ein  Prävalieren  der 
Langhanszellen  über  die  synzytialen. 

Wichtig  sind  die  Gefäßverhältnisse.  Im  Bereiche  des 
Sitzes  des  Tumors  sind  die  Gefäße  der  Uteruswand  weit 
und  mehr  oder  minder  von  Tumorzellen  ausgefüllt.  Diese  | 
ragen  bald  nur  als  kleine  Pfröpfchen  in  das  Gefäß,  bald 
nehmen  sie  die  größere  Hälfte  des  Gefäßes  ein,  aber  über¬ 
all  besteht  daneben  Zirkulation  in  den  Gefäßen.  An  noch 
anderen  Stellen  sind  die  Gefäße  mit  Tumormassen  ganz 
ausgegossen.  Oft,  konnten  wir  sehen,  wie  die  Gefäßwand 
von  innen  nach  außen  durchbrochen  wird,  wie  die  fötalen  j 
Zellen  gegen  das  nächste  Gefäß  ziehen  und  auch  in  dieses 
einbrechen. 

Bei  diesen  anatomischen  Verhältnissen 
mußten  wir  uns  wohl  sagen,  d  a  ß  h  i  e  r  eine  u  n- 
endliche  Gelegenheit  zur  Embolisierung  ge¬ 
gebensei. 

Und  doch  waren  wir  überrascht,  ja  entsetzt,  gleich 
nach  der  Operation  eine  Metastase  nach  der  andern  ent¬ 
stehen  zu  sehen.  Und  die  Frau,  die  sich  zur  Zeit  ihrer 
Aufnahme  in  die  Klinik  kaum  krank  gefühlt  hätte,  ging 
binnen  drei  Wochen  nach  der  Operation  zugrunde. 


JMr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


668 


Wir  haben  es  hier  mit  einem  Falle  von  so  ausge¬ 
sprochenem  bösartigen  Verlauf  zu  tun,  wie  er  bösartiger 
gar  nicht  gedacht  werden  kann  und  wie  er  bei  spontanem 
improvozierten  Verlaufe  sehr  seifen  vorkommt. 

Wir  mußten  so  zur  Ueberzeugung  gelan¬ 
gen,  daß  die  Metastasierung  keine  zufällige 
sei,  sondern  daß  die  Generalisierung  des  Tu¬ 
mors  durch  die  bei  der  Operation  unausblei  b- 
lichen  Insulte  herbeigeführt  wird. 

In  diesem  Sinne  hat  auch  einer  von  uns  (Hi  t  sc  li¬ 
ma  nn)  diesen  Fall  seinerzeit  in  der  Wiener  gynäkologi¬ 
schen  Gesellschaft  (1903)  vorgestellt. 

Dieser  Fall  ist  aber  keine  singuläre  Er¬ 
scheinung;  eine  Umschau  in  der  Literatur  zeigt  uns 
eine  ganze  Reihe  solcher  Fälle,  die  wir  in  der  Tabelle  II 
zusammengestellt  haben. 

Allen  diesen  Fällen  ist  die  rapide  Verschlechterung 
des'  Befindens,  hervorgerufen  durch  das  Einsetzen  der  Me¬ 
tastasen  nach  der  Operation  gemeinsam.  Und  wenn  wir 
uns  in  unserem  Falle  und  in  den  anderen  analogen  Fällen 
nach  der  Ursache  dieser  furchtbaren  Bösartigkeit  fragen, 
so  läßt  sich  dies  anatomisch  fassen.  Vom  Hause  aus  liegt 
sie  nicht  in  dem  Tumor,  denn  die  Kranke  hatte  trotz  mehr¬ 
monatigen  Bestehens  des  Tumors  kaum  gelitten;  auch  war 
es  nicht'  zur  Metastasenbildung  gekommen. 

In  seinem  Aufbau  hat  der  T  u  m  o  r  n  i  c  h  I  s 
von  d  e  r  °N  o  r  m  wesentlich  Abweichendes,  k  u  r  z, 
es  wurde  die  hochgradige  Malignität  -erst 
herbeigeführt,  als  durch  den  operativen  Ein¬ 
griff  Tumormassen  in  den  Kreislauf  gepreßt 
und  der  Organismus  da  m  it  direkt  ü  b  e  r- 
schwem  m  t  wurde. 

Prädisposition  zur  Metastasierung  ist 
durch  den  anatomischen  Bau  in  viel  höhere  m 
Q  r  a  d  e  als  bei  jedem  anderen  Tu  m  or  gegeben. 
Denn  man  kann  dies  nicht  oft  genug  wiederholen  das 
ganze  Wachstum  des  Tumors  erfolgt  in  den  .mütterlichen  Ge¬ 
fäßen.  Jeder  mechanische  Insult  kann  massenhafte  Eos- 
lösung  von  Tumorteilchen  und  Ueberschwemmung  des 
ganzen  Organismus  mit  denselben  bewirken. 

Damit  lernen  wir  einen  neuen  Faktor  kennen,  der 
nach  unserer  Ansicht  für  die  Frage  der  Malignität,  speziell 
des  malignen  Chorioepithelioms,  von  größter  Bedeutung  ist. 

Widerstandsfähigkeit  des  mütterlichen  Organismus, 
Proliferationskraft  der  fötalen  Zellen,  sind  Komponenten 
der  Malignität,  die  wir  heute  gar  nicht  beurteilen  können, 
mit.  denen  wir  an  der  Hand  eines  'konkreten  Falles  gar 
nichts  anzufangen  wissen. 

Mit  der  artefiziellen  Metastasenbildung  lernen  wir  aber 
einen  grob  sinnlich  wahrnehmbaren  Faktor  kennen,  der 
wenigstens  einen  Teil  der  Malignität  zu  erklären  vermag. 
Wir  können  in  vielen  operierten  Fällen  den  stürmischen 
Verlauf  darauf  zurückführen,  ohne  auf  die  verschiedene 
Widerstandskraft  der  Mutter  und  verschiedene  Proliferations¬ 
kraft  der  fötalen  Zellen  rekurrieren  zu  müssen. 

Es  m  u  ßi  also  für  jede  Operation  des  m  a  1  i- 
g  n  e  n  Chorioepithelioms  der  leitende  Ge¬ 
sichtspunkt  sein,  nicht  k  ü  n  s  1 1  i  c  h  M  etaslasen 
zu  erzeugen. 

Wird  dies  nicht  berücksichtigt  und  dies  ist  bis  jetzt 
ausnahmslos  der  Fall  gewesen,  so  kann  und  wird  man 
häufig  in  Fallen,  in  denen  noch  keine  Metastasen  bestehen, 
eine  Aussaat  über  den  ganzen  Körper  setzen.  Der  Zusammen¬ 
hang  zwischen  Operation  und  Metastasierung  ist.  ein  so 
augenfälliger,  daß  man  sich  wundern  muß,  wenn  er  von 
den  Autoren  nicht  erfaßt  wird. 

So  sagt  Stein:  „Unerklärlich  bleibt  die  so  rasche 
Entwicklung  der  Metastasen;  im  vorliegenden  Falle  wurde 
bei  der  ersten  Untersuchung  der  Patientin  klinisch  an  den 
inneren  Organen  kein  pathologischer  Befund  erhoben.  Die 
Lungen  waren  damals  noch  völlig  frei.  Etwa  drei  Wochen 
später  tritt  mit.  dem  blutigen  Sputum  die  erste  Erschei¬ 
nung  der  Metastasenbildung  auch  in  diesem  Organe  zu¬ 


tage  und  nach  wenigen  weiteren  Wochen  zeigt  die  Obduk¬ 
tion  jene  enorme  Entwicklung  der  Metastasen.“ 

Nur  H  a  m  m  erschlag  faßt  die  rapide  Metastasierung 
richtig  auf  und  schließt  sich  unserer  bereits  1903 
geäußerten  Ansicht  an.  Er  sagt:  „Zu  gleicher  Zeit 
fand  sich  die  Schleimhautmetastase,  die  wohl  kaum  bei 
der  ersten  Untersuchung  vorhanden  gewesen  ist,  da  sie 
sonst  wohl  bemerkt  worden  wäre.  Es  erscheint  (Wahrschein¬ 
lich,  daß  auch  diese  Metastase  erst  nach  der  ersten  Aus¬ 
räumung  aufgetreten  ist  und  daß  also  die  Manipulation 
der  Ausräumung  Iselbst.  ein  Anlaß  zum  progredienten  Wachs¬ 
tum  und  zur  Ausbreitung  der  Geschwulst  gewesen  ist.“ 

Aber  bereits  vor  vielen  Jahren  hat  K  o  1  i  s  k  o  *)  den 
Ausspruch  getan:  „Das  Chorioepitheliom  ist  unter  Um¬ 
ständen  ein  Noli  me  tangere,  weil  durch  Kürettage,  Total¬ 
exstirpation  den  sich  rückbildenden  Chorioepitheliom- 
massen  die  Möglichkeit  geboten  wird,  in  die  Blutbahn  ein¬ 
zubrechen  und  verschleppt  zu  werden.“ 

Die  Annahme  des  Zusammenhanges  zwischen  Ope¬ 
ration  und  Metastasenbildung  ist  für  viele  Fälle  eine  zwin¬ 
gende.  Ursache  und  Folge  liegen  in  ihrer  Mechanik  klar 
vor  unserem  Auge,  ebenso  wie  das  Verhalten  der  Thrombo¬ 
phlebitis  zur  Pyämie. 

Ein  mathemalischer  Beweis  läßt  sich  natürlich  nicht 
führen,  das  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Er  ist  aber  auch 
gar  nicht  notwendig. 

Es  würde  bei  dem  bekannten  Baue  des  Tumors  der 
Hinweis  auf  die  Möglichkeit,  daß  durch  die  bisherige  Ope¬ 
rationsweise  der  Metastasenbildung  Vorschub  geleistet  wird, 
genügen,  um  unsere  Ausführungen  und  unseren  späteren 
Vorschlag  plausibel  zu  machen. 

Und  bei  diesem  Sachverhalt  bedenke  man  unser  bis¬ 
heriges  Operationsverfahren !  Muß  man  sich  nicht  wundern, 
daß  nicht  jedesmal  durch  die  Operation  der  ganze  Orga¬ 
nismus  mit  Metastasen  geradezu  überschwemmt  wird? 

Die  Klinik  hat  also  bisher  die  besonde¬ 
ren  anatomischen  Verhältnisse  dieses  Tu¬ 
rn  ors  fürÜie  Operation  nicht  gewürdigt,  ihne  n 
in  der  Operationstechnik  keine  Rechnung  ge¬ 
tragen.  Es  mußi  in  erster  Linie  das  Ziel  an¬ 
gestrebt  werden,  jede  Verschleppung  des  Tu¬ 
mors  selbst  zu  vermeiden. 

Dies  hoffen  wir  zu  erreichen,  indem  wir: 

1.  die  vaginale  Totalexstirpation  aufgeben; 

2.  statt  dessen  die  Laparotomie  machen  und  ohne  den 
Uterus  zu  quetschen,  zuerst  die  spermatikalen  und  para- 
metranen  Venen  unterbinden. 

Die  Technik  (siehe  Kownatzki)  ist  dieselbe  wie 
die  bei  den  Exstirpationen  des  puerperalen  Uterus  wegen 
septischer  Thrombose  geübte;  wir  wollen  diese  später  an¬ 
läßlich  eines  Falles  näher  schildern. 

* 

Um  aber  die  enorme  Metastasierung  dieser  operativ 
behandelten  Fälle  zu  demonstrieren,  ist  es  lehrreich,  diesen 
Fällen  solche  gegenüberzustellen,  die  ohne  jeden  Eingriff 
bis  zum  Tode  verliefen. 

Wir  stellten  uns  zu  diesem  Behuf e  aus  der  vorhan¬ 
denen,  vorwiegend  deutschen  Literatur  rund  300  Fälle  zu¬ 
sammen.  Von  diesen  suchten  wir  mit  Ausschluß  der  ekto¬ 
pischen  alle  aus,  die  spontan  ohne  jede  Operation  starben 
und  bei  denen  womöglich  alle  intrauterinen  Eingriffe  ver¬ 
mieden  worden  waren,  um  dadurch  ein  ungetrübtes  reines 
Bild,  insbesonders  in  bezng  auf  die  Metastasierung  zu  ge¬ 
winnen. 

Wir  fanden  46  solche,  teils  genauer,  teils  minder 
genau  beschriebener  Fälle  auf. 

Der  klinische  Verlauf  dieser  nicht,  operierten  Fälle  isl 
schon  von  den  ersten  Autoren  glänzend  geschildert  wor¬ 
den  und  gilt  auch  heute,  so  daß  wir  ruhig  auf  dieselben 
verweisen  können.  Nur  auf  die  Albuminurie,  die  Veit 
besonders  würdigte,  möchten  wir  aus  diagnostischen 


’)  Schlagenhaufer,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1899. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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664 


Gründen  aufmerksam  machen.  Hier  wollen  wir  nur  ein¬ 
zelne,  zum  Vergleich  wichtige,  Punkte  hervorheben. 

Diese,  von  einer  Operation  unbeeinflußt  verlaufenden 
Fälle  zeigen  ziemlich  viel  Uebereinstimmendes.  Es  fehlen 
in  der  Regel  stürmische  Erscheinungen,  wie  wir  sie  bei  so 
vielen  Operierten  sehen.  Es  stehen  die  lokalen  Erscheinun¬ 
gen  im  Vordergrund,  die  Blutungen,  in  manchen  kommt  es 
zur  septischen  Infektion  vom  primären  Tumor  aus,  aber  erst 
in  späteren  Stadien  machen  sich  Lungenerscheinungein 
geltend. 

Die  mittlere  Lebensdauer  dieser  Fälleist 
wesentlich  größer  als  die  der  operierten  auf 
Tafel  II  verzeichn ete n  Fäll e. 

JV1  c .  K  enna  hat  ausgerechnet,  daß  die  mittlere  Lebens¬ 
dauer  von  der  Stellung  der  Diagnose  bis  zum  Tode  bei 
nicht  operierten  Fallen  5 Vs  Monate  beträgt;  die  Fälle  der 
Tafel  II  sterben  fast  alle  vier  bis  fünf  Wochen  nach  der 
Operation. 

Außerordentlich  lehrreich  und  für  die  Auffassung  des 
Tumors  von  großer  Bedeutung  ist  das  Studium  der  Meta¬ 
stasierung. 

Wir  kamen  dabei  zu  dem  überraschenden  Resultate, 
daß  in  .den  Fällen,  die  unberührt  von  operativen  Eingriffen 
sterben,  die  Metastasen  in  der  Regel  sehr  spärlich  sind 
und  ausgebreitete  Metastasen  die  Ausnahme  bilden. 

Nur  in  der  Lunge  und  in  der  Scheide  sind  die  Meta¬ 
stasen  nahezu  konstant;  da  dies  aber  bei  allen  FWllen  zu¬ 
trifft,  die  an  dem  malignen  Chorioepitheliom  zugrunde 
gehen,  gleichgültig,  ob  mit  oder  ohne  Operation,  so  bleiben 
zum  Vergleiche  nur  die  inneren  Organe  übrig. 

Wir  konnten  aus  unserer  Zusammenstellung  46  Fälle 
auffinden,  die  spontan  starben  und  obduziert  wurden. 

Von  diesen  46  Fällensind  in  28  dieinneren 
Organe  frei  von  Metastasen,  das  ist  mehr  als 
die  Hälfte  aller  Fälle! 

18  m  a  1  sind  Metastasen  in  den  inneren  Or¬ 
ganen  vorhanden  und 

8 m a  1  nur  in  einem  Organ, 

4  m  a  1  in  zwei  Organen, 

6 m a  1  sind  zahlreiche  Metastasen  vor¬ 
handen. 

Das  ist  der  Status  bei  den  ohne  Operation  Ver¬ 
storbenen. 

Vergleichen  wir  damit  die  Obduktionsergebnisse  der 
post  Operationen!  rasch  zugrunde  gehenden  Individuen,  so 
sind  die  Differenzen  ganz  gewaltige. 

Lungen-  und  Scheidenmetastasen  fehlen  auch  hier  in 
keinem  Falle. 

W  ä  h  r  e  n  d  a  b  e  r  b  e  i  den  ohne  0  p  e  r  a  t  i  o  n  V  er¬ 
storbenen  in  der  Hälfte  aller  Fälle  die  inne¬ 
ren  Organe  frei  waren,  sind  hier  die  inneren 
Organeohne  Ausnahme  vonMetastasendurch- 
setzt. 

Von  18  Fällen  finden  wir: 

10 mal  allgemeine  Metastasen, 

6mal  sind  mehrere  Organe  betroffen  und  nur 

2mal  einzelne  Organe ; 

letztere  beiden  Fälle  könnten  überhaupt  ausgeschieden  wer¬ 
den,  da  sie  nicht  direkt  an  den  [Folgen  des  malignen  Chorio- 
epithelioms,  sondern  der  eine  an  Anämie,  der  andere  an 
Lungenembolie  zugrunde  ging.  Mehrfach  findet  sich  die 
Angabe,  daß 'die  Lungen  ganz  durchsetzt,  förmlich  von  Meta¬ 
stasen  substituiert  sind. 

Es  sind  also  die  inneren  Organe  der  ohne 
Operation  Verstorbenen  viel  weniger  Meta¬ 
stasierung  ausgesetzt  als  bei  den  rasch  nach 
der  Operation  Verstorbenen. 

Das  spricht  doch  u  n  b  e  d i n  g  t  f  ü  r  unsere 
Behauptung,  daß  die  Bösartigkeit  vieler  ope¬ 
rierter  Fälle  auf  einer  künstlich  h  e  r  b  e  i  ge¬ 
führten  Metastasierung  beruht. 

♦ 


Nun  ist  es  eine  Tatsache,  die  sich  an  der  Hand  der 
von  uns  gesammelten  Krankengeschichten  feststellen  läßt, 
daß  die  Rezidive  nach  der  Totalexstirpation  des  Uterus 
beim  malignen  Chorioepitheliom  nur  eine  untergeordnete 
Rolle  spielt  (siehe  später)  im  gewaltigen  Gegensatz  zu  der 
Rezidive  der  anderen  malignen  Tumoren.  Man  findet  unter 
vielen  Fallen  nur  wenige,  die  man  mit  Sicherheit  als  Rezi¬ 
dive  deuten  könnte. 

Da  wir  also  die  lokale  Rezidive  nur  -wenig  zu  fürchten 
haben,  so  kommt  also  prognostisch  alles  darauf  an : 

1.  ob  zur  Zeit  der  Operation  bereits  Me¬ 
tastasen  vorhanden  sind  oder  nicht; 

2.  daß  jede  künstliche  Metastasierung 
unterbleibe. 

Das  löst  die  wichtige  Frage  aus,  wann  im 
a  1 1  g  e  m  einen  beim  malignen  Chorioepithe-  t 
Horn  Metastasen  entstehen,  das  heißt,  in  Fäl¬ 
len,  d  i  e  von  jedem  Eingriff  verschont  blieben. 

W  enn  man  bedenkt,  d a ß  in  den  spontan 
verlaufenden  Fällen  in  der  Hälfte  unserer 
Zusa  m  menstellung  n  u  r  Lunge  n-  und  S  c  h  e  i- 
d  e n m etastasen  vorhanden  sind,  so  kann  man  = 
sagen,  d  a  ß  b  e  i  den  unberührten  Fällen  d  i  e  M  e- 
tastasenbildung  keine  allzu  heftige  ist,  daß 
sie,  da  die  Lungenmetastasen  ziemlich  rasch 
zum  Tode  führen,  spät  auf  treten  und  wahrscheinlich  zu  , 
einer  Zeit  noch  fehlten,  als  die  Fälle  noch  gut  operabel 
waren.  i 

Auch  der  [Umstand,  daß  doch  ein  beträchtlicher  Pro¬ 
zentsatz  von  Fällen  glücklich  operiert  wird,  drängt  uns  zu 
der  Annahme,  daß  nicht  nur  bei  der  Operation  Metastasen  ■ 
vermieden  werden,  sondern  daß  auch  zur  Zeit  der  Ope-  ; 
ration  die  inneren  Organe  frei  waren. 

Aus  den  vorhandenen  kasuistischen  Mitteilungen 
konnten  wir  uns  über  diese  Frage  nicht  orientieren. 

Es  ist  an  und  für  sich  schwierig  und  oft  unmöglich, 
kleine  Metastasen  durch  klinische  Untersuchung  exakt  aus¬ 
schließen  zu  wollen.  Dazu  kommt  noch,  daß.  Kranken¬ 
geschichten,  die  über  den  allgemeinen  körperlichen  Zustand  : 
genauer  berichten,  gar  nicht  so  häufig  sind.  I 

Doch  kamen  wir  auf  eine  andere  Weise  zum  Ziele.  1 

Wir  suchten  aus  den  zusammengestellten  300  Fällen 
alle  heraus,  die  plötzlich  vor  oder  während  der  Ope-  : 
ration,  sowie  solche,  die  unmittelbar  nach  der  Operation 
an  den  Folgen  derselben  starben,  bei  denen  sich  aber  noch 
keine  Metastasen  durch  die  Operation  entwickeln  konnten. 
(Tab.  III.) 

Es  sind  27  Fälle,  davon  sind: 

15  frei  von  allen  Metastasen! 

12  weisen  Metastasen  auf,  doch  müssen  wir 
diese  etwas  genauer  betrachten; 

5  werden  von  den  Autoren  als  inoperabel  oder  hoff¬ 
nungslos  bezeichnet; 

3  sind  weit  vorgeschritten,  die  Blutung  bestand  neun 
bis  zwölf  Monate  ;  , 

3mal  sind  Metastasen  in  Fällen,  in  denen  operative 
Eingriffe  vier  Totalexstirpation  vorangegangen  sind; 

Imal  fehlen  nähere  Nachrichten. 

Das  sind  ganz  ausnehmend  günstige  V e r- 
hältnisse!  Mehr  wie  die  Hälfte  der  Fälle  frei 
von  M  etastasen  und  Metastasen  nur  d  o  r  t  v  o  r- 
!h  an  den,  wo  die  Fälle  weit  vorgeschritten 
oder  operative  Eingriffe  der  Totalexstirpa-  ! 
t  i  o  n  vorausgegangen  waren! 

Jedenfalls  ist  der  Unterschied  in  der  Metastasierung 
in  den  drei  Tabellen  ein  geradezu  packender.  ) 

Wir  haben  uns  bemüht,  alle  erreichbaren  Fälle  aus 
der  deutschen  Literatur  und  die  leicht  erreichbaren  aus 
der  fremden  zusammenzutragen;  wenn  auch  die  Tabellen 
dementsprechend  nicht  die  ganze  Kasuistik  - —  wir  haben 
wie  gesagt  300  Fälle  gesichtet  —  enthalten,  so  glauben 
wir  trotzdem,  daß  die  sich  aus  ihnen  ergebenden  Verhält- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


665 


nisse  der  Metastasierung  für  das  maligne  Chorioepitheliom 
allgemein  gültig  sind.  Man  beachte  nur,  wie  gut  sich  Ta¬ 
belle  1  und  III  ergänzen. 

Wenn  bei  den  ohne  Operation  Verstorbenen  die  Meta¬ 
stasen  spät  und  spärlich  auftreten,  so  stimmt  damit  schi- 
gut,  daß  in  einem  früheren  Zeitpunkte  —  (der  eben  für 
die  Operation  in  Betracht  kommt  —  Metastasen  in  einer 
großen  Zahl  noch  fehlen. 

Da  Metastasen  anfangs  und  eine  gewisse  Zeitlang  in 
der  Regel  fehlen  —  Ausnahmen  gibt  es  immer  —  später 
aber  ohne  Ausnahme  auftreten,  so  ist  es  liier  wohl  von 
der  größten  Bedeutung,  möglichst  früh  zur  Operation  fern 
gelangen.  Wenn  dann  auch  bei  der  Radikaloperation  Meta¬ 
stasen  vermieden  werden,  so  ist  die  größte  Aussicht  auf 
dauernde  Heilung  gegeben. 

Abernoch  eine  ß  e  d  i  n  g  u  n  gistzuerfüllen 

Esgenü. gtnicht,  erstbeiderTotalexstirpation 

darauf  bedacht  zu  sein,  künstliche  Metasta¬ 
sierung  zu  vermeiden.  Es  sind  alle  Eingriffe 
a m  U t e r  u  s  bei  bestehendem  malignen  C h o  r  i o- 
epHheliom  geeignet,  Verschleppung  der  G e- 
sch wulstteile  zu  bewirken.  Sehr  gef ä h r  1  i c h 
ist  insbesondere  das  Kürette  ment. 

Wir  wollen  dies  an  der  Hand  der  folgenden  Beob¬ 
achtung  zeigen  und  dabei  gleichzeitig  die  Operationstechnik 
etwas  genauer  schildern. 

M.  J.,  36  Jahre,  aufgenommen  am  3.  August  1910. 
Die  Frau  hat  fünfmal  am  normalen  Ende  geboren,  nie 
abortiert,  die  letzte  Geburt  erfolgte  am  24.  Mai  1910.  Die  Schwan¬ 
gerschaft  verlief  ganz  normal.  Die  Geburt  erfolgte  am  Schwanger¬ 
schaftsende  mit  ausgetragenem  Kinde.  Die-  Nachgeburtsperiode 
verlief  ohne  Störung.  Das  Wochenbett  afebril.  Sie  stand  nach 
sechs  lagen  auf,  stillte  das  Kind  und  fühlte  sich  ganz  wohl; 
sie  bemerkte  auch  während  der  ersten  vier  Wochen  nach  dein 
Partus  keinen  Blutabgang  aus  dem  Genitale.  Zu  Beginn  der  fünften 
V  oche  nach  der  Geburt  trat  plötzlich  eine  starke  Blutung  auf, 
welche  mit  wechselnder  Intensität  bis  Ende  Juli  anhielt.  Wegen 
dieser  Blutungen  wurde  die  Patientin  am  1.  August  kürettiert. 
Die  ausgeschaften  Partien  wurden  mikroskopisch  untersucht  und 
die  Diagnose  auf  malignes  Chorionepitheliom  festgestellt.  Bei 
der  Ausräumung  fand  sich  die  Scheide  frei  von  Meta 
stasen. 

Status  praesens:  Kleine  Frau,  stark  abgemagert,  sein- 

anämisch. 

Lungenbefund  negativ.  Am  Herzen  ein  systolisches  Geräusch. 

Im  Harn  kein  Albumen. 

Genitalbefund:  Nahe  am  Introitus  vaginae  und  in  der  Mitte 
der  hinteren  Vaginalwand  sieht  man  je  einen  über  linsengroßen 
bläulichen  Knoten  mit  zentralem  Epithelverlust.  Uterus  °retro- 
vertiert  vergrößert.  Das  rechte  Parametrium  verdickt. 
Die  Adnexe  sind  nicht  genau  abzutaste-n.  Aus  dem  äußeren  Mutter¬ 
mund  Hießt  eine  bräunliche  Flüssigkeit  heraus. 

Die-  vaginalen  Metastasen  haben  sich  in.  wenigen  Tagen 
im  Anschlüsse  an  das  Kürettement  entwickelt. 

Es  wurde  die  Entfernung  des  Uterus  und  der  Scheide  und 
zwar  nach  unserem  Vorschlag  unter  gleichzeitiger  Unterbindung 
der  großen  abführenden  venösen  Stämme  im  kleinen  Becken  be¬ 
schlossen. 

Am  Morgen  vor  der  Operation  klagte  die  Patientin  über 
stärkere  Schmerzen  im  Abdomen.  Temperatur  38-5. 

Operation  in  Schl  eich  scher  Narkose.  Es  wird  zunächst 
die  Vagina  am  Introitus  Umschnitten  und  auf  eine  Strecke  von 
der  Blase  und  vom  Rektum-  abpräpariert  und  hierauf  in  Becken¬ 
hochlagerung  die  Laparotomie  in  der  Linea  alba  ausgeführt.  Im 
Douglas  finden  sich  zwei  Eßlöffel  Eiter.  Das  Peritoneum  parietale 
und  viscerale  injiziert.  Um  den  Uterus  nicht  zu  quetschen, 
werden  zwei  starke  Klemmen  am  Ligamentum  latum  nahe  der 
Ueruskante  beiderseits  angelegt  und  an  diesen  der  Uterus  vor¬ 
gezogen.  Hierauf  werden  zunächst  rechts  die  Spermatikalge-fäße 
unterbunden  und  durchtrennt,  nach  Unterbindung  des  Ligamentum 
rotundum  wird  das  Ligamentum  latum  bis  zum  Parametrium 
durchtrennt  und  die  Blätter  des  Ligamentum  latum  auseinander- 
gezogen.  Es  zeigt  sich  hiebei,  daß  das  Bindegewebe  in  der  Tiefe 
etwas  infiltriert  und  von  einzelnen  bereits  thrombosierten  Venen¬ 
stämmen  durchzogen  war.  Das  weitere  Verfahren,  um  die  hypo- 
gastrischen  Venen  _  aufzusuchen,  gestaltete-  sich  so,  wie  es  von 
ko wn  atzki  für  die  Venenunterbindungen  bei  puerperaler  Pyäinio 
angegeben  ist.  Die  Art.  hypogastrica  dextra  wird  in  einer  Schlinge 


nach  innen  gezogen  und  die  Arteria  iliaca  externa  leicht  nach 
außen  disloziert.  Wegen  der  schon  bestehenden  Infiltration  des 
Bindegewebes  ist  die  Isolierung  der  unterliegenden  Venen  nicht 
leicht.  Bei  der  Präparation  reißt  sogar  die  Vena  iliaca  externa 
ein,  so  daß  wandständig  eine-  Klemme  angelegt  werden  muß; 
schließlich  gelingt  es  doch,  die  hier  in  einem  Stamme  als  Vena 
hypogastrica  in  die  Vena  iliaca  externa  mündende-  Vene  zu  iso¬ 
lieren  und  zu  unterbinden,  es  wird  sodann  die  Arteria  hypogastrica 
ligiert  und  die  Klemme  an  der  Vena  iliaca  durch  eine  wandständige 
Ligatur  ersetzt.  Links  gestalten  sich  die  Verhältnisse  einfacher. 
Nach  Unterbindung  der  Sperm atikalgef äße  werden  zwei  getrennt 
in  die  Vena  iliaca  externa  einmündende  Stämme,  die-  Vena  iliaca 
media  und  interna,  unterbunden  und  die-  Arteria  hypogastrica  eben¬ 
falls  ligiert.  Nach  l  nterhindung  dieser  Gefäße  werden  hierauf 
der  Uterus  samt  Adnexen  und  die  ganze  Vagina  entfernt.  Die 
param-etrane  Wundhöhle  wird  nach  unten  drainiert  und  das  Peri¬ 
toneum  darüber  geschlossen. 

1.  Obduktionsbefunde. 


Spontan  ohne  Operation  Verstorbene. 


1 

Metastasen 

— 

Nr 

Autor 

Lunge 

Scheide 

Innere 

Organe 

1 

Chiari  1 

+ 

+ 

0 

i 

2 

»  2 

+ 

+ 

0 

3 

»  3 

+ 

+ 

Ovar, 

Lymphdrüsen 

■ 

4 

Pieiffer 

+ 

4- 

0 

5 

H.  Groom 

+ 

-j- 

0 

6 

Pestalozza  1 

+ 

4" 

Lig.  latum 

7 

»  2 

+ 

0 

0 

8 

»  3 

+ 

0 

0 

9 

»  4 

+ 

+ 

0 

10 

Marchand 

F 

4- 

0 

' 

11 

Krebs 

0 

.  0 

0 

12 

W.S.  Wiliams 

+ 

+ 

0 

13 

Kaman 

+ 

0 

Leber 

14 

Gutenplan 

+ 

+ 

0 

15 

Spencer 

+ 

0 

0 

16 

Langenbeck 

4" 

+ 

0 

L7 

A.  Pick 

0 

4- 

0 

18 

J.  Schmidt 

+ 

-F 

0 

19 

Kahlden 

+ 

+ 

0 

20 

Lomer 

+ 

I 

~T~ 

0 

21 

Lichtenstern 

+ 

-F 

Großhirn, 

Blase 

22 

Wilten 

0 

-F 

0 

. 

23 

Bacon 

+ 

0 

Lig.  latum 

]  24 

Resinelli 

+ 

Leber 

25 

Winkler  1 

+ 

+ 

o 

26 

27 

»  2 

F 

+ 

Lig.  latum, 
Lymphdrüsen 

Fränkl  11. 

+ 

-F 

0 

28 

Apfelstaedt 

+ 

0 

Milz 

29 

Kleinhans 

-F 

0 

30 

Hofmeier 

+ 

0 

0 

31 

Kaltenbach 

0 

0 

0 

32 

Svaine 

+ 

0 

0 

33 

Schmort 

+ 

0 

0 

34 

Lockyer 

+ 

0 

0 

35 

Aszel 

+ 

+ 

Darm 

36 

Schlagen- 

0 

Mieren,  Milz 

haufer 

+ 

u.  Venen 

37 

Jaenbesch 

0 

+ 

Blasenhals 

38  1 

Fränkl  1 

+ 

+ 

Leber,  Nieren, 
Milz,  Gehirn 

Allgemeine 

Metastasen 

39 

Inglisch  u. 

+ 

Bonen 

0 

Gehirn 

40 

H.  Meyer 

? 

0 

Ö 

Omentum, 

41 

HeiJier 

+ 

0 

Lig.  latum, 

Ovarien 

42  1 

v.  Franqud 

+ 

+ 

Parametrium, 

Nebennieren 

43 

Marchand- 

Risl 

+ 

+ 

+ 

Allgemeine 

Metastasen 

Ovarien. 

Allgemeine 

Metastasen 

44: 

Krömer 

+ 

+ 

Parametrium, 
Jrüsen, Venen 

45 

Kelly  u. 

Allgem.  Meta- 

46 

Workman 

+ 

+ 

1 

T 

stasen,  schon-  in  j 
der  Schwanger¬ 
schaft  einsetzend  | 

Butz 

+ 

0 

0 

666 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


Präparat:  Uterus  vergrößert,  an  der  hinteren  Korpus  wand 
ein  kronengroßer,  nur  wenig  erhabener,  braunroter,  morscher  Tu¬ 
mor,  der  tief  in  die  Uteruswand  eindringt. 

Mikroskopischer  Befund:  Typisches  malignes  Chorioepithe- 
liom.  Gleicher  Befund  an  der  Metastase. 

Nach  der  Operation  fieberte  Pat.  noch  einige  Tage,  fühlte  sich 
aber  dann  subjektiv  ziemlich  gut.  Später  Verschlechterung  des 
Befindens. 

15.  August:  Aus  der  Vulva  ragte  ein  pflaumengroßer,  blauer 
Knoten,  welcher  leicht  blutete,  heraus ;  wird  mit  dem  Thermo¬ 
kauter  abgetragen.  Die  mikroskopische  Untersuchung  ergibt  Tu¬ 
mormassen. 

22.  September:  Unter  zunehmender  Kachexie  und  pneu¬ 
monischen  Symptomen  erfolgt  der  Exitus. 

Obduktionsbefund :  C'horioepithelioma  reeidivum  in  Form 
nekrotischer  Tumormassen  im  kleinen  Becken,  von  den  inneren 
Organen  finden  sich  nur  die  Lungen  von  Metastasen  durchsetzt. 

D’V  ser  Fall  ist  außerordentlich  lehr¬ 
reich;  man  sieh!,  was  ein  ganz  einfaches  Kü¬ 
rettement  bei  einem  malignen  C  h  o  r  i  o  e  p  i  t  h  e- 
liom  an  zu  stellen  vermag.  Es  ist  ein  direkt 
warnendes  Beispiel,  das  eindringlicher 
spricht  als  lange  Auseinandersetzungen. 

Zunächst  einige  'Worte  über  die  Operationstechnik.  Das 
Prinzip  ist,  die  abführenden  venösen  Stämme  ohne  viel 
Manipulationen,  ohne  den  Uterus  zu  quetschen,  abzubinden, 
um  eine  Ueberschwemmung  des  Organismus  mit  losge¬ 
lösten  Tumorteilen  zu  verhindern. 

Die  Technik  selbst  —  wir  haben  sie  in  der  Operations¬ 
geschichte  ausführlich  beschrieben  —  ist  ja  bekannt;  sie 
ist  dieselbe,  wie  die  abdominale  Totalexstirpation  des  Uterus 
wegen  puerperaler  septischer  Thrombophlebitis,  so  daßi  über 
die  Technik  selbst  nichts  mehr  zu  sagen  ist.  Auf  die  Be¬ 
gründung,  die  vaginale  Operation  zu  verlassen  und  nach 


der  eben  beschriebenen  Art  vorzugehen,  brauchen  wir  wohl 
auch  nicht  mehr  einzugehen.  Ist  doch  die  ganze  vorliegende 
Arbeit  eine  einzige  Begründung  dafür. 

Für  diesen  Fall  hätten  wir  doch  noch  einige  tech¬ 
nische  Bemerkungen  post  hoc  zu  machen. 

In  einem  nächsten  analogen  Falle  würden  wir  etwas 
anders  vorgehen.  Wir  würden  nicht  die  Scheide  im  Zu¬ 
sammenhänge  mit  dem  Uterus  entfernen,  sondern  lieber 
auf  die  Exstirpation  der  Scheide  verzichten  und  die  kleinen 
vaginalen  Metastasen  einzeln  mit  dem  Paquelin  entfernen. 
Die  Exstirpation  der  Schede  vergrößert  nicjit  nur  wesent¬ 
lich  den  Eingriff;  der  mechanische  Insultistein  wesentlich 
größerer  und  damit  wächst  die  Gefahr,  daßi  von  den  va¬ 
ginalen  Metastasen  aus  regionäre  Ueberschwemmungen  ver¬ 
ursacht  werden. 

Wir  würden  es  also  vorziehen,  zuerst  die  vaginalen 
Metastasen  zu  entfernen  u.  zw.  womöglich  mit  dem  Pa¬ 
quelin  und  dann  erst  vom  Bauchraume  aus  die  Venen  unter¬ 
binden  und  Iden  Uterus  exstirpieren.  — 

Wenige  Tage  nach  dem  Kürettement  werden  bei  ge-  1 
nauer  Untersuchung  zwei  kleine  vaginale  Metastasen  ent¬ 
deckt,  und  es  ist  gar  keine  Frage,  daß  auch  die  später  ge-  j 
fundenen  Lungenmetastasen  auf  denselben  Zeitpunkt  und 
dieselbe  Ursache  zurückzuführen  sind. 

Wir  halten  das  Kürettement  bei  e  i  n  e  m  be¬ 
stehenden  malignen  Chorioepitheliom  für 
einen  eminent  gefährlichen  Eingriff.  Diese 
Ueberzeugung  hatten  wir  uns  schon  lange  zuvor  verschafft, 
ehe  wir  diesen  Fäll  beobachteten.  Es  läßt  sich  an  der 
Hand  der  Literatur  zeigen,  wie  nach  der  Ausschabung  die 
Temperatur  in  die  Höhe  geht,  Schüttelfrost  einsetzt  und 
nach  wenigen  Tagen  Bluthusten  und  Lungenerscheinungon 


II.  Obduktionsbefunde. 

Rapider  Verlauf  nach  der  Operation. 


Metastasen 

Thrombosen 

Nr. 

Autor 

_ _ 

Lunge 

Scheide 

Innere  Organe 

1 

Kitsch  mann- 

+ 

_J_ 

Leber,  Milz,  Gehirn,  Schilddrüse, 

Beckenvenen 

Cristofoletti 

Dünn-  und  Dickdarm 

2 

»  II 

1 

4- 

Milz.  Gehirn 

» 

3 

Apfelstaedl 

d 

+ 

Leber,  Pankreas,  Mesenterium, 
Ovarium,  Knochen 

In  den  Beckenvenen  keine 
Thrombose 

4 

Hinz 

“1“ 

0 

Leber,  Zwerchfell,  Blase,  Ovarium, 

Sektion  nicht  komplett, 

Ileocökalgegend,  Muskulatur  der 

Beckenvenen  nicht  erwähnt 

Bauchdecke,  Perikard  ?j 

R.  Spermatika 

5 

Schmauch 

+ 

+ 

Milz,  Leber,  Niere,  Groß-  und 

Kleinhirn 

H  y  p  o  g  a  s  t  r  i  k  a  lliaka 

6 

Simonds 

+ 

+ 

Parametrium,  Leber,  Milz, 

Knochenmark 

Spermatika 

7 

Krebs 

+ 

4- 

Leber,  Schilddrüse,  Darmbein, 
Lymphdrüsen,  retroperitoneal 
und  mediastinal 

8 

Czyczewicz 

+ 

4- 

Kurzes  Referat.  Sektionsbefund 
beschränkt  sich  auf  die  Angaben 

Fast  alle  inneren  Organe 

der  allgemeinen  Metastasen 

9 

Gebhardt 

+ 

0 

Kleinhirn,  Milz,  Mesenterium, 

Beckenvenen  nicht  erwähnt 

Lymphdrüse 

V.  Iliaca,  Spermatika 

10 

Wallart 

+ 

+ 

Harnblase,  Mesenterium,  Großhirn 

11 

Stein 

4 

+ 

Blase,  Fossa  iliaca,  Bronchial- 

Beckenvenen  nicht  erwähnt 

drüse,  Leber,  Gehirn 

12 

Waldow 

+ 

+ 

Gehirn,  Milz,  Mesenterium, 
Lymphdrüsen,  Blase 

»  »  » 

0 

13 

Schuhmacher 

+ 

4 

Milz,  Gehirn,  Mediastinum, 

Lymphdrüse,  Blase 

14 

Anders  I 

+ 

+ 

Blase,  Ovarium,  Darm 

Parametrane  Venen 

15 

Krömer 

+ 

+ 

Ovarium,  Parametrium, 

Spermatikale  Venen 

Lymphdrüsen 

16 

Stiedel 

+ 

0 

Milz,  Parametrium 

17 

Hammerschlag  III 

+ 

1 

“r 

0 

Geschwulstthro m b e n  in  der 

iliaca,  cava,  hy pogastrica, 
Spermatika,  A.  p  u  1  m  o  n  a  1  i  s 

18 

Reeb 

+ 

+ 

Netz 

Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT .  1911. 


667 


III.  Obduktionsbefund  der  während  oder  kurz  nach  der  Operation  Verstorbenen. 


1  Nr. 

1  - - 

Autor 

M  e  t  a  s  t  a 

sen 

j  Vorausging 

Da 

Lunge 

Scheide 

1 

Innere 

Organe 

Ki 

■ 

1 

Lindfors 

0 

0 

0 

Blasen  mole 

1  3 

2 

Trau  ten  roth 

0 

0 

0 

Partus 

5 

3 

Me.  Kenna  (Teacher) 

0 

0 

0 

Abortus 

5 

4 

Anders 

0 

0 

0 

5 

Hammerschlag 

0 

i  0 

0 

Blasenmole 

2 

6 

Graefe 

0 

0 

0 

Abortus 

6 

7 

Schmidt  II. 

0 

0 

0 

Partus 

7 

8 

Neumann-lllich 

0 

0 

0 

Blasenmole 

n  nie 

9 

Steinhaus 

0 

0 

0 

Blasen  mole 

IV* 

10 

Schmidt  J. 

0 

0 

0 

» 

5 

11 

Hartmann  u.  Toupet 

0 

0 

0 

4 '/« 

12 

Zahn 

0 

0 

0 

? 

13 

K  lein  h  ans 

0 

0 

0 

Blasenmole 

VI 

1  '2 

2 

14 

Schmorl 

0 

0 

0 

Partus 

15 

Bauer 

0 

0 

0 

Blasen  mole 

1’/, 

16 

Sellheim 

0 

0 

0 

5  Monate  p 

•  P- 

17 

Grube  u.  Herrnschmit 

0 

0 

Mesokolon 

Lymphdrüsen 

18 

Pl'annenstiel 

-f 

0 

0 

Bl  äsen  mole 

10 

19 

Hübel 

+ 

0 

0 

2 

20 

Rosenberg 

+ 

+ 

0 

Abortus 

7 

21 

Zaboreskv 

+ 

+ 

0 

3 

22 

Krömer 

0 

Leber,  Niere 

Blasenmole 

23 

Arndt 

+ 

0 

0 

» 

9 

24 

Goetze 

+ 

+ 

Leber,  Niere 

Partus 

13 

25 

Cook  J. 

-F 

0 

Ovar 

2  V, 

26 

Ti  aute.nroth 

+ 

1 

~r 

Darm,  Leber  1 
Niere 

12 

27 

Marcband-Ahlfeld 

0 

1 

0 

Tubar- 

gravidität 

3 

28 

Scherer 

+ 

0 

Leber,  Gehirn 

Blasenmole 

4 

29 

Jurassevskv 

0 

0 

Gehirn 

» 

24 

30 

Ivlinen 

+ 

+ 

0 

Partus 

2— 

Porro.  Mikroskopisch  :  Chorioepitheliom 


iten  vaginale  Tumoren  auf,  die  im  Gesunden  exstirpiert 
.  wurden.  Tod  an  Lungenembolie 

Hoffnungsloser  Zustand 

Inoperabel.  Probelaparotomie.  Stirbt 2  Tage  p.op. 
zweimaliges  Kürettement ! 

Stirbt  während  der  Vorbereitung  zur  Operation 
an  Verblutung  aus  einer  geplatzten  Luteinzyste 

Weit  vorgeschritten 

Weit  vorgeschritten.  Tumor  in  die  Bauchhöhle 
perforiert 

Weit  vorgeschritten.  Ausräumung 
Inoperabel.  Intrauterine  Eingriffe  vor  der  Radikal¬ 
operation 

Stirbt  einen  Tag  vor  der  festgesetzten  Operation, 
zweimaliger  intrauteriner  Eingriff 
Inoperabel.  Bei  der  Aufnahme  nicht  mehr 
vernehmungsfähig. 

Primärer  Tumor  in  der  Tube  Vaginale  Metastasen. 

Sepsis  nach  Ruptur  des  Sackes 
Zweimaliger  intrauteriner  Eingriff  vor  der  Radikal¬ 
operation 


sich  geltend  machen,  ln  einem  Teile  der  Fälle  gehen  die 
Erscheinungen  zurück,  in  anderen  zahlreichen  Fällen 
kommt  es  durch  die  Ausräumung  oder  Ausschabung  zur 
Entwicklung  von  Metastasen. 

Wir  haben  schon  erwähnt,  daßi  Hammerschlag 
sich  unserer  seinerzeit  geäußerten  Ansicht  über  die  Meta¬ 
stasierung  anschließt. 

Er  sagt  wörtlich:  „Es  erscheint  wahrscheinlich,  daß 
auch  diese  Metastase  erst  nach  der  ersten  Ausräumung 
aufgetreten  ist  und  daß  also  die  Manipulation  der  Aus- 
räumuung  selbst  ein  Anlaß  zu  progredientem  Wachstum 
und  Ausbreitung  der  Geschwulst  gewesen  ist.“  Aehnliehe 
Beobachtungen,  speziell  Einsetzen  von  Lungenerscheinun¬ 
gen,  machten  v.  Franque,  Bauer,  Goetze,  Anders, 
C  h  r  o  b  a  k,  S  i  m  monds,  Kvorostansky,  D  r  i  e  s  e  n, 
Klei  nh  ans,  Garkisch,  Krebs  u.  v.  a. 

An  dieser  Tatsache  ist  gar  nicht  zu  zweifeln,  aber  ein 
Ausweg  ist  kaum  zu  schaffen;  bei  der  Totalexstirpaüon 
kann  man  präventiv  die  großen  Venen  abbinden,  um  die 
Ucberschwemmung  des  Organismus  mit  Geschwulst¬ 
elementen  zu  verhüten.  Hier  fehlt  aber  jeder  Rat. 

Das  einfachste  wäre,  die  klinische  Diagnose  so  zu 
vertiefen,  daß  man  auf  die  klinische  Untersuchung  allein 
gestützt,  die  exakte  Diagnose  machen  könnte.  Das  ist  aber 
heute  für  die  meisten  Fälle,  die  noch  keine  vaginalen  Meta¬ 
stasen  haben,  unmöglich,  oder  nicht  verläßlich  genug,  um 
daraufhin  einen  so  großen  Eingriff,  wie  es  die  abdominale 
Totalexstirpation  ist,  zu  wagen.  Wir  können  die  mikro¬ 
skopische  Untersuchung,  auch  wenn  wir  vor  Ueberschätzung 
derselben  gewarnt  haben,  nicht  entbehren  und  können  uns 


ohne  Ausschabung  oder  Ausräumung  das  notwendige  Ma¬ 
terial  nicht  verschaffen. 

Wir  sehen  auf  der  einen  Seite  die  Gefahr,  welche 
die  Ausschabung  bei  einem  etwa  bestehenden  Chorioepithe¬ 
liom  provozieren  kann;  auf  der  anderen  Seite  ist  in  sehr 
vielen  Fällen  die  diagnostische  Ausschabung  nicht  zu  um¬ 
gehen. 

Es  ergibt  sich  daraus  daß  wir  bei  Verdacht  auf  ein 
Chorioepitheliom  jeden  intrauterinen  Eingriff  so  viel  als 
möglich  vermeiden;  ist  dies  nicht  möglich,  so  dürfen  wir 
ihn  mit  hur  größter  Vorsicht  und  Zartheit  und  im  Bewußtsein 
der  drohenden  Gefahr  ausführen. 

(Schluß  folgt.) 


Aus  der  medizinischen  Klinik  in  Florenz. 

Ueber  vertebrale  und  linksseitige  paraverte¬ 
brale  Leberdämpfung.*) 

Von  Prof.  P.  ttrocco,  Direktor  der  Klinik. 

Ich  möchte  kurz  über  ein  neues  Symptom  bei  der  Per¬ 
kussion  an  der  Basis  der  rückwärtigen  Thoraxhälfte  be¬ 
lichten,  das  ohne  Schwierigkeit  nachzuweisen  ist  und  dem 
eine  nicht  geringe  klinische  Bedeutung  zukommt. 

In  den  Lehrbüchern  der  physikalischen  Semiotik  heißt 
cs,  daß  die  obere  Grenze  des  absoluten  Dämpfungsbezirkes 
der  Leber  an  der  Rückseite  (gewöhnlich  im  Niveau  des 
zehnten  Interkostalraumes  gelegen)  rechts  von  der  Wirbel¬ 
säule  ausgeht,  um  die  rechte  Thoraxhälfte  herumlaufend, 

*)  Auszugsweise  schon  veröffentlicht  in  der  Riforraa  Medica, 
Jahrg.  XXVII.,  Nr.  1. 


G68 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


vorne  die  Mittellinie  des  Sternums  kreuzt  und  unge¬ 
fähr  bis  zur  Mitte  des  von  der  linken  Paras  ternallinio 
einerseits  und  der  linken  Mamilla  andrerseits  begrenzten 
Raumes  reicht. 

Jedoch  die  besagte  obere  Grenze  des  absoluten  Däm¬ 
pfungsbezirkes  der  Leber  kreuzt  die  Mittellinie  auch  auf  der 
Rückseite  und  reicht  nach  links  entweder  in  horizontaler 
Richtung  oder  leicht  nach  abwärts  geneigt  verlaufend  bis 
durchschnittlich  3V2  bis  5  cm  über  die. Verbindungslinie  der 
Dornfortsätze  hinaus. 

Welnn  die  Leber  entweder  im  ganzen  oder  nur  im 
Bereiche  des  linken  Lappens  vergrößert  ist,  so  kann  die 
obere  ‘Grenze  des  absoluten  Dämpfungsbezirkes  an  der  Rück¬ 
seite  die  Mittellinie  um!  7  bis  8  bis  10  cm,  ja  —  wie 
ich  beobachtet  habe  —  sogar  um  12  cm  überschreiten. 

In  den  ersten  Lebensjahren  ist  der  bezeichnete  Be¬ 
zirk  verhältnismäßig  länger  als  bei  erwachsenen  Personen 
und  solchen  in  vorgerücktem  Alter. 

Wenn  die  obere  Grenze  der  absoluten  Leberdämpfung 
rechts  hinten  sich  infolge  Volumsveränderung  oder  Ver¬ 
schiebung  des  Organes  in  loto  nach  oben  oder  nach  unten 
bewegt,  so  verschiebt  sich  im  selben  Sinne  gewöhnlich  auch 
der  vertebrale  und  linksseitige  paravertebrale  Bezirk  der 
Leberdämpfung. 

Die  eben  erwähnten  semiotischen  Befunde,  auf  die 
meines  Wissens  bisher  noch  niemand  hingewiesen  hat, 
stimmen  'mit  dem  überein,  was  uns  die  topographische  Ana¬ 
tomie  der  Leber  zeigt,  die  in  ihrem  hinteren  Rande  ent¬ 
sprechend  der  Wirbelsäule  eine  Inzisur  hat,  um  sich  dem 
Vorspringen  des  Wirbelkörpers  anzupassen  und  in  diesem 
Einschnitt  verlaufen  die  Cava  ascendens,  die  Aorta,  der 
Oesophagus  und  der  Ductus  thoracicus. 

Jenseits  der  Wirbelsäule  verläuft  der  hintere  Rand  des 
dünneren  linken  Leberlappens  alsbald  nach  links  vorne  und 
überlagert  den  Fundusanteil  des  Magens.  Wenn  jedoch  die 
Leber  vergrößert  ist,  kann  der  besagte  Rand  seine  Annähe¬ 
rung  und  den  indirekten  Kontakt  mit  der  hinteren  Thorax¬ 
wand  noch  einige  Zentimeter  weiter  beibehalten,  selbst  bis 
vier  Querfinger,  wie  ich  es  an  dem  gut  erhaltenen  Kadaver 
einer  Frau  beobachten  konnte,  die  an  einer  akuten  Vergif¬ 
tung  gestorben  war. 

Ich  begnügte  mich  nicht  mit  der  Nachprüfung  am 
anatomischen  Präparat  und  habe  auch  die  Radioskopie  zum 
Vergleiche  herangezogen,  die  mir  ebenfalls  die  oberwähnten 
semiotischen  Befunde  bestätigte. 

Ich  veröffentlichte  das  neue  Symptom,  nachdem  ich 
es  an  mehr  als  300  Fällen  festgestellt  habe;  ich  war  jedesmal 
darauf  bedacht,  es  mit  der  oberen  Grenze  der  absoluten 
Leberdämpfung  links  vorne  zu  vergleichen  und  habe  hie¬ 
durch  eine  weitere  Bestätigung  für  seinen  klinischen  Wert 
gefunden. 

Auf  die  verschiedenen  Fälle,  in  denen  ich  Gelegenheit 
hatte,  das  besagte  Symptom  festzustellen,  will  ich  nicht 
näher  eingehen  und  möchte  nur  eines  Falles  Erwähnung 
tun,  in  dem  es'  sich  um  eine  große  Wanderleber  bei  einer 
abgemagerten  Multipara  mit  allgemeiner  Splanchnoptose 
handelte.  In  diesem  Falle  wurde  die  vergleichende  Bestim¬ 
mung  der  oberen  Grenze  des  Dämpfungsbezirkes  der  Leber 
an  der  Rückseite  bei  sitzender  Stellung  der  Patientin  und  in 
Rückenlage  (die  Patientin  war  auf  zwei  Stühle  gelagert  und 
es  wurde  von  unten  nach  oben  perkutiert)  ausgeführt  und 
ergab  in  sitzender  Position  eine  deutliche  Verschiebung  der 
Grenze  nach  unten  um  IV2  cm,  sowohl  im  rechten  hinteren, 
als  auch  im  linken  hinteren  Anteil;  und  der  linke  Abschnitt 
maß  5V2  cm  auf  der  Vorderseite,  wie  auf  der  Rückseite. 

Die  Perkussion  muß  bei  der  Feststellung  des  besagten 
Symptomes  mit  einer  gewissen  Kraft  ausgeführt  werden 
und  es  bedarf  etwas  Uebung.  bevor  man  es  leicht  und  sicher 
auffinden  kann. 

Man  perkutiert  in  methodischer  Weise  von  oben  nach 
unten,  zuerst  entlang  der  rechten  Paravertebrallinie  a,  dann 
entlang  der  Wirbelsäule  b,  sowie  links  von  derselben,  ent¬ 
sprechend  den  Linien  c,  d,  e,  u.  zw.  so,  daß  man  jedesmal 


die  Stelle,  wo  der  Thoraxschall  aufhört  und  die  Leberdäm-  I 
pfung  beginnt,  durch  ein  Zeichen  markiert.  Man  gelangt  so 
schließlich  bis  zur  Linie  f,  welche  den  links  von  der 
Wirbelsäule  gelegenen,  beinahe  horizontal  verlaufenden  Ab-  i 
schnitt  der  Leberdämpfung  begrenzt.  Sobald  man  die  Linie  f  1 
erreicht  hat,  empfiehlt  es  sich  von  links  nach  rechts,  ent-  | 
lang  der  Horizontalen  i — g,  in  der  Richtung  des  Pfeiles  1 
zu  perkutieren,  um  den  Punkt  g,  die  äußere  Begrenzung 
des  linken  Anteiles  der  Leberdämpfung  genau  festzustellen. 

Die  Distanz  g — h  wird  mit  dem  Bandmaß  festgestellt;  ! 
beträgt  sie  mehr  als  4 V2  bis  5  cm,  so  bedeutet  dies  eine  , 
Vergrößerung  des  linken  Leberlappens. 

Es  ist  wohl  überflüssig  zu  betonen,  daß  weder  der  1 
obere  Anteil  der  Nierendämpfung,  noch  der  hintere  obere  i 
Anteil  der  Milzdämpfung  bei  dem  Zustandekommen  der 
von  mir  links  hinten  festgestellten  Leberdämpfung  irgendeine 
Rolle  spielen.  Jetzt  noch  wenige  Worte  über  die  Verwer¬ 
tung  und  die  klinische  Bedeutung  des  neuen  Symptoms. 

Ich  möchte  vor  allem  betonen,  daß  das  Symptom  uns  | 
lehrt,  daß  die  objektive  Untersuchung  der  Leber  sich  in  ! 
methodischer  Weise  auch  auf  die  Gegend  über  der  Wirbel-  ' 
säule  und  links  von  derselben  erstrecken  muß;  und  wenn 
die  Bestimmung  der  oberen  Grenze  des  Dämpfungsbezirkes  j 
der  Leber  im  allgemeinen  eine  nützliche  Ergänzung  der 
methodischen  Perkussion  des  Organes  darstellt,  so  trägt 
sie  speziell  dazu  hei,  uns  zu  zeigen,  um  wieviöl  der  linke 
Lappen  die  Mittellinie  überschreitet. 

Mit  anderen  Worten,  man  darf  bei  der  perkutorischen  : 
Untersuchung  der  Leber  die  vertebrale  und  linkseitige  para¬ 
vertebrale  Zone  nicht  außer  acht  lassen.  Ja,  es  kommen 
auch  Fälle  vor,  in  welchen  die  methodische  Untersuchung 
der  genannten  Regionen  eine  kleine  und  eng  umschriebene 
organische  Veränderung  der  Leber  offenbaren  kann.  Dies 
war  bei  einem  unserer  Kranken  der  Fall,  den  ich  im  vorigen  i 
Herbst  während  der  Ferien  gesehen  habe,  bei  welchem 
der  Befund,  daß  der  linke  obere  Rand  des  Leberdämpfungs-  j 
bezirkes  auf  der  Rückseite  nach  oben  verschoben  und  un¬ 
regelmäßig  war,  uns  veranlaßte,  einen  zirkumskripten  Leber¬ 
abszeß  zu  diagnostizieren,  der  in  den  übrigen  Abschnitten.  I 
des  Leberbezirkes  keinerlei  semio tische  Anzeichen  seines  j 
Vorhandenseins  ergehen  hatte. 

In  Fällen,  wo  das  Organ  in  seiner  Gesamtheit  ver¬ 
größert  ist,  kann  der  Bezirk  der  Leberdämpfung  an  der  Rück¬ 
seite  sich  links  von  der  Mittellinie,  wie  auch  nach  oben  j 
hin  in  noch  weit  beträchtlicherem  Maße  ausdehnen.  In 
diesen  Fällen  erleichtert  uns  die  erwähnte  methodische  Per¬ 
kussion  des  Organes  auf  der  Rückseite  bei  Vergleich  der  ' 
rechten  mit  der  linken  Seite  die  Feststellung,  sowie  die  : 
Interpretation  der  oberen  Grenze  des  besagten  Dämpfungs-  j 
bezirkes  auf  der  linken  Seite  des  Rückens;  anderseits  ist 
leicht  einzusehen,  daß  man  ohne  die  geschilderte  metho¬ 
dische  Perkussion  sich  bezüglich  der  Beurteilung  dieser 
basalen  Dämpfung  an  der  linken  hinteren  Thoraxseite  leicht 
Täuschungen  hingeben  kann  und  daß  man  früher  diesbezüg¬ 
lich  auch  oft  in  Jrrtümer  verfallen  ist. 

Nicht  'selten  kommt  es  in  der  Praxis  vor,  daßiman  sich 
in  Verlegenheit  befindet,  wenn  man  zu  entscheiden  hat, 
ob  ein  Streifen  einer  basalen  Dämpfung  an  der  rechten  hin- 


Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


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(eren  I  horaxseite  der  vergrößerten,  resp.  nach  oben  ver¬ 
lagerten  Leber  oder  vielmehr  irgendeiner  Verdichtung  an  der 
Lungenbasis  zuzuschreiben  ist;  auch1  die  Auskultation  ver¬ 
mag  diese  Fälle  nicht  immer  aufzuklären.  Jetzt  wird  man 
mir  über  Wirbelsäule  und  links  von  derselben  zu  perku- 
tieren  brauchen,  um  festzustellen,  bis  wie  weit  der  obere 
Rand  der  Leberdämpfung  auf  der  rechten  Seite  reicht  und 
ob  oberhalb  des  genannten  Niveaus  eine  Dämpfungszone 
ist,  die  einer  Verdichtung  der  Lunge  zuzuschreiben  wäre 

Das  Gleiche  gilt  für  die  Fälle,  in  denen  Unsicherheit 
bestehen  kann,  ob  es,  sich  um  die  Leberdämpfung  oder  um 
Dämpfung  infolge  zirkumskripter  basaler  Pleuritis  handelt. 

Kurz,  man  kann  im  allgemeinen  mittels  der  metho¬ 
dischen  Perkussion  der  Gegend  der  letzten  Dorsalwirbel 
und  der  Zone  links;  von  der  Wirbelsäule  die  obere  Grenze 
der  Leberdämpfung  rechts  hinten  bestimmen ;  und  dies  kann 
liir  den  Arzt  auch1  eine  äußerst  nutzbringende  Feststellung 
werden,  wenn  es  sich  darum  handelt,  rechts  an  der  Thorax¬ 
basis  eine  Explorativpunktion  endothorakisch  und  nicht  etwa 
in  die  Lebersubstanz  auszuführen. 

Ich  könnte  noch  mehr  praktische  Anwendungen  des 
neuen  Symptoms,  das  ich  beschrieben  habe,  aufzählen,  um 
zu  prognostizieren,  claßi  es  sehr  bald  zu  den  Symptomen 
gehören  wird,  welche  der  Arzt  Tag  für  Tag  bei  der  Thorax¬ 
perkussion  festzustellen  pflegt. 


Aus  der  dermatologischen  Klinik  der  k.  k.  Universität 
Innsbruck.  (Vorstand:  Prof.  Merk) 

Koinzidenz  von  Herpes  zoster  und  Psoriasis 

vulgaris. 

Von  Dr.  Georg  Gjorgjeviö,  Assistenten  der  Klinik. 

Mit  den  experimentellen  Untersuchungen  K  ö  b  n  e  r  s 4) 
war  auf  das  Wesen  der  Psoriasis  ein  neues  Licht  gefallen. 
Während  Hebra")  noch  lehren  konnte,  daß  Hautreize  an 
und  für  sich  niemals  Psoriasis  erzeugen  —  welchen  Satz  1 
man  allerdings  nicht  ganz  klar  deuten  kann  —  erfuhr  man  1 


und  so  weiter,  an  der  lädierten  Haut  bei  Psoriatikern  die 
Krankheit  auftrat.  Endlich  wurde  es  bekannt,  daß  die  Pso¬ 
riasis,  wenn  sie  in  ihrem  Verlaufe  von  anderen  Hautkrank¬ 
heiten  kombiniert  wurde,4)  sich  an  diesen  Kombinations¬ 
stellen  entwickelte. 

Ein  solches  Zusammentreffen  von  Psoriasis  und  Herpes 
zoster  beobachteten  (zitiert  nach  Grosz)  Pringle,  sowie 
Rebreyrend  und  L  o  m  b  a  r  d. 

An  unserer  Klinik  hatten  wir  jüngst  Gelegenheit,  eine 
solche  Kombination  zu  beobachten,  und  es  sei  auf  sie  im 
folgenden  des  näheren  eingegangen. 

D.  J.,  kam  mit  40  Jahren  am  20.  November  1910  zur  Auf¬ 
nahme  an  die  Klinik.  Seine  Psoriasis  datierte  er  seit  zwei  Jahren 
und  die  ersten  Herde  waren  an  beiden  Knien  aufgetreten ;  sie  hatte 
nie  zu  einer  starken  Ausbreitung  auf  der  übrigen  Haut  geführt, 
wenn  auch  ab  und  zu  eine  oder  die  andere  Hautstelle  ergriffen 
war.  Er  war  auf  die  verschiedenste  Weise  äußerlich  behandelt 
worden ;  im  August  1910  bekam  er  jedoch  intern  Arsen.  Vier 
Wochen  vor  der  Aufnahme  entwickelte  sich  nach  seiner  Angabe 
an  der  linken  Brustseite  in  bandförmiger  Ausbreitung  von  hinten 
nach  vorne  ein  Ausschlag,  den  der  intelligente  Kranke  als  aus 
Bläschen  bestehend  beschrieb.  Das  Bild  änderte  sich  aber,  die 
Bläschen  bildeten  sich  zurück,  statt  ihrer  wurde  das  ganze  Band 
reichlich  von  neuen  Ausschlagsformen  bedeckt  und  das  war  die 
Veranlassung,  weshalb  der  Patient  das  Spital  aufsuchte. 

Befund  am  20.  November  1910: 

Typisches  Bild  einer  mäßig  ausgebildeten  Psoriasis  vul¬ 
garis  mit  münzengroßen  Herden  an  den  Streckseiten  der  Extre¬ 
mitäten  bei  einem  recht  kräftigen  muskulösen  Manne.  Bemerkens¬ 
wert  waren  nur  die  Verhältnisse  an  der  linken  Brust;  hier  zog 
sich  zwischen  der  vierten  und  achten  Rippe  ein  breites  Band 
um  die  halbe  linke  Brustseite,  welche  die  Medianlinie  nur  wenig 
überschritt;  dasselbe  war  besondere  vorne  dicht  besät  mit  steck¬ 
nadelkopfgroßen  bis  linsengroßen  Psoriasisflecken  mit  kaum  ent¬ 
wickelten  Schuppen,  die  sich  leicht  abkratzen  ließen,  worauf  die 
Basis  punktförmig  blutete ;  dazwischen  entdeckte  man  zahl¬ 
reiche  Krusten  von  ebensolcher  Größe,  wie  sie  in  Abheilung 
begriffenen  Zosterbläschen  entsprechen;  manche  derselben  waren 
stark  blutig,  andere  wieder  krustig  schuppig,  so  daß  sich  viele 
Uebergänge  von  abheilenden  Zosterbläschen  und  entstehenden 
Psoriaisisformen  annehmen  ließen.  Besonders  fielen  einige  typi- 


Linke  Brustseite:  Herpes  zoster  in  Umbildung  in  Psoriasis  vulgaris. 


nun>  daß1  besonders  junge  und  eben  ausbrechende  Psoriasis 
gerne  an  solchen  Stellen  typische  Formen  heraustrelen  läßt, 
welche  beispielsweise  durch  Nadeln  geritzt  werden. 

Es  zeigte  sich  weiter,3)  daß  nach  anderen  mechanischen 
Einflüssen,  wie  Tätowieren,  Pferdebiß,  Kuhpockenimpfung 

.  .  ')  Berliner  klin.  Wochenschr.  1878;  Vierteljahresschr.  für  Dermato- 

'Qgie  1876  und  1877;  Jahresbericht  der  schles.  Gesellschaft  für  vaterl. 

Kultur  1872. 

J)  Handbuch  der  spez.  Pathologie  und  Therapie  1860. 

3)  J  arisch,  Hautkrankheiten  1900. 


sch:-,  sich  kräftiger  abhebende,  linsengroße  Psoriasiseffloreszenzen 
auf,  die  ihrem  Aussehen  und  ihrer  Verteilung  nach  sich  direkt 
aus  größeren  Herpesbläschen  umgewandelt  haben  (siehe  Ab¬ 
bildung). 

Es  muß  als  anamnestisch  feststehend  hervorgehoben  werden, 
daß  der  Kranke  im  August  desselben  Jahres  an  der  Stelle  des 
beschriebenen  Bandes  die  ihm  gut  bekannten  Psoriasisformen 
nicht  hatte.  Aus  dem  Befunde  vom  20.  November  1910  ließ  sich 
hinwieder  deutlich  feststellen,  daß  unter  den  Psoriasisformen 


*)  Grosz  im  Handbuch  der  Hautkrankheiten  von  Mracek  1905,  Bd.  2. 


670 


WIENfcK  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


ziemlich  reichliche  Abheilungsstellen  eines  Zoster  pectoralis  sini¬ 
ster  Vorlagen. 

Im  weiteren  Verlaufe  trat  ein  Teil  der  Zosterkrusten  immer 
mehr  zurück  und  ein  anderer  Teil  wandelte  sich  in  entsprechend 
große  Psoriasisflecke  um  (siehe  Abbildung). 

Die  Diagnose  der  Psoriasis  wurde  weiter  durch  die  mikro¬ 
skopische  Untersuchung  exzidierter  Haut  aus  diesem  Gebiete  er¬ 
härtet.  _  . 

Endlich  verhielt  sich  der  beschriebene  Krankheitsherd  den 
therapeutischen  Eingriffen  gegenüber  genau  so,  wie  die  Psoriasis 
des  übrigen  Körpers.  Mit  anderen  Worten,  nachdem  die  an  unserer 
Klinik  übliche  Behandlung  (Teerpinselung  mit  nachfolgendem 
Seifenbad  und  Anwendung  einer  Pyrogallus-Ichthynat-Salbe)  durch¬ 
geführt  worden  war,  verschwanden  auch  allmählich  an  dieser 
Stelle  die  Psoriasiseffloreszenzen. 

Für  die  Aetiologie  des  Herpes  glaube  ich  wohl  zwanglos 
die  innerliche  Arsentherapie  heranziehen  zu  können,  die  der 
Patient  vor  Aufnahme  durchgemacht  hatte.  Ich  war  der  Meinung, 
daß  es  mir  gelingen  könnte,  im  histologischen  Bilde  eine  direkte 
Umwandlung  der  Herpesbläschen  in  Psoriasisforinen  nachweisen 
zu  können,  allein  es  war  mir  nicht  möglich,  dem  mikroskopischen 
Aussehen  eine  solche  Deutung  zu  geben. 

Wenn  ich  auf  die  Mitteilungen  Pringles  zurück- 
komme,  so  liegt  nach  dem  Referate  über  diese  Abhand¬ 
lung  hier  offenbar  ein  Analogon  vor,  nur  scheint  es  mir, 
daß  im  vorliegenden  Falle  die  Umwandlung  von  Herpes 
zoster  in  Psoriasis  ungemein  augenscheinlich  war,  während 
Pringle  die  Psoriasisformen  nur  um  die  Herpesstellen 
herum  entstehen  sah.  Beim  Zoster  deuten  die  Blasen  nur 
einen  Teil  des  pathologischen  Prozesses  an,  der  zum  Wesen 
dieser  Krankheit  gehört;  es  ist  bekannt,  daßi  die  entspre¬ 
chende  Umgehung  zuweilen  hyperästhetisch  und  hyper¬ 
algetisch  ist  und  daß  diese  Symptome  schließlich  in  eine 
Unterempfindlichkeit  und  Schmerzverminderung  Umschlägen 
können.  Deswegen  ergänzen  sich'  der  vorliegende  Fall  und 
der  Pringles  insoweit,  als  in  diesem  Psoriasis  um  die 
Herpesbläschen  auftrat,  während  'sie  in  meinem  aus  Herpes¬ 
bläschen  entstand. 

Lichtschädigungen  der  Haut-  und  Lichtschutz¬ 
mittel. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Leopold  Freund  in  Wien. 

Seil  den  experimentellen  Arbeiten  Hammers 
(1891),  Widmarks,  V  e  i  e  1  s  und  U  nnas  ist  es  bekannt, 
daß  verschiedene  pathologische  Zustände  der  Haut,  so  zum 
Beispiel  das  Ekzema  solare,  der  Gletscherbrand,  die  Sommer¬ 
prurigo,  die  Hydroa  aestivale,  das  Xeroderma  pigmentosum 
und  die  Pellagra  mit  der  Einwirkung  des  Lichtes  in  ur¬ 
sächlichem  Zusammenhänge  stehen.  Die  erwähnten  Unter¬ 
suchungen  ergaben  übereinstimmend,  daß  es  insbesonders 
die  kurzwelligen  Strahlen  des  Lichtes  sind,  welche  die  an¬ 
geführten  krankhaften  Veränderungen  erzeugen,  wenngleich 
eine  gewisse  schwache  Wirkung  des  Lichtes  größerer  Wellen¬ 
länge  dabei  auch  in  Betracht  kommt.  Genauere  Bestimmun¬ 
gen  der  hiebei  beteiligten  hauptsächlich  wirkenden  Spektral¬ 
zonen  stammen  aber  erst  aus  den  letzten  Jahren. 

Das  (Sonnenlicht,  welches  zur  Erde  gelangt,  findet  seine 
Grenze  bei  klarer  Luft  und  3700  m  Seehöhe  ungefähr  hei 
der  Wellenlänge  292  pp  (0.  Simony).  Auf  Gletschern  und 
Eisfeldern  kommt  neben  der  direkten  Sonnenstrahlung  noch 
die  Wirkung  des  reflektierten  Lichtes  in  Betracht, 
welches  nach  den  Untersuchungen  Hammers  und  W  i  d- 
marks  gleichfalls  physiologisch  sehr  wirksam  ist.  Dies 
findet  durch  die  neuen  spektralanalytischen  Untersuchungen 
J.  v.  Kowalskis  seine  Erklärung,  indem  derselbe  in 
seinen  Beobachtungen  auf  Schweizer  Schneefeldern  nach¬ 
wies,  daß:  dieselben  nicht  nur  das  sichtbare,  sondern  auch 
das  ultraviolette  Spektrum  bist  ungefähr  295  PP  kräftig  re¬ 
flektieren. 

Meine  Untersuchungen  im  Jahre  1 901 1)  stellten  die 
Tatsache  fest,  daß  als  physiologisches  Inzitament  für  die 

i)  L.  Freund,  Beitrag  zur  Physiologie  der  Epidermis  mit  Be¬ 
zug  auf  deren  Durchlässigkeit  für  Licht.  Archiv  für  Derm,  und  Syphilis, 
Bd.  58,  .H.  1. 


Haut  hauptsächlich  ultraviolettes  Licht  bis  zur  Wellenlänge 
325  pp  (Milliontelmillimeter)  in  die  Haut  dringen  kann,  wäh¬ 
rend  das  Licht,  kürzerer  Wellenlänge  von  der  Epidermis 
absorbiert  wird.  Aus  einer  zweiten  Versuchsreihe  über  die 
Wirkungen  verschiedenfarbigen  Bogenlichtes  geht  hervor, 
daß  die  physiologische  Wirkung  an  der  Grenze  des  violetten 
uind  ultravioletten  Spektrums  (Wellenlänge  397  pp)  vor¬ 
handen  ist  und  dann;  bei  der  Wellenlänge  388  PP  merklich 
stärker  zu  w erdein  beginnt.  H.  v.  Schrötter,  welcher 
einschlägige  Versuche  über  die  Wirkung  des  Sonnenlichtes 
auf  Teneriffa  machte  und  1910  auf  dem  IX.  internationalen 
Tuberkulosekongresse  zu  Brüssel  veröffentlichte,  gibt  als 
bei  der  Entstehung  des  Sonnenbrandes  wirksame  Spektral¬ 
zone  die  ultravioletten  Strahlen  von  kleinerer  Wellenlänge  i 
als  382  PP  an. 

M  a n  k  a n  n  somit  a  nnehme n,  d  a ß  b  e i in  So n- 
nenhrand  wenige  r  d  as  sichtbare  Spektrum, 
sondern  vielmehr  hauptsächlich  das  Licht 
kürzerer  Wellenlänge,  insbesonders  das 
Licht  vom  Beginn  des  Ultraviolett  bis  un¬ 
gefähr  325  PP  in  Betracht  k  o  m  m  t,  indem  die  Zone  j 
ultravioletten  Lichtes  noch  kürzerer  Wellenlänge,  welche 
zur  Erde  gelangt  (von  325  bis  292  pp)  wenig  physiologisch 
wirksam  ist,  (da  sie  von  der  nicht  reaktionsfähigen  trockenen  [ 
Epidermis  absorbiert  wird  und  zu  den  reaktionsfähigen) 
tieferen  Schichten  kaum  noch  in  wirksamer  Intensität  ge¬ 
langen  kann. 

Seitdem  die  physiologischen  und  pathologischen  Wir¬ 
kungen  des  Lichtes  (Sonnenbrand)  das  Interesse  der  Der¬ 
matologen  erregten,  sind  auch  dine  große  Anzahl  von  Schutz¬ 
mitteln,  welche  hauptsächlich  auf  die  Absorption  des; 
Ultraviolett  hinzielten,  empfohlen  worden. 

Bowles2)  erzähl  von  einem  Offizier,  welcher  die! 
durch  das  Licht  in  Indien  veranlaßten,  ihn  außerordentlich 
peinigenden  Gesundheitsstörungen  mittels  tief  orangefar¬ 
bener  Stoffe  verhütete,  mit  'denen  er  seine  Kleider  und  Kopf-j 
bedeckungen  als  Stoffutter  versehen  ließ.  Hammer  em¬ 
pfahl  das  Chininsulfat,  am  besten  in  Wasserlösung,  aber 
auch  in  Glyzerin  und  Unguentum  Glycerini,  Leistikow 
gab  als  geeignetes  Vehikel  dafür  das  Gelanthum  an; 
Finsen  erprobte  das  mit  eingedampftem  Frangula- 
dekokt  gefärbte  Unguentum  Glycerini;  Unna  fand, 
daß  curcumafarbene  Dextrinpasten,  weiters  das  Un¬ 
guentum  Caseini  und  der  Gelanth  mittels  Curcuma  oder 
rotem  Bolus- oder  Ichthyol  gefärbt,  sehr  zweckmäßige,  durch, 
Wasser  leicht  abwaschbare  Schutzdecken  darstellen.3)  Auch 
dunkle,  braune,  rote  und  gelbe  Schleier  und  ebenso  ge¬ 
färbte  Leime,  Hautfirnisse  und  Schminken  sind  für  diese 
Zwecke  empfohlen  worden  (Veiel). 

Das  neueste  Mittel  hat  Prof.  P.  G.  Unna  jüngst  em¬ 
pfohlen.4)  Dasselbe  kommt  in  zwei  Sorten,  unter  dem  Namen 
Zeozon  und  Ultrazeozon  in  den  Handel.  Es  enthält 
Derivate  des  Acskulins  u.  zw.  nach  Unnas  Angaben  das 
Monoxvderivat  und  das  Dimethylaminoderivat  des  Aesku 
lins,  welche  im  Wasser  leicht  löslich  sind.  Das  3°/oige  Z  oo-j 
zon  wird  zur  Prophylaxe  gegen  Sonnenbrand,  Ephelidenj 
und  so  weiter,  das  7 °/oige  Ultrazeozon  zum  Schutze 
gegen  Gletscherbrand  empfohlen.  Nähere  Angaben  über  di<j 
durch  die  Zeozonpräparate  absorbierten  Spektralzonen 
fehlen ;  der  Autor  teilt  nur  seine  günstigen  Erfahrungen  über; 
den  wirksamen  Lichtschutz  durch  die  beiden  Präparate  an 
mehreren  Fällen  mit. 

Um  dieser  Sache  näher  zu  treten  und  die  absoibie 
runde  Wirkung  dieser  neuen  Mittel  spektralanalytisch  fest¬ 
zustellen,  untersuchte  ich  unter  freundlicher  Mitwirkung  von 
Herrn  Hofrat  E  d  e  r  an  der  k.  k.  Graphischen  Lehr-  und 
Versuchsanstalt  in  Wien  mit  Hilfe  eines  Bergkristallspek-i 
Irographen  die  Ultrazeozonsalbe.  Als  Lichtquelle  diente  dei 

2)  L.  Freund,  Beiträge  zur  Phototherapie.  Zeitschr.  für  neuen 
physikalische  Medizin  1908,  Jahrg.  II.  Nr.  2. 

3)  Nach  Bloch,  Praxis  der  Hautkrankheiten  1908.  . 

4)  Ueber  einen  neuen  farblosen  Schutz  gegen  unerwünschte  ir 
I  kungen  des  Sonnenlichtes  auf  die  Haut.  Med.  Klinik  1911,  Nr.  1-. 


Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


671 


zwischen  der  sogenannten  Eder  sehen  Legierung  (Kad¬ 
mium,  Zink  und  Blei)  überschlagende,  durch  mehrere  Ley¬ 
dener  Flaschen  verstärkte  Funke  eines  R uhmkorff sehen 
fnduktoriums.  Die  zu  untersuchende  Salbe  wurde  durch 
zwei  senkrecht  zur  Achse  geschnittene  Bergkristallplatten 


sah  flockig  aus  und  entsprechend  der  Unhornogenität 
schwankte  auch  die  Sitärke  der  Absorption. 

Da  erfahrungsgemäß  Touristen  auf  ihren  Gletscher¬ 
wanderungen  Vaselin,  Lanolin,  Zinksalbe  und  dergleichen 
mit  einigem  Erfolg  gegen  den  Gletscherbrand  verwenden, 


1.  Vaselin,  weiß,  0  2  mm. 

2.  Lanolin,  Vaselin,  gelb,  02  mm. 

3.  Schweinefett. 

4.  Glyzerin-Aeskulin  2°/0,  0  2  mm  dick 

5.  Unnas  Salbe. 

6.  Glyzerin  mit  12°/0  Zuckerfarbe 

(Karamel). 

7.  Glyzerin-Aeskulin  4%. 


3 

a 


3 


•3  Ultraviolettes 
>  Sonnenspektrum 


Ultraviolett 

kürzerer 

Wellenlänge 


zu  einer  0-1  bis  0-2  mm  dicken  Schichte  ausgebreitet,  welche 
immerhin  noch  stark  trübe  erschien,  aber  dennoch  bei  ge¬ 
nügend  langer  Belichtungszeit  die  Photographie  des  Ab¬ 
sorptionsspektrums  gestattete.  Auch  wurden  Proben  des 
Ultrazeozons  mit  dickem  Glyzerin  verrieben,  um  das  Ver¬ 
halten  bei  größerer  Verdünnung  zu  untersuchen.  Es  ergab 
sich  der  Beginn  einer  schwachen  Absorption  schon  im  Blau, 
welche  im  Violett  stärker  wurde  und  schon  an  der  Grenze 
des  Violett  und  Ultraviolett  bei  ungefähr  397  pp  Wellen¬ 
länge  sehr  stark  war  und  von  da  das  ganze  Ultraviolett 
kräftig  absorbierte  (s.  Fig.  Nr.  5).  Allerdings  zeigte  die 
Salbe  in  dünner  Schichte  keine  homogene  Beschaffenheit, 


war  es  naheliegend,  diese  erwähnten  Salben  auf  ihre  Licht¬ 
absorption  zu  untersuchen.  Die  Ergebnisse  sind  in  beifolgen¬ 
der  Figur  graphisch  dargestellt  und  lassen  sich  in  folgen¬ 
dem  kurz  zusammenfassen: 

Weißes  Vaselin  läßt  in  0-2  mm  dicker  Schicht 
das  ganze  sichtbare  Spektrum  und  den  Beginn  des  Ultra¬ 
violett  durch.  Die  Absorption  beginnt  bei  ungefähr  360  pp 
Wellenlänge  und  wird  erst  bei  300  pp  sehr  stark. 

GelbesVaselin  sowie  g  e  1  b  1  i  c  h  e  s  L  a  n  o  1  i  n,  in 
0-2  mm  dicker  Schicht,  verhalten  sich  ähnlich,  nur  rückt 
der  Beginn  der  Absorption  bis  375  pp  vor  und  wird  bei  un¬ 
gefähr  325  PP  kräftig.  Inkorporierung  von  Zinkoxyd  oder 


Tabelle  I. 


Sonnenlicht  21  8  Stunden  |  Uviollicht  23  Minuten 


1  nach  24  Stunden 

nach  48  Stunden 

nach  4  Tagen 

nach  24  Stunden 

nach  48  Stunden 

nach  4  Tagen 

Zeozon 

heftige  Reaktion 

starkes  Brennen 
und  Rötung 

schwache 

Pigmentierung 

heftige  Reaktion 

starke  Reaktion 

leicht  pigmentiert 

Vaselin 

geringe  Reaktion 

geringe  Reaktion 

schwache 

Pigmentierung 

heftige  Reaktion 

starke  Reaktion 

weiß 

Borlanolin 

geringe  Reaktion 

sehr  starke  Reaktion 

sehr  dunkel 

geringe  Reaktion 

weniger  als  gestern 

leicht  pigmentiert 

Ungu.  Zinci  Wilson 

geringe  Reaktion 

weniger  Reaktion 
als  gestern 

schwache 

Pigmentierung 

geringe  Reaktion 

keine  Reaktion 

leicht  pigmentiert 

Ultrazeozon 

geringe  Reaktion 

weniger  Reaktion 
als  gestern 

schwache 

Pigmentierung 

geringe  Reaktion 

keine  Reaktion 

leicht  pigmentiert 

Aeskulin  2% 

keine  Reaktion 

keine  Reaktion 

weiß 

keine  Reaktion 

keine  Reaktion 

weiß 

Aeskulin  4% 

keine  Reaktion 

keine  Reaktion 

weiß 

keine  Reaktion 

keine  Reaktion 

weiß 

Karamel 

geringe  Reaktion 

Reaktion,  Brennen 

schwache 

Pigmentierung 

geringe  Reaktion 

— 

geringe  Reaktion 

leicht  pigmentiert 

Tabelle  II. 

1.  Fall  4  Stunden  insoliert 

2. 

Fall  4  Stunden  insoliert 

nach  24  Stunden 

nach  48  Stunden  j 

nach  3  Tagen 

nach  24  Stunden 

nach  48  Stunden 

nach  3  Tagen 

Zeozon 

rötlich 

schwach  rötlich 

leicht  pigmentiert 

rötlich 

rötlichbraun 

leicht  pigmentiert 

Vaselin 

rötlich 

schwach  rötlich 

leicht  pigmentiert 

rötlich 

rötlichbraun 

leicht  pigmentiert 

Borlanolin 

stark  rot 

rotbraun 

sehr  dunkel 

stark  rot 

stark  rotbraun 

sehr  dunkel 

Ungu.  Zinci  Wilson 

weiß 

weiß 

weiß 

rötlich 

rötlichbraun 

leicht  pigmentiert 

Ultrazeozon 

rötlich  weniger 
als  Borlanolin 

schwach  rötlich 

weiß 

rötlich 

schwach 

rölichbraun 

leicht  pigmentiert 

Aeskulin  2% 

wie  Ultrazeozon 

weiß 

weiß 

rötlich 

schwach 

rötlichbraun 

leicht  pigmentiert 

Aeskulin  4°/0 

weiß 

weiß 

weiß 

weiß 

weiß 

weiß 

Karamel 

wie  Ultrazeozon 

schwach  rötlich¬ 
braun 

leicht  pigmentiert 

rötlich 

schwach 

rötlichbraun 

leicht  pigmentiert 

672 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


Bleiweiß  bis  zu  l()°/o  bewirkt  keine  spezifische  Veränderung 
des  Absorptionsspektrums.  Es  wird  lediglich  eine  Zerstreu¬ 
ung  des  gesamten  Lichtes  herbeigeführt,  aber  die  Charak¬ 
teristik  der  selektiven  Ultraviolettabsorption  wird  nur  durch 
die  eigene  Lichtabsorption  des  Bindemittels  bestimmt.  Wie 
aus  Fig.  1  und  2  ersichtlich,  nimmt  Vaselin  und  Lanolin 
kaum  die  Hälfte  der  wirksamen  ultravioletten  Spektralzone 
weg  und  die  Schutzwirkung  dieser  Salben  ist  somit  eine 
sehr  beschränkte,  insoweit  nicht  (durch  Aufträgen  sehr  dicker 
Schichten  dieser  opaken  Masse  das  zu  tretende  Licht  mehr 
oder  weniger  gedämpft,  wird. 

Dickere  Schichten  von  gelbem  Vaselin  bewirken  näm¬ 
lich  eine  steigende  Ultraviolettabsorption  und  das  Vorrücken 
des  Absorptionsverbandes  gegen  Violett. 

Noch  ungünstiger  würde  Schweinefett,  Axungia 
porci,  wirken,  welches  unter  gleichen  Verhältnissen  weit 
mehr  Ultraviolett  durchläßt,  als  .weißes  Vaselin.  Noch  durch¬ 
lässiger  als  Schweinefett  ist  bekanntlich  reines  Glyze¬ 
rin,  welches  das  Ultraviolett  des  Sonnenlichtes  so  gut  wie 
gar  nicht  absorbiert.  Somit,  werden  weder  Schweinefett  noch 
Glyzerin  für  sich  allein  irgendeinen  Lichtschutz  gewähren 
können,  was  mit  der  praktischen  Erfahrung  übereinstimmt, 

Karamel  (Zuckerfarbe)  ist  in  dünner  Schichte  gelb¬ 
lich,  in  dicker  Schichte  schwarzbraun.  Es  gibt  mit  Glyzerin 
gemischt  eine  Absorption,  welche  zwar  schwach  sich  bis 
ins  Blau  erstreckt,  aber  in  dünner  Schichte  so  langsam  an¬ 
steigend  Violett  und  Ultraviolett  absorbiert  (s.  Tafel  Nr.  6), 
so  daß  von  ihm  ein  wirksamer  Sonnenschutz  nicht  zu  er¬ 
warten  und  in  den  praktisch  verwendbaren  dünnen  Schichten 
de  facto  auch  nicht  vorhanden  ist. 

Chininsulfat  ist  ein  bekanntes  Absorptionsmittel 
für  Ultraviolett,  welches  in  2  bis  4%ige,  mit 'Schwefelsäure 
angesäuerter  wässeriger  Lösung  als  Lichtfilter  recht  wirksam 
ist.  Die  Gegenwart  von  Schwefelsäure  läßt  aber  die  prak¬ 
tische  Anwendung  dieses  Mittels  als  Gesichtssalbe  bedenk¬ 
lich  erscheinen.  Die  auf  der  Gesichtshaut  nicht  eintrock¬ 
nende  Lösung  des  Chininsulfats  in  Glyzerin  bezeichnet 
Unna  (l.  c.)  als  eine  wenig  praktische  und  angenehme. 
Jedoch  wären  Chininsalben  in  geeigneter  Form  auch  in 
Betracht  zu  ziehen.  Ebenso  wie  Chinin  wirkt  Aeskulin 
als  kräftiges  Absorptionsmittel  für  Ultraviolett,  wobei  diese 
Lichtart  in  andere  Energieformen  von  physiologisch  nicht 
mehr  nachweisbarer  Wirksamkeit  umgesetzt  wird.  A  e  s  k  u- 
1  i  n  besitzt  in  seinen  Lösungen  in  Wasser  oder  Glyzerin  selbst 
in  einer  Schichtendicke  von  0-2  mm  von  1  bis  2°/oigen  Lö¬ 
sungen  eine  beginnende  Lichtabsorption  in  Blauviolett 
(430  PP),  diese  wird  stark  an  der  Grenze  von  Violett  und 
Ultraviolett,  um  bei  ungefähr  390  PP  Wellenlänge  das  Ultra- 
violett  äußerst  kräftig  zu  absorbieren.  Die  Lichtabsorption 
verläuft  äußerst  kräftig  bis  305  PP,  dann  beginnt  das  Aes¬ 
kulin  für  Ultraviolett  kürzerer  Wellenlänge  von  305  bis 
ungefähr  220  PP  durchlässig  zu  werden,  worauf  wieder 
vollständige  Absorption  des  äußersten  Ultraviolett  erfolgt. 
Diese  Lücke  in  der  Schutzwirkung  des  Aeskulins  gegen 
Ultraviolett  verdient  beachtet  zu  werden.  Sie  kann  sich 
vielleicht  bei  sehr  dünnen  Schichten  unangenehm  be¬ 
merkbar  machen  beim  Lichte  der  Quecksilberdampf¬ 
lampe,  niemals  aber  beim  Sonnenlicht,  selbst  nicht 
auf  hohen  Bergen,  weil  Licht  von  so  kurzer  Wellenlänge 
durch  unsere  Atmosphäre  nicht,  in  merklicher  Menge  zur 
Erdoberfläche  gelangen  kann.  Uebrigens  dämpft  4°/oige  Aes¬ 
kulin- Glyzerinlösung  das  Ultraviolett  an  dieser  Stelle  ver¬ 
minderter  Lichtabsorption  so  kräftig,  daß  die  JLichtabsorp- 
tion  für  das  ganze  Ultraviolett  im  letzteren  Fälle  als  voll¬ 
kommen  gelten  kann,  ja  sogar  das  Violett  schon  beträcht¬ 
lich  gedämpft  erscheint  (siehe  Figur). 

Aeskulin  -  Glyzerinlösungen  stellen  ein  ganz  ausgezeich¬ 
netes  Schutzmittel  gegen  Sonnenbrand  dar.  Es  macht  nur 
Schwierigkeiten,  genügend  konzentrierte  Lösungen  herzu¬ 
stellen,  weil  das  Glyzerin  beim  Erwärmen  das  Aeskulin 
wohl  reichlich  löst,  dasselbe  beim  Erkalten  aber  größten- 
leils  ausfallen  läßt.  Es  gelingt  jedoch,  durch  Zusatz  von 


kolloidalen  Substanzen  (Stärke,  Gelatine)  das  Aeskulin  beim 
Erkalten  gelöst  oder  in  kolloidaler  Verteilung  zu  erhalten, 
so  daß  die  gewaltige  charakteristische  Absorption  im  Ultra¬ 
violett  in  der  erkalteten  Masse  gewahrt  bleibt.  So  kann  das 
Präparat,  zum  Beispiel  nach  Art  des  Unguentum  Glycerini 
der  österreichischen  Pharmakopoe  so  hergestellt  werden, 
daß  man  10  fe  Weizenstärke,  10  g  Wasser,  2  bis  4  g 
Aeskulin  und  eventuell  auch.  8  Tropfen  10°/oiger  wässeriger 
Sodalösung  in  einer  Reibschale  verreibt  und  in  100  g  auf 
110°  C  erhitztes  Glyzerin,  unter  Verrühren  einträgt,  bis  die 
Masse  transparent  wird  und  die  Konsistenz  einer  dicken 
Salbe  annimmt.  Durch  den  geringen  Sodazusatz  wird  die 
Absorptionsfähigkeit  des  Präparates  erhöht.  Die  Homogeni¬ 
tät  dieser  salbenartigen  transparenten  Aeskulinpräparate 
sichert  ihnen  eine  ausnehmende  Schutzwirkung  gegen 
Sonnenbrand  und  alle  ähnlichen  Schädigungen  durch  Licht. 
Die  Schutzwirkung  des  Aeskulins  übertrifft  sogar  diejenige 
des  sonst  ganz  vortrefflichen  Ultrazeozons  ganz  merklich. 
Dies  geht  aus  folgenden  Versuchen  hervor. 

Zwei  Männern  von  annähernd  gleicher  Konstitution 
und  Hautfarbe  wurden  mittels  Borstenpinsels  auf  die  Innen¬ 
fläche  der  hellweißen  Armhaut  nebeneinander  so  gut.  als 
möglich  gleich  lange,  breite  und  dicke,  durch  Zwischen¬ 
räume  voneinander  getrennte  Salbenstriche  folgender  Prä¬ 
parate  gezogen:  Zeozon,  Vaselin,  Borlanolin,  Unguentum 
Wilson,  Ultrazeozon,  Aeskulin  2%,  Aeskulin  4%,  Karamel¬ 
salbe.  Die  eine  dieser  Versuchspersonen  exponierte  die 
bestrichene  Armfläche  dem  direkten  Sonnenlichte  am 
22.  April  1911,  einem  sehr  klaren  Tage,  bei  vollständig 
unbewölktem  Himmel  in  der  Mittagszeit  während  2% 
Stunden.  Die  bestrichene  Armfläche  der  anderen  Person 
wurde  während  23  Minuten  in  8  cm  Distanz  dem 
Lichte  einer  Uviol  -  Quecksilberdampflampe  exponiert.  Nach 
24  Stunden  präsentierten  sich  die  bestrahlten  Stellen  als 
intensiv  rote  Flächen,  aus  denen  sich  als  mehr  oder  we¬ 
niger  hellweiße  Streifen,  die  mit  den  erwähnten  Salben 
bestrichenen  Partien  abhoben.  Die  Reaktionen  der  Haut 
unter  den  Salbenstrichen  sind  in  vorangestellter  Tabelle 
angegeben.  i 

Am  deutlichsten  geht  aus  diesen  Versuchen  die  pro¬ 
tektive  Fähigkeit  der  Aeskulinpräparate  hervor.  Dieselbe 
ist  schon  beim  2°/oigen  Präparate  tadellos  vorhanden.  Kleine 
strichförmige  Defekte  in  der  Aeskulinglyzerinbedeckung  der 
Haut.,  durch  Borstenstriche  des  Pinsels  verursacht,  gaben 
dem  Lichte  Gelegenheit  zum  Vordringen  bis  zur  Haut  und 
zur  Erzeugung  kleiner  strichförmiger  Sonnenerytheme. 
Unter  annähernd  gleichen  Bedingungen  schützten  die  beiden 
Zeozonpräparate  nicht  so  gut  vor  der  Einwirkung  des  Queck¬ 
silberdampflichtes,  noch  weniger  aber  vor  den  Folgen  der 
21/2Stündigen  Insolation.  Unvollkommen  war  der  Licht- 
schutz  der  Vaseline-,  Borlanolin-  und  Zinksalben,  ebenso  der 
Karamelpräparate.  Es  ist  selbstverständlich  und  mit  der 
praktischen  Erfahrung  übereinstimmend,  daß  dickere 
Schichten  von  Zinksalben  zufolge  ihrer  beträchtlichen  Opa¬ 
zität  eine  beträchtliche  Schwächung  der  gesamten  Lichtinten¬ 
sität.  bewirken,  so  daß  die  physiologischen  Effekte  des  durch¬ 
gedrungenen  Lichtes  geringer  werden,  namentlich,  wenn 
man  gelbes  Vaselin  als  Bindemittel  verwendet  (siehe  obiges 
spektrales  Verhalten).  Aehnliche  Ergebnisse  gab  eine  wei¬ 
tere  Versuchsreihe  (siehe  Tabelle  II),  bei  welcher 
zwei  Individuen  von  annähernd  gleicher  Konstitu¬ 
tion  und  Hautfarbe  mit  den  acht  Präparaten  tunlichst 
gleichmäßig  bestrichen  und  vier  Stunden  lang  dem  direkten 
Sonnenlichte  exponiert  wurden.  Einen  vollständigen  Schutz 
bot  in  diesem  Versuche  nur  das  4°/oige  Aeskulinpräparat.; 
das  Ultrazeozon,  ebenso  wie  die  2°/oige  und  die  kombi¬ 
nierten  Aeskulinpräparate  schützten  die  Haut  nicht  mehr 
als  eine  dicke  Schichte  gelben  Vaselins. 

Um  eine  gleichmäßige  Deckung  der  Haut  herbei¬ 
zuführen,  ist.  es  zweckmäßig,  das  Präparat  mit  den  bloßen 
Fingern  aufzutragen  und  auf  der  Haut  zu  verreiben.  Die 
Verwendung  von  WHschern,  Tupfern  und  namentlich  von 
steifhaarigen  Pinseln  empfiehlt  sich  aus  dem  Grunde  nicht, 


Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE 


weil  durch  vorspringende  Fasern  oder  Borsten  Furchen  in 
die  A eskulin  -  Glyzerinschichte  gezogen  werden  können, 
durch  welche  das  Licht  ungehindert  zur  Haut  gelangen 

könnte. 

Die  Aeskulin  -  Glyzerinpräparate  können  durch  Ab¬ 
waschen  mit  Wasser  leicht  entfernt  werden.  Ferner  steht 
ihrer  Verwendung  als  Schutzmittel  gegen  Lichtschädigung 
keinerlei  nachteilige  irritierende  Wirkung  auf  die  Haut  ent¬ 
gegen.  Sic  lassen  sich  wegen  ihrer  salbenartigen  Konsistenz 
sehr  gut  auf  die  Haut  auftragen,  haften  selbst  bei  'mehrstün¬ 
digen  Wanderungen  im  Sonnenlichte  gut  auf  der  Hanl,  ohne 
zufolge  ihrer  Durchsichtigkeit  dem  Kolorit  des  Gesichtes 
ein  anderes  Aussehen  zu  erteilen,  oder  sich  als  aufgetra¬ 
gene  Salbe  besonders  bemerkbar  zu  machen. 

Aus  der  II.  mediz.  Universitätsklinik  in  Wien. 

(Vorstand:  Hofrat  von  Neusser.) 

ZurTechnik  derVenaepunktion  und  intravenösen 

Infusion. 

Von  Dr.  Richard  Bauer,  Assistenlen  der  Klinik. 

Die  immer  häufigere  Uebung  der  Venaepunktion  und 
intravenösen  Infusion  zu  diagnostischen  und  therapeuti¬ 
schen  Zwecken  veranlaßt  uns,  eine  Stauungsbinde  zu  be¬ 
schreiben,  die  wir  zu  diesen  Zwecken  schon  seit  zwei  Jahren 
benützen. 

Die  Binde  besteht,  wie  untenstehende  Abbildung 
(Hg.  4)  zeigt,  aus  einem  Gebläse  a,  einem  Dreiweghahn  b, 
dem  Verbindungsschlauch  c  und  einer  Kiva  -  Rocci  -  Man¬ 
schette  d.  In  der  Stellung  «  des  Dreiweghahnes,  Figur  2, 
geht  die  Luft  aus  dem  Gebläse  a  in  die  Manschette  d  und 
vollführt  so  die  Stauung  der  Vene.  Durch  Drehung  des 
Hahnes  um  180°  in  die  Stellung  ß  , entweicht  die  Luft  aus 
der  Binde,  wodurch  die  Stauung  sofort  behoben  wird.  Die 
Endstellung  ß  des  Hahnes  ist,  wie  Figur  1  zeigt,  dadurch 
markiert,  daß  der  Hahn  in  dieser  Stellung  den  schwarzen 
Glaspunkt,  der  beim  Einblasen  an  der  Innenseite  sich  be¬ 
findet,  an  der  Außenseite  zeigt. 

Fig.  2. 


d 


Diese  Art  der  Stauung  zeigt  gegen  die  gewöhnlichen 
Methoden  mit  Binden  und  Schläuchen,  mehrere  Vorteile. 
Die  Stauung  läßt  sich  genau  dosieren,  respektive  das  Maxi- 


WOCHENSCHRIFT.  1911.  673 


mum  der  Stauung  leicht  erreichen.  Man  bläst  solange  Luft 
ein,  bis  die  Venen  deutlich  hervortreten,  ohne  daß  der 
Radialpuls  an  Stärke  verliert.  Sollte  man  eine  Abnahme 
der  Pulsstärke  bemerken,  so  läßt  man  durch  Drehen  des 
Hahnes  etwas  Luft  heraus,  bis  der  Puls  die  volle  Stärke 
wieder  erlangt.  Dadurch  vermeidet  man,  daß  die 
allzustarke  Stauung  auch  den  arteriellen  Zufluß  hemmt. 
Wenn  man  dies  nicht  beachtet,  sieht  man  bei  der  Venae¬ 
punktion,  daß  die  anfangs  prall  gespannten  Venen  allmäh¬ 
lich  zusammenfallen  und  das  Blut  zu  fließen  aufhört. 

Ein  weiterer  Vorteil  dieser  Methodik  liegt  darin,  daß 
sich  die  Stauung  ohne  störende  Erschütterung  des  Armes 
momentan  beheben  läßt,  so  daßi  man  nahezu  gleichzeitig 
die  Stauung  sistieren  und  die  Punktionsnadel  herausziehen 
kann.  Dies  ist  besonders  vorteilhaft,  wenn  man  keine  Assi¬ 
stenz  zur  Hand  hat. 

Für  die  intravenöse  Infusion  kommen  die  genannten 
Vorteile  noch  mehr  in  Betracht  :  Das  Maximum  der  Stauung 
erleichtert  uns  das  richtige  Einführen  der  Nadel  in  die 
Vene;  sobald  wir  durch  Ausfließen  des  Blutes  die  richtige 
Lage  der  Nadel  erkannt  haben,  wird  durch  Drehung  des 
Hahnes  ohne  jede  Erschütterung  des  Armes  und  der  in 
der  Vene  liegenden  Nadel  die  Stauung  behoben  und  die  zu 
injizierende  Lösung  einfließen  gelassen.  Wir  erwähnen  dies 
besonders,  weil  bei  der  Lösung  der  bisher  verwendeten 
binden  und  Schläuche  sich  die  Nadel  leicht  in  die  Venen¬ 
wand  einbohrt  oder  gar  aus  der  Vene  herausrutscht. 

Wir  haben  mit  dieser  Methodik  in  den  letzten  Jahren 
ca.  2000mal  gearbeitet  und  sowohl  bei  den  Venaepunk- 
tionen,  als  bei  den  intravenösen  Infusionen  jede  der  sonst 
so  häufigen  Pnannehndichkeiten  vermieden. 

Audi  bei  den  therapeutischen  Aderlässen  hat  sich  die 
Binde  bestens  bewährt,  indem  die  Stauung  durch  längere 
Zeit  stets  gleichmäßig  blieb,  so  daßi  wir  größere  Mengen 
Blut  auch  durch  die  dünnen  Ansatznadeln  von  10  cm3- 
Sprilzen  anstandslos  entnehmen  konnten.*) 


Referate. 

Culture  in  vitro  des  cellules  cancereuses. 

Par  Marie  Bra. 

Paris  1909,  editeur  A.  Po  in  at. 

Verf.  berichtet  über  Kulturversuche  aus  epithelialen  Tu¬ 
moren,  bei  welchen  es  ihm  gelang,  mit  einem  eigens  bereiteten 
Hautnährboden  einen  eigentümlichen  Mikroorganismus  zu  kul¬ 
tivieren,  den  er  als  Myxobakterium  bezeichnet.  Derselbe  zeigt  ganz 
merkwürdige  AVachstumsverbältnisse,  durch  die  er  jenen  Zellen 
ähnlich  wird,  auf  deren  Kosten  er  lebt  und  die  er  schließlich  auch 
substituiert.  Weder  die  Beschreibung  des  Wachstums  dieses  Mikro¬ 
organismus,  noch  die  reichlich  beigegebenen  Mikrophotographien 
vermögen  dem  Leser  eine  nur  halbwegs  anschauliche  Vorstellung 
über  die  vom  Verfasser  beobachteten  Erscheinungen  zu  ver¬ 
mitteln,  nach  welchen  der  Krebs  eine  ganz  eigenartige  Infektion 
darstellt,  bei  welcher  das  Myxobakterium  in  den  Körper  eindringt 
und  dank  seiner  Mimikrie  Formen  bildet,  die  den  Organzellen 
so  sehr  gleichen,  daß  sie  von  diesen  nicht  zu  unterscheiden  sind, 
eine  Vorstellung,  die  an  phantastischer  Originalität  nichts  zu 
wünschen  übrig  läßt,  sich  aber  vielleicht  gerade  deswegen  von 
der  Wirklichkeit  ,  am  weitesten  entfernt. 

* 

Leucopathies,  metastases,  albuminuries  et  icteres  leu- 

copathiques. 

Par  le  Dr.  Emile  Feuillie,  ancien  interne  en  medecine  des  höpitaux  de 
Paris,  Medaille  des  epidrmies  (Dunkerque  1907),  pharmacien  de  lere  classe. 
Iicenci4  en  sciences  physiques,  stagiaire  de  1 'Academic  de  medecine  aux 
Eaux  minerales,  preparateur  ä  la  faculty  de  medecine. 

Paris  1909,  editeur  G.  Stein  heil. 

Ausgehend  von  der  Forderung,  daß  den  weißen  Blutzellen 
dieselbe  Individualität  in  der  Pathologie,  wie  in  der  Physiologie 

*)  D‘e  Binde  ist  unter  dem  Namen  »Stauungsbinde  nach  Doktor 
Baue  r«  bei  Paul  H  a  a  k,  Glasbläserei  Wien  IX/3.  Gareiligasse  4,  er¬ 
hältlich. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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einzuräumen  ist,  bezeichnet  Verf.  alle  jene  Erkrankungen,  die 
mit  einer  Störung  in  der  Sekretion,  Motilität,  physikalischen  und 
chemischen  Konstitution  der  Leukozyten  einhergehen,  als  Leuko- 
pathien.  Die  Bedeutung  solcher  Leukopathien  erstreckt  sich  nicht 
allein  auf  die  Elemente  in  Zirkulation,  sondern  auch  auf  die 
Entwicklung  lokaler  Infiltrate,  dfenn  der  schließlicbe  Ausgang 
wird  immer  von  dem  Zustande  der  Leukozyten  abhängig  sein 
und  entweder  zur  Restitutio  ad  integrum  oder  zu  Verflüssigung 
und  Einschmelzung  des  Gewebes  oder  endlich  zur  Bindegewebs- 
entwicklung  führen.  Um  solche  leukopathische  Zustände  aufzu¬ 
decken,  empfiehlt  Feuillie,  die  Widerstandfähigkeit  der  Leuko¬ 
zyten  zu  prüfen,  ihre  Aktivität  zu  messen,  ferner  eine  Injektion 
von  Sublimat  (1:2000)  unter  die  Haut  vorzunehmen,  auf  welche 
bei  Gesunden  ein  derbes  Knötchen  sich  bildet,  während  leuko¬ 
pathische  Individuen  mit  einem  weichen,  lokalen  Oedem  darauf 
antworten.  Was  ferner  die  Ursachen  der  Leukopathien  anlängt, 
so  sind  als  solche  Intoxikationen,  Infektionen  und  Heredität  ver¬ 
antwortlich  zu  machen.  Es  soll  demnach  die  Behandlung  dieser 
Erkrankungsformen  zunächst  eine  ätiologische  sein  und  außer¬ 
dem  Erneuerung  der  Leukozyten  und  Erhöhung  ihrer  Wider¬ 
standskraft  anstreben. 

* 

Bibliothek  medizinischer  Monographien. 

Die  bösartigen  Geschwülste. 

Von  Prof.  Dr.  Carl  Lewin. 

Leipzig  1909,  Verlag  Dr.  Werner  Klink  har  dt. 

Die  reiche  und  ausgedehnte  Erfahrung,  welche  Lewin  auf 
dem  Gebiete  der  experimentellen  Tumorforschung  sich  erworben 
hat,  setzt  ihn  in  die  Lage,  in  der  vorliegenden,  ganz  ausgezeich¬ 
neten  Monographie  eine  willkommene  Ergänzung  der  bestehenden 
Lehrbücher  über  bösartige  Geschwülste  zu  bringen,  zumal  in  diesen 
hauptsächlich  nur  die  Kenntnisse  aus  der  menschlichen  Patho¬ 
logie  Berücksichtigung  finden,  während  die  experimentellen  Unter¬ 
suchungen  mehr  oder  weniger  in  den  Hintergrund  treten.  Diese 
beiden,  einem  gemeinsamen  Ziele  zustrebenden  Forschungsrich¬ 
tungen  nebeneinander  zu  stellen  und  ihre  Ergebnisse  von  einem 
Gesichtspunkte  gemeinsam  zu  besprechen,  ist  Le  wins  nicht  zu 
unterschätzendes  Verdienst;  indem  er  hiebei  mit  vollem  Rechte 
die  gründliche  Kenntnis  der  bewährten  Lehrbücher  von  Borst, 
v.  Hansemann  und  Bibbert  voraussetzt,  bedarf  es  weniger 
einer  eingehenden  Erörterung  und  spezieller  Darstellung  der  ein¬ 
zelnen  Geschwulstformen,  sondern  es  genügt,  wenn  der  Verfasser 
mehr  allgemein  -  pathologische  Fragen  in  das  Bereich  seiner  Aus¬ 
führungen  einbezieht.  Darum  kann  sich  Lew  in  auch  damit  be¬ 
gnügen,  als  Einleitung  einen  Ueberblick  über  die  Geschichte  der 
Entwicklung  unserer  Kenntnisse  über  maligne  Tumoren,  über 
allgemeine  Morphologie  und  Histogenese  derselben  zu  geben,  um 
dann  sofort  auf  das  eigentliche  Thema  seiner  Ausführungen, 
den  Vergleich  der  verschiedenen  Tumoren  im  Tier-  und 
Pflanzenreiche  durchzuführen.  Hiebei  erscheint  es  notwendig, 
ganz  besonders  auf  die  Physiologie  der  Geschwulstzellen  einzu¬ 
gehen,  die  als  neu  entstandene  Zellrassenj  sich  durch  ganz  Avesent- 
liche  Eigenschaften  von  den  normalen  Körperzellen  unterscheiden. 
So  ist  eine  Abartung  des  Chemismus  der  Krebszelle  als  erwiesen 
zu  betrachten,  sie  wird  durch  Trypsin  leicht  angegriffen,  verhält 
sich  dagegen  Pepsin  gegenüber  resistent ;  im  Krebsgewebe  verläuft 
ferner  die  Autolyse  viel  rascher  als  in  normalen  Geweben.  Die 
Frage  bleibt  aber  noch  unbeantwortet,  ob  der  veränderte  Chemis¬ 
mus  der  Krebszelle  Ursache  oder  Folge  der  Krebskrankheit  ist. 
Darum  erscheint  es  für  den  Verf.  notwendig,  auf  die  bisher 
aufgestellten  Theorien  über  die  Aetiologie  des  näheren  einzu¬ 
gehen,  Avobei  es  sich  herausstellt,  daß  keine  derselben  eine  ein¬ 
heitliche  Erklärung  aller  Erscheinungen  zu  geben  vermag.  Nach 
allen  vorliegenden  Erfahrungen  kommt  Lew  in  zu  dem  Schlüsse, 
daß  „die  bösartige  Gesclnvulst  die  Folge  des  Zusammenwirkens 
von  Vorgängen  ist,  die  lokal  in  der  wahrscheinlich  durch  Reiz¬ 
wirkungen  hervorgerufenen,  blastomatösen  Umwandlung  von  nor¬ 
malen  Körperzellen  ihren  Ausgang  nehmen,  durch  die  Mitwir¬ 
kung  allgemein  konstitutioneller  Verhältnisse  aber  zu  einer  für 
den  Gesamtorganismus  mehr  oder  minder  erheblichen  Bedeutung 
gelangen“.  Füllen  gerade  diese  mehr  allgemein  gehaltenen  Aus¬ 
führungen  des  Verfassers  Aveitaus  den  größeren  Teil  der  Mono¬ 
graphie  aus,  so  kann  doch  die  Systematik  der  malignen  Tumoren 


nicht  vollständig  in  derselben  fehlen.  Lewin  schließt  sie  in  Form 
eines  speziellen  Teiles  den  eben  besprochenen  Darstellungen  au 
und  geht  auch  hiebei  auf  alle  jene  Details  ein,  die  durch  die 
experimentelle  Forschungsrichtung  Förderung  und  Klärung  er¬ 
fahren  haben. 

* 

Recherches  experimentales  sur  les  tumeurs  malignes. 

Par  le  docteur  Jea»  Clunet. 

Paris  1910,  öditeur  G.  St  ein  heil. 

Auch  dieses  Werk  zerfällt  nach  der  Anordnung  des  darin 
abgehandelten  Stoffes  in  zwei  Abschnitte.  In  dem  ersten  finden  wir 
eine  sehr  eingehende  Beschreibung  zahlreicher  tierischer  Neo¬ 
plasmen,  die  zum  Teil  spontane  Geschwülste,  zum  Teil  trans¬ 
plantierte  betreffen.  Das  Studium  der  letzteren  gestattet  Clunel 
nicht  allein  morphologische  Veränderungen  an  den  Tumorzellen 
im  Verlaufe  der  (Verimpfungen  zu  beobachten,  sondern  auch 
Beziehungen  zwischen  chirurgischen  Eingriffen  und  Metastasierung 
gepfropfter  Neoplasmen  aufzudecken,  indem  viszerale  sekundäre 
Knoten,  namentlich  dann  zur  Entwicklung  gelangen,  wenn  die 
primären,  ohne  daß  Heilung  eingetreten  Aväre,  entfernt  wurden. 
Nach  Schilderung  des  Blutbefundes  und  der  pathologisch-anatomi¬ 
schen  Veränderungen  innerer  Organe  bei  Tieren  mit  transplan¬ 
tierten  Tumoren  geht  Verf.  auf  die  Besprechung  der  Immunitäts- 
Verhältnisse  des  näheren  ein  und  zeigt,  daß  die  Immunität  nicht 
allein  von  der  Tierspezies,  der  Tierrasse  und  vom  einzelnen 
Individuum  abhängt,  sondern  auch  von  geAvissen  physiologischen 
Zuständen  und  therapeutischen  Maßnahmen.  Zu  ersteren  gehört 
die  Laktation,  zu  letzteren  die  vorangehende  Verimpfung  nicht 
Avachsender  Geschwülste.  Beide  Momente  beeinträchtigen  die  Ent- 
Avicklung  transplantierter  Tumorteile,  die  Laktation  allerdings  nur 
von  Geschwülsten  der  Brustdrüse,  nicht  aber  anderer  Lokalitäten. 

Der  zweite  Abschnitt  des  Werkes  ist  dem  Studium  der 
Wirkung  der  X-Strahlen  auf  maligne  GeschAVÜlste  gewidmet.  Auf 
diese  Weise  lassen  sich  nicht  allein  geAvisse  biologische  Verhält¬ 
nisse  der  neoplastischen  Elemente  genauer  verfolgen,  sondern 
es  scheint  auch  sichergestellt,  daß  Avir  in  den  X-Strahlen  ein 
hoch  wirksames  therapeutisches  Agens  gegenüber  bösartigen  Neu¬ 
bildungen  besitzen.  Eingehend  Avird  die  Beeinflussung  der  Epi¬ 
theliome  der  Haut  des  Gesichtes  und  der  Mamma,  ebenso  auch 
der  Sarkome  durch  Radium  besprochen.  Zu  diesen  gründlichen 
Untersuchungen  bilden  eine  Reihe  von  Experimenten,  welche  die 
Wirkung  von  X-Strahlen  auf  das  transplantierte  Geschwulst- 
gewebe  und  auf  das  umgebende  Gewebe  klarlegen,  eine  höchst 
lehrreiche  Ergänzung.  Als  letztes  Kapitel  findet  sich  eine  sehr 
interessante  Darstellung  der  hyperplastischen  Wirkung  von 
X-Strahlen.  Erscheint  diese  schon  vom  Standpunkte  des  Radio¬ 
therapeuten  aus  sehr  interessant,  so  bietet  isie  auch  die  Möglich¬ 
keit  des  Studiums  der  Pathogenese  gewisser  Neoplasmen.  Denn 
mit  Hilfe  der  X-Strahlen  gelingt  es,  wie  Verf.  zeigt,  nicht  allein 
beim  Menschen  die  Bildung  von  Karzinomen  auszulösen,  son¬ 
dern  auch  experimentell  beim  Tiere,  so  daß  Avir  in  dieser  Art 
von  Strahlen  zum  erstenmal  ein  Mittel  kennen  lernen,  mit  dem 
wir  willkürlich  maligne  Neubildung  des  Oberflächenepithels  her¬ 
vorzurufen  in  der  Lage  sind. 

* 

Vorlesungen  über  Infektion  und  Immunität. 

Von  Dr.  Tli.  Paul  Müller,  a.  o.  Professor  der  Hygiene  an  der  Uni¬ 
versität  Graz. 

Dritte,  erweiterte  und  vermehrte  Auflage. 

Jena  1910,  Verlag  Gustav  Fischer. 

Kaum  ein  Jahr  ist  es  her,  daß  Müller  die  zweite  Auflage 
seiner  Vorlesungen  über  Infektion  und  Immunität  wesentlich  ver 
größert  erscheinen  lassen  konnte  und  nun  liegt  das  Werk,  welches 
sich  nicht  allein  Avegen  seines  reichen  Inhaltes,  sondern  auch 
wegen  der  übersichtlichen  und  klaren  Art  der  Diktion  eine  große 
Zahl  von  Freunden  im  In-  und  Auslande  erworben  hat,  in  er¬ 
neuter  Auflage  vor.  Auch  diesmal  ist  Verfasser  bestrebt,  den 
neuen  Errungenschaften  und  erweiterten  Kenntnissen  voll  Rech¬ 
nung  zu  tragen,  um  den  Lesern  ein  abgeschlossenes  Bild  über 
die  abgehandelten  Wissensgebiete  zu  geben.  So  sehen  wir  manche 
kleinere,  darum  aber  nicht  minder  wichtige  Aenderung  im  Texte 
vorgenommen  und  begegnen  vielfach  neu  eingeschalteten  Kapi¬ 
teln,  so  über  Kapselbildung,  Membranverdickung  der  Bazillen  im 


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Tierkörper,  über'  die  erhöhte  Resistenz  „tierischer“  Bazillen  gegen 
die  bakterizide  Serumwirkung  und  Phagozytose  gegenüber.  °Im 
Anschlüsse  hieran  bespricht  Verf.  die  Schutzwirkung  der  Kapsel¬ 
stoffe.  Die  Frage  der  Organvirulenz,  der  komplexen  Natur  der 
Komplemente  und  der  chemischen  Beschaffenheit  derselben  schil 
dert  Müller,  den  Arbeiten  von  F  er  rat  a  und  Brand,  be¬ 
ziehungsweise  v.  Lieber  mann  folgend.  Die  Besprechung  der 
Vorgänge  bei  der  Hämolyse  wäre  keine  vollständige,  wenn  "nicht 
die  Rolle  der  Lipoide  bei  derselben  berücksichtigt  würde.  In  der 
Vorlesung  über  die  bakteriziden  und  globuliziden  Wirkungen  von 
Serum  finden  wir  einen  neuen  Abschnitt  über  die  Verschiedenheit 
der  bakteriziden  Serum-  und  Leukozytenstoffe,  an  die  sich  die 
Besprechung  der  Stimuline  schließt,  wie  sie  sich  in  der  Gewebs- 
und  Stauungslymphe  nachweisen  lassen.  Der  Besprechung  der 
Art-  und  Organspezifizität,  ferner  der  Paltauf  scheu  Zustands- 
spezifizität  von  Immunseris,  sowie  der  Frage  der  Eiweiß-  oder 
Lipoidnatur  der  Antikörper  räumt  Verf.  einen  breiteren  Raum 
ein.  Weitere  Ergänzungen  des  Textes  finden  sich  in  dem  Kapitel1 
über  Lysine  und  Antilysine  hinsichtlich  Reaktionsbeschleunigung 
und  -Verstärkung,  ebenso  auch  bei  Besprechung  der  physikalisch- 
chemischen  Immunitätsreaktionen,  betreffend  ihre  Beschleunigung. 
Anschließend  hieran  bespricht  Müller  die  von  As  coli  entdeckte 
Meiostagminreaktion.  Entsprechend  den  gerade  in  das  letzte  Jahr 
fallenden,  umfangreichen  Untersuchungen  über  Anaphylaxie  hat 
speziell  dieses  Kapitel  eine  besondere  Erweiterung  erfahren.  Die 
in  der  Theiapie  der  Infektionskrankheiten  gemachten  Fortschritte 
fußen  auf  dem  weiteren  Ausbau  der  durch  Ehrlich  begrün¬ 
deten  chemotherapeutischen  Untersuchungen,  die  zur  Entdeckung 
seines  neuen  Arsenpräparates  „606“  geführt  haben.  Bei  der  außer 
ordentlichen  Bedeutung,  welche  diesem  Präparate  für  die  Be¬ 
handlung  der  Lues  zukommt,  erscheint  es  begreiflich,  daß  es  auch 
in  den  vorliegenden  Vorlesungen  die  entsprechende  Würdigung 
erfährt.  Ebenso  wie  in  therapeutischer  Hinsicht,  sind  auch  Fort¬ 
schritte  aut  dem  Gebiete  der  Diagnostik,  hier  vorzüglich  durch 
Anwendung  der  Immunitätsreaktionen,  zu  verzeichnen ;  so  die 
klinische  Alexinprobe  nach  Moro,  die  Psychoreaktion  von  Much 
und  Holzmann,  ferner  die  von  Müller  und  Jochmann  an¬ 
gegebenen  antifermentativen  Serumreaktionen.  Die  Anwendung 
der  Immunitätslehren  auf  gewisse  pathologische  Prozesse  hat  durch 
die  Untersuchungen  von  Faust  das  Verständnis  der  durch  Bo- 
thryozephalus  bedingten  enterogenen  Anämien  zu  fördern  ver¬ 
mocht,  während  das  Studium  der  experimentell  transplantierten 
Tumoren  nicht  allein  die  atreptische  Immunität,  sondern  auch  die 
mit  ihr  einhergehende  Ueberempfindlichkeit  aufdecken  ließ. 

Indem  Müller  alle  diese  Errungenschaften  moderner  For¬ 
schung  in  den  Bereich  seiner  in  jeder  Hinsicht  exakten  Ausfüh¬ 
rungen  ein  bezieht,  stellt  er  sein  Werk  auf  jene  Stufe  der  Voll¬ 
kommenheit,  welche  man  weniger  von  einem  kurzgefaßten  Leit¬ 
faden,  als  vielmehr  von  ei  nein  Nachschlagewerk  zu  fordern  be¬ 
rechtigt  ist. 


Memorias  do  Instituto  Oswaldo  Cruz. 

Rio  de  Janeiro.  —  Manguinhos. 

Die  seit  dem  Jahre  1909  erscheinenden  Mitteilungen  aus  dem 
brasilianischen  Institute  Oswaldo  Cruz  bedeuten  eine  ganz 
wesentliche  Bereicherung  der  Literatur,  speziell  auf  dem  Ge¬ 
biete  der  Tropenkrankheiten;  denn  wir  finden  darin,  wie  die 
folgenden  Zeilen  noch  des  näheren  zeigen  werden,  eine  stattliche 
Anzahl  äußerst  gründlich  und  gewissenhaft  durchgearbeiteter 
Fragen.  ,  i  j  j  1  ;  j  ?  j  $[  f: 

Den  ersten  Band  eröffnet  eine  Abhandlung :  Leber  Filtra¬ 
tion  und  Versuche,  mit  Hilfe  derselben  Diphtherie¬ 
serum  zu  konzentrieren,  von  Giemsa  und  Godoy,  in 
welcher  die  Verfasser  zeigen,  daß  es  gelingt,  durch  Filtration 
von  Diphtherieantitoxin  durch  „überschichtefce“  Agarfilter  ein 
Serum  von  dreimal  höherer  Konzentration  zu  gewinnen,  ohne 
höhere  Wärmegrade  oder  chemische  Agentien  anzuwenden.  Aller¬ 
dings  ist  ein  solches  Serum  wegen  seiner  stark  viskosen,  sirup- 
artigen.  Beschaffenheit  praktisch  nicht  Verwendbar.  Die  zoologische 
Beschreibung  einer  neuen  Pangonine,  welche  in  fünf  weiblichen 
Exemplaren  von  Dr.  Belisario  Pen  n, a  in  Barbacena  ge¬ 
sammelt  wurde,  geben  Lutz  und  Neiva,  welche  diese  neue 
-abanidenart  E  rep  hops  is  au  ri  einet  a  benennen.  In  einem 


sehr  interessanten  Aufsatze:  Le  serum  anti-pesteux,  zeigt 
F.  Vascon  cellos,  daß  die  Pestbazillen  im  Blute  des  infizierten 
Pferdes  sich  in  der  Regel  24  Stunden  am  Leben  erhalten,  ohne 
dabei  eine  besondere  Temperatursteigerung  bei  den  Tieren  zu  be¬ 
dingen.  Besteht  hingegen  24  Stunden  nach  der  Impfung  Fieber, 
dann  fehlen  die  Bazillen  auch  im  Blute.  Aus  diesem  Grunde  er¬ 
scheint  es  notwendig,  die  Pferde  mindestens  48  Stunden  nach 
der  Infektion  isoliert  zu  halten,  da  erst  nach  dieser  Zeit  bei  nor¬ 
maler  Temperatur  die  Bazillen  aus  dem  Blute  verschwunden  sind. 
Als:  Beiträge  zur  Kenntnis  der  einheimischen  Taba- 
niden fauna,  bringen  Lutz  und  Neiva  eine. Zusammenstellung 
der  oö  in  Brasilien  verkommenden  Tabaniden.  Das  Ergebnis 
seiner  sehr  gründlichen  Studien  über  Kernteilung  bei  Amöben 
teilt  H.  de  Beaurepaire  Aragao  in  einem  Aufsätze:  Ueber 
eine  neue  Amöbenart,  Amoeba  fliplomitotica,  mit.  Eine 
Bereicherung  unserer  Kenntnisse  über  Plasmodien  bedeuten  die 
Befunde  von  H.  de  Beaurepaire  Aragao  und  Neiva.  In  ihrem 
Aufsätze:  A  contribution  to  the  study  of  the  intraglo- 
bular  parasits  of  th ©^lizards  beschreiben  nämlich  die 
Autoren  zwei  neue  Spezies  von  Blutparasiten  bei  der  Eidechse: 
Plasmodium  diploglossi  und  Plasmodium  tropiduri.  Aus  A.  Fon¬ 
tes:  Etudes  sur  la  tuberculose,  entnehmen  wir,  daß  die 
Säurefestigkeit  des  Tuberkelbazillus  nicht  von  seinem  Wachs¬ 
und  Fettgehalt  allein  abhängig  ist.  Von  dem  Pseudotuberkelbazillns 
läßt  er  sich  durch  geeignete  Färbungsmethoden,  die  innerhalb 
der  Stäbchen  Granula  darstellen  lassen,  unterscheiden.  Während 
diese  Bazillengranula  mit  der  Resistenz  der  Bazillen  in  Beziehung 
stehen,  findet  man  in  verkästen  tuberkulösen  Drüsen  eine  Sub¬ 
stanz,  welche  in  vitro  eine  Verminderung  emulsionierter  Tuberkel¬ 
bazillen  bedingen.  Die  höchste  Wirksamkeit  wird  erzielt,  wenn 
dieser  Körper  etwa  120  Stunden  auf  die  Bazillen  einwirkt.  Er¬ 
hitzen  auf  65  bis  70°  durch  eine  Stunde  zerstört  diese  Substanz, 
die  auch  nicht  durch  frisches  Meerschweinchenserum  aktiviert 
wird ;  sie  verseift  das  Fett  des  Tuberkelbazillus,  welches  Palmitin- 
und  Stearinsäure  enthält.  Verf.  halten  diesen  Körper  für  ein 
hydrolysierendes  Enzym.  Endlich  enthält  das  erste  Heft  des  ersten 
Bandes  noch  eine  Arbeit  A.  Neivas:  Beitrag  zur  Kennt¬ 
nis  der  Dipteren,  in  welcher  Verf.  über  das  Vorkommen  der 
verschiedenen  Anophelen  arten  in  Brasilien  berichtet  und  ihre 
Beziehungen  zur  Malaria  schildert. 

Im  zweiten  Bande  begegnen  wir  zunächst  einer  Arbeit  des 
bekannten  Mitgliedes  des  Berliner  Institutes  für  Infektionskrank¬ 
heiten  M.  Hartmann,  die  über  eine  neue  D  arm  am  ö  he, 
Entamoeba  testudinife,  berichtet.  Hiedurch  ist  die  Zahl 
der  bisher  bekannten  Arten  dieses  Parasiten  auf  sieben  ange¬ 
wachsen.  Ln  nouveau  vaccin  contre  le  char  bon  s  y  ni¬ 
pt,  o  mat  ique  beschreibt  A.  Godoy.  In  Va  cm3  seiner  Vakzine 
sollen  höchstens  200  Keime  enthalten  sein.  Eine  einzige  Appli¬ 
kation  seiner  Vakzine  soll  genügen,  die  Tiere  für  längere  Zeit 
vor  der  Infektion  zu  schützen,  zudem  ist  die  Vakzine  außerordent¬ 
lich  haltbar.  Wenn  auch  Godoy  über  eine  Statistik  seiner  Vak- 
zinationserfolge  nicht  verfügt,  so  spricht  doch  für  dieselben  der 
enorme  Anstieg  der  von  ihm  verabreichten  Dosen,  die  inner¬ 
halb  von  vier  Jahren  von  11780  auf  188970  angewachsen  sind. 

In  einem  Artikel:  Contribution  towards  the  classifica¬ 
tion  of  brazilian  Entozoa,  beschreibt  Gomes  de  Faria 
einen  neuen  Parasiten  der  Gallenblase  bei  Eunectes  murina  und 
gibt  ihm  den  Namen  Dicrocoelium  infidum'.  Zwei  Beobach¬ 
tungen  über  Infektionen  durch  Paratyphus-  u  n  d 
EnteritidisbazilLen  schildert  A.  Moses.  Außerordentlich 
interessant  und  gründlich  sind  die  zoologischen  und  biologi¬ 
schen  Untersuchungen  über  Polytomelia  agilis,  von 
H.  de  Beaurepaire  Aragao,  der  hiemit  ein  neues  Genus  und 
eine  neue  Spezies  von  Süßwasserprotozoen  aufstellt.  Unter  den 
dipterologischen  Notizen  von  A.  Lutz  finden  wir  die 
Beobachtung,  daß  die  Flugzeit  der  Diotomineura  longipennis  mit 
der  Höhe  des  Winters  zusammenfällt,  ferner  die  Beschreibung 
melanotischer  Exemplare  von  Sarkophaga  und  Stomoxys,  endlich 
eine  Zusammenstellung  von  Sarkophagaarten  von  Sao  Paulo.  Einen 
großen  Teil  des  zweiten  Bandes  nimmt  eine  außerordentlich  exakte 
und  mit  peinlicher  Gründlichkeit  dnrehgearbeitetc  Flagellaten- 
Studie  von  M.  Hartmann  und  C.  Chagas  ein.  Bei  seinen  Stu¬ 
dien  Ueber  die  Keimung  der  Sporen  stellt  Godoy  lest, 


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daß  sich  für  die  Keimung  der  Sporen  keine  Anfangszeit  aufstellen 
läßt.  Die  Erscheinung  verläuft,  wie  wenn  sie  in  einer  unendlich 
kurzen  /eit  begonnen  hätte;  ihre  Geschwindigkeit  entspricht  einer 
Konstanten  K  —  0  0158  hei  einer  Temperatur  von  22-8°.  Verf.  meint, 
daß  sich  die  Keimung  der  Sporen  mit  einer  monomolekularen  Zer¬ 
störung  vergleichen  läßt  und  daß  sie  hinsichtlich  des  Tempe¬ 
raturein  flusses  wahrscheinlich  der  Van  t’Hoff-Arrhenius 
Regel  entspricht.  Ueber  die  Bildung  einer  chininros i- 
stenten  Rasse  des  Malariaparasiten  berichtet  A.  Neiva 
auf  Grund  eigener  Beobachtungen,  daß  die  anfänglichen  Dosen 
von  Chinin  zur  Malariabekämpfung  allmählich  gesteigert  werden 
müssen,  daß  ferner  Leute,  die  infolge  regelmäßigen  Chiningenusses 
frei  von  Malariaanfällen  sind,  dieselben  wieder  bekommen,  wenn 
sie  in  einem  malariafreien  Ort  die  Chininmedikation  aussetzen 
und  endlich,  daß  anfangs  therapeutisch  wirksame  Dosen  ihre 
Wirkung  mit  der  Zeit  verlieren.  A.  Fontes:  Bemerkungen 
über  die  tuberkulöse  Infektion  und  ihr  Virus  gipfeln 
in  der  Auffassung,  daß  die  tuberkulöse,  Infektion  durch  die  Gra- 
uula  des  Bazillus,  welche  die  Lebenseinheit  desselben  darstellen, 
verursacht  wird.  Ferner  zeigen  160  Versuche  an  Meerschwein¬ 
chen,  die  mit  virulenten  Tuberkelbazillen  infiziert  wurden,  daß 
durch  Injektion  von  Tuberkulozirase  eine  Abschwächung  der  In¬ 
fektion  erfolgt. 

L.  v.  Prowazek  liefert  einen  lesenswerten  Beitrag  zur 
Kenntnis  der  Protozoen  fauna.  Brasiliens;  demselben 
liegt  ein  genaues  Studium  der  in  der  Nähe  von  Manguinhos  gefun¬ 
denen  Protozoen  zugrunde.  Keine  einzige  der  beobachteten  Spezies 
findet  sich  nicht  auch  in  Europa,  ein  neuer  Beweis  für  das  kos¬ 
mopolitische  Vorkommen  aller  freilebenden  Protozoen.  Tn  wei¬ 
terer  Fortführung  ihrer  Amöbenstudien  berichten  M.  Hartmann 
und  Chagas:  U  e b er  die  Kernteilung  v o n  A  moeba  h y- 
alina.  Einer  Arbeit  von  C.  Chagas  liegen  eigene  eingehende 
zytologische  Studien  über  A  d  e  1  e  a  Hartmanni  ein 
neues  Kokzidium  aus  dem  Darme  von  Dysdercus  ru- 
ticollis  zugrunde.  A.  Fontes,  der  seine  Studien  über  Lu- 
berkul  ose  fortsetzt,  findet,  daß  die  Granula  des  Tuberkelbazillus 
von  einer  chromatinartigen  Substanz  gebildet  werden,  die  als  Ber¬ 
einigung  lebender  Einheiten  den  Tuberkelbazillus  darstellen.  Die 
reproduktionsfähigen  Granula  dienen  bei  der  Tuberkulose  der¬ 
selben  Funktion,  wie  die  Konidien  bei  den  Pilzen.  Es  gehen 
die  im  tuberkulösen  Eiter  enthaltenen  Granula  durch  Berkefeld- 
filter  und  bewirken  beim  Meerschweinchen  den  Beginn  der  tuber¬ 
kulösen  Reaktion,  indem  sie  hier  Bazillen  hervorbringen.  Bei¬ 
träge  zur  Biologie  des  Conorhinus  megistus  liefert 
A.  Neiva,  die  dadurch  von  ganz  besonderem  Interesse  sind, 
als  diese  Wanze,  wie  Chagas  zeigen  konnte,  als  Uebertrager  der 
durch  das  Schizotrypanum  Cruzi  verursachten  menschlichen  Try- 
panosomiase  fungiert.  Ein  zweiter  Beitrag  zur  Kenntnis 
der  brasilianischen  S  im  ul  iu  mar  ten  gibt  A.  Lutz  Ge¬ 
legenheit,  20  Spezies  davon  zu  beschreiben,  von  denen  neun 
neu  gefundene  Arten  sind.  Ueber  Dysenterieserum  und 
seine  Wertbestimmung  berichtet  A.  Moses.  Bei  seinen 
Versuchen  bestimmt  er  die  bakterizide  Kraft  seines  Tmmunserums, 
ferner  den  Agglutinationstiter,  dann  stellt  er  die  Opsonine  gegen 
Dysenterie  in  seinem  Serum  fest.  Unsichere  Resultate  ergab  ihm 
die  Komplementbindungsmethode.  Unmöglich  war  es  ihm,  ein 
rein  bakteriolytisches  Serum  ohne  antitoxische  Eigenschaften  dar¬ 
zustellen.  Bei  der  Bestimmung  der  kurativen  und  präventiven 
Wirkung  des  Serums  hielt  sich  Verf.  daran,  daß  0-1  cm3  Tmmun- 
serurn  am  Kaninchen  eine  Heilwirkung  zeigt,  wenn  vorher 
die  vierfache  Dosis  letalis  minima  einverleibt  wurde.  Endlich  be¬ 
schreibt  Gomes  de  Faria  in  einer  dritten  Mitteilung:  Con¬ 
tribution  towards  the  classification  of  b r a z i  1  i a n 
Entozqa,  eine  neue,  bei  Hunden  und  Katzen  vorkommende 
Ankylostomenspezies,  das  Ancylostomum  braziliense. 

* 

Erkältung  als  Krankheitsursache. 

Von  Dr.  Karl  Chodounsky,  k.  k.  ord.  Professor  der  böhmischen  med. 

Fakultät  in  Prag. 

Zweite,  durch  einen  Nachtrag  ergänzte  Ausgabe. 

Wien  und  Leipzig  1911,  Verlag  Josef  Safäf. 

Wenn  Chodounsky  in  einer  zweiten  Auflage  seiner  früher 
., Erkältung  und  Erkältungskrankheiten“  betitelten  Monographie 


der  von  ihm  vertretenen  Anschauung,  daß  Erkältung  weder  eine 
direkte  noch  indirekte  Krankheitsursache  abgibt,  neuerdings  Aus¬ 
druck  verleiht,  so  fällt  es  auf,  daß  er  für  seine  Meinung  neue 
Argumente  nicht  aufzubringen  in  der  Lage  ist.  Denn  zu  dem 
ursprünglichen  Texte  seiner  Abhandlung  finden  sich  keine  Er¬ 
gänzungen,  ja  nicht  einmal  die  geringsten  Veränderungen,  sogar 
die  Druckfehler  der  ersten  Auflage'  blieben  unberührt  stehen.  1st 
schon  so  für  den  von  Chodounsky  vertretenen  Wissenszweig 
der  mittlerweile  verstrichene  -Zeitabschnitt  völlig  spurlos  vor¬ 
übergegangen,  so  scheint  dies  merkwürdigerweise  auch  für  die 
Person  des  Autors  selbst  zu  gelten.  Wie  im  Jahre  1907  schreibt  er  ■ 
auch  heute:  „Die  folgenden  27  Selbstversuche  habe  ich  vor 
sechs  Jahren  unternommen,  im  57.  Lebensjahre,  usw.  Sollten 
Chodounsky  die  Experimente  am  eigenen  Leibe,  wobei  er  sich 
Temperaturunterschieden  aussetzt,  deren  Vorstellung  allein  bei 
einem  weniger  Gestählten  höchst  unangenehme  Sensationen  aus 
löst,  eine  solche  'Widerstandskraft  verliehen  haben,  daß  nicht  - 
nur  die  verschiedensten  Temperaturen  in  rascher  Aufeinander-  i 
folge  auf  ihn  einwirken  können,  ohne  seine  Gesundheit  auch  . 
nur  im  geringsten  zu  tangieren,  sondern  daß  sogar  der  Zahn  | 
der  Zeit  seiner  glänzenden  Konstitution  nichts  anhaben  kann  v  - 
In  dem  ergänzenden  Nachtrag  berichtet  (  hodounsky  über  | 
die  Nachprüfung  der  Siegel  sehen  Versuche,  die  er  nicht  be¬ 
stätigen  kann.  Die  von  Siegel  bei  Hunden  beobachtete  Albu¬ 
minurie  durch  Abkühlung  der  Extremitäten  faßt  Chodounsky 
als  eine  orthostatische  auf,  da  sie  ausbleibt,  wenn  die  Tiere  in 
normaler  Stellung  der  Kälteeinwirkung  ausgesetzt  werden.  Den  j 
Versuchen  von  Ranzoni  gegenüber  wendet  Verf.  ein,  daß  Meer¬ 
schweinchen  zu  Abkühlungsversuchen  ungeeignet  seien.  Endlich 
zeigt  Chodounsky  noch  an  einer  Beobachtung  von  Hrucir. 
daß  eine  Anzahl  von  Individuen  verschiedenen  Alters,  die  im 
Februar  in  die  Eger  gestürzt  waren,  und  bei  Temperaturen  um 
0°  in  durchnäßten  Kleidern  durch  mehrere  Stunden  einem 
kräftigen  Winde  ausgesetzt  blieben,  trotz  dieser  gewaltigen  Ab¬ 
kühlung  keine  Erkrankung  akquirierten.  Auch  die  statistischen 
Zusammenstellungen  über  klimatische  Einwirkungen  von  S equip¬ 
ping  lassen  nach  dem  Verfasser  keinen  Schluß  auf  die  Existenz 
echter  Erkältungskrankheiten  zu. 

* 

Luftzug,  atmosphärische,  klimatische  Einflüsse  und  die 

Erkältung. 

Eine  Satire  für  Aerzte. 

Von  Dr.  B.  Ernst. 

Mit  einem  Nachwort  von  Dr.  K.  Chodounsky. 

Wien  und  Leipzig  1911,  Verlag  Josef  Safäf. 

In  wohltuender  Kürze,  ohne  auf  die  Literatur  einzugehen, 
oder  eigene  Versuche  zu  bringen,  führt  Ernst  die  Argumente 
vor,  welche  ihn  zu  der  Anschauung  führen,  daß  es  Erkältungs¬ 
krankheiten  nicht  gibt.  Warum  er  seine  Broschüre  eine  Satire 
nennt,  ist  aus  der  Darstellung  nicht  zu  entnehmen,  denn  sie  ent¬ 
behrt  aller  Eigenschaften  einer  Satire.  Dies  scheint  auch  Cho¬ 
dounsky  empfunden  zu  haben,  da  er  in  dem  Nachwort  selbst 
erwähnt,  daß  die  Satire  sich  nicht  gut  zur  Illustrierung  aller 
der  groben  Unmöglichkeiten  und  Widersprüche  eignet  wie  sie  in 
der  Erkältungsfrage  in  so  reichem  Maße  sich  finden. 

* 

Das  Radium  in  der  Biologie  und  Medizin. 

Von  Professor  F.  S.  London,  Leiter  der  pathologischen  Abteilung  am 
kais.  Institut  für  experimentelle  Medizin  zu  St.  Petersburg. 

Leipzig  1911,  Akademische  V  e  r  lag  s  ge  s  e  11  s  c  h  af  t. 

Die  vorliegende  Monographie  bringt  eine  Zusammenstellung 
unserer  Kenntnisse  über  das  Radium,  insoweit  dieser  Körper  lüij 
den  Biologen  und  den  praktische«!  Arzt  von  Interesse  ist.  Der  ob-, 
gehandelte  Stoff  gruppiert,  sich  naturgemäß  in  zwei  Teile,  deren 
erster  die  physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften  des  Roj 
diums  umfaßt,  während  der  zweite,  umfangreichere,  der  physio¬ 
logischen  Wirksamkeit  dieses  Körpers  gewidmet  ist.  Bezüglich  des 
Mechanismus  der  Radiumwirkung  auf  lebende  Wesen  sind  wnj 
vorläufig  noch  auf  Theorien  und  Hypothesen  angewiesen,  so 
daß  eine  Einteilung  der  Materie  von  diesem  Gesichtspunkte  au> 
zurzeit  noch  nicht  möglich  ist.  Es  erschien  daher  notwendig,  duj 
Wirkungen  des  Radiums  der  Reihe  nach  auf  Bakterien,  niedere 


t 


Nr  19 


WIENER  KLINISCHE 


Pilze,  Fermente,  Toxine,  Antitoxine,  Pflanzen,  niedere  Ti  er  Orga¬ 
nismen  und  auf  einzelne  Gewebe  und  Organe  zu  schildern,  um 
dann  erst  auf  die  Allgemeinwirkung  des  Radiums  und  der  Ema¬ 
nation  auf  höhere  Lebewesen  ü herzugehen.  An  diese  schließt 
sich  dann  die  Besprechung  der  Radiumtherapie.  Was  speziell  die 
Radi u me m an a ti onsbäder  anlangt,  so  kann  ihre  therapeutische 
Wirkung  ausschließlich  nur  auf  die  Einatmung  der  aus  dem 
Wasser  entweichenden  Emanation  bezogen  werden. 

Wie  aus  der  höchst  lesenswerten  Monographie  Londons 
zu  entnehmen  ist,  hat  die  Entdeckung  des  Radiums  sowie  des 
Studiums  seiner  Eigenschaften  nicht  allein  der  Chemie  und 
Physik,  sondern  auch  der  Physiologie  und  der  praktischen  Me¬ 
dizin  neue  Gebiete  erschlossen.  Denn  sind  hiedurch  auf  der  einen 
Seite  die  Vorstellungen  über  Bau  und  physikalische  Eigenschaften 
der  Elemente  ganz  wesentlich  gefördert  worden,  so  hat  auch 
die  Physiologie  daraus  einen  nicht  zu  unterschätzenden  Nutzen 
gezogen.  Und  wenn  wir  unjs  .auch  bis  heute  noch  nicht  über 
das  eigentliche  Wesen  der  physiologischen  Radiumwirkung  klar 
sind,  so  gebührt  dem  Radium  doch  jetzt  schon  ein  erster  Platz 
unter  den  Mitteln  zur  Behandlung  oberflächlicher  Haut-  und 
Schleimhautaffektionen.  Sache  weiterer  Arbeit  wird  es  sein,  die 
bereits  verzeichneten  Erfolge  der  Radiumtherapie  akuter  und 
chronischer  Allgemeinerkrankungen  weiter  auszubauen. 

* 

Hämolysine,  Zytotoxine  und  Präzipitine 

Von  Professor  Dr.  A.  v.  Wassermann,  Geheimer  Medizinalrat 
Neu  bearbeitet  und  ergänzt  von  Dr.  J.  Leuclis  und  Dr.  M.  Wassermann. 

Leipzig  1910,  Verlag  J.  A.  Barth. 

Der  in  v.  Volkmanns  Sammlung  klinischer  Vorträge  im 
Jahre  1902  erschienene,  gleichnamige  Aufsatz  von  A.  Wasser- 
mann  diente  den  beiden  Verfassern  als  Grundlage  der  vorliegen¬ 
den  Bearbeitung  unserer  Kenntnisse  über  Hämolysine,  Zytotoxino 
und  Präzipitine.  Entsprechend  der  Erweiterung  und  der  Ver¬ 
tiefung  unseres  Wissens  auf  diesen  Gebieten  mußten  auch  die 
beiden  Autoren  die  vor  acht  Jahren  verfaßte  Zusammenstellung 
A.  Wassermanns  ganz  wesentlich  ergänzen,  damit  das  neue 
Werk  seinem  Zwecke  -entspreche,  -den  praktischen  Arzt  nicht 
allein  in  die  Lehren  der  Immunitätsforschung  und  Serologie  ein- 
zuführen,  sondern  ihm  auch  einen  allgemeinen  Ueberblick  über 
die  Errungenschaften  dieser  Disziplinen  zu  verschaffen.  Es  ist 
selbstverständlich,  daß  hiebei  von  -einer  Schilderung  der  ein¬ 
zelnen  Details  Abgang  genommen  werden  konnte  und  daß  speziell 
eine  Erörterung  noch  unentschiedener  Fragen  nach  Möglichkeit 
vermieden  wurde.  In  die  Bearbeitung  des  Stoffes  teilten  sich  die 
Autoren  in  der  Weise,  daß  Leuchs  die  Schilderung  der  Hämo¬ 
lysine  übernahm,  während  M.  Wassermann  die  Zytotoxine 
und  Präzipitine  bespricht. 

* 

Die  Immunitätswissenschaft. 

Eine  kurz  gefaßte  Uebersicht  über  die  Immunotherapie  und  -diagnostik 
für  praktische  Aerzte  und  Studierende. 

Von  Dr.  Haus  Much,  Oberarzt  am  Eppendorfer  Krankenhaus. 

Würzburg  1911,  Verlag  Kurt  Kabitzscb  (A.  Stüber). 

Ganz  ähnlich,  wie  bei  dem  eben  besprochenen  Werke,  ist 
auch  dieser  Monographie  eine  vor  Jahren  von  Much  selbst 
zusämmengestellte  kurze  Uebersicht  der  Immunitätserscheinungen 
vorausgegangen.  Bei  der  großen  Zahl  der  in  letzter  Zeit  erschie¬ 
nenen,  das  gleiche  Thema  behandelnden  Werke,  sieht  es  fast 
wie  ein  Wagnis  aus,  abermals  mit  einer  neuen  Zusammenstellung 
der  Immunitätsphänomene  in  die  Oe-ffentlichkeit  zu  treten.  Trotz¬ 
dem  aber  muß  Muchs  übersichtliche  Darstellung  als  eine  ganz 
besonders  gelungene  bezeichnet  werden.  Denn  nicht  allein 
die  leicht  faßliche  Ausdrucksweise  kommt  seinem  Werke  zu¬ 
statten,  sondern  auch  das  Bestreben,  ein  Werk  zu  veröffentlichen, 
welches,  in  erster  Linie  für  den  Praktiker  bestimmt,  ihn  nicht 
nur  über  die  rein  theoretischen  Fragen  orientiert,  vielmehr  auch 
selbst  in  die  Lage  versetzt,  praktisch  die  Errungenschaften  der 
hnmunitätslehre  zu  verwerten.  Um  dies  zu  erreichen,  hat  Much 
jedem  einzelnen  Kapitel  eine  genaue  Schilderung  der  entspre¬ 
chenden  Technik  zweckmäßig  angegliedert.  Was  die  Einteilung  des 
Stoffes  selbst  anlangt,  so  beginnt  Much  mit  einer  mehr  allgemein 
gehaltenen  Darstellung  des  Wesens  der  Immunität  und  der  Viru¬ 
lenz,  um  dann  das  Prinzip  der  Immunisierung  zu  entwickeln. 


WOCHENSCHRIFT.  1911.  677 


Daran  schließen  sich  schon  Erörterungen  von  praktischem  Inter 
esse,  indem  die  Immunisierung  gegen  Gifte  besprochen  wird.  In 
das  Kapitel  über  die  endotoxisch  wirkenden  Mikroorganismen 
werden  zusammenhängend  die  Aggressine  und  Opsonine,  nament¬ 
lich  im  Hinblick  auf  ihre  praktische  Bedeutung  geschildert,  ebenso 
auch  das  Phänomen  der  Anaphylaxie,  welches  nicht  nur  bei 
der  Serumkrankheit,  sondern  auch  bei  Urtikaria,  Heuschnupfen 
und  Eklampsie  auf  das  Gebiet  der  praktischen  Medizin  übergreift. 
Einen  größeren  Abschnitt  umfassen  Muchs  Ausführungen  über 
die  Immunkörper  und  ihre  diagnostische  Verwendung;  denn  für 
den  praktischen  Arzt  erscheint  es  ebenso  von  Wichtigkeit,  die 
verschiedene  Anwendungsweise  der  Präzipitinreaktion  zum  foren¬ 
sischen  Blutnachweis,  zur  Prüfung  von  Nahrungsmiltelveifälschun- 
g-en  usw.  zu  kennen,  als  über  die  Gruber- Widalsche  Agglu¬ 
tinationsprobe  vollkommen  orientiert  zu  sein,  oder  die  Was  ser¬ 
in  a  mische  Komplementbindungsreaktion  zu.  verstehen  und  even¬ 
tuell  auch  ausführen  zu  können.  Erschien  es  notwendig,  in  dieses 
Kapitel  auch  die  Meiostagminreaktion  aufzunehmen,  so  konnten 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  Wiederholungen  nicht  ver¬ 
mieden  werden,  indem  sowohl  die  Opsonin-  als  auch  die  ana¬ 
phylaktische  Tuberkulinreaktion  hier  notwendigerweise  ein¬ 
bezogen  werden  mußten.  Zum  ersten  Male  finden  wir  dann  in 
einer  derartigen  Zusammenstellung  die  Beziehungen  der  Serologie 
zur  Psychiatrie  eingehender  geschildert.  Den  Schluß  des  schönen 
Werkes  bildet  ein  mehr  spezieller  Abschnitt,  in  welchem  die  ein¬ 
zelnen  Krankheiten  mit  Rücksicht  auf  die  Ergebnisse  der  Im- 
tnunitätsforschung  der  Reihe  nach  erörtert  werden.  Hiebei  trifft 
Much  die  Einteilung  in  Toxin-,  Endotoxin-  und  Protozoenkrank¬ 
heiten,  in  maligne  Tumoren,  Tierseuchen  und  Seuchen,  die  durch 
säurefeste  Bakterien  hervorgerufen  werden.  Daß  Muchs  Aus¬ 
führungen  auf  der  Höhe  der  modernen  Forschung  stehen,  beweist 
die  Tatsache,  daß  selbst  die  Errungenschaften  allerneuester  Zeit 
aufgenommen  worden  sind.  So  finden  wir  nicht  allein  die  Meio¬ 
stagminreaktion  ausführlich  beschrieben,  sondern  im  Abschnitte 
über  Protozoenkrankheiten  auch  einen  Anhang,  die  Chemotherapie 
betreffend  und  in  dem  Kapitel  über  maligne  Tumoren,  die  unsere 
Erkenntnis  der  Karzinomerkrankung  wesentlich  fördernde 
Freund  sehe  Reaktion  geschildert. 

* 

Die  experimentelle  Chemotherapie  der  Spirillosen. 

(Syphilis,  Rückfallfieber,  Ilühnerspirillose,  Frambösie.) 

Von  Paul  Ehrlich  und  S.  Hata. 

Mit  Beiträgen  von  H.  J.  Nicliols-New-York,  J.  Iversen-St.  Petersburg, 
Bitter-Kairo  und  Dreyer-Kairo. 

Berlin  1910,  Verlag  Julius  Springer. 

Die  vorliegende  Arbeit  bringt  eine  außerordentlich  inter¬ 
essante  und  genaue  Schilderung  der  schönen  Untersuchungen 
Ehrlichs  und  seines  Schülers  Hata,  die  zur  Entdeckung  des 
mittlerweile  so  berühmt  gewordenen  Dioxydiamidoarsenobenzols 
(„606“)  geführt  haben.  Wie  unendlich  mühevoll  der  Weg  war, 
den  die  beiden  Forscher,  ohne  zu  ermüden,  zurückzulegen  hatten, 
geht  ohne  weiteres  ans  der  enorm  großen  Zahl  von  Versuchen 
hervor,  die  mit  einer  ganzen  Reihe  systematisch  und  zielbewußt 
hergestellter  Arsenpräparate  vorgenommen  werden  mußten.  Ihre 
exakten  Untersuchungen  gewannen  noch  dadurch  an  Umfang,  als 
nicht  allein  das  Verhalten  einer  Spirochätenart  den  Arsenpräpa¬ 
raten  gegenüber  studiert  wurde,  sondern  daß  erst  nach  Feststellung 
der  Wirksamkeit  gegenüber  den  Spirillen  des  Rückfällfiebers  und 
der  Hühnerspirillose  die  entsprechenden  Heil  vors  uche  an  Kanin¬ 
chen  mit  künstlich  übertragener  Syphilis  in  Angriff  genommen 
wurden.  Nur  auf  Grund  mit  so  peinlicher  Sorgfalt  durchgeführter 
Tierexperimente  konnte  Ehrlich  zu  dem  erhebenden  Ergebnis 
der  Entdeckung  spezifisch  und  ätiologisch  wirkender  Heilmittel 
gegen  Protozoenkrankheiten  u.  zw.  speziell  gegen  Spirillosen  und 
unter  diesen  in  erster  Linie  gegen  Lues,  gelangen.  Dabei  erstreckt 
sich  die  Wirkung  des  Dioxydiamidoarsenobenzols  nicht  nur  auf 
die  Spirillen  selbst,  welche  aus  dem  Organismus  verschwinden, 
sondern  es  befördert  dieses  Präparat  auch  die  Resorption  bereits . 
gebildeter  pathologischer  Gew-ebsmassen.  Die  spezifische  Wirk¬ 
samkeit  von  „606“  läßt  sich  ferner  aus  dem  Verschwinden  der 
Wassermann  sehen  Reaktion  schließen  und  geht  auch  aus 
der  Beobachtung  hervor,  daß  hereditär  -  luetische  Säuglinge,  die 
nur  von  der  mit  „606“  behandelten  Mutter  gestillt  werden,  ein 


678 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


rasches  Schwinden  der  luetischen  Erscheinungen  aufweisen,  ein 
Umstand,  der  annehmen  läßt,  daß  durch  die  Injektion  offenbar 
im  Körpergewebe  Produkte  frei  werden,  die  als  Antikörper  auf-, 
zufassen  sind,  zumal  die  Milch  gar  kein  Arsen  oder  nur  Spuren 
desselben  enthält.  Als  nicht  spezifisch  betrachtet  dagegen  Ehr¬ 
lich  die  wunderbar  schnelle  Heilung,  die  auf  rasche  Resorption 
und  auf  intensive  Anregung  des  Epithels  zur  Proliferation  beruht. 

Was  nun  den  therapeutischen  Wert  des  Dioxydiamidoarseno- 
benzols  anlangt,  so  sieht  Ehrlich  ihn  hauptsächlich  in  dem 
Umstande,  daß  dieses  Präparat  unter  den  bisher  gekannten  Mitteln 
spirillozid  wirkt.  Es  hat  außerdem  den  großen  Vorteil,  daß  es 
allem  Anschein  nach  durch  den  Orthoamidorest  verschiedene 
Spirillosenerkrankungen  (Syphilis,  Rekurrens,  Frambösie  und 
llülmerspirillose)  gleichmäßig  therapeutisch  günstig  beeinflußt,  was 
von  ähnlichen  Mitteln  (Quecksilber,  Atoxyl  u.  a.)  nicht  gilt.  Außer¬ 
dem  aber  erweist  sich  dieses  Präparat  auch  wirksam  gegenüber 
Trypanosomen,  Malaria  und  auch  Variola. 

Als  Stütze  der  im  Tierexperimente  gefundenen  bedeutenden 
Tatsachen  sind  eine  Reihe  von  Beobachtungen  am  Menschen  von 
verschiedenen  Autoren  der  einen  Wendepunkt  in  der  Therapie 
der  Syphilis  bedeutenden  Monographie  Ehrlich-Hatas  bei¬ 
gegeben.  J.  I verseil,  der  seine  Erfahrungen  über  die  Chemo¬ 
therapie  des  Rekurrens  schildert,  beschließt  seinen  Auf¬ 
satz  wie  folgt:  „Wir  haben  im  Dioxydiamidoarsenobenzol  ein 
Medikament,  welches  mit  mathematischer  Sicherheit  imstande 
ist,  die  Spirochäten  des  Rückfallfiebers  im  lebenden  Blute  zu 
vernichten,  ohne  dem;  Wirt  zu  schaden.“  H.  J.  Nichols  bringt 
eine  „Vorläufige  Mitteilung  über  die  Wirkung  der 
Ehrlichschen  Substanz  ,606“  auf  Spirochaeta  perte- 
nuis  im  Tierkörper“,  die  zeigt,  daß  24  Stunden  nach  der 
Behandlung  im  Kaninchenhoden  Spirochäten  nicht  mehr  nachweis¬ 
bar  und  daß  nach  weiteren  48  bis  72  Stunden  auch  die  Hodenver¬ 
änderungen  verschwunden  waren.  In  gleich  günstiger  Weise  wie 
I versen  sprechen  sich  auch  Bitter  und  Dreyer  in  „Kurze 
Mitteilung  über  die  im  Cairo  infectious  hospital  be 
handelten  Fälle  von  Rückfallfieber“  aus. 

Jahresbericht  über  die  Ergebnisse  der  Immunitäts¬ 
forschung. 

Unter  Mitwirkung  von  Fachgenossen 
herausgegeben  von  Dr.  Wolfgang  Weichardt,  Privatdozent  an  der 

Universität  Erlangen. 

V.  Band  1909. 

Stuttgart  1910,  Verlag  Ferdinand  Enke. 

Die  Vielseitigkeit,  Reichhaltigkeit  und  Vollständigkeit  von 
Weichardts  Jahresberichten  der  Immunitätsforschung  ließ  es 
notwendig  erscheinen,  daß  von  dem  eigentlichen  Referatenteile 
die  zusammenhängende  Besprechung  spezieller  im  Vordergründe 
des  Interesses  stehender  Kapitel  getrennt  wurde  und  daß  somit  von 
nun  an  dieses  Sammelwerk  in  zwei  Bänden  zur  Ausgabe  ge¬ 
langt.  Durch  diese  Einführung  ist  es  nicht  allein  möglich,  daß 
die  entsprechenden  zur  Erörterung  gelangenden  Artikel  eine  aus¬ 
führliche  und  eingehende  Besprechung  erfahren,,  sondern  daß 
einem  Jahresberichte  mehrere  solche  Abhandlungen  beigegeben 
werden  können.  Dieser  Vorteil  ergibt  sich  schon  in  dem  vor¬ 
liegenden  Berichte  über  das  Jahr  1909,  in  dem  sich  nicht  allein 
ein  übersichtlicher  und  sorgfältig  zusammengestellter  Aufsatz 
„Ueber  aktive  Resistenzerhöhung  gegen  Tuberku¬ 
lose“,  von  E.  Levy,  findet.,  sondern  auch  ein  sowohl  inhaltlich 
als  formell  gleich  wertvoller  Artikel  von  C.  Lewin,  „Die  Be¬ 
ziehungen  der  Immunitätsforschung  zu  den  bös¬ 
artigen  Geschwülsten“-  betreffend,  wobei  sich  der  bekannte 
Autor  nicht  bloß  auf  die  Wiedergabe  der  in  der  Literatur  hinter¬ 
legten  Befunde  beschränkt,  vielmehr  auch  eigene,  noch  nicht  ver¬ 
öffentlichte  Untersuchungen  zur  Sprache  bringt.  Zwei  weitere 
Aufsätze  berücksichtigen  mehr  die  -praktisch  wertvollen  Ergeb¬ 
nisse  der  Immunitätsforschung,  indem  H.  Lüdke  uns  in  einem 
mit  gründlicher  Sorgfalt  durchgearbeiteten  Artikel,  „Die  Bedeu¬ 
tung  der  Immunitätsforschung  für  die  innere  Klinik“, 
vor  Augen  führt,  während  G.  Meier  als  Fortsetzung  seines  mehr 
theoretischen  Sammelreferates  im  vorangegangenen  Jahresberichte 
eine  für  Praktiker  und  Theoretiker  gleich  lesenswerte  Zusammen¬ 
stellung  „Ueber  Komplcmentbindung,  mit  besonderer 


Berücksichtigung  ihrer  praktischen  Anwendung“, 
bringt. 

Gleichwie  in  den  früheren  Jahrgängen  dieses  in  jeder  Hin¬ 
sicht  mustergültigen  Werkes  leitet  auch  diesmal  Weichardt 
seinen  Jahresbericht  mit  einer  mehr  allgemein  gehaltenen  Ueber- 
sicht  über  die  besonders  bemerkenswerten  Fortschritte  der  Im¬ 
munitätsforschung  während  des  Berichtsjahres  ein.  In  dieser  Hin¬ 
sicht  wurde  speziell  das  Studium  der  parenteralen  Verdauung 
einer  Eiweißart  durch  ein  spezifisches  Serum  neuerdings  aufge- 
liommen  und  damit  auch  die  Anaphylaxie  in  Zusammenhang  ge¬ 
bracht.  Dann  sind  die  interessanten  Versuche  Abderhaldens 
mit  polarisiertem  Lichte  zwecks  Untersuchung  der  Wirkung  be¬ 
stimmter  Fermente,  ferner  die  Fortführung  der  Ehrlichschen 
Experimente  zum  Ausbau  seiner  Chemotherapie  und  die  As 
coliscbe  Meiostagminreaktion  gewiß  Leistungen,  deren  Bedeutung 
nicht  zu  unterschätzen  ist.  Was  das  eingehendere  Studium  spe 
zieller  Erscheinungen  und  einzelner  Krankheiten  anlangt,  so 
wandten  zahlreiche  Autoren  ihre  Aufmerksamkeit  der  Anaphylaxie 
zu;  ferner  schlossen  sich  an  die  Untersuchungen  L.  Heims  von 
verschiedenen  Seiten  unternommene  Experimente  zur  Erschlie¬ 
ßung  neuer  Quellen  von  Schutzstoffen.  Die  Frage  der  Tuberkulose¬ 
immunität  war  auch  in  diesem  Berichtsjahre  Gegenstand  eifriger 
Forschung,  desgleichen  das  Studium  der  Meningitis  hinsichtlich 
ihrer  Beeinflussung  durch  das  spezifische  Immunserum.  Und  wenn 
auch  speziell  auf  diesen  engeren  Gebieten  ein  durchschlagender 
Erfolg  noch  nicht  zu  verzeichnen  ist,  so  blieben  doch  schätzens¬ 
werte  Erweiterungen  unserer  Kenntnisse  nicht  aus,  die  sich  aucii 
vielfach  auf  mehr  theoretisch  wichtige  Probleme  erstrecken  und 
sich  namentlich  auf  die  Erscheinungen  der  Hämolyse  beziehen. 

Als  ein  besonderer  Vorteil  von  Weichardts  Jahresbericht 
ist  es  anzusehen,  daß  seine  bewährten  Mitarbeiter  ihm  wie  bisher 
bei  seiner  mühevollen  Arbeit  mit  rastlosem  Eifer  zur  Seite  stehen, 
denn  hiedurch  wird  dem  ganzen  großen  Werke  eine  besondere 
Einheitlichkeit  gesichert,  deren  sich  nur  wenige  derartige  Unter¬ 
nehmen  rühmen  können.  Daß  Weichardt  selbst  immer  be¬ 
müht  ist,  durch  Vermehrung  und  Erweiterung  des  Referatenteiles 
seine  Jahresberichte  auf  die  höchste  Stufe  der  Vollkommenheit 
zu  bringen,  beweist  heuer  wieder  die  Gewinnung  Schürmanns 
als  Referenten  für  die  Arbeiten  aus  dem  Berner  Institute  für 
Infektionskrankheiten  und  Aokis  für  die  japanische  Literatur. 

* 

Würzburger  Abhandlungen  aus  dem  Gesamtgebiet  der  praktischen 
Medizin,  XI.  Band,  1.  Heft  1910. 

Ueber  Anaphylaxie  (Ueberempfindlichkeit)  im  Lichte 
moderner  eiweißchemischer  Betrachtungsweisen. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Wolfgang  Weichardt. 

Würzburg  1910,  Verlag  Kurt  K  a  b  i  t  z  s  c  h. 

Der  vorliegende  Aufsatz  wurde  von  Weichardt  im  Fort¬ 
bildungskurs  der  mittelfränkischen  Aer'zte  zu  Nürnberg  gehalten 
und  schildert  die  Entwicklung  unserer  Kenntnisse  über  Ana¬ 
phylaxie.  Auf  Grund  eigener  Erfahrungen  und  Untersuchungen 
anderer  erklärt  Verf.  das  Zustandekommen  der  Anaphylaxie  wie 
folgt:  „Durch  wiederholte  Einverleibung  körperfremden  Eiweißes 
entstehen  zytolytische,  d.  h.  dieses  Eiweiß  verdauende  Antikörper. 
Diese  vermögen  nun  das  nach  einer  gewissen  Zeit  nochmals 
einverleibte  Eiweiß  rasch  zu  zerschlagen  und  hieraus  resultieren 
Störungen,  da  ja  die  Eiweißbausteine  bei  der  Injektion  parenteral, 
nicht  im  Darmkanal  frei  werden.“  Ganz  neu  und  eigenartig  ist 
der  von  Weichardt  mitgeteilte  Fall  von  Anaphylaxie  eines 
Kollegen  gegen  Wittepepton,  die  ihm  dein  Vorteil  bringt,  durch 
einfaches  Aufschnupfen,  Wittepepton  von  Seidenpepton  unter¬ 
scheiden  zu  können. 

* 

Klinisches  Jahrbuch,  Bd.  23. 

Die  übertragbare  Genickstarre. 

Von  Professor  Dr.  Otto  Busse,  Medizinalrat  und  Vorsteher  der  patholog.- 

anatom.  Abteilung. 

Jena  1910,  Verlag  G.  Fischer. 

Trotz  der  reichlich  in  der  Literatur  vorliegenden  Publika¬ 
tionen  über  die  epidemische  Zerebrospinalmeningitis  bildet  die 
vorliegende  Arbeit  eine  willkommene  Ergänzung,  indem  sie  nicht 
allein  eine  geschichtliche  Uebersicht  unserer  Kenntnisse  auf  diesem 
Gebiete  bringt,  sondern  auch  die  gesammelten  Erfahrungen  lun 


Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


679 


sichtlich  der  Epidemiologie,  des  klinischen  Verlaufes,  der  Aetio- 
logie,  sowie  der  Therapie  und  Bekämpfung  dieser  Erkrankung 
einer  kritischen  Revision  auf  Grund  eigener  Erfahrung  und  reicher 
Beobachtung  unterzogen  werden.  Eine  besondere  Bereicherung 
erfährt  hiebei  die  pathologische  Anatomie  der  Genickstarre;  denn 
Busse  verfügt  über  die  stattliche  Zahl  von  58  Obduktionen 
aus  den  verschiedensten  Stadien  der  Erkrankung.  Zusammen  mit 
zahlreichen,  selbst  vorgenommenen  Obduktionen  auf  anderen  Ur¬ 
sachen  beruhender  Meningitisfälle  stellt  Busses  [Jntersuchungs- 
material  eine  auserlesene  Sammlung  von  Präparaten  zur  gründ¬ 
lichen  Erforschung  der  Meningitis  epidemica  vom  Standpunkte 
des  pathologischen  Anatomen  und  Histologen  dar,  ein  Vorteil, 
der  um  so  höher  einzuschätzen  ist  und  dem  Verfasser  zu  beson¬ 
derem  Verdienste  angerechnet  werden  muß,  da  gerade  diese  Rich¬ 
tung  der  Forschung  bisher  bei  der  in  Rede  stehenden  Krankheit 
relativ  vernachlässigt  worden  ist.  Um  seine  Ausführungen  nicht 
durch  mehr  nebensächlichen  Ballast  zu  beschweren,  verzichtet 
Busse  auf  die  Wiedergabe  von  Krankengeschichten  und  Obduk¬ 
tionsprotokollen  und  begnügt  sich  damit,  seine  interessanten  Be¬ 
obachtungen  in  die  Darstellung  einzuflechten,  um  auf  diese  Weise 
die  Befunde  und  ihre  Deutung  zu  ergänzen  und,  wo  sie  einer 
Korrektur  bedürfen,  richtigzustellen.  Gewinnt  schon  so  die  auf  den 
ersten  Blick  als  zusammenfassende  Arbeit  imponierende  Mono¬ 
graphie  mehr  den  Charakter  origineller  Forschung,  ohne  daß 
jedoch  die  vorliegende  Literatur  eine  Vernachlässigung  erfahren 
würde,  so  zeigt  sich  beim  Eingehen  auf  die  einzelnen  Details, 
daß  Busses  Ausführungen  einen  wesentlichen  Fortschritt  unserer 
Kenntnisse  über  die  epidemische  Genickstarre  bedeuten.  Die  Be¬ 
sprechung  des  in  seinen  Einzelheiten  gleich  wertvollen  Buches 
wäre  keine  vollkommene,  würde  man  nicht  die  Exaktheit  in  der 
Ausführung  der  reichlich  mitgegebenen  färbigen  Tafeln,  welche 
sowohl  makroskopisch  als  mikroskopisch  erhobene  Befunde  glän¬ 
zend  wiedergeben,  besonders  hervorheben.  Jo  anno  vies. 


Aus  tfersehiedenen  Zeitsehriften. 

477.  Ueber  die  Bereitung  von  Impfstoff  der 
»Deutschen  Pestkommission  1899«  bei  Gefahr  der 
Annäherung  einer  L  u  n  g  e  n  p  e  s  t  e  p  i  d  e  m  i  e  im  Jahre 
1911.  Von  Prof.  Dr.  Martini,  Marineoberstabsarzt,  Vorstand  der 
Bakteriologischen  Untersuchungsabteilung  und  Wutschutzstation  des 
Gouvernements  Kiautsc-hou.  Die  deutsche  Pestkommission  (Gaffky, 
Pfeiffer,  Sticker  und  Dieudonne)  hat  1898  in  Indien  die 
Impfung  des  Menschen  gegen  Pest  mittels  einer  bei  65° C  in  ein 
bis  zwei  Stunden  abgetöteten  Pest-Schrägagarkultur  empfohlen.  Sie 
wurde  zuerst  am  Affen,  dann  am  Menschen  ausprobiert,  doch  sind 
Erfahrungen  an  einem  größeren  Menschenmaterial  seither  nicht  be¬ 
kannt  worden.  Aus  einem  Lungenpeslfall  der  Provinz  Schantung 
(Dr.  Prieur)  züchtete  Verf.  »höchstvirulente«  Pestbakterien  — 
das  notwendige  Erfordernis  für  die  Herstellung  aussichlsvollen  1 
Schutzimpfstoffes  —  frisch  heraus  und  bereitete  in  wenigen  Wochen  | 
eine  große  Menge  (etwa  1000  Dosen)  eines  brauchbaren  Impfstoffes.  ! 
Vieles  mußte  improvisiert  werden.  Da  Kollesche  Schalen  fehlten,  j 
wurden  zylindrische  Flaschen  aus  starkem  Glase  mit  immerhin  noch  ; 
weitem  Halse  benützt.  Die  12  kleineren  boten  Raum  für  je  8,  die  \ 

3  größeren  für  je  10  Schrägagarkulturen.  Die  Beimpfung  fand  in  ; 
folgender  Weise  statt;  Ein  Schrägagarröhrchen  mit  Pestkultur,  die  j 
je  nach  Wachstum  1  bis  2  Tage  alt  gewählt  wurde,  wurde  mit  jj 

4  cm3  physiologischer  Kochsalzlösung  beschickt  und  dann  der  j 
Kulturrasen  abgekratzt ;  er  wurde  dann  tüchtig  mit  der  Lösung  ge-  j 
mischt,  bis  er  ohne  grobe  Bakterienbröckel  war  und  milchig  aus¬ 
sah.  Von  dieser  Aufschwemmung  wurden  jedesmal  in  jede  der 
15  Flaschen  0'20  cm3  tropfen  gelassen,  u.  zw.  so,  daß  die  ganze 
Agarfläche  damit  befeuchtet  war  ;  sodann  wurden  die  Flaschen  mit 
dem  Wattebausch  geschlossen  und  Kondenswasser  über  die  Fläche 
3-  bis  4mal  laufen  gelassen.  Dann  kamen  sie  in  den  Brutschrank 
von  28  bis  30°  C  und  wurden  dort  schräg  im  Winkel  von  etwa 
45°  gelegt.  Am  nächsten  Tage  war  jedesmal  die  ganze  Fläsche  zart 
bewachsen  ;  nur  einzelne  größere  Kolonien  traten  auf  diesem  feinen 
Rasen  hervor;  die  spezifische  Agglutination  erwies  auch  die  letzteren 
als  Pest.  Man  ließ  wieder  das  Kondenswasser  mehrmals  über  die 
Fläche  rieseln,  fand  nach  48  Stunden  einen  ziemlich  gleichmäßigen 


Bakterienrasen,  überrieselte  ihn  wieder  mit  Kondenswasser  und  kratzte 
die  Kultur  mit  dicker  PJatinnadel  ab.  Der  Rasen  wurde  mit  2  cm3 
Kochsalzlösung  pro  Kulturmasse  eines  gewöhnlichen  Schrägagarröhr¬ 
chens  (mit  16  cm3  für  die  kleinen  und  20  cm3  für  die  großen 
Flaschen)  übergossen,  nochmals  abgekratzt  und  schließlich  in 
Erle  nmey  er  sehe  Kölbchen  verteilt.  Diese  kamen  in  den 
Schüttelapparat,  der  auf  65°  C  gebracht  wurde  und  wurden  nun  bei 
dieser  Temperatur  2  Stunden  lang  geschüttelt.  Sodann  wurde  alles  in 
einen  300  cm3- Kolben  zusammengegossen,  auf  Sterilität  geprüft, 
durch  Tierversuche  (Ratten)  auf  das  Vorhandensein  von  lebenden 
Peslbakterien  geprüft  (die  Kulturen  auf  Agar  und  Bouillon  blieben 
steril,  die  Tiere  nach  kurzer  Vergiftungsreaklion  gesund),  so¬ 
dann  Karbolsäure  hinzugefügt  (0'5°/0),  das  ganze  in  einen  Eis¬ 
schrank  gestellt.  Am  nächsten  Tage  noch  durch  ein  dünnes, 
steriles  Drahtnetz  filtriert,  auf  Flächschen  verteilt,  welche  dunkel 
gestellt  wurden.  Als  erste  Einzeldosis  ist  für  den  Erwachsenen 
1  cm3  dieser  Vakzine,  d.  h.  eine  halbe  Schrägagarkultur  festgeslellt, 
zur  Erhöhung  des  Schutzes  werden  als  zweite  Dosis  2  cm3  nach 
10  Tagen  empfohlen.  Die  erste  Dosis  (subkutan  unter  die  Bauch¬ 
haut)  ruft  ein  handtellergroßes  Infiltrat  und  geringe  Schwellung  der 
regionären  Lymphdrüsen  hervor ;  diese  können  recht  empfindlich 
werden.  Geringes  kurzes  Fieber  mit  folgendem  leichten  Schwei߬ 
ausbruch  können  eintreten,  meist  Eingenommensein  des  Kopfes, 
eine  gewisse  Taumeligkeit  1  bis  2  Tage  lang.  Dann  bilden  sich  die 
örtlichen  Erscheinungen  zurück,  der  Injizierte  befindet  sich  wohl. 
Ob  der  7  bis  10  Tage  später  eintretende  Schutz  groß  oder  gering 
ist,  darübar  fehlt  noch  jede  Erfahrung.  Dieses  Mal  wurde  nur  über 
die  Herstellung,  Prüfung  und  Bereitstellung  großer  Dosen  von  Impf¬ 
stoff  berichtet.  —  (Deutsche  mediz.  Wochenschr.  1911,  Nr.  15.) 

E.  F. 

* 

478.  Ueber  einen  im  Hochgebirge  (1500  in)  mit 

Blutinjektionen  behandelten  Fall  von  (progressiver, 
perniziöser)  schwerster  Anämie.  Von  Dr.  T i e c h e,  Davos- 
Dorf.  Der  Fall  kam  in  fast  moribundem  Zustande  zur  Behandlung 
durch  Dr.  Ti  ec  he.  Da  trotz  des  klimatischen  Reizes,  milder 
Arsentherapie,  diätetischer  Behandlung,  Kampferinjektionen  usw. 
der  Zustand  im  großen  und  ganzen  unverändert  blieb,  so  entschloß 
sich  Dr.  Tie  che  zu  Blutinjektionen.  Er  entnahm1  aus  der  Ell¬ 
bogenvene  einer  Schwägerin  der  Patientin  10  cm3  Blut  (nach 
Stauung  durch  eine  einfache  Binde)  und  injizierte  es  möglichst 
rasch  der  Patientin  tief  subkutan  in  den  Rücken.  Zwei  Tage  darauf 
trat  auffallende  Besserung  im  Befinden  ein,  der  Blutbefund  besserte 
sich  auch.  Nach  weiteren  zwei  Tagen  wird  die  Injektion  von  Blut 
wiederholt;  Patientin  konnte  bald  gebessert  entlassen  werden  und 
die  Besserung  hielt  auch  zu  Hause  an  (Bericht  des  Hausarztes  nach 
einem  halben  Jahre!).  —  Huber  berichtet  auch  über  günstige 
Erfolge  mit  Injektionen  von  defibriniertem  Blute,  doch  waren  die 
Erfolge  nicht  so  prompt  wie  im  Falle  T  i  e  c  h  e  s,  wo  vielleicht  doch 
der  Aufenthalt  im  Hochgebirge  noch  das  Seinige  dazutat,  daß  die 
Blutinjektionen  sich  so  wirksam  erwiesen.  —  (Korrespondenzblatt 
für  Schweizer  Aerzte  1911,  41.  Jahrg.,  Nr.  2.)  K.  S. 

* 

479.  (Aus  der  chirurgischen  Abteilung  des  allgemeinen 
Krankenhauses  in  Nürnberg  und  dem  pharmakologischen  Institut 

Prof.  Faust  —  der  Universität  Würzburg.)  Ueber  intra¬ 
venöse  Narkose.  Von  Prof.  L.  Burckhardt.  Verf.  berichtet 
über  seine  Erfahrungen  bei  250  intravenösen  Narkosen.  Blut¬ 
schädigungen,  Hämoglobinurie,  ernstere  Nierenreizungen,  wenn 
die  Nieren  vorher  intakt  waren,  sind  nicht  vorgekommen.  Man 
hat  darauf  hingewiesen,  daß  die  niedere  Temperatur  der  infun¬ 
dierten  Aetherlösung  (28°)  eine  zu  starke  Abkühlung  des  Pa¬ 
tienten  bewirke.  Messungen  des  Verfassers  vor  und  unmittelbar 
nach  der  Narkose  ergaben  nur  Unterschiede  von  0-5  bis  0-7°. 
Aber  auch  bei  der  Inhalationsnarkose  war  die  Temperatur  um 
0-8  bis  1°  gesunken.  Blutdruckmessungen  während  der  intra¬ 
venösen  Narkose  ergaben,  daß  eine  erhebliche  Steigerung  des  Blut¬ 
druckes  nur  stattfindet,  wenn  dieser  entweder  pathologisch  er¬ 
niedrigt  oder  in  einzelnen  Fällen  bei  schwerer  Arteriosklerose 
mit  abnormer  Erhöhung  des  Blutdruckes.  Hier  ist  Vorsicht  ge¬ 
boten.  Störende  Blutungen  während  der  Operation  hatte  Verfasser 
nicht  zu  beklagen.  Der  schwerste  Vorwurf  gegen  die  Methode  ist 
die  Gefahr  der  Thrombose  und  Embolie.  Verf.  hat  keine  solche 


680 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


beobachtet.  Er  geht  so  vor,  daß,  wenn  die  Toleranz  erreicht  ist, 
die  Aetherlösung  nur  noch  tropfenweise  einfließt.  Dazu  dient 
ein  Hahn,  der  die  genaueste  Regulierung  gestattet.  Bei  Wieder¬ 
kehr  der  Reflexe  wird  der  Hahn  für  kurze  Zeit  geöffnet.  Bei  dieser 
Technik  hat  Verfasser  nie  ein  Gerinnsel  an  der  Kanüle  beob¬ 
achtet.  Der  Zusatz  von  Hirudin  zur  Aetherlösung  hat  sich  nicht 
bewährt.  Von  drei  Patienten  mit  Hirudinzusatz  starben  zwei 
am  vierten  Tage  nach  der  Operation.  Verf.  hat  im  pharmakolo¬ 
gischen  'Institut  in  Würzburg  noch  intravenöse  Injektionen  mit 
Urethan,  Hedonal,  Chloralhydrat,  Isopral,  Chloralamid,  Veronal 
und  Medinal  bei  Kaninchen  und  Hunden  geprüft.  Die  Wasser¬ 
löslichkeit  ist  Grundbedingung.  Mit  2-5  bis  3  g  Urethan  intra¬ 
venös  wurde  bei  Kaninchen  durchschnittlich  tiefe  Narkose  er¬ 
reicht.  Mittlere  Hunde  bedurften  10  bis  15  g.  Die  lange  Nach- 
wirkung  der  Narkose  ließ  das  Urethan  für  intravenöse  Narkosen 
am  Menschen  ungeeignet  erscheinen.  Hedonal  ist  weniger  wasser¬ 
löslich.  Nach  015  bis  0-23  g  intravenös  injiziert,  trat  bei  Ka¬ 
ninchen  tiefe  Narkose  ein.  Die  Tiere  blieben  nach  der  Narkose 
oft  noch  eine  bis  .  sieben  Stunden  im  tiefsten  Schlafe.  Chloral¬ 
hydrat  wurde  bei  Tieren  versucht.  Es  hat  den  Vorzug,  daß  es  gut 
wasserlöslich  ist,  den  Nachteil  der  Gefährlichkeit.  Die  Tiere 
gingen  meist  an  Atmungsstillstand  zugrunde.  Giani  hat  beim 
Menschen  eine  intravenöse  Narkose  ausgeführt.  Sie  gelang;  im 
Harn  viel  Hämoglobin  und  Albuinen.  Als  Resultat  der  Isopral- 
versuche  ergab  sich,  daß  dasselbe  in  1-  bis  2°/oigen  Lösungen 
sehr  gleichmäßige,  tiefe  Narkosen  der  Versuchstiere  bewirkte. 
Die  Narkosenbreite  ist  beim  Isopral  ziemlich  beträchtlich.  Er¬ 
wachen  und  Erholung  erfolgte  bald.  Die  zur  Narkose  benötigte 
Flüssigkeitsmenge'  war  eine  sehr  geringe,  die  Infusion  der  Lösung 
soll  tropfenweise  geschehen.  Die  Atmung  wurde  nicht  alteriert. 
Chloralamid  erwies  sich  nach  den  Tierversuchen  als  ungeeignet 
zur  intravenösen  Narkose,  ebenso  Veronal  und  Veronalnatrium. 
Nach  den  Mitteilungen  Fedoroffs  entschloß  sich  Verf.  zur 
intravenösen  Hedonalnarkose  beim  Menschen.  Er  verfügt  über 
zehn  Fälle.  Hedonal  ist  so  wenig  ungefährlich  wie  der  Aether. 
Es  setzt  den  Blutdruck  herab,  kann  Nierenreizung  bewirken  und 
heftige  Erregungszustände  beim  Erwachen.  Der  größte  Nachteil 
ist  seine  lange  Nachwirkung;  oft  stundenlange  Betäubung  nach 
der  Narkose.  In  sechs  Fällen  wurden  A ether-H edonalm ischiiärkosen 
(5°/o  Aether  und  0-5n/o  Hedonal)  gemacht.  In  vier  Fällen  kam 
es  zu  Albuminurie  und  Zylindrurie.  Zwölf  Patienten  wurden  durch 
Infusion  einer  l-5°/oigen  Isoprallösung  narkotisiert.  Vorzüge  vor 
Aether  und  Hedonal :  Bedarf  geringerer  Flüssigkeitsmengen  ;  Vor¬ 
zug  vor  dem  Hedonal,  daß  es  rascher  ausgeschieden  wird,  daß 
die  Patienten  rasch  und  vollständig  erwachen,  führt  aber  wie 
Hedonal  in  einigen  Fällen  zu  Erregungszuständen.  Manchmal  Blut¬ 
drucksenkungen.  In  mehr  als  70  Fällen  wurde  die  intravenöse 
Aethernarkose  mit  der  Isopralnarkose  kombiniert  und  so  einwand¬ 
freie  Resultate  erzielt,  daß  diese  Kombination  zur  Zeit  am  häu¬ 
figsten  angewendet  wird.  Die  Erfahrungen  des  Verfassers  über 
die  intravenöse  Narkose  gehen  dahin,  daß  diese  Methode  bei 
richtiger  Indikation  und  Technik  relativ  ungefährlich  ist.  Keine 
besonderen  Schädlichkeiten.  Unter  den  mehr  als  250  Fällen  wurde 
einmal  eine  Bronchopneumonie  beobachtet.  Viermal  Eiweiß  im 
Harn,  dreimal  kam  es  zu  Asphyxie  infolge  Ueberdosierung.  Wieder¬ 
holt  vorübergehende  Atmungsstörungen.  Es  gehört  natürlich  eine 
Hebung  dazu,  um  vollkommene  Resultate  zu  erzielen.  Verf.  hält 
den  Aether  zunächst  für  das  zweckmäßigste  Anästhetikum  zur 
intravenösen  Narkose.  Er  wirkt  nicht  ungünstig  auf  den  Blut¬ 
druck,  besitzt  die  Vorzüge  der  flüchtigen  Narkotika  der  Fett¬ 
reihe,  welche  in  der  leichten  Dosierbarkeit  der  Narkose  und  in 
der  raschen  Wiederausscheidung  des  Narkotikums  bestehen. 
Zweckmäßig  ist  bei  kräftigen  Individuen  die  vorherige  Injek¬ 
tion  von  Skopolamin-Morphium.  Ganz  besonders  aber  empfiehlt 
Verf.  die  Kombination  der  intravenösen  Aethernarkose  mit  der 
intravenösen  Isopralnarkose.  Kontraindikationen  bilden  Myo- 
degeneratio  cordis,  schwere  Arteriosklerose,  Nephritis,  schwerer 
Itkerus,  Cholämie,  Stauungserscheinungen  und  allgemeine  Ple¬ 
thora.  Indikation  bei  Kollapszuständen,  bei  Blutverlusten,  bei 
Kachexie  und  Erschöpfungszuständen,  bei  Störungen  der  Respira¬ 
tionsorgane,  bei  Operationen  an  Kopf  und  Hals,  in  der  Mund- 
und  Rachenhöhle.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift 
1911,  Nr.  15.)  G. 


480.  U  e  her  I  n  j  e  k  t  i  o  n  s  n  a  r  k  o  s  e  mit  P an t  o p  o  n -  S k o- 
polainin.  Von  Dr.  G.  Brüstlein.  Mit  der  Injektionsnarkose 
Von-  Pantopon-Skopolamin  ohne  Stauung  hat  Verf.  sehr  gute 
Resultate  erzielt;  eine  halbe  bis  drei  Viertelstunden  ante  Opera¬ 
tionen!  0-04  Pantopon  mit  0-0004  bis  0-0006  Skopolamin  inji¬ 
ziert,  ersetzten  die  Inhalationsnarkose  beinahe  vollständig,  hu 
Gegensätze  erlebte  Verf.  in  drei  Fällen,  da  er  diese  Narkose  nach 
v.  Bumm  im  verkleinerten  Kreisläufe  (Stauung  der  unteren  Ex¬ 
tremitäten,  eventuell  noch  eines  Annes)  versuchte,  schwere  Folge¬ 
erscheinungen,  Delirien,  schlechte  Respiration,  ungenügender  Puls, 
so  daß  Verf.  hievor  dringend  warnt.  —  (Zentralblatt  für  Chirurgie 

1911,  Nr.  10.)  E.  V. 

* 

481.  (Aus  der  chirurgischen  Universitätsklinik  zu  Leipzig. 

Direktor:  Geh.  Rat  Prof.  Dt.  Trendelenburg.)  lieber 

Extraduralanästhesie  für  chirurgische  Operationen. 
Von  Priv.-Doz.  Dr.  Läwcn.  Dem  Verfasser  gelang  es,  die  Ca¬ 
thel  in  sehe  Injektionsmethode  so  weit  auszubilden,  daß  er  mit¬ 
tels  derselben  Anästhesie  für  eine  Reihe  chirurgischer  Opera¬ 
tionen  am  After  und  Umgebung  erzielen  konnte.  Er  benützt  dazu 
eine  2-  bis  lV20/'oige  Novokainbikarbonatlösung,  welche  wirksamer 
ist  als  die  entsprechende  Lösung  der  Chloride  des  Novokains. 
Die  jedesmal  frisch  zu  'bereitende  Lösung  wird  durch  einmaliges 
Aufkochen  sterilisiert  und  erhält  einen  Zusatz  von  einigem  Tropfen 
Adrenalinlösung.  Die  Zubereitung  der  Lösung  und  die  Injektions¬ 
methode  werden  genau  beschrieben  und  mögen  in  der  Original¬ 
arbeit  studiert  werden.  Die  Menge  der  zu  injizierenden  Flüssigkeit 
beträgt  20  bis  25  cm3  (0-3  bis  0-4  Novokain).  Die  Flüssigkeit 
wird  in  den  Sakralkanal  (extradural)  injiziert,  durchdringt  hier 
die  Duralscheiden  und  gelangt  direkt  an  die  Nerven.  Da  die 
Nervenscheiden  verhältnismäßig  dick  sind,  gehört  eben  eine  stär¬ 
kere  Konzentration  des  Anästhetikums  dazu,  um  eine  Anästhesie 
zu  erzeugen.  Verf.  hat  die  Beobachtung  gemacht,  daß  nicht  alle 
Nerven,  die  in  den  entsprechenden  Sakralsegmenten  wurzeln, 
durch  diese  Methode  ausgeschaltet  werden  können,  sondern  nur 
die  dünnsten  und  feinsten  Stämmchen,  an  welche  das  Novokain 
leichter  gelangen  kann,  also  vor  allem  Nervi  anococcygei,  Nervus 
pudendus,  Nervi  haemorrhoidales  inferiores,  Nervi  perinei,  Ner¬ 
vus  dorsalis  penis.  Nervi  vaginales;  niemals  wurden  der  Nervus 
peroneus  und  der  Nervus  tibialis  in  ihrer  Leitung  vollkommen 
unterbrochen.  Die  Anästhesie  ist  in  10  bis  25  Minuten  ausgebildet, 
sie  fängt  in  der  Gegend  zwischen  Steißbeinspitze'  und  hinterer 
Afterzirkumferenz  an,  schreitet  nach  vorne  weiter,  erstreckt  sich 
auf  den  Damm,  dann  auf  Skrotum,  Penis,  Glans;  anästhetisch 
werden  ferner  der  untere  Abschnitt  des  Rektums  mit  Prostata, 
Harnröhre,  Vulva,  Vagina.  Der  Inhalt  des  Skrotums  wird  nicht 
anästhetisch,  weil  er  von  höher  gelegenen  Rückenmarkssegmen¬ 
ten  seine  Nerven  bezieht.  Von  großem  Vorteil  ist  auch  der  Um¬ 
stand,  daß  der  Sphinkter  nie  vollständig  erschlafft  oder  schmerz¬ 
los  leicht  gedehnt  werden  kann.  Die  Anästhesie  wurde  an  der 
Klinik  in  80  Fällen  ausgeführt;  bis  auf  wenige  Versager,  welche 
hauptsächlich  in  der  schlechten  Technik  begründet  waren,  war  die 
Anästhesie  eine  vollkommene.  Es  wurden  eine  große  Zahl  von 
Hämorrhoiden,  Phimosen  operiert,  weiters  Analfisteln,  periprok- 
titische  und  Glutealabszesse,  Fissura  ani,  Douglasabszesse  vom 
Rektum  eröffnet,  Urethrotomien  ausgeführt.  An  den  äußeren  weib¬ 
lichen  Genitalien  lassen  sich  alle  Operationen  ausführen.  Eigent¬ 
liche  Nachwirkungen  (tagelang  anhaltende  Kopfschmerzen),  wie  bei 
der  Rückenmarksanästhesie,  wurden  in  keinem  Falle  beobachtet, 
hingegen  in  einigen  Fällen  entweder  sofort  nach  der  Injektion  oder 
einige  Zeit  später  Ueblichkeiten,  Erbrechen,  Schwindel,  Gesicht¬ 
blässe  notiert,  die  noch  vor  Beginn  der  Operation  zurückgegangen 
sind.  Verf.  bezieht  diese  geringfügigen  Störungen  auf  direkte 
Resorption  des  in  ziemlich  starker  Konzentration  eingeführten 
Giftes.  In  Anbetracht  der  vielseitigen  Anwendung  und  der  ge¬ 
ringen  Gefahr  empfiehlt  Verfasser  die  Methode  der  extraduralen 
Anästhesie  auf  das  wärmste.  —  (Deutsche  Zeitschrift  für  Lhi- 
rurgie,  Bd.  108,  H.  1  und  2.)  se. 

* 

482.  lieber  die  experimentelle  Impfsyphilis 
der  Kaninchen.  Von  Prof.  Dr.  Uhlenhut h  und  Doktor 
M  ulzer.  In  der  Berliner  medizinischen  Gesellschaft  berichtele  jüngst 
Uhlenhuth  über  die  seit  1889  unternommenen  Versuche  der 


Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


G81 


Syphilistiberimpfang  auf  Kaninchen  (Impfungen  in  die  Hoden  und 
in  die  Blutbahn)  und  über  die  darnach  auftretenden  Krankheils¬ 
symptome.  Es  lassen  sich  da  drei  klinische  Formen  unterscheiden  : 
1.  Erosionen  auf  der  Skrotalhaut,  den  menschlichen  Primäraffekten 
gleichend;  2.  chronische  Hodenentztindung  und  3.  Periorchitis.  Die 
pathologische  Anatomie  dieser  Affekte  ist  derjenigen  der  mensch¬ 
lichen  Affekte  sehr  ähnlich;  es  fanden  sich  stets  viel  Spirochäten. 
Die  Erkrankung  der  Hoden  geht  meistens  spontan  zurück,  die  ge¬ 
nannten  Affekte  sind  als  primäre  Formen  zu  bezeichnen  ;  zuweilen 
traten  darnach  sekundäre  Erscheinungen  auf.  In  letzter  Zeit  ver¬ 
suchten  sie,  durch  Impfung  in  die  Blutbahn  allgemeine  Syphilis 
hervorzurufen.  Sie  injizierten  1  bis  2  cm3  Hodenemulsion  von 
hochvirulenten  Kaninchen  intrakardial  vorerst  ganz  jungen  Kaninchen, 
später  auch  in  gleicher  Weise  erwachsenen  Kaninchen.  Nach  4  bis 
6  Wochen  traten  bei  den  so  injizierten  Tieren  die  ersten  Allgemein¬ 
erscheinungen  auf:  zuerst  kleine,  derbelastische  Nasen- und  Schwanz¬ 
tumoren,  dann  Hautgeschwüre  im  Gesicht,  besonders  an  den  Ohr¬ 
wurzeln,  Augenerscheinungen  (Keratitis  syphilitica),  knollige  Paro¬ 
nychien,  dann  Ulzerationen  am  ganzen  Körper.  Im  kreisenden  Blute 
dieser  Tiere  konnten  lebende  Spirochäten  nachgewiesen  werden.  In 
einzelnen  Fällen  wurde  ein  papulo-ulzeröses  Syphilid  am  Anus 
zirkumskripter  Haarausfall  etc.  beobachtet.  Oft  traten  nach  vorüber¬ 
gehender  Abheilung  der  Affekte  Rezidive  ein.  Das  Atoxyl  erwies 
sich  von  guter  Heilwirkung.  Eine  Immunität  konnte  durch  die  In¬ 
jektion  nicht  hervorgerufen  werden,  die  Bildung  von  Antikörpern 
war  nicht  nachzuweisen.  Auch  bei  Affen  konnte  von  der  Blutbahn 
aus  mit  dem  hochvirulenten  Material  allgemeine  Syphilis  hervor¬ 
gerufen  werden.  —  An  den  Vortrag,  der  von  einer  Demonstration 
infizierter  Kaninchen  mit  syphilitischen  Erscheinungen,  syphilitischer 
Organpräparate,  Moulagen,  Zeichnungen  etc.  begleitet  war,  knüpfte 
sich,  wie  wir  dem  Sitzungsberichte  vom  29.  März  1911 
entnehmen,  eine  eingehende  Diskussion,  in  welcher  auch 
v.  Hansemann  sprach.  Er  gab  zu,  daß  die  Spirochaete  pallida 
wohl  eine  Rolle  bei  der  Syphilis  spiele,  ob  eine  ursächliche, 
sei  noch  zweifelhaft,  denn  bei  den  tertiären  Formen  werde 
sie  nicht  gefunden.  In  den  Produkten  der  Impfung  ist  sie  ja  ge¬ 
funden  worden,  ist  also  deren  Ursache,  damit  ist  aber  nicht 
gesagt,  daß  diese  Produkte  syphilitischer  Natur 
sind.  Ueber  die  Histologie  der  Produkte  ist  uns  nichts  näheres 
mitgeteilt  worden.  Manches  weicht  nach  der  Mitteilung  des  Vor¬ 
tragenden  von  der  menschlichen  Syphilis  ab:  so  ist  keine  Immunität 
zu  erzielen,  findet  keine  intrauterine  Uebertragung  statt,  es  fehlen 
die  charakteristischen  Erscheinungen  bei  der  Allgemeininfektion. 
Das  fadenziehende  Sekret  beweist  nichts.  M  u  1  z  e  r,  B 1  a  s  c  h  k  o 
und  G.  Klemperer  sprachen  gegen  die  zu  weit  gehende  Skep¬ 
sis  v.  Hansemanns;  sie  erblicken  im  Nachweis  der  Spirochaete 
pallida  ein  .  sicheres  Zeichen  für  die  bestehende  Lues,  auch  im 
jumma  befände  sich  die  Spirochäte,  wenn  auch  nur  in  einzelnen 
Exemplaren,  schließlich  sei  auch  die  Therapie  für  die  ätiologische 
Bedeutung  der  Pallida  zu  beachten,  denn  das  Salvarsan  vernichte 
)ei  seiner  Heilwirkung  gegen  Lues  die  Spirochäte,  v.  Hanse- 
11  a  n  n  bemerkte,  ex  juvantibus  sei  kein  ätiologischer  Beweis  zu 
nhren.  So  weit  nach  dem  jetzigen  Stande  der  Wissenschaft  der 
leweis  für  Impfsyphilis  erbracht  werden  konnte,  ist  er  vom  Vor¬ 
ragenden  erbracht  worden;  aber  der  Schlußstein  ist  noch  nicht 
'rbracht.  Fritz  Lesser  sprach  sich  dahin  aus,  daß  die  Spirochaete 
»allida  der  Erreger  der  Syphilis  sei,  auch  Benda  u.  a.  sprachen 
11  Sichern  Sinne.  Uh  len  hu  th  hob  in  seinem  Schlußworte 
lcrvor ,  daß  bei  den  infizierten  Affen  dieselben  Erscheinungen  ge¬ 
linden  wurden  wie  beim  Menschen.  Daß  in  Gummiknoten  keine 
Spirochäten  anzutreffen  sind,  ist  nichts  besonderes,  finden  sich  doch 
uch  oft  z.  B.  in  Tuberkelknoten  keine  Tuberkelbazillen.  Auch 
alariaparasilen  hat  man  noch  nicht  in  Reinkultur  gezüchtet.  Die 
»pirochaete  pallida  ist  der  Erreger  der  Syphilis.  —  (Deutsche  med. 
Vochenschr.  1911,  Nr.  15.)  E.  F. 


Von 

von 


483  Hohe  und  tiefe  extradurale  Anästhesien. 

Ir.  H.  Schlimpert.  Verf.  berichtet  über  die  mit  der 
athelin  zuerst  angewandten,  von  Stoeckel  in  Deutschland 
uerst  aufgenommenen  extraduralen  Anästhesie  an  der  Klinik 
uönig  gemachten  Erfahrungen.  Ueber  die  Technik,  die  genau 
'©schrieben  wird,  muß  das  Original  nachgelesen  werden.  Ver- 
asser  ist  mit  den  Resultaten  vorläufig  nicht  unzufrieden  und 


erwähnt  als  Vorteile  der  hohen  extraduralen  Anästhesie 
das  last  vollständige  Fehlen  störender  Erscheinungen,  wie  Brechen 
während  der  Narkose.  In  positiven  Fällen  gute  Entspannung. 
Als  Hauptvorteil  faßt  Verf.  das  Fehlen  ernstlicher  Nachwirkungen 
auf.  Nachteile  sind  vor  allem  die  nicht  leichte  Technik,  Ver¬ 
sager,  vorübergehende  Schwankungen  im  Kreislauf  und  das  zeit¬ 
liche  Beschränktsein  der  Anästhesie.  Nach  Verf.  tritt  die  extra¬ 
durale  Anästhesie  in  Konkurrenz  mit  der  Inhalationsnarkose  und 
der  Lumbalanästhesie.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911 
Nr.  12.)  E  v_  ’ 

* 

484.  Eine  neue  Methode  zur  Verengerung  des 
Thorax  bei  Lungentuberkulose.  Von  Prof.  Wilms  in 
Heidelberg.  Verf.  beschreibt  eine  Methode  der  Thorakoplastik,  die 
bi’i  Einfachheit  und  relativer  Ungefährlichkeit  des  Eingriffes  eine 
beträchtliche  Verkleinerung  des  Thorax  bei  der  chronisch  indu¬ 
rativen  Form  der  Lungentuberkulose  gestattet.  In  dem  mitgeteilten 
und  operierten  Falle  handelt  es  sich  um  eine  linkseitige,  seit  fünf¬ 
zehn  Jahren  bestehende  Oberlappentuberkulose  mit  starkem  nächt¬ 
lichen  Reizhusten,  der  die  Patientin  sehr  belästigte.  Auf  dem 
Röntgenbild  war  eine  deutliche  Kaverne  im  Oberlappen  erkenn¬ 
bar.  Bei  dieser  Patientin  wurden  in  Lokalanästhesie  von  der 
ersten  bis  achten  Rippe  je  3  bis  4  cm  entfernt.  Angefangen 
wurde  mit  der  achten  Rippe,  dann  die  siebente  und  sechste  rese¬ 
ziert,  von  dem  unteren  Querschnitt,  der  durch  die  Muskulatur 
hindurchgelegt  war;  dann  wurde  von  einem  mittleren  Quer¬ 
schnitt  die  fünfte  und  vierte  Rippe  reseziert  und  von  dem  oberen 
Querschnitt  dritte,  zweite  und  erste  Rippe.  Auffallend  war  die 
leichte  Entfernung  des  Stückes  der  ersten  Rippe;  die  sich  bei  einem 
Eingriff  \  0 1 i  rückwärts  bei  ihrer  horizontalen  Stellung  spielend 
auf  mehrere  Zentimeter  resezieren  läßt,  viel  leichter,  als  es  von  der 
Achselhöhle  aus  in  ihren  mittleren  Teilen  möglich  ist.  Eine  Ver¬ 
letzung  der  Pleura  fand  nicht  statt.  Direkt  nach  der  Entfernung 
der  Rippen  näherten  sich  die  Enden  der  durchtrennten  Rippen, 
von  denen  drei  und  mehr  Zentimeter  entfernt  worden  waren, 
so  stark,  daß  der  Finger  dazwischen  eingeklemmt  wurde.  Dies 
war  ein  Zeichen  für  die  starke  Retraktion  der  Lunge  und  für 
die  Beweglichkeit  der  ganzen  Thoraxwand,  die  sich  um  die 
elastischen  vorderen,  knorpeligen  Ansätze  leicht  ein  drücken  ließ. 
Aus  dem  14  Tage  post  Operationen!  aufgenommenen  Röntgenbilde 
sieht  man,  daß  die  Rippenenden  kaum  1  cm  auseinanderstehen; 
die  peripheren  stehen  wesentlich  tiefer,  als  die  zentralen,  ein 
Beweis,  daß  nicht  nur  der  Thorax  durch  Einwärtsdrehen  der 
Rippen  verkleinert  wurde,  sondern  daß  sich  die  ganze  Thorax¬ 
wand  nach  abwärts  gesenkt  hat,  was  am  deutlichsten  im  Bereich 
der  oberen  Rippen  erkennbar  ist.  Die  Verengerung,  die  durch  diese 
veränderte  Stellung  der  Rippen  erzielt  wurde,  beträgt  nach  des 
Verfassers  Berechnung  150  bis  180  cm3  im  Minimum.  Der  Ein¬ 
grift  wurde  von  der  Patientin  relativ  leicht  überstanden,  nur 
die  Expektoration  war  in  den  ersten  zehn  Tagen  ziemlich  er¬ 
schwert  und  der  Hustenreiz  so  intensiv  wie  vor  dem  Eingriff. 
Verf.  hatte  die  Absicht,  nach  drei  bis  vier  Wochen  im  Knorpel¬ 
teil  am1  vorderen  Ende  der  Rippen  den  Thoraxraum  noch  weiter 
zu  verengern,  da  aber  schon  nach  drei  Wochen  Husten  und  Ex¬ 
pektoration  ganz  aufhörten,  so  wurde  ein  zweiter  Eingriff  als 
überflüssig  aufgegeben.  Das  Resultat  in  diesem  Falle  war  also 
ein  so  frappierendes  und  der  anatomische  Erfolg  der  Thorax- 
Verengerung  nach  Entfernung  von  Rippenstücken  neben  der  Wirbel¬ 
säule  ein  so  (beträchtlicher,  wie  es  Verfasser  kaum  zu  erwarten 
gewagt  hatte.  Zusammenfassend  'erklärt  Verfasser,  daß  für  ge¬ 
wisse  Fälle  von  indurativer,  chronischer  Tuberkulose  allein  durch 
Entfernung  von  kleinen  Rippenstücken  im  Bereiche  des  Angulus 
costae  eine  beträchtliche  Verkleinerung  des  Thoraxraumes  mög¬ 
lich  ist,  da  um  den  knorpelig  vorderen  Rippenansatz  die  Rippen 
nach  ihrer  Trennung  im  Gebiete  des  Angulus  in  breiten  Grenzen 
beweglich  werden.  Genügt  diese  Rippenresektion  nicht,  sö  kann 
noch  in  zweiter  Sitzung  eine  Knorpeldurchtrennung  am  sternalen 
Ansatz,  eventuell  mit  Resektion  kleinerer  Stücke  hinzugefügt 
werden.  Die  Rippen  sinken  bei  dieser  Operation  nicht  nur  nach 
einwärts,  sondern  auch  stark  nach  abwärts  und  verengern  gerade 
dadurch  beträchtlich  die  Lungenspitzen,  was. für  viele  Fälle  von 
besonderem  Wert  ist.  Um  die  Rückenmuskulatur  bei  diesem 
Eingriff  nicht  zu  sehr  zu  lädieren,  schneidet  man  durch  die 


682 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


Rhomboidei  und  den  Trapezius  horizontal  hindurch,  nachdem 
die  Haut  in  Längsrichtung  durchtrennt  ist.  Bei  der  Nachbehand¬ 
lung  muß  darauf  gesehen  werden,  daß  der  Thorax  von  außen 
komprimiert  wird,  am  besten  so,  daß  über  dicken  Gazerollen, 
die  auf  die  Wunde  in  Längsrichtung  gelegt  werden,  kräftige 
Heftpflasterstreifen  scharf  gespannt  herübergezogen  werden,  damit 
diese  die  äußeren  Rippendenden  nach  innen  drücken.  Obendrein 
kann  man  die  Patienten  auf  der  kranken  Seite  liegen  lassen  oder 
durch  eng  anliegende  Kompressivverbände,  wie  dies  auch  Bremer 
betont,  den  erschwerten  Husten  erleichtern.  —  (Münchener  medi¬ 
zinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  15.)  G. 

* 


485.  Welche  Stellung  im  Arzneischatz  gebührt 
dem  Antipyretikum  Mar  et  in?  Eine  klinische  Uebersicht 
von  Dr.  Schmitz  in  Dortmund.  Nach  den  ersten  therapeutischen 
Versuchen  schien  es,  als  sollte  dem  Maretin  nur  ein  ephemeres 
Dasein  beschieden  sein.  Die  weiteren  praktischen  Erfahrungen 
haben  jedoch  gelehrt,  daß  dieses  Mittel  bei  rationeller  Darreichung 
nicht  nur  unschädlich,  sondern  auch  wirksam  ist.  Die  Einzeldosis 
soll  im  allgemeinen  nicht  0-1  bis  0-2  überschreiten  (bei  Rheuma¬ 
tikern  eventuell  über  0-2).  Als  höchste  Tagesdosis  ist  0-o  an- 
zü  sehen,  da  sonst  Nebenerscheinungen,  besonders1  profuse 
Schweiße,  auftreten.  Bei  Phthisikern  und  Typhösen  ist  es  von 
größter  Wichtigkeit,  das  Maretin  ein  bis  zwei  Stunden  vor  dem 
zu  erwartenden  Fieberanstieg  zu  geben.  Im  letzten  Stadium  der 
Phthise  empfiehlt  Elk  an  rektale  Applikation  (Maretin  0-5,  Vi  1 
Milch,  Tinct.  opii  gtt.  X).  Indikationen  für  Maretin  sind:  Fieber 
der  Phthisiker,  Typhus,  Polyarthritis;  ferner  hat  sich  Maretin 
als  Antineuralgikum  bewährt  bei  Neuralgie,  Kephalgie  und  da¬ 
durch  bedingte  Schlaflosigkeit.  Die  Entfieberung  dauert  gewöhn¬ 
lich  einen  halben  Tag  und  länger  an.  Die  Nebenerscheinungen 
(Schweiße)  lassen  sich  bei  rationeller  Darreichung  sicher  ver¬ 
meidein,  wenn  nicht  von  vornherein  Disposition  zu  solchen  be- 


steht.  Bei  längerer  Darreichung  tritt  Gelbfärbung  der  Haut  und 
Urin  Verfärbung  auf;  der  Farbstoff  ist  aber  absolut  unschädlich. 
Maretinham  reagiert  auf  Fehlinglösung  positiv,  doch  ist  dies 
nicht  auf  Zucker,  sondern  auf  Abbauprodukte  des  Maretins  (— 
Semikarbazid  CH3-C,.H4-N  NH  CO-NH2)  zurückzuführen.  Maretin  ist 
geschmackfrei  und  eignet  sich  infolge  seiner  Billigkeit  auch  für 
Krankenhauspraxis.  —  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  .Tahrg., 
Nr.  48.)  K-  s- 


* 


486.  (Aus  dem  k.  u.  k.  Garnisonsspitale  Nr.  11  und  der 
deutschen  psychiatrischen  Klinik  in  Prag.)  Beiträge  zur  Kennt¬ 
nis  des  hysterischen  Dämmerzustandes.  —  Ueber  eine 
eigenartige,  unter  dem  Bilde  eines  psychischen  „Pucr- 

lismus“  verlaufende  Form.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Ernst 
Sträußler,  k.  u.  k.  Regiments arzt.  Die  vom  Verf.  mitgeteilten 
Fälle  repräsentieren  einen  besonderen  Typus  des  hysterischen 
Dämmerzustandes.  Sie  sind  charakterisiert  durch  kindliches  Wesen, 
dem  mitunter  ein  läppischer  Zug  anhaftet  und  sonderliche  mani- 
rierte  Bewegungen  und  Haltungen,  die  Von  katatonischen  Erschei¬ 
nungen  kaum  unterscheidbar  sind.  Die  Aehnlichkeit  dieses  Svm- 
ptomenkomplexes  mit  den  Erscheinungen  der  Dementia  praecox 
liegt  auf  der  Hand.  In  den  Fällen  Sträußlers  handelte  es  sich 
unzweifelhaft  um  hysterische  Psychosen.  Das  geschilderte  Svm- 
ptomenbild  wurde  von  Dupre  als  Puerilisme  mental  beschrieben. 
Sträußler  erkennt  in  letzterem  hysterische  Bewußtseinsstörun¬ 
gen,  die  den  Gans  ersehen  Dämmerzuständen  sehr  nahe  stehen. 
Es  handelt  sich  gewissermaßen  um  die  Flucht  des  Patienten  aus 
der  für  ihn  peinlichen  Gegenwart  und  dem  gegenwärtigen  Be¬ 
wußtsein,  ohne  daß  sich  der  Kranke  in  allen  Einzelheiten  in  die 
Jahre  seiner  Kindheit  rückversetzt  fühlt.  Im  Stadium  der  all¬ 
mählichen  Aufhellung  des  Bewußtseins  kommt  das  typische  Vorbei¬ 
reden  zum  Vorschein,  ein  Moment,  welches  gleichfalls  an  das 
Gansersche  Symptomenbild  erinnert.  —  (Jahrbuch  für  Psy¬ 
chiatrie  und  Neurologie,  Bd.  22,  H.  1  und  2.)  S. 

* 

487.  Eklampsie  im  sechsten  Schwangerschafts¬ 
monat  bei  Blasenmole  ohne  Fötus.  Entstehung  einer 
scheinbaren  Eihöhle  durch  hydropische  Degenera¬ 
tion  größeren  Föten  Stammes.  Von  Dr.  Anton  Sitzen- 
frey.  Verf.  beschreibt  aus  der  Klinik  V.  Franque  den  sehr 


seltenen  Fall  einer  Blasenmole  ohne  Fötus,  mit  dem  Zusammen¬ 
treffen  von  Eklampsie.  Es  handelte  sich  um  eine  25jährige  Erst¬ 
gebärende,  die  am  25.  Dezember  1910  in  tiefem  Koma  der  Klinik 
eingeliefert  wurde.  Letzte  Periode  Mitte  Juli  1910.  Am  10.  und 
15.  Dezember  traten  kürzere  Blutungen  ein.  Am  25.  Dezember 
trat  die  Eklampsie  auf.  Bis  zur  Aufnahme  an  die  Klinik  im 
Laufe  von  16  Stunden  29  Anfälle.  Vaginaler  Kaiserschnitt  nach 
D  ü  hr  s  en.  Ausräumung  einer  Blasenmole.  Post  operationem  noch 
ein  leichter  Anfall.  Heilung.  Die  Bläschen  der  entfernten  Mole 
zeigen  Pflaumen-  bis  Taubeneigröße.  In  dem  vermutlichen  Ei¬ 
sack,  der  gut  350  cm3  Flüssigkeit  enthielt,  fand  sich  weder  ein 
Fötus,  noch  eine  Nabelschnur,  vielmehr  erwies  sich  die  scheinbare 
Eihöhle  als  Riesenblase,  entstanden  durch  hydropische  Degenera¬ 
tion  eines  größeren  Zottenstammes.  —  (Zentralblatt  für  Gynä¬ 
kologie  191 1,  Nr.  9.)  E-  V. 

* 

488.  (Aus  dem  medizinisch  -  chemischen  und  pharmakolo¬ 

gischen  Institut  der  Universität  Bern.  —  Direktor:  Professor 
Dr.  Emil  Biirgi.)  Ueber  die  Beeinflussung  der  Wir¬ 
kung  n arkotischer  Medikamente  durch  A  ntipyretiku. 
Von  Sophie  Lomonosoff  aus  Kijew.  Die  Antipyretika  gelten 
als  eine  Art.  Narkotika  und  es  läßt  sich  tatsächlich  experimentell 
der  Narkotikacharakter  erweisen,  indem  in  einer  Kombination  j 
zwischen  einem  Antipyretikum  und  einem  eigentlichen  Narkotikum 
eine  den  ersteren  innewohnende  narkotische  Kraft  sich  wirklich 
geltend  macht  im  Sinne  einer  Verstärkung  der  Narkose.  Ob 
einfache  Addition  oder  Potenzierung  hiebei  vorliegt,  läßt  sich 
derzeit  noch  nicht  sagen,  weil  die  minimalnarkotisierende  Dosis 
für  das  Antipyretikum  bisher  nicht  festgestellt  werden  konnte  und 
daher  ein  mathematischer  Ausdruck  für  diese  Verstärkung  sich 
nicht  finden  läßt.  —  (Zeitschrift  für  experimentelle  Pathologie 
und  Therapie  1911,  Bd.  8,  H.  3.)  K.  S. 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

489.  Einige  Beobachtungen  über  herabgesetztenj 
Blutdruck.  Von  W.  E.  Edgecombe.  Durch  Bestimmung  des 
Blutdruckes  am  Morgen  und  Abend  in  zahlreichen  Fällen  wurde 
die  Bestimmung  eines  Durchschnittswertes  des  Blutdruckes  an-j 
gestrebt  und  die  Wirkung  verschiedener  Einflüsse  auf  den  Blut 
druck  untersucht.  Bei  den  Versuchen  mit  verschiedenen  Medikaj 
menten  wurde  nicht  die  unmittelbare  Beeinflussung  des  Druckes 
sondern  der  morgendliche  und  abendliche  Blutdruck  bestimmt 
Niedrige  Werte  des  Blutdruckes  wurden,  außer  bei  akuten  Infok 
tionskrankheiten,  noch  bei  verschiedenen  Zuständen  beob¬ 
achtet.  So  findet  sich  niedriger  Blutdruck  bei  Personen  mit  träge ij 
Zirkulation,  kalten  Händen  und  Füßen,  sowie  Neigung  zu  Er 
frier ungen  und  es  wurde  in  einer  Anzahl  von  Fällen  ein  systo 
lischer  Blutdruck  unter  95  mm  Hg  nachgewiesen.  Durch  Bäder 
Massage,  Gymnastik  wurde  zeitweilig  Steigerung  des  Blutdrucke: 
mit  Besserung  der  gestörten  Zirkulation  erzielt,  doch  könnt! 
eine  nachhaltige  Wirkung  nicht  erzielt  werden,  weil  mit  den 
Aussetzen  der  Behandlung  der  Blutdruck  wieder  abnahm.  Nicdcre| 
Blutdruck  wurde  auch  bei  reiner  Neurasthenie  mit  körperlicher 
bzw.  seelischer  Abspannung  verzeichnet,  wobei  zunächst  uU 
entschieden  blieb,  ob  der  niedere  Blutdruck  die  Ursache  odej 
die  Folge  der  extremen  Abspannung  darstellt.  Es  ist,  wahrschein¬ 
lich,  daß  durch  toxische  Einflüsse  zunächst  der  Blutdruck  herab 
gesetzt  wird  und  dadurch  die  träge  Zirkulation  bedingt  wird,  wrj 
für  auch  der  Umstand  spricht,  daß  die  Besserung  des  Zustande 
von  Steigerung  des  Blutdruckes  begleitet  wird.  Bei  der  sogenannte! 
Reizneurasthenie,  die  eher  als  eine  Hypochondrie  oder  Psyclj 
asthenie  aufzufassen  ist,  erscheint  der  Puls  beschleunigt  unj 
der  Blutdruck  schwankend,  doch  meist  über  die  Norm  erhohU 
Andere  mit  niedrigem  Blutdruck  einhergehende  Zustände  sw 
Nikotinvergiftung,  Herzdilatation  mit  oder  ohne  Klappenfehler 
gichtisch-rheumatische  Zustände,  die  sich  klinisch  als  Isc  ia 
Lumbago  oder  Neuritis  kundgeben,  ferner  Phosphatune  und  M 
thritis  deformans.  Während  es  im  allgemeinen  leicht  geling 
den  abnorm  gesteigerten  Blutdruck  herabzusetzen,  ist  eine  dar 
ernde  Steigerung  niedrigen  Blutdruckes  schwer  erreich  ar. 
der  Regel  genügt  eine  relativ  geringere  Steigerung  des  Blutdruc  e- 


WIENER  KUNISrMtf  tonf'HCMef'uuip-n  in,. 


Nr.  19 

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um  beträchtlich©  Besserung  herbeizuführen.  Diät,  Gymnastik, 
Höhenklima  und  Hydrotherapie  sind  in  dieser  Beziehung  den 
medikamentösen  Mitteln  vorzuziehen.  In  der  Diät  ist  reichliche 
Fleischnahrung  hei  gleichzeitiger  Einschränkung  der  Kohlehydrate 
aiigezeigt;  der  Tonus  des  Gefäßsystems  wird  durch  dosierte 
Gymnastik,  Höhenklima  und  Hydrotherapie  erhöht.  Von  inneren 
Mitteln  besitzt  Hypophysisextrakt  die  stärkste  Wirkung,  doch 
besteht  bei  länger  fortgesetzter  Darreichung  die  Möglichkeit  un¬ 
angenehmer  Nebenwirkungen.  Von  anderen  Mitteln  sind  Koffein, 
milchsaures  Kalzium  und  Digitalis,  welche  bei  kardialer  Blut¬ 
drucksenkung  angewendet  wird,  zu  nennen,  während  Strychnin 
hier  wertlos  ist.  —  (The  Lancet,  11.  März  1911.)  a.  e. 

♦ 

490.  Ueber  die  klimatische  und  baineologische 
Behandlung  der  Neurasthenie.  Von  W.  Ringrose  Gore 
Die  Balneotherapie  der  Neurasthenie  stellt,  obwohl  sie  am  meisten 
der  Indicatio  causalis  entspricht,  gegenwärtig  nur  eine  Ergänzung 
der  anderen  Behandlungsmethoden  dar.  Von  größter  Wichtigkeit 
ist  bei  der  Neurasthenie  die  genügende  Dauer  der  Behandlung,  weil 
sonst  der  erwartete  Erfolg  leicht  ausbleibt  und  der  Gemüts¬ 
zustand  des  Patienten  dadurch  ungünstig  beeinflußt  wird.  Pa¬ 
tienten  mit  sehr  geschwächtem  Zustande  benötigen  vor  Einleitung 
einer  Badekur  Bettruhe,  Massage  und  sorgfältige  Ernährung,  fn 
|  jetten  Fällen,  wo  die  Neurasthenie  von  Erkrankungen  der  Ab¬ 
dominalorgane,  wie  Gallensteine,  chronische  Appendizitis  oder 
Enteroptosis  abhängt,  soll  die  Balneotherapie  vor  und  nicht  nach 
der  Operation  eingeleitet  werden.  Man  kann  für  fast  alle  Fälle 
I  von  Neurasthenie  eine  toxische  Grundlage  annehmen  und  es 
lassen  sich  sehr  oft  Erkrankungen  der  Verdauungsorgane  als  Ur¬ 
sache  oder  Begleiterscheinung  der  Neurasthenie  nachweisen.  In 
diesen  Fällen  ist  eine  Trinkkur  besonders  indiziert.  Der  morgend¬ 
liche  Gebrauch  einer  salinischen  Quelle  wirkt  als  Auswaschung  des 
\erdauungstraktes,  wodurch  die  daselbst  gebildeten  toxischen 
Produkte  zur  Ausscheidung  gelangen.  Die  mit  dem  Blutserum 
isotonische  salinische  Quelle  von  Claudrindod  Wells  geht  sofort 
in  den  Darm  und  wirkt  anregend  auf  die  Peristaltik,  ohne  durch 
Entziehung  von  Serum  aus  der  Darmwand  schwächend  zu  wirken. 

I  Appetitsteigerung,  bessere  Verdauung  und  Körpergewichtszunahme 
sind  die  Folge  der  Trinkkur.  Die  Wirkung  der  Bestandteile  des 
natürlichen  Mineralwassers  wird  auf  Radioaktivität  und  unbe¬ 
kannte  Faktoren  zurückgeführt,  doch  ist  auch  der  Ersatz  der  Blut¬ 
salze  durch  chemisch  aktivere  Salze  hiebei  von  Bedeutung.  Hoch- 
freguenzströme,  Duschen,  Bäder  von  verschiedener  Temperatur, 
sowie  Ausspülungen  des  Dickdarmes  bilden  weitere  Heilbehelfei 
wobei  letztere  namentlich  bei  psychischen  Depressionszuständen 
gute  Dienste  leisten.  Die  Auswahl  des  Klimas  hängt  vom  Sta¬ 
dium  der  Erkrankung  und  vom  Alter  des  Patienten  ab.  Gebirgs- 
und  Seeklima  verdienen  nach  vorheriger  Ruhekur  den  Vorzug, 
wenn  sie  nicht  Schlaflosigkeit  bedingen.  Im  Winter,  wo  Frei¬ 
luftbehandlung  für  Neurastheniker  ersprießlich  ist,  können  jüngere 
Patienten  alpine  Höhenorte  aufsuchen,  sonst  sind  Reisen  nach 
Westindien,  bzw.  Aufenthalt  an  der  Mittelmeerküste,  speziell 
Algier  und  die  in  der  Umgebung  von  Kairo  gelegenen  Ortschaften, 
für  Winterkuren  geeignet.  —  (The  Lancet,  11.  März  1911.) 

a.  e. 

+ 

;  491 .  Ueber  maligne  S t r i k t u r e n  des  Oesophagus 

on  G.  William  Hill.  Die  Behandlung  der  primären  Oesophagus¬ 
karzinome  ist  vorwiegend  palliativ,  gegen  die  Dysphagie  und  die 
Schmerzen  gerichtet.  Mit  Erfolg  wurden  bisher  nur  vom  Pha- 
iynx  auf  die  Speiseröhre  übergreifende  Karzinome  operiert,  wo¬ 
bei  totale  Exstirpation  des  Kehlkopfes  mit  partieller  Inzision  des 
unteren  Pharynx  und  des  angrenzenden  obersten  Teiles  des  Oeso¬ 
phagus  angewendet  wurde.  Die  Operationen  des  primären  Oeso¬ 
phaguskarzinoms  —  zervikale,  thorakale  und  thorako-abdomi- 
"ale  Resektion  der  Speiseröhre  —  haben  bisher  keinen  Erfolg 
zu  verzeichnen.  In  der  Literatur  ist  die  erfolgreiche  Exstirpation 
•  eines  kleinen  Sarkoms  der  Speiseröhre  unter  Anwendung  des 
Oesophagoskopes  verzeichnet.  Als  palliative  Operation  wird  haupt¬ 
sächlich  die  Gastrostomie  durchgeführt,  doch  kann  durch  rein 
ondo-ösophageale  Behandlungsmethoden  —  Intubation  und  Ra¬ 
dium—  die  Gastrostomie  meist  vermieden  werden.  Die  medika¬ 
mentöse  Behandlung  —  Jodpräparate,  Fibrolysin,  Adstringentien, 


Lokalanästhetika  besitzen  höchstens  palliative  Wirkung,  so  daß 
Morphiuminjektion  zur  Beseitigung  der  Schmerzen  kaum  entbehrt 
werden  kann.  Zur  Entfernung  der  über  der  Striktur  angehäuften 
Massen  sind  Waschungen  mit  antiseptischen  Lösungen,  wie  Bor¬ 
glyzerin,  Phenol  usw.,  angezeigt,  während  Wasserstoffsuperoxyd 
kontraindiziert  ist.  Aetzung  ist  auch  unter  Leitung  des  Oeso- 
phagoskops  nicht  ratsam,  Elektrolyse,  Ionisation  und  Applika¬ 
tionen  von  Kohlensäureschnee  sind  noch  zu  wenig  erprobt.  Son¬ 
dierung  ohne  Oesophagoskop  ist  zur  Erleichterung  der  Dysphagie 
geeignet,  aber  nicht  gefahrlos ;  die  beste  Methode  ist  die  Ein¬ 
führung  eines  dünnen  Oesophaguskatheter  aus  Gummi,  welcher 
für  längere  Zeit  belassen  wird.  Man  verwendet  einen  durch 
Silberdraht  oder  Fischbeineinlage  festgemachten  dünnen  Üeso- 
phaguskatheter,  dessen  vorderes  Ende  an  den  Zähnen  fixiert 
wird,  so  daß  der  Katheter  durch  Husten  oder  Erbrechen  nicht 
herausgeschleudert  werden  kann.  Zunächst  wird  flüssige  Nahrung 
zugeführt ;  nach  ein  bis  zwei  Wochen  ist  die  Striktur  meist  so 
erweitert,  daß  auch  breiige,  selbst  feste  Nahrung  passieren  kann. 
In  weit  vorgerückten  Fällen  kann  der  Katheter  permanent  be¬ 
lassen  werden;  sonst  kann  man  ihn  zeitweilig  entfernen  und 
bei  zunehmender  Dysphagie  einführen.  Der  beschriebene  Ka¬ 
theter  ist  nicht  nur  wirksamer,  sondern  kann  auch  leichter  ein¬ 
geführt  werden,  als  andere  Sonden ;  die  permanente  Applikation 
ist  namentlich  in  Fällen  angezeigt,  wo  eine  Kommunikation  zwi¬ 
schen  Speiseröhre  und  Luftwegen  besteht.  Die  Radiumbehandlung 
wurde  in  22  Fällen  von  Oesophaguskarzinom  angewendet;  zur 
Anwendung  kamen  20,  bzw.  50  mg,  wobei  die  Dauer  der  Appli¬ 
kation  12  bis  28  Stunden  betrug  und  der  Turnus  nach  Bedarf 
wiederholt  wurde.  In  vier  Fällen  wurde  temporäre  Heilung,  in 
sechs  Fällen  beträchtliche,  in  sieben  Fällen  nachweisbare  Besse¬ 
rung  erzielt;  nur  in  fünf  Fällen  blieb  jeder  Erfolg  aus,  in  zwei 
weit  vorgeschrittenen  Fällen  schien  das  Radium  sogar  verschlim¬ 
mernd  zu  wirken.  —  (The  Lancet,  25.  Februar  1911.)  a.  e. 

* 

492.  Ueber  die  Anwendung  von  Schilddrüsen¬ 
substanz  bei  Serumexanthem  und  Serumkrankheit 
nach  Diphtherieheilserum.  Von  A.  E.  Hodgson.  Das 
Auftreten  von  Serumexanthemen,  allein  oder  in  Kombination  mit 
Fieber,.  Gelenksschmerzen,  Oedem,  Angina,  Rhinitis,  Adenitis, 
Albuminuiie,  nach  Injektion  von  Diphtherieheilsemm  und  andere 
Serumarten,  sowie  die  schwereren  Phänomene  der  Anaphylaxie, 
haben  in  den  letzten  Jahren  die  Aufmerksamkeit  in  hohem  Maße 
in  Anspruch  genommen.  Es  wird  übereinstimmend  angenommen, 
daß  die  angegebenen  Phänomene  nicht  durch  den  Antitoxingehalt 
sondern  einen  Eiweißkörper  des  Serums  bedingt  sind  und  daß 
Anaphylaxie  eintritt,  wenn  die  zweite  Injektion  zehn  bis  zwölf 
Tage  oder  darüber  nach  der  ersten  Injektion  stattfindet.  Das 
Serumexanthem  ist  im  allgemeinen  unbedenklich,  kann  aber  bei 
Lokalisation  im  Kehlkopf  Erscheinungen  von  Krupp  erzeugen, 
auch  kann  die  Serumkrankheit  bei  schwererem  Grade  den  durch 
die  Diphtherieinfektion  geschwächten  Organismus  gefährden  und 
bei  an  sich  leichten  Formen  von  Diphtherie  Exitus  bedingen. 
Klinische  Erfahrungen  zeigen,  daß  das  Serum  bestimmter  Pferde 
häufiger  Exanthem  und  Serumkrankheit  hervorruft,  als  das  Serum 
anderer  Pferde.  Es  wurde  auch  auf  Beziehungen  zwischen  dem 
Auftreten  von  Serumkrankheit,  bzw.  plötzlichen  Tod  nach  sub¬ 
kutaner  Injektion  von  Diphtherieantitoxin  mit  dem  Status  lym- 
phaticus  hingewiesen.  Von  dieser  Annahme  ausgehend,  wurde  in 
50  Fällen  gleichzeitig  mit  und  einige  Zeit  nach  der  Diphtherie¬ 
seruminjektion,  je  nach  dem  Alter  der  Kinder,  0-075  bis  0-3  g 
Schilddrüsensubstanz  pro  die  in  vier  bis  sechs  Einzeldosen  ge¬ 
geben,  während  die  gleiche  Anzahl  kein  Schilddrüsenextrakt  er¬ 
hielt.  Es  'zeigte  sich  hinsichtlich  der  Häufigkeit  der  Folgezustände, 
namentlich  des1  Serumexanthems,  kein  deutlicher  Einfluß  der 
Schilddrüsentherapie,  dagegen  wurde  das  Auftreten  der  Serum¬ 
krankheit  bei  den  gleichzeitig  mit  Schilddrüsensubstanz  behan¬ 
delten  Fällen  weit  seltener  beobachtet,  als  bei  den  Kontrollfällen. 

V  enn  auch  die  Zahl  der  Fälle  noch  zu  gering  ist,  um  definitive 
Folgerungen  zu  gestatten,  so  lassen  die  Beobachtungen  immerhin 
weitere  Versuche  mit  Schilddrüsenextrakt  unter  den  genannten 
Verhältnissen  gerechtfertigt  erscheinen.  —  (The  Lancet,  11.  Fe¬ 
bruar  1911.)  .,  e 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


68 1 


X/ermisehte  Nashriehten. 

Verliehen:  Dem  kais.  Rat  Dr.  Kaspar  Schwarz  in  Wien 
das  Ritterkreuz  des  Franz-Joseph-Ordens. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Otto  Veit  für  Anatomie  in  Marburg. 

Dr.  Pan  ag  is  tat  ou  für  Infektionskrankheiten  in  Athen. 

* 

Gestorben:  Dr.  N äg eli- Ak er b  1  om,  Privatdozent  für 
Geschichte  der  Medizin  in  Genf. 

* 

Wie  uns  mitgeteilt  wird,  begeht  Professor  Cornet,  der  be¬ 
kannte  Forscher  auf  dem  Gebiete  der  Prophylaxis  der  Tuberkulose, 
am  15.  Mai  das  25jährige  Jubiläum  seiner  ärztlichen  Tätigkeit 
in  Bad  Reichenhall. 

* 

Die  Wiener  laryngologische  Gesellschaft  hat  sich  zu  einer 
„Wiener  laryngo-rhinologischen  Gesellschaft1'  umge¬ 
staltet  und  namentlich  in  betreff  der  Aufnahme  von  Mitgliedern 
eine  Reihe  wichtiger  und  einschneidender  Statutenänderungen 
vorgenommen,  welche  auch  bereits  die  Genehmigung  der  Statt¬ 
halterei  erhalten  haben.  Das  wesentliche  dieser  .Tenderungen 
besteht  erstens  darin,  daß  nunmehr  nicht  nur  in  Wien  wohnende 
inländische  Aerzte  zu  ordentlichen  Mitgliedern  gewählt  werden 
können,  sondern  daß  jeder  in  den  österreichischen  Kron- 
1  ändern  wohnende  Arzt  von  bewährter  wissenschaftlicher  Tätig¬ 
keit  aufgenommen  werden  kann  und  zweitens  darin,  daß  jedes 
ordentliche  Mitglied,  welches  die  österreichischen  Kronländer 
dauernd  verläßt,  auch  weiterhin  Mitglied  bleiben  kann,  wenn  es 
über  sein  Ansuchen  von  der  ordentlichen  Hauptversammlung 
in  die  Liste  der  auswärtigen  Mitglieder  eingereiht  wird ;  als  solches 
behält  es  alle  Rechte  und  Pflichten  der  ordentlichen  Mitglieder  bei. 
Hiedurch  wird  nicht  nur  den  in  Wien  wohnenden,  sondern  auch 
den  in  anderen  Städten  der  österreichischen  Kronländer  wohnen¬ 
den,  bekanntlich  vielfach  sehr  tüchtigen  Laryngo-Rhinologen,  die 
sich  zumeist  auch  eines  ausgezeichneten  Rufes  erfreuen,  Gelegen¬ 
heit  gegeben,  an  den  Sitzungen  der  Wiener  laryngo-rhinologischen 
Gesellschaft  teilzunehmen,  mit  den  Mitgliedern  derselben  inten¬ 
siveren  wissenschaftlichen  Verkehr  zu  pflegen  und  durch  regeren 
direkten  Meinungsaustausch  die  Laryngo-Rhinologie  in  erhöhtem 
Maße  zu  fördern. 

* 

Auf  der  Internationalen  Hygiene-Ausstellung  in 
Dresden  wird  in  den  Räumen  der  Deutschen  Gesellschaft  zur 
Bekämpfung  der  Geschlechtskrankheiten  ein  Pavillon  errichtet, 
in  dem  ein  Projekt  einer  Mustereinrichtung  für  die  Prostituierten¬ 
untersuchung  vom  kgl.  Polizeipräsidium  Berlin  nach  Angaben 
von  Polizeiarzt  Dr.  med.  Dreuw  ausgestellt  wird.  Die  polizei¬ 
ärztliche  Ausstellung,  in  der  die  Einrichtungen  eines  Unter- 
suchungs-,  Mikroskopier-  und  Zentralsterilisierzimmers  vorgeführt 
werden,  wurde  am  6.  Mai  eröffnet.  Am  10.  Juni  wird  Herr  Doktor 
Dreuw  auf  der  Tagung  der  Deutschen  Gesellschaft  zur  Bekäm¬ 
pfung  der  Geschlechtskrankheiten  in  Dresden  eine  Führung  durch 
die  Ausstellung  mit  anschließender  Demonstration  der  anti-  und 
aseptischen  Einrichtungen  im  polizeiärztlichen  Untersuchungs¬ 
zimmer  übernehmen. 

* 

Die  Direktion  der  steiermärkischen  Landeskuranstalt  Ro¬ 
ll  i  ts  ch- Sau  er  bru  nn  hat  an  die  Wiener  Aerztekammer 
folgendes  Schreiben  gerichtet :  „Der  steiermärkische  Landesaus¬ 
schuß  hat  die  Direktion  der  Landeskuranstalt  ermächtigt,  für 
zwei  Mitglieder  oder  der  im  Familienbande  lebenden  Angehörigen 
jährlich  in  der  Vor-  oder  Nachsaison  einen  Freiplatz  in  der  Landes¬ 
kuranstalt  zu  widmen,  welcher  in  der  freien  Wohnung  in,  einem 
der  Anstaltshäuser,  freier  ärztlicher  Behandlung  und  freiem  Ge¬ 
brauche  der  Kurmittel  besteht.“  Jene  Herren  Aerzte,  welche  von 
dieser  Begünstigung  Gebrauch  machen  wollen,  mögen  ihre  Ge¬ 
suche  bei  der  Wiener  Aerztekammer,  Wien  L,  Börsegasse  1,  ein- 
bringen. 

* 

Literarische  Anzeigen.  Die  vor  einem  Jahre  im  Ver¬ 
lage  von  Urban  &  Schwarzenberg  in  Wien  erschienenen  Rhino- 
laryngologi sehen  Winke  von  Priv.-Doz.  Dr.  Johann  Fein 
sind  nun  in  zweiter  Auflage  erschienen.  Die  kurze  Zeit,  welche 
die  Neuausgabe  des  Werkes  notwendig  machte,  spricht  ebenso  für 
den  Anklang,  den  das  Buch  ini  Kreise  der  Praktiker  gefunden, 
wie  der  Umstand,  daß  es  bereits  ins  Englische  und  Russische 
übersetzt  worden  ist. 

Von  der  vierten  Auflage  des  Handbuches  der  gesamten 
Therapie,  von  Pen  z  old  t  und  Stintzing  —  Verlag 


G.  Fischer  in  Jena,  —  sind  die  17.,  18.  und  19.  Lieferung 
erschienen.  Sie  haben  die  Chirurgie  des  Halses,  des  Brustkorbes, 
der  Bauchwand  und  der  Extremitäten,  Behandlung  der  äußeren 
Erkrankungen  des  Auges,  der  Krankheiten  des  Gehörganges  zum 
Inhalt. 

Die  praktische  Bedeutung  des  Salvarsans  für  die 
Syphilistherapie,  von  Jessner.  23.  Heft  der  Dermatologi¬ 
schen  Vorträge  für  Praktiker.  Verlag  von  C.  Kabitzsch  in 
Würzburg.  Preis  1  M.  80  Pf. 

* 

Von  der  Wiener  Aerztekammer:  Jene  Herren  Kolle¬ 
gen,  welche  die  Absicht  haben,  in  den  Sommermonaten  ärztliche 
Vertretungen  zu  übernehmen,  werden  ersucht,  sich  schon  jetzt, 
zu  diesem  Zwecke  beim  Stellenvermittlungsbureau  der  Wiener 
Aerztekammer  und  der  Wirtschaftlichen  Organisation  der  Aerzte 
Wiens,  L,  Börsegasse  1,  vormerken  zu  lassen. 

* 

Med.  Dr.  Rudolf  Türkei  wohnt  und  ordiniert  ab  8.  Mai 
dieses  Jahres:  Wien,  VIII.,  Alserstraße  25,  gegenüber  der  Spital 
gasse.  -  Telephon  wie  bisher  21.180.  —  xk%  bis  Va4  Uhr. 

* 

Kinderarzt  Dr.  Heinrich  Lehndorff  wohnt:  1.,  Rathaus¬ 
straße  8.  Telephon  wie  bisher  Nr.  18.512.  —  Ordiniert  3- -4  Uhr. 

* 

Dr.  Siegfried  Boxer,  ern.  Assistent  der  gynäkologischen  Ab¬ 
teilung  des  Rudolfspitales  wohnt  und  ordiniert  ab  Mai  1911: 
Wien  IIP,  Hauptstraße  5.  Telephon  9291. 

* 

Pest.  China.  Nach  der  amtlichen  Pestzeitung  vom  29.  März 
sind  in  der  Mandschurei  seit  Ausbruch  der  Epidemie  42.756  Men¬ 
schen  an  Pest  gestorben.  Hievon  entfielen  7137  auf  die  Provinz 
Fengtien,  21.880  auf  die  Provinz  Kirin  und  13.739  auf  die  Provinzl 
Heilungkiang.  In  der  Hafenstadt  Tschifu  sind  seit  Beginn  der 
Epidemie  (12.  Januar)  bis  31.  März  1055  Personen  der  Pest  er¬ 
legen.  In  der  Provinz  Schantung  ereigneten  sich  bis  15.  März 
2866  Pesteikrankungen;  gegenwärtig  ist  die  Seuche  dort  im  Kr 
löschen.  —  Singapore.  In  Singapore  ist  am  24.  März  ein  neuer 
Pestfall  festgestellt  worden. 

+ 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  16.  Jahreswoche  (vom  16.  bis 
22.  April  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  655,  unehelich  225,  zusammen 
880.  Tot  geboren,  ehelich  57,  unehelich  19,  zusammen  76.  Gesamtzahl  der; 
Todesfälle  704  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden, 
17  8  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  1  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  4, 
Scharlach  6,  Keuchhusten  0,  Diphtherie  und  Krupp  5,  Influenza  0, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  10,  Lungentuberkulose  133,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  44,  Wochenbettfieber  6,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infekttons-i 
krankheiten:  An  Rotlauf  53  (=),  Wochenbettfieber  5  (-1-  5),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  81  (—  4),  Masern  221  (+  65),  Scharlach  100  (—  19» 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  4  (=),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0)j 
Diphtherie  und  Krupp  50  (4-  15),  Keuchhusten  39  (- 1-  5),  Trachom  6  (4-3) 
Influenza  0  (-—  1),  Poliomyelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Bei  den  politischen  Behörden  in  Mähren  gelangt  demnächst  die 
Stelle  eines  Oberbezirksarztes  der  VIII.  Rangsklasse,  eventuell 
eine  Sanitätskonzipistenstelle  der  X.  Rangsklasse  und  eine 
Sanitätsassistenten  stelle  mit  dem  Adjutum  jährlicher  1.200  hl 
zur  Besetzung.  Bewerber  haben  ihre  ordnungsmäßig  instruierten  Ge¬ 
suche,  welche  seitens  der  noch  nicht  im  Staatsdienste  stehenden] 
Kompetenten  insbesondere  mit  dem  Nachweise  des  Alters,  der  Zuständig¬ 
keit,  moralischen  Unbescholtenheit,  körperlichen  Eignung,  des  Diplomes, 
der  Sprachkenntnisse,  der  abgelegten  Physikatsprüfung,  sowie  ihrer  bis-! 
herigen  Verwendung  zu  belegen  sind,  bis  längstens  20.  Mai  1911  u.  zu., 
insoferne  sie  bereits  im  öffentlichen  Dienste  stehen,  im  Wege  der  Vor¬ 
gesetzten  Behörde,  sonst  aber  unmittelbar  beim  Statthaiterei-Präsidiun; 
in  Brünn  einzubringen. 

Gemeindearztesstelle  für  den  Sanitätssprengel  S  t  e  i  n  a  cf 
am  Brenner  (Tirol).  Derselbe  besteht  aus  den  Gemeinden:  Steinach 
Trins,  Gschnitz,  Gries  am  Brenner,  Obernberg,  Schmirn  und  Vals  jm 
dem  Wohnsitze  zweier  Aerzte  in  Steinach.  Der  Sprengel  hat  eine  Aust 
dehnung  von  35.420  ha  und  zählt  4307  Einwohner  und  dürfte  die  Ein¬ 
wohnerzahl  nach  der  letzten  Volkszählung  um  ca.  200  zugenommei 
haben.  Die  Haltung  einer  Hausapotheke  ist  erforderlich.  Die  fixen  Bezüge 
des  Gemeindearztes  betragen  1200  K  jährlich  und  erfolgt  die  Anstellung 
nach  den  Grundsätzen  des  neuen  Landesgesetzes  vom  27.  Dezember  190 
L.-G.-  und  V.-Bl.  Nr.  4  ex  1910  und  der  Durchführungsverordnung  den 
k.  k.  Statthalters  vom  31.  Dezember  1910,  Z.  84  240,  L.-G.-  und  V.- 
Nr.  8  und  9  ex  1911.  Die  ordnungsmäßig  instruierten  Gesuche  sind  lu- 
15.  Mai  1911  bei  der  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  in  Innsbruck  ein-, 
zureichen,  woselbst  auch  weitere  Auskünfte  erteilt  werden. 


Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  l'Jll. 


685 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wie., 
Sitzung  vom  28.  April  und  5.  Mai  1911. 


INHALT: 


28.  Deutscher  Kongreß  fiir  innere  Medizin. 

40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte 

in  Wien. 

Sitzung  vom  28.  April  19U. 

Vorsitzender:  Prot.  Dr.  L.  Unger. 

Schriftführer:  Dr.  v.  Frisch. 

“E  ProLDr'  L-  begrüßt  Ilerm  Pro- 

lessor  Di.  K.  Beck  aus  Chicago. 

Hofrat  E  Fuchs:  Meine  Herren!  Der  hier  vorgestellte 
Fall  ist  ein  nicht  gewöhnlicher.  Ein  löjähriger,  sonst  gesunder 
Junge  hat  seit  dem  dritten  Lebensjahre  die  Lidränder  entzündet. 
Sie  sehen  daß  die  Zilien  größtenteils  fehlen  und  die  Lid  Hinder 
von  geröteter  und  gewulsteter  Bindehaut  umsäumt  sind.  Bei 
leichtem  Lidschluß  bleibt  eine  schmale  Spalte  offen,  auch  wäh¬ 
rend  des  Schfafes  wo  man  in  derselben  einen  schmalen  Streiten 
Hornhaut  sieht.  Bei  diesem  Jungen  sind  also  die  Augen  nicht 
wie  gewöhnlich,  im  Schlafe  nach  oben  gerollt.  —  Solche  Fälle 
gelten  allgemein  als  Verkürzung  der  Lidhaut  nach  lange  dau¬ 
ernder  Blepharitis  ulcerosa.  Ich  deute  diese  Fälle  aber  anders 
indem  ich  die  Blepharitis  nicht  als  die  Ursache,  sondern  als  die 
folge  des  Leidens  ansehe,  das  nach  meiner  Ansicht  in  einer 
angeborenen  Kurze  der  Lider  besteht.  Ich  habe  vor  25  Jahren 
auf  diese  häufige-  Anomalie  aufmerksam  gemacht,  doch  scheint 
meine  damalige  Mitteilung  keine  Beachtung  gefunden  zu  haben 
weshalb  ich  einmal  einen  solchen  Fall  vorzustellen  mir  erlaube’ 
-  Bei  diesem  Kranken  beträgt  die  Lidhöhe,  das  ist  die  Strecke 
von  der  Augenbraue  bis  zum  freien  Lidrande,  bei  leicht  ge¬ 
schlossenem  Auge  24  mm,  was  dem  Mittel  für  dieses  Alter  ent¬ 
spricht.  Die  Ausdehnung  der  Lidhaut,  das  ist  die  Strecke  von 
<  ei  Arigen  braue  bis  zum  freien  Lidrande,  wenn  man  diesen 
duich  Zug  an  den  Wimpern  stark  herabzieht,  so  daß  alle  Falten 
ausgeglichen  sind,  beträgt  bei  dem  Kranken  30  mm,  hei  anderen 
Personen  desselben  Alters  aber  im  Mittel  39  mm.  Die  Lidhaut  ist 
also  her  ihm  um  9  mm  gegenüber  dem  Mittel  verkürzt.  Wichtiger  als 
He  absoluten  Maße  ist  das  Verhältnis  der  Lidhöhe  zur  Ausdehnung 
der  Lidhaut,  welches  für  die  Vollkommenheit  des  Lidschlusses 
maßgebend  ist.  Die  Lidhöhe  entspricht  der  durch  das  Lid  zu 
bedeckenden  Fläche,  die  Ausdehnung  der  Lidhaut  der  dazu  zur 
er  ugung  stehenden  Haut.  Die  Ausdehnung  der  Lidhaut 
muß  nun  -eine  erheblich  größere  sein,  als  die  Lidhöhe, 

\\enn  der  Lidschluß  vollkommen  sein  soll,  da  sich  die 
Lidhaut  ja  in  Falten  legt.  Ich  habe-  nun  gefunden,  daß  die 
Ausdehnung  der  Lidhaut  mindestens  um  die  Hälfte  größer  sein 
urn  J  die _  Lidhöhe  und  daß,  wie  dieses  Verhältnis  unter  1:1-5 
unkt,  der  Lidschluß  unvollständig  wird.  Da  nun  in  unserem 
tafle  das  Verhältnis  wie  1:1-2  bis  1-3  ist,  ist  vollständiger  Lid- 
Schluß  nicht  mehr  vorhanden.  Dies  führt  zu  Tränen träufeln  und 
ie  dadurch  gesetzte  beständige  Benetzung  des  Lidrandes  zu  Ble¬ 
pharitis  mit  Vereiterung  der  Haarbälge  und  Zeiß  sehen  Drüsen. 

.  verstärkt  wohl  die  Verkürzung  der  Lider,  kann  sie,  aber 
nmmer  allem  erklären.  Die  Breite  des  mit  den  Wimpern  be¬ 
izten  Hautstreifens  beträgt  1  bis  3  mm  und  wenn  diese  Haut 
mc  ganz  zugrunde  geht,  kann  sie  doch  nicht  eine  Verkürzung 
He  in  unserem  Falle  sogar  9  mm  beträgt,  erklären. 

(  .  H*-  K-  Eeri  demonstriert  einen  Fall  aus  dem  Nervenambu- 
monum  des  Verbandes  der  Genossenschaftskrankenkassen.  Der 
atient  stellte  sich  am  26.  v.  M.  mit  der  Angabe  vor,  er  sei 
wei  läge  vorher  mit  der  linken  Hand  in  eine  .Transmission 
©raten,  unmittelbar  nachher  habe  er  ein  chirurgisches  Ambu- 
uorium  aufgesucht,  wo  ihm  eine  „Verrenkung  am  Unterarm“ 
'»gerichtet  wurde.  Der  Patient  zeigte  damals  eine  Kontraktur 
er  eugemuskeln  des  linken  Handgelenkes  und  der  Fingergelenke, 
ruckeinpfindlichkeit  war  nirgends  wahrzunehmen,  auch  keine 
'Ultusion.  Das  Aktinogramm  ergab  normale  Verhältnisse.  Die 
©üsibihtät  war  in  allen  Qualitäten  frei,  die  elektrische  Erreg - 
ar  eit  aller  Muskeln  der  linken  oberen  Extremität  normal.  Ls 
kf  •  aljgelenkter  Aufmerksamkeit  leicht,  die  Kontraktur  zu 
verwinden  und  das  Handgelenk,  sowie  die  Finger  bis  zur  Grenze 
er  normalen  Beweglichkeit  dorsal  zu  bewegen;  war  die  Auf- 
|ie r  sanikeit  n*cEt  abgelenkt,  so  war  es  fast  unmöglich,  die  Kon- 
Ktur  m  überwinden.  Es  ist.  also  dieser  Fall  als  funktionelle 


ÄÄX.Siä11*“  des  SymptomMjcom- 

nmg  SnSretondiSCh°  I'inSel',"S!  ist  bereils  “ne  '™hte  &*»- 

VorlraT TLr'  .if,“!!  T  Be<f-cMc»eo  beschränkt  sich  in  seinem 

KaniM  Li  en  Ah  dl“nB,^lt  Wismutpaste  auf  das 
ivapitel  des  kalten  Abszesses  und  der  tuberkulösen  Fistel. 

besteh? 'rn^q^o?'6^1011  +m°ist  !"  .Verwendung  kommende  Lösung 
besteht  aus  33  /o  Bismutum  submtneum  und  66H/o  Vaselin.  Diese 

Mischung  wird  erwärmt  und  dadurch  verflüssigt,  die  flüssige 
mit  einer  Glasspritze,  deren  stumpfe  Spitze  direkt  de-r 
Fisteloffnung  aufgesetzt  und  angepreßt  wird,  injiziert;  es  wird 
langsam  und  kontinuierlich  so  viel  eingespritzt,  bis  der  Patient 

C,!ZrVrm1-  iCl  ,Anwfndung  zu  großer  Gewalt  besteht  die 
Tetahi,  daß  insbesondere  bei  frischen  Fisteln  die,  Wand  reißt 

gießt laSte  W1C1  111  die  Schlchten  des  gesunden  Gewebes  or- 

Das  nach  de-r  Injektion  angenommene  Röntgenbild  zeigt 
woSr;  H  Richtung  die  Fistel  verläuft  und  meist  auch, 

nl!  Ursache  der  Eiterung,  zu  suchen  ist.  Durch 

Demonstration  sehr  instruktiver  Röntgenhilde-r  zeigt  der  Redner 
wie  entfernt  oder  versteckt  oft  der  osteomyelitische,  bzw.  kariöse 

zu  fiilpn  SUCi  i  Ufd  W1!  leicht.er  rait  Hilfe  fer  Wismutinjektion 
u  linden  ist.  ^  Insbesondere  mit  Hilfe  stereoskopischer  Bilder 

welche  deutlich  erkennen  lassen,  ob  ein  Fiste-lgang  vor  oder 

|de!>1  Kl;°chfe'1  und  in  welch<*  Entfernung  von  demselben 
ei  vei lauft,  gelingt  es  in  ausgezeichneter  Weise,  chronische  Lite- 

l-'i S IM  P  nri !SS  a  1,V 0 1 1  e,  b ?<; h 6 1 1  llud  Gelenken,  sofern  dieselben  mit 
1  istel-  oder  Ab-szeßbildung  emhe-rgehen,  so  daß  sie  mit  Wismut- 

lnjektion  behandelt  werden  können,  vollkommen  klar  zu  stellen 
Dadurch  ist  weiters  auch  in,  jenen  Fällen,  wo  ein  operativer 
■mp?1?-  ao:fefieiSt  1St-  d*r  A  eg  genau  ersichtlich  und  meistens 
zeichnet6  ^  ^  S°W1°  Ausdehnung  deSl  Knochenherdes  gekenn- 

Sehr  häufig  ist  nach  der  Injektion  allein  vollkommene  Aus¬ 
heilung  des  Prozesses  zu  beobachten,  so  daß  die  Üpera- 
tmn  unterbleiben  kann;  dies  gilt  auch  von  nicht  tuber¬ 
kulösen  Fisteln  und  kalten  Abszessen.  Ueber  die  vermutlichen  Vor- 
gange  uml  W  irkungen  -der  Wismutpaste  in  kurativer  Beziehung 
laßt  sich  Redner  hier  nicht  aus;  es  werden  eine  große  Reihe 
von  Rontgenbildern  projiziert,  welche  die  verschiedensten  und 
ausgedehntesten  Knochen-  und  Gelenkseiterungen  nach  der  In¬ 
jektion  mit  Wismutpaste  illustrieren  und  von  welchen  ein  großer 
feil  aut  ein-  oder  mehrmalige  Injektion  hin  vollkommen  aus- 
heilte  (Spondylitis,  Koxitis,  Karies-  des  Schenkelhalses,  Gonitis, 
Osteomyelitis  femoris,  Syphilis,  Empyema  pleurae  usw.). 

Zur  Behandlung  relativ  frischer  kalter  Abszesse-*)  nimmt 
Beck  eine  nur  10% ige  Wismutlösung  (Maximaldosis  100  g) 
um  die-  Gefahr  der  Resorption  zu  verringern;  er  vermeidet  es 
aucii,  bei  der  der  Injektion  vorausgeh-ende-n  Entleerung  des  Ab¬ 
szesses  von  einem  kleinen  Schnitt  ans,  zu  drücken  und  zu  kneten  • 
nach  der  Injektion  entleert  sich  im  Laufe  der  folgenden  Ta<m  die 
eingespritzte  Paste  unter  Beimengung  einer  anfangs  noch  eitrigen 
später  mehr  schleimigen,  klebrigen  Flüssigkeit,  die  allmählich 
versiegt,  worauf  die  Abszeßhöhle  verödet. 

Zur  Verhütung  der  Wismutvergiftung  gibt  Redner  folgende 
Regeln  an  : 

1.  U eberschreitet  die  injizierte  Menge  100  g,  so  soll  sie  nicht 
langer  als  drei  \\  ochen  im  Körper  belassen  werden. 

2  Alan  soll  nie  dem  Patienten  die  Salbe  zur  Selbstbehand¬ 
lung  über  assen.  (Zwei  Fälle  von  Vergiftung  waren  darauf  zurück- 
zuhihren.) 

..  r  3;  ÄJ?'n.  untersuche  wenigstens  zweimal  wöchentlich  den 
Mund  des  Patienten. 

4-  Eine  bläuliche  Verfärbung  des  Gingivalsaumes  ist  noch 
nicht  als  Vergiftung  anzusehen;  dieses  Symptom  besteht  in  2Ün/o 
aile-r  Falle  bei  vollkommenem  Wohlbefinden  der  Patienten. 
v  Entwickeln  sich  aber  Ulzerationen  und  bläulichschwarze 
\  crlarbungen  am  Pharynx  oder  den  Tonsillen,  bei  Abnahme  des 

*)  Ein  Artikel  hierüber  erscheint  demnächst  in  dieser  Wochenschrift 


G86 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


Körpergewichtes  und  Zyanose,  so  besteht  eine  \\  lsinut- 
intoxikation,  welche  auch  sofort  zu  behandeln  ist. 

6.  Die  Behandlung  besteht  darin,  daß  man  die  injizierte 
Masse  mit  warmem  Olivenöl  sofort  auswäscht  —  nicht  auskratzt; 
die  Paste  liegt  frei  in  der  Abszeßhöhle  oder  der  Fistel,  durch  ein 
Kürettement  wird  deren  Wand  lädiert,  wodurch  noch  mehr  Wismut 

resorbiert  Averden  kann.  „  .  ,  vwm.m 

Seitdem  Redner,  Eggenberger  und  Reich,  zur  Voi sicht 

beim  Gebrauch  großer  Wismutdosen  geraten  haben,  sind  die  Be¬ 
richte  über  Vergiftungen  viel  seltener  geworden;  ähnlich  den 
Röntgenverbrennungen  hört  man  trotz  ausgedehnter  Anwendu  0 
des  Verfahrens  heute  nur  mehr  sehr  wenig  von  W  lsmutvergit- 

Redner  schließt:  „lieber  meine  Resultate  will  ich  hier  nicht 
weiter  sprechen;  jeder  Chirurg  soll  die  Methode  an  seinen  eigenen 
Erfolgen  beurteilen,  soll  sie  aber  nicht  gleich  beim  ersten  Mi߬ 
erfolg  verwerfen;  in  diesem  Falle  soll  er  sich  erst  überzeugen, 
ob  nicht  fehlerhafte  Technik,  ungünstiges  Material  (Sequester) 
und  dergleichen  den  Erfolg  vereitelt  haben. 

Meine  Herren!  Lieber  hätte  ich  Ihnen  diese  Falle  zuhause 
an  meiner  Klinik  demonstriert;  dort  hätte  ich  Ihnen  anstatt  der 
Bilder  die  Kranken  selbst  vorgestellt.  In  diesem  Sinne  lade  ich 
Sie  auch  alle  ein,  nach  Chicago  zu  kommen  und  meine  'Gaste 

ZU  ÖG  Diskussion;  Dr.  H.  H.  Schmid:  An  der  I.  chirurgischen 
Klinik  in  Wien  wurde  die  Beck  sehe  Methode  der  Wismut¬ 
pastenbehandlung  seit  Oktober  1910  in  ca.  50  Fällen  angewende  ) 
Die  Injektionen  wurden  nach  der  Vorschrift  von  B  ecl  ; au 
geführt,  indem  die  flüssig  gemachte  Paste  direkt  m  die  Fiste 
eingespritzt  wurde,  bis  sich  ein  leichter  Widerstand  fühlbar 
machte.  Es  wurden  in  der  Regel  25  bis  oO  cm  injizieit.  D  e 
Einspritzung  wurde  von  dem  Patienten  nicht  schmerzhaf 

empfunden^ngaben  von  Beck  konnten  bei  den  Fällen  der  Klinik 
v  Eiseisberg  vollauf  bestätigt  werden.  Die  Sekretion  wurde 
mehr  serös  und  ließ  nach  wenigen  Tagen  in  ihrer  Menge  be¬ 
deutend  nach ;  die  Schmerzen,  wenn  solche  vorhanden  waren, 
nahmen  ab  und  das  Ekzem,  welches  gerade  in  der  Umgebung 
chronischer  Fisteln  sehr  hartnäckig  jeder  Behandlung  trotzt 
kam  auffallend  rasch  zur  Heilung.  Was  uns  die  Methode  auf 
diagnostischem  Gebiete  geleistet  hat  zeigen  am  besten  einige 
unserer  Röntgenbilder.  (Demonstration.) 

Die  Heilresultate  waren  leider  nicht  stets  so  gnnstig  wie 
in  den  von  Beck  mitgeteilten  Fällen,  doch  ist  zu  hoffen,  daß 
sie  sich  mit  zunehmender  Erfahrung  noch  bessern  werden.  Ver- 
Mftungserscheinungen  und  Embolien  ivurden  nicht  beobachtet, 
daher  liegt  kein  Grund  vor,  die  Technik  zu  ändern  oder  andere 
Wismutpräparate  zu  verwenden  (Bismut.  carbonic.,  welches  von 

anderer  Seite  empfohlen  wurde).  .  ,  .  , 

Schließlich  sei  daran  erinnert,  daß  Patienten  mit  chronischen 
Eiterungen  nicht  nur  unter  ihrer  Erkrankung  schwer  zu  leiden 
haben,  sondern  auch  wegen  derselben  nirgends  gerne  gelitten 
sind  In  keinem  Spitale  will  man  sie  aufnehmen,  das  Interesse 
an  ihrer  Krankheit  ist  ebenso  gering  wie  die  Muhe  die  man 
sich  mit  ihnen  gibt.  Da  erscheint  es  als  ein  Gebot  der  Humanität, 
diese  armen  Kranken  einer  Methode  teilhaftig  werden  zu  lassen, 
welche  ihnen,  wenn  nicht  Heilung,  so  doch  weitgehende  Besserung 
bringen  kann  und  dies  gelingt  mit  keiner  der  bisher  g  eubten 
Methoden  so  rasch,  sicher  und  schonend  wie  mit  der  Wismut¬ 
pastenbehandlung  nach  Beck. 

Dr  Stiaßny:  Mit  wenigen  Worten  mochte  ich  ein  An¬ 
wendungsgebiet  der  Wismutemulsion  berühren,  welches  auch 
Herr  Beck  in  seinem  Vortrage  erwähnt  hat;  ich  meine  die 

Analfistel.  ,  „  ,  „ 

Die  geringe,  mir  bisher  zu  Gebote  stehende  Beobachtun-, 
gestattet  mir  kein  abschließendes  Urteil,  allem  so  viel  k  onnte 
ich  bereits  jetzt  konstatieren,  daß  bei  Anwendung  einer  Ka  nto- 
ro  vicz-Spritze  zur  Injektion  der  Emulsion  (  U  Bismuthum 
subnitricum,  */.  Vaselin)  nur  mäßige  Schmerzhaftigkeit  besteht, 
die  Wirkung  eine  Zeitlang  anhält  (Nachlassen  bis  Aufhoren  der 
Sekretion)  und  wenn  Pat.  und  Arzt  die  nötige  Geduld  aufbringen, 
auch  Heilung  erzielt  werden  kann.  Jedesfalls  wäre  die  Methode 
nach  Beck  bei  Analfisteln  stets  zu  versuchen,  ehe  an  die  wenig 
schöne  Operation  der  Diszision  geschritten  wird. 

Primarius  Lotheissen:  An  meiner  Abteilung  haben 
wir  schon  vor  zwei  Jahren,  bald  nach  dem  Bekanntwerden  des 
Beck  sehen  Verfahrens  begonnen,  Injektionen  mit  der  Wismut¬ 
paste  zu  machen,  vorwiegend  in  therapeutischer  Absicht.  Wir  hatten 


*)  Bericht  über  einen  Teil  der  Fälle  s.  Schmid,  zur  Behand¬ 
lung  chronischer  Eiterungen  mit  Wismutpaste  nach  Beck.  Wiener 
klin.  Wochenschr.  1911,  Nr.  7. 


hie  und  da  einen  Mißerfolg,  z.  B.  bei  einer  Empyemfistel  im 
ganzen  waren  aber  unsere  Resultate  sehr  günstig.  Eine  Reihe 
von  Patienten  wurde  ambulatorisch  behandelt  und  ist  uns  daher  aus 
den  Augen  gekommen,  die  Gesamtzahl  ist  mir  dahei  nicht  genau 
bekannt.  Stationäre  Kranke  sind  über  40  behandelt  worden.  Die 
schönsten  Erfolge  erzielten  wir  bei  Kindern,  die  an  Spondylitis 
tuberculosa  mit  zahlreichen  Fisteln  litten.  Knaben,  die  sich  nicht 
bewegen  konnten,  die  ruhig  im  Bett  liegen  mußten,  waren  nach 
den  Injektionen  bald  so  weit,  daß  sie  sitzen,  spater  auch  auf¬ 
stehen  konnten.  Sie  mußten  anfangs  die  Hände  auf  den  Ober¬ 
schenkel  stützen,  um  den  Rumpf  zu  entlasten.  Schließlich  konnten 
sie  frei  gehen,  ja  sogar  laufen.  Einen  dieser  Patienten,  der  ganz 
geheilt  ist,  wollte  ich  mir  erlauben,  heute  hier  vorzustellen, 

leider  war  er  nicht  aufzufinden. 

In  seiner  ersten  Mitteilung  hatte  Beck  die  Vermutung 
ausgesprochen,  das  Wismut  werde  durch  die  Röntgen  strahlen 
radioaktiv  und  beeinflusse  dadurch  die  Granulationsbildung,  rege 
zur  Heilung  an.  Wir  haben  daher  anfangs  unsere  Patienten  nach 
der  Injektion  durch  zwei  bis  drei  Minuten  bestrahlt.  Später  ge¬ 
schah  dies  nicht  und  doch  war  der  Erfolg  gleich  gut.  Jetzt  ist 
Beck  nach  seiner  letzten  Mitteilung  in  der  München  med. 
Wochenschr.  zu  der  Ueberzeugung  gekommen,  daß  es  die  Ab¬ 
spaltung  von  Salpetersäure  aus  dem  Bismuthum  subnitricum  ist, 
av eiche  diese  gute  Wirkung  hervorruft. 

Bei  den  meisten  unserer  Patienten  handelt  es  sich  uni 
tuberkulöse  Prozesse,  für  die  das  Jod  seit  Jahrzehnten  als  Spe- 
zifikum  anerkannt  ist.  Darum  hat  man  ja  in  kalte  Abszesse  ja 
auch  in  solche  Fisteln  Jodoformglyzerm  injiziert  (Billroth,. 
Seit  I1/»  Jahren  haben  wir  an  meiner  Abteilung  das  Jodoform 
durch  das  Novo  jodin  (ein  österreichisches  Praparat)  ersetzt 
Bei  der  Knochenplombe  Mose  tigs  hat  es  sich  ebenfalls  gut 
bewährt.  Ich  habe  daher  in  letzter  Zeit  auch  in  der  Beck  sehen 
Paste  das  Wismut  durch  das  Hexamethylentetramindijodid 
(d.  i.  eigentlich  das  Novojodin)  ersetzt,  weil  dieses  ungiftig  ist, 
Jod  abspaltet  und  außerdem  noch  Formalin  enthält,  also  aus¬ 
trocknend  auf  die  Wunden  wirkt.  Die  Zeit,  welche  seither  ver¬ 
flossen,  ist  noch  zu  kurz,  um  ein  abschließendes  Urteil  abzu¬ 
geben,  bisher  habe  ich  aber  stets  nur  gute  Resu  täte  gehabt. 
Das  Hexamethylentetramindijodid  gibt  deutliche,  dunkle  Schatten 
im  Röntgenbilde  (wird  demonstriert),  steht  also,  hinter  dein  Wis¬ 
mut  durchaus  nicht  zurück,  ist  aber  (nach  unseren  monatelangen 
Erfahrungen  an  Menschen  und  nach  den  Tierexperimenten)  selbst 
in  großen  Quantitäten  als  ungiftig  anzusehen  Bei  der  \\ismut- 
pasteninjektion  sind  aber  schon  etliche,  sogar  tödliche  Vergiftungen 
berichtet  worden.  Vielleicht  wird  mancher,  der  deshalb  ängstlich 
war  durch  diese  Modifikation,  welche  ja  das  Wesen  das  Prinzip 
der  Methode  nicht  tangiert,  sich  veranlaßt  sehen,  dieses  schone^ 
und  vorteilhafte  Verfahren  anzuwenden. 

Freiherr  v.  E  i  s  e  1  s  b  e  r  g  :  Vor  ungefähr  20  Jahren  wurde, 
von  französischen  Autoren  empfohlen,  in  Senkungsabszesse 
Paraffin  zu  injizieren,  um  sie  leichter  exstirpieren  zu  können, 
doch  erwies  sich  dieses  Verfahren  als  unzweckmäßig.  Hatte  im 
damals  schon  mit  Röntgen  gearbeitet,  so  wäre  man  vielleichj 
der  Beck  sehen  Methode  nahegekommen.  Die  verschiedener 
Methoden,  Abszeßhöhlen  mit  einer  Masse  zu  fußen,  so 
roths  Injektion  von  107o  Jodoformglyzerinlösung,  Mo  s  e  1 1  g  - 
Jodoformplombe*),  endlich  die  eben  erwähnte,  von  Lothe isse. 
empfohlene  Novojodininjektion  haben  günstige,  ja  zum  - 
ausgezeichnete  Resultate  gezeitigt;  dadurch  wird  aber  das  Ve 
dienst  des  Kollegen  Beck,  gerade  bei  langbestehenden,. ha 
näckigen  Eiterungen  immer  und  immer  wieder  seine  W  smu 
injektionen  gemacht  zu  haben,  nicht  verringert  und  moente c 
dasselbe  ganz  besonders  für  die  Diagnose  von  verzweigten  F istel 
kanälen  empfehlen,  aber  auch  auf  die  therapeutischen  L  g 
die  damit  erzielt  worden  sind,  hinweisen  Erst  vor  wenige 
Tagen  konnte  ich  einen  nach  dieser  Methode  behandelten  Pa 
als  anscheinend  geheilt  entlassen,  bei  welchem  nach  der  Inzisioi 
eines  periproktitischen  Abszesses  zwei  Fisteln  zuruckgeblieb 
waren,  die,  als  Pat.  in  Behandlung  an  meiner  Klinik  kam  b 
reits  ein  Jahr  bestanden.  Vor  drei  Wochen  wurde  die  erst 
acht  Tage  später  die  zweite  Wismutinjektion  gemacht 
acht  Tagen  sind  die  Fistelöffnungen  vollkommen  trocken  unü  m 
Patient  beschwerdefrei.  Wenn  auch  von  einer  pauerheilung 
gesprochen  werden  kann,  so  ist  der  Erfolg  doch  e)u  al)f  _• 
In  bezug  auf  unsere  übrigen  Erfahrungen  an  der  Klinik 
ich  auf  die  obigen  Ausführungen  meines  Schülers  Dr.  b c in 

Dr.  H.  Teleky:  Herr  Prim.  Lotheissen  fuhrt  als  Argun 

für  die  Ungiftigkeit  des  Novojodins  an,  daß  Tiere  es  auc 


*)  Hieher  gehört  auch  das  von  A.  Fraenkel  unpföh 
Kohlenglyzerin. 


Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


687 


großen  Gaben  ohne  Schaden  gut  vertragen.  Ich  kann  dies  Argu¬ 
ment  nicht  für  ausreichend  halten.  Denn  es  gibt  Gifte,  die  auf 
Tier  und  Mensch  ganz  verschieden  wirken  und  dasselbe  Gift 
welches  dem  Menschen  letal  ist,  läßt  manches  Tier  unbehelligt! 

So  fressen  Schafe,  Ziegen  und  Kaninchen  die  Tollkirsche 
ohne  Schaden,  der  Hund  wird  selbst  von  10  g  Atropin  und 
darüber  nicht  nachteilig  beeinflußt,  während  die  Maximaldosis 
für  den  Menschen  0001  !  —  pro  die  0'003  beträgt.  Katzen 
Rinder  und  Pferde  sind  gegen  das  Gift  erheblich  empfindlicher! 
Es  muß  daher  am  Menschen  selbst  die  Giftigkeit  oder  Ungiftig- 
keit  eines  Präparates  erprobt  werden,  ehe  es  zur  allgemeinen 
Anwendung  empfohlen  wird. 

Dr.  Jerusalem:  Seit  einiger  Zeit  übe  ich  die  Wismut¬ 
behandlung  chronischer  Fisteln  im  chirurgischen  Ambulatorium 
der  Wiener  Bezirkskrankenkasse,  nachdem  ich  mich  über  die 
Technik  mit  gütiger  Erlaubnis  des  Herrn  Hofrates  v.  Eiseis- 
berg  an  dessen  Klinik  informiert  hatte.  Ueber  Heilresultate 
kann  ich  derzeit  noch  nicht  berichten  ;  doch  möchte  ich  mir  er¬ 
lauben,  eine  die  Technik  betreffende  Frage  anzuschneiden.  Manche 
Patienten  äußern  nämlich  bei  der  Injektion  mehr  oder  weniger 
heftige  Schmerzen,  während  andere  gar  keine  unangenehmen 
Sensationen  haben.  Es  scheint  dies  von  der  Temperatur  der 
injizierten  Masse  abzuhängen.  Die  Temperatur  bedingt  aber  die 
Konsistenz  !  Machen  wir  die  Paste  recht  flüssig  in  der  Absicht 
sie  in  den  Fistelgängen  gut  zur  Verteilung  zu  bringen,  dann  ist 
sie  in  der  Regel  zu  heiß.  Lassen  wir  sie  jedoch  äbkühlen,  dann 
wird  sie  konsistenter,  läßt  sich  schwerer  injizieren  und  man  hat 
dann  mitunter  das  Empfinden,  daß  sie  nicht  überall  dorthin  be¬ 
langt,  wo  man  sie  haben  will. 

Vielleicht  klärt  uns  der  Herr  Vortragende  darüber  auf,  wie 
man  den  Ausweg  aus  diesem  Dilemma  findet. 

:>..  Prof;  Beck  erwidert  auf  die  Anfrage  Jerusalems,  daß 
die  Abszeßwand  selbst,  wie  auch  die  Wand  der  Fistelgänge 
nach  seinen  Erfahrungen  nicht  empfindlich  sind,  dort  also  die 
mmst  ziemlich  heiße  Paste  stets  gut  vertragen  wird.  Dagegen 
ist  die  Haut  in  der  Umgebung  der  Fistel  meist  ekzematös  ver¬ 
ändert  und  sehr  empfindlich ;  man  trachte  dieselbe  zu  schonen ; 

1  i -ui  ’  ^ie  der  Injektionsspritze  kurz  vor  der  Injektion 

abzukuhlen.  Demgegenüber  verursacht  die  Injektion  von  Rektal¬ 
ste1’1  nicht  selten  Schmerzen,  doch  sind  die  Erfolge  auch  hier 
so  eklatant,  daß  man  keine  Analfistel  operieren  sollte,  ohne 
die  Injektion  mit  Wismutpaste  versucht  zu  haben.  Von 
Tu  Fallen  erfolglos  operierter  Analfisteln  heilte  Redner  43  durch 
die  darauffolgende  Injektion. 

Dr.  Demetrius  Chilaiditi  -  Konstantinopel  (als  Gast) :  Uebe  r 
willkürliche  Vergeh, ieblichkeit  der  Ab  d  o  m  i  n a,l or¬ 
gan  e  u n d  ihren  Einfluß  auf  die  Darmtätigkeit. 

j  ’  Meine  Herren !  Ursprünglich  zu  Palpationszwecken,  habe  ich 
ein  Verfahren  benützt,  dessen  Wirkungsart  auf  den  Dickdarm 
mich  veranlaßt  hat,  es  therapeutisch  bei  chronischen  Obstipa¬ 
tionen  zu  verwenden. 

Die  Verschieblichkeitsprüfung  der  Organe  in  den  verschie¬ 
denen  Körperlagen  (im  Stehen  und  Liegen,  bei  Rechts-  und  Links- 
Icigej,  ferner  bei  vertiefter  Respiration  geschieht  bekanntlich  durch 
lie  Palpations-  und  Perkussionsmethoden. 

In  der  Röntgenuntersuchung  hat  die  Verschiebliehkeits- 
piüJung  eine  wertvolle  Bereicherung  erfahren  und  besitzen  wir 
indem  von  Holzknecht -empfohlenen  Baucheinziehen  ein  aus- 
pebiges  Prüfungsmittel.  Es  ist  hiebei  radioskopisch  ein  Hochrücken 
ler  Organe  (Magen,  Querdarm)  bis  um  Handbreite  und  darüber 
r?  konstatieren,  was,  abgesehen  von  der  Organ  Verschieblichkeit, 
ur  die  Untersuchung  der  Beweglichkeit  von  Tumoren  und  ihrer 
aigehörigkeit  zu  anderen  Organen,  für  die  Untersuchung  des 
vvanderns  oder  Bestehenbleibens  von  schmerz  haften  Druckpunkten, 
Feststellung  gewisser  Adhäsionen  usw.  von  Wichtigkeit  ist.  Nä¬ 
heres  hierüber  kann  aus  den  diesbezüglichen  Publikationen  Holz¬ 
knechts,  Jonas’,  Haudeks  u.  a.  ersehen  werden. 

Durch  die  Kontraktion  der  Bauchdeckenmuskulatur  beim 
gewöhnlichen  Baucheinziehen  wird  jedoch  die  Palpation  der 
j  abdominal  Organe  erschwert,  ja  oft  unmöglich  gemacht.  Es  dürfte 
l  ies  die  l  rsache  sein,  daß  das  Verfahren,  das  bei  der  radiologischen 
*  ntersuchung  unentbehrlich  geworden  ist,  von  den  Aerzten,  denen 
111  Röntgeninstrumentarium  nicht  zur  Verfügung  steht  und  die 
m;  Verschieblichkeitsuntersuchung  der  Bauchorgane  hauptsächlich 
iiuf  die  palpierende  und  perkutierende  Hand  angewiesen  sind, 
venig  verwendet  werden  kann. 

Dieser  Einschränkung  läßt  sich  aber  dadurch  begegnen,  daß 
min  den  Bauch  ohne  Kontraktion  der  Bauchdecken  einziehen 
[aßt.  Dies  ist  möglich,  wenn  man  den  Bauch  nicht  „eindrückt“, 
enden  i  „einsaugt“. 


Zu  diesem  Zwecke  lasse  ich  den  Patienten  nach  einer  tiefen 
nspirahon  vollständig  ex'spirieren,  hierauf  bei  geschlossener 
Glottis  eine  forcierte,  thorakale  Inspirationsbewegung  machen, 
mithin  ohne  Betätigung  des  Zwerchfells  und  der  Bauchmuskeln. 
Bei  dieser  Bewegung  hebt  und  verbreitert  sich  der  Thorax  Da  die 
Lunge  infolge  verhinderten  Luftzutrittes  sich  nicht  dementspre¬ 
chend  entfalten  kann,  wird  das  schon  infolge  des  vollständigen 
Lxspiriums  hochstehende  Zwerchfell  noch  höher  , gesogen“  die 
Baucheingeweide  rucken  nach;  hiebei  tritt  noch  hinzu,  daß,  wie 
Holzknecht  gezeigt  hat,  gewisse  Organe  und  Organteile  (Pars 
media  ventriculi,  Colon  transversum)  eine  ausgiebigere  Verschie¬ 
bung  mitmachen,  als  das  Zwerchfell  und  die  unmittelbar  darunter 
liegenden  Organe  (Pars  cardiaca  ventriculi),  da  in  der  nun¬ 
mehr  verbreiterten  Thoraxbasis  unter  dem  Zwerchfelle  viel  mehr 
I  latz  vorhanden  ist,  der  durch  tiefer  liegende  Organe  ausgefüllt 
werden  muß. 


Bei  diesem  Hochrücken  der  Organe  sinkt  der  Bauch  von 
selbst  oder  besser:  infolge  des  äußeren  Lufteindruckes  ein  die 
Bauchpresse  ist  hiebei  vollkommen  überflüssig,  ja  direkt  hinder¬ 
lich. 

Zum  näheren  Verständnis  der  durch  die  Methode  erzielten 
Wirkungen  auf  den  Dann  erlaube  ich  mir,  einige  im  II  o  1  z  k  n  e  c  h  1- 
schen  Institute  aufgenommene  Röntgendiapositive  zu  projizieren, 
die  uns  die  Hebung  des  Dickdarms  und  anderer  wismutgefüllter 
Organe  mit  der  Methode  veranschaulichen  werden. 

Demonstration  mehrerer  Dickdarm-  und  Magen-Röntgeno- 
grarnme  Von  jedem  Falle  ist  eine  Aufnahme  der  betreffenden 
Organe  bei  „eingesogenem“  Bauche  und  zum  Vergleiche  eine  Auf¬ 
nahme  in  gewöhnlicher  Lage  gemacht  worden.  Hiebei  sind  Hebun¬ 
gen  des  Zwerchfells  um!  6  bis  12  cm,1)  der  Flexuren  (speziell  der 
Flexura  hepatica)  um  10  bis  20  cm,  des  Colon  Hranslversum 
und  der  Pars  media  des  Magens  um  8  bis  20  cm,  des  Pylorus 
und  hiernit  der  ersten  Portion  des  Duodenums  um  8  bis  17  ( ! )  cm 
des  C oku ms  und  Colon  ascendens  um:  3  bis  13  cm,  des  Colon’ 
descendens  und  sigmoideum  um  3  bis  10  cm  zu  konstatieren. 
Beach  tens  wert  ist  ferner  die  Entfaltung  der  häufig  in  Knäuelform 
geballten  und  mit  mehreren  spitzwinkeligen  Knickungen  ver¬ 
sehenen  Dickdarmportion,  besonders  der  Flexura  coli  hepatica. 

Sie  sehen  also,  meine  Herren,  daß  infolge  dieser  stellen¬ 
weise  so  außerordentlich  hohen  Hebung  der  Bauchorgane  durch 
den  Thorax  der  Bauch  auch  ohne  jede  Kontraktion  der  Bauch- 
d c ckenm u sku  1  a tu r  einsinken  muß  und  daß  hiedurch  die  Pal¬ 
pation  des  Bauches,  besonders  die  Tiefenpalpation  erleichtert 
wird.  Die  manchmal  noch  anfangs,  besonders  im  Stehen  vor¬ 
handene  Neigung,  die  Bauchmuskeln  bei  der  forcierten  Inspira¬ 
tionsbewegung  zur  Unterstützung  der  allgemeinen  Hebung  zu 
kontrahieren,  läßt  sich,  wenigstens  bei  drei  Vierteln  der  Fälle 
bald  ahgewöhnen. 

Ueber  die  diagnostische  Verwertbarkeit  der  Methode,  sowohl 
vom  radiologischen  Gesichtspunkte,2)  als  Modifikation  einer  schon 
bestehenden  Methode,  als  auch  vom  allgemeinen  klinischen  Ge¬ 
sichtspunkte,3)  zur  ausgiebigen  Verschieblichkeitsprüfung  der  Ab¬ 
dominalorgane  bei  eingezogenem  Bauche  durch  die  unbehinderte 
Palpation,  teilweise  auch  die  Perkussion  und  Inspektion,  habe  ich 
schon  andernorts  gesprochen.  Heute  möchte  ich  mir  erlauben, 
auf  den  Effekt  hinzuweisen,  den  dieses  Verfahren 
auf  den  D  i  c k  d  a r  m  au  s  ü  b  t. 


Es  war  mir  schon  in  Paris  (Höpital  St.-Antoine)  aufgefallen, 
daß  Leute,  die  während  der  Untersuchung  die  Methode  mehrmals 
wiederholt  hatten  und  manchmal  Stuhldrang  verspürten  oder 
direkt,  teils  gleich,  teils  einige  Zeit  später  eine  ausgiebige  Stuhl¬ 
entleerung  hatten.  Da  diese  Tatsache  sich  zu  häufig  wiederholte, 
um  auf  einem  reinen  Zufall  zu  beruhen,  so  glaube  ich  schließen 
zu  dürfen,  daß  die  Ursache  der  beschleunigten  Darmentleerung 
m  dieser  Bewegung  zu  suchen  sei,  etwa  nach  Art  einer  Auto” 
massage,  die  sich  aber  hier,  zum  Unterschiede  von  der  gewöhn¬ 
lichen  Automassage,  nicht  als  Druck  (der  Bauchpresse),  sondern 
als  Zug  (des  Zwerchfells,  resp.  des  Thorax)  auf  den  Dickdarm 
äußert.  Es  war  daher  naheliegend,  das  Verfahren  bei  den  ver¬ 
schiedenen  Formen  von  Obstipation  zu  versuchen.  Zu  diesem 
Zwecke  habe  ich  die  Methode  folgendermaßen  modifiziert:  nach 
vollständigem  Exspirium  macht  der  Patient  bei  schlaffem  Ab¬ 
domen  in  ziemlich  rascher  Aufeinanderfolge  und  natürlich  wieder 


*)  Die  Maße  sind  auf  die  orthodiagraphisch  festsetzbare  Größe 
reduziert  worden. 

.  ...  )  Chilaiditi,  Methode  pour  examiner  plus  amplement  la 
mobihte  stomacale  etc._  Rull.  soc.  rad.  med.  de  Paris,  Dezember  1910. 

.1  Chilaiditi,  Zur  Palpationstechnik  des  Abdomens,  zugleich 
ein  Beitrag  zur  Mobilitätsprüfung  der  Abdominalorgane.  Sitzungsbericht 
der  Gesellschatt  liir  inn.  Med.  und  Kinderheitk.  vom  27.  April  1911 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


bei  geschlossener  Glottis  mehrere  tiefe  thorakale  In-  und 
E  x s  j)  i  r  a  t i  o n s b e  w egunge n,  so  lange,  bis  er  eine  leichte  Atem¬ 
not  verspürt,  was  gewöhnlich  nach  fünf  bis  sechs  Bewegungen 
cintritt.  Hierauf  schöpft  Patient  wieder  zwei-  bis  dreimal  lief  Atem 
mul  beginnt  die  .Hebung  von  neuem.  Das  gleiche  Spiel  wiederholt 
sich  zirka  zehnmal.  Dauer  der  gesamten  Hebung  fünf  Minuten.  Die 
Hebung  wird  am  besten  frühmorgens  im  Bette,  gleich  nach 
dem  Aufwachen  ausgeführt.  Ich  lasse  sie  untertags  nur  in  ein¬ 
zelnen  Fällen  wiederholen. 

Genau  so  wie  beim  diagnostischen  Verfahren  ist  auch  hier 
die  Kontraktion  der  Bauchdeckenmuskulatur  über¬ 
flüssig-"  Die  Patienten  erlernen  es  auch  meist  rasch,  wenn  sic 
es  nicht  schon  von  vornherein  können,  die  Bauchmuskeln  voll¬ 
ständig  aus  dem  Spiele  zu  lassen.  Es  ist  dies  letztere  auch  für  die 
therapeutische  Verwendung  nicht  ohne  Bedeutung,  denn  der 
Bauch  kann  bei  gespannten  Bauchmuskeln  nicht  so  vollkommen 
eingezogen  werden,  als  bei  erschlafften,  was  bei  Berücksichtigung 
der  Insertionspunkte  und  der  Kontraktionsrichtung*  der  Bauch¬ 
muskeln,  vor  allem  der  Musculi  recti  verständlich  wird.4) 

Ich  werde  mir  erlauben,  die  Hebung  durch  mehrere 
Patienten  demonstrieren  zu  lassen.  Ich  habe  eine  größere 
Anzahl  zu  dieser  Demonstration  hieher  geladen,  damit  sich 
möglichst  viele  Herren  durch  Palpation  davon  überzeugen  können, 
daß  die  Bauchdecken  bei  der  Uebung  entspannt  bleiben.  Hiebei 
muß  bemerkt  werden,  daß  die  Uebung  im  Liegen  viel  leichter, 
ausgiebiger  und  mit  noch  entspannteren  Bauchdecken  ausgeführt~> 
wird,  als  im  Stehen,  in  welcher  Lage  durch  das  Gewicht  der 
Abdominalorgane  und  durch  die  feinen  Regulierungsvorgänge  der 
Gleichgewichtslage  oft  ein  erhöhter  Tonus  der  Bauchmuskulatur 
nicht  zu  umgehen  ist. 

Um  Mißverständnissen  und  einer  etwaigen  Verwechslung  mit 
den  verschiedenen  Arten  von  Automassagen  vorzubeugen,  die  auf 
aktivem  Baucheinziehen  (also  auf  Anwendung  der  Bauch¬ 
presse)  beruhen,  betone  ich  hier  nochmals,  daß  die  Uebung 
nicht  als  Druck  (der  kontrahierten  Bauchdecke),  son¬ 
dern  als  Zug  (des  Zwerchfelles,  bzw.  des  Thorax.)  auf 
den  D i c k d a r m,  speziell  die  Fl  e x u  r  e  n  s i  c h  ä  u  ß e r  t.  Das 
Verfahren  ist  daher  keine  „M assage“  in  1  a n d  1  ä uf igem 
Sinn  e. 

Ich  habe  bis  jetzt,  vorwiegend  im  Ilöpital  St. -Antoine  in  Paris 
und  auf  der  IIP  medizinischen  Klinik  in  Wien  (prov.  Leiter: 
Prim.  Dr.  Reitter),  die  Hebung  bei  42  Fällen  von  sogenannter 
reiner,  chronischer  Obstipation  angewendet.  Kombinierte  „un¬ 
reine“  Formen,  besonders  solche,  bei  denen  die  Obstipation  auf 
eine  organische  Erkrankung  des  Zentralnervensystems,  des  Zir¬ 
kulationsapparates  usw .  zurückgeführt  werden  konnte,  ferner 
solche,  die  in  einem  organischen  Hindernisse  (narbige  Stenose, 
Tumor  usw.)  ihre  Erklärung  finden  konnten,  sind  nach  Tunlichiceit 
hiebei  ausgeschieden  worden,  ebenso  die  große  Zahl  der  Fälle 
von  akuter,  vorübergehender  Obstipation.5) 

Die  kürzeste  Beobachtungszeit  der  hier  aufgezählten  Fälle 
beträgt  ein  Monat;  einige  der  Fälle  stehen  schon  seit  zehn  Mo¬ 
naten  in  Beobachtung,  Die  Fälle,  die  seit  weniger  als  einem  Monat 
in  Behandlung  stehen,  werden  hier  ebenfalls  nicht  mitgezählt. 

Für  die  42  Fälle  von  reiner  chronischer  Obstipation  ist  die 
handliche,  wenn  auch  nicht  immer  streng  durchführbare6)  und  viel 
zu  allgemeine  Einteilung  in  atonische  und  spastische  Formen 
hei  behalten  worden.  De  facto  hatte  fast  jeder  der  Fälle  seine 
individuellen  Eigentümlichkeiten  und  hätte  für  sich  klassifiziert 
und  besprochen  werden  müssen,  doch  ist  dies  der  allgemeinen 
Uebersicht  halber  nicht  zweckentsprechend  gewesen. 

Die  Fälle  der  atonischen  Gruppe  (36)  reagierten  durchschnitt¬ 
lich  günstig  auf  die  Uebung.  Hiebei  ist  zu  bemerken,  daß  auch 
die  (vier)  Fälle,  unter  ihnen,  bei  denen  die  Kotstauung  sich 


*)  Immerhin  bleibt  ein  beträchtlicher  Teil  von  Patienten  übrig,  die 
die  Hebung  teils  wegen  Ungeschicklichkeit,  teils  wegen  körperlicher  Ge¬ 
brechen,  nicht  korrekt  ausführen  können.  Aber  selbst  wenn  ein  Entspannen 
der  Bauchmuskeln  auf  keine  Weise  erzielt  werden  kann,  ist  die  Uebung 
immerhin  häufig  noch  von  Erfolg  begleitet,  vorausgesetzt,  daß  die  thorakale 
Inspiratiorisbewegung,  »der  Lungenzug«,  ausgiebig  verwertet  wird. 

A  Mit  letzt erer  würde  die  Zahl  der  behandelten  Fälle  hundert 
übersteigen.  Obwohl  in  Bezug  auf  Promptheit  und  Schnelligkeit  der 
Wirkung  gerade  hier  die  eklatantesten  Erfolge  erzielt  wurden,  wollte  ich 
sie  bei  obiger  Aufzählung  nicht  berücksichtigen,  da  ja  das  Schwinden 
einer  akuten  Obstipation  nicht  immer  mit  einem  therapeutischen  Er¬ 
folge  gleichbedeutend  ist. 

8)  So  kann  man  die  hier  unter  die  spastischen  Obstipationen  ein- 
gereihten  sechs  Fälle  sicher  nicht  von  einem  einheitlichen,  allgemein  an¬ 
erkannten  Gesichtspunkte  aus  betrachten,  sind  ja  doch  gerade  in  neuerer 
Zeit  die  berufensten  Autoren  über  das  Wesen  der  spastischen  Obstipation 
geteilter  Ansicht. 


hauptsächlich  auf  das  Rckt.um  und  Colon  sigmoideum  beschränkte 
(proktogene  Obstipation),  günstig  beeinflußt  wurde. 

In  22  Fällen  erfolgte  eine  (anfangs  meist  harte)  Stuhlentlee- 
rung  gleich  am  ersten  Tage,  jedoch  auch  in  den  folgenden  Tagen 
an  keine  bestimmte  Zeit  gebunden.  Rei  14  der  Fälle  war  nach 
Ablauf  einer  Woche  die  regelmäßige  tägliche  Stuhlentleerung  zur 
gewünschten  Zeit  (frühmorgens,  einige  Zeit  nach  dem  Er¬ 
wachen)  erzielt  und  fast  durchwegs  dauernd  beibehalien  worden. 

In  fünf  Fällen  waren  die  Resultate  auch  nach  durch  ein  Monat 
(bzw.  2  und  214  Monate)  fortgesetzter  Uebung  unsicher,  zu¬ 
mindest  nicht  überzeugend;  in  drei  Fällen  versagte  sie  gänzlich 
(zwei  derselben  waren  ambulante  Patienten  und  konnten  deren 
Hebungen  nicht  kontrolliert  werden).  Bei  zwei  fällen  wurden  (lie 
Hebungen  wegen  hiebei  auf  tretender  Schmerzen  in  der  Nabel¬ 
gegend  (bzw.  im  Kreuz  und  im  linken  Hypochondrium)  trotz 
beginnender  Stuhlregelung  ausgesetzt,  ebenso  bei  einem  Falle 
wegen  Verdachtes  eines  latenten  Ulcus  ventriculi. 

Von  den  sechs,  in  die  Gruppe  der  spastischen  Obstipation  ; 
eingereihten  Fällen  reagierten  zwei  nach  Ablauf  von  einer,  be¬ 
ziehungsweise  drei  Wochen  mit  dem  gewünschten  Erfolge.  Bei 
dem  einen  verschwanden  die  im  linken  Hypochondrium  häufig 
a  1 1  lire  tendon  S  chm  erzen . 

Von  zwei  weiteren  Fällen  (bei  gleichzeitig  bestehendem 
R  e  i  c  h  m  a  n  n  sehen  Syndrom)  konnte  der  eine  überhaupt  nicht 
beeinflußt  werden,  der  andere  u.  zw.  dauernd,  nachdem  ihm  durch  j 
vier  Tage  Natrium  bicarbonicum  und  Magnesia  usta  verabreicht 
wurden.  Mittel,  die  vorher  allein,  d.  i.  ohne  Kombination  mit  | 
der  Uebung,  wirkungslos  geblieben  waren.  Seitdem  blieb  der 
Stuhl,  auch  nach  Aussetzen  der  Alkalien,  aber  bei  Fortsetzung 
der  Uebung,  geregelt.  _  I 

In  den  zwei  letzten  Fällen  war  die  Uebung  zwei,  bzw.  vier 
Wiochen  ohne  besonderen  Erfolg  fortgesetzt  worden.  Erst  in 
Kombination  mit  Darreichung  von  reichlicher,  schwer  resorbier- 
I nurer  Kost  (Gurken,  Salat,  Obst,  Pumpernickel,  Grahambrot).  1 
die  durch  einige  Tage  fortgesetzt  wurde,  wurde  der  Stuhl  geregelt 
und  blich  cs  auch  nach  Aussetzung  obiger  Kost  (Uebung  wurde 
fortgesetzt.).  Die  Nahrungsänderung  hatte  in  diesen  Fällen,  ebenso  j 
wie  in  den  vorhergehenden  die  Alkalien,  sozusagen  als  auslösen¬ 
des  Moment  gewirkt.7)  _  ...  ,1 

Wenn  also  aus  der  geringen  Zahl  der  in  die  spastische  Gruppe 
eingereihten  Fälle  überhaupt  ein  Schluß  gezogen  werden  darf,) 
so  ist  es  der,  daß  die  spastischen  Formen  im  allgemeinen  weniger 
günstig  zu  beeinflussen  sind.  i 

Die  Dauer  der  Behandlung  mittels  der  Uebung  ist  eben¬ 
falls  individuell  verschieden.  Gewöhnlich  wird,  wenn  der  Sluld  1 
durch  ein  bis  zwei  Wochen  regelmäßig  und  zur  gewünschten  Zeit  ! 
(früh)  entleert  wurde,  die  Zahl  der  Einzelübungen  allmählich  ver-  | 
ringert  (täglich  um  zwei  bis  drei  Bewegungen  weniger),  so  daß  , 
meist  nach  Ablauf  eines  Monats  oder  noch  früher  die  Liebling  j 
gänzlich  sistiert  werden  kann;  dies  geschah  in  etwa  50%  der 
Fälle  u.  zw.  mit  großenteils  bleibendem  Erfolge.  Bei  den  anderen  I 
mußte  die  Uebung  immer  zeitweise  wiederholt  werden.  Einige 
Patienten  haben  sich  jedoch  so  an  ihre  Morgen  Übung  gewöhnt, 
daß  sie  dieselbe,  auch  bei  nunmehr  geregelter  Stuhlentleerung, 
nicht  mehr  missen  wollen. 

Es  sei  mir  gestattet,  hei  den  theoretischen  Erklärungsver¬ 
suchen  der  unbestreitbaren  Tatsache  eines  Einflusses  dieser 
Uebung  auf  die  Darmtätigkeit  mich  kurz  zu  fassen,  um  so  mein, 
da  ich  mich  vielfach  auf  spekulatives  Gebiet  begeben  müßte. 

Ich  beschränke  mich  daher  hier  nur  auf  eine  der  nahe¬ 
liegendsten  Erklärungen,  nämlich  die,  die  das  mechanische 
Moment  herbeiziebt. 

An  der  allgemeinen  Hebung  sind  —  wie  wir  gesehen  haben  ■ 

.  durchschnittlich  am  stärksten  die  Flexuren  beteiligt,  diese 

werden  nicht  mir  temporär  gehoben,  sondern  auch  entfaltet 
und  ihre  Knickungen  teilweise  ausgeglichen.  Diese  Hauptvar- 
kung  auf  die  Flexuren  mag  daher  für  die  Darmtätigkeit  von  Be- 1 
dentung  sein,  um  so  mehr,  als  wir  wissen,  daß  sich  gerade  vor 
den  Flexuren  die  Kotmassen  am  längsten  stauen.  Aber  auch  die 
hebende  Wirkung  auf  die  übrigen  Dickdarmteile  scheint  nicht 
zu  vernachlässigen  zu  sein,  wenn  auch  aus  begreiflichen  Gründen 
sowohl  die  Hebung  dieser  Partien,  als  auch  die  hebende  Kraft I 
im  allgemeinem  weitaus  geringer  ist.  _  jjig:  I 

Wenn  man  auch  zunächst  geneigt  ist,  dieser  äugen lälh.wn 
Hebung,  Mobilisierung,  dieser  Entfaltung  von  Knickungen  w.in- 

7)  Diese  vorübergehende  Kombination  der  Uebung  mit 
j  anderen  Mitteln  bat  sich  auch  bei  drei  Fällen  ans  der  atonischen  Gruppe 
!  bewährt.  Eine  dauernde  Kombination  wurde  bisher .  aus  äußeren. 
Gründen  nicht  angewendet;  doch  ist  anzunehmen,  daß  eine  solche  mi 
etwa  demselben  günstigen  Erfolge  wie  die  vorübergehende  angewen  e 
i  wer  en  kann. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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rend  und  für  die  Zeit  der  Uebung  eine  große  Bedeutung  bei- 
zumesstn,  so  dürfte  vielleicht  noch  mehr  Gewicht  aut  eine  all¬ 
gemeine  Anregung  dbs  Tonus  und  der  Peristaltik 
des  Dickdarms  durch  die  Uebung  zu  legen  sein.  Eine  An¬ 
regung.  die  sich  aber  nicht  nur  auf  den  Moment  der  Uebung  be  ¬ 
schränkt,  sondern  wahrscheinlich  stundenlang  nach¬ 
wirkt. 

Diese  Annahme  einer  „Nachwirkung“  kann  auch  durch  die 
Tatsache  gestützt  werden,  daß  etwa  80°a  der  Patienten  zu  Anfang 
der  Behandlung  nicht  unmittelbar  nach  der  Uebung  Stuhl 
habt  n,  sondern  zu  ganz  verschiedenen  Zeiten,  etwa  eine  bis  zehn 
Stunden  nach  der  Uebung;  später  allerdings,  wenn  die  Uebung 
regelmäßig  früh  durch  längere  Zeit  (eine  bis  zwei  Wochen  but 
2  setzt  wird,  stellt  sich  meist  unmittelbar  nachher,  aiso  früh¬ 
morgens,  Stuhl  ein.  Die  regelmäßige  Stuhlentleerung  zur  äu¬ 
gt  gebenen  Zeit  erfolgt  aber  auch  dann  noch,  wenn  die  Dauer  der 
Uebung  allmählich  verringert  und  die  Uebung  schließlich  sistiort 
wird.  Es  findet  eben  eine  Erziehung  oder  besser  eine  Rückerziehung 
.  des  Darmes  zur  „automatischen“  Funktion  statt,  die  sich  darin 
äußert,  daß  der  Darm  gelernt  hat,  zur  physiologisch  geeignetsten 
Zeit  in  Tätigkeit  zu  treten.  Diejenige  Komponente  der  Uebung, 
die  auf  der  scheinbar  momentanen  Wirkung  beruht,  r  e  d  u  z  i  e  r  t 
sich  also  wahrscheinlich  allmählich  und  dürfte  schließlich  nur 
mehr  als  auslösendes,  als  „erweckendes“  Moment  in  Betracht 
kommen. 

Meine  Herren!  Ich  habe  Ihnen  heute  über  die  Wirkung  der 
Uebung  auf  den  Dickdarm  gesprochen. 

Hiemit  ist  aber  die  therapeutische  Verwendungsmöglichkeit 

der  Uebung  nicht  erschöpft. 

Herr  Hofrat  v.  Noorden  gab  gestern  die  Anregung,  bei 
2*  eigneten  Fällen  die  Uebung  zur  Dehnung  von  pathologischen 
Verwachsungen  zu  versuchen. 

Dr.  Hau  d  e  k  schlug  mir  jüngst  vor,  die  Uebung  bei  solchen 
gastroe nterostomierten  Patienten  therapeutisch  zu  versuchen,  bei 
denen,  sei  es  wegen  hoher  Lage  der  Gastroenterostomie,  sei  es 
wegen  starker  Belastung  des  Magens  und  hiedurch  bewirkter 
Verengerung  der  Gastroenterostomie  u.  a.,  die  Entleerung  des 
Magens  übermäßig  verzögert  wird. 

Die  ausgiebigste  Perspektive  eröffnet  s  i  c  h  je¬ 
doch  in  der  therapeutischen  Verwendung  der  Uebung 
'mit  einer  kleinen  Modifikation)  liei  Magen  a  ton  ie 
und  -dilatation. 

Mit  dem  Ergebnisse  dieser  Untersuchungen,  mit  denen 
ich  mich  seit  etwa  einem  Jahre  beschäftige,  hoffe  ich,  das  nächste 

Mal  vor  Sie  treten  zu  können. 

* 

Sitzung  vom  5.  AI a i  1911. 

Vorsitzender:  Hofrat  Prof.  Dr.  S.  Exner. 

Schriftführer:  Hofrat  Richard  Paltauf. 

Der  Präsident  teilt  mit,  daß  von  Prof.  Pierre  Ma  rie  in  Paris 
ein  Dankschreiben  für  seine  Wahl  zum  Ehrenmitgliede  eingelangt 
ist  und  daß  Hofrat  Lang  der  Gesellschaft  schriftlich  gedankt 
hat  für  die  ihm  durch  das  Präsidium  vermittelten  Glückwünsche 
ftm  30.  April  dieses  Jahres. 

Priv.-Doz.  Dr.  Clairmont:  Ich  erlaube  mir.  Ihnen  dieses 
achtjährige  Mädchen  zu  zeigen,  das  am  11.  April  1911  in  die 
v.  Eiselsbergsche  Klinik  aufgenommen  wurde.  Das  Kin  I  wurde 
schon  von  dem  behandelnden  Arzte  (Dr.  Karl  Z  n  oj  i  1- Siegharts¬ 
kirchen  mit  der  richtigen  Diagnose  an  uns  gewiesen.  Allerdings 
bot  die  Anamnese  sehr  charakteristische  Angaben.  Das  Kind, 
das  von  Ptdegeeltern  aufgezogen  worden  war.  hatte  seit  seinem 
dritten  Lebensjahre  die  Gewohnheit,  sich  Haare  auszureißen  und 
zu  verschlucken.  Einige  Tage  vor  der  Aufnahme  hatte  es  einen 
Haarknollen  erbrochen.  Bei  dem  Kinde  fand  sich  in  der  Magen- 
-<  rend  ein  derber,  sehr  beweglicher  Tumor  mit  glatter  Ober-  i 
flie  h- .  in  der  Gestalt  des  Magens.  Auch  dieser  Befund  sprach  mit 
Sicherheit  für  die  Annahme  eines  Trichobezoar.  Am  13.  April 
machte  ich  die  Laparotomie.  Nach  Eröffnung  des  Peritoneums 
war  jeh  zunächst  sehr  überrascht,  als  sich  an  der  kleinen  K  ir- 
vatur  des  dilatierten  Magens  eine  zirka  fünfkronenstückgroße 
Parti  cinstellte,  in  deren  Bereich  die  Serosa  graugelb  verfärbt 
war.  sich  derb  anfühlte,  so  daß  im  ersten  Augenblick  der 
Gedanke  eines  malignen  Prozesses  nahelag.  Die  genaue  Uulor- 
Buchung  und  Palpation  ließ  aber  doch  einen  entzündlichen  Tumor 
—  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  um  ein  Ulkus  —  annehmen. 
Der  Fremdkörper  war  zunächst  hinter  dem  linken  Rippenbogen 
vei  borgen  und  wurde  durch  streichende  Bewegungen  im  Sinne 
der  Peristaltik  eingestellt.  Zunächst  machte  ich  in  der  vorderen 
Magenwand  eine  ca.  5  cm  lange  Inzision,  durch  die  der  Trieho- 
teznar.  den  Sie  hier  sehen,  leicht  entfernt  werden  konnte.  Diese 


Inzision  wurde  sodann  benützt,  um  das  Mageninnere  entsprechend 
der  von  außen  gesehenen  Veränderung  an  der  kleinen  Kurvatur 
zu  besichtigen.  Es  fand  sich  nun  tatsächlich  ein  Ulkus  an  der 
kleinen  Kurvatur,  Die  I  eberlegung,  was  zur  Heilung  dieses 
Geschwüres  zu  geschehen  habe,  war  keine  leichte-.  Auf 
der  einen  Seite  mußte  man  sich  sagen,  daß  vielleicht  das 
I  ikus  nur  durch  den  Fremdkörper  bedingt  sei  und  nach  dessen 
Entfernung  zur  Ausheilung  kommen  werde.  Auf  der  anderen  Seite 
trachten  wir  in  neuerer  Zeit,  wie  Sie  wissen,  meine-  Herren, 
das  l  lkus  an  der  kleinen  Kurvatur  mit  der  Resektion  zu  behan- 
ileln.  Die  Ueberlegung  wurde  noch  dadurch  erschwert,  daß  das 
Kind  in  der  Narkose  eine,  wenn  auch  leichte,  Asphyxie  hatte. 
Nach  Zuwarten  von  einigen  Minuten  besserte  sich  aber  die  Nar¬ 
kose,  so  daß  ich  mich  entschloß,  an  die  quere  Magenresektion 
heranzugehen.  Es  wurde  damit  zirka  ein  Drittel  des  Magens 
entfernt.  Das  Präparat  sehen  Sie  hier,  meine  Herren;  an  tier 
kleinen  Kurvatur  das  hcllergroße  Ulkus.  Der  postoperative  Ver¬ 
lauf  war  ein  glatter,  das  Kind  kann  heute,  drei  Wochen  nach 
der  Operation,  alles  essen  und  hat  1  kg  30  dkg  zugenommen. 

Dieser  Fall  ist  der  erste  in  der  Literatur  von  Kombination 
eines  Trichobezoars  mit  Ulkus,  der  erfolgreich  chirurgisch  behan¬ 
delt  wurde.  \\  ie  der  ausführlichen  Monographie  von  Wölf  ler 
und  Lieblein  zu  entnehmen  ist,  wurden  bisher  fünf  Fälle  von 
Tiichbezoar  und  Ulcus  ventriculi  bekannt.  Das  Geschwür  saß  in 
diesen  Fällen  an  der  großen  Kurvatur  und  wurde  als  Dekubital- 
geschwür  aufgefaßt.  Durch  die  Perforation  des  Ulkus  kam  es  in 
diesen  Fällen  zum  Tode.  Auch  bei  diesem  Kinde  hatten  einige 
Tage  vor  der  Aufnahme  heftige  Schmerzen  bestanden,  die  aller 
A\  ahrscheinliehkeit  nach  wohl  durch  das  Geschwür  bedingt  ge¬ 
wesen  sind. 

Der  demonstrierte  Fall  ist  ferner  der  jüngste  bisher  beob¬ 
achtete  von  Trichobezoar  (acht  Jahre),  ist  wohl  einer  der  jüngsten, 
an  dem  überhaupt  bisher  eine  Viagenresektion  vorgenonnnen 
wurde,  jedenfalls  in  dem  reichen  Material  der  v.  Eiselsberg- 
sehen  Klinik  der  jüngste. 

Nicht  für  diagnostische  Zwecke,  doch  des  Interesses  wegen 
haben  wir  dieses  Kind  vor  der  Operation  in  dem  Laboratorium 
von  Priv.-Doz.  Dr.  Holzknecht  durchleuchtet.  Es  war  der  erste 
Fall  von  Trichobezoar,  der  von  uns  radiologisch  beobachtet  werden 
konnte.  Die  Durchleuchtung  ließ  ein  charakteristisches  Bild  er¬ 
kennen. 

Diskussion:  Dr.  Martin  Haudek:  Der  Fremdkörper  des 
Viagens  ließ  sich  im  Röntgenbilde  auf  zweifache  Weise  erkennen, 
einerseits  verursachte  er  eine  große  Schattenaussparung  am  wis¬ 
mutgefüllten  Viagen,  andrerseits  ließ  sich  sein  oberes  nierenpol- 
artiges  Ende  in  die  Pars  cardiaca  hinaufheben,  wo  sie  sich  von  der 
dort  befindlichen  Gasblase  deutlich  abhob.  Die  Diagnose:  Fremd¬ 
körper  des  Viagens  wäre  also,  wenn  die  klinische  Untersuchung 
noch  einen  Zweifel  offen  gelassen  hätte,  unschwer  gelungen. 

Das  bei  der  Operation  gefundene  Ulkus  an  der  kleinen 
Kurvatur  gelangt  am  Röntgenogramm  in  zweifacher  Weise  zum 
Ausdruck;  in  einer  leichten  Sanduhrverengung  des  Viagens  derart, 
daß  in  der  Pars  cardiaca  ein  Teil  des  Wismuts  zurückbleibt  und 
in  -einer  Einziehung  an  der  kleinen  Kurvatur  an  der  Stelle,  wo  das 
1  lkus  gefunden  wurde.  Die  radiologische  Funktionsprüfung  wurde 
j  nicht  vorgenommen,  sie  hätte  wahrscheinlich  Retention  ergeben 
und  so  zur  Diagnose  Ulkus  geführt. 

Gegen  die  Anschauung  S tillers,  daß  die  Zylinderform 
des  Viagens  ein  „durch  den  Wismutreflex  hervorge-rufenes  Zerr¬ 
bild  des  Viagens“,  die  wahre  Form  hingegen  die  Sackform  des 
aufgeblähten  Viagens  sei,  spricht  am  besten  das  Präparat.  Der 
Fremdkörper  präsentiert  sich  als  hakenförmig  gebogener  Zylinder 
und  nicht  als  Sackausguß. 

Priv.-Doz.  Dr.  Nobl  demonstriert  an  zwei  Patienten  sel¬ 
tener  beobachtete  Frühformen  a u s g e b r e i t e t e r  pri¬ 
märer  Hauterkrankungen,  die  trotz  weitreichender  Ver¬ 
schiedenheiten  der  klinischen  Erscheinungsweise  und  des  Ge- 
wrbs Verhaltens  immerhin  die  Nebeneinanderstellüng  gestatten.  Es 
handelt  sich  um  eigenartige  Zustandsbilder,  die  Kaposi  noch 
gemeinsam  mit  den  lymphatischen  Erkrankungen  dem  vor¬ 
läufigen  Sammelbegriff  der  sogenannten  Sarkoiden  Haut* 
geschwiilste  unterordnete  und  deren  Stellung  im  pathologisch- 
anatomischen  System  bisher  keine  endgültige  Definition  erfahren 
konnte,  r  ür  die  nachbarlichen  Beziehungen  der  hier  vorliegenden 
Prozesse  sprechen:  der  meist  protrahierte  Verlauf,  das  gewöhn¬ 
lich  bis  zu  den  terminalen  Erscheinungen  normale  Verhalten 
des  Blutbildes,  den  charakteristischen  Geschwulstbiidungen  mit¬ 
unter  jahrelang  vorangehende,  in  ihrer  Natur  unklare  Hautverän- 
rungen,  sowie  die  ausgesprochene  Fähigkeit  der  Phänomene  sich 
spontan  rückbilden  zu  können,  oder  therapeutisch  beeinflußt,  auf 
Arsen  oder  Röntgen  strahlen  günstig  z.u  reagieren. 


690 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


Der  Beginn  des  Leidens  stellte  sich  bei  dem  31jährigen  Pa¬ 
tienten  vor  fünf  Jahren  in  Form  unscheinbarer,  roter  Flecke  am 
Stamme  ein,  um  allmählich,  ohne  von  subjektiven  Störungen 
begleitet  zu  sein,  bis  zu  der  jetzigen,  ganz  bedeutenden  Ausbreitung 
zu  gedeihen.  Unter  Einbeziehung  der  Stirne,  Augenlider  und 
Wangen  sieht  man  die  gesamte  Körperoberfläche  von  diffusen  und 
zirkumskripten,  annular  und  serpiginös  figurierten,  fein  lamellös 
abschilfemden,  nicht  infiltrierten  Erythemen  eingenommen.  An 
minder  befallenen  Regionen,  wie  am  Hals,  Rücken  und  an  der 
Brustapertur,  zeigen  die  leicht  ödematös  vortretenden,  rosenroten 
Flecke  als  kindshandtellergroße  Scheiben  und  breite  Ringe  eine 
schärfere  Abhebung  von  der  scheinbar  normalen  Umgebung. 
Das  Integument  der  Arme  und  Beine  ist  gleichmäßig  intensiv  ge¬ 
rötet  und  an  fingernagelgroßen  Stellen  des  obersten  Epithel¬ 
belages  verlustig,  doch  nicht  nässend.  An  den  Streckflächen  der 
den  Gelenken  nachbarlichen  Regionen  ergänzen  heller-  bis  kronen¬ 
stückgroße',  chagrinierte,  einen  stärkeren  Schuppenbelag  führende 
Läsionen  clas  Krankheitsbild.  Die  Lymphdrüsen  aller  Gebiete  sind 
normal.  Der  wiederholt  erhobene  Blutbefund  ergibt  der  Norm  ent¬ 
sprechende  Verhältniszahlen  der  Elemente.  Diesen  erythematösen 
streckenweise  ekzemähnlichen  und  in  einzelnen  Gebieten  pso- 
ri  as  if  or  men  Veränderungen  ist  insofern  eine  besondere  Bedeu¬ 
tung  beizumessen,  weil  sie  als  spezifisches  Anfangstadium 
des  Granuloma  fungoid  es  anzusprechen  sind.  Diese  An¬ 
nahme  findet  in  dem  Gewebsbefund  ihre  volle  Bestätigung,  indem 
den  scheinbar  banalen,  schuppenden  Erythemen  bereits  das  typi¬ 
sche  Substrat  der  diffusen,  mykosiden  Infiltration  ent¬ 
spricht.  Die  eingestellten  Präparate  zeigen  eine  dichte  Einschich¬ 
tung  des  an  neugebildeten  Gefäßen  reichen  Granulationsgewebes 
in  den  mächtig  verlängerten,  ödematös  gequollenen  Papillen  und 
in  den  obersten  Koriumlagen.  Stellenweise  ist  es  gleichzeitig  zu 
einer  massigen  Zelldurchsetzung  der  Epithelialschicht  gekommen, 
wodurch  die  Grenzen  zwischen  Oberhaut  und  Kutis  verwischt  er¬ 
scheinen.  Der  polymorphe  zelluläre  Aufbau  dieses  spezifi¬ 
schen  lymphadenoi'den  Granulationsgewebes  zeigt  eine 
volle  Uebereinstimmung  mit  der  Struktur  jener,  mitunter  bis  kinds¬ 
kopfgroßen  Tumoren,  die  das  meist  beobachtete  Spätstadium  des 
Granuloma  fungoides  kennzeichnen.  An  der  Formation  des 
oberflächlichen  diffusen  Hautinfiltrats  sind  vorzüglich  Lympho¬ 
zyten,  Plasmazellen,  polymorphkernige  Leukozyten,  in  geringer 
Zahl  Mastzellen  und  eosinophile  Elemente,  sowie  Fibroblasten 
beteiligt.  Dieser  Feststellung  ist  neuerdings  zu  entnehmen,  daß 
die  sogenannten  prämykotischen  Dermatosen  keine 
einfachen  Erythbme  oder  Ekzeme  sind,  auf  deren 
Basis  sich  erst  der  fungöse  Prozeß  entwickelt,  son¬ 
dern  daß  dieselben  schon  als  spezifische,  oberfläch¬ 
liche  Frühformen  des  Granuloms  angesprochen  wer¬ 
den  müssen. 

Der  zweite  Kranke,  ein  58jähriger  Mann,  bemerkte  zuerst  vor 
zwei  Jahren  das  Auftreten  braunroter  Flecke  an  dem  Hand-  und 
Fußrücken  unter  gleichzeitiger  Schwellung  der  Finger  und  Zehen. 
In  der  Folge  traten  stets  neue,  vielfach  auch  schwarzblau  verfärbte, 
größere  Herde  an  den  Schenkelbeugen,  am  Genitale  und  Achsel¬ 
höhlen  hinzu.  Von  einer  mäßigen  Spannung  in  den  Händen  und 
Fingern  abgesehen,  fühlt  sich  der  Kranke  ganz  wohl  und  geht 
unbehindert  seinem  Berufe  nach.  Als  Teilerscheinungen  des  Krank¬ 
heitsbildes  machen  sich  ausschließlich  rosenrot  bis  tief  stahlblau 
und  schwärzlich  verfärbte,  auf  Fingerdruck  nicht  abblassende, 
nur  an  den  Hand-  und  Fußrücken  sich  derber  und  resistent  an¬ 
fühlende,  im  Niveau  der  Umgebung  gelegene  Flecke  bemerkbar, 
die  eine  scharf  begrenzte,  scheibenförmige  Konfiguration  darbieten 
und  durch  Konfluenz  an  einzelnen  Hautbezirken  zu  mächtig  ausge¬ 
breiteten  Flächen  zusammentreten.  Die  mäßig  gespannte,  glän¬ 
zende,  an  einzelnen  Stellen  von  abgehobenen  Hornlagen  bedeckten 
Hand  -und  Fußrücken,  die  Finger  und  Zehen  inbegriffen,  sind  von 
<  rbsen  -bis  hellergroßen  ähnlichen  Effloreszenzen  dicht  besetzt, 
die  nur  am  Dorsum  der  Fingefp  und  am  Uebergang  zu  den  volaren 
und  plantaren  Flächen  durch  dunkel  verfärbte  Pigmentsäume  um¬ 
grenzt,  scharf  von  der  Umgebung  abstechen.  Die  Achselhöhlen 
und  Beugeflächen  der  Oberschenkel  okkupieren  im  oberen  Drittel 
zusammengeflossene,  grauschwarze,  in  der  Kutis  gelegene,  sich 
weich  anfühlende,  bogenförmig  konturierte  Plaques,  die  vielfach 
teils  normal  erscheinende,  teils  weißlieh  verfärbte,  wie  zart  narbige, 
verschieden  große,  rundliche  Areale  in  sich  einschließen.  Die 
Penisdecke,  sowie  das  Skrotum  hämorrhagisch,  blauschwarz  ver¬ 
färbt,  mäßig  infiltriert,  das  letztere  in  sternförmiger  Ausbreitung, 
von  mächtig  erweiterten,  bis  federstieldicken,  zirsoiden  Venen¬ 
ästen  durchzogen.  Aehnliche  diffuse,  bis  handtellergroße  Ver¬ 
färbungen  an  den  von  aneurysmatisch  erweiterten  Phlebektasien 
eingenommenen  Unterschenkeln .  An  den  Augenlidern,  am  Kinn, 
Nacken  und  Rücken  hellergroße,  gleichbeschaffene  Plaques,  an  den 


Streckflächen  der  Arme  in  disperser  Einstreuung  heller  gefärbte 
Effloreszenzen  gleicher  Natur.  Auch  in  diesem  Falle  ist  das  Drüsen¬ 
system  in  den  Vorgang  reicht  einbezogen  und  die  Blutformel 
normal.  Obwohl  den  von  ekta tischen  Gefäßen,  Hämorrhagien  und 
angestautem  Pigment  bestrittenen  Läsionen  bisher  an  keinem 
Standort  der  herdförmige  infiltrative  Charakter  zukommt  und 
auch  nirgends  knotige  Abhebungen  zu  verfolgen  sind,  so  legt  die 
progrediente  Natur  des  Zustandes,  das  stationäre  Verhalten  der 
Schübe,  sowie  das  intensivste  Auftreten  derselben  an  den  be¬ 
kannten  Prädilektionsstellen  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  nahe, 
daß  es  sich  hier  um  eine  Vorstufe  des  idiopathischen,  mul¬ 
ti  p  1  e n,  h ämorrhagis c h e n  H autsarkoms  Kaposi  handelt. 
Das  bisher  untersuchte  Testmaterial  eines  makulösen  Präputial- 
herdes  zeigt,  von  einer  massenhaften  Einlagerung  hämatogenen 
Pigments  in  die  Papillarschicht  und  einer  mächtigen  Erweiterung 
der  präkapillaren,  kutanen  Venen  abgesehen,  keine  kennzeich¬ 
nenden  V  eränder ungen . 

Im  Anschlüsse  demonstriert  Nobt  die  Präparate  eines  vor¬ 
geschritteneren  Falles,  in  welchem  nebst  ähnlichen,  diffusen, 
fleckigen  Herden  die  bekannte  Aussaat  der  schwarzblauen  Knöt¬ 
chen  an  den  polsterartig  aufgetriebenen  Füßen  zu  verfolgen  waren. 
In  diesem  Falle  ist  die  aus  Spindelzellen,  kavernös  erweiterten, 
proliferierten  Gefäßen  und  strotzend  von  Blut  erfüllten  Räumen 
bestehende  oberflächliche  Neubildung  deutlichst  zu  verfolgen. 

Priv.-Doz.  Dr.  Robert  Kienböck  und  Dr.  Otto  Willner: 
lieber  einen  Fall  von  Osteopsathyrosis  idiopathica 
beim  Kinde  (mit  Demonstration  der  Röntgenbilder). 

Es  handelt  sich  um  ein  2V2  Jahre  altes  Mädchen,  welches 
durch  viele  Monate  genau  beobachtet  wurde.  Es  ist  das  zweite 
Kind  gesunder  Eltern,  entwickelte  sich  zuerst  ganz  normal,  im 
Alter  von  neun  Monaten  trat  aber  ohne  bekannten  Anlaß 
eine  Sp  ontanf  rak  tur  des  rechten  Oberschenkels  ein; 
diesem  Bruche  folgten  seitdem  noch  weitere  Spontanfrakturen, 
etwa  ein  Dutzend  an  Zahl.  Die  Brüche  betrafen  ausschließlich 
beide  Oberschenkel  und  beide  Oberarme  u.  zw.  meist 
das  obere  Drittel  des  Schaftes ;  der  rechte  Oberschenkel  inklu- 
rierte  etwa  drei-  bis  viermal,  die  Bruchstellen  im  oberen  Teile 
des  Schaftes  liegen  nahe  beieinander.  Die  Brüche  schmerzten  in 
der  Regel  nur  wenige  Tage,  die  Behandlung  durch  Verbände  war 
eine  sorgfältige,  die  Heilungsdauer  war  annähernd  normal,  be¬ 
ziehungsweise  etwas  verkürzt. 

Das  Kind  ist  seinem  Alter  entsprechend  groß  (war 
mit  20  Monaten  78  cm  lang),  auffallend  schlank  gebaut  und  ent¬ 
sprechend  der  guten  Heilung  der  Brüche  nicht  deformiert.  Es 
ist  etwas  blaß,  sieht  aber  im  übrigen  gut  genährt  und  gesund  aus. 
Die  Muskulatur  ist  grazil,  Lähmungen  und  Spasmen  fehlen,  im 
Harn  sind  ab  und  zu  Spuren  von  Eiweiß  zu  finden,  kein  Beneo- 
.1  o  n  e  s  scher  Körper.  3 

Blutbefund  (Ende  August  1910)  bis  auf  geringe  Anämie 
und  geringe  Lymphozytose  normal.  Zahnformel  normal,  Wasser¬ 
mann  sehe  Reaktion  negativ.  Geistige  Entwicklung  vollkommen 
dem  Alter  entsprechend,  das  Kind  ist  sehr  lebhaft,  spricht  viel, 
ist  leicht  reizbar. 

Es  wurden  niemals  Fieber  oder  Zahnfleischveränderungen 
beobachtet,  von  einer  vorübergehenden  Stomatitis  aphthosa  ab¬ 
gesehen.  In  der  Familie  ist  bisher  keine  ähnliche 
Knochenerkrankung  vorgekommen,  der  Bruder  ist  ge¬ 
sund,  die  Eltern  sind  vollkommen  gesund. 

Bei  der  klinischen  Untersuchung  (Ende  Oktober  1910  — 
im  Alter  von  20  Monaten)  erweisen  sich  die  Knochen  als  schlank, 
die  meisten  Frakturen  sind  nicht  mehr  nachzuweisen,  der  rechte 
Oberschenkel  ist  etwas  verdickt  und  schmerzhaft ;  die  Knochen  sind 
nicht  weich  und  nicht  biegsam,  die  Gelenke  haben  normales 
Aussehen,  sind  sehr  schlaff  und  daher  stark  überstreckbar. 
Am  Schädel  sind  ganz  leichte  Zeichen  überstandener  Rachitis 
zu  finden.  ^ 

Die  am  29.  Oktober  1910  im  Sanatorium  Fürth  in  leichter 
Narkose  vorgenommene  Röntgenuntersuchung  ergab  die 
Zeichen  gut  geheilter  Schrägfrakturen  im  oberen  Drittel  des 
Schaftes  an  beiden  Humeri;  der  rechte  Femur  zeigt  mehrfache 
leichte  Knickung  durch  überstandene  Frakturen  in  der  oberen 
Hälfte  des  Schaftes  und  an  der  Grenze  zwischen  mittlerem  und 
unterem  Drittel;  (1er  linke  Femur  zeigt  im  Seitenbild  keine  Spur 
der  stattgehabten  Fraktur.  Die  Brüche  scheinen  alle  solid  geheilt 
zu  sein.  Die  anderen  Knochen  des  Skeletts,  speziell  die  Rippen, 
Schlüsselbeine,  Unterschenkelknochen  bieten  keine  Zeichen  von 
Verletzung.  Am  ganzen  Skelett  ist  Osteoporose  geringen  Ins 
mittleren  Grades  nachweisbar,  alle  Knochenschatten  _  sind  etwas 
zu  wenig  dicht,  die  Spongiosazeidhnung  ist  ungemein  fein, _  d;e 
Kortikales  der  Epiphysenkerne  und  kurzen,  Knochen  erscheinen 
als  feine  Striche,  die  Kortikales  der  langen  Röhrenknochen  sind 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911, 


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v.u  dünn  mid  was  das  auffallendste  ist:  alle  langen  Röhrenknochen 
sind  für  ihre  Länge  viel  zu  grazil;  sie  sind,  abgesehen  von.  den 
Frakturstellen,  nicht  verbogen,  zeigen  nirgends  Zysten  oder 
Tumoren.  Die  Gelenke  sind  nicht  verdickt,  die  Epiphysenzonen 
verlaufen  geradlinig  und  zeigen  nichts  Pathologisches;  der  Ossi¬ 
fikationszustand  entspricht  dem  Alter  des  Kindes. 

Der  radiologiische  Befund  ist  somit  der  einer 
allgemeinen  Knochenatrophie  im  Sinne  einer  Osteo¬ 
porose  geringen  bis  mittleren  Grades  mit  einer  auf¬ 
fallenden  Schlankheit  de  rDiaphysender  1  a  n  g  e  n  1 1  ö  h- 
renknochcn  (sogenannte  periostale  Hypoplasie  des 
Skeletts);  die  mehrfachen  Frakturen  der  Oberarm¬ 
und  Oberschenkelknochen  erscheinen  solid  geheilt. 

Hält  ' man  die  Anamnese,  die  Beobachtung  des  Kindes,  den 
klinischen  und  radiologischen  Befund  zusammen,  so  gelangt  man 
zur  Diagnose  der  sogenannten  idiopathischen  Os  loops a- 
thyrose  (Lobstein). 

Die  Behandlung  wurde  auf  mehrfache  Weise  versucht; 
mit  Phosphortherapie,  Barlowscher  Diät,  schließlich  mit  Thy¬ 
musfütterung,  doch  alles  ohne  Erfolg,  es  traten  immer  wieder  neue 

Spontanfrakturen  ein. 

Die  neueren  Autoren,  z.  B.  Looser  und  Sumita,  halten 
I.  die  angeborene  Knochenbrüchigkeit  (die  sogenannte  Osteo¬ 
genesis  imperfecta  nach  Vrolik),  2.  die  Osteopsathyrosis 
oder  Fragilitas  ossium  der  Kinder  (nicht  selten  familiär)  und 
3.  die  Knochenbrüchigkeit  der  Erwachsenen  für  eine  und  die¬ 
selbe  Krankheit.  Sicher  ist,  daß  die  unter  dem  Namen  von  Osteo¬ 
malacia  congenita,  Rachitis  annullaris  foetalis,  Osteoporosis  con¬ 
genita  und  Dysplasia  periostalis  foetalis  beschriebenen  Fälle  bei 
Neugeborenen  (zum  Teil  Totgeborenen)  mit  der  Osteogenesis  im¬ 
perfecta  identisch  sind;  Hochsinger  schlägt  dafür  die  Bezeich¬ 
nung  Osteopsathyrosis  foetalis  vor. 

Kienböck  demonstriert  zum  Vergleiche  mit  dem  oben  be¬ 
schriebenen  Falle  auch  die  Radiogramme  von  Fällen  von 
der  Gruppe  1  und  Gruppe  3;  Er  zeigt  zunächst  die  Bilder  von 
einem  frühgeborenen  und  30  Tage  nach  der  Geburt 
gestorbenen  Kinde  mit  typischer  Osteogenesis  im¬ 
perfecta,  über  welches  Hochsinger  hier  in  der  Gesell¬ 
schaft  der  Aerzte  im  Jahre  1908  bereits  berichtet  hat 
und  er  demonstriert  darauf  die  Radiogramme  eines  Falles 
von  Fragilitas  ossium  beim  Erwachsenen,  dein 
Kienböck  vor  zwei  Jahren  untersucht  und  vor  einem  Jahre 
in  den  „Fortschritten  auf  dem  Gebiete  der  Röntgens trahlen“, 
Bd.  15,  beschrieben  hat.  Der  Patient,  damals  59  Jahre  alt, 
war  in  seiner  Jugend  stets  gesund  gewesen  und  hatte  im  15.  und 
16.  Lebensjahre  bei  geringer  Veranlassung  Fraktur  der  einen, 
dann  der  zweiten  Patella  erlitten;  die  Brüche  heilten  nicht,  es 
blieb  bei  starker  Diastase  und  ligamentärer  Verbindung  der  Frag¬ 
mente.  Gleichwohl  war  Patient  später  im  Gehen  nur  wenig  be¬ 
hindert.  Nach  fast  20 jähriger  Pause  brachen  beide 
Olekranon  und  mehrere  lange  Röhrenknochen  der 
Arme  und  Beine.  Vom  40.  bis  52.  Lebensjahr  trat  wieder  eine 
Pause  in  den  Spontanfrakturen  ein,  worauf  solche  wieder  er¬ 
folgten.  Im  ganzen  dürften  über  anderthalb  Dutzefid  Kno¬ 
chenbrüche  stattgefunden  haben.  Manche  Röhrenknochen 
brachen  wiederholt  die  Olekranon  sind  (nach  den  Röntgenbildern) 
in  drei  bis  fünf  krümelige,  perlschnurartig  aneinander  gereihte 
Stücke  zerfallen.  Im  übrigen  sollen  die  Knochenbrüche  nach  des 
Patienten  Angabe  stets  gut  geheilt  sein. 

Die  fünf  Monate  vor  der  Untersuchung  entstandene  Schräg¬ 
fraktur  des  linken  Humerus  in  seiner  unteren  Hälfte  zeigt  sich 
aber  im  Röntgenbild  keineswegs  solid  geheilt,  eine  helle  Zone 
zeigt  die  totale  Abwesenheit  von  kalkhaltigem  Mark¬ 
kallus;  auch  der  dicke  periostale  Kallus  verhindert  eine  be¬ 
deutende  Biegsamkeit  des  Knochens  an  der  Frakturstelle  nicht. 
Das  ganze  Skelett  zeigt  eine  Osteoporose  geringen  bis  mittleren 
Grades,  welche  natürlich  am  besten  an  den  Händen  erkennbar 
ist;  auch  das  Mondbein  und  der  Metakarpus  V  der  linken  Hand 
bieten  Zeichen  von  Verletzung.  Hier  sind  ferner  die  Symptome 
chronischer  Arthritis  mit  auffallend  starker  Entkalkung  im  Be¬ 
reiche  der  Gelenksenden  vorhanden.  Patient  hat  den  Vortragen¬ 
den  vor  mehreren  Wochen  wieder  besucht,  er  hat  seit  2%  Jahren 
keine  Frakturen  mehr  erlitten. 

Bemerkenswert  ist  an  diesem  Falle  der  Beginn  der 
Erkrankung  im  15.  Lebensjahre,  die  stärkere  Beteiligung  der 
linken  Körperseite,  die  symmetrische  Affektion  beider  Knie¬ 
scheiben-  und  Ellbogenhaken,  das  frische  Aussehen  des  Patien¬ 
ten,  der  sich  im  übrigen  guter  Gesundheit  und  kräftiger  Mus¬ 
kulatur  erfreut  und  entsprechend  guter  Heilung  der;  meisten  Frak¬ 
turen  der  Schäfte  der  langen  Röhrenknochen  im  großen  und 
ganzen  nicht  deformiert  ist. 


Wie  ersichtlich,  habtan  wir  es  in  den  drei  genannten  Fällen 
nicht  nur  mit  verschiedenen  Zeitpunkten  des  Beginnes  der  Kno¬ 
chenbrüchigkeit,  sondern  auch  mit  verschieden  schweren  Fällen 
zu  tun.  Stets  handelt  es  sich  um  starkes  Ueberwiegen  der  Knochen, - 
resorption  über  die  Knochenapposition,  bei  den  Kindern  um 
gestörte  enchondrale  und  periostale  Knochenbildung  bei  unge¬ 
hemmtem  enchondralen  Wachstum  des  Skelettes.  Was  unsere 
2 /-jährige  Patientin  betrifft,  so  ist  es  nach  den  anderweitigen 
Erfahrungen  zu  erwarten,  daß  die  Erkrankung  zum  Stillstand 
kommt,  am  wahrscheinlichsten  nach  Abschluß  des  Längen¬ 
wachstums. 

Priv.-Doz.  Dr.  Hans  Salzer:  Heber  Blinddarmentzün¬ 
dung  beim  Kinde.  (Erscheint  ausführlich  in  dieser  Wochen¬ 
schrift.) 

28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin 

vom  19.  bis  22.  April  zu  Wiesbaden. 

Referent:  K.  Reich  er- Berlin. 

1.  Sitzung  am  Mittwoch,  den  19.  April  1911. 

(Fortsetzung.) 

Vortr  äge,  die  zum  Referatthema  in  Beziehung  stehen : 

R.  Mendelssohn  -  Paris  :  Zur  Frage,  des  Arthri¬ 
tis  m  u  s  in  Frankreich. 

Der  Begriff  des  Arthritismus  ist  in  Frankreich  geschaffen 
worden,  er  bedeutet  keine  Krankheit,  sondern  nur  eine  Anlage 
zu  verschiedenen  Krankheitszuständen,  Erblichkeit  spielt  die 
Hauptrolle,  zum  Arthritiker  wird  man  geboren.  Der  Arthritismus 
scheint  eine  Begleiterscheinung  der  Zivilisation  und  des  Wohl¬ 
lebens  zu  sein,  besonders  günstig  für  seine  Entwicklung  erweist 
sich  kaltes  und  feuchtes  Klima.  Bouchards  Theorie  der  Er¬ 
nährungsverlangsamung  („ralentissement“)  und  der  humoralen 
Hyperazidität  beherrscht  zurzeit  in  Frankreich  die  Lehre  vom 
Arthritismus.  Alle  Gewebe  und  Organe  der  Arthritiker  befinden 
sich  in  einem  Zustande  funktioneller  Insuffizienz  (Meiopragie), 
sie  pendeln  beständig  zwischen  Gesundheit  und  Krankheit  hin 
und  her,  ihr  Leben  ist  oft  ihre  Krankheitsgeschichte.  An  die 
1  rias  :  Gicht,  Fettsucht  und  Diabetes  schließen  sich  Chole-  und 
Nephrolithiasis  an,  Muskel-  und  Nervenkrankheiten,  viszerale 
und  nervöse  Sklerosen  etc. 

Nach  Mendelssohn  liegt  dem  Arthritismus  eine  Störung 
des  Gleichgewichts  zwischen  Assimilations-  und  Dissimilationsvor¬ 
gängen  zugrunde.  Da  das  Nervensystem  dabei  eine  wichtige 
Rolle  spielt,  erscheint  Mendelssohn  die  neuro-humorale  Theorie 
von  Lancereaux  und  de  Grandmaison  als  die  am 
meisten  befriedigende. 

L  i  n  s  e  r  -  Tübingen  :  Ueber  die  therapeutische 
Verwendung  von  normalem  menschlichen  Serum. 

Durch  Einspritzung  von  Blutserum  gesunder  Menschen 
ließen  sich  bei  verschiedenen  Hautkrankheiten  (Urtikaria,  Kinder¬ 
ekzem,  Strophulus,  Prurigo,  Pemphigus  vulgaris,  Epidermolysis 
bullosa)  und  Infektionskrankheiten  (Erysipel)  bedeutende  Besse¬ 
rungen,  ja  vielfach  Heilungen  erzielen.  Eine  theoretische  Auf¬ 
klärung  für  den  Mechanismus  dieser  Wirkung  läßt  sich  vorläufig 
nicht  geben,  jedenfalls  ist  das  neue  Verfahren  unschädlich  und 
einfach. 

F  riedel  Pick-  Prag :  Ueber  Vererbung  von 

Krankheiten. 

Der  wichtigste  Faktor  für  die  Diathesen  und  die  Konsti¬ 
tution  ist  wohl  die  Vererbung.  Für  diese  wurden  1865  von 
Mendel  exakte  Grundsätze  aufgestellt,  dann  wieder  vergessen 
und  1900  von  Tschermak,  de  Vries  und  Correns  neuer¬ 
dings  vielfach  nachgeprüft  und  haben  heute  für  Pflanzen  und 
Tierreich  unbestrittene  Geltung.  Pick  zeigt  nun  an  Beispielen 
von  Familien  mit  Haaranomalien,  Diabetes  insipidus,  Hämo¬ 
philie  etc.,  daß  die  hier  sich  ergebenden  Verhältnisse  vielfach 
auffallend  an  die  M  e  n  d  e  1  sehen  Regeln  erinnern,  weshalb  eine 
weitere  Sammlung  einschlägiger  Stammbäume  wünschenswert 
wäre.  Das  Gleiche  gilt  für  die  von  Pfaundler  gezeigten 
Stammbäume  bezüglich  der  Vererbung  einzelner  Merkmale  des 
infantilen  Arthritismus.  Die  von  Pfaundler  hervorgehobene 
Anteponierung  der  Symptome  bei  späteren  Generationen  scheint 
auch  sonst  bei  Vererbung  von  Krankheiten  öfter  vorzukommen, 
wie  ein  aus  v,  Noordens  Buch  entlehnter  Stammbaum  von 
Diabetes  mellitus  beweist. 

O.  Hansen- Kristiania :Bericht  über  61  Bluttrans¬ 
fusionen  bei  Anämie. 

In  6  von  15  Fällen  von  perniziöser  Anämie  war  die  Wir¬ 
kung  der  Transfusion  deutlich  günstig,  die  transfundierten  Blut¬ 
mengen  betrugen  im  Durchschnitt  200 — 400  cm8.  Vorher  wurde 
immer  eine  Vorprobe  auf  Agglutination  und  Hämolyse  angestellt, 


692 


WIEN  lilt  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


und  nur  bei  negativem  Ausfall  derselben  das  Blut  des  Spenders 
genommen. 

Armstrong  -  London :  Die  Radium  behänd  lung 
der  Stoffwechselerkrankningen. 

Armstrong  will  bei  hochgradigem  Diabetes,  Schrumpf¬ 
niere  und  chronischer  parenchymatöser  Nephritis  etc.  mit  Radium¬ 
emanation  glänzende  Erfolge  erzielt  haben  (? !). 

Diskussion  über  das  Referatthema  und  die 
Vorträge: 

W  ein tr  au  d -Wiesbaden:  Die  Bedeutung  des  endogenen 
Harnsäurewertes  ist  noch  nicht  geklärt.  Die  harnsaure  Diathese 
könnte  dadurch  charakterisiert  sein,  daß  manche  Leute  aus  den 
Kernstoffen  mehr  Harnsäure  erzeugen  können  als  andere.  Phenyl- 
ehinolinkarbonsäure  s.  Vortrag. 

U  m  b  e  r- Altona:  Bei  der  gichtischen  Diathese  spielt  die 
Retention  sicher  eine  wesentliche  Rolle,  wie  aus  seinen  vor¬ 
jährigen  Versuchen  mit  Retzlaff  hervorgeht.  Von  sieben 
Gichtikern  haben  einige  die  intravenös  injizierte  Harnsäure  total 
retiniert,  andere  nur  bis  zu  36%  eliminiert,  während  der  Ge¬ 
sunde  sie  vollständig  ausscheidet.  Eine  ähnliche  Retention  zeigen 
bloß  noch  Leute  mit  chronischer  Bleivergiftung  und  schwerem 
Alkoholismus.  Die  Ursache  der  Retention  liegt  nicht  in  der 
Niere,  sondern  in  allen  Geweben.  Anläßlich  ausgedehnter  hämo¬ 
lytischer  Studien  (gemeinsam  mit  Bürger)  ließ  sich  in  einem 
Falle  von  eigentümlicher  Anämie  mit  Hämoglobin-Stürzen  und 
Hämoglobinurie  ein  komplexes  Hämolysin  wie  bei  Donath- 
L  and  stein  er  als  Ausdruck  einer  latenten  hämolytischen 
Diathese  nachweisen. 

Otfried  Müller-Tübingen  berichtet  über  gute  Erfolge  der 
Li  ns  er  sehen  Seruminjektionen  bei  Säuglingen  und  Kindern 
mit  chronisch-septischen  Infektionen  (Furunkeln,  Diarrhöen, 
Bronchopneumonien).  Die  bakterizide  Kraft  des  Kinderblutes 
steigt  nach  den  Injektionen  ausnahmslos  um  ein  Vielfaches,  die 
Furunkeln  heilen  ab,  der  Krankheitsverlauf  wird  beträchtlich 
verkürzt  und  auffallend  guter  Appetit  stellt  sich  stets  ein. 

Neubauer-  München :  Schüttelt  man  den  Urin  mit  7r, 
seines  Volums  konzentrierter  ätherischer  Lackmoidlösung  als 
Indikator,  so  färbt  er  sich  blau  oder  grün  (alkalische  Reaktion), 
bei  Leuten  mit  Harnsäuresteinen  reagiert  er  dagegen  mit  dem 
Indikator  sauer.  Für  die  Zusammengehörigkeit  von  Gicht  und 
Nierensteinen  spricht  die  Gleichheit  der  Begleiterscheinungen 
wie  der  Dupuytren  sehen  Kontraktur  und  der  Polyzythämie  ; 
auch  der  Purinstoffwechsel  zeigt  vielfach  bei  beiden  Analogien. 

Erich  Meyer-  Straßburg  kann  die  Versuche  Neubauers 
durch  eigene  interessante  Untersuchungen  bestätigen.  Eine  hohe 
Harnazidität  (Wasserstoffionenkonzentration)  1  -2,  10 — 5  ändert 
sich  nach  Einsetzen  einer  starken  Diurese,  ebenso  nach  Natrium 
bicarbonicum. 

Bornstein-  Leipzig  :  Der  Ausdruck  Blastophthorie  wurde 
von  Forel  geprägt.  Alkohol  ist  einer  der  wichtigsten  Keim¬ 
verderber. 

Kraft- Weißer  Hirsch-Dresden  weist  auf  die  Gefahren 
einseitiger  Ernährung  hin,  die  Gemüsekost  wird  arg  vernach- 
läßigt  und  bei  der  Zubereitung  derselben  außerdem  unnötiger¬ 
weise  die  wichtigen  Mineralsalze  derselben  ausgelaugt. 

S  c  h  i  1 1  e  n  h  e  1  m  -  Erlangen  konnte  mit  Weichardt 
diathetische  Umstimmungen  der  Schleimhautzellen  des  Darm¬ 
kanals  bei  Hunden  durch  parenterale  Eiweißzufuhr  hervorrufen. 
So  lösten  z.  B.  kleinste  Dosen  von  Witte-Pepton  bereits  hoch¬ 
gradige  asthmatische  Anfälle  aus,  eine  interessante  Analogie  zu 
den  Beziehungen  zwischen  Pollentoxin  und  Heuasthma.  Es  wird 
nun  Aufgabe  weiterer  Forschung  sein,  die  giftige  Eiweißfraktion 
zu  isolieren,  die  jedenfalls  unter  den  hochmolekularen  Peptonen 
zu  suchen  ist.  Protamine  und  Histone  wirken  z.  B.  außerordentlich 
giftig. 

L  ö  w  e  n  t  h  a  1  -  Braunschweig  glaubt  nicht  an  die  A  r  in¬ 
st  r  o  n  g  sehen  Angaben  von  Nephritisheilungen  durch  Radium¬ 
emanation.  Nach  Einsetzen  derselben  findet  man  oft  im  frisch 
gelassenen  Urin  eine  starke,  rasch  verschwindende  Sedimentierung. 

S  t  r  u  b  e  1 1  -  Dresden  :  Kurze  Zeit  nach  Jod-  und  Bromgaben 
sinkt  der  opsonische  Index  sehr  bald  und  auf  dem  tiefsten  Stande 
des  Index  tritt  die  Akne  auf.  Sie  ist  für  Vakzinebehandlung 
besonders  geeignet. 

L  i  p  p  e  r  t  -  Wiesbaden  bestätigt  Löwenthals  Beobach¬ 
tungen  bezüglich  des  Sediments.  In  einem  Falle  von  Diabetes 
will  Löwenthal  mit  Radiumbehandlung  Zuckerfreiheit  des 
Urins  erzielt  haben. 

Falta-Wien  hat  bei  Anwendung  ganz  kolossaler  Emana¬ 
tionsmengen  (270. 000  Macheeinheiten  in  einem  Emanatorium  von 
12  cm3  aus  dem  Radium  werk  Neulengbach)  eine  neu¬ 


trophile  Leukozytose  ( —  18.000)  gefunden,  gefolgt  von  einer 
Leukopenie  am  nächsten  Tage,  resp.  einer  relativen  Mononukleose. 
Bezüglich  des  Blutdrucks  waren  keine  gleichmäßigen  Ergebnisse 
wahrzunehmen. 

Reicher  hat  bei  experimentellen  Untersuchungen  bei 
drei  unter  fünf  Diabetikern  ein  Herabgehen  des  Blulzuckers  um 
die  Hä  fte  nach  einstündigem  Aufenthalt  im  Emanatorium  der 
Charlottenburger  Radiogenwerke  beobachten  können, 
zwei  Fälle  blieben  unverändert. 

Gasanalysen  werden  über  das  Schicksal  des  verschwundenen 
Zuckers  entscheiden  müssen.  Für  die  Praxis  sind  diese  Ergebnisse 
vorläufig  noch  unverwertbar.  Beim  normalen  Menschen  wird 
ferner  nach  100  g  Traubenzucker  der  höchste  Anstieg  des  Blut¬ 
zuckers  im  Emanatorium  bereits  nach  Vs  Stunde  erreicht,  außer¬ 
halb  desselben  erst  nach  einer  Stunde. 

L  i  c  h  t  w  i  t  z  -  Göttingen  :  Die  Azidität  des  Harns  ist  nicht 
das  allein  Maßgebende  für  das  Ausfallen  der  Harnsäure,  sondern 
die  Harnkolloide.  Kocht  man  einen  Harn,  bei  dem  nach  Säure¬ 
zusatz  Harnsäure  ausfällt,  so  fällt  nach  neuerlichem  Säurezusatz 
die  Harnsäure  nicht  mehr  aus,  denn  die  nunmehr  fein  verteilten 
Kolloide  schützen  sie  davor. 

Kaufmann-Wildungen:  Das  gelegentlich  beobachtete 
Auftreten  von  Albuminurie  lehrt,  daß  die  Radiumemanation  nicht 
so  indifferent  ist,  wie  man  gewöhnlich  annimmt. 

Von  den  V  e  1  d  e  n  -  Düsseldorf :  Emanationskuren  in  jeder 
Form  erhöhen  die  Gerinnungsfähigkeit  des  Blutes. 

Umber- Altona  konnte  bei  Radiumtrinkkuren  weder  auf 
das  sacchariflzierende  Ferment,  noch  auf  die  Gicht  irgend  einen 
Einfluß  wahrnehmen. 

His  (Schlußwort)  freut  sich  über  die  ausführliche  Debatte, 
die  sich  allerdings  in  anderen  Bahnen  bewegte,  als  er  erwartet 
hatte.  Interessante  Beispiele  von  Diathesen  wurden  im  Verlaufe 
derselben  jedenfalls  nicht  beigebracht.  Die  Beobachtungen  von 
Armstrong  und  Li  p  pert  sind  mit  aller  Vorsicht  aufzu¬ 
nehmen.  Die  Angaben  über  Albuminurie  stammen  aus  der 
ersten  Zeit  der  Radiumtherapie  und  sind  seither  nie  wieder 
auf  ge  taucht. 

F.  v.  Müller:  Zur  physikalischen  Diagnostik. 

Trachealatmen  mit  bronchialem  Charakter  ist  am  Telephon 
in  einem  entfernten  Zimmer  gut  hörbar,  dagegen  spricht  es  selbst 
bei  lautem  Vesikuläratmen  absolut  nicht  an,  weil  das  Telephon 
wie  eine  Art  Tonfilter  tiefe  Stimmgabeltöne  nicht  überträgt.  Das 
Bronchialatmen  gehört  also  einer  höheren  Tonreihe  an  als  das 
Vesikuläratmen,  was  auch  daraus  hervorgeht,  daß  das  Bronchial¬ 
atmen  durch  relativ  kleine  konische  Resonatoren,  das  Vesikulär¬ 
atmen  aber  erst  bei  solchen  von  über  Meterlänge  verstärkt 
wiedergegeben  wird.  Zur  genauen  Reproduktion  der  Töne  kon¬ 
struiert  v.  Müller  nach  Art  eines  Fernrohres  ineinander  ver 
schiebbare  Messingröhren  mit  einem  kleinen  Fußansatz  und  einem 
binaurikulären  Hörapparat.  Die  in  Zentimetern  abzulesende  . 
Röhrenlänge,  bei  der  der  Ton  klangartig  verstärkt  wird,  entspricht 
der  halben  Wellenlänge. 

Mittels  dieses  Resonanzstethoskop  ergibt  sich  folgendes : 
Die  normale  Lunge  spricht  sowohl  bei  der  Perkussion  als  auch 
bei  der  Inspiration  und  beim  Anblasen  durch  die  tiefe  Stimme 
(Pektoralfremitus)  mit  einer  tiefen  Tonlage  in  der  großen  Oktave  ' 
bis  in  den  Beginn  der  Kontraoktave  an.  Dies  ist  der  Eigenton 
der  Lunge,  der  deswegen  so  tief  ist,  weil  die  Lunge  als  träge 
Schaummasse  langsam  schwingt.  Von  dem  gemischten  Tracheal- 
atmen  werden  durch  die  darüber  befindliche  Lunge  als  einen 
schlechten  Schalleiter  die  hohen  Töne  vorwiegend  ausgelöscht, 
die  tiefen  bleiben  übrig,  daher  hört  man  dann  bloß  Vesikulär¬ 
atmen.  Die  klingenden  Rasselgeräusche  und  das  Bronchialatmen 
zeichnen  sich  durch  außerordentliche  Höhe  bis  in  die  drei  ge¬ 
strichene  Oktave  aus.  Die  tympanitischen  Perkussionsschläge 
über  den  Unterleibsorganen  zeigen  eine  Mittellage,  nämlich  eine  j 
Röhrenlänge  von  30 — 60  cm.  Bei  der  Dämpfung  über  infiltrier  teil 
Lungenpartien  und  über  Exsudaten  fehlen  die  tiefsten  Töne  des 
Perkussionsschalles  und  es  bleiben  nur  die  höheren  Töne  übrig 
Da  nun  die  höheren  Töne  rascher,  die  tieferen  langsamer  ab- 
klingen,  so  wird  der  Schall  dadurch  kürzer. 

Diskussion:  L  i  1  i  e  n  s  t  e  i  n  -  Bad  Nauheim  demon¬ 

striert  einen  Telephonapparat,  welcher  die  Uebennittlung  von 
Herztönen  mit  großer  Reinheit  über  mehrere  Räume  und  an 
mehrere  Hörer  synchron  gestattet  und  sich  für  die  Auskultation 
im  Bade,  bei  der  Narkose,  bei  Fieberkranken  etc.  sehr  eignet. 

P  ä  s  s  1  e  r  -  Dresden  :  Das  Krankheitsbild  der  per¬ 
manierenden  Tonsilleninfektion  und  seine  Be¬ 
handlung. 

Auf  Grund  konsequenter  Untersuchung  aller  Patienten  auf 
das  Bestehen  einer  permanenten  Mandelgrubeninfektion  (Pfropf- 


Nr.  19 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


693 


bildung,  Sekret  in  den  Mandelgraben)  und  auf  Grund  der  mit 
radikaler  Ausschälung  der  Tonsillen  erzielten  Heilresultate  gelangt 
Pässler  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  Polyarthritis  und  die  ge¬ 
wöhnlichen  Rheumatismuskomplikationen,  die  Endo-  und  Myo¬ 
karditis  und  C  horea  minor  nur  einen  Teil  der  von  einer  chroni¬ 
schen  Mandelgrubeninfektion  abhängigen  Krankheitsbilder  um¬ 
fassen  und  sich  hier  u.  a.  auch  allgemeine  leichte  Infektions¬ 
und  Intoxikationserscheinungen,  Sepsis,  zyklische  Albuminurien 
und  wahrscheinlich  auch  die  rezidivierenden  Appendizitiden 
subsumieren  lassen. 

Diskussion:  K  r  e  h  1  -  Heidelberg  kann  sich  auf  Grund 
von  gemeinsam  mit  Kümmel  1  behandelten  Fällen,  in  denen 
allerdings  nur  vereinzelt  eine  Tonsillektomie  vorgenommen 
wurde,  nicht  auf  ähnlich  gute  Resultate  bei  entsprechender 
Tonsillenbehandlung  erinnern. 

F.  v.  M  ü  1 1  e  r  hat  eine  große  Zahl  von  Rheumatismus¬ 
fällen  nach  Tonsillenexstirpation  sich  bessern  gesehen. 

Pässler  (Schlußwort):  Ein  Erfolg  ist  nur  zu  erreichen, 
wenn  keine  einzige  Alandeigrube  bei  der  Totalexstirpation  übrig 
bleibt  und  sich  sonst  im  Organismus  nirgends  eine  andere  Eite¬ 
rung  befindet;  als  solche  Orte  kommen  die  Rachentonsille, 
Zähne,  Nebenhöhlen,  Prostata  und  die  weiblichen  Genitalien 
sowie  Residuen  appendizitischer  Abszesse  in  Betracht. 

L  ü  d  k  e  -Würzburg  :  Ueber  Darstellung  und  Wir¬ 
kungsweise  von  Partialgiften  im  Bakterien¬ 
protoplasma. 

Lüdke  stellte  aus  dem  Dysenteriebazillus  durch  Fällung 
mit  65°/o  Alkohol  ein  spezifisch  neurotoxisches  Gift  dar,  das 
durch  Vistündiges  Erhitzen  auf  70  bis  75°  zerstört  wird.  Klinisch 
zeigten  sich  Paresen  und  Paralysen  der  Extremitäten  bei  Kanin¬ 
chen  mit  elektivem  Ergriffensein  der  Vorderhörner.  Nach  Zer¬ 
störung  der  neurotoxischen  Komponente  trat  eine  Diarrhöen 
und  Marasmus  verursachende  Giftqualität  zutage. 

Mit  dem  in  die  Nährbouillon  sezernierten  Gifte  der  Dy¬ 
senteriebazillen  ließ  sich  stets  eine  Temperatursenkung  liervor- 
rufen.  Durch  wiederholte  Fällung  mit  Alkohol  und  nachfolgender 
Dialysierung  kann  man  aus  Typhus-,  Dysenterie-  und  Koli- 
stämmen  eine  Protease  darstellen,  auch  härnolysierende  Gifte 
sind  in  ihnen  enthalten. 


40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  zu  Berlin 

vom  19.  bis  22.  April  1911  (im  Langenbeckhause). 

Referent:  Dr.  M.  Katzen  s  tein -  Berlin. 

(Fortsetzung.) 

H  i  r  n  c  h  i  r  u  r  g  i  e. 

H.  Leischner  und  W.  Donk-Wien:  Zur  Prophylaxe 
der  operativen  Meningitis. 

Vorlr.  berichten  über  eine  Reihe  von  Versuchen,  die  die 
bisherigen  Kenntnisse  über  die  infektionsverhindernde  Wirkung 
des  Urotropins  bei  Gehirnoperationen  erweitern  sollen.  Aus 
kälteren  Untersuchungen  anderer  Autoren  ergab  sich,  daß  sich 
1  rotropin  nach  Verabreichung  in  den  gebräuchlichen  Dosen  in 
geringer  Menge  im  Liquor  cerebrospinalis  nachweisen  läßt  und 
daß  es  hier  deutlich  bakterizide  Eigenschaften  entfaltet.  Es 
standen  aber  noch  die  Fragen  offen,  ob  sich  wirklich  Urotropin-, 
"der  dessen  Spaltungsprodukt  Formaldehyd  im  Liquor  abscheidet, 
lerner  welche  Konzentration  von  Formaldehyd  in  der  Zerebro¬ 
spinalflüssigkeit  man  durch  Urotropinverabreichung  erzielen  kann 
und  welcher  Grad  der  Infektion  gelegentlich  der  Operation  da¬ 
durch  bekämpft  werden  kann. 

Nach  Verabreichung  mehrerer  (2  bis  8)  Gramme  Urotropin 
per  os  innerhalb  einiger  Tage  konnte  J autsch,  Assistent 
un  Wiener  chemischen  Universitätsinstitut,  im  Liquor,  der  durch 
Uimbalpunktion  gewonnen  wurde,  freies  Formaldehyd  in 
Mengen  von  0-004  bis  0-02%  nachweisen.  Die  Vortragenden 
stellten  nun  mit  verschieden  starken  Formalinliquorlösungen  bak¬ 
teriologische  Versuche  an  und  fanden,  daß  bei  einer  Konzentration 
von  0-03 ü/o  Formalin  im  Liquor  selbst  eine  große  Menge  von 
liakterien  (l  Oese  einer  24stündigen  Staphylokokkenbouillonkultur 
zu  (>  cm3  Formalinliquor)  sicher  abgetötet  wird,  bei  einem  For- 
uialingchalt  des  Liquors  von  0-003"«,  also  ungefähr  der  unteren 
bronze  der  durch  Urotropinverabreichung  zu  erzielenden  Kon¬ 
zentration,  nur  eine  relativ  geringe  Menge  von  Bakterien,  abgetötet 
'vird,  indem  nach  Injektion  von  6  cm3  Formalinliquor  mit  zwei  Ins 
s,'chs  Oesen  einer  sehr  stark  verdünnten  Kultur  noch  immer  eine 
"cim  auch  geringe  Zahl  von  Kolonien  aufging.  Daß  der  Formalin- 
"chalt  im  Liquor  tatsächlich  bakterizid  wirkte,  bewiesen  die 
Eontrollversuche,  wobei  die  Platten  jedesmal  mit  Kolonien  übersät 
waren . 


Aus  den  Versuchen  der  Vortragenden  ergibt  sich  also,  daß 
man  durch  V'  o  r  behänd  lung  mit  Urotropin  die  Gefahr  der  operativen 
Meningitis  wenigstens  bei  geringen  Infektionen  entschieden  herab¬ 
setzen  kann. 

v.  L  r  am  an  n  -  Halle :  Ueber  Hirnchirurgie,  speziell 
weitere  E r La h r u rüg e n  mit  dem  Balkens  ti  c  h.  Statistik 
über  die  mittels  seines  vor  drei  Jahren  angegebenen  Balkenstiches 
operierten  Fälle.  Die  Zahl  der  Operationen  ist  53,  ohne!  einen  auf 
diesen  zurückführbaxen  I  odesfall.  Es  handelt  sich  um  Tumoren, 
Hydrozephalus,  einige  Fälle  von  Epilepsie,  Lues  cerebri  usw.  In 
den  meisten  Fällen  bestand  Stauungspapille  bis  zu  vier  Dioptrien, 
die  infolge  des  Eingriffes  zum  Teil  dauernd  schwand.  Auch  die 
anderen  Symptome  (Coma,  Bewegungsstörungen,  Kopfschmerzen, 
Erbrechen)  wurden  in  einem  großen  Prozentsatz  dauernd  oder  auf 
lange  Zeit  gebessert. 

Die  Methode  findet  ihr  Anwendungsgebiet  bei  Hydrocephalus 
internus  und  dem  daraus  resultierenden  Hirndruck.  Auch  dia¬ 
gnostisch  hat  sie  sich  wertvoll  erwiesen,  teils  direkt,  teils  dadurch, 
daß  die  lokalen  Symptome  deutlicher  wurden  in  dem  Maße,  wie  die 
A 1 1  gerne  i  ns  y  mp  to  me  zurücktraten. 

Payr- Königsberg  berichtet  über  seine  Erfahrungen  mit  Ven¬ 
trikeldrainage  bei  Hydrozephalus.  Er  hat  diesen  Eingriff 
nn  ganzen  18mal  zur  Ausführung  gebracht,  lömal  hei  Wasserkopf, 
3 mal  bei  anderen  mit  Drucksteigerung  in  den  Hirnkammern  einher¬ 
gehenden  Zuständen  (Epilepsie,  Idiotie  usw.).  Payr  hat  das  von 
ihm  1908  angegebene  Verfahren  der  Drainage  gegen  den  Hini- 
blutleiter  in  der  W  eise  abgeändert,  daß  das  Hinterhorn  der  Gehirn¬ 
seitenkammer  durch  eine  paraffinierte,  mit  Formalin  vorbehandelte 
Arterie  und  eine  darübergezogene  menschliche  Vena  saphena 
mit  der  Vena  jugularis  interna  oder  Vena  facialis  communis  in 
Verbindung  gebracht  wird.  Diese  „Wasserleitung“  verläuft  in  einem 
Subkutankanal  vom  Hinterhaupt  zur  seitlichen  Halsgegend.  Die 
Einpflanzung  in  die  venösen  Halsgefäße  geschieht  durch  Gefäßnaht 
oder  Ligatur  über  die  widerstandsfähige,  gehärtete  Arterie.  Der 
Abfluß  des  Liquors  muß  tropfenweise  erfolgen.  Die  Ableitung  gegen 
die  venöse  Blutbahn  hat  Payr  8mal  gemacht,  in  den  anderen 
Fällen  andere  (subarachnoideale,  subtemporale)  Drainägeverfahren 
stets  mittels  transplantierter  Blutgefäße  benützt. 

Unter  den  18  Drainagen  kamen  sieben  Todesfälle  vor,  deren 
Ursachen  zu  rasches  Abfließen  der  Flüssigkeiten,  Primär-  (lrnxl), 
Sekundärinfektion  durch  eine  Liquorfistel  war.  In  drei,  bzw.  vier 
Fällen  von  Hydrozephalus  kann  man  von  einem  dauernden 
und  in  jeder  Hinsicht  befriedigenden  Erfolg  sprechen. 
Das  Verfahren  scheint  besonders  dann  am  Platze  zu  sein,  wenn 
es  sich  um  die  Abfuhr  größerer  Flüssigkeitsmengen  aus  dem 
Schädel  handelt,  während  bei  plötzlichen  Drucksteigerungen  inner¬ 
halb  der  Hirnkammern  der  Balkenstich  Gutes  zu  leisten  scheint. 

Payr  stellt  zwei  mit  Ventrikeldrainage  behandelte  Kinder  vor. 

Kausch-Schöneberg  zeigt  an  Abbildungen  den  günstigen 
Einfluß  wiederholter  Lumbalpunktion  auf  den  Hydrozephalus. 

III.  Hauptthema.  / 

Lexer:  Ueber  freie  Transplantationen. 

Seit  40  Jahren  ist  auch  die  deutsche  Chirurgie,  nachdem 
Reverdin  die  Anregung  gegeben,  bemüht,  die  Verwendbarkeit 
freier  Gewebsverpflanzungen  auszubilden,  Epidermislappen,  be¬ 
kanntlich  zur  raschen  Ueberhäutung  großer  Wunden  ausgezeichnet 
verwertbar,  eignen  sich  weniger  für  Schleim  hautdefekte,  gar  nicht 
innerhalb  des  Körpers,  wie  z.  ß.  bei  Duradefekten. 

Die  Hautverpflanzung  mit  oder  ohne  Fettschicht,  gleich¬ 
gültig  von  welcher  Form  und  Größe  der  Lappen,  hat  sich  überall 
bewährt.  Nur  innerhalb  des  Körpers,  zum  Ersätze  des  Bauch¬ 
oder  Brustfelles  und  der  Gelenkskapseln  eignet  sie  sich  nicht. 
Die  Blutstillung  der  Wunde  ist  wichtig.  Am  besten  läßt  man  sie 
bluten,  bis  sich  Gerinnsel  bilden  und  drückt  diese  fest  auf  die 
Wunde,  der  dann  entstehende  Fibrinbelag  ist  gleichzeitig  wichtig 
als  Klebestoff.  Die  Heteroplastik  ist  gänzlich  ungeeignet.  Ueber 
die  Homoplastik  herrschen  in  der  Literatur  die  verschiedensten 
Angaben.  Nach  Lexers  Versuchen  am  Menschen  mit  frischem 
homoplastischen  Materiale  gab  es  nur  bei  Verwendung  von  fötaler 
Epidermis  einen  vorübergehenden  Erfolg.  Fremde  Epidermis  oder 
Hautlappen  verfallen  der  Gangrän  oder  heilen  scheinbar  an,  werden 
aber  in  der  dritten  Woche  durch  Eiter  mit  kräftigen  Granulationen, 
ähnlich  der  Fremdkörpereiterung,  abgestoßen. 

Es  gibt  auch  eine  eiterlose  Losstoßung.  Die  Narbe  überhäutet 
sich  wie  bei  der  Schorfheilung.  Schließlich  kommt  eine  Ab¬ 
schilferung  der  Epidermis  bei  scheinbar  angeheilten  Hautlappen 
vor,  welche  allmählich  durch  narbige  Substitution  verschwinden. 
Nur  die  Epidermislappen  vom  Fötus  heilen  an  und  wachsen, 
verschwinden  aber  später. 

Die  entgegengsetzten  Angaben  der  Literatur,  die  sich  auch 
auf  Leichenhaut  beziehen,  müssen  auf  Täuschungen  beruhen. 


694 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  19 


Rassenunterschiede  machen  sich  insofern  geltend,  daß  hei 
gleicher  Rasse  homoplastische  Hautlappen  narbig  ersetzt  werden, 
von  anderer  Rasse  sich  eitrig  abstoßen.  Homoplastische  Verpflan¬ 
zungen  von  Blutsverwandten  sind  Lexer  am  Menschen  nicht 
begegnet. 

Schheimhauttransplantationen  sind  bei  Homo¬ 
plastik  ebenso  erfolglos,  hei  Autoplastik  hat  man  mit  Infektionen 
zu  kämpfen.  Für  Harnröhrendefekte  eignet  sich  nach  einem  vor¬ 
gestellten  Falle  ausgezeichnet  die  Verwendung  des  Wurmfort¬ 
satzes  desselben  Kranken,  wenn  man  die  Serosa  vorher  abzieht. 
Versuche,  Darmabschnitte  mit  Hilfe  der  Gefäßkraft  zum  Ersatz 
der  Speiseröhre  zu  verpflanzen,  sind  aussichtslos. 

Die  Fetttransplantation  hat  sich  klinisch  als  Auto¬ 
plastik  selbst  bei  großen  Transplantaten  gut  bewährt:  zur  Unter¬ 
polsterung  eingesunkener  Stellen  des  Gesichtes,  der  Glieder,  der 
Mamma  und  zur  Ausfüllung  der  Augenhöhle:  zur  Verhinderung  von 
Verwachsungen  getrennter  Knochenflächen  (auch  bei  Myositis  ossi¬ 
ficans),  der  Hirnoberfläche  mit  dem  Knochen,  ferner;  auch  zur 
Umscheidung  gelöster  und  genähter  Nerven  und  Sehnen. 

Muskeln  und  Nerven  sind  selbst  bei  Autoplastik  wenig 
geeignet.  Weitere  Untersuchungen  haben  festzustellen,  ob  bei 
Nervenautoplastik  eine  raschere  Regeneration  eintritt. 

Gefäßtransplantationen  sind  auf  Grund  der  Gefä߬ 
naht  möglich  geworden.  Den  ersten  Versuch  am  Menschen  hat 
Lexer  vor  vier  Jahren  berichtet.  Der  hier  ausgeführte  Versuch, 
ein  Stück  der  Vena  saphena,  desselben  Patienten  in  einen  Ar- 
teriendefekt  zu  setzen,  gilt  auch  heute  noch  als  der  erfolgreichste. 
Die  Gefäßhomoplastik  gibt  zwar  klinische  Erfolge,  aber  nur  durch 
Substitution  des  Gefäßstückes  aus  der  Nachbarschaft  und  eignet 
sich  für  klinische  Versuche  wegen  leicht  eintretender  Thrombose 
weniger  als  die  Autoplastik.  Abgesehen  von  der  Erhaltung  der 
Zirkulation  durch  Verpflanzung  von  Venenstücken  in  Arterien 
kann  man  Gefäße  zum  Ersätze  von  Harnröhrendefekten  verwenden. 
Versuche,  die  Harnleiter  damit  plastisch  zu  ersetzen,  sind  zu 
wiederholen  u.  zw.  unter  Vermeidung  des  Durchfließems  von  Urin. 
Für  Nervendefekte  eignet  sich  der  autoplastische  Ersatz  mit  Venen¬ 
stücken  nach  eigener  klinischer  Erfahrung  sehr  gut,  weniger  für 
Sehnendefekte. 

Faszienverpfl  an  zungen  haben  sich  zu  den  verschie¬ 
densten  Zwecken  bewährt,  auch  die  Per Lo^Lver pflanzung. 

Die  freie  Sehnen  Verpflanzung  zeigt  einen  wichtigen 
Unterschied  im  Verhalten  bei  gänzlicher  Ruhe  und  bei  früher 
funktioneller  Inanspruchnahme.  Bei  ersterer  tritt  bindegewebige 
Substitution  ein.  Wegen  fester  Verwachsung  mit  der  Umgebung 
gelingt  es  so,  wichtige  Bänder  zu  ersetzen.  Bei  früher  Funktion 
bleibt  die  Verwachsung  mit  der  Umgebung  aus,  und  der  funk¬ 
tionelle  Reiz  regt  eine  Wucherung  des  mitverpflanzten  Peritoneums 
an,  wodurch  zugrunde  gehende  Fasern  regeneriert  werden.  Auf 
diese  Weise  ist  der  Ersatz  von  Sehnen  und  von  Sehnendefekten 
z.  B.  nach  eitriger  Zerstörung  an  den  Fingern  möglich.  Es  wird 
in  solchen  Fällen  von  kleinen  Schnitten  aus  die  Haut  unter¬ 
miniert,  um  die  Ersatzsehne  einzufügen.  Als  Material  dient  hiezu 
der  Palmaris  longus  vom  selben  Patienten.  Homoplastische  Ver¬ 
pflanzungen  nicht  zu  dicker  Sehnen  gelingen  ebenfalls.  Die  Me¬ 
thoden  sind  klinisch  und  experimentell  festgestellt. 

Das  Bauchfell  wurde  in  Form  von  Bruchsack  und 
Ilydr okelenhaut  zum  Ersätze  von  menschlichen  Duradefekten 
vergeblich  verw endet,  da  es  Schwielen  und  Verwachsungen  gab. 
Normales  Bauchfell  verhielt  sich  in  Experimenten  nicht  besser, 
ebensowenig  Netz. 

Freie  Knochenverpflanzungen  sind  ein  großes  und 
dankbares  Feld.  Namentlich  mit  frischen  periostgedeckten  Kno¬ 
chen,  die  man  aus  amputierten  Gliedern,  bei  großer  Vorsicht 
auch  von  Leichen,  gewinnen  kann.  Totem  Knochen  sind  sie 
bei  weitem  vorzuziehen.  Die  Knorpelfuge  erhält  sich  bei  Ver¬ 
pflanzung  großer  Knochenstücke,  ohne  im  Experimente  Wachs¬ 
tumsstörungen  zu  zeigen. 

Knorpeltransplantation e n  haben  sich  auch  bei  Homo¬ 
plastik  zur  Einlagerung  eingesunkener  Stellen  des  Gesichtes  oder 
zwischen  Gelenksflächen  gut  bewährt,  ebenso  die  freie  Verpflan¬ 
zung  der  Ohrmuschel  und  des  Gelenksknorpels. 

Gelenks  Verpflanzung  en  aus  amputierten  Gliedern  oder 
aus  frischen  Leichen  geben  gute  Erfolge.  Sogenannte  halbe  Ge¬ 
lenksverpflanzungen,  d.  h.  eines  beliebig  großen  Röhrenknochen¬ 
abschnittes  samt  Gelenkskopf  gibt  sehr  gute  Beweglichkeit,  da  in 
diesen  Fällen  Muskeln  und  Sehnen  gut  erhalten  sind.  Auch  die 
ganze  Gelenkstransplantation  hat  sich  als  gut  einheilendes  und 
unter  Anpassung  der  Form  substitutionsfähiges  Material  bewährt, 
im  ältesten  Lexerschen  Fälle  (Kniegelenk)  3V2  Jahre  nach  der 
Operation,  nur  ist  in  solchen  Fällen  mit  dem  stark  atrophischen 
Muskelapparat  und  mit  der  Zerstörung  von  Sehnen  und  Muskeln 


zu  kämpfen.  Ein  Kniegelenk  hat  Lexer  einem  Hingerichteten 
8  Stunden  nach  dem  Tode  entnehmen  und  seit  5  Monaten  fislel- 
los  einheilen  können. 

Der  Versuch,  g  anze  Extr  ein  bäten  zu  verpflanzen,  reizt 
wohl  technisch  und  kann  manche  Transplantationsfrage  beant¬ 
worten,  hat  aber  wenig  Aussicht  auf  Erfolg,  namentlich  da  für 
die  Muskulatur  alle  die  Ursachen  gegeben  sind,  welche  zur  ischämi¬ 
schen  Muskelkontraktur  führen. 

Bei  den  Organtransplantationen  handelt  es  sich  klinisch 
um  Homoplastik.  Die  Aussichten  sind  gering.  Bei  Organen  mit 
innerer  Sekretion  sind  wohl  die  klinischen  Wirkungen  nicht  aus¬ 
geblieben,  aber  der  langsame  Schwund  durch  Resorption  ist 
nach  experimentellen  Untersuchungen  die  Regel.  Ganze  Organe 
mit  Hilfe  der  Gefäßvereinigung  zu  verpflanzen,  ist  leider  nur 
bei  Autoplastik  geglückt.  Möglich  ist,  daß  bei  Versuchen  mit 
langdauernder  Blutmischung  durch  Parabiose  bessere  Erfolge  zu 
erzielen  sind,  um  die  biochemische  Zelldifferenz  zu  vermindern. 
Bezüglich  anderer  Wege  legt  die  Möglichkeit  der  Geschwulsttrans- 
plantation  auf  andere  Individuen  den  Gedanken  nahe,  daß  das 
verpflanzte  Organ  eine  genügende  Wachstumsenergie  und  eine 
hinreichende  Anpassungsfähigkeit  besitzen  muli  um  aus  dem 
fremden  Organismus  Nährstoffe  zu  entnehmen.^-  Weitere  Unter 
suchungen  haben’  zu  zeigen,  ob  es  gelingt,  die  vorhandene  bio¬ 
chemische  Differenz  des  Zelleiweiß  und  des  Serums  bei  Organ¬ 
homoplastik  auszuschalten.  Jedenfalls  wird  die  Ernährungsfähig- 
keit  durch  raschen  Anschluß  an  die  Zirkulation  und  durch  funk¬ 
tionellen  Reiz  außerordentlich  gefördert. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Programm 

der  am 

Freitag  den  12.  Mai  19x1,  um  7  lllir  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Regierungsrat  Prof.  Dr.  Alois  Kreidl 

stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

Primararzt  Priv.-Doz.  Dr.  R.  Breuer:  Klinische  Beobachtungen! 
an  Herzkranken. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  K.  Uli  mann,  A.  Kron- 
feld,  F.  Dimmer,  v.  Fürtli  u.  E.  Lenk,  M.  Sternberg. 

Um  die  reell tzeitijje  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen, 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerkungen 
dem  Schriftführer  noch  am  Sitzungsabeud  zu  übergeben. 

Bergmeister,  Paltauf. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  findet  im  Hörsaale  der  Klinik  N  e  u  s  s  e  r 
Donnerstag  (len  18.  Mai  1911,  um  7  Uhr  abends,  statt. 

(Vorsitz:  Hofrat  Prof.  v.  Neusser.) 

Programm: 

1.  Demonstrationsabend. 

2.  Demonstrationen  haben  angemeldet:  Priv.-Doz.  Dr.  Eppinger, 
Prof.  Dr.  H.  Schlesinger,  Dr.  Tedesko,  Dr.  R.  Bauer,  Priv.-Doz.  Doktor 
Kienböck. 

Das  Präsidium. 


Ophthalmologische  Gesellschaft  in  Wien. 

Programm  der  am  Wontag'  (len  15.  Mai  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Hörsaale  der  Klinik  Dimmer  stattfindenden  Sitzung. 

1.  Administrative  Sitzung. 

2.  Demonstration  der  neuadaptierten  I.  Augenklinik. 

Dr.  Richard  Krämer,  dz.  Schriftführer. 


fr 

Wiener  dermatologische  Gesellschaft. 

Einladung  zu  der  am  17.  Mai  1911  stattfindenden  Sitzung  (halb  6  Uhr 
abends,  Hörsaal  Klinik  Riehl). 

Tagesordnung: 

Demonstrationen  von  Kranken. 

Mucha  juu.  Finger. 


Verantwortlichsr  Redakteur  :  Karl  Knbasta.  Verlag  von  Wilhelm  Branmiiller  in  Wi«D. 

Druck  von  Bruno  Bartelt,  Wien  XVIII.,  Thoresien  nasse  8. 


( 


Wiener  klinische  Wochenschrifi 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr 

* '•  nass  aas  :■  trt  ■  - 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

*n,on  Freih.  ,  Eiseisberg.  Alexander  F™ke,.  Er;s,  Fuchs.  Julius  Hochenegg.  Ernst  Ludwig,  Edmund  ,  Neusser. 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlau  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  n.  Dniversitätsbuchhändler.  YIH/l,  Wickenburggasae  13.  Telephon  17.618. 


XXIV.  Jahrg. 


Wien.  18.  Mai  1911 


Origlualartikel :  1.  Ueber  Blinddarmentzündung  beim  Kinde 
Von  Pnv.-Doz.  Dr.  Hans  Salzer.  S.  695. 

Aus  dein  Institute  für  allgemeine  und  experimentelle  Pathologie 
in  Wien.  (Vorstand:  Hofrat  Prof.  Dr.  R.  Paltauf.)  Beitrag 
zur  mtravaskulären  Transplantation.  Von  Prof.  Dr  Geor«- 
Joann o vies.  S.  699.  ' 

Die  latente  Pyelonephritis  der  Frau  und  ihre  Beurteilung.  Von 
rriv.-Doz.  Dr.  Fritz  Kermauner,  Wien.  S.  698. 

Aus  dem  pathol.-anatom.  Institute  der  deutschen  Universität 
in  Prag.  (Vorstand:  Prof.  Dr.  A.  Ghon.)  lieber  die  Behandlung 
der  akuten  Infektionskrankheiten  mit  Salvarsan.  Von  Dr.  Franz 
Lucksch,  Assistenten  am  Institute.  S.  701. 

Aus  dem  pharmakologischen  Institute  der  k.  k.  Universität 
Wien.  Tierversuche  über  Hautreaktion.  Von  Dr.  Friedrich 
Luithlen.  S.  703. 

Aus  der  I.  Universitäts-Frauenklinik  in  Wien.  (Vorstand:  Hofrat 
fechauta.)  Zur  Pathologie  und  Klinik  des  malignen  Chorio- 


II. 


III. 


IV. 

V. 

VI. 

VII. 


epithelioma.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  F.Hitschmann  und  Doktor 
Robert  Cristofoletti.  (Schluß.)  S.  705. 

£?&nilicie  Ge?uu<lheitspflege :  Die  Notwendigkeit  eines 
Militarkurhauses  für  Lungenkranke.  Von  Prof.  Dr.  Th.  Pfeiffer 
Direktor  der  Heilstätte  Hörgas  (Steiermark).  S.  715. 

Referate:  Handbuch  der  Geschlechtskrankheiten.  Von  Finger 
Jadassohn,  Ehrmann,  Grosz.  Ref.:  Merk.  -  Die  Sprache 
c  es  Traumes.  Von  W.  Steckei.  Leitfaden  der  physiologischen 
Psychologie.  Von  Zielen.  Ref.:  Schilder  (Halle). 

Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

Sozialärztliche  Revue.  Von  Dr.  L.  Sofer.  S.  724. 

Vermischte  Nachrichten. 

Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßbericlite. 


lieber  Blinddarmentzündung  beim  Kinde.*) 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Hans  Salzer. 

Wenn  ich  es  heute  unternehme,  vor  Ihnen  über  Blind- 
armeutzündung  zu  sprechen,  also  ein  Thema  anzuschlagen, 
as  so  unendlich  oft  schon  durchgesprochen  und  durch- 
ear beitet  wurde,  so  dürfen  Sie  nicht  erwarten,  daß  ich  Ihnen 
lel  Neues  über  diesen  Gegenstand  bringen  werde,  Haupt¬ 
rund  meines  Vortrages  ist  vielmehr  der,  Ihre  Aufmerk - 
amkeit,  auf  eine  traurige  Tatsache  zu  lenken,  die  zwar 
uch  schon  lange  bekannt  ist,  die  aber  .meiner  Meinung 
ach  nicht  die  ihr  gebührende  Berücksichtigung  findet,  daher 
ei  uns  leider  noch  immer  zu  Recht  besteht;  ich  meine  die 
u  große  Sterblichkeit  der  Kinder  an  Blinddarmentzündung, 
v ährend  bei  Erwachsenen  durch  zielbewußites  Vorgehen 
ie  Mortalität  in  rascher  Folge  von  einigen  70%  bis  auf 
bis  4%  herabgedrückt  werden  konnte  —  Klimm  eil 
at  uns  im  vorigen  Jahre  sogar  berichtet,  daß  bei  den 
inerhalb  der  ersten  24  Stunden  Operierten  er  nur  mehr 
ne  Mortalität  von  0-5%  hatte  —  beträgt  die  Mortalität 
Kindern  an  Blinddarmentzündung  noch  immer  zwischen 
L  und  19,  ja  30%. _  Riedel  berechnete  im  Jahre  1907 
^  k  ?^ers^rklichkeit  an  Appendizitis  auf  13%,  während 
e  bei  Erwachsenen  2-9%  betrug.  Nur  wenige  Autoren 
innen  über  bessere  Resultate  berichten,  so  vor  allem  der 
menkaner  Deaver,  der  bei  500  Fällen  eine  Mortalität 
>n  40/0  hatte. 

„  .  *.)  Vortrag,  gehalten  in  der  Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

rzte  m  Wien  am  5.  Mai  1911. 


Mit  diesen  allgemein  gültigen  Zahlen  stimmen  auch 
die  Resultate  überein,  zu  denen  ich  bei  den  in  den  letzten 
vier  Jahren  an  meiner  Spitalsabteilung  behandelten  200 
fallen  von  Blinddarmentzündung  bei  Kindern  gelangte.  Von 
diesen  200  Fällen  wurden  35  ohne  Operation  entlassen, 
sogenannt  „geheilt“,  nachdem  es  ohne  Operation  eine  sichere 
Heilung  nicht  gibt.  Zwei  Fälle  starben  wenige  Stunden 
nach  dem  Spitalseintritt  und  163  Kinder  wurden  operiert. 
\  ou  diesen  starben  22.  Wir  hatten  also  nine  Gesamtmortali- 
tä!  von  12,  eine  Operationsmortalität  von  13-5%,  eine  er- 
scht eckend  hohe  Zahl,  wenn  man  bedenkt,  wie  nieder  im 
A  ergleiche  dazu  die  Zahlen  bei  den  Erwachsenen  sind. 

Seit  geraumer  Zeit  schon  sind  diese,  Tatsachen  be¬ 
kannt,  die  verschiedensten  Gründe  wurden  zur  Erklärung 
herangezogen;  ja,  man  ging  fast  schon  so  weit,  die  Blind¬ 
darmentzündung  der  Kinder  ganz  von  der  der  Erwach¬ 
senen  zu  trennen  und  als  eigenes  Krankheitsbild  aufzu¬ 
stellen. 

Ich  will  nun  in  Kürze  die  Erklärungsversuche  für  die 
größere  Kindersterblichkeit  an  Appendizitis  anführen,  die¬ 
selben  auf  Grund  des  untersuchten  Materiales  kritisch  be¬ 
leuchten  und  auf  diesem  Wege  der  Hauptursache  der  großen 
Kindersterblichkeit  bei  der  in  Rede  stehenden  Erkrankung 
näherzukommen  trachten. 

Da  sind  es  einmal  die  anatomischen  Verhältnisse  des 
kindlichen  Wurmfortsatzes,  die  für  die  Schwere  der  Er¬ 
krankung  ausschlaggebend  sein  sollen,  ein  Erklärungsgrund, 
der  sicherlich  nicht  von  vornherein  abgewiesen  werden 
kann.  Ist  ja  der  AVurmfortsatz  der  Kinder  relativ  bedeutend 


696 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  20 


größer  als  der  der  Erwachsenen.  Ribbert  sagt,  daß  die 
Länge  des  Wurmfortsatzes  bei  Kindern  den  10.  Teil,  bei  Er¬ 
wachsenen  dagegen  den  20.  Teil  der  Dickdarmlänge  aus- 
niache.  Nun  ist  es  klar,  daß  es  in  einem  relativ  längeren 
Blindsacke  leichter  zur  Sekretstauung  und  dadurch  zur  Ent¬ 
zündung  kommen  kann,  als  in  einem  kleineren.  Dem  muß 
aber  die  Weite  der 'Einmündungsstelle  in  das  Cökum  gegen¬ 
übergestellt  werden.  Bei  Kindern  geht  das  Cökum  trichter¬ 
förmig  in  die  Appendix  über.  Die  Kommunikationsöffnung 
ist  mithin  eine  relativ  weite  und  dadurch  können  Sekret¬ 
massen  leichter  aus  dem  Fortsatze  in  das  Cökum  geschafft 
werden,  während  beim  Erwachsenen  sich  der  Wurmfortsatz 
scharf  vom  Blinddarm  absetzt,  sein  Lumen  sogar  durch 
eine  Art  Klappenbildung  von  der  übrigen  Darmhöhl©  ab¬ 
gegrenzt  ist.  Allerdings  konnte  ,S  u  d  s  u  k  i  feststellen,  daß 
die  sogenannte  G  e  r  1  a  c  h  sehe  Klappe  keinen  Einfluß)  auf 
die  Passage  des  Dickdarminhaltes  nach  dem  Fortsatze  hin 
besitzt,  auch  nicht  die  Entleerung  des  Fortsatzes  selbst 
verhindern  kann.  Von  großer  Wichtigkeit  für  die  Patho¬ 
genese  der  Blinddarmentzündung  scheint  im  Verhalten  des 
lymphatischen  Apparates  zu  liegen.  Der  Wurmfortsatz  des 
Neugeborenen  entbehrt  vollständig  des  adenoiden  Gewebes. 
Die  Säuglingsappendizitis  ist  auch  eine  ungemein  seltene 
Erkrankung.  Schon  in  den  ersten  Lebensjahren  treten 
Lymphfollikel  in  der  Fortsatzwand  auf  und  werden  so  zahl¬ 
reich,  daß  der  Wurmfortsatz  mit  der  Tonsille  verglichen 
wurde,  um  dann  ungefähr  vom  30.  Lebensjahre  (angefangen 
zu  atrophieren.  In  die  Zeit  des  großen  Follikelreichtums 
fallen  auch  die  meisten  Erkrankungen  an  Blinddarmentzün¬ 
dung,  um  dann  in  rascher  Folge  wieder  abzunehmen. 
Rechnet  man  nun  das  Kindesalter  bis  zum  14.  Lebensjahre, 
so  sind  die  Erwachsenen  durch  dieses  anatomische  Verhalten 
des  lymphatischen  Apparates  in  gleicher  Weise  gefährdet 
wie  die  Kinder.  Nun  hat  aber  Albrecht  im  Jahre  1900 
auf  Verhältnisse  hingewiesen,  die  nur  dem  Wurmfortsätze 
des  Kindes  eigentümlich  sind  und  die  sicherlich  eine  Prä¬ 
disposition  für  das  Auftreten  der  Blinddarmentzündung  ab¬ 
geben.  Er  hat  an  Leichen  bis  zum  sechsten  Lebensjahre 
gezeigt,  daß  in  15%  der  Fälle  Lageanomalien  der  Appendix 
vorhanden  sind  u.  zw.  Anomalien,  die  durch  angeborene 
sekundäre  Verwachsungen  im  Sinne  Toldts  fixiert  sind. 
Durch  diese  ganz  zarten  Membranen  kommt  es  zu  scharfen 
Biegungen,  ja  sogar  zu  spitzwinkeligen  Abknickungen  des 
Wurmfortsatzes,  der  Inhalt  kann  datier  nicht  in  freier  Weise 
fortbewegt  werden,  gewiß  ein  Moment,  welches  mit  zur 
Blinddarmentzündung  führen  kann.  Im  Laufe  der  Jahre 
verschwinden  diese  zarten  Verwachsungen  und  werden  nach 
dem  fünften  oder  sechsten  Lebensjahre  kaum  mehr  gefun¬ 
den.  Diese  von  Albrecht  erwähnten  sekundären  Ver¬ 
wachsungen  bilden  also  nur  für  wenige  Jahre  eine  prädis¬ 
ponierende  Ursache  für  das  Zustandekommen  der  Blinddarm¬ 
entzündung  bei  Kindern  und  nur  in  dieser  Beziehung  können 
wir  es  gelten  lassen,  daß  anatomische  Verhältnisse  die 
Kinder  für  diese  Krankheit  empfänglicher  machen  sollen  als 
den  Erwachsenen.  Dieses  Verhalten  wird  aber  nur  in  einer 
ganz  verschwindend,  kleinen  Anzahl  von  Fällen  in  Rech¬ 
nung  zu  stellen  sein,  da  bekann  term  aßen  die  Blinddarm¬ 
entzündung  ganz  kleiner  Kinder  eine  ziemlich  seltene  Erkran¬ 
kung  ist  und  erst  vom  vierten  bis  fünften  Lebensjahre  an 
häufiger  auftritt,  in  diesem  Alter  aber  die  angeborenen  Ver¬ 
wachsungen  oft  nicht  mehr  nachzuweisen  sind.  Daß  der 
Wurmfortsatz  bei  Kindern  öfter  als  bei  Erwachsenen  im 
kleinen  Becken  liegt,  kann  für  die  Aetiologie  und  Patho¬ 
logie  der  Appendizitis  wohl  nicht  in  Betracht  kommen. 
Wir  können  also  in  den  verschiedenen  anatomischen  Ver¬ 
hältnissen  beim  Kinde  und  beim  Erwachsenen  keinen  ge¬ 
nügenden  Grund  finden  für  'die  große  Gefährdung  der  Kinder 
durch  die  Blinddarmentzündung. 

Als  weiteren  Grund  für  die  große  Gefährlichkeit  der 
Kinderappendizitis  wird  die  schwierige  Diagnosenstellung 
angeführt.  Da  die  Krankheit  'schwerer  als  beim  Erwachsenen 
zu  erkennen  ist,  kommen  die  Kinder  relativ  später  zur 
richtigen  Behandlung  und  Operation  und  datier  sind  die 


Heilungsaussichten  geringer.  Ich  glaube  nicht,  daß  die 
schwierige  Diagnosenstellung  an  diesem  sicher  vorhandenen 
Uebelstande  die  Schuld  trägt,  möchte  vielmehr  der  Meinung 
Spreng  eis  beipflichten,  daß  die  Diagnose  der  Blinddarm¬ 
entzündung  bei  Kindern  ebenso  leicht  oder  besser  gesagt, 
ebenso  schwer  ist  wie  bei  Erwachsenen.  Um  die  Worte 
Kümmels  zu  gebrauchen,  gibt  es  leider  kaum  ein  cha¬ 
rakteristisches  Symptom,  welches  mit  Sicherheit  die  Frage 
einer  Appendizitis  uns  annehmen  läßt,  wenigstens  in  den 
Anfangsstadien.  Das  gilt  sowohl  von  Erwachsenen,  als  auch 
von  Kindern.  Druckschmerz,  Bauchdeckenspannung,  Nach¬ 
weis  eines  entzündlichen  Tumors,  Verhalten  des  Pulses  und 

Ider  Temperatur,  sind  beim  Kinde  in  gleicher  (Weise  für  die 
Diagnosenstellung  zu  verwerten,  wie  beim  Erwachsenen. 
Dazu  kommt  aber  noch,  daß  manche  Umstände  (es  bewirken, 
daß  die  Untersuchung  beim  Kinde  leichter  gemacht  Werden 
kann  als  beim  Erwachsenen.  Wie  oft  mißglückt  uns  bei 

Ider  Dicke  der  Bauchdecken,  nur  irgend  etwas  bei  erwach¬ 
senen  Leuten  durchzutasten,  ein  Umstand,  der  bei  den 
Kindern  wegfällt.  Anderseits  ist  die  rektale  Untersuchung 
bei  Kindern  von  ganz  besonderem  Werte  und  leichter  voll¬ 
ständig  durchzuführen  als  bei  Erwachsenen,  das  kindliche  j 
Becken  ist  mittels  dieser  Untersuchungsmethoden  leicht  in 
allen  seinen  Teilen  abzutasten  und  gelingt  dies  auch  bei 
Säuglingen.  Bei  der  im  kindlichen  Alter  so  oft  sich  vor¬ 
findenden  tiefen  Lage  des  Wurmfortsatzes  gibt  diese  Unter¬ 
suchung  oft  ganz  eindeutige  Befunde.  Dazu  kommt  noch,  | 
daß  man  Balz  er  sicherlich  beistimmen  kann,  der  sagt,  | 
daß  die  Diagnose  der  Blinddarmentzündung  bei  Kindern 
leichter  zu  stellen  sei,  da  gewisse  differentialdiagnostische 
Bedenken  nicht  vorhanden  sind,  die  bei  Erwachsenen  zu 
fast  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  führen,  die  Diffe-i 
rentialdiagnose  zwischen  Blinddarmentzündung  und  Gallen- 
und  Nierensteinleiden,  der  Pyelitis  und  Oophoritis.  Die 
Meinung  Alsbergs,  daß  die  Diagnose  um  so  schwieriger 
sei,  je  kleiner  das  Kind  ist,  kann  richtig  sein;  daß  die 
Schwierigkeit  aber  soviel  größer  ist  als  in  vielen  Fällen  bei  j 
Erwachsenen,  ist  nicht  zuzugeben.  Ger, ade  bei  kleinen  Kin¬ 
dern  bis  zum  fünften  Lebensjahre  finden  wir  es  in  unseren 
Fällen  so  häufig  angeführt,  daß  das  rechte  Bein  im  Hüft¬ 
gelenke  gebeugt  gehalten  wurde,  ein  Symptom,  welches 
uns  oft  auf  die  richtige  Fährte  bringt  und  das  wir  bei  Er¬ 
wachsenen  lange  nicht  so  häufig  vorfinden.  Daß  gerade) 
bei  ganz  kleinen  Kindern  diese  Beugestellung  des  Beines 
vorgefunden  wird,  ist  wohl  dadurch  zu  erklären,  daß  durch 
die  früher  angeführte  tiefe  Lagerung  des  Wurmfortsatzes 
es  verhältnismäßig  leichter  zu  einer  Reizung  des  hinteren 
Peritonealblattes  mit  folgender  Beteiligung  der  Psoasscheide 
kommt.  Bei  Kindern  wird  die  Differentialdiagnose  zwischen; 
Appendizitis  und  zentraler  Pneumonie,  die  bekanntlich  so 
oft  mit  peritonealen  Erscheinungen  —  Bauchschmerz,  .Er¬ 
brechen,  Schmerzen  in  der  Ileocökalgegend  —  beginnt  und 
dann  zwischen  Appendizitis  und  anderen  Erkrankungen  des 
Intestinaltraktes  die  Hauptschwierigkeiten  darstellen.  Küm¬ 
mel  1  hebt  für  die  Diagnosestellung  der  kindlichen  Appen¬ 
dizitis  als  erschwerend  zwei  Umstände  hervor:  Einmal, 
daß  die  Kinder  keine  näheren  Angaben  machen  können 
und  dann,  daß  der  lokale  Druckschmerz  kaum  mit  Sicherheit: 
festzustellen  ist.  Ersteres  trifft  sicherlich  zu,  ist  jedoch 
nicht  so  schwer  in  Rechnung  zu  setzen,  nachdem  wir  ]a 
wissen,  wie  unsicher  öfters  die  Lokalisation  peritonealen 
Schmerzempfindung  ist.  Den  lokalen  Druckschmerz  dagegen) 
konnten  wir  in  fast  allen  unseren  Fällen  mit  großer  Sicher¬ 
heit  nachweisen,  auch  bei  ganz  kleinen  Patienten.  Aller-! 
dings  hatten  wir  nicht  Gelegenheit,  Kinder  unter  zwei  Jahren 
mit  Appendizitis  zu  behandeln.  Fassen  wir  daslEbengesaglc 
kurz  zusammen,  so  können  wir  sagen,  daß  die  besonderen 
Schwierigkeiten,  die  der  Diagnose  der  Appendizitis  im  Kin¬ 
desalter  entgegenstehen,  aufgewogen  werden  durch  Um¬ 
stände,  die  als  große  Erleichterung  der  Diagnosestellung; 
anzusehen  sind.  Die  größere  Schwierigkeit  der  Diagnose¬ 
stellung  kann  also  nicht  verantwortlich  gemacht  werden  hn 
die  größere  Mortalität  der  Kinder  an  Blinddarmentzündung. 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


697 


Als  dritter  Grund  für  die  größere  Kindersterblichkeit 
vird  der  progredientere  Verlauf  angeführt,  den  die  Erkran- 
urng  bei  Kindern  [nehmen  soll.  B  a  g  i  n  s  k  i,  Spieler  u.  a. 
iahen  darauf  hingewiesen.  Ob  dieser  Grund  zu  Recht  be¬ 
geht,  dürfte  wohl  isehr  schwer  richtig  zu  (beantworten  sein. 
Air  haben  bei  der  Untersuchung  der  operativ  entfernten 
Vurmfort sätze  alle  Stadien  der  Entzündung  auffinden 
ünnen,  wie  sie  für  den  Erwachsenen  beschrieben  sind,  von 
ter  Appendicitis  simplex  angefangen,  bis  zur  vollständigen 
iangrän  des  Fortsatzes;  teils  ragte  der  entzündliche  Wurm- 
ortsatz  frei  in  die  mit  Eiter  erfüllte  Bauchhöhle,  teils  war 
r  in  Pseudomembranen  eingebettet  und  nur  mit  Mühe  aus 
enselben  zu  isolieren.  Die  Zahlen,  zu  welchen  wir  auf 
<  rund  unserer  Fälle  gelangten,  scheinen  auf  den  ersten 
Rick  für  den  rascheren  Verlauf  der  Erkrankung  hei  Kin- 
,em  zu  sprechen.  Wir  hatten  unter  163  .Operationen  130, 
ie  im  Anfalle,  operiert  wurden.  58  davon  wiesen  eine 
’erforation  des  Wurmfortsatzes;  auf,  ein  Verhältnis,  welches 
mhl  sehr  hoch  zu  sein  scheint,  das  aber  fast  genau  den 
lahlen  entspricht,  zu  denen  Kümmell  auf  Grund  seiner 
alle  gelangt  ist;  er  hatte  im  Jahre  1909  unter  109  Früh- 
perationen  44mal  Gangrän  und  Perforation  des  Fortsatzes 
efunden.  Untersuchten  wir  aber  unsere  Fälle  genauer,  so 
eigt  es  sich,  daß  man  bei  106  von  diesen  163  Fällen  mit 
icherheit  nachweisen  konnte,  daß,  die  Erkrankung  schon 
iagere  Zeit  bestanden  hatte,  daßi  man  nicht  während  oder 
ach  der  ersten  Attacke  operiert  hatte,  sondern  nach  einer 
eihe  von  Anfällen.  106mal  konnten  Narben  im  Wurm- 
»rtsalze  oder  andere  Residuen  abgelaufener  Prozesse  ge¬ 
laden  werden.  Die  Schwere  der  Erkrankung  war  nicht 
nf  den  progredienteren  Verlauf  zurückzuführen,  sondern 
arauf,  daß.  die  Kinder  schon  zahlreiche  Anfälle  überstanden 
atten.  Vielleicht  wäre  in  einer  noch  größeren  Anzahl  von 
allen  dieser  Nachweis  zu  führen  gelungen,  hätten  wh¬ 
ile  Wurmfortsätze  in  Serienschnitten  untersuchen  können, 
er  raschere  Verlauf  der  Erkrankung  bei 
indem  kann  nicht  mit  Sicherheit,  wie  g e- 
agt,  bewiesen  werden,  mit  Sicherheit  kann 
ian  dagegen  sagen,  daß  die  Kinder  unter  ganz  all¬ 
eren  Umständen  u.  zw.  unter  viel  ungünstigeren  Umstän- 
3ii  zur  Behandlung  kommen  wie  die  Erwachsenen.  Von 
>3  Fällen  waren  8  Intervalloperationen,  17mal  wurde  gleich 
ich  Ablauf  der  Attacke  der  Wurmfortsatz  entfernt,  8mal 
urde  nur  eine  Abszeßinzision  gemacht  und  130mal  im 
nfalle  operiert.  Im  ganzen  konnten  106mal  Veränderungen 
tchgewiesen  werden,  die  auf  früher  abgelaufene  Anfälle 
m'ickzuführen  waren. 

Aus  diesen  Zahlen  und  Befunden  kann  man  ersehen, 
iß  im  allgemeinen  die  Kinder  zu  spät  zur  Behandlung 
anmen,  meist  erst  dann,  wenn  es  zu  schweren  Erschei- 
ingen  von  seiten  des  Peritoneums  gekommen  ist.  Die 
ichten  Attacken  werden  von  der  Umgebung  nicht  genügend 
lachtet,  wie  Sonnenburg  so  richtig  sagt,  mit  den  bei 
lodern  so  häufigen  Verdauungsstörungen  verwechselt, 
lese  leichteren  Attacken,  die  in  Form  der  chronischen 
inddarmentzündung  der  Kinder  verlaufen  und  deren  Be- 
hreibung  wir  in  ausgezeichneter  Weise  in  jüngster  Zeit 
o  m  b  y  verdanken,  sind  es,  denen  wir  nähertreten  müssen 
id  deren  richtige  Behandlung  gefordert  werdeai  muß,  um 
ai  den  Kindern  in  vielen  Fällen  wenigstens  die  lebens- 
‘drohlichen  Folgen  .schwerer  Peritonitiden  fernzuhalten. 

Diese  chronische  Appendizitis  der  Kinder  verläuft 
der  den  mannigfaltigsten  Formen.  Meist  handelt  es  sich 
n  blasse  Kinder  von  gelblichem  Hautkolorit,  die  Augen 
id  umrändert,  manche  sind  dagegen  auch  gut  gefärbt, 
aiptbeschwerden  sind  Verdauungsstörungen.  Die  Kinder 
iben  wenig  Appetit,  meist  trägen  Stuhlgang,  später  kommt 
zu  Erbrechen.  Besonders  das  zyklische  Erbrechen  der 
uder  läßt  an  Appendizitis  denken.  Nun  treten  auch  Ko-  j 
*en,  besonders  nach  den  Mahlzeiten,  auf,  die  rasch  ei  ri¬ 
tzen,  um  ebenso  rasch  wieder  zu  verschwinden.  Es 
illen  sich  iradiierte  Schmerzen  im  rechten  Beine  ein, 
e  Kinder  werden  mißmutig,  suchen  die  Einsamkeit  auf,  l 


manche  von  ihnen  neigen  zu  Ohnmächten  oder  leiden  an 
häufigeren  Kopfschmerzen.  Für  dieses  so  vielseitige  Krank¬ 
heitsbild  liegt  oft  der  Grund  in  einem  Wurmfortsätze.  Die 
Entfernung  desselben  macht  bisweilen  wie  mit  einem  Schlage 
manchmal  nach  kürzerer  oder  längerer  Zeit  diesen  ver¬ 
schiedenen  Leiden  ein  Ende  und  es  ist  eine  Freude  zu 
sehen,  wie  nach  der  Operation  diese  blassen,  mißmutigen 
Kinder  sichtlich  aufblühen. 

Auf  dieses  chronische  Leiden  muß  man  aber  auch 
darum  sein  ganz  besonderes  Augenmerk  lenken,  da  die 
subjektiven  und  objektiven  Krankheitserscheinungen  so 
häufig  in  geradezu  diametralem  Gegensätze  zu  den  patho¬ 
logischen  Veränderungen  des  Wurmfortsatzes  stehen,  ebenso 
wie  dies  von  allen  Autoren  beim  akuten  A p p endi z i ti s anf all 
beschrieben  wird.  Ich  hatte  Gelegenheit  gehabt,  an  meiner 
Abteilung  diese  Tatsache  in  besonders  lehrreicher  Weise 
auch  für  chronische  Appendizitis  bestätigt  zu  finden.  Es 
wurden  seinerzeit  fast  gleichzeitig  ein  13jähr.  Knabe  und 
ein  12jähr.  Mädchen  mit  schwerster  akuter  Osteomyelitis 
in  meine  Abteilung  eingebracht.  Beide  Kinder  blieben  mo¬ 
natelang  bis  zu  ihrer  vollständigen  Ausheilung  im  Spital, 
da  sie  von  auswärts  waren  und  nach  Ablauf  der  akuten  Er¬ 
scheinungen  nicht  ambulatorisch  behandelt  werden  konnten. 
Beide  Kinder  machten  eine  fast  ungestörte  Rekonvaleszenz 
durch.  Fünf  Tage,  nachdem  der  Knabe  in  bestem  Wohl¬ 
befinden  geheilt  entlassen  worden  war,  wird  er  mit  einer 
schweren  Blinddarmentzündung  eingeliefert.  Die  sogleich 
vorgenommene  Operation  erwies,  daß  es  sich  um  eine  dif¬ 
fuse  Perforationsperitonitis  handelte,  der  schwielig  verdickte 
Wurmfortsatz  war  an  der  Basis  perforiert,  der  Wurmfort¬ 
satz  selbst  durch  dicke,  schwartige  Adhäsionen  innig  mit 
der  Umgebung  verwachsen.  Im  Wurmfortsatz  befand  sich 
ein  großer  Kotstein.  Nach  vier  Wochen  konnte  der  Knabe 
endlich  definitiv  geheilt  entlassen  werden.  Auf  unsere  Nach¬ 
frage  bei  den  Pflegeschwestern  stellte  es  sich  heraus,  daß 
der  Knabe  während  seines  Spitalsaufenthaltes  hie  und  da 
über  leichte  Ueblichkeiten  geklagt  hatte,  die  jedoch  immer 
bald  wieder  verschwanden.  Wir  hatten  sein  blasses  Aus¬ 
sehen  auf  die  schwere  septische  Erkrankung  zurückgeführt, 
hatten  es  unterlassen,  das  Abdomen  des  Kindes  zu  unter¬ 
suchen  und  dadurch  den  Knaben  in  schwere  Lebensgefahr 
gebracht,  der  er  nur  durch  die  sogleich  vorgenommene 
Operation  entrissen  werden  konnte.  Als  sich  nach  der  Ope¬ 
ration  des  Knaben  herausgestellt  hatte,  daß.  er  während 
seines  früheren  Spitalsaufenthaltes  schon  an  chronischer 
Appendizitis  gelitten  hatte,  machten  die  Schwestern  Mit¬ 
teilung,  daß  auch  das  an  Osteomyelitis  erkrankte  Mädchen 
öfter  Uebelkeiten,  ja  ein-  oder  zweimal  sogar  erbrochen 
hatte.  Immer  dauerten  diese  Störungen  ihres  Wohlbefindens 
nur  wenige  Stunden.  Bei  der  Untersuchung  des  Abdomens 
zeigte  es  sich  mit  Sicherheit,  daß  auch  dieses-  Kind  an 
einer  chronischen  Appendizitis  leide.  Es  wurde  wenige 
Tage  später  operiert  und  ein  8  cm  langer;  ganz  in  Netz 
eingehüllter,  dicker,  entzündlich  geröteter  Wurmfortsatz  ent¬ 
fernt,  der  strotzend  mit  Eiter  gefüllt  war.  Nicht  gar  lange 
hätte  es  vielleicht  gedauert,  bis  auch  diese  Appendix  ge¬ 
platzt  und  eine  schwere  Peritonitis  verursacht  hätte.  In 
beiden  Fällen  lagen  also  schwere  pathologische  Verände¬ 
rungen  des  Wurmfortsatzes  vor  und  doch  war  es  in  den 
letzten  sieben  Monaten  nur  zu  ganz  geringfügigen  Störungen 
von  seiten  des  Darmkanales  gekommen,  Störungen,  die  nicht 
einmal  von  den  gutgeschulten  Pflegeschwestern  beachtet 
worden  waren. 

Die  Diagnose  der  chronischen  Appendizitis  ist  manch¬ 
mal  sehr  leicht,  bisweilen  wieder  kaum  zu  stellen,  wir 
finden  keinen  Druckschmerz,  keinen  Tumor,  keine  Muskel¬ 
spannung.  Da  hat  sich  mir  in  einer  Reihe  von  Fällen  ein 
Symptom  recht  gut  bewährt,  das  auf  das  Vorhandensein 
von  entzündlichen  Veränderungen  in  der  Blinddarmgegend 
schließen  läßt:  Es  ist  dies  ein  unter  den  zart  palpierenden 
Fingern  auftretendes  feines  Knistern,  welches  ganz  dem 
gleicht,  das  wir  bei  Hautemphysem  zu  finden  gewohnt  sind. 
Nach  mehrmaliger  Untersuchung  verschwindet  dieses  Sym- 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Nr.  20 


ptom,  um  nach  einiger  Zeit  wieder  hervorgerufen  werden 
zu  können.  Ich  habe  es  niemals  nachw eisen  können,  wenn 
bei  der  folgenden  Operation  keine  Veränderung  des  Fort¬ 
satzes  vorhanden  war.  Nachdem,  wie  gesagt,  die  Diagnose 
der  chronischen  Appendizitis  manchmal  nicht  sicher  zu 
stellen  ist,  so  kann  vielleicht  in  einigen  Fällen  dieses  Sym¬ 
ptom  auf  die  richtige  Spur  führen. 

Im  kurzen  will  ich  noch  auf  die  schon  von  anderen 
Autoren  aufmerksam  gemachte  große  Widerstandskraft  der 
Kinder  bei  Ueberwindung  der  Peritonitis  zu  sprechen 
kommen,  wenn  man  von  ganz  kleinen  Kindern  absieht, 
Spieler  und  besonders  Riedel  haben  diese  Tatsache 
betont,  die  mit  den  (Erfahrungen  auf  das  beste  übereinstimmt, 
die  wir  an  unserem  Materiale  machen  konnten.  Während 
Grilliert  für  die  in  der  preußischen  und  württembergi- 
schen  Armee  während  der  letzten  drei  Jahre  vorgekom¬ 
menen  Perforationsperitonitiden  nach  Appendizitis  eine  Mor¬ 
talität  von  31%  berechnet,  hatten  wir  unter  58  Perfora¬ 
tionsperitonitiden  10  Todesfälle  —  17-2%,  sicherlich  ein 
Beweis  für  die  große  Widerstandskraft  des  kindlichen  Or¬ 
ganismus  eitrigen  Peritonitiden  gegenüber. 

Fassen  wir  zum  Schlüsse  die  gewonnenen  Resultate 
kurz  zusammen,  so  können  wir  sagen :  Die  so  große  Kinder¬ 
sterblichkeil  an  Blinddarmentzündung  ist  nicht  auf  beson¬ 
dere  anatomische  Verhältnisse,  nicht 'auf  die  größere  Schwie¬ 
rigkeit  der  Diagnosestellung  und  auch  nicht  darauf  zurück¬ 
zuführen,  daß  bei  Kindern  die  Skolikoiditis  einen  progre- 
dienteren  Verlauf  nimmt,  sondern  auf  den  Umstand  zurück¬ 
zuführen,  daß  die  Kinder  noch  immer  zu  spät  der  zweck¬ 
entsprechenden  Behandlung,  das  ist  in  den  meisten  Fällen 
der  Operation  unterzogen  werden.  Wir  müssen  uns  daran 
gewöhnen  und  in  diesem  Sinne  auch  das  Publikum  auf¬ 
klären,  bei  den  verschiedenen,  durch  chronische  Appen¬ 
dizitis  verursachten  Symptomen  auch  wirklich  an  Appen¬ 
dizitis  zu  denken  und  in  dieser  Richtung  hin  zu  unter¬ 
suchen  und  dann  die  geeignete  Behandlung  einzuleiten. 
Wird  diese  Forderung  ebenso  energisch  durchgeführt  wie 
es  bei  den  Erwachsenen  der  Fall  ist,  so  kann  es  nicht 
ausbleiben,  daß  wir  auch  bei  Kindern  die  Mortalität  an 
Blinddarmentzündung  ebensoweit  herabdrücken  wie  bei  Er¬ 
wachsenen.  Ja,  ich  möchte  fast  sagen,  noch  energischer 
als  für  die  Erwachsenen  müssen  wir  die  Frühoperation 
der  Appendizitis  bei  Kindern  fordern,  einmal,  weil  man 
allgemein  gewohnt  ist,  die  Magen-  und  Darmstörungen  im 
Kindesalter  fast  als  etwas  Selbstverständliches  und  nicht 
als  ein  häufiges  Symptom  einer  ernstlichen,  lebensgefähr¬ 
lichen  Erkrankung  anzusehen  und  dann,  weil  wir  für  die 
Kinder,  die  kein  Bestimmungsrecht  für  sich  haben,  denken 
und  sie  gegen  die  Indolenz  ihrer  Umgebung  schützen  müssen. 


Aus  dem  Institute  für  allgemeine  und  experimentelle 
Pathologie  in  Wien. 

(Vorstand :  Hofrat  Prof.  Dr.  R.  Paltauf.) 

Beitrag  zur  intravaskulären  Transplantation. 

Von  Prof.  Dr.  Cteorg'  Joamiovics. 

Auf  der  diesjährigen  Versammlung  der  deutschen  Ge¬ 
sellschaft  für  Chirurgie  teilt  F.  L  a  n  d  o  i  s  im  Anschlüsse 
an  das  Referatthema  über  Transplantationen  eine  Anzahl 
von  Versuchen  mit,  in  welchen  er  bei  Hunden  Epithel¬ 
körper  in  die  Blutbahn  transplantiert.  Die  Technik  seiner 
Experimente  besteht  darin,  daß  er  die  exstirpierten  äußeren 
Epithelkörper  in  die  Vena  jugularis  externa  einführt  und 
nach  Ablauf  von  14  Tagen  bis  drei  Wochen  die  inneren 
Epithelkörper  entfernt.  Bei  elf  Hunden,  denen  auf  diese 
Weise  die  eigenen  äußeren  Epithelkörper  in  die  Blutbahn 
eingebracht  wurden,  verhielten  sich  sieben  auch  nach  Ent¬ 
fernung  der  inneren  Epithelkörperchen  vollkommen  normal, 
es  trat  bei  ihnen  keine  Tetanie  auf,  so  daß  L  a  n  d  o  i  s’ 
Annahme,  daß  die  Autotransplantation  der  äußeren  Epithel¬ 
körper  auf  embolischem  Wege  in  sieben  von  elf  Fällen 
gelang,  vollkommen  gerechtfertigt  erscheint.  Völlig  negative 


Resultate  ergaben  hingegen  analoge  Versuche  mit  Hornöc 
transplantation,  wo  also  äußere  Epithelkörperchen  eine 
anderen  Hundes  intravenös  eingebracht  wurden.  B< 
sieben  in  dieser  Weise  operierten  Tieren  trat  ausnahmslu 
nach  Exstirpation  der  eigenen  Epithelkörperchen  Tetani 
auf,  so  daß  von  einer  erfolgreichen  Einheilung  und  Fünf 
lionstüchtigkeil  der  Epithelkörperchen  bei  dieser  Versuch: 
anordnung  nicht  gesprochen  werden  kann.  Aus  diesen  Ve 
suchen  schließt  nun  L  a  n  d  o  i  s,  daß  nur  die  Autoplastil 
nicht  aber  die  Homöoplastik  von  Epithelkörperchen  in  di 
Blutbalm  auf  embolischem  Wege  gelingt. 

Da  ich  selbst  vor  drei  Jahren  mit  ähnlichen  Exper 
menten  mich  beschäftigte,  dieselben  aber  wegen  einer  z 
geringen  Anzahl  von  Versuchen  nicht  publizierte,  ersehen 
es  nicht  ungerechtfertigt,  dieselben  nunmehr  wiederzugebe 
und  ihr  Ergebnis  mit  den  Versuchen  von  Landois  z 
vergleichen. 

Meine  Versuche  führte  ich  an  Katzen  aus,  bei  dene 
ich  nicht  allein  Epithelkörper,  sondern  auch  Schilddrüse) 
gewebe  in  zerkleinertem  Zustande  in  die  Vena  jugular 
externa  einführte.  Hiebei  stellte  ich  mir  vor,  daß  die  a: 
Emboli  in  den  Lungengefäßen  zurückgehaltenen  Geweb 
partikelchen  nicht  ohne  weiteres  zur  Einheilung  gelange 
würden,  sondern  daß  es  notwendig  sei,  noch  gewisse,  <L 
Anheilung  und  das  Wachstum  des  eingeführten  Gewebe 
fördernde  Momente  in  die  Versuchsanordnung  einzufügei 
Zur  Transplantation  benützte  ich  aus  diesem  Grunde  Sclnl« 
drüsen,  welche  unmittelbar  vor  der  Injektion  Föten  gegtj 
das  Ende  ihres  intrauterinen  Lebens  entnommen  wurde) 
Die  mittels  Scheere  zerkleinerten  Schilddrüsen  wurden  dao 
in  einigen  Kubikzentimetern  Serum  einer  Katze  suspendiei 
welcher  24  Stunden  vor  dem  Aderlaß  die  Schilddrüs 
partiell  exstirpiert  worden  war.  Nach  Angabe  französisch« 
Autoren1)  enthält  nämlich  das  Serum  von  Tieren,  dem 
ein  Organ  partiell  entfernt  wurde,  24  Stunden  nach  ch 
Exstirpation  Stoffe,  die  bei  intravenöser  Injektion  an  g 
sunden  Tieren  Hypertrophie  des  entsprechenden  Organ«; 
auslösen.  Auf  diese  Weise  erhoffte  ich  eine  weitere  St( 
gerung  der  Proliferationsfähigkeit  des  transplantierten  er 
bryonalen  Schilddrüsen-  und  Epithelkörperchengewebes  i 
erreichen.  Endlich  injizierte  ich  die  zerkleinerten  Schil 
drüsen  intravenös  an  Katzen,  die  überdies  durch  einseitig 
Schilddrüsenexstirpaüon  vorbereitet  waren  und  so  im  eig 
nen  Serum  jene  Stoffe  enthielten,  die  eine  Förderung  d« 
Wachstums  im  Schilddrüsengewebe  bedingen  sollten. 

Meine  Versuche  gestalteten  sich  also  folgendertniaßei 
Am  ersten  Tage  wurden  einer  erwachsenen  Katze  dr 
Viertel  ihrer  Schilddrüse  operativ  entfernt.  24  Stundtj 
später  wurde  dieses  Tier  kräftig  zu  Ader  gelassen,  wälireij 
einem  zweiten  Tiere  eine  Schilddrüse  exstirpiert  wurd 
Dieses  Tier  war  das  eigentliche  Versuchstier;  ihm  wurde; 
am  dritten  Tage  die  frisch  entnommenen,  zerkleinert; 
embryonalen  Schilddrüsen  im  Serum  der  partiell  thyreoi 
ektomierten  ersten  Katze  suspendiert,  in  die  Vena  jugular 
externa  injiziert.  Acht  Tage  nach  dieser  ersten  Operati» 
wurde  der  Katze  die  zweite  Schilddrüse  exstirpiert.  W; 
die  Eiidieilung  der  intravenös  eingeführten  Thyreoide 
und  Parathyreoideateilchen  erfolgt,  dann  mußte  das  Ti 
auch  diese  zweite  Operation  symptomlos  überstellen. 

Von  vier  in  dieser  Weise  operierten  Katzen  starbt! 
zwei  48  und  72  Stunden  nach  der  totalen  Thyreoidektom 
unter  den  Symptomen  schwerer  Tetanie,  während  zw 
mehrere  Wochen  den  zweiten  Eingriff  überlebten  und  ,wä| 
rend  dieser  Zeit  ein  recht  interessantes  Krankheitsbild  zei 
ten.  Die  eine  Katze  ließ  im  unmittelbaren  Anschlüsse  fj 
die  Entfernung  der  Schilddrüse  keinerlei  Symptome  e 
kennen  und  verhielt  sich  durch  fünf  Wochen  völlig  norm; 
Zu  Beginn  der  sechsten  Woche  stellten  sich  Lei  ihr  ziemlio 

B  P.  Gar  not,  Sur  l’activitö  cytopoietique  du  sang  et  e 
Organes  reg6n6r6s  au  cours  des  regenerations  viscerales.  C.  R.  Soc.  bi 
61,  1906,  S.  463  und  Carnot  u.  Lelifevre,  Sur  l’activite  nepbi 
poietique  du  sang  et  du  rein  au  cours  des  regenerations  renales,  C. 
Acad.  des  Sc.  1907,  Bd.  144,  S.  718. 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


699 


plötzlich  deutliche  tetanische  Krämpfe  ein,  die  innerhalb 
zweimal  24  Stunden  trotz  interner  Verabreichung  von 
Thyreoidintabletten  zum  Tode  führten.  Bei  der  zweiten  biter¬ 
lebenden  Katze  trat  einen  Tag  nach  der  Thyreoidektomie 
deutliche,  aber  nicht  sehr  intensive  Tetanie  auf,  die  sich 
durch  interne  Medikation  von  Schilddrüsentabletten  so  gün¬ 
stig  beeinflussen  ließ,  daß  nicht  nur  die  einzelnen  Anfälle 
kupiert  wurden,  sondern  daß  in  den  folgenden  Tagen  die 
Krampfanfälle  an  Zahl  und  Intensität  abnahmen  und  schließi- 
lich  sechs  Lage  nach  der  zweiten  Operation  vollkommen 
sistierten,  so  daß  von  der  weiteren  Verfütterung  [des  Schild¬ 
drüsenpräparates  abgesehen  werden  konnte.  Das  Tier, 
welches  in  der  ersten  Woche  infolge  der  tetaniseben  Er¬ 
krankung  und  mangelhaften  'Ernährung  stark  abgemagert 
war,  erholt  sich  nun  rasch  und  verhält,  sich  die  folgenden 
drei  Wochen  völlig  normal.  In  der  fünften  AVoche  zeigt  die 
Katze  verminderte  Freßlust,  allmählich  zunehmende  Ab¬ 
magerung  und  stirbt  in  der  siebenten  Woche  nach  der 
schilddrüsenexstirpation  bis  zum  Skelett  abgemagert,  ohne 
während  dieser  Zeit  auch  irgend  welche  Zeichen  der  Tetanie 
■rkennen  zu  lassen.  Bei  der  Obduktion  dieser  zwei  Tiere 
wurde  speziell  auf  das  etwaige  Vorhandensein  von  akzes¬ 
sorischen  Schilddrüsen  geachtet  und  in  den  verschiedenen 
Jrganen,  namentlich  in  den  Lungen  nach  dem  intravenös 
■iuverleibten  Thyreoideagewebe  gefahndet.  Es  fand  sich 
dmr  weder  dieses,  noch  versprengte  Keime  von  Schild- 
Irüsengewebe. 

'Nach  dem  klinischen  Verlaufe  sehen  wir  bei 
lern  ersten  Tiere,  daß  nach  der  totalen  Schilddrüsen- 
•xfitirpation  das  transplantierte  Thyreoidea-  und  Parathyre- 
»idgewebe  die  Funktion  des  entfernten  Organes  zu  über- 
lehinen  vermag,  daß  demnach  die  Transplantation  als  ge¬ 
angen  zu  bezeichnen  ist.  Allerdings  erhält  sich  auch  dieses 
mf  dem  Wege  der  Blutbahn  transplantierte  Gewebe  nicht 
lauernd,  sondern  geht  nach  Ablauf  mehrerer  Wochen  zu- 
’iunde  und  bedingt  in  dem  einen  Falle  den  Symptomen- 
:omplex  des  Funktionsausfalles  der  Epithelkörperchen,, 
yährend  im  zweiten  Versuche  sich  mehr  das  Bild  einer 
achexia  strumipriva  entwickelt,  ln  diesem  Versuche  ist, 
s  auch  recht  interessant,  zu  sehen,  daß’  die  eingeheilten 
iewebsstücke,  als  anfänglich  die  Transplantation  noch 
uedit  so  weit  gediehen  war,  die  Funktionen  des  entfernten 
Irganes  nicht  vollkommen  übernehmen  konnten,  so  daß  auf 
ie  Thyreoidektomie  eine  Reihetetanischer  Anfälle  folgt,  die 
inerseits  durch  orale  Verabreichung  von  Thyreoidintabletten 
ich  günstig  beeinflussen  lassen,  anderseits  mit  zunehmen- 
or  Entwicklung  des  Transplantates  völlig  schwinden,  ln 
er  darauffolgenden  dreiwöchigen  Periode  besten  Wohl- 
efindens  des  Tieres  ersetzt  das  transplantierte  Gewebe 
ie  Epithelkörper  und  wohl  auch  die  Schilddrüse 1  voll- 
ommen.  Dieser  Erfolg  ist  aber  kein  dauernder,  denn 
creits  in  der  fünften  Woche  sehen  wir  das  Tier 
Imiagern  und  schließlich  kachektisch  zugrunde  gehen, 
o  daß  in  diesem  speziellen  Fälle  die  Annahme  nahe  liegt, 
aß  zwar  die  transplantierten  Epithelkörperchen  noch  funk- 
onslüchtig  waren,  daß,  aber  das  verpfropfle  Schikldrüsen- 
ewebe  nach  anfänglicher  progressiver  Entwicklung  sich 
ueder  zurückbildet. 

Vergleichen  wir  also  die  Versuche  Landois  mit,  Iden 
useren,  so  müssen  wir  sagen,  daß  mit  Hilfe  der  von 
nr  verwendeten  Versuchsanordnung  eine  i  n- 
f a  v  a  s  k  u  1  ä  r  e  Homöotrans  p  1  a  n  t  a  t  i  o  n  m  ö  g- 
'cdi  ist;  denn  während  sie  in  Landois’  Experi- 
lenten  in  sieben  Fällen  immer  versagte,  gelang  sie  mir 
i  vier  Versuchen  zweimal.  Dieses  günstigere  Resultat 
’•einer  Experimente  möchte  ich  weniger  auf  die  verschie- 
ene  Tierspezies  beziehen  —  Landois  arbeitete  an  Hun- 
en’  än  Katzen  —  als  vielmehr  auf  die  Verwendung 
mbryonalen  Gewebes,  auf  die  vorausgegangene  partielle 
clnlddriisenexstirpation  und  vielleicht  auch  auf  die  gleich- 
'hige  Einverleibu ng  Vines  Serums  von  einer  partiell  thyreoid- 
ktomierten  Katze,  Momente,  welche  die  Ansiedlung  und 
Qtwicklung  der  transplantierten  Gewebsteilchen  begün¬ 


stigen  können.  Allerdings  ist  die  so  erzielte  Homöotransplan¬ 
tation  auch  in  diesem  Falle  keine  dauernde. 

\  on  Interesse  ist  die  Beobachtung,  daß  in  dem  einen 
falle  durch  Schilddrüsendarreichung  die  an  die  Schild¬ 
drüsenexstirpation  sich  anschließende  Tetanie  zur  Aushei¬ 
lung  gelangte.  Dieser  Befund  ist  wohl  in  der  Weise  zu 
deuten,  daß  der  Organismus  mit  transplantierten  Epithel¬ 
körperchen  trotz  ihrer  Insuffizienz  sich  ganz  wesentlich 
unterscheidet  von  demjenigen,  in  welchem  nach  Exstirpation 
der  Epithelkörper  ein  völliger  Ausfall  ihrer  Funktion  einge- 
Ireten  ist,,  da  in  diesem  Falle,  wie  Pineies2)  zeigen, 
konnte,  trotz  mönafelanger  Verfütterung  von  getrockneter 
Epithelkörpersubstanz  die  Intensität  der  Tetanie  keine  Aen- 
derung  erfährt.  Diese  meine  Befunde  sprechen  auch  für 
die  Anschauung  B  i  e  d  1  s,3)  daß  durch  Schilddrüsenverfütte- 
lung  eine  Insuffizienz  der  Epithelkörper  sich  günstig  be¬ 
einflussen  läßt. 


Die  latente  Pyelonephritis  der  Frau  und  ihre 

Beurteilung. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Fritz  Kerniamier,  Wien. 

Es  ist  eine  bekannte  und  allgemein  anerkannte  Tat¬ 
sache,  daß  sich  die  Pyelonephritis  zwar  in  Form  von 
typischen  fieberhaften  Anfällen,  die  gewöhnlich  etwa  5  bis 
7  Tage  dauern,  klinisch  manifestiert,  daß  sie  jedoch  mit 
dem  Abklingen  eines  solchen  Anfalles  durchaus  noch  nicht 
geheilt  ist.  Sie  geht  in  die  latente  Form  über.  Wie  lange 
dieser  Zustand  dauert,  darüber  sind  vielleicht  noch  Dis¬ 
kussionen  möglich;  doch  spricht  sich  die  Mehrzahl  der 
Autoren  für  ziemlich  unbegrenzte  Dauer  aus. 

Sicherlich  ist  es  nur  auf  der  Basis  einer  Pyelonephrite 
latente  zu  erklären,  daß,  eine  Pyelonephritis  in  graviditate, 
die  z.  B.  in  der  ersten  Schwangerschaft  zum  Ausbruch 
gekommen  ist,  in  späteren  Schwangerschaften  —  mitunter 
in  jeder,  bis  zu  13mal  (Legueu)  innerhalb  von  26  Jahren  — 
rezidiviert.  Sie  muß  zwar  nicht  rezidivieren;  zur  Stütze 
dafür  haben  wir  beweiskräftige  Fälle  in  der  Literatur;  aber 
sie  scheint  es  mit  einer  gewissen  Vorliebe  zu  tun. 

Eine  durchaus  latent  verlaufende  Pyelitis  dürfte,  wie 
das  schon  mehrere  französische  Autoren  (Le  Brigand, 
B  r  e  d  i  e  r,  C  lia  m  p  e  t  i  e  r  de  R  i  b  e  s  usw,)  betont  haben, 
bei  flüchtiger  Untersuchung  nicht  so  selten  mit 'der  Schwan¬ 
gerschaftsniere  verwechselt  werden.  Meiner  Ansicht  nach 
ist  die  AT  e  p  h  r  o  p  a  t  h  i  ä  gravi  d  a  r  u  m  überhaupt,  nicht 
so  häufig,  als  dies  manche  neuere  Untersuchungen  annehmen 
lassen. 

Dieses  Rezidivieren  ist,  also  gewissermaßen  akten- 
nntßig  festgestellt,  ist,  außer  Zweifel ;  und  es  ist  ein  klinischer 
Beweis  für  die  außerordentlich  lange  Dauer,  für  die  Kon¬ 
tinuität  dei  Krankheit;  ein  Beweis,  der  um  so  notwendiger 
wird,  als  die  Zwischenzeit  gewöhnlich  ohne  subjektive  Be¬ 
schwerden  zu  verlaufen  pflegt.  Höchstens  vor  und  während 
der  Menstruation,  die  ja.  in  ihren  Wirkungen  lauf  den  Harn¬ 
apparat  ähnlich  zu  beurteilen  sein  dürfte  wie  die  Schwanger¬ 
schaft,  klingen  wieder  mehr  oder  weniger  lebhafte  "Er¬ 
innerungen  an  das  Leiden  an. 

Strittig  war  immer  nur  der  Anfang  des  Leidens  und 
die  Art  und  Weise,  wie  es  einsetzt,  der  Weg  der  Infektion. 
Die  Mehrzahl  der  deutschen  Autoren  hält  noch  bis  in  die 
letzte  Zeit  an  der  Möglichkeit  einer  von  der  Harnröhre  und 
Blase  aus  aszendierenden  Infektion  fest  (Lenhartz, 
Stöckel  usw.).  Das  häufige  Vorkommen  während  der 
Schwangerschaft,  wo  die  Auflockerung  der  Gewebe  be¬ 
günstigend  wirken  kann,  das  häufige  Vorkommen  beim  weib¬ 
lichen  Geschlecht  mit  seiner  kurzen  Urethra  überhaupt;  die 
Tatsache,  daß  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle 
Bacterium  coli  vorhanden  ist;  endlich  die  so  oft  bei 
Sektionen  nachweisbare  Kompression  und  Dilatation  der 


")  t1.  P  i  n  e  1  e  s,  Behandlung  der  Tetanie  mit  Epithelkörper- 

praparaten.  Arbeiten  aus  dem  neurol.  Institute  in  Wien  1907. 

3)  A.  Biedl,  Innere  Sekretion.  Wien  1910,  S.  51. 


700 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


Ureteren  (sei  es  nach  der  ursprünglichen  Auffassung  'durch 
den  Druck  des  Uterus,  sei  es  nach  der  modifizierten  durch 
Schwellung  der  Schleimhaut  in  der  Schwangerschaft,  oder 
gleichzeitige  Hypertrophie  der  histologischen  Wandelemente 
[Hof  bau  er]),  all  das  waren  sehr  plausibel  erscheinende 
Gründe.  Zu  erwähnen  wären  auch  noch  die  .Versuche  von 
Voelcker,  welche  direkt  den  Nachweis  bringen,  daß  es 
bei  Frauen  gelingt,  durch  Füllung  der  Blase  mit  Kollargol 
und  Pressenlassen  bei  zugehaltener  Urethralmündung  die 
Ureteren  zu  füllen.  Daneben  haben  allerdings  verschiedene 
Autoren  schon  seil  Jahren  (Küster,  französische  Autoren), 
von  der  Tuberkulose  ausgehend,  die  hämatogene  Infektion 
und  den  deszendierenden  Typus  gelehrt. 

Die  Geburtshelfer  haben  vielleicht  am  hartnäckigsten 
an  der  aszendierenden  Theorie  festgehalten.  Erst  in  den 
letzten  Jahren  bereitet  sich  auch  hier  allmählich  ein  Um¬ 
schwung  vor.  Al  beck  und  Mirabeau  haben  nachge¬ 
wiesen,  daß  der  Harn  in  den  Ureteren  Bakterien  enthält, 
während  in  der  Blase  keine  Veränderungen  nachweisbar 
sind.  Auf  der  einen  Seite  suchte  man  diesen  Umstand  zu¬ 
nächst  damit  zu  erklären,  daß:  die  Kolizystitis  sehr 
wenig  Erscheinungen  zu  machen  brauche;  andererseits 
wurde  schon  von  mehreren  Autoren  die  Folgerung  gezogen, 
daß  die  Pyelonephritis  auch  in  der  Schwangerschaft  auf 
hämatogenem  Wege  entstehe  (Mirabeau,  Rosinski, 
Fromm  e).  A 1  b  e  c  k  hat  sich  sogar  auf  den  Standpunkt 
gestellt,  daß  die  Infektion  nicht  erst  in  der  Schwängerschaft 
selbst  erfolgen  müsse,  sondern  derselben  sehr  oft  voraus¬ 
gehe  (ebenso  Al  bar  ran,  Legneu  u.  a.).  Die  übrigen 
Autoren  nahmen  jedoch  anscheinend  an,  daßi  die  Krank¬ 
heit  zu  irgendeiner  Zeit  der  Schwangerschaft  einsetze, 
ohne  noch  direkt  klinische  Symptome  zu  machen ;  durch 
das  Hinzutreten  einer  weiteren  Schädlichkeit,  als  welche 
z.  B.  die  Stauung  im  Ureier  infolge  Kompression  durch 
den  Uterus  figuriert,  kommt  es  erst  zur  Entwicklung  der 
akuten  Pyelitis. 

* 

Ich  habe  bereits  an  anderer  Stelle  darauf  hingewiesen, 
daß  in  der  Flut  der  Literatur  über  die  Pyelitis  die  Beob¬ 
achtungen  G  ö  p  p  e  r  t  s  an  Säuglingen  übersehen  worden 
sind.  Göppert  hat  uns  gezeigt,  daß  das  Krankheitsbild, 
welches  von  Es  che  rieh,  Trumpp  u.  a.  als  Zystitis 
und  nur  ab  und  zu  als  Pyelitis  der  Kinder  bezeichnet 
worden  ist,  eine  ausgesprochene  Pyelozystitis  zur  Grund¬ 
lage  hat.  Die  klinischen  Symptome  von  seiten  der  Niere 
sind  sehr  auffällig,  während  subjektive  Blasensymptome 
nur  äußerst  selten  nachweisbar  waren,  trotz  Miterkrankung 
derselben.  Blase  und  Ureteren  faßt  er  beim  Kinde  als  ein 
zusammengehöriges  und  auch  gemeinsam  erkranktes  System 
auf;  deshalb  der  Name  Pyelozystitis. 

Schon  im  frühen  Säuglingsalter  wird  die  Pyelozystitis 
beobachtet,  am  häufigsten  in  der  zweiten  Hälfte  des  ersten 
Lebensjahres;  und  zwar  nach  der  Statistik  Göp  ports 
etwa, 'zehnmal  Iso  oft,  als  das  Lenhartz  an  seinem  Material 
für  Erwachsene  festgestellt  hat.  Ein  großer  Teil  davon  heilt 
anscheinend  aus ;  aber  20  °/o  dieser  Pyelitiden 
rezidi  vieren  noch  in  der  späteren  Kindheit, 
u  n  d  zwar  selbst  dan  n,  w  e  n  n  der  II  a r  n  in- 
zwischen  schon  vollkommen  normal  g  e  w  o  r- 
d  e  n  war;  und  eine  ganze  Anzahl  von  Fällen 
ist  'selbst  nach  achtjähriger  Beobachtungs- 
d  auer  nicht  ausgeh  eil  t. 

Interessant  und  für  die  Aufklärung  der  Aetiologie  nicht 
unwichtig  ist  die  Tatsache,  daß  auch  bei  Göppert  89% 
der  Kranken  weiblichen  Geschlechts  waren.  Interessant  ist 
daneben  noch  die  auch  schon  von  Heubner,  Biller  usw. 
betonte  Tatsache,  daß  solche  Pyelitiden  besonders  häufig 
bei  Kindern  lauftreten,  die  eben  erst  eine  (leichte  Erkrankung 
anderer  Art,  z.  B.  Masern  oder  Varizellen  durchgemacht 
haben.  Bettruhe  [des  nur  leicht  erkrankten  Kindes  (begünstigt 
also  das  Zustandekommen  einer  Pyelitis,  Ich  möchte  daraus 
den  Schluß  ziehen,  daß  die  Masturbation,  die  wir  ja  bei 
Kindern  schon  int  frühesten  Lebensalter  sehen  und  speziell 


auch  in  der  Form  der  urethralen  Onanie  aus  der  reicher 
Kasuistik  von  Fremdkörpern  der  Blase  kennen,  die  ent 
scheidende  Rolle  spielt,  daß  es  also  doch  ein  im  wesenf 
liehen  aszendierender  Prozeß  ist.  Doch  ist  diese  Frage  fü 
uns  schließlich  von  nebensächlicher  Bedeutung. 

Göppert  spricht  schon  die  ganz  klar  formuliert« 
Vermutung  aus,  daß  solche  Fälle  später  bei  Gelegenhei 
von  Menstruation,  Schwangerschaft  oder  Wochenbett  neuer 
dings  rezidivieren  und  dann  als  neue,  primäre  Erkrankung 
imponieren  können;  letzteres  um  so  mehr,  als  der  Prozef 
in  der  Kindheit  keine  subjektiven  Symptome  zu  machet! 
pflegt  und  deshalb  auch  meist  unerkannt  geblieben  ist. 

Ich  schließe  mich  ihm  darin  vollständig  an;  und  zwaj 
nicht  etwa  nur  für  einzelne  Fälle,  für  welche  Opitz  vo 
sechs  Jahren  bereits  die  Möglichkeit  einer  schon  vor  de 
Schwangerschaft  bestandenen  Infektion  zugegeben  ha.tl 
sondern  für  alle  die  gewöhnlichen  Fälle  von  sogenannte 
Schwangerschaftspyelitis  möchte  ich  diese  ätiologische  Auf 
fassung  vertreten.  Das  Häufigkeitsprozent  dürfte  damit  un 
gefähr  übereinstimmen.  Ein  weiterer  Umstand  spricht  nocl 
in  diesem  Sinne.  i 

Die  bakteriologische  Untersuchung  hat,  wie  schon  erj 
wähnt,  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  Koli  eil 
geben.  Seltener  sind  Staphylokokken,  Streptokokken 
Proteus  und  andere  Bakterien,  noch  seltener  Gonokokken 
Auch  bei  den  Bakteriurien  -wurde  meist  Koli  gefunden.  Nu: 
hat  Zöppritz  gezeigt,  daß  das  Bacterium  coli  durch  de 
Ham  nicht  weiter  beeinflußt  wird,  daß  es  in  demselbe; 
ganz  gut.  wächst  und  sich  vermehrt,  während  der  Urin  fü 
andere  Bakterien  direkt  bakterizide  Eigenschaften  besitz. 
Damit  ist  eine  experimentelle  Stütze  beigebracht  für  dij 
Tatsache  einer  latenten  Kolipyelonephritis,  beziehungsweis 
einer  andauernden  Bakteriurie.  Die  theoretisch  erforderlich 
Beweiskette  ist  geschlossen;  wir  sind  für  die  Kolipyeliti 
—  sicherlich  nicht  für  andere  bakterielle  Formen1 —  berecl| 
tigt,  anzunehmen,  daß  die  Krankheit  schon  in  der  Kindhej 
einsetzen  und  nach  einem  langen  Latenzstadium  infolgj 
irgend  einer  interkurrenten  Schädlichkeit  mit  einem  akute 
Ynfall  wieder  zum  Ausbruch  kommen  kann. 

Als  solche  interkurrente  Schädlichkeit  —  nicht  all 
primäre  Ursache  —  müssen  wir  die  prämenstruelle  Bin 
anschoppung  im  Becken  ansehen;  Lenhartz  un 
Scheidemantel  haben  uns  gezeigt,  daßi  die  Pyeliti:: 
attache  zeitlich  mit  der  Menstruation  in  Verbindung  stehe 
kann.  Ja  es  scheint  mir  sehr  plausibel  und  wird  in  Zuküß 
beachtet  werden  müssen,  daß  die  Blasenbeschwerden  b(| 
der  Periode  junger  Mädchen  auf  derartige  latente,  nick 
recht  zum  Ausbruch  eines  Anfalles  kommende  Pyelitide 
zurückzuführen  sind  und  daßi  ebenso  die  mitunter  im  An 
Schluß  an  Erkältung  während  der  Periode  auftretende 
Pdasenkatarrhe  nur  neue  Eruptionen  der  schon  alten  Kranlj 
heit  vorstellen.  ;  . ..T  I 

Die  viel  wichtigere  interkurrente '  Schädlichkeit  find 
sich  jedoch  in  der  Schwangerschaft;  aber  eben  nur  a 
interkurrente  Schädlichkeit,  die  einen  akuten  Rückfall  au: 
löst,  nicht  als  Ursache. 

Die  Pyelitis  ist  demnach  keine  spezifische  Krankhe 
der  Schwangeren;  der  Name  Pyelitis  gravidarum  ist  streni 
genommen,  nicht  richtig,  man  kann  nur  von  einer  Pyelit 
in  graviditate  sprechen. 

* 

Den  klinischen  Beweis  für  die  Annahme  zu  e| 
bringen,  ist  nun  freilich  schwer,  so  lange  wir  nicht  üb(| 
eine  Reihe  von  Krankheitsbildern  vom  Anfang  bis  zie 
Ende  verfügen.  Wir  müssen  uns  damit  begnügen,  Moment 
aus  der  Anamnese  ausfindig  zu  machen,  welche  die  Aj 
sich!,  wenigstens  stützen  können. 

Ich  habe  an  anderer  Stelle  bereits  eine  Kranke’ 
geschichte  in  diesem  Sinne  kurz  zergliedert.  Dorf  handel 
es  sich  um  eine  Pyelonephritis  mit  akutem  Anfall.  Heu 
bin  ich  in  der  Lage,  über  einen  Fäll  zu  berichten,  der  a 
latente  Krankheit,  ohne  einein  akuten  Anfall  aus'zulösei 
zur  Beobachtung  gekommen  war. 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


701 


Dio  30jährige  Primigravida  hatte  ihre  letzte  Periode  am 
2(5.  Juli  1910.  Im  Juli,  zur  Zeit  der  Periode,  nur  eine  Viertel¬ 
stunde  dauernde  Blutung  mit  heftigen  Schmerzen,  angeblich  in¬ 
folge  von  Erkältung.  Es  wurde  damals  eine  Retro versio  uteri 
gefunden  und  der  Schmerz  damit  erklärt.  Im  November  oder 
Dezember  —  genau  weiß  es  die  Patientin  nicht  mehr  — -  acht 
Tage  nach  einem  Trauma  (dem  die  Patientin  übrigens  selbst 
keine  Bedeutung  beilegt)  in  der  rechten  Nierengegend,  sehr  starker 
Schmerz,  so  heftig,  daß  die  Patientin  heim  Atmen  behindert  war. 
Nach  einigen  Tagen  Besserung.  Im  Februar  1911  langsam  zu¬ 
nehmender  Harndrang;  der  Ilarn  zeitweise  trüb.  Seit  ca.  5.  März 
häufiger  ein  Druckgefühl  in  der  Niereng egenud  rechts.  Nie  Fieber. 

Die  Untersuchung  ergab  Mitte  März  eine  Schwangerschaft 
von  ca.  36  Wochen;  zweite  Kopflage,  Kopf  beweglich  über  dem 
Bi'ckeneingang.  -Zeichen  von  Rachitis.  Der  Harn  diffus  trüb: 
Reaktion  amphoter.  Im  Sediment  mäßig  viel  Leukozyten,  Platten- 
rpithelien  und  vereinzelt  runde  Epithelion ;  Stäbchen  in  mäßiger 
Menge.  Kein  Eiweiß  im  filtrierten  Harne. 

Die  Diagnose  auf  latente  Pyelitis  war  aus  diesem  Bild 
wohl  unzweifelhaft  sicher  zu  stellen. 

Natürlich  interessierte  mich  die  Entstehungsgeschichte 
derselben  und  ich  erfuhr  als  Ergänzung  zur  Anamnese, 
abgesehen  von  häufigen  Anginen  und  einer  von  da  aus 
ausgehenden  rechtsseitigen  Drüsenaffektion  und  chronischen 
Sehnenscheidenprozessen  nicht  tuberkulöser  Natur :  als 
Mädchen  hat  Pat.  dreimal  Masern  durchgemacht;  außerdem 
erinnert  sie  sich  jedoch  genau,  in  der  Schulzeit  einmal 
drei  Wochen  lang  wegen  eines  Darmkatarrhes  im  Bett  ge¬ 
halten  worden  zu  sein.  Ferner  gibt  sie  ganz  bestimmt  an, 
daß  sie  hei  der  Periode  regelmäßig  heftigen  Harndrang  und 
brennende  und  bohrende  Schmerzen  in  der  Scheide  be¬ 
merkt  habe.  Das  war  alles.  Ein  richtiger  Anfall  konnte 
nicht  festgestellt  werden.  Ueber  die  erste  Kindheit  weiß 
Pat.  nichts  anzugeben.  Die  Schmerzattacke  im  fünften  oder 
sechsten  Monat  der  Schwangerschaft  dürfte  wohl  ein  akuter 
Pyelitisanfall  gewesen  sein,  der  nur  verhältnismäßig  wenig 
Allgemeinerscheinunigen  machte,  doch  läßt  sich  nachträg¬ 
lich  mangels  jeder  Temperaturmessung  und  sonstigen  Be¬ 
obachtung  etwas  Bestimmtes  nicht  sagen. 

Auch’  in  Fdiesem  Falle  deuten  die  Erscheinungen ’darauf 
hin,  daß’  der  Prozeß;  schon  seit  Jahren  in  continue  besteht. 
Die  heftigen  Blasenbeschwerden  jedesmal  zur  Zeit  der 
Periode  sind  mir  ein  wichtiges  verdächtiges  Moment.  Ob 
rlor  Beginn  der  Krankheit  in  eine  von  den  Masernattacken, 
oder  in  die  Krankheit  des  siebenten  Lebensjahres,  oder  in 
eine  frühere  Periode  zu  verlegen  isU. —  ich  wage  es  nicht, 
mich  für  das  eine  oder  das  andere  mehr  auszusprechen. 

Wenn  auch  in  den  beiden  bisher  erbrachten  Kranken¬ 
geschichten  ein  strikter  Beweis  für  die  Kontinuität,  für 
das  Entstehen  des  Prozesses  in  der  Jugend  noch  nicht  er¬ 
bracht  ist,  so  sind  sie  mir  doch  willkommen*?  Stützen  für 
die  Auffassung.  Es  handelt  sich  mir  darum,  die  Aufmerk¬ 
samkeit  auf  diesen  Punkt  zu  lenken,  da  ich  selbst  nicht  im¬ 
stande  wäre,  in  Kürze  ein  beweiskräftigeres  Material  zu 
finden.  Hoffentlich  gelingt  dies  anderen  in  nicht  zu  langer 
Zeit.  Vielleicht  ergeben  sich  aus  der  Vakzinebehandlung ‘in 

dieser  Richtung  neue  Gesichtspunkte. 

* 


Für  die  Therapie  scheint  mir  die  Tatsache  des  Vor¬ 
kommens  einer  latenten  Pyelonephritis  von  gewissem  Belang. 
Zunächst  die  negative  Seite. 

Der  Geburtshelfer  ist  im  Allgemeinen  gewohnt,  bei 
Vorhandensein  geringer  Eiweißmemgen  im  Harn  sofort  an 
die  Schwangerschaftsniere  zu  denken  und  dementsprechend 
diätetische  Vorschriften  zu  machen,  unter  Umständen  auch 
sein  Vorgehen  in  der  Geburt  darnach  einzurichten.  Es 
wird  notwendig  sein,  in  Zukunft  der  Unterscheidung 
zwischen  der  Nephropathia  g  r  a  v  i  d  a  rum  und  einer 
latenten  Pyelonephritis  mehr  Aufmerksamkeit  zu  widmen. 
Denn  die  beiden  erfordern  eine  verschiedene  Beurteilung. 

Eine  andere  Frage  ist  es,  ob  die  latente  Pyelonephritis 
in  der  Schwangerschaft  einer  Behandlung  unterzogen  wer¬ 
den  soll.  Akute  Attacken  kommen  nicht  so  selten  vor.  Wenn 
man  erwägt,  daß  sie  immerhin  das  Allgemeinbefinden  recht 
arg  beeinflussen,  fdaß  sie  mitunter  zu  gefährlichen  Zuständen 


und  —  wenn  auch  selten  —  zum  Tode  geführt  haben,  daß 
also  die  Prognose  bis  zu  einem  gewissen  Grade  nicht  leicht 
genommen  werden  darf,  so  wird  sich  eine  interne  Behand¬ 
lung  mit  Urotropin  wohl  in  jedem  Falle  empfehlen.  Zudem 
wissen  wir,  daß  das  Urotropin  sehr  rasch  günstige  Wirkung 
entfaltet;  an  eine  wirkliche  Heilung  braucht  man  ja  nicht 
zu  glauben. 

An  und  für  sich  ist  auch  die  Idee,  daß  man  in  zweifel¬ 
haften  Fällen  mittels  einen  eigenen  Urotropi  n  ver¬ 
such  es,  also  gewissermaßen  ex  juvanlibus  zur  Sicher¬ 
stellung  der  Diagnose  nach  der  einen  oder  länderen  Richtung 
kommen  kann,  gar  nicht  von  der  Hand  zu  weisen.  Rasche 
Besserung  des  Harnbefundes  würde  entschieden  gegen  eine 
Nephropathia  gravidarum  sprechen.  In  diesem  Sinne  möchte 
ich  den  Urotropinversuch  einer  Prüfung  empfehlen.  * 

Eine  lokale  Behandlung  durch  Nierenbeckenspülungen 
halte  ich  jedoch  in  solchen  latenten  Fällen  während  der 
Gravidität  ebensowenig  für  indiziert  wie  im  Beginn  des 
akuten  Anfalles,  der  ja  auch  in  der  Schwangerschaft  im  all¬ 
gemeinen  ganz  typisch  innerhalb  einer  Woche  abzuklingen 
pflegt.  Erst  wenn  der  Anfall  länger  dauert,  oder  die  Er¬ 
scheinungen  besonders  schwer  werden,  kommt  ein  vor¬ 
sichtiger  Ureterenkatheterismus  und  wenn  dieser  erfolglos 
wäre,  eine  Spülung  des  Nierenbeckens  in  Befracht.  Bei  der 
latenten  Pyelitis  wird  eine  lokale  Behandlung  besser  erst 
nach  Ablauf  des  Wochenbettes  einsetz en. 

Literatur, 

Alb  ar  ran,  Les  signes  et  le  traitement  de  la  pyelonephrite  gra- 
vidique.  Ref.  Jahresbericht  f.  Geb.  u.  Gyn.  1907,  S.  324  —  A  1  b  e  c  k, 
Bakteriurie  und  Pvurie  bei  Schwangeren  und  Gebärenden.  Zeitschrift  f. 
Geburtsh.  u.  Gynäkol.  1907,  Bd.  55,  S.  466.  —  Biller,  Pydlonephrite 
morbilleuse.  Bulletin  med.,  17.  November  1909.  —  Br  edier,  Contribu¬ 
tion  a  l’6tude  de  certains  formes  de  pyelonephrite  au  cours  de  la  grossesse. 
Pyelonephrite  latente.  These  de  Paris,  1902.  —  Le  Brigand,  Contri¬ 
bution  k  l’etude  de  la  pyelonephrite  pendant  la  grossesse.  These  de  Paris 
1899/00.  —  Champetier  de  R  i  b  e  s,  La  Presse  m^d.  1904,  S.  102. 

-  F  r  o  m  m  e,  Diagnose  und  Therapie  der  Pyelitis  bei  Schwangeren  und 
Wöchnerinnen.  Die  Heilkunde  1910,  Nr.  4.  —  Göppert,  Ueber  die 
eitrigen  Erkrankungen  der  Harnwege  im  Kindesalter.  Ergebnisse  der 
inneren  Medizin  und  Kinderheilkunde  1908,  Bd.  2,  S.  30.  -  -  G  ö  p  p  e  r  t, 
Die  Pyelozystitis  des  Kindesalters.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1909,  S.  639. 

-  Hofbauer,  Histologische  Besonderheiten  der  Vagina  und  Blase 

während  der  Gravidität.  Monatsschr.  f.  Geb.  u.  Gyn.,  Bd.  28,  Heft  2. 
Kermauner,  Die  Nierenbeckenentzündung  in  der  Schwangerschaft. 
Der  Frauenarzt,  Mai  1911;  Zur  Beurteilung  der  Pyelonephritis  bei  Schwan¬ 
geren.  Zeitschr.  f.  gyn.  Urologie  1911,  Bd.  2,  Heft  6.  -  Küster,  Chi¬ 

rurgische  Krankheiten  der  Niere.  Deutsche  Chirurgie,  Lief.  52  b. 
Legueu,  Resultat,  eioigne  d’une  pyelonephrite  de  la  grossesse.  Annales 
de  gyn.  1907,  2.  Folge,  Bd.  4,  S.  743.  —  Lenhartz,  Ueber  die  akute 
und  chronische  Nierenbeckenentzündung.  Münch,  med.  Wochenschr.  1907, 
Nr.  16.  —  Mirabeau,  Monatsschrift  f.  Geb.  u.  Gyn.  1911,  Bd.  33, 
S.  193.  Siehe  auch  Zentralblatt  f.  d.  ges.  Therapie  1910  u.  Zentralblatt 
f.  Gyn.  1910,  Nr.  13.  —  0  p  i  t  z,  Die  Pyelonephritis  gravidarum  et  puer- 
perarum.  Zeitschrift  f.  Geb.  u.  Gyn.  1905,  Bd.  55.  -  Rosinski,  Pyelo¬ 
nephritis  gravid.  Nafurforscherversammlung  Königsberg  1910.  Ref.  Münch, 
med.  Wochenschr.  1910,  S.  2110.  —  Scheide  m  a  n  t  e  1,  Ueber  Pyelitis 
bei  Frauen  und  ihre  Beziehungen  zur  Menstruation.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1908,  Nr.  31.  —  Stoeckel,  Zur  Diagnose  und  Therapie 
der  Schwangerschaftspyelitis.  Zeitschrift  f.  gyn.  Urologie,  Bd.  1,  S.  43.  — 
Trumpp,  Ueber  Kolizystitis  im  Kindesalter.  Jahrbuch  f.  Kinderheilk., 
N.  F.,  Bd.  44,  S.  268.  —  Völcker,  Naturforscherversammlung  Königs¬ 
berg  1910.  —  Z  ö  p  p  r  i  t  z,  Ueber  bakterizide  Eigenschaften  des  Vaginal- 
sekretes  und  des  Urins  Schwangerer.  Monatsschr.  f.  Geb.  u.  Gyn.  1911. 
Bd.  33,  S.  276. 


Aus  dem  pathol. -anatom.  Institute  der  deutschen  Uni¬ 
versität  in  Prag.  (Vorstand:  Prof.  Dr.  A.  Ghon.) 

Ueber  die  Behandlung  der  akuten  Infektions¬ 
krankheiten  mit  Salvarsan. 

Von  Dr.  Franz  Luckscli,  Assistenten  am  Institute. 

Als  im  Sommer  1910  die  glänzenden  Erfolge  bekannt 
wurden,  die  bei  Behandlung  der  Syphilis  mit  Ehrlichs 
Präparat  606  erzielt  worden  waren,  schlug  ich  im  August 
1910  dem  Leiter  der  deutschen  chirurgischen  Klinik 
(Priv.-Doz.  Dr.  Rubritius)  vor,  die  Sepsisfälle  ebenfalls 
mit  606  zu  behandeln.  Maßgebend  war  dabei  für  mich  die 
Tatsache,  daß,  wie  K  r  e  i  b  i  c  h  festgestellt  hatte,  bei  der 
Quecksilberschmierkur  gegen  Lues  eine  Erhöhung  des  bak- 


702 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


teriziden  Titres  des  Blutserums  der  Behandlung  auch  gegen¬ 
über  anderen  Bakterien  slaLliindet.  Lagen  bei  der  Behandlung 
mit  Salvarsan  ähnliche  Verhältnisse  vor,  dann  konnte  man 
hoffen,  auch  andere  als  Spirochätenerkrankungen  mit  dem 
Mittel  erfolgreich  zu  bekämpfen  —  akute  Infektionskrank¬ 
heiten,  bei  denen  Rezidive  meist  ausgeschlossen  sind,  um  so 
erfolgreicher. 

Nach  Freigabe  des  Salvarsans  in  den  Handel  ging  ich 
sofort  daran,  die  Wirkung  des  Salvarsans  auf  'verschiedene 
pathogene  Bakterien  im  Tierkörper  und  im  Reagenzglas 
zu  prüfen. 

Hier  soll  heute  zunächst  nur  über  die  bis¬ 
herigen  Versuche  mit  pathogenen  Kokken  be¬ 
richtetwerden. 


I.  Reagenzglasversuche. 


Art  des 
Kokkus 

Dauer  der 
Einwirkung 
des 

Salvarsans 

Konzentration  des  Salvarsans 

Kontrolle 

0-2% 

04% 

0-05% 

Streptococcus 

pyogenes 

Streptococcus 

mucosus 

20  Stund. 

o 

0 

Wachstum 

- - - 

Wachstum 

24  Stund. 

0 

0 

0 

Wachstum 

Meningococc. 
in  traced. 

6  Stund. 

0 

0 

0 

Wachstum 

Diplococcus 
lanceolat., 
Stamm  I 

20  Stund. 

Wachstum 

Wachstum 

Wachstum 

Wachstum 

Dipl,  lanc., 
Stamm  II 

20  Stund. 

0 

0 

0 

Wachstum 

1 

Staphylococc. 
pyogenes, 
Stamm  I  \ 

»  II  / 

24  Stund. 

Wachstum 

Wachstum 

Wachstum 

Wachstum 

Es  zeigte  sich  also  schon  in  den  Reagenzglasver¬ 
suchen  eine  verschiedene  Einwirkung  des  Salvarsans  auf  die 
einzelnen  Kokkenarten;  einige  wurden  abgetötet,  andere 
nicht.  Von  den  zwei  Stämmen  des  Diplococcus  lanceolatus 
erwies  sich  der  zweite,  der  durch  Salvarsan  abgetötet  wurde, 
für  Kaninchen  nicht  virulent.  Bei  den  Staphylokokken, 
war  allerdings  zu  beobachten,  daß  das  Wachstum  der  mit 
Salvarsan  behandelten  Kulturen  gegenüber  den  Kontrollkul- 
turen  sehr  verzögert  war,  so  daß  das  der  letzteren  schon 
nach  sechs  Stunden,  das  der  ersteren  erst  nach  24  Stunden 
voll  entwickelt  war. 


II.  Tierexperimente, 
a)  Streptococcus  pyogenes.  (Tabelle  1.) 

Tabelle  1. 


Versuch  I 

Zeit 

31. /XII. 

8  Uhr  a.  m. 

Kaninchen,  grau, 
1720  g 

Kaninchen,  grau, 
mit  Knopf,  1885  g 

je  1  Bouillonkultur  Streptokokken, 
Stamm  Jaksch,  intraperitoneal 

5  Uhr  p.  m. 

001  Salvarsan 

1-/I- 

lebt 

t 

2./I. 

lebt 

3./I. 

f 

Versuch  11 

17. /I. 

Kaninchen, 

grau, 
1370  g 

Kaninchen, 
grau, 
1370  g 

Kaninchen, 

weiß, 

1370  g 

8  Uhr  a.  m. 

je  7  5  cm3  Bouillonkultur  Streptokokken, 
Stamm  Hoisik,  intraperitoneal 

11  Uhr  a-  m. 

001  Salvars. 

001  Salvars. 

6  Uhr  p.  m. 

lebt 

lebt 

t 

18./I. 

8  Uhr  a.  m. 

t 

f 

Versuch  III 

26. /I. 

4  Uhr  p.  m. 

Kaninchen, 

gelb, 

1240  g 

Kaninchen, 
schwarzweiß, 
1240  g 

Kaninchen, 
gelbweiß, 
1240  g 

je  7  cm3  Bouillonkultur  Streptokokken, 
Stamm  Epstein,  intraperitoneal 

5  Ühr  p.  m. 

001  Salvars. 

27. /I. 

lebt 

lebt 

lebt 

28./I. 

lebt 

t 

f 

30./I. 

lebt 

3./II. 

t 

Versuch  IV 

27./I. 

Kaninchen, 

grau, 

1130  g 

Kaninchen, 
weißgrau, 
1130  g 

Kaninchen, 
schwarz, 
1170  g 

9  Uhr  a.  m. 

je  15  cm3  Bouillonkultur, 

Stamm  Epstein,  intraperitoneal 

11  Uhr  a.  m. 

0  01  Salvars. 

28./I. 

lebt 

t 

t 

29./I. 

lebt 

4./II. 

t 

Versuch  V 

27./!. 

Kaninchen, 
gelbgrau, 
1230  g 

Kaninchen, 

grau, 

1230  g 

Kaninchen, 

gelbweiß, 

1220  g 

9  Uhr  a.  m. 

je  20  cm3  Bouillonkultur  Streptokokken, 
Stamm  Klima,  intraperitoneal 

11  Uhr  a.  m. 

001  Salvars. 

28./I. 

lebt 

lebt 

t 

29. /I. 

f 

lebt 

lebt  dauernd 

I 

Versuch  VI 

30. /I. 

Kaninchen, 

schwarzweiß, 
1420  g 

Kaninchen, 

gelbgrau, 
1400  g 

Kaninchen,  ! 

schwarz, 
1370  g 

1 1  Uhr  a.  m. 

je  20  cm3  Serumbouillon, 

Stamm  Epstein  II,  intraperitoneal 

11  Uhr  a.  m. 

0  015  Salvars. 

31. /I. 

t 

lebt 

f 

lebt  dauernd 

Versuch  VII 

31. /I. 

Kaninchen, 
1230  g 

gelb, 

Kaninchen,  grau, 

1220  g 

3  Uhr  p.  m. 

je  20  cm3  Serumbouillon, 

Stamm  Epstein  II,  intraperitoneal 

5  Uhr  p.  m. 

001  Salvarsan 

l./II. 

8  Uhr  a.  m. 

lebt 

t 

l./II. 

4  Uhr  p.  m. 

getötet, 

Peritoneum  glatt 
ohne  Exsudat. 
Kultur :  steril 

Abdomen  aufgetrieb. 
Reichliches  Exsudat. 
Kultur:  Streptococcus 
und  Bact.  coli 

Versuch  VIII 

4. /II. 

Kaninchen,  weißgr., 
1300  g 

Kaninchen,  weißgrau, 
1300  g 

9  Uhr  a.  m. 

je  25  cm3  Serumbouilion, 

Stamm  Epstein  II,  intraperitoneal 

11  */a  Uhr  a.  m. 

0012  Salvarsan 

5  Uhr  p.  m. 

lebt 

t 

10  Uhr  p.  m. 

t 

Versuch  IX 

4. /II. 

Kaninchen,  grau, 
1250  g 

Kaninchen,  schwarz¬ 
weiß,  1250  g 

9  Uhr  a.  m. 

je  23  cm3  Serumbouillon, 

Stamm  Epstein  II,  intraperitoneal 

IR/aUhr  a.m. 

001  Salvarsan 

I 

10  Uhr  p.  m. 

lebt 

t 

5. /II. 

12  Uhr  m. 

lebt, 

getötet. 

Im  Periton.  wenig 
Flocken.  Kultur: 
wenig  Streptokokken 
in  Reinkultur 

Peritonitis. 

Kultur: 

Streptokokken  rein, 
sehr  reichlich 

Uas  Salvarsan  wurde  stets  intravenös  gegeben  und  erhielt 
ich  dasselbe  in  gelöstem  Zustande  von  der  Klinik  Prof.  Krei- 
bich,  wofür  ich  auch  hier  meinen  Dank  ausspreche. 

Es  kann  demnach  bei  den  Streptokokkenversuchen  konsta 
tiert  werden,  daß  die  intravenöse  Behandlung  mit  Salvarsan 
'tie  tödliche  Infektion  entweder  ganz  aufhebt,  oder  wenigstens 
den  Tod  der  Versuchstiere  um  ein  Bedeutendes  verzögert,  ln 
günstigen  Fällen  wird  die  Bauchhöhle  des  Salvarsan tieres  schon 
nach  24  Stunden  steril  gefunden.  Diese  Befunde  ergeben  sich 
mit  Streptokokken  verschiedenster  Provenienz. 

b)  Diplococcus  lanceolatus. 

Die  mit  Pneumokokken  (Stamm  I)  tödlich  infizierten  Tiere 
konnten  durch  Salvarsan  Behandlung  bis  jetzt  nicht  am  Leben 
erhalten  werden. 

c)  Staphylococcus  pyogenes. 

Bei  den  Staphylokokkenversuchen  im  Tierkörper  zeigte  sich 
also  dasselbe  Verhalten  wie  bei  Streptokokken,  trotzdem  die 
Staphylokokken  in  vitro  nicht  abgetötet,  sondern  nur  in  ihrem 
Wachstum  gehemmt  worden  waren. 

Danach  läßt,  sich  also  die  Wirkung  des  Salvarsans 
gegenüber  den  angeführten  Bakterien  als  eine  dieselben 
direkt  abtötende  auffassen,  oder  aber  wie  bei  den  Staphylo- 


Nr  20 


WIENER  KLINISCHE 


Tabelle  II. 


Versuch  I 


Versuch  II 


Versuch  III 


Versuch  IV 


Versuch  V 


1 7. /III. 

Kaninchen,  weißgelb 
1030  g 

Kaninchen,  weißgrau 

1020  g 

8  llhr  a.  m 

je  2'/2cm3  Agar-Kultur  Staphylok.  I, 
intraperitoneal 

12  Uhr  m. 

0'01  Salvarsan 

-J8./I1I. 

lebt 

lebt 

23  /UL 

t 

Peritonitis. 
Kultur:  steril 

lebt, 

getötet, 

Peritoneum  glatt  bis 
auf  eine  Flocke. 
Kultur:  steril 

19. /III. 

Kaninchen,  schwarz, 
900  g 

Kaninchen,  schwarz, 
900  g 

9  Uhr  a.  m. 

je  5  cm3  Agar-Kultur  Staphylok.  1. 
intraperitoneal 

10  Uhr  a.  m. 

0  008  Salvarsan 

21  ./III. 

lebt, 

getötet, 

Peritoneum  glatt. 
Kultur:  steril 

J- 

1 

Peritonitis. 
Kultur:  Staphylok. 
und  Ract.  coli 

21. /Ul. 

8  Uhr  a.  m. 

Kaninchen, 
grauweiß, 
900  g 

1  Kaninchen, 
schwarz, 
900  g 

1  Kaninchen, 
schwarzweiß, 
900  g 

je  5  cm3  Agar-Kultur  Staphylok.  II, 
intraperitoneal 

1 1  Uhr  a.  m. 

001  Salvars. 

1 

4  Uhr  p.  m. 

f  Peritonitis 

lebt 

lebt 

22. /III. 

Kultur: 
Staphylok. 
reichlich 
in  Reinkultur 

lebt, 

getötet. 

Im  Periton. 
weißl.  Flecken 
Kultur:  wenig 
Staphylok. 
in  Reinkultur 

t 

hämorrhag. 
Peritonitis. 
Kultur:  reich! 

1  Staphylok. 
und  Bact.  coli 

23. /III. 

Kaninchen, 

weißschwarz, 

1000  g 

Kaninchen, 

schwarz, 

1000  g 

Kaninchen, 

schwarzweiß, 

1000  g 

8  Uhr  a.  m. 

je  5  cm3  Agar-Kultur  Staphylok.  11, 
intraperitoneal 

12  Uhr  m. 

0'008  Salvars. 

24./IU. 

lebt 

t 

f 

getötet  27./III. 
Peritoneum 
glatt. 

Kultur:  steril 

Peritonitis. 

Kultur : 
Staphylok. 
rein 

Peritonitis. 

Kultur: 

Staphylok. 

rein 

24.  III. 

10  Uhr  a.  m. 

Kaninchen, 

weiß, 

900  g 

Kaninchen, 
weißschwarz, 
900  g 

Kaninchen, 

schwarz, 

900  g 

je  5  cm3  Agar-Kultur  Staphylok.  11, 
intraperitoneal 

11  Uhr  a.  m. 

I 

001  Salvars. 

25. /III. 

f  Peritonitis 

lebt 

lebt 

26. /III. 

Kultur: 

Staphylok. 

rein 

lebt 

t 

getötet, 

Peritoneum 

glatt 

Kultur:  steril 

Peritonitis. 

eitrig. 

Kultur: 

Staphylok. 

rein 

kokken  als  eine  das  Wachstum  derselben  hemmende;  (lurch 
diesen  letzteren  Umstand  wird  der  tierische  Organismus 
bi  den  Stand  gesetzt,  mit  Hilfe  seiner  natürlichen  Scliutz- 
niittel  sich  der  Infektion  zu  erwehren.  Dabei  ist  es  inter¬ 
essant,  daß  es  bisher  nicht  gelungen  ist,  Kaninchen,  die 
mit  Diplococcus  lanceolatus  tödlich  infiziert  worden  waren, 
durch  Salvarsan  zu  heilen,  daßi  also  auch  im  Tierversuche 
das  Salvarsan  sich  gegenüber  verschiedenen  Kokkenarien 

verschieden  verhält. 

Nach  diesen  Erfolgen  bei  den  experimentellen  Unter¬ 
suchungen  glaubte  ich  mich  berechtigt,  nunmehr  die  Herren 
Kliniker  auffordern  zu  dürfen,  auch  Behänd  lungsversuche 
am  Menschen  zu  beginnen. 

Es  wurden  auch  bereits  auf  der  deutschen  chirur¬ 
gischen  Klinik  (Leiter:  Priv.-Doz.  Dr.  Rubritius)  fünf 
alle  behandelt.  Einer  betraf  eine  44jährige  Frau  mit 
jauchiger  Periproktitis  und  jauchiger  Bauchdecken- 


WOCHENSCHR1FT.  1911. 


703 


phlegm  one,  also  mit  einer  Mischinfektion,  bei  der  das  Mittel 
in  ultimis  angewendet  wurde  —  hier  blieb  es  ohne  Er- 
uj  g.  Ein  zweiter  Fall  betraf  eine  Osteomyelitis  des 
Femurs  mit  jauchiger  Phlegmone  und  Gonitis »  bei  diesem 
alle  trat,  trotzdem  auch  hier  in  ultimis  injiziert  wurde, 
eine  auffallende  Besserung  ein,  das  Fieber  sank  lytisch 
ab,  das  Bewußtsein  kehrte  zurück,  septische  Flecken  ver¬ 
schwanden,  die  trockene  Zunge  wurde  wieder  feucht.  Der 
.vranke  erlag  aber  dann  später  einer  Allgemeininfektion 
durch  andere  Mikroorganismen  aus  der  Jauchung. 

Drei  Fälle  von  eitriger  Phlegmone  wur- 
(ien  sehr  gutem  Erfolge  behandelt,  das 

Fieber  fiel  nach  der  Injektion  lytisch  ab  und  die  Bewegungs- 
fähigkeit  der  betreffenden  Glieder  kehrte  in  sehr  befriedi- 
gender  Weise  zurück,  ln  allen  diesen  Fällen  wurde  nur 
ü-3  Salvarsan  intravenös  injiziert.  Die  ausführliche  Publi¬ 
kation  aller  dieser  Fälle  wird  aus  der  deutschen  chirur¬ 
gischen  Klinik  erfolgen. 

ß  i  e  oben  angeführten  E  x  p  e  r  i  m  eilte  im 
v  e  i  e  i  n  mit  den  bereits  gemachte  n,  w  e  n  n  auch 
noch  wenig  zahlreichen,  klinischen  E  r  f  a  h- 
rungen  ermutigen  also  zu  der  Hoffnung,  daß 
w  i  r  im  Salvarsan  ein  Mittel  besitze  n,  m  it  de  m 
vermutlich  ''auch  Streptokokken-  und  Sta- 
p  h  y  1  o  k  o  k  k  e  n  e  r  k  r  a  n  k  u  n  g  e  n  erfolgreich  h  e- 
h  a  n  d  e  1 1  werden  k  ö  n  n  e  n. 

Die  experimentellen  und  klinischen  Versuche  werden 
foi  (gesetzt  und  sind  insbesondere  die  experimentellen 
Untersuchungen  über  die  Wirkungen  des  Salvarsans  auf 
pathogene  Bazillen  und  Vibrionen  bereits  im  Gange. 


Aus  dem  pharmakologischen  Institute  der  k.  k.  Uni¬ 
versität  Wien. 

Tierversuche  über  Hautreaktion. 

Von  Dr.  Friedrich  Luithleu. 

In  dieser  Arbeit  wurde  der  Versuch  gemacht,  das 
Fierexperimenl  in  der  Dermatologie  in  weiterem  Ausmaße 
als  bisher  (zur  Lösung  klinischer  Fragen  zu  verwerten. 
F)ei  ((rund,  warum  dasselbe  nur  vereinzelt  angewendet 
wurde,  liegt  in  der  Schwierigkeit  der  Wahl  des  Versuchs¬ 
tieres  und  der  Technik.  Die  meisten  Untersuchungen  wur¬ 
den  bisher  am  Kaninchen  ausgeführt,  obwohl  dieses  das 
am  wenigsten  geeignete  Versuchsobjekt  ist.  Na,ch  der  Arbeit 
eines  Jahres  in  dieser  Richtung  kann  ich  meine  Erfah¬ 
rungen  in  folgendem  zusammenfassen. 

Am  besten  eignen  sich  von  den  mir  zur  Verfügung 
stehenden.  Tieren  Katzen,  in  zweiter  Linie  Hunde  zu  der¬ 
matologischen  Untersuchungen.  Die  Haut  der  Katze  ist  em¬ 
pfindlicher,  zeigt  stärkere  Reaktion. 

Bei  der  Auswahl  des  Versuchstieres  ist  es  das  Wich¬ 
tigste,  nur  junge  Tiere  zu  nehmen,  da  nur  diese  eine  ge¬ 
nügende  Empfindlichkeit  der  Haut  aufweisen,  damit  man 
mit  schwach  entzündungerregenden  Substanzen  arbeiten 
kann. 

In  zweiter  Linie  wählt  man  besser  lichte,  weißhaarige 
Tiere  als  dunkle;  einerseits  sieht  man  auf  der  hellen  Haut 
die  Anfansstadien  der  Entzündung,  sowie  geringe  Grade 
derselben  besser  als  auf  pigmentierter  Haut,  andrerseits 
ist  diese  auch  gegen  die  in  Verwendung  kommenden  chemi¬ 
schen  Agenden  weniger  empfindlich.  Die  Entfernung  der 
Haare  geschieht  am  besten  durch  Rasieren  in  der  Narkose, 
da  sonst  Verletzungen  fast  unvermeidlich  sind;  nach  dem 
Basieren  soll  die  Haut  24  Stunden  in  Ruhe  gelassen  wer¬ 
den,  damit  die  nach  der  mechanischen  Reizung  durch  das 
Rasieren  bestehende  Empfindlichkeit  nicht  zu  falschen  Re¬ 
sultaten  führt. 

Entfernen  der  Haare  durch  EpilationsmitJel  reizt  zu 
stark;  Epilieren  derselben  mit  der  Pinzette  ist  nur  am  Ohre 
am  Platze,  bei  größerer  Ausdehnung  des  Versuchsfeldes 
nicht  möglich.. 


704 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Am  besten  -stellt  man  die  Versuche  am  Rücken  der 
Tiere  an,  da  an  diesen  Stellen  die  Mittel  am  wenigsten  weg- 
gewischt.  oder  gerieben  werden  können.  Auch  hiebei  sind 
Katzen  besser  zu  verwenden  als  Hunde,  da  letztere  sich 
wälzen,  wenn  sie  mit  einer  die  Haut  reizenden  Substanz 
gepinselt  werden.  Meist  muß  man  dem  Tiere  einen  Maul¬ 
korb  geben,  um  das  Ablecken  zu  verhindern. 

Um  Schlüsse  aus  den  Befunden  ziehen  zu  können, 
muß  man  jeden  Versuch  an  einem  Tiere  durchführen; 
dies  ergibt  sich  schon  aus  den  früheren  Ausführungen  be¬ 
züglich  Alter  und  Färbung  der  Tiere.  Ist  dies  nicht  möglich, 
so  ist  außer  diesen  Momenten  noch  auf  gleiche  Fütterung 
zu  achten,  wie  sich  aus  später  anzuführenden  Gründen  er¬ 
gibt.  Zu  vergleichenden  Untersuchungen  soll  man  gleich¬ 
artige  Hautpartien  verwenden,  so  daß  man  zuerst  die 
Rückenhaut  auf  der  einen  Seite  und  dann  beim  weiteren 
Versuche  die  korrespondierenden  Stellen  der  anderen  Seile 
untersucht.  Dies  bedingt  zwar  eine  Einschränkung  des  Ver¬ 
suchsfeldes,  man  kann  aber  nur  in  dieser  Art  gleichwertige 
Befunde  erzielen. 

Die  Anwendung  der  Medikamente,  Irritantien,  muß 
mit  möglichst  wenig  mechanischer  Reibung  erfolgen.  Die 
von  S  te  i  n  bei  seinen  Untersuchungen  über  Hautgewöhnung 
angegebene  Methode,  die  Medikamente  mit  einem  „flachen 
Glasstäbchen  ohne  irgendwelchen  Druck“  durch  eine  Mi¬ 
nute  in  die  Haut  (in  seinen  Fällen  Kaninchenohr)  einzu¬ 
reiben,  hat  sich  bei  im  einen  Untersuchungen  nicht  als  zweck¬ 
mäßig  erwiesen.  Vermeidung  jeden  Druckes  bei  Einreiben 
mit  einem  Glasstabe  ist  nicht  leicht  möglich ;  daher  bleibt 
es  dem  Empfinden  überlassen,  wie  stark  der  Druck  aus¬ 
geübt  wird.  Außerdem  ist  Einreibung  durch  eine  Minute 
eine  sehr  lange  Einwirkung,  wobei  es  unter  Umständen 
auch  zur  Trennung  von  Medikament  und  Vehikel  kommt.  Ich 
führe  diese  Einwendungen  an,  ohne  die  Resultate  der  Ar¬ 
beit  von  Stein  anzuzweifeln ;  ich  habe  aus  diesen  Grün¬ 
den,  um  die  mechanische  Reizung  zu  vermeiden  nder  wenig¬ 
stens  gleichmäßig  zu  gestalten,  die  Medikamente  stets  nur 
mit  einem  Wattepinsel  ganz  leicht  und  kurz  eingepinselt. 

* 

Arbeitet  man  unter  diesen  Kautelen,  dann  erreicht 
man  gleichartige  Resultate.  Wenn  auch  die  Haut  der  Tiere 
verschieden  von  der  des  Menschen  ist,  so  bestehen  doch 
in  den  pathologischen  Veränderungen  große  Aehnlichkeiten, 
und  man  erhält  oft  außerordentlich  ähnliche,  wenn  nicht 
gleiche  Befunde. 

I  * 

Ich  habe  das  experimentelle  Arbeiten  am  Tiere  unter¬ 
nommen,  um  mir  Klarheit  über  die  Frage  zu  verschaffen, 
ob  die  Haut  bei  geändertem  Chemismus  des  ^Organismus,  sei 
es  durch  Ernährung,  Einführung  von  Medikamenten,  Er¬ 
krankungen  oder  Schädigungen  eine  gegen  die  Norm  ge¬ 
änderte  Empfindlichkeit  gegen  äußere  Reize  aufweise. 

Kurz,  um  die  Ekzemfrage  experimentell  anzugehen. 

Ekze  m  ist  meiner  Ansicht  nach  Dermatitis  an  be¬ 
sonders  disponiertem  Individuum,  d.  h.  ein  solches  Indi¬ 
viduum  reagiert  auf  äußere  Reize  mit  stärkeren 'oder  anders 
gearteten  Erscheinungen  der  Haut,  oder  es  treten  bei  dem¬ 
selben  auf  Schädigungen  Erscheinungen  der  Haut  auf,  die 
bei  anderen  Personen,  bei  normalem  Zustande  des  Organis¬ 
mus  keine  Veränderungen  hervorrufen. 

Dies  nur  kurz,  um  meine  Versuchsanordnung  zu  er¬ 
klären. 

Die  Tiere  wurden  meist  in  Narkose  rasiert;  24  Stunden 
später  wurde  die  Reaktion  der  Haut  im  normalen  Zustande 
durch  Einpinseln  der  reizenden  Substanzen  geprüft.  Als 
solche  wurden  meist  Crotonöl  rpur  und  in  Verdünnungen  1 :  5, 
1:10,  1:30,  1:50  mit  Oleum  olivarum,  sowie  Terpentin 
Kampfer  (10%)  verwendet,  ln  den  nächsten  Tagen  wurde  die 
Reaktion  beobachtet  und  notiert;  nach  Ablauf  der  Erschei¬ 
nungen,  meist  drei  bis  sechs  Tagen,  wurde  mit  der 
Behandlung  des  Tieres  begonnen,  um  dann,  nach  ver¬ 
schieden  langer  Zeit,  die  Reaktion  der  Haut  .wieder  zu  pro¬ 


bieren.  Dabei  wurde  das  Körpergewicht  kontrolliert,  die  Er¬ 
nährung  blieb  bis  auf  die  Ernährungsversuche  die  gleiche. 

Von  den  zahlreichen  gleichmäßig  verlaufenen  Ver¬ 
suchen  werde  ich  von  jeder  Gruppe  nur  einige  Beispiele 
anführen. 

In  der  ersten  Versuchsreihe  habe  ich  den  Tieren 

n/10  HCl  —  0-365%  HCl  gegeben. 

* 

Gelbweiße  Katze.  Körpergewicht  3450  g. 

5.  Juni  1910:  Rücken  rasiert. 

6.  Juni  1910:  Rechts  gepinselt  an  verschiedenen  Stellen 
mit  Croton  pur,  1:5,  1:10,  1:30  und  Terpentin -Kampfer. 

7.  Juni  1910:  Croton  pur:  Blutungen,  der  Haut,  am  Rande 
des  Herdes  Blasen;  Croton  1:5:  Rötung,  Schwellung,  Blasen¬ 
bildung  ;  Croton  1:10:  Rötung  der  Haut,  kein,©  Blasen ;  Croton 
1:30  und  Terpentin  -  Kampfer :  keine  Veränderung. 

8.  Juni  1910:  Bei  den  starken  Lösungen  Blasen,  Nässen. 
Krusten-  und  Borkenbildung.  Croton  1:10:  vereinzelte  Bläschen 
auf  geröteter  Haut;  Croton  1:30  und  Terpentin- Kampfer :  keine  j 
Veränderung. 

Das  Tier  erhält  vom  9.  Juni  bis  14.  Juni  490  g  0-4%ige 
Salzsäure  ;  Gewichtsabnahme  auf  3150  g.  Wird  links  an  korre- j 
spondierenden  Stellen  mit  Croton  1:30  und  Terpentin- Kampfer 
gepinselt. 

15.  Juni  1910:  Croton  1:30:  Bläschenbilduirg ;  Terpentin-' 
Kampfer  nur  Schwellung. 

16.  Juni  1910:  Croton  1:30:  Reichlich  Bläschenbildung; 
Terpentin  -  Kampfer,  ebenso  Bläschen. 

Das  Tier  zeigte  nach  Zuführung  von  490  g  0-4%iger  j 
Salzsäure  auf  Lösungen,  die  im  normalen  Zustande  keine 
Entzündung  bewirkten,  erhöhte  Reaktion,  es  entwickelten 
sich  ebenso  Bläschen  wie  früher  nur  bei  stärkeren  Lö-  j 
sungen. 

♦ 

Weiße  Katze,  gelb -grauer  Kopf.  Körpergewicht  2400  g. 

2.  März  1911:  Rücken  rasiert. 

3.  März  1911:  Rechte  Rückenhälfte  gepinselt  mit  Croton 
1:10,  1:30,  1 : 50  und  Terpentin  -  Kampfer. 

4.  März  1911:  Nur  bei  Croton  1:10;  Schwellung;  an  an¬ 
deren  Stellen  keine  Veränderung. 

6.  März  1911:  Ebenso. 

Das  Tier  erhält  vom  10.  März  bis  20.  März  1911  850  cta3 
n/10  HCT,  in  den  ersten  vier  Tagen  nur  je  50  c’m3. 

20.  März  1911:  Links  gepinselt  mit  Croton  1:10,  1:30, 
1 : 50,  Terpentin  -  Kampfer. 

21.  März  1911:  An  allen  Stellen  Schwellung;  200cm3 
n/10  HCl. 

22.  März  1911:  Bei  Croton  1:10  und  1:30  auf  geröteter 
Haut  diffuse  Bläschenbildung,  ebenso  bei  Terpentin- Kampfer, 
Bläschen.  Die  Hautveränderung  bietet  das  Bild  eines  Eczema] 
vesiculosum.. 

Das  Tier  hat  an  Körpergewicht  nicht  abgenommen. 

* 

Die  Tiere  zeigen  bei  Salzsäurevergiftung  eine  erhöhte] 
Reaktion  der  Haut;  dies  ist  eine  regelmäßige  Erscheinung; 
bei  zahlreichen,  seit  einem  Jahre  angestellten  Versuchen, 
längt  man  mit  kleinen  Dosen  an,  so  braucht  das  Tier  auch 
nicht  an  Körpergewicht  zu  verlieren,  zeigt  trotzdem  die 
Erhöhung  der  Reaktion. 

'Prüfung  der  Haut  nach  geringer  Salzsäurezufuhr  ergibt 
keine  oder  geringe  Steigerung  der  Hautempfindlichkeit,  die 
erst  mit  weiterer  Salzsäurezufuhr  steigt. 

In  der  zweiten  Versuchsreihe  habe  ich  die  Tiere  miij 
oxalsaurem  Natron  behandelt. 

*  i  * 

Weiße  Katze.  Körpergewicht  2500  g. 

19.  Mai  1910 :  Rasiert. 

20.  Mai  1910:  Wird  mit  Croton  pur,  Croton  1:10  und 
Terpentin  -  Kampfer  gepinselt. 

21.  Mai  1910:  Croton  pur:  Haut  von  Blutungen  durch 
setzt,  mit  Bla,senkranz  herum;  Croton  1:10:  leichte  Rötung,  keim 
Blasen;  Terpentin  -  Kampfer :  kaum  merkbare  Verfärbung  der  Haut 

Erhält  vom  29.  Mai  bis  31.  Mai  cm3  3%iges  neutrale? 
oxalsaures  Natron  subkutan. 

31.  Mai  1911:  Nachmittags  gepinselt..  Körpergewicht  2200  g 

1.  Juni  1911:  Croton  pur:  Starke  Blutung  in  der  Haut, 
am  Rande  Blasen;  Croton  1:10:  starke  Schwellung,  Oedenr: 
Terpentin  -  Kampfer :  reichliche  Blasenbildung. 


Nr.  30 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Weiße  Katze.  Körpergewicht  3450  g. 

4.  Dezember  1910:  Rasiert. 

5.  Dezember  1910 :  Gepinselt  mit  Croton  1:5,  1:10  1  • '!() 
1 : 50,  T  erpentin  -  Kampfer. 

6.  Dezember  1910:  Croton  1:5  und.  1:10:  Haut  gerötet- 

sonst  nichts. 

7.  Dezember  1911:  Bei  Croton  1:5  Haut  gerötet,  einzelne 

Bläschen. 

9.  Dezember  1911:  Croton  1:5:  Haut  gerötet,  einzelne 
Krusten  und  Borken  tragend;  Croton  1:10:  gerötet,  vereinzelte 
kleine  Bläschen;  Croton  1:30,  1:50,  Terpentin  -  Kampfer :  nichts- 
9  cm3  oxalsaures  Natron  subkutan. 

Darauf  auf  Croton  1 : 10  starke  Schwellung  und  Blasen¬ 
bildung,  auf  Croton  1:30  Rötung  und  Blasen,  auf  Croton  1:50 
vereinzelte  Bläschen. 

Körpergewicht  2850  g. 

Zufuhr  von  oxalsaurem  Natron  in  Form  subkutaner 
Injektion  bewirkt  eine  Steigerung  der  Exsudation. 

* 

Anschließend  hieran  will  ich  die  dritte  Versuchsreihe 
besprechen,  bei  welcher  ich  den  Tieren  CaCl2  injizierte. 

* 

Weiße  Katze.  Körpergewicht  2100  g. 

2.  Juni  1910:  Rücken  rasiert. 

3.  Juni:  Gepinselt  mit  Croton  pur  1:5,  1:10,  1:30,  Ter¬ 
pentin  -  Kampfer. 

4.  Juni  1910.  Croton  pur:  Blutungen,  am  Rande  Blasen¬ 
bildung;  Croton  1:5:  Blasenbildung,  Nässen;  Croton  1:10:  Bläs¬ 
chenbildung  ;  Croton  1 : 30 :  vereinzelte  Bläschen ;  Terpentin- 
Kampfer:  vereinzelte  kleinste  Bläschen. 

Erhält  am  6.,  7.  Und  8.  Juni  1910  zusammen  16  ein3  8 "edges 
Calciumchlorid  subkutan. 

7.  Juni  1910:  Gepinselt  mit  denselben  Lösungen;  Croton 
Pur:  Blutung  entwickelt,  aber  keine  Blasen;  bei  allen  anderen 
Lösungen  keine  Blasen,  kein  Nässen. 

Am  zweiten  Tage  einzelne  Krusten  bei  Croton  1:5,  bei 
Terpentin -Kampfer  leichte  Abschuppung. 

Zufuhr  von  Kalziumchlorid  setzt  also  die  Exsudation 
der  Haut  herab.  Dieser  Befund,  daß  an  mit,  Kalk  ange¬ 
reicherten  Tieren  exsudative  Dermatiticlen  weniger  leicht 
zu  erzeugen  sind,  wurde  auch  bereits  von  dem  Vorstande 
des  Institutes,  Herrn  Geheimrat  H.  H.  Meyer,  am  Kongreß 
in  London  im  Vortrage  erwähnt;  auch  schließen  sich  meine 
Befunde  in  dieser  Versuchsreihe  an  die  Untersuchungen  von 
Chiar i  und  Januschke  an,  welche  dieselben  Erschei¬ 
nungen  für  Entzündungen  der  Konjunktiva  und  Pleura  aiach- 
wiesen. 

Als  vierte  Versuchsreihe  habe  ich  Untersuchungen  an 
Tieren  mit  verschiedener  Ernährung  anzuführen. 

\om  17.  Oktober  1910  bis  9.  November  1910  wurden 
.je  drei  Kaninchen  hei  Hafer  und  je  drei  Kaninchen  bei 
Grünfutter  gehalten. 

Bei  der  Prüfung  ergab  sich,  daß  die  mit  Hafer  gefüt¬ 
terten  Tiere  bei  Pinselung  mit  den  bekannten  Lösungen 
weit  stärkere  Reaktion  zeigten  als  die  Grünfuttertiere:  wäh¬ 
rend  bei  den  Hafertieren  die  mit  Croton  1:5  und  Terpentin- 
Kampfer  gepinselten  Stellen  gerötet,  ja  geschwollen  waren, 
trat  bei  den  Grünfuttertieren  keine  entzündliche  Verände¬ 
rung  auf.  Dieser  Befund  allein  bedeutet  nicht  so  viel,  da  er 
un  verschiedenen  Tieren  gemacht  wurde;  Bedeutung  erlangt 
er  nur  dadurch,  daß  der  Versuch,  auf  Grund  zahlreicher 
binzelbeobachtungen  angestellt,  einsinnig  ausfiel,  sowie  daß 
er  eine  ganze  Gruppe  Von  Tieren  umfaßte.  Die  Umstimmung 
Ones  Tieres  von  einer  Fütterung  auf  die  andere,  welche  Ver- 
Huchsanordnung  sicher  vorzuziehen  wäre,  braucht  längere 
^eit  und  birgt  dadurch  andere  Fehlerquellen  in  sich. 

Zum  Schlüsse  noch  einiges  über  das  klinische  Bibi 
der  Säurevergiftung  am  Tiere. 

Bei  jeder  Säuerung  bekommt  die  Haut  eine -eigenartige 
bläuliche  Verfärbung,  wird  eigentümlich  transparent,  so  daß 
man  bei  einiger  Uebung,  der  mir  assistierende  Präparator 
kennt  es,  weiß,  wenn  genug  Säure  gegeben  wurde,  um 
die  Reaktionssteigerung  zu  erreichen. 

Gibt  man  längere  Zeit  Salzsäure,  so  tritt  ein  eigen¬ 
artiges  Bild  auf;  die  Haare  wachsen  sehr  langsam  und 
schwach  nach,  das  Fell  verliert  den  Glanz,  das  Tier  wird 


schäbig,  räudig,-  es  bietet  alle  Erscheinungen  des  chronischen 
Ekzems  dar.  > 


So  habe  ich  einem  alten  Kater  (3750  g  Körpergewicht) 
vom  4.  bis  23.  November  1910  1200  cm3  0-4%ige  Salz- 
saure  gegeben,  bis  Steigerung  der  Reaktion  auftrat.  Körper¬ 
gewichtszunahme  auf  4000  g.  Erst  bei  weiterer  Steigerung 
nnn  Salpäurezufuhr,  noch  300  cm3  04%iger  Salzsäure  und 
.  01  ein  0-8  Anger  Salzsäure,  trat  starke  Reaktionserhöhung 
der  Haut,  bei  einem  Körpergewicht  von  3800  g,  ein. 

Seit  8.  Dezember  1910  hat  das  Tier  keine  Säure  mehr 
bekommen;  demselben  sind  heute  die  Haare  noch  nicht 
vollständig  nachgewachsen,  es  bietet  heute  noch  das  Bild  des 
chronischen  Ekzems  nicht  nur  an  den  gepinselten  Stellen. 

Diese  Beobachtung  weist  darauf  hin,  daß  es  sich  um 
dauernde  Schädigungen  der  Haut  als  solche  handelt. 

* 

Zusammengefaßit  bieten  meine  Untersuchungen  folgen¬ 
des  Resultat:  | 

Trotz  der  Verschiedenheit  der  menschlichen  von  der 
tierischen  Haut  kann  man  auch  in  der  Dermatologie  experi¬ 
mentell  am  Tiere  arbeiten. 


Die  Hautreaktion  ist  abhängig  vom  Chemismus  des 
Organismus. 

Sowohl  Säuerung,  als  Zufuhr  von  oxalsaurem  Natron 
erhöhen  die  Reaktionsfähigkeit  der  Haut,  während  Kalk- 
anreicherung  die  entzündlichen  exsudativen  Vorgänge  herab¬ 
setzt.  Auch  verschiedene  Ernährung  ändert  die  Empfindlich¬ 
keit  der  Haut  gegen  äußere  Reize. 

Die  Ursachen  all  dieser  Erscheinungen  dürften  auf 
einer  Vermehrung  der  Ausscheidung  der  Alkalien  beruhen; 
bei  der  Ernährung  dürfte  auch  die  verschiedene  Zufuhr  von 
Kalk  eine  Rolle  spielen.  Die  Ursache  der 'erhöhten  Reaktion 
liegt  in  einer  Veränderung 'der  Haut,  welche  bei  chronischem 
Verlaufe  zu  einer  dauernden  wird. 

Die  Begründung  für  diese  Auffassung  werde  ich  in  einer 
demnächst  erscheinenden  Arbeit  bringen. 


Aus  der  I.  Universitäts-Frauenklinik  in  Wien. 
(Vorstand:  Hofrat  Schauta.) 

Zur  Pathologie  und  Klinik  des  malignen  Chorio- 

epithelioms. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  F.  Hitschmami  und  Dr.  Robert  Cristofoletti. 

(Schluß.) 

III.  i 


Der  anatomische  Bau  des  malignen  Chorioepithelioms 
bringt  es,  wie  wiederholt  betont  wurde,  mit  sich,  daß  die 
Prädisposition  zur  Metastasenbildung  immer  gegeben  ist. 
Die  Metastasierung  selbst  zeigt  aber  die  größten  Diffe¬ 
renzen.  Bei  den  nicht  operierten  Fällen  erfolgt  sie  spät  und 
spärlich.  Bei  den  operierten  Fällen  bleibt  sie  einmal  ganz 
aus,  einmal  kommen  die  Metastasen  spät  und  ein  anderes 
Mal  wird  der  ganze  Organismus  mit  Geschwulstelementen 
geradezu  ü be r sc h w  emm t . 

Da  aber  die  Prädisposition,  wie  gesagt,  immer  vor¬ 
handen  ist,  ein  Insult  bei  der  vorzugsweise  geübten  va¬ 
ginalen  -Operation  immer  besteht,  so  entsteht  die  Frage-, 
warum  nicht  jedesmal  eine  Uebersehwemmung  des  Orga¬ 
nismus  mit  Geschwulstteilchen  stattfindet.  Es  muß  also 
noch  ein  bestimmter  Grund,  eine  bestimmte  mechanische 
Ursache  vorhanden  sein,  um  dieses  verschiedene  Verhalten 
zu  erklären. 

Dies  veranlaßte  uns,  erhöhte  Aufmerksamkeit  den 
Iransportwegen,  speziell  den  Beckenvenen,  zu  schenken. 

Es  ist  ganz  klar,  daß  eine  Erkrankung  der 
parametranen,  respektive  spermatikalen 
Venen  von  größter  Bedeutung  für  die  Ent¬ 
stehung  der  Me tastasen  sein  m ti ß t e. 

Schon  bei  den  ersten  flüchtigen  Studien  der  Obduk¬ 
tionsbefunde  fiel  uns  auf,  daß  die  Thrombose  der  Becken¬ 
venen  häufig  angegeben  wird ;  in  einem  Teile  der  Fälle 


706 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


finden  wir  die  direkte  Angabe,  daß  es  sich  um  Geschwulst¬ 
thromben  handle,  während  in  anderen]  Fällen  keine  Notiz 
auf  diesen  Zusammenhang  hindeutete,  wohl  ein  Zeichen, 
welch  geringen  Wert  die  Autoren  auf  diese  Tatsache  legten. 

Uns  schien  dies  von  großer  Bedeutung  und  veranlaßite 
uns,  dieser  Frage  nachzugehen.  Daß  es  sich  um  keine 
zufälligen  Befunde  handle,  dafür  sprach  der  uns  vom  Pla¬ 
zentarinfekt  her  bekannte  Zusammenhang  zwischen  fölalen 
Zellen  und  Thrombose,  dafür  sprach  auch  das  auffallend 
häufige  Vorkommen  der  Beckenvenenthrombosen. 

Den  ersten  Anhaltspunkt  fanden  wir  in  Marchands 
zweiter  Arbeit;  in  seinen  beiden  Fällen  waren  die  para¬ 
metranen  Venen  von  Tumormassen  ergriffen,  mächtig  aus¬ 
gedehnt  und  thrombosiert.  March  and  geht  von  der  Vor¬ 
stellung  aus,  daß  schon  unter  normalen  Verhältnissen  die 
von  den  Zollenden  auf  die  Decidua  basalis  übergehenden 
fötalen  Zellwucherungen  geradezu  als  physiologische  Funk¬ 
tion  gerinnungserregende  Eigenschaften,  besitzen,  wodurch 
sie  gewissermaßen  den  Kitt  bilden,  welcher  die  Zotten  so 
innig  mit  der  Decidua  basalis  vereinigt!  In  seinem  ersten 
Falle  konnte  M  a  r  c  h  a  n  d  die  Entstehung  hämorrhagischer 
Ihrombusartiger  Gerinnungsmassen  im  Anschlüsse  an  die 
Zellinvasion  verfolgen,  welche  in  exquisiter  Weise  auf  das 
wuchernde  Epithel  noch  vorhandener  Zottenreste  zurück¬ 
zuführen  war.  Eine  geradezu  enorme  Ausdehnung  erlangte 
der  Prozeß  im  zweiten  Falle  Marcha  n  d  s. 

Wenn  wir  auch  mit  March  and  nicht  eines  Sinnes 
sind,  daß  den  fötalen  Zellen  geradezu  als  physiologische 
Funktion  gerinnungserregende  Eigenschaften  zukommöm  so 
war  uns  die  Tatsache,  daß  in  seinen  beiden  Fällen  die 
parametranen  Venen  unter  dem  Bilde  einer  Thrombose  vom 
Tumor  ergriffen  waren,  von  großem  Werte. 

Was  das  Verhalten  der  fötalen  Zellen  zur  Blutgerin¬ 
nung  betrifft,  so  haben  Hitschma  n  n  und  L  i  n  d  e  n  t  h  a  1 
schon  vor  Jahren  gezeigt,  daß  dem  Zottenepithel,  (nicht 
wie  March  and  glaubt,  eine  Gerinnung  fördernde,  son¬ 
dern  im  Gegenteil  eine  Blutgerinnung  hemmende  Eigen¬ 
schaft  zukommt.  Das  lehrt  die  Betrachtung  eines  jeden 
Eichens.  .Wäre  das  nicht  der  Fäll,  so  müßte  ja,  da  das 
mütterliche  Blut  im  intervillösen  Raume  direkt  das  Zotten¬ 
epithel  umspült,  jedesmal  Gerinnung  eintreten,  jede  Schwan¬ 
gerschaft  wäre  unmöglich. 

Solange  das  fötale  Epithel  und  das  gilt  für  das  phy¬ 
siologische  wie  pathologische  Gewebe,  lebt,  fehlt  jede  Ge¬ 
rinnung,  sie  tritt  aber  sofort  mit  dem  Absterben  der  fötalen 
Zellen  ein.  So  entsteht  auch  der  Fibrininfarkt  ider  Plazenta. 

Damit  erklärt  es  sich  auch,  daß  Tumormassen  in  den 
mütterlichen  Gefäßen  lange  vom  zirkulierenden  Blute  um¬ 
spült,  ernährt  und  auch  verschleppt  werden.  Kommt  es 
nun  zum  Absterben  auch  nur  eines  geringen  Anteiles  der 
vorgeschobenen  oder  verschleppten  Geschwulstteile,  so  setzt 
die  Thrombose  ein. 

Es  ist  daher  jede  Thrombose  der  parame¬ 
tranen  und  sperma tik-.a len  Venen  im  Gefolge 
eines  malignen  C  h  o  r  i  o  e  p i  t h e  1  i o  ms  als  T u  m o  r- 
I  h  rombose  v  e r  d  ä c h  t i  g.  Natürlich  muß  dies  nicht 
immer  der  Fall  sein.  Daß  dies  aber  für  sehr  viele  Fälle  zu¬ 
trifft,  gehl  aus  dem  folgenden  hervor. 

M  a r  c  h  ands  Angaben  über  die  Thrombose  der  para¬ 
metranen  Venen  beschränken  sich  auf  seine  beiden  Fälle; 
auch  noch  ein  dritter  Fäll  von  A.  Pick  wird  zitiert. 

Wir  fanden  in  der  Literatur  noch  folgende  Angaben 
über  diese  Frage  vor. 

Schmorl  erwähnt  an  der  Hand  eines  exstirpierten 
Uterus  die  Thrombose  der  parametranen  Venen  auf  Ge¬ 
schwulstbildung  beruhend  und  glaubt,  daß  man  vielleicht 
Anhaltspunkte  für  die  Prognose  der  operierten  Fälle  von. 
malignem  Chorioepitheliom  durch  Untersuchung  der  para¬ 
metranen  Venen  gewinnen  könnte.  Schmorl  ist  jedenfalls 
der  einzige,  der  die  praktische  Bedeutung  dieser  Frage  sofort, 
erfaßt  hat. 

Anders,  Hammerschlag,  Runge,  Garkisch 
beschreiben  Thrombosen  der  Beckenvenen,  die  sie  während 


der  Operation  sahen  und  die  ebenfalls  auf  einer  Geschwulst¬ 
bildung  beruhten. 

Aus  den  .gesammelten  Krankengeschichten  konnten  wir 
keinen  weiteren  direkten  Anhaltspunkt  über  die  Thrombose 
der  Beckenvenen  gewinnen,  kein  Wunder,  da  wir  erst  in 
letzter  Zeit  die  Thrombose  der  parametranen  und  sperrna- 
(i luden  Venen  klinisch  zu  diagnostizieren  gelernt  haben. 

Wir  konnten  aber  aus  den  Krankengeschichten  fest¬ 
stellen,  daß  in  einer  gewissen,  nicht  zu  kleinen  Zahl  von 
Fällen  über  parametrane  Infiltrate  berichtet  wird  und  diese 
verdienen  eine  genauere  Beleuchtung. 

Das  „parametrane“  Infiltrat  im  Gefolge 
eines  malignen  Chorioepithelioms  ist  näm¬ 
lich  gaf  kein  Infiltrat,  weder  im  Sinne  einer 
k a  r z  i  n o m atösen,  noch  einer  entzündlichen 
Infiltration,  sondern  stellt  in  den  meisten 
F  ä  llen  eineauf  Geschwuls  tbilduug  beruhende 
T  h  r  o  mbose  der  großen  Beckenvenen  dar. 

Durch  die  Arbeiten  der  letzten  Jahre  über  den  Puer¬ 
peralprozeß  haben  wir  erkannt,  daß  ein  großer  Teil  der 
Erkrankungen,  die  unter  der  klinischen  Diagnose  Parame¬ 
tritis  laufen,  Thrombosen  der  parametranen  und  spermati- 
kalen  Venen  sind  (Latz  ko).  Es  bietet  die  Thrombose 
dieser  Venen  den  Tastbefund  eines  parametranen  Infiltrates. 

Es  müssen  also  auch  etwaige  Thrombosen  der 'Becken¬ 
venen  im  Gefolge  eines  malignen  Chorioepithelioms  sich 
als  parametrane  Infiltrate  präsentieren  und  solche  Angaben 
sind  häufig.  Es  gelang  uns,  einige  Fälle  zu  finden,  wo 
wir  dem  klinischen  Befunde  „parametranes  Infiltrat“  den 
Obduküons-  oder  Operationsbefund  gegenüberstellen  können. 

Lehrreich  ist  der  Fall  Marchands  (zweite  Arbeit), 
in  dem  wegen  eines  parametranen  Infiltrates  die  Opera¬ 
lion  abgelehnt  wurde;  bei  der  späteren  Obduktion  fanden 
sich  in  den  Parametrien  Thrombose  der  Venen  und  Hä 
morrhagien. 

Im  Falle  Anders  wurde  die  Exzision  eines  Vaginalen 
Knotens  aufgegeben,  da  sich  die  Tumormassen  strangförmig 
ins  Parametrium  fortsetzten.  Die  bei  der  Operation  durch¬ 
schnittenen  Venen  waren  erweitert  und  thrombosiert. 

Martin  berichtet  in  seinem  Fall  über  Fixation  des 
Uterus  durch  ein  parametranes  Exsudat  und  gab  auf  eine 
Anfrage  in  der  Diskussion  an,  daß  dasselbe  nicht  neo¬ 
plastischer  Natur  war,  ohne  aber  näheres  hinzuzufügen. 

Krömers  Angabe  über  ein  parametranes  Infiltrat 
erwies  sich  als  Geschwulstthrombose. 

Wir  selbst  verfügen  über  zwei  solche  Beobachtungen: 
in  der  ersten  (Spontanheilung)  wurde  die  Operation  wegen 
weit  ausgedehnter  Infiltrate  abgebrochen  und  auf  gegeben 
und  doch  handelte  es  sich,  wie  exstirpierte  Stücke  zeigten, 
um  mächtige  Thrombosen  der  Beckenvenen,  auf  Geschwulsl- 
bildung  beruhend. 

ln  einem,  zuvor  von  uns  beschriebenen  Falle  tasteten 
wir  strangförmige  Infiltrate  im  Parametrium,  die  sich  bei 
der  Operation  als  thrombosierte  Venen  erwiesen. 

Man  muß  also  in  jedem  Falle,  wo  bei  einem  malignen 
Chorioepitheliom  ein  Infiltrat  getastet  wird,  an  diese  Venen¬ 
thrombosen  denken;  man  muß  sich  von  vornherein  sagen, 
daß  für  eine  neoplastische  Infiltration  des  parametranen 
Bindegewebes,  respektive  des  Bindegewebes  des  Ligamen¬ 
tum  latum  jede  Prädisposition  fehlt.  Das  maligne  Chorio¬ 
epitheliom  greift  auf  das  Parametrium  und  das  Ligamentum 
latum  über,  aber  nur  auf  dem  Wege  der  Blutbahn,  indem 
die  parametranen  und  spermatikalen  Venen  teils  durch  das 
Wachstum  des  Tumors  per  continuitatem,  teils  durch  Ver¬ 
schleppung  ergriffen  werden. 

Das  Schicksal  d i e s e r i n  die  großen  Venen 
gelangten  T u m o rmasse n  gestaltet  sich  verschieden ; 
in  einer  kleineren  Zahl  von  Fällen  können  liier  größere 
und  kleinere  Tumoren  entstehen,  die  als  parametrane  Meta¬ 
stasen  wohlbekannt  sind.  Sie  können  die  Gefäße  durch¬ 
brechen  und  große  hämorrhagische  Herde  bilden.  In  der 
größeren  Zähl  der  Fälle  kommt  es  aber  früher  oder  später 
zur  Thrombose  der  Venen. 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


707 


Damil  werden  aber  die  Geschwulstzellen  ihrer  Ernäh- 
nmi’  beraubt;  sie  können  sich  noch  eine  Zeitlang  lebens¬ 
fähig  erhalten,  gehen  aber  bald  zugrunde,  werden  (resorbiert 
und  sind  im  thrombus  nicht  mehr  nachweisbar.  So  konnte 
S  c  h  1  a  g  e  n  h  a  u  f  e  r  in  seinem  Falle  trotz  genauester  I  hiter- 
siiohung  der  thrombösierten  Venen  nur  vereinzelte  syn- 
zyliale  Elemente  finden;  ebenso  erging  es  Ree b.  Auch 
Risl  konnte  in  einer  bereits  organisierten  Thrombusmasse 
einzelne  Haufen  von  abgestorbenen  Zellen,  die  an  das  Aus¬ 
sehen  nekrotischer  Geschwulstelemente  erinnerten,  konsta¬ 
tieren. 

Denselben  Refund,  nur  daß.  die  Nekrose  der  Geschwulst- 
elemente  noch  nicht  so  weit  vorgeschritten  war,  konnten 
wir  in  dem  später  »zu  beschreibenden  Falle  erheben. 

Em  entzündliches  Infiltrat  ist  bei  der  zum  Zerfalle 
und  Infektion  neigenden  Natur  des  Tumors  natürlich  nicht 
auszuschließen ;  es  tritt  aber  mit  Rücksicht  auf  das  un- 
gemein  häufige  Vorkommen  der  Venenthrombosen  in  den 
Hintergrund. 

Ueber  die  Häufigkeit  der  Thrombosen  geben  uns  am 
besten  Obduktionsbefunde  Aufschluß. 

In  den  ersten  vier  Fällen  von  Marc  h  a  n  d  kommt  die 
Thrombose  dreimal  vor;  unter  unseren  eigenen  drei  Beob¬ 
achtungen,  auf  die  wir  uns  in  dieser  [Arbeit  beziehen,  finden 
wir  sie  dreimal.  Davon  wurden  zweimal  durch  mikrosko¬ 
pische  Untersuchung  nachgewiesen,  daß  es  sich  um  Ge- 
schwulstthrombosen  handle.  Im  dritten  Falle  hatten  wir 
nicht  genügend  darauf  geachtet. 

In  den  genauer  mitgeteilten  Obduktionsbefunden  aus 
jdei  Literatur  finden  wir  die  Thrombosen  der  Reckenvenen 
sein  häufig  notiert,  vielfach  aber  ohne  jede  nähere  Angabe, 

\  on  den  18  Fällen  der  Tabelle  11,  von  denen  wir 
genauere  Obduktionsbefunde  besitzen,  finden  wir  neunmal 
■Thrombosen  notiert,  davon  sieben,  in  denen  makroskopisch 
oder  mikroskopisch  Tumorgewebe  konstatiert  wurde.  In 
anderen  Fällen  wird  nur  die  Tatsache  der  Thrombose  mit¬ 
geteilt  und  in  noch  anderen  Fällen  die  Reckenvenen  gar 
nicht  erwähnt.  Interessant  ist  der  Fall  Fl  a  m  m  e  r  s  c  h  1  a  g, 
in  welchem  man  den  ganzen  Prozeß  bis  zur  Embolie  in 
die  Arteria  pulmonalis  verfolgen  kann. 

Aber  nicht  allein  bei  den  Fällen  der  Tafel  II,  sondern 
auch  bei  allen  anderen  finden  wir  die  Thrombosen  der 
Beckenvenen  sehr  häufig  notiert. 

Rei  den  nahen  Beziehungen  zwischen  fötalen  Zellen 
und  Thrombose  sind  wir  der  Ueberzeugung,  daß.  auch  in 
den  Fällen,  in  denen  nichts  Näheres  mitgeteilt  wird,  (die 
Venenthrombose  eine  Geschwulstthrombose  ist. 

Wir  glauben  d  a  b  e  r  a  u  c  h  u  m  gekehrt  aus 
der  Häufigkeit  der  Thrombosen  der  Recken¬ 
venen  sagen  zu  könne  n,  daß.  das  maligne  C  h  o- 
rioepitheliom,  sei  es  durch  Verschleppung, 
sei  es  per  continuitatem,  sehr  häufig  in  die 
parametranen  und  s  p  e  r  m  a  t  i  k  a  1  e  n  Venen  g  e- 
langtund  (hierein  neues  —  vielleicht  das  wie  h- 
t  i  g  s  t  e  —  Zentrum  mit  einer  unbeschränkten  Möglich¬ 
keit  zur  Embolisierung  bildet. 

Es  ist  aber  von  entscheidender  Wichtig¬ 
keit,  in  welchem  Zustande  sich  diese  Venen 
zur  Zeit  der  Operation  befinden. 

Sind  die  großen  Venen,  die  Tumormassen  enthalten, 
noch  teilweise  offen,  die  Passage  ungestört,  so  kann  jeder 
mechanische  Insult  zur  Loslösung  von  Geschwulstteilen  und 
zur  Embolisierung  führen.  Sind  die  Gefäße  bereits  throm- 
bosiert  und  dies  kann  in  einem  Fälle  sehr  früh,  in  dem  an¬ 
deren  sehr  spät  geschehen,  so  sind  zwei  Möglichkeiten  ge¬ 
geben.  Wenn  die  Thromben  zur  Zeit  der  Operation  lebens- 
und  proliferationsfähiges  Geschwulstmaterial  enthalten,  so 
hängt  der  Ausgang  bei  der  vaginalen  Totalexstirpation  ganz 
davon  ab,  ob  die  Thromben  fest  genug  sitzen,  um  nicht 
herausgeschleudert  zu  werden.  Wird  dies  vermieden,  so 
kann  der  Fall,  trotzdem  Geschwulstgewebe  in  den  zentralen 
Venen  zurückgeblieben  war,  in  Heilung  übergehen  Ma  r- 
c  hand-Ewerk  e. 


Wird  der  Thrombus  herausgeschleudert,  so  entstehen 
massenhafte  Lungenembolien  (Anders,  Garkisch),  das 
beißl,  Metastasen  in  der  Lunge,  die  rasch  zum  Tode  führen. 
.  m  li  gioße  Aeste  der  Pulmonalarterie  können  auf  diese 
Weise  verlegt  werden  (H  a  mm  erschlag,  Marc  hand  II). 
i  o  i  ^  haben  aber  wiederholt  darauf  hingewiesen, 
dab  das  lötale  Gewebe  in  seiner  Ernährung  ausschließlich 
aut  das  mütterliche  Rlut  u.  zw.  auf  das  zirkulierende,  an¬ 
gewiesen  ist. 

Jede  Störung  der  Zirkulation  führt  zu  einer  Schädi- 
gung  des  fötalen  Epithels,  zur  Nekrose  desselben  und  jede 
Schädigung  des  fötalen  Gewebes  begünstigt  wieder  die 
I  hrombose. 

Kommen  nun  Fälle  in  diesem  Zustande 
der  \  enen,  insbesonders  der  spermatikalen 
V  e  n  e  n,  z  u  r  Operation,  so  verhalten  sich  diese 
ursprünglichen  Geschwulst thromben  wie  ge¬ 
wöhnliche  Thromben  und  es  können  tro^tz 
aller  Insulte  Metastasen  vermieden  werden, 
selbst  in  den  Fällen,  wo  minder  fest  haftende 
Thromben  losgelöst  und  versclile  p  p  t  werde  n. 

\  erschleppungen  von  Geschwulstteilen  bei  günstigem 
Kollateralkreislauf  bleiben  jedoch  auch  in  diesen  Fällen 
möglich. 

U  n  d  w  i  r  b  r  a  uchen  nur  noch  einen  Schritt 
weiter  zu  tun  und  können  uns  vorstellen,  daß 

durch  ausgebreitete  und  vollständige  Throm¬ 
bose  auch  der  ganze  Tumor,  wenn  er  sich  auf 
diese  V  e  neu  bezirke  beschränkt  h  a  t,  der  N  e- 
k  r  o  s  e  verfällt,  resorbiert  wird  und  ganz  ver¬ 


schwindet 


eine  spontane  und  dauernde 


Rückbildung  eines  malignen  Chorioepithe 
1  i  o  m  s !  , 

Line  wertvolle  Unterstützung  dieser  Anschauungen 
finden  wir  bei  Gottschalk: 


„Beide  Gewebsarten  können  von  Haus  aus  selbst  assi¬ 
milieren,  sich  selbst  ernähren,  nur  bedürfen  sie  dazu  des 
Lebens  im  mütterlichen  Blute.  .  .  .  Wenn  es  möglich  wäre, 
das  Blut,  in  welchem  diese  Gewebselemente  vegetieren, 
zur  vollkommenen  Gerinnung  zu  bringen  und  eine  erneute 
Blutzufuhr  hintanzuhalten,  (so  müßten  sie  bestimmt  zugrunde 
gehen,  denn  nur  im  steten  unmittelbaren  Kontakte  mit  dem 
1  bissigen  Blute  können  sie  gedeihen.“ 

Und  von  diesen  Gesichtspunkten  aus 
wollen  wir  die  folgende  Beobachtung,  eine 
Spontanheilung,  betrachte  n! 

M.  H.,  32  Jahre. 

F'ie  ersten  Menses  mit  17  Jahren,  regelmäßig,  vierwöchent- 
Imh,  drei  bis  vier  Tage  dauernd.  Erster  Partus  1898,  zweiter 
1900,  beide  spontan,  am  normalen  Schwangerschaftseii.de.. 

Die  Periode  war  neun  Monate  nach  der  letzten  Geburt 
—  die  Frau  stillte  das  Kind  —  wieder  aufgetreten  und  blieb  bis 
März  1903  Vollständig  regelmäßig.  Im  Anschlüsse  an  die  zur 
richtigen  Zeit  einsetzende  Märzperiode  stellte  sich  eine  länger 
dauernde  Blutung  ein,  wegen  welcher  die  Fra»  auswärts  aus- 
gekratzt  wurde. 

Vom  Mai  bis  August  war  die  Periode  wieder  regelmäßig. 
Die  .Augustperiode  trat  verspätet  ein.  Die  Blutung  war  ziemlich 
heilig  und  dauert  mit  geringen  Unterbrechungen  bis  jetzt  -- 
November  an  und  ist  auch  die  Ursache  ihres  Eintrittes  in 

die  Klinik. 


Ob  Eiteile  mit  der  Blutung  abgingen,  weiß  die  Kranke  nicht; 
subjektive  Schwangerschaftszeichen  waren  nicht  vorhanden. 

3.  November  1903:  Status  praesens.  Die  Kranke  ist  groß, 
hat  einen  kräftigen  Knochenbau,  ist  jetzt  sehr  abgemagert,  sehr 
anämisch.  Haut  und  sichtbare  Schleimhäute  äußerst  blaß:  die 
Kranke  klagt  über  die  lang  dauernde  Blutung  aus  dem  Genitale, 
durch  die  sie  ganz  geschwächt  sei, 

Ueber  den  Lungen  überall  vesikuläres  Atmen,  normaler 
Lungenschall,  gut  bewegliche  Lungengrenzen ;  am  Herzen  keine 
Besonderheit.  Die  Abdominalorgane  bieten  normalen  Befund. 

Im  Harne  Spuren  von  Eiweiß. 

Status  gynaecologicus :  Alter  inkompletter  Dammriß.  An  der 
hinteren  Vaginalwand,  ungefähr  U,4  cm  vom  Introitus  entfernt, 
ein  über  erbsengroßer,  ziemlich  harter  Knoten ;  er  ist.  bläulich 
durchscheinend  und  trägt  an  der  Kuppe  eine  für  eine  dünne 


708 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


Sonde  durchgängige  Oeffnung,  aus  welcher  weder  Blut  noch 
Sekret  abfließt.  " 

Hinten  und  links,  ungefähr  in  der  Mitte  der  Vagina,  ein 
ähnlicher,  haselnußgroßer  Knoten,  bläulich  durchscheinend,  ela¬ 
stisch  sich  anfühlend.  Die  Schleimhaut  darüber  intakt,  gut  ver¬ 
schieblich. 

Ein  dritter  solcher  Knoten  etwa  von  Mandelgröße’  unmittel¬ 
bar  hinter  der  Symphyse. 

Uterus  deutlich  vergrößert,  retroponiert,  in  Anteversio-flexio 
fast  unbeweglich  durch  über  fingerdicke,  strangförmige  Infiltrate 
der  beiden  Parametrien.  Die  Infiltrate  schieben  sich  deutlich 
nach  vorne  gegen  die  Blase  vor. 

Zur  Sicherung  der  Diagnose  wird  der  kleine1,  nahe  dem 
Introitus  sitzende  Knoten  zum  Zwecke  der  Untersuchung  exzi- 
diert. 

Mikroskopische  Diagnose:  Malignes  Chorioepitheliom. 

Die  vaginale  Totalexstirpation  wird  beschlossen.  Operation 
am  9.  November  1903  (Hof rat  Schauta). 

Zunächst  werden  aus  dem  Uterus  mit  der  Kürette  einzelne 
bröckelige  Massen  und  Schleimhautfetzen  entfernt. 

Es  wird  nun  in  der  Absicht,  Vagina  und  Uterus  zu  ent¬ 
fernen,  zunächst  die  vordere  Vaginalwand  mit  dem  unter  dar 
Symphyse  gelegenen  und  mit  der  Unterlage  verwachsenen  Tumor 
abzulösen  versucht.  Es  zeigt  sich  dabei,  daß  der  Tumor  mit  der 
Blase  verwachsen  ist;  es  wird  beim  Ablösen  des  Tumors  von 
der  Blase  letztere  eröffnet. 

>  Nun  zeigt  sich  bei  nochmaliger  Untersuchung,  daß  die  Ge¬ 
schwulstmassen  sich  weit  in  das  Becken  hinein  fortsetzen,  so 
daß  an  eine  radikale  Entfernung!  dieses  beinahe  das  ganze  Becken¬ 
zellgewebe  infiltrierenden  Tumors  nicht  zu  denken  ist. 

Es  wird  daher  die  Operation  abgebrochen,  die  Blase  mit 
Katgut  vernäht  und  die  Vaginalwunde  tamponiert. 

Patientin  hat  in  den  ersten  vier  Tagen  nach  der  Operation 
gefiebert,  erholte  sich  aber  merkwürdigerweise  auffallend  rasch. 

Zehn  Tage  nach  der  Operation  wird  der  Verweilkatheter 
entfernt;  Patientin  ist  inkontinent. 

Die  Blutung  ist  seit  der  Operation  nicht  wiedergekeihrt. 
Die  Erholung  der  Patientin  hält  an,  die  Kräfte  nehmen  zu.  Pa¬ 
tientin  verläßt  18  Tage  nach  der  Operation  das  Bett. 

Vier  Wochen  nach  der  Operation  wurde  die  erste  vaginale 
Untersuchung  vorgenommen:  das  ganze  Chorioepitheliom  war 
verschwunden,  kein  Infiltrat  mehr  zu  tasten,  alles  weich.  Der 
Uterus,  der  früher  starr  und  unbeweglich  war,  ist  jetzt  beweglich. 

Nach  zwei  Monaten  wurde  die  Patientin  mit  der  Fistel 
entlassen.  Das  Allgemeinbefinden  war  vorzüglich,  am  Genitale 
keine  Aenderung. 

Drei  Monate  später  wird  die  Fistel  geschlossen;  Patientin 
sieht  blühend  aus  und  bleibt  dauernd  —  jetzt  sieben  Jahre  nach  der 
Operation  —  gesund. 

Das  ist  aber  eine  der  bemerkenswertesten  Beobach¬ 
tungen  auf  dem  Gebiete  des  malignen  Chorio epithelioma. 
Denn  diese  Diagnose  müssen  wir  trotz  des  günstigen  Aus¬ 
ganges  aufrecht  erhalten. 

Die  Kranke  wurde  in  einem  ganz  desolaten  Zustande 
mit  der  Diagnose  malignes  Chorioepitheliom  in  die  Klinik 
geschickt.  Hier  wurde  die  Diagnose  durch  Exzision  des 
Knotens  und  Untersuchung  desselben  verifiziert;  darauf¬ 
hin  wurde  die  Totalexstirpation  beschlossen.  Schon  vor 
der  Operation  waren  wir  uns  darüber  im  Klaren,  daßi  die 
Aussicht  auf  radikale  Entfernung  der  Tumormassen  nicht 
groß  sei.  Während  der  Operation  erwies  sich  die  radikale 
Ausführung  als  unmöglich,  die  Operation  wurde  ab¬ 
gebrochen,  die  Wunde  versorgt  und  die  Kranke  ins  Bett, 
gebracht. 

Die  Kranke  war  verloren;  es  konnte  sich  nur  darum 
handeln,  wann  es  zum  Exitus*  kommen  werde.  Daß  dieser 
nicht  lange  auf  sich  warten  lassen  werde,  war  bei  dem 
elenden  Kräftezustand  sehr  wahrscheinlich. 

Es  sollte  aber  anders  kommen. 

Die  Blutungen  hatten  nach  der  Operation  aufgehört. 
Die  ersten  Tage  post  operationem  zeigten  nichts 'Bemerkens¬ 
wertes  im  Befunde  der  Kranken. 

Aber  schon  nach  der  ersten  Woche  fiel  uns  auf,  daß 
die  Kranke  sich  wohler  fühle,  das  objektive  Befinden  hatte 
sich  wenigstens  nicht  verschlechtert.  Und  kurze  Zeit  darauf 
ging  es  der  Kranken  entschieden  besser,  die  Anämie  war 
geringer,  der  Kräftezustand  hob  sich  auffällig  und  die  Kranke 
verließ  das  Bett. 


Als  wir  vier  Wochen  nach  der  Operation  die  Kranke 
zum  ersten  Male  genauer  untersuchen  konnlen,  war  das 
maligne  Chorioepitheliom  verschwunden,  das  kleine  Becken 
war  frei  und  der  früher  fixierte  Uterus  gut  beweglich. 

Wir  behielten  die  Kranke  durch  Jahre  in  Evidenz, 
sie  blieb  dauernd  gesund. 

Die  Ausheilung  müssen  wir  eine  spontane  nennen; 
mit  der  Operation  können  wir  sie  nicht  in  Verbindung 
bringen.  Es  war  ja  die  Operation  nur  begonnen  worden  und 
wurde  dann  gleich  aufgegeben.  Wir  sind  der1  festen  Ueber- 
zeugung,  daß  sich  derselbe  Ausgang  eingestellt  hätte, 
wenn  auch  der  Versuch  der  Operation  unterblieben  wäre, 
weil  der  Tatbestand,  den  wir  für  die  Ausheilung  des  Chorio- 
epithelioms  verantwortlich  machen,  die  Thrombose  der 
Beckenvenen  bereits  vor  der  Operation  bestand. 

Trotzdem  der  Uterus  leer  war,  tragen  wir  doch  Scheu, 
das  Chorioepitheliom  für  ein  ektopisches  zu  erklären.  Denn 
es  ist  uns  nicht  klar  geworden,  was  eigentlich  im  Uterus 
vor  sich  ging.  Die  Frau  blutete  durch  drei  Monate.  Da 
sich  gar  kein  Anhaltspunkt  für  die  Annahme  einer  Blutung 
aus  der  Vagina  findet  —  die  Schleimhaut  war  über  dem 
viginalen  Knoten  unversehrt  - —  so  müssen  wir  die  Quelle 
der  Blutung  in  den  Uterus  verlegen. 

Das  Kürettement  war  negativ,  oder  vorsichtig  gesägt, 
scheinbar  negativ;  neben  spärlicher,  aber  normaler  Schleim¬ 
bau  I  fanden  wir  bröckelige  Massen,  die  sich  mikroskopisch 
als  nekrotisches,  strukturloses  Gewebe  erwiesen.  Nirgends 
auch  nur  eine  Spur  von  fötalen  Zellen.  Das  ist  der  tat¬ 
sächliche  Befund;  er  ist.  nicht  befriedigend.  Denn  es  könnte 
ja  der  Fall  sein,  wie  es  wiederholt  vorgekommen  ist,  daß 
trotz  des  negativen  Kürettements  der  Tumor  im  Uterus 
schwer  zugänglich  saßi.  Und  wenn  jemand  sagen  wollte, 
daß  die  bröckeligen  Massen,  die  mit  der  Kürette  aus  dem 
Uterus  entfernt  wurden,  auf  einen  nekrotischen  Tumor  im 
Uterus  Hinweisen,  so  könnten  wir  auch  nicht  viel  dagegen 
erwidern. 

Es  war  ja  beabsichtigt  gewesen,  den  Uterus  mit  zu 
entfernen;  dies  unterblieb,  als  sich  der  Fall  als  inoperabel 
erwies,  so  daß  wir  leider  nicht  wissen,  ob  ein  Tumor  im 
Uterus  saß. 

Anatomisch  verdienen  einige  Punkte  hervorgehoben 
zu  werden.  Der  Tumor  hatte  seine  Ausbreitung  vorwiegend 
in  den  parametranen  Venen  gefunden;  diese  Venen  waren 
aber  thrombosiert  und  präsentierten  sich  als  harte,  strang¬ 
förmige  Infiltrate  des  Parametriums.  Wir  kommen  auf  diesen 
Punkt  gleich  zurück. 

Der  Tumor  selbst  ist,  soweit  er  erhalten  ist  und  dies 
gilt  für  die  vaginale  Metastase,  identisch  mit  dem  gewöhn¬ 
lichen  Bilde  des  typischen  malignen  Chorioepithelioms.  Er 
weicht  morphologisch  in  gar  nichts  ab  und  anatomische 
Unterschiede  im  Bau,  auf  die  sich  der  günstige  Ausgang 
beziehen  ließe,  sind  nicht  vorhanden. 

Gan2  anders  verhält  sich  der  in  den  thrombosierten 
vaginalen  Venen  befindliche  Anteil  des  Tumors;  dieser  be-  ; 
findet  sich  in  Nekrose.  Man  muß  oft  ziemlich  lange  suchen, 
um  intakte  Partien  zu  finden.  .Man  findet  solche  Stellen 
einmal  in  der  Mitte,  ein  anderes  Mal  an  der  Peripherie  der 
thrombosierten  Vene.  Die  deutlich  als  Tumorgewebe  er¬ 
kennbaren  Partien  sind  klein;  der  Tumor  hatte  aber  früher 
eine  größere  Ausdehnung  besessen,  wie  an  den  absterben¬ 
den,  aber  eben  noch  erkennbaren  Tumorresten  zu  er¬ 
kennen  ist. 

Wir  halten  diesen  Befund,  Nekrose  des 
Tumors  in  einer  thrombosierten  Vene,  für 
außerordentlich  wichtig,  weil  darin  die 
E  rklärung  für  die  spontane  Rückbildung  ge¬ 
geben  is  t. 

Der  symphysenwärts  gelegene  Knoten  stand  in  di¬ 
rektem  Zusammenhänge  mit  dem  anderen  tumorartigen  In¬ 
filtrate;  wir  dürfen  wohl  annehmen,  daß  auch  diese  Massen 
nichts  anderes  als  thrombosierte  Venen  waren  und  daß 
auch  hier  der  Tumor  sich  in  Nekrose  befand. 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


709 


Es  hatte  sich  das  maligne  Chorioepitheliom  auf  die 
Becken-  und  die  vaginalen  Venen  beschränkt  und  durch 
diesen  glücklichen  Umstand  war  auf  Basis  der  Thrombose 
dieser  Gefäße  die  spontane  Heilung  möglich  geworden. 

Trotz  der  spontanen  Rückbildung  dürfen  wir  den 
Iianor  nicht  gutartig  nennen.  Vom  Hause  aus  ver¬ 
hielt  sich  der  Tumor  wie  jedes  andere  maligne  Chorioepi- 
Iheliom ;  die  Patientin  machte  bei  ihrer  Aufnahme  in  die 
Klinik  den  Eindruck  einer  Schwerkranken.  Es  bestand 
jene  Anämie  und  Kachexie,  wie  wir  sie  beim  malignen 
Chojcioepitheliom  zu  sehen  gewohnt  sind.  Auch  Albuminurie 
fehlte  nicht. 

Metastasen  waren  in  der  Vagina  vorhanden.  Das  Tu- 
morgewebe  selbst  bestand  aus  wucherndem  Chorioepithel. 
Klinik  und  Anatomie  waren  in  voller  Uebereinstimmung. 
Kurz,  es  waren  alle  typischen  Erscheinungen  vorhanden 
und  kein  Mensch  hätte  bei  der  Aufnahme  der  Kranken  in 
die  Klinik  daran  zweifeln  können,  daßi  es  sich  um  ein 
malignes  Chorioepitheliom  handle.  Nun  kommt  die  spon¬ 
tane  Ausheilung;  das  ist  die  entscheidende  Tatsache.  Und 
wer  sich  nur  von  diesem  Endeffekt  leiten  ließe,  könnte  leicht 
zur  Annahme  eines  gutartigen  Chorioepithelioms  gelangen 
und  sagen :  das  maligne  Chorioepitheliom,  das  spontan  zur 
Ausheilung  kommt,  war  eben  kein  malignes  Chorio¬ 
epitheliom. 

Und  doch  ist  dieser  Standpunkt  nicht  zu  billigen ;  denn 
der  Endeffekt,  so  wichtig  und  entscheidend  er  auch  ist, 
vermag  keine  Auskunft  darüber  zu  geben,  ob  der  glück¬ 
liche  Ausgang  auf  einer  Aenderung  der  fundamentalen  Eigen¬ 
schaften  der  fötalen  Zellen  beruht,  oder  ob  der  glückliche 
Ausgang  durch  zufällige  akzidentelle  Momente  herbeigeführt 
wird.  Aenderung  der  fundamentalen  Eigenschaften  der 
fötalen  Zellen  sind  uns  nicht  bekannt;  sie  sind  unwahrschein¬ 
lich.  Dagegen  haben  wir  durch  unsere  Auseinandersetzun¬ 
gen  Umstände  kennen  gelernt,  die  die  Bösartigkeit  ungeheuer 
erhöhen  und  wieder  andere  Umstände,  die  unter  beson¬ 
deren  Verhältnissen  einen  Tumor  zu  eliminieren  vermögen, 
indem  er  von  der  Zirkulation  ausgeschaltet  wird  und  ab¬ 
stirbt,  ohne  idaßi  die  fötalen  Zellen  in  den  ihnen  innewoh¬ 
nenden  Eigenschaften  eine  Aenderung  erfahren  würden. 

Der  glückliche  Ausgang  des  Falles  widerspricht  also 
nicht  unserer  Auffassung,  daßi  wir  es  mit  einem  wirk¬ 
lichen  Chorioepitheliom  zu  tun  haben  und  ist  diese 
Auffassung  mit  dem  Wesen  des  malignen  Chorioepithelioms 
gut  vereinbar. 

Wie  weit  sich  die  Verhältnisse  unseres  Falles  auf  die 
anderen  bekannt  gewordenen  Fälle  von  spontaner  Rück¬ 
bildung  übertragen  lassen,  das  kann  man  an  der  Hand  der 
vorliegenden  Publikationen  kaum  untersuchen.  Vielleicht 
ließe  sich  dieser  oder  jener  Fäll  heranziehen  (zum  Beispiel 
Hör  mann).  Da  aber  auf  die  Venenthrombose  nicht  ge¬ 
achtet  wurde,  so  könnten  wir  nur  Vermutungen  Vorbringen. 

Eines  möchten  wir  aber  sicher  glauben,  daß  der  von 
uns  beschriebene  Vorgang  der  Spontanheilung  kein  rarer, 
zufälliger  ist,  sondern  einen  bestimmten  Typus  darstellt. 
Man  wird  künftighin  in  jedem  Falle  diese  Verhältnisse  be¬ 
rücksichtigen  müssen. 

In  den  Fällen  von  Marchand-Ewerke  und 
Schmorl  blieben  in  den  zentralen  Venen  Tumormassen 
zurück.  Der  (Fall  gesundete  aber  trotzdem.  Es  wird  speziell 
der  erste  Fall  überall  als  Beispiel  angeführt,  daß  Heilung 
trotz  unvollständiger  Operation  vorkomme.  Wir  glauben, 
daß  dieser  Vorgang  sich  bei  der  Häufigkeit  der  Erkrankung 
der  betreffenden  Venen  zahllose  Male  wiederholt;  es  ist 
bisher  nur  wenig  oder  gar  nicht  beachtet  worden.  Es 
dürfte  auch  hier  die  Thrombose  nach  Unterbindung  der 
Gefäße  eine  sehr  große  Rolle  spielen,  indem  die  in  den 
zentralen  Venen  steckenden  Tumorteile  durch  Thrombose 
unschädlich  gemacht  werden. 

Sehr  verlockend  ist  auch  der  Gedanke, 
di  esen  Vorgang  der  Spontanheilung  künst¬ 
lich  nach  zu  ahme  ri. 


Wir  sind  heute  alle  darüber  einig,  daß  alle  Tumoren 
chorioepilhelialer  Natur  exstirpierl  werden  müssen,  so  lange 
dies  technisch  überhaupt  möglich  ist.  Speziell  Fixation  ries 
Uterus,  Infiltration  der  Parametrien,  die  in  den  meisten, 
wenn  nicht  in  allen  Fällen  nichts  anderes  als  Venenthrom¬ 
bosen  sind,  dürfen  keine  Gegenanzeige  abgeben. 

Immerhin  wird  es  noch  Fälle  geben,  wo  die  ope¬ 
rative  Entfernung  nicht  mehr  möglich  ist;  anstatt  in  diesen 
Fällen  die  Hände  in  den  Schoß  zu  legen,  möchten  wir  Vor¬ 
schlägen,  durch  Unterbindung  der  großen  Venen  möglichst 
ausgedehnte  Thrombosen  herbeizuführen,  um  vielleicht  auf 
diese  Weise,  wo  es  mit  dem  Messer  nicht  möglich  ist,  der 
schrecklichen  Krankheit  Herr  zu  werden. 

Der  Vorschlag  ist  wohl  diskutabel  und  für  Fälle,  wo 
eben  nichts  mehr  zu  hoffen  ist,  anwendbar. ' 

In  der  Literatur  ist  bereits  eine  kleine  Reihe  von 
Spontanheilungen  und  Heilungen  nach  unvollständigen  Ope¬ 
rationen  bekannt.  Es  sind  dies  die  Fälle  von  Fleisch¬ 
mann,  Ahlfeld  (Risl  i),  Litt  au  er  (Risl  II),  Lang- 
hans,  v.  Franque,  Hör m  a n n  und  Kauf m a n n. 

IV. 

Wie  ein  Blick  auf  unsere  Tabellen  zeigt,  erfolgt  die 
Metastasierung  nicht  allein  auf  dem  Wege  der  Venen)  son¬ 
dern  es  können  Geschwulstteile  auch  auf  arteriellem  Wege 
verschleppt  werden. 

Der  Uebertritt  der  Geschwulstteile  aus  der  venösen 
Bahn  in  die  arterielle  kann  auf  dem  Seltenen  Wege  des  offe¬ 
nen  Foramen  ovale  und  durch  Passieren  der  Lungenkapil¬ 
laren  erfolgen.  In  den  meisten  Fällen  jedoch,  in  denen  die 
Verschleppung  durch  den  arteriellen  Kreislauf  stattfand,  ist 
das  Formen  ovale  in  den  Sektionsprotokollen  gar  nicht  er¬ 
wähnt. 

Anfangs  schien  es  uns  gar  nicht  wahrscheinlich,  daß 
die  großen  choriöepithelialpn  Zellen  den  Weg  der  Lungen¬ 
kapillaren  passieren,  später  kamen  wir  jedoch  durch  sorg¬ 
fältiges  Studium  der  Krankengeschichten  dahin,  diesen  Weg 
für  gewisse  Fälle  für  möglich,  ja  sogar  für  wahrscheinlich 
anzusehen.  1 

Jedenfalls  sind  diese  beiden  Wege  nicht  die  einzigen. 
Es  besteht  nämlich  noch  die  Möglichkeit  eines  direkten 
Einbruches  der  fötalen  Zellen  in  eine  Arterie.  Denn  wir 
konnten  bei  der  Untersuchung  eines  vaginalen  primären 
Knotens,  der  sich  in  der  klinischen  Sammlung  befand,  die 
Arrosion  einer  kleineren  Arterie  feststellen;  der  Tumor 
reichte  auf  einer  Seite  bis  an  die  (Arterie  heran,  zerstörte  die 
Gefäßwand  dieser  Seite,  die  fötalen  Zellen  substituierten 'die 
Wand  bis  an  die  Intima  und  auch  die  Elastika  dieser  Seite 
war  vollständig  geschwunden. 

Wenn  auch  der  Durchbruch  an  dieser  Stelle  noch 
nicht  in  das  Lumen  erfolgt  war  —  wir  konnten  leider  das 
Gefäß  nicht  weiter  verfolgen  —  so  haben  wir  es  doch 
mit  einer  zweifellos  weit  vorgeschrittenen  Arrosion  einer 
Arterie  zu  tun;  es  ist  dies  eine  prinzipiell  wichtige  Kon¬ 
statierung.  j 

So  weit  wir  uns  in  dieser  Frage  orientieren  konnten, 
wird  das  Eindringen  von  fötalen  Zellen  in  die  Wand  einer 
Arterie  selten  beschrieben.  Die  Eröffnung  von  Arterien 
dürfte  bei  der  physiologischen  Destruktion  des  Eichens  kaum 
je  Vorkommen;  aber  auch  bei  der  pathologischen  ist  sie 
nicht,  häufig  beschrieben,  vielleicht,  weil  bisher  nicht  genug 
darauf  geachtet  wurde. 

Damit  dürfte  auch  der  Schleimhautdefekt  an  der  Kuppe 
des  vaginalen  Tumors,  der  sich  fast  konstant,  findet  und  der 
für  die  Diagnose  eine  nahezu  pathognomische  Bedeutung  be¬ 
sitzt,  seine  Erklärung  finden  ;  die  fötalen  Zellen  gelangen 
nach  Arrosion  der  Arterie  in  die  Blutbahn,  werden  ver¬ 
schleppt,  verstopfen  die  subkutanen  Kapillaren  und  brin¬ 
gen  damit  die  Schleimhaut  an  einer  zirkumskripten  Stelle 
zur  Nekrose.  Nach  Ausstoßung  der  nekrotischen  Partie  ent¬ 
steht  der  oben  erwähnte  Schleimhautdefekt. 

Dieser  Einbruch  in  eine  Arterie  kann  natürlich  über¬ 
all  erfolgen,  wo  chorioepitheliale  Herde  existieren.  Außer- 


710 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


halb  der  Lunge  ist  dies  der  wichtigste,  ■  wenn  nicht  der 
einzige  Weg  des  Uebertriltes  von  fötalen  Zellen  in  den  ar¬ 
teriellen  Kreislauf.  Für  die  Frage  der  allgemeinen  Ueber- 
schwemmung  des  arteriellen  Kreislaufes  mit  Geschwulst¬ 
teilen,  spielt  dieser  Modus  nur  eine  untergeordnete  Rolle. 
Für  die  allgemeine  Metastasierung  bietet  wohl  die  Lunge 
besondere  Prädispositionen  und  spielt  sich  der  Vorgang 
folgendermaßen  ah : 

Wir  kennen  ja  die  Eigentümlichkeit  der  fötalen 'Zellen, 
daß  sie  die  Gefäße,  in  die  sie  als  Emboli  hi  nein  gelangt 
sind,  von  innen  nach  außen  durchbrechen,  wobei  ,cs  zu 
Blutungen  kommt,  dann  ziehen  die  Zellen  gegen  .das  nächste 
Gefäß  und  brechen  jetzt  in  dieses  von  außen  nach  innen 
ein.  Es  ist  dieser  Vorgang  gut  bekannt,  speziell  von  An¬ 
ders  betont  und  auch  von  uns  oft  beobachtet. 

In  der  Lunge  gewinnt  aber  dieser  Vorgang  eine  be¬ 
sondere  Bedeutung.  Mit  dem  venösen  Blutstrom  gelangen 
die  verschleppten  Geschwulstteile  durch  den  rechten  Ven¬ 
trikel  in  die  Arteria  pulmonalis  und  bleiben  in  den  feinen 
A  es  len  derselben  stecken.  Die  Aestchen  werden  bald  durch¬ 
brochen,  wobei  die  so  häufigen  Lungenblutungen,  Blut¬ 
husten,  entsteht.  Die  Zellen  brechen  dann  in  die  nächsten 
Gefäße,  darunter  auch  Lungenvenen,  ein  und  damit  ist  der 
unbehinderte  Eintritt  in  den  arteriellen  Kreislauf  gegeben. 

So  erklärt  es  sich,  daß  die  Gesc h w ulst 
teil  e,  t.  r  o  t  zdem  sie  ursprünglich  nur  in  de  n 
Venen  stecken,  schließlich  durch  de n  Uebe r- 
tritt  in  die  Vena  pulmonalis  überallhin  ge¬ 
langen  k  ö  n  n  e  n. 

Wir  waren  anfangs  wenig  geneigt,  der  direkten  Pas¬ 
sage  durch  die  Kapillaren  das  Wort  zu  reden;  denn  die 
Arrosion  der  Gefäße  gehört  zu  den  fundamentalen  Eigen¬ 
schaften  der  fötalen  Zellen  und  es  liegt  sehr  nahe,  diese 
Eigenschaft  der  Zellen  für  den  Ueber tritt  in  den  arteriellen 
Kreislauf  heranzuziehen.  An  unterstützenden  mikroskopi¬ 
schen  Befunden  hat  es  nicht  gefehlt.  (M.ar  ch  an  d, 'Ri  s  1.) 

Wenn  man  aber  die  Krankengeschichten  von  diesen 
Gesichtspunkten  aus  durchblättert,  so  steigen  doch  Zweifel 
auf,  wie  weit  dieser  von  uns  angenommene  Modus  allge¬ 
mein  gültig  ist.  Dieser  Weg  hat  die  Metastase  in  der 
Lunge  als  Voraussetzung ;  von  ihr,  als  einem  neuen  Zentrum, 
aus  entsteht  die  weitere  Verschleppung. 

Iläll  man  sich  nun  zum  Beispiel  an  die  Gehirnmeta¬ 
stase,  die  bekanntlich  durch  ihren  besonderen  Sitz  sich 
rasch  dokumentiert,  so  sieht  man  in  zahlreichen,  speziell 
in  den  rasch  ad  exitum  führenden  Fällen,  idaß  diese  häufig 
so  früh  auf  tritt,  als  ob  sie  früher  noch,  oder  mindestens 
zur  selben  Zeit  wie  die  Lungenmetastase  entstanden  wäre. 

Und  auch  wenn  man  annimmt,  daß  Gehirnmeta¬ 
stasen  rascher  wie  alle  anderen  Erscheinungen  machen, 
so  werden  wir  doch  veranlaßt,  anzunehmen,  daß  die  Tumor¬ 
zellen  auch  auf  dem  direkten  Wege  durch  die  Lungenkapil¬ 
laren  in  die  arterielle  Bahn  gelangen  können. 

Unaufgeklärt  bleibt  aber,  warum  die  absolut  konstanten 
Lungenmetastasen  der  ohne  Operation  ad  exitum  gelan¬ 
genden  Fälle  'so  selten  Veranlassung  zu  weiteren  Metastasen 
gehen ;  es  ist  bemerke nswer t,  daß  in  der  großen 
Mehrzahl  dieser  Fälle  die  Metastasierung  auf 
d  en  venösen  Kreislauf  beschränktbleibt,  wäh- 
r  e  n  d  bei  den  stürmisch  verlaufenden  Fälle  n 
die  Metastasierung  auf  arteriellem  Wegefast 
ohne  Ausnahme  nachweisbar  ist. 

Wie  schon  lange  bekannt,  sind  die  wichtigsten  und 
die  hei  weitem  am  häufigsten  Metastasen,  die  in  der 
Lunge.  Von  all  den  Fällen,  die  mit  und  ohne  Operation, 
an  dem  Chorioepitheliom  zugrunde  gehen,  finden  sich 
kaum  ein  bis  zwei  Fälle,  in  denen  diese  Metastasen  gefehlt 
haben. 

Es  ist  dies  eigentlich  selbstverständlich,  da  die  Lunge 
wie  ein  Schwamm  alle  ihr  durch  den  venösen  Strom  zu¬ 
geführten  Geschwulstteile  aufnimmt.  Dabei  ist  wohl  sicher, 
daß  die  Lunge  viel  häufiger  Embolien  erhält,  als  Meta¬ 
stasen  entstehen.  Von  mikroskopisch  kleinen  Embolien  bis 


zu  solchen,  die  die  Arteria  pulmonalis  mehr  oder  minder 
ausfüllen,  sind  alle  Üebergänge  vorhanden.  In  einem  Teile 
mögen  die  losgelösten  Partikelchen  in  ihrer  Vitalität  schon 
geschädigt  gewesen  sein.  In  anderen  Fällen  können  die 
Embolien  in  den  Gefäßen  der  Lunge  am  Orte  doi  Vei Schlep¬ 
pung  zugrunde  gehen,  in  noch  anderen  entstehen  Lungen-* 
infarkte  (v.  Franque),  welche  die  fötalen  Zellen ’einschlie¬ 
ßen  und  das  Izirkulierende  Blut  abhalten,  bis  schließlich  doch 
aus  dem  verschleppten  Materiale  ein  neues  selbständiges 
Wachstum  entsteht. 

Daß  Embolien  an  Ort  und  Stelle  zugrunde  gehen 
können,  haben  wir  in  der  Vagina  gesehen  und  auch  für 
Lungenembolien  angenommen,  bis  wir  später  eine  diiekte 
Bestätigung  bei  Risl  fanden. 

Sehr  wichtig  ist,  zu  wissen,  daß  die  Lun¬ 
genmetastasen,  so  lange  eine  artefizielleVer- 

s  c h leppung  v e r m i  e d e n  wir  d,  im  a  1 1  g e m einen 

spät  entstehen.  .  Y 

Ausnahmen  kommen  ja  vor,  wie  die  Fälle  von  Schl  a- 
genh a ufer  und  R a a b  zeigen,  die  in  30,  respektive 
34  Tagen  post  partum  tödlich  endigen.  Es  sind  diese 
Fälle  glücklicherweise  seltene  Ereignisse.  Für  die  große 
Mehrzahl  der  Fälle  gilt  unsere  Behauptung,  daß  der 
Organismus  bei  bestehendem  malignen  Chorioepitheliom 
eine  gewisse  (leider  nicht  bestimmbare)  Zeit  frei  von 
allen  “Metastasen  bleibt  und  daß  die  schlimmsten  Meta¬ 
stasen  und  die  konstantesten,  die  der  Lunge,  relativ  spät 
auf  t  reten 

Sind  diese  einmal  da,  so  gehen  die  Kranken  jauch 
ziemlich  rasch  zugrunde.  Es  ist  dies  die  komplizierende 
Pneumonie,  die  den  Exitus  herbeiführt.  Totes  infarziertes 
Material  ist,  ebenso  genügend  vorhanden,  wie  die  Infektions¬ 
möglichkeit  groß  ist.  . 

Das  Einsetzen  der  Lungenmetastasen  macht  sich  kli¬ 
nisch  rasch  bemerkbar;  Schüttelfrost,  ansteigende  Tempe¬ 
ratur  und  Bluthusten  sind  die  Regel.  Am  besten  kann  man 
diese  Symptome  nach  Ausschabungen  betrachten. .  Inter¬ 
essant  ist,  daß  das  Fieber  so  häufig  nach  zwei  bis  drei 
Tagen  spurlos  verschwindet.  Es  fällt  schwer,  dieses  Fieber 
nur  auf  eine  Infektion  zu  beziehen.  Schlagen  hau  fei 
ist  geneigt,  das  Fieber  in  seinem  Falle  nur  auf  Geschwulst¬ 
embolie  zurückzuführen  und  wir  möchten  uns  S  ch  lagen  - 
haufers  Ansicht  anschließen.  Aber  auch  die  anderen  Er¬ 
scheinungen,  die  man  als  Metastase  deuten  mußte,  können 

verschwinden.  [  - 

Man  vergesse  aber  einerseits  nicht,  daß  auch  größere 
Embolien  in  die  Aeste  der  Arteria  pulmonalis  stattfinden 
können,  ohne  daß  aus  der  Embolie  auch  eine  Metastase 
entstünde.  Anderseits  sind  Ausheilungen  von 
Lungcnmetastasen  sichergestellt.  Risl  hat 
dafür  den  histologischen  Beweis  erbracht. 

Dadurch  gewinnen  auch  die  klinischen  Angaben  über 
Ausheilungen  von  Lungenmetastasen  an  Wert;  solche  Be- 
richte  liegen  vor  von  C  h  r  o  b  a k,  v.  F  r  a  n  q  u  6,  L  a  d  i  n- 
s  k  y,  Kvorostans  k  y,  Lönnburg-Mann  h  ei  m  e  r, 
Pestalozza,  Zagorianski,  Svaine  und  Michel. 
In  allen  diesen  Fällen  bestanden  höchstwahrschein¬ 
lich  Metastasen  in  der  Lunge;  die  von  denselben 
ausgehenden  Symptome  schwanden  angeblich  mit  der 
Entfernung  des  Haupttumors.  Es  scheint,  daß  die  In¬ 
farktbildung  und  die  damit  einhergehende  Thrombose  eine 
große  Rolle  bei  der  Ausheilung  spielt  (v.  Franque). 

Leider  läßt  sich  diese  Angabe  nicht  mit 
Sicherheit  feststellen;  sie  wäre  wohl  geeig¬ 
net,  unsere  Indikation  für  die  Operation  we¬ 
sentlich  zu  beeinflussen. 

Erwähnenswert  ist  noch,  daß  auch  Bronchien  von 
dem  Tumor  arrodiert  werden  können  (Risl,  Winkler), 
wodurch  das  Vorkommen  von  Tumorzellen  im  Sputum 
leichter  verständlich  wird. 

Auch  zu  Fehldiagnosen  haben  Lungenmetastasen  Ver¬ 
anlassung  gegeben,  insbesondere  dann,  wenn  die  Genital¬ 
erscheinungen  in  den  Hintergrund  treten;  so  finden  wir 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


711 


Fälle,  die  als  chronische  1  uborkulose,  akute  miliare  Tuber¬ 
kulose  und  perniziöse  Anämie  geführt  werden. 


fast  ehe  ns  o  häufig  wie  die  Lungenmeta- 
s  t  a  s  e  ist  die  Sc  he  idenmetastase;  sie  tritt  aber 
fruhei  aut,  ist.  zumeist  die  erste  Erscheinung  der  Ver¬ 
schleppung,  unterscheidet  sich  aber  in  ihrer  klinischen  Be¬ 
deutung  wesentlich  von  allen  anderen  Metastasen. 

Pathologisch  -  anatomisch  ist  die  vaginale  Metastase 
jeder  anderen  gleichzusetzen ;  klinisch  nimmt  sie  eine  Son¬ 
derstellung  ein.  Um  es  gleich  zu  sagen,  wir  schließen  uns 
^Veit  in  der  Beurteilung  der  klinischen  Dignität  an.  Es 
lehrt  uns  die  Erfahrung,  daß  das  Vorhandensein  der  va¬ 
ginalen  Metastase  die  Prognose  nicht  wesentlich  trübt,  wenn 
nur  andere  Metastasen  fehlen.  Allerdings  nimmt  V ei  t  dabei 
den  Standpunkt  ein,  daß  die  vaginale  Metastase  im  strengen 
sinne  des  Wortes  noch  keine  Metastase,  keine  beginnende 
Generalisierung  des  Tumors  bedeutet. 

.  ^  enn  wir  uns  auch  der  Begründung  Veits  und  seinen 
Ansichten  über  die  Malignität  des  Chorioepithelioms  nicht 
anschließen  können,  die  Tatsache,  von  der  Veit  ausgeht, 
die  von  den  anderen  Metastasen  so  ganz  verschiedene  Dig- 
nität  der  vaginalen  Metastase  im  klinischen  Sinne,  bleibt 
aufrecht. 

Auch  hier  sind  Ausheilungen  sicher  nicht 
seltener  als  in  der  Lunge,  trotzdem  sich  in  der  Lite¬ 
ratur  nur  wenige  Angaben  darüber  finden.  Langhaus 
berichtet  über  eine  Spontanheilung  (Fall  III3).  Bekannt  ist 

Fall  Dun  gar.  Wegen  Chorioepitheliom  wurde  am 
10.  Oktober  die  vaginale  Totalexstirpation  gemacht.  Am 
3.  Dezember  wurde  eine  vaginale  Metastase  konstatiert,  aber 
die  Kranke  verweigerte  die  Operation.  Nach  4 Vs  Monaten 
war  die  Frau  vollkommen  gesund;  an  der  Stelle,  wo  der 
Tumor  saß,  war  eine  halbkirschgroße,  annähernd  kugelige, 
nicht  besonders  feste  Resistenz,  die  deutlich  unter  der 
Schleimhaut  lag. 

Uebei  eine,  vielleicht  hiehergehörende,  aber  unvoll¬ 
ständige  Beobachtung,  wollen  wir  mit  wenigen  Worten  be¬ 
richten. 

Es  ^  handelte  sich  um  einen  primären,  vaginalen 
Tumor  (Sch mit  I),  der  mit  gutem  Erfolg  operiert  worden 
war.  Die  Frau  stellte  sich  in  gewissen  Zeitabständen  vor. 
Zirka  acht  Monate  nach  der  Operation  fand  sich  —  nach¬ 
dem  fiühei  nie  etwas  bemerkt  worden  war  —  ein  kirschen¬ 
großer,  bläulich  durchschimmernder  Tumor  in  der  Vagina, 
von  dem  nicht  sicher  zu  sagen  war,  wie  man  ihn  deuten 
solle.  Mit  Rücksicht  auf  die  vorhergegangene  Erkrankung 
mußte  man  auch  an  eine  Metastase  des  malignen  Chorio¬ 
epithelioms  denken.  Der  kleine  Tumor  wurde  exzidiert  und 
erwies  sich  als  ein  mit  ganz  niedrigem  Epithel  oder  Endo¬ 
thel  ausgekleidetes  Zystchen,  mit  reichlichen  Anhäufungen 
mit  Blutpigment.  . 

Da  dieses  Zystchen  früher  bestimmt  nicht  vorhanden 
war,  auch  nicht  in  der  Scheidennarbe  saß,  so  ist  sein  Vor¬ 
kommen  bemerkenswert.  Es  ist  nicht  unmöglich,  wenn  .auch 
nicht  zu  beweisen,  daß'  es  sich  hier  um  einen  analogen 
lall  wie  bei  Dun  gar  handelte,  um  eine  Ausheilung  einer 
vaginalen  Metastase  (mit  Ausgang  in  ein  Zystchen.  Heilungen 
nach  unvollständigen  Operationen  sind  häufiger.  Jüngst  er¬ 
wähnt,  Michel  eine  solche;  wir  selbst  konnten  in  einem 
lalle  zeigen,  daß  der  Tumor  nicht  im  Gesunden  operiert 
worden  war  und  trotzdem  trat  vollständige  Heilung  ein. 

Labhart  berichtet  über  einen  sehr  interessanten 
melier  gehörenden  Fall. 

Es  wird  ein  Uterus  wegen  malignen  Chorioepithelioms 
supravaginal  amputiert.  Einen  Tag  später  tritt  eine  starke 
Blutung  aus  der  Vagina  ein.  Die  Inspektion  ergibt  eine 
kleine  typische  Metastase  am  Urethralwulst,  die  an  der 
Kuppe  eine  Lücke  hat  und  aus  der  es  heftig  blutet.  Tam¬ 
ponade  vergeblich.  Da  der  Zustand  der  Kranken '.bedenklich 


wird,  wird  von  einer  sofortigen  Exstirpation  des  Tumors 
abgesehen  und  die  Blutung  durch  Umstechungen  gestillt. 

I  rp  ec  is  ^a§e  später  wird  die  Stelle  nachgesehen  — 
cler  lumor  war  verschwunden. 

Wichtig  ist  die  dabei  konstatierte  Arrosion  einer  Ar- 
ene;  wir  möchten  glauben,  daß  diese  viel  häufiger  vor¬ 
kommt,  als  wir  es  annehmen.  Denn  solche  schwere  Blu¬ 
tungen  wie  die  eben  beschriebenen,  kommen  genug  häufig 
voi  und  bedrohen  das  Leben.  Schmauch  und  Fleisch¬ 
mann  sprechen  direkt  von  arteriellen  Blutungen  in  ihren 
■’allen;  auch  tödlicher  Verlauf  trotz  sachgemäßer  Hilfe  ist 
bekannt  (Ol  sh  au  sen,  Risl). 

,  r . .  FF™11,  folSen  an  Häufigkeit  Metastasen  in  Leber 
;\J  1 1 z,  Gehirn,  Parametriu m  und  N i e r e. 

■  F  e  h  i  i  n  m  e  t  a  s  t  a  s  e  n  sind  selten  bei  den  mit  einem 
uterinen  Tumor  behafteten,  ohne  Operation  verstorbenen 
riauen,  dagegen  häufig  bei  den  ektopischen  und  den  nach 
der  Operation  rasch  zum  Tode  führenden  Fällen. 


Durch  das  rasche  Wachstum  des  Tumors  und  die 
sie  begleitende  Blutung  entstehen  oft  stürmische  Erschei¬ 
nungen,  die  an  eine  Apoplexie  denken  lassen.  Und  man 
kann  sich  vorstellen,  welche  Schwierigkeiten  sich  der 
klinischen  Diagnose  entgegenstellen  können,  wenn  die 
Genitalerscheinungen,  wie  es  sogar  bei  uterinem  Sitze 
es  Pnmärtumors  vorkommt,  in  den  Hintergrund  treten 
und  nichts  auf  die  richtige  Spur  weist. 

■  Far  nicht  selten  sind  Metastasen  im  Darme,  Ovar 
Blase,  selten  Thyreoidea,  Herz,-  Muskulatur  und 
subkutanem  Gewebe.  Ueber  die  Lymphdrüsen 
haben  wir  bereits  eingangs  berichtet.  Ihr  Verhalten  beim 
malignen  Chorioepitheliom  ist  nahezu  charakteristisch.  Sie 
ei  kranken  recht  selten ;  während  beim  Karzinom  die^  Drüsen¬ 
frage  eine  der  maßgebendsten  ist,  um  die  sich  alles  dreht 
kommen  beim  malignen  Chorioepitheliom  die  Drüsen  kaum 
in  Betracht.  Es  fehlt  speziell  jede  Prädisposition  zur  Er¬ 
krankung  der  regionären  Lymphdrüsen. 

Auch  die  Frage  des  Rezidivs  muß  gestreift  werden.  Es 
ist  allgemein  bekannt,  daß  die  uterinen  Tumoren  nach  unvoll¬ 
ständiger  Entfernung  mit  Finger  und  Kürette  ungeheuer 
rasch  nachwachsen.  Ebenso  bekannt  ist,  daß  oft  nach  Ex¬ 
stirpation  von  vaginalen  Knoten,  die  scheinbar  im  Gesunden 
eilolgte,  neue  Tumoren  rasch  wieder  entstehen  können.  Gar 
keine  Frage,  daß  hier  häufig  genug  Rezidiv  und  lokale  Meta¬ 
stase  verwechselt  wurden.  Eine  nachträgliche  Entscheidung 
an  der  Hand  der  Krankengeschichten  ist  aber  in  der  Regel 
nicht  möglich. 

Aber  ganz  anders  steht  die  Sache,  wenn  wir  uns  die 
spezielle  Frage  vorlegen,  wie  oft  ein  Rezidiv  in  der  Scheiden¬ 
wundnarbe  oder  im  Parametrium  nach  der  Totalexstirpation 
des  erkrankten  Uterus  vorkommt. 

Und  da  ergibt  sich  die  überraschende  Tatsache,  daß 
em  Rezidiv  nach  der  Totalexstirpation  des  Uterus  recht 
selten  ist.  Man  muß  zahlreiche  Krankengeschichten  und 
Obduktionsbefunde  durchlesen,  um  auf  ein  wirkliches  Re¬ 
zidiv  zu  stoßen;  überall  finden  wir  Metastasen,  allgemeiner 
und  lokaler  Natur,  dagegen  hat  das  Rezidiv  als  Todesursache 
gai  keine  Bedeutung  und  tritt  gegenüber  der  (Wichtigkeit  der 
Metastasen  ganz  in  den  Hintergrund. 

Es  ist  (diese  latsache,  die  bisher  überhaupt  keine  Wür¬ 
digung  gefunden  hat,  von  verschiedenen  Gesichtspunkten 
aus  von  Wichtigkeit  und  Interesse.  1 

Zunächst  kommt  sie  etwas  überraschend;  denn  für 
die  Entstehung  eines  lokalen  Rezidives  in  den  Parametrien 
ist  genügend  Prädisposition  vorhanden.  Man  denke  nur 
an  die  Fälle  von  M  a  r  c  h  a  n  d  -  E  w  e  r  k  e,  S  c  h  m  o  r  1, 
Gottschall,  R  u  n  g  e,  man  denke  nur  an  die  von  uns. 
so  'sehr  betonte  Tatsache,  daß  die  Erkrankung  der  pararne- 
tranen  und  kpermatikalen  Gefäße  eine  so  häufige,  ja  typische 
ist.  Damit  wird  gezeigt,  daß  sehr  häufig  Tumorgewebe  in 
den  zentralen  Venen  zurückbleibt  und  von  hier  aus  müßte 
das  lokale  Rezidiv  recht  häufig  sein.  Das  ist  aber  nicht 
der  Fall. 


3)  Hegar,  Bd.  5,  S.  1. 


712 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


Die  Erklärung  scheint  nicht  schwer  zu  sein.  Die  zu¬ 
rückbleibenden  Tumormassen  stecken  ausschließlich  in 
den  Venen.  Alle  diese  Venen  im  Parametrium  und  Liga¬ 
mentum  latum  thrombosieren  nach  der  Operation,  ob  sie 
1  i giert  waren  oder  nicht  und  die  in  ihnen  befindlichen  Massein 
verfallen  der  Nekrose. 

Diese  Konstatierung  ist  nicht  ohne  Be¬ 
deutung;  da  wir  das  Rezidiv  hei  de  r  R  a  d  i  k  a  1  - 
operation  nur  wenig,  über  alles  aber  die  Me¬ 
tastasen  zu  fürchten  haben. 

Wenn  wir  dieses  Verhalten  des  Rezidivs 
festhalten,  an  die  spontane  A u s h e i  1  u n g  de r 
p  r  i  m  ä  r  e  n  Uterustumoren  und  der  Metastase  n 
denken  und  auch  die  Ausheilung  nach  u  nvol  1- 
k  o  m  menen  Operationen  heranziehe  n,  s  o 
müssen  wir  wohl  sagen,  daß  esi  sich  d  a  b  e  i 
nicht  mehr  um  seltene  und  zufällige  L  i  e  i  g- 
uisse  handelt.  Wir  wären  geneigt,  in  den  spontanen 
Heilungen  des  malignen  Chorioepithelioms  eine  wichtige 
Eigenart  zu  erblicken,  wie  wir  sie  bei  keinem  anderen 
Tumor  mehr  sehen. 

Diese  Ausheilungen  offenbaren  uns  die 
geringe  Widerstandskraft  der  fötalen  Zellen 
und  ihre  große  Abhängigkeit  vom  zirkulie¬ 
renden  m .ütterlichen  B 1  u t e. 

Es  besitzen  diese  Zellen  eine  enorme  Destruktions¬ 
fähigkeit,  dadurch  entstehen  schwere  Blutungen,  die  die 
Frauen  rasch  gefährden;  sie  können  durch  ihren  Sitz  in 
den  mütterlichen  Gefäßen  rasch  über  den  ganzen  Organis¬ 
mus  verschleppt  werden  und  in  wenigen  Wochen  zum  lode 
führen.  Aber  sie  besitzen  keine  eigenen  Gefäße,  sie  sind 
in  ihrer  Ernährung  absolut  auf  das  mütterliche  Blut  ange¬ 
wiesen.  Kommt  es  zu  Ernährungsstörungen  durch  Throm¬ 
bose  der  Gefäße,  so  verfallen  die  fötalen  , Zellen  rasch  der 
Nekrose  und  es  spielt  die  Nekrose  hier  (edne  größere  Rolle, 
wie  bei  jedem  anderen  Tumor  und  es  hängt  wie  in  unserem 
Falle  nur  von  dem  Grade  der  Ernährungsstörungen  ab,  damit 
eine  spontane  dauernde  Heilung  entstehe.  Die  spontanen 
Heilungen  haben  anfangs  verblüffend  gewirkt;  wenn  man 
aber  die  Sache  von  unserem  Gesichtspunkte  aus  betrachtet, 
so  basiert  die  Möglichkeit  der  spontanen  Ausheilung  ebenso 
auf  bestimmten  physiologischen  Eigenschaften  der  chorialen 
Zellen  und  gehört  mit  zum  Wesen  des  malignen  Chorioepi¬ 
thelioms,  ebenso  wie  wir  dies  von  den  Verderben  bringen¬ 
den  Eigenschaften  der  Zellen  des  malignen  Chorioepithe¬ 
lioms  anzunehmen  gewohnt  sind.  So  paradox  es 
klingt,  steht  dicht  neben  der  Möglichkeit  der 
schrankenlosen  Metastasierung  die  der  spon¬ 
tanen  Heilung. 

Wo  Schwangerschaft  vorkommt,  kann 
auch  ein  malignes  Chorioepitheliom  ent¬ 
stehen;  und  so  sehen  wir  diese  Tumoren  lebenso  bei 
jungen  Frauen,  wie  bei  Frauen  in  den  Fünfzigerjahien.  Ls 
werden  auch  Fälle  beschrieben,  wo  Frauen  an  malignem 
Chorioepitheliom  erkrankten,  die  schon  einige  Zeit  im  Kli¬ 
makterium  standen.  Diese  Fälle  waren  früher  unverständ¬ 
lich.  Mit  dem  Aufhören  der  Menses  erschien  eine  Schwan¬ 
gerschaft  nicht 'möglich.  Man  mußte  auf  weit  (zurückliegende 
Schwangerschaften  zurückgreifen  —  oder  an  der  Diagnose 
zweifeln. 

Heute  wissen  wir  aber,  daß  auch  noch  nach  dem 
Sistieren  der  Menses  Gravidität  entstehen  kann ;  wir  iwären 
geneigt,  zur  Erklärung  der  in  der  Menopause  entstehenden 
Tumoren  eher  auf  solche  nicht  alltägliche  Graviditäten  zu 
reflektieren,  als  auf  acht  bis  neun  Jahre  zurückliegende 
Schwangerschaften  zurückzugreifen. 

S  c h o  n  d  i  e  ersten  Autoren  wußt e n,  d aßi  d as 
maligne  Chorioepitheliom  zu  m  eist  nach 
Blasenmole,  dann  nach  jungen  Aborten,  aber  auch 
nach  normalen  Geburten  auftritt. 

Das  Verhältnis  zu  diesen  verschiedenen,  dem  Tumor 
vorausgehenden  Schwangerschaftsprodukten,  wird  folgender¬ 
maßen  angegeben  (zum  Teil  nach  Risl  zitiert): 


Chorio- 

Blasenmole  Abortus 

Norm.  Partus 

epithet. 

L  a  d  i  n  s  k  i : 

128 

51  mal  =  39% 

— 

— 

Teacher: 

188 

73  .,  =  36'6%  59 

=  31% 

49  =  28% 

B  r  i  q  u  e  1 : 

217  ’ 

90  „  =  41 ’5%  73 

=  33% 

49  =  22 % 

Mc.Kenna: 

78 

38  „  =50%  15 

=  20% 

24=30 % 

H  itschman 

n:  240 

HG  .,  =48%  73 

=  30-4°/ 

,  51  =  21% 

Cristololetti: 

Vollen 

Einblick  in  dieses  Verh; 

lltnis  gewinnt  man 

erst,  wenn 

man  nachforsch!,  wie  oft.  nach  leiner 

Blasenmole 

ein  Chorioepitheliom  entsteht.  Es  fand: 

Kehrer: 

nach 

50  Blasenmolen  0 

Chorioepithel. 

König: 

99 

12  „  0 

99 

G  i  g  1  i  o : 

99 

20  „  0 

>9 

Oster: 

20  „  2 

99 

(zwei  Fälle 

benorcheus:  ,, 

49  „  1 

99 

zweifelhaft; 

Menge: 

99 

23  „  3 

99 

J.  Neumann:  ,, 

8  3 

99 

C  a  v  i  g  i  n : 

n 

25  „  1 

99 

Krömer: 

99 

15  „  5 

99 

Summe  .  900  Rlasenmolen  15  =  7 %%  Chorioepithel. 


Im  Durchschnitt  kommt  das  maligne  Chorioepitheliom 
nach  Blasenmole  in  44%,  'nach  Abortus  in,  29%,  nach  reifem 
Partus  in  25%  der  Fälle  vor. 

Und  von  200  Blasenmolen  waren  15  =  7-5%  von 
einem  malignen  Chorioepitheliom  gefolgt. 

Sicherlich  spiel!  die  Blasenmole  noch  die  wichtigste 
ätiologische  Rolle  beim  malignen  Chorioepitheliom  und  doch 
ist  diese  früher  noch  überschätzt  worden.  Hatte  inan  doch 
früher  geglaubt,  daß  diese  in  70%  der 'Fälle  dem  malignen 
Chorioepitheliom  vorausgehe  und  ging  doch  Solovij  so 
weit,  in  jedem  Falle  von  Blasenmole,  die  Uterusexstirpation 
vorzuschlagen.  Denselben  Vorschlag  hatte  Pestalozza 
1891  gemacht  und  hält  ihn  noch  heute  aufrecht. 

Krömer  sagt  noch  1907:  „Alle  diese  geschilderten 
pathologischen  Symptome . lassen  es  geraten  er¬ 

scheinen,  die  Blasenmole  als  Chorioepitheliom  schlechthin 
zu  bezeichnen.“ 

Dazu  ist  allerdings  keine  Verat  lassung  vorhanden  und 
man  muß  sich  hüten,  aus  kleinen  Zahlen  Scnlüsse  zu  ziehen, 
wie  dies  ja  Krömers  Zusammenstellung  schlagend  he- 
weist. 

Auch  die  Indikationen  von  Anders  und  Butz  sind 
heute  nicht  mehr  aufrecht  zu  erhalten,  sie  sind  nicht  in 
Einklang  zu  bringen  mit  dem  wahren  Verhältnis  Ider  Blasen¬ 
mole  zum  Chorioepitheliom  und  widersprechen  auch  den 
früher  von  uns  entwickelten  diagnostischen  Prinzipien. 

Dagegen  bleibt  der  Satz,  den  Schauta  schon  voi 
vielen  Jahren  ausgesprochen,  aufrecht,  daß  man  jeden  Fall 
von  Blasenmole  durch  längere  Zeit  in  Evidenz  halten  müsse. 
Man  vergesse  aber  nicht,  daß  nach  der  Blasenmole  die 
blutig  -  seröse  Ausscheidung  bis  zu  drei  Wochen  post  partum 
anlialten  kann  und  sei  bei  der  Verwertung  des  mikroskopi¬ 
schen  Befundes  bei  Ausschabungen  nach  Blasenmole  des 
Umstandes  bedacht,  daß  eine  intensive  Durchsetzung  der 
Serotina  mit  fötalen  Zellen  zum  gewöhnlichen  Bilde  der 
Blasenmole  gehört. 

Einen  etwas  anderen  Standpunkt  nimmt  Veit  ein; 
er  betrachtet  eine  partielle  oder  totale  Blasenmole  als  Vor¬ 
aussetzung  für  das  Chorioepitheliom  und  glaubt,  daß  eine 
solche  stets  dem  malignen  Chorioepitheliom  vorausgeht. 
Veit  kommt  dadurch  zu  dieser  Ansicht,  daß  er  die  par¬ 
tielle  Blasenmole  bei  jungen  abortiven  Eiern  sehr  häufig 
gefunden  zu  haben  glaubt. 

Das  deckt  sich  aber  nicht  mit  unserer  Erfahrung. 

Es  ist  aber  schließlich  diese  ganze  Annahme  nicht 
notwendig.  Das  Wichtigste  ist,  ob  proliferierendes  oder  pro¬ 
liferationsfähiges  Epithel  vorhanden  ist  und  dies  ist  der 
Fall  ebenso  bei  Blasenmole  wie  hei  Abortus.  Daran  halten 
wir  allerdings  fest.  Und  aus  diesem  Grunde  müssen  wir 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


713 


auch  die  Angabe,  daß  ein  Chorioepitheliom  in  25%  der 
Fälle  nach  einem  reifen  Partus  entstehe,  in  Zweitel  ziehen. 

Es  sind  nicht  viele  Fälle  bekannt,  die  mit  Sicherheit 
zeigen,  daß  das  Chorioepitheliom  auch  aus  einer  reifen 
Plazenta  entstehe,  die  meisten  Beobachtungen  sind  nicht,  ein¬ 
deutig.  Man  darf  nicht  vergessen,  daß  das  Epithel  der  reifen. 
Plazenta  atrophisch  ist,  Langhanszellen  fehlen,  das  Synzytium 
ist  wesentlich  reduziert,  so  daß  man  sich  nur  schwer  ent¬ 
schließen  kann,  aus  einem  solchen  Epithel  eine  Neubildung 
entstehen  zu  lassen.  Zwar  wurde  auch  über  größere  und 
kleinere  Throphoblastreste  in  der  reifen  Plazenta  berichtet, 
aber  auch  diese  Gerichte  wirken  nicht  überzeugend.  Dagegen 
vermag  man  in  den  meisten  Fällen  eine  junge  Schwanger¬ 
schaft  post  partum  maturum  nicht  aus!zuschließen. 

Erst  in  letzter  Zeit  wurde  eine  ganz  exakte  Beob¬ 
achtung  gemacht,  die,  wenn  auch  eine  Frühgeburt  unsere 
Zweifel  beseitigt. 

Walthard  beschreibt  folgenden  Fall:  Es  handelt 
sich  um  ©ine  37jährige  Frau,  die  zum/ fünften  Male  schwanger 
war  und  im  siebenten  Monate  der  Schwangerschaft  Blu¬ 
tungen  bekam;  er  fand  in  der  vorderen  und  hinteren  Wand 
der  Scheide  Tumoren,  die  nur  Metastasen  eines  malignen 
Chorioepithelioms  sein  konnten.  Die  mikroskopische  Unter¬ 
suchung  der  exstirpierten  Tumoren  verifizierten  die  Dia¬ 
gnose.  Darauf  Sectio  caesarea,  Exstirpation  des  graviden 
Uterus.  Im  Uterus  und  an  der  genau  untersuchten  Plazenta 
fand  sich  nichts  Pathologisches.  Sieben  Monate  später  Tod 
an  multiplen  Metastasen. 

Die  Beobachtung  ist  auch  sonst  sehr  wichtig,  .lahre- 
lang  hatte  man  auf  eine  ähnliche  Beobachtung  gefahndet, 
da  man  sich  aus  der  Untersuchung  der  Plazenta  wertvolle 
Schlüsse  für  die  Genese  des  Chorioepithelioms  versprach. 
Aber  die  sehr  genaue,  in  Serien  vorgenommene  mikrosko¬ 
pische  Untersuchung  der  Plazenta  ergab,  daß  weder  ein 
Primärtumor  im  Sinne  eines  Chorioepithelioma  plazentae, 
noch  blasenmolenartige  Veränderungen,  oder  andere  Ver¬ 
änderungen  nachgewiesen  werden  konnten,  welche  auf  eine 
besondere  Wucherungsenergie  der  Plazentarzellen  deuten. 

Dieser  Fall  Walt  hards  ist  also  ein  ekto¬ 
pisches  Chorioepitheliom,  ein  lehrreiches 
Beispiel  dafür,  daß  ektopische  Tumoren  ent¬ 
stehen  können,  ohne  daß  an  der  Plazenta  oder  an 
ihrem  Sitze  etwas  Pathologisches  aufzufinden  wäre. 

Diese  ektopischen  Fälle  sind  gar  nicht  so  selten; 
Risl  hat  bereits  im  Jahre  1903  an  30  Fälle  zu¬ 
sammengestellt  und  heute  ist  die  Zahl  derselben  ent¬ 
sprechend  größer.  Trotz  der  absoluten  Identität  der  Fälle 
ist  der  klinische  Ausgang  ganz  verschieden ;  wir  sehen 
hier,  von  welchen,  oft  zufälligen  Momenten,  die  Malignität 
eines  Falles  abhängig  ist.  Es  kommt  bei  dem  ektopischen 
Chorioepitheliom  entweder  zur  Entwicklung  eines  einzigen 
Herdes  oder  zu  multiplen  Herden  zugleich.  Ist  der  einzige 
Herd  an  einer  leicht  zugänglichen  Stelle  wie  in  der  Vagina, 
so  wird  er  aus  bereits  erwähnten  Gründen  leicht  diagnosti¬ 
ziert  und  früh  operiert  u.  zw.  vielfach  mit  dem  Erfolge,  der 
zur  Annahme  eines  gutartigen  Chorioepithelioms  geführt  hat. 

Es  muß  dies  aber  nicht  immer  der  Fall  sein;  denn 
auch  von  diesen  vaginalen  Tumoren  können  Metastasen 
entstehen  und  Wum  Tode  führen.  Immerhin  ist 'die  Prognose 
dieser  vaginalen  Tumoren  bei  frühzeitiger  Operation  eine 
relativ  gute. 

Fälle  mit  multiplen  Herden  sind  natürlich  von  Haus 
aus  bösartig;  durch  besondere  Bösartigkeit  zeichnen  sich 
die  ektopischen  Tumoren  aus,  die  nach  einer  normalen 
Schwangerschaft  entstehen.  Alle  endigten  letal.  (S  c  h  m  o  r  1, 

Walthard.) 

Es  ist  auch  noch  die  Frage  zu  streifen,  wie  wir  uns 
zum  Uterus  verhalten  sollen  bei  bestehenden  vaginalen 
Knoten.  Die  Antwort  ist  nicht  schwer  zu  geben:  Ist  der 
vaginale  Tumor  ein  primärer,  das  heißt,  ist  der  Uterus 
frei,  so  ist  keine  Veranlassung  gegeben,  an  dem  Uterus  zu 
rühren.  So  gingen  Schauta-Schmitt  vor.  Die  Schwie-  I 


rigkeit  liegt  vielmehr  in  der  Entscheidung,  o  b  der  Uterus 
frei  ist. 

In  der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  erfolgen  die  Meta¬ 
stasen  in  den  ersten  sechs  Monaten  nach  der  Operation, 
spärlicher  nach  dieser  Zeit.  Doch  wird  noch  das  Auftreten 
von  Metastasen  zwei  Jahre  nach  der  Operation  beschrieben. 
Dies  dürfte,  wenn  man/  diese  Operationen  anerkennen  will, 
der  äußerste  Termin  sein.  Wir  fanden  zwei  solche  Fälle 
auf,  die  von  Hammer  schlag  und  Litt  au  er  beschrie¬ 
ben  wurden.  Doch  halten  beide  Beobachtungen  einer 
strengen  Kritik  nicht  stand. 

Uns  scheint  eine  lange  Latenzzeit  für  die 
fötalen' Zellen  nicht  wahrscheinlich  zu  sein; 
immerhin  wäre,  wenn  diese  beiden  Beobach¬ 
tungen  im  Sinne  der  Autoren  zu  Recht  bestün¬ 
den,  der  Zeitraum  von  zwei  Jahren  die '.Grenze, 
jenseits  welcher  das  Auftreten  von  Meta¬ 
stasen  nicht  einmal  mehr  von  den  Autoren 
behauptet  wird. 

Wir  können  alle  Fälle,  die  zwei  Jahre 
nach  der  Operation  noch  gesund  sind,  als  ra¬ 
dikal  geheilt  betrachten. 

Eine  noch  längere  Latenzzeit  wurde  in  einzelnen 
Fällen  zwischen  Gravidität  und  Auftreten  des  primären 
Tumors  angenommen.  Doch  bestehen  hier  die  größten  (Diffe¬ 
renzen.  J  ;  i  1  ! 

Wir  haben  auf  der  einen  Seite  Fälle  mit  so  kurzer 
Latenzzeit,  daßi  man  nach  Tagen  rechnen  muß,  oder  besser 
gesagt,  eine  Latenzzeit  fehlt.  Auf  der  anderen  Seite  wird 
von  jahrelanger  Latenz  berichtet.  So  betrug  die  Latenzzeit 
(nach  Risl)  im  Fälle : 


M c.  Kenna 

9  Jahre 

Sandberg 

5  „ 

H  o  1 1  e  m  a  n  n 

41/.  „ 

Eierman  n 

4  „ 

D  u  n  g  a  r 

3  „ 

T  r  e  u  b 

2 

Fleischmann 

23A  „ 

L  ö  h  1  e  i  n 

174  „ 

Diese  Annahme  der  Autoren  beruht  aber  nur  'auf  den 
subjektiven  Angaben  der  kranken  Frauen ;  wie  wenig  verlä߬ 
lich  diese  sind,  wenn  es  sich  um  die  Ausschließung  einer 
eventuell  ganz  jungen  Gravidität  handelt,  ist  doch  allgemein 
bekannt.  Wie  oft  sehen  wir  Frauen  wegen  Blutungen  die 
Klinik  aufsuchen,  welche  auf  die  Frage  nach  der  Gravidität 
diese  bestimmt  verneinen,  bis  dann  die  mikroskopische 
Untersuchung  der  ausgeschabten  Schleimhaut  Abortusreste 
nachweist. 

Dagegen  konnten  wir  die  Latenzzeit  zwischen  Primär¬ 
tumor  und  Metastasenbildung  durch  objektive  Symptome 
feststellen.  Was  hier  gilt,  dürfte  auch1  sonst  für  die  Frage 
der  Latenz  der  fötalen  Zellen  Geltung  haben. 

Ebenso  wie  wir  für  die  Metastasen  nur  durch  die 
(nicht  einwandfreie)  Beobachtung  Lissauer s  gezwungen 
ein  Maxim  u  m  der  Latenzzeit  von  zwei  Jahre  n 
annehmen,  ebenso  glauben  wir,  daß  auch  hier  jede  An¬ 
gabe  über  einen  längeren  Zeitraum  zwischen  Schwanger¬ 
schaft  und  Auftreten  des  Primärtumors  nur  mit  großer  Re¬ 
serve  aufzunehmen  ist. 

Wir  wollen  nicht  unerwähnt  lassen,  daß  March  and 
wenigstens  seinerzeit  eine  längere  Latenzzeit  nicht  ohne 
weiteres  ablehnte. 

Wie  groß  der  Prozentsatz  der  D  a  u  e  r  h  e  i- 
I  u  ngen  ist,  darüber  läßt  sich  gar  nichts  sagen:  Bisher  wurde 
nicht  einmal  die  Frage  aufgeworfen,  wann  ein  Fall  als 
dauernd  geheilt  zu  betrachten  ist.  Wir  haben  nun  schon 
früher  gezeigt,  daß  alle  Fälle,  die  zwei  Jahre  nach  der 
Operation  noch  gesund  sind,  als  dauernd  geheilt  betrachtet 
werden  können. 

Wir  haben  uns  bemüht,  uns  auf  dieser  Basis  —  an 
der  Hand  der  von  uns  gesammelten  Kasuistik  —  einen 
Einblick  in  dieser  Frage  zu  verschaffen.  Aber  ganz  ver- 


714 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


geblich;  es  ist  jede  Statistik  unmöglich,  da  die  meisten 
Beobachtungen  ganz  kurze  Zeit  nach  der  Operation  mit¬ 
geteilt  werden  und  fast  gar  keine  Mitteilungen  über  Nach¬ 
forschungen  bestehen. 

Wir  'müssen  daher  auch  die  Zahlen,  die  P  o  1  a  n  o  und 
Teacher  bringen,  ablehnen.  Polano  gibt  einfach  50% 
Dauerheilungen  an,  ohne  zu  sagen,  wie  er  zu  dieser  Ziffer 
gelangt  ist.  Teacher  nennt  gar  63%  Dauerheilungen.  Doch 
beruht  diese  Angabe  auf  einem  Irrtum.  Es  handelt  sich, 
wie  eine  Durchsicht  der  Tabellen  Teachers  ergibt,  nicht 
um  Dauerresidtate,  sondern  Teachers  Berechnung  beruht 
auf  Grund  des  Gesundheitszustandes  zur  Zeit  der  Publi¬ 
kation  der  Einzelnen  Fälle;  daß  dieser  Zustand  aber  für  eine 
Statistik  der  Dauerheilungen  nicht  geeignet  ist,  haben  wir 
eben  hervorgehoben. 

Es  ist  eine  Sache  der  Unmöglichkeit,  auf  Grund  dieser 
Literatur  eine  Statistik  zu  machen. 

Wenn  Wir  auch  nicht  zahlenmäßig  über  die  operativen 
Resultate  aussagen  können,  so  dürfen  Avir  doch  allgemein 
sagen,  daß  die  Resultate  bei  weitem  besser  sind,  als  man 
anfangs  ;zu  hoffen  Avagte. 

Doch  darf  man  nicht  vergessen,  daß"  nach  unserer 
Auffassung  die  ganze  bisherige  Operationsweise  als 
irrationell  bezeichnet  werden  muß;  wir  hoffen,  daß  durch 
Beachtung  unserer  Vorschläge  die  artefizielle  Metastasie¬ 
rung  Avenigstens  zum  Teile  zu  vermeiden  sein  wird,  wohl 
der  AAÜchtigste  Faktor  zur  Erzielung  besserer  Operations¬ 
resultate. 

Aber  auch  die  Grenzen  der  Operabilität 
müssen  weiter  gezogen  Averden  u.  zav.  soweit 
als  eine  technische  Möglichkeit  zum  Operie¬ 
ren  v  o  r  1  i  e  g  t. 

Man  liest  'noch  heute  oft  genug,  daß  von  der  Operation! 
Avegen  'Fixation  des  Uterus,  wegen  Infiltration  des  Para- 
metriums  abgesehen  Avurde,  ganz  nach  der  Analogie  mit 
dem  Karzinom,  trotzdem  auch  hier  jeder  Vergleich  mit  dem 
Karzinom  undurchführbar  ist. 

Wir  haben  aber  schon  dargetan,  daß  der  klinische 
Tastbefund,  der  eben  früher  zur  Diagnose  parametranes 
Infiltrat  geführt  hatte,  zumeist  auf  einer  Venenthrombose 
beruht  und  keine  Kontraindikation,  gleichgültig,  ob  es  sich 
um  eine  Geschwulstthrombose  handelt  oder  nicht,  für  die 
Operation  abgibt. 

Dasselbe  gilt  auch  für  die  Metastasen  der  Vagina. 
Diese  nehmen,  wie  wir  schon  bei  einer  anderen  Gelegen¬ 
beit  auseinandergesetzt  haben,  prognostisch  eine  besondere 
Stellung  ein. 

Selbst  bei  schon  vorhandenen  Metastasen  der  Lunge 
ist  der1  Versuch  der  Operation  nicht  prinzipiell  abzulehnen. 
Denn  wir  wissen  heute  mit  Sicherheit,  daß  auch  Lungen- 
inetastasen  ausheilen  können. 

Es  ist  der  Gedanke  nicht  ganz  von  der  Hand  zu 
Aveisen,  daß  der  mütterliche  Organismus  nach  Entfernung 
der  Hauptmasse  'des  Tumors  mit  den  anderen  metastatischen 
Wucherungen  leichter  fertig  Avird.  Beweise  lassen  sich  dafür 
nicht  erbringen,  es  verträgt  sich  aber  sehr  gut  mit  dem 
Gedanken,  daß  die  Schutzkräfte  des  mütterlichen  Organis¬ 
mus  der  ganzen  großen  Masse  des  fremden  GeAvebes  gegen¬ 
über  versagen,  mit  kleineren  Anteilen  aber  fertig  werden. 
Es  lassen  'sich  die  Ausheilungen  von  Lungenmetastasen  nach 
Entfernung  des  Haupttumors  Avoid  in  diesem  Sinne  deuten. 

Es  spricht  dies  alles  dafür,  daß  man  im  allgemeinen 
das  Vorhandensein  von  Metastasen  nicht  als  prinzipielle 
Gegenindikation  gegen  die  Operation  gelten  lasse. 

Schon  vor  Jahren  sprach  sich  Anders  dafür  aus, 
daß  man  die  Indikation  beim  malignen  Chorioepitheliom 
Avciter  ziehen  solle  als  beim  Karzinom. 

Eindringlich  setzt  sich  für  die  Erweiterung  der  Ope- 
ralions!grenze  Zagorianski-Kissel  ein. 

Auch  Hörmann  ist  der  Ansicht,  daß  man  noch  bei 
scheinbar  inoperablen  Fällen  durch  eine  möglichst  radikale 
Operation  begründete  Aussicht  auf  Dauerheilung  hat,  Aveil 


eben  der  Körper  imstande  ist,  nach  Entfernung  des  Haupt¬ 
herdes  die  Metastasen  zu  vernichten. 

Wir  befinden  uns  also  in  U  e  b  e  r  e  i  n  s  ti  m- 
m  u  n  g  mit  den  genannten  Autore  n,  wenn  w  i  r 
dafür  sind,  die  Indikation  bis  an  die  Grenze 
des  technisch  Durchführbaren  zu  erweitern 
und  auch  bei  schon  bestehenden  Metastasen 
die  Operation  nicht  prinzipiell  zu  verwerfen. 

Wenn  auch  nur  ein  kleiner  Bruchteil  der  bis  jetzt 
als  inoperabel  geltenden  Fälle  gerettet  wird,  so  ist  die  Be¬ 
rechtigung  für  die  weiteste  Indikation  da  und  es  sind  schon 
fast  in  extremis  befindliche  Fälle  mit  Erfolg  operiert  worden. 
Man  vergesse  nicht,  daß  die  Frauen  durch  den  großen  Blut¬ 
verlust  oft  einen  Schlechteren  Eindruck  machen,  als  es 
auf  die  Ausbreitung  des  Tumors  käme  und  daß  die  Total¬ 
exstirpation  für  jeden  Fäll  die  Blutung  behebt,  eine  sympto¬ 
matische  Indikation,  die  oft  genug  zu  einer  vitalen  wird. 

Die  Tatsache,  d  a  ßi  das  maligne  Chorio¬ 
epitheliom,  selbst  av  e  n  n  schon  Metastasen 
bestehen,  spontan  ausheilen  kann,  ist  für  die 
AuffassungdesTumors  vongroßterBedeutune. 
Aber  Nutzen  für  unser  praktisches  Handeln, 
können  av  i  r  aus  diesem  Zustande  n  i  c  h  t  z  i  e  h  e  n. 
Wir  haben  gar  keine  Handhabe,  um  diese  Fälle  zu  erkennen, 
wir  können  also  auch  nicht  mit  der  Tatsache  der  Aus¬ 
heilung  in  der  Art  rechnen,  daß  Avir  unser  operatives  Vor¬ 
gehen  eben  einschränken,  im  Gegenteil,  sie  muntern  uns 
auf,  auch  vor  scheinbar  nicht  operablen  Fällen  nicht  Halt 
zu  machen  und  womöglich  alle  der  Operation  zu  unter¬ 
ziehen,  in  denen  auch  nur  ein  Funken  Hoffnung  auf  Rettung 
noch  vorhanden  ist. 

Die  Kenntnis  der  Spontanheilungen  des  malignen  Cho- 
rioepithelioms  hat  eine  gewisse  Unsicherheit  erzeugt,  aber 
nur  in  unseren  Vorstellungen;  unser  praktisches  Handeln 
bleibt  davon  ganz  unberührt. 

Wenn  wir  auch  — -  wie  schon  gesagt  —  heule 
nicht  Avissen,  Avie  groß  unsere  operativen  Dauer¬ 
resultate  beim  malignen  Chorioepitheliom  sind,  so  ist 
doch  sicher,  daß  die  Resultate  unendlich  besser  sind, 
als  man  jemals  zu  hoffen  Avagte  und  Avir  Avollen  noch¬ 
mals  Apfelstädt  zitieren,  der  noch  1896  erklärte,  daß 
jede  Therapie  gegen  das  maligne  Chorioepitheliom  eine  ver¬ 
gebliche  sei. 

Schlußsätze. 

1.  Anatomische  Unterschiede  zwischen 
gut-  und  bösartigen  Formen  des  Chorioepithe- 
1  i  o  m  s  sind  nicht  bekannt. 

2.  Auch  die  Klinik  vermag  nicht  mit  voller 
Sicherheit  die  Entscheidung,  ob  g  u  t  o  d  e  r  bös¬ 
art  i  g  zu  treffen,  da'einerseits  Fälle,  die  schon 
Metastasen  zeigen,  spontan  au  s  h  e  i  1  e  n  k  ö  li¬ 
ne  n,  anderseits  klinisch  harmlose  Fälle  sich 
als  bösartig  e  r  av  i  e  s  e  n  haben. 

3.  Bei  der  Frage,  ob  ein  Chorioepitheliom 
v  o  r  1  i  e  g  t  oder  nicht,  ist  neben  dem  m  i  k  r  o- 
skopiscben  Befunde  die  klinische  Untersu¬ 
chung  von  ausschlaggebender  Bedeutung. 
Bei  der  Deutung  des  mikroskopischen  Befun¬ 
des  ist  große  Vorsicht  geboten. 

4.  Durch  den  anatomischen  Bau  des  Tu¬ 
mors,  durch  seine  Ausbreitung  in  der  m ü 1 1 e r- 
liehen  Gefäß  bahn  ist  die  Gefahr  der  Metasta¬ 
sierung  vom  Hause  aus  eine  sehr  große.  Jeder 
Eingriff  kann  Embolien  verursachen.  Der 
stürmische,  äußerst  bösartige  Verlauf  vieler 
Fälle  nach  der  Operation  ist  auf  eine  künst¬ 
liche  Ueberschwemmung  des  Organismus  mit 
Geschwulstelementen  zurückzuführen. 

Trotz  dieser  P  r  ä  d  i  s  p  o  s  i  t  i  o  n,  die  immer 
gegeben  ist,  ist  der  Verlauf  der  Fälle  nach  der 
Operation  ein  ganz  verschiedener.  Dies  liegt 
wenigstens  zum  Teile  daran,  daß  die  E  r  k  r  a  n- 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


715 


kung  der  p  a  r  a  m  e  t  r  anen  und  s  p  o  r  m  a  t  i  k  a  1  e  n 
Venen,  die  sich  als  eine  selir  häufige,  ja  ty¬ 
pische  her  au  ss  teilt,  von  wesentlichem,  aber 
Wechsel  vollem  Einflüsse  auf  die  Verschlep¬ 
pung  des  Tumors  ist. 

Beschränkt  sich  die  Ausbreitung  des  m  a- 
lignen  C  h  o  r  i  o  e  p  i  t  h  e  1  i  o  m  s  auf  die  großen 
Beckenvenen,  so  kannes  auf  Basis  der  T h r  o  m- 
b  o  s  e,  iz  u  einer  spontanen  u  n  d  dauernden  ft  ü  c  k- 
b  i  1  d  u  n  g  komme  n. 

5.  Wir  müssen  bei  der  Therapie  bestrebt 
sein,  eine  künstliche  Metastasierung  zu  ver¬ 
hüten.  Besteht  ein  Verdacht  auf  malignes 
Chorioepitheliom,  so  sollen  wir  alle  nicht  un¬ 
bedingt  notwendigen  Eingriffe  unterlassen, 
die  notwendigen  aber  nur  mit  Vorsicht  und 
in  dem  Bewußtsein,  leicht  zur  Embolie  Ver¬ 
anlassung  zu  geben,  vornehmen.  Dies  gilt  b  e- 
sonders  für  die  Kürettage, 

Bei  der  Radikaloperation  ist  der  v a g i- 
n  a  1  e  W  e  g  aufzugebe,n  u  n  d  in  jedem  Falle  d  c  r 
a  b  d  o  m  i  n  e  1 1  e  e  i  n  z  u  s  c  h  1  a  g  e  n,  u  m  der  Totale  x- 
s t i r p a t i o n  die  Unterbind u  n  g  der  a b f  ü h r e n- 
de  n  Venen  der  Hvpogastricae  und  S  p  erm  a- 
t  i  c  a  e  vorausschicken  zu  könne  n. 

6,  Die  Indikation  zur  Operation  ist  mög¬ 
lichst  auszudehnen. 

Literatur: 

Veits  Handbuch  der  Gynäkologie,  Kapitel:  Chorioepitheliom  1  und 

2.  Auflage. 


OEFFENTLICHE  GESUNDHEITSPFLEGE. 

Die  Notwendigkeit  eines  Militärkurhauses  für 

Lungenkranke. 

\on  1  rot.  Dr.  Th.  Pfeiffer,  Direktor  der  Heilstätte  Hörgas  (Steiermark). 

Nach  zwei  Richtungen  hat  Hermann  ß  r  e  h  m  e  r  die 
Lehre  der  Tuberkulosebehandlung  umgestaltet. 

Galt  es  vor  ihm  als  Grundsatz,  den  Tuberkulösen  vor  der 
kalten  Luft  zu  bewahren  und  ergab  sich  daraus  die  therapeutische 
Forderung,  im  Winter  südlich-warme  K 1  i  m  a  t  e  aufzu¬ 
suchen,  so  suchte  er  im  Gebirge  Heilorte,  die  ihm  ihre  Heil¬ 
kraft  durch  die  vermeintliche  Immunität  ihrer  Bewohner  gegen 
Tuberkulose  bewiesen,  deren  Wirkung  also  unabhängig  von  der 
lahreszeit  sein  mußte. 

Naturgemäß  entwickelte  sich  aus  der  zuerst  im  Mittel¬ 
gebirge  verwirklichten  Idee  Brehmers  einerseits  die  klimatische 
1  uberkulosebehandlung  im  Hochgebirge,  dem  doch  die  Vorzüge 
des  Gebirges  in  erhöhtem  Maße  eigen  sein  mußten,  und  —  da 
weder  die  Ansicht  von  der  örtlichen  Immunität  und  dessen  Be¬ 
deutung,  noch  auch  die  von  der  disponierenden  Rolle  des  Mi߬ 
verhältnisses  zwischen  Herz-  und  Lungengröße  bestehen  blieb  - 
andererseits  die  Behandlung  im  heimatlichen  Klima  Mitteleuropas 
überhaupt,  bei  jetzt  wohl  allzuweit  gehendem  Verzicht  auf  klima- 
ische  Faktoren,  unter  ausschließlicher  Betonung  des  zweiten  in¬ 
tegrierenden  Bestandteiles  seiner  Heilmethode. 

Als  solchen  bezeichnete  B  re  linier  nachdrücklich  die 
^geschlossene  Heilanstalt“  u.  zw.  die  „geschlossene 
eilanstalt,  die  nur  tuberkulöse  Patienten  aufnimmt“  und 
egründete  schlagend  diesen  Grundsatz.  Jede  Krankheit  werde 
im  besten  unter  stetiger  Aufsicht  des  beobachtenden  Arztes  ge¬ 
eilt  werden  können,  besonders  gelte  das  für  die  Tuberkulose, 
ieren  zuverlässigstes  Charakteristikum  ihre  Unzuverlässigkeit, 
br  unberechenbarer  Verlauf  ist.  Einzig  und  allein  ein  Kranken- 
'iaus,  bzw.  eine  Heilanstalt  gewähre  diese  stete  Kontrolle  und 
ässe  erwarten,  nicht  nur  daß  das  Zweckmäßige  geboten,  sondern 
iuch,  daß  alles  entfernt  sei,  was  die  Krankheit  fördern  oder  die 
«enesung  erschweren  könnte. 

r  u  Pas  Sanatorium  ist  also  nicht  nur  ein  äußerer  Behelf  der 
luberkulosebehandlung,  welcher  die  Luft-Ruhe-Kur  Dettweilers 
mhemratlichen  (kapgjj)  Klima  ermöglicht  und  deshalb  in  „warmen“ 

'  interkurorlen  entbehrt  werden  kann,  sondern  Anstaltseinrich- 
Un<^  Anstaltsdisziplin  sind  für  den  Tuberkulösen  auch  in 
malichen  Stationen  unentbehrlich. 

t  Gerade  weil  in  der  Phthiseotherapie  eine  Reihe  von  „natür.  j 
j,c  en  Heilfaktoren  (Luft,  Ruhe  Bewegung,  Ernährung)  eine 


große  Rolle  spielen,  deren  quantitive  Wichtigkeit  dem 
Kranken  weniger  einleuchtet  als  die  der  Arzneischätze,  darf  man 
deren  Anwendung  nicht  seinem  Belieben  überlassen,  sondern  muß 
ihn  beständig  beaufsichtigen,  erinnern,  leiten. 

Am  schnellsten  und  eindringlichsten  haben  sich  beide  prak¬ 
tische  Bestandteile  der  Lehre  Brehmers—  Anstaltsbehandlung 
Verzicht  auf  das  südliche  Klima  —  in  Deutschland  durchgesetzt 
und  sind  dort  herrschend  geworden.  Die  Hochgebirgsbehandlung 
hat  die  Schweiz  an  sich  gerissen. 

In  Oesterreich  hinken  wir  erst  langsam  nach  ;  noch  immer 
herrscht  hier  im  Winter  „der  Süden“,  im  Sommer  die  „Sommer- 
i n sehe  ,  noch  immer  der  „offene  Kurort“,  in  dem  der  Kranke  die 
mehr  minder  guten  ärztlichen  Ratschläge  nach  eigenem  Ermessen 
zuschneidet,  als  ob  die  Tuberkulose  wirklich  nur  der  leichte 
Spitzenkatarrh  wäre,  als  welchen  man  dem  Kranken  sein  Leiden 
so  gern  tiöstend  bezeichnet,  so  lange  bis  er  aus  lauter  Rücksicht 
auf  seine  Psyche  körperlich  zugrunde  gerichtet  ist  und  dann  als 
Sterbender  doch  vielleicht  einer  Anstalt  zugeschickt  wird. 

Haben  wir  nun  auch  in  Oesterreich  schon  einige  wenige 
private  und  auch  öffentliche  Tuberkuloseanstalten,  läßt  sich  also 
m  Laien-  wie  in  Aerztekreisen  wenigstens  einiger  Fortschritt  in 
j  der  Pachtung  anderwärts  allgemein  gültiger  therapeutischer  Grund- 
!  sa^ze  erkennen,  so  steht  die  Fürsorge  für  tuberkulöse  Militär- 
|  Personen  noch  fast  gänzlich  auf  dem  alten  Standpunkt:  denn 
abgesehen  von  den  drei  (!)  Freiplätzen  in  den  Sanatorien  Wiener- 
wähl  und  Neu-Schmecks  haben  wir  für  den  Winter  einige 
„Militäikurhäuser  in  südlichen  Kurorten,  welche  jedoch  über 
keinerlei  Kurmittel  verfügen,  also  keine  Heilanstalten  für  Tuber¬ 
kulöse  sind,  für  den  Sommer  —  nichts. 

Es  mag  zugegeben  werden,  daß  unter  günstigen  Umständen 
entsprechend  eingerichtete  Pensionen  teilweisen  Ersatz  für  Sana¬ 
torien  bieten  können,  wenn  nämlich  der  Genius  loci  die  Durch¬ 
führung  der  anstaltsmäßigen  Kur  zur  allgemeinen  Uebung  macht, 
wie  z.  B.  in  Davos  (obwohl  auch  hier  die  Kombination  Kurort — 
Sportplatz  hei  nicht  beaufsichtigten  Patienten  oft  genug  schädlich 
wird).  Fehlt  aber  das  Massenbeispiel,  unterscheidet  sich  der 
Kianke,  welcher  Anstaltsregeln  gemäß  leben  sollte,  von  den  an¬ 
deren  Kurgästen,  die  in  Vergnügungen  einen  Hauptbestandteil 
ihrer  Erholung  sehen,  so  wird  er  schon  seltener  genügend  Aus¬ 
dauer.  und  Selbstzucht  für  die  Befolgung  der  Vorschriften  auf- 
biingen.  Hotels  garnis  aber,  welche  der  Patient,  unbekümmert 
um  Wind  und  Wetter,  ohne  Rücksicht  auf  sein  Befinden,  ver¬ 
lassen  muß,  um  sein  Nahrungsbedürfnis  zu  stillen,  in  denen  er 
bei  den  so  häufigen  interkurrenten  Erscheinungen  (Fieber,  Pleuritis, 
Hämoptoe  usw.)  schwer  oder  gar  nicht  Pflege  findet,  sind  zur 
Tubeikulosebehandlung  gewiß  weder  nach  unseren  wissenschaft¬ 
lichen  Anschauungen,  noch  nach  den  tatsächlichen  praktischen 
Bedürfnissen  geeignet. 

Nichts  anderes  als  solche  Hotels  garnis,  einfache  Wohn¬ 
häuser,  sind  aber  unsere  bisherigen,  für  Tuberkulöse  in  Betracht 
kommenden  Militärkurhäuser.  Ein  einziges,  auf  österreichischem 
Boden  stehendes  „Genesungsheim  für  Offiziere“  genügt  den  an 
ein  Tuberkulosesanatorium  zu  stellenden  Anforderungen,  die 
Villa  Hildebrand  in  A reo  für  Offiziere  der  —  deutschen 
Armee. 

Das  Haus  besitzt  neben  den  Wohnzimmern  Behandlungs¬ 
räume,  Bad,  Liegehalle,  Laboratorium  und  Röntgenzimmer,  be¬ 
sorgt  die  Verpflegung  selbst  und  gestattet  auf  diese  Weise  eine 
strenge  Anstaltskur.  Die  Durchschnittskosten  der  Verpflegung 
(die  mit  3  K  50  h  berechnet  sind)  tragen  die  Kurgäste  selbst. 
Die  ärztliche  Behandlung,  die  Leitung  und  Verwaltung  der  An¬ 
stalt  erfolgt  durch  den  Chefarzt,  dessen  Anordnungen  jeder 
Kianke  inner-  und  außerhalb  der  Anstalt  unbedingt  Folge  zu 
leisten  verpflichtet  ist.*) 

Einrichtung  und  Organisation  dieses  Institutes  könnten  einer 
gleichartigen  österreichischen  Offiziersheilstälte  als  Vorbild  dienen 

Die  Bezahlung  eines  niedrigen  Verpflegssatzes  ist  not- 
w  endig,  weil  die  Sammlung  eines  Kapitales,  das  unentgeltliche 
Aufnahme  ermöglicht,  kaum  denkbar  wäre;  auch  berechtigt, 
da  der  Offizier  keiner  Wohltätigkeitsanstalt,  sondern  lediglich  einer 
\\  ohlfahrtseinrichtung  bedarf,  welche  ihm  vermöge  des  Verzichtes 
auf  Unternehmergewinn  beträchtliche  Erleichterungen  bietet  und 
stellt  auch  keine  Neuerung  dar,  weil  die  Bewohner  der  Militär¬ 
häuser  auch  jetzt  ihre  Verpflegung  selbst  decken  müssen. 

Leitung  gehört  dem  Arzte,  der  mit  unbeschränkter 
Autorität  ausgestattet  sein  muß,  denn  die  ärztliche  Vorschrift  ist 
das  einzige  Kommando,  welches  in  einem  Kurhause  gelten  muß 
und  militärische  Rangunterschiede  nicht  kennen  darf. 

*)  Vorschriften  für  Badekuren  und  sonstige  außergewöhnliche 
Heilverfahren  für  Militärpersonen  vom  10.  Mai  1905,  Z.  128—144. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


Das  Haus  könnte  klein,  aber  erweiterungsfähig  angelegt 
werden,  müßte,  unter  Vermeidung  von  Luxus,  ähnlich  der  er¬ 
wähnten  „Villa  Hildebrand“  in  Arco,  den  hygienischen  Forderungen 
eines  Sanatoriums  entsprechen,  ohne  den  Charakter  eines  Kranken¬ 
hauses  anzunehmen. 

Ort  und  Lage  dieser  ersten,  zunächst  einzigen  Anstalt  für 
lungenkranke  österreichische  Offiziere  müßte  ganzjährigen  Betrieb 
ermöglichen;  weder  dürfte  deshalb  ein  Ort  gewählt  werden,  der 
sich  im  Sommer  wegen  der  Hitze  nicht  eignet,  noch  auch  ein 
Punkt  mit  ungenügender  winterlicher  Besonnung.  So  sehr  es 
ferner  erwünscht  wäre,  wenn  unsere  Ostalpen  endlich  für  ein 
Hochgebirgssanatorium  ausgenützt  würden  —  den  bekannten 
Schweizer  gleichwertige  Plätze  ließen  sich  unschwer  finden — für 
dieses  erste  Offizierssanatorium,  dessen  Benützbarkeit  durch  die 
Gegenanzeigen  des  Hochgebirges  nicht  eingeschränkt  werden 
sollte,  wäre  wohl  eine  mittlere  Höhenlage  von  800  bis  1000  m 
vorzuziehen,  unter  Berücksichtigung  von  Sonnenlage,  Windschutz, 
Nebel-  und  Niederschlagsarmut. 

Besteht  überhaupt  das  Bestreben,  kranken  Offizieren  die 
notwendigen  Kuraufenthalte  zu  erleichtern,  so  darf  auf  die 
tuberkulösen,  bei  ihrer  gewiß  nicht  geringen  Zahl,  nicht  ver¬ 
gessen  werden.  Eine  rationelle,  d.  h.  mit  tunlichst  geringem 
Aufwande  an  Zeit  und  Mitteln  zum  Ziele  führende  Tuberkulose¬ 
behandlung  verlangt  die  „geschlossene  Heilanstalt“.  Da  eine 
solche  bisher  fehlt,  muß  sie  geschaffen  werden. 

Ihre  Aufgabe  wäre  eine  wesentlich  andere  als  die  der  be¬ 
stehenden  Militärkurhäuser  in  südlichen  Kurorten.  Nicht  eine 
weitere  Erholungsstätte  für  Rekonvaleszente,  sondern  ein  wirk¬ 
liches  Sanatorium  müßte  erbaut  werden,  das 

1.  nur  Tuberkulöse  aufnimmt,  die  nach  ärztlicher  Ueber- 
zeugung  noch  heilbar  oder  wesentlich  besserungsfähig  sind; 

2.  alle  zur  Behandlung  solcher  Kranker  erforderlichen  Ein¬ 
richtungen  enthält; 

3.  Sommer  und  Winter  gleichmäßig  betrieben  wird ; 

4.  Bezüglich  der  Behandlungsdauer  an  keinerlei  Schema 
gebunden  ist,  sondern  die  Kranken  so  lange  behandelt,  bis  ent¬ 
weder  Heilung,  bzw.  der  nach  ärztlichem  Ermessen  erreichbare 
Grad  der  Besserung  eingetreten  ist,  oder  keine  Aussicht  auf 
Besserung  mehr  besteht. 


Heferate. 

Handbuch  der  Geschlechtskrankheiten. 

Herausgegeben  von  Finger,  Jadassohn,  Ehrmann,  Grosz. 

Band  1. 

Wien  und  Leipzig,  Alfred  Holder. 

IV.  Jadassohn:  Allgemeine  Aetiologie,  Patho¬ 
logie,  Diagnose  und  Therapie  der  Gonorrhoe. 

Dem  in  vier  Abschnitte  zergliederten  Beitrag  liegt  das  Be¬ 
streben  zugrunde,  ausführlich,  dabei  aber  doch  knapp  und  zu¬ 
weilen  fast  referierend  die  stolze  Behauptung  zu  erweisen,  „daß 
die  Gonorrhoe  mit  ihren  Lokalisationen,  Komplikationen  und 
Folgeerscheinungen  jetzt  eine  der  bestbear  beiteten  und  best¬ 
gekannten  Infektionskrankheiten  ist“.  Gleichzeitig  klingt  auch  die 
Klage  durch,  daß  mangels  empfänglichen  Tiermateriales  die  Lehre 
von  der  Gonorrhoe  nicht  an  der  Spitze  der  bestgekannten  Infek¬ 
tionskrankheiten  steht. 

In  einer  kurzen  Einleitung,  in  welcher  die  Würdigung  der 
historischen  Bedeutung  Bumms  und  Wertheims  für  die  Ent¬ 
wicklung  der  Lehre  nachgeholt  wird,  sind  die  Begriffe  gonor¬ 
rhoische,  para-,  post-  und  pseudogonorrhoische  Prozesse  skizziert, 
es  wird  an  den  wichtigen  Erfahrungssatz  erinnert,  daß  die  Krank¬ 
heit  sozusagen  immer  nur  der  Mensch  auf  den  Menschen  über¬ 
trägt  und  einige  Worte  sind  der  großen  Bedeutung  der  Prostitution 
im  allgemeinen  Sinne  des  Wortes  als  Hauptquelle  des  Leidens 
gewidmet. 

Der  I.  Abschnitt,  Aetiologie,  zerfällt  in  a)  mikroskopische 
Beschreibung  der  Gonokokken.  Hier  ist  alles  Bekannte  und  Wis¬ 
senswerte  über  ihre  Form,  Größe,  Degenerationsstadien,  Teilungs¬ 
bilder,  den  Mangel  an  Eigenbewegung,  kurz  und  bündig  nieder¬ 
gelegt.  Das  Kapitel  b)  Gonokokkenfärbung,  bringt  eine  reiche  Dar¬ 
stellung  aller  Färbungsarten  von  Trocken-  und  Schnittpräparaten, 
insbesondere  der  differentialdiagnostisch  so  wichtigen  Gram-Fär¬ 
bung.  Höchst  beachtenswert  ist  c)  Züchtung  der  Gonokokken,  mit 
anschaulicher,  bis  ins  letzte  Detail  reichender  Beschreibung  der 


Methoden.  Im  Kapitel  d)  Biologisches  sind  die  Tatsachen  ge¬ 
sammelt,  welche  das  Verhalten  der  Gonokokken  gegenüber  Tem¬ 
peratureinflüssen,  Austrocknung,  Wasser,  Urin,  Sauerstoffmangel, 
gleichzeitige  Anwesenheit  von  anderen  Mikroorganismen  oder 
deren  Stoffwechselprodukten  betreffen.  Ebenso  erschöpfend  sind 
die  folgenden  Kapitel  „Tierviersuche“  und  damit  in  engem  Zu¬ 
sammenhänge  „Gontoxin“,  „Komplementbindung“,  „Agglutina¬ 
tion“,  „Immunisierung“.  Sie  zeigen  besonders,  wie  schwer  die 
Forschung  empfängliche  Tiere  vermißt.  Wie  weit  der  Mensch 
für  diese  Fragen  in  Betracht  kommt,  erfährt  man  summarisch  aus 
dem  letzten  Kapitel  „Experimentelles  über  die  Wirkung  von  Gono¬ 
kokken  und  Toxinen  auf  den  Menschen“. 

Der  TT.  Abschnitt,  Allgemeine  Pathologie  und  Histologie 
der  Gonorrhoe,  ist  selbstredend  zum  umfangreichsten  geworden; 
hier  wir'd  der  Autor  gleichsam  warm.  In  einer  Einleitung  überblickt  j 
man  die  pathologischen  Prozesse,  Avelche  durch  die  Infektion 
erzeugt  werden,  wie  man  sich  etwa  seine  Ausbreitung  —  sie  hat 
ja  beim  Weibe,  ferner  für  das  Entstehen  der  Epididymitis  manches 
schwer  Verständliche  —  erklären  kann  und  welch  enorme  Bunt¬ 
heit  das  histologische  Bild  der  erkrankten  Organe  darbietet. 

Das  erste  Kapitel  ist  der  Histologie  gewidmet  und  über¬ 
rascht  durch  die  Minutiosität,  mit  der  —  trotz  der  Armut  ent¬ 
sprechenden  Untersuchungsmateriales  vom  Menschen  —  Schritt 
für  Schritt  die  Veränderungen  an  den  befallenen  Schleimhäuten 
begleitet  sind.  Daneben  ist  auf  die  Verschiedenheit  der  einzelnen 
Epithelsorten,  auf  das  Verhalten  der  Gonokokken  zu  den  Epithel-, 
den  Entzündungszellen  besonderer  Bedacht  genommen.  Analog 
wird  auf  die  chronisch-gonorrhoischen  Veränderungen  eingegangen. 
Als  berücksichtigenswert  und  von  allgemeiner  Bedeutung  be¬ 
zeichnet  es  Jadassohn,  daß  hiebei  zwischen  dem  (mittler¬ 
weile)  regenerierten  Zylinderepithel  (der  Uterinsehleimhaut)  ein- 
zeihe  Inseln  von  geschichtetem  Epithel  erscheinen  (B  u  m  m), 
welche  letztere  nunmehr  allein  infiziert  bleiben.  Des  weiteren 
interessieren  die  Veränderungen  an  den  Schleimdrüsen,  die  Vor¬ 
gänge  bei  der  Abszeßbildung,  leider  etwas  weniger  jene  beim 
Entstehen  von  Fisteln,  da,s  Eindringen  der  Tripperkokken  in 
die  Tiefe,  wobei  Jadassohn  aber  mit  Recht  hervorhebt,  daß 
die  Krankheit  in  erster  Linie-  als  Oberflächenerkrankung  aufzu- 
fassen  sei.  Endlich  erfährt  das  Verhältnis  der  verschiedenen 
Exsudatzellen  zu  den  Gonokokken  und  die  Phagozytose  eine  aus 
giebige  Beleuchtung. 

Diesem  Kapitel  schließen  sich  weitere  an,  deren  tiefer  Go- 
halt  durch  die  ledigliehe  Titelangabe  angedeutet  sein  möge:  In- 
fokfiomsSvege  und  -arten;  Inkubationszeit;  die  für  die  Gono¬ 
kokken  empfänglichen  Organe;  verschiedene  Empfänglichkeit  der 
einzelnen  Individuen;  Differenz  der  Virulenz  der  Erreger;  'Be¬ 
deutung  ihrer  Zahl;  Ursachen  für  die  Differenzen  im  Verlaufe  [ 
der  Gonorrhoe;  Dauer  der  Lebensfähigkeit  der  Gonokokkken  im 
Organismus.  Für  den  Begriff  der  chronischen  Gonorrhoe  (im 
Gegensatz  zur  postgonorrhoischen  Entzündung)  Verlangt  Jadas¬ 
sohn.  ebenso  wie  später  im  selben  Werke  W.  Scholtz,  die 
Anwesenheit  der  Gonokokken.  Der  pathologische  Anatom  wird 
an  seinem  Materiale  diesem  strengen  Postulate  leicht  entsprechen 
können;  dem  Kliniker  aber,  oder  gar  dem  praktischen  Arzte 
erwachsen  hieraus  unüberwindliche  Hindernisse.  Das  führt  Ja¬ 
dassohn  selbst  besonders  deutlich  in  dem  Kapitel  „Heilung 
der  Gonorrhoe,  ihre  Definition,  ihre  Konstatierung,  ihr  Mecha¬ 
nismus  (Provokation)“  vor  Augen,  wo  gezeigt  wird,  wie  schwer 
der  Kliniker  die  Abwesenheit  der  Gonokokken,  geschweige  denn 
die  erfolgte  Heilung  erweisen  kann.  Die  inneren  Vorgänge  der  j 
Genesung  erklärt  man  mit.  dem  Autor  wohl  am  besten  durch  eine 
entstehende  Immunisierung  des  Epithels  gegen  die  auf  demselben  j 
gewachsenen  Erreger  oder,  kurz  gesagt,  durch  eine  entstandene 
idiotrope  Immunität  der  Schleimhaut.  In  dem  Kapitel  „Immu¬ 
nität  und  Superinfektion“  sucht  der  Autor  unter  anderem  in  be¬ 
achtenswerter  AVeise  der  Erscheinung  beizukommen,  daß  akut  ein- 
betzende  Epididymitiden  das  urethrale  Stammleiden  zur  Ver¬ 
minderung,  ja  zum  scheinbaren  Verschwinden  bringen;  wieso 
ferner  die  Gonokokken  der  chronischen  Gonorrhoe  oder  der  chro¬ 
nischen  Gonorrhoe  der  in  beständigem  Geschlechts V erk ehre  Ste¬ 
henden,  den  Trägern  gegenüber  fast  keine  Toxizität  mehr  zeigen 
und  wie  man  sich  solche  „Tdioimmunisierungen“  oder  Gewöh- 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


717 


nungen  an  den  eigenen  Erreger  vorstellen  müsse.  Endlich  folgen 
zur  weiteren  Vervollständigung  dieses  Abschnittes  die  Kapitel 
„Komplikation  der  Gonorrhoe“,  „Metastasen  und  toxische  Pro¬ 
zesse“,  „Para-,  postgonorrhoische  Erkrankungen“. 

Der  Abschnitt  III,  Allgemeine  Diagnose,  ist  hauptsächlich 
der  Unterscheidung  der  Trippererreger  von  anderen,  mehr  oder 
weniger  ähnlichen  Mikroorganismen  des  Körpers  gewidmet.  Er 
enthält  nur  ein  Kapitel,  trifft  aber  den  Kern  der  Frage  um  so 
willkommener,  als  er  das  wichtige  Kapitel  „Die  Mikroorganismen 
der  normalen  Harnröhre“  streift. 

In  dem  letzten  (vierten)  Abschnitte,  Allgemeine  Therapie, 
verweist  Jadassohn  auf  die  nicht  genug  zu  beherzigende  Tat¬ 
sache,  daß  an  vielen  Orten,  auch  in  der  Harnröhre,  der  gonor¬ 
rhoische  Prozeß  von  dem  Körper  selbst  überwunden  werden  kann. 
Inwieweit  der  Arzt  diese  natürlichen  Heilbestrebungein  durch  die 
bislang  nicht  aussichtreiche  Sero-,  Bakterie-  oder  Hefetherapie, 
vor  allem  aber  durch  Medikamente,  seien  sie  innerlich,  seien  sie 
lokal  gegeben,  unterstützen  kann,  ist  recht  übersichtlich  nieder¬ 
gelegt.  ~  '  ,  ;  ,  I  )  ! 

Dem  Werke  fehlt  anscheinend  ein  Beitrag  mit  dem  unge¬ 
fähren  Titel:  „Die  forensische  Bedeutung  der  Geschlechtskrank¬ 
heiten.“  Soweit  die  Gonorrhoe  in  Betracht  kommt,  läßt  ihn 
Jadassohn  fast  vermissen. 

V.  W.  Scholtz:  Gonorrhoea  acuta  et  chronica  an¬ 
terior  et  posterior. 

Es  stimmt  sehr  nachdenklich,  wenn  man  sieht,  wie  wenig 
konvergent  manchmal  die  beiden  Gruppen  medizinischer  Forscher 
—  die  Theoretiker,  Anatomen  und  Physiologen,  auf  der  einen,  die 
Praktiker  auf  der  anderen  Seite  —  arbeiten.  Scholtz  schreibt, 
um  die  Frage  der  Einteilung  der  Harnröhre,  ihren  Verschluß, 
das  Auftreten  des  Harndranges  zu  erörtern,  ganze  Seiten  aus 
Fingers  trefflichem  Lehrbuche,  ganze  Absätze  aus  Posners, 
Jadassohns,  v.  Zeißls  Beiträgen  und  es  gewährt  sicher  Be¬ 
friedigung,  zu  erfahren,  wie  reichlich  und  gründlich  gewisser¬ 
maßen  im  eigenen  Hause  das  Thema  durchgehechelt  wurde.  Von 
eigentlichen  Anatomen  erwähnt  er  fast  nur  Heule  und  Hyrtl 
und  doch  vermochte  E berth  im  Jahre  1904  46  Abhandlungen 
über  die  quergestreifte  Urogenitalmuskulatur  allein,  fast  ebenso¬ 
viel©  über  die  glatte  Muskulatur  dieser  Teile  zu  zitieren.  Um¬ 
gekehrt  vermißt  man  im  Beitrage  Metzners  zu  Nagels  Hand¬ 
buch  der  Physiologie  des  Menschen  den  Hinweis  auf  die  Unter¬ 
suchungen  0.  Zucker  kan  dis,  Fingers,  v.  Zeißls  usw.,  ob¬ 
schon  sie  unleugbar  die  Frage  der  Entstehung  des  Harndranges 
stark  durchwühlen.  Die  Tätigkeit  und  Eignung  des  Compressor 
urethrae  oder,  wie  ihn  die  moderne  Anatomie  nennt,  des  Rhabdo¬ 
sphincter  urogenitalis,  wird  durch  den  leichter  zu  kontrollierenden 
analogen  Verschluß  des  Afters  dem  Verständnis  sehr  nahe  ge¬ 
rückt  und  bei  Heilung  der  Analfissuren  leimt  man  die  stetige  Gewalt 
dieser  quergestreiften  Muskulatur  gut  würdigen. 

Sein  Thema  teilt  Scholtz  naturgemäß  in  zwei  Gruppen. 
Der  erste  Teil1,  akuter  Tripper  der  vorderen  und  hinteren  Harn¬ 
röhre,  wird  außerordentlich  breit  behandelt,  ist  in  sehr  viele 
Kapitel  zerlegt  (Muköses  oder  Initialstadium,  Höhestadium,  Be¬ 
fund  der  mikroskopischen  Sekretuntersuchung,  Verlauf  der  Go¬ 
norrhoe  während  des  Höhestadiums,  Terminalstudium,  Prognose 
und  Diagnose  der  Gonorrhoea  anterior,  Gonorrhoea  posterior 
acuta,  Verlauf  und  Symptome  derselben,  ihre  Prognose,  Diagnose) 
und  läßt  kein  Detail  unberücksichtigt.  Besondere  Mühe  gibt  er  sich 
in  der-  Schilderung  der  zahlreichen  therapeutischen  Maßnahmen, 
wofür  ihm  so  mancher  Arzt  Dank  wissen  wird. 

Im  zweiten  Teile,  chronische  Gonorrhoe,  gerät  sein  Stil 
zunächst  in  heftige  Bewegung,  weil  er  den  Begriff  nur  auf  solche 
T  alle  angewendet  wissen  will,  welche  durch  die  Anwesenheit 
von  Gonokokken  in  und  auf  der  Schleimhaut  bedingt  sind;  andern¬ 
falls  liege  postgonorrhoische  Urethritis  vor.  Die  Differentialdia¬ 
gnose  könne  nur  auf  Grund  des  Gonokokkennachweises  geliefert 
werden.  Ich  habe  schon  erwähnt,  daß  mancher  Leser  dieses  Po¬ 
stulat,  streng  genommen,  nur  am  Leichenmaterial  wird  erfüllbar 
halten.  Glücklicherweise  wird  die  Anwendung  des  Ausdruckes  nie 
zu  einem  Gezänke  veranlassen,  denn  die  Zeiten  der  Begriff, s- 
raserei  sind  in  den  Naturwissenschaften  überwunden.  Dement¬ 
sprechend  ist  auf  S.  425  zu  lesen:  „Wenn  man  bei  Konfron¬ 
tation  bisweilen  bei  der  infizierten  Frau  keine  sicheren  klini¬ 


schen  Symptome  von  Gonorrhoe  und  auch  keine  Gonokokken 
nachweisen  kann,  so  liegt  das  bekanntlich  daran,  daß  bei  der 
krau  die  Gonorrhoe  nicht  selten  äußerst  chronisch,  ja  fast  latent 
Verläuft  .  .  .  .“ 

Ein  sein-  richtiges  Wort  äußert  Scholtz  in  dem  Kapitel, 
Behandlung  der  chronischen  Gonorrhoea  posterior:  Es  erfordere 
lakt  und  Erfahrung  von  seiten  des  Arztes,  dabei  die  richtigen 
VVe.go  einzuschlagen  und  das  richtige  Maß  zu  halten.  In  der  Tat, 
die  Therapie  der  Gonorrhoe  ist  eine  Kunst,  wie  die  Therapie  so 
mancher  anderer  Krankheiten.  Und  diese  Kunst  kann  schwer 
gelehit,  schwer  gelernt  werden.  Da  ist  es  wirklich  lediglich  Sache 
des  angeborenen  1  alentes,  des  kühlen  Erfassens,  der  natürlichen 
Begabung,  wenn  der  Arzt  den  Prozeß  zu  günstigem  Ausgange 
lenkt.  Ei  ist  auch  auf  die  verständige  Mithilfe  des  Kranken  an¬ 
gewiesen.  Daher  kommt  es,  daß,  in  bescheidener  Verkennung 
dieser  persönlichen  Qualitäten,  viele  Autoren  ihre  Methoden  für 
die  einzig  richtigen  halten  und  als  solche  beschreiben. 

VI.  H.  Wossidlo:  Endoskopie  der  gesunden  und 
kranken  Urethra.  Endoskopische  Diagnose  und  The¬ 
ra  p  i  e. 

Den  Charakter  des  trefflichen  Beitrages  von  Wossidlo  kann 
man  am  kürzesten  durch  die  von  ihm  selbst  (S.  655)  ausgespro¬ 
chene  Mahnung  kennzeichnen:  Durch  die  Urethraendoskopie 
dürfen  die  anderen  Untersuchungsmethoden  und  —  man  kann 
hinzufügen,  die  anderen  Behandlungsmethoden  —  nicht  vernach¬ 
lässigt  werden. 

Wenngleich  für  die  Lehre  von  der  Gonorrhoe  genügend 
Leichenbefunde  gesammelt  werden  können,  so  ist  doch  ihre  Ver¬ 
wertbarkeit  für  den  Ausbau  der  Klinik  des  Leidens  zumeist  eine 
geringe,  weil  man  nur  selten  in  die  Lage  kommt,  den  korrespon¬ 
dierenden  klinischen  Verlauf  zu  konstatieren  und  daraus  für 
den  Leichenbefund  die  richtige  Lesart  zu  treffen.  Hier  hilft  die 
Endoskopie  prächtig  aus,  namentlich  bei  chronischen  Fällen. 

Wossidlo  gewährt  uns  einen  kurzen  Rückblick  auf  die 
Entwicklung  der  Urethraendoskopie  und  des  dazugehörigen  In¬ 
strumentariums.  Seine  Schilderung  des  Bildes  der  gesunden  und 
kranken ,  vorderen  und  hinteren,  männlichen  und  weiblichen  Harn¬ 
röhre  ist  geradezu  musterhaft  und  läßt  die  Beigabe  von  Abbil¬ 
dungen  vermissen.  Sie  wird  durch  die  Urethramdoskopie  der 
nicht  gonorrhoisch  erkrankten  Harnröhre  ergänzt.  In  einem  Ab¬ 
schnitte,  Endoskopische  Therapie,  wird  auf  die  wesentlichen  Er¬ 
folge  aufmerksam  gemacht,  die  sich  mit  dieser  Methode  erzielen 
lassen  und  zum  Schlüsse  der  eigenartigen  Vorzüge  des  Gold- 
schmi  dt  sehen  Irrigationsurethroskops  gedacht.  Dem  Beitrage 
folgt  ein  überraschend  reiches  Literaturverzeichnis. 

VII.  Siegfried  Grosz:  Follikulitiden,  Perifolliku¬ 
litiden,  Cavernitis  gonbrrhoica,  und 

VIII.  Vom  selben  Autor:  Gonorrhoische  Erkrankung 
präputialer  und  paraurethraler  Gänge. 

Der  erste  Beitrag  wird  wohl  zweifellos  durch  die  ausführ¬ 
liche  Mitteilung  von  Fällen  eigener  Beobachtung  und  jenen  von 
M.  Moeller  interessieren,  bei  denen  die  Entzündung  der  Folli¬ 
keln  zu  zystenartigen  Tumoren  geführt  hatte.  Die  operative  Ent¬ 
fernung  und  mikroskopische  Untersuchung  klärte  die  pathologisch- 
anatomischen  Verhältnisse  vollkommen  auf.  Neben  der  speziellen 
Symptomatologie  dieser  Beobachtungen  ist  das  Bild  der  Erkran¬ 
kung  noch  im  allgemeinen  entwickelt  und  als  ein  gutes  thera¬ 
peutisches  Moment  unter  anderem  die  Vibrationsmassage,  em¬ 
pfohlen. 

.Ein  nicht  selten  zu  beobachtender  Ausgang  der  Follikuli¬ 
tiden  ist  die  Bildung  von  Fisteln,  die  ja  bekanntlich  manchmal 
—  wenn  sie  z.  B.  vom  Hinterteile  der  Urethra  anterior  aus¬ 
gehen  —  die  enorme  Länge  bis  zum  unteren  Teil  des  Hodensackes 
erreichen  können. 

Der  zweite  Beitrag  fußt  in  erster  Linie  auf  der  entsprechenden 
Abhandlung  Rönas  und  erschöpft  vollkommen  das  leicht  über¬ 
blickbare  Thema. 

IX.  W.  Scholtz:  Cystitis  gonorrhoica. 

Die  Symptome  dieses  seltenen  Leidens,  seine  Diagnose,  Pro¬ 
gnose,  Therapie  sind  in  dem  belangreichen  Beitrage  sehr  klar 
niedergelegt.  •  Merk  (Innsbruck). 

* 


718 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


Die  Sprache  des  Traumes. 

Von  W.  Steckei. 

539  Seiten. 

Wiesbaden  1911,  J.  F.  Bergmann. 

Handelt  von  Onanieträumen,  Zahnträumen,  Flugträumen,  Am¬ 
menträumen,  Wasser-,  Feuer-,  Schwangerschafts-,  Geburts-,  Multer¬ 
leibsträumen  etc.  und  ihrer  (psychoanalytischen)  Deutung.  Außer 
den  Kapitelüberschriften  orientieren  Uber  den  Inhalt  des  Buches 
pikante  Schlagworte,  die  über  jede  zweite  Seite  gesetzt  sind.  Ich 
führe  an:  S.  401  ff.:  »Der  sterbende  Vater  als  Bajazzo«,  »Warum 
tote  Dinge  lebendig  werden«,  »Die  Bedeutung  des  Schweißfußes«, 
»Die  Taufe  als  Bad«,  »Es  gibt  nur  einen  Vater«,  »Das  kleine 
Einmaleins  der  Symbole«,  »Unkeusche  Gedanken  und  Meineid«. 

Ueber  die  Art,  wie  die  Traumdeutung  gehandhabt  wird, 
orientiert  das  Folgende:  (S.  24).  »Herr  Dalton  träumt:  (20).  »Ich 
habe  zwei  verschiedene  Schuhe  an :  links  einen  gelben,  rechts 
einen  schwarzen. 

Er  liebt  zwei  Wesen  :  ein  blondes  und  ein  schwarzes.  Noch 
wichtiger  die  Bedeutung :  schwarzgelb.  Er  ist  Oesterreicher  und 
tritt  die  Farben  des  Kaisers  (Vaters)  mit  Füßen.  Er  ist  ein 
typischer  Zweifler.  Er  schwankt  ewig  zwischen  Mann  (der  schwarze 
Vater)  und  Weib  (die  blonde  Mutter).  Sein  Wunsch  ist  es,  beiden 
gerecht  zu  werden. 

Sein  psychischer  Hermaphroditismus  (Adler)  drückt  sich 
wunderschön  in  diesem  Bilde  aus.  Auch  seine  heftigsten  Leiden¬ 
schaften  :  die  Eifersucht  (gelb)  und  seine  finsteren  Rachegedanken 
(schwarz).« 

Auf  Grund  dieser  wissenschaftlichen  Methodik  kommt  Steckei 
zu  einer  neuen  Auffassung  des  Lebens,  welche  den  Haß  als  das 
Primäre  und  als  Grundlage  der  altruistischen  Regungen  anspricht. 
Die  Neurose  sei  die  endopsychische  Wahrnehmung  dieses  Hasses 
durch  die  Brille  des  Schuldbewußtseins. 

Um  Mißverständnisse  zu  verhüten,  sei  hervorgehoben,  daß 
Steckei  all  das  offenbar  nicht  —  wie  der  Unbefangene  zunächst 
meinen  könnte  - —  als  Scherz  aufgefaßt  haben  will.  Er  scheint  es 
vielmehr  tatsächlich  ernsthaft  zu  meinen. 

* 

Leitfaden  der  physiologischen  Psychologie. 

Von  Ziehen. 

Neunte,  teilweise  umgearbeitete  Auflage. 

Jena  1911. 

In  der  neuen  Auflage  des  ausgezeichneten  Lehrbuches  ist  in 
glücklicher  Weise  die  neuere  Literatur  berücksichtigt.  So  wird  u.  a. 
eingehend  Uber  die  wertvollen  Untersuchungen  Webers  berichtet. 

Im  übrigen  wird  konsequent  der  Standpunkt  der  Assoziations¬ 
psychologie  vertreten.  Die  klare  bestimmte  Art  des  Vortrages  er¬ 
leichtert  ungemein  das  Eindringen  in  den  schwierigen  Stoff.  Daß 
hiebei  etwas  schematisiert  wird,  kann,  da  es  sich  um  einen  Leit¬ 
faden  handelt,  nicht  schaden.  Die  Anschaffung  des  Buches  kann 
jedem,  der  für  etwas  allgemeinere  Fragen  Interesse  hat,  warm 
empfohlen  werden.  Schilder  (Halle). 


Aus  versehiedenen  Zeitsehriften. 

493.  Ein  F ,a  1 1  von  G  enjtaltuberkulose,  geheilt 
durch  Röntgenstrahlen.  Von  Dr.  F.  Spaeth,  Frauenarzt 
in  Hamburg.  Ein  22  Jahre  altes  Mädchen  hatte  einen  mannsfaust¬ 
großen  Bauchtumor,  in  welchem  Uterus  und  Adnexa  einbezogen 
waren;  auch  die  Parametrien  waren  derb  infiltriert,  starr.  Es 
bestanden  Schüttelfröste  mit  Temperatursteigerungen  auf  40°  und 
darüber,  mithin  wurde  eine  Abszedierung  des  Tumors  angenom¬ 
men.  Bei  der  Operation  konnte  der  Tumor  nicht  ganz  entfernt 
werden,  daher  wurde  vorerst  seine  Vorderfläche  mit  der  Serosa 
parietalis  der  vorderen  Bauchwand  vernäht;  drei  Tage  später 
wurde  der  Tumor  inzidiert,  wobei  sich  mäßige  Mengen  krümeligen 
Eiters  und  reichlich  nekrotisches  Gewebe  mit  käsigen  Herden 
durchsetzt,  entleerten.  Die  histologische  Untersuchung  der  Ge- 
websmassen  ergab  Tuberkulose.  Seit  dem  Eingriffe  sistierten 
wohl  die  Schüttelfröste,  Pat.  fieberte  aber  weiter,  die  Sekretion 
-war  sehr  stark  trotz  weiterer  Ausräumung  von  Gewebsmassen,  es 
bildeten  sich  mehrfach  Dünndarmfisteln,  die  Kranke  magerte  zum 
Skelett  ab.  Nun  versuchte  Verf.  die  Bestrahlung  der  großen 
Geschwürsfläche.  Nach  wenigen  Sitzungen  ließ  die  Sekretion 


nach,  die  Darmfisteln  schlossen,  die  Wunde  verkleinerte  sich. 
Nach  18  Bestrahlungen  wurde  die  Patientin  mit  abendlichen 
Temperatursteigerungen  zur  Durchführung  einer  Freiluftkur  ent¬ 
lassen.  Nun  erholte  sie  sich  vollkommen,  sah  blühend  aus, 
hatte  eine  Gewichtszunahme  von  etwa  40  Pfund.  Die  Bauch¬ 
wunde  war’  völlig  geheilt.  Nach  dieser  Beobachtung  und  nach 
den  zahlreichen  günstigen  Resultaten  E.  Birchers  (Die  chro¬ 
nische  Bauchfelltuberkulose,  ihre  Behandlung  mit  Röntgenstrahlen, 
Aarau  1907)  muß  man  der  Radiotherapie  eine  berechtigte  Stel¬ 
lung  in  der  Behandlung  derartiger  tuberkulöser  Affektionen  ein¬ 
räumen.  —  (Deutsche  medizin.  Wochenschrift  1911,  Nr.  16.) 

E.  F. 

* 


494.  Berichte  über  Bekämpfung  der  Lungenpest 
mit  Salvarsan.  Von  Dr.  O.  Schreyer  in  Tientsin.  Eine 
erfolgreiche  Behandlung  der  Pest  gibt  es  zurzeit  nicht.  Patienten, 
die  sich  trotz  Schutzimpfung  infiziert  hatten  und  noch  800  bis 
1500  cm3  Pestserum  aus  dem  Pasteurinstitut  injiziert  erhielten, 
sind  ausnahmslos  «Hier  Seuche  erlegen.  Als  in  Tientsin  die  ersten 
Fälle  von  Limgenpest  eingeschleppt  wurden,  beschloß  Verfasser, 
als  österreichisch-ungarischer  Sanitätsbeamter  daselbst,  Versuche 
mit  Salvarsan  zu  machen,  ln  zirka  20  von  ihm  damit  behandelten 
Fällen  von  Syphilis  in  allen  Stadien  hat  es  eine  wahre  Zauber  ; 
Wirkung  entfaltet;  bei  einem  Falle  von  Lepra  hat  es,  wenn  auch  i 
nicht  Heilung,  so  doch  eine  eklatante  Besserung  gebracht.  Er 
wandte  daher  Salvarsan  in  drei  von  ihm  behandelten  Fällen  1 
von  Lungenpest  an.  Eine  Frau,  die  einige  Stunden  vorher  die  | 
ersten  Symptome  der  Lungenpest  zeigte  und  in  deren  Sputum  ! 
reichlich  Pestbazillen  gefunden  wurden,  erhielt  bei  einer  Körper-  ! 
temperatur  von  40-1°  C  eine  subkutane  Injektion  von  0-5  g  Salv-  j 
arsan.  Vier  Stunden  nach  der  Injektion  sank  die  Temperatur  auf  ! 
36-3°.  Keine  weitere  Temperatursteigerung;  das  Allgemeinbefin-  i 
den  besserte  sich,  trotzdem  starb  Patientin  nach  zwölf  Stunden  I 
an  plötzlich  eingetretener  Herzschwäche.  Verf.  bemerkt  noch,  daß  i 
die  Lebensdauer  eines  Patienten  vom  Ausbruch  der  Krankheit  i 
bis  zum  Exitus  7  bis  höchstens  20  Stunden  beträgt.  Die  zwei 
nächsten  Fälle  waren  eine  24jährige  Frau,  die  vor  14  Tagen  : 
geboren  hatte  und  ihr  Kind  selbst  nährte  und  eine  Frau  von  j 
40  Jahren.  Beide  waren  gleichzeitig  unter  hohem  Fieber  und  den 
gewöhnlichen  Pestsymptomen  erkrankt.  Mehrere  Stunden  nach  < 
Ausbruch  der  Krankheit  bekam  die  jüngere  0-5  und  die  ältere,  ; 
die  sich  sträubte,  0-2  Salvarsan.  Ferner  bekam  die  jüngere  Pa¬ 
tientin  eine  subkutane  Injektion  von  1500  cm3  physiologischer  j 
Kochsalzlösung  mit  10  Tropfen  Adrenalin,  die  ältere  500  cm3 
derselben  Lösung.  Die  jüngere  hatte  drei  Stunden  nachher  eine 
Temperatur  von  38-3,  die  ältere  von  37-8°.  Letztere  starb  im 
Laufe  der  Nacht  an  Herzschwäche.  Die  jüngere  saß  am  nächsten 
Morgen  aufrecht  im  Bette,  verlangte  Nahrung,  aß  und  trank  und 
wollte  in  ein  anderes  Zimmer.  Sie  stand  selbst  auf,  ging,  nur 
an  der  Hand  geführt,  in  einen  anderen  Raum.  Husten  und  blutiger 
Auswurf  waren  geschwunden.  Am  Abend  stellte  sich  Herzschwäche 
ein  und  trotz  nochmaliger  Kochsalzinfusion  starb  Patientin  am 
folgenden  Morgen,  ln  diesem  Falle  ist  nach  Verf.  trotz  Exitus 
eine  deutliche  Einwirkung  des  Salvarsans  erwiesen.  Denn  er 
glaubt  nicht,  daß  während  der  ganzen  jetzigen  Epidemie  ein 
einziger  Fall  vorgekommen  ist,  daß  ein  an  Lungenpest  schwer 
Erkrankter  nach  24  Stunden  erstens :  wieder  fiebedos  war  und 
zweitens,  so  weit  gebessert  war,  daß  er  aus  freien  Stücken  im 
Bette  aufrecht  sitzen  konnte,  zu  essen  und  zu  trinken  verlangte, 
ferner  selbständig  aus  dem  Bette  aufstehen  und  einen  Weg  von 
20  m  zurückzulegen  vermochte.  Dazu  kommt,  daß  die  Kranke  | 
vor  14  Tagen  geboren  und  das  Kind  bis  zum  letzten  Momente  j 
selbst  nährte.  Als  Kuroisität.  erwähnt  Verf.  noch,  daß  (las  Kind, 
welches  die  Milch  der  pestkranken  Mutter  trank  und  sich  be¬ 
ständig  in  ihrem  Bette  befand,  nicht  infiziert  wurde,  trotz  des  | 
Nahrungswechsels  von  Muttermilch  auf  Kuhmilch,  trotz  der 
mangelhaften  Pflege  gesund  geblieben  ist.  Infolge  der  energischen 
Absperrungsmaßregeln  in  dem  dem  Verfasser  anvertrauten  Be¬ 
zirke  hatte  er  keine  weitere  Gelegenheit  zur  Anwendung  des 


Salvarsans.  In  künftigen  Fällen  würde  er  durch  intravenöse 
Injektion  und  andere  Dosierung  des  Mittels  bessere  Resultate  und 
vielleicht  volle  Heilung  zu  erreichen  versuchen.  —  (Münchener 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  15.) 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


719 


495.  Die  Behandlung  der  progressiven  Paralyse. 
Von  Dr.  Werner  H.  Becker,  Arzt  an  der  Landesirrcnausta.lt. 
\\  eilmünster.  Die  Behandlung  der  progressiven  Paralyse  (edit 
sich, a)  in  eine  allgemeine  und  spezifische,  b)  symptomatische  und 
c)  sozialhygienische  Therapie.  Ad  a)  hält  Werner  im  Beginne 
der  Krankheit,  auch  wenn  noch  keine  exakte  Diagnose  möglich 
is(,  eine  antisyphilitische  Kur  für  durchaus  gerechtfertigt,  wobei 
Werner  das  Ehrlichsche  Arsen präparat  für  ein  vorzügliches 
IVophylaktikum  hält,  welches  die  syphilitischen  und  metasyphili- 
schon  Erkrankungen  herabzusetzen  imstande  ist  und  vielleicht 
demnach  auch  die  Paralysemortalität  in  den  Irrenanstalten  herab 
mindern  wird,  zumal  es  schon  in  einigen  Fällen  von  Paralysis 
incipiens  sogar  noch  heilende  Wirkung  ausgeübt  hat.  Ad  b) 
bemerkt  Werner,  daß  vor  „Kaltwasserkuren“  nicht  energisch 
genug  gewarnt  werden  kann ;  im  übrigen  nimmt  die  physikalische 
Therapie  aber  doch  den  breitesten  Raum  in  der  symptomatischen 
Therapie  der  Paralyse  ein.  In  erster  Reihe  stehen  protrahierte 
warme  Bäder,  eventuell  Dauerbäder,  ferner  feuchtwarme  Ein¬ 
wicklungen  des  ganzen  Körpers.  Ad  c)  muß  der  Paralytiker  vor 
allem  seiner  Berufstätigkeit  entzogen  und  womöglich  gleich  an¬ 
fangs  in  eine  Anstalt  untergebracht  werden,  was  allerdings  häufig 
auf  Widerspruch  stößt.  In  solchen  Fällen  kann  die  Behandlung 
in  offenen  Sanatorien  warm  empfohlen  werden.  Zweckmäßig 
ist  die  Einleitung  der  Pflegschaft  oder  bei  raschem  Verlauf  besser 
gleich  der  Entmündigung,  denn  Hocke  sagt:  das  beste,  was 
man  einem  Paralytiker  und  seiner  Familie  antun  kann,  ist  früh¬ 
zeitige  Entmündigung,  deren  Wiederaufhebung  in  geeigneten  Fällen 
mit  langdauernden  tiefen  Remissionen  eventuell  befürwortet  wer¬ 
den  kann.  — -  (Fortschritte  der  Medizin  1910,  28.  .Tahrg.,  Nr.  51.) 

K.  S. 

* 

496.  Chronischer  Katarrh  der  weiblichen  Brust¬ 

drüse.  Von  W.  Mintz.  Verf.  bezeichnet  als  chronischen  Ka¬ 
tarrh  der  Brustdrüse  eine  von  ihm  7mal  beobachtete  Affektion, 
bei  der  es  sich  um  eine  konstante,  sich  über  .Jahre  hinaus¬ 
ziehende  Sekretion  von  gelbem  Serum  einer  der  Brüste,  ohne 
irgendwelche  Symptome  handelt.  Der  Katarrh  setzt  ohne  vor¬ 
herige  Erscheinungen  bei  30jährigen  und  älteren  Frauen  vor  und 
im  Klimakterium  einseitig  ein.  Quantität  und  Qualität  des  Sekrets 
in  keinem  Zusammenhänge  mit  der  Periode.  Den  Katarrh  be¬ 
gleiten  weder  subjektive  Symptome,  noch  Veränderungen  an  Brust¬ 
drüse  und  Warze.  Er  dauert  jahrelang  (bis  zu  sieben  Jahren) 
fort,  kann  vielleicht  unter  dem  Einflüsse  von  Jodkaliumgebrauch 
versiegen.  Er  kann  neben  einem  Adenom  der  Brustdrüse  be¬ 
stehen,  ist  aber  nicht  als  Folgeerscheinung  zu  deuten.  Er  kann 
feiner  nach  jahrelangem  Bestehen  hämorrhagisch  werden,  wäh¬ 
rend  gleichzeitig  in  der  befallenen  Drüse  sich  ein  Karzinom  ent¬ 
wickelt.  Komplizierende  eitrige  Mastitis  ist  beobachtet.  —  (Zen¬ 
tralblatt  für  Chirurgie  1911,  Nr.  6.)  E.  V. 

* 

497.  (Aus  der  psychiatrisch-neurologischen  Klinik  in  Wien. 

Hofrat  Dr.  v.  Wagner.)  Ueber  dissoziierte  Empfin¬ 
dungslähmung  bei  Ponstumoren  und  über  die  zen¬ 
tralen  Bahnen  des  sensiblen  Trigeminus.  Von  Doktor 
Konstantin  v.  Economo.  Daß  die  dissoziierte  Empfindungs¬ 
lähmung  —  im  allgemeinen  ein  pathognostisches  Symptom  der 
Syringomyelie  —  auch  bei  zahlreichen  anderen  Krankheiten  des 
Rückenmarkes  und  des  Hirnstammes  Vorkommen  kann,  ist  eine 
längst  bekannte  Sache  und  es  sind  namentlich  solche  Fälle 
von  Interesse,  in  welchen  Empfindungslähmungen  auf  eine  eng 
umschriebene  Läsion  zurückzuführen  sind.  Verf.  bringt  nun  in 
der  vorliegenden  Arbeit  einen  einschlägigen  Fall,  in  welchem 
die  Läsion  (Tuberkel)  im  Pons  saß  und  der,  abgesehen  von  dem 
Interesse,  das  er  als  Rarität  für  sich  in  Anspruch  nehmen  kann, 
bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  einige  neue  Aufschlüsse 
über  die  zentralen  Bahnen  des  Trigeminus  ergab,  zu  deren  voll¬ 
kommener  Klarstellung  das  Tierexperiment  herangezogen  wurde.- 

(Jahrbücher  für  Psychiatrie  und  Neurologie,  Bd.  32,  H.  1 
und  2.)  S. 

* 

498.  Komplikationen  bei  Stieldrehung  von  Ova¬ 
rialtumoren.  Von  Dr.  F.  Gronarz,  Assistenten  der  Univer¬ 
sitätsfrauenklinik  in  Greifswald  (Prof.  Dr.  P.  Kroemer).  ln  drei 


in  der  letzten  Zeit  an  der  Klinik  operierten  Fällen  von  Stiel- 
drehung  von  Ovarialtumoren  bestanden  durch  Einbeziehung  be¬ 
nachbarter  Organe  in  den  gedrohten  Stiel  seltener  beobachtete, 
respektive  sehr  gefährliche  Komplikationen.  Im  ersten  Falle  war 
ein  linkseitiges,  hämorrhagisch  infarziertes  Ovarialkystom  vor¬ 
handen,  aber  auch  die  rechte  Tube  war  in  den  gedrehten  Stiel 
eingewickelt.  Im  zweiten  Falle  (Operation  eines  gutartigen  Ova- 
rialfibroms)  wurde  als  interessanter  Nebenbefund  konstatiert,  daß 
eine  bleistiftdicke  Vene,  die  in  einem  zum  Boden  des  Douglas 
ziehenden,  offenbar  älteren  Adhäsionsstrang  verlief,  mit  in  den 
zweimal  gedrehten  Stiel  eingewickelt  war,  deren  Zerreißung  jeden 
Moment  zur  schweren  intra, abdominellen  Blutung  führen  konnte, 
tm  dritten  Falle,  bei  welchem  Symptome  eines  vollkommenen 
Darm  Verschlusses  bestanden,  fand  man  bei  der  Operation  eine 
Dünndarmschlinge  derart  in  dem  'Stiel  des  gedrehten  Ovarial¬ 
tumors  mit  verwickelt,  daß  es  zum  vollständigen  Verschluß  des 
Darmes,  gekommen  war.  Glücklicherweise  bestand  diese  voll¬ 
kommene  Darmabknickung  erst  ganz  kurze  Zeit,  denn  nach  Auf¬ 
drehung  des  Stieles  und  Ablösung  der  lose  verklebten  Darm¬ 
schlingen  konnte  man  sofort  lebhafte  Peristaltik  und  Wieder¬ 
kehren  der  normalen  Farbe  feststellen.  Alle  drei  Fälle  heilten 
rasch  aus,  die  im  letzten  Falle  bestehende  dreimonatige  Gra¬ 
vidität  blieb  ungestört.  Der  erste  Fall  (Einbeziehung  der  beider¬ 
seitigen  Tuben  in  den  Stiel)  hat  mehr  theoretisches  Interesse, 
die  zwei  anderen  Fälle  jedoch  sind  wegen  der  Gefährlichkeit  der 
erwähnten  Komplikationen  interessant.  In  allen  drei  Fällen  hat 
man  den  günstigen  Heilverlauf  dem  Umstande  zu  verdanken,  daß 
man  rasch  umgriff  und  durch  die  Entfernung  der  nekrotischen 
Massen  Infektion  und  Jauchung  des  Tumors  verhütete,  im  dritten 
Falle  außerdem  den  Ileus  beseitigte.  Die  prinzipielle  Früh¬ 
operation  sofort  nach  gestellter  Diagnose  scheint  das 
richtige  Vorgehen  zu  sein;  ein  Abwarten,  bis  die  stürmischen 
Anfangseischeinungen  abgeklungen  sind,  bietet  —  abgesehen  von 
der  Möglichkeit  des  Auftretens  von  Vereiterung,  Verjauchung,  sep¬ 
tischer  Peritonitis  —  auch  deshalb  keine  besonderen  Vorteile, 
weil  auch  bei  reiner,  aseptischer  Fremdkörperperitonitis  die  Aus¬ 
lösung  des  Tumors  aus  den  oft  zahlreichen  und  derben  Ver¬ 
wachsungen  die  Operation  erschwert  und  durch  Verlängerung 
der  Operationsdauer,  sowie  die  Möglichkeit  eventueller  Neben¬ 
verletzungen,  auch  ihre  Gefahr  erhöht  wird.  Schließlich  ist  die 
Frühoperation,  wie  'die  drei  oben  skizzierten  Fälle  beweisen, 
gleichzeitig  das  sicherste  Mittel,  auch  solchen  selteneren  Kom¬ 
plikationen  aus  dem  Wege  zu  gehen.  —  (Deutsche  medizin. 
Wochenschrift  1911,  Nr.  16.)  E.  F. 

* 

499.  (Aus  dem  medizinisch -poliklinischen  Institut  der  Uni¬ 
versität.  Berlin.  —  Geh.  Med. -Bat  Dr.  H.  Senator.)  Ueber  die 
Wirkung  des  butter  sauren  Natriums  auf  den  Organis¬ 
mus  junger  hungernder  Hunde  nebst  Bemerkungen 
zur  Lehre  vom  Coma  diabeticum.  Von  Dr.  Alfred  Mark- 
Frankfurt  a.  M.  Buttersaures  Natron,  reisp.  seine  im  Organismus 
entstehenden  Abkömmlinge  wirken  toxisch  und  erzeugen  einen 
dem  Coma  diabeticum  des  Menschen  ähnlichen  Zustand  hei 
jungen  hungernden  Hunden,  wenngleich  er  nicht  lange  andauert  und 
regelmäßig  nur  bei  intraperitonealer  Applikation,  seltener  per 
os  herbeigeführt  werden  kann.  Der  Uebergang  der  eingeführten 
Substanz  in  Azetessigsäure,  bzw.  Azeton  scheint  das  Zustande¬ 
kommen  des  schweren  Bildes  zu  begünstigen,  dagegen  scheint  die 
Hemmung  dieses  Abbaues  zu  Azetessigsäure  und  Azeton,  durch 
Darreichung  von  Kohlehydraten,  ihn  abzuschwächen.  Vielleicht 
handelt,  es  sich  heim  Coma  diabeticum  des  Menschen  auch  weniger 
um  eine  allgemeine  Säurewirkung  (Azidosis)  als  um  eine  spezifische 
Vergiftung  mit  Buttersäure  und  deren  Abkömmlingen.  Was  die 
Alkalitherapie  im  Coma  diabeticum  betrifft,  so  scheint  das  Al¬ 
kali  einzig  und  allein  als  Vehikel  zu  wirken,  welches  die 
P  -  Oxybuttersäure  schnell  nach  außen  führt.  Auch  die  Salze 
der  Buttersäure  sind  giftig  und  wirken  wie  die  Säure  selbst  von 
dem  Moment  an  schädlich,  wo  die  gebildete  Menge  die  noch 
mögliche  Ausfuhr  um  ein  Gewisses  überschreitet.  Das  Gift, 
welches  zurückbleibt,  hat  eine  besondere  Avidität  zum  Zentral¬ 
nervensystem  und  befällt  daher  Gehirn  und  wichtige  Lebens¬ 
zentren  in  exquisiter  Weise.  —  (Zeitschrift  für  klinische  Medizin 
1910,  Bd.  71,  H.  3  bis  6.)  K.  S. 


720 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


500.  (Aus  dem  Allgemeinen  Krankenhaus©  St.  Georg  in 
Hamburg.)  Ueber  die  chirurgische  Behandlung  des 
Morbus  Basedowi.  Von  Dr.  P.  Sudeck.  Vcrf.  teilt  seine 
Fälle  nach  der  Schwere  in  vier  Rubriken  ein  u.  zw.  5  ganz 
schwere,  6  schwere,  19  mittelschwere  und  4  leichte.  Von  diesen 
54  Patienten  ist  einer  gestorben.  Bei  18  Patienten  ist  die  Be¬ 
handlung  ganz  abgeschlossen ;  davon  sind  16  geheilt,  2  wesent¬ 
lich  gebessert;  diese  zeigen  nur  noch  myokahdi  tische  Erschei¬ 
nungen.  Von  den  übrigen  15  kann  bei  8  das  Endresultat  der'zeit. 
noch  nicht  beurteilt,  werden.  Von  den  7  Fällen  sind  G  ge¬ 
bessert  bis  zur  Arbeitsfähigkeit;  1  Fall  wesentlich  gebessert  bis 
auf  Herzerscheinungen.  Ungebessert  ist  keiner.  Nun  einige  Beob¬ 
achtungen  des  Verfassers  über  Symptomatologie  und  Verlauf.  Die 
primären  Basedowstrumen  sind  weich,  nur  mäßig  vergrößert  und 
zeigen  als  klinisches  Hauptcharakteristikum  die  Vaskularisation. 
Bei  der  Operation  erscheinen  die  Gefäße  erheblich  ausgedehnt, 
sind  leicht  zerreißlich.  Bei  ca.  95°/o  der  Fälle  ist  ein  nonnen¬ 
sausenartiges,  systolisches  Geräusch,  ähnlich  dem  Sausen  in  den 
Telegraphenstangen,  zu  hören,  am  häufigsten  über  den  Arteriae 
thyreoideae  superiores.  Die  mikroskopische  Untersuchung  der 
Strumen  ergab  vorwiegend  parenchymatösen,  nicht  selten  auch 
kolloiden  Charakter  derselben.  In  beiden  Arten  fanden  sich  regel¬ 
mäßig  Anhäufungen  von  lymphoiden  Zellen.  Bei  den  Kolloid¬ 
strumen  wies  Kocher  jun.  in  den  Bläschen  neben  dem  Kolloid 
abnorm  viel  gelöste  jodhaltige  Substanz  nach,  die  in  die  Zir¬ 
kulation  übergeht,  ebenso  wie  in  den  parenchymatösen  Strumen 
die  direkte  Ausscheidung  des  Schilddrüsensekretes  in  die  Blut¬ 
bahn  vermehrt  ist.  Der  Schwerpunkt  liegt  also  nach  Kocher  jun. 
in  der  Üeberfunktion  oder  Ueberresorption  gelösten  Schilddrüsen- 
sckietes,  die  allen  Basedowkranken  gemeinsam’  ist.  Kocher  sen. 
glaubt  in  der  Blutuntersuchung  einen  frühen  und  wichtigen  An¬ 
haltspunkt,  sowohl  für  die  Diagnose  als  Prognose  des  Morbus 
Basedow7!  gefunden  zu  haben.  Diese  Verschiebung  des  Blutbildes 
war  auch  in  den  Fällen  des  Verfassers  regelmäßig  vorhanden, 
am  stärk  steh"  bei  den  akuten,  schweren  Fällen.  Die  unmittelbare 
Wirkung  der  partiellen  Strumektomie  äußert  sich  gewöhnlich  in 
Fieber  und  Steigerung  aller  Basedowsymptom'e.  Der  Puls  geht 
in  die  Höhe-,  das  Grae fesche  Symptom1  deutlich  verstärkt.  In 
den  nächsten  ‘Tagen  gehen  aber  'diese  gesteigerten  Basedow1 
erscheinungen  rasch  zurück.  Der  Exophthalmus  geht,  zurück,  die 
Pulsfrequenz  fällt.,  mit  der  Zeit  schwinden  Mattigkeit,  Depres¬ 
sion,  Gewichtsabnahme,  Tremor,  Schweiße,  Hitzegefühl,  Durch¬ 
fälle,  Menstruationsslörungen,  die  gewaltige  Pulsation  des  Herzens, 
da,s  Karotidenklopfen.  Daß  die  sekundären  anatomischen  Herz- 
erscheinungen  einer  Rückbildung  nicht  fähig  sind,  ward  Von 
Kocher  eindringlich  betont,.  Die  Technik  der  Operation  hat 
Kocher  wesentlich  verbessert  und  das  Gesetz  aufgestellt,  daß 
die  Heilung  dem  Quantum  operativ  entfernter  Schilddrüsensubstanz 
parallel  ginge.  Unvollständig  geheilte  Fälle  können  nachträglich 
durch  Arterienligatur  oder  Resektion  noch  völlig  geheilt  werden. 
Melchior  berechnet  in  seiner  Statistik  unter  907  Fällen  65 
bis  75%  Heilungen;  Mortalität  46  Fälle,  gleich  5%.  Letztere  hat 
sich  aber  im  letzten  Dezennium  infolge-  Verbesserung  der  Technik 
erheblich  gebessert.  Der  Basedowtod  nach  der  Operation  ist  in 
der  Regel  eine  Folge  der  Herzinsuffizienz.  Sehr  vorteilhaft  ist 
die  Lokalanästhesie.  Was  die  Indikationsstellung  zur  Operation 
anlangt,  so  stellt  Verf.  folgende  Leitsätze  auf:  1.  Die  operative 
Behandlung  erfüllt  eine  kausale  Indikation.  2.  Die  chirurgische 
Technik  ist  im  letzten  Jahrzehnt  so  verbessert  worden,  daß  man 
in  allen  Fällen  auf  eine  wesentliche  Besserung,  mindestens  in 
75%  der  Fälle- praktische  Heilung  erzielen  kann;,  vorausgesetzt, 
daß  sich  die  Patienten  zu  Ende  behandeln  lassen.  3.  Die  Mor¬ 
talität  beträgt  IV2,  höchstens  5%  und  kann  durch  grundsätzliche 
frühzeitige  Operation  sicher  noch  gebessert  werden.  Dem  Ver¬ 
fasser  erscheint  es  zweifellos,  daß  sich  die  Erfolge  der  Internisten 
damit  nicht  messen  können.  Er  hält  daher  die  operative  Be¬ 
handlung  in  jedem  Falle  von  Thyreoidismus  für  indiziert,  wo 
das  Allgemeinbefinden  und  die  Arbeitsfähigkeit  dadurch  wesentlich 
geistört  werden  und  sobald  festgestellt  ist,  daß  sich  die  Erkrankung 
durch  innere  Medikation  oder  eine  mittlere  Höhenkur  nicht  ekla¬ 
tant  beeinflussen  läßt.  —  (Münchener  m-ediz.  Wochenschrift  1911, 
Nr.  16.)  G. 

* 


501.  Plastische  Methode  der  Schließung  von  Fi¬ 
stelgängen,  Avelche  von  inneren  Organen  kommen. 
Von  Mir.  A  brash  an  off.  Verf.  empfiehlt  folgende  Methode:  Es 
wird  ein  genügend  großer  Lappen  aus  den  benachbarten  Gewebs- 
parti-en,  am  besten  aus  Muskelgewebe  zugeschnitten.  Nach  An¬ 
frischung  der  Fistel  mittels  eines  scharfen  Löffels  wird  der  Lappen 
mit  der  Spitze  voran  in  den  Fistelgang  bis  zu  dessen  Grund  ein¬ 
geführt,  so  daß  der  ganze  Gang  vom  Lappen  ausgefüllt  ist.  Inner¬ 
halb  einigen  Tagen  wächst  der  Lappen  an  und  gibt  den  Boden 
zu  Gewebsneubildung,  welche  die  noch  gebliebenen  Lücken  aus- 
füllt.  Verf.  wandte  dieses  Verfahren  in  drei  Fällen  mit  gutem 
Erfolge  an:  1.  Lungenfistel,  nach  einem  Lungenabszeß,  2.  Mast- 
darm-Scheidenfistel,  nach  vaginaler  Adnexexstirpation,  3.  ver¬ 
altetes  Empyem,  zweimal  nach  Schede  vergebens  operiert.  — 

(Zentralblatt  für  Chirurgie  1911,  Nr.  6.)  E.V. 

* 

502.  (Aus  dem  medizinisch -chemischen  und  pharmakolo¬ 

gischen  Institut  der  Universität  Bern.  —  Direktor:  Professor 
Dr.  Emil  Bürgi.)  Weitere  Untersuchungen  über  die 
Wirkungen  von  Narkotika-Antipyretika-Kombina- 
tionen.  Von  Roman  Herzen  be  rg  aus'  Riga.  Die  sogenannten 
Fiebernarkotika  unter  den  Antipyrctizis'  ergeben  bei  gleichzeitiger 
Einfuhr  in  den  Organismus  eine  einfache  Addition  ihrer  narko¬ 
tischen  Einzeleffekte.  Mit  Narkotizis  der  Fettreihe  gepaart,  ver¬ 
halten  sich  die  narkotischen  Eigenschaften  der  gleichen  Sub¬ 
stanzen  ebenfalls  additiv.  Bei  Kombination  mit  Morphium  mit 
diesen  Substanzen  (Phenazetin,  Laktophenin,  aber  auch  mit  Anti- 
pyrin)  findet  eine  nicht  hochgradige  Potenzierung  der  Einzel- 
Wirkungen  statt.  Die  narkotischen  Eigenschaften  der  Äntipyretika 
treten  in  der  Kombination  deutlicher  zutage,  als1  wenn  die  Mittel 
für  sich  allein  in  doppelten  oder  noch  höheren  Dosen  gegeben 
werden.  Geht  man  mit  der  Dosis  des  einen  Mittels  nahe  an 
die  minimal  narkotisierende  heran,  so  braucht  es  von  der  zweiten 
Substanz  nur  noch  ein  verschwindend  kleines  Minimum,  um  dm 
Wirkung  zu  vervollständigen.  —  (Zeitschrift  für  experimentelle 
Pathologie  und  Therapie  1911.  Bd.  8,  II.  3.)  K.  S.  : 

*c 

503.  Zur  Behandlung  des  Ulcus  cruris.  Von  Doktor 
Althoff  in  Attendorf  i.  W.  Ein  altes,  schmutzig  belegtes  Fuß- 
geschwür  möge  vorerst  gründlich  im  Seifenbade  gereinigt,  sodann 
mit.  Wasser  abgespült,  mit  Alkohol  und  Sublimatlösung  nach- 
gewaschen  werden.  Dann  lasse  man  drei  bis  vier  Tage  lang  zur 
Schmerzstillung  und  vorläufiger  Sekretabsaugung  essigsaure  Ton¬ 
erdeumschläge,  die  etwa  alle  -drei  Stunden' erneuert  werden,  appli 
zieren.  Nun  beginnt  die  eigentliche  Heilbehandlung.  Sorgfältige 
Einwicklung  des  Beines  mittels  einer  sogenannten  Idealbinde 
(Trikot),  Regelung  der  Diät,  in  den  ersten  Wochen  täglich  ein 
salinisches  Abführmittel,  Einschränkung  des  Alkohol-  und  Tabak¬ 
genusses.  Wenn  möglich  lasse  man  reichlich  Buttermilch  trinken. 
Lokalbehandlung:  Pat.  verbindet  täglich  zweimal  selbst  sein  Ge¬ 
sell  ^ wür,  nachdem  er  es  bei  jedem,  Verbandwechsel  in  gut  lau¬ 
warmem  Wasser  vier  bis  fünf  Minuten  lang  gebadet  hat.  Am 
Tage  Wird  auf  das  Ulkus  -ein  mit  folgender  Salbe  messerrückeindick 
bestrichener  Verband  gelegt.  Rp.  Argent,  nit.r1.  0-75,  Bals.  Peruv. 
2-5,  Vaiselini  alb.  ad  50.  Nachts  kommt  auf  das!  Geschwür 
ein  feuchter,  mit  wasserdichtem  Stoff  bedeckter  Sublimatumschlag 
(1:1000),  welcher  höchstens  1  'bis  2  cm  den  Geschwürsrand  über¬ 
ragt..  Der  Verfasser  gibt,  drei  Krankengeschichten,  in  welchen  der 
frappante  Erfolg  dieser  Behandlungsweise  demonstriert  wird  und 
sagt,  daß  sich  diese  auch  in  anderen  Fällein  bewährt  habe.  Der 
Sublimatumschlag  wirkt  sekretionsabsaugend  und  desinfizierend, 
die  guten  Dienste  des  Perubalsams  bei  Unterschenkelgeschwuren 
sind  wiederholt  hervorgehoben  worden.  In  einzelnen  Fällen  wird 
der  Sublimatumschlag  nicht  vertragen.  —  (Deutsche  medizinische 

Wochenschrift  1911,  Nr.  16.)  E.  E. 

* 

504.  (Aus  der  Universitätsaugenklinik  zu  Greifswald.  — 
Direktor:  Prof.  Dr.  P.  Römer.)  Klinische-und  experimen¬ 
telle  Beobachtungen  über  das  Verhalten  des  Salv- 
arsans  zur  Hornhaut.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Walther  Löh¬ 
lein.  Die  Berichte  der  verschiedenen  Beobachter  über  den  thera¬ 
peutischen  Effekt  des  Salvarsans  hei  luetischen  Augenerkran¬ 
kungen  lauten  sehr  wechselnd.  Ein  Teil  davon  erfuhr  wohl  eine 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


721 


auffallende,  doch  nicht  anhaltende  Besserung.  Ziemlich  ungünstig 
fällt  das  Urteil  über  die  interstitielle  Hornhautentzündung  auf 
hereditär  -  luetischer  Basis  aus.  Verf.  berichtet  über  neun  Fälle 
von  Keratitis  parenchymatosa  eigener  Beobachtung.  Es  kam  in 
keinem  Falle  zu  einer  vollständigen  oder  raschen  Abheilung  unter 
der  Einwirkung  des  Salvarsans.  In  drei  Fällen  war  überhaupt 
kein  Einfluß  auf  den  Krankheitsprozeß  zu  erkennen,  ln  fünf  Fällen 
wurde  zwar  eine  gewisse  Besserung  des  Visus  auf  dem  erkrankten 
Auge  erzielt,  doch  war  der  Erfolg  nicht  größer  oder  rascher  als 
bei  der  bisherigen  Therapie.  Erschwerend  ist,  daß  in  zwei  von 
diesen  fünf  Fällen  das  andere  Auge  durch  die  Salvarsanbehand 
lung  in  Mitleidenschaft  gezogen  wurde.  Am  auffallendsten  war 
dies  bei  einem  17jährigen  Mädchen,  bei  dem  trotz  der  Injektion 
das  bis  dahin  völlig  normale  zweite  Auge  an  einer  schweren 
parenchymatösen  Hornhautentzündung  erkrankte  und  nach  zwei 
Monaten  erst  einen  Visus" von  6/24  erlangt  hatte.  In  einem  an¬ 
deren  Falle  zeigte  das  linke,  völlig  reizlose  Auge  zarte  alte  Horn¬ 
hauttrübungen  bei  fast  normalem  Sehvermögen.  In  der  dritten 
Woche  nach  der  Salvarsaninjektion  flammte  der  alte  abgeklun 
gene  Prozeß  von  neuem  auf  in  Gestalt  einer  schweren  Keratitis 
parenchymatosa,  die  sich  auch  gegen  erneute  Salvarsanbehandlung 
refraktär  verhielt.  Ein  Fäll  mit  beiderseitiger  Keratitis  und  Iritis 
zeigte  nach  zehn  Wochen  eine  beiderseitige  Verschlechterung. 
Mit  diesem  Ergebnis  stimmen  auch  die  Beobachtungen  anderer 
Autoren  (Treupel,  Uhthoff,  Kramer  usw.)  überein.  Bekannt 
ist,  daß  die  bisher  übliche  spezifische  Therapie,  Quecksilber  und 
.fodkali  diesen  Prozessen  gegenüber  nahezu  machtlos  war.  Verf. 
ging  nun  zur  lokalen  Anwendung  des  Salvarsans  am  Auge  über  und 
machte  subkonjunktivale  Einspritzungen.  Eine  Schädigung  an  der 
Einstichstelle  resultierte  nicht;  es  trat  aber  auch  keinerlei  Wirkung 
auf  den  Hornhautprozeß  zutage.  Eher  konnte  man  eine  Ver¬ 
schlechterung  in  der  Folge  konstatieren.  Verf.  stellte  nun  Tier¬ 
versuche  an,  um  festzustellen,  ob  und  wie  lange  nach  den  üb¬ 
lichen  Applikationsmethoden  das  Präparat  am  Auge  nachweisbar 
wird.  Eine  Serie  von  Kaninchen  erhielt  intravenöse,  die  andere 
subkutane  Injektionen.  Bei  ersteren  zeigte  sich,  daß  der  Uebertritt 
aus  dem  Blute  ins  KammePwasser  sehr  früh  nachweisbar  wird, 
daß  ein  Nachweis  des  Präparates  in  der  Hornhaut  von  der 
2.  bis  zur  18.  Stunde- nach  der  Injektion  gelingt.  Bei  der  subku¬ 
tanen  Injektion  kursiert  das  Präparat  viel  länger  im  Blute,  ist 
eine  halbe  Stunde  nach  der  Injektion  bereits  im  Kammerwasser 
and  bleibt  dort  bis  zum  17.  Tage.  Eine  Stunde  nach  der  Zuführung 
wird  das  Salvarsan  auch  in  der  Kornea  nachweisbar  und  bleibt 
mindestens  24  Stunden'.  Es  geht  also  daraus  hervor,  daß  das 
Salvarsan  bei  beiden  Injektionsformen  viele  Stunden  in  der  Horn¬ 
haut  vorhanden  ist.  Auch  eine  Reihe  klinischer  Beobachtungen 
sprechen  dafür,  daß  das  Salvarsan  den  Krankheitsherd  in  der 
Hornhaut  erreicht.  Die  Frage  nun,  warum  trotzdem  das  Salvarsan 
lio  hereditär  -  luetischen  Hornhautprozesse  nicht  beeinflußt,  läßt 
dch  schwer  beantworten.  Es  sind  darüber  nur  Hypothesen  auf¬ 
gestellt  worden.  Verf.  erklärt  zum  Schlüsse:  In  neun  Fällen  von 
luetischer  Keratitis  parenchymatosa  war  eine-  sichere  therapeu- 
ische  Beeinflussung  durch  Salvarsan  nicht  zu  beobachten;  die 
Erkrankung  des  zweiten  Auges  wurde  durch  das  Mittel  nicht 
verhindert.  Auch  die  lokale  Anwendung  in  Form  subkonjimk- 
ivaler  Injektionen  (dreimal  0-01  Salvarsan  nach  vorausgegangcncr 
ntraglutäaler  Injektion)  brachte  keinen  Stillstand  des  Hornhaut- 
irozesses.  Dies  Versagen  des  Präparates  erklärt  sich  nicht  so, 
Laß  das  Salvarsan  nicht  in  die  Kornea  gelangt.  Es  konnte  im 
Experiment  nach  intravenöser  und  auch  nach  subkutaner  Zufuhr 
herapeutischer  Dosen  ca.  20  Stunden  lang  Arsen,  sogar  in  der 
licht  vaskularisierten  Hornhaut,  nachgewiesen  werden.  —  (Aliin- 
hener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  16.)  G. 

* 

505.  Gehirn  und  Psychose.  Von  Dr.  E.  Funkhäuser, 
rivatdozent  in  AValdau  bei  Bern.  Die  moderne  Schule  will  die 
von  ihr  weitgefaßten  funktionellen  Störungen  (bei  den  sogenannten 
unktionellen  Psychosen)  zurückführen  auf  Störungen  psychischer 
Mechanismen,  ausgelöst  durch  gewisse  Erlebnisse,  schwere  psy- 
hische  Eindrücke.  Die  histologische  Untersuchungsmethode  wird 
zugunsten  der  psychoanalytischen  Methode  für  wertlos  erklärt, 
dementgegen  weist  Funkhäuser  darauf  hin,  daß  die  anatomische 
Erforschung  der  Psychosen  doch  einen  entschiedenen  praktischen 


Wert  hat.  Denn  alle  Fortschritte  in  der  Psychiatrie  verdanken 
-  wir  entschieden  in  erster  Linie  der  histologischen  Forschung. 
Dio  Aufgabe  der  Histologie  ist  allerdings  nicht  leicht,  ihre  Fort¬ 
schritte  sind  langsam,  aber  sie  rechtfertigen  die  Fortsetzung  der 
Arbeit  vollauf.  —  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer' Aerzte  1910, 
40.  Jahrg,,  Nr.  35  und  36.)  K.  g. 

* 

506.  Zur  Behandlung  der  progressiven  Para¬ 
lyse  mit  Nukleinsäureinjektionen.  Von  Dr.  Josef 
Loew  enstein,  leitender  Arzt  der  Le  waldschon  Heilanstalt  in 
Obernigk  bei  Breslau.  Im  vergangenen  Jahre  wurden  bei  15  Para¬ 
lytikern  Nukleinsäureeinspritzungen  gemacht;  zwei  Kranke  entzogen 
sich  rasch  der  Behandlung,  es  bleiben  also  für  die  Beurteilung 
13  Fälle  übrig.  In  der  Regel  wurde  10  Natrium  nueleinicum  in 
I0°/Oiger  Lösung  in  Intervallen  von  6  bis  7  Tagen  cingespritzt 
8  Patienten  erhielten  je  8  g  Nuklein,  5  Patienten  von  9  bis  17  g. 
Es  trat  innerhalb  der  ersten  24  Stunden  nach  der  Einspritzung  eine 
Temperatursteigerung  zwischen  38  bis  39°,  in  mehreren  Fällen  bis 
40°  auf;  war  die  Temperaturerhöhung  —  gegen  Schluß  der  Kur 

—  geringer,  so  wurde  die  Einzeldosis  auf  15  g  erhöht,  worauf 
wieder  Temperaturen  über  38°  einlraten.  Der  Verfasser  bringt  so¬ 
dann  13  kurze  Krankengeschichten  und  fügt  bei,  daß  in  allen 
Fällen  die  Diagnose  der  Paralyse  durch  den  klinischen  Verlauf,  in 
der  Mehrzahl  auch  durch  den  Blut-  und  Liquorbefund  sichergestellt 
sei.  In  1 1  Fällen  war  der  Erfolg  der  Nukleinbehandlung  völlig 
negativ.  6  dieser  Fälle  befanden  sich  in  einem  frühen  oder 
relativ  frühen  Stadium  der  Krankheit  (seit  dem  Ausbruch  einige 
Monate,  Wochen  oder  gar  Tage),  in  den  5  übrigen,  auch  unbe¬ 
einflußten  Fällen,  hatte  die  Krankheit  schon  längere  Zeit  (1  bis 
2  Jahre)  bestanden.  Von  diesen  11  Kranken  sind  3  gestorben,  die 
übrigen  8  befinden  sich  bereits  im  Stadium  der  terminalen  Demenz. 
2  Fälle  haben  eine  ziemliche,  bzw.  recht  gute  Besserung  erfahren. 
In  beiden  Fällen  hat  jedoch  die  Besserung  schon  vor  dem  Beginn 
der  Nukleinbehandlung  eingesetzt,  in  1  Falle  wurde  überdies  vor 
und  nach  den  Einspritzungen  von  Nuklein  auch  eine  andere  Kur 
(Hg-Schmierkur,  später  Ehrlichs  Arsenophenolglyzin)  angewandt, 
so  daß  das  Resultat  als  ungewiß  bezeichnet  werden  muß.  Im  zweiten 
Falle  ist  die  Beobachtungszeit  noch  zu  kurz.  Keinesfalls  sind  durch 
die  Nukleinbehandlung  mehr  und  bessere  Remissionen  erzielt  worden, 
als  sie  bei  der  Paralyse  auch  ohne  jede  spezielle  Behandlung  Vor¬ 
kommen.  Ob  diese  Behandlung  geschadet  hat  (ein  Fall  bekam  Er¬ 
regungszustände  während,  paralytische  Anfälle  kurz  nach  der  Kur, 
ein  Fall  starb  nach  der  6.  Injektion  im  Kollaps,  ein  Fall  bekam 
während  zweier  Kuren  paralytische  Anfälle),  läßt  sich  auch  nicht 
entscheiden.  Diese  ungünstigen  Erscheinungen  decken  sich  mit  den 
jüngst  von  Klieneberger  mitgeteilten  Beobachtungen.  Verf. 
hat  sich  deshalb  nicht  veranlaßt  gesehen,  die  Versuche  fortzusetzen. 

—  (Berliner  klin.  Wochenschr.  1911,  Nr.  16.)  E.  F. 

* 

507.  (Aus  dem  chemischen  Laboratorium  der  psychiatri¬ 
schen  Universitätsklinik  zu  München.)  Ueber  eine  angeblich 
für  progressive  Paralyse  charakteristische  Reak¬ 
tion  im  Harn  (mit  Liquor  Bellostii).  Von  Doktor 
H.  AI.  Stucken.  Jeffimoff  hat  eine  für  Helminthiasis  cha¬ 
rakteristische  Reaktion  angegeben.  Wenn  man  einen  solchen  Harn 
mit  fünf  bis  zehn  Tropfen  einer  salpetersauren  Lösung  von  Mer- 
kurnitrat  versetzt  und  kocht,  bildet  sich  ein  schwarzer  Nieder¬ 
schlag.  Das  Reagens  ist  als  Liquor  Bellostii  längst  bekannt. 
Butenko  hat  kürzlich  diese  Reaktion  für  die  progressive  Para¬ 
lyse  als  charakteristisch  hingestellt.  Unter'  50  Fällen  von  Para¬ 
lyse  fand  er  sie  42mal  positiv,  unter  1 20  Fällen  anderer  Psy¬ 
chosen  nur  viermal*  Verf.  hat  die  Reaktion  nachgeprüft  an  einem 
Material  von  157  Fällen.  Unter  den  27  Paralytikern  gaben  sechs 
Fälle  niemals  die  Reaktion.  Bei  18  Fällen  fehlte  sie  zeitweise. 
Nur  drei  Fälle  waren  bei  wiederholter  Untersuchung  stets  positiv. 
Fünf  Fälle  von  Hirnlues  reagierten  stets  positiv.  Von  elf  Fällen 
arteriosklerotischer  und  seniler  Psychosen  reagierten  acht  zeit¬ 
weise  positiv;  ebenso  zwei  Fälle  von  Tabes.  Von  13  Epilep¬ 
tikern  reagierten  fünf  stets  negativ.  Unter  23  Fällen  von  Dementia 
praecox  reagierten  20  stets  negativ,  13  zeitweise  positiv.  Unter 
elf  Fällen  von.  chronischem,  Alkoholismus  reagierten  sechs  zeit¬ 
weise  positiv.  Bei  17  Fällen  von  manisch-depressivem  Irresein 
waren  fünf  zeitweise  positiv.  Bei  verschiedenen  anderen  Psy- 


722 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


cbosen  wurde  die  Reaktion  neunmal  positiv  gefunden.  Daraus 
ergibt  sich,  daß  die  Reaktion  für  Paralyse  nicht  spezifisch  ist. 
Verf.  hat  aber  auch  die  Harne  von  anderen  Kranken  untersucht 
und  gefunden,  daß  dieser  Reaktion  keine  ausschlaggebende  Be¬ 
deutung  zukommt.  Es  läßt  sich  nach  Maßgabe  der  Untersuchungen 
nur  sagen,  daß  sie  bei  luetischen  und  metaluetischen  Erkran¬ 
kungen  des  Zentralnervensystems  ^besonders  häufig  ist.  Verf.  teilt 
noch  eine  Reihe  von  Beobachtungen  über  den  Chemismus  dieser 
Reaktion  mit.  Butenko  war  der  Ansicht,  daß  die  in  Frage 
kommenden  Körper  Lipoide  seien,  welche  als  Abbauprodukte 
des  Zentralnervensystems  in  den  Ham  übertreten.  Da  Verfasser 
aber  die  Reaktion  auch  bei  Erkrankungen,  die  das  Zentralnerven¬ 
system  intakt  lassen,  ifand,  ist  diese  Ansicht  hinfällig.  Nach  J  ef- 
f  im  off  tritt  Idle  Reaktion  bei  Helminthiasis  auf.  Verf.  ver¬ 
suchte  nun  die  Reaktion  mit  Oelsäuix?,  die  bekanntlich  als  spe¬ 
zifisches  Gift  mancher  lierminthen  gilt,  aber  mit  negativem  Erfolg. 
Bei  s  ole  sucht  in  Zerfallsprodukten  der  nukleinreichen  Gehirn¬ 
zellen  die  reagierenden  Substanzen.  Dagegen  besteht  der  gleiche 
Einwand  wie  'gegen  Butenko.  Verf.  fand  eine  außerordent¬ 
liche  Empfindlichkeit  der  reagierenden  Substanz  gegen  Säure. 
Säuert  man.  einen  positiv  reagierenden  Ham  mit  wenigen  Tropfen 
Salpetersäure  oder  Essigsäure  an,  so  gelingt  die  Reaktion  ent¬ 
weder  nicht  mehr  oder  sie  fällt  bedeutend  schwächer  aus.  Dies 
beruht  nur  auf  der  Säureempfindlichkeit  der  Substanz.  Denn 
das  Resultat  ist  dasselbe,  wenn  man  die  zugesetzte  Säure  vor 
dem  Anstellen  der  Reaktion  genau  mit  Natronlauge  oder  kohlen- 
saurem  Natrium  neutralisiert  hat.  Da  nativsaure  Harne  ver¬ 
wendet  wurden,  kann  diese  Erscheinung  auch  nicht  auf  Neutra¬ 
lisierung  von  freiem  Ammoniak  beruhen.  Die  positiv  reagieren¬ 
den  Harne  sind  übrigens  durchgehends  ziemlich  sauer.  Der  Ver¬ 
fasser  hat  auch  versucht,  um  die  Natur  der  reagierenden  Substanz 
festzustellen,  dieselbe  mit  Baryt  auszufällcn.  Fällt  man  posi¬ 
tiven  Harn  mit  heiß  gesättigter  Barytlösung  vollständig  aus  und 
entfernt  mit  Kohlensäure  den  überschüssigen  Baryt  aus  dem 
Filtrat,  so  reagiert  nur  das  Filtrat,  nicht  aber  der  Barytnieder¬ 
schlag  positiv.  Die  reagierende  Substanz  gehört  also  nicht  der 
Oxyproteinsäurefraktion  an,  da  diese  Körper  mit  Baryt  quan¬ 
titativ  ausfallen.  Die  Reaktion  ist  auch  nicht  abhängig  vom 
Azetongehalt  des  Harnes.  Azeton  reduziert  beim  Erwärmen  den 
Liquor  Bellostii,  ein  Hinweis,  daß  die  Schwarzfärbung  des  Harnes 
sehr  wohl  auf  der  Anwesenheit  reduzierender  Substanzen,  wie 
Ketonen  oder  Aldehyden,  beruhen  konnte.  Auch  mehrfach  liydro- 
xylierte  Benzolderivate  könnten  in  Frage  kommen.  Keineswegs 
ist  die  Annahme  des  Entstehens  von  Quecksilber -Nifroammoniak 
vorläufig  zuzugeben.  Verf.  resümiert:  In  manchen  Harnen,  so¬ 
wohl  von  körperlich  schwer  Kranken,  als  körperlich  anschei¬ 
nend  Gesunden  tritt  beim  Erhitzen  mit  Merkuronitrat  in  schwach 
salpetersaurer  Lösung  eine  Schwärzung  des  Niederschlages  auf, 
die  wahrscheinlich  auf  Reduktion  beruht.  Diese  Reaktion  ist 
für  keine  Erkrankung  spezifisch.  Die  reagierende  Substanz  ist 
gegen  Erhitzen  stabil,  gegen  Säure  sehr  empfindlich,  in  Aether 
nicht  löslich.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  16.) 

'  [J  i  i  I  ;  |  G. 

♦ 

508.  Zur  Frage  der  sogenannten  »Pseudomen¬ 
struation«.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Maximilian  Neu.  Neu  wirft  die 
Frage  auf :  In  welchem  Verhältnisse  stehen  die  alsbald  nach  Ope¬ 
rationen  am  inneren  Genitale  auftretenden  Blutungen  zum  indivi¬ 
duellen  Menstruationstypus  ?  Studiert  wurden  sämtliche  Adnexopera¬ 
tionen  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Frage,  ob  die  Blu¬ 
tungen  nur  nach  Ovariotomien  oder  auch  nach  anderen  Adnexope¬ 
rationen  auftraten.  Das  Resultat  der  Untersuchungen  war  folgendes : 
Die  postoperative  Blutung  tritt  nach  allen  Adnexoperalionen  auf, 
wenn  das  Intervall  zwischen  der  letzten  Menstruation  (bzw.  der 
Abortblutung  bei  Tubergravidität)  und  der  Operation  mehr  als 
14  Tage  beträgt.  Ist  dagegen  dieses  Intervall  geringer  als  14  Tage, 
so  tritt  keine  Blutung  ein.  Die  postoperative  Blutung  tritt  am 
zweiten  oder  dritten  Tage  nach  der  Operation  auf  und  pflegt  an 
Dauer  und  Stärke  den  gewohnten  Periodenblutungen  gleich  zu  sein. 
Neu  faßt  diese  Blutung  als  eine  antezepierte  Periodenblutung  auf 
und  schließt,  daß  die  sogenannte  » Pseudomenstruation «  keine  zu¬ 
fällige  Blutung  ist,  sondern  einer  vollwertigen  Menstruationsblutung 
entspricht;  ihre  Auslösung  geschieht,  allgemein  gesagt,  durch  den 


Reiz  der  Operation,  wobei  der  Reizweg  hypothetisch  bleibt.  — 

(Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911,  Nr.  10.)  E.  V. 

* 

509.  (Aus  dem  Ncrvenambulatorium1  der  ersten  medizini¬ 
schen  Klinik  des  Prof.  Dr.  C.  v.  Noorden.)  Klinische 
Studien  über  die  Zukunft  nervenkranker  Kinder  mit 
spinalen  und  zerebralen  Lähmungen.  Von  Dr.  Richard 
Stern.  Um  neue  Handhaben  für  die  Befestigung  des  Begriffes 
der  Disposition  zu  gewinnen,  widmete  sich  der  Verfasser  dem 
Studium  der  weiteren  Lebensschicksale  solcher  Individuen,  welche 
bereits  im  Kindcsalter  die  Zeichen  einer  organischen  Erkrankung 
darboten,  zu  welchem  Zwecke  er  als  Ausgangspunkt  die  spinalen 
und  zerebralen  Lähmungen  des  Kindesalters  wählte.  Zunächst 
bearbeitete  er  das  Material  veralteter  Poliomyelitisfällc.  Er  über¬ 
zeugte  sich  bald  von  der  Tatsache,  daß  sich  die  Träger  alter 
Kinderlähmungen  fast  durchwegs  recht  wohl  befanden  und,  ab¬ 
gesehen  von  den  Residuen  ihrer  infantilen  Erkrankung,  keine 
Zeichen  anderer  organischer  Nervenleiden  oder  anderer  Organ¬ 
erkrankungen  trugen.  Obwohl  die  Untersuchungen  des  Verfassers 
ihn  durch  ihre  unerwarteten  Resultate  von  dem  ihnen  zugrunde 
liegenden  Gedanken  abdrängten,  kam  er  doch  zu  Ergebnissen, 
die  er,  als  mit  den  in  der  Literatur  verbreiteten  Anschauungen 
in  einem  gewissen  Widerspruche  stehend,  zu  deponieren  wünschte. 
Diese  Ergebnisse  bilden  demnach  den  Inhalt  der  vorliegenden 
umfangreichen  Arbeit,  in  welcher  107  Beobachtungen  von  Indi¬ 
viduen  Verwertung  finden,  die  Residuen  einer  alten  spinalen 
Kinderlähmung  trugen.  Die  Ergebnisse  der  Studien  des  Verfassers 
im  Detail-  anzuführen,  überschreitet  die  einem:  Referate  gezo¬ 
genen  Grenzen.  Im  allgemeinen  soll  nur  gesagt  sein,  daß  die 
poliomyolitische  Erkrankung  selbst  weniger  das  Forschungsziel 
des  Verfassers  war,  sondern  die  Beurteilung  des  Gesamtbefindens 
der  Kranken,  zumal  die  Frage,  ob  etwaige  spätere  Nerven-  oder 
Organerkrankungein  ausgeschlossen  waren,  was  er  teils  an  der 
Hand  der  Protokolle,  teils  durch  Revision  beantwortete.  —  (Jahr¬ 
bücher  für  Psychiatrie  und  Neurologie,  Bd.  32,  H.  1  und  2.) 

S. 

* 


510.  (Aus  dem  königlichen  Krankenstift  Zwickau.)  Heber 
die  Anwendung  der  Suprareuinanämie  hei  Opera¬ 
tionen  am  Schädel  und  der  Wirbelsäule.  Von  Professor 
Dr.  H.  Braun.  Verf.  benützt  bei  Schädeloperationein:,  um  die 
oft  sehr  störenden  Blutungen  aus  den  Weichteilen  zu  verhindern, 
eine  Methode,  die  bei  ihrer  Sicherheit  und  Ungefährlickeit  wert 
ist,  allgemeine  Verbreitung  zu  erlangen.  Die  Technik  der  Methode 
ist  identisch  mit  der  der  Lokalanästhesie.  Er  umspritzt  das 


Operationsfeld  mit  Voriger  Novokainlösnng,  der  eine  Spur  Supra 
renin  beigemischt  ist.  Zur  Herstellung  der  Lösung  werden  die 
Höchster  Novokain-Suprarenintabletteto  A  (0-125  Novokain,  0  0001 2 
Suprarenin)  benutzt.  Eine  Tablette  wird  in  25  cm3  Kochsalz 
lösung  aufgelöst.  An  Stellen  des  Schädeldaches,  die  nicht  mit 
Muskelschicbten  bedeckt  sind,  ist  die  Technik  sehr  einfach.  Durch 


Quaddeln  wird  das  Operationsfeld  markiert  und  dann  die  Lösung 
subkutan  von  einer  Quaddel  zur  andern  eingespritzt.  Auf  eine 
Injektionslinie  von  5  bis  6  cm  kommen  c'a.  5  cm3  Flüssigkeit. 
Nach  Ablauf  von  fünf  bis  zehn  Minuten  kann  die  Durchtrennung 
der  Weichteile  unter  sehr  geringer  Blutung  vorgeinommen  werden: 
nur  die  größeren  Gefäße  bluten  und  müssen  gefaßt  werden.  Wo 
dickere  Muskelschichten  vorhanden  sind,  ist  die  Technik  schwie¬ 
riger  ;  hier  genügt  nicht  die  subkutane  Umspritzung  des  Opera¬ 
tionsfeldes,  sondern  hier  muß  der  ganze  Querschnitt  des  den 
Schädel  bedeckenden  Muskels  mit  der  Lösung  durchtränkt  werden, 
dann  ist  aber  auch  die  Blutstillung  eine  vollständige.  Aehnlich 


ist  auch  die  Technik  bei  Laminektomie,  bei  der  sonst  die  Blutung 
aus  den  Weichteilen  sehr  störend  wiikt.  Einige  instruktive  Zeich¬ 
nungen  erläutern  die  Beschreibung  der  Methode  in  wirksamer 


W  p  i 


—  (TViifsrhcv  Zmtsr.hrifl:  für  Chir 


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1  07  TT t  X  bis  6.) 


se. 


* 

511.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  der  Akademie  Düssel¬ 
dorf.  —  Prof.  A.  Hoffmann.)  Die  hämos  typ  tische  Wir¬ 
kung  der  Gliederabschn  iirung.  Von  Privatdozent  Doktor 
R.  va;n  der  Velden,  Oberarzt,  Dozent  für  innere  Medizin  and 
angewandte  Pharmakologie.  Das  Abbinden  der  Glieder,  das  beißt 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


723 


die  Verhaltung  von  Blut  in  den  Extremitäten  durch  teilweise 
Hemmung  des  venösen  Abflusses  bei  erhaltener  arterieller  Zufuhr, 
wird  seit  den  Zeiten  der  hippokratischen  Schule  zu  lxämoslatischen 
Zwecken  angewendet  und  scheint  auf  den  ersten  Blick  einer 
näheren  Erklärung  nicht  zu  bedürfen.  Indes  schien  es  van 
der  Velden,  daß  so  eklatante  hämostatische  Effekte,  wie  sie 
von  alten  und  neuen  Autoren  gemeldet  wurden,  nicht  allein 
begründet  werden  könnten  durch  die  entlastende  Wirkung  der 
Abbindung,  sondern  er  vermutete,  daß  in  Analogie  mit  der  Wir¬ 
kung  des  Aderlasses  vielleicht  doch  auch  eine  Veränderung  der 
Gerinnungsfähigkeit  des  Blutes  im  Sinne  einer  Erhöhung  statt¬ 
finde.  In  der  Tat  bestätigten  seine  klinisch -experimentellen 
Untersuchungen  diese  Vermutung,  indem  van  der  Velden  eine 
starke  Erhöhung  der  Gerinnungsfähigkeit  des  Blutes  sowohl  im 
Kapillarblut  der  gestauten  Extremität,  als  in  dem  des  freien  Rumpf- 
kreislaufs,  nachweisen  konnte.  Es  kann  demnach  bei  jeder  Blutung, 
mag  sie  nun  im  großen  oder  kleinen  Kreislauf  liegen  (selbstver¬ 
ständlich  nicht  im  Bereich  der  Extremitäten,  die  abgeschnürt 
werden  sollen,  und  vorausgesetzt  natürlich,  daß  es  eine  Blutung 
per  r hexin  ist,  was  bei  Empfehlung  hämostyptischer  Prozeduren 
sehr  leicht  vergessen  wird)  die  Abbindung  in  der  alten,  tradi¬ 
tionellen  Weise  sein-  wohl  vorgenommen  werden  u.  zw.  genügt 
es  im  allgemeinen,  wenn  nur  zwei  Extremitäten,  zum  Beispiel 
beide  Beine,  möglichst  hoch  oben  abgebunden  werden.  Es  em¬ 
pfiehlt  sich,  diesen  Eingriff  möglichst  akut  einsetzen  zu  lassen 
'.also  nicht  nach  und  nach  abbinden),  da  je  plötzlicher  das 
osmotische  Gleichgewicht  im  Körper  gestört  wird,  desto  ener¬ 
gischer  die  Regulation  von  seiten  der  Gewebe  stattfindet  und 
liiemit  die  geriiinungsbefördemde  Substanz  eingeschwemmt  wird. 
Im  Durchschnitt  genügt  es,  die  Binden  eine  halbe  Stunde  liegen 
zu  lassen.  Jedenfalls  kann  man  die  altbekannte  Abbindung  der 
Extremitäten  unter  jene  therapeutischen  Maßnahmen  zählen, 
welche  bei  richtiger  Indikation  und  Ausführung  einen  sicheren 
Erfolg  versprechen,  soweit  ein  solcher  überhaupt  im  Bereiche 
der  Erfolgsmöglichkeit  liegt.  —  (Zeitschrift  für  experimentelle 
l’athologie  und  Therapie  1911,  Bd.  8,  II.  3.)  K.  S. 

* 

Aus  russischen  Zeitschriften. 

512.  Protrahierte  warme  Bäder  in  der  psy¬ 

chiatrischen  Praxis.  Von  S.  A.  Ssuchanow  (Sankt 
Petersburg).  Verf.  hat  eine  Anzahl  von  Beobachtungen  über  die 
frage  angestellt,  welchen  Einfluß  die  Anwendung-  protrahierter 
warmer  Bäder  auf  psychiatrische  Kranke  hat  und  ist  dabei  zu 
olgenden  Resultaten  gelangt.  Besonders  günstig  wirken  protrahierte 
warme  Bäder  bei  katatonischer  und  maniakalischer  Erregung.  Es 
st.  damit  ein  Mittel  zur  Bekämpfung  aggressiver  Anfälle  und  der 
Neigung  solcher  Kranken  zur  Unreinlichkeit  gegeben.  Die  er¬ 
wähnten  Bäder  üben  eine  sehr  merkliche  beruhigende  Wirkung 
ms  und  verbessern  den  Schlaf.  Bei  rationeller  Anwendung  wird 
weder  ein  ungünstiger  Einfluß  auf  den  Appetit  noch  auf  das 
>hysische  Allgemeinbefinden  der  Patienten  beobachtet.  Die  Technik 
st  sehr  einfach.  Es  ist  zunächst  dafür  zu  sorgen,  daß  eine  ge¬ 
nügende  Anzahl  von  Badewannen  für  die  betreffende  Abteilung  zur 
Verfügung  steht.  Die  Badedauer  betrug  eine  bis  mehrere  Stunden 
)ei  28°  R.  Die  Bäder  wurden  meist  während  des  Tages  verabreicht, 
iodoeh  wenn  es  der  Zustand  der  Kranken  erforderte,  auch  nachts. 
Praktitscheskij  VVratsch  1911,  Nr.  7.)  J.  Sch. 

* 

513.  (Aus  der  Abteilung  des  Dr.  L.  B.  Buchstab  dos 
israelitischen  Hospitals  zu  Odessa.)  Zur  Frage  der  Heine- 
Nied  in  sehen  Krankheit.  Von  W.  D.  Selen  skij.  Die  Tat- 
-ache,  daß  in  Westeuropa  in  den  letzten  Jahren  Poliomyelitis  acuta 
'pidemisch  auftrat,  ließ  es  gerechtfertigt  erscheinen,  in  Rußland  jedem 
'inzelnen  Falle  dieser  Krankheit  besondere  Aufmerksamkeit  zu 
widmen.  Verf.  beschreibt  nun  einen  Fall,  welcher  einige  sehr  ausge- 
nägte  Besonderheiten  des  Krankheitsverlaufes  darbot.  Neben  dem  Alter 
—  cs  handelte  sich  urn  eine  39jährige  Frau  —  war  es  der  fulminante 
Verlauf  der  Krankheit.  Exitus  nach  fünf  Tagen,  welcher  auffallend 
war,  ebenso  das  Auftreten  der  zum  Tode  führenden  Störungen  von 
’eilen  des  Atem-  und  Schluckzentrums.  Diese  letztere  Lokalisation 
lös  Giftes  ist  nach  epidemiologischen  Erfahrungen  besonders  selten. 
Merkwürdig  war  auch  der  Entwicklungsgang  der  Lähmungen.  Diese 


begannen  nämlich  an  den  oberen  Extremitäten,  gingen  dann  auf 
den  Fazialis,  ferner  aut  die  untere  linke  Extremität  und  dann 
unerwarteterweise  aul  das  verlängerte  Mark  über.  Blasen-  und 
Mastdarmstörungen  bestanden  nicht.  Das  Bewußtsein  blieb  bis  kurz 
vor  dem  lode  erhalten.  Verl,  gibt  eine  genaue  Lileraturübersicht. 
(Russkij  Wratsch  1910,  Nr.  39.)  L.  Sch. 

* 

514.  (Aus  der  Jurjewschen  Universitätspoliklinik  und  dem 

Berliner  anatomischen  Institute.)  Zur  Symptomatologie 
und  Differential  diagnose  der  Mitralstenose.  Von 
Prof.  N.  A.  Ssaweljew.  Auf  Grund  genauer  anatomischer 
Untersuchung  von  neun  Fällen  und  klinischer  Analyse  gelangt 
Verf.  zu  folgenden  Schlußfolgerungen.  Wenn  der  linke  Vorhof  ver¬ 
größert  ist,  so  übt  er  auf  die  Aorta  einen  Druck  aus  u.  zw.  nicht 
unmittelbar,  sondern  durch  die  dazwischen  liegende  Pulmonalarterie  ■ 
dieser  Druck  läßt  sich  willkürlich  vergrößern,  indem  man  die 
Körperlage  des  Patienten  wechselt  —  durch  Ueberführen  aus  der 
Vertikal-  in^  die  Horizontalstellung.  Bei  Versuchen  .mit  Injektion 
läßt  sich  zeigen,  daß,  wenn  man  den  Patienten  auf  den  Rücken 
legt,  ihn  ein  wenig  nach  rechts  dreht  und  zugleich  das  Beckenende 
etwas  hebt,  daß  dann  der  Druck  des  linken  Vorhofes  auf  den 
unteren  1  eil  des  Aortenbogens,  i.  e.  den  Teil,  der  von  oben  dem¬ 
jenigen  Aortenabschnitt  entspricht,  wo  an  einer  Seite  die  Anonyma, 
an  der  anderen  die  Carotis  communis  sinistra  und  subclavia  sinistra 
entspringen,  noch  größer  wird.  Auf  diese  Weise  bestätigen  auch 
die  anatomischen  Daten  die  Ansicht  des  Verfassers,  daß  bei  manchen 
Patienten  mit  Mitralstenose  die  oben  erwähnte  Lageveränderung 
des  Körpers  in  manchen  Fällen  differentialdiagnostisch  von  Wichtig¬ 
keit  ist,  wenn  es  darauf  ankommt,  die  Differentialdiagnose  zwischen 
Mitralstenose  und  Aneurysma  des  Aortenbogens  zu  stellen.  (Prak¬ 
titscheskij  Wratsch  19  fO,  Nr.  34/35.)  J.  Sch. 

* 

515.  (Aus  der  Jurjewschen  Universitätspoliklinik.)  Ueber 

Darmgase,  Aufblähung  des  Darmes,  mechanische 
B  e  s  e  i  t  i  g  u  n  g  dieser  Aufblähung  und  über  ein  Gas¬ 
ableitungsrohr.  Von  Prof.  N.  A.  Ssaweljew.  Die  Rolle 
der  Darmgase  ist  eine  mannigfaltige.  Ihre  wichtigste  Funktion  ist 
eine  statische,  als  Hilfsmittel  die  gegenseitige  Lagerung  der  Bauch¬ 
eingeweide  entsprechend  zu  erhalten  ;  weiters  dienen  sie  sozusagen 
als  Luftkissen,  um  bei  mechanischen  Insulten  von  außen  einen 
Schutz  zu  bieten.  Eine  weitere  Aufgabe  besteht  darin,  das  Lumen 
des  Darmes  entfaltet  zu  erhalten,  wodurch  sowohl  Peristaltik  als 
auch  Resorption  gefördert  werden.  Anderseits  ist  ein  Mißverhältnis 
zwischen  Tonus  der  Darmmuskulatur  und  Druck  der  Darmgase  zu 
gunsten  der  letzteren  unter  Umständen  schädlich  und  es  gehört 
daher  zu  den  Aufgaben  der  praktischen  Therapie,  einen  Ueberschuß 
an  Gasen  aus  dem  Darme  zu  entfernen.  Nach  Besprechung  der 
üblichen  Methoden  und  ihrer  Fehler  beschreibt  Verf.  ein  von  ihm 
konstruiertes  Darmrohr,  welches  mannigfaltige  Vorteile  bietet  und 
eine  gewisse  Vielseitigkeit  der  Anwendung  erlaubt.  Das  Rohr  ist 
ein  2  m  langes  Gummirohr  mit  vier  longitudinalen  Rippen  und 
einem  äußeren  Durchmesser  von  10  mm.  An  einem  dem  Unter¬ 
sacher  zugekehrten  Ende  trägt  es  eine  trichterförmige  Verbreiterung 
zwecks  Verabreichung  eventueller  Enleroklysmen.  In  das  proximale 
Ende  der  Röhre  sind  in  einer  Ausdehnung  von  einigen  Zentimetern 
kleine  Löcher  in  drei  parallelen  Reihen  in  die  Wand  der  Röhre  ge¬ 
bohrt.  Diese  Lochreiho  stellt  das  wesentliche  dar.  Wird  nämlich 
bei  Einführung  des  Darmrohres  das  distale  Lumen  durch  Kot¬ 
massen  verstopft,  so  strömt  die  zum  Enteroklysma  verwendete 
Flüssigkeit  durch  die  Löcher  aus  der  Röhre,  erweicht  und  erodiert 
allmählich  die  Stuhlmassen  und  macht  dieselben  durchgängig.  Zu¬ 
gleich  können  Gase,  die  sich  diesseits  der  Sfuhlmasse  befinden, 
durch  die  Löcher  ihren  Weg  in  das  Lumen  des  Darmrohres  finden. 
Das  Rohr  kann  auch  zu  Insufflationen  verwendet  werden.  (Wra- 
tschebnaja  Gazeta,  XVII.  Jahrg.,  Nr.  37.)  J.  Seit. 

* 

516.  Ueber  Auskultation  der  S  ch  1  u  ck  g  e  r  äu  sch  e 
als  Methode  zur  Diagnostizierung  von  Speise¬ 
röhren-  und  Kardiaverenger  ungen  sowie  ihre  Be¬ 
deutung  für  die  versicherungsärztliche  Praxis. 
Von  Ih.  Hausmann  (Tula).  Als  Ausgangspunkt  seiner  Aus¬ 
führungen  diente  dem  Verfasser  das  Vorkommnis,  daß  ein  Mann 
einen  Monat,  bevor  er  an  Oesophaguskarzinom  stailt,  in  eine  Ver- 


724 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


Sicherungsgesellschaft  aufgenommen  worden  war.  Er  knüpft  daran 
die  Forderung,  daß  bei  Aufnahme  in  eine  Lebensversicherung  die 
Möglichkeit  eines  Oesophaguskarzinoms  in  den  Kreis  der  Betrach¬ 
tungen  zu  ziehen  sei.  Da  nun  einerseits  der  Grad  und  die  Be¬ 
deutung  des  »schlechten  Aussehens«  Sache  subjektiver  Beurteilung 
sind,  anderseits  die  probeweise  Sondierung  eines  jeden  Versicherungs¬ 
kandidaten  ganz  undiskutabel  erscheint,  430  macht  er  auf  ein  Symptom 
aufmerksam,  welches  trotz  seiner  großen  Einfachheit  und  trotzdem 
es  in  der  Literatur  —  allerdings  wohl  nur  den  Spezialisten  — 
bekannt  ist,  noch  keinen  Eingang  in  die  allgemeine  ärztliche  Praxis 
gefunden  hat.  Es  handelt  sich  um  die  Auskultation  der  Geräusche, 
welche  im  Oesophagus  beim  Schlucken  von  Flüssigkeiten  entstehen. 
Nach  Berücksichtigung  der  einschlägigen  Literatur  resümiert  Verf. 
wie  folgt :  Auskultiert  man,  während  ein  Mensch  Wasser  trinkt  an 
der  Vereinigungsstelle  zwischen  linkem  Rippenbogen  und  Brustbein, 
so  hört  man  zwei  Geräusche.  Das  erste  (primäre)  folgt  unmittelbar 
auf  den  Schluckakt  und  ist  inkonstant ;  sieben  bis  zehn  Sekunden 
nach  Beginn  des  Schluckaktes  hört  man  ein  zweites  gurgelndes 
Geräusch,  welches  den  Durchtritt  der  mit  Luft  gemischten  Flüssig¬ 
keit  durch  die  Kardia  entspricht  (sekundäres  Geräusch).  Normaler¬ 
weise  fehlt  das  sekundäre  Geräusch  nur  dann,  wenn  das  primäre 
vorhanden  ist  und  umgekehrt.  Unter  pathologischen  Verhältnissen 
können  beide  Geräusche  fehlen,  wie  z.  B.  bei  völligem  Verschluß 
der  Kardia  und  bei  großen  Divertikeln  etc.  Bei  Verengerungen  der 
Speiseröhre  tritt  das  zweite  Geräusch  verspätet  auf  oder  dauert 
länger  oder  zerfällt  in  einige  Teilgeräusche,  welche  von  einander 
durch  ein  größeres  oder  geringeres  Zeitintervall  geschieden  wird.  Dies 
findet  am  häufigsten  bei  Carcinoma  cardiae  oder  oesophagi  statt.  Als 
Verspätung  ist  ein  Zeitintervall  nicht  unter  20  Sekunden  nach  dem 
Schlußakt  anzusehen,  als  obere  Grenze  wurden  70  Sekunden  fest¬ 
gestellt.  Als  pathognostisch  ist  nur  die  wiederholte  und  konstante 
Verspätung  anzusehen.  Behufs  praktischer  Ausführung  des  Ver¬ 
suches  läßt  man  die  Versuchsperson  einen  Schluck  Wasser  im 
Munde  halten,  um  ihn  auf  das  Kommando  »schlucken!«  zu 
schlucken.  Hierauf  wird  das  Stethoskop  auf  die  oben  bezeichnete 
Auskultationsstelle  gesetzt,  man  läßt  schlucken  und  erwartet  das 
Schluckgeräusch.  Die  Markierung  der  Zeit  geschieht  durch  Um¬ 
rechnung  der  Zahl  der  Herzschläge,  welche  zwischen  Schlucken  und 
Auftreten  des  Geräusches  fallen,  durch  Umrechnen  aus  der  vorher 
festgestellten  Pulsfrequenz  auf  Sekunden.  Die  Prozedur  muß  fttnf- 
bis  sechsmal  wiederholt  werden.  Wenn  nach  70  Sekunden  kein 
Geräusch  hörbar  ist,  so  ist  das  Auftreten  eines  solchen  nicht  mehr 
zu  erwarten  und  der  Verdacht  eines  vollkommenen  Kardiaverschlusses 
oder  eines  Divertikels  gerechtfertigt.  Verf.  empfiehlt  das  Verfahren 
auch  in  der  versicherungsärztlichen  Praxis  zu  verwenden.  (Prak- 
tilscheskij  Wratsch  1911,  Nr.  8.)  '  J.  Sch. 


Sozialärztliche  Revue. 

Von  Dr.  L.  Sofer. 

Die  von  uns  in  der  Nummer  10  angekündigte  internationale 
Beratung  in  Paris  hat  stattgefunden.  Sie  sollte  das  Material 
für  die  im  Mai  stattfindende  Konferenz  vorbereiten.  Diese  ist 
in  erster  Linie  von  der  Türkei  angeregt  worden,  die  bereit  ist, 
der  internationalen  Akte  zur  Seuchenbekämpfung  jetzt 
beizutreten,  unter  der  Voraussetzung,  daß  die  Bestimmungen 
über  den  internationalen  Gesundheitsrat  einer  Umgestaltung  unter¬ 
zogen  werden.  Auch  Italien  hat  Vorschläge  unterbreitet  wegen 
Milderung  gewisser  Ausfuhrsbeschränkungen,  die  für  einige  seiner 
Produkte  aus  Anlaß  der  letzten  Choleragefahr  erlassen  waren. 
Die  Pest  in  Ostasien  steht  in  keinem  unmittelbaren  Zusammen¬ 
hang  mit  der  bevorstehenden  Konferenz,  indessen  sind  bei  der 
Vorberatung  auch  bereits  einige  Maßnahmen  zur  Verhinderung 
der  Ausbreitung  der  Seuche  Gegenstand  von  Erwägungen  gewesen: 

In  der  letzten  Ausgabe  des  Reichsgesetzblattes  ist  das 
internationale  Uebereinkommen,  betreffend  d  as 
Verbot  der  industriellen  Nachtarbeit  der  Frauen, 
das  am  26.  September  1906  von  den  bevollmächtigten  Vertretern 
Belgiens,  Dänemarks,  des  Deutschen  Reiches,  Frankreichs,  Gro߬ 
britanniens,  Italiens,  Luxemburgs,  der  Niederlande,  Oesterreich- 
Ungarns,  Portugals,  Schwedens,  der  Schweiz  und  Spaniens  zu  Bern 
unterzeichnet  worden  ist,  veröffentlicht.  Zugleich  wird  unser  Gesetz 
vom  21.  Februar  1911,  das  das  Verbot  ausspricht,  kundgemacht.  Der 
Vereinbarung  gemäß  wird  das  internationale  Uebereinkommen  in 


den  genannten  Signatarstaaten  mit  Ausnahme  von  Dänemark  und 
Spanien  vom  14.  Januar  1912  in  Kraft  treten  und  nicht  vor  dem 
14.  Januar  1922  gekündigt  werden  können.  -Unser  Gesetz  ver¬ 
bietet  grundsätzlich  die  Beschäftigung  von  Frauen  und  Mädchen 
zur  Nachtzeit,  d.  i.  zwischen  8  Uhr  abends  und  5  Uhr  morgens 
bei  allen  industriellen  Unternehmungen,  in  denen  mehr  als  zehn 
Arbeitspersonen  in  Verwendung  stehen;  die  den  Arbeiterinnen 
zu  gewährende  Nachtruhe  muß  mindestens  elf  aufeinander 
folgende  Stunden  betragen.  Das  Gesetz  tritt  im  allgemeinen  am 
1.  August  1911,  speziell  für  Zuckerfabriken  aber  erst  am 
1.  Januar  1915  in  Kraft. 

Eine  bedeutsame  Nachricht  kommt  aus  Italien.  Der  neue 
Ministerpräsident  G  i  o  1  i  1 1  i  hat  in  der  Kammer  die  Schaffung 
eines  Lebensversicherungsmonopols  angekündigt. 
Das  Erträgnis  dieses  Monopols  soll  einer  Kassa  für  die  Alters¬ 
und  Invaliditätsversicherung  der  Arbeiter  gewidmet  werden. 
Sollte  dieses  Projekt  verwirklicht  werden,  so  müßte  für  die  Ver¬ 
staatlichung  der  bestehenden  italienischen  Versicherungsgesel! 
schäften  Sorge  getragen  werden,  was,  abgesehen  von  den  erfor¬ 
derlichen  Kapitalien,  auch  vom  versicherungstechnischen  Stand¬ 
punkt  nicht  leicht  wäre;  durchgeführt  ist  dieses  Monopol  nur  in 
Neu-Südwales.  Jedenfalls  geht  Giolitti  von  der  richtigen  An¬ 
sicht  aus,  daß  zu  der  Ausführung  der  Sozialversicherung  nicht 
nur  ein  kunstvoller  Aufbau  von  Paragraphen,  sondern  auch  — 
Geld  gehört.  Vielleicht  ist  es  nicht  überflüssig,  gerade  in  Oester-  j 
reich,  wo  wir  vor  tief  einschneidenden  Reformen  und  Neu¬ 
schöpfungen  auf  diesem  Gebiete  stehen,  daran  zu  erinnern. 

Im  Deutschen  Reiche  ist  zu  verzeichnen,  daß  das  M  edi- 
zinalwesen  vom  Kultusministerium  auf  das  Mini¬ 
sterium  des  Innern  übergegangen  ist.  Es  verbleiben  beim  Mini-  ■ 
sterium  der  geistlichen  und  Unterrichtsangelegenheiten :  1.  Die 
Angelegenheiten  des  medizinischen,  des  zahnärztlichen  und  des  | 
pharmazeutischen  Studiums,  sowie  der  ärztlichen  und  zahnärzt-  ; 
liehen  Vorprüfung;  2.  die  Verleihung  des  Professortitels,  sowie  | 
die  Erteilung  der  Erlaubnis  zur  Führung  eines  außerdeutschen 
Doktortitels  und  eines  außerpreußischen  Professortitels  an  Aerzte, 
Zahnärzte,  Apotheker  und  sonstige  Angehörige  der  Medizinal-  1 
Verwaltung;  3.  das  Institut  für  experimentelle  Therapie  in  Frank¬ 
furt  a.  M.  Zu  dem  an  das  Ministerium  des  Innern  übergehenden  j 
Geschäftsbereich  gehören :  1.  Die  wissenschaftliche  Deputation 
für  das  Medizinalwesen,  der  Apothekerrat  und  die  technische 
Kommission  für  pharmazeutische  Angelegenheiten ;  2.  das  Institut  | 
für  Infektionskrankheiten  in  Berlin,  die  Versuchs-  und  Prüfungs¬ 
anstalt  für  Wasserversorgung  und  Abwässerbeseitigung  in  Berlin,  j 
die  hygienischen  Institute  in  Posen,  Beuthen  und  Saarbrücken,  die 
Medizinal-Untersuchungsämter  und  -Stellen,  die  Impfanstalten. 
Ferner  die  Bearbeitung  der  Vorschriften  über  die  Prüfungen,  das  | 
praktische  Jahr  der  Mediziner,  die  Erteilung  der  Ermächtigung 
zur  Beschäftigung  von  Medizinalpraktikanten,  die  Erteilung  der  j 
Approbation  als  Arzt,  Zahnarzt  oder  Apotheker,  auch  in  den  ; 
Fällen,  in  denen  sie  unter  Befreiung  von  den  ärztlichen,  den 
zahnärztlichen  oder  pharmazeutischen  Prüfungen  erfolgt,  sowie 
die  Erteilung  des  Ausweises  als  Nahrungsmittelchemiker;  ferner 
das  Fortbildungswesen,  die  Akademien  für  praktische  Medizin 
in  Köln  und  Düsseldorf,  endlich  die  Errichtung  und  der  Betrieb 
von  Spitälern,  Wöchnerinnen-,  Säuglings-  und  Krüppelheime,  der 
Schutz  der  Genfer  Konvention,  endlich  die  Angelegenheiten  des 
niederen  Heilpersonals,  der  Krankenpfleger,  der  Desinfektoren, 
der  Hebammen,  der  Hebammenlehranstalten,  die  Nahrungsmittel¬ 
kontrolle,  die  Bekämpfung  des  Alkoholismus,  und  das  öffent¬ 
liche  Badewesen,  sowie  die  Anerkennung  von  Mineral-  und 
Thermalquellen  als  „gemeinnützige“  im  Sinne  des  Quellenschutz¬ 
gesetzes. 

Diese  Neuregelung  entspricht  ungefähr  den  bei  uns  be¬ 
stehenden  Verhältnissen.  Der  Wunsch  der  Aerzte  nach  Vereinigung  ! 
aller  Agenden  in  ein  eigenes  Ministerium  bleibt  aber  aufrecht,  bei  uns 
und  auch  drüben.  Allerdings  hat  vorläufig  dieser  Wunsch  nur  Aus¬ 
sichten  auf  Erfüllung  in  Bulgarien.  Wir  haben  über  diese  Bestre¬ 
bungen  schon  kurz  berichtet ;  das  Ministerium  für  Volkswobl 
soll  die  in  manchen  Gebieten  Bulgariens  seit  Jahrzehnten  endemische  j 
Syphilis  mit  Hilfe  von  Salvarsan  bekämpfen ;  es  soll  eine  Form 
gefunden  werden,  Ehen  zwischen  belasteten  Personen  zu  er¬ 
schweren;  mit  den  Schulen  auf  dem  Lande  sollen  Badestuben 
verbunden  werden ;  die  Kreisärzte  sollen  mit  Gehilfen  versehen 
werden,  denen  besonders  die  Aufsicht  über  die  Gesundheit  in 
den  Schulen  anvertraut  wird.  Bei  der  Jugenderziehung  soll  die 
Ausbildung  des  Körpers  in  ein  vernünftiges  Verhältnis  zu  der 
des  Geistes  gebracht  werden.  Die  Beaufsichtigung  aller  die  Gesund 
heit  schützenden  Maßregeln  in  den  Städten,  die  Einrichtung  der 
Quarantänen,  die  Krankenhäuser  und  Altenheime,  die  Irrenhäuser 
und  Hilfsstationen  für  Unglücksfälle,  ebenso  wie  die  Aufsicht  in 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


725 


Nr.  20 

■ 

den  Fabriken  und  Bergwerken  sollen  in  das  Arbeitsbereich  des 
neuen  Ministeriums  gehören.  Ferner  sollen  Wanderlehrer  an¬ 
gestellt  werden,  die  in  volkstümlicher  Sprache  den  Bauern  Vor¬ 
träge  halten  und  Belehrungen  erteilen  sollen. 

Trotz  des  Reichtums  an  Universitäten,  Akademien,  und 
Instituten  in  Deutschland,  zu  dem  wir  nicht  ohne  ein  Gefühl  des 
Neides  emporblicken  können,  denkt  man  an  die  Neugr  ün  d  u  n  g 
von  Universitäten.  Von  dem  Hamburger  Pianist  es 
allerdings  still  geworden.  Man  hat  sich  dahin  entschieden  — 
wenigstens  vorläufig  —  ein  großartiges  Kolonialinstitut  zu 
errichten,  verbunden  mit  einem  bereits  bestehenden  Institut  für 
Schiffs-  und  Tropenkrankheiten.  Dagegen  steht  der  Plan,  in  F  r  a  n  k- 
f  u  rt  a.  M.  eine  Universität  zu  errichten,  beinahe  vor  seiner  Verwirk¬ 
lichung.  Frankfurt  ist  ohnehinSitz  vieler vvissenschaftlicherÄnstalten. 
ln  die  neue  Universität  sollen  übergehen :  Die  Akademie  für 
Sozial-  und  Ilandelswissenschaften,  die  naturwissenschaftlichen 
und  medizinischen  Einrichtungen  der  Dr.  S  e  nk  e  n  b  e  r  g  sehen 
Stiftung  und  der  Senkenberg  sehen  naturforschenden  Gesell¬ 
schaft  mit  Ausnahme  des  Bürgerhospitals,  die  chemisch-pliysi- 
kalisch-elektrochemisch-meteorologischen  Institute  des  Physi¬ 
kalischen  Vereines,  die  Kliniken  und  die  sonstigen  medizinischen 
Institute  der  Stadt,  sowie  endlich  die  Stadtbibliothek  und  die 
Dr.  Senkenberg  sehe  Bibliothek.  In  Frankfurt  sind  bereits 
wie  oben  bemerkt,  zahlreiche  Ordinarien  vorhanden,  nämlich 
4  Juristen,  19  Dozenten  der  philosophischen  Fakultät  u.  zw. 

3  Nationalökonomen,  1  Geograph,  1  Germanist,  1  Romanist, 

1  Anglist,  2  Philosophen,  1  Historiker,  1  Zoologe,  1  Botaniker, 

1  Geologe  und  Paläontologe,  1  Chemiker,  1  Physiker,  1  Elektro¬ 
techniker,  1  Dozent  für  physikalische  Chemie  und  Metallurgie, 

1  Geophysiker  und  1  Mathematiker.  Für  die  medizinische  Fakultät 
kann  man  die  Direktoren  der  Kliniken  und  medizinischen  Institute 
den  Ordinarien  für  die  betreffenden  Spezialgebiete  gleichstellen, 
zumal  bei  Berufungen  schon  seit  längerer  Zeit  eine  gewisse 
Rücksicht  auf  den  etwaigen  Lehrberuf  genommen  wurde.  Solche 
Direktorstellen  sind  15  vorhanden,  u.  zw.  für  Chirurgie,  innere 
Medizin,  Hautkrankheiten,  Gynäkologie,  Kinderkrankheiten  (2), 
Augenkrankheiten,  Ohren-,  Hals-,  Nasen-,  sowie  Zahnkrankheiten, 
für  Geisteskrankheiten,  für  das  pathologisch-anatomische, 
hygienische,  chemisch  -  physiologische  und  das  neurologische 
Institut,  für  das  Therapeutikum  für  physikalische  Heilmethoden 
und  endlich  für  Chemotherapie  (Georg  Speyer-  Haus  mit  Paul 
Ehrlich  als  Direktor),  neben  dem  das  Institut  für  experimentelle 
Therapie  als  staatliche  Einrichtung  weiter  besteht.  Das  ist  zu¬ 
sammen  ein  Lehrkörper  von  38  hauptamtlich  angestellten  Do¬ 
zenten,  neben  dem  zahlreiche  Privatdozenten  und  nebenamtliche 
Dozenten,  so  z.  B.  für  Archäologie,  Kunstgeschichte,  wissen¬ 
schaftliche  Photographie,  Sozialwissenschaft,  Sprachen  und 
endlich  —  im  Rahmen  der  schon  bestehenden  Handelshochschule 
mehrere  hauptamtliche  Dozenten  für  Handels-  und  Versicherungs¬ 
wissenschaft  wirken.  xAlles  in  allem,  würde  die  neue  Universität 
über  59  Ordinariate  und  Extraordinariate  verfügen,  dazu  das 
Heer  von  Hilfskräften  und  Beamten. 

Frankfurt  wendet  heute  schon  für  seine  Institute  1,750.232  M. 
jährlich  auf;  für  die  Kliniken  allein  747.650  M.  Die  Gesamt¬ 
summe  entspricht  dem  Aufwande  der  meisten  preußischen  Uni-  I 
versitäten.  Königsberg  1,634.650  M.,  Greifswald  1,390.683  M.,  I 
Kiel  1,805.588  M.,  Göttin  gen  1,714.677  M.,  Marburg 
1,384.239  M.,  Bonn  1,798.473  M.  Der  Etat  für  die  neue  Uni¬ 
versität  Frankfurt  baut  sich  auf  einer  Jahressumme  von  2,100.000  M. 
ruf,  womit  diese  Hochschule  in  finanzieller  Beziehung  etwa  auf 
lie  gleiche  Stufe  wie  Breslau  (2,193.554  M.)  und  Halle 
1,051.592  M.  rückt,  aber  noch  günstiger  dasteht,  da  in  Frankfurt 
lie  theologischen  Fakultäten  wegfallen.  Die  einmaligen  Auslagen 
beziffert  die  Denkschrift,  der  wir  diese  Daten  entnehmen,  auf, 

L1/ 2  Millionen  M.  Sie  werden  für  die  Erweiterung  der  Hörsäle 
len  Neubau  'einer  normalen  Anatomie,  eines  pharmakologischen 
Institutes  etc.  benötigt.  Die  Stadt  Frankfurt  macht  sich  nun 
■rbötig,  diesen  ganzen  Aufwand  selbst  zu  tragen,  so  daß  dem 
3taat  die  neue  Universität  gar  nichts  kosten  wird.  Trotzdem 
•'ind  noch  Schwierigkeiten  wegzuräumen,  aber  sie  sind  politischer 
Natur. 

Freunde  und  Schüler  des  am  6.  Mai  v.  J.  verstorbenen 
Vof.  Heinrich  Curschmann  beabsichtigen  eine  Marmorbüste 
les  Gelehrten  im  Krankenhause  zu  St.  Jakob  in  Leipzig  zu 
■rrichten.  Den  Entwurf  hat  Prof.  Max  L  a  n  g  e  geliefert.  Man 
gedenkt,  das  Denkmal  wenn  möglich,  schon  am  28.  Juni,  dem 
■eburtstag  des  Verstorbenen,  zu  enthüllen. 


\/ermisehte  J'laehriehten. 

Ernannt:  Priv.-Doz.  Dr.  Er  land  sen  zum  Direktor  des 
hygienischen  Laboratoriums  in  Kopenhagen.  —  Dr.  Da  eis  zum 
Professor  der  Geburtshilfe  und  Frauenheilkunde  in,  Gent. 

Verliehen:  Dr,  G.  Ruprich  in  St.  Radegund  das  Ritter¬ 
kreuz  des  Franz  Joseph  -  Ordens.  —  Priv.-Doz.  Dr.  Wilhelm 
Pfeiffer  in  Kiel  der  Professortitel. 

Habilitiert:  Dr.  Hans  Käthe  für  Hygiene  in  Halle  au 
dei  Saale.  Dr.  Zancla  für  Otologie  in  Rom.  —  Dr.  Slan- 
c aneil i  für  Dermatologie  und  Syphiligraphie  in  Neapel. 

* 

Gestorben:  Der  Professor  der  Geburtshilfe  Dr.  Cauwen- 
berghe  in  Gent,;—  Dr.  St.  Bull,  Professor  der  Augenheilkunde 
in  New  York. 

* 

Am  15.  d.  M.  wurde  unter  reger  Beteiligung  aller  inter¬ 
essierten  Kreise  der  erste  österreichische  Tuberkulosetag  abge¬ 
halten,  dem  Dr.  Graf  L arisch  präsidierte.  Der  gewiß  sehr  viel 
versprechende  Gedanke  der  Zentralisierung  des  Kampfes  gegen 
die  Tuberkulose  in  Oesterreich  hat  mit  dieser  ersten  öffent¬ 
lichen  Veranstaltung  ihrer  Gesamtorganisation  eine  sehr  gelun¬ 
gene  Realisierung  erfahren.  Ueber  die  Vorträge,  Entschließungen 
und  so  weiter  soll  demnächst  von  berufener  Seite  berichtet  werden. 

Am  25.,  26.  und  27.  Mai  wird  in  Wien  die  Delegierten¬ 
versammlung  des  R  e  i  c  h  s  v  e  r  b  a  n  d  e  s  ö  s  t  e  r  r  e  i  c  h  i  s  c  h  e  r 
Aerzteorganisationen  abgehalten.  Die1  öffentlichen  Sitzun¬ 
gen  finden  im  großen  Sitzungssaale  der  k.  k.  Gesellschaft  der 
Aerzte  (Wien  IX.,  Frankgasse),  die  vertraulichen  Sitzungen  Frei¬ 
tag  den  26.  und  Samstag  den  27.  Mai  (nachmittags  von  x/24  Uhr 
ab)  im  Verhandlungssaale  der  Wiener  Aerztekammer  (Wien  I., 
Börsegasse  l)  statt.  Am  26.  Mai,  abends  8  Uhr,  veranstalten 
die  Wiener  und  die  niederösterreichische  wirtschaftliche  Organi¬ 
sation  zu  Ehren  der  Delegierten  ein  Bankett  im  Saale  des 
„Schlaraffia“  (Wien  L,  Börsengebäude). 

* 

Der  Reichsverband  österreichischer  Aerzteorga¬ 
nisationen  gibt,  Avas  im  Hinblick  auf  die  bevorstehenden  Reichs¬ 
ratswahlen  aktuell  ist,  die  Forderungen  der  Aerzteschaft 
an  die  Gesetzgebung  bekannt.  Sie  betreffen:  I.  Die  Sozial¬ 
versicherung  u.  zw. :  1.  Bestimmung  einer  oberen  Einkommens¬ 
grenze  für  die  Krankenkassenversicherungspflicht  (Kassenzwang) 
von  jährlich  höchstens  2400  K,  soweit  dabei  die  Beistellung 
unentgeltlicher  ärztlicher  Behandlung  in  Betracht  kommt.  2.  Der 
freiwillige  Beitritt  zu  einer  obligatorischen  Krankenkasse  ist  nicht 
zulässig.  Die  Aerzteschaft  verwahrt  sich  gegen  die  Zulässigkeit 
des  freiwilligen  Beitrittes  zu  einer  Krankenkasse,  selbst  bei  Auf¬ 
rechterhaltung  der  Einkommensgrenze  von  2400  K,  also  unter 
allen  Umständen.  3.  Die  Aerzteschaft  Oesterreichs  besteht  auf 
der  ausdrücklichen  Aufnahme  einer  Bestimmung  in  das  Gesetz, 
welche  die  Einführung  der  freien  Arztwahl  bei  den  obligatori¬ 
schen  Krankenkassen,  welche,  soweit  sie  unentgeltliche  ärztliche 
Behandlung  beizustellen  verpflichtet  sind,  als  gesetzliche  Form 
der  Krankenbehandlung  als  zulässig  erklärt.  4.  Die  Aerzteschaft 
fordert  zur  Regelung  der  Honorarverhältnisse  sowie  Beilegung 
von  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  Krankenkassen  und 
Aerzten  die  gesetzliche  Schaffung  von  Vertrags-  und  Einigungs¬ 
kommissionen  und  die  im  Gesetze  gebotene  Möglichkeit  zur  Ab¬ 
schließung  von  Kollektivverträgen.  5.  Die  Aerzteschaft  Oester¬ 
reichs  kann  sich  für  die  Familien  Versicherung  nur  bei  Einführung 
einer  Einkommensgrenze  nicht  über  2400  K  jährlich  und  der 
ausdrücklich  im  Gesetze-  ausgesprochenen  Einführung  der  obliga¬ 
torischen  freien  Arztwahl  für  diesen  Versicherungszweig  aus¬ 
sprechen.  Für  diesen  Fall  ist  sie  dann  für  die  obligatorische 
Familienversicherung.  Die  Landärzte  verlangen  unter  allen  Um¬ 
ständen  die  im  Gesetze  gebotene  Möglichkeit  der  Einführung  der 
obligatorischen  Familienversicherung  dort,  wo  deren  Notwendig¬ 
keit  von  den  dazu  berufenen  Faktoren  (Aerzten,  Bezirks  ha  upt- 
mannschaften,  Gemeinden)  als  gegeben  erklärt  wird.  6.  Die  Aerzte¬ 
schaft  Oesterreichs  verlangt  die  Regelung  der  Krankenversicherung 
bei  registrierten  Hilfskassen  und  Vereinskrankenkassen.  7.  Daß 
bei  Krankenkassen  auch  über  die  Erkrankungsfälle  und  die  ärzt¬ 
lichen  Leistungen  bei  den  Erkrankten  ohne  Krankengeldbezug 
Ausweise  herausgegeben  werden.  8.  Fordern  die  Aerzte,  daß  die 
Aerztekosten  nicht  gemeinsam  mit  den  Kosten  der  Laienkontrolle 
geführt  werden,  sondern  in  den  Ausweisen  gesondert  davon  -er¬ 
scheinen.  II.  Schaffung  einer  Aerzte  Ordnung.  III.  Be¬ 
rücksichtigung  der  ärztlichen  Forderungen  in  der  Strafgesetz- 


726 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  20 


gebung.  IV.  Das  Reichssanitäts-  un,d  Beiclisseuehen- 

gosetz. 

* 

Der  Unterstützung  sv  er  ein  für  Witwen  und 
Waisen  der  k.  u.  k.  Militärärzte  in  Wien  hatte  am 
6.  Mai  d.  J.  seine  diesjährige  45.  Generalversammlung.  Der 
Präsident,  Generaloberstabsarzt  Prof.  Florian  Ritter  Iv r at se linier 
v.  Forstburg  begrüßte  die  anwesenden  Mitglieder  und  kon¬ 
statierte  deren  Beschlußfähigkeit.  Aus  dein  vorliegenden  Rechen¬ 
schaftsberichte  ist  zu  entnehmen,  daß  das  Vereins  vermögen  sich 
mit  666.957  K  30  h  in  Wertpapieren  und  1U.1G6  K  26  h  in 
harem  Gehle  beziffert,  ln  dem  Genüsse  der  regelmäßigen  Jahres¬ 
bezüge  standen  209  Witwen  und  4  Waisen,  welche  zusammen 
den  Betrag  von  41.390  K  erhalten  haben;  für  zeitliche  Unter¬ 
stützungen  wurden  1010  K  verwendet.  Ueber  Antrag  der  Rech¬ 
nungsrevisoren,  welche  am  21.  März  d.  J.  eine  genaue  Skon- 
trierung  aller  Kassendokumente  und  Protokolle  vorgenommen  und 
hiebei  alles  in  bester  Ordnung  befunden  haben,  wurde  dem 
Verwaltungskomitee  das  Absolutorium  erteilt  und  den  Vereins¬ 
funktionären  für  ihre  außerordentliche  Mühewaltung  der  beste 
Dank  ausgesprochen.  Weiters  folgte  die  Wahl  mehrerer  Funk¬ 
tionäre  und  ist  der  Ausschuß  folgendermaßen  zusammengestellt: 
Generaloberstabsarzt  Prof.  Dr.  Florian  Ritter  K  rats  chm  er  von 
F  orstburg  (Präsident),  Generalstabsarzt  Dr.  Franz  J  a e  g  g  1  e,  Ge¬ 
neralstabsarzt  Dr.  Franz  Jaeggle,  Generalstabsarzt  Dr.  Josef 
Haas;  Oberstabsarzt  erster  Klasse  Dr.  Zdislaus  Ritter  v.  Juch¬ 
no  wicz-H  or  dynski  (Kassier),  Oberstabsarzt  erster  Klasse  Pro¬ 
fessor  Robert  Ritter  v.  Töply,  Oberstabsarzt  zweiter  Klasse 
Dr.  Jaroslav  Hladik;  Stabsarzt  Dr.  Bertold  Red  er  (Sekretär), 
Stabsarzt  Dr.  Anton  Brosch;  Stabsarzt  Dr.  Gustav  Poliak 
(Buchführer),  Regimentsarzt  Dr.  Ernst  Wimmer,  Regimentsarzt 
Dr.  Wenzel  Zeman,  Regimentsarzt  Dr.  Viktor  Ruß,  Oberarzt 
Dr.  Wolfgang  Wo  ls  egg  er. 

•* 

Das  Deutsche  Zentralkomitee  zur  Bekämpfung 
der  Tuberkulose  hält  am  10.  Juni,  vormittags  10  Uhr,  im 
Plenarsitzungssaale  des  Reichstagshauses  zu  Berlin  seine  Gene¬ 
ralversammlung  ab.  Auf  der  Tagesordnung  steht  der  Vortrag: 
Die  Aufgaben  der  Gemeinden  zur  Kinderfürsorge  bei  der  Tuber¬ 
kulosebekämpfung.  Besondere  Einladungen  ergehen  nur  an  die 
Mitglieder.  Allen  interessierten  Kreisen  stehen  in  der  Geschäfts¬ 
stelle  des  Zentralkomitees,  Berlin,  Königin  Augustastraße  11,  so¬ 
weit  der  Platz  reicht,  Einlaßkarten  unentgeltlich  zur  Verfügung. 

* 

Die  Vereinigung  zur  Förderung  des  Hebammen¬ 
wesens  hält  ihre  diesjährige  (V.)  Tagung  in  München  am 
6.  Juni,  vormittags  10  Uhr  und  nachmittags  4  Uhr, 
im  Hörsaale  der  königlichen  Universitätsfrauenklinik  ab.  The¬ 
mata:  1.  Vor-  und  Ausbildung  der  Hebammen.  Referenten: 
Baumm,  Kroemer.  2.  Fortbildung  und  Nachprüfung  der  Heb¬ 
ammen.  Referenten:  Flinzer,  Poten,  Walther.  Vortrag: 
Sem  on- Königsberg:  Die  Entbehrlichkeit  und  weitere  Einschrän¬ 
kung  der  inneren  Untersuchung  in  der  Hebammenpraxis.  Be¬ 
grüßungsabend  am  5.  Juni,  8Va  Uhr,  im  Künstlerhausrestaurant, 
München,  Lenbachplatz  Nr.  8. 

* 

Cholera.  Rußland.  Zeitungsmeldungen  vom  28.  April 
zufolge  sind  in  St.  Petersburg  in  den  letzten  Tagen  16  cholera¬ 
verdächtige  Fälle  gemeldet  worden.  In  einem  Falle  wurden  cho- 
leroide  Vibrionen  mit  sehr-  schwacher  Agglutination  gefunden. 
Am  30.  April  und  1.  Mai  ereigneten  sich  weitere  vier  cholera¬ 
verdächtige  Fälle.  In  einem  Bergwerke  des  Taganroger  Bezirkes 
ist  am  1.  Mai  ein  Cholerafall  bakteriologisch  festgestellt  worden. 
Offiziell  wurden  diese  Mitteilungen  bisher  nicht  bestätigt.  — 
Türkei.  In  Smyrna  ist  am  26.  und  29.  April  je  ein  Choleratodes¬ 
fall  fesjgestellt  worden;  außerdem  sind  zwei  choleraverdächtige 
Erkrankungen  gemeldet  worden.  Provenienzen  von  Smyrna  wur¬ 
den  der  ärztlichen  Visite  und  Desinfektion  unterworfen.  —  Phi¬ 
lippinen.  Vom  1.  Januar  bis  4.  März  sind  in  den  Provinzein 
190  Erkrankungen  an  Cholera,  davon  158  mit  tödlichem  Aus¬ 
gange,  vorgekommen;  die  Hauptstadt  Manila  war  cholerafrei. 

Pest.  Aegypten.  In  der  Woche  vom  14.  bis  20.  April 
1911  ereigneten  sich  in  Aegypten  101  (82)  Pestfälle  (Todesfälle) 
und  zwar  in  der  Stadt  Port  Said  0  (l),  in  dein  Provinzen  Assiout 
18  (12),  Assouan  31  (24),  Fayoum  2  (2),  Guirgueh!  1  (l),  Kcneh 
34  (31),  Menoufieh  11  (9),  Minieh  4  (2);  in  der  Woche  vom 
21.  bis  27.  April  73  (52)  Pestfälle  (Todesfälle),  u.  zw.  in  den 
Provinzen  Assiout  9  (4),  Assouan  10  (10),  Fayoum  7  (5),  Keneh 
26  (20),  Menoufieh  17  (ll),  Minieh  4  (2).  Die  Gesamtzahl  der 
seit  Beginn  des  Jahres  bis  zum  22.  April  konstatierten  Pest¬ 
erkrankungen  beträgt  1162  gegenüber  305  in  der  entsprechenden 


Zeitperiodo  des  Vorjahres,  ln  der  Hafenstadt  Suakim  wurde  am 
20.  April  neuerlich  ein  Pestfall  bakteriologisch  sichergestellt.  — 
Niederlande,  ln  Antwerpen  wurde  am  30.  April  der  Dampfer 
„Attila“  der  ungarischen  Levantelinie,  der  von  Odessa  kam,  in 
der  Quarantänestation  Doel  in  Observation  genommen,  weil  ein 
Matrose  pestverdächtige  Bubonen  aufwies.  Di©  endgültige  Dia¬ 
gnose  des  Falles  ist  noch  ausständig,  die  bakteriologische  Unter¬ 
suchung  war  bisher  negativ.  —  Persien.  In  der  Hafenstadt 
Buschir  sind  am  24.  April  zwei  Pesttodesfälle  festgestellt  worden. 

* 

Dr.  mod.  univ.  Karl  Pezzoli  wohnt  ab  Mai  1911 

Wien  V Ul.,  Alserstraßc  23,  1.  Stock. 

+ 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  17.  Jahreswoche  (vom  28.  bis 
29.  April  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  626,  unehelich  255,  zusammen 
881.  Tot  geboren,  ehelich  49,  unehelich  21,  zusammen  70.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  696  (d.  j.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
17  6  Todesfälle)  an  Buuchtyphus  1.  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  5, 
Scharlach  3,  Keuchhusten  4,  Diphtherie  und  Krupp  4,  Influenza  0. 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  2,  Lungentuberkulose  116,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  39,  Woehenbettfieber  1,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  59  (-(-  6),  Wochenbeltfieber  7  (4-  2),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  90  (-f-  9),  Masern  235  (-)-  14),  Scharlach  103  (+  3) 
Flecktyphus  0  (0),  Rauchtyphus  3  (—  1),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0) 
Diphtherie  und  Krupp  70  (-f-20),  Keuchhusten  30  ( — 9j,  Trachom  14  (— j-  8j 
Influenza  0  (0),  Poliomyelitis  0  (0). 


Eingesendet. 

In  Bezugnahme  auf  unser  Zirkular  über  das  Silberkappen 
pessar  erklären  wir  über  Aufforderung  des  Herrn  Professor 
J>r.  Halb  an,  daß  derselbe  der  Versendung  dieser  Zirkulare  voll¬ 
kommen  ferne  steht..  Wir  erklären  ferner,  daß  wir  in  keiner  Weise 
autorisiert  waren,  das  Pessar  unter  seinem  Namen  der  Oeffent- 
lichkeiit  zu  übergeben  und  bedauern,  seinen  Namen  m  diesem 
Zirkular  widerrechtlich  genannt  zu  haben. 

Medizinisches  Warenhaus,  Gesellschaft  m.  b.  II. 


Freie  Stellen. 

Sekundararztesstelle  im  allgemeinen  öffentlichen  Kranken¬ 
hause  in  Zwickau  (Böhmen)  mit  dem  Bezüge  jährlicher  1600  K. 
Kompetenten  um  diese  Stelle  haben  die  Nachweise  beizubringen  über: 
a)  deutsche  Nationalität,  b)  österreichische  Staatsbürgerschaft,  c)  über 
das  nicht  vollendete  35.  Lebensjahr,  d)  den  Besitz  des  Grades  eines 
Doktors  der  gesamten  Heilkunde  und  die  bisherige  Verwendung.  Die 
gehörig  instruierten  Gesuche  sind  bis  längstens  31.  Mai  1911  beim  Ver- 
waltungsausschusse  des  allgemeinen  öffentlichen  Krankenhauses  in 
Zwickau  einzubringen.  Die  Anstellung  erfolgt  auf  ein  Jahr  provisorisch, 
mit  dem  Definitivum  ist  der  Bezug  von  fünf  Quinquennalzulagen  ver¬ 
bunden.  Die  Pensionierung  erfolgt  nach  dem  Regulativ  der  Landesbeamten. 
Dienstantritt  am  1.  Juli  1911.  .  . 

Distriktsarztesstellen  in  Böhmen.  1.  Im  Sanitätsbezirke 
Senftenberg  I  mit  dem  Sitze  des  Distriktsarztes  ' in  Senftenberg. 

2.  Im  Sanitätsdistrikte  Senftenberg  II  mit  dem  Sitze  in  Senftenberg. 

3.  Im  Sanitätsdistrikte  Geiersberg  mit  dem  Sitze  des  Distriktsarzte 
in  Geiersberg  u.  zw.  provisorisch  aut  ein  Jahr.  Dem  Sanitätsdistrikte 
Senftenberg  J  sind  sieben  Gemeinden  zugeteilt,  dieselben  weisen  im 
ganzen  6326  Einwohner  und  ein  Areal  von  5131  km2'' auf.  Der  Gehalt 
des  Distriktsarztes  für  diesen  Distrikt  beträgt  1100  K  und  das  Reise- 
pauschale  265  K  jährlich.  Dem  Sanitätsdistrikte  Senftenberg  II  sind  vier 
Gemeinden  (Kunwald,  Klösterle,  Pastvin,  Lisnic)  mit  der  Gesamteinwohner¬ 
zahl  von  563t  und  einem  Areal  von  6515  km2  zugewiesen.  Der  Gehalt 
für  diesen  Distrikt  beträgt  1000  K  und  das  Reisepauschale  338  K  jährlich. 
Dem  Sanitätsdistrikte  Geiersberg  sind  die  Gemeinden  Geiersberg,  lvunau. 
Erlitz,  Rolnek,  Schedowitz,  Nekof,  Studenei,  Lukavic,  Schreibersdorf  und 
Zampach  mit  der  Gesamteinwohnerzahl  von  8625  und  einem  Areal  von 
69'79  km2  zugewiesen.  Der  Gehalt  für  diesen  Distrikt  beträgt  1100  K  und 
das  Reisepauschale  358  K  jährlich,  der  Distriktsarzt  wird  eine  Haus¬ 
apotheke  führen  können.  Bemerkt  wird,  daß  das  Reisepauschale  durch 
eine  jährliche  Landessubvention  erhöht  wird.  Die  nach  den  Bestimmungen 
des  §  5  des  Gesetzes  vom  23.  Februar  1888,  L.-G.-BJ.  Nr.  9,  ordnungs¬ 
mäßig  instruierten  Gesuche  sind  bis  inkl.  30.  Mai  1911  beim  Bezirks¬ 
ausschuß  Senftenberg  einzubringen. 

Bei  den  politischen  Behörden  in  M  ähre  n  gelangt  demnächst 
die  Stelle  eines  Oberbezirksarztes  der  VIII.  Rangsklasse,  even¬ 
tuell  eine  Sanitätskonzipistenstelle  der  X.  Rangsklasse  und 
eine  Sanitätsassistenten  stelle  mit  dem  Adjutum  jährlicher 
1200  K  zur  Besetzung.  Bewerber  haben  ihre  ordnungsmäßig  instruierten 
Gesuche,  welche  seitens  der  noch  nicht  im  Staatsdienste  stehenden  Koin- 
petenten  insbesondere  mit  dem  Nachweise  des  Alters,  der  Zuständigkeit- 
moralischen  Unbescholtenheit,  körperlichen  Eignung,  der  Sprachkenntnissi , 
des  Diplomes,  der  abgelegten  Physikatsprüfung,  sowie  ihrer  bishengen 
Verwendung  zu  belegen  sind,  bis  längstens  20.  Mai  191 L  u.  zw.  mso- 
ferne  sie  bereits  im  öffentlichen  Dienste  stehen,  im  Wege  der  Vorgesetzten 
Behörde,  sonst  aber  unmittelbar  beim  Statthaltereipräsidium  in  Brunn 
einzubringen. 


Wr‘  1 _ _ WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 

Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in 
Sitzung  vom  12.  Mai  1911. 

Gesellschaft,  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in 

Sitzung  vom  27.  April  1911. 


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Wien. 

Wien. 


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Älfrlp7^r7hi"0l™8ri 'f 1,6  ^sell8C,,aft-  Sitzun£  vom  8.  März  1911. 
Aeizthchei  Verein  in  Brunn.  Sitzung  vom  20.  März  1911. 

-8.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin. 

10.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  12.  Mai  1911. 

Vorsitzender:  Reg.- Rat  Prof.  Dr.  A.  Kreidl. 

Schriftführer:  Dr.  R.  Paschkis. 

Prim.  Lotheissen :  Gestatten  Sie,  daß  ich  Ihnen  zwei  Pa¬ 
tienten  vorstelle,  bei  denen  ich  bei  Tabes  wegen  gastrischer 
Krisen  die  Resektion  der  hinteren  Dorsalwurzeln 
nach  Förster  ansgeführt  habe.  Bei  dieser  Operation  wird 
der  Wirbelkanal  eröffnet,  indem  man  vom  sechsten  Dorsalwirbel 
nach  abwärts  Dornfortsätze  und  Wirbelbogen  entfernt,  die  Dura 
eröffnet,  also  das  Rückenmark  freilegt  und  nun  die  sensiblen 
Wurzeln  auf  Ibis  2cm  Länge  oder  mehr  reseziert,  hi  der  ersten 
Mitteilung  vor  zwei  Jahren  haben  Förster  und  Küttner  an¬ 
gegeben,  daß  es  genüge,  die  siebente  bis  neunte  Wurzel  zu  rese¬ 
zieren,  später  rieten  sie,  die  sechste,  zehnte,  elfte  und  zwölfte 
Wurzel  ebenfalls  zu  durch  trennen,  damit  auch  die  vom  Darme 
ausgelösten  krisenhaften  Schmerzen  beseitigt  würden. 

;  '  Der  erste  Erfolg  nach  der  Operation  ist  glänzend.  Kranke, 
die  bisher  alles,  erbrochen,  sich  in  Schmerzen  gewunden  haben, 
sind  schmerzfrei,  können  wieder  mit  Appetit  essen.  Darum  wurde 
die  Operation  vielfach  mit  Enthusiasmus  aufgenommen.  In  den 
Berichten  der  Literatur  waren  aber  die’  Kranken;  nur  wenige 
Wochen  nach  der  Operation  beobachtet  worden. 

Für  die  Beurteilung  des  Wertes  der  Operation  sind  aber  die 
Dauererfolge  entscheidend.  Ich  habe  darum  beide  Kranke  nicht 
früher  vorgestellt.  Jetzt  scheint  die  Begeisterung  etwas  abge- 
schwächt,  da  die  Operation  nicht  völlige  Heilung  bringt,  wie 
auch  auf  dein  letzten  deutschen  Chirurgenkongreß  in  Berlin  sich 
zeigte. 

Bisher  wurde  bei  gastrischen  Krisen  erst  ca.  28mal  diese 
Operation  ausgeführt,  darum  darf  die  Mitteilung  neuer  Beobach¬ 
tungen  wertvoll  erscheinen. 

Der  eine  Patient  ist  vor  elf  Monaten,  der  zweite-  vor  sieben 
Monaten  operiert.  Die  Anfälle  der  Mageink  risen  waren  immer 
heftiger,  immer  häufiger,  die  Pausen  imimter  kürzer  geworden. 
Bei  dem  zweiten  Kranken  stellten  sie  sich  schließlich  jeden 
j zweiten  Tag  ein.  Dabei  verloren  beide  stark  an  Gewicht.  Der 
rste  wurde  von  Herrn  Prim.  V.  Czyhlarz,  der  zweite  von 
lerrn  Dr.  Scha werda  an  mich  gewiesen.  In  Skopoiamin- 
Morphium  -  Dämmerschlaf  umPAe  them  ark  ose  ließ  sich  der  Eingriff 
:ut  ausführen. 

Bei  dem  ersten  Kranken  wurde  genau  nach  Vorschrift  die 
de  heute  bis  neunte  Wurzel  reseziert,  dazu  noch  die  sechste, 
veil  die  Schmerzen  hoch  herauf  reichten.  Die  ersten  drei  Monate 
dng  es  glänzend,  dar  Kränke  blühte  auf.  Dann  stellten  sich  doch 
allmonatlich  einmal  wieder  Krisen  ein,  die  aber  viel  weniger 
lark  waren. 

Untersucht  man  'den  Patienten,  so  findet  man,  daß  unterhalb 
ler  Operationsnarbe,  genau  entsprechend  der  zehnten  Wurzel, 
■ine  hyperästhetische  Zone  ‘beginnt,  in  der,  namentlich  im  Bücken, 
Mir  oft  Schmerzen  bestehen.  Da  diese  Wurzeln  die  Sensibilität 
les  Darmes  vermitteln,  ist  es  wahrscheinlich,  daß  diese  Beein- 
rächtigung  des  guten  Erfolges  darin  begründet  ist,  daß  wir  die 
ehnte,  elfte  und  zwölfte  Dorsalwurzel  nicht  reseziert  haben. 

'“•>  kann  daher  noch  zu  Krisen  kommen,  die  nach  Fo erster 
°ni  Darme  ausgelöst  werden.  Daß  dies  so  selten  geschieht,  daß 
'io  Krisen  leichter  sind,  ist  aber  doch  ein  Erfolg. 

I  ^  Beim  zweiten  Patienten  wurden  die  sechste  bis  zehnte 
Wurzel  reseziert.  Hier  hielt  das  völlige  Wohlbefinden  fünf  Wochen 
",  dann  kam  es  zu  Mahnungen,  die  man  als  Abortivkrisen 
osehen  kann,  da  sie  nie  die  alte  Heftigkeit  erlangten.  Wenn 
er  Patient  sich  a/uch  in  der  Zwischenzeit  nie  so  vollkommen 
rohl  fühlt,  wie  früher  in  den  Pausen,  so  ist  erstens  zu  betonen, 
uß  er  seinen  Körper  doch  völlig  im  Gleichgewicht  erhält,  daß 
r  ordentlich  essen  kann.  Zweitens  ist  aber  hervorzuheben,  daß 
ior  nach  einem  halben  Jahre  die  Erschei'nüngen  der  Ataxie  deut- 
Jich  geworden  sind,  daß  wir  also  ein  rascheres  Fort- 
'hreiten  sehen.  Wir  dürfen  daher  wohl  anneihmen,  daß 
ach  die  Magensymptome,  die  sich  jetzt  auf  erträglicher  Höhe 
alten,  inzwischen  sich  sehr  gesteigert  hätten;  ja  vielleicht  wäre 
ogar  schon  durch  Inanition  der  Exitus  eingetreten. 


Für  Fälle  schwerer  gastrischer  Krisen  darf  man  die  Ope- 
ratmn  also  wie  ich  g  au  be,  anraten.  Sie  darf  aber  keinesfalls  als 

w0er,den-  Die  Statistik  ergibt  ziemlich  holm 
Mortali tat  (etwa,  33. /o).  Selbst  bei  guter  Technik  ist  immer  die 
Geiahr  der  Meningitis  vorhanden.  Ich  habe  daher  (abgesehen 
von  den  modernen  Hilfsmitteln  hei  der  Operation,  wie  Gesichts¬ 
masken,  Gummihandschuhen  usw.)  stets  dem  Rate  amerikanischer 
Chirurgen  folgend,  prophylaktisch  Urotropin  in  großen  Dosen 
(b  g  pro  die)  gegeben.  Trotzdem  habe  ich  einen  dritten  Ooe- 
nerten,  bei.  dem  die  sechste  bis  zwölfte  Wurzel  reseziert  waren, 
verloren.  Es  handelte  sich  um  ein  sehr  he-rabgekommenes  Indi¬ 
viduum,  das  also  an  sich  gegen  Infektion  weniger  widerstands- 
tuhig  war.  Noch  dazu  hatte  er  aber’,  wie  wir  leider  zu  spät 
entdeckten,  in  den  Rückenmuskeln,  dicht  daneben  eine  eigroße 
Nekrose,  welche  hei  der  Obduktion  durch  einen  feinen  Gang  mit 
der  Wunde  in  Verbindung  stand,  was  hei  der 
der  Fall  war.  Der  Kranke  hatte  einige  Wochen 
Stelle  eine  Injektion  von  Arsenohenzol  nach 

Nekrose  steril  gewesen 
für  eine  Infektion. 


erhalten.  Selbst  wenn  diese 
sie  sicher  einen  guten  Boden 


Operation  nicht 
zuvor  an  dieser 
Hata-Ehrlich 
wäre,  bot 


Dieser  Tage  hätte  ich  wieder  eine  Forst  er  sehe  Operation 
machen  sollen,  fand  aber  einen  Tumor  nach  einer  solchen  Ar- 
senobenzolinjektion,  der  weich, ^  fast  fluktuierend  war1.  Nach  der 
einen  traurigen  Erfahrung  habe  ich  hier  darum  zuerst  mit  Lokal¬ 
anästhesie  inzidiert,  den  butterartigen  Eiter  entleert  und  die  ganze 
Nekrosenmasse  exzidiert.  Erst  wenn  diese  Wunde  ausgeheilt  ist, 
soll  die  Rückenmarksoperation  stattfinden.  Ich  glaubte,  dies  er¬ 
wähnen  zu  sollen,  um  andere  vor  einer  gleichen  Erfahrung  zu 
bewahren. 


Diskussion:  Dr.  Winternitz  gibt  zu  bedenken,  daß  diese 
tabi sehen  Krisen  auch  unbeeinflußt  lange  wegbleiben  können; 
es  sei  die  Frage,  wie  lange  und  auf  welche  Zeit  die  Operation 
die  Krisen  ausschließe.  Allerdings  sei  auch  ein  symptomatischer 
Effekt  von  großem  Nutzen. 

Dr.  Reitter:  Von  den  vorgestellten  Fällen  kenne  ich  den 
zweiten;  derselbe  lag  an  der  Klinik  Prof.  Strümpells;  im 
Krankheitsbilde  war  anfangs  die  DiagnJose  auf  Tabes  nicht  sicher 
zu  stellen,  da  zu  dieser  Zeit  ausgesprochene  Erscheinungen 
fehlten.  Erst  im  Laufe  der  Beobachtung  durch  einige  Wochen 
wuide  die  Diagnose  der  Tabes  vollständig  sicher;  es  handelte 
sich  also  um  einen  Fall  rasch  progredienter  Tabes;  Geheimrat 
Strümpell  erwog  damals  wegen  der  Magenkrisen  die 
Förster  sehe  Operation,  lehnte  sie  aber  eben  wegen  des  Ver¬ 
laufes  ab;  wie  wir  vom'  Herrn  Vortragenden  hörten,  ist  ja  die 
Zunahme  der  Ataxie  auch  jetzt  für  den  noch  immer  fortschrei¬ 
tenden  Prozeß  zu  verwerten. 

Ich  halte  einen  solchen  Fall  einer  rasch  verlaufen¬ 
den  progressiven  Tabes  nicht  für  geeignet,  um  sich  ein 
Urteil  über  die  Forst  ersehe  Operation  zu  bilden,  zumal  wir 
wissen,  daß  in  diesen  Fällen  die  Magenkrisen  nicht  nur  für- 
längere  Zeit  aussetzen,  sondern  auch  mit  dem  Fortschreiten  des 
anatomischen  Prozesses  ganz  verschwinden  können. 


Dr.  S.  Federn:  Ich  habe  schon  einmal  hier  mitgeteilt,  daß 
ich  gefunden  habe,  daß  die  Magenkrisen  auch  durch  periphere 
Läsionen  ansgelöst  werden  kön  nen,  so  habe  ich  in  einem  Falle  die 
Magenkrisen  behoben  durch  Behandlung  und  Heilung  einer  par¬ 
tiellen  Darmatonie;  so  können  auch  andere  Läsionen  im  TJnter- 
leibe  diese  Krisen  verursachen.  Es  ist  ja  leicht  einzusehen,, 
daß  die  Förster  sehe  Operation  einen  günstigen  Einfluß  auf 
dir  Magenkrisen  nehmen  kann,  aber  ich  glaube,  unsere  nächste 
Aufgabe  wäre,  in  jedem  Falle  die  peripheren  Punkte  zu  suchen, 
von  welchen  die  Magonkrisen  ausgelöst  werden  und  da  dürfte 
die  partielle  Darmatonie  nicht  selten  als  solche  gefunden  werden. 

Prof.  P41:  Ich  möchte  an  den  Herrn  Vortragenden  nur 
die  Frage  stellen,  oh  es  sich  in  seinen  Fällen  um  Magenkrisen 
mit  profusem  Erbrechen  gehandelt  hat.  In  der  Frage  der  Magen 
krisen  nehme  ich  einen  besonderen  Standpunkt  ein.  Ich  unter¬ 
scheide  echte  Magenkrisen  von  vaskulären  Krisen.  Die  beiden 
Formen  kommen  auch  bei  demselben  Kranken  nebeneinander  vor, 
wie  ich  dies  erst  vor  kurzem  wieder  bei  einem  leider  letal  ver¬ 
laufenen  Falle  feststellcn  konnte.  Ueber  die  Wirkung  der  Förs  (er¬ 
sehen  Operation  kann  ich  mir  kein  Urteil  gestatten.  Es  wäre 


728 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911, 


Nr.  20 


aber  für  mich  von  Interesse,  zu  erfahren,  Avie  sich  der  Effekt 
bei  den  verschiedenen  Formen  gestaltet.  Es  Aväre  ja  denkbar, 
daß  der  Erfolg  auch  nach  der  Art  der  Krise  variiert. 

Prof.  Pr.  Ferdinand  Alt  demonstriert  ein  zehnjähriges 
Mädchen,  das  am  21.  Februar  d.  J.  wegen  einer  seit  fünf  Jahrein 
nach  Scharlach  bestehenden,  linkseitigen  Mittelohreiterung  einer 
Radikaloperation  unterzogen  wurde,  wobei  ein  großer  periostaler, 
ein  extraduraler  und  ein  intraduraler  Abszeß  entleert  wurde. 

Das  Kind  wurde  in  einem  sehr  herabgekommenen  Zustande 
dem  Rudolfspitale  eingeliefert.  Temperatur  39°,  die  am  Nach¬ 
mittag  auf  41"  stieg,  Puls  140,  Nackensteifigkeit,  Strabismus  con- 
vergens,  Antrumeiterung  links  mit  Granulationen  und  Cholestea¬ 
tom  im  Mittelohr,  über  und  hinter  dem  Warzenfortsatze  eine 
fluktuierende  Geschwulst.  Die  am  Nachmittag  vorgenommene  Ope¬ 
ration  gestaltete  sich  folgendermaßen Nach  Ablösung  des  Periosts 
entleerte  sich  ein  großer  periostaler  Abszeß,  der  hinter  dem 
Warzen  f ortsatzc  gelegen  war,  im  vertikalen  Teil©  des  Processus 
mastoideus  war  ein  Knochenabszeß,  bei  Freilegung  des  Antrums 
wurde  ein  Teil  des  Tegmen  tympani  abgetragen,  und  es  stürzte 
unter  hohem  Druck  stehender  Eiter  in  der  Menge  von  etwa  zwei 
Eßlöffeln,  einem  extraduralen  Abszesse  entstammend,  hervor. 

Das  Tegmen  antri  et  tympani  wurden  in  Kronengröße  ab¬ 
getragen,  die  Dura  war  mißfärbig,  eitrig  infiltriert  und  wies 
eine  ca.  SU  Cm  im  Durchmesser  betragende  Fistelöffnung  auf, 
aus  der  Eiter  hervorquoll.  Der  intraduralo  Abszeß  imponierte 
zunächst  als  ein  durchgebrochener  Schläfelappenabszeß,  doch  er¬ 
gab  die  Exploration  nach  ausgiebiger  Spaltung  der  Fistel  und 
die  Untersuchung  des  Gehirns,  daß  eine  Leptomeningitis  circum¬ 
scripta  purulenta  vöHag.  An  diese  Eingriffe  schloß  sich  die  Er¬ 
öffnung  der  Mittelohrräume  an. 

Der  Wundverlauf  war  ein  ausgezeichneter. 

Die  Therapie  der  otogenen  Meningitis  hat  in  den  letzten 
Jahren,  große  Fortschritte  gemacht,  vor  allem  durch  die  genaue 
Erkenntnis  der  Labviintheiterungen,  deren  operative  Behandlung 
die  beste  Prophylaxe  der  Meningitis  (larstellt.  Ferner  durch  früh¬ 
zeitige  Eingriffe  bei  jenen  Formen,  die  wir  als  Meningitis  serosa 
bezeichnen,  die  sich  durch  eine  seröse  Infiltration  der  weichen 
Hirnhaut  und  einen  Hydrocephalus  externus  und  internus  cha¬ 
rakterisieren.  Durch  Ausschaltung  des  ursächlichen  Momentes, 
der  Eiterung  im  Mittelohr,  im  Processus  mastoideus,  eines  Extia- 
duralabszesses  oder  einer  Pachymeningitis  circumscripta  externa 
oder  interna  gelingt  es,  Erkrankungen,  Avelche  alle  klinischen 
Symptome  einer  Meningitis  aufweisein,  zur  Heilung  zu  bringen. 
Trübes  Lumbalpunktat,  der  Nachweis  von  Leukozyten  und  selbst 
von  Mikroorganismen  in  der  Punktion s Flüssigkeit,  nieten  keine 
Kontraindikation  für  den  operativen  Eingriff.  Durch  breite  In¬ 
zision  der  Dura  und  Drainage  versuchen  Avir  dem  Eiter  Abfluß  zu 
verschaffen  und  haben  in  einer  gewissen  Zahl  von  fällen  die 
Genugtuung,  sichergestellte  eitrige  Meningitiden  ausheilen .  zu 
sehen,  ln  jüngster  Zeit  wurden  Versuche  angestellt,  bei  eitrigen 
Meningitiden  nach  der  Operation  intern  Urotropin  zu  reichen, 
da  sichergestellt  wurde,  daß  das  Urotropin  rasch'  im  Lumoal- 
pnnktat  nachweisbar  ist  und  demnach  seine  bakterizide  Wirkung 
auf  den  Eiter  aus  üben  könne.  Auch  durch  wiederholte  Lumbal¬ 
punktionen  suchen  Avir  dem  Eiter  Abfluß  zu  v erschaffen  und 
führen  manche  Erfolge  auf  diese  Maßnahmen  zurück. 

Dr.  Oskar  Weltmann  demonstriert  aus  der  Prosektur  des 
k.  k.  Franz- Joseph -Spitals  das  Präparat  eines  ungewöhnlich; 
großen  N  e b e n n i  e r  e n  h  ä m a t  o ms.  Es  stamlmt  Von  einem  8 Tage 
alten  Knaben  aus  dem  Entbindungsheim  „Luicina  .  Di©  Mutter,  eine 
Zweitgebärende,  war  immer  gesund  gewesen  und  kam  am  nor¬ 
malen  S cTlav a ng ers ch af tsen de  nieder.  Die  Geburt  erfolgte  spontan. 
In  den  ersten  drei  Lebenstagen  Avies  das  Kind  keinerlei  Krank- 
heitserscTieinungen  auf.  Am  vierteh  Tage  Ikterus,  Symptome 
beginnender  Lobulärpneumonien  und  Prostration.  Nach  einet 
leichten  Besserung  verschlimmert  sich  der  Zustand  am  sechsten 
Tage.  Die  Gelbfärbung  nähert  sich  denn  Orangetone,  Dyspnoe, 
Apathie;  Exitus  am  achten  Tage.  Bei  der  Sektion  finden  sich 
frische  Lobulärpneumonien  in  beiden  Lungen,  vereinzelte  Blu¬ 
tungen  unter  die  Pleura,  hochgradig  ikterische  Verfärbung  aller 
Organe.  In  der  Bauchhöhle  und  im  OavUm  Douglasi  eine  geringe 
Menge  frisch  geronnenen  Blutes.  Die  Lumbalmuskulatur  der 
rechten  Seite  ist.  von  Blutungen  unterwühlt.  Der  rechte  Leber¬ 
lappen  ist  stark  komprimiert,  an  das  Zwerchfell  gepreßt  und  mit 
einem  fast  faustgroßen  Tumor  verlötet,  der  retroperitoneal  ge¬ 
legen,  mit  der  Lumbalmuskulatur  einerseits,  mit  Cökum  und 
Colon  asoendens  anderseits  innig  verklebt  ist.  Der  Schnitt,  der 
durch  den  rechten  Leberlappen  und  die  Geschwulst  geführt  wurde, 
zeigt,  nun  ein  äpfelgroßes  Hämatom,  das  offenbar  Von  der  rechten 
Nebenniere  ausgeht,  ikterisch  verfärbte  Gefäße  und  Gewebsreste 
bind urchschimmern  läßt.  Es  ist  von  einer  fibrösen  Kapsel  um¬ 


schlossen,  läßt  sich  von  dem  rechten  Leberlappem,  und  der  Niere, 
die  es  komprimiert,  nicht  trennen  und  weist  auf  der  Schnittfläche 
das  Lumen  eines  Ganges  auf,  durch  den  die  Sonde  ohne  Wider¬ 
stand  gegen  die  Lumbalmuskulatur  vordringt.  Die  Gallehwcge  sind 
durchgängig.  Nebennierenhämatome  sind  namentlich  beim  Neu¬ 
geborenen  keine  besondere  Seltenheit.  Doch  erreichen  sic  nur 
ganz  ausnahmsweise  eine  so  ansehnliche  Größe  Avio  in  dem 
vorliegenden  Falle  und  brechen  sehr  selten  durch. 

In  der  Aetiologio  spielen  die  Venen  thrombose,  Kapillar 
embolien,  die  hämorrhagische  Diatheso,  die  Hauptrolle.  Als  Ur¬ 
sache  für  die  Nebennierenblutungen  bei  Neugeborenen  Averden 
von  Lissauer,  .Simmonds,  Börner  und  anderen  ixau ma¬ 
lische  Einflüsse  bei  der  Geburt,  _  Asphyxie,  _  Hemmung  des  peri¬ 
pheren  Kreislaufes  und  konsekutive  Hyperämie  der  Abdominal 
Organe  angenommen.  Auffallend  ist  das  relativ  baldigere  Vor¬ 
kommen  von  Nebennierenblutungen  bei  Kindern 
Jedenfalls  ist  die  Nebenniere  duröh  ihr  weiches, 
liclies  Gewebe  und  durch  den  Reichtum  und  die 

ZI 


der  Gefäße  für  Blutungen  prädisponiert 


aklamptischer. 
leicht  zerreiß- 
Beschaffenheit 
Das  häufigere  Vorkom- 
rechten  Seite  läßt  sich 


men  von  Nebennierenblutungen  auf  der  _  s 

vielleicht  damit  erklären,  daß  die  rechte  Nebenniere  zwischen  zwei 
derben  und  sehr  stauungsfälligen  Organen  eingekeilt  liegt,  während 
die  linke  Nebenniere  durch  ihre  Lagebeziehung  zu  Magen  und 
Darm  bei  traumatischen  und  vaskulären  Druckinsulten  eine  nach 

giebigere  Nachbarschaft  findet.  . 

Für  das  Zustandekommen  der  Blutung  im  vorliegenden  habe 
läßt  sich  bei  der  vollkommen  normalen  und  leichten  Geburt  und 
bei  dem  Fehlen  asphyktischer  Erscheinungen  keine  sichere 
Erklärung  gehen.  Wahrscheinlich  spielt  der  vorzeitige  Blasen 
sprung  dabei  eine  Rolle,  der  18  Stunden  vor  der  Geburt  erfolgte. 

Primararzt  Priv.-Doz.  Dr.  Robert  Breuer:  Klinische  Be¬ 
obachtungen  von  Herzkranken. 

Der  Vortragende  bespricht  zunächst  eine  Beihe  yoä  be 
schAverden  und  objektiven  Symptomen  bei  Herzkranken,  die  sämt¬ 
lich  ihre  Erklärung  in  einer  Druckwirkung  von  seiten  des  linken 
Vorhof  es  finden.  Der  linke  Vorhof,  der  vor  allem  bei  organischen 
Mitralfehlern,  aber  auch  bei  anderen  Kranken  mit  insuffizient  ge¬ 
wordenem  linken  Ventrikel  (Pai  mit  peripherer  Arteriosklerose, 
chronischer  Nephritis,  Aorteninsuffizieiniz)  oft  hohe  Grade  .von 
Ausdehnung  erreicht,  vermag  infolge  seiner  topographischen  Situa¬ 
tion  auf  eine  Beihe  von  Nachbarorganen  Druck-  und  Verdrängungs¬ 
wirkungen  auszuüben.  Der  Vortragende  hat  im  Laufe  der  Jahte 
eine  größere  Reibe  von  Fällen  gesammelt,  in  denen  der  vorhol 
durch  Andrängen  gegen  die  Bifurkation  quälenden  Hustenreiz, 
durch  Kompression  des, linken  Bronchus  Bronchos tenose, 
durch  mittelbaren  Druck  Schädigung  des  linken  Rekurrens 
durch  Druck  auf  den  Oesophagus  Schlingbeschwerden  hervor 
gerufen  hat.  Alle  diese  Druckwirkungen  können  in- chronische) 
Weise  ausgeübt  Werden  (dies  ist  namentlich  bei  organischen 
Mitralfehlern  der  Fall),  sie  können  aber  bei  akuteren  Schwach; 
zuständen  des  linken  Ventrikels,  wenn  die  rechte  Kammer  krame 
weiter arbeitet,  auch  in  akuterer  Weise  in  Erscheinung  treten. 
Bei  dem  Andrängen  gegen  Bifurkation  und  Bronchus  kommt  zu  de< 
mechanischen-  Druckwirkung  noch  die  Schleimhaütschwellung  ai 
der  gedrückten  Stelle  hinzu. 

Die  Beobachtungen  des  Vortragenden  auf  diesem  Gebiet,  flu 
im  Laufe  der  letzten  14  Jahre  gesammelt  wunden,  sind  nicht  pu 
bli ziert  Avorden;  inzwischen  haben  Kahler  und  Stoerk  unei 
die  Kompression  des  linken  Bronchus,  Koväcs  und  Stoerü 
über  die  Oesopbagnskompression  berichtet,  wähnend  die  Dnicif 
Wirkung  auf  den  linken  Rekurrens  durch  die  Veröffentlichiraget 
von  Ortner,  Hofbauer  u.  a.  schon  seit  1897  bekannt  jsl 
Der  Vortragende  bespricht  unter  kurzer  Resümierung  seine; 
ei  eenen  Erfahrungen  alle  diese  Erscheinungen,  versucht  die  re, 
lative  Seltenheit  der  funktionellen  Schädigung  des  Nernn 
recurrens  und  der  Speiseröhre  aufzuklären  und  bebt.  beson(l.-M 
hervor  wie  wichtig  für  die  Klarstellung  aller  dieser  Verhältnis.^ 
die  anatomischen  Untersuchungen  von  Stoork  und  wie.msr.niiM 
tiv  die  Stoerksche  Sektionsmethode  (Eröffnung  des  thoiäx  voi 

hinten  her)  sei.  .  ., 

Im  Anschluß  an  diese  Darlegungen  wird  eine  von  den  tn-n,. 
gangbaren  abweichende  Erklärung  der  kardialen  Ort  i  o  on< 
versucht..  Der  Vortragende  legt  dar,  daß  zur  Erklärung  der.  I 
scheiming,  daß  eine  Reihe  von  Herzkranken  nicht  liegen  u  . 
auch  nur  schwer  an  gelehnt  sitzen  können,  die  bisheiigen  a 
klämngsversuclve  nicht  ausreichen.  Auch  die  von1  Holzknetn 
und  Hofbauer  gegebene  Erklärung,  welche  auf  die  'VN 
Ausnützung  der  elastischen  Kräfte  der  Lun'ge  und  der  Ihlrsw 
der  Bauchmuskeln  hei  der  Exspiration  in  der  vertikalen.  8teliunj 
rekurriert,  reicht  nicht  aus,  um  verständlich  zn  machen,  warn 
so  viele  Herzkranke  nur  in  leicht  nach  vorne  geneigter  Stenn 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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sich  wohl  fühlen.  Auch  solche  Kranke,  die,  wenn  sie  augelehnt 
sitzen,  nicht  wirklich  dyspnoisch  sind  und  keine  Aktion  der 
Auxiliärmuskeln  der  Atmung,  auch  keine  Kontraktion  der  Bauch¬ 
muskeln  bei  der  Exspiration  zeigen,  ziehen  die  vomübergeneigte 
Stellung  vor,  weil  sie  nur  so  von  Beklemmung  frei  sind.  Der 
Vertragende  referiert  über  eigene,  mit  Hilfe  von  H  o  1  z- 
k  liecht  ausgeführte  Röntgenuntersuchungen  an  Gesunden 
und  Kranken,  die  zeigen,  daß  zwar  beim  Uebergang  vom  Liegen 
zum  Sitzen  das  Zwerchfell  wesentlich  tiefer  tritt  und  damit  die 
Ausspannung  der  Lunge  vermehrt  und  ihre  elastische  Retrak¬ 
tionskraft  gesteigert  wird,  daß  aber  beim  Uebergang  von  leicht 
nach  hinten  geneigter  zu  leicht  vorgeneigter  sitzender  Stellung 
eine  merkliche  Aenderung  des  Zwerchfellstandes  nicht  ein  tritt' 
Als  Hauptursache  dafür,  daß  die  Kranken  das  vornübergeneigte 
Sitzen  bevorzugen,  wird  die  Druckwirkung  angesprochen,  der 
der  dilatierte  linke  Vorhof  in  der  Rückenlage  und  beim  nach 
rückwärts  geneigten  Sitzen  dadurch  ausgesetzt  ist,  daß  das  meist 
große  und  schwere  Herz  dieser  Kranken  dein1  linken  Vorhof, 
der  den  hintersten  Herzabsehnitt  bildet,  gegen  die  Wirbelsäule 
drückt.  Dieser  Druck  schwindet  selbstverständlich,  wenn  in  ver¬ 
tikaler  Stellung  und  ins  besonders  bei  Vorwärtsneigung  das  Her/, 
nach  vorne  sinkt. 

In  einem  zweiten  Teile  des  Vortrages  wird  die  klinische 
Bedeutung  des  Chey  ne-  Stokes  sehen  Atmens  bei  Herz¬ 
kranken  besprochen.  Dieses  bildet  bei  vielen  Herzkranken,  be¬ 
sonders  Arteriosklerotikern  und  Nephritikern  eine  oft  jahrelang 
dauernde,  den  Kranken  furchtbar  quälende  und  therapeutisch 
schwer  beeinflußbare  Erscheinung,  die  viel  häufiger  ist,  als  gewö  hn¬ 
lich  angenommen  wird.  Es  wird  auf  das  Vorkommen:  dieses  Atem¬ 
typus  unter  anderen  Umständen  (Gehimkrankheiten,  Bergkrank¬ 
heit,  Morphinwirkung  usw.)  hingewiesen,  die  Genese  seines  Auf¬ 
tretens  bei  Herzkranken  kurz  angedeutet  und  bezüglich  der  feineren 
Analyse  seines  Mechanismus  auf  die  Arbeiten  der  englischen  Phy¬ 
siologen  Haldane  und  Douglas  verwiesen.  V mir.  referiert 
dann  über  mehr  oder  weniger  mißlungene  Versuche,  das  Cheyne- 
Stokessche  Atmen  bei  Herz-,  wie  Gehirnkranken  durch  medi¬ 
kamentöse  Maßnahmen  zum  Verschwinden  zu  bringen,  die  eine 
Hebung  der  Erregbarkeit  des  Atemzentrums  erhoffen  ließen;  da¬ 
gegen  berichtet  er  über  gn te  Erfolge,  die  seit  längerer  Zeit  schon 
von  ihm  und,  wie  er  einer  neueren  Publikation  entnimmt,  auch 
von  englischen  Aerzten,  bei  Cheyne- Stokes  verschiedenen  Ur¬ 
sprungs  mit  S auer's t o f f inbalationen  erzielt  wurden.  Bezüg¬ 
lich  der  Erklärung  der  Sauerstoffwirkung  verweist  der  Vortra¬ 
gende  wegen  Zeitmangels  auf  die  Darlegungen  von  Haldane 
und  Douglas,  sowie  auf  seine  eigene  ausführlichere  Publikation. 

Zum  Schluß  deutet  der  Vortragende  an,  daß  das  Cheyne- 
Stokessche  Atmen  der  Herz-,  Gefäß-  und  Nierenkranken  seinen 
Beobachtungen  zufolge  wohl  auch  in  der  Entstehung  und  Aus¬ 
bildung  bestimmter  psychischer  Störungen,  wie  sie  bei  solchen 
Kranken  sich  häufig  finden,  eine  gewisse  Rolle  spielen  dürfte, 
namentlich  bei  der  Entwicklung  der  „Beeinträchtigungspsychose“ 
vieler  dieser  Kranker. 

(Der  Vortrag  erscheint  ausführlich  an  anderem  Orte.) 

Diskussion:  Dr.  H.  TeTeky:  Was  die  Ursachen  der  Ortho¬ 
pnoe  an  belangt,  so  glaube  ic!h,  daß  die  Behinderung  der  vollen  Tätig¬ 
keit  der  Axillarmuskeln,  wie  sie  durch  das  Liegen  auf  dem  Rücken 
i»ler  Anlehnen  beim  Sitzen  veranlaßt  wird,  das  Atmen  erschwert. 
Ebenso  scheint  mir  die  Blutverteilung,  das  ist  die  stärkere  Füllung 
üer  Gefäße  der  unteren  Extremitäten  nicht  gleichgültig.  Die 
Kranken  können  im  Bette  sitzend  nur  dann  leichter  atmen,  wenn 
'lie  Beine  über  den  Bettrand  herabhänJgen.  Wenn,  wie  der  Herr 
Vortragende  glaubt,  ein  Hauptmoment  für  die  Dyspnoe  in  der 
Rückenlage  darin  begründet  ist,  daß  der  ausgedehnte  rechte  Vorhof 
zwischen  Wirbelsäule  und  Ventrikel  eingeklemmt  wird,  so  würde 
in  der  Bauchlage  dieses  Moment  Wegfällen.  Doch  auch  diese 
vertragen  die  Kranken  nicht. 

Dr.  0.  Porges:  Die  interessante  Beobachtung  des  Herrn 
I’riv.-Doz.  Breuer  bezüglich  der  Beseitigung  des  Cheyjne- 
Stokesschcn  Atmens  durch  Sauerstoffatmung  läßt  sich,  wie  ich 
glaube,  durch  Einwirkung  des  Sauerstoffs  als  solchen  nicht  er¬ 
klären.  Wir  wissen,  daß  das  Cheyne- Stokes  sehe  Atmen  durch 
Sauerstoffmangel  in  den  Gewebeh,  zustande  kommt,  dergestalt,  daß 
‘lio  Persistenz  von  unvollständig  oxydierten  sauren  Produkten  die 
Atmung  reizt,  was  zur  UebervPntilation,  zur  Erschöpfung  des 
Kohlensäurevorrates  im  Blute  führt;  war  der  Sauerstoffmangel 
'hnrh  herabgesetzten  Sauerstoffgehalt  der  Einatmnngsluft  ber- 
vorgerufen,  so  steigt  mit  der  Ueberventi lati on  gleichzeitig  die 
alveolare  Sauerstoffspannung,  'das  Blut  kann  sich  wieder  mit 
Sauerstoff  sättigen,  die  angehäuften  sauren  Substanzen  werden 
plötzlich  oxydiert.  Damit  entfallen  zwei  Atem  reize  auf  einmal, 
die  atmungreizende  Wirkung  der  Kohlensäure,  sowie  die  sauren 


intermediären  Produkte  und  es  tritt  die  Apnoe  auf.  Während  der 
Apnoe  sammeln  sich  wieder  Kohlensäure  linjd'  saure  intermediäre 
Produkte  an,  bis  die  Reizschwelle  der  Atmung’  erreicht  ist,  wor¬ 
an!  wieder  Atmung  erfolgt,  die  zur  plötzlichen  Beseitigung  der 
Atem  reize  führt  usw.  Ganz  anders  liegen  aber  die  Verhältnisse 
beim  S  t  o  k  es  sehen  Atmen,  da,s,  wie  in  den  Fällen  des  Herrn 
Priv.-Doz.  Breuer,  durch  Zirkulationsstörungen  verursacht  ist. 
Der  Sauerstoffmangel  ist.  hier  nicht  die  Folge  herabgesetzten  Sauer¬ 
stoffgehaltes  der  Inspirationsluft,  sondern  der  herabgesetzten  Zir¬ 
kulation.  Da  das  Blut  schon  bei  der  Sauerstoffspannung  der  Atmo¬ 
sphäre  sich  vollständig  mit  Sauerstoff  sättigt,  so  kann  die  Zu¬ 
fuhr  von.  reinem  Sauerstoff  nichts  ändern;  denn  die  Sauer- 
stoffbindung  im  Blute  beruht  auf  einer  Oxydation  des  Hämo¬ 
globins  und  diese  Oxydation  erfolgt  ebenso  vollständig,  oh  wir 
nun  reinen  Sauerstoff  oder  gewöhnliche  Luft  atmen.  Es  kann 
daher  das  Atmen  von  reinelm  Sauerstoff  dem,  Sauerstoffmangel  bei 
Zirkulationsstörungen  nicht  beheben  und  ebenso  nicht  für  das 
Sistieren  der  Chey  ne- St  okes  sehen  Atmung  in  diesen  Fällen 
verantwortlich  gemacht  werden.  Dagegen  drängt  sich  eine  andere 
Erklärungsmöglic’hkeit  auf.  Wir  wissen,  daß  die  Kohlensäure  ein 
intensiver  Atemreiz  ist.  Herr  Priv.-Doz.  Breuer  hat  nun  her¬ 
vorgehoben,  daß  die  Sauerstoffatmung  nur  nützt,  wenn  die  Atem¬ 
maske  nahe  appliziert  ist,  so  daß  der  Patient  gewissermaßen  in 
Sauerstoff  eingehüllt  ist.  Wenn  wir  aber  die  Atemmaske  nahe  vor 
das  Gesicht  halten,  dann  retinieren  wir  einen  Teil  der  Exspirations¬ 
luft.  Der  Patient  atmet  dann  zum  Teil  seine  eigene  Exspirationsluft 
und  inhaliert  damit  Kohlensäure.  Diese  Kohlensäure  kann  nun  der 
Atemreiz  sein,  der  das  Cheyne-Stokessche  Atmen  verhindert. 
Die  gleichzeitige  Zufuhr  von  Sauerstoff  ist  aber  in  diesem  Falle 
sehr  nützlich,  dann  würde  der  Patient  n  u  r  seine  Exspirations¬ 
luft  atmen,  dann  wäre  bald  der  Luftsauerstoff  aufgebraucht, 
es  würde  zu  wenig  Sauerstoff  zugeführt.  Die,  gleichzeitige  Atmung 
von  Sauerstoff  ermöglicht  es  erst,  die  eigene  Kohlensäure  als 
Atemreiz  zu  inhalieren. 

Dr.  Türkei  bestätigt  die  Erfahrungen  Breuers  bezüglich 
des  Cheyne-Stokesschen  Atmens  und  macht  aufmerksam,  daß 
es  zuweilen  gelingt,  das  Cheyne-Stokessche  Atmen  dadurch 
zu  kupieren,  daß  man  die  Kranken  zu  kräftigen  Respirations- 
.  zügen  auffordert.  Der  Erklärung  Porges’  über  die  Sauerstoff 
Wirkung  vermag  er  nicht  beizupflichten. 

Dr.  Hotbauer:  Zunächst  möchte  ich  dom  Vortragenden 
herzlichst  danken  dafür,  daß  er  es  verstanden,  hat,  durch  seine 
scharfsinnigen  u!nd  fein  ziselierten  Beobachtungen  das  Interesse 
auf  ein  Kapitel  zu  lenken,  das  gewöhnlich  wenig  Beachtung  findet, 
auf  die  Entstehung  der  kardialen  Atemnot  und  insbesondere  auf 
die  Zusammenhänge  mit  rein  mechanischen  Vorgängen. 

Trotz  der  vorgeschrittenen  Zeit  aber  bin  ich  gezwungen 
auf  eine  der  vielen  angeschnittenen  Fragen  kurz  einzugehen.  Ge¬ 
zwungen  deshalb,  weil  der  Vortragende  unter  Nennung  meines 
Namens  meine  Theorie  der  kardialen  Atembot  so  hinstellte,  daß 
sie  doch  etwas  Beleuchtung  zu  brauchen  scheint,  um  ein  wenig 
su  ff  i  zi  enter  dazu  stehen . 

Die  Atemnot  des  Herzkranken  veranlaßt  denselben,  seine 
exspiratorischen  Hilfsmuskel  zu  möglichster  Anwendung  zu  brin¬ 
gen  ;  dies  tut  er  in  Form  der  Orthopnoe,  was  auf  Grund  folgender 
Ueberlegung  leicht  begreiflich  wird:  Auf  einem  sagittalen  Durch¬ 
schnitte  des  Bauches  sehen  wir  die  rückwärtige  und  untere  Wand 
von  harten,  knöchernen  Gebilden  durchsetzt,  mithin  unbeweglich. 
Im  Gegensatz  hiezu  besteht  die  Vordere  Bauchwand  und  die  obere 
aus  Bauchmuskeln  und  Zwerchfell,  ist  also  beweglich.  Um  nun 
das  Zwerchfell  zu  maximaler  Bewegungsmöglichkeit,  zu  veran¬ 
lassen,  wird  durch  Vornfibern  eigen  die  Last  der  Baucheingeweide 
auf  die  weichen  Bauch  decken  gelegt.  Sie  sinken  nach  vorne. 
Bei  jeder  Ausatmung  nun,  ziehen  sich  die  Bauchdecken  zu¬ 
sammen  u.  zw.  von  unten  nach  oben  fortlaufend.  Infolgedessen 
werden  -die  auf  ihrer  Innenfläche  liegenden  Baucheingeweide 
langsam  gleichmäßig  nach  oben  in  'die  Zwerchfellskuppel  ger 
trieben,  das  Zwerchfell  maximal  in  den  Brustraum  vorgeschoben 
und  die  erschwerte  Ausatmung  bestmöglich  gefördert.  So  wie 
dann  die  Einatmung  beginnt,  werden  die  Bauchdecken  weich 
und  die  Bauoheingoweide  fallen  nach  abwärts,  das  Zwerchfell 
kann  ohne  jeden  Widerstand  einen  sehr  bedeutenden  Weg  bis 
zu  seiner  Inspirationsstelle  zurücklegen. 

Auf  wenige  Winkelgrade  der  Beugung  kommt  es  hier  des¬ 
halb  an,  weil  bei  leichter  Naclirückwärtsneigung  schon  die  Bauch¬ 
eingeweide  auf  die  hintere  und  starre  Wand  des  Bauches  fallen, 
mithin  dem  Einfluß  der  Bauchdecken  entzogen  sind.  Bei  leichter 
Vornüherneigung  hingegen  fallen  sie  auf  dieselben. 

Daß  heim  Gesunden  sieh  dieser  Einfluß  nicht  geltend  macht, 
ist  begreiflich,  weil  dieser  seine  Bauchmuskeln  nicht  benötigt 
und  verwendet.  Beim  Herzkranken  hingegen  läßt  sich,  wie  ich 


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vielfach  durch  Röntgenuntersuchung  feststellen  konnte1,  die  kolos¬ 
sale  Steigerung  der  Zwerchfellsbewegung  beim  Vorn  übersitz  en 
ohne  weiteres  feststellen. 

Wie  nun  gestaltet  sich  die  Förderung  des  Blutkreislaufes 
bed  der  kardialen  Insuffizienz?  Durch  die  Knetung,  welche  der 
Bauchinhalt  durch  die  von  unten  nach  oben  fortschreitende  Kon¬ 
traktion  der  Baucheingeweide  bekommt,  wird  das  Blut  nicht  bloß 
der  Baucheingeweide,  sondern  auch  der  Vena  cava  von  unten 
nach  oben  gegen  den  Zwerchfellschlitz  massiert.  Kommt  nun  der 
Inhalt  des  Bauches  infolge  dieser  Kontraktion  in  die  Zwerch- 
fellskuppel  hinein,  so  wird  das  Foramen  quadrilaterum  aus¬ 
einandergedrängt,  das  Blut  kann  in  die  Brusthöhle  leicht  ab¬ 
fließen.  Letzteren  Vorgang  konnte  ich  im  Vorjahre  in  Gemein¬ 
schaft  mit  Herrn  Priv.-Doz.  Eppinger  in  Untersuchungen  auf 
der  Klinik  v.  Noorden  einwandfrei  feststellen. 

Prof.  Dr.  Ludwig  Braun:  Der  Herr  Vortragende  ist  zweifel¬ 
los  im  Recht,  wenn  er  meint,  daß  die  Orthopnoe  der  Herzkranken 
nicht  von  einem  einzigen  Punkte  aus  zu  erklären  ist.  Ich  möchte 
diesbezüglich  auf  ein  weiteres  Moment  Hinweisen,  nämlich  die 
Kompression  der  Cava  superior  in  der  Rückenlage  und  die  Ent¬ 
lastung  der  oberen  Kava  in  sitzender  Haltung  des  Kranken.  Bei 
solchen  Patienten  entleeren  sich  die  strotzend  gefüllten  Hals¬ 
venen  mit  einem  Ruck,  wenn  die  Kranken  sich  aufsetzen.  Bei 
Kranken  mit  chronischem  Chey ne- Stokes  habe  ich  wieder¬ 
holt.  mit  Erfolg  Kampferpräparate  zur  Anwendung  gebracht. 

Wogen  vorgerückter  Stunde  wurde1  das  Schlußwort  ries  Vor¬ 
tragenden  auf  die  nächste  Sitzung  verschoben. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  27.  April  1911. 

E.  Z  a  k  stellt  einen  23jährigen  Mann  mit  einem  k  o  n- 
genitalen  Vitium  vor.  Patient  hat  seit  einigen  Wochen  eine 
linksseitige  Rekurrenslähmung  und  etwas  Kurzatmigkeit.  Im 
15.  Lebensjahre  wurde  bei  ihm  ein  Vitium  cordis  festgestellt. 
Der  Kranke  zeigt  folgende  Symptome:  leichte  Zyanose,  Vor¬ 
wölbung  der  ganzen  Herzgegend,  Spitzenstoß  21  2  Querfinger 
außerhalb  der  Mamillarlinie  im  5.  Interkostalraum,  daselbst  dia¬ 
stolisches  Schwirren,  welches  im  2.  und  3.  Interkostalraum  am 
stärksten  ist.  Links  vom  Sternum  findet  sich  im  2.  Interkostal- 
raum  eine  Dämpfung.  An  der  Herzspitze  akzentuierter  1.  Fon 
und  ein  langgezogenes  Geräusch,  im  4.  Interkostalraum  nimmt 
es  einen  polternden  Charakter  an  und  ist  im  3.  Interkostalraum 
präsystolisch  verstärkt.  Der  2.  Pulmonalton  ist  kaum  akzen¬ 
tuiert.  Die  Bronchoskopie  ergibt  eine  Verengerung  des  linken 
Bronchus  an  einer  Stelle  bis  zu  einem  Querspalt  von  3  mm.  Es 
liegt  ein  kongenitales  Vitium  vor  (offener  Ductus  Botalli,  even¬ 
tuell  mit  Verengerung  der  Pulmonalis,  ferner  einer  Stenose  der 
letzteren).  Vielleicht  könnte  eine  aneurysmatische  Erweiterung 
der  Pulmonalis  mit  Beteiligung  des  Ductus  Botalli  vorliegen.  Die 
Röntgenaufnahme  ergibt  eine  Verschiebung  des  Oesophagus  und 
der  Aorta  nach  rechts  und  eine  Vergrößerung  des  Herzens. 

Rud.  Landesberg  führt  einen  46jährigen  Patienten  mit 
lokaler  Argyrie  vor.  Patient  hat  schon  als  Kind  viel  an 
Halsentzündungen  gelitten,  vor  5  Jahren  bekam  er  einen  ulze¬ 
rösen  Prozeß  im  Rachen  und  wurde  durch  viele  Monate  mit 
Lapis  behandelt.  Gegenwärtig  sieht  man  an  dem  Kranken  eine 
schiefergraue,  fast  bläulichgraue  Verfärbung  des  Mesopharynx,  der 
lateralen  Wand  des  linken  Sinus  pyriformis,  des  Zungengrundes, 
des  Ligamentum  pharyngo-epiglotticum,  der  Stimm-  und  Taschen¬ 
bänder,  des  Sinus  Morgagni  und  des  subglottischen  Raumes. 
Man  unterscheidet  eine  lokale  und  eine  allgemeine  Argyrie,  eine 
lokale  Behandlung  kann  auch  zur  allgemeinen  Argyrie  führen. 
Die  Hautfärbung  verschwindet  nicht  mehr.  Vortragender  empfiehlt, 
nach  Lapispinselungen  mit  Kochsalzlösung  zu  gurgeln  und  den 
Patienten  zu  ermahnen,  während  der  Pinselung  nicht  zu  schlucken. 

Fr.  Fuchs  stellt  einen  Mann  mit  Aortenbogenver¬ 
lagerung  und  fehlendem  Puls  in  der  linken  Ar- 
t  e  r  i  a  subclavia,  axillaris  und  r  a  d  i  a  1  i  s  vor.  Patien  t 
spürte  vor  7  Wochen  in  voller  Gesundheit  bei  der  Arbeit  plötz¬ 
lich  einen  heftigen  Schmerz  in  der  linken  Brustseite  und  kann 
seit  dieser  Zeit  den  Kopf  nicht  gerade  halten.  Die  Untersuchung 
ergab  leichte  Zyanose,  Caput  obstipum  nach  links  und  eine 
ziemlich  bedeutende  Struma.  Linkerseits  fehlt  der  Puls  in  den 
angegebenen  Gefäßen,  rechts  ist  derselbe  normal.  Das  Herz  ist 
nicht  verbreitert,  der  1.  Ton  an  der  Spitze  unrein,  sonst  findet 
sich  normaler  Befund.  Der  Musculus  cuccullaris,  supra-  und 
infraspinatus  sind  deutlich  atrophisch,  der  Umfang  der  linken 
Hand  überall  um  1  bis  lVa  cm  geringer  als  rechts,  auf  der 


ganzen  linken  Körperseite  bis  zur  Nabelhöhe  sind  Hypalgesie 
und  vollständiges  Fehlen  der  Wärmeempfindung  zu  konstatieren. 
Die  Röntgenuntersuchung  ergab,  daß  der  Aortenbogenschatten 
stark  nach  links  und  hinten  vorspringt,  ohne  daß  die  Aorta 
wesentlich  verbreitert  wäre.  Patient  gab  an,  daß  ihm  vor  einiger 
Zeit  der  Arm  plötzlich  ganz  kalt  und  weiß  geworden  sei  und 
daß  dieser  Zustand  durch  einige  Zeit  angedauert  habe;  dies 
würde  vielleicht  auf  eine  Embolie  der  Arteria  subclavia  hin- 
weisen.  Im  übrigen  kann  man  an  ein  Aortenaneurysma  oder 
eine  Verlagerung  der  Aorta  durch  einen  substernal  gelegenen 
Anteil  der  Thyreoidea  denken. 

Kreuz  fuchs  bemerkt,  daß  die  Symptome  wohl  die 
Vermutung  eines  Aortenaneurvsmus  aufkommen  lassen,  daß 
jedoch  intrathorazische  Strumen  zuweilen  ein  ähnliches  Bild 
erzeugen,  so  daß  die  Differentialdiagnose  auf  Schwierigkeiten 
stoßen  kann.  Dämpfung  über  dem  Sternum,  Pulsation  im  Jugulum, 
linksseitiges  Fehlen  des  Radial-  oder  Karotispulses,  Neuralgien 
oder  Parästhesien  des  linken  Armes  infolge  Druckes  auf  den 
Plexus  brachialis,  linksseitige  Rekurrensparese  und  Schling¬ 
beschwerden  kommen  bei  beiden  Krankheiten  vor.  Auch  das 
Röntgenbild  kann  auf  den  ersten  Blick  an  ein  Aneurysma  denken 
lassen,  wo  in  Wirklichkeit  nur  eine  substernale  Struma  besteht. 
Es  kann  auch  ein  Aneurysma  übersehen  werden,  da  beide 
Affektionen  nebeneinander  bestehen  können.  In  dem  vorgestellten 
Falle  handelt  es  sich  um  eine  Struma  intrathoracica  mit  Ver¬ 
drängung  der  Aorta.  Es  wäre  eine  Operation  wohl  angezeigt, 
doch  wäre  vielleicht  zuerst  ein  Versuch  mit  einer  Jodkur  zu 
machen.  In  jenen  Fällen,  bei  denen  ein  Aneurysma  nicht  mit 
Sicherheit  auszuschließen  ist,  erscheint  es  als  angezeigt,  über¬ 
haupt  nur  eine  Jod-  oder  eine  Röntgentherapie  einzuleiten,  tritt 
auf  eine  dieser  Behandlungsmethoden  eine  weitgehende  Besse¬ 
rung  ein,  dann  würde  dies  eher  für  eine  intrathorazische  Struma 
sprechen. 

Bondy  demonstriert  ein  anatomisches  Präparat  von  V  e  r- 
Schluß  der  tiefen  Beinvenen.  Es  stammt  von  einer 
Frau,  welche  an  hochgradiger  Herzinsuffizienz,  Oedemen  und 
Zyanose  litt.  Aus  der  rechten  Schenkelbeuge  kam  eine  bis  vier 
Querfinger  breite  Vene  hervor,  welche  an  der  Außenseite  bis 
zum  Knie  verlief;  sie  zeigte  eine  mit  dem  Herzen  synchrone 
Pulsation.  Bei  der  Obduktion  fand  man  alle  tiefen  Venen  des 
rechten  Oberschenkels  thrombosiert,  deren  Blut  durch  die  dicke 
Vene  abfloß ;  diese  zeigte  keinen  Zusammenhang  mit  einer 
Arterie. 

Dem.  Chilaiditi:  Zur  Palpationstechnik  des 
Abdomens,  zugleich  ein  Beitrag  zur  Mobilitäts¬ 
prüfung  der  Abdominalorgane.  Bei  dem  von  Holz¬ 
knecht  empfohlenen  „Baucheinziehen“  zur  Verschieblichkeits- 
prüfung  der  Abdominalorgane  unter  dem  Röntgenschirm  ist 
wegen  Kontraktion  der  Bauchdeckenmuskulatur  die  gleichzeitige 
Palpation  des  Abdomens  erschwert.  Um  dieses  für  die  radio¬ 
logische  Untersuchung  unentbehrlich  gewordene  Verfahren  auch 
am  Krankenbette  selbst  anwenden  zu  können,  muß  die  Palpation 
ermöglicht,  der  eingezogene  Bauch  also  „weich  1  sein.  Dies  kann 
dadurch  erreicht  werden,  daß  nach  einer  Exspiration  bei  Glottis¬ 
schluß  eine  forcierte,  thorakale  Inspirationsbewegung  (also  ohne 
Kontraktion  des  Zwerchfells  oder  der  Bauchdecken)  gemacht 
wird.  Dadurch  wird  das  Zwerchfell  stark  gehoben,  der  Bauch 
sinkt  ein,  „er  wird  eingesogen“;  die  Kontraktion  der  Bauch¬ 
muskulatur  ist  dabei  überflüssig,  der  Bauch  bleibt  weich.  Die 
Methode  eignet' sich  besonders  zur  Tiefenpalpation,  zur  Lokali¬ 
sierung  und  Verschieblichkeitsprüfung  der  Organe,  Druckpunkte 
und  Tumoren,  zum  Nachweis  von  Verwachsungen  letzterer  mit 
der  Bauchwand  usw.  Die  frei  beweglicheren  Organe  (Magen, 
Colon  transversum)  werden  bis  zu  20  cm  gehoben,  aber  auch 
die  fixierten  (Duodenum,  Flexuren  des  Dickdarms)  beteiligen  sich 
mehr  oder  minder  ausgiebig  an  dem  allgemeinen  Hochrücken. 
Die  bedeutende  Hebung  der  Organe  resultiert  nicht  nur  aus 
dem  Zwerchfellhochstand,  sondern  auch  aus  dem  Umstand,  daß 
durch  die  bei  der  thorakalen  Inspirationsbewegung  eingetretene 
Verbreiterung  der  Thoraxbasis  Raum  geschaffen  wird,  der  durch 
tiefer  gelegene' Organe  ausgefüllt  werden  muß. 

K.  v.  Noorden  glaubt,  daß  dieses  Verfahren  auch  eine 
therapeutische  Bedeutung  besitzt,  z.  B.  zur  Behandlung  von 
Adhäsionen. 

E.  S  t  o  e  r  k  hat  Fälle  beobachtet,  welche  nach  der  Methode 
des  Vortragenden  wegen  Darmatonie  behandelt  wurden.  Es  war 
eine  Besserung  zu  konstatieren.  Diese  wäre  vielleicht  so  zu  er¬ 
klären,  daß  durch  die  Hebung  des  Darmes  Knickungen  desselben 
ausgeglichen  werden,  so  daß  für  die  Fäzes  eine  leichtere  Passage 
geschaffen  wird.  Zirka  6  Fälle  von  Darmatonie  wurden  unter 


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dieser  Behandlung  nach  zehntägiger  Therapie,  hei  welcher  dreimal 
täglich  die  Inspirationen  vorgenommen  wurden,  geheilt. 

Dr.  Jonas:  U  e  b  e  r  die  Abhängigkeit  der  Dar  m- 
lu  otilität  vom  Verhalten  des  Magens  (speziell 
von  seinem  Säuregrad).  Vortragender  demonstriert  ein 
Material  von  36  Fällen  an  5  Tabellen  u.  zw.:  Achylia  simplex 
(ohne  Darmkatarrh),  Achylia  carcinomatosa  (resp.  karzinomatöse 
Pylorusstenose)  und  narbige  Pylorusstenose.  Darmkatarrh  (bei 
Achylikern  einerseits  und  normomotorischen  Normaziden  andrer¬ 
seits),  verschiedene  Säuregrade  des  Magens  ohne  Darmkatarrh, 
Ulcus  ventiiculi.  Die  Schlüsse,  zu  denen  Vortragender  auf  Grund 
klinisch-radiologischer  Untersuchungen  gelangt,  sind  folgende  : 
Für  das  Stuhlbild  ist  nicht  allein  die  Schnelligkeit  der  Passage 
durch  den  Darm,  sondern  auch  die  Empfindlichkeit  des  Rektums, 
seine  Fähigkeit,  Stuhldrang  auszulösen  (II  e  r  t  z),  maßgebend  ; 
hat  das  Rektum  diese  Fähigkeit  verloren,  dann  kann  es  trotz 
Hypermotilität  des  Darmes  zum  Liegenbleiben,  zur  Eindickung 
des  Stuhles  und  zum  Stuhlbild  der  Obstipation  kommen.  '  Kann 
daher  zwar  aus  dem  Vorhandensein  von  Diarrhöen  auf  beschleu¬ 
nigte  Darmpassage  geschlossen  werden,  so  ist  dagegen  der 
Schluß  aus  dem  Stuhlbild  der  Obstipation  auf  verlangsamte 
Passage  nicht  zulässig.  Die  Darmmotilität  zeigt  sich  im  allgemeinen 
von  der  Motilität  des  Magens  abhängig,  insofern  als  sich  bei 
Hypermotilität  des  Darmes  stets  auch  Hypermotilität  und  niemals 
Hypomotilität  des  Magens  fand  und  sich  bei  Hypomotilität  des 
Magens  niemals  Hypermotilität  des  Darmes  ergab.  Hypermotilität 
des  Darmes,  mindestens  in  seinen  oberen  Abschnitten  bis  zur 
Flexura  coli  lienalis,  fand  sich  bei  Achylie,  Ulkus,  (nervöser) 
Hypermotilität  des  Magens  und  Katarrh  des  Darmes ;  die  Hyper¬ 
motilität  der  oberen  Darmabschnitte  kann  jedoch  mit  normaler 
oder  verlangsamter  Passage  der  unteren  Darmabschnitte  ver¬ 
bunden  sein.  Ein  Hindernis  am  Magenausgang  narbiger,  karzi- 
nomatöser  oder  spastischer  Natur  verlangsamt  die  obere  Darm¬ 
passage  und  zwar  um  so  mehr,  je  hochgradiger  es  ist.  Ein 
bestimmtes  Verhältnis  zwischen  dem  Säuregrad  des  Magens  und 
der  Motilität  des  Darmes  besteht  nicht. 


Wiener  laryngo-rhinologische  Gesellschaft. 

Sitzung  vom  8.  März  1911. 

Vorsitz:  Hofrat  Prof.  Chiari. 

Schriftführer  :  Dr.  0.  Hirse  h. 

Der  Präsident  hält  dem  verstorbenen  Sanitätsrat  Doktor 
Hennig  in  Königsberg  einen  Nachruf. 

Dr.  Menzel  demonstriert  eine  Hemmungsmißbildung  der 
Nase  mit  unvollständiger  doppelseitiger  Atresie  der  vorderen 
Nasenöffnungen;  der  Fall  zeigt  ferner  auch  ein  Nichtvorhanden¬ 
sein  des  Filtrums  des  Nasenfortsatzes  mit  dem  Processus  alveolaris, 
so  daß  eine  Kommunikation  des  vorderen  Nasenanteiles  mit  dem 
Vestibulum  oris  in  der  Gegend  des  Zwischenkiefers  besteht.  Ein 
Versuch,  die  Kommunikation  operativ  zu  schließen,  führte  nicht 
zum  Ziele  und  schließlich  ist  ein  Defekt  im  Septum  cartilagineum 
vorhanden,  der  durch  eine  vom  Nasenrücken  zum  Nasenboden 
ziehende  Hautbrücke  in  zwei  Hälften  geteilt  wird. 

Die  von  den  Priv.-Doz.  Glas  und  Roth  erwähnten  Ge¬ 
sichtsnarben  sowie  die  Narben  an  der  Oberlippe  und  im  Introitus 
nasi  führt  Redner  auf  Variola  und  die  vorgenommene  Operation 
zurück. 

Dann  stellt  Dr.  Menzel  zwei  Fälle  von  Stirnhöhlen¬ 
eiterung  vor,  in  denen  eine  konservative  Behandlung  zur 
Heilung  führte.  Es  war  nebst  heftigen  Kopfschmerzen  und  Fieber 
bis  39',  Rötung  und  Schwellung  des  oberen  Augenlides  vor¬ 
handen  und  in  dem  einen  def  Fälle  kam  späterhin  nach  Ablauf 
dieser  Schwellung  eine  haselnußgroße  Geschwulst  an  der  unteren 
Stirnhöhlenwand  zum  Vorschein.  Resektion  des  vorderen  Endes 
der  mittleren  Muschel,  Sondierung,  die  in  dem  zweiten  Falle 
erst  am  nächsten  Tag  gelang  und  Ausspülung,  sowie  Ausräumung 
des  vorderen  Siebbeinlabyrinthes  führte  bald  Rückgang  aller 
Erscheinungen  herbei.  Die  haselnußgroße  Schwellung,  die  Redner 
für  einen  Abszeß  hält,  ging  binnen  zwei  Tagen  zurück.  In  der 
Diskussion  bemerkt  Priv.-Doz.  Dr.  Roth,  daß  er  schon  wieder¬ 
holt  betont  habe,  eine  radikale  Operation  sei  in  derartigen 
Fällen  nicht  absolut  notwendig  und  man  soll  vorerst  versuchen, 
mit  konservativen  Methoden  auszukommen. 

Auch  Priv.-Doz.  Fein  sieht  in  dem  Umstande,  daß  Lid¬ 
ödem  vorhanden  ist,  noch  keine  Indikation  zur  Vornahme  eines 
radikalen  Eingriffes. 

Ebenso  spricht  sich  Prof.  R  e  t  h  i  bei  akuten  Empyemen, 
selbst  wenn  Lidrötung  und  Schwellung  vorhanden  ist,  vorerst 
für  ein  konservatives  Vorgehen  aus  und  nur  wenn  man  damit 


nicht  reüssiert  oder  schwere  Erscheinungen  seitens  der  Meningen 
etwa  drohen,  soll  von  außen  eröffnet  werden.  Selbst  eine  partielle 
Lonchotomie  ist  nur  selten  notwendig.  Im  zweiten  demonstrierten 
falle  kann  es  sich  nicht  um  einen  Abszeß  gehandelt  haben,  da 
eine  Resorption  binnen  zwei  Tagen  nicht  möglich  ist. 

Priv.-Doz.  Glas  zeigt  einen  Patienten  mit  Aneurysma  der 
lec  den  Artena  pharyngea  ascendens.  Pulsation  im  Meso-  und 
Epipharynx.  Hofrat  Chiari,  Prof.  Rethi  und  Dr.  Hirsch 
sprechen  sich  gegen  Aneurysma  und  für  eine  verlagerte  Arteria 
pharyngea  ascendens  aus. 

Dr.  Hutter  stellt  eine  Patientin  vor,  mit  Zerstörung  des 
Vomer  und  des  Nasenbodens.  Wulstig-narbige  Beschaffenheit  der 
Epiglottis  und  Narben  vom  seitlichen  Zungengrund  zur  hinteren 
Rachenwand.  Die  früher  bestandenen  Infiltrate  und  Geschwüre 
sollen  seinerzeit  —  Redner  sah  damals  die  Patientin  nicht  — 
ein  typisch  tuberkulöses  Aussehen  gehabt,  haben.  Tuberkulin¬ 
injektionen  wirkten  günstig.  Abendliches  Fieber,  Spitzeninfiltration. 
Von  Lues  sollen  nie  Anzeichen  vorhanden  gewesen  sein.  Der¬ 
artige  Zerstörungen  auf  tuberkulöser  Grundlage  seien  sehr  selten. 

Priv.-Doz.  Glas  betont  die  Wichtigkeit  einer  histologischen 
und  einer  Blutuntersuchung. 

Dr.  Hirsch  frägt,  ob  es  sich  nicht  um  eine  Oberkiefer¬ 
periostitis  mit  Nekrose  handeln  könne. 

Dr.  Hutter  meint,  eine  Wassermann  -  Probe  werde 
nachgehoH  werden,  eine  Probeexzision  dürfte  aber  bei  dem  jetzt 
bestehenden  narbigen  Gewebe  kein  entscheidendes  Resultat  er¬ 
geben.  Linen  dentalen  Ursprung  hält  er  für  sehr  unwahrscheinlich. 

Dann  stellt  Dr.  Hutter  einen  Patienten  mit  Lichen  ruber 
planus,  bzw.  Lichen  corneus  planus  an  den  Unterschenkeln  vor, 
bei  dem  sich  an  der  Wangenschleimhaut  matt-weißliche  Herde 
tinden,  die  aus  rundlichen  streifenförmigen  und  flächenhaften 
Ettloreszenzen  zusammengesetzt  sind.  Es  ist  das  Bild  einer 
netzförmigen  Anordnung  vorhanden.  Bei  näherer  Betrachtung 
erkennt  man  als  primäre  Herde  minimale  weiße  Stippchen,  die 
sich  zu  Linien  aneinanderreihen  und  zu  Feldern  konfluieren. 
Die  Mukosa  fühlt  sich  rauh  an.  Die  Umgebung  zeigt  keinerlei 
Entzündung.  Es  handelt  sich  um  einen  Lichen  ruber  planus  der 
Mundschleimhaut. 

Piiv.-Doz.  Roth:  Ohne  diese  Hautveränderungen  wäre 
uei  die  Diagnose  nicht  leicht,  weil  die  Veränderungen  an  der 
Schleimhaut  nicht  so  charakteristisch  sind,  daß  man  sie  von  der 
Leukoplakie  unterscheiden  könnte. 

Dr.  Hutter  glaubt,  daß  die  charakteristische  Zeichnung 
und  Genese  aus  kleinsten  Knötchen  doch  eine  Unterscheidung 
treffen  lasse. 

Priv.-Doz.  Kahler  demonstriert  einen  Patienten,  bei  dem 
er,„  e  zePhale  Stirnhöhlenoperation  nach  Grünwald  aus¬ 
geführt  hat.  Nach  vorheriger  konservativer  Behandlung  wurde 
vorerst  links,  später  rechts  die  Radikaloperation  nach  Killian 
vorgenommen.  Wegen  neuerlicher  Schmerzen  nochmalige  Er¬ 
öffnung  beiderseits.  Rechts  fand  sich  die  Stirnhöhle  fast  ganz 
verödet,  nur  außen  unter  dem  Processus  zygomaticus  war  eine 
kirschgroße  Eiterhöhle  vorhanden.  Resektion  des  Processus 
zygomaticus  und  nach  dem  Vorschlag  Grün  walds  des  Septum 
interfrontale  gegen  die  Nase  zu,  sowie  eines  großen  Teiles  der 
Lamina  perpendicularis.  Breite  Kommunikation  mit  der  Nase. 
Heilung. 

Ferner  zeigt  er  einen  Schädel  mit  Asymmetrie  der  Augen¬ 
höhlen,  an  dem  in  frühester  Jugend  der  linke  Bulbus  enukleirt 
wurde.  Man  sieht  bedeutende  Verengerung  der  linken  Orbita, 
hauptsächlich  infolge  von  Erweiterung  der  Nebenhöhlen  dieser 
Seite. 


Aerztlicher  Verein  in  Brünn. 

Sitzung  vom  20.  März  1911. 

Dr.  Schönfeld  demonstriert:  1.  einen  Fall  von  Mongo¬ 
lismus,  hebt  die  ckarakteristischen  somatischen  Symptome 
dieses  Krankheitstypus  hervor,  welche  die  vorgestellte  Kranke 
aufweist,  erwähnt  die  ätiologischen  Momente,  als  welche  hier 
Alkohol  und  Tuberkulose  neben  psychischer  hereditärer  Belastung 
in  Betracht  kommen  und  weist  auf  einige  bei  der  Kranken  inter¬ 
essante  Vorkommnisse  hin,  so  auf  das  beim  Mongolismus  bisher 
kaum  beobachtete  hohe  Alter  von  58  Jahren,  ferner  auf  den 
Umstand,  daß  die  Patientin  sechs  normale  Geburten  überstand, 
schließlich  auf  die  eigentümliche  an  Dementia  praecox  gemah¬ 
nende  Verlaufsform  der  Psychose,  welche  durch  die  jahrelange 
Persistenz  von  Halluzinationen  in  visu  et  auditu,  impulsiven 
Akten  und  Stereotypien  bemerkenswert  ist.  Endlich  wird  auf  das 
seltene  Vorkommen  des  mongoloiden  Schwachsinns  im  Lande 
Mähren  hingewiesen.  2.  Zwei  Fälle  von  juvenilerParalyse. 


732 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  20 


I.  Antonie  P.,  18  Jahre  alt,  stammt  von  einem  auf  Potus 
und  Lues  verdächtigen  Vater,  die  Mutter  hat  zweimal  abortiert, 
starb  beim  dritten  Abortus.  Die  Annahme  von  Heredolues  hei  der 
Kranken  findet  durch  den  positiven  Ausfall  der  Was  s  er  man  n- 
schen  Reaktion  ihre  Bestätigung.  Pat.  war  schon  in  der  Schule  schwer 
begrifflich,  versagte  nachher  ganz,  nachdem  sie  noch  einige  Zeit 
als  Fabriksarbeiterin  sich  verwenden  ließ.  Erwähnenswert  ist 
das  Ausbleiben  der  Menses;  dagegen  trat  zu  Beginn  des  17. Lebens¬ 
jahres  immer  am  Monatsanfang  „vikariierendes  Nasenbluten  ‘  auf, 
welches  einige  Tage  dauerte;  als  dieses  sistierte,  motorische 
Unruhe  mit  Verwirrtheitszuständen  und  akuter  Ausbruch  der 
Psychose. 

II.  Der  Vater  des  zweiten  Kranken,  Rudolf  N.,  21  Jahre, 
starb  an  progressiver  Paralyse  in  der  Irrenanstalt.  Wasser- 
m an n sehe  Reaktion  negativ,  dagegen  Lymphozytose  der  Lumbal- 
II üssigkeit..  Der  schwach  veranlagte  Kranke  brachte  es  bloß  bis 
zur  2.  Schulklasse.  —  Gemeinsam:  Die  rechte  Pupillenweite; 
träge  Lichtreaktion. 

In  beiden  Fällen  Stillstand  der  körperlichen  Entwicklung, 
ferner  motorische  Reiz-  und  Ausfallserscheinungen  (Reflexe,  insbe¬ 
sondere  Patellarsehnenreflex  bei  beiden  Kranken  gesteigert,  Babinski 
in  Fall  I  positiv),  paralytische  Lähmung  der  Beine  in  Fall  II.  Bei 
beiden  ataktische  Störungen  und  typische  paralytische  Störungen 
der  Sprache  und  Schrift. 

In  psychischer  Hinsicht  bei  beiden  euphorische  Grund¬ 
stimmung,  Mangel  von  Größenideen.  Bei  Fall  II  gelegentlich 
plötzlicher  Stimmungswechsel.  Einmal  wurde  ein  durch  Halluzi¬ 
nationen  und  Nostalgie  bedingter  Erregungszustand  beobachtet. 
Beiden  Kranken  gemeinsam  die  hochgradigen  Intelligenz-  und 
Gedächtnisdefekte,  bei  Fall  II  herrscht  Neigung  zur  Konfabulation. 
Bei  demselben  Patienten  ist  der  lange  schleppende  Verlauf  mindestens 
durch  10  Jahre  bemerkenswert. 

Oberarzt  Dr.  S 1  a  n  i  n  a  demonstriert  eine  Contrecoup- 
fraktur  des  Unterkiefers.  Es  handelt  sich  um  einen 
Wachtmeister,  der  durch  Steinwurf  an  der  linken  Gesichtshälfte 
verletzt  wurde;  daselbst  deutliche  Spuren  der  Gewalteinwirkung 
(Exkoriation,  Suffusion,  Schwellung).  An  der  rechten  Seite  des 
Unterkiefers  hinter  dem  Eckzahne  eine  quere  Zusammenhangs¬ 
trennung  des  Knochens.  Die  Deviation  der  Fragmente  wurde 
mittels  Aluminiumbronzedrahtligierung  aufgehoben  und  durch 
diese  Fixation  der  Bruchstücke  der  Kauakt  ermöglicht. 

Primarius  Mager  demonstriert:  1.  Eine  37jährige  Tag¬ 
löhnerin  mit  Tetanie,  bei  der  das  Schlesingersche  Phänomen 
an  den  Beinen  deutlich  ausgesprochen  erscheint. 

2.  Eine  Patientin,  bei  der  nach  S  al  v  a  r  s  an  Injektionen 
in  die  Glutäalmuskulatur  beiderseits  tiefe  schmerzhafte  Infiltrate 
6  Wochen  nach  der  Injektion  noch  vorhanden  sind.  Es  scheint, 
wie  bekannt,  relativ  häufig  nach  intramuskulären  Salvarsanin- 
jektionen  zu  diesen  Infiltraten  zu  kommen,  weshalb  in  der 
Salvarsantherapie  der  intravenösen  Applikation  dieses  Mittels 
der  Vorzug  zu  geben  wäre. 

3.  Eine  48jährige  Frau,  mit  Myxödem. 

4.  Ein  11  jähriges  Mädchen  mit  Sklerodermie,  welches 
bereits  in  einer  früheren  Sitzung  vorgestellt  wurde  und  nunmehr 
nach  Behandlung  mit  Thyreoidin  intern  und  Thyosinamin  in 
Salbenform  ein  starkes  Zurückgehen  der  Hautveränderungen  dar¬ 
bietet.  Die  Haut  hat  bereits  größtenteils  eine  normale  Beschaffen¬ 
heit  und  läßt  nur  fleckenweises  Vorhandensein  der  Sklerodermie 
erkennen. 

Prof.  Dr.  Sternberg  demonstriert  den  Thorax  eines 
Falles  von  kongenitaler  Trichterbrust.  Es  handelte 
sich  um  ein  7  Tage  altes  Mädchen,  so  daß  hier  wohl  die  land- 
■  läufigen  Erklärungen,  Rachitis,  ßzw.  Einfluß  von  Berufsschädlich¬ 
keiten  („Schusterbrust“,  „Töpferbrust“  etc.)  wegfallen ;  weder  in 
der  väterlichen  noch  in  der  mütterlichen  Aszendenz  des  Kindes 
kam  diese  Veränderung  vor;  der  Vater  ist  Bäcker.  Vortr.  erinnert 
an  die  Untersuchungen  von  March  and,  sowie  an  die  in  jüngster 
Zeit  erschienene Arbeitvon  Verse,  der  die  Trichterbrust  auf  Wachs¬ 
tumsanomalien  namentlich  des  Sternums  zurückführt. 

Regimentsarzt  Dr.  Richard  Po  llak  bespricht  den  Wert 
an t hr opo met  rischer  Messungen  für  präzisere 
Beurteilung  der  Rüstigkeit.  Die  vom  französischen 
Militärärzte  Pignet  angegebene  Methode  wurde  nach  Publi¬ 
kationen  Glasers  im  Heere  eingeführt  und  dürfte  auch  sonst  für 
Aerzte,  die  nach  Akten  Gutachten  abzugeben  haben,  von  Wert 
sein.  Man  erhält  den  „Pignetschen  Index“,  indem  man  von  der 
Körperlänge  (in  Zentimetern)  das  Körpergewicht  (in  Kilogrammen) 
und  den  Brustumfang  bei  tiefster  Ausatmung  (in  Zentimetern) 
subtrahiert.  Je  niedriger  dieser  Wert,  desto  größer,  je  höher  er 
ist,  desto  geringer  ist  die  Widerstandskraft  desbetreffendenMenschen. 
Auf  Grund  von  ca.  1500  Messungen,  die  beim  Inf.-Rgint.  Nr.  49 


ausgeführt  wurden,  berichtet  P ollak  über  die  Schwankungen,  denen 
der  Rüstigkeitsindex  durch  verschiedene  Einflüsse  ausgesetzt  ist. 

Die  Pignetsche  und  Sistinische  Skala,  die  in  rnner  Arbeit  des 
Regimentsarztes  Gustav  P ollak  im  „Militärarzt“  angeführt  sind, 
kann  dort,  wo  es  nur  auf  Uebersicht  und  Unterstützung  sub¬ 
jektiver  Ansicht  ankommt,  derart  vereinfacht  werden,  daß  ein 
Index  bis  15  gute,  bis  25  mittlere  und  darüber  mindere  Körper¬ 
rüstigkeit  anzeigt.  Die  Vergleiche  verschiedener  Berufe  ergaben, 
daß  Bauern,  Fleischhauer,  Kellner  und  Bäcker  zum  größten  Teile 
in  die  erste,  Schneider,  Friseure,  Studenten  in  die  letzte  Gruppe 
gehören.  Beobachtungen  an  Leuten,  die  nicht  zum  Militärdienste 
gelangen,  könnten  hier  interessante  statistische  Tabellen  ergeben. 
Der  Einfluß  des  Militärdienstes  machte  sich  bei  Rekruten  derart 
günstig  bemerkbar,  daß  eine  Reihe  bei  der  Einrückung  Minderer 
nach  der  Ausbildung  bereits  in  die  Gruppe  der  Guten  eingereiht 
werden  konnte.  Vortragender  verweist  auf  die  im  „Militärarzt 
publizierten  Arbeiten  von  Gustav  Po  llak  und  Dozent  Livi.  Venn 
ersterer  der  Ansicht  ist,  daß  bei  der  Assentierung  Indexgrenz¬ 
werte  fixiert  werden  mögen  und  letzterer  die  entgegengesetzte 
Ansicht  vertritt,  dürfte  als  Mittelweg  der  Vorgang  beobachtet 
werden  können,  daß  Vergleiche  der  Messungen  „Minderer“  bei 
der  Einrückung  und  nach  der  Ausbildung  gute  Uebersichtsdaten 
für  die  Beurteilung  der  Tauglichkeit  bieten  könnten.  Auch  bei 
Auswahl  von  Mannschaft  zur  Polizei,  Fiannzwache  etc.  könnte 
analog  vorgegangen  werden.  aP 

Stadtphysikus  L.  R.  Dr.  Kok  all:  Ueber  einige  sani¬ 
täre  Anlagen  der  Stadt  Brünn  (mit  Demonstrationen 
von  Photographien). 

Nach  einleitenden  Worten  über  die  sanitären  Verhältnisse 
der  Stadt  Brünn,  bespricht  Vortragender  die  Vorteile  der  neuen 
Wasserleitung  aus  Quellhütten,  das  System  der  Abwässerreini¬ 
gung  nach  Oberbaurat  A  b  t,  welches  sich  in  den  Probeversuchen 
sehr  gut  bewährt,  geht  hierauf  auf  die  Schilderung  der  staub¬ 
freien  Kehrichtabfuhr  über,  bespricht  die  große  Müllverbrennungs-  j 
anlage  und  demonstriert  an  der  Hand  von  Photographien  die 
Kanalanlagen.  An  schematisch  dargestellten  Zeichnungen  skizziert 
der  Vortragende  das  Sterblichkeitsverhältnis  nach  jenen  Bezirken,  ; 
wo  am  meisten  Tuberkulose  und  wo  Darmkatarrhe  auftreten,  j 
ebenso  an  weiteren  Tabellen,  wo  am  häufigsten  Infektionskrank-  I 
lieiten  wie  Scharlach,  Diphtherie,  Masern  und  lyphus  sich  I 
zeigen,  er  hebt  hervor,  daß  die  Mortalität  eine  sehi  gelinge 
geworden  ist  und  daß  zur  Schulzeit  regelmäßig  ein  Ansteigen 
der  Infektionskrankheiten  festzustellen  ist. 

Vortragender  geht  zur  Besprechung  der  Desinfektionsanstalt 
über,  durch  welche  es  unter  anderem  auch  ermöglicht  wird, 
mittels  transportabler  Badewägen  für  Rekonvaleszenten  nach 
Infektionskrankheiten  in  ihren  Wohnungen  Bäder  auf  Kosten  der 
Gemeinde  zu  verabreichen. 

An  der  Hand  zahlreicher  Photographien  zeigt  Vortragender 
die  Körperbeschaffenheit  der  Brünner  Schuljugend.  Die  neu  er¬ 
bauten  Schulen  mit  ihren  großen  lichten  Zimmern  und  S.ilen, 
sowie  den  in  einzelnen  Schulen  vorhandenen  Werkstätten  werden 
an  anderen  Bildern  demonstriert,  ebenso  die  in  mehreren  Schulen 
vorhandenen  Brausebäder  und  die  in  den  Kindergärten  vor¬ 
handenen  Einrichtungen.  .  I 

Redner  bespricht  hierauf  die  Wohlfährtsinstitute  in  Gurein, 
Ullersdorf,  Wohautschitz  und  Neu -Leskau,  wo  jährlich  viele 
Kinder  ihre  Ferienzeit  verbringen. 

Hierauf  werden  Bilder  der  öffentlichen  Parkanlagen  und 
Schrebergärten  gezeigt.  Endlich  bespricht  der  Vortragende  das 
musterhaft  eingerichtete  städtische  Kinderschutzamt,  das  Asyl 
für  Obdachlose  und  die  von  einer  Fabrik  eingerichtete  Fürsorge¬ 
stelle  für  Säuglinge  (Fabriksstillkrippe). 

28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin 

vom  19.  bis  22.  April  zu  Wies  baden. 

II.  Sitzung  vom  20.  April  1911,  vormittags. 

Referent:  K.  Reicher -Berlin. 

(Fortsetzung.) 

III. 

E.  A 1  b  r  c  c h  t -  Oeynhausen  :  Ueber  einseitige  Druck¬ 
änderung  der  Lungenluft  als  Hilfsmittel  für; 

Diagnose  und  Therapie  von  Herzerkrankungen. 

Bei  Ausatmung  oder  Einatmung  in  verdünnter.  Luft  werden 
die  Lungenkapillaren  passiv  stärker  mit  Blut  gefüllt,  dagegen 
durch  Ex-  oder  Inspiration  in  komprimierter  Luft  verengt.  Man 
vermag  daher  mit  Hilfe  einseitiger  Druckänderungen  der  Lungen¬ 
luft  und  zwar  durch  Kombination  von  Luftverdünnung  und 
-Verdichtung  bei  In-  und  Exspiration  den  unterstützenden  Ein- 


Nr.  20 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911, 


73B  ' 


lluß  der  Atmung  auf  die  Zirkulation  iin  Lungenkreislauf  direkt 
nachzuahmen  und  damit  die  Strömung  im  kleinen  Kreislauf 
beliebig  zu  beschleunigen  oder  zeitweilig  zu  verlangsamen.  Diese 
Strömungsbeschleunigung  setzt  sich  auf  das  Herz  selbst  fort  und 
es  gelingt  daher,  bei  langdauernder  Anwendung  der  kombinierten 
Methode  Dilatatipnen'  des  rechten  wie  des  linken  Herzens  zu 
verringern,  Arhythmien  zu  bessern.,  frustane  Kontraktionen 
seltener  zu  machen  etc.  Die  Pulsfrequenz  sinkt,  die  Herzkraft 
steigt  allmählich-  und  etwaige  Stauungen,  Oedem  u.  dgl.  gehen 
zurück.  Ausatmung  in  verdünnte  Luft  führt  erst  bei  ange¬ 
schlossener  Einatmung  komprimierter  Luft  zum  Ziele.  Ein  schwaches 
Herz  wird  entgegen  bestehenden  Lehrmeinungen  durch  vermehrte 
Arbeitsanforderung  nicht  gestärkt,  sondern  im  Gegenteil  geschwächt. 
Dagegen  beseitigt  Verringerung  der  Füllung  des  linken  Herzens 
nach  und  nach’  die  Dilatation  sowohl  bei  Klappenfehlern,  idio¬ 
pathischen  Herzhypertrophien  und  Myokarditis  als  auch  bei 
Kropf.  Ueber  eine  Druckgröße  von  +  3  mm  Hg  des  wirklichen 
Barometerstandes  hinausgehen,  ist  nicht  ratsam.  Kontraindiziert 
ist  die  Methode  bei  allen  akuten  Erkrankungen,  vor  allem  bei 
Verdacht  auf  Thrombenbildungen. 

Diskussion:  Kuhn-  Biebrich :  Die  Behandlung 
von  Herzschwächezuständen  und  Stauung  im 
Vejiengebiete  durch  negativenDruckin  derBrust- 
höhle.  Kuhn  hebt  die  Vorzüge  seiner  Saugmaske  bei  Be¬ 
handlung  von  Herzkrankheiten  hervor. 

Ge  r  h  a  r  d  t  -  Basel  hat  bei  Versuchen  zur  Kontrolle  der 
K  ro  n  e  c  k  e  r  sehen  Theorie  der  Bergkrankheit  eine  bedeutende 
Strömungsbegünstigung  in  der  Lunge  bei  Unterdruckatmung  ge¬ 
funden  und  damit  ist  eine  wesentliche  Erleichterung  der  Arbeit 
des  rechten  Herzens  gegeben.  Bei  Herzkranken  hat  Gerliar  d  t 
auch  sehr  gute  Erfolge  bei  Exspiration  in  verdünnte  Luft  gesehen, 
dagegen  äußert  er  Bedenken  gegen  die  Ausatmung  in  verdichtete 
Luft,  sie  könnte  durch  außerordentliche  Erschwerung  der  Arbeit 
des  rechten  Herzens  schließlich  zu  Erlahmung  desselben  führen. 

Albrecht  (Schlußwort)  hat  bei  Mitralfehlern,  Aorten¬ 
klappenfehlern  und  Kompensationsstörungen  mit  der  K  u  h  n  sehen 
Maske  keine  Erfolge  gesehen,  vielmehr  schädige  sie  durch  Er¬ 
schwerung  der  physiologischen  Inspiration  direkt  ein  schwaches 
Herz. 

E.  Hering-  Prag  :  D  i  e  monotope  und  heterotope 
Automatie  des  Herzens. 

Die  monotopen  Ursprungsreize  entwickeln  sich  am  K  e  i  t  h- 
Flack  sehen  Knoten,  bei  den  heterotopen  unterscheiden  wir 
aurikuläre,  ventrikuläre  und  atrioventrikuläre.  Lokalisieren  können 
wir  die  Ursprungsreize  durch  gleichzeitiges  Aufzeichnen  von 
Arterien-  und  Venenpuls.  Die  Lokalisation  kann  transversal  oder 
longitudinal  erfolgen.  Schlagen  Kammern  und  Vorhöfe  gleich¬ 
zeitig  oder  fast  gleichzeitig,  dann  liegt  der  Ursprungsreiz  im 
l’awara sehen  Knoten.  Die  heterotopen  Ursprungsreize  in  den 
Vorhöfen  kann  man  nur  mit  dem  Elektrokardiogramm  lokali¬ 
sieren,  muß  aber  auf  Ausgangspunkt,  Ableitung  und  Lage  des 
Herzens  achten.  Heterotope  Ursprungsreize  treten  auf,  wenn  die 
normalen  sich  selten  oder  gar  nicht  entwickeln,  oder  die 
heterotopen  stärker  sind  als  die  normalen  oder  endlich  bei 
Ueberleitungsstörungen,  z.  B.  bei  Dissoziationen.  Sehr  viele  Fälle 
von  Extrasystolie  beruhen  auf  heterotopen  Ursprungsreizen.  Das 
Verständnis  einer  nervösen  Extrasystolie  ist  unserem  Ver¬ 
ständnisse  heute  näher  gerückt.  Die  Extrasystolen  nach  Vagus- 
und  nach  Akzeleransreizung,  ebenso  die  paroxysmale  Tachykardie 
führt  H  e  r  i  n  g  auf  heterotope  Ursprungsreize  zurück.  ■ 

Diskussion:  Nicolai  - Berlin  :  Die  vom  Vortragenden 
heute  zugestandene  Bedeutung  des  Elektrokardiogramms  für  die 
Lokalisation  schließt  den  Widerruf  seiner  im  Vorjahre  abgegebenen 
gegenteiligen  Erklärung  in  sich. 

Hoffmann  -  Düsseldorf :  Die  Anfälle  von  paroxysmaler 
Tachykardie  gehen  von  ganz  verschiedenen  Ausgangspunkten 
>us,  die  man  mit  Hilfe  des  Elektrokardiogramms  differenzieren 
Vann.  Hoffmann  freut  sich,  daß  Herr  Nicolai  nicht  mehr 
von  Kontraktions-,  sondern  von  Erregungsablauf  spricht. 

V  o  1  h  a  r  d  -  Mannheim  :  Durch  intravenöse  Strophanthin- 
njektionen  lassen  sich  die  Anfälle  von  paroxysmaler  Tachykardie 
regelmäßig  prompt  beseitigen. 

Ni  e  o  1  ai-  Berlin  :  Das  Elektrokardiogramm  ist  der  Aus¬ 
huck  der  Aktion  des  Herzens,  dazu  gehört  die  Erregung,  der 
hemische  Umsatz,  die  Wärmebildung,  die  mechanische  Kon- 
raktion  und  schließlich  das  elektrische  Aequivalent :  alles  dies 
iSt  ein  einheitlicher  Vorgang  und  man  kann  nicht  die  Erregung 
’der  die  Kontraktion  einzeln  herausgreifen,  mein  Ausdruck  sollte 
lalier  keine  Konzession  bedeuten. 

R  h  o  m  b  e  r  g  -  Tübingen  :  Ueber  die  Entstehung  der  Ur- 
’Prungsreize  im  K  e  i  t  h  -  F  1  a  k  sehen  Knoten  sind  wir  uns  alle 


einig,  dagegen  konnte  J  ä  g  e  r  in  der  Tübinger  Klinik  nachweisem 
daß  entgegen  Mackenzies  Ansicht  Verschorfung  des  Simus- 
vnotens  nicht  genügt,  um  perpetuelle  Arhythmie  auszulösen, 
mehr  wollte  Jäger  damit  nicht  behaupten. 

Gerhardt  -  Basel  :  Magnus-Aisleben  wies  mit  Durch- 
schneidungsversuchen  nach,  daß  das  Herz  in  derselben  Weise 
wenn  auch  ein  wenig  langsamer  weiterschlagen  kann,  auch  wenn 
der  K  e  i  t  h  -  F 1  a  k  sehe  Knoten  nicht  mehr  da  ist.  Trotzdem 
kommt  ihm  normaliter  jedenfalls  eine  führende  Rolle  zu.  Durch 
Heizung  dei  Nasenschleimhaut  konnte  Gerhardt  nicht  wie 
andere  Autoren  Extrasystolen  erzielen. 

Hering  (Schlußwort)  hält  die  schon  Knoll  bekannt  ge¬ 
wesenen  Extrasystolen  nach  Reizung  der  Nasenschleimhaut  für 
echte,  aber  nicht  beweisend  für  etwaigen  nervösen  Ursprung,  da 
sie  auch  nach  Vagus-  und  Akzeleransdurchschneidung  zustande 
kommen. 

An  der  Bedeutung  der  K  e  i  t  h  -  F  1  a  c  k  sehen  Knoten  als 
Sitz  des  Ursprungsreizes  hält  Hering  fest. 

Fleischmann  -  Berlin :  Die  Erregbarkeit  der 
Herznerven  bei  kropfigen  undschilddrüsen losen 
Tieren. 

Es  bestand  bisher  ein  auffallender  Widerspruch  zwischen 
Klinik  und  Experiment,  indem  die  Zirkulationsstörungen  des 
Hyperthyreoidismus  beim  Menschen  bei  schilddrüsenlosen  und 
kropfigen  Tieren  (nach  Cyon)  sich  wiederfinden  sollten.  In 
dankenswerter  Weise  hat  Fleischmann  diesen  unerklärlichen 
Gegensatz  aus  der  Welt  geschafft.  Es  ist  tatsächlich  bei  diesen 
Tieren  die  Erregbarkeit  des  Vagus  und  Depressor  gesteigert,  der 
Puls  auffallend  verlangsamt  und  der  Blutdruck  erniedrigt.  Die 
besonders  intensive  Atropinwirkung  beruht  bei  ihnen  auf  ver¬ 
langsamter  Entgiftung  im  Blute.  Jodnatriumlösungen  entfalten 
nach  Thyreoidektomie  keine  besondere  Wirkung. 

H  o  k  e  -  Franzensbad  und  R  i  h  1  -  Prag  :  Experimentelle 
Untersuchungen  über  dieBeeinflussung  d  e  r  K  r  e  is¬ 
la  u  f  o  r  g  a  n  e  und  der  Atmung  durch  das  Salvarsan. 

In  Bezug  auf  die  Kreislauf organe  ist  Dyperideal  ungefähr 
zwanzigmal  so  giftig  als  Salvarsan,  Ideal  steht  in  der  Mitte 
zwischen  beiden.  Bei  alkalischer  Lösung  tritt  die  Drucksenkung 
langsamer  ein. als  bei  saurer.  Für  die  Drucksenkung  ist  nicht  das 
Herz  verantwortlich  zu  machen,  da  noch  bei  ganz  minimalem 
Druck  unmittelbar  vor  dem  Tode  Abklemmung  der  Aorta  eine 
erhebliche  Drucksteigerung  zur  Folge  hat,  sondern  im  wesent¬ 
lichen  eine  zentrale  bedingte  Wirkung  auf  den  Gefäßtonus.  Die 
reflektorische  Erregbarkeit  erlischt  nämlich  früher,  während  die 
periphere  bis  in  die  letzten  Momente  des  lebenden  Tieres  er¬ 
halten  bleibt.  Die  Kreislaufwirkung  ist  demnach  im  wesentlichen 
eine  Arsenwirkung,  wie  sie  schon  Pistorius  für  die  arsenige 
Säure  hat  zeigen  können. 

Diskussion:  Hering:  Es  wäre  interessant,  ob  der 
verschiedenen  organotropen  auch  eine  differente  spirillotrope 
Wirkung  der  Präparate  entspricht.  Adrenalin  erhöht  den  para¬ 
lytischen  Druck  nach  Salvarsaninjektion  auffallenderweise  nicht. 

S  c  h  r  e  i  b  e  r  -  Magdeburg  konstatiert,  daß  Hyperideal  nicht 
giftiger  ist  als  Salvarsan. 

Nicolai-  Berlin  hat  gemeinsam  mit  R  e  h  f  i  s  c  h  in 
Königsberg  bereits  die  Blutdrucksenkung  nach  Salvarsaninjektion 
demonstriert  und  schon  damals  aus  dem  Mangel  jeglicher  Aende- 
rung  im  Elektrokardiogramm  das  Ausbleiben  einer  direkten  Herz¬ 
schädigung  erschlossen. 

B  e  n  a  r  i  o  -  Frankfurt  a.  M.  kann  auch  gar  keinen  Unter¬ 
schied  in  der  Wirkung  von  Salvarsan  und  Hyperideal  finden. 

Ri  hl -Prag:  Zur  Vermeidung  von  Mißverständnissen  stellt 
Ri  hl  fest,  daß  sich  in  den  Versuchen  die  Giftigkeit  lediglich 
auf  das  Verhalten  des  Blutdruckes  bezieht. 

(Fortsetzung  folgt.) 


40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  zu  Berlin 

vom  19.  bis  22.  April  1911  (im  Langenbeckhause). 

Referent:  Dr.  M.  Katzen  stein -Berlin. 

(Fortsetzung.) 

Fritz  König -Greifswald:  Neue  Wege  der  plastischen 
Chirurgie  (Verlötung  und  Ueberbrückung). 

König  hat  im  Verfolg  früherer  Arbeiten  ein  Verfahren  aus- 
gebildet,  um  unsichere  Nähte  an  Schleimhautkanälen  zu  ver¬ 
stärken  sowie  um  Lücken  und  Defekte  plastisch  zu  decken. 
Durch  Experimente  an  Hunden  konnte  er  nachweisen,  daß  das 
Aufnähen  eines  ungestielten  Faszienlappens  auf  die  Darmwand 


743 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911, 


Nr.  20 


über  prolab  ierte  Schleimhaut  genügt,  um  Heilung  herbeizuiühreu, 
daß  Oesophagus-,  Blasen-  und  Dam  wunden,  sogar  zirkuläre 
JJarmresektion,  wenn  die  Wundränder  nur  ganz  flüchtig  mit  fort¬ 
laufender  Katgutnaht  zusammengezogen  waren,  mit  dieser  Me¬ 
thode  primär  heilten  (Verlötung).  Bei  Defekten  von  Magen  und 
Darm  genügte  das  Hinübernähen  eines  ungestielten  Faszien¬ 
lappens,  um  auch  ohne  Naht  der  Ränder  den  Defekt  zum  V  er¬ 
schluß  zu  bringen  (Ueberbrückung).  Die  Faszie  heilt  ein  und 
bleibt  am  Leben.  König  hält  das  Verfahren  bei  allen  unsicheren 
Nahtlinien  für  wichtig. 

Am  Menschen  hat  er  es  bei  der  Harnblase,  bei  Verschluß 
von  Hamröhrendefekten,  bei  der  End-  zu  End- Vereinigung  des 
resezierten  Rektums  mit  Vorliebe  verwendet,  empfiehlt  es  für 
die  Naht  des  Oesophagus,  für  den  Verschluß  von  Fisteln  an  den 
Harnwegen,  am  Mastdarm  usw.,  eventuell  für  das  perforierte 
Magengeschwür.  r 

Hohmeier- Greifswald:  Experimentelle  Unter¬ 

suchungen  zur  Verlötung  und  Ueberbrückung  von 
W unden  und  Defekten  schleimhauttragender  Kanäle. 

Die  freie  Transplantation  von  Fascia  lata  erwies  sich  im 
Versuch  als  geeignet  zur  Deckung  künstlich  geschaffener  Defekte 
an  Oesophagus,  Harnblase  und  vor  allem  Trachea.  Bei  Versuchen, 
die  ganze  vordere  Harnblasenwand  zu  ersetzen,  kam  es  zur  Bil¬ 
dung  von  Konkrementen  nebst  Perforation. 

G.  S chöne- Marburg  :  Transplantationsversuche 
mit  artgleichen  und  artfremden  Geweben. 

Hauptsächlichstes  Hindernis  für  das  Gelingen  der  Trans¬ 
plantation  kann  bestehen : 

1.  im  „Verhungern“  des  Transplantats  (erschwerte  Assimi¬ 
lation  des  körperfremden  Eiweiß, 

2.  in  toxischer  Wirkung  des  Transplantates  (bekannt  bei  der 
Bluttransfusion), 

3.  im  Auftreten  von  Immunitäts-,  bzw.  anaphylaktischen  Re¬ 
aktionen.  ,  ;  i  ;  ) 

Durch  Kr ankheits Vorgänge  - —  und  wir  haben  es  ja  fast  stets 
mit  Kranken  zu  tun  —  kann  es  sogar  zur  Reaktion  gegen  körper¬ 
eigenes  Eiweiß  kommen.  Ausführliche  Untersuchungen  über  Homo¬ 
plastik  bei  Blutsverwandten  ergaben  stets  eine  Minderwertigkeit 
gegenüber  der  Autoplastik.  Im  übrigen  bei  Geschwistern,  aber 
nicht  notwendig  reziprok,  eine  Ueberlegenheit  gegenüber  dem 
Verhalten  bei  Nichtverwandten.  Auf  das  eigene  Muttertier  ließ 
sich  kindliches,  bzw.  fötales  Gewebe  verhältnismäßig  gut  über¬ 
tragen.  Uebertragungsversuche  im  ungekehrten  Sinne  verlaufen 
resultatlos. 

Versuche,  die  Transplantationsfähigkeit  von  Haut  bei  Ueber- 
tragung  von  Tier  auf  Tier  zu  steigern,  haben  bis  jetzt  ebenfalls 
keinen  Erfolg  gehabt. 

E.  Rehn-Jena:  Experimentelle  Erfahrungen  über 
freie  Gewebstransplantation. 

Die  homoplastische  Uebertragbarkeit  von  Fettgewebe  kann 
nach  dear  Tierversuchen  Reh  ns  als  sichergestellt  gelten.  Jedoch 
gibt  die  Autoplastik  ungleich  regelmäßigere  günstigere  Erfolge. 

Bei  der  Faszienübertragung  liegen  die  Verhältnisse  für  die 
Homoplastik  wesentlich  günstiger.  Aehnlich  wie  das  Ueb  ertragen 
des  Periosts  erhält  sich  das  Peritoneum  monatelang  vortrefflich. 

Als  geeignetes  Mittel  für  den  Ersatz  von  Knochen  kann  das 
Horn  empfohlen  werden. 

Ivüttner-Breslau.  Die  Transplantation  aus  der 
Leiche. 

Bericht  über  den  im  vorigen  Jahr  erwähnten  Fäll  von 
Transplantation  des  oberen  Femurteiles.  Patient  kam  nach  13  Mo¬ 
naten  zum  Exitus,  bei  der  Obduktion  zeigte  sich  makroskopisch  das 
Transplantat  gut  erhalten.  Es  hat  sich  eine  neue  Gelemkskapsel 
gebildet.  (  i  j '  i ;  i  j  j  i  j  j  r| 

Verf.  kann  über  zwei  ähnliche  Fälle  berichten,  von  denen 
der  eine  zwei  Rezidive  und  eine  Spontanfraktur  überstanden  hat. 

A.  Stieda-Halle:  Klinisches  und  Histologisches 
zur  freien  Knochentransplantation. 

An  der  Stelle  von  frei  transplantiertem,  durch  Kochen  ge¬ 
tötetem  Knochen  findet  sich  ein  zellreiches  Gewebe,  das  zu 
Spontanfrakturen  neigt. 

Läwen-Leipzig :  Freie  Knochenperiosttransplan¬ 
tation  in  die  Unterlippe  bei  doppelseitigem  ange¬ 
borenem  Fazialisdef  ekt. 

Durch  freie  Transplantation  einer  Periostknochenlamelle  in 
die  Lippe  wurde  Heilung  in  zwei  Fällen  erzielt. 

Goebell-Kiel:  Behandlung  der  habituellen  Pa- 
tellarluxation  mit  freier  Aponeurosentransplanta- 
tion;  in  einem  Falle  erfolgreich. 

A  x  hau  sen -Berlin  bemerkt,  daß  er  vor  kurzem  die  gleiche 
Operation  wie  Goebell  zur  Heilung  einer  Luxatio  patellae  late¬ 
ralis  inveterata  gemacht  hat.  Unmittelbarer  Erfolg  gut. 


Zu  dem  Vortrage  Lexers  sei  zu  bemerken,  daß  die  Parallel¬ 
stellung  von  Knochen  und  Knorpel  bezüglich  Iransplantations¬ 
fähigkeit  nicht  ganz  gerechtfertigt  sei.  Gleich  sei  das  Verhalten 
der  deckenden  Membran:  Perichondrium  wie  Periost  überleben. 
Während  aber  das  Knochengewebe  selber  abstirbt  und  vom  Pe¬ 
riost,  resp.  Mark  her  ersetzt  werden  muß,  bleiben  am  Knorpel¬ 
gewebe  selber  wesentliche  Partien  am  Leben,  die  allmählich  die 
nekrotischen  Abschnitte  durch  Knorpelzellwucherung  bei  Persi¬ 
stenz  der  Gewebssubstanz  substituieren.  Es  ist  also  der  Knorpel 
bei  der  Transplantation  zu  seiner  Erhaltung  nicht  auf  das  Peri¬ 
chondrium  angewiesen:  auch  der  Gelenksknorpel  ist  transplan¬ 
tationsfähig.  Und  so  erklären  sich  die  guten  Erfolge  bei  den 
Gelenksüberpflanzungen  Lexers  und  Küttners. 

Hügel- Landau :  Epiphysäre  freie  Knochenimplan¬ 
tation  bei  Epiphysen  tu  berkul  ose  des  Erwachsenen,  mit 
gutem  Erfolge  ausgeführt. 

v.  Habe  rer- Wien  erlebte  beim  Ersatz  des  Humerus  durch 
eine  homoplastische  Fibula  Spontanfraktur  und  Sequestrierung 
des  ganzen  Transplantats.  Das  transplantierte  Periost  blieb  je¬ 
doch  zurück  und  bildete  neuen  Knochen. 

S  ch  e  pel  m  a  n  n  -Halle  a.  d.  S.  demonstriert  ein  von  ihm  an¬ 
gegebenes  Transplantationsmesser,  durch  einen  unbieg¬ 
samen  Schutzbügel  gekennzeichnet,  der  die  Haut  der  Ent¬ 
nahmestelle  spannt  und  somit  eine  Assistenz  unnötig  macht, 
dann  aber  auch  mittels  Mikrometerschrauben  und  Teilstrichen 
eine  genaue  Einstellung  der  Lappendicke  ermöglicht.  Vortr.  zeigt 
eine  Anzahl  langer,  breiter,  mit  dem  Messer  geschnittener  Lappen, 
die  sehr  dünn  sind  und  dabei  nicht  eine  einzige  dickere  Stelle 
aufweisen. 

Baum -Kiel  hatte  bei  Ersatz  von  Pseudarthrosen  nur  vor¬ 
übergehende  Erfolge.  Ausgang  in  Knochennekrose  und  Spontan- 
frciktur 

Braun -Berlin  betont  die  Erhaltungsfähigkeit  auch  dickerer 
hindegewebshaltiger  Hautstücke. 

Völck  er  -Heidelberg:  Duraplastik  mittels  Bruchsacks. 

L  u  c  a  s  -  Trier  benützte  für  den  gleichen  Zweck  Fascia  lata. 

Kostlin  g-Trebitsch  führte  bei  Epilepsie  mit  Erfolg  eine 
Duraplastik  durch  Bruchsacküberpflanzung  aus. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Programm 

der  am 

Freitag  den  19.  Mai  1911,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Prof.  Dr.  Ernst  Wertheim  stattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Dr.  Martin  Handek :  a)  Neudiagnostische  Ergebnisse  bei  Fungus 
jugendlicher  Individiuen;  b)  Ueber  Frühdiagnosen  bei  Magenkarzinom. 
(Demonstration.) 

2.  Primararzt  Priv.-Doz.  Dr.  Roh.  Brener:  Schlußwort  in  der 
Diskussion  über  den  Vortrag:  Klinische  Beobachtungen  an  Herzkranken. 

3.  Priv.-Doz.  Dr.  Karl  Ullmann :  Ausscheidungswerte  und 
Speicherungsverhältnisse  organischer  Arsenpräparate  (Salvarsan)  nach 

_ ..  „1. : .  j  .  ..  A  v\r\lilr«iU’AnofAVJirion  tim  MpdqpIipd  UTlil  1TY1  Tll'T* 


Programm 


verschiedenartigen  Applikationsformen  am 
experiment. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  A.  Kronfeld,  !•  Dimmer, 

v.  Fürtli  u.  E.  Lenk,  M.  Sternberg. 

Bergmeister,  Paltau  1. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  der  pädiatrischen  Sektiou  findet  im  Hörsaale  der 
pädiatrischen  Klinik  Donnerstag  den  18.  Mai  1911,  um  7  Uhr  abends,  statt. 
(Vorsitz:  Priv.-Doz.  Dr.  Jelile.) 

Programm: 

Demonstrationen  haben  angemeldet:  Priv.-Doz.  Dr.  Knöpfeimacher, 

Dr.  Em.  Gottlieb,  Dr.  Goldreich,  Dr.  v.  Reuß,  Dr.  Schick. 

Das  Präsidium. 


Geburtshilflich-gynäkologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Dienstag  den  28.  Mai  1911,  im  Hörsaale  der 
II.  Univ. -Frauenklinik.  Beginn:  Punkt  7  Uhr  abends. 


1.  Fortsetzung  der  Diskussion  zum  Vortrage  von  H.  V.  Klein: 
Die  puerperale  und  postoperative  Thrombose  und  Embolie. 

2.  Demonstration.  Prof.  J.  Schottläuder :  Uterus  und  Adnex¬ 
karzinome  in  ihren  wechselseitigen  Beziehungen.  > 

K  r  0  p  h,  Schriftführer.  Wertheim,  Vorsitzender. 


Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Kubasta. 


Verlag  von  Wilhelm  Braumiiller  in  Wien. 


Droek  von  Bruno  Bartelt,  Wien  XVIII.,  Theresiengaaee  8, 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 


0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  ''■Ebner.  S.  Exner.  E.  finger.  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko.  H.  Meyer.  J.  Moeller  K  v  Noorden 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  Q.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs,  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig.  Edmund  v  Neusser 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 


Verlag  von  Wilhelm  Braumuller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 


XXIV.  Jahrg. 


Wien,  25.  Mai  1911 


Nr.  21 


INHALT: 


1.  Originalartikel:  1.  Aus  dem  hygienischen  Institute  der  k.  k.  Uni¬ 
versität  in  Wien.  Ein  unschädliches  Desinfektionsverfahren  für 
milzbrandinfizierte  Häute  und  Felle.  Mitgeteilt  von  Professor 
A.  Schattenfroh.  S.  735. 

2.  Aus  der  I.  medizinischen  Klinik  in  Wien.  (Vorstand.  Karl 
v.  Noorden.)  Experimenteller  und  klinischer  Beitrag  zur  Azeto- 
nitrylreaktion  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Differential¬ 
diagnose  bei  Morbus  Basedowi.  (I.  Mitteilung.)  Von  Professor 
Dr.  G.  G  h  e  d  i  n  i  (Genua).  S.  736. 

3.  Zur  Symptomatik  der  Salvarsanwirkung.  Von  Dr.  V.  Hrdliczka 
in  Wien.  S.  745. 

4.  Aus  dem  pharmakologischen  Institute  der  k.  u.  k.  Tierärztlichen 
Hochschule  in  Wien.  Darf  man  den  Stramoniumzigaretten  eine 

.  arzneiliche  Wirkung  zuschreiben?  Von  Prof.  Dr.  Gustav 
Günther.  S.  748. 


5.  Ueber  den  derzeitigen  Stand  der  Pest  in  Indien.  Von  Dr  Emil 
Wiener.  S.  749. 

II.  Referate :  Medizin  und  Strafrecht.  Von  Geh.  Med.-Rat  Doktor 
F.  Straß  mann.  Ref. :  Reuter.  —  Untersuchungen  über 
Rachitis  und  Osteomalazie.  Von  Friedrich  v.  Recklinghausen 
Ref. :  Carl  Sternberg. 

III.  Ans  verschiedenen  Zeitschriften. 

IV.  Vermischte  Nachrichten. 

V.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Aus  dem  hygienischen  Institute  der  k.  k.  Universität 

in  Wien. 

Ein  unschädliches  Desinfektionsverfahren  für 
milzbrandinfizierte  Häute  und  Feile. 

Mitgeteilt  von  Prof.  A.  Schattenfroh. 

ln  den  letzten  Jahren  wurden  im  Institut  anläßlich 
des  \  orkommens  von  Milzbranderkrankungen  bei  Arbeitern 
bestimmter  gewerblicher  Betriebe  zahlreiche  Untersuchungen 
milzbrandverdächtiger  tierischer  Rohstoffe  vorgenommen. 

Hiebei  konnten  durch  eine  besondere  Versuehsanord- 
ming  regelmäßig  und  zwar  vielfach  in  einer  unerwartet 
großen  Verbreitung,  Milzbrandsporen  nachgewiesen  werden, 
nie  als  die  Ursache  der  Erkrankungen  angesehen  werden 
mußten.  Die  systematischen,  in  großem  Maßistabe  ange¬ 
legten  Untersuchungen  wurden  vorn  Assistenten  Priv.-Doz. 
Ih.  Reichel  durchgeführt  und  werden  von  diesem  dem¬ 
nächst,  zum  Teil  mit  mehreren  Mitarbeitern,  veröffentlicht 
werden. 

.Der  gelungene  Nachweis  von  Milzbrandsporen  auf  zur 
Federbereitung  oder  kürschnermäßigen  Verarbeitung  be¬ 
stimmten  Fellen  und  Häuten  führte  notwendigerweise  hei 
dem  gegenwärtigen  Stande  unserer  Anschauungen  zu  stren¬ 
gen  sanitätspolizeilichen  Maßnahmen,  als  deren  einschnei¬ 
dendste  in  einigen  Fällen  die  Vernichtung  der  infizierten 
»der  infektionsverdächtigen  Ware  beantragt  werden  mußte. 

So  sehr  auch  die  schweren  wirtschaftlichen  Schädi¬ 
gungen,  die  derartige  Verfügungen  hervorrufen  müssen, 
gewürdigt  wurden,  es  blieb  doch  keine  andere  Wahl,  da 


alle  bisher  versuchten  wirksamen  Desinfektionsverfahren 
gegen  Milzbrand  das  Material  in  so  erheblichem  Grade  schä¬ 
digen,  daß.  seine  technische  Verarbeitung  weiter  nicht  mehr 
möglich  ist.  Es  gilt  dies  bekanntlich  auch  für  die  ver¬ 
schiedenen  neueren  Anwendungsarten  des  Formaldehyds. 

Anläßlich  eines  bestimmten  Falles  nun,  in  dem  (die 
Vernichtung  einer  mehrere  Lausend  Felle  umfassenden  infi¬ 
zierten  Warenpartie  unvermeidlich  zu  sein  schien,  wurde 
in  Erwägung  gezogen,  oh  nicht  doch  vorher  eines  oder  das 
andere  der  zahlreichen  Desinfektionsmittel  unter  besonderen 
Bedingungen  versucht  werden  sollte.  Hiebei  wurde  zunächst 
an  eine  Kombination  einer  Säure.  Imit  Sublimat  gedacht.  Nach 
einer  diesbezüglichen  Besprechung  mit  dem  Leiter  der  k.k. 
Lehr-  und  Versuchsanstalt  für  Lederindustrie  in  Wien,  Herrn 
Prof.  Kohnste in,  fiel  die  Wahl  auf  die  Salzsäure,  die, 
wie  diesen  Mitteilungen  entnommen  wurde,  in  Verbindung 
mit  Kochsalz  neben  anderen  Säuren  (wiez.B.  Schwefelsäure, 
Buttersäure)  bereits  seit  längerer  Zeit  insbesondere  in  Frank¬ 
reich  zum  sogenannten  Pickeln  der  Häute  Anwendung  'fand 
und  die  in  Verbindung  mit  Kochsalz  die  Gerbfähigkeit  der 
Häute  in  keiner  Weise  beeinträchtigt. 

Da  jedoch  die  Anwendung  des  Sublimats  under  Praxis 
wegen  seiner  Giftigkeit  und  wegen  seines  ziemlich  hohen 
Preises  als  nicht  sehr  aussichtsvoll  erschien  und  (jedenfalls 
umständlich  sein  mußte,  so  wurde  des  weiteren  die 
erwähnte  Kombination  wieder  fallen  gelassen  und 
der  [Gedanke  erwogen,  ob  denn  nicht  die  Pro¬ 
zedur  des  ,, Pickeins“,  eventuell  nach  bestimmter 
Modifikation  des  Verfahrens,  an  sich  desinfizierende 
Wirkungen  auf  die  Milzbrandspören  ausübt. 


736 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Wie  erwähnt,  wirken  iiiebei  Salzsäure  und  Kochsalz  >zu- 
sanunen  ein  und  zwar  wird  die  Pickelung  so  vorgenommen, 
daß  die  Felle  für  ein  bis  drei  Tage  in  eine  Lösung  von 
zirka  l°/o  Salzsäure  (HCl)  und  10%  Kochsalz  eingelegt, 
werden.  '  !  !  i  i  _  :  t_J .. ;  .  i  i  Ij 

Nach  dem  Herausnehmen  werden  die  Häute  ohne 
weitere  Prozedur  feucht  zur  Versendung  gebracht.  Das 
Pickeln  dient  in  erster  Linie  zur  Konservierung  der  Häute 
und  ist  dem  einfachen  Einsalzen  überlegen.  Gepickelte  Felle 
können  sowohl  kürschnermäßig  verarbeitet  als  auch  nach  dem 
Lohe-  und  dem  Chromverfahren  gegerbt  werden. 

Theoretische  Erwägungen  ließen  allerdings  die  An¬ 
nahme,  daß  die  Pickelbeize  energisch  desinfizieren  würde, 
als  nicht  sehr  begründet  erscheinen,  da  Salzsäure  und  Koch¬ 
salz  in  gewisser  Hinsicht  (in  bezug  auf  das  \  erhalten  zum 
Quellungswasser)  antagonistisch  wirken  und  auch  die  Ioni¬ 
sierung  der  Salzsäure  durch  die  großen  Mengen  von  Kochsalz 
erheblich  herabgesetzt  werden  mußte.  In  dem  gleichen 
Sinne  schien  zu  sprechen,  daßi  1  bis  2°/oige  Salzsäure 
allein,  ohne  Kochsalz,  von  den  Fellen,  die  hiedurch  ihre 
Gerbfähigkeit  verlieren,  nicht  vertragen  wird,-  so  daßi  man 
annehmen  konnte,  daß  die  Pickelung  nur  deshalb  die  Felle 
nicht  schädigt,  weil  das  Kochsalz  die  schädliche  \\  irkung 
der  Salzsäure  zum  Teil,  bezw.  in  einer  gewissen  Hinsicht 
paralysiert. 

Es  traf  aber  das  Gegenteil  zu,  die  Pickel¬ 
heize  wirkte  auf  resistente  Milzbrand  Sporen 
kräftig  und  ganz  verläßlich  desinfizierend 
(Sporenfäden  und  milzbrandinfizierte  Felle 
und  Häute). 

Ohne  daß  auf  Einzelheiten  (Kontrollversuche  u.  a.) 
eingegangen  werden  soll,  mögen  hier  nur  kurz  folgende 
Tatsachen  Erwähnung  finden. 

Wie  sich  in  einer  Reihe  von  Vorversuchen  mit  Sporen¬ 
fäden  ergeben  hatte,  reichte  bei  gewöhnlicher  Temperatur 
(20  bis  22°  C)  eine  Salzsäurekonzentration  von  2°/o  aus, 
um  in  weniger  als  24  Stunden  die  resistentesten  Milzbrand¬ 
sporen  zu  vernichten,  wenn  Kochsalz  in  der  vier  bis  sech¬ 
zehnfachen  Menge  hinzugegeben  wurde.  Bei  einer  Tempe¬ 
ratur  von  40°  C  genügte  die  Einwirkung  der  Salzsäure-Koch¬ 
salzlösung  (lo/o  HCl,  8%'  Kochsalz)  während  zwei  bis  drei 
Stunden  zur  verläßlichen  Desinfektion. 

Die  Desinfektion  der  Felle  (Ziegen-  und  Lammfelle) 
wurde  in  der  Weise  vorgenommen,  daß  zunächst  in  einem 
großen  Bottich  die  Pickelflüssigkeit  (1%  HCl,  8%  Koch¬ 
salz)  bereitet  wurde.  Hierauf  wurden  die  Felle  sorgfältig 
versenkt  und  durch  sechs  Stunden  in  der  Lösung  bei  einer 
Temperatur  von  40°  C  belassen.  Eine  weitere  Anzahl  von 
Fellen  wurde  in  eine  Lösung  von  2%  HCl  und  10%  Koch¬ 
salz  gegeben  und  durch  zwei  Tage  bei  gewöhnlicher  Tempe¬ 
ratur  (20  bis  22 0  C)  gehalten.  Nach  Beendigung  der  Des¬ 
infektion  wurden  die  Felle  durch  verdünnte  Sodalösung 
gezogen  und  hierauf  in  fließendem  Wasser  gewaschen. 

Unmittelbar  vor  dem  Einlegen  der  Felle  in  die  Pickel¬ 
flüssigkeit  —  es  wurde  ein  mit  Milzbrand  hochgradig  infizier¬ 
tes  Material  verwendet  -  wurden  Teile  derselben  abge- 
schnitten  und  auf  das  Vorhandensein  von  Milzbrandsporen 
untersucht.  In  der  gleichen  Weise  wurde  mit  den  des¬ 
infizierten  Fellen  verfahren.  Stets  zeigte  sich,  daß  ein  großer 
Teil  der  milzbrandigen  Felle  zum  Teil  in  außerordentlich  reich¬ 
haltigem  Maße  —  Milzbrandsporen  enthielt,  während  die 
desinfizierten  Felle  ausnahmslos  hievon  frei  waren. 

Die  Unschädlichkeit  der  kombinierten  Salzsäure-Koch¬ 
salzeinwirkung  hinsichtlich  der  Gerbfähigkeit  der  Häute  war, 
wie  weiteren  Mitteilungen  des  Herrn  Prof.  K  o  h  n  s  t  e  i  n  ent¬ 
nommen  werden  konnte,  auch  dann  zu  konstatieren,  wenn  die 
Salzsäurekonzentration  noch  wesentlich  über  die  übliche 
hinaus  erhöht  wurde  (bis  zu  fast  3%  HCl),  soferne  nur  der 
Säure  ein  Vielfaches  von  Kochsalz  beigefügt  wurde.  Dieser 
Umstand  ermöglicht  es,  die  für  die  Desinfektion  vorgeschla¬ 
genen  Salzsäurekonzentrationen  im  Bedarfsfälle  zu  erhöhen, 
ohne  daß  eine  Schädigung  der  Felle  zu  (befürchten  wäre. 


Da  eine  Lösung  von  2%  Salzsäure  und  10°/o 
Kochsalz  bei  gewöhnlicher  Temperatur  in  mehreren  Tagen 
ebenso  verläßlich  desinfizierte,  wie  eine  l%ige  Salzsäure 
mit  8%  Kochsalz  bei  40°  C  in, sechs  Stunden,  so  wird  man 
zwischen  den  beiden  Varianten  der  Desinfektion  die  Wahl 
haben  und  je  nach  den  Umständen  das  ieine  oder  das  andere 
Verfahren  ausführen. 

Die  Pickelung  bei  höherer  Temperatur,  die  bisher  zu 
technischen  Zwecken  nicht  ausgeführt  wurde,  verdient 
immerhin  den  Vorzug,  auch  deshalb,  weil  die  , Felle  hiebei 
außerordentlich  vollkommen  gereinigt  werden  und  weil  hei 
einer  künstliche  n  Erwärmung  der  Pickelflüssigkeit  die 
bei  der  gegebenen  Konzentration  für  den  Abtötungseffekt 
notwendige  Temperatur  verläßlicher  eingehalten  werden 
dürfte,  als  wenn  die  Prozedur  hei  „gewöhnlicher“  Temperatur 
(20 0  C)  vorgenommen  werden  soll  (ungeheizte  Räume  im 
Winter!) 

Die  Nutzanwendung  der  mitgeteilten  Tatsachen  für 
die  Praxis  könnte  in  mehrfacher  Weise  gezogen  werden. 

Am  rationellsten  erchiene  die  behörd¬ 
liche'  Verfügung,  daß  ausschließlich  vor¬ 
schriftsmäßig  gepickelte  Häute  und  Felle' in 
d  en  Verkehr  gelangen  dürfe n.  Sollte  sich  dies  aus 
irgendwelchen  Gründen  nicht  durchführen  lassen,  so  müßte 
in  noch  näher  zu  bestimmenderWeise  das  Verfahren  als  Des¬ 
infektionsprozedur  entweder  bei  allen  oder  beschränkt  auf 
die  verdächtigen  Felle  zur  Anwendung  kommen. 

Eine  Kontrolle  hinsichtlich  der  vorgenommenen  Picke- 
lung  bzw.  Desinfektion  der  Felle  wäre  voraussichtlich  durch 
Prüfung  (event.  Titration)  der  Reaktion  und  Ermittlung  der 
Kochsalzkonzentration  der  Felle  möglich,  da  ja,  wie  schon 
erwähnt,  die  zu  Zwecken  der  Konservierung  gepickelten 
Felle  ohne  weitere  Prozeduren  und  im  feuchten  Zustande 
in  den  Verkehr  kommen. 

Versuche  über  die  Wirkung  der  Pickelflüssigkeit  auf 
Tierhaare  (Schweinsborsten,  Roßhaare)  sind  im  Gange,  fer¬ 
ner  soll  die  Eignung  der  Salzsäure-Kochsalzkombination  für 
die  Zwecke  anderweitiger  Desinfektionsmaßnahinen 
studiert  werden. 


Aus  der  I.  medizinischen  Klinik  in  Wien. 

(Vorstand:  Karl  v.  Noorden.b 

Experimenteller  und  klinischer  Beitrag  zur 
Azetonitrylreaktion  mit  besonderer  Berück¬ 
sichtigung  der  Differentialdiagnose  bei  Morbus 

Basedowi. 

(I.  Mitteilung.) 

Von  Prof.  Dr.  G.  Ghedini  (Genua). 

Das  Azetonitryl  (CH3CN)  oder  Methylzyanid  ist  ein 
farbloser,  flüssiger,  flüchtiger  Körper,  von  etwas  scharfem 
Geruch,  der  hei  82°  siedet  und  durch  das  Zusammentreten 
von  Jodalkyl  (CH3J)  mit  Zyankaliüm  (KCN)  in  der  Hitze 
(nach  der  Formel:  Cfi3J  +  KCN  —  CH3CN  +  KJ)  erhalten 
wird.  Es  wird  gewöhnlich,  mit  destilliertem  Wasser  ver¬ 
dünnt,  in  den  Handel  gebracht.  Diese  Lösung  ist  für  lebende 
Organismen  ziemlich  giftig ;  die  tödliche  Dosis  ändert  sich 
nach  der  Tierart,  den  verschiedenen  Rassen  und  den  va¬ 
riablen  Eigenschaften  derselben.  Nach  Reid  Hunts1)  be¬ 
trägt  die  tödliche  Dosis  bei  weißen  Mäusen  für  jedes  Gramm 
Tier  0-25  mg,  nach  Trendelenburg2)  0-80  mg. 

Bei  der  Beurteilung  der  tödlichen  Dosis  erscheint  es 
wichtig,  darauf  hinzuweisen,  daßi  die  Substanzen  des  Han¬ 
dels  (z.  B.* Azetonytril  Merck  oder  Kahl  bäum)  durch¬ 
aus  nicht  konzentrierte  Lösungen  darstellen;  die  Angaben 
T  r  endete n b u  r  g  s  und  Reid  Hunts  lauten  auf  0-25  mg. 
resp.  0-80  mg.  ln  keiner  der  angegebenen  Arbeiten  ist  je- 

l)  Journal  of  Mol.  chem.  1905.  —  Bulletin  hyg.  lab.  v.  s.  publi» 
health  and  marine  hospit.  service,  Washington  1909. 

s)  Biochem.  Zeitschr.  1910. 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


737 


doch  die  Form  des  Ausgangsproduktes  und  die  Angabe  ent¬ 
halten,  ob  die  Autoren  die  diluierten  oder  konzentrierten 
Lösungen  verstehen. 

.  _  Deswegen  erscheint  es  notwendig,  die  tödliche  Dosis 
in  jedem  Versuche  an  Kontrölltieren  zuerst  zu  ermitteln. 

Es  ist  von  größtem  biologischen  Interesse,  wenn  R  e  i  d 
Hunt3)  angibt,  daß  weiße  Mäuse  gegenüber  dem  Azetonylril 
sich  viel  widerstandsfähiger  zeigen,  wenn  sie  mit  Schild¬ 
drüsen  gefüttert  werden. 

Die  Einverleibung  von  20  mg  getrockneter  Schild¬ 
drüsensubstanz  (Thyreoidektin  Parke- Da  vis)  im  Zeit¬ 
raum  von  elf  Tagen  genügt,  um  die  Tiere  gegen  die 
20fache  tödliche  Dosis  von  Azetonitryl  widerstandsfähig  zu 
machen.  Diese  Erhöhung  der  , Widerstandsfähigkeit  kommt 
um  so  schneller  zustande  und  ist  um  so  größer,  je  höher 
der  Jodgehalt  des  verwendeten  Präparates  ist;  obwohl  auch 
jodfreie  Schilddrüsensubstanz  imstande  ist,  die  Resistenz 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  zu  steigern. 

Zur  Vervollständigung  und  Bestätigung  seiner  Ergeb¬ 
nisse  fügt  Reid  Hunt  noch  hinzu,  daß  dementsprechend 
bei  weißen  Mäusen,  die  mit  dem  Blute  thyreoidektomierter 
Tiere  gefüttert  und  später  mit  Azetonitryl  inijziert  wurden, 
der  Tod  mit  einer  viel  kleineren  Dosis  als  gewöhnlich  her¬ 
beizuführen  sei ;  d.  h.  es  entsteht  dabei  eine  Herabsetzung 
der  V  iderstandsfähigkeit  dem  Azetonitryl  gegenüber. 

Dieselben  Ergebnisse  erhält  man  bei  Mäusen,  die  mit 
dem  Blute  nicht  thyreoidektomierter  Tiere  gefüttert  wurden. 

Warum  und  auf  welche  Weise  kommt  die  iResistenz- 
erhöhung  zustande?  Reid  Hunt  ist  der  Meinung,  daß 
organische  und  anorganische  Stoffe  der  Schilddrüse,  ins¬ 
besondere  das  Jod,  die  Abspaltung  der  CH3-Gruppe  aus 
der  Verbindung  CH3CN  verhindern,  wenn  das  letztere  in 
einen  lebenden  Organismus  gebracht  wird,  der  solche 
Schilddrüsensubstanzen  in  größerer  Menge  enthält.  Es 
könnte  sich  demnach  die  CN-Gruppe  (resp.  KCN)  immer  nur 
in  kleinsten  Mengen  abspalten  und  erst  nach  einiger  Zeit 
sine  ausgesprochene  Giftwirkung  entfalten.  Außerdem  würde 
die  geringfügige  Abspaltung  und  schubweise  Entstehung 
les  freien  CN  die  Bildung  spezifischer  Reagine  (id  est 
Schutzkörper  im  weitesten  Sinne)  nach  bekannten  anti- 
oxisch-chemischen  Immunitätsgesetzen  ermöglichen. 

Diese  Anschauung  Re  id  Hunts  ist  nun  wohl  durch 
Erfahrungen  allgemeiner  Art  und  durch  indirekte  experi- 
nentelle  Versuche  gestützt  und  erscheint  logisch  in  ihren 
mlgerungen;  trotzdem  ist  sie  unzureichend.  Die  Lücken 
n  den  Erklärungen  R  e  i  d  Hunts  sind  hier,  wie  in  ähn- 
ichen  Fällen  für  den  Biochemiker  von  besonderem  Inter¬ 
esse.  Für  den  Kliniker  kommen  diese  Fragen  [erst  in  zweiter 
Anie  in  Betracht;  denn  will  dieser  eine  bestimmte  Reak- 
ion  in  die  Klinik  einführen,  so  ist  sein  Ziel  vor  allem, 
hre  Bedeutung  für  das  Verständnis  der  Pathogenese  und 
ür  die  Diagnose  zu  prüfen  und  wenn  möglich  zu  beweisen. 

Die  Ergebnisse  von  R  e i  d  Hu  n  t  wurden  kürzlich  von 
frendelenburg  teilweise  bestätigt;  auch  diesem  Autor 
;elang  es,  durch  Verfütterung  von  Schilddrüsensubstanjz 
Thyraden  Knoll),  an  weißen  Mäusen  eine  erhebliche  Er- 
löhung  der  Widerstandsfähigkeit  gegen  die  tödliche  Wir¬ 
kung  des  Azetonitryls  zu  erzielen.  Er  glaubt  jedoch  nicht 
laß  der  größere  oder  kleinere  Jodgehart  einen  besonderen 
Anfluß,  auf  das  Zustandekommen  dieser  Resistenzerhöhung 
gegenüber  Azetonitryl  ausübe.  Z.  B.  zeigte  eine  Reihe  von 
läusen,  die  mit  Jodothyrin  —  ein  jodreiches  Präparat  von 
layer  —  gefüttert  wurden,  diese  Resistenzerhöhung  über- 
aupt  nicht.  Trendelenburg  glaubt  außerdem,  auch 
ef unden  zu  haben,  daß  die  Verfütterung  des  Blutes  einer 
ürzlich  (vor  zwei  bis  drei  Tagen)  thyreoidektomierten  Katze 
ine  ausgesprochene  Erhöhung  des  Widerstandes  gegenüber 
■  zetonitryl  hervorrufe.  Prüft  man  jedoch  die  verschiedenen 
ntersuchungen  Trend elenburgs  genauer,  so  erschei- 
en  seine  Schlußfolgerungen  nicht  ganz  erwiesen.  Demi  nur 
rei  von  vier  Mäusen,  die  mit  Blut  thyreoidektomierter 


Katzen  gefuttert  wurden,  konnten  etwas  größere  als  töd¬ 
liche  Dosen  vertragen  (1-2  bis  1-5  mg  Azetonitryl  pro  Gramm 
her  gegenüber  0-76  oder  0-80  mg  bei  den  Konfrontieren) 
Aber  mindestens  bei  zwei  von  diesen  Tieren  wurden  gleich¬ 
zeitig  mit  den  Schilddrüsen  auch  die  Epithelkörperchen  ent- 
eint,  so  daß  Trendelenburg  schwere  tetanische  Er¬ 
scheinungen  auf  treten  sah.  Hier  drängt  sich  nun  notwen¬ 
digerweise  die  Frage  auf,  ob  die  von  T  r  e  n  d  e  1  e  n  b  u  r  o- 
erzielten  Resultate  nicht  vielleicht  zum  Teil  auch  auf  das 
kehlen  dieser  Organe  zurückzuführen  seien.  , 

Diese  Resultate  Trend  eien  burgs  lassen  die  Er¬ 
gebnisse  der  B.  e  i  d  Hunt  sehen  Untersuchungen,  die,  wie 
oben  erwähnt,  im  gleichen  Sinne  ausgeführt  wurden,  keines¬ 
wegs  zweifelhaft  erscheinen.  Auch  der  Schluß,  daß  Verfütte- 
iiiiig  von  Blut,  das  von  Menschein  stammt,  die  an  chroni¬ 
scher  Insuffizienz  der  Schilddrüse  leiden,  bei  Mäusen  Reisi- 
stenzerhöhung  gegenüber  Azetonitryl  hervorrufe,  ist  nach 
Trend  eien  burgs  Resultaten  sicherlich  nicht  zulässig. 
Außerdem  sprechen  andere,  von  Trendelenburg  ausge¬ 
führte  Untersuchungen  für  die  Richtigkeit  der  Ergebnisse 
und  Anschauungen  Reid  Hunts.  Es  zeigten  nämlich  zwei 
Reihen  von  Mäusen,  welche  mit  Blut  thyreoidektomierter 
Katzen  (die  Tiere  wareh  vor  9  bis  28  Tagen  thyreoidekto- 
iniert  worden)  gefüttert  wurden,  keine  besondere  Erhöhung 
der  Widerstandsfähigkeit  dem  Azetonitryl  gegenüber. 

Zur  Vervollständigung  muß  ich  noch  erwähnen,  daß 
t1 1 '  s  °.n  uncl  W  ö  1  f  e  1  4)  bei  einer  Serie  von  Mäusen,  die  sie 
mit  Schilddrüsenlymphe  gefüttert  hatten,  keine  Resistenz¬ 
erhöhung  gegenüber  Azetonitryl  wahrnehmen  konnten. 

* 

Die  Untersuchungen,  über  welche  ich  liier  folgend  be¬ 
richte,  wurden  in  der  Absicht  ausgeführt,  einen  neuen  Bei¬ 
trag  zur  Beleuchtung  und  genaueren  Bestimmung  von  Wesen 
und  Zweck  der  Azetonitrylreaktion  zu  liefern,’  und  insbe¬ 
sondere,  um  zu  erfahren,  ob  andere  Drüsen  mit  innerer 
Sekretion  oder  deren  spezifische  Produkte  auf  die  Entste¬ 
hung  der  Reaktion  von  Einfluß  seien. 

Vor  Besprechung  meiner  Untersuchungen,  schicke  ich 
voraus,  daß1  auch  von  mir  weiße  Mäuse  als  Versuchstiere 
verwendet  wurden.  Das  Gewicht  derselben  schwankte  zwi¬ 
schen  15  und  20  g.  Sie  wurden  mit  Brot,  das  in  Wasser 
getaucht  war,  gefüttert,  nicht  mit  Hafer,  da  dieser  nach 
meinei  Erfahrung  für  längere  Zeit  nicht  gut  vertragen  wird 
und  die  Lebenskraft  der  Tiere  herabsetzt.  Das  Brot  wurde 
täglich  eist  verteilt,  nachdem  ein  kleiner  Bissen,  welcher 
die  zu  untersuchende  Substanz  enthielt,  verzehrt  worden 
war.  Zu  den  Einspritzungen  wurde  K  a  h  1  b  au  m  sches 
Azetonitryl  verwendet. 

Nach  einer  langen  Reihe  von  Versuchen  ist  es  mir 
gelungen,  die  Menge  von  Azetonitryl  zu  bestimmen,  die  nötig 
ist,  um  eine  nicht  vorbehandelte  Maus  schnell,  d.  h.  in 
einer  halben  bis  drei  Stunden,  zu  töten.  Nach  meiner  Er¬ 
fahrung  beträgt  diese  Menge  für  jedes  Gramm  Tier  4-5  mg 
bis  5-5  mg  oder  Kubikmillimeter  (das  Azetonitryl  wurde 
von  Kahl  bäum  bezogen),  die  gewöhnlich  mit  1  cm3  de¬ 
stillierten  Wassers  versetzt  Wurden. 

Diese  Dosis,  die  größer  ist,  als  andere  Autoren  an¬ 
geben,  ist  nach  meiner  Erfahrung  absolut  und  rasch  töd¬ 
lich;  alle  Tiere,  die  diese  Dosis  erhalten,  gehen  zugrunde 
(z.  B.  sechs  Tiere  von  sechs).  Wird  diese  Dosis  nur  um 
ein  geringes  erniedrigt,  so  sterben  die  Tiere  in  einem  nicht 
konstanten  Prozentsatz  (z.  B.  drei  von  vier).  Es  soll  auf 
diese  Verhältnisse  mit  besonderem;  Nachdruck  hingewiesen 
werden,  weil  die  Bestimmung  der  tödlichen  Giftdosis,  wie 
bereits  vorher  erwähnt,  für  die  weiteren  Untersuchungen 
von  der  allergrößten  Bedeutung  sein  kann :  denn  ist  dieser 
Wert  nicht  genügend  exakt  fixiert,  so  könnte  dies  zur  Ur¬ 
sache  von  einmal  negativ,  einmal  positiv  ausfallenden,  sich 
eventuell  widersprechenden  Untersuchungsergebnissen  wer¬ 
den.  Es  sei  noch1  erwähnt,  daßi  ich  zur  Erlangung  größerer 
Genauigkeit  bei  Vergleichen  und  zur  größeren  Sicherheit  [der 


')  Journal  of  biol.  cheni.  1905. 


4)  Journ.  of  biol.  chem.  1910. 


788 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


Schlüsse  in  den  einzelnen  Untersuchungen  nicht  nur  töd¬ 
liche,  sondern  auch  noch  größere  Dosen  inijziert  habe  und 
zwar  stets  um  0-5  mm3  pro  Gramm  Tier  mehr  als  die  je¬ 
weilige  tödliche  Dosis  betrug.  Andere  Einzelnheiten  sind 
bei  den  weiter  unten  besprochenen  Versuchen  zu  finden. 

1.  Versuch.  Das  Ziel  dieses  Versuches  war,  zu  erfahren, 
oh  den.  Angaben  Reid  Hunts  gemäß  das  Jod  wirklich  für  sich 
allein,  ohne  Mitwirkung  anderer  Schilddrüsensubstanze-n,  bei  der 
Maus  einen  direkten,  besonderen  Einfluß  auf  das  Zustandekoni  men 
der  Azetonitrylhyperresistenz  ausübe.  Es  wurde  JK  in  wässe¬ 
riger  Lösung  verwendet. 

Tabelle  1. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

J-Menge 

CIL,  CN-Menge 

. 

Ausgang 

1 

15  g 

25  cg  in  5  Tagen 

5  /2  mm'1  pro 
Gramm  Tier 

T.  d*) 

2 

14  g 

100  cg  in  10  Tagen 

5Va  nun3  pro 
Gramm  Tier 

3 

16  g 

256  cg  in  16  Tagen 

6  mm8  pro 
Gramm  Tier 

» 

Dieses  Ergebnis  läßt  den  Schluß:  zu,  daß  Jod  auf  das  Zu¬ 
standekommen  der  Azetonitrylhyperresistenz  keinen  besonderen 
Einfluß  habe. 

2.  Versuch.  Dieser  Versuch  hatte  zum  Ziele,  die:  Beein¬ 
flussung  der  toxischen  Azetonitrylwirkungen  durch  Extrakte  von 
Epithelkörperchen  zu  erfahren.  Außer  durch  Betrachtungen  all¬ 
gemeiner  Art  wurde  ich  zu  diesem,  Versuch  noch  durch  die 
Kenntnis  der  Tatsache  bewogen,  daß  sowohl  frische  Schilddrüsen¬ 
extrakte,  als  auch  die  im  Handel  erhältlichen  Schilddrüsenpräpa¬ 
rate  verschieden  große  Mengen  von  Parathyrieoideasubis tanzen  ent¬ 
halten,  so  daß  eine  eigene  Wirksamkeit  der  letzteren,  möglich 
erscheint.  Es  wurde  Parathyreoidin  Vassale  vom  sero therapeu¬ 
tischen  Institut  in  Mailand  verwendet,  mit  destilliertem!  Wasser 
im  Verhältnis  1 : 10  verdünnt  und  per  os  einverleibt. 

Tabelle  2. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Parathyr.-Menge 

Acetonitrvl- 

Menge 

Ausgang 

4 

15  g 

9  cm3  der  verd. 
Lösung  in  18  Tagen 

5 1/2  mm3  Pr0 
.  Gramm  Tier 

Tod 

5 

17  g 

9  cm8  der  verd. 
Lösung  in  18  Tagen 

6  mm  pro 
Gramm  Tier 

» 

Dieses  Ergebnis  läßt  schließen,  daß  Verfütterung  von  Epi¬ 
thelkörperchen  keinen  Einfluß  auf  die  Entstehung  der  Wider¬ 
standsfähigkeit  gegen  Azetonitryl  besitze'. 

3.  Versuch.  Der  Zweck  dieses  Versuches  war,  festzu¬ 
stellen,  in  welcher  Weise  das  Sekret  der  Nebennieren  die  toxischen 
Wirkungen  des  Azetonitryls  beeinflusse.  Besonders  wurde  ich  zu 
dieser  Versuchsreihe  durch  die  Annahme  angeregt,  daß  zwischen 
dem  Sekrete  der  Nebenniere  und  der  Schilddrüse  innige  Beziehun¬ 
gen  bestehen,  außerdem  durch  die  Tatsache,  daß.  jede  der  beiden 
Drüsen  ihre  funktionelle  Tätigkeit  steigert,  wenn  ihr  eigenes  Se¬ 
kretionsprodukt  in  den  lebenden  Organismus  gebracht  wird.  Es 
wurde  Adrenalin  Parke- Davis  in  PVooiger  Lösung  verwendet.  Von 
dieser  Stammlösung  wurden  Verdünnungen  mit  destilliertem 
Wasser  im  Verhältnis  1 : 10  hergestellt  und  diese  in  Mengen  von 
1/2  oder  3U  cm3  unter  die  Haut  gespritzt.  Von  Kon  troll  tieren 
wurden  solche  Dosen  stets  gut  vertragen.  Die  Azetonitrylinjeki- 
tionen  wurden  einer  ersten  Reihe  von  Mäusen  eine  halbe  Stunde 
nach  der  Behandlung  mit  Adrenalin,  einer  zweiten  Reihe  einige 
Tage  später  verabreicht. 


Tabelle  3.  (1.  Reihe.) 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Adrenalinmenge 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

6 

14  g 

7 2  cm3  der  Lösung 

5'/«  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

7 

14  g 

7,  cm3  der  Lösung 

5’/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

8 

13  g 

3/s  cm3  der  Lösung 

6  mm3  pro  Gramm 
Tier 

*)  In  dieser,  wie  in  allen  folgenden  Versuchsreihen  trat  der  Tod 
spätestens  24  Stunden  nach  der  Injektion  ein. 


Tabelle  4  (2.  Reihe.) 


Diese  Ergebnisse  gestatten  dem  Schluß,  das  Adrenalin,  sub¬ 
kutan  injiziert,  nicht  zur  Entstehung  der  Hyperresistenz,  gegen 
Azetonitryl  beiträgt. 

4.  Versuch.  Dieser  Versuch  wurde  ausgeführt,  um  zu 
erfahren,  ob  dem  Hypophysenextrakt  ein  Einfluß  bei  der  Ent¬ 
stellung  der  Widerstandserhöhung  gegen  CH3CN  zukomme.  Wir 
Verwendeten  ein  Präparat  vdn  Burroughs  Wellcome,  das  mit 
zerstoßenem  Zwieback  zu  einem  Teige  verarbeitet  und  per  os 
verabreicht  wurde.  Die  Dosis  betrug  für  jedes  Tier  eine  fa- 
blet.te  (=  0T3  g  aktiver  Drüsensubstanz). 

Tabelle  5. 


Tier¬ 

nummer 

■ 

Ge¬ 

wicht 

Menge  von  Hypo¬ 
physenextrakt 

CH,  CN-Menge 

Ausgang  : 

12 

20  g 

16  Tabletten  im 
Laufe  von  16  Tagen 

6  nun3  pro  Gramm 
Tier 

! 

Tod 

13 

18  g 

16  Tabletten  im 
Laufe  von  10  Tagen 

6  mm3  pro  Gramm 
Tier 

» 

14 

20  g 

16  Tabletten  im 
Laufe  von  10  Tagen 

57s  mm3  Pro 
Gramm  Tier 

1 

Diese  Ergebnisse  erlauben  den  Schluß,  daß  Hypophysen¬ 
extrakt  zur  Entstehung  der  Hyperresistenz  gegen,  CH3CN  nicht 
beitrage. 

5.  Versuch.  Dieser  Versuch  sollte  zeigen,  ob  der  Extrakt 
der  Thymusdrüse  die  Entstehung  der  Azetonitrylhyperresistenz 
beeinflusse.  Man  verwendete  Thymusdrüseinextrakt  Merck.  Eine 
Tablette  enthält  0  05  g  aktiver  Substanz. 


Tabelle  6. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Menge  von  Thy¬ 
musextrakt 

CH3  CN-Menge 

. 

•  . 

Ausgang 

15 

13  g 

11  Tabletten  in 

11  Tagen 

57s  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

16 

15  g 

11  Tabletten  in 

11  Tagen 

6  mm3  pro  Gramm 
Tier 

» 

Diese  Ergebnisse  zeigen,  daß  auch  T hy mu s drüs encxtra k t 
heim  Entstehen  der  Azetonitiylhyperresistemz  nicht  beteiligt  ist. 

6.  Versuch.  Zweck  dieses  Versuches  war,  zu  erfahren, 
oh  Ovarialextrakt  (verwendet  wurde  Oophorin  Landau)  Einfluß 
auf  das  Zustandekommen  der  Hyperresisten z  gegen  Azetonitryl 
Einfluß  habe. 

Tabelle  7. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Menge  des 
Ovarialextraktes 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

17 

18  g 

5  g  in  10  Tagen 

57s  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

- 

18 

18  g 

5  g  in  10  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

»  •  : 

19 

15  g 

5  g  in  10  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

»  . 

Diese  Ergebnisse  erlauben  den  Schluß,  daß  Ovarialextrakt 
keinen  Einfluß  auf  die  Entstehung  der  Azetonitrylhyperresistenz 

habe.  '•  ■  •  Ikl. 

7.  Versuch.  Dieser  Versuch  sollte  zeigen,  ob  das  Pro¬ 
stataextrakt  auf  das  Entstehen  der  Widerstandserhöhung 
Azetonitryl  Einfluß  besitze.  Verwendet  wurde  Prostatin,  ein  I:  ra- 
parat.  aus  dem  organolherapeutischen  Institut  Poehl  in  Peters 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


789 


burg.  Jede  Tablette  enthält  (angeblich)  0-5  der  wirksamen  Drüsen- 

substaiiz. 


Tabelle  8. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Menge  des 
Prostataextraktes 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

20 

13  g 

5  g  in  20  Tagen 

57a  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

21 

12  g 

5  g  in  20  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

22 

12  g 

5  g  in  20  Tagen 

6  mm8  pro  . 
Gramm  Tier 

» 

Diese  Ergebnisse  führten  zum  Schluß,  daß  auch  Prosta, ta- 
extrakt  das  Entstehen  der  Azetonitiylhyperresistenz  nicht  be¬ 
einflusse. 

8.  Versuch.  Dieser  Versuch  wurde  angestellt,  um  zu  prüfen, 
welchen  Einfluß  auf  das  Z u s tändele ommei l  der  Hyperresisteuz 
gegen  Azetonitryl  das  Blut  eines  durch  längere  Zeit  mit  Schild- 
drüsenpräparaten  behandelten  Menschen  habe.  Dieses  Blut  sollte 
voraussichtlich  aus  der  Schilddrüse  herrührende  Substanzen  in 
größerer  Menge  als  normal  enthalten.  Das  Blut  stammte  von  einer 
45jährigen  Frau.  Diagnose:  Hirntumor  (Fibrom;  des  Ganglion 
Gasseri).  Sie  bekam  durch  15  Tage  täglich  sechs  Thyreoid  iu- 
ta,l Hotten  von  Parke- Davis,  die  Schilddrüsenzufuhr  machte  sich 
bei  dieser  Patientin  weder  durch  Tachykardie,  noch  Abmagerung 
oder  sonst  durch  irgendwelche  Erscheinungen  geltend.  Mittels 
Aderlaß  wurden  ihr  30  cm3  Blut  vor  Beginn  der  Schilddrüsen¬ 
behandlung  entnommen,  nach  derselben  wurde  der  Aderlaß  wieder¬ 
holt.  Das  Blut  wurde,  wie  es  im  zweiten  Teile  dieser  Arbeit 
näher  beschrieben  wird,  getrocknet  und  mit  den  beiden  erhaltenen 
Rückständen  wurden  zwei  Reihen  von  Mäusen  gefüttert. 


Tabelle  9.  (Vor  der  Schilddriisenbehandlung.) 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutmenge 

CH„  CN-Menge 

Ausgang 

23 

16  g 

1'6  g  in  8  Tagen 

6  mm9  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

1  24 

16  g 

1'6  g  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

25 

17  g 

1'6  g  in  8  Tagen 

57,  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

T  a  b  e  1 

le  10.  (Nach  der  Schilddrüsenbehandlung.) 

Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutmenge 

CH,,  CN-Menge 

-i 

Ausgang 

26 

18  g 

1'6  g  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

27 

17  g 

1'6  g  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

* 

CO 

fM 

20  g 

1'6  g  in  8  Tagen 

57*  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

Tabelle  11. 


Tier- 


I 


Ge¬ 


nummer  i  wicht 


29 

30 

31 


18  g 


18  g 

19  g 


Blutmenge 


CH,  CN-Menge 


4  g  in  20  Tagen 
4  g  in  20  Tagen 
4  g  in  20  Tagen 


5 */,  mm3  pro 
Gramm  Tier 

5 V2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

6  mm3  pro  Gramm 
Tier 


Ausgang 


Tod 


Diese  Ergebnisse  gestatten  den  Schluß,  daß  Verbitterung 
von  Blut,  das  aus  den  abführenden  Schilddrüsenvenen  fließt, 
nach  elektrischer  Reizung  der  Drüse,  keinen  Einfluß  auf  das 
Entstehen  der  Azetylhy perresistenz  habe. 

10.  Versuch.  Hier  wollte  ich  untersuchen,  welchen  Einfluß 
auf  die  Entstehung  der  A ze t o n i t r y  1  hy i ierr esi;s tenz  das  Serum  eines 
thyreoidektomierten  Tieres  (Hammel)  habe.  Gleichzeitig  konnte 
ich  so  diel  Ergebnisse  Re  id  Hunts  und  Trend  elenbuilgs, 
die  in  ihren  Ergebnissen  nicht  ganz  übereinstimmen,  nachprüfen. 
E:s  wurde  Moebi  u  s  sches  Serum  (Antithyreoidin)  von  Merck 
verwendet  und  mit  zerstoßenem'  Zwieback  vermengt,  in  den  unten 
angegebenen  Mengen  (siehe  Tabelle  12)  verabfolgt. 


Tabelle  12. 


Tier-  Ge¬ 
nummer  I  wicht 


32 

33 

34 


15  g 
14  g 


Menge  von  Anti¬ 
thyreoidin 


CH„  CN-Menge 


3  cm3  in  7  Tagen 
3  cm3  in  7  Tagen 


16  g  I  3  cm3  in  7  Tagen 


ö'/a  mm3  pro 
Gramm  Tier 

57a  nun3  pro 
Gramm  Tier 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 


Ausgang 


Tod 


Dieses  Ergebnis  zeigt,  daß  das  Serum  eines  thyreoidekto¬ 
mierten  Tieres  (Hammel)  keinen  besonderen  Einfluß  auf  das  Zu¬ 
standekommen  der  Hyperresistenz  gegen,  Azetonitryl  zu  haben 
braucht. 

11.  V  ersuch.  Hier  sollte  untersucht  werden,  wie  der  le¬ 
bende  Organismus  auf  Azetonitryl  reagiere,  wenn  sich  die  Drüsen 
mit  innerer  Sekretion  im  Zustande  der  physiologischen  Hyper¬ 
funktion  befinden.  Da  nun  bekanntlich  eine  solche  Hyperfunktion 
in  der  Schwangerschaft  und  im  Puerperiuim  zustande  kommt, 
wurden  in  diesem  Versuche  weibliche  Mäuse  injiziert,  die  vor 
einem  Tage  geboren  hatten. 


Tabelle  13. 


Tiernummer 

Gewicht 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

35 

18  g 

47a  mm3  pro  Gramm  Tier 

Tod 

36 

19  g 

4 '4  mm3  pro  Gramm  Tier 

* 

37 

19  g 

41/,  mm3  pro  Gramm  Tier 

» 

Diese  Ergebnisse  gestatten  die  Annahme,  daß  Verfütterung 
von  Eint,  das  von  Menschen  herrührt,  die  längere  Zeit  hindurch 
mit  ziemlich  großen  Dosen  von  Schilddrüsenpräparaten  behan¬ 
delt  wurden,  keinen  besonderen  Einfluß  auf  das  Entstehen  von 
Hyperresistenz  gegen  Azetonitryl  auszuüben  imstande  sei. 

9.  Versuch.  Mit  dieser  Versuchsreihe  sollte  geprüft  werden, 
ob  Verfütterung  des  Blutes,  das  nach  vorausgegangener  elektri¬ 
scher  Reizung  der  Schilddrüse  (im  Sinne  vom  Wiener)  oder 
während  derselben  aus  einer  ihrer  großen!  Venen  fließt  und  das 
an  innerem  Sekret  reich  sein  dürfte,  auf  das  Zustandekommen 
der  Widerstandserhöhung  gegen  Azetonitryl  einen  Einfluß  habe. 
Zu  diesem  Zwecke  wurde  einem  großen  Hunde  (Gewicht  ungefähr 
10  kg)  in  Aetbernarkose  die  Schilddrüse  heramsprä pariert  und 
links  und  rechts  von  den  umgehenden  Geweben  isoliert;  di. 
wichtigsten  abfließenden  Venenzweige  wurden  gleichzeitig  mit 
den  beiden  Nervi  laryngei  inferior  freigelegt.  Letztere  wurden 
mit  einem  Induktionsapparat  verbunden  und  mit  schwachen  fara- 
dischen  Strömen  gereizt.  Nun  wurde  in  eine  der  freigelegten 
großen  Venen  eine  zugespitzte  Kanüle  eingeführt  und  bei  fortdau¬ 
ernder  elektrischer  Reizung  ließ  man  im1  ganzen  ungefähr  40  cm3 
Blut  .abfließen'.  Dieses  wurde  getrocknet,  wie  es  später  beschrieben 
ist  und  dann  damit  eine  Reihe  von  Mäusen  gefüttert. 


Diese  Resultate  'beweisen,  daß  ein  Zustand  von  physio¬ 
logischer  Ueberfunktion  der  endokrinen  Drüsen  den  lebenden 
Organismus  (zumindest  bei  weißen  Mäusen)  dem  Azetonitryl  gegen¬ 
über  nicht  widerstandsfähiger  werden  läßt. 

* 

Aus  den  oben  angeführten  Untersuchungen  ergibt  sich 
also,  daß,  die  Injektionen  von  tödlichen  oder  (größeren  Dosen 
von  Azetonitryl  bei  Mäusen  stets  den  Tod  herbeiführten, 
auch  nach  Einverleibung  der  Sekretionsprodukte  von  ver¬ 
schiedenen  endokrinen  Drüsen,  wie :  Hypophyse,  Epithel¬ 
körperchen,  Thymus,  Nebennieren,  Ovarium,  Prostata.  Eben¬ 
so  trat  der  Tod  durch  Azetonitryl  stets  ein  nach  Einverlei¬ 
bung  von  Blut  eines  Menschen,  der  mit  Schilddrüsenextrakt 
vorbehandelt  war,  oder  nach  Fütterung  mit  Blut,  das  aus 
den  abfließenden  Venen  einer  elektrisch  gereizten,  tieri¬ 
schen  Schilddrüse  stammte;  ebenso  nach  Verfütterung  des 
Serums  eines  thyreoidektomierten  Hammels  oder  nach 
Gaben  von  Jodpräparaten. 

Mit  dieser  ganzen)  Reihe  von  Körpern  gelang  es  also 
nicht,  die  Widerstandfähigkeit  gegen  Azetonitryl  deutlich  zu 


740 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


steigern,  wie  sie  nach  Verfütterung  von  Schilddrüsenextrak¬ 
ten  auftritt  und  die  wir  nach  den  übereinstimmenden  Ergeb¬ 
nissen  R  e  i  d  Hunts  und  Trendelen  burgs  als  kon¬ 
stante  Erscheinung  ansehen  müssen.  Diese  Tatsache  würde 
also  für  die  spezifische  Wirkung  des  Schilddrüsenextraktes 
sprechen,  wenigstens  mit  Bezug  auf  die  bisher  in  diesem 
Sinne  untersuchten  anderen  innersekretorischen  Drüsen¬ 
produkte.  Obwohl  diese  Annahme  einer  spezifischen  Wir¬ 
kung  des  Schilddrüsenextraktes  durch  die  Ergebnisse  meines 
achten  und  neunten  Versuches  nicht  gestützt  wird.  In  diesen 
beiden  Fällen  kann  aber  angenommen  werden,  daßi  das  Blut 
deshalb  unwirksam  war,  weil  es  nur  ungenügende  Mengen 
von  aktiven  Drüsensubstanzen  enthielt,  oder  weil  der  Tier¬ 
körper,  in  den  es  gebracht  wurde,  Veränderungen  erleiden 
mußte  (letzteres  wenigstens  beim  achten  Versuch). 

Außerdem  bestätigt  der  erste  Versuch,  daß  dem  im 
Schilddrüsenextrakt  enthaltenen  Jod  für  die  Entstehung  der 
Hyperresistenz  gegen  Azetonitryl  keine  besondere  Bedeu¬ 
tung  zukomme.  Dies  entspricht  den  Ergebnissen  T  r  en¬ 
de  1  e  n  b  u  r  g  s  und  widerspricht  denjenigen  R  e  i  d  Hunt  s. 

Der  zehnte  Versuch  endlich  bestätigt  Reid  Hunts 
Angaben  bezüglich  der  Unwirksamkeit,  des  Blutes  thyreoid- 
ektomierter  Tiere.  Teilweise  finden  hier  auch  die  früher 
angeführten  Angaben  Trendel  e.n  burgs  —  daßi  das  Blut 
solcher  Tiere  unwirksam  sei,  wenn  es  mehrere  Tage  nach 
der  Thyreoidektomie  entnommen  wird  —  eine  Bestätigung. 

* 

In  folgendem  sind  die  Versuche  zusammengefaßit,  die 
unternommen  wurden,  um  zu  erfahren,  wie  weiße  Mäuse 
auf  die  tödliche  oder  eine  größere  Dosis  von  Azetonitryl 
(letztere  war  stets  um  0-5  mm3  pro  Gramm  Tier  größer 
als  die  tödliche)  reagieren,  nach  längerer  Fütterung  mit 
dem  Blute  von  Menschen,  die  an  diversen  Erkrankungen 
litten.  Zur  Feststellung  des  Einflusses  von  normalem  Blute 
der  gebräuchlichen  Laboratoriumstiere  und  von  Menschen- 
blut  wurden  keine  Versuche  angestellt;  denn  nach  Reid 
Hunts  und  Trendelen  burgs  Untersuchungen  ist  es 
sicher,  daß.  das  normale  Blut  von  Hunden,  Katzen  und  des 
(nicht  an  besonderen  Erkrankungen  leidenden)  Menschen, 
weißen  Mäusen  einverleibt,  nicht  zur  Entstehung  der  Hyper¬ 
resistenz  gegen  Azetonitryl  beiträgt;  ja  nach  Reid  Hunt 
setzt  es  die  Widerstandsfähigkeit  sogar  herab. 

In  einer  Anzahl  von  Fällen  führte  ich  die  Reaktion 
mit  dem  Blute  von  Menschen  aus,  bei  welchen  wahrschein¬ 
lich  oder  sicher  funktionelle  Veränderungen  der  Drüsen 
mit  innerer  Sekretion  (Hypo-  oder  Hyperfunktion)  und  ins¬ 
besondere  anatomische  und  funktionelle  Störungen  der 
Schilddrüsen  bestanden. 

Das  Blut  wurde  aus  einer  KubitalVene  steril  entnommen, 
im  Vakuum  getrocknet,  sehr  fein  zerrieben  und  mit  gestoßenem 
Zwieback  innig  vermengt.  Aus  diesem  Geimisch  wurden  mit  Wasser 
dicke,  gleich  große  Pillen  geformt  und  täglich  den  Mäusen  vor¬ 
gelegt.  Ehe  das  verriebene  Blut  mit  Zwieback  vermengt  war, 
wurde  es  stets  gewogen.  So  war  bekannt,  welche  Blutmenge  in 
einer  gewissen  Anzahl  von  Pillen  und  auch  in  jeder  einzelnen 
enthalten  war.  Um  bei  den  Ergebnissen  stets  ein  sicheres  Ver¬ 
gleichsmoment  zu  besitzen,  bemühte  ich  mich,  Pillen  herzustellen, 
die  immer  je  20  cg  Blutpulver  enthielten.  Sie  wurden  täglich 
morgens  gegeben  und  ehe  sie  nicht  verzehrt  waren,  erhielten 
die  Tiere  kein  anderes  Futter.  Im  allgemeinen  fraßen  die  Mäuse 
die  Pillen  gerne  und  verzehrten  sie  innerhalb'  vier  bis  fünf 
Stunden.  Gewöhnlich  wurden  die  Pillen  durch  zehn  Tage  ver¬ 
teilt,  so  daß  am  Ende  dieser  Zeit  jedes  Tier  ,2  g  Blutpulver 
vertilgt  hatte.  25  cm3  Blutes  genügen,  um  diejenige  Menge  Blut¬ 
pulver  zu  erhalten,  die  zur  Ausführung  der  Reaktion  an  drei 
Mäusen  nötig  ist.  Nach  dieser  vorbereitenden  Periode  wurde 
Azetonitryl  injiziert  u.  zw.  in  Mengen,  die  nach  zahlreich  aus¬ 
geführten  Versuchen,  den  Tod  in  wenigen  Stunden  herbeiführen. 
Man  verabreichte  auch  größere  Dosen  u.  zw.  stets  Vs  mm3  pro 
Gramm  Tier  mehr,  als  die  jeweilige  tödliche  Dosis  betrug.  Weitere 
Einzelheiten  sind  aus  den  verschiedenen  Tabellen  ersichtlich. 

1.  'S.  A.  Pal.  klagt  seit  einiger  Zeit  über  hart¬ 

näckige  Kopfschmerzen  und  Schwindel;  psychische  Störungen. 
Die  Untersuchung  ergibt,  hauptsächlich:  mäßige  Fazialisparese 
rechts,  Schwerhörigkeit  des  rechten  Ohres,  Stauungspapille,  tor¬ 


kelnder  Gang  mit  Neigung,  nach  rechts  zu  fallen;  Romberg- 
sches  Phänomen. 

Diagnose:  Tumor  cerebri  (Sektionsbefund:  Neurofibrom 
des  Ganglion  Gasseri). 

Tabelle  I. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

C.H3  CN-Menge 

Ausgang 

i 

16  g 

160  cg  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

2 

16  g 

160  cg  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

3 

16  g 

160  cg  in  8  Tagen 

5 Va  mm3  pro 
Gramm  Tier 

*  i 

2.  M.  K.,  52  Jahre  alt. 

Anamnese:  Masern,  Bleivergiftung,  im  Jahre  1906  Haut- 
leiden  zweifelhafter  Natur,  das  durch  die  Behandlung  nicht  be¬ 
einflußt  wurde.  1910  trat  Muskelschwäche  auf,  Dyspnoe  und 
dann  Schwellung  dier  Lymphdrüsen,  besonders  der  zervikalen 
und  axillaren;  Milz  Vergrößerung.  Die  Blutuntersuchung  ergab  im 
November  eine  Zunahme  der  weißen  Blutkörperchen'  (63.000), 
davon  55.000  Lymphozyten. 

Diagnose:  Lymphatische  Leukämie. 


Tabelle  II. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

4 

17  g 

18  g  in  9  Tagen 

5 '/a  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

5 

19  g 

2  2  g  in  11  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

3.  X.  X.,  ungefähr  SOjähriger  Mann.  Früher  Lues;  Patient 
klagt  bei  der  Aufnahme  über  Schmerzen  hinter  dem  Brustbein, 
Herzklopfen,  Dyspnoe.  Bei  der  Untersuchung  lassen  sich  die  ge¬ 
wöhnlichen  Symptome  der  Atherosklerose  und  der  Aortitis  nach- 
w eisen.  Außerdem  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels  und  ein 
starkes  Geräusch  nach  dem  zweiten  Aortenton. 

Diagnose:  Lues,  Atherosklerose  der  peripheren  Gefäße, 
Aortitis,  Aorteninsuffizienz. 


Tabelle  III. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht. 

Bl  utp  ulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

6 

13  g 

P2  g  in  6  Tagen 

572  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

7 

14  g 

16  g  in  8  Tagen 

572  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

8 

19  g 

16  g  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

4.  X.  X.,  ungefähr  55jährige  Frau.  Früher  wegen  Tumor 
hysterekfomiert;  Pat.  klagt  über  Schmerzen  an  den  linken  Rippen 
und  Dyspnoe.  Die  physikalische  Untersuchung  und  die  Probe¬ 
punktion  ergeben  ein  beträchtliches  serofibrinöses  Exsudat  der 
linken  Pleurahöhle.  Die  Palpation  des  Abdomens  zeigt  eine  Ge¬ 
schwulst.  im  kleinen  Becken. 

Diagnose:  Pleuritis  exsudativa  serofibrinosa  links,  Tumor 
abdominis. 

Tabelle  IV. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

9 

14  g 

P6  g  in  8  Tagen 

o'/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

i 

10 

16  g 

16  g  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

* 

11 

18  g 

P6  g  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

5.  K.  E.,  28  Jahre  alt.  Pat.  machte  Masern  durch;  leidet 
seit  einigen  Monaten  an  Schmerzen  in  den  Lenden  und  in  den. 
unteren  Extremitäten,  Kopfschmerzen,  besonders  nachts.  Wasser 
m  a  n  n  sehe  Reaktion  positiv. 

Diagnose:  Lues ;  mäßige  Schilddrüsen  Vergrößerung. 


Nr  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


741 


Tabelle  V. 


Tier- 

1  nunimer 

j  Ge¬ 
wicht 

Blutpulvermenge 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

12 

16  g 

1'6  g  in  8  Tagen 

ö'/j  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

13 

18  g 

16  g  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

14 

17  g 

12  g  in  6  Tagen 

5  ‘/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

6.  K.  J.,  20  Jahre  alt.  Bei  der  Aufnahme  Kopf-,  und  Magen- 
chmerzen,  Appetitlosigkeit,  Hyperazidität,  Magenerweiterung, 
rasomotorische  Störungen  mit  entsprechendem  Kälte-  und  Wärme- 
efiihl  in  den ’Extremitäten,  Lymphdrüsen  des  Mundeis  und  Rachens 
lyperplas  tisch. 

Diagnose:  Vagotonie. 

Tabell 

e  VI. 

Tier- 

nunimer 

( _ 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

15 

13  g 

1'2  g  in  6  Tagen 

5'/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

16 

18  g 

l’S  g  in  9  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

17 

25  g 

1*8  g  in  9  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

7.  M.  R.,  61  Jahre  alt.  Pat.  hat  siebenmal  geboren.  Vor 
20  lehren  litt  sie  sechs  Wochen  lang  an  Gelbsucht  und  Abmage¬ 
rung.  Seit  Oktober  1910  Schmerzen  im  Epigastrium,  Appetit- 
verlust;  im  Januar  1911  Hartleibigkeit,  Ikterus,  starke  Abmage¬ 
rung,  weitere  Verminderung  des  Appetites,  Ruktus. 

Status  praesens:  Die  Leber  ist  stark  vergrößert;  in  der 
Höhe  der  Gallenblase  fühlt  man  eine  große,  harte  Geschwulst, 
die  druckempfindlich  ist.  Im  Harne  Gallenfarbstoffe,  Urobilin 
in  geringen  Mengen.  Die  Oxyproteinsäure  beträgt  3%  des  Ge¬ 
samtstickstoffes. 

Diagnose:  Neoplasma  der  Gallenwege,  Ikterus. 


Tabelle  VII. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

18 

13  g 

P4g  in  7  Tagen 

51/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

19 

13  g 

14  g  in  7  Tagen 

5 7,  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

20 

16  g 

14  g  in  7  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

8.  K.  0.,  28  Jahre  alt.  Früher  Arthritis  rheumatica  acuta, 
Pleuritis,  Diphtheritis ;  acht  Tage  vor  der  Aufnahme  Schmerzen 
im  Schlunde,  Fieber.  Diese  Symptome  sprechen  für  die  Dia¬ 
gnose  Pharyngolaryngitis  acuta. 


Tabelle  VIII. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

21 

13  g 

16  g  in  8  Tagen 

47*  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

22 

17  g 

P6  g  in  8  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

9.  J.  K.,  58  Jahre  alt.  Früher  Masern,  Diphtherie;  seit 
fünf  Jahren  Magenschmerzein,  die  besonders  nach  den  Mahlzeiten 
stärker  werden.  Häufig  Kopfschmerzen,  geringer  Appetit,  Hart¬ 
leibigkeit. 

Diagnose:  Atherosklerose,  Cholelithiasis,  mäßige  Schild¬ 
drüsenvergrößerung. 

Tabelle  IX. 


Tier- 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

23 

15  g 

18  g  in  9  Tagen 

47,  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

24 

16  g 

1'8  g  in  9  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

y> 

10.  H.  F.,  41  Jahre  alt.  Früher  Masern;  seit  Februar 
Dyspnoe,  Herzklopfen,  leichtes  Oedem  an  den  unteren  Extre¬ 
mitäten  (Füßen).  Das  Herz  stark  vergrößert,  besonders  der  linke 
Ventrikel,  Herztöne  dumpf. 

Diagnose:  Myokarditis,  Atherosklerose  der  Nierengefäße. 


Tabelle  X. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 
wicht  1 

Blutpulvermenge 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

25 

I 

17  g 

P8  g  in  9  Tagen 

5  nun3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

26 

17  g  ! 

P8  g  in  9  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

11.  H.  'E.,  28  Jahre  alt.  Pat.  befindet  sich  im  vierten 
Monate  der  Schwangerschaft.  Seit  ungefähr  zehn  Tagen  fortwäh¬ 
rendes  Erbrechen;  bedeutende  Abmagerung.  Innere  Organe  normal. 

Diagnose:  H yper emesis  gravidarum . 


Tabelle  XI. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

27 

14  g 

2  4  g  in  12  Tagen 

51/,  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

28 

17  g 

2'4  g  in  12  Tagen 

6  mm8  pro 
Gramm  Tier 

29 

17  g 

2'4  g  in  12  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

12.  M.  A.,  23  Jahre  alt.  Pat.  hat  wenige  Tage  vor  der  Auf¬ 
nahme  geboren,  klagt  über  unbestimmte  Beschwerden.  Die  Harn¬ 
analyse  ergibt  die  Anwesenheit  von.  Eiweiß  und  von  roten  und 
weißen  Blutkörperchen. 

Diagnose:  Nephritis?  Nierenanschoppung. 


Tabelle  XII. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht. 

Blutpulvermenge 

CH,  CN-Menge 

Tod 

30 

15  g 

16  g  in  8  Tagen 

57,  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

31 

13  g 

16  g  in  8  Tagen 

51/,  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

32 

17  g 

1'6  g  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

13.  M.  F.,  62  Jahre  alt.  Seit  einigen  Monaten,  (von  August 
an)  klagt  Pat.  über  ein  Gefühl  der  Völle,  das  nach  den  Mahl¬ 
zeiten  lange  anhält,  so  daß  sie  nur  flüssige  Nahrung  zu  sich 
nehmen  kann. 

Diagnose:  Chronische  Gastritis,  Pylorusstenose;  chro¬ 
nische  Schilddrüsenschwellung. 

Tabelle  XIII. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

33 

16  g 

2  g  in  10  Tagen 

5 V2  nim3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

34 

19  g 

2  g  in  10  Tagen 

57*  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

85 

18  g 

2  g  in  10  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

14.  M.  S.,  30  Jahre  alt.  Pat.  leidet  seit  einigen  fahren  an 
Schmerzen  im  Abdomen;  zuweilen  a|n  gleichzeitigem  Erbrechen. 
Die  Harnanalyse  ergibt  Eiweiß,  Anwesenheit  von  roten  und  weißen 
Blutkörperchen,  Nierenepithel ien  und  Zylindern. 

Diagnose:  Nephritis  subacuta,  mäßige  Schilddrüsenver¬ 
größerung. 


742 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


Tabelle  XIV. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

36 

13  g 

37 

18  g 

38 

20  g 

15.  S.  J., 

Blutpulvermenge  :  CI13  CN-Menge 


U8  g  in  9  Tagen  J 

I 

1'8  g  in  9  Tagen  j 
18  g  in  9  Tagen 


57* 


pro 


Gramm  Tier 

5’/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 


leidet  seit  drei  I ähren  an 


Ausgang 


Tod 


wpiJreDSnJiisgeiuiiie'ii  uu  ircirai,  vuu  zjciiu  u  uu«  -mm  . 

von  retrosternalen  Schmerzen  und  typische  Dyspnoe,  Husten, 
Thora.xischmerzen,  Vemichtungsgefühl.  Der  Befund  an  Herz  und 
Gefäßen  drängt  zur  Diagnose  Atherosklerose  und  Aortitis; 
Schilddrüsen  Vergrößerung. 


Tabelle  XV. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CHj  CN-Menge 

Ausgang 

39 

15  g 

16  g  in  8  Tagen 

51/2  mm1  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

40 

17  g 

16  g  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

16.  X.  E.  Seit  einiger  Zeit  leidet  Pat.  an  Schwäche,  Ab¬ 
magerung,  Husten  und  Auswurf.  Die  Untersuchung  der  Lunge 
und  des  Sputums,  das  Koch  sehe  Bazillen  zeigt, 


Diagnose:  Tuberculosis  pulmonum;  mäßige 
größerung. 

Tabelle  XVI. 


erg  eben  die 
Schild  driisen  ver- 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

41 

18  g 

21  g  in  11  Tagen 

5^2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

42 

18  g 

1‘8  g  in  9  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

43 

20  g 

2  ig  in  11  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

17.  K.  A.,  25  Jahre  alt.  Die  Schilddrüse  ist  schon  seit 
mehreren  Jahren  vergrößert.  Seit  einigen  Monaten  bemerkt  diei 
Patientin  eine  fortschreitende  Hervorwölbung  der  oberen  und 
mittleren  Brustabschnitte  mit  dem  Gefühl  der  Atembehinderung. 
Das  physikalische,  vom  Rüntgenbilde  bestätigte,  üntersuchuiigs- 
ergebnis  veranlaßte  uns  zur  Diagnose  sehr  starke  Vergrößerung 
der  Schilddrüse,  die  sich  hinter  dais  Sternum  ausbreitet. 


Tabelle 

XVII. 

Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

44 

19  g 

16  g  in  8  Tagen 

6'/s  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

45 

17  g 

U6  g  in  8  Tagen 

5  '/a  mm3  pro 
Gramm  Tier 

46 

28  g 

1  6  g  in  8  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

18.  W.  K.,  19  Jahne  alt.  Früher  Keuchhusten;  Pleuro¬ 
pneumonie.  Seit  drei  Jahren  Muskelschwäche,  Blutarmut,  mäßige 
Abmagerung,  die  trotz  Behandlung  f ortbestehen,  ln  der  Klinik 
wurde  im  Harn  1  bis  3°/o  Zucker  festgestellt. 

D  i  a  g  n  o  s  e :  Diabetes  mellitus . 


19.  X.  X.  Früher  Lues;  Urethritis  gonorrhoica.  Vor  einigen 
Jahren  wurde  Diabetes  diagnostiziert;  später  oft  wiederholte  Harn¬ 
analysen  ergaben  bald  Anwesenheit  von  Zucker,  bald  nicht.  All¬ 
gemeinbefinden  und  Ernährungszustand  sind  ziemlich  gut.  All¬ 
gemeine  Atherosklerose.  Die  letzte  in  der  Klinik  ausgeführte 
Harnanalyse  ergab  keinen  Zucker,  aber  Eiweiß  und  Zylinder. 

Diagnose:  Chronischer  Diabetes  in  einer  aglykosurischen 
Periode;  chronische  Nephritis. 

Tabelle  XIX. 


Tier- 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

50 

16  g 

U6  g  in  8  Tagen 

5 mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

51 

20  g 

16  g  in  8  Tagen 

bl/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

52 

21  g 

2  g  in  10  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

20.  S.  P., 

39  Jahro  alt.  Pat.  litt  früher  an 

Gelenksrhett 

matismus.  Seit  einigen  Monaten  Schmerzen  in  den  unteren  Extre¬ 
mitäten  und  im  Bereiche  des  Nervus  ischi, adieus ;  Muskelschwäche. 
Im  Harn  Wird  1%  Zucker  nachgewiesen,  der  sehr  bald  ver¬ 
schwindet. 

Diagnose:  Leichter  Diabetes,  Schilddrüsertvergrößeraiig. 


Tabelle  XX. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

53 

1-4  g  in  7  Tagen 

ö-1/,  mm3  pro 
Gramm  Tier 

* 

bleibt  am 
Leben 

54 

18  g 

D4  g  in  7  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

55 

18  g 

18  g  in  9  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

21.  K.  A.,  51  Jahre  alt.  Pat. 

hat  Gelenksrheumatisinus  um 

Influenza  überstanden.  Sie  klagt  seit,  einigen  Wochen  über  Muskel¬ 
schwäche,  Herzklopfen,  Kopfschmerzen.  Der  linke  Ventrikel  ist 
hypertrophisch,  die  Gefäße  fühlen  sich  hart  an.  Die  Harnanalyse 
zeigt  Eiweiß,  Epithelien  und  Zylinder.  In  den  letzten  Tagen 
traten  charakteristische  Symptome  von  Urämie  auf.  In  dieser 
Zeit,  wurde  der  Aderlaß  ausgeführt. 

Diagnose:  Nephritis  chronica,  schwere  Urämie,  Athero¬ 
sklerose. 

Tabelle  XXI. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

56 

22  g 

2  g  in  10  Tagen 

51/,,  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

57 

22  g 

2  g  in  10  Tagen 

572  utm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

58 

22  g 

2  g  in  10  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

22.  S.  M.,  56  Jahre  alt.  Vor  einem  Jahre  wurde  die  Pa¬ 
tientin  wegen  Beschwerden,  über  die  sie  jetzt  klagt,  in  die  Klinik 
auf  genommen ;  damals  wurde  sie  gebessert  entlassen.  Später  litt 
sie  mit  Unterbrechungen  an  Anfällen  von  Kopfschmerzen,  Er¬ 
bte 'ben,  Herzklopfen,  Oedeme.  Während  eines  solchen  Anfalls 
wird  sie  zum  zweiten  Male  in  die  Klinik  aufgenommen. 

Die  chemisch -mikroskopische  Harnuntersuchung  ergibt  das 
selbe  Resultat  wie  vor  einem  Jahre  und  bestätigt  die  frühere 
Diagnose  chronische  Nephritis,  mittelschwere  Urämie. 


Tabelle  XVIII. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

• 

C1I3  CN-Menge 

Ausgang 

47 

15  g 

1*4  g  in  7  Tagen 

b'/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

48 

14  g 

22  g  in  11  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

r> 

49 

18  g 

2  6  g  in  13  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

I 

1 

Tabelle  XXII. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH.,  CN-Menge 

Ausgang 

59 

18  g 

18  g  in  9  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am  , 
Leben 

60 

20  g 

18  g  in  9  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

61 

22  g 

18  g  in  9  Tagen 

4’/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


743 


Nr.  21 


23.  M.  A.,  34  Jahre  alt.  Pat.  hat  seit  ungefähr  sechs  Jahren 
Beschwerden,  die  für  eine  Nierenaffektion  sprechen.  Der  chemisch¬ 
mikroskopische  Harnbefuml  ist  typisch  dafür1;  mit  Unterbrechungen 
treten  Verschlimmerungen  mit  urämischen,  Erscheinungen  a,uf. 
D  i  a  g  n  o  s  e :  Chronische  Nephritis,  U rämie. 


Tabelle 

XXIII. 

Tier- 

j  mi  miner 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

1  CH3  CN-Menge 

Ausgang 

62 

17 

1‘4  g  in  7  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

63 

17 

1'4  g  in  7  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

24.  B.  A.,  46  Jahre' alt.  Seit  einigen  Jahren  hat  Pat.  cha¬ 
rakteristische  Hautveränderungen  an  Gesicht,  Händen  und  unteren 
Extremitäten.  Schilddrüse  nicht  tastbar. 

D  i  :a,g  n  o  s  e :  Sklerodermie. 

Tabelle 

XXIV. 

Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

64 

17  g 

2  g  in  10  Tagen 

5l/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

65 

19  g 

2  g  in  10  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

25.  Z.  M.,  50  Jahre  alt.  Die  Schilddrüse  ist  nicht  tastbar; 
m  den  Supraklavikulargruhen  s,i!n|d  beiderseits  zwei,  Fettdepots 
sichtbar  und  tastbar;  vorne  am  Abdomlen  finden  sich  beiderseits 
dicke  Fettablagerungen.  Nates  und  Schenkel  zeigen  ebenfalls  sehr 
starken  Pannikulus.  Pat.  klagt  über  Schmerzen,  in  den  erwähnten 
Fettablagerungen. 

Diagnose:  Adipositas  dolorosa. 


Tabelle  XXV. 


28.  S.  F.,  17  Jahre  alt.  Pat.  überstand  in  der  Kindheit 
Masern,  Appendizitis,  Typhus.  14  Tage  vor  der  Aufnahme  in 
die  Klinik  machte  Pat.  eine  Angina  Idiphtherica  durch,  an  die 
sich  eine  akute  Nephritis  mit  intensiven  Symptomen  von  An¬ 
schoppung  und  Hämorrhagien  in  der:  Niere  anschloß.  Gleichzeitig 
begann  die  Schilddrüse  größer  zu  werden.  Später  hatte  Patientin 
stärkeres  Herzklopfen,  Arterien  pulsation,  Muskelschwäche,  leichtes 
Zittern,  Schweißabsonderung,  Erbrechen.  Am  Tage  der  Aufnahme 
bemerkt  man  eine  mäßige  Schilddrüsenvergrößerung,  starke  Pul¬ 
sation  mit  ziemlich  intensivem1  Geräusch  an  der  Drüse.  Graefe 
leicht  positiv.  Die  chemisch -mikroskopische  Untersuchung  des 
Harnes  ergibt  Nephritis.  Während  des  Aufenthaltes  in  der  Klinik 
besserte  sich  die  Nephritis  immer  mehr,  die  Muskelschwäche  wurde 
bedeutend  geringer,  das  Zittern  verschwand  fast  ganz,  das  Er¬ 
brechen  hörte  auf  und  das  Herzklopfen  nahm  sehr  stark  ab. 

Diagnose:  Nephritis  postdiphtherica;  Basedowoid. 


Tabelle  XXVIII. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

74 

16  g 

1'4  g  in  7  Tagen 

5'/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

75 

18  g 

14  g  in  7  Tagen 

5'/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

76 

1 

20  g 

P4  g  in  7  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tief 

» 

29.  H.  A.,  37  Jahre  alt.  Pat.  überstand  mit  sieben  Jahren 
Masern,  mit  neun  Jahren  Pleuropneumonie.  1  Seit  Juni  1910  be¬ 
merkt  sie  eine  Vergrößerung  der  Schilddrüse. 

Status  praesens:  Hervortreten  der  Bul'bi  mit  den  Sym¬ 
ptomen  von  Moebius  und  Grafe,  Muskelschwäche,  Zittern, 
Schweißabsonderung,  profuse  Diarrhöen,  starke  Herzopressionen, 
frequenter  Puls,  Schlaflosigkeit,  leichte  Erregbarkeit. 

Diagnose:  Morbus  Based owi. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

| 

Ausgang 

66 

14  g 

2  g  in  10  Tagen 

5'/a  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

67 

15  g 

2  g  in  10  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

68 

15  g 

2  g  in  10  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

26.  S.  M.,  11  Jahre  alt.  Schilddrüse  ziemlich  stark  ver¬ 
größert,  Intelligenz  unter  dem  gewöhnlichen  Mittelmaße.  Die  Haut 
ist  seit  einigen  Juhren  sukkulent,  ödematös;  Behaarung  spärlich; 
pes  eqnino  -  valgus. 

Diagnose:  Myxödem. 

Tabelle  XXVI. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

. 

■  » 

16  g 

1'4  g  in  7  Tagen 

5 Va  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

70 

16  g 

1‘4  g  in  7  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

27.  S.  L.,  42  Jahre  alt.  Pat.  befindet  sich  in  den  Wechsel - 
(ihren;  seit  einigen  Monaten  leidet  sie  an  Kopfschmerzen,  hart 
läckigem  Erbrechen,  Herzklopfen.  Die  Schilddrüse  ist  ziemlich 
dark  vergrößert;  leichter  Exophthalmus,  frequenter  Puls,  vaso¬ 
motorische  Hautphänomene,  übertriebene  Empfindlichkeit. 

Diagnose:  Basedowoid. 


Tabelle  XXVII. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

71 

17  g 

18  g  in  9  Tagen 

5l/a  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

72 

18  g 

1  8  g  in  9  Tagen 

5’/a  mm3  pro 
Gramm  Tier 

73 

19  g 

1'8  g  in  9  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

» 

Tabelle  XXIX. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

77 

18  g 

2  g  in  10  Tagen 

5  ’/a  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

78 

17  g 

2  2  g  in  11  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

79 

19  g 

22  g  in  11  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

30.  B.  J.,  20  Jahre  alt.  Als  Kind  hatte  Pat.  Masern  Über¬ 
ständern  Seit  etwa  einem  Jahre  bemerkt  sie  eine  sltets  zuneh¬ 
mende  Vergrößerung  der  Schilddrüse.  Gleichzeitig  klagt  die  Pa¬ 
tientin  über  Magenschmerzen,  Vergrößerung  und  Hervortreten  der 
Augäpfel,  Muskelschwäche,  starke  Schweißabsonderung,  Herz¬ 
klopfen,  frequenten  Puls,  hartnäckige  Kopfschmerzen.  Im  März 
1910  wurde  Pat.  in  die  Klinik  aufgenommen,  wo  sie  mit  diesen 
Erscheinungen  bis  Juni  verblieb.  Dann  wurde  sie  in  die  Klinik 
Eiselsber.g  verlegt,  wo  an  ihr  die  Thyreoidektomie  ausgeführt 
wurde.  Ihr  Zustand  besserte  sich  hierauf  bedeutend  und  die 
Patientin  fühlte  sich  bis  zum  Dezember  1910  wohl,  ln  diesem 
Monate  traten  aber  alle  früheren  Beschwerden  wieder  auf.  Sie 
magerte  stark  ab,  so  daß  sie  in  einem  Monate  6  kg  verlor.  Die 
Patientin  klagt  auch  über  große  Schwäche.  Bei  der  Aufnahme 
in  die  Klinik  am  20.  Februar  1911  sind  alle  typischen  Symptome 
wahrnehmbar,  auch  die  von  Graefe,  Moe-bius  und  St ©11  wag. 


Tabelle  XXX. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH,  CN-Menge 

Ausgang 

80 

16  g 

2  g  in  10  Tagen 

5'/a  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

81 

16  g 

2  g  in  10  Tagen 

5l/2  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

82 

16  g 

2  g  in  10  Tagen 

6  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

31.  H.  F.,  21  Jahre  alt.  Pat.  hat  seit  der  frühesten  Jugend 
eine  starke  Vergrößerung  der  Schilddrüse,  Exophthalmus,  mit 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


744 


den  Phänomenen  von  Graefe,  Moebius  und  Stellwag,  Zittern, 
Schwäche,  Durchfälle,  starke  Schweißabsonderung,  Herzklopfen 
und  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels,  frequenten,  ungleich¬ 
mäßigen  Puls;  Ernährungszustand  schlecht.  Die  Schilddrüse  war 
teilweise  operativ  entfernt  worden,  aber  nach  einer  kurzdau¬ 
ernden  Besserung  traten  die  früheren  Beschwerden  wieder  auf. 
Deshalb  wurde  Pat.  in  die  Klinik  aufgenommen. 

Diagnose:  Morbus  Basedowi.1 

Tabelle  XXXI. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

83 

16  g 

18  g  in  9  Tagen 

4 l/v  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

84 

21  g 

T8  g  in  9  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben 

85 

23  g 

18  g  in  9  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

bleibt  am 
Leben  | 

04 

co 

18  Jahre  alt.  Seit  drei  Tagen  typische  Sym 

ptome  der  Tetanie  (Chvostek,  Trousseau  usw.).  Man  entnimmt 
30  cm3  Blut. 


Tabelle  XXXII. 


Tier¬ 

nummer 

Ge¬ 

wicht 

Blutpulvermenge 

CH3  CN-Menge 

Ausgang 

86 

16  g 

1  8  g  in  9  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Tod 

87 

20  g 

1-8  g  in  9  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

88 

26  g 

18  g  in  9  Tagen 

5  mm3  pro 
Gramm  Tier 

Das  Ergebnis  der  ausgeführten,  Versuche  ist  folgendes: 

Nach  Injektion  von  sicher  und  schnell  tötenden  'Azeto- 
nitryldosen  trat  bei  weißen  Mäusen,  die  acht  Fis  zehn  Tage 
lang  mit  Blut  von  verschiedenen  Kranken  gefüttert  worden 
waren,  in  23  Versuchsreihen  der  Tod  stets  innerhalb 
24  Stunden  ein  (1.  Gruppe),  in  neun  Versuchsreihen  jedoch 
blieb  er  fast  bei  allen  Tieren  aus  (2.  Gruppe). 

Zur  1.  Gruppe  gehört:  Eine  (1.)  Reihe  von  Versuchen 
mit  dem  Blute  von  Leichtkranken;  eine  andere  (2.)  Reihe 
von  Versuchen,  die  mit  dem  Blute  von  mehr  oder  weniger 
Schwerkranken  ausgeführt  wurde  (unter  diesen  befanden 
sich  auch  einige  Fälle  Von  sicheren  Erkrankungen  (der  inner¬ 
sekretorischen  Organe  und  des  Stoffwechsels);  eine  weitere 
(3.)  Reihe  von  Versuchen,  mit  dem  Blute  von  Menschen, 
die  eine  stärkfere  oder  geringere  Vergrößerung  der  Schild¬ 
drüse  aufwiesen. 

Zur  zweiten  Gruppe  gehören:  Vor  allem  drei  typi¬ 
sche  Fälle  von  Morbus  Flaiani-Basedowi ;  dann  zwei  Fälle 
von  chronischer  Nephritis  und  Urämie;  ein  Fall  von  chro¬ 
nischer  interstitieller  Nephritis  (wird  zu  dieser  Gruppe  ge¬ 
rechnet,  obwohl  nur  bei  einer  von  zwei  Mäusen  Hyperresi- 
stenz  entstand);  ein  Fall  von  Adipositas  dolorosa;  ein  Fall 
von  mäßiger  Schilddrüsenvergrößerung  bei  einer  Diabetika; 
ein  Fall  von  starker  Schilddrüsenvergrößerung  (wird  zu 
dieser  Gruppe  gerechnet,  obwohl  nur  bei  einer  von  drei 
Mäusen  Hyperresistenz  gegen  Azetonitryl  hervorgerufen 
wurde). 

Dies  sind  die  Tatsachen,  die  ich  bisher  beobachten 
konnte;  die  ausführlichere  Besprechung,  die  nötig  ist,  um 
ihre  Genese  und  ihre  klinische  Bedeutung  würdigen  'zu 
können,  verschiebe  ich  auf  später,  bis  andere,  schon  be¬ 
gonnene  Untersuchungen  zu  Ende  geführt  sind. 

Aber  bezüglich  der  Genese  des  Phänomens  glaube 'ich, 
schon  jetzt  die  Ansicht  äußern  zu  dürfen,  da.ß  die  Schild¬ 
drüse  auf  das  Zustandekommen  der  Hyperresistenz  einen 
ganz  besonderen  Einfluß  ausübe :  denn  bisher  zeigte  nur 
der  Schilddrüsenextrakt  mit  Sicherheit  die  Fähigkeit,  eine 
Erhöhung  der  Widerstandsfähigkeit  gegen  Azetonitryl  zu 
erzeugen;  und  ebenso  zeigte  diese  Fähigkeit  nur  das  Blut 
solcher  Kranken,  deren  Schilddrüsen  höchstwahrscheinlich 
verändert  waren.  Dieses  Blut  stammte  bei  meinen  Unter¬ 
suchungen:  1.  Von  drei  typischen,,  schweren  Basedow- 


kranken.  Hier  ist  es  wohl  überflüssig,  auf  die  herrschende 
Ansicht  hinzuweisen,  welche  annimmt,  daß  sich  bei  Basedow 
die  Schilddrüsen  im  Zustande  der  Ueberfunktion  befinden 
und  daß  also  größere  als  normale  Mengen  ihres  inneren 
Sekretes  in  den  Kreislauf  gelangen. 

2.  Von  zwei  Urämikern.  Auch  hier  ist  daran  zu  er¬ 
innern,  daß  sehr  sorgfältige  experimentelle  und  pathologisch- 
anatomische  Untersuchungen  (siehe  z.  B.  diejenigen  Ti- 
bertis  [Lo  sperimentale,  c.  59])  gezeigt  haben,  wie  sich 
die  Schilddrüsen  bei  der  Urämie,  mehr  als  bei  allen  an¬ 
deren  Intoxikationen,  im  Zustande  der  Hyperfunktion  be¬ 
finden  und  daher  größere  als  normale  Mengen  inneren  Se¬ 
kretes  in  die  ßlutbahn  werfen. 

3.  Von  zwei  Patienten  mit  vergrößerter  und  wahr¬ 
scheinlich  (nichts  spricht  dagegen)  auch  überfunktionieren¬ 
der  Schilddrüse  (besonders  20.  Fall). 

4.  Von  einem  Patienten  mit  chronischer  interstitieller 
Nephritis  oder  Sklerose  der  Nierengefäße. 

5.  Von  einer  Patientin  mit  Adipositas  dolorosa. 

Sei  es  nun,  daß  irgend  ein  Umstand  die  Abspaltung 
der  giftigen  CN-Gruppe  vom  Komplex  CH3CN  verhindere 
oder  daß  oxydierende  Kräfte  imstande  seien,  diesen  Kom¬ 
plex,  resp.  seine  CN-Gruppe  in  weniger  giftige  Körper  zu 
verwandeln;  oder  sei  es,  daß  irgendein  anderer  biochemi¬ 
scher  Faktor  im  Spiele  sei  —  so  muß  man  fragen:  Beruht 
das  Zustandekommen  der  Hyperresistenz  auf  direktem  Ein 
flußi  der  in  den  Drüsenextrakten  und  dem  Blute  bestimmter 
Kranker  enthaltenen  Thyreoideasubstanzen;  oder  ist  die  Er¬ 
höhung  der  Widerstandsfähigkeit  eine  Folge  nur  indirekter 
Wirkungen  dieser  Substanzen,  d.  h.  von  Wirkungen,  die 
sekundär,  nach  Veränderungen  der  verschiedenen  inneren 
Organe  oder  der  Blutzusammensetzung;  auftreten?  Und 
könnte  die  Wirksamkeit  des  Blutes  solcher  Kranken  nicht 
auf  besonderen,  von  den  Schilddrüsen  verursachten  chemi¬ 
schen  Veränderungen  beruhen? 

Es  sind  dies  Fragen,  die  sich  von  selbst  aufdrängen 
und  deren  Beantwortung  neue  Untersuchungen  erfordert. 

Was  den  klinischen  Wert  der  Reaktion  anlangt, 'glaube 
ich  sagen  zu  dürfen,  daß  er  schon  jetzt  nicht  gering  (er¬ 
scheint  :  denn  zwei  Kranke,  mit  unvollständiger  Basedow¬ 
symptomatologie,  die,  wenn  auch  mit  Vorbehalt,  vom  Klini¬ 
ker  als  Pseudo-Basedow  oder  Basedowoid  diagnostiziert 
worden  waren,  ergaben  ein  absolut  negatives  Resultat  (das 
heißt  die  Mäuse,  welche  mit  dem  Blute  dieser  Kranken  ge¬ 
füttert  wurden,  starben  bald  nach  Injektion  von  tödlichen 
oder  größeren  Dosen  von  Azetonitryl) ;  während  drei  andere 
Kranke,  mit  typischen,  schweren  Basedowsymptomen,  die 
rückhaltlos  als  Morbus  Basedowi  diagnostiziert  worden 
waren,  ein  absolut  positives  Resultat  ergaben.') 

Die  Bedeutung  dieser  Ergebnisse  kann  wohl  nieman¬ 
dem  entgehen;  besonders  nicht  jenen,  die  wegen  eigen¬ 
artiger  lokaler  Verhältnisse,  wie  sie  z.  ß.  hier  in  Wien 
bestehen,  fast  täglich  in  der  Lage  sind,  ähnliche  Fälle  zu 
sehen  und  zu  untersuchen  und  deshalb  aus  eigener  Erfah¬ 
rung  wissen,  wie  schwierig  es  sehr  oft  ist,  ein  Basedowoid 
von  einem  echten  Morbus  Basedowi  zu  unterscheiden  und 
welch  große  Schwierigkeiten  daraus  für  die  Prognose  er¬ 
wachsen. 

Auch  sind  diese  Dinge  für  diejenigen  von  großem 
Interesse,  welche  die  Untersuchung  und  Erforschung  der 
allgemeinen  Pathologie  und  der  speziellen  Pathogenese  des 
Morbus  Flaiani-Basedowi  verfolgen,  die  bekanntlich  noch 
immer  recht  dunkel  sind.  t 

Hoffentlich  wird  sich  also  der  Wunsch  erfüllen,  daß 
zahlreiche,  wiederholt  ausgeführte,  methodische  Anwendun¬ 
gen  der  Reaktion  ihren  Wert  bestätigen,  so  daß  die  Zurück¬ 
haltung,  die  jetzt  geboten  ist,  nicht  mehr  nötig  erschiene. 

7)  Aach  Re  id  Hunt  bemerkt  in  einer  Note  (Journ.  of  the 
Amer.  Med.  Ass.  1907),  daß  er  bei  Mäusen,  die  mit  dem  Blute  einei 
Basedowschen  Kranken  gefüttert  worden  waren,  eine  positive  Reaktion 
fand.  Aber  da  das  Blut  aus  der  Leiche  stammte  und  die  Patientin  an 
Bronchopneumonie  und  eitriger  Peritonitis  nach  vorausgegangener  Tuben¬ 
eierstockentzündung  starb,  scheinen  mir  seine  Resultatate  nicht  sicher 
und  beweisend  zu  sein. 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911, 


745 


Zur  Symptomatik  der  Salvarsanwirkung. 

Von  Dr.  V.  Hrdiiczka  in  Wien. 

Die  Einführung  eines  neuen  Heilmittels  ist  im  allge¬ 
meinen  ein  recht  gefährliches  Experiment,  da  die  meisten 
wirksamen  Heilmittel  Gifte  sind  und  Tierversuche  nicht 
direkt  auf  den  Menschen  übertragen  werden  dürfen.  Auch 
Salvarsan  ist  ein  Gift.  Ein  Experiment  aber,  das  ein  Heil¬ 
mittel  gegen  eine  so  vielgestaltige  und  eminent  chronische 
Krankheit  betrifft,  wie  es  die  Syphilis  ist,  von  der  wir 
wissen,  daß'  sie  trotz  mangelhaftester  Behandlung  Jahre 
und  Jahre  latent  bleiben  kann  und  gerade  dann  leicht  zu 
Tabes  und  progressiver  Paralyse  führt  —  ein  solches  Ex¬ 
periment  muh;  wohl  eine  genügend  große  Zahl  von  Fällen 
einbeziehen,  braucht  aber  auch  eine  genügend  lange  Be¬ 
obachtungszeit. 

Ich  kann  hier  den  Vorwurf  nicht  unterdrücken,  daß 
eine  weise  Einschränkung  in  Bezug  auf  die  Zahl  der 
Fälle  und  auf  ihre  Auswahl  bei  dem  großen  Experiment, 
das  mit  Salvarsan  derzeit  durchgeführt  wird,  nicht 
getroffen  wurde.  Ich  glaube,  daß  neben  den 
Aerzten  gleichzeitig  auch  das  große  Publikum  vom  Salv¬ 
arsan  genaueste  Kenntnis  erhielt.  Darauf  ist  es  wohl 
zurückzuführen,  daß  wir  über  eine  Reihe  von  Beobachtungen 
verfügen,  die  gewißi  nicht  im  Sinne  Ehrlichs,  nicht  einmal 
im  Sinne  der  Aerzte,  die  die  Einspritzungen  mit  Salvarsan 
Vornahmen,  gelegen  sind,  sondern  nur,  ich  möchte  sagen, 
auf  die  aktive  Beteiligung  des  heilungsuchenden  Publikums 
ander  Einführung  des  Mittels  zurückgeführt  werden  müssen. 

Zu  diesen  letzteren  Fällen  gehört  auch  der  folgende, 
in  dem  in  verhängnisvoller  Weise  alle  bis  letzt 
beschriebenen  (Finger,  Meyer)  Symptome  der 
Salvarsanvergiftung,  dazu  noch  eine  Reihe 
bisher  unbekannter  Symptome  auftraten.  Im 
ganzen  genommen,  stellt  dieser  Fall  ein  Paradigma  der 
Salvarsanvergiftung,  dazu  ein  ganz  neues  Krankheitsbild 
dai.  Er  ist  weiter  ein  Beweis  dafür,  daß  es  Individuen  gibt, 
die  aus  uns  unbekannter  Ursache  eine  große  Empfindlichkeit, 
dem  Salvarsan  gegenüber  besitzen,  wie  dies  bezüglich  der 
arsenigen  Säure  und  anderen  Arsenverbindungen  schon 
längst  bekannt  ist. 

Anamnese:  0.  L.,  Oberleutnant,  33  Jahre  alt,  stammt 
aus  gesunder  Familie.  Eltern  leben  und  sind  gesund.  Er  er¬ 
krankte  im  März  1903  an  Lues  (Sklerose  und  Erstexanthem). 
Darauf  machte1  er  im  Garnisonsspitale  Brünn  30  Einreibungen. 
Anfangs  1904  trat  ein  ulzeröses  Syphilid  und  Periostitis  beider 
Schienbeine  auf.  Heilung  nach  20  Sublimatinjektionein.  Ende 
1904  wurde  er  von  einem  Augenärzte  wegen  seiner  Kurzsichtigkeit 
(drei  Dioptrien)  untersucht,  der  bei  normalem  Visus  und  nor¬ 
malem  Gesichtsfeld  eine  leichte  Verfärbung  der  Papille  ins 
Graurötliche,  ein  leichtes  Verwaschensein  der  Papillengrenzen 
und  vielleicht  auch  eine  geringe  Schwellung  der  Papillen  und 
zwar  gleichmäßig  an  beiden  Augen  konstatierte. 

Bis  zum  Jahre  1908  machte  dann  Patient  jedes  Jahr  eine 
Quecksilberkur  durch,  obwohl  keine  Erscheinungen  der  Lues  sich 

zeigten. 

Seither  fühlte  er  sich  wohl  und  gebrauchte  keine  Kuren. 

Im  Oktober  1910  verließ  Patient  seinen  Garnisonsort  an 
Je-i  montenegrinischen  Grenze  und  ließ  sich  im  Garnisons- 
spital  in  Sarajevo  aufnehmen,  damit  ihm  auf  seinen  Wunsch 
eine  Injektion  mit  Ehrlicli-Hata  gemacht  werde. 

Am  24.  Oktober  1910  erhielt  er  Ehrlich-Hata  (0-6  g)  in 
neutraler  Emulsion  nach  Wechselmann  intraglutäal  injiziert. 
IW'h  im  März  1911  von  uns  erbetener  Angabe  des  Abteilungs¬ 
vorstandes  im  Garnisonsspital  in  Sarajewo  sollen  damals  seit 
zwei  Wochen  eine  kleinapfelgroße  Periostitis  im  oberen  Drittel 
des  Schienbeines  und  allgemeine  Drüsenschwellungen  bestanden 
haben.  Wassermann  sei  positiv,  Augenbefund  sei  normal  ge¬ 
wesen.  Eine  Untersuchung  durch  einen  Augenarzt  sei  nicht  vor¬ 
genommen  worden. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  Angaben,  erzählt  Patient,  daß  er  sich 
die  Injektionen  nur  hätte  machen  lassen,  weil  er  von  den  glän¬ 
zenden  Erfolgen  mit  Ehrlich-Hata  in  den  Zeitungen  gelesen  habe 
mul  auch  einige  seiner  Kameraden  schon  Injektionen  bekommen 
hatten.  Vor  seiner  Abreise  nach  Sarajewo  hatte  er  auch  in  Briefen 


an  seine  Eltern  nichts  von  einer  Erkrankung  mitgeteilt,  sondern 
seine  Absicht  in  gleicher  Weise  begründet. 

Am  27  Oktober  reiste  Patient  in  seinen  Garnisonsort  und 
dienst  ^  ^  montencgrmisch«n  Grenze  den  schweren  Kordon- 

In  der  zweiten  Hälfte  des  Monates  Januar  stellten  sich 

n!SbeSnhWfrden  Cini'  besüind  völlige  Appetitlosigkeit,  ein 
leucht©1  Brechreiz  und  allgemeine  Schwäche,  denen  sich  bald 
behstorungen  und  Schwindelgefühl  hinzugesellten. 

Da  diese  Erscheinungen  nicht  besser  wurden,  fuhr  der 
Patient  zu  semen  Eltern  nach  Wien.  Auf  der  Reise  trat  Ün 
Gravosa  ein  arger  Magenkrampf  auf,  so  daß  Patient  mehrere 
Stunden  liegen  mußte.  Als  wir  den  Patienten  das  erstemal  am 
Abend  des  6.  Februar  1911  sahen,  fanden  wir  einen  kräftigen, 
*»"8®  Mann  mit  fahlem,  lichtgrauem  Hautkolorit,  mäßig  ge- 
nahrt,  Muskulatur  sehr  schlaff;  besonders  auffallend  war  eine 
starke  Abmagerung  der  Interossei,  leichte  Drüsenschwellungen  in 
mguine.  Nirgends  an  der  Haut  Narben  sichtbar,  an  den  Knochen 
keine  Veränderungen. 

In  der  linken  Glutäalgegend,  an  der  Injektionsstelie,  eine 
wurstförmige  Resistenz,  welche  in  der  Breite  von  drei  Quer- 
iingern,  ca.  10  ein  lang,  sich  in  ziemlicher  Tiefe  nach  aufwärts 
zog.  Haut  darüber  war  verschieblich  und  normal. 

Lungenbefund  normal,  Herz  perkutorisch  normal.  Ueber  der 
Basis  leichte  systolische  Geräusche,  Puls  92,  klein.  Bauchomane 
normal,  Temperatur  normal. 

Sensorium  frei.  Doch  fiel  eine  hochgradige  Amnesie 
für  alle  Ereignisse  seit  der  Injektion  auf.  Weiter  waren  arge  Ge¬ 
dächtnisfälschungen  nachzuweisen.  Er  erzählte  z.  B.,  daß  er 
vor  acht  Tagen  in  Sarajewo  gewesen,  sei,  dort  20  Hata-Injektionen 
bekommen  habe  usw.  Im  nächsten  Moment  sprach  er  vollkommen 
vernünftig  über  Tagesereignisse,  Garnisonsverhältnisse  usw.  Keine 
Lähmungserscheinung,  keine  Sensibilitätsstörung.  Rachenreflex, 
Haut-  und  Sehnenreflexe  normal,  bis  auf  eine  leichte  Steigerung 
der  Patellarreflexe. 


I  a  tie  nt  war  völlig  schlaflos.  Kein  Kopfschmerz. 
Er  konnte  nur  mühsam  stehen,  ganz  gleich,  hei  offenen 
oder  bei  geschlossenen  Augen.  Der  Gang  war  unsicher,  schwan¬ 
kend;  er  mußte  sich  anhalten,  um  nicht  zu  fallen. 

Patient  klagte  über  heftigen  Schwindel  beim  Auf¬ 
setzen  und  Gehen.  Beim  Liegen  bestand  kein  Schwindel.  Weiters 
Llagte  Patient,  daß  er  nicht  gut  sehe  und  die;  Zeitung,  wo¬ 
von  wir  uns  auch  überzeugten,  nicht  lesen  könne.  Gehör  normal, 
kein  Ohrensausen. 

7.  Februar  1911:  Patient  gibt  wieder  auf  Befragen  falsche 
Antwort.  Die  Gedächtnisfehler  beziehen  sich  vor  allem  auf  die 
Zeitangaben  bezüglich  der  jüngst  vergangenen  Ereignisse,  manch¬ 
mal  auch  auf  den  Inhalt  derselben.  Er  klagt  noch  immer  über 
hochgradige  Gesichtsfeldeinschränkung  und  Herabsetzung  des  Seh¬ 
vermögens,  ferner  über  Schwindel  beim  Gehen,  der  auch  im  Bette 
hei  plötzlichen  Bewegungen  des  Kopfes  eintritt.  Kopfschmerz 
besteht  nicht.  Patient  hat  jetzt  guten  Appetit,  Harnabsonderung 
und  Stuhl  normal. 

Auf  Beklopfen  des  Schädels  keine  Schmerzen.  Reflexe  wie 
am  Vortage.  Zunge  weicht  etwas  nach  rechts  ab1  (am  Vortage 
nicht  geprüft). 

Augenbefund:  Feinphasiger  horizontaler  Nystagmus  beim 
Blick  nach  rechts.  Grober  Nystagmus  beim  Blick  nach  links. 
Andere  Augenbewegungen  frei.  Keine  Doppelbilder.  Pupillen  gleich 
weit.  Pupillarreaktion  lebhaft  auf  Licht  und  Konvergenz.  Die  Seh¬ 
nervenpapille  beiderseits  in  gleicher  Weise  verändert  und  zwar 
so,  daß  die  Papille  sehr  wenig  geschwollen  ist  (Differenz  gegen 
die  Umgebung  kleiner  als  zwei  Dioptrien).  Die  Farbe  der  Papille 
ist  leicht  schmutziggraurot,  besonders  die  Ränder  grau  und  opak. 
Das  Gewebe  ist  deutlich  getrübt.  Eine  Differenz  in  der  Fär¬ 
bung  zwischen  äußerer  und  innerer  Pupillenhälfte  nicht  zu  sehen. 
Keinerlei  Blutung  oder  Exsudate  auf  der  Papille  und  in  deren  Um¬ 
gebung.  Gefäße  der  Papille  und  des  übrigen  Fundus  normal.  Das 
Gesichtsfeld  für  Handbewegungen  hochgradig  eingeschränkt  (etwa 
auf  20°).  Patient  kann  die  Zeitung  nicht  lesen. 

Eine  genaue  Sehprüfung  und  Untersuchung  des  Gesichts¬ 
feldes  konnte  wegen  Ermüdung  des  Patienten  nicht  vorgenommen 
werden.  Dieselbe  wird  auf  den  12.,  vormittags,  verschoben. 

12.  Februar :  Patient  wird  aus  dem  Bette  gebracht,  wobei  er 
über  lebhaften  Schwindel  klagt.  Er  muß  geführt  werden,  da  er 
umzustürzen  droht.  Patient  behauptet,  heute  gut  zu  sehen 
und  das  Gesichtsfeld  freier  zu  haben.  Die  Sehprüfung 
ergibt  beiderseits  mit  — 3  Dioptrien  normale  Sehschärfe  (6/6). 

I  Gesichtsfeldprüfung  ist  aus  der  nebenstehenden  Zeichnung  zu 
I  ersehen. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Die  Angaben,  die  Patient  bei  der  Aufnahme  des  Gesichts¬ 
feldes  machte,  waren  sehr  präzis.  Mancher  Punkt  des  Gesichts¬ 
feldes  wurde  dreimal  überprüft.  Jedesmal  stimmten  die  Angaben 
genau  mit  den  früheren  überein.  Keinerlei  Ermüdungsreaktion. 

Die  übrigen  Erscheinungen  unverändert. 

Am  selben  Tage  wurde  noch  ein  genauer  Haut-  und  Drüsen¬ 
befund  aufgenommen,  der  sich  mit  dem  vom  6.  Februar  deckt. 

Am  13.  Februar  war  Wassermann  negativ. 

Mit  Rücksicht  auf  diesen  Befund,  ri  amen  tlich  die  groben 
Störungen  des  Vest  ib  ular  appar  ates,  sowie  die  vor¬ 
übergehenden  Einschränkungen  des  Sehfeldes  und 
den  Wechsel  im  Sehvermögen  bei  dem  Patienten,  der 
bis  Ende  1910  sich,  was  sein  zentrales  und  peripheres  Nerven¬ 
system  anbelangt,  wohl  gefühlt  hatte,  weiters  mit  Rücksicht  auf  den 
negativen  Ausfall  der  Wasser  mann  sehen  Reaktion  mußten  wir 
annehmen,  daß  es  sich  um  Intoxikationserscheinungen  handeln 
könnte,  die  von  dein  Salvarsandepot  herrühren,  kaum  aber  um 
Lues  des  Nervensystems  und  veranlaßten  die  Exzision  des 
Salvarsandepots,  um  eine  weitere  Aufnahme  des  Giftes  hintan¬ 
zuhalten.  Dies  wurde  am  13.  Februar  ausgeführt.  Die  Unter¬ 
suchung  des  ex  zi  di  er  ten  Stückes  ergab  das  Vorhan- 


Unter  zunehmender  Nackensteifigkeit  und  Benommenheit  und 
rapidem  Temperaturanstieg  in  den  letzten  zwei  Tagen  auf  40° 
trat  am  8.  März  der  Exitus  ein. 

Die  Einwilligung  zur  Sektion  wurde  von  den  Eltern  nicht 
gegeben. 

Fassen  wir  das  Wichtigste  aus  der  Krankengeschichte 
zusammen,  so  ergibt  sich : 

Ein  junger,  kräftiger  Offizier  aus  gesunder  Familie 
erkrankt  1903  an  Lues,  behandelt  sich  regelmäßig  bis  1908, 
trotzdem  seit  1905  keine  Erscheinungen  der  Lues  sich  zeig¬ 
ten,  bekommt  am  24.  Oktober  1910  0-6  g  Salvarsan  injiziert, 
das  reaktionslos  im  Glutäus  einheilt.  Erkrankt  in  der  zwei¬ 
ten  Hälfte  Januar  1911  ohne  Fieber,  in  langsam  zunehmen¬ 
der  Weise,  ohne  nachweisbare  neuerliche  Noxe  am  allge¬ 
meiner  Schwäche,  Appetitlosigkeit,  leichtem  Brechreiz,  Seh¬ 
störungen,  die  auf  eine  wechselnde  Behinderung  in  der 
Leitung  im  Sehapparat  liinweisen,  weiters  Störungen  von 
Seile  des  Vestibularis,  sodann  an  Amnesie  und  'Schlaflosig¬ 
keit.  Babei  fehlt  auch  noch  zu  einer  Zeit,  wo  alle  diese  Er¬ 


densein  größerer  Mengen  unzersetzten,  mikroskopisch 
zu  erkennenden  Salvarsans,  weiters  Arsen  in  reichlicher  Menge, 
das  sich  aus  dem  Salvarsan  abgespalten  hatte  und  in  einer  un¬ 
bekannten  Verbindung  war.  Das  Gewebe  in  der  Umgebung  des 
unzersetzten  und  zersetzten  Salvarsan  war  mit  Leukozyten  durch¬ 
setzt.  Keine  auffallende  Nekrose. 

Die  Wundheilung  erfolgte  per  primam. 

Der  weitere  Verlauf  gestaltete  sich  folgendermaßen: 

In  den  folgenden  14  Tagen  nahm  die  allgemeine  Körper¬ 
schwäche  trotz  recht  guten  Appetites  zu;  der  Puls  stieg  allmählich 
Ins  120.  Die  Erscheinungen  von  seiten  des  Nervus  vestibularis 
nahmen  zu.  Das  Sehvermögen  wechselte.  K o p f  s c h m erz  wurde 
immer  negiert.  Das  Sensorium  war  leicht  benommen.  Die 
schon  anfangs  bestandene  Schlaflosigkeit  war  trotz  Vero¬ 
nal  und  Sulfonal  eine  vollständige.  Nachts  konnte  Pa¬ 
tient  nur  mit  Mühe  im  Bette  erhalten  werden.  Die  Temperatur 
stieg  allmählich  leicht  an.  Spiegelbefund  blieb  unverändert.  Am 
28.  Februar  war  u.  zw.  zum  erstenmal  leichte  Nackensteifigkeit 
und  eine  leichte  Parese  des  rechten  Fazialis,  sowie  erschwertes 
Sprechen  zu  konstatieren. 

Am  1.  März  wurde  eine  Schmerzempfindlichkeit  der  Haut¬ 
decken  und  Kernig  beim  Aufsetzen  konstatiert. 

Trotz  negativem  Wassermann  wurde  wegen  der  Verschlim¬ 
merung  des  Zustandes  sofort  mit  energischen  Quecksilbereinrei¬ 
bungen  und  großen  Jodkalidosen  intern  begonnen. 

Doch  der  Zustand  wurde  immer  schlechter. 


scheinungen  hochgradig  ausgebildet  sind,  vollständig  jeg¬ 
licher  Kopfschmerz,  jegliche  Störung  von  Seite  des  Akustikus 
und  sämtlicher  übrigen  Kopfnerven,  vielleicht  mit  Ausnahme 
des  Hypoglossus.  Auch  von  seiten  des  Rückenmarkes  und 
der  Körper-  und  Extremitätennerven  keine  Störungen.  Alle 
inneren  Körperorgane  frei.  Wassermann  sehe  Reaktion 
negativ.  .  1 

Erst  am  28.  Februar  treten  neue  Erscheinungen  hinzu ; 
Nackensteifigkeit,  leichte  Parese  des  rechten  Fazialis,  er¬ 
schwertes  Sprechen,  Sensibilitätsstörungen,  Benommenheit, 
Fieber. 

Exitis  am  8.  März. 

Sollen  wir  diese  Erscheinungen  auf  die  Lues,  aut 
das  Salvarsan  oder  auf  nine  neue,  von  den  beiden  genannten 
verschiedene  Krankheitsursache  beziehen? 

Diese  dritte  Möglichkeit  werden  wir  wohl  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit  ausschließen  können.  Schon  mit  Rück¬ 
sicht  darauf,  daß  Patient  durch  einen  Monat  fieberfrei  war, 
während  welcher  Zeit  die  Krankheitssymptome  ansliegen, 
schein!  eine  bakterielle  Ursache  ausgeschlossen. 

Der  Umstand,  daß  eine  Veränderung  an  den  Sehnerven¬ 
papillen,  die  am  10.  Februar  beobachtet  wurde,  schon  im 
Jahre  1904  in  ganz  gleicher  Weise  gesehen  wurde,  überdies 

während  der  Progredienz  der  Krankheitserscheinungen 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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stationär  blieb,  sowie  der  allzeit  fehlende  Kopf¬ 
schmerz  läßt  jede  raumverengernde  Bildung  in  der  Schädel¬ 
kapsel  ausschließien.  ■ 

Es  ‘könnte  also  Lues  sein !  Wenn  diese  Annahme  schon 
durch  die  negative  Wasser  m  a  n  n  sehe  Reaktion  einiger¬ 
maßen  hinfällig  wird,  wird  sie  es  andererseits  auch  dadurch, 
daß  es  unmöglich  ist,  die  Mehrzahl  der  Symptome  anders, 
als  durch  eine  toxische  Enzephalitis  zu  erklären. 

Und  in  der  Tat  finden  wir  in  den  meisten  der  Symptome 
alte  Bekannte  aus  der  Lehre  von  der  iVergiftung  mit  Arseni¬ 
kalien:  Gedächtnisstörungen,  Schlaflosigkeit,  fehlender  Kopf¬ 
schmerz,  allgemeine  Muskelschwäche,  dazu  das  Symptom 
der  Sehstörungen  aus  der  Atoxylzeit  und  das  neueste  Sym¬ 
ptom  der  isolierten  Vestibulaxaffektion  ohneAkustikusstörung 
aus  der  Salvarsanzeit  (Finger,  Meyer).  Auch  die  Art 
des  Krankheitsverlaufes  suh  finem  ist  ähnlich  dem  hei  Ver¬ 
giftung  mit  anderen  wirksamen  Arsenikverbindungen. 

Weiters  besteht  eine  Uebereinstimmung  mit  den  Er¬ 
fahrungen  am  Krankenbett  und  den  Ergebnissen  des  Ex¬ 
periments  bezüglich  anderer  Arsenikverbindungen,  daß 
Wochen  und  Monate  eines  relativen  Wohlbefindens  vergehen 
können,  ehe  die  zum  Tode  führenden  Vergiftungserschei¬ 
nungen  auftreten.  Wenn  nun  auch  die  vollständige  Beweiskraft 
unserem  Falle  mit  Rücksicht  auf  den  fehlenden  Sektiousbe- 
fund  fehlt,  so  stellt  er  immerhin  ein  (eigenartiges  Zusammen¬ 
treffen  von  zahlreichen  Symptomen  dar,  die  einzeln  bei 
vielen  anderen  Erkrankungen,  insbesondere  auch  bei  lue¬ 
tischen  Erkrankungen  Vorkommen  mögen,  die  aber 
doch  in  ausgeprägter  Weise  vornehmlich  Vergiftungen  mit 
Arsenikalien  eigentümlich  sind. 

Gerade  durch  ihr  Zusammentreffen  weisen  sie  aber 
darauf  hin,  daß  wir  es  mit  einem  neuen  Krankheitsbilde  zu 
tun  haben  dürften,  mit  einem  Falle  von  Tödlich  verlaufender 
Salvarsanvergiftung. 

Die  Art  der  Symptome  scheint  darauf  hinzuweisen, 
daß  nicht  das  Vorhandensein  des  Arsenik  für  das  Krankhei  ts¬ 
bild  verantwortlich  zu  machen  ist,  sondern  die  chemische 
Konstitution  des  neuen  Präparates. 

* 

Die  schuldige  persönliche  Rücksicht,  vor  allem  aber  das 
sachliche  Interesse  veranlaßten  die  Redaktion  dieser  Wochenschrift 
den  obigen  Beitrag  noch  vor  der  Veröffentlichung  dem  allver¬ 
ehrten  Begründer  der  Salvarsantherapie  zur  Einsichtnahme  und 
Begutachtung  vorzulegen.  Herr  Geheimrat  Prof.  Ehrlich  hat 
die  Sendung  mit  folgendem  Briefe  umgehend  beantwortet. 

Frankfurt  a.  M.,  13.  Mai  1911. 

Herrn  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel,  Wien  IX/1, 
Wasagasse  12. 

Hochgeehrter  Herr  Kollege  ! 

Nehmen  Sie  meinen  besten  Dank  für  Ihre  freundliche  Zu¬ 
sendung  des  Manuskriptes  von  Herrn  Dr.  Hrdlic'zka!  Der 
Artikel  ist  außerordentlich  präokkupiert  geschrieben  und  wenn 
der  Autor  in  der  Einleitung  Vorwürfe  wegen  der  Einführung 
des  Mittels  macht,  so  müssen  dieselben  vollkommen  ungerecht¬ 
fertigt  erscheinen.  Ich  habe  alles  getan,  was  ich  konnte,  um 
eine  sorgfältige  Erprobung  des  Mittels  durch  die  ersten  Fach¬ 
männer  (und  alle  Kliniker  Deutschlands  und  Oesterreichs'  gehören 
dazu)  vornehmen  zu  lassen.  Früher  wurde  ein  Mittel  ausgegeben, 
wenn  es  an  einer  einzigen  Klinik  an  50  oder  höchstens  100 
Patienten  erprobt  war.  Wenn  ich  bei  dem  Salvarsan  ebenso 
verfahren  wäre  und  etwa  Anfang  Juli  das  Mittel  herausgegeben 
hätte,  würde  man  mir  einen  Vorwurf  machen  können,  aber  ich 
habe  gewartet,  bis  die  Indikationen  und  Kontraindikationen,  die 
Dosen  und  alles  sonst  wichtige  festgelegt  war,  ehe  das  Mittel 
überhaupt  zum  Verkauf  gekommen  ist.  Ich  habe  auch  mit  der 
Freigabe  gewartet,  bis  die  Flut  der  ersten  Begeisterung  abgeebbt 
war  und  die  Kritik  über  Nebenwirkungen  und  ungenügende  Wir¬ 
kung  in  wissenschaftlichen  Zeitschriften  und  in  der  Tagespresso 
reichlich  zu  Wort  gekommen  war.  Es  war  mithin  jeder  Arzt 
bei  Freigabe  des  Mittels  in  der  Lage,  ungeeigneten  Patienten 
auf  Grund  der  vorhandenen  Literatur  das  Mittel  zu  verweigern. 
Ich  könnte  gerade  über  diese  Seite  der  Frage  noch  sehr  viel 
schreiben.  , 

Sehr  sonderbar  berührt  es  mich,  daß  Herr  Dr.  Hrdliczka 
in  seinem  Resümee,  S.  16,  sagt,  daß  der  Patient  seit  1905  keine 


Erscheinungen  der  Lues  gezeigt  habe,  während  doch  aus  dem 
Sevajevoer  Krankheit« bericht  deutlich  hervorgeht,  daß  eine  Peri¬ 
ostitis  und  multiple  Drüsenschwellungen  hei  positivem  Wasser¬ 
mann  bestanden  haben,  mithin  ein  vollkommen  aktiver  syphiliti¬ 
scher  Prozeß!  Ich  sollte  doch  meinen,  daß 'man  die  Angaben  einer 
amtlichen  und  daher  verläßlichen  Stelle  gegenüber1  den  Angaben 
des  Patienten  seihst,  zumal  derselbe  desorientiert  war,  nicht  ein¬ 
fach  unter  den  Tisch  fallen  lassen  sollte.  Daß  Patient  in  seinem 
Briefe  an  seine  Eltern  von  der  Erkrankung  nichts  erwähnt,  be¬ 
weist  doch  nicht  das  mindeste  ! 

Was  den  Fall  selbst  betrifft,  so  darf  ich  wohl  auf  die  Arbeit 
von  Dr.  Benario  verweisen,  die  ich  mir  beizufügen  erlaube.  Wir 
haben  hier  in  mühseliger  Arbeit,  auf  Grund  eines  reichen  Mate- 
rials  klargelegt,  welche  Gründe  dafür  sprechen,  daß  die  Erschei¬ 
nungen  des  Nervensystems,  insbesondere  des  Optikus  und  Aku- 
stikus  syphilitische  Erkrankungen  darstellen.  Dieser  Standpunkt 
dürfte  auch  von  den  allermeisten  Fachgenossen  und  selbst  von 
Gegnern  geteilt  werden.  Auch  diejenigen,  die  an  diesen  Erschei¬ 
nungen  dem  SalVarsan  eine  Schuld  zuschreiben,  nehmen  wohl 
größtenteils  n  i  c  h  t  eine  direkte  Arsenvergiftung  an,  sondern  sind 
der  Ansicht,  daß  Alterationen  des  Nerven  das  Auskeimen  der 
Spirochäten  begünstigt  hätten.  Andrerseits  ist  es  sicher,  daß  die 
nervösen  Affektionen  durch  eine  antisyphilitische  Behandlung  - 
auch  mit  Salvarsan  —  wenn  dieselbe  rechtzeitig  einsetzt,  ge¬ 
wöhnlich  in  der  allerbesten  Weise  beeinflußt  werden  und  ich  muß 
es  sehr  bedauern,  daß  Herr  Dr.  Hrdlic'zka  sich  nicht  über  diese 
Seite  erst  orientiert  hat,  bevor  er  seine  Arbeit  schrieb.  Denn 
dann  hätte  er  nicht  nur  einseitig  mit  der  Vergiftungshypothese, 
sondern  auch  mit  der  Möglichkeit,  resp.  Wahrscheinlich¬ 
keit  eines  syphilitischen  Rezidivs  rechnen  müssen.  Hätte  er  dieses 
getan,  so  wäre  es  angezeigt  gewesen,  den  Patienten  sofort  einer 
energischen  antisyphilitischen  Behandlung  zu  unterziehen  und 
nicht,  erst  sub  finem  vitae  die  Quecksilberkur  zu  unternehmen. 

In  der  Arbeit  von  Dr.  Benario  ist  mit  aller  Klarheit  zum 
Ausdruck  gebracht,  daß  die  Neurorezidive  möglichst  frühzeitig  und 
intensiv  behandelt  werden  müssen.  Jeder  Tag  des  Zuwartens 
kann  Schaden  bringen,  der  schließlich  bei  wochenlangem  Auf¬ 
schieben  irreparabel  werden  muß.  Nach  meiner  Ansicht  ist  der 
Patient  auf  Grund  falscher  theoretischer  Vorstellungen  unrichtig 
behandelt  worden.  Es  handelt  sich  nicht  um  eine  Arsenver¬ 
giftung,  sondern  um  eine  verkannte  und  daher'  unbehandelt  ge¬ 
bliebene  Syphilis  des  Zentralnervensystems.  Was  das  Negativ- 
sein  des  Wassermanns  betrifft,  so  spricht  dieses  nicht  im  min¬ 
desten  gegen  das  Vorhandensein  eines  syphilitischen  Prozesses. 
Gerade  über  diesen  Punkt  ist  ja  —  wie  Ihnen  selbst  am  besten 
bekannt  ist  —  in  der  Literatur  ausführlich  diskutiert  worden. 
Ich  wollte  noch  hinzufügen,  daß  in  einigen  Fällen  von  Neiuro- 
rezidiven,  wo  das  Blut  einen  negativen  Wassermann!  zeigte, 
die  Zerebrospinalflüssigkeit  positiv  reagierte. 

Zustimmen  muß  ich  Ihrer  Ansicht,  daß  es  natürlich  ein 
großer  Mangel  der  Beobachtung  ist,  daß  eine  Sektion  unterblieb. 
Es  ist  mir  von  einem  in  Wien  vorgekommenen  Fälle  erzählt 
worden,  wo  von  einer  bekannten  Autorität  eine  Meningitis  syphi¬ 
litica  diagnostiziert  wurde,  die-  nach  SaJv'arsan  aufgetreten  sein 
sollte  und  wo  die  Sektion  tuberkulöse  Veränderungen  ergab. 
Schade  ist  es  auch,  daß  der  Zustand  des  Magens  nicht  unter¬ 
sucht  werden  konnte.  Es  könnte  immer  sein,  daß  hier  syphili¬ 
tische  Veränderungen  Vorgelegen  haben,  die,  wie  aus  der  Lite¬ 
ral  ur  ersichtlich,  gar  nicht  so  selten  zu  ausgedehnter  Kachexie 
führen. 

Daß  die  intramuskuläre  Injektion,  zumal  wenn  nur  ein¬ 
malig  ausgeführt,  in  ihrer  Wirkung  nicht  verläßlich  ist,  ist  ja 
längst  bekannt  und  habe  ich  seit  Monaten  schriftlich  und  münd¬ 
lich  alles  getan,  um  diesen  Modus,  den  ich  für  unzureichend  halte, 
aus  der  Welt  zu  schaffen.  Daß  in  dem  Exsudat  sich  sehr  lange 
Arsen  halten  kann,  ist  ja  bekannt;  vom  unlöslichen  Quecksilber 
wissen  wir  auch,  daß  dasselbe  jahrelang  im  Körper  abgekapselt 
vorhanden  sein  kann.  Daß  Herr  Dr.  Hrdliczka  auf  Grand 
der  Voraussetzung,  daß  von  dem  Depot  eine  Arsenvergiftung 
ausgehen  könnte,  die  Nekrose  exstirpierte,  ist  ja  an  und  für 
sich  durchaus  folgerichtig,  jedoch  hätte  er  sich  hi  ein  it  allein 
nicht  begnügen  dürfen,  sondern  auch  die  andere,  weiter  ver¬ 
breitete  Ansicht  der  syphilitischen  Natur  der  Erkrankung  ins 
Auge  fassen  und  dementsprechend  therapeutisch  handele 
müssen ! 

Mit  nochmaligem  besten  Dank  und  freundlichen  Grüßen 
bin  ich,  in  vorzüglicher  Hochachtung, 

Ihr  aufrichtigst  ergebener 

Paul  Ehrlich. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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7-18 


Aus  dem  pharmakologischen  Institute  der  k.  u.  k.  Tier¬ 
ärztlichen  Hochschule  in  Wien. 

Darf  man  den  Stramoniumzigaretten  eine 
arzneiliche  Wirkung  zuschreiben? 

Von  Prof.  Dr.  Gustav  Günther. 

Die  Stramonium-  oder  Asthmazigaretten  haben  sich 
lange  Zeit  eines  (gewissen  Ansehens  erfreut;  sie  galten 
als  iein  Mittel,  das  bei  echtem  Atshma  fast  immer  gute  Dienste 
leistet.  Man  setzte  dabei  voraus,  daß  die  in  den  Blättern 
enthaltenen  Alkaloide  —  hauptsächlich  Atropin  —  zum  Teil 
in  den  Rauch  übergehen  und  dadurch  die  günstige  Wirkung 
bedingen,  ohne  für  diese  Annahme  einen  greifbaren  Beweis 
zu  haben.  Hirn  und  Netolitzky  haben  versucht,  diesen 
zu  erbringen  und  das  Resultat  ihrer  Untersuchung 'in  diesen 
Blättern  veröffentlicht.1)  Sie  fanden  im  Rauche  neben 
Cyan-  und  Schwefelwasserstoff  zwar  Atropin,  jedoch  ist 
dessen  Quantum  nach  einem  späteren  Berichte  von  (Hirn2) 
so  gering,  daß  diesen  Mengen  kaum  mehr  eine  sichere  Wir¬ 
kung  Izugeschrieben  werden  kann  (für  je  1.00  g  Blätter  0  0046 
-0-0069  g  Atropin,  daher  pro  Zigarette  eine  Atropinmenge 
von  0-000035 — 0000052  g).  Dieses  Resultat  ist  für  die 
Beurteilung  der  A s thmäzi garett en  nicht  ohne  Einfluß  ge¬ 
blieben.  Man  ist  seither  geneigt,  in  ihnen  nur  noch  ein 
Mittel  'zu  sehen,  das  entweder  ausschließlich  oder  doch 
hauptsächlich  suggestiv  wirkt.  So  schreiben  H.  Meyer 
und  R.  Gottlieh  in  ihrem  ausgezeichneten  Lehrhuche,3) 
S.  290,  wörtlich:  „Wenn  den  , Asthmazigaretten'  überhaupt 
eine  heilsame  Wirkung  zukommt,  so  kann  es  sich  wohl 
nur  um  die  Spuren  von  Atropinsalzen  handeln,  vdie  mit. 
dem  eingesogenen  Rauch  mechanisch  mitgerissen  werden 
und  so  in  Mundhöhle  und  Lunge  gelangen.“  Indes  die 
prompte  Wirkung,  die  man  'oft  schon  nach  (wenigen,  aus  der 
Zigarette  gemachten  Zügen  auftreten  sieht,  muß  den  Unbe¬ 
fangenen  doch  stutzig  machen  und  es  ergibt  sich  für  ihn 
die  Frage :  handelt  es  sich  hier  um  (Suggestion  oder  enthält 
dieser  Rauch  doch  wirksame  Substanzen  in  Mengen,  die 
man  für  den  Erfolg  verantwortlich  machen  kann?  Die 
Lösung  dieser  Frage  schien  mir  eine  dankbare  Aufgabe 
zu  sein,  um  so  mehr,  als  ich  keinerlei  Literaturan¬ 
gaben  fand,  durch  welche  die  von  Hirn  und  Neto¬ 
litzky  erhaltenen  Resultate  bestätigt  oder  korrigiert 
wurden.  Theoretisch  schien  es  durchaus  nicht  unmöglich, 
daß  unter  günstigen  , Verhältnissen  doch  mehr  Atropin  in 
den  Rauch  übergeht,  als  Hirn  und  Netolitzky  darin 
nachweisen  konnten.  Zunächst,  sprach  hiefür  der  Umstand, 
daß  nach  Angabe  ganz  verläßlicher  Autoren4)  der  unmäßige 
Gebrauch  von  Stramoniumzigaretten  die  Erscheinungen  einer 
Atropinvergiftung  hervorrufen  kann,  weiterhin  die  Wahr¬ 
scheinlichkeit,  daß  der  Rauch  nicht  Atropin  s  al  z  e,  sondern 
freies  Atropin  enthält,  von  dem  wir  aber  ovissen,  daß  es 
sich  beim  vorsichtigen  Erhitzen  unzersetzt,  verflüchtigt,5) 
endlich  der  Bericht  von  Hirn  und  Netolitzky  seihst,  wel¬ 
cher  die  Möglichkeit  offen  läßt,  daß  der  Rauch  ansebnlicheAtro- 
pinmengen  enthält,  indem  es  hei  ihnen  heißt :  „Daß  die  Menge 
des  wirksamen  Alkaloides  im  Rauche  viel  größer  ist,  als  durch 
die  Aetheraus'schü Hellingen  aus  den  Absorptionsmitteln  nach¬ 
gewiesen  wird,  konnte  durch  folgenden  Versuch  bewiesen 
werden.“  (Der  Rauch  bewirkte,  eine  Viertelstunde  lang  ge- 


1)  Rauchversuche  mit  einigen  Asthmamitteln.  Wiener  klin.  Wochen¬ 
schrift  1908.  S.  588  ff. 

2)  R.  Hirn,  Quantitative  Bestimmungen  von  Atropin,  Blausäure 
und  Schwefelwasserstoff  im  Rauche  von  Stramoniumzigaretten.  Zeit¬ 
schrift  des  allgem.  österr.  Apothekervereines  1903,  S.  1454  ff. 

3)  H.  H.  Meyer  und  R.  Gottlieb,  Die  experimentelle  Pharma¬ 
kologie  als  Grundlage  der  Arzneibehandlung.  1910. 

4)  R.  Robert,  Lehrbuch  der  Intoxikationen.  2.  Aull.  1906,  Bd.  2- 

S.  1043:  L.  Le  win,  Die  Nebenwirkung  der  Arzneimittel.  3.  Au  fl.,  S.  191,  etc. 

6)  Gewöhnlich  wird  A.  Ladenburg  als  derjenige  genannt,  der 
diese  Eigenschaft  des  Atropins  entdeckt  hat;  ich  habe  jedoch  in  Laden¬ 
burg?  Arbeiten  vergeblich  nach  einer  diesbezüglichen  Angabe  gesucht; 
vielmehr  scheint  die  Kenntnis  dieses  eigentümlichen  Verhaltens  des  Atropins 
bis  in  die  50er  Jahre  zurückzureichen.  Vgl.  Schloßberger,  Lehrbuch 

der  organ.  Chemie  1857,  S.  623.  - 


geo  das  Auge  eines  Kaninchens  geblasen,  hei  diesem  deut¬ 
liche  Mydriasis.) 

Zur  Klärung  dieser  Erage  habe  ich  Herba  Stramonii6) 
unter  ähnlichen  Bedingungen  wie  Hirn  und  Netolitzky, 
jedoch  ausschließlich  aus  Glaspfeifen  verraucht,  wäh¬ 
rend  zur  Erzeugung  eines  genügenden,  aber  konli- 
nuierlichen  Luftstromes  von  mir  ebenso,  wie  von 
Hirn  und  Netolitzky,'  eine  Säugpumpe  benutzt 
wurde.  Bei  dieser  Versuchsanordnung  machten  sich  verschie¬ 
dene  Uebelstände  geltend.  Obgleich  die  Saugwirkung  der 
Pumpe  in  allen  möglichen  Stärkegraden  ausprobiert  und 
der  gleichmäßigen  Stopfung  der  Pfeife  besondere  Sorgfalt 
zugewendet  wurde,  ging  das  Pfeifenfeuer  alle  Augenblicke 
aus;  auch  ließ  die  Glaspfeife  erkennen,  daß  sehr  oft  Hohl¬ 
brennen  eintrat,  ein  Umstand,  der  dem  Uebertritte  von 
Atropin  in  den  Rauch  keineswegs  förderlich  sein  konnte. 
Auch  die  Absorptionsvorrichtung  ließ  zu  wünschen  übrig, 
da  der  Rauch  trotz  Vorlage  von  fünf  W  o  u  1  f  sehen  Flaschen 
nicht  vollständig  absorbiert  wurde.  Aus  diesen  Gründen 
schlug  ich  einen  anderen  Weg  ein.  Die  Stramoniumblätter 
wurden,  um  ein  gleichmäßiges  und  besseres  Brennen  (zu 
garantieren,  vorerst  mit.  Kaliumsalpeter  imprägniert,  eine 
Behandlung,  die  auch  bei  der  Herstellung  der  Asthmaziga¬ 
retten  'zumeist  geübt  wird.7)  Dazu  diente  eine  2%ige  Lösung 
von  Kaliumsalpeter;  mit  ihr  wurde  eine  vorher  lufttrocken 
gewogene  Menge  von  200  g  Herba  Stramonii  befeuchtet  und 
nachher  wieder  getrocknet,  so  daß  trotz  dieser  Prozedur 
die  eigentliche  Krautmenge  die  gleiche  blieb.  Zur  (möglichst 
vollkommenen  Aufsaugung  des  Rauches'  wurde  dieser  aus 
der  Pfeife  zunächst  in  'eine  Woul  f  sehe  Flasche  geleitet,  die 
zur  Hälfte  mit  destilliertem,  durch  Zusatz  von (5%  Schwefel¬ 
säure  stark  angesäuertem  Wasser  gefüllt,  war.  Zwischen 
dieser  und  einer  zweiten,  ebenso  beschickten  Wo  ul  f  schon 
Flasche  wurde  ein  1  m  langes  und  ca.  3  cm  im  Lichten 
messendes  Glasrohr  eingeschaltet,  das  durch  mit  5°/oiger 
Schwefelsäure  angefeuchtete  Baumwolle  vollständig,  aber 
locker  ausgestopft  war.  Diese  Anordnung  machte  die  Ver¬ 
wendung  weiterer  W o ul f scher  Flaschen  vollständig  über¬ 
flüssig,  da  schon  in  die  zweite  Flasche  kaum  mehr  eine 
Spur  des  Rauches  gelangte,  so  Haß  das  darin  befindliche 
Wasser  erst  nach  mehrstündigem1  Durchsaugen  eine  leichte 
Färbung  bekam,  während  in  der  ursprünglichen  Anordnung 
sich  auch  der  Inhalt  der  letzten  Flasche  bald  ganz  dunkel 
färbte.  Zur  Untersuchung  des  Atropingehaltes  wurde  der 
Inhalt.  rder  beiden  Flaschen,  sowie  das  Waschwasser,  mit  dem! 
die  vorgeschaltete  Watte  bis  zur  Entfärbung  behandelt  und 
auch  das  ganze  Leitungssystem  ausgespült  worden  war,  zu¬ 
nächst  neutralisiert,  wobei  sich  eine  dunkle,  unangenehm  nach 
Pfeifen  Saft  riechende  Flüssigkeit,  bei  H  i  r  n  und  Netolitzky 
„Teer“  genannt,  abschied.  Dieser  „Teer“  entsteht  in  ganz  be¬ 
trächtlicher  Menge  —  ich  erhielt  aus  200  g  Herba  Stramonii 
davon  12-286lg —  und  ist  durch  seinen  schon  tdurch  den  Ge¬ 
ruch  sich  verratenden  Gehalt  an  Pyridinbasen  für  die  Wir¬ 
kung  des  Rauches  wohl  nicht  ganz  gleichgültig.  Das  von 
diesem  Teer  abfiltrierte  Wasser  wurde  im  Vakuum  auf  Vi 
seines  Volumens  eingedampft,  mit  Kalilauge  alkalisch  ge¬ 
mach!  und  das  Atropin  durch  zehnmaliges  Ausschütteln 
mit  Chloroform  in  dieses  überführt,  das  Chloroform  ver¬ 
dunstet,  der  Rückstand  behufs1  weiterer  Reinigung  mit  an¬ 
gesäuertem  Wasser  aufgenommen  und  abermals  mit  Kali¬ 
lauge  und  Chloroform  behandelt.  Nach  dem  Verdunsten  des 
letzteren  blieb  eine  gelbliche,  ölige  Flüssigkeit  zurück,  die  mit 
Salzsäure  neutralisiert,  und  mit  soviel  Wasser  versetzt  wurde, 
daß  das  Gesamtgewicht  der  Mischung  200  g  betrug.  Da  die 


6)  Die  Droge  wurde  von  einem  renommierten  Wiener  Großhandlungs¬ 
hause  bezogen  und  zunächst  auf  ihren  Alkaloidgehalt  untersucht.  Du-ser 
betrug,  nach  dem  Verfahren  meines  Namensvetters  Günther  (Viertel.]'. 
Pharm.,  Bd.  19,  S.  598)  bestimmt,  0-3442 °/n,  eine  Zahl,  die  mit  den  in 
der  Fachliteratur  angegebenen  Werten  von  0'308 — O'37O°/0  recht  gut 
übereinstimmt. 

7)  So  bei  den  Asthmazigaretten  des  Dr.  Plaut,  beim  Asthrna- 
kraute  des  Apothekers  P 1  ö  n  e  s  in  Weiskirchen  (zitiert  nach  Hagers 
Handbuch  der  pharm.  Praxis)  etc. 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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quantitative  Bestimmung  des  Atropins  nach  derselben  phy¬ 
siologischen  Methode  vorgenommen  werden  sollte,  die  seiner¬ 
zeit  schon  Hirn  benutzt  hatte,  nämlich  durch  Feststellung 
des  kleinsten  Quantums  der  Lösung,  das  noch  auf  die 
Pupille  erweiternd  wirkt,  wurden  aus  der  Stammlösung  vom 
Atropin  Titre  x:200  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  ver¬ 
schiedene  Verdünnungen  bis  zum  Titre  x  :  20.000  hergestellt. 
Diese  Lösungen  wurden  zunächst  für  die  Augen  einiger  Ver¬ 
suchskatzen  benützt,  obwohl  ganz  prompt  Mydriasis  eintrat 
und  die  Tiere  bei  Verwendung  stärkerer  Lösungen  sogar 
dasselbe  starke  Speicheln  zeigten,  wie  nach  mittelstarken 
Atropinlösungen,  erwies  sich  doch  die  Auswertung  am 
Katzenauge  als  ganz  unzuverlässig.  Die  Tiere  schütteln  nach 
der  Instillation  oft  den  Kopf,  wobei  ein  unkontrollierbarer 
Teil  der  Lösung  verloren  gehen  konnte  und  erschwerten 
später  durch  ihr  ungebärdiges  und  lichtscheues  Wesen  den 
Vergleich  mit  dem  unbehandelten,  normalen  Auge.  Aus 
diesem  Grunde  wurden  schließlich  die  schwächsten  Lösun¬ 
gen  am  menschlichen  Auge  ausprobiert,  wozu  einige  Per¬ 
sonen  ineiner  nächsten  Umgebung  'sowie  ich  selbst  herhalten 
mußten.  Es  ergaben  sich  dabei  individuelle  Verschieden¬ 
heiten,  da  bei  den  einen  noch  die  Verdünnung  x:  11.000 
wirkte,  während  bei  einigen  anderen  auch  eine  stärkere 
Lösung,  z.  B.  x:  10.000  nicht  die  geringste  Pupillenerwei¬ 
terung  hervorbrachte.  Bemerkt  sei,  daß  für  jede  Instillation 
ein  einziger,  stets  gleich  großer  Tropfen  Lösung  ibenützt 
wurde;  die  Lösung  wurde  zuvor  auf  Körpertemperatur  vor- 
gewärmt,  wodurch  das  Eintröpfeln  reaktionslos  ertragen 
wurde  und  weder  durch  Lidschlag  noch  durch  Tränenfluß 
ein  Teil  der  eingeträufelten  Flüssigkeit  verloren  ging.  Als 
nun  in  den  nächsten  Tagen  zur  Kontrolle  die  von  den 
Autoren  als  eben  noch  als  wirksam  angegebene  Atropin¬ 
lösung  1 : 130.000  bei  den  gleichen  Versuchspersonen  an¬ 
gewendet  wurde,  zeigten  sich  die  gleichen  individuellen 
Unterschiede,  so  daß.  die  Angabe :  ein  Tropfen  einer  Atro¬ 
pinlösung  1 : 130.000  sei  eben  noch  im  Stande,  eine  Pupillen¬ 
erweiterung  hervorzubringen,  für  den  Menschen  nur  mit  , der 
Einschränkung  „zumeist“  gelten  kann.  Diese  Pupillener- 
weiterung  tritt  erst  nach  50 — 60  Minuten  ein,  erreicht  einen 
nur  mäßigen,  keine  wesentliche  Sehstörung  hervorrufenden 
Grad  und  verschwindet  über  Nacht  wieder  vollkommen. 
Durch  diese  Versuche  ergab  sich  somit  die  Gleichwertig¬ 
keit  der  Verdünnung  x:  11.000  mit  einer  Atropinlösung 
1:130.000.  Zur  weiteren  Kontrolle  wurde  noch  bei  einer 
Versuchsperson  in  das  eine  Auge  ein  Tropfen  einer  Atropin¬ 
lösung  x:  65.000,  in  das'  andere  Auge  ein  Tropfen  der  Ver¬ 
dünnung  x :  5500  gebracht.  An  beiden  Augen  trat,  die  Pu¬ 
pillenerweiterung  nach  derselben  Zeit  und  in  derselben 
Stärke  auf,  womit  die  Richtigkeit  der  früheren  (Beobachtun¬ 
gen  bestätigt  war.  Demnach  waren  im  Rauche  von  200  g 
Herba  iStramonii  Mydriatica  entsprechend  einem  Quan¬ 
tum  von  0.0846  g  Atropinum  sulfuricum,  bzw.  bei  1  g 
Stramonium  0  000423  g  Atropin  enthalten,  während  H  i  r  n 
bei  seiner  quantitativen  Bestimmung  in  dem  Rauche  von 
200  g  Blätter  nur  0  0092 — 0  0128  g  Atropin  fand.  Ich  habe 
versucht,  den  quantitativen  Nachweis  von  Atropin  auch 
durch  dessen  Wirkung  auf  das  Hundeherz  zu  führen.  Nach 
N  o  t  h  n  a  g  e  1  -  R  o  ß b  a  c  h  tritt  beim  Hunde  Pulsheschleu- 
eigung  im  Mittel  nach  0  001g  Atropin  ein.  Als  ich  zu  den 
einschlägigen  Versuchen  zunächst  junge  Hunde  verwendete, 
kam  ich  sehr  bald  zur  Ueberzeugung,  daß  sie  für  diesen 
Zweck  unbrauchbar  waren.  Sie  reagierten  ungleich  und 
erst  auf  größere  Dosen.  Nach  dieser  Erkenntnis  gab  ich 
einem  einjährigen,  6-5  kg  schweren  Foxterrier  in  Pausen 
von  5  Minuten  je  0  0003  g  Atropinum  sulfuricum  subkutan, 
'vorauf  die  Pulszahl,  die  durch  die  beiden  ersten  Injek¬ 
tionen  von  124  bis  auf  108  in  der  Minute  gesunken  war, 
nach  der  dritten  plötzlich  auf  180  Schläge  hinauf  schnellte 
und  auch  nach  einer  Viertelstunde  sich  noch  auf  der  gleichen 
Höhe  hielt.  Dieses  .Versuchstier  zeigte  mithin  schon  nach 
0-9  Milligramm  Atropin  beginnende  Lähmung  des  Herzvagus. 
Als  demselben  Tiere  nach  einigen  Tagen,  als  die  Puls¬ 
frequenz  schon  wieder  normal  war,  ein  dieser  Atropin¬ 


menge  entsprechendes  Quantum  Giftlösung  subkutan  ein¬ 
gespritzt  wurde,  brachte  diese  nur  eine  längere  Zeit  an¬ 
haltende  Herabsetzung  der  Pulsfrequenz  hervor.  Die  Rech¬ 
nung  schien  also  nicht  zu  stimmen.  Allein  ich  hatte  über¬ 
sehen,  daß  von  der  Herstellung  der  Giftlösung  bis  zu  ihrer 
Verwendung  beim  Hunde  schon  geraume  Zeit  —  über  drei 
Wochen  —  verflossen  waren.  Da  auch  Hirn  und  Neto- 
litzky  bei  ihren  Versuchen  fanden,  daßi  die  Wirkung  der 
Lösungen  beim  längeren  Stehen  durch  teilweise  Zersetzung 
nachläßt,  galt  es  nochj  einen  weiteren  Versuch  mit  frischer 
Giftlösung  zu  machen.  Es  wurden  daher  nochmals  200  g 
Herba  Stramonii  in  der  geschilderten  Weise  verraucht,  die 
frische  Giftlösung  rasch  am  Menschenauge  auf  ihren  Titre 
untersucht,  wobei  sich  die  Verdünnung  x:  11.000  wie 'früher 
als  noch  wirksam  erwies1.  Als  hierauf  von  , dieser  frischen 
Giftlösung  das  einer  Atropinmenge  von  0-9  Milligramm  ent¬ 
sprechende  Quantum  bei  demselben  Versuchshunde  sub¬ 
kutan  injiziert  wurde,  trat,  eine  Vermehrung  der 'Pulsschläge 
um  44  pro  Minute  (von  110  auf  154)  ein,  so  daß  der 
Beweis  der  Anwesenheit  einer  entsprechenden  Menge  auch 
auf  diesem  Wege  als  erbracht  angesehen  werden  kann. 

Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich,  daß  den  Stramonium- 
zigaretten  wohl  eine  medizinelle  Wirkung  zugeschrieben 
werden  darf;  denn  bei  einem  Gehalte  von  durchschnittlich 
1 — iVr  g  Herbae  Stramonii  liefert  eine  Zigarette  in  ihrem 
Rauche  (neben  Blausäure,  Schwefelwasserstoff  und  Pyridin¬ 
basen)  3 — 5  dmg  Atropin,  welches  namentlich  dann,  wenn 
der  Rauch  in  die  Lunge  inhaliert  wird,  ganz  wohl  eine 
lokale  Wirkung  entfalten  kann.  Ja,  man  dürfte  sich  sogar 
nicht  wundern,  wenn  schon  zwei  bis  drei  Zigaretten,-  rasch 
nach  einander  geraucht,  üble  ’Nebenerscheinungen  zur  Folge 
hätten. 


Ueber  den  derzeitigen  Stand  der  Pest  in 

Indien. 

Von  Dr.  Emil  Wiener. 

Seit  Jahrhunderten  ist  die  Pest  als  Epidemie  aus  Europa 
Verschwunden.  Ihre  letzte  große  Periode  fand  am  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  ihren  Abschluß,  zu  welcher  Zeit  Wien  und 
Umgebung,  Deutschland,  Spanien  und  die  Türkei  Zehntausend©  von 
Menschenleben  verloren,  während  sie  aus  Frankreich  schon  ein 
halbes  Jahrhundert  früher  verschwunden  war.  Wenn  derzeit  immer 
noch  aus  außereuropäischen  Ländern  eingeschleppte-  Fälle  durch 
eine  stellenweise  auftretende  Gruppenerkrankung  maßlosen 
Schrecken  verbreiten,  so  liegt  dies  zunächst  darin,  daß  in  deren 
eigentlicher  Heimat,  in  Indien  und  China,  die  Pest  in  den  letzten 
Jahren  neuerdings  eine  ganz  besonders  starke  Ausbreitung  ge¬ 
wonnen  hat.  und  dadurch  die  Erinnerung  an  die  verheerenden  Epi¬ 
demien  in  Europa  vom  Mittelalter  bis  in  die  Neuzeit  wieder  wach¬ 
gerufen  wird. 

Ungleich  der  Cholera,  blickt  die  Pest  auf  eine  lange  Geschichte 
zurück.  Schon  die  ersten  historischen  Ueberlieferungen  deuten  ihr 
Vorhandensein  an.  Sie  ist  in  der  Bibel  mehrfach  erwähnt  und 
die  Erscheinungen,  unter  welchen  im  Altertum  die  schwarzen 
Blattern  beschrieben  sind,  decken  sich  vielfach  mit  jenen  der 
Pest. 

Die  alte  griechische  Schule  gibt  durch  ihre  Meister  Hippe¬ 
ls  rates  und  Galen  Beschreibungen,  von  denen  manche  noch 
heute  Geltung  besitzen,  Paulus  von  A  eg  i  n  a  bezieht  einige  der 
Aphorismen  Hippkorates'  in  den  Büchern  der  Epidemien  auf  die 
Pest.  300  Jahre  v.  Ch.  herrschte  sie-  in  Kleinasien,  Griechenland. 
Tacitus,  Archaeus  und  Rufus  von  Ephesus  erwähnen  und 
schildern  sie,  vielfach  freilich  ziemlich  ungenau. 

Europa  wurde  durch  eine  mehrere  Jahrzehnte  währende 
Pest  im  6.  Jahrhundert  verwüstet.  Nachdem  vereinzelte  Fälle 
an  den  Küsten  des  Mittelmeeres  aufgetreten  waren,  trat  sie  im 
Jahre  534  nachmals  unter  der  Bezeichnung  Pest  des  Justinian 
gekannt  und  beschrieben,  in  Konstantinopel  auf,  um,  bald  Flu߬ 
läufen,  bald  den  Heeresstraßen  folgend,  allmählich  den  ganzen 
Kontinent  zu  überziehen  manchmal  ganze  Länderstrecken  über¬ 
springend,  um  sich  erst  nach  Jahren  in  ihnen,  festzusetzen. 
Procopius  schätzt  deren  Opfer  schon  im  Jahre  568  auf  die 
Hälfte  der  Bewohner  des  Byzantinischen  Reiches,  während 
Gibbon  ihre  Gesamtzahl  mit  100  Millionen  bemißt.  Keiner  der 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


Befallenen  genas.  Die  Erkrankung  begann  unter  Delirien,  Blut¬ 
andrang  zum  Kopf,  Anschwellung  des  Gesichtes  oder  aber  mit 
Beulen  in  den  Leisten  und  Fieber,  welches  am  zweiten  oder  dritten 
Tage  tötete.  In  anderen  Fällen  traten  Karbunkeln  auf,  manchmal 
Diarrhöen^  und  Erbrechen,  endlich  auch  Fälle  von,  Bluthusten. 

Obwohl  nach  mannigfachen  Angaben  das  einmalige  Ueber- 
stehen  der  Krankheit  gegen  neuerliche  Erkrankung  nicht  schützen 
soll  und  genügend  Beispiele  vorhanden  sind,  daß  manche  erst  in 
der  zweiten  oder  dritten  Erkrankung,  in  einem  Falle  sogar  erst 
in  der  siebenten,  erlagen,  ist  doch  anzunehmen,  daß  nach  der 
Pest  des  Justinian  die  Ueberlebenden  durchseucht  waren,  da  sie 
allmählich  erlosch  und  in  den  folgenden  Jahrhunderten  nur  die 
bis  dahin  verschonten  Länder  befiel,  so  England  und  Island, 
wo  sie  im  Jahre  664  zwei  Drittel  der  Bewohner  tötete.  Erst  im 
11.  Jahrhundert  begann  sie  sich  wieder  auszubreiten.  Sie  kam 
aus  Indien  und  überzog,  dem  damaligen  Verkehr  entsprechend, 
sehr  langsam  neuerdings  den  Kontinent.  Die  Heeceszüge  und 
Kreuzfahrten  lieferten  die  meisten  Opfer;  vor  Antiochia  starben 
im  Jahre  1097  binnen  zwei  Monaten  200.000  Menschen. 

Hungersnot  und  eine  Nilüberschwemmung,  welche  nach  zwei 
wasserarmen  Jahren  im  Jahre  1201  ganz  besonders  ausgebreitet 
gewesen  sein  soll,  bereiteten  den  Boden  für  die  Ausbreitung  der 
Epidemie  in  ganz  Aegypten  vor,  unter  jenen  beginnend,  die 
sich  mit  der  Bearbeitung  des  Bodens  beschäftigten 
und  rafften  eine  Million  weg,  davon  110.000  in  Kairo.  Auch  für 
die  im  Jahre  1346  begonnene  Epidemie,  welche  an  Ausbreitung 
und  Opfern  nur  mit  der  des  Justinian  zu  vergleichen  ist,  wild 
eine  vorhergehende  Hungersnot  verantwortlich  gemacht.  Sie  er¬ 
reichte  in  Konstantinopel  ihren  Höhepunkt  im  Jahre  1347,  über¬ 
zog  Italien  und  Südfrankreich  und  tötete  in  Avignon  binnen 
drei  Tagen  1800  und  im  Verlauf  von  sieben  Monaten  150.000  Men¬ 
schen.  Auch  hier  wird  über  Drüsenschwellungen  mit  hinzutreten¬ 
dem  Fieber,  Blutspeien  und  über  solche  Fälle,  welche  binnen 
wenigen  Stunden  unter  unausgesprochenen  Symptomen  zum  Tode 
führten,  berichtet.  Zunächst  trat  die  Epidemie  als  Lungenpest 
auf  und  führte  binnen  drei  Tagen  zum  Tode,  vom  dritten  Monat 
ab  traten  die  Symptome  der  Bubonenpest  mehr  hervor;  diese 
Fälle  verliefen  schon  milde,  besonders  jeine,  bei  welchen  e's  zur 
Vereiterung  der  Bubonen  kam.  In  fast  allen  größeren  Städten 
und  in  deren  Umgebung  gab  es  in  den  folgenden  Jahrzehnten 
größere  und  geringere  Ausbrüche.  Wien  verlor  in  den  Sommer¬ 
monaten  1381  gegen  40.000  Menschen.  Im  darauffolgenden  Jahre 
war  wieder  der  ganze  Erdteil  verseucht  und  wieder  wurde  die 
Bevölkerung  in  den  folgenden  Jahrzehnten  dezimiert. 

Im  Jahre  1438  überzog  die  Tä’un,  Beulenpest,  ganz  Indien. 
Sie  tötete  vom  Heer  des  Sultans  xAhmed  vor  Malora  mehr  Leute, 
als  irgendein  anderer  Feind  vermocht  hätte;  zu  gleicher  Zeit 
trat  sie  in  Aegypten  au f  und  kam  wieder  nach  Europa,  wo 
nunmehr,  strenge  Abwehrmaßregeln  im  Sinne  der  damaligen  Auf¬ 
fassung  getroffen  wurden.  Die  ersten  Wiener  Pesttraktate  er¬ 
schienen  1428,  das  Pestreglement  in  Löwen  1474;  dieses  ordnete 
an  die  Absonderung  von  Kranken,  die  Absperrung  verseuchter 
Häuser  und  deren  Kenntlichmachen  durch  Strohwische  für  die 
Dauer  von  40  Tagen.  In  Majorka  richtete  Lucian  Colombia  ein 
Pestspital  ein  und  veranlagte,  daß  ohne  Zustimmung  des  Gesund¬ 
heitsrates  keine  Warenversteigerung  stattfinden  durfte,  alle  Schiffe 
kontrolliert  wurden  und  durch  40  Tage  und  länger  in  Beobachtung 
standen.  Noch  weiter  ging  der  Stadtrat  von  Troyes,  welcher 
Pesthäuser  niederbrennen  ließ  und  eine  Reihe  hygienischer  Ma߬ 
regeln  einführte,  so  die  Reinigung  der  Stadt,  die  Kehrichtabfuhr; 
das  Halten  von  Schweinen,  Kaninchen  und  Geflügel  wurde  ver¬ 
boten  und  den  Bäckern  und  Fleischern  aufgetragen,  ihre  Waren 
vor  dem  Verkauf  nicht  berühren  zu  lassen.  Die  erste  Wiener  Jn- 
fektionsordnung  von  Stocker,  aus  dem  Jahre  1540,  welche 
an  alle  Wiener  Häuser  ausgegeben  und  von  den  Kanzeln  ver¬ 
lesen  wurde,  ordnete  an  die  Straßenreinigung,  Durchsuchung  der 
Häuser  nach  Pestkranken,  Wacholderräucherungen  und  Reini¬ 
gung  voii  Zimmern  mit  Lauge  oder  Essig,  Verbot  des  Kleideir- 
handels  und  der  Menschenansammlungen. 

Aus  jener  Zeit  stammen  auch  Beschreibungen  von  Krank¬ 
heiten,  deren  Symptome  mit  Unrecht  der  Pest  zugeschrieben  wur¬ 
den.  Im  Jahre  1528  starben  in  Neapel  50.000  Menschen  an  Pest, 
während  das  belagernde  französische  Heer  30.000  Menschen  an 
Flecktyphus  verlor.  Dabei  weiß  man  aber  auch,  daß  vielfach  vor 
oder  während  Pestgängen  andere  Epidemien  auftraten,  wie  Typhus 
und  Ruhr. 

Die  siebente  Belehrung  der  Wiener  medii'nischen  Fa¬ 
kultät  sprach  von  einem  „heftigen,  vergifteten  Fieber,  einer 
schnellen,  tödlichen  Krankheit,  mit  Drüsen,  Tüpeln  und  Ge- 
schweren“.  In  Aegypten  starben  in  den  Jahren  1574  bis 
1576  über  eine  Million,  in  Kairo  angeblich  860.000,  zur  selben 


Zeit  in  Venedig  80.000,  darunter  der  99jährige  Titian.  Der  Kar¬ 
dinal  Carl  Borromäus  von  Mailand  errichtete  damals  ein  Isolier¬ 
spital  mit  388  Zellen  und  führte  eine  allgemeine  Quarantäne  ein. 
Im  sechsten  und  siebenten  Jahrzehnt  des  17.  Jahrhunderts  war 
wieder  der  ganze  Kontinent  verseucht. 

Neuerdings  begann  in  Asien  im  Jahre  1611  eine  Pestperiode; 
nachdem  große  Mäusescharen  über  das  Land  gezogen  waren, 
zeigte  sich  die  Waba,  Beulenpest,  in  Afghanistan  und  zog  über 
Kandahar  in  das  Pandschab.  Sie  war  auch  für  Tiere  aller  Art 
sehr  infektiös;  von  den  Bewohnern  des  nördlichen  In¬ 
diens  hauptsächlich  für  Hindus.  Nach  Aufzeichnungen 
des  Großmoguls  Schab  Dschahangir  starben  in  Agra,  der  Sonnen¬ 
stadt,  täglich  gegen  100  Menschen.  Sie  trat  durch  vier  Jahre 
während  der  kalten  Jahreszeit  auf,  um  während  der  heißen  zu 
verschwinden.  Vom  Jahre  1616  bis  1624  erfolgten  jährlich  Pest¬ 
epidemien  in  Benares,  was  in  dem  Umstande,  als  die  heilige  Stadt 
zu  'bestimmten  Jahreszeiten  Zuzug  aus  ganz  Indien  hat,  erklärt  ist. 
Wieder  trat  die  Seuche  ihre  Wanderung  nach  Europa  an;  auf 
dem  Karawanenwege  kam  sie  über  Syrien  nach  Konstantinopel 
und  von  da,  trug  sie  zur  weiteren  Verbreitung  in  dem  schon  pest¬ 
verseuchten  Europa  bei ;  dezimierte  die  Einwohnerschaft  Lon¬ 
dons  und  verheerte  in  den  Jahren  1628  bis  1631  Frankreich  und 
Italien.  Damals  sollen  „Pestsalber“  die  Epidemie  verbreitet  haben. 
Was  daran  nach  den  unter  Foltern  erpreßten  Geständnissen  den  Tat¬ 
sachen  entsprach,  dürfte  wohl  unaufgeklärt  bleiben.  Im  Jahre  1635 
reduzierte  sie  die  Einwohnerzahl  Württembergs  von  313.000  auf 
48.000.  In  den  Rheinlanden  und  den  Niederlanden  ging  sie  mit, 
Blattern-,  Masern-  und  Ruhrepidemien  einher. 

Auf  eine  Einschleppung  aus  der  Levante  wird  auch  die 
Pest  in  Konstantinopel  im  Jahre  1636  zurückgeführt.  Sie  erschien 
dann  in  allen  Häfen  des  Mittelmeeres.  Italien  wurde  im  Jahre 
1656  und  1657  von  einer  großen  Pestepidemie  heimgesucht, 
welcher  eine  Hungersnot  voranging.  Besonders  heftig  trat  sie  in 
Neapel  auf,  um  nach  einem  Regenguß  im  August  plötz¬ 
lich  nachzulassen.  Sie  hatte  400.000  Menschen  im  Königreich 
getötet.  Der  Papst  ergriff  ungemein  strenge  Absperrmaßregeln 
gegen  Neapel.  Jeder  Verkehr,  auch  der  Güterverkehr,  wurde  bei 
Todesstrafe  untersagt,  Briefe  unter  den  erdenklichsten  Vorsichts¬ 
maßregeln  nach  Rom  gebracht  und  dort  geräuchert,  den  Gast¬ 
wirten  die  Aufnahme  fremder  Leute  strengstens  verboten.  Trotz¬ 
dem  erschien  sie  am  8.  Juni  in  Rom  angeblich  durch  zwei  päpst¬ 
liche  Schiffe  von  Neapel  nach  Centumcellae  (Civita  vecchia) 
verschleppt,  von  wo  sie  von  einem  Soldaten  nach  Rom  gebracht 
wurde.  Die  Erkrankung  begann  in  dieser  Epidemie  zumeist  mit 
heftigem  Hitzegefühl  in  der  Herzgegend,  Schmerzen,  in  den  Eiti- 
geweiden,  Erbrechen,  Kopfschmerz,  Delirien,  hohem  Fieber, 
Krämpfen,  unstillbarem  Durst;  die  Zunge  hatte  einen  dicken 
weißen  Belag,  ein  Symptom,  welches  fast  in  allen  Epidemien 
erwähnt  wird,  später  wurde  sie  schwarz  (trocken).  Der  Harn 
war  trüb  und  blutig.  Hierauf  erschienen  kurz  vor  dem  letalen 
Ausgang  Karbunkeln,  Bubonen  und  schwarze  Flecken.  Bemerkens¬ 
wert  ist  die  öftere  Erwähnung  der  peste  di  castrone,  was  auf  die 
Erkrankung  der  Parotis  hinweist.  Alsbald  wurden  die  Hospitäler 
vermehrt  und  alle  Pestkranken  hingebracht.  In  einer  vorzüg¬ 
lichen  Quarantänestation  auf  der  Tiberinsel  wurden  gesonderte 
Gebäude  für  Männer,  Weiber  und  Kinder  eingerichtet,  ferner 
zwei  Reinigungsanstalten  für  verseuchte  Gegenstände.  Auch  hier 
wurde  der  Gesundheitspaß  eingeführt.  Die  Einfuhr  und  der  Vertrieb 
von  Nahrungsmitteln  wurde  strenge  überwacht,  auf  die  Haus¬ 
tiere,  besonders  Hunde  und  Katzen  besonders  geachtet  und  über¬ 
all  für  große  Reinlichkeit  Sorge  getragen.  Auch  an  anderen 
Orten  wurden  Pestmaßnahmen  eingeführt,  so  in  Venedig,  in  vielen 
deutschen  Städten,  wie  Gießen,  Straßburg,  Basel,  Ulm,  Augsburg, 
Nürnberg,  St.  Gallen  u.  a.  Gelegentlich  der  letzten  Pest  ,in 
Oesterreich  in  den  Jahren  1678  bis  1681  erließ  Kaiser  Leopold  l. 
eine  neue  Infektionsordnung.  Diese  Epidemie  war  wieder  un- 
gemein  bösartig ;  sie  tötete  die  meisten  Befallenen  binnen  zwölf 
Stunden;  fast  alle  Schwangeren  starben  an  derselben.  Sen 
felder  (zitiert  nach  Sticker)  zählt  die  Todesfälle  in  den  ein¬ 
zelnen  Bezirken  Wiens  und  Umgebung  auf. 

Während  sie  nun  Europa  für  einige  Jahre  verließ,  wütete 
sie  in  ihrer  Heimat  in  Indien  in  kürzerer  oder1  längeren  Zwischen¬ 
räumen,  Städte  und  ganze  Provinzen  entvölkernd,  ln  Ahmed¬ 
abad  kehrte  sie  vom  Jahre  1683  ab  durch  sechs  Jahre  immer 
nach  der  Regenzeit  wieder,  ebenso  in  Surat  an  der  Westküste; 
schon  gelegentlich  dieser  Epidemie  fiel  es  auf,  daß  kein  Eng¬ 
länder  an  der  Seuche  erkrankte,  während  sie  von  den 
Einheimischen  300  täglich  tötete,  viele  davon  binnen  wenigen 
Stunden.  Nicht  so  gut  kamen  die  Europäer  im  Jahre  1690  in 
Bombay  davon,  von  860  blieben  nur  50  am  Leben.  In  Siam  trat 
sie  gleichzeitig  mit  Gelbfieber  auf.  Im  Jahre  1690  näherte  sic 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


751 


sich  wieder  Europa,  trat  in  Bosnien  und  Dalmatien  auf,  überzog 
wieder  Aegypten,  die  Türkei  und  Syrien,  kam  von  Konstantinopel 
über  Podolien  nach  Galizien,  wo  sie  im  Jahre  1707  allein  in 
Krakau  innerhalb  fünf'  Monaten  18.000  Menschen  tötete.  Im  Jahre 
1709  vernichtete  sie  in  Danzig  über  20.000  Menschen;  im  fol¬ 
genden  Jahre  in  der  Provinz  Brandenburg  215.000,  in  Oesterreich 
.100.000.  Von  da,  ab  trifft  man  schon  auf  Angaben,  die  als  eine  Ab¬ 
schwächung  der  Krankheit  zu  deuten  sind.  In  der  Umgebung  Wiens, 
in  Petzelsdorf,  zeigte  sich  das  gravierende  Kontagium  zu  kleinen 
Abszessen  abgeschwächt,  ohne  große  Sterblichkeit,  während 
in  anderen  Vororten  eine  solche  Abnahme  nicht  bemerkbar  war. 
In  Marseille  wurde  sie  im  Jahre  1720  durch  ein  aus  der  Levante 
kommendes  Schiff  eingeschleppt,  dessen  Kapitän  einige  Pestfälle 
verheimlichte,  um  der  Quarantäne  zu  entgehen.  Die  nun  folgende 
Epidemie  raffte  von  247.689  Einwohnern  87.666  weg.  Auch  in 
Messina  wurde  zwei  Jahrzehnte  später  die  Pest  durch  ein  Schiff 
aus  Missolunghi  gebracht,  welches  auf  der  Fahrt  mehrere  Rei¬ 
sende  verloren  hatte.  Sticker  schätzt  die  Opfer  auf  47.000 
bis  48.000,  Proust  auf  43.000.  Wieder  war  die  ganze  Levante, 
die  Türkei  und  viele  kontinentale  Orte  verseucht.  In  Moskau 
starben  im  Jahre  1770  bis  1771  80.000  Menschen. 

ln  ihrer  eigentlichen  Heimat  verursachte  sie  immer  wieder 
größere  Ausbrüche.  So  in  Suleimanyeh  in  Kurdistan,  ferner  in 
Südchina,  von  Yün-nan  aus.  In  Tschau-Tschau  und  in  Yün-nan 
erschienen  nach  Berichten  aus  jener  Zeit  fremdartige  Ratten  bei 
Tage  in  den  Häusern,  um  unter  Blutspeien  zu  Boden  zu  fallen 
und  zu  verenden;  alle  Menschen,  welche  mit  dem  Hebel  durch 
Berührung  noch  lebender  oder  verendeter  Ratten  oder  kranker 
Menschen  in  Berührung  kamen,  starben. 

Aegypten  hatte  zu  jener  Zeit  fortgesetzt  zu  leiden,  aber 
die  Seuche  begann  bereits  einigermaßen  von  ihrem  Schrecken 
einzubüßen;  im  Jahre  1790  scheint  sie  sogar  ziemlich  mild  auf¬ 
getreten  zu  sein;  denn  obwohl  die  Zahl  der  Toten  noch  immer 
sehr  beträchtlich  war  —  über  83.000  —  sollen  im)  ganzen  600.000 
Menschen  pestkrank  gewesen  sein,  was  einem  verhältnismäßig 
sehr  geringen  Prozentsatz  an  Todesfällen  entspräche.  Eine  neue 
Epidemie  trat  1800  nach  einer  großen  Nilüberschwemmung  auf, 
ließ  dann  nach  und  tötete  im  Jahre  1805  150.000  Menschen. 
Sie  hatte  mittlerweile  auch  im  Kaukasus,  am  Schwarzen  Meere 
und  in  Syrien  viele  Opfer  gefordert.  Es  kam  dann  an  der  Mittel¬ 
meerküste  zu  mehrfachen  Ausbrüchen,  zu  einem  besonders  heftigen 
im  Jahre  1819  in  Konstantinopel,  zn  kleineren  in  einigen  mittleren 
Städten.  Sie  trat  nochmals  im  Jahre  1828  in  der  Moldau  auf,  ging 
bis  Kronstadt  und  nochmals  starben  im  Jahre  1837  in  Konstan- 
tinopel  30.000  Menschen  (Moltke).  Es  war  die  letzte  große 
europäische  Ptstepidemie;  kurz  vorher  waren  in  Bagdad  100.00  ) 
Menschen  der  Seuche  erlegen. 

* 

Der  im  Jahre  1812  in  Zentralindien  auf  getretenen  Pest  - 
sie  hatte  diese  Provinzen  durch  mehr  als  ein  Jahrhundert  ver¬ 
schont  —  ging  ein  großes  Rattensterben  und  eine  Hungersnot 
voraus.  In  Ahmednabar  starben  50.000  Hindus  und  Musel¬ 
männer  .Die  Radschputanen  blieben  verschont,  ferner  nach  be¬ 
sonderen  Aufzeichnungen  auch  die  Oelhändler.  Zuerst  erkrankten 
überall  die  Baumwollspinner,  deren  Magazine  zumeist  Rattenbrut¬ 
stätten  sind.  Die  Seuche  breitete  sich  nach  Norden  und  Süden 
aus,  wurde  durch  Baumwolle  nach  Dollera  eingeschleppt,  ging 
bis  zur  Küste,  kam  1820  nach  Ahmednabar  und  war  im 
Jahre  1821  überall  im  Erlöschen. 

Aber  schon  im  Jahre  1822  bereitete  sich  ein  neuer  Aus¬ 
bruch  der  Mahamari  (Pest),  vom  Himalaya  ausgehend,  vor. 
Ein  Rattensterben  ging  ihm  Voraus.  Alle  zwölf  Jahre  findet 
von  Nasik  aus  eine  große  Pilgerfahrt  statt,  welche  die  Seuche 
überall  hinting,  selbst  in  das  bis  dahin  verschonte  Radsch- 
putana.  Seit  jener  Zeit  erlosch  die  Pest  nicht  mehr  bis  zum 
heutigen  Tage  in  den  Bezirken  Garhwal  und  Kama, on ;  man  zählt 
seither  eine  Serie-  von  wenigstens  30  Pestausbrüchen.  Immer 
erschien  sie  in  den  nördlichen  Provinzen  der  indischen  Halb¬ 
insel.  1828  bis  1829  im  Gebiet  von  Delhi,  im  Jahre  1833  in 
den  Grenzgebieten  des  Himalaya,  Bhutan  und  Nepal  und  zog 
in  Kamaon  bis  zu  den  Quellen  des  Ramganga.  Typisch  war 
das  Vorherrschen  von  Lungenpest  in  der  kalten  und 
Umschlagen  in  Bubonenpest  in  der  warmen  Jahres¬ 
zeit;  die  Inkubationszeit  soll,  wie  nach  der  Erkrankung  von 
Leuten,  die  sich  ganz  kurze  Zeit  im  Pestgebiet  aufhielten,  fest¬ 
zustellen  war,  ein  bis  fünf  Tage  betragen  haben.  Wir  wissen 
mittlerweile  durch  die  Rolle,  welche  gesunde  Bazillenträger  (auch 
Tiere),  oder  unbekannte  Gelegenheitsursachen  spielen,  wie-  schwan¬ 
kend  die  Annahmen  über  die  Inkubationszeit  sind.  Wieder  verur¬ 
sachten  Pilger  im  Jahre  1836  eine  große  Verbreitung  der  Seuche, 


welche  im  Frühjahr  zurückging,  nachdem  sie  in  Maiswara,  Mawar 
und  längs  des  Indus  60.000  Opfer  gefordert  hatte. 

Vom  Jahre  1846  bis  1860  gab  es  in  Kamaon  am  Fuße  des 
Himalaya  alljährlich  Pestausbrüche.  Die  Einwohner  verließen, 
sowie  dieselbe  im  Anzuge  war,  was  durch  ein  vorhergegangenes 
Rattensterben  kenntlich  wurde,  ihre  Häuser,  flohen  in  die  Wälder, 
wo  sie  so  lange  blieben,  bis  nach  ihren  Erfahrungen  die  Gefahr 
vorüber  war,  das  heißt  nach  vier  Monaten.  Sie  kam  den  dicht- 
bewohnten  Stätten  immer  näher,  mit  der  Regenzeit  1849  in  das 
benachbarte  Gashaval,  1852  in  die  Berge  von  Yusofzai  im  Norden 
von  Peschawar,  1853  nach  Bidschnor  und  Moradabod  zwischen 
Ganges  und  Dschamna.  Gleichzeitig  herrschte  sie  aber  auch 
nördlich  und  östlich  vom  Himalaya.  Nach  den  großen  IJeber- 
schwemmu ngen  in  der  chinesischen  Provinz  Hukuang  kam  sie 
nach  Yün-nan,  im  Jahre  1850  nach  Pakhoi,  wo  sie  seither  ende¬ 
misch  ist  und  im  Mai  gewöhnlich  Massenerkrankungen  bedingt, 
Welche  auch  große-  Tierherden  und  Hausgeflügel  vertilgt. 

Von  Kamaon  aus  verbreitete  sich  die  Seuche  im  Jahre  1859 
rasch  nach  Südosten  und  herrschte-  auf  der  Saugorinsel  im  Ganges¬ 
delta;  im  Jahre  1863  raffte-  sie  einen  großen  Teil  der  Einwohner¬ 
schaft  in  Lahore  weg. 

Von  der  großen  mittelasiatischen  Hochebene  gmg  die  Seuche 
auch  nach  Westen  und  verursachte  viele  Todesfälle  in  Persien, 
Mesopotamien  und  den  Länderstrecken  zwischen  Euphrat  und 
Tigris,  in  welchen  Gegenden  es  in  den  Jahren  1835  bis  1867 
immer  wieder  vereinzelte  oder  gehäufte  Fälle  gab,  im  Jahre  1873 
ging  sie  bis  nach  Irak-Arabi  unweit  von  Bagdad,  bis  zum  Juli 
1874  starben  von  90.000  Bewohnern  4000.  Bagdad  hatte-  sich 
durch  eine  doppelte  Sperre  verschanzt.  Trotzdem  starben  dort 
im  Frühjahr  1876  2683  Menschen,  ungefähr  50%  der  Erkrankten. 
Als  die  Temperatur  im  August  auf  49°  stieg,  ließ  die  Epidemie 
rasch  nach,  um  aber  nach  einer  Tigrisüberschwemmung  im  No¬ 
vember  wieder  aufs  neue  zu  erscheinen,  besonders  in  den  Vor¬ 
städten  am  linken  Euphratufer.  Sie  -dauerte  bis  ins  späte  Früh¬ 
jahr.  In  der  Umgehung  von  Bagdad  gab  es  vielfach  kleinere 
Herde,  wobei  ein  der  Pest  vorausgeh-endes  Sterben  der  Kamele 
beobachtet  wurde  und  auch  andere  Epidemien,  wie  Ruhr  und 
gastrisches  Fieiber  auftraten. 

Zur  selben  Zeit  herrschte  auch  in  Kamaon  und  Garhwal 
neuerdings  die  Pest.  Sie  war  unter  ganz  besonders  bemerkens¬ 
werten  Umständen  aufgetreten.  Im  November  erkrankte  ein  Kind 
in  Bintola;  es  war  im  Orte  geboren,  nie  aus  demselben  heraus- 
g-ekommen,  seit  Monaten  hatte  kein,  Fremder  denselben  betreten. 
Binnen  zwei  Monaten  starben  13  Personen  in  demselben  Hause-. 
Es  waren  keine  Pestsymptome  aufgetreten,  keine-  Bubonen,  keine 
Lungenerscheinungen.  Nur  war  ein  Rattenster'ben  bemerkbar.  Als 
nun  bei  neuerlichen  Erkrankungen  Bubonen  auftraten,  wurde  das 
Dorf  alsbald  verlassen.  Ein  Weib  hatte  aber  die  Krankheit  in  das 
nächste  Dorf  geschleppt.  Auch  hier  wanderte-n  die  Bewohnet’ 
aus  und  ’blieben  solange  gesund,  bis  der  erste  große 
Schneefall  sie  zurücktrieb.  Alsbald  traten  wieder  vier  Neu¬ 
erkrankungen  auf.  Von  den  vor  Ausbruch  der  Epidemie  in  Bin¬ 
tola  gefundenen  Rattenleichen  hatten  Kinder  einige  gebraten  und 
verzehrt,  ohne  zu  erkranken.  Von  einem  der  verseuchten  Dörfer 
wurde  am  15.  Januar  Reis  in  eine  benachbarte  Ortschaft  gebracht 
und  dort  geschält.  Am  18.,  19.  und  21.  Januar  starben  die 
Bewohner  des  Hauses,  in  welchem  der  Reis  aufbewahrt  wurde. 

Die  Pest  ist  in  dein  südwestlich,  südlich,  süd¬ 
östlich  und  östlich  um  das  mittelasiatische  Hoch¬ 
land  gelegenen  Gebieten  endemisch  und  verursacht 
von  Z e i t  zu  Zeit  Epidemien  verschiedenen  Umfanges. 
Sie  herrschte  fast  überall  in  den  genannten  Landstrecken  in,  den 
letzten  Jahrzehnten  mit  ziemlicher  Intensität.  Ausgebreitete  Ge¬ 
biete  in  Persien  und  in  Südchina  hatten  in  dem  neunten  Jahr¬ 
zehnt  des  vorigen  Jahrhunderts  große  Epidemien;  in  Pakhoi  am 
Golf  von  Tönking  forderte-  sie  im  Juli  1892  500  Menschenleben 
und  jedesmal  in  den  neun  folgenden  Jahren  erschien  sie-  im 
Frühling,  um  mit  dem,  Beginn  der  tropischen  Regenzeit  nach¬ 
zulassen.  Jedesmal  war  eine  starke  Flohplage  vorausgegangen. 
Yün-nan  litt  neuerdings  im  Jahre-  1889;  dort  wurden  fast  aus¬ 
schließlich  Chinesen  ergriffen,  höchst  selten  Europäer.  Die  Zone 
der  Erkrankung  hält  sich  dort  zwischen  1200  und  7200  Fuß  See¬ 
höhe.  In  demselben  Jahre  wurde  das  seit  altersher  verschonte . 
Siam  zum  ersten  Male  ergriffen.  1890  war  ein  Ausbruch 
in  Nordpersien,  1891  in  China,  Kamaon,  Garhwal,  Irak- 
Arabi',  1892  ein  umfangreicher  in  Südchina,  welcher  bis  zum 
Jahre  1894  verschiedene  Orte  verseuchte,  um  in  diesem  Jahre  in 
Kanton  100.000  Menschen  zu  vernichten,  eine  Epidemie,  gegen 
welche  die  jetzt  im  Erlöschen  befindliche  geradezu  geringfügig 
erscheint.  Unserer  kurzlebigen  Zeit  ist  die-  Erinnerung  an  diesen 
Ausbruch  fast  entschwunden,  ebenso  die  damals  gemachten  Er 


752 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


fahrungen  und  so  konnte  die  diesjährige  Winterpest  in  der  Mand¬ 
schurei  in  Europa  wieder  maßloses  Entsetzen  hervorrufem.  Be¬ 
merkenswert  ist  die  in  der  Kantonepidemie  gemachte  Beobachtung, 
daß  die  har  fußgehen  d  en  Chinesen  mehr  an  Schenkel¬ 
bubonen,  die  schuhtragenden  Japaner  mehr  an 
Achselbubonen  erkrankten.  D i e  Fremden  blieben 
vollkommen  versch o n t,  während  die  Kotawe n,  Beulenpest, 
an  dem  anderen  Ufer  des  Perlflusses  ungemein  starke  Ver¬ 
heerungen  bewirkte.  Alsbald  nach  Hongkong  verschleppt, 
bewirkte  sie  dort  eine  Massenflucht;  86.000  Einwohner  flohen 
binnen  wenigen  Wochen,  von  den  Zurückgebliebenen  starben 
2500.  Sie  kam  von  dort  nach  Formosa  und  ruft  dort  alljährlich 
zwischen  Mai  und  Oktober  beträchtliche  Ausbrüche  hervor;  von 
dieser  Insel  nahmen  in  der  Folge  mehrere  Seuchen  in  Japan 
ihren  Ausgangspunkt,  zunächst  in  Kobe,  dann  im  Jahre  1899  in 
Osaka,  ohne  indes  viele  Opfer  zu  fordern. 

Im  Jahre  1896  war  eine  große  Anzahl  von  Provinzen  in 
Indien  von  einer  Hungersnot  befallen.  Hie  Menschen  verließen 
ihre  Dörfer,  um  anderswo  Erwerbsmöglichkeiten  zu  finden  und 
es  fand  alsbald  ein  Zudrang  zu  den  größeren  Städten  statt,  welcher 
verhängnisvoll  wurde.  Die  Bevölkerungszahl  von  Bombay,  welche 
im  Jahre  1891  821.764  betragen  hatte,  stieg  auf  mehr  als  eine 
Million.  Am  31:  August  traten  im  Hafenviertel  einige  Fälle  von 
Pest  auf,  welche  zunächst  unberücksichtigt  blieben.  Alsbald  traten 
aber  Fälle  auf,  welche  binnen  48  Stunden  letal  endeten;  diese 
häuften  sich  und  verursachten  unter  den  Eingeborenen  um  so 
größeren  Schrecken,  als  Hunderte  von  Ratten  aus  ihren  Wohn¬ 
orten  auf  die  Straße  kamen  und  dort  verendeten. 

Von  da  ab  bis  heute  ist  die  Pest  in  Bombay  nicht  mehr 
erloschen.  Sie  fordert  fortgesetzt  eine  große  Anzahl  von  Opfern 
und  selbst  während  des  Nachlassens  derselben  ist  deren  Zahl  noch 
immer  eine  ungemein  hohe.  Sie  verursachte  eine  Massenflucht, 
als  im  April  1897  7000  Menschen  starben.  Wahrend  der  regen¬ 
reichen  Monsunzeit  erfolgte  ein  Nachlassen,  im  März  1898  neuer¬ 
dings  ein  Anstieg,  diesmal  auf  9000,  im  März  1899,  nach  kurzem 
Nachlassen  in  demselben,  Monat  neuerdings  auf  über  9000,  während 
der  Anstieg  im  Jahre  1900  schon  im  Januar  erfolgte  und  bis 
April  allmonatlich  je  9000  Todesfälle  verursachte.  Die  folgende 
Tabelle  gibt  einen  Ueberblick  über  Erkrankungs-  und  Sterbefälle. 

Die  folgenden  Angaben  sind  zum  großen  Teile  den  Be¬ 
richten  des  Stadtphysikats  in  Bombay  entnommen,  welche  ich 
dem  Entgegenkommen  Dr.  Turners  verdanke;  diesen  sind  einige 
allgemeine  Daten  von  Indien  angefügt,  doch  beziehen  sich  die 
weiteren  statistischen  Daten  auf  Bombay. 


Jahr 

Pest 

1 

Todesfälle 
ü/on  der  Be¬ 
völkerung 

«/*  der 
Todesfälle 

Pest- 

Todesfälle 
in  Indien 

Er¬ 

krankungen 

Todes¬ 

fälle 

der  Er¬ 
krankungen 

4896 

2.541 

1.936 

236 

7610 

\ 

1897 

13.314 

11.003 

1339 

82-64 

57.965 

1898 

22.130 

18.185 

22  12 

82-17 

118.103 

1899 

19.454 

15.796 

1922 

8U20 

134.102 

1900 

17.913 

13.285 

1616 

74-16 

91.627 

1901 

21.006 

18.736 

24-14 

8919 

282.497 

1902 

16.423 

13.820 

17-80 

8415 

574.493 

1903 

23.344 

20.788 

26-78 

8905 

853.573 

1901 

15.488 

13.538 

17-44 

87-40 

1.022.299 

1905 

16.308 

14.198 

18-29 

8706 

950.863 

1906 

12.323 

10.823 

11-06 

87-82 

332.181 

1907 

7.353 

6.389 

6-53 

86-88 

1,010.532 

1908 

6.134 

5.361 

5-48 

87-39 

140.683 

i  1909 
1910 

5.864 

5.197 

3.054 

5-31 

88-62 

163.008 

Im  ersten  Quartal  1911  wurden  1370  Pesttodesfälle  kon¬ 
statiert,  was  gegen  dieselbe  Periode  1910  (1074)  ein  leichtes 
Ansteigen  zeigt. 

Uebertragung. 

Abgesehen  von  den  mystischen  Annahmen  des  Altertums  und 
teilweise  auch  des  Mittelalters,  galt  seit  jeher  die  Meinung  als 
feststehend,  die  Pest  werde  übertragen  von  Mensch  zu  Mensch  oder 
indirekt  durch  Berührung  oder  selbst  durch  Anwesenheit  solcher 
Dinge,  welche  mit  Kranken  irgendwie  zusammengekommen  waren. 
Vieles  in  den  früheren  Pestgängen  sprach  für  die  Annahme. 
Das  Bild,  welches  die  europäischen  Epidemien  im  Mittelalter 
zeigten  und  welches  von  den  jetzigen  einigermaßen  abweicht,  war 
aber  auch  ein  derartiges,  daß  die  Möglichkeit  für  eine  Reihe  von 
Annahmen  zugegeben  werden  mußte.  Wenn  auch  heute  dem 
Zuge  der  Zeit,  um  nicht  zu  sagen,  der  herrschendem  Mode  folgend, 


jede  andere  Infektionsmöglichkeit  außer  der  indirekten  durch 
parasitäre  Zwischenträger,  insbesondere  Flöhe,  als  nebensächlich 
und  geringfügig  hingestellt  wird,  kann  doch,  selbst  aus  Experi¬ 
menten  jüngster  Zeit  und  älteren  zweifellos  richtigen  Angaben 
die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen  werden,  daß  vielfach  die 
direkte  Ueberlraguiigsmöglichkeit,  sei  es  von  Mensch  zu  Mensch 
oder  von  Tier  zu  Mensch  vorkommt,  daß  ferner  leblose  Gegen¬ 
stände,  Kleider,  Nahrungsmittel,  selbst  längere  Zeit  nachdem  sic 
infiziert  wurden,  noch  als  Vermittler  dienen  können. 

lieber  die  Lebensdauer  der  Pestbazillen  schwanken 
die  Angaben  ungemein.  Während  dieselben  nach  manchen 
Experimenten  im  üblichen,  aus  Kuhmist  und  erdigem  Material 
gestampften  Fußboden  der  Eingeborenenstämme  in  Indien  nur 
wenige  Tage  beträgt,  wobei  allerdings  immer  wieder  hervorzuheben 
ist,  welch  zweifelhaften  Wert  für  die  Praxis  diese  mit  Labo¬ 
ratoriumskulturen  unternommenen  Versuche  mitunter  besitzen, 
haben  andere  mit  solchen  Medien  unternommene  Versuche,  welchen 
die  Bazillen  bereits  angepaßt  waren,  eine  Lebensdauer  von  41 2 
Jahren  erwiesen  (II ata,  Uriarte).  Gottschlich  züchtete  aus 
einer  mehrere  Monate  alten,  von  Schimmelpilzen  überwachsenen 
Kultur  noch  Keime,  welche  nach  mehrmaliger  Uebertragung  als¬ 
bald  ihre  Degenerationszeichen  verloren.  Auch  die  Virulenz 
schwankt  in  sehr  erheblichen  Grenzen.  Die  Keimzahl  scheint  großen 
Einfluß  zu  haben,  wie  Mallanah  zeigte.  Die  österreichische 
Kommission  züchtete  im  Jahre  1897  eine  Kultur,  welche  zehn 
Monate  lang  in  19  Generationen  ohne  Tierpassage  fortgezüchM, 
mit  V too  ooo  Oese  vom  Peritoneum  aus  eine  hämorrhagische 
Pestikämie  erzeugte.  Die  biologischen  Verhältnisse  sollen 
hier  nur  flüchtig  berührt  werden,  sie  beweisen  immer  wieder, 
daß  die  Lebensdauer,  Virulenzsteigerung  und  Virulenzibschwä- 
chung,  von  einer  Reihe  von  Umständen  abhängen,  von  denen 
wir  gewiß  viele  noch  nicht  kennen,  da  sie  aus  den  uns  bekannten 
Tatsachen  keineswegs  erklärt  werden  können. 

Ebensowenig  stichhaltig  ist  für  alle  Fälle  die  Annahme,  daß 
bei  den  früher  als  durch  Kleider  erfolgte  Infektion  angenommenen 
F!älllcn  ebenfalls  nur  die  in  denselben  verbliebenen  Insekten 
(Flöhe)  die  Zwischenträger  sein  müssen.  Anderseits  sind  aber 
auch  die  älteren  Angaben  mit  Vorsicht  aufzunehmen,  wonach 
einmal  durch  einen  durch  vierzig  Jahre  in  einer  Truhe 
aufbewahrten,  von  einem  Pestkranken  herstammenden  Strick,  ge¬ 
legentlich  der  Eröffnung  der  Truhe  und  Berührung  desselben 
eine  Ansteckung  erfolgt  sein  soll,  welche  zu  einer  Epidemie 
an  wuchs  und  10.000  Menschen  das  Leben  kostete,  denn  hier 
ist  immerhin  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  damals  als  indirekte 
Ueberlraguiigsmöglichkeit  nur  die  galt,  welche  durch  Gegenstände 
hervorgerufen  wurden,  welche  mit  Pestkranken  in  Berührung 
gekommen  sein  sollten,  während  andere  derzeit  als  wichtig  er¬ 
kannte  überhaupt  nicht  in  Erwägung  gezogen  wurden.  Immer¬ 
hin  blich  der  Glaube  an  die  Infektiosität  der  Kleider  durch  Jahr¬ 
hunderte  tief  in  der  Volksmeinung  eingewurzelt.  Daß  Nahrungs¬ 
mittel  Ueberträger  werden  können,  kann  nicht  ganz  abgewiesen 
werden.  In  einem  Speicher,  welcher  zur  Aufbewahrung  von  Reis 
diente,  war  eine  Anzahl  von  Menschen  beschäftigt;  von  diesen 
erkrankten  mehrere  zu  fast  derselben  Zeit,  keine  Ratte  oder 
Rattenleichen  wurden  trotz  sorgfältiger  Nachforschungen  gefun¬ 
den,  trotzdem  die  Vorratskammer  deren  Lieblingssitz  ist;  man 
kann  die  Infektion  zwanglos  nur  so  annehmen,  daß  die  Ratten 
mit  bazillenreichen  Se-  oder  Exkreten  den  Reis  verunreinigten,  daß 
die  Sekrete  den  Bazillen  zusagende  Nährböden  sind,  in  welchen 
sie,  wenn  vor  vollständiger  Austrocknung  anderseits  aber 
auch  vor  Fäulnis  geschützt,  längere  Zeit  virulent  bleiben 
können.  Von  einem  pestverseuchten  indischen  Dorfe  ge¬ 
langte  ein  Reisquantum  in  einen  von  dort  entfernten,  voll¬ 
kommen  pestfreien  Ort,  in  welchem  erst  der  Reis  geschält  wurde. 
Von  den  hiemit  Beschäftigten  erkrankte  eine  Anzahl  an  Pest. 

Ob  die  Ansteckung  durch  Vermittlung  von  Kleidern  oder 
nur  durch  die  in  denselben  ansässigen  Ungeziefer,  insbesondere 
Flöhen,  erfolgen  kann,  ist  ebenfalls  noch  nicht  ganz  aufgeklärt. 
Sicher  ist,  daß  seit  den  ältesten  Zeiten  die  Berührung  der 
Kleider  als  sehr  gefahrbringend  galt,  was  schon  deswegen 
gegen  die  ausschließliche  Uebertragung  durch  Flöhe  spricht, 
weil  diese  keineswegs  immer  bei  Kadavern  oder  durch 
längere  Zeit  nicht  getragenen  Kleidungsstücken  zu  finden  sind.  Die 
den  Kordon  bildenden  Soldaten  um  Wetljanka,  einem  russischen 
Dorfe,  in  welchem  1878/79  die  Pest  herrschte,  beraubten  die 
Leichen  der  Verstorbenen  ihrer  Kleider,  anstatt  dieselben,  wie  vor 
geschrieben,  mit  langen  Hakenstangen  zu  den  Begräbnisorten  zu 
bringen.  Viele  von  ihnen  erkrankten  und  starben.  Bevor  mit. 
Sicherheit  die  Behauptung  aufgestellt  werden  könnte,  daß  die 
Infektionsquelle  bei  Manipulation  mit  Kleidungsstücken  von  Pest¬ 
kranken  nur  die  in  denselben  befindlichen  Insekten  Zwischenträger 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


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seien,  müßte  'erst  in  allen  Fällen  die  Anwesenheit  solcher  Insekten 
festgestellt  werden,  ferner,  ob  sie  noch  Träger  vollvirulenter 

Pestbazillen  sind. 

Der  rein  antikontagionistische  Standpunkt  hat  schon  aus 
dem  Grunde  keine  Berechtigung,  weil  der  Uebertragungsmöglich- 
keiten  von  Mensch  zu  Mensch  ohne  Zwischenträger  zu  viele 
sind,  um  nicht  gelegentlich  unter  entsprechenden  Umständen 
größere  Infektionsreihen  zu  erzeugen.  Die  Absonderungen  ster¬ 
bender  Pestkranker  sind  häufig  bazillenreich.  Die  Uebertragung 
auf  Pilegepersonen  kann  demnach  erfolgen  durch  direkte  Be¬ 
rührung  derselben  oder  durch  die  mit  Bazillen  beschmutzte 
Wäsche.  Die  Sekrete  und  Exkrete  Pestkranker  bilden  gew  iß  ein 
besseres  Nährmedium  für  die  Bazillen  als  irgendeiner  unserer 
üblichen  Nährböden;  es  ist  daher  nach  Analogie  einer  Bei  he 
von  Experimenten  anzunehmen,  daß  mit  diesen  beschmutzte 
Wäsche  oder  Kleidung  unter  Umständen  sehr  lange  infek  lions  fähig 
bleiben  kann,  ohne  daß  man  zwischen  tragende  Parasiten  als 
l'ebertragungsui  Sache  zu  Hilfe  nehmen  müßte. 

Um  die  .Wege  der  Infektion  durch  Flöhe  klarzulegen, 
hat  die  Indian  plague  Commission  eine  Reihe  von  Experi¬ 
menten  unternommen:  In  einer  Versuchsreihe  wurden  in  unge¬ 
reinigten  Pcsthäusern,  in  einer  zweiten  in  desinfizierten  Wohnun¬ 
gen  Meerschweinchen  ausgesetzt,  die  als  „Flohfallen“  dienten. 
Diese  wurden  nach  einiger  Zeit  chloroformiert,  auf  weißes  Papier 
gelegt,  und  gestriegelt,  wodurch  die  Flöhe  gewonnen  wurden,  nobst- 
dem  wurde  noch  der  Pelz  abgesucht,  ln  42  Versuchen  waren 
I®  29°o,  pestverseucht;  diese  Meerschweinchen  gingen  zum 
Teil  an  Pest  zugrunde.  A  on  17  verendeten  Tieren  waren  bei 
allen  Nackenbubonen  zu  finden.  Durchschnittlich  fand  man 
J20  Flöhe  in  einem  Raume,  zumeist  Rattenflöhe,  Pulex  cheopis; 
in  18  Räumen  mehr  als  20,  davon  ungefähr  die  Hälfte  pest¬ 
verseucht..  In  den  desinfizierten  Räumen  wurde  dieselbe  Ver¬ 
hältniszahl  gefunden,  was  zu  beweisen  schien,  daß  die  desinfek- 
torischen  Maßnahmen  wirkungslos  waren.  Die  Uebertragung  durch 
Flöhe  von  Tier  zu  Tier  wurde  durch  ein  sinnreiches  Experiment 
erwiesen.  Neben  dem  Käfig  einer  Pestratte  wurden  an  beiden 
Seiten  Käfige  mit  gesunden  Meerschweinchen  aufgestellt,  der  eine 
jedoch  mit  einem  sechs  Zoll  breiten,  mit  einem  Klebemittel  be¬ 
strichenen  Papier  umgeben.  Das  in  diesem  Käfig  befindliche 
Tier  blieb  gesund,  da  die  Flöhe,  welche  hiueingelangen  wollten 
—  ihre  maximale  Sprungweite  beträgt  fünf  Zoll  alle  an 
dem  Papier  kleben  blieben,  während  sie  zu  dem  anderen  Meer¬ 
schweinchen  ungehindert  gelangen  konnten  und  dasselbe  infi¬ 
zierten.  In  neun  Versuchsreihen  hatten  von  den  am  Leim  haf¬ 
tenden  Flöhen  u.  zw.  unter  85  Menschen  flöhen  1,  unter  4 
Katzen  flöhen  keine,  unter  77  Ratten  flöhen  23  pestähnliche  Ba¬ 
zillen  im  Magen.  Man  sammelte  'nun  aus  Pesthäusem  Rattonflöhe. 
Dabei  zeigte  sich,  daß  deren  Infektionsfähigkeit  in  keinem  Ver¬ 
hältnis  zu  ihrer  Zahl  stand.  Es  gab  Fälle,  in  welchen  die  Tiere 
durch  5,  8,  77  Flöhe  tödlich  infiziert  wurden,  während  andere 
mit  79,  bzw.  106  gesund  blieben.  In  Sydney  werden  regelmäßig 
von  AVoche  zu  Woche  Ratten  gefangen  und  untersucht;  man  fand 
insgesamt  in  vier  Jahren  unter  114.670  719  Pestratten,  also  auf 
160  eine.  In  vielen  Fällen  von  Rattenpest  gelingt  es  überhaupt 
nicht,  den  Pestbazillus  nachzuweisen.  Dies  ist  allerdings  nach 
keiner  Richtung  beweisend,  da  die  Pestbazillen  durch  Flöhe  ver¬ 
schleppt  werden  konnten,  um  dann  in  späteren  Stadien  der  Er¬ 
krankung  in  der  Ratte  zugrunde  zu  gehen.  In  Tokio  fand  man 
unter  fünf  Millionen  Ratten  in  den  Jahren  1901  bis  1905  209 
Pestratten,  in  Osaka  von  ungefähr  1-2  Millionen  Ratten  817, 
in  Kobe  sind  von  einer  halben  Million  589  infizierte  gefunden 
worden.  Auf  21  durch  Pe.stra.tten  infiziertem  Schiffen  des  Ham¬ 
burger  Hafens  fand  man  in  den  Jahren  ,1901  bis  1907  durch 
Einlassung  von  Kohlemoxydgas  4230  tote  Ratten,  darunter  174 
4 %  pestige ;  ferner  481  Mäuse,  darunter  ein«  pestig.  Auf  fünf 
Schiffen  fand  man  nur  eine  Pestratte. 

_  Ueber  die  Verteilung  der  Ratten,  nach  Art  und  Landstrichen, 
weiß  man,  daß  in  Indien  die  Mus  rattus  var.  rufesoens  vorherrscht. 
Sie  macht  90%  aller  Ratten  aus;  außerdem  Mus  Alexandrinus 
decumanus,  Nesokia  bandicota,  Nesokia  bengalensis,  letztere  beiden 
Feldrattenarten.  Die  Mus  decumanus,  die  Wanderratte,  bewohnt 
in  Bombay  zumeist  Ställe  und  Abzugskanäle.  Im  Hafen  von  Odessa 
fand  man  Mus  decUmanus,  rattus,  Alexandrinus,  erstem  am  weit¬ 
aus  zahlreichsten ;  von  733  durch  ausländische  Schiffe  impor¬ 
tierten  Ratten  gehörte  die  größte  Zahl  der  Mus  Alexandrinus 
an.  In  San  Francisco  war  die  Verpestung  in  den  Jahren  1907 
mul  1908  unter  den  verschiedenen  Rattenarten,  bei  starkem  Vor¬ 
herrschen  der  Wanderratte,  im  Verhältnis  ganz  gleich.  Im  Jahre 
1904  hatte  die  Spitzmaus,  Sorex  Vulgaris,  einen  Anteil  an  der 
Arcrbreitung  der -Pest  in  Formosa. 


Nächst  den  Rattonarten  dient  noch  eine  Anzahl  von  Nagern 
den  Pestbazillen  als  Wirte;  das  Eichhörnchen,  das  Meerschvvein- 
(ben,  das  Känguruh,  das  Murmeltier,  Arctomis  bobac,  sibiricus 
.  I  aihagan),  robuslus;  letzteres  gewissermaßen  das  Pestreservoir 
in  den  Hochebenen  Mittelasiens,  durch  welche  der  Pest¬ 
bazillus  immer  wieder  in  die  Grenzläuder  geschleppt  und  diese 
oft  nach  jahrzehntelangen  Ruhezeiten  von  neuem  infiziert 
werden .  Die  Arktomisarten  spielen  demnach  in  der  Pe st¬ 
öbert  ragung  die  wichtigste  Rollo.  Ferner  kennt  man 
noch  Fälle  von  Uebertragung  durch  Haustiere  und  Kriechtiere 
aller  Alt;  ob  direkt  oder  wieder  durch  parasitäre  Insekten  als 
Zwischenwirte,  ist  nicht  sichergestellt. 

Die  Pest  der  Murmeltiere  ist  den  spärlichen  Bewohnern 
jener  Landstriche  wohlbekannt;  dieselben  wissen,  daß,  wenn  die 
Iiere  auf  der  Erdoberfläche  erscheinen,  taumeln  und  ermattet 
niederfallen,  das  große  Sterben  unter  ihnen  ausgebrochen  ist, 
welches  auch  für  die  Eimyohner  Verhängnisvoll  werden  kann. 
Expeditionen,  welche  zur  Ergründung  der  Tnrbaganpest  entsendet 
wurden,  endeten  mit  Mißerfolgen.  Man  weiß  nur  im  großen  und 
ganzen,  daß  die  I  iore  teils  unter  Blutspeiein,  teils  an  großen  Bu¬ 
bonen  der  Achsel-  und  Nackengegend  erkranken,  taumeln,  so 
daß  sie  unfähig  sind,  sich  gegen  herannahende  Gefahr  zu  schützen 
und  hinnen  wenigen  Tagen  oder  seihst  Stunden  verenden.  Erfah¬ 
rene  Bewohner  jener  Gegenden  wissen,  daß  man  kranke  oder 
verendete  Tiere  nicht  essen' darf  und  sogar  jede  Berührung  den 
Jod  bringen  kann.  Immer  wieder  findet  in  irgendeiner  AVeise  die 
Uebertragung  statt  und  es  hängt  von  den  Umständen  des  Falles 
ab,  ob  die  Epidemie  westwärts  nach  Persien,  östlich  nach  China 
oder  südlich,  bzw.  südöstlich  oder  südwestlich  ihren  AVeg  nach 
Indien  oder  Siam  nimmt.  Das  Hochplateau  Mittelasiens  ist,  den 
neuesten  Annahmen  zufolge,  jener  Herd,  von  welchem  die  Epi¬ 
demie  direkt  oder  indirekt  ihren  Ausgangspunkt  nimmt,  wo  sie 
niemals  erlischt.  Auf  diese  AA^eise  sind  die  Epidemiewellen  in 
Indien  in  ihrem  An-  und  Absteigen  zum  Teil  verständlich,  da 
die  Ratten  endenden  und  -epidemien  ihre  Ausbreitung  von  dort 
nehmen.  , 

Die  Art  der  Verbreitung  ist  aber  noch  nicht  in  allen  Punkten 
völlig  aufgeklärt,  obwohl  in  vieler  Hinsicht  neue  Tatsachen,  ins¬ 
besondere  durch  das  bakteriologische  Laboratorium  in  Bombay, 
aufgedeckt  wurden.  Oberst.  Dr.  Bannermann  vom  indischen 
Sanitätsdienst,  welchem  ich  für  sein  liebenswürdiges  Entgegen¬ 
kommen  auch  an  dieser  Stelle  meinen.  Dank  anszusp rechen 
mich  Verpflichtet  fühle  und  ein  Stab  von  jüngeren  Aerzten  sind, 
von  der  Regierung  reich  ausgerüstet,  zur  Erforschung  dieser  Frage 
unausgesetzt  tätig.  Major  Liston,  Major  Lamb  und  Kapitän 
Taylor  haben  experimented!  bewiesen,  daß  bei  der  parasitären 
Verbreitung  der  Pest  durch  Flöhe,  dem  Rattenfloh,  Pulex 
cheopis,  die  wichtigste  Rolle  zu  fällt,  weil  derselbe  sich  zumeist 
auf  Ratten  aufhält,  dieselben  aber  auch  gelegentlich  für  einige 
Zeit  'verläßt  und  wenn  hungrig,  seine  Nahrung  auch  von  Menschen 
bezieht.  Die  Art,  wie  die  Uebertragung  erfolgt,  ist.  aber  noch 
nicht  völlig  aufgeklärt..  Der  Floh  saugt  von  der  pestkranken 
Ratte  Blut,  die  in  demselben  befindlichen  Pestbazillen  erhalten 
sich  bis  zu  drei  AA'ochen  und  können  sich  sogar  nach  diesen 
Beobachtungen  im  Magen  der  Flöhe  vermehren;  alsbald  wird 
durch  den  Darmkanal  ein  postbazilionreiches  Exkret  ausgeschie¬ 
den,  welches,  auf  die  unverletzte  Ilaut  eines  Meerschweinchens 
geriehen,  eine  tödliche  Postinfektion  erzeugt,  Nach  Lamb  kann, 
falls  der  infizierte  Floh  seinen  AAGrt  sticht,  durch  den  Rüssel 
ein  Regurgitieren  des  pestbazillenhaltigan  Mageninhalts  in  den 
gesetzten  Stichk an n P'ü ncT" d am i t  die  Infektion  des  neuen  Wirtes 
erfolgen,  eine  Annahme,  die  wohl  viel  für  sich  hat,  aber  noch 
unbewiesen  ist.  Aron  anderen  Floharten  kommen  noch  in  Be¬ 
tracht  der  Pulex  can  äs,  der  Pulex  irritans,  der  eigent¬ 
liche  Menschenfloh,  welcher  selten  auf  Tieren  gefunden  wird  und 
der  G  e r'a. tophyllus  f  a s c i a tu  s,  welche r  wieder  selten  die 
Ratte  verläßt.  Der  Gang  der  Infektion  wäre  nach  Annahme  der 
Nichtkontagfönisten :  1.  Rattenpest,  2.  Infektion  vn  Ratten  flöhen, 
3.  Auswandern  der  Flöhe  von  ihren  Wirten,  4.  Hungern  der 
pestin fizierten  Flöhe,  5.  Verletzung  der  Menschen  durch  den 
.pestigen  Floh,  6.  Infizierung  des  Menschen.  Tn  dieser  Reihen¬ 
folge  muß  demnach  die  Infektion  erfolgen.  Daß  die  Infektion 
von  Nager  zu  Nager  in  dieser  AAreise  erfolgein  kann  ist  einwand¬ 
frei  dargetan.  Man  fing  eine  Anzahl  pestinfizierter  Flöhe  und 
setzte  sie  über  dem  Käfig  einer  gesunden  Ratte  aus.  Von  13  derart 
behandelten  Ratten  starben  8  an  Pest,  das  sind  60%.  Nimmt 
man  an,  daß  die  Infektion  von  Ratte  zu  Mensch  nach  dem  Er¬ 
wähnten  keineswegs  so  einfach  ist.  wie  von  Tier  zu  Tier,  so 
wird  mit  jeder  neuen  Etappe  dije  Wahrscheinlichkeit  der 
Infektion  des  Menschen  derart  verdünnt,  daß  nach  diesem 
Schema  schließlich  nur  wenige  Menschein  infiziert  würden,  was 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


don  Tatsachen  widerspricht.  Dagegen  könnte  man  annehmen, 
daß  Flöhe,  welche  an  pestinfizierten  Menschen  gesaugt  haben, 
leichter  wieder  Menschen  angingen,  eine  Erfahrung,  welche  Ana¬ 
logien  genug  hätte,  welche  aber  praktisch  unbeweisbar  ist.  Wie 
schwierig  die  Uebertragung  durch  Flöhe  wäre,  wenn  man  nur 
die  Möglichkeit  der  Uebertragung  durch  den  Menschenfloh  aner¬ 
kennen  würde,  geht  aus  folgerndem  Experiment  hervor.  Im  Parel- 
Eaboratorium  wurden  auf  Leimpapier  401  Flöhe  gefangen,  55°/o 
waren  Rattenflöhe,  37%  Menschenflöhe,  8%  Katzenflöhe.  Im 
.Mageninhalt  von  bloß  einem  unter  85  Menschenflöhen  wurden 
Pestbazillen  gefunden,  dagegen  in  26  von  132  Rattenflöhen.  Stehen 
demnach  diese  Erwägungen  den  strengen  Nichtkontagionisten  ent¬ 
gegen,  so  ist  anderseits  zuzugeben,  daß  eine  Anzahl  von  Tatsachen 
für  die  große  Rolle  spricht,  welche  den  Ratten  bei  Verbreitung  der 
Pest  zukommt.  Seit  den  ältesten  Zeiten  ist  es  bekannt,  daß  den 
Pestepidemien  in  vielen  Fällen  ein  Rattensterben  vorausgeht. 
Aus  folgendem  Diagramm  sind  die  Resultate  der  Erhebungen  er¬ 
sichtlich,  welche  Dr.  Turner  in  Bombay  für  die  Jahre  1906 
bis  1909  ausarbeiten  ließ,  welche  diesen  Annahmen  eine  weitere 
Stütze  geben.  * 


Auch  in  diesem  Jahre  (1911)  macht  sich  wieder  ein  be¬ 
deutendes  Rattensterben  bemerkbar.  Nebstdem  läßt  die  Muni¬ 
zipalität  in  Bombay  täglich  ungefähr  2000  Ratten  langen  und 
dem  Parel  -  Laboratorium  zuführen,  wo  sie  genau  klassifiziert 
und  seziert  werden.  Eine  ganz  ungewöhnlich  hohe  Zahl  wurde 
pestinfiziert  gefunden;  durchschnittlich  jede  vierte  Ratte  erwies 
sich  als  pestkrank.  Es  mag  wohl  ein  Zufall  sein,  wenn  ich  bei 
einer  ganzen  Gruppe  von  Sektionen  fast  ausschließlich  infizierte 
Hatten  sah;  bei  diesen  waren  die  Submaxillardrüseii. infiltriert, 
ferner  wahrnehmbar  Hyperämie  der  Lungen,  serös-blutiger  Er- . 
guß  in  Pleura  und  Perikard,  stets  eine  sehr  beträchtlich  ver¬ 
größerte,  manchmal  von  Abszessen  durchsetzte  Milz  (was  auf 
mehr  chronischen  Verlauf  deutet)  und  ein  Symptom,  auf 
welches  Oberst  Bail  nermann  aufmerksam1  machte,  1  i  viele 
Verfärbung  der  Extremitäten,  so  daß  sich  unter  den  gefangenen 
Batten  die  infizierten  '  schon  v'or  der  Sektion  erkennen 
lassen.  Die  im  Verhältnis  vorgerückte  Jahreszeit  läßt  baldiges 
Eintreten  des  Regenwetters  und  damit,  trotz  der  anscheinend  hohen 
Ziffer  der  Postratten  Abbruch  der  Epidemie  erwarten,  da  ähnliche 
Verhältnisse  auch  in  früheren  Jahren  beobachtet  wurden.  Dagegen 
tritt  sie  neuerdings  an  vielen  Orten  Indiens  verstärkt  auf.  In 
Agra  erfuhr  ich  von  'einem  Militärarzt  anfangs  April,  daß  die 
Anzahl  der  Pesterkrankungen  täglich  um  100  betrage,  ln  der 
Umgebung  A  gras  sieht  man  denn  auch  ganze  Dörfer  ver¬ 
lassen.  Die  Eingeborenen  errichten  —  wie  dies  bei  solchen 


Gelegenheiten  üblich  —  in  geringer  Entfernung  von  ihren 
Wohnstätten  Strohhütten  und  warten  dort  das  Erlöschen  der 
Epidemie  ab.  Auch  hierin  liegt  wieder  ein  Moment,  welches 
gegen  das  Schema  Ratte— Floh— Mensch  spricht.  Es  ist  bekannt, 
daß  die  Ratte  in  Indien  mit  dem  Menschen  (Eingeborenen)  ver¬ 
gesellschaftet,  daher  anzunehmen  ist,  daß  sie  ihm  nach  seinem 
nahen  Wohnorte  folgt.  Es  ist  daher  schwer  erklärlich,  wieso 
die  Epidemie  unter  jenen  keine  weiteren  Opfer  _  mehr  fordert, 
welche  ihre  Häuser  verlassen,  während  sofort  wieder  neue  Er¬ 
krankungen  auftreten,  wenn  die  Leute  innerhalb  der  nächsten 
Monate  die  Häuser  wieder  betreten.  Da  die  Flöhe,  die  etwa  zurück¬ 
geblieben  sein  können,  durch  ihre  Exkremente  nur  durch  14  Tage 
infektiös  bleiben,  müßten  die  Bazillen  an  irgendein  anderes  Ma¬ 
terial  gebunden  sein  welches  die  Infektion  vermittelt.  Auch  sonst 
gibt  es  zahlreiche  Gelegenheiten,  bei  welchen  eine  Infektion  sein- 
leicht  erfolgen  könnte,  wenn  durch  Ratten  vermittelt  und  sie 
dennoch  nicht  erfolgt.  Wenn  man  an  heißen  F'rühjahrsäbenden 
durch  die  Straßen  Bombays  geht,  sieht  man  Hunderte  von  Men¬ 
schen  auf  dem  Pflaster  liegen,  wo  sie  übernachten;  gelegentlich 
sieht  man  auch  Ratten  über  sie  hinweglaufen ;  die  leichteste 
Möglichkeit  der  Infektion  ist  hier  gegeben  und  trotzdem  bleibt 
die  Epidemie  an  gewisse  Häuser  und  Stadtteile  gebunden. 

Zweifellos  direkte  Uebertragung  findet  statt  bei 
Uebertragung  der  Lungenpest.  Das  durch  Hustenstöße 
herausbeförderte  Sekret  wird  in  Tröpfchen  zerrissen,  bleibt  in  der 
Luft  suspendiert  und  gibt  Veranlassung  zur  Inhalation  bei  gesunden 
Personen.  Dies  kann  auf  Grund  zahlreicher,  einschlägiger,  insbeson¬ 
dere  von  FT  ü  g  g  e  mit  anderem  Material  unternommenen  Versuchen 
behauptet  werden  und  wird  auch  von  den  Aerzten  bestätigt, 
welche  die  jüngste  Epidemie  in  China  zu  beobachten  Gelegenheit 
hatten,  bei  welcher  anfänglich  viele  Fälle  von  Lungenpest  auf¬ 
traten.  Wenn  demnach  die  Kontagiosität,  die  direkte  Uebertragung 
für  eine  ganze  Kategorie  von  Fällen  zweifellos  sichergestellt  ist, 
so  ist  nicht  e, inzusehen,  warum  sie  für  alle  anderen  Fälle  —  auf 
verschiedenen,  vielfach  gewiß  noch  unbekannten  Wegen  — *  aus¬ 
geschlossen  sein  soll. 

Klimatische  Einflüsse. 


Je  weiter  man  in  der  Geschichte  der  Pest  zurückblickt,  tun 
so  größeren  Einfluß  sieht  man  bei  den  verschiedenen  Hypothesen 
bezüglich  des  Entstehens  derselben,  dem  Klima  eingeräumt.  Und 
wenn  auch  das  meiste  als  unstichhältig,  derzeit  als  überkommen 
gilt,  manches  ist  doch  wissenschaftlich  gesichert  zurückgeblieben, 
was  beim  Entstehen  und  Vergehetn  der  Pest  dem  Klima  zuzu- 
schreiben  ist,  nebst  den  örtlich  zeitlichen  Verhältnissen,  welche 
überall  eine  Rolle  spielen.  Aus  dem  Mittelalter  kennen  wir  Epi¬ 
demien,  welche  nach  heftigen  Regengüssen  entstanden,  andere 
wieder,  welche  nach  solchen  aufhörten.  Man  kennt  Winter-  und 
Sommerepidemien.  Forscht  man  jedoch  unter  dem  als  richtig 
erkannten  Tatsachenmaterial  nach,  so  findet  man,  Haß  diese 


scheinbaren  Unterschiede  mit  dein  biologischen  Verhältnissen  des 
Pestbazillus  wohl  in  Einklang  zu  bringen  sind.  Der  Pestbazillus 
ist  durchaus  nicht  so  empfindlich,  als  allgemein  angenommen 
wird;  der  Pestbazillus  geht,  bei  einer  nur  um  wenige  Grade  über 
der  des  Menschen  liegenden  Temperatur  zugrunde.  Sein  Tempera¬ 
turoptimum  liegt  zwischen  18  und  20°  C  und  bleibt,  er  noch  vitlc 
Grade  unter  dem  Gefrierpunkt  lebensfähig.  Daraus  erklärt  sich 
einerseits  die  Hartnäckigkeit  gewisser  Winterepidemien  und  das 
Erlöschen  der  Seuche  bei  Lufttemperaturen  von  45°  und  darüber. 
Es  wird  demnach  zu  Winterepidemien  sowohl  im  kalten,  als  im 
heißen  Klima  kommen,  in  letzterem  aber  die  Epidemie  mit  Ein¬ 
tritt  der  heißen  Jahreszeit  erlöschen,  während  sie  in  kalten  und 
gemäßigten  Klima  ton  gerade  mit  Beginn  der  heißen  Jahreszeit  Ein¬ 
setzen  kann,  weil  dort  ihr  Temperaturoptimum  zu  dieser  Zeit 
nur  um  weniges  überschritten  wird.  In  Bombay  fällt  der  Beginn 
des  Ansteigens  gewöhnlich  in  die  Wintermonate,  die  Spitze  der 
Kurve  wird  im  April  erreicht,  um  im  Mai  langsam  oder  rasch 
abzufallen  und  schon  im  Juni  zunächst  auf  das  Minimum  zu 
sinken.  Als  das  Erlöschen  wesentlich  befördernd,  wird  hier  auch 
der  Eintritt  der  Regenzeit  angenommen,  welche  zumeist  Ende 
Mai  einsetzt  und  bis  Ende  August  andauert.  Der  frühere  Eintritt 
der  Regenzeit  hat  auf  den  Gang  der  Epidemie  keinen  Einfluß,  wie 
im  Jahre  1903  ersichtlich  war,  wo  geringe  Regenmengen  schon 
im  Herbst  fielen,  im  Verhältnis  beträchtliche  im  Mai  und  da  bei 
die  größte  Pestkrankenziffer  der  letzten  15  Jahre  mit  23.344 r allen 
erreicht  wurde,  ln  den  Jahren  1905,  1906  und  1907  gab  es  im  Mai 
gar  keinen  Regen,  im  Juni  6-50,  13-20  22-49  Zoll  Niederschläge. 
Die  Pesterkrankungsziffer  jener  Jahre  hielt  sich  auf  16.308,  12.3-x 
7353,  woraus  man  kaum  auf  irgendwelchen  Zusammenhang  in" 
der  Menge  der  Niederschläge  folgern  kann. 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


755 


Dr.  N.  A.  F.  Moos,  Direktor  der  Observatorien  in  Bombay 
und  Alibag,  welchem  ich  für  sein  Entgegenkommen,  auch  hier 
danke,  hat  eine  Beobachtung  gemacht,  welche  geeignet  ist,  ge¬ 
wisse  klimatische  Faktoren  in  Hinsicht  auf  ihren  Einfluß  bezüg¬ 
lich  des  Entstehens  und  Vergehens  von  Epidemien  dem  Ver¬ 
ständnis  näher  zu  bringen.  Es  ist  das  Verhältnis  des  Druckes 
des  Wasserdampfes  (entsprechend  dem  Feuchtigkeitsgehalt  der 
Luft)  und  der  Temperatur  der  Bodenluft  in  einer  Tiefe  von  60  Zoll 
(1-54  m),  nach  der  Formel 

m  =  Ap  -J-  Bg  -f-  C, 

in  welcher  m  ist  die  durchschnittliche  wöchentliche  Ziffer  von 
Todesfällen,  p  =  der  Dampfdruck,  von  welchem  abzuziehen 
ist  g,  g  =  das  Produkt  der  Differenz  zwischen  der  Bodenlufl- 
temperatur  in  der  Tiefe  von  1-54  m  und  der  Lufttemperatur 
mal  der  Konstanten  0-01147. 

Aus  dieser  Formel  hat  Moos  nach  Marrimans  ,, Method 
of  least  squares“  berechnet  die  Konstanten 

A  zu  -  2583'4 
B  „  —  3326  6 
C  „  +  3089 

Das  folgende  Diagramm  zeigt  die  Mortalität  zweier  Jahre, 
verglichen  mit  der  ermittelten  Kurve  und  der  Durchschnittsmorta¬ 
lität  von  fünf  Jahren  (1883  bis  1887).  mit  gutem  Gesundheits¬ 
zustand.  Der  strenge  Parallelismus  ist  hiebei  ganz  auffallend,  ins¬ 
besondere,  wenn  man  in  Betracht  zieht,  daß  die  gesteigerte  Mor¬ 
talität  der  beiden  Jahre  fast  nur  durch  die  Pest  verursacht  wurde. 


Klimatische  Skala 


- Todesfälle 

-  Durchschnitt  der  Todesfälle  der  S Jahre  1083-87  mit  gutem  Gesundheitszustand. 

Nun  ist  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  diese  Formel  weder 
für,  noch  gegen  den  kontagionistischen  oder  antikontagionistischen 
Standpunkt  spricht.  Denn  ebenso  wie  die  Kontagionisten  tier 
Pettenk  of  ersehen  Schule  diese  Tatsache  für  die  große  Be¬ 
deutung  des  Bodens  auch  bei  Verbreitung  der  Pest  heranziehen 
können,  kann  man  ee  vom  nichtkoniagionistischein  Standpunkt  da¬ 
hin  deuten,  daß  die  Flöhe,  welche  ihren  Wirt  zeitweilig  ver¬ 
lassen,  ihre  Brut  dort  absetzen,  wo  ihr  Fortkommen  am  besten  ge¬ 
sichert  ist,  das  ist  in  einer  gewissen  Bodenliefe  und  daß  die 
größte  Anzahl  der  Eier  in  ihrem  Temperaturoptirmuu  uiisgebrület 
wird.  Hiefür  würde  auch  der  Umstand  sprechen,  daß  vielfach  mil 
Pestepidemien  Flohplagen  einhergehen. 

0 er 1 1  i  c h  e  Verhältnisse. 

Der  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  ist  für  die  Bedeutung  der 
Verbreitung  von  Epidemien  zu  allen  Zeiten  eine  große  .Bedeutung 
zugesprochen  worden.  Es  ist  ohne  weiteres  einleuchtend,  daß  je 
mehr  Individuen  zu  einer  gewissen  Zeit  an  einem  gegebenen 
Orte  vorhanden  sind,  der  Erreger  der  Krankheit  ein  um  so  grö¬ 
ßeres  Augriffsquantum  und  damit  auch  günstigere  Verhüllnisse 
für  Virulenzsteigerung  und  Verbreitung  findet.  Potenzier!  werden 
aber  diese  Möglichkeiten  noch  durch  den  Umstand,  daß  hygienisch 


günstige  Verhältnisse  im  umgekehrten  Verhältnis  zur  Dichtigkeit 
der  Bevölkerung  stehen.  So  kommt  es,  daß  eingeschleppte  Keime 
zunächst  sporadische  Erkrankungen  hervorrufen,  bis  sie,  in  das 
entsprechende  Milieu  gelangt,  explosionsartig  Epidemien  erzeugen 
und  so  ist  es  erklärlich,  daß  die  vereinzelten  Pestfälle  einmal  in 
dein  Hafenviertel  von  Bombay,  Mandvi,  aufgetreten,  dort  alsbald 
die  Mittelpunkte  ebcnsovieler  Pestherde  wurden. 

Die  Straßen  in  Mandvi,  der  sogenannten  Black  Town,  welche 
zum  großen  Teil  von  Eingeborenem  bewohnt  wird,  sind  mit  Aus¬ 
nahme  weniger  Hauptstraßen  eng.  Jedes  Haus  steht  von  allen 
Seiten  frei.  Was  aber  zunächst  als  Vorteil  erscheint,  schlügt 
hei  näherer  Betrachtung  in  das  Gegenteil  um.  Die  Häuser  stehen 
tatsächlich  nur  an  der  Straßenseite  frei,  die  Eckhäuser  gegen  zwei 
Straßenseiten,  während  sie  an  den  beiden,  hzw.  drei  anderen 
Seiten  nur  durch  schmale,  40  bis  60  cm  breite  Luftschläuche 
von  ihren  Nachbarhäusern  getrennt  sind,  so  daß  die  an  diesen 
Seiten  befindlichen  Fenster  eben  noch  geöffnet  werden  können. 
Am  Boden  dieser  Luftschläuche  laufen  offene  Kanäle,  welche  auch 
Meteorwasser  abführen  und  an  deren  -Ende  ein  offenes  Gerinne 
in  die  unterirdischen  Straßeinkanäle  führt.  Mehrere,  einen 
Häuserblock  bildende  Häuser  bilden  gewöhnlich  einen  kleinen, 
fast  unzugänglichen  Hofräum,  in  welchem  sich,  befördert  durch 
den  in  Bombay  stets  herrschenden  Wind,  während  der  regenlosen 
Zeit,  meterhohe  Misthaufen  ansammeln.  Die  Wände  des  Erd¬ 
geschosses  sind  fast  in  allen  Häusern  bis  zu  Meterhöhe  und 
darüber  von  Feuchtigkeit  durchtränkt.  Holztreppen  führen  in 
die  Obergeschosse,  deren  Wohnungen!  entweder  durch  einen  offe¬ 
nen  Korridor  oder  durch  einen  gemeinschaftlichen,  licht-  und 
luftlosem  Mittelraum  zu  erreichen  sind.  Die  Wohnungen  bestehen 
zumeist  aus  einem'  Gemach,  welches,  wenn  durch  einen  Korridor 
zu  erreichen,  nur  durch  eine  Türe  Licht  und  Luft  empfängt, 
im  anderen  Falle  zumeist  durch  ein  Fenster.  Manchmal  befindet 
sich  noch  eine  kleine  Küche  neben  diesen  Gelassen,  welche  dann 
Licht  und  Luft  ausschließlich  durch  die  erwähnten  Luftschläuche 
erhält  und  damit  alle  dorthin  gelangenden  Unreinlichkeiten  nebst 
der  Ausdünstung  aus  den  Kanälen,  fn  diesen,  durchschnittlich 
2-5  m  breiten,  3  bis  4  m  langen  und  2  bis  2-5  m  hohen  Zim¬ 
mern  wohnen,  soweit  ich  erheben  konnte,  zwei  bis  sieben  Men¬ 
schen;  gelegentlich  mögen  es  aber  auch  mehr  sein.  Da  die  Häuser 
drei-  bis  siebenstöckig  sind,  in  jedem  Stockwerk  bis  zu  zehn 
Wohnungen,  so  kommt  es  nicht  selten  Vor,  daß  in  diesen  Chawls 
bis  500  Menschen  leben.  Dies  ist  ungefähr  der  Typus,  doch  findet 
man  auch  Abweichungen  von  demselben..  Ich  fand  in  einem,  durch 
mehrere  Gebäude  gebildeten  Hofraum  ein©  Getreidemühle  mit 
Handbetrieb  (jeder  Stein  durch  zwei  Frauen  getrieben),  welche 
von  Korridoren  begrenzt  war.  von  welchen  man  wieder  in  voll¬ 
kommen  lichtlose  Räume  gelangt;  dort  hausten  ganze  Familien. 
Eine  eigene  Küche  Avar  nicht  vorhanden.  In  den  äußeren,  eben¬ 
falls  von  sehr  armer  Bevölkerung  bewohnten  Stadtteilen  gestalten 
sich  die  hygienischen  Verhältnisse,  trotzdem  dort  große  Armut 
und  Schmutz  Vorherrscht,  aus  dem  Grunde  wesentlich  günstiger, 
weil  die  Straßen  breiter,  die  Häuser  durch  breitere  Zwischen¬ 
räume  Voneinander  getrennt  und  zumeist  nur  ein  bis  zAvei  Stock 
hoch  sind. 

Es  hat  sich  ein  Verein  zur  Verbesserung  der  Wohnungs- 
verhälfnisse  der  ärmeren  Volksschichten  gebildet,  welche  in  allen 
Stadtteilen  billige  hygienische  Neubauten  aufführen  läßt. 

Die  Indian  plague  Commission  hat  konstatiert,  daß  die 
meisten  Pesterkrankungen  immer  im  Erdgeschoß  des  betreffenden 
Hauses "Suf treten  und  sich  gegen  die  Obergeschosse  verminderten, 
was  immerhin  für  die  Annahme  der  Bodenständigkeit  des  Infek¬ 
tionserregers  spricht,  wenn  man  auch  andrerseits  annehmen  kann, 
daß  die  Flöhe  ihren  Weg  von  den  Ratten  zum  Menschen  im 
Erdgeschoß  leichter  finden  als  weiter  nach  oben. 

K  r  an  khe  i  ts  e  r  sc  b  c  inun  g  e  n  und  -verlauf. 

Die  alten  Beschreibungen  der  Pest,  ihres  Verlaufes  und  ihrer 
Symptomatologie  sind  vielfach  noch  heute  gültig. 

Dr.  N.  H.  Chocksy,  Chefarzt  des  Maratha-Pest-Spitals  in 
Bombay,  welcher  die  Freundlichkeit  hatte,  mir  in  entgegen¬ 
kommendster  Weise  Aufklärung  zu  gehen,  stellt  auf  Grund  eines 
Beobachtungsmaterials  von  fast  14.000  Fällen  folgende  Typen  auf: 

1.  Bubonenpest.  Ohne  Prodrome,  drei  Tage  nach  der 
Infektion  erkrankt  der  Infizierte  plötzlich  unter  hohem  Fieber 
und  Schmerzen  der  affizierten  Drüsen,  die  Konjunktiva  ist 
gerötet,  das  Bewußtsein  etwas  benommen,  Brechreiz  oder  Er¬ 
brechen  tritt  auf.  Pulsfrequenz  sehr  hoch;  es  zeigt  sich  an  den 
affizierten  Drüsen  periglanduläres  Oed  cm.  Am  folgenden  Morgen 
leichte  Remission,  die  aber  bald  wieder  einer  Temperaturerhöhung 
weicht.  Delirien,  mitunter  auch  Asphyxie  treten  auf.  Nach  48 Stun- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


den  täuscht  ein  Nachlassen  des  Fiebers  um  0-5  bis  2°  C  Besse¬ 
rung  vor,  welche  aber  nach  wenigen  Stunden  einer  allgemeinen 
Verschlimmerung  des  Zustandes  weicht.  Am  Abend  steigt  die 
Temperatur  wieder  und  der  Widerstand,  welchen  das  kardio¬ 
vaskuläre  und  lymphatische  System  in  den  nächsten  zwei 
lagen  zu  leisten  vermag,  ist  entscheidend  für  das  Schicksal 
des  Patienten.  Ist  dieser  ungenügend,  so  tritt  unter  Lungen¬ 
ödem  oder  auch  durch  plötzliche  Herzschwäche  der  Tod  ein, 
was  zwischen  dem  dritten  bis  fünften  Erkrankungstag  hei  S2ü/o 
der  Todesfälle  eintrifft.  Es  hängt  der  Ausgang  zumeist  davon  ab, 
ob  Septikämie  hinzutritt,  d.  h.  ob  die  ergriffenen  Drüsen  keinen 
hinreichend  dichten  Schutzwall  bilden,  um  den  Eintritt  der  Ba¬ 
zillen  in  die  Blutbahn  zu  verhindern.  Sind  die  Bazillen  in  die 
Bluthahn  gelangt,  so  gibt  sich  dies  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
durch  tiefe  Prostration,  fast  unfühlbaren,  unzählbaren  Puls,  Ikterus, 
und  Verfall  kund,  während  bei  ungefähr  28°/o  dieser  Fälle  ein 
scheinbares  Wohlbefinden  selbst  dem  Arzte  eine  Wendung  zum 
Besseren  Vortäuschen  kann.  Bloß  3  bis  4°/o  dieser  Fälle  ge¬ 
nesen,  während  dies  bei  55%  der  nichtseptikämischen  der  Fall  ist. 

Demgemäß  ist  es  prognostisch  von  größter  Wichtigkeit,  die 
Anwesenheit  von  Pestbazillen  im  Blute  festzustellen.  Als  Regel 
gilt,  daß,  wenn  A4-  cm3  Blut  weniger  als  zehn  Kolonien  enthält, 
der  Fall  nicht  hoffnungslos  ist,  während  Fälle  über  zehn  Kolo¬ 
nien  kaum  jemals  davonk ommen1,  selbst  wenn  die  klinischen 
Symptome  günstig  erscheinen.  Zum  Zwecke  der  Untersuchung 
wird  aus  einer  Vene  eine  geringe  Quantität  Blut,  entnommen, 
davon  genau  A4  cm3  auf  einer  schrägen  Agarfläche  gleichmäßig 
verteilt,  was  bei  einiger  Uebung  iminler  gelingt,  dann  durch  zwölf 
Stunden  bei  37°  belassen  und  nach  dieser  Zeit  gezählt. 

In  seltenen  Fällen  ist  der  Krankheitsverlauf  bei  septikämi- 
schen  Patienten  protrahiert,  um  dann  aber  mit  langsamem  Maras¬ 
mus  zu  enden. 

2 .  Die  U  n  t  e  r  h  a  u  t  z  e  1 1  g  e  w  e  b  e  p  e  s  t .  Sie  entsteht  durch 
die  Fähigkeit  des  Pestbazillus,  durch  sein  Protoplasma  oder  Endo¬ 
toxin  regressive  Metamorphosen  im  Unterhautzellgewebe  zu  er¬ 
zeugen.  Es  entsteht  Rötung,  datnh  Blasenbildung,  welche  nach 
Zerfall  zu  mehr  oder  weniger  tiefen,  unregelmäßigen  Gesell  würs- 
bildungen  führt.  Diese  können  vereinzelt  bleiben  oder  mehrfach 
auftreten,  wohl  auch  konfluieren  und  größere  oder  geringere 
Substanzverluste  der  Haut  und  des  Unterhautzellgewebes  bis  zu 
ausgebreiteten  Zerstörungen  setzen.  Dr.  Chock sy  beschreibt 
einen  Fall,  in  welchem  fast  eine  ganze  Gesichtshälfte  samt  dem 
oberen  und  unteren  Augenlid  geschwiirig  zerfallen  war;  der  Fall 
endete  mit  Genesung.  Sekundär  können  hier  Bubonen  auftreten. 
Es  ist  diese  Form  die  gutartigste  unter  allen  Pesterkrankungen, 
da  36%  derselben  ausheilen. 

3.  Die  Pestseptikämie  erscheint  unvermittelt  in  jenen 
Fällen,  in  welchen  der  Bazillus  direkt  in  die  Blutbahn  gelangt 
oder  die  Drüsen  dem  Passieren  desselben  keinen  Widerstand 
leisten.  Verlauf:  fünf  bis  zehn  Tage.  Häufig  stehen  die  klinischen 
Symptome  im  Widerspruch  mit  der  Schwere  der  Erkrankung. 
Klalres  Bewußtsein  ohne  Prostration  oder  Ikterus  lassen  den  letalen 
Ausgang  binnen  wenigen  Tagen  nicht  vermuten.  Vielfach  ist 
auch  rascher  Anstieg  der  Temperatur  vorhanden,  kurze  Remis- 
rionen  sind  von  neuerlichen  Steigerungen  gefolgt,  sekundär  können 
Bubonenschwellungen  oder  Pneumonie  zutreten,  mit  Ikterus,  tiefer 
Prostration,  Stupor  oder  Koma,  die  Zunge  wird  trocken,  an  allen 
sichtbaren  Schleimhäuten  treten  Sugillationen  auf,  welche  man 
dann  auch  in  allen  inneren  Organen  findet.  In  wenigen  Fällen 
erscheinen  schon  am  dritten  Tage  Bubonen  und  kann  dann 
Heilung  eintreten,  welche  aber,  immerhin  selten,  kaum  2%  der 
Fälle  umfaßt. 

4.  Die  Pestpneumonie  ist  unter  allen  Formen  die  viru¬ 
lenteste.  Sie  wird  durch  Tröpfcheninhalation  akquiriert  und  endet 
immer  binnen  drei  bis  fünf  Tagen  mit  dein  Tode.  Zunächst  tritt, 
ohne  lokale  physikalische  Symptome,  das  Bild  starker  Prostra- 
lion  und  einer  schweren  Erkrankung  auf.  Alsbald  stellen  sich 
blutige  Sputa  ein,  doch  gibt  es  auch  Fälle,  wo  solche  fehlen  und 
das  dicke  oder  auch  dünnflüssige  mukoide  Sputum  rötlich  fin¬ 
giert  erscheint.  Mikroskopisch  findet  man  nicht  häufig  Pestbazillen, 
weshalb  die  Blutuntersuchung  oder  der  Tierversuch  durchgeführt 
worden  muß.  fhocksy  beschreibt  nirr  einem  Fall  von 
Heilung  nach  Lungenpest..  Es  Avar  dies  ein  Fall  von 
Mischinf  ektionimit  Bacillus  pyocyaneus.  Pat.  Würde 
am  dritten  Krankheitstage  eingebracht.  Leichtes  Fieber  Puls  101, 
Spannung  gut.  Kein  Sputum,  keine  physikalischen  Merkzeichen. 
In  der  folgenden  Na 'hl  Tompratur  40-3,  Puls  130,  Respiration  35. 
Schmerzen  in  der  Brust,  Dyspnoe,  Husten,  mehrfach  nicht  charak¬ 
teristische  Sputa.  Nunmehr  Verdichtung  auf  beiden  Seiten  der 
Lunge.  Die  Sputumnntersnchung  ergab  Bacillus  pestis  und  Ba¬ 
cillus  pyocyaneus.  Eine  subkutan  mit  Sputum  infizierte  weiße 


Maus  starb  an  Pest.  Nach  drei  Tagen  Besserung.  Am  13.  Tage 
waren  keine  Pestbazillen  mehr  im  Sputum,  sondern 
nu  r  n  oeb  Staphylococcus  aureu  s.  Es  folgte  noch  eine  leichte 
sekundäre  Drüsenschwellung  der  Abdominaldrüsen.  Noch  in  einem 
anderen  Falle  von  Pneumonie  erfolgte  Heilung  bei  Mischinfektion 
mit  Bacillus  pneumoniae.  Diese  Fälle  von  Heilungsmög¬ 
lichkeiten  bei  Mischinfektionen,  könnten  den  An¬ 
griffspunkt  therapeutischer  Maßnahmen  bilden,  in¬ 
dem  man  den  sonst  unbedingt  verlorenen  Patienten 
Pyozyaneus-  oder  Staphylokokkenkulturen  oder  Ba¬ 
cillus  pneumoniae  in  die  Blutbahn  injiziert.  Diese 
Versuche  können  unternommen  werden  mit  lebenden  abge¬ 
schwächten  Kulturen  der  einen  oder  mehrerer  dieser  Arten. 

Von  der  primären  Pestpneumonie  ist  streng  zu  unter¬ 
scheiden  die  sekundäre  Pneumonie  nach  Bubonenpest.  Zu  An¬ 
fang  April  sah  ich  im  Pestspital  in  Bombay  unter  77  Pestfällen 
sechs  sekundäre  Pneumonien,  deren  Prognose  zum  mindesten 
nicht  ungünstiger  war,  als  die  der  reinen  Bubonenpestfälle. 

5.  Pestis  am  hu  laus.  Leichte  Fälle  mit  geringem  Fieber 
und  mäßiger  Schwellung  vereinzelter  Drüsen.  Ausgang  in  Heilung 
gewöhnlich. 

Diesen  Formen  wären  noch  hinzuzufügen  : 

6.  Die  Pestvergiftung,  welche  in  Indien  fast  unbekannt, 
aus  früheren  guten  Beschreibungen  und  der  diesjährigen  Pest 
in  China  zweifellos  festgestellt  ist. 

Es  sind  dies  Fälle,  welche  hinnen  wenigen  Stunden  unter 
Erscheinungen  der  Herzschwäche  enden,  ohne  daß  der  Blutbefund 
■hinreichenden  Aufschluß  geben  würde.  Erklärt  können  diese  Fälle 
werden,  indem  man  entweder  vorhandene  Störungen  kardiovasku¬ 
lärer  Natur  annimmt,  oder1  daß  durch  besonders  rasche -Vermeh¬ 
rung  und  Auflösung  der  Pestbazillen  eine  ungewöhnlich  große 
Menge  Endotoxin  in  die  Bluthahn  gelangt  oder  daß  endlich  in 
manchen  Fällen  die  Postbazilleü  Gift  in  hinreichender  Menge 
sezernieren,  um  Herzlähmung  herheizu führen. 

Die  folgende  Uebersieht  zeigt,  die  Verteilung  nach  Formen 
und  deren  Verhältnis  bezüglich  Heilung. 


Zahl 

Todesfälle 

Heilungen 

Sterblichkeit 
■n  % 

Bubonenpest 

Unterhautzell- 

12.080 

8.947 

3.133 

74'06 

gewebspest 

497 

317 

180 

6377 

Septikämie 

312 

30G 

6 

9807 

Pneumonie 

134 

133 

1 

9925 

Folgende  Tabelle  gibt  Aufschluß  über  die  Anteile  der  Rassen 
an  der  Pesterkrankung : 


Zahl 

Todesfälle 

Geheilt 

Sterblichkei 
in  7« 

Hindus 

10.315 

7.899 

2.416 

76‘57 

Mohammedaner 

1.450 

998 

472 

68'82 

Eingeborene  Christen 

1.088 

716 

372 

65 ’80 

Parsis 

126 

63 

63 

50 ‘00 

Juden 

38 

26 

12 

68'42 

Eurasier 

3 

0 

3 

0 

Japaner 

2 

0 

2 

0 

Chinesen 

1 

1 

1 

(100) 

Es  ergibt  sich,  daß  die  Hindus  am  meisten  leiden.  Zieht 
man  in  Betracht,  daß  sie  unter  den  schwierigsten  Lebensbedin- 
gungen  stehen,  sich  im  allgemeinen  von  Vegetabilien  nähren,  dem¬ 
nach  gewissermaßen  dieselbe  Nahrung  haben  wie  die 
Nager,  so  begreift  man,  daß  der  von  den  Nagern  her- 
stammende  Pestbazillus  dort  einen  ihm  genehmen 
Nährboden  findet,  während  der  an  starke  Fleisch 
nahning  gewöhnte  Europäer  naturgemäß  anders  zu- 
samm  engesetztes  G  ewehe  hat,  auf  welchem  dem  Pcst- 
bazillus  das  Gedeihen  erschwert  ist.  Die  Tatsache,  ; 
daß  Europäer  von  der  Seuche  fast  nie  ergriffen  wer-  ; 
den,  ist  daher  nicht  nur  auf  dessen  bessere  Lebens¬ 
bedingungen  zurück z u f4i.h reu,  sondern  auf  die  er¬ 
erbte,  r  a  s  s  e  n  m  ä  ß  i  g  größere  Widerstandsfähigkeit. 

Maßregeln. 

Diese  erstrecken  sich  nach  drei  Richtungen:  1.  Verbesse¬ 
rung  der  hygienischen  Verhältnisse;  2.  Vernichtung  der  Ratten 
als  der  wichtigsten  Keimträger;  3.  Evakuierung;  4.  prophylaktische 
Schutzimpfung.  »Vi 

1.  In  größeren  Städten,  insbesondere  in  Bombay,  bilden  sich 
Vereine  zur  Herstellung  hygienischer  Wohnungen  der  ärmeren 


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Klassen.  Diese  Vereine  haben  schon  Erhebliches  geleistet.  Ueberu.ll 
sieht  man  Mietskasernen  im  europäischen  Stil  im  Bau  und  wenn 
diese  auch  nicht  das  Ideal  der  Wohnung  bilden,  so  bedeuten  sie 
doch  mit  den  derzeitigen  Unterkünften  in  Mandvi,  Umarkhadi, 
Mazagaon,  Byculla  und  einer  Reihe  anderer  Vororte  Bombays 
einen  gewaltigen  Fortschritt. 

2.  Die  Ratten  Vertilgung  bildet  eine  wichtige  Fürsorge  der 
Sanitätskommissionen  größerer  Städte  Indiens.  Bombay  hat  eine 
Reihe  von  Rattenfängern  angestellt,  welche  täglich  durchschnitt¬ 
lich  2000  Ratten  fangen.  Von  der  Vertilgung  mittels  ratten¬ 
tütender  Bazillen  ist  man  vollkommen  abgokoinmen;  zunächst 
wegen  deren  Unwirksamkeit.  Die  von  Danysz,  Issatschenko 
und  anderen  hergestellten  Kulturen  werden  rasch  avirulent  und 
selbst  bei  solchen  Kulturen,  welche  noch  wirksam  waren,  hat 
es  sich  alsbald  herausgestellt,  daß  ihr  Nutzen  geringfügig  war 
im  Vergleich  zu  dem  Schaden,  welchen  sie  schufen,  indem  die 
Ratten  auswanderten  und  die  Verschleppung  der  Reist  in  stär¬ 
kerem  Maße  förderten,  als  dies  sonst  der  Fall  gewesen  wäre. 
Einer  Maßregel  wird  wohl  entsprechend,  s  Augenmerk  zugewendet, 
doch  sind  deren  Kosten  im  Verhältnis  zum  erzielten  Erfolg  ver¬ 
hältnismäßig  hohe:  Die  Rattenvertilgung  auf  Schiffen.  Diese  ge¬ 
schieht  derzeit  mittels  Ausschwefeln  und  durch  Einleitung  von 
Kohlendioxyd  in  die  Schiffsräume.  Die  Kostspieligkeit  der  Ma߬ 
regel  brachte  es  mit  sich,  daß  sie  nur  bei  verdächtigen  Schiffen 
Anwendung  findet,  in  pestverdächtigen  Zeiten  wird  es 
notwendig  sein,  alle  von  Indien  kommenden  Schiffe 
—  ohne  Unterschied,  ob  Pestratten  auf  denselben 
gefunden  wurden  oder  nicht  —  dieser  Prozedur  zu 
unterwerfen;  denjn  wenn  einmal  Pestratten  gefun¬ 
den  werden,  nachdetm  das  Schiff  im  Hafen  liegt,  ist 
es  gewöhnlich  schon  zu  spät,  die  Ratten  haben  Zeit 
gefunden,  die  Pest  im  Hafen  zu  verbreiten. 

3.  Evakuation.  Dies  ist  eigentlich  eine  Maßnahme,  welche 
die  Eingeborenen  aller  Länder,  in  welchen  die  Pest  endemisch 
ist,  freiwillig  vollziehen.  Die  Wohnstätten  am  Fuße  des  Hima¬ 
laya  werden  sofort  verlassen,  sowie  ein  Pestfall  sich  ereignet, 
die  Eingeborenen  gehen  in  die  Wälder  und  kehren  nach  vier 
Monaten,  dem  Termin,  in  welchem  die  Pest  zumeist  erlischt, 
zurück.  Man  kann  in  den  Zentralprovinzen,  wo  die  Best  der¬ 
zeit  im  Zunahmen  ist,  viele  solche  verlassene  Ansiedelungen  und 
in  geringer  Entfernung  von  denselben  die  Notunterkünfte,  zu¬ 
meist  bloß  aus  einem  Strohdach,  die  Wände  aus  Matten  oder 
Segeltuch  bestehend,  sehen. 

4.  Schutzimpfung.  Das  bakteriologische  Laboratorium  in 
Parel  bei  Bombay  befaßt  sich  unter  der  Leitung  Oberst  Banner¬ 
manns  mit  der  Herstellung  von  Heilserum  nach  Haff'kine. 
Die  Herstellung  erfolgt  aus  abgetöteten  Kulturen.  Die  Nährbouillon 
wird  aus  Hammelfleisch  bereitet,  in  große  Ballons  je  ein  Liter 
derselben  gefüllt  und  nunmehr  mit  Pestbazillen  infiziert;  nach 
einigen  W  ochen  bilden  sich  die  bekannten  Stalaktiteinformen ;  nach 
drei  Monaten  wird  die  Kultur  durchgeschüttelt,  durch  15  Mi¬ 
nuten  auf  50°  erwärmt,  was  zur  Abtötung  der  Bazillen  voll¬ 
kommen  genügt,  ohne  die  immunisierende  Komponente  zu  be¬ 
einträchtigen.  Nach  Zusatz  von  V2%iger  Karbolsäure  erfolgt  nun¬ 
mehr  das  Abfüllen  und  Verschmelzen  in  Gläschen  von  20  cm:i, 
welche  für  fünf  Schutzimpfungen  zu  4  cm3  ausreichen;  ein  Test¬ 
röhrchen  bleibt  von  jedem  Gläschen  im  Laboratorium  und  kann 
bei  irgendwelchen  Anständen  sofort  einer  Nachprüfung  unterzogen 
werden.  Die  Bevölkerung  verhielt  sich  zunächst  vollkommen  ab¬ 
lehnend,  wodurch  auch  die  Statistik  litt.  Die  Geimpften  ver¬ 
schwanden,  nachdem  sie  die  von  der  Regierung  für  jeden  Gei- 
impften  bewilligte  V2  Anna  (d.  i.  5  Heller)  erhalten  hatten, 
ohne  daß  eine  Kontrolle  möglich  war.  Derzeit  scheint  sich 
aber  die  Schutzimpfung  mehr  Vertrauen  erkämpft  zu  haben. 
Während  der  monatliche  Verbrauch  in  den  Jahren  bis  einschlie߬ 
lich  1910  zwischen  50.000  bis  90.000  Portionen  betrug,  ist  er  in 
den  ersten  Monaten  1911  auf  110.000  bis  130.000  gestiegen,  eine 
weitere  beträchtliche  Zunahme  ist  zu  erwarten.  Die  von  B  a  nn  e  r¬ 
mann  und  seinem  Stabe  ausgearbeiteten  Statistiken  zeigen  ganz 
bedeutende  Erfolge. 

Aber  auch  der  Heileffekt  des  Serums  u.  zw.  des  Roux- 
Versinschen  wird  von  Dr.  Chocksy  warm  verfochten.  Es  sind 
hier  Dosen  von  100  bis  300  cm3,  täglich  zu  100  cm3  injiziert, 
notwendig  und  ist  der  Erfolg  um  so  eklatanter,  zu  je  früherer 
Zeit  die  Injektion  vorgenommen  wird.  Chocksy  berechnet  die 
Differenz  in  der  Mortalität  derzeit  zu  10%. 

Er  hat  in  1739  Fällen  die  Serumbehandlung  angewandt, 
wobei  die  Mortalität  sich  auf  64-9%  gegen  75-4%  bei  11.284  nicht 
behandelten  Fällen  stellte. 


Zahl 


Lustigi  Serum  1089 

Roux-Yersin ,,  1904  80 

„  „  1905—7  449 

Brezils  „  50 

Tavels  ,,  28 

Terni  „  ig 

Haffkine  ,,  15 

Paltauf  ,,  g 

Japaner  „  4 


1739 


Gestorben 

Geheilt 

Todesfä 
in  u/o 

715 

374 

656 

55 

25 

68'7 

273 

176 

608 

41 

9 

82'0 

18 

10 

64‘2 

12 

4 

75’0 

11 

4 

73‘3 

4 

4 

500 

1 

3 

25  0 

1130 

609 

640 

Rekonvaleszente  und  Hoffnungslose  wurden  keiner  Behand¬ 
lung  unterzogen.  Andere  449  Fälle  wurden  auf  Anraten  Prof. 
Martins  behandelt  u.  zw.  mit  Ro  ux-Y  ers  in  schein  Serum, 
während  200  ähnliche,  nicht  behandelte  Fälle  als  Kontrolle 
dienten.  rr  , 

Zahl  Gestorben  Geheilt  Jodes, die 

in  % 

249  146  103  58 '6 


Kontrolle 

Serumfälle 

200 

200 

148 

127 

52 

73 

74 '0 
63‘5 

Differenz  zu 

Gunsten 

der  Serumfälle 

10'5 

Totale  der 
Serumfälle 

449 

273 

176 

60'8 

Ich  habe  vor  kurzem  hervorgehoben,  daß  eine 
Pestgefahr  für  Europa  derzeit  nicht  besteht,  wie  sich 
dies  gezeigt  hat  in  Odessa,  in  London,  in  Triest  und 
bei  einigen  Laboratoriumsinfektionen.  Genau  durch¬ 


geführte  hygienische  Maßnahmen,  Desinfektion, 
welche  sowohl  Kontagionisten,  als  auch  Antikonta- 
gionisten,  dadurch  Rechnung  trägt,  daß  auch  alle 
etwa  in  den  Kleidern  befindlichen  Parasiten  ver¬ 
nichtet  werden,  Rattenvertilgung  auf  allen  Schiffen 
in  den  Häfen,  werden  in  absehbarer  Zeit  genügen, 
eine  Pestepidemie  von  Europa  fernzuhalten,  nicht 
sowohl  wegen  der  Unfehlbarkeit  dieser  Maßnahmen, 
als  wegen  der  Tatsache,  daß  der  Mensch  der  weißen 
Rasse  ein  dem  Pestbazillus  derzeit  nicht  genehmer 
Nährboden  ist. 

Bombay,  April  1911. 

Literatur: 

G.  Sticker,  Die  Pest.  Gießen  1908  u.  1910.  A.  Töpelmann 
und  mehrere  der  in  diesem  Werk  angeführten,  einige  Tausend  um¬ 
fassenden  Literaturangaben.  —  Proust,  Le  defense  de  l'Europe  contre 
la  peste.  Paris  1897,  Masson  u.  Co.  —  Bericht  über  die  Tätigkeit  der  zur 
Erforschung  der  Pest  im  Jahre  1897  entsendeten  Kommission.  Arbeiten 
aus  dem  Kais.  Gesundheitsamte,  Berlin  1899,  Bd.  16.  —  Bericht  der 
österreichischen  Pestkommission.  66.  Band  der  math.-naturw.  Klasse  der 
kais.  Akademie  der  Wissenschaften,  Wien  1898.  —  Zentralblatt  für 
Bakteriologie  und  Parasitenkunde.  -  The  journal  of  hygiene.  Extra 
plague  number  I— V.  1906,  1907,  1908,  1909  u.  1910.  Report  of  the 
Indian  plague  Commission.  Alle  Jahrgänge.  —  Ban  nermann,  Plague 
in  India,  past  and  present  a  contrast.  Research  defense  Society.  Bom¬ 
bay  1909.  —  Glen  Liston,  The  cause  and  prevention  of  the  spread 
of  plague  in  India.  Bombay  1909.  —  Lamb,  Etiology  and  epidemiology 
of  plague.  Bombay  1908.  —  The  Bombay  Bacteriological  Laboratory. 
Bombay  1909.  —  Chocksy,  General  pathology  and  serum. treatement 
of  plague.  Bombay  1908;  The  various  types  of  plague  and  their  clinical 
manifestations.  American  journal  of  medical  science.  September  1909 . 

Burnett  Ham,  Report  on  plague  in  Queensland  1900 — 1907. 
Brisbane  1907.  —  Report  of  the  executive  health  officer  of  Bombay 
1900—1910.  I.  Quarter  1911.  —  Annales  de  l’Institut  Pasteur.  —  Moos, 
Observations  made  at  the  governement  observatory  Bombay.  Bombay 
1910.  —  E.  Wiener,  Ueber  einige  Krankheiten  der  Tiere  und  deren 
Beziehungen  zu  denen  des  Menschen.  Berichte  aus  der  landw. -ehern. 
Versuchsstation  1902.  Nach  einem  Referat,  erstattet  in  der  III.  land¬ 
wirtschaftlichen  Woche.  Wien;  Die  Mäuse-  und  Rattenplage.  Ebenda; 
Zur  Entstehung  von  Rattenepizootien.  Zentralbl.  für  Bakt.  1902. 


Heferate. 

Medizin  und  Strafrecht. 

Ein  Handbuch  für  Juristen,  Laienrichter  und  Aerzte. 

Unter  Mitwirkung  von  Med.-Rat  Dr.  H.  Hoffmann,  Gerichtsarzt  zu  Berlin 
und  Dr.  H.  Marx,  Gerichtsarzt  zu  Berlin. 

Herausgegeben  von  Geh.  Med. -Rat  Dr.  F.  Straümann,  Professor  an  der 
Universität  und  Gerichtsarzt  zu  Berlin. 

Mit  einem  Anhang:  Die  kriminellen  Vergiftungen. 

Von  Dr.  P.  Fraenckel,  Privatdozent  an  der  Universität  in  Berlin. 
Lichter felde-Berlin  1911,  Dr.  P.  Langenscheidt. 

Das  vorliegende  stattliche  Werk  verfolgt  in  erster  Linie  den 
Zweck,  „den  bei  der  Strafrechtspflege  tätigen  Juristen  und  den 
zur  Mitwirkung  hier  berufenen  Laien  einen  Ucbcrblick  darüber 


758 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  21 


zu  geben,  was  die  .medizinische  Wissenschaft  für  die  Strafrechts¬ 
pflege  zu  leisten  vermag“.  An  Bestrebungen,  die  Juristen  in  dieser 
Hinsicht  uufzukiären,  fehlt  es  ja  nicht  und  an  jeder  Universität 
wird  neben  der  Vorlesung  aus  gerichtliche  Medizin  für  Mediziner 
auch  eine  Parallel  Vorlesung  für  Juristen  gehalten,  die  sich  ähn¬ 
liche  Ziele  setzt.  So  wertvoll  solche  Vorlesungen  sind  und  so  sehr 
sie  auch  in  den  Reihen  der  Juristen  begrüßt  werden,  so  kann  doch 
der  Erfolg  derselben  kein  allgemeiner  und  dauernder  sein,  da  ja 
der  Jurist,  z.  B.  der  Richter,  wenn  er  in  der  Praxis  stellt, 
nicht  inaner  über  die  notwendige  Zeit  verfügt,  solche  Vorlesun¬ 
gen  zu  besuchen  und  die  Kenntnisse,  die  er  sich  als  Student 
vielleicht  an  der  Hand  dieser  erworben  hat,  zur  Zeit,  da  er 
praktisch  tätig  ist,  nicht  immer  mehr  dem  Stande  der  Wissenschaft 
entsprechen.  Versucht  ein  solcher  medizinischer  Laie,  sich  aus 
den  gangbaren  Lehrbüchern  der  gerichtlichen  Medizin  in  schwie¬ 
rigen  Fällen  Rat  zu  holen,  so  wird  dies  oft  mit  unüberwindlichen 
Schwierigkeiten  verbunden  sein,  zumal  diese  Lehrbücher  für  Aerzte 
geschrieben  und  das  in  ihnen  Niedergelegte  von  dem  Juristen 
leicht  irrig  gedeutet  werden  kann.  Da  der  Richter,  namentlich 
auf  dem  Lande,  nicht  immer  einen  wirklich  sachkundigen  Beirat, 
nämlich  einen  geschulten  Gerichtsarzt,  zur  Seite  hat,  der  ihn 
über  zweifelhafte  Punkte  aufklären  kann,  er  sich  also  in  Büchern 
orientieren  muß,  so  ist  es  gewiß  sehr  zu  begrüßen,  wenn  durch 
das  vorliegende  Werk  —  das  erste  in  seiner  Art  — -  diese  em¬ 
pfindliche  Lücke  in  der  juridisch-medizinischen  Literatur  ausgefüllt 
wurde.  Ref.  muß  es  sich  leider  versagen,  in  eine  detaillierte  Be¬ 
sprechung  des  reichen  Inhaltes  des  vorliegenden  Bandes  einzu¬ 
gehen,  da  dies  den  Rahmen  'eines  Referates  weit  überschreiten 
würde.  Auch  braucht  Ref.  wohl  nicht  besonders  hervorzuheben,  daß 
Inhalt  und  Form  überall  die  Hand  des  Meisters  erkennen  lassen. 
Bei  einer  gerichtlich-medizinischen  Autorität,  wie  sie  Sr  aß  mann 
ist,  konnte  man  ja  nichts  anderes  erwarten.  Aber  auch  die  Ab¬ 
schnitte,  die  nicht  vom  Herausgeber  selbst,  sondern  von  dessen 
tüchtigen  und  praktisch  geschulten  Mitarbeitern  verfaßt  sind,  ver¬ 
raten  überall  den  erfahrenen  Gerichtsarzt,  der  nicht  nur  selbst 
über  umfangreiche  Kenntnisse  verfügt  und  die  einschlägige  Lite¬ 
ratur  beherrscht,  sondern  es  auch  versteht,  das  eigene  Wissen 
in  entsprechender  Form  dem  Laien  verständlich  zu  machen.  Ueber- 
all  trägt  das  Buch  den  Stempel  der  persönlichen  Erfahrung,  wo¬ 
durch  die  Lektüre  an  Reiz  gewinnt.  Bei  einem  Fache,  wie  die 
gerichtliche  Medizin,  das  so  tief  in  der  praktischen  Er¬ 
fahrung  wurzelt,  kann  die  literarische  Verwertung  solcher  Er¬ 
fahrungen  nur  begrüßt  werden,  da  nur  solche  Abhandlungen 
eben  den  oft  so  schwierigen  Verhältnissen  der  forensischen  Praxis 
innig  angepaßt  sind. 

Der  Band  bringt  aus  der  Feder  Straßmanns  das  Vorwort 
und  die  Einleitung,  im  zweiten  Kapitel,  von  den  gewaltsamen 
Todeisarten.  Teil  1 :  Den  Tod  durch  Erstickung,  im  dritten  Ka¬ 
pitel,  der  forensischen  Psychiatric,  Teil  3g:  die  Epilepsie  und 
endlich  im  vierten  Kapitel,  Sexuelle  Fragen,  Teil  I:  den  Kindes¬ 
mord.  Medizinalrat  Hoffmann  hat  im  zweiten  Kapitel  die  mecha¬ 
nischen  Todesarten,  im  vierten  Kapitel  die  Abtreibung  und  den 
Abort,  die  Verbrechen  und  Vergehen  gegen  die  Sittlichkeit  be¬ 
arbeitet.  Gerichtsarzt  Dr.  Marx  behandelt  die  Methoden  der  ge¬ 
richtlichen  Medizin  und  die  forensische  Psychiatrie  mit  Aus¬ 
nahme  der  Epilepsie.  Priv.-Doz.  Fraenckel  endlich  gibt  im 
Anhang  eine  kurze,  sehr  übersichtliche  Zusammenstellung  der 
kriminellen  Vergiftungen.  Der  Text  ist  durch  zahlreiche,  gut  ge¬ 
lungene  Abbildungen  vorteilhaft  ergänzt. 

Wenn  auch  Straßmanns  Werk  Medizin  und  Straf¬ 
recht  zunächst  für  das  Deutsche  Reich  bestimmt  ist,  so  enthält  es 
doch  auch  für  den  österreichischen  Richter  und  Gerichtsarzt  viel 
Interessantes  und  Wissenswertes,  so  daß  auch  diesen  das  Buch 
zum  Studium  wann  empfohlen  werden  kann.  Reuter. 

* 

Untersuchungen  über  Rachitis  und  Osteomalazie. 

Von  Friedrich  v.  Recklinghausen. 

Jena  1910,  Gustav  Fischer. 

Einen  großen  Teil  seines  Lebens  hat  Recklinghausen 
dem  Studium  der  Knochenpathologie  gewidmet,  die  vielfach  strit¬ 
tigen  Fragen  auf  diesem  Gebiete  haben  ihn  immer  von  neuem 
gefesselt  und  ihn  veranlaßt,  ein  Material  von  mehr  als  .zwei¬ 


hundert  Fällen  zu  sammeln,  um  auf  Grund  desselben  die  rachiti¬ 
schen  und  osteomalazischen  \  eränderuugen  zu  studieren.  Aber 
erst,  als  er  sich  190(3  vom  Lohramte  zurückgezogen  hatte,  fand 
er  die  nötige  Zeit  und  Muße,  um  sich  ganz  dieser  Arbeit  zu  widmen. 
Es  gelang  ihm  auch  trotz  seines  hohen  Alters,  sie  zu  bewältigen; 
als  ihn  am  25.  August  1910  ein  rascher  Tod  ereilte,  war  das  Werk 
in  allen  seinen  wesentlichen  Teilen  abgeschlossen,  so  daß  dem 
Bohne  bei  der  Herausgabe  des  Buches  nur  mehr  die  Erledigung 
eines  Teiles  der  Zusammenstellungen  und  Korrekturen  über¬ 
lassen  blieb. 

Das  Werk  zerfällt  in  einen  umfangreichen  Textband  und 
einen  Atlas.  In  ersterem  legt  Recklinghausen  zunächst  einige 
der  von  ihm  gebrauchten  Bezeichnungen  fest  (z.  ß.  Osteoid  nur 
für  kalkloses,  während  der  Dauer  der  Krankheit  neugebildete« 
Knochengewebe)  und  skizziert  die  von  ihm  angewendete  Unter¬ 
suchungstechnik.  Es  wurden  im  Gegensätze  zu  anderen  Autoren 
bei  den  Röhrenknochen  vorwiegend  Längsschnitte  der  Diaphysen 
untersucht,  wobei  ganz  besonders  von  neuem  auf  die  Untersuchung 
des  nicht  entkalkten  Knochens  Gewicht  gelegt  wird;  für  die  histo¬ 
logische  Untersuchung  leistete  'dem  Verfasser  eine  besondere 
Modifikation  der  Schm  or  Ischen  Thioninfärbung  vorzügliche 
Dienste. 

in  den  folgenden  Kapiteln  IV  bis  IX  schildert  R  e  c  k  1  i  n  g- 
h  au  s  en,  wie  sich  die  Resorptionsvorgänge  am  Knochengewebe 
und  Knochenmark  während  der  rachitischen  Erkrankung  gestalten. 
Er  führt  hiebei  das  Wort  Onkose  ein,  das  eine  Volumzunahme 
eines  zeitigen  Elementes  bezeichnen  soll,  die  zum  Zerfall  und 
Untergang  desselben  führt,  bzw.  denselben  einleitet.  So  findet  sich 
eine  Onkose  der  Knochenkörperchen  hei  der  Osteomalazie  und 
namentlich  bei  der  Rachitis.  Eine  besondere  Erörterung  widmet 
er  hiebei  auch  den  perforierenden  Kanälen,  die  er  (im  Gegensatz 
zu  einigen  anderen  Autoren)  auch  hei  der  Rachitis  in  großer  Zahi 
nach  weisen  konnte.  Bei  dein  Knochenabbau  unterscheidet  er 
neben  der  lakunären  osteoklastischen  Resorption  und  neben  der 
Durchbohrung  des  Knochengewebes  eine  Abschmelzung,  welche 
Schichte  lur  Schichte  die  Tela  ossea  erweicht.  Diese  Erweichung 
bezeichnet  er  als  Thrypsis  und  beschreibt  eingehend  die  einzelnen 
sich  hiebei  abspielenden  Vorgänge,  ln  diesem  Zusammenhänge 
kommt  er  natürlich  auch  auf  die  Frage  der  Gitterfiguren  und  die 
lialisterese  zu  sprechen  und  hält  in  beiden  Fragen  an  dem  bereits 
früher  von  ihm  vertretenen  Standpunkt  fest.  Gitterfiguren  sind  nur 
im  kalkhaltigen  Knochengewebe  zu  erzeugen  und  die  Halisterese 
besteht  aut  Grund  seiner  Untersuchungen  vollständig  zu  Recht, 
der  kalklose  Knochen  ist  nicht  durchwegs'  neu  gebildet.  Er  steh, 
also  in  dieser  Beziehung  im  Gegensatz  zu  der  von  der  Mehrzahl 
der  Redner  gelegentlich  der  eingehenden  Diskussion  auf  der  Leip¬ 
ziger  Tagung  der  deutschen  pathologischen  Gesellschaft  vertretenen 
Anschauung. 

Nach  einer  Erörterung  über  die  Beteiligung  des  Knochen¬ 
markes  bei  der  Rachitis  und  Osteomalazie,  bzw.  bei  der  Möller- 
Barl  ow  sehen  Krankheit  bespricht  er  die  Besonderheiten  des 
Abbaues  und  Umbaues  am  eigentlichen  Knochengewebe  hei  diesen 
Krankheiten  u.  zw.  zunächst  die  rachitischen  Störungen  in  der 
Ossifikationszone  und  der  hypertrophischen  Knorpelschichte,  dann 
die  Appositionsvorgänge  an  den  Diaphysen  und  Metaphysen  der 
rachitischen  Knochen,  wobei  er  die  große  Mannigfaltigkeit  und  die 
abwechselnden  Bilder  der  Ossifikationsstörungen  aufs  genaueste 
schildert.  Hierauf  bespricht  er  die  Entstehung  der  rachitischen 
und  malazischen  Knochendeformationen  sowohl  im  allgemeinen 
als  im  besonderen  für  die  einzelnen  Skelettabschnitte;  die  Ver¬ 
krümmungen  der  Diaphysen  sind  in  der  Regel  auf  Frakturen  oder 
Infraktionen  zurückzuführen,  doch  gibt  es  auch  allmählich  aul¬ 
tretende  Verbiegungen,  welche  die  Folge  einer  besonderen,  durch 
Erweichung  (Thrypsis)  bedingten  Nachgiebigkeit  der  Knochen  sind. 

Eine  Zusammenfassung  seiner  umfänglichen  Untersuchungen 
führt  Recklinghausen  nunmehr  zu  der  wichtigen  und  noch 
in  der  jüngsten  Zeit  vielfach  erörterten  Frage,  oh  Rachitis  und 
Osteomalazie  im  Wesen  dieselbe  Krankheit  darstellen  oder  schall 
voneinander  zu  trennen  sind  (vgl.  hiezu  auch  die  bereits  erwähnte 
Diskussion  auf  der  Leipziger  Tagung  der  deutschen  pathologischen 
Gesellschaft).  Recklinghausen  tritt  energisch  für  die  von  ihm 
seit  jeher  vertretene  Anschauung  ein,  daß  eine  Trennung  \on 
Rachitis  und  Osteomalazie  von  der  Hand  zu  weisen  ist.  Ebenm 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


kann  er  eine  scharfe  Grenze  zwischen  Osteoporose  und  Osteo¬ 
malazie,  wenigstens  für  das  Kindesalter,  nicht  anerkennen,  für  das 
G reisenalter  will  er  sich  mangels  eigener  einschlägiger  Unter¬ 
suchungen  eines  Urteils  enthalten.  Er  stellt  daher  einen  Sammel¬ 
begriff  auf,  die  rachitisch-malazische  Erkrankung,  von  welcher  er 
mehrere  Kategorien  unterscheidet,  u.  zw. : 

a)  die  porotische  Malazie;  hieher  gehören  die  meisten  Fälle 
von  Rachitis. 

a1)  Die  porotisch-hypoplastische  Malazie,  diejenigen  Fälle  von 
Rachitis,  in  welchen  neben  der  Porosität  auch  relative  Kürze 
und  Schmalheit  der  Knochen  besteht;  hieher  gehört  auch  die 

Kranfotabes. 

b)  Die  hyperplastische  Malazie,  bei  welcher  im  Gegensatz 
zu  den  früheren  Formen  ein  Uebermaß  von  Knochensubstanz  ge¬ 
bildet  wird;  sie  ist  charakterisiert  durch  das  Auftreten  eines 
derben  Osteoids.  Ein  weiches  Osteoid,  nicht  selten  mit  Geflecht¬ 
struktur,  kennzeichnet 

c)  die  phlegmatoplastische  Malazie.  Alle  diese  Formen  treten 
im  ersten  Kindesalter  auf  und  erreichen  in  den  ersten  Lebens¬ 
jahren  ihren  Höhepunkt.  An  sie  reihen  sich 

d)  die  meta plastische  Malazie  =  fibröse  Ostitis  (Reck¬ 
linghausen).  Während  für  die  bisher  genannten  Formen  der 
Name  Rachitis  allgemein  gebraucht  wird,  gehören  der  hier  ge¬ 
meinten  Form  Fälle  an,  die  gewöhnlich  als  Osteomalazie  be¬ 
zeichnet  werden.  In  einer  eingehenden  Besprechung  der  Ostitis 
fibrosa  hält  Recklinghausen  seine  seinerzeitige  Darstellung 
in  vollem  Umfange  aufrecht.  In  den  Rahmen  dieser  Erkrankung 
gehören  auch  Geschwulst-  und  Zystenbildungen  im  Knochen,  deren 
Entstehung  er  im  folgenden  genau  erörtert.  Für  ihr  Gebundensein 
an  eine  fibröse  Ostitis  sprechen  viele  Umstände,  so  zum  Beispiel, 
daß  in  der  Regel  schon  anamnestisch  sich  Anhaltspunkte  für 
Rachitis  ergeben,  daß,  wie  namentlich  die  neuere  Literatur  zeigt, 
die  Erkrankung  meist  sehr  frühzeitig,  im  Kindesalter  oder  im 
jugendlichen  Alter  beginnt,  daß  solitäre  Zysten  fast  ausnahms¬ 
los  an  den  Diaphysenenden  der  langen  Röhrenknochen  dicht 
unterhalb  der  Epiphysennarbe  sitzen  usw.  Auch  die  Pag  et  sehe 
Ostitis  deformans  (Schuch  ardts  Osteomalacia  chronica  defor¬ 
mans  hypertrophica)  ist  mit  der  Ostitis .  fibrosa  nahe  verwandt 
und  bildet 

e)  die  hyperostotisch  -  metapl'astischo  Malazie.  Sie  bevor¬ 
zugt  Schädel,  Femur  und  Tibia  und  geht  mit  mächtiger  Verdickung 
der  Knochen  einher;  dabei  sind  dieselben  einerseits  exquisit  porös, 
anderseits  sklerotisch.  Man  kann  daher  zwischen  einer  hypero¬ 
stotisch -porotischen  und  einer  hyperostotisch  -  metaplastischen 
Malazie  unterscheiden,  ohne  diese  böiden  Formen  scharf 
voneinander  abzugrenzen,  da  zum  Beispiel  in  demselben 
Schädeldach  porotische  und  sklerotische  Stellen  nebeneinander 
Vorkommen  können  und  auch  das  Vorkommen  oder  Fehlen  der 
Zysten  nicht  für  eine  Trennung  maßgebend  sein  kann.  Zu  der 
fibrösen  Ostitis  stellt  er  auch  die  häufig  vorkommenden  Kiefer¬ 
tumoren,  die  Myeloide  Pagets,  die  Epuliden  der  Autoren  und 
Tumours  ä  myeloplaxes  Nelato  ns*,  sowie  entsprechende  Ver¬ 
änderungen  an  den  Schädelknochen  vieler  Tierarten,  wofür  er 
die  Bezeichnung  hyperostotisch-  und  zystisch  -  metaplastische  Ma¬ 
lazie  —  tumorbildende  fibröse  Ostitis1  der  Säugetiere,  vorschlägt. 
Als  höchste  Entwicklungsstufe  dieses  Prozesses  betrachtet  er  die 
gutartigen  Sarkome  der  Knochen,  die  Epuliden  und  Myeloid- 
Uunoren  beim  Menschen.  Ihr  gelsamtes  anatomisches  und  klinisches 
Verhalten  veranlaßt  ihn,  sie  im  Sinne  Nelato  ns  als1  gutartige 
hyperplastische  Neubildungen  und  somit  als  Spielarten  der  meta- 
plastischen  Osteomalazie  zu  deuten.  —  An  diese  Formen  der 
Malazie  reiht  sich  endlich 

f)  die  myeloplastische  (und  hypostotische)  Malazie  Osteo¬ 
genesis  imperfecta,  welch  letztere  Bezeichnung  er  entgegen 
manchen  neueren  Autoren  nur  im  engeren  Sinne  Vrolilcs  ge¬ 
braucht.  Eingehende  Untersuchungen  an  einem  großen  eigenen 
Material  zeigten  ihm,  daß  in  diesen  Fällen  neben  der  „Unvoll¬ 
kommenheit  der  osteoplastischen  Apparate“  der  Markhyperplasie 
eine  große  Bedeutung  zükommt  und  letztere  soll  eben  in  der  neuen 
Bezeichnung  ihren  Ausdruck  finden.  Unter  diesem  Namen  wären 
auch  die  kongenitale  Osteomalazie  (Marc1  hand),  die  fötale  Osteo¬ 
porosis  (Kund rat),  die  fötale  Rachitis’  früherer  Autoren  und 
manche  andere  Krankheitsbilder  unterzubringen. 


Recklinghausen  wendet  sich  hierauf  zur  Besprechung 
der  im  Laufe  der  Zeit  entwickelten  Anschauungen  über  die  Aetio- 
logie  und  den  Stoffwechsel  in  der  malazischen  Erkrankung  und 
warnt  vor  einer  Ueberschätzung  der  Bedeutung  von  Tierversuchen. 
Ins  besonders  verhält  er  sich  gegen  die  Bedeutung  der  bisher  vor¬ 
liegenden  Stoff  Wechseluntersuchungen,  gegen  die  Annahme  einer 
erhöhten  Kalkberaubung  oder  verminderten  Kalkzufuhr  skeptisch; 
seine  eigenen  ausgedehnten  Untersuchungen  konnten  ihm  keinen 
Aufschluß  über  die  Aetiologie  der  Krankheit  geben. 

In  einem  Schlußkapitel  findet  sich  eine  Zusammenfassung 
aller  erhobenen  Befunde  und  der  aus  denselben  abgeleiteten  Fol¬ 
gerungen,  worauf  ein  Verzeichnis  der  eigenen1  Fälle  und  eine 
umfangreiche  Literaturzusammenstellung  folgt. 

Der  Atlas  enthält  auf  41  Tafeln  127  zum  Teil  farbige,  überaus 
sorgfältig  hergestellte  Abbildungen,  die  die  makroskopischen  und 
histologischen  Befunde  des  Verfassers  erläutern  und  auf  die  allent¬ 
halben  im  Text  Bezug  genomrrien  wird;  außerdem  ist  jeder  Tafel 
eine  Erklärung  beigegeben.  Die  Tafeln  umfassen  ein  überaus  großes 
Material  sämtlicher  in  dem  Werke  abgehandelter  Knochenerkran- 
kungen,  das  in  dieser  Reichhaltigkeit  wohl  nur  sehr  wenigen  Ana¬ 
tomen  zur  Verfügung  gestanden  haben  dürfte. 

In  vorstehender  Zusammenfassung  konnte  der  reiche  Inhalt 
dieses  Buches  nur  in  groben  Umrissen  wiedergegeben  werden, 
aber  vielleicht  zeigt  schon  diese  Uebers-icht,  wie  erschöpfend 
Recklinghausen  das  Thema  bearbeitet  und  wie  er  vielfach 
neue,  von  der  herrschenden  Lehre  häufig  abweichende,  Anschau¬ 
ungen  vorgebracht  hat.  Sicherlich  wird  dieses  Werk  reiche  An¬ 
regung  zu  weiterer  Arbeit  und  zum  Studium  auf  dem  Gebiet 
der  Knochenpathologie  geben,  erklärt  ja  Recklinghausen 
selbst  in  der  Einleitung,  er  wäre  glückselig,  wenn  es  seinem  Buche 
gelingen  wird,  „wenigstens  die  äußere  Schale  der  Dinge  zu  zeigen, 
sie  unter  die  richtigen  Gesichtspunkte  zu  bringen,  die  Begriffe 
zu  klären  und  damit  der  Verwirrung  zu  wehren,  welche  der  Lehre 
von  der  Rachitis  und  Osteomalazie  noch  in  so  manchen  Punkten 
anhaftet“,  er  erhebt  aber  nicht  den  Anspruch,  „alles  zu  lösen 
und  zu  lichten“. 

Recklinghausen  wollte  seine  Arbeit  der  Berliner  Uni¬ 
versität  zu  ihrer  Jubelfeier  am  10.  Oktober  1910  überreichen,  um 
der  Alma  mater,  in  deren  Schutz!  er  als  Student  und  später  als 
Assistent  Virchows  eine  Reihe  der  glücklichsten  Jahre  seines 
Lebens  verbrachte,  in  dieser  Form  seinen  Dank  abzustatten. 
Es  war  ihm  nicht  beschießen,  diesen  Vorsatz1  auszuführen,  immer¬ 
hin  war  aber,  wie  wir  von  seinem  Sohne  erfahren,  das  Bewußt¬ 
sein,  daß  „das  Werk  nunmehr  geborgen“  war,  die  letzte  große 
Genugtuung -seines  Lebens1.  Daß  dieses  stolze  Gefühl  dem  nimmer 
rastenden  Manne  die  Tage  seines  glücklicherweise  nur  kurzen 
Leidens  verschönte,  mag  einigermaßen  damit  versöhnen,  daß  es 
Recklinghausen  nicht  mehr  gegönnt  war,  sich  an1  dem  Er¬ 
scheinen  seines  großen  Werkes  'zu  freuen.  Carl  Sternberg. 


Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

517.  Experimentelle  Untersuchungen  über  die 
Schar  lach  ätiologie.  Von  Dr.  Georg  Bernhardt,  Assi¬ 
stenten  am  Institut  für  Infektionskrankheiten  in  Berlin.  In  der  Er¬ 
wägung,  daß  das  Scharlachvirus  wahrscheinlich  (in  ähnlicher  Weise 
wie  das  Pockengift)  eine  besondere  Affinität  zum  Epithel  hat  und 
bei  der  Schwierigkeit,  geeignetes  Sektionsmaterial  zu  erhalten, 
wählte  Verf.  als  Ausgangspunkt  den  dicken,  weißen,  sich  leicht  ab¬ 
stoßenden  Zungenbelag,  der  sich  bei  jedem  Scharlachkranken 
vor  Eintritt  der  sogenannien  Himbeerzunge  findet.  Dieses  Ausgangs¬ 
material  enthält  zwar  auch  zahlreiche  andere  pathogene  Keime  (vor 
allem  Streptokokken),  er  hoffte  aber,  daß  er  —  wenn  ein  Schar¬ 
lach  beim  Tiere  entstanden  —  in  einem  bestimmten  Zeitpunkte 
und  in  bestimmten  Organen  das  Scharlachvirus  trotzdem  rein  er¬ 
halten  werde.  Das  besagte  Material  wurde  in  physiologischer  Koch¬ 
salzlösung  gründlich  geschüttelt,  dann  einem  Affen  in  einer  Menge 
von  4  cm3  in  eine  Leistenbeuge  subkutan  injiziert.  Ein  Teil  der 
Emulsion  wurde  dem  Tiere  auf  der  Schleimhaut  der  Wange  und 
Zunge  und  auf  den  Tonsillen  kräftig  aufgerieben.  Die  Tiere  er¬ 
krankten  in  einigen  Tagen  unter  Fieber,  die  Leistendrüsen  schwollen 
an.  Nach  Verlauf  mehrerer  Tage  wurden  den  Affen  die  Leisten- 


700 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


drüsen  der  anderen  (nicht  injizierten)  Seite  exzidiert  und  das  so 
gewonnene  Material,  in  ähnlicher  Weise  verarbeitet,  anderen  Affen 
injiziert.  Die  dritte  Tierpassage  war  schon  kulturell  steril,  das 
Material  wurde  in  gleicher  Weise  verimpft.  Dieses  Tier  erkrankte 
nach  vier  Tagen  mit  39  9°  und  allgemeinen  Drüsenschwellungen. 
Zunge  dickschmierig  belegt.  Haut  im  Gesicht,  Hals  und  Schultern 
gerötet  und  besonders  an  Hals,  Schultern  und  Brust  deutlich 
frieselig.  Am  nächsten  Tage  beginnt  die  Abschuppung  am  ganzen 
Körper,  die  Zunge  ist  rot,  die  Papillen  geschwollen  (Himbeerzunge). 
Die  Abschuppung  ist  in  den  nächsten  Tagen  eine  großlamellöse, 
die  Temperatur  bleibt  subnormal,  die  Schwellung  der  Drüsen  geht 
zurück,  das  Tier  genest  vollkommen.  Von  vier  derartigen  Passage¬ 
reihen  gelangen  drei,  d.  h.  Verf.  konnte  bei  Ueberimpfung  von 
Affe  zu  Affe  das  geschilderte  Krankheitsbild  erzeugen.  Ueber  die 
vierte  Passage  hinaus  gelang  die  Impfung  aber  nicht.  Auch  keim¬ 
frei  filtriertes  Material  erzeugte  bei  der  Ueberimpfung  Fieber,  Drlisen- 
schwellung,  Exanthem,  Abschuppung  etc.  Die  Abschuppung  war 
zuweilen  kleinlamellös  oder  kleienförmig.  Einem  scharlachkranken 
jungen  Manne  wurde  aus  einer  Hautblase  etwas  Serum  entnommen, 
und  einem  Affen  injiziert ;  es  entstand  das  beschriebene  Krankheits¬ 
bild  mit  nachfolgender  Glomerulonephritis.  Insgesamt  wurde  bei 
19  Impfungen  14mal  eine  Infektion  herbeigeführt.  Verf.  resümiert 

1.  In  den  initialen  Zungenbelägen,  den  Lymphbahnen  der  Haut 
und  den  Lympbdrüsen  Scharlachkranker  ist  ein  Virus  vorhanden, 
das,  auf  niedere  Affen  übertragen,  bei  diesen  mit  wechselnder  In¬ 
kubationszeit  ein  Krankheitsbild  hervorzurufen  vermag,  das  in  allen 
wesentlichen  Punkten  dem  des  Scharlachs  beim  Menschen  gleicht. 

2.  Dieses  Virus,  ohne  eine  Beimengung  irgendwelcher  Bakterien 
von  Affe  zu  Affe  weilerverimpft,  vermag  dasselbe  Krankheitsbild  zu 
erzeugen.  3.  Die  beschriebene  Allgemeininfektion  kann  von  der 
Mundhöhle  als  Eintrittspforte  aus,  ohne  eine  Verletzung  der  äußeren 
Haut,  hervorgerufen  werden.  4.  Das  Virus  gehört  höchstwahrschein¬ 
lich  in  die  Gruppe  der  filtrierbaren  Virusarten.  —  (Deutsche  med. 

Wochenschr.  1911,  Nr.  17.)  E.  F. 

* 

518.  Aus  dem  hygienischen  Institut  (Direktor  Prof.  Doktor 
H.  Kos  sei)  und  dem  Samariterhaus  (Direktor  Exzellenz  Wirklicher 
Geheimer  Rat  Prof.  Dr.  V.  Czerny)  zu  Heidelberg.  Ueber  eine 
Tetanusinfektion  nach  subkutaner  Einverleibung 
von  Radiolk  arbenzym.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  K.  Laube  n- 
heimer  und  Dr.  A.  Caan.  Durch  die  Verbindung  enzymatischer 
und  radioaktiver  Substanzen  mit  pulverisierter  Pflanzenkohle,  wie 
sie  in  dem  Radiolkarbenzym  verwirklicht  wurde,  ist  es  möglich, 
wirksame  Radiumdepots  innerhalb  der  Tumoren  zu  schaffen.  Die 
S  t  i  c  k  e  r  -  F  a  1  k  sehen  Versuche  ergaben  auch  Einschmelzung  und 
Erweichung  von  krankhaftem  Gewebe  in  ausgedehntem  Maße  und 
zwar  ohne  Beeinträchtigung  des  Allgemeinbefindens.  Die  im  Sama¬ 
riterhause  angestellten  Versuche  zeigten  gleichfalls  eine  günstige 
Beeinflussung.  Es  kam  in  der  Regel  nach  Einverleibung  des  Prä¬ 
parates  zu  vorübergehenden  stürmischen  Erscheinungen,  denen  als¬ 
bald  subjektive  Erleichterung  und  Schrumpfung  der  Tumoren  folgte. 
Die  Versuche  wurden  aber  abgebrochen,  als  im  Anschlüsse  an  eine 
Einspritzung  eine  Tetanusinfeklion  auftrat,  die  zum  Tode  des  Patienten 
führte.  Zur  Verwendung  kamen  die  von  Dr.  A  s  c  h  o  f  f  hergestellten 
Radiolkarbenzymampullen.  Es  handelte  sich  um  einen  17jährigen 
Gymnasiasten  mit  einem  mehrfach  rezidivierten  Lymphosarkom  der 
rechten  Halsgegend.  Am  19.  Oktober  1910  inlratumorale  Injektion 
von  1  cm3  Radiolkarbenzym.  Nach  einer  x/2  Stunde  Schüttelfrost, 
Temperatur  39’5,  Schmerzen  an  der  Injektionsstelle,  Kopfschmerzen. 
In  den  nächsten  Tagen  wiederholte  Inzisionen  fluktuierender  Stellen, 
leichte  Besserung.  Am  4.  November  1910  zweite  Injektion  von 
Radiolkarbenzym,  0'5  in  die  Nähe  der  alten  Einspritzungsstelle  und 
0'5  in  den  submentalen  Knoten.  Dieselben  Reaktionserscheinungen 
wie  früher.  Nach  zwei  Tagen  Tetanussymptome.  In  der  Nacht  wie¬ 
derholte  Erstickungsanfälle,  so  daß  Pat.  früh  tracheotomiert  werden 
mußte.  Nach  einigen  Stunden  Exitus.  In  den  Ausstrichpräparaten 
der  nekrotischen  Gewebsstücke  fanden  sich  Tetanusbazillen.  Durch 
den  Tierversuch  und  Kulturverfahren  wurde  bewiesen,  daß  der 
Tetanus  von  dem  infizierten  Lymphosarkom  seinen  Ausgang  ge¬ 
nommen  hatte.  Von  dem  genannten  Präparat  wurden  nun  ver¬ 
schiedene  Ampullen  im  Tierversuch  und  durch  Kulturverfahren 
untersucht.  Diese  Versuche  bewiesen  das  Vorkommen  von  Tetanus¬ 
keimen  in  dem  Radiolkarbenzym.  Die  Tetanusinfektion  muß  somit 


auf  das  Präparat  selbst  zurückgeführt  werden.  Wie  die  Tetanus¬ 
keime  ins  Radiolkarbenzym  hineingelangt  sind,  ist  schwer  zu  sagen. 
Ein  Versuch  experimentell  festzustellen,  welche  von  den  beiden 
Komponenten  für  die  bakteriellen  Verunreinigungen  des  Radiol- 
karbenzyms  verantwortlich  zu  machen  sei,  führte  zu  keinem 
Resultat,  denn  der  Inhalt  von  sechs  Ampullen,  die  nur  »Radiol« 
enthielten,  erwies  sich  als  vollkommen  steril,  ebenso  auch  das 
Karbenzym  allein,  von  dem  allerdings  nur  eine  Probe  untersucht 
wurde.  Dieser  Befund  ist  den  Verfassern  um  so  auffallender,  als 
sämtliche  Proben  der  Mischung  sich  als  hochgradig  infiziert  erwiesen. 
Die  Verfasser  betonen  zum  Schlüsse,  daß  therapeutische  Präparate, 
die  subkutan  dem  Körper  einverleibt  werden  sollen,  mit  der  größten 
Vorsicht  angewendet  werden  müssen,  zumal,  wenn  infolge  der  Natur 
des  Präparates  eine  absolut  sichere  Sterilisation  nicht  gewährleistet 
werden  kann.  —  (Münchener  med.  Wochenschr.  1911,  Nr  17.) 

G. 

* 

519.  Dr  ei  mit  E h  r  1  ich -H a ta- In  jekti on  behandelte 
luetische  Augenerkrankungen.  Von  Priv.-Doz.  Doktor 
C.  Hirsch.  Verfasser  berichtet  über  zwei  Fälle  von  luetischer 
Atrophie  der  Pupillen,  'bei  welcher  durch  dais  Ehrlichsche  Mittel 
wesentliche  Besserung  der  Sehstörung  erzielt  werden  konnte,  in 
einem  dritten  Falle,  wo  reflektorische  Pupillenstarre  vorhanden 
war,  trat  wieder  Beweglichkeit  der  Pupille  ein.  Das  Ehrlich- 
H a lasche  Mittel  sei  also  ferner  nicht  mehr  bei  Kranken  mit 
Sehnervenstörung  als  kontraindiziert  zu  betrachten.  Auch  Gefä߬ 
erkrankungen  dürfen  keine  Kontraindikation  mehr  bilden,  da  in 
dem  einen  Falle  vermittels  des  Augenspiegels  deutlich  die  Rück- 
bildungsfähigkeit  der  luetischen  Gefäßwandwucherungen  nach  der 
Injektion  beobachtet  werden  konnte.  —  (Fortschritte  der  Medizin 

1910,  28.  Jahrg.,  Nr.  52.)  K.  S. 

♦ 

520.  Eröffnung  neuer  Abfuhrwege  bei  Stauung 
in  Bauch  und  unteren  Extremitäten.  Von  Prof.  Lanz. 
Verf.  hat  die  Talmasche  Operation  bei  hochgradigem  Aszites 
infolge  Leberzirrhose  viermal  ausgeführt.  Das  erstemal  mit  vollem 
Erfolg,  im  zweiten  Falle  weiß  Verf.  nicht,  ob  das  Resultat  ein 
dauernd  günstiges  geblieben  ist,  im  dritten  und  vierten  Falle  war 
das  Resultat  ein  völlig  negatives.  In  einem  fünften  Falle,  bei  dem 
die  klinische  Diagnose  auf  Aszites  infolge  Leberzirrhose  gestellt 
war,  wurde  von  einem  rechtseitigen  Inguinalabschnitt  aus  die 
Bauchhöhle  eröffnet,  wobei  sich  12  bis  15  Liter  Aszitesflüssigkeit 
entleerten,  hierauf  deü  rechte  Hoden  nach  oben  luxiert,  vom  Fundus 
scroti  losgelöst  durch  Durchquetschen  des  Gubernaculum  Hun¬ 
ten  mit  der  Rouxschen  Angiotribe;  hierauf  wurde  die  Tunica 
vaginalis  propria  testis  gespalten,  der  Hoden  in  die  freie  Bauch¬ 
höhle  gebracht  und  der  Samenstrang  in  ganzer  Länge  zu  beiden 
Seiten  der  peritonealen  Inzision  fixiert  und  die  Laparotomie- 
wunde  geschlossen.  Eine  Besserung  trat  nicht  ein,  fünf  Wochen 
post  Operationen!  starb  der  Patient.  Die  Autopsie  ergab  tuber¬ 
kulöse  Peritonitis,  eine  Wiederansammlung  der  Flüssigkeit  hatte 
nicht  stattgefunden.  —  (Zentralblatt  für  Chirurgie  1911,  Nr.  5..1 

E.  V. 

* 

521.  (Aus  der  I.  Chirurg.  Abteilung  des  städt.  Krankenhauses 
am  Urban  in  Berlin.  —  Prof.  Dr.  Körte.)  Ueber  Hernia 
pec  tinea.  Von  Dr.  Ulrichs.  Das  Bemerkenswerte  dieser  Her¬ 
nienart  ist  ihre  Lage  unter  der  Fascia  pectinea,  die  auch  als  tiefes 
Blatt  der  Fascia  lata  bezeichnet  wird.  Verf.  teilt  die  Kranken¬ 
geschichte  eines  operierten  Falles  mit,  bei  welchem  neben  Er¬ 
scheinungen  eines  Darmverschlusses  (plötzliches  Einsetzen  von 
Bauchschmerzen  mit  Erbrechen,  kein  Stuhl),  eine  Vorwölbung  in  der 
Fossa  ovalis  (dicht  unterhalb  des  Ligamentum  Pouparti)  bestand. 
Diese  schmerzhafte  Anschwellung  am  rechten  Oberschenkel,  die 
gleichzeitig  mit  den  Allgemeinerscheinungen  des  Darmverschlusses 
aufgetreten  war,  wies  auf  eine  Darmeinklemmung  in  einem  tief¬ 
liegenden  Bruchsacke  hin,  die  Diagnose  schwankte  zwischen  Herma 
pectinea  oder  Hernia  obturatoria.  Die  Operation  verschaffte  Auf¬ 
klärung.  Nach  Spaltung  der  Fascia  pectinea  wurde  die  Brueh- 

geschwulst  sichtbar,  die  in  dem  muldenförmig  auseinandergedrängten 

Musculus  pectineus  lag.  Sie  war  durch  den  inneren  Schenkelring  aus¬ 
getreten  und  wie  bei  den  gewöhnlichen  Schenkelbrüchen  saß  auch 
dort  die  Einklemmung.  Nach  mehreren  Leichonuntersuchungen  hält 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


761 


Verf.  die  auch  von  anderen  geteilte  Ansicht  für  richtig,  daß  an 
der  Fascia  pectinea  gelegentlich  Lücken  Vorkommen,  vielleicht  an 
Durchschnittsstellen  von  Gefäßen,  die  der  Hernie  den  Durchtritt  er¬ 
möglichen.  An  den  von  ihm  untersuchten  Leichen  hat  er  solche 
Lücken  aber  nicht  gesehen.  Der  Verfasser  bespricht  sodann  die  Lage 
der  Hernia  pectinea  zu  den  Femoral gefäßen.  Zum  Unterschiede  von 
der  sogenannten  Hernia  retrovascularis  liegt  die  Hernia  pectinea 
unter  der  Faszie,  also  eine  Schicht  tiefer.  Sie  tritt  medial  von  den 
Gefäßen,  dicht  am  Ligamentum  Gimbernati  aus,  liegt  demnach  zu¬ 
erst  neben  ihnen.  Erreicht  sie  aber  eine  gewisse  Größe,  so  ver- 
v  er  läuft  sie  mit  dem  Musculus  pectineus  in  dessen  Faserrichtung  lateral- 
vvärts,  so  daß  sie  schließlich  hinter  die  Gefäße  gelangt  —  was  ge¬ 
rade  im  letztoperierten  Falle,  der  einen  sehr  langen  Bruchsack  auf¬ 
wies,  sehr  deutlich  zu  sehen  war.  Im  weiteren  unterscheidet  Verf. 
diese  Hernie  von  der  Hernia  obturatoria  (die  Pectinea  tritt  durch 
den  Schenkelring  aus  und  zieht  über  den  horizentalen  Schambein¬ 
ast,  die  Obturatoria  geht  durch  den  Canalis  obturatorius  und  erscheint 
unterhalb  des  Knochens)  und  bespricht  die  Schwierigkeit  der 
Diagnose.  In  zwei  früheren  Fällen,  die  in  demselben  Krankenhause 
operiert  wurden,  machte  man  erst  die  richtige  Diagnose  bei  der 
Laparotomie.  Im  ganzen  wurde  die  Hernia  pectinea  4m  al  durch  Ob¬ 
duktion  (2 mal  beiderseits),  4mal  durch  Laparotomie,  7mal  durch 
Herniotomie  gefunden.  Meistens  saß  sie  rechts.  Körtes  jüngster 
Fall  genas  rasch.  Sonst  sind  die  Operationsresultate  noch  recht 
ungünstig,  es  starben  von  11  Operierten  7,  einmal  (May dl)  ist 
das  Resultat  nicht  angegeben.  Drei  Frauen  wurden  durch  die 
Operation  (Herniotomie,  einmal  mit  anschließender  Darmresektion) 
geheilt.  —  (Deutsche  med.  Wochenschr.  1911,  Nr.  17.)  E.  F. 

* 

522.  ZurRöntgendiagnostikdes  runden  Magen¬ 
geschwürs.  Von  Prof.  Dr.  F.  de  Quervain  in  Basel.  Die 
Diagnose  großer  Magengeschwüre  wird  derzeit  mit  großer  Sicherheit 
aus  der  im  Röntgenbilde  gefundenen  Ausbuchtung  der  Magenkonlur 
an  der  kleinen  Kurvatur,  aus  dem  längeren  Liegenbleiben  des 
Wismutschattens  an  dieser  Stelle,  aus  der  Luftblase  daselbst,  sowie 
aus  der  ausgesprochenen  Sanduhrform  des  Magens  gestellt,  während 
dies  bei  den  weniger  weit  vorgeschrittenen  Magengeschwüren  viel 
schwieriger  ist.  Faul  h  aber  kommt  auf  Grund  des  Befundes 
eines  von  En  der  len  operierten  Sanduhrmagens,  bei  dem  die 
Operation  eine  noch  für  drei  Finger  durchgängige  Stenosierung  er¬ 
geben  hatte,  während  das  Rönigcnbild  eine  hochgradigere  Ver¬ 
engerung  erwarten  ließ,  zum  Schlüsse,  daß  neben  der  anatomischen 
Stenosierung  noch  eine  lokale,  tetanische  Kontraktion  der  Magen- 
muskulalur  vorhanden  war,  welche  nach  der  Ingestion  reflektorisch 
durch  das  Ulkus  hervorgerufen  wurde.  Er  unterscheidet  diese  konstante, 
lelanische  Kontraktion  von  der  periodisch  auftrelenden  und  dann 
sich  wieder  lösenden  Kontraktion,  wie  sie  dem  funktionellen  Sanduhr¬ 
magen  zugrunde  liegt.  Als  Ursache  derselben  ist  der  Reiz  des  Ulkus 
anzusehen.  Rieder  betont  die  Bedeutung  der  Atropindarreichung 
zur  Erkennung  der  spastischen  Form  und  gibt  als  Ursache  dieser 
spastischen  Zustände  Ulkus,  Erosion  an,  schreibt  aber  auch  im 
Gegensatz  zu  Haudek  dem  Karzinom  die  Fähigkeit  zu,  derartige 
spasmodische  Kontraktionen  zu  veranlassen.  Die  Frage  nun,  ob 
ein  Geschwür  in  dem  betreffenden  Magensegment  eine  tetanische 
Kontraktion  zu  unterhalten  imstande  ist,  ist  nur  durch  gleichzeitige 
Berücksichtigung  von  Röntgenbild  und  Autopsie  in  vivo  zu  lösen. 
Verf.  berichtet  nun  über  eine  derartige  Beobachtung.  Eine  36jährige 
Patientin  kam  zur  Röntgenisierung,  da  ihre  Beschwerden  durch  die 
klinische  Untersuchung  nicht  gedeutet  werden  konnten.  Sie  halle 
kurz  nach  der  Nahrungsaufnahme  Schmerzen,  die  weit  nach  rechts 
hin  projiziert  wurden,  so  daß  man  nicht  von  vornherein  an  Ulkus 
dachte.  Das  Röntgenbild  ergab  einen  sehr  steilstehenden  Magen, 
dessen  Pars  pylorica  links  von  der  Wirbelsäule  lag.  An  der  kleinen 
Kurvatur  weit  oben  eine  ganz  leichte  Vorbuchtung,  ihr  gegenüber 
eine  scharf  geschnittene  Einschnürung  des  Magens,  mehr  als  die 
Hälfte  seines  Durchmessers.  Um  einen  vorübergehenden  Spasmus 
auszuschließen,  wurden  wiederholte  /Schirmunlersuchungen  vorge¬ 
nommen.  Immer  dasselbe  Bild.  Verf.  nahm  eine  mäßige  organische 
Verengerung  des  Magens,  einen  narbigen  Sanduhrmagcn  an.  Die 
Operation  zeigte  ein  kleines,  mit  dem  Pankreas  verwachsenes 
Magengeschwür,  aber  keinerlei  Verengerung  des  Magens  selbst. 
Von  narbigem  Sandubrmagen  war  keine  Spur  vorhanden.  Heilungs¬ 
verlauf  normal.  Sechs  Wochen  nach  der  Operation  steht  im  Röntgen¬ 


bild  der  ganze  Magen  höher  als  vor  der  Operation.  Die  Pars 
pylorica  ist  der  Kardia  wesentlich  genähert,  der  Magen  nach  der 
kleinen  Kurvatur  hin  zusammengeknickt,  dabei  besieht  die  Ein¬ 
buchtung  der  großen  Kurvatur  in  gleicher  Weise  fort.  Zehn  Minuten 
nach  Alropinverabreichung  wurde  eine  neue  Aufnahme  gemacht. 
Dieselbe  ergab  ein  fast  völliges  Verschwinden  der  Einziehung  der 
großen  Kurvatur.  Dieser  Fall  liefert  also  den  strikten  Beweis,  daß 
ausgesprochene  Sanduhrform  des  Magens  durch  tetanische  Kontrak¬ 
tion  der  Magenwand  in  der  Höhe  eines  Ulkus  zustande  kommen 
kann,  unabängig  von  irgendwelcher  narbigen  Schrumpfung  oder 
perigastrischer  Veränderung  Die  Tatsache,  daß  die  Kontraktion  nur 
bei  wismutgefülltem  Magen  nachweisbar  war,  bei  der  Operation 
dagegen  fehlte,  ist  nach  Verf.  nicht  so  sehr  mit  der  Narkose  in 
Zusammenhang  zu  bringen,  als  darauf  zurückzuführen,  daß  der 
Magen  durch  Nahrungszufuhr  gereizt  wird.  Es  fragt  sich  also,  ob 
es  auf  Grund  des  Röntgenbildes  möglich  ist,  Spasmus  bei  Ulkus 
von  reinem  Spasmus  zu  unterscheiden.  Eine  bestimmte  Antwort 
läßt  sich  dermalen  nicht  geben.  Verf.  kann  nur  folgendes  sagen  : 
1.  Jede  auch  noch  so  geringe  Ausbuchtung  der  Magenkontur  an 
der  kleinen  Kurvatur  spricht  für  noch  bestehendes  Ulkus,  während 
sich  aus  geradliniger  oder  gleichmäßig  geschwungener  Form  der 
kleinen  Kurvatur  nicht  gegen  Geschwür  schließen  läßt.  2.  Je  tiefer 
und  je  andauernder  die  Kontraktur  ist,  um  so  eher  wird  sie 
organisch  bedingt  sein.  Seichte,  rasch  vorübergehende  oder  multiple 
Kontrakturen  sprechen  für  eine  rein  funktionelle  Erscheinung. 
3.  Bei  verschiedenen  Untersuchungen  stets  gleichbleibender  Sitz 
spricht  für  durch  Geschwür  bedingte,  wechselnder  Sitz  für  rein 
funktionelle  Kontraktur.  —  (»Münchener  med.  Wochenschr.  1911 
Nr.  1  7.)  G. 

* 

523.  Ueber  Tr  opine  und  Opsonine  im  Diphtherie- 
immuns  erutn.  Von  Oberstabsarzt  Dr.  Lindemann,  komman¬ 
diert  zum  Kaiserlichen  Gesundheitsamt.  Für  eine  antiinfektiöse 
Wirkung  des  Diphtherieserums  kommen  bisher  nur  die  phago¬ 
zytären  Antistoffe  in  Betracht,  da  bakterizide  Ambozeptoren  weder 
von  Lindem  an n,  noch  von  anderen  im  Diphtherieimmunserum 
gefunden  werden  konnten  und  die  Agglutinine  der  allgemeinen 
Ansicht  nach  als  Heilstoffe  überhaupt  keine  Rolle  spielen.  Trotz¬ 
dem  glaubt  Lindemann,  die  Möglichkeit,  auch  von  antiinfek¬ 
tiösen  Antikörpern  (Tropinen  und  Opsoninen)  bei  der  Serum¬ 
behandlung  der  Diphtherie  Nutzen  zu  ziehen,  nicht  von  der 
Hand  weisen  zu  dürfen  und  rät,  zu  Heilversuchen  solche  Sera 
zu  verwenden,  bei  denen  auf  Grund  exakter  Versuche  ein  hoher 
Gehalt  an  den  genannten  Antistoffen  festgestellt  ist.  Tatsächlich 
haben  Martin,  Prevot  und  Loiseau  kürzlich  Beobachtungen 
mitgeteilt,  wonach  antibakterielle  Diphtherieseren  klinisch  bessere 
Wirkungen  haben  sollen,  als  rein  antitoxische  Sera.  —  (Arbeiten 
auis  dem  Kaiserlichen  Gesundheitsamte  1910,  ßd.  36,  11.  2.) 

K.  S. 

* 

524.  Ueber  einen  Fall  von  Darm  perforation  bei 

Kürettage  des  Uterus.  Von  Karl  Justi.  Eine  21jährige 
Chinesin  erkrankte  au  akuter  Gonorrhoe  und  wurde  auch  mit 
intrauterinen  Aetzungen  behandelt.  Wegen  der  darauf  entstehen¬ 
den  Entzündung  des  Uterus  wurde  kürettiert.  Hiebei  kam  es  zur 
Perforation  des  Uterus  mit  konsekutiver  Peritonitis.  Zwei  Mo¬ 
nate  nach  der  Kürettage  wurde  ein  Abszeß  zwischen  Vagina  und 
Rektum  eröffnet  Entstehen  einer  Rektalfistel.  Unter  wechseln¬ 
den  Fiebertemperaturen,  manchmal  bis  zur  Norm  herabfallend, 
ziemlich  unverminderter  Status,  bis  fünf  Monate  nach  der  Küret¬ 
tage  die  Laparotomie  vorgenommen  wurde,  die  eine  Fistel  des 
Cökums  aufdeckte.  Es  war  bei  der  Kürettage  zur  Perforation  de« 
Uterus  und  des  Cökums  gekom'men!  Drainage.  Im  weiteren  Ver¬ 
laufe  Ausbildung  einer  Dünndarmfistel.  Nach  zwei  mißglückten 
Versuchen,  diese  zu  schließen,  Kolostomic.  Nach  Schluß  der  Fisteln 
auch  operativer  Schluß  der  Kolostomie.  Endgültige  Heilung.  — 
(Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911,  Nr.  5.)  E.  V. 

* 

525.  Die  Bedeutung  des  Dampfstrahls  für  die  The¬ 
rapie.  Von  Prof.  Dr.  L.  Brioger  in  Berlin.  Die  feuchte  Wärme 
durchdringt,  im  Gegensatz  zur  trockenen  heißen,  wegen  ihrer 
ausgezeichneten  Leitungsfähigkeit  sehr  rasch  die  Organe  des  Kör¬ 
pers,  um  sich  ebenso  schnell  und  ausgiebig  in  deren  Tiefen  zu 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


vierteilen.  In  dieser  Hinsicht  greift  nun  der  Dämpfstrahl  von 
hoher  Spannung  am  energischesten  ein  und  verursacht  (nach 
Herz)  in  seinem  Wirkungsbezirk  eine  über  24  Stunden  sich 
hinziehende  Hyperämie,  welche  den  Heilungsvorgang  wesentlich 
fördert.  Der  Dampfstrahl  von  hoher  Spannung  kommt  deshalb  in 
der  vom  Verfasser  geleiteten  hydrotherapeutischen  Anstalt  der 
Universität  Berlin  fast  bei  einem  Drittel  der  Patienten  zur  An¬ 
wendung.  So  wird  der  Dampfstrahl  bei  Ischias  als  wärmestauende 
Prozedur  benützt,  d.  h.  man  läßt  denselben  10  bis  15  Minuten 
lang  auf  die  schmerzhaften  Stellen  des  Ischiadikus,  resp.  seiner 
Hautäste  einwirken  und  schließt  hieran  das  vom  Verfasser  an¬ 
gegebene  Bewegungsbad,  ein  Verfahren,  das  sich  als  sehr1  vorteil¬ 
haft  erwiesen  hat.  Der  Dampfstrahl  beseitigt  am  schnellsten 
den  bestehenden  Schmerz,  macht  anderseits  das  Gewebe  sehr 
sukkulent  und  schafft  damit  für  die  Massage  zur  Entfernung  der 
krankhaften  Produkte  einen  günstigen  Boden,  was  bei  der  Zu¬ 
fuhr  der  trockenen  Wärme  nicht  der  Fall  ist.  Die  Dampfduschen¬ 
massage  ist  am  meisten  indiziert  bei  Gelenkserkrankungen  infolge 
von  Rheumatismus,  Gicht,  Tripper,  namentlich  in  der  monartiku¬ 
lären  Form.  Die  Omarthritis  mit  oder  ohne  Brachialneuralgie,  aber 
auch  die  Koxitis  'und  alle  sonstigen  monartikulären  Gelenksaffek¬ 
tionen  erweisen  sich  für  diese  Therapie  als' sehr  geeignet  (Brin¬ 
ger  und  Laqueur).  Erst  kürzlich  wurde  ein  sehr  bedrohlicher 
Fall  von  rheumatischer  Kieferklemme  auf  diese  Weise  schnell 
behoben.  Bei  der  Nachbehandlung  von  akutem  oder  subakutem 
Gelenksrheumatismus  ist  der  etwaigen  Erkältungsgefahr  sofort 
durch  wechselwarme  Fächerdusche  (Winternitz)  zu  begegnen. 
Diese  Art.  der  Behandlung  empfiehlt  sich  auch  für  die  beginnende 
Versteifung  der  Wirbelsäule  (Bechterews  Spondylosis  rhizomelica), 
wie  Verfasser  an  drei  Patienten  beobachten  konnte,  sowie  im 
Anfang  der  einfachen  Arthritis.  Andrerseits  trotzen  manche  Ge¬ 
lenksleiden  jeder  Wärmebehandlung,  dagegen  erweist  sich  bei 
ihnen  eine  intensive,  feuchte  Kältebehandlung,  besonders  in  Form 
der  Longuetten,  sehr  hilfreich.  Bei  der  Nachbehandlung  der  trau¬ 
matischen  Gelenkserkrankungen,  Distorsionen,  Luxationen,  Kno¬ 
chenfrakturen  möchte  Verf.  zur  Linderung  der  Schmerzen,  Be¬ 
förderung  der  Resorption  von  Ergüssen,  Erweichung  der  Gewebe, 
insbesondere  als  Vorbereitung  für  die  nachfolgende  Massage  und 
Gymnastik,  den  Dampfstrahl  nicht  missen.  Auch  Narbenkontrak¬ 
turen,  besonders  die  Dupuytren  sehe  Kontraktur,  ferner  Bra¬ 
chial-,  Trigeminus-,  Interkostalneuralgien,  der  Muskelrheumatismus 
(mit  nachfolgender  Massage),  die  Lumbago,  Plattfußbeschwerden, 
Beschäftigungsneurosen  usw.  werden  mit  dem  Dampfstrahl  gün¬ 
stig  beeinflußt.  Li s sauer  hat  die  Dampfdusche  als  Expektorans 
bei  chronischen  Bronchitiden  (auch  solcher  tuberkulöser  Natur) 
mit  sehr  guter  Resultaten  angewandt.  Unter  einem  Druck  von 
1-5  Atmosphären  wird  der  Dampf  ca.  15  Sekunden  auf  den  Thorax 
appliziert,  gefolgt  von  einer  Fächerdusche  von  15  bis  20°  C, 
fünf  Sekunden  Dauer.  Verf.  hält  es  für  ratsamer,  den  Dampf 
länger  einwirken  zu  lassen,  am  Schluß  gefolgt  von  einem  wechsel¬ 
warmen  Fächer.  Das  Verfahren  hat  sich  unter  Umständen  auch 
beim  Icterus  catarrhalis  und  bei  Schmerzen  von  Gallensteinen, 
bei  Cholezystitis,  sowie  überhaupt  schmerzhaften  Affektionen  der 
Leber  und  Nieren  (Nephrolithiasis),  sowie  bei  allen  Koliken  der 
Abdominalorgane  vorteilhaft  bewährt.  Der  Dampfstrahl  dürfte 
sich  noch  andere  therapeutische  Gebiete  erobern,  zumal  sein 
Assistent  Dr.  Fürstenberg  eine  transportable  Einrichtung 
(„Vapophor“)  konstruieren  lie.  ',  wodurch  der  hochgespannte  Dämpf 
auch  in  kleineren  Anstalten  und  selbst  dem  praktischen  Arzte 
zugänglich  gemacht  worden  ist.  —  (Medizinische  Klinik  1911, 

Nr.  14.)  E.  F. 

* 

526.  (Aus  dem  pathologisch -anatomischen  Institut  Basel. 

Vorsteher:  Prof.  He  ding  er.)  Zur  Frage  der  rezidivie¬ 
renden  Prostatahypertrophie  nach  Prostatektomie. 
Von  Dr.  E.  Lamport,  Volontärassistent  am  Institut.  Bei  par¬ 
tiellen  oder  auch  sogenannten  totalen  Prostatektomien  kann  sich 
die  Prostatavergrößerung  erfahrungsgemäß  wieder  ein  stellen  und 
zwar  oft  ziemlich  rasch.  In  dem  von  Lamport  anatomisch -histo¬ 
logisch  untersuchten  Falle,  zeigte  sich,  daß  die  Substanz  der 
Prostata  einer  großen  Regeneration  fähig  ist,  ohne  im  geringsten 
Spuren  einer  malignen  Entartung  zu  zeigen.  —  (Korrespondenz¬ 
blatt  für  Schweizer  Aerzte  1911,  41.  Jahrg.,  Nr.  3.)  K.  S. 


527.  Karzinom  des  Zervixstumpfes  nach  supra- 
vaginaler  Amputation  dos  myomatösen  Uterus.  Von 
Dr.  Rudolf  Ekler.  Es  wurde  bei  einer  35jährigen  Frau  die 
supravaginale  Amputation  des  myomatösen  Uterus  ausgeführt. 
Die  histologische  Untersuchung  ergab  keinerlei  maligne  Dege¬ 
neration.  Vier  Jahre  post  operationem  traten  Kreuzschmerzen, 
Ausfluß  und  Abnahme  des  Körpergewichtes  um  4!4  kg  auf.  Die 
Untersuchung  ergab  ein  Karzinom  des  Zervixstumpfes.  Radikal¬ 
operation  nach  Wert  heim.  Die  Parametrien  vollkommen  frei, 
keinerlei  metastatische  Drüsen.  Am  Präparat  sieht  man  dicht 
über  dom  Orificium  externum  ein  kirschkerngroßes  karzinoma- 
töses  Geschwür.  Heilung.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911, 
Nr.  8.)_  E.  V. 

* 

528.  (Aus  dem  chirurgisch-poliklin.  Institut  der  Universität 
Leipzig  —  bisheriger  Direktor:  Prof.  Dr.  Perthes.)  Ueber 
Arthritis  deformans  juvenilis.  Von  Prof.  Dr.  Perthes. 
Verf.  veröffentlicht  die  Krankengeschichten  von  sechs  in  kurzer 
Zeit  beobachteten  Fällen  dieser  interessanten  Krankheit  und  zieht 
den  Schluß,  daß  die  Krankheit  viel  häufiger  vorkomme,  als  man 
bisher  geglaubt  hat  und  daß  ihre  praktische  Bedeutung  eine  große 
ist.  Die  Symptome  sind  zum  Teil  denen  der  Koxitis  ähnlich  und 
die  beiden  Krankheiten  können  daher  verwechselt  werden.  Die  Be¬ 
schränkung  der  Beweglichkeit  ist  das  auffallendste  Symptom,  die¬ 
selbe  ist  aber  nicht  bedingt  durch  reflektorische  Muskelspannung 
oder  Verwachsung  wie  bei  Koxitis,  sondern  durch  die  mechanischen 
Verhältnisse  des  Gelenkes  infolge  Gestaltsveränderung  des  Kopfes. 
Die  Bewegungshemmung  kann  nach  verschiedenen  Richtungen  ver¬ 
schieden  ausgebildet  sein ;  am  meisten  scheint  die  Abduktion  ge¬ 
hemmt  zu  sein,  während  die  Beugung  erhalten  ist ;  auf  diesen 
Gegensatz  zwischen  Flexionsmöglichkeit  und  Abduktionshemmung 
macht  Verf.  ganz  besonders  aufmerksam.  Schmerzen  sind  entweder 
gar  nicht  vorhanden  oder  treten  nur  nach  längerem  Gehen  auf; 
Krepitation  ist  nur  selten  zu  finden.  Auffallend  ist  weiters  der 
hinkende  Gang,  welcher  weniger  durch  Verkürzung,  als  vielmehr 
durch  Insuffizienz  der  Abduktoren  bedingt  ist.  Schon  in  den  An¬ 
fangsstadien  sieht  man  im  Röntgenbilde  leichte  Veränderung  des 
Oberschenkelkopfes  im  Sinne  einer  Abflachung  desselben,  weiters 
finden  sich  subchondrale  Aufhellungsherde ;  in  späteren  Stadien 
sind  die  Resorptionserscheinungen  am  Kopf  stärker,  außerdem  finden 
sich  Wucherungs Vorgänge  an  Kopf  und  Pfanne.  Die  Krankheit  ist 
gewöhnlich  progredient.  Die  konservative  Therapie  kann  im  Anfang 
des  Leidens  vieles  leisten.  Von  einer  immobilisierenden  Behandlung 
sah  Verf.  Nachteile,  hingegen  kann  man  mit  passiven  Bewegungen, 
sei  es  manuell  oder  mit  Hilfe  von  mediko-mechanischen  Apparaten, 
der  Ausbildung  von  Knochenhemmungen  entgegenarbeiten.  Der 
Knochenprozeß  kommt  zwar  nicht  zum  Stillstand,  aber  der  Knochen 
wird  so  ummodelliert,  daß  die  Bewegungshemmungen  geringer 
werden.  In  sehr  vorgeschrittenen  Fällen,  bei  welchen  hochgradige 
Schmerzen  beim  Gehen  auftreten,  kann  die  Resektion  des  Gelenkes 
in  Frage  kommen.  - —  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Ghir.,  Bd.  107, 

Nr.  1  bis  3.)  se- 

* 

529.  (Aus  dem  Heidelberger  Institut  für  Krebsforschung.  — 
Direktor:  Exzellenz  Geheimrat  Prof.  Dr.  V.  Czerny.)  Erfah¬ 
rungen  mit  Salvarsan  bei  malignen  Tumoren.  Von 
Prof.  Dr.  V.  Czerny  und  Dr.  Albert  Caan.  Es  wurden  im  ganzen 
12  maligne  Tumoren  mit  Salvarsan  behandelt.  Von  7  Karzinom¬ 
fällen  handelte  es  sich  2mal  um  Neubildungen  des  Magendarmtraktes, 
3mal  der  Zunge  und  je  lmal  Lippen-  und  Mundhöhlenkarzinom. 
Bei  einem  61jährigen  Manne  mit  Rektumkarzinomrezidiv  wurde 
0  6  Salvarsan  in  die  rechte  Subklavikulargegend  injiziert.  Nur  die 
Beschwerden  beim  Urinieren  ließen  nach,  die  lokalen  Schmerzen 
wurden  ebenfalls  geringer,  aber  eine  Beeinflussung  der  Rezidivknoten 
erfolgte  nicht.  Ein  49jähriger  Mann  mit  einem  inoperablen  Magen¬ 
karzinom  entzog  sich  nach  der  Injektion  der  weiteren  Beobachtung. 
In  3  Fällen  von  Zungenkarzinom  mit  deutlicher  Komplement¬ 
ablenkung  konnte  eine  wesentliche  subjektive  Besserung  erzielt 
werden.  Bei  einem  Patienten  mit  Lippenkarzinomrezidiv  kam  es  zu 
einer  Verflüssigung  des  Tumors  und  Nachlaß  der  Schmerzen.  Das 
Fortschreiten  des  karzinomatösen  Prozesses  konnte  jedoch  nicht  ver¬ 
hütet  werden.  Bei  einem  Mundhöhlenkarzinom  wurden  die  Schmerzen 
und  die  Neubildung  ganz  unbeeinflußt.  Eine  günstigere  Reaktion 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


768 


zeigten  2  Sarkome  mit  positivem  Wassermann.  Während  es  hei 
dem  ersten  Fall  (Sternalsarkom)  hauptsächlich  zu  einer  subjektiven 
Hebung  des  trostlosen  Zustandes  kam,  zeigte  der  zweite  Fall,  ein 
I9jähriger  Techniker,  eine  auffallende  Besserung.  Patient  hatte  ein 
von  der  Ohrspeicheldrüse  ausgehendes  linksseitiges  Sarkom.  Am 
21.  Oktober  1910  0'2  Salvarsan  intratumoral,  0'3  intraglutäal. 
Am  31.  Oktober  wurde  ein  walnußgroßes,  nekrotisches  Stück  Tumor 
aus  der  ulzerierten  Stelle  herausgepreßt.  Pat.  fühlte  sich  bedeutend 
erleichtert  und  wurde  nun  ambulant  behandelt.  Anfangs  Januar  hat 
sich  die  Geschwulst  vollständig  zurückgebildet,  keine  Beschwerden. 
Pat.  wurde  zum  Militärdienste  als  tauglich  erklärt.  Bei  3  Lympho¬ 
sarkomen  kam  es  nur  in  einem  Fall  zu  einer  deutlichen  Besserung 
des  subjektiven  Befindens,  während  der  objektive  Befund  keine 
wesentliche  Veränderung  zeigte.  Im  ganzen  zeigt  sich  also,  daß  die 
Sarkome  am  günstigsten  beeinflußt  wurden,  am  wenigsten  die 
Lymphosarkome  (auch  Hodgkin  sehe  Krankheit).  Bei  den 
Karzinomen  war  bisweilen  neben  der  subjektiven  Besserung  eine 
gewisse  objektive  Beeinflussung  der  Tumoren  nicht  zu  verkennen. 
Bei  einem  Kranken  mit  Zungenkarzinom,  dessen  intensive  Schmerzen 
selbst  durch  große  Morphiumdosen  nicht  gelindert  wurden,  konnte 
durch  Salvarsan  absolute  Schmerzlosigkeit  ausgelöst  werden.  Am 
meisten  Nutzen  sahen  die  Verfasser  von  der  kombinierten  Ein¬ 
spritzung  in  den  Tumor  und  die  Glutäen,  wobei  eine  gewisse  elektive 
Wirkung  auf  die  Zellen  der  Neoplasmen  nicht  zu  verkennen  war. 
Die  Verfasser  kommen  zu  folgenden  Schlußfolgerungen:  1.  Bei  in¬ 
operablen  malignen  Tumoren  mit  positiver  W  assermann  scher  Re¬ 
aktion  und  hier  vor  allem  bei  Sarkomen,  ist  der  therapeutische 
Versuch  mit  Salvarsan  angezeigt.  Zu  begründen  ist  die  Anwendung 
mit  der  günstigen  Beeinflussung  gewisser  Geschwülste,  vor  allem 
der  Sarkome  (Verflüssigung,  Nekrotisierung)  und  mit  der  auffallenden 
schmerzstillenden  Wirkung  in  fast  allen  zur  Behandlung  gekom¬ 
menen  Fällen.  Außerdem  gibt  Veranlassung  zur  Erprobung  des 
Mittels  die  Tatsache,  daß  Arsenik  eines  der  ältesten  und  in  mancher 
Pachtung  wirksamsten  Medikamente  gegen  bösartige  Geschwülste  ist 
und  ferner,  daß  das  Präparat  als  wirksames  spirillozides  Mittel  viel¬ 
leicht  auch  bei  einigen  Arten  von  Tumoren  gute  Dienste  zu  tun 
imstande  ist.  2.  Operable  Tumoren  sind  unter  allen  Umständen 
chirurgisch  zu  entfernen,  doch  ist  die  Frage,  ob  nicht  speziell  bei 
Sarkomen  mit  positiver  Wassermannscher  Reaktion  ein  Ver¬ 
such  mit  Salvarsan  analog  der  Esmarch  sehen  Jodbehandlung 
vorausgeschickt  werden  soll.  3.  Die  Salvarsanbehandlung  maligner 
Tumoren  ist  wegen  der  bisweilen  auftretenden  stürmischen  Reaktions¬ 
erscheinungen  zunächst  nur  klinisch  durchzuführen.  Kachektische 
und  geschwächte  Patienten  sind  von  der  Behandlung  auszuschließen. 
4.  Die  bisherige  Dosierung  (einmalige  Injektion  von  0  4  bis  0‘6  Sal¬ 
varsan)  erscheint  für  die  Behandlung  maligner  Neoplasmen  zu 
gering,  es  wäre  je  nach  der  Ausdehnung  des  Falles  die  mehrfache 
Verabreichung  von  ähnlichen  Dosen  zu  versuchen.  5.  Eine  Kom¬ 
bination  von  intratumoraler  Einverleibung  mit  der  Verwendung  des 
Salvarsans  am  Ort  der  Wahl  erscheint  zweckmäßig  (nach  den 
neuesten  Erfahrungen  dürfte  die  intravenöse  Applikation  die  größten 
Vorteile  bieten).  Auch  hier  wird  die  Frage  der  Dosierung  weiteren 
Versuchen  Vorbehalten  bleiben  müssen.  —  (Münchner  medizinische 
Wochenschr.  1911,  Nr.  17.)  G. 

* 

530.  Ueber  die  Prognose  und  den  Verlauf  der 
Pneumokokkenmeningitis.  Von  Prof.  Dr.  Fr.  Roily  in 
Leipzig.  Unter  30  Fällen  von  Pneumokokkenmeningitis,  welche  in 
den  letzten  fünf  Jahren  an  der  mediz.  Klinik  der  Universität  in 
Leipzig  beobachtet  wurden,  befinden  sich  vier  geheilte  Fälle. 
In  3  Fällen  bestand  gleichzeitig  eine  Pneumokokkenpneumonie,  im 
4.  Falle  (23/4  Jahre  altes  Kind)  eine  Bronchitis.  Verf.  beschreibt 
diese  4  Fälle  eingehend.  Die  übrigen  26  Fälle  sind  gestorben.  »Auf 
dem  Wege  der  Lymphbahnen  oder  auch  durch  direkten  Kontakt  ge¬ 
langen  die  Pneumokokken  vom  Rachen  und  der  Nase  bei  Rhinitis, 
Nasennebenhöhlenerkrankungen,  Otitis  media  in  die  Meningen, 
während  bei  der  Pneumonie  und  bei  der  Sepsis  die  Infektion  fast 
ausschließlich  auf  dem  Blutwege  erfolgen  dürfte.«  Bei  den  26  letal 
verlaufenen  Fällen  setzte  die  Krankheit  ziemlich  akut  ein,  allerdings 
mit  geringfügigen  Prodromen,  welche  1  bis  7  Tage  lang  anhielten. 
Die  meningitischen  Symptome  können  aber  auch,  wie  5  Fälle 
zeigten,  ganz  plötzlich,  ohne  jegliches  vorausgegangens  Unwohlsein, 
mit  rasenden  Kopfschmerzen,  starkem  Schwindel,  Erbrechen,  Fieber 


und  Unruhe  einsetzen.  Nur  ein  einzigesmal  bestand  im  Beginn  ein 
Schüttelfrost.  Stets  waren  bei  diesen  Kranken  Nackensteifigkeit, 
meist  auch  hochgradige  Sehmerzempfindlichkeit  bei  Bewegungen 
des  Kopfes,  allgemeine  Hyperästhesie,  Zähneknirschen,  sowie  das 
Kernigsche  Symptom  ausgesprochen.  Das  Abdomen  war  meist 
flach  und  weich,  5mal  waren  die  Bauchdecken  bretthart  gespannt 
und  kahnförmig  eingezogen.  Ein  deutlicher  Herpes  war  nur  in 
4  Fällen.  Verf.  beschreibt  sodann  das  Verhalten  der  Temperatur, 
des  Pulses,  der  Respiration,  das  frühe  Auftreten  einer  Trübung  des 
Sensoriums,  das  Erscheinen  von  Muskelspasmen  oder  Lähmungen, 
das  .Verhalten  der  Reflexe  etc.  und  fährt  sodann  fort :  Die  bei  den 
meisten  Kranken  ausgeführte  Lumbalpunktion  ergab  einen  mehr 
oder  weniger  trüben,  in  3  Fällen  klaren  Liquor,  der  Lumbal¬ 
druck  war  stets  mehr  oder  weniger  erhöht,  der  Eiweißgehalt  des 
Liquors  vermehrt.  Es  fanden  sich  überall  darin  reichlich  Pneumo¬ 
kokken,  sodann  zahlreiche  polynukleäre  Leukozyten  und  nur  eine 
geringe  Anzahl  von  Lymphozyten.  Die  Dauer  der  Erkrankung  bis 
zum  Exitus  schwankte  von  2  bis  25  Tagen,  in  7  Fällen  verlief 
sie  in  3  Tagen  tödlich,  bei  nur  6  Kranken  in  mehr  als  10  Tagen. 
In  therapeutischer  Hinsicht  scheinen  zahlreiche  und  aus¬ 
giebige  Lumbalpunktionen  von  günstigem  Erfolge  zu  sein,  da  hie¬ 
durch  eine  Masse  Bakterien  aus  dem  Körper  herausgelangen  und 
anderseits  wieder  neue  und  offenbar  bakterizide  Flüssigkeit  an  die 
Stelle  der  entleerten  abgeschieden  wird.  Auch  die  dadurch  erzielten 
Druck erniedrigungen  dürften  nach  den  Autoren  eine  günstige  Wirkung 
ausüben.  Fälle  der  letzten  Zeit  lehrten,  daß  große  innerliche  Dosen 
von  Urotropin  hier  auch  am  Platze  sein,  da  es  nach  Gr  owe  sodann 
in  der  Lumbalflüssigkeit  erscheint  und  daselbst  auf  die  Bakterien 
abtötend  oder  wenigstens  entwicklungshemmend  einwirkt.  Verfasser 
schließt  mit  dem  Hinweise,  daß  der  Pneumokokkus  eine  seröse  und 
eitrige  Meningitis  hervorrufen  kann.  Diese  Form  der  Meningitis  ist 
auf  Grund  der  Lumbalpunktion  von  den  Meningitiden  anderer 
Genese  mit  Sicherheit  abzutrennen ;  gegenüber  der  tuberkulösen 
Form  auch  durch  deren  Verlauf  und  langsamen  Beginn.  Die  Pro¬ 
gnose  der  Pneumokokkenmeningitis  ist  wohl  viel  schlechter  als  die 
der  epidemischen  Form,  sie  ist  aber  nicht  immer  als  absolut  un¬ 
günstig  zu  bezeichnen.  —  (Deutsche  med.  Wochenschr.  1911, 
Nr.  17.)  E.  F. 

* 

531.  Zur  Aetiologie  der  Eklampsie.  Vorläufige  Mit¬ 
teilung.  Von  Dr.  Artur  Dienst.  Dienst  machte  experimentelle 
Studien  über  die  Bedeutung  des  Fibrinfermentes  und  des  Fibrino¬ 
gens  in  der  Aetiologie  der  Schwangerschaftsniere  und  Eklampsie. 
Dienst  glaubt,  daß  das  aus  dem  Zerfall  der  zu  physiologischen 
Zwecken  während  der  Schwangerschaft  verbrauchten  vielkernigen 
Leukozyten  hervorgehende  Fibrinferment,  welches  infolge  von  Blut¬ 
stauung  in  der  Leber  im  Blute  nicht  hinreichend  Antithrombin 
findet,  infolgedessen  sich  in  pathologischen  Mengen  ansammelt,  auch 
bei  schwangeren  Frauen  die  toxische  Substanz  ist,  welche  den 
Hydrops  graviditatis  und  die  Schwangerschaftsniere  hervorruft.  Gleich¬ 
zeitig  wird  durch  das  Fibrinferment  infolge  der  schädlichen  Ein¬ 
wirkung  auf  die  Leber  eine  Leberinsuffizienz  begünstigt,  wodurch  die 
mehrfach  nachgewiesene  abnorme  Ansammlung  von  Fibrinogen  im 
Blute  bei  Frauen  mit  Schwangerschaftsniere  und  Eklampsie  erklärt 
wird.  Durch  das  toxische  Fibrinogen  wird  infolge  seiner  chemo¬ 
taktischen  Wirkung  eine  weitere  Vermehrung  der  Fibrinregeneratoren 
durch  hochgradige  Hyperleukozytose  hervorgerufen,  gleichzeitig  er¬ 
zeugt  es  als  Grundstoff  des  Fibrins  durch  seine  Vereinigung  mit  dem 
hier  in  abnormer  Menge  entstehenden  Fibrinferment  die  multiplen 
Fibrinthromben  bei  der  Eklampsie,  welche  die  Krämpfe  auslösen.  — 
(Zentralblatt  für  Gynäkologie  1911,  Nr.  11.)  E.  V. 

* 

532.  Die  Behandlung  der  Syphilis  mit  Ehrlichs 
„606“  (Salvarsan).  Von  Dr.  E.  Heuß  in  Zürich.  Nach  den 
Erfahrungen  von  Heuß  hat  das  Arsenobenzol  bis  jetzt  die  Er¬ 
wartungen  auf  eine  rasche  sichere  Abheilung  der  Syphilis  nicht 
erfüllt.  In  manchen,  vielleicht  auch  vielen  Fallen  darf  man  zwar 
hoffen,  eine  definitive  Heilung  zu  erzielen ;  bei  dem  Gros  der 
Fälle  erreicht  man  nur  Besserungen,  temporäre  Abheilung,  aller¬ 
dings  oft  eklatantester  Art;  eine  weitere,  verschwindend  kleine 
Anzahl  von  Syphilitikern  läßt  sich  durch  Arsenobenzol  über¬ 
haupt  nicht  oder  nur  ganz  ungenügend  beeinflussen.  Ehrlichs 
„606“  ist  nur  ein  Mittel,  nicht  aber  das  Mittel  gegen  Syphilis. 


764 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


Die  Kombination  von  Arsenobenzol  mit  den  alten  Spezifizis  dürfte 
aber  den  Kampf  gegen  die  Syphilis  mit  erhöhter  Sicherheit  auf 
Erfolg  aufnehmen  lassen.  -  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer 
Aerzte  1911,  41.  Jahrg.,  Nr.  1.)  K.  S. 

* 

533.  Aus  dem  städtischen  Krankenhaus  Düren  (Rheinland). 
Erfahrungen  mit  Hormonal  bei  chronischer  Obsti¬ 
pation  und  paralytischem  Ileus.  Von  Dr.  Josef 
Kauert,  Assistenzarzt  der  inneren  Abteilung.  Verf.  berichtet 
Uber  seine  Erfahrungen  mit  dem  von  Zuelzer  entdeckten  Peri¬ 
staltikhormon,  das  von  der  Fabrik  vormals  Schering,  unter  dem 
Namen  Hormonal  in  den  Handel  gebracht  wird.  Das  Präparat  ist 
ein  in  sämtlichen  Organen,  vornehmlich  in  der  Milz  vorkommender 
chemischer  Körper,  der  einen  spezifischen  Reiz  auf  die  die  Darm¬ 
peristaltik  erregenden  Zellkomplexe  ausübt.  Das  Hormonal  wurde 
zu  15  cm3  entweder  intramuskulär,  meist  intraglutäal,  oder  intra¬ 
venös  injiziert.  Im  ganzen  wurden  neun  Fälle  auf  der  internen 
Abteilung  und  sieben  Fälle  auf  der  chirurgischen  mit  Hormonal 
behandelt.  Es  waren  meist  schwere  Fälle  von  chronischer  Obstipation, 
bei  denen  selbst  mit  starken  Abführmitteln  nur  vorübergehend 
Stuhl  zu  erzielen  war,  während  die  Fälle  auf  der  chirurgischen 
Abteilung  schwere  Fälle  von  paralytischem  Ileus  bei  diffuser  eitriger 
Peritonitis  waren.  Verf.  hat  in  fünf  von  seinen  Fällen  eine  sichere 
Wirkung  des  Hormonais  gesehen,  aber  nur  bei  zwei  von  diesen 
einen  dauernden  Erfolg.  Diese  beiden  Dauererfolge  waren  jedoch, 
wenn  man  die  schweren,  mit  keinem  anderen  Mittel  zu  behebenden 
Störungen  der  Kranken  vor  Anwendung  des  Hormonal  in  Betracht 
zieht,  geradezu  glänzend.  Sämtliche  Beschwerden  waren  wie  mit 
einem  Schlage  verschwunden,  die  Kranken  fühlten  sich  *wie  neu¬ 
geboren«.  Bei  drei  Kranken  wurde  nur  ein  vorübergehender  Erfolg 
gesehen,  der  aber  immerhin  noch  recht  bemerkenswert  ist.  Von 
sieben  Fällen  auf  der  chirurgischen  Abteilung  bei  paralytischem 
Ileus  wirkte  Hormonal  in  sechs  Fällen  prompt  und  dauernd.  Es 
scheint  demnach  vorzüglich  bei  Atonie  und  Hypotonie  des  Intestinal¬ 
traktes  seine  peristaltische  Wirkung  zu  entfalten.  Die  Erfahrungen 
des  Verfassers  decken  sich  mit  denen  von  Zuelzer,  Henle  und 
Saar.  Auch  er  konnte  beobachten,  daß  die  Wirkung  des  Hor¬ 
monais  meist  nicht  sofort  auftrat,  speziell  bei  der  intravenösen 
Injektion  fehlte  die  direkte  Wirkung,  wie  sie  im  Tierexperiment 
vorhanden  ist.  Meist  wirkt  das  Mittel  nach  2  bis  26  Stunden, 
gleichgültig  ob  intraglutäal  oder  intravenös  gegeben  und  auch  dazu 
bedarf  es  meist  eines  ein  bis  zwei  Stunden  nach  der  Injektion  ge¬ 
gebenen  Schiebemittels  in  Gestalt  eines  Eßlöffels  Rizinusöls  oder 
Sennainfus  oder  Sennaklysmas.  Irgendwelche  Nebenerscheinungen 
außer  einer  leichten  Temperatursteigerung  in  vereinzelten  Fällen 
oder  mäßigen  Schmerzen  an  der  Einstichstelle  bei  intraglutäaler 
Injektion  hat  Verf.  nicht  beobachtet.  Jedenfalls  zeigen  die  Resultate, 
daß  das  Hormonal  in  geeigneten  Fällen  ein  sehr  wirksames  Mittel 
ist  und  einen  wesentlichen  Fortschritt  in  der  Therapie  der  chroni¬ 
schen  Obstipation  und  besonders  des  paralytischen  Ileus  bedeutet. 

- —  (Münchener  med.  Wochenschr.  1911,  Nr.  17.)  G. 

* 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

534.  Ueber  die  apiastische  Form  der  perniziösen 
Anämie.  Von  A  c  c  o  1  a  s.  Die  Anämien  sind  durch  Abnahme  der 
Erythrozytenzahl  und  des  Hämoglobins  mit  oder  ohne  Modifikationen 
der  anderen  Blutelemente  charakterisiert ;  je  nach  der  Schwere  der 
Affektion  unterscheidet  man  einfache  und  perniziöse  Anämien.  Bei 
perniziöser  Anämie  beträgt  die  Erythrozytenzahl  unter  zwei  Millionen 
pro  Kubikmillimeter  und  man  unterscheidet  je  nach  der  Reaktionsform 
des  Knochenmarkes,  des  wichtigsten  blutbildenden  Organes,  orthopla- 
stische,  bzw.  normoblastische,  metaplastische,  bzw.  megaloblastische 
und  apiastische,  bzw.  aregenerative  Anämien.  Die  apiastische  Form 
ist  durch  das  Fehlen  von  Regenerationsvorgängen  im  Blut  und  im 
Knochenmark  charakterisiert.  Bei  einer  Gruppe  dieser  Fälle  findet 
man  diffuse  myeloide  Hyperplasie  des  Knochenmarkes,  bzw.  In¬ 
vasion  von  Lymphozyten,  doch  können  diese  Fälle  nicht  als  echte 
apiastische  Anämie  bezeichnet  werden.  Die  zweite  Gruppe  ist  durch 
Hautblutungen,  bzw.  Neigung  zu  Ilämorrhagien,  ähnlich  wie  bei 
Hämophilie  charakterisiert.  In  der  Aetiologie  dieser  Gruppe  findet 
man  ungünstige  Lebensverhältnisse,  vorangegangene  Infektionskrank¬ 
heiten,  wie  Pneumonie,  Dysenterie,  Malaria,  ferner  hereditär 


Syphilis  und  kongenitale  Schwächezustände  erwähnt.  Bei  einer  dritten 
Gruppe  ist  die  fehlende  Tätigkeit  des  Knochenmarkes  allein 
charakteristisch  und  eine  Ursache  der  Anämie  nicht  nachweisbar. 
Die  Diffentialdiagnose  gegenüber  Chlorose,  Anaemia  pseudoleucaemica 
infantum  und  anderen  Formen  einfacher  Anämie  bietet  keine 
Schwierigkeit.  Die  Diagnose  stützt  sich  auf  die  makroskopische  und 
mikroskopische  Untersuchung  des  Markes  der  Röhrenknochen  und 
der  flachen  Knochen.  Ein  Verdacht  auf  apiastische  Anämie  ist  ge¬ 
geben,  wenn  nach  vorausgegangenem  hämorrhagischen  Zustand  sich 
eine  hochgradige  Anämie  mit  Erythrozytenzahl  unter  einer  Million 
und  Fehlen  abnormer  Zellelemente,  insbesonders  kernhaltiger 
Erythrozyten  entwickelt,  Leukopenie  mit  relativer  Lymphozytose 
besteht,  das  Blutgerinnsel  keine  Retraktion  zeigt  und  die  Erkrankung 
ausgesprochen  progressiven  Charakter  zeigt.  Die  Prognose  der 
apiastischen  Anämie  ist  absolut  infaust,  die  Therapie  vollkommen 
machtlos.  —  (Gaz.  des  höp.  1911,  Nr.  26.)  a.  e. 

* 

535.  Ueber  die  Behandlung  der  Lungenschwind¬ 
sucht  mit  den  Gesamtextrakten  der  Leber.  Von 
H.  P  armen  tier.  Die  Behandlung  besteht  in  der  subkutanen 
Injektion  eines  aus  dem  Leberparenchym  und  der  Galle  gewonnenen 
Extraktes,  welches  in  einem  Gemenge  von  verschiedenen  Oelen  ge¬ 
löst,  in  Ampullen  von  2  cm3  gefüllt  und  sterilisiert  wird.  Die  In¬ 
jektionen  werden  täglich  oder  jeden  zweiten  Tag  in  das  Unterhaut¬ 
zellgewebe  der  Gesäßgegend  appliziert.  Zur  Gewinnung  des  Extraktes 
sind  die  Organe  von  Rindern  zu  verwenden.  Versuche  mit  Cholesterin, 
Cholesterin  und  Lezithin,  Gallenextrakt  und  dem  als  Cholergin  be- 
zeichneten  Totalextrakt  der  Leber  haben  ergeben,  daß  die  therapeu¬ 
tische  Wirkung  um  so  besser  ist,  je  mehr  die  Zusammensetzung  sich 
dem  Gesamtextrakt  nähert.  Zur  Behandlung  sind  Fälle  von  Bron¬ 
chitis,  Vorstadium  der  Tuberkulose  und  heilbarer  manifester  Tuber¬ 
kulose  geeignet,  wobei  in  der  Regel  sich  die  Besserung  nach  30  In¬ 
jektionen  zeigt.  Zunächst  erfolgt  Gewichtszunahme,  deren  Ausbleiben 
prognostisch  ungünstig  aufzufassen  ist,  dann  Abnahme  der  Nacht- 
schweisse,  schließlich  Abnahme  oder  vollständiges  Verschwinden 
der  Tuberkelbazillen.  Kontraindikationen  konnten  bisher  nicht  fest¬ 
gestellt  werden.  Besonders  günstig  wird  die  Hämoptoe  beeinflußt, 
weil  bestimmten  Lipoiden  der  Leber  eine  die  Hämolyse  hemmende 
und  gerinnungsbefördernde  Wirkung  zukommt.  Die  Injektionen 
können  auch  bei  fiebernden  Patienten  angewendet  werden.  In  einem 
Fall  von  Hodentuberkulose  mit  Fistelbildung  wurde  ein  bemerkens¬ 
werter  Erfolg  erzielt.  Versuche  bei  verschiedenen  Infektionen  und 
Intoxikationen,  z.  B.  Gastroenteritis  des  Säuglingsalters,  Leber¬ 
insuffizienz  etc.  haben  Resultate  ergeben,  welche  für  eine  be¬ 
merkenswerte,  antitoxische  und  bakterizide  Wirkung  der  Leber¬ 
extrakte  sprechen.  —  (Bull.  gen.  de  Ther.  1911,  Nr.  6.)  a.  e. 

♦ 

536.  Ueber  den  Wert  des  d’Espineschen  Zeichen 
für  die  Diagnose  der  Tracheobronchialdrüsen- 
tuberkulöse  bei  Erwachsenen.  Von  M.  Roch- Genf.  Das 
d’Espinesche  Zeichen  besteht  in  verstärktem  Fremitus  und 
bronchophonischem  Klang  der  über  der  Wirbelsäule  auskultierten 
Stimme,  insbesondere  der  Flüsterstimme.  Die  Mediastinaldrüsentuber- 
kulose  kommt  nicht  nur  im  Kindesalter,  wo  sie  nicht  selten  ohne 
begleitende  tuberkulöse  Lungenaffektion  besteht,  sondern  auch  relativ 
häufig  bei  Erwachsenen  vor  und  ist  hierin  der  Regel  mit  einer  tuberku¬ 
lösen  Erkrankung  der  Lunge  vergesellschaftet.  Für  die  Diagnose  der 
Mediastinaldrüsentuberkulose  sind  die  indirekten,  mit  Kompressions¬ 
und  Irritationsphänomenen  zusammenhängenden  und  die  direkten 
Symptome  —  Vorwölbung  am  Thorax,  charakteristische  Schatten 
im  Röntgenbild,  Dämpfung  bei  der  Perkussion  und  das  d’Espine¬ 
sche  Auskultationsphänomen  —  zu  unterscheiden.  Nachweisbare 
Thoraxdeformitäten  sind  namentlich  beim  Erwachsenen  selten,  Radio¬ 
skopie  und  Perkussion  geben  nicht  immer  eindeutige  Befunde.  Beim 
d'E  spine  sehen  Zeichen  ist  zwischen  verstärktem  Stimmfremitus  und 
bronchophonischem  Klang  zu  unterscheiden,  wovon  dem  ersleren  an 
sich  keine  pathologische  Bedeutung  zukommt.  Man  auskultiert  zu¬ 
nächst  Uber  den  unteren  Halswirbeln  und  dann  über  den  oberen 
Brustwirbeln,  wobei  man  die  Worte  trois  cent  trente-trois  möglichst 
deutlich  aussprechen  läßt.  Unter  normalen  Verhältnissen  hört  der 
bronchiale  Stimmklang  schon  am  Dornfortsatz  des  siebenten  Halswirbels 
auf,  wo  die  Lunge  beginnt,  während  bei  Bronchialdrüsentuberkulose 
die  Bronchophonie  weiter  nach  unten  bis  zum  vierten  oder  fünften 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


765 


Brustwirbel  sich  erstreckt.  Das  Stethoskop  dient  zur  Abgrenzung  der 
Bronchophonie,  bei  der  Auskultation  mit  dem  Ohr  ist  die  Broncho- 
phonio  und  der  verstärkte  Stimmfremitus  deutlicher  wahrnehmbar. 
Falls  die  Auskultation  der  lauten  Stimme  kein  eindeutiges  Resultat 
ergibt,  auskultiert  man  die  Flüsterstimme,  welche  bei  Bronchial¬ 
drüsentuberkulose  ein  dem  B  a  cc  e  1 1  i  sehen  Phänomen  analoges 
Verhalten  zeigt.  Das  d’E  spinesche  Phänomen  beruht  auf  Ueber- 
tragung  der  Luftwellen  im  Bronchialbaum  auf  die  Thoraxwand  durch 
Vermittlung  der  Lymphdrüsenpakete.  Der  Wert  des  d’Espine- 
schen  Symptoms  ist  von  verschiedenen  Seiten  bestätigt  worden 
u.  zw.  fast  ausschließlich  für  die  Broncbialdrüsentuberkulose  des 
Kindesalters.  Die  Untersuchungen  des  Verfassers  bei  Erwachsenen 
haben  in  mehr  als  30  Fällen  das  Vorhandensein  des  d’Espine- 
schen  Zeichens  ergeben.  Für  die  diagnostische  Verwertbarkeit  spricht 
die  Konstatierung  in  einem  Fall,  wo  nur  Bronchialdrüsentuberkulose 
ohne  begleitende  Lungentuberkulose  bestand,  das  in  einigen  Fällen 
konstatierte  Verschwinden  des  Phänomens  bei  Rückgang  der  Drüsen¬ 
schwellung  sowie  die  Kontrolle  durch  die  Röntgenuntersuchung.  Man 
auskultiert  den  sitzenden  Patienten  und  läßt  die  erwähnten  Probe¬ 
worte  zuerst  laut,  dann  mit  Flüsterstimme  sprechen  ;  als  pathologisch 
ist  beim  Erwachsenen  das  d’Espinesche  Phänomen  dann  zu  be¬ 
zeichnen,  wenn  es  noch  über  dem  Dornforlsatz  des  vierten  Brust¬ 
wirbels  und  noch  tiefer  nachweisbar  ist.  Als  Fehlerquellen,  welche 
das  Phänomen  gleichfalls  produzieren,  sind  Induration,  bzw.  Kavernen¬ 
bildung  im  Oberlappen,  sowie  pleuritisehe  Ergüsse  anzuführen,  wo¬ 
durch  jedoch  der  Wert  des  d’E  s  p  i  n  e  sehen  Zeichens  keine  wesent¬ 
liche  Beeinträchtigung  erleidet.  —  (Sem.  med.  1911,  Nr.  8.) 

a.  e. 

.  * 

537.  Zur  Behandlung  der  Aktinomykose  beim 
Menschen.  Von  Antonin  Poncet  und  Leon  Berard.  Ein 
spezifisches  Heilmittel  gegen  Aktinomykose  wurde  bisher  nicht  ge¬ 
funden  ;  eine  kurze  Zeit  hindurch  hat  das  Tuberkulin  Verwendung 
gefunden  und  auch  die  serotherapeutischen  Versuche  sind  nicht  über 
die  ersten  Anfänge  hinausgekommen.  Unter  den  empirisch  ange¬ 
wendeten  Mitteln  stehen  die  Jodpräparate,  insbesondere  das  Jod¬ 
kalium,  in  erster  Reihe,  wozu  in  den  letzten  Jahren  als  Unter- 
slützungs-  und  Ersatzmittel  die  Jod-  und  Quecksilberpräparate  ge¬ 
treten  sind.  In  einer  Anzahl  von  Fällen  wurde  eine  sehr  günstige 
Wirkung  durch  interne  Darreichung  von  Natrium  cacodylicum  er¬ 
zielt.  Auch  Photo-  und  Radiotherapie  wurden  bei  Aktinomykose 
angewendet  und  in  einem  Fall  nach  Röntgenbestrahlung  einer  Hals- 
aktinomykose  rapide  Verschlimmerung  beobachtet.  In  therapeutischer 
Hinsicht  sind  zwei  Formen  zu  unterscheiden,  u.  zw.  die  seltenere 
gutartige,  durch  Bildung  umschriebener  Knoten  ohne  Fistelbildung 
charakterisierte  Form  und  die  häufiger  vorkommende  infiltrierte  Form 
mit  Abszeß  und  Fistelbildung,  welche  namentlich  an  Hals  und  Ge¬ 
sicht  lokalisiert  ist.  Bei  der  gutartigen,  umschriebenen  Form  bilden 
die  Jodpräparate  eine  wichtige  Ergänzung  der  chirurgischen  Be¬ 
handlung,  die  in  Inzision,  Auskratzung  etc.  besteht.  Bei  der  diffus- 
infiltrierten,  mit  Abszeß-  und  Fistelbildung  verlaufenden  Form,  deren 
Diagnose  leicht  durch  den  bloßen  Anblick  zu  stellen  ist  und  durch 
den  Nachweis  der  gelben  Pilzkörner  gesichert  wird,  ist  eine  radikale 
Exstirpation  undurchführbar  und  die  reine  interne  Jod-  oder  Arsen¬ 
therapie  unzureichend.  In  diesen  Fällen  ist  eine  Kombination  chirur¬ 
gischer  Behandlung  —  Inzision,  Auskratzung,  Gltiheisen,  antisepti¬ 
scher  Injektionen  von  Sublimat,  Zinkchlorid,  Jodtinktur,  Jodi¬ 
nin  etc.  und  interner  Medikation  erforderlich.  Bei  der  chirurgischen 
Behandlung  sind  alle  Eingriffe  zu  vermeiden,  welche  zu  oberflächlich 
sind  und  deshalb  Eingangspforten  für  Sekundärinfektion  schaffen. 
Bei  Aktinomykose  innerer  Organe  sind  chirurgische  Eingriffe,  nament¬ 
lich  Inzision  und  Kurettement  der  Fisteln,  gefährlich,  weil  dadurch 
Sekundärinfektion  und  Metastasenbildung  gefördert  werden.  In  diesen 
Fällen  ist  die,  wenn  auch  nicht  oft  wirksame,  so  doch  gefahrlose 
Jod-  und  Arsentherapie  indiziert.  Die  Mortalität  der  Aktinomykose 
der  inneren  Organe  beträgt  je  nach  der  Lokalisation  40  bis  90%, 
wobei  die  Darmaktinomykose  die  prognostisch  güngstigste,  die  Aktino- 
inykose  des  Zentralnervensystems  die  prognostisch  ungünstigste  Form 
darstellt.  Unter  allen  bisher  gegen  Aktinomykose  vorgeschlagenen 
Mitteln  haben  sich  die  gleich  nach  Entdeckung  der  Erkrankung 
angewendeten  Mittel  am  besten  bewährt.  —  (Bull,  de  l’Acad.  de 
med.  1911,  Nr.  5.)  a.  e. 


Vermisehfce  Naehriehten. 

Ernannt:  Der  mit  dem  Titel  und  Charakter  eines  ordent¬ 
lichen  Universitätsprofessors  bekleidete  außerordentliche  Professor 
an  der  Universität  in  Wien,  Dr.  Josef  Schaffer,  zum  ordent¬ 
lichen  Professor  der  Histologie  und  Entwicklungsgeschichte  an 
der  Universität  in  Graz.  —  Dr.  med.  Leopold  Rei singer 
zum  außerordentlichen  Professor,  Vorstand  der  Lehrkanzel 
für  ambulatorische  und  buiatrische  Klinik,  Dr.  med.  Josef 
Schnürer  zum  außerordentlichen  Professor  und  Vorstand  der 
Lehrkanzel  für  bakteriologische  Hygiene  an  der  Tierärztlichen 
Hochschule  in  Wien.  —  Zu  L  an  d  es  s  ani  tä  ts  i  n  s  pek  to  re  n  die  Ober¬ 
bezirksärzte:  Dr.  Franz  Kohlgrub  er  in  Niederösterreich,  Doktor 
Rektor  W  o i ß  in  Tirol  und  Vorarlberg,  Dr.  Gottlieb  Reisingor 
in  Böhmen,  Dr.  Anton  Sine  ly  in  Mähren.  —  Dr.  Valdenmr, 
IJenriques  zum  Professor  der  Physiologie  in  Kopenhagen. 

* 

Dem  Landessanitätsreferenten  bei  der  Statthalterei  in  Wien, 
Hofrat  Dr.  August  Netolitzky,  wurde  anläßlich  der  erbetenen 
Uebernahme  in  den  dauernden  Ruhestand  der;  Ausdruck  der  Aller¬ 
höchsten  Anerkennung  für  seine  vieljährige  pflichttreue  und  er¬ 
sprießliche  Dienstleistung  bekanntgegeben. 

* 

Gestorben:  Generalarzt  Dr.  Albert  Villaret  in  Eisenach, 
bekannt  durch  die  Herausgabe  eines  „Handwörterbuches  der  prak¬ 
tischen  Medizin“.  —  Geh.  Med.-Rat  Dr.  Heinrich  Braun,  Pro¬ 
fessor  der  Chirurgie  in  Güttingen. 

* 

Die  k.  k.  österreichische  Gesellschaft  für  Erfor¬ 
schung  und  Bekämpfung  der  Krebskrankheit  veran¬ 
staltet  einen  Zyklus  von  Vorträgen,  deren  erster  am  Donnerstag, 
den  8.  Juni,  um  7  Uhr  abends,  im  Saale  der  k.  k.  Gesellschaft 
der  Aerzte  abgehalten  werden  wird.  Die  Herren  Professoren  an 
der  tierärztlichen  Hochschule  in  Wien,  Dr.  .  R.  Hartl  und 
Dr.  Th.  Schmidt,  werden  unter  Demonstration  einschlägiger 
Präparate  über  das  Vorkommen  der  bösartigen  Geschwülste  bei 
den  Haustieren  sprechen.  Die  Vorträge  sind  allen  Aerzten  zu¬ 
gänglich. 

* 

Der  VII.  in  ter  nati  on  ale  Tuberkulo  s  ek  o  ng  reß  Rom, 
findet  vom  24. — 29.  September  1911  statt.  Sitzungen  im  Chateau 
Saint  Ange.  23.  September,  9  Uhr  abends,  Empfang  der  Teilnehmer 
im  Chateau  Saint  Ange,  24.  September,  10  Uhr  vormittags,  feierliche 
Eröffnung  im  Großen  Amphitheater  Augusteum.  Vom  25.  ab  täglich 
9  bis  12  Uhr  vormittags  und  3  bitei  6  Uhr  nachmittags  Sitzungen 
der  Sektionen:  1.  Sozialer  Schutz  gegen  die  Tuberkulose; 

2.  a)  medizinische,  b)  chirurgische  Pathologie  und  Therapie; 

3.  Aetiologie  und  Epidemiologie.  Am  30.  September,  10  Uhr 
vormittags,  Schlußsitzung.  Die  Stadt  Rom  plant  einen  Empfang 
im  Kapitol.  An  noch  zu  bestimmenden  Tagen  werden  in  öffent¬ 
lichen  Versammlungen  allgemein  interessierende  wissenschaft¬ 
liche  xmd  soziale  Fragen  der  Tuberkulosebekämpfung  beraten 
werden.  Beitrag  25  Lire,  für  Angehörige  10  Lire.  Zuschriften 
an  das  Kongreßbureau,  Via  in  Lucina,  36,  Rom,  zu  richten  mit 
Angabe  der  Sektion  auf  den  Umschlägen,  für  die  sie  bestimmt 
sind.  —  Die  X.  internationale  Tuberkulosekonferenz 
der  internationalen  Vereinigungen  gegen  die  Tuberkulose  wird  am 
23.  September,  vor  Eröffnung  des  Kongresses,  unter  dem  Vorsitz 
von  Leon  Bourgeois,  im  Kongreßsaal  zusammentreten.  Ge¬ 
schäftsstelle  des  Deutschen  Komitees :  Berlin  Wa,  Königin 
Augustastraße  11. 

* 

Der  3.  Internationale  Kongreß  für  Wohnungs¬ 
hygiene  findet  bekanntlich  in  diesem  Jahre  gelegentlich  der 
Internationalen  Hygieneausstellung  u.  zw.  vom  2.  bis  7.  Ok¬ 
tober  in  Dresden  statt.  Nähere  Auskunft  über  dein  Kongreß 
erteilt  der  Generalsekretär,  Herr  Dr.  med.  IT  o  p  f  -  Dresden,  Reichs¬ 
straße  4. 

* 

Dienstag,  den  16.  Mai  1911  fand  eine  zahlreich  besuchte 
Plenarversammlung  der  Wiener  Aerztekammer  statt,  in  welcher 
zunächst  Erkenntnisse  des  Ehrenrates  publiziert  wurden.  Zwei 
derselben  bezogen  sich  auf  Zahnärzte,  welche  sich  zur  Anwer¬ 
bung  von  Patienten  eigener  Provisionsagenten  bedienen,  eines 
auf  den  Primararzt  eines  geistlichen  Spitales,  welcher  sich  den 
Titel  „Primararzt“  schon  zu  einer  Zeit  beilegte,  wo  er  als  solcher 
von  dem  betreffenden  Konvente  noch  nicht  ernannt  war,  vielmehr 
ein  anderer  Arzt  in  noch  ungekündigter  Stellung  das  Primariat 
innehatte.  Die  Aerztekammer  gab'  auf  Veranlassung  der  Statt- 
halteroi  ein  Gutachten  zu  dem  Anträge  des  niederösterreichischen 


766 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


Landessanitätsrates,  betreffend  die  Grundsätze  für  die  Regelung 
der  berufsmäßigen  Krankenpflege  dahin  ab,  daß  der  erwähnte 
Beruf  nach  Ansicht  der  Kammer  nur  für  diejenigen,  welche  ein 
auf  Grund  eines  in  v («'geschriebener  Weise  genossenen  Unter¬ 
richtes  erlangtes  Diplom  besitzen,  frei  sein,  für  Diplomlose  nur 
in  Epidemiezeit  frei  sein  solle.  Auf  Veranlassung  des  Geschäfts¬ 
ausschusses  der  österreichischen  Aerztekammem  sollte  die  Kam¬ 
mer  ein  Gutachten  über  einen  Antrag  der  Westgalizischen  Aerzte- 
kauimer  auf  dem  Brünner,  Aerztekammertage  über  spezifische  Heil¬ 
mittel  abgeben.  Das  von  Dr.  Grün  vertretene  Referat  gipfelt 
in  dem  Anträge,  eine  Zentralstelle  zur  Ueberprüfung  von  wissen¬ 
schaftlichen  Arbeiten  über  Heilmittel  zu  errichten,  um  auf  diesem 
W  ege  Mißbräuchen  bei  Ankündigungen  über  solche  Heilmittel 
entgegenzutreten.  Die  Beschlußfassung  über  dieses  Referat  wurde 
im  Hinblicke  auf  gewisse  Bedenken,  welche  gegen  den  Erfolg  der 
vorgeschlagenen  Maßregel  geltend  gemacht  wurden,  vertagt.  Auf 
Grund  eines  Referates  des  Dr.  Loewens’tein  wurde  festgesetzt, 
daß  jeder  Arzt  berechtigt  ist,  sich  für  eine  telephonische  Inan¬ 
spruchnahme  honorieren  zu  lassen.  —  Es  wurde  mit  Bezug 
auf  eine  in  der  Neuen  Freien  Presse  vom)  5.  März  1911  enthaltene 
Notiz,  derzufolge  Herr  Prof.  v.  Noorden  die  Patronanz  über 
ein  Rekonvaleszentenheim  in  Vöslau  übernommen  hat,  die  Richtig¬ 
stellung  des  Herrn  Prof.  v.  No  erden  mitgeteilt,  daß  er  dieser 
Angelegenheit  vollkommen  ferne  steht. 

* 

Betreff  der  Impfstoff abgabe  in  Wien  wird  Jolgendes 
bekannt  gemacht:  Die  exponierte  Lage  der  neuerbauten  k.  k. 
Impfstoffgewinnungsanstalt  im  XVI.  Bezirke,  Possingergasse  38 
und  Arltgasse  37,  erforderte  die  Errichtung  einer  zentral  gele¬ 
genen  Lyinpheabgabestelle  für  die  Bedürfnisse  der  Privatimpfungen. 
Die  Lympheabgabe  an  Privatparteien  erfolgt  von  jetzt  an  für 
den  Wiener  Polizeirayon  durch  die  k.  u.  k.  Hofapotheke,  Wien  L, 
Habsburgergasse  11.  Die  Bezugsbedingungen  und  Preise  bleiben 
unverändert. 

* 

Cholera.  Türkei.  Zu  den  bereits  ausgewiesenen  Cho¬ 
lerafällen  in  Smyrna  sind  am  30.  April  1,  am  6.  Mai  2  Neu¬ 
erkrankungen  zugewachsen,  von  denen  eine  tödlich  ausging.  Pro¬ 
venienzen  aus  Smyrna  unterliegen  gegenwärtig  einer  24stündigen 
Beobachtung,  sowie  der  vorschriftsmäßigen  Desinfekktion  in  einem 
türkischen  Lazarette,  eventuell  in  den  Sanitätsstationen  von 
Jaffa  oder  Rhodus.  —  Hawaii.  Am  12.  April  wurde  in  Hono¬ 
lulu  1,  am  15.  April  2  neue  Cholerafälle  gemeldet.  —  Arabien. 
Im  Militärspitale  zu  Hodeidah;  sowie  in  der  Umgebung  dieser 
Stadt  dauert  die  Choleraepidemie  an.  Unter  den  Truppen  in  Lith 
sind  5  Cholerafälle  konstatiert  worden,  von  denen  4  gestorben 
sind.  In  Maskat  (Sultanat  Oman)  wurden  vom  25.  März  bis 
8.  April  19  Choleraerkrankungen  gemeldet,  davon  14  mit  töd¬ 
lichem  Verlaufe. 

Pest.  Türkei,  ln  Bassorah  wurde  am  6.  Mai  ein  Pestfäll 
konstatiert.  Provenienzen  aus  diesem  Hafen  wurden  der  ärzt¬ 
lichen  Visite  unterworfen.  —  Arabien.  Seit  Ausbruch  der  Pest 
in  Djeddah  am  1Ü.  Dezember  1910  bis  8.  April  1911  wurden 
daselbst  33  Pestfälle,  darunter  30  mit  letalem  Ausgange,  fest¬ 
gestellt.  —  Formosa.  Auf  der  Insel  Formosa  wurden  129  Pest¬ 
fälle  sichergestellt.  —  N  ied  erhändisc  h- 1  ndi  en.  Die  Ge¬ 
samtzahl  der  vom  1.  Februar  bis  28.  April  im  Distrikt  Malang 
(Provinz  Pasoeroean)  auf  der  Insel  Java  vorgekommenen  Pest¬ 
fälle  beträgt  414,  von  denen  bisher  200  tödlich  endeten.  Vom 
29.  April  bis  4.  Mai  ereigneten  sich  in  der  Stadt  Pasoeroean  1, 
in  der  Stadt  Soerabaja  3  Pesterkrankungen ;  vom  5.  bis 
11.  Mai  sind  auf  Java  176  weitere  Pestfälle  gemeldet 
worden,  wovon  125  starben,  8  davon  waren  Pestpneumonien. 
—  Britisch-Indijen.  Im  Hindostan  ereigneten  sich  in  der 
Zeit  vom  26.  Februar  bis  18.  März  1911  in  der  ersten  Woche 
34.524  (28.113),  in  der  zweiten  Woche  36.101  (31.054),  in  der 
dritten  Woche  38.498  (32.975)  Pesterkrankungen  (Todesfälle). 

* 

Dr.  Erwin  Stransky,  Privatdozent  an  der  k.  k.  Universität, 
Landeisgerichtspsychiater,  wohnt  Wien  V1II/1,  Mölkergasse  3, 
Telephon  4719  II. 


Freie  Stellen. 

In  der  Brünner  Landesgebär  anstalt  gelangt  mit  1.  Juli 
1911  eine  Sekundararztesstelle  mit  der  Remuneration  jährlicher 
1920  K,  welche  nach  einem  Jahre  auf  2120  K,  nach  zwei  Jahren  auf 
2320  K  und  nach  drei  Jahren  auf  2520  K  steigt,  nebst  Naturalwohnung 
mit  Beleuchtung  und  Beheizung,  dann  der  Kost  nach  der  I.  Klasse  zur 
Besetzung.  Bewerber  um  diese  Stelle,  welche  österreichische  Staatsbürger, 
Doktoren  der  gesamten  Heilkunde  und  beider  Landessprachen  mächtig 
sein  müssen,  haben  ihre  gehörig  dokumentierten  und  an  den  Landes¬ 


ausschuß  gerichteten  Gesuche  längstens  bis  31.  Mai  1911  bei  der  Di¬ 
rektion  der  genannten  Anstalt  einzubringen.  Unter  sonst  gleich  qualifi¬ 
zierten  Bewerbern  erhalten  solche  den  Vorzug,  welche  Kenntnisse  im 
Spezialfach  der  Geburtshilfe  und  Gynäkologie  nachweisen.  Die  Dienstzeit 
ist  bei  einer  beiden  Seiten  zustehenden  vierwöchigen  Kündigung  auf  zwei 
Jahre  festgesetzt  und  kann  bei  zufriedenstellender  Dienstleistung  um  ein 
oder  zwei  Jahre  verlängert  werden. 

Gemeindearztesstelle  der  Sanitätsgemeindegruppe  St.  An  to  n- 
a.  d.  Jeßnitz -Puchenstuben,  Bezirkshauptmannschaft  Scheibbs  (Nieder¬ 
österreich),  mit  dem  Wohnsitze  des  Arztes  in  St.  Anton  (St.  Anton  a.  d. 
Jeßnitz  mit  1505,  Puchenstuben  mit  803  Einwohnern).  Bezüge  für  St.  Anton: 
eine  Landessubvention  von  1600  K,  Sanitätsbeitrag  der  Gemeinde  St.  Anton 
330  K;  Puchenstuben:  Landessubvention  400  K,  Sanitätsbeitrag  60, K: 
Bezüge  der  Bezirkskrankenkasse  St.  Pölten  nach  Vereinbarung.  Haltung 
einer  Hausapotheke  erforderlich.  Bewerber  um  diese  Stelle  haben  ihre 
vorschriftsmäßig  belegten  Gesuche  bis  15.  Juni  1911  beim  Bürgermeister 
und  Obmann  der  Sanitätsgemeindegruppe  Alois  R  e  i  n  e  1 1  in  St.  Anton 
a.  d.  Jeßnitz  einzureichen,  der  Uber  weitere  Anfragen  Auskunft  erteilt. 

Gemeindearztesstelle  der  Sanitätsgemeindegruppe  S t r a- 
ning  (Niederösterreich),  bestehend  aus  den  Gemeinden  Straning  und 
Etzmannsdorf  bei  Straning.  Sanit.ätsbeiträge  der  Gemeinden  jährlich  500  K. 
Landesbeitrag  800  K,  zusammen  1300  K.  Der  Gemeindearzt  ist  zur 
Führung  einer  Hausapotheke  berechtigt.  Ordnungsmäßig  belegte  Gesucht; 
sind  bis  längstens  1.  Juli  1.  J.  an  die  Gemeindevorstehung  Straning  oder 
an  die  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  Horn  einzusenden,  woselbst  auch 
nähere  Auskünfte  erteilt  werden. 

An  der  k.  k.  allgemeinen  Lebensmitteluntersuchungs¬ 
anstalt  in  Innsbruck  gelangt  eine  Assistentenstelle  mit 
den  systemmäßigen  Bezügen  der  X.  Rangsklasse  zur  Besetzung.  Gesuche 
um  Verleihung  dieser  Stelle  sind  bis  längstens  15.  Juni  1911  beim 
k.  k.  Ministerium  des  Innern  einzubringen.  Bewerber,  welche  bereits  im 
Staatsdienste  stehen,  haben  ihre  Gesuche  im  vorgeschriebenen  Dienstweg 
vorzulegen.  Die  Gesuche  sind  zu  belegen  mit:  1.  dem  Geburtsscheine, 
2.  einem  staatsärztlich  bestätigten  Gesundheitszeugnisse,  3.  dem  Nachweis 
der  mit  der  Ministerialverordnung  vom  10.  Oktober  1910,  R.-G.-Bl.  Nr.  184. 
vorgeschriebenen  Befähigung  für  den  fachtechnischen  Dienst  an  einer 
allgemeinen  staatlichen  Lebensmitteluntersuchungsanstalt.  Bewerber, 
welche  nicht  als  definitiv  angestellte  Beamte  im  Staatsdienst  stehen,  haben 
überdies  den  Nachweis  der  österreichischen  Staatsbürgerschaft  beizu¬ 
bringen. 

Gemeindearztes  stelle  für  den  Sanitätssprengel  M  ü  h  1- 
b  a  c  h  (Tirol),  umfassend  die  Gemeinden  Mühlbach,  Rodeneck,  Spinges. 
Vals,  Meransen,  Niedervintl,  Weitenthal  und  Pfunders  mit  dem  Wohnsitz 
des  Arztes  in  Mühlbach  (Bezirk  Brixen).  Die  Bezüge  des  Gemeindearztes 
betragen  1200  K  und  ist  zur  eventuellen  Erhöhung  dieser  Bezüge  ein 
Gesuch  nach  §  13  an  den  hohen  Landesausschuß  eingereicht  worden. 
Außerdem  ist  die  Haltung  einer  Hausapotheke  vorgeschrieben.  Der  Dienst 
ist  im  Sinne  der  geltenden  Vorschriften  für  Gemeindeärzte  zu  versehen. 
Doktoren  der  gesamten  Heilkunde,  deutscher  Nationalität  und  katholischer 
Konfession,  wollen  ihre  Gesuche  bis  1.  Juni  1911  dem  Obmann  des 
Sanitätssprengels,  Johann  Pichler  in  Niedervintl,  welcher  auch  die 
näheren  Auskünfte  erteilt,  übersenden. 

In  dem  neu  erbauten,  modern  ausgestatteten  Allgemeinen 
öffentlichen  Krankenhause  in  Scheibbs  (Niederösterreich) 
kommt  ab  1.  Juli  1911  die  Stelle  eines  Hilfsarztes  zur  Besetzung. 
.Mil  dieser  Stelle  ist  ein  Jahresgehalt  von  1600  K,  freie  Wohnung  (zwei 
Zimmer),  vollständig  freie  Verpflegung,  Licht  und  Beheizung  im  Anstalts¬ 
gebäude  verbunden.  Anträge  sind  unter  Nachweis  der  österreichischen 
Staatsbürgerschaft  bis  15.  J  uni  1911  bei  der  Gemeindevorstehung  Scheibbs 
zu  überreichen.  Bewerber  mit  zahnärztlicher  Ausbildung  können  auf  ein 
schönes  Nebeneinkommen  rechnen.  Auskünfte  erteilt  Primararzt  Dr.  Birn¬ 
bach  er.  .[ 

Im  Rudolfinerhause  in  W  i  e  n  XIX  (chirurgisches  Spital) 
sind  zwei  Sekundararztesstellen  u.  zw.  die  eine  vom  1.  Juli, 
die  andere  vom  1.  September  1911  an  zu  besetzen.  Diese  Stellen  sind 
mit  freier  Station  und  einem  Gehalt  von  200  K  monatlich  verbunden. 
Bewerber  wollen  sich  bis  längstens  15.  Juni  1911,  vormittags  zwischen 
9  und  12  Uhr,  im  Rudolfinerhause,  XIX.,  Billrothstraße  78,  vorstellen. 

Die  Gemeindearztesstelle  für  die  Sanitätsgemeindegruppe 
Orth  a.  d.  Donau,  politischer  Bezirk  Floridsdorf  Umgebung  (Nieder¬ 
österreich),  mit  dem  Wohnsitz  des  Arztes  in  Orth  a.  d.  Donau,  ist  infolge 
anderwärtiger  Bestellung  des  bisherigen  Gemeindearztes  bis  1.  Juli  1911 
zu  besetzen.  Die  Sanitätsgemeindengruppe  umfaßt  sieben  Gemeinden  mit 
2896  Einwohnern.  Die  von  den  beteiligten  Gemeinden  zu  leistenden  Bei¬ 
träge  belaufen  sich  jährlich  auf  730  K  und  die  aus  dem  niederösterrei¬ 
chischen  Landesfonds  geleistete  Subvention  hat  600  K  betragen.  Dem 
Gemeindearzt  wird  überdies  seitens  der  Gemeinde  Orth  ein  eigenes  Haus 
ohne  Mietzins  zur  freien  und  uneingeschränkten  Benützung  als  Dienst¬ 
wohnung  überlassen.  Die  Haltung  einer  Hausapotheke  wird  zur  Pflicht 
gemacht.  Die  mit  dem  Diplom,  dem  Tauf-  (Geburtschein),  dem  Nachweis 
der  österreichischen  Staatsbürgerschaft,  dem  Sittenzeugnisse,  einem  amts¬ 
ärztlichen  Gesundheits-,  bzw.  Tauglichkeitszeugnisse  sowie  mit  den  Nach¬ 
weisungen  über  die  bisherige  ärztliche  Tätigkeit  ordnungsgemäß  in¬ 
struierten,  an  den  niederösterreichischen  Landesausschuß  zu  richtenden 
Gesuche  sind  bis  längstens  30.  Juni  1911  an  das  Bürgermeisteramt  in 
Orth  a.  d.  Donau  zu  richten,  welch  letzteres  auch  zur  Erteilung  von  etwa 
gewünschten  Auskünften  bereit  ist.  Bewerber  mit  mehrjähriger  Spitals¬ 
praxis  werden  bevorzugt. 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


767 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 


Offizielles  Prolokoll  (1er  k.  k.  Gesellschaft  <ler  Aerzte  in  Wien. 
Sitzung  vom  19.  Mai  1911. 

Verein  (1er  Aerzte  in  Oherösterreicli.  Sitzung  am  6.  April  1911. 


28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin. 

40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  19.  Mai  1911. 

Vorsitzender:  Prof.  Dr.  Ernst  Wertheim. 

Schriftführer:  Priv.-Doz.  Dr.  Heinrich  Reichel. 

Der  Vorsitzende,  Prof.  Dr.  E.  Wertheim,  dankt  der  Gesell¬ 
schaft  für  die  Ehre,  die  ihm  durch  die  Wahl  zum  Vorsitzenden 
zuteil  wurde. 

Dr.  Martin  Haudek:  Meine  Herren!  Ich  erlaube  mir,  Ihnen 
heute  über  einige  Beobachtungen  zu  berichten,  welche  ich  in 
den  letzten  anderthalb  Jahren  am  Röntgeninstitute  des  Herrn 
Priv.-Doz.  Holzkneclit  im  Allgenuinen  Krankenhause  bei  ju¬ 
gendlichen  Individuen  gemacht  habe,  die  zur  Untersuchung  wegen 
Verdacht  aid  Gelenkstungus  zugewiesen  wurden.  Die  letztgenannte 
Diagnose  gilt  klinisch  nicht  als  leicht;  die  Anamnese  leistet  Lei 
Kindern  inlolge  der  wenig  verläßlichen  Angaben  nicht  viel.  Weich¬ 
teilschwellungen  im  Bereiche  der  Gelenke  können  vielfache  andere 
Ursachen,  haben,  als  die  genannte.  Noch  schlechter  steht  es 
mit  der  Diagnose  „Fungus“  im  Röntgenbilde.  Skelettveränderungen 
fehlen  zumeist  gänzlich,  nach  längerem  Bestände  des  Leidens 
kann  gelegentlich  eine  ossifizierende  Periostitis  oder  geringe 
Strukturatrophie  dlas  Leiden  erkennen  lassen.  Die  Bilder,  die 
ich  Ihnen  nun  zeige,  weisen  folgende  Eigentümlichkeiten  auf: 
Auf  der  erkrankten  Seite  sehen  Sie  bei  einzelnen  Bildern  mehr 
Knochenkerne  entwickelt  als  auf  der  gesunden  Seite,  auf  anderen 
die  Zahl  der  Knochenkerne  wohl  beiderseits  gleich,  doch  auf  der 
erkrankten  Seite  die  Knochenkerne  größer.  Es  handelt  sich  also 
jedesmal  darum,  daß  sich  die  Knochen  des  erkrankten  Gelenkes 
in  einem  vorgeschrittenen  Entwicklungsstadium  befinden,  ihr 
Verkalkungszustand  dem  eines  Kindes  entspricht,  das  um  mehrere 
■Iahte  älter  wäre.  Schließlich  finden  sich  bei  Individuen  in  der 
Pubertät  vorzeitige  Verschmelzungen  der  Epiphysen  fugen,  also 
auch  hier  wieder  ein  Vorauseilen  der  Entwicklung  um  Jahre. 
Venn  ich  auch  meine  Beobachtungen  an  einem  relativ  spär¬ 
lichen  Materiale  —  dem  Hol  z  k  n  ech t sehen  Röntgeninstitute 
werden  nur  wenige  erkrankte  Kinder  zugewiesen  gemacht  habe, 
so  erfolgten  sie  doch  in  einem  so  hohen  Prozentsatz  bei  fun- 
aösen  Erkrankungen,  daß  ich  eine  gewisse  Regelmäßigkeit  des 
Hofundes  konstatieren  kann.  Es  scheint  tatsächlich  so  zu  sein, 
laß  der  fungöse  Prozeß  auf  die  im  Entwicklungsstadium  befind¬ 
lichen  Knochen  der  erkrankten  Region  einen  entwicklungsbeför- 
lornden  Einfluß  ausübt.  Um  zufällige  Befunde  kann  es  sich 
! hier  nicht  handeln,  denn  vergleichende  Untersuchungen  an  den 
gesunden  Extremitäten,  also  etwa  an  den  Fußwurzeln,  bei  Kin- 
lern  mit  Handgelenksfungus  ergaben  normales  Verhalten  und 
sprechen  dagegen,  daß  es  sieh  bei  diesen  Kindern  um  Anoma¬ 
lien  handle.  Die  Literatur  verzeichnet  ähnliche  Beobachtungen 
hei  Fungus  nicht  und  meine  heutige  Demonstration  bezweckt 
n  erster  Linie,  die  Aufmerksamkeit  auf  diese  interessante  Tät- 
-arhe  zu  lenken  und  Veranlassung  dazu  zu  geben,  'laß  an  Kinder- 
'pitälern,  denen  reichliches  Material  zur  Verfügung  steht,  durch 
''eitere  Röntgenuntersuchungen  festgestellt  werde,  wie  weit  die 
liagnostische  Verwertbarkeit  des  von  mir  zuerst  erhobenen  Re 
uhdes  reicht.  Als  Ursache  für  den  entwicklungsreizendeu  Ein- 
iuß  der.  Erkrankung  müßte  wohl  in  erster  Linie  an  die  mit  dem 
Prozeß  verbundene  Hyperämie  gedacht  werden. 

Prof.  Riehl:  Bei  der  73jährigen  Patientin,  die  stets  gesund 
'(’wesen  war,  ist  vor  drei  Jahren  über  der  rechten  Skapula  eine 
schmerzhafte  Geschwulst  aufgetreten,  welche  im  Februar  1909 
»perativ  entfernt  worden  ist.  Bald  nach  der  Operation  begann 
icv  Tumor  neuerdings  sich  zu  entwickeln;  im  November  1910  ' 
rat  Ulzeration  des  Knotens  auf  mit  folgender  rascherer  Größen 
mnahme,  so  daß  er  im  Februar  dieses  Jahres  sich  bis  in  die  j 
Vchselhöble  erstreckte.  Im  Arm  auftretende  Schmerzen  voran-  j 
jlaßten  d  ie  Patientin,  sich  Ende  April  an  meine  Klinik  aufnehmen  ' 
ui  lassen. 

Befund  der  inneren  Organe  und  des  Blutes  zeigten  normale 
Verhältnisse.  Das  Aussehen  des  Tumors  kurz  nach  der  Aufnahme 
yird  nach  einem  Autochrombilde  demonstriert.  Es  besteht  eine 
«eschwuls1,  die  vom  Akromion  über  das  Schulterblatt  sich  in  die 


Achselhöhle  erstreckt,  mehr  als  männerhandgroß  erscheint  und 
3  bis  4  cm  über  das  Niveau  vorragt.  An  den  unteren  Partien 
sind  die  Grenzen  der  Geschwulst  nicht  deutlich  determiniert, 
weil  dort  Oedom  der  Haut  besteht,  an  den  oberen  Anteilen  mar¬ 
kieren  sich  die  ziemlich  steil  ansteigenden  Ränder  der  braun-, 
nahezu  kupferroten  Geschwulst  scharf  von  der  Umgebung  ab. 
Die  obere  Kuppe  des  I  umors  trägt  eine  10  cm  im  Durchmesser 
haltende  Ulzeration  mit  unregelmäßigem  höckerigen  Grunde  und 
eitrig-nekrotischem  Belag.  Der  untere  Pol  des  Tumors  setzt  sich 
unter  der  Axilla  auf  die  Haut  der  rechten  Mamma  bis  über  den 
Warzenhof  in  Gestalt  eines  ungefähr  3  cm  breiten,  derb  infil¬ 
trierten  Streifens  fort,  über  welchem  die  Haut  keine  Farbver¬ 
änderung  zeigt.  Die  Lymphdrüseu  der  Achselhöhle  sind  zu  einem 
über  kindsfaustgroßen  Paket  intumesziert,  die  Drüsen  an  der 
rechten  Halsseite  über  der  Klavikula  kleinapfelgroß  geschwollen. 
An  der  linken  Halsseite  erscheinen  die  Lymphdrüseu  gleichfalls 
höhnen-  bis  kastaniengroß,  die  Inguinaldrüsen  sind  vergrößert  und 
leicht  induriert.  Der  rechte  Arm  ist  in  toto,  die  Hand  ziemlich 
bedeutend  ödematös.  Links  von  den  Domfortsätzein  in  der  Höhe 
des  oberen  Skapularrandes  findet  sich  eine  Gruppe  von  klein¬ 
linsen-  bis  über  erbsengroßen,  ein  wenig  vorragenden,  braun¬ 
roten  Geschwülsten,  deren  Oberfläche  glatt  ist. 

Die  Patientin  wurde  Ende  April  einer  Röntgenbestrahlung 
unterzogen  und  heute  erscheint  die  Geschwulst  etwas  abgeflacht, 
das  Geschwür  in  eine  granulierende  Fläche  verwandelt. 

Unsere  Diagnose  lautet:  Mykosis  fungoides  d’embiee.  Es 
ist  dies  jene  Form  der  seltenen  Krankheit  Mykosis  fungoides, 
welche  ohne  Vorausgehen  der  bei  der1  gewöhnlichen  Form  zu 
beobachtenden  Exantheme  (prämykotische  Exantheme)  auf  an¬ 
scheinend  gesunder  Haut  Tumoren  erzeugt,  die  oft  lange  Zeit 
nur  auf  begrenzte  Regionen  beschränkt  bleiben,  im  übrigen  aber 
die  Eigenschaften  der  mykosiden  Tumoren  zeigen,  vor  allem 
die.  spontane  oder  durch  Therapie  v'eranlaßte  Rückbildungs 
fähigkeit. 

Unser  Wissen  über  die  Mykosis  fungoides  ist  bezüglich  der 
Aetiologie  bekanntlich  noch  völlig  unzureichend  und  selbst  über 
die  klinischen  und  anatomischen  Befunde  sind  die  Ansichten 
der  Autoren  noch  weit  auseinandergehend.  Ganz  besonders  gilt 
letzteres  für  die  Form  der  Mykosis  d’embiee,  welche  von  man 
oben  Autoren  überhaupt  nicht  anerkannt,  sondern  als  Sarkomatosis 
aufgefaßt  wird.  Auch  Pal  tauf,  dem  wir  die  ausgezeichnete 
erschöpfende  Studie  über  diese  Krankheit  verdanken,  neigt  zu  der 
Ansicht,  daß  namentlich  jene  Fälle  der  Mykosis  fungoides  d’em- 
hlee,  welche,  rasch  verlaufend,  sich  auf  tiefer  liegende1  G e webs¬ 
schic,  hi  en,  Muskel  und  Periost  erstrecken,  der  Sarkomatosis  zu¬ 
zuzählen  seien. 

Die  Beobachtung,  daß  auch  hei  diesen  Formen  im  wei¬ 
teren  Verlaute  die  sonst  prämykotischen  Erscheinungen  nachträg¬ 
lich  generalisiert  Vorkommen,  daß  auch  die  Tumoren  der  My¬ 
kosis  fungoides  d’embiee  spontaner  und  therapeutischer  Rück¬ 
bildung  fähig  sind,  veranlaßt  die  meisten  Kliniker,  diese  Er¬ 
krankung  der  Mykosis  fungoides  zuzuzählen.  Vor  wenigen  Tagen 
ist  ein  Patient  meiner  Klinik  zur  Obduktion  gekommen,  den  wir 
jahrelang  beobachten  konnten;  er  war  jahrelang  an  intensiv 
juckenden  ekzemähnlichen  Plaques  erkrankt,  in  welchen  sich 
späterhin  Infiltrationen  von  braunroter  Färbe  zeigten  und  typi¬ 
sche  Mykosistumoren  entstanden.  Unter  dem  Einflüsse  von 
Röntgenbestrahlung  und  Arsentherapie  schwanden  Tumoren  und 
Infiltrate  und  es  entwickelte  sich  eine  über  den  ganzen  Körper 
ausgebreitete  Erythrodermie  mit  zeitweise  stark  schuppender  Ober¬ 
fläche,  abwechselnd  hellroter  und  leicht  zyanotischer  Färbung 
mit  mäßiger  Verdickung  der  Haut  und  Faltenbildung.  Dieser  Zu¬ 
stand  bestand  monatelang;  bei  der  Obduktion  wurde  keine  Spur 
von  Knotenbildung  nachgewiesen.  -  Bei  unserem  Falle,  in  dem 
dre  Knoten  auf  vorher  gesunder  Haut  auf  getreten  sind,  finden  wir 
an  der  Mamma  sklerodermieähnliche  Kutisinfiltrationem,  wie  sie 
schon  des  öfteren  als  prämykotische  Erscheinungen  beschrieben 
worden  sind.  Die  auffallend  rasche  Reinigung  des  großen  Ulkus 
sowie  die  bedeutende  Voluinsvejmindenmg  des  Tumors  zirka,  zwei 
Wochen  nach  der  Bestrahlung  sprechen  für  die  klinische  Diagnose 
Mykosis  fungoides  d’crpblee,  wogegen  allerdings  die  ausgebreitete 


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und  intensive  Drüsenaffektion  im  Sinne  der  Sarkomatosis  zu 
deuten  wäre,  falls  man  sie  nicht  als  eine  sekundäre  Erscheinung 
der  ausgehreiteten  Ulzeration  auf  fassen  wollte. 

Immerhin  möchte  ich  den  Fall  jener  Gruppe  von  Mykosis 
fuugoides  zuzählen,  für  welche  Pal  tauf  als  Endausgang  Sar¬ 
komatosis  annimmt. 

lieber  den  demonstrierten  Fäll  wird  später  ausführlich  be¬ 
richtet  werden. 

Diskussion:  Hofrat  Prof.  Pr.  Pal  tauf  betont,  daß  er  seiner¬ 
zeit  solche  Fälle  nur  insofern  als  Mykosis  fungoides  in  Zweifel 
gezogen  habe,  als  die  sonst  prämykotischen  Symptome  nicht 
noch  nachträglich  auftreten.  Es  wurden  damals  sicher  zahlreiche 
Sarkome  zur  Mykosis  gerechnet ;  diese  Fälle  hatten  malignen  Cha¬ 
rakter:  Metastasenbildung  und  Durchwachsung  der  Gewebe,  was 
bei  echter  Mykosis  eben  nicht  vorkommt,  außer,  wenn  die  Er¬ 
krankung  später  in  Sarkom  übergeht.  Kundrat  obduzierte  einen 
solchen  Fall,  wo  nach  achtjähriger  Mykosis  ein  durch  die  Brust- 
wand  gewachsener  sarkomatöser  Tumor  zu  finden  war. 

Dr.  Leopold  Arzt:  Demonstration  einer  Mißbildung  des 
Geschlechtsappparates  bei  einem  Individuum  mit 
sekund  ä  r  e  n  m  ä  n  n  1  i  c  h  e  n  G  e  s  c  h  1  e  c  h  t  s:  c  h  a  r  a  k  t  ei  r  e  n. 
(Wird  ausführlich  publiziert.) 

Primararzt  Priv.-Doz.  Dr.  Robert  Breuer:  Schlußwort 
in  der  Diskussion  zu  dem  Vortrage  vom  12.  Mai  1911:  Klini¬ 
sche  Beobachtungen  an  Herzkranken. 

Meine  Herren!  Die  Diskussion  über  meinen  Vortrag  am 
letzten  Freitag  endete  so  spät,  daß  ich  um  die  Erlaubnis  gebeten 
habe,  meine  Schlußbemerkungen  heute  Vorbringen  zu  dürfen. 
Ich  will  von  dieser  Erlaubnis  einen  möglichst  bescheidenen  Ge¬ 
brauch  machen  und  will  mich  kurz  fassen,  um  die  Herren  nicht 
zu  lange  aufzuhalten. 

Der  eine  Punkt  in  meinem  Vorträge,  zu  dem’1  sich  einige 
Herren  geäußert  haben,  war  das  Vorkommen  des  Cheyne- 
Stokes sehen  Atmens  bei  Herzkranken.  Ich  hatte  davon  ge¬ 
sprochen,  daß  dieser  Atemtypus  bei  Herzkranken  ein  sehr  häufiger 
sei,  bei  manchen  durch  Monate,  ja  Jahre  beobachtet  werden  könne 
und  nicht  selten  zu  intensiver  schwerer  Qual  für  die  Patienten 
werde.  Ich  hatte  darüber  berichtet,  daß,  während  ich  andere 
medikamentöse  Maßnahmen  ohne  viel  Nutzen  versucht  hätte, 
in  einem  Großteil  der  Fälle  Sauerstoffinhalationen  das 
Cheyne-Stokes 'sehe  Atmen  zum  V erschwinden  gebrach Chatten . 
Auf  eine  Diskussion  der  Ursachen,  aus  denen  beim  Herzkranken 
C  h e-y  ne- S  t ok  essches  Atmen  auftritt,  habe  ich  mich  ebenso¬ 
wenig  eingelassen,  wie  auf  die  detaillierte  Besprechung  des1  Mecha¬ 
nismus  der  Sauerstoffwirkung.  Ich  habe  das  unterlassen,  weil 
ich  mich  außerstande  fühlte,  die  sehr  komplizierten  Verhältnisse, 
die  dabei  in  Betracht  kommen,  hier  in  einigen  Minuten  ver¬ 
ständlich  darzustellen,  ohne  mir  unzulässige  Simplifikationen  zu 
gestatten.  Die  Erklärung  der  Sauerstoffwirkung  hatte  ich  nur 
angedeutet  und  im  übrigen  auf  die  Arbeiten  der  Physiologen 
Haldane  und  Douglas  und  auf  meine  ausführlichere  Publi¬ 
kation  verwiesen.  Die  Bemerkung  hatte  ich  noch  hinzugefügt, 
daß  i n teressanter weise  der1  Cheyne-Stokesscbe  Atemtypus  sich 
sowohl  durch  Sauerstoffinhalationen,  als  auch  - —  wie  englische 
Aerzte  gefunden  haben  —  -  durch  eine  Steigerung  des  Kohlensäure¬ 
gehaltes  der  inspirierten  Luft  aufheben  lasse.  Sauerstoff  und 
Kohlensäure  wirken  hier  im  selben  Sinne,  wenn  auch  auf  ver¬ 
schiedenem  Wege. 

Herr  Dr.  Porges  hat  nun  in  der  Diskussion  bemerkt, 
die  Wirkung  des  Sauerstoffs  auf  das  Chey  ne- Stokes  sehe  Atmen 
der  Herzkranken  sei  nicht  ohneweiters  verständlich.  Die  beob¬ 
achtete  günstige  Wirkung  des  Sauerstoffs!  bei  dem  Cheyme- 
Stokcs sehen  Atmen  dieser  Kranken  sei  nicht  durch  die  Wir¬ 
kung  des  Sauerstoffs  als  solchen  zu  erklären,  wie  beim  Cheyne- 
Stokeis  infolge  herabgesetzten  Sauerstoffgebaltes-  der  Inspirations¬ 
tuft.  Bei  den  Herzkranken  sei  der  Cheyne-Stokes  sehe-  Atem¬ 
typus  eine  Konsequenz  von  Zirkulationsstörungen  und  dabei  könne 
der  Sauerstoff  als  solcher  nicht  nützen,  denn  es  sei  sicher, 
daß  sich  das  Blut  schon  bei  der  Sauerstoffspannung  der  Atmo¬ 
sphäre  vollständig  mit  Sauerstoff  sättige  und  daß  deshalb  das 
Atmen  von  reinem  Sauerstoff  eine  Steigerung  der  Sauerstof  {Sätti¬ 
gung  nicht  bewirken  könne.  Die  Wirkung  der  Sauerstof (Inhala¬ 
tionen  bei  dem  Chey  ne-  Stokes  sehen  Atmen  der  Herzkranken 
müsse  anders  zustande  kommen,  vielleicht  so  meinte  Kollege 
Porges  —  so,  daß  beim  Atmen  aus  einer  Maske  der  Patient 
seine  eigene  Exspirationsluft  zum  Teil  wieder  einatme;  die  in 
dieser  Exspirationsluft  enthaltene  Kohlensäure,  welche  bekannt¬ 
lich  ein  starker  Atemreiz  ist,  sei  seiner  Vermutung  nach  das 
eigentlich  Wirksame  bei  der  beobachteten  Wirkung  der  Sauerstoff¬ 
inhalationen  beim  Cheyne-Stokes  der  Herzkranken. 


Meine  Herren!  Diese  Erklärung  des  Herrn  Kollegen  Porges 
ist  sicher  falsch.  Denn  wenn  das  Zuströmen  des  Sauerstoffs 
so  langsam  erfolgt,  daß  der  Patient  einen  Teil  seiner  Exspirations¬ 
luft  wieder  zurückatmen  kann,  weil  die  Maske  eine  Vergröße¬ 
rung  des  sogenannten  ,, toten  Raumes“  der  Atmung  darstellt  --- 
wenn,  sage  ich,  der  Sauerstoff  so  langsam  zuströmt,  dann  wirkt 
er  gar  nicht  auf  das  Chey  ne- Stokes  sehe  Atmen  der  Herz¬ 
kranken.  Er  wirkt  nur,  wenn  er  in  so  reichlichem  Strome  zugeführf 
wird,  daß  die  exspirierte  Luft  wohl  recht  vollständig  von  Mund 
und  Nase  des  Kranken  weggeblasen  wird.  Aber  auch  sonst  scheint 
mir  der  Gedankengang  des  Herrn  Kollegen  Porges  unrichtig. 
Selbstverständlich  ist  der  Sauerstoff  kein  Atemreiz  wie  die  Kohlen¬ 
säure  und  daß,  wenn  ordentlich  und  regelmäßig  re¬ 
spiriert.  wird,  das  Blut  sich  in  der  Lunge  nicht  stärker  mit 
Sauerstoff  sättigt,  wenn  reiner  Sauerstoff  als  wenn  Luft  geatmet 
wird,  wissen  wir  alle  auch  schon  lange.  Aber  trotzdem  wirkt  der 
Sauerstoff  beim  Cheyne-Stokes  des  Herzkranken  als  solcher, 
als  Sauerstoff  (wobei  ich  auf  die  Frage  auch  heute  nicht  ein- 
gehe,  die  Herr  Kollege  Porges  als  zweifellos  entschieden  vor¬ 
weggenommen  hat,  ob  nämlich  das  Cheyne-Stokessche  Atmen 
der  Herzkranken  eine  direkte  Folge  von  Zirkulationsstörungen 
sei).  Wenn  nämlich  nicht  regelmäßig  geatmet  wird,  wenn  Nei¬ 
gung  zu  Atempausen  besteht  infolge  einer  irgendwie  bedingten 
Erregbarkeitsherabsetzung  des  Respirationszentrums  oder  aus  an¬ 
deren  Ursachen,  dann  macht  es  wohl  einen  Unterschied,  ob  sich 
in  den  Respirationswegen  ein  Gasgemisch  befindet,  das  relativ 
arm  oder  sehr  reich  an  Sauerstoff  ist. 

Ich  habe  schon  neulich  darauf  hingewiesen,  daß  die  Sauer¬ 
stoffinhalationen  nicht  etwa  nur  bei  dem  Chey  ne-Stokesschen 
Atmen  der  Herzkranken,  Gefäß-  und  Nierenkranken,  sondern  auch 
bei  dem  der  Gehirnkranken  (Apoplektiker  usw.)  das  Phänomen 
zum  Verschwinden  bringen,  wie  sie  wobl  auch  den  Chey  ne- 
Stokesschen  Atemtypus,  wenn  er  aus  irgendwelchen  anderen 
Ursachen  auftritt,  aufheben  dürften.  Der  Sauerstoff  richtet  sich 
also  offenbar  nicht  etwa  gegen  den  Krankheitsprozeß,  der  dem 
pathologischen  Atemtypus  zugrunde  liegt,  sondern  er  wirkt  auf 
ein  schadhaft  gewordenes  Glied  in  dem  Prozeß  der  Atmungs- 
logulation.  Und  ich  hatte  dies  mit  den  Worten  angedeutet:  Reich¬ 
liches  Einströmen  von  Sauerstoff  in  die  Luftwege  (und  ein  solches 
reichliches  Einströmen  ist  nötig,  um  therapeutische  Effekte 
zu  erzielen)  bewirke  eine  erhöhte  Sauerstoff  Spannung 
in  der  Alveolarluft,  die  selbst  dann  noch  erhalten 
bleibe,  wenn  längere  Zeit  nicht  geatmet  worden  sei 
(Atempause).  Dies  habe  zur  Folge,  daß,  wenn  nach  der  Atem¬ 
pause  die  Respiration  mit  sehr  kleinen  Atemzügen  Wiederbeginne, 
doch  schon  während  dieser  seichten  Respirationen  so  viel  Sauer¬ 
stoff  aufgenommen  werden  könne,  daß  nicht,  wie  es  sonst  eben 
beim  Chey  ne-Stokesschen  Atmen  der  Fäll  ist,  der  Sauerstoff 
mangel  (mit  seinen  Konsequenzen)  nach  dem  Beginne  der  Atmung 
noch  weiter  zunehme  und  dadurch  überkräftige  und  übertiefe 
Respirationen  provoziert  werden,  die  wieder  eine  neue  ^  Atem¬ 
pause!  im  Gefolge  haben.  Etwas  grob  ausgedrückt:  Der  Sauer¬ 
stoff  verhindert,  daß  die  Kranken  so  hyperpnoisch 
werden,  daß  sie  sich  dadurch  wieder  dine  neue  Apnoe 
„an atmen“.  Daß  das  so  ist,  wird  am  besten  durch  den  Hin¬ 
weis  auf  einen  Befund  von  Haldane  und  Douglas  gezeigt. 
Diese  Autoren  haben  beobachtet,  daß  sich  bei  jedem  Gesunden 
in  jedem  Momente  für  einige  Zeit  C hey ne- Stokes sches. Atmen 
erzeugen  lasse.  Wenn  ein  Gesunder  durch  einige  Zeit  absichtlic 
tief  und  rasch  atmet,  so  folgt  beim  Unterbrechen  der  tiefen 
Respirationen  eine  Periode-  der  ApUoe.  Das  weiß  man  seit 
langem.  Haldane  und  Douglas  beobachteten  nun  aber,  daß, 
wenn  nach  der  Apnoe  die  Atmung  wieder  beginnt.,  sie  zunächst 
nicht  regelmäßig  ist,  sondern  daß  (durch  einige  Minuten  un 
Chey  ne- Stokes  sehen  Typus  geatmet  wurde,  'der  sich  erst  lang¬ 
sam  wieder  verliert.  Dieses  künstlich  provozierte  Cheyne-Sto- 
kessche  Atmen  beim  Gesunden  bleibt  nun  aus,  wenn  wah¬ 
rend  der  letzten  forcierten  Inspirationen  vor  der  (pri¬ 
mären)  Apnoe  nicht  Luft,  sondern  Sauerstoff  geatmet 
wurde.  Das  zeigt  doch  klar,  daß  es  bei  der  Sauerstoffwirkung 
gegenüber  dem  Chey  ne-Stokesschen  Atmen  nicht,  auf  irgend¬ 
eine  Wirkung  auf  die  pathologische  Ursache  des  abttormen 
Atemtypus  ankommt  (nur  beim  S t. o k e s sehen  Atmen  infolge 
herabgesetzter  Sauerstoffspannung  in  der  Luft,  z.  B.  in  der  Hotte, 
besteht  eine  solche  direkte  Einwirkung  auf  die  Grundursache, 
sondern  daß  der  Sauerstoff  in  allen  anderen  Fällen  wirkt,  wie  ooeii 
angedeutet:  indem  er,  in  genügender  Menge  in  den  Respirations- 
wegen  und  vor  -den  Respirationsöffnungen  vorhanden,  i  erbm  ei  . 
daß  nach  einer  (primären)  Apnoe  die  Atmung  so  hyperpnonc ' 
wird  und  damit  eine  solche  Ueb-erventilation  eintritt,  daß  c.nr 
neue  und  dann  immer  weitere  Apnoen  resultieren. 


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Den  übrigen  Herren,  die  sich  zur  Frage  des  Cheyno- 
Stokes sehen  Atmens  geäußert  haben,  habe  ich  nur  wenige 
Worte  zu  erwidern.  Wenn  Herr  Prof.  Braun  gesagt  hat,  er  habe 
beim  C  h e y ne-  S t o kes  sehen  Atmen  der  Herzkranken  mit  Kam¬ 
pfer  gute  Erfolge  gehabt,  so  bezweifle  ich  das  keinen  Augenblick, 
es  ist  theoretisch  gut  verständlich ;  ich  muß  nur  sagen,  daß  ich 
persönlich  mit  der  Wirkung  des  Kampfers  wenig  zufrieden  ge¬ 
wesen  bin,  ebensowenig  wie  mit  der  des  Strychnins,  des  Atro¬ 
pins  und  anderer  Mittel.  Herr  Kollege  Türkei  hat  berichtet,  daß 
es  ihm  gelungen  sei,  das  Chey  ne- Stokes  sehe  Atmen  der  Herz¬ 
kranken  dadurch  zu  beseitigen,  daß  er  den  Kranken  zuredete' 
regelmäßig  tief  weiter  zu  atmen.  Auch  mir  ist  dies  hie  und  da 
gelungen,  aber  nicht  zu  häufig  und  namentlich  nicht  in  den 
schwereren  Fällen.  Auch  ich  habe  manchen  Kranken  viertel¬ 
stundenlang  immer  wieder  zugeredet,  ruhig  weiter  zu  atmen  und 
„auf  das  Atmen  nicht  zu  vergessen“.  Aber  besonders  bei  solchen 
Patienten,  die  müde  und  erschöpft  sind,  nützt  das  leider  nur 
wenig:  sie  schlafen  während  jeder  Apnoe  immer  wieder  ein 
oder  sind,  wenn  man  sie  in  diesem  Zeitpunkt  weckt,  wenig 
bereit  und  schlecht  imstande,  den  fehlenden  automatischen  Atem¬ 
reiz  durch  willkürliche  Respirationsimpulse  zu  ersetzen. 

Der  andere  Punkt  in  meinen  Darlegungen,  zu  dem  sich 
mehrere  Herren  geäußert  haben,  betrifft  meinen  Erklärungsversuch 
der  kardialen  Orthopnoe,  oder,  wie  ich  vielleicht  besser 
sagen  sollte,  der  ortho  tischen  Zwangslage  vieler  Herz¬ 
kranker.  Denn,  daß  es  auch  bei  Herzkranken  oft  genug  dys- 
pnoische  Zustände  (gibt,  in  denen  die  sitzende  Stellung  deswegen  vor- 
aezogen  wird,  weil  in  dieser  Lage  die  Aktion  von  Auxiliarmuskeln 
besser  zur  Geltung  kommen  kann,  ist  ja  eine  nicht  zu  bezweifelnde 
und  von  mir  auch  nicht  bezweifelte  Tatsache'.  In  einem  Anfall 
von  kardialem  Asthma  z.  B.  sitzen  die  Kranken  wohl  haupt¬ 
sächlich  aus  denselben  Gründen,  aus  denen  auch  ein  Patient 
im  bronchialasthmatischen  Anfall  nicht  liegen  kann.  Und  auch 
die  von  Herrn  Kollegen  Hofhauer  vorgebrachte  Erklärung  da¬ 
für,  daß  sich  dyspnoische  Herzkranke  im  Sitzen  gerne  vorneigen, 
hat  bestimmt  häufig  Geltung,  daß  nämlich  im  Vornübersitzen 
die  Bauchmuskeln  besser  als  Auxiliarmuskeln  der  Exspiration 
wirken  können  als  in  angelehnter  Stellung.  Aber  was  mir  einer 
Erklärung  bedürftig  und  was  mir  nur  der  neulich  gegebenen 
Erklärung  zugänglich  scheint,  ist  die  so  häufige  Erscheinung, 
daß  Herzkranke,  ohne  eigentlich  dyspnoisch  izu  sein,  ohne  in 
irgendeiner  Stellung  eine  Aktion  irgendwelcher  Auxiliarmuskeln 
zu  zeigen  (auch  nicht  eine  Kontraktion  der  Bauchmuskeln  bei 
der  Exspiration),  nur  in  sitzender  und  vor  allem  in  vorgeneigter 
Haltung  frei  von  Beklemmung  sind  und  nur  so  sich  relativ 
wohl  fühlen,  auch  nur  in  dieser  Stellung  schlafen  können,  ohne 
durch  ein  Angstgefühl  gequält  zu  werden.  Ich  habe  mich  in  den 
letzten  Tagen  an  zwei  derartigen  Kranken  noch  einmal  davon 
überzeugt,  daß  sie  nicht  aktiv  mit  den  Bauchmuskeln  exspirieren. 
für  diese  Leute  hat  die  Theorie  Hof Bauers  keine  Geltung 
und  trotzdem  sitzen  sie  am  Tage  und  besonders  bei  Nacht,  vor¬ 
geneigt  in  ihrem  Bette  oder  auch  in  ihrem  Lehnstuhl.  Für1  dieses 
Phänomen  scheint  mir  nur  die  Erklärung  ausreichend,  die  ich 
neulich  gegeben  habe.  Und  wenn  das  so  ist,  dann  wird  die 
Beeinträchtigung  des  linken  Vorhofes  in  zurückgelehnter  oder 
gai'  liegender  Stellung  außerldetm  'wohl  sicher  auch  für  solche 
Kranke  in i  t bestimmten^  dafür  sein,  daß  sie  sich  vornübergebeugt 
halten,  denen  die  vorgeneigte  Haltung  auch  noch  die  anderen 
con  den  Herren  hervorgehobenen  Vorteile  bringt. 

Dies  war  es,  meine  Herren,  was  ich  Vorbringen  wollte. 
Ich  schließe,  um  die  Herren  nicht  noch  länger  aufzuhalten. 

Priv.-Doz.  Dr.  Karl  Ullmann :  hält  seinen  angekündigten 
Vortrag:  A  us  s  che  i  dungs  werte  und  Speicherungs  Ver¬ 
hältnisse  organischer  Arsenpräparate  (Salvirsan) 
lach  verschiedenartigen  Applikationsformen  am 
Menschen  und  am  Tierexperiment.  (Erscheint  ausführlich 
ui  dieser  Wochenschrift.) 


Verein  der  Aerzte  in  Oberösterreich. 

Sitzung  am  6.  April  1911. 

Primarius  Dr.  D  o  b  e  r  e  r  bespricht  die  Unterschiede 
ler  Darmresektion,  die  sich  bei  den  verschiedenen  Darm- 
ibschnitten  bezüglich  Methode  und  Prognose  ergeben,  wobei 
lünndarmresektion,  Resectio  ileocoecalis  und  Dickdarmresektion 
trenge  auseinander  gehalten  werden  müssen.  Zur  Illustration 
ler  Resectio  ileocoecalis  demonstriert  der  Vortragende  ein  Prä- 
iarat,  welches  bei  der  Operation  eines  an  Ileocökaltuber- 
■  ul  ose  leidenden  Mannes  gewonnen  wurde,  bei  dem  einzeitig 
üe  Resectio  ileocoecalis  mit  End-  zur  Seitenanastomose  vor¬ 


genommen  wurde.  Der  betreffende  Kranke  hat  die  Operation  gut 
überstanden,  erstaunlich  an  Körpergewicht  zugenommen  und  ist 
zu  seiner  schweren  körperlichen  Arbeit  wieder  vollkommen 
tauglich  geworden. 

Nach  Besprechung  der  verschiedenen  ein-,  zwei-  und  drei¬ 
zeitigen  Methoden  der  Dickdarmresektion  stellt  der  Vortragende 
einen  56jährigen  Musiklehrer  vor,  welcher  vor  Jahren  bereits 
wegen  Beinfraß  am  rechten  Fuße  operiert  wurde,  wobei  die 
Unterschenkelamputation  ausgeführt  wurde.  Derselbe  litt  seit 
mehreren  Monaten  an  Stuhlbeschwerden,  Verstopfung  abwechselnd 
mit  Diarrhöen,  Auftreibung  des  Leibes  und  kolikartigen  Schmerzen. 
Bei  der  Untersuchung  fand  sich  Auftreibung  des  Leibes,  eine 
schmerzhafte  Resistenz  oberhalb  der  Symphyse,  Abmagerung, 
belegte  Zunge  und  blasses  Aussehen. 

Die  am  28.  Januer  1911  wegen  Darmstenose  vorgenommene 
Laparotomie  ergab  ein  übermäßig  großes  Karzinom  der 
Flexura  sigmoidea,  mit  dessen  Vorderfläche  das  Netz 
breit  verwachsen  war,  so  daß  der  Tumor  durch  das  Netz  fixiert 
und  an  demselben  gleichsam  aufgehängt  war.  Erst  nach  Re¬ 
sektion  des  angewachsenen  Netzes  wird  der  Tumor  etwas  beweg¬ 
lich  und  kann  vom  Peritoneum  parietale,  mit  dem  er  gleichfalls 
verwachsen  ist,  getrennt  werden.  Nun  erst  gelingt  es,  den  Tumor 
vor  die  Bauchwunde  zu  ziehen  und  die  Resektion  desselben 
vorzunehmen.  Die  Resektion  wird  einzeitig  nach  der  Methode 
vorgenommen,  wie  sie  Prof.  Dr.  Karl  Bayer  in  Prag  im 
Zentralblatt  für  Chirurgie  1910,  Nr.  44,  angegeben  hat  und  welche 
in  der  Fixation  der  Nahtstelle  in  der  Bauchwandwunde  besteht. 
Der  Schnitt  war  vom  Nabel  bis  zur  Symphyse  geführt  worden. 
Die  ganze  vordere  Halbperipherie  der  Naht  wurde  entsprechend 
der  angegebenen  Methode  im  Peritonealschlitze  der  Mitte  der 
Laparotomiewunde  in  der  Weise  fixiert,  daß  links  und  rechts 
der  Peritonealrand,  ca.  1  cm  entfernt  von  der  Nahtstelle  des 
Darmes,  dicht  an  die  Darmwand  genäht  wurde.  Auf  die  hintere 
Halbperipherie  der  Naht  wurde  ein  Xeroformstreifen  eingeführt 
und  derselbe  durch  einen  offen  gelassenen  Schlitz  im  Peritoneum 
herausgeleitet,  so  daß  die  Ringnaht,  des  Darmes  hinten  durch 
den  Xeroformstreifen  gedeckt,  vorne  ganz  extraperitoneal  dalag. 

In  beiden  von  Prof.  Bayer  nach  dieser  Methode  operierten 
Fällen  kam  es  zur  Bildung  einer  vorübergehenden  Kotfistel. 

In  dem  vorgestellten  Falle  war  der  Verlauf  ein  günstiger 
und  es  hatte  zunächst  den  Anschein,  als  ob  eine  primäre  Darm¬ 
vereinigung  ohne  Fistelbildung  erzielt  worden  wäre.  Erst  ziem¬ 
lich  spät,  am  12.  Tage  nach  der  Operation  bildete  sich  eine 
Kotfistel,  welche  bei  einzeitiger  Resektion  und  Versenkung  der 
Nahtstelle  zu  einer  Perforationsperitonitis  und  Exitus  geführt  hätte. 

So  aber  schloß  sich  die  Darmfistel  bald  und  der  Kranke 
konnte  57a  Wochen  nach  der  Operation  geheilt  das  Spital  ver¬ 
lassen.  Seither  ist  der  Appetit  gut,  die  Stuhlentleerung  geregelt 
und  schmerzlos ;  der  Operierte  hat  bis  heute  um  8  kg  an  Körper¬ 
gewicht  zugenommen.  Der  entfernte  Tumor  wog  nur  um  2  g 
weniger  als  7a  kg. 

Der  Vortragende  glaubt  auf  Grund  des  vorgestellten  Falles 
die  Fixationsmethode  nach  Prof.  Bayer  aufs  beste  empfehlen 
zu  können. 

Regierungsrat  Brenner  bemerkt  zur  Ergänzung  des  über 
Dünndarmresektion  gebrachten  Zitates  aus  der  Arbeit  Denks, 
daß  sich  diese  Arbeit  auf  dem  im  Linzer  Spitale  operierten  Fall 
der  Resektion  von  540  cm  Dünndarm  bezieht  —  die  61jährige 
Frau  starb  nach  2Va  Jahren  an  Marasmus;  Dr.  Denk  hat  den 
Befund  an  der  Leiche  aufgenommen  und  die  Länge  des  Testierenden 
Dünndarmes  mit  106  cm  bestimmt ;  er  sagt :  nicht  die  Länge  des 
entfernten,  sondern  des  zurückgebliebenen  Dünndarmes  ent¬ 
scheidet  —  die  3  m  sind  eine  ungefähre  Durchschnittszahl  für 
die  halbe  Länge  des  Dünndarmes. 

Zu  dem  Falle  der  Dickdarmresektion,  den  Herr  Doberer 
vorgestellt  hat,  bemerkt  Brenner,  daß  die  Unterpolsterung  der 
Darmnaht  zur  Sicherung  gegen  Perforationsperitonitis  schon  an 
der  Klinik  Billroth  geübt  wurde ;  es  wurde  aber  vielfach 
hervorgehoben,  daß  sie  die  primäre  Verklebung  der  Nahtstellen 
eher  stört  als  fördert  und  Anlaß  zu  Fistelbildung  gibt.  Die  Klinik 
v.  Eiseisberg  steht  z.  B.  nach  der  letzten  Publikation 
v.  Haber ers  im  Archiv  für  Chirurgie,  Bd.  94,  auf  dem  Stand¬ 
punkte  primärer  Resektion  des  Kolontumores  mit  exakter  Ver¬ 
schlußnaht  der  Darmenden  und  Seit-zu-Seit-Anastomose,  dann 
vollkommener  Verschluß  der  Bauchhöhle.  Billroth  hat  im 
Laufe  der  Jahre  bei  Karzinom  des  Dickdarmes  40  quere 
Resektionen  des  Kolons  oder  Ileocökums  mit  zehn  Todesfällen 
ausgeführt  (vier  von  den  Toten  fallen  der  Anwendung  des 
Murphy-Knopfes  zur  Last),  sechsmal  bei  Cökaltumoren  die 
Resektion  des  Ileocökums  und  End-zu-Seit-Anastomose  mit 
zwei  Todesfällen,  sechsmal  vorgelagert  mit  zwei  Todesfällen. 


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Billroth  hat  auch  einige  Fälle  mit  querer  Resektion  und  Naht 
im  untersten  S  romanum  zur  Heilung  gebracht.  Die  Hauptsache 
ist  außer  der  exakten  Naht  das  Vorhandensein  des  Peritoneal¬ 
überzuges  im  ganzen  Umfange  der  genähten  Stelle. 

Prof.  Sc  limit  erwähnt  einen  Fall,  bei  dem  er  wegen 
hochgradigem  Ileus  die  Resektion  des  untersten  Ileums  mit 
nachfolgender  zirkulärer  Darmnaht  gemacht  und  die  Bauchhöhle 
mit  Jodoformgaze  drainiert  hatte.  Auch  hier  ging  die  Darmnaht 
trotz  exakter  Ausführung  auf  und  er  ist  geneigt,  dieses  unan¬ 
genehme  Ereignis,  das  zur  Bildung  einer  Bauchdeckenkotfistel 
Veranlassung  gegeben  hatte,  auf  die  Drainage  zurückzuführen. 
Bemerkenswert  ist  der  angeführte  Fall  auch  deshalb,  weil  hier 
nach  einer  wegen  Carcinoma  uteri  ausgeführten  Radialoperation  ein 
verhornendes  Plattenepithelkarzinom  im  Ileum  aufgetreten  war 
und  zur  Stenosierung  des  Darmes  geführt  hatte. 

Primarius  Dr.  Fuchsig,  a)  Zur  Prognosestellung 
bei  Strang  ulationsileus. 

Für  die  Stellung  der  Prognose  beim  Strangulationsileus 
sind  bekannterweise  maßgebend  die  Dauer  der  Darminkarzeration 
und  die  Straffheit  der  Abschnürung  und  es  ist  eine  Erfahrungs¬ 
tatsache,  daß  nach  Ablauf  des  zweiten  Tages  die  Chancen  der 
Operation  erheblich  sinken,  einesteils  infolge  der  Gefahr  des 
Darmbrandes,  andernteils  infolge  der  zunehmenden  Autointoxi¬ 
kation.  Ich  hatte  in  sechs  Fällen  von  Strangulationsileus  diese 
Erfahrung  bestätigt  gefunden.  Es  waren  das  Fälle,  welche  am 
vierten  oder  gar  fünften  Tage  nach  der  Einklemmung  zur  Ope¬ 
ration  kamen  und  trotz  raschester  Erledigung  und  in  zwei  Fällen 
ausgeführter  Enterostomie  sämtlich  zugrunde  gingen.  Ich  war 
nun  sehr  angenehm  überrascht,  als  es  mir  vor  etwa  vier  Mo¬ 
naten  gelang,  einen  4ß  jährigen  Patienten  zu  heilen,  bei  dem  die 
innere  Darminkarzeration  schon  drei  volle  Tage  bestanden  hatte, 
die  Einklemmung  durch  einen  straff  gespannten  Netzstrang  erfolgt 
war,  nach  dessen  Durchtrennung  sich  eine  blutig  infarzierte 
Schnürfurche  fand.  Der  Darm  erholte  sich  in  diesem  Falle 
allerdings  recht  langsam  und  es  dauerte  fast  eine  Woche,  bis 
regelmäßige  Darmfunktion  wiederkehrte. 

Vor  ungefähr  vier  Wochen  wurde  ich  zu  einem  14jährigen 
Mädchen  gerufen,  das  ich  vor  nicht  ganz  einem  Jahre  wegen 
eitriger  Peritonitis  nach  Epityphilitis  operiert  hatte.  Es  etablierte 
sich  damals  noch  ein  Douglasabszeß,  den  ich  vom  Rektum  aus 
inzidierte,  worauf  rasch  Heilung  eintrat.  Bei  bestem  Wohlbefinden 
waren  jetzt  plötzlich  Schmerzen  und  initiales  Erbrechen  auf¬ 
getreten.  Ich  sah  das  Mädchen  erst  am  Anfänge  des  sechsten 
Tages  nach  Beginn  der  Erscheinungen,  fand  hohe  Pulsfrequenz, 
nur  mäßig  aufgetriebenes  Abdomen,  dessen  dünne  Decken  die 
Konturen  dreier  schräg  gestellter,  parallel  gelagerter,  geblähter 
Dünndarmschlingen  durchscheinen  ließen.  In  Intervallen  von 
zehn  Minuten  steiften  sich  unter  heftigen  Schmerzen  die  Schlingen. 
Häufiges  von  Anbeginn  gleich  fäkulentes  Erbrechen.  Bei  der 
Operation  fand  sich  die  Strangulation  einer  oberen  Dünndarm¬ 
schlinge  durch  einen  zum  Cökum  ziehenden  Netzstrang;  die 
peripheren  Schlingen  lagen  kontrahiert  und  leer  im  kleinen 
Becken;  nach  Durchtrennung  des  Stranges  zeigte  der  Darm  eine 
deutliche  Schnürfurche  ohne  Schädigung  der  Vitalität  der  Darm¬ 
wand.  Der  Heilungsverlauf  war  ganz  ungestört.  Den  beiden 
letzten  Fällen  ist  gemein  das  rasche  Auftreten  fäkulenten  Er¬ 
brechens;  in  beiden  Fällen  fand  sich  als  Ursache  dessen,  daß 
eine  der  obersten  Dünndarmschlingen  inkarzeriert  war.  Es  ist 
nun  bekannt,  daß  bei  Einklemmungen  hochgelegener  Schlingen 
häufiges  und  bald  fäkulentes  Erbrechen  die  Regel  ist  und  daß 
dieses  Symptom  zur  Lokalisierung  der  Einklemmung  gut  ver 
wertbar  ist.  Ich  glaube  nun  auf  Grund  meiner  zwei  Erfahrungen 
behaupten  zu  sollen,  daß  dieses  Symptom  auch  prognostisch 
verwertbar  ist,  wenn  die  Darmabschnürung  keine  schwerere 
Zirkulationsstörung  im  eingeklemmten  Darmabschnitte  setzt  und 
daß  solche  Einklemmungen  oberster  Dünndarmschlingen  auch 
bei  mehrtägiger  Dauer  noch  prognostisch  günstiger  bleiben  als 
gleich  alte,  tiefer  sitzende  Inkarzerationen.  Denn  erstens  ist  die 
Putreszenz  des  Darminhaltes  der  obersten  Schlingen  viel  geringer 
als  des  unteren  Ileums  und  zweitens  wird  dieser  an  sich  weniger 
giftige  Darminhalt  durch  das  häufige  Erbrechen  rasch  entleert. 

b)  Gebär  mutter  krebs  und  Schwangerschaft 
Bei  bestehendem  Uteruskarzinom  muß  das  Auftreten  einer 
Gravidität  als  folgenschwere  Komplikation  bezeichnet  werden. 
Es  kommen  liier  hauptsächlich  das  Portio-  oder  Zervixkarzinom 
in  Betracht,  weil  beim  Korpuskarzinom  die  Einnistung  des  Eies 
kaum  je  möglich  ist.  In  den  Anfangsstadien  des  Karzinoms  ist 
dei  Möglichkeit  der  Konzeption  vorhanden,  in  den  späteren 
Stadien  wohl  kaum  mehr  wegen  der  Veränderung  und  Ver¬ 
engerung  des  Zervixkanals.  Darum  ist  die  Komplikation  relativ 
gelten.  Die  Gravidität  begünstigt  das  Wachsen  des  Karzinoms 


und  dieses  wieder  bildet  mehr  weniger  ein  Geburtshindernis. 
In  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  das  Karzinom  während  der 
Schwangerschaft  entdeckt.  In  diesem  Falle  hat  sich  das  thera¬ 
peutische  Verhalten  je  nach  der  Dauer  der  Schwangerschaft,  der 
Operabilität  des  Krebses  und  dem  Willen  der  Mutter  zu  richten. 
In  den  ersten  Monaten  bis  zur  Hälfte  der  Gravidität  soll  sofort 
und  ohne  Rücksicht  auf  das  Leben  der  Frucht  die  Radikalope¬ 
ration  ausgeführt  werden.  Ist  diese  vom  technischen  Standpunkte 
möglich,  so  wird  sie  vaginal  oder  abdominal  ausgeführt,  je  nach 
den  Verhältnissen  und  der  Neigung  des  Operateurs.  Bei  lebens¬ 
fähiger  Frucht  und  operablem  Karzinom  wird  die  Frühgeburt 
eingeleitet  und  ehemöglichst  oder  am  besten  sofort  die  Exstir¬ 
pation  angeschlossen.  Oder  es  wird  der  vaginale  Kaiserschnitt 
nach  Dührssen  ausgeführt,  die  Frucht  gewendet,  extrahiert,  die 
Plazenta  entfernt  und  sofort  oder  nach  14  Tagen  exstirpiert. 
Diese  beiden  Methoden  empfehlen  sich  aber  nur  dann,  wenn 
anzunehmen  ist,  daß  die  Geburt  des  Kindes,  beziehungsweise 
die  Extraktion  der  Frucht  durch  die  Karzinommassen  und  die 
infolgedessen  mangelhafte  Dehnungsfähigkeit  der  Zervix  nicht 
sehr  erschwert  sein  wird.  Ist  dies  anzunehmen,  dann  ist  die 
Sectio  caesarea  mit  nachfolgender  abdominaler  Exstirpation  des 
Uterus  vorzuziehen,  weil  leicht  Zerreißungen  erfolgen  können. 
Dieser  Vorgang  empfiehlt  sich  auch,  wenn  das  Karzinom  erst 
während  der  Geburt  entdeckt  wird  und  ein  Geburtshindernis 
bildet.  Ist  das  Karzinom  in  diesen  Fällen  inoperabel,  dann  wird 
nach  durchgeführter  Sectio  caesarea  der  Uterus  nach  Porro 
exstirpiert  und  später  das  Karzinom  exkochleiert. 

Der  Wille  der  Mutter  wird  natürlich  in  erster  Linie  respek¬ 
tiert  werden  müssen.  Wünscht  diese  sehnlichst  ein  Kind,  so 
muß  dieser  Wunsch  bei  bereits  lebensfähiger  Frucht  Befehl  sein, 
meiner  Ansicht  nach  auch  dann,  wenn  durch  das  Zuwarten  das 
Karzinom  inoperabel  oder  die  Exstirpation  schwieriger  würde. 
In  solchen  Ausnahmefällen  wird  man  das  Schwangerschaftsende 
abwarten  und  je  nach  den  Verhältnissen  Kaiserschnitt  und  ab¬ 
dominale  Exstirpation  ausführen,  oder  nach  Exkochleation  der 
karzinomatösen  Massen  die  Spontangeburt  abwarten  und  14  Tage 
später  die  vaginale  Exstirpation  ausführen.  Eine  eingehende 
Belehrung  der  Mutter  vor  der  Entscheidung  setze  ich  natürlich 
voraus. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  Exstirpation  des  Uterus  nach  der 
künstlichen  Entbindung  durch  die  Auflockerung  der  Gewebe  sehr 
erleichtert  wird,  ferner,  daß  manches  Karzinom,  das  vor  der 
Entleerung  des  Uterus  für  inoperabel  gehalten  wurde,  nach  Ent¬ 
leerung  desselben  eher  zur  Radikaloperation  einladet.  Namentlich 
in  Fällen,  wo  die  Geburt  bereits  im  Gange  ist,  kann  man  leicht 
irregeführt  werden.  Die  Aussichten  auf  Dauererfolge  werden 
von  den  Franzosen  als  sehr  schlechte  bezeichnet;  dem  stehen 
aber  die  Berichte  mehrerer  deutscher  Autoren  entgegen,  welche 
Heilungsdauer  von  4 V*  Jahren  beobachtet  haben. 

Ich  kam  am  7.  Februar  d.  J.  zum  ersten  Male  in  die 
Lage,  bei  bestehendem  Portiokarzinom  und  bereits  seit  zwei 
Tagen  im  Gange  befindlicher  Geburt  eingreifen  zu  müssen. 

Eine  37jährige  Frau,  zum  neunten  Male  gravid,  letzte 
Periode  Ende  April  1910.  Im  Beginne  der  Gravidität  zeigten 
sich  abnorme  Blutabgänge,  derentwegen  ein  Arzt  konsultiert 
wurde,  der  eine  Neubildung  konstatierte  und  die  sofortige  Ope¬ 
ration  empfahl.  Die  Patientin  mißachtete  aber  diesen  Rat,  die 
Schwangerschaft  blieb  weiter  bis  auf  geringe  Blutverluste  unge¬ 
stört  und  vor  zwei  Tagen  setzten  Wehen  ein  und  einige  Stunden 
später  ging  das  Fruchtwasser  ab.  Da  aber  die  Geburt  trotz  guter 
Wehen  nicht  vorwärts  ging,  wurde  ein  Arzt  gerufen,  welcher 
ein  Portiokarzinom  als  Geburtshindernis  fand  und  die  Ueber- 
führung  der  Frau  ins  Krankenhaus  anordnete. 

Status  gynaecologicus :  Scheide  weit,  bläulich  verfärbt, 
Zervix  verstrichen,  vordere  Muttermundlippe  durch  ein  exul- 
zeriertes  Karzinom  ersetzt.  Kindeskopf  bereits  ins  Becken  ein¬ 
getreten.  In  Narkose  sofort  mediane  Laparatomie,  Vorwälzung 
des  graviden  Uterus,  Längsinzision  desselben,  Entwicklung  eines 
asphyktischen  Kindes,  das  bald  wiederbelebt  wird,  Entfernung 
der  Nachgeburt,  geringe  Blutung;  hierauf  typische  Totalexstir¬ 
pation  der  Gebärmutter,  die,  weil  das  Karzinom  auf  den  Uterus 
beschränkt  war,  leicht  und  unter  geringem  Blutverluste  gelingt. 
Lockere  Tamponade  des  subperitonealen  Wundbettes,  Vereinigung 
des  Blasen-  und  Douglasperitoneums.  Bauchdeckennaht.  Am 
achten  Tage  Entfernung  der  Nähte,  kleiner  Ligaturabszeß,  Ent¬ 
fernung  des  Tampons.  Wundverlauf  ungestört.  Wahrscheinlich 
infolge  entsetzlicher  Gebißverbältnisse  zuerst  eine  Pleuro¬ 
pneumonie  im  rechten  Lungenunterlappen,  nach  Abheilung 
dieser,  pneumonialer  Herd  im  linken  Oberlappen  mit  eitrigem 
Zerfall.  Spontanheilung. 


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Anschließend  an  die  Demonstration  des  Herrn  Primarius 
Dr.  Fuchsig  zeigt  Professor  Sch  mit  einen  vor  14  Tagen 
wegen  Karzinom  exstirpierten  Uterus.  Derselbe  stammt  von  einer 
38  jährigen  Frau,  die  zum  14.  Male  gravid  war  und  sich  bereits 
im  10.  Schwangerschaftsmonate  befand.  Fs  fand  sieb  bei  der 
gutaussehenden  Patientin  ein  noch  nicht  sehr  weit  vorgeschrittenes 
Zervixkarzinom,  doch  war  das  linke  Parametrium  schon  etwas 
infiltriert.  In  diesem  Falle  wurde  die  Sectio  caesarea  abdominalis 
ausgeführt  (Frucht  lebend,  2350  g  und  48 '/a  cm  lang),  dann  der 
Uterus  nach  Schluß  der  Bauchhöhle  per  vaginam  (mittels 
Sc  h  u  ch  a  r  d  tschen  Hilfsschnittes)  exstirpiert.  Heilung  durch  eine 
kleine  Nahteiterung  der  Bauchdecken  etwas  gestört.  Prof.  S  c,  h  m  i  t 
begründet  sein  operatives  Vorgehen  in  diesem  Falle  damit,  daß 
ihm  die  vaginale  Exstirpation  des  karzinomatösen  Uterus  wegen 
geringerer  Infektionsgefahr  weniger  gefährlich  schien,  als  die 
abdominale  Totalexstirpation  und  daß  er  von  der  Sectio  caesarea 
vaginalis  absah,  weil  das  Gewebe  der  Zervix  sehr  brüchig  war 
und  daher  die  Eröffnung  des  Uterus  von  der  Vagina  aus  nicht 
sehr  glatt  vor  sich  gegangen  wäre. 

Assistent  Dr.  Riedl  berichtet  über  seine  Reise  rund 
um  Afrika,  welche  er  im  Herbst  1910  auf  einem  Dampfer  der 
Deutschen  Afrika- Linie  gemacht  hat.  Die  Fahrt  begann  in  Neapel, 
ging  zunächst  über  Port-Said  durch  den  Suezkanal  und  das 
Rote  Meer,  von  Aden  durch  den  indischen  Ozean  nach  Kilindini- 
Mombassa,  Tanga,  Zanzizbar  und  Dar-es-salaam,  weiter  nach 
Mozambique,  Chinde,  Feira  und  Lourenzo  Marques,  von  wo  er 
einen  Ausflug  nach  Johannesburg  und  Pretoria  machte,  um  so¬ 
dann  in  Durban  seinen  Dampfer  wieder  zu  erreichen.  Von  süd¬ 
afrikanischen  Häfen  wurde  East-London,  Port  Elisabeth  und 
Kapstadt  besucht,  auf  der  Fahrt  längs  der  Westküste  legte  das 
Schiff  nur  in  den  beiden  Häfen  Deutsch-Südwest-Afrikas,  Lüderitz- 
bucht  und  Swakopmund,  ferner  in  Las  Palmas  und  Teneriffa  an. 
Die  Reise  endigte  nach  Berührung  von  Southampton  in  Antwerpen. 

Vortr.  hatte  Gelegenheit,  die  Gouvernementsspitäler  in 
Dar-es-salaam  und  Tanga,  dann  die  städtischen  Krankenhäuser 
von  Johannesburg,  East-London,  Port  Elisabeth  und  Kapstadt 
zu  besuchen  und  teilt  die  hier  gemachten  Beobachtungen  mit. 


28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin 

vom  19.  bis  22.  April  zu  Wiesbaden. 

II.  Sitzung  vom  20.  April  1911,  vormittags. 

Referent:  K.  Reich  er -Berlin. 

(Fortsetzung.) 

III. 

Magnus-Levy  -  Berlin  :  Ueber  dieHaferkiir  bei 

Diabetes. 

Vortragender  hat  zur  Entscheidung  der  Frage,  ob  die  gün¬ 
stigen  Erfolge  der  Haferkuren  bei  Diabetikern  auf  besonderen 
Eigenschaften  der  Haferstärke  oder  auf  dem  Vorhandensein  eines 
besonderen  Stoffes  beruhe,  in  minutiös  exakt  angelegten,  langen 
Reihen  Parallelversuche  mit  Hafer,  mit  reiner  Haferstärke  und 
mit  einer  konzentrierten  Hafergrütze  angestellt,  in  der  ein  etwa 
wirksamer  hypothetischer  Stoff  hätte  angereichert  sein  müssen. 
Die  Versuche  sprechen  nun  nicht  für  letzteren,  da  in  diesem 
Falle  die  Verwertung  hätte  eine  bessere  sein  müssen.  Das  war 
aber  nicht  nachzuweisen.  Anderseits  lieferten  die  Versuche  mit 
reiner  Haferstärke  im  wesentlichen  die  gleichen  günstigen  Er¬ 
gebnisse  wie  die  gewöhnliche  Haferkost.  Damit  ist  durch  direkte 
Versuche  am  zuckerkranken  Menschen  erwiesen,  daß  die  Hafer¬ 
stärke  sich  tatsächlich  anders  verhält  als  andere  Stärkearten. 
Die  Haferkur  ist  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  eines  Aus¬ 
baues  fähig  und  kann,  in  geeigneter  Weise  angewandt,  zur  Er¬ 
leichterung  des  Loses  vieler  Diabetiker  führen. 

Diskussion:  Bürker-  Tübingen  :  Gegen  B  ü  r  k  e  r  s  i  m 
vorigen  Jahre  entwickelte  Narkosetheorie,  ein  Narkotikum  wirke 
um  so  stärker,  je  mehr  Sauerstoff  es  unter  bestimmten  Um¬ 
ständen  entzieht,  hat  Minkowski  ins  Feld  geführt,  daß 
Traubenzucker  bei  der  Hydrolyse  Sauerstoff  wegnehme  und 
dennoch  werde  es  niemand  ein  Narkotikum  nennen.  Nun  hat 
Traubenzucker  nach  weiteren  Untersuchungen  Bürker  s  bei 
alkalischer  Reaktion  keinen  Sauerstoff  weggenommen,  dagegen 
unter  dem  Einflüsse  von  Hafer  und  Phlorhidzin  64  Prozent.  Ver¬ 
wendet  man  nun  statt  Hafer  ein  Extrakt  desselben,  so  wird  die 
Traubenzuckeroxydation  fast  ganz  gehemmt.  Das  müßte  vom 
Praktiker  zu  Versuchen  herangezogen  werden. 

B  I  u  m  -  Straßburg:  Man  kann  mit  gewöhnlichem  Weizen¬ 
mehl  in  den  meisten  Fällen  dieselbe  Wirkung  erzielen  wie  mit 
Hafermehl,  besonders  bei  leichten  Diabetikern.  Die  größte  Rolle 


bei  der  Haferkur  spielt  die  Abwesenheit  von  tierischem  Eiweiß, 
speziell  von  Fleisch,  ein  zweites  Moment  ist  die  eingeschobene 
Hungerkur,  die  sehr  schnell  zur  Entzuckerung  führt,  eine  spe¬ 
zifische  Haferwirkung  besteht  jedenfalls  nicht. 

Grund-  Jlalle  :  Gemeinsam  mit  B  a  u  m  g  a  r  t  e  n  ange- 
stellte  Versuche  decken  sich  im  wesentlichen  mit  den  Be¬ 
funden  von  Magnus-Levy.  Bei  Zugabe  zu  gewöhnlicher 
Kost  läßt  sich  zwischen  Gersten-  und  Hafermehl  kein  Unterschied 
finden.  Weizenstärke  bleibt  in  der  Wirkung  hinter  Haferstärke 
zurück.  Bei  isolierten  Verfütterungen  der  übrigen  Bestandteile 
des  Hafers  lassen  sieb  keine  sicheren  Wirkungen  erzielen. 

M  o  h  r  -  Halle  :  Die  Klotz  sehen  Versuche  werden  am 
besten  zur  Klärung  hierher  gehöriger  Fragen  nicht  herangezogen, 
denn  die  Leberverfettung  ist  ein  komplizierter  Prozeß  von  fettiger 
Degeneration  und  Infiltration.  Die  Haferstärke  wirkt  wie  jedes 
andere  Kohlehydrat. 

Falta-Wien:  Die  Wirkung  des  Hafers  besteht  nicht  nur 
darin,  daß  verhältnismäßig  wenig  Zucker  bei  den  zahlreich  zu¬ 
geführten  Kohlehydraten  ausgeschieden  wird,  sondern  auch  in 
dem  Heruntergehen  der  Azidosis  und  der  Einschränkung  der 
Eiweißzersetzung,  die  sich  nur  durch  Ausnützung  der  Kohle¬ 
hydrate  als  solcher  erklären  läßt.  Die  Erfolge  der  Haferkur  sind 
nur  auf  eine  spezifische  Wirkung  des  Hafers  zurückzuführen, 
die  Eiweißbeschränkung  allein  ist  jedenfalls  nicht  das  maßgebende, 
denn  die  Wirkung  bleibt  auch  bei  Zulagen  großer  Roboratmengen 
bestehen,  Blums  Befunde  können  wir  nicht  bestätigen. 

H  i  s  -  Berlin  :  Es  scheint,  daß  sowohl  die  Haferstärke  als 
auch  die  übrigen  Bestandteile  des  Hafers  bei  der  Wirkung  in 
Betracht  kommen. 

B  o  r  u  1 1  a  u  -  Berlin  :  Bei  Durchströmung  von  Leber  oder 
Herz  von  pankreaslosen  Tieren  schwindet  das  Glykogen  außer¬ 
ordentlich  schnell,  nach  Zufügung  von  Pankreasextrakt  zur 
Durchströmungsflüssigkeit  wird  der  Glykogenverlust  viel  geringer, 
ja  die  Leber  kann  sich  dann  sogar  mit  Glykogen  anreichern. 
Aehnlich  wirkt  Zusatz  von  Haferextrakt. 

Lüthje -Kiel:  Ueber  die  gute  Wirkung  der  Haferkost  ist 
wohl  jede  Debatte  überflüssig;  man  kann  allerdings  unter  guten 
klinischen  Bedingungen,  genau  so  wie  Blum  mit  Buchweizen¬ 
oder  Reismehl  beinahe  dieselben  Wirkungen  erzielen,  anderer¬ 
seits  mit  zulange  protrahierter  Haferkost  schaden.  Die  feste 
Umschreibung  der  für  Haferkost  geeigneten  Fälle  ist  jedesfalls 
sehr  schwer. 

Kaufmann- Bad  Wildungen:  Wichtig  ist,  daß  bei  der 
Haferkost  die  gleichzeitige  Darreichung  anderer  Kohlehydrate 
schadet;  man  schaltet  daher  nach  der  Haferkost  eine  Ruhepause 
von  zwei  bis  drei  Stunden  ein,  bis  man  andere  Nahrungsmittel 
verabreicht. 

Minkowski-  Breslau  macht  auf  die  starke  Wasserreten¬ 
tion  und  Oedembildung  bei  der  Haferkur  aufmerksam. 

Ad.  Schmidt-  Halle :  Die  Haferstärke  wird  nach  unseren 
bisherigen  Kenntnissen  nicht  wie  Zellulose  teilweise  vergärt, 
sondern  genau  so  restlos  abgebaut,  wie  die  anderen  Stärke¬ 
arten.  Sowohl  chemische  Konstitution  als  Größe  der  einzelnen 
Stärkekörner  sind  dagegen  verschieden,  was  auch  bei  der  ver¬ 
schiedenen  Wertigkeit  von  Hafer-  und  anderer  Stärke  berück¬ 
sichtigt  werden  muß. 

Z  ü  1  z  e  r  -  Berlin  :  Bei  der  Spezialität  der  Haferwirkung  lag 
es  nahe,  eine  gleiche  Wirkung  des  Haferextraktes  und  des 
Pankreashormons  anzunehmen,  ersterer  kann  jedoch  Adrenalin 
nicht  neutralisieren. 

Weidenbaum  -  Neuenahr :  Die  Eiweißbeschränkung  scheint 
bei  der  Haferkur  die  Hauptsache  zu  sein,  denn  ersetzt  man  hierbei 
das  Pflanzeneiweiß  durch  Sanatogen,  so  geht  der  Urinzucker 
nicht  zurück. 

Magnus-Levy  (Schlußwort):  Eine  Hormonwirkung 
scheint  bei  der  Haferkur  nicht  vorzuliegen.  Mit  Grund  stimmt 
Magnus-Levy  überein,  daß  die  Verwertung  des  Hafermehls 
nicht  immer  gleich  bleibt.  Derartige  Versuche,  wie  Blum, 
Grund  u.  a.  hat  Magnus-Levy  ebenfalls  angestellt  und 
konnte  in  vielen  Fällen  mit  einer  eiweißarmen,  rein  vegetabili¬ 
schen  Mehlkost  qualitativ  Aehnliches  wie  mit  der  Hafernahrung 
erzielen,  aber  niemals  dasselbe.  Es  bestehen  also  unbedingt 
graduelle  Unterschiede,  v.  No  or  den  hat  seinerzeit  die  Indi¬ 
kationen  für  die  Haferkur  mit  Recht  sehr  vorsichtig  gestellt, 
doch  wird  man  sie  noch  ausdehnen  können.  Die  Gründe,  die 
Falt a  gegen  die  Vergärung  im  Darme  angeführt,  auf  die 
Magnus-Levy  übrigens  nicht  ausschließlich  die  Erfolge  der 
Haferkur  zurückführen  wollte,  scheinen  Vortragendem  nicht 
stichhaltig  zu  sein. 

von  den  Velden:  Düsseldorf :  Untersuchungen 
zum  Stoffaustausch  zwischen  Blut  und  Gewebe 


772 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


Akute  Aenderungen  der  Gerinnungsgeschwindigkeit  des 
Blutes  können  durch  Hereinziehung  einer  im  Gewebe  befind¬ 
lichen,  also  histogenen  Komponente  des  Gerinnungsaktes  hervor¬ 
gerufen  werden,  z.  B.  durch  Uebersalzen  des  Blutes,  durch 
Aderlaß,  Gliederabschnürung,  aber  auch  durch  Kälte  (Eisblase, 
Chlorätbylspray),  besonders  vom  Nacken  aus,  in  geringerem 
Grade  durch  Wärme.  Ebenso  gelingt  es,  durch  Anämisierung 
einer  Schleimhautpartie  mittels  Adrenalin  oder  durch  Adstrin¬ 
gentia  wie  Argentum  nitricum,  Cuprum  sulfuricum,  Plumbum 
aceticum,  Gerbsäure,  Terpentinöl,  also  Mittel,  denen  man  von 
altersher  eine  fernwirkende  hämostyptische  Wirkung  zuschrieb, 
nach  wenigen  Minuten  eine  universelle  starke  Erhöhung 
der  Gerinnungsfähigkeit  des  Blutes  zu  erzielen. 

Morawitz-F  reiburg :  Klinisches  und  Experi¬ 
mentelles  über  Eisentherapie. 

Bei  60  Fällen  von  Chlorose  mit  typischem  Chlorosebefund 
ohne  Verminderung  des  Blutfarbstoffs  ließen  sich  mit  Eisen  sehr 
günstige  Resultate  erzielen.  Die  Oligochromämie  steht  also  nicht 
im  Zentrum  des  Krankheitsbildes,  sondern  ist  nur  Symptom.  Bei 
durch  Aderlaß  anämisierten  Kaninchen  wurde  in  der  Regene¬ 
rationsperiode  kein  wesentlicher  Unterschied  im  Blutbild  mit 
oder  ohne  Eisendarreichung  wahrgenommen.  Die  v.  Noorden  sehe 
Reiztheorie  der  Einwirkung  besteht  demnach  nicht  zu  Recht. 

Diskussion:  Schmincke  -  Bad  Elster-Rapallo  :  Mittels 
des  von  Schmincke  modifizierten  Hämatokriten  ließen  sich 
bei  Normalen  ungefähr  50°/o  Erythrozyten  nachweisen,  bei 
Anämie  unter  42°/o.  Nach  Eisendarreichung  stieg  bei  einem  Teil 
der  Patienten  das  Maß  der  roten  Blutkörperchen. 

Ger  har  dt- Basel  hält  die  Fälle  von  Morawitz  nicht 
für  wirkliche  Chlorosen,  der  Erfolg  der  Eisentherapie  beweist  es 
jedenfalls  nicht;  Eisen  hilft  ja  bei  allen  Zuständen,  z.  B.  Ne¬ 
phritis.  Wie  schon  Sahli  seinerzeit  erwähnt,  verstecken  sich 
hinter  solchen  Pseudochlorosen  häufig  initiale  Tuberkulosen. 

Nenadovic-  Franzensbad  hebt  die  auffallende  Besserung 
einer  schweren  Anämie  in  Franzensbad  hervor. 

Morawitz  (Schlußwort)  hält  daran  fest,  daß  seine  Fälle 
echte  Chlorose  vorstellen. 

IV. 

Sitzung  vom  Donnerstag,  den  20.  April  1911. 

Koni  ge  r- Erlangen:  Ueber  Pleuritiswirkung  und 
Pleuritisbehandlumg. 

Unter  49  Fällen  von  primärer  Pleuritis  war  mit  einer  ein¬ 
zigen  Ausnahme  in  allen  anderen  Fällen  nach  der  Entfieberung 
eine  deutliche  Besserung  der  Tuberkulose  zu  konstatieren,  ja  in 
70olo  wurde  dauernde  Heilung  erzielt.  Bei  29  Fällen  sekundärer 
Pleuritis  blieben  11  seit  der  Pleuritis  dauernd  gesund,  in  5  Fällen 
trat  ein  Stillstand  der  Tuberkulose  ein.  Doch  ist  die  günstige 
Wirkung  nicht  lediglich  auf  mechanische  Momente,  wie  Ruhig¬ 
stellung  der  kranken  Lunge  etc.,  sondern  auch  auf  chemische 
Einflüsse  zurückzuführen.  Je  reiner  die  Pleuritis  klinisch  erscheint, 
d.  h.  je  mehr  sie  dem  Bilde  idiopathischer,  aus  voller  Gesundheit 
heraus  entstandenen  Pleuraerkrankung  entspricht,  desto  eher 
darf  und  muß  man  punktieren.  Dagegen  sind  bei  klinisch  na,ch- 
weislich  sekundären  Pleuritiden  schon  Punktionen  von  1  Liter 
von  allen  Zeichen  fortschreitender  Tuberkulose  gefolgt.  Der 
günstigste  Zeitpunkt  für  die  Punktion  scheint  das  Ende  der 
zweiten  bis  Anfang  der  vierten  Krankheitswoche  zu  bilden.  Bei 
Behandlung  von  serösen  Exsudaten  mit  Jodoformglyzerininjek¬ 
tionen  erzielt  man  sehr  befriedigende  Resultate.  Autoserotherapie 
regt  manchmal  die  Resorption  des  Exsudates  an,  übt  aber  bei 
wiederholter  Anwendung  einen  ungünstigen  Einfluß  auf  die 
Tuberkulose  aus. 

Stäub li-Basel-St.  Moritz:  Zur  Pathologie  und  The¬ 
rapie  des  Asthma  bronchiale. 

Stäubli  faßt  unter  dem  Begriff  der  „eosinophilen 
Diathese“  diejenigen  krisenartigen  Krankheitsäußerungen  zu¬ 
sammen,  die  mit  Eosinophilie  einhergehen.  In  gewissen,  aller¬ 
dings  individuell  variablen  Höhen  fehlt  für  das  Asthma,  das 
krisenauslösende  Moment,  und  die  Leute,  namentlich  Kinder, 
verlieren  sofort  nach  ihrer  Ankunft  in  bestimmter  Höhe  die  An¬ 
fälle.  Nur  bei  älteren  Patienten,  deren  Herz  schon  geschwächt 
oder  die  Stauungsbronchitis  besitzen,  sehen  wir  erst  nach  \\  ochen 
Besserung  eintreten.  In  diesen  Fällen  scheint  auch  die  Viskosität 
des  Blutes  regelmäßig  erhöht  zu  sein. 

D i e s i n g - Trebschen :  Tuberkulose  und  Stoffwechsel. 

D  i  e  s  i  n  g  will  mit  Adenochrom,  einem  organischen,  adrena- 
lintreien  Nebennierenpräparat  äußerst  günstige  Erfolge  bei  Tuber¬ 
kulösen  erzielt  haben. 


Bacmeister-Freiburg:  Experimentelle  Lungen¬ 
spitzentuberkulose. 

Läßt  man  junge  Tiere  in  eine  Drahtstenose  hineinwachsen, 
so  findet  man  nach  einiger  Zeit  eine  Verschmälerung  der  oberen 
Brustapertur  und  ein  Steilerstehen  der  ersten  Rippe,  ganz  ini 
Sinne  der  Freund  sehen  Kriterien.  Durch  die  auf  die  Lunge 
sich  fortsetzende  Druckwirkung  entsteht  in  der  subapikalen 
paravertebralen  Partie  eine  Atelektase,  welche  der  Schmorl- 
schen  Druckfurche  direkt  entspricht.  Zur  Prüfung  der  Zirku¬ 
lationsverhältnisse  wurde  Zinnober  in  die  Ohrvene  eingespritzt, 
wir  finden  ihn  dann  in  der  ersten  und  zweiten  Furche  ganz 
abgefangen.  Nach  Aufenthalt  im  Rußkasten  setzen  sich  die  Ru߬ 
massen  oberhalb  der  Druckstellen  in  den  Lymphräumen  ab. 
Denken  wir  uns  die  Rußteilchen  durch  Tuberkelbazillen  ersetzt, 
so  findet  man  dementsprechend  nach  hämatogener  Infektion 
(Injektion  in  die  Ohrvene)  einzelne  oder  mehrere  Tuberkelherde 
in  der  Lungenspitze  oberhalb  oder  direkt  in  der  Druckebene, 
aber  nie  in  den  übrigen  Lungenpartien.  Durch  Tropfeninhalation 
gelingt  es  dagegen  nie  eine  isolierte,  lokale  Spitzentuberkulose 
zu  erzeugen,  höchstens  im  Unterlappen  eine  Aspirationstuber¬ 
kulose.  Von  infizierten  Leistendrüsen  aus  kann  man  bei  solchen 
Tieren  auch  wunderschöne  isolierte  Spitzentuberkulosen  hervor- 
rufen,  sogar  echte  Peribronchitiden. 

Bruns- Marburg:  Ausschaltung  einzelner  Lungen¬ 
lappen  zu  therapeutischen  Zwecken. 

Genau  so  wie  man  in  der  Pneumothoraxlunge  völlige  Ate¬ 
lektase  und  absolute  Blutleere  absichtlich  erzeugt,  da  in  ihr  der 
Tuberkelbazillus  keinen  oder  fast  keinen  Boden  findet,  haben 
Sauerbruch  und  Bruns  einzelne  Aeste  der  Pulmonalis  unter 
bunden,  um  bronchiektatische  Kavernenbildung  günstig  zu  beein¬ 
flussen.  Gangrän  tritt  nicht  ein,  da  die  Bronchialarterie  erhalten 
blieb,  ebensowenig  anämische  Nekrose.  Die  bisherigen  Erfolge 
ermutigen  zu  weiteren  Versuchen. 

Diskussion  zu  den  Vorträgen  Königer-Bruns. 

Bönni  ger- Pankow:  Das  Symptom  der  Lymph¬ 
stau  u  n  g  bei  den  Erkrankungen  der  Pleura. 

Bönni  ger  demonstriert  Photographien,  welche  die  ein¬ 
seitige  Lymphstauung  bei  Erkrankungen  der  Pleura  (Karzinom, 
exsudative  Entzündung  etc.)  sehr  deutlich  illustrieren,  so  Stau¬ 
ungen  an  der  Mamma,  an  den  Nates  etc. 

Jessen-  Davos  machte  mit  einem  Kompressorium,  das  den 
Thorax  von  hinten  nach  vorne  komprimierte,  bei  Tuberkulose 
sehr  schlechte  Erfahrungen.  Die  Autoserotherapie  von  Gilbert 
leitet  bei  einmaliger  Anwendung  nicht  nur  die  Resorption  von 
Exsudaten  ein,  sondern  übt  auch  eine  günstige  antitoxische 
Wirkung  aus. 

Rothschild-Bad  Soden  a.  Taunus  betrachtet  bei  exakte) 
Feststellung  des  Ortes  der  Blutung  Hämoptoe  als  Indikation 
für  Anlegung  eines  künstlichen  Pneumothorax.  Rothschild 
betont  ferner  die  Häufigkeit  von  Hyperazidität  im  Magensäfte 
von  Phthisikern,  sie  wird  am  besten  durch  Kohlehydrate  beseitigt 

Ad.  Schmidt-  Halle :  In  den  Höhenkurorten  kommt,  ab 
gesehen  von  klimatischen  Faktoren,  Herabsetzung  des  Luftdruckes 
und  Verminderung  des  Sauerstoffpartialdruckes  in  Betracht.  Irr 
Experiment  kann  sowohl  die  Druckkompenente  für  sich  allein 
ausgeschaltet  (Albrecht,  K  u  h  n),  als  auch  der  normale  Sauerstoff 
Partialdruck  der  Luft  vermindert  werden,  ohne  daß  man  den 
Luftdruck  als  Ganzes  herabsetzt.  Bei  diesem  Atmen  in  Luft  mil 
verringertem  Sauerstoffgehalt  wird  in  der  Tat  Asthma  außer 
ordentlich  günstig  beeinflußt  und  steht  daher  Schmidt  nicht 
an,  diesen  Faktor  als  den  beim  Höhenklima  wahrscheinlich  wirk 
samen  anzusprechen.  Es  entwickelt  sich  dabei  eine  Hyperämie 
der  Lunge  infolge  des  Reizes  der  sauerstoffarmen  Luft,  auf  das 
Alveolarepithel,  wie  ja  bekanntlich  bei  zu  langem  Einatmen  sauer 
stoffreicher  Luft  eine  Desquamationspneumonie  entstehen  kann 

Zuelzer-  Berlin  hat  mit  Adrenalin-  oder  Adrenalin-Tuber 
kulin-Zerstäubungen  bei  Phthisikern  sehr  gute  Resultate  erhalten; 
bei  Asthmaanfällen  hat  er  von  Atropin,  Adrenalinzerstäubung  und 
Trägerapparat  viel  Gutes  gesehen. 

S  t  i  n  z  i  n  g  -  Jena :  Es  ist  sehr  verdienstvoll,  daß  Herr 
Koni  ger  der  Annahme  einer  stets  heilsamen  Wirkung  der 
Pleuraexsudate  bei  Lungentuberkulose  den  Boden  entzogen  hat 
Das  Exsudat  komprimiert  übrigens  meist  den  unteren  Teil  der 
Lunge,  wo  gerade  am  wenigsten  Tuberkulose  sitzt.  Idiopathische 
Pleuritiden  gibt  es  nicht.  Die  Autoserotherapie  hat  in  der  Jenaei 
Klinik  keine  nennenswerten  Erfolge  gezeitigt. 

Schoeppner  -  Bad  Reichenhall  lobt  die  gute  Wirkung 
der  pneumatischen  Kammern  bei  Asthma. 

Determann-St.  Blasien-Freiburg  hebt  den  günstigen 
Einfluß  des  Höhenklimas  bei  Kindern  hervor  sowie  die  Schwierig¬ 
keiten  exakter  Viskosimetrie. 


Nr.  21 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


773 


Kuhn-  Biebrich  a.  Rh.  möchte  die  Entstehung  von  Pneu¬ 
monien  bei  Versuchstieren  durch  längere  Sauerstoffzufuhr  be¬ 
stätigen. 

Ewald- Berlin  hat  bei  drei  Fällen  von  Pleuritis  von  der 
Autoserotherapie  keinerlei  Erfolg  gesehen.  Die  Behandlung  des 
Asthma  mit  Atropin  hat  schon  Trousseau  seinerzeit  vor¬ 
geschlagen. 

B  ö  n  n  i  g  e  r  -  Pankow  :  Schlußwort. 

Koni  ge  r  (Schlußwort)  bezeichnet  als  primäre  Pleuritiden 
solche,  bei  denen  vorher  klinisch  keine  Tuberkulose  nachweisbar 
ist,  ohne  damit  ihre  sekundäre  Entstehung,  z.  B.  von  der  Lunge 
aus,  leugnen  zu  wollen. 

S  t  ä  u  b  1  i :  Schlußwort. 

(Fortsetzung  folgt.) 


40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  zu  Berlin 

vom  19.  bis  22.  April  1911  (im  Langenbeckhause). 

Referent :  Dr .  M.  Katzenstein  - Berlin . 

(Fortsetzung.) 

v.  E  i  s  el  sbe  r  g  -  Wien  :  Demonstration  zur  Frage  der 
Urethralplastik  bei  Hypospadie. 

Bei  perinealer  Hypospadie  hatte  sich  mit  der  Entfernung  des 
Katheters  das  implantierte  Stück  der  Saphena  abgestoßen.  Die 
Reimplantation  der  Saphena  gelang  bis  auf  eine  Haarfistel. 

S trei ß ler-'Graz  transplantierte  den  Wurmfortsatz  bei  peri¬ 
nealer  Hypospadie.  Die  Resultate1  waren  am  besten,  wenn  die 
Serosa  abgetragen  war. 

Tierversuche  ergaben,  daß  sterile  Hohlorgane  (Harnleiter, 
Tube)  sich  erhielten,  während  bakterienhaltige  (Darm)  zugrunde 

gingen. 

Deutschländer  hat  bei  Ankylose  des  Kniegelenks  mit 
Erfolg  frisch  exstirpierten  Bruchsack  benützt. 

Perthes  war  in  der  Lage,  bei  einer  schweren  Oberkiefer¬ 
fraktur  mit  starkem  Herabsinken  des  Bulbus  und  dadurch  be¬ 
dingtem  Doppeltsehen  durch  Knochentransplantation  eine  Heilung 
dieser  Zustände  zu  erzielen. 

Felix  L and o is- Breslau  :  Die  Transplantation  in  die 

Blut  bahn.  ■ 

Vortr.  versuchte  mit  Epithelkörperchen  die  Transplantation 

in  die  Blutbahn  am  Hund. 

In  der  ersten  Sitzung  brachte  er  die  beiden  äußeren  Epi¬ 
thelkörperchen  in  das  Lumen  der  Vena  jugularis  externa  und1  ließ 
sie  vom  Blutstrom  wie  einen  Embolus  in  den  Kreislauf  spülen. 
Nach  14  Tagen  oder  drei  Wochen,  wenn  man  annehmen  konnte, 
daß  die  transplantierten  Epithelkörperchen  eingeheilt  waren, 
wurden  die  beiden  inneren  Epithelkörperchen,  resp.,  wenn,  schon 
eine  Schilddrüse  in  der  ersten  Sitzung  mitfortgenommen  war, 
das  letzte  innere  Epithelkörperchen  exstirpiert.  Waren  die  Epithel¬ 
körperchen  eingeheilt,  mußten  die  Hunde  frei  von  Tetanie  sein. 

Von  11  Hunden  gelang  es,  autoplastisch  Epithelkörperchen 
auf  embolischem  Wege  in  sieben  Fällen  funktionstüchtig  einzu¬ 
heilen. 

Sodann  tauschte- er  bei  je  zwei  Hunden  die  äußeren  Epithel¬ 
körperchen  nach  demselben  Modus  aus. 

Sieben  Hunde,  die  in  diesem  Sinne  homoioplastisch  operiert 
wurden,  starben  sämtlich. 

Die  homoioplastische  Transplantation  in  die  Blutbahn  auf 
embolischem  Wege  gelang  nicht. 

Vortr.  nimmt  daher  an,  daß  die  Epithelkörperchentransplan¬ 
tation  zum  Zwecke  der  Heilung  der  Tetanie  beim  Menschen 
von  einem  anderen  Individuum  erfolglos  ist. 

Schmieden  -Berlin  berichtet  über  die  theoretisch  wich¬ 
tigen  Erfahrungen,  die  er  mit  freier  Knochentransplantation  ge¬ 
macht  hat.  Selbstverständlich  muß  stets  dem  lebenswarmen  Knor¬ 
pel,  der  im  Zusammenhang  mit  dem  Perichondrium  überpflanzt 
wird,  der  Vorzug  gegeben  werden.  Großer  Wert  muß  aber  darauf 
gelegt  werden,  den  Knorpel  zur  Verpflanzung  demselben  Indivi¬ 
duum  zu  entnehmen.  Vortr.  legt  ferner  großen  Wert  auf  die  lebens¬ 
erhaltende  Bedeutung  der  Funktion.  Belasteter,  zur  Artikulation 
und  anderem  benützter  Knochen  und  Knorpel  bleibt  erhalten  und 
wächst  eventuell  sogar  weiter. 

Vortr.  bespricht  und  zeigt  sodann  besonders  glückliche  Er¬ 
gebnisse  der  freien  Knochentransplantation. 

Berge! -Hohensalza  weist  auf  die  Bedeutung  des  fibrins 
bei  der  Knochenneubildung  bin. 

Kirschner -Königsberg  macht  Mitteilungen  von  Versuchen 
über  Nerventransplantation. 


F riedric h- Marburg :  Bei  der  Transplantation  muß  Rück¬ 
sicht  genommen  werden  auf  die  Schädigung,  die  der  Körper  durch 
vorbergegangene  Infektion  erlitten  hat  und  auf  die;  man  das 
Mißlingen  der  Transplantation  zuweilen  zurückführen  kann. 

Er  warnt  vor  zu  ausgedehnter  Anwendung  konservativer 
Maßnahmen  bei  Tumoren  der  Extrernitäbemknoehen,  da  sehr  häufig 
danach  Metastasen  ein  treten. 

E  n  der  len- Würzburg  demonstriert  eimen  transplantierten 
Knochen,  der  zum  großen  Teil  nekrotisch  geworden  ist  und  teilt 
mit,  daß  ihm  von  vier  Kniegelenkstransplantationen  nach  Lexer 
zwei  gelungen  sind. 

G  u 1 ek  e  -  Straßburg  hat  Epithelkörperchen  zu  überpflanzen 
versucht,  jedoch  mit  negativem  Erfolge. 

Mül ler- Rostock  warnt  vor  übertriebenen  Hoffnungen  bei 
Transplantation  von  Knochen  aus  Leichenteilen. 

v.  R  r  a  m  a  n  n  -  Halle  hat  hei  Duradeiekt  nach  L  umorexscir- 
pation  mit  Erfolg  Fett  transplantiert. 

K  ö nig -Greifswald  hat  gute  Erfolge  erzielt  beim  Ersatz 
eines  resezierten  Unterkieferknochens  durch  Elfenbeinprothesen. 
Am  besten  gelingt  er,  wenn  die  Schleimhaut  nicht  verletzt  werden 
mußte.  War  dies  nicht  zu  vermeiden,  so  ist  eine  gute  Naht 
der  Schleimhaut  wegen  der  sonst  bestehenden  Infektionsgefahr 
erforderlich. 

R  akes -Brünn  hat  bei  Hypospadie  die  Urethra  durch  die 
Vena  basilica  mit  Erfolg  ersetzt. 

Henle- Dortmund  verwendete  Rippenknorpel  bei  Tiefstand 
des  Bulbus  zur  Vermeidung  der  Doppelbilder. 

v.  Frisch- Vien  benützte  bei  der  Sehnentransplantation 
nach  Sehnenvereiterung  die  Sehne  des  Flexor  carpi  ulnaris. 

Lexer-Jena:  Vollkommener  Ersatz  der  Speise¬ 
röhre. 

Das  27jährige  Mädchen  hatte  1901  aus  Versehen  Schwefel¬ 
säure  getrunken.  Als  sie  im  Dezember  darauf  eine  Stenose  be¬ 
kam,  wurde  sie  zuerst  mit  Bougierung  behandelt,  später  wurde 
eine  Gastrotomie  gemacht,  um  die  retrograde  Bougierung  durch¬ 
zuführen,  der  sich  die  Kranke  jedoch  entzog.  Bis  1908  nährte 
sie  sich  von  der  Magenfistel  aus.  Sie  ist  sodann  mehrfach  zur 
Herstellung  einer  neuen  Speiseröhre  operiert  worden,  und  zwar 
wegen  Bildung  Von  stark  hypertrophischen  Narben  in  langen 
Zwischenpausen. 

Durch  die  Roux  sehe  Operation  gelang  es,  die;  ausgeschaltete 
und  mit  dem  Magen  in  Verbindung  gebrachte-  Jejunumschlinge 
bis  zur  Mamma  unter  die  Haut  einzubeil-en.  Sodann  wurde;  durch 
Umkrempelung  und  Uebernähung  von  Jugulum  bis  zur  Oeffnung 
der  Jejunumschlinge  ein  iHautschlauch  gebildet.  Es  folgte  dann  die 
Oesophagotomie  zur  Vorbereitung  der  Verbindung  mit  jenem  Haut¬ 
schlau  ch.  Die  linke  Wand  der  Speiseröhre  wurde  so  stark  nach 
außen  gezogen  und  dicht  oberhalb  der  Klavikula  über  den  Kopf¬ 
nicker  hinübergenäht,  daß  eine  Verzerrung  der  Richtung  des 
Oesophagus  entstand  und  beim  Schlucken  alles  zur  Fistel  entleert 
wurde.  Darauf  folgte  im  September  1910  die  Verbindung  zwischen 
Ider  Oeffnung  der  Speiseröhre  mti  jener  des  Hautschlauches. 
Die  Patientin  ißt  heute  alles  ohne  Beschwerden;  man  sieht  den 
Hautschlauch  sich  sofort  nach  dem  Schlucken  lullen  und  den 
Bissen  hinabgleiten.  Trockene  Bissen  spült  sie  mit  einem  Schluck 
Wasser  oder  Milch  nach.  Die  Wunden  sind  ohne-  Fistel  ge¬ 
schlossen. 

W  u  1  Ls  tei  n  -Halle  hat  dasselbe  Verfahren  schon  vor  Jahren 
versucht. 

K  ü  In  Ui  e  1 1  -  Hamburg  berichtet  ebenfalls  über  drei  nach 
dieser  Richtung  hin  gemachte  Versuche. 

v.  Hacker -Graz  teilt  die  Beobachtung  einer  Oesophagus- 
fistel,  durch  Fremdkörper  entstanden  und  deren  operative  Hei¬ 
lung  mit.  Er  benutzte  einen  Muskellappen  zur  Ausfüllung  einer 
durch  Eiterung  entstandenen  Mediastinalhöhle. 

Scho  e  m  a  k  e  r  -  ’s  Gravenhage :  U  e  b  e  r  Uranoplast  i  k . 

Vortragender  beschreibt  eine  Methode  der  Uranoplastik,  die 
eine  Modifikation  der  Brophy  sehen  Operation  ist  und  zur  An¬ 
wendung  kommt  hei  Spaltbildungem,  bei  denen  der  Processus  alveo- 
laris  einen  Defekt  aufweist.  Durch  submuköse  üurclmieißelung 
der  vertikalen  Platte  der  Kiefer  hälften  werden  die  horizontalen 
Kieferstücke  mobilisiert  und  aneinandergebracht.  Mit  einer  kräf¬ 
tigen  Nadel  werden  sie  durchstochen  und  durch  drei  Se-iden- 
knopfnähte  aneinander  befestigt.  Die-  Operation  wird  bei  ganz 
jungen  Kindern  ausgeführt.  Später  folgt  die  Lippenplastik  und  die 
Vernälmng  des  weichen  Gaumens,  Operationen,  die  dann  beide 
sehr  leicht  sind,  da  diese  Teile  viel  näher  aneinandergebracht 
sind.  Auffallend  war  der  günstige  Einfluß  auf  den  Stand  der 
Nasenflügel  und  der  Scheidewand  zwischen  den  Nasenlöchern. 
Die  Alveolarränder  der  Ober-  und  Unterkiefer  korrespondierten 
nach  der  Operation  miteinander1. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  21 


774 


Wern  er -Heidelberg  berichtet  über  die  Erfahrungen  mit 
den  neueren,  nicht  operativen  Behandlungsmethoden  der 
bösartigen  Neubildungen  (darunter  Otto  Schmidts  Anti¬ 
meristem,  Coleys  _loxin,  Fermentinjektionen,  aktive  Immuni¬ 
sierung,  Saivarsaneinspritzungen,  Röntgen-  und  Radium therapie) 
und  vergleicht  damit  die  Chancen  der  chirurgischen  Verfahren, 
wvenn  man  dieselben  nach  den  im  Samariterhause  erprobten 
Grundsätzen  mit  den  modernen  Hilfsmitteln,  die  an  und  für 
sich  in  den  meisten  Fällen  nur  palliativen  Wert  haben,  unterstützt. 
Danach  sind  einzelne  Sarkom-  und  Epitheliomformen  auf  nicht- 
chirurgischem  Wege  durch  Strahlen-,  Toxin-  oder  Arsentherapie 
zu  heilen,  sonst  aber  ist  überall,  wenn  irgend  möglich,  die  Ra¬ 
dikaloperation  auszuführen.  Diese  sollte  bei  geeigneter  Lage:  des 
Tumors  nicht  mit  dem  Messer,  sondern  mit  dem  elektrischen 
Lichtbogen  vorgenommen  werden,  namentlich,  wenn  die  ana¬ 
tomischen  Verhältnisse  keine  breite  Exstirpation  im  Gesunden 
gestatten.  Unter  allen  Umständen  ist  eine  offene  Wundbehandlung 
zur  wirksamen  Applikation  der  Röntgeinstrahlen  einzuleiten,  wo 
dies  nur  irgendwie  technisch  durchführbar  ist.  Als  Schutz  gegen 
die  Metastasen  ist  eine  aktive  Immunisierung  scheinbar  nicht  ohne 
Wirkung,  doch  müssen  noch  weitere  Erfahrung  über  die  Un¬ 
schädlichkeit  und  den  Wert  der  Methode  gesammelt  werden,  ehe 
man  das  Verfahren  allgemein  empfehlen  darf.  Ist  eine  Radikal¬ 
operation  nicht  mehr  möglich  und  die  nichtchirurgische  Behand¬ 
lung  ausgeschlossen,  dann  kommt  in  erster  Linie!  die  operative 
Freilegung  der  Geschwulst  zum  Zwecke  der  Piöntgenbestrahlung 
in  Frage  und  nur,  wenn  dieses  Verfahren  unausführbar  er¬ 
scheint,  ein  Versuch  mit  den  übrigen  Palliativmitteln. 

Bier -Berlin  demonstriert  eine  78jährige  Frau,  bei  der  nach 
Exzision  eines  Kankroids  des  Gesichtes  ein  handflächengroßes, 
die  ganze  Wange  einnehmendes  schweres  Rezidiv  mit  Fazialis¬ 
lähmung,  Kieferklemme  und  Drüsenmetastasen  eingetretem  war. 
Da  es  inoperabel  war,  wurde  eine  gründliche  Ausschabung  mit 
dem  Löffel  vorgenommen  und  die  Umgebung  mit  Borsäuregelatine 
injiziert.  Vortr.  läßt  es  dahingestellt,  ob  die  eingetretene  voll¬ 
kommene  Hjeilung  auf  diese  oder  auf  das  später  eintretemde 
Erysipel  zurückzuführen  ist.  Die  Patientin  wird  geheilt  vor- 
geführt. 

d  e  Ru  y  t  er  -  Berlin  hat  kurze  Zeit  nach  einer  Hodcnver- 
letzung  ein  Karzinom  auftreten  sehen.  * 

C  z  er ny -Heidelberg  konnte  bei  Sarkomen  einen  günstigen 
Einfluß  durch  Salvarsaninjektionen  feststellen  und  empfiehlt  im 
übrigen  eine  kombinierte  Behandlungsmethode  bei  bösartigen  Tu¬ 
moren.  Auch  Drey er- Breslau  hat  in  einem  Falle  von  malignem 
Lymphomen  eine  wesentliche  Besserung  durch  Salvarsaninjek- 
tion  gesehen. 

Stammler-Ham'burg :  Ueber  neue  serologische  Me¬ 
thoden  der  Karzinomdiagnose. 

Die  Meiostagminreaktion  ist  zwar  keine  spezifische  Krebs¬ 
reaktion,  sondern  besteht  vielmehr  in  einem  Nachweis  von  Stoffen, 
die  bei  einem  größeren  Zellzerfall  nachweisbar  sind.  Sie  war 
etwa  in  73%  positiv  und  ist  unter  Berücksichtigung  der  übrigen 
klinischen  Methoden  äußerst  brauchbar.  Die  neuerdings  Von 
Freund  angegebene  Methode  ergab  80%  positiven  Ausfall  und  ist 
ebenfalls  ein  sehr  brauchbares  Verfahren. 

Keil ing- Dresden  hält  die  Meiostagminreaktion  für  spe¬ 
zifisch  bei  Karzinom,  und  Rantzi-Wien  teilt  mit,  daß  ihm  die 
Freund  sehe  Methode  sehr  brauchbare  Resultate  geliefert  hat. 

Friedrich  Hesse -Dresden:  Mitteilungen  zur  Demon¬ 
stration  geheilter  Stich  Verletzungen  des  Herzens. 

Vortr.  hat  sechs  Fälle  von  Herz  Verletzungen  selbst  operiert. 
Ein  Fall  (Schuß)  starb  sieben  Stunden  nach  der  Operation.  Die, 
übrigen  fünf  Stichverletzungen  (zwei  linker",  ein  rechter  Ventrikel, 
zwei  linker  Vorhof)  sind  geheilt  und  werden  demonstriert.  Auf 
Grund  seiner  Erfahrungen  spricht  sich  Verfasser:  1.  gegen  ein 
atwartendes  Verhalten  aus,  weder  bei  sicheren,  noch  bei  wahr¬ 
scheinlichen  Herzverletzungen,  2.  gegen  Darreichung  von  Ex- 
zitantien  vor  beschlossener  Operation,  hält  aber  wie  bei  vielen 
Herzaffektionen  überhaupt  Morphium  für  günstig.  3.  Schnitt¬ 
führung  soll  individualisieren,  aber  guten  Zugang,  ErWeiteruings- 
fähigkeit  des  Schnittes  und  die  gute  Lage  einer  eventuellen  Peri¬ 
karddrainage  berücksichtigen.  Bei  sicherer  Diagnose  der  Herzvcr- 
letzung  Empfehlung  extrapleuralen  Vorgehens,  eventuell  ohne 
Rücksicht  auf  Lage  der  äußeren  Verletzung;  der  Hämatothorax 
kann  besonders  durch  Punktion  versorgt  werden.  4.  Zur  Frage 
der  Pleuradrainage:  War  die  Pleurahöhle  bei  der  Operation  längere 
Zeit  und  'breit  offen,  dann  empfiehlt  Hesse  sorgfältige  Pleura¬ 
drainage  und  zwar  Schaffung  eines  guten  Abflusses  am  tiefsten 
Punkt,  also  eine  „prophylaktische  Drainage“  links  hinten  unter¬ 
hall)  der  Skapula,  wie  es  Hesse  bereits  1905  in  seinen  beiden 
ersten  Fällen  tat.  Eine  mögliche  Infektion  muß  bereits  den'  ricli- 

Yeran ‘wörtlicher  Redakteur  :  Karl  Knbastn« 


Ligen  Abllußweg  vorfinden.  Das  „Wie"  der  Drainage  spielt  sicher¬ 
lich  eine  große*  Rolle*  und  eine  nach  falschen  Prinzipien  angelegte 
Drainage  kann  sicherlich  eher  .schaden  als  nützen. 

Diskussion:  E .  1 1  es  s  e  -  St.  Petersburg  berichtet  über 
21  Herzverletzungen,  von  denen  15  zugrunde  gingen,  11  an  An¬ 
ämie  und  4  an  Infektion.  Von  den  6  Geheilten  war  hei  drei 
der  Wund  verlauf  durch  eitrige  Pleuritis  und  Perikarditis  kom 
pliziert.  Die  übrigen  drei  heilten  glatt.  Die  Dauerresultate  sind 
bei  sämtlichen  sechs  Fällen  gut. 

Emst  F  u  c  h  s  i  g  -  Schärding  a.  I.:  Die  transdiaphragma¬ 
tische  Freilegung  des  Herzens. 

Medianer  Schnitt  von  der  Brustbeinkörper-Schwertfortsatz- 
grenze  abwärts  12  cm  lang,  Durchtrennung  der  Faszie*  in  der  Linea 
alba,  Zurückschieben  des  präperitonealen  Fettgewebes  und  Unter- 
minierung  des  Schwertfortsatzes.  Mediane  Spaltung  desselben 
mit  Billroth  scher  Knochenschere,  evjemtuell  des  Schwertfurl- 
satzes,  Spaltung  des  vom  Peritoneum  isolierten  Zwerchfells  median 
nach  hinten,  worauf  das  Perikard  sichtbar  wird.  Nach  Inzision 
desselben  in  der  Längsrichtung  Übersicht  man  gut  die  untere 
Hälfte  des  Herzens,  kann  mit  der  Hand  eingehen  und  Herzwunden 
nähen.  Vortragender  hat  bei  einer  Herzstichverletzung  diesen 
Weg  bei  Verdacht  auf  gleichzeitige  Magenverletzung  mit  Erfolg 
gewählt.  Die  Naht  an  der  Herzspitze  war  leicht  auszuführen. 
Die  Eröffnung  des  Peritoneums  orientierte  rasch  über  die  Ver¬ 
hältnisse  am  Magen.  —  Die  transdiaphragmatische  Freilegung 
des  Herzens  ist  leicht  ausführbar,  bei  einiger  Uebung  Verletzung 
von  Peritoneum  und  Pleuren  (links  halten!)  leicht  zu  vermeiden; 
die  Methode  hat  den  Vorzug  der  raschen  Ausführbarkeit,  ohne 
Schädigung  der  Thoraxfestigkeit.  Die  Naht  des  Herzens  ist  nicht 
schwierig,  bei  Nebenverletzungen  von  Baucheingeweiden  macht  die 
Eröffnung  des  freiliegenden  Peritoneums  diese  zugänglich.  Me¬ 
thode  geeignet  bei  Herzwunden  im  Bereiche  der  untern  Herz¬ 
hälfte,  für  Perikard iotomien,  bei  eitriger  Perikarditis.  Drainage- 
verhältnisse  günstig,  demzufolge  auch  der  Wundverlauf  günstig. 
Bei  infizierten  Herzwunden  geringere  Gefahr,  weil  Pleura-  un’d 
Peritoneumverletzung  leicht  zu  vermeiden  ist. 

Diskussion:  Wilms-  Heidelberg  hat  vier  Herzoperationen 
wegen  Herzverletzung  gemacht  und  geht  stets  prinzipiell  zwischen 
zwei  Rippen  durch  die  Pleura  ein.  Es  handelte  sich:  um  einen 
Stich  im  rechten  Vorhof  (geheilt);  Schuß  im  linken  Ventrikel 
(geheilt);  Stich  im  linken  Ventrikel  (Tod  auf  denn  Operationstisch); 
Schuß  im  rechten  Vorhof.  Bei  diesem  Falle  war  die  Naht  der 
ganz  hinten  gelegenen  Wunde  nur  nach  völliger  Luxation  'los 
Herzens  möglich.  Der  Tod  trat  infolge  gleichzeitiger  Verletzung 
der  Pulmonalis  ein. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Programm 

der  am 

Freitag  den  26.  Mai  1911,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Regierungsrat  Prof.  A.  Kreidl  stattfinder, den 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz  :  Ueber  Digitalisleim.  (Vorläufige  Mit¬ 
teilung.) 

2.  Dr.  tdolf  Kronfeld  :  Zur  Entwicklung  des  Anatomiebildes  in 

neuerer  Zeit.  (Mit  Demonstration.)  ?  I 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Fr.  Dimmer,  v.  Fiirtli  und 

E.  Lenk,  M.  Sternberg. 

.  Bergmeister,  Paltauf. 

Um  die  rechtzeitige  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen, 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbcm  erkungen 
dem  Schriftführer  iiocli  am  Sitzuiigsabenfl  zu  übergeben. 


Wiener  laryngo-rhinologische  Gesellschaft. 
Nächste  Sitzung  Mittwoch  den  14.  Juni  1911,  7  Uhr  abends,  in 

Hörsaale  der  Klinik  Hofrat  C  h  i  a  r  i. 
Demonstrationen.  R  e  t  h  1. 


Oesterreicbische  otologische  Gesellschaft. 
Programm  der  Montag  den  29.  Mai  1911,  6  Uhr  abends,  im  Hörsaai 

der  Klinik  Ur-bantschitsch  stattfindenden  wissenschaftlichen  Sitzung« 
1.  Demonstrationen.  Angemeldet  die  Herren:  Prof.  Urbantschitscli, 

(lomperz,  ltuttin,  E.  Urbantschitscli,  Reck. 

Bondy,  Schriftführer. 
Verlag  von  Wilhelm  Branmüller  in  Wi»n. 


Druck  ron  Bruno  Bartclt.  Wien  XVIII.,  Theresiemjanso  8. 


Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

0  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner.  S.  Exner.  E.  Finger.  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko.  H.  Meyer.  J.  Moeller.  K.  v.  Noorden, 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  G.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs,  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 


Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 


XXIV.  Jahrg. 


Wien,  I.  Juni  1911 


Nr.  22 


INH 

1.  Originalartikel :  1.  Ueber  St.  Joachimsthaler  Radiumträger.  Vor¬ 
läufige  Mitteilung.  Vom  k.  k.  Badearzte  Dr.  Fritz  Dautwitz, 
St.  Joachimsthal.  S.  775. 

2.  Ueber  die  Abhängigkeit  der  Darmmotilität  vom  motorischen 
und  sekretorischen  Verhalten  des  Magens.  Von  Dr.  Siegfried 
Jonas.  S.  777. 

3  Aus  der  Universitätskinderklinik  in  Lemberg.  (Vorstand: 
Prof.  Raczyriski.)  Das  Verhalten  des  Reduktionsindex  (nach 
E.  Mayerhofer)  in  der  normalen  und  pathologischen  Zerebro¬ 
spinalflüssigkeit,  Von  Dr.  Mathilde  Lateiner,  Assistentin  der 
Klinik.  S.  783. 

4.  Aus  der  Abteilung  für  Frauenkrankheiten  der  Wiener  All¬ 
gemeinen  Poliklinik.  (Vorstand:  Prof.  Dr.  H.  Peham.)  Ein  Fall 
von  Mangel  des  rechten  Ovariums  bei  rudimentärer  Entwicklung 
der  rechten  Tube.  Von  Dr.  Ludwig  H  e  r  z  1.  S.  787. 

5.  Aus  der  deutschen  chirurgischen  Klinik  in  Prag.  Selbsthaltender 
Operationsmundsperrer.  Von  Dr.  Rudolf  R  u  b  e  s  c  h,  Assistenten 
der  Klinik.  S.  789. 

II.  Diskussion:  Bemerkungen  zur  Zuschrift  des  Herrn  Geheimrates 
Prof.  Ehrlich  in  Nr.  21  der  Wiener  klin.  Wochenschrift.  Von 
Dr.  Viktor  Hrdliczka.  S.  790. 

= 

Ueber  St.  Joachimsthaler  Radiumträger. 

Vorläufige  Mitteilung. 

Vom  k.  k.  Badearzte  Dr.  Fritz  Dautwitz,  St.  Joachimsthal. 

Die  Natur  des  Radiums  setzte  nicht  nur  Physiker  in 
größtes  Erstaunen,  erregte  das  lebhafteste  Interesse  nicht 
allein  von  Chemikern  und  Biologen,  sondern  auch  der  ärzt¬ 
lichen  Kreise,  welche  sich  ebenfalls  bald  eingehend  mit  dieser 
wunderbaren  Substanz  beschäftigten. 

Von  den  Erscheinungen,  welche  die  Radiumstrahlen  bei 
biologischen  Vorgängen  hervorzurufen  vermögen,  war  es  vor 
allem  die  zellverändernde  Wirkung  dieser  Strahlen,  die  für 
therapeutische  Zwecke  in  der  Weise  nutzbar  gemacht  wurde, 
daß  das  kostbare  Radiumsalz  eingeschlossen  in  Hüllen  und 
Kapseln  (aus  verschiedenem  Material  z.  B.  Zelluloid,  Kaut¬ 
schuk,  Ebonit,  Metall,  Glas  bestehend)  zur  Bestrahlung  patho¬ 
logischer  Haut- und  Schleimhautprozesse  diente.  Wenn  einer¬ 
seits  bei  dieser  Anordnung  ein  Verlust  des  wertvollen  zur 
Bestrahlung  verwandten  Radiumpräparates  nicht  erfolgte,  so 
haftete  anderseits  derartigen  Bestrahlungsapparaten  doch  mehr 
oder  weniger  eine  ganze  Reihe  verschiedener  Nachteile  an, 
die  sich  besonders  dann  fühlbar  machten,  wenn  mit  der 
Radiumbehandlung  auch  ein  günstiges  kosmetisches  Resultat 
erzielt  oder  größere  Flächen  der  Radiumstrahlung  unter¬ 
worfen  werden  sollten.  Es  möge  nur  die  ungleichmäßige 
Strahlenwirkung,  der  infolge  der  Einhüllung  stattfindende 
große  Verlust  an  wirksamer  Strahlung,  die  kleine  wirksame 
Fläche,  die  für  manche  Zwecke  ungeeignete  Form  solcher 
Apparate  erwähnt  und  noch  vermerkt  werden,  daß  bei 
manchen  derartigen  Apparaten  eine  Reinigung  und  Desinfektion 


L  T: 

III.  Referate :  Gegenbauers  Lehrbuch  der  Anatomie  des  Menschen. 
Von  M.  Fürbringer.  Das  Wachstum  des  Menschen  nach 
Alter,  Geschlecht  und  Rasse.  Von  S.  Weißenberg.  Hand¬ 
buch  der  Anatomie  und  Mechanik  der  Gelenke  unter  Berück¬ 
sichtigung  der  bewegenden  Muskeln.  Von  Rudolf  Fink. 
Ref. :  Tandler.  —  Geschichte  und  Beschreibung  des  Baues 
der  neuen  Frauenkliniken  in  Wien.  Von  R.  Chrobak  und 
F.  Schauta.  Die  junge  Frau.  Betrachtungen  und  Gedanken 
über  Schwangerschaft,  Geburt  und  Wochenbett.  Von  Dr.  Wilhelm 
Huber.  Festschrift  zur  Jahrhundertfeier  des  Trierschen  Insti¬ 
tutes  (Universitäts-Frauenklinik  in  Leipzig)  am  29.  Ok¬ 
tober  1910.  Von  P.  Zweifel.  Die  Behandlung  der  Frauen¬ 
krankheiten.  Von  J.  Veit.  Ref.:  Ke  i  tier.  —  Die  Behandlung 
der  Nasenbrüche  und  der  Mißbildungen  der  Nasenscheidevvand. 
Von  Dr.  Claude  und  Dr.  Francisque  Martin.  Ref.:  Ewald. 

IV.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

V.  Sozialärztliche  Revue.  Von  Dr.  L.  Sofer.  S.  800. 

VI.  Vermischte  Nachrichten. 

VII.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


unmöglich  und  auch  ihre  wirksame  Strahlenmenge  nicht  be¬ 
stimmbar  ist.  Diese  Mängel  veranlaßten  wahrscheinlich  auch 
viele  Aerzte,  von  einer  therapeutischen  Verwendung  des 
Radiums  für  Bestrahlungen  vorläufig  abzusehen.  ' 

Eine  französische  Firma  (Armet  de  Lisle,  Paris)  kon¬ 
struierte  vor  mehreren  Jahren  eine  andere  Type  von  Radium¬ 
bestrahlungsapparaten,  bei  denen  Metall  oder  Hanfgewebe 
als  Grundlage  für  das  in  eine  Lack-  oder  Firnismasse  ein¬ 
geschlossene  Radiumsalz  dient.  Damit  stellten  u.  a.  auch 
Wickham  und  Degrais1)  ihre  Versuche  an,  worüber 
vor  einiger  Zeit  ausführlich  berichtet  wurde ;  gleichzeitig 
teilten  diese  Autoren  auch  ihre  mit  Radiumbestrahlung  er¬ 
zielten  Heilerfolge  mit,  die  weite  Kreise  lebhaft  interessieren ; 
wenngleich  bei  den  französischen  Apparaten  viele  der  früher 
aufgezählten  Nachteile  vermieden  werden  konnten,  weisen 
doch  Wickham  und  Degrais  auf  gewisse  Mängel  hin, 
worauf  bei  der  Verwendung  dieser  Apparate  Rücksicht  zu 
nehmen  ist:  Die  radiumhaltige  Schichte  ist  sehr  leicht  vulne¬ 
rabel  und  hält  einer  entsprechenden  Reinigung  und  Desin¬ 
fektion  nicht  stand.  Haben  schon  diese  beiden  Momente 
wahrscheinlich  manchen  aufmerksamen  Leser  der  Arbeit 
Wickhams  und  Degrais  von  der  Anschaffung  solcher 
Bestrahlungsapparate  abgehalten,  so  dürfte  außerdem  noch 
der  unverhältnismäßig  hohe  Preis,  zu  welchem  die  franzö¬ 
sischen  Apparate,  deren  Herstellung  Fabriksgeheimnis  ist, 
verkauft  werden,  Grund  dafür  sein,  daß  diese  Apparate  in 
der  Therapie  keine  besonders  ausgedehnte  Anwendung  fanden. 


l)  Wickham  und  Degrais:  Radiumtherapie,  Berlin  1910, 
Julius  Springe  r. 


776 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


Da  die  bisherigen  Erfahrungen  gelehrt  haben,  -  daß 
Radiumbestrahlung  schon  mittels  der  bisherigen  Behelfe  bei 
geeigneten  Fällen  angewandt,  therapeutische  wertvolle  Re¬ 
sultate  erzielen  kann,  war  mein  Bestreben,  vom  k.  k.  Mini¬ 
sterium  für  öffentliche  Arbeiten  in  weitgehendstem  Maße  ge¬ 
fördert,  darauf  gerichtet,  möglichst  vollkommene  Radium¬ 
bestrahlungsapparate  anzufertigen. 

Die  Natur  sowie  der  Wert  der  die  wirksamen  Strahlen 
liefernden  Substanz  sind  die  Ursache  dafür,.  daß  solche  Ap¬ 
parate  immer  nur  einen  gewissen  Grad  von  Vollkommenheit 
erreichen  können  und  mit  einer  gewissen  Sorgfalt  behandelt 
werden  müssen. 

Trotz  dieser  Voraussetzung  scheint  es  aber  doch  mög¬ 
lich  zu  sein,  die  für  Radiumbestrahlung  bestimmten  Behelfe 
technisch  derart  vollkommen  auszugestalten,  daß  dadurch  die 
therapeutische  Verwendung  des  Radiums  für  Bestrahlung  nicht 
wesentlich  behindert  wird.  Die  radiumhaltige  Masse  —  das 
Radiumsalz  muß  nämlich  zwecks  Vermeidung  mancher  früher 
aufgezählter  Nachteile  in  irgend  einer  Weise  fixiert  gehalten 
werden  —  muß  soweit  als  möglich  allen  Anforderungen  ent¬ 
sprechen.  Sowohl  die  französischen  Apparate  als  auch  ein 
vor  kurzem  von  Wichmann  2)  erwähnter  Apparat  bedürfen 
in  dieser  Hinsicht  einer  Verbesserung.  Für  den  Gebrauch 
seines  Apparates  gibt  Wichmann  die  Weisung,  daß  „die 
dem  Präparate  schädliche  Feuchtigkeit  abzuhalten  sei“  ;  die 
Mängel  der  ersteren  Apparate  wurden  bereits  erwähnt. 

Eine  meines  Erachtens  besonders  wichtige  Eigenschaft 
fehlt  allen  diesen  Apparaten,  d.  i.  eine  derartige  Wider¬ 
standsfähigkeit  der  radiumhaltigen  Schichte,  daß  dieselbe 
gereinigt  und  desinfiziert  werden  kann.  Diese  Forderung, 
welche  auch  dadurch  keine  Einschränkung  erfährt,  daß  näm¬ 
lich  die  Apparate  für  Radiumbestrahlung  in  sehr  vielen 
Fällen  mit  Filtern  verwendet  werden,  scheint  um  so  berech¬ 
tigter  zu  sein,  als  doch  diese  Apparate  im  Kontakt  mit  der 
äußeren  Haut  oder  einer  Schleimhaut,  sehr  oft  auch  auf  Ge¬ 
schwürsflächen  appliziert  werden  müssen. 

Bei  der  Herstellung  der  St.  Joachimsthaler  Radium¬ 
träger  war  es  daher  vor  allem  die  Aufgabe,  eine  Substanz 
zu  finden,  die  das  Radiumsalz  einzuschließen  und  auf  der 
Unterlage  (Metall  oder  Gewebe)  vollkommen  festzuhalten  hat; 
sie  muß  nicht  allein  die  nötigenfalls  zur  Reinigung  und  Des¬ 
infektion  der  Apparate  erforderlichen  Maßnahmen,  ohne 
Schaden  zu  nehmen,  ertragen,  nicht  bloß  dem  zerstörenden 
Einfluß  der  Radiumstrahlen  standhalten,  sondern  auch  mög¬ 
lichst  wenig  Radiumstrahlen  absorbieren,  damit  das  teure 
Radiumpräparat  infolge  des  Einschließens  an  seiner  wirk¬ 
samen  Strahlung  nur  eine  ganz  geringe  Einbuße  erleidet. 

Von  den  bisher  bestehenden  Bestrahlungsapparaten  unter¬ 
scheiden  sich  die  St.  Joachimsthaler  Radiumträger,  bei  denen 
Metall  die  Unterlage  bildet,  zunächst  dadurch,  daß  die  radium¬ 
haltige  Schichte  infolge  ihrer  Härte  und  gleichzeitigen  Elasti¬ 
zität  gegenüber  grobmechanischen  Einflüssen  (Ritzen,  Ab¬ 
nutzung,  Stoß,  Schlag,  Fall  etc.)  ganz  bedeutende  Wider¬ 
standsfähigkeit  besitzt. 

Bei  den  St.  Joachimsthaler  Radiumträgern  konnte  weiters 
erreicht  werden,  daß  sie  im  Bedarfsfälle  entsprechend  ge¬ 
reinigt  werden  können.  Dazu  kann  ohne  Beeinträchtigung  der 
das  Radiumpräparat  enthaltenden  Schichte  Wasser,  Schwefel¬ 
äther  oder  Benzin  benützt  werden.  Wattebäuschchen  werden 
in  diesen  Flüssigkeiten  getränkt  und  damit  die  radiumhaltige 
Masse  vorsichtig  abgewischt. 

Gegenüber  den  übrigen  derartigen  Apparaten  besteht 
eine  Verbesserung  der  St.  Joachimsthaler  Radiumträger  darin, 
daß  sie,  wenn  erforderlich,  auch  desinfiziert  werden  können. 
Eine  solche  Desinfektion  kann  mit  absolutem  Alkohol,  Alkohol- 
Azeton  und  Formalindämpfen  vorgenommen  werden,  ohne 
daß  darunter  die  radium  haltige  Masse  Schaden  leiden  würde, 
denn  in  einem  Bericht  des  Institutes  für  Radiumforschung 
der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften  an  das  k.  k. 
Ministerium  für  öffentliche  Arbeiten  wird  folgendes  erwähnt: 


2)  I’.  Wichmann,  Radium  in  der  Heilkunde  Harnburg-Leipzig  1911, 

Leopold  V  o  ß. 


»Zuerst  wurde  betreffs  der  Sterilisierungsfähigkeit  durch 
Alkohol  festgestellt,  daß  zehntägiges  Liegen  in  960/0igeni 
Alkohol  für  die  Aktivität  unschädlich  ist,  indem  hiedurch  keine 
merklichen  Spuren  3)  von  Radiumsalz  herausgelaugt  werden.« 

Versuche  haben  übrigens  noch  ergeben,  daß  diese 
Apparate  dem  dreistündigen  Einwirken  trockener  Hitze  (120°) 
sowie  dem  kochenden  Wasser  durch  zehn  Minuten  wider¬ 
stehen  können.  Da  sich  jedoch  bei  diesen  beiden  Maßnahmen 
infolge  der  Erhitzung  teils  eine  schwere  Störung  im  radio¬ 
aktiven  Gleichgewichte  der  Apparate  einstellt,  teils  durch 
öftere  Anwendung  derselben  das  eine  oder  andere  Mal  doch 
eine  Schädigung  der  radiumhaltigen  Schichte  eintreten  könnte, 
wird  es  sich  empfehlen,  davon  abzusehen,  zumal  ja  die  An¬ 
wendung  der  früher  angegebenen  Flüssigkeiten  zur  Reinigung 
und  Desinfektion  vollkommen  hinreichend  sein  dürfte. 

Hervorzuheben  ist  noch  die  ganz  beträchtliche  Aus¬ 
nutzung  der  vom  Radiumpräparat  trotz  seiner  Einschließung 
abgegebenen  Strahlenmenge,  wodurch  sich  die  St.  Joachims¬ 
thaler  Radiumträger  vor  den  übrigen  Radiumbestrahlungs¬ 
apparaten  auszeichnen.  In  dem  früher  erwähnten,  Modelle 
von  St.  Joachimsthaler  Radiumträgern  betreffenden  Bericht 
des  Institutes  für  Radiumforschung  wird  betreffs  der  a-Strahlung 
erwähnt:  »Weiters  wurde  festgestellt,  daß  die  Radium¬ 
emanation  fast  vollständig  zurückgehalten  wird,  so  daß  die 
daraus  entstandenen  Zerfallsprodukte,  vor  allem  das  strahlungs¬ 
wirksamste  Ra-G  darin  aufgespeichert  sind.  Dadurch  ist 
erzielt,  daß  bei  unbedekten  Scheibchen  wesentlich  die 
a-Strahlung  von  Radium  selbst  sowie  die  der  Radiumemana¬ 
tion  und  "die  von  Ra- A  und  Ra-C  zur  Wirkung  gelangen 
können.  Diese  letztgenannte  a-Strablung  von  Ra-G  ist  die 
durchdringlichste  der  genannten  «-Strahlungen  und  daher 
besonders  maßgebend.« 

»Daraus  ergibt  sich,  daß  etwa  der  vierte  Teil  der  vom 
reinen  Radium  erzielbaren  Wirkung  tatsächlich  erhalten  wird, 
was  als  sehr  günstiges  Ergebnis  betrachtet  werden  muß.« 

Da  mithin  bei  den  St.  Joachimsthaler  Radiumträgern 
schon  eine  ganz  hervorragend  gute  Ausnutzung  der  a-Strahlung 
—  der  am  leichtesten  absorbierbaren  Radiumstrahlen  —  er¬ 
zielt  werden  konnte,  ist  es  klar,  daß  die  weniger  leicht  absor¬ 
bierbare  ß-Strahlung  bei  den  St.  Joachimsthaler  Radium¬ 
trägern  voll  und  ganz  zur  Wirkung  gelangt. 

In  einfacher  Weise  kann  die  von  den  St.  Joachims¬ 
thaler  Radiumträgern  emittierte  Strahlung  an  Schirmen  ge¬ 
zeigt  werden,  die  mit  S  i  d  o  t  scher  Blende  oder  Barium- 
platinzyanür  bedeckt  sind.  Selbst  wenn  diese  Apparate  nur 
eine  ganz  geringe  Menge  eines  keineswegs  hochwertigen 
Radiumsalzes  enthalten,  erregen  die  von  ihnen  abgegebenen 
Radiumstrahlen  an  diesen  Schirmen  lebhafte  Leuchterschei¬ 
nungen. 

Es  ist  Vorsorge  getroffen,  daß  an  den  Metall- 
apparaten,  die  für  die  jeweilige  Bestrahlung  nötigen  Filter, 
(Aluminium,  Blei,  Kautschuk  etc.)  in  geeigneter  Weise  bei 
voller  Ausnutzung  der  die  Strahlung  abgebenden  Fläche  be¬ 
festigt  werden  können. 

Auch  soll  noch  vermerkt  werden,  daß  die  St.  Joachims¬ 
thaler  Radiumträger  in  den  verschiedensten  Größen  und 
Formen  sowohl  mit  ebenen  als  auch  mit  sphärischen  Flächen 
hergestellt  werden  können,  wodurch  ihre  Anwendbarkeit  ganz 
wesentlich  erweitert  wird. 

Endlich  möchte  ich  noch  erwähnen,  daß  sich  auch  die¬ 
jenigen  St.  Joachimsthaler  Radiumträger,  bei  welchen  Gewebe 
die  Unterlage  für  die  radiumhaltige  Schichte  bildet,  im  Gegen¬ 
satz  zu  den  französischen  Apparaten  durch  beträchtliche 
Biegsamkeit  auszeichnen.  In  größerem  Format, z.  B.  13X14 cm, 
können  diese  St.  Joachimsthaler  Radiumträger,  versehen 
mit  schwächer  aktiven  Radiumpräparaten,  als  radioaktive 
Kompressen  verwendet  werden,  wobei  eine  Schädigung 
der  Haut  ausgeschlossen  ist.4) 

3)  Mit  der  elektrischen  Meßmethode  gelingt  es,  den  hillionsten  Teil 
eines  Grammes  Radium  nachzuweisen. 

4)  In  der  Angabe  L  e  e  b  s  (Gesellschaft  für  physikalische  Medizin- 
Sitzung  vom  8.  Februar  1911,  ref.  Wien.  med.  Wochenschr.  1911,  Nr.  1;  )■. 
der  über  Erfahrungen  berichtet,  die  er  mit  Präparaten  des  »Radium- 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Indiziert  sind  solche  schwache  Bestrahlungen  vor  allem 
bei  manchen  inneren  Erkrankungen,  worauf  schon  v.  Neusser 
im  Jahre  1905  hingewiesen  hat  und  womit  seitdem  auch  von 
anderen  Autoren  günstige  Erfolge  erzielt  werden  konnten. 

Das  bei  den  bt.  Joachimsthaler  Radiumträgern  von  mir 
angewandte  Verfahren  zur  Einschließung  eines  Radiumsalzes 
das  speziell  für  medizinische  Zwecke  bestimmt  ist,  wird  in¬ 
folge  der  ausgezeichneten  Strahlenausbeute  auch  für  manche 
biologische  und  physikalische  Untersuchungen  gute  Dienste 
leisten. 

Vielleicht  trägt  der  Umstand,  daß  bei  Anfertigung  der 
St.  Joachimsthaler  Radiumträger  Unvollkommenheiten  der 
bisherigen  Radiumbestrahlungsapparate  behoben  werden 
konnten,  dazu  bei,  daß  nunmehr  das  Radium  in  geeigneter 
allen  Anforderungen  möglichst  entsprechender  Form  für  Be¬ 
strahlungen  in  ausgedehnterem  Maße  als  bisher  verwendet 
werden  kann.  Ueber  die  bei  therapeutischer  Verwendung  dieser 
St.  Joachimsthaler  Radiumträger  einzuhaltende  Technik  soll 
in  einem  späteren  Zeitpunkte  berichtet  werden. 


Ueber  die  Abhängigkeit  der  Darmmotilität  vom 
motorischen  und  sekretorischen  Verhalten  des 

Magens.*) 

Von  Dr.  Siegfried  Jonas. 

Bald  nachdem  Oppler  auf'  das  gemeinsame  Vorkom¬ 
men  und  die  Abhängigkeit  von  Obstipation  und  Hyper¬ 
azidität  einerseits  und  Diarrhoe  und  mangelnder  Salzsäure¬ 
sekretion  .andererseits  aufmerksam  gemacht  hatte,  wies  E  i  ti¬ 
li  orn  darauf  hin,  daß  diese  Kombinationen  wohl  häufig, 
aber  nicht  regelmäßig  seien;  die  Möglichkeit  die  Darin - 
stö Hingen  als  gastrogen  zu  erkennen  aber  sei  darin  gegeben, 
daß  dieselben  durch  rationelle  Behandlung  des  Magens  sich 
!  bessern  lassen  und  zwar  in  einem,  Zeitraum,  der  zu  kurz  ist, 
als  daß  in  ihm!  eine  selbständige  Erkrankung  des  Darmes 
durch  bloße  Hebung  der  Magenfunktion  gebessert  werden 
könnte.  Die  Frage,  ob  dabei  die  primäre  ..Störung  im  Magen 
oder  im  Darm  zu  suchen  sei,  wurde  für  das  gemeinsame 
Vorkommen  von  Hyperazidität  und  Obstipation  von  v.  N  o  o  r- 
den  dahin  beantwortet,  daß.  zumeist  die  Dyspepsia  enterica 
jdas  Primäre,  die  Dyspepsia  gastrica  das  Sekundäre  sei,  da 
es  ihm  (wie  auch  E  inho  r  n  und  Ebstein)  durch  bloße  Be¬ 
handlung  der  Obstipation  gelang,  die  Salzsäure  zu  normalen 
Werten  zu  bringen;  übrigens  gebe  eine  genau  aufgenom- 
mene  ^Anamnese  der  Diagnose  und  Therapie  am  besten 
lie  Richtung,  indem  sie  erkennen  lasse,  ob  zuerst 
lie  Magenfunktion  oder  die  Darmfunktion  gestört  ge¬ 
wesen  seid)  Was  ferner  das  gemeinsame  Vorkommen 
von  Achylie  mit  Diarrhoe  anlangt  (auf  welches  zu¬ 
nächst  von  Einhorn  hingewiesen  wurde),  so  wurde  als 
Wesen  der  achylischen  Diarrhoe  von  S  c  h  m  i  d  t  die  Binde- 
,rewebslienterie  erkannt;  denn  fällt  die  Magensalzsäure  als 
las  allein  bindegewebeverdauende  Agens  weg,  so  wird  einer¬ 
seits  das  Bindegewebe  ungelöst  und  andererseits  das  ,einge- 
ichlossene  Fett  und  Muskelfieisch  unverdaut  in  den  Darm 
jefördert;  das  letztere  bildet  einen  Schlupfwinkel  und  eine 
Brutstätte  für  zahlreiche  Mikroorganismen  und  gerät  in  Zer- 

,rerkes  Neulengbach«  gemacht  hat,  daß  sich  nur  bei  Applikation  von 
ladiumpräparaten  mit  BO  mg  Reingehalt  an  Radium  unerwünschte  Neben- 
i'scheinungen  (Rötung  und  Schmerzhaftigkeit  der  Applikationsstelle) 
•‘lgten,  ist  der  Ausdruck  »Reingehalt  an  Radium«  wohl  nicht  in  dem 
“brauch liehen  Sinne  gebraucht,  denn  vom  Reingehalt  an  Radium  eines 
räparates  darf  doch  nur  dann  gesprochen  werden,  wenn  derselbe  auf 
:e  chemisch  reine  Form  eines  Radiumsalzes  bezogen  wird.  Wenn  das 
on  Leeb  benutzte  Präparat  tatsächlich  30mg  eines  reinen  Radium- 
dzes  enthielte,  würden  trotz  der  bei  der  Applikation  angewandten  Ver- 
ünnung  und  des  Rehledersäckchens  bei  längerer  Bestrahlung  schwere 
chädigungen  der  bestrahlten  Hauptpartien  sich  einstellen. 

I  iii.  Kach  einem  in  der  Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinder- 
eukunde  in  Wien  am  27.  April  1911  gehaltenen  Vortrage. 

')  Auch  tierexperimentell  wurde  die  Frage  mit  Hilfe  künstlicher 
'hshpation  angegangen  von  Wiczkowsky  und  Samuely  und 
war  von  ersterem  mit  positivem  Resultate  (Ansteigen  der  Salzsäurewerte), 
m  letzterem  mit  negativem  Resultat. 


Setzung,  deren  Produkte  die  Darmwand  bis  zum  Katarrh 
reizen,  wobei  es  infolge  der  Fäulnis  des  abgeschiedenen 
Irans-  oder  Exsudates  zur  Steigerung  der  Peristallik  kommt. 
Hier  ist  also  das'  Primäre  die  Magenstörung,  das  Sekundäre 
die  Darmstörung,  dort  in  manchen  Fällen.  Findet  sich  nun 
m  der  Regel  auch  Obstipation  mit  Hyperazidität  und  Diarrhoe 
mit.  Achylie  vereint,  so  wird  doch  von  S  c  h  m i  d  t ,  E i  n  h.o  r  n 
u.  a.  darauf  hingewiesen,  daß  bisweilen  Diarrhoe  mit  Hyper- 
azKütat  vereint  vorkomme  und  andererseits  sahen  M  a  r  t  i  u  s 
Emhorn  Boas,  Schütz,  Brauner  u.  a.  bei  Achylie 
normale  Stuhle,  ja  sogar  Obstipation. 

Aehnlich  wechselnde  Stidilbilder  erzeugt  ein  zweiter 
die  Motilität  des  Darmes  beeinflussender  Faktor,  der  Darm¬ 
katarrh.  Denn  ist  er  im1  Dünndarm  allein  lokalisiert,  so  er¬ 
zeugt  er  nach  Nothnagel  Obstipation;  ist  der  Sitz  der 
Erkrankung  der  Dickdarm,  dann  kommt  es  in  einer  Reihe 
von  Fällen  zu  Obstipation,  die  der  genannte  Autor  dabei 
als  das  eigentlich  pathologisch-physiologische  Verhalten  an- 
smht,  weil  dasselbe  der  von  ihm  gefundenen  kleinzelligen 
Infiltration  und  Atrophie  entspricht;  ein  andermal  erfolgen 
weiche  Stühle,  die  von  Nothnagel  auf  Reichtum  an 
Schleim,  Fett,  oder  Wasser  zurückgeführt  werden;  in  einer 
Reihe  von  Fällen  erfolgt  Wechsel  zwischen  Verstopfung  mnd 
Diarrhoe,  die  von  ihm  in  den  meisten  Fällen  auf  akute 
Exazerbationen  des  Katarrhs  infolge  von  Diätfehlern  bezogen 
werden;  in  wieder  anderen  Fällen  endlich,  bei  Mitbeteiligung 
des  Dünndarms,  kommt  es  zur  Diarrhöe. 

Dem  Versuche  zur  Aufklärung  dieser  wechselnden  Stuhl- 
bildei  beizutragen,  möchten  die  folgenden  Untersuchungen 
dienen. 


Obstipation  und  Diarrhoe  sind  Ausdrücke,  die  —  wie 
schon  Schmidt  und  Stras  burger  hervorheben  — 
nichts  weiter  bezeichnen,  als  dem  Zustand  des  ab  ge¬ 
setzten  Stuhles,  und  zwar  bezeichnet  der  Ausdruck  Obsti¬ 
pation  (nach  Nothnagel)  das  Vorhandensein  seltener, 
v  eilig  kopiöser,  harter  Stühle,  der  Ausdruck  Diarrhoe  das 
Auftreten  häufiger,  dünnflüssiger  Entleerungen,  und  wir  sind 
msoferne  gewöhnt,  aus  dem  Stuhlbilde  auf  die  Motilität  des 
Daimes  zu  schließen,  alsl  das  Vorhandensein  von  Diarrhoe 
(mit  unverändertem  Gallenfarbstoff  etc.)  gesteigerte  Motilität 

Obstipation  herabgesetzte  Motilität  im  allgemeinen  er¬ 
kennen  läßit.  Die  nicht  unbedingte  Richtigkeit  dieses 
Schlusses  wird  aber  sofort  klar,  wenn  wir  uns  an  das 
V  orkommen  der  (den  Patienten  als  Diarrhoe  imponierenden) 
Schleimabgänge  bei  hochgradiger  Obstipation,  der  Colica 
mucosa  und  Enteritis  membranacea,  erinnern  und  der  soge¬ 
nannten  „falschen  Diarrhöen“,  der  flüssigen,  hauptsächlich 
aus  Schleim  und  Eint  bestehenden  Abgänge  gedenken,  die  bei 
Stenosen  des  Dickdarms  Vorkommen.  Neuestcns  erst  bot 
sich  die  Möglichkeit,  die  Passage  der  Ingesten  durch  den 
Darm  mittels  der  Röntgenstrahlen  zu  beobachten,  indem 
man  den  Fortschritt  einer  Wismuthmilchspeise  im  Darm 
verfolgt.  Der  erste,  der  diesen  Weg  ging,  war  Hertz  in 
seinem  Ruche  Constipation  and  allied  intestinal  disorders, 
der  auf  Grund  seinerj  Untersuchungen  der  Darmpassage  an 
18  vollkommen  magengesunden  Individuen  folgende  Nor¬ 
malzeiten  für  die  Füllung  der  einzelnen  Darmabschnitte 
feststellte : 

per  Schatten  des  Coecums  erscheint  zwischen  3  und 
5  /o  (zumeist  in  ca.  '41/2)  Stunden;  die  Flexura  coli  hepatica 
wird  erreicht  zwischen  5  und  8  (zumeist  in  ca.  6l/2)  Stun¬ 
den  ;  die  Flexura  coli  Jienalis  wird  erreicht  zwischen  7 
und  14  (zumeist  in  ca.  9)  Stunden;  die  Verbindung  zwischen 
Colon  descendens  und  dem  Anfangsteil  des  Colon  sig- 
moideum  (bis  zum  Kamm  des  Darmbeines  Colon  iliacum 
genannt,  während  der  Endteil  bis  zum  Rektum  Colon  pelvi¬ 
cum  genannt  wird)  wird  erreicht  zwischen  8  und  16  (zu¬ 
meist  in  ca.  11)  Stunden. 

Was  endlich  die  Füllung  und  Entleerung  des  Colon 
pelvicum  und  des  Rektum  anlangt,  so  wurde  diesbezüglich 
von  Hertz  die  wichtige  Rolle  festgestellt,  die  das 
Colon  pelvicum  bei  der  Defäkation  (die  normalerweise  ein¬ 
mal  in  24  Stunden  und  zwar  früh  erfolgen  soll)  spielt; 


778 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


dean  indem  der  in  diesem  Darmteil  angesammelte  Kot 
besonders  nach  dem  Frühstück  (unter  dem  Reiz  der  in  den 
leeren  Magen  neu  aufgenommenen  Nahrung,  der  sich  auf 
den  Darm  fortpflanzt)  ins  Rektum  eintritt,  wird  (Stuhldrang 
ausgelöst  und  bei  der  nun  folgenden  Defäkation  »normaler¬ 
weise  der  ganze  unterhalb  der  Flexura  coli  lienalis  liegende 
Darminhalt  entleert ;  und  so  konnte  Hertz  für  »den  Rnd- 
teil  des  Darmes  jenen  Modus  der  Darmpassage  (feststellen, 
den  Holzknecht  auch  am  übrigen  Darm  beobachtete : 
ruckweise  Entleerung  des  einen  und  Füllung  des  (nächst¬ 
folgenden  größeren  Darmabschnittes.  Entsprechend  der 
Funktion  des  Colon  pelvicum  als  Sammelort  der 'Fäzes,  teilt 
Hertz  den  Darm  in  einen  Anteil  oberhalb  und  unterhalb 
des  Colon  pelvicum  und  unterscheidet  demgemäß  zwei  Arten 
von  Obstipation :  eine  Art,  wobei  die  Defäkalion  (normal  ist 
und  sich  die  .Verlangsamung  der  Passage  im  oberen  (Teil 
des  Darmes  bis  zum  Colon  pelvicum  abspielt,  gewöhnlich 
zurückzuführen  auf  zu  wenig  oder  zu  wenig  Peristaltik- 
anregende  Nahrung  (wie  hei  Ulkus,  Karzinom);  und  eine 
zweite  Art,  wobei  die  Passage  des  Darmes  (normal,  die 
Defäkation  aber  gestört  ist;  diese  nennt  Hertz  Dysche- 
zie2)  — -  ihre  Ursache  ist  zumeist  die  Unterempfindlichkeit 
des  Rektums,  welches  bei  häufiger  Vernachlässigung  des 
Stuhldranges  seine  Empfindlichkeit  verliert,  worauf  der  Stuhl 
ohne  Drang  auszulösen  hier  liegen  bleibt  und  eingedickt  wird, 
ohne  entleert  zu  werden;  ihre  Diagnose  stützt  (sich  auf  den 
Nachweis  von  Stuhl  im  Rektum  außerhalb  der  (unmittelbar 
vor  der  Defäkation  liegenden  Zeit.  (Selbstverständlich 
kommen  beide  Arten  von  Obstipation  auch  miteinander  ver¬ 
eint  vor). 

So  erzählt  Hertz  den  Fall  einer  17jährigen  Dame,  die 
seit  ihrem  zehnten  Jahre  nur  ein-  bis  zweimal  in  der  Woche 
sehr  harte  Stühle  entleerte,  bei  der  Röntgenuntersuchung  aber 
eine  abnorm  schnelle  Passage  des  Dünndarms  und  des 
Kolons  bot,  während  die  Fäkalmassen  im  Rektum  liegen  blieben, 
ohne  Stuhldrang  auszulösen;  bei  einem  anderen  Patienten,  einem 
Fall  von  Karzinom  des  Colon  pelvicum,  fand  sich  normale  Pas¬ 
sage  des  Dünndarms,  abnorm  rasche  Passage  des  Dickdarms  (mit 
Antiperistaltik)  und  trotzdem  Obstipation;  auch  ich  selbst  habe 
einen  solchen  besonders  eklatanten  Fall  beobachtet  es  ist 
Fall  III  der  Tabelle  V  —  der  schon  nach  fünf  Stunden  Wismut¬ 
massen  im  Rektum  zeigte,  Wismutstuhl  aber  erfolgte  erst  nach 
48  Stunden. 

Hertz’  Untersuchungen  lehren  also,  daß  unabhängig 
von  der  Schnelligkeit  der  Passage  durch  den  'übrigen  Darin 
das  Stuhlbild  durch  das  Hinzukommen  eines  zweiten  Faktors 
beeinflußt  wird ;  durch  die  Empfindlichkeit  des  Re k- 
tums,  durch  seine  Fähigkeit  Stuhldrang  auszulösen  und 
die  Entleerung  des  Stuhles  herbeizuführen;  denn  ist  die 
Empfindlichkeit  des  Rektums  gestört,  dann  kann  es  hier  zur 
Eindickung  des  Stuhles  kommen  und  es  können,  »trotz  Hyper - 
motilität  des  Darmeis  harte  Stühle  erfolgen.  Da  (wir  aber  die 
Empfindlichkeit  des  Rektums  a  priori  niemals  kennen,  so 
ergibt  sich  daraus,  daß  aus  dem  Stuhl  niemals  auf  die  Schnel¬ 
ligkeit  der  Darmpass, age,  besonders  nicht  aus  harten  Stühlen 
auf  verlangsamte  Passage  geschlossen  werden  darf.3) 

Hatte  sich  solcherart  aus  den  Hertz  sehen  Unter¬ 
suchungen  die  Unmöglichkeit  ergeben,  aus  dem  Stuhlbild  die 
Motilität,  speziell  die  Hypermotilität  des  Darmes  zu  erkennen, 
so  lag  es  nahe,  mit  Hilfe  der iRöntgenuntersuchung  auch  der 
Frage  der  Hypermotilität  des  Darmes,  speziell  der 
achylischen  und  katarrhalischen  näherzutreten  und  es  waren 
insbesondere  in  Bezug  auf  die  achylische  Hypermotilität 

»)  Der  Begriff  der  »proktogenen  Obstipation«  war  auch  der  älteren 
Literatur  geläufig,  fand  jedoch  eingehende  (radiologische)  Bearbeitung 
erst  durch  Hertz.  Uebrigens  fallen  auch  die  von  F  o  g  e  s  und  besonders 
Singer  (Ueber  einen  typischen  romanoskopischen  Befund.  Wiener  klin. 
Wochenschr.  1909,  Nr.  51)  beschriebenen  rektoskopischen  Befunde  bei 
der  sogenannten  spastischen  Obstipation  unter  das  Bild  der  proktogenen 

Obstipation. 

3)  Auf  ein  klinisches  Symptom  der  Hypermotilität 
des  Darmes  macht  Hertz  aufmerksam,  das  sich  dabei  in  der  Tat 
häufig  findet:  während  nämlich  normalerweise  nur  einmal  im  Tag 
U.  zw.  Früh  oder  nach  einer  größeren  Mahlzeit  Stuhldrang  ausgelöst 
wird  (und  Stuhl  entleert  wird),  tritt  bei  Hypermotilität  Stuhldrang  und 

Stuhl  nach  jeder  Mahlzeit  auf. 


folgende  Fragen  zu  beantworten:  Ist  mit  der  Achylie  regel¬ 
mäßig  Hypermotilität  des  Darmes  verbunden?  Läßt  sich 
aus  der  Hypermotilität  des  Darmes  auf  Achylie  schließen? 
und  läßt  sich  überhaupt  ein  bestimmtes  Verhältnis  zwischen 
tier  Azidität  des  Magens  (sowie  seinem  sonstigen  Verhalten) 
und  der  Motilität  des  Darmes  feststellen? 

Bevor  ich  zur  Beantwortung  dieser  Fragen  an  der  Hand 
meiner  Tabellen  schreite»,  seien  mir  einige  kurze  Bemerkungen 
über  die  angewandte  Technik  gestattet.  Die  Patienten  bekamen  das 
Ewald-Boas  sehe  Probefrühstück  (eine  Semmel  und  400  Gramm 
Wasser)  und  wurden  45  bis  50  Minuten  später  ausgehebert ; 
wohl  wurde  in  letzter  Zeit,  zuerst  von  Curschmann,  darauf 
hingewiesen,  daß  dieses  Probefrühstück  zu  geringe  Werte  er¬ 
gebe,  da  es  die  Sekretion  zu  wenig  anrege,  weshalb  von  verschie¬ 
denen  Seiten,  zuletzt  von  Fischer,  ein  „Appetitfrühstück“  (das 
sich  der  Patient,  zum  Teil  seinem  Geschmack  folgend,  aussucht) 
empfohlen.  Doch  habe  ich  mich  mit  Rücksicht  darauf,  daß  alle 
bisher  zum  vorliegenden  Thema  gemachten  Untersuchungen  sich 
ebenfalls  auf  dieses  beziehen,  an  das  alte  Probefrühstück  ge¬ 
halten.  Die  freie  Salzsäure  ist  mit  D imeth y  1  amid o az oben z o  1 ,  die 
Gesamtazidität  (die  in  keinem  Falle  von  Achylie  12  überschritt)  » 
mit  Phenolphthalein  als  Indikator  bestimmt;  auf  Pepsinbestin»- 
mungen  glaubte  ich  (mit  Ke lling)  mit  Rücksicht  darauf  ver¬ 
zichten  zu  können,  daß,  wie  0 pp ler  gezeigt  hat,  die  Sekretion 
des  Pepsins  und  der  freien  Salzsäure»,  wenn  auch  nicht  ganz, 
so  doch  im  allgemeinen  parallel  geht  und  daß  es  sich  liier  haupt¬ 
sächlich  um  die  Feststellung  des  Verhältnisses  zwischen  der  Darm¬ 
motilität  zum  Gehalt  des  Magens  an  freier  Salzsäurei  handelt. 
_  Die  Stuhluntersuchung  auf  Schleim  wurde  nach  der  von 
Schmidt  empfohlenen  Technik  vorgenommen:  Verreibung  einer 
kleinen  Stuhlportion  auf  einer  Reihschale»  mit  Wasser,  darauf  Ab- 
fließenlassen  des  wässerigen  Produktes  auf  einer  gegen  das  Licht 
gehaltenen  Glasschale,  darauf  mikroskopische  Untersuchung  ein¬ 
zelner  Schleimpartikelchen  auf  Zelleneinschlüsse.  -  Die  Blut- 
bestimmung  im  Stuhl  wurde  nach  Weber  in1  der  Modifikation 
von  Schümm  (Auswaschung  des  essigsauren,  Aetberextraktes 
mit  destilliertem  Wasser)  vorgenomirneai.  —  Die  Röntgenunter¬ 
suchung  wurde  am  nüchternen  Patienten,  bei  möglichst  ent¬ 
leertem  Darm,  unter  Füllung  des  Magens  mit  Griesmilchspeise 
und  40  g  Bismutum  carbonicum  vorgeiniommen ;  zwar  wurden 
einerseits  Hertz’  Normalzahlen  für  die»  Passage  der  einzelnen 
Darmabschnitte  mit  Bismutum  oxychloricum  gewonnen  und 
wohnt  andererseits  dem  kohlensauren  Wismut  eine  leichte  stuhl¬ 
befördernde  Wirkung  inne.  Doch  geht  aus  den  Untersuchungen  von 
Hertz,  Schlesinger  und  Cook  hervor,  daß  bei  Anwendung 
von  Bismutum  oxychloricum  und  carbonicum  in  bezug  auf  die 
Schnelligkeit  der  Diamipassage  kein  wesentlicher  Unterschied  sich 
ergibt,  so  daß  trotz  der  angewandten  verschiedenen  Technik 
zum  Vergleich  mit  meinen  Untersuchungen  das  Hertz  sehe  Schema 
herangezogen  werden  darf.  —  Endlich  könnte^  noch  cingew endet 
werden,  daß  Milch  bei  manchen  Menschen  beschleunigend  auf  die 
Darmperistaltik  einwirke;  doch  ist  dem  entgegenzuhalten,  daß 
erstens  die  Patienten  nicht  pure  Milch,  sondern  Milchgries  be¬ 
kamen,  der  nach  Schmidt  weit  weniger  auf  die  Darmperistaltik 
einwirkt  und  ferner,  daß  auch  Hertz’  Normalzahlen  mit  Milcb- 
grie»s  gewonnen  sind.  —  Sechs  Stunden  nach  Aufnahme  der' 
Milchspeise  wurden  die  Patienten  wieder  durchleuchtet  u.  zw.  des¬ 
halb  in  diesem  Zeitpunkt,  weil  er,  wie  Haudek  hervorhebt, 
den  maximalen  Zeitpunkt  darstellt,  indem  sich  die  weitaus  größte 
Mehrzahl  der  Mägen  (auch  der  atonischen)  ihres  Wismutinhaltes 
bereits  entledigt  hat  und  weil  dies  andererseits  jener  Zeitpunkt 
ist,  in  dem  die  Füllung  des  Dickdarms  bereits  bis  zur  1  lexura 
coli  hepatica  gediehen  sein  soll.4) 

I.  Die  Fälle  der  Tabelle  I  betreffen  durchwegs  Fälle  von 
sogenann ter  Achylia  g  a  s  t  r  i  c  a  simplex  im  Sinne  von 
Einhorn-Martius,  d.  h.  es  handelt  sich  durchwegs  um 
Patienten,  die  sich  trotz  ihrer  Sekretionsstörung  im  Magen, 
abgesehen  von  dyspeptischen  Beschwerden  und  Diarrhöen, 
einer  relativ  guten  Gesundheit  erfreuen,  —  wie  denn  auch 
ihr  Stoffwechsel  nicht  zu  leiden  braucht  (v.  Noorden, 
S t r a u  ß,  v.  Neusser).  Bekanntlich  hat  Lübars ch  u. a. 


4)  1st  auch  die  von  Breuer  (Kongreß  f.  inn.  Med.,  Wiesbaden 
1911)  hervorgehobene  chemische  Wirkung  des  Bism.  carbon.,  die  sich  in 
einer  Erniedrigung  der  Salzsäurewerte  kundgibt,  zuzugeben,  so  muß  oc 
anderseits  (bis  auf  weiteres)  an  diesem  Wismutsalz  schon  deshalb  es 
gehalten  werden,  weil  die.  normalen  Austreibungszeiten  der  einzen 
Magenformen  unter  Benützung  dieses  Salzes  (von  H  a  u  d  e  k)  gewonn 
wurden.  Uebrigens  fand  T ab  o r  a  (ibidem)  für  Bism.  subnitr.  und  carbon 
keine  nennenswerten  Unterschiede. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


Tab  eile  I.  Achylia  simplex  (ohne  Darmkatarrh)*) 


Fall 

Name 
und  Alter 

Stuhl 

(Anamnese  und 
Objekt.  Befund) 

Magen 

Darm 

Anmerkung 

I 

FS. 

5/ 

Diarrhoe; 
weich, 
schwach 
sauer,  kein 
Schleim 

t.  P.:2  Qrf./N, 
3  Querf.  breit. 
Nach  5  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  5  Stun¬ 
den:  Flex, 
col  lien. 
Nach  24  Stun¬ 
den:  2  Bi- 
Stühle 

II 

F.  T. 

40 

weich,  täg¬ 
lich  regel¬ 
mäßig,  kein 
Schleim 

t.  P. :  4  Qrf./N, 
3  Querf.  breit. 
Nach  5  Stun¬ 
den  leer 

Nach  5  Stun¬ 
den:  Flex, 
col.  lien 
Nach  24  Stun¬ 
den:  Bi- 
Stulil 

III 

0.  A. 
32 

normal, 
manchmal 
weich,  kein 
Schleim 

t.  P.:  3  Qrf./N, 
3  Querf.  breit. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  6  Stun¬ 
den:  Flex, 
col.  lien. 
Nach  24  Stun¬ 
den  Col.  desc. 
Nach  26  Stun¬ 
den:  Bi-Stuhl 

Langsame 
Passage  des 
unteren  Dick¬ 
darmes 

IV 

H.  E. 

47 

Diarrhoe ; 
weich,  kein 
Schleim 

t.  P. :  3  Qrf./N, 
3  Querf.  breit. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  6  Stun¬ 
den:  Flex, 
col.  lien. 

V 

M.  P. 
53 

täglich, weich, 
kein 
Schleim 

t.  P. :  N/4  Qrf., 

3  Querf.  breit. 
Nach  4  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  4  Stun¬ 
den:  Flex, 
col.  lien. 

VI 

R.  K. 

31 

1  bis  2  weiche 
Stühle  täglich, 
p.  c.,  kein 
Schleim 

t.  P.:  5Qr  f./N, 

2 V2  Querf. 
breit.  Nach  5 
Stunden:  leer 

Nach  5  Stun¬ 
den:  Stuhl  im 
Rektum.  . 
Nach  6  Stun¬ 
den:  Bi-Stuhl 

VII 

J.  K. 

66 

weich, 
schwach 
sauer,  kein 
Schleim 

t.  P.:  N, 

2  7a  Querf. 
breit. 

Nach  5  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  5  Stun¬ 
den:  Bi-Stuhl 

VIII 

H.  E. 

59 

Diarrhoe- 

Obstipation 

t.  P.:  N, 

3  Querf.  breit. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  6  Stun¬ 
den:  Flex.  col. 
hep.  Erw.  des 
Col.  asc.  Anti¬ 
peristaltik. 
Nach  24  Stun¬ 
den:  dtto. 

Dickdarm¬ 

stenose 

auch  bei  dieser  Formt,  die  von  M  a  r  ti  u  s  auf  eine  angeborene 
rein  nervöse  Sekretionsanomalie  bezogen  wird,  die  Ver¬ 
änderungen  einer  chronisch  interstitiellen  Gastritis  gefunden, 
womit  sie  sich  der  mit  Drüsenatrophie  einhergehenden  Achylie 
angliedert;  doch  fehlten  meinen  Fällen  andererseits  schwer 
anämische  oder  kachektische  Zustände,  die  nach  M  a  r- 
tius  auf  die  Mitbeteiligung  des  Darmes  an  dem  atrophischen 
Prozeß  schließen  lassen,  vollkommen;  dagegen  zeigten  die 
meisten  dieser  Fälle  den  von  M  a  r  t  i  u  s  hervorgehobenen 
neurasthenischen  Einschlag  —  den  Stiller  sehen  asthe¬ 
nischen  Typus. 

Was  ergibt  nun  die  Tabelle?  Was  zunächst  die  Stühle 
anbelangt,  so  sind  dieselben  weich  bis  diarrhoisch,  (in  einem 
Falle  normal ;  mit  Ausnahme  des  letzten  Falles,  auf  den  ich 
gleich  zu  sprechen  komme,  findet  sich  eine  Obstipation  in 
keinem  Falle  verzeichnet  —  das  Material  ist  offenbar  zu 
klein,  als  daß  ich  diesem  selteneren  Vorkommnis  begegnet 
wäre;  Schleim  ist  nicht  vorhanden.  Der  Magenstand  zeigt 
'de  bereits  von  Emmo  Schlesinger  betonte  Neigung 
/um  Hochsland;  auffallend  ist  die  geringe  Breite  des  Magens, 
die  3  Querfinger  in  'keinem  Fall  überschreitet;  nach  6  Stun¬ 
den  sind  alle  Mägen  leer,  auch  die  relativ  tiefstehenden,  so 
daß  bei  Vorhandensein  von  Tiefstand  des  Magens  das  Zu¬ 
sammen  treffen  mit  Achylie  als  günstig  für  die  iMotilität  des 
Magens  bezeichnet  werden  muß.  In  allen  Fällen  wird  nach 


*)  Erklärung  der  Abkürzungen:  t.  P.  bedeutet  tiefster  Punkt;  N  be¬ 
eiltet  Nabel;  2  Querf./N  bedeutet  2  Querfinger  Uber  dem  Nabel;  N  2  Querf. 
edeutet  2  Querfinger  unter  dem  Nabel,  (t.  P. :N  bedeutet  also  tiefster 
funkt  am  Nabel;  t.  P.:2  Querf./N  bedeutet  tiefster  Punkt  2  Querfinger 
über  dem  Nabel,  etc.)  Br.  bedeutet  kaudale  Breite. 


i>  Stunden  mindestens  die  Flexura  coli  lineal  is  yom  Wismut¬ 
brei  erreicht  (Haudek),  während  normalerweise  nach  6 
stunden  erst  die  Flexura  coli  hepatica  gefüllt  erscheint;  in 
zwei  Fällen  (\  I  und  VII)  ist  die  achylische  Hypermotilität  des 
Darmes  (ohne  Katarrh)  eine'  so  große,  daß  nach  5  Stunden 
sogar  Wismutstühle  (leicht  kenntlich  an  ihrer  grauweißen 
Färbe)  auftreten. 

Besonders  bemerkenswert  ist  der  genau  beobachtete  Fall 
III  der  Tab.  1,  hei  dem  in  der  Anamnese  normale,  manchmal 
weiche  Stühle  angegeben  werden.  Auch  hier  findet  sich  radio¬ 
logisch  Hypermotilität  der  oberen  Darmabschnitte,  die  den 
Wismutbrei  in  6  Stunden  die  Flexura  coli  lienalis  erreichen 
läßt  —  dabei  aber  normale  Passage  der  unteren  Darmab¬ 
schnitte,  so  daß  nach  24  Stunden  das  Ende  des  Colon  descen- 
dens  erreicht  wird  und  nach  26  Stunden  Wismutstuhl  ent¬ 
leert  wird.  Es  zeigt  dieser  Fäll  also,  daß  sich  die  achy¬ 
lische  Hypermotilität  der  oberen'  Darmabschnitte  nicht  auf  die 
unteren  zu  erstrecken  braucht,  daß  sich  vielmehr  hier  nor¬ 
male  (und  wohl  auch  abnorm  langsame)  Passage  finden  kann. 
Es  wird  so  dem  eingangs  erwähnten  Faktor,  der  das  Stuhl¬ 
bild  beeinflußt,  nämlich  der  Empfindlichkeit  des  Rektums, 
ein  weiterer  Faktor  hinzugefügt :  die  Motilitätder  unte¬ 
ren  Darmabschnite;  denn  besteht  hier  normale  oder 
langsame  Passage,  so  kann  es  trotz  Hypermotilität  der  oberen 
Darmabschnitte  geradeso  zum  Stuhlbild  der  Obstipation  kom¬ 
men,  wie  bei  Eindickung  des  Stuhles  im  unterempfindlichen 
Rektum. 

Und  so  finden  nun  die  zwischen  diarrhoischen,  weichen, 
normalen  und  harten  Stühlen  wechselnden  Stuhlbilder  der 
Achylie  ihre  Erklärung.  Denn  zunächst  ist  es  in  manchen 
Fällen  das  hochgradige  Sinken  der  Appetenz  (das  (M  a  r  t  i  u  s 
besonders  für  die  mit  Anadenie  einhergehenden  Achylien 
betont  und  das  gewiß'  auch  bei  der  Obstipation  des  Carci¬ 
noma  ventriculi  eine  Rolle  spielt),  wodurch  die  Nahrungs¬ 
aufnahme  so  sehr  leidet,  daß  dadurch  allein  schon  die 
Obstipation  erklärt  wird;  andererseits  lehrt  Fall  III  der  Ta¬ 
belle  I,  daß  mit  der  Hypermotilität  der  oberen  Darmab¬ 
schnitte  normale  Motilität  der  unteren  verbunden  sein  kann; 
ferner  lehren  die  Erfahrungen  bei  der  katarrhalischen  Hyper¬ 
motilität  (auf  die  später  eingegangen  werden  soll),  daJ3i  mit 
Hypermotilität  der  oberen  sogar  Hypomotilität  der  unteren 
Darmabschnitte  verbunden  sein  kann;  und  schließlich  lehrt 
Fall  III  der  Tabelle  V,  daß  es  trotz  abnorm  rascher  Passage 
des  ganzen  Darmes  durch  rektale  Eindickung  des  Stuhles 
zum  Stuhlbild  der  Obstipation  kommen  kann;  und 'so  lassen 
sich  also  diarrhoi-sche  Stühle  bei  der  Achylie  ableiten  von 
der  Hypermotilität  des  ganzen  Darmes,  normale  oder  harte 
Stühle  von  normaler  oder  abnorm  langsamer  Passage  der 
unteren  Dickdarmabschnitte,  eventuell  rektaler  Eindickung 
der  Stuhlmassen. 

Wie  sich  dem  gegenüber  nun  die  Verhältnisse  bei  der 
Achylia  carcinoma  tos  a  gestalten,  darüber  gibt  Ta¬ 
belle  II  A  Auskunft.  Die  Differentialdiagnose  zwischen  beiden 
Formen  der  Achylie  hat  die  Autoren  zu  allen  Zeiten  beschäf¬ 
tigt.  und  wird  von  Marti  us  im  wesentlichen  darin  gesehen, 
daß  beim  Karzinom  im  weiteren  Verlaufe  stets  eine  Moti¬ 
litätsstörung  zur  Achylie  hinzutrete:  wenn  bei  monatelange 
bestehender  Achylie  Stagnation  und  Zersetzung  ausblieben, 
dann  dürfe  man  getrost  Karzinom  ausschließen,  eine  An¬ 
schauung,  gegen  deren  Allgemeingültigkeit  schon  die  Er¬ 
fahrung  beim  Skirrhus  spricht,  bei  dem  die  Motilitä  t  infolge 
der  konkomittierenden  Insuffizienz  des  Pylorus  (Schmie- 
d  e  n  und  Härtel)  normal  bleibt.  Die  ersten  vier  Fälle  zeigen 
das  Verhalten  eines  stenosierenden  Carcinoma  pylori,  wie 
der  Befund  von  Milchsäure  und  langen  Bazillen  ergibt.  Auf¬ 
fallend  ist  hier  vor  allem  das  Verhalten  des  Magens,  dessen 
Breite  hier  die  bei  Achylie  simplex  in  keinem  Fall  gefundene 
Breite  von  vier  Querfingern  erreicht  ;  auffallend  ist  ferner, 
daß  sich  hier  der  Magen  trotz  Achylie  (innerhalb  6  Stun¬ 
den  nicht  entleert,  sondern  einen  erheblichen  Rest  der  Mahl¬ 
zeit  nach  dieser  Zeit  enthält  —  die  won  M  a  r  t  i  u  s  hervorge¬ 
hobene,  von  Haudek  radiologisch  bestätigte  Motilitäts¬ 
störung  des  karzinomatös-achylichen  Magens.  In  Bezug  auf 


Nr.  22 


780 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Tabelle  II.  A)  Karzinom  der  Pars  pylorica. 


Fall 


Name 
und  Aller 


L.  H. 
52 


II 


III 


IV 


V 


VI 


S.  G. 
67 


A.  B. 
72 


L.  K. 
72 


J.  P. 
76 


I.  P. 
76 


Stuhl 


Obstipation 


Obstipation 


Obstipation 


Obstipation 


Magen 


Neigung  zu 
Obstipation 


Neigung  zu 
Obstipation 


P.  F.:  Milch¬ 
säurebazillen 
t.  P.:  N; 

Br.:  norm. 
Nach  6  Stun¬ 
den  :  Vs  Mahl¬ 
zeit 

P.  F.:  Milch¬ 
säurebazillen 
t.  P.:  N; 

Br.:  norm. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  '/4  Mahl¬ 
zeit 

P.  F.:  Milch¬ 
säurebazillen 

t.  P.:  N; 
Br.:  4-  Querf. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  ganze 
Mahlzeit. 
Nach  24  Stun¬ 
den:  2/3  Mahl¬ 
zeit 

P.  F.:  Milch¬ 
säurebazillen 
t.  P. :  3  Quer- 
finger/N, 

Br.  4  Querf. 
Nach  24  Stun¬ 
den  fast  ganze 
Mahlzeit 
P.  F.:  Salz¬ 
säure  -f- ;  Blut. 

t.P.:N/4  Qrf., 
Br.:  4  Querf. 
Nach  6  Stun¬ 
den  fast  ganze 
Mahlzeit. 
Nach  24  Stun¬ 
den  '  3  Mahl¬ 
zeit 


P.  F.? 
t.  P.:  N; 
Br.  3  Querf. 
Nach  4  Stun¬ 
den:  leer 


Darm 


Nach  6  Stun¬ 
den:  Flex, 
col.  hep. 


Nach  6  Stun¬ 
den:  Flex, 
col.  hep. 


Nach  6  Stun¬ 
den:  Flex, 
col.  hep. 


Nach  6  Stun¬ 
den:  schwach, 
Col.  asc. 


Nach  6  Stun¬ 
den:  schwach, 
Col.  asc. 


Nach  4  Stun¬ 
den:  Flex, 
col.  lien 


Anmerkung 


Resist,  am 
Pylorus. 
Ca.  ventr. 
stenosierend 


Lebermeta¬ 
stasen. 
Ca.  ventr. 
stenosierend 


Ca.  ventr. 
hochgradig 
stenosierend 


Tumor. 
Ca.  ventr. 
oper. 


Ca.  ventr.  auf 
Ulkusbasis 
operiert 


Lebermeta¬ 
stasen  Resi¬ 
stenz  und 
Raumbeen¬ 
gung  adPylor. 
Ca.  ventr. 
nicht  steno¬ 
sierend 


B)  Narbige  Pylorusstenose. 


I 


II 


III 


J.  B. 

48 

1 — 2  normale 
Stühle 
täglich 

P.  F. :  l'3°/00 
_  55 

t.  P.:N/3  Qrf. 
Br.: 4  Querf. 
Nach  7  Stun¬ 
den:  2  Querf. 
Rest 

Nach  7  Stun¬ 
den:  Col.  asc. 

J.  K. 

40 

normaler 
Stuhl ; 

Neigung  zu 
Obstipation 

P.  F.:  ? 
t.  P.:  N; 

Br.  5  Querf. 
Nach  24  Stun¬ 
den:  1  Querf. 
Rest 

Nach  9  Stun¬ 
den:  Col.  asc., 
schwach  Col. 
transv. 

P.  F.:  l'8°/00 

_  79 

F.  Z. 

39 

Obstipation 

starke  Hyper¬ 
sekretion 
t  P. :  2  Querf. 

/Symph. 

Br. :  5  Querf. 
Nach  24  Stun¬ 
den  fast  ganze 
Mahlzeit 

Nach  6  Stun¬ 
den:  0.  Nach 
24  Stunden: 
Col.  asc. 
(schwach) 

Operiert. 
Ermiidungs- 
stadium  (vgl. 
Jonas  1.  c.) 


Meläna  vor 
3  Jahren 


die  Darmmotilität  findet  sich  bei  karzinomatöser  Achylie  eine 
normale,  in  Fällen  hochgradiger  Stenosierang  eine  stark 
verlangsamte  Darmpassage  —  und  dementsprechend  und 
infolge  der  herabgesetzten  Aahrungszufuhr  Obstipation.  Die 


karzinomatöse  Pylorusstenose ")  verhält  sich  nicht  anders 
als  die  narbige  Pylorustenose  (Tabelle  II  B),  nur  wird  hier 
starke  Verbreiterung  des  Magens  auf  5  Querfinger  und 
darüber  gefunden,  die  die  Karzinome  zumeist  nicht  erleben 
(Holz  kn  echt). 

Unter  allen  Fällen  von  Carcinoma  pylon  land  sich  mrr 
ein  Fall  (VI)  mit  Hypermotilität  des  Magens  und  des  Darmes,, 
der  im  übrigen  durch  Lebermetastasen,  Resistenz  und  laum- 
beengende  Veränderungen  ;in  der  Pars  pylorica,  sowie 
durch  seinen  rasch  tödlichen  Ausgang  (  ! 2  Jahr  nach  dem 
Auftreten  der  ersten  Beschwerden)  als  Karzinom  gekenn¬ 
zeichnet  ist;  hier  findet  sich  aber  auch  die  bei  Achylia, 
simplex  gefundene  geringe  Breite  des  Magens,  sowie  Leer-, 
sein  Tdes  Magens  nach  4  Stunden.  Es  ist  wohl  kein  Zweifel,, 
daß  es  sich  hier  um  ein  nicht  stenosierendes  (vielleicht 
exulzeriertes)  Karzinom  handelt;  und  so  ergäbe  sich  dn  Be¬ 
zug  auf  das  Verhältnis  zwischen  Carcinoma  pylon  und 
Darmmotilität  folgendes  :  stenosiert  das  Karzinom,  so  findet 
sich  trotz  Achylie  verminderte  Motilität  des  Magens  und 
fehlende  Hypermotilität  des  Darmes;  stenosiert  es  nicht, 
so  findet  sich  wie1  bei  Achylia  simplex  Hypermotilität  des 
Magens  und  des  Darmes. 

Und  so  bleibt’unter  all  diesen  Fällen  von  Achylie  nur  ein 
Fall  (Tab.  I,  Fall  VIII),  der,  trotzdem  stenosierendes  Karzinom 
des  Pylorus  nicht  vorlag,  den  Wismütbrei  nach  6  Stunden  erst 
an  der  Flexura  coli  hepatica  zeigte;  hier  aber  fanden  sich 
charakteristische  Symptome  einer  Dickdarmstenose  an  der 
Flexura  hepatica:  Erweiterung  und  Verlust  der  haustralen 
Zeichnung  sowie  Antiperistaltik  am  Colon  ascendens,  Ver¬ 
weilen  des  Wismutbreies  24  Stunden  lang  daselbst,  so  daß 
das  Fehlen  der  Hypermotilität  des  Darmes  trotz  Achylie  auf 
die  Stenose  des  Dickdarms  zurückgeführt  werden  darf.  Sc¬ 
haben  also  alle  Fälle  von  Achylia  gastrica  -simplex  Hyper¬ 
motilität  des  Darmes  darin  erkennen  lassen,  daßi  das.  Wis¬ 
mut  nach  6  Stunden  bereits  die  Flexura  coli  lie-nalis  er¬ 
reichte  ;  wurde  dieser  Punkt  trotz  Achylie  nicht  erreicht,  dann 
lag  (narbige  oder  karzinomatöse)  Stenose  am  Pylorus  oder 
am  Dickdarm  vor.  Ob  sich  dies  freilich  als  Regel  auf¬ 
stellen  läßt  und  ob  nicht  doch  auch -bei  Achylie  Hypomo- 
lilität  des  Darmes  Vorkommen  kann,  muß  die  weitere  Er¬ 
fahrung  lehren. 

II.  Hatte  sich  so  eine  rein  achylische  Hypermotilität  des 
Darmes  im  Röntgenbilde  feststellen  lassen,  so  galt,  es  nun 
die  'zweite  Hauptart  der  Hypermotilität,  die 
k'  a  t  a  r  r  h  a  1  i  s  c  h  e,  zu  untersuchen. 

Wenn  auch  der  Steigerung  der  Peristaltik,  die  man  lange 
Zeit,  als  das  wichtigste  Symptom  des  Durchfallesl  auffaßte,  von 
Schmidt  nur  die  Rolle-  eines  sekundären,  in  selteneren  Falten 
allenfalls  die  eines  koordinierten  Momentes  zugeteilt  wird,  so 
kommt  ihr  doch  jedenfalls  eine  wichtige  Rolle  beim'  Zustande¬ 
kommen  des  häufigsten  Symptoms  des  Katarrhs,  der  Diarrhoe  zu. 
Freilich  weist  schon  Nothnagel,  wie  eingangs  erwähnt,  daran! 
hin  daß  mit  dem  Katarrh  nicht  notwendig  Diarrhoe  verbunden 
sein  müsse,  denn  er  fand  hei  ausschließlicher  Beteiligung  des 
Dünndarms  oder  -des  Dickdarms  Stuhlträgheit,  hei  Dickdarm¬ 
katarrh  außerdem  Wechsel  zwischen  Verstopfung  und  Diarrhoe, 
bei  Beteiligung  des  Dick-  und  Dünndarms  anhaltende-  Durch  i -me. 

Was  nun  aber  die  Diagnose-  des  Sitzes  des  Katarrhs 
anlangt,  so  wird  derselbe-  nach  Schmidt  und  Strasbuiuoi 
aus  der  Art  und  der  Beimengung  des  Schleimes  erkannt:  Derkum 
aus  dem  Dünndarm,  dessen  Schleim  nur  bei  ungewöhnlich  rascher 
Passage  in  die  Fäzes  gelangen  kann,  ist.  nur  für  kleinste  und 
fein  verteilte  Schleirnpartik-elchen  in  flüssigen  Stühlen  ap  zu¬ 
nehmen,  besonders,  wenn  sich  unveränderter  Gallenfarbstoli  im 
Stuhl  nach  weisen  läßt  und  die  Schleimpartikelchen  mikroskopisch 
arm  an  Zellen,  aber  reich  an  Bakterien  sind.  Der1  größte  len 
des  Schleimes  stammt  aus  dem  Dickdarm  (niemals  aus 
Magen  oder  Speiseröhre,  deren  Schleim  nicht  unverdaut,  in  <  >' 
Fäzes  gelangen  könnte) ;  Schleim  aus  dem  Mastdarm  oder  Ko  on 
ende  überzieht  in  dicker  Lage  geformte  Kothallen  ;  findet  steh  euw 
innige  Durchmischung  von  Schleimfetz-en  und  Fäkalsubstanz  i 
breiiger  oder  dünnbreiiger  Konsistenz  der  letzteren,  so  darf  man 
daraus  den  Schluß  auf  die  Herkunft  des  Schleimes  aus’  den  höheren 


5)  Ygt.  Jonas  1.  c. 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


781 


Partien  des  Dickdarms  ziehen  (besonders,  wenn  der  Schleim 
unveränderte  Darmepithelien  enthält)  u.  zw.  stammt  der  Schleim 
aus  um  so  höheren  Partien,  je  kleiner  und  je  gleichmäßiger  verteilt 
die  einzelnen  Schleimpartikelchen  sind. 

Was  ergibt  nun  die  Tabelle  (III) ?  Sie  zeigt  zunächst, 
wie  zuerst  Haudek  hervorhob,  daßi  die  Austreibungszeit 
des  Magens  nicht  allein  vom  Tonus,  sondern  auch  von  der 
Azidität  beeinflußt  wird,  denn  während  der  tiefstehende, 
nicht  atonische  achylische  Magen  in  G  Stunden  leer  ist, 
zeigt  der  tiefstehende,  nicht  atonische  aber  normazide  und 
hyperazide  Magen  einen  kleinen  Wismutrest  nach  G  Stunden, 
der  bei  der  Abwesenheit  von  Ulkus-  und  Stenosensymptomen 
mit  Holzknecht  wohl  auf  den  Mer ing sehen  Pylorus- 
reflex  zu  beziehen  sein  dürfte. 


Tabelle  III.  Darmkatarrh  (bei  Achylikern  und  normotonischen 5a) 
 7-,   .  Normaziden).  


Name 

und 

Alter 

Stuhl  (Anam- 

Fall 

nese  und 
objektiver 
Befund) 

Magen 

Darm 

Anmerkung 

1 

J-  N. 

50 

Diarrhöen; 
fast  flüssig, 
saure  Reak¬ 
tion,  Schleim 
fein  verteilt 

P.  F. ;  Achylie, 

;  t.P.:  2  Qrf./N, 
Br.:  3  Querf. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  6  Stun¬ 
den:  ßi-Stubl 

Katarrh  der 
oberen  Darm¬ 
abschnitte 

ii 

h.  k. 

50 

Diarrhöen ; 
fast  flüssig, 
saure  Reak¬ 
tion,  Schleim 
in  feinen  und 
groben  Parti¬ 
keln 

;  P.F.:  Achylie, 
t.  P.:N/3  Qrf., 
Bn:  3  Querf. 
Nach  6  Stün¬ 
den:  leer 

Nach  6  Stün¬ 
den  :  Bi-Stuhl 

Dünn-  und 
Dickdarm¬ 
katarrh 

III 

0.  G. 
32 

normal; 
weich ; 
Schleim  in 
größeren  Par¬ 
tikeln 

P.  F.:  Achylie, - 
t.  P.:  N.  Br.: 
3  Querfinger. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  6  Stun¬ 
den:  Fl.  lieh. 
Nach  24  Stun¬ 
den:  Bi-Stuhl 

Dickdarm¬ 
katarrh  (mitt¬ 
lerer).  Lang¬ 
same  Passage, 
der  unteren 
Dickdarmab¬ 
schnitte 

IV 

M.  S. 

35 

Neigung  zu 
Obstipation, 
manchmal 
Diarrhoe ; 
weich, 
Schleim  fein 
verteilt 

P.  F.:  t°/0046 
LP.:  N/4  Qrf. 
Nach  5  Stun¬ 
den:  kleiner 
Rest 

Nach  5  Stun¬ 
den  Flex,  lien. 
Nach  24  Stun¬ 
den:  Bi-Stuhl. 

Katarrh  der 
oberen  Dick¬ 
darm¬ 
abschnitte 

V 

F.  R; 

24- 

Obst.;  manch¬ 
mal  weich  bis 
Diarrhoe; 
Schleim  fein 
verteilt 

P.  F.:  l°;o0  44 
t.  P. :  N/3  Qrf. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  kleiner 
Rest 

Nach  6  Stun¬ 
den:  1  y  Col. 
transv. 

Nach  24  Stun¬ 
den:  Bi-Stuhl 
im  Rekt. 

Katarrh  der 
oberen  Dick¬ 
darm - 
•  abschnitte 

VI 

C.  A. 

52 

regelmäßig; 

weich , 
Schleim  fein 
verteilt 

P.  F.:  l°/(0  46 
t.  P.:N/2  Qrf. 
Nach  5  Stun¬ 
den:  kleiner 
Rest 

Nach  5  Stun¬ 
den:  Col. 

transv. 
schwach. 
Nach  24  Stun¬ 
den:  Col.desc. 
stark 

Katarrh  der 
oberen  Dick¬ 
darm¬ 
abschnitte. 
Langsame 
Passage  der 
unt.  Darm¬ 
abschnitte 

VII 

F.  D. 

32 

Obst.  —  weich 
geformt, 
Schleim  fein 
verteilt 

P  F. :  L3° '„„46 
t.  P. :  N  4  Qrf. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  kleiner 
Rest 

Nach  6  Stun¬ 
den  Flex.  hep. 
Nach  24  Stun¬ 
den  Flex.  lien. 
Nach  48  Stun¬ 
den:  Bi-Stuhl 

Katarrh  der 
oberen  Dick¬ 
darm¬ 
abschnitte. 
Langsame 
Passage 

VIII 

S.  K.  j 
34 

Obst. ;  manch¬ 
mal  weich; 

breiig, 
Schleim  in 
größeren  Par¬ 
tikeln 

P.F.:  P2°/00  48 
t.  P.:  N. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  6  Stun¬ 
den  Flex.  hep. 
Nach  24  Stun¬ 
den  Col.  desc., 
schwach 

Dickdarm¬ 
katarrh  (mitt¬ 
lerer).  Lang¬ 
same  Passage 

Was  lehrt  nun  die  Tabelle  in  Bezug  auf  die  katarrha¬ 
lische  Hypermotilität? 

Sie  zeigt  zunächst  an'  den  ersten  3  Fällen  die  Kombi¬ 
nation  zwischen  Achylie  und  Darmkatarrh  (der  nach 
Sch  m  i  d  t  hier  stets  als  sekundär  anzusehen  ist,  siehe  oben), 
md  zwar  in  Fall  I  mit  Dünndarmkatarrh,  im  Fall  II  und  111  mit 

6a)  Der  normale  Tonus  zeigt  sich  darin,  daß  der  Magen  bis  oben 
ult  Wismutspeise  gefüllt  ist. 


Dick-  und' Dünndarmkatarrh ;  in  den  beiden  ersten  Fällen  er¬ 
folgen  fast  flüssige  Entleerungen  und  es  zeigt  sich  radiolo¬ 
gisch,  daß  in  beiden  Fällen  die  achylische  Hypermotilität  des 
Darmes  durch  seine  katarrhalische  Erkrankung  noch  eine 
weitere  Steigerung  erfährt,  die  schon  nach  6  Stunden  Wis¬ 
mutstühle  auf  freien  läßt  —  ein  Verhalten,  das,  wie  Fall  VI 
und  \  II  der  Tabelle1  1  lehrte,  auch  ohne  Katarrh  Zustandekom¬ 
men  kann.  Im  Fäll  Ul  liegen  weiche  Stühle  vor;  radio  logisch 
zeigt  sich  Hypermotilität  der  oberen  Darmabschnitte,  dabei 
aber  normale  Passage  der  unteren  trotz  Achylie  und  Ka¬ 
tarrh;  Die  Fäll  IV  Dis  \  II  zeigen  das  Verhalten  des  Darmes  bei 
normaler  Azidität  des  Magens  und  Katarrh  der  oberen  Dick- 
darmabschnitte,  Fall  VIII  bei  Katarrh  des  mittleren  Dickdarms. 
Was  zunächst  das  Stuhlbild  anlangt,  so  findet  sich  im  Fäll 
IV,  V,  VII  und  VIII  Wechsel  zwischen  Obstipation  und  weichen 
Stühlen,  im  Fall  VI  weiche  Stühle.  Radiologisch  findet  sich 
im  Fall  IV,  V  und  VI  gesteigerte  Motilität  der  oberen  Darmab¬ 
schnitte,  die  den  Wismutbrei  im  Fall  IV  und  V  in  6  Stunden 
die  Mitte  des  Colon  transversum,  in  Fäll  IV  sogar  die  Fiexura 
coli  lienalis  erreichen  läßt,  in  Fall  VII  und  VIII  ist  die  Motilität 
der  oberen  Darmabschnitte  normal.  Was  die  unteren  Darm- 
äbschnitte  anlangt,  so  zeigt  Fall  IV  und  V  normale  Passag-e 
derselben,  Fall  VI,  VII  und  VIII  abao  r  m  längs  a  m  e  P  a  s- 
sage  (Fall  IV  und  V  trotz  etwas  schnellerer  Passage  der 
oberen  Darmabschnitte).  Es  fand  sich  somit  bei  Katarrh  der 
oberen  Dickdarmabschnitte  (und  normaler  Azidität  des  Ma¬ 
gens)  zumeist,  jedoch  nicht  immer  Hypermotilität  dieser 
Abschnitte,  dabei  aber  normale  oder  verlangsamte 
Passage  der  unteren,  in  einem  Falle  von  ausgespro¬ 
chenem  (mittleren)  Dickdarmkatarrh  normale  Motilität  des¬ 
selben  und  es  zeigt  sich  daher,  daß  1.  mit  dem  Dickdarm¬ 
katarrh  nicht  immer  Hypermotilität  des  Darmes  verknüpft 
sein  muß1,  und  daß  2.  mit  der  Hypermotilität  der  oberen  Dick¬ 
darmabschnitte  nicht  immer  Hypermotilität  der  unteren  ver¬ 
bunden  sein  muß. 

Erinnern  wir  uns  nun  daran,  daß  die  flüssig  an  die 
Ileocökalklappe  gelangenden  Fäkalmassen  bald  nach  der¬ 
selben  —  im  Colon  ascendens  —  Eindickung 6)  und  im 
weiteren  Verlauf  des  Colons  immer  weitere  Verhärtung  er¬ 
fahren,  so  ergibt  sich :  flüssige  Stühle  können  nur  dann 
Zustandekommen,  wenn  der  ganze  Dickdarm  sich  im  Zu¬ 
stande  der  Hypermotilität  befindet  (ob  dabei  die  Zone  der 
Hypermotilität  stets  der  Ausbreitung  des  Katarrhs  entspre¬ 
chen  mußi,  muß  dahingestellt  bleiben) ;  sie  erfolgen  also  beim 
reinen  Dünndarmkatarrh  niemals  —  beim  oberen  Dickdarm- 
katarrh,  wenn  der  untere  Dickdarm  sich  nicht  im  Zustande 
der  Hypermotilität  befindet  —  bei  Dünn-  und  Dickdarm- 
katarrh  immer.  Weiche  Stühle  können  nur  dann  erfolgen, 
wenn  einerseits  im  Dickdarm  keine  allzu  hochgradige  Hyper¬ 
motilität  und  andererseits  im  unteren  Dickdarm  keine  Hy- 
pomotilität  besteht  und  es  auch  zur  rektalen  Eindickung  der 
Fäkalmassen  nicht  kommt.  Harte  Stühle  können  auftreten: 
1.  beim  Dünndarmkatarrh  mit  fehlender  Hypermotilität 
des  Dickdarms,  2.  beim  Dickdarmkatarrh  infolge  Hypomo- 
tilität  (Schädigung  der  Motilität  durch  entzündliche  Infil¬ 
tration  und  Atrophie,  No  th  nag  e  1),  oder  bei  Hypermotilität 
der  oberen  Darmabschnitte,  wenn  in  den  unteren  Partien 
normale  oder  abnorm  langsame  Passage  besteht,  oder  wenn 
es  (zur  rektalen  Eindickung  weicher  Stuhlmassen  kommt  (für 
flüssige  Fäkalmassen  kann  eine  bis  zur  Verhärtung  führende 
rektale  Eindickung  nicht  wohl  angenommen  werden). 

III.  Haben  wir  so  einerseits  die  Achylie,  (andererseits 
den  Katarrh  als  die  Motilität  des  Darmes  beeinflussende  Mo¬ 
mente  kennen  gelernt,  so;  ist  nun  zu  untersuchen,  wie  sich 
die  Abhängigkeit  der  Darmmotilität  b  1  o  ßi  von 
der  Azidität  des  Magensaftes  (ohne  Achylie  einer¬ 
seits  und  ohne  Katarrh  andererseits)  darstellt;  Tabelle  IV 
gibt  darüber  Auskunft. 

Sie  zeigt  zunächst  an  zwei  Fällen  von  Subazidität 
(l  und  II),  daß  sich  an  diesen  Säuregrad  Hypermotilität  des 
Darmes  nicht  anschließen  m  u  ß,  daß  sie  sich  daran  an- 


6)  Vgl.  R  o  i  t  h  I.  c. 


782 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


Tabelle  IV. 

Verschiedene  Säure  grade  ohne  Darmkatarrh. 


Fall 


Name 
I  und  Alter 


Stuhl 


L.  H. 
38 


Diarrhöen  — 
Obstipation; 
kein  Schleim 


C.  S.  Obstipation, 

46  kein  Schleim 


III 


R.  S. 
40 


Obstipation  — 
Diarrhöen, 
kein  Schleim 


IV 


Neigung  zu  Obsti¬ 
pation,  kein  Blut, 
kein  Schleim 


C.  N. 


40 


Obstipation, 
kein  Schleim 


K.  S. 
35 


normal,  Neigung 
zu  Obstipation, 
kein  Schleim 


VII 


Th.  F. 
56 


1  bis  2  weiche 
Stühle  täglich  früh, 
flüssig;  kein 
Schleim  bei  Probe¬ 
diät  Bindegewebe, 
sonst  normal 


Magen  t  Darm 


Nach  6  Stunden: 


P.  F.:  O'5°/00  60 
t.  P.:  N/3  Querf. 
Nach  6  Stunden: 
ca.  '/4  Mahlzeit 

P.  F.r  0'5°/oo  48 
t.  P. :  N/4  Querf. 
Nach  5  Stunden: 
kleiner  Bi-Rest 


P.  F.:  1'3  Voo  84 
t.  P. :  N/5  Querf. 
Nach  6  Stunden : 
kleiner  Bi-Rest 


P.  F.:  ungefähr  | 
normale  Azidität. 
(Lösung  der 
Schwarzschen 
Kapsel  nach 
2  Stunden.)  . 
t.  P.:  N. 

Nach  6  Stunden:  ( 
leer 

P.  F. :  Hyperazi-  | 
dität. 

(Laut  Bericht.) 
t.  P. :  N/3  Querf. 
Nach  6  Stunden; 

kleiner  Rest 
P.  F.:  2. :  2'2«/0086 
t.  P.:  N/4  Querf. 
Nach  6  Stunden: 
2  Querf.  Rest 

P.  F.:  2°/0o  70 
t.  P.:  N/3  Querf. 
Nach  6  Stunden: 
leer 


Flex.  col.  hep. 


Nach  5  Stunden: 
Flex.  col.  hep. 

Nach  6  Stunden: 
Flex.  col.  hep.; 
schwach  Col. 
transv. 

Nach  24  Stunden: 
‘/g  Col.  transv. 
stark,  schwach 
Flex.  col.  lien. 


Nach  6  Stunden: 
Bi-Stuhl  im  Rekt. 
Nach  9  Stunden: 
Bi-Stuhl 


Nach  6  Stunden: 
Flex.  col.  hep. 


Nach  6  Stunden: 
nichts  im  Kolon, 
nach  24  Stunden: 
Flex.  hep. 

Nach  6  Stunden: 

Flex.  col.  lien. 
Nach  12  Stunden: 
Bi-Stuhl 


schließen  kann  —  und  zwar  wahrscheinlich  dann,  wenn 
sie  hochgradig  ist  und  zu  sekundären  Darmkatarrhen  führt, 
geht  aus  den  Untersuchungen  von  Schütz,  Ei n horn (und 
Schmidt  hervor,  die  dabei  Diarrhöen  heobachleten.  Von 
den  Izwei  Fällen  mit  ungefähr  normaler  Azidität  fill  und  IV) 
zeigt  Fall  III  Hypermotilität  bis  zur  Flexura  coli  lienalis  (die 
nach  6  Stunden  schwach  gefüllt  erscheint)  und  Hypomoti- 
lilät  des  unteren  Dickdarms  (nach  24  Stunden  schwache  Fül¬ 
lung  der  Flexura  coli  lienalis);  Fall  IV  zeigt  starke 
Hypermotilität  des  ganzen  Darmes,  nach  6  Stunden 
Wismutmassen  im  Rektum.  Von  den  drei  Fällen  von 
Hyperazidität  (V,  VI  und  VII)  zeigt  Fall  V  normale  Motilität 
(nach  6  Stunden  Füllung  der  Flexura  coli  hepatica), 
Fall  VI  hochgradige  Hypomotilität  (nach  24  Stunden  erst 
Füllung  der  Flexura  hepatica),  Fall  VII  hochgradige  IHyper- 
motilität  des  Darmes  (nach,  6  Stunden  Füllung  der  Flexura 
coli  lienalis,  nach  12  Stunden  Wismutstuhl).  Es  ergibt  sich 
also,  daß  ein  konstantes  Verhältnis  zwischen 
dem  S  ä  u  r  e  g  r  a  d  des  Magens  und  der  Darmm  o- 
t  i  1  i  t  ä  t  nicht  besteht. 

Auf  die  beiden  letzten  Fälle  will  ich,  näher  eingehen,  weil 
sie  für  die  Erklärung  des  gemeinsamen  Vorkommens  von 
Obstipation  und  Diarrhoe  einerseits  und  Hyperazidität  ande¬ 
rerseits  wichtig  erscheinen.  Es  handelt  sich  in  beiden 
Fällen  um  neurasthenische  Individuen  vom  Still  ersehen 
Typus,  in  beiden  Fällen  liegen  dieselben  hohen  iSäuregrade 
(2 — 2-2%0)  vor,  der  Stand  des  Magens  ist  in  beiden 
Fällen  gleich  tief  (3 — 4  Querfinger  unter  dem  Nabel),  auch 
sind  beide  Mägen,  wie  ich  hinzufügen  will,  normotonisch 
(3  Querfinger  breit,  bis  oben  mit  Wismut  gefüllt)  und  haben 
beide  eine  Hubhöhe  (Distanz  zwischen  Pylorus  und  kau¬ 
dalem  Pol)  von  Handbreite;  und  doch  zeigen  beide  Fälle 
in  Bezug  auf  die  Motilität  des  Magens  und  Darmes  ein  ganz 
verschiedenes  Verhalten.  Bei  dem  einen  (Fall  VI)  enthält  der 


Magen  nach  6  Stunden  einen  recht  starken  Wismutrest  und 
dieses  Verhalten  erscheint  durchaus  erklärlich,  wenn  man 
bedenkt,  daß  der  Entleerung  des  Magens  zwei  Hindernisse 
entgegenstehen :  die  (handbreite)  Hubhöhe  einerseits  und  der 
infolge  der  starken  Azidität  verstärkte  M  e  r  i  n  g  sehe  Pylorus- 
reflex  andererseits.  Entsprechend  dieser  Hypomotilität  des 
Magens  findet  sich  auch  Hypomotilität  des  Darmes: 
erst,  nach  24  Stunden  Füllung  der  Flexura  coli 
hepatica  —  Neigung  zu  Obstipation.  Ganz  anders 
verhält  sich  der  andere  Fall  (VII):  Hier  entleert  sich 
der  Magen  trotz  seines  Tiefstandes  und  seines  hohen 
Säuregrades  in  6  Stunden;  er  zeigt  also,  mit  Rücksicht  auf 
diese  beiden  die  Austreibung  hindernden  Momente  eine 
relative  Hypermotilität  und  dementsprechend  findet 
sich  auch  eine  recht  'hochgradige  Hypermotilität  des  Darmes, 
die  den  Wismutbrei  llachl  6  Stunden  diehlexura  coli  lienalis 
erreichen  ließ,  nach  12  Stunden  Wismutstuhl  auftreten  'ließ 
—  und  Diarrhöen,  ein  Verhalten,  wie  wir  es  bei  der  achy- 
lischen  Hypermotilität  des  Darmes  erheben  konnten. 

Zur  weiteren  Aufklärung  des  Falles  wurde  der  Patient 
nun  für  3  Tage  auf  Schmid  tsche  Probediät  gesetzt  und 
da  ergab  sich  folgendes  :  Der  Stuhl  bot  das  Bild  einer  starken 
Hypersekretion ;  6a)  er  war  ganz  flüssig,  wässerig,  wenig  fäku- 
lent,  es  fand  sich  darin  kein  Schleim,  wohl  aber 
reichlich  Bindegewebe.  Auf  solche  Funde  von  Binde¬ 
gewebe  im  Stuhl  trotz  Hyperazidität  hat  schon  Schmidt 
aufmerksam  gemacht  und  sie  mit  Wahrscheinlichkeit  zum 
Teil  auf  eine  Komplikation  mit  Hypermotilität  be¬ 
zogen  —  eine  Auffassung,  die  der  Röntgenbefund 
in  unserem  Falle  bestätigte.  Damit  aber  ist  auch 
das  Auftreten  von  Diarrhoe  bei  Hyperazidität  mit 
Hypermotilität  erklärt;  denn  bleibt  dem  Magen  infolge  seiner 
Hypermotilität  keine  Zeit,  den  Mageninhalt  genügend  für 
die  Darmverdauung  vorzubereiten,  so  müssen  sich  daran 
alle  jene  Folgezustände  knüpfen,  die  wir  bei  der  Achylie 
gesehen  haben :  Zersetzung,  Reizung,  Diarrhoe.  Inwieweit 
dabei  nervös-vasomotorische  Einflüsse  beteiligt  sind,  läßt 
sich  nicht  feststellen;  doch  würde  die  obige  (Auffassung  das 
Vorkommen  von  „nervösen  Diarrhöen“,  wie  sie  trotz  Norm¬ 
azidität  oder  Hyperazidität  bei  Neurasthenikern  Vorkom¬ 
men,  erklären. 

Es  geht  ans  diesen  beiden  Fällen  hervor,  daß  mit 
Hyperazidität  sowohl  Hypomotilität  wie  Hypermotilität  des 
Magens  und  Darmes  verknüpft  sein  kann,')  woraus  sich 
das  Vorkommen  von  Obstipation  und  Diarrhoe  bei  Hyper¬ 
azidität  leicht  erklärt ;  und  es  geht  weiters  daraus  hervor, 
daß  seihst  aus  hochgradiger  Hypermotilität  bei  Fehlen  von 
Schleim  in  den  Fäkalmassen  (ohne  den  ein  Katarrh  nicht 
angenommen  werden  kann,  Nothnagel)  auf  Achylie  nie¬ 
mals  geschlossen  werden  darf. 

IV.  Ganz  kurz  sei  endlich  noch  eine  weitere  Art  der 
Hypermotilität  des  Darmes  erwähnt,  der  ich  bei  meinen 
Untersuchungen  begegnete  :  die  bei  Ulcus  v  e  n  t  r  i  c  u  1  i 
vorkommende.  Von  den  darauf  untersuchten  6  Fällen  zeig¬ 
ten  4  den  Magen  nach  6  Stunden  leer  und  dabei  Hyper¬ 
motilität  des  Darmes,  die  den  Wismutbrei  in  3  Fällen  nach 
6  Stunden  die  Flexura  coli  lienalis  erreichentließ,  in  1  Fall 
zu  dieser  Zeit  Wismutmassen  bereits  im  Rektum  auftreten 
ließ.* * 7 8)  Die  übrigen  2  Fälle  (V  und  jVI)  ergaben  nach  6 
Stunden  Wismutreste  im  Magen,  die  mit  Haudek  auf 
Pylorospasmen  zu  beziehen  sind,  die  er  bei  floriden,  selbst 
pylorusfernen  Geschwüren  fand ;  entsprechend  dieser  Hypo- 
motilität  'zeigten  diese  2  Fälle  auch  keine  Hypermotilität  des 
Darmes,  sondern  normale  Passage  desselben.  Demnach  er¬ 
gäbe  sich  für  das  Ulkus  folgendes:  geht  das  Ulkus  mit 
Motilitätsstörung  des  Magens  einher  —  und  das  ist  sicher 
der  häufigere  Fall  —  so  fehlt  im  Darme  die  Hypermotilität; 

®a)  Neuestens  wird  diese  Hypersekretion  von  Schmidt  als 

leichtester  Grad  des  Katarrhs  aufgefaßt. 

7)  Nach  Rubow  (1.  c.)  ist  dabei  oft  die  Hypermotilität  des  Ma¬ 
gens  das  Primäre  und  die  Hyperazidität  sekundär. 

8)  Diese  Hypermotilität  des  Darmes  läßt  darauf  schließen,  daß  es 
sich  hier  vielleicht  um  primäre  Hypermotilität  des  Magens  mit  sekun¬ 
därer  Hyperazidität  und  Ulzeration  handelt  (Rubow  1.  c.). 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


783 


Tabelle  V.  IJlcus. 


Fall 

Name 
und  Altei 

Stuhl 

Magen 

Darm 

Anmerkung 

I 

II 

P.  S. 

1  28 

K.  S. 
37 

Neigung  zu 
Obstipation ; 
weich,  Blut 
stark  positiv 
Obstipation, 
Blut  stark 
positiv 

t.  P.:  N. 
Nach  5  Stun¬ 
den:  leer 

t.  P.:  N 
Nach  5  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  5  Stun¬ 
den  Flex.  lien. 

Nach  5  Stun¬ 
den  Flex.  lien. 

III 

J.  K. 

53 

Obstipation, 
Blut  stark 
positiv 

t.  P.:N;2  Qrf. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  6  Stun¬ 
den:  Bi  im 
Rektum. 
Nach  48  Stun¬ 
den:  Bi-Stuhl 

Dyschezie 

IV 

S.  F. 

40 

Obstipation, 
Blut  stark 
positiv 

t.  P.:N/1  Qrf. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  leer 

Nach  6  Stun¬ 
den  Flex.  lien. 
Nach  24  Stun¬ 
den:  Bi-Stuhl 

V 

A.  E. 

17 

Obstipation, 
Blut  stark 
positiv 

t.  P.:  N/4  Qrf. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  2  Querf. 
Rest 

Nach  6  Stun¬ 
den  Flex.  hep. 
Nach  24  Stun¬ 
den:  Bi  im 
Rektum 

Dyschezie 

VI 

A.  R. 

40 

regelmäßig, 
Blut  stark 
positiv 

t.  P. :  N/3  Qrf. 
Nach  6  Stun¬ 
den:  1  Querf. 
Rest 

1 

Nach  6  Stun¬ 
den  Flex.  hep. 
Nach  24  Stun¬ 
den:  Col.desc. 

nicht  stenos. 
Ulcus  callos. 
operiert 

ist  es  nicht  mit  Motilitätsstörung  des  Magens  ver¬ 
bunden,  dann  findet  sich  die  Motilität  des  Darmes  gesteigert. 
l\s  erscheint  naheliegend,  für  die  Hypermotilität  des 
Darmes  bei  Ulkus  einen  Reizzustand  desselben  auf  moto¬ 
rischem  Gebiet  verantwortlich  zu  machen,  in  dem  sich  der 
Magen  auf  sekretorischem  Gebiet  bei  dieser  Krankheit  befin¬ 
det,  da  wir  ja  wissen,  wie  häufig  das  Ulkus  mit  Hyper¬ 
sekretion  einhergeht.  Was  aber  die  Beteiligung  der  unteren 
Darmabschnitte  anlangt,  so  zeigt  sich,  in  Uebereinstimmung 
mit  den  bei  den  anderen  Arten  der  [Hypermotilität  erhöbe 
nen  Befunden,  daß  auch  mit  der  ulzerösen  Hypermotilität 
der  oberen  Darmabschnitte  normale  Motilität  der  unteren 
verbunden  sein  kann;  und  so  erklärt  sich  das  Vorkommen 
barter  Stühle  trotz  der  Hypermotilität  auch  hier  [leicht  bald 
als  Folge  von  Dyschezie  (Fall  III  undiV),  bald  als  Folge  der 
normalen  (in  manchen  Fällen  gewißi  auch  verlangsamten) 
Passage  der  unteren  Darmabschnitte  (Fall  VI).  ( 

* 

Wenn  ich  zum  Schlüsse  das  Resultat  d  e  r  (Unter¬ 
suchungen  meiner  38  Fälle  zusammenfasse,  slo  ergibt  sich 

olgendes : 

1.  Für  das  Stuhlbild  ist  nicht  allein  die  Schnelligkeit 
ler  Passage  durch  den  Darm,  sondern  auch  die  Empfindlich¬ 
keit  des  Rektums,  seine  Fähigkeit  Stuhldrang  auszulösen 
Hertz)  maßgebend;  hat  das  Rektum  diese  Fähigkeit  ver- 
oren,  dann  kann  es  trotz  Hypermotilität  des  Darmes  zum 
degenbleiben  und  zur  Eindickung  des;  Stuhles  und  zum 
duhlbild  der  Obstipation  kommen.  Kann  daher  zwar  aus 
!em  Vorhandensein  von  Diarrhöen  auf  beschleunigte  Darm- 
»assage  geschlossen  werden,  so  ist  dagegen  der  S  c  h  1  u  ß 
us  dem  Stuhlbild  der  Obstipation  auf  ver- 
angsamte  Darmpassage  unzulässig. 

2.  Die  Darmmotilität  erweist  sich  im  allgemeinen  von 
er  Motilität  des  Magens  abhängig,  insoferne,  als  sich  bei 
lypermotilität  des  Darmes  stets  auch  Hypermotilität  und 
iemals  Hypomotilität  des  Darmes  fand  und  sich  bei  Hypo- 
lotilität  des  Magens  niemals  Hypermotilität  des  Darmes 
rgab. 

3.  Hypermotilität  des  Darmes,  mindestens  in  seinen 
beren  Abschnitten  bis  zur  Flexura  coli  lienalis,  findet  sich 
ei  Achylie,  manchen  Fällen  von  Ulkus,  (nervöser)  Plyper- 
lOtilität  des  Magens  und  manchmal  bei  Katarrh  des  Darmes ; 
ie  Hypermotilität  der  oberen  Darmab- 
chnitte  kann  jedoch  mit  normaler  oder  ver- 
3-ngsamter  Passage  der  unteren  Darmab- 
chnitte  verbunden  sein. 


4.  Ein  Hindernis  am  Magenausgang  narbiger,  karzino- 
matöser  oder  spastischer  Natur  verlangsamt  die  Darmpas¬ 
sage  um  so  mehr,  je  hochgradiger  es  [ist. 

5.  Ein  bestimmtes  Verhältnis  zwischen  dem  Säurm 
grad  des  Magens  und  ''der  Motilität  des  Darmes  besteht  nicht. 

Literatur. 

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stadium  der  Pylorusstenose.  Ebenda  1910,  Nr.  31.  —  Martiusund 
Lu  bar  sch,  Achylia  gastrica,  ihre  Ursachen  und  ihre  Folgen.  Wien 
1®97.  Neusser,  Zur  Klinik  der  perniziösen  Anämie.  Wr.  klin. 
Wochenschr.  1899,  Nr.  15.  —  v.  Noorden,  Bemerkungen  über  die 
Hyperazidität  des  Magensaftes  und  ihre  Behandlung.  Zeitschr.  f.  klin. 
Med.,  Nr.  53;  Ueber  die  Ausnützung  der  Nahrung  bei  Magenkrankheiten. 
Ebenda,  Nr.  17.  —  Nothnagel,  Beiträge  zur  Physiologie  und  Patho¬ 
logie  des  Darmes.  Berlin  1884.  —  0  p  p  1  e  r,  Ueber  die  Therapie  ge¬ 
wisser,  mit  Magenaffeklionen  zusammenhängender  Erkrankungen  des 
Darmes.  Theiap.  Monatsb.  1896,  Nr.  3;  Ueber  die  Abhängigkeit  gewisser 
chronischer  Diarrhöen  von  mangelhafter  Sekretion  des  Magensaftes 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1896,  Nr.  32.  —  R  o  i  t  h,  Ueber  die  Füllung 
des  Dickdarmes.  Anatom.  Hefte,  Nr.  20.  —  R  u  b  o  w,  Beiträge  zur  Patho¬ 
logie  und  Therapie  des  Magengeschwüres.  Arch.  f.  Verdauungskrankh., 
XIII.  S  a  m  u  e  1  y,  Ueber  das  Verhalten  der  Magensaftazidität  bei 
chronischer  Obstipation.  Arch.  f.  Verdauungskrankh.,  XII.  —  Schle¬ 
singer  Emmo,  Die  Grundformen  des  normalen  und  pathologischen 
Magens  und  ihre  Entstehung.  Berl.  klin.  Wochenschr.  1910,  Bd.  43.  — 

S  c  h  m  i  d  t,  Diagnose  und  Therapie  chronischer  Diarrhöen.  Albus  Samm¬ 
lung,  Bd.  2,  Heft  1 ;  Die  Funktionsprüfung  des  Darmes  mittels  der  Probe¬ 
kost,  Wiesbaden  1908;  Leitsätze  über  die  Diagnose,  Pathogenese  und 
Aetiologie  des  chronischen  Dickdarmkatarrhs.  Med.  Klinik  1911,  Bd.  2. 
—  S  chmidt  und  Strasburger,  Die  Fäzes  des  Menschen.  Berlin 
1905.  Schütz,  Ueber  chronische  dyspeptische  Diarrhöen  und  ihre 
Behandlung.  Volkm.  Sammlg.,  N.  F.  318.  —  Strauß,  Demonstrationen. 
Berl.  klin.  Wochenschr.  1899,  Nr.  10.  —  Wiczkowsk  y,  Ueber  das 
gegenseitige  Verhältnis  der  Magen-  und  Darmfunktionen.  Arch.  f.  Ver¬ 
dauungskrankh.,  IV. 


Aus  der  Universitätskinderklinik  in  Lemberg. 

(Vorstand:  Prof.  Raczynski.) 

Das  Verhalten  des  Reduktionsindex  (nach 
E.  Mayerhofer)  in  der  normalen  und  patho¬ 
logischen  Zerebrospinalflüssigkeit. 

Von  Dr.  Mathilde  Lateiner,  Assistentin  der  Klinik. 

Bei  der  Diagnose  der  tuberkulösen  Meningitis  pflegt 
man  'sich  neben  der  Beachtung  der  klinischen  Erscheinungen 
auch  der  Untersuchung  der  (durch  eine  Punktion  gewonnenen 
Zerebrospinalflüssigkeit  zu  bedienen;  die  Methoden,  die  da¬ 
bei  seit  der  Einführung  der  Lumbalpunktion  zu  diagnosti¬ 
schen  Zwecken  zur  Anwendung  kommen,  sind :  die  Unter¬ 
suchung  auf  Tuberkelbazillen,  die  zytologische  Unter¬ 
suchung,  die  Beachtung  des  nach  einiger  Zeit  entstehenden 
Gerinnsels  und  die  Prüfung  des  Eiweißigehaltes. 

Wie  bekannt,  zeichnet  sich  die  Zerebrospinalflüssig¬ 
keit  bei  Meningitis  tuberculosa  durch  die  Fähigkeit  aus,  ein 
Gerinnsel  zu  bilden  und  durch  einen  erhöhten  Eiweißgehalt ; 
oft  enthält  sie  Tuberkelbazillen,  gewöhnlich  aber  nur  in  sehr 
geringer  Zahl.  Während  die  Gerinnselbildung  erst  nach 
mehreren  Stunden  entsteht  und  ausnahmsweise  ausbleiben 
kann,  der  Tuberkelbazillenachweis  oft  mühsam  ist  und 
nicht,  in  allen  Fällen  ,zum  Ziele  führt  —  eignet  sich  die 
Eiweißbestimmung  recht  gut  zu  einer  schnellen  Orientierung 
am  Krankenbette.  Nach  Allard1)  braucht  man  die  quan¬ 
titative  Bestimmung  nicht  anzuwenden,  es  genügt  das  Auf¬ 
kochen  mit  Zusatz  von  einigen  Tropfen  verdünnter  Essig¬ 
säure  :  bei  einfacher  Trübung  handelt  es  sich  noch  um 
normale  Eiweißmengen,  bei  Flockenbildung  kann  man  die 
Diagnose  der  entzündlichen  Flüssigkeit  stellen.  Wir  ver- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


wenden  die  einfache  Heller  sehe  Eiweißtprobe  (Unterschich- 
!ung  mit  konzentrierter  Salpetersäure)  und  gewinnen  für 
gewöhnlich  recht  verläßliche  Resultate,  indem  es  bei  vor¬ 
sichtiger  Unterschicht ring  bei  Meningitis  tuberculosa  zur  Bil¬ 
dung  eines  dichten,  3  bis  6  mm  dicken  Eiweißringes  kommt, 
während  hei  normalem  Liquor  ein  kaum  merkbarer  Ring,  oft 
erst  nach  einigen  Sekunden  entsteht. 

Bieten  also  recht  viele  Fälle  diese  einfachen  Verhält¬ 
nisse,  so  kommt  es  doch  gelegentlich  vor,  daß  uns  die  quali¬ 
tative  Eiweisprohe  keine  verläßlichen  Resultate  gibt;  es  ent¬ 
steht  ein  1  bis  2  mm  breiter  Ring  und  wir  können  es  in  diesem 
Falle  ebensogut  mit  einer  entzündlichen  Flüssigkeit  wie 
mit  einem  Begleitsymptom  einer  andersartigen  Gehirner¬ 
krankung  (Blutungen,  Tumoren,  venöse  Hyperämie),  wie 
endlich  um  Zustände,  die  unter  Meningismus  (oder  Menin¬ 
gitis  serosa  Quinque)  zusammengefaßit  werden  und  hei  Ty¬ 
phus,  Pneumonie,  Influenza,  Autointoxikationen,  Insola¬ 
tionen  Vorkommen,  zu  tun  haben.  Eine  quantitative  Eiweißi- 
bestimmung  würde  ebenso  wenig  zum  Ziele  führen,  weil 
der  normale  Eiweißgehalt  nach  Quinque  eben  zwischen!  0-2 
und  0-5  ^oo  schwankt  (nach  anderen  Autoren  noch  höher 
sein  kann),  bei  0-5°/oo  also  die  Grenzwerte  liegen,  die  weder 
für,  noch  gegen  eine  Meningitis  sprechen  (ausnahmsweise  sah 
Q  u  i  n  q  u  e  bei  7  %0  Eiweiß  keine  Meningitis  sondern  venöse 
Stauung).  Für  diese  zweifelhaften  Fälle  schien  uns  die 
von  E.  M  ayerhofer 2)  angegebene'Meihode  der  Bestimmung 
des  Reduktionsindex,  die  sich  auf  die  gesummte  organische 
und  organisierte  Substanz  bezieht  —  wenn  sie  sich  bewähren 
sollte  —  sehr  erwünscht,  um  die  Diagnose  der  Meningitis  zu 
erleichtern.  Ich  stellte  mir  also  zur  Aufgabe,  seine  Befunde 
an  dein  mir  zu  Gebote  stehenden  Materiale  nachzuprüfen. 

Ich  untersuchte  im  ganzen  die  Zerebrospinalflüssigkeit 
von  29  Fällen.  Unter  diesen  hatten  wir  zwei  Zerebro- 
spinalmeningitiden,  eine  Meningitis  streptococcica,  eine 
Meningitis  pneumococcica,  17  Fälle  von  Meningitis 
tuberculosa,  einen  Fall  von  Hemiplegie  nach  einer 
Kapselblutung,  einen  unter  stürmischen  meningealen 
Symptomen  tödlich  verlaufenden  Fall,  der  auch  durch  die 
Obduktion  nicht  aufgeklärt  wurde,  zwei  Fälle  von  enterogener 
Intoxikation  älterer  Kinder  (4  und  5  Jahre),  die  auch  mit 
heftigen  meningealen  Erscheinungen  einherliefen  und  wegen 
Verdachtes  auf  Meningitis  tuberculosa  punktiert  wurden, 
in  einigen  Tagen  aber  vollkommen  genasen.  Ferner 
wurden  untersucht  ein  Fall  von  Tetanie,  ein  Fäll 
von  vermehrter  Lymphozytose  des  Liquor  cerebro¬ 


Normaler 

Liquor 

■ 

Meningitis  basilaris  tuberculosa 

Meningitis 

purulenta 

Fall  1 

Fall  VII 

Fall  XIII 

Fall  XIX 

Fall  XXIV 

1.  1-8 

1.  20 

1.  34 

2.  25 

3.  2T 

1.  41 

1.  2-8 

2.  1-8 

2.  18 

2.  31 

3.  21 

Fall  11 

Fall  VIII 

Fall  XIV 

Fall  XX 

Fall  XXV 

1.  1-6 

1 .  22 

1.  34 

1.  61 

1.  33 

2.  1-3 

2.  2-6 

3.  4-5 

2.  2-8 

Fall  111 

1.  1-5 

2.  1-3 

Fall  IX 

1.  27 

2.  1-8 

3.  1  8 

Fall  XV 

1.  3  6 

2.  35 

Fall  XXI 

1.  67 

2.  2-8 

Fall  XXVI 

1.  40 

Fall  IV 

Fall  X 

1.  2-7 

3.  2  2 

Fall  XVI 

1.  35 

Fall  XXII 

1.  8-2 

Fall  XXVII 

1.  49 

1.  1-7 

2.  25 

2.  7-9 

2.  3  2 

3.  11 

3.  7-8 

3.  37 

Fall  XXVIII 

Fall  V 

Fall  XI 

1.  2-9 

2.  2  1 

Fall  XVII 

1.  3-7 

Fall  XXIII 

1.  20 

2.  1-9 

Hemiplegia 
post  morbillos 

1.  14 

2.  24 

3.  24 

1.  2T 

2.  1-7 

3.  20 

Fall  XIX 

Fall  VI 

1.  1-7 

Fall  XII 

Fall  XVIII 

Hyperämia 

1.  3-2 

2.  27 

1.  40 

2.  1-7 

Meningum 

1.  30 

1 

2.  28 

spinalis  mit  ebenfalls  meningilischen  Erscheinungen 
(Meningitis  serosa  Quinque),  der  nach  zwei  Tagen  vollkommen 
genas  und  ein  Fall  von  Peritonitis  und  Pericarditis  pneumo¬ 
coccica  mit  meningialen  Reizerscheinungen.  Alle  diese. 5  letz¬ 
teren  Fälle  wurden  wegen  Verdachtes  auf  Meningitis  tubercu¬ 
losa  punktiert;  da  sowohl  der  klinische  Verlauf  wie  die  Unter¬ 
suchung  des  Liquor  cerebrospinalis  den  Ausschluß  der  Dia¬ 
gnose  Meningitis  tuberculosa  erlaubten,  können  diese  Fälle 
als  Kontrollfälle  für  die  Bestimmung  des  normalen  Verhält¬ 
nissen  nahekommenden  Reduktionsindex  dienen. 

Bei  der  Untersuchung  folgten  wir  vollkommen  den  An¬ 
gaben  des  Autors  und  verwendeten  entweder  drei  Portionen 
oder  nur  die  erste  und  dritte  oder  endlich  in  selteneren 
Fällen,  in  denen  wir  zu  wenig  Flüssigkeit  erhielten,  mir 
eine.  Die  Resultate  will  ich  hier  tabellarisch  zusammen¬ 
stellen  und  anbei  die  Krankengeschichten  in  kurzen  Aus¬ 
zügen  folgen  lassen. 

Fall  J.  B.  W.,  Amb.-Prot.  Nr.  428.  14  Monate  alt.  Erkrankte 
tags  vorher  mit  klonischen  Krämpfen,  die  sich  an  einem  Tage 
mehrmals  wiederholen.  Bei  der  Untersuchung  ist  die  Fontanelle 
gespannt,  leichte  Nackensteifigkeit,  Temperatur  37-8.  Fäzialisphä- 
nomen  positiv.  Die  Lumbalpunktion  ergibt  eine  vollkommen  klare 
Flüssigkeit,  stark  spritzend.  Der  Heller  sehe  Eiweißring  kaum 
sichtbar,  entsteht  nach  einigen  Sekunden.  Kein  Sediment.  Reduk¬ 
tionsindex  1-8  (siehe  Tabelle).  Die  Krämpfe  wiederholten  sich 
nicht  mehr.  Unter  Darreichung  von  Brom  und  Phosphor lebert nur 
vollkommene  Genesung. 

I)  i  a  g'n  ose:  Tetania. 

Fall  II.  M.  L.,  Prot.- Nr.  120,  drei  Jahre  alt.  Erkrankt 
mit  Erbrechen,  Diarrhöen  und  Schmerzen  im  Abdomen.  Nach 
einigen  Tagen  Bewußtlosigkeit,  Stuhl  angehalten.  Bei  der  Auf¬ 
nahme  am  3.  April  bewußtlos,  unruhig ;  in  der  Atmung  größere 
Pausen,  Visus  sacer,  Schmerzäußerung  bei  Kopfbeugung,  Trous¬ 
seau  sehe  Flecken,  Dauer -Babinsky.  Abdomen  gespannt,  im  Tho¬ 
raxniveau,  undeutlich  schmerzhaft.  Lumbalpunktion  ergibt  eine 
vollkommen  klare  Flüssigkeit,  bei  der  Hell  ersehen  Probe  Eiwei߬ 
ring  xh  mm  breit,  erst  nach  einigen  Sekunden  auftretend,  Reduk¬ 
tionsindex  niedrig  (1-6  bis  1*3),  nach  24  Stunden  keine  Ge¬ 
rinnselbildung.  Am  4.  April  tritt  perikardiales  Reiben  auf.  un 
5.  April  Exitus.  Die  Obduktion  ergibt  eine  Peritonitis  und  Peri¬ 
carditis  pneumococcica. 

Fall  III.  M.  B.,  zehn  Monate  alt,  Amb.-Prot.  Nr.  2383. 
Erkrankt  vor  vier  Tagen  mit  Fieber,  Erbrechen  und  Diarrhöen. 
Temperatur  38-6,  Fontanelle  stark  gespannt,  Nackensteifigkeit; 
der  übrige  Organbefund  normal.  Keine  Druckschmerzhaftigkeit 
der  Ohrmuschel.  Die  Lumbalpunktion  ergibt  eine  leicht  getrübt“ 
Flüssigkeit  unter  hohem  Drucke.  Der  Eiweißring  3  mm  breit, 
entsteht  sofort.  Nach  Zentrifugieren  ein  reichliches  Sediment; 
das  mikroskopische  Präparat  enthält  ausschließlich  Lymphozyten, 
keine  Mikroorganismen.  Färbung  auf  Tüberkelbazillen  negativ. 
Auch  die  Kultur  auf  Blutagar  blieb  negativ.  Reduktionsindex 
(].-5  bis  1-3).  Keine  Gerinnselbildung.  Hier  hätten  wir  ohne 
die  Untersuchung  des  Reduktionsindex  die  Diagnose 
der  Meningitis  basilar  is  gestellt  (vermehrter  Lympho¬ 
zytengehalt,  erhöhter  Eiweißgehalt).  Am  nächsten  Tage .  war  das 
Kind  fieberfrei,  ohne  meningitisebe  Symptom©.  Reaktion  nach 
Pirquet  negativ.  Nach  zwei  Wochen  erscheint  das  Kind  wieder 
im  Ambulatorium  und  ist  vollkommen  gesund. 

Fall  IV.  A.  B.,  vier  Jahre  alt  (ein  Fall  aus  der  Privat¬ 
praxis).  Erkrankt  mit  Erbrechen,  bald  darauf  Somnolenz,  Hin¬ 
fälligkeit,  Sensorium  benommen.  Temperatur  normal,  leichte 
Nackensteifigkeit,  Organbefund  normal.  Die  am  dritten  Tage  der 
Erkrankung  vorgenommene  Lumbalpunktion  ergibt  eine  vollkom¬ 
men  klare  Flüssigkeit  unter  hohem  Druck;  Eiweißring  mit  Sal¬ 
petersäure  ca.  2  mm;  breit;  im  Sediment  Lymphozyten,  keine 
Gcrinnselbildung ;  Kultur  auf  Blutagar  bleibt  steril.  Der  Reduk¬ 
tion  sindex  niedrig  (siehe  Tabelle).  Nach  der  Punktion  Besse¬ 
rung  des  Allgemeinzustandes,  das  Sensorium  freier.  Nach  drei 
Tagen  vollkommene  Genesung. 

Fall  V.  O.  Z.  (Fall  aus  der  Privatpraxis).  Fünf  Jahre  a  it. 
Erkrankt  mit  Erbrechen,  Kopfschmerzen,  Temperatur  38-6,  ‘leid¬ 
lich©  Nackensteifigkeit,  allgemeine  Hyperästhesie.  Die  Kop>.- 
schmerzen  werden  am  nächsten  Tage  noch  intensiver.  Die  Lum¬ 
balpunktion  ergibt  eine  klare  Flüssigkeit  unter  mäßigem  Druck. 
Der  Eiweißgehalt  gering,  im  Sediment  spärliche  Lymphozyten, 
keine  Gerinnsclbihlung.  Die  Kultur  auf  Blutagar  bleibt  steril. 
Reduktionsindex  niedrig  (siehe  Tabelle).  Nach  der  Punktion 
Schwinden  der  Kopfschmerzen.  Am  nächsten  Tage  fällt  die  Tem¬ 
peratur  zur  Norm.  Das  Kind  bleibt  dauernd  gesund. 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


785 


Kiren 


Jar, 
Eiweißring  ; 


Hel 

der 


ler1- 

R.e- 


>ensorumi ; 
vorgeuoin- 


1’ dll  VI.  Betrat  einen  chronischen,  angeborenen  Hydro¬ 
zephalus,  bei  dem  ich  die  Ventrikelflüssigkeit  untersucht  habe 
welche  durch  eine  zu  therapeutischen  Zwecken  vorgenommene 
\ enti  lkcipunklion  (Operation  nach  Brahman)  gewonnen  worden 
ist.  Auch  bei  diesem  Falle  war  die  Flüssigkeit  klar,  die 
sehe  Probe  ergab  einen  kaum  sichtba 
duktionsihdex  war  niedrig  (1-7). 

Fall  VII.  J.  R.,  zwei  Jahre  alt.  Amh.-Prot.  Nr.  344.  Seit 
einigen  Monaten  Husten  und  Abmagerung,  seit  10 'tagen  Erbrechen 
Obstipation;  in  den  letzten  Tagen  Hinfälligkeit  und  Somnolenz.’ 
Bei  der  Untersuchung  Nackensteifigkeit,  Trousseausche  Flecke 
Kern  igsches  Phänomen  positiv,  Puls  68,  arhyth misch  Nach 
vier  Tagen  derselbe  Befund,  Reaktion  nach  Pirquet  positiv. 
Die  Lumbalpunktion  ergibt  eine  leicht  opalisierende  Flüssigkeit 
unter  hohem  Druck.  Der  Eiweißring  5  mm  dick,  im  Sediment 
reichlich  Lymphozyten,  nach  einiger  Zeit  entsteht  ein  zentrales 
Gerinnsel.  Reduktionsindex  an  der  Grenze  (siehe  Tabelle).  Es 
entw  ickelt  sich  nun  langsam  das  typische  Bild  einer  tuberkulösen 
Meningitis.  Nach  sieben  Tagen  Exitus. 

Fall  VIII.  M.  W.,  18  Monate  alt,  Prot.- Nr.  14.  Vor  zwei 
Wochen  mit  Fieber  und  Erbrechen  erkrankt.  Die  Untersuchung 
ergibt  einen  typischen  Befund  einer  Meningitis  basilaris  im  spä¬ 
teren  Stadium.  Lumbalpunktion:  Leicht  getrübte  Flüssigkeit  mit 
dickem  Hel ler sehen  Eiweißring,  Gerinnselbildung.  Keduktions- 
mdex  2-2  (siehe  Tabelle).  Nach  einer  Woche  Exitus. 

0  b  d  u  k  t  i  o  n  s  b  e  fu  n  d :  Leptomeningitis  sero  -  librinosa 
tuberculosa  baseos  cerebri.  Tuberculosis  glandularum,  Tubercu¬ 
losis  nodosa  pulmonum. 

Fall  IX.  L.  St.,  sieben  Monate  alt.  Prot.- Nr.  6t.  Er¬ 
krankte  vor  einem  Monat  mit  Fieber,  Appetitlosigkeit;  magert 
wlinell  ab,  in  der  letzten  Zeit  Erbrechen.  An  der  Haut  einige 
Knötchen  des;  papulösen  Tuberkulids.  Karies  des  rechten  Warzen- 
foitsatzes.  Vier  Tage  nach  der  Aufnahme  deutliche  Nackensteifig 
mit  gesteigerte  Patellarsehnenreflexe  bei  erhaltenem  S 
häufiges  Erbrechen,  der  Stuhl  angehalten.  Die  jetzt 
nene  Lumbalpunktion  ergibt  eine  kaum  getrübte  Flüssigkeit,  unter 
Geringem  Druck.  Der  Eiweißring  3  mm  breit;  im  Sediment  Lym- 
»hozylen;  nach  zwölf  Stunden  Gerinnselbildung.  Reduktions- 
ndex  (2-7  fallende  Tendenz,  siehe  Tabelle).  Die  meningitischen 
Symptome  werden  in  den  nächsten  Tagen  immer  deutlicher,  nach 
icht  Tagen  Exitus. 

Obduktionsbefund:  Caries  processus  mastoidei  dextri; 
j  leptomeningitis  serofibrinosa  tuberculosa  baseos  cerebri;  Hydro¬ 
zephalus  internus  inflammatorius.  Ulcera  tuberculosa  intestini ; 
■ruptio  nodosa  dispersa  pulmonis  utriusque. 

Fall  X.  E.  R.,  12  Monate  alt.  Amh.-Prot.  Nr.  2066 
or  drei  Wochen  mit  Fieber,  zu  gleicher  Zeit  mehrere 
n  der  Haut  (Skrofuloderma).  Das  Kind  magert  schnell 
(rusternährung).  Seit  zwei  Tagen  Erbrechen,  Obstipation.  Die 
ntersuchung  ergibt  ein  abgemagertes  Kind  mit  gespannter  Fon- 
anelle,  Nackensteifigkeit,  gesteigerten  Patellarsehnenreflexen.  Puls 
'0,  arhyth  misch.  Die  durch  eine  Lumbalpunktion  gewonnene 
Zerebrospinalflüssigkeit  ist  nicht  ganz  klar,  weist  einen  ver- 
! uchrten  Eiweißgehalt  auf  (3  mm:  breiter  Ring),  bildet  nach  meli¬ 
eren  Stunden  ein  zentrales  Gerinnsel;  die  Flüssigkeit  steht  unter 
rhöhtem  Druck,  so  daß  mit  Leichtigkeit  30  cm3  abgelassen  werden 
onnten.  Nach  dem  Zentrifugieren  ein  reichliches  Sediment  aus 
-ymphozyien  bestehend;  Tuberkelbazillen  wurden  nicht  gerun- 
len.  Der  Reduktionsindex  2-7,  mit  fallender  Tendenz  (siehe 
abelle).  Fünf  Tage  später  ist  das  Bewußtsein  getrübt,  die  Re¬ 
ktion  nach  Pirquet  positiv;  die  meningitischen  Symptome  wor¬ 
in  immer  deutlicher,  es  treten  Krämpfe  auf;  zehn  Tage  nach1  der 
nmbalpunktion  Exitus. 

|  Fall  XI.  D.  S.,  drei  Jahre  alt.  Amh.-Prot.  Nr.  2734. 
eit  einigen  Wochen  Abmagerung,  allgemeine  Schwäche.  Seil; 
Gier  Woche  Fieber,  Klagen  über  Kopfschmerzen,  Erbrechen;  der 

tuhl  angehalten. 

Ein  .abgemagertes  Kind  mit  zahlreichen  Tuberkulidknötrhen 
er  ganzen  Hautdecke.  Sensorium  leicht  benommen,  Puls  60, 
rhythi  nisch,  Respiration  unregelmäßig.  Deutliche  Nackensteifig- 
'-it,  Kern  igsches  Symptom  positiv;  erhöhte  Patellarsehnen- 
-flexe.  Die  Lumbalflüssigkeit  ein  wenig  getrübt,  Eiweißring  1  mm 
'eit,  Gerinnselbildung  nach  sechs  Stunden;  im  mikroskopischen 
ilde  Lymphozyten.  Reduktionsindex  2-9,  mit  fallender  Tendenz 
•ieho  Tabelle).  Nach  zehn  Tagen  Exitus  unter  typischen  menin- 
itischen  Symptomen. 

Fall  XII.  J.  D.,  lVa  Jahre  alt.  Prot.-Nr.  66.  Seit  zwei 
•  when  krank,  fiebert,  magert  ab;  zeitweise  leichte  Bewußtseins¬ 
übung,  Stuhl  angehalten.  Seit  zwei  Tagen  Erbrechen.  Ein  ab- 
’■magertes  Kind,  somnolent,  doch  bei  Bewußtsein.  Leichte  Nacicen- 
eifigkeit,  Trousseausche  Flecken,  Kern  igsches  und  Babin- 


Erkrankt 
Vbszesse 
ab  (trotz 


sk  i  sch  es  Symptom  positiv.  Die  Augenachsen  divergieren,  die 
upi  len  reagieren  träge.  Puls  arhythmisch,  62  in  der  Minute.  Die 
Lumbalpunktion  ergibt  eine  stark  spritzende,  ganz  leicht  getrübte 
Massigkeit;  Liwei Bring  6  mm  breit,  Gerinnselbildung  nach  acht 
btunden.  Der  übrige  Organbefund  normal.  Temperatur  38°.  Am 
nächsten  Tage  ist  das  Kind  ganz  bewußtlos,  Pirquet  positiv. 
Index  3-2  mit  fallender  Tendenz  (siehe  Tabelle).  Auf  Verlangen 
dei  Litern  wird  das  Kind  nach  Hause  entlassen,  wo  es  nach 
zehn  Tagen  stirbt. 

F:an]lrX11L  M‘  £■>  dr?i  Jahre  alt-  Prot.-  Nr.  43.  Erkrankte 
voi  zwölf  Tagen  mit  Kopfschmerzen;  vor  zehn  Tagen  eine  Stunde 
lang  dauernde  klonische  Krämpfe;  Fieber  um  38°.  Bei  der  Unter¬ 
suchung  ist  das  Kind  benommen,  apathisch,  somnolent.  Puls  110 
-  h e y n e-S  t o k e s sches  Atmen  angedeutet.  T r  o  u s s' e a u sehe 
Mecken,  Nackenbeugung  'schmerzhaft.  Die  Lumbalpunktion  fördert 
10  cm  einer  minimal  getrübten  Flüssigkeit;  Eiweißring  10  mm 
üieit,  nach  24  Stunden  bildet  -sich  ein.  zentrales  Gerinnsel.  Reduk¬ 
tionszahl  3-4,  mit  fallender  Tendenz.  Nach  sieben  Tagen  Exitus. 

,  .  Obduktionsbefund  lautet:  Leptomeningitis  tuberculosa  basi¬ 
laris.  Lymphadenitis  tuberculosis  cavernosa  universalis.  Tuber¬ 
culosa  miliaris  pulmonum1,  lienis,  renum,  hepatisque. 

Fall  XIV.  Ch.  H.,  4V2  Jahre  alt,  Prot.-Nr.  70.  Das  Kind 
wird  wegen  einer  schweren  septischen!  Periostitis,  von  einem 
kariösen  Zahn  des  linken  Unterkiefers  ausgehend,  eingeliefert; 
außerdem  Erbrechen  und  Kopfschmerzen  seit  drei  Tagen.  Während 
des  Aufenthaltes  auf  der  Klinik  kommen  langsam  neben  anderen 
Erscheinungen  memngitische  Symptome  zum  Vorschein.  Die  zwei 
läge  vor  dem  Exitus  ausgeführte  Lumbalpunktion  ergibt  eine 
wenig  opaleszierende  Flüssigkeit,  stark  spritzend.  Der  Eiweiß- 
ii ng  4  mm  breit;  nach  sechs  Stunden  bildet  sich  ein  zentrales 
Gerninsel.  Reduktionsindex  3-4,  mit  fallender  Tendenz  (siehe 
1  abelle).  Der  Obduktionsbefund  lautet:  Meningitis  tuberculosa 
basilaris,  Tuberculosis  miliaris,  Caries  mandibulae  sinistrae. 

Fall  XV.  J.  K.,  sieben  Jahre  alt.  Amb.-Prot.  Nr.  633. 
Seit  einer  Woche  fiebernd,  in  der  Nacht  unruhig;  vor  vier  Tagen 
mehrmaliges  Erbrechen;  seit  dieser  Zeit  andauernde  Somnolenz 
Bei  der  Untersuchung  bewußtlos,  mit  starker  Nackensteifigkeit; 
Kern  igsches  Symptom  positiv,  Patellarsehnenreflexe  erhöht,  Ri¬ 
gidität  der  Extremitäten.  Die  Lumbalpunktion  ergibt  eine1  leicht 
opalisierende  Flüssigkeit,  unter  hohem  Druck  hervorspritzend, 
m  der  sich  nach  sechs  Stunden  das  typische  Gerinnsel  bildet.’ 
Eiweißring  4  mm'  dick.  Reduktionsindex  3-6,  mit  fallender  Ten¬ 
denz  (siehe  1  abelle).  Zwei  Tage  später:  Pupillen  reaktionslos, 

C  h  0  y  n,  e  -  S  t  o  k  e  s  sches  Atmen.  Lumbalpunktion  ergibt  das 
gleiche  Resultat.  Nach  weiteren  zwei  Tagen  stirbt  das  Kind. 


F all  XVI.  A.  P.,  16  Monate  alt.  Prot.-Nr.  37.  Vor  zwölf 
1  agen  Krämpfe,  die  sich  nach  einigen.  Tagen  wiederholten. 

Bei  der  Untersuchung:  Sensorium  benommen,  leichte  Fa¬ 
zialisparese  rechts,  ebenso  Parese  der  rechten  Hand,  leicht  er¬ 
höhte  Patellarsehnenreflexe,  Kern  igsches  Symptom  negativ,  keine 
Nackensteifigkeit.  Die  Lumbalpunktion  ergibt  eine  nahezu  klare 
Flüssigkeit  mit  hohem  Eiweißgehalt  (5  mim  breiter  Ring),  in  dem 
nach  einigen  Stunden  ein  Gerinnsel  entsteht.  Reduktionsindex 
3-5  mit  fallender  I eridenz  (siehe  Tabelle).  Die  meningitischen 
Symptome  werden  in  den  nächsten  Tagen  deutlicher;  nach 
16  Tagen  Exitus. 

Obduktionsbefund :  Meningitis  basilaris,  Tuberculum  soli¬ 
täre  ad  corpus  subthalamicum  sinistrum,  Lymphadenitis  tuber¬ 
culosa  caseosa  universalis.  Tuberculosis  miliaris. 

Fall  XVII.  B.  L.,  neun  Monate  alt,  Prot.-Nr.  116.  Das 
Kind  war  längere  Zeit  in  poliklinischer  Beobachtung  wegen  Ra¬ 
chitis  und  Hydrozephalus.  Einige  Wochen  später  Erbrechen,  klo¬ 
nisch©  Krämpfe.  Fieber.  Bei  der  Aufnahme  leichte  Nackensteifig¬ 
keit,  Fontanelle  gespannt,  Sensorium  frei,  Atmung  aussetzend; 
K  e  r  n  i  g  sches,  B  ah  i  n  s  k  i  sches  Phänomen  negativ.  Die  Lumbal¬ 
punktion  ergibt  eine  leicht  getrübte  Flüssigkeit,  Eiweißring  3  mm 
dick.  Nach  11  Stunden  Gerinnsel.  Reduktionsindex  3-7  mit  fal¬ 
lender  Tendenz  (siehe  Tabelle).  Nach  drei  Tagen  Exitus. 

Sektionsprotokoll :  Meningitis  tuberculosa,  basilaris,  Hydro¬ 
cephalus  internus.  Tuberculosis  glandularum,  pulmonum.  Tuber¬ 
culosis  nodosa  lienis,  Tuberculosis  miliaris  renum  et  hepatis. 

Fall  XVIII.  M.  H.,  15  Monate  alt,  Prot.-Nr.  10.  Vor  einer 
Woche  mit  Fieber  und  Appetitlosigkeit  erkrankt.  Bei  der  Auf¬ 
nahme  der  Befund  einer  Bronchialdrüsentuberkulose;  nach 
drei  Tagen  Unruhe,  Sensorium  getrübt,  Puls  arhythmisch,  Atmung 
unregelmäßig,  Nackenbeugung  schmerzhaft,  Pupillendifferenz.  Lum¬ 
balpunktion  gibt  eine  opaleszierende  Flüssigkeit  unter“  hohem 
Druck.  Eiweißring  6  mm  breit,  nach  sechs  Stunden  Gerinnsel¬ 
bildung.  Reduktionsindex  1-0  mit  fallender  Tendenz  (siehe  Ta¬ 
belle).  Nach  sechs  Tagen  Exitus. 


786 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


Sektionsprotokoll :  Leptomeningitis  serofibrinosa,  tuberculosa 
baseos  cerebri.  Hydrocephalus  inflammatorius  extern us.  Lymph¬ 
adenitis  tuberculosa  caseosa,  Tuberculosis  miliaris. 

Lall  XIX.  J.  B.,  sieben  Monate  alt;  Amb.-Prot.  Nr.  21  So. 
War  mit  vier  Monaten  wegen  eines  tuberkulösen  Geschwürs  am 
Penis  (nach  Zirkumzision  entstanden)  in  poliklinischer  Behand¬ 
lung.  Jetzt  ist  das  Geschwür  noch  nicht  verheilt;  in  seinem 
Sekrete  lassen  sich  Tuberkelbazillen  nachweisen;  in  der  Leisten¬ 
beuge  beiderseits  große  Drüsenpakete,  Sensorium  benommen,  deut¬ 
liche  Nackensteifigkeit,  Kernigsches  Symptom  positiv,  Fonta¬ 
nelle  gespannt,  Strabismus ;  die  rechte  obere  Extremität  rigid, 
leicht  paretisch.  Die  Lumbalpunktion  ergibt  eine  leicht  getrübte 
Flüssigkeit;  stark  spritzend;  Eiweißring  5  mm  breit,  nach  sieben 
Stunden  entsteht  ein  zentrales  Gerinnsel;  im  Sediment  Lympho¬ 
zyten.  Reduktionsindex  4-1  mit  fallender  Tendenz  (siehe  Tabelle). 
Nach  vier  Tagen  stirbt  das  Kind;  zuletzt  starke  klonische  Krämpfe, 
öfters  sich  wiederholend. 

Fall  XX.  M.  VV.,  zwei  Jahre  alt,  Prot. -Nr.  77.  Vor  drei 
Wochen  mit  Fieber  und  Erbrechen  erkrankt.  Der  Stuhl  ange¬ 
halten.  Bei  der  Aufnahme  bewußtlos,  mit  Nackensteifigkeit; 
Kernigsches,  Babinskisches  Symptom  positiv,  Fazialisparese 
und  Ptose  rechts,  leichte  Parese  der  rechten  oberen  und  unteren 
Extremität.  Die  Lumbalpunktion  ergibt  eine  klare  Flüssigkeit 
unter  mäßigem  Druck,  in  der  nach  acht  Stunden  ein  Gerinnsel 
entsteht.  Eiweißring  7  mm  breit.  Reduktionsindex  G  l  mit  fal¬ 
lender  Tendenz  (siehe  Tabelle).  Am  nächsten  Tage  Exitus.  -- 
Sektionsprotokoll :  Leptomeningitis  serofibrinosa  baseos  cerebri, 
Enoephalomalacia  incipiens  thalami  optici  sinistri,  corporis  callosi 
et  corpor.  cjuadrigem.  Tuberculosis  caseosa  glandularum  omnium. 
Tuberculosis  miliaris  pulmonum  hepatis  lienisque. 

Fall  XXL  H.  B.,  sieben  Monate  alt;  Amb.-Prot.-Nr.  812. 
Vor  drei  Wochen  mit  Fieber  und  Erbrechen  erkrankt;  seit  einer 
Woche  treten  öfters  klonische  Krämpfe  auf. 

Bei  der  Aufnahme:  Sensorium  getrübt,  Strabismus,  Pupillen 
weit,  wenig  auf  Licht  reagierend;  Nackensteifigkeit,  Kernigsches 
Symptom  positiv.  Fontanelle  stark  gespannt.  Die  Lumbalpunktion 
ergibt  eine  leicht  getrübte  Flüssigkeit  unter  hohem  Druck,  Eiwei߬ 
ring  6  mm  breit,  im  Sediment  reichliche  Lymphozyten,  nach 
einigen  Stunden  entsteht  ein  typisches  zentrales  Gerinnsel.  Re¬ 
duktionsindex  6-7  mit  fallender  Tendenz  (siehe  Tabelle).  Nach 
sechs  Tagen  Exitus. 

Fall  XXII.  E.  Sz.,  sieben  Monate  alt;  Prot. -Nr.  120.  Vor 
zwei  Tagen  mit  klonischen  Krämpfen  erkrankt. '  Bei  der  Aufnahme 
bewußtlos,  mit  spastischen  Extremitäten,  gesteigerten  Patellar- 
reflexen;  Kernigsches  Symptom  positiv;  Fontanelle  gespannt. 
Lumbalpunktion  ergibt  eine  ganz  zart  getrübte  Flüssigkeit  mit 
hohem  Eiweißgehalt  und  schneller  Gerinnselbildung.  Reduktions¬ 
index  8-2  mit  fallender  Tendenz  (siehe  Tabelle).  Nach  drei  Tagen 
Exitus. 

Sektionsprotokoll :  Meningitis  tuberculosa  basilaris.  Tuber¬ 
culosis  miliaris  universalis. 

Fall  XXIII.  A.  Dz.,  16  Monate  alt;  Prot.-Nr.  124.  Erkrankte 
vor  sechs  Tagen  mit  Fieber;  seit  dieser  Zeit  sich  immer  stei¬ 
gernde  Somnolenz.  Bei  der  Aufnahme  bewußtlos,  mit  reaktions- 
losen  Pupillen  und  Tremor  in  den  hypertonischen  Extremitäten. 
Die  Lumbalpunktion  eigibt  eine  leicht  opaleszierende  Flüssigkeit, 
in  der  sich  nach  zwölf:  Stunden  ein  Gerinnsel  gebildet  hat. 
Der  Eiweißring  ist  4  mm  breit.  Fünf  Tage  später  Exitus.  Re¬ 
duktionswerte  an  der  Grenze  (2  0). 

Sektionsprotokoll :  Lymphadenitis  tuberculosa  universalis. 
Leptomeningitis  serofibrinosa  tuberculosa  baseos  cerebri.  Hydro¬ 
cephalus  internus.  Tuberculosis  miliaris. 

Fall  XXIV.  M.  S.,  zehn  Monate  alt;  Prot.-Nr.  43.  Eiterige 
Streptokokken-Meningitis,  dickeiterige  Lumbalflüssigkeit  mit  zahl¬ 
reichen  Strep  tokokkenketten . 

Fall  XXV.  M.  T,  sieben  Monate  alt;  Amb.-Prot.-Nr.  300. 
Betrifft  eine  Meningitis  cerebrospinalis.  (Positiver  Kulturversuch.) 

Fall  XXVI.  M.  L.,  drei  Monate  alt;  Prot.-Nr.  89.  Menin¬ 
gitis  pneumococcica  nach  einer  Pneumonie.  (Diagnose  durch  die 
Obduktion  bestätigt.) 

Fall  XXVII.  0.  K.,  sieben  Monate  alt;  Prot.-Nr.  64. 
Wiederum  eine  Meningitis  cerebrospinalis  mit  stark  eitriger  Zere¬ 
brospinalflüssigkeit  und  positiver  Kultur. 

Fall  XXVIII.  D.  K.,  elf  Jahre  alt;  Prot.-Nr.  54.  Im  Rekon¬ 
valeszenzstadium  von  Masern  trat  ohne  Fiebererhöhung  und  ohne 
apoplektischen  Insult  vollkommene  Hemiplegie  der  linken  Körper¬ 
hälfte  ein,  die  sich  nur  sehr  langsam  zurückbildet,  ohne  ganz  zu 
schwinden.  Die  ein  Monat  später  ausgeführte  Lumbalpunktion  ergibt 
eine  vollkommen  klare  Flüssigkeit  unter  mäßigem  Druck  stehend 
mit  geringem  Eiweißgehalt  (kaum  sichtbarer  Ring),  ohne  Ge- 
wruiselbildung.  Rdduktionsindex  an  der  Grenze  (siehe  Tabelle). 


Fall  XXIX.  J.  L.,  sechs  Jahre  alt;  Prot.-Nr.  99.  Tags  vorher 
erkrankt;  es  traten  ganz  unvermutet  klonische  Krämpfe  von  der 
Dauer  einer  Minute  auf;  einige  Stunden  später  Fieber,  Bewußt¬ 
losigkeit,  heftigste  Jaktationen.  Bei  der  Aufnahme  ist  Aas  kräf¬ 
tige  Kind  'bewußtlos,  die  Pupillen  reagieren  auf  Licht;  die  Extre¬ 
mitäten  spastisch,  Nackensteifigkeit;  Patellarreflexe  erhöht, 
Kernigsches  Symptom  positiv.  Außer  einer  geringen  Rötung 
des  Rachens  kein  Befund  zu  erheben.  Harn  ohne  pathologische 
Merkmale.  Die  Lumbalpunktion  ergibt  eine  stark  spritzende,  voll¬ 
kommen  klare  Flüssigkeit  mit  geringem  Eiwedßgehalt  (kaum  sicht¬ 
barer  Ring);  es  entsteht  kein  Gerinnsel.  Permanganatzahl  3-0 
(siehe  Tabelle).  Das  Kind  bleibt  bewußtlos  bis  zum  Tode,  der 
tags  darauf  eintritt. 

Das  Sektionsprotokoll  lautet:  Tuberculosis  caseosa  chronica 
pulmonis  utri usque  (zwei,  bloß  erbsengroße  Herde),  Tuber¬ 
culosis  nodosa  dispersa  et  miliaris  lobi  inferior  pulmonis  dextri. 
Lymphadenitis  tuberculosa  caseosa  universalis.  Degeneralio  parcu- 
chymatosa  organorum.  Ulcera  tuberculosa  coeci.  Hyperaemia 
meningum.  Cystae  plexus  chorioidei. 

Besprechen  wir  nun  in  die  in  der  vorangeschickten 
Tabelle  zusammengestellten  Resultate. 

Was  das  Verhalten  der  einzelnen  Portionen  eines  Lum- 
balpunktates  gegen  einander  betrifft,  so  konnte  ich  in  meinen 
zwei  nicht  entzündlichen  Fällen  die  von  Mayerhofer  bei 
normalen  Verhältnissen  oft  gefundene  Tatsache,  daß  der 
Reduklionsindex  bei  nicht  entzündlichen  Flüssigkeiten  wäh¬ 
rend  einer  und  derselben  Punktion  steigt,  nicht  bestätigen. 
In  diesen  zwei  Fällen  von  nicht  entzündlicher  Zerebro¬ 
spinalflüssigkeit  war  ein  Fallen  des  Reduktionsindex  zu  be¬ 
obachten.  Das  übrige  Verhalten  des  Reduktionsindex  ent¬ 
spricht  aber  vollkommen  den  Angaben  des  Autors. 

Die  eiterigen  Meningitiden  wurden  nur  der  Vollständig¬ 
keit  halber  der  Untersuchung  unterzogen,  um  die  Ueberzeu- 
gung  zu  gewinnen,  ob  alle  entzündlichen  Flüssigkeiten  den 
erhöhten  Reduktionsindex  aufweisen,  was  auch  in  diesen 
Fällen  vollkommen  zutraf;  zur  Diagnose  wird  man  bei  eiteri¬ 
ger  Flüssigkeit  diese  Methode  selbstverständlich  entbehren 
können. 

Die  sechs  Kontrollfälle,  die  entweder  nach  einigen  Tagen 
vollkommen  genasen  oder  sich  bei  der  Obduktion  als  eine 
andersartige  Erkrankung  herausstellten,  weisen  den  Angaben 
des  Autors  gemäß,  niedrige  Reduktionswerte  weit  unter  der 
Grenze  des  Pathologischen  auf.  Ich  muß  betonen,  daß  uns 
gerade  in  zwei  dieser  Fälle  die  Eiweiß besti in 
mutig  im  Stich  ließ,  indem  sie  leicht  erhöhten 
Eiweiß  ge  halt  gab.  Die  tuberkulösen  Meningi¬ 
tiden  weisen  nach  meinen  Befunden  im  allgemeinen 
sehr  hohe  Werte  auf,  weit  über  der  Grenze  des 
Normalen;  nur  in  drei  Fällen  bewegen  sich  die  Werte 
der  ersten  Punktion  knapp  an  der  Grenze,  so  daß  sie  zur 
Diagnose  schwer  verwertbar  wären;  in  solchen  Fällen  wäre 
wohl  eine  zweite  Punktion  mach  einigen  Tagen  .angezeigh 
Wenden  wir  uns  nun  |zu  den  zwei  letzten  Fällen  (Fall  XX\  Jli 
und  XXIX).  In  dem!  einen,  wo  es  sich  wahrscheinlich  um 
eine  lang  vorher  überstandene  Gehirnblutung  mit  nachfol¬ 
gender  Hemiplegie  handelte,  haben  wir  Grenzwerte  und 
undeutlich  ausgesprochenes  Fallen  des  Index,  im  zweiten, 
der  vor  wie  nach  der  Obduktion  ganz  unklar  blieb  und  bei 
dem  es  sich  vielleicht  um  eine  akut  verlaufende  Poliomyelitis 
gehandelt  hat  (die  Untersuchung  des  Rückenmarks  wurde 
leider  nicht  vor  genommen),  haben  wir  es  mit  hohen  Werten 
und  fallendem  Index  zu!  tun;  es  ist  auch  der  einzige  Fall, 
in  dem  uns  die  Bestimmung  des  Reduktionsindex  hätte  in  der 
Diagnose  irreführen  können ;  er  bleibt  aber  zu  unaufgeklärt 
(die  Hyperämie  der  Meningen  könnte  ja  auch  das  erste 
Stadium  einer  beginnenden  Meningitis  bedeuten;  der  übrigf 
Obduktionsbefund  genügte  nicht,  um  den  fulminanten  Krank 
heitsverlauf  izu  erklären)  als  daßi  wir  berechtigt  wären,  ihn 
gegen  die  Brauchbarkeit  der  Methode  ins  Feld  zu  führen 

Auf  Grund  unserer  Untersuchungen  können  wir  also 
behaupten,  daß  bei  der  tuberkulösen  Meningitis  größten 
teils  sehr  hohe  Reduktionswerte  gegen  Permanganat  gefun¬ 
den  werden,  die  uns  gemäß  den  Angaben  des  Autors  zui 
Diagnose  einer  Meningitis  berechtigen;  in  dem  normalen 
Liquor  finden  wir  ganz  niedrige  Zahlen,  die  eine  Meningitis 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


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ausschließen  lassen;  in  den  andersartigen  Affektionen  der 
Zentralorgane  fanden  wir  einmal  Grenzwerte;  solche  fanden 
sich  auch  in  drei  Fällen  von  Meningitis;  sie  sind  also  im 
Allgemeinen  nicht  zu  verwerten  und  erlauben  nach  einer 
einmaligen  1  unktion  noch  keine  ‘©iagnosenstellung. 

Im  allgemeinen  können  wir  (die  M  a  y  e  r  li  o  f  e  r  sehe  Me¬ 
thode  als  eine  willkommene  Bereicherung  unserer  Unter¬ 
suchungsmethoden  der  Zerebrospinalflüssigkeit  begrüßen.  Im 
besonderen  scheint  es  uns,  daßi  gerade  den  negativen  Befunden 
'-ine  gute  diagnostische  Bedeutung  innewohnt. 

Literatur: 

i  vVl1  m  d’  .^eLiimpalpunkticit.  Ergebnisse  der  inneren  Medizin 
und  Kinderheilkunde,  Bd  3.  -  ’)  E.  Mayerhofer,  Zur  Charakteristik 

"'u  oin“  wdl^n0Se  des  Ll(luor  cerebrospinalis.  Wiener  klin.  Wochen- 

sennit  lyiU,  J\r.  18. 


Aus  der  Abteilung  für  Frauenkrankheiten  der  Wiener 
Allgemeinen  Poliklinik. 

(Vorstand:  Prof.  Dr.  H.  Peham.) 

Ein  Fall  von  Mangel  des  rechten  Ovariums  bei 
rudimentärer  Entwicklung  der  rechten  Tube. 

Von  Dr.  Ludwig  Herzl. 

t  Seil  Morgagni1)  sind  im  ganzen  erst  einige  zwanzig 
f  alle  von  einseitigem  Mangel  des  Ovariums  beschrieben  wor- 
Icn.  Bedenkt  man  die  Fülle  von  Sektionen  und  Operationen, 
he  in  diesem  Zeiträume  von  anderthalb  Jahrhunderten  Vor¬ 
kommen  wurden,  iso  erhellt  daraus  eine  Seltenheit  des 
torkommens,  welche  die  Publikation  eines  solchen  Falles 
•echtfertigt. 

Am  24,  November  1910  wurde  die  27jährige  Magd  Kr  I 
mf  unsere  Abteilung  aufgenommen.  An  Kinderkrankeiten  kann 
ie  sich  nicht  erinnern.  Im  16.  Lebensjahr  war  sie  angeblich  an 
vopttyphus  und  Lungenentzündung  erkrankt.  Seitdem  16  Lebens- 
ahre  menstruierte  sie  stets  regelmäßig,  alle  vier  Wochen  in  der 
lauer  von  zvvei  bis  drei  Tagen  unter  mäßigem  Blutverluste.  Vor 
wei  Jahren  blieben  die  Menses  vier  Monate  lang  aus.  Patientin 
j/wae  damals  wegen  Blutarmut  behandelt,  worauf  die  Periode 
ich  wieder  mit  der  früheren  Regelmäßigkeit  einstellte.  Die  letzten 
enses  waren  am  4.  August  1910.  Seither  hat  sich  kein  Blut- 
bgang  mehr  gezeigt,  dagegen  traten  Schmerzen  im  Kreuz  und 
i  der  linken  Bauchhälfte  auf.  Patientin  war  nie  gravid. 

Patientin  ist  mittelgroß,  derbknochig,  gut,  genährt.  Lungen- 
ietund  normal.  Herzgrenzen  normal.  Erster  Ton  an  der  Basis 
irausch artig.  Puls  rhythmisch,  mäßig  gespannt.  Harnbefund 
ormal. 

Abdomen  im  Niveau  des  Thorax,  nirgends  druckempfindlich 
urmaler  Palpationsbefund.  Kein  Aszites  nachweisbar.  Die  sekun- 
iren  Geschlechtscharaktere  gut  ausgeprägt. 

Normales  äußeres  Genitale.  Hymen  lazeriert.  Scheide  eng 
emheh  lang.  Portio  zapfenförmig,  Uterus  normal  groß,  hart,  in 
io  nach  rechts  gedrängt  durch  einen  hinter  dem  Uterus  gelegenen, 
i  ka mannsfaustgroßen,  kugeligen,  ziemlich  derben,  unempfindlichen’ 

•n  linken  Adnexen  angehörenden  Tumor  von  glatter  Oberfläche 
ici  ziemlich  guter  Verschieblichkeit. 

Diagnose:  Tumor  ovarii  sinistri,  verisimile  Cystis  der- 

oides. 

Am  26.  November  wurde  in  Narkose  die  Laparotomie 
aszienquerschnitt  nach  Pf  a  n  n  e  n  s  t  i  e  1)  ausgeführt.  Nach 
'Öffnung  des  Abdomens  läßt  sich  der  Tumor,  ein  Dermoid 

linken  Ovariums,  leicht  vorwälzen.  Er  wird  nach 

lascher  Abklemmung  des  Ligamentum  infundibulo-pelvicum  und 
r  lulie  dem  Ligamentum  ovarii  proprium  hart  am  Uterus 
gesetzt.  Eine  geringe  Menge  seröser  Flüssigkeit  in  der  Abdominal- 
e.  Bei  der  Inspektion  der  inneren  Genitalien  erweist  sich  nun, 
;a«fder  rechten  Seite  das  Ovarium  vollko  m- 
e. n  f e  b  1 1  und  auch  vom  L  i  g  a  m  entum  ovarii  p  r  o- 
i um  und  Suspensorium  keine  Andeutung  vorhanden  ist. 

1  stelle  der  Tube  zieht  vom  Uterus,  der  v  o  1 1- 
*  in  m  e  n  normale  Gestalt  und  Größe  zeigt  und 
•  d  e  r  s  e  i  t  s  ein  vollkommen  normal  entwickeltes 
g  a  m  entumrotundumbesitzt,  ein  ca.  3  mm  dicker, 
o  ö  cm  langer,  solid  sich  anfühlender  Str  a  n  g 
S)  der,  allmählich  s  i  c  h  verjüngend,  im  v  o  1 1- 
m  m  e  n  normalen  Ligamentum  latum  sich  v  e  r- 

De  sedibus  et  causis  morborum.  Epist.  LXIX.  Venedig  1761. 


zjeprJ„(siehe^bbMu"g>’)Nir8e"ds  i»t  oin«  narbige  Ver- 
Ziehung  oder  sonstige,  auf  abgelaufene  E  n  t  7  t'i  n 

düngen  zu  rück  zu lü  bren  de  Verändelu n  g „ a  c  h  w  e  i  l 

"»»‘«fl.».  Fläche.  So  "veil  lö  . 
il  l b  j  c  iA B  z u  eC„  Jf  6  "l  L  a  *’ a  0  ‘  °  m  i  e  s  c  l>  n  i  1 1  r  e  i  eh  t. 
Ovarium  e  t  e  S  *  n  ‘  6  a  s  e ' n  e  m  “*>sesch  nürten 

Klemmen  durch  Umstechungen  werten'' die  fcu'ehde'ctaTn8  lypT 
scher  We.se  vier  Etagen  geschlossen.  PIlSS Ä 

zen,kberlew%SifAm„t1asjem",i0nem-  Pa‘ienUn  Kird  “> 

jogmeh-anatom, sehen  Institut  der  Allgemeinen  Poliklinik  verdate,’ 

„Das  uns  übersandte  Präparat  stellt  einen  ungefähr  manns¬ 
faustgroßen  eiförmigen  Tumor  von  blaßgelber  Farbe  und  glatter 
und  glanzender  Oberfläche  dar.  Seine  Konsistenz  ist  teigig- weich 
ne  ungefähr  o  cm  lange,  kantenartig  aufsitzende  und  der  Kapsel 
aufgelagerte  Falte  entspricht  der  Abtragstelle  vom  Ligamentum 
Jatum.  Auf  der  entsprechend  dem  größeren  Durchmesser  ange¬ 
legten  Schnittfläche  zeigt  sich  folgendes  Bild  : 


Der  größte  Teil  des  Tumors  wird  von  einer  großen  Zyste 
eingenommen,  die  mit  einer  fettigen,  schmierigen,  talgähnlichen,  mit 
Haaren  vermengten  Masse  erfüllt  ist.  Einzelne  kleinere  Zysten 
lugen  unmittelbar  unter  der  äußeren  fibrösen  Kapsel,  zum  Teil 
in  einem  Gewebe,  welches  dem  sonst  ganz  verdrängten  Ovarium 
entspricht  und  kleine  wabige,  mit  gelbem  Fettstoff  erfüllte  Lücken 
erkennen  laßt.  Eine  kleinpflaumengroße  Vorwölbung  zeigt  auf  der 
Schnittfläche  eine  dunkelbraunrote,  von  Hämorrhagien  durchsetzte 
Stelle,  welche  von  einem  gelben  zackigen  Streifen  umsäumt  ist: 
Dorp us  luteum,  lube  ist  nicht  vorhanden.  Histologisch:  Dermoid¬ 
zyste  mit  Fettaustntt  in  die  Zystenwand  und  in  das  Ovarial- 
gewehe. 

Rokitansky'5)  hat  als  erster  in  den  Entstellungs¬ 
modus  solcher  Anomalien  Licht  gebracht.  Er  führt  auf 
< 'rund  seiner  Beobachtung  von  acht  Fällen,  in  denen  aller¬ 
dings  das  betreffende  Ovarium  nicht  vollständig  fehlte,  son- 
cTn  meist  ll0chsradig  pathologisch  verändert  an  anderer 
Ste  le  gefunden  wurde,  den  einseitigen  Mangel  des  Ovariums 
und  das  Vorhandensein  eines  rudimentären  Tubenstumpfes 
aut  Abschnürung  zurück,  die  schon  in  der  Fölus- 
periode  vor  sich  gegangen  sein  kann.  Nach  den  Ausfüh- 
1  an  gen  seines  Schülers  Kl  ob4)  hat  man  sich  diese  Vor¬ 
gänge  folgendermaßen  vorzustellen.  Unter  eigentümlichen 
unbekannten  Verhältnissen  dreht  sich  ein  Ovarium  um  seinen 
Stiel  und  zwar  scheint  die  Drehung  des  äußeren  Endes 
nach  unten  und  dann  nach  innen  häufiger  und  auch  schon 
darum  wahrscheinlicher  zu  sein,  weil  das  äußere  Ende 
des  Ovariums  offenbar  das  beweglichere  ist.  Bei  der  halben 
Drehung  in  dieser  Richtung  biegt  sich  das  Abdominalende 
der  lube  um  den  Rand  des  nun  zum  äußeren  gewordenen 
inneren  Endes  des  Ovariums  herum;  bei  Vollendung  der 
ganzen  Umdrehung  ist  aber  die  Tube  auch  völlig  in  einer 
Spn all our  um  den  aufgedrehten  Stiel  des  Ovariums  herum- 

2)  Dieselbe  stellt  eine  Skizze  dar,  die,  da  der  Uterus  nicht  ent- 
iernt  wurde,  nach  dem  Erinnerungsbilde  in  der  Ansicht  von  hinten  an- 
ge  fertigt  ist.  Das  Dermoid  war  in  Wirklichkeit  relativ  größer,  der  Tuben- 
slumpi  etwas  dünner  und  kürzer,  als  nach  dem  Bilde  angenommen 
werden  konnte. 

3)  Lebrb.  d.  pathol.  Anat.  1861,  Bd.  S,  S.  413  bis  415. 

*)  Pathol.  Anat.  d.  weibl.  Sexualorgane  1864,  S.  325  bis  330. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


gewunden.  Die  Achsendrehung,  die  auch  ein  normales 
Ovarium  betreffen  kann,  ist  von  der  größten  Wichtigkeit 
wegen  der  Beeinträchtigung  der  doppelten,  vom  Uterus  her 
und  von  den  spermatischen  Geflechten  kommenden  Venen¬ 
plexus,  welche  in  der  Aufdrehung  des  Stieles  förmlich 
stranguliert  werden,  wodurch  es  zunächst  zu  Hyperämie 
und  Entzündung  des  Ovariums  und  der  Tube  und  zu  Peri¬ 
tonitis  kommt.  Die  Achsendrehung  des  Ovariums  kann  end¬ 
lich  zur  völligen  Abschnürung  desselben  und  des  äuße¬ 
ren  Abschnittes  der  betreffenden  Tube  führen. 

Eine  andere  Möglichkeit,  die  zur  Abschnürung 
eines  Ovariums  führen  kann,  besteht  nach  Rokitansky  in 
der  Zerrung,  welche  das  Ligamentum  ovarii  von  einem 
vergrößerten  Ovarium,  dann  bei  manchen,  zuweilen  schon 
sehr  frühzeitig  im  Kindesalter,  ja,  in  der  Fötusperiode 
akquirierten  Adhäsionen  des  Ovariums  erleidet,  wodurch  das¬ 
selbe  vom  Uterus  abgelöst,  verödend,  an  der  Stelle  seiner 
Adhäsionen  'fixiert  oder  selbst  lose  gefunden  wird,  —  manch¬ 
mal  ist  es  spurlos  verschwunden.  Es  ist  dann  nach  K  1  o  b, 
wenn  es  nicht  aus  den  Gefäßen  der  Pseudomembranen  er¬ 
nährt  werden  kann  und  wenn  es  sich  um  ein  kindliches  Ova¬ 
rium,  zumal  im  Fötalleben  handelte,  gewiß  einer  völligen 
Resorption  anheimgefallen.  Daraus  geht  hervor,  daß  so  man¬ 
cher  früher  als  ursprünglicher  Mangel  eines  Ovariums  und 
der  betreffenden  Tube  gedeutete  Fall  auf  fötale  Abschnü¬ 
rung  zurückzuführen  sein  wird  und  daß  man  bei  Vorge¬ 
fundenen  Mangel  eines  Ovariums  sorgfältig  die  ganze  Bauch¬ 
höhle  zu  durchsuchen  habe,  um  die  Reste  desselben  nament¬ 
lich  dann  zu  finden,  wenn  am  Uterus  ein  kurzer  Tuben¬ 
stumpf  angetroffen  wird. 

In  unserem  Falle  nun  war  keine  Spur  von  Adhäsionen 
oder  narbigen  Veränderungen  zu  finden,  die  als  Residuen 
einer  Entzündung  hätten  aufgefaßt  werden  können.  Nun 
hat  Braun5)  einen  Fall  beschrieben,  in  welchem  zweifel¬ 
los  eine  Abschnürung  des  rechten,  am  Netz  adhärenten, 
hochgradig  veränderten  Ovariums  vorlag  und  wo  keinerlei 
Narbe  nachweisbar  und  das  Peritoneum  überall  glatt  und 
verschieblich  war.  Es  ist  dies  also  ein  Befund,  der  nicht 
gegen  eine  Abschnürung  des  Ovariums  und  der  Tube  spricht. 

Gegen  eine  primäre  Aplasie  des  Ovariums  spricht  auch 
der  Zustand  der  Tube,  der  auf  eine  durch  pathologische 
Vorgänge  herbeigeführte  Abtrennung  des  äußeren  Teiles  hin¬ 
weist.  Denn  hierfür  eine  primäre  Aplasie  des  Müll  er¬ 
sehen  Ganges  anzunehmen,  geht  schon  aus  der  vollkom¬ 
menen  Ausbildung  des  Uterus  nicht  an,  da,  wie  Sachs6) 
richtig  vervorhebt,  der  distale  Teil  des  Müller  sehen  Ganges 
bei  primärem  Fehlen  des  proximalen  Teiles  nicht  angelegt 
sein  kann. 

Wir  müssen  also  auch  für  unseren  Fall  eine  Ab¬ 
schnürung  im  Sinne  Rokitanskys  als  Ursache 
annehmen. 

Welcher  Natur  die  Vorgänge  waren,  die  zur  Ab  sehn  ü- 
-rung  führten,  ob  es  sich  um  eine  Achsendrehung  oder  um 
peritoni tische  Pseudomembranen  handelte,  die  durch  Zer¬ 
rung  dieses  Resultat  zeitigten,  läßt  sich  natürlich  nur 
vermutungsweise  aussprechen.  Wie  später  noch  ausgeführt 
wird,  betrachten  wir  die  beschriebene  Anomalie  unseres 
Falles  als  im  fötalen  Leben  entstanden.  Fassen  wir  nun 
zunächst  als  Ursache  eine  fötale  Peritonitis  ins  Auge,  die 
ja  zur  Bildung  von  Strängen  führen  kann,  welche  sich 
um  Ovarium  und  Tube  legen,  diese  Organe  von  der  Zir¬ 
kulation  ausschalten  und  schließlich  ganz  absetzen  können, 
so  isl  allerdings  mit  Hinblick  auf  den  oben  erwähnten  Fäll 
Brauns  diese  Möglichkeit  für  einen  Fall  wie  den  unsrigen 
trolz  Mangels  jeglicher  Adhäsionen  gegeben.  Ich  kann  mir 
aber  schwer  vorstellen,  daß  eine  Peritonitis  mit  so  weil- 
gehenden  Folgen  das  abgeschnürte  Ovarium  derart  intakt 
lassen  sollte,  daß  es  so  gänzlich  resorbiert  werden  könnte. 
Ich  möchte  also  gerade  für  solche  Fälle  wie  den  vorlie¬ 

5)  lieber  die  Abschnürung  der  Ovarien.  Inaug.-Diss.,  Gießen  1896. 

6j  Einseitiger  Mangel  des  Ovariums  mit  rudimentärer  Entwicklung 

der  Tube  bei  normaler  Ausbildung  des  Uterus.  Monatsschr.  f.  Geb.  u.  Gyn., 

Februar  1911. 


genden,  in  welchen  man  keine  Adhäsionen  u.  dgl.  findet 
und  das  Ovarium  völlig  mangelt,  eine  fötale  Peritonitis 
als  ursächliches  Moment  ausschließen. 

Anders  steht  es  mit  der  Annahme  der  Achsendrehung, 
durch  welche  das  Ovarium  und  das  mittorquierte  Tuben¬ 
stück  durch  Ernährungsstörung  und  Nekrose  schließlich  der 
Abschnürung  verfallen  können.  Torquierte  Venen  werden 
naturgemäß  eher  undurchgängig  als  Arterien  mit  ihren  stär¬ 
keren  Wandungen;  es  kommt  also  zu  Hyperämie,  Entzün¬ 
dung  der  abgesperrten  Organe  und  lebensgefährlicher  Peri¬ 
tonitis.  Wenn  sich  aber  diese  Vorgänge  in  einer  so  frühen 
fötalen  Periode  abspielen,  daß  in  der  Wandstärke  der  Ar¬ 
terien  und  Venen  noch  keine  wesentliche  Differenz  besteht, 
so  wird  bei  einer  Drehung  mit  dem  Abflüsse  des  Blutes 
gleichzeitig  auch  der  Zufluß  desselben  unterbrochen,  so  daß 
es  nicht  zu  den  eben  erwähnten  Konsequenzen  kommen 
kann  (Kossmann7).  Erfolgt  nun  auf  diesem  Wege  die 
Loslösung  des  Ovariums  und  des  betreffenden  Tubenstückes, 
so  ist  eine  völlige  Resorption  der  gewiß  nur  wenig  veränder¬ 
ten,  weichen  Gebilde  ohneweiteres  im  Bereiche  der  Möglich¬ 
keit. 

Ich  'bin  daher  geneigt,  den  Defekt  des  Ovariums  und  des 
lateralen  Tubenteiles  in  unserem  Falle  auf  die  zuletzt  er¬ 
wähn  tc  Art  zu  erklären. 

Kommen  wir  auf  diese  Weise  schon  zu  der  Annahme, 
daß  wir  es  mit  einem  im  fötalen  Leben  entstandenen  Defekte 
zu  tun  haben,  so  führt  uns  auch  der  Zustand  des  Tuben¬ 
stumpfes  zu  diesem  Schlüsse.  Daß»  der  mit  dem  Uterus 
in  Verbindung  stehende  Tubenanteil,  der  also  in  seiner  Er 
nährung  laicht  gestört  war,  einst  weiter  ausgebildet,  gewesen 
und  nach  Abtrennung  des  lateralen  Teiles  mit  der  Zeit  vor 
kümmert  sein  sollte,  läßt  sich  wohl  ohneweiteres  von  dei 
Hand  weisen.  Dagegen  begegnet  die  Annahme  keiner 
Schwierigkeiten,  daß  die  Entwicklung  der  Tube  auf  der 
jenigen  Stufe  stehen  blieb,  auf  welcher  der  vorhanden» 
Stumpf  sich  vorfand  und  daß  hiefür  dieselben  Störungei 
verantwortlich  gemacht  werden,  welche  zum  Defekt  des  OVa 
riums  und  des  übrigen  Tubenanteiles  geführt  haben.  Dies» 
Störungen  können  wir  mit  Sachs  für  eine  Zeit  annehmen 
in  welcher  sich  die  beiden  Müll  ersehen  Gänge  bereit; 
zum  Uterus  vereinigt  gehabt  hatten.  Diese  Vereinigung  is 
am  Ende  des  dritten  Schwangerschaftsmonats  beendet.  D; 
ferner  auch  in  unserem  Falle  die  rudimentäre  Tube  einci 
soliden  Strang  darstellt,  wir  also  wohl  annehmen  können 
daß'  es  in  dieser  Tube  noch  nicht  zur  Faltenbildung  de 
Schleimhaut  gekommen  war,  so  können  wir  ebenso  wi< 
Sachs,  dessen  Fall  mit  dem  unsrigen  weitgehende  Ana 
logien  zeigt,  als  E  n  t  s-t  e  hu  n.g  s  z  eit  der  Anomalie  dei 
vierten  bis  sechsten  Schwangerschafts  m  o  n  a 
ansetzen. 

Zum  Schlüsse  sei  bemerkt,  daß  unser  Fall  die  An 
nähme  Nagels8)  umwirft,  daß  der  Mangel  eines  Eiei 
stockes  bisher  n  u  r  in  V  e  r  b  i  n  d  ung  mit  V  e  r  k  ü m  m  r 
r  ung  des  einen  Müll  ersehen  Ganges,  bei  der 
sogenannten  Uterus  unicornis,  beobachtet  woi 
den  sei,  eine  Annahme,  welcher  sich  anscheinein 
die  meisten  Autoren  anschließen.  In  unserem 
handelte  cs  sich  —  wie  die  Ausbildung  beider  Ligs 
menta  rotunda  beweist  —  sicher  um  keinen  Uteru 
unicornis,  also  nicht  um  jene  Verkümmerung  des  Mü 
ler sehen  Ganges,  die  Nagel  ausdrücklich  bezeichne 
Es  ist  also  nicht  recht  verständlich,  wieso  Sachs  seine 
Fall,  in  welchem  ebenfalls  ein  völlig  normaler  Uterus  m 
beiden  Ligamentis  rotundis  vorhanden  war,  als  Bes  tat 
g  u  n  g  (der  Nagel  sehen  Behauptung.auf fassen  konnte.  Alle 
dings  zitiert  Sachs  unvollständig,  indem  er  die  wichtig 
Apposi tion  „bei  dem  sogenannten  Uterus  uni c o 
nis“  wegläßt  und  nur  die  Verkümmerung  des  einen  Mü 
1  e  r  sehen  Ganges  anführt.  In  unserem  Fälle  sowohl  al 

i)  Mangel,  Unvollkommenheit  etc.  der  Eierstöcke.  In:  Marti 
Die  Krankheiten  der  Eierstöcke  und  Nebeneierstöcke.  Leipzig 
S.  182  f. 

8)  Veits  Handbuch,  I.  Aufl.,  Bd.  1,  S.  562. 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


789 


auch  m  dem  von  Sachs  handelte  es  sich  aber  nicht  um 
eine  Verkümmerung  des  einen  Müll  ersehen  flan¬ 
ges  in  to  to,  was  Nagel  offenbar  meint,  sondern  um 
eine  bloß  teilweise  Verkümmerung  desselben.  Nagels 
Annahme  ist  also  durch  beide  Fälle  widerlegt. 


Aus  der  deutschen  chirurgischen  Klinik  in  Prag 

Selbsthaltender  Operationsmundsperrer. 

Von  Dr.  Rudolf  Rubescli,  Assistenten  der  Klinik. 

Die  bisher  zur  Verfügung  stehenden  Mundspiegel  haben 
den  Nachteil,  daß  sie  während  einer  Mund-,  Kiefer-  oder  Rachen¬ 
operation  nur  schwer  in  der  gewünschten  Stellung  im  Munde 
des  Patienten  ruhig  festgehalten  werden  können.  Bald  gleiten  sie 
seitlich  aus  dem  Munde  oder  zu  tief  in  diesen  hinein,  setzen 
unliebsame  Verletzungen  oder  versperren  das  Operationsterrain. 
Dald  drehen  sie  sich  um  die  eigene  Achse  oder  gleiten,  besonders 
bei  defektem  oder  zahnlosem  Kiefer  nach  vorne  —  bekannte 
Zwischenfälle,  die  höchst  störend  wirken.  Sie  häufen  sich  und 


In  die  Platte  eingesetzter  Mundspiegelhalter  (Mh)  von  Oben  gesehen. 


werden  oft  geradezu  unüberwindlich  beim  „spannenden“  Pa¬ 
tienten,  den  bei  derartigen  Operationen  allzu  tief  zu  narkotisieren 
oftmals  das  Gebot  der  Vorsicht  verbietet,  um  Aspiration  zu  ver¬ 
meiden. 


Ein  Spiegel,  der  bei  Operationen  Ober-  und  Unter- 
v!efer  verläßlich  und  auch  maximal  weit  voneinander  hält, 
muß  am  Kopfe  des  Patienten  seine  Befestigung  finden,  um  un- 
abhängig  von  Geschick,  Aufmerksamkeit  und  Kraft  assistierender 
Hände  zu  sein.  Diesen  Bedingungen  glaube  ich  durch  Angabe 
eines  selbsthaltenden  Operationsmundsperrers*)  entsprechen  zu 
können,  der  sich  uns  bei  einer  Reihe  von  Operationen  —  Ober¬ 
und  Unterkieferresektion,  Exstirpation  der  Zunge  mit  und  ohne 
fonsiilenexstirpation,  Exstirpation  eines  Zungenkarzinomrezidivs 
üheigreifend  auf  Mundboden,  Tonsillen  und  weichen  Gaumen 
vollauf  bewährt  hat.  Der  Mundsperrer  besteht  aus  drei  leicht 
zusammenfügbaren  Teilen,  die  als  Ganzes  wirken  : 

1.  Einem  Stirnband  (S)  aus  Zelluloid,  welches  um  den 
Horizontalumfang,  des  um  Stirn-  und  Hinterhaupt  mit  sterilen, 
nassen  Binden  reichlich  eingewickelten  Schädels  in  der  in  der 
Skizze  veranschaulichten  Weise  angelegt  wird.  Das  Einwickeln 
des  Schädels  ist,  abgesehen  von  Asepsis,  notwendig,  um  mög¬ 
lichst  festes  Anziehen  des  Stirnbandes  zu  ermöglichen.  Wenn 
dieses  fest  sitzt,  hält  auch  der  ganze  Operationsmundsperrer 
unverrückt.  Rückwärts,  seitlich  am  Stirnband  und  an  dem  einen 
Ende  desselben  ist  ja  ein  kleiner  Metallhügel  angebracht.  Durch 
gegenseitiges  Nähern  dieser  Bügel  können  die  beiden  Enden  des 
Stirnbandes  übereinander  verschoben  werden,  bis  das  Stirnband 
am  Schädel  fest  angezogen  anliegt.  Durch  Festziehen  einer  an 
einem  Ende  des  Stirnbandes  befindlichen  Schraube  wird  das 
Stirnband  am  Schädel  fest  fixiert.  Seitlich  am  Stirnband  ist  je 
eine  horizontal  abstehende  Metallplatte  angebracht,  in  welcher  der 

2.  Mundspiegelhalter  (Mh)  durch  einen  einfachen  Griff  und 
durch  eine  Schraube  (Sch)  befestigt  wird.  Der  Mundspiegelhalter 
besteht  aus  einer  vertikalen  Stangenschraube  (St),  welche  durch 
zwei  Schrauben  (Si,  Sa)  höher  oder  tiefer  gestellt  und  fixiert 
werden  kann.  Die  Schraubenstange  (St)  ist  vertikal  an  einem 
horizontalen  Gewinde  angebracht  und  kann  durch  Drehen  des 
Flügels  FL,  bzw.  FL  in  horizontaler  Richtung  nach  vorn  oder 
rückwärts  bewegt  werden. 

3.  Zum  Oeffnen  des  Kiefers  selbst  dient  eine  Abänderung 
und  Kombination  der  Mundspiegel  nach  Heister  und  Roser- 
König.  An  der  Basis  seiner  Schenkel  befindet  sich  je  eine 
Bohrung,  in  welche  das  untere  Ende  der  Stangenschraube  (St) 
eingefügt  und  durch  die  Schraube  Ss,  bzw.  S<  fixiert  werden  kann. 

Der  Mundspiegel  kann  nach  rückwärts,  nach  vom  bewegt 
und  um  die  vertikale  Achse  gedreht  werden.  Er  kann  so  dem 
Kopf-  und  Kieferbau  angepaßt  werden. 

Dadurch,  daß  dies  durch  Gewinde  erfolgt,  kann  die  Ein¬ 
stellung  ohne  brüske  Bewegung  selbst  am  spannenden  Patienten 
ohne  Schwierigkeit  vor  sich  gehen.  Durch  die  festgezogenen 
Schrauben  und  dadurch,  daß  der  Mundsperrer  am  Kopf  selbst 
fixiert  ist,  bleibt  die  dem  Mundspiegel  gegebene  Lage  selbst  bei 
den  eingreifendsten  Operationen  eine  sichere.  Der  Mundspiegel 
kann  jederzeit  nach  Wunsch  eine  andere  Stellung  bekommen 
und  kann  durch  Aufdrehen  der  Schraube  Sa,  bzw.  Si  rasch 
entfernt  werden. 

Der  Mundsperrer  wird  in  der  Weise  angelegt,  daß  zunächst 
das  Stirnband  in  Verbindung  mit  dem  Mundspiegelhalter  in 
einem  angelegt  wird.  Dann  wird  erst  der  Mundspiegel  selbst 
hinter  die  Zahnreihe,  bei  zahnlosem  Munde  möglichst  weit  nach 
rückwärts  eingeführt  und  mit  dem  Ende  der  entsprechend  der 
Kopfgröße  eingestellten  Stangenschraube  St  in  Verbindung  ge¬ 
bracht.  Sodann  erst  erfolgt  durch  Drehen  der  Mundspiegelschraube 
MS  das  Oeffnen  des  Mundes. 

Der  Mundsperrer  wird  auf  der  der  Operation  entgegen¬ 
gesetzten  Seite  angelegt.  Dadurch  ist  das  Operationsterrain  selbst 
hei  den  eingreifendsten  Operationen  in  keiner  Weise  gestört. 
Der  Mundsperrer  ist  für  beide  Seiten  benützbar,  man  braucht 
den  Mundspiegelhalter  nur  in  die  Platte  der  anderen  Seite  ein¬ 
zusetzen,  den  Mundspiegel  umzudrehen  und  seinen  anderen 
Schenkel  in  Verbindung  mit  der  Stangenschraube  (St)  zu  bringen. 

Mundspiegelhalter  und  Mundspiegel  sind  durch  Auskochen, 
das  Zelluloidstirnband  durch  Einlegen  in  desinfizierende  Lö¬ 
sungen  sterilisierbar.  Doch  verträgt  auch  letzteres  im  Notfall 
ein  Auskochen. 


*)  Zu  beziehen  durch  das  Sanitätsgeschäft  M.  Schaerer. 
A.-G.,  Bern. 


790 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Diskussion. 


Bemerkungen  zur  Zuschrift  des  Herrn  Geheim¬ 
rates  Prof.  Ehrlich 

in  Nr.  21  der  Wiener  klin.  Wochenschrift. 

Von  Dr.  Viktor  Hrdliczka. 

Bezüglich  des  ersten  Abschnittes  der  Zuschrift  des  Herrn 
Geheimrates  Ehrlich  erkläre  ich,  daß  ich  lebhaft  bedaure,  den 
einleitenden  Passus  in  meiner  Arbeit  so  abgefaßt  zu  haben, 
daß  darin  ein  Vorwurf  gegen  seine  Person,  bzw.  gegen  die  Gründ¬ 
lichkeit  seines  Vorgehen  gefunden  werden  konnte. 

Der  Passus  richtet  sich  ganz  allein  gegen  die  Tagesblätter. 

Jeder  Arzt  weiß,  wie  suggestiv  spaltenlange  Berichte  über 
ein  neues  Heilmittel  auf  das  Publikum  wirken,  und  wie  schwer 
sich  ein  Arzt  dem  stürmischen  Begehren  des  suggestionierten 
Publikums  entziehen  kann. 

In  dem  folgenden  Abschnitt  spricht  nicht  mehr  der  Experi¬ 
mentator,  sondern  der  Kliniker  Ehrlich. 

Ich  kann  wohl  getrost  ein  Urteil  über  die  —  leider  nicht 
immer  ganz  unpersönliche  —  Kritik  Ehrlichs  den  Lesern  meiner 
Mitteilung  überlassen,  will  aber  hier  noch  der  Hoffnung  Ausdruck 
geben,  daß  der  Vorwurf  der  falschen  Behandlung,  der  in  der 
Zuschrift  Ehrlichs  enthalten  ist  —  über  den  ich  ebenfalls 
das  Urteil  den  Lesern  überlasse  —  nicht  in  die  Öffentlichkeit 
dringt  und  gerichtliche  Folgen  für  mich  hat. 


Keferate. 


Gegenbauers  Lehrbuch  der  Anatomie  des  Menschen. 

Von  M.  Fürb ringer. 

Achte,  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage. 

Erster  Band. 

Leipzig  1909,  Wilhelm  Engelmann. 

Der  erste  Band  des  Ge  gen  bau  er  sehen  Lehrbuches  der 
Anatomie,  neu  bearbeitet  von  Fürb  ringer,  bringt  eine  Ueber- 
raschung.  Das,  was  in  früheren  Auflagen  nur  als  Einleitung 
in  wenigen  Kapiteln  über  die  Zelle,  über  die  Ontogenese  und 
die  Gewebe  gesagt  wurde,  füllt  jetzt  einen  600  Seiten  starken 
Band.  All  das,  was  sich  der  Student  früher  mühsam  in  Lehr¬ 
büchern  der  allgemeinen  Biologie,  der  Entwicklungsgeschichte 
und  der  Histologie  zusammensuchen  mußte,  findet  er  hier  im 
Detail  behandelt,  wobei  doch  wieder  nirgends  zu  weit  gegangen 
ist.  Mit  Sorgfalt  ausgewählte  Literaturangaben,  die  jedem  Ka¬ 
pitel  angefügt  sind,  werden  jedem,  der  an  dem  oder  jenem  spe¬ 
zielles  Interesse  findet,  den  richtigen  Weg  weisen. 

Nach  einer  klaren  Definition  der  hier  in  Betracht  kom¬ 
menden  Disziplinen,  folgt  ein  Abriß  der  geschichtlichen  Ent¬ 
wicklung  der  anatomischen  Wissenschaft.  (Hier  ist  übrigens  ein 
k leines  V ersehen  unterlaufen :  Für b ringers  Auffassung  des 
mittleren  Aristotelischen  Herzventrikels  als  Conus  arteriosus  aor- 
tae  findet  sich  schon  bei  Vesal.)  Nun  folgen  nach  einleitenden 
Worten  über  die  Stellung  des  Menschen  in  der1  Tierreihe  und 
über  die  Organsysteme  die  Kapitel  aus  der  Zytologie.  Der  Bau 
des  Plasmas,  des  Kernes,  der  Zentrosomen,  die  Physik  und  Che¬ 
mie  der  rZelle,  endlich  die  vitalen  Erscheinungen  derselben  werden 
in  diesem  Abschnitt  abgehandelt.  Darauf  folgen  die  Kapitel, 
welche  die  Ontogenese  zum  Inhalt  haben.  Morphologie  und  Ge¬ 
nese  der  Geschlechtszellen,  Befruchtung,  Furchung,  Keimblätter- 
bildung,  Entwicklung  der  äußeren  Körperform  des  menschlichen 
Embryos  erfahren  eine  eingehende  Besprechung.  Mit  besonderer 
Sorgfalt  ist  der  nächste  Abschnitt  geschrieben,  welcher  die  ein¬ 
zelnen  Ge  websarten  beschreibt.  Die  letzten  Kapitel  enthalten  die 
Betrachtung  der  Organe  und  des  Körpers  als  Ganzes.  Hier  werden 
die  Verteilung  der  Organe  im  Körper,  die  Maße  und  Gewichte 
desselben,  seine  Alters-  und  Geschlechtsdifferenzen,  sowie  die 
Orientierungsbegriffe  der  Anatomie  erläutert.  Ausgezeichnete  Ab¬ 
bildungen,  in  reicher  Zahl  —  fast  300  —  dem  Texte  beigegeben, 
erleichtern  das  Verständnis  des  interessant  geschriebenen  Buches 
in  hohem  Maße. 

* 


Das  Wachstum  des  Menschen  nach  Alter,  Geschlecht 

und  Rasse. 

Von  S.  Weißenberg. 

Stuttgart  1911,  Strecker  &  Schröder. 

Der  Autor  bemerkt  in  der  Einleitung  seines  Buches  ganz 
mit  Recht,  daß  trotz  der  relativ  großen  Anzahl  von  Messungen, 
welche  sich  auf  das  Wachstum  des  Menschen  beziehen,  eine  auf  alle 
Perioden  des  menschlichen  Wachstums  sich  erstreckende,  lücken¬ 
lose  Untersuchung  bis  zum  heutigen  Tage  fehlt.  Diesem  Mangel 
wird  zweifellos  durch  das  vorliegende  Buch  Weißenbergs  ab¬ 
geholfen.  Seine  Untersuchungen  erstrecken  sich  auf  das  intra¬ 
uterine  Leben,  umfassen  dann  die  Körperproportionen  des  Neu¬ 
geborenen,  des  wachsenden  Individuums,  in  jedem  einzelnen  Jahre 
bis  zum  20.  und  von  hier  an  in  jedem  Quinquennium,  resp.  De¬ 
zennium  bis  zum  70.  Lebensjahre.  Hiebei  wurde  das  metrische 
Maß  als  Ausdruck  der  Körperhöhe,  der  Sitzhöhe,  der  Klafterbreite, 
der  Extremitätenlänge  usw.  benützt.  Außer  diesen  absoluten 
Maßen  gibt  Verfasser  auch  die  relativen  Maße  der  einzelnen 
Längen,  resp.  Breiten  zueinander.  Die  folgenden  Kapitel  beschäf¬ 
tigen  sich  mit  den  Beziehungen  des  Geschlechtes  und  des  Wachs¬ 
tums,  der  Rasse  und  des  Wachstums,  ein  eigenes  Kapitel  ist  den 
äußeren  Einflüssen  auf  das  Wachstum  gewidmet.  Wenn  auch  viele 
Resultate  der  niedergelegten  Untersuchungen  teils  durch  ander¬ 
weitige  Messungen,  teils  durch  Beobachtungen  sozusagen  dem 
wissenschaftlichen  Bewußtsein  des  Apatomen  schon  früher  ein- 
verleibt  worden  waren,  so  bekommen  sie  dennoch  erst  durch  die 
exakten  Messungen  Weißenbergs  einen  präzisen  Ausdruck 
Die  ganze  Anlage  des  Buches  ist  eine  übersichtliche,  die  Dar¬ 
stellung  von  willkommener  Knappheit.  Das  Buch  selbst  bedeutet 
eine  unzweifelhafte  Bereicherung  der  anatomischen  Literatur  für 
den  Anatomen,  den  Arzt  und  den  Künstler. 

* 

Handbuch  der  Anatomie  und  Mechanik  der  Gelenke  unter 
Berücksichtigung  der  bewegenden  Muskeln. 

Von  Rudolf  Fink. 

Zweiter  Teil: 

Allgemeine  Gelenk-  und  Muskelmeclianik. 

Dritter  Teil: 

Spezielle  Gelenk-  und  Muskelmeclianik. 

Jena  1910  und  1911,  Gustav  Fischer. 

Der  zweite  Teil  der  Anatomie  und  Mechanik  der  Gelenke 
von  R.  Fick  beschäftigt  sich  mit  der  Kinematik  der  Knochen 
Bewegungen,  d.  h.  mit  der  Geometrie  derselben.  Im  Vorworte  be¬ 
merkt  Fick,  daß  er  sich  hauptsächlich  bemüht  habe,  die  schwer 
verständlichen  Probleme  dein  nur  humanistisch  vorgebildeten  Me¬ 
diziner  durch  eine  möglichst  breite  gemeinverständliche  Darstel¬ 
lung  mundgerecht  zu  machen.  Dieses  Versprechen  hat  der  Autor 
auch  in  vollem  Maße  erfüllt. 

Verfasser  bespricht  zunächst  die  geometrische  Entstehung 
der  Gelenksflächen,  sodann  die  Faktoren,  welche  den  Zusammen¬ 
halt  der  Gelenksflächen  bedingen.  Besonders  eingehend  werden 
die  Bewegungen  im  allgemeinen  und  die  Bewegungen  in  den  ein¬ 
zelnen  Gelenksformen  besprochen.  Zunächst  erläutert  der  Autor 
die  Bewegungen  der  Gelenksflächen,  ferner  di©  Bewegungen  der 
(einzelnen  Körperteile  gegeneinander  und  endlich  die  Achsen¬ 
vereinigung  und  -Zerlegung.  Das  fünfte  Kapitel,  das  die  Bewe¬ 
gungen  in  den  einzelnen  Gelenken  bohaindelt,  zerfällt  in  Ab¬ 
schnitte,  welche  die  Bewegungen  in  Haften,  in  echten  Schleif¬ 
gelenken  und  in  Ei-  und  in  Sattelgelenken,  die  Bewegungen  in 
Gelenksketten,  besondere  G elo nksmechanistmen  —  Gesperrt;  (.an 
den  Fischflossen,  an  den  Sehnen  und  Sehnenscheiden  von  Vö¬ 
geln,  Fledermäusen  und  kletternden  Säugern)  und  Schnappgelenke 
(z.  B.  Ellbogen-  und  Sprunggelenk  des  Pferdes)  —  und  endlich 
den  Bewegungsumfang  zum  Inhalt  haben.  Nach  kürzeren  Be¬ 
trachtungen  über  Bänderwirkung  und  die  Schaltscheiben,  sowie 
nach  einigen  vergleichend  anatomischen  Bemerkungen  wendet 
sich  Fick  der  Einteilung  der  Knochen  Verbindungen  zu.  Er  unter¬ 
scheidet  straffe  und  ausgiebig  bewegliche  Gelenke.  Die  letzteren 
zerfallen  in  Rollgelenke,  Schleifgelenke  und  Mischgelenke,  von 
denen  aber  die  ©rsteren  bei  den  organischen  Gelenken  über¬ 
haupt  nicht  Vorkommen,  während  die  dritte  Art  nur  auf  das 
Kiefer-  und  Kniegelenk  beschränkt  ist.  Die  zweite  Art  zerfällt 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


wieder  in  Gelenke  mit  einem,  zwei  und,  drei  Graden  der  Bewegungs¬ 
freiheit,  d.  h.  in  ein-,  zwei-  und  dreiachsige1  Gelenke.  Der  Be¬ 
sprechung  der  allgemeinen  Muskelmechanik  geht  noch  ein  Kapitel 
flüb&r  die  Untersuchungsmethoden  der  Gelenksbewegungen  voraus. 
Das  letzte  Kapitel  selbst  bringt  die  Besprechung  der  Muskel¬ 
resultante,  der  möglichen  Arbeitsleistung  eines  Muskels  und  der 
Gelenkswirkung  der  Muskelresultante.  Dem  Werke  sind  350  Ab¬ 
bildungen  beigegeben. 

Im  dritten  Bande  dieses  Handbuches  beschäftigt  sich 
Fick  mit  der  speziellen  Gelenks-  und  Muskelmechanik.  Fick  geht 
hiebei  die  einzelnen  Gelenke  durch  und  bespricht  bei  jedem 
zunächst  außerordentlich  detailliert  die  möglichen  Arten  der  Be¬ 
wegung.  Fa  gibt  dann  bei  jeder  Gelenks  Verbindung  eine  kurze 
Uebersicht  über  ihre  Mechanik,  wendet  sich  dann  zu  den  be¬ 
wegenden  Muskeln  und  gibt  zum  Schlüsse  eines  jeden  Kapitels  eine 
Reihe  praktischer  Bemerkungen,  welche  die  Wichtigkeit  der  ana¬ 
tomischen  Kenntnis  für  den  Praktiker  einleuchtend  illustrieren. 
Verfasser  beginnt  mit  der  Besprechung  das  Kiefergelenkes,  wendet 
sich  sodann  der  Mechanik  der  Wirbelsäule  zu.  Dieses  Kapitel, 
sowie  jenes  über  die  Mechanik  des  Brustkorbes  erfuhren  eine 
besonders  eingehende  Bearbeitung.  Bei  der  Besprechung  der  be¬ 
wegenden  Kräfte  des  Brustkorbes  wird  auch  die  alte  Streitfrage 
nach  der  Funktion  der  Interkostahnuskeln  nochmals  eingehend 
behandelt.  Fick  hält  nach  seinen  Versuchen  an  der  respira¬ 
torischen  V  irksamkeit  dieser  Muskelgruppen  fest.  Das  nächste 
Kapitel  beschäftigt  sich  mit  den  Bewegungsmöglichkeiten  des 
Schultergürtels,  woran  die  Besprechung  der  einzelnen  Gelenke 
der  freien  Extremität  angeschlossen  wird.  Ein  eigenes  Kapitel 
ist  der  Beweglichkeit  der  oberen  Extremität  als  Gelenkskette  ge¬ 
widmet. 

Die  nächsten  Kapitel  haben  die  Mechanik  des  Becken¬ 
gürtels,  sowie  die  der  Gelenke  der  unteren  Extremität  zum  In¬ 
halt.  Hier  dürften  besonders  die  Kapitel  über  die  Mechanik  des 
Beckens,  sowie  jenes  über  die  Mechanik  des  Fußgewölbes  den 
Praktiker  interessieren. 

Dem  Bande  sind  außer  zahlreichen  Textfiguren  (248)  noch 
Iß  Tafeln  beigegeben,  von  denen  sieben  photographische  Rönt¬ 
gentafeln  sind.  Gerade  diese  letzteren  sind  aufs  freudigste  zu  be¬ 
grüßen,  da  sie  nach  ausgezeichneten  Röntgenogrammen  hergesbellt 
sind  und  als  Kopien  solcher  Aufnahmen,  wie  auch  Fick  im, 
Vorwort  erwähnt,  alle  Details  besser  wiedergeben,  als  dies  durch 
irgendein  anderes  Reproduktionsverfahren  erreicht  wird. 

Durch  das  vorliegende  Handbuch  der  Gelenkslehre  hat  dieser 
Wissenszweig  selbst  nicht  nur  eine  große  Bereicherung,  sondern 
auch  eine  vollständige  Umarbeitung  erfahren.  Wenn  man  sich 
auch  der  Einsicht  nicht  verschließen  kann,  daß  diese  drei  mäch¬ 
tigen  Bände  nur  für  Spezialisten  und  Fachgelehrte  geschrieben 
sind,  so  werden  doch  auch  Ferner'stehende  und  vor  allem  die 
Praktiker  entsprechend  der  klaren  Anordnung  der  Materie  sich 
sicher  gerne  und  mit  Nutzen  daraus  Rat  holen. 

T  a  n  d  1  e  r. 

* 

Geschichte  und  Beschreibung  des  Baues  der  neuen 
Frauenkliniken  in  Wien. 

Von  weiland  R.  Chrobak  und  F.  Schanta. 

Mit  26  Textabbildungen. 

80  Seiten. 

Wien  1911,  Urban  &  Schwarzenberg. 

Als  im  Jahre  1908  die  neuen  Frauenkliniken  ihrer  Fertig¬ 
stellung  entgegengingen,  beschlossen  die  damaligen  Vorstände,  im 
Verein  mit  dem  Leiter  der  Baukanzlei  eine  Denkschrift  über  die 
Anstalten,  die  in  ihrer  Art  die  größten  der  Welt  darstellen,  zu  ver¬ 
fassen.  Der  von  der  Baukanzlei  des  Allgemeinen  Krankenhauses  zu 
liefernde  Beitrag,  der  den  technischen  Teil  behandeln  sollte,  ist 
unterdessen  noch  immer  nicht  fertiggestellt  worden;  nunmehr  ent¬ 
schloß  sich  Schauta,  die  von  ihm  und  Chrobak  schon  im 
September  1908  druckfertig  vorgelegten  Abschnitte  zu  publizieren. 

Wie  Schauta  in  pietätvollen  Worten  betont,  stellt  Chro- 
b  a  k  s  Beitrag  die  letzte,  posthume  Publikation  des  dahingeschiedenen 
Gelehrten  dar.  Sie  behandelt  in  der  für  Chrobak  charakteristi¬ 
schen  Gründlichkeit  die  Geschichte  des  Allgemeinen  Krankenhauses 
und  die  Vorgeschichte  des  neuen  klinischen  Spitales  auf  den  Grün¬ 


den  der  Landesirrenanstalt ;  in  einem  zweiten  Abschnitte  die  Vor¬ 
geschichte  der  beiden  neuen  Frauenkliniken. 

Die  Zeitdauer  des  Leidensweges,  welchen  die  Wiener  Kliniker 
bis  zur  Lösung  der  Krankenhausfrage  zu  durchwandeln  hatten,  das 
großenteils  ablehnende  Verhalten  der  in  Betracht  kommenden  Be¬ 
hörden,  die  zahlreichen  wieder  fallengelassenen  Pläne  —  all  dies 
dürfte  wohl  kein  Ehrenblatt  in  der  österreichischen  Geschichte 
Hillen,  für  den  Historiker  aber  einen  wichtigen  Behelf  zur  Illustration 
der  österreichischen  Rückständigkeit  darstellen. 

Dei  von  Schauta  verfaßte  Abschnitt  gibt  eine  ungemein 
anschaulich  geschriebene,  durch  gute  Reproduktionen  erläuterte  Be¬ 
schreibung  seiner  Klinik,  welche  ebenso  wie  die  Schwesterklinik 
dank  der  mühevollen,  jahrelangen  Arbeit  Ghrobaks  und 

Schautas,  in  Größe  und  Anlage  ihresgleichen  auf  der  Erde 
nicht  hat. 

* 

Die  junge  Frau.  Betrachtungen  und  Gedanken  über 
Schwangerschaft,  Geburt  und  .Wochenbett. 

Von  Dr.  Wilhelm  Hnber,  Leipzig. 

207  Seiten,  Kleinoktav. 

Leipzig  1910,  Weber. 

Abgesehen  von  der  ebenso  wie  in  ähnlichen  populär-wissen¬ 
schaftlichen  Büchern  stellenweise  beliebten  blumenreichen  Ausdrucks¬ 
weise  und  einem  nicht  ganz  unbeträchtlichen  Zuviel  bezüglich  der 
Verhaltungsmaßregeln  für  schwangere  Frauen,  muß  das  Buch  als 
ein  ernst  und  gut  geschriebener  und  ernst  zu  nehmender  Ratgeber 
ftii  angehende  Mütter  bezeichnet  und  als  solcher  empfohlen  werden. 

* 

Festschrift  zur  Jahrhundertfeier  des  Trierschen  Insti¬ 
tutes  (Universitäts-Frauenklinik  in  Leipzig)  am  29.  Ok¬ 
tober  1910. 

Von  P.  Zweifel  und  seinen  Assistenten. 

Hervorgegangen  aus  einer  Stiftung  des  wohltätigen  Leipzigers 
Trier  und  seiner  Gattin  und  1892  in  das  neue,  allen  Anforde- 
l  ungen  entsprechende  Gebäude  übersiedelt,  feiert  die  ruhmreiche 
Leipziger  Frauenklinik  ihren  100jährigen  Bestand,  während  dieses 
Zeitraumes  nur  von  drei  Leitern:  Jörg,  Credo  und  Zweifel 
geführt.  Daß  ein  so  festlicher  Tag  zu  Reflexionen  Anlaß  gibt,  ist 
klar  und  auch  wir  lesen  mit  Teilnahme  von  dem  Wirken  ver¬ 
gangener  Generationen  und  freuen  uns  über  das  Blühen  der 
Zwei  fei  sehen  Schule,  welche  eine  Reihe  von  führenden  Geistern  : 

D ö  d  e  r  1  e  i  n,  Menge,  K  r  ö  n  i  g,  F  U  t  h,  Zangemeister  u.  a. 
die  ihren  nennt. 

Zur  Feier  des  Tages  beschert  uns  Zweifel  einen  kritischen 
Bericht  über  die  wichtigsten  gynäkologischen  Operationen  der  letzten 
23  Jahre  —  eine  stolze  Reihe  von  mehr  als  4000  !  Von  großem 
Werte  sind  seine  Aeußerungen  über  den  verschärften  Wundschutz, 
über  die  Verhütung  des  Ileus,  über  die  Lungenembolien  (Infektion 
und  Beckenhochlagerung  gelten  als  Anlaß !),  über  Ovario-  und 
Salpingotomien,  über  die  Tuberkulose  des  Genitaltraktes,  über 
Myome,  über  die  modifizierte  Karzinomoperation  mit  Extraperitoni¬ 
sierung  vom  Abdomen  aus,  über  Lageveränderung  und  Operationen 
bei  Komplikationen  der  Schwangerschaft  etc.  —  Liechtenstein 
gibt  eine  Kritik  von  64  vaginalen  Ovariotomien  ohne  Todesfall. 
Aul  horn  berichtet  Uber  die  Dauererfolge  der  abdominellen  Total¬ 
exstirpation  bei  Carcinoma  uteri,  die  an  der  Zwei  fei  sehen  Klinik 
eine  absolute  Dauerheilung  von  25%  ergibt  —  die  höchste  Leistung, 
die  bisher  erzielt  wurde.  —  Untersuchungen  über  das  Eindringen 
von  Badewasser  in  die  Scheide  haben  Schweitzer  bewiesen, 
daß  das  Vollbad  bei  Kreißenden  und  Schwangeren  zu  umgehen  ist. 

* 

Die  Behandlung  der  Frauenkrankheiten. 

Für  die  Praxis  dargestellt  von  J.  Veit,  Halle. 

Mit  39  zum  Teil  farbigen  Abbildungen. 

244  Seiten. 

Berlin  1911,  Karger. 

Vor  allem  sei  von  Veits  neuestem  Werk  gesagt,  daß  es  in 
erster  Linie  für  den  spezialistisch  ausgebildeten  Gynäkologen 
bestimmt  ist  und  nicht  nur  die  sogenannte  kleine  Gynäkologie  be¬ 
handelt.  Nach  Veits  eigenen  Worten  bietet  er  uns  eine  Fixierung 
des  heutigen  Standpunktes. 


792 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  22 


Wie  notwendig  wir  derartige  Bücher  brauchen,  wie  schwer 
wir  sie  vielfach  vermissen,  weiß  jeder  Gynäkologe  und  jeder  prak¬ 
tische  Arzt.  Wir  sind  ja  fast  alle  noch  in  der  Zeit  der  von  Veit 
nicht  ohne  Ironie  geschilderten  »unendlichen«  Sprechstunde  des 
Frauenarztes,  die  den  Beweis  für  seine  Tüchtigkeit  abgab,  heran¬ 
gewachsen.  Pinselungen,  Tampons,  Behandlung  der  Portio,  Pessarien, 
Badereisen  —  das  alles  ist  für  die  Gynäkologie  von  heule  nicht 
im  entferntesten  mehr  von  der  Bedeutung  wie  lrüher.  Wir  alle  be¬ 
streben  uns,  gleich  Veit,  »die  Sexualleiden  und  deren  Folgen 
möglichst  objektiv  festzustellen  und  möglichst  nur  das  zu  behandeln, 
was  objektiv  an  ihnen  verändert  ist«.  Bei  der  Beschränktheit  der 
Mittel  nun,  die  uns  außer  einem  operativen  Eingriff  zur  Verfügung 
stehen,  begrüßen  wir  freudig  jede  neue  Darstellung  der  gynäkologi¬ 
schen  Behandlungsweise,  zumal  wenn  der  Autor  einen  klangvollen 
Namen  führt. 

Erfreulicherweise  ist  V  e  i  t  s  Buch  —  ein  wenig  in  diesem 
Punkte  an  Fritsch  erinnernd  re-  subjektiv  und  anscheinend  in 
einem  Zuge  flott  niedergeschrieben.  Wir  hören  immer  nur  bestimmte 
Ratschläge  für  eine  bestimmte  Situation  und  wissen  so  ohneweiters, 
welche  Methoden  Veit  befriedigen.  Auch  Veit  gibt  offen  zu,  daß 
die  Therapie  noch  Lücken  aufweist;  am  empfindlichsten  fühlt  dies, 
der  Frauenarzt  bei  der  Behandlung  der  Endometritis  chronica.  Wir 
lesen  ferner  mit  großem  Interesse  die  Schilderung  einzelner  Ope¬ 
rationen  und  entnehmen  derselben  wertvolle  Winke.  Die  beigegebenen 
Illustrationen  sind  gut  geraten. 

Kein  spezialistisch  ausgebildeler  Frauenarzt  sollte  versäumen, 
Veits  Buch  zu  lesen.  Er  wird  darin  eine  Fülle  von  Belehrung 
und  Anregung  finden,  die  ihm  eine  langjährige,  stets  mit  dem  Fort¬ 
schritt  gehende,  aber  dabei  doch  kühl  abwägende  Erfahrung  bietet. 

K  e  i  1 1  e  r. 

* 

Die  Behandlung  der  Nasenbrüche  und  der  Mißbildungen 
der  Nasenscheidewand. 

Von  Dr.  Claude  und  Dr.  Francisqne  Martin  in  Lyon. 

Uebcrsetzt  von  M.  Carow. 

Berlin  1911,  J.  Springer. 

32  Seiten. 

Nach  einer  historischen  Einleitung  erörtern  die  Verfasser 
ihre  Behandlungsweise.  Sie  besteht  darin,  daß  eine  besonders 
geformte  Zange  nach  ausgeführter  Bellocscher  Tamponade  in 
die  Nasenlöcher  eingeführt  und  durch  Schließen  gespreizt  wird. 
Dadurch  soll  die  untere  Fläche  der  Nasenbeine  gehoben  werden. 
Die  linke  Hand  prüft  durch  Betasten  von  außen  den  Erfolg. 
Ist  das  geschehen,  wird  die  Nasensdheddewand  mit  einer  anderen 
Zange  gefaßt,  durch  schaukelnde  Bewegungen  aus  ihrer:  Verbin¬ 
dung  gelöst  und  in  die  Mitte  gebracht.  Alle  widerstrebenden  Teile 
müssen  eingebrochen  oder  in  so  viele  Stücke  zerbrochen  werden, 
daß  eine  gute  Reposition  möglich  ist.  Das  vollständig  beweglich 
gemachte  Nasengerüste  soll  nun  durch  besondere,  recht  kom¬ 
pliziert  gebaute  Prothesen,  die  zwei  Flügel  tragen,  in  aufgerichteter 
Stellung  erhalten  werden. 

Bei  alten  Nasenbeinbrüchen  verwenden  die  Autoren  eine 
Sequesterzange,  die  sie  dann  nicht  auf  die  Haut  wirken  lassen, 
sondern  unter  die  Haut  einführten  und  auf  den  Knochen  wirken 
lassen.  Damit  die  in  das  Nasenloch  eingeführte  Branche  die 
Schleimhaut  nicht  verletze,  wird  sie  mit  einem  Kautschukschlauch 
überzogen. 

Die  Prothesen,  die  die  Retention  erhalten  sollen,  bestehen 
aus  zwei  wagrechten  Platten,  von  denen  je  ein  Flügel  mittels 
Schlüssels  und  Schraubengetriebes  abgespreizt  werden  kann. 
Dieser  Apparat  findet  seinen  Stützpunkt  auf  dem  Boden  der 
Nasenhöhle.  Der  Apparat  soll  ungefähr  vier  Wochen  getragen 
werden.  Während  dieser  Zeit  wird  er  mitunter  herausgenommen 
und  gereinigt. 

Die  Verfasser  rühmen  ihre  Erfolge,  fanden  aber  nötig,  für 
besondere  Fälle  Aenderungen  an  den  Retentionsapparaten  vor¬ 
zunehmen,  die  auch  ausführlich  und  durch  Zeichnungen  er¬ 
läutert  werden.  Dennoch  wird  man  auf  Grund  dieser  Beschrei¬ 
bungen  nicht  in  den  Stand  gesetzt,  die  Apparate  nachzumachen, 
weil  die  Bilder  nicht  klar  genug  sind.  Ist  außer  dem  Nasenbeine 
auch  der  Oberkiefer  gebrochen,  dann  wird  dem  Retentionsapparate 
die  nun  fehlende  Stütze  dadurch  verschafft,  daß  um  die  Nase 
ein  lyraförmig  gebogenes  Metallband  angelegt  und  dieses  mittels 


11  ar tg u mi n is c bienen  nach  Art  der  Schienen  der  Fechtmasken,  am 
Kopfe  befestigt  wird. 

In  einem  besonderen  Kapitel  wird  die  Behandlung  der  Mi߬ 
bildungen  der  Nasenscheidewand  besprochen.  Das  verbogene 
Septum  wird  zerbrochen  und  die  Bruchstücke  werden  in  die 
Mittellinie  eingerichtet,  die  Fraktur  durch  besondere  Retentions¬ 
apparate,  die  den  oben  beschriebenen  ähnlich  sind,  behandelt. 

Der  Chirurg,  der  weiß,  wie  schwer  insbesondere  kleine  Ver¬ 
schiebungen  gebrochener  Knochen  zu  völliger  Korrektur  zu  brin¬ 
gen  sind,  welcher  Kraftaufwand  dazu  gehört,  eine  derart  genaue 
I  laltung  zu  erhalten,  wird  lebhafte  Bedenken  gegen  die  Wirksamkeit 
des  Verfahrens  nicht  unterdrücken  können.  Der  komplizierte  Bau 
der  Retentionsapparate  erschwert  die  Anwendung  des  Verfahrens 
weiterhin,  so  daß  es  wohl  kaum  viele  Nachahmer  finden  wird. 

E  w  a  1  d. 


Aus  \/erse  hie  denen  Zeitschriften. 


538.  Heber  experimentelle  Iris-  und  Chor  io  ideal 
tuberkulöse  der  Kaninchen.  Von  Prof.  Dr.  A.  Schieck, 
Oberarzt  der  Universitätsaugenklinik  in  Göttingen.  Im  Institut 
für  Infektionskrankheiten  in  Berlin  (Prof.  Gaffky)  hat  Ver 
fasser  13  Versuchsserien  zu  sechs  bis  zehn  Kaninchen  angestellt, 


deren  Resultate  er  mit  folgenden  Worten  mitteilt:  1.  Bei  Ver¬ 
impfung  in  die  Vorderkammer  besteht  eine  weitgehende  Diffe¬ 
renz,  je  nachdem,  ob  der  Typus  humanus  oder  der  1. ypus 
bovinus  der  Tuberkelbazillen  zur  Anwendung  gelangt,  insofern 
der  menschliche  Tuberkelbazillus  Knoten  erzeugt,  die  nur  geringe 
Tendenz  zur  Verkäsung,  dafür  aber  große  Neigung  zur  Spontan¬ 
heilung  besitzen.  Demgegenüber  gingen  alle  mit  noch  so  geringen 
Dosen  boviner  Stämme  geimpften  Augen  an  totaler  Verkäsung 
und  Destruktion  zugrunde.  2.  Wurden  die  Bazillen  in  die  Blut- 
balm  (Ohrvene  oder  Karotis)  verimpft,  so  gelang  es  nie,  sie  zu 
einer  wirklich  virulenten  Haftung  im  Augeninnern  zu  bringen. 
Wohl  traten  kleine  Herde  in  der  Iris  und  Aderhaut,  auf,  aber 
weder  der  humane  noch  der  bovine  Typus  vermochte  progre¬ 
diente  Prozesse  zu  erzeugen.  Alle  so  hervorgerufenen  Formen 
der  Augen  tuberkulöse  ließen  unverkennbare  Neigung  zur  Spontan¬ 
heilung  erkennen,  obwohl  die  Tiere  der  Tuberkulose  der  inneren 
Organe  erlagen.  3.  Die  Entwicklung  der  Tuberkulose  auf  einem 
Auge  übt  einen  deutlichen  schützenden  oder  wenigstens  mil¬ 
dernden  Einfluß  auf  den  Ausbruch  und  den  Verlauf  der  Tuber¬ 
kulose  am  zweiten  Auge  aus,  wenn  die  gewählt©  Impfdosis  in 
die  Vorderkammer  nicht  zu  groß  ist.  4.  Es  ließ  sich  nicht  der 
geringste  Anhaltspunkt  dafür  finden,  daß  der  Gehalt  des  Serums 
oder  des  Kammerwassers  an  tuberkulösen  Antikörpern  in  einer 
Parallele  mit  den  Heilungsvorgängen  steht.  Auch  konnten  die 
Antikörper  trotz  schwerster  Iris  tuberkulöse  keineswegs  regelmäßig 
im  Kammerwasser  angetroffen  werden.  Ebensowenig  ließ  sich 


mit  Sicherheit  erkennen,  daß  der  Antikörper  in  der  vorderen 
Kammer,  resp.  in  dem  vorderen  Bulbusabschnitt  gebildet  wird. 
Die  Prüfung  auf  Antikörpergehalt  geschah  mit  der  Methode  der 
Komplemeritbildung.  5.  Bei  durch  intravenöse  Injektion  von  ab 
getöteten  Bazillen  und  von  „sensibilisierter  Tuberkelbazillenenuil 
sion  Höchst“  (S.-B.-E.)  hoch  immunisierten  Tieren  ließ  sich 
der  im  Serum  in  großen  Mengen  vorhandene  tuberkulöse  Anti 
körper  bei  gesunden  Augen  im  stehenden  Kammerwasser  niemals 
dagegen  regelmäßig  im  neu  sezernierten  nachweisen.  Bei,  der 
in  die  Vorderkammer  tuberkulös  infizierten  Augen  dieser  Heu 
war  der  Antikörper  dagegen  auch  im  stehenden  Kammerwasset 
zu  finden.  G.  Weder  mit  Emulsionen  abgetöteter  Bazillen  nocl 
mit  S.-B.-E.  gelang  es,  die  Tiere  so  zu  immunisieren,  daß  eine 
Infektion  der  Iris  mit  Typus  bovinus  von  der  Vorderkanrmet 
her  ausgeblieben  wäre,  auch  wenn  kleine  Dosen  zur  Verunpfunt 
kamen.  —  (Deutsche  medizin.  Wochenschrift  1911,  Nr.  IG- 


539.  Die  Doppelreaktion  bei  der  Kuhpocken 
impfung.  Von  Prof.  C.  v.  Pirquet  in  Breslau.  Yerf-  be 
spricht  zunächst  die  Erfahrungen  bei  der  Serumkrankheit,  die  ei 
hältnisse  nach  der  Iteinjektion  u.  zw.  bei  kurzem  Interva  < 
die  „sofortige“,  bei  langem  Intervalle  die  „beschleunigte  Ron' 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


793 


lion;  weitere  eine  dritte  Kategorie  von  Fällen,  welche  beide 
Reaktionen  nacheinander  zeigen,  Fälle  von  Doppelreaktion.  Bei 
der  Kuhpockenimpfung  kommt  nun  ein  Faktor  hinzu,  der  die 
Vorgänge  auf  den  ersten  Blick  sehr  kompliziert  erscheinen  läßt, 
die  Entwicklung  des  vakzinalen  Keimes  in  der  Haut,  die  von 
den  Reaktionen  zwischen  fremdem  Eiweiß  und  Antikörper,  der 
Bildung  von  Apotoxin  aus  Allergen  und  Ergin,  getrennt  werden 
muß.  Knöpf elmacher  hat  bekanntlich  gezeigt,  daß  bei  In¬ 
jektion  abgetöteter,  erhitzter  Kuhpockenlymphe  in  der  Haut  von 
Personen,  welche  früher  vakziniert  wurden,  subkutane  Reaktionen 
auftreten.  Sie  erinnern  einerseits  an  das  „spezifische  Öedem“ 
bei  der  Reinjektion  mit  artfremden  .Serum,  andrerseits  an  die 
Stichreaktion  bei  der  subkutanem  Injektion  von  Tuberkulin 
bei  dem  Tuberkulösen.  Klinisch  läßt  sich  jedoch  die  vak- 
zinalo  Stichreaktion  von  den  beiden  anderen  bei  einiger  Uebung 
unterscheiden.  Sie  zeigt  nicht  die  urtikarielle  Hautbeschaffenheit 
und  den  lebhaften  Juckreiz  des  spezifischen  Serumödems,  auch 
nicht  das  dunkle  Kolorit  und  den  Druckschmerz  der  subkutanen 
Tuberkulinreaktion.  Sie  zeichnet  sich  durch  eine  lebhafte,  ins 
Gelbliche  spielende  Rötung  und  vollkommene  Schmerzlosigkeit 
aus.  Auch  diese  Stichreaktion  mit  abgetöteter  Lymphe  braucht 
nicht  immer  innerhalb  24  Stunden  aufzutreten,  sondern  kann 
als  „beschleunigte  Reaktion“  eine  Inkubationszeit  von  mehreren 
Tagen  aufweisen,  Verf.  führt  einige  Versuche  an.  Wenn  man  mit 
frischer  Kuhpockenlymphe  die  kutane  Impfung  ausführt,  so  kann 
die  Lymphe  'beim  früher  Vakzinierten  entweder  eine  sofortige 
apotoxiische  Reaktion  ergeben,  oder  es  kann  auch  keine  Frill i- 
reaktion  zustande  kommen,  sondern  eine  „beschleunigte  Reak¬ 
tion“,  bei  welcher  der  Vakzineerreger  eine  Koloniebildung  in  der 
Haut  wie  bei  einer  Erstvakzination  verursacht  und  dann  unter 
Areaformation  „beschleunigt“  zum  Absterben  gebracht  wird.  Es 
gibt  aber  auch  Fälle,  wo,  in  Analogie  zur  Doppelreaktion  beim 
Serum,  nach  der  Revakzination  sofortige  und  beschleunigte  Re¬ 
aktion  sukzessive  in  Erscheinung  treten.  Verf.  bringt  auch  dafür 
Beispiele.  In  weiteren  Versuchen  wurde  sowohl  die  Erstimpfung 
mit  ihrer  normalzeitigen  Reaktion,  als  auch  die  Doppelreaktion, 
112  Tage  nach  der  Erstimpfung,  beobachtet.  Es  ist  auffallend, 
daß  schon  so  kurze  Zeit  nach  der  Erstimpfung  wieder  Kolonien¬ 
bildung  an  deir  Impfstelle  erschien  und  der  Verfasser  möchte  die 
Ursache  dieses  Mangels  an  Immunität  auf  die  gleichzeitige  In¬ 
jektion  der  unveränderten  Lymphe  beziehen.  Verf.  vermutet, 
daß  diese  den  Organismus  von  Erginen  soweit  beraubt  hat,  daß 
eine  Abtötung  aller  Keime  nicht  mehr  erreicht  wurde.  Aus  diesen 
Versuchen  zieht  Verfasser  folgende  Schlüsse:  1.  Wie  bei  der 
Serumkrankheit  lassen  sich  auch  bei  der  Kuhpockenimpfung  als 
verschiedene  Formen  der  zeitlichen  Allergie  eine  sofortige  und  eine 
beschleunigte  Reaktion  unterscheiden.  2.  Die  beschleunigte  Re¬ 
aktion  wird  sowohl  nach  der  kutanen  Einimpfung  von  virulenter 
Lymphe,  als  auch  nach  subkutaner  Injektion  von  abgetöteter 
Lymphe  beobachtet.  3.  Wie  bei  der  Serumkrankbeit  findet  sich 
ferner  auch  bei  der  Kuhpockenimpfling  die  „Doppelreaktion“, 
d.  h.  das  sukzessive  Auftreten  von  sofortiger  und  beschleunigter 
Reaktion.  —  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  18.) 

G. 

* 

540.  Die  Therapie  der  Rachitis.  Von  Privatdozent 
Hr.  Paul  Sittleir,  Colmairf  i.  E.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der 
Fälle  entsteht  die  Rachitis  durch  Ueberfütterung,  wenn  auch 
über  die  Art  und  Weise  der  Ueberfütterung  nicht  genügende  Klar¬ 
heit  besteht,  so  d aß  der  behandelnde  Arzt  in  jedem  speziellen 
Falle  anamnestisch  die  Art  der  Ueberfütterung  erst  feststellen 
muß,  um  sich  die  Therapie  zurechtzulegen.  Verf.  ist  allerdings 
der  Ueberzeugung,  daß  speziell  die  Ueberfütterung  mit  Mehlen 
zur  Rachitis  führt,  nicht  so  sehr  die  alleinige  Milchüberfütterung 
welche  eher  zu  einem  Milchnjährschaden  oder  bei  gegebener  Dis¬ 
position  zur  iSpasmophilie  führen  kann,  als  zum  Auftreten  rachi¬ 
tischer  Veränderungen  Veranlassung  gibt.  Andere  Autoren  sehen 
endlich  in  jeglicher  Art  der  Unterernährung  die  Ursache  der  Ra¬ 
chitis.  Tatsache  ist,  daß  man  in  Fällen  beginnender  Rachitis 
durch  bloße  Regulierung  der  Ernährung,  speziell  durch  möglichste 
Herabsetzung  der  Mehlzufuhr  eventuell  auch  der  Rohzuckerdar¬ 
reichung,  therapeutisch  das  Auslaugen  findet,  ferner,  daß  die  Mutter¬ 
brust  das  beste  Prophylaktikum  und  Therapeutikum  gegenüber 


der  Rachitis  darstellt.  Neben  der  genannten  Ernähr  ungstherapie 
haben  hygienische  und  klimatische  Heilfaktoreu  durch  Neu¬ 
mann  volle  Existenzberechtigung  bei  der  Behandlung  der  Ra¬ 
chitis  erhalten  und  dürfen  heute  nicht  mehr  vernachlässigt  werden, 
(Seebäder,  Seeaufenthalt,  Sol-Salzbäder  im  Hause,  Uochgebirgs- 
au  tenth  alt  usw.).  In  schwereren  Fällen  kann  man  allerdings  der 
medikamentösen  Mittel  nicht  entraten.  Unbestritten  in  dieser  Hin¬ 
sicht  das  wichtigste  Medikament  der  Phosphorlebertran ;  bemerkt 
wurden,  daß  die  Menge  von  0-001  g  Phosphor  pro  die1  nicht  über¬ 
schritten  werden  soll,  da  diese  Dosis  ohnehin  schon  dem  Drittel 
der  Tagesdosis  für  den  Erwachsenen  gledchkommt ;  immerhin  ver¬ 
trägt  der  jugendliche  Organismus  offenkundig  den  Phosphor  im 
Phosphorlebertran  weit  besser  als  der  Körper  des  Erwachsenen. 
Der  Phosphor  soll  nicht  ohne  Not  in  anderer  öliger  Substanz 
verabreicht  werden,  da  sicherlich  auch  der  Lebertran  an  und  für 
sich  schon  eine  günstige  Wirkung  auf  den  Organismus  auszuüben 
vermag.  Organische  Phosphorpräparate  haben  den  Phosphorleber- 
tran  bisher  nicht  zu  verdrängen  vermjocht.  Ein  gewisser  thera¬ 
peutischer  Wert  ist  dem  Lezithin  und  seinen  Derivaten,  aber  nur 
bei  gleichzeitiger  Nukleindarredchung,  zuzusprechen,  ebenso  dem 
Adrenalin,  doch  leistet  die  Behandlung  mit  Phosphorlebertran 
ebensoviel.  Jene  Präparate  können  ebenso  wie  die  Eisentherapie 
im  Sommer  vorübergehend  den  Phosphorlebertran  vertreten,  im 
übrigen  sind  auch  im  Sommer  die  Schwierigkeiten  der  Lebertran- 
darreichung  keineswegs  sehr  groß.  Im  Kalzium  ist  kein  Spezifi¬ 
kum  gegen  Rachitis  zu  sehen,  da  die  ausschließliche  Kalktherapie 
der  Rachitis  völlig  erfolglos  bleibt  (Stöltzner).  Indes  ist  nichts 
einzuwenden  gegen  den  Versuch,  bei  einer  schon  in  Heilung  be¬ 
griffenen  Rachitis  außer  den  oben  genannten  indizierten  Heil¬ 
mitteln  noch  Kalk  zu  geben,  um  den  Körper  über  einen  aus¬ 
reichenden  Kalziumüberschuß  verfügen  zu  lassen.  Am  besten 
eignet  sich  'hiezu  der  essigsaure  Kalkf  (bis  0-2  pro  die).  Bei  gleich¬ 
zeitiger  Späsmophilie  ist  wieder  in  erster  Linie  der  Phosphor¬ 
lebertran  (nicht  Phosphoremulsion  oder  andere  ölige  Lösung) 
am  wirksamsten,  wogegen  in  diätetischer  Hinsicht  zunächst  die 
spasmophilen  Zustände  als  akutere,  das  Leben  direkt  gefährdende 
Symptome  vor  der  Rachitis  Berücksichtigung  verdienen  und  eine 
Lei  Rachitis  sonst  kontraindizierte,  reine  Mehl- Wasserdiät  ein¬ 
gehalten  werden  muß,  aut  welche  die  ausgesprochene  Spasmophilic 
prompt  reagiert.  Mit  dem  Abklingen  der  spasmophilen  Symptome 
wird  dann  die  Diät  allmählich  in  die  für  Rachitis  indizierte  über¬ 
geführt.  —  (Fortschritte  der  Medizin  1911,  29.  Jahrg.,  Nr.  9.) 

K.  S. 

* 

541.  (Aus  der  psychiatrischen  und  Nervenklinik  der  Uni¬ 
versität  Königsberg  i.  P.  —  Direktor:  Prof.  E.  Meyer.)  Die 
amnestische  und  zentrale  Aphasie  (Leitungsapha- 
sie.)  Von  Kurt  Goldstein.  Bei  einem  54jährigen  Manne  ent¬ 
wickelte  sich  allmählich  ein  Krankheitsbild,  welches  —  ab¬ 
gesehen  von  Kopfschmerzen,  Klopfempfindlichkeit  des  Schä¬ 
dels  in  der  linken  Schläfengegend,  zunehmender  Benommenheit, 
hauptsächlich  aphasische  Störungen  zeigte  und  zwar  eine  amne¬ 
stische  Aphasie,  zu  der  sich  später  Störungen  von  seiten  des 
zentralen  Sprachieldes  und  in  geringerem  Grade  auch  des  ße- 
griffsfeldes  hinzugesellten.  Die.  auf  Grund  der  angegebenen  Sym¬ 
ptome  und  verschiedener  Nebenumstände  gestellte  Diagnose  auf 
Tumor  des  linken  Schläfelappens  wurde  durch  die  Obduktion 
bestätigt.  Es  handelte  sich  um  einen  karzinomatösen  Tumor, 
der  Mark  und  Rinde  des  mittleren  linken  Schläfelappens  ergriffen 
und  zu  Volumsvergrößerung  und  Druck erscheinungen  in  der 
ganzen  linken  Hemisphäre  geführt  hatte.  Auf  Grund  der  genauen 
Analyse  des  Falles  erklärt  G  ol  ds  tein  die  anamnestisohe  Aphasie 
für  eine  klinisch  scharf  umschriebene  Aphasiefor'm,  entstanden 
durch  gleichzeitige  Läsion  des  Sprach-  und  Begriffsfeldes,  wo¬ 
durch  für  die  verschiedenen  Funktionen  des  Wiedererkennens 
und  der  Wortfindung  eine  sehr  verschiedene  Störung  bedingt 
wird,  woraus  die  Symptomatologie  der  amnestischen  Aphasie 
resultiert.  Letztere  kommt  entweder  durch  feinste  und  diffuse 
oder  durch  herdförmige  Läsionen  zustande,  wofern  diese  ge¬ 
eignet  sind,  gleichzeitig  eine  diffuse  Schädigung  weiterer  Ge¬ 
biete  zu  bewirken.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrank¬ 
heiten,  Bd.  48,  H.  1.)  S. 

♦ 


794 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  2ä 


542.  (Aus  der  chirurgischen  Abteilung  des  St.  Joseph-Hospi¬ 

tals  in  Wiesbaden.)  Ueber  den  Bauchdeckenschnitt  hei 
Blindarmoperationen.  Von  San.- Rat  Dr.  Hackenbruch. 
Verf.  empfiehlt,  zur  Ausführung  der  Appendektomie  den  kör¬ 
perqueren  Bauchschnitt  (beginnend  von  einer  körperqueren 
Eröffnung  der  vorderen  rechten  Rektusscheibe)  zu  verwenden, 
weil  ein  solcher  Schnitt  die  Aponeurosen  möglichst  in  deren 
Längsrichtung  trennt,  viel  weniger  lädiert  als  ein  Körperlängs¬ 
schnitt  und  später  viel  leichter  und  ohne  Spannung  wieder  ver¬ 
einigt  werden  kann.  Da.  ferner  die  Nerven  in  besagter  Gegend 
auch  quer  verlaufen,  so  wird  man  beim  Einschnitt  deren  Ver¬ 
letzung  mit  ziemlicher  Sicherheit  vermeiden  können.  Zudem  wird 
die  durch  den  queren  Hautschnitt  erzielte  Narbe  viel  weniger 
sichtbar  und  bleibt  für  die  Dauer  strichförmig,  Eigentümlich¬ 
keiten,  die  der  Körperlängsnarbe  in  solchen  Fällen  stets  zu  fehlen 
scheinen,  ln  dieser  Weise  hat  Verf.  bereits  80  Appendektomien 
ausgeführt.  Eine  ähnliche  Schnittführung  scheinen  auch  andere 
Chirurgen  (Wertheim  in  Warschau,  Krajewski  und  Ger- 
suny)  in  Gebrauch  zu  haben.  —  (Deutsche  medizinische  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  16.)  E.  F. 

* 

543.  v  (Aus  der  chirürg.  Klinik  in  Basel  —  früher  Professor 

Dr.  Wilms.)  Experimentelle  Untersuchungen  zur 
Frage  der  Fettembolie  mit  spezieller  Berücksich¬ 
tigung  prophylaktischer  und  therapeutischer 
Vorschläge.  Von  Dr.  Ernst  Frits  che.  Verf.  gelang  es  auf 
experimentellem  Wege  den  Beweis  zu  erbringen,  daß  die  Fett¬ 
embolie,  welche  sowohl  nach  Verletzungen  am  Knochen  (Frakturen- 
und  Quetschungen),  als  auch  nach  Operationen  (Osteotomie,  Re¬ 
dressement)  beobachtet  wurde,  auf  zweierlei  Wegen,  sowohl  durch 
die  Venen  als  auch  durch  die  Lymphwege  Zustandekommen  kann. 
Bei  blutigen  Verletzungen  konnte  die  Unterbindung  des  Ductus 
thoracicus  die  Fettembolie  nicht  verhindern,  sie  mußte  also  auf 
dem  Wege  der  Blutbahn  erfolgen,  hingegen  verhindert  die  Unter¬ 
bindung  des  Duktus  bei  Erschütterung  des  Knochens  durch  Be¬ 
klopfen  die  Fettembolie  auch  bei  nicht  unterbundenen  Venen;  ein 
Beweis,  daß  hier  das  Fett  durch  den  Ductus  thoracicus  dem  Blute 
zugeführt  wird.  Dementsprechend  würde  sich  eine  wirksame  Prophy¬ 
laxe  nur  auf  die  letzteren  Fälle  beziehen.  Beim  Menschen  liegen 
die  Fälle  aber  nicht  so  einfach  wie  im  Tierexperiment.  Die  meisten 
Frakturen  verlaufen  auch  gleichzeitig  mit  Erschütterung  des  Knochen¬ 
systems.  Immerhin  kann  angenommen  werden,  daß  im  Beginne 
der  Erscheinungen  die  Drainage  des  Duktus  die  Fettembolie  ver¬ 
hindern  wird,  die  Schwierigkeit  besteht  nur  im  frühzeitigen  Er¬ 
kennen  der  Symptome.  Wie  der  Fall,  den  Wilms  operierte,  be¬ 
weist,  ist  die  Operation  nicht  gefährlich,  da  der  Ausfluß  der  Lymphe 
nach  vier  Tagen  von  selbst  aufhörte.  Die  Technik  ist  einfach  ;  der 
Duktus  wird  bloßgelegt  und  vor  der  Eröffnung  desselben  eine 
Fadenschlinge  peripherwärts  um  denselben  umgelegt.  Dann  wird  der 
Duktus  eröffnet  und  die  fettreiche  Lymphe  fließt  ab.  Wenn  die  ge¬ 
fahrdrohenden  Erscheinungen  vorüber  sind,  wird  diese  Fadenschlinge 
geknotet  und  der  Lymphfluß  hört  auf.  Die  große  Zahl  der  Ana- 
stomosen  ermöglicht  eine  rasche  Ausbildung  eines  Kollateralkreis- 
laufes  und  macht  die  Unterbindung  des  Duktus  ungefährlich.  — 
(Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  107,  Nr.  4  bis  6.)  se. 

* 

544.  (Aus  der  akademischen  Klinik  für:  Kinderheilkunde  und 
der  Klinik  für  Infektionskrankheiten.  —  Prof.  Schloßmann.) 
Die  Sch  arlachthyr  eoiditis.  Von  Dr.  J.  Bauer,  Assistenz¬ 
arzt.  Bauer  gibt  eine  klinische  Beschreibung  dreier  Fälle  von 
Scharlachthyreoiditis,  die  er  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte. 
Daß  solche  Entzündungen  vorkom’men,  ist  zwar  schon  von  Roger 
und  Garnier  anatomisch  festgestellt  worden,  nirgends  findet  sich 
aber  eine  klinische  Beschreibung  einer  nicht  eitrigen  Thyreoi¬ 
ditis  nach  Scharlach.  Obwohl  es  sich  in  den  Fällen  Bauers 
nur  um  mäßige  Thyreoideaschwellungen  handelte,  ohne  jede  be¬ 
sondere  Krankheitserscheinung,  wie  sie  sonst  bei  Schilddrüsen¬ 
entzündungen  verzeichnet  werden,  so  war  eine  bloße  Kongestion 
der  Thyreoidea  doch  auszuschließen,  da  gleichzeitig  mit  der 
Schwellung  Temperaturerhöhung  und  Neuanschwellung  der  Hals¬ 
drüsen  parallel  einhergingen.  Die  Thyreoiditis  nach  Scharlach 
ist  jedenfalls  wie  andere  Nachkrankheiten  verschiedenster  Form 
bei  Scharlach  als  äquivalente  Erkrankung  (Schick)  zu  be¬ 


trachten.  Inwieweit  die  Scharlachthyreoiditis,  sowie  die  anderen 
einfachen  entzündlichen  Thyreoiditiden  nach  akuten  Infektions¬ 
krankheiten  zu  den  basedowoiden  Erkrankungen  im  späteren 
Kindesalter  in  Beziehung  zu  bringen  wären,  kann  allerdings  erst 
die  Zukunft  lehren.  —  (Monatsschrift  für  Kinderheilkunde  4911 

Bd.  9,  Nr.  10.)  K.  S.  ’ 

* 

545.  (Aus  der  chirurgischen  Klinik  zu  Greifswald.  —  Direk¬ 
tor:  Prof.  Dr-,  König.)  Ueber  ein  neues  Verfahren  zur 
Deckung  von  Trachealdef ekten.  Von  Priv.-Doz.  Doktor 
II  ohmei er,  1.  Assistenzarzt.  Frühere1  Untersuchungen  zeigten 
dem  Verfasser,  daß  die  Faszie  wegen  ihrer  Haltbarkeit  und  Wider¬ 
standsfähigkeit  ein  ausgezeichnetes  Material  zur  Plastik  darstelh. 
Er  benützte  zunächst  in  Tierversuchen  die  Faszientransplantation 
zur  Ueherbrückung  von  Defekten  der  Trachea,  Verf.  setzte  Hunden 
in  der  Mitte  zwischen  Ringknorpel  und  Jugulum  verschieden 
große  Defekte  in  der  vorderen  Trachealwand,  welche  mit  einem 
aus  dem  Sternokleidomasfoideus  entnommenen  Faszienlappen 
überbrückt  wurden.  Letzterer  mußte  so  groß  sein,  daß  er  den 
Defekt  auf  allen  Seiten  überragte,  so  daß  die  Ränder  des  Lappens 
auf  gesundem  Trachealgewehe  ruhten.  Die  Muskelfläche  der  Faszie 
wurde  dein  Lumen  zugewandt.  Um  das  Einslaugen  des  Lappens 
in  die  Trachea  zu  verhindern,  wurden  an  den  vier  Enden  Fixa¬ 
tionsnähte  angelegt;  dann  wurde  der  Lappen  ringsum  durch 
fortlaufende  Nähte  am  Rande  des  Trachealdef ektes  befestigt.  Als 
auch  jetzt  noch  bei  der  Atmung  der  Lappen  leicht  in  die  Trachea 
eingezogen  wurde,  wurden  die  Ränder  des  Lappens  angespannt 
und  weiter  vom  Defekt  entfernt  durch  eine  zweite  fortlaufende 
Naht  au  das  Perichondrium  der:  Luftröhre  befestigt.  Darauf  legt. 
Yerf.  besonderes  Gewicht.  Nach  Befestigung  der  Faszie  Ver¬ 
einigung  der  Halsmuskulatur  und  Schluß  der  Wunde.  Diese  Plastik 
wurde  in  neun  Fällen  ausgeführt.  Acht  Tiere  wurden  nach  Wochen 
getötet  und  die  Halsorgano  untersucht.  Der  Defekt  war  in  allen 
Präparaten  überspannt  von  glänzend  weißer  Faszie,  die  mit  üer 
Unterlage  fest  verwachsen  ist.  Wie  ein  glatter  Deberzug  zieht 
sie  auf  den  Knorpel  über.  Der  Lappen  ist  von  zahlreichen  kleinen 
Gefäßen  durchzogen,  die  vom  Perichondrium  ihren  Ursprung 
nehmen.  1  cm  unterhalb  des  Defektes  ist  eine  starke  Gefäß- 
entwicklung  zu  sehen.  Die  Oberfläche  des  Faszienlappens  ist 
ganz  glatt.  Bei  den  Präparaten,  bei  denen  die  Faszie  durch 
zwei  fortlaufende  Nähte  stärker  angezogen  ist,  ist  der  ganze 
Faiszienlappen  mit  Schleimhaut  überdeckt.  Eine  Entzündung  in 
der  Uipgebung  der  eingepflanzten  Faszie  ist  in  keinem  Falle 
feistzustellen.  Mikroskopisch  sieht  man  deutlich,  daß  das  Peri¬ 
chondrium  die  Hauptstütze  für  den  überpflanzten  Lappen  ahgibt 
und  für  seine  Ernährung  Sorge  trägt.  Verf.  hat  durch  diese 
Experimente  nachgewiosen,  daß  Defekte  der  Trachea  sich  in  aus¬ 
gezeichneter  Weise  durch  freie  Faszientransplantation  überbrücken 
lassen.  Sorgfalt  ist  nach  seinen  Beobachtungen  auf  die  Vereini¬ 
gung  der  Faszie  mit  dem  Perichondrium  zu  legen.  Wichtig  ist 
ferner,  die  Faszie  mit  der  Muskulatur  zu  bedecken.  Ein  freies 
Liegenbleiben  des  Lappens  oder  Auflegen  eines  Gazestreifens 
auf  denselben  würde  zur  Austrocknung  und  Gewebsschädigung 
führen.  Die  Faszie  bleibt,  nach  einer  zwölf  Wochen  dauernden 
Beobachte  ngszeit  des  Verfassers,  fast  unverändert  erhalten.  Eine 
wesentliche  Verkleinerung  des  Defektes,  die  zu  einer  Verengerung 
der  Trachea  führen  könnte,  tritt  nicht  ein.  Atmungsstörungen  durch 
Einziehung  des  Lappens  sind  bei  richtiger  Technik  nicht  zu 
fürchten.  Die  Operation  ist  durchaus  einfach.  Verfasser  hatte  bis 
her  keine  Gelegenheit,  diese  Methode  der  freien  Faszienübertragung 
bei  Traehealdefekten  an  einem  Patienten  zu  erproben,  hält  sich 
aber  nach  den  durch  die  Experimente  gewonnenen  Erfahrungen 
für  durchaus  berechtigt,  die  Anwendung  dieser  einfachen  Tra- 
chealplastik  auch  für  den  Menschen  zu  empfehlen.  — •  (Münchener 

medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  18.)  G- 

* 

546.  (Aus  d  er  psychiatrischen  und  Nervenklinik  zu  Greifs¬ 
wald.)  Ueber  Assoziationen  bei  Dementia  praecox.  Von 
Otto  Markus.  Ueber  Assoziationen  bei  Dementia  praecox  ist 
bisher  wenig  bekannt,  zum  mindesten  wurde  bisher  noch  nie 
der  Versuch  unternommen,  eine  umfassende  Betrachtung  der  Er¬ 
scheinungen  anzustellen,  die  bei  den  Assoziationen  der  Dementia 
praieeox-K ranken  zutage  treten.  Verf.  war  nun  bemüht,  diese 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


795 


Lücke  auszufüllen.  Es  geht  aber  aus  seinen  fleißigen  Bemühun¬ 
gen  leider  nur  hervor,  daß  der  Wert  des  Assoziationsexperimentes 
bei  der  Anwendung  des  letzteren  in  Fällen  von  Dementia  prae¬ 
cox  in  diagnostischer  und  psychologischer  Hinsicht  ein  recht 
bedingter  ist  und  zu  Erwartungen  neuer  Errungenschaften' 
auf  dem  Gebiete  dieser  Psychose  nicht  berechtigt.  —  (Archiv 
für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten,  Bd.  48,  H.  1.)  S. 

* 

547.  Die  Behandlung  der  Wanderniere.  Von  Professor 
Dr.  F  ii  r  b  ri  nger  in  Berlin.  In  einem  klinischen  Vortrage  besprach 
Verl,  vorerst  die  Aetiologie  dieses  Leidens  mit  seinen  vielgestal¬ 
tigen  Beschwerden,  er  wies  dabei  auf  die  auf  ererbte  Disposition 
und  ,auf  die  viel  häufigeren,  durch  mechanische  Ursachen  er¬ 
worbene  Formen  der  Nephroptose  hin  und  erklärte  im  allgemeinen 
als  den  bedeutungsvollsten  Faktor,  der  für  unser  therapeutisches 
Handeln  gar  nicht  hoch  gewürdigt  werden  könne,  die  Insuffi¬ 
zienz  der  Bauchmuskulatur.  Schon  die  Prophylaxis  gipfelt 
in  der  Kräftigung  der  Muskeln  unter  besonderer  Berücksichtigung 
der  abdominalen,  also:  Bewegung  im  Freien  (Spaziergänge  und 
leichtere  Sportarten),  vorsichtige  Turnübungen  (schwedische  Heil¬ 
gymnastik),  örtliche  Faradisation  und  Massage,  hydropathische 
Methoden  usw.  Die  aus  gebildete  Wanderniere  bedarf,  wenn 
sie  symptomlos  verläuft,  keiner  Behandlung ;  allenfalls  beruhige 
man  den  Kranken  mit  dem  Hinweise  auf  die  relative  Gefahrlosig¬ 
keit  des  Leidens.  Sind  die  Bauchdecken  sichtlich  schlaff,  so 
sollte  man  die  bewegliche  Niere  in  ihrer  normalen  Lage  durch 
dauernd  zu  tragende  Bandagen  (Bauchbinden)  immobilisieren, 
was  in  der  Mehrzahl  der:  unkomplizierten  Fälle  auch  gelingt. 
Wenn  auch  nicht  Heilung,  so  wird  zumeist  eine  hervorragende 
Palliativwirkung  erreicht.  Man  muß  dabei  einen  den  ganzen 
Unterleib  betreffenden,  von  unten  vorne  nach  oben  hinten 
wirkenden  Druck  ausüben  und  dadurch  die  Niere  indirekt,  das 
ist  vermöge  der  unter  ihr  lagernden  Bauchkontenta,  heben.  Binden 
mit  Pelotten,  welche  direkt  auf  die  Nierengegend  einwirken  sollen, 
leisten  schon  weniger.  Der  Vortragende  empfahl  zu  diesem 
Zwecke  eine  Reihe  von  Binden  (die  K 1  a, es s- Barde nheu er¬ 
sehe  „Universalleibbinde“,  Senators  „Badehose“  mit  breitem, 
elastischem  Bauchteil,  Ostertags  Binde  „Monopol“,  die  Binden 
von  Teufel  oder  Philipp,  das  Israel  sehe  Korsett,  den  ein¬ 
fachen  Glenardschen  Gurt,  Stef  fecks  „hypogastrische  Gurt¬ 
leibbinde“  u.  a.).  Oft  genug  genügt  eine  schlichte,  breite,  in  den 
trüberen  Partien  besonders  festsitzende  Drillichbinde  mit  einge¬ 
setzten  elastischen  Streifen,  zumal  wegen  ihrer  Billigkeit  für  die 
arbeitende  Klasse.  Je  leichter  und  einfacher,  um  so  besser  ist  die 
Binde.  Nachts  sind  die  Bandagen  abzulegen.  Manchmal  (krumme 
Rückenhaltung)  muß  ein  Apparat  zur  Streckung  der  Wirbelsäule 
angewandt  werden.  Der  Vortragende  besprach  sodann  den  Wert 
einer  längeren  Liegekur  auf  dein  Rücken  und  bekannte,  daß  er 
selbst  kaum  einem  einwandfreien  Fall  von  Festwachsen  der  repo- 
nierten  Niere  auf  diese  Weise  erlebt  habe.  Zeitweise  ruhige 
Rückenlage  beseitigt  immerhin  die  oft  genug  exazerbierenden 
Schmerzen.  Ueber  Straßers  Belastungskur  (täglich  stunden¬ 
langes  Auflegen  eines  fünf  Pfund  schweren  Sandsackes  auf  den 
Unterleib  bei  Rückenlage  mit  erhöhtem  Kreuz),  welches  Ver¬ 
fahren  die  Enteroptose  gut  beeinflussen  soll,  fehlen  dem  Vor¬ 
tragenden  eigene  Erfahrungen.  Die  oft  gerühmte  Mastkur  nützt 
wohl  bei  Neurasthenischen  und  Hysterischen  mit  weitgehender 
Unterernährung,  bietet  aber  sonst  wenig  Vorteile,  sie  schadet 
ur  einzelnen  Fällen,  da  nun  Lipomato.se  und  Mastherz  dazu 
kommen,  darf  also  nur  mit  Vorsicht  herangezogen  werden.  Auch 
mit  der  intensiveren  Massage  der  gelockerten  Niere  sei  man  sehr 
vorsichtig,  soll  nicht  eine  arge  renalpalpatorische  Albuminurie 
und  Hämaturie  riskiert  werden.  Man  bewahre  den  Kranken  vor 
ungeübten  oder  gar  brutalen  Händen.  Dies  gilt  besonders  auch 
von  der  Thnre-Brandtschen  „Untemiereinzitterdrückung“.  Im 
weiteren  besprach  der  Vortragende  die  operative  Fixation  der 
Niere  (nur  bei  großen  Beschwerden  und  starker  Herabsetzung 
der  Arbeitsfähigkeit)  und  führte  aus,  daß  die  Nephrorrhaphie  wohl 
augenblicklich  in  einem  hohen  Prozentsätze  der  Fälle  vorzügliche 
Resultate  liefere,  aber  schon  einen  geringeren  Betrag  von  Dauer¬ 
erfolgen,  zudem— euch  Mißerfolge  und  schließlich  nicht  absolute  j 
Gefahrlosigkeit  gewährt.  Er  selbst  erlebte  einen  Todesfall  bei  | 
einem  blühenden  jungen  Mädchen,  das  er  einem  besonders  ge-  I 


übten  Chirurgen  überwiesen  hatte.  Da  aber  von  der  jüngstens 
geübten  Nephropexie  ca.  65%  endgültige  Heilungen,  die  sich 
für  viele  Jahre  behauptet  haben,  gemeldet  werden,  so  ist  sie 
unter  allen  Umständen  ein  verdienstvolles  Werk.  Bleibt  der  Er¬ 
folg  des  Eingriffes  aus,  so  kann  er  wiederholt  werden  (Read- 
lixio).  Zum  Schlüsse  besprach  der  Vortragende  noch  die  eine 
Nephropexie  ungünstig  beeinflussenden  Komplikationen  (Gallen¬ 
steine,  Appendizitis,  Nierensteine  usw.),  er  berührte  die  schweren 
und  gefahrdrohenden  Die  tischen  „Einklemmungserscheinungen“, 
welche  durch  lorsion  des  Harnleiters,  Perinephritis,  Verstopfung 
des  Dieters  durch  Llutkoagula  usw.  bedingt  sein  können,  gegen 
welche  strenge  Bettlage,  fortgesetzte  (kalte  oder  warme)  Um¬ 
schläge,  knappe  Diät,  eventuell  auch  Opium  und  in  letzter  Reihe 
die  Nephropexie  empfohlen  werden.  —  (Deutsche  medizinische 
Wochenschrift  1911,  Nr.  18.)  E.  F. 

* 

548.  (Aus  delm  Kaiserin  Augusta  Viktoria -Haus  in  Char¬ 
lottenburg.  —  Direktor :  Prof.  K  e  1 1  e  r.)  Z  u  r  F  r  a  g  e  d  e  r  B  u  1 1  e  r- 
milcbennährung  des  Säuglings.  Von  Privatdozent  Doktor 
N.  Mens ch ik of i- Kasan.  Die  Ueberlegenheit  der  Buttermilch, 
die  sich  bei  gewissen  neugeborenen  und  frühgeborenen  Kindern 
gegenüber  den  fetthaltigen  Nahrungsgemischen  findet,  hat  nicht 
ihren  Grund  darin,  daß  die  Buttermilch  eine  saure  Nahrung  ist, 
auch  nicht  darin,  daß  den  Kindern  das  fettspaltende  Ferment  in 
genügendem  Maße  zur  Verfügung  steht,  sondern  der  Grund  liegt 
wahrscheinlich  darin,  daß  die  Buttermilch  als  kohlehydratreiche 
Nahrung  besser  ausnutzbar  ist  als  die  fetthaltigen  Gemische.  — 
(Monatsschrift  für  Kinderheilkunde  1910,  Bd.  9,  Nr.  9.)  K.  S. 

* 

549.  (Aus  dem  klinischen  Ambulatorium'  für  Nervenkrank¬ 
heiten  in  Wien.  —  Hofrat  Prof.  v.  Wagner.)  1.  Scoliosis 
hysterica;  2.  Atrophie  bei  zerebraler  Hemiplegie; 
3.  Medianus  Verletzung.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Alfred  Fuchs, 
klin.  Assistent.  Im  ersten  Falle  handelt  es  sich  um  eine  Scoliosis 
hysterica  bei  einem  22jährigen  Studenten.  Die  von  Riebet  be¬ 
schriebene  und  als  Station  hanchee  bezeichncte  Stellungsanomalie 

Hinaufziehen  der  Hüfte,  so  daß  der  eine  Fuß,  nur  mit  der 
Spitze  den  Boden  berührt  —  ist  deutlich.  Tic  der  Hals-  und 
Schultermuskeln,  ebenso  im  Akzessorius-  und  Fazialisbereich. 
Die  Störungen  waren  im  September  1909  akut  aufgetreten  und 
persistieren  seitdem.  —  Im  zweiten  Fälle  handelt  es  sich  um 
eine  Atrophie  der  linken  Körperhälfte  bei  einem  22jährigen  Manne 
nach  einem  im  Alter  von  15  Jahren  erlittenen  Schädeltrauma. 
Aus  dein  Befunde  geht  hervor,  daß  die  hochgradige  Atrophie 
der  linken  Schulter  und  der  linken  oberen  Extremität  als  zere¬ 
brale  Hemiplegie  mit  Atrophie  der  gelähmten  Muskeln  anzu¬ 
sprechen  ist.  —  Im!  dritten  Falle  handelt  es  sich  um  eine 
Verletzung  des  Nervus  medianus  durch  einen  als  Projektil  wir¬ 
kenden  Eisensplitter.  Das  Eisenstück  lag,  wie  die  spätere  Opera¬ 
tion  erwies,  akn  Nervus  imedianus  und  hatte  ihn  zur  Hälfte 
verbrannt.  Die  Folge  war  eine  motorische  und  sensible  Lähmung 
des  Nervus  medianus  gewesen.  —  (Jahrbücher  für  Psychiatrie 
und  Neurologie,  Bd.  32,  H.  1  und  2.)  S. 

* 

550.  Ein  Fall  von  Vagit  ns  uterinus.  Von  Dr.  Julius 
Rothschild,  Assistenten  an  der  Provinzial-Hebamlnenlehranstalt 
in  Breslau  (Direktor:  Dr.  Bau  mm).  Dia  das  Phänomen  des 
intrauterinen  Kindesschreies  sehr  selten  ist  und  von  manchen 
Aerzten  noch  bezweifelt  wird,  teilt  Verfasser  eine  eigene  Beob¬ 
achtung  mit.  Wegen  schwacher  Wehen  bei  vor  17  Stunden  er¬ 
folgtem  Blasen  sprung  und  hoher  Steißlage  sollte  die  Extraktion 
mit  der  Naeg eieschen  Kopfzange,  eventuell  die  Extraktion  am 
herabgeholten  vorderen  Fuße  bewerkstelligt  werden.  Beim  Ein¬ 
führen  der  Zange  und  auch  als  die  Zange  ins  Schloß  gebracht 
wurde,  hörte  man  deutlich  Luft  in  die  Vulva  einströmen.  Beim 
Zu sammen p ressen  der  Zange  hörte  Verfasser  deutlich  einen 
gellenden  kurzen  Kindesschrei.  Beim  zweiten  Fassen  der  Zange 
ertönte  von  neuem  ein  Schrei  aus  dem  Uterus.  Die  Schülerin 
glaubte,  „eis  sei  vom  Darin  gewesen“.  Da  nun  höchste  Eile 
nottat,  wurde  die  Zange  entfernt,  der  Fuß  herabgeholt.  Als  Ver¬ 
fasser  aber  den  Fuß  fest  anzog,  erscholl  ein  so  lautes,  etwa  eine 
Sekunde  anhaltendes  Schreien  des  Kindes  im  Uterus,  daß  es 
alle  Anwesenden  als  solches  erkannten  und  sich  darob  verw.un- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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dorten .  Das  Kind  schrie  auch  sofort,  als  sein  Mund  über  den 
Damm  rollte.  Der  Fall  verlief  für  die  Mutter  günstig,  das  Kind 
lebte  noch  vier  Wochen  nach  der  Geburt.  Der  Vagitus  uteri  nus 
entsteht,  wenn  die  Blase  gesprungen  ist  und  Luft  in  die  Gebär¬ 
mutterhöhle  und  bis  zum  Munde  des  Kindes  eindringt.  Dazu 
muß  nach  Bucura  noch  eine  vorübergehende  Störung  des  Pla¬ 
zentarkreislaufes  und  Kohlensäureüberladung  des  kindlichen 
Blutes  mit  ihren  weiteren  Folgen  kommen.  Die  Prognose  solcher 
Fälle  ist.  nicht  ungünstig,  die  Therapie  wird,  wenn  irgend  mög¬ 
lich,  in  der  sofortigen  Entbindung  bestehen  müssen.  Jeder  wei¬ 
tere  intrauterine  Schrei  kann  das  Kind  durch  Aspiration  von 
Fruchtwasser  und  Kindspech  mit  nachfolgender  Bronchopneumonie 
in  höchste  Lebensgefahr  bringen.  —  (Deutsche  medizinische 

Wochenschrift  1911,  Nr.  18.)  E.  F. 

* 

551.  (Aus  der  psychiatrischen  Klinik  zu  Breslau.  Geheim¬ 
rat  Bonhoeffer  —  und  aus  der  psychiatrischen  Klinik  zu 
Bonn  —  Professor  Westpha,l.)  lieber  periodisches 
Schwanken  der  Hirnfunktion.  Von  Privatdozent  Doktor 
Georg  Stertz.  Das  oft  zu  beobachtende,  auffallende  Schwanken 
der  allgemeinen  Ansprechbarkeit  bei  organisch  Hirnkranken  und 
bei  anderen  Benommenheitszuständen,  wobei  einfache  Ermüdungs¬ 
erscheinungen  vollkommen  ausgeschlossen  sind,  ist  in  bezug  auf 
seine  näheren  Umstände  und  seine  Grundlagen  bisher  wenig 
bekannt.  Es  war  daher  eine  dankenswerte  Arbeit,  eine  Reihe 
eigenartiger  Zustände  von  periodischem  Schwanken  der  Hirn¬ 
funktion  mitzuteilen  und  die  Grundlagen  desselben  zu  erwägen. 
Dabei  fand  Verfasser  Gelegenheit,  auf  die  Berührungspunkte  dieser 
Schwankungen  der  Hirnfunktion  zu  dem  ,,  intermittierenden 
Hinken“  im  Sinne  Dejerines  und  Grassets  einzugehen,  ferner 
auf  die  Beziehungen  zu  den  eingangs  angedeuteten  Bewußtseins¬ 
schwankungen  mancher  organisch  Benommener  und  zu  gewissen 
auf  dem  Boden  von  Neurosen  erwachsenden  Bewußtseinsände¬ 
rungen.  Die  Ausführungen  des  Verfassers  dürfen  die  Aufmerksam¬ 
keit  der  engeren  Fachgenossen  um  so  mehr  beanspruchen,  als 
in  der  deutschen  Literatur  zur  gegenständlichen  Frage  noch  nie 
Stellung  genommen  wurde  und  es  ist  nur  zu  wünschen,  daß  die 
vorliegende  Arbeit  zur  weiteren  Forschung  auf  diesem  Gebiete 
und  zur  Vermehrung  der  Kasuistik,  sowie  zur  endlichen  Klärung 
der  hier  in  Betracht  kommenden  symptomatologischen  und  ätio¬ 
logischen  Beziehungen  anregt.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und 

Nervenkrankheiten,  Bd.  48,  H.  1.)  S. 

* 

'  552.  Beiträge  zur  klinischen  Bedeutung  der  Endo¬ 
skopie  der  unteren  Luftwege.  Von  Dr.  A.  Ephraim  in 
Breslau.  Eine  Reihe  sehr  interessanter  Fälle,  deren  Leiden  auf 
diesem  Woge  aufgedeckt  wurde.  1.  Hämoptoe  bei  einem  23  Jahre 
alten  Mädchen,  das  blühend  aussieht,  aus  unbekannter  Ursache; 
endoskopische  Diagnose  eines  primären  Bronchialtumors;  Probe¬ 
exzision  :  Sarkom.  In  vivo  ist  es  wohl  bisher  noch  niemals  ge¬ 
lungen,  einen  derartigen  Tumor  im  Anfangsstadium  mit  solcher 
Sicherheit  zu  erkennen,  wie  es  hier,  wo  weder  die  gewöhn¬ 
lichen  Untersuchungsmethoden,  noch  die  Röntgenographie  die 
Diagnose  ermöglichten,  allein  die  Bronchoskopie  gestattet  hat. 
Die  regelmäßigen  Blutungen  haben  seit  der  Aetzung  mit  Chrom- 
säujrlei  alüfgehört,  doch  dürfte  die  Prognose,  trotz  Arsen  und 
Röntgenbestrahlung,  eine  infauste  sein.  —  2.  Geringe,  in  Inter¬ 
vallen  auftretende  Hämoptysis,  anscheinend  auf  der  Basis  von 
Lungentuberkulose  bei  einem  58  Jahre  alten  Manne;  endosko¬ 
pische  Diagnose:  Lungenkarzinom.  Die  Symptome  (Bluthusten, 
Nachtschweiße,  starke  Abmagerung,  geringe  Kurzatmigkeit,  jm 
linken  Oberlappen  stark  verschärftes  Inspirium  und  geringe  Däm¬ 
pfung)  wiesen  trotz  des  Fehlens  von  Tuberkelbazillen  im  Sputum 
auf  Lungentuberkulose  hin,  die  Bronchoskopie,  die  Exzision  eines 
erbsengroßen  Stückchens  aus  der  lateralen  Wand  des  verdickten 
linken  Bronchus  ergab  den  sehr  seltenen  Befund  eines  Platten¬ 
epithelkrebses.  —  3.  Seit  drei  Jahren  bestehende  periodische 
Hämoptoe  unbekannten  Ursprunges.  Im  Sommer  1910  hatte  der 
60jährige  Mann  eine  Attacke,  während  deren  er  acht  Tage  lang 
täglich  einen  halben  Liter  Blut,  später  weniger  ausgehustet  hatte. 
Bei  der  Bronchoskopie  sah  man  in  der  Tiefe  des  linken  Bronchus 
eine  größere  Menge  Blut,  sodann  sehr  starke  Venektasien  an  der 
hinteren  Trachealwand,  dicht  unterhalb  der  hinteren  Kehlkopf¬ 


wand.  Die  Röntgenaufnahme  ergab  normalen  Befund.  Bepinsehmg 
der  varikösen  Stelle  in  der  Trachea  mit  der  Chromsonde.  Seit¬ 
her  (anfangs  November  1910)  ist  die  Blutung,  bis  auf  ganz  ge¬ 
ringen  Blutauswurf  um  die  Weihnachtszeit  im  Anschluß  an  einen 
starken  Influenzakatarrh,  nicht  wiedergekehrt.  Diese  drei  Fälle 
haben  auch  den  Wert,  daß  sie  lehren,  daß  die  Hämoptoe  nicht 
nur  keine  Kontraindikation  für  die  Tracheobronchoskopie,  daß  sie 
vielmehr  geradezu  angezeigt  und  zulässig  sei,  indem  eine  rite 
ausgeführte  Bronchoskopie  im  allgemeinen  ohne  erheblichen 
Husten  und  Würgen  der  Kranken  abläuft.  Besondere  Reizbarkeit 
ließe  sich  durch  Morphium  herabsetzen.  Blutungen  aus  trachea- 
len  Venektasien  sind  besonders  bei  jugendlichen  Personen  wieder¬ 
holt  beschrieben  worden,  deren  Erkennung  mit  dem  Spiegel  ist 
nicht  immer  möglich,  wie  auch  im  dritten  Falle.  Da  es  frag¬ 
lich  ist,  ob  solche  Fälle  nicht  viel  häufiger  sind,  so  sollen  Pa¬ 
tienten  mit  Blutungen  unbekannten  Ursprunges  häufiger  der 
bronehoskopischen  Untersuchung  zugeführt  werden.  —  4.  Dyspnoe 
bei  Struma,  hervorgerufen  durch  Bronchostenose.  Ein  I8jähriges 
Mädchen  hatte  eine  große,  mittelweiche,  symmetrische  Struma. 
Bei  tiefer  Atmung  in-  und  exspiratorischer  Stridor.  Die  endo¬ 
skopische  Unterschung  zeigte  nicht  die  erwartete  Trachealstenose, 
das  Lumen  der  Trachea  war  vielmehr  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung 
normal.  Als  Ursache  der  Dyspnoe  wurde  gefunden:  Die  Bifurka¬ 
tion  hatte  statt  ihrer  spitzwinkeligen  Form  die  eines  breiten 
Sattels  und  verengerte  die  Mündung  der  beiden  Hauptbronchen 
außerordentlich.  Offenbar  handelte  es  sich  hier  um  starke  Schwel¬ 
lung  der  intrabifurkalen  Drüsen.  Bei  Röntgenaufnahme  normaler 
Befund,  die  Gegend  der  Bifurkation  ist  im  Röntgenbild  nicht 
sichtbar.  Auf  körperliche  Ruhe  und  Jod  besserten  sich  die  Be¬ 
schwerden.  —  5.  Dyspnoe  und  Rekurrenslähmung  bei  Struma, 
bedingt  durch  ein  Aortenaneurysma.  Ohne  endoskopische  Unter¬ 
suchung  hätte  man  wohl  die  Diagnose  auf  Kompression  des  Re- 
kurrens  und  der  Luftröhre -durch  den  taubeneigroßen,  ganz  harten 
Strumaknoten  stellen  müssen,  erst  die  Untersuchung  deckte  das 
Aneurysma  auf.  —  6.  Aortenaneurysma  oder  Mediastinaltumor? 
Ein  in  differentialdiagnostischer  Hinsicht  interessanter  Fall,  bei 
welchem  auch  das  Röntgenbild  keinen  Aufschluß  gab.  Der  Fall 
eignet  sich  nicht  zu  einem  kurzen  Referate.  Auch  hier  gab  die 
Endoskopie  bedeutsame  Aufschlüsse  über  gewisse  Veränderungen, 
deren  Erkennung  auf  keine  andere  Weise  möglich  war.  —  (Medi¬ 
zinische  Klinik  1911,  Nr.  18.)  E.  ®VjS 

* 

553,  (Aus  dem  Kaiserin  Augusta  Viktoria- Haus  zur  Be¬ 
kämpfung  der  Säuglingssterblichkeit  im  Deutschen  Reiche.  - 
Direktor:  Prof.  Keller.)  Zur  Physiologie  des  Neugebo¬ 
renen.  lieber  die  Dauer,  die  Größe  und  den  Verlauf 
der  physiologischen  Abnahme.  Von  Dr.  W.  Pies.  Die 
Erfahrungen  Pies’  stehen  im  Widerspruch  mit  der  allgemeinen 
Meinung,  daß  die  physiologische  Abnahme  unter  normalen  Ver¬ 
hältnissen  bis  zum  zehnten  Tage  ausgeglichen  sein  muß.  Nur 
bei  11%  der  Kinder  des  Pi  es  sehen  Gesamtmateriales  war  dies 
der  Fall,  dagegen  erreichten  auch  jene  Kinder,  welche  nicht  wegen 
mangelhafter  Ernährung  oder  anderer  Umtetände  außer  Betracht 
gekommen  waren,  erst  durchschnittlich  am  22.  Lebenstage  wiodei 
ihr  Anfangsgewicht.  Als  physiologisch  hätte  demnach  nicht  bloß 
der  Verlauf  der  Gewichtsabnahme  und  Zunahme  der  Neugeborenen, 
entsprechend  der  B u  di  n sehen  Kurve  unter  einem  spitzen  Winkel 
zu  gelten,  sondern  auch  ein  mehr  rechtwinckliger  oder  bogen¬ 
förmiger  Verlauf  der  Kurve,  wobei  das'  Kind  viel  später,  oft  erst 
nach  Wochen,  sein  Anfangsgewicht  erreicht.  Eine  zweite  Ge¬ 
wichtsabnahme  (G r  eg  o r  y,  L  an  d  o i  s)  oder  längerer  Stillstand 
in  dieser  Kurve,  hält  aber  auch  Pies  nicht  mehr  für  physio¬ 
logisch.  -  (Monatsschr.  für  Kinder  hei  lk.  1910,  Bd.  9,  Nr.  9.)  IV 

* 

554.  Zur  operativen  Behandlung  des  Hirnschlags. 
Von  Dr.  Hans  I  sei  in,  I.  Assistenten  der  chirurgischen  Klinik 
in  Basel  (Prof.  Dr.  Quervain).  Prof.  Franke  hat  im  Vorjahre 
vorgeschlagen,  beim  Hirnschlag  den  Bluterguß  frühzeitig,  das 
heißt  innerhalb  der  ersten  zwölf  Stunden,  zu  entfernen,  das 
Blut  durch  Hirnpunktion  abzuleiten.  Er  schlug  vor,  mit  der  Punk¬ 
tionsnadel  als  Mandrin  eine  seitliche,  mit  Löchern  versehene, 
feinste  Kanüle  in  das  Hirngewebe  einzuführen  und  darin  liegen 
zu  lassen,  oder  durch  die  Trepanation  dem  Blute  Abfluß  zu  ver- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


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schaffen,  indem  man  in  den  Blutungsherd  ein  Gummirohr  einlegt. 
Franke  hofft,  durch  dieses  Vorgehen  eine  starke  Druckzunahme, 
eine  ausgedehnte,  allmählich  entstehende  Durchblutung  der  Ge¬ 
hirnsubstanz  und  endlich  auch  die  chemisch  schädigende  Wirkung 
der  Hämorrhagie  zu  vermeiden.  Nicht,  um  diesen  Rat  zu  be¬ 
folgen,  sondern  unfreiwillig  hat  Verf.  in  einem  Falle  (62jäh- 
riger  Mann  mit  Erscheinungen  eines  subduralcn  Hämatoms  und 
Hirnquetschung  oder  Apoplexie),  der  tatsächlich  eine  Apoplexie 
aufwies  (Sektion),  etwa  drei  Stunden  nach  dem  erlittenen  Un¬ 
fälle  trepaniert  und  hat  während  der  Operation  nach  Entleerung 
einer  blutigen  Flüssigkeitsansammlung  unter  der  Dura  und  im 
Anschluß  an  eine  Ventrikelpunktion,  d.  h.  nach  der  völligen 
Druckentlastung,  nachdem  das  Hirn  wieder  angefangen  hatte, 
zu  pulsieren  und  das  Bewußtsein  wieder  zurückgekehrt  war 
eine  erneute  Blutung  in  das  Gehirn  und  in  die  Ven¬ 
trikel  von  ungeahnter  Wucht  mit  Exitus  in  24  Stunden 
eintreten  sehen.  Der  Verfasser  bespricht  die  Einzelheiten  seines 
Falles,  erwähnt,  daß  der  Vorschlag  Frankes  nicht  neu  sei 
und  erörtert  einen  anderen  Vorschlag,  bei  Apoplexien  die  Karotis 
der  betroffenen  Seite  zu  unterbinden.  Wiewohl  Frankes  und 
Verfassers  Fall  tödlich  verliefen,  möchte  Verf.  den  Ratschlag 
Frankes  dennoch  nicht  gänzlich  abweisen.  Nach  der  Entlastung 
des  Hirns  kehrte  hei  seinem  Operierten  das  Bewußtsein  wieder 
mul  man  kann  bedenken,  oh  nicht  die  Ventrikelpunktion  zuviel 
war.  Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  ohne  die  Ventnfcelpunk- 
tion  die  auffallende  Besserung,  welche  schon  der  einfachen  Ent¬ 
leerung  des  subduralen  Flüssigkeitsergusses  gefolgt  war,  von  län¬ 
gerer  Dauer  geblieben  wäre.  In  Fällen  von  Jack  son  scher  Rinden¬ 
reizung  sollten  die  Chirurgen  versuchen,  mit  der  Trepanation 
,len  Zustand  des  Apoplektikers  zu  verbessern.  Hiebei  sind  auch 
schon  Heilungen  erzielt  worden.  Auch  die  Trepanation  der  Pachy¬ 
meningitis  haemorrhagica  wäre  nach  den  günstigen  Resultaten 
von  Prof,  de  Quervain,  Marion  u.  a.  zu  versuchen. 
(Deutsche  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  18.)  E.  F. 

* 

555.  Eine  ungewöhnlich  starke  Reaktion  auf  An¬ 

wendung  der  Methoide  nach  Tou  louse- Rieb  et  bei 
einem  alten  Epilepsiefall.  Von  Dr.  Wern.  II.  Becker. 
Die  Methode  nach  Toulouse-Riehe t  besteht  darin,  daß  die 
Chlorsalze  in  der  Nahrung  des  Epileptikers  ganz  oder  teilweise 
durch  Bromsalze  ersetzt  werden.  In  einem  so  behandelten  Falle, 
eine  48jährige  Frau  betreffend,  sah  Verf.,  obwohj.  nach  seiner 
Berechnung  lediglich  1-5  g  Chlornatrium  durch  das  ebenso  große 
Quantum  Bromnatrium  ersetzt  wurden,  einen  äußerst  ungünstigen 
Einfluß  auf  die  Psyche  der  Patientin,  weshalb  er  die  obere 
Grenze  der  substituierten  Bromnatriumdosis  pro  die  hei  obiger 
Methode  herabgesetzt  zu  sehen  und  die  Anwendung  dieser  Be¬ 
handlungsart  der  Epilepsie  auf  die  Anstalten  beschränkt  wünscht. 
—  (Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie  und  psychisch-gericht¬ 
liche  Medizin,  Bd.  68,  H.  2.)  S. 

♦ 

556.  lieber  Fibrolyisin,  seine  Wirkung,  Neben¬ 
wirkungen  und  rektale  Anwendung.  Von  Dr.  Felix  Men 
del  in  Essen  (Ruhr).  Da.s  Fibrolysin,  eine  chemische  Verbindung 
von  Thiosinamin  und  Natrium  salicylicum,  in  W  asser  leicht  lös¬ 
lich,  schmerzlos  in  der  Anwendung,  wurde  vom  Verfasser  1905  an¬ 
gegeben  und  in  die  ärztliche  Praxis  eingeführt.  Es  greift  neu¬ 
gebildete  Bmdegewebssbstanz  an,  daher  seine  Wirksamkeit  auf 
Narbengewebe,  das  bei  längerer  Anwendung  des  Mittels  aufquillt 
und  zur  Erweichung  kommt.  Starkenstein  hat  durch  Lahora- 
tori  ums  versuche  nachgewiesen,  daß  das  Fibrolysin  die  Umwand¬ 
lung  von  Kollagen,  dem  Hauptbestandteil  des  Bindegewebes,  in 
Leim  zu  fördern  vermag  und  daraus  den  Schluß  gezogen,  daß 
diese  Fähigkeit  vielleicht  neben  anderen  die  eigentliche  Heil¬ 
wirkung  des  Fibrolysins  bedingt.  Der  Verfasser  bespricht  ein¬ 
gehend  das  große  Indikationsgebiet  dieses  Mittels  (Narben,  Ad¬ 
häsionen,  Verwachsungen,  Wucherung  des  interstitiellen  Binde¬ 
gewebes  usw.)  und  erwähnt  auch  die  von  F  riedländ  o  r  neues  tens 
empfohlene  gleichzeitige  Anwendung  von  Salvarsan  und  Fibro¬ 
lysin.,  um  dadurch  die  Bildung  von  Arsenöbenzolintiltraten  zu 
verhüten,  resp.  um  die  schon  gebildeten  Infiltrate  zu  beseitigen 
und  dadurch  die  Resorption  des  Salvarsans  zu  erleichtern.  So 
dann  bespricht  Verfasser  die  Nebenwirkungen.  Lokale  Störungen 


lassen  sich  ganz  vermeiden  und  doch  bedeutend  mildern,  wenn  jl  as 
Mittel  vor  der  Injektion  auf  45°  C  erwärmt  wird.  Auch'  die  Re 
sorption  und  die  Heilwirkung  sind  dann  günstigere.  Eingehend 
werden  die  allgemeinen  unerwünschten  Nebenwirkungen  dös 
Mittels  erörtert.  In  einzelnen  Fällen  folgten  nach  öfterer  Injektion 
von  Fibrolysin  unter  Schüttelfrost  ziemlich  beträchtliches  Fieber, 
verbunden  mit  schwerem  Krankheitsgefühl,  Erbrechen,  Exanthem 
usw.  Diese  Symptome  gingen  nach  höchstens  48  Stunden  ohne 
folgen  zurück,  es  blieb  aber  eine  große  Empfänglichkeit  zurück, 
so  daß  auch  spätere  (kleinere)  Injektionen  wieder  dieselben  Er¬ 
scheinungen  hervorriefen,  ja,  selbst  die  äußerliche  Applikation 
des  Mittels  auf  Narbengeweb©  oder  Gelenke  (Fibrolysinpflaster) 
lief  Rötung  und  Schwellung,  resp.  akute  Dermatitis  hervor,  die 
wieder  nach  24  bis  48  Stunden  schwanden.  Hiebei  wurden  zwei 
Umstände  konstatiert:  einmal  wurden  die  ersten  Injektionen  gut 
vertragen  und  erst  wenn  die  Behandlung  einen  besonders  ener¬ 
gischen  Erfolg  aufwics,  traten  die  erwähnten  Allgemeinerschei¬ 
nungen  auf;  zweitens  war  es  möglich,  wenn  man  mit  kleinsten 
Dosen  begann,  durch  allmähliche  Steigerung  derselben  eine  all¬ 
mähliche  Gewöhnung  des  Organismus  an  das  Mittel  zu  er¬ 
zwingen.  Verf.  nimmt  an,  daß  diese  allgemeine  Wirkung  nicht 
als  Fibrolyslntoxikose  aufgefaßt  werden  könne,  daß  siei  ferner 
weder  auf  Kumulation  der  Wirkung,  noch  auf  konstitutioneller 
Idiosynkrasie  beruht,  sondern  einzig  und  allein  auf  Anaphy¬ 
laxie.  Die  gelöste  Leimsubstanz  tritt  ins  Blut  über  und  wirkt 
dort  als  albuminoider  Stoff,  wie  artfremdes  Blut  und  gibt 
als  Antigen  zur  Bildung  von  Antikörpern  Anlaß.  Die  meisten 
Autoren  haben  auch  trotz  der  sogenannten  Fibrolysinvergiftung 
wegen  des  zu  dieser  Zeit  stark  einsetzenden  Heilerfolges  die  Kur 
whiter  und  zu  Ende  geführt.  Im  weiteren  empfiehlt  Verf.  die  von 
ihm  eingeführten  Fibrolysinsuppositorien  zu  043  Fibrolysin  (Firma 
E.  Merck)  und  zeigt,  daß  diese  Suppositorien  ebenfalls  rasch 
wirken,  bei  den  gegen  Fibrolysin  sensibilisierten  Patienten  aber 
in  derselben  Zeit  und  in  der  gleichen  Intensität  wie  die  intra¬ 
muskuläre  Injektion  dasselbe  Bild  der  Anaphylaxie  hervorrufen. 
D(ie  rektale  Methode,  vielen  Patienten  angenehmer,  hat  auch 
in  manchen  Fällen  sehr  zufriedenstellende  Resultate  erzielen 
lassen.  Die  Kranken  führten  sich  jeden  Abend  im  Bette  ein 
Zäpfchen  ein.  Besonders  geeignet  erwiesen  sich  für  diese  Be¬ 
handlung  die  mit  Exsudaten  und  Verdickungen  einhergehenden 
gynäkologischen  Erkrankungen,  sowie  Narbenstränge  im 
Zellgewebe  usw.  Gleichzeitig  wurde  die  zweckentsprechende  me¬ 
chanische  Therapie  eingeleitet,  denn  von  der  bloßen  Auflockerung 
des  Narbengewebes  ohne  diese  Behandlung  können  wir  keinen 
großen  Erfolg  erwarten.  In  einzelnen  Fällen  (chronischen  Gelenks¬ 
erkrankungen)  wurde  an  drei  Tagen  der  Woche  gespritzt,  wäh¬ 
rend  an  den  vier  anderen  Tagen  Suppositorien  zur  Anwendung 
kamen.  Zum  Schlüsse  bringt  Verfasser  eine  Krankengeschichte, 
in  welcher  gezeigt  wird,  in  wie  günstiger  AVeise  ein  Fall  von 
Arthritis  deformans  trotz  öfteren  Auftretens  schwerer  anaphylak¬ 
tischer  Erscheinungen  durch  die  Fihrolysininjektionen  beeinflußt 
wurde.  Die  schwere  Erkrankung  konnte  als  völlig  beseitigt  be¬ 
zeichnet  werden.  Gerade  das  Auftreten  der  Anaphylaxie  gilt  dem 
Verfasser  als  Beweis  für  die  energische  Einwirkung  des  Heil¬ 
mittels  auf  das  Narbengewebe.  —  (Die  Therapie  der  Gegenwart, 
April  1911.)  E.  F. 

* 

557.  (Aus  der  psychiatrischen  Klinik  der  Universität  Stra߬ 
burg.  —  Direktor :  Prof.  Dr.  W  o  1 1  en b e r g.)  Z  u  r  K as uistik 
des  Paramyoclonus  multiplex.  Von  Oberarzt  Dr.  Heilig, 
kommandiert  zur  Klinik.  Ein  35jähriger,  erblich  nicht  belasteter, 
im  übrigen  kräftiger  Arbeiter,  leidet  nach  Schreck  seit  seinem 
neunten  Lebensjahre  an  klonischen  Zuckungen,  vorwiegend  der 
oberen  Siammeismuskulatur.  Die  Zuckungen  erfolgen  blitzartig., 
arhythmisch,  gewöhnlich  in  Intervallen  von  10  bis  15  Sekunden. 
Seit  Beginn  dieser  Erkrankung  erlitt  Patient  dreimal  je  einen 
kompletten  epileptischen  Aufall.  Bei  Ablenkung  der  Aufmerk¬ 
samkeit  nehmen  die  Kloni  ab  und  schwinden  im  Schlafe  völlig. 
Durch  körperliche  Untersuchung,  psychiatrische  Erregung,  Auf¬ 
merksamkeit  auf  dieselben  nehmen  die  Kloni  zu.  Neben  den  Klonis 
fibrilläre  Zuckungen  und  echte  Myokymie.  Bei  schlaffer  Rücken¬ 
lage  nehmen  alle  beschriebenen  Erscheinungen  ab.  Haut-  und 
Sehnenreflexe  gesteigert,  Gowersches  Phänomen  deutlich, 


798 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


Psyche  normal.  —  Im  Anschluß  an  den  mitgeteilten  Fall  be¬ 
spricht  Verf.  die  Beziehungen  des  Paramyoclonus  multiplex  zu 
anderen  Krankheiten  und  das  Wesen  des  ersteren,  die  Frage, 
auf  welche  Weise  diese’  eigentümlichen  Zuckungen  zustande  kom¬ 
men,  worüber  gegenwärtig  noch  keine  Klarheit  herrscht.  —  (Ar¬ 
chiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten,  Bd.  48,  H.  1.) 

S. 

* 

558.  (Aus  dem  medizinisch -chemischen  und  pharmakolo¬ 
gischen  Institut  der  Universität  Bern.  —  Direktor:  Professor 
Dr.  Emil  Bürgi.)  Ueber  die  Wirkung  kombinierter 
Opiumalkaloide.  Von  Viktorie  Zee  len  aus  Wolmar.  Der 
narkotische  Gesamteffekt,  den  zwei  oder  mehr  gleichzeitig  in 
den  Organismus  eingeführte  Opiumalkaloide  ausüben,  entspricht 
nach  den  Untersuchungen  von  Zeelen  der  algebraischen  Summe 
ihrer  Einzelwirkungen.  Damit  wird  dem  von  Bürgi  gefundenen 
Gesetz  über  die  Verstärkungen  der  Arzneimittelgemische  eine 
neue  Stütze  gegeben.  Bürgi  fand  nämlich  auf  Grund  sehr 
zahlreicher  Experimente,  daß  bei  gleichzeitiger  Verabreichung 
zwei  Narkotika  der  Fettreihe  sich  in  ihren  Wirkungen  bloß 
addieren,  während  zwei  Narkotika  aus  verschiedenen  Gruppen 
(zum  Beispiel  :  Morphium— Urethan ;  Skopolamin— Urethan)  einen 
narkotischen  Gesamteffekt  erzielen,  der  weit  über  den  algebrai¬ 
schen  Summen  der  zwei  Einzeleffekte  liegt.  Zwei  Narkotika 
verstärken  sich  nur  dann  zu  ungewöhnlicher  Wirkung,  wenn  sie 
zu  zwei  verschiedenen  Zellsubstanzen  chemische,  bzw.  physi¬ 
kalische  Verwandtschaft  haben.  —  (Zeitschrift  für  experimentelle 
Pathologie  und  Therapie  1911,  Bd.  8,  H.  3.)  K.  S. 

* 

559.  Beiträge  zur  Lehre  von  der  Weilschen  Krank¬ 
heit.  Von  Generalarzt  Dr.  Hecker  und  Stabsarzt  Prof.  Dr.  Otto 
in  Hannover.  Im  Jahre  1886  erfolgte  die  erste  Publikation  W eils 
über  einen  bestimmten  Symptomenkomplex,  seither  ist  eine  große 
Reihe  von  Arbeiten  erschienen,  welche  sich  mit  dieser  Erkran¬ 
kungsform  beschäftigten.  Mitte  Juli  1910  gingen  dem  Garnisons¬ 
lazarett  Hildesheim  20  Fälle  Weil  scher  Krankheit  zu,  wTelche 
Soldaten  betrafen,  die  bis  kurz  vor  ihrer  Erkrankung  in  der 
Militärbadeanstalt  in  der  Innerste  geschwommen  hatten.  Die  bis 
dahin  völlig  gesunden,  kräftigen  Soldaten  erkrankten  plötzlich 
mit  Kopf-,  Nacken-  und  Kreuzschmerzen,  Uebelkeit,  hohem  Fieber, 
verhältnismäßig  niedrigem  Puls  und  starker  Hinfälligkeit;  meh¬ 
rere  Kranke  hatten  auch  galliges  Erbrechen,  fast  alle  Albuminurie 
und  Stuhlverstopfung,  der  in  der  Regel  Durchfälle  vorangegangen 
waren.  Meist  war  eine  deutliche  Leber1-,  nicht  immer  auch  eine 
Milzschwellung  vorhanden.  Eine  sichere  Diagnose  war  erst  mög¬ 
lich,  als  bei  den  Zugängen  7  und  8  deutliche  Gelbsucht  mit 
Nasenbluten,  Herzschwäche  und  bluthältigem  Urin  auftraten.  In 
früheren  Epidemien  haben  schon  die  Militärärzte  auf  den  Zu¬ 
sammenhang  der  Erkrankung  mit  der  Beteiligung  am  Schwimm¬ 
unterrichte  hingewiesen.  Die  Verfaissec  haben  bei  dieser  Epi¬ 
demie  neuerlich  mikrobiologische  und  bakteriologische  Unter¬ 
suchungen  angestellt,  auch  Tierversuche  gemacht,  stets  mit  nega¬ 
tivem  Resultate;  sie  glauben,  daß  Proteusbazillen  und  andere 
Bakterien  oder  sichtbare  Mikroparasiten  als  Erreger  der  Weil¬ 
schen  Krankheit  nicht  in  Betracht  kommen.  Im!  weiteren  be¬ 
sprechen  die  Verfasser  eingehend  die  klinischen  Symptome,  den 
Unterschied  im  Krankheitsverlauf  zwischen  den  Erkrankungen 
im  Anfang,  auf  der  Höhe  und  am  Schlüsse  der  Epidemie  (auf 
der  Höhe  ausgeprägte  Fälle,  früher  und  später  leichtere  Fälle) 
und  heben  die  bemerkenswerte  Tatsache  hervor,  daß  die  anstren¬ 
gende  Arbeit  des  Schwimmens  während  der  Inkubationszeit  als 
ein  besonders  verschlimmerndes  Mordent  a|uf  den  späteren  Krank¬ 
heitsverlauf  der  Infektion  anzusehen  sei.  In  Hildesheim  sind 
schon  in  den  Vorjahren  sporadisch  und  epidemisch  unter  der 
Militärbevölkerung  Fälle  von  Weil  scher  Krankheit  beobachtet 
worden,  alles  wies  darauf  hin,  daß  die  Infektion  beim  Baden 
erfolgt  sei.  Es  ließ  sich  ferner  feststellen,  daß  die  Epidemien 
nur  zu  bestimmten  Jahreszeiten  und  in  bestimmten  Garnisonen 
auftreten  und  daß  gleichzeitig  unter  der  Zivilbevölkerung  ver¬ 
einzelte  Fälle  von  ,, fieberhafter  Gelbsucht“  Vorkommen.  Die  Ver¬ 
fasser  gelangen  zu  folgenden  Schlußfolgerungen:  1.  Die  sogenannte 
Weil  sehe  Krankheit  ist  eine  fast  ausschließlich  in  der  heißen 
Jahreszeit  auftretende,  akute,  nicht  kontagiöse  Krankheit.  2.  Sie 


verläuft  unter  einem  ganz  charakteristischen  Krankheitsbilde 
doch  sind  in  den  einzelnen  Epidemien  und  in  den  einzelnen 
Fällen  die  Symptome  sehr  verschieden  ausgeprägt.  3.  Besonders 
im  Anfang  und  am  Ende  der  Epidemie  sieht  man  einzelne  leich 
tere,  mit  geringem  oder  atypischem  Fieber  verlaufende  Fälle. 
Der  völlig  ausgebildete  Weil  sehe  Symptomenkomplex  findet  sich 
hauptsächlich  nur  auf  der  Höhe  der  Epidemie  bei  Leuten,  die 
während  der  Inkubation  bis  zum  Ausbruch  der  Erkrankung  an¬ 
gestrengt  geschwommen  oder  gearbeitet  haben.  4.  Der  noch  un¬ 
bekannte  Erreger  der  Krankheit  ist  durch  ein  streng  lokales 
Vorkommen  ausgezeichnet  und  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  kein 
züchtbares  Bakterium,  sondern  ein  sich  außerhalb  des  Körpers 
entwickelnder,  durch  Zwischenträger  (Insekten)  verbrei 
t  e  t  e  r  Mikroorganismus.  Wahrscheinlich  handelt  es  sich  dabei 
um  ein  invisibles  Virus.  - —  (Deutsche  medizinische  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  18.)  E.  F. 

*  , 

560.  (Aus  der  psychiatrischen  und  Nervenklinik  der  Uni¬ 

versität  Breslau.  —  Direktor:  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Bonhoeffer.) 
Zur  differentialdiagnostischen  Bedeutung  der  Lum¬ 
balpunktion  und  der  Serodiagnostik.  Von  Dr.  Otto 
L.  K 1  ijeneber g er.  Nach  einer  schon  vor  einiger  Zeit  vor- 
angegangenen  Publikation  desselben  Autors  über  das  gleiche 
Thema  bringt  er  nun  seine  weiteren  experimentellen  Erfahrun¬ 
gen,  welche  aus  sero-  und  zytologischen,  sowie  aus  chemischen 
Untersuchungen  resultieren.  Er  bespricht  zunächst  die  Technik 
und  die  Gefahren  der  Lumbalpunktion,  ferner  Druck  und  Farbe 
der  Zerebrospinalflüssigkeit,  die  pathologischen  Beimengungen, 
Niederschläge  und  Eiweißgehalt  derselben.  Es  ist  differentialdiagno¬ 
stisch  wichtig,  daß  alle  jene  Fälle,  in  denen  sicher  eine  luetische 
Infektion  stattgefunden  hatte,  die  aber  weder  der  Paralyse,  noch 
der  Tabes,  noch  der  Lues  cerebrospinalis  angehörten,  normalen 
Eiweißgehalt  aufwiesen.  Sicher  ist,  daßi  die  zytologische  Unter¬ 
suchung  der  Zerebrospinalflüssigkeit,  kombiniert  mit  der  chemi¬ 
schen,  ein  diagnostisch  wichtiger  Faktor  ist,  indem  positive  Zell 
befunde  mit  Eiweißvermehrung  für,  ohne  Ei wT ei ß vermeh rung  aber 
gegen  das  Vorliegen  einer  metasyphilitischen  Erkrankung  spre¬ 
chen.  Verfasser  berichtet  schließlich  noch  über  die  serologischen 
Ergebnisse  der  letzten  anderthalb  Jahre  bei  Paralyse,  Tabes  und 
Lues  cerebrospinalis  und  bei  jenen  Fällen,  die  ehemals  wahr¬ 
scheinlich  luetisch  infiziert,  unabhängig  von  der  Infektion  irgend¬ 
wie  andersartig  erkrankten.  —  (Archiv  für  Psychiatrie  und  Nerven¬ 
krankheiten,  Bd.  48,  H.  1.)  S. 

* 

561.  (Aus  der  II.  medizinischen  Abteilung  des  städtischen 
Krankenhauses  am  Urban.  —  Prof.  Dr.  Plehn)  in  Berlin.  Er¬ 
fahrungen  mit  Salvarsan,  speziell  bei  Lues  des  Zen¬ 
tralnervensystems.  Von  Dr.  Martin  Neu  haus,  Von  syphi¬ 
litischen  und  metasyphilitischen  Erkrankungen  des  Zentralnerven¬ 
systems  wurden  mit  Salvarsan  behandelt:  Lues  cerebrospinalis  7, 
Poliomyelitis  subacuta  1,  Tabes  5,  Paralyse  2  Fälle,  ferner 
1  Hepar  lobatum  und  1  Leberzirrhose.  Aus  den  mitgeteilten 
Krankengeschichten  geht  hervor,  daß  Schädigungen  durch  das 
Salvarsan,  auch  bei  bereits  bestehenden  Erkrankungen  des  Seh¬ 
nerven  nie  beobachtet  wurden.  Bei  Tabes  ist  selbstredend  eine 
Restitutio  ad  integrum  unmöglich.  Es  ist  nur  möglich,  daß  der 
Prozeß  in  seinem  Fortschreiten  gehemmt  wird  und  gewisse  Sym¬ 
ptome  bei  frischen  Prozessen  zum  Schwinden  gebracht  werden,  wie 
Blas en-Mastdarmstö rangen.  Auch  Wiederkehr  der  Pupillenreaktion 
wurde  zuweilen  beobachtet.  Es  ist  daher  auch  in  scheinbar 
verzweifelten  Fällen  ein  Versuch  mit  Salvarsan  gerechtfertigt. 
Daß  durch  eine  einmalige  Salvarsangabe  eine  Sterilisatio  magna 
bei  dieser  Art  des  Krankenmaterials  erreicht  werden  kann,  er¬ 
schien  dem  Verfasser  von  vornherein  ganz  unwahrscheinlich, 
weswegen  er  von  Anfang  an  die  Etappenbehandlung  gewählt  hat. 
Ein  Intervall  von  vier  Wochen  scheint  den  zweckmäßigsten  Ab¬ 
stand  zwischen  zwei  S a  1  v ars a n g aben  zu  bilden.  Wie  oft  die 
Injektion  zu  erfolgen  hat,  muß  die  Zukunft  lehren.  Verfasser 
wiederholt  gegenwärtig  die  Injektion  drei-  bis  viermal.  Nach 
seinen  bisherigen  Erfahrungen  scheint  das  Salvarsan  eine  Friih- 
und  eine  Spätwirkung  zu  haben.  Auffallend  rasch  und  unerwartet 
bildeten  sich  schon  wenige  Tage  nach  der  Injektion  einige  quä¬ 
lende  Symptome  zurück,  wie  Sprachstörung  nach  Apoplexie, 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


799 


Schmerzen.  Andere  Symptome  verschwanden  oder  besserten  sich 
erst  nach  drei  bis  vier  Wochen,  wie  Wiederkehr  der  Motilität  ein¬ 
zelner  gelähmter  Teile,  der  Pupillenreaktion  usw.  Was  die  W  a  ss  e  r¬ 
mann  sehe  Reaktion  an  be  langt,  so  blieb  sie  in  den  meisten 
Fällen,  in  denen  sie  vor  der  Behandlung  positiv  ausgefallen 
war,  auch  nach  Abschluß  der  Behandlung  positiv,  ln  einigen 
h allen  wurde  die  anfangs  positive  Reaktion  nach  mehrmonatlichei: 
Behandlung  negativ.  Keinesfalls  kann  die  Wassermann  sehe 
Reaktion  einen  Maßstab  für  die  Heilung  bilden.  — -  (Münchener 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  18.)  G. 

♦ 

562.  (Aus  dem  Kinderheim  in  Frankfurt  a.  M.)  Kardio¬ 

spasmus  im  Säuglings  alter.  Von  Dt.  Kurt  Beck.  Aus 
den  beiden  mitgeteilten  Krankengeschichten  ist  zu  ersehen,  daß 
dem  habituellen  Erbrechen  ausgesprochener  Kardiospasmus  zu¬ 
grunde  lag,  wie  er  von  Göppert  beschrieben  und  als  eine  dem 
Pylorospasmus  pathologisch  gleichwertige  Erscheinung  von  seiten 
der  Kardia  aufgefaßt  wurde.  Hier  wie  dort  hindert  der  Krampf 
ei|nes  Schließmuskels  die  Fortbewegung  der  Speise  und  führt 
zu  schwerster  Abmagerung  des  Kranken,  hier  wie  dort  verhindert 
die  Elastizität  der  kindlichen  Gewebe  den  Eintritt  einer  Dilatation 
des  oberhalb  gelegenen  Teiles  der  Verdauungsorgane,  die  beim 
Erwachsenen  in  solchen  Fällen  mit  Sicherheit  zu  erwarten  sind. 
Nach  dem  Schwinden  des  Krampfes  tritt  wieder  ein  völlig  nor¬ 
maler  Zustand  ein.  Das  merkwürdige  Würgen  beim  Kardiospas¬ 
mus  hat  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  dem  Wiederkäuen ;  doch 
pflegt  bei  diesem  eine  größere  Menge  von  Nahrung  ruhig  auf¬ 
genommen  und  dann  erst  erbrochen  zu  werden,  wogegen  beim 
Kardiospasmus  das  Würgen  schon  nach  dem  ersten  Schlucken 
auftritt  und  unmittelbar  nach  dem  Beginn  des1  Schluckaktes  alles 
oder  fast  alles  erbrochen  wird.  Die  Aetiologie  des  Kardiospasmus 
ist  unklar,  die  Prognose  bei  richtiger  Behandlung  und  sorgfältiger 
Pflege  eine  gute.  Die  Therapie  besteht  in  systematischer  Sonden¬ 
fütterung  oder  in  zeitweise  alleiniger  Ernährung  vom  Darme  aus. 
ln  ein  bis  zwei  Wochen  verschwindet  dann  der  Krampf  der 
Kardia,  wenn  durch  diese  Zeit  kein  Reiz  die  Ring.miiskulat.uT/ 
getroffen  und  zur  Kontraktion  .angeregt  hat.  —  (Monatsschrift 
für  Kinderheilkunde  1911,  Bd.  9,  Nr.  10.)  K.  S. 

* 

563.  Zur  Therapie  der  Pyelitis  gravidarum.  Von 

Or.  N.  Markus,  Assistenzarzt,  an  der  gynäkologischen  Abtei¬ 
lung  des  Allerheiligenhospitals  Breslau  (Primararzt:  Doktor 
R.  Asch).  Die  Hauptursache  des  Leidens  ist  in  dem  graviden 
Uterus  zu  suchen.  Der  Prozeß  ist  fast  stets  einseitig  und  spielt 
sich  überwiegend  im  rechten  Nierenbecken,  ab.  Wie  diese  Harn¬ 
stauung  im  rechten  Ureter  zustande  kommt,  darüber  sind  die 
Ansichten  noch  sehr  geteilt.  Verf.  bespricht  die  einzelnen,  hier 
vorgebrachten  Theorien  und  erwähnt,  daß  Rosinsky  die 
Ansicht  vertritt,  daß  der  rechte  Ureter  durch  den  graviden  dextro- 
vertierten  Uterus  direkt  komprimiert  werde.  Für  diese'  Ansicht 
sprechen  seine  Heilerfolge  mit  einfacher  Linkslagei- 
rung  der  Patienten.  Verf.  berichtet  über  zwei  Kranke  seiner 
Beobachtung,  die  durch  diese  einfache  Methode  in  kurzer  Zeit 
geheilt  wurden.  Die  eine  hatte  eine  ausgesprochene  Pyelitis 
(Mischinfektion  von  Kolibazillen  und  Diplokokken)  und  eine  stär¬ 
kere  Rechtslagerung  des  graviden  Uterus.  Einfache  Linkslagerung, 
daneben  Wildunger  Was  sei'  und  Urotropin,  welche  Mittel  schon 
früher  erfolglos  angewendet  worden  waren.  Nach  sieben  Tagen 
war  die  Patientin  fieberfrei,  nach  neun  Tagen  eiweißfrei ;  im 
Harnsediment  keine  Eiterkörperchen,  keine  Zylinder,  keine  Bak¬ 
terien.  Die  Patientin  war  nün  außer  Bett,  bekam  aber  am  elften 
läge  eine  Rezidive  (Temperatursteigerung,  Eiweiß,  Eiterkörper¬ 
chen  und  Bakterien  im  Urin),  welche  nach  acht  Tagen  hei 
derselben  Behandlung  schwand.  Der  zweite  Kranke  litt  eben- 
talls  an  einer  rechtseitigen  Pyelitis.  Bei  einfacher  Linkslagerung 
mit  interner  Durchspülung  der  Nieren  konnte  die  Patientin  nach 
14  Tagen  geheilt  entlassen  werden.  Verf.  glaubt,  daß  man  in 
dieser  Weise  in  vielen  Fällen  von  Pyelitis  gravidarum  rasch 
zum  Ziele  kommen  werden,  ohne  erst  die  für  den  praktischen 
Arzt  schwierige  Nierenbeckenausspülung  oder  gar  die1  Unter¬ 
brechung  der  Schwangerschaft  vornehmen  zu  müssen.  —  (Ber¬ 
liner  klinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  17.)  E.  F. 

* 


Aus  englischen  Zeitschriften. 

564.  Die  Art  des  Vorkommens  von  Cholesterol 

in  tierischen  Geweben  und  die  Methoden,  die  zu 
seinem  Nachweise  benützt  werden.  Von  A.  Lapworth. 
Dei  Autor  zeigt,  daß  das  Digitonmverfahren  von  Windaus 
eine  sehr  befriedigende  Methode  zur  quantitativen  Trennung  freien 
Cholesterols  von  seinen  Estern  und  von  anderen  Substanzen,  wie 
Fett,  Fettsäuren  und  Lezithin  darstellt.  Das  Trocknen  mit  wasser¬ 
frei  em  Natriumsulfat  verursacht  keine  Esterifizierung  von  freiem 
Cholesterol  in  Mischungen.  Nach  der  Trennung  vom  freien  Chole¬ 
sterol  können  die  Cholesterolester  mit  Kalilauge  hydrolysiert 
und  auf  dieselbe  Weise  durch  Fällung  mit  Digitonin  in  alkoholi¬ 
scher  Lösung  bestimmt  werden.  Die  Nieren,  die  Nebennieren, 
Deimoidzysten  und  da,s  Gehirn  enthalten  sowohl  Cholesterolester 
wie  freies  Cholesterol.  Mehr  als  99°/o  des  Cholesterols  sind  irn 
Gehirn  frei.  —  (The  journal  of  Pathologie  and  Bacteriology  191 1 
Bd.  15,  S.  254.)  sz  ’ 

* 

565.  Ejinige  Untersuchungen  über  da,s  Problem 

des  Ursprunges  von  Immunköripern.  Von  Mc.  Gowan. 
Die  intravenöse,  intraperitoneale  oder  subkutane  Injektion  von 
gewaschenen  Ochsenblutkörperchen  bei  Kaninchen  gibt  zur  Bil¬ 
dung  von  hämolytischen  Immunkörpern,  aber  zu  keiner  bemer¬ 
kenswerten  Leukozytose  Anlaß.  Die  Entfernung  der  iMilz,  der 
Schilddrüse  oder  einer  Niere  hat  keinen  Einfluß  auf  die  Entwick¬ 
lung  von  Immunkörpern.  Die  Ernährung  von  Kaninchen  mit 
Ochsenblut  bewirkt  die  Entstehung  von  Hämolysinen,  Aggluti- 
ninen  und  Präzipitinen.  —  (The  Journal  of  Pathology  and '’Bac¬ 
teriology  1911,  Bd.  15,  S.  262.)  sz. 

* 

566.  Protozoengleiche  Körper  im  Blute  und  in 
Organen  von  Patienten  mit  gelbem  Fieber.  Von  H.  Sei¬ 
del  in.  In  Blutausstrichen  und  in  Organen  von  Patienten  mit 
Gelbfieber,  gefärbt  nach  den  Methoden  von  Giemsaund  Leish- 
mann,  fand  Autor  kleine  Körper,  die  in  25  von  27  Fällen 
von  ihm  als  Protozoen  angesprochen  wurden.  -  (The  Journal 
of  Pathology  and  Bacteriology  1911,  Bd.  15,  S.  282.)  sz. 

♦ 

567.  Experimentelle  Untersuchungen  zur  Hor- 
m o nen th eorie,  betreffend  die  Entstehung  von  Neu- 
gebilden.  Von  A.  und  H.  Grünba,um.  Wenn  man  Ratten,  die 
sich  bei  einem  oder  mehreren  Versuchen  als  refraktär  gegen 
Sarkomimplantation  erwiesen  haben,  gleichzeitig  mit  dem  Sar¬ 
kom  normale  Parotisdrüse  inokuliert,  so  wächst  das  Sarkom  eine 
Zeitlang,  obgleich  es  schließlich  doch  verschwindet.  Es  ist  mög¬ 
lich,  das  Wachstum  vorübergehend  wieder  durch  eine  frische 
Inokulation  von  Parotisgevvebe  zu  beleben.  Die  Entfernung  der 
Parotis  bei  Ratten  mit  wachsenden  Tumoren  bewirkte  regres¬ 
sive  Veränderungen  in  den  Tumoren  (in  drei  Fällen).  —  (The 
Journal  of  Pathology  and  Bacteriology  1911,  Bd.  15,  S.  289.) 


568.  Skabies  bei  Laboratoriumstieren.  Von  Doktor 

R.  Löw.  Kaninchenräude  ist  auf  Sarcoptes  minor  oder  auf 
Psoroptes  oder  auf  beide  zurückzuführen.  Die  Krätze  beginnt 
im  Gesichte  und  kann  sich  über  den  ganzen  Körper  ausbreiten. 
Sie  ergreift  niemals  die  Innenseite  der  Ohren.  Sie  wird  leicht 
auf  Meerschweinchen,  aber  nicht  auf  Ratten  übertragen.  Die 
Psoroptesräude  ergreift  nur  die  Innenseite  der  Ohren.  Katzenräude 
ist  entweder  auf  Sarcoptes  minor  oder  Chorioptes  cynotis  zurück¬ 
zuführen.  Rattenskabies  wird  durch  eine-  Art  Sarcoptes  verursacht 
in  der  Größe  zwischen  Sarcoptes  scabiei  und  Sarcoptes  minor 
stehend.  Diese  Art  findet  man  auch  beim  Fuchs.  Die  Parasiten 
und  die  von  ihnen  hervorgerufenen  Veränderungen  sind  bildlich 
dargestellt.  —  (The  Journal  of  Pathology  and  Bacteriology  1911, 
Bd.  15,  S.  333.)  .  sz. 

* 

569.  Untersuchungen  über  die  kutane  Pigmentie¬ 
rung  in  normalen  und  pathologischen  Zuständen.  Von 
W.  Dyson.  Drei  Theorien  sind  in  bezug  auf  den  Ursprung  des 
Hautpigmentes  aufgestellt  worden.  1.  Das  Pigment  wird  von  der 
Epidermis  gebildet  und  das  Kutispigment  ist  erst  sekundären  Ur¬ 
sprunges.  2.  Das  Pigment  wird  in  der  Kutis  durch  besondere 


800 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


Zellen  (Chromatophoren)  gebildet  und  -durch  sie  in  die  Epi¬ 
dermis  gebracht.  3.  Das  Kutis-  und  Epidermispigment  entstehen 
an  Ort  und  Stelle  und  haben  miteinander  nichts  zu  tun.  Aus 
seinen  Studien  über  das  Pigment  in  normalen  und  pathologischen 
Zuständen  schließt  Autor,  daß  die  Bildung  de«  schwarzen  Pig¬ 
ments  eine  normale  Funktion  der  Epidermis  darstelle  und  daß 
etwas  von  demselben  durch  den  Lymphstrom  in  die  Kutis  ge¬ 
führt  werde.  Für  die  Entstehung  des  Pigmentes  in  der  Kutis 
liegen  keine  Beweise  vor.  Im  Beginne  ihrer  Bildung  sind  die 
Pigmentpartikel  mit  Fettsubstanzen  innigst  verbunden,  sowohl 
im  Kerne  wie  im  Zytoplasma,  was  durch  die  Weigertsche  Bi- 
chromat-Hamatoxylinmethode,  modifiziert  von  Smith  und  Mair 
deutlich  gezeigt  wird.  Vermehrung  des  Pigments  ist  entweder 
auf  Reizung  der  Epidermis  durch  Licht,  Hitze]  usw.  zurückzuführen, 
welche  zu  vermehrter  Pigmentbildung  Anlaß  geben  oder  auf  Ver¬ 
legung  der  Lymphwege  in  der  Kutis,  was  zur  lokalen  Ansamm¬ 
lung  des  Pigmentes  führt.  —  (The  Journal  of  Pathology  and  Bac¬ 
teriology  1911,  Bd.  15,  S.  298.)  sz. 

* 

Aus  russischen  Zeitschriften. 

570.  (Aus  der  therapeutischen  Klinik  des  Prof.  A.  P.  F  a- 

wizkij  der  mil. -med.  Akademie  in  Petersburg.)  Ueber  das  Pan¬ 
topon  (Sahli).  Von  A.  D.  Ntirenberg.  Pantopon  ist  dort  in¬ 
diziert,  wo  eine  Indikation  für  Opium,  Kodein,  Morphium,  Dionin, 
Heroin  etc.  besteht;  manchmal  auch  als  Ersatz  gewisser  Schlaf¬ 
mittel  ;  bei  manchen  Fällen  von  Appendizitis,  verschiedenen  Krampf- 
zusländen  des  Magendarmkanals,  bei  periodischen  Psychosen,  viel¬ 
leicht  auch  bei  Diabetes  insipidus  etc.  ist  Pantopon  seinen  arznei¬ 
lichen  Analogis  vorzuziehen.  Ulcus  ventriculi  und  Hypersekretion 
sind  nach  Rodari  als  Kontraindikalion  anzusehen.  Diese  Angabe 
bedarf  der  Bestätigung,  ebenso  wie  die  Angabe  desselben  Autors, 
daß  die  Motilität  des  Darmes  herabgesetzt  werde.  Die  Angaben  aller 
Nachprüfer  stimmen  darin  überein,  daß  das  Pantopon  keinerlei 
Nebenwirkungen  auf  Blutkreislauf  und  Atmung  hat.  Die  Anwend¬ 
barkeit  und  Wirksamkeit  des  Pantopons  bleibt  bei  Applikation  per 
rectum  und  subkutan  erhalten;  hiebei  wurde  in  der  Fawizkij- 
schen  Klinik  als  größte  Einzeldosis  0'02  g  verwendet.  Die  Giftig¬ 
keit  großer  Pantopondosen  ist  sehr  unbedeutend.  Ein  Fall  allge¬ 
meiner  Erregung  nach  Pantoponeinspritzung,  ebenso  wie  ein  ähn¬ 
licher,  von  Ewald  beobachteter,  weisen  auf  notwendige  Vorsicht 
beim  Gebrauch  bin,  wenn  es  sich  um  Patienten  mit  allgemein  ge¬ 
steigerter  Erregbarkeit  des  Nervensystems  handelt.  Die  Narkose  bei 
Anwendung  von  Skopolamin-Pantopon  zu  chirurgischen  Zwecken 
ist  weniger  tief  als  die  Morphin-Skopolamin-Narkose.  - —  (Russkij 
Wratsch  1911,  Nr.  6.)  L.  Sch. 

* 

571.  (Aus  dem  pathologischen  Kabinett  des  Instituts  für  ex¬ 

perimentelle  Medizin.)  Ueber  den  Einfluß  von  Blutver¬ 
lusten  auf  Verdauungsprozesse.  Von  N.  A.  Dobro- 
w  o  1  s  k  aj  a.  Eine  einmalige  Entziehung  von  1/3  bis  %  des  ange¬ 
nommenen  Gesamtblutes  des  Hundes  ruft  im  Wesen  folgende 
Störungen  des  Verdauungsmechanismus  hervor.  Es  lassen  sich  zwei 
Phasen  unterscheiden:  1.  Die  Phase  der  Herabsetzung  von  Se¬ 
kretions-  und  Motilitätskraft;  2.  die  Phase  mit  erhöhter  Sekretion 
und  Motilität.  Die  Säfte  der  ersten  Phase  enthalten  mehr  feste 
Stoffe.  In  der  zweiten  Phase  wird  die  Speise  schlechter  verdaut 
und  resorbiert ;  die  beiden  letzteren  Prozesse  können  in  der  ersten 
Phase  verstärkt  werden.  Wiederholte  Blutentziehungen  wirken  ähnlich, 
aber  in  ausgeprägterer  Form.  Wird  nach  der  Blutentnahme  physio¬ 
logische  Kochsalzlösung  in  die  Vene  gespritzt,  so  wird  für  kurze 
Zeit  die  Wirkung  der  Blutentnahme  paralysiert,  ohne  daß  die 
Wiederkehr  der  normalen  Funktionen  beeinflußt  würde.  Die  drei 
Nährstoffgruppen  (Eiweißkörper,  Fette  und  Kohlehydrate)  werden 
bezüglich  ihres  Schicksals  in  gleicher  Weise  beeinflußt.  Die  Wieder¬ 
kehr  der  durch  die  Blutentnahme  alterierten  Funktionen  zur  Norm 
tritt  hei  den  einzelnen  Darmabschnitten  mit  ungleicher  Schnellig¬ 
keit  ein.  —  (Russkij  Wratsch  1911,  Nr.  7.)  J.  Sch. 

* 

572.  (Aus  dem  Laboratorium  der  propädeutisch-therapeutischen 
Klinik  des  Prof.  Fawizkij  der  mil. -med.  Akademie  in  Peters¬ 
burg.)  Ueber  physiologische  Glykosurie  und  ihre 


Beeinflussung  durch  Kohlehydrathunger.  Von  M.  J. 
Barantschick.  Der  normale  Urin  enthält  Zucker  in  kleinen 
jedoch  meßbaren  Mengen.  Im  Laufe  von  24  Stunden  scheidet  ein 
gesunder  Mensch  0  23  bis  0  665  g  Zucker  aus,  demnach  0‘01  bis 
0‘0369%.  Völlige  Ausschaltung  der  Kohlehydratkomponente  aus 
der  Nahrung  im  Laufe  von  fünf  Tagen  bleibt  ohne  jeden  Einfluß 
auf  den  Zuckergehalt  des  normalen  Harnes.  Verf.  schließt  aus  dieser 
Tatsache,  daß  die  physiologische  Glykosurie  auf  einer  Durchlässig¬ 
keit  der  Niere  für  kleine  Zuckermengen  beruht.  —  (Russkij  Wratsch 
1911,  Nr.  1.)  J.  Sch. 

+ 

573.  Aus  der  therapeutischen  Hospitalsklinik  des  Prof.  N.  A. 
Sassjetzkij  der  Kasaner  Universität.)  Zur  Frage  der  Blut¬ 
veränderung  bei  Morbus  B  a  s  e  d  o  w  i  und  bei  Kropf. 
Von  W.  A.  Bjeljajew.  Bei  Morbus  Basedowi  ließ  sich  eine 
Oligozythämie  hei  parallel  vermindertem  Hämoglobingehalt  nach- 
weisen.  Meist  fand  sich  Leukopenie.  Die  polynukleären  Neutrophilen 
waren  vermindert  (42  bis  5 3 •  7 °/0) ,  die  Zahl  der  Lymphozyten  war 
vermehrt  (ca.  50%  im  Durchschnitt).  Die  großen  Mononukleären  waren 
vermehrt  (bis  4' 2%),  die  Eosinophilen  meist  vermindert.  Bei 
Patienten  mit  einfachem  Kropf  war  die  Zahl  der  Erythrozyten  meist 
normal,  der  Hämoglobingehalt  ein  wenig  vermindert.  Die  Gesamt¬ 
zahl  der  Leukozyten  war  meist  normal,  manchmal  leichte  Leuko¬ 
penie.  Die  Lymphozytenzahl  (relativ)  war  vermehrt  (zwischen  34  und 
59  4%).  Manchmal  —  jedoch  nicht  oft  —  war  die  Zahl  der  großen 
Mononukleären  vermehrt.  Die  polynukleären  Neutrophilen  waren 
vermindert  (50 — 33'6°/0).  Die  Eosinophilen  waren  meist  ver¬ 
mindert,  die  Uebergangsformen  meist  vermehrt.  Die  Blutuntersuehung 
kommt  daher  als  differentialdiagnostisches  Moment  hei  Kropf  nicht  in 
Betracht.  —  (Russkij  Wratsch  1911,  Nr.  7.)-  J.  Sch. 


Sozialärztliche  Revue. 

Von  Dr.  L.  Sofer. 

Die  von  uns  in  Nummer  10  angekündigte  Vorlage  eines 
sozialen  Versicherungsgesetzes  in  England  ist  inzwischen  erfolgt. 
Der  Schatzkanzler  Lloyd  George,  der  nach  längerer  Krankheit 
wieder  im  Hause  erschienen  war,  legte  den  Entwurf  dem  Parla¬ 
mente  vor;  er  fand  allgemein  Zustimlmung,  da  er  weiter  geht, 
als  man  angenommen  hatte.  Er  gliedert  sich  in  zwei  Teile: 
Krankheit  und  Arbeitslosigkeit.  Die  Krankenversicherung 
gliedert  sich  in  die  pflichtliche  und  die  freiwillige;  die  ersten: 
besteht  für  ein  jährliches  Gesamteinkommen  von  weniger  als 
160  Pfund  (ca.  3840  K ;  1  Pf.  =  24  K) ;  Unternehmer  und  Staat 
leisten  Beiträge.  Ausgenommen  von  dem  Gesetz  sind  Lehrer  und 
Angehörige  Von  Heer  und  Flotte,  für  die  besonders  gesorgt 
werden  soll.  Der  Lohnabzug  wird  hei  Männern  4  Pence  (l  Pence 
:  9  h),  bei  Frauen  3  Pence  wöchentlich  betragen.  Die  Gesamt 
zahl  der  von  dem  Gesetz  betroffenen  Männer,  Frauen  und  Jugend¬ 
lichen  beträgt  14,700.000.  Um  der  Ausbreitung  der  Schwindsucht 
zu  begegnen,  schlägt  die  Regierung  vor,  den  Gemeinden  bei  der 
Errichtung  von  Sanatorien  im  ganzen  Landet  Beihilfe  zu  leisten. 
Der  Staat  wird  dafür  einen  Betrag  von  anderthalb  Millionen  Pfund 
Sterling  bestimmen.  Die  Krankenunterstützung  soll  für  die  ersten 
drei  Monate  5  Schilling  (l  Schilling  —  1  K  20  1)1 

wöchentlich  betragen.  Dauernd  Arbeitsunfähige  sollen  fünf 
Schilling  wöchentlich  erhalten.  Der  Entwurf  soll  haupt¬ 

sächlich  mit.  Hilfe  der  Arbeiterunterstützungsvereine  (Friendly 
Societies)  durchgeführt  werden,  doch  können  die  Beiträge 
auch  durch  die  Post  entrichtet  werden.  Das  Gesetz  soll  am 
1.  Mai  1912  in  Kraft  treten.  Die  Belastung  des  Staates  für 
1912/13  wird  sich  auf  1,742.000  Pf.  St.  belaufen,  für  1913/14 
auf  3,350.000  Pf.  St.  und  für  1915/16  auf  4,568.000  Pf.  St.  Was 
die  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  betrifft,  ein  Punkt,  in 
dem  das  englische  Gesetz  über  das  deutsche  Vorbild  hinausgehl., 
so  wird  sie  pflichtlich,  vorläufig  aber;  nur  auf  das  Maschinen-  und 
Baugewerbe  beschränkt  sein,  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  sollen 
je  2Va  Pence  für  die  Woche  entrichten,  während  der  Staat  ein 
Viertel  der  Kosten  tragen  wird.  Die  Arbeitslosenunterstützung 
wird  hei  den  Maschinenbauern  7  Schilling  wöchentlich  betragen. 
Im  Falle  von  Ausständen  oder  Aussperrungen  werden  aber  keine 
Zahlungen  geleistet.  Von  diesem  Gesetze  werden  2,400.000  Ar¬ 
beiter  betroffen,  deren  Gesamtbeiträge  1,100.000  Pf.  St.  betragen 
würden.  Die  Unternehmer  würden  910.000  Pf.  St.  und  der  Staat 
750.000  Pf.  St.  zuschießen.  Die  gesamte  Belastung  im  ersten 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911, 


801 


Jahre  für  beide  Arten  der  Versicherung  würde  24,500.000  Pf.  St. 
betragen,  wovon  der  Staat  2,500.000  Pf.  St.  beizutragen  hätte. 
Im  vierten  Jahre  würden  die  Beiträge  des  Staates  schon  auf 
5,500.000  Pf.  St.  gestiegen  sein.  Die  Vorlage,  auf  die  wir  noch 
zuriickkonimen  werden,  ist  im  wesentlichen  eine  Nachbildung 
der  deutschen  Sozialversicherung,  für  englische  Verhältnisse  zu- 
geschnitten.  Sie  ist  trotzdem  berufen,  eine  große  Umwälzung 
im  Leben  des  englischen  Volkes  hervorzubringen. 

Die  trage  der  Arbeitslosenversicherung,  die  im  all¬ 
gemeinen  noch  am  meisten  rückständig  ist,  hat  in  Dänemark 
und  Norwegen  einen  großen  Fortschritt  erfahren.  In  Dänemark 
besteht  eine  ausgebreitete  Organisation  freiwilliger  Arbeits¬ 
losenversicherung.  Nach  diesem  Gesetze  müssen  Arboits- 
losenkassen,  wenn  sie  gewisse  Bedingungen  erfüllen,  vom  Staate 
und  können  von  den  Gemeinden  unterstützt  werden.  Die  Ge¬ 
meindebeiträge  dürfen  nicht  ein  Drittel  des  Betrages  der  Mit¬ 
gliederbeiträge  überschreiten;  die  Staatsunterstützungen  betragen 
die  Hälfte  des  Betrages  der  Mitglieder-  und  Gemeindebeiträge. 
Nach  dem  letzten  Rechenschaftsbericht,  der  die  Zeit  vorn  1.  April 
1909  bis  31.  März  1910  umfaßt,  betrug  am  Schlüsse  des  Berichts¬ 
jahres  die  Zahl  der  anerkannten  Arbeitslosenkassen  18,  der  männ¬ 
lichen  Mitglieder  85.728,  der  weiblichen  9501,  zusammen  95.289. 
Das  größte  Kontingent  der  Mitglieder  bilden  die  Täglöhner.  im 
großen  Abstand  dann  folgen  die  Metallarbeiter,  dann  die  Tischler 
und  die  Maurer.  Die  Zahl  der  Unterstützungstage  betrug  bei 
37  Kassen  .  1909/10 :  1,053.853  und  bei  sämtlichen  Kassen 

1,087.186  Tage;  auf  jedes  Mitglied  sind  13  Tage  zu  rechnen, 
in  denen  es  unterstützt  wird.  Verwandt  ist  die  Regelung  in  Nor¬ 
wegen.  Das  Gesetz  stammt  vom'  12.  Juni  1906.  Jede  Arbeitslosen¬ 
kasse,  die  gewisse  Bedingungen  erfüllt,  erhält  aus  der  Staatskasse 
ein  Drittel  der  Geldbeträge,  mit  denen  sie  ihre  in  Norwegen 
wohnhaften  Versicherten  unterstützt.  Zwei  Drittel  der  vom  Staate 
bezahlten  Beiträge  werden  auf  die  Gemeinden  umgelegt,  in  denen 
die  Unterstützten  während  der  letzten  fünf  Jahre  gewohnt  hauen. 
Die  Gewerkschaften  brauchen  nicht,  wie  in  Dänemark,  der  Form 
nach  selbständige  Arbeitslosenkassen  zu  errichten,  ln  Christiania 
wurden  von  sechs  anerkannten  Arbeitslosenkassen  3700  Arbeits¬ 
lose  angemeldet. 

In  Deutschland  soll  eine  Gesellschaft  zur  Bekämpfung  der 
Arbeitslosigkeit  als  deutsche  Abteilung  der  Internationalen 
Vereinigung  zur  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit 
gegründet  werden.  Beitrittserklärungen  nimmt  das  Bureau  des 
Verbandes  deutscher  Arbeitsnachweise,  Berlin  SO,  entgegen.  In 
dein  Aufrufe  wird  auf  die  im  Herbste  vorigen  Jahres  in  Paris 
stattgehabte  Internationale  Konferenz  zur  Bekämpfung  der  Ar¬ 
beitslosigkeit  und  auf  die  Gründung  der  Internationalen  Vereini¬ 
gung  hingewiesen.  Die  deutsche  Gesellschaft  soll  alle  bezüglichen 
Materialien  sammeln  und  so  zur  Lösung  des  Problems  beitragen. 

Die  neueste  Forderung  der  Sozialpolitik  ist  die  unentgelt¬ 
liche  Geburtshilfe.  Sie  ist  bis  jetzt  durcligeführt  in  Olfen¬ 
bach  und  in  einigen  schweizerischen  Städten:  Aarau,  Neuen¬ 
bürg,  Zug.  Zuletzt  ist  diese  Reform  in  Zürich  durchgedrungen. 
Der  Züricher  Stadtrat  hat  sie  für  unbemittelte  Wöchnerinnen  unter 
folgenden  Bedingungen  beschlossen:  Wöchnerinnen,  die  seit  min¬ 
destens  einem  Jahre  ununterbrochen  in  der  Stadt  Zürich  nieder¬ 
gelassen  und  auf  ein  Einkommen  von  nicht  mehr  als  2000  Franken, 
ohne  Vermögen,  angewiesen  sind,  sind  zur  unentgeltlichen  Ver¬ 
pflegung  in  der  kantonalen  Frauenklinik  oder  zum  Bezüge  der 
staatlichen  Hebammengebühr  (25  Franken)  und  bei  abnormalen 
Geburten  auch  zum  Bezüge  der  Arztes-  und  Arzneikosten  berech¬ 
tigt.  Ausnahmsweise  kann  in  Fällen,  wo  ein  höheres  Einkom¬ 
men  vorhanden  ist,  aber  die  wirtschaftliche  Lage  der  Familie 
es  rechtfertigt,  diese  Vergütung  ebenfalls  gewährt  werden.  Behufs 
Sicherstellung  der  Anstaltspflege  wurde  mit  der  Verwaltung  der 
kantonalen  Frauenklinik  ein  Vertrag  geschlossen,  demzufolge  die 
Gemeinde  für  die  Erweiterung  dieser  Staatsanstalt  440.000  T  ranken 
leistet  und  das  Recht  erhält,  jährlich  2000  Wöchnerinnen  gegen 
«’ine  die  amtliche  Gebühr  übersteigende  Verpflegungstaxe  (1  Trank 
über  den  amtlichen  Satz)  zu  überweisen.  Eine  Verordnung  zur 
Kugelung  des  Verhältnisses  zu  den  Krankenkassen,  die  eine  solche 
Vergünstigung  bereits  gewähren  und  zur  bevorstehenden  eid¬ 
genössischen  Wöchnerinnen- Versicherung  soll  ausgcai‘1  teilet 
werden.  In  Zürich  bestehen  außerdem  folgende  gemeinnützige 
Maßregeln:  Die  unentgeltliche  Beerdigung,  die  freie  Lieferung  der 
Lehrmittel  und  eine  großzügige  Wohnungsfürsorge. 

Nicht  nur  in  Oesterreich  —  siehe  die  letzte  Rektorenkonfe 
renz  —  sind  die  Hochschullehrer  mit  ihrer  Lage  unzufrieden. 
Besonders  die  außerordentlichen  Professoren  klagen  über 
ihre  Zwitterstellung.  So  gibt  es  in  Preußen  für  gewisse  Tücher, 
wie  gerichtliche  Medizin,  Dermatologie,  Statistik, 
überhaupt  keine  Ordinariate;  die  Lehrer  der  betreffenden  Fächer 


können  höchstens  zu  einem  persönlichen  Ordinariat  gelangen, 
Zweitens  gibt  es  eine  Reihe  von  Fächern,  wie  Kinderheilkunde, 
Ohrenheilkunde,  spezielle  Botanik  usw.,  in  denen  die  Zahl  der 
vorhandenen  Ordinariate  so  gering  ist,  daß  sich  die  außerordent¬ 
lichen  Professoren  dieser  Fächer  mit  dieser  Stellung  dauernd  oder 
doch  sehr  lange  begnügen  müssen;  von  der  Bedeutung  der  außer¬ 
ordentlichen  Professoren  als  bloßen  Durchgangsposten  kann  also 
in  der  Regel  nicht  die  Rede  sein.  Daran  hindert  überhaupt  die 
große  Zahl  von  Extraordinariaten  gegenüber  den  Ordinariaten. 
Dieser  Vernachlässigung  seitens  des  Staates  entspricht  auch  die 
untergeordnete  Stellung  im  Lehrkörper  selbst.  Von  dem  Senat 
und  den  Fakultäten  ist  der  Extraordinarius  so  gut  wie  ausge¬ 
schlossen.  Die  Gewohnheit  aber,  unverhältnismäßig  viel  Stellen 
mit  Hilfskräften,  anstatt  mit  Vollkräften  zu  besetzen,  hemmt 
in  letzter  Linie  die  wissenschaftliche  Entwicklung  der  betref¬ 
fenden  Fächer.  Zu  dem  kommt  noch  ein  anderer;  Umstand.  Die 
Universitäten  und  in  erster  Linie  die  medizinischen  Fakul¬ 
täten,  entwickeln  sich  immer  entschiedener  aus  Vorlesungs- 
ämtern,  bei  denen  es  nicht  viel  verschlägt,  ob  der:  Vortragende 
vor  50  oder  300  Hörern  liest,  zu  Arbeitsämtern,  wo  ein  Lehrer 
immer  nur  mit  einer  beschränkten  Zahl  von  Studenten  in  den 
Laboratorien,  Kliniken  und  Ambulatorien  arbeiten  kann.  Der  Ordi¬ 
narius  kann  allein  nicht  mehr  die  Aufgabe  bewältigen,  er  muß 
die  Extraordinarien  der  betreffenden  Fächer  mit  zu  seiner  Ent¬ 
lastung  herbeiziehen.  Dies  geschieht  aber  heute,  ohne  daß  ihnen 
eine  entsprechende  Entschädigung  geboten  würde.  Daher  stellt  eine 
Denkschrift  der  außerordentlichen  Professoren  folgende  Forde¬ 
rungen  auf:  1.  Mit  dem  Hilfslehrersystem  muß  an  sämtlichen 
Universitäten  gebrochen  und  der  Grundsatz  durchgeführt  werden, 
ein  Lehrbedürfnis  nur  durch  eine  wirkliche  Vollstelle  (Ordinariat) 
zu  decken.  Von  den  vorhandenen  Hilfsstellen  (Extraordinariaten) 
—  gleichviel,  ob  etatmäßig  oder  nicht  —  ist  daher  die  größere 
Zahl  in  VollstcTlon  umzuwandeln.  2.  Die  Extraordinarien,  welche 
übrig  bleiben,  sind  in  einer  Weise  an  dein  korporativen  Leben 
der  Universitäten  zu  beteiligen,  die  ihrer  Bedeutung  für  den 
Unterricht  und  ihrer  Eigenschaft  als  Staatsbeamten  angemessen 
ist;  auch  ist  ihre  materielle  Lage  zu  verbessern.  3.  Die  Stellen 
der  Abteilungsvorsteher  sind  in  etatmäßige  Extraordinariate  oder 
Ordinariate  mit  Lehrauftrag  umzuwandeln. 

\  Auch  die  folgende  Nachricht  wird  das  Interesse  weiter 
akademischer  Kreise  erwecken.  Das  Testieren  am  Schlüsse 
des  Semesters  ist  an  der  Berliner  Universität  als  zwecklos  al> 
geschafft  worden.  Nun  ist  man  einen  Schritt  weiter:  gegangen, 
indem  auch  bei  Beginn  des  Semesters  gleich  beim  Bezahlen  der 
Honorare  an  der  Universitätskasse  das  Testat  durch  einen  vom 
Quästor  aufgedruckten  Stempel  ersetzt  wird. 

Im  Deutschen  Reiche  besteht  bekanntlich  der  Impf¬ 
zwang,  den  wir  bis  jetzt  in  Oesterreich  vergebens  erhoffen. 
Andrerseits  wird  von  seiten  der  Naturheiler  eine  lebhafte  Agita¬ 
tion  gegen  das  Impfen  entfaltet.  Ende  April  fand  nun  im  Mini¬ 
sterium  des  Innern  eine  Konferenz  sämtlicher  Regierungs-  und 
Medizinalräte  des  Deutschen  Reiches  und  der  Vorsteher  der  preu¬ 
ßischen  Impfanstalten  statt;  die  Beratung  bezog  sich  auf  die 
Bedeutung  und  die  Durchführung  der  Schutzpockenimpfung  und 
auf  die  Frage,  ob  und  inwieweit  eine  Abänderung  des  Reichs¬ 
impfgesetzes  zulässig  sei.  Diese  Frage  wurde  einstimmig  ver¬ 
neint  und  die  Schutzimpfung  als  ein  unentbehrliches  Mittel  zur 
Verhütung  der  Pocken  erkannt. 

Der  Kultusminister  ordnete  an,  daß  die  Behörden  der  Durch¬ 
führung  des  Impfgeschäftes  ihre  besondere  Aufmerksamkeit  wid¬ 
men  sollen.  Die  Impfärzte  sollen  die  iaseptisc'hen  Vorsichtsmaßregeln 
streng  beobachten.  Kinder,  welche  mit  unsauberer  Wäsche  und 
ungewaschenem  Körper  zum  Impftermin  erscheinen,  sind,  so¬ 
weit  sich  dieser  Mangel  nicht  im._Termin  selbst  beheben  läßt, 
zurückzuweisen.  Jedem  Kinde  soll  vor  dem  Impfen  der  Ober¬ 
arm  mit  einem  mit  Alkohol  getränkten  Bausch  steriler  Watte 
abgerieben  werden.  Auch  soll  möglichst  jede  Blutung  vermieden 
werden.  Nach  der  Impfung  sind  die  Kinder  so  lange  unter  Auf¬ 
sicht  zu  halten,  bis  die  Lymphe  vollkommen  getrocknet  ist;  auch 
ist  darauf  zu  achten,  daß  die  Angehörigen  nicht  etwa  die  Wunde 
aussaugen  oder  abwischen,  wie  es  von  impfgegnerischer  Seite 
empfohlen  wird.  Auch  sollen  die  Angehörigen  von  jedem  un¬ 
gewöhnlichen  Verlauf  der  Impfung  und  von  jeder  Erkrankung 
in  den  nächsten  14  Tagen  dem  Impfarzt  Mitteilung  machen. 

Die  Antipestkonferenz  in  Mukden  ist  ohne  Resul¬ 
tat  verlaufen.  Die  europäischen  Delegierten  begegneten  dem 
Widerstand  der  chinesischen  Aerzte,  sobald  sie  eine  ernste  Frage¬ 
stellung  versuchten.  Das  einzige,  was  erzielt  wurde,  ist  die  Er¬ 
richtung  einer  Sanitätsstation  am  Sungari,  die  von  Rußland 
und  China  gemeinschaftlich  verwaltet  wird. 


802 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  22 


\/ermisehte  Nachrichten. 

Ernannt:  Generalstabsarzt  Dr.  Jos.  Haas  zum  Präses 
dos  Militärsanitätskomitees.  - — -  Im  land  wehr  ärztlichen 
Offizierskorps:  zu  Oberstabsärzten  erster  K lasse  die  Doktoren : 
Nikolaus  Teodorovits  und  Bela  Polin szky  v.  Kassa;  zu 
Oberstabsärzten  zweiter  Klasse  die  Doktoren:  Gabriel  Csejdi, 
Ludwig  Lichtenegger,  Demetrius  The  odor  ovits,  Desiderius 
Tönay,  Alexander  Szepesi,  Ladislaus  K  es  zier,  Eduard  Birö, 
Hermann  R osenberg;  zu  Stabsärzten:  Gregorius  Osväth, 
Alexander  Kanizsai,  Zoltän  Majos,  Wilhelm  Nazimeeki, 
Hermann  F  e  n  y  6. 

* 

Generalstabsarzt  Dr.  Philipp  Peck,  Vorstand  der  14.  Ab¬ 
teilung  im  Reichskriegsministerium,  wurde  mit  der  Führung  der 
Dienstagenden  des  Chefs  des  Militärärztlichen  Offizierskorps 
betraut. 

* 

Verliehen:  Aus  Anlaß  der  Uebernahme  des  Generalober¬ 
stabsarztes  Prof.  Dr.  Florian  Ritter  Kratschmer  v.  Forst¬ 
burg,  Chefs  des  Militärärztlichen  Offizierskorps  und  Präses  des 
Militärsanitätskomitees,  in  den  Ruhestand,  das  Komturkreuz  des 
Franz  Joseph- Ordens  mit  dem  Sterne  und  dem  Generalober¬ 
stabsarzt  Dr.  Karl  Nusko  das  Ritterkreuz  des  Leopold- Ordens. 

Dr.  Jiakob  Schreiber  in  Wien  der  Titel  eines  kaiser¬ 
lichen  Rates. 

* 

Gestorben:  Der  ordentliche  Professor  der  Histologie  und 
Entwicklungsgeschichte  in  Innsbruck  Dr.  Ludwig  Kersch n er. 

Geh.  Med.-Rat  Dr.  Karl  H  e  n  n  i  g,  a.  o.  Professor  der  Geburts¬ 
hilfe,  Frauenheilkunde  und  Pädiatrie  in  Leipzig.  — -  Dr.  Hermann 
Jakob  Knapp,  ehemaliger  Professor  für  Augenheilkunde  in  Heidel¬ 
berg  und  New  York. 

* 

Vom  25.  bis  27.  Mai  hat  in  Wien  die  Delegiertenver¬ 
sammlung  österreichischer  Aerz  teorgani  sätionen 
stattgefunden.  Einen  Hauptgegenstand  der  Beratung  bildete  das  Re¬ 
ferat,  des  Präsidenten  des  Reichs  Verbundes  österr.  Aerzteorganisa- 
tionen,  Dr.  Gruß  über  den  Vorentwurf  zu  einem  neuen  Strafgesetz¬ 
entwurf,  soweit  er  ärztliche  Interessen  berührt  und  das  Sozialver- 
sicherungsgesetz.  Es  wurde  beschlossen,  an  der  Forderung  festzu¬ 
halten,  daß  von  der  Krankenversicherung  alle  Personen,  ausgenomr 
mem  werden,  deren  Gesamtbezüge  2400  K  übersteigen.  Ueber  die 
Schaffung  einer  Zentralstelle,  in  der  alle  straf-,  zivil-,  gewerbe- 
und  verwaltungsrechtlichen  Entscheidungen,  die  ärztliche  Inter¬ 
essen  berühren,  gesammelt  und  hinterlegt,  ebenso  alle  sozial¬ 
ärztlichen  Vorkommnisse  aufbewahrt  und  in  Evidenz  gehalten 
werden,  referierte  Dr.  Heinrich  Grün.  Er  beantragte  im  Namen 
der  Wiener  Organisation,  daß  die  sozialärztliche  Bewegung  durch 
die  Schaffung  eines  sozialärztlichen  Zentralarchivs  in  ein  System 
.gebracht  werde.  An  diesem  Zentralarchiv  hätten  direkt  oder 
indirekt  alle  Aerzte  Oesterreichs  mitzuwirken.  Aufgabe  des  sozial- 
ärztlichen  Zentralarchivs  wäre  die  Sichtung  des  gesamten  sozial- 
ärztlichen  und  sozialmedizinischen  Materials. 

* 

Im  preußischen  Abgeordnetenhausei  ist  das  Gesetz  für! Feuer¬ 
bestattung  mit  176  gegen  158  Stimmen  angenommen  worden. 
Dessen  Annahme  durch  das  Herrenhaus  vorausgesetzt,  bleiben 
von  den  größeren  deutschen  Bundesstaaten  nur  mehr  Bayern 
und  Mecklenburg,  welche  am  Verbot  der  Feuerbestattung  f ent¬ 
halten. 

* 

Der  V.  Internationale  Kongreß  für  Thalasso¬ 
therapie  in  Kolberg  wird  am  6.  Juni  durch  den  Großherzog 
von  Mecklenburg- Schwerin  persönlich  eröffnet  werden.  Die  Re¬ 
gierungen  fast  aller  Kulturstaaten  werden  durch  offizielle  Dele¬ 
gierte  vertreten  sein.  In  der  ersten  Sitzung  hält  Geheimrat  Zuntz 
einen  Vortrag  über  physiologische  und  hygienische  Wirkungen 
der  Seereisen. 

* 

Aerztliche  Fortbildungskurse  in  Graz.  Die  ärzt¬ 
lichen  Fortbildungskurse  an  der  Grazer  Universität  werden  in 
diesem  Jahre  vom  25.  September  bis  7.  Oktober  1911  abgehalten 
werden.  Die  Programme  werden  auf  Wunsch  von  der  Univer- 
sitätsquästur  in  Graz  übersandt. 

* 

Der  nächste  Zyklus  der  Ferienkurse  der  Berliner  Do- 
zentenvereinigung  beginnt  am  2.  Oktober  1911  und  dauert 
bis  zum  28.  Oktober  1911  und  die  unentgeltliche  Zusendung 


des  Lektionsverzeichnisses  erfolgt  durch  Herrn  Melzem Berlin, 
Ziegelstraße  10/11  (Langen beck- Haus),  welcher  auch  sonst  hier¬ 
über  jede  Auskunft  erteilt. 

* 

Cholera.  Rußland.  Im  Gouvernement  Minsk  (West¬ 
rußland)  wurden  vom  21.  bis  29.  Apiril  4  Choleraerkrankungen, 
davon  1  mit  tödlichem  Ausgang,  gemeldet.  —  Türkei.  Vom 
26.  April,  dem  Tage  des  tödlich  verlaufenen  ersten  Cholerafalles, 
bis  7.  Mai  sind  in  Smyrna  9  Choleraerkrankungen,  darunter 
4  mit  letalem  Ausgange,  offiziell  konstatiert  worden. 

Pest.  Aegypten.  In  der  Woche  vom  28.  April  bis  4.  Mai 
1911  ereigneten  sich  in  Aegypten  68  (43)  Pestfälle  (Todesfälle) 
und  zwar  in  den  Provinzen  Assiout  9  (4),  Assouan  0  (1), 
Fayoum  1  (2),  Keneh  41  (34),  MenoufieW  2  (1),  Minieh  14  (l), 
in  der  Stadt  Alexandrien  1  (0) ;  in  der  Woche  vom  5.  (jus 
11.  Mai  1911  60  (51)  Pestfälle  (Todesfälle),  und  zwar  in  den 
Provinzen  Assiout  12  (ll),  Fayoum  10  (7),  Keneh  29  (26),  Me- 
noufieh  3  (4),  Minieh  6  (3).  Die  Gesamtzahl  der  seit  Beginn  des 
Jahres  bis  zum  6.  Mai  konstatierten  Pesterkrankungen  beträgt 
1323  gegenüber  470  in  der  entsprechenden  Zeitperiode  des  Vor¬ 
jahres.  Die  im  ganzen  vorigen  Jahre  erreichte  Krankheitsziffer 
von  1238  Fällen  ist  also  gegenwärtig  bereits  überschritten. 

4 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  18.  Jahreswoche  (vom  30.  April  bis 
6.  Mai  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  560,  unehelich  238,  zusammen 
798.  Tot  geboren,  ehelich  59,  unehelich  26,  zusammen  85.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  688  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
17  5  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  0,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  4, 
Scharlach  2,  Keuchhusten  1,  Diphtherie  und  Krupp  3,  Influenza  0, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  2.  Lungentuberkulose  136,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  51,  Wochenbettfieber  5,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  70  (-f-  11),  Wochenbettfieber  6( —  1),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  55  (— •  35),  Masern  180  ( —  55),  Scharlach  101  (—  2) 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  5  (4-  2),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0) 
Diphtherie  und  Krupp  50  (—  20),  Keuchhusten  39  (+  9),  Trachom  7  (—  7) 
Influenza  1  (-j-  1),  Poliomyelitis  0  (0). 

19.  Jahreswoche  (vom  7.  bis  13.  Mai  1911).  Lebend  geboren, 
ehelich  553,  unehelich  240,  zusammen  793.  Tot  geboren,  ehelich  54, 
unehelich  22,  zusammen  76.  Gesamtzahl  der  Todesfälle  698  (d.  i.  auf 
1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden  17'7  Todesfälle),  an 
Bauchtyphus  0,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  12,  Scharlach  2,  Keuch¬ 
husten  3,  Diphtherie  und  Krupp  7,  Influenza  1,  Cholera  0,  Ruhr  0,  Rot¬ 
lauf  5,  Lungentuberkulose  113,  Bösartige  Neubildungen  61,  Wochenbett- 
fieber  3,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektionskrankheiten:  An  Rotlauf 
57  ( —  13),  Wochenbettfieber  2  (-  4),  Blattern  (0),  Varizellen  87  (  r  324 
Masern  267  (-J-  87),  Scharlach  102  (-J-  1),  Flecktyphus  0  (0),  Rauch¬ 
typhus  2  ( — 3),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0),  Diphtherie  u.  Krupp  44  (—  64 
Keuchhusten  35  (  —  4),  Trachom  6  ( —  1),  Influenza  1  (=),  Polio¬ 
myelitis  0  (0). 


Freie  Stellen. 

Gemeindearztesstelle  in  der  Sanitätsgemeindegruppe 
Hadres-Untermarkersdorf  (Niederösterreich).  Die  Einwohnerzahl 
beträgt  2758,  Gemeindebeiträge  400  K.  Die  vorschriftsmäßig  instruierten 
Gesuche  wollen  an  das  Bürgermeisteramt  Hadres  bis  15.  Juni  1.  J. 
übersendet  werden. 

Gemeindearztesstelle  für  die  Sanitätsgemeinde  K  alten¬ 
eu  tgeben  (politischer  Bezirk  Hietzing-Umgehung,  Niederüsterreich)  mit 
2134  Einwohnern.  Mit  dieser  Stelle  sind  nachstehende  fixe  Bezüge  ver¬ 
bunden:  als  Gemeindearzt  der  Sanitätsgemeinde  Kaltenleutgeben  jährlich 
800  K,  als  Arzt  der  Bezirkskrankenkasse  Baden  für  Behandlung  doi 
Arbeiter  und  Versorgung  mit  Medikamenten  1840  K,  für  Armenbehand¬ 
lung  vom  Bezirksarmenrate  Liesing  150  K.  Haltung  einer  Hausapotheke 
erforderlich.  Die  mit  dem  Diplom,  dem  Tauf-  (Geburts-)  Scheine,  dem 
Nachweise  der  österreichischen  Staatsbürgerschaft,  dem  Sittenzeugnisse, 
einem  amtsärztlichen  Gesundheits-  beziehungsweise  Tauglichkeitszeugnisse, 
sowie  mit  den  Nachweisungen  über  die  bisherige  ärztliche  Tätigkeit 
ordnungsmäßig  instruierten,  an  den  niederösterreichischen  Landesaus¬ 
schuß  zu  richtenden  Gesuche  sind  bis  längstens  15  J  u  n  i  d.  J.  an  das 
Bürgermeisteramt  in  Kaltenleutgeben  zu  senden,  wo  auch  nähere  Aus¬ 
künfte  über  diese  Stelle  erteilt  werden. 

Gemeindearztesstelle  der  Sanitätsgemeindegruppe  Re i ti¬ 
gers  (politischer  Bezirk  Gmünd,  Niederösterreich),  bestehend  aus  den 
Gemeinden  Reingers,  Groß-Radischen,  Reinberg-Litschau,  Hirschenschlag- 
Illmanns  und  Leopoldsdorf,  3794  km2  groß,  2386  Einwohner,  fixe  Bezüge 
238  K  von  den  Gemeinden;  vom  niederösterreichischen  Landesausschusse 
bisher  gewährt  an  Subvention  1600  K,  an  Wohnungsbeitrag  200  K  jähr¬ 
lich.  Hausapotheke  erforderlich.  Ordnungsgemäß  belegte  Gesuche  sind 
bis  spätestens  20.  Juni  1911  beim  Bürgermeisteramt  in  Reingers 
einzubringen. 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


803 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 
Sitzung  vom  26.  Mai  1911. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in  Wien. 
Sitzung  vom  11.  Mai  1911. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

\ 

Sitzung  vom  26.  Mai  1911. 

Vorsitzender:  Reg.- Rat  Prof.  Dr.  A.  Kreidl. 

Schriftführer:  Dr.  0.  v.  Frisch. 

Laut  Mitteilung  des  Präsidenten  Hofrat  Exner  wird,  über 
diesbezügliche  Aufforderung  des  k.  k.  niederösterreichischen 
Landesschulrates,  Herr  Priv.-Doz.  Dr.  Anton  B  um  als  Dele¬ 
gierter  der  Gesellschaft  in  die  Zentrale  für  die  körper¬ 
liche'  Erziehung  der  Schuljugend  in  Niederöster¬ 
reich,  nominiert. 

Dr.  W.  Weibel:  Ich  erlaube  mir,  Ihnen  eine  42jährige 
Fiau  zu  demonstrieren,  hei  der  ich  dieses  Präparat  exstirpiert 
habe.  Sie  kam  wegen  langdauernder  Verdauungsstörungen  und 
Schmerzen  im  Abdomen  an  die  II.  Frauenklinik.  Man  konstatierte 
im  Abdomen  multiple  Tumoren,  welche  sich  in  etwas  freier 
Flüssigkeit  außerordentlich  gut  verschieben  ließen  und  nahm  an, 
daß  es  sich  um  einen  Primärtumor  mit  Metastasen  an  Netz  und 
Darm  handle1.  Das  Genitale  konnte  als  Sitz  tier  Tumoren  aus¬ 
geschlossen  werden,  da,  Uterus  und  Adnexe  keine  tastbaren  Ver¬ 
änderungen  aufwiesen. 

Bei  der  Laparotomie  zeigte  es  sich,  daß  vier  Tumoren  vor¬ 
handen  warfen,  welche  hintereinander  in  einer  Dünndarmschlinge 
saßen.  Im  zugehörigen  Mesenterium  stak  eine  kleinapfelgroß-e 
Drüsenmetastase,  gut  beweglich.  Der  maligne  Charakter  der  Ge¬ 
schwulst  unterlag  keinem  Zweifel.  Der  eben  erwähnte  Drüsen¬ 
tumor  machte  es  bei  der  nun  folgenden  Resektion  der  befallenen 
Dünndarmschlinge  notwendig,  beiderseits  noch  ein  gesundes  Dann- 
stück  mitzunehmen,  so  daß  135  cm  Darm  zur  Resektion  kommen 
mußten,  teils  Ileum,  teils  Jejunum.  Die  Vereinigung  der  Dank¬ 
enden  geschah  „end  to  end“.  Das  rechte  Ovarium  wurde  wegen 
einer  derben,  haselnußgroßen  Metastase  exstirpiert.  Das  Gesamt¬ 
gewicht  der  Geschwülste  beträgt  1850  g.  Der  Verlauf  war  ganz 
glatt  und  die  Patientin  verließ  geheilt  die  Klinik. 

Am  Präparate  findet  man  vier  hintereinander  liegende  ovoide 
Tumoren  von  Kleinfaust-  bis  Doppelfaustgröße,  zwischen  denen 
immer  ein  kurzes  Stück  anscheinend  normalen  Darmes  liegt. 
An  einem  Längsschnitt  durch  einen  Tumor  zeigt  sich,  daß  die 
ganze  Darmwand  dick  infiltriert,  das  Lumen  aber  nicht  ver¬ 
engt  ist.  Mikroskopisch  findet  man  ein  kleinzelliges  Rundzellen- 
sarkom,  ausgehend  von  den  Lymphfollikeln,  welches  auch  die 
makroskopisch  normal  scheinende  Darmschleimhaut  diffus  in¬ 
filtriert.  Ja  seihst  die  beiderseitigen,  anscheinend  gesunden  Enden 
Jus  resezierten  Darmes  sind  sarkomatös  infiltriert.  Der  Knoten 
im  Ovarium  ist  ebenfalls  ein  kleinzelliges  Rundzellensarkom. 

Die  Lymphosarkome  des  Darmes  gehören  zu  den  seltenen 
Erkrankungen,  sie  befallen  vorzüglich  den  Dünndarm,  kommen  oft 
multipel  vor,  bleiben  lange  gut  beweglich,  rezidi vieren  aber  rasch 
und  geben  eine  schlechte  Prognose.  Chiari  fand  auf  tausend 
Sektionen  nur  ein  Sarkom  des  Darmes  und  nach  Mikulicz 
kommen  auf  100  Fälle  von  Darmkarzinom  (ohne  die  Rektum¬ 
karzinome)  nur  fünf  Fälle  von  Darmsarkomen. 

Die  Patientin  zeigt  jetzt,  zwei  Monate  nach  der  Operation, 
in  der  linken  Flanke  einen  beweglichen,  eigroßen  Tumor  und 
'inen  zweiten,  faustgroßen,  wenig  beweglichen  in  der  Magen- 
Gegend.  Die  Anordnung  der  exstirpierten  Tumoren  ist  derart, 
laß  der  größte  der  am  meisten  distal  gelegene  ist,  der  kleinste 
d>er  proximal  liegt.  Die  jetzigen  Rezidivtumoren  liegen  noch 
nehr  proximal,  was  mit  der  Richtung  des  Lymphstromes  riber- 
’  bestimmt. 

Priv.-Doz.  Dr.  Leopold  Freund:  Zur  B andagen behau d- 
>  u  n  g  d  e  r  Gastroptosc. 

In  bezug  auf  die  Behandlung  der  Gastroptosc  herrscht 
zwischen  Internisten  und  Chirurgen  keine  besondere  Ueberein- 
dimmung.  Nur  bezüglich  der  Bandagenbehandlung  der  Gastroptosc 
und  beide  Lager  einig.  Von  beiden  wird  sie  als  rationelle  Methode 
a  Vorschlag  gebracht.  Demzufolge  sind  auch  eine  Menge  von 
km dagen  und  Band agierun gsmethoden  zur  Behandlung  dieses 
Leidens  angegeben  werden.  Auffallenderweise  haben  aber  alle 
liese  Hilfsmittel,  deren  Anwendung  von  dem  sicher  richtigen 


Wiener  dermatologische  Gesellschaft.  Sitzung  vom  8.  April  1911. 

28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin. 

40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  fiir  Chirurgie  zu  Berlin. 


Grundsätze  ausgehen,  daß  eine  Besserung  der  Verdauungs- 
beschwerden  bei  solchen  Kranken  dann  eintreten  müßte,  wenn 
dem  gedehnten  Magen  die  durch  Senkung  der  Dünndarmschlingen 
und  des  Querkolons,  sowie  durch  Dehnung  der  Bauchdecken 
verloren  gegangene  Unterlage  und  Stütze  von  außen  her  in  der 
Bandage  geboten  wird,  wenig  Erfolg.  Es  ist  bekannt,  daß  sehr 
viele  Frauen  wegen  der  bedeutenden  Beschwerden,  die  solche 
Bandagen  verursachen,  nach  kurzem  Versuche  von  ihrem  Ge¬ 
brauche  absehon  und  sich  lieber  mit  dem  von  der  Gastroptosc 
ausgehenden  Unbehagen  abfinden,  als  die  Bauchbinde  wieder 
anzulegen. 

Ich  habe  mir  die  Aufgabe  gestellt,  diese  Tatsache  auf  radio- 
skopischem  Wege  zu  prüfen  und  habe  zu  diesem  Zwecke  mit 
gütiger  Unterstützung  des  Herrn  Prim.  Dr.  Karl  Reift  er  im 
letzten  Halbjahr  eine  Reihe  von  Untersuchungen  an  der  dritten 
medizinischen  Klinik  gemacht,  deren  Resultate  ich  mir  hier  kurz 
mitzuteilen  erlaube.  Diese  Untersuchungen  bezogen  sich  aus¬ 
schließlich  auf  die  radioskopischen  Verhältnisse  hei  Personen 
mit  schlaffen  Bauchdecken,  da  ja  für  Personen  mit  straffer  Bauch¬ 
wand  die  Bandagenbehandlung,  wie  v.  No  or  den  gezeigt  hat, 
als  wirkungslos  kaum  in  Betracht  kommt.  Um  die  Beziehungen 
zwischen  der  meist  verwendeten  Bandage  und  dem  gedehnten 
Magen  genau  studieren  zu  können,  ließ  ich  die  Pelotten  der 
vei'ordneten  Binden  aus  einem  für  Röntgenstrahlen  transparenten 
Stoffe,  nämlich  Zelluloid  hersteilen,  das  natürlich  so  stark  ge¬ 
nommen  wurde,  daß  die  Konsistenz  und  Elastizität  dieser  Zelluloid- 
pelotten  sich  von  jener  der  sonst  allgemein  verwendeten  nicht 
unterschied.  Entlang  dem  oberen  Rande  der  Pelotten  befestigte 
ich  einen  Bleidraht,  welcher  mir  den  Stand  der  Pelotte  auf 
dem  Fluoreszenzschirme  oder  der  photographischen  Platte  an¬ 
zeigte. 

Sie  sehen  auf  dem  ersten  Bilde  den  mit  der  Rieder- 
scheu  Mahlzeit  gefüllten  und  gedehnten  Magen  einer  45jälirigen 
Frau.  Der  Magen  erscheint  als  35  cm  langer,  5  bis  7  cm  dicker, 
etwa  an  der  Grenze  des  unteren  vom  mittleren  Drittel  umgebogener 
Schlauch.  Beide  Schenkel  sind  parallel  und  steigen  senkrecht 
nach  oben,  so  daß  die  Hubhöhe  zwischen  dem  Pylorus  und 
dem  kaudalsten  Punkte  der  großen  Kurvatur  9  cm  beträgt.  Der 
dem  Pylorus  angrenzende  Teil  des  Magens  ist  gedehnt.  Der 
tiefste  Punkt  des  Magens  befindet  sich  in  der  Höhe  der  Stelle 
stärkster  Einschnürung  des  Hüftbeinschattens  oberhalb  des 
Pfannenrandes.  Die  Peristaltik  war  sehr  träge,  die  Austreibungs¬ 
zeit  des  Mageninhaltes  verlängert. 

Das  zweite  Bild  wurde  aufgenommen,  nachdem  die  Pa¬ 
tientin  auf  nüchternen  Magen  in  liegender  Stellung  die  Magen¬ 
binde  anlegt  und  danach  die  Wismutmahlzeit  eingenommen  hatte. 
Wir  sehen  auf  diesem  Bilde  wohl  eine  Hebung  der  unteren 
Magen  grenze  um  4  cm.  Aber  wir  sehen  auch,  daß  ein  großer 
Teil  des  Magens  von  der  Pelotte  komprimiert  und  gegen  die 
Rückwand  der  Bauchhöhle  gedrückt  wird.  Dies  geht  aus  dem 
minder  intensiven  Schatten  des  hinter  der  Pelotte  befindlichen 
Teiles  des  Magens  im  Vergleich  zu  seinen  übrigen  Partien  hervor. 
V  ir  sehen,  daß  durch  diesen  Druck  die  Passage  der  Ingesten 
von  der  Kardia  zum  Pylorus  sehr  erschwert  und  mit  Ausnahme 
der  kleinen  Lücke  zwischen  dem  Knick  der  kleinen  Kurvatur 
und  dem  oberen  Rande  der  Pelotte  fast  unmöglich  gemacht  wird. 
Luter  solchen  Umständen  ist  es  nicht  verwunderlich,  daß  eine 
so  anliegende  Bandage  keine  Besserung,  sondern  eher  eine  Ver¬ 
schlimmerung  in  den  subjektiven  Beschwerden  der  Patienten  her¬ 
beiführte.  Ja  man  kann  wohl  annehmen,  daß  hei  einer  der¬ 
artigen  Abschnürung  des  Magenschlauches  der  nach  abwärts 
strebende  und  durch  nachrückende  Nahrung  vermehrte  Magen¬ 
inhalt  oberhalb  der  Einschnürungsstelle  nach  und  nach  eine 
Erweiterung  des  Magenlumens  und  damit  eine  Dehnung  der 
Magenwandung,  wie  sic  im  Röntgenbild  ja  schon  angedeutet  ist, 
herbeiführen  muß,  so  daß  nicht  nur  die  Störung  der  Funktion, 
sondern  noch  eine  Verschlechterung  der  anatomischen  Verhält¬ 
nisse  die  wirkliche  Folge  einer  derartigen  Behandlung  ist.  Tat¬ 
sächlich  dauerte  die  Entleerung  des  Magens  unter  einer  solchen 
Binde  länger  als  ohne  Binde. 

Das  nächste  Bild  zeigt,  wie  sich  die  Pelotte  zum  Magen 
verhält,  wenn  sie  erst  nach  der  Nahrungsaufnahme  angelegt 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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wurde.  In  diesem  Falle  ist  die  Hebung  der  unteren  Magengrenzc 
eine  wesentlichere  —  6  cm  —  und  die  Einschnürung  vom  linken 
Horn  der  Pelotte  keine  so  hochgradige  und  so  weit  in  das  Magen- 
lumm  hineinreichende.  Das  breite  kaudale  Ende  des  gefüllten 
Magens  bietet  der  Pelotte  beim  Heben  offenbar  eine  bessere 
Angrifflfäche  als  der  schlaffe  leere  Magensack. 

Auf  Grund  dieser  Erfahrungen  habe  ich  nun  versucht,  eine 
Bandage  herzustellen,  welche  den  anatomischen  Verhältnissen 
besser  angepaßt  ist.  Zuerst  stellte  ich  auf  radioskopischem  Wege 
den  Umriß  der  großen  Kurvatur  des  gefüllten  ptotischen  Magens 
her.  Nach  der  so  ermittelten  Linie  wurde  die  Pelotte  der  Ban¬ 
dage  geformt.  Unter  Kontrolle  des  Röntgenschirmes  wurde  die 
Pelotte  an  der  richtigen  Stelle  des  Abdomens  an  dem  Leibgurte 
befestigt,  so  daß  die  große  Kurvatur  genau  in  den  oberen  Ein¬ 
schnitt  der  Pelotte  hineinpaßte.  Die  Pelotte  wird  durch  den 
Druck  einer  Feder  und  durch  elastische  breite  Riemen  fixiert, 
welche  um  den  Bauch  herum  zu  dem  hohen  mit  festen  Einlagen 
versehenen  Rückenstück  hinziehen,  das  ihnen  eine  gute  Stütze 
gibt.  Sie  sehen  auf  dem  letzten  Bilde,  wie  exakt  die  große  Kur¬ 
vatur  des  Magens  in  die  Höhlung  der  Pelotte  hineinpaßt,  die 
Hebung  des  kaudalen  Endes  beträgt  8  Cm  und  gleichzeitig  kann 
man  bemerken,  daß  der  aufsteigende  Schenkel  des  Magenschlauches 
nicht  mehr  vertikal,  sondern  stark  geneigt  zieht,  so  daß  die 
Hubhöhe  wesentlich  verringert  und  der  Austritt  des  Mageninhaltes 
erleichtert  wird.  Tatsächlich  ergab  sich  radioskopisch,  daß  die 
Austreibezeit  so  um  1  bis  lVa  Stunden  verringert  wurde.  Wie 
die  Patientin  angab,  bereitete  ihr  diese  Bandage  fast  gar  kein  Un¬ 
behagen  und  fühlte  sie  ihre  Beschwerden  wesentlich  erleichtert. 
Ich  lasse  sie  die  Binde  erst  nach  dem  Mittagessen  anlegen 
und  bis  zum  Schlafengehen  tragen. 

Ich  glaube  nach  diesen  Ergebnissen  empfehlen  zu  dürfen, 
Pclotlenbandagen  für  Behandlung  der  Gastroptose  nur  unter  radio- 
skopischer  Kontrolle  hersteilen  zu  lassen. 

Durch  diese  Modifikationen  in  der  Herstellung  und  An¬ 
legung  der  Bandagen  werden  wir  allerdings  auch  nicht  imstande 
sein,  Gastroptosen  beim  Hängebauch  zu  heilen.  Davon  kann 
ja  in  Anbetracht  der  anatomischen  Verhältnisse  nicht  die  Rede 
sein.  Die  von  mir  erwähnten  Verbesserungen  in  der  Anfertigung 
und  Anlegung  von  Bandagen  könnten  nur  dann  in  Betracht 
kommen,  wo  man  hofft,  die  Beschwerden  der  Kranken  durch 
Bauchbinden  erleichtern  zu  können.  Daß  neben  diesem  Hilfsmittel 
jedes  andere  therapeutische  Vorgehen,  welches  die  Krankheit 
kausal  zu’  beeinflussen  strebt  und  vermag,  berechtigt  und  am 
Platze  ist,  bedarf  keiner  Hervorhebung. 

Diskussion:  Hofr.  Eiseisberg:  Es  wäre  sehr  erfreulich, 
wenn  es  gelänge,  Pelotten  zu  kon  struieren,  welche  erfolgreich  gegen 
Gastroptose  verwendet  werden  können.  Ich  zweifle  nicht  daran, 
daß  es  gelingt,  den  gesenkten  Magen  auf  die  Art  und  Weise, 
wie  uns  eben  gezeigt  wurde,  momentan  zu  heben,  doch  dürfte 
infolge  der  wechselnden  Ausdehnung  des  Organs,  die  Wirkung  des 
Apparates  keine  dauernde  sein.  Es  gibt  nicht  einmal  ein  Bruch¬ 
band  für  Nabelbrüche,  das  von  den  Patienten  vertragen  würde. 
Alle  diese  Vorrichtungen  sind  leider  unbrauchbar,  eben  weil 
sie  sich  dem  schwankenden  Ausdehnungszustand  nicht  anpassen, 
infolge  dessen  einmal  zu  locker  sitzen,  das  andere  Mal  wieder 
drücken. 

Prof.  Riehl  demonstriert  eine  28jähr.  Frau  R.  D.  Ch.  aus 
Rußland,  welche  ein  über  die  ganze  Körperoberfläche  verteiltes 
prämykotisches  Exanthem  (Köbners  II.  Stadium)  mit  Infiltra¬ 
tion  zeigt  noch  ohne  Tumorbildung.  (Der  Fall  wird  später  ver¬ 
öffentlicht.) 

Prof.  Riehl  berichtet  aus  dem  Obduktionsbefund  (Professor 
Stoerk)  der  in  der  Sitzung  vom  19.  d.  Al.  als  Mykosis  fungoides 
d’emblee  demonstrierten  Kranken. 

Die  Infraklavikular-  und  Axillardrüsen  zu  faustgroßen  Pa¬ 
keten  konfluiert  und  in  eine  weiße,  teils  harte,  teils  weiche 
A f term a;sse  umgewandelt,  auch  die  Drüsen  am  Halse  und  an  der 
Klavikula  in  gleicher  Weise  verändert.  Der  Schilddrüse  anliegend 
und  teilweise  auf  dieselbe  übergreifend  ein  ähnlicher  Knoten. 

Die  Lymphfollikel  des  Zungengrundes  stark  vergrößert,  kon- 
iiuierend,  in  der  linken  Tonsille  Geschwulsteinlagerungen.  Leber 
leicht  fettig  infiltriert,  Milz  etwas  vergrößert,  in  dem  Nierenparen¬ 
chym  zahlreiche  weißliche,  unscharf  begrenzte  Tumoren.  Die 
Lymphdrüsen  des  Mesenteriums  unverändert,  die  retroperitonealen 
zum  Teil  infiltriert.  Knochenmark  unverändert.  Der  große  Tumor 
an  der  Schulter  zeigt  im  Querschnitt  weißliches,  gleichmäßiges 
Infiltrat  und  gegen  die  Muskulatur  zu  unscharf  begrenzt. 

Anatomische  Diagnose:  Mykosis  fungoides  sarcomatodes. 

Dieser  Befund  spricht  für  die  Auffassung  des  ganzen  Pro¬ 
zesses  als  Lymphosarkom,  zumäl  auch  die  Drüsen  histologisch 
ein  entsprechendes  Bild  zeigen.  Der  Fäll  mußte  also  im  Sinne 


Palt  aufs  zu  jener  Gruppe  gerechnet  werden,  welche  als  Sar¬ 
kom  endet,  oder  ist  überhaupt  als  Sa.rko'matosis  aufzufassen. 

Die  klinische  Diagnose  wurde  auf  Alykosis  fungoides  d’emblee 
gestellt,  hauptsächlich  im  Hinblick  darauf,  daß  das  histologische 
Bild  der  Hautknoten  Polymorphie  der  Zellen  zeigte,  daß  der  pri¬ 
märe  Tumor  an  der  Haut  entstanden  war  und  erst  im  dritten 
Jahre  des  Krankhöits  Verlaufes  zu  Metastasen  geführt  hat;  ferner 
daß  auch  bei  typischen  Mykosisfällen  mit  jahrelangem  Verlauf 
und  pvämykotischcn  Erscheinungen  Metastasen  in  Drüsen  und 
inneren  Organen  öfters  beobachtet  worden  sind.  Die  Grenze  zwi¬ 
schen  Mykosis  und  Lymphosarkom  ist  wohl  derzeit  klinisch  und 
anatomisch  nicht  sicher  festzustcllen.  Der  Fall  wird  noch  ein¬ 
gehend  histologisch  untersucht  und  später  publiziert  werden. 

Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz:  Ueber  Digitalisleim.  (Vor¬ 
läufige  Mitteilung.)  (Erscheint  ausführlich  in  dieser  Wochen 
schrift.) 

Dr.  Adolf  Kronfeld:  Zur  Entwicklung  des  Anatomie¬ 
hildes  seit.  1632. 

Das  Auflauchen  eines  neuen  Anatomiehildes  in  der  deut¬ 
schen  Kunst  gibt  dem  Vortragenden  Anlaß,  in  aller  Kürze  und 
mit  Hervorhebung  des  besonders  Charakteristischen  die  Entwick¬ 
lung  des  Anatomiebildes  seit  dem  Jahre  1632  zu  besprechen. 
Er  zitiert  aus  der  Literatur  die  Arbeiten  von  Choulant,  Tila- 
nus,  Tri  a  i re,  Aleige,  Richer,  Holländer  u.  a.  und  schil¬ 
dert  hierauf  die  „Anatomiestudie  des  Dr.  Tulpius“  von  Rem¬ 
brandt,  die  vornehmste  künstlerische  Verherrlichung  (  der  ärzt¬ 
lichen  wissenschaftlichen  Arbeit  überhaupt.  Es  wird  hierauf  eine 
Reihe  holländischer  Anatomiebilder  kurz  erörtert,  die  Geschieht'' 
des  anatomischen  Studiums  in  Wien  gestreift,  ein  Blatt  von 
Hogarth  besprochen,  ferner 'eine  Anatomie  äus  der  italienischen, 
eine  zweite  aus  der  japanischen  Kunst  vorgeführt  Uriel  an  dem 
Beispiele  des  „CursUä  änatomicUs“,  welchen  Dr.  Höchstetter 
im  Jahre  1711  in  Rothenburg  an  der  Täuber  vorgenommen  hat, 
der  Gang  derartiger  Demonstrationen  skizziert.  Aus  der  großen 
Ves  al  iu  s  -  Ikonographie  wird  ein  Bild  von  Hammahn  erwähnt 
Es  wird  die  Bedeutung  des  „Anatomen“  von  Gabriel  von  Alax 
für  die  'moderne  Kunst  erörtert  und  ein  hieher  gehöriges  Original 
Ölgemälde  von  Schraudolph  aus  der  Sammlung  des  Hof  rates 
Politzer  demonstriert.  Die  Arbeiten  Simonets,  Skarbinas,  Bel¬ 
langers,  Leroux’,  Chicotots,  Desmoulins  werden  vorgeführt  und 
zwei  Anatomendenkmäler,  ferner  eine  Placpiette  vori  Roty  be¬ 
sprochen.  Die  jüngste  „Anatomie“  ist  ein  Werk  des  Münchener 
Malers  Wolfgang  Merkel  und  stellt  den  Göttinger  Anatomen  Pro¬ 
fessor  Friedrich  Merkel  mit  dem  Bonner  Physiologen  Verwom, 
dem  Göttinger  Kliniker  Hirsch,  dem  Göttinger  Prosektor  Heid e- 
rich,  dem  Greifswald  er  Anatomen  Rellins  und  dem  Stra߬ 
burger  Arzte  Preise  bei  einer  Leiche  dar.  Der  Vortragende 
hebt  hervor,  daß  die  Geschichte  der  Anatomie  unlösbar  verknüpft 
sei  mit  der  Geschichte  der  Malerei  und  daß  die  freie  Kunst 
in  unseren  Tagen,  ähnlich  wie  zur  Zeit  Rembrandts,  wieder 
danach  strebe,  einen  Maßstab  für  Idie  Bedeutung  und  die  Vor¬ 
nehmheit  der  wissenschaftlichen  Arbeiten  des  Arztes  zu  gewinnen. 
40  Lichtbilder,  mehrere  Lithographien  und  Stiche  üild  ein  Ori- 
ginalgemälde  werden  demonstriert. 

Professor  0.  Stoerk  demonstriert  die  Präparate  eines  am 
Vortage  obduzierten  Falles  —  identisch  mit  dein  von  Prof.  Riehl 
in  der  vorangegangenen  Sitzung  vorgestellten  Fall  von  Mycosis 
fungoides.  Es  werden  folgende  Objekte  gezeigt:  Eine  Gewebs- 
sebeibe,  einem  Vertikals'chnitt  durch  die  Haut  und  der  darunter 
liege  ml  <hi  Schultermuskulatur  entsprechend,  welche  die  infiltrie¬ 
rende  und  substituierende  Ausbreitung  tiefenwärts  erkennen  läßt; 
Metastasen  am  Zungengrund  und  an  den  Tonsillen;  ausgedehnte 
Metastasen  in  beiden  Nieren  und  ein  faustgroßes  infraklavikulare.s 
Drüsenpaket.  Mikroskopisch  zeigen  die  Metastasen  das  Aussehen 
eines  Bundzellensarkoms  mit  uniformen  Elementen  von  lymphoi- 
dem  Typus. 

Diskussion:  Prof.  Palt  auf  bemerkt,  daß  er  den  Fall  so 
wie  er  jetzt  vorliegt,  nicht  zur  Alykosis  fungoides  rechnen  könnte; 
die  Mykosis  fungoides  d'emblee  ist  gewiß  keine  so  charakterisierte 
Erkrankung,  als  die  klassische  Mykosis  fungoides,  welche  außer¬ 
ordentlich  selten  innere  Lokalisationen  setzt,  die  ein  zürn  vor¬ 
liegenden  Falle  ganz  verschiedenes  Aussehen  und  Verhalten 
zeigen;  er  hat  einen  solchen  Fall  beobachtet  und  wird  dm 
zum  Gegensatz  gelegentlich  demonstrieren.  Paltauf  hält  es 
nicht  für  ausgeschlossen,  daß  es  eine  dem  Lymphosarkom,  respek¬ 
tive  Lymphosarkomatose  nahe  stehende  primär  lokalisierte  Er¬ 
krankung  der  Haut  gibt,  die  im  äußeren  Aspekt  mykosiden  Tumoren 
sehr  ähnlich  ist,  als  Mykosis  fungoides  d’emblee  demnach  er¬ 
scheint,  aber  dem  Wesen  nach  gar  nicht  zugehört. 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  11.  Mai  1911. 

II.  Kienböck  demonstriert  Röntgenbilder  eines  Falles 
von  pulsieren  den. Hilusdrüsen.  Bei  einem  60jährigen 
Mann  fanden  sich  bei  der  Durchleuchtung  Schattenherde  in 
beiden  Ililusgegenden  der  Lunge,  welche  Pulsation  zeigten. 
Rechts  war  der  Schatten  nußgroß,  in  beiden  Lungenfeldern 
fanden  sich  streifenförmige  pulsierende  Schatten,  welche  auf 
eine  Erweiterung  der  Arteria  pulmonalis  zurückzuführen  sind.  Der 
nußgroße  pulsierende  Herd  dürfte  eine  zerfallene  Drüse  sein,  in 
welcher  eine  Blutung  von  einem  arrodierten  Aste  aus  erfolgte. 
Pat.  war  zwei  Jahre  lang  lungenkrank  gewesen  und  hatte  eine 
Mitralinsuffizienz  sowie  eine  Rekurrenslähmung. 

Fr.  Tedesko  stellt  aus  der  Abteilung  Schlesinger 
eine  20jährige  Frau  vor,  bei  welcher  eine  Streptokokken¬ 
meningitis  durch  Lumbalpunktion  geheilt  wurde. 
Pat.  bekam  vor  einem  Monat  Erbrechen,  Kopfschmerz,  Nacken¬ 
steifigkeit,  Druckempfindlichkeit  des  Schädels,  Herpes  an  der 
Oberlippe  und  ein  Fieber  von  39’2°,  sie  zeigte  Neuritis  optica 
und  Kernigsches  Symptom.  Die  Tonsillen  waren  geschwollen. 
Die  Spinalpunktion  ergab  eitrige  Flüssigkeit,  welche  unter  hohem 
Drucke  stand,  das  gefärbte  Sediment  zeigte  polymorphe  neutro¬ 
phile  Leukozyten  und  Streptokokken  in  Reinkultur.  Nach  der 
Punktion  fiel  das  Fieber  ab  und  es  trat  eine  Besserung  ein,  das 
Kernig  sehe  Symptom  und  die  Nackensteifigkeit  blieben  jedoch 
bestehen.  Eine  neuerliche  Punktion  brachte  endlich  eine  definitive 
Besserung.  Bei  der  dritten  Punktion  war  die  gewonnene  Flüssig¬ 
keit  steril.  Der  Ausgang  der  Meningitis  dürfte  in  den  ge¬ 
schwollenen  Tonsillen  zu  suchen  sein,  die  Streptokokken  haben 
eine  Endokarditis  und  dann  Meningitis  hervorgerufen.  Auf  der 
Abteilung  Schlesingers  wurden  mehrere  Fälle  von  eitriger 
Meningitis  (lurch  Lumbalpunktion  geheilt.  Durch  die  Punktion 
im  fieberfreien  Stadium  werden  die  Erscheinungen  des  Hydro¬ 
zephalus  gut  beeinflußt. 

H.  Schlesinger  zeigt  einen  53jährigen  Mann  mit 
multiplen  Neurofibromen  der  peripheren  Nerve n- 
wurzeln  mit  Beinphänomen  und  atypischem 
frousseau  sehen  Phänomen.  Pat.  bemerkte  vor  14  Jahren 
fine  schmerzhafte  Anschwellung  am  rechten  Thenar  und  eine 
'bensolche  oberhalb  der  linken  Kniekehle.  Im  Beginn  dieses 
lahres  stellten  sich  Schmerzen  im  Kreuze,  Parästhesien  im 
echten  Beine  bei  gleichzeitiger  Abnahme  der  Kraft  sowie 
schialgische  Schmerzen  im  rechten  Oberschenkel  ein.  In  der 
echten  Hohlhand  bildete  sich  noch  ein  zweiter  schmerzhafter 
umor  aus.  Allmählich  entwickelte  sich  eine  fortschreitende 
’arese  beider  unteren  Extremitäten ;  die  Lähmung  ist  eine  schlaffe, 
»etrifft  sowohl  die  motorische  wie  die  sensible  Sphäre  und  ist 
irogredient.  Die  anfangs  gesteigerten  Sehnenreflexe  sind  jetzt 
Höschen,  das  Babinskische  Zehenphänomen  ist  nicht  aus- 
ösbar.  Die  Beine  sind  ödematös.  Die  Empfindungsstörung  ist  an 
ler  rechten  unteren  Extremität  stärker  als  an  der  linken,  sie 
eicht  nach  oben  bis  zum  Rippenbogen,  wo  sie  allmählich  in 
lie  normale  Empfindung  übergeht.  Mastdarm  und  Blase  sind  ge¬ 
ahmt,  Pat.  fühlt  weder  Abgang  von  Harn  noch  von  Stuhl.  Die 
fiagnose  ist  wohl  auf  multiple  Neurofibrome  an  den  peripheren 
lerven  und  innerhalb  des  Wirbelkanals  zu  stellen.  Das  Rücken¬ 
mark  dürfte  im  mittleren  Brustmarke  von  rechts  her  und  von 
inem  oder  mehreren  Knoten  im  Lumbalmarke  komprimiert  sein. 
Ulf  eine  mögliche  Mitbeteiligung  der  Schädelhöhle  weist  nur 
ie  zeitweilige  Verwirrtheit  des  Patienten  hin.  Bei  dem  Patienten 
onnte  durch  Druck  auf  den  Neuromknoten  der  Hand,  aber  nicht 
urch  Druck  auf  den  Oberarm  rechts  eine  Pfötchenstellung  der 
fand  hervorgerufen  werden.  Zu  gleicher  Zeit  bestanden  Fazialis- 
hänomen,  mäßige  galvanische  Uebererregbarkeit  der  Nerven  und 
leinphänomen.  Alle  Erscheinungen  verschwanden  innerhalb 
eniger  Tage.  Das  Beinphänomen  war  nach  anscheinendem  Ver- 
ehwinden  dadurch  auslösbar,  daß  eine  Kautschukbinde  um  den 
Oberschenkel  gelegt  und  dann  das  Bein  im  Hüftgelenke  gebeugt 
urde.  —  Schlesinger  demonstriert  ferner  einen  Mann  mit 
hier  in  multiple  Sklerose  übergehendenMeningo- 
nzephalitis  nach  Pneumonie.  Pat.  machte  im  Januar 
ine  Diplokokkenpneumonie  durch,  nach  Ablauf  derselben  traten 
ichte  Temperatursteigerungen,  Nackensteifigkeit,  Kernig  sches 
ymptom,  heftige  Kopfschmerzen  und  zeitweilig  Erbrechen  auf. 
he  Spinalpunktion  ergab  eine  hämorrhagische  Flüssigkeit  mit 
pärlichen  Zellelementen.  Hierauf  folgte  eine  Parese  der  unteren 
nd  eine  Schwerbeweglichkeit  der  oberen  Extremitäten,  ferner 
törungen  des  Fazialis  und  des  Gaumensegels.  In  den  letzten 


M  ochen  gingen  die  Erscheinungen  etwas  zurück,  es  bildete  sich 
aber  ein  geringer  Intentionstremor  aus.  Pat.  kann  mit  den 
Beinen  jetzt  einige  Bewegungen  ausführen,  die  Sprunggelenke 
befinden  sich  in  Kontrakturstellung,  beiderseits  ist  Fuß-  und 
Patellarklonus  auslösbar.  Grobe  Störungen  der  Sensibilität  sind 
nicht  vorhanden.  Bemerkenswert  ist  die  lange  Dauer  der  Er¬ 
krankung  des  Zentralnervensystems.  Einen  ähnlichen  Fall  hat 
Vortr.  nach  Masern  beobachtet. 

R.  Fleckseder  und  J.  Bartel  demonstrieren  aus  der 
Klinik  v.  Neusser  das  anatomische  Präparat  eines  Falles  von 
gashaltigem  subphrenisch  sitzen  de  n  Echino¬ 
coccus  alveo  laris.  Ein  26jähriger  Mann  bekam  im  März 
ein  Druckgefühl  im  Magen,  Brechreiz  und  dyspep tische  Er¬ 
scheinungen  ;  nach  drei  Tagen  kam  Ikterus  hinzu  und  nach 
14  lagen  stellte  sich  eine  neuerliche  Exazerbation  ein.  Seit  Mitte 
April  bestand  Fieber.  Die  Untersuchung  ergab  eine  ikterische 
Färbung  der  Schleimhäute,  Dämpfung  um  den  rechten  Brust¬ 
wirbeldorn,  Vergrößerung  des  rechten  Leberlappens,  Meteorismus, 
über  dem  untersten  Sternalende  eine  tympanitische  Zone.  Die 
Röntgenuntersuchung  zeigte  entsprechend  der  Zwerchfellkuppe 
eine  Reihe  von  Gasblasen,  die  mit  dem  Magen  und  Darm  nicht 
zusammenhingen.  Die  klinische  Diagnose  wurde  auf  einen  sub¬ 
phrenischen  gashaltigen  Abszeß  gestellt.  Pat.  starb  an  Peritonitis. 
Die  Obduktion  ergab  einen  Echinococcus  alveolaris  der  Leber, 
welcher  in  die  Bauchhöhle  durchgebrochen  war,  die  einzelnen 
Zysten  waren  gashaltig.  Der  Echinokokkus  entwickelte  sich 
zwischen  dem  Magen  und  der  Leber,  hinter  dem  Magen  und 
weiter  bis  zur  Leberpforte.  Der  Ductus  choledochus  war  finger¬ 
dick,  in  seinem  Lumen  fanden  sich  einige  Echinokokkusblasen, 
ebenso  im  Jejunum.  Der  Inhalt  der  Blasen  sowie  die  Peritoneal¬ 
flüssigkeit  waren  gelblich  und  putrid  riechend,  in  derselben 
fanden  sich  zahlreiche  Bakterien,  besonders  Bacterium  coli. 

M.  Haudek  beschreibt  das  Röntgenbild.  Im  Bereiche  des 
linken  Leberlappens  fanden  sich  halbkreisförmige  lichte  Stellen, 
welche  mit  Luft  und  Flüssigkeit  gefüllten  Höhlen  entsprachen. 
Wenn  Pat.  seine  Stellung  änderte,  stellte  sich  das  Flüssigkeits¬ 
niveau  wieder  horizontal  ein. 

G.  Singer  hat  bei  einem  60jährigen  Manne  mit  rechts¬ 
seitiger  Pleuritis  eine  ähnliche  Beobachtung  gemacht.  Wegen  an¬ 
dauernden  Fiebers  wurde  punktiert  und  in  der  Gegend  der 
Dämpfung  seröses  Exsudat  gewonnen.  Die  Leber  stand  tief  und 
das  Fieber  nahm  einen  septischen  Charakter  an.  Wegen  Ver¬ 
mutung  auf  subphrenischen  Abszeß  wurde  die  Punktion  aus¬ 
geführt  und  dabei  wurden  einige  Tropfen  rahmigen  Eiters 
aspiriert.  Nach  Rippenresektion  stieß  man  auf  eine  Vorwölbung 
des  Zwerchfelles,  aus  welcher  sich  nach  Anschneiden  massen¬ 
hafte  Echinokokkusblasen  entleerten.  Die  Kuppe  des  rechten 
Leberlappens  war  in  eine  große,  dünnwandige  Höhle  umge¬ 
wandelt,  in  welcher  Eiterung  eingetreten  war.  Der  Fall  ging  in 
Heilung  über. 

R.  Bauer  und  H.  Albrecht  führen  eine  21jährige  Frau 
mit  typhöser  Infektion  der  Gallen  w  ege  und 
Aplasie- der  Gallenblase  vor.  Pat.  machte  vor  3 7a  Jahren 
Typhus  durch,  welcher  später  rezidivierte,  die  Lebergegend  war 
damals  schmerzhaft.  Vor  einigen  Monaten  bekam  die  Kranke 
Schmerzen  in  der  Lebergegend,  Ikterus  und  Fieber,  welches 
später  schwand,  dagegen  vergrößerte  sich  die  Leber.  Die  Ope¬ 
ration  ergab  eine  Aplasie  der  Gallenblase,  griesige  Konkremente  in 
einer  im  Ligamentum  hepato-duodenale  liegenden  Höhle  und  in  den 
Gallenwegen,  der  Ductus  hepaticus  war  verlagert,  in  denselben 
wurde  ein  Drain  eingelegt.  Aus  der  Galle  wurden  Typhusbazillen 
gezüchtet.  Sie  können  sich  also  auch  beim  Fehlen  der  Gallen¬ 
blase  in  den  Gallenwegen  nach  Typhus  lange  erhalten,  sie  bleiben 
wohl  in  den  Nischen  der  Schleimhaut  und  an  den  Konkrementen 
haften.  Nach  Entfernung  des  Drains  sind  die  Stühle  jetzt  fast 
frei  von  Typhusbazillen.  Aplasie  der  Gallenblase  ist  selten,  mit 
ihr  ist  meist  eine  Enge  der  abführenden  Gallenwege  verbunden. 
Derartige  Kinder  werden  ikterisch  und  erreichen  nur  ein 
niedriges  Alter. 

H.  Stern  führt  eine  Frau  mit  Sigmatismus  nasalis 
vor.  Diese  Art  der  Sprachstörung  besteht  in  der  fehlerhaften 
Aussprache  der  S-Laute,  wobei  der  Luftstrom  durch  die  Nase 
abgelenkt  wird,  so  daß  man  statt  des  S  ein  respiratorisches 
Geräusch  durch  die  Nase  hört.  Die  Therapie  besteht  darin,  daß 
durch  eine  Sonde  das  Gaumensegel,  welches  bei  Sigmatismus 
schlaff  bleibt,  gehoben  wird;  der  Patient  gewöhnt  sich,  diesen 
Vorgang  beim  Sprechen  nachzuahmen  und  das  Gaumensegel  zu 
heben.  Außerdem  müssen  fleißig  Stimmübungen  gemacht  werden. 
Vortr.  stellt  außerdem  eine  schon  geheilte  Frau  vor. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


Wiener  dermatologische  Gesellschaft. 

Sitzung  vom  8.  April  1911. 

Vorsitzender :  Finger. 

Schriftführer:  Mucha  jun. 

Grosz  (zum  Protokolle  der  vorletzten  und  letzten  Sitzung) : 
Gelegentlich  der  Vorstellung  von  Lichen  ruber  planus- 
Fällen  mit  Lokalisation  an  der  Zungenschleimhaut  durch  mich 
und  Weidenfeld  hat  Ullmann  im  Gegensätze  zur  Majorität 
der  Diskussionsredner  den  Standpunkt  vertreten,  daß  das  Vor¬ 
kommen  von  Lichen  planus-Effloreszenzen  an  der  Zunge  überaus 
häufig  zu  beobachten  sei  und  hat  hiebei  statistische  Angaben 
aus  dem  Buche  von  Gottfried  Trautmann  (zur  Differential¬ 
diagnose  von  Dermatosen  und  Lues  etc.  1903)  zur  Stütze  heran¬ 
gezogen.  Nach  diesen  soll  der  Lichen  planus  der  Zunge  in  54°/o 
der  Fälle  zur  Beobachtung  gelangen.  Ich  habe  gleich  damals  die 
Richtigkeit  dieser  Angabe  in  Zweifel  gezogen,  da  ja  jeder  zweite 
Fall  von  Lichen  planus  Zungenerscheinungen  darbieten  müßte, 
was  den  tatsächlichen  Verhältnissen  sicher  nicht  entspricht.  Ich 
habe  mich  nun  der  geringen  Mühe  unterzogen  und  das  Buch 
von  Trautmann  eingesehen.  Da  ergibt  sich  nun  folgendes: 
der  Autor  hat  unter  sämtlichen  bis  1903  publizierten  Fällen  von 
Lichen  ruber  planus  69  Fälle  mit  Schleimhautlokalisation  ge¬ 
funden,  hiezu  kommen  drei  Fälle,  die  er  (bei  Hallopeau  und 
Max  Joseph)  mitbeobachten  konnte.  Gesamtzahl  72. 

Unter  diesen  72  Fällen  von  Schleimhautlichen  war  in  54°/o 
der  Fälle  die  Zunge  erkrankt. 

Die  Traut  in  a  n  n  sehe  Statistik,  die  sich  nur  mit  der  re¬ 
lativen  Häufigkeit  der  verschiedenen  Schleimhautlokalisationen 
(Mundhöhle,  Larynx,  Pharynx)  beschäftigt,  besagt  also  in  der 
Frage  der  Häufigkeit  der  Zungenerkrankung  beim  Lichen  ruber 
planus  nicht  däs  geringste,  ich  kann  nur  wiederholen,  daß  ich 
selbst  die  in  Rede  stehende  Lokalisation  ebenso  wie  die  anderen 
Herren  nur  sehr  selten  zu  sehen  Gelegenheit  hatte,  besonders  in 
einer  so  schönen  Ausprägung  wie  in  den  Fällen  von  Weiden¬ 
feld  und  mir. 

Bei  dieser  Sachlage  kann  ich  auch  die  Statistik,  die  U  1 1- 
mann  von  seinen  eigenen  Fällen  produziert  hat,  nur  mit  der 
größten  Skepsis  werten. 

Ullmann:  Von  dem  in  der  letzten  Sitzung  über  die  heute 
abermals  angeschnittene  Frage  auch  nur  ein  Wort  zurückzu¬ 
nehmen  oder  Meritorisches  hinzuzufügen,  habe  ich  keine  Ver¬ 
anlassung.  Aus  der  von  Kollegen  Grosz  nunmehr  hier  auch 
zitierten  Zusammenstellung  Trautmanns  ist  nur  das  heraus¬ 
zulesen,  was  ich  gemeint  habe  und  nichts  anderes.  Denn  nur 
um  das  relative  Verhältnis  handelt  es  sich. 

Sachs  demonstriert:  1.  einen  26jährigen  Patienten  mit 
zwei  symmetrisch  am  Kinn  lokalisierten,  kronengroßen  Herden 
von  Lupus  erythematodes.  Einreiben  der  Herde  mit 
M  o  r  o  scher  Tuberkulinsalbe  hat  keine  Reaktion  ergeben. 

2.  Einen  20  Jahre  alten  Patienten  mit  Folliculitis 
decalvans.  Auf  der  behaarten  Kopfhaut  sieht  man  zahlreiche 
20-hellergroße  kahle  Stellen  mit  an  den  Follikularapparat  sich 
anschließenden  Atrophien.  Außer  solchen  älteren,  seit  einem 
Jahre  haarlosen  Stellen  sind  auch  frischere  Krankheitsherde  mit 
ausgesprochen  follikulären  Entzündungsprozessen  und  geringer 
Eiterung  zu  finden.  Die  Erkrankung  besteht  seit  l'U  Jahren. 

Oppenheim.  Der  Kranke,  30jähriger  Einspännerkutscher, 
akquirierte  im  Juli  1910  Syphilis,  machte  damals  eine  Queck¬ 
silberkur  durch  und  kam  im  November  in  meine  Ambulanz  mit 
einem  ausgedehnten  papulösen  Rezidiv.  Ich  gab  ihm  am  29.  No¬ 
vember  Salvarsan  0'6  subkutan,  neutrale  Suspension,  worauf  das 
Exanthem  zurückging.  Vor  drei  Wochen  kam  der  Kranke  zu 
mir  und  klagte  über  Schwerhörigkeit,  Schwindel  und  Ohren¬ 
sausen;  die  Untersuchung  der  Ohren  ergab  jedoch  nichts  posi¬ 
tives.  Vor  einer  Woche  kam  der  Kranke  abermals  mit  der  An¬ 
gabe,  er  könne  nicht  mehr  fahren,  da  er  schlecht  sehe.  Die 
Augenuntersuchung  ergab  Parese  des  rechten  Abduzens 
und  deshalb  Doppeltsehen.  Der  Fall  reiht  sich  den  von  Finger, 
mir  und  anderen  beobachteten  peripheren  Nervenerkrankungen 
nach  Salvarsan  an,  denn  eine  Abduzenslähmung  luetischer  Natur 
in  so  früher  Zeit  der  luetischen  Infektion  gehört  gewiß  zu  den 
Seltenheiten.  Der  Patient  bekommt  jetzt  Jod  in  großen  Dosen, 
worauf  die  Lähmungserscheinungen  zum  Teil  zurückgingen. 

Der  zweite  Fall  zeigt  Ihnen  eine  Syphilisrezidive 
im  unmittelbaren  Anschlüsse  an  eine  energische 
Quecksilberkur.  Der  Patient,  25  Jahre  alt,  kam  mit  Sklerose 
und  Exanthem  im  November  in  meine  Ambulanz  und  wurde 
mit  Salizyl-Quecksilberinjektionen  behandelt,  worauf  die  syphiliti¬ 
schen  Erscheinungen  verschwanden.  Nach  der  lö.Quecksilber-Salizyl- 
injektion  bekam  Patient  das  heutige  Rezidiv  :  hellrote  bis  kreuzer¬ 


große  papulöse  Effloreszenzen  auf  der  Stirne,  um  den  Mund, 
am  Kinn  und  am  Halse,  sowie  an  den  Streckseiten  der  Arme. 
Der  Stamm  und  die  Beugeseiten  der  Extremitäten  sind  frei. 
Einzelne  der  Papeln  sind  mit  fettigen  Schuppen  bedeckt  und 
von  akut  entzündlichen  Höfen  umgeben.  Es  zeigt  also  dieser 
Fall  die  von  mir  wiederholt  hervorgehobene  Eigenschaft,  daß 
Syphilisrezidive,  die  während  oder  unmittelbar  nach  energische« 
Quecksilberkuren  auftreten,  oft  akut  entzündlichen  Charakter 
und  manchmal  dieselbe  Lokalisation  wie  das  Erythema 
exsudativum  multiforme  haben. 

Deutsch.  Ich  möchte  entschieden  gegen  die  Verallge¬ 
meinerung  der  Annahme,  daß  Rezidive  während  oder  nach  einer 
energischen  Quecksilberkur  immer  entzündlichen  Charakter  tragen, 
Stellung  nehmen. 

O  p  p  e  n  h  e  i  m.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  die  Ercheinung 
nicht  für  sämtliche  Fälle  gilt,  sondern,  daß  ihr  nur  eine  gewisse 
Regelmäßigkeit  innewohnt. 

Neugebauer  demonstriert  einen  Patienten,  der  an  der 
Haut  beider  Vorderarme  bis  zu  handtellergroße  Krankheitsherde, 
die  zum  Teil  —  die  kleineren  —  gleichmäßige  Rötung  zeigen, 
während  die  größeren  im  Zentrum  fast  normale  Haut  aufweisen, 
deren  Rand  aber  durch  einen  scharf  nach  außen  abgegrenzten 
Wall  gebildet  wird.  Die  zentrale  Abteilung,  das  periphere  Fort¬ 
schreiten  läßt  auf  eine  Dermatitis  mykotischer  Ursache  schließen. 
Die  Pilzuntersuchung  ist  noch  nicht  abgeschlossen. 

Lipschütz  demonstriert  einen  Patienten  mit  Herpes 
zoster  generalisatus.  Der  systemisierte  Zoster  in  typischer 
Ausbildung  entspricht  dem  ersten  Ast  des  linken  Trigeminus. 
Am  Stamm  und  auf  den  oberen  Extremitäten  findet  man  etwa 
12  zerstreut  angeordnete  hellrote  papulöse,  bzw.  papulovesikulöse 
und  vesikulöse  Effloreszenzen,  von  denen  einzelne  fast  Linsen¬ 
größe  erreichen.  Nach  den  Erfahrungen,  die  wir  in  den  letzten 
zwei  Jahren  sammeln  konnten,  besteht  keine  Uebereinstimmung 
in  der  klinischen  Ausbildung  der  den  eigentlichen  Herpes  zoster 
zusammensetzenden  Effloreszenzen  einerseits  und  den  zerstreut 
angeordneten  Bläschen  anderseits.  Es  können  daher  beispiels¬ 
weise  auch  bei  einem  gangränösen  Zoster  frontalis  die  Haut- 
effloreszenzen  am  Stamm  bloß  papulösen  oder  vesikulösen 
Charakter  besitzen. 

Weidenfeld  erinnert  an  die  vor  zwei  Jahren  statt- 
gehabte  Diskussion  über  einen  von  ihm  vorgestellten  Fall  von 
Zoster  generalisatus,  bei  welcher  Gelegenheit  er  hervorhob,  daß 
derselbe  am  ganzen  Körper  in  disseminierten  kleinen  variola- 
oder  varizellenähnlichen  Bläschen  auftreten  kann.  Gewöhnlich 
bestand,  wenigstens  in  seinen  Fällen,  als  Hauptherd  ein  Zoster 
gangraenosus.  Auch  an  der  Mundschleimhaut  sah  er  Effloreszenzen 
auftreten.  Die  Fälle  betrafen  alle  erwachsene  Personen,  manche 
Greise.  Auch  für  die  Pathogenese  scheint  ihm  der  Herpes  zoster 
generalisatus  von  Wichtigkeit  zu  sein,  indem  an  eine  bakteritische 
Infektion  mit  Lokalisation  derselben  in  den  Intervertebralganglien 
eher  gedacht  werden  kann,  als  an  eine  vasomotorische  Reflex¬ 
neurose,  wie  es  von  anderer  Seite  behauptet  wurde. 

N  o  b  1  :  Der  vorgestellte  Fall  bestimmt  mich  daran  fest- 
zuhalten,  daß  nur  jene  Fälle  dem  exanthematischen  Herpes  zoster 
zugerechnet  werden  sollten,  bei  welchen  die  Einzelblüten  des 
Körpers  mit  den  typischen  Teilphänomenen  des  primären  systema¬ 
tisierten  Ausbruches  übereinstimmen.  Wenn  jedoch  in  der  Literatur 
immer  wieder  Beobachtungen  als  zugehörig  ausgewiesen  werden, 
in  welchen  die  Generalisierung  aus  singulären  abortiven  Erythem¬ 
papeln  gefolgert  wird,  die  mit  und  ohne  Zoster  auf  jeder  Haut 
leicht  aufzufinden  sind,  so  wird  hiemit  dem  Aufhellungswerk 
der  ohnehin  genügend  komplizierten  Zosterpathogenese  nur  ein 
fraglicher  Dienst  geleistet. 

Fasal:  Die  Frage,  ob  es  sich  um  einen  Zoster  generali¬ 
satus  handelt  oder  um  Vesicules  aberrantes,  läßt  sich  durch  die 
Zahl  der  auftretenden  Bläschen  nicht  beantworten.  Ein  wichtiges 
Kriterium  bilden  die  lokalen  Beziehungen  der  einzelnen  Bläschen 
zu  dem  Hauptherd.  Wenn  bei  einem  Herpes  zoster  frontalis 
-entfernt  von  dem  Hauptherd  an  den  Extremitäten  oder  am 
Stamm  einzelne  Bläschen  auftreten,  so  wird  man  von  einem 
Herpes  zoster  generalisatus  sprechen  können,  während  zahlreiche 
Bläschen  in  der  nächsten  Umgebung  des  Hauptherdes  nur  als 
Vesicules  aberrantes  bezeichnet  werden  können. 

Ullmann:  Gewiß  wäre  die  auch  von  Ehr  mann  ange¬ 
nommene  Infektionstheorie  im  Sinne  von  Embolisierung  von  Ge¬ 
fäßen  diskutabel,  doch  fehlt  bis  jetzt  ihr  Nachweis.  Ich  halle  die 
Embolisierung  für  unwahrscheinlich.  Anders  die  ebenfalls  aus 
der  Infektionstheorie  zur  Erklärung  des  Auftretens  gehäufter, 
spontaner  Herpes  zoster -Fälle  herangezogene,  rein  toxische 
Schädigung  mehrerer  trophischer  Zentren  in  den  Spinalganghen 
durch  die  im  Blute  kreisenden  Toxine  des  unbekannten  Virus. 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


807 


Diese  Auffassung  erscheint  mir  durchaus  nicht  hypothetisch,  da 
wir  ja  auch  anderweitige,  rein  toxische  Zosterformen  genügend 
kennen.  Ich  erwähne  hier  nur  den  Arsenzoster,  vor  allem  aber 
den  Kohlenoxydzoster.  Für  gänzlich  ungeeignet  halte  ich  jedoch 
das  Heranziehen  eines  Spätreflexes  im  Sinne  von  K  r  e  i  b  i  c  h 
zur  Erklärung  des  generalisierten  Exanthems,  wie  dies  jüngst 
N  o  b  1  versucht  hat.  Denn  abgesehen  davon,  daß  ja  sowohl  der 
Stammherd,  wie  die  an  allen  möglichen  Nervengebieten  zer¬ 
streuten  Bläschengruppen  oder  Einzelbläschen,  fast  immer  gleich¬ 
zeitig  in  Erscheinung  treten  und  nicht  so  wie  beim  Kreibich- 
schen  Grundphänomen  Tage  und  Wochen  nach  der  Primärläsion, 
wäre  ja  durch  die  Annahme  einer  reflektorischen  Entstehung 
der  einzelnen  Bläschen  sozusagen  nur  der  Weg,  die  Bahn  der 
Fortpflanzung  des  pathologischen  Reizes  gegeben.  Hingegen  ist 
damit  über  die  gemeinsame  Ursache  zur  Entstehung  des  Haupt¬ 
herdes  und  der  kleineren  Bläschen  nichts  erklärt. 

Riehl  bemerkt,  daß  er  die  Bezeichnung  „Zoster  generali¬ 
satus“  als  eine  wenig  empfehlenswerte  betrachtet.  Das  klinische 
Bild  des  Zoster  ist  so  klar  umschrieben,  seine  Gebundenheit  an 
das  Ausbreitungsgebiet  eines  sensiblen  Nerven  so  determiniert, 
daß  man  für  Bläscheneruptionen,  die  gleichzeitig  oder  im  Verlauf 
des  Zoster  zerstreut  am  Körper  auftreten,  lieber  eine  andere  Be¬ 
zeichnung  gebrauchen  sollte.  Es  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln,  daß 
zwischen  Zoster  und  den  generalisierten  Bläscheneruptionen  ein 
Zusammenhang  besteht,  dieser  dürfte  aber  in  einem  gemeinsamen 
ätiologischen  Moment  gelegen  sein  und  nicht  —  was  für  den 
Zoster  charakteristisch  ist  —  in  Abhängigkeit  von  einer  peripheren 
Neuritis.  In  seiner  weiteren  Aetiologie  ist  der  Zoster  eine  jener 
Krankheiten,  die  auf  sehr  verschiedenartige  Ursachen  zurück¬ 
geführt  werden  muß.  Toxische  Ursachen  (Arsen,  Phosphor, 
Kohlenoxyd),  traumatische  Verletzungen,  Druck  durch  Geschwülste 
oder  entzündliche  Prozesse  etc.,  Rheumatismus  und  andere  In¬ 
fektionskrankheiten  können  dadurch,  daß  sie  eine  Neuritis  er¬ 
zeugen,  zum  Zoster  führen.  Es  erscheint  darum  viel  wahrschein¬ 
licher,  daß  die  Eruptionen,  welche  man  als  Zoster  generalisatus 
bezeichnet,  durch  eine  allgemein  wirkende  Noxe  veranlaßt  werden, 
die  zugleich  die  Neuritis  hervorgebracht  hat  und  in  dieser  Rich¬ 
tung  erscheint  es  auffällig,  daß  diese  zerstreuten  Bläschenerup¬ 
tionen,  die  manchmal  auch  an  der  Schleimhaut  der  Mundhöhle 
gefunden  werden,  in  vielen  Fällen  große  Aehnlichkeit  mit  Vari¬ 
zellen  zeigen.  Bokai  berichtet  über  Beobachtungen  von  Herpes 
zoster  und  Varizellenerkrankung.  Wir  werden  uns  bemühen  müssen, 
die  generalisierten  Bläschen  in  ihrer  Aetiologie  in  jedem  Falle 
klarzustellen  und  müssen  sie,  ebenso  wie  den  Zoster,  als  ein 
Symptom  der  Grundkrankheit  auffassen,  nicht  aber  als  eine 
Zostererscheinung,  d.  h.  als  durch  Nervenerkrankung  bedingt.  Ich 
halte  es  ebenso  für  unzulässig,  auf  die  Pfeiffersche  Theorie 
der  Gefäßerkrankung  zu  rekurrieren,  die  sich  für  den  Zoster 
selbst  als  unrichtig  erwiesen  hat.  Wenn  eine  Phosphorvergiftung 
einen  Zoster  veranlaßt  und  nebenbei  Petechien,  so  werden  wir 
letztere  ebensowenig  als  Zostersymptome  erklären,  als  allenfalls 
Hyperpigmentation  und  Keratose,  die  nach  Arsengebrauch  neben 
Zoster  Vorkommen. 

Nobl  demonstriert:  1.  Eine  seit  mehreren  Wochen  be¬ 
stehende  Erkrankung  des  weichen  Gaumens,  der  Arkaden  und 
des  Zäpfchens  bei  einem  25jährigen  Manne,  welche  als  diffus 
infiltrierendes,  papillär  gewuchertes  Syphilid 
anzusprechen  ist. 

2.  Drei  Kranke  mit  Rezidivexanthemen  nech  S  a  1  v- 
arsanbehandlung.  1.  30jähriger  Beamter  erhielt  gegen 
ein  dichtes,  makulopapulöses  Erstexanthem  im  August  0'5  saure 
Lösung  intraglutäal.  Mitte  Februar  Iritis  rechts  und  dichtes  papu¬ 
löses  Exanthem,  Plaques  der  Mundschleimhaut.  2.  28jähriger 
Mann  bekam  gegen  die  gleichen  initialen  Erscheinungsformen 
anfangs  September  0'6  der  neutralen  Suspension  am  Rücken. 
Der  seit  wenigen  Tagen  bestehende  Nachschub  präsentiert  sich 
als  schütter  eingestreute,  gruppierte  Rezidivroseola.  3.  26jähriger 
Eisenbahnbediensteter  erhielt  am  1.  Oktober  0'6  neutrale  Suspen¬ 
sion  in  zwei  interskapularen  subkutanen  Depots.  Die  Rezidive 
ist  auf  singuläre  bohnengroße  Papeln  am  Stamm  und  den  Extre¬ 
mitäten  beschränkt.  Das  Auftreten  von  Syphilisrezidiven  in  der 
Frühperiode  nach  einem  vier-  bis  fünfmonatigen  Latenzstadium 
weicht  keineswegs  von  dem  bei  der  Quecksilberbehandlung  verfolgten 
Verlaufstypus  ab.  Auch  scheint  die  von  mancher  Seite  vertretene 
Verschiebung  in  der  Konfiguration  und  Lokalisation  der  Neuaus¬ 
brüche  nur  für  einen  Bruchteil  der  mit  Arsenobenzol  behandelten 
Fälle  zurecht  zu  bestehen. 

S  p  r  i  n  z  e  1  s  stellt  einen  35jährigen  Pat.  vor,  der  seit 
vier  Jahren  an  einer  Hauterkrankung  leidet,  die  teils  spontan, 
teils  unter  Behandlung  zeitweise  wesentlich  sich  zurückgebildet 
hatte,  um  immer  wieder  an  Intensität  zuzunehmen.  Befallen  er¬ 


scheinen  Stamm,  Gesicht,  Hals,  obere  und  untere  Extremitäten ; 
in  gleicher  Weise  Beuge-  wie  Streckseiten.  Man  sieht  über  den 
Körper  zerstreut  Effloreszenzen  verschiedenster  Art.  Von  kleinsten 
linsengroßen  Herden  an  bis  zu  fünfkronenstückgroßen  Scheiben, 
die  mehrfach  miteinander  konfluieren  und  dann  weiterhin  er¬ 
scheinen  große  Hautflächen  in  ausgedehntem  Maße  von  der  Er¬ 
krankung  betroffen. 

Die  Krankheit  verläuft  ohne  jede  subjektive  Störung  des 
Patienten ;  es  ist  kein  Jucken  vorhanden. 

Das  Blutbild  zeigt  keine  grobe  Abweichung  vom  Normalen 
in  bezug- auf  die  Zahl  der  Blutkörperchen.  Im  prozentualen  Ver¬ 
halten  der  Leukozytenformen  untereinander  ist  eine  leichte  Ver¬ 
mehrung  der  Eosinophilen  festzustellen.  Von  den  in  Betracht 
kommenden  Erkrankungen  fehlen  für  die  Psoriasis  genügende 
Anhaltspunkte,  die  leukämische  Manifestation  scheidet  aus  durch 
den  Blutbefund.  Dagegen  berechtigt  das  eigenartig  polymorphe 
Krankheitsbild,  das  Vorhandensein  von  ganz  oberflächlichen, 
erythrodermieartig  verlaufenden  Prozessen  neben  den  tiefer¬ 
gehenden  infiltrativen  Vorgängen,  der  chronisch  remittierende 
Verlauf,  die  spontane  Rückbildungsmöglichkeit  einzelner  Herde, 
die  Diagnose  auf  Mykosis  fungoid  es  zu  stellen. 

Schramek  demonstriert  ein  löjähriges  Mädchen  mit  einer 
Trichophytie  des  Kopfes.  Ueber  das  ganze  Kapillitium  zerstreut 
finden  sich  dünne,  weißliche  Schuppenauflagerungen,  die  voll¬ 
kommen  denen  einer  Seborrhoea  sicca  entsprechen.  Abgebrochene 
Haare  lassen  sich  makroskopisch  nicht  nachweisen.  Hebt  man 
aber  diese  Schuppen  ab,  so  sieht  man  in  ihnen  kleine,  kork¬ 
zieherartig  gewundene,  grauweiße  Haarfragmente,  die  nach  Auf¬ 
hellung  reichlich  Gonidien  eines  Endothrixpilzes  enthalten. 

Erkrankt  sind  auch  die  Nägel  des  Daumens,  Mittel-  und 
Zeigefingers  der  linken  Hand.  In  den  abgeschabten  Lamellen  des 
Nagels  fanden  sich  gleichfalls  Pilzelemente. 

Die  Kultur  des  Pilzes  ergab  das  Trichophyton  violaceum. 

Ehrmann:  Bei  dieser  17jährigen  Patientin  fällt  Ihnen  vor 
allem  der  kindliche,  unterentwickelte  Typus  auf.  Das  Aussehen 
entspricht  etwa  dem  eines  12jährigen  Mädchens.  Von  diesem 
infantilen  Typus  abgesehen  ist  dieser  Fall  durch  eine  seltene 
Vereinigung  verschiedener  Formen  der  Hauttuberkulose  ausge¬ 
zeichnet. 

Der  Hals  der  Patientin  ist  eingesäumt  von  einem  Ring  dicht 
aneinandergestellter  Narben,  die  von  Skrofulodermen  herrühren. 
Hinter  dem  linken  Sternokleidomastoideus  sitzt  noch  ein  perfo¬ 
riertes  Skrofuloderma. 

Die  zweite  Form  der  Hauttuberkulose  stellt  ein  ungewöhnlich 
stark  ausgebreiteter  Lichen  scrophulosorum  dar. 

In  der  Höhlung  des  Fußes  beiderseits  sowie  an  den  Zehen 
ist  ein  typischer,  zum  Teil  jetzt  ulzerierter  Lupus  verrucosus  zur 
Ausbildung  gelangt.  Schließlich  sei  erwähnt,  daß  bei  dieser  Pa¬ 
tientin  das  Bild  einer  diffusen  Sklerodermie  mit  Raynaud- 
schein  Symptomenkomplex  an  den  Extremitäten  in  Entwicklung 
begriffen  ist. 

Auf  den  ätiologischen  Zusammenhang  zwischen  Sklerodermie 
und  Tuberkulose  hier  einzugehen,  halte  ich  nicht  für  geeignet, 
da  ich  glaube,  daß  die  Entscheidung  dieser  Frage  experimentellen 
Untersuchungen  Vorbehalten  ist. 

Stein  demonstriert  einen  sechsjährigen  Knaben  mit  zirka 
kronenstückgroßen  kahlen  Herden  auf  der  Haut  des  behaarten 
Kopfes,  die  im  Zentrum  vernarbt,  an  der  Peripherie  von  bis 
linsengroßen,  follikulär  angeordneten,  mit  Krusten  bedeckten 
Knötchen  begrenzt  sind.  Es  handelt  sich  um  einen  atypi¬ 
schen  Favus. 

Kyrie  demonstriert  einen  29jährigen  Patienten  mit  den 
Erscheinungen  von  Pityriasis  lichenoides  chronica; 
dann  einen  20jährigen  Patienten  mit  zwei  gleich  alten  Sklerosen, 
die  eine  an  der  Penishaut  sitzend,  die  zweite  an  der  Schleim¬ 
haut  der  Unterlippe.  Beiderseits  die  zugehörigen,  regionären 
Lymphdrüsen  mächtig  geschwollen. 

Mucha  demonstriert :  1.  Zwei  Patienten,  deren  einer 

seinerzeit  von  Finger  wegen  Neuritis  optica,  der  andere  wegen 
beiderseitiger  Läsion  des  Akustikus  vorgestellt  wurde.  Von 
beiden  Patienten  wurde  die  24stündige  Harnmenge  auf  Arsen 
untersucht ;  es  zeigt  sich,  daß  beide  Patienten  u.  zw.  der  erste 
nach  zehn  Monaten,  der  zweite  nach  sechs  Monaten  noch  deutlich 
nachweisbare  Spuren  von  Arsen  im  Harn  auf  weisen.  Dieser 
Umstand  läßt  die  Erwägung  berechtigt  erscheinen,  daß  dem 
Arsen  vielleicht  eine  ursächliche  Rolle  bei  dem  Zustande¬ 
kommen  der  Erscheinungen  zukommt,  um  so  mehr,  als  beide 
Pat.  negative  Wassermann  sehe  Reaktion  zeigen. 

2.  Einen  Pat.  mit  fünf  bis  sechs  Monate  alter  Lues,  der  am 
7.  Januar  und  21.  Januar  1911  je  0‘4  g  Salvarsan  intravenös 
erhielt.  Am  25.  Februar  1911  wird  der  Patient  wegen  einer 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


schweren  luetischen  Iridozyklitis  des  rechten  Auges  wiederum 
aufgenommen,  die  anfangs  Februar  begonnen  haben  soll. 

3.  Eine  Pat.  mit  einer  ca.  Vs  Jahr  alten  Lues,  die  am 
20.  Dezember  1910  0'5  g  und  am  10.  Januar  1911  0'4  g  Salvarsan 
intravenös  erhalten  hatte.  Sie  wurde  am  6.  März  wegen  einer 
seit  8  bis  10  Tagen  bestehenden  schweren  Iridozyklitis  des  rechten 
Auges  wieder  aufgenommen. 

4.  Einen  Pat.,  dem  am  23.  September  1910  wegen  einer 
Sklerose  und  beginnendem  Exanthem  0'5  g  Salvarsan  in  saurer 
Lösung  subkapsular  injiziert  wurden.  Am  19.  November  1910 
wird  Pat.  wegen  Ohrensausen,  Schwindel  und  Neigung  nach  links 
zu  fallen  neuerdings  aufgenommen,  die  Erscheinungen  sollen  seit 
10  bis  12  Tagen  bestehen,  haben  sich  also  etwa  37s  Monate  nach 
der  Behandlung  eingestellt.  Die  Ohrenuntersuchung  ergibt  links 
Taubheit  nach  eitrigem  Prozesse,  rechts  normalen  Befund,  also 
vom  Ohr  aus  keine  Ursache  für  die  Erscheinungen. 

5.  Ein  Patienten  mit  jetzt  sechs  Monate  alter  Lues,  am 
29.  Dezember  1910  mit  0‘5  g  und  am  11.  Januar  1911  mit  0'4  g 
Salvarsan  intravenös  behandelt,  wird  am  27.  Januar  1911  wegen 
heftiger  Kopfschmerzen,  Schwindel  und  Ohrensausen,  die  seit 
10  bis  12  Tagen  bestehen  sollen,  wieder  aufgenommen.  Der 
Ohrenbefund  lautet  Laesio  auriculae  internae,  für  die  Schwindel¬ 
anfälle  keine  Ursache  im  Vestibularapparät.  Das  Komplement  bei 
dem  Patienten  ist  negativ.  Auf  Jod  bisher  keine  Besserung. 

6.  Pat.  mit  ca.  V»  Jahr  alter  Lues.  Am  11.  Februar  1911  0'6  g 
Salvarsan  in  monazider  Lösung  intraglutäal.  Etwa  8  bis  10  Tage 
nach  der  Injektion  Nebel  vor  dem  rechten  Auge.  Am  1.  März 
wird  von  der  Klinik  Dimmer  eine  Neuritis  optica  leichten 
Grades  rechts  konstatiert. 

7.  Pat.,  der  am  17.  Januar  1911  mit  0'6  g  Salvarsan  in 
monazider  Lösung  intraglutäal  behandelt  wurde  (Lues  8  bis 
10  Wochen),  am  28.  Februar  1911  einen  epileptiformen  Anfall  er¬ 
litten  hat,  am  5.  März  1911  wiederholt  sich  der  Anfall.  Früher 
sollen  niemals  ähnliche  Anfälle  aufgetreten  sein. 

8.  Ein  Kind  mit  akquirierter,  etwa  V2  bis  1  Jahr  alter  Lues 
hat  am  17.  Januar  1911  0'2  g  Salvarsan  in  monazider  Lösung 
intraglutäal  erhalten.  Am  18.  Februar  wird  das  Kind  von  der 
Mutter  gebracht,  da  sich  öfters,  besonders  vor  Hustenanfällen 
(das  Kind  leidet  an  Pertussis),  epileptiforme  Anfälle  einstellen 
sollen.  Neurologisch  leichte  Hemiparese  der  ganzen  rechten 
Körperhälfte.  Früher  soll  das  Kind  nie  ähnliche  Anfälle  gehabt 
haben. 

28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin 

vom  19.  bis  22.  April  zu  Wiesbaden. 

Sitzung  vom  20.  April  191 1,  vormittags. 

Referent:  K.  Reicher -Berlin.  ' 

(Fortsetzung.) 

IV. 

Bürgi- Bern:  .Ueber  die  Wirkung  von  Arzneigemi¬ 
schen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Diure- 
t  i  k  a . 

Narkotika,  welche  im  gleichen  Organ  in  der  gleichen  Rich¬ 
tung  wirkend,  verschiedene  pharmakologische  Angriffspunkte 
haben,  führen  bei  Kombination  zur  Wirkungspotenzierung ;  gleiche 
Arzneien  mit  dem  nämlichen  Angriffspunkt  dagegen  zeigen,  gleich¬ 
zeitig  gegeben,  rein  additive  Eigenschaften.  Dasselbe  gilt  auch  für 
die  Diuretika,  wie  Vortr.  in  einer  sehr  interessanten  Versuchsreihe 
unter  Zugrundelegung  der  minimalsten  diuretisch  wirkenden  Menge 
pro  Kilogramm  Tier  exakt  nachweist. 

Hohlweg -Gießen:  Ueber  die  Bedeutung  des  Rest¬ 
stickstoffs  für  die  Nephritis  und  Urämie. 

Bei  Nierengesunden  findet  man  41  bis  63  mg  Rests  ticks  toff, 
davon  entfallen  ungefähr  60°/o  auf  Harnstoff;  beUNep Kritikern 
schwanken  die  Werte  des  Reststickstoffs  zwischen  63  und  96  mg, 
dabei  erleidet  der  Pr]ozentgehalt  dessen  einzelner  Bestandteile 
keine  Verschiebung.  In  drei  Fällen  ausgesprochener  Urämie  mit 
nachfolgender  Besserung  der  Symptome  zeigten  sich  66  bis  93  mg 
Reststickstoff.  Wesentlich  anders  verhalten  sich  dip  Patienten, 
die  während  der  Beobachtung  unter  schweren  urämischen  Er¬ 
scheinungen  ad  exitum  kamen;  da  konnte  parallel  mit  der  fort¬ 
schreitenden  Verschlechterung  ein  konstanter  Anstieg  des  Rest- 
stickstoffs  bis  zu  340:  mg  beobachtet  werden.  Die  Retention  der 
stickstoffhaltigen  Substanzen  im  Blute  ist  trotzdem  lediglich  als 
Ausdruck  einer  Ausscheidungsinsuffizienz  der1  Niere  anzusehen 
und  bildet,  außer  bei  ganz  exzessiven  Werten,  kein  Charakteri¬ 
stikum  für  die  Urämie.  Bei  Herzkranken  findet  in  den  letzten 
Lebenswochen  keine  Vermehrung  des  Reststickstoffs  im  Blute 
statt. 


Diskussion  zu  Bürgi  und  Hohlweg: 

Heubner -Gottingen  weist  darauf  hin,  daß  die  Deutung 
die  Bürgi  seinen  Befunden  zugrunde  legt,  nicht  die  einzig 
mögliche  ist,  und  erinnert,  daß  z.  B.  Atropin  in  sonst  unwirk¬ 
samen  Dosen  die  Wirkung  eines  Antagonisten  vollständig  auf¬ 
zuheben  vermag. 

Vollnard- Mannheim  tritt  für  eine  Lostrennung  gewisser 
Symptome,  die  bisher  als  urämisch  galten,  von  der  Urämie  ein. 
Auf  den  mangelnden  Parallelismus  zwischen  klinischen  Sym¬ 
ptomen  und  Ansteigen  des  Reststickstoffs  hat  schon  As  coli 
hingewiesen.  Bei  eklamptiseber  Urämie  findet  man  keine  Stick¬ 
stoffretention,  dagegen  bei  echter  Urämie  100  bis  390  mg  Rest- 
stickstoff  im  Blute.  Rücksichtslose  Lumbalpunktion  hat  bei  Ur¬ 
ämie  guten  Erfolg. 

Frank -Wiesbaden:  Nach  der  Mörner-Folinschen  Me¬ 
thode  sind  40%  des  Reststickstoffs  auf  Harnstoff  zu  beziehen 
selbst  bei  sehr  starkem  Anstieg  des  Reststickstoffs  findet  man 
nur  eine  geringe  Zunahme  des  Harnstoffanteils.  Die  Formol- 
titration  ergab  auch  ein  negatives  Resultat,  Aminosäuren  und 
Polypeptide  scheinen  jedenfalls  nicht  den  wesentlichen  Bestand¬ 
teil  des  Reststickstoffs  auszumachen. 

Reiß -Frankfurt  am  Main  neigt  mit  Ascoli  und  Volhard 
zur  dualistischen  Auffassung  der  heute  noch  als  einheitlich  an¬ 
gesehenen  Urämiesymptome. 

Gerhard t- Basel  zieht  zur  Erklärung  gewisser  urämischer 
Symptome  die  Trau  besehe  Hypothese  des  Hirnödems  heran. 
Bei  vorwiegender  Herzschädigung  sieht  Gerhardt  von  Aderlaß, 
bei  Urämie  von  Lumbalpunktion  gute  Erfolge. 

Lüthje- Kiel  hält  die  Beschränkung  des  Begriffes  Urämie 
auf  jene  Fälle,  welche  mit  zerebralen  Herderscheinungen  einher¬ 
gehen,  nicht  für  wünschenswert,  macht  doch  gerade  Ascoli 
auf  die  Vielseitigkeit  des  ürämischen  Symptomenkomplexes  auf¬ 
merksam.  Speziell  die  Fälle,  welche  jahrelang  mit  Kopfschmerzen 
und  mit  psychischer  und  motorischer  Unruhe  einhergehen,  sollen 
als  urämische  Zustände  aufgefaßt  werden,  nicht  als  Hirnsklerose. 

Brugsch -Berlin  hat  seit  1903  bei  allen  Fällen  von  Ne¬ 
phritis  den  Reststickstoff  bestimmt  und  auch  hei  Nephritiden 
ohne  jede  Spur  von  Urämie  bedeutende  Erhöhung  des  Rest¬ 
stickstoffs  finden  können,  ebenso  bei  Sublimatvergiftüng.  1905 
wurde  von  Brugsch  eine  ausführliche  Arbeit  über  den  Harnstoff¬ 
gehalt  des  Blutes  publiziert  und  nachgewiesen,  daß  bis  zu  80% 
des  Reststickstoffs  mitunter  ,auf  Harnstoff  zu  beziehen  seien. 

Bürgi  und  Hohlweg:  Schlußwort. 

S  topp  -  Gießen :  Fütterungsversuche  mit  lipoid¬ 
freier  Nahrung. 

Ernährt  man  Tiere  mit  lipoidfreier  Nahrung,  d.  h.  einem 
Futter,  dein  man  die  alkohol-  und  ätherlöslichen  Bestandteile  ex¬ 
trahiert  hat,  so  gehen  sie  zugrunde,  setzt  man  der  Nahrung  den 
Extrakt  wieder  zu,  dann  bleiben  sie  am  Lehen.  Dagegen  läßt 
sich  der  Extrakt  nicht  durch  Milchfett,  Butter  oder  reine  Tri¬ 
glyzeride  ersetzen,  wohl  aber  durch  den  Alkoholextrakt  der  Mager¬ 
milch,  in  der  also  die  lebenswichtigen  Stoffe  zu  suchen  sind. 

Diskussion:  K.  Rei  eher- Berlin :  Zur  Kenntnis  der 
Fett-  und  Lipoidverdauung. 

Auf  der  Suche  nach  den  löslichen  Verbindungen,  in  denen 
Nahrungsfett  resorbiert  und'  assimiliert  wird,  konnte  Vortr.  ge¬ 
meinsam  mit  E.  H.  Stein  nach  der  D  o  rm  ey  er  sehen  Methode 
(Pepsinsalzsäureverdauung  des  Fettextraktes)  im  Blute  in  keiner 
Periode  der  Verdauungstätigkeit  bedeutende  Mengen  von  Fett¬ 
eiweißverbindungen  im  Blute- nachweisen  (5  bis  10%  des  Gesami- 
blutfettes),  dagegen  fand  Hagenau  unter  Reichers  Leitung 
eine  bedeutende,  bis  zu  150%  des  Ausgangsmaterials  betragende 
Vermehrung  von  Lezithin  und  Cholesterin  im  Blute  nach  Ver- 
fütterung  von  chemisch  reinem  Triolein  (Fett).  Desgleichen  konnte 
it.  bei  Leberdurchblutungen  eine  beträchtliche  Vermehrung  von 
Lezithin  und  Cholesterinestern  sowohl  in  Leber,  wie  im  Blute 
bei  Zusatz  von  15  cm3  Triolein  nachweisen.  Da  diese  Stoffe 
auch  bei  Bakteriolyse  und  Hämolyse  in  vermehrter  Menge  nach 
Untersuchungen  des  Vortragenden  entstehen,  gewinnt  Ehrlichs 
Behauptung,  daß  die  Immunitätsvorgänge  nach  den  Gesetzen  der 
gewöhnlichen  Nahrungsassimilation  ablaufen,  sehr  an  Wahrschein¬ 
lichkeit. 

B.  Ohm-Berlin:  Zur  Lehre  vom  Venenpuls. 

O  h  m  registriert  nach  einer  eigenen  photographischen  Me¬ 
thode  gleichzeitig  Venenpuls  und  Herztöne  und  vermag  aus  den 
Kurven  die  1.  (A)  Welle  des  Venenpulses  als  synchron  der  Vorhof¬ 
tätigkeit  oder  präsystolische  Welle1  zu  identifizieren,  die  zweite 
(VCK-Welle  nach  Ri  hl)  als  systolische  und  die  3.  als  dia¬ 
stolische,  weil  sie  mit  dem  Beginn  der  Diastole,  dem  _Semi- 
lunarklappenschluß,  zusammenfällt.  Nach  Ansicht  des  "Vortra- 


Nr.  22 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


809 


genden  ist  der  letztere  an  der  Entstehung  von  Dikrotien  'be¬ 
teiligt.- 

L  oeb- Göttingen :  Die  pharmakologische  Beeiinflus- 
.sung  des  Sinus  am  Warmblüter  herzein. 

Stub  er -Freiburg:  Experimentelle  Studien  über 
die  Gefäß vv ir ku ng  der  Drüsen  mit  innerer  Sekre¬ 
tion. 

Von  .allen  gekochten  Organextrakten  erwies  sich  bloß  der 
l’ankrcascxtrakt  als  wirksam  und  zwar  als  blutdrucksteigernd 
(Versuche  am  Froschschenkel).  Die  Wirkung  wächst  mit  zu¬ 
nehmender  Alkaleszenz,  schwach  alkalische  zeigen  noch  Adrenalin¬ 
wirkung  mit  Anstieg  und  baldigem  Abfall,  stark  alkalische  eine 
anhaltende  Druckerhöhung. 

C  h r i s  ten- Bern :  D i e  S  tau u n g s k u  r  ve  d  e  s  Pulses  und 
das  Energieproblem. 

Da  die  Pulsmechanik  vornehmlich  dynamische  Aufgaben 
enthält,  schlägt  Vortragender  vor,  statt  der  bisherigen  Methode 
der  Sphygmographie  die  Wirkung  der  Kräfte  mit  Hilfe  seines 
Knergümeters  zu  studieren.  Vortr.  bestimmt  die  Größe  des  Blut¬ 
volumens,  welches  gegen  einen  gegebenen  Manschettendmck  Ar¬ 
beit  leistet  und  mißt  die  dabei  geleistete  Arbeit.  Als  geeignetsten 
Punkt  für  die  Messung  der  Energie  wird  der  Druck  angesehen, 
bei  welchem  die  periphere  Welle  gerade  erlischt  (dem  soge¬ 
nannten  Maximaldruck).  Seine  dynamischen  Diagramme,  Stau¬ 
ungskurven,  genannt,  sind  von  dein  Luftvolumen  der  Man¬ 
schette  ebenso  abhängig  wie  von  den  elastischen  Deformationen 
der  Manschette  und  der  Weichteile.  Die  pneumatische  Manschette 
legt  Vortr.  um  die  Wade  um.  Die  nach  seiner  Methode  erhaltenen 
Werte  weichen  von  den  Sahli  sehen  mit  Hilfe  des  Sphygmo- 
bulometers  gewonnenen  Zahlen  ab. 

A.  Strub  ell-Dresden:  Ueber  opsonische  Staphylo- 
k  o  k  k  e  n  i  m  m  u  n  i  t  ä  t. 

Die  von  Strubeil  unabhängig  von  Wright  befürwortete 
Behandlung  lokalisierter  Staphylomykosem  der  Haut  mit  Vakzine 
Opsonogen)  hat  sich  als  sehr  erfolgreich  bei  subakuten  und  chroni¬ 
schen  Furunkulosen  gezeigt.  Bei  Aktie  vulgaris  treten  die  Besse¬ 
ungen  langsamer  ein;  Kontraindikationen  bilden  bloß  die  Men- 
-truation  und  in  gewissem  Sinne  der  Diabetes. 

(Fortsetzung  folgt.) 


10.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  zu  Berlin 

vom  19.  bis  22.  April  1911  (im  Langenbeckhause). 

Referent:  Dr.  M.  K at z  en  s  tei n -Berlin. 

(Fortsetzung.) 

E.  D.  Schunrach er- Zürich:  Die  Unterbindung  von 
1  ulmonalarterie  n  äs  ten  zur  Erzeugung  von  L  u  nge  n- 

■chrumpfung. 

Bruns  und  Sauer bruch  haben  in  Tierexperimenten,  die 
ler  Referent  nach  speziellen  Gesichtspunkten  weiterführt,  nachge- 
v  lesen,  daß  die  Ligatur  einzelner  Aeste  der  Arteria  puhnonalis, 
ja.  sogar  eines  ganzen  Hauptastes  für  das  Versuchstier  keine 
chweren  Schädigungen  nach  sich  ziehe.  Namentlich  kam  es  nie, 
veiler  klinisch  noch  pathologisch-anatomisch  zu  dein  Erscheinungen 
Ines  Lungeninfarktes.  Damit  ein  solcher  sich  einstelle,  muß,  wie 
inch  schon  frühere  Untersucher  feststellten  (Orth,  Grawitz, 
ujinami,  Zahn)  zur  Störung  der  Blutzirkulation  noch  eine 
weite  Schädigung  hinzu  treten.  Da,s  Endresultat  der  Arterien- 
igatur  war  stets  eine  intensive  Bindegewebswucherung  und 
kihrumpfung  des  ausgeschalteten  Lungeinabschnittes.  Da  in  der- 
irtigen  Veränderungen  die  Grundlage  für  die  Heilung  vieler 
•ungenaffektionen  gelegen  ist,  so  gewinnen  diese  experimentellen 
nter.-uchungen  auch  praktisches  Interesse. 

Es  wurde  denn  auch  bereits  zweimal  von  Sauerbruch 
lie  'Unterbindung  von  Lungenarterienästen  (Unterlappen)  ausge- 
Cihrt.  Die  Ergebnisse  der  Tierexperimente  wurden,  soweit  sich 
linisch  feststellen  läßt,  bei  diesen  zwei  Operationen  bestätigt. 

Die  Verzweigungsweise  der  Lungenarterienhauptäste  und  die 
natomischen  Verhältnisse  der  einzelnen  sekundären  Veste  wer- 
!@n  an  Hand  von  Bildern  klargelegt.  Den  Zugang  zu  den  liaupt- 
sten  und  den  von  vorne  an  die  Oberlappen  herantretenden 
Aveigen  gibt  ein  Interkostalschnitt  im  zweiten  Zwischonrippen- 
aum;  um  den  interlobär  gelegenen  Teil  der  Arteria  und  die  von 
lun  abgehenden  Zweige  zu  erreichen,  ist  ein  Interkostalschniü 
ui  fünften  Zwischenrippenraum  auszuführen. 

Schwierigkeiten  in  der  Zugänglichkeit  und  Isolierung  der 
< ungenarterienäste  bereiten  normalerweise  speziell  für  die  Gefäße 
rir  Oberlappen  die  Lagebeziehungen  zu  den  entsprechenden 
enen.  Von  pathologischen  Veränderungen,  die  hier  in  Betracht 


kommen,  sind  Verwachsungen  der  Pleura,  sowie  von  den  broncho¬ 
pulmonalen  Lymphdrüsen  ausgehende  periadenitische  Prozesse  zu 
nennen. 

Im  großen  und  ganzen  ergibt  sich,  daß  die  Ausschaltung 
einer  ganzen  Lunge  aus  dem  respiratorischen  Blutkreislauf  durch 
Ligatur  des  Hauptastes  der  Lungenarterie,  beim  Menschen  mög¬ 
lich  wäre;  ferner  ließen  sich  auch  leicht  alle  zu  den  Untcriappen 
gehenden  Arterienzweige  unterbinden.  Bei  den  anderen  Lungen¬ 
lappen.  müßte  man  sich  eventuell  mit  der  Ligatur  nur  einzelner 
Aeste  begnügen.  , 

Die  Ligatur  von  Lungenarterienästen  zur  Erzeugung  von 
Bindegewebswucherung  und  Schrumpfung  könnte  in  Erwägung 
gezogen  werden  bei  gewissen  Tuberkuloseformein,  bei  denen  eine 
extrapleurale  Thorakoplastik  in  Frage  käme.  Die  Ligatur  würde 
hier  entschieden  für  den  Patienten  einen  viel  kleineren  Eingriff 
bedeuten  als  die  ausgedehnte  Rippenresektion. 

Freilich  müßte  später  wohl  die  Entknochung  der  Brustwand 
noch  folgen,  deren  Gefahren  (so  besonders  durch  Aspiration  in¬ 
fektiösen  Materials  und  das  Mediastinalflattern),  aber  durch  die 
schon  eingeleitete  Lüngenschr  umpiring  bedeutend  verringert 
wären.  Ob  auch  schwer  jeder  anderen  Behandlung  trotzende 
Spitzenaffektionen  durch  Ligatur  einzelner  Arterienästchen  ange¬ 
gangen  werden  könnten,  sei  dahingestellt.  Bei  Bronehiektasien 
und  Lungenneoplasmen  könnte  der  Arterienligatur  namentlich  als 
Voroperation  für  eine  folgende  Lungenamputation  oder  Resektion 
Bedeutung  zukommen . 

Diskussion:  Müller- Rostock  hat  bei  käsiger  Pneumonie 
einen  Lungenlappen  exstirpiert.  Das  Kind  überstand  den  Ein¬ 
griff  überraschend  gut,  starb  jedoch  drei  Wochen  später  an  tuber¬ 
kulöser  Meningitis.  Auch  Kü  mim  eil  beobachtete,  daß  die  Total- 
exstirpation  eines  Lungenlappens  auffallend  gut  ertragen  wurde. 
Der  Tod  erfolgte  .acht  Tage  nach  der  Operation  infolge  Pneu¬ 
monie  der  Testierenden  Lunge. 

Körte  hat  wegen  Bronehiektasien  den  Mittel-  und  Unter¬ 
lappen  der  rechten  Lunge  mit  dauerndem  Erfolge  entfernt. 

Friedrich -Marburg  hat  bei  28  Fällen  wegen  Tuberkulose 
die  Thorakoplastik  ausgeführt  (neun  Todesfälle)  und  hat  bei 
desolaten  Fällen  auffallende  Besserung  gesehen.  Er  macht  in  der 
letzten  Zeit  die  Resektion  nicht  mehr  so  ausgiebig  wie  früher 
und  führt  darauf  die  guten  Resultate  zurück. 

Wul  1st  ein -Halle  empfiehlt,  zur  Herbeiführung  einer  Lun- 
genschrumpfung  bei  lokalisierter  Tuberkulose  statt  Unterbindung 
der  Arteria.  pulmonalis  die  Ligatur  eines  Bronchus  vorzunehmen. 

T  i  eg  e  1  -  Dortmund :  U  e  b  e  r  operative  Lungenst  a  u- 
ung  und  deren  Einfluß  auf  die  Tuberkulose. 

Von  der  Erfahrung  ausgehend,  daß  die  Stauungslunge  der 
Herzfehler-kranken  im  allgemeinen  eine  geringe  Disposition  für 
Tuberkulose  zeigt,  wurde  im  Experiment  versucht,  eine  ähnliche 
Zirkulationsstörung  der  Lunge  herbeizuführen.  Es  wurden  zu 
diesem  Zwecke  bei  Kaninchen  und  Hunden  an  die  Lungenvenen 
einengende  Silberdrahtligaturjem  angelegt,  die  ohne  Schädigung 
der  Gefäßawnd  einheilten  und  eine  dauernde  Stenosierung  des 
Gefäßes  bewirkten.  An  80  Versuchstieren  (62  Kaninchen  und 
18  Hunden)  wurden  bisher  im  ganzen  150  derartige  Ligaturen 
angelegt.  | 

Das  Resultat  einer  solchen  dauernden  Blutstauung  war 
jedoch  nicht  das  erwartete.  Wohl  zeigte  der  autoptische  Befund 
in  den  ersten.  Tagen  post  operationem  eine  erhebliche  Blutüber¬ 
füllung  der  Lunge,  die  vergrößert  und  dunkelrot  gefärbt  war. 
Doch  bei  den  nach  längerer  Zeit  vorgenommenen  Obduktionen 
konnte  diese  Hyperämie  nicht  mehr  festgestellt  werden.  Die  ge¬ 
staute  Lunge  war  dann  mehr  oder  weniger  geschrumpft,  fühlte 
sich  derber  an  und  war  von  blässerer  Farbe.  In  einigen  Fällen 
konnte  die  Bildung  von  Kollateralbahnen  an  der  Pleuraoberfläche 
bemerkt  werden.  Die  mikroskopische  Untersuchung  ergab  teilweise 
nur  geringe  Aenderungen  der  histologischen  Struktur,  in  einigen 
Fällen  jedoch,  besonders  bei  stärkerer  Einschnürung  der  Vene, 
erhebliche  Vermehrung  der  bindegewebigen  Elemente :  Verdickung 
der  Alveolarsepten  und  der  Pleura.  Die  gänzliche  Unterbindung 
der  Venen,  die  in  einigen  Fällen  vorgenommen  wurde,  ergab  das 
gleiche  Resultat. 

In  einer  weiteren  Versuchsreihe  wurde  dann  untersucht., 
welchen  Einfluß  die  Einengung  der  Venen  auf  eine  experimentell 
erzeugte  Tuberkulose  habe.  Die  Tiere  (Kaninchen)  erhielten  1  bis 
2  mg  einer  Reinkultur  (Typus  lnimanus)  zu  feiner  Emulsion  ver¬ 
rieben  in  die-  Ohrveme  injiziert.  Nach  zwei  Wochen  bis  zwei 
Monaten  wurde  dann  die  eine  Lunge  in  der  eben  beschriebenen 
Weise  gestaut,  nach  weiteren  zwei  bis  vier  Monaten  wurden 
die  Tiere  getötet. 

Das  Resultat  dieser  Versuche,  die  noch  weiter  fortgesetzt, 
werden,  war  ein  auffallendes  Zurückbleiben  der  Entwicklung  und 


810 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  22 


Ausbreitung  der  Tuberkulose  in  der  gestauten  Lunge.  Während 
es  in  der  ungestauten  Lunge  zu  ausgedehnten  Verkäsungen  kam, 
beschränkte  sich  der  Prozeß  in  der  gestauten  Lunge  auf  weniger 
zahlreiche,  kleinere,  gegen  das  Lungengewebe  schärfer  abge¬ 
grenzte  Herde,  die  durchwegs  weit  geringere  Tendenz  zur  Ver¬ 
käsung  zeigten. 

Der  Gedanke,  diese  Versuche  auch  auf  andere  Organe  auszu¬ 
dehnen,  namentlich  auf  die  ebenfalls  zum  Vergleich  der  Wir¬ 
kung  sehr  geeigneten  Nieren,  liegt  sehr  nahe  und  ist  auch  von 
dem  Vortragenden  in  Aussicht  genommen. 

Sauerbruch-Zürich:  Da  die  Tuberkulose  der  Lunge  durch 
Bindegewebsentwicklung  zur  Ausheilung  gelangt,  so  dürfte  die 
Einengung  der  venösen  Bahn  dieselbe  Wirkung  habbn,  wie  die 
von  ihm  angegebene  Unterbindung  der  Arteria  pulmonalis  zwecks 
Hervorrufung  der  Schrumpfung  eines  Lungenteils.  Beide  Opera¬ 
tionen  verdienen  den  Vorzug  vor  der  technisch  oft  schwer  aus- 
zuführenden  Exstirpation  des  Organes. 

IV.  Hauptthema. 

W  i  1ms- Heidelberg  :  Coecum  mobile  und  chronische 
Appendizitis. 

Die  unter  dem  Namen  „chronische  Appendizitis“  bekannten 
Schmerzattacken  können  durch  eine  Reihe  von  Störungen  bedingt 
sein:  1.  Verwachsungen  im  Gebiete  des  Wurmfortsatzes  oder  des 
Cökums  und  Colon  ascendens,  so  daß  Zerrungen  bei  Füllung 
des.  Darmes  entstehen,  2.  durch  Knickungen  oder  Drehungen 
des  Dickdarmes  an  der  Flexura  hepatica  oder  dem  Cökumansatz, 
wodurch  dann  ein  vorübergehender  Darmverschluß  eintritt.  Die 
von  Wilms  als  Coecum  mobile  oder  auch  Typhlospas- 
mus,  von  anderen  als  Typ  h  lato  nie  oder  Typhlektasie  be- 
zeichneten  Anomalien  haben  mit  den  obgenannten  Störungen  nichts 
zu  tun,  sondern  werden  in  der  Regel  bedingt  durch  lange  Stagna¬ 
tion  des  Darminhaltes  im  Cökum.  Der  Inhalt  kann  24  und  mehr 
Stunden,  wie  auf  Röntgenbildern  schön  demonstrierbar,  im  Cö¬ 
kum  bleiben.  Er  dickt  sich  dort  ein,  dadurch  haben  die  anderen 
Kolonteile  eine  erschwerte  Arbeit,  den  eingedickten  Stuhl  durch¬ 
zutreiben,  die  Patienten  leiden  meist  an  einer  habituellen 
chronischen  Obstipation.  Als  Ursache  für,  den  langen  Auf¬ 
enthalt  des  Darminhaltes  in  Cökum  muß  wohl  eine  antipeui- 
s taltische  Arbeit  im  Colon  ascendens  angenommen  werden, 
die  in  Verbindung  mit  spastischen,  durch  entzündliche  Rei¬ 
zung  bedingten  Kontraktionen  des  Cökums  und  Kolons  die 
Schmerzanfälle  erklärt.  Diese  spastischen  Kontraktionen,  die  mit 
einer  Verlängerung  des  Cökums  einhergehen,  bewirken  Z  e  r  r  u  n- 
gen  des  beweglichen  Cökums  an  seinem  Mesenterium,  oder 
wenn  der  Wurmfortsatz  und  sein  Mesenteriolum  relativ  kurz 
sind,  erfolgen  die  Zerrungen  an  dem  Mesenteriolum  des  Wurm¬ 
fortsatzes.  Die  Schmerzen  bei  der  chronischen  Appendizitis  sind 
also  Zerrung  ss  chm  erzen,  verstärkt  durch  leichte  entzünd¬ 
liche  Zustände  im  Gebiete  des  Mesenterialnerven. 


hinzufügen,  wobei  zu  bemerken  ist,  daß  - —  wie  dies  auf  Grund 
der  Tierversuche  an  Pflanzenfressern  vorauszusehen  war  —  Ge- 
müsekost  zu  schweren  Störungen  führt. 

Die  gleichen  oder  ähnliche  Störungen  treten  jedoch  bei  Ge¬ 
mütsbewegungen  auf. 

Oberhalb  der  Anastomosenstellen  bis  zur  Flexura  lienulis 
fungiert  der  Darm  als  Rezeptakulum  für  die  Fäzes. 

Die  vom  Redner  bevorzugte  Operation  ist  die  Ileotrans- 
versostomie,  zu  der  er  schreitet,  wenn  er  im  Röntgenbilde  eine 
aufs  Dreifache  verlängerte  Verweildauer  einer  Wismutmasse  im 
oberen  Dickdarm  gefunden  hat.  Die  gleiche  Operation  ist  wegen 
der  geringeren  Konsistenz  der  dahin  gelangten  Fäzes  auch  bei 
Obstipation  erfolgreich. 

Sonnenbu'rg- Berlin:  Das  Coecum  mobile  ist  eher  ein 
Vorteil  für  seinen  Träger,  da  gerade  Fixation  und  Adhäsion 
zu  Beschwerden  führen.  Erst,  wenn  sich  ein  Katarrh  im  Cökum 
etabliert,  treten  Erscheinungen  auf.  Eine  solche  Typhlitis  gilt 
oft  für  eine  Appendicitis  chronica.,  während  es  in  Wirklichkeit 
bloß  eine  lokalisierte  Kolitis  ist,  ähnlich  wie  die  der  Umbiegungs 
stellen.  .  4 

Die  Ergebnisse  der  Röntgenuntersuchungen  des  Dickdarms 
sind  mit  größter  Vorsicht  zu  verwerten  (längere  Verweildauer 
im  Cökum  befindet  sich  auch  bei  Nichtobstipierten).  Das  Coecum 
mobile  kann  als  Krankheitsbild  nicht  anerkannt  werden. 

Eduard  Sti erlin  -Basel:  Vortr.  demonstriert  die  Radio- 
gramme  von  drei  Fällen  schwerer  Obstipation  vom  Aszendeus- 
typus,  wo  von  Wilms  und  de  Quervain,  gestützt  auf  den 
radiographischen  Befund,  die  Ausschaltung  des  Coecum  und  Colon 
ascendens  ausgeführt  wurde1.  Das  funktionelle  Resultat  der  Ope¬ 
ration  ist.  ausgezeichnet.  Wo  vor  der  Operation  24  und  48  Stunden 
nach  Wismutmahlzeit  noch  das  gesamte  Wismut  in  dem  atonischen 
sehr  weiten  Coecum  und  Colon  ascendens  gesehen  wird,  ist 
nach  der  Operation  zur  selben  Zeit  entweder  kein  Schatten  mein' 
oder  nur  noch  eine  Spur  eines  solchen  vorhanden.  Entsprechend 
dem  funktionellen  Resultat  ist  auch  das  klinische  ein  sehr  gutes. 
Bei  allen  wurde  die  Obstipation  geheilt. 

D  re  ye  r-  Breslau  findet  bei  zwei  Drittel  aller  Sektionen 
ein  bewegliches  Cökum.  Das  Coecum  mobile  ist  also  nichts 
Krankhaftes.  Noch  weniger  ist  die  Fixation  des  Coecum  mobile 
nach  Wilms  geeignet,  physiologische  Verhältnisse  herbeizuführen. 
Bei  nachträglich  eintretender  Gravidität  könnte  sie  direkt  bedroh 
liehe  Darmstörungen  herbeiführen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Programm 

der  am 

Freitag  den  2.  Juni  1911,  um  7  Flir  abends, 


Zur  Diagnose  ist  außer  der  Palpation  (gurrender  Tumor) 
das  Röntgenbild  unbedingt  erforderlich.  Wilms  empfiehlt  drei 
Bilder  nach  Wismutdarreichung,  4,  8  bis  10  und  24  Stunden 
nach  der  Wismutmahlzeit.  Seine  mit  der  Cökumpexie  er¬ 
zielten  Resultate  zeigen,  daß  man  hiemit  nicht  nur  die  Schmerzen 
beseitigt,  sondern  auch  dauernd  die  chronische  Obstipa¬ 
tion  heilen  kann.  Nicht  weniger  wie  75°/o  der  Operierten  hatten 
nach  dem  Eingriff  ohne  weitere  Therapie  normale  Stuhlentlee¬ 
rung,  während  früher  meist  Stuhl  nur  nach  Abführmitteln  erzielt 
wurde.  Bei  ungewöhnlich  großen  Formen  des  Cökums  empfiehlt 


Wiilms  die  Ausschaltung  durch  direkte  Vereinigung  der 


untersten,  vor  dem  Cökum  gelegenen  Dünndarmpartie  mit  dem 
Querkolon.  Operiert  werden  soll  nur,  wenn  die  interne  Behandlung 
der  Obstipation  auf  Schwierigkeiten  stößt  oder  erfolglos  war. 

de  Quervain-Basel:  Zur  chirurgischen  Behand¬ 
lung  schwerer  Funktionsstör u n gen  des  D i c k d a r m s . 

Angesichts  der  mangelhaften  (Kenntnisse  über  die  Physio¬ 
logie  der  Dickdarmtätigkeit  ist  es  mißlich,  funktionelle  Störungen 
desselben  operativ  zu  behandeln.  Es  ist  schwer,  zu  beurteilen, 
wie  weit  die  Funktionsstörungen  anatomisch  bedingt  sind.  Sekre¬ 
torische  und  motorische  Anomalien  verwirren  durch  ihr  Ifinzu- 
treten  das  Bild  vollends. 

Die  Kolopexie  vermochte  ihren  Einfluß  selbst  nicht  voll¬ 
ständig  zu  befriedigen.  Appendix-  und  Cökalfisteln  schieden  als 
verstümmelnde  Operationen  aus.  Selbst  die  Ausschaltung  des 
ganzen  Kolons  oder  von  Partien  desselben  vermag  in  der  Mehr¬ 
zahl  der  Fälle  die  Darmstörung  nicht  auf  die  Dauer  zu  beheben. 
So  mußte  Redner  wiederholt  wegen  Rückstauung  des  Kotes  die 
Exstirpation  von  Dickdarmteilen,  besonders  des  Colon  ascendens, 


im  Hörsaale  der  I.  Universität«- Augenklinik  (  Ulgem.  Kranken 
liaus)  unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Hofrat  Prof.  Exner  staltfindender 


Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 


Prof.  Dr.  Fr.  Dimmer :  Die  Photographie  des  Augenhintergrundes 
(Vortrag  mit  Demonstrationen.)  __  . 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  v.  Eürtli  und  E.  neun 

M.  Sternberg.  .  .  „  . 

Bergmeister,  Pallauf. 


Um  die  rechtzeitige  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen 
ist  es  not  wendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemertungei 
dem  Schriftführer  noch  am  Sitzungsabend  zu  übergeben. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 


Die  nächste  Sitzung  findet  im  Hörsaale  der  Klinik  Ortner,  Donnerstag 


den  1.  Juni  1911,  um  7  Uhr  abends,  statt. 

(Vorsitz:  Professor  v.  Noorden.) 

Programm: 

A.  Administrative  Sitzung.  n  . 

B.  Wissenschaftliche  Sitzung.  Demonstrationen  angemeldet:  uok 

tor  Beck,  Frau  Dr.  Liclitenstern,  Priv.-Doz.  Dr.  Eppinger. 

Das  Präsidium. 


Wiener  laryngo-rhinologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Mittwoch  den  14.  Juni  1911,  7  Uhr  abends,  in 

Hörsaale  der  Klinik  Hofrat  C  h  i  a  r  i. 

Priv.-Doz.  Dr.  J ,  Fein  hat  eine  Demonstration  angemeldet. 

R  <§  t  b  i- 


Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Knhasta. 

ftrnek  von  Bruno  Barlelt,  Wien  XVIII.,  Tberesieugaaso  8, 


Verlag  von  Wilhelm  BranmHller  in  Wien. 


Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

*  '  stvs.  ää  ra  i-  asr-yraari  irr  ■ 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

inton  Frei!,,  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg.  Ernst  Ludwig.  Edmund  v.  Neusser 

Richard  Paltauf.  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 
Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 


XXIV.  Jahrg,  _  Wien.  8.  Juni  1911  Nr.  23 

INHALT: 


1.  Oi  iginalartikel :  1.  Experimentelle  Studien  zur  Nierenfunktion.  II. 
Von  Dr.  Arthur  Katz  und  Dr.  Robert  Lichtenstern.  S.  811. 

2.  Aus  der  Unfallstation  der  ersten  chirurgischen  Klinik.  (Vor¬ 
stand  :  Prof.  v.  Eiseisberg.)  Ueber  Wund-  und  Frakturbehand¬ 
lung.  Von  Dr.  Hans  Ehrlich,  Assistenten  der  Klinik,  derzeit 
Chefchirurg  des  österr  -Ungar.  Spitales  in  Konstantinopel.  S.  813. 

3.  Aus  dem  diagnostisch-therapeutischen  Institut  für  Herzkranke 
in  Wien.  Ueber  Digitalisleim  (Gelina  Digitalis).  Vorläufige 
Mitteilung  von  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz,  Wien.  S.  821. 

4.  Ueber  einen  Fall  von  Erweiterung  der  Aorta  bei  gleichzeitiger 
Verengerung  des  Ostium  derselben  und  des  linken  Ostium 
venosum.  Von  Prof.  Dr.  K.  E.  W  agner,  Direktor  der  medi¬ 
zinischen  Klinik  an  der  Universität  Kiew.  S.  822. 

5.  Die  Typhusepidemien  in  Hermannstadt.  Von  Dr.  Karl  linear, 
Prosektor.  S.  824. 

6.  Ernst  Fuchs..  (Zum  14.  Juni  1911.)  Von  C.  Heß,  Würzburg. 
S.  833. 


II.  Referate:  Die  großen  Probleme  in  der  Geschichte  der  Hirn- 
lehre.  Von  Prof.  Dr.  Döllken.  Ref. :  Obersteiner.  — 
Chemie  und  Biochemie  der  Lipoide.  Von  Dr.  Ivan  Bang. 
Dynamische  Biochemie.  Chemie  der  Lebensvorgänge  Von 
Dr.  Siegmund  Fränkel.  Ref.:  0.  v.  Fürth.  -  Handbuch  der 
speziellen  Chirurgie  des  Ohres  und  der  oberen  Luftwege.  Von 
Dr.  L.  Katz,  H.  Preysing  und  Dr.  F.  Blumenfeld. 
Ref.:  Alexander.  —  Neue  Wege  und  Ziele  für  die  Weiter¬ 
entwicklung  der  Sing-  und  Sprechstimme.  Von  G.  Wirz 
Ref. :  L.  R  e  t  h  i. 

III.  Ans  verschiedenen  Zeitschriften. 

IV.  Ungarischer  Brief.  Von  Dr.  Heinrich  Pach.  S.  842. 

V.  Vermischte  Nachrichten. 

VI.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßbericlite. 


•xperimentelle  Studien  zur  Nierenfunktion.  II. 

Von  Dr.  Arthur  Katz  und  Dr.  Robert  Lichtenstern. 

Die  Folgen  einseitiger  Ureterenunterbindung  wurden 
in  Tierexperiment  nach  verschiedenen  Richtungen  unter- 
ucht.  Einerseits  wurden  die  Untersuchungen  auf  die  dem 
interbimdenen  Ureter  zugehörige  Niere  beschränkt,  ander- 
eits  die  Veränderungen  der  zweiten  Niere  und  die  durch 
en  Eingriff  gesetzten  allgemeinen  Störungen  des  Körper- 
aushaltes  ermittelt.  Der  Ort,  an  dem  die  Unterbindung 
orgenommen  wird,  spielt  für  den  Ablauf  der  Erscheinungen 
eine  Rolle.  Zwar  behauptete  Spalitta,  daß  eine  nahe 
em  Hilus  angelegte  Ligatur  im  Gegensatz  zu  mehr  peri¬ 
pherer  komplette  Anurie,  welche  als  reflektorische  Sekre- 
lonshemmung  .gedeutet  wurde,  zur  Folge  hat,  aber  bereits 
'  o  r  i  wies  das  Irrige  dieser  Annahme  in  eigens  darauf - 
in  unternommenen  Experimenten  nach.  Damit  wurde  die 
insicht,  daß  nervöse  Störungen  die  Ursache  der  nach  dem 
'ingriff  auftretenden  Erscheinungen  sind,  hinfällig  und  jene 
nschauung,  welche  toxische  Einflüsse  für  diese  Störungen 
erantwortlich  machte,  a  priori  die  wahrscheinliche,  wie 
ereil s  in  einer  früheren  Mitteilung  (Wiener  klin.  Wochen- 
chrift  1909,  Nr.  45)  ausgeführt  wurde.  Fiori  war  es  auch, 
er  im  Tierversuch  feststellen  konnte,  daß  die  Sekretion 
er  Niere  nicht  sofort  nach  der  Ureterenunterbindung 
isliert.  ln  dem  Inhalte  der  sich  ausbildenden  Hydronephrose 
-urde  eine  Flüssigkeit  gefunden,  welche  nach  24  bis 
0  Stunden  5  bis  6°/oo  Harnstoff,  größere  Mengen  von 
hosphaten  und  wenige  Chloride  enthielt.  Beim  längeren 
überleben  des  Tieres  nahm  der  Umfang  der  sich  ent¬ 


wickelnden  Hydronephrose  unter  fortschreitender  Einschmel- 
zung  des  Nierenparenchyms  immer  mehr  zu,  die  Flüssig¬ 
keit  erschien  eiweißreich  (8%0),  ihr  Harnstoffgehalt  nahm 
immer  mehr  ab :  Sie  verlor  immer  mehr  den  Charakter 
des  normalen  Nierensekrets.  Die  Injektion  des  sterilen 
Hydronephroseninhaltes  hatte  bei  Kaninchen  Anämie,  später 
Oligurie,  Atembeschleunigung,  Verminderung  der  ausgeschie¬ 
denen  Harnstoffmenge  zur  folge:  alles  Symptome,  welche 
die  Gegenwart  toxischer  Stoffe  in  dieser  Flüssigkeit  sehr 
wahrscheinlich  erscheinen  ließen.  Gestützt  wird  di©  An¬ 
nahme,  daß  die  nach  der  Ureterenunterbindung  zu  konsta¬ 
tierenden  anatomischen  Veränderungen  sich  unter  dem  Bilde 
trophischer  Störungen  charakterisieren. 

Diese  Tatsachen  bilden  übrigens  nur  die  Bestätigung 
der  bereits  1898  im  Pasteur  sehen  Institut  ausgeführten 
Arbeiten  von  Nefedieff,  der  bei  Kaninchen  den  Ureter 
unterbunden  hatte  und  21,  resp.  41  Tage  nach  der  Opera- 
tion  das  Serum  der  operierten  Tiere  anderen  Kaninchen 
injizierte.  Nach  der  Injektion  stellte  sich  vorübergehende 
Albuminurie  ein  und  bei  der  Untersuchung  der  von  diesen 
Tieren  stammenden  Nieren  wurden  die  Veränderungen  einer 
diffusen  Nephritis  in  denselben  gefunden.  Aus  diesen  Unter¬ 
suchungen  zieht  der  Autor  den  Schluß,  daß  nach  Ureteren¬ 
unterbindung  Toxine  im  Organismus  gebildet  werden,  welche 
in  ihrer  Menge  nach  der  Operation  zunehmen  und  anschei¬ 
nend  der  infolge  des  Eingriffes  alterierten  Niere  entstammen 
oder  mit  zur  Ausscheidung  bestimmten  retinierten  Stoffen 
identisch  sind. 

Für  die  zuerst  ausgesprochene  Ansicht  scheinen  die 
Versuchsresultate  von  Timofew  zu  sprechen.  Er  konnte 


812 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1011. 


Nr.  23 


ermitteln,  daß  das  Blutserum  von  Tieren,  denen  der  Ureier 
unterbunden,  worden  war,  lymphagoge  Eigenschaften  ge¬ 
winnt.  Das  einige  Tage  nach  dem  Eingriff  gewonnene 
Serum  ruft,  Hunden  injiziert,  erhebliche  Steigerung  der 
Lymphabsonderung  hervor.  Bei  dem  Hunde,  dem  der  Ureter 
unterbunden  worden  war,  kommt  es  übrigens  auch  nach 
einigen  Tagen  zu  Steigerung  der  Lymphsekretion.  Weiter¬ 
hin  fand  Timofew,  daß  bei  den  Versuchstieren  einige 
Tage  nach  dem  Eingriff  durch  Injektion  physiologischer 
Kochsalzlösung  schwere  Erscheinungen  ausgelöst  werden 
können :  (Jedem,  Aszites,  Lungenödem  als  Todesursache. 

Das  Blutserum  war  stets  durch  gelöstes  Hämoglobin 
intensiv  gefärbt;  das  Toxin  muß  also  hämolytische  Eigen¬ 
schaften  besitzen.  Auf  Grund  dieser  Versuchsresultate  nimmt 
Timofew  an,  daß  nach  Ureterenunterbindung,  Unterbin¬ 
dung  der  Arteria  renalis,  nicht  aber  nach  einseitiger  Nephrek¬ 
tomie  Substanzen  entstehen,  welche  giftig  wirken  und  in  der 
durch  den  Eingriff  veränderten  Niere  gebildet  werden.  Er 
bezeichnet  sie  mit  dem  Namen  der  Nephroblaptine. 

Weiteres  ist  über  die  Natur  dieser  nach  Ureteren¬ 
unterbindung  auftretenden  Stoffe  nicht  bekannt.  Die  Frage 
nach  ihrem  Wesen  wäre  wohl  am  exaktesten  durch  che¬ 
mische  Beindarstellung  zu  beantworten.  Doch  hat  dieser 
Weg  kaum  Aussicht  auf  Erfolg,  da  zur  Darstellung  analysen¬ 
reinen  Materials  kaum  genügende  Mengen  von  Blutserum 
zur  Verfügung  stehen  würden,  um  so  mehr  als  die  Isolie¬ 
rung  von  den  Toxinen  nahestehenden,  nicht  wirksamen 
Stoffen  mit  kaum  überwindlichen  Schwierigkeiten  verbunden 
sein  dürfte. 

Es  erübrigt  daher,  einen  mehr  indirekten  Weg  ein¬ 
zuschlagen,  um  über  das  Vorkommen  und  die  Natur 
der  nach  Ureterenunterbindung  auftretenden  toxischen 
Stoffe  ins  Klare  zu  kommen. 

Da  es  sich  um  das  Vorhandensein  von  nur  relativ 
geringen  Toxinmengen  im  Organismus  handeln  dürfte,  er¬ 
scheint  es  gerechtfertigt,  jene  Methoden  der  biologischen 
Analyse  anzuwenden,  die  auf  dem  Gebiete  der  „Chemie 
des  Unwägbaren“  so  gute  Dienste  leisten.  Der  positive  Aus¬ 
fall  der  biologischen  Proben  gestattet  aber  auch  einen 
Rückschluß-  auf  die  Natur  der  vorhandenen  Substanz,  indem 
es  ja  bekannt  ist,  daß  Körper  von  niedrigem,  Molekular¬ 
gewicht,  ins  Blut  eingebracht,  weder  zu  Präzipitinbildung 
noch  zu  Komplementablenküng  Veranlassung  geben.  Posi¬ 
tive  Reaktion  gestattet  daher  die  Annahme,  daß-  die  sie 
auslösende  Substanz  entweder  ein  mit  dem  Körpereiweiß 
nicht  identisches  Eiweiß-  oder  ein  hoch  molekulares  Abbau¬ 
produkt  des  ersteren  ist. 

Die  beiden  wichtigsten,  weitgehender  Anwendung  fähi¬ 
gen  Methoden  der  biologischen  Analyse  sind,  wie  erwähnt,  die 
Erzeugung  von  spezifischen  Präzipitinen  und  die  Unter¬ 
suchung  auf  Komplementablenkung. 

Die  mitzuteilenden  Untersuchungen  beziehen  sich  zu¬ 
nächst  auf  das  Studium  derjenigen  Präzipitine,  welche  nach 
Injektion  des  Blutserums  von  Hunden  und  Kaninchen,  denen 
ein,  resp.  beide  Ureteren  unterbunden  worden  waren,  im 
Kaninchenorganismus  gebildet  werden. 

Der  Ausgangspunkt  der  zahlreichen  Arbeiten  über  Prä¬ 
zipitinbildung  sind  bekanntlich  die  Untersuchungen  von 
Kraus,  der  als  erster  den  Nachweis  erbrachte,  daß-  das 
Blutserum  eines  gegen  Typhus  immunisierten  Tieres  in  dem 
klaren  Filtrate  aus  Bouillonkulturen  des  Typhusbazillus 
Niederschläge  hervorruft,  daß  Cholera-  und  Pestbazillen  ein 
ähnliches  Verhalten  zeigen.  Die  nachfolgenden  Arbeiten  von 
T  s  c  h  i  s  t  o  w  i  t  c  h  und  von  Bordet,  welche  zeigten,  daß 
Injektion  von  Pferde-  oder  Aalserum  hei  Kaninchen  spezi¬ 
fische  Präzipitine  entstehen  läßt,  brachten  den  Beweis,  daß 
die  Methode  einer  großen  Erweiterung  fähig  i  t  und  für  den 
Nachweis  bestimmter  Eiweißkörper  verwertet  werden  kann. 
Ihre  Empfindlichkeit  ist  viel  größer  als  die  der  empfind¬ 
lichsten  chemischen  Reaktionen. 

Die  Methodik  der  Präzipitinreaktion  hat  insbesondere 
durch  die  Arbeiten  von  Uhlenhuth  und  seine  Schule 
entsprechende  Ausbildung  erfahren  und  eine  Gewähr  für 


ihre  Eindeutigkeit  und  Empfindlichkeit  ist  der  Umstand, 
daß  der  mit  ihrer  Hilfe  zu  führende  forensische  Nachweis 
von  Menschenblut  in  den  meisten  Staaten  Eingang  ge¬ 
funden  hat. 

Die  Präzipitinbildung  beruht  auf  der  Entstehung  neuer 
Rezeptoren  im  Körper,  welche  unter  dem  Einflüsse  des 
Reizes,  der  durch  die  eingespritzte  Substanz  ausgelöst  wird, 
gebildet  werden.  Daher  ist  es  auch  erklärlich,  warum  die 
Einführung  des  eigenen  Körpereiweiß  nicht  zur  Präzipitin 
bildung  Anlaß  gibt:  es  wird  eben  kein  anderer  als  der 
physiologische  Reiz  ausgeübt.  Daß-  die  verschiedenen 
Eiweißstoffe  desselben  Tieres  meist  einige  Rezeptoren  ge¬ 
meinsam  haben,  ist  wohl  anzunehmen  und  daraus  ist  er¬ 
klärlich,  warum  ein  für  einen  bestimmten  Eiweißkörper 
dargestelltes  Antiserum  auch  auf  einen  zweiten  in  ge  j 
wässern  Maße  einwirken  kann:  So  wirkt  ein  für  Serum¬ 
globulin  dargestelltes  Antiserum  spurenweise  auch  auf 
Serumalbumin,  ein  auf  Albumin  eingestelltes  energisch  auf 
Globulin  ein.  Dieser  von  Michaelis  aufgestellte  Ge¬ 
dankengang  macht  es  erklärlich,  daßi  absolut  artspezifische 
Sera  kaum  existieren  und  daß  stets  eine  gewisse  .größere 
oder  geringere  Reaktionsbreite  der  pathologischen  Antisera  ! 
gegenüber  dem  normalen  bestehen  muß. 

Daß  Abartungen  des  Eiweiß  mit  Hilfe  der  Präzipitin¬ 
bildung  zu  erkennen  sind,  war  aus  Versuchen  sehr  wahr 
scheinlich  gemacht,  die  Abhauprodukte  der  Eiweißkörper,  I 
wie  sie  bei  der  Pankreasverdauung  entstehen,  zur  Darstel¬ 
lung  spezifischer  Antisera  heranzogen,  ferner  durch  die 
von  G  r  u  n  d,  Forstu  e  r  u.  a.  erwiesene  Möglichkeit,  welche  ; 
die  einzelne  Organe,  wie  Milz,  Leber,  Niere  u.  dgl.,  auf¬ 
bauenden  Eiweißkörper  durch  die  Präzipitinreaktion  wenig¬ 
stens  bis  zu  einem  gewissen  Grade-  voneinander  zu  differen¬ 
zieren  vermochten.  Weiters  hatten  die  Arbeiten  Ascolis 
und  Sc  h  ii  tzes  gelehrt,  daß  mit  der  gleichen  Reaktion  der 
Nachweis  von  im  Blut  enthaltenen  Nahrungs-,  resp.  Muskel-  - 
eiweiß-  leicht  zu  führen  ist. 

Für  den  Nachweis  des  fremden,  resp.  abgearteten  Ei¬ 
weiß-  kommen  im  Rahmen  der  Präzipitinreaktion  zwei  Me¬ 
thoden  vorwiegend  in  Betracht:  der  Nachweis  spezifischer, 
präzipitabler  Substanz,  die  vorwiegend  mit  dem  spezifischen, 
mit  Hilfe  des  pathologischen  Blutserums  dargestellten  Anti¬ 
serum  einen  Niederschlag  gibt  und  die  M Rhode  D  ebnes, 
der  gefunden  hat,  daß  das  gebildete  Präzipitat  im  Beher¬ 
rsch  ii  ß  des  betreffenden  Blutserums  löslich  ist.  Beide  Me- 1 
thoden  ergaben  in  unseren  Versuchen  positive  Resultate. 

Unsere  Versuchsanordnung  war  eine  sehr  einfache  :| 
Behufs  Darstellung  der  normalen  Präzipitine  für  normales 
Hundeblut  wurde  Kaninchen  normales  Hundeblutserum 
intraperitoneal  oder  intravenös  eingespritzt,  entweder  in 
steigenden  Mengen  in  kurzen  Intervallen  von  drei  bis  sechs 
Tagen  oder  an  drei  aufeinanderfolgenden  Tagen  nach  der 
Methode  von  For  net  und  Müller.  Um  Isopräzipitiue 
für  Kaninchenblut  zu  erhalten,  geschah  die  Injektion  von 
Kaninchenblutserum  von  Kaninchen  zu  Kaninchen  auf  die 
gleiche  Weise.  Etwa  eine  Woche  nach  der  letzten  Injek¬ 
tion  erwies  sich  das  Antiserum  als  wirksam  und  gab  mit  dem 
normalen  Hundeblut-,  resp.  Kaninchenblutserum  deutliche  j 
Ausschläge  bei  Verdünnungen  von  1:1000  bis  1:2000.  Be¬ 
hufs  Gewinnung  eines  Antiserums  gegen  das  Blutserum  j 
nach  Ureterenunterbindung  wurde  per  Laparotomie  bei  Hun¬ 
den,  resp.  Kaninchen,  die  Unterbindung  eines  Ureters  vor¬ 
genommen  und  einige  Tage  nach  der  Operation  Blut  durch 
Aderlaß-  aus  der  Vena  jugularis,  bei  Kaninchen  aus  der 
Ohrvene  entnommen  und  wieder  in  gleicher  Weise,  wie: 
oben  beschrieben,  das  Serum  Kaninchen  injiziert.  Auch 
hier  war  die  Wirksamkeit  des  Antiserums  nach  zirka  einer 
Woche  in  voller  Stärke  seinem  Antigen  gegenüber  ausgespro¬ 
chen.  Mil  den  so  gewonnenen  (Blutproben  wurde  eine 
Reihe  von  Versuchen  angestellt,  die  stets  gleiches  Resultat 
ergaben. 

Behufs  Ausfällung  jener  Bestandteile,  die  in  nach  Ure- 
Lerenunterbindung  gewonnenem  Blutserum  mit  normalem 
Antiserum  Niederschläge  geben,  wurde  nach  Angaben  von 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


813 


Kister  und  \\  eichärdt  zunächst  normales  Kaninchen 
antiserum  und  nach  Absetzen  und  Zentrifugieren  des  ent¬ 
standenen  Niederschlages  Ureterantiserum  (d.  h.  Kaninchen¬ 
blutserum  von  Tieren,  die  mit  Hunde-,  resp.  Kaninchen- 
blut  nach  Ureterenunterbindung  vorbehandelt  waren)  zu¬ 
gesetzt.  Es  trat  bei  Zusatz  dieses  Ureterantiserums  neuer¬ 
lich  ein  Niederschlag  auf:  ein  Beweis,  daß,  nicht  alle  Stoffe 
des  Ureterblutserums  durch  Normalserum  fällbar  sind  und 
dahei  ein  den  Eiweißkörpern  nahestehendes  Toxin  in  Lösung 
gewesen  sein  mußte.  Denselben  Ausfall  zeigte  die  Reaktion 
bei  Verwendung  von  Kaninchenureterblut  und  Kaninchen¬ 
antiserum.  Die  Reaktion  wurde  in  Verdünnungen  von  1 :  100 
bis  1:200  durchgeführt.  Auch  die  umgekehrte  Versiichs- 
anoidnung,  d.  h.  Fällung  der  Uretersera  mit  Ureterantiserum 
und  nachträglichem  Zusatz  von  Normalantiserum  ergab  posi¬ 
tiven  Ausschlag.  Positiver  Ausfall  der  Dehn  eschen  An¬ 
ordnung  des  Versuches  war  gleichfalls  zu  konstatieren: 
Fällung  des  Ureterserums  mit  Ureterantiserum  und  neuer¬ 
licher  Zusatz  von  Ureterserum,  wobei  Aufhellung  der  trüben 
Flüssigkeit  erfolgt.  Mit  diesen  Versuchen  ist  wohl  der  Be¬ 
weis  erbracht,  daß  nach  Unterbindung  des  Ureters  bei 
Hunden  und  Kaninchen  eine  Substanz  im  Blute  vorhanden 
ist,  welche  im  Normalblut  nicht  vorkommt. 

Daß,  Normalserum  durch  Ureterantiserum  gefällt  wird, 
ist  selbstverständlich,  denn  im  Ureterantiserum  werden  ja 
zahlreiche  Rezeptoren  vorhanden  sein,  welche  auf  die  des 
Normalserums  einpassen.  Der  positive  Ausfall  der  Präzi¬ 
pitinreaktion  beweist  weiterhin,  daß  nach  Ureterenunter¬ 
bindung  im  Blutserum  eiweißartige  oder  dem  Eiweiß  nahe¬ 
stehende  Substanzen  enthalten  sind,  welche  als  Ursache 
ier  toxischen  Wirkungen  anzusehen  sind.  Ob  es  Zerfalls¬ 
produkte  der  Nierensubstanz  sind,  sollen  weitere  Versuche 
ehren. 

Unsere  Versuche  wurden  im  physiologischen  Institut 
ler  k.  k.  Wiener  Universität  durchgeführt. 


Serum  vom 


bß 

G 

G 

G 

G 

:G 

-- 

<u 

> 


Zusatz  von 
Antiserum 


l  , 


normalen 

Hund 


normalen 

Hund 

Hunde  nach 
Ureterunter¬ 
bindung 
Hunde  nach 
Ureterunter¬ 
bindung 

normalen 
H  und 


normalen 

Hund 


Hunde  nach 
!  Ureterunter¬ 
bindung 

I  Hunde  nach 
Ureterunter¬ 
bindung 

Kaninchen, 

normal 

Kaninchen 
mit  unter¬ 
bundenem 
Ureter 
Kaninchen 
niit  unter¬ 
bundenem 
Ureter 


1 : 10 


1:10 


1: 10 


1:10 


1:1 


nach  Injekt.  nor¬ 
malen  Hunde- 
blutes 

nach  Injekt.  von 
Ureterhundeblut 

nach  Injekt.  nor¬ 
malen  Hunde¬ 
blutes 

nach  Injekt.  von 
Ureterhundeblut 


p 

c 


q; 


Sofort 


Nach  Stehen 
im  Eiskasten 


1 


RICO 


10 


1:10 


nach  Injekt.  nor¬ 
malen  Hunde-  I  1 
blutes 

nach  Injekt.  von  ; 
Ureterhundeblut 


nach  Injekt.  nor¬ 
malen  Hunde¬ 
blutes 


nach  Injekt.  von 
Ureterhundeblut 


1 


nach  Injekt.  von  | 
normalem 
Kaninchenblut 

nach  Injekt.  von  |] 
normalem  '•  ^ 
Kaninchenblut 


I  nach  Injekt.  von 
:  10J  Ureter¬ 
kaninchenblut 


|0'4 

|0'5 


1 : 10.  Trübung 


1:10 


1:10 


1:10 


schwache 

Trübung 


Trübung 


Trübung 


1 .  jqi  deutliche 
"Rübling 


i.1n  deutliche 
Wiibung 


l :  10 


schwache 

Trübung 


.  |Q  deutliche 
Trübung 


intensive 


Trübung 


intensive 

Trübung 


sehr 

intensive 

Trübung 


deutlicher  . 
Niederschlag 

geringerer 

Niederschlag 

+ 

deutlicher 

Niederschlag 

+ 

deutlicher 

Niederschlag 

+ 

deutlicher 

Niederschlag 

d  F 

deutlicher 

Niederschlag 

H — F 

geringer 

Niederschlag 

d~ 

starker 

Niederschlag 

+++ 

deutlicher 

Niederschlag 

deutlicher 

Niederschlag 


sehr  deutl. 
Niederschlag 


Ans  den  mitgeteilten  Versuchen  geht,  hervor,  daß: 

1.  der  Nachweis,  der  nach  Ureterenunterbindung  im 
Jiimde-  und  Kaninchienorganismus  entstehenden  Toxine  mit 
Hille  der  Präzipitinreaktion  in  eindeutiger  Weise  möglichj 
ist  und  daß, 

i  ,  dahcAr,  ,di'ose  Toxine  als  Eiweißkörper  oder  hoch 
molekulare  Abbauprodukte  des  Eiweißes  anzusehen  sind. 


Aus  der  Unfallstation  der  I.  chirurgischen  Klinik. 
(Vorstand:  Prof.  v.  Eiseisberg.) 

Ueber  Wund-  und  Frakturbehandlung, 

Von  Dr.  Hans  Ehrlich,  Assistenten  der  Klinik,  derzeit  Chefchirurg  des 
osterr.-ungar.  Spitales  in  Konstantinopel. 

Wenn  wm  am  Lude  des  kurzen  Zeitraumes  ivon  14  Mo- 
das  Krankenmaterial  der  in  der  Zeit,  vom  1.  November 
bis  Ende  Dezember  1910  an  die  neugeschaffene  Un¬ 
fallstation  eingelieferten  Verletzungen  einer  kritischen 
Durchsicht  unterziehen  und  unsere  Resultate  zusammen- 
lassen,  so  dürfte  eine  derartige  Zusammenstellung  kaum  viel 
Neues  bringen  und  das  Thema  der  Verletzungschirurgie  ,ge- 
u  iß  nicht  erschöpfend  behandeln.  Die  an  einem  vorder¬ 
hand  beschränkten  Material  gesammelten  Erfahrungen 
setzen  uns  nur  in  den  Stand,  zu  gewissen  Fragen  Stellung 
zu  nehmen,  wie  sie  teils  infolge  ihrer  allgemein  chirurgf- 
schen  Bedeutung  bei  jeder  neuen  Verletzung  von  Interesse 
smü,  teils  bei  der  häufigen  Wiederkehr  bestimmter  Ver- 
letzungs typen  auch  an  der  Hand  einer  relativ  kleinen  Zahl 
von  Fallen  beantwortet  werden  können. 

Eine  Zusammenstellung  der  gerade  im  ersten  Jahre 
gewonnenen  Erfahrungen,  erscheint  uns  hauptsächlich  des¬ 
halb  von  Wert,  weil  dieselben  für  dielweitere  an  der  Unfall¬ 
station  einzuschlagende  Therapie  maßgebend  sein  werden. 

r«  uDie-  Bf;urteiluilg  eines  eventuellen  therapeutischen 
Ettektes  ist  hei  akzidentellen  Verletzungen  ganz  besonders 
erschwert,  weil  wir  kein  sicheres  Kriterium  besitzen,  das 
uns  die  primäre  schädigende  Wirkung  eines  Traumas  von 
\  omherem  voll  ei  messen  läßt  und  weil  man  eher  geneigt  ist 
einen  Mißerfolg,  z.  B.  Wundinfektion  auf  die  All  und  Aus- 
dehnung  der  Verletzung,  anderseits  einen  Erfolg,  wie  glatten 
Wundverlauf  auf  die  eingeschlagene  Therapie  zurückzu¬ 
führen.  Erst  mit  größerer  Erfahrung  auf  diesem  Gebiete 
wird  man  seltener  in  diesen  Fehler  verfallen  und  erst  dann 
imstande  sein,  deji  richtigen  Mittelweg  zwischen  einer  mehr 
aktiven  oder  streng  abstinenten.  Therapie  einzuschlagen. 

Ohne  bei  der  nahezu  unbegrenzten  Variationsmöglieh- 
keit  von  Verletzungen  für  eine  zu  weitgehend  .schematisie¬ 
rende  Behandlung  eintreten  zu  wollen,  ist  die  Aufstellung 
gewisser  Grundprinzipien,  vielleicht  auch  deshalb  nicht 
überflüssig,  weil  sich  gerade  auf  dem  Gebiete  der  Ver- 
lelzungschirurgie  der  Mangel  allgemein  anerkannter  einheit¬ 
licher  Behandlungsmethoden  besonders  fühlbar  macht. 
Wenigstens  scheinen  nach  unseren  Erfahrungen  an  Ver¬ 
letzungen,  die  nicht  von  der  Wiener  Freiwilligen  Bettungs¬ 
gesellschaft  in  mustergültiger  Weise  versorgt,  kurz  nach  dem 
I  raum a  eingeliefert  wurden,  sondern  bereits  vorbehandelt, 
aus  größerer  -Entfernung  die  Anstalt  aufsuchten,  über  die 
primäre  Versorgung  von  Verletzungen,  die  divergentesten 
Ansichten  zu  herrschen.  So  werden  nicht  so  selten  frische 
Schuß,-  und  Stichkanäle,  mit  Sonden  untersucht,  andrer¬ 
seits  m  der  übertriebenen  Angst  vor  Infektion  glatte  Wunden 
duich  Desinfektionsmittel  verätzt,  Hautwunden  über  ver¬ 
letzten  Sehnen  oder  Nerven  durch  die  Naht  geschlossen 
oder  ischämische  Kontrakturen  durch  zirkuläre  Gipsver¬ 
bände  erzeugt,  Fehler,  welche  leicht  zu  vermeiden  wären, 
wenn  der  erste  behandelnde  Arzt,  sich  der  Tragweite  der¬ 
artiger  Eingriffe  und  seiner  vollen  Verantwortlichkeit  auch 
Verletzten  gegenüber,  denen  er  nur  erste  Hilfe  leistet,  be¬ 
wußt  wäre.  In  diesem  Sinne  sind  die  folgenden  Ausführun¬ 
gen  zum  leil  von  vorwiegend  lokalem  Interesse,  indem  sie 
den  Zwreck  verfolgen,  den  Vorletzten  womöglich  noch  vor 
dei  Einlieierung  in  die  Unfallstation  eine  sachgemäße  erste 
Hilfe  zu  sichern. 


814 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  23 


Das  Krankenmaterial  der  Unfallstation  gibt  keine  er- 
se Lupfende  Uebersicht  über  sämtliche  in  die  Klinik  ein¬ 
gelieferten  Verletzungen,  weil  regelmäßig  eine  große  Zahl 
in  dem  räumlich  getrennten  Ambulatorium  in  Behandlung 
steht.  Zur  Aufnahme  gelangten  nur  solche,  die  wegen  der 
Schwere  des  Falles  mitunter  auch  aus  sozialen  Gründen 
eine  interne  Spitalsbehandlung  angezeigt  erscheinen  ließen, 
ln  der  folgenden  Zusammenstellung  fehlt  somit  der  größte 
Teil  der  an  der  Klinik  beobachteten  Frakturen  und  Luxa¬ 
tionen  der  oberen  Extremität,  der  Sehnenverletzungen,  Kon¬ 
tusionen  und  anderen  geringfügigen  Verletzungen.  Erst,  in 
letzter  Zeit  wurden  an  der  Unfallstation  in  steigender  Fre¬ 
quenz  Verletzungen  auch  ambulatorisch  behandelt.  Bei  dem 
häufigen  Vorkommen  von  multiplen  Verletzungen  ist  es 
nicht  gut  möglich,  die  Patienten  nach  ebensoviel  .Diagnosen 
zusammenzustellen.  FTm  nur  die  wichtigsten  hervorzuheben, 
verzeichnen  wir  bei  627  Kranken  (450  Männer,  (177  Frauen) 
667  Verletzungen,  die  sich  nach  der  Lokalisation  verteilen 


wie  folgt: 

Verletzungen  der  Haut . 138 

,,  ,,  Sehnen . 10 

,,  ,,  Nerven .  7 

Frakturen  des  Hirnschädels . 37 

,,  Gesichtsschädels . 14 

obere  Extremität  und  Schultergürtel  .  81 

untere  Extremität  und  Beckengürtel  .  168 

Wirbelsäule  und  Rippen . 127 

Luxationen . 20 

Verletzungen  innerer  Organe: 

Gehirn . 28 

Thorax  .  .  22 

Abdomen . 16 

Defekte  von  Gliedmaßen .  14 

Multiple  Zertrümmerungen .  4 

Gefäßverletzungen . . 12 

Kontusionen . 77 


Wenn  wir  nach  operativen  Eingriffen,  die  mit  ge¬ 
kochten  Instrumenten  in  desinfizierter  Umgebung  vorge¬ 
nommen,  nach  den  Regeln  der  Asepsis  nachbehandelt  wer¬ 
den,  nur  selten  Störungen  des  Wundverlaufes  sehen,  .andrer¬ 
seits  nach  akzidentellen  Verletzungen  schwere  Infektionen, 
Gasphlegmonen  u.  dgl.  beobachten,  so  schiene  es,  als  ob 
diese  beiden  Arten  von  Verletzungen  prinzipiell  vonein¬ 
ander  verschieden  wären  und  die  Grundsätze  in  der  Be¬ 
handlung  von  den  ersteren  auf  die  letzteren  nicht  zu  über¬ 
tragen  wären.  Demgegenüber  steht  allerdings  die  durch 
wiederholte  genaue  bakteriologische  Untersuchungen  fest¬ 
gestellte  Tatsache,  daß  trotz,  aller  Vorkehrungen  die  ischein- 
bar  aseptischen  Operationswunden  am  Ende  einer  Opera¬ 
lion  niemals  bakterienfrei  sind  und  daß  wir  daher  den 
guten  Wundverlauf  nicht,  so  sehr  dem  Fehlen  von  Keimen 
als  anderen  Umständen  verdanken,  wie  sie  durch  die  glatten, 
gut  ernährten  Wundränder,  die  (genaue  Blutstillung,  die  Ver¬ 
meidung  toter  Räume,  die  sorgfältige  Nachbehandlung  usw. 
gegeben  sind,  die  den  Organismus  in  den  iStand  setzen, 
eine  Infektion  mit  wenig  virulenten  Keimen  ohne  Reak¬ 
tion  zu  überstehen.  Wenn  wir  anderseits  Operationswunden 
bei  ungünstigen  Heilungsbedingungen,  z.  B.  Hämatombil¬ 
dung,  vereitern  sehen,  während  dagegen  mit  unreinen  In¬ 
strumenten  zugefügte  Verletzungen  unter  sonst  günstigen 
Wund  Verhältnissen  nicht  selten  per  primam  heilen,  so  unter¬ 
liegt.  es  kaum  einem  Zweifel,  daßi  auch  bei  Verletzungen 
die  Bedeutung  der  primären  Wundinfektion  gegenüber  der 
anderer  in  der  Beschaffenheit  der  Wunde  selbst  gelegener 
Faktoren  nicht  überschätzt  werden  darf. 

Da  wir  nun  bei  den  auch  nicht  .verläßlich  keimfreien 
Operationswunden  mit  der  rein  aseptischen  Behandlung  fast 
durchwegs  gute  Resultate  erzielen,  nehmen  wdr  keinen  An¬ 
stand,  das  Prinzip  der  Asepsis  auch  auf  die  Behandlung  von 
Verletzungen  im  allgemeinen  zu  übertragen,  allerdings  mit 
der  Einschränkung,  daß  wir  bei  Wunden,  die  hochgradig 
verunreinigt  scheinen,  durch  vorwiegend  mechanische  Maßi- 
nahmen  bestrebt  sind,  die  Infektionskeime  und  das  mangel¬ 


haft  ernährte  Gewebe  zu  entfernen,  die  Sekretstauung  zu 
verhindern  und  so  die  Verletzungswunden  den  Operations¬ 
wunden  ähnlicher  zu  machen. 

Um  zunächst,  von  rein  praktischen  Gesichtspunkten 
ausgehend,  die  Verletzungswunden  nach  ihrer  Beschaffen¬ 
heit  zu  klassifizieren,  lassen  sich  im  wesentlichen  drei 
häufig  wiederkehrende,  allerdings  nicht  scharf  getrennte 
Typen  unterschieden. 

1.  Kontinuitätstrennung  der  Haut-  und  Weichteile  ohne 
Defekt  mit  mehr  oder  weniger  glatten,  gut  .ernährten  Wund¬ 
rändern  ohne  sichtbare  Verunreinigung. 

2.  Quetschwunden  mit  schlecht  ernährten  Rändern. 

3.  Wunden,  die  sichtbar  hochgradig  verunreinigt  sind 
(Erde,  Kleidungsstücke). 

Was  nun  die  Behandlung  dieser  Wunden  betrifft,  so 
sehen  wir  uns  nur  bei  den  Wunden;  der  zweiten  und  dritten! 
Gruppe  zu  einem  energischeren  Vorgehen  veranlaßt.  Die 
Wunden  der  ersten  Gruppe  heilen  erfahrungsgemäß  am 
besten,  wenn  man  sie  ganz  nach  den  Grundsätzen,  wie 
sie  für  reine  Wunden  Geltung  haben,  behandelt.  Rasieren, 
der  Haut,  Reinigung  der  Umgebung  mit  Jodbenzin,  Pinseln 
der  Haut  mit  Jodtinktur  sind  Maßnahmen,  die  eine  nach-; 
trägliche  Infektion  verhindern  sollen,  die  Wunden  werden: 
als  rein  betrachtet  und  nur  aseptisch  verbunden. 

Die  einzige  Konzession,  die  wir  an  die  eventuelle,! 
durch  das  verletzende  Instrument  erfolgte  und  makro-| 
skopisch  nicht  nachweisbare  Verunreinigung  der  Wunde; 
machen,  ist  die,  daß  wir  derartige  Wunden  im  Gegensatz; 
zu  den  Operationswunden  nur  mit  wenigen  Ausnahmen  nicht 
durch  die  Naht  verschließen.  Die  anfangs  auch  bei  glatten 
Wunden  ohne  Defekt  geübte  prophylaktische  Anwendung 
des  Perubalsams  hat  sich,  wenn  dadurch  auch  kein  nach-j 
weisbarer  Schaden  entstand,  als  unzweckmäßig  erwiesen,! 
weil  der  Perubalsam,  wie  es  scheint,  das  Gewebe  in  einen 
nicht  unbeträchtlichen  Reizzustand  versetzt,  zur  Sekretion! 
anregt  und  so  die  Primaheilung,  die  bei  rein  aseptischem: 
Vorgehen  häufig  eintritt,  verhindert. 

Die  Ausnahmefälle,  in  welchen  wir  die  Haut 'durch  diel 
Naht  verschließen,  sind  jene,  bei  welchen  größere  Haut-: 
lappen  durch  einige  lockere  Nähte  fixiert  werden,  wobei  aber; 
immer  darauf  geachtet  wird,  daß  der  Abfluß  des  Wund¬ 
sekretes  in  keiner  Weise  gehemmt  ist.  Für  die  primäre] 
Naht  eignen  sich  ganz  besonders  selbst  nicht  ganz  glatt 
randige  Wunden  des:  Gesichtes,  während  andere  Hautver¬ 
letzungen,  wie  die  Wunden  der  Kopfschwarte  und  des  übri 
gen  Körpers  eine  viel  geringere  Tendenz  zur  primären  Hei¬ 
lung  zeigen.  Es  dürfte  dies  damit  Zusammenhängen,  daß 
infolge  der  innigen  Verwachsung  der  Haut  des  .Gesichtes! 
mit  der  mimischen  Muskulatur  die  Bildung  eines  .subkutanen 
Hämatoms  nicht  so  leicht  zustande  kommt,  wie  dies  unter 
der  leicht  abhebbaren  Haut  der  Kopfschwarte  der  Fall  ist., 
Für  letztere  Fälle  empfiehlt  sich  auch  aus  diesen  Gründen 
selbst  wenn  die  Blutung  aus  größeren  Gefäßen  'durch  Liga 
tur  gestillt  ist,  ein  leichter  Kompressionsverband. 

Die  Resultate,  die  wir  mit  der  rein  (.aseptischen,  jedoch 
offenen  Behandlung  von  makroskopisch  reinen  Wunden  er 
zielt  haben,  sind  durchwegs  befriedigend  zu  nennen,  in 
dem  wir  bei  Fällen,  die  kurz  nach  der  Verletzung  einge¬ 
liefert  wurden,  wohl  manchmal  vorübergehend  entzündliche 
Rötung  der  Wundränder,  niemals  aber  schwere  Infektionen 
entstehen  sahen.  Dagegen  hatten  wir  öfters  Gelegenheit, 
ausgedehnte  Phlegmonen  zu  behandeln,  die  nach  glattrandi 
gen,  primär  vernähten  Schnittwunden  der  Kopfschwarte  odei 
der  Extremitäten  entstanden  waren.  Das  relativ  häufig»“ 
Vorkommen  von  Sehnenscheidenphlegmonen  nach  Nalil 
scheinbar  ganz  unbedeutender  Wunden  über  dem  Hand 
gelenk  oder  im  Bereiche  der  Hohlhand  weist  (darauf  hur 
daß  wohl  öfters  eine  Verletzung  der  Sehnenscheiden  vor 
liegt,  als  man  dies'  bei  Mangel  einer  Fünktionsstörung  von 
seiten  der  Sehnen  nach  dem  Aussehen  der  (Wunde  vermuten 
würde. 

Um  anschließend  daran  unseren  Standpunkt  bei  Be¬ 
handlung  von  Sehnenverletzungen  zu  präzisieren,  so  trach- 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


815 


ten  wir,  womöglich  die  primäre  Sehnennaht  auszuführen, 
die  immer  mehr  die  Bedeutung  einer  dringlichen  ^Operation 
erlangt.  Die  Vorbereitung  der  verletzten  Extremität  durch 
ein  Sublimatbad  hat  nicht,  den  Zweck,  die  Wunde  zu 
desinfizieren,  die  gewöhnlich  durch  ein  Blutkoagulum  ver¬ 
schlossen,  die  desinfizierende  Flüssigkeit  kaum  eindringen 
laßt;,  unser  Vorgehen  richtet  .sich  vielmehr  gegen  die  Ver¬ 
unreinigungen  der  Haut,  die  in  dem  beschränkten  Opera¬ 
tionsfeld.  nicht  so  exakt  abgedichtet  werden  kann,  daß  da¬ 
durch  die  Infektion  des  zu  versenkenden  Nahtmateriales 
mit  Sicherheit  zu  vermeiden  wäre.1) 

Für  platte  Sehnen  hat  sich  die  einfache  Naht  nach 
W  ö  1  f  1  e  r  am  besten  bewährt.  Starke,  runde  Sehnen  werden 
nach  Lange  genäht. 

Je  nach  der  Lokalisation  der  Sehnenverletzungen  ist 
nach  Vereinigung  der  Sehnenstümpfe  die  exakte  Naht  der 
Sehnenscheide  oft  nicht  durchführbar,  was  jedoch1  das  funk¬ 
tionelle  Resultat  nicht  wesentlich  zu  beeinflussen  scheint. 
Die  zum  Aufsuchen  der  Sehnenstümpfe  erforderlichen  Hilfs¬ 
schnitte  wurden  immer  primär  vernäht,  die  ursprüngliche 
Verletzung  offen  gelassen. 

Bei  älteren  Sehnenverletzungen  ist,  besonders  wenn 
die  Ränder  der  Hautwunde  kein  vollkommen  reaktionsloses 
Aussehen  darbieten,  von  jedem  operativen  Eingriff  abzu¬ 
sehen  und  die  Reinigung  der  Wunde  abzuwarten,  wenn  sich 
auch  mit  der  Länge  der  Zeit,  die  seit  der  Verletzung  ver¬ 
strichen  ist,  das  funktionelle  Resultat  der  Sehnennaht  .nicht 
unerheblich  verschlechtert. 

Während  bei  primär  genähten  Sehnen  Verletzungen  außer 
einer  geringfügigen  Sekretion,  aus  der  nicht  genähten  ursprüng¬ 
lichen  Hautwunde  niemals  Störungen  des  Wundverlaufes  beob¬ 
achtet  wurden,  heilten  sekundäre  Sehiiennähte  gewöhnlich  per 
seen n dam.  In  einem  Falle  kam  es  nach  Ausstoßung  des  Naht- 
materiales  zu  einer  neuerlichen  DehiszeWz  der  Stümpfe,  in  einem 
anderen  sogar  zu  einer  schweren  pyämischen  Allgemeininfektion, 
die  erst  nach  Rippenresektion  und  Abstoßung  eines  Lungen¬ 
sequesters  zur  Heilung  gelangte. 

Solange  es  keine  verläßliche  Desinfektion  einer  granu¬ 
lierenden  Wunde  gibt,  wird  man  bei  Ausführung  der  sekun¬ 
dären  Sehnennaht  mit  der  Möglichkeit  derartiger  Kompli¬ 
kationen  immer  rechnen  müssen,  und  sich  bei  infizierten 
Fällen  doch  eher  entschließen  unter  Verzicht  auf  vollkom¬ 
mene  Wiederherstellung,  die  Sehnennaht  erst  nach  Ueber- 
häutung  der  Wunde  auszuführen. 

Daß  man  'bei  Sehnen  Verletzungen  innerhalb  gequetsch- 
fer  und  zerrissener  Wunden  a:n  eine  primäre  Wiederherstel¬ 
lung  der  Kontinuität  nicht  denken  wird,  braucht  nicht  be¬ 
sonders  betont  zu  werden.  Es!  sind  dies  jene  Fälle,  in 
welchen  man  nach  vollkommener  Reinigung  des  Wundbettes 
durch  plastische  Operationen  versuchen  wird,  die  schwere 
Funktionsstörung  zu  bessern. 

Bei  der  eingangs  erwähnten  zweiten  Gruppe  von  Ver¬ 
letzungen,  die  meist  durch  stumpfe  Gewalt  entstanden,  un¬ 
regelmäßige,  zerrissene  und  gequetschte  Wundflächen  dar¬ 
bieten,  ändert  sich,  wenn  makroskopisch  keine  Verunreini- 
mngen  nachzuweisen  sind,  nach  der  Beschaffenheit  der 
Wunde  jedoch  eine  primäre  Heilung  ausgeschlossen  er¬ 
scheint,  unser  Verfahren  gegenüber  glatten  Wunden  nur  in¬ 
sofern,  als  wir  möglichst  konservativ  nur  sicher  nicht  er- 
lährtes  Gewebe  exzidieren,  Wundtaschenbildung  durch 
Drainage  aus'zuschalten  suchen  und  die  Wundhöhle  nach' 
\usgießen  mit  Perubalsam  mit  Gaze  locker  tamponieren. 
Wir  legen  dabei  viel  weniger  Gewicht  auf  die  bekanntlich 
iußerst  geringe  bakterizide  Wirkung  des  Perabalsäms,  doch 
scheint  derselbe  infolge  der  reizenden  Eigenschaften  durch 
\nregung  der  Granulationsbildung  die  Wundhöhle  rascher 
'on  der  Umgebung  abzuschließen  und  die  Abstoßung  'even- 
ueller  nachträglicher  Nekrosen  zu  befördern. 


0  Die  Versuche  von  Hecht  und  Köhler  (Untersuchungen 
'her  Asepsis.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1911,  S.  371)  kamen  erst  später 
um  Abschluß,  so  daß  die  Sublimatalkohol-Desinfektion  der  Haut  bis 

•  Januar  1911  bei  Verletzungen  nicht  zur  Anwendung  kam. 


So  einfach  und  bestimmt  unsere  Indikationsstellung 
füi  die  Behandlung  der  makroskopisch  reinen  Wunden  ist, 
indem  wir  hier  mit  gutem  Erfolge  dem  rein  aseptischen 
Prinzip  folgen,  s.o  leicht  könnte  man  im  Hinblick  auf 
manche  letal  endigende  Fälle  von  schwer  verunreinigten 
Verletzungen,  wie  z.  B.  nach  Ueberfahrenwerden,  Verschüt¬ 
tungen,  Schrotschüssen  aus  nächster  Nähe  u.  dg].,  immer 
wieder  schwankend  werden  und  sich  veranlaßt  sehen,  durch 
antiseptische  Mil  lei  den  Kampf  mit  den  eingedrungenen 
Krankheitserregern  in  wirkungsvollerer  Weise  zu  versuchen. 
Schädliche  Nachwirkungen  von  Spülung  der  Wunde'  mit 
Sublimatlösung,  wie  wir  sie  bei  schwer  verunreinigten  Fällen 
ab  und  zu  vorgenommen  haben,  haben  wir  niemals  beob¬ 
achtet.  Doch  können  wir  auch  in  keinem  Falle  von  einem 
effektiven  Nutzen  derartiger  Maßnahmen  berichtein,  indem 
wir  nur  dann,  wenn  es  gelungen  war,  durch  ausgedehntes 
Debridement  der  Wunde,  radikale  Exzision  der  verunreinig¬ 
ten  Gewebe  weit  offene  einfache  Wundhöhlen  zu  schaffen, 
einen  Erfolg  verzeichnen.  Ob  aseptisch  oder  antiseptisch 
nachbehandelt,  wird,  scheint  von  untergeordneter  Bedeu¬ 
tung  zu  sein. 

Auch  die  Anwendung  des  Perubalsams  hat  bezüglich 
der  Verhütung  von  anaerober  Infektion  nicht  das  erfüllt, 
was  nach  den  experimentellen  Untersuchungen  Suters  von 
seiner  Wirkung  zu  erhoffen  wäre.  | 

So  sahen  wir  in  zwei  Fällen  (Schrotschuß  aus  nächster  Nähe 
in  das  Gesäß,  subkutane  Pfählung)  trotz  Behandlung  mit  Peru- 
balsam  Gasphlegmonen  auftreten,  weil  das  Debridement  nicht 
radikal  genug  vorgenommen  war  und  infizierende  Fremdkörper 
(Filzpfropfen,  Holzspan)  zurückgeblieben  waren1,  während  in  zwei 
anderen  Fällen,  die  ohne  Perubalsam  mit  gründlicher  Exzision 
behandelt  wurden,  bei  welchen  im  Tierexperiment  und  durch 
das  Mikroskop  in  den  exzidierten  Verunreinigungen  pathogene 
Anaerobien  nachzuweisen  waren,  die  Gasphlegmone  ausge¬ 
blieben  ist. 

In  einem  weiteren  Falle,  der  mit  multiplen  Gasabszessen 
in  der  Muskulatur  des  Oberschenkels  eingeliefert  wurde,  mußte 
trotz  mehrfacher  Inzisionen  und  Ausgießen  der  Wunden  mit  Peru¬ 
balsam  die  Amputation  vorgenominen  werden,  die  oben  erwähnte 
Gasphlegmone  der  Bauchdecken  nach  Pfählung  kam  nach  In¬ 
zision  und  Tamponade  mit  Wasserstoffsuperoxyd  zur  Heilung. 

Wenn  wir  nach* *  dem'  Gesagten  bei  unreinen  Wunden 
nach  der  Exzision  oder  auch  großen  gequetschten,  schein¬ 
bar  reinen  Wunden  doch  immer  wieder  Perubalsam  ver¬ 
wenden,  so  tun  wir  dies  in  der  meines  Erachtens  wohlbegrün¬ 
deten  Annahme,  daß  wir  dadurch  vielleicht  manche  Infektion 
durch  Eiterkokken,  wenn  auch  nicht  zu  verhindern,  wohl 
aber  auf  die  Wunde  selbst  zu  lokalisieren  imstande  sind. 
Zur  Verhütung  der  anaeroben  Infektion  bleibt  uns  als  sou¬ 
veränes  Mittel  nur  die  mechanische  Desinfektion  durch  Ex¬ 
zision  der  Wunde  und  Schaffung  weiter  Kommunikation 
mit  der  Außenwelt.  Die  Tamponade  der  Inzisionswunden 
mit  in  Wasserstoffsuperoxyd  getauchter  Gaze  wird  bei  ein¬ 
getretener  Gasphlegmone  vielleicht  noch  Rettung  bringen, 
wo  Inzisionen  allein  den  Prozeß  nicht  mehr  !zum  Stillstand 
bringen  können. 

Eine  weitere,  nicht  minder  gefürchtete  Komplikation 
verunreinigter  akzidenteller  Wunden  ist  die  Infektion  mit  Te¬ 
tanus,  die  um  so  heimtückischer  genannt  werden  muß,  als 
sie  auch  durch  geringfügige  Verletzungen  erfolgen  kann. 

Unsere  diesbezüglichen  Erfahrungen  erstrecken  sich 
auf  vier  Fälle. 

Die  Infektion  war  in  einem  Falle  durch  eine  Verletzung 
des  Bulbus  durch  einen  Holzspa, n  verursacht,  in1  den  anderen  drei 
Fällen  durch  Hufschlag,  Pferdebiß  und  Verunreinigung  einer  B.iß- 
quetschwunde  durch  Pferdemist,  wurde  demnach  in  drei  Vierteln 
der  Fälle  nachweisbar  mehr  oder  weniger  durch  das  Pferd  über¬ 
tragen.  (Verneuil.) 

Um  über  den  Wert  der  Serumtherapie  bei  ausgebrochenem 
Tetanus  Schlüsse  zuzulassen,  ist  unser  Material  zu  klein,  cs  sei 
nur  erwähnt,  daß  zwei  derartige  Fälle  allerdings  von  der  wenig 
malignen  Form  dos  Kopftetanus  unter  wiederholten  Seruminjek¬ 
tionen  zur  Heilung  kamen,  nachdem  in  dem  einen  Fälle  ein 
tekrotisches  Knochenstück  des  Scheitelbeins  entfernt  worden  und 
iei  dem  anderen  der  verletzte  Bulbus  enukleiert  worden  war. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  23 


Der  dritte  Fall,  bei  welchem  der  Verletzung,  obwohl  sie 
durch  ein  Pferd  verursacht  war,  wegen  ihrer  Geringfügigkeit 
keine  besondere  Beachtung  geschenkt  wurde  und  die  Serum- 
injektion  unterblieb,  endete  letal. 

■  20jähriger  Mann,  Defekt  einer  Fingerkuppe  durch  Pf'erde- 
biß,  Verband  mit  Perubalsam,  am  zweiten  Tage  in  ambulatorischer 
Behandlung  entlassen.  Am  zehnten  Tage  Exitus  unter  ganz  akuten 
Erscheinungen  des  Tetanus  in  einem  anderen  Spital. 

Für  den  Wert  der  prophylaktischen  Seruminjektion  spricht 
jedoch  in  überzeugender  Weise  der  vierte  Fall. 

35jährige  Musiklehrerin,  von  einem  Lastwagen  überfahren. 
Skalpierung  des  Fußrückens,  am  äußeren  Fußrand  die  Haut  bis 
gegen  die  Fußsohle  mehrfach  unterminiert,  die  dadurch  entstan¬ 
denen  Höhlen  mit  Pferdemist  förmlich  tamponiert.  Entfernung 
der  gequetschten  Haut,  Exzision  des-  verunreinigten  Subkutan¬ 
gewebes  unter  Spülung  mit  Kochsalzlösung.  Drainage  der  Wund 
faschen  am  äußeren  Fußrand,  aseptischer  Verband  mit  Penir 
balsam.  Subkutane  Tetanusantitoxininjektion  (50  A.-E.)  in  den 
Oberschenkel  derselben  Seite. 

Wundverlauf  unter  geringer  Temperatursteigerung  und 
mäßiger  Sekretion  der  Wundflächen.  Am  siebenten  bis  elften 
Tage  mehrmals  täglich  Auftreten  von  tonischen  Streck-  und  Ab¬ 
duktionskrämpfen  der  kleinen  Zehen  mit  ziehenden  Schmerzen 
in  der  Streckmuskulatur  des  Unterschenkels.  Kein  Trismus.  Unter 
weiteren  Seruminjektionen  Heilung. 

Wir  stehen  nicht  an,  die  in  diesem  Falle  aufgetrete- 
nen  Krämpfe  der  fünften  Zehe  für  die  Manifestation  einer 
lokalisierten  Tetannsinfekfion  zu  halten.  Da.  der  Tetanus 
beim  Menschen  erfahrungsgemäß!  mit  den  Symptomen  einer 
Ulgemeinintoxikation  des  Zentralnervensystems  (Trismus) 
einsetzt  und  lokaler  Tetanus  ohne  Allgemeinerscheinungen 
sonst  nicht  beobachtet  wird,  so  dürfte  dieser  abnorme  und 
ganz  besonders  .günstige  Verlauf  der  Erkrankung  mit  der 
Seruminjektion  in  kausalem  Zusammenhänge  stehen. 

Da  wir  demnach  bei  prophylaktischer  Injektion,  die 
wir  außerdem  in  sechs  weiteren  Fällen  vorgenommen  haben, 
über  durchwegs  günstige  Resultate  verfügen  und  nur  der 
eine  Fall,  in  welchem  die  Injektion  unterlassen  worden  war, 
letal  endete,  wollen  wir  auch  weiterhin  an  der  prophylakti¬ 
schen  Antitoxininjektion  fest  hat  ten  bei  Behandlung  aller 
durch  Erde,  Holzspäne,  Kleidungsstücke  u.  dgl.  verunreinig¬ 
ten  Wunden,  um  so  mehr,  wenn  das  Debridement  solcher 
Wunden  nicht  radikal  genug  durchführbar  erscheint;  ganz 
besonders  ist  jedoch  die  Seruminjektion  angezeigt,  hei  blu¬ 
tigen  Verletzungen,  die  durch  das  Pferd  verursacht  sind  oder 
in  einem  näheren  Zusammenhänge  mit  demselben  stehen. 

Worm  ich  schließlich  von  akzidentellen  Wundkrank¬ 
heiten  die  Infektion  mit  Eiterkokken  keiner  besonderen  ’Be¬ 
sprechung  für  wert,  halte,  so  geschieht  dies, aus  dem  Grunde, 
weil  sich  die  Behandlung  von  Eiterungen  nach  Verletzun¬ 
gen  mit  den  auch’  sonst  bei  ähnlichen  Prozessen  gebräuch¬ 
lichen  Maßnahmen  vollkommen  deckt  und  wir  bei  Kokken¬ 
infektionen,  wenn  sie  durch  Knochenverletzungen  nicht  kom¬ 
pliziert,  sich  auf  die  Weichteile  beschränken,  mit  konser¬ 
vativen  Mitteln  meist  gut  auskommen.  Es  sei  hier  nur 
hervorgehoben,  daß  wir  bei  Einhaltung  des  Prinzipes  der 
aseptischen  offenen  Wundbehandlung,  hei  frisch  oirtgeliefer- 
ten  Verletzungen  eine  äußerst  geringe  Morbidität  aufzu¬ 
weisen  haben.  Wenn  man  nur  bestrebt  ist,  eine  nachträg¬ 
liche  Infektion  nach  Möglichkeit  Von  der  Wunde  fernzuhalten 
und  alles  unterläßt,  was  den  normalen  Heilungstendenzen 
entgegenwirken  könnte,  so  wird  man  auch  hei  akzidentellen 
Wunden,  wenn  sie  rechtzeitig  in  Behandlung  kommen,  im 
allgemeinen  eine  günstige  Prognose  stellen  können.  Wenn 
wir  von  der  Infektion  durch  die  oben  besprochenen  anaero¬ 
ben  Bakterien,  Tetanus  und  malignes  Oedem  abseheo, 
müssen  wir  einen  großen  Teil  unserer  Erfolge  weniger  auf 
unsere  therapeutischen  Maßnahmen  als  auf  die  geringe  Viru¬ 
lenz  der  in  der  Außenwelt  vorkommenden  Bakterien  zurück¬ 
führen.  Dafür  spricht  auch  die  bekannte  Tatsache,  daß  trotz 
der  äußerst  günstigen  Infektionsmöglichkeit,  wie  sie  Ver¬ 
letzte  mit  zahlreichen  Exkoriationen  und  kleinen  oberfläch¬ 
lichen  Verletzungen  darbieten,  Erysipel  nach  frischen  Ver¬ 
letzungen  so  gut.  wie  niemals  beobachtet  wird.  Der  einzige 
Fall  von  Erysipel,  den  wir  im  Verlaufe  eines  Jahres  er¬ 


lebten,  ist  für  die  Pathogenese  dieser  Erkrankung  so  charak 
teristisch,  daß  er  kurz  wiedergegeben  werden  soll. 

30jährige  Arbeitersfrau.  Eingeliefert  mit  Phlegmone  der  Kop 
sell  warte,  ausgehend  von  einer  vor  fünf  Tagen  akquirierten,  in 
behandelten,  6  cm  langem  Rißquetschwunde»  über  dem  Scheite 
beim  Ausgedehnte  radiäre  Inzisionen,  im  Eiter  Streptokokke 
in  Reinkulturen.  Nach  dreiwöchiger  Behandlung  mit  gram 
lierender  Wunde»  in  häusliche  Behandlung  entlassen.  Sech 
Wochen  nach  der  Entlassung  wieder  Aufnahme»  der  Patienti 
w»e»gen  Schüttelfrost  und  hohem  Fieber.  Diie  noch  immer  bestehend 
granulierende  Wunde  am  Scheitelbein  vollkommen  vernachlässig 
mit  Borken  bedeckt.  Erysipel  nahezu  des  ganzen  Kopfes  bis  z 
beiden  Schlüsselbeinen.  Nach  Erweichung  der  Krusten  dürr 
Oelumischläge  heilt  das  Erysipel  in  acht  Tagen  ab. 

In  diesem  Falle  war  es,  wie  dies  bei  vernach 
lässigteh  Wunden  der  Kopfschwarte  relativ  häufig  beoh 
achtet  wird,  zu  einer  Streptokokkenphlegmone  gekommen 
nach  deren  Ausheilung  die  Erreger  in  der  granulierende! 
Wunde  lange  latent  blieben,  bis  durch  die  Sekretstauuni; 
unter  den  Borken  ihre  Virulenz  so  weil  gesteigert  war, 
daß»  die  Infektion  von  neuem  u.  zw.  erst  längere  Zeit  nacl! 
der  ursprünglichen  Verletzung  in  Form  des  Erysipels  wiede 
aufflammen  konnte.  .  ■  ' 

Schließlich  wäre  noch  unser  Verhalten  Schußver 
lelzungen  gegenüber  zu  charakterisieren,  weil  sich  dieselbe! 
in  die  oberwähnten  drei  Arten  von  Verletzungen  nur  zun» 
Teil  einreihen  lassen: 

•  Für  Explosionsver lei zungen,  Schrotschüsse  aus  nach 
ster  Nähe  und  alle  mit  schweren  Zertrümmerungen  und  Veil 
unreinigung  durch  Kleidungsstücke  u.  »dgl.  einhergehendei 
Schußverletzungen  gelten  dieselben  Regeln,  wie  für  verj 
nnreinigte  und  gequetschte  Wunden  überhaupt  und  ist  hie 
nur  von  einem  möglichst  aktiven  Vorgehen  ein  Erfolg  zi 
erwarten. 

Dagegen  beobachten  wir  im  allgemeinen  ein  stren- 
exspektatives  Verhalten  bei  allen  Verletzungen  durch  Ge 
schosse  der  üblichen,  wenig  rasanten  Feuerwaffen,  wenr 
nicht  Komplikationen  von  seiten  verletzter  innerer  Organ 
(wie  Blutung,  Verletzung  des  Magen-Därmtraktes  oder  de 
Harnapparates)  einen  operativen  Eingriff  dringlich  verj 
langen.  Bei  dem  relativ  seltenen  Auftreten  infektiöser  Proj 
zesse  im  'Anschlüsse  an  einfache  Schußwunden,  finden  wi 
keine  Veranlassung,  soforl  nach  der  Verletzung  den  Schuß 
kanal  prophylaktisch  zu  debridieren,  sondern  wir  sehen  igd 
rade  in  dem  Fernhalten  jeder  weiteren  mechanischen  Schäj 
digung  und  der  vollkommenen  Ruhigstellung  des  verletzte# 
Körperteiles  ein  wichtiges  Mittel,  um  die  Infektion  zu  ver 
hüten. 

Das  Projektil  selbst  gibt  nur  selten  die  Indikation 
zur  operativen  Entfernung,  so  besonders  durch  mechanisch 
Störungen  innerhalb  von  Gelenken,  in  der  Nähe  »von  Sehne»# 
oder  Nerven.  Jedenfalls  sind  derartige  Eingriffe  erst  länger» 
Zeit  nach  der  Verletzung  vorzunehmen,  wenn  bei  normale 
Temperatur  und  glattem  Wundverlauf  infektiöse  Komplikaj 
tionen  nicht  mehr  zu  befürchten  sind.2) 

Unsere  Erfahrungen  über  Behandlung  von  Weichteil 
wunden  lassen  sich  in  folgenden  Sätzen  zusammenfassen. 

Bei  Beurteilung  von  akzidentellen  Wunden  genügt  es 
sowenig  dies  auch  bakteriologisch  korrekt  erscheint,'  siel 
von  dem  makroskopischen  Befunde  leiten  zu  lassen.  Wim 
den,  die  keine  groben  Verunreinigungen  aufweisen,  sind  al 
rein  zu  betrachten  und  nach  den  Regeln  der  Asepsis  zu  bc 
handeln,  wobei  bei  Vorhandensein  von  sichtbaren  Ernäh 
rungsstörungen  die  Exzision  des  schlecht  ernährten  Gewebe 
im  Verein  mit.  der  Applikation  von  Perabalsanr  den  Wund 
verlauf  günstig  beeinflußt.  Nur  (mit  wenigen  Ausnahmen  sim 
die  Wunden  offen  zu  halten  und  ist  in  allen  Fällen  auf  Ab 
leitung  des  WundSekreles  ein  besonderes  Gewicht  zu  legen 
Jede  chemische  Desinfektion  ist  zum  mindesten  übei 
flüssig. 

s)  Die  Behandlung  der  Bauchschüsse  soll  hier  nicht  näher  b( 
sprechen  werden,  weil  dieses  Thema  Gegenstand  einer  späteren  /■' 
sammenstellung  sein  wird.  • 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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Makroskopisch  verunreinigte  Wunden  sind  durch  Ex¬ 
zision  und  Spülung  mit  indifferenten  Flüssigkeiten  von  allen 
sichtbaren  Fremdkörpern  zu  befreien,  durch  lockere  Tam¬ 
ponade  offen  zu  halten.  Die  prophylaktische  Tetanusanli- 
toxin Injektion  ist  sehr  zu  empfehlen  und  soll  besonders  bei 
allen  durch  das  Pferd  verursachten  blutigen  Verletzungen 
nicht  unterlassen  werden. 

Seit  der  Monographie  von  Professor  v.  E  i  s  e  I  s  b  er  g 
vom  Jahre  1905  !)  hat  sich  trotz  der  verschiedenen  Neue¬ 
rungen,  welche  die  letzte  Zeit  gebracht  hat,  in  der  Behand¬ 
lung  der  Frakturen  der  I.  chirurgischen  Klinik  kein  nen¬ 
nenswerter  Umschwung  vollzogen.  In  der  Ueberzeugung, 
daß  nicht  die  Fraktur  als  solche,  sondern  einzig  und  allein 
die  Dislokation  mit  ihren  Komplikationen  besondere  Mal.V 
nahmen  erfordern,  daß  ferner  hei  Gleichwertigkeit  mehrerer 
Behandlungsverfahren  dem  einfachsten  der  Vorzug  gebühr! , 
und  als  ans trebeiis wertes  Ziel  in  erster  Linie  ein  gutes  funk¬ 
tionelles  Resultat  zu  gelten  hat,  gehört  nach  wie  vor  die 
blutige  Behandlung  unkomplizierter  Fraktuien  zu  den  Aus¬ 
nahmefällen. 

Das  Extensionsverfahren  hat  wohl  immer  mehr  an 
Ausbreitung  gewonnen,  so  besonders  auch  bei  Frakturen 
der  oberen  Extremität,  wenn  die  Dislokation  eine  hoch¬ 
gradige  war  oder  selbst  nach  gelungener  Reposition  die 
Tendenz  zur  Wiederherstellung  der  pathologischen  Stellung 
das  Krankheitsbild  beherrschte.  Daßi  in  den  Fällen,  in  wel¬ 
chen  es  gelingt,  durch  manuelle  Reposition,  eventuell  in 
Narkose  vorgenommen,  eine  gute  Stellung  der  Fragmente 
mit  geringer  Tendenz  zu  'neuerlicher  Dislokation  zu  erzielen, 
die  Extensionsbehandlung  weniger  häufig  geübt  wurde, 
braucht  nicht  besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Störungen’ 
des  Hei  lungsv  erlauf  es  als  Folge  des  von  B  a  r  d  enhe  u  e  r 
supponierten  interfragmentären  Druckes,  konnten  wir  niemals 
beobachten,  sehen  uns  daher  nicht  veranlaßt,  die  vielen 
Vorteile,  welche  die  sofortige  manuelle  Korrektur,  dort,  wo 
sie  ausführbar  ist,  bringt,  gegen  die  langsame  Wirkung  der 
Extensionszüge  einzutauschen,  wenn  die  Retention  der  re- 
ponierten  Fragmente  durch  einfachere  Mittel  zu  erreichen  ist. 

Bei  dem  großen  Fortschritt,  der  in  der  Technik  der 
Gefäßnaht  besonders  durch  die  Bemühungen  von  Carrel 
und  Stich  zu  verzeichnen  ist,  wäre  es  naheliegend  zu  er¬ 
warten,  daß  trotz  Komplikation  von  Knochenbrüchen  durch 
Verletzung  wichtiger  Gefäßstämme  noch  manche  Exlremität 
zu  erhalten  wäre,  die  sonst  der  Amputation  verfällt.  Unsere 
diesbezüglichen  Bemühungen  sind  teilweise  an  der  Unzu¬ 
gänglichkeit  des  Operationsterrains  oder  an  schweren  trau¬ 
matischen  Wandveränderungen  der  Arterien  gescheitert. 
Doch  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  daßi  auf  diesem  Gebiete 
noch  manche  Erfolge  zu  erhoffen  sein  werden. 

Als  eine  wertvolle  Errungenschaft  der  letzten  Jahre 
ist  die  Nagelextension  zu  betrach I en,  ein  Verfahren, 
das  sich  bei  strenger  Indikationsstellung  bisher  vorzüglich 
bewährt  hat  und  besonders  da  einsetzen  soll,  wo  andere 
Extensionsmethoden  nicht  mehr  zum  Ziele  führen. 3a) 

Wenn  trotz  der  verfeinerten  Technik  die  diagnosti¬ 
sche  Bedeutung  des  Röntgenverfahrens  gegenwärtig  mehr 
in  den  Hintergrund  getreten  ist,  so  liegt  dies  daran,  daß  man. 
die  Symptomatologie  mancher  früher  verkannter  Frakturen 
durch  den  wiederholten  Vergleich  mit  dem  Röntgenbild  be¬ 
reits  so  weit  kennen  gelernt  hat,  daß  das  Röntgenbild  nur 
mehr  dazu  dient,  die  klinische  Diagnose  zu  bestätigen.  Un¬ 
geschmälert  bleibt  jedoch  der  Wert  des  Röntgenverfahrens 
für  die  Stellung  einer  sicheren  Prognose,  zur  Kontrolle  der 
eingeschlagenen  Therapie,  besonders  im  Extensionsverband, 
ferner  bei  Reposition  mancher  Frakturen  unter  direkter  Be¬ 
obachtung  vor  dem  Röntgenschirm. 

Um  zunächst  ohne  Rücksicht  auf  die  Lokalisation  die 
Behandlung  der  ohne  Dislokation  einhergehenden  Frak 
luren  kurz  zusammenzufassen,  so  kann  hier  neben  der  sym- 

8)  v.  Eiseisberg,  Die  heutige  Behandlung  der  Frakturen. 
Deutsche  Klinik  am  Eingang  des  20.  Jahrhunderts,  Bd.  8,  S.  521. 

3a)  Das  gleiche  gilt  von  dem  von  Rücker  (Zentralblatt-  für 
Lhir.  1910,  Nr.  4)  in  letzter  Zeit  angegebenem  Extensionsverfahren. 


ptomatischen  Bekämpfung  von  Bruchschmerz  und  Häm¬ 
atom  die  rein  exspektative  Behandlung  als  oberster 
Grundsatz  gelten.  V  ir  wenden  dieselbe  an  bei  den 
nicht  komplizierten  Frakturen  des  Schädels,  so  besonders 
der  Schädelbasis,  bei  Frakturen  der  Wirbelsäule  und  der 
Rippen,  des  Beckens,  ferner  bei  Infraktionen  der  Extremi¬ 
tätenknochen.  Erscheint  eine  frühzeitige  Funktion  der  ver¬ 
letzten  Knochen  erwünscht  oder  ist  dieselbe  nicht  aus¬ 
zuschalten,  so  wird  man  wohl  meist  mit  leichl  fixierenden 
Verbänden  auskommen.  So  genügt  beispielsweise  die  Wick¬ 
lung  mit  einer  feuchten  Binde  bei  Frakturen  der  Fibula, 
um  den  Patienten  gehfähig  zu  machen,  oder  die  Anlegung 
eines  halbseitigen  Zingulums  hei  Rippenfraktur  im  Verein 
mit  der  Morphiuminjektion,  um  die  Atmung  wesentlich  zu 
erleichtern.  Die  Nachbehandlung  gestaltet  sich  auch  sehr 
einfach,  weil  Komplikationen  von  seiten  der  Gefäße  und 
Nerven  meist  nicht  vorliegen  und  Störungen  des  Heilungs¬ 
verlaufes  durch  verzögerte  Kallusbildung,  chronisches 
Oedem  oder  Versteifung  von  Gelenken  kaum  beobachtet 
werden. 

Zur  Behandlung  der  dislozierten  F rakturen  kamen 
an  der  Klinik  folgende  Verfahren  zur  Verwendung:  Manu¬ 
elle  Reposition  und  Retention  durch  Gips-  oder  Schienen¬ 
verbände,  Heftpflasterextension,  Nagelextension  und  in  sel¬ 
tenen  Fällen  die  Knochennaht.  Alle  diese  Methoden  sind 
fast  bei  allen  Frakturen  anwendbar,  doch  ist  es  Sache  der 
Erfahrung,  je  nach  der  Dislokation  die  am  wenigsten  ein¬ 
greifende  Behandlungsart  zu  wählen. 

An  der  unteren  Extremität  wurde  die  sofortige  Reposi- 
mit  nachträglichem  Gipsverband  (vorwiegend  bei  allen  ohne 
wesentliche  Verkürzung  -einhergehenden  Frakturen  ge¬ 
übt,  so  bei  Malleolarfraktur  mit  Subluxationsstellung  des 
Talokruralgelenkes,  beim  Spiralbruch  der  Tibia  und  Fibula 
oder  bei  isolierter  Fraktur  eines  der  beiden  Knochen.  Die 
nachteilige  Wirkung  einer  längeren  Fixation  des  Sprung¬ 
gelenkes  ist  durch  die  spätere  mechanische  Nachbehandlung 
gewöhnlich  leicht  korrigierbar,  so  daß  wir  dagegen  bei  An¬ 
legung  des  Verbandes  keine  Vorkehrungen  zu  treffen  ge¬ 
nötigt  sind,  doch  ist  bei  Fraktur  im  (oberen  Drittel  des  Unter¬ 
schenkels,  besonders  wenn  die  Bruchlinien  einen  intraarti¬ 
kulären  Verlauf  nehmen,  die  Versteifung  des  Kniegelenkes 
sehr  zu  fürchten  und  durch  Anbringung  eines  Scharnier- 
gelenkes  in  der  frontalen  Bewegungsachse  des  Kniegelenkes 
erwünscht.  Für  den  Erfolg  ist  es  von  wesentlicher  Bedeu¬ 
tung,  wie  lange  nach  der  Verletzung  der  Gipsverband  an¬ 
gelegt  werden  kann,  weil  die  Aussicht  auf  ideale  Reposi¬ 
tion  verschleppter  Frakturen  immer  geringer  wird.  Die  früh¬ 
zeitige  definitive  Versorgung  einer  Unterschenkelfraktur  ist 
auch  deshalb  zu  empfehlen,  weil  dadurch  die  Ausbreitung 
des  Hämatoms  und  damit  die  für  jeden  therapeutischen  Ein¬ 
griff  so  unliebsame  Entwicklung  von  saguinolenten  Epi- 
dermisblasen  am  besten  auf  ein  Minimum  reduziert  wird. 
Daß'  bei  schon  entwickeltem  Hämatom  oder  bei  dem  ge¬ 
ringsten  Verdacht  auf  Zirkulationsstörung  vom  Gipsverband 
zunächst  abgesehen  wird,  ist  eine  dringend  gebotene  Vor¬ 
sicht.  Die  definitive  Versorgung  der  Fraktur  kommt  dann 
erst  in  Betracht,  wenn  unter  Lagerung  auf  dem  Petit  sehen 
Stiefel  und  Applikation  des  Eisbeutels  die  früher  prall  ge¬ 
spannte  Haut  die  ersten  Zeichen  einer  oberflächlichen  Fälte¬ 
lung  zeigl.  Manchmal  ist  da  allerdings  die  günstigste  Zeit 
für  die  Reposition  bereits  verstrichen  und  eine  Verbesse¬ 
rung  der  Stellung  nur  mehr  durch  dauernden  Zug  im  Ex¬ 
tensionsverband  zu  erreichen. 

Wir  nehmen  keinen  Anstand,  bei  hinreichendem  Bruch¬ 
flächenkontakt  die  Patienten  sofort  nach  Austrocknen  des 
Gipsverbandes  gehen  zu  lassen,  was  meist  gut.  vertragen 
wird. 

Aus  der  übersichtlichen  Zusammenstellung  unserer 
nicht  komplizierten  Frakturen  beider  Unterschenkelknochen 
und  der  Tibia  allein  ergibt  sich,  daß  der  Gipsverband  hie¬ 
bei  in  der  überwiegenden  Anzahl  der  Fälle  zur  Anwen¬ 
dung  kam. 


818 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  23 


Während  von  IG  isolierten  Frakturen  der  Fibula  15  durch 
einfache  Bindenwickelung  und  nur  eine  mit  Gipsverband  be¬ 
handelt  wurden,  ändert  sich  bei  isolierter  Tibiafraktur  das  Ver¬ 
hältnis  in  dem  Sinne,  daß  in  14  Fällen  nur  zweimal  die  Binden- 
wickelung  und  12mal  zirkulärer  Gipsverband  zur  Anwendung  kam. 
Von  48  Frakturen  beider  Knochen  konnten  42,  ein  Teil  davon  in 
Narkose,  reponiert  und  mit  dem  zirkulären  Gipsverband  versehen 
werden,  nur  in  sechs  Fällen  erwies  sich  der  Extensionsverband 
notwendig. 

Wenn  wir  selbst  im  Extensions  verband  in  Fällen  von 
Fraktur  beider  Unterschenkelknochen  vollkommene  anato¬ 
mische  Korrektur  nur  selten  erreichten,  so  liegt  dies  darin, 
daß  gerade  nur  die  schwersten  Dislokationen  für  den  Ex¬ 
tensionsverband  reserviert  wurden  und  wir  durch  äußere 
Manipulationen  überhaupt  nur  unvollkommen  in  der  Lage 
sind,  die  Verschiebung  eines  gegen  das  Spatium  interosseum 
zu  vorragenden  Knochenfragmentes  zu  beheben.  Durch  den 
Extensionsverband  läßt  sich  meist  Vlie  Dislokation  der  Achse, 
die  Verkürzung  und  die  Rotation  korrigieren.  Eine  Testie¬ 
rende  geringe  Dislocatio  ad  latus  hat  nun  allerdings  zur 
Folge,  daß  die  Tragfähigkeit  der  Extremität  für  längere  Zeit 
aufgehoben  ist,  das  endgültige  funktionelle  Resultat  wird 
jedoch  dadurch  nicht  so  wesentlich  beeinträchtigt,  als  daß 
uns  die  operative  Korrektur  und  Naht  in  allen  solchen  Fällen 
indiziert  erschiene.  Ein  Mittelding  zwischen  der  operativen 
und  unblutigen  Behandlung  stellt  der  von  Clairmont4) 
ausgeführte  kleine  Eingriff  dar,  der  darin  besteht,  daß  durch 
einen  von  einer  Inzisionswunde  aus  eingeführten  Knochen¬ 
haken  das  Tibiafragment  aus  dem  Zwischenknochenraum 
liervorgeholt.  wird,  Avas  sich  in  zwei  Fällen  in  Kombination 
mit  dem  Gips-  und  Extensionsverband  gut  bewährt*  hat, 
ohne  die  Patienten  in  irgendeiner  Weise  zu  gefährden. 

Das  Hauptindikationsgebiet  für  die  Extensionsbeband- 
lung  bleibt  nach  Avie  vor  die  Fraktur  des  Oberschenkels. 

Von  21  unkomplizierten  Frakturen  des  Femurschaftes  wurde 
der  Gipsverband  nur  viermal,  durchwegs  bei  Kindern,  mit  ge¬ 
ringer  Dislokation  angewendet,  in  17  Fällen  der  Bar  denheuer- 
sche  Heftpflasterextensionsverband. 

In  zwei  Fällen  von  Epiphysenlösung  am  unteren  Femurende 
gelang  es  auf  unblutigem  Wege,  durch  Reposition  in  Narkose 
und  Fixation  der  Extremität,  bei  maximal  gebeugtem  Kniegelenk 
ein  ideales  anatomisches  und  funktionelles  Resultat  zu  erzielen. 
Bei  elf  Frakturen  des  Schenkelhalses,  durchweg  bei  alten  Leuten, 
wurde  auf  die  Korrektur  der  Dislokation  verzichtet,  in  dem  Be¬ 
streben,  die  Patienten  so  rasch  als  möglich  gehfähig  zu  machen, 
was  durch  einen  leichten  Fixationsverband  über  dem  Hüftgelenk 
erreicht  wurde. 

Von  den  17  mit  Extension  behandelten  Fällen,  sind  nur  sechs 
ohne  Spur  einer  Verkürzung  geheilt,  vorwiegend  Spiralbrüche 
des  Schaftes,  welche,  wenn  die  Dislocatio  ad  peripheriam,  durch 
Rotationszüge  behoben  wird,  meist  nur  einen  relativ  geringen 
Längszug  erfordern.  Ungünstiger  liegen  die  Verhältnisse  beim 
reinen  Querbruch,  besonders  im  unteren  Drittel,  weil  infolge  der 
ungleichmäßigen  Verteilung  des  Muskelzuges  der  Beuger  und 
Strecker  auch  bei  stärkstem  Längszug  und  Anwendung  von  Seiten- 
zügen  die  Tendenz  des  peripheren  Fragmentes  zur  Dislokation  nach 
hinten  nicht  behoben  werden  kann.  Eine  exakte  anatomische 
Korrektur  ist  uns  in  diesen  Fällen  gewöhnlich  nicht  gelungen, 
so  daß  Verkürzungen  von  Vs  his  IV2  cm  häufig  verzeichnet  wurden. 
Eine  hochgradige  Verkürzung  von  4  cm,  wie  wir  sie  nur  einmal 
aufzu.weisen  haben,  Avar  dadurch  bedingt,  daß  der  Patient  wegen 
ausgedehnten  Ekzems  längere  Zeit  ohne  Verband  und  dann  mit 
Gipsverband  behandelt  Avnrde. 

Inwiefern  diese  Resultate  durch  Anwendung  der 
Schiene  von  Z  u  p  p  i  n  g  e  r  verbesserungsfähig  sein  Averden, 
kann  nach  den  geringen  Erfahrungen,  die  erst  in  letzter 
Zeit  mit  dem  Verfahren  und  der  modifizierten  Schiene  von 
L  inhart  an  der  Klinik  gemacht  Avurden,  nicht  entschieden 
werden,  doch  dürfte  man  gewiß  berechtigt  sein,  auch  bei 
unkomplizierten  Oberschenkelbrüchen  in  gewissen  Fällen 
von  renitenter  Dislokation  die  Nagelextension  vorzuschla¬ 
gen.  So  gut  der  zirkuläre  Gipsverband  bei  Aufrechthaltung 

aller  notAvendigen  Einschränkungen  an  der  unteren  Extremi- 

-  .  ,  1  ~ 

4)  Clairmont,  Ein  Vorschlag  zur  blutigen  Einrichtung  von 
Unterschenkel-  und  Vorderarmbrücben.  Archiv  "für  klin.  Chirurgie, 
Bd.  93,  S  745. 


tät  im  allgemeinen  zu  verwenden  ist,  so  'selten  kommt  der¬ 
selbe  bei  Verletzungen  der  oberen  Extremität  in  Frage  und 
selbst  für  die  wenigen  Fälle,  in  welchen  er  unter  beständiger 
Kontrolle  in  Spitalsbehandlung  anwendbar  wäre,  gilt  er  hier 
aus  didaktischen  Gründen  als  verpönt. 


t 


/ 


Ganz  ausgezeichnete  Resultate  gibt  die  Extensions- 
behandlung  bei  den  Gelenksfrakturen  des  Humerus.  Die 
Extension  wird  vorgenommen  bei  Kollumfrakturen  in  maxi¬ 
maler  Elevationsstellung,  bei  der  suprakondylären  Humerus- 
fraktur  in  rechtwinkeliger  Beugestellung  des  Ellbogengelen- 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


819 


kes.  Seihst  mein  fache,  hochgradig  dislozierte  Splitterbrüche 
des  unteren  Humerusendes  lassen  sich  durch  die  allerdings 
komplizierten  und  nach  der  jeweiligen  Dislokation  zu  modi¬ 
fizierenden  Seiten-  und  Kompressionszüge  in  kurzer  Zeit, 
korrigieren,  wobei  in  jeder  Phase  der  Behandlung  dem 
Gelenk  eine  gewisse  Bewegungsfreiheit  gewahrt  bleibt  und 
Qpurch  frühzeitig  ciusgeführte  Uebungen  der  Versteifung  vor- 
gebeugt,  werden  kann.  (Fig.  1,  2,  3,  4,  5.) 

Die  schematischen  Zeichnungen  veranschaulichen  die  W  ir¬ 
kung  der  Heftpflasterzüge.  Fig.  1  bei  typischer,  Fig.  2  bej 
atypischer  Dislokation  des  unteren  Hiunerusfragmeotes.  Der  in 
Fig.  3  angegebene  Seiteinzug  fällt  in  eine  Ebene,  die  zur  Ebene 
,1er  übrigen  Züge  senkrecht  steht.  Um  das  System  zu  verein 
fachen,  kann  man  den  Seitenzug  b  m,it  a  derart  kombinieren, 
daß  man  an  Stelle  der  'beiden  nur  einen  Zug  in  der  resultierenden 
Ebene,  die  zur  ursprünglichen  in  einem  Winkel  von  45°  geneigt 
ist,  wirken  läßt. 

In  Fig.  4  und  5  ist  die  Stellung  des  Humerus  vor  und 
nach  Anlegung  der  Extension  bei  Kollumfraktur  angegeben. 

Auch  beim  Schaftbruch  des  Humerus  kommt  das  Prin¬ 
zip  der  Extension  zur  Geltung  in  der  dorsalen  Gipshanf¬ 
schiene,  die  unter  Zug  am  gebeugten  Vorderarm  und  Gegeu- 
zug  in  der  Axilla  angelegt  wird  und  Schulter-  und  Ellbogen- 
gelenk  fixiert  oder  in  der  nach  dem  Vorbilde  der  Phelps- 
schen  und  Güssen  b  a  u  e  r  sehen  Schiene  konstruierten  Ex¬ 
tensionsschiene  von  B  r  o  g  e  r,  die  Schulter  und  Ellbogen- 
gelenk  frei  läßt.  (Fig.  6.) 


Dio  nach  den  Angaben  von  Josef  Broger,  dein  verstor¬ 
benen  Diener  der  I.  chirurgischen  Klinik,  vom  Instrumenten- 
laacher  Kutill  konstruierte  Schiene  besteht  im  wesentlichen  aus 
einem  durch  ein  Zahngetriebe  verlängerbaren  Metallstab,  dessen 
beide  Enden  an  Heftpflasterverbänden  angreifen,  die  in  der  ver¬ 
längerten  Achse  des  Oberarmes  das  Schulter-  und  Ellbogengelenk 
mit  je  einer  Schlinge  überragen.  Wenn  der  Heftpflasterverband 
angelegt  und  mit  einer  Mullbinde  fixiert  ist  und  die  Fragmente 
durch  Wirkung  der  Schraube  distrahiert  sind,  wird  die  Fraktur¬ 
stelle  durch  zwei  verschiebbare  Holzplättchen  mittels  zirkulärer 
Heftpflasterstreifen  geschient  und  so  einer  seitlichen  Dislokation 
vorgebeugt.  Um  die  Festigkeit  des  Verbandes  zu  erhöhen  und 
das  Pendeln  der  Schiene  zu  verhindert,  wird  mit  einer  weiteren 
Ende,  die  an  der  Hand  beginnt  und  als  Spica  humeri  endet,  der 
Oberarm  an  die  Schiene  herangewickelt.  Durch  Anziehen  der 
Schraube  kann  die  Extension  auf  einer  konstanten  Höhe  erhalten 
werden. 

Für  die  Frakturen  des  Vorderarmes,  die  der  Extensions¬ 
behandlung  nur  in  seltenen  Fällen  zugänglich  sind,  waren 
schon  seit  längerer  Zeit  die  verschiedensten  Schienenver- 
batule  in  Gebrauch,  bei  welchen  durch  allmählichen  Druck 
auf  vorragende  Fragmente  die  pathologische  Stellung  korri¬ 
giert  werden  sollte.  Vom  Schienenverband  sehen  wir  in 


diesen  Fallen  auch  heute  noch  nicht  ab,  doch  trachten  wir, 
die  Fraktur  vor  Anlegung  des  Verbandes  möglichst  genau 
zu  reponieren,  was  am  narkotisierten  Patienten  vor  dem 
Röntgenschirm  häufig  vollkommen  gelingt  (vgl.  v.  F  r  i  s  c  h  5). 
Die  ausgedehnte  Anwendung  der  Narkose  bei  allen  stark 
dislozierten  Vorderarmbrüchen  ist  bestens  zu  empfehlen 
Man  wird  dadurch  manchen  sonst  notwendigen  blutigen (Ein- 
gntt  vermeiden.  Selbst  bei  der  typischen  Radiusfraktur  ist 
das  gewöhnliche  Repositionsmanöver  durch  Zug  am  ulnar¬ 
und  volargebeugten  Handgelenk  ohne  Narkose  nicht  immer 
von  Erfolg  und  eine  exakte  Reposition  erst  am  anästhe¬ 
sierten  1  atienten  weniger  durch  Zug  am  Handgelenk,  als 
durch  direkte  Verschiebung  des  kurzen  peripheren  Frag¬ 
mentes  zu  erreichen;  je  gründlicher  die  Reposition,  desto 
einfacher  die  Nachbehandlung  durch  leichte,  nicht  strangu¬ 
lierende  Verbände  (Storp  sehe  Manschette),  was  für  die 
iruhzeitige  Wiederherstellung  der  Gelenksfunktion  von 
großer  Bedeutung  ist. 

Ueber  unsere  Indikationsstellung  zur  Nagelexten- 
sion  ist  bei  Besprechung  eines  Falles  berichtet  worden, 
bei  welchen  wegen  Kompression  der  Arteria  poplitea  (durch 
ein  Knochenfragment  eine  rasch  wirkende  und  gründliche 
Reposition  dringend  erwünscht  war.6) 

Bei  frischen  Frakturen  blutige  Eingriffe  auszuführen, 
haben  wir  nicht  häufig  Gelegenheit  und  selbst  bei  Patellar- 
Unc  Olekranonfrakturen  wird  die  Knochennaht  nur  dann 
ausgeführt,  wenn  die  aktive  Streckfähigkeit  vollkommen  auf¬ 
gehoben  ist  und  die  Fragmente  sich  durch  Verbände  nicht 
genügend  nähern  lassen.  Ein  weiteres  Indikationsgebiet  für 
die  Knochennaht  geben  manche  Gelenksfrakturen  und  Luxa¬ 
tion,  manche  Formen  von  Unterschenkel-  und  Vorderarm- 
brüchen,  letztere  immer  erst  dann,  wenn  unblutige  Eingriffe 
versagen.  Auch  hier  wird  die  exakte  Beherrschung  der  un¬ 
blutigen  Methoden  die  Häufigkeit  derartiger  Operationen 
wesentlich  einschränken.  Eine  relative  Indikation  dürfte 
gelegentlich  bei  hochgradig  dislozierten  Schliisselbein- 
irakturen  gegeben  sein,  welche  unter  Behandlung  mit 
den  gebräuchlichen  Verbänden  durchwegs  kosmetisch 
schlechte  Resultate  geben,  wenn  auch  die  Funktion 
dadurch  meist  nur  unwesentlich  beeinträchtigt  wird, 
mmerhin  ist  es  besonders  beim  jugendlichen  Arbeiter  er¬ 
wünscht,  eine  schon  für  jeden  Laien  kenntliche  hochgradige 
Deformität  nicht  entstehen  zu  lassen,  nicht  zum  geringsten, 
um  späteren,  eventuell  unberechtigten  Ansprüchen  auf  Un¬ 
fallsrenten  vorzu  beugen. 

\  iel  häufiger  besieht  die  Notwendigkeit,  bei  veralteten 
schlecht  gehellten  Frakturen  operativ  einzugreifen,  wozu 
man  sich  um  so  leichter  entschließt,  als  eine  Verbesserung 
aut  anderem  Wege  nicht  zu  erreichen  ist  und  die  Gefahren 
c  eiai  tiger  Eingriffe  nicht  größer  sind  als  die  anderer  ortho¬ 
pädischer  Knochenoperationen  überhaupt.  Die  Technik  ist 
hier  meist  atypisch  und  der  jeweiligen  Eigenart  des  Falles 
anzupassen,  wenn  auch  allen  Eingriffen  die  eine  gemein¬ 
te  Schwierigkeit  anhaftet,  daß  die  Schrumpfung  der 
Weichteile  che  Korrektur  der  pathologischen  Stellung  er¬ 
schwert.  Im  Gegensatz  zu  frischen  Frakturen  wird  man  hier 
auf  die  operative  Vereinigung  der  Fragmente  weniger  Ge¬ 
wicht  legen,  sondern  sich  in  manchen  Fällen  mit  der  Lö¬ 
sung  und  Entfernung  des  Kallus,  eventuell  partieller  Re¬ 
sektion  von  Knochen  begnügen,  um  durch  die  'nachträgliche 
Extensionsbehandlung  im  Heftpflasterverband  oder  unter 
Benützung  des  C  o  d  i  v  i  1 1  a  sehen  Nagels  die  Reposition 
zu  erzielen. 

So  schwierig  es  ist,  für  die  Behandlung  unkomplizierter 
Frakturen  allgemeine  Regeln  aufzustellen,  um  so  unzurei¬ 
chender  wird,  jeder  derartige  Versuch  bei  Besprechung  von 
komplizierten  Frakturen.  Deshalb  will  ich  mich  hier  ganz 
besonders  nur  auf  die  M  iedergabe  unserer  diesbezüglichen 
Erfahrungen  beschränken. 

....  i.,-6-*  V,  F  r  i  s  c  h,  Zur  Behandlung  frischer  Diaphvsenbrüche.  Archiv 
für  klm.  Chirurgie,  Bd.  93,  S.  729. 

•)  Ehrlich,  Nagelextension  aus  dringlicher  Indikation.  Wiener 
klm.  Wochenschr.  1911,  S.  132. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  \911. 


Nr.  23 


Unter  26  komplizierten  Frakturen  der  langen  Röhrenknochen 
verzeichnen  wir  einen  Todesfall  an  Lungenkomplikationen  bei 
gleichzeitigem  Bestehen  ausgedehnter  Rippenbrüche,  25  Fälle  sind 
geheilt,  davon  sechs  nach  Amputation.. 

Drei  Judikation  für  die  Absetzung  von  Extremitäten 
war  gegeben,  zweimal  durch  Zirkulationsstörungen,  die  ope¬ 
rativ  nicht  behoben  werden  konnten,  viermal  durch  Infektionen, 
die  nach  längerer  Behandlung  nicht  zum  Stillstand  kamen  und 
das  Leben  gefährdeten,  ln  den  letzteren  Fällen  lagen  durchwegs 
schwer  verunreinigte  zertrümmerte  Knochen-  und  Weichteilwun¬ 
den  vor,  die  erweitert,  von  allen  sichtbaren  Verunreinigungen 
und  Knochensplittern  befreit  und  mit  Perubalsam  ausgegossen 
worden  waren.  Bemerkenswert  ist,  daß  in  allen  vier  Fällen  grö¬ 
ßere  Gelenke,  nämlich  dreimal  das  Kniegelenk,  einmal  das  Sprung- 
gelenk  durch  das  Trauma  mit  der  Knochenwunde'  in  Kommuni¬ 
kation  gesetzt  und  von  der  nachträglichen  Eiterung  befallen  war. 

Von  den  19,  mit  Erhaltung  der  Extremität  geheilten  Frak¬ 
turen  ließen  sich  in  fünf-  Fällen  an  vorragenden  Fragmenten 
makroskopische  Verunreinigungen,  Kleiderreste,  Haare,  Erde  nach- 
weiisen,  die  vor  der  Reposition  mechanisch  vollkommen  entfernt 
werden  konnten,  14  Frakturen  erschienen  makroskopisch  rein  und 
wurden  nicht  debridiert.  In  allen  19  Fällen  kam  ein  Desinfiziens 
mit  der  Wunde  selbst  nicht  in  Berührung,  in  fünf  Fällen  wurde 
Peru  balsam  zwischen  die  Fragmente  eingegossen.  13mal  heilte 
die  Hautverletzung  ohne  Störung,  bei  Seichs  Patienten  waren  wegen 
Abszeßbildung  und  Abstoßung  von  Knochensplittern  Inzisionen 
notwendig.  Wenn  es  nicht  gelang,  die  Fragmente  Vollkommen 
zu  reponieren,  :so  daß  ein  Teil  des  Knochens  von  Haut  entblößt 
blieb,  so  wurde  das  freiliegende  Periost  und  damit  auch  eine 
darunter  liegende  Knochenlamelle  regelmäßig  nekrotisch,  wodurch, 
wie  auch  sonst  bei  eiternde|n  Frakturen,  wegen  mangelhafter 
Kallusbildung  die  Heilungsdauer  beträchtlich  verlängert  wurde. 

Zur  Korrektur  komplizierter;  Frakturen  diente  in  der  Mehr¬ 
zahl  der  Fälle,  so  besonders  bei  Untersdienkelfraktur,  der  zirku¬ 
läre  Gipsverband,  bei  0 her schenkelf rak turen  die  Nageiextension 
oder  bei  geringer;  Dislokation  der  zirkuläre  Gipsverbarid.  Bei  aus¬ 
gedehnten  Weichteilvteirletzungen  oder  iwenn  Infektion  zu  erwarten 
wa,r,  wurde  die  Extremität  auf  den  Petit  sehen  Stiefel  oder  auf 
dem  Planum  inclinatum  fixiert,  Frakturen  des  Ober-  und  Unter¬ 
arms  wurden  durch  die  Gipshanfschiene  oder  durch  Holzschienen 
ruhig  gestellt. 

Als  die  geiurch leiste  Komplikation  von  Frakturen  ist 
die  Unterbrechung  der  Zirkulation  im  Bereiche  wichtiger 
Gefäßßtänime  zu  betrachten.  Wir  halten  in  vier  Fällen  Ge¬ 
legenheit  aus  diesen  Gründein  dringliche  Eingriffe  vorzu¬ 
nehmen. 

In  einem  Schon  erwähnten  Falle,  handelte  es  sich  um  Kom¬ 
pression  der  Arteria,  poplitea,  die'  unter  Nagel  ex  tension  behoben 
werden  konnte.7) 

In  zwei  Fällen  von  Zerreißung  der  Arterie  blieb  es  beim 
erfolglosen  Versuch  der  Arterienlnaht : 

30jähriger  Mann,  komplizierte  Fraktur  des  Unterschenkels 
im  oberen  Drittel  durch  Uebe  r  fahren  werden,-  Extremität  pulslos, 
blaß,  zyanotisch.  Die  operative  Freilegung  ergab,  daß'  die  Arteria 
poplitea  in  ihrer  Adventitia  stark  suffuin|d,ietrt  und  im  übrigen 
bis  zum  Abgang  der  Tibialis  anterior  erhalten,  war,  hier  fand;  sich 
'eine  quere  Abreibung  des  Gefäßes.  Das  zentrale  Ende  abgequetscht 
und  stark  retrahiert,  dieselben  Veränderungen  an  der  Tibialisi 
posterior,  die  an  ihrem  Ursprung  abgerissen  war,»  der  Anfangsteil 
der  Arteria  anterior  war  in  den  Canalis  popliteus  retrahiert  und 
vom  hinteren  Schnitt  aus  überhaupt  nicht  auffindbar.  Eine  Ver¬ 
einigung  der  Stümpfe  schien  in  dein  schwer  zugänglichen  Opera, - 
tionsterrain  wegen  der  hochgradigen  Wandveränderung  der  Ge>- 
fäße  und  der  bedeutenden  Diastase,  die  aus,  der  Resektion  der 
gequetschten  Gefäßendep  resultiert  w,äre,  undurchführbar,  wes¬ 
halb  die  Amputation  sofort  ausgeführt  wurde. 

45jähriger  Monteur,  Hämatom  der  Fossa  poplitea  nach  Zer¬ 
trümmerung  der  Femürkondylen  durch  zwei  gegeneinanderrollende 
Wasserledtungsrohre.  Pulslosigkeit  des  Unterschenkels.  Die  Opera¬ 
tion  ergab  Zerreißung  der  A r Leri a  poplitea  und  Quetschung  der 
Arterien  wand,  Versuch  einer  zirkulären  Naht  mißlingt,  daher  Li¬ 
gatur.  Nach  der  Operation  stellt  sich  der  Puls  nicht  wieder  ein, 
Amputation  wegen  septischer  Gangrän. 

Im  vierten  erfolgreich  behänd  eiten  Falle  fand  sich  Zer¬ 
reißung  einer  Hauptarterie  und  Kompression  der  zweiten. 

53 jähriger  Kesselschmied,  Verletzung  durch  eine  schwere, 
aus  beträchtlicher  Höhe  her  abfallende  Bleiplatte.  Der  Vorder¬ 
arm  zn  vier  Fünfteln  seiner  Zirkumfeneinz  dicht  über  dem  Han- 
gelenk  quer  durchgequetscht,  die  Hand  ist  gefühllos,  livid  ver- 

7)  Ehrlich,  loc.  cit. 


färbt,  kein  Puls  nachweisbar.  Bei  der  Operation  fand  sich  kom¬ 
plizierte  Fraktur  des  Radius,  nahezu  zirkuläre  Rißquetsc'hwunde 
der  Haut,  Durchtrennung  der  Artejria  radialis,  fast  sämtlicher 
Beuge-  und  Strecksehnen  der  Radialseite  bis  zum  Nervus  media- 
nus.  Erhalten  ist  die  Ulna,  Nervus  uhiaris  und  einige  Sehnen 
am  Ulnarrand©  des  Vorderarmes.  Der  Zwischenknoehenraum  ist 
mit  gequetschten  Sehnen  und  Knochensplittern  erfüllt.  Ausräu¬ 
mung  der  Knochensplitter,  Naht  der  Sehnen.  Resektion  eines 
2  cm  langen  Stückes  der  Arteria  radialis,  zirkuläre  Vereinigung 
der  Stümpfe.  Sofort  nach  der  Naht  lebhafte  Pulsation  u;nd  Blu¬ 
tung,  retrograd  aus  der  nahezu  abgetreppten  Hand.  Die  Ulnaris 
wird  durch  einen  Längsschnitt  bloßgelegt  und  findet  sich  durch 
teiin  unter  der  Faszie  gelegenes  Hämatom  komprimiert.  Nach 
Ausräumung  des  Hämatoms  tritt  ebenfalls  sofort  lebhafte  Pulsa¬ 
tion  auf.  Lockere  Hautnaht,  Eingießen  Von  Peru  balsam  und  Drai¬ 
nage  der  durch  den  Knochendefekt  im  Radius  bedingten  W  und- 
hühle. 

Nach  der  Operation  ist  die  Hand  warm,  gut  gefärbt,  der 
Puls  fühlbar.  Heilung  nach  zehn,  Wochen,  Konsolidation  der 
Kadiusfi aktur  in  Varusstellung  der  Hand.  Daumen  aktiv1  nahezu 
unbeweglich,  Funktion  der  übrigen  Finger  erhalten. 

ln  dem  letzteren  Falle  können  wir  den  Erfolg  allerdings 
nicht  der  Naht,  der  Arteria  radialis  allein,  zusehreiben,  weil 
sich  auch  in  der  Ulnaris  nach  Ausräumung  des  Hämatoms 
die  Zirkulation  wieder  herstellte.  Ohne  Operation  wäre  je¬ 
doch  die  Hand  gewiß  verloren  gegangen,  weil  bei  der  voll¬ 
kommenen  Zerquetschung  der  Weichteile  im  interosseal- 
rauin  ein  Kollateralkreislauf  auf  dem  Wege  der  Arteriae 
interosseae  sich  gewiß  nicht  eingestellt  hätte. 

Bei  vier  Fällen  von  Zirkulationsstörung  konnte  dem¬ 
nach  nur  in  zwei  Fällen  von  Kompression  eine  Besserung 
erzielt  werden,  die  schweren  Wandveränderungen  der  Ge¬ 
fäße  und  die  ungünstige  Zugänglichkeit  des  Operations¬ 
terrains  verhinderte  in  zwei  Fällen  die  Ausführung  der  Ar¬ 
teriennaht.  Im  vierten  Falle  war  die  Arteriennaht  dadurch 
wesentlich  erleichtert  und  von  dauerndem  Erfolge,  daß  hei 
dem  bestehenden  Knochehdefekt  des  Radius  der  gequetschle 
Anteil  der  (Arlerie  reseziert  werden  konnte,  ohne  dadurch 
die  Spannung  zwischen  den  Gefäßstümpfen  allzusehr  zu  ver¬ 
größern. 

Wenn  auch  unsere  bisherigen  Resultate  hei  Gefä߬ 
zerreißung  infolge  von  Frakturen  vorderhand  nicht  sehr 
ermutigend  sind  und  länger  dauernde  erfolglose  Eingriffe 
für  den  noch  unter  der  Shockwirkung  des  Traumas  stehen¬ 
den  Patienten  eine  Schädigung  bedeuten,  so  ist  ein  letzter 
Versuch,  eine  Extremität  zu  erhallen,  immerhin  erlaubt. 

Mit  der  größeren,  persönlichen  Erfahrung  und  Uebung  | 
wird  sich  auch  die  Operationsdauer  noch  wesentlich  ab¬ 
kürzen  lassen,  vielleicht  sind  plastische  Operationen  an  den 
Gefäßen,  so  besonders  der  Ersatz  einer  gequetschten  Arterie 
durch  ein  vom  selben  Individuum  transplantiertes  Venen- 
stück  so  lange  von  Erfolg,  bis  die  Extremität  auf  dem  Wege 
kollateraler  Bahnen  mit  Blut  versorgt  wird. 

Die  Schlüsse,  die  sich  aus  diesen  Daten  für  die  Pro¬ 
gnose  und  Behandlung  komplizierter  Frakturen  ergeben,  sind 
die,  daß  hei  schwer  verunreinigten  und  zertrümmerten  Kno¬ 
chenwunden  größerer  Gelenke  die  Aussichten  die  Extremität 
zu  erhalten,  seihst  nach  gründlicher  Exzision  von  Verunreini¬ 
gungen  und  des  gequetschten  Gewebes  infolge  der  nachträg¬ 
lichen  Eiterung  des  Gelenkes  sehr  gering  sind.  In  diesen 
Fällen  käme  als  letzter  Versuch  noch  die  totale  Resektion 
des  Gelenkes  oder  die  primäre  Amputation  in  Betracht. 

Bei  Gefäßverschluß  infolge  von  Kompression  durch 
Fragmente  oder  Hämatom  ist  die  Prognose  im  allgemeinen 
günslig  zu  stellen,  wenn  frühzeitig  operative  Hilfe  erfolgt, 
dagegen  isl  die  Aussicht,  zerrissene  und  gequetschte  Arte¬ 
rien  durch  die  Gefäßnaht  zu  vereinigen  und  durchgängig 
zu  erhalten,  gering,  immerhin  soll  vor  der  primärem  Am¬ 
putation  die  operative  Freilegung  des  Gefäßes  vorgenommen 
werden,  besonders,  da.  sich  die  Art  der  Zirkulationsstörung 
oft.  erst  durch  die  Autopsie  genau  feststellen  läßt.  Gün- 
stigere  Resultate  gibt  das  Debridement  hei  verunreinigten 
Diaphysenbrüchen,  wenn  eine1  Verletzung  größerer  Gelenke 
nicht  vorliegt.  Hier  liegt  ein  weites  Feld  für  die  extrem 
konservative  Behandlung  und  wenn  es  auch  nicht  immer 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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gelingt,  die  Infektion  zu  verhindern,  so  läßt  sieh  dieselbe 
durch  Offenhalten  der  Wunde,  Drainage,  Anwendung  von 
Perubalsam  meist  lokalisieren. 

Bei  nicht  verunreinigten  komplizierten  Frakturen  (rill 
che  Sorge  bezüglich  der  Infektion  so  sehr  in  den  Hinter- 
grund,  daß  man  nach  der  üblichen  Desinfektion  der  Flaut 
mit  Jodtinktur  und  Anlegung  eines  aseptischen  Verbandes 
das  Hauptaugenmerk  auf  eine  gründliche  Reposition  der 
Fragmente  richten  kann;  dasselbe  gilt  von  Frakturen  mit 
geiingei  Hautverletzung,  bei  welchen  dislozierte  Fragmente 
das  Hautniveau  nicht  überragen,  letztere  unterscheiden  sich 
in  der  Behandlung  von  subkutanen  Brüchen  nur  durch  den 
aseptischen  Verband,  der  die  Hautwunde  deckt. 


Aus  dem  diagnostisch-therapeutischen  Institut  für 
Herzkranke  in  Wien. 

(Jeber  Digitalisleim  (Gelina  Digitalis*). 

Vorläufige  Mitteilung  von  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Herz,  Wien. 

Die  Anzahl  der  Digitalispräparate,  über  die  wir  der¬ 
zeit  in  der  Praxis  verfügen,  ist  eine  enorme,  ihre  große 
Anzahl  aber  beweist,  daß  keines  von  ihnen  alle  Wünsche 
ganz  erfüllt.  Die  allerorts  sehr  regen  Bestrebungen  nach 
einer  Vervollkommnung  der  Digitalistherapie  müssen  daher 
noch  immer  als  gerechtfertigt  angesehen  werden.  Dies  um 
so  mehr,  als  wir  hier  nicht  genügsam  sein  dürfen.  Für  das 
kranke  Herz  ist  das  Beste  gerade  gut  genug. 

Das  Beste  aber  ist  und  bleibt  die  Digitalisdroge  selbst, 
das  Pulver  der  Blätter.  Jede  angebliche  Reinigung  kann  eine 
Verstümmelung  sein  und  bei"  der  Herstellung  der  Extrakte, 
ja  auch  der  Infuse  und  Mazerate  oder  gar  einzelner  als 
besonders  wirksam  angesehener  Bestandteile  wissen  wir  nie, 
wieviel  und  was  des  vielleicht  Wertvollsten  mit  dem  Rück¬ 
stände  verloren  geht.  So  ist  es  nicht  wunderbar,  wen|n 
wir  oft  noch  mit  dem  einfachen  Pulver  der  Blätter  Erfolge 
erzielen,  nachdem  verschiedene  aus  ihnen  gewonnenei  Pro¬ 
dukte  gänzlich  versagt  haben. 

Den  Dilitalisblättern  haften;  aber  bekanntlich  einige  ge¬ 
wichtige  Fehler  an:  Ihre  Wirksamkeit  ist  je  nach  demi 
Standorte  der  Pflanze  und  den  Verhältnissen,  unter  denen 
die  Ernte  stattfand,  verschieden  und  überdies  nimmt  sie 
während  der  Aufbewahrung,  besonders  in  pulverisiertem 
Zustande  ab.  Schließlich  reizen  sie  die  Magen-  und  Darm¬ 
schleimhaut. 

Dem  erstgenannten  Uebel  wird  jetzt  dadurch  ab¬ 
geholfen,  daß  die  betreffenden  Firmen  den  Wirkungsgrad 
der  Droge  am  Tierherzen  bestimmen,  bevor  sie  dieselbe 
in  den  Handel  bringen  („titrierte“  Digitalisblätter).  Einen 
weiteren  Fortschritt  erzielte  man  dadurch,  daß  man  das 
Pulver  in  die  sogenannten  G  e  1  o  d  u,  r  a  t  k  a  p  s  e  1  n  ein- 
•><ihloß,  welche  sich  erst  im  Darme  lösen,  so  daß  Wenigstens 
ler  Magen  verschont  bleibt.  Gänzlich  unkorrigiert  ist  aber 
loch  die  geringe  Haltbarkeit  der  Blätter. 

Wenn  es  nun  gelänge,  das  Pulver  der  „titrierten“  Digi- 
alisblätter  in  eine  Form  zu  bringen,  in  der  sie  haltbarer 
verden  und  ohne  Verlust  irgendeines  ihrer  Bestandteile 
lufhören,  den  Magen-Darmkanal  zu  reizen,  dann  müßte  dies 
void  als  die  Erfüllung  eines  berechtigten  Wunsches  an¬ 
erkannt  werden. 

Nach  mehrfachen  vergeblichen  Versuchen  kam  ich  auf 
olgende  Idee:  Wenn  ich  titrierte  Digitalisblätter  oder 
ine  andere  pflanzliche  Droge  pulverisiere,  in  Wasser  ma¬ 
zeriere  und  dann  die  Flüssigkeit  in  erhitztem  Zustande  mit 
<elatine  versetze  oder  die  zerkleinerte  Droge  in  der  erhitzten 
ind  dadurch  flüssig  gemachten  Gelatine  mazeriere,  dann 
rhalte  ich  nach  dem  Erkalten  eine  gallertige  Masse,  die 
m  so  härter  wird,  je  mehr  Wasser  man  ihr  entzieht, 
•urch  Zusatz  von  Glyzerin  u.  dgl.  kann  man  sie  geschmeidig 
•halten. 


*)  Erstattet  in  der 

3.  Mai  1911. 


k  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien  am 


In  dieser  Masse  befinden  sich  nun  alle  Bestandteile, 
welche  sich  bei  der  Mazeration  gelöst  haben  u.  zw.  mole¬ 
kular  umschlossen  von  den  kleinsten  Teilen  des  Leimes, 
ferner  das  stark  zerfallene  und  gequollene  Pflanzengewebe, 
von  der  Gelatine  durchdrungen  und  eingehüllt.  Es  ist  nichts 
verloren  gegangen. 

^ei  Leim  scheint  als  Medikamenfenträger  in  der  inneren 
Medizin  niemals  eine  Rolle  gespielt  zu  haben,  obwohl  eine 

Ge  atina  medicata  schön  seit  langer  Zeit  bekannt  sein 
soll.* 1) 

Eine  auf  die  beschriebene  Art  hergestellte  Masse  stellt 
vor  allem  eine  ausgezeichnete  Konserve  dar.  So  sollen 
sich  in  einem  aus  gerösteten  Kaffeebohnen  oder  getrock¬ 
neten  Teeblättern  hergestellten  Präparate  selbst  die  so  ver¬ 
gänglichen  aromatischen  Substanzen  durch  Jahrzehnte  un¬ 
verändert  erhalten.  Wir  dürfen  demnach  etwas  Aehnliches 
vom  Digitalisleim  erwarten. 

Verwenden  wir  statt  der  reinen  Gelatine  eine  solche 
welche  an  ihrer  Oberfläche  mit  Formalin  behandelt  worden 
ist,  dann  geben  wir  unserer  Masse  eine  zweite  wichtige 
Eigenschaft.  Sie  wird  dadurch  widerstandsfähig  gegen  die 
Einwirkungen  des  Mageninhaltes  in  gleicher  Weise  wie  die 
oben  erwähnten  Geloduratkapseln,  so  daß  der  Magen  vor  der 
Reizwirkung  der  Digitalissubstanzen  geschützt  wird. 

Während  aber  die  Kapseln  nach  ihrer  Lösung  im  Darm 
den  pulverförmigen  Inhalt  plötzlich  freigeben  müssen,  so  daß 
nunmehr  an  dieser  Stelle  eine  um  so  intensivere  Reizung  der 
Schleimhaut  entsteht,  quillt  der  Digitalisleim  erst  auf  und 
gibt  zunächst  während  der  Wanderung  durch  den  Darm 
seine  löslichen  Bestandteile  auf  dem  Wege  der  Diffusion 
sehr  langsam  ab,  d.  h.  er  wird  ausgelaugt.  Es  wird  da¬ 
durch  eine  derartige  Verdünnung  erzielt,  daß  eine  Irritation 
der  Gewebe  nicht  mehr  erwartet  werden  kann.  Bemerkens- 
u  * ' 1  ( J s  1  auch,  daß  die  in  erster  Linie  reizenden,  für  di© 
spezifische  Wirkung  aber  bedeutungslosen,  harzigen  Be¬ 
standteile  der  Droge  von  dem  Leime  am  längsten  zurück¬ 
gehalten  werden.  Ja,  man  kann,  wenn  man  die  Resorbier¬ 
barkeit  des  Präparates,  eventuell  unter  Heranziehung  Von 
Agar-Agar  stark  herabsetzt,  eis  dahin  bringen,  daß  die  ge¬ 
quollene  Masse  vollkommen  ausgelaugt,  d.  h  ihrer  lös¬ 
lichen  Bestandteile  beraubt,  jedoch  noch  beladen  mit  den 
wasserunlöslichen,  harzigen  Teilen  im  Stuhle  erscheint,  ähn¬ 
lich  wie  bei  dem  bekannten  Regulin. 

Das  Verfahren  ist  schließlich  auch  billig,  billiger  somr 
als  die  Herstellung  eines  Infuses. 

Ein  derartiges  Präparat  will  ich  „Gelina“  nennen, 
Gelina  Digitalis,  Gelina  Strophanti,  Gelina  Convallariae  ma- 
jalis  usw. 

.  Lmi  Apotheker  Dr.  Stohr  in  Wien  hatte  die  Freund¬ 
lichkeit,  die  Versuche  für  mich  durchzuführen;  schließlich 
gelang  es  ihm,  eine  brauchbare  Gelina  Digitalis  in  der 
Gestalt  von  Bohnen  mit  je  0-05  Fol.  digit,  herzustellen. 

Dieses  Präparat  habe  ich  in  mehreren  Fähen  versucht 
u.  zw.  größtenteils  in  solchen,  deren  Darmkanal  sowohl 
aut  das  Pulver,  wie  auf  das  Infus;  lebhaft  reagierte.  Der 
Eitolg  entsprach  durchaus  meinen  Erwartungen.  Es  wurde 
überall  eine  volle  Digitaliswirkung  erzielt,  ohne  Rei¬ 
zung  des  Magens  oder  Darmes.  Besonders  instruktiv  war 
das  Verhalten  einer  leicht  dekompensierten  Mitralstenose, 
die  auch  auf  die  kleinen  Digitalisgaben,  die  ich  zur  Her¬ 
stellung  des  Gleichgewichtes  für  notwendig  hielt,  mit  Uebel- 
keit  und  Diarrhöen  reagiert  hatte,  den  Leun  jedoch  ohne 
jede  Beschwerde  assimilierte. 

Der  Umfang  meiner  Versuche  ist  sicher  viel  zu  gering, 
um  ein  abschließendes  Urteil  zu  gestatten,  aber  immerhin  so" 
ermunternd,  (daß  ich  mich  für  berechtigt  hielt,  diese  Mit¬ 
teilung  zu  erstatten  und  zur  Erprobung  dieses  gewiß  noch 
entwicklungsfähigen  Verfahrens  am  klinischen  Materiale  auf- 
zufordernu) 

n  it  ^  Singer  und  Glaessner  haben  in  Gelatine  suspendierte 
Galle  zu  therapeutischen  Zwecken  verwendet. 

i  ..  )  Herr  Apotheker  Dr.  Stohr  (Wien  II.,  Schiffamtsgasse  13)  ist 
bereit,  die  nötigen  Versuchsmengen  zur  Verfügung  zu  stellen. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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lieber  einen  Fall  von  Erweiterung  der  Aorta 
bei  gleichzeitiger  Verengerung  des  Ostium 
derselben  und  des  linken  Ostium  venosum. 

Von  Prof.  Ür.  K.  E.  Wagner,  Direktor  der  medizinischen  Klinik  an  der 

Universität  Kiew. 

N.  M.,  48  Jahr©  alt,  Kleinbürger.  Aufgenommen  in  die 
Klinik  am  13.  März  1904.  Er  klagte  über  allgemeine  Schwäche, 
Herzklopfen,  Atemnot  nncl  Oedem  der  unteren  Extremitäten.  Sämt¬ 
liche  bezeichneten  Erscheinungen  sollen  nach  den  Angaben  des 
Patienten  sich  vor  ungefähr  einem  Monat  im  Anschluß  an  eine 
heftige  Blutung  aus  den  Hämorrhoidalknoten  eingestellt  haben. 
Vor  14  Tagen  bestanden  heftige  Schmerzen  im  ganzen  Abdomen 
und  Diarrhoe,  worauf  sich  nach  zwei  bis  drei  Tagen  Ikterus  ein¬ 
gestellt  hatte.  Der  Patient  leidet  an  Hämorrhoiden  seit  ungefähr 
15  Jahren.  Er  hat  sich  überhaupt  niemals  einer  besonders  guten 
Gesundheit  erfreut.  Ueber  Herzklopfen,  Atemnot  bei  Bewegungen 
klagt  er  schon  seit  langer  Zeit.  Mißbrauch  an  Spirituosen  gibt 
er  zu,  Syphilis  stellt  er  in  Abrede.  Der  Patient  ist  verheiratet. 
Er  hatte  Kinder,  die  aber  sämtlich  in  frühem  Kindesalter  ge¬ 
storben  sind. 

Status  praesens:  Körpergewicht  123-5  Pfund.  Tempe¬ 
ratur  normal.  Allgemeiner  Ernährungszustand  unter  mittelmäßig. 
Schleimhäute  und  Haut  mit  schwacher  ikterischer  Nuance.  Die 
äußere  Besichtigung  ergibt  eine  mit  der  Systole  kongruierende 
Erschütterung  des  Kopfes,  Pulsation  der  großen  Halsgefäße  und 
der  Vena  jugularis  externa,  Erschütterung  der  ganzen  Herzgegend 
und  Einziehung  des  unteren  Teiles  des  Brustkorbes  links.  An  den 
unteren  Extremitäten  Oedeme,  die  ziemlich  bedeutend  sind  und 
an  die  Knie  reichen.  Lungengrenzen  etwas  gesenkt.  Lungenränder 
nicht  beweglich.  Atmung  vesikulär.  In  verschiedenen  Teilen  des 
Brustkorbes  zerstreute  trockene  Basselgeräusche;  in  den  hin¬ 
teren  unteren  Teilen  beider  Lungen  kleinblasige  feuchte  Bassel¬ 
geräusche.  Herz :  Außer  der  allgemeinen  Erschütterung  der  Herz¬ 
gegend  sieht  man  deutlich  diastolische  Hebungen  des  fünften, 
sechsten  und  siebenten  Interkostalraumes.  Herzspitzenstoß  an 
der  vorderen  Axillarlinie  im  siebentem  Interkostalraum,  breit, 
negativ.  Grenzen  der  kleinen  Herzdämpfung :  obere  an  der  vierten 
Hippe,  rechte  geht  über  die  linke  Mamillarlinie  hinweg,  linke 
an  der  vorderen  Axillarlinie,  untere  an  der  achten  Hippe.  An  der 
Auskultationsstelle  der  Aorta  und  am  oberen  Teile  des  Sternums 
hört  man  zwei  Geräusche,  von  denen  das  eine  systolische  sehr 
scharf  und  protrahiert  ist  und  auch  noch  oben  hin  auf  das  rechte 
Schlüsselbein  und  auf  das  Caput  humeri  übergeht.  An  der  Aus¬ 
kultationsstelle  der  Arteria  pulmonalis  hört  man  dieselben  beiden 
Geräusche,  jedoch  weniger  scharf.  Bei  der  Fortbewegung  des 
Stethoskops  zur  Herzspitze  werden  die  beiden  Geräusche  schwächer 
und  es  treten  zwei  Töne  hervor.  Am  Brustbein  hört  man 
(der  Insertionsstelle  der  fünften  Hippe  entsprechend)  zwei  deut¬ 
liche  Geräusche,  wobei  das  erste  bedeutend  stärker  ist  als  das 
zweite.  Die  äußeren  Arterien  sind  ziemlich  hart  (Sklerose  zweiten 
Grades).  Beide  Karotiden  sind  erweitert,  und  man  sieht,  wie 
sie  pulsieren.  Puls  in  der  Radialarterie  an  beiden  Armen  gleich¬ 
mäßig,  100  Schläge  in  der  Minute,  nicht  hoch,  von  ziemlich  guter 
Füllung  und  vom  Charakter  des  Pulsus  celer ;  teilweise  bemerkt 
man  Extrasystolen;  auf  dem  Sphygmogramm  sind  die  elasti¬ 
schen  Schwankungen  deutlich,  der  Rückstoß  ist  schwach  ausge¬ 
prägt.  In  der  Inguinalfalte  hört  man,  an  den  Gefäßen  deutlich 
zwei,  etwas  klatschende  Töne.  Die  Venae  jugulares  extern  ae-  zeigen 
positive  Pulsation;  solchen  Püls  sieht  man  auch  an  den  ge¬ 
schwollenen  subkutanein  Venen  in  der  rechten  Ellbogenbeuge 
und  am  Vorderarm.  Bauch  vergrößert,  Bauchwänd©  gespannt. 
Im  Abdomen  freie  Flüssigkeit  nachweisbar,  deren  Niveau  zwei 
Querfinger  unterhalb  des  Nabels  liegt.  Leber  unterhalb  des  Hypo- 
ehondriums  in  einer  Ausdehnung  von  drei  Querfingern  palpabel; 
sie  ist  gleichmäßig  vergrößert,  ziemlich  hart;  ihr  Rand  ist  etwas 
abgerundet,  leicht  schmerzhaft.  Die  ganz©  Leber  zeigt  deutliche 
systolische  Pulsation.  Milz  nicht  palpabel.  Von  seiten  des  Magen¬ 
darmkanals  sichtbare  Veränderungen  nicht  vorhanden;  ziemlich 
bedeutende  innere  und  äußere  Hämorrhoidalknoten.  Harn:  Täg¬ 
liche  Quantität  1110  cm,  spezifisches  Gewicht  1-014,  Eiweiß  in 
Spuren;  im  Niederschlage  ab  und  zu  hyaline  Zylinder,  späriiche 
weiße  Blutkörperchen  und  amorphe  Urate. 

Bei  der  Diagnose  zog  man  natürlich  in  erster  Linie  die 
Veränderungen  von  seiten  des  Herzens  in  Betracht.  Man  hatte 
es  hier  mit  einer  komplizierten  Erkrankung  des  Herzens  im 
Stadium  der  Kompensationsstörung  zu  tun,  welch  letzter©  augen¬ 
scheinlich  durch  starke  Hämorrhoidalblutung  und  durch  irgend¬ 
eine  akute  Erkrankung  des  Darmkanals  hervorgerufen  wurde, 
die  mit  Diarrhoe  und  Ikterus  einherging  und  allgemeine  Schwä¬ 


chung  des  Organismus  zur  Folge  hatte.  Von  den  einzelnen  Sym¬ 
ptomen  von  seiten  des  Herzens  fielen  vor  allem  der  negative 
Herzspitzenstoß,  die  diastolische  Pulsation  einiger  Interkostal- 
räume  bei  allgemeiner  Erschütterung  der  Herzgegend  und  die 
Einziehung  des  unteren  Teiles  des  Brustkorbes  links  bei  der  Sy¬ 
stole  auf.  Der  negative  Herzspitzenstoß  spricht,  wenn  er  deut¬ 
lich  ausgeprägt  ist,  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  für  Verwachsung 
des  Herzbeutels  mit  dem  Herzen,  namentlich,  wenn  diese-  Ver¬ 
wachsung  an  der  Herzbasis  besteht.  Diastolische  Pulsation  der 
Interkostalräume  bei  negativem  Herzspitzenstoß  spricht  für  aus¬ 
gedehnte  Verwachsung  des  Herzens  mit  dem  Herzbeutel.  Ein¬ 
ziehung  des  unteren  Teiles  des  Brustkorbes  bei  der  Systole,  Er¬ 
schütterung  der  ganzen  Herzgegend  lassen  aber  an  Verwachsungen 
deis  Herzbeutels  mit  dem  Brustkorb  und  mit  dem  Zwerchfell 
denken.  Auf  Grund  dieser  Erwägungen  sprach  ich  die-  Vermutung 
aus,  daß  es  sich  im  vorliegenden  Falle  nicht  nur  um  vollständige 
Verwachsung  des  Herzbeutels  handelt,  sondern  auch  um  äußere 
Verwachsung  desselben  mit  dem  Brustkorb  und  dein  Zwerchfell. 
Das  diastolische  Geräusch,  welches  man  an  der  Aorta  und  am 
oberen  Teile  des  Brustbeines  am  deutlichsten  hörte,  sprach  neben 
der  Erschütterung  des  Kopfes,  dem  Pulsus  celer,  dein  diastoli¬ 
schen  Ton  an  der  Kruralarterie  und  der  Verschiebung  des  Herz¬ 
spitzenstoßes  nach  links  und  unten  für  Insuffizienz  der  Aorten¬ 
klappen.  Das  systolische  Geräusch,  welches  an  der  Aorta  am 
deutlichsten  zu  hören,  stark  ausgeprägt  und  protrahiert  war  und 
sich  nach  oben  hin  auf  das  Schlüsselbein  und  das  Caput  humeri 
ausbreitete,  sprach  für  Verengeiung  des  Ostium  aortae.  Für  diese 
Annahme  sprach  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  der  Charakter 
des  Pulses,  nämlich  die  gewisse  Härte  -desselben  und  die  geringe 
Höhe  der  Pulswell-e,  trotz  der  bestehenden  Insuffizienz  der  Aorten¬ 
klappen,  bei  der  der  Puls  gewöhnlich  hohe  Exkursionen  und 
wenig  ausgeprägte  elastische-  Schwankungen  auf  weist.  Das  starke 
systolische  Geräusch  an  der  Auskultationsstelle  der  Trikuspidalis 
sprach  in  Verbindung  mit  der  positiven  Pulsation  der  Leber 
und  -dem  positiven  Venenpuls  am  Halse-  und  Arm,  sowie  den 
zwei  klatschenden  Tönen  an  der  Kruralvene  für  relative  In¬ 
suffizienz  der  Trikuspidalis. 

Eine  besonders  gründliche  Besprechung  erheischte  der  sehr 
niedrige  Stand  (im  siebenten  Interkostalraum)  des  Herzspitzen¬ 
stoßes,  der  stark  nach  links,  nämlich  bis  zur  vorderen.  Axillar¬ 
linie  verschöben  war.  Für  die  Verschiebung  des  Ilerzspitzeu- 
stoß-es  nach  unten  und  links  war  im  vorliegenden  Falle  von 
seiten  der  Insuffizienz  der  Aortenklappen  und  der  konsekutiven 
Vergrößerung  des  linken  Ventrikels  genügende  Veranlassung  vor¬ 
handen.  Jedoch  war  hier  die  Verschiebung  so  bedeutend,  daß 
man  unwillkürlich  daran  denken  mußte,  daß  vielleicht  noch  eine 
andere  Ursache  hiefür  vorliegen  könnte.  Erweiterungen  der  Pars 
ascendens  aortae  dienen  bekanntlich  sehr  häufig  als  Ursache 
von  starker  Senkung  des  Herzspitzenstoßes  und  so  mußte  man 
auch  im  vorliegenden  Falle  unwillkürlich  an  diesen  Vorgang 
denken.  Jedoch  sprachen  das  Fehlen  von  Dämpfung  im  oberen 
Teile  des  Brustbeines  und  rechts  von  demselben,  ferner  das 
Fehlen  von  Pulsation  rechts  vom  Brustbein,  das  Fehlen  von 
mehr  oder  minder  bedeutender  Verspätung  des  Pulses  in  den 
Radial-  und  Kruralärterien  im  Vergleich  zur  Herzsystole,  schlie߬ 
lich  die  mutmaßliche  Verengerung  des  Aortenostiums,  gleichsam 
gegen  das  Vorhandensein  einer  Aortenerweiterung.  Die  bestehende 
Dislokation  des  Herzspitzenstoßes  mußte-  man  teilweise  auf  \er- 
größerang  des  linken  Ventrikels,  teilweise  auf  Hemiederziehung 
des  ganzen  Herzens  nach  unten  infolge  von  Verwachsung  des 
Herzbeutels  mit  dem  Zwerchfell  zurückführen. 

Die-  Bronchitiserscheinungen,  die  kleinblasigen,  -feuchten 
Rasselgeräusche  in  den  unteren  hinteren  Teilen  der  beiden  Lun¬ 
gen,  die  unbedeutenden  Veränderungen  im  Harn,  die  voi  an¬ 
gegangene  hämorrhoidale  Blutung  ließen  sich  auf  durch  insuffi¬ 
ziente  Herztätigkeit  bedingte  Stauungen  im  Blutkreislauf  zurück¬ 
führen.  Die  Beschränkung  der  Beweglichkeit  der  Lungenränder 
sprach  für  überstandene  Pleuritiden,  die  Verwachsung  der  Lungen 
mit  der  Brustwand  zur  Folge  hatten.  j» 

Dementsprechend  lautete  die-  klinische  Diagnose  folgender¬ 
maßen :  Arteriosklerose.  Verödung  des  Herzbeutels  und  Verwach¬ 
sung  desselben  mit  der  Brustwand  und  dem  Zwerchfell.  In¬ 
suffizienz  der  Aortenklappen  und  Verengerung  des  Aortenostiums, 
relative  Insuffizienz  der  Trikuspidalis.  Beiderseitige  adhäsive  Pleu¬ 
ritis.  Stauungserscheinungen  in  den  verschiedenen  Organen  in¬ 
folge  von  Störung  der  Kompensation  der  Herztätigkeit,  lkteuis 
auf  der  Basis  von  Katarrh  und  Stauung  im  Duodenum. 

Verlauf:  Der  Patient  lag  in  der  Klinik  zehn  Tage.  Er 
bekam  während  dieser  Zeit  Digitalis,  Adonis  vernalis,  Strophantus, 
Koffein;  sein  Zustand  besserte-  sich  jedoch  nicht;  im  Gcgenm  , 
der  Patient  fühlte  sich  immer  schwächer  und  schwacher,  u 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


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Puls  wurde  weicher  und  schwächer,  der  Ikterus  wurde  stärker 
die  Oedeme  nahmen  zu.  Die  Temperatur  blieb  ununterbrochen 
normal.  Unter  Erscheinungen  von  äußerster  Schwäche  trat  der 

Tod  ein. 

Sektion:  Leiche  eines  Mannes  von  mittlerer  Statur  und 
schlechtem  Ernährungszustand.  Untere  Extremitäten  etwas  öde- 
matös.  Bauch  nicht  aufgetrieben,  Rauchwände  schlaff.  Die  Leber 
ragt  ungefähr  drei  Querfingerbreitein  über  den  Rippenrand  hinaus- 
an  der  oberen  Oberfläche  ist  die  Leber  mittels  fibröser  Ver¬ 
wachsungen  mit  dem  Zwerchfell  und  Peritoneum  parietale  ver¬ 
wachsen.  Der  Darm  ist  ziemlich  ausgedehnt.  Das  Omentum  ent¬ 
halt  eine  geringe  Quantität  Fett.  Die  Mesenterialdrüsen  sind 
vergrößert,  viele  verkalkt.  Im  Mesenterium  des  Sigma  romanum 
bemerkt  man  eine  strahlenförmige  Narbe.  Die  Kuppel  des  Zwerch¬ 
felles  liegt  rechts  an  der  sechsten  Rippe,  links  am  sechsten 
Interkostalraum.  Rippenknorpel  mäßig  ossifiziert.  Beide  Lungen 
mit  der  Brustwand,  dem  Herzbeutel  und  dem  Zwerchfell  fest 
verwachsen.  Das  Trigonum  cordis  ist  offen  und  geht  rechts  un- 
Refähr  drei  Querfingor  über  die1  Mittellinie  hinaus.  Das  ganze  Herz 
ist  wesentlich  nach  links  disloziert  und  befindet  sich  zwischen 
dem  Zwerchfell  und  der  nach  oben  verdrängten  Lunge.  Der  Herz¬ 
beutel  ist  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  an  die  Brustwand,  an  die 
Lungen  und  das  Zwerchfell,  das  Herz  durchwegs  an  den  Herz¬ 
beutel  angewachsen;  letzteres  ist  vergrößert.  Die  Höhle  des 
rechten  Ventrikels  und  des  Vorhofs  sind  bedeutend  erweitert; 
die  Wandungen  sind  von  ungefähr  normaler  Dicke;  die  venöse 
Ocffming  läßt  frei  mehr  als  drei  Finger  passieren;  die  Triku- 
spidalis  ist  fibrös  verdickt,  die  Lungenarterie  erweitert.  Die  Wand 
des  linken  Ventrikels  ist  bis  zu  2  cm  verdickt,  auf  dem  Quer¬ 
schnitt  trübe,  von  bräunlich-roter  Farbe,  mit  grauen  Streifen. 
Das  Endokard  ist  namentlich  in  der  Nähe  der  Klappen  fibrös 
verdickt,  stellenweise  weist  es  Kalkablagerungen  auf.  Das  linke 
Ostium  venosum  hat  die  Form  einer  3-5  bis  4  cm  langen  und 
3  bis  4  mm  breiten  Spalte.  Die  Aortenklappen  sind  gleichfalls 
geschrumpft,  verdickt,  teilweise  kalziniert,  an  ihren  Berührungs¬ 
stellen  zusammengewachsen,  ulzeriert  und  ebenso  unbeweglich 
wie  die  Klappen  der  Bikuspidalis.  Die  Aorta  ist  erweitert:  sie 
mißt  an  der  Basis  8-25  cm,  am  Bogen  8-5  cm,  in  der  Pars 
descend ens  6-25  cm  im  Durchmesser.  Sämtliche  vom  Aorta,- 
hogen  abgehenden  Arterien'  sind  gleichfalls  erweitert.  Die  In¬ 
tima  der  Aorta  ist  namentlich  am1  Bogen  mit  sklerotischen  Pla¬ 
ques  bedeckt.  Die  Kranzarterien  sind  erweitert,  ihre  Wandungen 
verdickt.  Lungen  teigig,  Lungenpleura,  verdickt,  ödematös;  am 
Querschnitt  bemerkt  man  im  Gewebe  der  oberen  Lungenlappen 
Narbenstränge  von  schiefergrauer  Farbe;  außerdem  ist  das  Lungen¬ 
gewebe  stark  ödematös  und  weist  dem  Verlauf  der  Gefäße  und 
Bronchien  entlang  Entwicklung  von  Bindegewebe'  auf.  Bronchial¬ 
drüsen  vergrößert,  am  Querschnitt  schiefergrau  pigmentiert  und 
stellenweise  kalziniert.  Die  Milz  ist  nicht  groß,  induriert.  Ihre 
Schnittoberfläche  ist  glatt,  von  kirschroter  Färbe;  die  Trahekula 
sind  verkleinert.  Die  Leber  ist  vergrößert,  induriert.  Die  Leber¬ 
kapsel  ist  verdickt,  ihre  Oberfläche  körnig.  Die  Schnittfläche 
zeigt.  Muskatnußmuster.  Die  Lobuli  der  Leber  sind  verkleinert. 
Die  Wandungen  der  Aorta  hepatioa  sind  verdickt.  Die  Gallen¬ 
blase  ist  nicht  groß;  sie  zeigt  verdickte  Wandungen  und  enthält 
(liebte,  zähe  Galle  von  dunkelgrüner  Färbe.  Die  Nieren  zeigen 
ungefähr  normale  Größe  und  abnorme  Dichtigkeit;  auf  dem  Quer¬ 
schnitt.  erscheinen  die  Kortikalschicht  graurot,  die  Pyramiden 
dunkel  rot,  mit  grauen  länglichen  Streifen.  Die  Schleimhaut  des 
Magens  und  Duodenums  ist  geschwollen,  aufgelockert,  im  Zu¬ 
stand  von  venöser  Stauung,  mit  Schleim  bedeckt.  An  einigen 
Stellen  sieht  man  unregelmäßige,  glattrandige  Geschwüre,  welche 
bis  zur  Submukosa  Vordringen.  Die  Schleimhaut  des  Dünn¬ 
end  Dickdarms  'befindet  sich  im  Zustande  venöser  Kongestion  und 
ist  ödematös;  außerdem  weist  die  Schleimhaut  des  Anfangsteiles 
des  Dickdarms  einige  kleine  rote  polypöse  Wucherungen  auf. 

Pathologisch-anatomische  Diagnose:  Chroni¬ 
sche,  adhäsive,  fibrinöse  Perikarditis.  Verwach¬ 
sung  des  Perikards  mit  der  Brustwand,  mit  den  Lun¬ 
gen  und  mit  dem  Zwerchfell.  Chronische,  fibrinöse 
Endokard  i  t  i  s  m  it  Sch  rump  fu  ng  d  er  Klapp  en  d  er  Bi  k  u- 
spidalis  und  der  Valvulae  semi  lunares  aorta  e  nebst 
Insuffizienz  derselben  und  Verengerung  der  Oeff- 
»ungen.  Relative  Insuffizienz  der  Trikuspidalis.  Er¬ 
weiterung  der  Pars  a,  sc  ende  ns  und  des  Arcus  aor¬ 
ta©  nebst  Sklerose  derselben.  Erweiterung  der  Aorta 
pulmonalis.  Chronische,  adhäsive,  fibröse  bilate- 
t'ale  Pleuritis.  Chronische  Tuberkulose  beider  Lun¬ 
genspitzen.  Käsige  Degeneration  nebst  Kalzination 
her  Bronchial-  und  Mesenterialdrüsen.  Lungenödem. 
Induration  der  Milz,  der  Leber  und  der  Nieren  in¬ 


folge  von  Stauung.  S tauungsk onges tion  im  Magen¬ 
darmkanal  nebst  schleimigem  Katarrh  und  einfachen 
Geschwüren  des  Magens  un  d  des  Duodenums. 

.  Aus  der  Zusammenstellung  der  vitalen  Erscheinungen 
mit  den  Erhebungen  der  pathologisch-anatomischen  Sektion 
ergibt  sich,  daß  letztere  in  bezug  auf  das  Herz  Schrumpfung 
der  Bikuspidalis  nebst  Verengerung  des  linken  Ostiums 
venosum  und  Erweiterung  der  Aorta  zu  Tage  gefördert  hat 
—  Befunde,  die  intra  vitam  nicht  festgestellt  werden  konnten. 
Wenn  ein  Symptom,  das  für  Aortenerweiterung  sprach, - 
nämlich  hochgradige  Dislokation  des  Herzspitzenstoßes  nach 
links  und  unten,  auch  vorhanden  war,  so  fehlten  jegliche 
klinische  Anhaltspunkte,  die  diese  Affektion  hätten  vermuten 
lassen  können.  Wie  gesagt,  hörte  man  an  der  Herzspitze 
zwei  Töne;  die  bis  hierher  heranreichenden  zwei  schwachen 
Geräusche  führte  ich  auf  die  Aorta  zurück,  wo  sie  außer¬ 
ordentlich  klar  und  scharf  zu  hören  waren.  Ein  derar¬ 
tiges  Fehlen  von  Geräuscherscheinungen  an  der  Bikuspi¬ 
dalis  bei  gleichzeitigem  Bestehen  einer  Aortenklappeninsuffi- 
zienz  und  einer  Verengerung  der  Aorta  ist  ein  Vorkomm¬ 
nis,  welches  in  der  Klinik  namentlich  bei  schwacher  Herz¬ 
tätigkeit  nicht  selten  beobachtet  wird  und  auf  diejenigen 
Wechselwirkungen  'zurückgeführt  werden  kann,  die  der  Blut¬ 
strom  bei  kombiniertem  Herzfehler  während  des  Ueber- 
gangs  aus  dem  einen  Herzabschnitt  in  den  anderen  er¬ 
leidet.  Die  übrigen  klinischen  Befunde  fanden  bei  der  Sektion 
ihre  vollkommene  Bestätigung. 

\  on  gewissem  Interesse  sind  die  Verwachsungen  der 
beiden  Pleurablätter  des  Perikards  von  innen  und  von  außen, 
sowie  die  Verwachsung  der  oberen  Oberfläche  der  Leber 
mit  dem  Zwerchfell  und  dem  Peritoneum  parietale.  Wir 
wissen,  daß  Verwachsungen  der  Pleurablätter  am  häufigsten 
auf  tuberkulöser  Basis  Zustandekommen  und  obwohl  hei 
meinem  Patienten  Veränderungen  in  den  Lungenspitzen 
klinisch  nicht  nachweisbar  waren,  so  war  nichtsdestoweniger 
die  Annahme  einer  chronischen  tuberkulösen  Affektion 
durchaus  wahrscheinlich.  Die  Sektion  ergab  Tuberkulose 
der  Bronchial-  und  Mesenterialdrüsen,  sowie  unbedeutende 
Veränderungen  in  den  Lungenspitzen.  Nun  entsteht  die 
Vermutung,  ob  man  es  hier  nicht  mit  multipler  Affektion 
der  serösen  Häute,  mit!  der  sogenannten  Polyserositis  'tuber¬ 
kulöser  Natur  zu  tun  hatte.  Im  positiven  Fälle  hätte  man  die 
Erkrankung  der  Pleurablätter,  des  Perikards  und  des  Peri¬ 
tonealüberzugs  der  Leber  unter  eine  gemeinsame  Aetiologie 
bringen  können.  Gemäß'  den  neuesten  Ansichten  von 
Behring,  Bueppel  und  Ro  einer1)  wissen  wir,  daß 
tuberkulös  affizierte  Lymphdrüsen  die  häufigste  Ursache 
von  Entzündung  der  serösen  Häute  sind,  wobei  diese  Ent¬ 
zündung  nicht  nur  die  Tuberkelbazillen  selbst,  sondern  auch 
die  Endotoxine  derselben  hervorrufen  können.  Von  diesem 
Standpunkte  aus  würde  das  Fehlen  von  Tuberkeln  mit 
spezifischen  Veränderungen  in  den  Pleuren,  im  Perikard 
und  im  Peritonealüberzug  der  Leber  noch  nicht  gegen 
tuberkulöse  Aetiologie  sprechen. 

Ich  kehre  nun  zu  dem  Umstand  zurück,  der  im  vor¬ 
liegenden  Falle  von  .  besonderem  Interesse  war,  nämlich 
zu  der  bei  der  Sektion  festgestellten  Aortenerweiterung. 

Es  entstehen  hier  zwei  Fragen:  1.  Weshalb  (gab  die  ziemlich 
bedeutende  Aortenerweiterung  zu  Lebzeiten  des  Patienten 
keine  ausreichenden  klinischen  Erscheinungen?  2.  Wie 
konnte  bei  gleichzeitigem  Bestehen  einer  Verengerung  des 
Ostium  aortae  und  des  linken  Ostium  venosum  diese  Erwei¬ 
terung  entstehen? 

Der  Boden  für  eine  Erweiterung  der  Aorta  war  vorhan¬ 
den  :  es  waren  dies  die  sklerotischen  Veränderungen  an 
der  Intima.  Anderseits  kann  man  per  analogiam  mit  den 
endokarditischen  Veränderungen  am  Herzen  annehmen,  daß 
auch  die  Intima  der  Aorta  früher  von  entzündlichem  Prozeß 
befallen,  d.  h.  daßi  Endaortitis  vorhanden  war.  Die  diese 
letztere  gewöhnlich  begleitende  Veränderung  der  Media  hatte 
Verlust  'der  Elastizität  der  ganzen  Aortenwand  zufolge.  Eine 

— — - - -  I 

*)  Beiträge  zur  experimentellen  Therapie.  Marburg  1902,  H.  5. 


824 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


zweite,  für  das  Zustandekommen  einer  Aortenerweiterung 
erforderliche  Bedingung  ist  Steigerung  des  Blutdrucks. 

Von  den  Ursachen,  die  Steigerung  des  Blutdrucks  zur 
Folge  haben,  war  eine  vorhanden,  nämlich  Insuffizienz 
der  Aortenklappen.  Dieser  Klappenfehler-  ist  bekanntlich 
nicht  selten  mit  A o rtene r w ei terun'g  aus  dem  Grunde  kom¬ 
biniert,  weil  der  Blutdruck  bei  demselben  bei  jeder  Systole 
über  die  Norm  steigt.  Diese  Kombination  der  Erweiterung 
der  Aorta  mit  Insuffizienz  der  Aortenklappen  auf  der  Basis 
des  atheromatösen  Prozesses  wird  als  ,,H)od  g  s  o  n  sehe 
Krankheit“  bezeichnet.  Bei  meinem  Patienten  waren  jedoch 
zwei  Momente  vorhanden,  die  im  entgegengesetzten  Sinne, 
nämlich  im  Sinne  einer  Verringerung;  der  Blutfüllung  in 
der  Aorta,  folglich  im  Sinne  einer  Verringerung  des  Blut¬ 
drucks  in  der  Aorta  wirkten.  Diese  Momente 'sind  die  Ver¬ 
engerung  des  Ostium  aortae  und  die  Verengerung  dels  linken 
Ostium  venosum.  Man  kann  also  kaum  annehmen,  (daß  sich 
bei  den  früher  vorhanden  gewesenen  Verengerungen  der 
erwähnten  Oeffnungen  eine  Erweiterung  der  Aorta  ent¬ 
wickeln  konnte.  Vielmehr  muß  man  zur  Erklärung  des1 
in  Rede  stehenden  Falles  annehmen,  daß  die  Erweiterung 
der  Aorta  sich  früher 'als  die  Verengerungen  der  erwähnten 
Oeffnungen  entwickelt  hatte.  Den  Verlauf  des  Prozesses 
könnte  man  sich  folgendermaßen  vorstellen:  Zunächst  hatte 
sich  Sklerose  der  Aorta  entwickelt,  wofür  ebenso  wie  für  die 
Sklerose  der  äußeren  Arterien  und  der  Kranzarterien  der 
anamnestisch  festgestellte  Mißbrauch  an  Spirituosen  als  ätio¬ 
logisches  Moment  in  Betracht  kommen  konnte.  Von  der 
Aorta  hatte  sich  dann  die  Sklerose  auf  die  Valvulae  semi- 
lunares  ausgebreitet  und  Deformation,  Schrumpfung  sowie 
Insuffizienz  derselben  bewirkt;  eis  Waren  somit  Bedingungen 
für  die  Entwicklung  einer  Aortenenveiterung  geschaffen  und 
diese  Erweiterung  kam!  nun  zustande.  Derselbe  sklerotische 
vielleicht  auch  der  hinzugetretene  entzündliche  Prozeß  im 
Endokard  ging  nun  weiter;  nach  und  nach  entstanden  Ver¬ 
engerung  der  Aortenmündung  sowie  Insuffizienz  und  Ver¬ 
engerung  der  Bikuspidalis.  Von  diesem  Augenblick  nahm 
die  Erweiterung  der  Aorta  augenscheinlich  nicht  mehr  zu; 
im  Gegenteil,  es  entstanden1  Bedingungen  entgegengesetzter 
Natur  infolge  von  Verringerung  der  Blutfüllung  der  Aorta 
und  es  würde  nichts  Unwahrscheinliches  an  sich  haben, 
wenn  (man  armehmen  würde,  daß  die  Erweiterung  der  Aorta 
sich  hätte  verringern  können,  wenn  die  Elastizität  ihrer 
Wandungen  [nicht  verändert  gewesen  Wäre.  Jedenfalls  war 
die  in  die  erweiterte  Aorta  eintretende  verringerte  Blut¬ 
quantität  nicht  imstande,  ihre  Wandungen  in  gespanntem 
Zustande  zu  erhalten.  Darauf  kann  man  den  Umstand  zu¬ 
rückführen,  daß  die  bei  der  Sektion  Vorgefundene,  ziem¬ 
lich  bedeutende  Aortenerweiterung  Zu  Lebzeiten  weder  Pul¬ 
sation  rechts  vom  Brustbein  noch  Dämpfung  gab  und  sich 
jedenfalls  in  keiner  Weise  an  ihrer  Lokalisationsstelle  be¬ 
merkbar  machte,  d.  h.  einer  genauen  Diagnose  unzugängig 
war. 

Die  bei  der  Sektion  Vorgefundene  geringe  Erweiterung 
der  Aorta,  pulmonalis,  die  durch  Stauungen  im  [kleinen  Blut¬ 
kreislauf  bedingt  war,  ist  nicht  so  selten  und  infolgedessen 
von  keinem  besonderen  Interesse ;  zu  Lebzeiten  lassen  sich 
geringe  Erweiterungen  der  Aorta  pulmonalis  gewöhnlich 
nicht  feststellen. 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  einige  Worte  über  den 
Charakter  der  im  Herzen  und  in  der  Aorta  Vorgefundenen 
Veränderungen  sagen.  Diese  Veränderungen  dürften  sich 
bei  dem  Patienten  augenscheinlich  nach  und  nach  sehr 
langsam  entwickelt  haben;  wenigstens  bot  die  Anamnese 
keine  Anhaltspunkte  für  die  Annahme  irgend  einer  (vom 
Patienten  überstandenen  akuten,  stürmischen  Herzerkran¬ 
kung  dar.  Unwillkürlich  dränjgt  sich  nun  einem  die  Frage 
auf,  ob  nicht  diese  Veränderungen  auf  dieselbe  Aetiologie 
zurückzuführen  waren  wie  die  [Veränderungen,  die  im  Herz¬ 
beutel,  in  den  beiden  Pleuren  und  in  der  Leberkapsel  fest- 
gestellt.  wurden.  Wenn  man  die  oben  geschilderten!  An¬ 
sichten  Behrings  und  seiner  Schüler,  wonach  die 'Endo¬ 
toxine  der  Tuberkelbazillen  Endzündung  der  serösen  Häute 


hervorrufen  können,  für  richtig  hält,  so  müßte  man  doch 
auch  gelten  lassen,  daß  dieselben  Endotoxine  vielleicht  auch 
Veränderungen  an  der  Intima  der  Aorta  und  am  Endokard 
hervorzurufen  imstande  wären.  jVon  diesem  Standpunkte 
aus  wäre  jene  Langsamkeit  und  jener  chronische  Verlauf  der 
Entwicklung  der  Vorgefundenen  ausgedehnten  Veränderun¬ 
gen  im  Herzen  und  der  Aorta  eines  relativ  nicht  alten 
Mannes  (48  Jahre),  der!  keine  akute  Herzerkrankung  über¬ 
standen  hatte,  verständlicher.  Experimentelle  Studien  über 
den  Einfluß  der  Endotoxine  der  Tuberkelbazillen  auf  Herz 
und  Gefäße  sind,  soweit  mir  bekannt  ist,  vorläufig  noch 
nicht  vorhanden,  werden  aber  Iden  Gegenstand  meiner  näch¬ 
sten  Arbeit  bilden.  In;  'der  mir  zugänglichen  (Literatur  (Lehr¬ 
bücher,  Monographien)  der  Herz-  und  Gefäßerkrankungen 
habe  ich  Fälle  von  Aortenerweiterung  bei  Verengerung  des 
Ostium  aortae  und  des  flinken  Ostium  venosum  nicht  erwähnt 
gefunden.  Infolgedessen  glaubte  ich  den  vorliegenden  Fall, 
der  nicht  geringes  klinisches  Interesse  darbietet,  beschreiben 
zu  sollen.  f 


Die  Typhusepidemien  in  Hermannstadt. 

Von  Dr.  Karl  Ungar,  Prosektor. 

I. 

Seit,  die  Wissenschaft  in  dem  Eberth-Gaffky  schein  Bu- 
zillus  den  spezifischen  Erreger  dies  Abdominaltyphus  erkannt  hat, 
besteht  für  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Kliniker,  Hygieniker 
und  Bakteriologen  kein  Zweifel  mehr,  daß  die  Quelle  der  Ver¬ 
breitung  des  Typhus  im  Menschen  selbst  zu  suche|n  sei,  und  daß 
seine  Ausbreitung  nicht  durch  abnorme  Konstellation  der  Ge¬ 
stirne,  nicht  durch  Zauber  und  Spuk,  nicht  durch  Wind  und 
Wetter,  sondern  durch  belebte  Organismen  erfolgt.  Mögen  lokale 
Verhältnisse  mannigfacher  Art  bei  Verschiedenen  Epidemien  eine 
begünstigende  Rolle  spielen,  immer  wird,  die  letzte  Ursache  der 
bakdenenausscheidende  Mensch  sein.  Die  Bekämpfung  des  Typhus 
als  Volksseuche  wurde  erst  nachdrücklich  und  erfolgversprechend, 
als  man  den  lokalis tischen  Standpunkt  Pettemkofers  verlassen 
und  der  K  o  c  h  sehen  kontagionist.ischlen  Lehre  sich  zuneögte.'  Dieser 
Auffassung  entspricht  auch  die  systematische  und  erfolgreiche 
Bekämpfung  des  Typhus  an  vielen  Ortetni,  die  unter  seiner  Heim¬ 
suchung  schwer  zu  leiden  haben,  z.  ß.  im  Südwestern  des  Deut¬ 
schen  Reiches. 

Wenn  auch  die  folgenden  Ausführungen  eine  absolut  sichere 
Entscheidung  über  die  Entstehungsursaclm  der  Typhusepidemit'ii 
von  Hermannstadt  nicht  bringen  können,  wie  das  ja  meist  auch 
nicht  möglich  ist,  so  dürfte1  doch  die  Untersuchung  und  Beselirei-j 
bung  aller  in  Betracht  kommenden  Umstände1  und  Beobachtungen! 
vom  epidemiologischen  und  hygienischem,  gleichwie  vom  klini¬ 
schen  Standpunkte  aus  berechtigt  sein. 


Tabelle  I. 

Allgemeine  U ebersicht  über  die  Typhus  - Morbiditäi 
und  -Mortalität  in  Hermannstadt. 


Januar  !;! 

Februar  j 

.  SJ 

1 

aj  'S 
<  § 

1 

Juni 

Juli 

August 

September  j 

Oktober  } 

November 

Dezember 

! 

Zusammen 

Davon 

Auswärtige 

Davon 

gestorben 

0/  : 

10 

1894 

i 

i 

2 

1 

2  1 

,  ... 

1  1  . 

i 

2 

3 

18 

4 

1895 

i 

i 

.  I  1 

2 

1 

1 

7 

5 

3 

1896 

i 

i 

•  1  i 

3  2  3 

1 

2 

6 

5 

25 

9 

6 

1897 

3 

i 

l 

2  4 

4  2  |  1 

4 

2 

4 

5 

33 

14 

10 

1898 

2 

i 

.  1 

.  .  3 

6 

9 

5 

3 

30 

12 

2 

1899 

i 

2 

•  1 

2  A  3 

1 

1 

1 

1 

13 

2 

5 

1900 

i 

i 

1  1 

.  .  10 

2 

3 

5 

1 

25 

13 

5 

1901 

i 

1 

2  . 

112 

10 

3 

1 

3 

25 

10 

3 

1902 

3 

3 

13  1 

1  3  1 

8 

8 

6 

1 

48 

24 

/ 

1903 

1 

2 

2  ll.: 

4 

2 

2 

3 

17 

9 

O 

1904 

5 

2 

1 

.  !  2  |  2 

6 

79 

13 

4 

114 

12 

18 

1905 

1 

i 

1 

.  2 

1 1 ■  bus 

8 

47 

479 

21 

569 

13 

51 

1906 

3 

•4 

1 

•  1 

4  2  5 

14 

4 

38 

12 

4 

1907 

1 

l 

1 

2  1 

.  3  5 

6 

12 

2 

34 

16 

3 

1908 

1 

2 

2 

3  7 

13  14  120 

15 

57 

298 

309 

741 

-46 

58 

1909 

34 

7 

6 

3  2 

6  2  6 

16 

14 

8 

6 

110 

34 

14 

1910 

7 

3 

4  |  8 

12  25  22 

11 

10 

3 

1 

106 

56 

8 

Summe 

68  30 

21 

32  31 

50  63  87 

109  250  843 

369 

1953 

287 

203 

104 

Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


825 


Herman  ns  ladt  (magyarisch  Nagy-Szeben)  in  Siebenbürgen 
111  ,lor.  ^'tlceiner  nach  Süden  durch  den  Rotenturmpaß  in  das 
romanische  I  ic I  land  sich  öffnenden  Hochebene  gelegen  mil  einer 
Einwohnerzahl  von  30.000,  mit  überwiegend  deutschem  Charakter 
isl  in  I lühmen  Jahrzehnten  stets  vom  Typhus  beimgesucht  worden- 
größere  Epidemien  herrschten  1866  und  1882,  während  in  den 
anderen  Jahren  (nur  sporadische  Fälle  vorkamen.  Vom  Jahre  1801 
Ins  1904,  über  'die  genauere  Aufzeichnungen  vorliegen,  finden  wir 
stets  nur  einzelne  Typhusfälle  verzeichnet  und  von  diesen  stammt 
c(wa  ein  Drittel  aus  dien  umliegenden  Ortschaften  (s.  Tabelle  1). 

•  ,  I"!  *  hm  bst  des  Jahres  1904  nun  trat  die  erste  Epidemie 
aut  (Tab.  2),  die  in  der  Tabelle  mit  08  Fällen  ..verzeichnet  ist, 
uii/u  noch  zwölf  Fäll©  aus  der  Garnison  kommen;  nach  be¬ 
gründeter  Annahme  jedoch  muß  die  Erkrankungsziffer  wesentlich 
•höher  angenommen  werden,  da  viele  Fälle,  besonders  leichte 
nicht  angezeigt  wurden,  und  namentlich  im  Beginn  viele  ver¬ 
kannt  worden  'sein  mögen. 

Tabelle  II. 

Typhusepidemie  1904. 


■  _  Soweit  sich  aus  den  behördlichen  Aufzeichnungen  fest- 
steilen  läßt,  waren  von  dein  68  Fällen  33  männliche  und  35  weib¬ 
liche  Individuen;  dem  Alter  nach  standen  die  meisten  im  jugend¬ 
lichen  Alter,  zumeist  zwischen  dem  8.  und  20.  Lebensjahr,3  da  r- 
unter  auffallend  viel©  Schulkinder.  In  bezug  auf  die  Verteilung  | 


dm  Eikrankungen  kann  keine  Gesetzmäßigkeit  erkannt  werden, 
die  ersten  Fälle  sind  in  der  ganzen  Stadt  zerstreut  und  lassen 
keine  irgendwelche  Beziehungen  zu  früheren  oder  späteren  Er- 
kr an  ku  ng  en  erk en  men . 

Vom  Januar  bis  Oktober  1905  sind  wieder  nur  einzelne 
dein  endemischen  Typhus  entsprechende  Fälle  verzeichnet,  bis 
vom  10.  Oktober  angefangen  die  Erkrankungen  zuneihmen  in 
der  dritten  Woche  des  Oktober  schon  eine  bedrohliche  Höhe  er- 
Kicliei)  und  in  der  vierten  Woche  explosionsartig  in  die  Höhe 
sr  mellen  (lab.  3).  Langsamer  als  sie  gekommen,  nimmt  die 
bpideiine  ab  und  erlischt  mit  Ende  November.  Es  erkrankten 
o43  Personen,  darunter  330  männliche  und  213  weibliche-  auf 
die  Zahl  der  Bewohner  berechnet  l-8°/o.  Dem  Alter  nach  wären: 

1 —  5  Jahre  alt  ...  16 

6—10  „  ,,  .  .  .  92 

11_ 15  ..  „  .  .  .  124 

16~  20  ..  „  .  .  .  131 

21—30  „  . 142 

31—50  „  36 

über  50  „  „  .  .  .  2 

Di©  Erkrankungen  sind  nicht  gleichmäßig  über  die  ganze 
Stadt,  ausgebreitet,  sondern  die  gegen  Südwesten  gelegenen  höheren 
Stadtteile  sind  stärker  befallen,  als  di©  nach  Nordosten  und  tiefer 
gelegenen.  Man  kann  die  Stadt  zweckmäßig  entsprechend  der 
Höhenlage,  den  topographischen,  Wohnungs-  und  Lehens  Verhält¬ 
nissen  m  vier  Teile  sondern  u.  zw.  die  Josefstadt,  zu  der  ich 
außer  der:  eigentlichen  Josefstadt  noch  die  Heltauervorstadt  und 
das  Villenviertel  der  Hallerwiese  zähle,  ferner  die  Oberstadt,, 
die  l  nters t.adt  und  die  jenseits  des  Cihinflusses  gelegenen  Vor¬ 
städte,  Entsprechend  dieser!  Einteilung  kamen  Typhuserkran¬ 
kungen  vor : 


Stadtteil 


Josefstadt 

Oberstadt 

Unterstadt 

Cibinvorstadt 


Einwohner¬ 

zahl 


4.260 

7.140 

10.280 

5.760 


Zahl  der  Er¬ 
krankungen 


in  Prozent 


168 

154 

189 

33 


39 

2T 

1-7 

0-57 


Tabelle  III. 

Typhusepidemie  1905. 


826 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  23 


Betrachtet  man  die  Schulen  und  Internate  nach  den  prozen¬ 
tuellen  Verhältnissen  der  Erkrankungen  zu  der  Schülerzahl,  so 
findet  inan  übereinstimmend  mit  den  früheren  Daten,  daß  das 
in  der  Josefstadt  gelegene  evangelische  Seminar  die  höchste  Er¬ 
krankungsziffer  aufweist,  während  die  in  der  Unter-  und  Cibin- 
vorstadt  gelegenen  weniger  hart  mitgenommen  sind  (Tab..  4). 


Tabelle  IV. 

Verteilung  der  Typhusfälle  1905  in  den  Schulen. 


Schule 

Zahl  der 
Schüler 

Zahl  der 
Fälle 

0/ 

1 0 

Ev.  Seminar . 

169 

30 

180 

Franziskanerinnen  .  .  . 

602 

34 

5-6 

Ev.  Gymnasium  .... 

276 

19 

60 

»  Realschule  .... 

278 

9 

33 

»  Knabenschule 

587 

25 

4-25 

»  Mädchenschule  .  .  . 

721 

22 

3  05 

Staatsgymnasium  .... 

655 

19 

29 

Staats-Elementarschule  .  . 

838 

21 

25 

Rom.  Volksschule  .  .  . 

90 

5 

55 

»  Internat . 

115 

7 

60 

»  Seminar . 

223 

7 

3  13 

Kath.  Normalschule  .  .  . 

138 

4 

29 

Ursulinerinnen . 

253 

8 

31 

;  Theresianum  ..... 

255 

14 

54 

Rom.  Volksschulen  .  .  . 

Ev.  Volksschule  .... 

j  230 

lyphuslrei 

Stadtteil 


Josefstadt  ■ 


Oberstadt 


Gib  in-  f 
Vorstadt  j 


Gehen  wir  den  ersten  Fällen  nach,  so  finden  wir,  daß, 
sie  durch  die  ganze  Stadt  zerstreut  sind  und  anscheinend  unab¬ 
hängig  voneinander  auftreten,  doch  scheinen  die  an  der  Peri¬ 
pherie  der  Stadt  gelegenen  Gassen  anfangs  stärker  befallen  zu 
sein.  Ferner  traten  in  der  Nähe  von  Häusern,  in  denen  im  Vor¬ 
jahre  Typhusfälle  waren,  auch  jetzt  wieder  solche  auf,  während 
einzelne  Straßen,  auch  volkreiche,  verschont  bleiben. 

Auffallend  ist,  daß  die  tiefer  gelegenen,  unreinen  und  dichter 
bewohnten  Stadtteile  weniger  stark  befallen  sind.  Während  in  der 
Josef-  und  Oberstadt  die  wohlhabenderen,  mehr  den  geistigen 
Berufsarten  nachgehenden  oder  dem  Kaufmannsstande  an  gehörigen 
Menschen  wohnen,  sind  die  Unterstadt  vorzugsweise  der  Wohnsitz 
der  Han  dwerker,  die  Cibinvorstadt  der  der  landbau  treibenden 
Bevölkerung  und  der  Fabriksarbeiter;  dazu  kommt,  daß  die 
Schmutz-  und  Meteorwässer  aus  den  beiden  oberen  Stadtteilen 
sämtlich  in  die  Unterstadt  abfließen  und  sich  hier  oft  in  Tüm¬ 
peln  und  Pfützen  ansammeln;  hier  ist  auch  die  Pflasterung  und 
die  Straßenreinigung  weniger  sorgfältig;  endlich  werden  Unterstadt 
und  Cibinvorstadt  der  ganzen  Länge  nach  von  dem  Cibinfluß 
bespült,  der  im  Herbste  oft  nur  ein  dünnes,  trübes  Wasser¬ 
äderchen  führend,  allen  Schmutz  und  Abfälle,  oft  auch  Senk¬ 
grubeninhalt  aufnimmt  und  nur  langsam,  oft  auch  gar  nicht,  weiter¬ 
schafft.  Und  doch  bleiben  diese  Gegenden  im  Verhältnis  mehr 


vom  Typhus  verschont  als  die  ersterwähnten  Teile!  Wir  werden 
auf  diesen  auffallenden  Umstand  im  dritten  Teile  dieses  Aufsatzes 
noch  zurückkommen. 

Hinsichtlich  zweier  in  der  Cibinvorstadt  gelegener  Insti¬ 
tute  muß  noch  ein  anscheinend  divergierendes  Verhalten  erwähnt 
werden.  In  der  staatlichen  Heilanstalt  für  Geisteskranke,  deren 
Bewohnerzahl  etwa  500  beträgt,  ereignen  sich  nur  zwei  Fälle, 
darunter  die  Frau  des  Direktors,  die  erst  vor  kurzem  in  diese 
Stadt  übersiedelt  ist,  14  Tage  später  ein  Geisteskranker,  während 
in  dem  ganz  nahe  gelegenen  Theresianischen  Waisenhaus  abnorm 
viele  Fälle  Vorkommen,  nämlich  im  Internat  mit  140  Zöglingen  7 
(4-l°/o)  und  in  der  Volksschule  mit  115  Schülern  7  (6°/o)  Erkran¬ 
kungen.  Es  kann  dieses  verschiedene  Verhalten  der  beiden  In¬ 
stitute,  die  sonst  unter  gleichen  äußeren  Bedingungen  stehen, 
auch  beide  an  die  Wasserleitung  angeschlossen  sind,  nur  damit 
erklärt  werden,  daß  in  der  Irrenanstalt  meist  ältere  Menschen 
interniert  sind,  während  im  Theresianum  vornehmlich  Kinder 
und  Jünglinge  im  Alter  von  8  bis  20  Jahren  leben,  von 
denen  viele  auswärtige  sind  und  viele  die  Schulen  der  Ober¬ 
stadt  besuchen;  übrigens  ereignen  sich  die  Typhusfälle  des  Waisen¬ 
hauses  erst  spät,  in  der  zweiten  Woche  des  November,  als  die 
Epidemiewelle  schon  abflaut  und  die  Kontaktinfektionen  sich 
be  me  rk  b  ar  m  ac  h  en . 


Analog  wie  in  den  Schulen  und  Internaten  stehen  tlie  Ver¬ 
hältnisse  in  den  Kasernen  (Tab.  5). 


Tabelle  V. 


Verteilung  der  Typhusfälle  1905  in  den  Kasernen. 


Stadtteil 

Kaserne 

Mann- 

schafts- 

stand 

Zahl  der 
Fälle 

0/ 

/  0 

Garnisonsspital  22  .  .  . 

Artilleriekaserne  und 

90 

4 

4-4 

Kadettenschule  .... 

1072 

39 

3-6 

Josefstadt 

Jägerkaserne . 

425 

6 

P4 

Husarenkaserne  .... 

300 

7 

23 

Trainkaserne . 

250 

6 

2-4 

Infanteriekaserne  .... 

900 

18 

20 

Verpflegsmagazin  .... 

75 

1 

13 

( 

Kempeikaserne  .... 

200 

4 

20 

Unterstadt! 

Honvedkaserne  .... 

300 

4 

1-3 

1 

Garnisonsarrest  .... 

40 

3 

75 

Ganze  Garnison  .  .  ca. 

3450 

110 

31 

A  n  in  er  k  un  g :  Die  auf  das  Militär  bezüglichen  Daten  sir.d  entnommen 
einer  Arbeit  von  Stabsarzt  Dr.  Robitschek,  Wiener 
med.  Presse,  1906,  Nr.  18  und  27. 


Nach  dem  Abklingen  der  Epidemie  1905  tritt  in  den  beiden  i 
folgenden  Jahren  wieder  Ruhe  ein,  die  38,  bzw.  34  Erkrankungen 
dieser  Zeit.,  unter  welchen  überdies  12,  bzw.  16  eingeschleppte 


Tabelle  VI. 
Epidemie  1908/9 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


827 


Fällo  sind,  erheben  sich  nicht  über  die  gewohnten  Zahlen  des 
endemischen  Typhus.  Eist  im  Herbste  1908  tritt  eine  neue,  noch 
heftigere  Epidemie  auf,  die  in  der  zweiten  Woche  des  No¬ 
vember  einsetzt,  nachdem  schon  seit  Oktober  bedrohliche  Er 
krankunigszahlen  gemeldet  worden  sind,  in  drei  Erhebungen,  die 
etwa  eine  Woche  auseinander  liegen,  ihren  Kulminationspunkt  er- 
reu  Id.,  um  m  dei  dritten  W  oche  Dezember  langsam,  unter  leichten 
Schwankungen  abzuklingen.  Erst  Ende  Januar  1900  erlischt  die 
Seuche  vollkommen  (Tab,  6).  —  In  dieser  Zeit  erkranken  ins¬ 
gesamt  682  Personen,  darunter  442  männliche  und  240  weib¬ 
liche.  Dem  Alter  nach  waren : 


1 
6 

11—15 
15—20 
21—30 
31—50 
über  50 


5  Jahre  alt 

10  .. 


18 

72 

150 

189 

201 

44 

8 


Der  jüngste  Kranke  war  2,  der  älteste  70  Jahre  alt. 

Wrenn  wir  wieder  die  Typhusfälle  nach  dein  Stadtteilen 
sondern,  so  finden  wir  in  der 


Josefstadt 
Oberstadt 
Unterstadt  . 
C'ibinvorstadt 


150  Fälle  =  3'5c/i) 

100  „  =  2'2'Vo 

203  „  =  2'5'7o 

109  „  =  l'9°/o 


Es  überwiegen  also  auch  bei  dieser,  Epidemie  die  Fälle 
der  Josefs tadt  .gegenüber  denen  .der  Vorstadt,  nur  die  Unter¬ 
stadt  zeigt  diesmal  ein  abweichendes  Verhalten,  da  ihre  rela¬ 
tive  Erkrankungsziffer  höher  ist,  als  die  der  Oberstadt.  Allo 
Zahlen  aber  sind  weniger  weit  auseinanderliegend  und  sowohl 
die  einzelnen  Stadtteile,  als  auch  die  Schulen,  Internate  und  Ka¬ 
sernen  zeigen  geringere  Unterschiede.  (Tab.  7  und  8.) 

Tabelle  VII. 

V  o  Heilung  der  T  y  p  h  u  s  f  ä  1 1  e  1  908/09  in  den  Schulen. 


Stadtteil 

Schule 

Zahl  der 
Schüler 

Zahl  der 
Fälle 

0/ 

1  Io 

' 

Josefstadl  j 

Ev.  Seminar . 

170 

3 

P8 

Franziskanerinnen  .  .  . 

600 

9 

1  3 
3-8 

!  Ev.  Gymnasium  .  . 

260 

10  • 

I  »  Realschule  .  . 

280 

9 

31 

»  Knabenschule 

600 

26 

4  3 

»  Mädchenschule  .  .  . 

720 

15 

20 

Oberstadt 

1  Staatsgymnasium  .... 

660 

13 

2-0 

Staats-Elementarschule  . 

850 

16 

1-8 

Rom.  Internat  .... 

120 

4 

33 

2-6 

»  Seminar . 

230 

6 

Kath.  Normalschule  .  . 

130 

2 

1-5 

Ursulinerinnen  .... 

260 

5 

2  0 

Gibin-  | 

Theresianum  .... 

260 

6 

2  3 

|  Vorstadt  | 

n . 

Rom.  Volksschulen  . 

1 

Tabelle  VIII. 

350 

11 

3-1 

1 

Verteilung  der  Typhusfälle  1908/09  in  i 

en  Kasernen. 

| 

Stadtteil 

i— - 

Kaserne 

Man  n- 

schafts- 

stand 

Zahl  der 
Fälle 

01 

Io 

Josefstadt 


Fntersladtj 


Garnisonsspital  .... 

90 

3 

Artilleriekaserne  .... 

870 

27 

Kadettenschule  .... 

210 

8 

Jägerkaserne . 

420 

2 

Husarenkaserne  .... 

300 

14 

Trainkaserne . 

250 

7 

Infanteriekaserne  .... 

900 

43 

Verpflegsmagazin  .... 

75 

3 

Kempelkaserne  .... 

200 

3 

Honvedkaserne  .... 

300 

8 

Ganze  Garnison  .  .  ca. 

3620 

118 

33 

31 

3- 8 
0-4 

4- 7 
2-6 
4-6 
40 

1- 5 

2- 7 
3  2 


jf  Nach  dem  Aufhören  der  Epidemie  im  Januar  1909  ereignen 
jjuh  in  demselben  und  dem  darauffolgenden  Jahre  1910  mehr 
ryphuserkrankungen,  als  das  vor  1904  üblich  war  (70,  bzw.  50), 
\va.s  wir  wohl  ohne  jeden  Zwang  darauf  zurückführen  dürfen, 
'lab  von  der  letzten  Epidemie  zahlreiche  Dauerausscheider  und 
Bazillenträger  stammen,  die  auch  in  den  nächsten  Jahren  den 
Typhus  nicht  vollkommen  zur  Ruhe  kommen  lassen  werden. 


II. 

,im  a?nß  T  ?lch,  in  Ä“  «cwd*UdeHeu  Epidemien  tatsächlich 
oth  t  T  k k"Cl T t h - G ,af f fk y sehen  Bazillus  veran- 

n[iU  lyplm,s  abdominalis  gehandelt  hat,  ist  durch  unzählige 
nm  h  ?  ’  ?f'rolof^cbe  Untersuchungen  des  Blutes  Typhuskrmker 
1908/00  r 11  b,e:r,,VVl,da;]  Wild  wenigstens  in  der'  Epidemie  von 
1908/09  auch  durch  den  kulturellen  Nachweis  des  Krankheits- 

gestelir  Im  B1Ute’  LnU  uud  Stuhl  wber  jeden  Zweifel  sicher- 

„  l  Uehereinstimmend  mit  den  bisherigen  Erfahrungen  konnte 
auch  hier  beobachtet  werden,  daß  auswärtige,  erst  in  letzter 
*  hie  iei  .  zwger eiste  Personen  häufiger  und  verhältnismäßig 
schwerer  erkrankten  als  die  einheimische,  durch  Endemismus 
zum  Teil  immune  Bevölkerung ;  ferner,  daß  Kinder  bis  zum 
15  Lebensjahr  viel  leichter  erkrankten  als  die  nächsten  Alters¬ 
stufen  und  Manner  häufiger  erkrankten  als  Frauen.  Uebcr  die 
iUortahtats Verhältnisse  gibt  Tabelle  9  Auskunft. 

Tabelle  IX. 


Zahl  der 

Typhus- 

°/o 

Von  den  f 
waren 

j  Erkran- 

i  kungen 

Todes- 

1  lalle 

CD 

e 

Weiber 

Epidemie  1905 

543 

50 

92 

28 

22 

»  1908/09 

682 

57 

83 

41 

16 

1894-1910  .  .. 

1953 

203 

104 

Unter  den  f 

waren;  alt 

tO 

1 

o 

7 

iO 

T-— 1 

1 

3 

-30 

—50 

o 

lO 

8h 

CD 

v— t 

<x> 

— -j 

D3 

T—t 

<M 

CO 

S3 

J  a 

h 

r  e 

24 

20 


6 

12 


Es  ist  auffallend,  daß  die  Gesamtsterblichkeit  für  den  ganzen 
Zeitraum  von  1894  bis  1910  mit  10-4%  und  1  bis  2%  höher 
ist,  als  das  bterblichkeitsverhältnis  der  Epidemien.  Indessen  ist  das 
auch  anderwärts  beobachtet  worden  und  auf  zwei  Ursachen 
zuruckzufuhren ;  einmal  verderben  die  vielen,  von  auswärts  ein- 
geiscldeppten  Fälle  die  Statistik,  da  immer  nur  die  schweren 
Jangdauernden  und  infolge  von  Komplikationen  besserer  Pflege 
bedürftigen  Krankheitsfälle  in  das  städtische  Krankenhaus  über¬ 
fuhrt  werden;  zweitens  aber  scheint  auch  die  Art  der  Ansteckung 
aut  die  Schwere  des  Verlaufes  einen  Einfluß  zu  haben;  wenn 
(  ei  Krankheitsstoff  durch  Kontakt  von  einer  Person  auf  die  andere 
unmittelbar  übertragen  wird,  wird  er  virulenten  sein,  als  wenn 
er  in  irgendeinem  Medium,  z.  B.  Milch  oder  Wasser,  zuerst 
längere  Zeit  vegetieren  muß;  er  wird  in  seiner  Angriffsfähigkeit 
so  geschwächt  sein,  daß  im  Verhältnis  zur  Massenverbreitung 
nur  einige  wenige  Prozente  und  unter  diesen  die  meisten  leicht 
erkranken. 

Nur  so  erscheint  es  verständlich,  daß  im  deutsch- französi¬ 
schen  Krieg  bei  73.000  Typhuserkrankungen  nur  9000  Todesfälle 
d.  i  12-4°/?,  sich  ereignen,  obwohl  im  Kriege  die  sanitären  Ein¬ 
richtungen,  was  Verpflegung,  Reinlichkeit,  Unterkunft  und  Kranken¬ 
pflege  anbelangt,  manches  zu  wünschen  übrig  lassen,  während 

•  Mche  TypJxus  in  wien  im  Zeitraum  von  1902  bis 
1907  bei  3060  Fällen  eine  Mortalität  von  18%,  im  Jahre  1905 
sogar  20%  auf  weist,  obwohl  hier  doch  allen  Anforderungen  der 
Gesundheitspflege  und  Behandlung  in  ausreichendem  Maße  ent¬ 
sprochen  wird.  )  Und  wenn  man  die  Sterblichkeit  ariderer  Typhus- 
masseneindennen  bei  rächtet,  findet  man  imUier  ein  niedriges  Ver¬ 
hältnis  etwa  Von  5  bis  10%,  so  in  Altwasser  in  Schlesien,  wo 
durch  Infektion  der  Wasserleitung  der  Typhus  entstand,  5-1%,*) 
in  Pola  9-5%.  )  Vielleicht  ließe  sich  aus  der  Schwere  des  Ver¬ 
laufes  einer  Typhusepidemie  ein  Rückschluß  ziehen  auf  die  Ent- 
stehungsursache,  in  der  Hinsicht,  daß  ein  hohes  Mortalitäts¬ 
prozent  aut  direkte  Infektionen  von  Mensch  zu  Mensch,  durch 
Gegenstände  und  Nahrungsmittel  unter  der  Intervention  von 
Dauerausscheidern  und  Bazillenträgern  hinweisen  würde,  ein  nie¬ 
driges  dagegen  auf  Uebertragung  mit  Hilfe  eines  Mediums,  in 
denn  die  Krankheitserreger  vorher  durch  kürzere  oder  längere 
Zeit  eine  Abschwächumg  erlitten. 

Was  das  Sterblichkeitsverhältnis  unserer  Epidemien  an- 
helangt,  so  ist  das  von  1904  mit  rund  16%  abnorm  hoch 
das  von  1905  mit  9-2%  und  von  1908/09  mit  8-3%  als  mäßig 
zu  bezeichnen.  Schon  hier  muß  die  Frage  aufgeworfen  werden, 
ob  in  allen  drei  Epidemien  die  Entstehungsursache  die  gleiche 
war  oder  ob  die  erste  entsprechend  der  geringen  Zahl  der  Fälle, 
dem  mehr  schleichenden  Verlaufe  und  der  hohen  Sterblichkeit 
eine  andere  Genese  hatte.  Wir  werden  im  dritten  Abschnitt 
hierauf  noch  zurückkommen. 

Was  aber  den  Charakter  der  beiden  letzten  Epidemien  an- 
belangt,  so  kann  derselbe  trotz  des  mäßigen  Sterblichkeitsverhält- 


828 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  28 


nisses  nicht  als  leicht  bezeichnet  werden ;  denn  wenn  auch, 
namentlich  unter  den  Kindern,  zahlreiche  milde  und  abortive 
Fälle  vorkamen,  so  wurden  andrerseits  auch  auffallend  viele  bös¬ 
artige,  tückische,  mit  lenteszierendem,  durch  Monate  sic'h  hin¬ 
ziehendem  Verlaufe  und  Rezidiven  einhergeh ende  Fälle  beobachtet, 
ferner  ambulatorische  Typhein,  die  zwei  bis  drei  Wochen  kaum 
nennenswerte  Beschwerden  machten,  um  dann  plötzlich  mit  den 
bedrohlichsten  Symptomen  einzusetzen.  Feber  diese  Verhältnisse 
lassen  sich  natürlich  keine  zahlenmäßigen  Daten  bringen,  doch 
dürfte  sich  aus  den  Ausweisen  der  beiden  Heilanstalten  (Franz - 
Joseph-Bürgerspital  und  Garnisonsspital  Nr.  22)  immerhin  ein 
ungefährer  Ueberblick  gewinnen  lassen  (Tabelle  10).  Eine  auf¬ 
fallende  Erscheinung  war  ferner,  daß  nahezu  die  Hälfte  der 
Fälle  nicht  mit  Diarrhöen,  sondern  mit  festen  Stuhlgängen,  ,ja 
Obstipation  cinherging. 


Tabelle  X. 
Epidemie  1905. 


Zahl  der 

K  o  m  p 

likationen 

P 

Perfor.- 

Darm-  1 

Pneu- 

Otitis 

Im 

~  S 

iP 

Cß  i 

QJ  ; 

0/ 

.0 

Periton. 

blutung  j 

monie 

med. 

C 

P 

o  ! 
H  ! 

Zähl 

t 

Zahl 

,t| 

Zahl  f 

Zahl  t 

Fr.  J.  B. -Spital 

190 

25 

131 

6 

6 

11 

8 

18  5 

2 

Garnisonsspital 

110 

7 

6-3 

3 

3 

9 

1 

24  |  1 

1  I  • 

Zusammen 

300 

32 

10  6 

9 

' 

9 

20 

9 

42  6 

3  [,. 

E  p 

demie  1908/09. 

Zahl  der 

Komp 

likationen 

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Fr.  J.  B. -Spital 

1  313 

30 

9-6 

8 

8 

20 

5 

| 

16  j  10 

I  3  1 

Garnisonsspital 

130 

9 

69 

(  5 

5 

7 

2 

18  j  1 

4  1  . 

Zusammen 

443 

1 

39 

8-8 

13 

13 

-27 

7 

34  ,  11 

|  7  1 

NB.  Die  Daten  des  Fr 

anz  Josef-Bürgerspitals  können  auf  volle  Richtig- 

keit  keinen  Anspruch  erheben,  dadie  Krankengeschichten 

mangel- 

haft  sind. 

Was  die  Therapie  anbelangt,  wurde,  wo  angängig,  fleißig 
gebadet,  jedoch  nur  in  den  zwei  ersten  Krankheitswochen,  da 
die  in  der  dritten  Woche  drohenden  Darmblutungen  und  Perfora¬ 
tionen  das  Baden  nicht  ratsam  erscheinen  ließen.  Gleichzeitig 
mit  dem  hydriatischen  Verfahren,  namentlich  aber,  wenn  aus 
irgendeinem  Grunde  dieses  nicht  durchgeführt  werden  konnte, 
wdide  vom  (Antipyretizis  reichlich  Gebrauch  gemacht,  im  bet¬ 
sonderen  von  Chinin  und  Pyramidon  und  erwies  sich  namentlich 
letzteres  als  ein  unschätzbares  Mittel,  um  die  Temperatur  in 
mäßigen  Grenzen,  ja  oft  auf  dem  Normalen  zu  erhalten.  Nament¬ 
lich  Kinder  konnten  durch  zwei-  bis  dreistündige  Gaben  von 
0-1  g  nahezu  fieberfrei  erhalten  werden,  so  daß  man  oft  über 
(den  eigentlichen  Zeitpunkt  der  Genesung  im  Unklaren  blieb. 
Die  Obstipation  wurde  mit  Vorliebe  durch  Kalomel  oder  Oleum 
Ricini  bekämpft,  Herzschwäche  durch  Digalen,  Strophantus  oder 
Alkohol,  Darmblutung  durch  Ergotin,  Styptizin  und  Gelatine. 
In  drei  Fällen  von  Darmperforation  wurde  lapaxotomiert  und 
der  Darm  reseziert,  in  keinem  mit  positivem  Erfolge. 

Es  wäre  in  diesem  Zusammenhänge  weiters  zu  berichten, 
daß  auch  Typhusserum  in  Anwendung  gebracht  wurde,  das  ich 
durch  di©  Güte  des  Herrn  Prof.  Rudolf  Kraus  vom  Serotherar 
peu tischen  Institute  in  Wien  in  größerer  Menge  erhielt,  wofür 
ich  auch  an  dieser  Stelle  meinen  wärmsten  Dank  auszusprechen 
mich  verpflichtet  fühle.  Herr  Prof.  Kraus  hat  im  Zusammen¬ 
hang  mit  anderweitig  gemachten  Beobachtungen  auch  über  die 
meinigen  an  zwei  Orten4)5)  ausführlich  berichtet  und  habe  ich 
nur  hinzuzufügen,  daß  erst  beim  Nachlassen  der  Epidemie  1909 
ohne  Auswahl  der  Fälle  44  Kranke  möglichst  frühzeitig  inji¬ 
ziert  wurden.  Man  gewann  bei  der  ersten  Serie  (31)  der  so  Be¬ 
handelten  den  Eindruck,  daß  die  Temperatur  rascher  zum  Ab¬ 
sinken  gebracht,  daß  das  subjektive  Befinden  ein  besseres  und 
die  Somnolenz  und  die  Hinfälligkeit  der  Kranken  günstiger  be¬ 
einflußt  wurde.  Bis  auf  einen  Fall,  der  an  Noma  zugrunde 
ging,  trat  Heilung  ein.  Bei  der  zweiten  Serie  der  Injizierten  (13) 


indessen  konnte  eine  so  günstige  Beeinflussung  nicht  immer 
konstatiert  werden,  in  zwei  Fällen  traten  trotz  der  Seruminjek¬ 
tionen  starke  Darmblutungen  auf,  in  einem  anderen  zog  sich 
der  Krankheitsverlauf  unter  fortwährenden  Nachschüben  durch 
viele  Wochen  fort  und  führte  unter  Entkräftung  zum  Tode  und 
endlich  ereignet©  ©s  sich,  daß  in  dem  Falle  eines  kräftigen, 
jungen  Mannes,  der  in  der  ersten  Krankheitswoche  mit  allen 
Zeichen  einer  foudroyanten  Typhusbakteriämie  und  naeningealen 
Symptomen  eine  intravenöse  Injektion  von  40  cm3  erhielt,  und 
bei  dein  nun  sozusagen  eine  Generalprobe  der  Wirkung  des 
Serums  erwartet  wurde,  daß  dieser  Mann  nach  acht  Stunden 
unter  exzessiver  Steigerung  der  Temperatur  und  Zunahme  der 
Hirnreizung  starb.  Man  konnte  sich  des  Eindruckes  nicht  er¬ 
wehren,  daß  durch  die  Injektion  eine  akute,  massige  lieber- 
sehwemmung  des  Blutes  mit  lysierten  (?)  Bakteriengiften  statt¬ 
gefunden  haben  mochte. 

Endlich  seien  noch  die  Erfahrungen  über  die  Gruber- 
Widalsche  Reaktion  hier  mitgeteilt,  die  vom  Mai  1909  bis 
Ende  1910  bei  180  Kranken  in  219  Fällen  angestellt  wurde.  I 
Es  wurden  Serumverdünnungen  von  50  und  100  mit  physiologi-  j 
scher  Kochsalzlösung  ungerichtet  und  ein©  ca.  20stündige  Agar¬ 
kultur  eines  und  desselben  gut  zu  agglutinierenden  Typhusstammes  ! 
(aus  dem  Rudolf-Spital©  in  Wien)  zugesetzt.  Beobachtung  nach  j 
©inständigem  Aufenthalt  im  Brutofen  im  hängenden  Tropfen  bei  | 
schwacher  Vergrößerung;  als  positiv  wurde  nur  die  Agglutination 
durch  Vioo- Verdünnung  angesehen.  Von  den  118  positiven  Re  I 
äktionen  standen  19  Fälle  in  der  ersten  (die  frühesten  Reak-  i 
tionen  traten  zweimal  am  fünften  Tage  auf),  57  in  der  zweiten  i 
Woche,  26  in  der  dritten  und  14  in  der  vierten  Woche,  ln  jedem 
dieser  Fälle  handelte  es  sich  nach  dem  klinischen  Verlauf,  be¬ 
ziehungsweise  der  Autopsie  um  echten  Typhus.  Von  den  90  nega-  . 
tiven  Reaktionen  waren  69  andere  Erkrankungen:  Malaria,  Pneu 
monie,  Tuberkulose,  Meningitis,  Osteomyelitis,  Puerperalprozeß;  : 
die  übrigen  wurden  später  positiv,  in  einem  Falle  erst  in  der  j 
fünften  Woche  nach  emgetreteiier  Entfieberung.  In  keinem  der 
dauernd  negativ  reagierenden  Fälle  wurde  später  bei  der  Auto¬ 
psie  Typhus  konstatiert.  .Dafür  erbrachte  die  Gruber- Widal- 
scho  Reaktion  in  manchen  Fällen,  die  keineswegs  den  Eindruck 
des  Typhus  machten,  die  oft  überraschende  Erkenntnis  der  echten  1 
Typhusnatur  der  fraglichen  Erkrankung,  so  bei  einem  Bauern 
und  dessen  Sohn,  die  beide  zu  Fuß  das  Ambulatorium  besuchten, 
mit  Klagen  über  Husten  und  Gliederschmerzen,  bei  denen  keine 
Roseola,  kein  Milztumor,  kein  Ileocökalgurren  usw.  bestand  und 
nur  der  gleichartige  Charakter  der  Krankheit  den  richtigen  Weg 
wies.  Da,  wo  die  kurzdauernde  Erkrankung  kein©  Entscheidung 
von  der  G  ru her- W  id al sehen  Reaktion  erhoffen  ließ,  wurde 
auch  der  kulturelle  Nachweis  der  Typhusbakterien  aus  dem  strö¬ 
menden  Blute  versucht,  fast  ausnahmslos  in  positivem  Sinne 
und  erwies  sich  die  Galleanreicherung  mit  Ka&per-Conradi 
schien  Typhusgalleröhrchen  als  unschätzbares  Hilfsmittel. 

Schließlich  wurde  fünfmal  die  Reaktion  an  Personen  ge¬ 
macht,  welche  schon  früher  den  Typhus  überstanden  hatten; 
einmal  nach  sieben  Monaten,  dreimal  nach  einem  Jahre  und 
einmal  nach  20  Jahren;  sie  war  stets  negativ. 

III. 

Es  ist  natürlich,  daß  die  geschilderten  Typhuepidemien  die 
Gemüter  der  Bevölkerung  und  der  Stadtverwaltung  in  hohem 
Grade  beunruhigten  und  die  weitesten  Kreise  auch  außerhalb 
I  lenna rmstadts,  namentlich  die  Sanitätsbehörden  und  das  Reichs- 
kriegsministerium  beschäftigten,  was  in  der  häufigen  Entsendung 
von  Fachmännern  und  Sanitätsinspektoren  in  diesen  südöstlichen  ( 
Winkel  der  Monarchie  zum  Ausdruck  kam.  In  erster  Linie  wurde 
begreiflicherweise  nach  dem  Ursprung  der  Epidemien  geforscht 
und  hierüber  Untersuchungen  angestellt.  Welches  das  Resultat 
dieser,  sowie  der  retrospektiven  U Überlegungen  und  der  kriti¬ 
schen  Würdigung  der  zur  Abwehr  der  Seuche  getroffenen  Ma߬ 
nahmen  ist,  soll  im  folgenden  Vorgetragen  werden. 

Wenn  irgendwo  der  Typhus  epidemisch  auftritt,  so  fragt 
jedermann  zuerst,  wie  die  betreffende  Stadt  mit  Wasser  versorgt 
ist;  denn  wenn  auch  das  epidemische1  Auftreten  des  Typhus 
nicht  so  vorherrschend,  wie  man  bis  vor  kurzem  glaubte,  nur 
auf  das  Trinkwasser  zurückzuführen  ist,  da  die  vorbildliche 
Seuchenbekämpfung  im  Südwesten  des  Deutschen  Reiches  gelehrt 
hat,  daß  häufig  auch  andere  Ursachen,  z.  B.  Milch,  Kontakt, 
die  Veranlassung  sind,  so  ist  die  Güte1  des  Trinkwassers  doch,  immer 
einer  der  maßgebendsten  Faktoren,  für  die  Gesundheitsverhäll- 
niss©  einer  Stadt. 

Bis  zum  Jahre  1894  wird  Hermannstadt  in  recht  primi¬ 
tiver  Weise  teils  durch  Zieh-  und  Pumpbrunnen,  teils  durch 
einen  aus  dem  Schewisbach  unterhalb  des  Dorfes  Resinat 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Nr.  23 


abgeleiteten  Mühlkanal  mit  Wasser  versorgt,  das  in  offenem 
Gerinne  bis  zum  höchsten  Punkte  der  Stadt  geleitet,  hier 
in  einem  offenen  Bassin  geklärt  und  ohne  weitere  Viltra- 
tmn  zum  Teil  in  hölzernen  Röhren  zu  öffentlichen  Brunnen, 
zum  Teil  in  Rinnsalen  durch  die  Straßen  der  Stadt  geleitet 
wird.  Da.  die  Gesundheitsverhältnisse  durch  den  Gebraucht] i esc s 
mimst  lehmig  getrübten,  im  Sommer  'bis  28°  C  warmen,  im 
Winter  eisigkalten,  ungemein  keim  reichen  Wassers  entsprechend 
1 1 an i igo  sind,  entschließt  sich  die  Stadt  nach  dem  Projekt  des 
Baurates  Salbach  in  München  zur  Errichtung  einer  Wasser- 
gewmnungsanlage  im  oberen  Schewi stale,  indem  die  unter  dem 
\\  lldbachbetto  sich  hinziehenden  Grundwässer,  nachdem  sie  durch 
etwa  4  bis  5  m  mächtige  Bodenschichten  in  natürlicher  Fil¬ 
tration  gereinigt  worden  sind,  in  fünf  Brunnen  gesammelt  werden, 
die  mit  durch löchteren  Eisenkränzen  von  1  m  Durchmesser  ver¬ 
sehen  und  in  Entfernung  von  30  bis  40  m  derart  plaziert  sind, 
daß  die  von  den  fünf  Brunnen  gebildete  Linie  senkrecht  auf 
das  Bachbett  zu  liegen  kommt.  Aus  dem  zu  tiefst  liegenden 
Brunnen  entspringt  das  Hauptrohr,  das  täglich  1730  m3  Wasser 
m  em  Reservoir  .abführt,  von  wo  es  mit  natürlichem  Gefälle  in  die 
Stadt  fließt.  Diese  Anlage  wird  1894,  nachdem  sie  mehrere  Jahre 
arbeitete,  ohne  daß  das  produzierte  Wasser  verwendet  wurde, 
dem  Betrieb  übergeben  und  funktioniert  bis  1904  tadellos;  ein 
blick  auf  Tabelle  1  zeigt,  daß  in  diesem  langen  Zeitraum  trotz 
einzelner,  offenbar  Kontakt-  und  eingeschleppter  Fälle,  trotz  klima¬ 
tischer,  zeitlicher  und  örtlicher  Disposition,  trotz  Mangel  einer 
Kanalisation  und  trotz  früherer  Verunreinigung  des  Bodens  der 
Typhus  eine  seltene  Krankheit  wird  unld  einzelne  Exazerbationen 
eng  begrenzten  lokalen  Ursachen,  wie  einmal  dem  verseuchten 
Brunnen  eines  Sägewerkes,  ihre  Entstehung  verdanken. 


Mit  dem  Wachsen  der  Stadt  larweist  sich  jedoch  diese 
alte  Anlage  als  zu  wenig  ergiebig  und  es  wird,  um  möglichst 
die  ganze  durchfließende  Wassermenge  nutzbar  zu  machen,  eine 
neue  ergänzende  Anjage  zugebaut,  indem  eine  mächtige,  das 
Scbewistal  der  Länge  nach  unterirdisch  durchziehende  Sammel¬ 
galerie  errichtet  wird,  die  der  undurchlässigen  Schicht  tertiären 
Tones  auilieigt  und  wieder  aus  Sammelbrunnen  und  durchlochten 
Steinzeugröhren  zusammengesetzt  ist.  Auch  diese  „neue  An¬ 
lage“  kreuzt  an  einer  Stelle'die  Bachsohle,  an  welcher 
Kreuzungsstelle  ein  Brunnen  situiert  ist. 


Diese  Anlage  wird  im  Frühjahr  1904  dem  Betriebe  über¬ 
geben.  Während  das  Wasser  der  alten  Anlage  auch  nach  Regen¬ 
güssen  nur  eine  leichte  Opaleszenz  zeigte,  ändert  sich  das  Ver¬ 
halten  nunmehr  so,  daß  das  Wasser  ganz  trübe  wird.  Bakterio¬ 
logische  Untersuchungen  existieren  aus  dieser  Zeit  keine,  dagegen 
werden  solche  im  Januar-  1906  fiber  Auftrag  des  k.  und  k.  Reichs- 
kriegsminisleriums  vom  Regimentsarzt  Dr.  R.  Doerr  ausgeführt 
und  ergeben  in  der  „alten!  Leitung“  pro  Kubikzentimeter  36, 
in  der  „neuen“  114  Keime,  keine  pathogenen.  Im  November  1906 
werden  von  demselben  Herrn  neuerliche  Untersuchungen  beson¬ 
dere  nach  der  Richtung  hin  vorgenommen,  ob  die  bei  Inun- 
dat.ionen  des  Bachbettes  auftretenden  Trübungen  nur  auf  gelöste 
Stoffe  zurückzuführen  sind  oder  auch  korpuskuläre  Elemente 
der  Filtration  entgehen.  Es  wurde  daher  die  Keimzahl  zuerst  in 
allen  Brunnein  feistgestellt,  dann  dler  Mühlkanal  oberhalb  der 
\V  a,s  serge  w  i  nnu  n  g  s  an  läge  in  den  Wildbach  eingeleitet  und  nach 
fünf  Stunden  wieder  gezählt;  es  ergab  sich,  daß  die  Anzahl  der 
Keime  in  den  links  yom  Schewisbäch  gelegenen  Brunnen  be¬ 
deutend  anstieg,  in  einem  von  200  bis  1500  pro  Kubikzentimeter. 
Gleichzeitig  konnte  man  wahrnehmen,  daß  die  Ueberflutung  des 
V  ild  baches  ein  rasches  und  ausgiebiges  Steigen  des  Grundwasser¬ 
spiegels  zur  Folge  hatte,  so  daß  er  nur  wenig  von  der 
Bachsohle  entfernt  war.  Endlich  wurden,  um  die  direkte  Kom¬ 
munikation  zwischen  dem  Bachgeriniie  und  der  Gewinnungsanlage 
ad  oculos  zu  demonstrieren,  300  g  Fluoreszin  etwa  100  m  ober¬ 
halb  des  ersten  Rohrstranges  in  dein  Schewisbäch  geschüttet; 
2Vi  Stunden  nachher  konnte  in  allen  Brunnen  deutliche  grüne 
Fluoreszenz  beobachtet  werden;  ebenso  konnte  nach  Aussaat  von 
1  kg  emulgierter  Preßhefe  solche  in  entnommenen  Proben  nach¬ 
gewiesen  werden. 

Es  wurde  also  in  durchaus  einwandfreier  Weise  bewiesen, 
flaß  Oberflächenwasser  in  nicht  genügend  filtriertem  Zustande 
dem  Grund-  und  damit  dem  Trinkwasser  beigemengt  wurde  und 
mußten  diese  Verhältnisse  noch  viel  krasser  sein,  wenn  nach 
vorhergegangener  Dürre  und  sommerlicher  Hitze,  wo  das  Erd¬ 
reich  Sprünge  und  Klüfte  bekommt,  Regengüsse  den  Bach  aus¬ 
giebig  schwellen,  so  daß  er  den  Charakter  eines  breiten,  tosenden 
Wildbaches  annimmt.  Denn  dann  muß  sich  das  Grundwasser 
noch  mehr  dem  Flußbett  nähern  und  es  werden  nicht  nur  viel 
erheblichere  Mengen  Oberflächen wasser  einsickem,  sondern  es 
'wird  auch  die  Filtration  gestört,  weil  die  bei  langsamer  Wasser¬ 


strömung  durch  Sinkstofle  gebildete  Filterhaut  vielfach  zerrissen 
und  defekt  wird.6) 

Daß  die  Verhältnisse  wirklich  so  sind,  geht  auch  zur  Evi¬ 
denz  aus  den  seit  1906  durch  das  Stadtphysika t  regelmäßig  ange- 
s  tell  ten  Keimzählungen  hervor,  indem  nach  jedem  Regen  ein 
rapides  Ansteigen  der  Keimzahlen  des  Trinkwassers  beobachtet 
wird.  So  beträgt  die  Keimzahl  am  15.  September  1906  in  der 
alten  Leitung  5,  in  der  neuen  12;  nach  fünf  Tagen  2820,  be¬ 
ziehungsweise  6744;  am  29.  Dezember  16  und  4020,  am  23  März 
1909  339  und  10.380  usw. 

Daß  aller  die  natürliche  Filtrationsfähigkeit  der  Boden¬ 
schichten  nach  der  Erbauung  der  „neuen  Anlage“  in  so  ungün¬ 
stigem  Sinne  gestört  wurde,  daß  Oberflächenwasser  und  damit 
zahlreiche  Keime  ins  Grundwasser  gelangen,  konnten,  hat  seinen 
Grund  darin,  daß  beim  Baue  der  neuen,  Anlage  das  Erdreich  in 
Form  eines  Grabens  ausgehoben  wurde;  wenn  auch  nach  der 
Rohrlegung  ein  dichter  Lehmschlag  darüber  angebracht  wurde, 
war.  derselbe  teils  durch  Senkungen  und  Sprünge,  teils  durch 
Undichtigkeit  ober-  und  unterhalb  nicht  genügend  stark. 
Weiters  kam  aber  auch  zutage,  daß  durch  Schotterentnahme  aus 
dem  M  ildbachbette  tiefe  Gruben  entstanden,  waren,  in  denen 
das  Bachwasser  einfach  versank  und  endlich,  daß  durch  Hoch¬ 
wasser  die  Schotterschichten  in  der  Nähe  des  unter  der  Rach¬ 
sohle  liegenden  Sammelbrunnens  ausgewaschen  waren. 


Indessen  wären  alle  diese  Umstände  nicht  von  Bedeutung, 
wenn  nicht  die  ganze  Wassergewinnungsanlage  im  Untergründe 
einer  stark  bevölkerten  Gemeinde,  Resinar,  situiert  wäre-,  deren 
letzte  Häuser  kaum  2  km  entfernt  sind  unld  sämtliche  Abfall¬ 
stof  i-e,  Schmutzwässer  und  Fäkalien  dieser  Ansiedlung  in  den 
Schewisbäch  entleert  würden.  Ein  großer  Teil  der  Häuser1  dieses 
Dorfes  liegt  unmittelbar  an  dem  Bache  und  seinen  Nebenbäcben 
nnd  es  ist  bei  der  Armut  und  dem  Kulturniveau  der  Anwohner* 
begreiflich,  daß  das  gesamt©  Leben  und  Treiben  sich  an  und  in 
ihm  abspielt,  Geschirr  und  Wäsche  hier  gereinigt,  Abfälle  und 
Dejekte  in  ihn  hineinigeworfen  werden. 


Angenommen  rum  den  Fall,  es  kämen  iir  Resinar  Typhusfälle 
vor,  so  ist  es  a  priori  unumstößlich  sicher,  daß  das  Uiach- 
wasser  mit  ryphuskehnen  infiziert  wird.  Es  ließe  sich  weiter 
begreifen,  daß  die  Bakterien  sich  bei  trockenem  Wetter  und  bei 
normalen  Fließzuständen  auf  der  Filterhaut  ansammelten  und  nicht 
nur  einige  Zeit  am  Lehen  bleiben,  sondern  in  der  warmen  Jahres¬ 
zeit.  sich  auch  anreichern  könnten ;  denn  diesbezügliche  Unter¬ 
suchungen  7)  haben  gelehrt,  daß  die  Typhuskeime  im  Filterschlamm 
auch  hei  Anwesenheit  anderer  Bakterien  sich  vermehren  und  unter 
einer  tiefen  Sandschichte  virulent  bleiben  und  weiters,6)9)  daß 
die  Typhuserreger  in  steriler  Erde  bis  zu  18  Monaten,  in  nicht 
steriler  immerhin  bis  zu  drei  Monaten  lebensfähig  bleiben.  Wenn 
dann  durch  einen  Wolkenbruch  die  Filterhaut  zerrissen  wird, 
müssen  sie  in  massenhafter  Weise  auf  einmal  oder  in  Schüben 
dem  Untergrund-  und  damit  dem  Leitungswasser  beigemengt 
werden.  Ferner  ist  bewiesen,10)  daß  ein  Wasser  nur  ein  einziges- 
mal  durch  Typhusbazillen  infiziert  zu  werden  braucht,  um  län¬ 
ger©  Zeit,  etwa  einen  Monat,  als  Infektionsquelle  dienen  zu 
können. 

Bis  zu  diesem  Punkte  also  wäre  die  Beweisführung  fin¬ 
den  h yd  rischen  Ursprung  der  Hermann  städter  Typhusepidemien 
in  vollständig  lückenloser  Weise  zu  erbringen  —  es  erübrigt 
mir  noch  der  Nachweis  des  Typhusvorkommens  in  Resinar  zu 
jenen  kritischen  Zeiten. 

Dieser  Nachweis  ist  nun,  wenigstens  für  die  Jahre  1904  und 
1905,  nicht  zu  erbringen.  Die  amtlichen  Ausweise  wissen  nichts 
von  einer  Typhuserkrankung  in  dieser  Zeit,  erst  im  November  1905 
werden  zwei  Fälle  gemeldet,  die  aber  sicher  nicht  in  Resinar 
entstanden,  sondern  von  Hermann stadt,  als  hier  schon  der  Typhus 
epidemisch  herrschte,  eingeschleppt  worden  sind.  Dagegen  werden 
in  den  Sommer-  und  Herbstmonaten  1905  sechs  Dysenteriefälle 
gemeldet.  Es  könnte  nun  I der  naheliegende  Verdacht  rege 
werden,  daß  unter  diesen  auffälligen  sechs  Ruhrkranken  vielleicht 
doch  der  eine  oder  andere  ein  echter  Typhus  gewesen  sein  könnte, 
denn  Dysenterie  kommt  bei  uns  nicht  eben  häufig  vor,  sondern 
•wird  meist  aus  Rumänien  eingeschleppt  und  in  anderen  um¬ 
liegenden  Gemeinden,  sowie  im'  ganzen  Komitat  weiß  zu  jener 
Zeit  niemand  etwas  von  Ruhr.  Eine  diesbezügliche  Anfrage  an 
den  Gemeindearzt  von  Resinar  ergab,  daß  zwar  eine  bakterio¬ 
logische  oder  autoptische  Diagnose  jener  fraglichen  Krankheits¬ 
fälle  nicht  gestellt  werden  konnte,  jedoch  alle  mit  geringem. 
Fieber  (bis  38°  C),  krampfartigen  Schmerzen  im  Unterleib,  Tenes¬ 
mus,  häufigen  eitrig-blutigen  Entleerungen  einhergegangen  seien 
und  nach  etwa  zehn  Tagen  mit  Genesung  geendet  hätten. 

Anders  dagegen  stand  die  Sache  im  Jahre  1908.  Aus  diesem 
Jahre  werden  aus  Resinar  101  Typhuserkrankunigen  mit  zehn 


830 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  23 


Todesfällen  gemeldet,  nach  Monaten  geordnet :  April  8,  Mai  1, 
Juni  8,  August  9,  September  5,  Oktober  17,  November  16,  De¬ 
zember  16,  Januar  1909  7  und  Februar  4.  Die  erste  Erkran¬ 
kung  trat  in  einer  Filiale  der  Gemeinde,  Riusadului,  auf,  wohin 
sie  durch  rumänische  Holzarbeiter  aus  der  Marmarosch  gebracht 
worden  war;  dort  infizierten  sich  auch  Resina  rer  Holzarbeiter, 
die  am  oberen  Ende  von  Resinar  wohnten,  hier  den  Bachlauf 
verseuchten,  so  daß  in  kurzer  Zeit  zahlreiche  Insassen,  die  jenes 
Bachwasser  als  Trinkwasser  benützten,  von  derselben  Krankheit 
ergriffen  wurden.  In  diesem  Jahre  also  ist  der  Zusammenhang 
der  Hermannstädter  Typhusepidemie  mit  dem  Typhus  in  Resinar 
lückenlos  zu  erbringen. 

Doch  sehen  wir  uns,  bevor  wir  die  Schlußfolgerungen  ziehen, 
auch  nach  anderen  Entstehungsmöglichkeiten  um.  Es  wäre  mög¬ 
lich,  daß  unter  den  mehreren  hundert  Arbeitern  bei  dem  Bau  der 
„neuen  Anlage“  ein  Dauerausscheider  seine  Dejekt-e  in  den  Rohr¬ 
graben  entleert  hätte.  Das  gäbe  aber  nur  für  die  Typhuserkran¬ 
kungen  1904  eine  ausreichende  Erklärung.  Weiters  kommt  der 
Umstand  in  Betracht,  daß  von  dem  Schewisbache  gleich  unterhalb 
Resinar  ein  Mühlkanal  abzweigt,  der  zuerst  ab  verschiedenen 
Gehöften,  meist  Mühlen  und  Fabriken!,  vorbeifließt,  um  nach 
etwa  8  bis  9  km  langem,  offenem  Laufe  in  Hermannstadt  zum 
Teile  zur  Bewässerung  und  Reinigung  der  Straßen  zu  dienen. 
Auf  diesem  Wege  könnte  -der  Kanal  von  irgendeinem  Typhus- 
kranken  oder  Typhusbazillen  ausscheidenden  Mühlenbewohner 
infiziert  worden  sein.  Nachforschulngen  in  dieser  Richtung  haben 
nun  ergeben,  daß  unmittelbar  an  diesem  Mühlkanal  die  Behausung 
des  Aufsehers  der  Wassergewinn uhgs'ainilage  steht,  daß  dessen 
Frau  Wäscherin  ist,  ihre  Wäsche-  von  -einer  bestimmten  Wasch¬ 
anstalt  aus  der  Stadt  erhält  und  ihr  Geschäft  an  und  in  dem  Wasser 
des  Mühlkanals  ausübt.  Ob  sie  auch  Wäsche  von  Typhuskranken 
in  jenen  kritischein  Zeiten  zur  Reinigung  bekam,  konnte  nicht 
eruiert  werden.  Es  ist  aber  dieser  Weg  der1  Infektion  auch  un¬ 
wahrscheinlich,  da  doch  angenommen  werden  muß,  daß-  selbst 
größere  Mengen  von  Typhusbazillen  auf  dem  viele  Kilo¬ 
meter  langen  Wege-  vernichtet  worden1  sein  mögen  und  die  Ver¬ 
teilung  der  Erkrankungen  in  der  Stadt  keine  Kongruenz  zeigt 
mit  der  Berieselung  -durch  dieses  Kanalwasser. 

Um  endlich  die  durch  das  Wasser  bewirkten  Infektions¬ 
möglichkeiten  zu  erschöpfen,  ist  -es  notwendig,  auch  auf  den  Lauf 
des  Hauptflusses,  der  die  Ebene  und  die  Stadt  durchströmt,  den 
Cibin,  das  Augenmerk  zu  richten.  Dieser  Fluß  tritt  bei  dem 
Dorfe-  Gurariülui  aus  dem  Gebirge,  s'Chläng-e-lt  sich  in  einem  Bogen 
durch  die  Ortschaften  Orlat,  Grossau  und  Neppendorf,  fließt  dann 
durch  die  Stadt  zwischen  -der  Unterstadt  und  d-enl  linksufrigen 
Oibinvorstädten  in  einem  etwa  3  km  langen  Lauf,  um1  nach 
Berührung  von  sechs  weiteren  Gemeinden  in  den  Altstrom  zu 
münden.  Das  Wasser  des  Cibin  wird  wohl  weder  zu  Trink-, 
noch  zu  industriellen  Zwecken  Verwendet,  jedoch  baden  im 
Sommer  in  ihm  und  einem  voU  ihm  aibzweig-enden  Mühlkanal 
noch  heute-  viele  Menschen  und  wird  Schotter  aus  seinem  Bette 
gewonnen.  Eine  Verunreinigung  dieses  Flußlaufes  kann  iu  den 
oberhalb  der  Stadt  gelegenen  Ortschaften  recht  wohl  stattfinden 
und  sind  tatsächlich  Typhusfälle  hier  in  allen  kritischen  Jahren 
vorgekommen:  In  Neppendorf  Oktober  und  November  1904  4, 
Januar  und  August  1905  je-  1  Fäll  und  im  Jahre  1908  tritt 
sogar  eine  ziemlich  starke  Epidemie  auf,  die  von  Juli  bis  De¬ 
zember  24  Fälle  aufweist.  In  Grossau  sind  vom  April  bis  No¬ 
vember  1908  11,  in  Gurariului  Februar  bis  April  1908  16  Per¬ 
sonen  an  Typhus  erkrankt.  Also  Gelegenheit  zur  Verseuchung 
dieses  Wassers  ist  gegeben,  ob  aber  diese  Eventualität  von 
bemerkenswertem  Einfluß  auf  die-  Typhusausbreitung  in  Hermann¬ 
stadt  ist,  muß  als  sehr  unwahrscheinlich  hingestellt  werden; 
denn  weder  ereign-ein  sich  auffällige  Erkrankungen  in  den  Mo¬ 
naten,  in  weichein  gebadet  wird,  noch  unter  den  Arbeitern,  die 
Schotter  erzeugen  oder  verführen,  noch  endlich  sind  die  an 
oder  in  der  Nähe  des  Flußlaufes  gelegenen  Stadtteile  stärker 
befallen. 

Gehen  wir  die  Reihe  der  Möglichkeiten  weiter  durch,  so 
kämen  die  Nahrungsmittel,  Gemüse  und  namentlich  Milch 
in  Betracht. 

Die  Stadtbewohner  beziehen  die  Milch  nicht  aus  Zentral¬ 
molkereien,  sondern  jede  Bauersfrau  trägt  sie  ihren  Kunden  ins 
Haus.  Gemeinden,  aus  denen  vornehmlich  Milch  geliefert  wird, 
sind  Neppendorf,  Hammersdorf,  Groß-Scheuern,  Klein-Scheuern 
und  Schellenberg.  Außer  der  erstgenannten  Gemeinde-,  deren 
Typhusfälle  im  Vorhergehenden  schon  aufgezählt  sind,  kamen 
solche  vor  in  Groß-Scheuern  August  1904  2,  Oktober  und  De¬ 
zember  1908  je  2,  in  Hammersdorf  und  Schellenberg  keine,  in 
Klein-Scheuern  September  1908  6  Fälle.  Man  ging  natürlich  schon 
von  allem  Anfang  dieser  Infektionsmöglichkeit  nach,  konnte  aber 


niemals  einen  Anhaltspunkt  gewinnen,  daß  Typhuserkrankungen 
in  der  Stadt  von  der  Milchversorgung  durch  irgendeine  Frau, 
die  in  der  eigenen  Wirtschaft  einen  Kranken  hatte,  abhängen 
würde.  Bei  der  Epidemie  in  Neppendorf  1908  wurden  die  streng¬ 
sten  sanitätspolizeilichen  Maßnahmen  in  Anwendung  gebracht, 
der  Milchverkauf  aus  verseuchten  Häusern,  oft  unter  Aufstellung 
von  Wachen  verhindert  und  nach  jeder  Hinsicht  strenge  Kon¬ 
trolle  geübt..  Der  Umstand,  daß  die  Milch  wohl  nie  in  ungekochtem 
Zustande  genossen  wird,  ferner  Personen,  die  gewöhnlich  keine 
Milch  trinken,  z.  B.  Soldaten,  im  Verhältnis  eher  häufiger  er¬ 
kranken  , spricht  ebenfalls  gegen  diese  Verbreitungsweise.  Allen¬ 
falls  könnten  die  in  Groß-Scheuern  1904  auftretenden  zwei  Fälle 
in  -einem  Konnex  mit  dem  vier  Wochen  später  in  der  Stadt 
ausbrechenden  Typhus  isteben,  da  in  jenem  Jahre  die  Bevölkerung 
noch  nicht  gewarnt  war  und  wohl  auch  die  sanitären  Vorkeh¬ 
rungen  nur  mangelhaft  gehandhäbt  wurden,  überdies  diese  Epi¬ 
demie  einen  anderen  Charakter  zeigte  als  die  späteren. 

Ebenso  wären  die  1908  aus  Grossau  gemeldeten  11  Fälle 
geeignet  gewesen,  durch  die  Butter  die  Seuche-  einzuschleppen. 
Denn  Grossau  besitzt  eine  große  Butterei  und  deckt  einen  großen 
Teil  des  Bedarfes  an  diesem  Nahrungsmittel.  Eine  -aus  dem- 
Jahre  1903  erschienene  Arbeit11)  weist  nach,  daß  die  Typhus¬ 
bakterien  aus  der  Milch  in  die  Sahne  und  aus  dieser  in  die 
Butter  übergehen.  Aber  auch  dadurch,  -daß  zum  Spülen  der 
Gefäße  infiziertes  Wasser  verwendet  wird,  kann  die  Butter  nach¬ 
träglich  infektiös  werden;  die  Typhusbakteriein  erhalten  sich  in 
ihr  drei  'bis  vier  Wochen  virulent  und  können  sich  in  den 
ersten  Tagen  anreichern.  Doch  spricht  wieder  gegen  die  Butter 
als  Epidemiequelle,  daß  sie  in  jenem  Jahre  in  pasteurisiertem 
Zustande  in  den  Handel  kam,  daß  die  Milch  aus  Typhushäusern 
nicht  verwendet  wurde  und  endlich,  daß  Leute,  die  gewiß  von 
dieser  Butter  nichts  aßen,  Lehr  jungen,  Arbeiter,  Soldaten,  relativ 
am  stärksten  befallen  waren . 

In  den  letzten  Jahren  ist  die  Aufmerksamkeit  der  Forscher 
auf  die  Fliegen  als  Verbreiter  ansteckender  Krankheiten  und 
im  besonderen  des  Typhus ,  gelenkt  worden  und  kann  uns  diese 
Annahme  heute  nicht  mehr  unwahrscheinlich  Vorkommen,  seit, 
wir  wissen,  daß  Malaria  und  Schlafkrankheit  durch  Stech¬ 
mücken,  Pest  durch  Flöhe  Überträgen  wird.  Anderson  in 
Nordamerika  behauptet,  daß  30%  der  Typhusfälle  durch  Fliegen 
übertragen  werden,  dasselbe  sagt  Vender  aus  de-m  kubanischen, 
Poore  aus  dem  südafrikanischen  Kriege.  Hamilton  fand  1903 
unter  18  Fliegen  in  einem  Typhuszimmer  5  infizierte  und 
Fischer  hat  Fliegen  mit  Typhuskulturen  genährt  und  gefunden, 
daß  sie  noch  nach  23  Tagen  Träger  lebender  Keime  waren, 
die  nicht  nur  am  Kopfe  und  den  Beinen,  sondern  auch  lim! 
Darme-  und  in  den  D arme n tleeru ngen  zu  finden  waren.  Auch 
englische  und  amerikanische  Autorein  beschuldigen  die  Stuben¬ 
fliege  der  Verbreitung  des  Typhus.  B  ertajrelli12)  in  Parma 
beobachtete  dann  eine  Typhus-eipidemie  in  Turin  und.  gewann 
die  Ueberzeuguug,  daß  tatsächlich  -die  Fliegen  eine  wichtige  Rollo 
spielen,  da,  -eine  große  Zahl  von  ihnen  in  der  Nähe  Typhuskranker 
an  Füßen  und  F roß, Werkzeugen  virulente  Keime  tragen. 

Und  in  der  Tat,  wer  während  der  Sommerszeit  in  einem 
Krankensaal  viele  Typhuskranke  beisammen  liegen  gesehen  hat, 
wird  sich  -erinnern,  wie  die  Fliegen  die  Kranken  förinlich  be¬ 
lagern,  in  dichten  Schwärmen  an  -den  Nasen-  und  Mundöffnungen, 
an  den  Augenlidern,  namentlich  der  Sch  werk  ranken  und  Som- 
n nlcnten,  ferner  auf  beschmutzten  Stellen  des  Bettes,  auf _  Spuck¬ 
schalen  und  Speiseresten  sitzen  und  saugen.  Und  es  spricht  für 
diese  Verbreitungsmöglichkeit  der  Umstand,  daß  der  Typhus 
in  den  Herbstmonaten  seine  größte  Extensität  und  Intensität 
zeigt,  wenn  die  Fliegen  anfangen,  sich  in  die  Wohnräume  der 
Menschen  zu  rück  zu  ziehen.  Indessen  ist  es  unwahrscheinlich,  daß 
in  unseren  Epidemien  den  Fliegen  ein  entscheidender  Einfluß 
zukommt;  denn  einmal  war  die  Jahreszeit,  rtämentlich  1908, 
schon  stark  vorgerückt  und  im  November  und  Dezember  pflegen 
bei  uns  auch  die  letzten  Mücken  das  Zeitliche  gesegnet  zn 
haben,  dann  aber  spricht  die-  örtliche  Verteilung  absolut  gegen 
diesen  Modus :  gerade  jene  Stadtteile,  die  unter  der  Fliegenplage 
am  meisten  zu  leiden  haben,  wo  -die  meisten  Düngerhaufen  und 
Ställe  sind  und  wo  die  öffentliche  Reinigung  am  wenigsten  ge- 
handhabt  wird,  die  Vorstädte  jenseits  des  Cibins,  haben1  die 
wenigsten  Erkrankungen. 

So  bliebe  denn  noch  -eine  Entstehungs-  und  Verbreitungs¬ 
möglichkeit  übrig,  die  K  o  n  t  a  k  t.  ausbreitung  durch  Typhusträger 
und  Dauerausscheider.  Die  methodische  Bekämpfung  des  Typhus 
an  verschiedenen  Orten  des  Deutschen  Reiches  hat  ja  gelehrt, 
daß  die  fast,  ununterbrochene  Kette  der  TyplmserkrauKungen, 
die  gegen  den  Monat  August  ein  An-  und  gegen  den  Februar 
ein  Äbsch wellen  zeigen,  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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(hnxh  ,iazillcnL'ägor  vennitldt  wird;  daß  es  Typhusstraßen  in 
dem  Städten  gibt,  auf  denen  die  Krankheit  fortschreitet  und  das 
Ansteigen  der  Erkrankungsziffer  im  August,  dem  Monat  nach 
der  größten  Hitze,  bedingt  ist  durch  den  regeren  Verkehr  der 
Menschen  untereinander,  den  vermehrten  Durst,  das  Baden,  die 
r  hegen,  den  Genuß  verdorbener  Speisen  usw.13)  Gleiche  Beob¬ 
achtungen,  die  eben  aus  Straßburg  gemeldeten,  sind  in  der 
lfalz,  )  Trier,  )  Hannover,16)  Königsberg,17)  Schweiz18)  und  an 
vielen  anderen  Orten  gemacht  worden.  Nicht  nur  Menschen 
die  den  Typhus  selbst  überstanden  habein,  spielen  die  Vermittler- 
lolle,  wobei  man  auf  100  Typhusfälle  fünf  bis  sechs  Bazillen¬ 
träger  rechnen  kann,  sondern  auch  Zwischenpersonen,  die  selbsl 
me  krank  waren. 

Sehen  wir  uns  aber  solche  Kontakt-  oder  Kettemcpidemien 
naher  an,  so  finden  wir,  daß  zum  Beispiel  in  Straßham  im  Zeit 
raume  von  1903  Ms  1907  505  Fälle  =  l%o  auftreten,  die 
sich  kontinuierlich  hinziehen,  nur  zuweilen,  wie  erwähnt,  im 
Sommer,  kleine  Anschwellungen'  zeigen,  ja  selbst  zu  Explosionen 
werden,  wenn  irgendwo  durch  einen  Bazillenträger  die  Milch 
infiziert  wird.  In  einer  anderen  Stadt  mit  60.000  Einwohnern19) 
wird  wieder  durch  einen  Dauerausscheider  die  Milch  infiziert  und 
es  erkranken  —  25  Menschen!  Aus  diesen  und  ähnlichen  Bei¬ 
spielen  geht  hervor,  daß  die  Kontaktepidemien  sich  durch  einen 
schleichenden,  schleppenden  Verlauf,  verhältnismäßig  kleine  Er¬ 
krankungsziffern  kennzeichnen  und  an  bestimmte,  begrenzte  Oert- 
lichkeiten  Straßenzüge,  Häusergruppen,  Internate  usw.  gebunden 
sind ,  explosionsartige  Massenepidemiein.1  aber,  wobei  mehrere  Pro- 
zente  der  Bevölkerung  erkrankeh,  können  nur  in  die  Erscheinung 
treten  wenn  ein'  die  ganze  oder  einen  großen  Teil  der  Einwohner 
schalt  betreffendes  infektiöses  Agens  wirksam  wird. 


Ob  in  Hermannstadt  Bazillenträger  waren  oder  sind  kann 
mangels  diesbezüglicher  Untersuchungein'  nicht  strikte  bewiesen 
werden;  immerhin  ist  es  als  sicher  anzunehmen,  da  der  Typhus 
seit  Alters  her  endemisch  ist  und  in  einzelnen  Häusern  immer 
wieder  vereinzelte  Erkrankungen  Vorkommen.  So  ist  auch  an¬ 
zunehmen,  daß  die  den  Epidemien  vor-  und  nachgehenden  Fälle 
Kontaktinfektionen  sind  und  so  ist  es  Verständlich,  daß  nach  den 
Epidemien  in  den  Jahren  1908  und  1909  mehr  endemische  Fälle 
verzeichnet  werden,  als  in  dem  Jahrzehnt  vor  1904. 

Die  Entstehungsursache  der  großen  Epidemie  von  1905 
wurde  in  dem  Sanitätsbericht  des  Stadtphysikates  nun  vorwiegend 
in  lokalen  disponierenden  Verhältnissen  gesucht  u.  zw.  zum  Teil 
in  Anlehnung  an  die  Pettenk  o  f  er  sehe  Bodentheorie,  zum  Teil 
an  die  Koch  sehe  kontiagionistische  Lehre,  ohnle  daß  ein  be¬ 
stimmtes  Moment  als  von  wesentlicher  Bedeutung  hätte  namhaft 
gemacht  und  bewiesen  werden  können.  Man  suchte  zufällig  ge¬ 
häufte  Erkrankungen  in  einzelnen  Gassen,  die  verschiedene  Bös¬ 
artigkeit  der  Fälle  mit  Kontaktin fektioneur  zu  erklären,  .man  suchte 
den  explosionsartigen  C  harakter  der  Seuche  zu  leugnen  und  man 
suchte  das  Auftreten  der  Seuche  in  der  Stadt  als  eine  Teil 
erscheinung  des  das  ganze  Land  beherrschenden  Genius  epide- 
mieils  zu  erklären.  Demgegenüber  betonte  schon,  damals  Regi¬ 
men  tsarzt  Dr.  Doerr  den  hydrisehen  Ursprung,  welche  Annahme 
in  der  Zukunft  von  vielen  Sachverständigen  als  die  einzig  plau¬ 
sible  Erklärung  hingestellt  wurde. 

Für  die  Epidemie  1908/1909  jedoch  muß  noch  ein  Um¬ 
stand  in  Betracht  gezogen  werden,  daß  nämlich  in  jenem  Jahr 
die  Kanalisierung  der  Stadt  durchgeführt  wurde.  Nun  ist  ja  eine 
der  verbreitetsten  Lehrmeinungen:  der  Retten k o fe r schon  Schule 
die,  daß  das  Aufwühlen  der  Erde,  in  die  vor  Jahren,  Jahrzehnten 
und  Jahrhunderten  Typhusgift  gelangt  sei,  die  Krankheit  wieder 
an  fachen  könne.  Indessen  ist  es  noch  nie  und  nirgends  ein¬ 
wandfrei  nachgewiesen  worden,  daß  nach  Abreißen  eines  ver¬ 
seuchten.  Hauses,  beim  Aufgraben  eines  Abortes,  bei  der  Kanali¬ 
sierung  usw.,  aus  dem  Boden  nach  Jahren  Typhus  entstanden 
sei.19)  Die  Typhuskeime  geben  in  Aborten  und  Senkgruben  sehr 
rasch,  schon  in  der  dritten  Woche,  vollständig  zugrunde90)  und 
wenn  sie  in'nerhaTb  dieser  Zeit  aus  den  Aborten  an  die  Ober¬ 
fläche  gebracht  werden,  leben  sie  höchstens  noch  20  Tage.  Eine 
Verschleppung  kann  wohl  innerhalb  dieses  engbegrenzten  Zeit¬ 
raumes  durch  Schuhe,  Fliegen  usw.  geschehen,  nach  Monaten 
und  Jahren  indessen  ist  es  ausgeschlossen. 

Es  kann  nicht  geleugnet  werden,  daß  auch  in  unserem 
Falle  alle  jene  Momente,  welche  die  Pettenk o f ersehe  Lehre 
als  ursächliche  Faktoren  für  die  Entstehung  der  Typhusepide- 
mien  verantwortlich  macht,  in  eigentümlicher  Weise  Zusammen¬ 
treffen  :  Der  Boden,  den  jene  Lehre  als  die  Brutstätte  des1  Typhns- 
vinis  betrachtet,  in  dein  es  sich  vermehren,  einen  Reifnngsprozeß 
dnrehmachen  und  aus  dem  eine  Aushauchung  giftiger  Gase  statt 
finden  soll,  ist  anscheinend  verseucht;  die  Außentemperatur  ist 
enorm  hoch,  srroße  Trockenheit  herrscht,  das  Grund wasser  sinkt. 


die  atmosphärische  Luft  vermengt  sich  mit  der  giftigen  Grund¬ 
luft  und  macht  die  Menschen  krank  und  zur  Aufnahme  dos 
V  irus^  geeignet.  In  hohem  Grade  disponierend  wirkt  dabei  noch 
die  Kanalisation  mit.  Es  wäre  bestechend,  sich  mit  dieser  Er¬ 
klärung  zufrieden  zu  geben,  wenn  jene  Prämissen  richtig  und 
durch  einen  einzigen  Beweis  gestützt  wären;  denn  dann  wären 
die  großen  Ausgaben  für  neue  Wasserwerke  und  Reinigungs¬ 
verfahren  unnötig  gewesen  und  die  verantwortlichen  Beamten 
der  Stadt  hätten  mit  Seelenruhe  auf  die  allmähliche  Assanierung 
des  Bodens  nach  der  geschehenen  Kanalisation  warten  können. 
Daß  sie  es  nicht  getan,  sondern  mit  Nachdruck  auf  die  Be¬ 
schaffung  eines  einwandfreien  Tränkwassers.  gedrungen  haben, 
hat  schon  bisher  seine  guten  Früchte  getragen  und  dürfte  wohl 
auch  den  wenigen  Verfechtern  der  alten  Theorie21)  22)  23)  nicht 
überflüssig  erscheinen. 

Jene  Anschauungein  über  den  autochthonen  Ursprung  des 
Typhus,  seine  Abhängigkeit  von  zeitlichem  und  örtlichen  Ein¬ 
flüssen,  sowie  die  scheinbaren  Beziehungen  zwischen  Grund- 
waisser,  Bodenbeschaffenheit  und  T y p hus freeprenz , 240  die  wohl  in 
vielen  Städten  unterstützend  und  verstärkend  einwirken  können, 
müssen  auch  in  unserem  lalle  der  Erkenntnis  weichen,  daß  die 
Quelle  der  Epidemien  der  typhuskranke  Mensch  war,  dessen 
virulente  Keime  in  ungeheuren  Mengen,  einmal  oder  wiederholt, 
in  ein  allen  Menschen  zugängliches  Vehikel  gelangten  und  in 
wenigen  Wochen  explosionsartig  1  bis  2°/o  der  Bevölkerung  ver¬ 
güteten.  Ein  solches  Vehikel  kann  nur  das  Trinkwässer  sein. 
In  der  Kette  der  vorgetragenen  Beweise  fehlt  eigentlich  nur  für 
1905  ein  einziger  Schlußstein  :  Das  Fehlen  einer  Typhuserkrankung 
in  Resinar. 

Aber  aus  dem  Mangel  einer  Meldung  oder  Anzeige  folgt 
nicht,  daß  in  Resinar  kein.  Typhus  war,  ja  wir  brauchen  über¬ 
haupt  keinen  wahrhaftigem  Typhus  einzu sch m n g g e  1  n,  es  genügt 
ein  einziger  Bazillenausscheider,  der  ewig  verborgen  bleiben  kann. 
Auch  daß  lyphnsbazillen  im  Wasser  niemals  gefunden  worden 
sind,  hat  bei  der  Schwierigkeit  des  Nachweises  und  bei  der 
langen  Inkuba tiomsdauer  des  Typhus  keine  Bedeutung. 

Fassen  wir  alle  Momente  noch  einmal  zusammen,  so  finden 
wir,  daß  im  Verlaufe  von  fünf  Jahren  eine  kleinere,  prämoni- 
torischo  und  zwei  größere  explosive  Epidemien  auftreten,  die  sich 
zeitlich  an  die  Erweiterung  einer  Wassergewinmmgsanlage  an¬ 
schließen,  bei  welcher  Gelegenheit  die  Filtrationsfähigkeit  der 
Bodenschichten  so  gestört  wird,  daß  mangelhaft  filtriertes  Ober¬ 
flächenwasser  in  das  Leitungssystem  eindringt.  Ob  schon-  die 
erste  Epidemie  diesem  Umstande  die  Entstehung'  verdankt,  ist 
fraglich,  die  geringe  Erkrankungsziffer,  die  hohe  Mortalität,  das 
Befallensein  vorwiegend  der  Wohlhabenden,  vorausgehende  Ty¬ 
phusfälle  in  einer  Milch  liefernden  Gemeinde,  endlich  die  Er¬ 
krankung  von  acht  Kindern,  die  durch  den  Genuß  von  Leb¬ 
kuchen  einer  bestimmten  Provenienz  Typhus  bekamen,  lassen 
die  Vermutung  zu,  daß  sie  auf  dem  Wege  der  Milch,  Butter  oder  an¬ 
derer  Nahrungsmittel,  durch  chronische  Keimträger,  entstan¬ 
den  ist. 

Mit  der  Behauptung  aber,  daß  die  Epidemien  von  1905 
und  1908/1909  hydrisehen  Ursprungs  seien1,  steht,  in  Einklang 
die  Verteilung  der  Falle,  indem  die  näher  der  Einbfuchspforte 
des  Wassers  und  der  Seuche  gelegenen  Stadtteile  stärker  be¬ 
fallen  sind,  als  die  periphenvärts  gelegenem.  Denn  das  mit  Typhus¬ 
keimen  beladene  Wasser  wird  die  näher  gelegenen  Stadtteile 
stärker  infizieren,  da.  die  im  Wasser  suspendierten'  korpusku¬ 
laren  Elemente  nicht,  so  sehr  mit  dent  zentralen  Wasserstrom 
innerhalb  des  Hauptleitungsrohres  strömen,  sondern  als1  spezifisch 
schwerer  sich  mehr  an  der  Peripherie  ansamm'eln  werden,  wo 
die  Strömungsgeschwindigkeit  verlangsamt  ist  und  von  wo  das 
Abfließen  in  die  Seitenrohre  erfolgt.  Und  weiters  steht  damit  in 
Einklang,  daß  jener  Stadtteil,  der  1905  nur  einige  wenige  An¬ 
schlüsse  an  das  Leitungsnetz  hat,  die  CiMnVorstädie,  die  we¬ 
nigsten  Erkrankungen  aufweist,  im  Jahre  1908/1909  aber,  wo 
'solcher  Anschlüsse  schon  bedeutend  mehr  sind,  auch  relativ' 
stärker  befallen  ist. 

Aus  der  Fülle  der  gut  beobachteten,  durch  infiziertes  Trink- 
wasser  entstandenen  Typhusepidemien ,  von  denen  die  meisten 
von  Prof.  A.  Gärtner  geschildert  worden  sind,25)  möchte  ich 
zum  Schlüsse  eine  in  Altwasser  in  Schlesien  beobachtete  kurz 
berVor heben.  Bei  der  Reparatur  und  Vergrößerung  einer  Wasser¬ 
leitung  kommen  sechs  Arbeiter  in  länger  dauernde  Berührung 
mit  dem  Filter  und  dem  Sam'melbassin ;  zwölf  Tage  nach  der 
ersten  Wiederboi i ii I zu ng  erkrankt  ein  Einwohner  an  Typhus  und 
im  Verlauf  von  weiteren  14  Tagen  täglich  zuerst  20,  dann  30, 
zuletzt  54,  im  ganzen  300  hei  einer  Einwohnerzahl  von  17.000. 

Fs  erkranken  fast,  nur  solehe  Personen,  deren  Häuser  an  diesen 
Teil  der  Wasserleitung  angesehlossen  sind,  meist  Kinder  und 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  23 


junge  Leute  bis  zu  30  Jahren.  Nach  Desinfektion  der  Leitung 
hören  die  Massenerkrankungen  auf  und  es  schließen  sich  etwa 
100  Kontaktfälle  an.  Klingt  das  nicht  wie  ein  getreuer  Ab¬ 
klatsch  unserer  eigenen  traurigem  Erlebnisse? 

IV. 

In  großen  Zügen  sollen  in  diesem  letzten  Abschnitt  noch 
jene  Maßnahmen  besprochen  werden,  die  zur  Bekämpfung  der 
Typhusepidemien  und  zur  Verhütung  neuer  Seuchenausbrüche 
von  der  Stadtverwaltung  getroffen  wurden. 

In  erster  Linie  wurde  schon  1905  neben  den  sonst  üblichen 
Bekämpfungsmaßnahmen,  wie  Isolierung,  Desinfektion,  öffentliche 
Reinigung,  Aufklärung  der  Bevölkerung  usw.,  die  Verbesserung  der 
im  Scbewista.1©  durch  den  Bau  der  „neuen  Leitung“  ungünstig  be¬ 
einflußten  Wassergewinnungsanlage  angestrebt,  einmal  durch  Aus¬ 
schaltung  und  Ausbetonierung  jenes  unter  dem  ßachbeft  gele¬ 
genen  Brunnens,  dann  durch  Anbringung  eines  die  ganze  Bac'h- 
sohle  überziehenden  Lehmschlages.  Ferner  wurden  die  Vorar¬ 
beiten  für  die  schon  seit,  längerer  Zeit  in  Aussicht  stehende  Kana¬ 
lisation  in  beschleunigtem  Tempo  durchgeführt. 

In  den  zwei  nächstem  Jahren  1906  und  1907  war  zwar 
Ruhe,  aber  es  drohte  unaufhörlich  das  Gespenst  des  Typhus, 
denn  die  bakteriologischen  Untersuchungen  des  Wassers1  ergaben 
nach  jedem  Regen  eine  oft  ungeheure  Vermehrung  der  Keime. 
Dazu  kam,  daß  man  sich  bed  der  in  Angriff  zu  (nehmenden 
Kanalisierung  der  Stadt  um  neue  Wasserbezugsquellen  umseben 
mußte,  da  das  bisherige  Quantum  unzureichend  war.  Eingeholte 
Gutachten  sprachen  sich  mit  Entschiedenheit  gegen  eine  weitere 
Vermehrung  der  Sammelgalerien  im  Schewistale  aus,  ebenso  gegen 
die  Errichtung  eines  Stauwehres  und  Filtration  des  gewonnenen 
Wassers;  Bohrungen  an  anderen  Orten,  zum  Beispiel  im  Cibins- 
tale,  ergaben  qualitativ  und  quantitativ  ungenügendes  Wasser. 
In  diesem  Dilemma  berief  der  Stadtmagistrat  den  Erbauer  des 
Wasserwerkes  Reichenberg,  den  Bauingenieur  Ulrich  Huber  hu> 
her,  durch  den  die  genannte  Stadt  nach  vieljährigen  vergebr 
liehen  Bemühungen  ein  gutes  Trinkwasser  erlangt  hatte.  Nach 
eingehenden  Studien  kam  der  Genannte  zu  dem  erfreulichen  and 
überraschenden  Resultat,  daß,  was  bisher  alle  Gutachten  als 
außerhalb  des  Bereiches  der  Möglichkeit  liegend  angenommen 
hatten,  aus  dem  naheliegenden  Gebirge  Hochquellenwasser  zu  be¬ 
schaffen  sei.  Dieses  Gebirge  gehört  zur  Urformation  und  wird 
aus  Gneis  gebildet.  Während  nun.  die  herrschende  Meinung  dahin 
ging,  daß  in  solchem  Gestein  keine  wasserführenden  Schichten 
anzutreffen  seien,  konnte  der  Genannte  nachweisen,  daß  die 
Schichten  dieses  Urgebirges  sehr  steil  aufgerichtet,  an  manchen 
Orten  sogar  auf  den  Kopf  gestellt  sind  und  zwischen  den  Schichten 
Igrobe  Klüfte  und  Verwerfungsspalten  sich  befinden,  die  dem 
gebirgsbildenden  Druck,  also  der  Zusammenziehung  der  Erde  ihre 
Entstehung  verdanken.  Dadurch,  daß  das  an  der  Oberfläche  be¬ 
findliche  Wasser  zwischen  die  Schichtenköpfe  einsickert,  ent¬ 
stehen  im  Innern  des  Gesteins  Wasseransammlungen ,  die  sich 
fortgesetzt  vergrößern  und  endlich  an  einer  günstigen  Stelle  als 
kontinuierliche  Quelle  zutage  treten.  Da  es  aber  meist  kleinere 
Quellen  sind,  bedarf  es,  um  eine  größere  Ergiebigkeit  zu  schaffen, 
der  Zusammenfassung  vieler.  Von  diesen  Quellenfassungen,  die 
je  nach  der  Natur  des  angeschnittenen  Untergrundes  verschieden 
gebaut  sind,  werden  die  Ableitungsrohre  in  einen  Sammeltopf 
geleitet  und  von  hier  nach  Passierutig  eines  Druckunterbrechungs- 
Schachtes  in  das  Wasserwerk.  Gegen  den  Nachteil  der  abnormen 
Weichheit  und  den  faden  Geschmack,  den  ein  solches  Wasser 
hat,  wird  noch  eine  Durchlüftungsanlage  notwendig,  in  der  das 
Wasser  in  dünner  Schichte  über  Z s  c h  okk  e sehe  Holzhordeb 
herabrieselt,  wodurch  es  mit  der  Luft  durch  längere  Zeit  in 
möglichst  innige  Berührung  gebracht  wird. 

Auf  der  Grundlage  dieses  Projektes  wird  unter  dem  Ein¬ 
drücke  der  Epidemie  von  1908/1909  noch  in  demselben  Winter 
von  der  Stadtvertretung  die  Erbauung  der  Hochquellen, wasser- 
leitung  beschlossen  und  mit  dem  Bau  sofort  begonUen.  Da  aber 
zu  befürchten  stand,  daß  der  Herbst  4909  eine*  neue  Epidemie 
bringen  könnte,  bis  dahin  jedoch  die  Hochquellenleitung  fertig 
zu  stellen  unmöglich  war,  mußten  Vorkehrungen  getroffen  wer¬ 
den,  um  das  bisherige  Trinkwasser  unschädlich  zu  machen. 

In  dieser  Beziehung  kamen  die  verschiedenen,  auch  sonst 
mit  Erfolg  Verwendeten  Reinigungsverfahren  in  Betracht,  in  erster 
Linie  die  großen,  langsam  arbeitenden  Sandfilter;  da  die  Zeit 
drängte,  diese  Filteranlagen  jedoch  zur  Erbauung  und  Erprobung, 
lange  Zeiträume  erfordern,  außerdem  große  Kosten  verursachen, 
mußte  hievon  abgesehen  werden.  Von  anderen  Reinigungsver¬ 
fahren  boten  nur  zwei  Aussicht  auf  Erfolg :  die  Delphinfilter, 
die  während  der  letzten  Epidemie  mit  gutem'  Erfolg  in  vielen 


Haushaltungen  verwendet  worden  waren  und  die  Ozonisierung. 
Die  Delphinfilter  sind  wohl  billig  und  liefern,  bei  sorgfältiger 
Behandlung,  das  heißt,  wenn  mindestens  alle  vier  Tage  neue 
sterile  Steine  eingesetzt  werden,  keimfreies  Wasser;  über  Zentral¬ 
anlagen  aber  hatte  man  damals  noch  keine  Erfahrung,  so  daß 
an  jedem  Auslauf  ein  selbständiger  Filter  hätte  angebracht  werden 
müssen,  bei  freistehenden  Ausläufen  derselbe  überhaupt  nicht 
wegen  Frostgefahr  zu  verwenden  gewesen  wäre.  Hingegen  er¬ 
schien  nach  zahlreichen  Publikationen,  darunter'  des  Reichsge¬ 
sundheitsamtes  in  Berlin,  ferner  nach  mehrjährigen  Beobachtungen! 
in  Paderborn,  das  Ozonisierungsverfahren  für  unsere  Verhältnisse 
erfolgversprechend.  Zwar  war  damals  das  Verfahren  noch  wenig 
bekannt  und  eine  Stockung  in  der  Errichtung  solcher  Anlagen 
eingetreten,  da  außer  in  Paderborn  in  Deutschland  nur  noch 
Wiesbaden  eine  Ozonanlage  besaß  und  diese  außer  Betrieb  stand, 
da  das  dortige  stark  eisenhaltige  Grundwasser  sich  dafür  nicht 
eignete.  Eine  Studienreise,  die  den  Verfasser  in  Gemeinschaft 
mit  dem  städtischen  Oberingenieur  L  at t ebb  erg  in  die  beiden 
genannten  Städte  führte,  erbrachte  die  Ueberzeugung,  daß  das 
Ozonverfahren  sich  für  unsere  Zwecke  recht  gut  eignen  würde 
und  auch  die  chemische  Beschaffenheit  unseres  Trinkwassers, 
das  kaum  nennenswerte  Beimengungen  von  Eisen  und  Chlor¬ 
natrium  hat,  kein  Hindernis  sein  würde.  Dazu  kam  die  gerade 
damals  in  Paris  eingeführte  Verbesserung  der  Technik  in  Gestalt 
der  de  Fries  e  schen  Türme,  von  denen  man  schon  gute  Resul¬ 
tate  hörte.  So  entschloß  sich  denn  die  Stadt,  als  Provisorium 
bis  zur  Fertigstellung  der  Hochquellenleitung  eine  Ozonanlage 
für  das  bestehende  Schewiswasserwerk  nach  den  Plänen  von 
Siemens  &  Halske  zu  erbauen,  welche  Anlage  schon  im 
August  1909  fertig  da  stand.  Es  kann  mit  freudiger  Genugtuung 
und  dankender  Anerkennung  der  erbauenden  Firma  berichtet 
werden,  daß  das  Werk  ohne  nennenswerte  Störungen  bis  zum 
heutigen  Tage  tadellos  gearbeitet  hat,  das  ozonisierte  Wasser 
ist  fast  regelmäßig  keimfrei,  oder  enthält  zwei  bis  vier  Keime 
und  sein  Geschmack  unterscheidet  sich  in  gar  nichts  von  dem 
gewöhnlichen.  Dabei  ist.  die  entwickelte  Ozonmenge  so  groß, 
daß  seit  dem  Herbst  1910  nicht  nur  das  Scbewiswasser,  sondern 
auch  das  der  Hochquellenleitung  ozonisiert  werden  kann.  Letztere 
wurde  im  Frühjahr  1910  fertiggestellt  und  da  vorläufig  nur 
20  Sekundenliter  von  ihr  geliefert  werden  können,  sind  beide 
Wasserwerke  ständig  nebeneinander  im  Betrieb.  Die  Herstellungs¬ 
kosten  des  Ozonwerkes  betrugen  130.000  Kronen,  der  Betrieb 
erfordert  jährlich  7000  Kronen,  wobei  aber  die  Kosten 
für  die  umsonst  gelieferte  elektrische  Kraft  nicht  gerechnet  sind. 
Trotz  dieses  Kostenaufwandes  ist  der  Preis  für  das  Wasser  in  der 
Stadt  kein  sehr  hoher,  denn  ein  Hektoliter  kostet  4  h. 

Seither  ist  Hermannstadt  von  einer  Typhusepidemie  ver¬ 
schont  geblieben,  obwohl  gerade1  im  Herbst  des  vergangenen 
Jahres  die  klimatischen  Verhältnisse  neuerlich  jenen  gefährlichen 
Charakter  der  langdauernden  trockenen  Wärme  mit  darauffolgen¬ 
den  Regengüssen  annahmen  und  ängstliche!  und  ungläubige  Ge¬ 
müter  einen  neuen  Ausbruch  der  Seuche  prophezeiten. 

Daß  er  trotz  gewiß  vorhandener  „zeitlicher  und  örtlicher 
Disposition“,  trotz  vieler  Dauerausscheider  und  Bazillenträger  aus¬ 
blieb,  ist  nicht  nur  ein  schöner  Erfolg  der  getroffenen  Abwehr¬ 
maßregeln  und  eine  Genugtuung  für  die  Stadtbehörde  und  ihre 
Beamten,  sondern  mit  ein  Beweis  ex  juväntibus  für  den  hydrischen 
Ursprung  der  Typhusepidemien. 

Sollen  diese  aber  dauernd  vermieden  werden,  dann  obliegt  es 
der  Verwaltung  der  Stadt,  außer  den  bisherigen  Werken,  die 
ein  einwandfreies  Trinkwasser  beschaffen,  außer  der  Kanalisa¬ 
tion,  die  den  Boden  reinigt  und  außer  einer  modernen  Markt- 
polizeiordnung,  Zentralisation  der  Kehrichtabfuhr  und  Straßen- 
reinigung  noch  für  eine  Neupflasterung,  die  übrigens  schon  be¬ 
schlossene  Sache  ist,  Sorge  zu  tragen.  Denn  dann  ist  den  Koch¬ 
schien  Postulaten  nach  „Reine  Straßen,  reines  Wasser,  reine 
Häuser  und  reine  Hände“  wenigstens  von  seiten  der  Stadt  Ge¬ 
nüge  geschehen.  Es  bliebe  höchstens  noch  zu  wünschen  übrig 
die  Schaffung  einer  bakteriologischen  Untersuchungsanstalt  nach 
dem  Muster  und  dem  Arbeitspläne  der  Laboratorien  in  Deutsch¬ 
land,  die  sich  zur  Bekämpfung  des  endemischen  Typhus  so  segens¬ 
reich  bewährt  haben. 

Literatur. 

Es  wurden  außer  der  gesamten  mir  zugänglichen  Typhusliteratur 
die  Berichte,  Ausweise  und  sonstigen  Akten  der  städtischen  Behörde,  die 
Krankenhausberichte  des  Franz-Joseph-Bürgerspitals  und  des  k.  u.  k. 
Garnisonsspitals  Nr.  22,  die  zahlreichen  Gutachten  der  Sachverständigen, 
die  Arbeiten  über  Ozon  und  endlich  folgende  im  Text  erwähnten  Publi¬ 
kationen  benützt:  ')  Schlesinger,  Der  Wiener  Typhus.  Wiener  klm. 
Wocbenschr.  1907,  Nr.  17.  —  ,J)  Leliwa,  Deutsche  med.  Wochenschr. 
1909,  Nr.  32.  —  3)  Gioseffi,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1906,  Nr.  3°, 
4)  Krauß,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1909,  Nr.  41;  5)  Deutsche 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


833 


medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  13.  »)  Doerr,  Gutachten  an 

das  k.  u.  k.  Reicbskriegsministerium  1906;  7)  Zentral!»],  f.  Bakt.,  Bd.  45, 
Nr.  1;  8)  Zentralbl.  t.  Bakt.,  Bd.  30,  Nr.  8.  —  8)  Buhl  mann,  Zentralbl. 
f.  Bakt.,  Bd.  38,  Nr.  4.  —  ,0)  L  e  v  i  d  e  1 1  a  V  i  d  a,  Zentralbl.  f.  Bakt., 
Bd.  45,  Nr.  3:  u)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1903,  Nr.  26;  n)  Zentralbl. 
f.  Bakt.,  Bd.  53,  Nr.  5.  —  l3)  Kays  er,  Typhus  in  Straßburg,  Münchener 
med.  Wochenschr.  1909,  Nr.  22.  -  u)  Mayer,  Münchener  med. 
Wochenschr.  1908,  Nr.  34.  —  l5)  Krieger,  Archiv  f.  ö.  Gesundheitspfl. 
1902,  Bd.  20.  1#)  Hecker  1909,  Typhus  im  X.  Armeekorps.  — 

■^Scheller  1908.  —  ls)  Silberschmidt,  Schweiz.  Korrespondenzbl. 
1910,  Nr.  10.  —  ia)  K  o  s  s  e  1-Gießen,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1907 
Nr.  39.  2U)  Galvagno  und  Calderini,  Zeitschr.  f.  Hygiene’ 

Bd.  61,  Nr.  2.  — -  2|)  Emmerich  und  Wolter,  Jubiläumsschrift  1 907 - 
und  \\  o  1 1  e  r,  Hauptgrundsätze  1910.  —  ")  Mandelba  u  m,  Münchener 
med.  Wochenschr.  1908.  Nr.  1.  —  ,23)  Sticker,  Berliner  klin.  Wochen¬ 
schritt  1911,  Nr.  6.  —  24)  Brückner,  Münchener  med.  Wochenschr. 
1910,  Nr.  13.  —  J5)  Klin.  Jahrbuch  1902,  Bd.  9. 


Ernst  Fuchs. 

(Z  u  m  14.  Juni  1911.) 

Von  C.  Heß,  Würzburg. 

Am  14.  Juni  feiert  Ernst  Fuchs  seinen  60.  Geburts¬ 
tag.  Die  Augenärzte  der  ganzen  Welt,  ihnen  voraus  die 
deutscher  Zunge,  senden  ihm  ihre  herzlichsten  Wünsche, 
doppelt  freudig,  da  wir  sie  dem  von  schmerzhaftem  Leiden 
Genesenen  darbringen  können. 

Früh  begann  Fuchs  sich  die  breiten  Grundlagen  zu 
schaffen,  auf  welchen  sein  späteres  Wirken  sich  aufbauen 
konnte.  Noch  in  seiner  Studienzeit  bekleidet  er  die  Assi¬ 
stentenstelle  am  Innsbrucker  physiologischen  Institut,  nach 
seiner  Promotion  (1874)  bildet  er  sich  durch  zwei  Jahre 
als  Operationszögling  her  Billroth  aus,  bevor  er  unter 
A  r  1 1,  dessen  Schüler  er  sich  mit  Stolz  nennt,  Ophthalmologe 
wird.  Schon  das  erste  Jahr  seiner  augenärztlichen  Assi¬ 
stententätigkeit  bringt  uns  seine  Erstlingsarbeiten  über 
Herpes  und  über  Keratitis.  Ein  Jahr  nach  seiner  Habilita¬ 
tion  wird  der  Dreißigjährige  auf  den  Lehrstuhl  der 
Augenheilkunde  mach  Lüttich  berufen;  schon  vier  Jahre 
später  kehrt  er  in  die  Heimat  zurück,  um  Eduard  v.  Jägers 
Nachfolger  zu  werden. 

Klarheit,  Ruhe  und  Wohlwollen  scheinen  mir  die  Eigen¬ 
schaften  zu  sein,  die,  im  Verein  mit  nie  ermüdender  Ar¬ 
beitsfreudigkeit  und  Arbeitskraft  und  einer  unbedingten  Zu¬ 
verlässigkeit,  Fuchs  hier  schon  über  ein  Vierteljahr- 
hundert  zu  einem  Führer  in  unserer  Kunst  gemacht  haben. 

Es  gibt  wohl  kaum  ein  Gebiet  unserer  Disziplin,  juit 
dem  er  sich  nicht  auch  durch  eigene  Untersuchungen  ver¬ 
traut  gemacht  hätte.  Unterstützt  von  einem  glücklichen  Ge¬ 
dächtnisse,  weiß  er  aus  der  Fülle  der  von  ihm  verfolgten 
klinischen  Einzelbefunde  die  charakteristischen  Merkmale 
heran szuheben  und  festzuhalten;  so  lehrt  er  uns  eine  Reihe 
von  Krankheitsbildern  kennen,  die  jetzt  in  der  Wissenschaft 
seinen  Namen  führen. 

Noch  in  seine  Assistentenzeit  fällt  die  Abfassung  des 
Buches  über  das  Sarkom  des  Uvealtraktus  (erschienen  1882); 
der  Lütticher  Periode  gehört  u.  a.  das  Werk  über  die  Ur¬ 
sachen  und  Verhütung  der  Blindheit  an,  das  von  der  Society 
for  the  prevention  of  blindness  in  London  preisgekrönt 
wurde;  seinen  physiologischen  Neigungen  verdanken  wir 
die  Studie  über  Erythropsie,  zu  der  er  sich  dasi  Selbst¬ 
beobachtungsmaterial  durch  sonntägige  Wintertouren  mit 
seinen  Assistenten  verschafft.  In  erster  Linie  richtet  er 
aber  immer  wieder  sein  Streben  dahin,  das  .Ver¬ 
ständnis  der  klinischen  Krankheitsbilder  durch  sorg¬ 
fältigstes  pathologisch  -  anatomisches  Studium  zu  för¬ 
dern;  mit  einer  seltenen  Ausdauer  bearbeitet  er  ein 
Material,  von  seltenem  Umfange  und  bringt  so  unserer 
Wissenschaft  immer  neue,  bedeutsame  Aufklärung.  Und 
unter  wie  schwierigen  äußeren  Umständen  leistet  er  so 
mühevolle  Arbeit!  Mit  Staunen  sieht  der  Fremde  das  kleine 
Gelaß,  das  ihm  als  Laboratorium  des  Vorstandes  der  zweiten 
Universitäts-Augenklinik  gezeigt  wird  und  in  dem  Fuchs 
nach  zeitraubender  Berufstätigkeit  noch  Lust  und  Muße 
zu  seinen  ausgedehnten  histologischen  Studien  findet.  Um 


den  Beziehungen  zwischen  vorderer  Synechie  und  Druck¬ 
steigerung  nachzugehen,  zerlegt  er  über  70  Augen  in  mikro¬ 
skopische  Schnitte,  die  Arbeiten  über  Entzündung  des 
Augeninnern;  gründen  sich  auf  histologische  Durchmusterung 
von  200  Augäpfeln,  darunter  35  mit  sympathisierender 
Entzündung,  14  mit  sympathischer  Reizung  und  so 
fort.  Die  überraschenden  Ergebnisse  so  umfassender 
Untersuchungen  haben  uns  im  Verständnis  der  verwickel¬ 
ten  Fragen  nach  der  Natur  der  sympathischen  Ophthalmie 
wesentlich  gefördert. 

Durch  das  Studium  der  krankhaften  Störungen  des 
Sehorganes  wird  F  u  c  h  s  wiederholt  zu  eingehender  Analyse 
der  normalen  Verhältnisse  geführt  und  auch  dieses  oft  be¬ 
arbeitete  Gebiet  verdankt  seiner  subtilen  Beobachtung  wert¬ 
volle  Förderung  und  Klärung,  ich  brauche  nur  an  die  Unter¬ 
suchungen  über  die  Iris,  die  Blut-  und  Lymphgefäße  der 
Lider,  über  die  Ansätze  der  Augenmuskeln  und  den  Verlauf 
der  Wirbel  Venen  zu  erinnern.  Auch  sie  tragen,  wie  alle 
I  uchs  sehen  Arbeiten,  den  Stempel  größter  Gewissen¬ 
haftigkeit  und  Zuverlässigkeit  ;  und  indem  er  den  anatomi¬ 
schen  Befund  immer  aufs  neue  zu  wichtigen  klinischen 
Krankheitsbildern  in  Beziehung  bringt,  versteht  er  auch 
einem  an  sich  vielleicht  trockenen  Gegenstände  Leben  und 
Interesse  zu  verleihen. 

Es  sollen  hier  nicht  die  wissenschaftlichen  Arbeiten 
von  Fuchs  analysiert  werden,  die,  wie  schon  diese 
wenigen  Beispiele  zeigen,  für  die  normale  Anatomie  wie  für 
die  Physiologie  des  Auges,  für  die  pathologische  Histologie 
wie  für  die  klinische  Augenheilkunde  reiche  Frucht  getragen 
haben.  Doch  sei  mit  einigen  Worten  seines  Lehrbuches  ge¬ 
dacht.,  das  die  Vorzüge,  die  wir  an  dessen  Autor  bewundern, 
seine  umfassenden  Kenntnisse,  seine  Gründlichkeit  bei  aller 
Vielseitigkeit,  sein  ungewöhnliches  Geschick  der  Zusammen¬ 
fassung,  in  so  glänzendem  Lichte  zeigt.  Nie  hat  ein  Lehr¬ 
buch  der  Augenheilkunde  einen  Erfolg  gehabt,  der  mit 
jenem  des  Fuchs  sehen  verglichen  werden  könnte,1)  und 
er  darf  stolz  darauf  sein,  daß  der  gute  Klang,  den  sein 
Name  nicht  unter  den  Ophthalmologen  allein  hat,  sondern 
überall  in  der  ärztlichen  Welt,  nicht  zuletzt  von  diesem 
Werke  ausgeht,  das  uns  viel  mehr  ist,  als  ein  Lehrbuch 
im  gewöhnlichen  Sinne.  Welch  ein  Reichtum  von  Tat¬ 
sachen  und  eigenen  Beobachtungen  ist  darin  zusammen¬ 
getragen,  wie  geschickt  die  rechte  Mitte  zwischen  erschwe¬ 
render  Kürze  und  lästiger  Breite  gefunden.  Nie  lehrhaft, 
belehrt  es,  indem  es  unterhält.  Mit  klarem,  praktischem 
Verstände  ist  aus  der  Fülle  dessen,  was  mitgeteilt  werden 
konnte,  gerade  das  gewählt,  was  für  den  Arzt  das  Wesent¬ 
liche  und  Wichtige,  daher  auch  das  Interessante  ist.  Ueber- 
all  steht  die  unbefangene  Schilderung  der  Tatsachen  im 
Vordergründe,  mit  vorbildlicher  Zurückhaltung  ist  auf  das 
Betonen  persönlicher  Anschauungen  in  strittigen  Fragen 
verzichtet.  Jedes  einzelne  Kapitel  ist  behandelt,  als  wäre 
es  des  Autors  Lieblingsgebiet  und  doch  erscheint  das  Ganze 
harmonisch,  wie  aus  einem  Gusse  gearbeitet.  Und  wenn 
uns  die  letzthin  erschienene  zwölfte  Auflage  noch  als 
ebenso  modernes  Buch  entgegen  tritt,  wie  die  erste  vor 
21  Jahren,  so  ist  das  nicht  allein  auf  Rechnung  der  Ge¬ 
wissenhaftigkeit  zu  setzen,  mit  der  Fuchs  alles  Neue  in 
unserer  Disziplin  aufnimmt  und  verarbeitet,  sondern  eben¬ 
so  sehr  auf  Rechnung  der  erwähnten  Vorzüge  in  der  An¬ 
lage  des  ganzen  Werkes. 

Diese  Empfänglichkeit  für  Neues,  für  alles,  was  einen 
Fortschritt  in  unserer  Kunst  bedeuten  kann,  gibt  auch  der 
Arbeit  in  der  Fnchs.schen  Klinik  das  Gepräge.  Jeder¬ 
zeit  ist  er  bereit,  Vorschläge  für  neue  Operationen,  neue 
Behandlungsweisen  vorurteilsfrei  zu  prüfen  und  freudig  er¬ 
kennt  er  dabei  fremdes  Verdienst  an. 

Mit  seinem  Namen  sind  verschiedene-  wertvolle  neue 
Operationsmethoden  verknüpft,  von  welchen  hier  nur  die 
Transfixion  der  Iris,  die  Keratoplastik  für  ektatische  Horn- 

*)  In  21  Jahren  hat  es  12  Auflagen  in  deutscher  Sprache  erlebt. 
Es  ist  in  die  Sprachen  aller  Kulturvölker  übersetzt;  die  englische  Ueber- 
setzung  ist  bereits  in  dritter  Auflage  erschienen. 


834 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


liautnarben  und  ein  Verfahren  der  Tarsorhaphie  angeführt 
seien.  Seine  reiche  Erfahrung,  seine  Ruhe,  seine  gründliche 
chirurgische  Schulung  machen  ihn  zu  einem  Meister  auch 
in  der  operativen  Augenheilkunde. 

Wer  mit  F uclis  beruflich  in  Berührung  kommt,  hat 
bald  die  wohltuende  Empfindung,  die  nur  das  Gefühl  begrün¬ 
deten  Vertrauens  in  uns  weckt.  Das  gleiche  Vertrauen 
bringen  ihm  seine  Kranken  entgegen;  immer  wieder  hören 
wir  die  Art  rühmen,  in  der  er  sich  ihrer  annimmt.  Die 
Gefahr,  daß  bei  einem  „interessanten  Fall“  der  Forscher 
den  Arzt  in  den  Hintergrund  drängen  könnte,  besteht  hier 
nicht;  das  Wohl  des  Kranken  geht  stets  über  alle  anderen 
Interessen. 

Eine  so  glückliche  Verbindung  seltener  Gaben  des 
Geistes  und  Herzens  macht  Fuchs  auch  zu  einem  hervor¬ 
ragenden  und  geliebten  Lehrer.  Und  es  ist  nicht  die  aka¬ 
demische  Jugend  allein,  die  ihm  herzliche  Verehrung  ent¬ 
gegenbringt;  für  nicht  Wenige  ist  der  persönliche  Eindruck, 
den  sie  in  ihrer  Studienzeit  von  Fuchs  erhielten,  be^ 
stimmend  gewesen,  sich  ganz  der  Augenheilkunde  zu  wid¬ 
men  und  groß  ist  die  Zahl  derer,  die,  nicht  in  österreichi¬ 
schen  Landen  allein,  freudig  sich  zur  F  u  c  h  s  sehen  Schule¬ 
bekennen  und  gerne  die  Beziehungen  pflegein,  die  an  der 
Wiener  Klinik  geknüpft  wurden. 

So  vielem  Ernste  und  so  redlicher  Tüchtigkeit  fehlt 
es  nicht  an  äußeren  Auszeichnungen;  aber  ich  glaube,  es 
wäre  nicht  im  Sinne  unseres  Jubilars,  wollten  wir  sie  hier 
aufzählen;  und  dem1  Bilde,  das  wir  uns  von  ihm  machen, 
können  sie  nichts  hinzufügen. 

Mit  unseren  Glückwünschen  und  mit  unserem  Danke 
geben  wir  heute  der  Hoffnung  Ausdruck,  daß,  Ernst  Fuchs 
uns  und  unserer  Kunst  noch  lange  sein  möge,  was  er 
bisher  gewesen  ist. 


Referate. 

Die  großen  Probleme  in  der  Geschichte  der  Hirnlehre. 

Akademische  Antrittsvorlesung  von  Prof.  Dr.  Döllken. 

Leipzig  1911,  Veit  &  Co. 

In  ansprechender  Form  führt  der  Autor  die  Entwicklung 
der  großen  Hirnprobleme,  von  der  ältesten  Zeit  her,  vor  Augen, 
wobei  er  in  erster  Linie  den  höchsten  Funktionen  des  Gehirns, 
den  psychischen  Erscheinungen,  seine  Aufmerksamkeit  widmet. 
Die  verschiedenen  Namen,  denen  die  Hirnlehre  große  Fortschritte 
verdankt,  ziehen  in  seinen  Auseinandersetzungen  an  uns  vor¬ 
bei;  vielleicht  hätten  Reil  und  Flourens  auch  kurze  Er¬ 
wähnung  verdient.  Der  Autor  stellt  sich  ganz  auf  den  Standpunkt 
Flechsigs;  dies  prägt  sich  schon  darin  aus,  wie  er  gewisser¬ 
maßen  eine  Rahmenerzählung  liefert.  Anfangs  sagt  er,  daß 
Alkmai  on  bereits  scharf  die  bewußten  Empfindungen  von  der 
Intelligenz  trennte;  damit  habe  er  das  größte  Problem  unserer 
Zeit  vorausgeahnt,  doch  habe  der  Gedanke  2000  Jahre  geschlum¬ 
mert,  bis  Flechsig  ihn  1894  aus  klaren  anatomischen  und 
physiologischen  Grundlagen  heraus  zu  einem  wirklichen  Leben 
gebracht  hat.  Ganz  ähnlich  lautet  der  Schlußsatz  dieses  lesens¬ 
werten  und  anregenden  Vortrages.  Obersteiner. 

* 

Chemie  und  Biochemie  der  Lipoide. 

Von  Dr.  Ivan  Baug,  o.  Professor  der  medizinischen  und  physiologischen 
Chemie  an  der  Universität  Lund. 

187  Seiten. 

Wiesbaden  1911,  Verlag  von  J.  F.  Bergmann. 

Die  physiologische  Chemie  der  Lipoide  ist  so  verwickelt,  die 
biologische  Deutung  der  bedeutsamen  Rolle,  welche  diese  Substanzen 
bei  den  Immunisierungsvorgängen  im  Organismus  spielen,  so 
schwierig,  daß  man  Ivar  Bang,  welcher  selbst  regen  Anteil  an  der 
Entwicklung  dieser  Seite  der  biologischen  Wissenschaften  genommen 
hat,  nur  Dank  dahin  wissen  kann,  daß  er  diese  spröde  Materie  in 
Gestalt  einer  Monographie  bearbeitet  hat.  Dieselbe  basiert  auf  zwei 
Aufsätzen,  die  der  Autor  schon  früher  in  den  von  Asher  und 
Spiro  herausgegebenen  »Ergebnissen  der  Physiologie«  veröffent¬ 
licht  hatte  und  zerfällt  in  zwei  Hauptschnitte.  Der  erste  davon  be¬ 
handelt  die  Fette,  Cholesterine,  Phosphatide  und  Zere¬ 


broside;  der  zweite  handelt  von  der  biochemischen  Bedeu¬ 
tung  der  einzelnen  Lipoidstoffe;  es  ist  darin  von  den 
Lipoiden  als  Enzymaktivatoren  und  -kinasen,  als  Giften,  Hämoly¬ 
sinen,  Hemmungskörpern  und  Antigenen  ausführlich  die  Bede.  Die 
Klarheit  und  Uebersichtlichkeit,  mit  der  dieser  schwierige  Gegen¬ 
stand,  der  seit  der  Einführung  der  VV  asse rm  an  n  sehen  Reaktion 
auch  in  weiteren  ärztlichen  Kreisen  viele  Interessenten  gefunden 
hat,  behandelt  wird,  muß  rühmend  hervorgehoben  werden. 

* 

Dynamische  Biochemie.  Chemie  der  Lebensvorgänge. 

Von  I)r.  Siegmuud  Frankel,  a.  0.  Professor  für  medizinische  Chemie 
an  der  Wienei;  Universität. 

600  Seiten. 

Wiesbaden  1911,  Verlag  von  J.  F.  Bergmann. 

Das  vorliegende  Bach  ist  als  der  zweite  Teil  eines  das  Ge- 
samtgebiet  der  physiologischen  Chemie  behandelnden  Werkes  gedacht, 
dessen  erster  Teil  unter  dem  Titel  »Deskriptive  Biochemie 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  chemischen 
Arbeitsmethoden«  im  Jahre  1907  erschienen  ist.  »Was  der 
physiologischen  Chemie  am  meisten  fehlt«,  schrieb  damals  der  Autor 
in  der  Vorrede,  »ist  gleichsam  eine  chemische  Anatomie  der  Ge¬ 
webe,  insbesondere  aber  eine  chemische  Histologie.  In  den  letzten 
Jahren  hat  aber  das  planmäßige  Studium  der  physiologisch  wich¬ 
tigen  Substanzen  so  überraschend  große  Fortschritte  gemacht,  daß 
es  für  eine  Darstellung  der  physiologischen  Chemie  zweckmäßig  ist, 
diese  Disziplin  in  einen  chemisch-anatomischen  und  chemisch¬ 
physiologischen,  resp.  einen  statischen  und  einen  dynamischen  Teil 
zu  trennen.  Dieser  Versuch  wird  in  dein  vorliegenden  Werke  unter¬ 
nommen  « . 

Die  »dynamische  Biochemie«  behandelt  nun  die  Ver¬ 
änderungen,  welche  die  physiologisch  wichtigen  Substanzen  im  Or¬ 
ganismus  erfahren. 

Nach  einem  kurzen  allgemein  gehaltenen  Abschnitte  über 
physikalisch-chemische  Vorgänge  werden  die  speziellen 
chemischen  Umsetzungen  im  Organismus,  der  Abbau  der 
Kohlehydrate,  Fette  und  Eiweißkörper  sowie  ihrer  Bruchstücke  und 
die  synthetischen  Vorgänge  in  eingehender  und  sachkundiger  Weise 
behandelt. 

Der  Abschnitt  über  Fermente  gibt  eine  Uebersicht  der 
neueren  Entwicklung  der  Kinetik  enzymatischen  Reaktionen  und  der 
Theorien  über  das  Wesen  der  Fermenle.  Es  folgen  dann  die  aus¬ 
führlichen  Abschnitte  Uber  Verdauung,  Assimilation,  Stoff¬ 
wechsel  und  die  Leberfunktion.  Die  Kapitel,  welche  von  der 
Schilddrüse,  den  Nebennieren,  Muskeln,  dem  Nerven¬ 
system,  der  Nervo nfunktion  und  dem  Knochensystem 
handeln,  sind  sehr  knapp  gehalten. 

Eingehender  wird  wiederum  die  physiologische  Chemie  der 
Sexualorgane,  ferner  beim  Kapitel  »Blut«  die  Lehre  von  der 
Gerinnung  behandelt. 

Eine  kurze  Erörterung  der  wichtigsten  Ergebnisse  der 
Immunochemie  schließt  das  Werk  ab,  das,  in  seinem  ersten 
Teile  als  Nachschlagebuch  gedacht,  in  seinem  zweiten  Teile  das  um¬ 
fassende  Wissen  des  Autors  in  lesbarer  Form  zum  Ausdrucke  bringt 
und  auch  dem  Fachmanne  mannigfache  schätzenswerte  Anregungen 
bietet.  0.  v.  Fürth. 

* 

Handbuch  der  zpeziellen  Chirurgie  des  Ohres  und  der 

oberen  Luftwege. 

Herausgegeben  von  Dr.  L.  Katz,  H.  Preysiug  und  Dr.  F.  Blumenfeld. 

Würzburg,  Curt  K  a  b  i  t  z  s  c  h. 

Lieferung  1/2. 

I.  Topographische  Anatomie  des  Kopfes  exklusive  Nasenhöhle  uud 

Gehörorganes. 

Von  Dr.  J.  Sobotta. 

Bisher  liegt  die  erste  Doppellieferung  des  viel  verspre¬ 
chenden  Werkes  vor,  die  mit  mustergültigen  topographischen  Ab¬ 
bildungen  versehen  ist. 

Sobotta  behandelt  eingehend  die  Anatomie  des  Schä¬ 
dels.  ln  dem  Abschnitte  über  topographische  Anatomie  sind  die 
Bedürfnisse  des  Oto-  und  Rh  Biologen  nach  jeder  Richtung  hin 
berücksichtigt. 

Eine  eingehendere  Besprechung  wird  nach  Erscheinen  des 
folgenden  Heftes  erfolgen.  Alexander. 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


835 


Neue  Wege  und  Ziele  für  die  Weiterentwicklung  der 
Sing-  und  Sprechetimme. 

Von  G.  Wir/,  Köln. 

Auf  Grund  wissenschaftlicher  Versuche  mit  Lauten,  1910. 

80  Seiten. 

Selbstverlag. 

Der  Verf.  geht  vorerst  den  Gründen  nach,  weshalb  die  Laute 
oft  schlecht  klingen  und  will  dann  auf  Grund  von  Versuchen 
mit  den  Organen,  welche  an  der  Bildung  der  Sing-  und  Sprech¬ 
stimme  beteiligt  sind,  eine  verbesserte  Bildungsmöglichkeit  der 
Laute  anbahnen.  Diese  Versuche  sind,  wie  er  sagt,  mit  sehr 
einfachen  Mitteln  gemacht,  um  eine  Nachprüfung  in  weiteren 
Kreisen  zu  ermöglichen.  Der  Verf.  stellt  Untersuchungen  mit 
den  genaueren  wissenschaftlichen  Methoden“  in  Aussicht  und 
wir  sehen  denselben  mit  Spannung  entgegen. 

Der  Autor  hebt  die  genugsam  bekannte  Tatsache  hervor 
daß  zwischen  der  wissenschaftlichen  Lautlehre  und  der  Kunst 
zu  sprechen  und  zu  singen,  Lücken  klaffen,  die  noch  nicht  über- 
bruckt  sind  und  es  ist  leider  richtig,  daß,  die  Wissenschaft  bisher 
in  die  Lehre  von  der  koordinierten  Tätigkeit  der  Stimmorgane 
fui  künstlerische  Zwecke  nur  wenig  Licht  gebracht  hat.  Er  unter¬ 
sucht  vorerst  die  Flüstersprache  und  kommt  zu  folgenden 
Schlüssen:  1.  daß  die  dunklen  Hauptvokale  schwerer  mit  Spreizung 
der  Lippen,  als  helle  mit  Vorstülpung  derselben  sich  bilden 
-  lassen  und  2.  daß  der  Vokalcharakter  am  reinsten  gewahrt  wird 
wenn  viel  Luft  langsam  in  die  Ansatzhöhlen  einzudringen  ver¬ 
mag.  Bei  der  Flüstersprache  stellt  die  Hebung  des  Gaumensegels 
nur  eine  Mitbewegung  dar,  hervorgerufen  durch  die  Be  weg  mm 
der  benachbarten  Organe  und  ist  dieselbe  eine  Folge  des  Nichb 
geubtseins  eines  der  einzelnen  Organe.  Er  betont  die  Bedeutung 
namentlich  des  Zungengrundes  bei  der  Lautbildung  und  geht  de¬ 
tailliert  auf  die  Kontraktion  der  einzelnen  Teile  der  Zuime  bei 
den  verschiedenen  Lauten  ein. 

Die  Angabe  der  Eigenschaften  der  Stimme,  der  Stärke, 
er  Lage,  und  der  Sonorität  (nasale  Resonanz),  meint  er  lasse 
jede  Registerbezeichnung  überflüssig  erscheinen.  Die  Bezeich 
ming  Brust-,  Kopf-,  Mittelstimme  usw.  haben  gar  keinen  Sinn, 
da  man  damit  keinen  feststehenden  Begriff  verbinden  kann  Wenn 
schon  von  der  Praxis  abgesehen  werden  soll,  so  sind  doch  bereits 
-wie  Ref.  hervorheben  möchte -auf  Grund  wissenschaftlicher 
experimenteller  Untersuchungen  Unterschiede  im  Mechanismus 
der  verschiedenen  Register  aufgedeckt  und  festgestellt  worden. 

Der  Verf.  weist  dann  auf  die  allerseits  betonte  Wichtig¬ 
keit  der  nasalen  Resonanz  bei  der  Tonbildung  hin  und  führt  dann 
des  näheren  aus,  daß,  die  Kopfresonanz  gesteigert  wird  1.  durch 
Zunahme  der  Tonstärke,  2.  je  langsamer  die  Luft  durch  die 
Ansatzhöhle  durchstreicht,  3.  je  freier  die  schwingungsfähigen 
Teile,  die  Zähne  und  der  harte  Gaumen  von  jeder  Berührung 
mit  der  Zunge  und  den  Lippen  gehalten  werden  und  4.  je  mehr 
die  weichen  Teile,  Lippen,  Zunge  und  Gaumensegel  in  kontra¬ 
hiertem  Zustande  sich  befinden.  Der  Sänger  hört  bei  voller 
Ausnützung  der  nasalen  Resonanz  den  Ton  besser  und  infolge¬ 
dessen  können  gewisse  Formen  von  Intonationsstörungen  leichter 
vermieden  werden. 

Alles  in  allem  ein  lesenswertes  und  interessant  geschriebenes 
BüchIein-  _ _  L.  Rethi. 

Äus  t/ersehiedenen  Zeitsehriften. 

574.  Ueb'er  Fremdkörper  im  Uterus  als  Mittel  zur 
Verhütung  de!r  Konzeption.  Von  Dr.  Liek  in  Danzig. 

Im  Jahre  1909  empfahl  Dr.  Richter  in  Waldenburg  nach  mehr¬ 
jähriger  Erprobung  die  Einführung  zusammengerollter  Silkfäden 
in  den  Uterus  als  „ein  unschädliches  und  einfaches  Mittel  zur 
Verhütung  der  Konzeption“.  Das  Silkfädenknäuel  wird  hoch  in 
Fundus  uteri  eingeführt,  ein  dünner  Draht,  der  die  Fäden  Zu¬ 
sammenhalt,  in  der  Höhe  des  äußeren  Muttermundes  abgeschnitten. 

Die  Fäden  bleiben  ständig,  auch  während  der  Menses  liegen.  Bei 
schlaffen,  mangelhaft  involvierten  Uteris  rufen  die  Fäden  Blu¬ 
tungen,  bzw.  verstärkte  Menorrhagien  hervor,  daher  man  sie 
entfernen  müsse;  auch  frische,  entzündliche  und  schmerzhafte 
Prozesse  verbieten  deren  Anwendung.  Nach  Herausnahme  der 
Fäden  soll  der  Uterus  wieder  konzeptionsfahig  werden.  Der  Ver¬ 


fasser  fühlt,  aus,  daß  diese-  Fäden  eine  Endometritis  erzeugen 
müssen  u.  zw.  eine  immerhin  erhebliche,  wenn  sie  ausreichen 
sollep,  das  Festhaften  des  Eies  zu  verhindern.  Schon  das  wäre 
ein  großer  Nachteil.  Er  hat  aber  eine  Beobachtung  gemacht, 
welche  zeigt,  daß  derartige  eingelegte  Silkfäden  auch  zu  ern¬ 
steren  Erkrankungen  führen  können.  Einer  28  Jahre  alten  Frau 
hatte  ein  Arzt,  da  -sie  schwächlich  und  nervös,  aber  ohne  sonstige 
organische  Erkrankung  war,  solche  Silkfäden  nach  Richter  ein¬ 
gelegt.  Die  früher  regelmäßigen  Menses  wurden  bald  stärker  und 
schmerzhaft,  sie  bekam  nach  Ablauf  einiger  Monate  Leibschmerzen 
und  Fieber,  auch  Durchfälle,  so  daß  man  in  einem  Kranken¬ 
hause  an  Typhus  dachte.  Am  zehnten  Tage  der  Erkrankung  ging 
massenhaft  Blut  und  Eiter  per  rectum  ab,  wonach  sich  die 
Kranke  zu  erholen  begann.  Vier  Wochen  später  sah  sie  der  Ver¬ 
fasser.  Sie  führte  selbst  die  Beschwerden  auf  die  Silkfäden  zurück. 
Verf.  fand  einen  anteflektierten,  vergrößerten,  weichen  Uterus, 
reichlich  schleimiges,  zuweilen  sanguinolentes  Sekret.  Zu  beiden 
Seiten  je  einen  gänseeigroßen,  undeutlich  fluktuierenden  Tumor 
(Pyosalpinx).  Mit  einer  stumpfen  Kürette  wurde  aus  dem  Uterus 
ein  Silkfädenknäuel,  durch  einen  dünnen  Draht  zusammengehalten, 
entfernt.  Drei  Tage  später  Laparotomie.  Zahlreiche  Adhäsionen 
wurden  gelöst,  rechte  Tube  daumendick,  prall,  mit  Eiter  gefüllt, 
rechtes  Ovar  zystisch  degeneriert;  auch  linke  Tube  mit  Eiter 
gefüllt,  das  Ovar  total  vereitert.  Alles  wurde  entfernt.  Patientin 
genas  vollkommen.  Hier  wurde  also  durch  den  Reiz  der  Silkfäden 
zunächst  eine  heftige  Endometritis  verursacht,  dann  kam  es 
tai  einer  aufsteigenden  Infektion  der  Eileiter,  schließlich  zur 
schweren  -  Pelveoperitonitis  (linke  Adnexe  waren  tief  im  Douglas 
adhärent).  Weder  im  Sekret  der  Vagina,  der  Zervix  oder  im'  Eiter 
der  resezierten  4  üben  konnten  Gonokokken  nachgewiesen  werden. 
Vielleicht  wären  diese  schweren  Komplikationen  vermieden 
worden,  wenn  man  die  Fäden  beim  Einsetzen  endometritischer 
Symptome  entfernt  hätte,  Richter  selbst  empfiehlt  auch  regel¬ 
mäßige  Kontrolle  in  halb-  bis  ganzjährigen  Pausen;  die  Frauen 
gehen  aber  nicht  zum  Arzte,  sie  nehmen  stärkere  Blutungen  und 
Schmerzen  bei  den  Menses  mit  in  den  Kauf,  wenn  nur  die  Kon¬ 
zeption  verhütet  wird.  Wenn  sie  zum  Arzte  gehen,  so  sind  schon 
schwere,  oft  genug  irreparable  Schäden  vorhanden.  Die  Fäden 
gehen  nach  Richter  gelegentlich  auch  spontan  während  einer 
Metrorrhagie  ab,  aber  Arzt  und  Patientin  wissen  nicht  sicher, 
ob  die  Fäden  noch  im  Uterus  sind.  Die  Methode  gibt  also  leicht 
zu  Täuschungen  Anlaß,  deren  Folgen  verhängnisvoll  werden 
können.  Eine  Methode  vollends,  die,  wie  in  diesem  Falle,  an¬ 
statt  die  Konzeption  vorübergehend  zu  verhüten,  beide  Eileiter 
und  Ovarien  einer  jungen  Frau  vernichtete,  ist  absolut  ungeeignet. 
Das  gilt  auch  für  ähnliche  Methoden.  So  hat  Verf.  zwei  schwere 
Endometritiden  gesehen,  die  eine  kompliziert  durch  eine  Salpin¬ 
gitis,  hervorgerufen  durch  silberne  Intrauterinstifte,  sogenannte 
Steriletts  (von  anderer  Seite  eingelegt),  nach  deren  Entfernung 
die  Kranken  genasen.  -—  (Deutsche  medizinische  Wochenschrift 
1911,  Nr.  19.)  e.  F. 


575.  Entstehung,  Wesen  und  Behandlung  des 
Glaukoms.  Von  Dr.  W.  Gilbert,  Privatdozent  und  erster  Assi¬ 
stenzarzt  der  kgl.  Universitäts-Augenklinik  zu  München.  Verfasser 
sieht  das  Wesen  dies  Glaukoms  in  einer  durch  nervöse  und 
angiopathische  Einflüsse  bedingten  Störung  der  Regulation  zwi¬ 
schen  Zu-  und  Abfluß  der  intraokulären  Flüssigkeit  bei  rigider 
Skeralwandung.  Dementsprechend  findet  er,  daß  auch  heute  noch 
gar  zu  oft  die  Allgemeinbehandlung  gegenüber  der  lokalen  The¬ 
rapie  vernachlässigt  wird.  Es  kann  nicht  genug  betont  werden, 
daß  es  sich  beim  Glaukom,  besonders  bei  den  entzündlichen 
Formen  nur  ausnahmsweise  um  ein  lokales  Leiden  handelt.  Gich¬ 
tische  und  rheumatische  Erkrankungen,  besonders  aber  die  Skle¬ 
rose  des  Gefäßsystems,  sind  sorgfältigst  zu  berücksichtigen,  da 
die  verschiedenen  Glaukomoperationen,  seien  sie  noch  so  wirk¬ 
sam,  doch  eigentlich  nur  Palliativoperationen  sind,  geeignet,  den 
einzelnen  Anfall  aber  nicht  die  Disposition  zu  Glaukom  zu  be¬ 
heben.  Es  kommt  also  darauf  an,  die  konstitutionellen  Momente 
zu  beseitigen,  die  erfahrungsgemäß  zu  Glaukom  prädisponieren 
und  das  sind  in  erster  Linie  die  Erkrankungen  des  alternden 
Gefäßsystems.  Daher  hat  Eversbusch  schon  seit  langem  beim 


83G 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  23 


Glaukom  die  Venaesectio  geübt  und  Gilbert  empfiehlt  diese 
ebenfalls  angelegen! liehst,  ohne  damit  andere  Behandlungsmetho¬ 
de  dts  Glaukoms  verdrängen  zu  wollen.  Die  •Venaesectio  stellt 
aber  nach  Gilbert  eine  wirkungsvolle  Bereicherung  unseres 
therapeutischen  Schatzes  dar  und  vermag  ProdromaleTScheinun- 
ge-n  schnell,  völlig  und  dauernd  zu  beseitigen,  vorausgesetzt, 
daß  im  übrigen  ein  zweckmäßiges  Regime,  wie  Abstinenz,  reiz¬ 
lose  blande  Diät,  Schonung  vor  körperlicher  und  geistiger  (Über¬ 
anstrengung  eingehalten  wird.  Die  Venaesectio  ist  ferner  neben 
den  Miotizis  sehr  wichtig  als  Vorbereitung  für  die  lridektomie 
bei  entzündlichem  Glaukom  mit  sehr  seichter  Kammer,  dessen 
Operation  sich  nach  Gilberts  Erfahrungen  entschieden  leichter 
gestaltet,  wenn  12  bis  24  Stunden  vorher  die  Venaesectio  vor'aus- 
geschickt  wird.  Ebenfalls  zweckmäßig  erscheint  dir“  Venaesectio 
hei  hämorrhagischem  Glaukom,  sowie  bei  Iritis  mit  Drucksteige- 
i-un-g,  wo  operative  Eingriffe  wegen  Blutungen  sonst  untunlich 
erscheinen  und  gerne'  einige  Zeit  hinausgeschoben  werden.  • — 
(Fortschritte  der  Medizin  1911,  29.  Jahrg.,  Nr.  5.)  K.  S. 

* 

576.  Derber  den  Einfluß  von  Schildclrüsenpreß- 

saft  auf  die  Blutgerinnung.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  P.  Mathes 
in  Graz.  Verf.  hat  bereits  vor  zwei  Jahren  in  Tierversuchen  ge¬ 
zeigt,  daß  vorherige  Injektion  von  S chi  1  d ( I rüsenpre ßsa f t  die  Ka¬ 
ninchen  vor  der  Wirkung  von  sonst  tödlichen  Mengen  von  Plar 
zentapreßsaft  schützte.  Diese  Ver'suchsergolmisse,  ferner  die  Tat¬ 
sache,  daß  bei  schwangeren  Frauen  die  Schilddrüse  regelmäßig 
liypertrophiert,  weiters  die  Versuche  Langes  an  Katzen,  die 
weitere  Annahme  Von  Dientet,  daß  Störungen  in  pler  Blut¬ 
gerinnung  die  Ursache  der  Eklampsie  seien,  legten  dem  Ver¬ 
fasser  die  Frage  nahe,  ob  nicht  in  der  Schilddrüse  Stolle  ent¬ 
halten  seien,  die  die  Blutgerinnung  verhindern  und  dadurch  Stö¬ 
rungen  aiußgledchien,  die  die  Anwesenheit  der  Chorionzotten  in 
der  mütterlichen  Bluthahn  im  ßlutgerinnungsVorgang  zweifellos 
hervorrufen  kann.  Eis  war  nun  nach'zu  weisen ,  wie  sich  der  Preß-, 
saft  der  Schilddrüse  in  dieser  Beziehung  verhalte.  Zur  Bestim¬ 
mung  des  zeitlichen  Ablaufes  des  Vorganges  bediente  sich  Ver¬ 
fasser  der  Methode  Bürgers.  Die  Ausschläge  warten  so  bedeutend, 
daß  die  Methode  als  hinreichend  genau  bezeichnet  werden  kann. 
Die  hypertrophische,  frisch  exstirpierte  Schilddrüse  eineis  jugend¬ 
lichen  Individuums  wurde  ausgepreßt  und  der!  Saft  im  Verhältnis 
von  1:20  und  1:400  mit  destilliertem  Wasser  verdünnt.  Von 
den  Lösungen  wurde  je  ein  Tropfen  zum  Versuch  verwendet. 
Während  ein  Tropfen  Blutes  eines  jungen  Mädchens  in  einem 
Tropfen  destillierten  Wassers  nach  der  gewöhnlichen  Zeit  von 
OVa  Minuten  die  ersten  Spuren  der  Gerinnung  zeigte-,  verursachte 
die  stärkere  Lösung  des  Kropfpreßsaftes  fast  momentane,  die 
schwächere  Lösung  Gerinnung  nach  zwei  Minuten.  Die  Versuche 
wurden  mehrmals  mit  denselben  Resultaten  wiederholt.  Wenn 
also  dem  Schilddrüsensaft  die  Fähigkeit  eigen  ist,  Versuchstiere 
vor  'den  Folgen  intravenöser  Plazentasaftinjektionen  zu  schützen, 
so  kann  diese  Fähigkeit  nicht  auf  dem  Einfluß  beruhen,  den  der 
Schilddrüsensaft  auf  die  Blutgerinnung  ausübt.  Worauf  er  sonst 
beruht,  ist  Sache  der  weiteren  Untersuchung.  —  (Münchener 
inediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  19.)  G. 

577.  Zur  medikamentösen  Theifapio  der  Flyper- 
azidität.  Von  Dr.  B.  Roubitschck  (Karlsbad),  Assistanten 
der  Poliklinik  für  Magen-  und  Darinkrankheiten  von  Prof.  Doktor 
Rosenheim  und  Dr.  Kramtet  in  Berlin.  Nach  Besprechung  der 
bisher  gegen  die  Hyperazidität  mit  mehr  minder  gutem  Erfolge 
angewandten  Heilmittel  berichtet  Verf.  über  das  nach  dem  Vor¬ 
schläge  von  A.  Schmidt  (Halle)  und  Petri  und  später  auch 
von  anderen  angewandte  Wasserstoffsuperoxyd,  welches 
er  am  Material  der  Poliklinik  in  35  Fällen  von  Hyperazidität  und 
Hypersekretion  hinsichtlich  seiner  Wirkung  nachgeprü ft  hat.  Die 
Patienten  bekamen  zu  Anfang  der  Behandlung  ein  Probefrüh¬ 
stück  (300  dm3  Tee  und  eine  trockene-  Schrippe),  wurden  nach 
einer  Stunde  ausgehebert,  wonach  nach  F  reu  n  d-  T  ö  p  fer  die 
freie  Salzsäure  und  die  Gesamtazidität  des  Magensaftes  bestimmt 
wurde.  Nun  nahmen  die  Kranken  durch  drei  Tage  je  300  cm3 
einer  V2  Lügen  Wasserstoffsuperoxyd-,  resp.  Perhydrollösung  nüch¬ 
tern  und  blieben  gleichzeitig  bei  der  gewöhnlichen  Kost. 
Am  vierten  Tage  wurde  der  Mageninhalt  nach  Probefrühstück 


(ohne  Zusatz  von  H2O2)  wieder  untersucht.  Die  Resultate 
waren  folgende:  Reichte  man  das  Wasserstoffsuperoxyd,  respek¬ 
tive  das  Perhydrol  in  oberwähnter  Weise  durch  drei  Tage  und 
zeigte  sich  dann  der  freie  Salzsäurewert,  bzw.  die  Gesamtazidität 
nicht  merklich  vermindert,  so  versuchte  man  eine  •’/*-  bis  l°/#ige 
Lösung.  Gewöhnlich  sah  man  dann  nach  fünf-  bis  sechsmaligem 
Gebrauche  ein  starkes  Abfallen  der  Säure  werte..  U-eber  eine  l%ige 
Lösung  gehe  man  nicht  hinaus,  da  dann  Brechreiz  oder  Erbrechen 
ei  »tritt,  das  sich  manchmal  auch  in  jenen  Fällen,  die  auch  sonst 
erhöhte  Reflexe  zeigten,  schon  hei  'der1  V2°/oägen  Lösung  einstellte. 

2.  In  80°/o  der  Iso  behandelten  Fälle  war.  ei;n  Erfolg  zu  verzeichnen, 
in  20%  war  diese  Behandlung  -erfolglos,  resp.  allein  nicht  ge¬ 
nügend,  da  es  sich  um  Fälle  von  Flyperazidität  handelte,  die 
mit  Hypersekrtetion  und  Motilitätsstörungen  kompliziert  waren. 

3.  Die  Kranken  blieben  bei  dreimonatiger  Beobachtungsdauer 

meist  vollkommen  bescbwe-rdefrei  (Po ly  slab'  einen  Fäll,  der 
anderthalb  Jahre  lang  ohne  Beschwerde  war).  4.  Die  Dauer  der 
Behandlung  betrug  im  Durchschnitt  14  Tage,  nach  dieser  Zeit 
waren  die  Personen  geheilt,  resp.  gebessert,  doch  kann  man  die 
Behandlung  auch  länger  ohne  Schaden  fortsetzen.  5.  Das  AVasser- 
stofl'hyperoxyd  wirkt  leicht  abführend  (Schwinden,  der  hier  ge¬ 
wöhnlich  vorkommenden  Obstipation).  6..  Das  Magnesiuihsuper- 
oxyd  (Merck),  das  Hypogan,  sowie  das  Magnodat  spalten  eben¬ 
falls,  in  den  Magen  eingebracht,  Sauerstoff  ab,  doch  wirken  diese 
festen  Präparate  unsicherer  und  viel  langsamer  als  diet  wässerige 
HäOs-Lösung.  7.  In  40%  der  erfolgreichen  Fälle  konnte  man 
erst  dann  eine,  Besserung  beobachten,  weteni  zugleich  die  Diät 
geregelt  wurde.  Es  ist  daher  das  H2Q2  nur  als  unterstützendes 
Mittel  der  Hyperazidität  anzusehen.  —  (Deutsche  medizinische 
Wochenschrift  1911,  Nr.  19.)  .  E.  F- 

578.  (Aus  der  IV.  medizinischen  Abteilung  und  dem  patho- 
1  ogisc h-ehe-m isclien  Laboratorium  der  k.  k.  Rudolf-Stiftung  in 
Wien.)  Lieber  Urämie.  Von  Prof.  Friedrich  Ober  mayor  und  I 
Dr.  Hugo  Popper.  Nach  den  Untersuchungen  Obermayers 
und  Poppers  ist.  die  Urämie  jedenfalls  als  Vergiftung  zu  be¬ 
trachten,  hervorgerufen  durch  Retention  von  Hambes  fand  teilten 
oder  ungenügende  Ausscheidung  von  Stoffwechselprodukten,  wo¬ 
bei  es  aber  nicht  sicher  ist,  daß-  eis  sich,  in  jedem  vFalle  Um: 
die  gleichen  Körper  handelt.  Eher  wäre  zu  schließen,  daß  es 
verschiedene  Körper  oder  Gruppen  solcher  sind,  womit  das  oft 
wechselnde  klinische  Bild,  die-  in  jedem  einzelnen  Falle-  wechselnde 
Ausscheidungskraft  der  Niere  in  UebereinstimPiung  stehen.  Eines 
scheint  jedoch  charakteristisch  für  Urämie  zu  sein,  nämlich  die 
Nachweisbarkeit  von  Indikan  im  Blute.  Im  noribalen  Serum! 
und  sonst  bei  den  verschiedensten  Erkrankungen  wird  Indikan 
regelmäßig  vermißt, .  während  eis  in  dleir  überwiegenden  Menge- 
urämiischer  Seren  sicher  naichgewieis-en  werden  kann.  Indikan- 
ämie  Spricht  also  für  eine  Nierenaffektion  im  Stadium  der  Urämie. 
Die  Anwesenheit  noch  .anderer  aromatischer  Substanzen  im  urämi¬ 
schen  Serum  ist.  übrigens  auch  sehr  wahrscheinlich.  In  der  über¬ 
wiegenden  Mehrzahl  von  Urämien  ist  ferner  eine  Erhöhung  der 
molekularen  Konzentration  und  S t i cks t of f rete n ti o n  zu  finden,  in 
jedem  Falle  aber,  sofern  die  Untersuchung  nur  eine  genügend 
umfassende  ist,  eine  Retention  von  Harhbeistandteilon,  welche 
allerdings  nicht  immer  dieselben  sind,  erweislich.  —  (Zeitschrift. 

für  klinische  Medizin,  Bd.  72,  H.  3  und  4.)  K.  S. 

+ 

579.  (Aus  dem  medizinisch- chemischen  und  pharmakologi¬ 
schen  Institut  der  Universität  Bern.  —  Direktor:  Prof.  Doktor 
E.  Bürgi.)  Uebor  eine  neue  Methode,  dials  Salvarsan 
nachzu  weisen.  (Vorläufige  Mitteilung.)  Von  Dr.  J.  Abel  in, 
Assistenten  des  Instituts.  Verf.  berichtet  über  eine  einfache  Me¬ 
thode,  Salvarsan  in  Körporflüssigk'eSten  nachzuweisen.  Er  hat, 
ausgehend  von  der  Formel  des  D i ox y di afnid oarsen oben z ol s ,  den 
Körper  diazotiert  und  die  erhaltene  Substanz  mit  verschiedenen 
Phenolen  und  Naphtholen  gekuppelt.  Es  traten  charakteristische 
Farbstoffe  auf.  Die  Methode  ist  sehr  empfindlich  und  auch  Lir 
den  Nachweis  des  Salvarsans  im  Urin  geeignet.  Von  den  Phenolen 
gibt  das  Rieisorzin  die  beste  Fapbstofftieaktion.  Die-  Ausführung 
der  Probe  ist  folgende:  Verwendet  werden  zwei  Lösungen,  (“ine 
salzsaure  Salvarsanlösung  und  eine  alkalisch©  10%ige  Resorzin¬ 
lösung.  Eine  ganz  kleine  Menge  Salvarsan  wird  in  2  bis  3  cm 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


837 


Wasser  gelöst;  die  gelbe  Lösung  wird  bei  Zusatz  von  drei  bis 
vier  Tropfen  verdünnter  Salzsäure  fast  farblos.  Man  kühlt  sie 
unter  de;-  Wasserleitung  stark  ab,  setzt  drei  bis  vier  Tropfen 
einer  VsMdgen  Natriumnitritlösung  zu,  wodurch  ein  Diazokörper 
gebildet  wird,  der  eine  sehr  lebhafte  grünlichgelbe  Fluoreszenz 
zeigt.  Diese '‘Diazolösung  des  Salvarsans  wird  nun  tropfenweise 
in  eine  mit  Natriumkarbonat  alkalisch  gemachte  10‘Voige  llesorzin- 
lösung  gebracht,  wobei  ein  sehr  schöner  roter  Farbstoff  entsteht. 
Es  ist  darauf  zu  sehen,  daß  die  Lösung  stets  alkalisch  bleibt, 
weil  freie  Mineralsäure  die  Farbstoffbildung  verhindert.  Das  Salv- 
arsan  gibt  auch  mit  dem  Ehrlich  sehen  Diazorcagens  einen 
charakteristischen  Farbstoff.  Versetzt  man  nämlich  eine  Lösung 
von  Salvarsan  mit  einer  salzsauren  Sulfanilsäurelösung  und  \a- 
triumnitrit  und  gibt  einige  Tropfen  Ammoniak  hinzu,  so  erhält  man 
eine  braunrote  Färbung.  Dieis  ist  wohl  zu  beachten,  da  Urine  von 
mit  Salvarsan  behandelten  Patienten  dementsprechend  die  E  h  r- 
lichsche  Diazoreaktion  in  einer  nur  wenig  abweichenden  Färben - 
nuance  geben.  Um  zu  sehen,  ob  die  Harnbestandteilei  die  Re¬ 
aktion  stören  können,  hat  V-erf.  zu  15  dm3  normalen  Urins:  ein 
Körnchen  Salvarsan  zugesetzt  und  die  Resorzin  probe  angestellt. 
Sie  fiel  stark  positiv  aus.  Dann  wurde  der  Urin  von  Patienten, 
die  Salvarsaninjektionen  erhalten  haben,  untersucht.  7  bis  8  cm3 
Urin  werden  in  einem  Reagenzglas  mit  fünf  bis  sechs  Tropfen 
verdünnter  Salzsäure  sauer  gemacht  und  nach  dem  Abkühlen  mit 
drei  bis  vier  Tropfen  einer  V2%igen  Natriumnitritlösung  ver- 
,  setzt.  Von  dieser  Lösüng  bringt  man  einige  Tropfen  in  5  bis 
6  ein3  der  alkalischen  farblosen  Resorzinlösung,  welche  sich,  sofort 
rot  färbt.  Die:  Färbung  ist  besonders  sdhön,  wenn  man,  ohne 
umzuschütteln,  das  Uringemisch  Vorsichtig  auf  die  Resorzinlösung 
.  schichtet.  Urine,  die  kein  Salvarsan  enthalten,  sowie  freie  sal¬ 
petrige  Säure,  geben  nadh  der  gleichen  Methode  nur  eine  Gelb 
färbung.  Die  Methode  des  Verfassers  gestattet  auch,  die'  Aus¬ 
scheidung  Jdes  Salvarsans  zeitlich  zu  verfolgen.  Schon  zwei 
Stunden  nach  der  intravenösen  Injektion  war  das  Salvarsan  im 
Urin  naebzu weisen.  Der  Verfasser  bemerkt  noch,  daß  das  Atoxyl 
mit  salpetriger  Säure  diazotiert  und  mit  alkalischer  Resorzin¬ 
lösung  gekuppelt,  eine  Orangefärbüng  gibt.  Die  mit  Salvarsan 
erhaltene  Färb©  spielt  auch  etwas  ins  Gelbliche;  doch  ist  der 
rote  Ton  vorherrschend.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift 
1911,  Nr.  19.)  (; 

& 

580.  Heilquellenaktivität,  physiologische  Wir¬ 
kung  und  therapeutische  Anwendung.  Von  E.  Sommer 
in  Zürich.  Die  R ad i umema nation  ist  in  fast  allen  daraufhin 
untersuchten  Heilquellen  einwandfrei  nachgewiesen  worden. 
Ibermalquellen  weisen  die  höchsten  Radioaktivitäts  werte  auf; 
die  weniger  warmen  unter  ihnen  sind'  radioaktiver  als  die  heißen. 
Der  Emanationsgehalt  kann  a’m  gleichen  Orte  von  Quelle  zu 
Quelle  wechseln.  Ein  Zusammenhang  zwischen  Größe  des  Emä- 
nationsgehaltes  einer  Quelle  und  dem  geologischen  Aufbau  des 
betreffenden  Thermalgebietes  läßt  sich  für  die  meisten  Orte  ver¬ 
muten  ;  die  meisten  radioaktiven  Quellen  scheinen  aus  graniti- 
schem  Gestein  zu  entspringen.  1  Salz  reiche  Mineralquellen  zeigen 
im  allgemeinen  keine  hohe  Radioaktivität;  das  aktivierende  Ema¬ 
nationsgas  löst  sich  in  salzhaltigen  Wässern  in  geringerer  Menge 
als  in  salzarmen  oder  salzfreien.  —  Die  Radiumemänation  ist 
bezüglich  ihrer  physiologisch-biologischen  Wirkungen  noch  nicht 
genügend  bekannt.  Indes  besitzt  sie  sicher  eine  das  Wachstum 
und  den  Stoffwechsel  verschiedener  Mikroorganismen  verändernde 
(hemmende,  schädigende,  bakterizide)  'Wirkung,  welche  zwar;  rela¬ 
tiv  schwach  ist,  aber  parallel  der*  Intensität  der1  Radioaktivität 
der  einzelnen  Emanations  träger  geht.  Ferfier  führt  die  Emana¬ 
tion  eine  Aktivierung  des  Pepsins  und  Pankreatins  herbei,  sie 
paralysiert  mehr  oder  weniger  den  die  EiweißVerdauung  heim 
inenden  Einfluß  der  Kochsalzthermen.  Die  eiweißiverdauende  Kraft 
des  Magensaftes  wird  durch  radioaktives  Wasser  weniger  ge¬ 
hemmt  als  durch  dasselbe  Wasser,  welches  durch  Stehenlassen 
seine  radioaktiven  Eigenschaften  ©  ingebüßt  hat,  Daß)  die  in  der 
Atmosphäre  enthaltene  Emanation  zus.amimJen  mit  den  anderen 
klinischen  Faktoren  der  Höhenluft  therapeutische  Erfolge1  erzielen 
kann,  ist  ein  bekanntes1  Faktum.  Es  werden  der  Emanation  rc- 
soiptionsbefördernde,  zeirteilenid-auflöseiide  Eigenschaften  zuge¬ 
schrieben.  Der  Einfluß  auf  die  Drüsen  mit  innerer  Sekretion 


ist,  noch  wenig  aufgeklärt,  während  Vermehrung  der  Diurese  nach 
Emanationsbädern  in  vielen  Fällen  schon  nach  gewieisen  worden  ist, 
Die  radioaktiven  Bäder  wirken  aber  nicht,  durch  perkutane  Re¬ 
sorption  der  Emanation,  sondern  durch  Inhalation;  bei  Trink¬ 
kuren.  ist  ebenfalls  die  Inhalation  der  Lufte/manation  neben  der 
Emanationsresorption  durch  die  Schleimhäute  des  Verdauungs- 
traktes  in  Betracht  zu  ziehen.  Auf  jedem  Fäll  ist  die  Radium- 
eimanatronstheräpie  eine  wertvolle  Bereicherung  unseres  physio¬ 
therapeutischen  Heilschjatzes.  Zwischen  Emanationsgehalt  und 
Heilwirkung  besteht  ein  Kausalnexus'.  —  (Korrespondenzblatt  für 
Schweizer  Ae-rzte  1911,  41.  Jahrg.,  Nr.  6.)  K.  S. 


581.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  und  dem  hygienisch- 
bakteriologischen  Institute  der  Universität  in  Erlangen.)  Ueber 
zelluläre  Anaphylaxie.  Von  Alfred  Schi  ttenhelm  und 
Wolfgang  Wei  char  dt.  Die  auffälligste  Form  der  Zellanaphylaxie 
haben  die  Verfasser  im  Vorjahre  als  Enteritis  anaphylac¬ 
tic  a  beschrieben.  Sie  sensibilisierten  einen  Hund  mit  ungiftigem 
Eiweiß  (Eiereiweiß,  intravenös  injiziert)  und  sahen  dann  bei 
der  Reinjektion,  die  nach  geraumer  Zeit  erfolgte,  schwere  inte¬ 
stinal«  Erscheinungen  (Erbrechen  unter  Würgen,  Stuhl- 
drahg,  stark  blutiger,  dünnflüssiger  Kot).  Die  Sektion  solcher 
Tiere  zeigte  den  Darm  angefüllt  mit  einer  blutig-schleimigen 
Flüssigkeit,  an  der  Därmsrhleimhaut  und  in  tieferen  Schichten 
zahlreiche  miliare  Hämorrhagien,  all  dies  bis  in  die  Pylorus- 
g  egend  hinein,  während  der  Fündus  des  Magens  normales  Aus¬ 
sehen  hatte.  Abwärts  reichte  die  Affektion  bis  zur'  Analgegend, 
der  obere  Dünndarin  und  die  unteren  Partien  von  der  Ileocökal- 
k lappe  ab  waren  am  stärksten  befallen,  .allenthalben  fanden  sich 
diphtherische  Auflagerungen.  Nicht  sensibilisierte  Hunde, 
diei  mit  großen  Mengen  (80  cm3  Eierei weißlösung,  50°/oig)  injiziert 
wurden,  zeigten  keinerlei  pathologische  Veränderungen.  Die  Ver¬ 
fasser  besprechen  eingehend  diese  lokale  zelluläre  anaphylak¬ 
tische  Reaktion,  weisen  auf  ähnliche  Befunde  anderer  Autoren 
hin,  ziehen  die  Erscheinungen  bei  kutaner  Anaphylaxie  heran 
und  beirichten  kurz  über  einen  Fall  von  Wittepep ton- Anaphylaxie. 
Em  Assistent  am  Institut  bekommt  sofort,  wenn  man  ein  Gefäß 
von  Wittepepton  nur  öffnet,  Jucken  in  der  Nalse,  später1  heftiges 
Nielsen  und  quälenden  Husten,  noch  ärger  beim  Aufs'chnupfew 
des1  Pulvers,  das  für  andere  Personen  indifferent  ist;  strich  man 
W  ittepeptou  auf  die  Haut,  so  entstand  ein  roter,  juckender1  Fleck. 
Solche:  Fälle  sind  zweifellos  häufiger  als  man  glaubt,  für!  manche 
Fälle  von  Asthma  besteht  sicherlich  eine  derartige  Genese.  Im 
weiteren  besprechen  die  Verfasser  das  Heuasthma,  welches  auf 
parenterale  Verdauung  des  Polleneiweiß  zurückzuführen  ist  (Wei¬ 
ch  and  t).  Da  man  es  hier  mit  einem  der  Anaphylaxie  zuge¬ 
hörigen  S y mp tom enk omp lex  zu  tun  hat,  so  ist  es1  ausgeschlossen, 
daß  gegen  Heufieber  ein  ant.itoxisches  Heilserum  hergestellt 
werden  kann.  Ein  gewisser,  allerdings1  nicht  allzu  hochgradiger 
Schutz  kommt  erfahrungsgemäß  den  Heufieberseris  allerdings1  bei 
lokaler  , Anwendung  zu.  Die  Verfasser  betrachten  das  Heufieher 
als  eine  zelluläre  epithelial©  Anaphylaxie  und  erklären  daraus 
mehrere  Erscheinungen,  so  die  Unwirksamkeit,  eines  in  vitro 
gebildeten  Pollen  toxins,  daß  man  Nicht- Heu  fieberkranken  auf  die 
Schleimhaut  bringt  n.  a.  Schließlich  verhallen  sich  die  Zellen 
der  Bindehäute  und  des  Respirationstraktus  in  bezug  auf  die 
verdauenden  Eigenschaften  beim  Menschen  anders1  als  die  Dartn- 
ziellen  dels  Hundes,  da.  es  bisher  niemals!  gelang,  durch  Versuche 
mit,  subkutanen  Pollenin jektionen  (von  dem  Verfasser  teilweise 
an  sich  selbst  angestellt)  einen  normalen  Menschen  heufieberkrank 
zu  machen.  Das  Heufieber  ist  also  ein  Ueberolmpfindlichkeits- 
prozeß.  —  (Deutsche  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  19.) 


E.  F. 

* 


582.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  der  Akademie  für  prak¬ 
tische  Medizin  zu  Düsseldorf.  -  Direktor;:  Prof.  Dr.  A.  Hoff¬ 
mann.)  Ueber  die  luetische  A  ort|en  erkrank  ung.  Von 
Dr.  H.  Grau.  Obwohl  die  Kenntnis  einer  syphilitischen  Erkran¬ 
kung  detr  Aorta  schon  auf  lange  Zeit  zurfickgeht  und  das  Aneu¬ 
rysma  der  Aorta  in  den  meisten  Fällen  als  Symptom  und  End¬ 
stadium  der  luetischen  A o r tenerkran ku n,g  aufgefaßt  wird,  so  ist 
doch  bisher  die  Aortitis  selbst  viel  zu  wenig1  Gegenstand  der 
Beobachtung  gewesen.  Nach  Grau  ist  aber  diese  Erkrankung 


838 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  23 


in  den  mittleren  Lebensaltern  außerordentlich  häufig.  Freilich 
macht  die  Aortenlues  im  allgemeinen  erst  imi  Stadium  der  Dekom- 
p c  1 1  ation  subjektive  Störungen,  da  sie  lange  symptomlos  ver¬ 
laufen  kann,  auch  wenn  sie  gleich  nach  der  Infektion  einsetzt. 
Die  objektive  Untersuchung  durch  die  physikalische  Diagnostik 
liefert  nur  einige  wenige  und  unsichere  S o nderm er'kmal e  für  den 
luetischen  Charakter  der  Aortenerkrankung  (relativ  kleines1, 
wenigstens  nicht  erheblich  vergrößertes  Herz  selbst  bei  lueti¬ 
scher  Aorteninsuffizienz;  sekundäre  Erscheinungen  dieser  an  den 
peripheren  Gefäßen  weniger  ausgesprochen  als  bei  anderer  Aetio- 
logie ;  der  Habitus  des  Patienten  ähnlich  wie  bei  Mitralfehlern, 
jedenfalls  auffallend  verschieden  vom  typischen  Bilde  bei  ander- 
wärtig  begründeter  Schlußunfähigkeit  der  Aortenklappen).  Einiger¬ 
maßen  für  Aortenlues  charakteristisch  scheinen  psychische  Ver¬ 
wirrtheit  mit  halluzinatorischen  Ideen  zu  sein.  Die  W  as  ser¬ 
in  an  rische  Syphilisreaktion  fällt  bei  Aortenlues  fast  stets  positiv 
aus;  doch  haben  Döhle-Heiller  auch  bei  sicherer  Aorten¬ 
lues  negativen  Wassermann  konstatiert.  In  nicht  zu  seltenen  Fällen 
kommt  übrigens  Aortenlues  kombiniert  mit  anderweitiger  Endo¬ 
karditis  vor.  Ist  einmal  bei  einem  luetischen  Aortenvitiuni  Dekom¬ 
pensation  eingetreten,  so  wird  der  Verlauf  meist  rasch  ungünstig. 
Von  Erfolgen  einer  spezifischen  Therapie  ist  wenig  zu  sehen, 
außer,  wenn  es  gelingt,  die  Diagnose  der  luetischen  Aorten¬ 
erkrankung  sehr  frühzeitig  zu  stellen.  Daher  sollten  die  Spezia¬ 
listen  für  'Geschlechtskrankheiten  ihr  Augenmerk  auch  dem  Herzen 
und  der  Aorta  zuwenden,  da  die  Luetiker  zum  Internisten  ge¬ 
wöhnlich  viel  zu  spät  kommen.  —  (Zeitschrift  für  klinische 
Medizin,  Bd.  72,  H.  3  und  4.)  K.  S. 

+ 

583.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  in  Halle  a.  et.  S.  — 
Direktor:  Geh.  Med.-Rat  Prof.  Ad.  Schmidt.)  Lieber  die  Wir¬ 
kung  des  Chloromorphids  auf  den  Menschen.  Von  Pri¬ 
vatdozent  Dr.  Georg  Grund.  Das  Chloromorphid  entsteht  als 
Zwischenprodukt  bei  der  Gewinnung  des  Apomorphins  aus  dem 
Morphin.  Harnack  und  Hildebrandt.  haben  eingehende  phar¬ 
makologische  Studien  über  dasselbe  angestellt.  Aus  denselben 
ergibt  sich,  daß  es  im  Hun-deversuch  eine  wesentlich  stärkere 
narkotische  Wirkung  aufweist,  als  das  Morphin;  es  kann  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  die  brechenerregende  Wirkung  des  Apo¬ 
morphins  aufhe-ben.  Atemstörungen  kaufen  zwar  vor,  aber  nicht 
in  bedenklichem  Maße.  Auch  beim  Froschversuch  zeigte  es  die 
charakteristischen  Eigenschaften  des  Morphins.  Verf.  hat  nun 
auf  Veranlassung  Harnacks  das  Präparat  beim  Menschen  ge¬ 
prüft.  Er  begann  mit  dem  ß- Chloromorphid  in  Dosen  von  1mg, 
die  er  vorsichtig  bis  5  mg,  in  einzelnen  Fällen  auch  bis  10  mg 
steigerte.  In  50  Einzelv  erstreben  bei  15  Patienten,  die  vergleichs¬ 
weise  auch  Morphineinspritzungen  erhielten,  ergab  sich,  daß  die 
narkotische  Wirkung  gegenüber  dem  Morphin  oft  etwas  schwächer, 
in  einer  Anzahl  Fälle  etwa  gleichwertig,  niemals  aber  stärker 
war.  Unangenehme  Nebenwirkungen  erheblichen  Grades  wurden 
nicht  beobachtet.  Nur  in  zwei  Fällen  trat  drei  bis  vier  Tage 
nach  der  Einspritzung  von  1  mg  ein  urtikariaähnliches  Exanthem 
am  ganzen  Körper  auf.  Später  verwandte  Verf.  das  »-Präparat. 
Mit  diesem  wurden  bis  zum  Abbruch  der  Versuche  zehn  Pa¬ 
tienten  in  Dosen  von  2  bis  10  mg  behandelt.  Der  Erfolg  war  zu¬ 
nächst  ein  ähnlicher.  Die  narkotische  Wirkung  war  im  ganzen 
etwas  geringer  als  beim  Morphin  und  einige  Male  etwa  von  der 
gleichen  Stärke.  Bei  einigen  Patienten  leichte  Schwind elerschei- 
nungen,  einmal  Erbrechen.  Nur  bei  einem  39jährigen  Kutscher, 
dessen  Krankengeschichte  Verf.  ausführlich  mitteilt,  kam  es  nach 
einer  Injektion  wegen  gastrischer  Krisen  zu  Zyanose,  voller  Be¬ 
wußtlosigkeit  und  Asphyxie.  Nach  Einleitung  der  künstlichen 
Atmung  kam  der  Patient  nach  15  Minuten  wieder  zum  Bewußt¬ 
sein.  Es  kam  also  zu  einer  zentralen  Atemlähmung  schwersten 
Grades.  Nach  diesem  Ereignis  hat  Verf.  jede  weitere  Anwendung 
des  Mittels' unterlassen.  Harnack  hat  darauf  aufmerksam  ge¬ 
macht,  daß  ähnliche  unangenehme  Nebenwirkungen  auch  beim1 
amorphen  Apomorphin,  bei  dem  Verunreinigung  mit  Chloro¬ 
morphid  nachgewiesen  ist,  Vorkommen.  Verf.  erklärt  zum  Schlüsse : 
1.  Das  Chloromorphid  hat  beim  Menschen  eine  narkotische  Wir¬ 
kung,  die  hinter  derjenigen  des  Morphins  zurückbleibt,  jedenfalls 
nicht  stärker  ist  als  diese.  Daneben  kommen  in  besonders  prä¬ 
disponierten  Fällen  Störungen  der  Atmung  vor,  die  höchst  bedroh-- 


lieh  sein  können.  Das  Mittel  ist  also  zu  einer  therapeutischen 
Verwendung  am  Menschen  ungeeignet.  2.  Gewisse  mit  Atem¬ 
störung  einhergehende  Vergiftungen  mit  Apomorphin,  die  in  der 
Literatur  bekannt  sind,  sind  wahrscheinlich  auf  Verunreinigung 
mit  Chloromorphid  zu  beziehen.  —  (Münchener  mlediz.  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  19.)  G. 

* 

584.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  der  Universität  Halle  a.  S. 

Direktor:  Geh.  Med. -Rat  Prof.  Dr.  Adolf  Schmidt.)  Die  Ver¬ 
dauung  und  Resorption  roher  Stärke  verschiedener 
H e r k u n f t  b e- i  n o r m a  1  e r  und  krankhaft  veränderter' 
Tätigkeit  des  Magen-Darmkanals.  Von  Dr.  med.  L.  F o- 
fanow  (Kasan).  Ueber  die  Verdauung  und  Resorption  roher 
Stärke  finden  sich  in  der  Literatur  kaum  irgendwelche  Angaben, 
obwohl  bei  genauerer  Betrachtung  unserer  Nahrung  es  gar  nicht 
so  selten  vorkommt,  daß  rohe  oder  unvollständig  gekochte  Stärke¬ 
nahrung  genossen  wird.  Auf  Anregung  A.  Schmidts  hin  unter¬ 
nahm  nun  Fofanow  diesbezügliche  Untersuchungen  mit  ver¬ 
schiedenen  Stärkearten,  sowohl  bei  normaler  als  krankhafter  Ver¬ 
dauungstätigkeit.  Er  fand,  daß  bei  normaler  gesunder  Verdauung 
rohe  Weizen-,  Hafer-  und  Reisstärke  in  gleicher  Weise  fast  ohne 
Rest  verdaut  werden,  daß  hingegen  rohe  Kartoffelstärke  2-5-  bis 
4mal  schlechter  ausgenützt  werde  und  das  besonders,  wenn  iso¬ 
lierte  Kartoffelzellen  mit  erhaltener  Zellulosemembran  verabreicht, 
wfarden.  (Darstellung  isolierter  Kartoffelzellen  nach  Professor 
A.  Schmidt.)  Bei  Hyperazidität  des  Magensaftes  geht  die  Ver¬ 
dauung  und  Resorption  jeder  Stärkesorte  schlechter  vor  sich,  da¬ 
gegen  bei  Subazidität  besser  als  unter  normalen  Verhältnissen. 
Obstipation  begünstigt  bei  Subazidität  noch  die  Verdauung  und 
Resorption  der  rohen  Stärke,  Diarrhoe  verschlechtert  sie.  Bei 
Gärungsdyspepsie  oder  Pankreassekretionsstörung  ist  die  Verdau¬ 
ung  roher  Stärke  in  jeder  Form  stark  beeinträchtigt.  —  (Zeit¬ 
schrift  für  klinische  Medizin,  Bd.  72,  HI  3  und  4.)  K.S. 

* 

585.  Chronische  Darmstase,  behandelt  mittels 
kurzer  zirkulärer  Umschneidung  oder  Kolektomie. 
Von  Harold  Chappie  in  London.  Im  Jahre  1901  hat  Arbuth- 
not  Lane  ein  Leiden  unter  dem  Titel  der  „chronischen  Darm¬ 
stase“  ausführlich  beschrieben  und  dagegen  eine  Radikalbehand¬ 
lung  in  Vorschlag  gebracht.  Verf.  teilt  die  Resultate  mit,  welche 
bei  50  Fällen,  welche  er  zumeist  untersucht,  mitoperiert  und  später 
nachuntersucht  hat,  erzielt  wurden.  Die  Symptome,  bedingt  durch 
chronische  Obstipation  infolge  von  Adhäsionen,  bestehen  in  Bauch¬ 
schmerzen  von  verschiedener  Intensität  und  variierender  Lokali¬ 
sation,  zuweilen  so  heftig,  daß  sie  den  Kranken  arbeitsunfähig 
und  lebensüberdrüssig  machen,  sodann  in  den  Folgen  der  chro¬ 
nischen  Verstopfung,  die  man  kurz  unter  „Autointoxikation“  zu¬ 
sammenfaßt:  Kopfschmerzen,  Anfälle  von  Nausea,  Appetitmangel, 
Gewichtsverlust,  auffallend  kalte  Hände  und  Füße,  geistige  Apathie, 
ständiger  fauliger  Geschmack  im  Munde,  Anfälle  von  Spannungen 
im  Leibe,  allgemeine  Muskelsehmerzen  usw.  Die  hartnäckige  Ver¬ 
stopfung  widerstand  jeder  Behandlung,  ein  Patient  hatte  zuweilen 
28  Tage  lang  keine  Stuhlentleerung.  Der  Hauptsitz  der  Obstruktion 
variierte  bei  verschiedenen  Kranken,  demgemäß  auch  die  Lage 
des  Maximums  der  Empfindlichkeit  bei  der  Palpation.  Das  Cökum 
war  in  der  Regel  im  Becken  und  sehr  erweitert,  in  einigen  Fällen 
war  es  in  der  rechten  Fossa  iliaea  fixiert.  Das  Colon  traris- 
versuim  King  unterhalb  des  Nabelniveaus,  sein  mittlerer  Teil 
befand  sich  im  Becken,  ebenso  war  gewöhnlich  das  Ileum  ganz 
im  Becken.  Arbuthnot  Lane  machte-  nun  die  Laparotomie 
und  untersuchte  die  Eingeweide.  Nachdem  er  den  tiefsten  Punkt 
des  Verschlusses  gefunden  hatte,  durchtrennte  er  das  Ileum  und 
pflanzte  dessen  proximales  Ende  seitlich  in  den  tiefsten  zugäng¬ 
lichen  Teil  des  Colon  ileopelvicum  ein.  In  einzelnen  Fällen, 
wenn  früher  der  Schmerz  besonders  heftig  gewesen,  wurde  das 
Kolon  bis  zum  Sitze  der  Anastomose  entfernt,  indem'  man  das 
Mesokolon  stückweise  unterband  und  sodann  oberhalb  der  Liga¬ 
turen  durchschnitt.  Nach  der  Operation  wurde-  eine  lange  Oeso- 
phagussonde  durch  den  Anus  aufwärts  geführt  und  vier  bis  fünf 
Tage  lang  liegen  gelassen.  Bei  der  Operation  fand  man  zu¬ 
meist  schwere  Adhäsionen,  welche  den  Darin  an  die  hintere 
Rauchwand  so  anh-efteten,  daß  er  in  einem  spitzen  Winkel  ab- 
g-ebogen  und  daneben  oft  noch  um  seine  Längsachse  gedreht  war. 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


839 


In  einzelnen  lallen  war  das  Hindernis  durch  statische  Mo¬ 
mente  bedingt.  Verf.  beschreibt  sodann  das  durch  den  Eingriff 
gebesserte  Befinden,  das  Schwinden  der  Symptome  der  Auto¬ 
intoxikation,  das  Schwinden,  resp.  Nachlassen  der;  Schmerzan- 
fallc.  Zwei  Mißerfolge  durch  Neubildung  von  Adhäsionen.  Nicht 
alle  Operierten  sind  vollkommen  gesund  geworden,  wohl  aber 
die  Mehrzahl  derselben,  während  der  Rest  ein  erträgliches  Leben 
führte.  Verf.  beschreibt  schließlich  in  Kürze  seine  50  Beobach¬ 
tungen.  In  33  Fällen  hat  er  sich  persönlich  von  der  Heilung, 
respektive  dem  Besserbefinden  der  Operierten  überzeugt,  in  dem 
Reste  der  Fälle  durch  Berichte  der  behandelnden  Aerzte  oder 
durch  Berichte  aus  dein  Guys  Hospital.  Vom  Juni  1909  bis 
Juni  1910  wurden  im  genannten  Spitale  16  Kranke  operiert, 
von  welchen  nur  einer  starb,  sieben  Tage  nach  der  Operation! 
infolge  Berstens  eines  Abszesses  der  Bauch  wand  ins  Peritoneum! 
Verf.  bespiicht  schließlich  die'  schweren  Folgen  einer  kontinuier¬ 
lichen  und  jahrelangen  bakteriellen  Infektion  seitens  der  Intestina 
(Einfluß  auf  die  Tuberkulose  und  die  Entstehung  von  Arterio¬ 
sklerose,  den  schädigenden  Einfluß  auf  das  Herz,  Leber  und 
Nieren  usw.)  und  schließt  mit  den  Worten:  Sollte  die  Zukunft 
eine  Bestätigung  dieser  Beobachtungen  bringen,  so  erscheint  die 
Annahme  berechtigt,  daß,  bis  wir  nicht  andere  Mittel  zur  Hem¬ 
mung  dieser  Absorption  kennen  gelernt  haben,  die  Ileo-  KolostonRe 
eine  der  alltäglichsten  Operationen  sein,  wird !  — .  (Berliner  klinische 
Wochenschrift  1911,  Nr.  17.)  E.  F. 

* 

586.  Swedenborg  über  das  Rückenmark.  Von  M.  Neu¬ 
burger-Wien.  Swedenborg  hat  auf  fast  allen  Gebieten  der 
Physiologie  bahnbrechend  gewirkt.  Vielen  der  von  ihm  vertre¬ 
tenen  Anschauungen,  welche  erst  die  jüngste  Forschung  als  zu 
Recht  bestehend  erwiesen  hat,  merkt  man  nicht  an,  daß  sie 
vor  mehr  als  100  Jahren  ausgesprochen  wurden.  Swedenborg 
hat  bereits  die  höheren  psychischen  Funktionen  und  die  Wahr¬ 
nehmung  durch  die  Sinne  auf  das  Hirngrau  übertragen.  Die 
motorischein  Zentren  werden  von  ihm  schon  vielfach  korrekt 
lokalisiert  und  die  Beziehungen  zwischen  den  Corpora  quadri- 
gemina  und  den  Augenbewegungen  erkannt.  Es  mehren  sich  ferner 
die  Anzeichen,  daß  Swedenborgs  Theorien,  die  chemische 
Aktivität  gewisser  Gehirnteile  betreffend,  so  der  Glandula  pitui- 
taria,  wenigstens  zum  Teil  sich  als  gerechtfertigt  erweisen  wer¬ 
den.  Diese  Drüse,  deren  Beziehungen  zu  höchst  wichtigen  Funk¬ 
tionen  des  Organismus  die  letzten  Jahre  deutlich  gezeigt  haben, 
bezeichnet  Swedenborg  als  das  chemische  Laboratorium  des 
Gehirnes.  Swedenborg  hat  in  die- Funktion  des  Rückenmarkes 
bereits  einen  sehr  tiefen  Einblick  gehabt.  Wir  verdanken  ihm 
die  Kenntnis  von  der  relativen  Selbständigkeit  des  Rückenmarkes 
gegenüber  dem  Gehirne,  die  Erkenntnis  von  der  vermittelnden 
Rolle,  welche  die  graue  Substanz  des  Rückenmarkes  bei  den  von 
der  Gehirnrinde  ausgehenden  Impulsen  spielt.  Als  Sitz  der  Tätigkeit 
des  Rückenmarks  wird  von  Swedenborg  die  graue  Masse, 
die  den  Zentralkanal  umgibt,  betrachtet.  Die  segmentäre  Teilung 
des  Rückenmarkes,  den  Wirbelkörpern  entsprechend,  ist  in  Swe¬ 
denborgs  Lehren  bereits  angedeutet.  Danach  empfangen  die 
vorderen  Wurzeln  der  Spinalnerven  Fasern  vom  vorderen  Teile 
der  grauen  Substanz  des  Rückenmarkes,  die  hinteren  Wurzeln 
aber  werden  mit  Fasern  vom  vorderen  und  hinteren  Teile  der 
grauen  Substanz  versehen,  immer  aber  von  der  entgegengesetzten 
Seite,  so  daß  eine  Kreuzung  der  Fasern  stattfindet.  Es  muß  als 
eine  höchst  bemerkenswerte  Erscheinung  angesehen  werden,  daß 
Swedenborg  ohne  die  nötigen  Hilfsmittel,  nur  durch  die  intui¬ 
tive  Kraft  seines  Geistes,  mehrere  Fundamentaltatsachen  der  Ar¬ 
chitektonik  des  Rückenmarks  erkannt  hat,  eine  Eigenschaft,  die 
keiner  seiner  Zeitgenossen  besaß.  —  (Internationaler  Sweden¬ 
borg-Kongreß,  London,  4.  bis  8.  Juli  1910.)  sz. 

* 

587.  Der  mandschurische  Typhus,  sein  klinisches 
Bild  und  sein  Erreger;.  Von  Prof.  S.  S.  Botkin  (St.  Peters¬ 
burg)  und  Prof.  S.  S.  Simnitzki  (Kasan).  Auf  Grund  des  Stu¬ 
diums  einzelner  Krankheitsfälle  sowohl,  als  auch  der  epidemischen 
Verbreitung  des  sogenannten  mandschurischen  Typhus  und  der 
bezüglichen  bakteriologischen  Untersuchungen  stellt  diese  Ivrank- 
beit  einen  Morbus  sui  generis  dar,  wenngleich  sie  in  die  Gruppe 
der  typhösen  und  verwandten  Infektionen  gehört.  Besonders 


charakteristisch  für  diese  Krankheit  ist  nebst  dem  plötzlichen 
Beginn  unter  Schüttelfrost  die  Eruption  von  kleinen,  roseola- 
artigen  und  petechialen  F leckchen,  die  gewöhnlich  am  dritten 
bis  vierten  Tage  reichlich  am  ganzen  Körper  auftreten.  Was  die 
anderen  klinischen  Symptome  von  seiten  des  Magendarmkanals, 
Milz,  Atmungsorgane  usw.,  anbelangt,  so  sind  sie  denen  des  Ab¬ 
dominaltyphus  (ähnlich  und  bieten  nichts  Charakteristisches.  Die 
Prognose  quoad  vitam  et  valetudinem  cornpletam  ist  gewöhnlich 
eine  gute  bei  rein  symptomatischer  Therapie.  Der  Erreger  des 
mandschurischen  Typhus  gehört  biologisch  in  die  Gruppe  der 
koh-typhösen  Mikroorganismen.  Bemerkenswert  ist  vielleicht  noch, 
daß  der  „mandschurische“  Typhus  auch  in  Rußland  vorkommt! 
—  (Zeitschrift  für  klinische  Medizin,  Bd.  72,  H.  3  und  4.) 

K.  S. 

* 

088.  Einige  wichtige  U  eher  ei  ns  tim  mun  gen 
zwischen  Swedenborg  und  den  modernen  Physiolo¬ 
gen.  Von  M.  Neuburger:- Wien.  Swedenborg,  der  wegen 
seiner  Universalität  mit  Recht  den  Namen  des  schwedischen 
Aristoteles  führt,  hat  die  mannigfachsten  Berührungspunkte 
mit  der  modernen  Physiologie.  Das  Blut  war  ilmi  nichts  weniger 
als  eine  tote  Masse.  Er  wußte  nicht  allein,  daß  dasselbe  das 
Nährmaterial  für  den  Körper  mit  sich  führe,  sondern  er  ahnte 
auch  seine  Beziehungen  zur  atmosphärischen  Luft.  Große  Bedeu¬ 
tung  schrieb  er  den  chemischen  Eigenschaften  der  Salze  im 
Blute  zu.  Man  glaubt,  irgendein  modernes  Werk  zu  lesen,  wenn 
man  in  seiner  „Oekonomi©  des  tierischen  Königreichs“  von  beson¬ 
deren  Eigenschaften  des  Blutes,  je  nach  dem  Organ  und  je'  nach 
der  Tierart,  von  Aenderungen  desselben  unter  dem  Einfluß  des 
Alters,  des  Temperaments  usw.  liest.  Vor  der  Mitte  des  19.  Jahr¬ 
hunderts  hatte  kein  Physiologe  so  klare  Anschauungen  über  das 
Leben  des  Organismus  wie  Swedenborg.  Er  betonte  die 
wechselseitigen  Beziehungen  zwischen  den  Organen,  welche  gegen¬ 
wärtig  in  der  Lehre  von  der  inneren  Sekretion  ihr  wissenschaft¬ 
liches  Fundament  erhielten.  Die  Funktion  eines  Organs  wurde 
von  ihm  als  abhängig  erkannt  von  der  Funktion  seiner  elemen¬ 
taren  Teile  oder  wie  wir  heute  sagen,  seiner  Zellen.  Das  be¬ 
merkenswerte  Phänomen  der  spezifischen  Ernährung  wurde  von 
ihm  nicht  auf  Zufälligkeiten  des  vom  Herzen  in  die  Organe 
dirigierten  Blutes,  sondern  auf  die  besonderen  Gesetze  des  Zell¬ 
lebens  zurückgeführt.  Das  Blutserum  wird  von  den  Geweben 
nach  Swedenborg  angezogen.  Er  erkannte  die  Permeabilität 
der  tierischen  Membranen  und  die  Bedeutung  der  Leber  und 
des  Pankreas  bei  der  Entgiftung  des  Körpers.  In  fast  allem, 
was  Swedenborg  schrieb,  übertraf  er  seine  Zeitgenossen.  Er 
war  von  visionärem  Geiste  erfüllt  und  sah  vieles  voraus,  was 
erst  die  modernste  Physiologie  als  ihren  sicheren  Besitzstand 
anerkennt.  (Internationaler  S w eden bor g- Kongreß,  London, 

4.  bis  8.  Juli  1910.)  sz 

* 

*  v 

589.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  in  Marburg.)  Behand¬ 
lung  eines  Falles  von  perniziöser  Anämie  mit  Injek¬ 
tionen  polyzythämischen  Blutes.  Von  Dr.  E.  Walter. 
Ein  öOjähriger  Arbeiter  zeigte  das  charakteristische  Blutbild  der 
perniziösen  Anämie :  700.000  bis  900.000  rote  Blutkörperchen, 
20°/o  Hämoglobingehalt,  Verminderung  der  weißen  Blutkörperchen 
auf  4J00,  dann  Poikylozytose.,  deutliche  Polychromatophilie,  Vor¬ 
handensein  reichlicher,  kernhaltiger  roter  Blutkörperchen,  Megalo¬ 
blasten  usw.  Der  Mann  sah  leichenblaß  aus,  hatte  starken  As¬ 
zites,  großen  doppelseitigen  Hydrothorax,  Oedeme  der  unteren 
Extremitäten,  Die  Therapie  (Eisen  und  Arsen,  letzteres  auch  sub¬ 
kutan,  Glyzerin  per  es,  Darmspülungen  und  Darmdesinfizientien) 
blieb  ohne  Einfluß,  intravenöse  Injektion  defibrinierten  Blutes 
riefen  alarmierende  Symptome  (Atemnot,  grobe  Unregelmäßig¬ 
keiten  des  Pulses)  hervor,  wurden  daher  bald  sistiert.  Nun  wur¬ 
den  systematisch  intramuskuläre  Injektionen  mit  dem  Blute  einer 
Patientin  gemacht,  die  damals  gleichzeitig  wegen  echter  Poly¬ 
zythämie  in  Behandlung  stand.  Diese  Kranke  hatte  elf  Millionen 
rote  Blutkörperchen,  15.000  weiße,  160%  Hämoglobin,  blaurote 
Hautfarbe  usw.  Man  nahm  also  dieser  Kranken  anfangs  alle  fünf, 
später  alle  acht  Tage  ca.  50  cm3  Blut,  defibrinierte  und  filtrierte 
es  und  injizierte'  es  dem  anämischen  Kranken,  anfangs  10,  später 
15  bis  20  cm3  intraglutäal.  Nach  einigen  derartigen  Injektionen 


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besserte  sich  der  Zustand  des  Kranken,  die  Oedeme  schwanden, 
das  Blutbild  wurde  ein  besseres.  Nach  der  14.  Injektion  (im 
ganzen  wurden  15  Injektionen  gemacht)  hatte  Pat.  ungefähr  nor¬ 
male  Blutworte  erreicht,  90%  Hämoglobin.  Er  ging  nach  Hause, 
hatte  einen  Monat  später  eine  interkurrente  Krankheit,  die  ihn 
sehr  herunterbrachte,  kam  wieder  an  die  Klinik,  woselbst  ihm 
Arsen  und  Eisen  gereicht  wurden,  w.onach  er  sich  rasch  wieder 
vollkommen  erholte.  Sein  Blutbild  bietet  jetzt  normale  Zahlen 
für  rote  und  weiße  Blutkörperchen,  bei  einem  Hämoglobingehalt 
von  75%.  Verf.  möchte  aber  trotzdem  noch  nicht  von  Heilung 
sprechen,  sondern  nur  sagen,  daß  durch  diese  Injektionen  poly¬ 
zythämischen  Blutes  bei  dem  Kranken  eine  auffällig  günstige 
Beeinflussung  des  Krankheitsbildes  hervorgerufen  wurde*.  Bei  der 
perniziösen  Anämie*  kommen  des  öfteren  auch  weitgehende  Re¬ 
missionen  vor;  der  Grad  und  die*  Dauer  der  erzielten  Besserung 
(länger  wie  drei  Vierteljahre)  geht  aber  über  das  Maß*  der  üb¬ 
lichen  Remissionen  hinaus.  Auch  ging  die  Besserung  so  parallel 
mit  der  Zahl  rind  Größe*  der  Injektionen  vor  sich,  daß  ein  ge¬ 
wisser  Kausalnexus  nicht  abzuweisen  1st.  Wir  stellen  uns  die 
Wirkung  gewöhnlicher  Blutinjektionen  bei  *Chloros*e  und  anderen 
sekundären  Anämien  als  durch  chemische  Reizung  des  röten 
Knochenmarkes  bedingt  vor,  in  gleicher  Weise  können  wir  hier 
in  dem  hyperglobiscben  Blute  eine  besonders  starke  derartige 
Rieizquelle  vermuten.  —  (Medizinische  (Klinik  1911,  Nr.  19.) 

E.  F. 

* 

Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

590.  Die  Prognose  tuberkulöser  Läsionen  eines 
ganzen  oder  mehr  als  eines  Lappens..  Von  J.  Walsh. 
Tuberkulöse  Läsionen,  welche*  einen  Lappten  der  linken  Lunge 
betroffen,  zeigen  gewöhnlich  eine  bessere*  Prognose  als  Läsionen 
derselben  Größe  in  der  rechten  Lunge.  Einei  Erklärung  hiefür 
scheint  darin  zu  liegen,  daß  große  Läsionen  linkerseits  häufig 
sekundär  auf  treten,  nachdem  bereits  durch  eine  rechtseitige  Affek¬ 
tion  eine  gewissei  Immunisierung  erreicht  wurde.  Erfahrungs¬ 
gemäß  geben  die  tuberkulösen  Läsionen  des  linken  Oberlappens 
dann  eine  bessere  Prognose*,  wenn  rechterseits  ein  Spitzenprozeß 
ausgeheilt  ist.  Eine  andere*  für1  die  heisrere  Prognose  der  links¬ 
seitigen  Phthise  gegebene  Erklärung,:  daß  die  Verziehung  des 
Herzens  und  der*  großen  Gefäße  nach  rechts  bei  rechtste i tigern 
Prozesse  die  Prognose*  ungünstiger  gestalte,  erwies  sich  bei  Prüfung 
dieser  Verhältnisse  an  Leichen  nicht  als  stichhaltig.  —  (The 

American  Journal  of  the*  Medical  Science,  April  1911.)  sz. 

* 

591.  Typhus-Meningitis.  Von  V.  Dawid  und  F.  Spedk. 
In  unkomplizierten  Fällen  von  Typhus*  werden  Typhusbazillen 
in  der  Zerebrospinalflüssigkeit  nicht  gefunden.  Typhuspatienten, 
welche  an  den  gewöhnlichen  nervösen  Begleiterscheinungen  dieser 
Krankheit  leiden,  wie*  starkes*  Kopfweih,  Delirium  usw.,  erfahren 
eine  Besserung  durch  Entnahme  von  Zerebrospinalflüssigkeit.  Bei 
Typhuspatienten,  welche  die  klassischen  Symptome  des  Menin¬ 
gismus  zeigen,  kann  die  Zerehrospinalflüsisigkeit  nichtsdesto¬ 
weniger  steril  sein.  Wenn  Typhüspatienten  meningeal©  Symptome, 
wie  Nackensteife,  das  Kernig  sehe*  Zeichen,  Konvulsionen,  Stra¬ 
bismus  oder  unregelmäßige*  Pupillen  zeigen,  soll  die  Lumbal¬ 
punktion  immer  voi  genommen  und  die  erhaltene  Flüssigkeit  bak¬ 
teriologisch  und  mikroskopisch  untersucht  werden.  —  (The  Jour¬ 
nal  of  the  American  Medical  Association,  21.  März  1911.)  sz. 

* 

592.  Primäre*  Naht  bed  subparietaler  Nieren¬ 
ruptur.  Von  F.  Gregory  Connell.  Sübparietale*  Nierenruptur 
kommt  häufiger  vor  als  nach  den  Berichten  in  der  Literatur  an- 
zunehmen  wäre.  Shock,  Verletzung  anderer  Organe  und  äußere 
Zeichen  eines  Traumas  fehlen  häufig.  Wenn  in  der  Anamnese 
eine  Gewalteinwirkung  auf  das  Abdomen  angegeben  ist,  welche 
von  Rigidität  der  Baucbdeckten  und  Hämaturie  gefolgt  ist,  so 
genügt  dies,  um  zur  Freilegung  der  Niere  zu  veranlassen.  I, eichte 
Verletzungen  und  komplette  Ruptur  dien  Niere  können  durch 
klinische  Zeichen  nicht  differenziert  werden.  Eine*  ernstei  Ver¬ 
letzung  der  Niere  muß  ausgeschlossen  werden,  hievor  man  sich 
zur  sogenannten  exspektativen  Behandlung  ents'chließt.  Die  Ne¬ 
phrektomie  soll  für  sehr  ausgedehnte  Schädigung  des  Organs 
reserviert  werden.  Konservative  Behandlung  mit  Naht  des  Organs 


ist  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  angezeigt.  —  (The  Journal  of  the 

American  Medical  Association,  25.  März  1911.) 

* 

593.  Einige  einfache  Wahrheiten,  Arsen obemz ol 
betreffend.  \Ton  W.  Gottheil.  Arsenobenzol  heilt  die  Sy¬ 
philis  nicht,  obgleich  es  ihre  Symptome  mit  großer  Schnelligkeit 
zum  Verschwinden  bringt  und  unmittelbarer  wirken  mag,  als 
Quecksilber.  Es  ersetzt  das  Quecksilber  in  der  Behandlung  ge¬ 
wöhnlicher  Fälle*  nicht  und  wenn,  es  , angewendet  wird,  soll  es 
von  der  gewöhnlichen  0 uecklsilbterm edikation  gefolgt  sein.  Es 
ist  indiziert:  ln  Frühfällen,  wo  es  besonders  wünschenswert 
ist,  alle*  Symptome  so  rasch  als  möglich  zu  beseitigen,  sei,  es 
aus  sozialen  Gründen,  oder  um  die  Gefahr  der  Ansteckung  zu 
vermeiden.  Ferner  in  veralteten  oder  -gegenüber  der  Quecksilber- 
therapie  refraktären  Fällen;  in  Fällen,  in  denen  lebenswichtige 
Organe  bedroht  sind  und  wo  dringende  Hilfe  nottut;  in  Fällen, 
die*  keiner  sorgfältigen  und  systematischen  Behandlung  ödete  Beob¬ 
achtung  unterzogen  werden  können.  Es  ist  kontraindiziert:  In 
Fällen,  die  ernste  innere  < ) r g a,n v er *i ndte m ngen  haben,  in  Fällen 
mit  Läsionen  irgendeines  Augennerven,  ferner  bei  dein,  Spätfonnen 
der  Lueis,  wie  Tabes  und  Paralyse.  Die  beste  Methode  der  An¬ 
wendung  ist  die  intramuskuläre,  wobei  klarte  Lösungen  ange- 
wendet  werden  und  der  Quadratus  lumborum  zur  Injektion  ge¬ 
wählt,  wird.  Spitalspflege  oder  entsprechende  Pflege  zu  Hause 
ist  notwendig.  Das  Mittel  soll  nie  an  Ambulanten  angewendet 
werden.  —  (The  International  Journal  of  Surgery,  März  1911.) 

sz. 

* 

Aus  englischen  Zeitschriften. 

594.  Bemerkungen  über  die  Behandlung  .der  Sy¬ 
philis  mit  D  ioxydiamidoarsenohenzol  („606“).  Von 
C.  F.  Marshall.  Es  müssen  vor  allem  die  Fragen  beantwortet 
weiden,  ob  das  Arsenobenzol  Jod  und  Quecksilber  in  der  Be¬ 
handlung  der  Syphilis  zu  ersetzen  vermag  oder,  wenn  dies  nicht 
den"  Fall  ist,  als  drittes  Antisyphilitikuni  neben  diesen  beiden  ! 
Mitteln  zu  betrachten  ist.  Von  einem  Mittel,  welches  Quecksilber 
und  Jod  aus  deir  Syphilistherapie  verdrängen  soll,  muß  verlangt 
werden,  daß  es  den  Ausbruch  der  Allgenieinsymptomte  verhindert, 
das  heißt,  abortiv  wirkt,  auch  das  Auftreten  tertiärer  und  para- 
syphilitischer  Läsionen  verhindert,  außerdem  die  Manifestationen 
der  Syphilis  rascher  und  konstanter  heilt,  als  Quecksilber  und 
Jod,  ferner  keine  toxischen  Nebenwirkungen  besitzt.  Die  starke 
Wirkung  deis  Arsenobenzols  bei  Rekurrensinfektion  der  Ratten 
ließ  eine  abortive  Wirkung  bei  Syphilis  im  Sinne  der  Therapia 
sterilisans  magna  erhoffen.  Bisher!  ist  jedoch  noch  kein  Beweis 
dafür  erbracht;  weder  das  Negativwe-rden  der  W as's'ermann- 
schen  Reaktion,  noch  das  Vorkommen  von  Reinfektion  sind  als 
sicherer  Beweis  der1  Ausheilung  der  primären  Infektion  zu  be¬ 
trachten.  Heber  die  Verhütung  -des  Auftretens  tertiärer  und  para- 
syphilitischer  Läsionen  läßt  sich  bei  der  Küteze  der  Beobachtungs- 
zeit  noch  kein  Urteil  abgeben.  Auch  hinsichtlich  der:  Raschheit 
und  Konstanz  der*  Wirkung,  sowie  der  Verhütung  von  Rezidiven 

ist  das  Arsenobenzol  den  bisher  gebräuchlichen  antisyphiliti- 
schem  Mitteln  nicht  durchaus  überlegen.  Es  kommen  Fälle  vor, 
wo  Arsenobenzol  rascher  wirjet,  doch  sind  dies  oberflächliche 
Ulzerationen  und  Plaques,  die*  auch  durch  Quecksilber  zu  rascher 
Heilung  kommen  können.  Bei  Viszeriajsyphilis,  Tabes,  Paralyse 
und  Leukoplakie  hat  sich  das  Arsenobenzol  als  machtlos  er¬ 
wiesen.  Das  Auftreten  von  Rezidiven  wurde  zunächst  auf  An¬ 
wendung  zu  kleiner  Dosen  zurückgeführt,  doch  wurden  auch 
nach  den  jetzt  gebräuchlichen  Dosen  von  0-6  g  Rezidive  beob¬ 
achtet.  Aus  alldem  geht  hervor,  daß  gegenwärtig  das  Arseno-  , 
benzol  das  Quecksilber  in  der,  Syphilistherapie  nicht  z,u  ersetzen 
vermag.  Das  Arsenobenzol  wird  auch  zur  Behandlung  gegen 
Quecksilber  resistenter  Fälle  empfohlen,  doch  ist  zu  bemerken, 
daß  wirkliche  Resistenz  gegen  Quecksilber  selten  ist  und  ver¬ 
meintliche  Resistenz  meist  auf  unrichtiger;  Anwendungsweise  be¬ 
ruht.  Wie*  wichtig  der  Modus  der  Anwendung  ist,  zeigt  eine 
Beobachtung  von  tertiärer  Syphilis,  die*  sich  gegen  Quecksilber 
und  Jod  anscheinend  völlig  resistent  verhielt,  aber  durch  Dar¬ 
reichung  kleiner  JodkaJiümdpsen  ,in  großen  Mengen  heißen 
Wassers  zur  Heilung  kam.  Hinsichtlich  der  toxischen  Wirkungen 
ist  zu  bemerken,  daß  das  Arsenobenizol  bereits  eine  Anzahl 


Nr.  2H 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


841 


von  I odesfällen  bewirkt  hat  und  die  intravenöse  Injektion  große 
Gefahren  mit  «ich  bringt,  auch  ist  die  Bildung  örtlicher  Nekrosen 
y.u  ei  wähnen,  ferner  das  Vorkommen  von  Nierenreizung;  sowie 
Beo  bat  htungen  über  Sehnervenatrophie»  Nach  den  vorliegendem 
Erfahrungen  ist  das  Arseno'hicnzol  kein  vollwertiger  Ersatz  des 
Quecksilbers;  es  heilt  wohl  rasch,  aber  weder  konstant,  noch 
dauernd  bestimmte  syphilitisch©  Läsionen,  besitzt  keine  abortive 
Wirkung,  seine  Anwendung  ist  nicht  frei  von  Gefahren,  so  daß 
cs  vorläufig  nur  in  Fällen,  wo  wirkliche  Resistenz  gegen  Otieck- 
silber  besteht,  indiziert  erscheinen  konnte.  (The  Lancet,  25.  Fe¬ 
bruar  1911.). 

♦ 


a.  e>. 


595.  Der  gastrische  Ursprung  der  Angina  pecto¬ 
ris-  'Von  H.  Walter  V  erd  on.  Die  Beobachtung  eines  Falles, 
wo  ein  schwerer  Anfall  von  Angina  pectoris  durch  Einführung 
einer  Sonde  in  die  Speiseröhre,  wodurch  reichliche  Ruktus  aus 
gelöst  wurden,  behoben  wurde,  führt  zu  der  Annahme,  daß  der 
Anfall  durch  abnorme  tGasanhäulu ng  im  Magen  ausgelöst  wird 
und  lauf  dem  Wege  des- Reflexes  zustande  kommt.  Dieser  Anfalls 
typus  scheint  häufig  zu  sein  und  es  finden  sich  bei  der  Be- 
(Schreibung  der  Anfälle  von  Angina,  pectoris;  Magensymptome  er¬ 
wähnt,  welche  iiii  Krankheitsbildo  stark  herVortreteu.  In  die 
gleiche  Kategorie  gehören  die  nicht  seltenen  Fälle,  wo  der  Tod 
im  Anfall  erfolgt  und  hei  der  Obduktion  keine  Veränderungen  an 
den  Koronararterien  gefunden  werden.'  Eine  Beobachtung  des 
Verfassers  zeigte,  daß  unter  bestimmten  Bedingungen  Gasan¬ 
häufung  im  Magen  Anfälle  aus  lösen  kann,  die  sich  von  typischer 
Angina,  pectoris  nicht  unterscheiden  lassen.  Es  ist  anzunehmen, 
daß  die  Spannung  der  Wand  des  Magens  und  der:  Speiseröhre 
auf  den  PJexujs  oesophagealis  einwirkt,  welcher  vom  Vagus  ge¬ 
bildet  wird  und  in  den  auch  Sympathikus  fasern  ein  bezogen  sind. 
Wichtige  Sympathikusfasern  gehen  vom  oberen  Brustmark  aus, 
welche  zunächst  in  den  Grenzstrang,  dann  in  den  hinteren  Pul 
monalplexus  ziehen  und  'sich  an  die  vom  Vagus  gelieferten 
Fasern  des  Plexus  pharyngeus  anschließen,  ln  dem  mitgeteilten 
Falle  bestanden  während  des  Anfalles  Schmerzen  im  Gebiete 
des  zweiten  bis  vierten  Interkostalnerven,  deren  Wurzeln  parallel 
mit  den  zum  Plexus  oesophageus  .ziehenden  Fasern  verlaufen. 
Die  Zusammen ziehung  der  Magen-  und  Oesophaguswand  um  die 
angehäuften  Gase1  löst  den  zum  Anfall  führenden  Reflexmecha- 
nismus  aus  und  'dle|r  Anfall  selbst  hört  auf,  wenn  die;  Magengas© 
entweichen.  Nach  der  herrschenden  Anschauung  ist  die  Angina 
pectoris  durch  vollständige  oder  unvollständige,  funktionelle  oder 
mechanische  Obstruktion  der  Koronararterien  bedingt.  Diese  An¬ 
schauung  ist  aber  nicht  durchwegs  zutreffend,  da  bei  50%  der 
Fälle  Veränderungen  des  Herzens  und  der  Koronararterien  fehlen. 
Diese  Fälle  werden  durch  Annahme  eines  KraJmpfes>  der  Koronar¬ 
arterien  erklärt,  doch  ist  es  erwiesen,  daß  eine  Kontraktion  der 
Koronararterien  überhaupt  durch  keinen  Reiz  aus, gelöst  werden 
kann.  Es,  läßt  sich,  ferner  aus  größeren  Statistiken  entnehmen, 
daß  Erkrankungen  der  Koronararterien  hei  Angina  pectoris  nicht 
häufiger  gefunden  werden,  als  bei  anderen  Zirkulationsstörungen ; 
auch  findet  sich  der  Hinweis,  daß  unter  allen  Eingeweidearterien 
die  Koronararterien  am  häufigsten  erkranken  und  bei  älteren  Indi¬ 
viduen  fast  ausnahmslos  erkrankt  sind.  Die  Beobachtung  lehrt 
weiter,  d,aß  die  Todesfälle  durch  Angina  pectoris  nach  dem 
60.  Lebensjahr  stark  abnehmen,  während  die  Häufigkeit  der  Er¬ 
krankung  der  Koronararterien  zunimmt.  Es  geht  daraus  hervor, 
daß  den  Erkrankungen  der  Koronararterien  für  die  Entstehung 
der  Anfälle  von  Angina  pectoris  überhaupt  keine  Bedeutung  zu¬ 
kommt,  wohl  .abler  durch  die  Ernährungsstörung  des  Myokards 
für  den  letalen- Ausgang  des  Anfalls.  Thrombose  und  Embolie 
der  Koronararterien  sind  nicht  Ursache,  sondern  Folge  der  Angina 
pectoris.  Die  Anfälle  entstehen  durch  einen  gastrischen  Reflex 
und  können  durch  eine  den  Magen  betreffende  Behandlung  be¬ 
seitigt  werden.  —  (Brit.  meid.  Journ.,  18.  März  1911.)  a.  e. 


596 .  Versuch  e  ü  b  e  r 
turns  be  i  Ra,t  t  e  n  un  d 


Hemmung1  des  Tu  m'orwachs- 
M ä  u  s eil,  n  ei  b  s  t  ©  i  n  e  m  V  o  r¬ 


s  c  h  lag  zur  Karzinom  be:  h  a  n  d  Tu  n  g  beim  Menschen.  Von 
Helen  G.  Grün  Raum  und  Albert  S.  Grünbaum..  Ein  Ergebnis 
der  E  h  r  1  i  chschen  Immunitätstheoriei  ist  der  Nachweis  von  Zyto- 
lysimen,  das  sind  Substanzen,  welche  fremde  Zellen  zerstören. 


Nach  Injektion  von  Zellen  einer,  fremden  Tierart  gewinnt  das 
Serum  des  injizierten  Tieres  zytolytische  Eigenschaften.  In  diesem 
Sinnt  wurden  einer  Kuh  Zellen  eines  Mammakarzinoms  inji¬ 
ziert,  ohne  daß  jedoch  Milch  oder  Blutserum  karzinolytischo 
Eigenschaften  annahmen.  In  der  Voraussetzung  der  Bildung  von 
Schutzs ub'stanzien  bei  Heren  mit.  Epitheliom  wurde  das  Serum 
einei  Stute  mit  Epitheliom  der,  Vulva,  verschiedenen  Krebs¬ 
kranken, 

Es  folgte 


darunter  einer  Patientin  mit  Uteruskarzinom  injiziert, 
auf  jede  lokal  vorgenommene  Injektion  eine  heftige 
Reaktion  und  das  früher  inoperable  Karzinom  nahm  operable 
Beschaffenheit  an,  doch  wurde  hei  späteren  Injektionen  mit  dem 
Sei  um  einer  anderen  Stute  mit  Epitheliom  eine  derartige  günstige 
Wirkung  nicht  mehr  wahrgenommen.  Spätere  Versuche  ergaben 
Rückbildung  von  Rattenkarzinomen  nach  Injektion  des  Serums 
von  Pferden  mit  Epitheliom,  sowie  von  gesunden  Pferden.  Eine 
weitere  Versuchsreihe  zeigte,  daß  eis  bei  Mäusen  und  Ratten 
nicht  möglich  ist,  gleichzeitig  Immunität  geigen  Kobragift  und 
gegen  neuerliche  Einimpfung  von  Karzinomgewebe  zu  erzielen; 
ebenso  gelingt  es  nicht,  nach  erfolgreicher  Einimpfung  von  Tu- 
morgewehe  Immunität  gegen  Kobragift  zu  erzielen.  Bei  Tieren, 
wo  die  Erzielung  der  Immunität  gelang,  wurde  Rückbildung  von 
Pumoren,  die  bereits  1  cm  Durchmesser  erreicht  hatten,  erzielt, 
ln  diesen  Fällen  ist  da,s  Vorhandensein  von  Antikörpern  als 
Produkt  aktiver  Immunisierung  anzrlnehimen  und  es  ist  auch  an¬ 
zunehmen,  daß  passive  Immunisierung  mit  Antiveninserum  ähn¬ 
liche'  V  irkungen  hervoi  bringt.  Es  wurdet  eine  Anzahl  von  Tieren 
mit  Antiköbragiftserum  behandelt  und  nur  in  jenen  Fällen  Rück¬ 
bildung  erzielt,  wo  der  Tumor  einen  Durchmesser  von  1-5  cm 
noch  nicht  überschritten  hatte.  Der  Erfolg  scheint  von  einem 
bestimmten  Verhältnis  zwischen  Tum origew i  c  h  t  und  Körpergewicht 
abzuhängen ;  aus  diesem  Grunde  ist  es  bei  Versuchen  am  Menschen 
ratsam,  die  Hauptmasse  des  Tumbr|s  operativ  zu  entfernen  und 
gleichzeitig  die  Behandlung  eiri'zuleiten.  Es  wurden  bisher  drei 
Fälle  von  »Karzinom  mit  Injektionen  von  Kobragift  und  Anti¬ 
kob  ragiftserum  zur  Erzielung  aktiver  und  passiver  Immünität 
behandelt,  doch  wurde  nichts  vom  Tumor  exstirpiert,  so  daß 
diese  Fälle  nur  für;  die-  Beurteilung  der  Unschädlichkeit,  nicht 
aber  der  Wirksamkeit  der  Methode  geeignet  sind.  -  (The  Lancet, 
1.  April  1911.)  a-  e. 

* 

597.  Sporotrichosis.  Von  E.  v.  Ofenheim.  Die  als 
Sporotrichose  bezeiclmete  Erkrankung  kommt  so  selten  vor,  daß 
die  Mitteilung  einzelner  Fälle  gerechtfertigt  erscheint.  Die  zirka 
19jährige  Patientin  war  Vior  sechs  Jahren  wegen  Halsdrüsen¬ 
schwellung  operiert  worden;  nach  drei  Jahren  stellte  sich  wieder 
Halsdiüsen Schwellung  ein,  welche  als  Hodgkinsche  Krankheit 
diagnostiziert  und  'mit  Röntgenstrahlen  erfolglos  behandelt  wurde. 
Die  Untersuchung  des  opsonischen  Index  machte  das  Vorhanden¬ 
sein  von  Tuberkulose  wahrscheinlich  und  es  wurden  Tuberkulin¬ 
injektionen  vorgenommen.  Seit  einigen  Monaten  bestand  auch 
eine  harte,  nicht  sehr  empfindliche,  bei  Nacht  stärker  schmer¬ 
zende  Schwellung'  über  dem  mittleren  Drittel  des  linken  Schien¬ 
beins.  Die  Diagnose  schwankte  zwischen  Tuberkulose,  Gumma 
und  Osteosarkom,  Tuberkulose  war  mit  Rücksicht  auf  die  Erkran¬ 
kung  der  Halsdrüsen  wahrscheinlich,  gegen  Gumma  sprach  die 
negative  Wassermann  sehe  Reaktion.  Während  im  weiteren 
Verlauf  die  Halsdrüsenschwellung  beträchtlich  zurückging,  nahm 
die  Schwellung  an  der  Tibia  zu  und  es  stellte  sich  Fluktuation 
ein.  Mit  der  Aspirationsnadel  wurden  2  c'm3  Blut  entnommen 
und  verschiedene  Nährböden  damit  geimpft,  die  direkte'  Blutunter¬ 
suchung  ergab  ein  negatives  Resultat.  Die  Schwellung  und 
Schmerzhaftigkeit  nahm  zu  und  eine  neuerliche  Aspiration  ergab 
2  c'm3  einer  dicken,  dunklen  Flüssigkeit,  die  sich  als  geronnenes 
Blut  erwies.  Dieses  Ergebnis,  sowie  der  Umstand,  daß  die  gegen 
die  Halsdrüsenschwellung  wirksame  Tuberkulinbebandlung  sich 
gegen  die  Affektion  der  Tibia  als  machtlos'  erwies,  legte  den  Ge¬ 
danken  an  eine  maligne  Neubildung  nahe.  Es  wurde  der  Herd 
an  der  Tibia  freigelegt  und  zwei  Fisteln  nachgewiesen,  die  in 
eine  mit  halbigelatinöser  Substanz  erfüllte  Höhle  führten,  die 
nicht  mit  dein  Knochenmark  kommunizierte.  Aus  den  bei,  der 
ersten  Aspiration  beschickten  Nährböden  gingen  hefeartige  Kul¬ 
turen  auf,  die  gleichen  Gebilde  wurden  an  den  bei  der  zweiten 
Aspiration  angelegten  Kulturen  nachgewiesen.  Tochterkulturen 


842 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  28 


auf  zuckerhaltigen  Nährböden  ergaben  nicht  die  von  Hefezellen 
gelieferten  Gärungsprodukte.  Abstriche  der  Tochterkulturen  er-  1 
gaben  zum  Teil  ein  Myzelinin  mit  Haufen  rundlicher,  erythro¬ 
zytengroßer  Sporen.  Es  kann  der  beschriebene  Fall  mit  großer 
\’v  ahrscheinlichkeit  den  Sporotrichosen  zugezählt  werden,  wenn 
auch  die  Lokalisation  im  Knochen  bisher  nicht  beschrieben 
wurde.  Für  Sporotrichose  sprechen  auch  in  dem  mitgeteilten 
Falle  drei  kleine  Geschwüre  an  der  Außenfläche  des  rechten 
Oberschenkels,  aus  denen  gleichfalls  die  charakteristischen  Mikro¬ 
organismen  in  Reinkultur  gezüchtet  werden  konnten.  —  (The 
Lancet,  11.  März  1911.)  a.  e. 


Ungarischer  Brief. 

Allmählich  beginnen  die  ungarischen  Aerzte  auch  in  der 
Fliege  der  äußeren  Standesbeziehungen  und  Lebensart  nach  dem 
bewährten  Muster  der  ausländischen  Kollegen  zu  leben.  Früher 
immerwährend  in  das  Joch  des  schweren  und  verantwortungs¬ 
vollen  Berufes  gespannt  und  sich  nie  etwas  Erholung  gönnend, 
benützen  jetzt  unsere  Aerzte  die  alljährlich  sich  wiederholenden, 
nach  den  Disziplinen  sich  scheidenden,  Kongresse,  um  nebst 
der  Erholung  des  Körpers  a,uch  die  Kenntnisse  aufzufrischen. 
Am  31.  März  d.  J.  traten  die  Baineologen  Ungarns  zum 
XXI.  Landeskongreß  zusammen,  um  im  Kreise  der  Fachgenossen 
ihre  Erfahrungen  auszutauschen  und  hiebei  ereignete  es  sich 
heuer  zum  ersten  Male,  daß  auch  aus  dem  benachbarten  Oester¬ 
reich  eine  Abordnung  des  dortigen  „Zenjxal  verbandes  der  Balneo- 
logen“  an  den  Verhandlungen  aktiv  teilnahm.  Ein  Ereignis, 
dessen  soziale  und  wissenschaftliche  Tragweite  gewiß  hoch  ein¬ 
zuschätzen  ist  und  deshalb  raschest  auch  den  Fernstehenden 
vermittelt  werden  soll. 

Mehr  für  die  Gesamtheit  der  praktizierenden  Aerzte 
Ungarns  von  Bedeutung  wird  der  anfangs  Juni  in  Budapest  ta¬ 
gende  ,,1V.  Kongreß  der  ungarischen  Chirurgen“  sein. 
Denn  wie  immer,  hat  auch  diesmal  das  Präsidium  der  Vereini¬ 
gung  dafür  Sorge  getragen,  daß  sehr  wichtige,  jeden  Arzt  inter¬ 
essierende  Fragen  der  kleinen  und  der  großen  Chirurgie  zur 
Erörterung  kommen  sollen  und  daß  die  Referate  den  besten 
Köpfen,  oder  was  in  diesem  Falle  noch  wichtiger  ist,  den  besten 
Händen  anvertraut  werden.  In  den  anberaumtem  vier  Sitzungen 
wird  nebst  der  Vorstellung  interessanter  Fälle'  noch  über  folgende 
Probleme  diskutiert  werden :  1 .  Die  B © z  i e h u n ;g e n  d e r  Zucker¬ 
krankheit  zur  Chirurgie.  2.  Die  Beckeneit©runge|n. 
3.  Die  radikale  Heilung  der  Brüche.  Ueberdies  haben 
Prof.  Dollinger,  Haberern,  Fischer,  Verebely,  Kuzmik, 
Chudovszky,  Pölya,  Makara  usw.  mehrere  die  alltägliche 
Praxis  betreffende  Vorträge  angemeldet,  so  daß  außer  Zweifel  auch 
die  IV.  Tagung  unserer  Chirurgen  für  die  Fortbildung  der  hier¬ 
ländischen  Aerzte  von  großem  Nutzen  sein  wird. 

Es  wird  ja  erfreulicherweise  jetzt  immer  mehr  Gewicht 
darauf  gelegt,  daß  sich  unsere  bereits  in  der  Praxis  stehenden 
Aerzte  von  Zeit  zu  Zeit  mit  der  rastlos  vorwärts  schreitenden 
Medizin  ä  jour  halten  können  und  sollen.  Wie  im  Auslande, 
bestehen  schon  seit  dem  Jahre  1883  auch  in  Ungarn  sogenannte 
„Fortbildungskurse  für  Aerzte“.  Während  der  bisher  ver¬ 
flossenen  25  Jahre  haben  an  den  abgehaltenen  14  Kursen  ca.  1000 
praktische  Aerzte  teilgenommen  und  da  sich  überdies  unter  dem 
Protektorate  der  Regierung  auch  die  „Zentralkom  mission 
für  ärztlich^  Fortbildung“  konstituiert  hat,  so  wird  die 
Fortbildung  nunmehr  in  größerem  Ausmaße  und  mit  mehr  Um¬ 
sicht  vor  sich  gehen  können.  Programmgemäß  sollen  nicht  nur 
in  Budapest  und  in  Kolozsvär,  den  zwei  Universitätsstädten  des 
Landes,  sondern  auch  an  anderen  Orten,  wo  bedeutende  Spitäler, 
Heilanstalten  und  Hebammeninstitute  mit  lehrreichem  Kranken¬ 
materiale  vorhanden  sind,  derlei  Fortbildungskurse  abgehalten 
werden.  Bedauerlich  ist  nur,  daß  die  gewiß  berücksichtigens;- 
werten  Gebiete  der  Sozialen  Hygiene  und  Medizin,  heuer  gar 
nicht  aufs  Tapet  gelangen  werden,  während  es  schon  im  Inter¬ 
esse  der  öffentlichen  Gesundheitspflege  und  des  Arbedterschutzes 
dringlich  geboten  wäre,  daß  auch  diese  den  praktischen  Arzt 
sehr  interessierenden  Fragen  erörtert  werden.  Hoffentlich  wird 
dieses  Versehen  schon  im  nächsten  Jahre  gutgemacht!  Die  Kon¬ 
solidierung  und  der  Aufschwung  unserer  Arbeiterversicherung 
deren  grundlegende  Reorganisation  ich  ja  in  dieser  Zeitschrift 
bereits  dargestellt  habe  —  macht  erfreuliche  Fortschritte  und 
berechtigt  zu  der  Hoffnung,  daß  auch  hierzulande  die  Arbeiter¬ 
versicherung  sich  bald  als  die  beste  Stütze  und  Ergänzung  im 
Dienste  der  öffentlichen  Gesundheitspflege  erweisen  wird.  Als 
lies  oh  der  s  erwähnenswert  dünkt  es  uns,  daß  die  General  versamm 


lung  der  Landeskasse; beschlußweise  ausgesprochen  hat,  daß  fürder¬ 
hin  auch  die  gewerblichen  Krankheiten  und  Vergif¬ 
tungen,  gleich  den  Unfällen,  entschädigt  werden  sollen. 
Und  in  logischer  Konsequenz  dieses  Beschlusses,  wurde  auch 
bereits  die  Errichtung  eines  „Dispensa ires  für  Gewerbe¬ 
krankheiten“  in  Budapest  beschlossen  und  die  hiezu  nötigen 
Mittel  bewilligt.  Dieses  Institut  wird  im  Rahmen  der  Landes¬ 
kasse  errichtet  und  sollen  daselbst  wöchentlich  dreimal  Ordina¬ 
tionen  abgbhalten  werden,  Sonntag  vormittags  und  an  zwei  an¬ 
deren  Arbeitstagen  in  den  Abendstunden.  Da  ferner  die  Landes¬ 
kasse  gerade  'jetzt  auch  jihr  Ambulatorium  zur  Unfallunter¬ 
suchungsstation  tmit  allen  modernen  Behelfen  der  Medizin 
(Röntgen,  Laboratorium  für  chemische  und  bakteriologische  Unter¬ 
suchungen,  Photographie,  Zander  usw.)  ausgestaltet,  so  wird  es 
gewiß  möglich  sein,  die  gewerblich  Erkrankten  eingehend  und 
genau  untersuchen  zu  können. 

Der  jüngst  veröffentlichte  Jahresbericht  der  Buda- 
p ester  Krankenkassa  ist  wieder  sehr  reich  an  interessanten 
statistischen  Daten.  Von  diesen  soll  hier  nur  jene  Tabelle  wieder¬ 
gegeben  werden,  die  auf  Grund  der  Ergebnisse  des  Jahres  1910, 


das  durchschnittliche  Alter  einzelner  Berufsangehöriger 

veran- 

schaulicht.  Demzufolge  betrug  die  durchschnittliche 

Lebens- 

dauer 

Jahre 

Monat 

e  Tage 

der  Männer . .  . 

41 

2 

17 

der  Frauen  . 

37 

2 

2 

der  an  Tuberkulose  verstorbenen  Männer 

35 

6 

17 

der  an  Tuberkulose  verstorbenen  Frauen 

28 

6 

10 

der  männlichen  Taglöhner . 

41 

2 

13 

der  weiblichen  Taglöhner  ...... 

34 

11 

9 

der  an  Tuberkulose  verstorbenen  männ¬ 
lichen  Taglöhner . 

39 

5 

14 

der  an  Tuberkulose  verstorbenen  weib¬ 
lichen  Taglöhner . 

30 

9 

22 

der  Schneider . . 

32 

10 

n 

der  an  Tuberkulose  verstorbenen  Schneider 

26 

3 

20 

der  Schuster . 

33 

8 

22 

der  an  Tuberkulose  verstorbenen  Schuster 

29 

4 

15 

der  Buchdrucker  . 

35 

— 

18 

der  an  Tuberkulose  verstorbenen  Buch¬ 
drucker  . 

33 

4 

4 

der  Mühlenarbeiter . 

48 

7 

20 

der  Schmiede . 

45 

9 

11 

der  Maler  und  Anstreicher . 

40 

10 

21 

der  Maurer . 

40 

— 

11 

der  Kellner . 

37 

10 

3 

der  Tischler . 

36 

11 

24 

Obwohl  diese  Zahlen  nur  die  Ergebnisse  eines  einzigen 
Jahres  beleuchten,  so  werden  sie-  dem  Fachmanne  besser  als 
langatmige  Beschreibungen  über  die  desolaten  Verhältnisse  der 
Budapester  Lohnarbeiter  aufklären.  Wir  Nahestehenden  können 
nur  die  geradezu  unglaubliche  und  trotz  der  auf  der  ganzen  Linie 
bereits  aufgenommenen  aktiven  Reform  noch  immer  ungemildert 
bestehende  Wohnungsmisere  dafür  beschuldigen,  daß  die  Mor- 
biditäts-  und  auch  die  Mortalitätsbilanz  der  hauptstädtischen  Ar¬ 
beiterschaft  so  traurig  ist.  Und  daß  wir  hiebei  auf  richtiger 
Fährte  sind,  wird  gewiß  jedermann  zugeben  müssen,  wenn  er 
z.  B.  ebenfalls  an  Hand  des  in  Rede  stehenden  Kassenberichtes 
liest,  daß  allein  im  Berichtsjahre  (1910)  im  Kreise  der  Kassen¬ 
mitglieder  24.102  Fälle  von  Infektionskrankheiten  vort- 
kamen !  Darunter  waren  838  Bauchtyphen,  2685  Skarlatinen  und 
1043  Diphtheriefälle ! 

Welche  ungeahnte  Arbeit  die  Budapester  Krankenkassen¬ 
ärzte  seit  Jahren  vollbringen,  kann  nachstehende  kleine  Stati¬ 
stik  belegen: 

Im  Jahre  1906  behandelten  sie  199  077  Mitglieder  und  112.701 
Familienangehörige ; 

im  Jahre  1907  behandelten  sie  276.338  Mitglieder  und  140.188 
Familienangehörige ; 

im  Jahre  1908  behandelten  sie  322.763  Mitglieder  und  179.703 
Familienangehörige ; 

im  Jahre  1909  behandelten  sie  369.518  Mitglieder  und  232.313 
Familienangehörige ; 

im  Jahre  1910  behandelten  sie  408.746  Mitglieder  und  263.783 
Familienangehörige. 

Die  durchschnittliche  tägliche  Krankenfrequenz  betrug  in 
den  Jahren  1901  bis  1910:  501,  558,  657,  757,  741,  855,  1141, 
1372,  1648,  1842.  Wem  fällt  da  nicht  das  schöne  Wort  E  w adds  ein. 
der  in  seinem  soeben  erschienen  Buche  „Soziale  Medizin''  sehr 
richtig  meint:  „Die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  der  Gegenwart 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


843 


haben  eine  Storung  in  die  innigen  Beziehungen  gebracht  die 
zwischen  Arzt  und  Patienten  bestehen  sollten.  An  die  Stelle  des 
Patienten  ist  als  wirtschaftlicher  Vertreter  für  die  weitesten  Kreise 
unseres  Volkes  die  Krankenkasse  getreten.  D  i  e  ä r  z  1 1  i  c  h  e  T  ä  t  i  g- 
k°i  wird  Konsumartikel,  an  die  Stelle  der  ärztlichen 
Kunst  tritt  dafe  ärztliche  Handwerk!“  Aber  ob  auch 
<  as  ärztliche  Handwerk  seinen  goldenen  Boden  hat?  Angesichts 
der  hier  herrschenden  Verhältnisse  ist  die  Frage  immerhin  bl 
rechtigt.  Um  so  erfreulicher,  daß  die  ungarischen  Kassenärzte 
trotz  alldem  unverdrossen  und  unentwegt  ihre  besten  Kräfte 
m  den  Dienst  der  Arbeiterversicherung  stellen  und  unbekümmert 
um  ihr  eigenes  materielles  Interesse  stets  den  Fortschritt  fordern - 
Von  diesem  Gesichtspunkte  verdient  das  nachstehende  Ereignis' 
§*?  ,|.,auch  den  ausländischen  Kollegen  mitgeteilt  werde’ 
Bekannthhc  wütet  auch  in  Ungarn  die  Zweikampfmanie  Um 
dieser  gesellschaftlichen  Rückständigkeit  und  Tollheit  irgomb 
'™  den  ,Boden  7bzupaben,  hat  die  Fünfkirchener  Filiale  des 
„Landes-Aerzteverbandes“  beschlossen,  folgenden  Antrag  anzu¬ 
nehmen  :  „Bei  jeder  Herausforderung  zum  Duell,  soll  zunächst 
ein  Ehrenrat  darüber  entscheiden,  ob  die  erfolgte  Beleidigung 
unbedingt  im  Wege  eines  Duells  auszutragen  oder  vor  das  kom 
potente  Gericht  zu  weisen  sei.  Die  Aerzte  dürfen  nur  dann  beim 

mit  dS  Waffen  Wenn  der  ?hreTat  die  unbedingte  Austragung 
mit  den  Waffen  ausgesprochen  hat.  Der  gemeinsame  Kriems- 

minister  und  der  Landwehrminister  mögen  ersucht  werden  den 
Militärärzten  aufzutragen,  bei  den  Duellen  von  Zivilpersonen  nur 
untei  den  erwähnten  Bedingungen  zu  assistieren.  Bei  der  An- 

P-TrtHen  BeIe.idigung  beim  Ehrengericht  haben  beide 

Parteien  je  30  K  zu  deponieren.  Wird  die  Angelegenheit  friedlich 
ausgetragen  oder  werden  die  Parteien  an  das  Gericht  gewiesen 

HHfJ?  2a  m  zu™ck^tattet,  während  die  restlichen, 

°  1  (1CnwH1'ififonds  des  Kindersanatoriumvereines  zugeführt 
werden.  Wird  dagegen  die  Angelegenheit  mit  den  Waffen  ausge¬ 
tragen,  so  sind  die  ganzen  60  K  dem  Hilfsfonds  für  die  Witwen 
und  minderjährigen  Waisen  des  Aerzteverbandes  zuzuführen  da¬ 
gegen  wurden  die  Aerzte  unentgeltlich  bei  den  Duellen  assistieren  “ 
Budapest,  Ende  Mai  1911.  Dr.  Heinrich  Pach 


f/ermisehte  flaehriehten. 

Dr.  Ferdinand  Hochs  tetter,  Professor  der  Anatomie  in 
VVien  wurden  zum  ordentlichen  Mitgliede  der  Kaiserlichen  Aka¬ 
demie  der  Wissenschaften  gewählt.  Prof.  E.  Mets chnik off 
m  Paris  und  Prof.  J.  B.  Taylor  in  Oxford  sind  zu 
Ehrenmitgliedern,  Prof.  A.  Dung  in  Wien  und  Professor 
-V  Weis  mann  in  Freiburg  i.  B.  zu  korrespondierenden  Mit¬ 
gliedern  gewählt  worden. 

* 

•  ,.E, r  n an  n  ^  ’  Ber  mb  dem  Titel  eines  außerordentlichen  TJni- 
vcisitatsprofessors  bekleidete  Privatdozent  Dr.  Ottomar  Völker 
zum  außerordentlichen  Professor  der  Anatomie  an  der  böhmischen 
L  mversitat  in  Prag.  —  Der  Primararzt  an  der  Landesgebäranstalt 
in  Czernowdz  Dr.  Oktavian  Gheorghian  zum  Professor  der 
Geburtshilfe.  an  der  .  Hebammenlehranstalt  in  Czernowitz. 

i.  ans  V\  inters  fein  an  Stelle  Prof.  Nagels  zum  ordentlichen 
1  rofessor  der  Physiologie  in  Rostock. 

* 

Verliehen:  Den  Privatdozenten  an  der  böhmischen  Uni¬ 
versität  in  Prag  Dr.  Johann  Jesensky,  Dr.  Franz  Samberger 
J°sef  C  is  Per  der  Titel  eines  außerordentlichen  Universe 
tatsprofessors.  — ■  Dem  Distriktsarzte  Dr.  Robert  Klein  zu  Pichl 
m  Tragöß  'der  Titel  eines  kaiserlichen  Rates.  —  Dem  Priva.t- 
<  ozenten  Dr.  Samuel  Jellinek  in  Wien  die  französische  De¬ 
koration  eines  „Officier  d’Academie“.  —  Dem  Privatdozonten 
i)r.  Erdmann  in  Rostock  der  Professortitel. 

* 

Habilitiert:  In  Wien:  Dr.  Otto  R.  v.  Frisch  für  Chi- 
lui’gie,  Dr.  Robert  C  ristoLoletti  für  Geburtshilfe  und  Gynä¬ 
kologie,  Dr.  Bertold  Spitzer  für  Zahnheilkunde  und  Dr.  Robert 
Stigler  für  Physiologie.  - —  Dr.  W.  Stepp  für  innere  Medizin 
in  Gießen.  Dr.  Walter  Telemann  für  innere  Medizin  in 
Königsberg  i.  Pr. 

* 

Gestorben:  Geh.  Oberregierungsrat  Prof.  Adolf  Schmidt 
mann,  Kurator  der  Universität  Marburg. 

♦ 

■Die  Abhaltung  des  von  der  k.  k.f  österreichischen 
Krebsgesellschaft,  im  Saale  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte, 
veranstalteten  Vortragsabends,  an  welchem  die  Herren  Professoren 
fler  Wiener  k.  k.  tierärztlichen  Hochschule,  Dr.  R.  Hartl  und 
Hr.  Tb.  Schmidt,  unter  Demonstration  einschlägiger  Präparate, 


über  das  Vorkommen  der  bösartigen  Geschwülste  bei  den  Haus¬ 
tieren  sprechen  werden,  mußte  auf  Montag  den  12.  Junii, 
(  Lar  abends,  verschoben  weiden. 

* 

ni  «  A w  26’oMai,d:.  faud  eine  Sitzung  des  Fachkomitees  des 

bersten  S an,i tatsrates  für  Angelegenheiten  der  Bekäm¬ 
pfung  von  Infektionskrankheiten,  ferner  am  27.  Mai  je  eine 
bitzung  des  Fachkomitees  für  Arzneimittelwesen  und  des  Fach¬ 
komitees  für  Bau-  und  Wohnungshygiene  statt.  Das  Fach¬ 
komitee  tur  Angelegenheiten  der  Bekämpfung  von 
Infektionskrankheiten  nahm  folgende  Gegenstände  in  Ver¬ 
handlung:  1  Gesuch  um  geschäftsmäßige  Vornahme  chemisch¬ 
mikroskopischer  Untersuchungen.  (Referent:  Hofrat  Weichsel¬ 
baum.)  2  Instruktion  über  Verhaltungsmaßregeln  gegenüber  in¬ 
fektiösem  Material.  (Referenten:  Prof.  Prausnitz  und  Landes- 
vete r l narreferen t  Dr.  Anton  Greiner.)  3.  Entwürfe  von  Ver¬ 
ordnungen  über  Verhütung  der  Weiterverbreitung  ansteckender 
Krankheiten  durch  die  Schulen.  (Referent:  Oberstad tphysikus 
Bohm.J  4.  Cholera-  und  Pestmaßnahmen.  (Referent:  Ministerialrat 
v.  Haber ler.)  5.  Herausgabe  einer  Choleraanleitung  für  Aerzte 
sowie  einer  neuen  Cholerainstruktion.  (Referent:  Dr.  Altschul.) 

Das  Fachkomitee  für  Arzneimittel  wesen  hat  nach¬ 
stehende  Gutachten  abgegeben:  1.  Vertrieb  von  Radiumpräparaten 
außerhalb  der  Apotheken.  (Referent:  Prof.  Maut  finer)  2  Ver- 
kehr  nut  kosmetischen  Mitteln.  (Referent:  Hofrat  Horbaczew- 
s  k  i.)  3.  Einreihung  eines  Desinfektionsmittels  unter  die  offizineilen 
Desinfektionsmittel.  (Referent:  Prof.  Mauthner.)  4  Aufnahme 
von  Desinfektionsmitteln  in  die  neue  Giftordnung.  (Referenten  • 
Prof.  Mauthner  und  Prof.  Schattenfroh.)  —  Das  Fach¬ 
komitee  für  Bau-  und  Wohnungshygiene  hat  über  fol¬ 
gende  Gegenstände  beraten:  1.  Entwürfe  von  Bauordnungen.  (Re- 
tei  eilten  :  Prof.  Schatte  nf  r  o  h  und  Oberbaurat  F  o  1  z.  bzw  Ober- 
lngemeur  Gustav  Gelse.)  2.  Entwurf  eines  Gesetzes  über  Woh¬ 
nungspflege  und  Wohnungsaufsicht.  (Referent:  Hof  rat  Hue  pp©.) 

* 

.  Lnte-i  dem  Protektorat  der  deutschen  Kaiserin  wird  in  der 
/dt  vom  11.  bis  15.  September  d.  J.  im  Reichstagsgebäude 
zu  Berlin  der  Hl.  internationale  Kongreß  für  Säug¬ 
lings  schutiz  stattfinden.  Anmeldungen  als  „Mitglied“  oder 
„außerordentlicher  Teilnehmer“  sind  so  bald  wie  möglich  an  den 
Generalsekretär  des  Kongresses,  Prof.  Dr.  K el le r- Charlottenburg 
(Berlin),  Mollwitzstraße,  zu  richten.  —  Programm  für  die  all¬ 
gemeine  Sitzung  am  12.  September  1911:  1.  Geheimer  Medizinal- 
rat  Prof.  Dr.  Heubner- Berlin:  Physiologie  und  Pathologie  des 
Sauglingsalters  im  Universitätsunterricht.  2.  Seb-astien  Turquan- 
Päns:  Historische  Entwicklung  des  Kinderschutzes.  3.  Ministerial¬ 
ly  v.  Ruf fy- Budapest:  Staatlicher  Säuglingsschutz.  —  An  den 
Kongreß  schließt  sich  ein  Besuch  der  Internationalen  Hygiene- 
ausstellung  in  Dresden  an,  wobei  insbesondere  die  Gruppe  VT  11 
der  wissenschaftlichen  Abteilung  (Kinder  und  jugendliche  Per¬ 
sonen)  sowie  die  historische  Abteilung  besichtigt  werden  sollen 
Mitglied  des  Kongresses  kann  jeder  werden,  Herr  oder  Dame 
der  sich  wissenschaftlich  oder  praktisch  mit  der  Säuglings¬ 
fürsorge  beschäftigt.  Dem  Organisationskomitee  steht  das  Recht 
zu,  nicht  geeignete  Personen  von  der  Mitgliedschaft  auszuschließen. 
Der  Mitgliedsbeitrag  beträgt  20  M.  Angehörige  der  Kongreßmit- 
gliodei,  welche  die  Mitgliedschaft  nicht  selbst  zu  erwerben  wün- 
sehen,  sowie  Besucher  von  Hochschulen,  werden  gegen  Zahlung 
eines  Beitrages  von  10  M.  zu  den  Sitzungen  und  Veranstaltungen 
des  Kongresses  zugelassen,  sind  aber  nicht  berechtigt,  an  der 
Diskussion  teilzunehmen  und  haben  keinen  Anspruch  auf  die 
Drucksachen.  Körperschaften,  amtliche  Stellen  und  sonstige  Or¬ 
ganisationen  für  Säuglingsschutz  können  sich  durch  einen  Ab¬ 
gesandten  auf  dem  Kongreß  vertreten  lassen.  Der  Beitrag  ist 
auf  den  Namen  des  betreffenden  Delegierten  einzusenden.  ”  Die 
Sitzungen  zerfallen  in  allgemeine  und  Abteilungssitzungen.  All¬ 
gemeine  Sitzungen  sind  die  Eröffnungs-  und  die  Schlußsitzung 
Jeder  Referent  ist  verpflichtet,  bis  zum  1.  Juli  1911  die  Schlu߬ 
sätze-  seines  Referates  an  den  Generalsekretär  des  Kongresses 
einzu-senden,  damit  diese  als  Grundlage  für  die  Diskussion  den 
Teilnehmern  rechtzeitig  übermittelt  werden  können.  Für  die  Refe¬ 
rate-  stehen  den  Referenten  höchstens  20  Minuten  zur  Verfügung. 
Die  Südbahngesellschaft  Wien  gewährt  eine  20°/oige  Ermäßigung 
für  die  Fahrten  von  österreichischen  Südbahnstationen  nach  Wien, 
Leoben  und  Kufstein  für  Hin-  und  Rückfahrt  der  Schnell-  und 
Personenzüge  erster,  zweiter  und  dritter  Klasse,  in  der  Zeit  vom 
5.  bis  20.  September  1911.  Als  Bedingung,  gilt,  die  Rückreise 
aul  derselben  Strecke  zurückzulegen.  Die  Ermäßigungen  werden 
nur  bei  Entfernungen  über  101  km  gewährt.  Die  Ausstellung  der 
Blankos  erfolgt  an  den  Einsteigstationen  auf  Grund  der  Mitglieds¬ 
karte.  Die  Blankos  müssen  von  den  Reisenden  gestempelt  werden. 


Nr.  23 


844  WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Eine  einmalige  Fahrtunterbrechung  ist  nach  Meldung  gestattet. 
Wegen  Erwirkung  'clor  bewilligten  Tarifermäßigungen  ist  ein  Gesuch 
an  den  Generalsekretär  des  österreichischen  Komitees  zu  richten. 

♦ 

Der  VII.  internationale  Kongreß  für  Kriminal- 
anthropologic  findet  nach  dem  Beschlüsse  des  letzten  Kon¬ 
gresses  in  Turin  vom  9.  bis  13.  Oktober  1911  in  Köln  a.  Rh. 
statt.  —  Auskunft  in  Kongreßangelegenheiten  erteilt  Professor 
A  s c  halfen bu rg,  Köln-Lindenthal,  Stadlwaldgürtel  30,  in  Aus¬ 
stellungsangelegenheiten  Stabsarzt  Dr.  Parten heimer,  Köln, 
Psychiatrische  Klinik.  Anmeldungen  zur  Teilnahme  sind  zu  richten 
an:  Assistenzarzt  Dr.  Brügge  1  man,  Köln,  Psychiatrische 
Klinik.  i 

* 

Am  30.  Mai  fand  in  Prag  eine  Versammlung  der  böh¬ 
mischen  Aerzte  statt,  um  die  Forderungen  der  Aerzteschaft 
an  das  neue  Parlament  zum  Ausdrucke  zu  bringen.  Die  Forde¬ 
rungen  der  Aerzte  betreffen  die  Sozialversicherung,  den  gesetz¬ 
lichen  Schutz  hei  Ausübung  der  ärztlichen  Pflichten,  die  Er¬ 
lassung  einer  Aerzteordnung,  das  Reich sgesetz  über  die  Infek¬ 
tionskrankheiten  und  das  Sanitätsgesetz.  Die  Aerzte  appellieren 
an  die  zukünftigen  Gesetzgeber,  diesen  in  einem  besonderen 
Referate  auseinandergesetzten  Forderungen  zum  Durchbruche  zu 
verhelfen.  Namens  des  Professorenkollegiums  der  böhmischen 
medizinischen  Fakultät  erklärte  Professor  Dr.  Srdinko,  daß  sich 
die  Professoren  diesen  Forderungen  anschließen  und  hiezu  die 
Forderung  nach  Errichtung  einer  zweiten  böhmischen  Universität, 
die  Forderung  nach  einer  Regelung  der  materiellen  Lage  der  Lehr¬ 
personen  an  den  Hochschulen  und  die  Forderung  nach  Errichtung 
eines  eigenen  selbständigen  Ressorts  für  das  Sanitätswesen  bei¬ 
fügen.  Dr.  Kramaf  gab  die  Versicherung,  daß  die  böhmischen 
Abgeordneten  die  Forderungen  der  Aerzte  unterstützen  werden. 

* 

Am  18.  Mai  d.  .1.  wurde  die  ordentliche  Generalversammlung 
der  Witwen-  und  Waisen-Sozietät  des  Wiener'  medizinischen  Dok- 
lorcnkollcgiums  unter  dem  Vorsitze  des  Präses  Regierungsrates 
Dr.  Hans  Adler  abgehalten.  Der  Vorsitzende  berichtet,  daß  zu 
Ende  des  Vorjahres  der  Personalstand  458  Mitglieder,  198  Wit¬ 
wen  und  3  Waisen  betrug.  Das  Gesamtvermögen  des  Institutes 
beziffert  sich  mit,  6,294.298  K  57  h.  An  Pensionen  wurden 
274.015  K  1  h  ausgezahlt,  für  Ameliorationen  der  Realitäten 
25.676  K  62  h  verwendet.  Am  Schlüsse  seines  Berichtes1  be¬ 
merkt  der  Präses,  daß  während  seines  achtjährigen  Präsidiums 
das  Mehrerträgnis  der  Realitäten  am  Ende  des  Jahres  1910 
78.417  K  betrug.  Der  durch  die  vermehrten  Einnahmen  gehobene 
Vermögensstand  gestattet  dem  Präses  den  berechtigten  Antrag 
auf  Erhöhung  der  Pensionen  für  Witwen  und  Waisen  von  allen 
Mitgliedern,  welche  bis  heute  der  Sozietät  angehörten,  von  1400  K 
auf  1640  K  jährlich,  welcher  Antrag  einstimmig  angenommen 
wurde.  Ferner  ist  es  ihm  gelungen,  die  Geschäftsgebarung  ent¬ 
sprechend  einer  Versicherungsanstalt  umzugestalten  und  über¬ 
haupt  die  Verwaltung  der  Sozietät  derart  cinzuriehten,  daß  ihre 
Sicherheit  auch  für  die  Zukunft,  soweit  menschliche  Voraussicht 
reicht,  begründet  erscheint.  Dieses  Ziel,  welches  ihm  immer 
vorgeschwebt,  sei  jetzt  nahezu  erreicht,  weshalb  er  seine  Stelle 
niederzulegen  entschlossen  ist.  Er  sagt  allen  Mitarbeitern  Dank 
für  ihre  Unterstützung  und  bittet,  ihm  ein  treues  Andenken  zu 
bewahren.  Dieses  Andenken  wird  vyohl  am  besten  gewahrt  durch 
den  Antrag  des  Ausschusses,  daß  er  in  Anerkennung  seiner 
hohen,  ja  unvergleichlichen  Verdienste,  zum  , .Ehrenmitglied“  der 
Sozietät  ernannt  werde,  was  mit  allgemeinem  Beifall  einstimmig 
bewilligt  wurde.  Zum  Schlüsse  wird  zum  Präses  der  Sozietät 
nunmehr  Regierungsrat  Prof.  Dr.  Bergmeister,  zu  Vizepräsi¬ 
denten  Hofrat  Prof.  Dr.  Pa  1  tau  f  und,  Priv.-  Doz.  Prim.  Dr.  Reifte  r 
gewühlt.  Die  Herren  DDr.  Moritz  Bauer  und  Ludwig  Klein 
werden  zum  Kassier,  resp.  Aktuar,  wiedergewählt. 

* 

Cholera.  Oesterreich.  Durch  die  am  ,28.  Mai  d.  J. 
abends  abgeschlossene  bakteriologische  Untersuchung  wurde  bei 
dem  Postal  hinkten  Anton  Franzki  in  Waltendorf  hei  Graz 
asiatische  Cholera  festgestellt.  Der  Genannte  erkrankte  während 
eines  achttägigen  Urlaubes  am  21.  Mai  in  Venedig,  angeblich 
nach  Genuß  von  Austern  und  kehrte  am  23.  Mai  nach  Graz  zurück. 
Die  Erkrankung  kam  am  27.  Mai  zur  amtlichen  Kenntnis:  die 
notwendigen  Isolienmgsmaßnahmen  und  sonstigen,  Schutzvorkeh¬ 
rungen  wurden  sofort  getroffen.  Anton  Franzki  ist  am  29.  Mai, 
’41  Uhr  mittags,  gestorben ;  die  sanitätspolizeiliche  Obduktion 
zeigte  das  charakteristische  Bild  von  asiatischer  Cholera.  Die 
bakteriologische  Untersuchung  des  Darminhaltes  hat  abermals  zu 


einem  positiven  Resultate  geführt.  —  Rußland,  ln  der  Zeit 
vom  28.  April  bis  3.  Mai  wurden  im  Gouvernement  Cherson 
ein  Erkrankungsfall  an  Cholera  in  Wosnessensk  und  eine  tödliche 
Choleraerkrankung  in  Noworossijsk  konstatiert. 

Pest.  Niederlande.  Auf  dem  Dampfer  „Attila"  sind 
keine  weiteren  pestverdächtigen  Erkrankungen  vorgekommen.  Der 
hei  der  Ankunft  des  Dampfers  wegen  Pestverdacht  in  das  Lazarett 
von  Liefkenshoek  (Doel)  transferierte  griechische  Matrose  wird 
dort  noch  weiter  in  Beobachtung  gehalten.  Die  bakteriologischen 
Untersuchungen  haben  bisher  kein  bestimmtes  Resultat  ergehen, 
doch  sollen  die  Tierexperimente  auf  Syhrptome  einer  „ambu¬ 
latorischen  Pest“  hindeuten.  China.  In  Mukden  wurden 
am  31.  März  drei  neue  Pestfälle,  am  12.  April  eine  solche  Er¬ 
krankung  angezeigt.  Changchun  ist  seit  dem  26.  März  j testfrei. 
Auch  aus  den  übrigen  Teilen  der  Mandschurei  lauten  die  Berichte 
so  günstig,  daß  die  Epidemie,  wenn  auch  noch  sporadische  f  älle 
Vorkommen,  doch  als  erloschen  anzusehen  ist.  Persien.  In 
Buschir  sind  vom  21.  bis  30.  April  acht  Pesterkrankungen  mit 
tödlichem  Ausgänge  vorgekommen.  Alle  diese  Fälle  waren  Beulen- 
pest;  sie  dürften  von  der  arabischen  Küste  des  persischen  Golfes 
(El  Riad)  oder  von  den  Bahreininseln  eingeschleppt  worden  sein. 

Arabien.  In  Maskat  (Sultanat  Oman)  ereigneten  sich  vom 
8.  bis  15.  April  13,  vom  15.  bis  22.  April  8  Pestfälle;  die  Ge¬ 
samtzahl  der  seit  dem  Epidemieausbrüche  angezeigten  Erkran¬ 
kungen  beträgt  10.  In  Camaran  wurde  auf  einem  aus  Djeddah 
kommenden  Pilgerschiffe  ein  Pestfall  unter  javanischen  Pilgern 
konstatiert.  N  e  u  s  e  e  1  a  n  d .  ln  Onehuugä  bei  Auckland  er¬ 
eigneten  sich  in  der  zweiten  Hälfte1  März  drei  lüstfälle,  von 
denen  einer  (Pest pneumonic)  tödlich  endete.  Neue  Erkrankungen 
wurden  seither  nicht  konstatiert.  -  N Derber lä n di s ch  - 1 n dien. 
In  der  Woche  vom  12.  bis  18.  Mai  sind  auf  Java  189  Neuerkran- 
kungen  (darunter  4  an  Lungenpest)  gemeldet  worden,  von  denen 
129  tödlich  endeten. 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Ge  mein  de  gebiet.  20.  Jahreswoche  (vom  14.  bis 
20.  Mai  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  604,  unehelich  232,  zusammen 
836.  Tot  geboren,  ehelich  64,  unehelich  38,  zusammen  102.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  682  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
17  3  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  1,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  13, 
Scharlach  1,  Keuchhusten  0,  Diphtherie  und  Krupp  2,  Influenza  0, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  3,  Lungentuberkulose  114,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  52,  Wochenbettfieber  5,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  48  ( —  9),  Wochenbettfieber  6  (-(-  4),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  91  (-L  4),  Masern  321  (-{-  54),  Scharlach  122  (+  20) 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  5  (-4-  3),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0) 
Diphtherie  und  Krupp  52  (-f-  8),  Keuchhusten  31  (—4),  Trachom  11  (+5) 
Influenza  0  (—  1),  Poliomyelitis  1  (-(-  1). 


Freie  Stellen. 

Gemeindearztesstelle  im  Sanitätsdistrikte  P  a  u  1  i  t  z- 
W  o  1  f  r  a  m  itzkirchen  mit  dem  Sitze  in  Krawska  bei  Znaim  (Mähren). 
Der  Sanitätsdistrikt  umfaßt  fünf  Gemeinden  mit  2888  Einwohnern  deutscher 
und  böhmischer  Umgangssprache.  Gehalt  1400  K,  Fahrpauschale  300 K; 
überdies  vom  Großgrundbesitze  800  K  und  freie  Wohnung.  Haltung  einer 
Hausapotheke  erforderlich.  Doktoren  der  gesamten  Heilkunde,  welche 
beider  Landessprachen  mächtig  sind,  wollen  ihre  mit  den  im  §  11  des  mähri¬ 
schen  Sanitätsgesetzes  vom  27.  Dezember  1909,  L.-G.-Bl.  Nr.  98,  bezeich- 
neten  Nachweisen  belegten  und  mit  1  K-Stempel  versehenen  Gesuche 
bis  30.  Juni  1911  an  den  Obmann  des  Sanitätsausschusses  Jakok  S  a  r  a 
in  Wolframitzkirchen,  Post  Krawska  hei  Znaim,  einsenden. 

Gemeindearztesstelle  für  die  Sanitätsgemeindegruppe 
Orth  an  der  Donau  (politischer  Bezirk  Floridsdorf-Umgebung), 
Niederösterreich,  mit  dem  Wohnsitze  des  Arztes  in  Orth  a.  d.  Donau.  Die 
Sanitätsgemeindegruppe  umfaßt  sieben  Gemeinden  mit  2896  Einwohnern. 
Die  von  den  beteiligten  Gemeinden  zu  leistenden  Beiträge  belaufen  sich  all¬ 
jährlich  auf  730  K  und  die  aus  dem  niederösterreichischen  Landesfonds 
geleistete  Subvention  hat  600  K  betragen.  Dem  Gemeindearzte  wird  über¬ 
dies  seitens  der  Gemeinde  Orth  ein  eigenes  Haus  ohne  Mietzins  zur  freien 
und  uneingeschränkten  Benützung  als  Dienstwohnung  überlassen.  Die 
Haltung  einer  Hausapotheke  wird  zur  Pflicht  gemacht.  Die  mit  dem 
Diplome,  dem  Tauf-  (Geburtsscheine),  dem  Nachweise  der  österreichischen 
Staatsbürgerschaft,  dem  Sittenzeugnisse,  einem  amtsärztlichen  Gesund- 
heits-,  bzw.  Tauglichkeitszeugnisse,  sowie  mit  den  Nachweisungen  über 
die  bisherige  ärztliche  Tätigkeit  ordnungsgemäß  instruierten,  an  den 
niederösterreichischen  Landesausschuß  zu  richtenden  Gesuche  sind  Ins 
längstens  30.  Juni  1911  an  das  Bürgermeisteramt  in  Orth  a.  d.  Donau 
zu  richten,  welch  letzteres  auch  zur  Erteilung  von  etwa  gewünschten 
Auskünften  bereit  ist.  Bewerber  mit  mehrjähriger  Spitalspraxis  werden 
bevorzugt. 


_ _  ^  _ WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 

Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 
Sitzung  vom  2.  Juni  1911. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in  Wien. 
Sitzung  vom  18.  Mai  1911. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  2.  Juni  1911  (im  Hörsaale  der  ersten  ok  ul  is  ti- 
schen  Klinik,  Prof.  Dimmer). 

Vorsitzender:  Hofrat  Prof.  Dr.  S.  Exner. 

Schriftführer:  Hofrat  Richard  Paltauf. 

Prof.  Dimmer  hält  seinen  Vortrag:  Lieber  die  lies  ul 
täte  der  Photographie  des  Augenhintergrundes;  und 
demonstriert  zahlreiche  photographische  Aufnahmen  physiologi¬ 
scher  und  pathologischer  Veränderungen,  sowie  den  Apparat. 
(Erscheint  ausführlich  in  dieser  Wochenschrift.) 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  18.  Mai  1911. 

A.  Goldreich  stellt  einen  neunjährigen  Kn, alben  mit  Ior- 
dotischer  Albuminurie  und  progressiver  Muskel¬ 
atrophie  vor.  Pat.  kann  seit  einiger  Zeit  nur  schwer  gehen, 
die  Pect  orales  majores  und  Serrati,  die  Oberarmmüsku  la  tu  r  und 
die  langen  Rückenmuskeln,  ferner  die  Muskulatur  der  Nates  und 
der  Oberschenkel  sind  atrophisch,  die  Wadenmuskulatur  zeigt 
Pseudohypertrophie.  Die  Patellarsehnenreflexei  sind  kaum  aus¬ 
lösbar,  der  Achillessehnenreflex  ist  normal.  Pat.  kann  sich  aus 
liegender  Stellung  spontan  nicht  erheben.  Die  Wirbelsäule  ist 
infolge  Atrophie  der  langen  Rückenmuskeln  lordotisch,  das  Kind 
zeigt  ausgesprochene  lordotische  Albuminurie. 

B.  Schick  zeigt  einen  sechsjährigen  Knaben  mit  Dystro¬ 
phie  der  Beckenmuskeln.  Das  Kind  lief  mit  IG  Monaten 
und  entwickelte  sich  geistig  normal.  Seit  zwei  Jahren  ist  der 
Gang  unsicher  und  das  Kind  fällt  leicht,;  beim  Stehen  stellt 
es  sich  ,a,u f  eine  breite  Basis  und  beim  Gehlen  pendelt  es  in 
den  Hüftgelenken  hin  und  her.  Es  sind  .jene  Muskeln,  welche 
vom  Oberschenkel  zum  Becken  ziehen,  dystrophisch.  Die  Pa^ 
tellarreflexe  sind  gesteigert,  das  Ba  b  i  ns'ki  sehe  Phänomen  ist 
Positiv.  Es  handelt  sich  wahrscheinlich  unreinen  Fall  von  H  o  f- 
m  a.  n  n  -  W  e  r  d  n  i  g scher  Erkrankung. 

0.  Marburg  bemerkt,  daß  es  bei  Kindern  schwer  zu 
entscheiden  ist,  ob  es  sich  um  eine  primäre,  eine:  sekundäre 
oder  eine  neuropathisch  entstandene  Muskelatrophie  handelt.  Die 
Muskelerkrankungen  sind  bei  Kindern  idiopathisch,  spinal  oder 
neurotisch.  Die  spinale  For'm  hat  mehrere  Abarten:  die  Hof¬ 
mann- W  erd  nigsche  Atrophie  tritt  gewöhnlich  inr  ersten 
Lebensjahre  auf  und  befällt  zuerst  die  Beckenmuskulatur;  es 
handelt  sich  um  eine  progressive  spinale  Erkrankung,  welche 
familiär  vorkommt.  Die  Myatonia  congenita  ist  zum1  Teil  iden¬ 
tisch  mit  der  H  of  mann- We'r  d  n  ig  sehen  Krankheit;  bei  der 
Geburt  des  Kindes  ist  der  Krankheitsprozeß  abgeschlossen,  man 
findet  Atome  und  Atrophie  der  Muskeln,  die  Atrophie  bessert 
sich  funktionell,  aber  nichf  anatomisch.  Bei  Myatonia  congenita 
enthalten  die  atrophischen  Muskeln  Bindegewebe,  dieses  verkürzt 
sich  und  es  kommt  zu  Kontrakturen.  Diese  Affektion  ist  eigentlich 
eine  ausgeheilte  fötale  Poliomyelitis. 

R.  Neurath  hat  zwei  Fälle  von  Dystrophie  mit  Lordose 
beobachtet;  bei  diesen  fand  sich  keine  Albuminurie.  Vielleicht, 
handelt,  es  sich  in  dem  vorgestellten  Falle  um  eiti  zufälliges 
Zusammentreffen  von  lordotiseher  Albuminurie  mit  Dystrophie. 
Klinisch  tragen  die  Fälle  von  Myatonie  einen  degenerative.« 
Gharakter. 

W.  Pick  demonstriert  ein  Mädchen  mit  papulösem  ne 
kr oti sehen  Tuberkulid.  Da,s  Kind  bekam  vor  einigen  Tagen 
em  Exanthem,  welches  sich  über  den  ganzen  Körper  verbreitete. 
Es  besteht  aus  geröteten  Knötchen  mit  zentraler  Nekrose,  außer¬ 
dem  finden  sich  aus  kleinen  Knötchen  bestehende,  schuppende, 
scheibenförmige  Herde  (Lichen  scrophulosoru'm). 

F.  Spieler  empfiehlt  zum  Nachweis  der  tuberkulösen  Natur 
des  Exanthems  den  Impfversuch  am  Meerschweinchen. 

A.  v.  Ben  ß  berichtet  über  das  Vorkommen  von  lndi- 
kanreaktion  im  Sä ügli  n gs h a rn.  Vortr.  hat,  von  Kindern 


Aerztlicher  Verein  in  Brünn.  Sitzung  vom  3.  April  und  1.  Mai  1911. 
Wissenschaftliche  Gesellschaft  deulsclier  Aerzte  in  Böhmen. 
28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin. 

40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin. 


bis  zum  neunten  Lebenstage  den  Harn  auf  ludikan  untersucht. 
Am  'ersten  Lebenstage  fand  sich  in  der  Regel  kein  fndikan,  am 
zweiten  fanden  sich  schon  einige  positive  Fälle,  welche  an  den 
nächsten  Tagen  noch  zahlreicher  wurden.  Die  Ursache  ries  Vor¬ 
kommens  von  ludikan  im  Harne  ist  die  bakterielle  Fäulnis  im 
Darme  oder  ein  parenteraler  Eiweißzerfall.  Beim  Neugeborenen 
bilden  die  Ursache  der  Indikanreaktion  vielleicht  bakterielle  Zer¬ 
setzungsprozesse  im  Mekonium,  doch  ist  sie  noch  nicht  geklärt. 

K.  Hochsinger  hat  vor  vielen  Jahren  die  Indikanaus- 
scheidung  beim  Kinde  studiert.  Er  konnte  niemals  am  ersten 
Lebenstage  im  Harne  ludikan  naehweisen,  an  den  späterem  Tagen 
wurde  es  bei  künstlich  genährten  Kindern  immer  gefunden,  bei 
.gesunden  Brustkindern  kam  es  bei  leichten  Verdauungsstörungen 
sehr  häufig  vor.  Bei  tuberkulösen  Personen  ist  die  Indikanurie 
ein  Anzeichen  des  Eiweißzerfalles. 

F.  Pas  sin  i  bemerkt,  daß  in  den  ersten  12  bis  24  Stunden 
nach  der  Geburt  der  Harn  des  Kindes  kaum  indolhältig  ist, 
der  Stuhl  enthält  selten  eine  Bakterien  flora.  Am  zweiten  Tage 
tritt,  letztere  schon  auf  und  es  findet  sich  ludikan  im  Harne. 
Das  Indol  stammt  aus  bakteriellen  Zersetzungen  im  Darme. 

A.  v.  Reu  ß  erwidert,  daß  sich  in  den  ersten  Lebenstagen 
sehr  häufig  geringfügige  Verdauungsstörungen  finden,  welche  die 
Ursache  der  Indikanauss’cheidurig  sein  dürften.  Auffallend  ist 
die  große  Menge  der  letzteren. 

M.  Menzel  zeigt  einen  Fremdkörper,  welchen  er  bei 
einem  zweijährigen  Knaben  aus  der  Nase’  extrahiert  hat.  Es 
ist  ein  Teil  eines  Schnullers,  welchen  das  Kind  ein  halbes  Jahr 
in  der  Nase  in  der  Nähe  der  Chöanenöffnung  trug.  Er  mußte 
beim  Verschlucken  hineingelangt  sein  und  verursachte  eine  an¬ 
dauernde  Rhinitis. 

H.  Neu  m  a n n  demonstriert  ein  Messer  zu r  E  n.tfer nu n  g 
adenoider  Vegetationen.  Es  ist  ein  Ringmesser,  in  Ver¬ 
bindung  mit  einer  kleinen,  in  einem  Scharnier  sagittal  beweg¬ 
lichen  Gabel.  Das  Instrument  wird  vom  Pharynxdach  an  der 
hinteren  Wand  des  Rachens  nach  abwärts  geführt,  wobei  die 
adenoiden  Vegetationen  in  einem  Stücke  abgeschnitten  und  auf 
die  Gabel  aufgespießt  werden.  Die  Anwendung  ist  gefahrlos, 
Nebenverletzungen  sind  nicht  zu  fürchten. 

J.  Za.ppert  fragt.,  oh  die  Gabel  beweglich  sein  muß. 

M.  Menzel  weist  auf  die  Aehnlichkeit  des  Instrumentes 
mit  dem  B ec  km  an  n  sehen  Messer  hin.  Nach  der  Entfernung 
der  adenoiden  Vegetationen  muß  man  sich  durch  Palpation  mittels 
Fingers,  welcher  mit  einem  sterilen  Kondom  bekleidet  ist,  über¬ 
zeugen,  ob  der  ganze  Tumor  abgetragen  ist. 

H.  Neumann  erwidert,  daß  die  Gabel  deswegen  beweglich 
ist,  damit  sie  dem  Zuge  des  Messers  folgen  kann.  Man  darf 
das  Instrument  nicht  in  der  Art  einer  Kürette  benützen,  sondern 
muß  den  Tumor  in  einem  Zuge  abtragen. 


Aerztlicher  Verein  in  Brünn. 

Sitzung  vom  3.  April  und  1.  Mai  1911. 

Prof.  S  tern b  e  r g  demonstriert : 

1.  Ein  Cor  triloculare  biatriatum  bei  Situs  vis¬ 
cera  m  inversus. 

_  Ras  Präparat  stammt  von  einem  totgeborenen  Mädchen;  die 
Sektion  ergab  einen  typischen  vollständigen  Situs  inversus  der 
Bauchei ngeweide.  Die  linke  Lunge  war  zweilappig,  desgleichen 
die  rechte,  deren  Oberlappen  allerdings  einen  durch  eine  tiefe 
Kerbe  abgesetzten  Anhang  zeigte.  Das  Herz  werde  von  den  Venen 
her  mit  Formalin  ausgegossen ;  am  gehärteten  Präparat  ist  fol¬ 
gender  Befund  zu  erheben: 

Das  Herz  hat  eine  Höhe  von  4  cm  und  einen  größten  Um¬ 
fang  von  71/2 cm,  seine  Gestalt  ist  stumpfkonisch;  sowohl  an  der 
Vorderl'läche,  als  an  der  Rückflache-  des  Herzens,  woselbst  Fur¬ 
chen  entsprechend  einer  Teilung  in  zwei  Ventrikel  nicht  sicht¬ 
sind,  wie  auch  entsprechend  den  Herzkanten  verlaufen  kleine 
Arterienästehen.  Der  Herzbasis  sitzt  kappeinförmig  ein  Vorhofsack 
auf,  an  dem  bei  äußerer  Betrachtung  keine  Teilung  sichtbar  ist. 
Er  bildet  nach  rechts  hinten  und  nach  links  vorne  je  eine  kleine 


846 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  23 


auftkelartige  Ausstülpung.  Vor  der  Vorderfläche  des  Vorhof¬ 
sackes  verläuft  ein  am  rechten  Ende  der  Herzbasis  entspringendes, 
gut  8  mm  im  Durchmesser  haltendes  Gefäß  (vgl.  Abbildung)  und 
:  h  links  von  diesem  ein  am  Ursprung  aus  dem  Herzen  sehr 

d  Mines,  fast  fadenförmiges  Gefäß,  welches  sich  weiter  oben  etwas 
erweitert.  Das  erstbeschriebene  Gefäß  erweist  sich  als  Aorta,  die 
in  ili rem  aufsteigenden. Anteil  vor  dem  (gleich  zu  beschreibenden) 
rechten  Ast  der  Arteria  pulmonalis  verläuft,  hierauf  einen  nach 
links  gewendeten  Bogen  bildet  und  nach  Kreuzung  des  linken 
Bronchus  sich  nach  abwärts  wendet.  Sie  gibt  zunächst  eine  rechte 
Arteria.  anonyma  ab,  die  sich  in  gewöhnlicher  Weise  in  Arteria, 
subclavia  und  'Arteria  carotis  teilt,  hierauf  die  linke  Arteria  carotis 
und  sodann  die  linke  Arteria  subclavia.  Vom  inneren  Rande  des 
Aortenbogens  geht  ein  9  mm  langes,  3  min  im  Durchmesser  hal¬ 
tendes  Gefäß  äb;,  welches  in  eine  Arterie  übergeht,  die  sich  in 
zwei,  in  die  beiden  Lappen  der  linken  Lunge  eintretende  Aeste 
teilt.  Diese  Arterie  geht  aus  einer  Teilung  jenes  früher  beschrie¬ 
benen,  links  neben  der  Aorta  aus  dem  Herzen  entspringenden 


Gefäßchens  hervor,  welches  sich  in  diese  Arterie  und  einen  für 
die  rechte  Lunge  bestimmten  Ast  gabelt  und  mithin  die  Arteria 
pulmonalis  darstellt,  Das  oben  beschriebene,  von  dem  inneren 
Rande  des  Aortenbogens  abgehende  Gefäß,  das  auf  den  ersten 
Blick  als  Arteria  pulmonalis  anzusprechen  wäre,  bildet  mithin 
den  Ductus  Botalli,  der  hier  die  Verbindung  zwischen  Aorta 
und  linkem  Ast  der  Arteria  pulmonalis  bildet.  Das  Lumen  des 
Stammes  der  Arteria  pulmonalis  ’  ist  in  ihrem'  ganzen  Verlaufe 
durchgängig,  an  ihrem  Ursprung  aus  dem  Herzen  jedoch  voll¬ 
ständig  verschlossen.  —  In  den  Vorhofsack  tritt  linkerseits  an 
seiner  vorderen  Fläche  neben  der  beschriebenen  aurikelartigen 
Ausstülpung  die'  Vena  cava  superior,  an  der  hinteren  Fläche 
linkerseits  die  weite  Vena  cava  inferior  (keine  Vena  cardinalis) 
ein,  während  in  den  rechten  Abschnitt  des  Vorhofes  die  Lungen¬ 
venen  münden. 

Das  Herz  wird  durch  einen,  entsprechend  beiden  Herz¬ 
kanten  über  die  Herzspitze  geführten  Schnitt  eröffnet.  Hiebei 
zeigt  sich,  daß  nur  eine  Ventrikelhöhle  besteht,  indem  das  Ven¬ 
trikelseptum  fehlt  (vielleicht  ist  ein  kleiner,  nahe  der  Herzbasis 
an  der  rechten  Herzkante  entspringender  Muskelwulst  als  An¬ 
deutung  eines  Ventrikelseptums  aufzufas-sen  ?).  Aus  der  rechten 
Hälfte  des  gemeinsamen  Ventrikels  entspringt,  wie  früher  be- 
s  ’.i  ’  en,  die  Aorta,  welche  drei  Klappen,  eine  vordere,  eine 
rechte  und  eine  linke,  besitzt.  Die  Klappen  sind  wohl  gebildet, 
im  Sinus  der  linken  Klappe  sind  zwei  seichte  Grübchen  sicht¬ 
bar,  die  anscheinend  Koronarostien  entsprechen.  Die  linke  \en- 
trikelhälfte  steht  in  Kommunikation  mit  dem  Vorhof;  an  der 
Grenze  zwischen  Vorhof  und  Ventrikel  findet  sich  eine  drei- 
zipfelige  Klappe  u.  zw.  sind  zwei  Zipfel,  ein  vorderer  und  ein 
hinterer,  frontal  gestellt,  während  der  mittlere  (rechte)  sagittal 
gerichtet  ist  und  so  den  Aortenbulbus  abgrenzt.  Der  Vorhof  ist 
durch  eine  annähernd  sagittal  ausgespannte,  großenteils  häutige, 
an  den  Rändern  muskulöse  Scheidewand  in  einen  geräumigen 
rechten  und  einen  kleinen  linken  Abschnitt  geteilt.  Diese-  Scheide¬ 
wand  weist  in  ihrem  häutigen  Anteil  eine  einem  offenen  Fora¬ 
men  ovale  entsprechende  Lücke  auf;  ihr  unterer  Rand  ist  frei 
über  den  Ventrikel  ausgespannt  und  bildet  einen  nach  unten 
offenen  Bogen;  der  vordere  Schenkel  geht  in  den  sagittal  ge¬ 
stellten,  der  hintere  in  den  rückwärtigen  Zipfel  der  Atrioventri¬ 
kularklappe  über.  Durch  die  hiedurch  gebildete  Oeffnung  kom¬ 
muniziert  der  rechte  Vorhofsabschnitt  einerseits  mit  dem  linken 
Abschnitt  (daneben  auch  durch  die  kleine  Lücke  im  häutigen 
Septum),  andrerseits  mit  dem  gemeinsamen  Ventrikel.  Eine  direkte 
Verbindung  zwischen  letzterem  und  dem  rechten  Vorhofsabschnitt 
besteht  nicht,  ebensowenig  ist  im  Ventrikel  ein  Ostium  der 
Arteria  pulmonalis  oder  auch  nur  die  Andeutung  eines  solchen 
auffindbar. 


Es  besteht  mithin  ein  völliger  Defekt  des  Septum  ventri- 
culorum  (daher  eine  gemeinsame  Ventrikelhöhle)  -und  ein  un¬ 
vollständiges  Septum  atriorum,  durch  welches  ein  größerer  rechter 
von  einem  kleineren  linken  Vorhof  teilweise  abgegrenzt  wird. 
In  den  linken  Vorhof  münden  die  Vena  cava,  superior  und  in¬ 
ferior,  in  den  rechten  Vorhof  die  Lungenvenen;  der  linke  Vor¬ 
hof  kommuniziert  durch  eine  dreizipfelige  Klappe  mit  dem  ge¬ 
meinsamen  Ventrikel.  Die  Aorta  steht  rechts  und  etwas  vorne, 
die  Arteria  pulmonalis  links  und  etwas  hinten,  ihr  Lumen  ist 
sehr  eng  und  ihr  Ostium  vollständig  verschlossen.  Die  Aorta,  gibt 
ihre  Aeste  in  normaler  Reihenfolge  ab  und  bildet,  wie  de  nonna 
einen  nach  links  verlaufenden  Bogen.  —  Die  Bauchorgane  zeigten 
typischen,  vollständigen  Situs  inversus. 

Vortr.  erörtert  auf  Grund  der  entwicklungsgeschichtlichen 
Verhältnisse  und  der  in  der  Literatur  vorliegenden  Untersuchungen 
(Rokitansky,  Lochte,  Geipel  usw.)  die  vorhandenen  Mi߬ 
bildungen  und  kommt  nach  Abwägung  der  in  Betracht  kommenden 
Erklärungsmöglichkeiten  zu  dem  Schlüsse,  daß  es  sich  in  dem 
vorliegenden  Fälle  um  einen  Situs  inversus  des  Herzens  (trotz, 
des  Verhaltens  der  Aorta)  mit  fehlerhafter  Anlage  und  Drehung 
des  Septum  trunci  arteriosi,  Ausbleiben  der  Entwicklung  des 
Septum  ventriculorum  und  mangelhafter  Entwicklung  des  Sep¬ 
tum  atriorum  handle.  Vortragender  bespricht  den  inneren  Zu¬ 
sammenhang  zwischen  der  fehlerhaften,  bzw.  mangelhaften  Ent¬ 
wicklung  der  drei  Septa  und  verweist  sodann  speziell  auf  das 
Verhalten  der  Arteria  pulmonalis.  ln  dieser  Hinsicht  besteht 
eine  Uebereinstimmung  mit  einem  Fälle  G  i  e r k es  (Charite-An¬ 
nalen  1908,  Bd.  32,  S.  299).  Auch  in  dem  vorliegenden  Falle 
konnte  eine  Persistenz  des  Truncus  arteriosus  und  Abgang  der 
Arteria  pulmonalis  von  der  Aorta  vorgetäuscht  werden  (vgl.  Ab- 
bildung),  doch  zeigt  die  genauere  Untersuchung  einwandfrei,  daß 
die  Arteria  pulmonalis  als  selbständiges  Gefäß  vorhanden,  aller¬ 
dings  stark  hypoplastisch  und  daß  ihr  Ostium  atretisch  ist  (fehler¬ 
hafte  Anlage  des  Septum  trunci  arteriosi).  —  Aehnliche  Fälle 
won  Kombination  eines  kompletten  oder  partiellen  Situs  \is- 
cerum  inversus  mit  mehr  weniger  gleichen  Mißbildungen  des 
Herzens,  wie  in  dem  vorliegenden  Falle,  liegen  in  der  Literatur 
bereits  vor,  vgl.  z.  B.  die  Literaturzusammenstellungen  bei  Ri  sei, 
Zentralbaltt  für  pathologische  Anatomie  1909,  Bd.  20,  S.  673, 
und  bei  Herxheim  er,  in  Schwalb.es  Morphologie  der  Mi߬ 
bildungen,  III.  Teil. 

2.  Ein  Projektil  in  der  Spitze  des  linken  Herz¬ 
ventrikels.  Das  Präparat  stammt  von  einem  42jährigen  Maim, 
der  sich  in  die  Brust  geschossen  hatte ;  es  bestand  eine  komplette 
Concretio  cordis  cum  pericardio. 

3.  „Leber  steine“,  korallenstockartig  verzweigte  Kon¬ 
kremente,  die  die  beträchtlich  röhrenförmig  erweiterten^  Aeste 
des  Ductus  hepaticus  im  linken  Leberlappen  einer  Oljäniigen 
Frau  ausgefüllt  hatten.  Der  Hauptstamm  des  Ductus  hepaticus, 
sein  rechter  Ast,  sowie  dessen  Verzweigungen  und  der  Ductus 
choledochus  waren  frei ;  in  der  Gallenblase  fand  sich  eine  giößeie 
Menge  kleiner,  facettierter  Bilirubinkalksteine. 

Prof.  Sternberg:  Die  Wassermannsche  Reaktion. 

Vortr.  -erläutert  den  Begriff  der  Komplementbindung,  be¬ 
spricht  den  Bordet-Gengou  sehen  Versuch,  bzw.  das  More- 
s c h i sehe  Phänomen  und  die  Arbeiten  von  W a,s s er m an n  und 
Bruck,  speziell  die  Wassermannsche  Syphilisreaktion  und 
führt  eine  Reihe  solcher  Proben  vor.  Hierauf  erörtert  er  die 
praktische  Anwendbarkeit  dieser  Reaktion. 

Dr.  Eugen  Kodon  (als  Gast):  Ueber  die  Pathogenese 
des  Ulcus  rotundum  ventriculi  et  duodeni  in  ihrer 
Beziehung  zur  Tumorfrage.  A 

Ausgehend  von  dem  konstitutionellen  Moment,  dessen  Be¬ 
deutung  für  die  U lku spathogenese  von  R.  Schmidt  und  Bartel 
und  in  letzter  Zeit  von  B.  Stiller  betont  wurde,  berichtet  der 
Vortragende  über  häufiges  Zusammentreffen  des  Ulcus  rotundum 
mit  Strumen  und  hypothyreoiden  Zeichen.  Auch  an  Individuen, 
mit  Hauttuberkuliden  oder  mit  anderen  exsudativen  Prozessen 
der  Haut,  ließen  sich  die  kleinen  Zeichen  der  HypotKyreoidie 
vielfach  beobachten.  Poncet  gibt  Rothschild  gegenüber  zu, 
daß  beim  Rheumatismus  ankylosant  Schilddrüsenschwäche  häufig 
zur  Beobachtung  kommt.  Bei  der  extremen  Hypothyreoidie  des 
Menschen,  dem  Kretinismus,  kommen  exsudative  Erkrankungen 
als  Todesursachen  besonders  oft  vor  (C.  A.  E  w  a  1  d,  Die  Erkran¬ 
kungen  der  Schilddrüse,  Myxödem  und  Kretinismus).  _  Berück¬ 
sichtigt  man  außerdem,  daß  sich  das  Myxödem  häufig  mit  luber- 
kulose  kombiniert  und  auch  sporadischer  Kropf  und  Myxödem 
in  der  Aszendenz  und  Konsanguinität  viele  tuberkulöse  Erkran¬ 
kungen  aufweist,  so  erscheint  es  wahrscheinlich,  daß  das  Ulcus 
rotundum  als  Enanthem  aufgefaßt  (Wiener  medizinische  Wochen 
schrift  1910,  Nr.  34,  35)  auch  eine  gewisse  Beziehung  zu  den 


Nr.  23 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


847 


Stoffwechselkomponenten  des  thyreoidealen  Systems  aufwcist.  Da- 
her  kommt  wahrscheinlich  so  häufig  das  familiäre  Ulkus  im 
Engadin  vor,  wie  Huber-Zürich  berichtet  und  wie  Vortragender 
selbst  in  einigen  Familien  beobachten  konnte;  daher  auch  bei 
solchen  Zuständen,  wo  Diskordanzen  des  polyglandulären  Sy¬ 
stems,  besonders  der  Thyreoidalgruppe  in  Erscheinung  treten, 

B.  Pubertät,  Gravidität,  Klimakterium,  Senium. 

Der  Vortragende  knüpft  weiter  an  die  Ausführungen  B  artels 
über  die  Konstitution  der  Ulkuskranken  an,  welcher  iir  der  Dis¬ 
kussion  zu  seinem  ersten  Vortrag  besonders  den  Antagonismus 
dieser  Kranken  zur  Tuberkulose,  sowie  die  Zugehörigkeit  derselben 
zur  sogenannten  Tumormasse  betonte.  Wie  R.  Schmidt  bei  Tu¬ 
morkranken  das  häufige  Fehlen  der  meisten  Infektions-  und  Exan¬ 
themerkrankungen  anamnestisch  erheben  konnte,  so  konnte  dies 
auch  der  Vortragende  tun.  Wenn  man  die  Tumoren  auf  kon¬ 
stitutionellem  Boden  glaubt  entstehen  zu  sehen,  so  bietet  auch 
hier  die  Hereditätsforschung  recht  gute  Anhaltspunkte,  denn  wie 
die  Struma  und  weiterhin  das  Karzinom  der  Thyreoidea  als 
neoplastische  Erkrankungen  eines  besonders  empfindlichen  Ge¬ 
webes  bei  Individuen  auftreten,  welche  in  unseren  Regionen, 
wo  kein  endemischer  Kropf  ist,  als  Erbmasse  kranker  Aszen¬ 
denten  erscheinen,  so  ist  es  unwahrscheinlich,  daß  auch  die  an¬ 
deren  Tumorkranken  ihr  zu  Neoplasien  neigendes  Gewebe  einer 
pathologischen  Erbmasse  zu  verdanken  haben.  Ausdruck  dessen 
wäre  manchmal  die  eigentümliche  hypothyreoide  Konstitution 
ihrer  Deszendenz,  welche  einer  allgemeinen  Zellschädigung  zu 
entspringen  scheint. 

Prim.  Mag  er  demonstriert  einen  23jährigen  Mann,  der  den 
Sy mptomenkomp lex  des  Morbus  Banti  darbietet;  der  positive 
Ausfall  der  Wassermann  selben  Reaktion  läßt  eine  hereditäre 
Lues,  für  welche  sonst  kein  Anhaltspunkt  besteht,  als  Ursache  der 
Erscheinungen  annehmen. 

Prim.  Mager:  Demonstriert  einen  Fäll  von  Myxödem, 
der  einen  38jährigen  Mann  betrifft,  und  erläutert  das  Krank¬ 
heitsbild. 

Wissenschaftliche  Gesellschaft  deutscher  Aerzte 

in  Böhmen. 

Sitzung  vom  5.  Mai  1911. 

Prim.  Dr.  Fink- Karlsbad:  Ueber  die  chirurgische 
Behandlung  des  Magengeschwürs. 

Der  Vortragende  bespricht  an  der  Hand  eigener  operierter 
60  Fälle  die  chirurgische  Behandlung  des  Magengeschwürs  und 
zieht  zum  Vergleiche  die  mit  interner  Behandlung  erzielten  augen¬ 
blicklichen  und  Dauererfolge  heran.  Vom  pathologisch-anatomi¬ 
schen  Gesichtspunkte  sind  die  Fälle  in  solche  des  akuten  und 
des  chronischen  Stadiums  einzuteilen.  Zum  ersteren  Stadium 
gehörten  17,  zum  letzteren  43  Fälle.  Fenier  bespricht  er  den 
hei  der  Operation  erhobenen  Befund,  das  hei  den  einzelnen 
Stadien  eingeschlagene  Operationsverfahren,  die  augenblicklichen 
und  die  Dauerresultate.  Bei  den  unmittelbaren  Erfolgen  trat  in 
83-33°/o  ein  günstiger,  in  16-66°/o  ein  Mißerfolg  ein.  Der  Vortra¬ 
gende  ist  Anhänger  der  Gastroenterostomose  und  ist  unter  be¬ 
stimmten  Bedingungen  für  die  Resektion. 

Priv.-Doz.  Hoke:  Ueber  die  Wirkung  des  Typhus¬ 
giftes  auf  den  Kreislauf. 

Die  Exsudate  von  Kaninchen,  welche  einer  intrapleuralen 
Infektion  mit  dem  Typhusbazillus  erlagen,  sind  auch  im  sterili¬ 
sierten  Zustande  sehr  giftig.  Der  Blutdruck  sinkt  durch  eine  Wir¬ 
kung  auf  die  Gefäße,  wie  die  Analyse  der  Blutdrucksenkung 
(Aortenkompression,  dyspnoisc'he  Vagusreizung,  Trigeminus- 
Splanchnikusreizung,  Adrenalinwirkung)  zeigt.  Die  Gefäßwirkung 
ist  erst  zentral  und  mit  dein  Fortschreiten  der  Vergiftung  peripher. 
Therapeutisch  empfehlen  sich  daher  beim  Typhuskollaps  in  erster 
Linie  die  zentral  wirkenden  Analeptika,  dann  das  peripher  wir¬ 
kende  Adrenalin. 

Dr.  Selig-  Franzens  bad :  Ueber  die  Wirkung  der  Rin¬ 
ger-  und  Kochsalzlösung  auf  den  Kreislauf. 

Die  Ring  ersehe  Lösung  wirkt  bei  intravenöser  Injektion  bei 
Kaninchen  und  Katzen  bei  normalem  Kreislauf  nicht,  blutdruck- 
steigernd,  wohl  aber  hei  Blutdrucksenkung  nach  Verblutung  oder 
Ku  rarein jektion.  Bei  zwei  Kaninchenversuchen  war  hei  Verwen¬ 
dung  von  älterer  Ringer-Lösung  Thrombenbildung  im  rechten 
Vorhofe  und  Ventrikel  nachzuweisen.  Es  ergab  sich  ferner  aus 
Tierversuchen,  daß  sowohl  der  bei  normalem,  als  bei  tief  gesun¬ 
kenem  Blutdruck  nach  intravenöser  Injektion  physiologischer  Koch¬ 
salzlösung  eine  Blutdrucksteigerung  auftrat.  Es  genügen  mitunter 
10  bis  25  cm3  Kochsalzlösung,  um  den  vorher  gesunkenen  Blut¬ 
druck  in  bisweilen  drei  Minuten  auf  das  Dreifache  des  Anfangs- 
Wertes  zu  steigern.  Häufig  konnten  die  durch  Kalziuminjektionen 


entstandenen  Puls  Unregelmäßigkeiten  und  Blutdruckschwankungen 
durch  Kochsalzinfusionen  beseitigt  werden. 

Auch  die  intravenöse  Injektion  von  2-  bis1  5°/oigem  Trauben¬ 
zucker  steigert  den  vorher  gesunkenen  Blutdruck  bedeutend.  Die 
Ring  ersehe  Lösung  vermag  Herz  und  Gefäße  wieder  zu  beleben 
und  ihre  Tätigkeit  für  einige  Zeit  zu  erhalten,  eine  spezifische 
pha,i makologis'chei  Wirkung  scheint  ihr1  wegen  des  ; m tag onis ti¬ 
schen  Verhaltens  der  einzelnen  Salze  nicht  zuzukommen. 

Dr.  Hugo  Pribram- Prag. 


28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin 

vom  19.  bis  22.  April  zu  Wiesbaden. 

(Fortsetzung.) 

Referent:  K.  Reicher- Berlin. 

V. 

J.  Hoffmann  - Heidelberg :  Zur  Lehre  von  der  spina¬ 
len  hereditären  Ataxie. 

Kasuistik,  zu  kurzem  Referate  nicht  geeignet. 

Bi  1 1  o  r  f  -  Breslau  :  Experimentelle  Untersuchungen 
über  die  Ursachen  nephritischer  Blutdrucksteige¬ 
rungen. 

Vortragender;  spricht  sich  gegen  die  ätiologische  Bedeutung 
von  Nephrolysinen,  Adrenalinämie  und  Neben  nie  renhypertrophie 
hei  Entstehung  der  nephritischen  Blutdrucksteigerungen  a,us. 

Im  Tierversuch  kann  Vortr.  durch  Injektion  von  Serum 
Nephritischer  keine  oder  eine  minimale  Blutdrucksteigerung  her- 
vorrufen,  dagegen  eine  erhebliche  durch  Injektion  von  Oel 
oder  Oel — Wismut  in  die  Nierenarterien  von  der  Arteria 
mesenterica  superior  nach  vorhergehender  Unterbindung  der  Aorta 
unterhalb  der  Nierenarterien.  Nach  neuerlicher  Oeffnung  der 
Aorta  bleibt  in  einzelnen  Fällen  der  Blutdruck  um  40  bis  100 u/o 
des  Anfangswertes  erhöht.  Es  kann  also  rein  lokal  bedingte 
Erhöhung  der  Widerstände  in  der  Niere  zu  allgemeiner  Blutdruck- 
Steigerung  führen. 

F is c h ler- Heidelberg :  Zur  Frage  der  internen  u,nd 
operativen  Behandlung  der  Typhlatonie  und  ver¬ 
wandter  Zustände  (chronische  Appendizitis,  soge¬ 
nanntes  Coecutm  mobile). 

Wilms  hat  hei  Schmerzzuständen  in  der  Blinddarmgegenü 
Heilungen  nach  Annähen  des  Cökums  gesehen  und  von  seinen 
Schülern  wurde  der  radiologische  Nachweis  einer  Cökumvergrö- 
ßerung,  einer  abnormen  Beweglichkeit  desselben  und  einer  ab¬ 
normen  Länge  von  dessen  Mesenterium  erbracht.  Nach  Klose 
kann  sich  lein  solches  Cökum  volvulusartig  drehen  und  dadurch  die 
Schmerzattacken  verursachen.  Umgekehrt  findet  Hofmeister 
häufig  als  Veranlassung  von  Schmerzen  Fixierung  des  Cökums 
durch  entzündliche  Stränge  und  Beseitigung  der;  Beschwerden 
nach  Durchtrennung  der  Fixationen.  Dje  Ursache  des  Coecum 
mobile  soll  Obstipation  sein.  Klinisch  charakterisieren  sich  die 
chronischen  Beschwerden  durch  anfallsweise  auftretende  inter¬ 
mittierende  Schmerzen,  durch  einen  luftkissenartig  sich  anfüh¬ 
lenden,  druckempfindlichen,  dem  Cökum  ungehörigen  Tumor  und 
durch  Stuhlunregelmäßigkeiten.  Vortr.  hat  an  katarrhalische  Ty¬ 
phlitis  mit  konsekutiver  Wandinsuffizienz  als  ätiologische  Fak¬ 
toren  gedacht.  Erstere  erschließt  er  aus  den  Stuhlunregelmäßig¬ 
keiten,  aus  dem  stets  auslösbaren  Ileocökalgurren  und  dem  häu¬ 
figen  Plätschern.  Es  käme  dann  zu  Typhlatonie  analog  der  Ent¬ 
wicklung  von  Magenatonie.  Die  Motilität  ist  nicht  das  wesent¬ 
liche  Moment,  denn  es  gibt  viele  Fälle  von  Coecum  mobile  ohne 
alle  Erscheinungen.  Das  also  notwendig  noch  hinzukommende 
sekundäre  Moment  haben  die-  Chirurgen  übersehen.  Wenn  trotz¬ 
dem  Stier  ling  in  75°/o  der  Fälle  Heilungen  durch  Cökumfixation 
erzielt,  so  ist  dies  auf  die  zu  kurze  Beobachtungszeit  angesichts 
der  monate-  und  oft  jahrelang  dauernden  Remissionen  in  dem 
Krankheitshilde  der  Typhlatonie  und  des  Coecum  mobile  zurück- 
zuführen.  Vortr.  plädiert  daher  für  interne,  nicht  chirurgische 
Therapie  u.  zw,  diätetische  und  Wismutmedikation  gegen  die  katar¬ 
rhalischen,  leichte  Massage  und  Körperübungen  gegen  die  atoui- 
schen  Erscheinungen.  Vortr.  hält  die  Anheftung  des  Cökums,  das 
freie  Beweglichkeit  besitzen  muß,  für  viel  gefährlicher  als  die 
Pexie  anderer  Organe. 

Diskussion:  Ewald -Berlin  begrüßt  das  Breschelegeu  in 
die  allgemeine  Masse  der  von  den  Chirurgen  als  Appendizitis 
diagnostizierten  und  schleunigst  operierten  Fälle.  Der  Begriff  der 
Typhilitis  wird  fraglos  neuerdings  wieder  in  den  Vordergrund 
geistellt  und  im  Gegensätze  zur  Appendizitis  erzielt  man  dabei 
durch  abwartende  Haltung  unter  Anregung  der  Peristaltik  Dauer¬ 
erfolge.  Das  Coecum  mobile  läßt  sich  übrigens  durch  Insufflation 


Nr.  23 


848  WIENER  KLINISCHE 


vom  Rektum  aus  als  aufgeblähte  und  beweglich©  Darmschlinge 
erkennen. 

Curse  hm  ahn -Mainz  a.  Rh.  kann  als  Gegenstück  zu 
Tischlers  Fällen  über  Fälle  von  permobiler  Flexura sigmoidea 
berichten.  Derartige  Verlängerungen  und  Lageanomalien  sind  zu¬ 
erst  von  C urschmann  sen.  beschrieben  worden.  Sie  beruhen 
zweifellos  auf  kongenitaler  Basis  und  sind  die  Ursache,  nicht 
die  Folge  der  Obstipation.  Die  Therapie  der  Lageanomalien  des 
Dickdarms  scheint  mehr  und  mehr  in  chirurgisches  Fahrwasser 
zu  segeln. 

Singer- Wien  hat  schon  vor  mehreren  Jahren  auf  dem 
Kongresse  für  innere  Medizin  über  ganz  gleiche  Krankheitsbilder 
wie  Herr  Fisch ler  berichtet  und  sie  als  Distensio  coeci 
bezeichnet.  Sie  kann  unter  anderem  auch  funktionell  entstehen, 
besonders  wenn  sich  durch  Krampfbildung  in  den  tieferen  Dick¬ 
teilen  eine  Stauung  im  Cökum  ausbildet.  Operative  Eingriffe 
führen  in  solchen  Fällen  namentlich  bei  Hysterischen  und  Ner¬ 
vösen  nur  eine  Steigerung  der  Beschwerden  herbei,  daher  hält 
auch  Singer  die  interne  Therapie  weit  besser  angebracht  als  die 
chirurgische. 

K  rieh  1- Heidelberg  :  Während  die  Chirurgen  früher  eine 
Unterscheidung  der  einzelnen  Formen  der  Appendizitis  und  der 
verwandten  Prozesse  abgelehnt  haben,  beginnt  man  doch  jetzt, 
einzelne  Gebiete  herauszuschälen.  M  ir  werden  in  Zukunft  fest¬ 
stellen  müssen,  welche  Prozesse  eigentlich  der  Attacke  zugrunde 
liegen,  und  dann  eher  entscheiden  können,  ob  eine  Operation  in 
dem  betreffenden  Falle  unbedingt  notwendig  ist. 

F  i  s  c  h  1  e  r  -  Heidelberg  :  Schlußwort. 

K  ü  )bs  -  Berlin :  Zur  Physiologie  der  Magen  Ver¬ 
dauung. 

Külbs  untersuchte  in  längeren  Reihen,  wieviel  eine  Katze 
bei  täglicher  Ernährung,  wieviel  bei  48stündiger,  62stündiger  usw. 
Ernährung  aufnimmt  und  wie  sich  dabei  die  Verdauungs-  und 
Gewichtsverhältnisse  gestalten.  Eine  Katze  nimmt  bei  täglicher 
Ernährung  150  bis  200  g,  die  jeden  zweiten  Tag  ernährte  350 
bis  400  g,  die  jeden  dritten  Tag  ernährte  450  bis  470  g  zu  sich. 
Es  gelingt,  Katzen  selbst  bei  Ernährung  an  jedem  dritten  oder 
vierten  Tage  Wochen  und  Monate  hindurch  im  Gleichgewicht  zu 
erhalten,  da  isie  an  eine  gewisse  Unregelmäßigkeit  gewöhnt,  zu  sein 
scheinen.  Doch  darf  diese  Unregelmäßigkeit  nicht  zu  groß  sein, 
sonst  nimmt  das  Tier  rapid  an  Körpergewicht  ab  und  stirbt. 
Der  stark  aufgetriebene  Magen  enthält  dann  bei  der  Sektion  noch 
fast  die  ganze  letzte  Nahrungsaufnahme,  obwohl  sie  mehrere 
Tage  zurückliegt.  Der  Magen  ist  also  motorisch  vollständig  in¬ 
suffizient  geworden.  Verfolgt,  man  die  Gewichtskurve  im  V  ergleich 
zu  jeder  Nahrungsaufnahme,  so  findet  man,  daß  die  täglich  er¬ 
nährte  Katze  nach  20  Stunden,  die  jeden  zweiten  Tag  ernährte 
nach  45  Stunden  ihr  Anfangsgewicht  wieder; erreicht  usw.  Röntgen¬ 
untersuchungen  und  Sektionen  ergeben,  daß  die  täglich  genährte 
Katze  nach  sechs  Stunden  noch  50°/»  der  Nahrung  im  Mägen 
hat,  während  nach  20  Stunden  entsprechend  der  Körpergewichts¬ 
schwankung  der  Magen  bereits  leer  ist.  Zieht  man  aus  der 
menschlichen  Pathologie  ähnliche  Verhältnisse  heran,  so  weiß 
man,  daß  ein  gesunder  Mensch  mit  einer  einmaligen  Nahrungs¬ 
aufnahme  täglich  auskommt,  doch  muß  sie  regelmäßig  und  aus¬ 
giebig  eingenommen  werden,  sonst  kommen  Magendarmstörungen 
und  Gewichtsverlust  zustande. 

S  i  c  k  -  Stuttgart :  Zur  Pathologie  der  Magenbewe¬ 
gungen. 

Bei  Leuten,  die  ,an  Pylorusstenose  leiden,  sieht  man  am 
Röntgenschirm  lebhafte  Peristaltik  des  Antrum  pylori,  dann  einen 
plötzlichen  Wechsel  im  Bilde  und  ein  Nachgeben  des  Magens  im 
Tonus,  die  sogenannte  ovoide  Erschlaff ungsforin.  Von  Jonas 
wurde  zuerst  der  Mechanismus  der  Magenbewegungen  bei  Pylorus¬ 
stenose  beschrieben  und  speziell  die  Antiperistaltik  als  patho- 
gnomonisches  Zeichen  angegeben.  Im  Röntgenbilde  sieht  man 
dagegen,  daß  die  Speisemassen  gegen  den  Pylorus  verdrängt 
und  dann  wieder  gegen  den  Fundus  zurückgedrängt  werden.  Das 
schaut  wie  eine  antiperistaltische  Welle  aus,  ist  aber  keine  echte 
antiperistaltische  Welle.  Das  Duodenum  ist  nicht,  wie  allgemein 
behauptet,  der  radioskopisehen  Untersuchung  schlecht  zugänglich, 
man  kann  es  vielmehr  ganz  gut  in  seiner  Tätigkeit  beobachten. 
In  der  Pars  inferior  duodeni  liegt  nämlich  der  Wismutbrei  vor 
dem  Uebergang  in  das  .Jejunum  längere  Zelt.  Die  Pars  des- 
cendens  duodeni  passiert  der  Wismutbrei  sehr  rasch.  Die  Pars 
superior  duodeni  ist  wegen  ihres  Verlaufes  senkrecht  nach  hinten 
nur  in  starker  Verkürzung  zu  sehen  oder  als  kegelförmiger  Aufsatz 
auf  dem  Pylorus.  Diese  Befunde  können  wertvoll  sein  bei  der 
Diagnose  der  seltenen  stenosierenden  Zustände  im  Duodenum, 
zum  Beispiel  bei  Karzinom  am  Diverticulum  Vateri.  Manchmal 
sieht  man  den  Wismutbrei  auch  unter  dem  Rande  des  Pylorus 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


hieirvorkommen.  Das  ist  ebenfalls  auf  das  Duodenum  zu  beziehen 
und  kann  eine  Fehlerquelle  hei  der  radioskopisehen  Untersuchung 
des  Pylorus  abgeben.  Füllungsdefekte  des  Magens  treten  meist 
bei  Karzinom  auf,  allerdings  in  seltenen  Fällen  auch  bei  ner¬ 
vösen  Erkrankungen.  Der  Begriff  Py lorusins uf fizienz  ist  fallen 
zu  lassen. 

v.  Tab  ora-Straßburg ;  lieber  motorische  Magen 
r  e  flex  e.  N ach  gemeinschaftlichen  Untersuch ungen  mit  D  i  e 1 1  e  n. 

.Schon  Pawlow  hat  nachgewiesen,  daß  sich  nach  Eintritt 
von  Säure  in  das  Duodenum  der  Pylorus  reflektorisch  schließt, 
ferner,  daß  Fett  beim  Uebertritt  in  das  Duodenum  die  Magen- 
entleerung  beträchtlich  verlangsamt.  Klinisch  finden  wir  tatsäch¬ 
lich  bei  Leuten  mit  Hyperazidität  größere  MagenmckstAnd©,  ebenso 
nach  fettreicher  Nahrung,  v.  Ta  bora  hat  nun  die  Hemmungs¬ 
vorgänge  am  Pylorus  einer  eingehenden  Prüfung  unterzogen  und 
zu  diesem  Zwecke  Personen  mit  normaler,  herabgesetzter  und 
gesteigerter  Säuresekretion  Wismutbrei  als  Normalversuch  gegeben, 
an  anderen  Tagen  dasselbe  mit  Salzsäure-,  bzw.  Oelzusatz  und 
schließlich  Suspensionen  von  Wismut  in  dünner  Salzsäureiösung 
und  in  Oel.  Der  Zusatz  von  Säure  zum  Wismutbrei  läßt  nun 
regelmäßig  die  Peristaltik  sehr  lebhaft  werden  und  verzögert 
deutlich  die  Entleerung  des  Magens  bis  um  die  Hälfte  der  nor¬ 
malen  Zeit.  Ueberraschenderweise  wird  nach  Oelzusatz  zum  Wis¬ 
mutbrei  die  Peristaltik  zunächst  flacher  und  macht  schon  nach 
wenigen  Minuten  einem  vollständigen  Stillstand  derselben  Platz. 
Gleichzeitig  steht  der  Pylorus  offen,  denn  bei  rechter  Seifeniagc 
können  die  Inges  ta  sehr  rasch  den  Magen  verlassen.  Diese  Fett- 
lähmuug  dauert  zwei  bis  drei  Stunden,  je  nach  der  angewandten 
Oeidosis.  Ja,  es  gelingt  durch  wiederholte  Fettdarreichung  in 
Intervallen,  tagelang  die  Peristaltik  zu  lähmen.  Wir  können  so 
bei  zweistündlicher  Darreichung  von  Gelen  bei  geschwürigen 
Magienprozessen  einen  Stillstand  des  Magens  genau  so  erreichen, 
wie  ein  Chirurg  eine  Extremität  immobilisiert. 

Diskussion  zu  den  Vorträgen  Külbs,  Sick  und  von 
Tabu  ra. 

Weber- Kissingen,  gemeinsam  mit  Groß- Greifswald: 
U e b er  Salz säu Fe d  ef i z  i  t. 

ln  der  Bestätigung  der  Angaben  von  Leo  fanden  die 
Autoren,  daß  die  von  Eiweiß  gebundenen  Salzsäuremengen  sehr 
erheblich  sind.  Die  Verbindungen  von  Eiweiß  und  Salzsäure 
werden  nur  bei  Anwesenheit  von  freier  Salzsäure  in  Lösung 
gebracht.  Ein  Mehr  oder  Minder  von  Pepsin  hat  keinen  Einfluß 
auf  die  Menge  der  freien  Salzsäure,  wohl  aber  auf  die  Total- 
azidität.  Das  Salzsäuredefizit  wird  durch  Pepsin  nicht  verändert. 
Die  Vortragenden  folgern  aus  den  Untersuchungen,  daß  ein  Salz¬ 
säuredefizit  nur  eintreten  kann,  wenn  eine  relative  Salzsäure- 
insuftizienz  vorliegt  und  daß  ein  geringer  Stickstoffgehalt  der 
Lösung  davon  herrührt,  daß  in  dem  ungelösten  Teile  ein  reich¬ 
licher  salzsäurebindender  Faktor  gegeben  ist. 

Ewald-Berlin:  Die  Resultate  von  v.  Tabor a  harmonieren 
trefflich  mit  unseren  praktischen  Erfahrungen  über  den  Einfluß 
der  Oelkur  bei  Hyperazidität  und  bei  Ulkus.  Wolff  und  Jung- 
huns  haben  in  meinem  Krankenhaus  die  Verdauungsarbeit  fest¬ 
gestellt,  das  heißt  die  Menge,  welche  nach  einem  Probefrüh- 
stück  zu  einer  bestimmten  Zeit  im  Magen  noch  vorgefunden 
wird.  Es  werden  fallende  Mengen  von  filtriertem  Mageninhalt  mit 
Phosphor-  Wrolf ramsäure  versetzt;  das  Glas,  in  dem  nur  ein 
geringer  Grenzring  von  Eiweiß  auftrjtt,  wird  als  Maßstab  für 
die  Menge  von  gelöstem  Eiweiß  angenommen,  so  daß  man  dann 
von  einer  eiweißlösenden  Kraft  des  Mageais  v-on  10(4,  200  usw 
spricht.  Nach  dieser  Methode  haben  nicht  die  Fälle  von  Hyper- 
<  hlorhydrie  die  stärkste  eiweißlösende  Kraft,  sondern  diejenigen 
mit  normalem  Salzsäuregehalt.  Fälle  von  Krebs  zeigen  .auch 
eine  fast  normale  eiweißlösende  Kraft. 

v.  Berg  m  an  n  -  Berlin  möchte  sich  gegen  die  Abschaffung 
des  Begriffes  „Pylorusinsuffizienz“  wenden  und  glaubt  im  Gegen¬ 
teil,  daß  das  Königen  verfahren  uns  eine  viel  genauere  Definition 
dieses  Begriffes  erlaubt.  Der  vom  Duodenum  ausgelöste  reflek¬ 
torische  Pylorusschluß  fehlt  in  einer  ganzen  Reihe  von  Fällen, 
so  zum  Beispiel  bei  Achylie  und  bei  Magenkarzinom  mit  An¬ 
azidität,  hängt  also  zum  Teil  mit  Aziditätsverhältnissen  zusammen. 
Es  scheint  aber  auch  Infiltrierung  des  Fundus  in  größerer  Aus¬ 
dehnung  als  ein  mechanisches  Moment  den  Ablauf  der  Peristaltik, 
beziehungsweise  den  Schluß  des  Pylorus  zu  verhindern.  Es  gibt 
alle  Uebergängo  zwischen  absolutem  Offenstehen  und  mangel¬ 
haftem  Verschluß  des  Pylorus. 

G.  K  lein  p  er  e  r- Berlin :  Die  klinischen  Beobachtungen 
stehen  mit  den  Befunden  von  v.  Tabor a  bezüglich  der  Oelläh- 
tmmg  nicht  im  Einklang,  denn  Klemperer  konnte  bei  quan¬ 
titativen  Messungen  von  verabreichten  Oelmengen  behufs  1* esst- 
Stellung  der  motorischen  Tätigkeit  des  Magens,  beispielsweise 


Nr.  28 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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von  100  cm*  bei  gesunden  Menschen  nach  zwei  Stunden  bloß 
25  cm"  wieder  bekommen.  Bei  Pylorusstenosen  dagegen  erhielt 
er  100,  bei  schwacher  Stenosierung  70  bis  HO  cm3.  i'Vrner  be¬ 
ruhigt  Ocl  die  Schmerzen  beim  Ulkus  häufig,  aber  nicht  immer. 
Ebenso  wenig  werden  damit  bessere  I teilungsresultate  erzielt  als 
mit  den  anderen  bewährten  Methoden  der  Ulkusbehandlung. 

F  ,a  1 1  a  -  Wien  hebt  im  Gegensatz  zu  Sick  hervor,  daß  man 
in  typischen  Fällen  die  antiperistaltische  Welle  am  Magen  außer¬ 
ordentlich  deutlich  sehen  kann.  Fraglich  ist  allerdings  noch, 
ob  man  in  ihr  ein  sicheres  Zeichen  einer  organischen  Pylorus 
läsion  zu  sehen  hat.  Denn  Falta  hat  sie  gemeinsam  mit 
U.  Schwarz  in  zwei  Fällen  von  sicherem  Morbus  Reichmann 
(mit  Tetanie  vergesellschaftet)  gesehen.  Vielleicht  kann  auch  ein 
bloßer  Pyloruskrampf  eine  antiperistaltische  Welle  verursachen. 

G  l'oeido  1- Nauheim  ist  auch  gegen  das  Lieber bord werfen 
der  Bezeichnung  Pyl'oiusinsuffizienz,  deren  Bestehen  durch  die 
Röntgenuntersuchungen  erwiesen  ist.  ln  einem  interessanten  Falle 
-zeigte  sich  typische  intermittierende  Pylorusinsuflizienz  mit  inter¬ 
mittierendem  Sanduhrmagen  vergesellschaftet,  ln  diesem  Faile 
beeinflußten  deutlich  Sekretion  und  mechanische  Momente  und 
zwar  perigastritisehe  Verwachsungen,  den  Pylorusschluß.  In 
Fällen  von  Pylorusinsuffizienz  .sehen  wir  das  Duodenum  dauernd 
mit  Ingestis  angefüllt.  Die  Antrumperrstaltik  ist  bei  Hyperazidität 
sehr  lebhaft,  bei  Anazidität  sehr  gering. 

Bah rdt- Berlin -Charlotten bürg  :  Die  flüchtigen  Säuren  ver¬ 
mögen  den  Magen  außerordentlich  energisch  zum  Stillstand  zu 
bringen.  Genaue  quantitative  Bestimmungen  der  flüchtigen 
Säuren  nach  einer  neuen  Methode  zeigten,  daß  die  Mengen,  welche 
im  Magen  bei  der  Gärung  entstehen,  besonders  Essigsäure  und 
Kohlensäure,  dazu  vollständig  genügen.  So  erklärt  es  sich,  warum 
Ueberfütterung  zu  Stagnation  führt.  Diese  erzeugt  wieder  ver¬ 
mehrte  Bildung  von  flüchtigen  Säuren  und  so  wird  der  Circulus 
vitiosus  geschlossen. 

Schitterihelm- Erlangen:  Die  großen  Differenzen  in  dem 
Angaben  der  einzelnen  Forscher  über  das  Salzsäureoptimum  im 
Viagen  sind  durch  die  beträchtliche  Verschiedenheit  der  einzelnen 
verwendeten  Pepsinpräparate  zu  erklären. 

B  ü  n ni  g  er -Pankow  :  Die  Form  des  Magens  ist  nicht  nur 
von  der  Peristaltik,  sondern  auch  vom  Tonus  abhängig.  Ein  nicht 
Peristaltik  zeigender  Magen  ist  noch  nicht  atonisch.  Ein  atoni- 
scher  Magen  hat  aber  stets  ausgesprochene  Hakenform.  Der  von 
Sick  demonstrierte  Magen  zeigte  aber  Kugelgestalt,  was  für 
erhöhten  Tonus  spricht. 

Neubau  er- München :  Die  eiweißverdauende  Kraft  des  Kar- 
zinommagens  ist  bedeutend  erhöht,  doch  ist  dies  jedenfalls  nicht 
die  einzige  Ursache  des  Salzsäuredefizits.  Forinolti Rationen  haben 
da  ebenfalls  zu  keiner  Aufklärung  geführt. 

v.  Tabora  (Schlußwort):  Bei  dem  Oelmagen  handelt  es 
sich  um  gelähmte  Peristaltik,  aber  zugleich  um  einen  Magen  mit 
gutem  Tonus.  Es  bildet  sich  sogar  wahrscheinlich  ein  spastischer 
Eindruck  in  der  Mitte  des  Magens. 

Sick  (Schlußwort):  Sick  hält  auch  die1  Röntgenunter¬ 
suchung  für  die  Aufklärung  der  verschiedenen  Funktionszustände 
des  Pylorus  für  außerordentlich  wertvoll. 

Winternitz -Halle:  U'eber  eine  neue  Methode  zur 
Funktionsprüfung  des  Pankreas. 

Die  Aethy leister  bieten  dem  Pankreas  eine  viel  schwierigere 
Aufgabe  bei  der  Aufspaltung  als  die  gewöhnlichen  Fette.  Vor¬ 
tragender  hat  daher  den  Monojod-Behänsäure-Aethylester  ausge¬ 
wählt,  um  beim  Menschen  eine  Pankreasfunktionsprüfung  in  fol¬ 
gender  Weise  vorzunehmen :  Morgens  werden  nüchtern.  3  bis 
4  cm3  des  Stoffes  gleichzeitig  mit  einem  Probefrühstück  verab¬ 
reicht.  Nach  drei  Stunden  tritt  beim  normalen  Menschen  eine 
schwache  Jodreaktion  im  Harn,  bzw.  im  Speichel  auf  und  läßt 
sich  viele  Stunden  lang  bis  zum  nächsten  Tage  verfolgen.  Das 
Vorhandensein  dieser  Jodreaktion  beweist  zureichende  Pankreas¬ 
funktion.  Fehlen  der  Jodreaktion  weist  auf  Insuffizienz  des  Pan¬ 
kreas  hin.  Der  verwendete  Ester  verhält  sich  auch  gegen  Pflanzen- 
hpasen  ganz  anders  als  gewöhnliches  Fett  und  wird  z.  B.  durch 
Rizinuseimulsion  nur  sehr  wenig  aufgespalten.  Beweisend  für  die 
Methode  sind  nur  die  Fälle,  wo  bei  in  fast  normalen  Grenzen 
sich  vollziehender  Fettspaltung  und  Resorption  sich  eine  Funk¬ 
tionsstörung  nach  der  neuen  Methode  ergab  und  durch  Opera¬ 
tion  und  Autopsie  bestätigt  wurde.  Dies  war  der  Fall  bei  zwei 
akuten  Piankreetitiden.  Intereissanterweise  blieb  auch  in  zwei 
Fällen  von  Diabetes  die  Jodreaktion  aus,  was  auf  eine  Störung 
der  Pankreasfunktion  hinzuweisen  scheint.  Ganz  Aehnliches  zeigte 
sich  auch  bei  zwei  Fällen  von  Splenomegalie,  bei  deren  einem 
eigenartige  Koliken  nach  der  Funktionsprüfung  als  Pankreaskoliken 
angesprochen  werden  konnten.  Eine  wesentliche  Einschränkung 
erleidet  die  Methode  allerdings  dadurch,  daß  die  Mitwirkung  der 


Galle  zu  ihrem  Zustandekommen  notwendig  isl.  Bei  Ikterus  mit 
acholischen  Stühlen  ist  also  ein  Ausbleiben  der  Jodreaktion 
nicht  für  Pankreasinsuifizienz  beweisend.  Ebenso  wird  bei  lleius- 
erkrankung  die  Einnahme  des  Probefrühstücks  und  das  Abwarten 
des  Reaktionseintrittes  mit  Schwierigkeiten  verbunden  sein.  Jeden¬ 
falls  ist  sie  aber  einer  ausgedehnten  Nachprüfung  wert. 

(Fortsetzung  folgt.) 


40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  zu  Berlin 

vom  19.  bis  22.  April  1911  (im  Langenbeckhause). 

Referent:  Dr.  M.  Katzen  stein -Berlin. 

(Fortsetzung.) 

Heinrich  Klose-Frankfurt  a.  M. :  Die  habituelle  Tor¬ 
sion  des  mobilen  Cökums. 

Die  Frankfurter  chirurgische  Klinik  beschäftigt  sich  mit 
dem  Krankheitsbild  des  Coecum  mobile  seil  dem  Jahre  1904. 
Seit  dieser  Zeit  sind  154  Fälle  mit  einer  absoluten  Heilungs¬ 
ziffer  von  89°/o  operiert  worden. 

Klose  vertritt  im  Gegensatz  zu  Wilms  den  Standpunkt, 
daß  mechanische  Passages törungen,  die  durch  eine  habituelle 
Torsion  an  der  Flexura  hepatica  zustande  kommen,  für  das  Zu¬ 
standekommen  der  Krankheit  die  Hauptrolle  spielen.  Sekundär 
treten  Hypertrophien  und  Atrophien  der  Wand,  entzündliche  Pro¬ 
zesse  in  der  Umgebung  des  Coecum  und  Colon  a,scendens  sowie 
chronische  Torsionen  und  Dislokationen  dieser '  Organe  ein.  Die 
habituelle  Torsion  des  mobilen  Cökums  ist  nach  ( inters uchungen 
der  Frankfurter  Klinik  eine  der  wichtigsten  und  häufigsten  Ur¬ 
sa/,  dien  für  die  akute  Appendizitis.  Es  werden  diesbezügliche 
Präparate  demonstriert.  Auch  Wanderniere  und  schwere  pye- 
litisebe  Infektionen  können  durch  habituelle  Cökaltorsxonen  ver¬ 
anlaßt  werden. 

Klose  berichtet  über  Experimente  an  Leichen,  die1  seine 
mechanische  Grundauffassung  bestätigen.  Entsprechend  •der¬ 
selben  wird  in  Frankfurt  das  Gökum  und  ganze  Colon  asceiidens 
an  der  seitlichen  Bauchwand  fixiert,  um  Torsionen  unmöglich 
zu  machen,  ln  der  letzten  Zeit  ist  man  weitergegangen  und  hat 
bei  schweren  entwicklungsgeschichtlichen  oder  erworbenen  Ente- 
roptosen  den  gesamten  Dickdarm,  Leber  und  Milz  in  der  normalen 
Lage  mit  bestem  Erfolge  fixiert.  Damit  ist  nun  das  große,  ver¬ 
nachlässigte  Gebiet  der  Entecoptosen  für  eine  chirurgische  aus¬ 
sichtsvolle  Behandlung  gewonnen. 

F ro m me- Berlin :  Bei  der  Frau  wird  das  Cökuni  während 
der  Gravidität  weit  nach  oben  gedrängt.  Während  der  letzten 
Hälfte  derselben  sind  Beschwerden,  ähnlich  der  chronischen  Ap¬ 
pendizitis  häufig.  Diese  beruhen  auf  zu  starker  Fixation  des 
Cökums.  Zu  große  Beweglichkeit  anderseits  führt  dabei  zum 
Volvulus. 

Körte- Berlin  befürchtet  das  Aufleben  alter  Irrlehren  von 
der  Blinddarmentzündung  im  eigentlichen  Wortsinn.  Diese  ist 
so  selten,  daß  er  nur  zweimal  Geschwüre  im  Cökum  gefunden  hat. 
Operation  bei  chronischer  Appendizitis  führt  er  nur  aus,  um 
akuten  Anfällen  vorzubeugen.  Das  bloße  Schmerzsymptom  be¬ 
trachtet  er  als  unzuverlässig.  Sieht  man  in  ihm  eine  Indikation 
zur  Operation,  so  wird  man  nur  vorübergehende  Erfolge  erzielen. 

Die  Obstipation  beruht  auf  mangelhafter  Erregbarkeit  des  ge¬ 
samten  Darmtraktus.  Lokale  Hindernisse  spielen  keine  Rolle, 
wie  die  Erfahrungen  bei  I leocökaltu berk u lose  und  bösartigen  Tu¬ 
moren  beweisen. 

S p  ren  g  el- Braunschweig  :  Die  Typhlitis  stercoralis  ist  de¬ 
finitiv  erledigt :  der  Blinddarminhalt  ist  flüssig.  Die  Passage 
durch  den  Darm  ist.  um  so  schneller,  je  beweglicher  er  ist.  Ein 
Coecum  mobile  (richtiger  Mesenterium  commune))  befindet  sieb 
in  1.0%  der  Fälle.  Die  Diagnose  der  Appendicitis  chronica  kann 
mit  Sicherheit  gestellt  werden.  Findet  sich  in  der  Appendix  ein¬ 
gedickter  Kot,  so  ist  die  Exstirpation  vollkommen  gerechtfertigt. 
Eine  konstante  Schmerzempfindlichkeit  besitzt  eine  wirkliche  dia¬ 
gnostische  Bedeutung.  Im  Zweifelsfall  wartet  man  den  nächsten 
akuten  Anfall  ab  und  operiert  in  den  ersten  24  Stunden. 

E.  Alexander -Leipzig  findet  in  Steinschnittlage  bei  appen¬ 
dizitisverdächtigen  Patienten  Schwellungen  der  sympathischen 
Ganglien,  die  er  durch  Massage  zur  Heilung  bringt. 

Artur  S  eh  les  i ng  e r- Berlin  :  Die  Beschwerden  können  durch 
Bettruhe  oder  Tragen  einer  Heftpflasterbinde  oft  beseitigt  wer¬ 
den.  Sie  herüben  dann  auf  Enteroptose. 

Reh n- Frankfurt  a.  M.  tritt  für  die  Typhlitis  ein.  Er  findet 
Atonie,  Hypertrophie  und  einen  entzündlichen  Schleier  über  dein 
Cökum. 


850 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  23 


Mechanische  Momente  sind  von  großer  Bedeutung,  er  be¬ 
richtet  über  Fälle  von  Torsion  und  Verlagerung.  Nach  dem  An¬ 
fall,  reicher  mit  Entleerung  des  Cökums  unter  Gurren  aufhört, 
macht  er  blutige  Stühle. 

Wilms -Heidelberg:  Seine  Kranken  haften  alle  meistens 
überhaupt  keinen  appendizitisc'hen  Anfall.  Durch  die  Fixation 
des  Cökums  vermochte  er  Heilung  herbeizuführen,  wo  die  Appen¬ 
dektomie  ohne  jeden  Erfolg  aus  geführt  worden  war. 

V oelcker- Heidelberg  :  Raffung  des  Cökums. 

Die  Fixation  von  Hohlorganen  mit  veränderlichem  Lumen 
erscheint  bedenklich,  um  so  mehr,  wenn  man  an  die  Beschwerden 
denkt,  die  von  Adhäsionen  veranlaßt  werden. 

Darum  zieht  er  die  in  zwölf  Fällen  von  ihm  ausgefühlte 
Raffnaht  (von  Tänie  zu  Tänie)  vor,  welche  zugleich  auch  einte 
Verkürzung  des  Cökums  mit  sich  bringt. 

G  oebell- Kiel :  iZur  chirurgischen  Therapie  der 
durch  Megasigmoideum  und  Houstonschen  Klappen 
v  eru  rs  ach  ten  Obstipation. 

Die  Operation  (Anlegung  von  Klemmen  im  Rektromanoskop) 
führte  zur  Heilung  von  Obstipationen,  welche  sowohl  der  Fixation 
nach  Wilms,  wie  der  Hormonalfixation  widerstanden  hatten. 

Das  Megasigmoideum  (gewisisermaßen  eine  leichtere  Form 
der  Hirschsprunfg sehen  Krankheit)  läßt  sich  radioskopisch 
und  romanoskopisch  diagnostizieren. 

Ri  edel -Jena  berichtet  über  einen  Fall,  welcher  neunmal 
laparotomiert  wurde.  Das  erste  Mal  wegen  dysenterischer  Darm¬ 
blutung  zwecks  Ausschaltung  des  ganzen  Kolons.  Die  Blutungen 
bestanden  fort,  Störungen  der  Stuhlentleerung  traten  hinzu,  die 
weder  durch  Einschaltung  noch  durch  wiederholte  Ausschaltung 
des  Kolons  beseitigt  wurden.  Die  Patientin  hat  zurzeit  eine  Cökal- 
fistel  und  es  scheint  nichts  übrig  zu  bleiben,  als  die  Exstirpation 
des  ganzen  Kolons. 

Körte- Berlin  hat  diese  Operation  in  einem  Falle  mit 
gutem  Erfolg  ausgeführt. 

y.  E  is  eis  hier  g  -  Wien  hält  es  für,  richtiger,  das  Kolon 
auszuschalten,  oben  und  unten  zu  verschließen  und  eine  kleine, 
als  Ventil  dienende  Fistel  anzulegen. 

de  Qu  er  vain -Basel:  Die  Resektion  des  ganzen  Kolons 
wird  in  England  vielfach  geübt.  Ihre  Mortalität  ist  25°/o.  Im 
übrigen  illustriert  der  Fall  Riedehs  seine  Ausführungen  über 
d  i  e  Di ckda  rm  aus s  cha  ltun g . 

Friedrich-Marburg:  Die  Inkubationszeit  der  peri¬ 
tonealen  Infektion. 

Es  gelten  die  gleichen  Gesetze,  welche  Redner  für  die 
Muskelinfektion  festgestellt  hat.  Entfernung  des  infizierten  Ma¬ 
terials,  bis  zu  acht  Stunden  nach  der  Einbringung  in  die  Bauch¬ 
höhle  wirkt  lebensrettend.  Von  da  ab  nicht  mehr.  Jedoch  über¬ 
leben  die  bis  zur  zwölften  Stunde  relaparotomierten  Tiere  die 
Peritonitis  länger  als  die  Myositis,  nämlich  bis  zu  fünf  'lagen; 
alle  jenseits  dieser  Zeit  von  dem  infektiösen  Fremdkörpermaterial 
wieder  befreiten  Tiere  gehen  ausnahmslos  und  innerhalb  36  bis 
00  Stunden  ein. 

A.  Hoffmann-  Offenburg  :  Erfahrungenüberdas  Rov- 
singsche* 1  Symptom. 

Das  Symptom  besteht  zu  Recht.  Seine  Erklärung  durch 
Rovsing  (Luftstauung  in  der  Appendix)  ist  unhaltbar.  Auch 
besitzt  es  keinerlei  p  ath  og  n  o  m  on  is  eben  Wert  für  Appendizitis. 

Fahr icilus- Wien:  Zur  offenen  Behandlung  der 
Bauchhöhle  bei  Entfernung  entzündlicher  Tumoren. 

Ho  ohne- Kiel:  Klinische  Erfahrungen  über  die 
Vorbehandlung  des  Bauchfells  zum  Schutze  gegen 
peritoneale  Infektion. 

Floehne  berichtet  über  die  Erfolge,  die  an  der  Kieler 
Universitätsfrauenklinik  mit  den  „unreinen“  Bauchhöhlenopera¬ 
tionen  um  mindestens  24  Stunden  vorausgeschickten,  also  ante- 
operativen  Reizbehandlung  des  Peritoneums  erzielt  worden  sind. 
Als  Reizmittel  diente  Kampferöl  in  verschiedenen  Konzen¬ 
trationen. 

Die  Methode  ist  von  Ho eh ne  nach  den  klaren  Ergeb¬ 
nissen  seiner  eingehenden  „experimentellen  Untersuchungen  über 
den  Schutz  des  Tierkörpers  gegen  peritoneale  Infektion“  auf  den 
Menschen  übertragen  und  von  Pfannen  stiel  auf  dem  Gynä¬ 
kologenkongreß  in  Straßburg  1909  als  ein  seiner  „postoperativen 
Oelung“  überlegenes  Verfahren  der  Peritonitisprophylaxe  em¬ 
pfohlen  worden.  Die  anteoperative  Reizbehandlung  des  Perito¬ 
neums  bezweckt,  durch  Erzeugung  eines  unschädlichen  abak- 
teriellen  fibrinösen  Exsudates  die  Bakterienresorption  aus  der 
Bauchhöhle  aufzuheben  und  gleichzeitig  durch  die  Exsudation 
die  bakteriziden  Kräfte  in  der  Bauchhöhle  zu  erhöhen.  Gelangt 
nun  während  der  mindestens  einen  Tag,  am  besten  mehrere 
Tage  später  vorzunehmenden  Operation  infektiöses  Material  in 

Verantwortlicher  Redakteur  :  Earl  Knbasta. 

Druck  ron  Bruno  Bartelt,  V 


die  freie  Bauchhöhle  hinein,  so  werden  die  infolge  der  Vorbehand¬ 
lung  im  Peritonealraum  festgehaltenen  Keime  binnen  kurzer  Zeit 
vernichtet,  ohne  dem  Körper  gefährlich  werden  zu  können. 

Die  Vorbehandlung  des  Peritoneums  mit  Kampferöl  ist  in 
94  Fällen  ohne  Schaden  zur  Anwendung  gekommen.  Von  den 
94  Fällen  dürfen  78  Fälle  zur  Bewertung  der  Methode  heran¬ 
gezogen  werden.  Von  den  78  Frauen  ist  keine  an  Peritonitis 
gestorben,  obwohl  es  sich  größtenteils  um  Operationen  handelte 
(vor  allem  abdominale  Karzinomoperationen),  die  sonst  erfah¬ 
rungsgemäß  mit  einer  hohen  PeritonitisnVörtalität  belastet  sind. 

Die  Technik  des  Verfahrens  wird  genau  beschrieben  und  das 
sehr  einfache  Instrumentarium  gezeigt. 

Diskussion:  Borchar dt- Posen  empfiehlt  die  Injektion 
von  100  cm3  sterilen  Olivenöls  in  die.  Bauchhöhle.  Die  nor¬ 
male  Peristaltik  setzt  alsdann  ein. 

Mül ler -(Rostock  hat  nach  Oelinjektionen  keine  Adhä¬ 
sionen  ein  treten  sehen. 

R eh n- Frankfurt  a.  M. :  Wenn  die  Oelinjektion  keine  Ad¬ 
häsionen  hervorruft,  so  kann  sie  auch  kein  fibrinöses  Exsudat 
veranlassen.  Hier  besteht  ein  Widersprach. 

(Fortsetzung  folgt.) 

K.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

Nächste  Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 
am  16.  Juni  1.  J. 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 

in  Wien. 

Die  nächste  Sitzung  der  pädiatrischen  Sektion  findet  im  Hörsaale  der 

pädiatrischen  Klinik  Donnerstag  den  8.  Juni  191 1,  um  7  Uhr  abends, 

statt. 

(Vorsitz:  Dr.  Julius  Drey.) 

Programm: 

1.  Demonstrationen  angemeldet:  Priv.-Doz.  Dr.  Enönfelmacher, 
Dr.  Rud.  Pollak. 

2.  Priv.-Doz.  Dr.  Hoclisinger:  Ueber  angeborenen  Lückenschädel. 

Das  Präsidium. 


Ophthalmologische  Gesellschaft  in  Wien. 

Programm  der  am  Montag  den  12.  Juni  1911,  7  Uhr  abends,  im 

Hörsaale  der  Klinik  Fuchs  stattfindenden  Sitzung. 

Meller:  Ueber  postoperative  und  spontane  Chorioidealabhebung. 

Dr.  Richard  Krämer,  dz.  Schriftführer. 

- - — 

Verein  für  Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien. 

Einladung  zu  der  am  Dienstag,  18.  Juni  1911  im  Hörsaal  der  Klinik  Hofrat 
v.  Wagner  (Zugang  durch  die  Borschkegasse,  alte  Landesirrenanstalt), 
abends  7  Uhr,  stattfindenden  Vereinsversainmung. 

Programm: 

Demonstrationen:  1.  Priv.-Doz.  Dr.  C.  Strauß  und  Privatdozent 
Dr.  R.  Löwy :  Zur  pathologischen  Histologie  der  Meningealhirngefäße. 

2.  Dr.  L.  Dimitz:  Myxödem  mit  Hypophysentumor. 

3.  Dr.  Pötzl:  Demonstrationen  eines  Gehirnes  mit  Balkenmangel. 

4.  Dr.  H.  Rauer  und  Dr.  Leidler:  Experimentelle  Verletzungen 
des  zentralen  Vestibularapparates. 

5.  Priv.-Doz.  Dr.  Bäräny. 

6.  Vortrag:  Priv.-Doz.  Dr.  Otto  Marburg:  Zur  klinischen  Pathologie 
der  Myatonia  congenita  (Oppenheim). 

Dr.  Marburg,  Schriftführer. 

(Nach  der  Sitzung  gesellige  Zusammenkunft  im  »Riedhof«.) 


Geburtshilflich-gynäkologische  Gesellschaft. 

Nächste  Sitzung  Dienstag  den  18.  Juni  1911,  im  Hörsaale  der 
II.  Univ.-Frauenklinik.  Beginn:  Punkt  7  Uhr  abends. 

1.  Weibel:  Bericht  über  die  Erfolge  der  vaginalen  Operationen 
wegen  Retrodeviation  des  Uterus. 

2.  Ogorek  (a.  G.) :  Funktionierendes  Ovarium  bei  nie  menstruierter 

Frau. 

3.  G.  A.  Wagner:  a)  Zur  Technik  der  Hystreuryse;  b)  Blasen¬ 
hernie  nach  Hebosteotomie;  c)  Intrauterine  Skeletierung. 

Kroph,  Schriftführer.  Wertheim,  Vorsitzender. 

Verlag  von  Wilhelm  ßrnnmällor  in  Wien 

i  XV III.,  Theresiongaaso  8. 


nnter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 


0.  Chiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S. 

H.  Obersteiner,  A.  Politzer. 


Exner.  E.  finger.  M.  Gruber.  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko.  H.  Meyer.  J.  Moeller,  K  v. 
A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler.  Q.  Toldt.  J.  v.  Wagner.  E.  Wertheim. 


Noorden, 


Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

»nlon  Freih.  v.  Eiseisberg.  Alexander  Fraenkel.  Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg.  Ernst  Ludwig,  Edmund  ».  Neusser 

Richard  Paltauf.  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 


Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler.  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 

.  XXIV.  Jahrg.  Wien,  15.  Juni  1911  Nr.  24 


INHALT: 


1.  Originalartikel :  1.  Die  Lokalisation  der  Herztöne.  Von  Professor 
Dr.  M.  Heitl  er.  S.  851. 

2.  Ueber  tuberkulöse  Exazerbation.  (Zur  Theorie  der  Phthiseo- 
genese.)  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Franz  Hamburger.  S.  859. 

-  3.  Aus  der  Prosektur  (Vorstand:  Hofrat  Prof.  Dr.  Richard  Paltauf) 
und  der  Hautabteilung  (Vorstand:  Primarius  Dr.  Leo  Ritter 
v.  Zumbusch)  der  k.  k.  Rudolfstiftung  in  Wien.  Nachprüfung  der 
nach  Angabe  Müllers  und  Landsteiners  modifizierten  Methodik 
der  Wassermannschen  Reaktion  mit  nicht  inaktiviertem  Serum 
Von  Dr.  Emil  Epstein  und  Dr.  S.  D  e  u  t  s  c  h.  S.  860. 

4.  Aus  der  medizinischen  Klinik  der  Universität  Lemberg  (Vor¬ 
stand:  Prof.  Dr.  A.  Gluzinski.)  Alimentäre  Glykosurie  und 
Adrenalinglykosurie.  Mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
Glykosurie  in  der  Gravidität  und  der  Zuckerkrankheit.  Von 
Dr.MarekReichenstein,  gew.  Asistenten  der  Klinik.  S.  862. 

II.  Diskussion:  Lichtschädigungen  der  Haut  und  Lichtschutzmittel 
Von  Prof.  Dr.  C.  Mannich,  Berlin.  S.  869. 

III.  Referate:  Ueber  Psychoanalyse  Von  Prof.  F  r  e  u  d.  Die  Diagnose 
der  Nervenkrankheiten.  Von  Stewart.  Die  jugendlichen  Ver¬ 
brecher  im  gegenwärtigen  und  zukünftigen  Strafrecht.  Von 
Prof.  Schultz  e.  Leitfaden  der  experimentellen  Psychopatho¬ 
logie.  Von  Priv.-Doz.  Gregor.  Beiträge  zur  Pathologie  des 
Stoffwechsels  bei  Psychosen.  Von  Dr.  Max  Kaufma  n  n.  Etudes 
sur  la  paralysie  generale  et  sur  tabes.  Par  S  p  i  1 1  m  a  n  n  et 


Perrin.  Die  symptomatischen  Psychosen  im  Gefolge  von 
akuten  Infektionen  und  inneren  Erkrankungen.  Von  Prof.  K.  Bon¬ 
höf  f  e  r.  Drei  Abhandlungen  zur  Sexualtheorie.  Von  Prof.  Freud. 
Cesare  Lombroso  als  Mensch  und  Forscher.  Von  Dr.  Kurelia. 
Eine  Kindheitserinnerung  des  Leonardo  da  Vinci.  Von  Professor 
Freud.  Ludwig  Türcks  gesammelte  neurologische  Schriften. 
\  on  Prof.  Neuburger.  Die  hereditären  Beziehungen  der 
Dementia  praecox.  Von  Dr.  Josef  B  e  r  z  e.  Untermenschen  oder 
Narren  ?  Von  N  adastiny.  Jahrbuch  für  psychoanalytische  und 
psychopathologische  Forschungen.  Von  Prof.  Bleuler  und 
Prof.  Freud.  Seele  und  Gehirn.  Von  Dr.  Thoden  van  Ve  1  z e  n. 
Referent:  E.  Rai  mann.  —  Pathologie  des  Zwerchfells.  Von 
Priv.-Doz.  Dr.  Eppinger.  Hypophysis,  Akromegalie  und  Fett¬ 
sucht.  \on  B.  Fischer.  Les  sciatiques,  leurs  traitements.  Par 
Lortat-Jacob  et  G.  Sabareanu.  Diagnostik  der  Nerven¬ 
krankheiten.  Von  L.  E.  Bregmann.  Ref.:  M.  Sternberg. 

IV.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

V.  l  enilleton:  Ist  obligatorischer  Seminarunterricht  in  der  Geburts¬ 
hilfe  notwendig?  Von  Prof.  Peters.  S.  881.  —  Sozialärztliche 
Revue.  Von  Dr.  L.  S  o  f  e  r.  S.  883. 

VI.  Vermischte  Nachrichten. 

t  II.  \  erliandlungeii  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Die  Lokalisation  der  Herztöne. 

Von  Prof.  Dr.  M.  If  eitler. 

L  a  e  n  n  e  c,  welcher  zuerst,  die  Herztöne  hörte  und  den 
ersten  Ton  durch  Kontraktion  des  Ventrikels,  den  zweiten 
Ton  durch  Kontraktion  der  Vorhöfe  erklärte,  hat  zugleich 
die  Töne  beider  Herzhälften  unterschieden.  „Die  Töne, 
welche  man  am  unteren  Teile  des  Sternums  hört“,  sagt 
Laennec,  „gehören  den  rechten  Höhlen,  die  Töne  der  linken 
Höhlen  hört  man  zwischen  den  Knorpeln  der  Rippen.“  Für 
liese  Annahme  war  nebst  der  Lage  der  Herzhöhlen  der 
Charakter  der  Töne  maßgebend.  „Im  natürlichen  Zustande 
und  die  Töne  der  Herzkontraktionen  ähnlich  und  gleich 
semblable  et  egal)  auf  beiden  Seiten ;  in  manchen  patlio- 
ogi sehen  Fällen  werden,  sie,  im  Gegenteil,  ganz  unähnlich 
nil  beiden  Seiten.“  Bouillaud,  der  die  Theorie  Roua- 
jiets  über  die  Entstehung  der  Herztöne,  nach  welcher 
lieselben  Klappentöne  sind,  mit  geringen  Modifikationen  ak¬ 
zeptierte,  hält  die  Unterscheidung  der  Töne  der  rechten 
■ml  linken  Herzhöhlen  trotz  seiner  vielfältigsten  und  auf- 
nerksamsten  Untersuchungen  unter  normalen  Verhältnissen 
ür  sehr  schwierig,  in  Wirklichkeit  für  unmöglich.  Die  zwei 
■  one,  welche  man  am  unteren  Teile  des  Sternums  hört, 
;agt  Bouillaud,  sind  im  allgemeinen  heller  als  die¬ 
sigen,  welche  man  in  der  Gegend  der  Knorpel  der  fünften  und 
ochsten  Rippe  hört,  ob  jedoch  dieser  Unterschied  damit 
•usammenhängt,  daßi  die  Töne  an  der  ersten  Stelle  diejenigen 
i  er  rechten  Höhlen  und  die  Töne  an  der  zweiten  Steile 
iiejenigen  der  linken  Höhlen  sind,  wagt  er  nicht,  zu  he-  | 


hau p ten.  Gendrin  betont,  daßi  es  von  großer  Wichtigkeit 
für  die  Diagnostik  sei,  zu  bestimmen,  auf  welche  der  zwei 
Ventrikel  die  Modifikationen,  welche  in  den  Tönen  eintreten, 
zu  beziehen  seien;  er  meint,  man  könne  hierzu  durch  die 
Beziehungen,  welche  die  Stellen  des  Thorax,  an  welchen 
die  Geräusche  gehört  werden,  zu  den  Herzhöhlen  haben,  ge¬ 
langen1:  W  i  1 1  i  a  m  s,  der  den  ersten  Herzton  durch  Span¬ 
nung  der  Klappen  und  der  Ventrikelwände  durch  muskuläre 
Kontraktion  erklärt,  bemerkt  ebenso  wie  Laennec  den 
verschiedenen  Charakter  der  Ventrikeltöne.  „Die  verschie¬ 
dene  Dicke  der  Ventrikel  verursacht  es,  daß  der  erste  Ton 
kürzer  und  heller  ist  am  Sternum,  welches  über  dem  rechten 
Ventrikel  ist,  dumpfer  und  länger,  wo  die  Spitze  des  linken 
Ventrikels  zwischen  der  fünften  und  sechsten  Rippe  schlägt 
und  diese  Unterschiede  sind  beträchtlicher,  wo  infolge  von 
Krankheit  der  Unterschied  in  der  Dicke  erhöht  ist.“  Der 
zweite  Aorta-  und  der  zweite  Pulmonalton  werden  von 
VV  illiams  nicht  differenziert;  beide  Klappen  produzieren 
nur  einen  Ton. 

Bemerkenswert  ist,  daß  die  Autoren,  welche  die  Töne 
nicht  trennen  konnten,  die  Geräusche  richtig  unterschieden. 
Man  kann,  sagt  B  o  u  i  1 1  a  u  d,  im  abnormen  Zustande,  we¬ 
nigstens  in  einer  guten  Anzahl  von  Fällen,  nicht  nur  ent¬ 
scheiden,  ob  ein  bestimmtes  Geräusch  den  rechten  oder 
linken  Höhlen  gehöre,  sondern  auch  ob  dasselbe  in  den 
aurikulo-ventrikulären  oder  arteriellen  Ostien  der  einen  oder 
anderen  dieser  Höhlen  entstehe.  Williams  hat  für  die 
Lokalisation  der  Geräusche  Regeln  angegeben,  welche  auch 
heute  gültig  sind  und  IT  o  p  e,  der  ebenfalls  die  Töne  an  beiden 


852 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


Seiten  des  Herzens  als  gleich  bezeichnet,  hat.  den  ver¬ 
schiedenen  Charakter  der  Geräusche  an  mehreren  Stellen 
der  Herzgegend  für  die  Diagnose  der  Erkrankung  meh¬ 
rerer  Klappen  verwertet.  Der  prägnantere  Charakter  der 
Geräusche  hat  ihre  Unterscheidung  erleichtert. 

Die  Trennung  der  Herztöne  hat  Skoda  vollzogen. 
In  seiner  berühmten  Abhandlung  „Uber  den  Herzstoßi  und 
die  durch  die  Herzbewegungen  verursachten  Töne“  aus  dem 
Jahre  1837  x)  stellte  Skoda  den  Satz  auf,  daß  die  beiden 
Herzkammern  jede  für  sich  sowohl  den  ersten  als  den 
zweiten  in  der  Herzgegend  vernehmbaren  Ton  hervorbrin¬ 
gen  ;  er  akzeptiert  mit  Ausnahme  für  den  zweiten  Kammer¬ 
ton  die  Erklärung  Rouanets  über  die  Entstehung  der 
Töne  und  bezeichnet  folgende  Auskultationsstellen :  Die 
Töne  der  linken  Kammer  werden  an  der  am  meisten  nach 
links  gelegenen  Stelle  des  Thorax,  an  welcher  bei  jeder  Kam¬ 
mersystole  die  Hervortreibung  der  Zwischenrippenräume 
fühlbar  ist,  gehört,  die  Töne  des  rechten  Herzens  am  unteren 
Teil  des  Sternums,  die  Töne  der  Aorta  in  der  Mitte  des 
Sternums  oder  etwas  höher  hinauf,  rechts  von  der  Mittel¬ 
linie  des  Sternums,  die  Töne  der  .Pulmonalarterie  einen 
oder  anderthalb  Zoll  links  von  der  Mittellinie  des  Ster¬ 
nums  etwas  über  der  Brustwarze.  Skoda  bemerkt  zu¬ 
gleich,  daß  diese  zur  Auskultation  angegebenen  Stellen  nicht 
in  jedem  Falle  die  gleichen  sind,  daß  man  die  Verschieden¬ 
heiten  in  der  Lage  des  Herzens  und  in  der  Größe  der 
Herzkammern  berücksichtigen  müsse ;  so  können  die  Töne 
einer  erweiterten  rechten  Kammer  weil  nach  links  und 
die  Töne  einer  erweiterten  linken  Kammer  unter  dem  Ster¬ 
num  gehört  werden;  man  müsse,  wenn  man  die  Töne  des 
Herzens  und  der  Arterien  als  diagnostische  Momente  be¬ 
nützen  will,  alle  Stellen  des  Thorax  untersuchen,  wo  sich 
die  Töne  hören  lassen  und  im  Vorrücken  von  einer  Stelle 
zur  anderen  auf  die  Verschiedenheiten  aufmerksam  sein, 
die  sich  in  den  Tönen  wahrnehmen  lassen.  Doch  sagt 
Skoda  weiter,  sind  alle  diese  Momente  nicht  hinreichend, 
um  in  jedem  Falle  den  Entstehungsort  der  Töne  mit 
Sicherheit  bestimmen  zu  können  und  er  schließt  mit  den 
Worten:  „Auf  diese  Art  wird  sich  mit  Berücksichtigung 
der  anderen  Zeichen,  welche  zur  Bestimmung  der  Lage 
und  Beschaffenheit  des  Herzens,  der  Aorta  und  Pul¬ 
monalarterie  dienen,  nicht  in  allen,  doch  in  den  meisten 
Fällen  angeben  lassen,  welche  Kammer  oder  welche  Arterie 
die  gehörten  Töne  hervorbringe.“  Diese  Abhandlung  Sko¬ 
das,  wenn  auch  die  Angaben  in  derselben  weniger  präzis 
sind  als  in  den  späteren  Abhandlungen,  muß  als  die  be¬ 
deutungsvollste  und  richtigste  bezeichnet  werden;  sie  weist 
auf  alle  Momente  hin,  welche  bei  der  Lokalisation  der  Töne 
in  Betracht  gezogen  werden  müssen  und  die  Schwierig¬ 
keiten  der  Lokalisation  kommen  in  vollem  Maße  zum  Aus¬ 
druck;  wir  sehen,  auch  der  Schöpfer  der  physikalischen 
Semiotik  hat  diese  Schwierigkeiten  nicht  überwunden  und 
wir  können  hinzufügen,  sie  sind  auch  heute  nicht  über¬ 
wunden.  In  der  zweiten  Abhandlung  „Untersuchungsme¬ 
thoden  zur  Bestimmung  des  Zustandes  des  Herzens“2)  for¬ 
mulierte  Skoda  mit  stärkerer  Betonung  der  anatomischen 
Verhältnisse  genauer  die  Grundsätze  für  die  Lokalisation 
der  akustischen  Phänomene  des  Herzens.  „Die  Töne  sowohl 
als  die  Geräusche  werden  stets  an  jenen  Stellen  des  Thorax, 
welche  der  Erzeugungsstellc  des  Tones  oder  Geräusches  am 
nächsten  gelegen  sind,  am  deutlichsten  und  stärksten  gehört, 
die  Fälle  abgerechnet,  wo  der  Ton  oder  das  Geräusch  sich 
durch  Resonanz  verstärkt  oder  durch  verminderte  Schall¬ 
leitung  gedämpft  wird.“  Die  Auskultationsstellen  der  Töne 
sind  mit  geringer  Modifikation  dieselben  wie  in  der  ersten 
Abhandlung;  der  Charakter  der  Töne,  welcher  für  die  Unter¬ 
scheidung  derselben  in  der  ersten  Abhandlung  betont  wurde, 
ist  nicht  hervorgehoben. 


’)  Medizinische  Jahrbücher  des  k.  k.  österreichischen  Staates. 
Neueste  Folge  Bd.  13. 

2)  Medizinische  Jahrbücher  des  k.  k.  österreichischen  Staates 
Neueste  Folge,  Bd.  18. 


Die  Abhandlungen  Skodas,  insbesondere  die  zweite 
Abhandlung,  bildete  den  Ausgang  für  die  weitere  Forschung 
auf  dem  Gebiete  der  Lokalisationslehre;  man  bemühte  sich, 
auf  Grundlage  anatomischer  Studien,  welche  das  Lagever¬ 
hältnis  der  Ostien  und  der  einzelnen  Teile  des  Herzens  zur 
Brustwand  klarlegten,  die  Auskultationstellen  der  Ostien 
-genauer  als  dies  durch  Skoda  geschah,  festzustellen.  Grund 
legend  war  die  Abhandlung  von  Joseph  Meyer  „Ueber  diej 
Lage  der  einzelnen  Herzabschnitte  zur  Thoraxwand  und  über 
die  Bedeutung  dieses  Verhältnisses  für  die  Auskultation  des 
Herzens.“3)  Meyer  bestimmte,  Hope  und  G  e  u  d  r  i  n  fol¬ 
gend,  durch  in  die  Brust  eingestochene  Nadeln  die  Pro¬ 
jektion  der  Ostien  und  Klappen  gegen  die  Brustwand  und 
machte  auf  Grundlage  der  gewonnenen  Ergebnisse  folgende 
Angaben  über  die  Auskultation  derselben:  Der  zweite  Pul¬ 
monalton  wird  am  besten  gehört  im  zweiten  und  dritten 
interkostalraum  am  linken  Rande  des  Sternums,  vorzugs-j 
weise  aber  im  zweiten  Interkostalraum  etwa  einen  halben) 
Zoll  vom  linken  Rande  des  Brustbeins,  die  Aortaklappen! 
an  der  Sternalartikulation  der  dritten  linken  Rippe  und 
einem  Teil  des  an  diese  stoßenden  Brustbeinstückes,  oder 
etwas  höher  oder  tiefer  am  Sternum  im  zweiten  oder  dritten 
Interkostalraum,  die  Mitralis  nicht  genau  entsprechend  dei 
anatomischen  Lage  der  Klappe,  sondern  entsprechend  der 
weniger  von  der  Lunge  bedeckten  oder  der  Brustwand  un¬ 
mittelbar  anliegenden  Stelle  des  Herzens  im  vierten  Inter¬ 
kostalraum,  eineinhalb  bis  zwei  Zoll  vom  linken  Rande  des 
Sternums  oder  an  der  Stelle  des  Spitzenstoßes,  die  Tri 
kuspidalis  am  Sternum  zwischen  den  vierten  Rippen.  Auch 
für  die  späteren  Forscher  waren  die  anatomischen  Ver¬ 
hältnisse  maßgebend.  Wie  streng  man  sich  an  diese  hielt, 
zeigt  die  Unterweisung  Bambergers,  man  solle,  da  es  an 
einer  bestimmten  Stelle  des  Herzens  stets  zu  einer  ge¬ 
wissen  Vermengung  der  gleichzeitig  entstehenden  Tönej 
komme  in  der  Weise,  daßi  die  Töne  jener  Klappe,  die  dem 
Stethoskop  am  nächsten  liegt,  überwiegen,  die  Stelle  der  zu, 
untersuchenden  Klappe  möglichst  genau  mit  der  Oeffnung 
des  Hörrohrs  bedecken;  man  müsse  z.  ß.,  um  die  Töne 
der  Aorta  zu  untersuchen,  das  Hörrohr  so  aufsetzen,  daß; 
seine  Oeffnung  die  Artikulation  der  dritten  linken  Rippe, 
das  anstoßende  Stück  des  Sternums  und  zugleich  [dasj 
unterste  Ende  des  zweiten  und  das  oberste  Ende  des: 
dritten  Interkostalraums  bedecken,  so  daß  auch  bei  etwas! 
höherer  oder  tieferer  Lage  der  Klappen  dieselben  sich  doch 
unter  der  bedeckten  Stelle  befinden.  Bamberger  be¬ 
trachtet  gegenüber  Skoda  in  Uebereinstimmung  mit  äl¬ 
teren  Autoren  den  zweiten  Tön  in  den  Kammern  als  fort¬ 
geleiteten  zweiten  Arterienton,  so  daß  in  der  Regel  der 
zweite  Kammerton  aus  der  der  Kammer  angehörigen  Arterie i 
kommt,  nimmt  aber  an,  daß,  unter  Umständen  auch  eine 
Fortleitung  aus  der  anderen  Arterie  stattfinden  könne.  Fried- 
r  e  i  c  h,  der  Bambergers  Anschauung  akzeptiert,  betont 
für  die  Fortleitung  des  zweiten  Arterientones  in  die  der 
Arterie  angehörigen  Kammer  die  innigen  anatomischen  Be¬ 
ziehungen,  welche  zwischen  Arterie  und  Kammer  bestehen. 
Wie  man  im  einzelnen  Falle  entscheide,  ob  der  zweite 
Kammerton  aus  der  der  Kammer  angehörigen  oder  aus  der 
anderen  Arterie  fortgeleitet  sei,  wird  von  Bamberger  und 
F riedreich  nicht  angegeben. 

Auch  die  Isolierung  der  Töne  geschah  auf  anatomischer 
Grundlage;  man  nahm  an,  daßi  die  Töne  der  Aorta-  und 
Pulmonalklappen  entsprechend  den  einfachsten  anatomischen 
Beziehungen  am  besten  in  die  Gefäße  fortgeleitet  werden. 
So  gab  F  r  i  e  d  r  e  i  c  h  an,  daß;  man  die  Aorta  am  besten 
im  zweiten  rechten  Interkostalraum,  die  Pulmonalis  irn 
zweiten  linken  Interkostalraum  unmittelbar  am  Sternum 
auskultiert.  Diese  Angabe  finden  wir  auch  bei  Gerhardt, 
Rosen  stein,  Ei  c  h  hors  t  und  bei  den  jüngeren  Auto¬ 
ren  Sahli,  Krehl,  Romberg,  Brugsch  und  Schii¬ 
ten  heim.  „Wir  Aerzte“,  sagt  Krehl,  „bezeichnen  als 
zweiten  Pulmonalton  das,  was  in  der  Diastole  des  Herzens? 


3)  Virchows  Archiv,  Bd.  3. 


Nr.  24 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


853 


links  vom  Sternum,  als  zweiten  Aortenton  das,  was  rechts 
vom  Brustbein  im  zweiten  Interkostalraum  gehört  wird.“ 
Abweichend  hiervon  und  auch  etwas  verschieden  von  seinen 
früheren  Angaben  gibt  Skoda  in  der  sechsten  Auflage 
seines  Werkes  über  Perkussion  und  Auskultation  an,  daß. 
man  die  Töne  aus  der  Pulmonalarterie  im  dritten  links¬ 
seitigen  Interkostalraum  einen  halben  oder  einen  Zoll  vom 
Brustbeinrande  entfernt  am  lautesten  vernehme,  die  Töne 
aus  der  Aorta  an  der  Insertion  der  dritten  linken  oder  rech¬ 
ten  Rippe  oder  in  dieser  Höhe  am  Brustbein  selbst  oder 
etwas  höher  längs  dem  rechten  Rand  des  Brustbeins.  Nur 
Paul  Niemeyer  lokalisiert  den  zweiten  Pulnronalton  vor¬ 
zugsweise  in  den  fünften  Interkostalraum. 

e  Der  erste  Ton  des  linken  Ventrikels  wird  in  ziemlicher 
Uebereinstimnmng  an  die  Herzspitze  oder  in  die  Nähe  der¬ 
selben,  der  erste  Ton  des  rechten  Ventrikels  an  die  untere 
Hälfte  des  Sternums,  an  die  Mitte  oder  den  untersten  Teil 
desselben  gesetzt;  es  wird  .angenommen,  daß  die  Töne  der 
Mitralis  und  Trikuspidalis  vollständig  auf  die  Substanz  der 
Ventrikel  übergehen  und  an  den  Stellen,  an  welchen  die 
'  Ventrikel  von  den  Lungen  weniger  bedeckt  sind  oder  un¬ 
mittelbar  der  Brustwand  anliegen,  am  besten  gehört  werden. 

Die  Uebereinstimmung  über  die  Unterscheidung  der 
Töne  ist  jedoch  nicht  ohne  Widerspruch.  Der  Lokalisation 
der  ersten  Ventrikeltöne  steht  der  Ausspruch  Richard  Gei- 
■_  gels  gegenüber:  ,,Es  ist  zweifelhaft,  ob  man  je  den  ersten 
Ton  des  linken  Ventrikels  von  dem  des  rechten  Ventrikels 
t  wird  unterscheiden  können“,4)  und  über  die  Tren- 
nung  der  Gefäßtöne  sagt  Stern,  daß  man  einen 
an  der  Aorten-  von  einem  an  der  Pulmonalarterien¬ 
wurzel  gebildeten  Schall  nur  über  dem  aufsteigenden  Teil 
oder  dem  Arcus  Aortae  (d.  i.  am  rechten  Sternalrand  im 
zweiten  oder  dritten  Interkostalraum  und  am  linken  Sternal¬ 
rand  im  ersten  oder  zweiten  Interkostalraum)  von  einander 
unterscheiden  könne,  wenn  eine  solche  Unterscheidung  über¬ 
haupt  möglich  ist. 

Die  Fixierung  der  Töne  an  bestimmte  Stellen  der  Herz¬ 
gegend  mit  Zugrundelegung  der  anatomischen  Verhältnisse, 
die  topisch-anatomische  Lokalisation  der  Herztöne  mult  als 
unrichtig  bezeichnet  werden.  Das  häufig  verschiedene  In- 
-  tensitätsmaximum  der  Töne  bei  verschiedenen  Individuen 
und  (manchmal  auch  bei  demselben  Individuum  unter  norma¬ 
len  \  erhältnissen,  die  Verschiebung  der  Intensitätsmaxima 
bei  Lageveränderung  des  Herzens,  bei  Vergrößerung  der 
einzelnen  Herzabschnitte  und  der  damit  einher  gehenden 
Lageveränderung  derselben,  die  durch  Verstärkung  und  Ab¬ 
schwächung  der  Töne  bedingte  Erweiterung  und  Einengung 
dires  Verbreitungsgebietes  auch  mit  gänzlichem  Schwinden 
einzelner  Töne,  die  Vermengung  der  Töne  an  manchen  Stel¬ 
len  der  Herzgegend,  der  an  manchen  Stellen  auftretende 
Wechsel  der  Töne,  indem  an  derselben  Stelle  Töne  ver¬ 
schiedenen  Charakters,  welche  nicht  als  Abschwächung  oder 
Verstärkung  desselben  Tones  gelten  können,  abwechseln, 
schließen  fixe  Auskultationsstellen  aus. 

Es  ist  auffallend,  daß  die  Autoren  die  große  Mannig¬ 
faltigkeit  des  akustischen  Bildes  der  Herzgegend,  die  große 
Verschiedenheit  der  Töne,  nicht  nur  bei  Vergleich  der  oberen 
und  unteren  Partien,  sondern  auch  bei  Vergleich  der  ein¬ 
zelnen  Stellen  der  oberen  und  unteren  Partien  gegen  ein¬ 
ander  nicht  hinreichend  erfaßt  haben.  Skoda  bemerkt, 
daß  die  Töne  an  der  Herzspitze,  also  die  Töne  des  linken 
Ventrikels  von  den  Tönen  in  gleicher  Höhe  unter  dem 
Sternum,  also  von  den  Tönen  des  rechten  Ventrikels  zu¬ 
weilen  in  Stärke  und  Helligkeit  differieren,  in  einigen  Fäl¬ 
len  habe  er  auch  in  der  Schallhöhe  Unterschiede  ange¬ 
troffen;  ebenso  habe  er  gefunden,  daß  die  Töne  oberhalb 
der  Basis  des  Herzens  am  rechten  Rande  des  Sternums, 
also  übci  der  Aorta,  in  Stärke  und  in  Helligkeit  und  in 
sehr  seltenen  Fällen  auch  in  der  Schallhöhe  verschieden 
sind  von  den  Tönen  in  gleicher  Höhe,  aber  etwa  einen 
Zoll  links  vom  Brustbein  und  daß  die  Unterschiede  der 


töne  viel  deutlicher  hervortreten  hei  Individuen,  die  an 
\  erschiedenen  krankhaften  Zuständen  des  Herzens- leiden. 
Auch  Bamberger  gibt  an,  daßi  man  bei  Gesunden  und 
Kranken  nicht  selten  die  Töne  an  den  verschiedenen 
Stellen  des  Herzens  der  Stärke,  der  Dauer,  dem 
Schalltimbre  nach,  wesentlich  verschieden  voneinander 
findet.  Die  Angaben  der  Autoren  lauten  im  allgemeinen 
dahin,  daß  der  erste  Ton  über  den  Ventrikeln  stärker, 
dumpfer,  länger,  größer,  der  zweite1  Ton  schwächer, 
kürzer,  heller  sei  und  der  Akzent  auf  den  ersten  Ton  falle’ 
daß  an  der  Basis  des  Herzens  der  erste  Ton  schwächer, 
dei  zweite  Ton  stärker  sei  und  der  Akzent  auf  den  zweiten 
Ton  falle;  die  korrespondierenden  Töne  der  Kammern  und 
der  Gefäße  werden  als  gleich  oder  nur  in  der  Stärke  in 
geringem  Grade  verschieden  bezeichnet.  So  sagt  Ger- 
har d t,  daß  man  unter  besonderen  Umständen  sowohl  an 
der  Herzbasis  als  auch  an  der  Herzspitze  die  Töne  links  von 
anderem  Klang,  höher,  tiefer,  rauher  oder  sonst  verändert 
finde  im  Vergleich  mit  jenen  rechts  im  zweiten  oder  fünf¬ 
te11  Interkostalraum  und  daß  die  zweiten  Töne  der  großen 
Gefäße  normalerweise  gleich  stark  seien.  Nur  Hermann 
\  i  e  r  o  r  d  t  ’)  hat  durch  sorgfältige  Messungen  nachgewiesen, 
daß.  die  einzelnen  Töne  an  Stärke  wesentlich  differieren. 

\  i  e  r  o  r  d  t  hat  sich  bei  den  Messungen  an  die  üblichen  Aus¬ 
kultationsstellen  gehalten,  die  Trikuspidalis  auskultierte  er 
in  der  Höhe  des  fünften  rechten  Rippenknorpels  und  dem 
angrenzenden  Sternalteil. 

Einige  Fehldiagnosen,  welche  ich  vor  vielen  Jahren 
dadurch  begangen,  daß.  ich  traditionsgemäß  den  zweiten 
Ion  am  Sternalrand  des  zweiten  linken  Interkostalraumes 
als  Pulmonal  ton  aufgefaßt,  — -  ein  Fall  von  Schrumpfniere 
mit  anorganischer  Mitralinsuffizienz  als  organische  Mitral¬ 
insuffizienz  mit  konsekutiver  Nephritis  diagnostiziert,  ein 
lall  von  Arteriosklerose  mit  schwachem  systolischen  Ge¬ 
räusch  an  der  Herzspitze  als  Mitralinsuffizienz  — ,  zeigten 
mir  die  Unrichtigkeit  der  topisch-anatomischen  Lokalisation. 
Ich  richtete  größere  Aufmerksamkeit  auf  die  Beschaffen¬ 
heit  der  Töne  und  fand  bald,  daß  der  prägnante  Charakter 
der  unter  pathologischen  Verhältnissen  verstärkten  zweiten 
Gefäßtöne  auch  unter  normalen  Verhältnissen  hinreichend 
ausgeprägt  sei,  um  dieselben  voneinander  unterscheiden  zu 
können.  In  meiner  Abhandlung6)  „Die  Lokalisation  des 
zweiten  Aorta-  und  des  zweiten  Pulmonaltones“  habe  ich 
hierüber  folgendes  angegeben :  „Der  zweite  Aortaton  ist  hell, 
rein,  im  Vergleich  mit  dem  zweiten  Pulmonalton  hoch,  häufig 
ein  wirklicher  Ton,  dessen  Höhe  leicht  bestimmt  werden 
kann,  kurz,  von  geringem  Umfange  und  scharf  begrenzt; 
der  zweite  Pulmonalton  ist  ein  tiefer,  dumpfer  Schall,  von 
längerer  Dauer,  auf  einen  größeren  Raum  verbreitet  und 
ohne  scharfe  Begrenzung,  diffus.  Der  zweite  Pulmonalton 
behält  immer  diese  Eigenschaften ;  er  bleibt  ein  dumpfer, 
tiefer  Schall,  auch  wenn  er  noch  so  stark  wird,  er  hat 
nie  Klang,  er  wird  nie  ein  heller,  hoher  Ton.  Der  Unter¬ 
schied  in  der  Stärke  ist  nicht  so  maßgebend  wie  die  übrigen 
Qualitäten  der  föne,  gewöhnlich  ist  der  Aortaton  stärker, 
manchmal  macht  jedoch  der  Pulmonal  ton  den  Eindruck  des 
stärkeren  tones.“  Ich  habe  dann  das  Verbreitungsgebiet 
beider  Töne  bestimmt  und  es  sei  folgendes  hervorgehoben. 
Das  Gebiet  des  Aortentones  ist  groß,  das  Gebiet  des  Puhnonal- 
tones  gering;  am  Sternalrand  des  zweiten  linken  Interkostal- 
raumes  ist  immer  der  Aortaton,  manchmal  ist  derselbe 
auch  im  unteren  Dritteil  des  Sternums;  der  Pulmonalton  ist 
im  linken  dritten  und  vierten  Interkostalraum  in  geringer 
Entfernung  vom  Sternalrand,  in  manchen  Fällen  ist  der¬ 
selbe  an  keiner  Stelle  der  Herzgegend. 

Zu  gleicher  Zeit  erschien  von  Ewart  eine  Studie 
über  Lokalisation  der  Herztöne.  E  war  I  bestimmte  den 
Entstehungsort  der  Töne  auf  Grundlage  ihres  Charakters, 
wobei  er  hauptsächlich  die  Höhe  verwertete  und  suchte 
dann  die  anatomischen  Bedingungen  zur  Erklärung  ihrer 
tortleitung  festzustellen.  Ewart  hebt  hervor,  daß  der 


4)  Leitfaden  der  diagnostischen  Akustik.  Stuttgart  1908. 


6)  Die  Messung  der  Intensität  der  Herztöne.  Tübingen  1885. 
6)  Wiener  klin.  Wochenschr.  1894,  Nr.  50. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


Hauptunterschied  zwischen  allgemein  angenommenen  An¬ 
sichten  und  den  seinigen  die  Fortleitung  der  zweiten  Töne 
betrifft,  daß  der  über  der  rechten  Ventrikulararea  gehörte 
Ton  der  Aortaton  und  nicht  der  Pulmonalton  sei.  Das 
Intensitätsmaximum  des  zweiten  Aortentones  befindet  sich 
nach  Ewart  im  zweiten  rechten,  das  Intensitätsmaximum 
des  zweiten  Pulmonal  tones  im  zweiten  linken  Interkostal¬ 
raum. 

Auch  nach  diesen  Darstellungen  halten  die  Autoren 
an  der  Gleichheit  der  Töne  beider  Herzhälften  fest.  So 
gibt  K  r  e  h  1  an,  daß  der  zweite  Ton  der  Aorta  und  iPul- 
monalis  gleich  laut  seien;  er  fügt  die  Bemerkung  hinzu,  daßi, 
da  Blutdruck  und  Druckunterschied  zwischen  Arterie  und 
Herzkammern  an  der  Aorta  viel  stärker  sei  als  an  der  Pul- 
monalis,  der  Grund  der  Uebereinstimmung  völlig  unklar 
erscheine  und  daßi  es  kaum  möglich  sei  darüber  eingehend 
zu  diskutieren,  denn  für  eine  physikalische  Erörterung  der 
Dinge  müßte  man  die  Töne  am  Aorten-  und  Pulmonalostium 
unter  vollkommen  gleichen  Bedingungen  auskultieren.  Auch 
Sahli  sagt  in  der  letzten  Auflage  seines  Lehrbuches  der 
klinischen  Untersuchungsmethoden,  was  das  Stärke  Verhält¬ 
nis  der  verschiedenen  Herztöne  unter  physiologischen  Ver¬ 
hältnissen  betrifft,  so  nimmt  man  gewöhnlich  an,  daß  jeder 
Ton  des  linken  Herzens  mit  dem  entsprechenden  Tön  des 
rechten  Herzens  paarweise  gleich  stark  gehört  werde.  Nur 
Brugsch  und  Schittenhel m  bemerken,  daß  der  zweite 
Aortaton  höher  sei  als  der  zweite  Pulmonalton. 

Obwohl  ich  mit  der  Lokalisation  des  zweiten  Aorta- 
und  zweiten  Pulmonaltones  auf  Grundlage  ihres  Charakters 
zufrieden  sein  konnte,  kam]  es  vor,  daß  ich  an  Stellen  der 
linken  Herzarea  nicht  entscheiden  konnte,  ob  der  Ton  da¬ 
selbst  Aorta-  oder  Pulmonalton  sei;  die  Entscheidung  ist 
dringend,  wenn,  wie  dies  manchmal  der  Fall  ist,  der 
zweite  Aortaton  am  rechten  Sternairarid  des  zweiten 
Interkostalraumes,  wo  derselbe  meistens  am  stärksten 
und  reinsten  ist  und  auch  am  linken  Sternalrand 
schwach  ist  und  die  Frage  dahin  gipfelt,  ob  der 
zweite  Aortaton  oder  der  zweite  Pulmonalton  ver¬ 
stärkt  sei.  Auch  die  Unterscheidung  der  ersten  Ven¬ 
trikeltöne  bot  manchmal  Schwierigkeiten  und  ich  gelangte 
zur  Ueberzeugung,  daß  die  phonetische  Lokalisation  der 
Herztöne  keine  absolute  sei,  daß  man  die  Veränderungen, 
welche  die  Töne  durch  die  schalleitenden  Medien  erfahren, 
kennen  müsse,  wenn  man  den  Charakter  derselben  für 
die  Lokalisation  verwerten  will.  Schon  früher  habe  ich 
die  Tatsache  kennen  gelernt,  daßi  ein  Geräusch,  welches 
an  einem  Ostium  entsteht,  an  verschiedenen  Stellen  der 
Herzgegend  verschiedenen  Charakter  zeigen  kann,  daß  also 
die  Lehre,  daß  der  verschiedene  Charakter  ddr  Geräusche 
an  mehreren  Stellen  der  Herzgegend  auf  Entstehung  der¬ 
selben  an^  mehreren  Ostien  hinweise,  nicht  volle  Gültig¬ 
keit  habe.7) 

Die  Veränderung  der  Töne  in  der  Herzgegend  durch  die 
das  Herz  umgebenden  Teile  und  die  Veränderung  derselben 
an  den  vom  Herzen  entfernten  Stellen  als  Veränderung 
durch  Schalleitung  bezeichnet,  drängte  sich  von  Laennec 
angefangen  allen  Beobachtern  auf,  sie  wurde  jedoch 
nicht  zum  Gegenstand  eingehenden  Studiums  gemacht.  Daß 
der  Schall  sich  nach  der  verschiedenen  Beschaffenheit  der 
Brustorgane  verschieden  in  ihnen  fortpflanze,  ist  eine  un- 
bezweifelbare  Sache,  sagt  Skoda.  Die  Modifikationen  der 
Schalleitung  sind  noch  lange  nicht  hinreichend  bekannt, 
bemerkt  Bamberger,  indem  er  Skodas  Anschauung, 
nach  welcher  der  zweite  Kammerton  in  der  Kammer 
selbst  entstehe,  weil  in  manchen  Fällen  der  zweite  Tön 
an  der  Herzspitze  deutlicher  sei,  als  an  der  Herz¬ 
basis,  bestreitet  und  dieser  Ansicht  schließt  sich 
auch  F  riedreich  an.  Bei  Veränderung  der  Töne 
durch  Schalleitung  berücksichtigen  die  Autoren  bloß  die 
Intensität,  die  Verstärkung  und  Abschwächung  der  Töne, 
die  Veränderung  der  anderen  Qualitäten  werden  kaum  be- 

7)  Trikuspidalgeräusche  ;  Lokalisation  des  systolischen  Mitralge¬ 
räusches.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1897,  Nr.  7. 


achtet.  Bamberger  gibt  an,  daß  die  mitgeteilte  Erschüt¬ 
terung  des  Thorax  in  gewissen  Fällen  den  ersten  Ton  ver¬ 
stärkt,  sein  Timbre  abändert  und  Walsh  e  meint,  daß  der 
verschiedene  Charakter  des  ersten  Tones  des  rechten  und 
linken  Ventrikels  durch  die  verschiedene  Dicke  der  Kammern 
und  durch  das  verschiedene  Schal  lei  tungsverhältnis  bei  bei¬ 
den  Tönen  bedingt  sei.  Die  als  cliquetis  metallique  bezeich- 
nete  Veränderung  des  ersten  Tones  des  linken  Ventrikels, 
von  Laennec,  der  die  Erscheinung  zuerst  beschrieben, 
von  B  o  u  i  1 1  aud,  An  d  r  a  1  und  den  meisten  späteren  Auto¬ 
ren  durch  Shock  des  Herzens  gegen  die  ßrustwand  er¬ 
klärt,  ist  ein  eklatantes  Beispiel  für  die  Modifikation  des 
Tones  durch  Miterschütterung  der  Brustwand. 

Die  Töne  in  der  Herzgegend  und  an  den  vom  Herzen 
entfernten  Stellen  sind  die  akustische  Resultante  der  Vi¬ 
bration  der  die  Töne  erzeugenden  Teile  im  Herzen  und  der 
Mitvibration  von  Bestandteilen  des  Herzens,  der  Teile  in 
der  Umgebung  des  Herzens  und  der  Teile  an  den  vom 
Herzen  entfernten  Stellen;  den  mi (vibrierenden  Teilen,  oder 
wie  man  sagt,  den  schalleitenden  Medien  muß  ein  wesent¬ 
licher  Anteil  an  der  Gestaltung  der  Töne  sowohl  in  der 
Herzgegend  als  auch  an  den  vom  Herzen  entfernten  Stellen 
zugeschrieben  werden.  Die  Medien  bestimmen  und  ändern 
nicht  nur  die  Intensität  der  Töne,  sondern  auch  die  anderen, 
an  manchen  Stellen  alle  Qualitäten  derselben,  so  daß  Töne, 
welche  am  selben  Ort  entstehen,  an  verschiedenen  Stellen 
ganz  verschiedenen  Charakter  zeigen  und  keine  Qualität 
auf  den  gemeinschaftlichen  Ursprung  hinweist.  Da  wir  die 
Töne  überall,  auch  an  allen  Stellen  der  Herzgegend  nicht 
in  ihrer  Ursprünglichkeit,  sondern  durch  die  Medien  ver¬ 
ändert  hören,  so  handelt  es  sich  bei  Vergleich  der  Töne 
an  mehreren  Stellen  um  Vergleich  der  durch  die  verschie¬ 
denen  Medien  bedingte  Gestaltung  derselben  und  in  diesem 
Sinne  kann  man  die  Bezeichnung  Veränderung  gelten  lassen. 

Um  die  Veränderung  festzustellen,  welche  die  Töne 
durch  Schalleitung  erfahren,  müssen  Töne  verglichen  wer¬ 
den,  über  deren  gemeinschaftlichen  Ursprung  kein  Zweifel 
besteht.  Zweiter  Aortaton  und  zweiter  Karotiston  können 
in  dieser  Beziehung  in  erster  Linie  verwertet  werden; 
beide  Töne  entstehen  unzweifelhaft  am  selben  Ort,  an  den 
Aortaklappen.  Wenn  man  auch  annnehmen  wollte,  daß 
Aorta  und  Karotis  während  ihrer  Systole,  beim  Uebergang 
von  größerer  zu  geringerer  Spannung  einen  Ton  erzeugen, 
so  müßte  dieser  bedeutend  schwächer  als  der  erste  Ton 
sein  und  sein  Anteil  am  zweiten  Ton,  der  mit  Ausnahme 
der  Fälle,  in  welchen  der  erste.  Ton  des  linken  Ventrikels 
in  die  Karotis  fortgeleitet  erscheint,  wesentlich  stärker 
als  der  erste  Ton  ist,  sehr  gering,  auch  würde  der  Charakter 
des  zweiten  Tones  durch  diesen  Anteil  an  beiden  Stellen 
in  gleicher  Weise  beeinflußt  werden.  Vergleicht  man  die 
Töne  und  zwar  den  Aortaton  im  zweiten  Interkostalraum, 
den  Karotiston  über  der  Klavikel,  so  ergibt  sich  folgendes: 
Der  Aortaton  ist  hoch,  hell,  von  geringem  Umfang  und 
kurzer  Dauer,  scharf  begrenzt,  der  Karotiston  ist  wesent¬ 
lich  stärker,  tiefer,  sehr  selten  höher,  dumpf,  von  größerem 
Umfang  und  längerer  Dauer,  nicht  scharf  begrenzt,  manch¬ 
mal  mit  metallischem  Beiklang.  Es  sind  demnach  die  Töne 
in  allen  Qualitäten  verschieden;  dabei  sind  heim  Karotiston 
gegenüber  dem  Aortaton  einzelne  Qualitäten  gesteigert,  an¬ 
dere  verringert.  Da  beide  Töne  in  der  Richtung  des  Blut- 
slromes  fortgeleitet  werden,  die  Gefäßwandungen  gleich  sind, 
so  ist  die  Verschiedenheit  der  Töne  bloß  durch  die  Ver¬ 
schiedenheit  der  die  Gefäße  umgebenden  Teile  bedingt;  der 
metallische  Beiklang  des  Karotistones  hat  offenbar  seinen 
Grund  in  Mitschwingung  .der  Luft  in  der  Trachea. 

Vergleicht  man  die  zweiten  Töne  am  Sternalrand  des 
zweiten  und  ersten  rechten  Interkostalraumes,  so  sind  die¬ 
selben  manchmal  ähnlich,  der  Ton  im  ersten  Interkostal- 
raum  zeigt  den  Charakter  des  Aortatones  meistens  schwä¬ 
cher,  selten  stärker  ausgeprägt  als  der  Ton  im  zweiten 
Interkostalraum,  häufig  ist  er  tiefer,  dumpfer,  diffus,  schwä¬ 
cher  oder  stärker,  ganz  unähnlich  dem  Ton  im  zweiten 
Interkostalraum,  mehr  dem  Ton  über  der  Klavikel  ähnlich. 


Nr.  24 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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—  Vergleicht  man  die  zweiten  Töne  am  Sternalrand  und  an 
einer  einige  Zentimeter  vom  Sternalrand  entfernten  Stelle 
im  zweiten  rechten  Interkostalraum,  so  sind  dieselben  häufig 
ziemlich  gleich,  manchmal  ist  der  Ton  an  der  äußeren  Stelle 
stärker,  höher,  heller,  mehr  begreim,  oder  er  ist  schwächer 
und  höher  oder  stärker  und  tiefer,  in  allen  diesen  Vari¬ 
anten  begienzt,  manchmal  ist  er  schwächer,  tiefer,  dumpfer, 
diffus.  Vergleicht  man  die  Töne  an  drei  Stellen  des  zweiten 
rechten  Interkostalraumes,  so  ist  manchmal  der  Ton  am 
Sternalrand  stark,  hoch,  hell,  scharf  begrenzt,  etwa  zwei 
Zentimeter  nach  außen  ist  der  Ton  schwächer,  tiefer, 
dumpfer,  weniger  begrenzt,  um  zwei  Zentimeter  weiter  ist 
der  Ton  wieder  stark,  hoch,  hell,  scharf  begrenzt,  manch¬ 
mal  höher  als  der  Ton  am  Sternalrand. 

Die  Analyse  ergibt  demnach  folgendes:  Töne,  die  am 
selben  Ort  entstehen,  sind  manchmal  an  verschiedenen  Stel¬ 
len  in  allen  Qualitäten  ziemlich  gleich,  oder  es  sind  an 
einer  .Stelle  gegenüber  der  anderen  alle  Qualitäten  gesteigert 
oder  verringert,  wobei  eine  Aehnlichkeit  der  Qualitäten  be¬ 
steht,  oder  es  sind  einzelne  Qualitäten  der  Töne  verschie¬ 
de11-  während  andere  gleich  sind  oder  es  sind  alle  Qualitäten 
verschieden  und  die  Töne  ganz  unähnlich,  ferner  sind  manch¬ 
mal  an  vom  Entstehungsort  entfernteren  Stellen  einzelne 
oder  alle  Qualitäten  der  Töne  stärker  ausgeprägt  als  an 
dem  Entstehungsort  näheren  Stellen.  Die  Analyse  hat  auch 
ergeben,  daß  der  Charakter  des  zweiten  Aortentones  im  zwei¬ 
ten  Interkostalraum  seitlich  vom  Sternalrand,  also  an  Stellen, 
welche  für  die  Fortleitung  als  weniger  günstig  bezeichnet 
werden,  meistens  besser  ausgeprägt  ist  als  am  Sternalrand 
des  ersten  Interkostalraumes,  an  einer  für  die  Förtleitung 
als  günstiger  bezeichneten  Stelle. 

In  manchen  Fällen  ist  an  der  Herzspitze,  über  der 
Aorta  und  über  der  rechten  Karotis  ein  starker  erster  Ton. 
Die  Töne,  welche  unzweifelhaft  am  selben  Ort,  an  der 
Mitralis  entstehen,  sind  in  allen  Qualitäten  ungleich;  an 
der  Herzspitze  ist  der  Ton  stark,  tief,  dumpf,  von  längerer 
Dauer,  nicht  scharf  begrenzt,  im  zweiten  Interkostalraum 
ist  der  Ton  schwächer,  höher,  heller,  von  kürzerer  Dauer, 
scharf  begrenzt,  ähnlich  dem  zweiten  Ton  an  derselben 
.  Stelle,  über  der  Klavikel  ist  der  Ton  wieder  stärker,  tiefer, 
dumpfer,  von  längerer  Dauer,  diffus,  ähnlich  dem  zweiten 
Ton  an  derselben  Stelle  und  verschieden  vom  Tön  an  der 
Herzspitze.  Es  ist  demnach  der  Mitralton  über  Aorta  und 
Karotis  dem  zweiten  Ton  dieser  Gefäße  ähnlich  gestaltet, 
lieber  die  Verschiedenheit  des  Tones  im  zweiten  Inter¬ 
kostalraum  und  an  der  Herzspitze  ist  folgendes  zu  bemerken. 
Da  man  annehmen  kann,  daß  Brustwand  und  Lungen  an 
beiden  Stellen  den  Ton  in  gleicher  Weise  modifizieren,  so 
muß  man  für  die  Beschaffenheit  des  Tones  an  der  Herz¬ 
spitze,  für  den  dumpfen,  tiefen,  diffusen  Charakter  die  durch 
Erschütterung  der  Mitralis  erregte  Mitschwingung  der  Mus¬ 
kelsubstanz  des  Herzens  in  Anspruch  nehmen. 

Besonders  günstig  für  das  Studium  der  Modifikation 
der  Schallerscheinungen  am  Herzen  durch  die  Medien  ist 
das  durch  seinen  prägnanten  Charakter  ausgezeichnete  dia¬ 
stolische  Aortageräusch  bei  reiner  Insuffizienz  der  Aorta¬ 
klappen,  wo  ein  diastolisches  Geräusch  anderen  Ursprungs 
ausgeschlossen  ist.  Das  Geräusch  ist  nicht  selten  am  unter¬ 
sten  Teil  des  Sternums  stärker  und  höher  als  an  der  Herz¬ 
basis.  Verfolgt  man  das  Geräusch  am  Sternum  von  der 
Herzbasis  nach  abwärts,  so  wird  manchmal  das  an  der 
Basis  starke  und  hohe  Geräusch  um  Interkostalbreite  nach 
abwärts  schwächer  und  tiefer,  weiter  unten  wieder  stärker 
und  höher.  Am  untersten  Teil  des  Sternums  ist  das  Ge¬ 
räusch  meistens  stärker  und  höher  als  an  der  Herzspitze, 
wo  es  gewöhnlich  sehr  schwach,  tief  und  dumpf 
ist  und  sein  Charakter  fast  ganz  verwischt  erscheint. 
Den  eigentümlichen  Einfluß  der  Medien  auf  die  Ge¬ 
staltung  der  Schallerscheinungen  am  Herzen  zeigt  die 
Tatsache,  daß  das  diastolische  Aortageräusch  in  seiner 
charakteristischen  Prägnanz  manchmal  auf  eine  kleine 
umschriebene  Stelle,  etwa  von  der  Breite  der  Stethoskop¬ 
mündung  beschränkt  ist;  entfernt  man  sich  nur  einige 


Millimeter  von  dieser  Stelle  nach  rechts  oder  links,  nach 
unten  oder  oben,  so  ändert  das  Geräusch  vollständig  seinen 
(  harakter,  das  starke,  hohe,  klangvolle,  lange  Geräusch  wird 
schwach,  tief,  dumpf,  kurz.  Diese  Erscheinung  beobachtet 
man  auch  bei  den  Tönen,  aber  das  diastolische  Aorta¬ 
geräusch  ist  absolut  verwertbar,  weil  der  Charakter  des  Ge¬ 
räusches  auch  bei  seiner  Veränderung  hinreichend  ausge- 
piägt  erscheint,  um  es  von  anderen  Geräuschen  sicher  zu 
unterscheiden.  Diese  Tatsache  wurde  schon  von  Joseph 
Meyer,  Stern  und  Vier  or  dt  hervorgehoben.  Meyer 
sagt,  indem  er  die  Auskultationsstelle  des  zweiten  Pulmonal¬ 
tones  angibt:  ,,Bei  der  Verifizierung  dieser  Angabe  achte 
man  darlauf,  daß  oft  eine  ganz  geringe  Verschiebung  des 
Stethoskops  schon  hinreicht,  um  den  Charakter  des  Tones 
in  seiner  Stärke  und  Höhe  zu  verändern,  eine  Regel,  die 
auch  bei  der  Untersuchung  abnormer  Geräusche  ihre  An¬ 
wendung  findet.“8) 

Daß'  die  verschiedenen  Medien  die  Töne  in  verschiei- 
dener  Weise  modifizieren,  kann  nach  obiger  Darstellung 
als  feststehend  gelten.  Skoda  hat  angegeben,  daß  man 
durch  Knochen  die  Töne  schlechter  höre  als  durch  die 
Zwischenräume  der  Rippen  und  daß,  je  dichter  das  Brustbein 
ist,  desto  mehr  dämpfe  es  die  Töne.  Auch  Stern  sagt,  daß 
man  über  einem  Interkostalraum  viel  lauter  höre,  als  über 
einer  Rippe,  daß  auch  über  dem  Sternum  die  Töne  weitaus 
schwächer  seien.  Das  ist  im  allgemeinen  nicht  richtig. 
Der  zweite  Aortaton  ist  manchmal  am  Sternum  in  der  Höhe 
des  ersten  und  zweiten  Interkostalraumes  stärker  und  höher 
oder  auch  schwächer  und  höher  als  am  rechten  .Sternal- 
1  and  dieser  Interkostalräume,  auch  über  den  Rippen  sind 
die  Töne  manchmal  stärker  und  höher,  oder  schwächer  und 
höher  als  über  den  Interkostalräumen.  Ferner  ist  zu  be¬ 
merken,  daßi  das  Sternum  die  Töne  anders  modifiziert  als 
lie  Rippen  und  der  knöcherne  Teil  der  Rippen  anders  als 
der  knorpelige  Teil  derselben.  Von  wesentlicher  Bedeu¬ 
tung  ist  die  Konfiguration  der  Knochen;  stärkere  Krüm¬ 
mung  der  Rippen  verringert  alle  Qualitäten  der  Töne.  Der 
zweite  Aortaton  ist  am  Sternalrand  des  zweiten  rechten 
Intel  kostalraumes  bei  stärkerer  Krümmung  der  Insertion 
dei  Rippen  manchmal  sehr  schwach,  tief  und  dumpf,  wäh¬ 
rend  er  nach  außen  stärker  und  höher  ist ; 9)  über  dem 
vertieften  Sternum  sind  die  Töne  schwächer  und  dumpfer  als 
über  dem  flachen  Sternum ;  manchmal  sind  die  Töne  in  der 
ganzen  Herzgegend  infolge  stärkerer  Krümmung  der  Rippen 
schwach  und  dumpf. 

Die  Veränderung  der  Töne  durch  die  Medien  kann 
am  Menschen  auch  experimentell  dargetan  werden.  Aus¬ 
kultiert  man  über  dem  inneren  Anteil  der  rechten  Klavikel 
entspiechend  der  Insertion  des  Sternokleidomastoideus 
und  läßt  man  den  Kopf  nach  links  und  oben  wenden, 
so  wird  bei  einer  gewissen  Spannung  der  Teile 
der  zweite  Karotiston  stärker  und  höher,  bei  weiterer  Stei¬ 
gerung  der  Spannung  wird  der  Ton  schwächer  und  tiefer. 
Dieselbe  Veränderung  des  zweiten  Tones  kann  auch  über 
der  Subklavia  unter  der  Klavikel  bei  Adduktion  des  Armes 
nachgewiesen  werden.  Daß  die  Veränderung  der  Töne  durch. 
Spannungsänderung  der  die  Gefäße  umgebenden  Teile  und 
nicht  durch  die  infolge,  der  Bewegung  hervorgerufene  reflek¬ 
torische  Beeinflussung  der  Herztätigkeit  und  die  damit  einher¬ 
gehende  Veränderung  der  Töne  bedingt  sei,  zeigt  die  Tat¬ 
sache,  daß  während  des  Versuches  die  Töne  an  den  korre¬ 
spondierenden  Stellen  der  anderen  Seite  unverändert  sind. 

8)  Zur  Erklärung  der  Tatsache,  daß  das  an  einem  Ostium  entstandene 
Geräusch  an  verschiedenen  Stellen  der  Herzgegend  verschiedenen  Cha¬ 
rakter  darbieten  kann,  habe  ich  angenommen,  daß  das  an  einem  Ostium 
entstandene  Geräusch  ein  Gemenge  von  Geräuschen  darstellt,  welches 
sich  nach  verschiedenen  Richtungen  nicht  als  Ganzes  fortpflanzt,  sondern 
es  kommen  an  verschiedenen  Stellen  einzelne  Teile  des  Geräusch¬ 
gemenges  zur  Erscheinung.  Wenn  ich  auch  diese  Erklärungsweise  jetzt 
noch  gelten  lasse  so  ist  es  unzweifelhaft,  daß  für  den  verschiedenen 
Charakter  eines  Geräusches  an  mehreren  Stellen  ebenso  wie  bei  den  Tönen 
der  Einfluß  der  Medien  als  wesentlicher  Faktor  betrachtet  werden  muß. 

9)  Vierordt  bemerkt  in  einem  Falle,  bei  welchem  der  Inten¬ 
sitätswert  des  zweiten  Aorlatons  sehr  gering  war:  Thoraxgegend  in  zweiten 
rechten  Interkostalraum  vorgewölbt. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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In  dem  Unbehagen,  nach  so  langer  Erfahrung  die  Herz¬ 
töne  doch  nicht  mit  gewünschter  Sicherheit  lokalisieren, 
d  h.  an  jeder  Stelle  der  Herzgegend  die  Töne  auf  ihren 
Kntstehungsort  beziehen  zu  können,  kam  mir  Sukkurs  von 
meinen  Studien  über  reflektorische  Beeinflussung  der  Herz¬ 
tätigkeit.  Ich  habe  gefunden,  daß  bei  kurz  dauernder  me¬ 
chanischer  Erregung  verschiedener  Körperteile  die  Energie 
der  Herztätigkeit  erhöht  und  bei  länger  dauernder  Erre¬ 
gung  derselben  Körperteile  die  Energie  der  Herztätigkeit 
herabgesetzt  wird.10)  Bei  zartem  Streichen  der  Haut,  bei 
Beklopfen  der  Herz-  oder  Lebergegend,  der  Knochen,  Mus¬ 
keln  werden  alle  Herztöne  stärker,  der  Puls  wird  größer, 
die  Herzdämpfung  kleiner;  bei  länger  anhaltendem  Druck 
auf  die  Herzgegend,  auf  Knochen  und  Muskeln,  bei  stär¬ 
kerem  Drücken  der  Haut,  der  Muskeln  zwischen  den  Fin¬ 
gern  werden  alle  Herztöne  schwächer,  der  Puls  wird 
kleiner,  die  Herzdämpfung  größer.  Bei  stärkerem  Druck  auf 
die  Lebergegend  zeigt  das  Herz  ein  anderes  Verhalten. 
Wird  auf  die  Lebergegend  ein  stärkerer  anhaltender  Druck 
ausgeübt,  so  werden  die  Töne  des  linken  Ventrikels  und 
der  Aorta  schwächer  und  tiefer,  die  Töne  des  rechten  Ven¬ 
trikels  und  der  Puhnonalis  werden  stärker,  manchmal  auch 
höher;  es  ist  demnach  die  Energie  des  linken  Ventrikels' 
verringert,  die  Energie  des  rechten  Ventrikels  erhöht.  Wenn 
der  zweite  Pulmonalton  wesentlich  stärker  geworden, 
nimmt  sein  Verbreitungsgebiet  zu  und  er  erscheint  an  der 
Herzspitze;  da  der  erste  Ton  daselbst  schwächer  geworden, 
fällt  der  Akzent,  der  früher  auf  dem  ersten  Ton  war,  auf 
den  zweiten  Ton.  Ich  habe  diese  Erscheinungen  in  meiner 
Arbeit  :  „Ueber  Akzentwechsel  der  Herztöne“,11)  ausführ¬ 
lich  beschrieben  und  will  hier  nur  bemerken,  daßi  die  Er¬ 
scheinungen  des  Akzentwechsels  auch  spontan  auftreten, 
wenn  größere  und  kleinere  Puls-'e  miteinander  wechseln 
oder  wenn  der  Puls  weicher  wird,  ohne  an  Größe  zu  ver¬ 
lieren.  Bei  mäßigem  Druck  auf  die  Lebergegend  ist  die 
Stärkezunahme  und  Stärkeabnahme  der  Töne  relativ  gering 
und  ihre  gegenseitigen  Ortsbeziehungen  bleiben  unverändert. 
Ich  habe  schon  früher  den  Leber-Herzreflex  zur  Trennung 
der  Mitral-  und  Trikuspidalgeräusche,  welche  manchmal 
große  Schwierigkeiten  bereitet,  verwertet 12)  und  es  lag  nahe, 
mit  Hilfe  dieses  Reflexes  auch  die  Töne  des  rechten  und 
linken  Herzens  zu  trennen,  resp.  den  Entstehungsort  der 
Töne  zu  bestimmen.  Indem  ich  auf  die  Lebergegend,  ge¬ 
wöhnlich  auf  den  inneren  Anteil  des  rechten  Rippenbogens, 
einen  mäßigen  Druck  ausgeübt,  habe  ich  die  Herztöne 
in  den  fünf  oberen  Interkostalräumen  und  zwar  in 
der  Spitzenstoßlinie,  in  der  linken  Parasternallinie, 
in  der  linken  und  rechten  Sternallinie,  über  dem 
Sternum,  häufig  auch  über  beiden  Karotiden  geprüft. 
Wie  aus  der  Darstellung  ersichtlich,  können  durch  den 
Leber  -  Herzreflex  nur  die  Töne  des  rechten  und  des 
linken  Ventrikels  und  die  Töne  der  großen  Gefäße 
voneinander  geschieden  werden,  die  Trennung  des 
ersten  Ventrikeltones  vom  ersten  Tone  des  zum  Ventrikel 
gehörigen  Gefäßes,  also  die  Trennung  des  ersten  Tones 
des  linken  Ventrikels  vom  ersten  Aortaton  und  des  ersten 
Tones  des  rechten  Ventrikels  vom  ersten  Pulmonalton,  kann 
auf  diesem  Wege  nicht,  bewerkstelligt  werden. 

Die  Grundlage  der  Analyse  bilden  153  Fälle,  120  nor¬ 
male  Fälle,  darunter  einige  mit  leichter  Arhythmie,  22  Mi¬ 
tralfehler,  8  Fälle  von  chronischer  Nephritis,  3  Fälle  Von 
Arteriosklerose  (Abteilung  Prof.  Päl  im  Allgemeinen 
Krankenhause).  Die  Analyse  hat  folgendes  ergeben: 

Das  Gebiet  des  zweiten  Aortatones  ist  groß.  Der 
zweite  Aortaton  ist  konstant  am  rechten  Sternalrand,  im 
ganzen  zweiten,  fünften  und  ersten  linken  Interkostalraum 
und  am  Sternum  in  der  Höhe  dieser  Interkostalräume,  mit 
sehr  geringen  Ausnahmen  auch  in  der  Spitzenstoßhnie  des 

I0)  lieber  reflektorische  Pulserregung.  Zentralbl.  für  innere  Me¬ 
dizin  1901,  Nr.  11.  —  Ueber  reflektorische  Pulsdepression.  Zentralbl. 
für  innere  Medizin  1904,  Nr.  1. 

n)  Zentralbl.  für  innere  Medizin  1905,  Nr.  8. 

,2)  Zur  Klinik  des  Herzens.  Unterscheidung  von  Mitral-  und  Triku- 
spidalgeräuschen.  Wiener  med.  Presse  1907,  Nr.  36,  87. 


dritten  und  vierten  Interkostalraumes,  so  daß  der  ganze 
Herzrand  vom  Aortaton  eingesäumt  ist.  Häufig  ist  der 
Aortaton  am  linken  Sternalrand  und  in  der  Parasternallinie 
des  dritten  und  vierten  Interkostalraumes  und  am  Sternum 
in  der  Höhe  dieser  Interkostalräume,  so  daß  er  manchmal 
am  ganzen  Sternum  oder  im  ganzen  dritten  oder  im 
ganzen  vierten  Interkostalraum  ist.  In  manchen  Fällen 
ist  der  Aortaton  konstant  in  der  ganzen  Herzgegend,  nicht 
nur,  wenn  er  verstärkt,  sondern  auch,  wenn  er  mäßig  stark 
oder  schwach  ist;  in  den  normalen  Fällen  12mal,  in  den 
Fällen  von  Arteriosklerose  2mal,  in  den  Fällen  Von  Ne¬ 
phritis  3mal;  auch  in  drei  Fällen  von  Mitralstenose  war 
überall  der  Aortaton.  Bei  vorübergehender  Verstärkung  des 
Aortatones  ist  derselbe  manchmal  vorübergehend  in  der 
ganzen  Herzgegend. 

Im  Gebiete  des  Pulmonaltones  ist  manchmal  der  zweite 
Aortaton  mit  dem  zweiten  Pulmonalton  vermengt.  Der 
dumpfe,  tiefe  Pulmonalton  hat  hohen  Beiklang;  sicher  wird 
die  Vermengung  der  Töne  durch  den  Herz-Leberreflex  er¬ 
kannt.  Bei  Druck  auf  die  Lebergegend  wird  der  Ton  tiefer 
und  stärker;  die  aortische  Komponente  wird  schwächer, 
demzufolge  verliert  der  Ton  den  hohen  Beiklang  und  wird 
tiefer,  durch  Verstärkung  der  pulmonalen  Komponente  wird 
der  Ton  stärker;  manchmal  wird  der  Tön  tiefer,  ohne  an 
Stärke  wesentlich  zuzunehmen.  Die  Vermengung  der  Töne 
wurde  in  14  der  normalen  Fälle  beobachtet;  am  häufigsten 
und  gleich  häufig  war  dieselbe  am  linken  Sternalrand,  sel¬ 
tener  und  ebenfalls  gleich  häufig  in  der  Parasternallinie  des 
3.  und  4.  Interkostalraumes,  sehr  selten  am  Sternum  in 
der  Höhe  dieser  Interkostalräume.  Meistens  sind  die  Töne 
an  einigen  oder  nur  an  einer  Stelle  des  Pulmonaltones  ver¬ 
mengt,  während  an  den  übrigen  der  reine  Pulmonalton  ist.  In 
manchen  Fällen  sind  die  Töne  konstant  vermengt,  in  anderen 
vorübergehend ;  an  der  Stelle '  des  vermengten  Tones  ist  ; 
zu  anderer  Zeit  der  Aortaton  oder  Pülmonalton  allein.  In 
der  größeren  Anzahl  der  Fälle  war  der  Puls  regelmäßig,  in 
einigen  Fällen  wechselten  größere  und  kleine  Pulse.  Die 
richtige  Beurteilung  des  vermengten  Tones  ist  von  Belang, 
man  könnte  denselben  als  verstärkten  Aortaton  oder  ver¬ 
stärkten  Pulmonalton  auffassen. 

Ebenfalls  im  Gebiete  des  Pulmonaltones  wechseln 
manchmal  an  derselben  Stelle  Aorta-  und  Pulmonalton;  es 
erscheint  bald  ein  hoher,  heller  Ton,  der  bei  Druck  auf 
die  Lebergegend  schwächer  wird  —  Aortaton,  bald  ein  tiefer, 
dumpfer  Ton,  der  bei  Druck  auf  die  Lebergegend  stärker 
wird  —  Pulmonalton.  Der  Wechsel  der  Töne  ist  am  häu¬ 
figsten  im  vierten  Interkostalraum  u.  zw.  am  Sternalrand 
häufiger  als  an  den  äußeren  Stellen,  weniger  häufig 
im  dritten  Interkostalraum,  selten  am  Sternum  in 
der  Höhe  dieser  Interkostalräume.  Manchmal  wechseln  auch 
die  ersten  Töne,  so  daß  an  derselben  Stelle  bald  der  erste 
Ton  des  rechten  Ventrikels  und  der  zweite  Pulmonalton, 
bald  der  erste  Ton  des  linken  Ventrikels  und  der  zweite 
Aortaton  ist.  Manchmal  sind  die  Töne  auch  vermengt,  so  daß 
ein  mannigfaltiges  akustisches  Bild  entsteht;  man  hört  in 
kürzerer  oder  längerer  Aufeinanderfolge  den  Pulmonalton, 
Aorta-  und  Pulmonalton  vermengt,  beide  Töne  wechselnd, 
dann  den  Aortaton.  Der  Wechsel  der  Töne  ist  nicht  kon¬ 
stant,  an  den  Stellen  des  Wechsels  ist  nach  einiger  Zeit 
der  Aortaton  oder  Pülmonalton  allein.  Der  Wechsel  der 
Töne  hängt  mit  Aenderung  der  Energie  der  Herztätigkeit 
zusammen;  er  tritt  auf,  wenn  der  Puls  kleiner  und  fre¬ 
quenter  wird  oder  wenn  größere  und  kleinere  Pulse  mit¬ 
einander  wechseln;  bei  stärkerer  Herztätigkeit  schwindet 
der  Wechsel  und  es  ist  nur  der  Aortaton  hörbar.  In  einem 
Falle  war  an  der  Stelle  der  wechselnden  Töne  nach  Be¬ 
streichen  der  Haut,  wodurch  der  zweite  Aortaton  stärker 
wird,  nur  der  Aortaton.  In  einem  Falle  von  Chorea  wech- , 
selten  die  Töne  aim  linken  Sternalrand  des  dritten  und  vierten 
Interkostalraumes,  es  wechselten  größere  und  kleinere  Pulse 
in  längeren  Intervallen  und  man  konnte  nachweisen,  daß 
der  Aortaton  mit  den  größeren  Pulsen,  der  Pulmonalton  mit 
den  kleineren  Pulsen  zusammenfiel. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911, 


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Der  Charakter  des  zweiten  Aortentones  ist  an  den 
verschiedenen  Stellen  seines  Gebietes  wesentlich  Verschie¬ 
den.  Am  rechten  Sternalrand  ist  der  Ton  hoch,  hell,  scharf 
begrenzt,  am  stärksten  meistens  im  zweiten  Interkostal 
raum;  am  linken  Sternalrand  ist  der  Ton  im  zweiten  und 
dritten  Interkostalraum  gleich  dem  Tone  im  zweiten  rechten 
Interkostalraum,  häufig  stärker  und  höher,  in  den  drei 
unteren  Interkostalräumen  meistens  um  ein  Geringes  tiefer, 
weniger  begrenzt;  in  der  Parasternal-  und  Spitzenstoßdinie, 
insbesondere  im  dritten  und  vierten  Interkostalraum  is! 
der  Ton  meistens  tiefer,  dumpfer,  nicht  scharf  begrenzt, 
mehr  ähnlich  dem  zweiten  Pulmonalton  und  manchmal 
von  demselben  nicht  zu  unterscheiden,  in  der  Parasternal¬ 
linie  gewöhnlich  stärker  als  in  der  Spitzenstoßdinie ;  an 
der  Herzspitze  ist  der  Tön  manchmal  hoch  und  hell;  über 
dem  Sternum  ist  der  Ton  meistens  tief  und  dumpf,  mäßig 
stark,  in  der  Höhe  des  ersten  und  zweiten  Interkostal- 
raumes  manchmal  ebenso  hocdi  und  hell  als  am  rechten 
und  linken  Sternalrand,  in  der  Höhe  des  fünften  Inter- 
kostalraumes  häufig  hoch  und  hell,  von  prägnantem  aorti- 
sehen  Charakter.  Besonders  hervorzuheben  ist  der  dumpfe, 
tiefe  Charakter  des  Tones  in  der  Parasternal-  und  Spitzen¬ 
stoßlinie  des  dritten  und  vierten  Interkostalraumes,  der  auch 
am  linken  Sternalrand  der  drei  unteren  Interkostalräume 
angedeutet  ist;  derselbe  ist  offenbar  bedingt  durch  Mi t 
vibration  der  , Muskelsubstanz  des  Herzens,  wie  sie  durch 
Erschütterung  der  Klappen  hervorgerufen  wird;  der  Ver¬ 
gleich  der  Töne  am  rechten  und  linken  Herzrand  in  den 
drei  unteren  Interkostalräumen  zeigt  in  markanter  Weise 
den  Einfluß  des  Herzmuskels  auf  die  Beschaffenheit  des 
Tones. 


In  76  Fällen  wurde  das  Intensitätsmaximum  des  Aorta- 
tones  bestimmt.  Zu  bemerken  ist,  daß  das  Punctum  maxi¬ 
mum  der  Stärke  und  Höhe  nicht  immer1  zusammenfallen. 
In  65  Fällen,  in  welchen  das  Punctum  maximum  der  Stärke 
und  Höhe  sich  an  derselben  Stelle  befand,'  war  dasselbe 


im  zweiten 
„  dritten 
„  zweiten 
„  ersten 
„  fünften 
„  dritten 
„  vierten 
„  vierten 
fünfter 


Interkostalraum, 


rechter 

linker 

rechter 


Sternalrand 


linker  „ 

Parasternallinie 
„  Stelle  des  Spitzenstoßes 
am  Sternum,  Höhe  des  ersten  Interkostalraumes 
im  ersten  Interkostalraum,  linker  Sternalrand 
„  fünften  „  Parasternallinie 


zweiten 

dritten 


Spitzenstoßlinie  — 


am  Sternum,  Höhe  des  fünften  Interkostalraumes 
an  der  Insertion  der  dritten  linken  Hippe 
»  »  »  „  „  rechten 


16  mal 
13  „ 

8  „ 

5  7, 

4  „ 

3  „ 

3  „ 

2  „ 

9 

9 

1  „ 

i  „ 
i  „ 

1  „ 
i  „ 
i  „ 
l 


Bei  Vergleich  der  Intensität  des  Aortatones  an  verschie¬ 
denen  Stellen  der  Herzgegend  war  manchmal  der  Sternal¬ 
rand  im  zweiten  rechten  Interkostalraum  an  dritter  oder 
vierter  Stelle. 


In  eil  Fällen,  in  welchem  das  Punctum  maximum  der 
Stärke  und  Höhe  sich  an  verschiedenen  Stellen  befand, 
war  das  Maximum 


der  Stärke  der  Höhe 

in  drei  Fällen : 

im  dritten  Interkostalraum,  linker  Sternalrand  im  zweiten  Interkostalraum,  rechter  Sternalrand 

in  zwei  Fällen: 

im  vierten  Interkostalraum,  linker  Sternalrand  am  Sternum,  Höhe  des  ersten  Interkostalraumes 


in  je  einem  Falle: 

im  dritten  Interkostalraum,  linker  Sternalrand 


im  ersten  Interkostalraum,  rechter  Sternalrand 
im  ersten  Interkostalraum, 'rechter  Sternalrand 
im  zweiten  Interkostalraum,  Spitzenstoßlinie 
am  Sternum,  Höhe  des  fünften  Interkostalraumes 
an  der  Insertion  der  dritten  linken  Rippe. 


im  ersten  Interkostalraum,  rechter  Sternalrand 
im  dritten  Interkostalraum,  rechter  Sternalrand 
im  zweiten  Interkostalraum,  rechter  Sternalrand 
im  zweiten  Interkostalraum,  rechter  Sternalrand 
im  zweiten  Interkostalraum,  rechter  Sternalrand 
im  vierten  Interkostalraum,  rechter  Sternalrand 


ln  einigen  Fällen  war  das  Punctum  maximum  des 
Aortatones  bei  wiederholter  Untersuchung  an  verschiedenen 
Stellen;  in  einem  Fälle  bei  der  ersten  Untersuchung  ;am 
Sternum  Höhe  des  vierten  Interkostalraumes,  bei  der  zweiten 
Untersuchung  am  Sternalrande  des  rechten  zweiten  Inter¬ 
kostalraumes. 

Das  Gebiet  des  zweiten  Pulmonaltones  ist  gering;  es 
beschränkt  sich  auf  den  dritten  und  vierten  linken  Inter¬ 
kostalraum  u.  zw.  Sternalrand,  Parasternallinie,  sehr  selten 
Spitzenstoßlinie  und  auf  das  Sternum  in  der  Höhe  dieser 
Interkostalräume;  im  fünften  und,  was  besonders  hervor¬ 
gehoben  werden  muß,  im  zweiten  linken  Interkostalraum 
und  am  untersten  Teile  des  Sternums  ist  in  normalen 
Fällen  kein  zweiter  Pulmonalton.  In  Fällen  mit  unregel¬ 
mäßiger  Herzaktion,  wenn  größere  und  kleinere  Pulse  mit¬ 
einander  wechseln  und  der  Größenunterschied  der  Pulse 
bedeutender  ist,  erscheint  der  Pulmonalton  im  fünften  Inter¬ 
kostalraum,  insbesondere  an  der  Herzspitze,  daselbst  mit 
dem  zweiten  Aortaton  wechselnd.  Die  Häufigkeit  des  Pul¬ 
monaltones  an  den  einzelnen  Stellen  seines  Gebietes  ist. 
verschieden.  In  35  Fällen  mit  reinem  Pulmonalton  war  der¬ 
selbe 


im  3.  Interkostalraum  und  am 

Sternum 

Sternal¬ 

rand 

Paraster-  Spitzen  - 
nallinie  st.oßlinie 

angrenzenden  Sternalstück  = 
im  4.  Interkostalraum  und  am 

7  mal 

8  mal 

11  mal 

3  mal 

angrenzenden  Sternalstück  = 

29  „ 

25  „ 

18  „ 

1  „ 

Der  zweite  Pulmonalton  ist  demnach  am  häufigsten 
am  Sternum  in  der  Höhe  des  vierten  Interkostalraumes  und 


im  vierten  Interkostalraum  u.  zw.  häufiger  an  den  inneren 
als  an  den  äußeren  Stellen;  im  dritten  Interkostalraum  und 
am  angrenzenden  Sternalstück  ist  der  Pulmonalton  seltener 
u.  zw.  hier  häufiger  an  den  äußeren  als  an  den  inneren 
Stellen.  Die  Häufigkeit  des  Pulmonal  tones  an  den  einzelnen 
Stellen  gibt  folgende  Reihe :  Sternum,  Höhe  des  vierten 
Interkostalraumes,  Sternalrand,  Parasternallinie  im  vierten 
Interkostalraum,  Parasternallinie,  Sternalrand  im  dritten 
Interkostalraum,  Sternum,  Höhe  des  dritten  Interkostal¬ 
raumes,  Spitzenstoßlinie  im  dritten  und  vierten  Interkostal- 
raum. 

Die  Kombination  der  Stellen,  an  welchen  der  zweite 
Pulmonalton  gehört  wird,  ist  sehr  mannigfaltig.  Nur  in 
einem  Falle  war  der  Pulmonalton  an  allen  Stellen  des 
Gebietes,  gewöhnlich  ist  er  an  wenigeren,  selten  an  sechs, 
häufiger  an  fünf,  vier,  drei  oder  zwei  Stellen,  manchmal  nur 
an  einer  Stelle.  Es  seien  einige  Lokalisationen  angeführt : 
Sternalrand,  Parasternallinie  des  dritten  und  vierten  Inter¬ 
kostalraumes,  Sternum,  Höhe  dieser  Interkostalräume,  diese 
Kombination  nicht  häufig;  Sternalrand,  Parasternallinie  im 
vierten  Interkostalraum,  Sternum  in  dieser  Höhe  oder  die¬ 
selbe  Kombination  im  dritten  Interkostalraum,  erstere  häu¬ 
figer;  Sternum  Höhe  des  dritten  und  vierten  Interkostal- 
raumes,  Sternalrand  des  vierten  Interkostalraumes;  Sternal¬ 
rand  oder  Parasternallinie  im  dritten  und  vierten  Inter¬ 
kostalraum.  In  sechs  Fällen,  in  welchen  der  Pulmonalton 
nur  an  einer  Stelle  sich  befand,  war  derselbe  je  zweimal 
am  Sternum,  Flöhe  des  vierten  Interkostalraumes  und  in 
der  Parasternallinie  des  vierten  Interkostalraumes,  einmal 
am  Sternum,  Höhe  des  dritten  Interkostalraumeis  und  einmal 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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am  linken  Sternalrand  des  vierten  Interkostalraumes.  In 
manchen  Fällen  war  der  Pulmonalton  nirgends  rein,  son¬ 
dern  überall  mit  dem  Aortaton  vermengt  oder  mit  dem¬ 
selben  wechselnd  und  in  zwölf  normalen  Fällen,  in  drei 
Fällen  von  Mitralstenose,  in  zwei  Fällen  von  Arteriosklerose 
und  drei  Fällen  von  Nephritis  war  der  Pulmonalton  an  keiner 
Stelle  der  Hergegend. 

Der  zweite  Pulmonalton  ist  am  stärksten  am  Sternal¬ 
rand  und  in  der  Parasternallinie,  am  Sternum  ist  derselbe 
mit  sehr  geringer  Ausnahme  schwächer,  tiefer  und  dumpfer. 
Manchmal  ist  der  Pulmonalton  höher  als  der  Aortaton  an 
der  benachbarten  Stelle.  In  26  Fällen  mit  reinem  Pulmonal¬ 
ton  war  das  Intensitätsmaximum 


im  vierten  Interkostalraum,  Sternalrand  =  12  mal 
„  „  ,,  Parasternallinie  =  7  „ 

„  dritten  ,  „  Sternalrand  =  6  ,, 

am  Sternum,  Höhe  des  vierten  Interkostalraumes  =  1  „ 


Punclutn  maximum  der  Stärke  und  Höhe  fallen  nicht 
immer  zusammen.  Das  Punctum  maximum  ist  nicht  kon¬ 
stant;  in  einem  Falle  war  dasselbe  an  einem  Tage  am 
Sternalrande  des  dritten,  am  nächsten  Tage  am  Sternalrände 
des  vierten  Interkostalraumes. 

Bei  erhöhter  Tätigkeit  des  rechten  Ventrikels  —  wir  be¬ 
trachten  hier  hauptsächlich  die  Verhältnisse  bei  Zirkulations¬ 
störungen  am  linken  venösen  Ostium  —  ist  das  Gebiet  des 
zweiten  Pulmoiialtones  häufig  sehr  ausgedehnt.  Zu  be¬ 
merken  ist,  daß  die  Größe  des  Gebietes  nicht  .von  der 
Stärke  des  Tones  allein  abhängt,  manchmal  hat  ein  schwä¬ 
cherer  Ton  ein  größeres  Gebiet  als  ein  stärkerer.  Bei  mä¬ 
ßiger  Zunahme,  des  Gebietes  erscheint  der  Pulmonalton  im 
zweiten  Interkostalraum  u.  zw.  in  der  Parasternallinie  und 
am  Sternalrand,  dann  am  Sternum  in  der  Höhe  des  fünften 
und  zweiten  Interkostalraumes,  an  letzter  Stelle  seltener, 
in  der  Spitzenstoßlinie  des  dritten  und  vierten  Interkostal- 
raumes,  häufiger  im  dritten  als  im  vierten;  bei  großer 
Ausbreitung  ist  der  Pulmonalton  auch  am  Sternalrand  und 
in  der  Parasternallinie  des  fünften  Interkostalraumes  und 
in  der  Spilzenstoßlinie  aller  Interkostalräume,  an  der  Stelle 
des  Spitzenstoßes  selten,  so  daß  die  ganze  linke  Herzgegend 
und  das  ganze  »Sternum  vom  Pulmonalton  okkupiert  ist; 
sehr  selten  ist  der  Pulmonalton  am  linken  Sternalrand  des 
ersten  Interkostalraumes  und  am  angrenzenden  Teile  des 
Sternums.  Auch  bei  großer  Ausbreitung  und  großer  Inten¬ 
sität  überschreitet  der  Pulmonalton  nie  das  Sternum  in 
der  Höhe  des  zweiten  und  dritten  Interkostalraumes,  nur 
zweimal  war  er  am  Sternalrand  des  rechten  vierten  und 
einmal  am  Sternalrand  des  rechten  fünften  Interkostal- 
raumes.  Das  Gebiet  des  Pulmonalton.es  ist  häufig  in  kür 
zeren  oder  längeren  Intervallen  sehr  wechselnd ;  manchmal 
ist  derselbe  in  der  ganzen  linken  Herzgegend  und  am;  ganzen 
Sternum,  am  anderen  Tage  oder  auch  nach  kurzer  Zeit 
ist  er  aus  dem  fünften  oder  aus  dem  fünften  und  zweiten 
Interkostalraum  und  von  diesen  Interkostalräumen  angren¬ 
zenden  Teilen  des  Sternums  oder  auch  vom  ganzen  Ster 
num  geschwunden.  Entsprechend  der  größeren  Häufigkeit 
der  ursächlichen  Verhältnisse  ist  häufig  Wechsel  und  Ver¬ 
mengung  des  Aorta-  und  Pulmonal  tones,  beides  an  den¬ 
selben  oder  an  verschiedenen  Stellen.  Das  Punctum  maxi¬ 
mum  des  Pulmoiialtones  ist  auch  bei  großer  Verbreitung 
desselben  meistens  im  dritten  und  vierten  Interkostalraum 
und  bei  wechselndem  Gebiet  ebenfalls  wechselnd;  so  war 
in  einem  Falle  das  Punctum  maximum  bei  großer  Verbrei¬ 
tung  am  linken  Sternalrand  des  vierten  Interkostalraumes, 
bei  geringerer  Verbreitung  in  der  Spitzen stoßilinie  des  dritten, 
und  einmal  in  der  Spitzenstoßlinie  des  zweiten  Interkostal¬ 
raumes.  ln  manchen  Fällen  von  Mitralfehlern  ist  der  zweite 
Pulmonalton  auch  bei  wesentlicher  Verstärkung  auf  das¬ 
selbe  Gebiet,  wie  unter  normalen  Verhältnissen,  beschränkt, 
mit  derselben  Kombination  der.  Stellen,  manchmal  nur  auf 
eine  Stelle.  Das  Fehlen  des  zweiten  Pulmonaltones  in  man¬ 
chen  Fällen  von  Mitralstenose  ist  schon  früher  angegeben;  in 


einem  der  Fälle  war  der  Pulmonalton  vorübergehend  am 
linken  Sternalrand  des  vierten  Interkostalraumes. 

Ueber  den  Charakter  des  zweiten  Pulmonaltones  gegen¬ 
über  dem  zweiten  Aortaton  ist  folgendes  zu  bemerken. 
Die  Verschiedenheit  der  Töne  —  der  hohe,  helle,  begrenzte 
Charakter  des  Aortatons  und  der  tiefe,  dumpfe,  diffuse 
Charakter  des  Pulmoiialtones  — -  kann  nicht  ihre  Ursache 
in  den  Klappen  und  in  der  Gefäßwand  haben;  dieselben 
können  mit  Bezug  auf  die  Tonbildung  als  gleich  betrachtet 
werden.  Auch  die  durch  den  ungleichen  Druck  bedingte 
verschiedene  Stärke  der  Töne  kann  nicht  die  Ursache  der 
Verschiedenheit  sein;  der  Aortaton  ist  an  den  Stellen,  an 
welchen  er  gewöhnlich  schwach  ist,  wie  am  Sternalrand 
der  rechten  drei  unteren  Interkostalräume  hoch,  hell,  be¬ 
grenzt,  er  behält  diesen  Charakter  auch  bei  wesentlicher  ; 
Abschwächung  infolge  herabgesetzter  Energie  des  linken 
Ventrikels,  während  der  Pulmonalton  auch  bei  bedeutender 
Stärkezunahme  tief,  dumpf,  diffus  ist.  Wenn  man  er- 1 
wägt,  daß  der  zweite  Pulmonalton  außerhalb  des  Bereiches  j 
des  Herzmuskels  hoch,  hell,  begrenzt,  im  Bereiche  desselben 
tiefer,  dumpfer,  weniger  begrenzt,  mehr  dem  Pulmonalton 
ähnlich  ist,  daß  ferner  der  erste  Ton  des  linken  Ventrikels 
im  Bereiche  des  Herzmuskels  tiefer,  dumpfer,  diffus,  außer- 
halb  dieses  Bereiches,  wie  am  Sternalrand  der  rechten  i 
oberen  Interkostalräume  höher,  heller,  begrenzt,  mehr<  ähn¬ 
lich  dem  zweiten  Aortaton  an  diesen  Stellen  ist  und  wenn 
man  die  tiefe,  dumpfe,  diffuse  Beschaffenheit  beider  Töne 
im  Bereiche  des  Herzmuskels  auf  die  Mitvibration  des  Herz 
muskels,  wie  er  durch  Erschütterung  der  Klappen  hervor¬ 
gerufen  wird,  bezieht,  so  liegt  nichts  im  Wege,  auch  den 
tiefen,  dumpfen  Charakter  des  Pulmonaltones1,  dessen 
Gebiet  im  Bereiche  des  Herzmuskels  liegt,  auf  die 
selbe  Ursache  zurückzuführen.  Man  kann  demnach  an¬ 
nehmen,  daß  die  durch  Erschütterung  der  Klappen  her¬ 
vorgerufene  Vibration  der  Muskelsubstanz  des  Herzens  einen 
wesentlichen  Anteil  an  der  Gestaltung  der  Töne  hat  und 
es  ist  die  weitere  Amiahme  berechtigt,  daß  durch  dieselbe 
die  Töne  tiefer,  dumpfer,  diffus  werden.  Auch  der  tiefe, 
dumpfe  Charakter  des  zweiten  Karotistones  ist  hauptsächlich 
auf  die  Mitvibration  der  Muskelmassen  des  Halses  zurück¬ 
zuführen. 

Bei  Lokalisation  der  ersten  Töne  durch  den  Leber-IIerz- 
reflex  kann  es  sich  nur  um  Unterscheidung  der  Töne  beider 
Ventrikel  handeln,  die  Abgrenzung  des  ersten  Tones 'des  linken 
Ventrikels  gegen  den  ersten  Aortaton  und  des  ersten  Tones  i 
des  rechten  Ventrikels  gegen  den  ersten  Pulmonalton  kann 
auf  diesem  Wege  nicht  vollführt  werden.  An  den  Stellen, 
an  welchen  bei  Druck  auf  die  Lebergegend  der  zweite  Ton 
schwächer  wird,  wird  mit  sehr  geringen  Ausnahmen  auch 
der  erste  Ton  schwächer  und  an  den  Stellen,  an  welchen 
bei  Druck  auf  die  Lebergegend  der  zweite  Ton  stärker 
wird,  wird  mit  sehr  geringen  Ausnahmen  auch  der 
der  zweite  Ton  stärker;  da  die  ersten  Töne  in  der  linken 
Herzgegend  und  am  Sternum  auf  Grundlage  ihrer  Stärke 
als  Ventrikeltöne  betrachtet  werden  können,  so  ist  in  diesem 
Gebiete  der  zweite  Aortaton  mit  dem  ersten  Ton  des  linken 
Ventrikels  und  der  zweite  Pulmonalton  mit  dem  ersten 
Ton  des  rechten  Ventrikels  vergesellschaftet  oder  mit 
anderen  Worten,  die  Stellen  des  zweiten  Aortatones  sind 
in  diesem  Gebiete  auch  die  Stellen  des  ersten  Tones  des 
linken  Ventrikels  und  die  Stellen  des  zweiten  Pulmonal¬ 
tones  sind  auch  die  Stellen  des  ersten  Tones  des  rechten 
Ventrikels  und  es  muß  hervorgehoben  werden,  daß  unter  nor¬ 
malen  .Verhältnissen  am  Sternum  in  der  Höhe  des  fünften 
Interkostalraumes,  also  am  untersten  Teil  des  Sternums  der 
erste  Ton  des  linken  Ventrikels  ist  und  daß  auch  im  zweiten 
linken  Interkostalraum  und  am  angrenzenden  Teil  des  Ster¬ 
nums  ein  stärkerer  erster  Ton  als  Ton  des  linken  Ventrikels 
zu  betrachten  ist.  Nur  sehr  selten  ist  der  zweite  Aortaton 
mit  dem  ersten  Ton  des  rechten  Ventrikels  und  de!  zweite  ■ 
Pulmonalton  mit  dem  ersten  Ton  des  linken  Ventrikels  ver¬ 
bunden.  Ist  in  der  ganzen  linken  Herzgegend  und  am 
Sternum  der  zweite  AortaJon,  so  ist  daselbst  auch  der  erste 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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■  Tön  des  linken  Ventrikels,  bei  Erweiterung  des  Gebietes 
des  zweiten  1  ulmönaltones  ist  in  gleicher  Weise  auch  das 
Gebiet  des  ersten  Tones  des  rechten  Ventrikels  erweitert  und 
ist  in  der  ganzen  linken  Herzgegend  und  am  Sternum  der 
zweite  Pulmonalton,  so  ist  daselbst  auch  der  erste  Ton  des 
rechten  Ventrikels. 

Die  ersten  lone  der  Ventrikel  sind  manchmal  gleich, 
meistens  sind  dieselben  verschieden.  Der  erste  Ton  des 
r!r«en  Gkels  1 s't  gewöhnlich  stärker,  höher,  weniger 
diffus,  als  der  erste  Ton  des  rechten  Ventrikels.  An  den 
verschiedenen  Stellen  ihres  Verbreitungsgebietes  sind  die 
Ventrikeltöne,  insbesondere  der  Ton  des  linken  Ventrikels 
wesentlich  verschieden,  manchmal  sind  die  Töne  an  ver¬ 
schiedenen  Stellen  gleich.  Der  Ton  des  linken  Ventrikels  ist 
gewöhnlich  am  stärksten  und  höchsten  an  der  Herzspitze, 
doch  ist  er  häufig  im  vierten  oder  auch  im  dritten  und 
zweiten  tu terkostalraum  stark  und  hoch,  während  er  an 
der  Herzspitze  schwach  ist.  Der  Ton  des  rechten  Ventrikels 
,  ist,  am  linken  Sternalrand  und  in  der  Parasternallinie 
meistens  stärker  und  höher  als  am  Sternum.  Bei  Wechsel 
Ver  zweiten  Gefäßitöne  wechseln  manchmal  auch  die  ersten 
Ventrikeltöne ;  nur  einmal  waren  u.  zw.  in  der  Parasternal- 
Iirne  des  vierten  Interkostalraumes  bei  zweitem  Pulmonal- 
ton  die  ersten  Töne  vermengt. 

Die  ersten  Töne  im 'zweiten  und  ersten  linken  Inter¬ 
kostalraum  werden  auch,  wenn  sie  schwach  sind,  bei  Druck 
auf  die  Lebergegend  konstant  schwächer;  man  muß  dem- 
uach  annehmen,  daß,  ein  erster  Pulmonalton  im  klinischen 
Sinne  nicht,  besteht;  es  ist  unentschieden,  ob  die  Töne  an 
genannten  Stellen  vom  linken  Ventrikel  oder  von  der  Aorta 
stammen. 

Durch  richtige  Lokalisation  der  Herztöne  bekommen 
wir  Einblick  in  die  schwierigsten  Zustände  des  Herzens. 
Bei  Störung  des  Energiegleichgewichtes  beider  Herzhälften 
können  wir  durch  Bestimmung  des  Gebietes  der  Töne  die 
gegenseitigen  Stärkebeziehunsgen  der  Ventrikel  sicher  ab¬ 
schätzen,  den  Wechsel  derselben  leicht  verfolgen ;  wir  er¬ 
fahren,  wie  die  Beobachtung  eines  Falles  von  Mitralstenose 
nn  Stadium  schwerer  Kompensationsstörung  zeigte,  daß 
manchmal  über  der  ganzen  linken  Herzgegend  der  erste 
Ton  des  rechten  Ventrikels  und  der  verstärkte  zweite  Pul¬ 
monalton  ist  —  erhöhte  Tätigkeit  des  rechten  Ventrikels 
mit  Schwächezustand  des  linken  Ventrikels,  daß:  manchmal 
die  Töne  beider  Ventrikel  und  beider  Gefäße  verstärkt  sind 
erhöhte  Tätigkeit  beider  Ventrikel,  daß  manchmal  über 
ner  ganzen  Herzgegend  der  erste  Ton  des  linken  Ventrikels 
und  der  verstärkte  zweite  Aortaton  ist  —  erhöhte  Tätigkeil 
des  linken  Ventrikels  mit  Schwächezustand  des  rechten  Ven¬ 
trikels  ;  es  sei  hinzugefügt,  daß:  man  mit  Berücksichtigung 
-der  Größenverhältnisse  des  linken  Ventrikels  weiterhin  fest- 
slellen  kaim,  ob  [die  verstärkte  Tätigkeit  des  Ventrikels  durch 
primär  erhöhte  Energie  desselben  oder  sekundär  durch  ge¬ 
steigerten  peripheren  Widerstand  bedingt  ist,  im  letzteren 
Falle  Zunahme  des  Volums  des  Ventrikels.  Es  sei  liier 
nochmals  betont,  daß  die  Auffassung  des  zweiten  Tones 
am  Sternalrand  des  zweiten  linken  Interkostalraums  als 
lulmonalton  die  Ursache  schwerer  diagnostischer  Irr- 
dimer  ist. 

In  zwei  Fällen  wurde  durch  den  Leber-Herzreflex  die 
Verdoppelung  des  zweiten  Tones  richtig  gedeutet.  In  einem 
lalle  von  Mitralstenose  war  an  der  Herzbasis  ein  verdop¬ 
pelter  zweiter  Ion;  bei  Druck  auf  die  Lebergegend  wurde 
das  erste  [Moment  der  Verdoppelung  stärker,  das  zweite 
Moment  wurde  schwächer  oder  war  geschwunden.  Man 
konnte  schließen,  daß  der  verdoppelte  Ton  nicht  zwei  stärkere 
Momente  des  diastolischen  Mitralgeräusches  darstelle,  da 
Mitralgeräusche  bei  Druck  auf  die  Lebergegend  schwächer 
werden,  sondern,  daß  das  erste  Moment  der  Verdoppelung 
an  der  Pulmonalis,  das  zweite  an  der  Aorta  entstehe,  daß 
demnach  der  verdoppelte  Ton  durch  ungleichzeitigen  Schluß 
der  Pulmonal-  und  Aortaklappen  bedingt  sei  und  daß  der 
Schluß  der  Pulmonalklappen  früher  erfolge  als  der  Schluß 
der  Aortaklappen.  In  dem  zweiten  Fälle,  in  welchem  ge¬ 


ringe  Arhythmie  bestand,  war  an  der  Herzbasis,  mehr  nach 
mks,  bald  Spaltung,  bald  Verdoppelung  des  zweiten  Tones, 
der  übrige  Befund  am  Herzen  normal.  Bei  Druck  auf  die 
Lebergegend  wurden  beide  Momente  der  Verdoppelung 
s  ,ai  er ,  man  konnte  annehmen,  daß  die  Verdoppelung  an  der 
Pulmonahs  entstehe,  wahrscheinlich  durch  ungleichzeitigen 
Schluß  der  Klappenzipfel. 

.  In  Beiden  Karotiden  wurde  der  zweite  Ton  bei  Druck 
aut  die  Lebergegend  auch  bei  großer  Verbreitung  und  großer 
Intensität  des  1  uimonaltones  konstant  schwächer;  der  zweite 
.  on  in  den  Karotiden  stammt  demnach  immer  aus  der  Aorta. 


Ueber  tuberkulöse  Exazerbation. 

(Zur  Theorie  der  Phthiseogenese.) 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Franz  Hamburger. 


Gelegentlich  tierexperimenteller  Studien  über  Tuber- 
uloseimmunität  konnte  ich  einige  Beobachtungen  machen, 
welche  mir  geeignet  scheinen,  einerseits  das  klinisch  öfter 
zu  beobachtende  Wiederaufflammen  abgeheilter  tuberkulöser 
Herde,  anderseits  vielleicht  auch  die  Phthise  als  tuber¬ 
kulöses  Rezidiv  zu  erklären.  Wie  schon  Koch  gezeigt  hat, 
besitzt  das  tuberkulöse  Meerschweinchen  eine  Immunität 
gegenüber  neueilicher  Infektion.  Diese  Beobachtung  wurde 
zum  leil  auf  Grund  abweichender  Tierexperimente  bei- 
stritten,  zum  Teil  nicht  genügend  beachtet.  Sie  ist  aber 
zweifellos  richtig  und  kann  bei  entsprechender  Versuchs¬ 
anordnung  immer  leicht  demonstriert  werden,  wie  besonders 
aus  den  eingehenden  Untersuchungen  von  P.  H.  Römer 
und  auch  von  mir  hervorgeht. 


. B  habe  nun  schon  in  meiner  ersten  diesbezüglichen 
Mitteilung  kurz  erwähnt,  daß  die  Immunität  tuberkulöser 
-  leie  gegenüber  Reinfektionen  nicht  eine  absolute,  sondern 
nur  eine  relative  ist  und  habe  —  freilich  nur  kurz  — 
darauf  hingewiesen,  daß  unter  Umständen  die  längst 
völlig  verheilte  Wunde  an  der  Reinfektions¬ 
stelle  nach  vielen  Wochen  oder  Monaten  auf 
einmal  sich  leicht  infiltriert  und  sogar  zu 
G  es  c h  w ü  r  b i  1  d  ung  führen  k  a n n.  Ich  habe  seither 
mehrere  solche  Beobachtungen  machen  können  und  möchte 
aui  ihre  allgemeine  pathologische  Bedeutung  ein  wenig 
näher  eingehen. 

Wenn  wir  sehen,  daß  die  Reinfektionsstellen  durch 
längere  Zeit  hindurch,  von  eventuellen  sofortigen  Re¬ 
aktionserscheinungen  abgesehen,  scheinbar  völlig  intakt 
bleiben,  daß  jedoch  mehrere  Wochen  oder  Monate  später 
genau  an  eben  dieser  Stelle  der  Reinfektion  auf  einmal 
entzündliche  Erscheinungen  auft.reten,  so  müssen  wir  wohl 
daraus  schließen,  daß.  bei  der  Abwehrreaktion,  wie 
sie  gleich  nach  der  Reinfektion  a  u  f  t  r  i  1 1,  die 
Bazillen  nicht  völlig  ab  getötet,  sondern  nur 
abgeschwächt  w  e  r  d  e  n.  Wir  müssen  dann  weiter  an- 
nehmen,  daß  diese  Bazillen  aus  irgendeinem  Grunde  wieder 
line  Virulenz  gewinnen  und  auf  diese  Weise  zu  einem 
Wiederaufflammen  der  Reinfektionsstelle 
geben. 


Veranlassung 


Waium  werden  nun  die  Bazillen  oft  erst  nach  mehreren 
Wochen  oder  Monaten  wieder  virulent,  nachdem  sie  an 
Ort  und  Stelle  so  lcinge  Zeit  ctviruleiit  waren?  Wie  aus  einer 
einfachen  Ueberlegung  hervorgeht,,  ist  die  Virulenz  von 
Bazillen  nur  ein  relativer  Begriff,  ein  Begriff,  der  immer 
in  Verhältnis  gesetzt  werden  muß  zu  der  Immunität  oder 
Resistenz  des  infizierten  Makroorganismus.  Ist  die  Resistenz 
des  Makroorganismus  groß,  dann  ist  eben  die  Virulenz  des 
Mikroorganismus  relativ  klein  und  umgekehrt.  Es  braucht 
also,  wenn  wir  sagen,  die  Bazillen  werden  plötzlich  virulent, 
nicht  wirklich  eine  Aenderung  in  der  Virulenz  des  Ba¬ 
zillus,  sondern  nur  eine  Aenderung  in  der  Resistenz  des 
Makroorganismus  stattgefunden  haben.  Ist  diese  Resistenz 
aus  _  irgend  einem  _  Grunde  herabgesetzt,  so  scheinen  die 
Bazillen  plötzlich  virulent  geworden  zu  sein,  was  sich  eben 
in  dem  Wiederaufflammen  der  Reinfektionsstellen  zeigt. 


860 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


Wenn  wir  nun  sehen,  daß  sich  beim  tuberkuloseinfizierten 
Tier  an  den  Reinfektiönsstellen  durch  lange  /eil  hindurch 
keine  Veränderungen  zeigen,  um  dann  plötzlich  aufzu¬ 
flammen,  so  dürfen  wir  dies  wohl  mit  einiger  Wahrschein¬ 
lichkeit  auf  eine  Resistenzverminderung,  anders  ausgedrückt, 
auf  eine  Dispositionserhöhung  zurückführen. 

Versuchen  wir  nun  diese  tierexperimentellen  Beob¬ 
achtungen  und  die  liiefür  gegebenen  Erklärungen  auf  die 
Verhältnisse  beim  Menschen  zu  übertragen.  Wir  wissen, 
daß  sich  die  meisten  Menschen  schon  im  Kindesalter  tuber¬ 
kulös  infizieren  u.  zw.  höchstwahrscheinlich  fast  ausnahms¬ 
los  durch  Inhalation.  Wir  wissen  ferner,  daß  sich  bei  den 
meisten  Menschen  ein  Primärherd  in  der  Lunge  entwickelt, 
und  daß  sich  dann  meistens  nach  der  Entwicklung  dieses 
Primärherdes  eine  gewisse  Immunität  entwickelt,  was  daraus 
geschlossen  werden  kann,  daß  die  meisten  Menschen,  obwohl 
sie  gewiß  sehr  häufig  in  ihrem  Leben  Tuberkelbazillen  cin- 
atmen,  eben  nur  einen,  zwei  oder  drei,  nicht  aber  unzählige 
entsprechende  ,, Herde“  in  den  Lungen  aufweisen.  Eine  Ent¬ 
wicklung  weiterer  tuberkulöser  Herde  wird  eben  durch 
»die  mittlerweile  entstandene  Immunität  verhindert,  aber  die 
Tuberkelbazillen  werden  an  den  Reinfektionsstellen  nicht 
immer  abgetötet,  sondern  sie  bleiben  im  abgeschwächtem 
Zustand  daselbst  liegen.  Es  kann  aber  jederzeit,  wenn  aus 
irgendeinem  Grund  die  Resistenz  oder  Immunität  herab¬ 
gesetzt,  also  die  Disposition  erhöht  wird,  zur  Exazerbation 
kommen.  Vielleicht  dürfen  wir  dann  dementsprechend  die 
Lungenphthise  als  einen  solchen  Exazerba¬ 
tionsprozeß  auf  fassen,  der  an  Reinfektions¬ 
stellen  sich  etabliert,  an  denen  die  Bazillen 
nicht  abgetötet,  sondern  nur  abgeschwächt 
worden  waren. 

Man  darf  sich  dann  weiter  vielleicht  vorstellen,  daß 
bei  den  längere  Zeit  in  tuberkulöser  PImgebung  lebenden, 
also  sich  oft  und  wiederholt  infizierenden  Individuen  die 
Reinfektionen  nicht  überall  in  gleicher  Weise  zur  Abheilung 
gelangen.  Unter  der  Voraussetzung,  daß  die  jeweiligen 
,, Reinfektionsdosen“  ungefähr  gleich  groß  sind  und  auch 
der  Immunitätsgrad  zur  Zeit  der  jeweiligen  Reinfektionen 
ungefähr  gleich  groß  ist,  so  sind  wohl  auch  die  Abheilungs¬ 
bedingungen  an  den  Reinfektionsstellen  ungefähr  gleich  groß, 
dürften  aber  doch  immerhin  noch  von  lokalen  Momenten 
beeinflußt  werden.  Die  Reinfektion  wird  um  so  eher  und 
besser  heilen,  je  stärker  die  Reaktion  auf  dieselbe  .ist. 
Die  Intensität  der  Reaktion  hängt  aber  wahrscheinlich  unter 
anderem  auch  von  dem  Grad  der  Durchblutung  und  viel¬ 
leicht  auch  von  dem  Grad  der  Durchlüftung  der  betreffenden 
Lungenpartien  ah.  Unter  dieser  Voraussetzung  wären  dann 
die  Abheilungsbedingungen  gerade  an  den  Lungenspitzen 
die  schlechtesten.  Man  könnte  sich  dann  vorstellen,  daß  die 
gewiß  oft  stattfindenden  Reinfektionen  in  den  mittleren  und 
unteren  Lungenpartien  endgültig,  an  den  Spitzen  nur 
temporär  ausheilen.  Wenn  dann  aus  irgendeinem 
Grunde  die  Immunität  des  Individuums  sinkt,  dadurch 
die  Virulenz  der  Tuberkelbazillen  relativ  steigt,  so  flammen 
die  temporär  abgeheilten  Reinfektionsstellen  auf  und  es 
kommt  zur  Tuberkulose  der  Lungenspitzen. 

Ich  bin  mir  wohl  bewußt,  daß  die  bisher  gemachten 
Beobachtungen  über  tuberkulöse  Exazerbation  bei  Meer¬ 
schweinchen  auch  nicht  annähernd  genügen,  um  die  hier 
mitgeteilte  Theorie  der  Phthiseogenese  als  richtig  zu  be¬ 
weisen.  Wenn  wir  uns  die  Phthise  des  Menschen  als  ein 
Wiederaufflammen  alter  temporär  verheilter  Tuberkulose¬ 
herde  vorstellen,  so  ist  das  zweifellos  Hypothese,  die  aller¬ 
dings  mindestens  ebenso  gut  gestützt  erscheint  als  jede 
andere  Theorie  über  die  Phthiseentstehung. 

Sind  die  hier  entwickelten  Anschauungen  richtig, 
dann  versteht  man  auch,  wie  zur  Phthiseentstehung  nicht 
nur  die  Exposition,  sondern  auch  die  Disposition  nötig  ist. 


Aus  der  Prosektur  (Vorstand:  Hofrat  Prof.  Dr.  Richard 
Paltauf)  und  der  Hautabteilung  (Vorstand:  Primarius 
Dr.  Leo  Ritter  v.  Zumbusch)  der  k.  k.  Rudolfstiftung 

in  Wien. 

Nachprüfung  der  nach  Angabe  Müllers  und  Land¬ 
steiners  modifizierten  Methodik  der  Wasser- 
mannschen  Reaktion  mit  nicht  inaktiviertem 

Serum. 

Von  Dr.  Emil  Epstein  und  Dr.  S.  Deutsch. 

Zahlreich  sind  bekanntlich  die  Vorschläge,  die  Technik 
:  der  'Komplementbindungsreaktion  zu  vereinfachen.  So  er- 
■|  setzt.  Bauer  das  künstlich  erzeugte  Hammelblutimmun- 
|  serum  vom  Kaninchen  durch  den  normaler  Weise  im  Imensch- 
:  liehen  Serum  vorkommenden  hämolytischen  Ambozeptor 
ü  und  bekommt  dadurch  feinere  Ausschläge.  Hecht  geht  1 
\  um  einen  Schritt  weiter  und  benutzt  den  natürlichen  Hammel- 
\  blutambozeptor  und  den  Komplementgehalt  des  Patienten-  I 
jj  serums.  Die  Brauchbarkeit  beider  Methoden  in  der  Praxis  j 
i  wurde  durch  zahlreiche  Nachprüfungen  widerlegt,  da  der  ; 
|  Ambozeptorgehalt  in  den  verschiedenen  Seris  ein  ganz  ver-  | 
schiedener  ist.  M.  Stern  läßt  die  Benützung  des  Meer¬ 
schweinchenserums  als  Komplement  weg  und  zieht  unter 
Beibehaltung  von  Hammelblutimmunserum  den  natürlichen 
Komplementgehalt  der  zu  untersuchenden  Sera  zur  An-  j 
Stellung  klier  Reaktion  heran.  Da  Sachs  und  Altmann 
nach  gewiesen  haben,  daß  bei  Anwendung  aktiven  Serums 
in  der  ursprünglichen  W  a  s  s  e  r  m  a  n  n  sehen  Versuchst 
anordnung  die  Reaktion  auch  in  einer  Reihe  von  nicht  Lues¬ 
fällen  positive  Ausschläge  ergibt,  wendet  Stern,  um  sich 
vom  schwankenden  Komplementgehalt  möglichst  unabhängig 
zu  machen,  einen  beträchtlichen  Ambozeptorüberschuß  an, 
da  bekanntlich  durch  einen  solchen  das  Komplement  im 
hämolytischen  Systeme  teilweise  substituiert  werden  kann. 
Die  allein  hemmende  Wirkung  des  Organextraktes  wird 
dadurch  ausgeschaltet,  daß  nur  2/s  und  Vs  der  Organextrakt¬ 
dosis  zugefügt  wurde,  welche  in  der  Versuchsanordnung 
mit  inaktiven  Serum  zur  Verwendung  gelangt.  Stern  er¬ 
hält  mit  dieser  Methodik  um  ca.  15°/o  mehr  positive  Aus-  | 
Schläge  bei  sicher  luetischen  Seris.  Harold  Boas  unter¬ 
suchte  ähnlich  wie  Sachs  und  Altmann  das  Serum  j 
Syphilitischer  in  relativ  großer  Dosis  von  0-2  cm3  ohne  zu 
inaktivieren  und  kommt  zu  dem  Resultate,  daß  die  Reale-  | 
tion  auf  diese  Weise  feinere  Ausschläge  ergibt,  zugleich 
aber  auch  an  Spezifität  verliert.  Der  positive  Ausfall  trill 
im  Anfangstadium  der  Krankheit  früher  ein  und  bleibt 
unter  der  anti luetischen  Therapie  weit  länger  bestehen  als 
mit  inaktiviertem  Serum.  Der  Vereinfachungsvorschlag  von 
T  sehe  r  n  ogubow  geht,  wohl  am  weitesten,  indem  er  einer-  ; 
seits  das  Meerschweinchenserum  als  Komplement  wegläßt, 
anderseits  an  Stelle  des  Hammelblutambozeptors  einen  künst¬ 
lichen  Menschenblutambozeptor  vom  Kaninchen  und  statt 
der  Hammelblutkörperchen  direkt  die  roten  Blutkörperchen 
des  zu  untersuchenden  Blutes  anwendet.  Diese  Methode  ; 
gibt  jedoch  sicher  falsche  Resultate,  so  daß  Tscherno- 
gubow  selbst  von  der  Anwendung  derselben  abge¬ 
kommen  ist. 

W  asser  m  a  n  n  und  Meier  äußerten  sich  über  sämt¬ 
liche  bis  1910  veröffentlichte  Modifikationen  mit  aktivem 
Luesserum  auf  Grund  eigener  und  zahlreicher  anderer  Unter¬ 
suchungen,  daß  sie  sehr  bedenklich  seien  und  von  ihrer 
alleinigen  Anwendung  nicht  dringend  genug  abzuraten  sei;  | 
„denn  hiebei  trete  im  ausgesprochenen  Maße  das  ein,  was 
in  erster  Linie  vermieden  werden  müsse,  eine  geringere 
Zuverlässigkeit“. 

Wenn  demnach  die  erwähnten  Modifikationen  für  die 
Praxis  nicht  zu  verwenden  sind,  so  sind  sie  doch  in  hohem 
Maße  interessant,  indem  sie  dazu  beitrugen,  die  theoreti¬ 
schen  Anschauungen  über  die  Mechanik  der  komplexen 
Hämolyse  zu  festigen  und  zu  vertiefen.  Die  Mehrzahl  der 
einschlägigen  Arbeiten  bezweckt  in  erster  Linie  eine  Ver¬ 
einfachung  der  Methodik. 


Nr.  24 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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Tin  Gegensätze  hiezu  berichtet  Müller  auf  der  Ver¬ 
sammlung  der  deutschen  Naturforscher  und  Aerzte  in  Salz¬ 
burg  1909  über  eine  Aenderung  der  Arbeitsweise,  die  Land¬ 
stein  e  r  gemeinsam  mit  ihm  ausarbeitete.  Als  erstes  Ziel 
schwebte  ihnen  vor  Augen  die  Reaktion  vor  allem  zu  ihrer 
Höchstleistung  zu  bringen.  Dem  berechtigten  Einwand,  daß 
bei  Anwendung  aktiven  Serums  die  Spezifität  der  Reaktion 
leiden  könne,  wurde  dadurch  begegnet,  daß  das  zu  unter¬ 
suchende  Serum  in  kleinen  Mengen  gegen  relativ 
große  Mengen  von  Organextrakt,  Immunserum  und 
Hammelblutkörperchen  bei  Verwendung  von  Meer¬ 
schweinchenserum  als  Komplement,  auf  ihre  komplement- 
bindende  Eigenschaft  geprüft  wurde.  Auf  diese  Weise  konnte 
einerseits  die  Schädigung  der  hemmenden  Eigenschaft  des 
Serums  durch  das  Erwärmen  auf  56°  C  eliminiert  werden, 


Komplementwirkung  geprüft.  Da  der  natürliche  Komplement¬ 
gehalt  in  diesen  Verdünnungen  nicht  mehr  zur  Geltung  ge¬ 
langte,  so  wurden  sie  unter  Zusatz  von  0-1  cm3  eines1 
50%igen  Meerschweinchenserums,  sodann  gegen  verschie¬ 
dene  Konzentrationen  alkoholischen  Organextraktes  aus¬ 
gewertet.  Rei  den  gewählten  Serumdosen  wurden  als  opti¬ 
male  Organextraktverdünnungen  Verdünnungen  Von  V3  und 
/<;  ermittelt.  Die  Dosierung  ist  aus  den  folgenden  Tabellen 
ersichtlich. 

Die  analoge  Versuchsanordnung  bei  Luesserum  zeigte 
in  einer  Anzahl  von  fällen,  daß  geringere  Serumdosen  alsi 
0-1  cm'  einer  fünffachen  Verdünnung  einen  positiven  Aus¬ 
schlag^  der  Reaktion  zum  Umschlag  bringen  können. 

Kontrollversuche  ergaben,  daß  eine  Anzahl  Von  Lues¬ 
seris,  welche  in  einer  Dosis  von  0-1  cm3  einer  fünffachen 


anderseits  wird  durch  die  Verdünnung  di.  Fehlerquelle  ruß  -  Verdünnung  ini  ÄjÄTCoÄ 

Tabelle  I  und  II.  Versuche  mit  Normalserum. 


I.  Verdünnung 
des  Serums 
1 :  10 


II.  Verdünnung 
des  Serums 
1:5 


Aufstellung  mit 
aktivem  Serum 


*)  Bis  56° 


Kontrolle 
jmit  inaktiviertem 
Serum*) 

durch  eine  halbe 


Versuchsanordnung 

Ablesungszeit 

nach  30  Minuten 

nach  2  Stunden 

01  s.  +  01  OE.  e/J  -1-  o-l  MS.  +  015  IS.  +  OT  Bltk. 

o-l  S.  -F  OT  OE.  (>/2)  -P  OT  MS.  +  0  15  IS.  +  OT  Bltk 

OT  S.  +  OT  OE.  (V8)  4-  01  MS.  +  015  IS.  +  01  Bltk 

1  OT  S.  +  OT  OE.  (7,)  +  OT  MS.  +  015  IS.  +  OT  Bltk. 

1  OT  S.  +  OT  OE.  0/J  +  OT  MS.  -j-  0T5  IS.  -LOT  Bltk 

i  OT  S.  +  OT  OE.  (>/0)  +  OT  MS.  +  0T5  IS.  +  OT  Bltk. 

Spur  Lösung 

Beginnende  Lösung 

» 

» 

inkomplett  gelöst 

Spur  Lösung 

» 

fast  gelöst 

» 

gelöst 

j  OT  S.  +  OT  OE.  (3/4)  4-  OT  MS.  +  0T5  IS.  -j-  OT  Bltk. 

!  OT  S.  +  OT  OE.  (7#)  +  OT  MS.  +  015  IS.  +  OT  Bltk. 

j  OT  S.  +  OT  OE.  (», ,)  +  OT  MS.  +  0T5  IS.  4-  OT  Bltk. 

!  OT  S.  4-  OT  OE.  (>/,)  -f  OT  MS.  4-  015  IS.  4-  OT  Bltk. 

:  OT  S.  4-  OT  OE.  (74)  +  OT  MS.  +  0T5  IS.  4-  OT  Bltk 

OT  S.  4-  OT  OE.  (7.)  4-  OT  MS.  -f  0T5  IS.  4-  OT  Bltk. 

0 

0 

Spur  Lösung 
inkomplett  gelöst 
fast  gelöst 

» 

0 

0 

gelöst 

» 

01  S.  -j-  01  OE.  +  0-1  MS.  +  015  IS.  +  01  Bltk. 


gelöst 


Stunde  auf  dem  Wasserbad  erwärmt. 

Tabelle  III  und  IV.  Versuche  mit  Luesserum  A  und  B. 


Serum¬ 

verdünnung 

Versuchsanordnung 

Ablesungszeit 
nach  2  Stunden 

III.  A. 
1:10 

Aufstellung  mit 
aktivem  Serum 

OT  S.  4-  OT  OE.  (*/,)  -1-  01  MS.  -f  OT  IS.  4-  OT  Bltk. 
OT  S.  4-  OT  OE.  (7,)  4-  OT  MS.  +  OT  IS.  +  OT  Bltk. 

gelöst 

» 

1:5 

Aufstellung  mit 
aktivem  Serum 

OT  S.  4-  OT  OE.  (7,)  -f  OT  MS.  -f  0T5  IS.  -f  01  Bltk. 
OT  S.  4-  OT  OE.  (7„)  -f  OT  MS.  4-  0T5  IS.  +  OT  Bltk. 

0 

0 

• 

a)  Kontrolle  mit  in¬ 
aktiviertem  Serum, 

b) aufEigenhenimung 

a)  OT  S.  4-  OT  ÖE.  4-  OT  MS.  -f  0T5  IS.  -f  OT  Bltk. 

b)  0-2  S.  4-  OT  MS.  4-  0T5  IS.  4-  OT  Bilk. 

0 

gelöst 

'  IV.  B. 
.1:10 

Aufstellung  mit 
aktivem  Serum 

OT  S.  4-  01  OE.  (7,)  4-  01  MS.  4-  015  IS.  4-  01  Bltk. 
OT  S.  +  OT  OE.  (l/6)  4-  OT  MS.  4-  015  IS.  4-  OT  Bltk. 

inkomplett  gelöst 

1:5 

Aufstellung  mit 
aktivem  Serum 

OT  S.  4-  OT  OE.  (7,)  4-  OT  MS.  4-  015  IS.  4-  OT  Bltk. 
OT  S.  4-  OT  OE.  (70)  4-  OT  MS.  4-  0T5  IS.  4-  OT  Bltk. 

0 

0 

a)  Kontrolle  mit  in¬ 
aktiviertem  Serum, 

b) aufEigenhemmung 

a)  OT  S.  -f  OT  OE.  4-  OT  MS.  4-  0T5  IS.  +  OT  Bltk. 

b)  0-2  S.  4-  OT  MS.  4-  0T5  IS.  -j-  OT  Bltk. 

0 

gelöst 

großen  Teile  ausgeschaltet,  „die  jedes  Serum  durch  seinen 
behalt  an  hämolytischem  Ambozeptor  und  Komplement  in 
sich  birgt  Die  Reaktion  wird  in  jedem  Fälle  mit  zwei 
verschiedenen  Organextraktdosen  angeistellt.  Die  Ergeb¬ 
nisse  dieser  Versuchsmethode  in  600  Fällen  sicherer  Lues 
zeigen  nach  der  Mitteilung  Müllers  eine  Verminderung 
des  Vorkommens  negativer  Ausfälle  in  dem  Maße,  daß  ein 
solcher  gegen  bestehende  luetische  Erscheinungen  spricht. 
Da  somit  die  geänderte  Versuchsanordnung  in  der  Tat  die 
Leistung  der  Reaktion  zu  erhöhen  schien,  so  wurden  wir 
aufgemuntert,  die  Landsteiner-Müllersche  Me¬ 
lodik  an  einem  umfangreichen  Materiale  nachzuprüfen. 

Da  der  Vortrag  Müllers  die  geänderte  Versuchs- 
inordnung  nur  im  Prinzipe  bringt,  so  arbeiteten  wir  nach 
seinen  Angaben  eine  Methodik  aus,  indem  wir  uns  an  die 
Forderung  einer  streng  quantitativen  Auswertung  halten, 
vie  sie  Was  is  erman  n,  Neisser,  Bruck  und  S  c  h  u  c  h  t 
11  ihrer  Originalarbeit  in  der  Zeitschrift  für  Hygiene  1906 
lufstellten. 

Normalsera  wurden  zunächst  mit  physiologischer  Koch- 
>alzlösung  zehnfach  und  fünffach  verdünnt  und  auf  ihre 


dosen  von  Vs  und  V6  die  Hämolyse  hemmten,  nach  Inak¬ 
tivierung  die  Reaktion  nicht  mehr  ergaben. 

Tabelle  V.  Versuch  mit  inaktiviertem  Luesserum. 


Serumver- ;  0'2  S.  (1 
dimming  02  S.  (1 
1 :  10  ;  0-2  S.  (1 


E  S 


:  9)4-0  1  OE.(7,)  +  OT  MS.  +  015  IS.  +01  Bltk. 
:  9)  4- 0-1  OE.(7d  +  0-l  MS. +0-16  IS.+OT  Bltk. 
:  9)  +  0T  OE.p/d+OT  MS.-j-OTö  IS.-j-OT  Bltk. 


gelöst 


wurden  demnach  in  unserer  Versuchs- 
anordn u  n  g  Dosen  von  01  cm3  einer  fünffachen 
Verdünnung  des  Serums  angewendet  und  in 
jedem  falle  ,u n t e r  Hinzufügung  von  1  cm3 
50(0/oa  gen  Meerschweinchenserums  zwei  Pro¬ 
ben  mit  Organ  extraktverdünnungen  IVon  Tb  und 
/  6  auf  gestellt.  Außerdem  versäumten  wir  es  selbstver¬ 
ständlich  nicht,  alle  vorgeschriebenen  Kontrollen  zur  Anwen¬ 
dung  zu  bringen. 

Erläuterungen  zu  den  Tabellen. 

L  S*  =  Patientenserum  (bei  56"  C  durch  eine  halbe  Stunde  inaktiviert). 
=  Meerschweinchenserum:  Es  wurde  stets  ' 
tags  zuvor  entbluteten  Meerschweinchens 
Verdünnung  angewendet. 


MS. 


das  Serum  eines 
in  einer  50°/Oigen 


862 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


3.  OE.  =  Meerschweinchen herzextrakt  (1  g  geschabtes  Meerschweinchen¬ 

herz  mit  50  cm3  95°/0igem  Alkohol  bei  60°  C  durch  fünf 
Stunden  digeriert).  Der  Organextrakt  wurde  behufs  Herstel¬ 
lung  der  entsprechenden  Verdünnungen  mit  95°/0igen  Alkohol 
und  nicht  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  versetz! . 

4.  IS.  =  Hammelblutimmunserum  vom  vorbehandelten  Kaninchen. 

015  cm3  dieses  500  fach  verdünnten  Serums  löst  01  cm3 
einer  20°/0igen  Blutkörperchenaufschwemmung  eben  glatt. 
Zu  den  Versuchen  wurde  die  doppelte  .Dosis  also  01  cm3 
einer  250  fachen  Verdünnung  herangezogen. 

5.  Bltk.  =  20°/0ige  Aufschwemmung  von  dreimal  in  isotonischer  (0 '9°/0) 

Kochsalzlösung  gewaschenen  Hammelblutkörperchen. 

0.  Die  Zahlenangaben  beziehen  sich  auf  das  Yolumenmaß  in 

Kubikzentimetern.  Sämtliche  Röhrchen  wurden  mit  der  iso¬ 
tonischen  Kochsalzlösung  auf  l-5  cm3  Gesamtvolumen  ergänzt. 

7.  Der  Aufstellung  der  Versuche  ging  jedesmal  eine  Auswertung 
des  OE,  und  des  hämolytischen  Systems  voran.  Das  Patienten¬ 
serum  wurde  zunächst  mit  OE.,  MS.  und  dem  entsprechen¬ 
den  Volumen  Kochsalzlösung  versetzt,  auf  eine  halbe  Stunde 
in  den  Brutschrank  gestellt  und  sodann  IS.  und  Bltk.  zugesetzt. 

8.  Die  Ablesung  erfolgte  nach  zweistündigem  Verweilen  der 
Proben  in  dem  auf  37 °C  konstant  erwärmten  Brutschrank. 


463  Sora  ergaben  übereinstimmende  Resultate  und  zwar 
waren  253  positiv,  220  negativ.  Von  den  restlichen  152  Fällen 
reagierten : 


l.  1. 

Inaktiv 

negativ 

aktiv 

positiv 

54  Sera 

8-7°/o 

2. 

» 

» 

inkomplett 

20  » 

33% 

3. 

inkomplett 

» 

positiv 

22  » 

3-5'Vo 

II.  4. 

2> 

positiv 

» 

negativ 

28  » 

4-5°/0 

5. 

» 

» 

inkomplett 

14  * 

2'2% 

6. 

» 

inkomplett 

» 

negativ 

14  » 

2-2  "/„ 

In  die  erste  Gruppe  gehören  39  f  r  i  s  c  h  e  Sklero¬ 
sen  vor  Ausbruch  des  Exanl  h  e  m  e  s,  z  w  ei  Skle¬ 
rosen  mit  Exanthem,  zwei  Gummen,  sieben  Fälle 
von  Lues  latens,  eine  Tabes,  eine  Atrophia  nervi  optici,  eine 
Keratitis  parenchymatosa,  ein  Fall  von  wiederholtem 
Abortus. 

In  der  zweiten  Gruppe  figurieren  zwei  mit  Dioxydiamido- 
arsenobenzol,  17  mit  Einreibungskur  behandelte  Fälle  und 
ein  Fall,  bei  welchem  die  histologische  Untersuchung  die 
Diagnose  Carcinoma  linguae  ergab,  und  in  der  Anamnese 
keine  Anhaltspunkte  für  Lues  zu  finden  waren. 

Die  Fälle  von  Gruppe  drei  sind  sichere  Luesfälle,  die 
mit  Ausnahme  von  zwei  mit  Dioxydiamidoarsenobenzol  be¬ 
handelten  Fällen  durchwegs  merkurialisiert  wurden. 

In  der  vierten  Gruppe  finden  sich  sieben  Fälle  im  se¬ 
kundären  Stadium,  sechs  frisch  behandelte  Fälle,  elf  Fälle 
von  Lues  latens,  ein  Fall  von  hereditärer  Lues,  ein  Fall 
von  Otitis  media  Juetica,  eine  Iritis  und  ein  Aneurysma  der 
Aorta  laut  Obduktionsbefund  mit  luetischen  Veränderungen 
derselben. 

Die  fünfte  Gruppe  enthält  durchwegs  früh  behandelte 
Fälle;  die  sechste  Gruppe  mehrere  initiale  Fälle  vor  Aus¬ 
bruch  der  Allgemeinerscheinungen,  zwei  mit  Dioxydiamido- 
arsenobenzol  Behandelte  und  einen  Fall  von  Tabes  dorsalis. 

Aus  dieser  Statistik  geht  hervor,  daß  bei  Anwen¬ 
dung  de  r  A  k  t  i  v  in  cthode  ein  Gewinn  v,on  12-2  % 
positiver  Ausfälle,  bei  Fällen  resultiert,  bei  denen 
durch  die  klinische  Beobachtung  Lues  siohergestellt 
wurde.  Dieser  Gewimi  rekrutiert  sich  analog  den  Erfah¬ 
rungen  von  Harald  Boas  vorwiegend  aus  rezenten  und  be¬ 
händ  elteo  Fällen  (Gruppe  1  und  3).  Demgegenüber  bilden 
die  Fälle  der  Gruppe  4  und  5  zusammen  6-7%,  bei  welchen 
die  modifizierte  Methode  mit  aktivem  Serum  ein  negatives 
Resultat,  ergaben,  während  mit  inaktiviertem  Serum  positive 
Ausfälle  erzielt  wurden.  Daraus  gehl  hervor,  daß  die  Mc- 
l bode  nach  Landsteiner  und  M ü  1 1  e r,  teils  als  wert¬ 
volle  Kontrolle,  teils  als  Ergänzung  der  bewährten  Aufstel¬ 
lung  mit  inaktiviertem  Serum  heranzuziehen  ist.  Selbstver¬ 
ständlich  möchten  wir  nach  unseren  Erfahrungen  letztere 
niemals  missen.  In  diesem  Sinne  wäre  diese  Methodik  nicht 
berufen  „die  ursprüngliche  zu  ersetzen  oder  gar  zu  ver¬ 
drängen“.  Immerhin  ist  sie  aber  imstande,  eine  Anzahl 
von  „bisher  negativen  Fällen  von  sicherer  Syphilis  positiv 
werden  zu  lassen,  ohne  zu  labil  zu  werden“  und  damit  den 
kritischen  Forderungen  wenigstens  teilweise  zu  entsprechen, 
die  Wassermann  und  Meier  in  ihrer  bereits  zitierten 


Arbeit  (Münchner  mediz.  Wochenschrift  1910,  Nr.  24)  auf¬ 
stellten. 

Literatu  r. 

W a s  s  e  r  in  arm,  N  e  i  s  s  e  r.  Bruck  und  Schucht,  Weitere 
Mitteilungen  über  den  Nachweis  spezifischer  luetischer  Substanzen  durch 
Komplementverankerung.  Zeitschr.  f.  Hygiene  und  Infektionskrankheiten 
1906.  J.  Bauer,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1908,  Nr.  16.  — 
Sachs,  Des  modifications  du  serum  sanguin  par  le  chauffage.  La  Se- 
maine  medicale  1908,  Nr.  26.  — -  Groß  und  V  o  1  k,  Weitere  serodia¬ 
gnostische  I  nlersuchungen  bei  Syphilis.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1908, 
Nr.  44.  Hecht,  Eine  Vereinfachung  der  Komplementbindungsreaktion 
bei  Syphilis.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1908,  Nr.  50.  Tscherno- 
gubow,  Eine  einfache  Methode  der  Serumdiagnose  bei  Syphilis.  Ber¬ 
liner  klin.  Wochenschr.  1908,  Nr.  47.  Harold  Boas,  Die  Wassor- 
mannsche  Reaktion  bei  aktiven  und  inaktiven  Sera.  Berliner  klin. 
Wochenschr.  1909,  Nr.  9.  M.  Stern,  Eine  Vereinfachung  und  Ver¬ 
feinerung  der  serodiagnostischen  Syphilisreaktion.  Zeitschr.  f.  Immunitäts¬ 
forschung  1909.  Müller,  Ueber  den  technischen  Ausbau  der  Wasser- 
mannschen  Reaktion.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1909,  Nr.  40. 

W  assermann  und  Meie  r,  Die  Serodiagnostik  der  Syphilis.  Münchener 
med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  24. 


Aus  der  medizinischen  Klinik  der  Universität  Lemberg. 
(Vorstand:  Prof.  Dr.  A.  Gluzinski.) 

Alimentäre  Glykosurie  und  Adrenalinglykosurie. 

Mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Glykosurie  in  der 
Gravidität  und  der  Zuckerkrankheit.*) 

Von  Dr.  Marek  Iieiclieustein,  gew.  Assistenten  der  Klinik. 

Seitdem  Blum1)  seine  Beobachtungen  über  Neben-  i 
nierendiabet.es  veröffentlichte,  konstatierten  fast  sämtliche  i 
Autoren,  welche  sich  mit  der  experimentellen  Adrenalin-  I 
glykosurie  befaßten,  daß  nach  Injektion  einer  gewissen  Menge 
von  Adrenalin  bei  Hunden  und  Kaninchen  Zucker  im  Urin 
erscheint  tt.  zw.  nicht  nur  bei  Fütterung  mit  Kohlehydraten,  I 
sondern  auch  bei  Hungertieren  und  bei  solchen,  deren  Leber 
infolge  von  Konvulsionen  nach  einer  Strychninintoxikation  | 
glykogenfrei  gemacht  wurde  (Pollak2). 

Beachtenswert  sind  auch  die  Beobachtungen  von  Ep- 
p  i  n g  e  r,  F a  1 1 a  und  R u  d  i n  g  e  r,3)  wie  auch  von  Por ge s,4)  j 
nach  welchen  bei  Morbus  Addisoni,  also  bei  Schwund, 
respektive  bedeutender  Verringerung  ,des  chromaffinen  Sy¬ 
stems  im  menschlichen  Organismus,  eine  erhöhte  Toleranz 
für  Kohlehydrate  besteht  und  die  Darreichung  von  300  g 
Traubenzucker,  nüchtern,  genügte  nicht,  um  alimentäre  Gly-  ! 
kosurie  herbeizuführen. 

Die  Toleranz  für  Kohlehydrate  steigt  mit  dem  Schwund 
des  Adrenalins  im  Organismus  und  vice  versa  bewirkt  Adre¬ 
nalinzufuhr  subkutan  oder  intraperitoneal,  Hyperglykämie 
und  Glykosurie. 

Trotz  der  theoretischen  und  praktisch  -  diagnostischen 
Bedeutung  der  Adrenalininjektion  bei  Menschen,  fand  ich 
in  der  mir  zugänglichen  Literatur  nur  wenige  diesbezügliche 
Anhaltspunkte. 

v.  Noorden5)  führt  einen  Fäll  an,  betreffend  einen 
30jährigen  Mann,  welchem  fast  täglich,  einen  Monat  hin¬ 
durch,  Adrenalin  in  Mengen  von  0-5  bis  2-0  mg,  -infolge 
eines  chronischen  Oedems  des  Unterschenkels,  injiziert 
wurde.  Im  ersten  Monat  trat  der  Zucker  —  bei  ca.  ,1  mg 
Adrenalin  —  nur  sporadisch  in  sehr  kleinen  Mengen  auf, 
später  erschien  er  bei  L5  bis  2-0  mg  gewöhnlich  IV2  Stunden 
nach  der  Inejktion  in  Mengen  von  1  bis  2°/o.  Die  Aus¬ 
scheidung  dauerte  zwei  bis  vier  Stunden. 

Pollak6)  beobachtete  bei  verschiedenen  Kranken, 
welche  über  1-5  mg  Adrenalin  erhielten,  bei  gemischter  Kost, 
das  Auftreten  von  Zucker  im  Urin.  Noel-Pathon7)  be¬ 
merkte  Steigen  der  Zuckermenge  im  Urin  bei  einem  Dia¬ 
betiker  nach  Adrenalininjektion.  Am  zahlreichsten  und  aul 
breiterer  Basis  durchgeführt  sind  die  Experimente  von  E  p- 
p  i  n  g  e  r  und  H  e  ß.8)  Bei  einer  Dosis  von  1  mg  bei  Männern 
und  0-75  mg  bei  Frauen,  bemerkten  sie  entweder  keine 
Wirkung  oder  es  tritt  bei  manchen  —  ich  entnehme  der 
Allgemeinwirkung  nur  einige  Symptome  —  Vergrößerung 

*)  Vorgetragen  in  der  Lemberger  med.  Gesellschaft  am  21.  Ok¬ 
tober  1910. 


Nr.  24 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


863 


der  Harnmenge,  Steigerung  der  Reflexe,  Glykosurie  und 
so  weiter  ein. 

Bei  meinen  Untersuchungen  legte  ich  mir  die  Frage 
voi,  welches  Verhältnis  zwischen  der  alimentären  Glykos- 
une  and  Diabetes  bei  Menschen  und  der  nach  einer  Adre¬ 
nalininjektion  bei  denselben  Personen  auftretender  Glykos¬ 
urie  bestehe. 

Da  ich  mich  durch  Voruntersuchungen  iiberzeugl  habe, 
daß  die  Glykosurie  nach  einer  Injektion  der  von  mir  an¬ 
gewendeten  Adrenalinmenge  —  höchstens  bis  zu  1  mg  — 
in  hohem  Maße  von  der  Art  der  Ernährung  abhängt, "das 
heißt,  sehr  oft  bei  gemischter  Kost  auftritt,  ging  ich  so 
vor,  daß  ich  hei  einer  streng  kohlehydratfreien  Diät,  an 
einem  läge  auf  alimentäre  Glykosurie  untersuchte  (durch 
Verabreichung  von  100  g  Traubenzucker),  dann  eines  an¬ 
deren  Tages  Adrenalin  (Parke,  Davis  &  Comp.)  injizierte 
und  zwar  gewöhnlich  zweimal  je  0-5  mg  in  halbstündigen 
Abständen,  endlich  verabreichte  ich  auch  Traubenzucker 
(100  g  in  Limonade)  und  injizierte  Adrenalin  gleichzeitig. 
t_ Iclilii  eit  dieselbe  Reihenfolge  der  Untersuchungen  nicht 


Frauen,  bei  welchen  —  wie  mich  meine9)  früheren  Unter¬ 
suchungen  belehrten  —  alimentäre  Glykosurie  nach  Dar- 
i eichung  von  100  g  I  raubenzucker  sehr  leicht  auftritt  — 
iu.(loiL  Bereich  meiner  jetzigen  I  ntersuchimgen  hinzu.  Ich 
injizierte  Adrenalin  in  den  oben  angeführten  Mengen  ohne 
schlimme  Nebenwirkungen  befürchten  zu  müssen,  da  diese 
Dosis  heute  bereits  in  die  klinische  Therapie  aufgenommen 
wurde  und  nach  dem  Vorschlag  von  üossi10)  auch  in 
dei  Geburtshilfe  bei  Osteomalazie  sich  eingebürgert  hat. 

Ich  bemerke  im  voraus,  daß  ich,  bis  auf  rasch  vor¬ 
übergehende,  höchstens  bis  zu  einer  Stunde  dauernder, 
Symptome,  wie  Herzklopfen,  allgemeines  Unruhegefühl, 
Zittern  am  ganzen  Körper  und  zwar  nur  bei  gewissen 
Personen,  niemals  -  auf  zirka  250  Adrenalininjektionen 
—  Nebenwirkungen,  welche  die  Gesundheil  der  Mutter  oder 
des  Kindes  schädigen,  oder  den  Verlauf  der  Schwangerschaft 
und  der  Geburt,  wie  auch  den  Gang  der  Krankheit  beein- 
I hissen  könnten,  beobachtete  u.  zw.  ebensowenig  bei  den 
Graviden,  wie  auch  bei  den  in  der  Klinik  auf  Glykosurie 
untersuchten  Männern  und  nichtgraviden  Frauen. 


Männer 


Name 
Nr.  und 
Vorname 


Diagnose 


Nach 

100  g 

Dextr. 


Nach 
Injekt. 
von 
1  cm3 
Adren. 


Nach  Injekt 
von  1  cm5 
Adrenalin 

+  100  g 

Dextrose 


1 

2 

3 

I  4 

;  5 
6  j 
7. 
!  8 
9 
tu 

II 

:  12  ! 

13 

14 

15 

16 

17 

18 

19 

20 
21 
22 

j  23 
!  24 
25 


Ch.  Ba. 

N.  Ka. 
S.  Ra. 

M.  Br. 

O.  Ar. 
A.  Wo. 

L.  Ha. 
F.  Kn. 
S.  St. 
J.  Cz. 
J.  Ka. 

N.  Ki. 
R.  Pa. 
A.  Sch. 

A.  Dr. 

J.  Si. 
F.  Cz. 
.1.  Kü. 

K.  Ja. 
N.  Ch. 

M.  H. 
J.  Kr. 
J.  Po. 

B.  St. 

Z  Ma. 


Sten.  pyl.  post.  nie. 

n 

Ulcus  ventr. 
Neurasth.  Hvperaciditas 
,,  Aton.  intest. 


Sine  morbo 
Icterus  catarrh. 

Cirrh.  hep.  atr. 
Cirrh.  hyper.  Delir,  trem. 
Delir,  trem. 

Morbus  Addison. 

,,  Basedow. 

,,  Thoms. 
Vitium  cord. 

Tabes  dorsal. 

Tumor  cerebr. 
Mening.  luet.  sp. 
Haematomyel. 
Purpur,  rheum. 
Album,  cycl.  Neurasthenia 
Hypert.  prost. 
Sclerodermia 


0 

0 

0 

0 

023** 

0 

0 

0 

0 

0 


P51 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 


0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 


0 

284 
10  78** 
1066 
2  54** 

11-73 

808 

0-97 

0 

6-82 


9  75 
800 
0 

8- 77 
4-70 
1-48 

9- 20 
0 

3-34 

3-95 


Fl¬ 


auen  (nichtgravide) 


Name 
Nr.  und 
Vorname 


Diagnose 


Nach  1  Injekt 
100  g  von 
Dextr.  |  1  cm1 
i  Adren. 


Naili  Nach  Injekt. 


von  1  cm3 
Adrenalin 

+  100  g 

Dextrose 


26 

27 

28 

29 

30 
3t 

32 

33 

34 

35 

36 

37 

38 

39 

40 

41 

42 

43 

44 

45 

46 

47 

48 

49 

50 

51 

52 

53 

54 


M.  J. 
R.  Ne. 
K.  Ka. 

M.  Sz. 

J.  Ch. 

N.  Be. 

M.  Kr. 
A.  Ki. 
Z.  Ku. 
Z.  Ro. 

K.  Gr. 
P.  Zi. 

N.  Du. 

M.  Cv. 

R.  Ka. 

S.  So. 
H.  Ko. 
P.  Ko. 
S.  Ma. 
F.  Pa. 

J.  Re. 

N.  No. 

K.  Hr. 
A.  Bu. 
M.  Tw. 
P.  Ku. 
K.  Mo. 

M.  Be. 

N.  Fe. 


Sten.  pyl.  p.  ulc. 

Sarcoma  pyl. 
Ulcus  ventr. 
Neurosis  ventr. 
Carcinom.  ovarii 
Cirrh.  hep.  atr. 
Hepatoplos. 
Intox.  phos. 
Cholelith. 

Leukaem.  myel. 

11  11 
Fnteroptos. 
Indur.  apic. 
Seleroderm. 
Hysteria 


Psych,  climact. 
Tumor  cerebri 

(?) 

Scler.  lateralis  arriy. 
Myop  at  h. 

Ament,  puer. 
Myasthenia 

Paral.  oculomot.  period. 
Asthma  bronch. 
Periton.  chron. 


0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0-90 

0 

0 

0 


0 

0 

0 

0 

2-83 


0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 


0  =  keine  Zuckerausscheidung. 

—  =  nicht  untersucht. 

=  Injektion  von  nur  05  cm3  Adrenalin. 

**  =  wurde  wiederholt. 

Die  Zeichen  beziehen  sich  auf  sämtliche  Tabellen. 


0 

0 

0 

0 

0-76 

0* 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0* 

0 

0 

0 

0 

0 

0-76 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 


0 

0 

0 

12-43 

4-82 

0 

1-91 

0-24 

0 

0 

0 

0 

3- 49 

4- 29 
16-50 
1003 
1805 

11-50* 

4- 20 
P73* 
700 

1368 

7-98 

0 

5- 77 


immer  ein:  einmal  begann  ich  mit  Adrenalin,  ein  anderes 
Mal  wieder  mit  der  Untersuchung  auf  alimentäre  Glykosurie, 
um  den  eventuellen  Einfluß  der  Diät  in  den  der  Unter¬ 
suchung  vorangehenden  Tagen  auszuschließen. 

Den  Urin  sammelte  ich  alle  zwei  Stunden  und  suchte  in 
jeder  Harnportion  nach  Zucker,  durch  die  Ny]  and  er¬ 
sehe  oder  Hai  nes  sehe  Probe;  bei  positivem  Ergebnis  be¬ 
stimmte  ich  den  Zuckergehalt  quantitativ,  polarimetrisch 
und  nach  der  Methode  von  Ivar  Bang. 

Wenn  Zucker  im  Urin  nach  einer  Adrenalininjektion 
auftrat,  so  geschah  es  gewöhnlich  nach  zwei,  manchmal 
erst  nach  vier  Stunden,  nie  aber  vor  Ablauf  einer  Stunde 
nach  der  Injektion;  die  Ausscheidung  dauerte  bis  zu  sechs 

Stunden. 

Da  es  mir  auf  eine  möglichst  große  Anzahl  von  Fällen 
mit  alimentärer  Glykosurie  ankam,  zog  ich  auch  schwangere 


I. 

M  ä  n  n  er  u  n  d  u  i  c  h  t  gravi  d  e  F  r  a  u  e  n. 

Nach  Darreichung  von  100  g  Traubenzucker  schied  ein 
Basedowkranker  (15)  und  ein  Neurastheniker  (5)  mit 
Magensymptomen,  Zucker  aus.  Der  letztere  war  bei  seinem 
Eintritt  in  die  Klinik,  dank  der  sehr  spärlichen  Diät,  welche 
er  seil  längerer  Zeit  einhielt,  bis  aufs  äußerste  abgemagert. 

Das  Auftreten  der  alimentären  Glykosurie  kann  in 
beiden  vorliegenden  Fällen  nicht  erstaunlich  sein.  Alimen- 
läre  Glykosurie  gehör!  bei  Morbus  Basedowi  zu  den  öfters 
beobachteten  Erscheinungen.  Bei  dein  Kranken  (5)  könnte 
die  Glykosurie  durch  das  lange  Hungern  erklärt  werden, 
analog  zu  den  durch  H  o  f  m  e  i  s  t  e  r  n)  beobachteten  Hunger¬ 
kuren.  Für  diese  Annahme  spricht  auch  der  Umstand,  daß 
wir,  als  sich  der  Zustand  des  Kranken  nach  dreiwöchiger 


864 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


Behandlung  besserte  und  sein  Körpergewicht  im  Laufe  dieser 
Zeit  um  8  kg  stieg,  keine  alimentäre  Glykosurie  bei  Ver¬ 
abreichung  derselben  Zuckermenge,  wie  vordem,  erhielten. 
Das  Auftreten  der  alimentären  Glykosurie  in  der  dritten 
Woche  nach  einer  Phosphorintoxikation  (34)  ist  nicht  er¬ 
staunlich,  da  Zucker  in  solchen  Fällen,  manchmal  spon¬ 
tan,  im  Urin  erscheint  und  daß  Hysterie  (43)  zu  den  Er¬ 
krankungen  gehört,  bei  denen  alimentäre  Glykosurie  auf- 
treten  kann,  ist  uns  aus  fast  allen  einschlägigen  Hand¬ 
büchern  bekannt. 

Auf  diese  vier  Fälle  von  alimentärer  Glykosurie  trat 
in  einem  Falle  von  schwerer  allgemeiner  Neurose  (Hysterie 
34)  die  Ausscheidung  von  Zucker  auch  nach  einer  Adre¬ 
nalininjektion  bei  streng  kohlehydratfreier  Diät  auf  und 
ohne  daß:  gleichzeitig  Zucker  dargereicht  worden  wäre 

—  was  notiert  zu  werden  verdient.  Endlich  trat,  in  einem 
Falle  von  Magenneurose  (30)  die  Ausscheidung  von  Zucker 
nur  nach  einer  Adrenalininjektion  ein;  nach  Verabreichung 
von  100  g  Dextrose  war  keine  alimentäre  Glykosurie  in 
diesem  Falle  eingetreten. 

Nach  Verabreichung  von  100  g  Traubenzucker  und 
Injektion  von  1  cm3  Adrenalin  erscheint  Zucker  oft,  denn 
in  68%  sämtlicher,  von  uns  untersuchter  Fälle,  ohne  Rück¬ 
sicht  auf  die  Art  des  Leidens. 

In  dieser  Gruppe  besteht  kein  markanter  Unterschied 
zwischen  Männern  und  Frauen  und  auf  25  Frauen,  denen 
wir  vor  der  Injektion  Traubenzucker  verabreichten,  schieden 
36%  keinen  Zucker  aus,  auf  20  Männer  hatten  28%  keinen 
Zucker  im  Urin. 

Deutlicher  tritt  der  Unterschied  hervor,  wenn  wir 
alle  Fälle  in  dieser  Gruppe,  welchen  Dextrose  ver¬ 
abreicht  und  Adrenalin  injiziert  wurde,  nach  der  Art  des 
Leidens  — ,, Erkrankungen  des  Nervensystems“  und,, andere“ 

—  gruppieren  werden.  Der  Unterschied  ist  hier  so  bedeu¬ 
tend,  daß  er  sogar  die  Spärlichkeit  der  Fälle  (45  Fälle)  auf¬ 
wiegt. 


Erkrankungen 
des  Nervensystems 


Nr. 


Diagnose 


£  60 

§.S 

N 


Andere  Krankheiten 


Nr. 


Diagnose 


7 
30 

8 
5 

42 

43 

44 
53 
46 

19 

51 

52 

49 

50 
48 
16 
15 
18 
21 

20 
12 


Atonia  intest,  et 
Neurosis  ventr. 

Hysteria 

j  et  Neurasthenia  j 
Asthma  bronch. 

|  Tumor  cerebr.  -j 
Myasthen. 

Paral.oculom.  period. 
Myopath. 
Amentia  puer. 
Scleros.  amyo. 
Morbus  Thom. 
Morbus  Basedow. 
Tabes  dors. 
Haematomyel. 

Lues  spin. 
Delirium  trem. 


63 

20 

58 

40 

20 

26 

27 

47 

19 
42 
25 

20 
15 
22 
44 
20 
33 
40 

36 

37 
40 


11-73 

4-82 

808 

2-54 

16-50 

18-05 

1003 

0 

11-50 

4-70 

13-68 

7- 98 
1-73 
700 
4-20 
800 
9-75 

8- 77 

9- 20 
1-48 
6-82 


28 

1 

27 

56 

2 

3 

4 
2!) 

36 
35 

32 
11 
34 

33 

37 

38 
41 
25 
64 
40 
22 
24 
17 

9 


Sarcom.  pyl. 

Stenos.  pylor. 
post  ulcus 


Ulcus  ventr. 
Cholelithiasis 

Cirrhosis  hep  at. 

Intox.  phos. 
HepatoptQs. 

Leukaemia  myel. 

Sclerodermia 

Peri  ton.  chron. 
Indur.  apic. 
Purp.  rheum. 
Hypertr.  prost. 
Vitium  cord. 
Sine  morbo 


20 

18 

23 

53 
50 
55 
31 
40 

42 

45 

46 

43 
17 
38 
26 
46 
48 
34 

44 
22 
20 
55 
33 

54 


0 

0 

0 

0 

2- 84 
10-78 
10-66 
12-43 

0 

0 

0 

0 

0-24 
1  91 
0 
0 

4- 29 

3- 95 

5- 77 
3-49 
0 

3-34 

0 

0-97 


Aus  dieser  Zusammenstellung  erhellt,  daß,  wenn  wir 
sogar  die  Forderung  von  Eppinger  und  Heß8)  berück¬ 
sichtigen,  welche  von  einer  „starken  Adrenalinwirkung“  nur 
dann  sprechen,  wenn  der  ausgeschiedene  Zucker  5  g  über¬ 
steigt,  so  finden  wir  in  der  Gruppe  „Erkrankungen  des  Ner¬ 
vensystems“  noch  71-4%  der,  solcherart  auf  Darreichung 
von  Traubenzucker  und  Adrenalininjektion  reagierenden 
Fälle  und  in  der  Gruppe  „Andere“  nur  16-7%. 

Diese  letzte  Ziffer  würde  fast  noch  auf  Null  herunter¬ 
gehen,  wenn  wir  aus  der  letzten  Gruppe,  Fall  4  und  29, 


welche  Symptome  einer  allgemeinen  Neurasthenie  auf¬ 
wiesen,  ausscheiden  würden  und  Fall  3,  in  welchem  bei 
zweimaliger  Wiederholung  desselben  Experimentes,  nach 
einer  längeren  Behandlung,  Zucker  im  Urin  nicht  mehr 
auftrat,  ln  der  Gruppe  „Erkrankungen  des  Nervensystems“ 
schieden  die  Fälle  von  Hysterie  die  höchste  Menge 
Zucker  aus. 

II.  i 

Gravide  Frauen. 


Nr. 

Name 

Alter 

Nach 

100  g 

Dextros. 

Nach  Injek¬ 
tion  von  1  cm3 
Adrenalin 

1  cm3Adrenal. 
4- 

100  g  Dextr. 

55 

M.  Iw. 

24 

0 

0 

5-25 

56 

Z.  Ob. 

18 

0-79 

0-77 

10-93 

57 

M.  Na. 

20 

0 

0 

— 

58 

M.  Ko. 

33 

0-58 

0 

1510 

59 

K.  Ba. 

26 

0 

0 

— 

60 

M.  Fe. 

33 

0 

0 

5'39* 

61 

S.  Kl. 

19 

0 

0 

.  - 

62 

J.  St. 

36 

0 

0 

1-30 

63 

J.  Mr. 

25 

0-22 

0-72 

— 

64 

M.  Sa. 

31 

2-29 

2-97 

8-46 

65 

E.  Za. 

20 

0 

0 

— 

66 

K.  La. 

37 

1-90 

Q** 

616* 

67 

W.  Ja. 

30 

0-71 

0-59 

24-94 

68 

M.  Wo. 

35 

0-77 

0 

— 

69 

J.  Ad. 

28 

0 

Q** 

16- 1 1 

70 

P.  Ki. 

31 

0 

0 

4-62 

71 

Z.  Ko. 

25 

0 

0 

6-80 

72 

Z.  Mr. 

30 

0 

0 

— 

73 

A.  Fo. 

25 

0 

0 

— 

74 

R.  Mo. 

41 

0-73 

109 

7-80 

75 

A.  St. 

21 

0-54 

0 

5-72 

76 

A.  Ma. 

40 

0 

0 

1-36 

77 

F.  Zy. 

29 

0 

0 

0-89 

78 

R.  Su. 

24 

0-32 

0 

6-26 

79 

N.  N. 

30 

0 

0 

-  - 

80 

E.  Ma. 

19 

0 

0 

— 

81 

K.  Tr. 

33 

0 

0 

10-94 

82 

K.  Wa. 

22 

2 -42** 

0 

6-75 

83 

P.  Sg. 

23 

0-41 

0-52 

8-48 

84 

R.  Su. 

21 

1-30 

0T9 

9-21 

85 

Ch.  Zi. 

22 

0 

0 

0-56 

86 

S.  Bl. 

32 

0 

0 

094** 

87 

K.  Ro. 

28 

0 

0 

339* 

88 

J.  Wy. 

21 

0 

0 

4-84 

89 

R.  Ka. 

30 

0 

0 

0 

90 

I.  Po. 

19 

0 

0 

— 

91 

S.  Bi. 

17 

0-78 

0-20* 

4-62* 

92 

M.  Ko. 

20 

0 

0 

0 

93 

A.  Brz. 

42 

0 

0 

— 

94 

J.  Ba. 

37 

030 

0  62 

436* 

s 

amtliche  untersuchten  Frauei 

i  befanden 

sich  in  den 

letzten  vier  Schwangerschaftsmonaten,  vorwiegend  in  den 
letzten  drei. 

Untenstehend  die  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen: 

Die  Häufigkeit  des  Auftretens  von  alimentärer  Glykos¬ 
urie  nach  Verabreichung  von  100  g  Traubenzucker  (37-5% 
der  Falle)  bei  40  Graviden,  ist  fast  identisch  mit  der  Ziffer 
bei  meinen  früheren  Untersuchungen. 

Nach  Injektion  von  1  cm3  Adrenalin  —  die  von  mir 
in  der  Einleitung  erwähnten  Vorsichtsmaßregeln  wurden 
beibehalten  —  trat  Zucker  im  Urin  in  der  Menge  von  0-19 
bis  2-97  g  bei  neun  Graviden  auf  —  auf  15  —  welche  nach 
Verabreichung  von  Traubenzucker  alimentäre  Glykosurie  auf¬ 
wiesen. 

Ich  stelle  fest,  daß:  das  Auftreten  von  Zucker  weder 
von  dem  Körpergewicht  der  Graviden  —  ich  bemerkte  Zucker 
bei  einer  Graviden  mit  49  kg  Körpergewicht  und  einer  mit 
69  kg  —  noch  von  dem  Alter  abhängt. 

Bei  Verabreichung  von  Dextrose  und  einer  gleichzei¬ 
ligen  Adrenalininjektion,  kam  es  bei  28  Graviden  fast  aus¬ 
nahmslos  zur  Glykosurie;  nur  7-1%  schieden  keinen 
Zucker  aus. 

Wie  aus  der  unten  stehenden  Zusammenstellung  er¬ 
sichtlich  ist,  schieden  57-2%  der  untersuchten  Graviden 
sogar  über  5  g  Zucker  aus. 


Nr.  24 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


865 


Zuckermenge  im  Urin  in  Grammen 
nach  Adrenalin  4-  Dextrose 


• 

0 

0-1-2 

21-5 

51-10 

10T  u. 
mehr 

lieber 

5  S 

Zuckor 

suchten 

Fälle 

Erkrankungen  des 

1 

2 

3 

10 

5 

71-4% 

Nervensystems 

4-870 

9-5% 

14-3% 

47Ü  "/„ 

23-8% 

21 

Andere 

12 

50°/0 

3 

12-5  % 

5 

20-8'Vo 

1 

4'2'Vo 

3 

12-5'’/o 

16-7°/,, 

24 

Gravide 

2 

17-1% 

5 

17-870 

5 

17r8°/o 

11 

39  3‘70 

5 

179  % 

57-2'Y  0 

28 

Zahl 

der 

unter- 


Bei  den  bisherigen  Untersuchungen  berücksichtigte  ich 
nur  die  eventuelle  Verabreichung  von  Traubenzucker.  Be¬ 
merkenswert  ist  jedoch  auch  die  Art  der  Ausscheidung  von 
Lävulose  bei  gleichzeitiger  Adrenalininjektion. 


Versuche  mit  Lävulose. 


Nr. 

Diagnose 

Nach 

100  g 

Lävulose 

Lävulose 

+ 

Adren. 

Dextrose 

~b 

Adren. 

18 

Tabes  dors. 

0-27 

0  88 

8  77 

1 

Stern  pyl. 

Spur 

0-41 

0 

11 

Cirrhos.  hep. 

o-io 

103 

0 

40 

Indur.  apie. 

0 

3-49 

41 

Scleroderm. 

008 

0-33 

429 

71 

Graviditas 

— 

L94  □ 

6-80 

73t 

» 

— 

4-98  □ 

7-80 

82 

103 

3-47 

6-75 

56 

» 

0-37 

L70  □ 

10  93 

78 

» 

0-25 

0 

6-26 

86 

0-76 

2-55  □ 

094 

87 

-  • 

007 

339 

88 

0-76 

0-47 

4-84 

89 

» 

_ 

0 

0 

84 

» 

0-28 

4-45  □ 

9-21 

83 

* 

0-68 

4-75  □ 

8-48 

—  Darin  auch  Dextrose  (Differenz  zwischen  polarimetrischer  und 
titrimetr.  Bestimmung  der  Zuckermenge). 


Versuche,  mit  Saccharose  bei  Graviden. 


Nach  100  g 

Saccharose 

Lävulose 

Dextrose 

Nr. 

Saccharose 

~b 

~b 

-f  . 

(Gereicht  wurde) 

Adren. 

Adren. 

Adren. 

82 

226 
(150  g) 

6-76 

347 

6-75 

56 

(150  g) 

5-20 

1-70 

1093 

86 

0-22 
(200  g) 

4-50 

255 

0-94 

86 

0-31 

(200  g) 

4-39 

0  47 

4-84 

Ich  möchte  die  erhaltenen  Ergebnisse  vorläufig  unbe¬ 
sprochen  lassen.  Jedenfalls  fällt  der  bedeutende  Unterschied 
auf,  zwischen  der  Menge  des  nach  der  Adrenalininjektion 
ausgeschiedenen  Traubenzuckers  und  des  unter  denselben 
Umständen  ausgeschiedenen  Fruchtzuckers,  trotzdem  zum 
Beispiel  die  Verabreichung  von  Fruchtzucker  an  Gravide 
um  vieles  eher  alimentäre  Glykosurie  bewirkt,  als  die  Dar¬ 
reichung  von  Dextrose  (93-1  °/o  : 38-3 %). 

Dieser  Unterschied  könnte  durch  die  größere  Resistenz 
des  bei  Lävulosefütterung  sich  bildenden  Glykogens  im 
Gegensatz  zur  Dextrosefütterung,  dem  Adrenalin  gegenüber, 
erklärt  werden  (Pollak2). 

III. 

Diabetes. 


Ich  war  bestrebt,  die  Kranken  durch  eine  streng 
kohlehydratfreie  Diät  in  ein  aglykosurisches  Stadium  zu 
versetzen  ;  bei  zwei  Kranken  erwies  sich  jedoch  diese  Diät 
als  ungenügend  (Fall  III  und  IV) ;  ich  führte  deshalb  eine  Ein¬ 
schränkung  der  Eiweißmenge  und  zeitweises  Hungern  an 


den  Tagen,  an  welchen  Adrenalin  injiziert  wurde,  ein,-  selbst- 
!  verständlich  bei  Kontrolle  mit  Tagen,  an  welchen  ich  Adre-' 
nalin  nicht  applizierte,  der  Kranke  aber  bei  derselben  Diät 
verblieb. 

fa.lt  I.  J.  A.,  52jähriger  Steuereinnehmer.  In  der  Klinik 
vom  11.  bis  26.  Mai  1909.  Körpergewicht  76  kg. 

Diagnose:  Diabetes  mellitus  in  i n d i v.  cum  d i a- 
thesi  urica,  et  ar ter i o s c'le r.  inc'ip-.  Sarcoma  idiopath. 
cutis  (Kaposi). 

In  den  ersten  Tagen  seines  Aufenthaltes  in  der  Klinik  schied 
der  Kranke  —  bei  gemischter  Kost  —  täglich  ca.  40  g  Zucker 
aus.  Nach  drei  Tagen  einer  strengen  kohlehydratfreien  Diät  ver¬ 
schwand  der  Zucker  vollständig  aus  dem  Urin. 

17.  Mai:  In  dem  alle  zwei  Stunden  gesammelten  Urin,  bei 
kohlehydratfreier  Diät  kein  Zucker. 

18.  Mai:  Um  8  Uhr  und  8  Uhr  30  Min.  früh  eine  Adre¬ 
nalininjektion.  In  den  nächsten  Stunden  und  Tagen,  bei 
derselben  Diät:  kein  Zucker. 

F  all  II.  W.  St.,  Landmann.  In  der  Klinik  vom  15.  April 
bis  6.  Mai  1910.  Körpergewicht  66  kg. 

Seit  acht  Wochen  riesiger  Durst  und  starker  Appetit,  er 
„ißt  für  vier  und  wird  nicht  satt“.  Schwächegefühl.  Der  Arzt 
sagte  ihm  vor  sechs  Wochen,  er  hätte  ca.  7°/o  Zucker  im  Harn. 
Während  seines  Aufenthaltes  in  der  Klinik  schied  er  täglich 
—  bei  gemischter  Kost  —  ca.  3000  cm3  Urin  aus,  darin  250  g 
Zucker. 

Nach  viertägiger  kohlehydratfreier  Diät,  verschwand  der 
Zucker. 

22.  April :  Um  9  Uhr  früh  1  cm3  Adrenalin.  Bis  3  Uhr  nach¬ 
mittags  kein  Zucker  im  Urin.  Seit  5  Uhr  nachmittags  bis  23.  April 
früh  schied  der  Kranke  9-64  g  Zucker  aus. 

23.  bis  24.  April:  Urinmenge  2820  cm3.  Zucker:  0-85% ; 
23-9  g  pro  die,  bei  derselben  Diät,  welche  vordem  keine  Glykos¬ 
urie  herbeiführte. 

Vom  24.  bis  27.  April  kein  Zucker. 

28.  April:  Um  8  Uhr  früh  0-5  cm3  Adrenalin.  Weder  an 
diesem  noch  am  folgenden  Tage  Zucker  im  Urin. 

Die  Verabreichung  von  50  g  Semmel,  bei  bisheriger  Diät, 
drei  Tage,  bevor  der  Kranke  die  Klinik  verläßt,  bewirkt  die  Aus¬ 
scheidung  von  20  g  Zucker,  welcher,  trotz  Entziehung  der  Kohle¬ 
hydrate,  bis  zum  Verlassen  der  Klinik  nicht  verschwindet. 

Fall  III.  M.  R.,  19jähr.  Handlungsgehilfe.  In  der  Klinik  vom 
13.  Februar  bis  4.  Juli  1910.  Körpergewicht  56  kg. 

Im  Vorjahre  wurde  er  durch  einige  Wochen  infolge  eines 
mittelschweren  Diabetes  behandelt.  Nach  langanhaltender  Ent¬ 
ziehung  der  Kohlehydrate  und  nachheriger,  sukzessiver  Verab¬ 
reichung,  besserte  sich  die  Toleranz  und  der  Kranke  schied  sogar 
bei  100  g  Kohlehydrate  keinen  Zucker  aus.  Seit  einem  Monat 
bemerkte  er  —  trotz  Einhalten  der  bisherigen  Diät  —  daß  die 
Urinmenge  größer  und  das  Hunger-  und  Durstgefühl  stärker 
wurden.  Die  Urinmenge  beträgt  bei  gemischter  Kost  ca.  5000  cm3, 
die  mit  dem  Urin  täglich  ausgeschiedene  Zuckermenge  ca.  360  g. 
Bei  Einhalten  einer  streng  kohlehydratfreien,  eiweiß-  und  fett¬ 
haltigen  Diät  verringerte  sich  die  Urinmenge  bis  ca.  2300  cm3 
mit  einem  ca.  60  g  betragenden  Zuckergehalt. 

Da  wir  den  Kranken  bei  strenger  Diät  nicht  entzückern 
konnten,  beschränkten  wir  an  gewissen  Tagen  seine  Nahrung  auf 
250  g  Fleisch,  35  g  Butter  und  1  Ei.  Bei  dieser,  nur  um  12  Uhr 
mittags  eingenommenen,  einzigen  Mahlzeit  schied  der  Kranke 
keinen  Zucker  aus  (am  11.,  22.  und  31.  März).  Dieses  Vorgehen 
hatte  auch  die  therapeutische  Wirkung,  daß  die  Urinmenge,  nicht 
nur  an  den  Hungertagen,  auf  i800  cm3  sank,  mit  einem  sich  täglich 
verringernden  Zuckergehalt  bis  auf  20  g. 

16.  März :  1  cm3  Adrenalin  um  7  Uhr  früh.  Im  Laufe  von 
vier  Stunden  11-16  g  Traubenzucker  ausgeschieden. 

25.  März :  Dieselbe  Injektion  um  dieselbe  Zeit.  11-28  g 
Zucker  im  Urin  in  vier  Stunden. 

14.  April :  0-5  cm3  Adrenalin ;  6-18  g  Zucker. 

22.  April :  0-25  cm3  Adrenalin ;  1-4  g  Zucker. 

Bei  oben  angeführtem  Vorgehen  wurde  nach  Ablauf  von  vier 
Stunden  kein  Zucker  ausgeschieden. 

An  dem  der  Injektion  folgenden  Tage  war  die  Zuckermenge 
geringer  als  durchschnittlich  vorher,  was  auf  die  gebesserte  Tole¬ 
ranz  infolge  des  Hungerns  und  der  beschränkten  Eiweißmenge 
zurückzuführen  ist. 

Fall  IV.  M.  B.,  38jähriger  Landmann.  In  der  Klinik  vom 
23.  April  bis  13.  Juli  1910.  Körpergewicht  50  kg. 

Nimmt  seit  sechs  Monaten  an  Gewicht  ab.  Schwächegefühl. 
Schmerzen  in  den  Beinen.  Starker  Durst,  Appetit  schwächer.  Uri¬ 
niert  viel.  Der  klinischen  Beobachtung  entnehme  ich  folgendes: 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


Anfangs  Juni  trat  bei  dem  Kranken  eine  leichte,  aber  sicht- 
.  bare  Schwellung  des  Gesichtes  ein,  ohne  daß  im  Urin  oder  in  den 
inneren  Organen  irgendwelche  Veränderungen,  wodurch  diese 
ödematöse  Schwellung  erklärt  werden  könnte,  wahrgenommen 
worden  wären.  Sella  turcica  erweitert  und  tiefer;  andere,  für 
eine  eventuelle  Ak romegal ie  sprechende  Symptome  fehlen.  Die 
Schwellung  des  Gesichtes  schwand  anfangs  Juli,  ebenso  die  den 
Kranken  um  diese  Zeit  quälenden  Kopfschmerzen. 

Bei  gemischter  Kost  beträgt  die  Urinmenge  durchschnittlich 
-400  cm3,  der  Zuckergehalt  165  g.  Bei  strenger,  kohlehydratfreier, 
eiweiß-  und  fetthaltiger  Diät  sank  die  Urinmenge  auf  1800  cm* 
mit  einem  Durchschnittsgehalt  von  40  g  Zucker  täglich. 

30.  Mai:  Hungert  von  8  bis  12  Uhr.  Schied  im  Laufe 

dieser  Zeit  2-99  g  Zucker  aus. 

7.  Juni:  Hungert  von  8  bis  12  Uhr.  Schied  im  Laufe 

dieser  Zeit  1-87  g  Zucker  aus. 

17.  Juni:  Hungert  von  8  bis  12  Uhr.  Schied  im  Laufe 

dieser  Zeit  0-56  g  Zucker  aus. 

20.  Juni:  Hungert  von  8  bis  12  Uhr.  Schied  im  Laufe 

dieser  Zeit  0-78  g  Zucker  aus. 

(Um  8  Uhr  früh  1  cm3  Adrenalin  subkutan.) 

26.  Juni:  Der  alle  zwei  Stunden  gesammelte  Urin  enthält 
—  bei  kohlehydratfreier  Diät  —  keinen  Zucker. 

27.  Juni:  Um  8  Uhr  früh  1  cm3  Adrenalin.  Der  wie  am 
vorangehenden  Tage  gesammelte  Urin  enthält  keinen  Zucker. 

Wir  bemerkten  also  weder  an  dem  Tage  der  Injektion,  noch 
in  den  nachfolgenden  Tagen  einen  Einfluß  auf  die  Ausscheidung 
von  Zucker.  4 

Fall  V.  A.  Fl.,  64jähr.  Brauer.  In  der  Klinik  vom  8.  Juli 
bis  15.  August  1910.  Körpergewicht  72  kg. 

Diagnose:  Diabetes  mellitus  in  indiv.  cum  mye- 
litide  chronica  (post  trauma)  et  arter  i  os  cl  er  os  i  uni¬ 
versal  i. 

Vor  zwei  Jahren  stürzte  er  in  voller  Fahrt  aus  einem  Wagen 
und  verlor  das  Bewußtsein.  Als  er  nach  dreimonatigem  Tri  egen 
auf  stand,  überzeugte  er  sich,  dajß  es  ihm  nicht  möglich  war  zu 
gehen,  Schwächegefühl  in  den  Beinen,  Kribbeln,  uriniert  oft  mit 
Anstrengung  und  in  kleinen  Mengen.  Seit  zwei  Wochen  zahlreiche 
Furunkeln  am  Rücken,  an  den  Armen  und  am  Skrotum.  Urin¬ 
menge  bei  gemischter  Kost  1800  cm3, .  enthält  75-6  g  Zucker.. 
Nach  viertägiger,  kohlehydratfreier  Diät  fiel  die  Urinmenge  auf 
1200  cm3  herunter,  der  Zucker  ist  verschwunden,  die  Furunkeln 
heilen  sehr  rasch. 

15.  Juli:  Um  9  Uhr  früh  I  cm3  Adrenalin.  Von  10  bis 
2  Uhr  nachmittags  0-98  g  Zucker  ausgeschieden. 

An  den  folgenden  Tagen,  bei  derselben  Diät,  kein  Zucker. 

Fall  VI.  S.  F.,  32jährige  Kaufmannsgattin.  Stand  vor  drei 
Jahren  infolge  Diabetes  in  Behandlung.  Sie  magerte  damals  ab, 
hatte  starken  Durst,  schied  viel  Urin  a  ns. 

Am  11.  Juli  1907  3-2°/o  Zucker.  Eiweiß  0-1°/Oo.  Spezifisches 
Gewicht  1  036.  Im  Sediment  vereinzelte  Blutkörperchenschatten, 
hyaline,  granulierte  Zylinder. 

18.  August  1908:  Bei  strenger  Diät  kein  Zucker. 

Aufgenommen  auf  die  Abteilung  für  Nervenkrankheiten  mit 

der  Diagnose:  Manisches  Irresein.  Dekubitus.  An  dem 
Tage,  an  welchem  sie  ins  Spital  aufgenommen  wurde,  enthielt 
der  Urin  Zucker. 

Nach  strenger  Diät:  kein  Zucker. 

8.  August:  Deutliche  alimentäre  Glykosuric.  Eine  Injek¬ 
tion  von  1  cnr  Adrenalin  bewirkt  keine  Zuckerausscheidung. 

Fall  VII.  A.  Al.,  64jährige  Zimmepmannsgattin.  In  der 
Klinik  vom  18.  Juni  bis  14.  Juli  1910.  Körpergewicht  56  kg. 

Seil  vier  Monaten  Pruritus  an  den  äußeren  Genitalien.  Seit 
einigen  Jahren  gesteigertes  Durstgefühl,  uriniert  viel,  magert  ab. 
Bei  gemischter  Kost  Urinmenge  ca.  2500  cm3,  Zucker  ca.  125  g. 
Nach  viertägiger  kohlehydratfreier  Diät  verschwand  der  Zucker. 

23.  Juni:  Der  alle  zwei  Stunden  untersuchte  Urin  enthält 
keinen  Zucker. 

24.  Juni:  Um  8  Uhr  früh  1  cm3  Adrenalin.  Schied  bis 
12  Uhr  mittags  1-3  g  Traubenzucker  aus.  Von  12  Uhr  mittags  bis 
1  Uhr  nachmittags  kein  Zucker.  Von  4  Uhr  desselben  Tages  bis 

25.  Juni  früh  6-5  g  Zucker,  bei  derselben  kohlehydratfreien  Diät, 
bei  welcher  sie  früher  keinen  Zucker  ausschied. 

25.  und  26.  Juni:  Bei  denselben  Diät  17  g  Zucker. 

Vom  27.  Juni  bis  4.  Juli  kein  Zucker,  wie  vor  der  Adre¬ 
nalininjektion. 

4-  Juli:  I  m  9  Uhr  früh  bei  derselben  Diät  1  cm3  Adrenalin. 
I!is  2  Uhr  wurde  1-8  g  Traubenzucker  ausgeschieden. 

In  den  folgenden  I  rinproben  kein  Zucker,  doch  wurde  im 
Banfe  der  Nacht  bis  zum  5.  Juni  früh  113  g  Zucker  ausge¬ 
schieden. 


5.  bis  6.  Juli:  5-2  g  Zucker. 

In  den  folgenden  Tagen  kein  Zucker,  auch  als  die  Kranke 
vom  10.  Juli  an  50  g  Weißbrot  als  Zusatz  erhielt. 

Fall  VIII.  M.  M.,  37 jähriger  Arbeiter.  In  der  Klinik  vorn 
10.  Oktober  bis  22.  Oktober  1910.  Körpergewicht  51  5  kg. 

Diagnose:  Diabetes  mellitus  in  indiv.  cum  in¬ 
duration©  apicum  et  bronchitide  chronica. 

Fiel  vor  fünf  Jahren  von  bedeutender  Höhe  herab.  Erlitt 
starke  Kontusionen,  hauptsächlich  an  der  rechten  Thoraxseite; 
verlor  das  Bewußtsein.  Nach  sechs  Wochen  des  Zubetteliegens 
besserte  sich  sein  Zustand  allmählich  und  der  Kranke  kehrte 
zu  seiner  Arbeit  zurück,  wobei  er  nur  von  Zeit  zu  Zeit  über 
Rückens chmerzen  und  Schmerzen  in  den  Beinen  klagte.  Vor  zwei 
Jahren  fand  er  Beschäftigung  in  einer  Zuckerfabrik.  Bereits  nach 
einigen  Wochen  begann  er  zu  kränkeln;  es  traten  Schmerzen  im 
Kopfe,  Bücken  und  Beinen  auf.  Stechen  an  verschiedenen  Stellen 
des  Thorax,  Durst-  und  Hungergefühl  verstärkten  sich  derart, 
daß  er  oft  nachts  aufstehen  mußte,  um  den  Hunger  zu  stillen. 
Die  Urinmenge  steigerte  sich  gleichfalls.  Seit  fünf  Monaten  trat 
zu  diesen  Symptomen  auch  Hautjucken  hinzu.  Magerte  stark  ab. 

Bei  gemischter  Kost  betrug  die  Urinmenge  über  3000  cm3 
mit  ca.  250  g  Zucker.  Nach  fünftägiger  strenger,  kohlehydratfreier, 
eiweiß-  und  fetthaltiger  Diät  fiel  die  Urinmenge  auf  ca.  2000  cm3 
im  Durchschnitt  herunter  und  der  Zucker  verschwand  völlig  aus 
dem  Urin. 

16.  Oktober:  lem3  Adrenalin.  Bis  zu  acht  Stunden 
nach  der  Injektion  kein  Zucker.  Bis  zu  dem  Tage  der  Aufnahme 
in  die  Klinik  hielt  der  Kranke  einigermaßen  die  vorgeschriebene 
Diät  ein,  doch  beging  er  häufige  Diätfehler  und  verzehrte  kohle- 
hydrathältige  Speisen,  Avas  auf  seinen  Diabetes  derart  einwirkte, 
daß  Avir  im  Laufe  seines  zweiwöchigen  Aufenthaltes  in  der  Klinik 
keine  vollkommene  Entzuckerung  erzielen  konnten,  trotz  strengster 
eiweiß-  und  fetthaltiger  Diät,  während  welcher  der  Kranke  immer¬ 
hin  noch  10  bis  15  g  Zucker  in  24  Stunden  ausschied.  Nichts¬ 
destoweniger  behielt  der  Kranke  das  Nichtreagieren  auf  Adre¬ 
nalininjektionen  bei:  trotz  einer  Injektion  von  1  cm3  Adrenalin 
trat  keine  Vergrößerung  der  Zuckermenge  ein,  was  durch  die 
Ziffern  des  ausgesteh iedenen  Zuckers  Vor  und  nach  der  Adre¬ 
nalininjektion  bestätigt  wird  (13-03,  15-16,  12-33  und  —  am  Tage 
der  Injektion  —  12-73  g). 

Fall  IX.  J.  M.,  57jährige  Richterswitwe.  Körpergewicht 
55-6  kg.  In  die  Klinik  aufgenommen  am  18.  Oktober  1910. 

Im  Vorjahre  wurde  sie  vom  23.  Oktober  bis  22.  Dezember 
behandelt.  Diagnose:  Diabetes  mellitus  levioris  gra- 
dus  in  indiv.  nervo  so. 

Ich  entnehme  der  Anamnese  folgendes :  Im  Jahre  1889 
Ischias.  Im  30.  Lebensjahre  und  vor  neun  Jahren  durch  einige 
Wochen  hartnäckige  Furunkeln  auf  dem  Gesäß  und  Schenkeln, 
sie  traten  auch  später  zeitAveise  auf.  Seit  Juli  1909  stärkeres 
Durstgefühl.  Damals  magerte  sie  um  9  kg  ab  und  der  Urin  enthielt 
Zucker.  Während  des  vorjährigen  Aufenthaltes  der  Kranken  in 
der  Klinik  betrag  die  tägliche  Menge  des  ausgeschiedenen  Zuckers 
bei  gemischter  Kost  —  bis  zü  81  g.  Bei  Verlassen  der  Klinik 
besserte  sich  hei  der  Kranken  die  Toleranz  für  Kohlehydrate, 
so  daß  bei  100  g  noch  kein  Zucker  auftrat. 

Bis  März  1910  fühlte  sich  die  Kranke  wohl  und  bei  vor- 
geschri ebener  Diät  trat  kein  Zucker  auf.  Ende  März1  erkrankte  der 
Sohn  der  Kranken,  wodurch  sie  sehr  bekümmert  war.  Am  nächsten 
Tage  fühlte  sie  sich  nicht  wohl,  es  traten  Wadenkrämpfe  usw.  auf, 
der  Urin  wies  2°/o  Zuoker  auf;  im  April  3%.'  Ende  dieses  Monats 
machte  sie  eine  ziemlich  schwere  Influenza  durch.  Ende  Mai 
6°/o  Zucker.  Im  Juli,  nach  einer  Karlsbader  Kur,  enthält  der 
Urin  3V2°/o  Zucker. 

Auch  diesmal  schwand  der  Zucker  : —  beim  zweiten  Auf¬ 
enthalt  in  der  Klinik  hei  strenger,  kohlehydratfreier,  eiweiß- 
und  fetthaltiger  Diät;  das  bei  gemischter  Kost  auftretende  Azeton 
verbleibt  auch  weiterhin.  Subjektives  Befinden  gut. 

Sechs  Tage  nach  vollständiger  Entzuckerung  scheidet  die 
Kranke  nach  einer  Injektion  von  1  cm3  Adrenalin  1-95  g  Zucker 
im  Laufe  von  vier  Stunden  aus.  Weder  an  diesem  Tage,  noch 
später  Avird  der  Zucker  —  bei  derselben  Diät  wie  vor  der  In¬ 
jektion  —  ausgeschieden.  Nach  längerem  Einhalten  derselben 
Diät  konnte  dennoch  die  Toleranz  für  Kohlehydrate  nicht  ge¬ 
bessert  werden  und  die  geringste  Menge  Kohlehydrate  genügt, 
um  Zuckerausscheidung  zu  bewirken. 

Also  auf  9  Fälle  von  Diabetes,  darunter  drei  schwere 
mit  Azeton-  und  Azetessigsäure  (Fall  III,  IV  und  Vf II),  zwei 
mittelschwere  (Fall  II  und  IX)  und  vier  ziemlich  leichten 
Grades  (Fall  1,  V,  All  und  IX),  reagieren  vier  auf  eine 
Adrenalininjeklion  mit  Ausscheidung  von  Zucker  von  0-98  g 


Nr.  24 


WIENER  KLINISCHE  WOCHEN SCHRIET,  mi. 


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bis  11-28  g.  Vier  andere  (Fall  I,  IV,  VI  und  VJII)  Reagierten 
unter  denselben  Verhältnissen  überhaupt  nicht.  Ein  Fall 
endlich  (Fall  11)  schied  zwar  unmittelbar  nach  der  Injektion 
keinen  Zucker  aus,  jedoch  wies  der  Urin  acht  Stunden  später 
und  sogar  noch  am  nächsten  Tage  23-9  g  Zucker  auf  und 
zwar  bei  einer  Diät,  bei  welcher  vor  der  Injektion  Zucker 
nicht  aulgetreten  ist.  Dieselbe  Verschlimmerung  der  Toleranz 
liir  Kohlehydrate  — -  obwohl  dieser  Ausdruck  hier  nicht 
ganz  am  I  latze  ist,  da  die  Kranken  keine  Kohlehydrate 
bekamen  —  respektive  eine  leichtere  Umbildung  des  Eiweiß- 
moleküls  in  Zucker,  sehen  wir  auch  im  Falle  VII  (A.  Ma.) 
und  zwar  in  deutlicherer  Abhängigkeit  von  der  Adrenalin- 
injektion.  In  der  Zeit  nämlich  (nach  sechs  Stunden),  nach 
welcher  die  glykosurische  Wirkung  des  Adrenalins  aufzu¬ 
hören  pflegt,  tritt  der  Zucker  im  Urin  auf  und  behauptet 
sich  ca.  36  Stunden. 

Eine  ähnliche,  in  diesem  Falle  aber  wirkliche  Ver¬ 
schlimmerung  der  Toleranz  für  Kohlehydrate  sehen  wo¬ 
bei  zwei  Graviden  (67  und  68);  am  nächsten  Tage  nach 
dei  Adrenhlininjektion,  als  die  Zuckerausscheidung  bereits 
beendet  war,  scheiden  beide  Gravide  noch  Zucker  aus 
(5-9  und  5  0  g)  und  zwar  solche  Gravide,  welche  trotz  der 
gemischten  Kost  vor  der  Injektion  keinen  Zucker  aus¬ 
schieden. 

Ich  würde  diesen  Fällen  keine  besondere  Aufmerksam¬ 
keit  schenken  —  da  die  Graviden  oft  ohne  sichtbare  Ur¬ 
sache  ,, spontan  Zucker  ausischeiden  — -  wenn  nicht  die 
vorerwähnten  Fälle  von  Diabetes  wären,  in  welchen  die 
„verspätete  Reaktion  sehr  rein  zum  Vorschein  kommt. 

* 

Aus  den  bisherigen  Untersuchungen  ergibt  sich  also: 

1.  Adrenalin  bewirkt  das  Auftreten  von  Zucker  im 
Urin  bei  einer  gewissen  Anzahl  von  Graviden  u.  zw.  nur 
bei  solchen,  welche  nach  Verabreichung  von  Traubenzucker 
alimentäre  Glykosurie  aufweisen.  Der  Zucker  tritt  auf,  sogar 
wenn  kein  entsprechendes  Material  (Zucker,  Stärke  usw.) 
verabreicht  wird. 

2.  Aehnlich  verhallen  sich  auch  gewisse  Fälle  von 

Diabetes. 

3.  Ebenso  manche  schwere,  funktionelle  Neurosen. 

4.  Lieberhaupt  wirkt  das  Adrenalin  bei  Erkrankungen 
des  Nervensystems  unvergleichlich  stärker  gl ykosu risch, 
als  bei  anderen  Erkrankungen,  bei  welchen  es,  in  den. von 
mir  injizierten  Mengen,  entweder  gar  keinen  sicht  baren,  oder 
einen  nur  sehr  unbedeutenden  Einfluß  ausübt. 

5.  Das  nach  Verabreichung  von  Lävulose  injizierte 
Adrenalin  beeinflußt  im  geringeren  Grade  die  Ausscheidung 
von  Lävulose  als  Dextrose;  im  ersten  Falle  wird  auch 
manchmal  Dextrose  ausgeschieden. 

* 


Bevor  wir  an  die  Erklärung  dieser  Tatsachen  lieran- 
Ireten,  lassen  wir  einige  kurze  Bemerkungen  über  die  Wir¬ 
kung  des  Adrenalins  auf  den  menschlichen  und  tierischen 
Organismus,  speziell  hinsichtlich  des  Auftretens  der  Glykos- 
ure,  vorangehen. 

Die  treffendste  Erklärung  dieser  Tatsachen  linden  wir, 
\\ enn  wir  unseren  Untersuchungen  die  Anschauungen  von 
L  an  gl  e  y  12)  und  seiner  Schule  über  die  Wirkung  des  Adre¬ 
nalins  auf  das  vegetative  Nervensystem  zugrunde  legen. 
Elliot  !)  konnte  nämlich  die  Behauptung  aufstellen,  „das 
drenalin  wirke  immer  gerade  so,  wie  die  Reizung  des 
Sympathikus  wirken  würde.  Man  kann  also  sagen,  daß  die 
eriegende  Wirkung  des  Adrenalins  aus  den  gesamten  Endi¬ 
gungen  der  vegetativen  Fasern  nur  diejenige  n  h  e  r- 
n  u  s  g  r  e  i  1 1,  welche  dem  sympathischen  System 
a  ngehöre  n“.*) 

Diese  sozusagen  elektive  Einwirkung  des  Adrenalins 
auf  die  Endverzweigungen  des  sympathischen  Nerven¬ 
systems  benützten  Eppinger  und  Heß:14)  als  diagnosti¬ 


*)  Zit.  nach  R.  G  o  1 1 1  i  e  b, 
systems  in  M  e,  v  e  r  und  G  o  1 1 1  i 
1910,  S.  123. 


Pharmakologie  des  vegetativen  Nerven- 
eb:  Die  experimentelle  Pharmakologie 


sch  es  Merkmal  für  gewisse  Krankheitszustände,  um  einen 
höheren  Tonus  im  sympathischen  System  nach  zu  weisen, 
un  Gegensatz  zur  Einwirkung  der  Physostigmingruppe  (Pilo¬ 
karpin),  welche  die  Endverzweigungen  des  kranial  -  sakral¬ 
autonomen  Systems  (Vagus,  P^lvikus)  reizt  und  der  Wir- 
kung  des  Atropins,  welches  dieselben  Elemente-  lähmt. 

In  ihren  bisherigen  Untersuchungen  fanden  E  p  p  i  n- 
gei  und  Heß-1  )  keine  Krankheitsfälle  —  abgesehen  von 
manchen  Fällen  von  Morbus  Basedowi,  in  welchem  Leiden, 
wie  es  scheint,  ein  höherer  Tonus  in  beiden  Systemen  zu 
verzeichnen  ist,  dem  autonomen  und  dem  sympathischen 
und  die  eines  näheren  Eingehens  auf  dieses  Thema  harren  — 
m  welchen  sie  einen,  gleichzeitig  in  beiden  Systemen  be¬ 
stehenden,  stärkeren  Tonus  nachweisen  konnten.  Wenn  näm¬ 
lich  die  sogenannten  vagotonischen  Fälle  stärker  auf  vago- 
tonische,  pharmakologische  Agentien  reagieren :  auf  Piio- 
kaipin  (0-01,  resp.  0-0075)  durch  starke  Schweißabsonde¬ 
rung  und  auf  Atropin  (0-001,  resp.  0-00075)  durch  beschleu¬ 
nigten  I  uls  bis  zur  doppelten  Höhe,  so  bestehen  im  Gegen¬ 
sätze  zu  diesen  auch  andere  Fälle,  welche  auch  klinisch 
manchmal  ein  anderes  Bild  ergeben  —  ein  anderes  Ver¬ 
halten  des  Blutes  (Fehlen  der  Eosinophilie)  niedrigere  Salz¬ 
säurewerte  des  Mageninhalts,  länger  anhaltende  Akkomoda¬ 
tionslähmung  nach  Einträufeln  von  Atropin  ins  Auge  usw.  — 
die  stark  auf  Adrenalininjektion  reagieren  u.  ,/w.  durch 
vergrößerte  Urinmenge  und  Glykosurie  über  5  g. 

* 

Vrenn  wir  von  diesem  Standpunkte  aus  unsere  Fälle 
betrachten,  so  wird  sich  der  Unterschied  zwischen  den  ein¬ 
zelnen  Gruppen  —  vorläufig  lassen  wir  die  Fälle  von  Dia¬ 
betes  beiseite  —  deutlich  bemerkbar  machen. 

W  ir  sehen  nämlich  einen  nicht  wegzuleugnenden  Unter¬ 
schied  zwischen  den  „Erkrankungen  des  Nervensystems“ 
und  den  „anderen“  Leiden. 

Ich  will  mich  an  dieser  Stelle  nicht  in  Einzelheiten, 
welche  übrigens  aus  den  Zusammenstellungen  leicht  ersicht¬ 
lich  sind  und  später  bei  erweiterten  Untersuchungen  von 
mir  verwendet  werden  können,  einlassen.  Ich  möchte  nur 
auf  einige  Fälle  von  Magenkrankheiten  hinweisen,  in  welchen 
nach  den  Ergebnissen  der  „pharmakologischen  Funk¬ 
tionsprüfungen“,  wie  sich  Eppinger  und  Heß14)  aus- 
drücken,  zu  schließen  —  einmal  starke  Diurese  und  Glykos- 
urie  nach  Adrenalininjektion,  also  ein  gewisser  Tonus 
S  \  m  p  a  t  h  i  c  i  besteht,  dann  wieder  nach  dem  negativen 
Ergebnis  der  Prüfung  zu  schließen  —  umgekehrt  u.  zw.  bei 
fast  allen  Fällen  von  Magenektasie  infolge  eines  Ulcus  ad 
partem  pyloricam  —  ein  stärkerer  Tonus  vagi;  ein  in 
therapeutischer  Hinsicht  vielleicht  wichtiger  Umstand,  wenn 
wir  die  günstigen  Resultate  der  Behandlung  von  Hyper¬ 
azidität  mit  Atropin  berücksichtigen. 

Im  Einklang  mit  den  Anschauungen  über  die  Patho¬ 
genese  des  Asthma  bronchiale  als  Neurose  der  Endigungen 
des  Lungenvagus,  sehen  wir  in  der  Gruppe  der  „Erkran¬ 
kungen  des  Nervensystems“  als  einzigen  Fall  auf  21 
—  welcher  auf  Adrenalin  nicht  reagierte,  Fall  5ä  —  keine 
Glykosurie  nach  \  erabreichung  von  Traubenzucker  und  einer 
Injektion  von  1  cm3  Adrenalin,  während  des  Anfalles. 

r  Ich  hebe  noch  einmal  hervor,  daß  die  größten  Ziffern 
des  Zuckergehaltes  und  die  stärkste  Allgemeinreaktion  in  der 
Gruppe  „Erkrankungen  des  Nervensystems“,  gewöhnlich  bei 
funktioneller  Neurose  zu  finden  waren. 

Die  Schwangerschaft  u.  zw.  die  normale,  ohne  bedeu¬ 
tende,  pathologische  Begleiterscheinungen,  wie  Salivation, 
Hyperemesis  usw.  —  solche  Fälle  wurden  zu  den  Unter¬ 
suchungen  nicht  hinzugezogen  —  verhält  sich  nach  den 
Adrenalininjeklionen  bei  kohlehydratfreier  Kost,  ähnlich  wie 
Erkrankungen  des  Nervensystems.  In  Hinsicht  auf  die  Menge 
des  ausgeschiedenen  Zuckers  nach  Verabreichung  von 
Zucker  und  Acirena.liniujeklion  bei  kohlehydratfreier  Kost, 
ergeben  sich  bei  der  Gravidität  durchschnittlich  etwas  nie- 
diigere  Ziffern  als  bei  den  Nervenkrankheiten,  bedeutend 
unterscheidet  sie  sich  jedoch  in  dieser  Hinsicht  von  der 
Gruppe  „andere  Leiden“. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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Ich  glaube,  daß,  es  sich  aus  unseren  bisherigen 
Darstellungen,  aus  dem  Einblick  in  die  Tabellen  und  aus 
dem  Vergleich,  zum  Beispiel  der  Fälle  mit  schweren  Erkran¬ 
kungen  des  Nervensystems  (42,  43  usw.),  abgesehen  schon 
von  dem  ganz  anderen  vV erhalten  der  Graviden  in  ^Hinsicht 
auf  die  alimentäre  Glykosurie,  zur  Genüge  ergibt,  daß  .dieser 
hier  notierte  Zustand  weder  bei  den  Männern,  noch  bei  den 
nichtgraviden  Frauen,  als  normal  angesehen  werden  kann. 

Wenn  die  nach  Adrenalininjektion  auftretenden  Sym¬ 
ptome  infolge  Reizung  der  Endausbreitungen  des  sympathi¬ 
schen  Nervensystems  entstanden  sind,  respektive  wenn  im 
Hinblick  auf  die  kleine  Dosis  des  Adrenalins  und  vdie  starke 
Reaktion,  von  einem  stärkeren  Tonus  in  diesem  System 
gesprochen  werden  kann,  so  befindet  sich  die  Gravide 
im  Zustand  eines  größeren  Sympathikotonus,  als 
irgendeine  andere  —  von  den  in  dieser  Richtung  -unter¬ 
suchten  Kranken  —  mit  Ausnahme  gewisser  Fälle  von  Hy¬ 
sterie.  Sie  scheidet  nämlich  sogar  bei  kohlehydratfreier  Kost 
nach  einer  Adrenalininjektion  Zucker  aus,  ohne  daß  Zucker 
verabreicht  gewesen  wäre. 

Dieser  im  Urin  auftretende  Zucker  ist  nicht  als  Folge 
der  stärkeren  Produktion  des  Milchzuckers  und  seiner  Aus¬ 
schwemmung  aus  den  Milchdrüsen  -  infolge  des  injizierten 
Adrenalins  —  zu  beobachten.  Wir  beobachteten  nämlich 
das  Auftreten  von  Zucker  nur  nach  einer  Adrenalin¬ 
injektion  in  einem  Falle  von  schwerer  Hysterie  (44)  und 
Magenneurose  (30),  welche  so  lange  unter  klinischer  Beob¬ 
achtung  standen,  daß  Gravidität  mit  Sicherheit  aus¬ 
geschlossen  werden  konnte  und  außerdem  wurde  Dextrose, 
nicht  Laktose,  ausgeschieden.  Möglich,  daß  die  von  Schi- 
rokauer16)  bei  trächtigen  Meerschweinchen  beobachtete 
Vergrößerung  der  Diastasemenge  zur  leichteren  Mobilisie¬ 
rung  des  Glykogens,  zur  Hyperglykämie  und  in  weiterer 
Folge  zur  Glykosurie  führt. 

Tatsache  bleibt  es,  daß  auf  40  untersuchte  Gravide 
15  nach  Dextrose  alimentäre  Glykosurie  ergaben,  9  und 
zwar  nur  solche,  bei  denen  gleichzeitig  alimentäre  Glykos- 
urie  auftrat,  schieden  nach  einer  Adrenalininjektion  Zucker 
aus,  bei  kohlehydratfreier  Diät,  bei  welcher  auf  53  Kranke 
nur  zwei  Frauen  (30  und  44),  auf  29,  Zucker  auf  Adre¬ 
nalin  ausschieden  und  auf  28  Gravide,  welche  gleichzeitig 
Traubenzucker  und  Adrenalin  erhielten,  schieden  nur  7-1  °/o 
keinen  Zucker  aus,  57-2%  Mengen  bis  über  5  g  und  eine 
Gravide  sogar  25  g  im  Laufe  von  vier  Stunden. 

Die  bei  denselben  Graviden  auftretende  alimentäre  und 
Adrenalinglykosurie  weisen  zumindest  in  einer  gewissen 
Anzahl  von  Fällen  darauf  hin,  daß  in  der  -Schwangerschaft 
keine  Hypofunktiön  des  chromaffinen  Systems  besteht,  wenn 
nicht  schon  diese  Beobachtungen  für  eine  —  während  der 
Gravidität  noch  nicht  nachgewiesene  Hyperfunktion  sprechen 
können.*)  Die  Reaktion  von  Meltzer-Ehrmann  genügt 
nicht,  um  Hyperadrenalinämie  während  der  Gravidität  nach- 
zuweisen,  wovon  ich  mich  schon  früher  an  zwölf  Fällen 
überzeugen  konnte. 

Um  das  häufige  Auftreten  von  Adrenalinglykosurie  bei 
Graviden  zu  erklären,  sind  wir  übrigens  nicht  gezwungen, 
auf  die  Hypothese  einer  Hyperfunktion  des  chromaffinen 
Systems  zurückzugreifen,  es  genügt,  wenn  wir  annehmen, 
daß  bei  sonst  normaler  Sekretion  der  Nebennieren,  das 
Sekret  der  —  während  der  Gravidität  vergrößerten  — -Schild¬ 
drüse  auf  das  sympathische  System  als  Stimulans  wirke. 

Eppinger,  Falt  a  und  R  tiding  er17)  sahen  näm¬ 
lich  das  Verschwinden  der  experimentellen  Adrepalinglykos- 
urie  nach  Exstirpation  der  Schilddrüse. 

Damit  sich  also  der  Einfluß  des  injizierten  Adrenalins 
geltend  mache,  müssen  wir  nicht  nur  normale  Nebennieren 

*)  Für  eine  solche,  vielleicht  nur  relative  Hyperfunktion  der 
Nebennieren  während  der  Gravidität,  welche  nach  der  Entbindung  ver¬ 
schwindet,  spricht  der  Fall  von  Po  llak8),  in  welchem  eine,  Symptome 
von  Morb.  Addisoni  aufweisende  Kranke,  Zucker  nach  einer  Injektion 
von  1  mg  Adrenalin  ausschied.  Einige  Wochen  nach  der  Entbindung 
trat  er  nicht  einmal  nach  2  mg  Adrenalin  auf.  Ich  erfuhr  von  dieser 
Beobachtung  als  meine  Arbeit  nahezu  beendigt  war. 


voraussetzen,  sondern  auch  eine  normale,  respektive  stärker 
sezernierende  Schilddrüse.  Diese  Annahme  wird  durch 
die  Kranke  28  bestätigt,  welche  nach  Verabreichung  von 
100  g  Dextrose  und  einer  Adrenalininjektion,  keinen  Zucker 
ausschied.  Bei  dieser  Kranken  nämlich  ergab  die  Obduk¬ 
tion  —  außer  anderen  Veränderungen  —  eine  bedeutende 
Hypertrophie  der  Nebennieren  bei  Atrophie  der  Schilddrüse. 
Bei  dem  Kranken  17  isahen  wir  ausgedehnte  Pigmentationem 
der  Schleimhaut  der  Mundhöhle,  wie  bei  Morbus  Addisoni 
—  sonst  fehlten  jede  weiteren  Symptome,  welche  diese 
Diagnose  bestätigen  könnten,  besonders  fehlten  alle  An¬ 
zeichen  einer  allgemeinen  Asthenie  —  und  die  Schilddrüse 
war  stark  bindegewebig  entartet.  Auch  in  diesem  Falle 
hatten  wir  eine  negative  Adrenalinreaktion.  Wenn  wir  diese 
Beobachtungen  berücksichtigen  werden,  wie  auch  die  häu¬ 
fige  Hypertrophie  der  Schilddrüse  während  der  Gravidität! 
und  die,  auf  ihre  Hyperfunktion  —  in  diesem  (Zustande  — j 
hinweisenden  Symptome,  dann  werden  wir  die  Erklärung 
für  die  alimentäre  und  die  Adrenalinglykosurie  während  der 
Gravidität  finden.  *r 

Die  „spontane“  und  alimentäre  Glykosurie  während 
der  Gravidität  ist  —  unserer  Ansicht  nach  —  nur  mittelbar 
bewirkt  durch  eine  Disposition  zu  „Nervenleiden“,  wie' 
H  i  r  s  c  h  f  e  1  d l8)  glaubt.  Sie  hängen  von  dem  Zustand  der 
Organe  mit  innerer  Sekretion  ab,  welche  während  der  Gra¬ 
vid  i  täl  solchen  Veränderungen  unterliegen,  daß  der  „ner-j 
vöse“  Einfluß  auf  dem  Wege  des  sympathischen  Systems 
sich  offenbaren  kann.  Derselbe  nervöse  Einfluß  besteht  ver¬ 
mutlich  bei  Glykosurie  der  Frauen  mit  Uterusfibromen.  Fs 
genügt,  wenn  ich  auf  die  Veränderungen  in  der  Schilddrüse 
und  im  Herzen  bei  diesem  Leiden  hinweise. 

Wenn  wir  das  Auftreten  von  Adrenalinglykosurie  wäh¬ 
rend  der  Gravidität  auf  die  Hemmung  der  inneren  Sekretion 
des  Pankreas  infolge  der  Adrenalininjektion  beziehen  wollten, 
so  würde  das,  speziell  in  Hinsicht  auf  die  Gravidität,  ein 
Außerachtlassen  der  klinischen  Symptome  bedeuten. 

Die  Loewi  sehe19)  Reaktion:  Erweiterung  der  Pu¬ 
pillen  nach  Adrenalininstillation,  welche  auf  eine  Hypofunk- 
lion  des  Pankreas  schließen  ließe,  fiel  bei  ca.  20  Graviden 
negativ  aus. 

Die  Darreichung  der  Sahli  sehen  Glutoidkapseln, 
zur  Prüfung  der  Funktion  des  Pankreas,  wie  auch  die  quanti¬ 
tative  Bestimmung  der  Diastase  im  Stuhl,  nach  der  Methode 
von  Wohlgemuth,20)  welche  Versuche  wir  —  in  einigen 
Fällen  von  Gravidität  —  zusammen  mit  Roll.  N.  Schneider 
anstellten,  ergaben  gleichfalls  keine  eindeutigen  Resultate. 
Wir  könnten  aber  auch  die  gleichlautenden  Ergebnisse  nicht 
zu  unseren  Zwecken  verwenden,  da  sowohl  die  Glutoid- 
methode,  wie  die  quantitative  Bestimmung  der  Diastase  nur 
auf  die  äußere  Sekretion  des  Pankreas  Bezug  haben  können, 
über  die  innere  jedoch  keinen  Aufschluß  geben. 

* 

Unsere  neun  Fälle  von  Diabetes,  welche  verschieden 
auf  Adrenalin  reagierten,  wiesen  nicht  alle  klinische  Unter¬ 
schiede  auf,  welche  eine  Erklärung  dieser  Verschiedenheit 
der  Reaktion  auf  Adrenalin  ergeben  würden.  Die  Loewi- 
sche  Reaktion  klärte  diesen  Unterschied  nicht  auf  und  auch 
sonst  ergab  weder  die  Anamnese  noch  die  klinische  Beob¬ 
achtung  irgendwelche  Anhaltspunkte  für  die  Annahme  eines 
gewissen  ätiologischen  Momentes  in  dem  gegebenen  Falle 
von  Diabetes.  Gestützt  auf  die  bisherigen  Ausführungen, 
könnten  wir  eben  das  Verhalten  des  Diabetes  gegenüber 
dem  Adrenalin  in  verschiedenen  Fällen  benützen,  um  eine 
ätiologische  Einteilung  zu  schaffen. 

Das  bescheidene  Material  und  die  Kürze  der  Beobach 
tungsdauer  lassen  ein  endgültiges  Urteil  in  dieser  Angelegen¬ 
heit  nicht  zu.  Aus  einer  in  der  Arbeit  von  Eppinger  und 
Heß8)  (S.  351)  enthaltenen  Bemerkung,  ersehen  wir,  daß 
auch  anderen  Autoren  die  Tatsache,  daß  nur  einige  Fälle 
von  Diabetes  auf  Adrenalin  reagieren,  bekannt  war,  sie 
hielten  sich  jedoch  bei  dieser  Tatsache  nicht  weiter  auf. 
In  Hinsicht  jedoch  auf  die  glykosurischen  Eigenschaften  des 
Adrenalins  und  seine  Bedeutung  als  syinpathikotonisches 


F 


Nr.  24- 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


869 


Mittel,  können  fünf  der  von  uns  beobachteten  Fälle  (11,  ITI, 
V,  VII  und  IX),  s  y  m  p  a  t  b  i  k  o  1  o  n  i  s  c  h,  vier  andere  (I,  IV, 
\l  und  VIII)  in  Anbetracht  des  Antagonismus  zwischen  dem 
sympathischen  und  dem  autonomen  System,  als  vag o  to¬ 
il  i  s  c  h  bezeichnet  werden. 

Der  sympathikotonische  Reiz  könnte  auf  dem  ganzen 
Wege  einwirken  u.  zw.  von  dem  den  Zuckersto  ff  Wechsel 
regulierenden,  im  verlängerten  Mark  gelagerten  Zentrum 
(Claude  Berna  r  d)  durch  Vermittlung  des  Grenzstranges, 
den  linken  Nervus  splanchnicus  (Nishi21)  und  die  Neben 
nieren  his  zur  Leber,  der  vagotonisehe  Reiz  über  den  Nervus 
vagus  bis  zum  Pankreas.  Der  auf  Adrenalin  nicht  reagie¬ 
rende  Diabetes  wird  also  vermutlich  entweder  durch  -eine 
Schwächung  oder  Funktionslähmung,  oder  auch  durch  ana¬ 
tomische  Veränderungen  des  Pankreas  bewirkt,  während 
der  sympathikotonische  Diabetes  auf  eine  Hyperfunktion 
der  Nebennieren,  respektive  der  Schilddrüse,  oder  auch  der 
Hypophyse,  schließen  ließe. 

Eine  Einteilung  der  Diabetesfälle  nach  diesen  Gesichts¬ 
punkten  —  wenn  wir  uns  überhaupt  schon  jetzt  an  eine 
Erklärung  und  Beleuchtung  des  Unterschiedes 
zwischen  der  einen  und  der  anderen  Gruppe  der  Diabetiker 
heranwagen  können  —  erscheint  mir  richtiger  zu  sein  als 
die  Annahme,  daß  gerade  umgekehrt  die  Fälle  von  Diabetes 
.  —  in  denen  Zucker  nach  einer  Adrenalininjektion  erscheint 
—  als  Pankreasdiabetes  zu  betrachten  wären. 

Erstens  besitzen  wir  nämlich  in  der  Gravidität,  welche 
sich  hinsichtlich  des  Adrenalins  ähnlich  wie  Diabeles  ver¬ 
hält,  keine  für  eine  Hypofunklion  des  Pankreas  sprechen¬ 
den  Symptome,  hingegen  weist  eine  ganze  Reihe  von  Er¬ 
scheinungen  auf  Hyperthyreoidismus  hin,  zweitens  wären 
große  Adrenalinmengen  vonnöten,  um  nach  einer  Injektion 
auf  die  Sekretion  des  Pankreas  hemmend  zu  wirken  und 
leichtere  Zuckerausscheidung  zu  bewirken,  während  wir 
höchstens  bis  zu  1  mg  Adrenalin  subkutan  applizierten. 

Weniger  detailliert  äußert  sich  Falta22)  über  dieses 

Thema  in  einer  seiner  Abhandlungen  :  ,,Es  läßt  sich _ 

jede  diabetischle  S  tk)  ff  w  e  c’h  s  el  s  tö  r  u  ng  defi¬ 
nieren  als  ein  Ueberwiegen  sympathis  c  h  e  r 
Impulse  über  die  a  u  to  n  omen.  Liegt  die  Ur¬ 
sache  hiefür  mehr  in  einer  Insuffizienz  des 
Pankreas,  so  können  wir  von  einem  pankre- 
atogenen,  liegt  sie  mehr  in  einer  Ueberfunk- 
t  i  o  n  des  zirkulären  Systems,  so  können  wir  v  o  n 
einem  adrenalinogenen  Diabetes  sprechen.“ 

Für  die  Therapie  des  Diabetes  dürfte  in  Zukunft  ein 
gewisser  Nutzen  aus  diesen  Beobachtungen  erwachsen.  Es 
wäre  nicht  ohne  Belang,  wenn  es  gelingen  sollte,  jene  Sub¬ 
stanz  aufzudecken,  welche  elektiv  hemmend  auf  jenen  Teil 
des  sympathischen  Systems  einwirkt,  das  heißt  auf  die  End¬ 
verzweigungen  des  sympathischen  Systems,  analog  zu  der 
paralysierenden  Wirkung  des  Atropins  auf  die  Endverzwei¬ 
gungen  des  autonomen  Systems. 

Eine  solche  Substanz  wäre  angeblich  Cholin,  jedoch 
sind  die  Anschauungen  über  seine  physiologischen  Eigen¬ 
schaften  noch  nicht  endgültig  -geklärt,  da  nicht  alle  Autoren 
mit  unzersetztem  und  reinem  Cholin  experimentierten,  wie 
Modrako  wski23)  und  dann  wirkt  es  zu  stark  toxisch, 
als  daß  es  in  der  Therapie  angewendet  werden  könnte. 

Die  von  S  tu  d  z  i  n  s  k  i  24)  aus  den  Nebennieren  iso¬ 
lierte,  den  Blutdruck  erniedrigende,  hinsichtlich  ihrer  Wir¬ 
kung  mit  dem  P  o  p  i  e  1  s  k  i  s  c  h  e  n  V  a  s  o  d  i  1  a  t  i  n  25)  26) 
identische  Substanz  lenkt  unsere  besondere  Aufmerksamkeit 
auf  sich,  speziell  hinsichtlich  ihrer  eventuellen  Hemmungs¬ 
fähigkeit  der  Adrenalinglykosurie.  Um  so  mehr,  weil 
eine  ganze  Reihe  von  die  Adrenalinglykosurie  hemmenden 
Faktoren,  als  welche  Biedl  und  Offer27)  Duktnslymphe 
und  Hirudin,  Gautrelet  und  Thomas28)  Blutserum, 
Zuelzer29)  Pankreasextrakt  usw.  bezeichnen,  mil  dem 
Vasodilalin  manche  gemeinsamen  Eigenschaften  besitzen.*) 

*)  Aus  äußeren  Gründen  wurde  die  Veröffentlichung  dieser 
Arbeit  verzögert.  Weitere  Fälle  von  Diabetes,  die  ich  inzwischen  nach 
meinem  Vortrage  in  der  Lemberger  med.  Gesellschaft  am  21.  Oktober  1910 


Literatur: 

.  .')  Blum,  lieber  Nebennierendiabetes.  Deutsches  Archiv  für  klin. 
Medizin  1901,  Bd.  71.  —  a)  Pollak,  Experimentelle  Studien  über 
Adrenahndiabetes.  Archiv  für  exper.  Path,  und  Pharm.  1909,  Bd.  61. 
8.  166.  —  3)  E  p  p  i  n  g  e  r,  Falta  und  Rudinger,  lieber  die  Wechsel¬ 
wirkung  der  Drüsen  mit  innerer  Sekretion.  (II.  Mitteilung.)  Zeitschr.  für 
u  f11'  ^efßzin  1909,  Bd.  67,  S.  380.  -  4)  Borges,  lieber  Hypoglykämie 

bei  Morbus  Addisoni  usw.  Zeitschr.  für  klin.  Medizin,  Bd.  69,  S.  340: 
Zur  Pathologie  des  Morbus  Addisoni.  Zeitschr.  für  klin.  Medizin,  Bd.  70, 
‘ ?,43'  I’’  ' S)j-  Noorden,  Handbuch  der  Pathologie  des  Stoffwechsels 
-g  Aufl.,  S.  43.  —  8)  Pollak,  Untersuchungen  bei  Morbus 
Addisoni.  Wiener  med.  Wochenschr.  1910,  S.  866.  —  7)  D.  No  öl-Pathon, 
Ihe  influence  of  adrenalin  and  thyroid  extraxt  on  the  metabolism  in 
diabetes  mellitus.  Scott.  Med.  and  Surg.  Journ.,  Dez.  1904.  (Zitiert  nach 
,  O'  baemat.,  Bd.  2,  S.  206.)  —  *)  Ep  ping  er  und  Heß,  Zur  Pathologie 


des  vegetativen  Nervensystems.  (I.  Mitteilung.)  Zeitschr. 

1909,  Bd.67,  S.345.  —  9)  Reichenstein,  Glykosurie 
schaff.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1909,  Nr.  42.  -  I0) 

nieren  und  Osteomalazie.  Zeniralbl.  für  Gynäkol.  1907, 
u)  Hofmeister,  Ueber  Resorption  und  Assimilation' 

Lieber  Hungerdiabetes.  Archiv  für  exper.  Path,  und  Pharm.  1890,  Bd.  26, 
S.  355.  I2)  Langley,  Das  sympathische  und  verwandte  nervöse 

System  dei  Wirbeltiere,  (autonomes  nervöses  System.)  Ergebnisse  der 
Physiologie  von  Asher-Spjro  1903,  II.  Jahrg.,  2.  Abt.,  S.  818.  --  l8)  Elliott, 


für  klin.  Medizin 
und  Schwanger- 
B  o  s  s  i,  Neben- 
Nr.  3  u.  4.  — 
der  Nährstoffe. 


Journ.  of  Physiol.  1905,  Bd.  32. 


4)  u.  I5)  Eppinger  und  Heß,  Zur 


Pathologie  des  vegetativen  Nervensystems.  (IF  Mitteilung.)  Zeitschr.  für 
kün.  Medizin  1909,  Bd.  68,  S.  205;  Zur  Pathologie  des  vegetativen  Nerven¬ 
systems.  (III.  Mitteilung.)  Zeitschr.  für  klin.  Medizin  1909,  Bd.  68,  S.  231. 

I6)  Schi  r  ok  au  er,  Das  Verhalten  des  diätetischen  und  antitrypti- 
schen  Fermentes  in  der  Schwangerschaft.  Archiv  für  Gyn.  1910,  Bd.'  91, 
S.  143.  —  ,r)  Eppinger,  Falta  und  Rudinger,  Ueber  die 

Wechselwirkung  der  Drüsen  mit  innerer  Sekretion.  (I.  Mitteilung.)  Zeitschr. 
lür  klin.  Medizin,  Bd.  66,  S.  1.  —  ls)  Hirschfeld,  Schwangerschaft 
und  Zuckerkrankheit.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1910,  S.  1056.  — 
19)  Loewi,  Ueber  eine  neue  Funktion  des  Pankreas  und  ihre  Be¬ 
ziehung  zum  Diabetes  mellitus.  Archiv  für  exper.  Path,  und  Pharm.  1908, 
Bd.  59,  S.  83.  —  20)  Wohlgemuth,  Beitrag  zur  funktionellen  Diagno¬ 
stik  des  Pankreas.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1910,  S.  92.  —  21)  Nishi, 
Ueber  den  Mechanismus  der  Diuretinglykosurie.  Archiv  für  exper.  Path' 
und  Pharm.  1909,  Bd.  61,  S.  401.  —  J2)  Falta,  Ueber  die  Bedeutung 
der  Blutdrüsen  in  der  Pathogenese  des  Diabetes.  Prager  med.  Wochenschr. 
1910,  Nr.  7.  —  23)  Modrakowski,  Ueber  die  physiologische  Wirkung 
des  Cholins.  Pflügers  Archiv  1908,  Bd.  124,  S.  601.  — '  24)  Studzinski, 
Zur  physiologischen  Wirkung  des  Nebennierenextraktes.  Lwowski’ 
Tygodnik  lekarski  1910,  Nr.  18  bis  21.  (Polnisch.)  2ä)  u. 28)  P  o  p  i  e  1  s  k  i. 
Ueber  die  physiologischen  und  chemischen  Eigenschaften  des  Peptons 
Witte.  Pflügers  Archiv  1909,  Bd.  126,  S.  483;  Ueber  die  physiologische 
Wirkung  von  Extrakten  aus  sämtlichen  Teilen  des  Verdauungskanals  usw. 
Pflügers  Archiv  1909,  Bd.  128,  S.  191.  2?)  Biedl  und  Offer,  Ueber 

Beziehungen  der  Duktuslymphe  zum  Zuckerhaushalt.  Wiener  klin. 
Wochenschr.  1907.  —  *8)  Gautrelet  et  Thomas,  Le  serum  nor¬ 
mal  neutralise  lä  glycosurie  adrenalique.  Revue  de  la  Sociöte  de  Biol., 
Bd.  60,  S  438.  (Zit.  Fol.  serolog  1909,  Bd.  3,  S.  75.).  29)  Zuelzer, 

Ueber  Versuche  einer  spezifischen  Fermenttherapie  des  Diabetes.  Zeit¬ 
schrift  für  exper.  Path,  und  Ther.,  Bd.  5,  S.  305. 


Diskussion. 

Uchtschädigungen  der  Haut  und  Lichtsehutz- 

mittel. 

Bemerkungen  zu  dem  Artikel  des  Herrn  Priv.-Doz.  Dr.  L  Freund  in 
Nr.  19  dieser  Wochenschrift. 

Von  Prof.  Dr.  C.  Maniiich,  Berlin. 

lu  Nr.  19  dieser  Wochenschrift  hat  Freund,  verschiedene 
Lichtschulzmittel  einer  vergleichenden  Untersuchung  unterzogen, 
insbesondere  Vaselin,  Lanolin,  Karamel  und  auch  die  von  mir 
angegebenen  und  von  Prof.  Unna- Hamburg  empfohlenen  Zeo- 
z on- Präparate;  als  neues  Lichtschutzmittel  führt  er  Aeskulin- 
Glyze-rin  (mit  2  bis  4%  Aeskulingehalt)  ein.  Freund  kommt 
zu  dem  Schlüsse,  daß  Vaselin,  Lanolin  und  Karamel  nur  wenig 
wirksam  sein  können  (was  ja  auch  praktisch  lange  bekannt  ist), 
da  sie  nur  wenig  ultraviolette  Strahlen  absorbieren.  Als  brauchbar 
befunden  werden  dagegen  die  Zeozon- Präparate  und  Aes- 
kulin-Glyzerin;  hierüber  heißt  es:  ,,Die  Schutzwirkung  des 
Aeskulins  übertrifft  sogar  diejenige  des  sonst  ganz  vortrefflichen 
Ultrazeozons  ganz  merklich.“. 

Hiezu  seien  einige  Bemerkungen  gestattet. 

Daß  Aeskulin  ein  ganz  ausgezeichnetes  Absorptionsmittel 
für  ultraviolette  Strahlen  darstellt,  ist  längst  bekannt.  Trotzdem 


untersucht  habe,  wie  auch  die  mittlerweile  erschienenen  Publikationen, 
hauptsächlich  zwei  wichtige,  dasselbe  Thema  behandelnde  Arbeiten  von 
Falta,  Newburgh  und  Nobel  (Zeitschr.  für  klin.  Medizin  1911, 
Bd.  72,  H.  1  u.  2)  und  Cristofoletti  (Gynäkologische  Rundschau  1911, 
H.  4  u.  5)  wurden  nicht  mehr  berücksichtigt. 


870 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  4911. 


Nr.  24 


kann  es  für  eine  praktische  Verwendung,  an  die  ich  natürlich 
auch  gedacht  habe,  nicht  ernsthaft  in  Frage  kommen.  Zunächst 
ist  das  Mittel  zu  teuer  (l  g  in  der  Rezeptur  etwa  1  M.  50  Pf.). 
Ferner  ist.  das  Aeskulin  für  den  vorliegenden  Zweck  zu  wenig 
löslich;  diese  Schwierigkeit  glaubt  Freund  allerdings  dadurch 
überwunden  zu  haben,  daß  er  das  Präparat  in  ein  kolloidales 
Milieu  (Unguentum  Glycerini)  einbettet.  Allein  ich  habe  mich 
mit  Hilfe  des  Mikroskops  überzeugt,  daß  das  Aeskulin  auch  aus 
der  3% igen  Glyzerinsalbe  binnen  drei  Tagen  reichlich  aus¬ 
kristallisiert,  wodurch  natürlich  die  Schutzwirkung  bedeutend 
sinkt.  —  Gerade  weil  weder  das  Aeskulin  -  aus  den  eben  an¬ 
geführten  Gründen  -  noch  das  von  Freund  ebenfalls  genannte 
Chinin  —  über  das  sieh  bereits  Unna  geäußert  hat  —  sich 
zur  Darstellung  von  medizinisch,  bzw.  kosmetisch  wirklich  taug¬ 
lichen  Lichtfiltern  eignen,  hatte  ich  mich  bemüht,  in  den  Zeozon- 
Präparaten  etwas  Brauchbares  zu  schaffen. 

Freund  hat  seine  Versuche  durch  ausgezeichnete  Photogra¬ 
phien  der  Absorptionsspektren  belegt  und  dadurch  eine  objektive 
Grundlage  für  die  Beurteilung  geschaffen.  Aus  den  Abbildungen 
('(■gibt  sich,  daß  das  Ultraviolett  von  2°/oigem  Aeskulin  in  0-2 mm 
dicker  Schicht  gut,  von  4 %igem  Aeskulin  und  von  Ultrazeozon  voll¬ 
ständig  absorbiert  wird.  Man  darf  daraus  aber  nicht  folgern,  daß 
4%iges  Aeskulin  und  Ultrazeozon  an  Absorptionsfähigkeit  gleich 
sind.  Das  Ultrazeozion  übertrifft  vielmehr  das  4%ige  Aes¬ 
kulin  an  Absorptionsfähigkeit  ganz  bedeutend,  es  entspricht  etwa 
einem  7  bis  8% igen  Aeskulin  ;  das  Zeozon  einem  3%igen.  Es  ist 
zu  bedauern,  daß  das  Ultrazeozon  von  Freund  nicht  einer 
schärferen  spektralanalytischen  l'ntersuchung  unterworfen  worden 
ist.  Beiläufig  sei  bemerkt,  daß  bei  genügender  Verdünnung  die 
Zeozon  -  Präparate  zwischen  X  300  bis  250  bb  dieselbe  Lücke 
im  Absorptionsspektrum  aufweisen,  wie  das  Aeskulin.  Ueber- 
haupt  sind  die  Spektren  des  Aeskulins  und  des  Zeozons  sehr 
ähnlich.  Eine  spätere  Veröffentlichung  der  Spektrogramme  des 
Zeozons  und  verwandter  Körper  behalte  ich  mir  vor. 

Wenn  somit  das  Ultrazeozon  bei  der  objektiven  Prüfung 
durch  den  Spektralapparat  ein  4%iges  Aeskulin-Glyzerin  an  Ab¬ 
sorptionsfähigkeit  für  ultraviolette  Strahlen  übertrifft,  so  ist  nicht 
verständlich,  daß  das  Ultrazeozon  bei  der  physiologischen  Prüfung 
—  gleiche  Dosierung  vorausgesetzt  —  weniger  leisten 
soll,  als  die  Aeskulinsalbe. 

Da  überdies,  wie  oben  erwähnt,  der  hohe  Preis  und  die 
schwere  Löslichkeit  des  Aeskulins  der  Verwendung  dieses  Prä¬ 
parates  in  weiterem  Umfange  hinderlich  sein  dürfte,  so  liegt 
kein  Grund  vor,  dasselbe  den  von  Unna  warm  empfohlenen 
Zeozon  -  Präparaten  vorzuziehen. 

Nachschrift  bei  d  er  K  o  r  r  e  k  t.  u  r .  Inzwischen  habe  ich 
mich  nochmals  durch  den  Versuch  überzeugt,  daß  die  Zeozon- 
präparate  bei  richtiger  Anwendung  einen  vollständigen  Lichtschutz 
gewähren  und  auch  der  Aeskulinsalbe,  zum  mindesten,  wenn 
sie  14  Tage  alt  ist,  überlegen  sind.  Ich  gebe  den  Versuch  so  an, 
daß  er  leicht  nachzuprüfen  ist:  mit  Hilfe  einer  Schablone  wurden 
an  dem  sehr  weißen  Oberarm  eines  Mannes  drei  Querstreifen 
von  je  18  cm2  Fläche  mit  je  0-1  g  (genau  gewogen)  folgender  Prä¬ 
parate  imprägniert;  oben  Ultrazeozon,  in  1cm  Abstand  dar¬ 
unter  30/oige  A  esku  li  n- Gly  zeri  ns  albe  (14  Tage  alt),  wieder 
1  cm,  darunter  Zeozon.  Nach  dem  Verreiben  mit  der  Fingerspitze 
war  vom  Zeozon  nichts  zu  sehen,  die  Aeskulinsalbe  glänzte.  Der 
Arm  wurde  dann  214  Stunden  intensivster  Sonnenstrahlung  (am 
6.  Juni  von  1411  bis  l)  ausgesetzt.  Nach  zwei  Tagen  präsentiert 
sich  der  Arm  krebsrot,  die  mit  den  beiden  Zeozonpräparaten  be¬ 
handelten  Stellen  sind  völlig  weiß,  der  mit  Aeskulinsalbe  im¬ 
prägnierte  Streifen  ist  zwar  gerötet,  läßt  aber  eine  Schutzwirkung 
ebenfalls  deutlich  erkennen. 


Referate. 

Ueber  Psychoanalyse. 

Fünf  Vorlesungen,  gehalten  zur  20jährigen  Gründungsfeier  der  Clark 
University  in  Worcester  Mass.  September  1909. 

Von  Prof.  Signi.  Freud. 

Leipzig  und  Wien  1910,  Franz  Deu  ticke. 

Einem  der  Mehrzahl  nach  nichtärztlichen  Auditorium  .setzt 
Freud  die  Geschichte  der  Entstehung  und  Weiterbildung  seiner 
Psychoanalyse  auseinander. 

* 

Die  Diagnose  der  Nervenkrankheiten. 

Von  Purves  Stewart,  London. 

Nach  der  zweiten  Auflage  ins  Deutsche  übertragen  von  Dr.  Karl  Hein. 
Leipzig  1910,  F.  C.  W.  Vogel. 

Wie  ein  der  deutschen  Ausgabe  vorgedrucktes  Geleitwort 
Prof.  Müllers  besagt,  unterscheidet  sieb  das  vorliegende  Lehr¬ 


buch  vor  anderen  durch  weise  Beschränkung  im  Stoffe  auf 
das  Wesentlichste,  stete  Betonung  der  praktisch  wichtigen  Ge¬ 
sichtspunkte,  durch  Klarheit,  und  Anschaulichkeit,  knappe  und 
originelle  Ausdrucksweise.  Die  schöne  Ausstattung  mit  208  instruk¬ 
tiven  Abbildungen  und  zwei  Tafeln,  der  große,  sehr  gut  lesbare 
Druck  und  der  mäßige  Preis  (10  M.)  werden  diese  Diagnostik 
im  Kreise  der  Studierenden  und  Aerzte  gewiß  beliebt  machen. 

«» 

Die  jugendlichen  Verbrecher  im  gegenwärtigen  und  zu¬ 
künftigen  Strafrecht. 

Von  Prof.  Ernst  Schnitze. 

Wiesbaden  1910,  J.  F.  Bergmann. 

Ein  Vergleich  der  jetzigen  Rechtslage  der  Jugendlichen  mit 
der  durch  den  Vorentwurf  zum  deutschen  Strafgesetz  geschaffenen 
künftigen.  Wiewohl  auf  den  deutschen  Gesetzestext  zugeschnitten, 
gelten  die  Erörterungen  des  Verfassers  in  analoger  Weise  für 
österreichische  Verhältnisse,  wo  ja  namentlich  die  Jugendlichen¬ 
frage  zur  Reform  drängt. 

* 

Leitfaden  der  experimentellen  Psychopathologie. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Adalbert  Gregor. 

Berlin  1910,  S.  Karger. 

16  Vorlesungen,  gehalten  an  der  Universität  Leipzig  und 
dem  Gehirnanatomen  Flechsig  gewidmet,  zuan1  Danke  dafür, 
daß  er  auch  der  experimentellen  Psychopathologie  eine  würdige 
A  rbeitsstätte  einräumte. 

Veirf.  kommt  dem  zunehmenden  Interesse  für  seine  Disziplin 
entgegen,  erklärt  ihre  Notwendigkeit,  ihre  Beziehungen  zur  psy¬ 
chiatrischen  Klinik;  er  führt  die  von  der  experimentellen  Psycho¬ 
pathologie  verwendeten  Hilfsmittel  vor,  bespricht  ihre  Methoden 
und  bringt  deren  wesentlichste  Resultate.  Ueber  den  reichen 
Inhalt  des  Buches  orientieren  die  Schlagworte:  Psychopathologie 
des  Zeitsinnes,  Reaktionsversuche,  Pathologie  der  Auffassung, 
Assoziationsreaktion,  Assoziationsversuche  an  Geisteskranken, 
Untersuchungsmethoden  des  Gedächtnisses,  Pathologie  des  Ge¬ 
dächtnisses,  Psychologie  der  Aussage,  Aussageversuche  an  Geistes¬ 
kranken,  Psychologie  und  Pathologie  der  Aufmerksamkeit,  Unter¬ 
suchungsmethoden  der  Aufmerksamkeit,  experimentelle  Unter- 
.  suchung  der  äußeren  Willenshandlung,  körperliche  Aeußerungen 
psychischer  Zustände,  formale  Verhältnisse  geistiger  Arbeit,  Unter¬ 
suchungsmethoden  der  Intelligenz. 

Das  Tatsachenmaterial  des  Verfassers  entstammt  vielfach 
eigenen  Untersuchungen,  so  daß  in  dem  Werke,  wie  übrigens 
bei  psychologischen  Forschungen  unvermeidlich,  eine  persönliche 
Note  anklingt.  Sie  wird  hier  nicht,  zum  Nachteile,  da  der  Ver¬ 
fasser  überall  als  kritischer  Kopf  sich  bewährt. 

* 

Beiträge  zur  Pathologie  des  Stoffwechsels  bei  Psychosen. 
Dritter  Teil:  Funktionelle  Psychosen. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Kaufmann. 

Jena  1910,  Gustav  Fischer. 

Eine  Weiterführung ;  über  den  Untertitel,  funktionelle  Psy¬ 
chosen,  greift  aber  der  Verfasser  etwas  hinaus. 

In  den  einleitenden  Kapiteln  finden  sich  allgemeine  Betrach¬ 
tungen  über  dieE  dingersche  Auf b rauch s theorie-,  den  Einfluß  des 
Zentralnervensystems  auf  den  Stoffwechsel,  die  vegetativen  Funk¬ 
tionen  der  Großhirnrinde.  Dann  folgt  die  eingehende  Beschrei¬ 
bung  der  Versuchsanordnung,  sowie  der  Arbeitsmethoden  des 
Verfassers.  — -  Er  untersucht  drei  Fälle  von  Angstpsychose.  Das 
hier  wichtigste  Symptom,  die  zuweilen  forcierte  Atmung,  ist  nicht 
immer  psychisch  bedingt  oder  willkürlich  erzeugt,  so  daß  Kauf¬ 
mann  an  eine  Erkrankung  der  Atemzentren  im  Gehirn  denkt.  Er 
untersucht  weiters  drei  akinetische-,  zwei  hyperkinetische 
und  einen  kombinierten  Zustand.  Scheinbarer  Bewegungsluxus 
bei  Hypotonie  kann  sogar  eine  Verminderung  der  normalen  Ver¬ 
brennungsvorgänge  bewirken.  Manche  Resultate  von  Verminde¬ 
rung  des  Gaswechsels1  bei  Akinesen  können  ungezwungen  auf  die 
oberflächliche  Atmung  bezogen,  doch  muß  auch  eine  Herab¬ 
setzung  des  Oxydationsbedarfes  angenommen  werden.  Drei  Fälle 
von  Manie  zeigen  bezüglich  des  N  -  Stoffwechsels  mehr  der  Norm 
j  gleiche  Verhältnisse,  daneben  Hyperoxydation,  starke  Störung  der 
Wasserbilanz,  Temperaturstörungen. 


Nr.  24 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


871 


Ein  eigener  Abschnitt  ist  dem  Salzstoffwechsel  gewidmet 
auf  Grund  von  Untersuchungen  über  CI-,  P-,  Mg-  und  Ca- Aus¬ 
scheidung. 

Resümee:  Auffallende  Schwankungen  der  Ausscheidung 
von  CI  und  P  wären  in  Zusammenhang  zu  bringen  mit  Stö¬ 
rungen  das  Blutdruckes  und  der  Nierentätigkeit,  diese  wiederum 
zentral  oder  durch  intermediäre  Zwischenprodukte  bedingt,  be¬ 
züglich  der  Indikanurie  meint  Verl'.,  daß  die  Darmfäulnistheorie 
bei  Geisteskranken  völlig  versage,  schon  aus  dem  Grunde,  da 
die  Indigozahlen  hier  größer  seien  als  bei  Ileus.  Eine  intestinale 
Autointoxikation  hält  Verf.  überhaupt  für  vollkommen  unbewiesen. 
Seinen  Ausführungen  nach  würde  Indikanurie  in  letzter  Linie 
auf  Freisein  des  Dünndarmes  von  Kohlehydraten,  auf  die  des¬ 
halb  intensivere  Zersetzung  von  Eiweiß  durch  Bakterien  zurück¬ 
zuführen  sein. 

Mit,  Rücksicht  auf  den  Untertitel  wundert  man  sich  nun, 
zu  erfahren,  daß  Kaufmann  vergeblich  versucht  hat,  aus  dem 
Harne  von  Epileptikern  toxische  Basen  zu  gewinnen,  ebenso 
daß  er  in  der  Lumbalflüssigkeit  von  Paralytikern,  Epileptikern 
und  anderen  Geisteskranken  Cholin  vermißt  hat.  Es  folgt  der  Be¬ 
richt  über  Untersuchungen  thermischer  Störungen.  Nach  Kauf¬ 
mann  ist  notwendige  Vorbedingung  zu  einer  normalen  Wärme¬ 
regulierung  intakter  Wasserhaushalt.  Ein  eigener  Abschnitt  ist 
neurogenen  (?)  Stoffwechsel-  und  Organstörungen  gewidmet.  Die 
zahlreichen  Details  und  Behauptungen  des  Verfassers  entziehen 
sich  einem  zusammenhängenden  Referate,  fordern  vielfach  aber 
wieder  zu  einer  Stellungnahme  heraus,  so  wenn  Kaufmann 
die  Albuminurie  der  Alkoholdeliranten  als  eine  physiologische 
Albuminurie  infolge  Muskelarbeit  erklärt. 

Unter  der  Ueberschrift,  ,,Zur  Stoffwechselpathologie  einiger 
Psychosen“,  läßt  Kaufmann  wiederum  Paralyse,  Epilepsie  und 
Alkoholdelirium  aufmarschieren.  Mit  therapeutischen  Aus¬ 
blicken,  wobei  Verf.  sich  als  Verächter  der  gegenwärtigen  Be¬ 
handlungsmethoden,  überhaupt  als  Pessimist  vorstellt,  schließt 
die  großangelegte,  eine  reiche  Fülle  an  Tatsachen  und  Meinungen 
vermittelnde,  aus  der  Hallenser  Klinik  stammende1  Arbeit. 

* 

Etudes  sur  la  paralysie  gönerale  et  sur  tabes;  etiologie  — 
clinique  —  traitement. 

Par  Paul  Spillmami  et  Maurice  Perrin. 

Paris  1910,  A.  P  o  i  n  a  t. 

Zu  dem  Büchlein  hat  Fournier  ein  Vorwort  geschrieben. 
Die  Verfasser  stellen  Betrachtungen  an  über  den  Zusammenhang 
von  Lues  mit  Paralyse  und  Tabes;  sie  teilen  einen  Fäll  von 
Paralyse  mit,  der  eine  luetische  Affektion  gleichzeitig  aufwies 
—  wozu  zu  bemerken,  daß  die  Paralyse  nur  kurz  beobachtet  und 
nur  klinisch  diagnostiziert  erscheint.  Ebenso  einen  Fäll  von  Tabes 
mit  gleichzeitigem  Hautsyphilid.  Die  spezifische  Behandlung  er¬ 
gibt  bei  Paralytikern  in  einer  verschwindenden  Minderzahl  vor¬ 
übergehende  Besserungen,  niemals  einen  Dauererfolg.  Bei  Tabes 
sahen  Verf.  allerdings  Besserungen,  sogar  vereinzelte  Heilungen, 
so  daß  eine  methodische  und  genaue  Quecksilber- Jodbehandlung 
der  Tabiker  empfohlen  werden  kann. 

* 

Die  symptomatischen  Psychosen  im  Gefolge  von  akuten 
Infektionen  und  inneren  Erkrankungen. 

Von  Prof.  K.  Bonliöffer. 

Leipzig  und  Wien  1910,  Franz  D  e  u  t  i  c  k  e. 

Eine  sehr  gute  und  übersichtliche  Durchführung  des  schwie¬ 
rigen  Themas  der  symptomatischen  Geistesstörungen.  Ein  IJeber- 
blick  über  die  einzelnen  Infektionskrankheiten :  Typhus,  Ery¬ 
sipel,  Rheumatismus,  Skarlatina,  Variola,  Malaria,  Cholera  und 
Sepsis  ergibt  Unterschiede  nur  in  der  Richtung,  daß  einzelne 
Erkrankungen  leichter  und  öfter  zu  psychischen  Schädigungen 
führen,  daß  aber  qualitative  Unterschiede  nicht  bestehen.  Eine 
gewisse  Sonderstellung  nehmen  nur  die  Meningitis,  die  Lyssa 
und  die  infektiöse  Chorea  ein.  Man  unterscheidet  aber  zweck¬ 
mäßig  zwei  Krankheitsphasen,  die  Zeit  der  Infektion  und  des 
Infektionsfiebers  einerseits,  die  der  Deferveszenz  anderseits.  Unter 
Beigabe  kurzer  Krankheitsskizzen  werden  Verlauf,  Diagnose  und 
namentlich  die  Differentialdiagnose  der  symptomatischen  Psy¬ 


chosen  besprochen,  wobei  der  katatone  Syinptomenkomplex  als 
Leitsymptom  an  Wert  bedeutend  verliert. 

Ein  zweiter  Abschnitt  ist  den  Psychosen  bei  Allgemein¬ 
erkrankungen  und  Erkrankungen  vegetativer  Organe  gewidmet 
und  behandelt  die  Erschöpfungspsychosen,  Geistesstörungen  bei 
Herzerkrankungen,  Urämie,  Diabetes,  harnsaurer  Diathese,  Base¬ 
dow,  Tetanie,  Myxödem,  gastrointestinalen  Erkrankungen.  Auch 
hier  ergibt  sich  mit  besonderer  Deutlichkeit,  daß  der  Mannig¬ 
faltigkeit  der  Grunderkrankungen  eine  große  Gleichförmigkeit  der 
psychischen  Bilder  gegenübersteht,  so  daß  man  exogene  typische 
Reaktionsformen  annehmen  muß,  die  von  der  spezifischen  Noxe 
sich  verhältnismäßig  unabhängig  zeigen. 

* 

Drei  Abhandlungen  zur  Sexualtheorie. 

Von  Prof.  Sigm.  Freud. 

Zweite  Auflage. 

Leipzig  und  Wien  1910. 

Ein  im  Wesen  unveränderter  Abdruck  der  ersten  Auflage, 
mit  einigen  neuen  Fußnoten.  Die  Freud -Gemeinde  mag  an 
Zahl  wachsen;  außerhalb  dieser  Gläubigen  aber  werden  alle 

extremen  Thesen  des  Meisters  unverändert  abgelehnt  werden. 

* 

Cesare  Lombroso  als  Mensch  und  Forscher. 

Von  Dr.  Hans  Kurella. 

Wiesbaden  1910,  J.  F.  Bergmann. 

Ein  literarisches  Denkmal  für  den  Mann,  der  als  Persönlich¬ 
keit,  als  Forscher  und  als  Reformator  auf  dem  Gebiete  der 
Kriminalogi©  und  Kriminalsoziologie  gewürdigt  wird.  Der  über¬ 
zeugte  Anhänger  Lombrosos,  Kurella,  weist  mit  besonderem 
Nachdruck  darauf  hin,  daß  die  Lehren  der  Kriminalanthropologie 
und  Kriminalpsychologie  gerade  von  den  Gegnern  Lombrosos 
am  wenigsten  gekannt,  meistens  mißverstanden  werden;  sie  stellen 
eine  positive  Weltanschauung  dar:  „Eine  großartige  Totalanschau¬ 
ung  von  der  Notwendigkeit  und  den  kausalen  Zusammenhängen, 
welche  durch  die  Heredität  von  den  nächsten  und  den  entfern¬ 
teisten  Ahnen  her  die  Natur  des  Individuums  beim  Eintritte:  in 
die  Welt  determinieren  und  von  dein  unentrinnbaren  Wirkungen, 
die  das  All  als  Einheit,  als  Ganzes,  wie  in  den  einzelnen  Kräften 
der  organisierten  Materie  und  der  hochorganisierten  Gesellschaft 
auf  das  Individuum  ausübt,  so  daß  es1  handeln  muß,  wie  die 
Angriffsart  dieser  Kräfte  es  erzwingt,  während  es1  doch  zugleich 
glauben  muß,  es  wolle  so  handeln  und  könne  schuldig  werden.“ 
IJe'ber  Lombrosos  spiritistische  Bestrebungen  gleitet  Kurella 
in  einem  Nachwort  hinweg :  „Wir  wollen  uns  mit  der  Geisteswelt 
des  der  Ewigkeit  und  Unendlichkeit  zurückgegebenen  Forschers 
genügen  lassen  und  auf  die  Geisterwelt  verzichten;  wir  über¬ 
lassen  den  Feinden  den  alten,  für  uns  aber  behalten  wir  den 

jungen,  den  ewig  jungen  Lombroso.“ 

* 

Eine  Kindheitserinnerung  des  Leonardo  da  Vinci. 

Von  Prof.  Sigm.  Freud. 

Leipzig  und  Wien  1910. 

Leonardo  berichtet  an  einer  Stelle  seiner  Schriften:  „Es 
scheint,  daß  es  mir  vorher  bestimmt  war,  mich  so  gründlich 
mit  dem  Geier  zu  befassen,  denn  es  komlmt  mir  als  eine  ganz 
frühe  Erinnerung  in  den  Sinn,  als  ich  noch  in  der  Wiege  lag, 
ist  ©in  Geier  zu  mir  herabgekommen,  hat  mir  den  Mund  mit 
seinem  Schwanz  geöffnet  und  viele  Male  mit  diesem  seinem 
Schwanz  gegen  meine  Lippen  gestoßen.“  —  Leonardo  nun  hat 
mancherlei  geschrieben;  es  ist  eigentlich  wunderbar,  daß  ge¬ 
rade  jener  Satz  den  Schöpfer  der  Psychoanalyse  zu  einem  Buche 
begeistert;  denn  er  ist  doch  nicht  schwer  zu  deuten.  Schwanz, 
das  versteht  in  Wien  und  am  Lande  jedes  Kind ;  Ref.  bittet  um 
Verzeihung,  daß  er  noch  mehr  von  den  Gedankengängen  des 
Buches  wiedergibt:  Der  Geier  ist  ein  Vogel,  das  davon  abgeleitete 
Zeitwort  ist  ebenso  verständlich.  Zum  Ueberfluß  noch  das  Be¬ 
nehmen  des  Geiers,  das  je  nach  seiner  Phantasie  jeder  sich 
deuten  mag.  Wozu  also  das  Buch  ?  Aus  ihm  leijnjt  män  L.  da  V in  ci 
nicht  kennen.  Das  scheint  Freud  seihst  zu  empfinden,  darum 
wohl  leuchtet  uns  gleich  eingangs  eine  Wiedergabe  von  Leo¬ 
nardo  da  Vincis  heil.  Anna  selbe! ritt  aus  dem  Louvre  ent¬ 
gegen. 

* 


872 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  24 


Ludwig  Türcks  gesammelte  neurologische  Schriften. 

Herausgegeben  und  eingeletet  von  Prof.  Max  Neuburger. 

Leipzig  und  W  i  e  n  1910,  Franz  D  e  u  t T  c  k  e. 

Ein  Separatabdruck  aus  den  Jahrbüchern  für  Psychiatrie. 
Zu  Ehren  des  100.  Geburtstages  Türcks  sind  hier  in  pietät¬ 
voller  Weise  dessen  neurologische  Schriften  gesaimmelt.  Dazu  hat 
in  der  Verflossenen  Jahressitzung  des  Wiener  psychiatrischen  Ver¬ 
eines  Prof.  Neuburger  eine  schwungvolle  Gedenkrede  gehalten, 
die  der  Würdigung  Türcks  als  Neurologen  dient,  der  Sammlung 
seiner  Schriften  als  Einleitung  vorgedruckt  erscheint.  Man  kann 
unseren  raschlebigen  Zeitgenossen  nicht  genug  empfehlen,  in 
diesem  Bande  zu  blättern,  sie  werden  aus  dem  Erstaunen  nicht 
herauskommen  über  das,  was  Türck  mit  seinen  unzulänglichen 
Methoden,  bei  dem  Mangel  jeder  Vorarbeit,  als  Kliniker,  Mikro- 

skopiker  und  Experimentalforscher  alles  geleistet  hat. 

« 

Die  hereditären  Beziehungen  der  Dementia  praecox. 
Beitrag  zur  Hereditätslehre. 

Von  Primär.  Dr.  Josef  Berze. 

Leipzig  und  W  i  e  n  1 910,  Franz  Deuticke. 

Verf.  stellt  aus  dem  großen  Material  der  niederösterreichi¬ 
schen  Landesanstalten  für  Geisteskranke  Hereditätsgruppen  zu¬ 
sammen,  aber  nur  insoweit,  als  er  für  alle  sie  bildenden  Indivi¬ 
duen  Krankengeschichten  erbringen  kann.  Er  beschränkt  sich 
bei  seinen  Untersuchungen  weiter  auf  die  unmittelbar  direkte 
und  die  unmittelbar  kollaterale  Heredität..  Berze  weist  mit  Recht 
darauf  hin,  daß  statistisch,  wenn  man  nach  der  Psychosen¬ 
belastung  der  Dementia  praecox- Kranken  prüft,  etwas  ganz  anderes 
herauskommt,  als  wenn  man  sich  die  Aszendenz  und  die  Ge¬ 
schwister  dieser  Kranken  auf  ihre  abnormalen  Charakterzüge 
hin  ansieht. 

Bezüglich  der  Zeit  des  Einsetzens  der  Erkrankung  hei  Ge¬ 
schwistern  gibt  es  größere  Differenzen,  wenn  es  sich  um  die 
paranoiden  Formen  handelt;  bei  den  Eltern  pflegt  die  Psychose 
geradezu  in  der  Regel  in  einem  reiferen  Alter  einzusetzen  als 
bei  den  Kindern.  Was  die  Ausgänge  der  Erkrankung  bei  den 
einzelnen  Familienmitgliedern  betrifft,  so  ist  eine  allgemein  gültige 
Regel  nicht  zu  erkennen. 

Die  in  38  Gruppen  eingeordnete’  Kasuistik  illustriert  die 
gleichartige  Heredität,  die  hereditäre  Beziehung  zu  tardiven  De¬ 
menzformen,  zu  Alkoholismus,  wo  Verf.  zum  Schlüsse  kommt,  daß 
nur  die  mit  Dementia  praecox  belasteten  oder  daran  leidenden 
Alkoholiker  ihre  Deszendenz  im  Sinne  der  Anlage  zu  Dementia 
praecox  belasten,  während  es  dahingestellt  bleiben  muß,  ob  der 
Alkoholismus  eines  rüstigen  Gehirns  die  gleiche  Folge  haben 
kann.  1  '  1  :  ’  _J  f 

Berze  verkennt  auch  nicht  die  Häufigkeit  der  Dementia 
praecox  in  der  Deszendenz  der  Paralytiker,  warnt  aber  vor  Ueber- 
schätzung.  Er  zitiert  mit  kurzen  Worten  ein  Beispiel,  geradezu 
ein  Experiment  des  Zufalls,  das  die  gebräuchlichen  statistischen 
Zusammenstellungen  einfach  widerlegt.  Frau  X.  war  zweimial 
verheiratet,  der  erste  Gatte  star!)  an  progressiver  Paralyse,  der 
zweite  an  Fettherz.  Vom  ersten  hat  sie  eine  Tochter  mit  aus¬ 
gesprochener  Hehephrenie,  vom  zweiten  einen  Sohn  mit  De¬ 
mentia  paranoides.  Bei  näherer  Betrachtung  kann  man  nun  an 
Fra.u  X.  allerlei  pathologische  Züge  konstatieren,  wie  näher  aus- 
gefiihrt  wird;  sie  kann  sich  sozial  nur  deshalb  halten,  weil  sie 
ausnehmend  gut  situiert  ist.  Es  ist  wohl  in  der  statistisch  nicht 
zu  erfassenden  Mutter  die  Belastung  der  Deszendenz  gelegen, 
während  die  Paralyse  des  einen  Mannes  vielleicht  gar  keine  Rolle 
spielt. 

Rascher  werden  ablgetan  die  Beziehungen  zwischen  Demen¬ 
tia  praecox  und  manisch-depressivem  Irresein,  den  großen 
Neurosen,  zirkumskripten  Zerehropathien,  Idiotie.  Im  Resürhee 
betont  Verf.  nochmals  die  große  Häufigkeit  der  direkten  Heredität 
der  Dementia  praecox,  die  um  so  ersichtlicher  wird,  je  mehir 
man  die  unausgesprochenen  psychopathischen  Zustände,  chroni¬ 
scher  Alkoholismus,  tardive  Demenzformen,  degenerative  Psycho¬ 
sen,  welche  als  Ausdruck  einer  Dementia  praecox-Anlage  zu 
erkennen  sind,  mit  berücksichtigt.  Zwischen  der  Anlage  zu  pro¬ 
gressiver  Paralyse  und  Dementia  praecox  besteht  sicher  kein 
Antagonismus.  Vielleicht  ist  neben  der  Hauptgruppe  Dementia 
praecox,  deren  endogener  Charakter  sicher  zu  stehen  scheint,  noch 
eine  kleine  Nebengruppe  anzunehmen,  die  unter  den  exogenen 


Psychosen  ihren  Platz  hätte.  Berze  gibt  die  Möglichkeit  eines 
hereditären  Polymorphismus  innerhalb  der  einer  bestimmten  An¬ 
lage  entsprechenden  Gruppen  von  geistigen  Störungen  zu.  Von 
solchen  Anlagen  lassen  sich  abgrenzen,  die  Verblödungsanlage, 
die  zyklothyme,  die  der  fixen  konstitutionellen  Verstimmung, 
der  psychogenen  Disposition;  das  Vorkommen  einer  eigenen  de- 
generativen  Anlage  bestreitet  Berze.  Die  vielen  Ausblicke, 
welche  sich  an  die  interessanten  Zusammenstellungen  und  die 
Schlußfolgerungen  des  Autors  knüpfen,  versprechen  der  weiteren 
Forschung  reichen  Gewinn. 

★ 

Untermenschen  oder  Narren? 

Eino  kriminalpsychologische  Kritik  der  klinischen  Lehre  vom  Verbrechcr- 

seetenleben. 

Von  Franz  Nadastiny. 

Wien  1910,  Karl  Kon  egen  (Ernst  Stülp  naget). 

Wenn  man,  von  dem  rüden  Tonje  nicht  angewidert,  das 
vorliegende.  Buch  zur  Hand  nimmt,  so  findet  man  wesentlich 
eine  ermüdende  Polemik  gegen  Cramers  gerichtliche  Psychiatrie. 
Es  ist  natürlich  merkwürdig,  daß  ein  k.  k.  Strafanstaltsober- 
direktor  so  genau  weiß,  was  im  Erfahrungskreise  eines  Natur¬ 
wissenschaftlers,  Psychiaters  enthalten  zu  sein  hat;  wir  Mediziner 
würden  uns  nicht  verstatten,  über  die  Tätigkeit  eines  Anstalts¬ 
beamten  so  selbstbewußt  abzuurteilen.  Darüber  soll  nicht  über¬ 
sehen  werden,  daß  ein  Körnchen  Wahrheit  auch  in  Beschimpfungs¬ 
und  Entrüstungsaushrücben  enthalten  ist.  Nadastinys  Buch 
macht  den  Kritiker  darauf  aufmerksam,  daß  es  psychiatrischer 
Kenntnisse  und  Vorstudien  bedarf,  um  ein  bestimmtes  Lehrbuch 
der  forensischen  Psychiatrie  zu  verstehen ;  kommt  ein  solches, 
so  wie  es  abgefaßt,  einem  Laien  in  die  Hände,  dann  richtet 
es  Unheil  an.  Schließlich  hat  Nadastiny  auch  recht,  wenn 
er  individuelle  Eigenheiten,  Humanitätsdusel,  Leichtgläubigkeit, 
logische  Fehler  einzelner  psychiatrischer  Sachverständiger  geißelt. 
Wenn  aber  auch,  nicht  durch  die  Schuld  der  Wissenschaft,  der 
eine  oder  andere,  es  Herrn  Nadastiny  gar  zu  leicht  gemacht 
haben  mag,  einen  wissenschaftlichen  Fortschritt  bahnen  derart 
persönliche  Polemiken  nicht  an  und  wenn  sie  noch  so  prätentiös 

in  wissenschaftlichem  Gewände  auf  treten. 

* 

Jahrbuch  für  psychoanalytische  und  psychopathoTo- 
gische  Forschungen. 

Herausgegeben  von  Prof.  Bleuler  und  Prof.  Freud. 

Bd.  2,  I.  Hälfte. 

Leipzig  und  Wien  1910,  Franz  Deuticke. 

Der  starke  Band  enthält  folgende  Arbeiten:  Karl  Abra¬ 
ham-Berlin:  Ueber  hysterische  Traumzustände.  Der  Verfasser 
bemüht  sich,  durch  Analyse  in  den  Tagträumen  die  alles  be¬ 
lie  naschende  Bedeutung  der  Sexualphantasie  zu  erkennen;  er  meint, 
dieselben  Faktoren,  welche  hysterische  Anfälle  auslösen,  wirken 
auch  bei  Entstehung  der  Traumznstände. 

C.  G.  Jung:  Ueber  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  Jung 
will  ein  Pendant  bringen  zu  Freuds  kleinem  Hans.  Auf  die 
Fragen  der  aufgeweckten  vierjährigen  kleinen  Anna  wird  nach 
einigem  Zögern  seitens  der  Eltern  die  richtige  Aufklärung  gegeben 
und  dadurch  vollständige  Beruhigung  erzielt.  Auf  einige  psycho¬ 
analytische  Deutungen  folgt  der  höchst  reservierte  Schluß:  „Das 
Kind  bedarf  einer  Aufklärung,  wenn  sich  bei  ihm  das  Problem 
meldet.  .  .  .  Man  sehe  die  Kinder  an,  so  wie  sie  wirklich  sind 
und  nicht,  wie  wir  sie  zu  haben  wünschen  und  man  folge  bei 
der  Erziehung  den  Entwicklungslinien  der-  Natur,  nicht  toten 
(Präskriptionen“  (natürlich  auch  nicht  den  Präskriptionen'  der 
Psychoanalytik,  Ref.). 

J.  Sadger:  Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysteri¬ 
schen  Absenzen.  Auf  75  Seiten  die  Ergebnisse  einer  auf  zwei 
Jahre  veranschlagten,  dann  aber  unfreiwillig  auf  fünf  Monate 
restringierten  Sexualanalyse  eines  Falles  von  Homosexualität, 
Autoerotismus  wie  Onanie,  Narzismus,  einer  Art  von  Selbstkoitus, 
Schautrieb,  Exhibitionismus,  Analerotik,  Statuenliebhaberei,  ma¬ 
sochistischen  und  sadistischen  Zügen,  pyromanischen  Antrieben 
und  einer  Dysuria  psychica.  Man  kann  dem  Autor  die  Begeiste¬ 
rung  über  so  einen  Casus  pulcherimus  nachfühlen. 

Oskar  Pfister:  Analytische  Untersuchungen  über  die  Psy¬ 
chologie  des  Hasses  und  der  Versöhnung.  Von  einem  Pfarrer 


Nr.  24 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


873 


augenscheinlich  als  Therapie  gedachte,  dann  aber  rein  wissen¬ 
schaftlich  ausgefallene  Psychoanalyse;  denn  „wir  begegnen  somit 
auch  noch  einige  Monate  nach  der  Analyse  den  Ausläufern  der 
einst  quälenden  Phantasien.  Dies  fällt  um  so  mehr  auf,  als  Max 
erklärte,  die  früheren  Bilder  vergessen  zu  halben.  .  .  .  Bevor  die 
Analyse  durchgeführt  werden  konnte,  verreiste  Max  für  immer". 

Siegln.  Freud:  Ue'ber  den  Gegensinn  der  Urworte.  Referat 
über  die  gleichnamige  Broschüre  von  Karl  Abel,  1884.  Freud 
konstatiert  Uebereinstimmung  zwischen  der  durch  ihn  behaup¬ 
teten  Freiheit  des  Traumes,  ein  beliebiges  Element  durch  seinen 
\\ unschgegensatz  darzustellen  und  der  vom  Sprachforscher  auf¬ 
gedeckten  Eigentümlichkeit  der  ältesten  Sprachen,  des  antitheti¬ 
schen  Doppelsinnes,  sowie  der  Lautumdrehung  (Metathesis),  die 
in  der  Umkehrung  des  Traummateriales  ihre  Analogie  hätte. 

A.  Maeder:  Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia 
praecox- Kranken.  Eingehende  und  sehr  verdienstliche  Beschäf¬ 
tigung  mit  zwei  Patienten  der  Züricher  psychiatrischen  Klinik 
zeigt,  daß-  der  Inhalt  der  Psychose  streng  individuell  determiniert 
ist,  daß  aber  die  Mechanismen  bei  den  Patienten  die  gleichen 
sind.  Die  beiden  paranoiden  Kranken  hatten  eine  lebhafte  geistige 
Tätigkeit  konstruktiven  Charakters,  die  Zerfahrenheit  wurde  bloß 
vorgetäuscht,  von  Verblödung  im  eigentlichen  Sinne  konnte  nicht 
die  Rede  sein.  Die  Tätigkeit  der  Patienten  war  an  die  Außen¬ 
welt  nicht  genügend  angepaßt,  ging  von  innen  heraus,  erfuhr 
die  Korrektur  nicht,  welche  die  Fühlung  mit  der  Außenwelt 
mit  sich  bringt.  Soweit  sind  die  Schlußfolgerungen  des  Verfassers 
zu  unterschreiben.  Es  ist  Gemeingut  der  Wissenschaft,  daß  der 
Uebergang  des  Normalen  in  das  Pathologische  nicht  scharf  ab¬ 
gegrenzt  ist,  daß  die  Psychose  nicht  nach  prinzipiell  neuen  Me¬ 
chanismen  arbeitet,  daß  sie  aus  der  früheren  Erfahrung  schöpft, 
daß  die  Triebkräfte  des  normalen  Handelns  fortwirken.  Ueber  die 
von  Maeder  behauptete  entscheidende  Rolle  der  Komplexe  ist 
allerdings  eine  Diskussion  möglich  und  zur  Erklärung  der  Psy¬ 
chose  selbst  hat  die  psychologische  Forschung  nichts  beigetragen. 
W  enn  wir  uns  darüber  auch  keiner  Täuschung  hingeben  dürfen, 
so  wird  die  Bedeutung  dieser  Richtung  der  Anatomie  oder  der 
Chemie  gegenüber  keineswegs  herabgesetzt. 

F.  Riklin:  Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  Die 
Geheimnisse  einer  unverstandenen  und  vereinsamten  Seele,  Pro¬ 
dukte  wundersamer  Tagträumerien  und  Phantasien  werden  hier 
vor  uns  ausgebreitet. 

C.  G.  Jung:  Randbemerkungen  zu  dem  Buche  von  Wittels, 
Die  sexuelle  Not.  Jung  stellt  sich  als  begeisterter  Leser  dieses 
Buches  vor,  das  durch  sein  Motto  ja  vollkommen  charakterisiert 
ist.:  „Die  Menschen  müssen  ihre  Sexualität  ausleben,  sonst  ver¬ 
krüppeln  sie.“  Daß  auch  eine  andere  Weltanschauung  den’  bar 
ist,  erfährt  man  von  Jung  nicht;  er  sagt  nur  ahnungsvoll  von 
der  Freudschen  Psychologie:  „Es  werden  sich  viele  Unberufene 
herzudrängen  und  die  größtmöglichen  Tollheiten  damit  an¬ 
stellen  .  .  .  .“  und  trennt  vorsichtig  Erkenntnis  und  Vorschläge 
der  Praktiker.  Noch  vorsichtiger  ist  es,  daß  er  schließlich  nur 
empfiehlt,  Wittel  s  Buch  zu  lesen. 

Ernest  J  ones -Canada:  Bericht  über  die  neuere  englische 
und  amerikanische  Literatur  zur  klinischen  Psychologie  und  Psy¬ 
chopathologie. 

In  analoger  Weise  berichten  J.  Neiditsch -Berlin  über  den 
gegenwärtigen  Stand  der  Freudschen  Psychologie  in  Rußland, 
Roberto  G.  A ssagioli -(Florenz  über  die  Freudschen  Lehren 
in  Italien.  C.  G.  Jung  referiert  über  psychologische  Arbeiten 
schweizerischer  Autoren  (bis  Ende  1909).  Schließlich  erfahren 
wir,  daß  Ende  März  1910  zu  Nürnberg  die  internationale  psycho¬ 
analytische  Vereinigung  gegründet  wurde. 

* 

Seele  und  Gehirn. 

Von  Dr.  S.  K.  Thoden  van  Velzen. 

Ein  Verleger  ist  nicht  angegeben;  anderseits  heißt  es  dritte 
vermehrte  Auflage.  Das  Buch  stellt  sich  als  ein  psychiatrisches 
Problem  dar  und  kann  in  dieser  Zeitschrift  kritisch  nicht  beur¬ 
teilt  werden.  Leseprobe:  „Wo,  so  fragt  mich  ein  Kollege,  meinen 
Sie  denn,  daß  der  Geist  sitzt?  —  Ich  antworte:  ln  den  Vien 
bügeln.  —  In  den  Vierhügeln  soll  auch  alles  liegen,  meinte  er 
zustimmend  ...“  (S.  129).  Ja  freilich,  wenn  auch  dieses  Buch 
mit  den  Vierhügeln  geschrieben  worden  ist?  E.  Rai  mann.  I 


Allgemeine  und  spezielle  Pathologie  des  Zwerchfells. 

\  on  Priv.-Doz.  Dr.  Haus  Eppinger  in  Wien. 

Supplemente  zu  H.  Nothnagels  spezieller  Pathologie  und  Therapie 
Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  L.  v.  Frankl- Hoch  wart.  I. 

8",  266  Seiten. 

Wien  und  Leipzig  1911,  Alfred  II  older. 

F  r  a  n  k  1  -  H  o  c  h  w  a  r  t  gibt  eine  Reihe  von  Ergänzungs¬ 
bänden  zu  dem  großen  Handbuch  der  inneren  Medizin  Noth¬ 
nagels  heraus.  Hie  vorliegende,  ausführlich  geschriebene  Mono¬ 
graphie  der  Krankheiten  des  Zwerchfelles  leitet  diese  Reihe  ein. 
Der  Verfasser  hat  damit  eine  ungemein  dankenswerte  Arbeit 
geliefert,  die  nicht  nur  zum  ersten  Male,  eine  umfassende  Zu¬ 
sammenstellung  der  anatomischen,  physiologischen,  pathologischen 
und  klinischen  Tatsachen  über  das  Diaphragma  bildet,  die  bisher 
in  den  verschiedenen  Werken  und  Abhandlungen  zerstreut  waren, 
sondern  auch  eine  große  Zahl  eigener  wertvoller  Beobachtungen 
enthalt.  Das  gilt  insbesondere  von  dem  Kapitel  über  die  Zwerchfell- 
h  er  nie,  dem  besten  und  interessantesten  des  ganzen  Buches. 
Hier  wären  wohl  auch  einige  Skizzen  der  Röntgenbefunde  er¬ 
wünscht  gewesen. 

Bei  der  Durchsicht  des  Buches  ist  dem  Referenten  eine 
Angabe  aufgefallen,  mit  der  sich  wohl  kaum  jemand  einverstanden 
erklären  wird:  Daß  nämlich  beim  Singultus  das  Geräusch  in  der 
Mundhöhle  unter  Zurückziehung  der  Zunge  vom  Gaumengewölbe 
gebildet  werde.  Flier  dürfte  wohl  die  alte  Erklärung  der  Physio¬ 
logen,  daß  es  durch  Verschluß  der  Stimmritze  zustande  komme 
ebenso  wie  das  Seufzen  -—  die  richtigere  sein. 

* 

Hypophysis,  Akromegalie  und  Fettsucht. 

Von  B.  Fischer. 

Erweiterter  Abdruck  aus  der  Frankfurter  Zeitschrift  für  Pathologie  V. 

154  Seiten.  Mk.  6'60. 

Wies  b<a  d  e  n  1910,  J.  F.  Berg  ni  a  n  n. 

„Die  Beziehungen  zwischen  Akromegalie  und  Hypophysis¬ 
tumor  sind  für  die  allgemeine  Pathologie  und  insbesondere  für 
die  Geschwulstlehre  von  sehr  großem  Interesse.  An  der  Akro¬ 
megalie  zwingt  uns  die  Natur  selbst,  das  Problem  der  Wachstunrs- 
koordinationen  aufzuwerfen“  —  sagt  der  Verfasser  in  der  Ein¬ 
leitung.  ln  der  Tat  führt  das  Studium  dieser  Fragen,  wenn  man 
sie  konsequent  durchdenkt,  zu  den  Grundproblemen  der  Patho¬ 
logie.  Die  vorliegende  Arbeit  darf  demnach  auf  allgemeines  Inter¬ 
esse  rechnen.  An  der  Hand  einer  umfassenden  Durcharbeitung 
der  Literatur  —  der  Referent,  der  sie  selbst  vor  zwölf  Jahren 
durchgea, rheitet  hat,  kann  die  Genauigkeit  des  Verfassers  be¬ 
zeugen  und  unter  Hinzuziehung  eigener  Fälle  werden  die 
oben  genannten  Beziehungen  erörtert.  Die  Akromegalie  wird  als 
F  olge  einer  Hypersekretion  der  Adenome  des  vorderen  Lappens 
der  Hypophyse,  die  Dystrophia  adiposo-genitalis  (Typus  Fröhlich) 
als  Folge  der  Schädigung  des  hinteren  Lappens  und  des  Infundi- 
bulums  aufgefaßt.  Der  Beweis  wird  durch  breite  Erörterung  des 
anatomischen  Befundes,  wobei  insbesondere  die  in  der  Literatur 
angeführten  Fälle  von  „Akromegalie  ohne  II yp op h y senerk ranku n g “ 
einer  vernichtenden  Kritik  unterworfen  werden,  durch  das  Tier¬ 
experiment  (mit  besonderer  Betonung  der  Befunde  Asehners) 
und  durch  die  Operationserfolge  am  Menschen  geführt. 

* 

Les  sciatiques,  leurs  traitements. 

Par  L.  Lortat- Jacob  et  G.  Sabareauu. 

16",  218  Seiten. 

Paris  1910,  Masson  &  Cie. 

Den  Kernpunkt  der  vorliegenden  Monographie  bildet  die 
Unterscheidung  der  radikulären  und  der  trnnkulären  Ischias, 
welche  von  den  Autoren  seit  1904  durchgeführt  worden  ist  und 
auf  der  genauesten  Untersuchung  der  Sensibilitätsstörungen  beruht. 
Je  nachdem  diese  der  Verteilung  der  Wurzeln  oder  der  peripheren 
Hautnerven  entsprechen,  hat  die  Erkrankung  die  Wurzeln  der 
Lumbalnerven  oder  den  Stamm  des  Ischiadikus  getroffen.  Die 
übrige  Darstellung  ist  ziemlich  ungleichmäßig,  zum  Teil  etwas 
flüchtig;  bei  der  Besprechung  der  Therapie  wird  beispielsweise 
der  Behandlung  der  luetischen  Form  neun  Seiten  gewidmet,  die 
Narkotika  werden  auf  acht  Seiten  abgehandelt,  der  Hydrothera¬ 
pie  sind  nur  14  kurze  Zeilen  gewidmet.  Dabei  ist  das  Wichtigste 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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Über  die  Therapie  der  Ischias  nicht  gesagt,  daß  nämlich  ein 
frischer  Fall  unbedingt  ins  Rett  gehört  und  daß  man  mit  Bett¬ 
ruhe  und  Bettwärme,  frühzeitig  angewendet,  in  der  Regel  die 
Entstehung  schwerer  Formen  verhindern  kann. 

* 

Diagnostik  der  Nervenkrankheiten. 

Yon  L.  E.  Breguianu  in  Warschau. 

Mit  einem  Geleitwort  von  Hofrat  Prof.  Dr.  H.  Obersteiner. 

8°,  535  Seiten. 

Mit  193  Abbildungen  und  2  Tabellen. 

Berlin  1911,  S.  Karger. 

Ein  recht  gutes  und  praktisches  Buch.  Der  erste  Abschnitt 
bespricht  den  allgemeinen  Untersuchungsplan,  dann  werden  die 
motorischen  Störungen,  die  Ataxie,  Mitbewegungen  und  Zittern, 
die  motorischen  Reizerscheinungen,  die  Sensibilitätsstörungen,  die 
Störungen  der  Reflexe,  die  Pupillenstörungen,  die  Störungen  im 
Gebiete  der  Sinnesorgane,  die  Aphasie,  Alexie,  Agraphre,  Apraxie, 
die  psychischen  Störungen,  die  vasomotorischen,  trophischen  und 
Temperaturstörungen,  die  Störungen  der  inneren  Organe,  die  Unter¬ 
suchung  des  Schädels  und  der  Wirbelsäule,  zuletzt  Lumbal¬ 
punktion  und  Hirnpunktion  erörtert.  Im  Anschlüsse  an  die  ein¬ 
zelnen  Störungen  wird  die  Diagnose  und  Differentialdiagnose  jener 
Erkrankungen  dargestellt,  deren  hervorstechendste  Symptome  eben 
diese  Störungen  sind.  Die  Illustrationen  sind  zum  größten  Teile 
sehr  gut,  die  meisten  der  Spitalsabteilung  des  Verfassers  ent¬ 
stammend. 

Bei  den  schematischen  Abbildungen  wäre  ein  größerer  Ma߬ 
stab  allerdings  wünschenswert.  Allzu  kurz  sind  wohl  die  Degene¬ 
rationszeichen  und  die  angeborenen  Mißbildungen  überhaupt  be¬ 
handelt,  beispielsweise  hätten  die  Differentialdiagnose  der  Muskel- 
defekte  und  der  Muskelatrophien  oder  der  Kamptodaktylie  und 
der  Kontraktur  nach  Ulnarislähmung  Erwähnung  verdient.  Im 
allgemeinen  aber  kann  man  nur  dem  Geleitworte  Obersteiners 
beistimmen,  der  es  dem  praktischen  Arzte  als  verläßlichen  Be¬ 
rater  empfiehlt.  M.  Sternberg. 


Aus  versehiedcnen  Zeitschriften. 

598.  Zur  Frage  der  Ausscheidung  von  diastati- 
schem  Ferment  im  Urin.  Von  Dr.  A.  Rosenthal  in  Karls¬ 
bad.  Lieber  Anregung  des  Prof.  H.  Strauß  hat  Verfasser  an  dem 
Krankenmaterial  des  jüdischen  Krankenhauses  in  Berlin  an  einer 
Reihe  von  Urinen  von  Kranken  die  Frage  des  quantitativen  Fer¬ 
mentgehaltes  des  Urins  studiert.  Er  bediente  sich  hiebei  der  von 
Wohlgemuth  angegebenen  Technik,  nur  seine  Art  der  Berech¬ 
nung  der  gefundenen  Werte  war  eine  andere,  nämlich  eine  prozen¬ 
tuale.  Verf.  beschreibt  seine  Art  der  Berechnung  und  vindizieirt 
ihr  größere  Vorteile.  Er  untersuchte  die  Harne  von  5(5  Fällen  in 
160  Einzeluntersuchungen  auf  ihre  diasta tische  Kraft.  Er  ging 
dabei  vom  Gesunden  aus  und  fand  bei  vier  Fällen  in  zwölf  Einzel¬ 
untersuchungen  im  gesamten  Tagesurin  einen  Wert,  der  nahezu 
konstant  war  und  dessen  relative  diastatische  Konzentration  etwa 
500%  betrug.  Die  wesentlichen  Ergebnisse  seiner  Untersuchungen 
faßt  Verfasser  in  folgendem  zusammen:  1.  Der  gesunde  Mensch 
entleert  einen  Urin,  dessen  diastatische  Kraft  in  den  einzelnen 
Tagesportionen  schwankt,  dessen  Gesamturin  aber  eine  konstante 
diastatische  Fermentwirkung  zu  haben  scheint.  Diese  entspricht 
einer  diastatischen  Kraft  von  etwa  500%.  2.  Eine  Aenderung,  be¬ 
ziehungsweise  Verminderung  der  Durchlässigkeit  der  Nieren,  wie 
sie  namentlich  bei  Diabetes  insipidus  und  gewissen  Formen 
jier  chronischen  interstitiellen  Nephritis  zu  verzeichnen  sind, 
läßt  häufig  eine  verminderte  Fermentausscheidung  entstehen. 

3.  Eine  Steigerung  der  Durchlässigkeit  der  Niere,  wie  sie  bei  fieber¬ 
haften  Infektionskrankheiten  verursacht  wird,  kann  e.ne  Steige¬ 
rung  der  Fermentausscheidung  bedingen  u.  zw.  kann  in  einem 
solchen  Falle  ein  Urin,  der  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen 
gar  kein  diastatisches  Ferment  enthält,  eine  diastatische  Kraft 
zeigen,  die  derjenigen  des  Urins  von  Gesunden  entsprechen  kann. 

4.  Boi  Diabetes  melitus  scheint  die  diastatische  Kraft  des  Urins 
meistens  —  wenn  nicht  immer  —  vermindert  zu  sein.  Bei  allen 
Fällen  von  Diabetes  melitus  fand  Verf.  verminderte  Werte,  sie  I 
schwankten  von  166  bis  333%.  In  vier  Fällen  von  Diabetes!  i 


melitus  wurde  ein  vollständiges  Fehlen  des  diastatischen 
Fermentes  festgestellt.  Auch  in  sieben  Fällen  von  chronischer 
interstitieller  Nephritis  fanden  sich  durchwegs  niedrige  Werte, 
die  obere  Grenze  überstieg  selten  166%.  Niedrige  Werte  wurden 
noch  gefunden  in  zwei  Fällen  von  Magenkrebs,  in  je  einem 
Falle  von  Carcinoma  peritonei,  Nephrolithiasis  u.  a.  Ein  Uebeir- 
schreiten  des  Wertes  von  500%  ließ  sich  konstatieren  bei  allen 
Infektionskrankheiten  mit  fieberhaftem  Zustand  (Skarlatina,  Mor¬ 
billi,  Pneumonie,  Typhus  abdominalis).  Nur  in  den  Fällen,  wo 
gleichzeitig  eine  interstitielle  Nephritis  vorlag,  waren  die  Werte 
niedrig.  In  einem  Falle  von  Scharlach,  wo  kein  Albuinen  im  Urin 
war,  war  die  relative  Konzentration  1000  bis  1428%,  aber  an  den 
Tagen,  wo  Albumen  auftrat,  waren  die  Werte  nur  250%.  Bei  einem 
Falle  von  ausgesprochener  Stauungsalbumiinurie  fanden  sich  in 
sieben  Tagen  Werte,  die  sich  zwischen  1000  bis  1666%  bewegten 
Nach  alledem  glaubt  Verf.  mit  Recht  schließen  zu  dürfen,  daß  die 
Fermentausscheidung  im  Urin  in  hohem  Grade  bedingt  wird  durch 
das  Verhalten  der  Nieren,  u.  zw.  in  dem  Sinne,  daß  gewisse 
anatomische  Veränderungen,  wie  sie  namentlich  durch  die  chro¬ 
nische  interstitielle  Nephritis  bedingt  werden,  imstande  zu  sein 
scheinen,  die  Durchlässigkeit  der  Nieren  für  das  amylolytische 
Ferment  herabzusetzen.  Aber  schon  eine  Leistungsunfähigkeit  der 
Niere  ohne  nachweisbare  anatomische  Veränderung  (Diabetes  in¬ 
sipidus)  bedingt  eine  Unfähigkeit  der  Niere,  amylolytisches  Fer¬ 
ment  durchzulassen.  Dem  Urin  dart  schließlich  kein  Blut  bei¬ 
gemengt.  sein,  weil  das  zu  Täuschungen  Veranlassung  gibt. 
(Deutsche  medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  20.)  E.  F. 

* 

599.  U  e  b  e  r  V  e  r  h  ü  tung  u  n  d  Behandlung  von 
Mückenstichen.  Von  Dr.  Karl  Friedrich  Hoffmann,  Spezial- 
arzt  für  Hautleiden  in  Koblenz.  Verf.  beschäftigt  sich  mit  den 
wirksamen  Mitteln  zur  Verhütung  und  Behandlung  der  Mücken¬ 
stiche.  Die  üblichen  Mittel  zur  Verhütung  sind  meist  solche, 
die  auf  die  Haut  aufgetragen,  durch  ihren  intensiven  Geruch 
die  Insekten  fernhalten  sollen.  Hieher  gehören :  Kampfer,  Floh¬ 
krautöl,  Pfefferminzöl,  Zitronensaft,  Essig-  oder  Teeröl,  Eukalyptus¬ 
öl,  Karbolvaselin,  Lavendelöl,  Tinktur  von  Ledum  palustre,  Knob¬ 
lauchöl  und  Kreosot.  Boerschmann  nennt  sie  alle  wenig  wirk¬ 
sam.  Verf.  hat  mit  Kampfer  und  Oleum  Caryophyllorum  aus 
gedehnte  Versuche  angestellt.  Das  Oleum  camphoratu  m  ist  wenig 
wirksam.  Besser  das  Nelkenöl,  am  besten  in  Salbenform  :  Oleum 
caryophyll.  5-0  bis  10-0,  Lanolin  30-0,  Ungu.  Glycerini  ad  100  0. 
Abends  aufgetragen,  laßt  sie  oft  morgens  noch  den  charakteri¬ 
stischen  Geruch  erkennen.  Die  Wirkung  ist  dementsprechend 
nachhaltig.  Diese  Mittel  werden  aber  alle  an  Wirksamkeit,  an 
Am:  hmlichkeit  im  Gebrauch  und,  was  nicht  zu  vergessen  ist, 
an  Billigkeit  von  zwei  anderen  bei  weitem  übertroffen.  Lewv 
empfahl  die  „Tinctura  Pyrethri  rosei“,  einen  Auszug  aus  per¬ 
sischem  Insektenpulver.  Die  Tinktur  hat  eine  braune  Farbe, 
färbt  die  bestrichenen  Körperstellen  kaum  merklich,  reizt  selbst 
bei  längerem  Gebrauch  nicht  und  schützt  vier  Iris  fünf  Stunden 
so  gut  wie  vollständig.  Verf.  selbst  hat  über  diese  Tinktur  keine 
Erfahrung.  Dagegen  hat  er  mannigfache  Versuche  mit  einem 
alkoholischen  Extrakte  aus  dem  bekannten  Zacherlin  gemacht. 
Die  Herstellung  ist  sehr  einfach.  In  einer  Flasche  wird  der 
Boden  etwa  1  cm  hoch  mit  Zacherlin  überschüttet,  die  Flasche 
dann  mit  70%igem  Spiritus  gefüllt  und  im  Laufe  von  ein  bis 
zwei  Stunden  mehrfach  durchgeschüttelt.  Dann  wird  abfiltriert. 
Der  erhaltene  Auszug  ist  schwach  braun  gefärbt.  Auf  der  Haut 
verursacht  er  eine  schwache  Gelbfärbung.  Kein  auffälliger  Geruch. 
Reizung  der  Haut  selten.  Diese  Zacherlintinktur  erwies  sich  für 
die  meisten  als  vorzüglich  wirksam.  Leute,  die  vorher  nachts 
ganz  zerstochen  worden  waren,  blieben  von  Stichen  Lei.  Be¬ 
sonders  bei  Kindern  waren  die  Resultate  sehr  gut.  Also  ein  aus¬ 
gezeichnetes  Prophylaktikum.  Bei  frischen  Stichen  werden  die 
alten  Hausmittel,  Seife,  Salmiakgeist  und  Kalilauge  angewendet. 
Letztere  reizt  die  Haut  empfindlich.  Bei  alten  Stichen  sind  dann 
die  Quaddeln  zu  behandeln.  Hier  ist  sehr  gut  Menthol  und  Thymol, 
am  besten  als  3  bis  5%ige  Tinktur.  Der  Stich  wird  damit  betupft, 
das  Jucken  hört  bald  auf,  eventuell  betupft  man  nach  einiger 
Zeit  nochmals.  Man  kann  die  beiden  Mittel  außer  als  Tinktur 
noch  in  Kollodium  geben  u.  zw.  nach  folgender  Rezeptfonnel; 
Menthol  0-2,  Therebinth.  laricis,  Ol.  Ricini  ana  T0,  Collod. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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dupl.  18-00  Noch  besser  als  diese  Tinkturen,  namentlich  nach- 
haltiger  in  der  Wirkung,  ist  das  Naftalan.  Es  stellt  eine  dunkel¬ 
braune  Masse  von  salbenartiger  Konsistenz  dar.  Auf  der  Haut 
verrieben  färbt  es  sich  ganz  leicht  gelb,  verschwindet  völlig 
m  ihr,  schmiert  und  klebt  nicht.  Seine  Wirkung  ist  ziemlich 
rasch,  energisch  und  meist  sicher.  Sie  ist  eine  direkt  entzüm 
<  lungs  widrige.  Es  ist  das  beste  Mittel  gegen  Insektenstiche.  — 
(Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  20.)  G 

* 

.  (j0°*  Prä  disposition  der  Lungenspitzen  und  In  ha¬ 
lations  tuberkulöse.  Von  Prof.  Gustav  Huguenin.  Nach 
Huguenin  beginnt  die  Mehrzahl  der  Lungentuberkulosen  nicht 
in  der  Spitze,  wie  es  die  herrschende  Ansicht  ist.  Nur  die  echte 
direkte  Inhalationstuberkulose  beginnt  daselbst  während  die  tuber¬ 
kulösen  Erkrankungen  der  Lunge  anderer  Provenienz  (Hals-, 
Thoraxdrüsen)  in  anderen  Regionen  der  Lunge  beginnen.  Wahr 
t  bleibt  aber:  Bemerkt  wird  die  Lungenerkrankung  in  der  größten 

i  MelT\aW  der  Fälle  zueret  in  der  Spitze  und  man  hat  burner 
noch  das  Recht  von  einer  Bevorzugung  der  Spitze  zu  reden.  Die 
Prädisposition  der  Lungenspitze  für  die  Tuberkulose  findet  durch 
die  Betrachtung  des  MechanisPrus  beim  Husten,  welcher  die  An¬ 
sammlung  von  fremden  Substanzen  verhindern  soll,  seine  Erklä- 
[  lung  dadurch,  daß  die  Spitze  von  allen  Lungenteilen  die  geringste 
muskuläre  exspiratorische  Komponente  hat,  wogegen  sie  hei  der 
initialen  Inspiration  in  einer  ungleich  besseren  Lage  ist.  Indes 
unter  normalen  Verhältnissen  genügt  diese  Einrichtung  doch  noch, 
die  Spitzenbronchien  genügend  zu  entleeren,  insbesonders  wenn 
die  Bildung  des  Thorax  eine  normale  ist,  ebenso  wie  die  der 
konstituierenden  Elemente,  Muskeln,  Knochen,  Knorpel:  wenn 
ferner  die  Spitzen  bis  dahin  durch  keine  Krankheit  verändert 
,  worden  sind  und  die  Lungenspitzen  und  Bronchien  keine  ange¬ 
borene  Anomalien  zeigen.  Anders  ist  es  aber,  bei  abnormer  Körper- 
und  Thoraxbildung.  Der  sogenannte  paralytische  Thorax  mit  Aper¬ 
turstenose  stellt  nach  Huguenin  eine  Krankheit  und  eines 
.  dei  schwersten  Stigmata  der  tuberkulösen  Heredität  dar,  wobei 
folgendes  hervorzuheben  ist:  Wenn  ein  an  Körper  und  Thorax 
normal  geformter  Mensch  der  tuberkulösen  Infektion  nur  einen 
.  ganz  geringen  Widerstand  entgegenzusetzen  imstande  ist,  so 
stammt  seine  normale  Körperbeschaffenheit  ganz  gewöhnlich’ von 
1  einem  seiner  Eltern  her,  zum  Beispiel  von  seinem  Vater,  seine 
geringe  Resistenz  aber  ganz  gewöhnlich  von  seiner  Mutter;  sehr 
[  viele  Kinder  einer  tuberkulösen  Mutter  haben  demnach  eine  ganz 
ordentliche  Körperbeschaffenheit  und  dennoch  sterben  sie  an 
\  Tuberkulose,  ohne  mit  der  Krankheit  einen  erfolgreichen  Kampf 
führen  zu  können.  Häufiger  aber  ist  noch  der  andere  Fall,  in 
welchem  die  gesunde  Mutter  dem  Kinde  eine  genügende  Resi- 

-  stenz,  der  Vater  aber  einen  schwächlichen  Körper  und  einen 
:  paralytischen  Thorax  mitgibt,  ein  Fall,  der  sehr  viel  besser  ist 

als  der  zuerst  erwähnte.  Wenn  somit  die  Sache-  nicht  stimmen 
wall,  wenn  e-in  Mensch  mit  paralytischem  Thorax  obstinat  gesund 
bleibt  oder  umgekehrt,  so  studiere  man  reicht  sorgfältig  die  here¬ 
ditären  Verhältnisse.  Man  wird  die  Lösung  manches  scheinbaren 

—  Rätsels  finden.  Der  paralytische  Thorax  hat  zur  Folge,  daß  die 
Lungenspitze  die  aus  der  Atmosphäre  importierten  Substanzen 
entweder  gar  nicht  oder  nur  höchst  ungenügend  wieder  weg¬ 
schaffen  kann.  Ja,  es  kommt  soweit,  daß  Staub  und  Bazillen 
heim  Husten  direkt  von  unten  in  die  Spitze  geworfen  werden, 
weil  diese  am  Hustenakt  sich  überhaupt  nicht  beteiligen  kann, 
weil  sie  nicht  die  Mittel  besitzt,  den  von  unten  erhaltenen  Schleim 
wieder  los  zu  werden.  Aehnlieh  liegen  die  Verhältnisse,  wenn 
die  Lungenspitzen  selbst  nicht  normal  sind,  indem  Adhärenzen 
und  zirrhotische  Schrumpfung  vorliegen,  die  abermals  der  Weg¬ 
schaffung  der  in  die  Lungenspitzen  hineingeschafften  Schädlich¬ 
keiten  hinderlich  sind  und  ferner,  wenn  die  Lungenspitze  durch 
die  ungenügend  im  Wachstum  fortgeschrittene  erste  Rippe  förm¬ 
lich  abgeschnürt  und  damit  beim  Husten  völlig  lahmgelegt  ist 
und  die  Aeste  des  Bronchus  apicalis  eine  auffallende  Zusammen- 
drängung  und  Verbiegung  zeigen,  welche  eine  konsekutive  Atro¬ 
phie  des  zwischenliegenden  Lungengewebes  einschließt.  Alles 
zusalmhien  kann  man  die  individuelle  Disposition  der  Lunge 
nennen,  welche  aber  durchaus  noch  nicht  das  ist,  was  als  Dispo 
sition  dos  ganzen  Individuums  zu  betrachten  ist.  Bei  dieser  tritt 
noch  eine  unbekannte  Größe  hinzu,  die  noch  wichtiger  ist  als1  das 


anatomise  he  Moment,  nämlich  die  individuelle  Resistenz  gegen  den 
I  u berkelbazi  1  lu s ,  dessen  Virulenz  wiederum  eine  variable  Größe 
darstellt.  1  nd  so  wird  es  verständlich,  wenn  trotz  individueller, 
scheinbar  gleicher  Disposition  der  Lunge,  die  Krankheit  mit  ver¬ 
schiedener  Intensität  beginnt  und  in  hundert  Abstufungen  verläuft 
Die  direkte  Inhalationstuberkulose  ist  nach  Huguenin  kein 
allzutaghches  Ereignis.  Man  muß  sich  nämlich  vor  Augen  halten 
daß  bei  gewöhnlicher,  nicht  forcierter  Inhalation  einer  ruhigen 
staubhaltigen  Luft  der  Staub  (+  Bazillen)  nicht  über  die  Bronchien 
zweiter  Ordnung  hinäbgelangt;  weiter  hinab  geht  er  bei  offenem 
lunde,  ganz  hinab-  aber  nur  bei  forcierter  Inspiration  und  hei 
v  md bewegter  Atmosphäre.  Es  ist  aber  anzunehmen,  daß  hei 
normalen  Flimmerepithel  und  also  normalem  Schleimstrom,  bei 
normalem  Hustenrnechanismus  (normaler  Muskelkraft,  normaler 
Lungene  a-stizität,  normalem  Gefüge  der  Bronchialwände-  und  nor¬ 
maler  Elastizität  der  Rippen  und  Knorpel)  diese  Einrichtungen 
genügen  zur  Entfernung  von  Staub-  und  Bazillengemischen,  wenn 
auch  die  Alveolen  und  Alveolar-gänge  diesbezüglich  etwas  im 
Nachteil  sind  gegenüber  den  größeren  Bronchien  und  der  Trachea 
wo  die  Bewegungsenergie  am  größten  ist.  Es  müssen  also  nicht 
bloß  eine  Reihe  von  mechanischen  Ursachen  für  e-ine  direkte 
Inhalationstuberkulose  Zusammentreffen,  sondern  die  Infektion 
muß  auch  geschehen  an  einem  Orte,  wo  wieder  eine  Summe  von 
Bedingungen  erfüllt  werden  müs'sen  (trockene  Staubanfwirbelung, 
viel  Staub,  viele  Bazillen,  recht  virulente-  Bazillen)  und  endlich 
muß  die  Resistenzfähigkeit  des  Opfers  noch  eine  geringe  sein, 
wenn  eine  direkte  Inhalationstuberkulose  zustande  kommen  soll! 
Man  begreift  daher-,  daß  viele  Aerzte  erklären,  sie  hätten  von 
einer  solchen  noch  nie  einen  überzeugenden  Fall  gesehen.  Daß 
die  Lungenspitze  auch  für  die  direkte  Inhalationstuberkulose  prä¬ 
disponiert  ist,  ergibt  sich  wohl  von  selbst  aus  den  Ausführungen 
von  vorhin.  —  Die  häufigste  Form  der  Lungentuberkulose  ist 
evident  diejenige,  die  vermittelt  wird  durch  die  Infektion  der 
lymphatischen  Organe  am  Halse.  Das  Infektionsfeld  ist  die  Mu¬ 
kosa,  von  den  Orifizien  der  Mundhöhle  und  Nase  bis  hinab  ' 
zm  Bifurkation,  wobei  die  Infektion  durch  bazillenhältige  In¬ 
halationsluft  und  wahrscheinlich  noch  häufiger  durch  bazillen¬ 
haltige  Nahrung  erfolgt.  Warum  auch  hei  dieser  Form  der  Lungen¬ 
tuberkulose  die  Spitze  prädisponiert  erscheint,  ist  nur  zum  Teil 
durch  anatomische  Verhältnisse  zu  erklären,  zum  anderen  Teile 
aber  noch  unbekannt  (wahrscheinlich  Besonderheiten  in  den 
Lymphwegen  der  Lunge).  —  Der-  Tröpfcheninfektion  gedenkt 
Huguenin  mit  keinem  Worte,  da  er  keinen  einzigen  Fäll  ge¬ 
sehen  bat,  der  auch  nur  mit  einem  Schimmer  von  Wahrschein¬ 
lichkeit  auf  eine  solche  hätte  bezogen  werden  können.  —  (Korre¬ 
spondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1911,  41.  Jahrg.,  Nr.  5,  ß,  7.  8.) 

K.  S. 


601,  (Aus  dem  pathologischen  Institut  der  Kölner  Akademie 
lür  praktische  Medizin.  Abteilung:  Augusta-Hospital.)  lieber 
Wechselbeziehungen  zwischen  Lunge  und  Thorax 
bei  Emphysem.  Von  Prosektor  Dr.  H.  Loeschke.  Während 
man  früher  glaubte,  daß  der  Thorax  emphysem-atosus  (Hebung 
der  Rippen,  Inspirationsstellung1,  Faßform)  eine  Folge  des 
Lungenemphysems  sei,  hat  W.  A.  Freund  1901  gelehrt,  daß  die 
Starre  des  Thorax  das  Primäre  ist,  wobei  die  Thoraxstarre 
duich  Auffaserung,  Degeneration,  Verkalkung  und  Verknöcherung 
der  Rippenknorpel  bedingt  werde.  So  bestechend  die  Lehre  war, 
so  blieb  sie  doch  den  Beweis  schuldig,  daß  diese  Knorpeldegenera¬ 
tion  mit  einer  Verlängerung  der  Rippen  kn  orpe-I  einhergeht,  die 
von  Thoraxstarre.  Die  primäre  Ursache  für  die  Starre  des  Thorax 
zu  bedingen.  Um  nun  die  eigenartige  Fixation  des  emphysemati- 
sehen  Thorax  zu  erklären,  hat  Verf.  eine  eigene  Untersuchungs¬ 
methode  solcher  Leichen  eingeschlagen,  dabei  auch  die  Röntgen¬ 
untersuchung  der  Brustkörbe  heran  gezogen  -und  gelangte  hiebei 
zu  ganz  anderen  Anschauungen,  welchen  er  unter  Beigabe  meh¬ 
rerer  lehrreicher  Abbildungen  mit  folgenden  Schlußworten  Aus¬ 
druck  gibt:  Lungenblähung  und  Emphysem  sind  meist  eine  Folge 
von  Thoraxstarre'.  Die  primäre  Ursache  für  die  Starre  des  Thorax 
liegt  gewöhnlich  in  einer  Erkrankung  der  Wirbelsäule. 
Die  Brustwirbelsäule  wird  durch  spondylarth  ri  I  is  che  Prozesse 
kyphotisch  abgeknickt  und  in  dieser  Lage  fixiert.  Bei  dieser  Ab¬ 
knickung  senkt  sich  die  obere  Thoraxhälfte  als  Gauzes  vornüber 


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und  drückt  die  unteren  Rippen  infolge  deir  gemeinsamen  Fixation 
am  Sternum  in  Exspirationsstellung,  während  eine  gleichzeitige 
kompensatorische  Hebung  der  Rippen  deis  sich  senkenden  Thorax¬ 
abschnittes  erfolgt.  Je  stärker  die  Abknickung  der  Wirbelsäule 
und  der  Ausgleich  durch  Hebung,  bzw.  Senkung  von  Rippen  ist, 
desto  geringer  wird  die  Testierende  Exkursionsbreite  der  Rippen 
am  Kyphosenthorax;  schon  bei  Kyphosen  mäßigen  Grades  kommt 
es  zu  totaler  Fixation.  Je  nach  dem  Sitze  der  Abknickung  ändert 
sich  die  Form  des  starren  Thorax.  Bei  oberflächlicher  Betrach¬ 
tung  wird  die  Kyphose  der  Brustwirbelsäule  häufig  verdeckt  durch 
eine  kompensatorische  Hals-  und  Lendenlordose.  Bei  starrem 
Thorax  treten  infolge  Zwerchfellkompensation  die  Symptome  der 
Lungeninsuffizienz  häufig  erst  bei  erhöhter  Inanspruchnahme  auf 
(larvierte  Emphyseme).  Auf  dem  Sektionstisch  findet  sich  bei 
kyphotisch  fixierter  Brustwirbelsäule  jedesmal  ein  starrer  Thorax 
und  Lungenblähu ng.  Vikariierende  und  akute  Emphyseme  zeigen 
beweglichen  Thorax  und  veränderte  Wirbelsäule.  —  (Deutsche 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  20.)  E.  F. 

• 

602.  (Aus  dem  Frauenspital  Basel -Stadt.  —  Direktor:  Pro¬ 

fessor  Dr.  0.  v.  Herff.)  Ein  Beitrag  zu  den  Mißerfolgen 
mit  Antimeristem.  (Kankroidin  Schmidt.)  Von  Doktor 
Karl  Kolb,  stellvertretendem  Assistenzarzt.  Die  Berichte  der 
Autoren  über  die  Erfolge  mit  Antimeristem1  bei  inoperablen  Krebs¬ 
end  Sarkomfällen  lauten  sehr  widersprechend.  Um  sich  selbst 
ein  Urteil  zu  bilden,  wandte  Verf.  dasselbe  bei  einer  55jährigen 
Patientin  mit  einem  inoperablen  Zervixkarzinom1  an.  Am  15.  Juni 
1910  wurde  mit  der  Antimeristemkur  begonnen;  am  17.  Sep¬ 
tember  war  sie  mit  der  54.  Injektion  beendet.  Schmerz  wurde 
seitens  der  Patientin  nur  bei  der  stärksten  Konzentration  ge¬ 
äußert.  Die  Reaktion  trat  gewöhnlich  acht  bis  elf  Stunden  nach 
der  Injektion  ein.  Siebenmal  wurde  die  Kur  unterbrochen.  Das 
Mittel  hatte  nicht  den  geringsten  Einfluß  auf  den  Tumor.  Nicht 
einmal  den  Durchbruch  der  Neubildung  in  die  Blase  konnte  die 
Behandhmg  verhindern.  Das  Allgemeinbefinden  verschlechterte 
sich  zusehends.  Durchfälle,  wie  sie  von  Ewald  und  Winckler 
berichtet  wurden,  konnte  Verf.  nicht  beobachten.  Auffallend  ist, 
daß  die  Patientin  die  Kur  nicht  so  schmerzhaft  fand,  wie  die 
meisten  Autoren  (Winckler,  B  a  i  s  c  h,  Czerny)  berichten. 
Welche  Irrtümer  bei  der  Beurteilung  der  Antimeristembehandlung 
eventuell  unterlaufen  können,  zeigt  Verf.  an  einem  Fälle,  den 
er  mit  Antimeristem  zu  behandeln  vor  hatte,  es  aber  nicht 
ausführte.  Eine  37jährige  Frau  war  am  20.  September  1909 
wegen  Portiokarzinom  im  Spitale  operiert  worden.  Nach  sechs 
Wochen  geheilt  entlassen.  Vier  Monate  war  sie  ganz  beschwerde- 
frei.  Seit  März  1910  Schmerzen  im  Unterleihe.  Starke  Abmage¬ 
rung.  Bei  ihrer  neuerlichen  Aufnahme  am  6.  August  1910  war 
die  Gegend  der  Flexura  sigmoidea  s  c  lim  er  ze'i  nj  >  f  i  n  d  lieh.  Links 
vom  Maistdarm  war  ein  gänseeigroßer  Tumor,  fast  an  der  Becken¬ 
wand  adhärent.  Verf.  dachte  natürlich  an  eine  Karzinom  rezidive. 
Die  Folge  zeigte  aber,  daß  es  ein  entzündlicher  Prozeß  war.  Der 
Tumor  war  Ende  September  gänzlich  verschwunden.  Wäre  die 
Antimeristembehandlung  eingeleitet  worden,  so  würde  natürlich 
derselben  der  glänzende  Heilerfolg  zugeschrieben  worden  sein. 
Der  Preis  einer  vollständigen  Antimeristemkur  bis  zur  Konzen¬ 
tration  liftOO  beträgt  nach  Verf.  106  M.  Dieser  hohe  Preis 
setzt  der  Anwendung  des  Mittels  ohnehin  bestimmte  Grenzen. 
—  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  20.)  G. 

* 

603.  Spät  diagnose  einer  gummösen  Le  her  lues.  Von 
Artur  Klei n  in  München  (Inauguraldissertation).  Klein  berichtet 
über  einen  sehr  merkwürdigen  Fall  von  Leberlues.  Ein  51jähriger 
Bauführer,  der  bei  einem  Gerüsteinbruch  einen  sehr  gefährlichen 
Sturz  getan,  wurde  im  Anschlüsse  daran  von  einer  Reihe  mannig¬ 
facher,  ernster  Krankheitsattacken  heimgesucht.  Die  Beschwerden 
lokalisierten  sich  besonders  in  der  Magen-  und  Lebergegend.  Zu¬ 
nächst  wurde  ein  Gallensteinleiden  angenommen.  Später,  als 
der  Kranke  immer  mehr  herabkam  und  in  der  stark  vergrößerten 
Leber  einige  derbe  Knoten  fühlbar  wurden,  wurde  Karzinom  an¬ 
genommen.  Bei  der  Laparotomie  fanden  sich  im‘  linken  Leber1- 
lappen  zirkumskripte,  weißliche,  die  Oberfläche  der  Leber  über¬ 
ragende  Stellen,  die  sich  als  derbe  Knoten  anfühlten.  Adhäsionen 
an  der  Kuppe,  mit  der  Gallenblase  und  Magen;  Gallensteine, 


entlang  den  großen  Gefäßen  eine  Kette  vergrößerter  Drüsen.  Es 
schien  ein  bereits  inoperables  Karzinom  vorzuliegen,  welches 
wohl  auf  dein  Boden  der  Narben  von  der  seinerzeitigen  Leher- 
verletzung  sich  entwickelt  hatte.  Zwei  Wochen  nach  der  Probe¬ 
laparotomie  "wurde  Patient  entlassen,  natürlich  als  unheilbar. 
Die  erwartete  Krebskachexie  trat  aber  nicht  ein,  Patient  befand 
sich  sogar  besser  und  nahm  an  Gewicht  zu.  Nach  Jahresfrist 
traten  wieder  Krämpfe  und  Erbrechen  (selbst  des  Kotes)  ein, 
welche  wieder  zessierten  und  nach  Monaten  wiederkehrten,  dies¬ 
mal  mit  Ikterus,  Schwindel,  Schlaflosigkeit,  starken  Schmerzen. 
Früher  war  schon  einmal  die  Eventualität,  daß  dem  ganzen 
Krankheitsprozeß  syphilitische  Ursachen  zugrunde  liegen  könnten, 
erwogen  worden,  obwohl  kein  Grund  vorlag,  der  strikten  Negierung 
einer  vorausgegangenen  Infektion  des  durchaus  glaubwürdigen 
Patienten  Zweifel  entgegenzusetzen,  zumal  Patient  schon  Jodkali 
in  größeren  Dosen  eine  Zeitläng  ohne  jeden  sichtbaren  Erfolg 
genommen  hatte.  Trotzdem  tauchte  jetzt,  wo  die  Diagnose  Kar¬ 
zinom  hinfällig  geworden  war,  der  Gedanke  an  Lues  neuerdings 
auf.  Diesmal  wurde  die  Wassermannsche  Serum  reakti  on  vor¬ 
genommen.  Sie  fiel  positiv  aus.  Es  wurde  sodann  eine  ener¬ 
gische  antisyphilitische  Kur  vorgenommen,  worauf  eine  unver¬ 
kennbare  Besserung  eintrat,  derart,  daß  begründete  Aussicht  be¬ 
steht,  den  Patienten  in  absehbarer  Zeit  wieder  herzustellen.  Die 
Wassermannsche  Serumreaktion  hat  also  hier  noch  zu  guter 
Letzt  zur  Klärung  eines  höchst  rätselhaft  erscheinenden  Krank¬ 
heitsprozesses  beigetragen  und  ihr  Wert  auch  in  chirurgischen 
Fällen  geht  aus  den  geschilderten  Tatsachen  hervor!  K.S. 

* 

604.  Zur  Be  hand  luhg  der  perniziösen  Anämie. 
Von  Dr.  Muktedin-Effendi  in  Konstantinopel.  In  das  Güi- 
hane-  Lehrkrankenhaus  wurde  ein  30jähr.  Mann  in  elendem  Zu¬ 
stande  aufgenommen.  Der  ,  Blutbefund  ergab :  Erythrozyten 
1,280.000,  Poikilozytose,  Megalozyten,  Mikrozyten,  Normoblasten, 
Leukozyten  4800,  Hämoglobin  38%.  Körpergewicht  42  kg.  D:a 
Lues  bestanden  hatte,  wurde  vorerst  Jodkali  und  Quecksilber  (sub¬ 
kutan  und  als  Einreibung)  verabfolgt.  Nach  zehntägiger  erfolg¬ 
loser  Behandlung  (der  Zustand  des  Kranken  verschlechterte  sich) 
ging  man  mit  der  Eisen-  und  Arsenbehandlung  vor.  Auch  das 
half  nichts,  der  Mann  würde  wachsbleich,  der  Puls  klein,  eine 
subkutane  Kochsalzinfusion  brachte'  vorübergehende  Besserung. 
Die  Zahl  der  Erythrozyten  sank,  ebenso  der  Hämoglobingehalt 
(200/o)  und  das  Körpergewicht  (38  kg),  der  Exitus  erschien  bevor¬ 
stehend  Da  erinnerte  sich  Prof.  Wieting  der  Angabe  von  Tall- 
quist  (Münchener  medizinische  Wochenschrift  1909),  daß  Gly¬ 
zerin  (dreimal  täglich  einen  Eßlöffel)  einen  glänzenden  Erfolg 
gehabt  habe.  Patient  wurde  also  in  derselben  Weise  und  mit  dem¬ 
selben  außerordentlichen  Erfolge  behandelt.  Er  erhielt  anfangs 
dreimal  täglich  einen  Eßlöffel,  später  70  g  Glyzerin.  Nach  vierzehn 
Tagen  lautete  der  Blutbefund:  Erythrozyten  1,640.000,  Hämoglobin 
50%,  nach  weiteren  14  Tagen,  in  denen  für  kurze  Zeit  wegen 
Durchfalls  das  Glyzerin  ausgesetzt  wurde,  Erythrozyten  4,200.000, 
Leukozyten  5200,  Polynukleäre  77%,  Mononukleäre  1%,  Lympho¬ 
zyten  22%,  Hämoglobin  100%.  Das  Körpergewicht  stieg  auf  52  kg. 
Keine  Poikilozytose,  keine  Megalo-  und  Normoblasten.  Patient  ver¬ 
ließ  nach  vier  Wochen  das  Spital,  weil  er  sich  völlig  kräftig  und 
arbeitsfähig  fühlte.  Er  wird  das  Glyzerin  weiter  gebrauchen.  Nach 
14  Tagen  stellte  er  sich  gesund  vor,  ebenso  einige  Wochen  später, 
mit  62  kg  Körpergewicht.  Vielleicht  wirkt  das  Glyzerin  nur  in  den 
Fällen  intestinaler  Genese.  —  (Deutsche  medizinische 

Wochenschrift  1911,  Nr.  20.)  E.  F. 

* 

605.  (Aus  dem  kgl.  Institut  für  experimentelle  Therapie.  — 
Direktor:  Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.  Ehrlich  —  Und  dem  Sencken- 
b  er  gischen  pathologischen  Institut  —  Direktor:  Professor  Doktor 
Fjischer  —  in  Frankfurt  a.  M.)  Heber  Todesfälle  nach 
S  al  vars  an  in  je  k  ti  o  n  en  bei  Herz-  und  Gefäßkrank- 
h  ei  ten.  Von  Oberarzt  Dr.  K.  Martius,  kommandiert  zum1 
Senckenbe rig i s c h e n  Institut.  Die  Resultate  bei  vielen  Tausend 
Injektionen  haben  durchwegs  bestätigt.,  daß  die  Anwendung  des 
Salvarsans  bei  gesunden  Herzen  ganz  unbedenklich  ist.  und  daß 
eine  Schädigung  des  gesunden  Herzmuskels  auch  bei  intravenöser 
Injektion  nicht  eintritt.  Es  sind  nur  gewisse  Vorsichtsmaßregeln 
notwendig.  Zunächst  sollen  intravenös  nur  kleine  Dosen  an- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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gewendet  werden  (0-3),  dann  soll  das  Mittel  langsam  und  in 
reichlichem  Lösungsmittel  injiziert  werden.  Besonders  wichtig 
ist  die  Reaktion  der  Lösung,  da  sich  herausgestellt  hat,  daß  die 
stark  saure  Lösung  mit  dem  Blute  einen  flockigen,  schlammigen 
Niederschlag  gibt,  der  wegen  Gefahr  der  Verstopfung  zahlreicher 
Gefäße  der  Lunge  und  wegen  der  Ueberlaistung  des  Kreislaufes 
überhaupt,  als  äußerst  gefährlich  angesehen  werden  muß.  Vor 
Anwendung  des  Mittels  bei  Herzkranken  hat  Ehrlich  von  vorn¬ 
herein  gewarnt.  Verf.  hat  nun  alle  Todesfälle  aus  der  Literatur 
und  direkten  Berichten  zusammengestellt,  die  der  Anwendung 
des  Salvarsans  zur  Last  gelegt  werden.  Es1  sind  im  ganzen 
18  Fälle.  Aus  der  kritischen  Sichtung  derselben  ergibt  sich  nun: 
1.  Unter  sämtlichen  bekannt  gewordenen  Todesfällen  nach  Salv- 
arsanan Wendung  sind  nur  sieben  auf  schädigende  Wirkung  des 
Mittels  auf  das  Herz  zu  beziehen.  2.  Bei  fünf  von  diesen  sieben 
Fällen  ergab  die  Sektion  die  Trias:  Aortitis  luetica,  Koronar¬ 
sklerose,  Myokarditis,  respektive  Myodegeneratio  cordis.  Bei  einem 
Falle  fand  sich  nur  eine  Hypoplasie  des  Herzens  und  der  Aorta 
und  bei  einem  Falle,  bei  dem  der  Tod  im  Kollapszustande  ein¬ 
trat,  fanden  sich  schwere  Veränderungen  verschiedener  Organe, 
die  den  Tod  an  und  für  sich  erklären.  8.  Bei  vier  von  diesen 
sieben  Fällen  konnten  klinisch  objektive  Veränderungen  am 
Herzen  oder  an  den  Gefäßen  nicht  nachgewiesen  werden,  bei 
drei,  bestanden  auch  subjektiv  keinerlei  Beschwerden.  4.  Aortitis 
luetica,  kompliziert  mit  Herzmuskelerkrankungen,  besonders  die 
Trias:  Aortitis  luetica,  Koronarsklerose,  Myokarditis,  bilden  eine 
absolute  Kontraindikation  gegen  Anwendung  von  Salvarsan.  5.  An¬ 
gina,  pectoris  ohne  Komplikation  von  seiten  des  Herzmuskels, 
wird  durch  Salvarsan  in  günstiger  Weise  beeinflußt.  —  (Mün¬ 
chener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  20.)  G. 

* 

606.  Ueber  die  Ursachen  der  natürlichen  Pneumo¬ 
kokkenimmunität.  Von  Dr.  E.  Ungermann,  wissenschaft¬ 
licher  Hilfsarbeiter  im  Kaiserlichen  Gesundheitsamte,  ln  einer 
fiüheren  Untersuchung  über  die  Bedeutung  der  opsonischen  Se¬ 
rumkörper  für  die  normale  Tuberkuloseresistenz  kam  fing  er¬ 
mann  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  Opsonine  bei  dieser  Immunität 
keine  Rolle  spielen  dürften,  wies  aber  darauf  hin,  daß  bei  manchen 
anderen  Infektionserregern,  so  besonders  bei  den  Pneumokokken, 
enge  Beziehungen  zwischen  den  phagozytären  Kräften  des  Nor¬ 
malserums  und  der  natürlichen  Immunität  wahrscheinlich  seien, 
ohne  daß  jedoch  die  Opsonine  als  die  einzige  Ursache  der  nor¬ 
malen  Immunität  gegen  die  Pneumokokken  bei  allen  Tierarten 
aufzufassen  wären.  In  der  nun  vorliegenden  Arbeit  berichtet 
nun  Ungermann  über  seine  diesbezüglichen  weiteren  Unter¬ 
suchungen,  aus  denen  in  der  Tat  hervorgeht,  daß  die  normale  Pneu¬ 
mokokkenresistenz  wenigstens  in  den  von  ihm  untersuchten  Fällen 
auf  der  phagozytären  Kraft  des  frischen  Normalserums  beruht 
und  daß  das  Serum  zur  Entfaltung  dieser  Kraft  in  vitro  mit¬ 
unter  der  homologen  Leukozyten  bedarf.  —  (Arbeiten  aus  dem 
Kaiserlichen  Gesundheitsamte  1911,  Bd.  36,  H.  3.)  K.  S. 

* 

607.  (Aus  der  k.  k.  deutschen  Universitätsklinik  für  Hauf¬ 
und  Geschlechtskrankheiten  in  Prag.  —  Prof.  C.  Kreibich.) 
Ueber  neuere  Gonorrhoebehandlung.  Von  H.  Hecht 
und  E.  Klausner.  1.  Gonorrhoebehandlung  nach 
Schindler  (Berliner  klinische  Wochenschrift  1910,  Nr.  40).  Der 
Kranke  bekommt,  ohne  Rücksicht  auf  die  Dauer  und  Schwere 
der  Erkrankung,  täglich  2  bis  3  mg  Atropin,  in  Hohlsupposi- 
torien,  deren  jedes  1  cm3  einer  l%0igen  Atropinlösung  enthält. 
Die  konstante  Atropindarreichung  soll  „die  automatischen  und 
reflektorischen  Muskelbewegungen  der  Sexualorgane“  unter¬ 
drücken.  Kombiniert  wird  die  anale  Applikation  mit  der  endo- 
ureth ralen.  Bei  Akkommodationsstörungen,  Trockenheit  im’  Halse, 
und  so  weiter  (zwei  Beobachtungen)  wurde  mit  dem  Atropin 
ausgesetzt.  Die  genauere  Technik  ist  im  Aufsatz  Schindlers 
enthalten,  die  Verfasser  erwähnen  nur,  daß  die  akute  Gonorrhoe 
der  Pars  anterior  unter  A  tropin  dlarrei  chung  mit  stark  konzen¬ 
trierten  Protargollösungen  (3  bis  5%)  behandelt  wird.  Dem  Pro¬ 
targol  wird  zur  Vermeidung  von  Schmerzen  etwas  Kokain  hin¬ 
zugefügt.  Protargol  wird  am  besten  frisch  verwendet;  die  Auf¬ 
lösung  erfolgt  in  der  Kälte;  solche  Protargollösung  reizt  die 
Schleimhäute  nicht.  In  überraschend  kurzer  Zeit  verschwinden 


Eitersekretion  und  Gonokokken,  doch  soll  noch  einige  Tage  lang 
die  Behandlung  fortgesetzt  und  die  Heilung  durch  einen  provo¬ 
katorischen  Eingriff  (Applikation  von  5°/oigem  Protargol)  sicher- 
gestellt  werden.  In  neun  Fällen  von  Urethritis  gonorrhoica  anterior 
haben  die  Verfasser  nur  einmal  im  Anschluß  an  den  provo¬ 
katorischen  Eingriff  trotz  des  Atropins  eine  Progression  in  die 
1  osterior  beobachtet.  Ist  die  ganze  Harnröhre  erkrankt,  so  kann 
unter  Atropindarreichung  auch  die  Behandlung  der  Posterior  sofort 
eingeleitet  werden.  Mit  der  gewöhnlichen  Tripperspritze  werden 
unter  leichtem  Drucke  ein  bis  drei  Spritzen  14  bis  l^/oigen 
Protargols  eingespritzt,  bei  Schmerzen  wird  etwas  Kokain  hin¬ 
zugefügt.  Intelligentere  Patienten  machen  selbst  diese  Einspritz¬ 
ungen.  Auch  Lösungen  von  Argentum  nitricum  können  benützt 
werden.  30  Fälle  von  Urethritis  gonorrhoica  posterior,  zum  Teile 
durch  Erkrankungen  anderer  Organe  kompliziert,  zeigten  bald 
Klarwerden  der  zweiten  Harnportion  (ein  bis  acht  Tage-,  seltener 
später),  sechsmal  mußte  die  Behandlung  teils  wegen  Komplika¬ 
tionen,  teils  wegen  Mangels  einer  Besserung  abgebrochen  werden. 
Auch  wenn  die  zweite  Harnportion  klar  geworden  ist,  behandle 
man  weiter,  da  sonst  eine  Rezidive  folgt.  Die  Behandlungsdauer 
schwankte  zwischen  elf  Tagen  und  acht  Wochen,  auch  in  einigen 
schon  monatelang  in  anderer  Weise  behandelten  Fällen  führte 
die  S ch i nd ler sehe  Behandlung  in  kurzem  zur  Ausheilung. 
Sicher  ist,  daß  sie  für  einen  Teil  der  Fälle  eine  beträchtliche 
Verkürzung  der  Behandlungsdauer  bedeutet.  —  2.  Vakzine¬ 
behandlung  der  Komplikationen  (nach  Wright).  Zu¬ 
meist  wurde  Brucks  Arthigon,  in  einigen  FLüllen  auch  von 
Rei  te  r- Berlin  bezogene  Vakzine  angewendet.  Tn  dieser  Weise 
wurden  16  Fälle  (nach  Abschluß  der  Arbeit  weitere  zwölf  Fälle) 
behandelt.  Bei  Arthigon  wurden  nach  Bruck  nur  fieberfreie 
Fälle  gewählt  und  steigende  Dosen  der  Vakzine  (0-5  cm3  bis  zur 
Erzielung  kräftiger  Fieberwirkung  bei  Mengen  von  2  Cm3,  diese 
eventuell  mehrere  Male)  angewendet;  die  Injektionen  erfolgten 
intra glutäal  und  verursachten  kaum  nennenswerte  lokale  Be¬ 
schwerden.  In  sieben  kurz  beschriebenen  Fällen  (Urethritis  go- 
norrhoicia  mit  Arthritis,  Epididymitis,  Prostataerkrankungen  usw.) 
wurden  glänzende  Erfolge  erzielt,  wogegen  die  Vakzinebehandlung 
vollkommen  versagte  in  drei  weiteren  Fällen  (Prostatitis,  Poly¬ 
arthritis).  Die  Verfasser  sind  der  Ansicht,  daß  wir  in  der  Vak¬ 
zinetherapie  (Injektion  abgetöteter  Gonokokken,  Produktion  von 
Antistoffen,  nach  Beck)  einen  äußerst,  wertvollen  Heilbehelf  ge¬ 
wonnen  haben.  Die  Vakzine  wirkt  spezifisch  auf  den  Erfcrankungs- 
herd  ein,  führt  zu  einer  Verkürzung  der  Heilungsdauer,  zu  einer 
bedeutenderen  Verringerung  der  Schmerzen  und  vielleicht  auch 
zur  vollkommenen  Restitution  der  erkrankten  Organe.  (Befunde 
bei  Epididymitiden.)  Speziell  in  dem  Arthigon  besitzen  wir  ein 
sehr,  brauchbares  Heilmittel,  wenn  es  auch  in  einzelnen  Fällen 
( A n tik ö ipeitaa nge  1  solcher  Individuen)  völlig  versagt.  —  (Berliner 
klin.  Wochenschrift  1911,  Nr.  20.)  E.  F 

* 

608.  Ueber  Digitalis  Winckel.  Von  Heinrich  Ehlers, 
approbierter  Arzt  in  München.  Die  alten  Folia  Digitales  sind 
bekanntlich  ein  sehr  labiles  Medikament.  Schon  nach  einem  halben 
Jahre  verringert  sich  der  Titer  auf  die  Hälfte  seiner  Wirksamkeit, 
auch  ist  die  letztere  je  nach  Standort  der  Pflanze,  der  Zeit  der 
E ms amm lung  und  des  Jahrganges  und  dem'  Orte  der  Aufbewah¬ 
rung  sehr  variabel.  Bekannt,  sind  leider  auch  die  üblen  Einwir¬ 
kungen  auf  den  Magendarmkanal  durch  die  starke  Schleimhaut¬ 
reizung.  Die  Ursache  dieser  Uebelstände  sieht  Robert  in  dem 
Vorhandensein  von  mehreren  Enzymen,  welche  sich  neben  den 
wirksamen  Stoffen  in  den  Blättern  der  zweijährigen  Pflanze  finden 
zti  Beginn  der  Blütezeit,  wo  die  Blätter  gesammelt  werden  sollen. 
Diese  Enzyme  wirken  beim  Trocknen  und  nach  demselben  spaltend 
auf  alle  vorhandenen  Glykoside,  Digitoxin,  Digitalin,  Digitalein 
weiden  zersetzt  und  daher  wirkungslos  und  es  scheint  sogar 
durch  die  Spaltung  zur  Entstehung  von  krampferregenden  Spal¬ 
tungszwischenprodukten  zu  kommen.  Schmiiedeberg  konnte 
solche  wenigstens  künstlich  erzeugen.  Dr.  Max  Winckel  gelang 
die  folgerichtig  angestrebte  Herstellung  einer  enzym freien  Digitalis 
(Digitalis  Winckel).  Diese  besteht  nicht  aus  einzelnen  Tnhalts- 
bes  tan  d  teilen  der  Digitalisdroge  und  stellt  auch  nicht  einen  Ex¬ 
trakt  der  wirksamen  Digitalisstoffe  dar,  sondern  es  sind  die  frisch 
geernteten,  durch  Zerstörung  der  Fermente  konservierten,  ge- 


l 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


trockneten  und  in  Tablettenform  gebrachten  Digitalisblätter,  deren 
nunmehr  gleichbleibender  Titer  im  Tierexperiment  von  Winckel 
festgcslellt  wurde.  Er  fand  nicht  bloß,  daß  das  neue  Präparat  allen 
Anforderungen,  die  an  die  gute  frische  Digitalisdroge  gestellt 
werden  kann,  entspricht,  sondern  daß  es  auch  den  Ersatzmitteln 
der  Droge  sich  überlegen  zeigt.  Sehr  wichtig  erscheint  aber  die 
gemachte  Erfahrung,  daß  die  Digitalis  Winckel  ausnahmslos  gut 
vertragen  wurde  und  deshalb  auch  dauernd  verabreicht  werden 
konnte.  Keinerlei  ungünstige  Nebenwirkungen  auf  den  Verdauungs- 
li  aktus  ließen  sich  nachweisen.  Es  scheint  also,  daß  die  Ansichten 
Kobers  und  Schmiedebergs  über  die  störende  Wirkung  der 
Enzyme  in  der  alten  Folia  Digitalis  ganz  richtige  sind.  —  (In¬ 
auguraldissertation  zur  Erlangung  der  Doktorwürde  in  der  ge¬ 
samten  Medizin,  verfaßt  und  einer  hohen  medizinischen  Fakultät 
der  kgl.  bayr.  Maximilian-Universität  in  München  vorgelegt.) 

K.  S. 

* 

(509.  (Aus  der  Frauenklinik  des  städtischen  Krankenhauses 
zu  Frankfurt  a.  M.  —  Direktor:  Prof.  Walthard.)  Uolber 
funktionelle  Hy  per  sek  re  ti  on  der  Blasenschleim- 
hautdrüsen.  Von  Dr.  Rudolf  Oppenheimer.  Verf.  beschreibt 
eine  funktionelle  Blasenerkrankung,  welche  im  Gegensatz  zu  an¬ 
deren  funktionellen  Blasenstörungen  durch  ein  ausgesprochenes 
Symptomenbdld  charakterisiert  ist.  Die  Patienten  klagen  über 
Brennen  in  der  Harnröhre,  meist  während  der  Miktion.  Am 
Tage  gesteigerte  Miktionsfrequenz.  Urin  klar,  im  Sediment  zahl¬ 
reiche  Epithelien,  etwas  Schleim,  vereinzelte  Leukozyten.  Unter 
fünf  Fällen  war  der  Harn  viermal  steril,  in  einem  Falle 
wurde  Staphylococcus  albus  und  eine  Sarzine  gezüchtet.  Zysto- 
skopisch  fanden  sich  am  Boden  der  Blase,  deren  Kapazität  nicht 
vermindert  war,  dicht  hinter  dem  Sphinkter,  in  den  vorderen 
Partien  des  Trigonums,  deutlich  erkennbare  Schleimmässeo, 
welche  bald  klumpenartig  zusammengeballt  waren,  bald  in  Form 
kleinster,  locker  aufsitzender  Schleimablagerungen,  über  den  vor¬ 
deren  Teil  des  Trigonums  zerstreut  lagen.  Diese  Schleimmassen 
wurden  selbst  durch  ausgiebige  Blasenspülungen  nicht  entfernt, 
hafteten  also  der  Schleimhaut  fest  an.  Gegen  die  Annahme 
einer  Cystitis  trigoni  oder  eines  fast  ausgeheilten  Blasenkatarrhs 
sprach  nach  Verf.  das  Hervortreten  vollkommen  intakter  Schleim- 
hautpartien  zwischen  den  Schleimauflagerungen,  sowie  das  Fehlen 
einer  nennenswerten  Leukozytenzahl  im  Urin.  Es  handelt  sich 
dabei  ausnahmslos  um  sehr  nervöse  Individuen,  welche  Störungen 
der  Drüsentätigkeit  aufweisen,  wie  Schweißausbrüche  und  Hyper¬ 
sekretion  innerhalb  des  Magendiarmkanals,  vermehrte  Absonde¬ 
rung  innerhalb  der  Genitalsphäre,  gesteigerte  Tätigkeit  der  B  ar¬ 
thol  inischen  und  Uterusdrüsen.  Als  eine  Hypersekretion  auf 
nervöser  Basis  möchte  Verf.  das  hier  beschriebene  Blasenbild 
auffassen.  Die  Therapie  ist  eine  kausale.  Vor  allem  sind  der¬ 
artige  Kranke  über  die  Bedeutungslosigkeit  ihres  Leidens  auf¬ 
zuklären.  Zu  verwerfen  ist  jede  lokale  Behandlung.  Wenn  die 
geschilderte  Erkrankung  bisher  nur  bei  Frauen  beobachtet  wurde, 
so  spricht  nichts  gegen  deren  Vorkommen  beim  männlichen  Ge¬ 
schlecht,  um  so  mehr,  als  Verf.  zweimal  bei  Männern  eine  ana¬ 
loge  Hypersekretion  der  Harnröhrendrüsen  konstatieren  konnte. 
—  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  20.)  G. 

* 

010.  U  n Bereue. huhgen  an  d  en  S  ekreten  und  Ex- 
kreten  des  Verd  auu  ngstraktus  mit  Hilfe  der  biologi¬ 
schen  Methoden.  Von  Dr.  Heinrich  Citron,  früherer  frei¬ 
williger  Hilfsarbeiter  im  Kaiserlichen  Gesund  belts  amte.  Während 
die  Diagnostik  der  Verdauungskrankheiten  bekanntlich  den  physi¬ 
kalischen,  chemischen  und  physikalisch-  chemischen  Unter¬ 
suchungsmethoden  die  größte  Förderung  verdankt,  so  haben  bisher 
trotz  mancher  Bemühungen  die  rein  biologischen  Methoden  in 
dieser  Beziehung  vollkommen  versagt.  Auch  Citrons  neuer¬ 
liche  Untersuchungen  lieferten  nicht  viel  Positives.  So  fand  auch 
er,  daß  die  Methode  der  Anaphylaxie  bei  der  Untersuchung  des 
Magensaftes  und  Stuhles  für  die  klinische  Diagnose  in  keiner 
Weise  zu  verwerten  ist.  Und  nicht  viel  günstiger  liegen  die  Ver¬ 
hältnisse  bei  der  Komplementablenkung.  Einzig  die  Präzipitin¬ 
methode,  welche  zudem  durch  relativ  einfache  Technik  und 
relative  Resultate  sich  auszeichnet,  erscheint  beachtenswert  für 
die  Diagnose  des  blutenden  Duodenalgeschwürs  auf  Grund  der 


Stuhluntersuchung.  Für  den  Magensaft  ist  sie  bei  vorhandener 
freier  Salzsäure  ohne  Wert  Bei  fehlender  Salzsäure  hingegen 
liefert  sie  wertvolle  Aufschlüsse  über  nervösen  oder  organischen 
Säuremangel  und  über  das  Vorhandensein  von  Magenkarzinom, 
falls  Citrons  Fntersuchungsergebnisse  auch  weiterhin  sich  be¬ 
stätigen  sollten.  (Arbeiten  aus  dem  Kaiserlichen  Gesundheits¬ 
amte,  1911,  Bd.  36,  H.  3.)  K.  S. 

♦ 

611.  U  e  he  r  Nie  re  ns  c  h  ä  d  i  g  u  n  g  e  n  d  u  rch  S  al  v  a  r  s  a  n. 
Von  Dr.  R.  Mohr,  Assistenten  der  medizinischen  Klinik  des 
Prof.  v.  Strümpell  in  Leipzig.  Ernstere  Nierenschädigungen  im 
Anschluß  an  den  Gebrauch  von  ,,606"  sind  schon,  wie  Verf.  aus¬ 
fühl  t,  von  mehreren  Klinikern  (Gerönne,  Weiler,  Wert  her, 
Seilei  u.  a.)  mitgeteilt  worden.  Mohr  selbst  hat  in  letzter  Zeil 
drei  Fälle  von  Nicrenaffektionen  nach  Salvarsaninjektionen  be¬ 
obachtet  und  beschreibt  diese  Fälle  eingehend.  Eine  23  Jahre 
alte  Kontoristin  wurde  durch  Baunscheidtismus  an  der  linken 
Thoraxseite  luetisch  infiziert.  Sie  machte  vier  Schmierkuren  durch, 
bekam  dann  Salvarsan  (0-5)  in  alkalischer  Lösung.  Vor  der 
Injektion  war  der  Urin  frei  von  Eiweiß,  Pat.  war  niemals  früher 
nierenkrank  gewesen.  Nach  achttägiger  Beobachtung  entlassen, 
bemerkte  sie  einige  Tage  später  eine  leichte  Anschwellung  der 
Augenlider,  später  auch  der  Füße.  An  der  Klinik  konstatierte 
man  einen  etwas  unreinen  ersten  Herztou,  die  Harnmenge  auf 
ca.  700  cm3  vermindert;  der  Harn  enthielt  6%o  Eiweiß,  Blut, 
ferner  reichlich  hyaline,  zum  Teil  mit  Leukozyten  besetzte  Zy¬ 
linder,  spärliche  granulierte  und  Epithelialzylinder  und  freie 
Nierenepithelien.  Arsen  war  im  Urin  chemisch  nicht  nachweisbar. 
Der  Zustand  der  Kranken  verschlimmerte  sich:  400  bis  800  cm3 
Urin,  reichlich  Blut,  10  bis  12%o  Eiweiß,  Wachszylinder  und 
total  verfettete  Nierenepithelien,  dann  Transsudate  in  die  Pleura¬ 
höhle  und  ins  Abdomen,  schwere  Neuroretinitis  mit  zahlreichen 
kleinen  Nctzhautblutungen  usw.  Wassermann  ist  negativ.  Der 
zweite  Fall  betraf  einen  37  Jahre  alten  Mann,  der  wegen  Lues 
eine  Schmier-  und  Injektionskur  durchmachte,  trotzdem  Rezidive 
in  Gestalt  schwerer  ulzerierter  Gummata  an  Kopf  und  Extremi¬ 
täten  usw.  bekam.  Er  erhielt  0-75  g  Salvarsan  nach  Alt  in 
beide  Glutäen.  Danach  starke  Durchfälle,  die  erst  nach  drei 
Wochen  aufhörten,  häufiger  Harndrang.  Der  vor  der  Injektion 
eiweißfreie  Urin  wies  nach  mehr  als  14  Tagen  2%o  Albumen  und 
vereinzelte  hyaline  Zylinder  auf,  zeigt  jetzt  —  nach  Monaten 
einen  Eiweißgehalt  zwischen  1  bis  lV2%o,  die  Tagesmenge 
beträgt  900  bis  1400  cm3.  Der  Mann  bekam  außerdem  21h  Wochen 
nach  der  Injektion  eine  Polyneuritis  mit  hochgradiger  Parese 
des  linken  Fußes  und  leichterer  Parese  des  rechten  Peroneus- 
gebiete«  usw.  Der  dritte  Fall  ist  der  lehrreichste.  Ein  öljäh¬ 
riger  Mann  zeigte  zerebrale  Symptome,  die  bei  positivenf  Wasser¬ 
mann  als  beginnende-  progressive  Paralyse  aufgefaßt  wurden.  Er 
bekam  0-48  g  Salvarsan  intravenös  in  alkalischer  Lösung.  So¬ 
fort  danach  Schüttelfrost,  wässerige  Stühle,  hohes  Fieber,  bis 
40-8",  Erbrechen  und  schwerer  Kollaps,  weshalb  er  eine  Koch¬ 
salzinfusion  bekam.  Der  Urin  ist  vor  der  Infusion  völlig  normal. 
An  der  Klinik  zeigt  der  durch  Urate  getrübte  Harn  kein  Blut, 
wohl  aber  Eiweiß  (l%o).  Auffallend  war  dabei  der  reichliche 
Gehalt  des  Sedimentes  an  Formbestandteilen:  ausgesprochen  wach¬ 
sige,  opake,  scharf  konturierte  Zylinder,  denen  mitunter  körnige, 
zum  Teile  verfettete  Nierenepithelien  anlagen.  Zahlreiche  Zylinder 
bestanden  vollkommen  aus  veränderten,  zum  Teil  auffallend  glasig 
aussehenden  Nierenepithelien.  Auch  freiliegend  fanden  sich  reich¬ 
liche:,  glasige  oder  mehr  körnige  Nierenepithelien,  dabei  spär¬ 
liche  hyaline  Zylinder,  keine  roten  Blutkörperchen,  vereinzelte 
Leukozyten.  Strophantin-  und  reichliche  Kampfer-  und  Koffein¬ 
injektionen.  Pat.  erholte  sich,  wurde  am  nächsten  Morgen  ziem¬ 
lich  klar.  Harnmenge  während  der  ersten  drei  Tage-  stark  ver¬ 
mindert  (ca.  4041  cm3),  stieg  sodann  auf  normale  Mengen,  wurde 
vom  fünften  Tage-  eiweißfrei,  gleichzeitig  verschwanden  die  Form? 
b-eistand teile.  Der  Zustand  seitens  der  Nieren  war  auch  später 
normlal,  die  'beginnende  Paralyse  wurde  nicht  beeinflußt.  Im 
letzten  Falle  bestand  sicher  keine  Nephritis  im  eigentlichen  Sinne, 
sondern  eine  akute  Parenchymdegeneration,  wie  man  sie  bei  der 
Sublimatniere  zu  sehen  gewohnt  ist.  Die  NiePenerscheiuungen 
sind  rasch  vorübergegangen,  da  bei  der  intravenösen  Einver¬ 
leibung  des  Salvarsans  die  Arsenwirkung  auf  die  Nieren  eine 


Nr.  24 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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sehr  kurze  Zeit  andauernde  wax.  Anderer  Art  sind  die  in  den 
ersten  zwei  Fällen  nach  intramuskulärer  Salvarsaninjektion  auf¬ 
getretenen  Nierenveränderungen,  es  sind  echte  Nephritiden,  im 
ersten  ('alle  eine  äußerst  schwere  hämorrhagische  Nephritis.  In 
beiden  Fällen  mögen  die  Nieren  sehr  wenig  widerstandsfähig 
gewesen  sein,  die  Erkrankung  war  aber  sicherlich  eine  Folge 
der  Salvarsaninjektion.  Bei  der  intramuskulären  Injektion  ist 
die  Arsenausscheidung  von  sehr  langer  Dauer  (17  bis  25,  sogar 
Ins  zu  50  Tagen  dauernd),  dann  findet  in  den  Depots  durch  De¬ 
duktion  oder  Oxydation  eine  Veränderung  des  Präparates  unter 
Bildung  giftiger  Arsenverbindungen  statt,  die  eventuell  noch 
weiterhin  die  Nieren  schädigen  (Gerönne).  Vielleicht  spielen 
bmm  Zustandekommen  der  Nephritis  die  nach  der  Salvarsan¬ 
injektion  Jrei  werdenden  größeren  Mengen  Endotoxins  eine  Rolle, 
wie  andere  Kliniker  glauben.  Jedenfalls  -  so  schließt  der  Ver¬ 
fasser  müssen  uns  die  gemachten  Erfahrungen  entschieden 
dazu  auf  fordern,  besonders  nach  intramuskulären  Salvarsaninjek- 
tionen  noch  auf  längere  Zeit  hinaus  genaue  Urinkon¬ 
trollen  vorzunehmen,  da  es,  wie  der  erste  und  zweite  Fall 
zeigt,  noch  nach  längerer  Latenz  zu  Nierenerkrankungen  kommen 
kann.  Vielleicht  ließe  sich  dann  die  rechtzeitig  erkannte  Nephritis 
durch  chirurgische  Entleerung  des  etwa  noch  vorhandenen  intra¬ 
muskulären  Arsendepots  günstig  beeinflussen.  —  (Medizinische 
Klinik  1911,  Nr.  16.)  E.  F. 


612.  (Aus  der  ersten  medizinischen  Klinik  in  Wien.  - 
Vorstand :  Prof.  C.  v.  Noofden.)  Kreislauf  und  Zwerch¬ 
fell.  Von  Hans  Eppinger  und  Ludwig  Hofbauer.  Hochstand 
des  Zwerchfells  veranlaßt  verbesserten  Blutabfluß  aus  den  unteren 
Extremitäten  dadurch,  daß  das  Foramen  quadrilaterum  möglichst 
weit  wird.  Beim  Tiefstand  des  Zwerchfells  hingegen  veranlassen 
die  sehnigen  Ausstrahlungen  der  Zwerchfellschenkel  eine  Ab¬ 
klemmung  desselben,  mithin  eine  Beeinträchtigung  des  Blutab¬ 
flusses.  Nützlich  aber  wird  das  inspiratorische  Tiefertreten  des 
Zwerchfells  für  den  Blutabfluß  aus  den  Bauchorganen  durch 
Druckwirkung  auf  die  Leber  und  Lebervenen.  —  (Zeitschrift 
für  klinische  Medizin  1911,  Bd.  62,  H.  1  und  2.)  K.  S. 

* 

Aus  ungarischen  Zeitschriften. 

613.  lieber  drei  erfolgreich  mit  intravenöser 

Sublimatinjektion  behandelte  Sepsisfälle  berichtet 
Dr.  Karl  Hochhalt  in  Budapest.  Im  ersten  Falle  entstand  die 
Sepsis  infolge  Senkung  eines  appendikulären  Abszesses  und  als 
jeder  chirurgische  Eingriff  aussichtslos  war,  ist  sie  mit  Sublimat¬ 
injektionen  in  die  Venen  geheilt  worden.  Es  sind  insgesamt 
sechs  Einspritzungen  zu  je  29  mg  Sublimat  vorgenommen  wor¬ 
den.  Im  zweiten,  ebenfalls  mit  Sublimat  prompt  zur  Heilung  ge¬ 
brachten  Falle,  handelt  es  sich  um  wochenlang  bestandene,  den 
Typus  eines  Intermittens  nachahmende  Fieberattacken,  als  deren 
Ursache  man  notgedrungen,  da  die  Blutuntersuchung  auf  Plasmo¬ 
dien  negativ  war,  kryptogenetische  Sepsis  annehmen  mußte.  Der 
dritte  Fall  betraf  eine  Wöchnerin,  bei  der  durch  zurückgebliebene 
Plazentareste  Sepsis  entstand  und  bei  der  trotz  der  vollständigen 
Entfernung  der  zersetzten  Plazentaresiduen  14  Tage  hindurch 
Puerperalfieber  bestand.  Nachdem  sechs  Sublimatinjektionen  in 
die  Venen  gemacht  wurden,  trat  am  sechsten  Tage  vollständige 
Afebrilität  ein.  Hochhalt  hebt  ausdrücklich  hervor,  daß  in  allen 
diesen  Fällen  es  sich  um  schwere  Sepsis,  um  deren  sogenannte 
toxinämische  Form  handelte  und  nach  dem1  günstigen  Erfolge, 
den  ex  von  den  intravenösen  Süblimatinjdktionen  sah,  glaubt 
er  diese  Behandlungsweise  aufs  nachdrücklichste  empfehlen  zu 
können.  —  (Gyögyäszat  1911,  Nr.  6.)  — ch  —ch. 

* 

614.  Die  Liste  der  gewerblichen  Gifte,  deren  Fest¬ 
setzung  bekanntlich,  über  Wunsch  der  Internationalen  Vereinigung 
des  Arbeiterschutzes,  in  allen  Kulturstaaten  vorgenommen  werden 
soll,  beschäftigte  am  27.  April  d.  J.  auch  den  Landessanitätsrat 
in  Ungarn.  In  seinem  Gutachten  führt  Prof.  Dr.  Lieb  ermann 
unter  anderem  folgendes  aus:  „Die  vollständige  Liste  der  in  den 
verschiedenen  Gewerbezweigen  teils  als  Rohprodukte  verwendeten, 
teils  als  Nebenprodukte,  bei  den  mannigfaltigen  Prozeduren  und 
Reaktionen  gewonnenen  oder  als  Abfälle  auftretenden,  giftigen 
Stoffe  zu  bestimmen,  ist.  ein  mit  großen  Schwierigkeiten  verbun-  ! 


dones,  um  nicht  zu  sagen  unmögliches  I  nternehmen.  Schon  des¬ 
halb,  weil  die  unausgesetzt  sich  weiter  entwickelnde  Technik 
täglich  neue  Rohstoffe  und  Bearbeitungs verfahren  erfindet,  so 
daß  eine  heute  abgegebene  Liste,  so  vollständig  sie  auch  wäre, 
schon  morgen  in  gewissem  Sinne  als  unzulänglich  und  veraltet 
gelten  würde.  Aber  abgesehen  hievon,  muß  man  bezweifeln, 
ob  eine  derartige  Liste  einen  ernsten  Zweck  und  vom  Standpunkte 
des  Arbeiterschutzes  auch  irgendwelchen  Nutzen  hätte?  Nach 
unserer  Ansicht,  würde  der  mit  den  Gewerbekrankheiten  sich  be¬ 
fassende  Arzt  von  dieser  Liste  kaum  irgendeinen  Gebrauch  machen 
können,  weil  er  den  Arbeiter  nur  dann  vor  den  gesundheitswidrigen 
Schädlichkeiten  bewahren,  im  gegebenen  Falle  nur  dann  die 
richtige  Diagnose  machen  und  sein  Augenmerk  nur  dann  auf  ein 
bestimmtes  Gift  richten  könnte,  wenn  er  den  betreffenden  Ge¬ 
werbezweig,  bzw.  jede  Produktionsphase  desselben  genau  kennen 
würde.  Es  ist  selbst  die  Vorstellung  unmöglich,  daß  der  Arzt 
bei  der  Untersuchung  des  kranken  Arbeiters  zunächst  die  Gift¬ 
liste  durchstudieren  und  aus  ihr  erforschen  wollte,  welche  Sym¬ 
ptome  des  Kranken  den  in  der  Giftliste  angegebenen  entsprächen. 
Was  der  Arzt  benötigt,  ist  also  nicht  eine  Giftliste,  ergänzt  mit  der 
kurzen  Aufzählung  der  den  Giften  anhaftenden  schädlichen  Wir¬ 
kungen  oder  Angabe,  wo  diese  Gifte  benützt  werden,  sondern 
es  sollte  ihm  eine  gute  Technologie,  eine  Gewerbehygiene  und 
Toxikologie  zur  Verfügung  gestellt  werden.  Aber  auch  dem  Arbeiter 
würde  eine  derartige  Liste  wenig  frommen,  denn  abgesehen  davon, 
daß  viele  Rohstoffe  unter  den  verschiedensten  Synonymen  im 
Handel  zirkulieren,  so  daß  er  kaum  in  der  Lage  wäre,  jene  Sub¬ 
stanz  in  der  Liste  aufzufinden,  die  eben  ihn  interessiert,  wird  er 
überdies  auch  oft  kaum  in  der  Lage  sein  zu  entscheiden,  ob  in 
der  Fabrik,  in  der  er  arbeitet,  dieser  oder  jener  Stoff  überhaupt 
zur  Verwendung  gelangt.  Wir  glauben  vielmehr,  daß  eine  der¬ 
artige  Liste,  wenn  sie  der  Arbeiter  lesen  würde,  mehr  Schaden 
als  Nutzen  anrichten  würde,  weil  der  Arbeiter  sich  dann  Ver¬ 
giftungserscheinungen  suggerieren  würde,  die  er  nicht  hat  und  die 
Zahl  der  eingebildeten  Krankheiten  nur  zunehmen  wird  ( ?  Ref.). 
Auch  dem  Unternehmen  würde  eine  derartige  Zusammenstellung 
der  Gifte  von  keinem  Nutzen  sein.  Auch  er  kann  sich  besser 
orientieren,  wenn  er  eine  gute,  ausführliche  Gewerbehygiene  oder 
Technologie-  zur  Einsicht  hat.  Ja,  wenn  der  Unternehmer  cs  nicht 
als  Aufgabe  betrachtet,  die  Gesundheit  seiner  Arbeiterschaft  zu 
schützen,  sondern  vielmehr,  wenn  er  gar  das  Bestreben  hätte,  die 
gesetzlichen  Vorschriften  zu  umgehen,  so  wäre  gerade  diese  Gift¬ 
liste  sehr  geeignet,  um  diesem  schädlichen  Vorhaben  Vorschub 
zu  leisten,  weil  ja,  wie  bereits  betont,  die  Anfertigung  einer  voll¬ 
ständigen  Giftliste  derzeit  ausgeschlossen  ist  und  deshalb  der 
Unternehmer  sich  damit  verteidigen  könnte,  daß  dieser  oder  jener 
Stoff,  der  eventuell  sich  als  schädlich  -erwies,  in  der  Giftliste 
nicht  enthalten  sei.  Schließlich  besteht  noch  eine  große  Schwierig¬ 
keit  darin,  daß  der  Begriff  „Gift“  derzeit  überhaupt  noch  nicht 
genau  umschrieben  werden  kann.  Da  spielt  die  individuelle  Em¬ 
pfänglichkeit  eine  große  Rolle  und  neben  der  Idiosynkrasie  noch 
die  Art  der  Anwendung  und  Einverleibung.  Ein  Stoff  erweist  sich 
unter  bestimmten  Umständen  als  Gift,  unter  anderen  nicht,  wes¬ 
halb  man  auf  diesem  Gebiete  nicht  schematisieren  kann  und  darf.“ 
Mit  dem  Hinweis  darauf,  daß  in  Deutschland  bereits  Professor 
Sommerfeld  eine  derartige  Giftliste  zusammengestellt  habe 
und  daß  der  Gewerbeinspektor  Fischer,  sowie  das  Institut 
für  G  ewer b e h y g i en-e  diese  Liste  abfällig  beurteilt  haben, 
empfiehlt  der  Landessanitätsrat  der  Regierung,  derzeit  von  der 
Zusammenstellung  einer  Giftliste  äbzusehen.  —  (Közegeszseg  1911, 
Nr.  10.)  -ch  -ch. 

* 

615.  Ueber  einige  Nebenwirkungen  von  Salv- 
arsan.  Von  Dr.  Josef  Sei  lei,  Budapest.  Verf.  hat  in  drei 
Fällen  Erkrankungen  des  Gehörorganes  nach  Salvarsan¬ 
injektion  beobachtet.  Die  kurzen  Krankengeschichten  der  drei 
Fälle  sind  folgende:  1.  A.  B.,  19jährige  Pu-ella  publica,  hat  im 
Februar  1909  Lues  akquiriert  und  wurde  Ende  Juli  des  selben 
Jahres  mit  Plaques  linguae  und  Roseola  auf  die  Klinik  auf¬ 
genommen.  Nach  zweimaliger  Injektion  einer  2%igen  Sublimat¬ 
lösung  bekam  sie.  am  6.  August  1910  0-6  Salvarsan  (in  neutraler 
Emulsion)  intramuskulär  eingespritzt.  Am  28.  November  1910 
kam  sie  mit  der  Klage,  daß  sie  seit  eipigen  Wochen  heftige  Kopf- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


schmerzen  habe  und  auf  dem  linken  Ohne  schlecht  höre.  Der 
otologisclie  Befund  lautete:  Hypaesthesia  acustica  wegen 
Erkrankung  des  Nervus  cochlearis.  2.  A.  R.,  36jähriger 
Zuckerbäcker,  erkrankte  an  Lues  1909,  wurde  öfters  mit  Queck¬ 
silber  behandelt  und  erhielt  am  20.  September  1910,  als  er 
Plaques  oris  und  Roseolen  hatte,  eine  Salvarsaninjektion  (0-55  g) 
subkutan.  Anfangs  Dezember  1910  bekam  er  die  zweite  Salv¬ 
arsaninjektion  subkutan  (0-25  g)  intravenös.  Am  darauffolgenden 
Tage  Klagen  über  rechtseitiges  Ohrensausen.  Es  wurde  ihm 
Jodkalium  verordnet,  worauf  das  Ohrensausen  rechts  nachließ, - 
aber  linkseitig  auftrat  und  überdies  auch  Schwerhörigkeit  auf 
diesem  Ohre  sich  bemerkbar  machte.  Der  otologisclie  Befund 
ergab  ein  älteres  Leiden,  das  anscheinend  aufSalv- 
arsan  exaz  er  hiel  te.  3.  A.  J.,  34jährj;ger  Eisenbahn¬ 
beamter,  mit  Sklerose,  Roseola  und  Papulae  syphiliticae, 
Polyadenitis.  Hat  vorausgehend  15  Sublimateinspritzungen  (2°/o) 
erhalten.  Am  20.  Oktober  1910  bekam,  er  0-6  g  Salvarsan  subkutan 
und  erscheint  04  Tage  nach  der  Injektion  (am  22.  Dezember  1910) 
mit  der  Klage,  daß  er  seit  vier  Tagen  am  rechten  Ohre  Sausen 
habe  und  auch  schlecht  höre.  Auf  dem  Kopfe  treten  typische 
syphilitische  Papeln  auf !  Der  otologisclie  Befund  ergab  den  Be¬ 
stand  eines  Mittelohrkatarrhs.  —  Verf.  hebt  hervor,  daß 
in  allen  diesen  drei  Fällen  es  sich  um  frische  Erkrankungen 
handelte,  was  mit  der  Ansicht  Ehrlichs,  der  derlei  Komplika¬ 
tionen  als  H  e  rx  h  ei  m  er  sehe  Reaktion,  resp.  rezidivierende 
Neuritiden  deklarierte,  übereinstimme.  Seilei  hat  auch  eine 
Erkrankung  des  Okulornotorius  und  zugleich  des  Abduzens 
nach  einer  intramuskulären  Salvarsaninjektion  beobachtet.  Zwei 
Monate  nach  der  Einspritzung  trat  Doppeltsehen  und  Schwach¬ 
sehen  auf  dem  rechten  Auge  dieses  Patienten  auf.  Nachdem  der 
Kranke  vier  Wochen  hindurch  mit  Kalomelinjektionen,  Zittmann- 
dekokt  und  Schwitzkuren  behandelt  wurde,  verschwand  die  Okulo¬ 
motoriuslähmung  gänzlich,  der  linke  Abduzens  retardiert  noch  ein 
wenig.  Verf.  kommt  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  nach  Salvarsan- 
injektionen  auftretenden  Gehirnnervenerkrankungen  nicht  toxi¬ 
schen  Ursprunges  seien  und  daß  in  den  Frühstadien  der  Syphilis 
sowohl  die  intramuskuläre,  als  auch  die  subkutane  Einverleibung, 
weil  die  Resorption  des  Salvarsans  eine  ungenügende  sei,  eine 
deplacierte  wäre.  In  den  Frühstadien  soll  nur  intravenös 
injiziert  werden!  In  einem  anderen  Falle  wurde  die  Ab¬ 
nahme  der  Albufninurie  bei  einer  auf  luetischer  Grundlage 
stehenden  Nierenerkrankung  vermerkt  und  hervorgehoben 
soll  noch  werden,  daß  sich  auch  nach  intravenöser  Injektion  des 
Salvarsans,  etwa  14  Tage  nach  der  Injektion,  eine  allgemeine 
Ueberempfindlichkeit,  Gliederschmerzen,  Kopfweh  und  auch  leich¬ 
tere  Temperatursteigerungen  einzustellen  pflegen.  —  (Gyögyäszat 
1911,  Nr.  20.)  — ch  — ch. 

* 

616.  Ueber  die  Wirkung  und  Anwendungsweise 
von  Pantopon  bei  Geisteskranken.  Von  Dr.  Andor  0 1  ä h, 
Hausarzt  im  Schwartz  ersehen  Sanatorium  für  Gemüts-  und 
Nervenkranke  in  Budapest.  Das  Pantopon  kann  mit  Erfolg  bei 
Geisteskranken  als  Sedativum  und  Hypnotikum  auf  Grund  fol¬ 
gender  Indikationen  angewendet  webten :  1.  Als  Sedativum, 
bei  Reizzuständen  der  psychischen  Sphär|e,  bei  Depressiöns- 
unruhen,  bei  psychomotorischer  Unruhe,  bei  psychischen  Störun¬ 
gen,  die  mit  veränderten  Körpergefühlen  (Parästhesien,  Globus, 
lanzinierende  Schmerzen,  Neuralgien,  Kopfschmerzen,  sexuellen 
Reizzuständen)  oder  motorischen  Störungen  (Wein-  und  Lach¬ 
krämpfe,  vasomotorische  Störungen)  verbunden  sind.  2.  Als 
Hypnotikum  in  all  den  Fällen,  in  denen  die  Anwendung 
eines  milderen  Schlafmittels  oder  die  Abwechslung  eines  bereits 
angewandten  Schlafmittels,  bzw.  die  Verstärkung  seiner  schlaf¬ 
bringenden  Wirkung  angestrebt  wird.  Mit  anderen  Hypnotika 
vereint,  wirkt  das  Pantopon  auch  in  den  schwereren  Fällen  von 
Schlaflosigkeit,  die  bei  größeren  Reizzuständen  der  psychomoto¬ 
rischen  Sphäre  auftreten.  Verfasser  will  nie  unliebsame  Neben¬ 
erscheinungen  des  Mittels  beobachtet  haben.  Auch  die  ahtidiar- 
rhoische  V  irkung  des  Pantopons  kann  vermieden  werden,  wenn 
man  es  in  größeren  Dosen  und  auf  ganz  nüchternen  Magen 
verabfolgt.  Verf.  hat  es  als  Sedativum,  sowohl  in  Tabletten,  als 
auch  in  Lösung  (0  02  g  pro  dosi  und  0-06  g  pro  die)  gegeben. 
Um  eine  intensivere  beruhigendere  Wirkung  zu  erzielen,  kombi¬ 


nierte  er  das  Pantopon  mit  Natrium  bromatum  nach  folgender 
Rezeptformel:  Rp.  Natrii  bromati  15-0,  Pantopon  0-15,  Aquae  de- 
stillata.e  200-0.  MDS.  Täglich  drei  bis  vier  Eßlöffel.  Auch  gegen 
die  Schlaflosigkeit  wurde  es  in  Tabletten,  resp.  in  Form  von 
Lösungen  angewandt.  Das  gelöste  Pantopon  wurde  in  der  Regel 
subkutan  injiziert,  allein  (0-02  bis  0  03  g  pro  dosi)  oder  mit  Mor¬ 
phium,  Hyoszin  vereint.  Also  nach  folgender  Formel:  Morphini 
hydrachlor.  0-005  bis  0-01  g  +  Pantopon  0-01  bis  0-02  g  pro  dosi 
oder  Ilyoscini  hydrochlorici  0-0005  bis  0-Üülg  +  Pantopon  0-01 
bis  0-02  g  pro  dosi.  —  (Gyögyäszat  1911,  Nr.  17  u.  18.) 

— ch  — ch. 

* 

Aus  russischen  Zeitschriften. 

617.  (Aus  dem  Laboratorium  des  Prof.  J.  J.  Metschnikow 
im  Pasteurschen  Institut  zu  Paris.)  Zur  Frage  der  Ein¬ 
wirkung  des  Bacterium  coli  ;auf  den  Organismus  der 
Tjiere.  (Vorläufige  Mitteilung.)  Von  J.  B.  Studs  ins'k/ij. 
Wurden  Kaninchen  und  Meerschweinchen  intravenös  lebende  und 
äbgetötete  Kulturen  von  Bacterium  coli  (Loive)  wiederholt  ein- 
gespritzt,  so  ergaben  sich  Veränderungen  in  den  parenchymatösen 
Organen  und  im  Blutgefäßsystem.  Die  Veränderungen  in  der 
Leber  bestanden  im  wesentlichen  in  kleinzelliger  Infiltration  und 
in  der  Entwicklung  jugendlichen  Bindegewebes,  hauptsächlich 
längs  der  Zentralvenen.  Aehnliche  parenchymatöse  und  intersti¬ 
tielle  Veränderungen  zeigten  auch  die  Nieren.  An  der  Aorta  konnte 
man  Veränderungen  beobachten,  welche  denen  bei  experimenteller 
Arteriosklerose  analog  waren.  Darreichung  der  gleichen  Stämme 
per  os  blieb  wirkungslos.  —  (Russkij  Wratsch  1911,  Nr.  6.) 

J.  Sch. 

* 

1 

618.  Ueber  ein  bisher  unbeachtetes  Symptom  hei 

rezidivierender  Appendizitis.  Von  Prof.  N.  M.  Wolko- 
witsch-Kiew.  Verf.  teilt  —  im  Sinne  einer  vorläufigen  Mit¬ 
teilung  —  folgendes  Symptom  bei  chronischer  rezidivierender 
Appendizitis  mit.  Die  Muskulatur  der  kranken  Seite  —  in  erster 
Linie  den  Musculi  obliqui  abdominis  entsprechend  —  zeigt  eine 
Anzahl  von  Erscheinungen,  die  wahrscheinlich  auf  eine  Art  von 
Atrophie  derselben  zurückzuführen  sind,  das  ist  leichtere  Ein- 
drückbarkeiit,  schlaffere  Konsistenz,  leichtere  Möglichkeit,  die 
Bauchdecke  an  der  erkrankten  —  rechten  Seite  —  als  ganzes 
zu  falten.  Als  Ursache  glaubt  Verf.  den  Umstand  ansehen  zu 
können,  daß  im  Verlaufe  der  akuten  Attacken  die  Bauchmusku¬ 
latur  auf  dem  Wege  der  Lymphbahnen  an  der  Affektion  der 
Appendix  mitbeteiligt  ist.  Zum  Teil  handelt  es  sich  auch  um 
iedne  Airt  Inaktivitätsatrophie,  entsprechend  der  Schonung  der 
Bauchdecken  über  der  erkrankten  Appendix.  Das  Symptom  wurde 
bis  jetzt  ausnahmslos  bei  30  bis  40  Fällen  beobachtet.  —  (Russkij 
Wratsch  1911,  Nr.  14.)  J.  Sch. 

* 

619.  (Aus  der  geburtshilflich  -  gynäkologischen  Klinik  des 
Prof.  \\\  N.  Orlow  der  Universität  Odessa.)  Ueber  Mom- 
burgsche  Blutleere  der  unteren  Körpeirhälf te.  Von 
B.  K.  G  ogo’b  er  i  d  ze.  Die  Momburgsohe  Blutleere  bestellt 
bekanntlich  darin,  daß  um  die  Taille  eine  elastische  Esmarch- 
scho  Gummibinde  in  einigen  Touren  gelegt  wird,  mit  einer  In¬ 
tensität,  deren  Grenze  durch  das  Verschwinden  des  Femoral- 
pulses  gekennzeichnet  ist.  Auf  diese  Weise  wird  eine  Unter¬ 
brechung  der  Blutzirkulation  in  der  unteren  Körperhälfte  er¬ 
reicht.  Vez-f.  kommt  nun  bezüglich  der  Anwendbarkeit  dieses 
Verfahrens  auf  Grund  eigener  Beobachtung  und  unter  Berück¬ 
sichtigung  der  einschlägigen  Literatur  zu  folgenden  Schlußfolge¬ 
rungen:  Die  Momburgsche  Blutleere  ist  wohl  allen  ähnlichen 
Methoden  gegenüber  die  sicherste  und  einfachste.  Sie  ist  be¬ 
sonders  bequem  in  solchen  Fällen,  wo  einige  Zeit  vergehen 
muß,  bevor  der  Arzt  sich  behufs  Vornahme  des  betreffenden 
Eingriffes  entsprechend  desinfiziert  hat  und  ebenso  dann,  wenn 
Gebärende  mit  schweren  Blutungen  in  Gebärhäuser  usw.  trans 
portiert  werden  müssen.  Doch  darf  dabei  auf  keinen  Fall  die 
entsprechende  Vorsicht  außer  Acht  gelassen  werden,  besonders 
in  bezug  auf  den  Zustand  des  Herzens,  der  Gefäße  und  der 
Nieren.  Besonders  gilt,  dies  für  stark  ausgeblutete  Individuen. 
Das  Anwendungsgebiet  ist  ein  mehr  chirurgisches  als  geburts- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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hilflicbeB.  Keineswegs  darf  das  Verfahren  den  Hebammen  über¬ 
lassen  werden.  Die  Nachteile  liegen  darin,  daß  leicht  die  Unter¬ 
bindung  eines  kleinen  Gefäßchens  vergessen  werden  kann,  wo¬ 
durch  nach  Abnahme  der  Binde  die?  Gefahr  einer  Nachblutung 
gegeben  ist.  —  (Russkij  W ratsch  1911,  Nr.  13.)  .1.  Sch. 

* 

G20.  (Aus  der  therapeutischen  Klinik  von  weiland  Professor 
S.  S.  Botkin  der  milifcärinedizinischen  Akademie.)  Ueber  che¬ 
mische  Veränderungen  in  der  Leber  bei  Phosphor- 
vergiftung.  Von  B.  J.  S 1  o  w  z  o  w  -  Saratow.  Bei  Phosphor¬ 
vergiftung  nimmt  das  Gewicht  der  Leber  im  Vergleich  zum 
Körpergewicht  ab.  Bei  dieser  Atrophie  nimmt  die  Menge  der 
Eiweißkörper  ab  und  die  Menge  des  Fettes  zu.  An  der  Ver¬ 
minderung  der  Eiweißkörper  nimmt  die  Menge  des  wasser¬ 
löslichen  Nukleoproteides  der  Leber  in  besonders  scharf  aus¬ 
geprägtem  Maße  teil.  Die  zurückbleibenden  Eiweiißkörper  der 
Leber  enthalten  mehr  Phosphor  und  Xanthinkörper;  daraus  läßt 
sich  der  bcliluß  ziehen,  daß  bei  der  gelben  Leberatrophie  die 
Xanthin-  und  Nukleingruppen  der  zerstörenden  Wirkung  des 
Giftes  länger  widerstehen.  Bei  akuter  gelber  Leberatrophie  bleibt 
die  Menge  des  proteolytischen  Enzyms  unverändert,  die  Menge 
der  Peroxydase  sinkt,  die  Menge  des  amylolytischen  Ferments 
erfährt  eine  Vermehrung.  —  (Russkij  Wratsch  1911,  Nr.  4.) 

J.  Sch. 

* 

621.  (Aus  dem  Prinz  Olden  burgs  eben  Kinderspital  und  dem 
Institut  für  experimentelle  Medizin  zu  St.  Petersburg.)  Ueber 
aktive  Immunisierung  von  , Kindern  gegen  Diphthe- 
r i e,  nach  dem  Prinzip©  von  S .  K .  Dser'schgowskij. 
Von  N.  K.  Blumen  au.  Es  gelang  dem  Verfasser,  bei  einer 
Reihe  von  Kindern  durch  systematische  Einführung  von  Tampons 
—  die  mit  unverdünntem  oder  verdünntem  Diphtherietoxin  ge¬ 
tränkt  waren  —  in  die  Nase,  eine  beträchtliche  Immunität  gegen¬ 
über  Diphtherie  zu  erzielen  (bis  zu  zehn  Immunitätseinheiten  in 
1  cm'  Blut).  Die  Tampons  wurden  abwechselnd  in  das  linke 
und  rechte  Nasenloch  eingeführt  und  verblieben  dort  eine  halbe 
Stunde.  Diese  Prozedur  wurde  zwischen  4  und  20mal  ausgeführt, 
entsprechend  einem  Zeitraum  von  7  bis  40  Tagen.  Die  lokale 
Reizung  war  bei  Anwendung  verdünnten  Toxins  (1:2  physio¬ 
logischer  Kochsalzlösung)  gering.  Der  Verfasser  hält  das  Ver¬ 
fahren  für  eine  wertvolle  Bereicherung  unseres  prophylaktischen 
Rüstzeuges  gegenüber  Diphtherieepidemien  in  den  Fällen,  wo 
es  nicht  auf  rasche  Immunität  ankommt.  Im  letzteren  Falle 
schlägt  er  vor,  erst  eine  prophylaktische  Seruminjektion  zu 
machen,  um  Zeit  zu  gewinnen  und  unterdessen  die  aktive  Im¬ 
munisierung  durchzuführen.  —  (Russkij  Wratsch  1911,  Nr.  5.) 

J.  Sch. 

* 

622.  (Aus  dem  klinischen  geburtshilflich  -  gynäkologischen 

Institut  zu  St.  Petersburg.)  Ueber  Skopolamin-Morphin- 
Narkose  in  der  GeburtshilhiTfe  (auf  Grund  von  67  Fällen). 
Von  Th.  N.  1 1  j  in.  Die  Skopolamin  -  Morphin  -  Narkose  ist  bei 
Einhaltung  gewisser  Regeln  und  bei  strenger  Aufsicht  seitens 
des  Arztes  für  Mutter  und  Kind  ungefährlich,  ln  den  meisten 
Fällen  übt  sie  sowohl  auf  die  Schmerzhaftigkeit  während  der 
Geburt,  als  auch  auf  das  Allgemeinbefinden  der  Gebärenden 
eine  günstige  Wirkung  aus.  Eine  Anwendung  der  Skopolamin- 
Morphin- Narkose  auf  breiter  Basis  und  bei  allen  Gebärenden 
in  einem  Gebärinstitut  ist  nicht  ungefährlich,  da  unter  diesen 
Umständen  eine  individuelle  Kontrolle  sich  schwer  durchführen 
läßt.  Dieser  Umstand  fällt  um  so  mehr  in  die  Wagschale,  als 
das  Verhalten  der  einzelnen  Frau  zur  Skopolamin -Morphin -Nar¬ 
kose  ein  innerhalb  weiter  Grenzen  verschiedenes  ist.  Es  kommen 
bei  dieser  Narkose  —  freilich '  selten  —  unerwünschte  Neben-  • 
erscheinungen  vor:  Erbrechen,  Uebelkeiten,  Schwäche,  Trocken¬ 
heitsgefühl  irn  Halse,  Irrereden,  welches  an  Delirium  grenzt  und 
hauptsächlich  Schwächung  der  Geburtstätigkeit  —  ein  Ereignis, 
welches  zur  Einstellung  der  Narkose  zwingt.  Am  leichtesten 
läßt  sich  die  Skopolamin -Morphin -Narkose  dort  durchführen,  wo 
der  Arzt  in  der  Lage  ist,  fortwährend  die  Wirkung  der  Anästhesie 
auf  die  Patientin  vom  Beginn  bis  zum  Ende  der  Geburt  zu 
beobachten.  —  (Russkij  Wratsch  1911,  Nr.  12.)  ,T.  Sch. 

* 


623.  (Aus  der  propädeutischen  therapeutischen  Klinik  des 
Plot.  A.  M.  Lew  in  des  medizinischen  Fraueaiinstituts  zu  Sankt 
Petersburg.)  Ueber  Störungen  der  Fettverdauung  bei 
Erkrankungen  der  Leber  und  des  Pankreas.  Von  Doktor 
E.  K.  Tauber.  Bei  jeder  Leberzirrhose  muß  an  eine  Störung 
der  Pankreassekretion  gedacht  werden,  wenn  die  Resorption, 
Spaltung  und  Verseifung  des  mit  der1  Nahrung  eingeführten  Fettes 
mehr  oder  minder  deutlich  gestört  ist.  Eine  solche  Störung  der 
Fettverdauung  findet  sich  bei  Leberzirrhose  nicht  selten  als 
pathologisch  -  anatomische  Veränderungen  in  der  Bauchspeichel¬ 
drüse.  Das  Pankreon  verbessert  in  schweren  Fällen  von  gestörter 
Pettverdauung  sowohl  die  Fettspaltung,  als  auch  die  Fettresorp¬ 
tion.  —  (Russkij  Wratsch  1911,  Nr.  10.)  •  •  j.  Sch. 


Feuilleton. 

Ist  obligatorischer  Seminarunterricht  in  der 
Geburtshilfe  notwendig? 

Von  Prof.  Peters. 

Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  daß  von  Glück  und  Geschick 
begleitete  geburtshilfliche  Tätigkeit  für  den  jungen  praktischen 
Arzt  das  Fundament  seiner  Position  bildet;  ein  günstig  ver¬ 
laufener  operativer  Fall  im  Beginn  seiner  Praxis  sichert  ihm  die 
Stellung  und  sein  Renommee,  ein  unglücklicher  untergräbt  sie. 
ln  der  Geburtshilfe  gilt  eben  wie  in  keinem  anderen  praktischen 
Gebiete  der  Medizin  der  alte  Satz  „hic  Rhodus,  hic  salta"! 

Sind  unsere  derzeitigen  Studieneinrichtungen  geeignet,  den 
Studenten  der  Medizin  die  Grundlage  zu  bieten  für;  die  spätere 
Betätigung  des  Gelernten?  Leider  müssen  wir  dieses  verneinen. 

Die  übergroße  Anzahl  der  Studenten,  die  von  Jahr  zu 
Jahr  steigt,  verhindert  es,  daß  der  einzelne  in  diesem  eminent 
praktischen  und  nur  durch  Anschauung  und  Selbsterfahrung  zu 
erlernenden  Fache  bei  den  bestehenden  Einrichtungen  mit  den 
nötigen  Kenntnissen  in  die  Praxis  hinausgehe.  Nur  diejenigen, 
denen  es  ihre  Mittel  erlauben  und  die  bei  der  mächtigen  Kon¬ 
kurrenz  das  Glück  haben,  Stellen  als  Hilfsärzte  (Operations¬ 
zögling©)  an  einer  Klinik  zu  bekommen  und  von  diesen  auch 
nur  die,  welche  über  ein  Jahr  an  der  Klinik  tätig  waren,  können 
von  einer  solchen  genügenden  Vorbildung  reden.  Wenn  auch 
das  Material  der  Wiener  gebur ts hi  1  f  1  i che n  Kliniken  ein  sehr  großes 
ist  (zirka  jährlich  3000  Gehurten  auf  jeder  der  beiden  Kliniken), 
so  kommt  dieses  doch  nur  zum  geringen  Teil  den  Studenten 
zugute. 

Nur  wenn  der  Student  oft  Schwangere,  aber  insbesonders 
Gebärende  äußerlich  und  innerlich  untersuchen  kann,  nur  wenn 
er  eine  Reihe  von  normalen  und  pathologischen  Geburten  vom 
Anfang  bis  zum  Ende  selbst  verfolgen  und  beobachten  kann, 
wenn  er  es  lernt,  Prognosen  zu  stellen  und  therapeutisch  richtige 
Dispositionen  zu  treffen,  wenn  er  den  Verlauf  des  Puerperiums, 
sowie  die  Entwicklung  des  Säuglings  selbst  kontrollieren  kann, 
nur  dann  kann  er,  die  übrigen  Erfahrungen  durch  das  Kolleg, 
durch  Hebungen  am  Phantom  und  durch  theoretisches  Studium 
eingerechnet,  als  für  den  Doktor  halbwegs  geeignet  betrachtet 
werden.  Heute  leihen  alle  Studenten  nur  für  das  Rigorosum 
und  lassen  sich,  wenn  sie  nahe  daran  sind,  durch  ein  bis  zwei 
Kurse  einpauken.  Daraus  resultiert  aber  kein  bleibendes  Wissen 
und  Können.  V  arum  fordert  man  denn  von  den  Hebammen,  daß 
sie  selbständig  eine  Reihe  von  Geburten  absolviert  haben  müssen, 
bevor  sie  zur  Prüfung  zugelassen  werden,  warum  nicht  vom 
Arzte?  Wahrlich,  der  junge,  unerfahren©  Arzt  spielt  oft  genug 
gegenüber  der  gut  vorgebildeten  Hebamme  am  Krankenbette  eine 
recht  traurige  Rolle! 

Hiebei  ist  wohl  auch  der  Umstand  zu  berücksichtigen,  daß 
die  kosmopolitische  Stellung  der  Wiener  Universität  eine  solche 
Menge  anderssprachiger  Studenten  herbeizieht,  daß  die  Zahl  der 
letzteren  die  der  deutschen  weit  übersteigt  und  daß  der  ein¬ 
heimische  Student  dadurch  wesentlich  benachteiligt  wird.  Viele 
ziehen  es  vor,  während  der  Studienzeit  kleinere  Provinz-  oder 
ausländische  Universitäten  zu  beziehen,  wo  sie  weniger  in  Hör- 
und  Seziersälen,  in  Institutsarbeitsräumen,  am  Krankenbette  um 
ihre  Plätze  kämpfen  müssen.  Nicht  jedem  ist  ausgiebige  Ellbogen¬ 
tätigkeit  gegeben  und  mancher  distinguiertere  Student  weicht  prä- 
potenten,  sich  vordrängenden  Elementen. 

Im  Hinblick  auf  die  sich  stets  steigernde  Ueherproduktion 
von  Medizinern  und  die  vorerwähnte  Ueherfüllung  der  Wiener 
medizinischen  Schule  sollten  schon  längst  die  alten  Einrichtungen 


882 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


des  klinischen  Unterrichtes  einer  Reorganisation  unterzogen 
worden  sein  und  ist  es  hoch  an  der  Zeit,  daß  diesbezüglich  einmal 
ein  offenes  Wort  sine  ir.a  et  studio  erschalle. 

Von  vornherein  muß  yöra/usgcschickt  werden,  daß  damit 
die  klinischen  Chefs  kein  Vorwurf  treffen  kann,  denn  diese  sind 
wohl  immer  redlich  bemüht  gewesen,  ihren  Pflichten  nachzu¬ 
kommen.  Ja,  Hofrat  Schauta  hat  vor  nicht  langer  Zeit  versucht, 
den  Anfang  zu  einer  Reorganisation  des  Unterrichtes  zu  machen, 
indem  er  Extraordinarii  und  Privatdozenten  wenigstens  zu  theo¬ 
retischen  Vorlesungen  heranzuziehen  bestrebt  war.  Diese  folgten 
mit  Eifer  und  Begeisterung  dem  Rufe.  Leider  fand  die  Art 
dieser  Neuerung  nicht  allgemeinen  Anklang  und  alles  verlief 
wieder  im  Sande.  Diesen  theoretischen  Vorlesungen  hätte  sich 
ganz  leicht  auch  eine  Verwendung  der  Hilfslehrkräfte  zu  prak¬ 
tischen  Uebungen  angliedern  lassen.  Diese  Bestrebungen  llol- 
rat  Schauta  s,  der  in  vieler  Hinsicht  schon  den  geburtshilf¬ 
lichen  Unterricht  gegen  früher  verbessert  ha,t,  sind  nicht  hoch 
genug  zu  schätzen;  schade,  daß  er  so  mißverstanden  wurde 
und  es  ihm  nicht  geglückt  ist,  in  das  alte  System  eine  Bresche 
zu  schießen.  ^ 

Also  nicht  die  Vorstände  der  Kliniken  trifft  die  Schuld, 
sondern  die  veraltete  Organisation.  Diese  war  schon  von 
altensher  nicht  viel  wert  und  wenig  für  den  praktischen 
Unterricht  der,  Studenten  berechnet.  Immerhin  fand  man 
mit  ihr  bei  der  geringen  Frequenz  das  Auslangen.  Durch 
die  Errichtung  des  Operationszöglingsinstitutes  durch  v.  Braun 
und  Spaeth  wurden  zwar  klinische  Hilfskräfte  und  eine  Reihe 
gut  durchgebildeter  Geburtshelfer  geschaffen,  für  den  Unterricht 
der  Studenten  jedoch  blutwenig  erreicht.  Die  hiezu  befähigten 
Assistenten  waren  damals  noch  mehr  als  jetzt  mit  Arbeiten  über¬ 
häuft  und  konnten  sich  dem  Studenten  drill  ebensowenig  widmen 
wie  jetzt,  obwohl  seither  die  Zahl  der  Assistenten  vermehrt  wurde. 

Nachdem  solche  Reorganisationen  nicht  ohne  Herbeiziehung 
von  mehr  Lehrkräften  und  infolgedessen  auch  nicht  ohne  Mehr¬ 
belastung  des  Unterrichtsbudgets  einherzugehen  pflegen,  ist  mei¬ 
stens  ein  jeder  Versuch  einer  solchen  in  Oesterreich  bei  der; 
finanziellen  Misere  obgenannten  Budgets  ein  totgeborenes  Kind. 
Baß  sich  aber  speziell  in  dem  geburtshilflichen  Unterrichte  auch 
ohne  finanzielle  Mehrbelastung  Besserung  schaffen  ließe',  mögen 
diese  Zeilen  den  maßgebenden  Faktoren  vor  Augen  führen. 

Gerade  in  der  Geburtshilfe  muß,  wie  erwähnt,  der  zu  pro¬ 
movierende  Arzt  nicht  nur  wissen,  sondern  auch  Erfahrungen 
besitzen,  und  es  genügt  nicht,  daß.  er  sich  durch  das  Belegen 
des  offiziellen  Kollegiums  und  den  Besuch  des  Internates  aus- 
weisen  kann ;  das  Studium  darf  nicht  mehr  so  wie  bisher  dem 
freien  Ermessen  des  einzelnen  Studenten  überlassen  werden,  die 
Studenten  müssen  gezwungen  werden,  Erfahrungen  zu  sammeln. 

Mit  Recht  sind  die  Examinatoren  entsetzt  über  die  oft  krasse 
Unwissenheit  und  das  Nichtkönnen  beim  Rigorosum  und  nur  zu 
oft  gerät  der  Prüfer  mit  seinem  Gewissen  in  Konflikt,  wenn  er 
schließlich  derartig  Minderwertige  in  die  Praxis  und  aufs  Publi¬ 
kum  loslassen  muß.  Die  meisten  Examinatoren  fordern  ohnedies 
ein  Minimum  und  können  auch  unter  den  derzeitigen  Verhältnissen 
nicht  viel  mehr  fordern.  Wenn  sie  äber  in  ihrer  Empörung  über 
die  frivole  Art,  wie  heute,  oft  von  manchen  Studenten  zur  strengen 
Prüfung  geschritten  wird,  einige  Kandidaten,  reprobieren,  so  ris¬ 
kieren  sie,  wie  erst  kürzlich  wieder  ein  Beispiel  lehrte,  Skandal 
im  Hörsaale,  ja  bei  der  um  sich  greifenden  Organisation  der 
Massen  Streik  und  Boykott.  Das  würde  ganz  anders  werden, 
wenn  die  Studenten  gezwungen  würden,  seminari¬ 
stischen  Unterricht  mit  schon  während  desselben 
abzulegenden  Kolloquien  am  Krankenbette  vor  der 
Zulassung  zum  Rigorosum  nachzuweisen.  Dann  wäre 
es  möglich,  aus  den  Leistungen  während  der  Seminartäfigkeit 
und  aus  dem  Erfolge  beim  Rigorosum  ein  Schlußkalkül  zu  ziehen 
und  von  diesem  dann  die  Approhierung  abhängig  zu  machen. 

Derzeit  sind  sowohl  der  klinische  Chef,  als  auch  die  Assi¬ 
stenten  durch  die  operative  Aufarbeitung  des  großen  gynäkologi¬ 
schen  Materials,  durch  die  große  Ambulanz,  durch  das  offi¬ 
zielle  Kolleg,  durch  die  Krankenvisiten,  durch  wissenschaftliche 
Untersuchungen  und  Arbeiten  und1'  schließlich  durch  administra¬ 
tive  Angelegenheiten  vollauf  beschäftigt,  ja  zeitweise  überlastet. 
Die  Bezahlung  der  Assistenten  ist  außerdem  noch  immer  eine 
derart  ungenügende,  daß  es  ganz  natürlich  ist,  wenn  sie  sich 
durch  Kurse  für  Ausländer  einen  Nebenverdienst  schaffen. 
Die  offiziellen  Kurse  für  Studenten  werden  zwar  auch  ge¬ 
halten,  werden  aber  überhaupt  nicht  regelmäßig  belegt;  zum 
Teil  wohl  deshalb,  weil  die  Assistenten  nicht  die  nötige  Zeit 
aufbringen,  die  Kurse  zu  lesen.  Das  heute  schon  obligate  Internat 
wird  zwar  von  den  fleißigen  Studenten  besucht,  könnte  aber, 
wenn  es  mit  dem  obligaten  Seminar  verbunden  und  die  Zulassung 


zur  Prüfung  von  dem  Besuche  dos  letzteren  abliängig  wäre,  viel 
erfolgreicher  organisiert  werden.  So  geht  denn  heute:  ein  großer 
feil  des  Materiales,  das  zum  Unterricht  ausgenützt  werden  könnte 
für  diesen  Zeck  verloren. 

Damit  soll  beileibe  nicht  gesagt  sein,  daß  derzeit  nicht 
mit  vollem  Eifer  der  Unterricht  betrieben  weide.  Das  sei  weit 
von  mir!  Aber  der  geburtshilfliche  Unterricht  erfordert  den  Drill 
des  einzelnen  und  dazu  mangelt  absolut  die  Zeit. 

Hiezu  kommt  noch  der  Umstand,  daß  in  den  letzten  Jahren 
die  Geburtshilfe  wesentliche  Wandlungen  erfahren  hat;  sie  ist 
nicht  nur  ein  streng  chirurgisches  Fach  geworden,  das  erhöhte 
manuelle  Fertigkeit  und  eingehenderes  Studium  erfordert,  son¬ 
dern  durch  die  wesentliche  Verschiebung  der  Indikationsgrenzen 
(selbst  für  den,  der  konservativ  nicht  gleich  jede  Modeneuerung 
mitmacht)  ist  eine  solche  Umwälzung  entstanden,  daß  sich  heute 
die  Geburtshilfe  des  praktischen,  speziell  des  Landarztes  nicht 
mehr  deckt  mit  der  an  Kliniken,  resp.  der  in  Städten,  wo  Opera¬ 
tionssäle  die  Möglichkeit  geben,  nach  modernen  Prinzipien  vor¬ 
zugehen.  Dadurch  ist  auch  der  geburtshilfliche  Unterricht  — 
ähnlich  wie  der  der  gesamten  Gynäkologie  durch  den  mächtigen 
Aufschwung  der  operativen  Gynäkologie  —  ein  ganz  anderer 
geworden.  Derselbe  hat  heute  die  Aufgabe,  dem  angehenden 
Arzte  die  weitestgehende  Wertschätzung  des  kindlichen  Lebens 
klar  zu  machen  und  muß  anstreben,  auch  für  den  praktischen 
Arzt  die  Vorbildung  so  zu  gestalten,  daß  er:  den  idealen  Forde¬ 
rungen  der  Klinik  nach  Tunlichkeit  nahekommt.  Ist  für  den 
erfahrenen  Kliniker  die  richtige  Indikationsstellung  in  manchen 
Fällen  schon  schwer,  um  wieviel  schwieriger:  ist  sie  für  den 
praktischen  Arzt,  der  oft  unter  den  prekärsten  äußeren  Verhält¬ 
nissen  den  modernen  Förderungen  gerecht  werden  soll !  Er  muß 
es  lernen,  die  Fälle,  in  denen  eine  wahrscheinliche  schwere  Be¬ 
drohung  des  kindlichen  Lebens  prognostiziert  werden  kann,  recht¬ 
zeitig  zu  erkennen,  um  sie,  wenn  möglich,  unter  günstigere  Gebär- 
verhältnisse  zu  bringen.  Es  mfuß  ihn  gelehrt  werden,  wie  er 
unter  diesen  und  anderen  Verhältnissen  vorzugehen  habe.  Dieser 
Widerstreit  muß  durch  einen  sorgfältigen  Unterricht  klar  gemacht 
und  dadurch  verhindert  werden,  daß  Unsicherheit  in  Wissen  und 
Handeln  beim  Arzte  Platz  greife.  Dabei  ist  es  von  außerordent¬ 
licher  Wichtigkeit,  daß  der  Lehrer  bei  dem  Hin-  und  Herschwanken 
der  Indikationsgrenzen  das  Festgewordene  von  den  unsicheren 
Modeschwankungen  nach  Tunlichkeit  scharf  trenne,  um  dem  Stu¬ 
denten  ein  möglichst  solides  Wissen  auf  seinen  Weg  mitzugeben. 
Es  ist,  wie  gesagt,  der  Unterricht  in  der  Geburtshilfe  gegen  früher 
komplizierter  geworden  und  darin  liegt  auch  mit  ein  Grund, 
warum  für  .einen  erweiterten  Unterricht  plädiert  werden  muß. 

Ein  solcher  erhöhter  Unterricht  wäre,  nur  durchführbar, 
wenn  auf  den  beiden  Kliniken  je  ein  oder  zwei  Se¬ 
minare  errichtet  würden,  mit  deren  Leitung  Extra¬ 
ordinarii  oder  Privatdozenten  zu  betrauen  wären. 
Diese  Lehrkräfte  würden  wohl  über  Vorschlag  der  klinischen  Vor¬ 
stände  durch  die  Unterrichtsbehörde  zu  ernennen  sein  und  könnten 
mit  einem  diesbezüglichen  Lehrauftrage  betraut  werden.  Da  mil. 
dem  Lehrauftrage  auch  ein  Gehalt  oder  wenigstens  eine  Remune¬ 
ration  verbunden  zu  sein  pflegt,  könnte,  damit  die  Reorganisation 
an  dem  selbstverständlichen  Widerstand©  der  Finanzbehörde  nicht 
scheitere,  für  das  Seminar  von  den  Studenten  ein  eigenes,  even¬ 
tuell  auch  ein  erhöhtes  Kollegiengeld  -eingehoben  werden  und 
wäre,  da  der  Besuch  des  Seminars  obligat  würde,  dieses  Kolle¬ 
giengeld,  welches  ausnahmsweise  nicht  dem  Staate,  sondern  in 
Form  einer  Remuneration  dein  Lehrer  zufiele,  eine,  wenn  auch 
geringe  Entschädigung  für  die  viele  Zeit  und  Mühe,  die  diese 
Lehrkräfte  der  Aufgabe  widmen  müßten. 

Unbesoldete  Extraordinarii  und  l  ’ri\ratdozenten,  die  ihre  Lehr¬ 
tätigkeit  mit  mühsam  zusammengestoppelten  Kursen  am  Phantom 
fristen,  gibt  es  bekanntlich  genug  und  jeder  würde  mit  Freuden 
diese  Gelegenheit,  sich  didaktisch  betätigen  zu  können,  ergreifen. 
Es  ist  ja  leider  ein  schon  von  vielen  Seiten  hervorgehobener 
Uebelstand,  daß  so  manchem  Extraordinarius  und  Privatdozenten 
eine  solche  Möglichkeit  überhaupt  fehlt  oder  wenigstens  in  ganz 
ungenügender  Weise  geboten  ist*  Die  Frage  der  Kreierung  von 
Lehrpersonen,  der  Erteilung  der  Venia  legendi,  ohne  gleichzeitige 
Bietung  von  Krankenmaterial,  an  dem  gelehrt  werden  könnte, 
gehört  auf  ein  anderes  Gebiet  und  soll  hier  nicht  angeschnitten 
werden. 

Diese  Extraordinarii  oder  Privatdozenten  wären  also  den 
Seminaren  vorzustellen,  sie.  wären  verpflichtet,  dort  täglich  zwei¬ 
mal  das  sich  bietende  Material  mit  den  Studenten  durchzunehmen, 
lieber  jeden  Fall,  sei  es  Schwangere  oder  Gebärende,  müßte  der 
betreffende  Seminarist  (bei  Ueberfüllung  des  Seminars  zwei  Stu¬ 
denten  zu  jedem  Falle)  ein  genaues  Krankenprotokoll  führen 
und  die  Fälle  müßten  unter  Leitung  des  Seminarvorstandes  ähn- 


Nr.  24 


WIMNER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191 1. 


883 


lieh  besprochen  werden,  wie  dies  Liepmann1)  in  seinem  Buche 
durchgefuhrt  hat. 

t  S0lc!f  Seminare  sind  in  Wien  schon  abgehalten  worden 
J.rof-  v‘  Posthorn  und  Hofrat  Schaut a  haben  sich  selbst 
dieser  Muhe  unterzogen,  K  ermann  er  pflegt  ein  solches  anzu 
kundigen.  Es  handelt  sich  aber  daium,  daß  sie  offiziell  in 
1 1  e  n  S  t  u  d  l  e  n  p  1  a.  n  als  obligataufg  e  n  o  m  m  e  n:  u  n  d  e  i  g  e  n  e 
Lein  ki, äfte  dazu  bestellt  werden,  die  sich  nur  dieser 
Aufgabe  zu  widmen  hätten.  Dann  werden'  sich  auch  die  Studenten 
mehr  als  bisher  in  den  Internaten 'aufhalten  und  —  natürlich 

jo  nach  Lehrbefähigung  des  betreffenden  Seminarvorstandes _ 

auch  mehr  wirkliches  oder  erzwungenes  Interesse  an  dem  Fache 
zeigen.  ,  ,  ,  „ 

Es  ist  dies  keine  umstürzleriscbe  Neuerung,  sondern  etwas 
was  an  vielen  deutschen  Universitäten  längst  eingeführt  ist  und 
sich  gut  bewährt  hat. 

Natürlich  müßte  der  Kompetenzkreis  dieser  neuen  Lehr- 
oiganei  gegenüber  dem  Chef  der  Klinik  und  gegenüber  den  angc- 
stellten  Assistenten  und  Hilfsärzten  genau  fixiert  werden  —  ein 
lunkt,  dessen  Lösung  mir  nicht  unmöglich  erscheint.  Die  Macht¬ 
sphäre  des  klinischen  Chefs  würde  durch  eine  solche  Neuerung 
keineswegs  geschmälert,  ja,  es  würde  ihm  das  Recht  der  Ober¬ 
aufsicht  über  den  seminaristischen  Unte  rieht  und  insofern  eine 
Art  Kontrolle  darüber  gewahrt  werden  müssen,  als  der  betreffende 
Seminarvorstand  sich  nicht  nur,  was  die  Materialverteilung  an¬ 
langt,  ihm  zu  subordinieren  hätte,  sondern  sich  auch  seiner 
Lehrmethode  und  se.nen  Prüfungsanforderungen  akkommodieren 
müßte.  Dies  setzt  ein  harmonisches  Zusammenarbeiten  in  didak- 
tischen  Hinsicht  voraus,  das  eine  conditio  sine  qua  non  und 
dann  nicht  zu  bezweifeln  ist,  wenn  der  Direktor  und  Chef  der 
Klmik  m  dem  Seminarvorstande  eine  schätzenswerte  Hilfskraft 
erblickt,  der  er  gern  einen  Teil  des  Materiales  abzutreten  sich 
verpflichtet. 

Zwischen  den  Assistenten  und  den  Seminarvorständen  be¬ 
stünde  natürlich  keinerlei  Dienstes-  oder  Subordinationsverhältnis, 
da  erster©  nach  wie  vor  nur  dem  klinischen  Vorstande  unter¬ 
stehen  können.  Beim  Schwangereinmateriale  kann  es  wohl  auch 
nicht  zu  Kollisionen  kommen.  Anders  bei  Gebärenden.  Da,  wäre 
es  denkbar,  daß  bei  jenen  Gebärenden,  die  aus  dem  dem  Seminare 
zugewiesenen  Schwangere mnateriale  stammen,  dem  Seminar'vor- 
stand  das  Recht  zukäme,  diese  Falle  unter  Assistenz  der  Hilfs¬ 
ärzte  in  einem  eigenem  KreißzimmeJ  zu  erledigen.  Nur  bei  Ab¬ 
wesenheit  des  Vorstandes  hätte  der  diensthabende  Assistent  die 
Pflicht  der  1  ndikatiomsstellung  und  der  Ausführung  der  Opera¬ 
tion  vor  Augen  des  Seminars.  Außerdem  müssen  die  Assi¬ 
stenten  verpflichtet  werden,  zu  allen  auf  dem  Kreißzimmer 
stattfindenden  Geburten  die  internieren  Seminaristen  rufen  zu 
lassen.  Dem  Seminarvorstande  müßte  die  Einsicht  in  alle  Geburts¬ 
protokolle  freistehen,  damit  er  in  den  Seminarstunden  die  während 
seiner  Abwesenheit  oder  in  der  Nacht  erfolgten  Geburten;  respek¬ 
tive  Operationen  epikri  tisch  besprechen  kann.  Ferner  könnten 
in  jedem  Semester  einzelne,  vom  Chef  der  Klinik  zu  bestim¬ 
mende,  besonders  lehrreiche  Fälle  in  das  Seminar-Kreißzimmer 
gelegt  werden,  damit,  die  daran  zu  haltenden  Seminarvorträge 
nicht,  durch  den  Trubel  und  Lärm  im  allgemteinen  Kreißsaale 
gestört  werden  und  damit  auch  das  Seminar  nicht  störend  auf 
die  Disziplin  im  Kreißsaale  einwirke  und  die  Assistenten  un¬ 
geniert  ihres  Amtes  walten  können.  Letztere  können  dann  ihrer¬ 
seits  ungestört  den  Unterricht  für  derzeit  nicht  im  Seminar  be¬ 
findliche  Studenten  und  anwesende  Aerzte  am  Kreißsaal  abhalten. 
Einer  Kollision  zwischen  Seminarvorständen  und  Assistenten  kann 
eine  durch  die -klinischen  Chefs  erlassene,  alle  Eventualitäten  be¬ 
rücksichtigende,  genaue  Dienstespragmatik  sicher  vorhauen. 

.  F s  dürften  also  bei  dieser  Erweiterung  des  Unter¬ 
richtes  keinerlei  tiefgreifende,  resp.  den  bisherigen 
Usus  clinic.us  umstürzende,  administrative  \  en  do¬ 
rn  n  gen,  geschweige  denn  hei  der  großen  Ausdehnung 
d  0 1  neuen  Kliniken,  von  d  e  n  e  n  j  0  d  e  mehr  0  r  e  K  r  0  i  ß- 
zimmer  und  S  c  h  w  a  nger  en  z  i  m  me  r  besitzt,  irgend¬ 
welche  bauliche  Maßnahmen  notwendig  werden.  Die 
zeitliche  Einteilung  für  das  Kurszimmer  behufs  Phantomübungen 
läßt  sich  wohl  leicht  ohne  Kollis'onsgefa.hr  zwischen  Assistenten 
und  Seminar  machen. 

So  sprächen  denn  nach  meiner  Ansicht  keiner¬ 
lei  wesentliche  Hindernisse  gegen  eine  derartige  Re¬ 
organisation  des  geburtshilflichen  Unterrichtes, 
die  durch  einen  einfachen  Erlaß  der  Unternichts¬ 
behörde,  dahingehend,  daß  Seminare  zu  errichten 
und  für  die  Studenten  als  obligat  in  den  Studienplan 
a  11  fzn  nehmen  seien,  daß  ferner  zur  Leitung  dieser 

*)  Liepmann,  Das  geburtshilfliche  Seminar.  Berlin  1910. 


Seminare  H  1 1 f s lehr k räf te  ernannt  werden,  zu  er¬ 
möglichen  ware.  Es  ist  wohl  kein  Zweifel,  daß 
solche  Reorganisation 
tragen,  kann. 


nur  die  besten 


eine 
Früchte 


Sozialärztliche  Revue. 

Von  Dr.  L.  Sofer. 

Bei  langdauernde  Streit  zwischen  freiwilliger  und  Zwangs- 

IiSnZ  r,  SOZia1lein  ,Gebiote  ist  von  der  Wissenschaft  zu¬ 
gunsten  dei  letzteren,  dem  deutschen  System,  entschieden  worden 

U  mil  T‘  ,  T  nf,traI™  B°den  der  Wissenschaft  ist  dieses 
nfindorwl  anc'1,kannt  worden,  nicht  in  dem  verschiedenen  Em- 
pfmdon  der  Volker  selbst.  So  fehlte  bis  jetzt  in  Frankreich  die 
staatliche  Sozialversicherung;  als  Anfang  führte  man  nun  die 
A Uersversicherung  ein  (Retraites  ouvrieres  et  paysannes). 

f ft!  ua? •  ZWv  G™ppen:  die  der  obligatorisch  und  die  der 
fakultativ  Versicherten.  Zur  ersteren  gehören  alle  über 
Id  Jahre  alten  Arbeiter  und  Angestellten  des  Gewerbes,  des  Han¬ 
dels,  der  Landwirtschaft  und  der  öffentlichen  Körperschaften 
sowie  die  Dienstboten  und  Taglöhner  bis  zu  einem  Jahreseinkom¬ 
men  von  3000  Franken,  zur  zweiten  die  Angestellten  bis  zu 
einem  Gehalt  von  5000  Franken,  die  Pächter,  kleinen  Landwirte 
und  gewerblichen  Unternehmer,  die  nur  einen  einzigen  Arbeiter 
beschäftigen.  Die  Kosten  der  obligatorischen  Versicherung  werden 
getragen:  1.  durch  den  Beitrag  des  Versicherten,  2.  durch  der 
Beitrag  des  Unternehmers,  3.  durch  einen  Zuschuß  des  Staates. 
Der  Beitrag  des  Arbeiters  und  des  Unternehmers  ist  gleich  Er 
betragt  9  Franken  jährlich  (3  Centimes  für  den  Arbeitstag)  für 
die  erwachsenen  männlichen  Arbeiter,  6  Franken  für  die  Arbei¬ 
terin,  4,2  kranken  für  jugendliche  Arbeiter  unter  18  Jahren.  Der 
Abzug  des  Unternehmerbeitrages  vom  Lohne  ist  verboten,  im 
rr  t/01?  Krankheit  und  Arbeitslosigkeit  entfällt  die  Beitrags- 
ptlicht,  aber  die  Rente  wird  entsprechend  vermindert.  Der  Bei- 

i  ?t; “ates  bcträgt  60  Franken-  Der  Rentenbezug  beginnt  mit 

dem  65.  Jahre  kann  aber  auch  schon  mit  55  Jahren,  beansprucht 
vlerden.  Die  Versicherung  kann  erfolgen  hei  der  staatlichen 
Versicherungskasse  (Caisse  nationale  de  depots  et  consignations), 
bei  A rhoitgeberkassen,  Gewerkschaftskassen  und  den  freien  Ver- 
srcherungsgeseHschaften  auf  Gegenseitigkeit.  Dieses  gewiß  sehr 
wohltätige  Gesetz  soll  am  3.  Juli  d.  J.  in  Kraft  treten;  es  soll, 
denn  es  droht  an  einer  passiven  Resistenz  der  Kreise  für  die 
es  eigentlich  bestimmt  ist,  zu  scheitern.  Bis  jetzt  haben  sich 
erst  ungefähr  5«/o  der  Versicherten  gemeldet.  Es  sind  ganz  ver¬ 
schiedene  Widerstände,  die  sich  hier  geltend  machen,  großkapitali¬ 
stische  einerseits,  anarchistische  anderseits  und  in  der  Mitte 
die  große  Masse  derer,  die  noch  nicht  für  das  Verständnis  für 
soziale  Einrichtungen  erzogen  worden  sind,  die  mit  Schlag¬ 
worten,  wie  „Totenversicherung“,  irregeführt  sind.*)  Es  nützt  eben 
mchts  wenn  man  gute  Gesetze  macht,  wenn  nicht  das  Volk 
auch  über  ihren  Inhalt  und  Zweck  aufgeklärt  wird.  Das  muß 
man  in  der  französischen  Republik  nachholen. 

Wie  wir  seinerzeit  meldeten,  sollte  im  Mai  in  Paris  eine 
Internationale  San  itätsk.onferenz  stattfinden,  nachdem 
eine  Vorkonferenz  im  April  diejenigen  Fragen  festgeistellt  hatte 
die  den  Gegenstand  der  Hauptverhandlungen  hätten  bilden  sollen’ 
Die  verfügbare  Zeit  hat  sich  jedoch  als  nicht  ausreichend  er¬ 
wiesen,  um  die  Durchberatung  der  Gegenstände  vorzunehmen 
Die  Konferenz  ist  daher  auf  den  10.  Oktober  d.  .1.  vertagt  worden! 

Dagegen  soll  noch  in  der  Junisession  der  Schweizer 
Bundesversammlung  die  Vorlage,  betreffs  die  Kranken 
und  TJ  n  f a  1 1  ve  r  s  i  c  h  eru  n g  nach  SVsjährigen  Vorverhandlungen 
verabschiedet  werden.  Die  kritischen  Fragen  waren  zuletzt  die 
Beitragspflicht  der  T  nternehmer  an  die  Krankenversicherung  für 
^re  Arbeiter  und  die  Einbeziehung  der  Nichtbetriebsunfälle  in  die 
staatliche  Unfallversicherung,  die  die  Unternehmer  lieber  den 
privaten  Versicherungsgesellschaften  überlassen  hätten.  Die  erste 
Frage  ist  nun  in  dem  Sinne  geregelt  worden,  daß  die  Kantonle 
und  die  Gemeinden  das  Recht  erhalten,  die  Unternehmer  zu  Bei¬ 
trägen  an  die  obligatorische  Krankenversicherung  ihrer  Arbeiter 
zu  verpflichten;  aber  jeder  derartige  Beschluß  bedarf  der  Zu¬ 
stimmung  der  Bundesversammlung;  wenn  sie  diese  verweigert 
so  fallen  alle  bezüglichen  Beschlüsse.  Diese  Regelung  zeigt,  wie 
schwankend  die  Volksstimmung  in  der  Schweiz  noch  in^hezim 
auf  die  Zwangsversichernng  ist;  auch  hier  wird  die  Zeit  ihre 
erzieherische  Wirkung  mcht  verfehlen.  Die  Nichtbetriebsunfälle 


*)  Wie  unberechtigt  dieses  Schlagwort  ist,  beweist  die  einschlägige 
Rcstimmung  des  deutsc.  heiA'Gesetzes,  die  das  Bezugsrecht  erst  vom 
70.  Jahre  gelten  läßt.  Anm.  d.  Aut. 


884 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


verbleiben  der  staatlichen  Unfallversicherung;  die  Prämie  hat  zu 
drei  YicrLleilen  der  Versicherte',  zu  einem  Viertel  der  Bund  zu 
tragen.  An  die  Krankenversicherungsbeiträge  soll  der  Bund  für 
jeden  Versicherten  mit  nicht  über  3000  Franken  Jahreseinkommen, 
einen  Beitrag  von  I2V2 °/o  der  Versicherungsprämie  leisten.  Der 
gesamte  jährliche  Bundesbeitrag  an  die  Versicherung  ist  auf 
7,000.000  Franken  berechnet. 

Im  Deutschen  Reiche  ist  allen  pessimistischen  Prophezei¬ 
ungen  zum  Trotz  die  Reform  der  Red chjs'ver1  Sicherungs¬ 
ordnung  vom  Reichstage  erledigt  worden.  Sie  enthält  einige 
einschneidende  Neuerungen  für  den  Aerzteistand.  So  wird  die 
Versicherungspflicht  und  Versicherungsberechtigung  nach  oben 
bis  zu  einem  regelmäßigen  Jahresverdienst  von  2500  Mark  (statt 
früher  2000  Mark)  erstreckt.  Die  Aerzte  haben  ihre  alten  Ver¬ 
träge  mit  den  Krankenkassen  unter  der  Voraussetzung  abge¬ 
schlossen,  daß  nur  Personen  mit  einem  Jahreseinkommen  von 
2000  Mark  z w a n gs ver sicher t  seien.  Ferner  ist  der  Kreis  der  Ver¬ 
sicherten  durch  Aufnahme  neuer  Gruppen  (land-  und  forstwirt¬ 
schaftliche  Arbeiter,  Dienstpersonal©  usw.)  außerordentlich  erwei¬ 
tert.  worden,,  iso  daß  m!an  in  Zukunft  mit  20  Millionen  Versicher¬ 
ten  gegen  12  Millionen  bisher  rechnen  niuß.  Es  wird  daher  bei 
der  unnachgiebigen  Haltung,  den  die  Kassen  im  allgemeinen 
den  Aerzten  gegenüber  einnebmen,  nicht  an  Zwistigkeiten  fehlen, 
wenn  die  Aerzte  der  neuen  Sachlage  gegenüber  mit  berechtigten 
neuen  Forderungen  auftreten.  lieber  raschend  schnell  wurden  die 
Paragraphen  erledigt,  die  das  Verhältnis  der  Kassen  zu  den 
Aerzten,  Zahnärzten  und  Krankenhäusern  behandeln.  lieber  diese 
Bestimmungen  wurde  in  der  Komlmission  sehr  viel  gestritten, 
manchmal  drohte  sogar  das  ganze  Gesetz  daran  zu  scheitern, 
weil  man  sich  nicht  einigen  konnte.  Es  bleibt  im  wesent¬ 
lichen  bei  dem  Kommissionsbeschlusse,  den  wir  in  Nummer  14 
mitteilten.  Die  Beziehungen  zwischen  den  Kassen  und  Aerzten 
müssen  durch  einen  schriftlichen  Vertrag  geregelt  werden.  Tn 
der  Regel  soll  ein  Kassenmitglied  die  Auswahl  zwischen  minde¬ 
stens  zwei  Aerzten  haben.  Wenn  ein  Vertrag  zwischen  der  Kasse 
und  den  Aerzten  nicht  zustande  kommt,  weil  über  die,  Bedin¬ 
gungen  keine  Einigung  erzielt  werden  konnte,  oder  weil  die  Aerzte 
ihre  .Stellen  niederlegen,  dann  soll  die  Kasse  durch  das  Ober¬ 
versicherungsamt.  widerruflich  ermächtigt  werden,  statt,  der 
Krankenpflege  oder  sonstiger  ärztlicher  Behandlung  eine  bare 
Leistung  bis  zu  zwei  Dritteln  des  Durchschnittsbetrages  des  gesetz¬ 
lichen  Krankengeldes  zu  gewähren.  Wenn  der  Versicherte  die 
Mehrkosten  selbst  übernimmt,  steht  ihm  die  Auswahl  unter  den 
von  der  Kasse  gestellten  Aerzten  frei.  Durch  Satzung  wird  be¬ 
stimmt,  daß  der  Kranke  nur  mit  Zustimmung  des  Vorstandes 
den  Arzt  wechseln  kann.  Betreffs  der  Aufnahme  der  Kranken  in 
die  Krankenhäuser  hatten  die  Sozialdemokraten  beantragt,  daß 
die  Krankenhäuser  nur  aus  einem  wichtigen  Grunde  ablehnen 
dürfen.  Ein  Streit  der  Kassen  mit  den  Aerzten  gilt  nicht  als 
wichtiger  Grund.  Dieser  Antrag  wurde  abgelehnt. 

Betreffs  der  Verhältnisses  zu  den  Apothekern  wurde  fol¬ 
gendes  bestimmt:  Die  Satzung  kann  den  Vorstand  ermächtigen, 
innerhalb  des  K  as  sen  berede  he  s  oder  mit  Genehmigung 
des  V 0 rs i che ru n g s am tes  darüber  hinaus  wegen  Lieferung  von 
Arzneien  mit  einem  Apothekenbesitzer  oder  -Verwalter  oder  auch 
mit  anderen  Arzneimittelhändlern  Vorzugsbedingungen^  zu  verein¬ 
baren.  1  ;  | ' 

Die  Altersgrenze  für  die  Altersversicherung  verbleibt  bei 
70  Jahren.  Es  wurde  nur  für  das  Jahr  1915  eine  Denkschrift 
in  Aussicht  gestellt,  über  die  Möglichkeit  der  Herabsetzung  auf 
65  Jahre. 

Was  nun  die  Wochenpfle g 0  betrifft,  bleibt  die  Gewährung 
von  Hebammendienst,  freier  ärztlicher  Geburtshilfe  und  Schwan- 
gersc'haftsbehandlung  nur  fakultativ,  den  Beschlüssen  der’  be¬ 
treffenden  Kassen  überlassen.  Die  Förderung  der  Zentralstelle 
für  Säuglingsfürsorge'  nach  einer  ausgedehnten  obligatorischen 
'Wöchnerinnen-  und  Säuglingsfürsorge,  die  von  der  linken  Seite 
des  Hauses  unterstützt,  wurde,  wurde  nicht  berücksichtigt.  Die 
Rechte  drückte  auch  eine,  Verschlechterung  insoweit  durch,  als  das 
Wochengeld,  das  in  städtischen  Kassen  für  acht.  Wochen  gewährt, 
wird,  in  den  ländlichen  nur  vier 'Wochen  ausgezahlt.  wird. 

Die  Regierung  hat  der  Oeffentlichkeit  den  Entwurf  eines 
V  e  r  s  i  ch  e  ru  ng  s  g  e  seizes  für  Pr  ivatanges  teilte  für  den 
Fall  der  Invalidität  und  des  Alters  unterbreitet,  das  ferner,  im  Falle 
des  Todes,  den  Hinterbliebenen  der  Versicherten  die  Bezüge 
einer  Witwen-  und  Waisenrente  gewähren  sollte.  Aehnlich  wie 
das  österreichische  Gesetz  -  das  aber  bereits  in  Kraft  ist,  ein 
seltenes  Beispiel,  daß  die  österreichische  Sozialpolitik  in  einem 
Punkte  dem  Nachbarn  voraus  ist  —  hat  es  gerade  bei  den  Inter¬ 
essenten  wenig  Beifall  gefunden.  Die  Versicherung  soll  sich  auf 
rund  1,800.000  Personen  im  Handelsgewerbe,  auf  Techniker,  Be¬ 


triebsbeamte  und  Werkmeister,  auf  Bureau  beamte,  Lehrer,  Er¬ 
zieher,  Bühnen-  und  Orchestermitglieder,  Offiziere  der  Schiffs¬ 
besatzung  erstrecken,  soweit  der  Gehalt  der  Betreffenden  5000 AI. 
nicht  übersteigt.  Die  Versicherung  wird  nach  Gehaltsklassen  ab- 


gestuft : 

Gehaltsklasse 

A 

.  .  bi: 

s  zu 

550  Mk. 

B 

von  mehr  als 

550  „ 

yy 

850  „ 

C 

j’  yy  »» 

850  „ 

yy 

1150  „ 

D 

\ 

>>  >> 

1150  „ 

yy 

1500  „ 

j  j 

E 

) >  ?  >  >5 

1500  „ 

2000  „ 

-  j  > 

F 

yy  >> 

2000  „ 

yy 

2500  „ 

J  ? 

G 

>  >  5  )  1  > 

2500  „ 

yy 

3000  „ 

H 

}7  >7  J5 

3000  „ 

yy 

4000  „ 

J  > 

I 

»>  >> 

4000  „ 

yy 

5000  „ 

Nach  diesen 

Gehaltsklassen 

regelt 

sich 

der  Beitrag, 

zur  Hälfte  vom  Unternehmer  und  dem  Angestellten  zu  leisten 
ist.  Der  Monatsbeitrag  wird  für  alle  Versicherten,  derselben  , 
Gehaltsklasse  gleich  hoch  bemessen.  Er  beträgt  in  der 


Gehaltsklasse 

yy 


j  > 


A 

B 

C 

D 

E 

F 

G 

H 

I 


.  1‘60  Mk. 

.  3‘20  „ 

.  4'80  „ 

.  6'80  „ 

.  9‘60  „ 

.  1320  „ 

.  16‘60  „ 

■  20-  „ 

.  26'60  „ 


Zu  berücksichtigen  ist  idabei,  daß  die  Handlungsgehilfen, 
die  Betriebsbeamten,  Techniker  und  Werkmeister,  sofern  ihr  Ge¬ 
halt,  unter  2000  Afark  beträgt,  außerdem  als  Pflichtversicherte  der 
allgemeinen  Invalidenversicherung  angeboren  und  dort  Beiträge 
zahlen  müssen.  Als  Unterstützung  wird  ein  Ruhegeld  bei  Voll¬ 
endung  des  65.  Lebensjahres  gewährt..  Ferner  wird  das  Ruhegeld 
für  den  Fall  der  Invalidität  dem  Versicherten  dann  zugesprochen, 
wenn  seine  Erwerbsfähigkeit  für  seinen  Beruf  unter  die  Hälfte 
sinkt  und  wenn  das  Ruhegeld  und  der  Gehalt  des  Versicherten  den 
in  den  letzten  fünf  Jahren  durchschnittlich  bezogenen  Gehalt  nicht 
übersteigen.  Das  Ruhegeld  beträgt  nach  Zahlung  von  120  Bei¬ 
tragsmonaten  ein  Viertel  dieser  Beiträge;  die  darüber  hinaus¬ 
gehenden  Beiträge  werden  mit  einean  Achtel  in  Anrechnung  ge¬ 
bracht.  Bei  weiblichen  Versicherten  kann  die  Rente  nach  60 Bei-  : 
tragsmonaten  bezahlt  werden;  sie  beläuft  sich  dann  auf  ein 
Viertel  der  gezahlten  Beiträge.  Für  die  Witwen,  die  ohne  Rück¬ 
sicht  auf  ihre  Hilfsbedürftigkeit  eine  Rente  erhalten,  beträgt  diese 
Rente  zwei  Drittel  des  Ruhegeldes.  Die  Waisen  erhalten  bis  zum 
18.  Jahre  je  ein  Fünftel,  Doppelwaisen  je  ein  Drittel  des  Betrages 
der  Witwenrente.  Witwen-  und  Waisenrente  dürfen  zusammen  den 
Betrag  des  Ruhegehaltes  nicht  übersteigen,  das  der  Ernährer 
zur  Zeit  seines  Todes  bezog  oder  bei  seiner  Berufsunfähigkeit  be¬ 
zogen  hätte. 

Ein  sehr  verdienstvolles  Wirken  entfaltet  der  deutsche 
Verein  für  Volks  hygiene.  Der  Verein  zählt  jetzt  36  Orts¬ 
gruppen  mit  4100  Mitgliedern.  Er  steht  in  Verbindung  mit  den 
Zweigvereinen  des  deutschen  Zentralkomitees  zur  Bekämpfung 
der  Tuberkulose,  der  deutschen  Gesellschaft  zur  Bekämpfung  der 
Geschlechtskrankheiten,  des  deutschen  Vereines  zur  Bekämpfung 
des  Mißbrauches  geistiger  Getränke,  mit  den  Vereinen  für  Schul¬ 
gesundheitspflege,  zur  Förderung  der  Volks-  und  Jugendspiele, 
und  zur  Bekämpfung  des  Kurpfuschertums.  Er  gründet  Volksbäder 
Arbeiterküchen  und  befaßt  sich  mit  Säuglingspflege  und  Mutter¬ 
schutz. 

Das  „Reichs-Arbeitsblatt“  bringt  einen  lehrreichen  Artikel 
über  die  Lebensdauer  und- di©  Kindersterblichkeit  der 
reichsdoutschen  Bevölkerung.  Die  mittlere  Lebensdauer  ist  in 
Deutschland  in  den  letzten  Dezennien  gestiegen.  Die  Absterbe- 
ordnung  (d.  h.  der  Vergleich  der  Sterblichkeitsverhältnisse  in  den 
einzelnen  Altersklassen  untereinander)  ergab  in  den  Siebziger¬ 
jahren  für  das  männliche  Geschlecht  eine  mittlere  Lebensdauer 
von  35-58  Jahren,  in  den  Achzigerjahren  von  37-17  und  in  den 
Neunzigerjahren  von  40-56  Jahren;  Die  entsprechenden  Zahlen 
für  das  weibliche  Geschlecht  waren  etwas  höher:  38-45,  40-25 
und  43-97.  Die  mittlere  Lebensdauer  hat  also  im  Laufe  von 
20  Jahren  hei  dom  männlichen  Geschlechte  um  5,  bei  dem  weib¬ 
lichen  um  5V2  Jahre  zugenommen.  Zum  Vergleiche  diene  fol¬ 
gendes:  In  Schweden  beträgt  die  mittlere  Lebensdauer  des 
männlichen  Geschlechtes  50-94,  und  die  des  weiblichen  53-63 
Jahre;  hier  herrschen  besonders  günstige  Verhältnisse.  Um  etwa 
fünf  Jahre  überragt  uoch  Belgien  und  die  Niederlande  und  um 
etwa  vier  Jahre  Frankreich  und  England  das  Deutsche  Reich. 


Nr.  24 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nur  in  Oester  reich  und  Italien  ist  die  mittlere  Lebensdauer 
geringer  wie  in  Deutschland. 

In  der  italienischen  Kammer  wurde  ein  Gesetzentwurf 
oiiigehracht,  womit  die  Lebensversicherung  als  Staatsmonopol 
c'lvlait  und  die  Pflege  dieses  Versicherungszweiges  einem  zu 
gi imdenden  staatlichen  Institut  mit  dem  Sitze  in  Rom  übertragen 
wird  Der  Entwurf  bedroht  die  Abschlüsse  von  Lebensasseküran- 
y.eu  bei  nicht  italienischen  Unternehmungen  mit  Gefängnisstrafen 
Man  vergleiche  damit  unsere  Mitteilungen  in  Nummer  20. 


t/ermisehte  Naehriehten. 

Ernannt:  Der  außerordentliche  Professor  der  Kinderheil¬ 
kunde  in  Innsbruck,  Dr.  Johann  Loos,  zum  ordentlichen  Professor 
dieses  laches  an  derselben  Universität. 

+ 

Dr.  Bernhard  Sperk  wurde  zum  Direktor  und  Primar¬ 
ärzte  des  St.  Anna  -  Kinderspitales  gewählt. 


r  Verliehten:  Dem  außerordentlichen  Professor  der  Oto- 
und  Laryngologies  Dr.  Georg  Juf finger  und  dem  außerordent¬ 
lichen  Professor  der  Dermatologie  und  Syphilis,  Dr.  Ludwin 
Merk  in  Innsbruck,  der  Titel  und  Charakter  eines  ordentlichen 
l  mversitätsprofessors.  —  Dem  Oberbezirksarzte  Dr.  Nathan 
■w  olf enstein  in  Znaim,  der  Titel  eines  Landessanitätsinspektors. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Hans  Meyer  für  Röntgenkunde  in  Kiel. 

P  Gestorben:  Generalstabsarzt  d.  R.  Dr.  Franz  Jaeggle 
in  Wien.  —  Dr.  A.  Valentin,  Professor. der  Oto-  Rhino-  Laryngo- 

logie-  in  Bern. 

* 

Der  k.  k.  österreichischen  Gesellschaft  zur  Er¬ 
forschung  und  Bekämpfung  der  Krebskrankheit  wurde 
aus  einem  Legate  der  Frau  Josefa  Mittermayer  eine  Mill iou 
Kronen  zur  Errichtung  eines  Krebsspitales,  dem  St.  Josef  Kinder 
spitale  eine  halbe  Million  Kronen  zur  Errichtung  eines  Schar¬ 
lachpavillons  überwiesen. 

* 

As»  ^er  konstituierenden  Sitzung  der  Aerztekammer  für 

Niederösterreich  mit  Ausnahme  von  Wien,  am  9.  Juni,  wurde 
neuerdings  Obersanitätsrat  kais.  Rat  Dr.  Josef  List,  praktische! 
Arzt  in  Retz,  zum  Präsidenten  der  Kammer  gewählt. 

* 

•  Am  11 '  c1'  M'  1>eging  hier  Dr.  Hermann  Teleky  die  fünfzig¬ 
jährige  V  lederkehr  seiner  Promotion.  Rektor  und  Dekan  über¬ 
brachten  aus  diesem  feierlichen  Anlasse  mit  dem  erneuten  Doktor¬ 
diplom  die  Glückwünsche  der  Universität,  wissenschaftliche, 
humanitäre  und  ärztliche  Stand  es  vereine  entsandten  ihre  Ver¬ 
treter  und  die  Schar  dankbarer  Patienten,  denen  der  Jubilar 
durch  all  die  Jahrzehnte  der  allzeit  hilfsbereite  Freund  und  Be- 
later  war,  bekundete  ihre  Verehrung  in  der  wohlangepaßten 
Form  einer  den  Namen  des  Jubilars  tragenden  Stiftung.  Mil  auf¬ 
richtiger  Teilnahme  und  Genugtuung  begleiten  alle,  die  Doktor 
Hermann  Teleky  kennen,  diese  mannigfachen  ehrenden  Kund¬ 
gebungen  als  redlichst  verdienten  Lohn  eines  nach  jeder  Richtung 
geradezu  vorbildlichen  beruflichen  Wirkens.  Red. 

* 


Donnerstag  den  29.  Juni  1911  findet  um  10  Uhr  vormittags 
im  Gemeinderatssitzungssaale,  Wien  L,  Neues  Rathaus,  die  kon¬ 
stituierende  Versammlung  des  nieclerösterreichi- 
■i c h e n  Sa m ariterhande 's verbandes'  statt. 

* 

Im  ungarischen  Kultus-  und  Unterrichtsministerium  fanden 
vor  kurzem  Verhandlungen  wegen  Errichtung  einer  dritten  un¬ 
garischen  I  niversität  statt.  Der  Standort  der  neuen  Hoch¬ 
schule  ist  noch  nicht  bestimmt. 

* 

In  Oberösterreich  hat  der  erste  Zweigverein  für 
Erforschung  und  Bekämpfung  der  Krebskrankheit 
<gn  7.  Mai  seine  konstituierende ,  Versammlung  abgehalt.cn,  bei 
welcher  der  Präsident  des  Hauptvereines  in  Wien,  Hofrat 
v-  Eiseisberg  die  Festrede  hielt.  In  der  am  1.  Juni  stattge- 
Umdenen  Ausschußsitzung  wurde  Regierungsrat  Prim.  Doktor 

Alexander  Brenner  zum  Präsidenten  des  Vereines  gewählt. 

* 

Anläßlich  des  V.  Internationalen  Kongresses  für  Meeres¬ 
heilkunde,  der  unter  dem  Protektorate  Sr.  kgl.  Hoheit  des  Gro߬ 


herzogs  von  Mecklenburg-Schwerin  vom  5.  bis  8.  Juni  in  Kolberg 
getagt  hat  ist  vom  Organisationsausschuß  eine  Festschrift,  be¬ 
titelt  „Deutsche  Ostseebäder  am  Anfang  des  20.  Jahrhunderts“ 
rei ausgegeben  worden.  Dieselbe  wird  gegen  Rückerstattung  des 
iortos,  smveit  der  Vorrat  reicht,  vom  Organisationsausschuß; 
Berlin  W.,  Potsdamerstraße  134b,  auf  Ansuchen 
gelangen. 


zur  Versendung 


,  ,®|n  gewerbehygienisches  Ambulatorium  wird 

demnächst  m  den  Räumen  der  Landeskrankenkasse  in 
Budapest  eröffnet  werden.  Es  ist  dies  die  logische  Folge  jenes 
m fi eu liehen  Beschlusses,  den  die  bekanntlich  paritätisch  aus 
Unternehmern  und  Arbeitern  zusammengesetzte  Generalversamm¬ 
lung  der  Landeskrankenkasse  bereits  im  Dezember  1910  faßte 
und  demzufolge  in  Ungarn  alle  gewerblichen  Erkrankungen  und 
Vergiftungen,  insofern  deren  Entstehen  ursächlich  mit  dem  Be- 
w  'n  m  Verbindung  gebracht  werden  kann,  fürderhin  gleich  den 
Unfällen  entschädigt  werden  sollen.  Da  die  Landeskrankasse  ge¬ 
rade  jetzt  ihre  Unfallbegutachtungsabteilung  mit  allen  modernen 
Roheiten  der  wissenschaftlichen  Untersuchung  ausrüstet,  so  wird 
es  den  dort  angestetlten  Aerzten  sehr  gut  möglich  sein,  exakte 
Untersuchungen  durchzuführen.  Es  wird  geplant,  dieses  Ambula¬ 
torium  zunächst  dreimal  wöchentlich  den  Arbeitern  zugänglich 
zu  machen,  u.  zw.  Sonntag  vormittags  und  an  zwei  Wochen¬ 
tagen  in  den  Abendstunden.  Ueberdies  werden  demnächst  um¬ 
fassende  Untersuchungen  betreffend  die  gewerbliche  Bleivergif¬ 
tung  unter  den  Buchdruckern  und  Anstreichern  Budapests  ge¬ 
plant,  damit  man  die  notwendigen  Belege  zur  Veranlassung  von 
gesetzlichen  Schutzmaßnahmen  erhalte.  _ ch  -— ch. 


Der  Jahresbericht  der  kgl.  ung.  Hebammenanstalt 
in  Szegedin  (Ungarn!  für  das  Jahr  1910  veranschaulicht  die 
segensreiche  Tätigkeit  dieses  unter  der  Leitung  des  Prof.  Doktor 
Mann  stehenden  Institutes.  Aufgenommen  wurden  während  des 
Jahres  1910  insgesamt  019  Schwangere  und  Gebärende.  572  Frauen 
wurden  entbunden  und  14  Wöchnerinnen  wurden  nach  der  außer¬ 
halb  der  Anstalt  erfolgten  Entbindung  aufgenommen.  Von  den 
586  Wöchnerinnen  starben  7.  In  drei  Fällen  war  Sepsis 
post  abortum,  in  je  einem  Falle  Ruptura  uteri,  Eclampsia,  Vitium 
toi  dis  und  Osteomalacia  die  Todesursache.  Die  an  Osteomalazie 
Verstorbene  war  bloß  zwei  Tage  in  der  Anstalt,  das  Kind  wurde 
mittels  Sectio  caesarea  entwickelt  und  dem  staatlichen  Kinderasyle 
überwiesen.  In  der  Anstalt  selbst  kam  auch  im  Berichtsjahre  kein 
Fall  von  endogener  Infektion  vor.  Die  Zahl  der  Verpflegstage  be¬ 
trug  7458,  die  der  beendeten  Aborte  126.  Bei  285  Entbindungen 
'mußte  operativ  eingegriffen  werdlen  u.  zw.  wurden  ausgeführt  die  Epi- 
siotomia  3mal,  Blasensprengung  4mal,  künstlicher  Abort  1 1  mal 
(wegen  hochgradiger  Lungenschwindsucht  und  Herzfehler,  sowie 
auch  wegen  unstillbaren  Erbrechens  je  3mal,  wegen  Osteomalazie 
Im al),  künstliche  Frühgeburt  wegen  engen  Beckens  4mal,  Wendung 
aul  den  Fuß  und  Extraktion  17mal,  Zange  31mal,  Kraniotomie 
-mal,  E\  iszeratio  5mal,  Sectio  caesarea  classica  und  vaginalis 
je  l.mal,  Plazentalösung  15mal,  Scheiden-  und  Dammnaht  95mal, 
Beendigung  von  Abortus  incompletus  88mal,  Ausstopfen  der  Gebär¬ 
mutter  nach  Dührssen  6mal.  Die  poliklinische  Hilfe  der  An¬ 
stalt  wurde  in  162  Fällen  in  Anspruch  genommen.  Hiebei  war 
kein  einziger  Todesfall  zu  verzeichnen.  Auf  der  gynäkologi¬ 
schen  Abteilung  wurden  zusammen  180  Kranke  wegen  ver¬ 
schiedener  Leiden,  während  2877  Tagen  verpflegt.  Auf  dieser 
Abteilung  wurden  20  Laparotomien,  ohne  Todesfall,  vollzogen. 
Im  Ambulatorium  der  Anstalt  wurde  925  Kranken  ärzt¬ 
licher  Rat  und  Behandlung  zuteil.  Endlich  muß  erwähnt 
werden,  daß  im  Berichtsjahre  122  Hebammenzöglinge  aus- 
gebildet  wurden.  Das  ärztliche  Personal  besteht  nebst  dem  Leiter 
noch  aus  fünf  Aerzten.  _ ch  _ ch 


* 

Cholera.  Oesterreich.  Durch  die  am  1.  Juni  d.  J.  ab¬ 
geschlossene  bakteriologische  Untersuchung  wurde  bei  der  Kaffee¬ 
schenkerin  Marie  Lebinger  in  Graz,  einer  Schwägerin  des  an 
(  holera  verstorbenen  Anton  Franzki,  asiatische  Cholera  festge¬ 
stellt.  Die  Genannte,  die  am  27.  Mai  bei  Anton  F ranzki  vor 
seiner  Ueberführung  ins  Isolierspital  zu  Besuch  gewesen  war, 
stand  deshalb  in  ärztlicher  Beobachtung.  Sie  wurde,  da  sich 
am  31.  Mai  nachmittags  betreffende  Krankheitserscheinungen 
zeigten,  in  der  Nacht  vom  31.  Mai  bis  1.  Juni  in  das  Grazer 
Isolierspital  gebracht.  Bezüglich  des  in  der  vorigen  Nummer 
dieses  Blattes  gemeldeten  Cbolerafallcs  sei  noch  nachgetragen,- 
daß  Anton  Franzki  am  19.  Mai  bei  vollem  Wohlsein  von  Graz 
nach  Adelsberg  abreiste.  Von  dort  wurde  die  Fährt  nach  Triest 
fortgesetzt,  wo  er  sich  vom  1,9.  Mai  abends  bis  zum  21.  Mai 
früh  aufhielt.  Sodann  fuhr  er  auf  einem  Dampfer  nach  Venedig, 


886 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


wo  er  bis  22.  Mai  verblieb.  Hier  erkrankte  Franzki,  nachdem 
er  am  Lido  Muscheln  und  Austern  gegessen  hatte,  an  Erbrechen 
und  Abführen.  Vom  22.  bis  23.  Mai  hielt  sich  Franzki  in  Görz 
auf,  war  dann  während  der  Fahrt  von  Görz  über  Klagen  furt  und 
Marburg  nach  Graz  vollständig  beschwerdefrei;  erst  ;un  24.  Mai 
stellten  sich  wieder  Diarrhöen  ein,  die  zuerst  als  Durchfälle  nach 
Genuß  von  Austern,  dann  als  Cholera  nostras  gedeutet  wurden. 
Am  27.  Mai  fand  die  Isolierung  im  städtischen  Infektionsspitale 
in  Graz  statt.  Die  Entstehung  der  Erkrankung  in  Venedig  ist 
nach  obigem  als  sicher  anzunehmen.  Durch  die  am  7.  Juni  d.  J. 
vormittags  abgeschlossene  bakteriologische  Untersuchung  wurde 
in  Triest,  bei  einem  ungarischen  Zwischendeckreisenden  des 
Dampfers  „Saxonia“,  namens  Sand or  Dersi,  asiatische  Cholera 
festgestellt.  Dersi,  der  auf  dem  genannten  Schiffe  der  „Cunard- 
Line“  am  5.  Juni  d.  J.  abends  nach  Triest  gelangte,  wurde  bei 
der  Schiffsrevision  noch  vor  der  Landung  für  krank  befunden  und 
als  choleraverdächtig  am  Dampfer  isoliert;  das  Schiff  wurde 
zum  freien  Verkehr  nicht  zugelassen.  Der  Dampfer  „Saxonia“ 
hatte,  mit  hauptsächlich  ungarischen  Rückwanderen  an  Bord, 
am  18.  Mai  d.  J.  New  York  verlassen  und  unterwegs  die  Häfen 
von  Gibraltar  (28.  Mai),  Algier  (30.  Mai),  Genua  (1.  Juni)  und 
Neapel  (2.  bzw.  3.  Juni)  angelaufen.  Dersi  erkrankte  auf  der 
Fahrt  am  4  Juni  und  ist  am  C.  Juni  d.  J.  früh  gestorben. 
Bei  den  Mitreisenden,  sowie  bei  der  Mannschaft  waren  bei  der 
Schiffsrevision  in  Triest  choleraverdächtige  Erscheinungen  nicht 
zu  beobachten.  Während  der  Seereise  sind  29  Erkrankungen 
an  Masern  und  4  Todesfälle  (3  Masern,  1  Le ben s'sch w ächie) 
aufgetreten.  Die  Erhebungen  über  die  Her'künfte  der  Infektion 
sind  noch  nicht,  abgeschlossen.  -  Türkei.  In  Smyrna  sind  in 
der  Zeit  Vom  8.  bis  17.  Mai  eine  Neuerkrankung  und  .'drei 
Todesfälle  an  Cholera  vorgekommen.  Die  Gesamtzahl  der  bisher 
konstatierten  Erkrankungen  beträgt  somit  10,  die  der  Sterbe¬ 
fälle  7.  Da  seit.  12.  Mai  kein  neuer  Fäll  sich  ereignete,  wurden 
die  Maßnahmen  gegen  Provenienzen  aus  Smyrna  auf  die  ärzt¬ 
liche  Visite  beschränkt.  Am  20.  Mai  wurde  jedoch  neuerlich 
ein  Cholerafall  in  der  genannten  Stadt  bakteriologisch  sicher- 
gestellt,  dem  sich  am  22.  Mai  zwei  weitere  Erkrankungen  an- 
schlossen.  Provenienzen  aus  Smyrna  wurden  daher  abermals 
einer  24stiindigen  Observation  und  der  Desinfektion  unterworfen. 
In  Samsum  am  Schwarzen  Meere  wurden  am  30.  Mai  2  (2), 
am  31.  Mai  14  (5),  am  1.  Juni  9  (8)  Cholerafälle  (Todesfälle) 
konstatiert.  In  Konstantinopel  ereignete  sich  am  26.  Mai  ein 
Cholerafall,  der  einen  aus  Trapezunt  kommenden  Soldaten  betraf, 
am  31.  Mai  erkrankten  zwei  aus  Rizeh  eingetroffene  Soldaten, 
am  2.  Juni  ein  Passagier  eines  aus  Ordou  eingelangten  Dampfers. 
Die  ganze  Küste  des  Schwarzen  Meeres  wurden  als  cholera- 
verdächtig  erklärt,  alle  Truppentransporte  aus  dem  Schwarzen 
Meere  der  Desinfektion  und  ärztlichen  Visite,  jene  aus  offiziell 
verseuchten  Häfen  überdies  einer  fünftägigen  Quarantäne  unter¬ 
worfen. 

* 

Die  Gesundheitsverhältnisse  der  Wiener  A  r- 
b e  i  terse, h  a  f  1  i m  April  1911.  Bei  dem  Verbände  der  Genossen¬ 
schaftskrankenkassen  Wiens  und  der  Allgemeinen  Arbeiter- 
Kranken-  und  -Unterstützungskasse,  in  Wien,  welche  einen  Stand 
von  310  000  Mitgliedern,  davon  280.000  in  Wien  aufweisen,  betrug 
im  April  1911  die  Zahl  der  Erkrankungen  mit  Erwerbsunfähig¬ 
keit,  in  Wien  9240  (9506).  Davon  entfielen  auf  Tuberkulose  der 
Atmungsorgane  963  (918),  andere  Erkrankungen  der  Atmungs- 
ortgane  1124  (1342),  Anginen  506  (450),  Lungenentzündungen  60 
(56),  Influenzen  439  (564).  Erkrankungen  der  Zirfculationsorgane 
298  (312),  Magen-  und  Darmerkrankungen  479  (593),  rheumatische 
Erkrankungen  845  (913),  auf  Verletzungen  (Betriebsunfälle)  1710 
(1742).  Die  Zahl  der  Todesfälle  betrug  im  April  1911  312  (297). 
Davon  entfielen  auf  Tuberkulose  126  (127),  andere  Erkrankungen 
der  Atmungsorgane  20  (28),  der  Zirkulationsorgane  52  (44),  auf 
Neubildungen  24  (14),  Verletzungen  (Betriebsunfälle)  7  7),  auf 
Selbstmorde  14  (13)  Todesfälle.  (Die  Ziffern  in  den  Klammern 
beziehen  sich  auf  den  April  1910). 

-.  * 

Literarische  Anzeigen.  Die  fleischlose  Küche. 
Eine  theoretische  Anleitung  und  ein  praktisches  Kochbuch,  von 
Dr.  J  Marcuse  und  B.  Woerner.  Preis  3M.  Verlag:  E.  Rein¬ 
hardt-München.  Enthält  im  ganzen  über  1315  Rezepte. 
Das  vorliegende  Buch  soll  der  fleischlosen  Küche  neuen  Boden  ge¬ 
winnen.  Dasselbe  zerfällt  in  einen  theoretischen  und  einen  prak¬ 
tischen  Teil.  In  dem  erste ren  werden  in  populärer  Form  Ergebnisse 
der  modernen  Ernährungswissenschaft  dargelegt.  Der  praktische 
Teil  bringt  in  vielen  Hunderten  von  Kochrezepten  die  genaue 
Herstellungsweise  der  einzelnen,  für  die  fleischlose  Küche  in 
Frage  kommenden  Gerichte,  sowie  im  Anschluß  daran  Zusam¬ 


menstellungen  von  Speisefolgen  für  fast  alle  Jahreszeiten  und 
zwar  sowohl  für  die  feinere  Küche  wie  für  den  einfachen  Haushalt. 

Aus  d  e  m  W  e  r  d  e  g  ä  n  g  der  M  e  n  s  c  h  h  e  i  t.  Der  Urmensch 
vor  und  während  der  Eiszeit  in  Europa.  Von  Dr.  H.  v.  Buttel- 
Heepen.  Mit  109  Abbildungen  und  drei  Tabellen.  Verlag  von 
G.  Fischer  in  Jena.  Preis  1  M.  80  Pf.  Die  vorliegenden  Aus¬ 
führungen  sind  ein  erweiterter  Abdruck  aus  dem  X.  Bande  der 
Naturwissenschaftlichen  Wochenschrift  und  sind  bestimmt,  wei¬ 
teren  Kreisen  in  all  ge  mein  verständlicher  Form  das 
vorzuführen,  was  die  Wissenschaft  heute  über  den  Urmenschen 
auf  Grund  neuer  Funde  lehrt. 

Von  dem  bekannten  Roman  II.  v.  Schullern  „Aerzte“ 
ist  im  Verlage  von  C.  Konegen  in  Wien  das  neunte  und 
zehnte  Tausend  herausgegeben  worden.  Der  Roman  ist  auch 
mehrfach  übersetzt  worden.  Preis  3  M.  50  Pf. 

Vom  Handbuch  der  gesamten  Therapie,  heraus- 
gegeben  von  Prof.  P  e  n  z  o  1  d  t  und  Prof.  S  t  i  n  t  z  i  n  g,  ist  die 
20.  Lieferung  der  vierten  Auflage  bei  G.  Fischer  in  Jena  er¬ 
schienen.  Das  Heft  bringt  die  Behandlung  der  Erkrankungen 
des  Auges. 

Die  von  Prof.  Dt.  Heinrich  Pas'chkis  im  Verlage  von 
A.  Holder  in  Wien  herausgegebene  Kosmetik  für  Aerzte 
ist  in  vierter  Auflage  erschienen. 

Fletcher:  Die  Eßsucht  und  ihre  Bekämpfung. 
Deutsche  Ausgabe  von  Dt.  A.  v.  Borosini,  8°,  240  Seiten, 

3  M.  50  Pf.  Verlag  von  Holze  &  Pahl  in  Dresden. 

* 

Berichtigung.  In  Nr.  21,  S.  754,  soll  es  in  der  Tabelle 
(l.  Spalte)  in  der  zweiten  Kolonne  statt:  Infic.  durch  Ratten  per 
100  der  Untersuchten,  richtig  heißen:  „Infizierte  Ratten* 
per  100  der  Untersuchten.“ 

* 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  21.  Jahreswoche  (vom  21.  bis 
27.  Mai  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  667,  unehelich  229,  zusammen 
896.  Tot  geboren,  ehelich  45,  unehelich  18,  zusammen  63.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  605  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
15'4  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  1,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  13, 
Scharlach  2,  Keuchhusten  2,  Diphtherie  und  Krupp  1,  Influenza  0, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  2,  Lungentuberkulose  118,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  56,  Wochenbettfieber  4,  Genickstarre  0.  An  gezeigte  Infektions¬ 
krankheiten:  An  Rotlauf  41  ( —  7),  Wochenbettfieber  3  (—  3),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  73  (—  18),  Masern  252  (—  69),  Scharlach  103  (—  19) 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  5  (=),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0) 
Diphtherie  und  Krupp  29  ( —  23),  Keuchhusten  29  ( —  2),  Trachom  3  (—  8) 
Influenza  0  (0),  Poliomyelitis  0  (—  1). 


Freie  Stellen. 

Gemeindearztesstelle  in  Helfenberg,  Bezirk  Rohr¬ 
bach  (Oberösterreich),  mit  1.  August  1911  zu  besetzen.  Die  genannte 
Sanitätsgemeinde  besteht  aus  den  Gemeinden  Afiesl,  Ahorn,  Helfenberg, 
St.  Stephan  und  Teilen  der  Gemeinde  Schönegg  mit  insgesamt  zirka 
3600  Einwohnern.  Gehalt  624  K,  Landessubvention  1000  K.  Um  die  Be¬ 
willigung  zur  Forlführung  der  Hausapotheke  ist  anzusuchen.  Gesuche 
sind  an  die  Sanitätsgemeindevertretung  zu  richten.  Auskünfte  erteilt  die 
k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  Rohrbach. 

Zwei  Primararztesstellen  am  städtischen  Frauen- 
spitale  in  Görz  (Küstenland)  mit  einem  Jahresgehalte  von  je  2400  K, 
u.  zw.  a)  für  die  medizinische,  pädiatrische  und  dermosyphilidologische 
Abteilung,  b)  für  die  chirurgische  und  geburtshilflich-gynäkologische  Ab¬ 
teilung.  —  Zwei  Sekun  dararztessteilen  am  städtischen 
F  rauenspitale  in  Görz  für  a)  die  medizinische,  b)  die  chirurgische 
Abteilung  mit  einem  .Jahresgehalte  von  2000  K.  Einer  dieser  Sekundar- 
ärzte  muß  im  Spitale  wohnen  und  erhält  Wohnung  nebst  Beheizung  und 
Beleuchtung,  sowie  die  Verpflegung  beigestellt.  Derselbe  hat  ferner  gegen 
eine  Entschädigung  von  400  K  jährlich  auch  den  Dienst  im  benachbarten 
Versorgungshause  zu  versehen.  Die  Gesuche  sind  zu  belegen  mit  dem 
Doklordiplom,  den  Nachweisen  der  österreichischen  Staatsbürgerschaft 
und  der  Kenntnis  der  italienischen  Sprache;  für  die  Primararztesstellen 
sind  außerdem  die  Verwendung  an  einer  Klinik  oder  Abteilung  für  innere, 
bzw.  chirurgische  Krankheiten  nachzuweisen.  Gesuche  bis  20.  Juni  l.J. 
an  den  Stadtrat  von  Görz;  nähere  Auskünfte  erteilt  das  Görzer  Stadt- 
physikat. 

Distriktsarztesstelle  für  den  Sanitälsdistrikt  IV  mit  dem 
Amtssitze  in  Donawitz  (Böhmen).  Der  Sanitätsdistrikt  hat  ein  Flächenausmaß 
von  5815  km2  und  eine  Einwohnerzahl  von  5315.  Mit  diesem  Diensf- 
posten  sind  fixe  Jahresbezüge  von  2520  K  verbunden;  außerdem  die  Be¬ 
rechtigung  zur  Führung  einer  Hausapotheke  und  für  einen  Teil  des 
Distriktes  die  krankenkassenärztlichen  Funktionen.  Der  Landesverband 
der  Aerzte  Deutschböhmens  hat  diese  Distriktsarztesstelle  ausdrücklich 
als  eine  existenzfähige  erklärt.  Bewerber  um  diese  Dienstesstelle,  die 
deutscher  Nationalität  sein  müssen,  haben  außer  ihrer  hinreichenden 
physischen  Eignung  die.  österreichische  Staatsbürgerschaft,  die  Berechti¬ 
gung  zur  ärztlichen  Praxis  und  moralische  Unbescholtenheit  nachzu¬ 
weisen  und  ihre  dementsprechend  instruierten  Gesuche  bis  zum  20.  Juni 
191 1  beim  Bezirksausschüsse  in  Karlsbad  zu  überreichen. 


Nr.  24- 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


887 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 


Wiener  laryugo-rliinologische  Gesellschaft.  Sitzung  vom 
28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin. 


5.  April  1911.  j  40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin. 


Wiener  laryngo-rhinologische  Gesellschaft. 

Sitzung  vom  5.  April  1911. 

Vorsitzender:  Hofrat  Prof.  Chiari. 

Schri ftführer :  Dr.  J .  Neu  m  a  n  n. 

Der  \  orsitzende  hält  dem  Verstorbenen  Vincenzo  C  o  z  z  o- 
lino  in' Neapel  einen  Nachruf. 

Dr.  0.  Hirsch  demonstriert  einen  Patienten,  bei  dein  die 
Untersuchung  vor  etwa  drei  Jahren  ein©  akute  Laryngitis  und 
ein  akutes  Empyem  der  linken  Nebenhöhlen  ergab.  Punktion 
der  Kieferhöhle.  Beim  Durchpres sen  von  Luft  zeigt©  sich  ein 
-Widerstand  und  es  erfolgte  ein  Knall  und  aus  der  Nase  kam 
ein  Eßlöffel  seröser  glitzernder  Flüssigkeit  zum  Vorschein.  Die 
Ausspülung  mit  Wasser  ging  schwer,  erst  beim  Vorziehen  der 
Nadel  kam  Eiter  und  Schleim  in  gewundenen  Fäden  zum  Vor¬ 
schein.  Beim  Schneuzen  förderte  Pat.  eine  walnußgroße,  schlappe 
Zyste,  mit  abgerissenem  Stiele  zutage.  Es  scheint,  daß  die  Nadel 
anfangs  in  die  Zyste  geriet,  die  beim  Einpressen  von  Luft  platzte; 
beim  Zurückziehen  der  Nadel  kam  die  Nadelspitze  in  die  Kiefer¬ 
höhle  zu  liegen  und  beim  Durchspülen  wurde  der  Stiel  durch¬ 
gerissen  und  die  Zyste  durch  das  in  diesem  Falle  sehr  weife 
Ostium  in  die  Nasenhöhle  gepreßt.  Ueber  einen  analogen  Fall 
berichtet  Redner,  den  er  etwas  später  beobachtete,  nur  wurde 
dann  der  Balg  einer  zirka  pflaumengroßen  Zyste  mit  der  Pin¬ 
zette  aus  der  Nase  herausgeholt,  das  Ostium  max.  war  eben 
falls  sehr  weit. 

Dr.  Weil  und  Dr.  Kofi  er  meinten,  es  dürfte  sich  um 
gewöhnliche  Nasenpolypen  gehandelt  haben  (mit  einem  zysti¬ 
schen  Anteile),  die  in  die  Kieferhöhle  hineingewachsen  waren. 

Priv.-Doz.  Dr.  Kahler  zeigt  das  Präparat  einer  am  Boden 
des  Antrum  aufsitzenden,  breitbasig  inserierten  Zyste. 

'  Priv.-Doz.  Dr.  Glas  stellt  drei  seltene  Formen  von  Schleim¬ 
hauttuberkulose  vor:  einen  Fall  mit  zwei  isolierten  Infiltraten 
am  Zungenrücken  bei  einem  Patienten  mit  verheilter  Apizitis 
und  tuberkulösen  Granulationen  auf  der  Interarytänoidalfalte;  dann 
ein  Lippenulkus  und  schließlich  eine  klinisch  primäre  Tuber¬ 
kulose  des  Zahnfleisches  und  des  Processus  alveolaris.  Wieder¬ 
holte  innere  Untersuchung  negativ.  Ueber  ein  tuberkulöses  Lippen¬ 
geschwür  berichtet  auch  Dr.  F.  Neumann. 

Dr.  Kotier  zeigt  einen  Patienten,  der  vor  mehreren  Wochen 
einen  akuten  Katarrh  der  oberen  Luftwege,  nach  einiger  Zeit 
Schmerzen  und  starkes  Tränen  im  rechten  Auge  bekam.  Hofrat 
Fuchs  fand  außer  der  Konjunktivitis  einen  Konnex  zwischen 
der  zweiten  Augenaffektion  und  einer  Nasenerkrankung.  Fine 
weitere  Untersuchung  nach  etwa  zwei  Wochen  ergab  Oedjem 
des  unteren  Lides  und  Bewegungseinschränkung  des  rechten  Auges 
nach  innen  und  oben.  Bei  Eröffnung  des  hinteren  Sieb  bei  us 
stürzte  ein  Teelöffel  einer  honiggelben,  schleimigen,  fadenziehen¬ 
den  Flüssigkeit  hervor,  die  fast  den  ganzen  Hohlraum  des  Sieb¬ 
beines  ausfüllte.  Es  handelte  sich  um  eine  nach  einem  Schnupfen 
entstandene  Mukokele  des  Siebbeines  mit  Augenstörungen,  die 
am  Tage  der  Vorstellung,  das  heißt  fünf  Tage  nach  der  Ope¬ 
ration,  bedeutend  gebessert  waren. 

Dr.  Menzel  stellt  einen  Patienten  mit  isoliertem  primären 
Lupus  vulgaris  des  Rachens  vor.  Vor  fünf  Jahren  ergab  die 
histologische  Untersuchung  exzidierter  Stücke  Tuberkulose.  Jetzt 
ist  breite  Verwachsung  beider  Arcus  palato  -  pharyngei  mit  der 
hinteren  Rachenwand  vorhanden.  An  der  Umrandung  der  steno¬ 
tischen  Partie  und  am  Velum  erhabene  feine  Granulationen. 
Die  von  Prof.  Joannovics  vorgenommene  histologische  Unter¬ 
suchung  ergab  Lupus.  Dann  zeigt  er  eine  angeborene  Asymmetrie 
beider  Nasenhöhlen  hei  einem  18jährigen  Mädchen,  das  im  Alter 
von  vier  Monaten  an  einer  Hasenscharte  operiert  wurde.  Es 
ist  eine  Höhendifferenz  der  Nasenböden  von  0-5  cm  vorhanden, 
ebenso  inseriert  die  untere  Muschel  der  betreffenden  Seife  etwas 
tiefer  herab;  der  harte  Gaumen  ist  etwas  abgeflacht;  und  schlie߬ 
lich  zeigt  er  einen  Fall  mit  rhythmischen  zuckenden  Bewegungen 
in  beiden  Seitenteilen  des  Rachens,  die  sich  auf  den  Larynx 
lortsetzen  und  rhythmische  Zuckungen  der  Epiglottis,  der  Ary- 
knorpel  und  Stimmbänder  bedingen.  Es  könne  sich  um  arterielle 
Pulsationen  handeln,  ausgehend  von  einer  abnorm  gelagerten 
Carotis  interna,  wobei  je  einer  Pulsation  zwei  sichtbare  Zuckun¬ 


gen  entsprechen,  die  zweite  Bewegung  würde  die  Rückstoßele- 
vation  vorstellen ;  allerdings  habe  eine  von  Prof.  L.  Braun  vor- 
genommene  sphygmographische  Untersuchung  den  Mangel  einer 
Ruckstoßelevation  ergeben.  Dann  könnte  es  sich  um  Muskel¬ 
zuckungen  handeln  Pat.  hat  vor  einem  Jahre  eine  apoplektische 
Zungemtahmung  erlitten,  doch  spreche  dagegen  namentlich  die 
zu  jeder  Zeit  wahrnehmbare  Rhythmik  der  Bewegungen  •  und  es 
bleibe  nur  noch  als  dritte  Möglichkeit  die*  Annahme  eines  Venen- 
pulses  übrig.  Eine  gründliche  Untersuchung  des  Falles  sei  aller¬ 
dings  noch  nicht  vorgenommen  worden. 

pr°i-  Rethi  spricht  sich  gegen  die  Abhängigkeit  der  sicht¬ 
baren  Stöße  von  der  Blutzirkulation  aus,  denn  schon  eine  ober- 
t lächliche  Untersuchung  ergibt,  daß  die  Zahl  der  Stöße  nicht 
genau  das  Doppelte  des  Arterienpulses  beträgt;  klonische  Zuckun¬ 
gen  sind  um  so  wahrscheinlicher,  als  ähnliche  Erscheinungen 
auch  in  anderen  Muskeln  (Masseter)  zu  sehen  sind. 

Dr.  Marschifk  Imeint,  die  Erscheinung  müßte  auch  an 
anderen  venenreichen  Stellen  des  Kopfes  zu  sehen  sein,  Avenn  es 
sich  um  einen  Venenpuls  handeln  würde. 

Dr.  Marsch  ik  zeigt  histologische  Präparate  von  zwei  Neo¬ 
plasmen  der  oberen  Luftwege:  66jährige  Frau,  vor  fünf  Monaten 
Carcinoma  mammae,  Operation.  Ausräumung  der  Achselhöhle. 
Seit  zwei  Monaten  Verstopfung  der  rechten  Nasenhälfte.  Die  Rhi- 
noskopie  ergibt  einen  von  der  lateralen  Nasenwand  ausgehenden, 
die  Nase  voirne  bis  zum  Vestibulum  und  hinten  bis  zur  Choane 
obturierenden  Tumor,  dessen  histologische  Untersuchung  (Pro¬ 
fessor  Stoerk)  ein  kleinzelliges  Spindelzellensarkom  ergab.  Die 
bereits  ausgeführte  Ausräumung  der  Drüsen  ergab  denselben 
Befund.  Die  Röntgenaufnahme  ergab  Verdunkelung  der  rechten 
Kieferhöhle  und  des  rechten  Siebbeines.  Der  zweite  Fall  betrifft 
eine  21jährige  Patientin;  lVs  Jahre  Halsbeschwerden ;  drei  Monate 
schmeizhafte  Geschwulst  außen  am  Halse,  später  erschwerte  Atmung, 
Oedern  des  rechten  Aryknorpels;  Recessus  piriformis  verstrichen; 
Glottis  verengt.  Die  Hypopharyngoskopie  zeigte  einen  höckerigen 
ulzeiierten  Tumor  au  der  Hinterfläche  des  rechten  Aryknorpels, 
übergreifend  auf  die  hintere  Raehenwand.  Die  Probeexzision 
ergab  Plattenepithelkarzinom. 


28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin 

vom  19.  bis  22.  April  zu  Wiesbaden. 

(Fortsetzung.) 

Referent:  K.  Reicher -Berlin. 

P  r  y  m  -  Bonn :  M  i  1  z  u  n  d  V erd  au  u  n  g. 

Als  Resultat  seiner  ausgedehnten  Versuche  ergibt  sich,  daß 
sich  kein  Einfluß  der  Milzexstirpation  auf  die  Magenverdauung 
erweisen  läßt.  Ebensowenig  ist  in  der  Milz  seihst  Pepsin  nach" 
weisbar.  Trotzdem  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  bei  der  Verdauung 
eine  Anschwellung  stattfindet  und  hei  entmilzten  Tieren  eine  auf¬ 
fallende  Freßlust  eintritt.  Die  Messung  der  unter  der  Haut  ver¬ 
lagerten  Milz  vor,  während  und  nach  dem  Fressen  hat  aber 
kein  exaktes  Maß  für  die  Größenbestimmungen  ermöglicht.  Prym 
will  daher  die  Frage  der  Anschwellung  der  Milz  während  der 
Verdauung  noch  offen  lassen. 

H  o  1  z  k  n  ©ic  h  t  -  Wien  und  0 1  b  e  r  t  -  Marienbad :  M  0  r  p  h  i  n 
u  n  d  M  ag  e  n  m  o  t  i  1  i  t  ä  t. 

Magengeisunde  Menschen  aßen  an  einem  Tage  einen  Teller 
voll  mit  Bismutum  carbonicum,  am  anderen  Tage  dasselbe  mit 
ganz  geringiügigen  Morphiumdosen  (0  01).  Die  Austreibungszeit 
wurde  in  letzterem  Fälle  gegenüber  der  Norm  (3  bis  3‘/i  Stun¬ 
den)  um  das  Drei-  bis  Vierfache  verlängert.  Als  Ursache  kommt 
weder  muskuläre  Lähmung  noch  erhöhte  Azidität  in  Betracht. 
Dagegen  ist  ein  primärer  Pylorusspasmus  als  ätiologisches  Moment 
an  zu  sprechen.  Denn  bei  gleichzeitiger  Morphin-  und  Atropin¬ 
verabreichung  ist  der  Spasmus  tatsächlich  aufgehoben  und  damit 
auch  die  Motilitätsstörungen  verschwunden. 

Gustav  Singer -Wien  und  Karl  Glaessner- Wien:  Die 
Wirkung  der  Gallensäuren  auf  die  Darmperistaltik. 

Singer  berichtet  über  experimentelle  und  klinische  Ver¬ 
suche,  welche  er  gemeinsam  mit  Glaessner  über  die  abführende 
Wirkung  der  Gallensäuren  angestellt  hat.  Bereits  in  einer  vor- 


888 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


läufigen  Mitteilung  (vor  einem  Jahre)  wurde  von  den  genannten 
Autoren  eine  merkwürdige,  die  Peristaltik  des  Dickdarms  fördernde 
Funktion  der  (falle  nachgewiesen,  indem  hei  Hunden,  später 
uu'  li  in  ausgedehnten  Versuchsreihen  hei  Menschen  beobachtet 
"  tu'de,  daß  in  das  Rektum  eingespritzte  Galle  nach  zehn  Minuten 
bis  einer  halben  Stunde  eine  prompte  und  ausgiebige  Uefäkation 
hervorruft.  Als  Träger  dieser  Wirkung  wurde  von  den  Autoren 
die  Cholsäure  isoliert,  welche  in  Form  von  Zäpfchen  und  Klysmen 
besonders  per.  rectum  —  in  ganz  exquisiter  und  charak¬ 
teristischer  Weise  wirkt. 

Die  Verfasser  haben  nun  weiterhin  den  Beweis  erbracht, 
daß  der  Hauptangriffspunkt  dieser  Wirkung  im  Dickdarm  ge¬ 
logen  ist,  was  sie  sowohl  durch  klinische  Wahrnehmung,  als 
durch  rektoskopische  Kontrolle  erweisen.  Singer  berichtet  über 
die  Experimen tal versuche  bei  Katzen,  bei  welchen  die  Röntgen¬ 
durchleuchtung  nach  der  von  Magnus  geübten  Methode,  ebenso 
wie  Durchleuchtungsversuche  bei  mit  Cholsäure  behandelten  Men¬ 
schen  eine  prägnante  und  spezifische,  zur  Defäkation  führende 
Kontraktionswirkung  auf  den  Dickdarm  deutlich  erkennen  lassen. 
Der  Vortragende  bespricht  die  Indikationen  für  die  Gallensäure¬ 
darreichung,  von  welchen  neben  der  habituellen  Obstipation 
namentlich  der  paralytische  Ileus  und  die  postoperative  Darm- 
pareise  hervorzuheben  sind  und  die  Dosierung  per  rectum  und 
per  os.  Neben  der  überraschend  schnellen  und  prompten  Wirkung 
auf  die  Dickdarmperistaltik  sind  zwei  Eigenschaften  der  Chof- 
säurewirkung  eigentümlich,  u.  zw.  das  Fehlen  jeder-  Transsuda¬ 
tion  und  die  auffallend  mäßigen  und  kompakten  Stuhlentleerungen, 
so  daß  der  physiologische  Defäkationsakt  förmlich  nachgeahmt 
erscheint. 

Diskussion  zu  den  V orträgen  W i n t e r n i t z  bis  Singe r. 

Ad.  Schmidt-Halle:  Es  gibt  zweifellos  Pankreaserkran¬ 
kungen  funktioneller  und  organischer  Natur,  bei  denen  die  Se¬ 
kretion  einseitig  verändert  wird,  insofern  als  entweder  bloß  die 
Kettverdauung  oder  bloß  die  Eiweißverdauung  gestört  ist.  Be¬ 
sonders  angenehm  bei  der  Probe  des  Herrn  Winternitz  ist  der 
I  instand,  daß  sie  sich  auf  die  Spaltung  des  Fettes  aufbaut.  Was  die 
Kernprobe  betrifft,  so  besteht  sie  trotz  der  in  letzter  Zeit  erfolgten 
scharfen  Angriffe  zu  Recht.  Der  Magensaft  bewirkt  sicher  nicht 
die  Auflösung  der  Keine.  In  letzter  Zeit  gelang  es,  die  Kernprobe 
durch  Färben  der  isolierten  Kerne  mit  Alaun-Hämaloxylin  zu 
vereinfachen.  Man  kann  sie  dann  namentlich  nach  Mischungen 
mit  Lykopodium  im  Stuhl  sehr  leicht  wiederfinden.  Fehlen  sie  in 
den  feilen,  wo  Lykopodium  vorhanden  ist,  dann  sind  sie  verdaut. 

Um  her -Altona:  Wie  verhält  sich  der  von  Winternitz 
verwendete  Ester  gegenüber  dem  Volhardschen  Magensteapsin 
und  gegenüber ’den  Lipasen  der  Leber? 

Von  den  Velden -Düsseldorf:  Vortr.  und  Loch  fanden, 
daß  eine  Anzahl  normaler  Menschen  mit  normalen  Sekretions- 
Verhältnissen  im  Darm  nach  Verabreichung  von  Di  jodfettkörpern 
im  nüchternen  Zustande  einen  Kotverlust  bis  zu  50°/o  hatten.  Bei 
gleichzeitiger  Darreichung  mit  Fett  war  die  Ausnützung  wieder 
eine  bessere,  bei  Ueberlastung  mit  Fett  dagegen  die  Kotverluste 
wieder  größer.  Die  Resultate  von  Olbert  und“  Holzknecht 
bezüglich  des  Verhältnisses  von  Morphin  und  Magenmotilität 
stimmen  vollständig  mit  den  vom  Vortragenden  im  vergangenen 
Jahre  an  derselben  Stelle  mitgeteilten  Ergebnissen  überein. 

Gr  oß- Greifswald  hat  bei  einem  zweiten  Menschen  mit  Milz¬ 
exstirpation  die  erwähnten  Versuche  wiederholt,  konnte  aber  da  im 
\  orjahre  keine  Veränderung  der  Pepsinproduktion  finden. 

Ewald -Berlin  hat  schon  in  den  Siebzigerjahren  nachge- 
wiesen,  daß  ein  Einfluß  der  Milzexstirpation  auf  die  Pepsin¬ 
sekretion  nicht  besteht. 

Breuer -Wien  möchte  angesichts  der  Verwendung  von  Bis¬ 
mutum  carbonicum  einwenden,  daß  die  Verabreichung  eines  Kar¬ 
bonats  wegen  der  Möglichkeit  einer  starken  Salzsäurebildung 
nicht  gleichgültig  sei.  Der  Engländer  Herz  schlägt  aus  diesem 
Grunde  statt  der  Kohlensäureverbindung  ein  basisches  Salzsäure»- 
salz  Vor. 

v.  Ta  bora  hat  bei  den  Versuchen  mit  Bismutum  carbonicum 
und  subnitricum  sowie  Zirkonoxyd  keine  Differenzen  in  den 
Resultaten  gefunden. 

V  inter nitz  (Schlußwort):  Die  Magenlipase  wirkt  nicht 
spaltend  auf  den  verwendeten  Aethylester,  ebensowenig  die  Darm¬ 
lipase.  Dagegen  kann  er  die  spaltende  Wirkung  der  anderen  Ge- 
webslipasen  nicht  ausschließen. 

Sitzung  vom  21.  April  1911,  nachmittags. 

Referent:  K.  Reiche r- Berlin. 

D  e  m  o  n  s  t  r  a  t  i  o  n  s  s  i  t  z  u  n  g. 

Nicolai-Berlin :  Zur  Lehre  der  Extrasystole. 

Vortr.  unterscheidet  dried  Formen  von  Extrasystolen,  von 
denen  die  eine  ihren  Ursprungsort  in  der  Nähe  der  Basis,  die 


zweite  in  der  Nähe  der  Spitze  und  die  dritte  in  dem  Zentrum  des 
Herzens  hat.  Dabei  lallt  die  erste  Form  mit  den  Extrasystolen 
des  rechten,  die  dritte  mit  denen  des  linken  Ventrikels  zusammen. 
Diese  Ansicht,  welche  Kraus  und  Nicolai,  auf  Hundeexperi- 
mente  gestützt,  schon  lange  vertreten,  ist  jüngst  durch  die  Unter¬ 
suchungen  von  Rothberger  und  Winterberg  bestätigt  worden. 
Elektrokardiographische  Untersuchungen  am  Menschen  haben 
neben  diesen  Formen  noch  eine  vierte  auffinden  lassen,  bei 
der  das  Elektrokardiogramm  von,  mehr  oder  weniger  normalem 
Typus  ist.  Eine  einheitliche  Erklärung  dieser  klinischen  Beob¬ 
achtungen  scheint  nur  auf  Grund  der  Vorstellungen  möglich,  die 
sich  der  Vortragende  über  die  gebahnte  und  ungebahnte  Reiz¬ 
ausbreitung  im  Herzen  gebildet  hat.  Nach  ihm  bietet  das  ana¬ 
tomisch  nachgewiesene,  vollkommen  diffus  verbreitete  Nerven- 
netz  die  eine  Möglichkeit  der  Reizausbreitung,  außerdem  aber 
gibt  es  prädisponierte  Bahnen,  welche  die  Erregung  leichter  leiten. 
Beim  normalen  Schlag  wird  die  Erregung  nur  auf  diesen  prä¬ 
disponierten  Bahnen  geleitet,  bei  den  Extrasystolen  aber  breitet 
sich  die  Erregung  im  Anfang  diffus  aus  und  erst  wenn  sie  zufällig 
auf  irgendeiner  Stelle  auf  die  prädisponierten  Bahnen  trifft,  läuft 
sie  von  nun  ab  auf  diesen  weiter.  Deshalb  läßt  sich  auch  das 
Elektrokardiogramm  bei  manchen  Tieren  (Frosch  und  Schild¬ 
kröte)  nur  im  Anfangsteile  verändern,  während  der  zweite  Ab¬ 
schnitt  unter  allen  Umständen  identisch  ist.  Beim  Menschen 
treffen  beide  Möglichkeiten  zu.  Da  die  Grundlagen  dieser  Auf¬ 
fassung  früher  von  Hering  bekämpft  worden  sind,  und  da  es 
für  die  gesamte  Entwicklung  der  Elektrophysiologie  des  Her¬ 
zens  wichtig  ist,  ob  diese  Grundlagen  zutreffen  oder  nicht,  so 
richtet  der  Vortragende  an  Hering  die  Frage,  ob  er  nunmehr 
noch  immer  an  seinem  früheren  Standpunkte  festhalte  oder  sich 
inzwischen,  wenn  auch  stillschweigend,  zu  den  Anschauungen 
der  Berliner  Schule  bekehrt  habe?  Vortragender  betont  aus¬ 
drücklich,  daß  es  sich  um  keine  Prioritätsfrage,  sondern  um 
eine  sachliche  Feststellung  handle. 

Diskussion:  Ru p  p er  t *  Salzuflen-Düsseldorf :  R  u  p  p  er  t 
versucht  durch  vergleichende  Aufschreibung  des  Elektrokardio¬ 
gramms  in  Verbindung  mit  dem  Spitzenstoß,  Herztönen  und  Ka- 
rotispuls  den  Beziehungen  der  Herz-  und  Gefäßtätigkeit  zum 
Elektrokardiogramm  beim  gesunden  und  beim1  herzkranken  Men¬ 
schen  näher  zu  treten  und  benützt  dazu  ein  nach  Art  des  Tele- . 
phons  gebautes  Instrument  von  Cr  einer.  Aus  den  Versuchen 
geht  hervor,  daß  das  Auftreten  der  Gruppe  R  in  pathologischen 
Fällen  nicht  im  gleichen  Zeitintervall  dem  Auftreten  von  Spitzen¬ 
stoß,  Karotis-  und  Herztönen  vorausgeht  wie  beim  Gesunden, 
daß  also  eine  gewisse  zeitliche  Unabhängigkeit  zwischen  dem 
Beginne  des  K a in merelek t r o gramms  und  der  Kammerkontraktion 
besteht. 

Beim  A  d ams-Stokes sehen  Symptomenkomplex  war  das 
Elektrokardiogramm  um1  cä.  20%  länger  als  die  Dauer  des  Spitzen¬ 
stoßes.  A eheliche  Differenzen  in  dem  zeitlichen  Ablaufe  zeigten 
sich  bei  Extrasystolen  und  bei  Arhythmien 

H  o  f  f  m  a  n  n  -  Düsseldorf :  Man  muß  mehrfache  Ableitungen 
beim  Elektrokardiogramm  vornehmen,  weil  unter  bestimmten  Um¬ 
ständen  die  Vorhofzacke  hei  der  dritten  Ableitung  negativ  wird, 
während  dies  bei  der  ersten  Ableitung  nicht  der  Fall  wäre.  Die 
Größe  der  Initialzacke  ist  unabhängig  von  der  Herzgröße,  denn 
sie  bleibt  z.  B.  gleich  bei  der  Bowd  ich  sehen  Treppe  und  auch, 
wenn  man  die  Kontraktionsmöglichkeit  des  Herzens  durch  An¬ 
füllung  mit  Paraffin  aufhebt. 

S trabe  11- Dresden:  Durch  das  Elektrokardiogramm  ist  das 
Studium  der  Arhythmie  bedeutend  gefördert  und  erleichtert  wor¬ 
den.  Die  Versuche  von  Eppinger  und  Rothberger  haben 
gezeigt,  daß  nach  Durchschneidung  des  linken  Tawaraschenkels 
rechtseitige  Extrasystolie,  des  rechten  linkseitige  Extrasystolie 
auftritt.  Dadurch  sind  von  Strub  eil  schon  früher  beobachtete, 
wenn  auch  anders  gedeutete  Erscheinungen  aufgeklärt  worden. 
Im  Gegensätze  zu  allen  bisherigen  Fällen  hat  Strubeil  in. einem 
Falle  mit  negativer  Nachschwankung  nach  sieben  Monate  langer, 
sorgfältiger  Behandlung  eine  deutliche  Besserung  eintreten  ge¬ 
sehen.  Es  ist  da  bei  einer  Leitungsaufhebung  des  linken  Tawara¬ 
schenkels  die  rechtzeitige  Extrasystolenform  allmählich  ver¬ 
schwunden  und  das  typische  Elektrokardiogramm  wiedergekehrt, 
allerdings  ohne  Nachschwankung. 

Hering-Prag:  Das  Elektrokardiogramm  äußert  sich  je  nach 
Ableitung  und  Lage.  Eine  bestimmte  Lagerung  läßt  sich  nicht 
immer  verwenden.  Die  Kontraktionsstärke  bringt  das  Elektro¬ 
kardiogramm  nicht  zum  Ausdruck,  dagegen  ist  es  ein  ausgezeich¬ 
netes  Hilfsmittel  für  die  Analyse  der  Herzunregelmäßigkeiten. 

Nicolai- Berlin:  Das  Elektrokardiogramm  gibt  uns  Aus¬ 
kunft  über  den  Erregungsablauf,  aber  auch  über  die  Kontraktions¬ 
größe.  In  Kurven  von  etwa  1000  Elektrokardiogrammen  konnte 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911, 


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Nicolai  immer  einen  Zusammenhang  zwischen  Initialzacke  und 
Herzgröße  finden,  sie  ist  ziemlich  proportional  (abgesehen  von 
A r teri osk  1  er otikern  und  Syphilitikern)  der  Muskelmasse  des  Her¬ 
zens.  Bedauerlich  ist,  daß  Hering  hier  seine  Ansichten  nicht 
präzisiert  hat. 

L.  R.  Müller-Augsburg:  Anatomische  und  physio¬ 
logische  Studien  über  die  Darminnervation. 

Schilderung  des  A  u  er  bachschen  , Nervengeilech ts  und  des 
Meissner  sehen  Plexus  und  deren  Ganglienzellen  an  vorzüg¬ 
lichen  Mikrophotogrammen  und  äußerst  instruktiven  Zeichnungen. 
Der  Mesenterialnerv 'besteht  aus  fast  lauter  marklosen  Fasern. 
Die  para  vertebra  len  Ganglien  (Ganglion  coeliacum)  haben  breit 
ansetzende  Dendriten  und  sind  von  einer  Kapsel  eingehüllt,  der 
Nervus  splanc'hnicus  enthält  nur  markhaltige,  hauptsächlich  dünne 
Nerven.  Jakobsohn  und  Langley  haben  nachgewiesen,  daß 
die  bimförmigen,  unipolaren  Ursprungszellen  desselben  im  Rücken 
mark  an  der  Spitze  des  Seiten  horns  liegen.  Die  größeren  Ganglien¬ 
zellen  an  der  Grenze  zwischen  Ring-  und  Längsmuskulatur  schei¬ 
nen  sensibler  Natur  zu  sein.  Bestätigt  sich  der  Befund,  daß  von 
diesen  Zellen  Fasern  bis  zu  den  Epithelzellen  gehen,  SO'  wäre 
dies  der  sensible  Teil  des  die  Bewegungen  auslösenden  Reflex¬ 
bogens.  Aehnlich  wie  am  Herzen  entstehen  also  im  Darm  die 
Bewegungsimpulse  in  der  Organwand  selbst,  denn  nach  Durch¬ 
schneidung  der  Mesenterialnerven  wird  die  Darmperistaltik  nicht 
wesentlich  beeinträchtigt  Der  Splanchnikus  und  die-  Mesenterial¬ 
nerven  üben  lediglich  antagonistisch  einen  hemmenden  oder  an¬ 
regenden  Einfluß  auf  den  Ablauf  des  Reflexes  aus.  Die  den  Darm¬ 
bewegungen  vorstehenden  Ganglienzellen  reagieren  auf  Stoffe, 
wie  Atropin,  Pilokarpin  u.  a.,  die  auch  auf  die  übrigen  Zellen  des 
vegetativen  Nervensystems  eine  Einwirkung  haben. 

Determann-St.  Blasien-Freiburg:  Demonstration  eines 
Viskosimeters,  das  eine  Vereinigung  des  Determan nsclien 
und  des  Heßsc'hen  Apparates  darstellt,  jedoch  den  prinzipiellen 
Fehler  des  H  eß  sehen  Apparates,  nämlich  Anwendung  hoher  und 
wechselnder  Drucke,  vermeidet. 

E.  Schlesinger-Berlin  und  E.  Fuld-Berlin:  Ein  Ver¬ 
fahren  zur  H  äm  o  g  1  o  b  i  n  ometr  i  e,  sowie-  zur  Kol  cri¬ 
me  trie  im  allgemeinen  auf  Grund  eines  neuen  Priu- 
zip-es. 

Anstatt  wie  bisher  die  Kalorimetrie  auf  die  Schätzung  der 
Farbengleichheit  zwischen  Test-  und  Untersuchungsobjekt  zurück¬ 
zuführen,  gelingt  es,  die  Aufgabe  beinahe  mit  der  Präzision  einer 
Titration  zu  lösen,  wenn  man  das  Untersuchungsobjekt  hinter 
eine  in  einem  Hohlkeil  enthaltene  Hilfsfarblösung  schaltet,  die  bei 
jeder  Objektfarbe  ganz  bestimmte  Eigenschaften  besitzen  muß. 
Durch  Verschiebung  des  Keiles  erreicht  man  plötzlich  einen 
Farbenumschlag  und  diese  Stelle  gibt  ein  direktes  Maß  für  die 
Färbungsintensität  des  Untersuchungsobjektes  ab.  Der  ganz  vor¬ 
zügliche  Apparat  wird  von  der  Firma  C.  Zeiß  hergestellt. 

Hess-Posen:  Ueber  das  Kardiogramm  und  den  zen¬ 
tralen  Puls  des  Menschen.  (Projektion  von  Kurven,  die 
mit  dem  Frank  sehen  Herztonapparat  aufgenommen  sind.) 

Die  Reproduktion  der  Herztöne  scheitert  an  der  Schwierig¬ 
keit,  die  Brustwanderschütterungen  zu  eliminieren.  Es  gelingt 
nun,  die  Töne  durch  einen  Glaskonus,  der  entfernt  vom  Pa¬ 
tienten  aufgestellt  wird,  aufzufangen.  Sie  werden  durch  eine 
Messingkapsel,  welche  in  der  Mitte  durch  eine  dünne,  überall 
luftdicht  anschließende  Membran  von  Geigenholz  geschieden 
ist,  weiter  geleitet  und  so  die  Brustwanderschütterungen  abge¬ 
halten. 

Engel -Düsseldorf:  Ueber  die  mechanische  Dispo¬ 
sition  zur  Pneumonie. 

Im  Säuglingsalter  lokalisieren  sich  die  Pneumonien  in  den 
hinteren,  para vertebralen  Lungenabschnitten  u.  zw.  beginnen  sie 
in  denjenigen  Teilen,  welche  die  geringsten  respiratorischen  Vo¬ 
lumschwankungen  haben,  nämlich  in  einem  paravertebralen  Be¬ 
zirke,  dessen  größte  Ausdehnung  sich  im  überlappen  befindet. 
Diese  Anordnung  ist  der  hypostatischen  geradezu  entgegengesetzt, 
um  Hypostase  kann  es  sich  also  in  diesen  Fällen  nicht  handeln. 

(Fortsetzung  folgt.) 

40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  zu  Berlin 

vom  19.  bis  22.  April  1911  (im  Langenbeckhause). 

Referent:  Dr.  M.  K at z  en  steirf- Berlin. 

(Fortsetzung.) 

S  ti  er  1  i  n- Basel :  Die  radio -graphische  Diagnostik 
der  11-eocök  altuberku  lose  und  anderer  ulzerativer 
und  indurierender  Dickdarmprozesse. 


*  ,  Infiltrierende,  indurierende,  sowie  ulzeröse  Prozesse  des 
(  ökums  und  Colon  ascendens  äußern  sich,  nach  Beobachtungen 
des  \  ortr;agenden  im  Radiogramm,  regelmäßig  durch  ein  Fehlen 
des  nach  fünf  bis  sechs  Stunden  physiologischen  Schattens  in 
diesem  Kolonabschnitt.  Sowohl  für  Anfangs-,  sowie  für  fort¬ 
geschrittene  Stadien  der  Cökaltuberkulose  ist  deshalb  im  Skia- 
gramm  das  Fehlen  des  Cökum-,  respektive  Cökum  -  Colon  ascen¬ 
dens  -  Schattens  zwischen  unterem  Ileum-  und  Colon  transversum- 
S chatten  typisch.  Mit  Hilfe  der  Radiographie  gelingt  so  die  Dia¬ 
gnose  auch  in  Fällen,  wo  sie  klinisch  nicht  zu  stellen  ist. 
Yortr.  verfügt  bis  jetzt  über  sechs  Fälle  von  radiographisch 
untersuchter  Ileocökalluberkulose,  von  denen  er  vier  mit  je  einem 
Röntgenbild  demonstriert.  Bei  allen  wurde  hei  der  Operation 
der  Befund  sichergestellt.  Auch  in  eine-ni  durch  Autopsie  kon¬ 
trollierten  Falle  von  Colitis  ulcerosa  gelang  es  Stierlin,  die 
radiögraphisehe  Lokalisationsdiagnose  zu  stellen.  Auch  hier 
fehlten  die  erkrankten  Kolonpartien  im  Skiagrannn  zu  allen  Zeiten 
der  Untersuchung,  im  Gegensatz  zu  den  gesunden  (Cökum  und 
Colon  ascendens),  die  einen  tiefen  Schatten  aufwiesen. 

H  -e  n  1  e  -  Dortmund :  Bekämpfung  der  D  a  r  m  parese  m  i  I 
Hormonal. 

Im  Gegensatz  zum  Physostigmin  ruft  eine  Hormonalinjektion 
keine  Kontraktur,  sondern  eine  peristaltische  Welle  hervor,  welche 
binnen  einer  Stunde  zum  Abgang  von  Flatus,  binnen  drei  bis 
fünf  Stunden  zur  Stuldentleenmg  führt.  Es  hat  sich  bei  post- 
operativer  Darmlähmung  bewährt,  jedoch  kommt  ihm  eine  Dauer¬ 
wirkung  hiebei  (im  Gegensatz  zur  habituellen  Obstipation)  nicht 
zu.  Oe-fters  tritt  eine  Welle  aut,  macht  aber  an  einer  bestimmten 
Stelle  halt,  so  daß  eine  neue  Injektion  erforderlich  ist. 

Auch  prophylaktisch  kann  man  Hormonal  injizieren.  Aller¬ 
dings  besser  mit  Pantopon,  als  mit  Morphium  kombiniert.  Da  das 
des  Hormonais  warm  empfehlen  zu  können.  In  einem  Falle  von 
bis  zu  39°  herbeiführt,  allerdings  ohne  bleibende  Schädigungen, 
so  bleibt  die  Frage  der  Einzeldos-en,  sowie  die  Wiederholung  der 
Dosen  noch  zu  studieren. 

D  en ck s - Rixdorf  hat  das  Hormonal  in  einer  großen  Anzahl 
chirurgischer  Fälle  angewendet.  Er  fand  die  Hauptmasse  des  Ilor- 
monals  in  der  Milz,  ln  den  meisten  Fällen  wirkte  es  günstig, 
ausnahmsweise  jedoch  blieb  die  Wirkung  aus.  Schädliche  Ein¬ 
wirkungen  konnten  vom  Hormonal  nicht  beobachtet  werden. 

Bore  h  a  r  d  t  -  Berlin  ist  ebenfalls-  in  der  Lage,  die  Anwendung 
des  Hormonais  warm  empfehlen  zu  können.  In  einem  Falle  von 
Peritonitis  führte  er  die  Rettung  des  Patienten  auf  seine  Anwen¬ 
dung  zurück. 

Heu  sn  er -Bannen  empfiehlt  außer  dem  Hormonal  die  An¬ 
wendung  elektrischer  Heißluftbäder  des  Bauches. 

Zuelzer -Berlin  empfiehlt  die  Anwendung  des  Hormonais 
auch  heim  Ileus,  ehe  man  zur  Operation  .schreitet  und  hat  in 
solchen  Fällen  Heilung  ohne  Operation  gesehen. 

Gold  mann -Berlin  berichtet  über  günstige  Resultate  bei 
Anwendung  des  Hormonais  auf  der  Rotter  sehen  Abteilung. 

Reh  n-  Frankfurt  a.  M.  warnt  vor  der  Anwendung  dieses 
Mittels  hei  Ileus. 

Nendorf  ei  -Hoh-en-Ems:  Ueber  Ulcus  du  öden  i. 

Vortragender  berichtet  über  sein  eigenes  Material.  Er  hat 
in  100  Fällen  von  Erkrankungen  des  Magens  operiert.  Darunter 
waren  73  Ulkusfälle.  Von  diesen  waren  8  Duodenalgeschwüre. 
Diese  Zahl  stimmt  genau  mit  -einer  Arbeit  von  Schmitt  überein, 
welcher  unter  63  Fällen  ebenfalls  8  Duodenalgeschwüre  gesehen 
hat.  Aus  diesen  Beobachtungen  schließt  Vortragender,  daß  das 
Duodenalgeschwür  auch  in  unseren  Gegenden  viel  häufiger  ist, 
als  allgemein  angenommen  wird.  Auch  die  Diagnose-  ist  in  den 
meisten  Fällen  am  Krankenbett  möglich,  so  hat  er  seine  letzten 
fünf  Fälle  vor  der  Operation  diagnostiziert.  Nach  seiner 
Meinung  sind  die  Symptome  cl-eis  Ulcus  duodeni  sehr  präzis 
und  nicht  leicht  mit  einer  anderen  Erkrankung  zu  verwechseln. 

Es  gibt  zwei  Typen;  zuerst  solche-,  bei  denen  die-  Schmerzen 
vorherrschen.  In  diesen  Fällen  treten  die  Schmerzen  niemals 
vor  drei  Stunden,  spätestens  sechs  Stunden  nach  den  Hauptmahl¬ 
zeiten  ein,  also  gewöhnlich  zweimal  des  Tages,  gegen  6  Uhr 
abends  und  nach  Mitternacht.  Dabei  besteht  ausgesprochen  Perio¬ 
dizität  der  Beschwerden,  mit  und  ohne  Behandlung,  so  daß 
monatelange  freie  Intervalle  vorkominlen.  Der  zweite  Typus 
ist  charakterisiert  durch  periodisch  auf  treten  de  Blutungen,  welche 
manchmal  sich  nur  in  Ohmnachtsanfällen  äußern.  Hämateme-sis 
ist  selten.  Objektiv  findet  sich  keine  nachweisbare  Veränderung 
des  Magens,  weder  in  seiner  Größe,  noch  in  seiner  Funktion. 
Fast  immer  besteht  Hyp-erchloridie,  -ein  Schmerzpunkt  rechts  und 
über  dem  Nabel,  unter  der  Mitte  des  rechten  Musculus  rectus. 
Sehr  charakteristisch  ist  die  reflektorische  Spannung  des  Mus¬ 
culus  r-ectus  im  Schmerzanfall. 


890 


WIEN  EH  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  24 


Differentialdiagnostisch  kommen  nur  die  Cholezystitis  und 
gewisse  Erkrankungen  des  Darmes  in  Betracht,  jedoch  ist  die 
Art  des  Schmerzes  verschieden  von  der  der  Cholezystitis.  Die 
Therapie  ist,  da  die  interne  Behandlung  fast  immer  versagt,  eine 
chirurgische  u.  zw.  die  Gastroenterostomie  mit  Verengerung 
des  Pylorus. 

V  ortragender  gibt  den  Rat,  bei  jedem  Fall  von  Schmerzen 
im  oberen  Bauchabschnitt,  die  sich  regelmäßig  wiederholen,  an 
das  Ficus  duodeni  zu  denken  und  daraufhin  zu  untersuchen. 
Er  ist  überzeugt,  daß  es  sich  dann  heraussteilen  wird,  daß  das 
„Ulcus  duodeni“  bei  uns  eine  durchaus  nicht  seltene  Krankheit 
ist,  und  daß  viele  Kranke  so  einer  rationellen  Therapie  zugeführt 
weiden  können. 

Diskussion:  H  au  d  e  c  k  -  Wien  war  in  der  Lage,  in  den 
letzten  fünf  Monaten  elfmal  die  Diagnose  auf  Ulcus  duodeni 
durch  Röntgenuntersuchung  zu  stellen.  Sechsmal  wurde  sie  durch 
die  Operation  bestätigt.  Charakteristisch  ist  das  abnorme  Liegen¬ 
bleiben  einer  kleinen  Wismutqua.itität  an  umschriebener  Stelle 
im  Bereiche  des  Duodenums.  Zur  Differentialdiagnose  von  Ulcus 
pyloricum  ergibt  sich  folgender  Unterschied:  Bei  diesem  ist  in¬ 
folge  des  Spasmus  pylori  oder  einer  narbigen  Stenose  stets  eine 
Motilitätsstörung  vorhanden,  die  beim  Ulucs  duodeni  fehlt.  Die 
Röntgendiagnose  wird  ermöglicht  1.  durch  das  JMischensymptom, 
2.  durch  die  Lokalisierbarkeit  eines  umschriebenen  Druckpunktes, 
bzw.  einer  Resistenz  im  Duodenum,  3.  durch  die  im1  Verhältnis  zur 
Magenstörung  nur  unwesentliche  Störung  der  Magenmotilität. 

v.  E  ise  1  s  hier g-  Wien  ist  der  Meinung,  daß  das  Ulcus 
duodeni  häufiger  vorkommt,  als  man  bisher  annehmen  konnte. 
Es  ist  seihst  bei  der  Operation  jedoch  die  Entscheidung  schwierig, 
ob  es  diesseits  oder  jenseits  des  Pylorus  gelegen  ist. 

Bezüglich  der  Behandlung  weist  v.  Eiseisberg  darauf  hin, 
daß  die  Gastroenterostomie  nur  bei  Stenosen  erfolgreich  ist.  Sonst 
empfiehlt  er  seine  Pylorusausschaltung,  mit  der  er  ausgezeichnete 
Resultate  hat. 

Bier- Berlin  hat  13mal  mit  Bestimmtheit  vor  der  Opera¬ 
tion  die  Diagnose  auf  Ulcus  duodeni  stellen  können. 

Bei  einem  Falle  von  Duodenalstenose  hatte  die  Gastro¬ 
enterostomie  zunächst  einen  guten  Erfolg,  später  aber  traten 
wieder  Beschwerden  auf,  da  die  Stenose  sich  wieder  erweitert 
hatte. 

Durch  den  dann  vorgenommenen  Pylorusverschluß  wurde 
vollständige  Heilung  erzielt. 

H  e  nie-  Dortmund  hat  sechs  Fälle  von  Ulcus  duodeni  ge¬ 
sehen  und  durch  die  Pylorusausschaltung  viermal  vollkommene 
Heilung  erzielt.  Den  Mißerfolg  in  den  beiden  anderen  Fällen 
führt  er  darauf  zurück,  daß  er  mit  der  Ausschaltung  nicht  nahe 
genug  an  das  Ulkus  herangegangen  ist. 

Melchior- Breslau  berichtet  über  die  auf  der  Küttner- 
schen  Klinik  beobachteten  fünf  Fälle  von  Ulcus  duodeni. 

Kümmel  1  Hamburg  bezweifelt,  daß  das  Ulcus  duodeni 
so  häufig  vorkommt,  es  läßt  sich  oft  die  Grenze  nicht  bestimmein 
und  entscheiden,  ob  es  sich  um  ein  Ulcus  pylori  oder  duodeni 
handelt. 

En  dollen- Würzburg  hat  einen  Fall  nach  Ausschaltung 
des  Pylorus  an  Blutung  verloren. 

de  Quer  vain -Basel  weist  auf  den  Unterschied  zwischen 
tief  im  Duodenum  und  nahe  dem  Pylorus  gelegenem  Ulkus  hin. 

P  o  1  y  a  -  Budapest  erinnert  an  den  Ausfall  des  sogenannten 
Säurereflexes  auf  die  Absonderung  des  Pankreassaftes  und  der 
Galle  nach  Pylorusverschluß  und  teilt  technische  Veränderungen 
der  Gastroenterostomie  mit. 

Girard -Genf:  In  den  Fällen,  wo  wegen  starker  Verwach¬ 
sungen  die  Pylorusausschaltung  nicht  möglich  ist,  macht  Girard 
zwecks  Verlängerung  des  Pylorus  die  umgekehrte  M  i  k  u  1  i  c  z  sehe 
Plastik  (Längsschnitt  wird  quer  vernäht)  zwecks  Verengerung 
des  Pylorus.  Zur  Ausschaltung  des  im  Magenkörper  gelegenen 
Ulcus  ventriculi  empfiehlt  er,  durch  Verengerung  die  künstliche 
Schaffung  eines  Sanduhrmagens. 

Katzenstein-Berlin:  Zur  Vermeidung  des  Circu¬ 
lus  vitiosus  nach  Gastroenterostomie  wendet  Katzen¬ 
stein  eine  Seitennaht  an,  die  eine  Abschnürung  des  zuführen- 
den  und  eine  Erweiterung  des  abführenden  Schenkels  zum  Zwecke 
hat.  Demonstration  von  Bildern,  welche  das  Verfahren  er¬ 
läutern. 

Seit  der  Anwendung  dieses  Verfahrens  (seit  1904)  hat  Kat¬ 
zen  stein  keinen  Circulus  vitiosus  oder  Erbrechen  nach  der 
Gastroenterostomie  gesehen. 

Weiterhin  empfiehlt  Katzenstein  die  Resektion  des 
Magens  ohne  Klemmen  zwischen  Tabaksbeutelnähten  aus¬ 
zuführen,  ein  Verfahren,  das  ebenso  einfach  und  sicher  in  der 
Ausführung  ist.  (Demonstration  von  Bildern.) 


Kürschner  und  Mang  old- Königsberg:  Die  motori¬ 
sche  Funktion  des  Sphincter  pylori  und  des  Antrum 
pylori  nach  der  queren  Durchtrennüng  des  Magens. 

Die  bisherigen  Beobachter,  die  den  Nervus  vagus  in  seinem 
Verlaufe  von  seinem  Austritt  aus  dem  Schädel  bis  zu  seinem 
Durchtritt  durch  das  Zwerchfell  reizten  oder  durchtrennten,  be¬ 
richten  zumeist  über  Motilitätsstörungen  verschiedener  Art  von 
seiten  des  Magens.  Da  bei  der  queren  Resektion  des  Magens 
die  sämtlichen  auf  der  Oberfläche  des  Magens  verlaufenden  Vagus¬ 
fasern  durchschnitten  werden,  so  muß  man  schon  unter  Berück¬ 
sichtigung  dieser  Versuche  mit  funktionellen  Störungen  der  ab¬ 
getrennten  Teile  des  Sphinkters  und  des  Antrum  pylori  rechnen. 
Kürschner  und  Mangold  haben  deswegen  die  Motilität  dieser 
Gebilde  nach  der  queren  Resektion  des  Magens  experimentell 
beim  Hunde  untersucht. 

Sie  gingen  derartig  vor,  daß  sie  den  Magen  quer  durch¬ 
trennten,  die  beiden  Magenlumina  entweder  wieder  miteinander 
vereinigten  oder  blind  verschlossen  und  am  zentralen  Teile  eine 
Gastroenterostomie  anlegten.  Am  Antrum  pylori  legten  sie  eine 
Magenfistel  an,  dicht  hinter  dem  Pylorus  eine  Duodenali'istel, 
oder  sie  durchtrennten  das  Duodenum  quer  und  vernähten  den 
zentralen  Stumpf  nach  außen. 

Füllt  man  in  das  Antrum  pylori  Wasser,  entweder  dadurch, 
daß  man  es  saufen  läßt  oder  daß  man  es  unter  .einem  kon¬ 
stanten  Druck  in  die  Magenfistel  einläüfejn  läßt,  so  setzen  un¬ 
mittelbar  hinterher  rhythmische  Güsse  aus  der  Duodenalfistel 
ein.  Die  Güsse  erfolgen  alle  12  bis  14  Sekunden,  ein  Beweis, 
daß  sich  der  Sphincter  pylori  in  diesen  Zeitabständen  regelmäßig 
öffnet  und  schließt,  und  daß  das  Antrum  pylori  eine  regelmäßige 
Arbeit  leistet.  Ein  in  den  Pylorus  eingeführter  Finger  vermag 
überdies  die  Kontraktionen  und  Oeffnungen  dieses  Muskels 
deutlich  zu  fühlen. 

Führt,  man  einen  Registrierballon  in  das  Antrum  ein  und 
verbindet  ihn  mit  einem  Tambour  und  einem  Schreibhebel,  so 
zeichnen  sich  die  Bewegungen  der  Antrummuskulatur  als  eine 
absolut  regelmäßige  Kurve  auf.  Der  Druck  im  Antrum  steigt  bis 
zu  45  mm  Hg. 

Beobachtet  man  die  Duodenalgüsse  und  die  Antrumkontrak¬ 
tionen  auf  der  Kurve  gleichzeitig,  so  kann  man  feststellen,  daß 
jeder  Antrumkontraktion  eine  Oeffnung  des  Sphincter  pylori  ent¬ 
spricht,  ein  Beweis,  daß  die  Koordination  dieser  beiden  wich¬ 
tigen  Magenbewegungen  in  keiner  Weise  gestört  ist. 

Bei  einem  normalen  Magen  sistiert  die  Entleerung  in  dem 
Augenblick,  wo  die  Reaktion  im  Duodenum  sauer  wird.  Auch 
diesen  „Chemoreflex  ex  duodeno“  konnten  sie  bei  ihren  Hunden 
nachprüfen.  Bringt  man  in  die  Duodenalfistel  verdünnte  Salz¬ 
säure,  so  hören  die  Antrumbewegungen  augenblicklich  auf  und 
setzen  erst  wieder  ein,  wenn  die  alkalische  Reaktion  wieder 
eingetreten  ist.  Diese  Versuche  erbringen  zum  erstenmal  den 
Beweis,  daß  das  Aufhören  der  Magenentleerungen  durch  ein 
Aussetzen  der  Antrumkontraktionen  bedingt  ist  und  nicht  lediglich 
durch  einen  reflektorischen  Krampf  des  Sphincter  pylori,  wie 
man  bisher  irrtümlich  allgemein  angenommen  hat. 

Die  angeführten  Versuche  berechtigen  zu  dem  Schlüsse: 
Beim  Hunde  behält  der  Sphincter  pylori  und  das  Antrum  pylori 
seine  normale  Tätigkeit  nach  der  queren  Resektion  unverändert 
bei,  in  einem  Zustande  also,  wo  diese  Gebilde  von  der  nor¬ 
malerweise  durch  die  Nervus  vagi  hergestellte  Verbindung  mit 
dem  Zentralnervensystem  abgetrennt  sind  und  wo  der  funk¬ 
tionelle  Zusammenhang  mit  der  Muskulatur  des  Kardiamagens 
unterbrochen  ist. 

Dieses  Ergebnis  stimmt  mit  den  bisherigen,  klinischen  Er¬ 
fahrungen  überein :  Bei  Patienten  mit  querer  Magenresektion  ge¬ 
hören  Motilitätsstörungen  von  seiten  des  Magens  in  der  ersten 
Zeit  nach  der  Operation  durchaus  zu  den  größten  Seltenheiten. 

(Fortsetzung  folgt.) 

Programm 

der  am 

Freitag  den  16.  Juni  1911,  um  7  IJlir  abends, 

unler  dem  Vorsitz  des  Herrn  Prof.  Dr.  Ludwig  Unger  slattfindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Dr.  Marschik:  Krankendemonstration. 

2.  Prof.  y.  Fürtli  und  Dr.  E.  Lenk:  Ueber  das  Wesen  der  Toten¬ 
starre  und  ihre  Lösung. 

Vorträge  haben  angemeldet  die  Herren:  Prof.  31.  Sternberg. 
Dr.  Haus  Bah. 

Bergmeister,  P  a  1 1  a  u  f. 

Um  die  rechtzeitige  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöjliohen, 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerkungen 
dem  Schriftführer  noch  am  SitzmiKsabend  zu  übergeben. 


Verantwortlicher  Redakteur  :  Karl  Kubasta.  Verlag  von  Wilhelm  Brauntiiller  iu  Wi«n 

Druak  ron  Bruno  B artet t,  Wien  XV HL.  Thoreaienna««'  ä 


Wiener  klinische  Wochenschrift 

unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 

roZÄ.VÄ«.  «ÜÄ  f. sÄ  I:  ÄÄtäÄJÄ«.  iS K'  ’• Noorden’ 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

*nton  Freih.  v.  Eiseisbarg.  Alexander  Fraenkel. Ernst  Fuchs.  Julius  Hochenegg.  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Praenkel 

Verlag  von  Withelm  BraumüHer,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIIW,  Wickenburggasse  13.  Teiephon  17.618. 


INHALT: 


Von 


I.  Onginalartikeij  1  Zür  Mechanik  der  Lungenblähung. 
Priv.-Doz.  Dr  med.  M.  S  1  h  1  e,  Odessa.  S.  891. 

‘  ?ewLeTber  und  des  Ma»ens  und  der  Vibrations¬ 

druck.  Von  Prof.  W.  Javvorski  in  Krakau.  S.  897 

'•  p,U;l  Cf'  p  ^•der“atlol«fT-  Universitätsklinik  in  Prag.  (Vorstand: 
Piof.  Dr.  IvarlKreibich.)  Ueber  Prostatasekretion.  Von  Dr.  Richard 
Pi  sehe  1  Bad  Hall  und  Prof.  Karl  Kreibich.  S  901 

■  SlnnTwra|U,erhOSFiVn  Wien-  (Vorstand:  Primarius  Doktor 
Ldmund  Waidstein.)  Beitrag  zur  Behandlung  von  Eihaut- 
retention.  Von  Dr.  Max  Steinsberg,  Assistenten.  S.  906. 

o.  Kinematographie  im  Dienste  der  Elektropathologie.  Von 
Priv.-Doz.  Dr.  S.  Je  1 1  i  n  e  k.  S.  909. 

6.  Bemerkung  zu  meiner  Abhandlung:  Ueber  „Lokalisation  der 
Herztöne  betreffend  die  Verdoppelung  des  zweiten  Tones.  Von 
Prof.  Dr.  M.  H.e  1 1 1  e  r.  S.  911. 


IL  A  h V  Pdthol081sch-anatomische  Tafeln.  Tlieodor  R  u  m  p  e  1 

Alfred  Käst  Eugen  Fraenkel.  Ref.:  E.  Kaufmann- 
Gottingen  —  Der  Schwindel.  Von  Hitzig.  L’ipofisi  cerebrale 
fanngea  e  la  glandola  pineale  in  patologia.  Von  Alfonso  Pop  n  i 

EdwSd  A  Scnh  äT  G6hnnaphan,fS  (Apophysis  cerebri).  Von 
Edward  A.  Schäfer.  Die  Pupillenstörungen  bei  Geistes-  und 

Nervenkrankheiten  Von  Oswald  Bnmke.  Technik  der  mikro¬ 
skopischen  Untersuchung  des  Nervensystems.  Von  W.  Spiel- 
mey  er  Kompendium  der  topischen  Gehirn-  und  Rückenmarks¬ 
diagnostik.  Von  Robert  Bing.  Ref.:  Otto  Marburg 

III.  Aus  verschiedenen  Zeitschriften. 

IV.  Vermischte  Nachrichten. 

V.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte 


Zur  Mechanik  der  Lungenblähung. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  med.  M.  Sihle,  Odessa. 

ln  cIghi  seit  Dezennien  währenden  Widerstreit,  der 
einungen  ob  eine  Lnngenblähüng  inspiratorisch  oder 
cspiratorisch  oder  durch  beides  bedingt  sei  —  ist  noch 
mier  keine  Einigung  erzielt.  In  allerjüngster  Zeit  sind 
ersuche  gemacht  worden,  die  Inspirationstheoiie  als  die 
lein  berechtigte  hinzustellen,  d.  h.  man  will  den  Grund 
r  eine  Lungendehnung  auf  eine  einzige  mechanische  Ur- 
che  zurückführen. 

Die  alleinige  Betonung  des  forcierten  Inspiriums  ist 
i  dingt  durcli  die  Beobachtung,  daß  eine  infolge  verstärkten 
spiriums  gedehnte  Lunge  bei  der  nachfolgenden  Exspiration 
pht  gleich  auf  die  Ausgangsstellung  zurückkehrt,  sondern 
a  ein  Weniges  gedehnt  bleibt.  r 

Auf  die  Erage,  warum  die  Dehnung  anhält,  gelingt  es 
p  jetzt  nicht  eine  hinreichende  Antwort  zu  finden.  Man 
ncht  von  „elastischer  Nachwirkung“,  infolge  welcher 
genschaft  die  Lunge  allmählich  und  zwar  erst  bei  einge- 
i'tener  ruhiger  Atmung  wieder  die  Ausgangsstellung  ein- 
1  hme-  Letztere  Auffassung  wird  nun  augenscheinlich  vielen 
■i  ein  Absurdum  erscheinen,  denn  es  müßte  doch  recht 
liecht  mit  der  Funktion  der  Lunge  bestellt, sein,  wenn  ihre 
xstizität  eine  so  unvollkommene  wäre,  daß  jeder  tiefere 
emzug,  d.  h.  jede  stärkere  Spannung  des  elastischen 
wehes  genügen  sollte,  sofort  eine  Ueberdehnung  dieses 
ben  Gewebes  und  mithin  eine  Veränderung  seiner  Be- 


tiaktionsfahigkeit  herbeizuführen.  Die  Lunge  wäre  unter 
diesen  Umständen  einem  Gummibande  schlechtester  Sorte  zu 
vergleichen  untauglich  irgendwie  erhöhten  Ansprüchen  zu 
genügen.  Es  ist  demnach  offenbar,  daß  die  Ursachen  einer 
nach  verstärktem  Inspirmm  zu  beobachtenden  nachhaltigen 
Lungendehnung  in  anderen  Momenten,  als  in  einer  direkten 
Verminderung  der  Retraktionskraft  des  elastischen  Lungen¬ 
gewebes  zu  suchen  sind. 

Welche  Arten  von  Lungendehnung,  die  mit  einem  Vo- 
u men  pulmonum  auctum  einhergehen,  kommen  zur  ßeobach- 

U?  A  ul  ;glh\derei!  -1  Arten :  eine  ^ute-  resp.  subakute  - 
c  as  Asthma  bronchiale,  eine  chronische  —  das  Lungenem- 

physem  und  schließlich  eine  Lungendehnung,  die  nach  jeder 
liefen  Inspiration  in  die  Erscheinung  tritt,  um  hei  normaler  At¬ 
mung  alsbald  wieder  zurückzugehen,  wie  das  neuerdings 

WührV  I101  Un1  l[o1lzk nech  t')  nachgewiesen  haben. 
\V  ahrend  nun  aber  die  beiden  ersten  Lormen  zwei  selb¬ 
ständige  Krankheitsbilder  darstellen,  haftet  an  der  dritten 
oim  nichts  I  athologisches,  vielmehr  ist  die  letztere  als  eine 
physiologische  Erscheinung  zu  betrachten,  die  offenbar 
zweckmäßig  ist,  da  sie  nach  tieferen  Inspirationen  fast 
immer  aufzutreten  pflegt. 


erst 

wenn 


Kim  ist  es  eine  alte  Erfahrung,  daß  wir  das  Pathologische 
dann  richtig  einzuschätzen  imstande  sein  werden, 
^es  uns  gelangen  ist  den  entsprechenden  physiolo- 


l)  Hofbauer  und  H 
Atemvertiefung.  Mitteilungen 
Diagnostik  und  Therapie  im 


olzknecht,  Ueber  den  Mechanismus  der 
aus  dem  Laboratorium  für  radiologiscbe 
k.  k.  allgem.  Krankenhaus  in  Wien,  1907. 


892 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  25 


gischen.  Vorgang  näher  kennen  zu  lernen.  Nachher  haben 
;i  dann  zu  untersuchen,  durch  welche  Ursachen,  eine  zweck- 
äßige  Erscheinung  zu  einer  unzweckmäßigen  wird. 

V  eiui  wir  daher  zunächst  die  Erscheinungen  betrach¬ 
ten,  wie  sie  an  'der  Lunge  als  Ganzes  bei  der  physiologischen 
Tiefatmung  zu  Tage  treten,  so  ist  dabei  vor  allem  eine  be¬ 
tleutende  Vergrößerung  des  Organs  zu  konstatieren.  Es 
strömt  ein  vermehrtes  Quantum  Luft  in  die -Alveolen,  weil 
durch  den  Inspirationszug  und  das  durch  denselben  be¬ 
dingte  Anwachsen  des  intrathorakalen  negativen  Druckes 
die  Lungen  gedehnt  werden.  Von  dieser  Dehnung  werden 
am  stärksten  naturgemäß  die  zartesten  Gewebe  betroffen, 
d.  h.  die  Alveolen  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch 
die  kleinsten  Bronchiolen,  deren  Wandung  kein  starres  Ge¬ 
webe  besitzt.  Doch  nicht  durch  vermehrte  Luftfüllung  allein 
ist  die  inspiratorische  Lungenvergrößerung  bedingt;  es 
kommt  noch  hinzu  die  inspiratorische  Hyperämie  des  Or¬ 
gans.  Nicht  nur  mehr  Luft,  sondern  auch  mehr  Blut  wird 
angesaugt. 

Nun  fragt  es  sich,  ob  die  beiden  Vorgänge  —  Luft-  und 
Blutanfüllung  —  ganz  parallel  vor  sich  gehen.  Es  scheint 
mir  diese  Frage  nicht  bedeutungslos  zu  sein.  Während 
des  ganzen  Inspirationsaktes  begegnet  das  Einströmen  von 
Luft  in  den  erweiterten  Alveolarraum  keinen  Hindernissen 
und  in  schneller  gleichmäßiger  Weise  erfolgt,  die  Füllung 
der  Alveolen.  Für  das  Bluteinströmen  in  die  Alveolarkapil¬ 
laren  dürften  die  Verhältnisse  jedoch  nicht  so  gleichmäßig 
günstig  liegen.  Die  Kapillaren  liegen  stark  geschlängelt  und 
gewunden  in  der  Alveolarwand;  während  des  Inspirations¬ 
aktes  werden  sie  allmählich  mehr  gerade  gerichtet  und  bis 
zu  einem  Grade  auch  geweitet,  als  Folge  des  sinkenden  in¬ 
trathorakalen  Druckes.  Die  günstigsten  Bedingungen  für  eine 
Alveoiarkapillaranfüllung  werden  daher  erst  zu  Ende  des 
Jnspiriums  erreicht,  während  die  Luftfüllung  der  Alveolen 
während  des  ganzen  lnspiriums  in  leichtester  Weise  von¬ 
statten  geht.  Es  ist  demnach  anzunehmen,  daß  die  in¬ 
spiratorische  Blutfüllung  der  Luftfüllung  sozusagen  etwas 
nachhinkt.  Dieser  Vorgang  scheint  auch  röntgenoskopisch 
beobachtet  werden  zu  können.  Flin  und  wieder  ist  mir 
nämlich  bei  der  Durchleuchtung  folgendes  aufgefallen:  Läßt 
man  tief  inspirieren,  so  beobachtet  man,  wie  bekannt,  häufig, 
daß  die  Lungenfeldrandzone  vorn  und  unten  viel  heller 
erscheint,  als  das  übrige  Lungenfeld.  Bei  genauer  Betrach¬ 
tung  dieser  Randzone  bemerkt  man  nun  zuweilen,  daß  bei 
einzelnen  Individuen  über  die  helle  Zone  nach  Schluß  der 
Inspiration  plötzlich  ein  ganz  leichter  Schatten  hinwegfährt, 
den  ich  als  vermehrte  Kapillarfüllung  zu  deuten  geneigt  bin. 

Setzt  nun  nach  forciertem  Inspirium  der  Exspiralions- 
akt  ein,  so  ist  auch  hierbei  zu  ^überlegen,  ob  bei  der  Entledi- 
gung  von  Luft  und'  Blut  nicht  eine  Verspätung  von  seiten 
der  Zirkulation  statthat.  Da  mit  dem  Sistieren  des  In¬ 
spirationsaktes  sofort  die  elastische  Retraktion  der  Lunge  in 
Aktion  tritt,  so  steigt  sofort  der  Seitendruck.  Die  zatrt- 
wandigen  kleinsten  Bronchiolen  haben  daher  die  Tendenz 
sich  zu  verengen,  wodurch  der  Luftaustritt  eine  bedeutende 
Verzögerung  erleiden  könnte,  wenn  das  Hindernis  nicht 
durch  den  als  vis  a  tergo  wirkenden  Ueberdruck  im  Infundi- 
bularraum  wieder  wettgemacht  werden  würde.  Was  die 
Alveolarkapillaren  betrifft,  so  muß  der  bei  Beginn  des  Ex- 
spiriums  plötzlich  einsetzende  erhöhte  Lungendruck  sich 
auch  in  ihnen  äußern  und  eine  gewisse  (Verzögerung  der 
vorher  beschleunigten  Zirkulation  veranlassen.  Andrerseits 
nehmen  die  auf  der  Höhe  des  lnspiriums  gioch  mehr  weniger 
gerade  gerichteten  und  geweiteten  Kapillarschlingen  im  Ver¬ 
laufe  der  Exspiration  wieder  eine  stärker  geschlängelte 
Form  an,  welcher  Umstand  seinerseits  auch  gewiß  nicht 
förderlich  sein  kann  einer  beschleunigten  Zirkulation.  Ziehen 
wir  schließlich  noch  in  Betracht  die  Konsistenz  des  Blutes, 
ihre  Zähflüssigkeit,  so  erscheint  es  nur  natürlich,  daß  der 
Abfluß  der  Lungenluft  schneller  und  leichter  erfolgt,  als 
der  Abfluß  des  angesaugten  Lungenblutes,  welcher  dank  der 
eben  genannten  Verhältnisse  beim  Exspirium  eine  Verzöge¬ 
rung  erfahren  muß.  Es  entsteht  ein  gewisses  Mißverhältnis 


zwischen  Luft-  und  Blutzirkulation,  das  eines  Ausgleiches 
bedarf.  Dieser  Ausgleich  vollzieht  sich  in  der  Atempause, 
während  welcher,  wenn  sie  genügend  lange  dauert,  der 
Lunge  Zeit  gegeben  wird,  sich  ihres  Ueberschusses  an  Blut 
zu  entledigen. 

Was  eben  über  die  vertiefte  Atmung  gesagt  wurde, 
hat  ceteris  paribus  auch  Geltung  für  die  Normalatmung, 
nur  in  geringerem  Grade.  Am  Ende  der  (Inspiration  ist 
die  Lunge  am  blutreichsten,  während  der  Exspiration  ent¬ 
ledigt  sich  die  Lunge  von  dem  aspirierten  iLuftquaniuin 
schneller  als  vom  angesaugten  Blutquantum.  Die  Verspätung 
von  seiten  der  Blutzirkulation  wird  ausgeglichen  während 
der  Atempause.  Am  Ende  der  Atempause  ist  das  normale 
Verhüll uiss  zwischen  Luft-  und  Blutgehalt  wieder  her- 
gestellt. 

Betrachten  wir  jetzt  die  Atempause  unter  dem  Ge¬ 
sichtswinkel  der  verspäteten  Blutentleerung.  In  der  Atem¬ 
druckkurve  stellt  sich  die  Atempause  nicht,  als  eine  hori¬ 
zontale,  sondern  meist  als  eine  mehr  weniger  schräg  an¬ 
steigende  Linie  dar.  Das  beweist,  daß  auch  in  der  Atem¬ 
pause  noch  ein  geringer  Abfluß  von  Lungenluft  statthat,  frei¬ 
lich  im  Verhältnis  zum  eigentlichen  Exspirium  in  sehr 
langsamer  Weise.  Wenn  wir  nun  berücksichtigen,  daß  nach 
dem  oben  Gesagten  zu  Beginn  der  Atempause  die  Lunge, 
noch  um  ein  weniges  blutreicher  sein  muß,  als  am  Ende 
derselben,  so  drängt  sich  von  selbst  die  Frage  auf,  ob  nicht 
in  der  noch  während  der  Atempause  andauernden  Blutge¬ 
haltverminderung  die  Ursache  gegeben  ist.  für  das  weitere, 
wenn  auch  verringerte  und  verzögerte  Abströmen  der 
Lungenluft.  Wenn  dem  so  ist,  so  wäre  damit  gesagt,  daß 
eine  blutreichere  Lunge  der  exspiratorischen  Verkleinerung 
des  Organes  einen  größeren  Widerstand  entgegensetzt,  als 
eine  blutarmere,  oder  — r-  mit  anderen  Worten  —  daß  die  ih- 
Iraktionskraft  der  elastischen  Gewebe  durch  Blutreichtum 
leidet.  Tatsächlich  ist  es  so,  wie  wir  uns  leicht  überzeugen  j 
können.  Klemmt  man  z.  B.  die  Arteria  pulmonalis  ab,  so  fällt 
die  Lunge  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zusammen. 

\Nun  konnte  man  aber  einwenden,  daß  zu  Beginn 
des  Exspiriums  die  Lunge  am  blutreichsten  ist  und  daß 
nichtsdestoweniger  während  der  eigentlichen  Exspirations- 1 
phase  die  Lungenverkleinerung  am  schnellsten  vonstatten 
geht.  Dieser  Einwand,  falls  er  überhaupt  erhoben  werden 
sollte,  ist  jedoch  ganz  hinfällig.  Beim  Uebergang  vom  In¬ 
spirium  zum  Exspirium  wird  der  Druck  im  Alveolarräum  (wie 
weiter  unten  gezeigt  werden  wird)  plötzlich  positiv.  Da  nun 
unserer  Ueberzeugung  nach  das  inspirierte  Luftquantum  die 
Lunge  schneller  zu  verlassen  vermag,  als  das  angesaugte 
Blutquantum,  so  entweicht  dank  dem  Ueberdruck  im  Alveo¬ 
larraum  natürlich  vor  allem  der  Ueberschußi  an  Luft  und 
zwar  bis  zu  dem  Grade,  wo  der  Atmosphärendruck  in  den 
Alveolen  wieder  hergestellt  ist,  das  ist  am  Ende  des  Ex¬ 
spiriums.  Die  weitere  geringe  und  langsame  Erhebung  der 
Atmungsdruckkurve  erfolgt  dann  nicht  mehr  durch  den 
eigentlichen  Exspirationsakt,  sondern  ist  bedingt  durch  das 
verspätete  Entweichen  des  Restüberschusses  des  angesaug¬ 
ten  Lungenblutes,  woraus  dann  noch  eine  weitere  geringe 
Verkleinerung  der  Lunge  resultieren  muß  und  zwar  während 
der  Atempause. 

Wenden  wir  uns  jetzt  wieder  der  Tiefatmung  zu. 
Nehmen  wir  zunächst  den  Fall,  daß  nach  ruhiger,  normaler 
Atmung  ein  einzigesmal  tief  inspiriert  wird,  um.  darauf 
wieder  die  vorherige  Normalatmung  eintreten  zu  lassen. 
[Unbewußt  tut  es  jeder  von  uns  häufig  und  man  kann  dabei 
konstatieren,  daß  die  Atempause  nach  einem  tiefen  Atem¬ 
zug  viel  länger  dauert,  als  in  der  Periode  der  ruhigen  Respi¬ 
ration.  Während  der  längeren  Atempause  wird  eben  der 
Lunge  Zeit  gegeben,  sich  von  dem  Plus  des  durch  den 
stärkeren  Inspirationszug  angesaugten  Lungenblutes  zu  ent- 
tedigen.  Diese  Verlängerung  der  Atempause  geschieht  un¬ 
bewußt,  unabhängig  vom  Willen.  Nun  kann  durch  den 
Willensakt  die  Atempause  verkürzt  werden.  Läßt .  man 
z.  B.  mehrere  Male  hintereinander  tief  einatmen,  bei  Ver¬ 
meidung  einer  Atempause  und  bei  Vermeidung  einer  ak- 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


liven  Exspiration  (Bauchpresse),  so  beobachten  wir  nach 
den  Tiefatmungen  eine  noch  'größere  Atempause,  als 
nach  nur  einmaligem  tiefen  Inspirium.  Da  nach  dem  ersten 
tiefen  Atemzug  das  angesaugte  Blut  wegen  Fehlens  der 
Atempause  nicht  vollständig  entweichen  kann  und  da  bei 
jeder  neuen  tiefen  Inspiration  dasselbe  Mißverhältnis  sich 
nicht  nur  wiederholt,  sondern  offenbar  noch  um  einen  gewis¬ 
sen  Grad  sich  verstärkt,  so  wird  die  Lunge  durch  den  ver¬ 
mehrten  Blutgehalt  noch  voluminöser.  Auch  der  Thorax  hat 
sich  dann  dabei  auf  einen  größeren  exspiratorischen  Umfang 
eingestellt.  Erfolgt  darauf  nun  der  Uebergang  zur  normalen 
Atmung,  so  kann  die  Lunge  und  somit  auch  der  Thorax 
wegen  des  vermehrten  Blutgehaltes  und  der  dadurch  be¬ 
dingten  Behinderung  der  elastischen  Retraktionskraft  nicht 
sofort  auf  die  exspiratorisclie  Normalstellung  zurückkehren. 
Diese  Rückkehr  zur  Norm  erfolgt  erst  bei  entsprechend  ver¬ 
längerter  Atempause,  oder  auch  allmählich  im  Verlauf 
mehrerer  immer  mehr  abnehmender  Respirationsausschläge. 

Bei  verstärkter  Inspiration  leistet  die  Lunge  vermehrte 
Arbeit.  Stärkere  Beanspruchung  des  Organs  bedingt  ver¬ 
mehrten  Blutgehalt.  Das  ist  ein  physiologisches  Gesetz,  wie 
es  auch  physiologisch  ist,  daß  nach  Aufhören  der  stärkeren 
.  Inanspruchnahme  eines  Organs  die  Hyperämie  noch  eine 
;  Zeitlang  andauert.  Durch  verstärkten  Inspirationszug  wird 
die  Lunge  nicht  nur  luftreicher,  sondern  auch  blutreicher 
und  da  der  Blutreichtum  dem  elastischen  Zuge  entgegen¬ 
wirkt,  so  muß  die  Lunge  noch  so  lange'  gebläht  und  der 
Thorax  erweitert  bleiben,  bis  die  durch  die  verstärkte  Inspi¬ 
ration  bedingte  Hyperämie  noch  andauert.  Das  ist  eine 
physiologische  Blähung  und  die  sogenannte  „elastische 
j  •  Nachwirkung“  stellt  sich  somit  zum  großen  Teil  als  eine 
Hyperämiewirkung  dar.  i  ' 

Es  ist  nun  von  vornherein  klar,  daßi  eine  Lungenhyper¬ 
ämie  nicht  nur  an  der  Vergrößerung  des  Organvolumens 
beteiligt  ist,  sondern  daß  sie  auch  dazu  angetan  ist,  den  Druck¬ 
ablauf  im  Alveolar-  und  Pleuraraum  zu  beeinflussen.  Eine 
richtige  Würdigung  dieser  beiden  Momente  ist  unentbehr¬ 
lich,  da  wir  hierdurch  Aufschluß  erhalten  über  einige  Fragen,  { 
die  bei  der  Mechanik  der  Lungenblähung  mitzuberücksich¬ 
tigen  sind. 

Wenden  wir  uns  zunächst  dem  Alveolardruck  zu  und 
suchen  wir  zu  eruieren,  wie  sein  Verhalten  bei  der  Normal¬ 
atmung  ist.  Direkt  zu  messen  ist  der  Alveolardruck  nicht. 
Aber  auf  indirektem  Wege  können  wir  dazu  gelangen, 
seinen  Druckablauf,  freilich  nur  annährend,  abzuschätzen ; 
das  genügt  für  die  uns  eben  interessierende  Frage  voll¬ 
kommen.  Es  ist  eben  gar  nicht  notwendig,  daß  wir  die 
absoluten  Druckwerte  kennen,  vielmehr  kommt  es  hierbei 
nur  auf  den  Charakter,  resp.  die  Form  des  Druckablaufs  an. 
Nach  einer  von  Prof.  W  e  r  i  g  o  ersonnenen  Methode  habe 
ich  2)  vor  sieben  Jahren  dieser  Frage  näher  zu  treten  gesucht. 

Der  Alveolardruck  ist  uns  eine  unbekannte  Größe, 

;  —  x.  Um  für  ihn  eine  Formel  zu  finden,  gehen  wir  von  einer 
bekannten  Größe  aus  und  wählen  dazu  den  Pleuradruck  =P. 
Der  letztere  ist  gleich  dein  Druck  im  Alveolarraum  minus  der 
Lungenelastizität  (E).  Also  ist:  P  =  x  —  E.  Daraus  folgt, 
daß  x  =  P  +  E  sein  muß.  Während  der  Respiration  sind 
aber  P  und  E  beständigen  Schwankungen  unterworfen.  Um 
also  eine  Vorstellung  vom  Ablauf  des  Alveolardrucks  zu 
erlangen,  müssen  wir  imstande  sein,  diese  Schwankungen 
kontinuierlich  zu  registrieren  und  zu  messen.  Was  die  De¬ 
tails  dieser  äußerst  komplizierten  und  umständlichen  Mes¬ 
sungen  und  Berechnungen  betrifft,  so  verweise  ich  auf  die 
Originalarbeit,  in  der  zwei  Berechnungskurven  für  den  Alveo¬ 
lardruck  abgebildet  sind,  eine  bei  intakten  Vagis,  die  andere 
nach  einseitiger  Vagusdurchschneidung.  Die  Berechnungs¬ 
kurven  weisen  nun  folgenden  Charakter  auf:  Während  der 
Atempause  entspricht  der  Alveolardruck  so  ziemlich  dem 
Atmosphärendruck.  Mit  Beginn  des  Inspiriums  sinkt  der 
Alveolardruck  nicht  plötzlich  ab,  wie  man  es  vielleicht  er- 

2)  Experimentelle  Studien  über  den  Alveolardruck  der  Lungen  und 
über  den  Druck  im  Pleuraraum.  Archiv  für  (Anatomie  und)  Physiol. 

1905,  Suppl. 


893 


warten  könnte,,  sondern  ganz  allmählich,  um  beim  Ende 
des  Inspiriurps  den  tiefsteu  negativen  Druckwert  zu  er¬ 
reichen.  Hierbei  ist  zu  konstatieren,  daß  ein  direkter  Pa¬ 
rallelismus  zwischen  dem  Alveolardruck  und  dem  Pleura¬ 
druck  zu  existieren  scheint.  Je  größer  beim  Inspirium  der 
negative  Pleuradruck  wird,  desto  mehr  sinkt  auch  der  Alveo¬ 
lardruck.  Da,s  ist  nun  an  und  für  sich  ganz  selbstverständ¬ 
lich  und  weist  darauf  hin,  daß  eine  erfolgreiche  irnd  tiefe 
Luftaspiration  in  den  Alveolarraum  in  Zusammenhang  steht 
mit  der  Fähigkeit  den  Pleuradruck  ausgiebig  zu  erniedrigen. 
Beginnt  nun  das  Exspirium,  so  steigt  der  Druck  in  den 
Alveolen  nicht  allmählich,  sondern  er  schnellt  plötzlich 
empor  und  wird  positiv.  Er  beträgt  nach  der  Berechnungs¬ 
kurve  bei  mittelgroßem  Hunde  zu  Beginn  des  Exspiriüms 
|  einige  Zentimeter  Wasserdruck.  Gleich  darauf  fällt  aber 
der  Druck  unter  spitzem  Winkel  bedeutend  ab,  um  während 
j  der  weiteren  Exspirationsphase  allmählich  sich  dem  Atmo- 
j  Sphärendruck  zu  nähern.  Es  entsteht  also  nach  der  Berech- 
J  nungskurve  zu  Begiim  des  Exspiriüms  ein  plötzlicher,  aber 
gleich  danach  jedoch  ebenso  plötzlich  nachlassender 
[  Ueberdruck  in  den  Alveolen.  Bei  adliger  Atmung  eruierten 
j  wir  bei  den  untersuchten  Kurven  als  maximalen  positiven 
Wert  beim  Einsetzen  der  Exspirationsphase  ca.  7  cm 
I  Wasserdruck. 

In  bezug  auf  die  eben  geschilderte  Form  der  Exspirations¬ 
druckkurve,  die  nach  unserer  Berechnung  zu  Beginn  des 
Exspiriüms  einen  spitzen  Winkel  mit  einem  steil  aufschie¬ 
ßenden  und  fast  ebenso  steil  abfallenden  Schenkel  darstellt, 
ist  eine  gewisse  Reserve  am  Platz.  Man  kann  nämlich  anneih- 
men,  daß  unter  normalen  Verhältnissen  beim  Beginn  des 
Exspiriüms  keine  so  plötzliche  und  keine  so  hohe  Druck¬ 
steigerung  im  Alveolarraum  entsteht,  wie  es  die  Berech¬ 
nungskurve  zeigt,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen :  Zwecks 
Eruierung  des  Alveolardruckes  mußten  kontinuierlich  regi¬ 
striert  werden  der  Pleuradruck  und  der  Druck  in  der  Trachea. 
Zugleich  war  es  auch  notwendig,  das  Atemvolumen  zu 
kennen,  welches  jedem  beliebigen  Respirationsmoment  ent¬ 
spricht.  Zu  dem  Belüfte  respirierten  die  Tiere  aus  einem 
50  Liter  fassenden  Behälter.  Die  Daten  zu  diesen  Messungen 
lieferte  das  lebende  Thier.  Die  Lungenelastizitätsbestim¬ 
mungen  mußten  dagegen  am  eben  getöteten  Tier  vorgenom¬ 
men  werden.  (Die  Methodik  dieser  Messungen  ist  in  der 
oben  zitierten  Originalarbeit  beschrieben.)  Die  Elastizitäts¬ 
werte,  welche  man  durch  graduierte  Lufteintreibungen  und 
und  -aussaugungen  an  der  Lunge  des  eben  getöteten  Tieres 
erhält,  müssen  auf  der  Höhe  des  Inspiriums,  resp.  zu  Be¬ 
ginn  des  Exspiriüms  um  ein  Geringes  von  den  Werten  bei 
spontaner  Atmung  abweichen,  d.  h.  die  ersteren  müssen 
größer  lausfallen  als  die  letzteren.  Beim  eben  getöteten  Tiere 
fehlt  vor  Beginn  des  Exspiriüms  die  Aspirationshyperämie 
wegen  Sistierens  der  Zirkulation.  Nun  wissen  wir  aber, 
daß  eine  blutreichere  Lunge  der  exspiratorischen  Zusammen¬ 
ziehung  einen  größeren  Widerstand  setzt,  als  eine  blutärmere. 
Wenn  auch  der  Unterschied  in  der  Blutfülle  der  Lungen 
zwischen  Inspiration  und  Exspiration  bei  ruhiger  spontaner 
Atmung  kein  großer  sein  kann,  so  ist  er  doch  vorhanden. 
Bei  künstlicher  Lufteintreibung  ist  die  Lunge  auf  der  Höhe 
der  jeweiligen  Entfaltung  nicht  blutreicher  als  zuvor,  wäh¬ 
rend  es  die  Lunge  des  spontan  atmenden  Tieres  auf  (der 
Höhe  des  Inspiriums  wohl  ist.  Da  nun  der  vermehrte  Blut¬ 
gehalt  dem  Elastizitätszug  einen  größeren  Widerstand  bietet, 
so  ist  vorauszusetzen,  daß  zu  Beginn  des  Exspiriüms  die 
Lunge  des  lebenden  Tieres  sich  weniger  energisch 
zusammenziehen  wird,  als  die  künstlich  aufgeblähte  des 
toten.  Daraus  folgt,  daß  beim  lebenden  Tier  der  Alveo¬ 
lardruck  zu  Beginn  des  Exspiriüms  nicht  ganz  die  Höhe 
erreicht,  wie  es  die  Berechnungskurve  demonstriert  und 
ferner,  daiß  die  Druckkurve  unter  einem  weniger  spitzen 
Winkel  verläuft. 

Trotz  dieser  Einschränkungen  kann  es  nichtsdestowe¬ 
niger  als  feststehend  betrachtet  werden,  daß  mit  dem  Ein¬ 
setzen  der  Exspirationsphase  der  Druck  in  den  Alveolen 
plötzlich  positiv  wird,  d.  h.  den  Atmosphärendruck  über- 


894 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  25 


ragt.  Zugleich  ist  es  einleuchtend,  daß  die  Höhe  des  posi¬ 
tiven  Druckes  keinem  konstanten  Werte  entsprechen  kann, 

ein  eine  variable  Größe  darstellen  muß  und  abhängig 
'  ein  wird  davon,  ob  die  Exspiration  schnell  oder  langsam, 
stark  oder  schwach  einsetzt.  Doch  offenbar  nicht  von  der 
vis  a  tergo  allein  hängt  die  Höhe  des  exspiratorischen  Al¬ 
veolardruckes  ab.  Alles,  was  den  Abfluß  der  inspirierten 
Lungenluft  behindert,  müßi  den  exspiratorischen  xllveolar- 
druck  noch  weiter  steigern.  Hierbei  käme  vor  allen  Dingen 
in  Betracht  eine  Schwellung  der  Bronchiolenschleimhaut, 
von  welcher  man  annimmt,  daß  sie  imstande  sei,  insbeson¬ 
dere  die  Exspiration  zu  erschweren. 

Bei  dieser  Gelegenheit  mußi  ich  auf  eine  aprioristische 
Schlußfolgerung  hinweisen,  welche  von  vielen  Autoren  in 
dieser  Frage  gezogen  wird.  Man  stellt  sich  vor  und  das 
mit  Recht,  bei  tiefsitzender  Bronchitis  beeinträchtige  die 
Schleimhautschwellung  die  Luftzirkulation  freilich  in  beiden 
Atemphasen,  aber  die  Hindernisse  seien  im  Exspirium  größer. 
Auf  dieser  Annahme  fußend,  folgert  man  nun  weiter,  es 
müsse  bei  den  genannten  Schwellungszuständen  eine  im 
Verhältnis  zur  Inspiration  bedeutend  verlängerte  Exspiration 
zutage  treten.  Den  Grund  für  diese  Verlängerung  sucht 
man  also  einzig  und  allein  in  einem  rein  mechanischen 
Moment.  Wenn  wir  uns  jedoch  fragen,  ob  es  schon  bewiesen 
ist,  daß  eine  Schleimhautschwellung  an  und  für  sich  die 
direkte  l'rsache  bildet  für  eine  Verlängerung  des  Exspiriums, 
so  ist  darauf  mit  Nein  zu  antworten.  Bei  der  kapillaren 
Bronchitis  der  Kinder  haben  wir  eine  Schwellung  der 
Schleimhaut  der  kleinsten  Bronchien  und  es  ließe  sich  er¬ 
warten,  daß  bei  dieser  verhältnismäßig  nicht  seltenen  Er¬ 
krankung  der  At.mungsmodusi  und  seine  Ursachen  schon 
längst  klargestellt  sein  müßte.  Das  ist  jedoch  nicht  der 
Fall.  Zur  Illustration  seien  hier  die  Ansichten  zweier  zu¬ 
verlässiger  Kliniker,  Bi  er  m  er  und  F.  A.  Hoffmann,3) 
erwähnt,  (zil.  nach  Hoffmann):  „Die  Atmung  dieser  Kran¬ 
ken  ist  vielfach  verschieden  gefunden  worden;  es  ist  sicher, 
daß  eine  Erschwerung  der  In-  und  Exspiration  besteht  .... 
dabei  ist  das  Verhältnis  beider  zu  einander  nicht  wesent¬ 
lich  geändert.  Biermer  erwähnt  zwar,  daßi  auch  ein 
Atemrhythmus  mit  vorwiegender  Exspirationsnot  beobachtet 
wurde,  wie  er  bei  Asthma  vorkommt.  Hierüber  kann  ich  nur 
sagen,  daß  mir  auch  öfter  bei  größerer  Verbreitung  des 
Katarrhs  die  Exspiration  sehr  verlängert  erschienen  ist. 
Aber  solche  Kinder  atmen  überhaupt,  solange  sie  wach 
sind,  sehr  unregelmäßig;  man  muß  sie  im  Schlafen  beobach- 
len  und  hier  habe  ich  eine  auffallende  Verlängerung  nicht 
konstatieren  können.“  —  Da  nun  bei  den  genannten  Bron¬ 
chialschwellungen  die  Erschwerung  des  Gasaustausches  auch 
in  der  Nacht  fortbesteht  und  dabei  trotzdem  oft  kein  im  Ver¬ 
hältnis  zum  Inspirium  besonders  verlängertes  Exspirium 
zu  konstatieren  ist,  so  haben  wir  Grund  zu  zweifeln,  ob  nur 
das  mechanische  Moment  der  Schleimhautschwellung  allein 
genügt  die  Exspiration  zu  verlängern.  Ich  habe  daher  zur 
Orientierung  über  diese  Frage  das  Experiment  herangezogen. 

Experimentell  läßt  sich  eine  Schleimhautschwellung 
durch  Ammoniak  erzeugen.  Freilich  ist  unter  solchen  Um¬ 
sländen  (keine  Möglichkeit  vorhanden  den  Ablauf  des  Alveo¬ 
lardruckes  auch  nur  annähernd  zu  bestimmen.  Wir  kön¬ 
nen  über  diese  Frage  trotzdem  zu  gewissen  Schlußfolge¬ 
rungen  gelangen,  wenn  wir  die  Verhältnisse,  die  dabei  die 
Lunge  als  Ganzes  darbietet,  in  Betracht  ziehen  und  vor 
allen  Dingen  den  Pleuradruck  und  die  in-  und  exspirierten 
Luftvolumina  messen.  Bei  den  Versuchen  waren  beide  Vagi 
durchschnitten.  Die  näheren  Daten  sind  in  meiner  Arbeit 
über  den  Alveolardruck  (siehe  oben)  nachzusehen.  Hier 
sei  nur  darauf  hingewiesen,  daß  entsprechend  der  raschen 
Entwickelung  einer  hochgradigen  Bronchialschleimhäut¬ 
schwellung,  welche  akustisch  sich  als  ausigebreitetes  Gie¬ 
men,  Pfeifen  und  feinblasiges  Rasseln  äußert,  zugleich  auch 
der  Verlauf  der  Atem-  und  Pleuradruckkurve  sich  intensiv 

3)  F.  A.  Holtmann,  Die  Krankheiten  der  Bronchien.  Nothnagels 
Sammelwerk,  S.  99. 


ändert.  Auf  der  Höhe  der  Schleimhautschwellung  beobachtet 
man  eine  Verlängerung  sowohl  des  In-  wie  auch  des  Ex¬ 
spiriums,  als  Ausdruck  einer  erschwerten  Passage  durch 
die  Bronchiolen.  Durch  Vergleichen  der  Atemdruckkurve 
mit  der  entsprechenden  Kurve  des  Pleuradruckes  kann  man 
konstatieren,  daß  zuweilen,  trotz  Einsetzen  des  Inspirations- 
zuges  (Sinken  des  Pleuradruckes),  während  der  ersten  Phase 
der  Inspiration  noch  keine  Luft  in  die  Lunge  dringt  (Horizon¬ 
talbleiben  der  Atemdruckkurve)  und  andererseits,  daß  um¬ 
gekehrt  in  der  letzten  Phase  der  Exspirationsbewegung  keine 
Luft  der  Lunge  mehr  entweicht  (Horizontalbleiben  der 
Atemdruckkurve,  trotz  weiteren  Anstieges  des  Pleura¬ 
druckes).  Dabei  kann  der  Pleuradruck  ein  so  hoher  sein, 
daß  er  nicht  nur  in  der  Exspirationsphase,  sondern,  auch 
während  des  größten  Teiles  der  Inspirationsdauer  den  At¬ 
mosphärendruck  überragt.  Die  Kurven  geben  aber  gar  keinen 
Anhaltspunkt  dafür,  daß  das  Exspirium  im  Verhältnis  zum 
Inspirium  bedeutend  verlängert  wäre.  Freilich  kann  man 
die  eben  geschilderten  Verhältnisse  nicht  direkt  auf  die 
menschlichen  Verhältnisse  übertragen,  denn  eine  so  hoch¬ 
gradige  und  ausgebreitete  Schleimhautschwellung,  wie  sie 
im  Experiment  durch  Ammoniakinhalation  in  die  Erschei¬ 
nung  tritt,  dürfte  schwerlich  auch  beim  akutesten  Bron¬ 
chialkatarrh  des  Menschen  Vorkommen.  Trotzdem  ist  die 
Tatsache  belehrend,  indem  sie  uns  zeigt,  daß  auch  die 
hochgradigste  Schleimhautschwellung  die  Exspiration  nicht 
stärker  zu  erschweren  braucht  als  die  Inspiration.  Die 
Hindernisse  der  Luftpassage  sind  für  beide  Atemphasen 
annähernd  die  gleichen.  Im  Experiment  sieht  man  nun 
auch  weiter,  daß  das  Verhältnis  von  Inspirium  zum  Exspi¬ 
rium  sich  nicht  wesentlich  ändert,  wenn  das  Tier  von  dem 
Ammoniakreize  sich  zu  erholen  beginnt,  wenn  also  die 
Schleimhautschwellung  etwas  nachläßt  und  demnach  die 
Situation  dem  menschlichen  akuten  Bronchialkatarrh -ähneln 
dürfte.  In  diesem  Stadium  sind  immer  noch  beide  Respi¬ 
rationsphasen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  erschwert, 
freilich  die  Exspiration  vielleicht  etwas  mehr  als  die  In¬ 
spiration,  aber  von  einer  ausgesprochenen  Verzögerung,  resp. 
Verlängerung  des  Exspiriums  im  Verhältnis  zum  Inspirium 
ist  auch  liier  nichts  zu  bemerken. 

Wir  (haben  daher  volle  Veranlassung  zu  behaupten,  daß 
das  mechanische  Moment  der  Schleimhautschwellung  an 
und  für  sich  den  Gasaustausch  in  den  Lungen  freilich  be¬ 
deutend  erschwert,  wie  es  auch  zu  erwarten  war;  in  der 
Schleimhautschwellung  allein  kann  jedoch  nicht  der  Grund 
zu  suchen  sein  für  die  Verlängerung  des  Exspiriums,  welche 
wir  beim  Menschen  so  häufig  beobachten. 

Es  taucht  daher  die  Frage  auf  nach  der  Rolle  der 
Innervation  der  Bronchial-,  resp.  Bronchiolenmuskulatur,  wo¬ 
bei  zu  prüfen  ist,  wie  die  letztere  bei  schon  bestehender 
Schwellung  der  Schleimhaut  die  Respiration  beeinflußt,  wem 
man  die  Vagi  reizt.  Auch  über  derartige  V ersuche  ist  in  meiner 
vorher  zitierten  Arbeit  über  den  Alveolardruck  Mitteilung 
gemacht.  Bei  den  narkotisierten  und  doppelseitig  vagoto- 
mierten  Hunden  wurde  eine  mehrere  Minuten  dauernde  In¬ 
halation  mit  Ammoniakdämpfen  eingeleitet  bis  zu  dem  Mo¬ 
ment,  wo  ein  ausgebreitetes  Rasseln  und  Giemen  über  beiden 
Lungen  konstatiert  werden  konnte.  Darauf  wurden  beide 
Vagi  gereizt.  Auf  Kurventafel  G  der  genannten  Arbeit  siebt 
man,  daß  der  Reiz  über  eine  ganze  Respirationsphase  sich 
erstreckt  und  zwar  während  der  Respirationspause  einsetzt 
und  über  die  Inspiration  und  Exspiration  bis  zur  nächst¬ 
folgenden  Atempause  andauert.  Die  Inspiration  wird  dabei 
durch  eine  sehr  in  die  Länge  gezogene  schräge  Linie  dar¬ 
gestellt  und  ist  ungefähr  doppelt  so  lang,  als  die  vorher¬ 
gehenden  Inspirationen.  Die  Exspirationslinie  bildet  eben¬ 
falls  einen  schräger  aufsteigenden  Bogen,  als  die  vorher¬ 
gehenden  Exspirationen,  doch  ist  sie  bedeutend  kürzer  als 
die  Inspirationslinie.  Die  Vagusreizung  hat  also  in  diesem 
Falle  vorzugsweise  das  Inspirium  erschwert  und  verlängert, 
Falls  sich  nun  hierbei  die  Bronchialmuskeln  kontrahiert 
haben,  so  haben  sie  dem  Lufteinströmen  größere  Hindernisse 
geselzl,  als  dem  Abströmen.  Wir  sehen  demnach,  daß  auch 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


895 


diese  Versuche  nicht  dazu  angetan  sind  uns  darüber  aufzu¬ 
klären,  warum  bei  Schwellung  der  Bronchialschleimhau  I 
so  häufig  die  Exspiration  verlängert  erscheint. 

Im  Jahre  1903 4)  habe  ich  über  Untersuchungen  berich- 
let,  deren  Resultate  uns  der  Lösung  dieser  Frage  näher 
bringen.  Während  in  den  oben  geschilderten  Versuchen  die 
Tiere  (Hunde)  narkotisiert  waren  und  bei  allen  die  Ammo¬ 
niakinhalation  erst  vorgenommen  wurde,  nachdem  beide 
.  Vagi  durchschnitten  waren,  verfuhr  ich  in  diesen  Versuchen 
anders.  Statt  an  Hunden,  wurde  an  Kaninchen  experi¬ 
mentiert,  welche  letzteren  weniger  empfindlich  sind 7  so  daß 
von  einer  Narkose  Abstand  genommen  werden  konnte.  Auch 
die  Vagi  wurden  zunächst  intakt  gelassen.  Um  zu  prüfen, 
welche  Aenderungen  einerseits  eine  mäßige,  andrerseits  eine 
hochgradige  Schleimhautschwellung  im  Atmungsablauf  her¬ 
vorruft,  dauerte  die  Inhalation  von  Ammoniakdämpfen  zu¬ 
nächst  nur  1  '•  bis  2  Minuten,  später  dagegen  10  bis  20  Mi¬ 
nuten.  Registriert  wurde  in  allen  Fällen  mit  dem  Ph'reno- 
graphen,  in  einigen  Fällen  außerdem  noch  mit  dem  Thorako- 
graphen.  Bei  den  meisten  Tieren  entwickelte  sich  nach  einer 
etwa  zwei  Minuten  dauernden  Inhalation  eine  Verlangsa¬ 
mung,  resp.  \  ertiefung  der  Atmung,  die  besonders  deutlich 
wurde  nach  xAussetzen  der  Inhalation.  In  einigen  Fällen  sah 
man,  nachdem  sechs  bis  sieben  Minuten  lang  kein  Ammoniak 
mehr  inhaliert  war,  daß  die  Exspiration  im  Verhältnis  zum  Tn- 
spirium  sich  um  ein  ganz  Bedeutendes  verlängerte;  doch 
nicht  in  allen  Atemphasen  war  die  Exspiration  verlängert. 
Ließ  man  nun  die  Tiere  zehn  bis  zwanzig  Minuten  ununterbro¬ 
chen  inhalieren,  so  trat  jedesmal  ohne  Ausnahme  eine  bedeu¬ 
tende  Verlangsamung  und  Erschwerung  der  Respiration  ein, 
doch  in  keine  m  Fall  kam  es  zu  einer,  Im  Verhältnis  zur  In¬ 
spiration,  bedeutender  verlängerten  Exspiration.  Im  Gegen¬ 
teil,  die  Inspiration  war  häufig  verlängert.  Das  nämliche 
Bild  entwickelte  sich  bei  doppelseitiger  Vagotomie,  d.  h.  die 
Respiration  war  durch  die  Wirkung  der  Ammoniakdämpfe  be¬ 
deutend  erschwert,  doch  eine  Verlängerung  des  Exspiriums 
kam  nicht  zum  Ausdruck  und,  worauf  besonders  hinzuweisen 
ist,  auch  nicht  in  den  Fällen,  wo  die  Inhalation  nur  eine 
kurze  Zeit  (ein  bis  zwei  Minuten)  gedauert  hatte. 

Wir  stehen  hier  vor  einem  scheinbar  paradoxen  Ver- 
hältnis.  Hochgradige  Schwellung  der  Bronchialschleimhaut 
verlängert  trotz  hochgradiger  Erschwerung  der  Respiration 
die  Exspiration  nicht  mehr,  als  das  Inspirium,  gleichviel, 
ob  die  Vagi  durchschnitten  sind  oder  nicht.  Mäßige  Schleim¬ 
hautschwellung  dagegen  kann  das  Exspirium  verlängern, 
aber  nur  dann,  wenn  die  Vagi  heil  bleiben.  Der  Grund  für 
ein  derartiges  Verhalten  ist  meines  Erachtens  in  der  Am¬ 
moniakwirkung  zu  suchen.  Ließ  man  nämlich  die  vagoto- 
mierten  Tiere  lange  Zeit  die  Dämpfe  einatmen,  so  trat  schlie߬ 
lich  jedesmal  eine  Zwerchfelllähmung  ein5),  ein  Beweis, 
daß  Ammoniak  ins  Blut  übergetreten  war.  Es  ist  daher 
auch  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  daß  durch  intensive 
Ammoniakwirkung  der  Vagus  geschädigt  wird.  Falls  dem 
so  ist,  so  würde  dieser  Umstand  einer  doppelseitigen  Vago¬ 
tomie  gleich  zu  erachten  sein  und  zugleich  eine  Erklärung 
abgeben  dafür,  daß:  die  Atmungskurven  nach  langdauernder 
Ammoniakinhalation  bei  heilen  Vagis  analog  sind  den  Kur¬ 
ven,  wo  die  Inhalation  nach  Vagotomie  erfolgte.  War  Am¬ 
moniak  aber  erst  eine  kurze  Zeit  inhaliert  worden,  die  Vagi 
daher  noch  funktionstüchtig,  so  unterschied  sich  die  Kurve 
wesentlich  von  der  Kurve  nach  Vagotomie.  Nur  im  ersten 
Fall  kam  eine  deutliche  Verlängerung  des  Exspiriums  zum 
Ausdruck.  Es  ist  daher  anzunehmen,  daß  die  Verlängerung 
des  Exspiriums,  wie  wir  sie  bei  Bronchostenose  durch 
Schleimhautschwellung  häufig  beobachten,  an  das  Funktio¬ 
nieren  des  Vagus  gebunden  ist.  .Sie  stellt  einen  Regulations¬ 
mechanismus  dar,  der  zweckmäßig  ist.  ' 


4  Experimenteller',  Beitrag  zur  Physiologie  des  Brustvagus  nebst 
Bemerkungen  über  akute  Lungenblähung.  Wiener  klin.  Wochenschr. 

1903,  Nr.  43. 

6)  S  i  e  h  1  e,  Ueber  Zwerchfellähmung  nach  Ammoniakinhalation. 
Zentralbl.  für  Physiologie  1903,  H.  9. 


Diese  Annahme  findet  ihre  völlige  Begründung  in  den 
Resultaten  der  Untersuchungen  von  He  r  i  ng  und  Breue  r, 
die  die  Autoren  Veranlaßte,  seinerzeit  die  Theorie  von  der 
Selbststeuerung  der  Atmung  aufzustellen.  L  u  c  i  a  n  i 6)  sagt 
darüber:  „Wenn  man  den  Gummischlauch,  der  an  der 
Trachealkanüle  eipes  Tieres  angebracht  wird  (das  intakte 
Vagi  besitzt  und  regelmäßig  atmet),  in  dem  Momente  ver¬ 
engert  oder  verschließt,  in  welchem  die  Exspiration  aufhört 
und  die  Inspiration  einsetzt,  so  beobachtet  man,  daß  diese 
eine  viel  längere  Dauer  annimmt.  Wenn  man  hingegen  die 
Trachea  nach  Vollendung  einer  Inspiration  und  bei  Beginn 
der  Exspiration  verengert  oder  verschließt,  so  beobachtet 
man,  daß  das  f'jcr  die  letztere  in  die  Länge  zieht,  und 
länger  in  Exspirationsstell  ring  verharrt.  Diese  Erscheinun¬ 
gen  hören  nach  Durchschneidung  der  Vagi  auf.“ 

Der  Unterschied  zwischen  diesen  und  unseren  Am¬ 
moniakversuchen  besteht  nur  darin,  daß  in  den  letzteren 
die  Verengerung  nicht  in  der  Trachea,  sondern  in  den  kleinen 
Bronchien  entsteht.  Warum  bei  Bronchostenose  infolge 
Schl eimhau (schwell  11  ng  und  durch  die  durch  dieselbe  be¬ 
dingte  Erschwerung  beider  Atemphasen  die  Inspiration  weni¬ 
ger  verlängert  wird  als  die  Exspiration,  das  liegt  wohl  an 
der  größeren  Nachgiebigkeit  der  Bronchiolenwände.  Wenn 
öi<'  liachea  durch  mechanischen  äußeren  Druck  verengt 
wird,  so  wird  auch  der  stärkste  Inspirationszug  keine  Er¬ 
weiterung  derselben  zustande  bringen  und  sowohl  In-  wie 
Exspiration  werden  länger  werden.  Bei  Schwellung  der  Bron¬ 
chiolenwand  wird  ein  kräftiger  Inspirationszug  durch1  Er¬ 
weiterung  der  Lunge  auch  die  kleinen  Luft  führenden  Wege  er¬ 
weitern,  den  Luftzutritt  daher  erleichtern ;  eine  forcierte 
Exspirationsbewegung  würde  dagegen  durch  Verstärkung  des 
Seitendruckes  eine  plötzliche  und  maximale  Verengerung 
der  durch  den  Inspirationszug  vorher  erweiterten  kleinsten 
Luftwege  bewirken  und  die  Ventilation  stören;  sind  die 
Vagi  dabei  durchschnitten,  so  wird  die  Störung  den  höheren 
Zentren  nicht  vermittelt  und  die  Ventilation  bleibt  unzweck¬ 
mäßig.  Bei  intakten  Vagis  dagegen  erfolgt  dank  der  zen- 
tripetalen  Meldung  die  einzig  mögliche  Regulation  dieser 
Störung,  nämlich  die  Verlängerung  des  Exspiriums.  Diese 
letztere  Erscheinung  ist  also  ein  reflektorischer  Regulations¬ 
vorgang,  der  deutlich  in  sich  den  Charakter  des  Zweck¬ 
mäßigen  trägt. 

Zu  den  Faktoren,  welche  die  regulate  rische  Verlän¬ 
gerung  des  Exspiriums  vereiteln  und  damit  zugleich  den 
Luftaustritt  aus  dem  Alveolarraum  behindern  können,  ge¬ 
hören  nun  ,alle  Momente,  die  den  Seitendruck  der  Bron¬ 
chiolenwand  maximal  erhöhen.  Das  eine  Moment  ist  be¬ 
gründet  in  dem  soeben  erwähnten  Vorgang  (Ter  forcierten 
Exspirationsbewegung.  Ist  dabei  die  Schleimhaut  der  Bron¬ 
chiolen  geschwollen  und  mit  Sekret  bedeckt,  so  muß  man  mit 
der  Annahme  rechnen,  daß  bei  heftiger  Ausatmung  die  am 
stärksten  angegriffenen  kleinsten  Luftwege  ganz  geschlossen 
werden.  In  den  zu  den  betreffenden  Bronchiolen  gehörenden 
Alveolargebieten  muß  es  in  solchem  Falle  zu  einer  starken 
Drucksteigerung  kommen,  wobei  diejenigen  Alveolarpartien, 
die  dem  Druck  ausweichen  können  (das  sind  die  Lungen¬ 
randpartien),  am  meisten  gedehnt  werden.  Das  zweite  Mo¬ 
ment  für  eine  Verstärkung  des  Seitendruckes  ist  in  der 
verstärkten  Kontraktionstätigkeit  der  Bronchialmüskulatur 
zu  suchen,  bedingt  durch  erhöhte  reflektorische  Reizbar¬ 
keit  der  zentrifugalen  Vagusäste.  Eine  Berechtigung  zu 
dieser  Behauptung  geben  mir  die  weiteren  Untersuchungen, 
welche  in  dem  oben  zitierten  „Experimentellen  Beitrag  zur 
Physiologie  des  Brustvagus  etc.“  geschildert  sind.  Es  wurden 
unter  anderem  zahlreiche  Versuche  mit  Luftaussaugungen 
aus  der  Lunge  vorgenommen  und  zwar  nur  ans  einer  Lunge, 
nachdem  ein  Obturator  in  einem  Hauptbronchus  befestigt 
war.  Die  Tiere  waren  vagotomiert  und  die  nicht  obturierte 
Lunge  wurde  zur  künstlichen  Atmung  benutzt.  Der  Ob¬ 
turator  stand  durch  ein  verschließbares  Ventil  mit  einem 


8)  Luciani,  Physiologie  des  Menschen.  Deutsch  von  Baglion  i 
I  und  Winter  stein  1905,  Bd.  1,  S.  387. 


896 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


250  era5  fassenden  Zylinder  in  Verbindung.  Vor  der  Luft¬ 
ansaugung  wurde  während  der  Apnoe  ein  je  nach  Wunsch 
rsv, hied enes  Quantum  Luft  in  die  zu  obturierende  Lunge 
eingetrieben  und  darauf  gleich  die  Luftaussaugung  vorge¬ 
nommen.  Die  letztere  wurde  dadurch  bewirkt,  daß  im  Zy¬ 
linder  durch  eine  einfache  Vorrichtung  ein  andauender  nega¬ 
tiver  Druck  geschaffen  werden  konnte,  wodurch  die  Lungen- 
luft,  nachdem  das  Ventil  zwischen  Obturator  und  Zylinder 
geöffnet  war,  beständig  nach  dem  Zylinder  zu  gesaugt  wurde. 
Die  künstliche  Respiration  der  anderen  Lunge  wurde  stets 
nach  beendigter  Inspirationsphase  unterbrochen.  Es  ist  nun 
klar,  daß  beim  Oeffnen  des  Ventils  die  im  Obturator  und  in 
den  Bronchien  befindliche  Luft  mit  einer  gewissen  Plötzlich¬ 
keit  in  den  Zylinder  strömte.  Dadurch  mußte  eine 
Druckdifferenz  zwischen  dem  Bronchial-  und  Alveoiar- 
raurri  entstehen.  Hierbei  konnte  man  die  Beobachtung 
machen,  daß  hin  und  wieder  das  Luftabströmen  plötzlich 
sistierte,  nachdem  erst,  nur  'ein  Bruchteil  der  vorher  in  die 
Lunge  getriebenen  Luft  abgeflossen  war.  Der  beim  Luft¬ 
abfluß  plötzlich  in  Aktion  tretende  Seitendruck  hatte  die 
Bronchiolen  zum  Verschluß  gebracht.  Höchst  bezeichnend 
für  die  Rolle  der  Innervation  der  Bronchialmuskulatur 
war  nun  die  Tatsache,  daß  bei  peripherer  Vagusreizung  diese 
Sistierung  des  Luftaustrittes  überaus  häufig  in  die  Erschei¬ 
nung  trat,  ohne  Reizung  dagegen  nur  einigemal.  Wir  haben 
daher  volles  Recht  zu  behaupten,  daß  Vagusreizungen  den 
Tonus  der  Bronchialmuskulatur  bedeutend  erhöhen  und  da¬ 
mit  die  Exspiration,  falls  nicht  Regulation  eintritt,  bedeu¬ 
tend  erschweren  können. 

Bei  dieser  Gelegenheit  müssen  wir  die  Lehre  vom 
Bronchospasmus  streifen.  —  Daß  die  glatte  Muskulatur  der 
Bronchien  bei  peripherer  Vagusreizung  sich  kontrahieren 
kann,  ist  schon  in  den  Vierzigerjahren  des.  vorigen  Jahr¬ 
hunderts  von  Longet,  später  von  Bert,  Schiff,  G  e  r- 
lach  u.  a.  behauptet  worden.  Noch  später  haben  Eint¬ 
hoven  und  Beer  diese  Theorie  auf  experimentellem  Wege, 
jeder  mit  anderer  Methode,  zu  begründen  gesucht.  Beide 
Autoren  konstatierten  bei  peripherer  Vagusreizung  vermittels 
Registrierapparaten  eine  Erhöhung  des  intratrachealen 
Druckes,  woraus  auf  Bronchospasmus  geschlossen  wurde. 
Einthoven  beobachtete' bei  seinen  Versuchstieren  außer¬ 
dem  eine  Vergrößerung  des  Brustumfanges’  und  deutete  dieses 
Ergebnis  als  durch  Lungenblähung  bedingt,  während  Beer 
eine  Lungenblähung  auf  phrenographischem  Wege  nachge¬ 
wiesen  zu  haben  glaubte.  Auf  Grund  dieser  Untersuchungs¬ 
resultate  betrachten  nun  die  meisten  Autoren  den  Brochial- 
krampf  als  Ursache  der  asthmatischen  Lungenblähung  für 
vollkommen  erwiesen  (unter  anderen  auch  Krehl  [Patho¬ 
logische  Physiologie]).  Dem  ist  nun  durchaus  nicht  so 
und  zwar  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  die  durch  Vagus¬ 
reizung  hervorgerufenen  Erscheinungen,  d.  i.  Steigerung  des 
intratrachealen  Druckes  einerseits,  Vergrößerung  des  Brust¬ 
umfanges  resp.  Niedrigertreten  des  Zwerchfells  anderseits  — 
vor  allen  Dingen  Folgen  einer  durch  den  Vagusreiz  be¬ 
dingten  Lungenhyperämie  sind,  wie  ich  das  in  drei  Arbeiten  7) 
nachgewiesen  habe.  Denn  läßt  man  die  Tiere  aus  einem 
von  der  Zimmerluft  abgeschlossenen  Atemgefäß  respi¬ 
rieren,  so  sieht  man,  daß  die  Lunge  nach  Vagusreiz  nicht 
lufthaltiger,  sondern  im  Gegenteil  luftärmer  wird.  Von  einer 
Lungenblähung  ist  also  dabei  keine  Rede  und  folglich  wer¬ 
den  die  Resultate  von  Einthoven  und  Reer  ganz  irrtüm¬ 
lich  als  Beweis  dafür  herangezogen,  daß  durch  periphere 
Vagusreizung  (resp.  durch  Bronchialkrampf)  eine  Lungen¬ 
blähung  entstehen  könne.  Um  wirklich  zu  beweisen,  daß 
eine  periphere  Vagusreizung  die  Bronchialmuskulatur  zur 


7)  M.  Sihlc,  a)  Experimentelle  Untersuchungen  über  Ver¬ 
änderungen  des  Lungenvolumens  und  der  Lungenkapazität  bei  Reizung 
der  Nasenschleimhaut.  Archiv  für  (Anatomie  und)  Physiologie  1906, 
Supp!.;  b)  lieber  den  Einfluß  von  Dünndarm-  und  Ischiadikusreizung 
auf  die  Luft-  und  Blutkapazität  der  Lungen.  Archiv  für  (Anatomie  und) 
Physiologie  1907,  Suppl. ;  c)  Experimentelles  und  Kritisches  zur  Lehre 
von  der  Lungenschwellung  und  Lungenstarrheit«,  Zeitsehr.  für  klin. 
Medizin  1908,  Bd.  66,  H.  1  u.  2. 


Nr.  25 


Kontraktion  bringt,  muß  vor  allen  Dingen  bei  den  Versuchen 
die  Wirkung  des  Vagusreizes  auf  die  Zirkulation  ausgeschlos¬ 
sen  werden,  was  nach  Durclisohneidung  der  Herzäste  des 
Vagus  der  Fall  ist.  Derartige  Versuche  habe  ich  in  der  oben 
zitierten  Arbeit  „Experimenteller  Beitrag  zur  Physiologie 
des  Brustvagus  etc.“  veröffentlicht.  In  diesen  Versuchen 
waren  die  Rami  cardiaci  dextri  durchschnitten  (ohne  Eröff¬ 
nung  der  Pleurahöhle)  und  es  wurde  bei  Apnoe  in  die  rechte 
Lunge  sowohl  bei  Vagusreizung  wie  auch  ohne  dieselbe 
Luft  eingetrieben,  wobei  es  sich  zeigte,  daß  in  den  Ver¬ 
suchen  mit  Vagusreizung  dem  Lufteinströmen  meistenteils 
größere  Widerstände  erwuchsen  als  ohne  Reiz.  Es  ist  daher 
mit  der  Annahme  zu  rechnen,  daß  Vagusreizung  tatsächlich 
die  Bronchialmuskulatur  zur  Kontraktion  bringt;  doch  in 
keinem  Versuche,  wo  die  Herzäste  erhalten  waren  und 
wobei  die  Tiere  andauernd  atmeten,  konnte  durch  Vagus¬ 
reizung  eine  Vermehrung  der  Lungenluft  beobachtet  werden. 
Im  Gegenteil!  In  allen  Fällen,  ohne  Ausnahme,  wurde  die 
Lunge  durch  Vagusreizung  luftärmer  und  dabei  blutreicher. 
Also :  Bronchospasmus  an  und  für  sich  erzeugl  noch  keine 
Lungenblähung,  doch  kann  er  als  mitwirkender  Faktor  bei 
der  Schleimhauthyperämie  eine  nicht  zu  unterschätzende 
Rolle  spielen. 

* 

Wenn  wir  alles  bisher  Erörterte  berücksichtigen,  so 
verstehen  wir,  welche  Konstellation  von  Bedingungen  zur 
Entwicklung  des  Volumen  pulmonum  auctum  erforderlich 
ist.  Jede  Theorie  ist  abzulehnen,  die  nur  ein  Hauptmoment 
als  ätiologischen  Faktor  hinstellt.  Weder  die  Inspirations¬ 
theorie,  noch  auch  die  Exspirationstheorie  —  jede  für  sich 
allein  —  kann  eine  zureichende  Erklärung  aller  bei  der 
Lungenblähung  zu  beobachtenden  Erscheinungen  geben.  Als 
wesentlichstes  Gegenargument  für  die  ausschließliche  In¬ 
spirationstheorie  hat  zu  gelten  die  Auftreibung  der  Lungen¬ 
spitzen,  die  bei  vielen  Asthmatikern  während  eines  schweren 
Anfalles,  wie  auch  bei  mehreren  chronisch  Emphysematosen 
zu  beobachten  ist.  Keinerlei  Inspirationsanstrengung,  auch 
nicht  der  stärkste  Inspirationszug,  vermag  die  Lungenspitzen 
derart  vorzuwölben.  Dazu  gehört  unbedingt  ein  Druck  von 
innen  und  das  ist  schon  ein  exspiratorisches  Moment.  Frei¬ 
lich  spielt  dabei  das  inspiratorische  Moment  auch  eine 
gewisse  Rolle.  Läßt  man  bei  geschlossener  Glottis  eine 
maximale  Exspirationsbewegung  machen,  so  sieht  man,  daß 
die  Supraklavikulargruben  sich  zwar  heben,  aber  nicht  be¬ 
deutend.  Wiederholt  man  nun  den  Exspirationsversuch, 
nachdem  vorher  maximal  inspiriert  worden  war,  so  wird  die 
Vorwölbung  der  Spitzen  schon  deutlicher.  Also  zunächst 
verstärkte  Inspiration,  darauf  verstärkte  und  zugleich  durch 
Widerstände  gehemmte  Exspiration,  d.  h.  beide  Momente 
haben  ihren  Anteil  an  der  Blähung  der  Spitzen. 

Nun  fragt  es  sich,  ob  man  die  Verhältnisse  an  den 
Lungenspitzen  ohne  weiteres  auf  die  ganze  Lunge  übertragen 
kann.  Offenbar  nicht  ganz,  denn  die  Spitzen  unterscheiden 
sich  von  den  tieferen  Lungenpartien  in  einer  Hinsicht  sehr 
wesentlich,  nämlich  im  Blutgehalt.  Das  Alveolargcbiel  der 
Spitzen  ist  blutärmer  und  seine  Alveolarwände  setzen  daher 
dem  Druck  von  innen  einen  geringeren  Widerstand  ent¬ 
gegen,  als  die  blutreicheren,  tieferen  Partien.  Eine  Son¬ 
derstellung  nehmen  auch  die  Randpartien  ein,  welche  der¬ 
artige  Bedingungen  aufweisen,  daß  sie  einerseits  durch  Zug 
stärker  sich  weiten,  andrerseits  aber  auch  dem  Innendruck 
besonders  leicht  nachgeben,  dank  ihrer  Ausweichmöglich¬ 
keit  in  den  Komplementärraum. 

Als  Ursache  der  Lungenblähung,  resp.  des  Emphysems, 
gelten  mit  Recht  Rronchitis  und  Asthma.  Bei  der  Bronchitis 
befindet  sich  die  Bronchialschleimhaut  in  einem  beständigen 
Reizzustande.  Dieser  Reizzustand  bedingt  zugleich  eine  ge¬ 
steigerte  Reizbarkeit  des  Vagus,  wodurch,  entsprechend  den 
oben  dargelegten  Untersuchungen,  eine  gewisse  ständige 
Hyperämie  im  Lungenkreislauf  unterhalten  wird.  Am  blut¬ 
reichsten  sind  naturgemäß]  die  unteren  und  hinteren  Lungen - 
Partien.  Mit  dem  Blutreich! um  geht  Hand  in  Hand  eine 
gewisse  Verminderung  der  Lungenelastizität,  resp.  Retrak- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


tionsmöglichkeit,  der  Pleuradruck  steigt.  Der  Reizzustand 
im  Vagusgebiet  erleidet  periodisch  Exazerbationen,  wodurch 
es  zu  Hustenstößen  kommt.  Der  Reiz,  welcher  den  Husten¬ 
stoß  auszulösen  im  Begriff  steht,  erzeugt  z.unächsl  in  der 
hyperämischen  Lunge  eine  erneute  Hyperämiewelle,  zugleich 
aber  erfolgt  unmittelbar  vor  dem  Hustenstoß  eine  tiefe  Inspi¬ 
ration,  wodurch  in  die  Lunge  außer  Luft  ein  weiteres  Blut¬ 
quantum  gesaugt  wird.  Durch  den  tiefen  Inspirationszug 
werden  die  Alveolen  über  die  Norm  geweitet,  wobei  der 
Druck  in  ihnen  bedeutend  unter  den  Atmosphärendruck 
sinkt.  Beim  Einsetzen  des  Hustenstoßies  ändern  sich  dann 
plötzlich  die  Verhältnisse.  Durch  den  heftigen  Exspiralions- 
itoß,  der  im  Beginn  gegen  die  geschlossene  Glottis  erfolgt, 
steigt  der  Intrapulmonal-,  resp.  der  Alveolardruck  gewaltig 
an,  zugleich  wird  auch  der  Pleuradruck  positiv.  Der  Blut- 
reichtum  und  der  positive  Pleuradruck  tragen  den  Cha¬ 
rakter  einer  Schutzvorrichtung  gegen  eine  Ueberdehnung 
der  Alveolen,  nur  ist  dieser  Schutz  für  alle  Alveolargebiete 
nicht  der  gleiche.  Diejenigen  Bezirke,  welche  blutärmer 
sind,  wie  die  Spitzen,  oder  welche  in  den  Komplementärraum 
äusweichen  können,  wie  die  Lungenränder  —  diese  Gebiete 
müssen  durch  die  Steigerung  des  Alveolardruckes  am  meisten 
gedehnt  und  vorgetrieben  werden.  Die  Tatsache,  daß  die 
vorderen  Lungenränder  gewöhnlich  stärker  emphysematos 
werden,  als  die  unteren,  erklärt  sich  aus  dem  größeren  Blut¬ 
gehalt  der  letzteren,  wodurch  sieder  Dehnung  einen  größeren 
Widerstand  leisten  als  die  höher  gelegenen  vorderen 
Randpartien.  Die  Dehnung  der  Alveolen  ist  nur  eine  kurz¬ 
dauernde,  das  heißt  entsprechend  der  letzten  Phase  des 
Inspiriums  und  vornehmlich  der  ersten  des  Exspiriums1, 
da  im  weiteren  Verlauf  des  Hustenstoßes  nach  Oeffnung 
der  Glottis  ein  freier  Abfluß)  der  Alveolarluft  gesichert  ist. 
Liegen  die  Verhältnisse  aber  derart,  daß  nach  verstärktem 
fnspirium  und  ungehinderter  vermehrter  Füllung  der  Alve¬ 
olen  Ider  Luftaustritt  erschwert  oder  in  einzelnen  Bronchial¬ 
verzweigungen  gar  gänzlich  behindert  ist  (welche  Möglich¬ 
keit  nach  den  obigen  Ausführungen  durchaus  gegeben  ist), 
so  kann  die  Alveolardehnung  nicht  wie  im  vorher  erwähnten 
Falle  sofort  rückgängig  werden,  sondern  sie  muß  einen 
mehr  dauernden  Charakter  annehmen  u.  zw.  ausschließlich 
nur  dank  der  pathologischen  exspiratorischen  Kom¬ 
ponente.  Die  Bedingungen  für  die  Entstehung  dieser 
Blähung  liefern  im  genannten  Falle  die  Inspiration  und 
Exspiration  zusammen;  die  Dauer  des  Blähungszustandes 
ist  dagegen  abhängig  nur  von  der  Dauer  des  pathologischen 
exspiratorischen  Momentes. 

Anders  gestalten  sich  die  Verhältnisse  beim  kompen¬ 
satorischen  Emphysem.  Dieses  ist  in  der  Hauptsache  ein 
Inspirationsemphysem,  solange  nicht  Hustenstöße  und  Be¬ 
hinderung  des  Luftaustrittes  in  Betracht,  kommen.  Die  ver¬ 
stärkte  iVentilation  der  einen  Lunge  bei  ausgedehnter  Störung 
derselben  in  der  andern,  dehnt  den  Alveolarraum  in  der 
letzten  Phase  des  Inspiriums  beständig  über  die  Norm,  wo¬ 
durch  aber  in  die  Alveolarkapillaren  auch  mehr  Blut  an¬ 
gesaugt  wird.  Die  Lunge  wird  größer  und  blutreicher,  sie 
trägt  den  Charakter  der  Hypertrophie  in  sich  und  mil  Recht 
nennt  man  diesen  Zustand  einen  kompensatorischen,  weil 
er  die  Folge  ist  eines  Reparationsbestrebens,  die  gestörte 
Atmung  auf  die  für  den  Organismus  notwendige  Höhe  zu 
treiben. 

Zug  und  Druck,  Traktion  und  Pulsion  kombinieren 
sieb  in  mannigfaltigster  Weise  als  mechanische  Faktoren 
bei  der  Entwicklung  der  Lungenblähung,  resp.  des  Emphy¬ 
sems  und  dementsprechend  gestaltet  sich  auch  der  Alveolar- 
druck  in  Exspirationsphase  verschieden.  Bei  denjenigen  Zu¬ 
ständen,  welche  in  der  Folge  zu  einer  reinen  Traktions¬ 
blähung  führen,  das  heißt  in  welchen  nach  verstärktem  In¬ 
spirationszug  ein  ungestörter  Luftabfluß  gesichert  ist,  er¬ 
reicht  der  intraalveolare  Exspirationsdruck  positive  Werte 
von  nur  einigen  Zentimetern  Wasser.  Treten  jedoch  Exspi¬ 
rationshindernisse  ein,  wie  bei  gewissen  bronchitischen  Zu¬ 
ständen  oder  beim  Asthma  und  kommt  es  dabei  zu  Husten¬ 
stößen,  so  kann  der  intrapulmonale  Druck  (und  somit  auch  I 


der  intraalveolare)  auf  das  20-  bis  30fache  steigen.  Dieser 
eminent  hohe  Druck  muß  sich,  wie  schon  vorhin  ausein- 
andergesetzt  wurde,  am  intensivsten  in  den  Lungenspitzen 
und  den  Rändern  äußern  und  dieselben  vortreiben. 

Die  ätiologische  \\  ürtligung  von  Traktion  und  Pulsion 
vermag  auch  den  Streit  beizulegen,  der  die  Frage  betrifft, 
ob  stark  emphysematose  Lungen  nach  Eröffnung  des  Thorax 
vorquellen  oder  nicht,.  Liegen  ätiologisch  Bedingungen  vor, 
die  zu  einem  Traktionsemphysem  geführt  haben,  so  fehlt 
dei  Grund  zum  Vorquellen,  während  er  beim  Pulsionsemphy¬ 
sem  in  hochgradiger  Weise  vorhanden  sein  kann.  Die  Lun¬ 
genblähung,  insofern  sie  sich  als  Folge  von  Asthma  oder 
Bronchitis  entwickelt  hat,  ist  Traklions-  und  Pulsionsemphy- 
sem  zugleich.  Die  Blähung  der  Spitzen  und  der  Landpar¬ 
tien  Verdankt  ihre  Entstehung  überwiegend  der  Pulsion.  Das 
kompensatorische  Emphysem,  wie  auch  das  Emphysem  bei 
der  dilatativen  Thoraxstarre  ist  vorwiegend  ein  Traktions¬ 
emphysem.  Beim  vikariierenden  Emphysem  dürften  sich 
dagegen  Pulsion  und  Fraktion  wiederum  in  der  Wirkung 
teilen. 

A\  ir  haben  also  bei  der  Mechanik  der  Lungenblähung 
die  Traktion  und  Pulsion  streng  voneinander  zu  scheiden 
und  sollten  in  Zukunft  die  Termini  technici  —  Emphysema 
e  tractione  und  Emphysema  e  pulsione  —  akzeptieren.  Bio¬ 
logisch  unterscheiden  sich  die  beiden  ätiologischen  Faktoren 
grundsätzlich  voneinander.  Die  verstärkte  Traktion  bedingt 
eine  Lungendeh nung  plus  Lungenhyperämie;  im  Beginn  der 
Exspirationsphase  weicht  der  intraalveolare  Druck  nicht  we¬ 
sentlich  vom  Druck  bei  normaler  Atmung  ab.  Die  Zirkulation 
ist  in  den  gestreckten  Alveolarkapillaren  eher  erleichtert  als 
erschwert.  Das  Ganze  trägt  für  die  Respiration  und  Zirkula¬ 
tion  bis  zu  einem  gewissen  Grade  den  Charakter  eines  Aus¬ 
gleiches,  einer  physiologischen  Kompensation.  Bei  der  Pul¬ 
sion  steigt,  der  Innendruck  der  Alveolen  bedeutend,  die  Al¬ 
veolargefäße  werden  gedrückt  und  somit  die  Zirkulation 
direkt  gehemmt.  Für  die  Alveolarwand  und  seine  Ernährung 
trägt  daher  die  Pulsion  den  Charakter  eines  hochgradig  de- 
struierenden  Momentes. 


Das  Beklopfen  der  Leber  und  des  Magens 
und  der  Vibrationsdruck. 

Von  Prof.  W.  Jaworski  in  Krakau. 

Um  den  Krankheitsherd  lokalisieren  zu  können,  bedient 
man  sich  bei  der  Kranken  Untersuchung  in  vielen  Fällen  des 
Druckes.  Man  übt  auf  gewisse  Körperstellen  mit  den  Finger¬ 
spitzen  einen  Druck  aus,  nicht  nur  um  Konsistenz  und  Resi¬ 
stenz  der  einzelnen  Organe  zu  prüfen,  sondern  auch  um 
Schmerze  m  p  f  i  n  d  u  n  gen  auszulösen.  Denn  di  e 
meisten  Organe,  in  welchen  sich  entzündliche  Vorgänge  ab¬ 
spielen,  reagieren  bei  Anwendung  eines  viel  geringeren 
Druckes  mit  Schmerz,  als  wenn  dieselben  normal  sind.  Durch 
den  Druck  sucht  man  z.  B.  die  Interkostalneuralgie,  Inter¬ 
kostalrheumatismus,  Pleuritis  sicca  zu  erkennen  und  diffe¬ 
renzieren.  Der  Druck  ist  ein  sehr  wichtiges  und  dazu  ein¬ 
faches  Hilfsmittel  für  die  topische  Diagnostik  der  Erkran¬ 
kung  oberflächlicher  Organe,  besonders  peripherer  Nerven 
und  Muskeln.  Nur  muß  man  dabei  kritisch  Vorgehen  und 
nicht  jede  gefundene  schmerzhafte  Stelle,  als  direkt  er¬ 
krankt  ansehen,  •  denn  es  können  projizierte  Druckpunkte 
II  e  a  d  sehe  Schmerzregionen  sein,  welche  durch  Erkrankung 
fernliegender  Organe  hervorgerufen  werden. 

Von  den  inneren  Organen  sind  dem  Drucke  nur  die 
der  Oberfläche  näher  liegenden  zugänglich.  Die  anderen, 
wie  Herz,  Milz,  Nieren,  der  größte  Teil  der  Leber,  falls  sie 
normale  Lage  haben,  können  vom  Fingerdruck  nicht  erreicht 
werden.  Es  kann  sich  aber  auf  dieselben  die  E  r  s  c  h  ü  1 1  e- 
rung  fortpflanzen,  wenn  man  senkrecht  zur  Oberfläche 
des  Organes  einen  rasch  intermittierenden  Druck  (Schläge), 
d.  h.  das  Beklopfen,  ausführt.  Die  dabei  entstehenden  Er¬ 
schütterungen  bringen,  falls  die  betreffenden  Organe  er¬ 
krankt  sind,  Schmerzomplindungen  hervor.  Es  wurde  schon 


898 


WIENER  KLINISCHE 


Von  mehreren  Seiten  aufmerksam  gelmacht,  daß  man  sich 
der  Erschütterung  der  Lumbalgegend  zur  Diagnostik  der 
Nierensteine  bedienen  kann.  Goldflam  (Medycyna  1900, 
Vr.  25)  führt  zu  diesem  Zwecke  in  aufrechter  Stellung  des 
Patienten  Stöße  mit  der  Ulnarseite  der  rechten  Faust  gegen 
die  Lendengegend  aus.  Auch  C.  A.  E  w  a  1  d  (E  u  1  e  nburgs 
Realenzyklopädie,  Bd.  10,  S.  780).  gibt  an,  daß  der  Stoß 
gegen  die  Lumbalgegend  bei  Nierensteinen  Schmerz  ver¬ 
ursacht. 

Ich  will  in  dem  vorliegenden  Aufsatze  meine  Erfah¬ 
rungen,  welche  ich  mit  dem  Beklopfen  der  Leber,  welches 
Organ  sich  sehr  dazu  eignet,  sowie  des  Magens  gemacht 
habe,  milteilen. 

Man  muß  beim  Beklopfen  der  Leber  unterschei¬ 
den  deren  hinteren,  seitlichen  und  vorderen  Teil  der  Ober¬ 
fläche.  Die  hintere  Leberoberfläche  wird  ganz  vom  Brust¬ 
körbe  bedeckt,  u.  zw.  ist  ihr  oberer  Teil  außerdem  voml 
Lungenparenchym  bis'  zur  zehnten  Rippe  umgehen,  während 
nur  der  untere  Rand  von  der  zehnten  bis  zwölften  Rippe 
frei  von  der  Lunge  ist  und  unmittelbar  dem  Brustkasten 
anliegt  und  zugleich  die  obere  Spitze  der  rechten  Niere  über¬ 
lagert,  was  beim  Beklopfen  der  rechten  Niere  von  Bedeutung 
ist  und  unten  noch  Erwähnung  findet.  Eben  dieser  untere 
Teil  der  hinteren  Leberoberfläche  (zehnte  bis  zwölfte  Rippe) 
ist  für  das  Beklopfen  geeignet.  Auch  die  seitliche  Leberober¬ 
fläche  ist  in  der  Axillargegend  von  der  Lunge  bedeckt  und 
nur  mit  ihrem  unteren  Rande  (achte  bis  zehnte  Rippe)  un¬ 
mittelbar  dem  Brustkorb  anliegend  und  in  diesem  Raume 
für  das  Beklopfen  zugänglich.  Die  vordere  Leberoberfläche 
ist  bis  zur  sechsten  Rippe  auch  durch  die  Lunge  überlagert. 
Von  der  sechsten  bis  achten  Rippe  liegt  sie  unmittelbar 
dem  Brustkasten  an  und  kann  auf  diesem  Raume  beklopft 
werden,  ln  der  Herzgrube  liegt,  die  Leber  unmittelbar  unter 
den  Bauchdecken  und  ihre  Oberfläche  kann  hier  palpiert 
werden,  ist  jedoch  für  das  unmittelbare  Beklopfen  nicht 
geeignet.  Das  Beklopfen  der  Leber  in  der  Magengegend  mit 
der  Hand  (siehe  unten)  ist  auch  hei  gesunden  Individuen 
empfindlich,  es  ruft  aber  sehr  leicht  das  Plätschergeräusch 
hervor  und  ist  nach  Imeiner  Erfahrung  die  feinste  M  e  th'o  d  e, 
um  das  P  lätscherger  ä  u  s  c  h  im  Magen  hervorzurufen 
und  wird  von  mir  bei  der  Untersuchung  der  Magengegend 
regelmäßig  angewendet. 

Behufs  der  Ausführung  des  Beklopfens  der 
Leber  oder  des  Magens  nimmt  der  Untersuchte  horizontale 
Lage  an,  u.  zw.  heim  Beklopfen  der  vorderen  Fläche  der 
Leber  die  horizontale  Rückenlage,  der  Seitenfläche  die  linke 
Seitenlage,  der  hinteren  Fläche  der  Leber  und  des  Magens 
die  Bauchlage.  Das  Beklopfen  selbst,  wird  durch  sehr 
rasche  Schläge  mit  der  Ulnarseite  der  rechten  gestreckten 
Handfläche,  parallel  den  Rippen,  am  besten  auf  die  Inter¬ 
kostalräume,  wobei  man  mit  der  Stärke  der  Schläge  ab¬ 
wechselt,  ausgeführt.  Zur  Kontrolle  werden  sowohl  die  Lum¬ 
balgegenden,  als  auch  die  symmetrischen  Regionen  der 
linken  Seite  mit  derselben  Stärke  beklopft.  Der  Kranke  em¬ 
pfindet  die  Schläge,  falls  das  Organ  entzündlich  erkrankt 
ist,  als  „inneren  Schmerz“.  Der  unterhalb  des  Brustkorbes 
hervorragende,  unter  den  Bauchdecken  liegende  Teil  der 
Leber,  wird  auf  einem  kleinen  elliptischen,  gut  angedrückten 
Plessimeter  durch  stärkere  Schläge  mittels  Fingers  oder 
Hammers,  wie  keim  Perkutieren,  also  mittelbar  beklopft.  Man 
kann  sich  auch  des  Finger-Fingcrbeklopfens  bedienen. 

Das  Beklopfen  des  Magens  wird  noch  unten  besprochen. 

Das  Beklopfen  der  Leber  wurde  von  mir  bei  der  Unter¬ 
suchung  aller  Fälle  ausgeführt,  wo  es  sich  um  Verdacht 
auf  die  Anfälle  von  Cholelithiasis  handelte.  Fast  in  allen 
Fällen,  wo  iclie  klinischen  Kardinalsymptome  der  Gallenstein¬ 
kolik  (Gelbsucht,  Gallenfarbstoffe  im  Urin,  Vergrößerung 
und  Schmerzhaftigkeit  des  Leberrandes,  Vergrößerung  oder 
Schmerzhaftigkeit  der  Gallenblase)  vorhanden  waren,  war 
auch  das  Beklopfen  der  Leber  empfindlich.  In  vielen  un¬ 
klaren  und  der  Cholelithiasis  verdächtigen  Fällen  habe*  ich 
den  Klopfversuch  ausgeführt  und  derselbe  hat  mich  oft  auf 
die  richtige  Fährte  geführt.  Zunächst  sind  es  hier  Fälle 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


von  Cholelithiasis,  bei  welchen  man  bloß  unsichere  An¬ 
haltspunkte  oder  rudimentäre  Symptome  des  Anfalles,  ent¬ 
weder  durch  Anamnese  oder  durch  Untersuchung,  gewinnen 
konnte:  Mehrfache  Geburten,  vages  Schmerzgefühl,  flüch¬ 
tige,  geringfügige  Temperaturerhöhungen,  dunkle  Harnfär¬ 
bung,  Brechneigung  oder  Erbrechen,  unbestimmte  Druck¬ 
schmerzen  in  der  Lebergegend,  aber  noch  keine  Gelbfärbung 
der  Skleren.  Derlei  einzeln  auftretende  Symptome  erlauben 
besonders  bei  nervösen  Personen,  noch  keinen  Schluß  auf 
das  Vorhandensein  der  Gallensteinkrankheit  zu  machen. 
Erst  das  positive  Ergebnis  des  Klopfversuches  kann,  wie 
aus  den  unten  angeführten  Fällen  sich  ergibt,  die  Diagnose 
auf  Cholelithiasis  sichern. 

Es  gibt  eine  Unzahl  von  Schmerzanfällen,  welche  von 
der  Gallensteinkolik  herrühren,  aber  wegen  atypischem  Sym- 
ptomenverlauf  anders  gedeutet  werden.  Die  Gallensteinkolik 
kann  nämlich  ganz  andere  Krankheitszustände  vortäuschen 
und  zwar : 

In  manchen  Fällen  sind  die  Gallensteinkolik-  und 
stenokarditische  Sc h merzen  in  ihren  Anfängen 
nicht  zu  unterscheiden,  besonders  wenn  die  ersteren  ihren 
Sitz  unter  dem  Sternum  haben  oder  gar  mehr  nach  der 
linken  Brusthälfte  auslstrahlen  und  keine  Symptome  von 
seiten  des  Herzens  zu  finden  sind.  Es  gibt  aber  auch  Fälle 
mit  Anomalien  am  Herzen,  bei  welchen  atypische  Anfälle  Von 
Gallensteinkolik  irrtümlich  mit  dem  Herzen  in  Verbindung 
gebracht  werden.  Das  positive  Ergebnis  des  Leberbeklopfens  j 
klärt  erst  den  Sachverhalt  auf. 

Ebenso  ist  es  mit  Enteralgien,  welche  infolge  der; 
Atherose  der  Bauchaorta  oder  der  Mesenterialgefäße  (Dys- 
pragia  intermittens  angiosclerotica  intestinalis  nach  0  r  t-  i 
ner)  oder  mit  den  Fällen  von  gastroenteritis  che  n 
Krisen,  welche  noch  ohne  bemerkbare  tabetische  Sym¬ 
ptome  aaiftreten.  Da  gibt  es  die  größten  diagnostischen  Vex-  | 
legenbeiten,  welche  durch  den  positiven  Leberklopfversuch  : 
entschieden  werden  können. 

Jedem  Praktiker  sind  Fälle,  meist  bei  Frauen,  bekannt,  I 
wo  die  Diagnose  zwischen  Cholelithiasis  und  Ü 1  c  u  s’  r  o  t  u  n- 
dum  jahrelang  schwankt.  Ein  positiver  Ausfall  des  Leber¬ 
klopfversuches  ist  hier  dem  Arzte  sehr  willkommen.  Das-  1 
selbe  gilt  für  nervöse  Kardialgien  bei  Frauen,  worüber  * 
näheres  noch  unten. 

Manchmal  wird  man  eine  C  o  1  i  c  a  a  p  p  e  n  d  i  c  u- 
laris,  welche  atypisch  nach  der  Leber  hin  oder  in  die  | 
Magengegend  irradiert,  durch  den  Klopfversuch  zu  ontschei-  * 
den  haben. 

Endlich  sind  die'  vielen  Fälle  von  Gastro  ent  ero-  j 
und  besonders  Nephroptose  hier  anzuführen,  bei  wel¬ 
chen  die  Anfälle  von  Schmerzen  recht  oft  hervortreten  und 
nicht  selten  ganz  den  Charakter  der  Gallensteinkoliken  an¬ 
nehmen.  Ein  positives  Ergebnis  der  Leberbeklopfung  er¬ 
gibt  aber  in  manchen  Fällen,  daß  nicht  die  Senkung  der 
Organe,  sondern  die  Cholelithiasis  die  Ursache  der  Schmerz¬ 
anfälle  sei. 

W as  das  Beklopfen  d er  unte  r  en  hinteren  1  i n k  e n 
Brustgegen d  anbelangt,  so  habe  ich  auf  dieser  Seite  viel 
seltener  Schmerzempfindungen  hervorrufen  können,  als  auf 
der  rechten.  Falls  sich  links  eine  Schmerzhaftigkeit  zeigte,  , 
rechts  jedoch  nichts  gefunden  wurde-,  auch  keine  Druck¬ 
punkte,  noch  Druckeinpfindlichkeit  der  einzelnen  Schichten 
der  Brustwandung  zu  eruieren  war,  so  habe  ich  das  Schmerz¬ 
gefühl  hier  auf  offenes  U lcus  rotu n d umderhinteron 
Magen  wand  bezogen,  wenn  darauf  Verdacht  war,  Beim 
Geschwür  der  vorderen  Magenwand  habe  ich  beim  Beklopfen  ; 
der  Rückseite  kein  Schmerzgefühl  auslösen  können. 

Fall  I.  K.  M.,  Lehrer,  26  Jahre  alt.  Der  Kranke  bekommt  , 
in  unregelmäßigen  Intervallen  Sodbrennen  und  dabei  „Krämpfe”, 
wenn  er  sich  überess-en  bat;  -die  „Krämpfe“  dauern  entweder 
nur  kurze  Zeit  oder  einige  Stunden,  fangen  in  der  Magengrube  an, 
strahlen  etwas  nach  rechts  aus,  gleichzeitig  wird  es  sauer  im 
Munde,  welchen  Geischmack  der  Kranke  durch  Kauen  von  Kreide 
mildert.  Hastiges  Essen,  besonders  von  Brot,  soll  die  Krämpfe 
hervorrufen.  Der  letzte  Schmerzanfall  vor  zwei  Wochen.  Der 


Nr.  25 


wieder  klinische  Wochenschrift.  iyn. 


899 


Harn  soll  nach  dem  Anfall  dunkel  gewesen  sein.  Kein  Aikohol- 
m  iß  brauch,  keine  Syphilis  durchgemacht. 

I  ,.  tDie  Unters ufc hung  ergibt:  Ziemlich  gute  Ernährung, 
Habitus  paralyticus,  keine  Gelbfärbung,  Sch  merz  re  ü  exe  gestei¬ 
gert,  Pupillenweite  normal,  Pupillenspiel  lebhaft;  weder  vorne 
noch  hinten  schmerzhafte  Druckpunkte,  nur  das  Beklopfen 
[  *~er  hinteren  Leberoberfläche  ruft  „innere  Schmerzhaftigkeit'1 
hervor.  Der  Urin  hell,  albuminfrei.  Die  Diagnose  schwankte 
zwischen  Kardialgie  und  Cholelithiasis.  Der  Klopfversuch  auf 
die  Leber  entschied  für  das  letztere  Leiden. 

Fall  II.  D.  K.,  Baumeister,  54  Jahre  alt.  Seit  zehn  Jahren 
antallsweise  auftretendes  Gefühl  von  „Auseinanderreißen“  unter 
dem  Sternum,  das  nach  allen  Seiten,  besonders  nach  oben  und 
links,  ausstiahlt.  Die  Anfälle  kommen  in  unregelmäßigen  Inter¬ 
vallen  ohne  jede  bekannte  Ursache,  bald  nur  kurz,  bald  einige 
Stunden  dauernd.  Manchmal  endet  der  Anfall  plötzlich  mit  einem 
Gefühl,  als  wenn  sich  etwas  in  der  Brust  abgerissen  hätte; 
niemals  war  Gelbsucht  beobachtet,  aber  der  Urin  wird  nach  den 
Anfällen  als  dunkel  angegeben.  Stuhlgang  regelmäßig.  Der  letzte 
Anfall  vor  drei  Tagen. 

Die  Untersuchung  ergibt:  Gut  ernährter  und  wohl¬ 
gebauter  Mann,  die  Sehnenreflexe  normal,  Pupillenweite  normal, 
kein  Pupillenspiel ;  Puls  66,  normal ;  die  Herztöne,  besonders 
in  der  Aortagegend,  dumpf,  sonst  ist  nichts  A)bnormes  am  Herzen 
zu  finden ,  keine  Druckpunkte,  nur  in  der  Gallenblasengegend 
eine  unbestimmte  Druckempfindlichkeit.  Dagegen  erweist  das 
Rückenbeklopfen  der  Leber  von  der  zehnten  bis  zwölften  Rippe, 
sogar ^  bei  Plessimeterbeklopfen,  empfindliches  Schmerzgefühl. 
Der  Urin  ist  dunkelgelb,  albuminfred.  In  diesem  Fälle  schwankte 
die  Diagnose  zwischen  den  stenokardi tischen  Anfällen  und  chro¬ 
nischer  Gallensteinkolik.  Der  Klopfversuch  und  die  Dunkel¬ 
färbung  des  Harnes  entschied  für  das  Vorhandensein  des  Reiz¬ 
zustandes  des  Ductus  choledochus  durch  Gallenkonkremente. 

FMU  UL  P.  K..  40  Jahre  alt,  verheiratet,  zweimal  geboren. 
Seit  fünf  \\  ochen  ein  Druckgefühl  in  der  Magengegend  nüchtern 
früh,  das  sich  nach  den  Mahlzeiten  verstärkt  und  von  Aufstoßen 
begleitet  wird;  der  Magendruok  tritt  selbst  nach  Genuß  von  Tee 
oder  Kaffee  ein  und  weckt  die  Kranke  in  der  Nacht.  Auch  Karls¬ 
bader  Wasser  soll  den  Magendruck  vergrößern.  Der  Stuhlgang 
normal. 

Die  Untersuchung  ergibt:  Mäßig  ernährt,  blaß,  Pätellur- 
reflex  normal,  Skleren  weiß,  Pupillen  normal,  Ovariengegend 
druckempfindlich;  Druck  und  4 inger-Fingerbeklopfen  der  Magen¬ 
grube'  empfindlich ;  das  Beklopfen  der  beiden  Lumbalgegenden 
negativ;  das  Rückenbeklopfen  der  Leber  verursacht  „inneren 
Schmerz“.  Der  Urin  gelbbraun,  albuminfrei  mit  Uraten  gesättigt. 
Hier  schwankte  die  Diagnose  zwischen  sensitiver  Magenneurose 
und  Cholelithiasis.  Der  Klopfversuch  und  die  Dunkelfärbung  des 
Harnes  führte  zur  richtigen  Diagnose  der  Gallenstein- 
krank  hei  t. 

Fall  IV.  P.  P.,  40  Jahre  alt,  verheiratet  und  mehrmals 
geboren ;  iseit  einigen  Monaten  in  unregelmäßigen  Intervallen  kurz¬ 
dauernde  Schmerzhaftigkeit  in  der  rechten  Rippengegend  ohne 
Temperaturerhöhung,  aber  mit  Dunkelfärbung  des  Harnes.  Die 
letzten  Schmerzen  vor  einer  Woche.  Bei  der  Untersuchung 
ist  nirgends  eine  Abnormität  zu  finden,  selbst  der  Urin  ist  blaß 
und  normal,  keine  schmerzhaften  Druckpunkte,  nur  das  B  e- 
klopfen  der  rechten  Rückengegend  löst  innere  Schmerzempfin- 
dung  hervor,  und  bestätigt  die  Vermutung  einer  inzip  Dented 
Gailenteteinkolik. 

lall  V.  K.  Z.,  54  Jahre  alt;  zwei  Geburten;  klagt  über 
Magendruck,  der  seit  zwei  Jahren  in  mehrwöchigen  Intervallen 
hervortritt,  dabei  keine  Temperaturerhöhung,  noch  Dunkelfärbung 
des  Harnes. 

Die  Untersuchung  der  gut  ernährten  Frau  ergibt  keine 
Abnormitäten ;  der  Harn  normal  gefärbt,  albuminfrei ;  keine 
schmerzhaften  Druckpunkte,  nur  das  Beklopfen  der  Leber  auf 
dem  Rücken  ruft  innere  Schmerzhaftigkeit  hervor.  Dieses  Sym¬ 
ptom  läßt  den  anfalls  weise  auf  tretenden  Magendruck  als  ein  von 
chronischer  Gallensteinkolik  abhängiges  Schmerzgefühl 
erscheinen. 

Wie  die  angeführten  Fälle  belehren,  ist  das  positive 
Ergebnis  des  Leberbeklopfens  ein  erwünschtes  Hilfsmittel  bei 
der  Untersuchung,  das  dem  Arzt  oft  aus  der  Klemme  hilft. 
Leider  tritt  es  nicht  in  jedem  Falle  von  Gallenstein¬ 
kolik  ein,  denn  es  ist  ein  Symptom  der  lokalen  Reizung 
oder  Entzündung  des  Organes.  Dieselben  können  aber  rasch 
vorübergehen,  so  daß  nach  dem  Abklingen  des  Kolikanfalles 
keine  Schmerzempfindung  beim  Beklopfen  mehr  vorhanden 
ist.  Es  können  auch  Konkremente  in  den  Gallengängen  oder 


in  der  Gallenblase  vorhanden  sein  und  doch  keine  Reiz¬ 
erscheinungen  Hervorrufen,  dann  tritt  auch  keine  Schmerz¬ 
empfindung  beim  Beklopfen  der  Leber  auf.  Wann  das  Be¬ 
klopfen  nach  einem  Kolikanfall  ein  negatives  Resultat  er¬ 
gibt,  kann  ich  nicht  sagen.  Ich  habe  abe-r  Fälle  beobachtet, 
in  welchen  noch  nach  zwei  Wochen  nach  einem'  charakteri¬ 
stischen  Gallensteinkolikanfall,  wo  schon  sämtliche  objek¬ 
tiven  und  subjektiven  Symptome  verschwunden  waren,  durch 
das  Beklopfen  der  rechten  Rückengegend  noch  Schmerz¬ 
empfindung  ausgelöst  und  der  durchgemaohte  Kolikanfall 
bestätigt  werden  konnte.  Aus  den  vorhergehenden  Erörte¬ 
rungen  ist  zu  ersehen,  daß  ein  negativer  Befund  beim  Be¬ 
klopfen  der  Leber  nicht  gegen  die  Anwesenheit  der  Gallen¬ 
steine  spricht.  Nur  in  dem  Falle  wäre  der  negative  Befund 
gegen  die  Anwesenheit  der  Gallensteine  zu  verwerten,  wenn 
der  Kranke  über  stärkere  Schmerzen  in  der  Lebergegend 
klagt  und  dieselben  .beim  Beklopfen  der  Leber  weder  hervor¬ 
gerufen,  noch  Verstärkt  werden  können. 

Nicht  jeder  Schmerz,  der  durch  Beklopfen  entsteht,  ist 
als  Leber-,  eventuell  als:  Magenschmerz  zu  deuten.  Man  muß 
sich  bei  der  Beurteilung  zuerst  vergewissern,  ob  wir  nicht 
schmerzhafte  Stellen  an  dem  Brustkasten  beklopfen,  wie 
etwa  schon  vorhandene  Druckpunkte  bei  Ulcus:  rotundum, 
Cholelithiasis,  Hysterie,  Interkostalneuralgie,  ferner  schmerz¬ 
hafte  Stellen  bei  Interkostalrheumatismus,  Periostitis,  Pleu¬ 
ritis,  Lumbago.  Findet  man  neben  der  Wirbelsäule  Druck¬ 
punkte  oder  schmerzhafte  Stellen,  so  sind  dieselben  beim 
Beklopfen  zu  meiden.  Am  seltensten  findet  man  schmerz¬ 
hafte  Stellen  beim  Beklopfen  der  Brustgegend  in  der  mittleren 
Axillarlinie,  daher  ergibt  das  Beklopfen  dieser  Stelle  die 
zuverlässigsten  Resultate. 

Das  Beklopfen  läßt  uns  im  Stiche,  wenn  zwischen  der 
Steinkolik  der  rechten  Niere  und  der  Leber  zu  unter¬ 
scheiden  ist  und  keine  anderen  Symptome  außer  Schmerz¬ 
empfindung  vorhanden  sind.  Die  Schmerzhaftigkeit  beim 
Beklopfen  der  rechten  Lumbalgegend  spricht  meist  für 
Nierenschmerz;  derselbe  kommt  auch  öfters  bei  Gallen¬ 
steinen  vor,  was  aus  der  topographischen  Lage  beider  Or¬ 
gane  zu  erklären  ist.  Man  kann  sich  in  solchen  zweifelhaften 
Fällen  noch  durch  Beklopfen  der  Seitenoberfläche  der  Leber 
helfen.  Denn  die  Schmerzempfindung  beim  Beklopfen  dieser 
Gegend  spricht  mehr  zugunsten  des  Leber-,  als  des  Nieren¬ 
schmerzes. 

Das  Beklopfen  der  Leber  in  der  Rückengegend  gibt  die 
sichersten  Resultate  und  deutet  an,  daß  eine  Reizung  oder 
Entzündung  der  Gallengänge  besteht.  Das  Beklopfen  der 
unteren  rechten  Seitengegend  bringt  Schmerzempfindung  bei 
Reizzuständen  sowohl  der  Gallengänge,  als  auch  der  Gallen¬ 
blase  hervor.  Das  Beklopfen  der  untersten  vorderen  rechten 
Rippengegend  bringt  selten  Schmerzempfindung  hervor,  am 
meisten  noch  in  der  Mamillarlinie  und  dann  ist  dieselbe 
auf  die  Gallenblase  zu  beziehen.  Das  starke  Beklopfen  des 
vorderen  rechten  Leberrandes  auf  stark  eingedrücktem 
kleinen  Plessimeter  (auch  das  Finger-Fingerbeklopfen)  kann 
entscheidende  Resultate  geben.  Entweder  ist  der  ganze 
Leberrand  beim  Beklopfen  schmerzhaft  oder  nur  eine  um¬ 
schriebene  Stelle,  welche  zwischen  Parasternal-  und  Ma¬ 
millarlinie  bis  zur  Nabelhöhe  reichen  kann,  und  diese  Stelle 
entspricht  der  gereizten  oder  entzündeten  Gallenblase,  wenn 
dieselbe  auch  nicht  palpabel  wäre. 

Man  muß  aber  bei  der  Schmerzhaftigkeit  dieser  Gegend 
beim  Plessimeterbeklopfen  an  die  Möglichkeit  des  Pylorus- 
geschwüres,  gerade  wo  man  die  Gallenblase  vermutet, 
denken.  Ebenso  muß  man  beim  Beklopfen  der  Herzgrube 
das  Vorhandensein  des  runden  Magengeschwüres  an  der 
kleinen  Kurvatur  berücksichtigen.  Zwar  ist  die  kleine  Kur¬ 
vatur  von  der  Leber  überlagert,  aber  die  starke  Erschütterung 
beim  Beklopfen  der  Herzgrube  pflanzt  sich  durch  das  ge¬ 
sunde  Leberparenchym  auf  die  Magenwand  fort  und  bringt 
in  derselben  im  Falle  von  Ulcus  rotundum  Schmerzem!pfin- 
dung  hervor.  Man  kann  daher  irrtümlich  annehmen,  daß 
nicht  der  Magen,  sondern  die  Leber  schmerzhaft  sei.  Man 
kann  die  gefundene  Schmerzhaftigkeit  in  dieser  Gegend  nur 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


daun  auf  die  Leber  beziehen,  wenn  auch  irgendwo  anders 
der  Leberrand  eine  Schmerzhaftigkeit  aufweisl  und  Kardinal- 
Symptome  des  Magengeschwüres  fehlen. 

Ich  habe,  wie  oben  bereits  erwähnt,  das  Beklopfen 
der  Leber  und  des  Magens  nur  in  Fällen,  welche  der  Chole¬ 
lithiasis,  eventuell  des  Ulcus  rotundum  verdächtig  waren, 
angewendet.  Wie  sich  die  Verhältnisse  bei  anderen  Erkran¬ 
kungen  dieser  Organe  gestalten,  kann  ich  noch  nicht  be¬ 
richten.  Ich  muß  aber  bemerken,  daß-  das  Beklopfen  der 
Leber  ein  sehr  einfaches  und  bei  der  Untersuchung  der 
Kranken  aut  Gallensteine  wichtiges  Hilfsmittel  darbietet,  da 
es  in  manchen,  nicht  allem,  Fällen  eine  erwünschte  Ent¬ 
scheidung  der  Diagnose  bringen  kann. 

Das  B  e k  1  o  p  f  e  n  d  e  r  N  i  e  r  e  n  wird  in  derselben  Art 
und  Lage  des  Kranken  ausgeführt,  wie  das  Beklopfen  der 
Lückenfläche  der  Leber.  Man  beklopft  dabei  vorzüglich  die 
beiden  Lumbalgegenden.  Die  Bedeutung  dieser  Unter¬ 
suchungsart  illustriert  folgende  Krankengeschichte: 

Fall  Vf.  M.  R,  41  Jahre  alt.  Keine  Geburten,  noch  Krank¬ 
heiten  durchgemacht;  seit  acht  Jahren  Schmerzen  in  der  unteren 
linken  ßmslhällte,  an  der  Seite  und  hinten.  Die  Schmerzen  wurden 
mit  der  Zeit  intensiver  und  strahlten  in  die  unteren  linken  Rippen¬ 
gegenden  nach  vorne  und  hinten,  bis  sie  endlich  den  Charakter  von 
Schmerzanfällen  annahmen,  die  sich  in  Intervallen  von  mehreren 
Tagen  wiederholten.  Während  der  Anfälle  erbricht  die  Kranke 
stark  sauer  schmeckende  Massen,  ln  der*  letzten  Zeit  sind  die 
Schmerzen  so  stark,  daß  sie  nur  durch  Morphiumiiijektionen, 
gestillt  werden  können.  Die  Schmerzen  werden  auch  hervor¬ 
gerufen  durch  Erschütterung  beim  Wagenfähren.  Der  Urin  soll 
vor  und  nach  den  Schmerzanfällen  hell  und  blaß  sein.  Die  Kranke 
wurde  in  verschiedenem  Sinne  von  den  Aerzten  behandelt,  als 
magen-,  dann-,  nerven-  oder  nierenleidend.  Der  letzte  Schmerz¬ 
anfall  vor  zwei  Wochen  dauerte  24  Stunden  lang. 

Die  Untersuchung  ergab:  Gut  ernährt  und  gebaut;  das 
Verhalten  der  Pupillen  normal,  die  Sehneureiiexe  ein  wenig  ge¬ 
steigert.;  Milz  und  Nierein  nicht  palpabel,  im  Magen  schwaches 
Plätschergeräusch;  der  Dickdarm  als  glatter  elastischer  Strang  von 
geringer  Empfindlichkeit  durchfühlbar;  sonst  sind  am  Abdomen 
weder  schmerzhafte  Punkte  noch  Empfindlichkeit  zu  finden.  Sen¬ 
sitive  oder  motorische  Abnormitäten  sind  an  den  unteren  Ex¬ 
tremitäten  nicht  vorhanden;  die  Rückenwirbel  nicht  schmerzhaft 
bloß  der  letzte  linke  Interkostatraum  druckempfindlich,  die  Haut 
darüber  nicht  ischmerzhait ;  das  Beklopfen  dieses  Interkostal¬ 
raumes  und  der  linken  Lumbalgegend  auf  dem  Plessimeter  ruft 
Schmerzempfindung  hervor,  rechts  aber  keine.  Das  Beklopfen 
mit  der  Hand  verursacht  „inneren  Schmerz“  nur  zwischen  dem 
linken  11.  bis  12  Rippenraume  und  in  der  linken  Lumbalgegend, 
rechts  ist  das  Ergebnis  des  Beklopfen«  negativ. 

Die  Anamnese,  das  U ntersu chungse rgobiys  und  das  Nieren- 
beklopfen  lassen  Magen  -  Darm  -  Spinalerkrankung  sowie  Neubil¬ 
dung  ausschließen  und. Nierenleiden,  trotz  Mangel  einer  Harn¬ 
veränderung,  annehmen.  Da  liier  vor  der  Nierencrkrtnkung 
keine  Nephroptose,  Tuberkulose,  Neubildung,  nep britischer  noch 
paranephritischer  Abszeß,  noch  Pyelitis  vorliegt,  so  muß  man  den 
Fall  als  Nierenkolik  betrachten,  die  höchstwahrscheinlich 
durch  Nierensteine  hervorge rufen  wird.  Die  Diagnose  ist  in  diesem 
Falle -ziemlich  sicher,  dagegen  ist  sie  in  Fällen,  wo  das  Beklopfen 
der  rechten  Lumbalgegend  positives  Resultat  ergibt,  unsicher,  denn 
auch  die  Leberkolik  gibt  oft  Schmerzhaftigkeit  nicht  nur  auf 
Beklopfen  der  11.  bis  12.  Rippe,  sondern  auch  der  rechten  Lumbal¬ 
gegend. 

Der  V  i  b  r  a  t  i  o  n  s  d  r  u  c  k. 

Im  Zusammenhang  mit  dem  Auslösen  der  Schmerz- 
empfindung  beim  Beklopfen  der  Leber,  besonders  in  dessen 
Bauchanteil,  steht  das  Differenzieren  der  organischen  und 
der  sogenannten  nervösen  Schmerzen  in  der  oberen  Bauch¬ 
gegend.  Ich  will  an  dieser  Stelle  nur  über  Sclnnerzempfin- 
dungen  in  der  Herzgrube  und  in  der  Gallenblasengegend 
Näheres  ausführen.  Die  Druckschmerzhaftigkeit  wird  an 
diesen  Stellen  für  die  Leber  durch  den  Plexus  hepaticus 
und  für  den  Magen  durch  den  Plexus  coronarius  superior 
und  Plexus  gastricus  anterior  vermittelt.  Drückt  man  an 
diesen  beiden  Stellen  mit  der  Fingerkuppe  an  und  bringt 
eine  stärkere  Schmerzempfindung  hervor,  so  wird,  wenn 
kein  Ausnahmefall  vorliegt,  auf  dreierlei  Krankheitszustände 
gedacht:  nervöser  Schmerz  (Kardialgie,  Pyloruskrampf), 
Ulcus  rolundum  (Erosion),  eventuell  beginnende  Krebswuche- 


rung  an  der  kleinen  Kurvatur  oder  Pylorus,  und  endlich 
Cholelithiasis.  Fehlen  die  Kardinalsymptome'  eines  Magen¬ 
geschwürs  oder  der  Cholelithiasis  und  gibt  auch  das  Be¬ 
klopfen  der  Leber  kein  positives  Resultat,  so  ist  die 
Entscheidung  zwischen  den  drei  Krankheitszuständen  recht 
schwierig,  inan  neigt  sich  aber  zur  Annahme  eines  nervösen 
Druckschmerzes.  Man  sucht  diese  Annahme  durch  Ana¬ 
logieschlüsse  u.  zw.  durch  Auffinden  anderer  nervöser  Sym¬ 
ptome  im  Organismus,  zu  stützen:  Globus,  Singultus,  D  ermo  - 
graphic,  Tachykardie,  Tachypnoe,  Rachialgie,  Lokalasphyxie 
der  Finger  und  Zehen,  gesteigerte  Sehnenreflexe  usw.  Vor 
allem  ist  aber  das  schon  längst  bekannte  Verhalten  der 
Pupillen,  das  als  diagnostisches  Hilfsmittel  zu  wenig  ge¬ 
würdigt  wird,  zu  berücksichtigen.  Bei  vielen  sogenannten 
nervösen,  mit  irritativer  Nervosität  behafteten  Personen  be¬ 
obachtet  man  eine  große  weite  Pupille;  entweder  sind  beide 
Pupillen  gleich  weit  erweitert  oder  ihr  Durchmesser  isl 
verschieden.  Diese  Verschiedenheit  gleicht  sich  oft  während 
der  Krankenuntersuchung  aus  oder  wechselt  sogar  — 
„springende  Pupille“,  „springende  Mydria¬ 
sis“.  Auf  das  Licht  reagieren  solch  erweiterte  Pupillen 
sehr  lebhaft  und  intensiv;  man  bekommt  ein  rasch  wech¬ 
selndes  reflektorisches  S  p  i  e  1  der  Pupillen  beim  Ver¬ 
dunkeln  des  einen  Auges  durch  rasche  Handbewegungen. 
Auch  ohne  Lichtänderung  bemerkt  man  rasch  aufeinander 
folgende  Oszillationen  der  Pupillen,  die  „Pupillen¬ 
unruhe“,  bestehen.  Alle  die  Pupillenerscheinungen  be¬ 
kunden  die  leichte  Erregbarkeit  des  (vegetativen)  Nerven- 
systems  und  die  Veränderlichkeit  des  psychischen  Gleich¬ 
gewichtsuzstandes  (Hirnrinde).  Ein  aufmerksam  beobach¬ 
tender  Arzt  liest,  einem  schon  beim  Betreten  des  Ordinations¬ 
zimmers  aus  den  Pupillen  den  Charakter  seines  Leidens 
heraus. 

1st  der  Untersuchte  nicht  allgemein  nervös,  sondern 
leidet  an  einer  organischen  Erkrankung,  Cholelithiasis  oder 
Magengeschwür,  so  ist  kein  Spiel  der  Pupillen  und  keine 
Pupillenerweiterung  zu  beobachten;  erst  beim  starken  Druck 
aut  eine  schmerzhafte  Stelle  erweitern  sich  die  Pupillen, 
manchmal  beträchtlich,  durch  welches  Symptom  man  den 
wirklichen  vom  simulierten  Schmerz  oft  unterscheiden  kann 
(Löwy).  ■  i 

Man  soll  sich  auch  der  Empfehlung  L  e  u  b  e  s  bedienen, 
daß  der  nervöse  Schmerz  unter  Anwendung  des  galvanischen 
Stromes  schwindet,  der  organische  (Ulkusschmerz)  unver¬ 
ändert  bleibt. 

Trotz  aller  dieser  Maßnahmen  bleiben  Fälle  übrig,  in 
welchen  man  im  Zweifel  ist,  ob  der  Druckschmerz  nervöser 
oder  organischer  Natur  ist.  Es  wird  die  Diagnose  der  Krank¬ 
heit.  der  weiteren  Beobachtung  Vorbehalten,  bis  ein  anderes 
für  die  Erkennung  charakteristisches  Symptom  auftritt. 

Es  ist  mir  bei  meinen  Krankenuntersuchungen  öfters 
aufgefallen,  daß  die  Sclmierzpunkte  beim  Druck  sich  ver¬ 
schieden  verhalten.  Man  beobachtet  z.  B.,  daß  bei  nervösen 
Personen  durch  länger  ausgeübten  Druck  auf  den  empfind¬ 
lichen  Druckpunkt  der  Schmerz  schwächer  wird  oder  gar 
schwindet;  während  an  organischen  Schmerzpunkten,  der 
Schmerz  durch  Druck  gesteigert  wird.  Das  Schwinden  der 
nervösen  Schmerzen  beim  Druck  tritt  meist  auf,  wenn  man 
den  Druck  'mit  Vibration  kombiniert.  Dies  wird  in 
der  Weise  ausgeführt,  daß  man  den  betreffenden  Schmerz¬ 
punkt.  mit  der  Kuppe  des  Zeigefingers  in  die  Bauchhöhle 
eindrückt  und  zugleich  Vibrationen  mit  der  Hand  ausführt, 
ohne  den  Finger  von  den  Bauchdecken  zu  entfernen.  Der 
Untersuchte  nimmt  dabei  horizontale  Lage  ein.  Nach  einem 
eine  Viertel-  bis  eine  Minute  dauernden,  richtig  ausgeführten 
Vibrationsdruck  geschieht  es  in  den  meisten  Fällen,  daß  der 
Schmerz  schwächer  wird  und  endlich  geschwunden  ist.  Bei 
Wiederholung  der  Probe  kann  öfters  der  Kranke  nicht  einmal 
die  Stelle  angeben,  wo  der  Schmerzpunkt  war.  Haben  die 
Schmerzpunkte  eine  anatomische  Grundlage  (Ulkus,  Chole¬ 
lithiasis),  so  schwindet  der  Schmerz  unter  dem  Vibrations¬ 
druck  nicht,  sondern  -wird  oft  stärker,  so  daß  der  Kranke 
vor  der  Wiederholung  des  Versuches  sich  sträubt. 


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Indem  ich  gleichzeitig  andere  differentialdiagnostische 
Symptome  in  Erwägung  gezogen  hatte,  habe  ich  öfters  das 
Ergebnis  des  Vibrati onsdruckes  für  die  Differentialdiagnose 
der  Kardialgie  einerseits  und  des  Magengeschwüres  und  der 
Cholelithiasis  anderseits  herangezogen.  Ich  muß  aber  be- 
merken,  daß  für  diese  Probe  sich  nur  aufmerksame  und 
intelligente  Patienten  eignen.  Folgende,  kurz  angeführte 
Fälle  mögen  es  näher  erläutern: 

f  all  VII.  L.  K.,  Kleriker,  24  Jahre  alt,  seit  zwei  Jahren 
krank,  soll  sich  angeblich  durch  die  schlechte  Kost  in  der 
|  Seminarküche  den  Magen  verdorben  haben;  fühlt  einen  Magen- 
diuck,  der  durh  Sich-aufrichten  verstärkt  wird;  nach  Genuß  saurer 
oder  scharfer  Speisen  bekommt  er  Mägenschmerzeii ;  nach  den  Mahl¬ 
zeiten  oft  Sodbrennen,  Nausea  und  Brechreiz,  bricht  aber  nicht, 
Stuhlgang  verstopft.  Außerdem  klagt  der  Kranke  über  Kopf¬ 
schmerzen,  Schlaflosigkeit,  Augemflimmern,  Kältegefühl;  studiert 
viel. 

Die  Untersuchung  ergibt:  Gute  Ernährung  und  starken 
Körperbau,  Dermographie,  beide  Pupillen  sehr  weit,  lebhaftes  Pu- 
i  pdlenspiel,  Sehnenreflexe  gesteigert,  Puls  SS,  das  Beklopfen  der 
Leber  überall  mit  negativem  Resultat,  in  der  Magengrube  um¬ 
schriebener  Druckschmerz  beim  Beklopfen  und  Drücken;  bei  Aus¬ 
führung  des  \  i  b  r  a  t  i  o  n  s  d  r  u  c  k  e  s  s  c  h  win  d  e  t  d  e  r  S  c  h  m  e  r  z, 
so  daß  der  Kranke  bei  Wiederholung  des  Versuches  nicht  mehr 
angeben  kann,  wo  er  das  Schmerzgefühl  hat.  Harn  trübe  von 
Phosphaten,  alkalisch,  albuminfrei. 

Die  stark  hervortreteuden  Mägenbeschwerden,  der  um- 
:  schrie  bene  Druckschmerz  ließen  das  Vorhandensein  eines  Magenge- 
'  schwüles  vermuten,  jedoch  das  Schwinden  des  Druckschmerzes 
unter  dem  Vibrationsdruck  lenkten  die  Aufmerksamkeit  auf  den 
nervösen  Charakters  des  Schmerzes,  was  durch  das  Verhalten 
der  Pupillen  und  Anwesenheit  der  Phosphate  im  Urin  stark  ae- 
stützt  wurde,  daher  die  Diagnose:  Neurasthenia  visceralis,  car- 
dialgiae,  pyrosis,  phosphaturia,  angenommen  wurde. 

Fall  VIII.  K.  F.,  35  Jahre  alt.,  verheiratet,  fühlt  seit  längerer 
Zeit  einen  Druck  „wie  einen  Stein“  im  Magen,  der  nach  den  Mahl¬ 
zeiten  stärker  wird;,  kein  Sodbrennen,  kein  Brechen,  dreimal 
ausgeführtes  Magenspülen  war  ohne  Erfolg,  Stuhlgang  täglich, 
Urinabgabe  reichlich,  der  Urin  blaß. 

Die  Untersuchung  ergibt:  Mäßig  ernährt,  halbmond¬ 
förmiger  Raum  verringert,  Magenplätschern  nach  dem1  Mittagessen 
in  geringer  Ausdehnung  und  über  der  Nabelhöhe,  keine  Druck¬ 
punkte;  das  Beklopfen  der  Leber  nicht  schmerzhaft..  Druck  und 
Erschütterung  auf  die  Magengegend  schmerzempiindlich,  der 
Druckschmerz  schwindet  na  c.h  läng  e  re  m  A  u  s  f  ü  hren  des 
Vibrationsdruckes.  Das  Pupillenspiel  sehr  lebhaft.  Die  Dia¬ 
gnose  schwankte  zwischen  Ulcus  rotundum  curvaturae  minoris 
lind  nervöser  Dyspepsie.  Das  Verhalten  gegen  den  Vibra¬ 
tionsdruck  entschied  für  die  letztere  Annahme. 

Fall  IX.  R.  H.,  Kaufmann,  33  Jahre  alt,  bisher  gesund, 
seit  drei  Monaten  Sodbrennen,  Brennen  im  Magen,  vermehrter 
Durst;  klagt  über  Magenschmerzen,  welche  nüchtern  nicht  vor¬ 
handen,  dagegen  am  Tag  nach  dein  Mahlzeiten  den  Kranken  plagen, 
und  in  der  Nacht  den  Schlaf  stören;  uriniert  sehr  oft,  der  Harn 
blaß,  der  Stuhlgang  verstopft. 

Die  Untersuchung  ergibt:  Körperbau  gut,  Ernährung 
mäßig,  Sehnenreflexe  normal,  Verhalten  der  Pupillen  normal, 
die  Zunge  belegt.  In  der  Magengrube  eine  umschriebene 
Druckempfindlichkeit  von  der  Größe  eines  Kronenstückes;  die 
Empfindlichkeit  steigert  sich  beim  Beklopfen  dieser  Stelle?,  bei 
Ausübung  des  Vibrations  druckes  wird  diese  Stelle 
g  schmerzhaft  und  der  Schmerz  schwindet  nicht,  sondern  wird  hei 
Wiederholung  des  Versuches  stärker.  Auf  der  linken  Seite  der 
Wirbelsäule  auf  der  Höhe  der  zwölften  Rippe  schmerzhafter 
Druckpunkt;  das  Beklopfen  der  Leber  negativ.  Dagegen  das  Be¬ 
klopfen  der  linken  Rückenseite  von  der  zehnten  Rippe 
bis  nach  unten  löst  inneren  Schmerz  aus.  Der  Urin  blaß,  normal. 

Die  Magenuntersuchung  ergibt  nüchtern:  20cm3  grünlicher 
Flüssigkeit  von  der  Azidität  16  und  ohne  Speisereste,  aspiriert. 

I  Nach  dem  Probefrühstück  beträgt  die  Azidität  72,  von  IIC1  50. 
Weder  im  Mageninhalt  noch  im  Stuhl  okkultes  Blut.  Es  wurde 
bei  der  Differentialdiagnose  Gallensteinkolik  und  Magenneurose 
ausgeschlossen  und  das  Leiden  als  Ulcus  ventriculi  ange- 
.  nommen  u.  zw.  sowohl  auf  Grund  des  umschriebenen  Schmerzes 
in  der  Magengrube  und  des  Druckpunktes  neben  der  Wirbelsäule 
als  auch  auf  Grund  des  positiven  Ergebnisses  der  Beklopfung 
der  linken  Rückenseite  sowie  des  Vibrationsdruckes  auf  den 
Schmerzpunkt  in  der  Magengrube,  wenn  auch  kein  okkultes  BiuL 
im  Mageninhalte  und  im  Stuhl  zu  konstatieren  war. 


Aus  der  k.  k.  dermatolog.  Universitätsklinik  in  Prag. 

(Vorstand:  Prof.  Dr.  Karl  Kreibich.) 

Ueber  Prostatasekretion. 

Von  Dr.  Richard  Fiscliel,  Bad  Hall  und  Prof.  Karl  Kreibich. 

I.  Untersuchung  des  Prostata  sekretes. 

Exprirniert  man  bei  einem  geischleeihtsreifen  prostata¬ 
gesunden  Individuum  die  Vorsteherdrüse,  so  findet  man 
regelmäßig  bei  der  Untersuchung  im  hängenden  Tropfen 
mit  Außerachtlassung  der  zelligen  Elemente  folgende  Typen 
von  Gebilden  niehlzeiliger  Natur  (Björling): 

1.  Durch  ihren  scharfen  doppelten  Kontur  und  leuch¬ 
tenden  Glanz  auffallende  Tropfen,  die  den  Eindruck  von 
Fettsubstanzen  machen,  teils  einzeln,  teils  agglomeriert, 
manchmal  von  einer  fein  granulierten  Hülle  umgeben  oder 
durch  sie  zusammengehalten. 

2.  Rundliche  oder  ovale  Gebilde,  mit  unebener,  rauher 
Oberfläche. 

3.  Helle,  durchscheinende,  schwach  lichtbrechende,  ein¬ 
fach  konferierte  Gebilde,  tropfenartig,  die  alle  Uebergänge 
vom  glasigen  Aussehen  bis  zum  satten  Weiß  zeigen. 

Die  Größe  wechselt  von  ca.  1  ß  bis  zur  ein-  und  ein¬ 
halbfachen  Größe  eines'  roten  Blutkörperchens,  die  Be¬ 
ziehungen  der  Mengenverhältnisse  untereinander  zeigt  eben¬ 
falls  eine  große  Variabilität. 

Die  geschichteten  Körper  (Corpora  amylacea)  erfahren 
als  inkonstante  Beimengung  zum  Prostatasekret  keine  Be¬ 
rücksichtigung. 

Setzt  man  nun  einem  Sekrettröpfchen  eine  kleine  Menge 
alkoholischer  Sudan  Hl  -  Lösung  zu  und  verreibt  dann  ein 
Stäubchen  Brillantkresylblau  und  untersucht  supravital  im 
hängenden  Tropfen  (B  j  ö  r  1  i  n  g),  so  sieht  man : 

Die  unter  1 .  genannten  Gebilde  rosa,  orange,  die  unter 
2.  genannten  Gebilde  rosa,  rotviolett  und  metachromatisch  rot 
gefärbt,  die  unter  3.  genannten  Gebilde  bleiben  ungefärbt 
oder  zeigen  nur  einen  violetten  Hauch. 

Es  finden  also  die  morphologischen  Differenzen  durch 
die  Farbstoffaffinitäten  der  Körperchen  eine  gleichsinnige 
Differenzierung. 

Die  verdienstvollen  .  Untersuchungen  Björlings 
haben  entgegen  den  bisher  ohne  Widerspruch  überlieferten 
und  schon  fest  eingewurzelten  Anschauungen  festgestellt : 

1.  Die  Prostata  enthält  nicht  bloß  eine  einzige  Art  von 
Körnern  (Lezithinkörnern,  Posner,  Für  b  ringer). 

2.  Die  Prostatakörner  bestehen  nicht  aus  Lezithin. 

W  enn  P  o  sner  und  F  ü  r  b  r  i  n  g  e  r  die  Richtigkeit 
des  ersten  Satzes  zageben  müssen,  so  wenden  sie  sich  auf 
Grund  der  Ueberprüfung  von  Björlings  Resultaten  gegen 
seine  zweite  Behauptung. 

B  j  ö  r  1  i  n  g  untersucht  nur  in  Leukozyten  eingeschlos¬ 
sene,  sich  stark  brechende  Körperchen  auf  die  Lösungs¬ 
verhältnisse  im  Azeton  und  70°/oigen  Alkohol.  Die  im  nor¬ 
malen  .Prostatasekrete  vorkommenden  einzelnen,  frei  lie¬ 
genden  Kugeln  und  Agglomerate  werden  den  chemischen 
Reaktionen  nicht  unterworfen,  wegen  Spärlichkeit  ihres  Vor¬ 
kommens  und  der  dadurch  erschwerten  vergleichenden 
Untersuchung  (S.  12  bis  14).  . 

Posner  konnte  nun  ,an  den  stark  lichtbrechenden 
freien  Körperchen,  als  auch  an  Körnchenkugeln  vom  Pro¬ 
statasafte  vollständig  genitalges'under  Individuen  Doppel¬ 
brechung  konstatieren  und  so  im  Sinne  von  K  a  i  s  e  r  1  i  n  g 
und  0  r  g  1  e  r  ihren  Lipoidcharakter  feststellen. 

Er  versteht  unter  Lipoidsubstanzen  Stickstoff-  oder 
phosphorhaltige  fettähnliche  Verbindungen,  die  sich  von 
den  eigentlichen  Fetten  (Triglyzeriden)  durch  ihre  chemische 
Konstruktion  und  ihre  optischen  Eigenschaften  unterschei¬ 
den,  während  sie  in  vielen  Löslichkeits-  und  Färbungs¬ 
verhältnissen  mit  ihnen  mehr  oder  weniger  vollkommen 
übereinstimmen. 

Unsere  eigenen  Untersuchungen  ergaben,  daß  im  Pro- 
statasekrele  eines  älteren  Mannes  unzweifelhaft  bei  ge¬ 
kreuzten  Nikols  hell  leuchtende,  mit  Sudan  sich  rot  für- 


902 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  25 


bende  Kugeln  vorhanden  sind,  daß  es  also  sudanophile  dop- 
pelbrecheude  Kugeln  gibt,  die  bei  gewöhnlicher  Beleuch¬ 
tung  vollkommen  den  Eindruck  normaler  Fettkügelchen 
machen,  so  daß  die  von  Björling  angewendeten  chemi¬ 
schen  Lösungsmethoden  der  optischen  Untersuchung  nach¬ 
stehen. 

■>  Auch  Posner  fällt  es  auf,  daß  bei  morphologisch 
gleicher  Struktur  Differenzen  in  der  Doppelbrechung  be¬ 
ständen,  besonders  an  den  Lipoidzylindern.  Im  Hellfelde 
sieht  man  im  Zylinder  Kugeln  und  Tropfen  von  anschei¬ 
nend  ganz  gleichen  Lichtbrechungsverhältnissen,  bei  ge¬ 
kreuzten  Nikols  leuchten  nur  einige,  namentlich  die  größeren 
auf,  während  ein  Teil  verschwindet.  Aus  dem  negativen 
Befunde  könne  man  nicht  ohne  weiteres  schließen,  daß 
ein  solches  Körnchen  nicht  lipoider  Natur  sei.  Anscheinend 
ist  eine  gewisse  Größe,  auch  eine  gewisse  Konzentration 
der  Lipoidsubstanz,  als  eine  Vorbedingung  für  die  optische 
Reaktion  anzusehen. 

Aus  diesen  Beobachtungen  ergibt  es  sich,  wie  schwierig 
es  für  den  Praktiker  ist,  bestimmte  Angaben  über  Lipoid¬ 
oder  Fettgehalt  im  Prostatasekret  zu  machen.  Wir  schlagen 
daher  vorläufig  für  diese  Körnchenform  die  Bezeichnung 
sudanophile  Korpuskula  vor.  Der  Ausdruck  Körner, 
Granula,  Granulationen  ( ! )  möge  entfallen,  da  anatomisch 
unter  Granula  viel  kleinere  Gebilde,  unter  Granulationen, 
aber  Gefäßknospungen  verstanden  werden. 

Korpuskula  anstatt  Corpora  sei  zur  Scheidung  yon 
den  Corpora  amylacea  gebraucht,  um  Verwechslung  der 
Begriffe  durch  Namensgleichheit  zu  steuern. 

Bezüglich  der  sub  2.  angeführten  Körperchen  gibt 
Posner  in  (seiner  letzten  Mitteilung  zu,  daß  sie  nicht 
lipoider,  sondern  albuminöser  Natur  sind,  hält  aber  die 
von  Björling  angegebenen  mikrochemischen  und  färbe¬ 
rischen  Reaktionen  nicht  für  eindeutig  und  möchte  in 
dieser  Beziehung  weitere  Untersuchungen  abwarten. 

Björling  bezeichnet  die  in  Rede  stehenden  Körper¬ 
chen  als  „granulierte“,  da  sie  nach  seinen  Reobachtungen, 
vom  Granulaplasma  der  Leukozyten  abstammen  sollen 
(S.  18). 

Es  ergeben  unsere  eigenen  Beobachtungen,  daß  hin¬ 
sichtlich  der  Form  Granula,  wie  wir  sie  oft  selbst  an  ge¬ 
quollenen  Leukozyten  noch  zu  unterscheiden  .vermögen,  nie¬ 
mals  zur  Anschauung  kamen.  Diesem  Umstand,  der  auch 
Björling  bei  seiner  histogenetischen  Erklärung  Schwierig¬ 
keiten  bereitet,  sucht  er  dadurch  die  Kraft  eines  Einwands 
zu  nehmen,  daß  er  das  Protoplasma  durch  Veränderungen 
oder  Mazeration  degenerieren  läßt,  wodurch  die  Granulie¬ 
rung  verschwindet.  Dann  hat  aber  nach  unserer  Meinung 
Björling  nicht  mehr  die  Berechtigung,  von  Granulierung 
zu  sprechen. 

Die  Oberfläche  der  fraglichen  Körperchen  scheint  un¬ 
eben,  rauh,  chagräniert;  doch  gibt  es  auch  Gebilde  mit 
ganz  glatter  Oberfläche,  die  sich  mit  basischen  Anilin¬ 
farben  färben.  Solcherweise  bereitet  die  Differentialdiagnose 
in  ungefärbtem  Zustande,  dem  Typus  3  gegenüber,  oft 
Schwierigkeiten. 

Wie  wir  aber  später  ersehen  werden,  sind  auch  ihrer 
Entstehung  nach  diese  glatten  basophilen  Körperchen  dem 
Typus  2  zuzurechnen. 

Wir  glauben  daher  nach  unseren  Untersuchungen,  daß 
nicht  die  rein  morphologische  Betrachtung  für  die  Zuge¬ 
hörigkeit  zu  dieser  Gruppe  2  maßgebend  ist,  sondern  ihre 
Affinität  zu  Farbstoffen  und  bezeichnen  diese  Körperchen 
als  philochrome,  da  sie  nicht  nur  basische,  sondern 
auch  saure  Farbstoffe  anzunehmen  imstande  sind. 

Bei  der  dritten  Gruppe,  durchsichtige  Körperchen 
mit  blassen,  zarten  Konturen,  zeigt  die  Form  oft  zahlreiche 
Schwankungen,  bald  oval,  rund,  bald  Bim-,  Biskuit-  und 
Hantelform,  in  mannigfachen  Uebergängen.  Diese  Gestalt¬ 
veränderungen  (äußere  Einflüsse,  Druck)  deuten  auf  ihren 
Charakter  als  Sekrettropfen  hin. 


Eine  Färbung  durch  basische  oder  saure  Färben  findet 
in  ihren  typischen  Formen  nicht  statt. 

Björling  hat  nun  in  der  Annahme  ihrer  Abkunft 
vom  Hyaloplasma  des  Leukozytenleibes  diese  Gebilde  hya- 
1  i  n  bezeichnet.  Es  haben  unsere  Untersuchungen  ergeben, 
daß  hier  eine  irrtümliche  Deutung  seiner  interessanten  Beob¬ 
achtungen  vorliegt.  Aber  auch  abgesehen  von  diesem  ur¬ 
sächlichen  Standpunkt  können  wir  aus  sprachlichen  Gründen 
diesen  Gebilden  die  von  Björling  gewählte  Bezeichnung 
nicht  zubilligen,  da  hyalin  ein  für  eine  beikannte  patho¬ 
logische  Degenerationsform  reservierter  Ausdruck  ist. 

So  möchten  wir  diese  Sekretgebilde,  entsprechend  ihrem 
Verhalten  zu  Farbstof/en,  aphilochrom  benennen,  so 
daß  wir  folgende  Haupttypen  nichtzeiliger  Elemente  im  Pro¬ 
statasekret  unterscheiden : 

1.  Sudanophile  (Lipoide  und  Fette  umfassend,  mit 
Fettfarbstoffen,  als  deren  Repräsentanten  wir  das  Sudan  III 
anführen,  sich  färbend.  Die  Fettprostatakörner,  freie  Fett¬ 
körnchen  B  j  ö  r  1  i  n  g  s.) 

2.  P  h  i  1  o  c  h  r  o  m  e.  Färben  sich  mit  basischen  und 
sauren  Farbstoffen  im  hängenden  Tropfen. 

3.  Aphilochrom  e.  Nehmen  Farbstoffe  nicht  an, 
höchstens  bloß  eine  schwache  Tönung.  Die  hyalinen  Pro¬ 
statakörner  B  j  ö  r  1  i  n  g  s. 

Außer  diesen  drei  Grundformen  führt  Björling  noch 
vier  Uebergangstypen  an: 

4.  hyaline  -  granulierte, 

5.  granulierte  mit  Fettkörnchen, 

6.  hyaline  mit  Fettkörnchen, 

7.  hyaline  -  granulierte  mit  Fettkörnchen  und 

8.  formlose  (Zelldetritus?). 

Auf  die  hyalinen-granulierten  sei  hier  noch  näher  ein¬ 
gegangen  und  bezüglich  der  Form  5  bis  7  auf  den  fol¬ 
genden  Abschnitt  verwiesen.  Nach  Björling  geben  sie 
mit  Brillant  -  Kresylblau  besonders  charakteristische  Bilder. 
Sie  erscheinen  als  ungefärbte  Kugeln,  an  denen  mehrere 
stark  blau  gefärbte  Körnchen  sitzen :  Oft  sind  diese  Körnchen 
in  einer  baumzweigähnlichen  Zeichnung  angeordnet,  welche 
zuweilen  halbmondförmig  auf  der  Kugel  sitzt  usw.  (S.  29 
und  30). 

Unterzieht  man  diese  hyalinen,  granulierten  Körper¬ 
chen  einer  genauen  Beobachtung  auf  deren  Entstehungs¬ 
modus  hin,  so  sieht  man,  daß  die  intensiv  blau  gefärbten 
Körnchen,  welche  auch  frei  im  Sekrete  schwimmend  vor¬ 
handen  sind,  wahrscheinlich  infolge  der  Klebrigkeit  der 
aphilochromen  Körperchen  sich  diesen  anlegen.  Auch 
macht  eine  längere  Betrachtung  im  hängenden  Tropfen  den 
Eindruck,  als  ob  sich  die  aphilochromen  Gebilde  immer 
reichlicher  mit  den  basophilen  Körnchen  beladen  würden, 
während  an  den  philochromen  derartige  Körnchen  nicht 
haften  bleiben.  Würde  es  sich  aber  um  direkte  Leuko¬ 
zytenabspaltungen  handeln,  wäre  dieser  Vorgang  nicht  ver¬ 
ständlich.  Die  Körnchen  scheinen  dem  als  Detritus  be¬ 
schriebenen  Anteil  des  Sekretes  anzugehören. 

Die  philochromen  Körperchen  können  nach  Aus¬ 
waschung  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  mit  Zuhilfe¬ 
nahme  der  Zentrifuge  unter  Formalindämpfen  sehr  gut  kon¬ 
serviert  werden.  Sie  behalten  monatelang  ihre  Färbbarkeit 
und  Form  bei. 

Selbstverständlich  müßten  die  pathologischen  Verhält¬ 
nisse  (Befunde  bei  Prostatitis)  einer  neuerlichen  Revision 
unterzogen  werden.  So  konnten  wir  in  mehreren  Fällen 
konstatieren,  daß  nicht  die  Lezithinkörper  schwechtweg 
fehlten,  sondern  nur  die  philo-  und  aphilochromen  in  ihrer 
Zahl  beträchtlich  vermindert  waren.  Man  muß  auch  darauf 
achten,  daß  im  hängenden  Tropfen  eine  Schichtung  eintritt, 
indem  die  sudanopliilen  die  obere,  die  übrigen  Elemente 
die  tiefere  Schicht  einnehmen.1) 

’)  Alle  bisher  erwähnten  Untersuchungen  sind  ausschließlich 
im  hängenden  Tropfen  oder  an  nativen  Objektträgerdeckglas¬ 
präparaten  vorgenommen  worden,  da  Trockenpräparate,  wie  Björling 
gang  richtig  hervorhebt,  für  derartige  mikroskopische  Untersuchungen 
nicht  brauchbar  sind. 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


903 


II.  Anatomische  Untersuchungen. 

1.  Untersuchungsmaterial.  2.  Histogenese  der  Prostata¬ 
körperchen. 

Um  über  den  Ort  der  Entstehung  der  oben  beschrie¬ 
benen  Körperchen  klar  zu  werden,  muß  natürlich'  von  phy¬ 
siologischen  Verhältnissen  der  Ausgang  genommen  werden. 
Wir  haben  daher  bloß  Männer,  welche  bisher  noch  nicht, 
koitiert  oder  noch  nie  eine  gonorrhoische  Infektion  durch¬ 
gemacht  haben,  zu  diesem  Zwecke  herangezogen ;  sexuelle 
Neurasthenien,  die  oft  die  bekannten  Erscheinungen  der 
aseptischen  Prostatitis  bieten,  haben  wir  ausgeschlossen.  Die 
Angabe  Björlings,  daß  unter  26  Fällen  ohne  Symptome 
von  seiten  der  Urogenitalorgane  bei  sechs  das  Sekret  nur 
in  geringer  Menge  exprimiert  werden  konnte,  trifft  für  unser 
Material  nicht  ganz  zu.  Wir  konnten  die  Beobachtung 
machen,  daß  wohl  in  einem  Teile  (der  aber  einen  geringeren 
Prozentsatz  betrifft)  der  Fälle  das  Sekret  nicht  ausgedrückt 
werden  kann,  doch  waren  bei  einem  und  demselben  Indi¬ 
viduum  die  Resultate  zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden, 
so  daß  dem  negativen  Resultat  nach  einiger  Zeit  ein  posi¬ 
tives  folgte,  worauf  bei  nach  dieser  Richtung  anzustellen¬ 
den  Untersuchungen  Rücksicht  zu  nehmen  ist. 

Es  muß  festgestellt  werden,  daßi  in  normalem  Pro¬ 
statasekret  Leukozyten  nur  ausnahmsweise  beobachtet  wer¬ 
den.  (Ein  bis  zwei  Leukozyten  im  Präparat.)  Doch  wäre 
noch  immer  erst  zu  erweisen,  daß  mit  allen  Kanteten  (die 
Beimengung  von  Leukozyten  zum  Sekret  von  außen  ver¬ 
hindert  worden  ist. 

Wir  können  daher  auf  Grund  unserer  Untersuchungen 
und  in  Uebereinstimmung  mit  früheren  Autoren  behaupten, 
daß  normales  Prostatasekret  so  gut  wie  leukozytenfrei  ist. 
(Bezüglich  der  Literatur  sei  auf  W  aelsclis  Zusammen¬ 
stellung  im  Handbuch  für  venerische  Krankheiten  hinge¬ 
wiesen.) 

Björling  hat  den  gegenteiligen  Befund  an  Indivi¬ 
duen  erhoben,  die  „wegen  anderer  Krankheiten  in  Kranken¬ 
häusern  behandelt  wurden  und  welche  keine  Symptome 
von  seiten  der  Prostata  hatten“.  Es  ist  überflüssig,  darauf 
hinzuweisen,  daß  die  chronische  gonorrhoische  und  asep¬ 
tische  Prostatis  ohne  Symptome  verlaufen  können. 

Die  überaus  häufig  zu  konstatierende  Beimengung  von 
Spermatozoen  zum  exprimierten  Prostatasekret  (besonders 
im  Zentrifugat  erweisbar)  ließ  es  uns  notwendig  erscheinen, 
reines  vom  Samenblaseninhalt  freies  Prostata, sekret  zu  ge¬ 
winnen  und  zu  Untersuchungen  an  anatomischen  Präpa¬ 
raten  überzugehen. 

Wir  haben  nach  Schlitzung  der  Prostata  den  Ductus 
ejaculatorius  freigelegt  und  unterbunden,  den  Prostatasaft 
exprimiert,  mit  einer  Kapillare  aufgesaugt  und  im  hängen¬ 
den  Tropfen  untersucht. 

Es  zeigen  sich  nun  nebst  zahlreichen  Drüsenepithelien 
alle  drei  Körperchentypen.  In  manchen  Fällen  scheint  es 
fast,  als  ob  hier  sich  netzartig  verschlingende  Züge  zweierlei 
Gewebes  vorlägen,  aphilochrome  Tropfen  dicht  aneinander 
gereiht,  die  sich  durch  ihren  leuchtenden  Glanz  weiß  vom 
blau  oder  metachromatisch  gefärbten  Grunde,  der  aus  dem 
albumösen  Prostatasafte  besteht,  abhoben. 

[Macht  man  von  meridionalen  Schnitten  durch  die 
Drüsensubstanz  Abstrichpräparate,  so  lassen  sich  auch  hier 
die  oben  beschriebenen  Elemente  in  großer  Zahl  unter 
Glyzerineinschluß  beobachten. 

Niemals  aber  sahen  wir  an  15  daraufhin  untersuchten 
anatomischen  Präparaten  Leukozyten  im  exprimierten  Se¬ 
krete  oder  Drüsenabstrich. 

I) araus  g e h  t  ei n  w a n d f  r  e i  hervo  r,  d  a  ß  die 
fraglichen  Elemente  unter  physioTogischen 
Verhältnissen  Sekretionsprodukte  der  Pro¬ 
statadrüsen  sein  müssen. 

Ob  unter  pathologischen  Bedingungen  und  unter  solchen 
hat,  wie  die  reichlichen  Leukozyten  im  Sekrete  beweisen, 
Björling  gearbeitet,  Plasmaabschnürungen  von  den  Leuko- 
zytenleibern  stattfinden,  wie  sie  sich,  falls  dies  der  Fäll 


sein  sollte,  zu  den  normalen  Sekretprodukten  verhalten, 
müßte  Sache  einer  speziellen  Untersuchung  werden. 

Auffallend  ist  aber,  daß,  wie  schon  Casper  betont, 
und  wir  bestätigen  können,  gerade  bei  den  schwereren  Pro¬ 
statitisformen  die  granulierten  Körperchen  Björlings, 
unsere  philochromen  und  auch  die  hyalinen,  das  ist  aphilo- 
chromen,  wesentlich  an  Zahl  zurücktreten,  ja  fast  ganz  Ver¬ 
schwinden  können,  was  bei  der  großen  Menge  von  dem 
entzündlichen  Prozeß  entstammenden  Leukozyten  auch  für 
pathologische  Bejdingungen  gegen  Björlings  Ansicht 
spricht. 

2.  Um  nun  die  Drüsenepithelien  in  ihren  Beziehungen 
zu  den  Prostatakörperchen  zu  studieren,  wurden  Drüsen¬ 
epithelabstrichpräparate  24  Stunden  lang  an  der  Luft  ge¬ 
trocknet  und  Formolgefrierschnitte,  desgleichen  Paraffin¬ 
schnitte  nach  Formolfixierung  untersucht.  Die  Färbung  ge¬ 
schah  an  den  Trockenpräparaten  und  Formolgefrierschnitten 
mit  Sudan  III  alk.  durch  einige  Minuten,  Methylenazur 
15  bis  30  Sekunden.  Außerdem  kam  eine  kombinierte  Fär 
bung  mit  beiden  Farbstoffen,  bei  welcher  dem  mehrere  Mi¬ 
nuten  langen  Aufenthalt  in  Sudanlösung  kurzes  Abspülen 
in  Wasser  und  Nachfärbung  mit  Methylenazur  bis  zu  einer 
halben  Minute  folgte,  zur  Anwendung.  Besichtigung  unter 
Glyzerin;  die  erhaltenen  Bilder  sind  außerordentlich  in¬ 
struktiv.  Es  eignet  sich  das  Methylenazur  zur  Nachfärbung 
von  Sudanpräparaten  nach  unserer  Erfahrung  ausgezeichnet. 

Schon  im,  ungefärbten  Präparat  (Abstrich  und  Gefrier¬ 
schnitt)  fällt  auf,  daß  in  einzelnen  Alveolen  eine  ganze  Reihe 
von  Zellen  von  glänzenden  Körnchen  in  mehr  oder  minder 
großer  Zahl  erfüllt  erscheinen.  Methylenazurfärbung  zeigt 
nun  teils  in  ihrer  Totalität  gefärbte  rundliche  Einschlüsse 
mit  scharfen  Konturen  von  hellblaßblauer  bis  zu  intensiv 
dunkelblauer  Nuance,  auch  metachromatisch  von  dunkel- 
violett  bis  leuchtend  rot  gefärbte,  teils  halbmondförmige 
Bildungen  von  verschiedener  Dicke  und  Längendurchmesser 
und  ungefärbten  hell  erscheinenden  im  konkaven  Mond¬ 
ausschnitt  befindlichen  Zentrum. 

Verwendet  man  bloß  Sudan,  so  kann  man  ebenfalls 
kompakte  Körperchen,  die  sich  gelb  bis  gelborange  färben, 
halbmondförmige  Bildungen,  deren  Zentrum  farblos  er¬ 
scheint,  orangefarbene  Ringe  von  verschiedener  Dicke,  die 
bald  aus  zwei  Halbmonden  zusammengesetzt  sind,  bald 
nur  auf  einer  Seite  eine  dunklere  Kappe  tragen,  unter¬ 
scheiden. 

Auffallend  ist  es,  daß  die  mit  Sudan  gefärbten  Sekret¬ 
einschlüsse  gelb  bis  orange,  niemals  aber  so  leuchtend, 
wie  das  subkutane  Fett  oder  der  Talgdrüseninhalt  der  Haut 
erscheinen.  Mit  Osmium  nehmen  sie  nur  eine  bräunliche 
Farbe  an. 

Färbt  man  in  der  oben  angegebenen  Weise  mit  Sudan 
und  Methylenazur,  dann  erhält  man  .nebst,  rein  azurophilen 
and  sudanophilen  Sekreteinschlüssen  Körperchen,  in  denen 
azürophile  und  sudanophile  Substanz  in 
innige  und  mannigfaltige  Verbindung  treten. 

Bald  ein  blauer  Halbmond  auf  einem  orangefarbenen 
Zentrum  oder  umgekehrt  ein  Orangehalbmond  auf  azurener 
Kugel,  zwei  durch  einen  farblosen  Raum  getrennte  Halb¬ 
monde,  der  eine  orange,  der  andere  blau,  manchmal  nur 
orangefarbene  Granula  in  einem  oder  um  ein  blaues  kreis¬ 
förmiges  Gebilde,  kurz  die  mannigfachsten  Kombinationen 
der  Mengung  azurophiler  und  sudanophiler  Substanz  bald 
in  loserem  Nebeneinander,  bald  in  inniger  Vermischung. 

Die  Größe  schwankt  von  der  eines  Kokkus  bis  zu  der 
Größe  eines  roten  Blutkörperchens  und  darüber,  nimmt  oft 
die  Größe  eines  Drüsenzellkernes  an.  Hämatoxylin  färbt 
die  Einschlüsse  nicht. 

Sie  können  in  großer  Zahl  in  einer  Zelle  Vorkommen, 
his  zu  15  haben  wir  sie  gezählt  u.  zw.  sowohl  jeder  Typus 
für  sich  allein,  als  auch  alle  drei  Typen  nebeneinander,  bald 
nur  über  oder  unter  dem  Kerne  gelagert,  bald  ihn,  wenn 
sie  reichlich  Vorkommen,  verdeckend.  Ungefärbte  Voll¬ 
granula  kommen  nach  dieser  Farbprozedur  nicht  zu  Gesicht. 
Was  nun  die  basophilen  Granula  betrifft,  so  handelt  es  sich 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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um  die  von  Weski  zuerst  beschriebenen  „Sekret¬ 
kugeln“,  die  dieser  als  von  vollkommen  homogener 
Struktur  und  von  einem  dunkel  gefärbten  scharfen  Rand 
umgrenzt  beschreibt.  Petersen  hat  neben  vollstän  lig  baso¬ 
philen  auch  Körnchen  gefunden,  die  gleichsam  angenagt  er¬ 
scheinen,  in  der  Mitte  hellere  Partien  haben,  so  daß  das 
ursprünglich  homogene  Körnchen  oft  die  Form  eines  Ringes 
oder  eines  unregelmäßigen  Halbmondes  einnimmt.  Färbt 
man  mit  Hansens  Chromhämatein-Säurerubin,  so  erweist  es 
sich,  daß  das  Körnchen  „aus  zwei  Teilen  besteht,  aus  einem 
azidophilen,  der  der  erwähnten  helleren  Partie  entspricht 
und  einem  basophilen,  der  meistens  um  den  ersteren  herum¬ 
liegt.“  (S.  660.) 

Neben  diesen  beschreibt  Petersen  noch  kleinere 
azidophile  Körnchen,  welche  entweder  für  sich  allein  oder 
mit  Weskis  Kugeln  gemeinsam  in  den  Zellen  sich  befinden. 

Unseren  sudanophilen  Körnchen,  die  Petersen  nur 
an  Abstrichtrockenpräparaten  untersuchte,  widmet  er  nur 
eine  kurze  Bemerkung. 

„Die  dritte  Art  von  Körnchen,  die  ich  konstant  in  den 
Zellen  fand,  erwies  sich  nach  Färbung  mit  den  obgenannten 
Anilinfarben  und  Jod  -  Jodkalium  als  ungefärbte  kleinere 
Körnchen,  die  meist  basal  in  den  Zellen  lagen,  so  daß  sie 
in  den  spitz  ausgezogenen  Zylinderzellen  als  eine  einzelne 
Reihe  von  Körnchen  erscheinen  konnten,  während  sie  oft 
außerhalb  des  Kernes  mehr  oder  weniger  mit  \V  eski  sehen 
Körnchen  untermischt  lagen ;  in  den  basalen  kubischen  Zellen 
fand  ich  sie  sehr  häufig  über  das  ganze  Protoplasma  zer¬ 
streut,  so  daß  die  ganze  Zelle  von  denselben  angefüllt  zu 
sein  schien.“ 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel  (die  Reaktionen  werden 
angeführt),  daß  sie  fettiger  Natur  sind  (S.  667). 

Nach  P o sner  und  Rapoport  (Förmolgefrierschnitte, 
Scharlachrot)  ist  das  Lezithin  (unsere  sudanophile  Sub¬ 
stanz)  in  den  Epithelien  reihenweise  um  den  Kern  ange¬ 
ordnet.  Sie  haben  keine  Prostata  untersucht,  mit  Ausnahme 
kindlicher  Drüsen,2)  in  welcher  nicht  eine  lebhafte  Lezithin¬ 
bildung  in  den  Drüsenepithelien  sich  gefunden  hätte. 

Es  sind  also  bisher  Sudanhalbmonde  und  Ringelchen 
in  den  Prostataepil heben  nicht  beschrieben  worden,  wohl 
aber  ähnliche  Bildungen  in  den  Organen  mit  innerer  Sekre¬ 
tion,  z.  B.  von  Plecnik  in  den  Markzellen  der  Nebenniere, 
von  Erdheim  in  Hypophysis  und  Epithelkörperchen  und 
hypothetisch  mit  der  inneren  Sekretion  in  Zusammenhang 
gebracht  worden.  Wir  haben  gleiche  Bildungen  in  den  Epi¬ 
thelien  der  Schweißdrüsen  beobachtet  und  möchten  mit  aller 
Reserve  diesen  Befund  gegen  die  innersekretorische  Bedeu¬ 
tung  der  Bildungen  vermerken,  da  die  Schweißdrüsen  nach 
unseren  jetzigen  Kenntnissen  nur  sekretorische  Eigenschaften 
besitzen. 

Die  Alkoholosmiumreduktion  fiel  nicht  eindeutig  aus. 
Ebenso  wie  Erd  heim  aus  den  Befunden  von  Zupfpräpa¬ 
raten  schließt,  daß  es  sich  nicht  um  durch  Fixation  ent¬ 
standene  Kunstprodukte  handelt,  können  wir  den  Befund 
an  Zellen  exprimierten  Leichensekretes  für  ihre  natürliche 
Herkunft  verwerten. 

Auch  an  Gefrierschnitten  früher  nicht  mit  Formel 
fixierter  Organe  konnten  wir  die  verschiedenen  Arten  der 
Körnchen  konstatieren. 

Granula,  die  eine  so  innige  Beziehung  zwischen  baso¬ 
philen  und  fettartigen  Substanzen  (Lipoiden)  orgelten,  sind  j 
unseres  Wissens  in  der  Prostata  noch  nicht  beschrieben  ! 
worden.  In  anderen  Organen:  Schilddrüse,  Nebenniere,  | 
Hypophysis,  Milchdrüse  des  Mannes,  Speicheldrüse,  i 
Parotis,  Tränendrüse,  Ileum, und  Jejunum,  Samenblase  sind  ' 
uns  derartige  Einschlüsse  nicht  begegnet,  während  sich  mit 
Sudan  färbbare  Granula  immer  fanden.  Von  allen  obge- 
genannten  Organen  kam  allerdings  nur  eine  beschränkte 
Zahl  zur  Untersuchung.  Immerhin  glauben  wir,  solange  nicht 
gegenteilige  Befunde  vorliegen,  berechtigt  zu  sein,  diese 

2)  Hl  der  l’rostata  eines  5  Wochen  alten  Kindes  fanden  wir  reich¬ 
lich  sudanophile  Körnchen  irn  Innern  des  Äusführungsganges,  •  in  den 
Drüsenepithelien  dagegen  nicht. 


Form  von  Sekretgranulis  als  für  die  menschliche  Prostata 
charakteristisch  zu  halten.  (Die  Prostata  von  Tieren  haben 
wir  außer  acht  gelassen.) 

Es  wird  also  von  den  Drüsenzellen  eine  basophile  und 
fettartige  Substanz  produziert,  welche  jede  für  sich  allein 
befähigt  ist  Zellgranula  zu  bilden.  Es  kommt  aber  auch  noch 
mehr  oder  weniger  eine  innige  Vermengung  beider  Sub¬ 
stanzen  zustande,  wofür  noch  folgende  Beobachtung  spricht. 

Wir  haben  entsprechend  den  von  der  Tuberkelbazillen¬ 
färbung  ausgehenden  Theorien,  die  sich  auf  einer  innigen 
Mischung  zwischen  Fett-  und  Eiweißsubstanzen  aufbauen, 
mit  Eiweiß  aufgekleble  Paraffinschnitte  24  Stunden  in  der 
Kälte  mit  Karbolfuchsin  behandelt  mit  33%  HNO3  und 
96%igen  Alkohol  sehr  ausgiebig  entfärbt  und  sahen  nun 
rubinrote  Granula  in  verschiedenen  Formen  auf  blaßrosa  ge- 
färbtem  Grunde  auf  leuchten.  Eine  Nachfärbung  mit 
Löffler  schein  Methylenblau  ergab :  vorwiegend  blaue  ' 
Halbmonde  um  rote,  also  säurebeständige  Körperchen  und 
sonst  noch,  um  eis  kurz  zu  sagen,  die  verschiedensten  Kom¬ 
binationen  in  der  Mischung  der  basophilen  und  säurebestän¬ 
digen  Substanzen;  doch  waren  auch  rein  basophile  blaue 
Vollgranula  in  wechselnder  Menge  vorhanden. 

Auch  in  der  Samenblase  ließen  sich  die  mit  der  Pu-  * 
bertät  auftretenden  Pigmentkörnchen  (Akut  zu,  Peter-  ( 
s  e  n)  mit  Methylenazur  deutlich  grün  färben  und  auch  hier 
erfährt  durch  die  von  uns  nachgewiesene  Säurebeständig¬ 
keit  der  Körnchen,  welche  sehr  deutlich  zutage  trat,  der 
schon  erbrachte  Beweis  ihres  Fettcharakters  eine  nach 
anderer  Richtung  interessante  Bestätigung. 

In  Formolgefrierschnitten  läßt  sich  mit  Vorteil  die  v 
Zieh  1-N  i  1  s  o  11  sehe  Reaktion  erzielen,  wenn  man  nur  einige  - 
Minuten  in  der  Kälte  färbt  und  dann  mit  schwacher  HNO3. 1 
(»der  HCl  -  Lösung  entfärbt.  Längeres  Verweilen  der  Schnitte  ■ 
in  Karbolfuchsinlösung  im  Brutschrank  bereitet  der  nach-  - 
fraglichen  Entfärbung  große  Schwierigkeiten. 

Während  sich  weiters  die  Einschlüsse  der  Prostata  bei  , 
Gramfärbung  jodfest  erweisen,  sind  die  Samenblasen-  3 
körnchen  G  ram-unbeständig. 

Es  ähneln  die  Pigmentkörnchen  der  Vesicula  seminalis  1 
in  gewisser  Beziehung  den  säurefesten  Körnchen  in  den 
Schweißdrüsen  und  Achseldrüsen  (Fick,  Talke),  welche 
ebenfalls  pigmentiert,  aber  nicht  Gram -fest  sind,  während  ■ 
die  Prostatagranula  nicht  pigmentiert,  was  wir  in  Ueber-  1 
einstimmung  mit  Petersen  konstatieren  können,  sich  aber 
als  säure-  und  jodfest  präsentieren. 

Ol»  nun  diese  durch  Alkohol  und  Nylol  nicht  ausziehbare 
säurefeste  Substanz  in  der  sudanophilen  enthalten  ist,  also 
ein  Gemenge  zweier  Substanzen  vorliegt,  oder  nur  den 
restlichen,  wegen  inniger  Imprägnation  nicht  extrahierbaren 
Teil  derselben  darstellt,  ließ  sich  bei  der  Schwierigkeit,  mit 
der  solche  Untersuchungen  verbunden  sind,  nicht  feststellen.  ' 

Ueber  das  erste  Auftreten  der  beschriebenen  Körnchen 
können  wir  leider  keine  Angaben  machen,  da  uns  anatomi¬ 
sche  Präparate  des  Kindesalters  und  der  Pubertätsperiode 
nicht  zur  Verfügung  standen.  Von  der  Geschlechtsreife  bis 
zum  G reisenalter  (über  70  Jahre)  haben  wir  sie  beobachtet, 
doch  in  mehr  oder  minder  großer  Menge,  bald  nur  in  we-  I 
lugen  Zellen  einzelner  Alveolen,  bald  in  sämtlichen  Zellen 
eines  Alveolus. 

Noch  eines  Nebenbefundes  sei  hier  gedacht.  In  der 
glatten  Muskulatur  der  Prostata,  der  Samenblasen,  in  welcher 
Pigmentdegeneration  so  häufig  vorkommt  (A  k  u  t  z  u),  konnte 
die  Säurebeständigkeit  der  Pigmentkörnchen  nachgewiesen 
werden.  Fick  hat  an  der  Schweißdrüse  Zellen  mit  gleicher 
Eigenschaft  beobachtet,  sich  aber  mit  großer  Reserve  be¬ 
züglich  der  Identifizierung  derselben  mit  glatten  Muskel¬ 
zellen  ausgesprochen,  frn  Zusammenhang'  mit  unseren  Be¬ 
funden  gewinnt  die  von  ihm  beschriebene  Tatsache  eine 
sichere  Grundlage.  Der  Vollständigkeit  halber  seien  noch 
im  Epithel  sitzende  große  Zellen  erwähnt,  in  welcher  sich 
eine  sudanophile  Substanz  in  kristalloider  Form  findet.. 

Wenn  wir  nun  die  Bedeutung  aller  eben  beschriebenen 
Gebilde  erörtern  wollen,  so  drängt  sich  die  Frage  auf,  ob 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE 


wir  es  liier  mit  Fimktions trägem  oder  Sekretionsprodukten 
in  der  Zelle  zu  tun  haben,  ob  sich  eine  Beziehung  zwischen 
den  im  Sekret  gefundenen  Körperchen  und  den  in  den 
Zellen  eingeschlossenen  konstatieren  läßt. 

Im  Lumen  der  Alveolen  finden  wir  nur  chagrinierl 
aussehende  Gebilde,  die  wir  der  Form  nach  den  im  ersten 
Teil  der  Arbeit  beschriebenen  p  h  i  I  o  ch  r  o  m  en  Korpus- 
kula  zurechnen  müssen,  die  allerdings  die  Farbe  nicht  so 
intensiv  annehmen  als  im  hängendem  Tropfen  oder  im  Aus¬ 
strichpräparate  des  Prostal asek rotes.  Sie  ähneln  ungemein 
den  in  den  Zellen  ein  geschlossenen  basophilen  Granulis, 
bei  welchen  alle  Uebergänge  von  intensiver  Färbung  bis 
zur  bloßen  schwachen  Nuance  in  der  Zelle  vorfind  lieh  sind 
(deutlicher  an  Paraffin-  als  an  Formolgefrierschnitten). 

Oh  diese  schwach  gefärbten  Granula  mit  den  „azido¬ 
philen“  Petersens  identisch  sind,  der  die  azidophilen 
Granula  aus  den  basophilen  hervorgehen  läßt,  können  wir 
mangels  einer  Nachuntersuchung  nicht  sagen. 

Jedenfalls  verführen  Pet  er  sen  s  Bilder  zur  Annahme, 
daß  eine  Abstoßung  der  fraglichen  Gebilde  aus  der  Zolle 
ins  Alveolarlumen  statt  hat.  Da  der  eine  von  uns  gezwungen 
ist,  die  Arbeit  abzubrechen,  so  können  wir  eine  Entscheidung 
in  dieser  Frage  nicht,  geben. 

Es  steht  aber  nichts  im  Wege,  die  in  den  Zellen  vor¬ 
bildlichen  rein  sudanophilen  Körnchen,  mit  denen  des 
Sekretes  zu  identifizieren  und  sie  als  direkte  Sekretions¬ 
produkte  der  Drüsenzellen  anzusehen. 

Bezüglich  der  Genese  der  aphilochromen  Kor- 
puskula  muß  betont  werden,  daß  wir  ähnliche  Tropfen  in  den 
Zellen  nie  gesehen,  auch  nicht  Bilder,  vakuolenartige  Lücken, 
die  eine  Ausstoßung  derselben  verraten  könnten.  Wir  sind 
also  gezwungen  anzunehmen,  daß  ein  flüssiges  Sekret  in 
die  Alveole  abgesondert  wird,  welches  in  der  albumösen 
Abscheidung  aus  uns  vorläufig  unbekannten  Ursachen  sich 
zu  Tropfen  emulgiert. 

Die  sudano-azuroph  i  1  e  n,  das  heißt  gemischten 
Granula  der  Drüsenepithelien,  die  entsprechenden  säure¬ 
beständigen  Sekretkugeln  haben  wir  im  Alveolarlumen  oder 
Sekret  nicht  gefunden.  Was  die  unter  5  bis  7  von  B  jör¬ 
ling  beobachteten  Ilebergangstypen  betrifft,  so  ist  die  Er¬ 
klärung  für  die  Entstehung  der  „hyalinen  mit  Fettkörnchen“ 
als  eine  einfache  Anlehnung  von  Fettkügelchen  an  die 
klebrige  aphflochrome  Substanz,  naheliegend,  während  die 
granulierten  mit  Fettkörnchen  entweder  ebenfalls  durch  An¬ 
lehnung  oder  eventuell  durch  eine  fettige  Degeneration  ent- 
s lohen  mögen.  Auch  eine  direkte  Abschnürung  derselben 
aus  dem  Drüsenepithel,  wäre  in  das  Bereich  der  Kombination 
zu  ziehen. 

Handelt  es  sich  bei  den  sudano  -  azurophil en  Granulis 
um  Vorstufen  der  Sekretbildung  oder  nur  um  rein  funk¬ 
tionelle  Produkte,  sind  diese  Granula  mixta  bestimmt  der 
inneren  Sekretion  zu  dienen? 

Wir  wollen  uns  nicht  in  müßige  Hypothesen  verlieren. 

III.  B  e  o  b  a  c  h  t  u  n  g  i  m  D  u  nk  e  1  f  e  1  d. 

.  Untersuchungen  des  Prostatasekretes  im  Dunkelfeld 
sind  schon  von  Posner  vorgenommen  worden,  ohne 
irgendwelche  Befunde  zu  ergeben,  die  nicht  auch  im  Hell¬ 
felde  gemacht  worden  wären.  Wiener  hat.  im  Ejakulat 
Gebilde  als  Spermatokonien  beschrieben,  die  nach  König¬ 
stein  nur  der  Prostataahscheidung  zukommen. 

Wir  fanden  nun  im  exprimierten  Prostatasekret  der 
Leiche  (IV.  Okular,  Spezial  objektiv  für  den  Kardioidkonden- 
sor,  Zeiß)  intensiv  schwarze  Kugeln,  sehr  viele 
von  der  Größe  eines  roten  Blutkörperchens',  manchmal  über 
die  Größe  desselben  hinaus  gehend,  manche  vielleicht  doppelt 
so  groß,  manche  die  bedeutend  kleiner  sind  und  auch  weniger 
schwarz  erscheinen.  Sie  sind  oft  von  einer  anscheinend 
stark  glänzenden  Hülle  umgeben,  die  durch  Anlagerung 
kleinster,  flimmernder  Teilchen  bedingt,  ist.  Durch  diese 
kleinsten  Teilchen  ist  auch  die  scheinbar  nicht  ganz  runde 


WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Begrenzung  bedingt.  In  Wirklichkeit  sind  die  Kugeln  rund 
und  haben  keine  glänzende  Hülle. 

Im  Sekret  von  Lebenden  sieht  man  die  Kugeln  ebenso 
schwarz,  aber  an  Zahl  geringer  als  im  exprimierten  Saft 
der  Leiche.  In  dem  erste ren  sind  sie  manchmal  sehr  spärlich, 
hingegen  sieht  man  oll  insbesondere  bei  schwacher  Ver¬ 
größerung  weitaus  weniger  schwarze,  vielleicht  graue  Stellen, 
die  wohl  den  gleichen  Körperchen  aber  mit  anderen  Licht¬ 
brechung  sv  erhäl tn i sis en  entsprechen  mögen,  was  vielleicht 
den  verschiedenen  Aggregatzuständen  (Quellung?)  im  Se¬ 
krete  zuzuschreiben  ist. 

Um  Zellhaufen  herum  sieht  man  nicht  selten  dunkel- 
schwarz  e  unregelmäßig  begrenzte,  land  kartenförmige,  mit 
streifigen  Ausläufern  versehene  Flecke,  die  sich  bei  Druck 
des  Deckglases  bewegen  und  verschieben  lassen  und  oft 
kleine  Gebilde  gleicher  Art  abspalten.  Doch  getrauen  wir  uns 
nicht  aus  den  Lichtbrennungsverhällnissen  allein  zu 
schließen,  daß  die  oben  beschriebenen  Körperchen  einfach 
tropfenförmige  Abspaltungen  dieser  letzbeschriebenen 
Masse  wären. 

Die  oben  beschriebenen  Körperchen  sind  viel  inten¬ 
siver  schwarz  als  die  im  Dunkelfeld  schwarz  hervortretenden 
Kerne  der  Leukozyten. 

Die  Auffindung  dieser  Gebilde,  welche  unseres  Wissens 
bisher  noch  nicht  beschrieben  sind,  ist  nicht  auf  den  Ge¬ 
brauch  des  Kardioidkondensors  zurückzuführen,  sondern  auf 
das  seltene  Vorkommen  in  manchen  Prostatasekreten. 

Nur  in  einer  Erklärung  zu  einer  Abbildung  Posners 
(Berliner  klinische  Wochenschrift.  1909,  S.  255)  findet  sich 
(>ine  Bemerkung,  daß  in  der  Zeichnung  schwarz  sich  re¬ 
präsentierende  Gebilde,  Silbersalze  darstellen.  Die  Zeich¬ 
nung  ist  zu  undeutlich,  um  zu  erkennen,  oh  es  sich  um  die 
eben  von  uns  beschriebenen  Bildungen  handelt. 

S  c  h  1  u  ß  s  ä  t  z  e. 

1.  Insolange  nicht  mikrochemische  Analysen  die  Kon¬ 
stitution  der  Prostatakörperchen,  aufklären,  schlagen  wir  die 
Einteilung  in  s  u  d  a  n  o  p  h  i  1  e,  p  h  i  1  o  c  h  r  o  m  e,  a p  h i  lo¬ 
ch  r  o  m  e  Kor  p  u  s  k  u  1  a.  vor. 

2.  Sie  stammen  unter  physiologischen  Verhältnissen 
sicher  nicht,  wahrscheinlich  aber  auch  nicht,  in  patholo¬ 
gischen  Verhältnissen  von  den  Leukozyten  ab,  sondern  sind 
ein  direktes  Sekretionsprodukt  der  Drüsenepithelien. 

3.  In  diesen  kann  man  unterscheiden  sudano phile 
Granula  (aus  Feit  oder  Lipoiden  bestehend?),  basophile 
Granula  und  eine  durch  innige  In-  und  Aneinanderlagerung 
entstandene  Mi  sch  form  dieser  beiden,  welch  letztere 
bisher  noch  nicht  beschrieben  wurde. 

4.  Es  gibt  s  ä  ureb.est  ä  n  d  i  ge  und  j  o  d  f  e  s  t  e  Gra¬ 
nula  unter  diesen. 

5.  Tn  der  glatten  Muskulatur  sind  Körnchen,  die  durch 
Pigmentdegeneration  hervorgehen,  s  ä  u  r  e  b  e  s  t  ä  n  d  i  g. 

6.  Ob  die  Granula  der  Drüsenepithelien  schon  Produkte 
der  Sekretion  darstellen  oder  Funklionsträger  sind,  die  erst 
die  Körperchen  produzieren,  bleibt  vorläufig  noch  dahin¬ 
gestellt. 

7.  In  einigen  Fällen  (häufiger  im  exprimierten  Sekret 
der  Leiche  als  der  Lebenden)  finden  sich  im  Dunkelfeld 
schwarze  K  u  g  e  1  n,  die  aphilochromen  Körperchen  ent¬ 
sprechen. 

Herrn  Prof.  Ghon,  Vorstand  des  pathologisch  -  anato¬ 
mischen  Institutes,  sagen  wir  für  die  Ueberlassung  des' 
Leiehenmateriales  unseren  besten  Dank. 

Literatur: 

Akut  zu,  Beiträge  zur  Histologie  der  Samenblase  etc.  Virchows- 
Archiv  1902,  Nr.  168,  S.  467.  —  Björling,  Woraus  bestehen  die 
Prostatakörper?  Archiv  für  Dermal.  1910,  Bd.  153,  S.  3.  —  Erdheim, 
Zur  normalen  und  pathol.  Histologie  der  Gland,  thyr.  etc.  Beiträge  zur 
pathol.  Anatomie  1903,  Bd.  33.  S.  158.  Fick,  Zur  Kenntnis  der  in 
den  Knäueldrüsen  vorkommenden  Körnchen  Monatsh.  für  prakt.  Dermal. 
1907,  45,  S.  536,  594,  daselbst  Literatur.  -  Fürbringer,  Zur  Kennt¬ 
nis  der  Natur  der  Prostatakörner.  Zeitschr.  für  Urologie  1911,  Bd.  5. 
S.  169.  —  König  st  ein,  Untersuchungen  über  die  männlichen  Ge¬ 
schlechtsdrüsensekrete.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1910,  Bd.  23,  Nr.  15 


906 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  25 


—  Petersen,  Beiträge  zur  mikroskopischen  Anatomie  der  Yesic.  sem. 
etc.  Anatomische  Hefte,  Bd.  34,  Nr.  102—104,  S.  237;  Beiträge  zur 
Histologie  der  Prostata.  Anatomische  Hefte,  Bd.  34,  Nr.  117—119,  S.  653. 

—  Posner  und  R  apoport,  Prostatasekret  und  Prostatitis.  Deutsche 

med.  Wochenschr.  1905,  Nr.  13.  —  Posner,  Die  Verwendbarkeit  der 
Dunkelfeldbeleuchtung  in  der  klin.  Mikroskopie.  Berliner  klin.  Wochenschr. 
; 908,  Nr.  31,  S.  1444.  —  Posner  und  Scheffer,  Beiträge  zur 

klin.  Mikroskopie  und  Mikrophotographie.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1909, 
Nr.  6.  —  Posner,  Bemerkungen  über  das  Prostatasekret.  Zeitschr’ 

für  Urologie  1911,  Bd.  5,  S.  161.  —  PleCnik,  Zur  Histologie  der 
Nebenniere  der  Menschen.  Archiv  für  mikroskopische  Anatomie  1902, 
Bd.  60.  —  Falke,  Ueber  die  großen  Drüsen  der  Achselhöhlen  bei  den 
Menschen.  Archiv  für  mikroskopische  Anatomie  1902,  Bd.  61.  —  Wälsch, 
Ueber  Prostatitis.  Handbuch  der  Geschlechtskrankheiten  1910  (Separat¬ 
abdruck).  —  Wes  k  i,  Beiträge  zur  Kenntnis  des  mikroskopischen  Baues 
der  menschlichen  Prostata.  Anatomische  Hefte  1903,  Bd.  21,  H.  66—67. 

—  Wiener,  Sperm atokonien.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1908,  S.  91o! 


Aus  dem  Frauenhospiz  in  Wien. 

(Vorstand:  Primarius  Dr.  Edmund  Waldstein.) 

Beitrag  zur  Behandlung  retinierter  Eihautreste. 

Von  Dr.  Max  Steinsberg,  Assistenten. 

Auf  Anregung  meines  Chefs  Prim.  Dr.  W  a  1  d  s  t  e  i  n  will 
ich  im  folgenden  an  der  Hand  Vlon  32  sorgfältig  beobachteten 
Fällen  von  Eihautretention  die  bei  unserer  Behandlung  er¬ 
zielten  Resultate  mitteilen,  um  so  zur  Klärung  dieser  noch 
immer  offenen  Frage  beizutragen. 

Daß  man  größere  Plazentareste,  besonders,  wenn  die¬ 
selben  zu  stärkeren  Blutungen  den  Anlaß  geben,  unver¬ 
züglich  entfernen  soll,  darüber  sind  die  meisten  Autoren 
einig;  bezüglich  der  zurückgebliebenen  Eihautreste  ist  man 
noch  immer  nicht  zu  einer  einheitlichen  Ansicht  gelangt. 
E|ie  Frage  steht  offen,  ob  man,  bzw.  wann  man  aktiv 
eingreifen  und  die  zurückgebliebenen  Eihautreste  entfernen 
soll,  oder  ob  man  ein  zuwartendes  Verhalten  beobachten  soll. 

Als  ursächliche,  solche  Retentionen  begünstigende  Mo¬ 
mente  werden  angesehen;  deziduale  Verwachsungen  (Hof¬ 
meier1),  abnorme  Entwicklung  der  Chorionzotten,  Blu¬ 
tungen  in  die  Dezidua,  Verwachsungen  infolge  Endome- 
I  iitis,  tiefer  .sitz  der  Plazenta  (Laz  are  witsch2);  ferner 
wird  behauptet,  daß  bei  exspektativer  Leitung  der  Nach¬ 
geburtsperiode  Retentionen  ein.  seltenes  Ereignis  seien 
(Riß  mann3),  bei  gegenteiligem  Vorgehen  ein  häufiges. 

Bezüglich  der  Rolle  des  künstlichen  Blasensprunges' 
für  das  Zustandekommen  der  Retention  der  Eihäute  stehen 
sich  ganz  gegenteilige  Meinungen  gegenüber:  die  einen 
machen  den  künstlichen  Blasensprung  dafür  verantwortlich 
(Engelhorn4 5),  während  die  anderen  dazu  recht  früh¬ 
zeitig  raten  (Schräder  ^  u.  zw.  in  der  Annahme,  daß 
dadurch  der  Eihautriß  bis  hoch  hinauf  Vermieden  und  der 
Störung  des  normalen  Verlaufes  der  Lösung  von  Eihäuten 
vorgebeugt  werde. 

Endlich  wird  das  häufigere  Vorkommen  von  Reten¬ 
tionen  gerade  bei  I  -  paris  betont. 

Wenn  es  auch  schwer  erklärlich  ist,  warum  als  Folge 
von  Eihautretention  bei  Fehlen  sonstiger  Ursachen  eine 
Puerperalsepsis  aufteten  sollte,  so  wird  dies  doch  des  öfteren 
behauptet. 

Während  die  einen  in  ihr  eine  in  den  meisten  Fällen 
belanglose  Sache  sehen  und  sich  dementsprechend  zuwar¬ 
tend  verhalten,  erblicken  die  anderen  in  ihr  eine  für  die 
Wöchnerin  ernste  Komplikation  und  verlangen  die  sofort^e 
Entfernung  der  Reste. 

Das  zuwartende  Verhalten  wird  mehr  von  den 
deutschen,  das  aktive  von  französischen  und  englischen 
Autoren  geübt. 


')  Hofmeier,  Deutsche  Aerztezeitung  1902,  H.  15 

)  Lazarewitsch,  Zentralblatt  für  Gyn.  1887,  S  43 

)  Riß  mann,  Monatsschrift  für  Geb.  und  Gyn.,  Bd.  24,  S  581 

4i  Engelhorn,  Zentralblatt  für  Gyn.  1908,  S.  509. 

5)  Schrader,  Zentralblatt  für  Gyn.  1887,  S.  787. 


Autoren,  wie  Winter,6)7)  v.  Herff8)  u.  a.  räumen 
der  Retention  von  fötalen  Eihäuten  fast  gar  keinen  Einfluß 
auf  das  Wochenbett  ein,  sehen  dieselbe  als  nicht  für  in¬ 
fektionsbegünstigend  an  und  warnen  vor  der  operativen 
Entfernung,  da  dadurch  erst  recht  schwere  Puerperalerkran¬ 
kungen  provoziert  werden  können;  sie  rechnen  damit,  daß 
die  retinierten  Eihäute  im  Verlaufe  des  Wochenbettes  sich 
spontan  ablösen  und  mit  den  Lochien  ausgestoßen  werden; 
insbesondere  soll  man  sich  am  infizierten  Uterus,  der  hämo¬ 
lytische  Streptokokken  enthält  vor  intrauterinen  Eingriffen 
hüten,  ausgenommen,  wenn  durch  die  Retention  schwere 
Blutungen  ausgelöst  werden.  In  solchen  Fällen  müßte  man 
die  Ablösung  der  Eihäute  vornehmen  —  dies  jedoch  ohne 
Instrumente. 

Straß  mann9)10)  tritt  gleich  Fehling11)12)  für 
ein  abwartendes  Verhalten  ein;  er  sieht  es  aus  dem  Grunde 
als  großen  Vorteil  an,  wenn  keine  Eingriffe  gemacht  werden, 
weil  die  Eihautreste  bei  festem  Zusammenhänge  mit  der 
Uteruswand  lange  frisch  ohne  Spuren  von  Zersetzung 
bleiben.  Sogar  bei  Endometritis  puerperalis,  erzeugt  durch 
zurückgehaltene  Eihautreste,  wird  Zuwarten  empfohlen;  Kü- 
rettements  in  der  ersten  Woche  könnten  bedrohliche  Blu¬ 
tungen  und  Perforationen  des  Uterus  zur  Folge  haben. 

Einen  ähnlichen  konservativen  Standpunkt  nehmen,  so- 
ferne  keine  Blutungen  oder  gleichzeitig  Retention  von  Pla¬ 
zentateilen  besteht,  H o f m e i e r,13)  Fromm e,14)  Zwei¬ 
fel15)  ein. 

Insbesondere  sahen  jene  Autoren,  welche  Reihen  von 
Eihautretentionsfällen  beobachteten,  die  zum  Teil  durch  so¬ 
fortiges  Entfernen,  zum  Teil  abwartend  behandelt  wurden, 
diejenigen  Fälle  günstiger  verlaufen,  bei  denen  nichts  getan 
wurde  (Lab  in,16)  Chazan,17)  R.  Pup  pel,18)  Lazare¬ 
witsch  19). 

Die  Gefährlichkeit  der  Eingriffe  wird  aber  wieder¬ 
holt  betont  (Enge  1  h  o  r  n  20).  Selbst  Veränderungen  in  dem 
Verhalten  der  Lochien  —  wie  Stauung  des  Lochialsekretes, 
Vermehrung  des  Ausflusses,  blutige  Färbung,  putride  Be¬ 
schaffenheit  —  führen  zu  keinen  ernsten  Komplikationen 
und  machen  nach  S  c h  n  e i d  e  r  -  G  ei  g  e  r,21)  keine  Ein¬ 
griffe  notwendig. 

Sollte  aber  ein  solcher  zur  Entfernung  von  Eihaut- 
rosten  unvermeidlich  geworden  sein,  so  soll  er  nach 
olff2“)  nur  nicht  frühzeitig  vorgenommen  werden. 

Soweit  die  Ansichten  jener  Autoren,  welche  einen  mehr 
exspektativen  Standpunkt  einnehmen. 

Ganz  im  Gegensatz  zu  diesen  tritt  ein  Teil  der  Autoren 
für  das  aktive  Verfahren  ein,  von  der  Ansicht  ausgehend, 
daß  die  Eihautretention  als  solche,  eine  Gefahr  für  dieWöch- 
nerin  in  sich  birgt.  Es  sollen  schlechte  Erfahrungen  infolge 
Retention  von  Eihäuten  gemacht  worden  sein ;  R  i  ß  m  a  n  n23) 
sah  häufig  Blutungen  auftreten,  die  Involution  des  Uterus 
verzögerte  sich  häufig  (Knapp24),  der  Lochienfluß  war 
vermehrt  und  längere  Zeit  hindurch  blutig. 


,,  WinUr,  Verhandlungen  der  deutschen  Gesellschaft  für 

Gyn.,  Bd.  13. 

7)  Winter,  Zentralblatt  für  Gyn.  1910,  S.  1497. 

8)  v.  Herff,  In  Winckels  Handbuch  für  Geb.,  Bd.  3/2,  S.  725. 

®)  straß  m  a  n  n,  In  Winckels  Handbuch  für  Geb.,  Bd.  3/1,  S.  848. 
°)  Straßmann,  Zentralblalt  für  Gyn.  1906,  S.  489. 

)  Fehling,  Wochenbett. 

,2)  Fehling,  Zentralblatt  für  Gyn.  1881,  S.  608. 

13)  Ilofmeier,  Deutsche  Aerztezeitung  1902,  H.  15. 

14)  Fromm  e,  Wochenbett. 

15)  Zweifel,  Zentralblatt  für  Gyn.  1907,  S.  153. 

16)  Lab  in,  Zentralblatt  für  Gyn.  1879,  S.  278. 

17)  Chazan,  In  Winckels  Handbuch  für  Geb..  Bd.  2  2,  S  1363. 
S  475  5  R'  Puppe1’  Zeitschr-  für  Geb.  und  Gyn.,  Bd  64,  H.  2  bis  3, 

■9)  Lazarewitsch,  Zentralblatt  für  Gyn.  1887,  S.  43 
-°)  Engelhorn,  Zentralblatt  für  Gyn.  1908,  S.  509. 

ir  i  (  Schneider-Geiger,  Beiträge  zur  Geb.  und  Gyn.,  Bd.  11, 
11.  1  bis  2. 

“)  W  o  1  f  f,  Ref.  im  Zentralblatt  für  Gyn  1909,  S.  1653. 

,)  Riß  mann,  Monatsschr.  für  Gyn  und  Geb.,  Bd.  24,  S.  581. 
4)  Knapp,  Archiv  für  Gyn.  1898,  S.  414. 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


907 


Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  tritt  Bollenhagen25) 
prinzipiell  für  die  sofortige  Entfernung  post  partum  ein, 
Rißmann  dann,  wenn  Blutungen  auftreten.  Freilich  nuiß> 
;mcl)  Bollenhagen  zugeben,  daß  die  Entfernung  der 
Eihäute  unmittelbar  post  partum  viel  Schwieriger  ist  als 
später. 

Besondere  Gefahr  bergen  angeblich  infizierte  Eihaut- 
resle  in  sich  (C  o  r  t  e  j  e  r  e  n  a  2(;) ;  die  Entfernung  diesen' 
soll  womöglich  vollständig  sofort  manuell  geschehen 
(Louros“'),  sobald  durch  Fieber,  Blutung  und  übel¬ 
riechende  Lochien  die  Retention  festgestellt  ist. 

Nach  Meinung  der  Verfechter  der  aktiven  Therapie 
geht  das  Wochenbett  bei  Eihautretention  nur  in  seltenen 
Fällen  ohne  Gefährdung  der  Wöchnerinnen  ab,  insbesondere 
dann,  wenn  ein  größerer  Teil  zurückblieb.  So  vierlangen 
ßc h  e  f  f  z  e c  k  ~s)  und  C  li  a  r  1  e  s  29)  die  Entfernung,  wenn 
mehr  als  Vs  der  Eihäute  retiniert  wurde.  Bei  bestehendem 
Heber  verlangt  Hui  lot30)  sogar  Kürettage,  da  die  Eihaut¬ 
retention  —  wie  W  o  r  m  s  e  r 31)  auch  meint  —  das  Ein¬ 
dringen  und  die  Aszendierung  der  Keime  sonst  begünstigt. 

In  unserer  Anstalt  wird  in  Fällen  von  Eihautretention 
das  exspektative  Verfahren  geübt. 

Unser  Material,  über  das  ich  berichten  will,  umfaßt 
677  Wöchnerinnen,  an  denen  32mal  (4.7%)  Eihautretention 
beobachtet  wurde. 

ln  dieser  Hinsicht  sind  unsere  Resultate  als  recht  gün¬ 
stige  zu  bezeichnen,  da  --  wie  beifolgende  Tabelle*)  zeigt 
U—  Eihautretentionen  anderwärts  vielfach  häufiger  Vor¬ 
kommen. 


Autor 

Geburten 

Retention 

Prozente 

Völker  ...... 

5100 

47 

1 

Reihlen . 

3534 

152 

4 

Cr<§d<5 . 

2000 

91 

5 

Bericke  .... 

1700 

44 

3 

Beaucamp . 

500 

102 

20 

v.  Winckel . 

3199 

73 

2 

Maygried  . 

1939 

142 

7 

Velits . 

4333 

228 

5 

Nippold . 

1004 

4 

Stadtfeld  .... 

1780 

2 

Hofmeier 

6000 

57 

I 

Fischer . 

682 

6 

Halpern . 

4115 

102 

9 

v.  Winkel . 

1019 

3 

Martin . 

390 

14 

4 

Fehling . 

90 

6 

Newis . 

1058 

7 

Huber . 

5930 

187 

3 

Huber . 

1582 

84 

5 

Dohorn  . 

1000 

13 

Schneider-Geiger  .  .  . 

5410 

558 

10 

Von  unseren  Frauen  mit  Verhaltung  von  Eihäutei 

I- 

para 

21 

Frauen 

II- 

?> 

7 

III- 

1 

Frau 

IV- 

» 

1 

V- 

j? 

l 

VIII- 

n 

1 

Bei  5  Frauen  sind  Anahltspunkte  vorhanden,  welche  auf 
Erkrankungen  des  Endometriums  hinweisen  u.  zw.  bestanden 
bei  einer  Frau  (Fall  I,  siehe  Krankengeschichten)  während 
der  Gravidität  Genitalblutungen  als  Ausdruck  eines  tiefen 
Sitzes  der  Plazenta  (Placenta  praevia  part.);  bei  derselben 

*5)  Rollenhagen,  Zentralblatt  für  Gyn.  1907,  S.  151. 

-6)  Corte  jere  n  a,  Monatsschr.  für  Geb.  und  Gyn  ,  Bd.  17,  S.  157. 
27)  Louros,  Zentralblatt  für  Gyn.  1908,  S.  217. 

■b)  Sehe  ff  zeck,  Zentralblatt  für  Gyn.  1909,  S.  57. 

■a)  Charles,  Ref.  Zentralblatt  für  Gyn.  1909,  S.  420. 

30)  II  ullot,  Ref.  Zentralblatt  für  Gyn.  1909,  S.  822. 

31)  W o  rmse  r,  Korrespondenzblatt  für  Schweiz.  Aerzte  1902,  S.  (118. 
*)  Schneider-Geiger,  In  Beiträge  zur  Geb.  und  Gyn., 

Bd.  11,  S.  279. 


Frau  mußte  bei  der  vorhergegangenen  Entbindung  die  Lö¬ 
sung  dei  retinierten  Plazenta  vorgenommen  werden;  bei 
zwei  weiteren  Frauen  bestanden  bei  früheren  .Schwanger¬ 
schaften  durch  längere  Zeit  Blutungen  (Fälle  20  und  26); 
endlich  haben  zwei  von  diesen  Frauen  kurz  vor  Beginn 
der  letzten  Gravidität  abortiert  (Fälle  4  und  29). 

Bei  sechs  Frauen  zeigte  der  Uterus  geringe  Neigung 
zur  Kontraktion  schon  während  der  Geburt  (Fälle  14,  20,  22, 
25,  26,  32),  bei  anderen  auch  nach  derselben;  von  den 
ersteren  mußten  zwei  mittels  Forzeps  wegen  Wehenschwäche 
entbunden  werden  (Fälle  14  und  32). 

Zwei  Frauen  litten  infolge  Hydramnion  an  Ueber- 
dehnung  der  Gebärmutter,  was  Wehenschwäche  und  Atonie 
zur  Folge  hatte  (Fälle  8  und  15). 

Eine  weitere  Kategorie  von  Frauen  litt  an  Organerkran¬ 
kungen,  die  ihrerseits  für  ein  abnorm  festes  Haften  der 
Sccundineae  beschuldigt  werden  können  und  zwar:  drei 
Frauen  an  Nephritis  (Fälle  6,  8,  11),  zwei  an  Vitium 
cordis  (Fälle  9  und  26),  zwei  an  weit  vorgeschrittener 
Phthisis  pulmonum  (Fälle  23  und  '29). 

Die  künstliche  Blasensprengung,  die  Engel  horn32) 
liii  die  Retention  von  F, i häuten  verantwortlich  macht,  wurde 
bei  7  (21-8%)  Von  unseren  Frauen  vorgenommen,  während 
bei  den  übrigen  25  (78-2%)  Frauen  die  Fruchtblase  spontan 
gesprungen  ist. 

In  sechs  Fällen  (18-7i°/o)  erfolgte  der  Blasensprung 
Vorzeitig,  davon  in  zwei  Fällen  noch  vor  dem  Einsetzen  von 
schmerzhaft  empfundenen  Wehen. 

Nur  in  zwei  Fällen  mußte  die  Geburt  künstlich  mittels 
Forzeps  beendet  werden,  sonst  ging  sie  spontan  vor  sich. 

Die  Nachgeburt  ging  in  26  Fällen  (81-2%)  spontan 
ab  n.  zw.  innerhalb  Von  fünf  Minuten  bis  14/4  Stunden  nach 
der  Geburt  des  Kindes. 

ln  sechs  Fällen  (18-8 °/o)  mußte  wegen  Post  partuni- 
Blutungen  die  schon  gelöste  Nachgeburt  durch  leichten 
Druck  auf  den  Uterus  exprimiert  werden. 

Manuelle  Plazentalösung  fand  in  unseren  Fällen  nie¬ 
mals  statt.  * 

Dies  stellt  im  Einklang  mit  dem  in  unserer  Anstalt 
geübten  außerordentlich  exspektativen  Verhalten,  während 
der  dritten  Geburtsperiode,  Von  dem  wir  nur  dann  Abstand 
nehmen,  wenn  strikte  Indikationen  uns  dazu  zwingen. 

Hinsichtlich  des  weiteren  Schicksales  der  Frauen  mit 
Retention  von  Eihäuten  sei  erwähnt,  daß  in  21  Fällen 
(65-6%)  die  Eihäute  spontan  abgingen,  in  3  Fällen  (9-3%) 
gingen  die  Lihäute  teilweise  spontan  ab,  zum  Teil  wurden 
sie  entfernt,  in  8  Fällen  (25-1,%)  wurden  sie  im  Wochen¬ 
bette  in  toto  künstlich  gelöst  und  herausbefördert. 

^  Prinzipiell  gestaltet  sich  unser  Verhalten  folgender¬ 
maßen:  solange  weder  Fieber,  noch  Blutungen,  noch  auf¬ 
fallend  schlechte  Involution  des  Uterus  feststellbar  waren, 
vei hielten  wir  uns  zuwartend.  Sobald  jedoch  die  ange¬ 
führten  Momente  einzeln  oder  gehäuft  sich  geltend  machten, 
wurde  eine  Austastung  des  UteruskaVums  vorgenommen  und 
bei  \  orhandensein  Von  Eiteilen  die  digitale  Entfernung  an¬ 
geschlossen. 

ln  jenen  Fällen,  in  denen  man  die  Gewißheit  hatte, 
alles  Pathologische  entfernt  zu  haben,  wurde  entweder  gar 
nichts  weiter  vorgenommen  oder  die  Uterushöhle  mit  Jod- 
tinktur  ausgepinselt. 

Nachträgliche  Uterusspülungen  wurden  tunlichst  ver¬ 
mieden  —  bis  auf  Fall  6  und  8  —  da  wir  mit  Winter 
auf  dem  Standpunkte  stehen,  daß  die  Uterusausspülung  nach 
der  Entfernung  mehr  oder  weniger,  wenn  auch  nur  sapro- 
phytisch  infizierter  Massen  eher  schaden  als  nützen  kann; 
eine  desinfizierende  Wirkung  kommt  der  Uterusausspülung 
im  Sinne  der  Abtötung  der  bereits  in  den  Organismus  über¬ 
getretenen  Keime  sicherlich,  nicht  zu,  daher  ist  eine  solche 
lieber  zu  unterlassen. 

Dort,  wo  kein  Anlaß  zu  Uterusexploration  gegeben  war, 
verhielten  wir  uns  bis  zum  8.,  ja  bis  zum  10.  Tage  zuwartend 


3 )  Engelhorn,  Zentralblatt  für  Gyn.  1908,  S  509. 


908 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  25 


und  nahmen  erst  dann  eine  innere  Untersuchung  vor,  um 
sicher  zu  sein,  daß  wir  keine  Frau  mit  retinierten  Eihäuten 
aus  unserer  Beobachtung  entlassen.  Bei  dieser  Untersuchung 
zeigte  es  sich,  daß  in  der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  die 
Eihäute  spontan  in  toto  abgegangen  waren,  nur  in  der 
Minderzahl  waren  solche  noch  vorhanden;  die  Entfernung 
dieser  gelang  anstandslos,  indem  die  Massen  mit  dem  Finger 
von  der  Gebärmutterwand  weggedrückt  und  hierauf  mit  dem 
Finger  oder  mit  einer  Korn-,  hzw.  Löffelzange  gefaßt  und 
herausbefördert  wurden. 

Solange  als  möglich  waren  wir  bestrebt,  die  Entfer¬ 
nung  von  Eihautresten  hinauszuschieben,  erstens  weil  durch 
jeden  intrauterinen  Eingriff  im  Wochenbette  pathogene 
Keime  ins  Uteruskavum  eingeführt  werden  können  und  diese 
Gefahr  um  so  geringer  wird,  je  weiter  die  Thrombosierung 
der  Uteringefäße  vorgeschritten  und  die  Plazentarwunde 
in  Ausheilung  begriffen  ist;  zweitens  weil  je  später  die 
Entfernung  von  Eihautresten  vorgenommen  wird,  sich  diese 
um  so  leichter  gestaltet. 

Von  diesem  unseren  prinzipiellen  Standpunkte  waren 
wir  in  einem  Falle  durch  Fieber  veranlaßt  worden  Abstand 
zu  nehmen  u.  zw.  mußten  wir  in  diesem  Falle  frühzeitig 
die  Eihautreste  entfernen.  Nach  der  Entfernung  schwand 
das  Fieber. 

Der  Wochenbettverlauf  war  bei  unseren  32  Frauen 
25mal  (78-1  °/o)  ein  vollkommen  glatter  und  afebriler,  in 
7  Fällen  (21-9  %)  trat  Fieber  über  38°  (Axillarmessung) 
auf  u.  zw.  in  1  Falle  VOr  der  Ausräumung,  in  3  Fällen,  in 
denen  bis  zur  Ausräumung  kein  Fieber  bestand,  trat  nach 
der  Ausräumung  Eintagfieber  auf,  in  3  weiteren  Fällen,  in 
denen  keine  Ausräumung  vorgenommen  wurde  und  sich 
die  Ausstoßung  der  Eiliautreste  spontan  abspielte,  haben 
noch  3  Frauen  im  Beginne  des  Wochenbettes  leicht  ein 
bis  zwei  Tage  gefiebert. 

Sämtliche  32  Frauen  sind  von  ernsten  Wochenbett¬ 
erkrankungen  verschont  geblieben  und  so  konnten  29  Frauen 
am  11.,  1  Frau  am  12.,  1  Frau  am  14.  und  1  Frau  am 
17.  Tage  post  partum  die  Anstalt  gesund  verlassen. 

Betrachtet  man  unsere  Fälle  von  Eihaut- 
retention  in  ihrem  Verlauf  und  Ausgang,  so 
kom m t  'm an  zur  Ueberzeugung,  daß  bei  ex- 
spektativer  Behandlung  die  Eihautretention 
eine  belanglose  Sache  darstellt,  daß  das  zu- 

wartende  V  er  ha.ltenErfolge- zeitig  t,  diesic  he  r- 
lich  durch  kein  anderes  Verfahren  übertrof¬ 
fen  werden  können. 

Diese  Behandlung  bedeutet  wieder  einen  Erfolg  der 
exspektativen  Therapie  und  wir  können,  gestützt  auf  un¬ 
sere  günstigen  Resultate  dieses'  Verfahren  als  richtig  hin¬ 
stellen.  Hiemit  wäre  wieder  ein  Kapitel  polypragmatischer 
Betätigung  im  Wochenbette,  welche  schon  so  viel  Schaden 
angerichtet  hat,  zu  streichen. 

* 

Fall  I.  Prot.- Nr.  11/1910.  30jährige  Vl-para.  Beim  letzten 
Partus  Plazentalösung.  Diesmal  Placenta  praevia  partial.  Geburt 
spontan.  Geburtsdauer  25  Stunden.  Blaseinsprung  knapp  ante 
partum.  Kind  frühgeboren.  Mäßige  Blutung.  Spontaner  Abgang 
der  Plazenta.  Drei  Tage  post  partum  teilweise  Abgang  von  Eihaut- 
resten.  Sechs  Tage  post  partum  digitale  Entfernung  der  letzten 
Reste  mit  teilweiser  Zuhilfenahme  der  Kürette  unter  Leitung  des 
Fingers.  Nach  der  Entfernung  Temperatur  38-7°.  Wochenbett  sonst 
afebril.  Gute  Involution  des  Uterus. 

Fall  II.  Prot.- Nr.  23/1910.  19jährige  l-para.  Geburtsdauer 
20  Stunden,  Blasensprung  eine  halbe  Stunde  ante  partum.  Geburt 
und  Abgang  der  Plazenta  spontan.  Fünf  Tage  post  partum  Ab¬ 
gang  der  retinierten  Eihäute.  Temperatur  am  ersten  Tage  3  <  -5, 
sonst  unter  37. 

Fall  III.  Prot.- Nr.  39/1910.  21jährige  I-para.  Geburtsdauer 
sechs  Stunden,  Blasensprung  45  Minuten  ante  partum.  Tem¬ 
peratur  am  dritten  und  vierten  Tage  post  partum  38  bis  38-2. 
Am  fünften  und  sechsten  Tage  Abgang  der  Eihäute. 

Fall  IV.  Prot.- Nr.  71/1910.  30jährige  II-para.  Vor  einem 
Jahre  Abortus.  Geburtsdauer  47  Stunden;  Blasensprung  1 5Va 
Stunden  ante  partum.  Geburt  und  Plazentaabgang  spontan.  Am 
dritten  Tage  post  partum  Abgang  der  retinierten  Eihäute. 


Fall  V.  Prot. -Nr.  111/1910.  26jährige  I-para.  Geburts¬ 
dauer  16  Stunden,  Blasensprung  zwei  Stunden  ante  partum. 
Geburt  spontan.  Am  fünften  Tage  post  partum  Abgang  der  reti¬ 
nierten  Eihäute. 

Fall  VI.  Prot.;Nr.  114/1910.  24jährige  I-para.  Schwanger¬ 
schaftsniere.  Geburtsdauer  21  Stunden,  Blasensprung  künstlich 
drei  Viertelstunden  ante  partum.  Geburt  spontan.  Kind  tot. 
Blutung.  Durch  acht  Tage  post  partum  Temperatur  bis  38-8. 
Am  achten  Tage  post  partum  digitale  Lösung  von  Eihautresten; 
von  da  ab  kein  Fieber  mehr. 

Fall  VII.  Prot.-Nr.  117/1910.  26jährige  I-para.  Geburts¬ 
dauer  50  Stunden,  Blasensprung  fünf  Stunden  ante  partum.  Geburt 
spontan.  Am  dritten  Tage  post  partum  Abgang  von  Eihaut¬ 
resten. 

Fall  V 1 1 1 .  Prot.-Nr.  118/1910.  22jährige  I-para.  Schwan¬ 
gerschaftsniere.  Hydramnion.  Geburtsdauer  18  Stunden,  Blasen- 
sprung  zwei  Stunden  ante  partum.  Geburt  spontan.  Am  zweiten 
Tage  post  partum  teilweiser  Abgang  von  Eihautresten.  Am  vierten 
Tage  post  partum  Ausräumung  von  nekrotischen  Deziduamassen. 
Am  achten  Tage  Temperatur  39-2. 

Fall  IX.  Prot.-Nr.  122/1910.  24jährige I-para.  Vitium  cordis. 
Geburtsdauer  zwölf  Stunden,  Blasensprung  20  Minuten  ante  par¬ 
tum.  Frühgeburt.  Geburt  und  Nachgeburt  spontan.  Am  sechsten 
Tage  Abgang  von  Eihautresten. 

Fall  X.  Prot.-Nr.  133/1910.  21jährige  I-para.  Geburts¬ 
dauer  36  Stunden,  Blasensprung  IV2  Stunden  ante  partum.  Geburt 
und  Abgang  der  Plazenta  spontan.  Am  zweiten  Tage  post  partum 
Abgang  von  Eihäuten. 

Fall  XI.  Prot.-Nr.  153/1910.  19jährige  I-para.  Nephritis. 
Geburtsdauer  6  Vs  Stunden,  Blasensprung  fünf  Stunden  ante  par¬ 
tum.  Geburt  spontan.  Am  sechsten  Tage  post  partum  Lösung 
der  fast  vollständig  im  Uterus  fest  anhaftenden  Eihäute. 

Fall  XII.  Prot.- Nr.  159/1910.  30jährig©  I-para.  Geburts¬ 
dauer  14  Stunden,  Blasensprung  eine  Stunde  ante  partum.  Tem¬ 
peratur  38-4  sub  partum.  Geburt  spontan.  Am  zweiten  Tage 
Abgang  der  retinierten  Eihäute. 

Fall  XIII.  Prot.- Nr.  162/1910.  38jährige  V-para.  Geburts¬ 
dauer  8V2  Stunden,  Blasensprung  zehn  Minuten  ante  partum. 
Geburt  spontan.  Am  fünften  und  siebenten  Tage  Abgang  von 
retinierten  Eihautresten. 

Fall  XIV.  Prot.-Nr.  168/1910.  19jährige  I-para.  Blasen- 
sprung  7V2  Stunden  ante  partum.  Wehenschwäche.  Forzeps.  Blu¬ 
tung.  Am  siebenten  Tage  Abgang  von  Eihautresten. 

Fall  XV.  Prot.-Nr.  198/1910.  29jährige  I-para.  Hydrarn- 
nion.  Geburtsdauer  20  Stunden,  Blasensprung  künstlich  3V2  Stun¬ 
den  ante  partum.  Geburt  spontan.  Am  dritten  Tage  Abgang  der 
retinierten  Eihäute. 

Fall  XVI.  Prot.-Nr.  218/1910.  24jährige  I-para.  Einfach 
plattes  rachitisches  Becken.  Geburtsdauer  38  Stunden.  Blasen¬ 
sprung  drei  Stunden  ante  partum.  Geburt  spontan.  Am  achten 
Tage  digitale  Entfernung  von  Deziduaresten. 

Fall  XVII.  Prot.-Nr.  221/1910.  25jährige  II-para.  Geburts¬ 
dauer  3V2  Stunden,  Blasensprung  69V2  Stunden  ante  partum. 
Geburt  spontan.  Am  dritten  Tage  Abgang  von  Eihäuten. 

Fall  XVIII.  Prot.-Nr.  231/1910.  20jährige  II-para.  Geburts¬ 
dauer  2OV2  Stunden,  Blasensprung  zehn  Minuten  ante  partum. 
Geburt  und  Abgang  von  Plazenta  spontan/  Am  achten  Tage 
digitale  Entfernung  eines  kleinen  Deziduarestes  und  übelriechen¬ 
der  Blutgerinnsel. 

Fall  XIX.  Prot.-Nr.  258/1910.  23jährige  I-para.  Geburts¬ 
dauer  31  Stunden,  Blasensprung  eine  Stunde  ante  partum.  Geburt 
spontan.  Am  fünften  Tage  Abgang  der  retinierten  Eihäute. 

Fall  XX.  Prot.-Nr.  270/1910.  35jährige  II-para.  Nach  dem 
letzten  Partus  durch  drei  Monate  Blutungen.  Geburtsdauer  zwei 
Stunden,  Blasensprung  knapp  ante  partum.  Blutung  post  partum. 
Expression  der  Plazenta. 

Fall  XXL  Prot.-Nr.  322/1910.  28jährige  I-para.  Geburts¬ 
dauer  8V2  Stunden,  Blasensprung  6V2  Stunden  ante  partum.  Geburt, 
spontan.  Frühgeburt.  Am  dritten  Tage  Abgang  von  Eihäuten. 

Fall  XXII.  Prot.-Nr.  339/1910.  19jährige  I-para.  Gebuits- 
dauer  sieben  Stunden,  Blasensprung  künstlich  eine  Viertelstunde 
ante  partum.  Blutung  post  partum.  Expression  der  teilweise  ge¬ 
lösten  Plazenta.  Am  zweiten  Tage  Abgang  retinierter  Eihäute. 
Am  6.  Tage  Temperatur .  38-4. 

Fall  XXI II.  Prot.-Nr.  345/1910.  37jährige  111-para.  Latar- 
rhus  pulmonum.  Geburtsdauer  49  Stunden.  Blasensprung  künst¬ 
lich,  knapp  ante  partum.  Geburt  spontan.  Am1  vierten  Tage  pus 
partum  Abgang  von  Eihäuten. 

Fall  XXIV.  Prot.-Nr.  363/1910.  22jährige  I-para.  GeburL- 
dauer  8V2  Stunden,  Blasensprung  künstlich  eine  Stunde  ante 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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partum.  Gehurt  spontan.  Am  dritten  Tage  post  partum  Tempe¬ 
ratur  38-2.  Am  vierten  tage  post  partum  Abgang  von  Eihäuten. 

Fall  XXV.  Prot.- Nr.  387/1910.  26jährige  1-para.  Geburts¬ 
dauer  24  Stunden,  Blasensprung  vier  Stunden  ante  partum.  Ge¬ 
burt  spontan.  Blutung.  Expression  der  schon  teilweise  gelösten 
Plazenta.  Am  achten  Tage  post  partum  digitale  Ausräumung 
von  großen  Eihautresten. 

Fall  XXVI.  Prot.- Nr.  425/1910.  38jährige  Vlll-para.  Vitium 
cordis.  Nach  dem  letzteir  Partus  Blutungen.  Geburtsdauer  2OV2 
Stunden,  Blasensprung  künstlich  zehn  Minuten  ante  partum.  Ge¬ 
burt  spontan.  Leichte  Blutung.  Expression  der  schon  gelösten 
Plazenta.  Am  zehnten  Tage  post  partum  digitale  Lösung  der 
leicht  adhärenten  Eihäute. 

Fall  XXVII.  Prot.-Nr.  464/1910.  24jährige  1-para.  Geburts¬ 
dauer  14  Stunden,  Blasensprung  1 V 4  Stunden  ante  partum.  Ge¬ 
burt  spontan.  Leichte  Blutung.  Expression  der  Plazenta.  Am 
fünften  Tage  post  partum  Abgang  von  Eihäuten.  Am  sechsten 
Tage  post  partum  Entfernung  von  größeren  Eihautresten,  nach¬ 
her  Temperatur  39-2,  sonst  afebril. 

Fall  XXVIII.  Prot.-Nr.  137/1911.  22jährige  '1-para.  Ge¬ 
burtsdauer  14  Stunden,  Blasensprung  14  Stunden  ante  partum. 
Geburt  spontan.  Am  siebenten  Tage  post  partum  durch  leichten 
Zug  Entfernung  von  größeren’ Eihautresten,  welche  aus  der  Uterus¬ 
höhle  in  die  Zervix  hineinragen. 

Fall  XXIX.  Pi-ot.-Nr.  174/1911.  23jährige  Ilpara.  Häufig 
Hämoptoe.  Vorletzte  Geburt  Abortus.  Geburtsdauer  15V2  Stunden. 
Am  dritten  Tage  Abgang  von  Eihäuten. 

Fall  XXX.  Prot.-Nr.  189/1911.  25jährige  Il-para.  Geburts¬ 
dauer  20  Stunden,  Blasensprung  25  Stunden  ante  partum.  Geburt 
spontan.  Am  dritten  und  vierten  Tage  post  partum  Abgang  von 
Eihäuten. 

Fall  XXXI.  Prot.-Nr.  195/1911.  25jährige  Il-para.  Blu¬ 
tungen  aus  dem  Genitale  während  der  Gravidität.  Geburtsdauer 
15x/2  Stunden.  Geburt  spontan,  leichte  Blutung.  Am  dritten  Tage 
post  partum  Abgang  von  Eihäuten. 

Fall  XXXII.  Prot.-Nr.  197/1911.  31jährige  1-para.  Geburts¬ 
dauer  17  Stunden,  Blasensprung  drei  Stünden  ante  partum.  Se¬ 
kundäre  Wehenschwäche,  Forzeps.  Atonische  Blutung.  Expression 
der  Plazenta.  Tamponade.  Am  zehnten  Tage  post  partum  digitale 
Entfernung  eines  gelösten  großen  Eihautstückes.  Nachher  Tempe¬ 
ratur  38-5.  Sonst  afebril. 


Kinematographie  im  Dienste  der  Elektro- 

pathologie. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  S.  Jellinek. 

Als  im  Herbst  1909  die  wissenschaftliche  Kommission  der 
Internationalen  Hygieneausstellung  in  Dresden  an  das  k.  k.  Uni¬ 
versitätsinstitut  für  gerichtliche  Medizin  in  Wien  die  Einladung 
hatte  ergehen  lassen,  die  elektropathologische  Musealsammlunc 
im  Jahre  1911  nach  Dresden  zu  schicken  und  die  Zusage  erfolgt 
war,  begannen  wir  sofort  mit  den  Vorbereitungen. 

Die  geplante  Vorführung  der  elektropathologisehen  Samm¬ 
lung  in  der  Allgem.  wissenschaf tl.  Abt.  wurde  aber  ubgeänderi. 
als  im  Herbste  1910  Oesterreichs  offizielle  Teilnahme  an  der 
Internationalen  Hygieneausstellung  beschlossen  wurde  und  seitens 
der  k.  k.  Ausstellungskommission  an  das  Universitätsinstitut  für 
gerichtliche  Medizin  eine  Einladung  zur  Ausstellung  im  öster¬ 
reichischen  Pavillon  erfolgte.  Im  Einverständnis  mit  dem  Ge¬ 
neralsekretariat  der  Wissenschaftlichen  Abteilung  (Geh.  Regie¬ 
rungsrat  Dr.  Wutzdorff  und  Geh.  Regierungsrat  Dr.  Weber) 
wurde  dem  Wunsche  der  k.  k.  Regierungskommission  entsprochen 
und  die  Neuanmeldung  für  den  österreichischen  Pavillon  durch¬ 
geführt. 

Die  elektropathologische  Sammlung,  an  deren  Ausbau  und 
Vergrößerung  in  dem  Wiener  gerichtlichen  Institut  seit  dem  Jahre 
1906  ununterbrochen  gearbeitet  wird,  ist  in  den  allerletzten  Jahren 
durch  Einfügen  zahlreicher  und  geeigneter  Objekte  zu  einer  statt¬ 
lichen  gediehen;  isie  umfaßt  derzeit  mehr  als  250  Musealgegen¬ 
stände.  Von  den  neu  sich  ereignenden  Unfällen,  welche  auf  die 
I.  medizinische  Universitätsklinik  (Prof.  Dr.  C.  v.  Noorden) 
zur  Behandlung  oder  in  das  gerichtlich- medizinische  Institut 
(Prof.  Dr.  A.  Kolisko)  zur  Obduktion  kommen,  werden  Mou¬ 
lagen,  anatomische  Präparate  und  photographische  .Aufnahmen 
angefertigt,  die  dazugehörenden  Materialschäden,  die  Kleidungs¬ 
stücke,  Gebrauchsgegenstände,  elektrotechnische  Apparate,  Kabel, 
Sicherungen,  Isolationsträger,  Schaltstücke  usw.  gesammelt  und 
der  Sammlung  einverleibt.  Doch  nicht  nur  von  elektrischen  Un¬ 
fällen  herrührendes  Material,  auch  sonstige  lehrreiche  und  durch 
Seltenheitswert  sich  auszeichnende  Materialbeschädigungen  und 


Objekte  aus  Elektrizitätswerken  und  Betrieben  mit  elektrischer 
Energiebenützung,  ferner  Modelle,  Typen  usw.  trachten  wir  füi  die 
Musealsammlung  des  k.  k.  Universitätsinstitutes  für  gerichtliche 
Medizin  zu  gewinnen. 

Besonders  wertvolle  Zuwendungen  verdanken  wir  dem 
freundlichen  Entgegenkommen  der  Herren  Direktoren  und  Be¬ 
triebsleiter  der  Elektrizitätswerke  der  Städte  Wien,  Prag,  Brünn, 
Krakau,  Linz,  Bozen -Meran,  Deutsch  -Feistritz  Peggau  und  der 
größeren  Elektrizitätsfirmen,  wie  Oesterreichische  Siemens- 
Schuckert -  Werke,  Felten  &  Guillaume,  Allgemeine  Elektrizitäts- 
gesellschaft  Union  u.  a.  m. 

Doch  nicht  nur  durch  technische  Elektrizität  verursachte 
Materialschäden,  sondern  auch  solche,  hervorgerufen  durch  Ein¬ 
wirkung  atmosphärischer  Elektrizität,  Blitzschlag,  werden  ge¬ 
sammelt  und  bilden  eine  besondere  Abteilung  (gemeinsam  mit 
den  durch  Blitzschlag  verursachten  Organschäden)  der  Sammlung. 

Die  Zusammenstellung  und  Anordnung  der  Objekte  erfolgte 
kasuistisch,  das  ist  nach  Unfällen.  Für  jede  dieser  kleinen  Gruppe 
von  Objekten,  wie  da  sind  Moulagen,  anatomische  Präparate, 
Photographien,  Kleidungsstücke,  Kabel,  Sicherungen,  Apparate 
und  so  weiter,  die  alle  von  einem  elektrischen  Unfall  herrührten, 
wurde  eine  Unfallskizze  angefertigt,  das  ist  die  Situation  des 
Betroffenen  während  des  Unfalles ;  dadurch  sollte  dem  Beschauer 
eine  Vorstellung  und  rasche  Orientierung  über  die  Entstehung 
und  den  Verlauf  des  elektrischen  Unfalles  vermittelt  werden.  Die 
auf  jedem  Musealstücke  befindlichen  Etiketten,  auf  welchen  das 
Bemerkenswerte  des  Falles  aufgediuckt  ist,  erleichtern  den  ange¬ 
strebten  Zweck.  Und  so  vermag  nicht  nur  Gesundheitstechniker 
und  Elektrotechniker,  sondern  jeder  aufmerksame  Beschauer  sich 
leicht  über  die  Entstehungsweise  elektrischer  Unfälle  Aufklärung  zu 
verschaffen  und  Einsicht  zu  gewinnen,  wie  eine  wirksame  Pro¬ 
phylaxe  in  Räumen  und  Betrieben  mit  elektrischer  Licht-  und 
Kraftverwendung  durchzuführen  ist. 

Das  Studium  der  elektropathologisehen  Sammlung  lehrt, 
daß  in  den  meisten  Fällen  Unaufmerksamkeit,  Unterschätzen  der 
Gefahr  und  Nichtbeachten  der  Sicheiheitsvorschriften  die  Ursache 
des  Unglückes  gewesen;  nur  in  weinigen  Ausnahmefällen  waren 
böse  Zufälligkeiten  und  Unzulänglichkeiten  der  elektrotechnischen 
Installationen  und  anderer  Einrichtungen  der  Ausgangspunkt  des 
Unfalles  gewesen. 

Wenn  auch  die  Sammlung  großes  und  lehrreiches  Material 
für  das  Studium  der  Unfallverhütung  enthält,  so  erschien 
es  mit  Rücksicht  auf  die  in  der  elektrischen  Unfallspräxis  ge¬ 
machten  ernsten  Erfahrungen  wünschenswert,  noch  für  zwei 
weitere  Aufgaben  der  Elektrohygiene  eine  anschauliche 
und  gemeinverständliche  Darstellungsmethode  zu  finden:  gemeint 
sind  die  der  Befreiung  des  Verunglückten  aus  dem 
Stromkreise  dienenden  Vorbereitungen,  Handgriffe  und  Be¬ 
helfe,  endlich  geeignete  Anleitung  für  lege  artis  auszuführende 
Erste  Hilfeleistung  .((Wiederbelebung  elektrisch 
V  e  run  glückt  er). 

Bei  Erwägung  dieser  Aufgabe  kamen  wir  auf  die  Idee,  alle 
diese  für  die  alltägliche  Praxis  wichtigen  Momente  durch  kinemuto- 
graphische  Aufnahmen  zur  Vorführung  zu  bringen. 

Zunächst  sollten  Arbeiten  und  Verrichtungen  in  elektrischen 
Betrieben  gezeigt  werden,  wie  sie  vorschriftsmäßig  sind,  den 
Sicheiheitsvorschriften  entsprechen  und  vollkommene  Betriebs¬ 
sicherheit  verbürgen.  Im  Gegensätze  dazu  sollten  solche  Arbeiten 
vorgeführt  werden,  welche  unter  Außerachtlassung  der  Sicher¬ 
heitsvorschriften  duTchgeführt  werden  und  dadurch  zu  elektri¬ 
schen  Unfällen  Anlaß  geben ;  im  sofortigen,  Anschluß  an  eine  solche 
Unfallsituation  die  Mittel  und  Wege,  um  den  Verunfallten  rasch 
und  sicher  aus  dem  Stromkreise  zu  befreien.  Gleichzeitig  war 
darauf  hinzuweisen,  wie  sich  der  Retter  seihst  zu  isolieren  und 
vor  Elektrizitätsübergang  zu  schützen  habe.  Die  dritte  Aufgabe 
bestand  darin,  den  eingehenden  Vorgang  der  Ersten  Hilfeleistung 
in  ihren  Einzelheiten  und  insbesondere  die  künstliche  Atmung  in 
ihren  Phasen  zu  demonstrieren.  Die  in  den  letzten  Jahrein  auf 
dem  Gebiete  des  elektrischen  Unfallwesens  gemachten  Erfah¬ 
rungen  haben  die  bedauerliche  Tatsache  festgestellt,  daß  die  an 
durch  Elektrizität  Verunglückten  unternommenen  Wiederbelebungs¬ 
versuche  weder  zeitgemäß  noch  kunstgerecht  ausgeführt  werden: 
es  wird  mit  der  künstlichen  Atmung  in  der  Regel  zu  spät  be¬ 
gonnen  und  die  ganzen  Bemühungen  auch  viel  zu  früh  aufgegeben. 

Auf  die  verschiedenen  Befreiungsmöglichkeiten 
und  den  richtigen  Vorgang  bei  der  künstlichen  At¬ 
mung  und  der  Wiederbelebungsversuche  überhaupt 
war  daher  das  Hauptgewicht  zu  legen. 

Der  Ausführung  der  Idee  stellten  sich  große  technische 
Schwierigkeiten  entgegen,  zu  deren  Ueberwindung  wir  in  Herrn 
Dr.  Wogrinz,  k.  k.  Oberinspektor  des  k.  k.  Gewerbeförderungs- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


amtes  (k.  k.  Ministerium  für  öffentliche  Arbeiten)  einen  Mitarbeiter 
fanden,  welcher  keine  Mühe  und  Zeitopfer  scheute  und  dem  es 
auch  gelang,  daß  die  österreichisch- ungarische  Kino¬ 
in  du  s  trie  (Generaldirektor  Dr.  Kühnei t)  in  Wien  es  auf  sich 
nalnn,  die  kostspieligen  photographischen  Kinoaufnahmen  für 
eigene  Rechnung  durchzuführen  und  auch  einen  Projektions¬ 
apparat  rnit  den  dazugehörenden  Behelfen  in  Dresden  aufzustellen. 

Als  schließlich  die  k.  k.  österreichische  Ausstel¬ 
lung  s  k  o  m  m  i  s  s  i  o n  (Sani tät sdepa rtemen t  des  k.  k.  Ministeriums 
des  Innern),  welche  sich  von  allem  Anfang  für  die  Idee  der  kino¬ 
matographischen  Vorführungen  interessierte,  den  Beschluß  faßte, 

I  ür  die  Demonstration  der  lebenden  Bilder  einen  besonderen  Raum 
bauen  zu  lassen,  da  konnten  wir  an  die  Realisierung  des  Pro¬ 
jektes  schreiten. 

.  Nach  mehreren  gemeinsam  mit  Herrn  Prof.  Dr.  Kolisko  und 
Dr.  \\  ogrinz  abgehaltenen  Beratungen  schritten  wir  an  die 
Ausarbeitung  eines  Szenariums,  welches  als  Grundlage  und 
Leitfaden  für  die  vor  den  photographischen  Kinoaufnahmen  vorzu¬ 
nehmenden  Uebungen  diente.  Der  Versuchsraum  desk.  k.  Gewerbe¬ 
förderungsamtes  und  dessen  durchaus  moderne  Einrichtungen 
lieferten  Raum  und  Behelfe  für  die  gewünschten  Studien,  Uebungen 
und  Aufnahmen.  Die  nötigen  Adaptierungen  ließ  Herr  Dr.  VYo- 
grinz,  welcher  die  photographischen  Kinoaufnahmen  mitleitete, 
ras ehest  durchführen. 

Zu  den  Aufnahmen  waren  acht  Personen  nötig,  von  denen 
vier  die  Rolle  von  „Schauspielern“,  welche  den  Verunfallten 
und  die  Retter  darstellten,  zu  übernehmen  hatten.  An 
der  Hand  des  Szenariums  wurden  die  verschiedenen  Verrich¬ 
tungen,  wie  sie  den  Sicherheitsvorschriften  entsprechen,  oder 
nicht  entsprechen,  Unfallsituationen,  eine  ganze  Reihe  von  Be¬ 
freiungsmöglichkeiten,  di©  erste  Hilfeleistung  mit  den  „handelnden 
Personen“  genau  eingeübt;  Arbeit,  Handgriffe,  Gesten,  zustim¬ 
mende  und  abwehrende  Bewegungen  waren  prägnant  zum  Aus¬ 
druck  zu  bringen.  Die  Vorübungen  für  die  künstlichen  Atem¬ 
bewegungen  wurden  im  physiologischen  Institut  des  Herrn  Pro¬ 
fessors  Dr.  A.  v.  Tschermak  durchgeführt.  Das  Szenarium, 
welches  als  text  für  die  kinematographischen  Vorführungen  dem 
offiziellen  Katalog  des  österreichischen  Pavillons  beigefügt  ist, 
hat  folgenden  Wortlaut: 

L  Den  S  i  c  h  er  h  ei  ts  v  o  r  s  ch  r  i  f  ten  entsprechende 

Manipulationen  an  elektrischen  Starkstromein- 

r  i  c  h  tu  nge  n. 

1.  Ein  ruhendes  Drehstromaggregat  in  einer  Zentralstation 
für  elektrische  Beleuchtung.  Der  Maschinist  tritt  heran,  ölt,  führt 
die  letzten  Handgriffe  aus  und  läßt  die  Maschine  angehen. 

1.  Ein  Arbeiter  am  Schaltbiett  schaltet  einen  Maschinensatz 
au f  A kkuinu la torenlad ung. 

3.  Ein  Hochspannungsversuchsraum,  die  Ausführung  von 
D  urchschlagsversu  chen. 

4.  Ein  Obermonteur  wartet  bei  der  Arbeitsstelle.  Ein  junger 
Monteur  kommt,  in  der  Hand  trägt  er  Isolierhandschuhe  und  ein 
nicht  isoliertes  Werkzeug.  Er  legt  es  beiseite  und  zieht  zunächst 
die  mitgebrachten  Isolierhandschuhe  an.  Sie  sind  zu  kurz.  Der 
Obermonteur  macht  ihn  darauf  aufmerksam,  nimmt  ihm  die 
Handschuhe  ab  und  schickt  ihn  weg,  wobei  er  gleichzeitig  auf  die 
Füße  des  Arbeiters  hinweist.  Der  Monteur  geht  fort  und  kehrt 
nach  kurzer  Zeit  mit  anderen  Handschuhen  und  Gummischuhen 
zurück.  Er  legt  sie  an,  greift  nach  dem  früher  beiseite  gelegten, 
nicht  isolierten  Werkzeug  und  will  nun  zu  arbeiten  beginnen. 
Der  Obermonteur  hindert  ihn  neuerlich  daran,  nimmt  ihm  das 
nicht  isolierte  Werkzeug  ab,  reicht  ihm  dafür  ein  entsprechend 
isoliertes  und  erst  jetzt  beginnt  der  junge  Monteur  zu  arbeiten. 

;>.  Das  Einregulieren  einer  Bogenlampe  unter  Verwendung 
von  Isoherhandschuhen  und  Schutzbrillen. 

IL  Entstehung  elektrischer  Unfälle  und  verschiedene 

Befreiungs  arten. 

1.  Ein  Monteur  arbeitet  in  knieender  Stellung  ohne  Hand¬ 
schuhe  an  einem  Motor  u.  zw.  bei  offenem  Schalter  der  Motor¬ 
schalttafel.  Ein  Kollege  kommt  herein  und  schließt  aus  Versehen 
den  Si  halter,  worauf  der  am  Motor  tätige  Arbeiter  Strom  bekommt 
und  mit  der  Hand  heftige  Abwehrbewegungen  macht.  Sein  Kollege 
"  a ul  ihn  zueilen,  in  dem  Augenblick  springt  der  Obermonteur 
herbei,  stößt  ihn  beiseite  und  öffnet  rasch  den  Schalter,  worauf 
sich  der  Verunglückte  aus  der  knieenden  Stellung  erhebt  und  zu 
einem  Sessel  geleitet  'wird.  Nun  macht  der  Obermonteur  den 
beiden  Monteuren  heftige  Vorwürfe,  zeigt  ihnen,  daß  bei  heraus- 
genommeneri  Sicherungen,  die  er  jetzt  entfernt,  der  Unfall  nicht 
möglich  gewesen  wäre  und  weist  den  verunglückten  Arbeiter 
auf  die  Isolierhandschuhe  hin,  die  unbenutzt  am  Boden  lagen. 


2.  Lm  Monteur  kommt  in  einen  Raum,  in  dem  an  der 
Wand  neben  einem  eisernen  Ofen,  eine  Kipplampe  mit  Steck¬ 
kontakt  hängt,  an  welcher  eine  Reparatur  auszuführen  ist.  Statt 
zuerst  den  Steckkontakt  zu  lösen,  steigt  der  Arbeiter  gleich  auf 
einen  Sessel,  schraubt  die  Birne  aus  der  Fassung  und  beginnt 
1  a!(.1,1,. auch  ^en  fün^ellanring  herauszudrehen,  wobei  er  °sich 
zufällig  mit  der  anderen  Hand  auf  den  eisernen  Ofen  stützt. 
Ei  bekommt  Strom.  Der  hereineilende  Obermonteur  löst  rasch 
den  Steckkontakt,  hilft  dem  Verunglückten  vom  Sessel  und  deutet 
ihm  an,  daß  das  Mißgeschick  bei  gelöstem  Steckkontakt  nicht 
möglich  gewesen  wäre. 

3.  Ein  Arbeiter  kommt  zu  einer  Schalttafel,  um  neue  Glüh¬ 
lampen  in  die  Schalttafel  — -  Wandarme  —  einzusetzen.  Er  stellt 
sich  dabei  auf  die  Zehen  und  stützt  sich  mit  der  freijen  linken 
Hand  auf  die  Marmorfläche  der  Schalttafel.  Beim  Einschrauben 
der  ersten  zwei  Lampen  geht  die  Arbeit  glatt  vonstatten,  wie 
er  aber  die  dritte  Birne  eindrehen  will,  gleitet  der  Monteur 
unglücklicherweise  mit  der  linken  Hand  auf  einen  Schalter.  Die 
Lampe  aus  seiner  rechten  Hand  fällt  und  er  macht  heftige  Abwehr- 
bewegungek,  ohne  jedoch  die  auf  dem  Schalter  verkrampften 
finger  öffnen  zu  können.  Der  Retter  springt  hinzu,  zieht  rasch 
Isolierhandschuhe  an,  löst  die  verkrampfte  Hand  unter  Einschieben 
von  Putzlappen,  und  führt  den  Verunglückten  zu  einem  Sessel. 

4.  Die  gleiche  Unfallsituation.  Der  Retter  sucht  vergeblich 
nach  irgendeinem  Behelf,  greift  schließlich  nach  einem  Sessel, 
kniet  darauf  und  löst  die  verkrampfte  Hand  wie  vor. 

ö.  Die  gleiche  Unfallsituation.  Der  Retter  hüllt  seine  Hände 
m  mehrere  Putzlappen.  Weiteres  wie  vor. 

ß.  Die  gleiche  Unfallsituation.  Der  Retter  zieht  rasch  seinen 
Leberrock  aus,  steckt  seine  Hände  in  die  Aermel  und  hebt  den 
Verunglückten  vom  Boden  in  die  Höhe. 

7.  Die  gleiche  Unfallsituation.  Der  Verunglückte  rettet  sich 
selbst  durch  Emporspringen  vom  Boden,  wie  es  ihm  ein  Kol¬ 
lege  vormac'ht. 

3.  Ein  Arbeiter  will  zwei  Drähte  von  einer  Probierschalt¬ 
tafel  zu  einer  Bogenlampe  führen,  die  einreguliert  werden  soll. 
Li  nimmt  die  beiden  Drähte  in  die  Hand,  ohne  zu  beachten,  daß 
dm  Schaltei  geschlossen  ist,  nähert  sich  der  Bogenlampe  und 
bekommt  plötzlich  Strom.  (Er  befreit  sich,  indem  er  die 
Enden  der  beiden  Drähte  zur  Berührung  bringt.)  Der 
herbeigeeilte  Obermonteur  geleitet  ihn  zu  einem  Sessel,  weist 
a nl  den  geschlossenen  Schalter,  öffnet  ihn  zunächst,  schraubt 
dann  die  durchgebrannten  Sicherungen  heraus,  wirft  sie  beiseite, 
fordert  jetzt  einen  anderen  Arbeiter  auf,  die  Drähte  an  die  Bogen¬ 
lampe  zu  klemmen,  um  neue  Sicherungen  einzuschrauben  und 
endlich  den  Schalter  zu  schließen,  worauf  die  Arbeit  an  der 
Bogenlampe  beginnt. 

9.  Von  einer  Freileitung  hängt  ein  gerissener  Draht  herunter, 
ohne  den  Boden  zu  berühren.  Ein  vorübergehender  Monteur 
bemerkt  dies  und  eilt  rasch  hinweg,  um  sein  Werkzeug  zu  holen. 
Er  kehrt  mit  der  Isolierzange  in  der  Hand  zurück,  begleitet  von 
einem  Kollegen;  während  die  beiden  Monteure  ein  wenig  Halt 
machen,  um  sich  eine  Zigarre  anzuzünden,  erscheint  ein  Spazier¬ 
gänger,  der  den  Draht  neugierig  anfaßt.  Sofort  bricht  er  zusammen 
und  wälzt  sich  auf  dem  Boden,  bis  die  rasch  herbeigeieilten 
Monteure  den  Draht  abgekniffen  haben. 

HL  Wiederbelebung  elektrisch  Verunglückter. 

Der  Verunglückte  wird,  mit  dem  Gesicht  nach  oben,  auf 
den  Boden  gelagert,  wobei  sein  Kopf  nach  rückwärts  überfällt. 
Einer  der  zwei  Helfer  deutet  an,  daß  der  Kopf  hoch  zu  legen  sei, 
was  nun  durch  Unterschieben  eines  zusammengefalteten  Rockes,' 
den  der  andere  Helfer  rasch  ausgezogen  hat,  geschieht.  Nun 
entfernt  sich  der  eine  Helfer,  um  einen  Arzt  zu  holen,  während 
der  andere,  der  schon  während  des  Hochlagerns  des  Kopfes 
die  Kleider  des  Verunglückten  aufgerissen  hat,  aus  dessen  Munde 
eine  Zahnprothese  entfernt  und  hierauf  die  künstliche  Atmung 
einleitet.  Nachdem  er  eine  Weile  gearbeitet  hat,  kehrt  der  weg- 
geschickte  Helfer  zurück,  deutet  an,  daß  der  Arzt  ihm  gleich 
folgen  werde  und  hilft  dann  seinem  Kameraden  bei  der  Weiter¬ 
führung  der  künstlichen  Atmung.  Endlich  kommt  der  Arzt,  ein 
Helfer  setzt  die  künstliche  Atmung  fort,  während  der  andere 
einen  Augenblick  rastet.  Der  Arzt  nimmt  die  notwendigen  Unter¬ 
suchungen  vor  und  weist  den  rastenden  Helfer  an,  dem  Verun¬ 
glückten  die  Schuhe  auszuziehen  und  ihm  die  Sohlen  mit  einem 
Tuche  abzureiben.  Während  dies  geschieht,  peitscht  der  Arzt 
mit  einem  neuen  Tuche  die  Herzgegend  des  Verunglückten  und 
zieht  ihm  dann,  zur  Unterstützung  der  künstlichen  Atmung, 
rhythmisch  die  Zunge  vor. 

Eine  hinzugetrelene  Person  will  dem  Verunglückten  Wasser 
einflößen,  was  der  Arzt  ablehnt. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


1  lötzlich  deutet  er  an,  daß  die  künstliche 
stellen  sei,  der  Verunglückte  erwacht. 

* 


Atmung  einzu- 


a  ^m^^-l^'her  .Hinsicht  wäre  noch  zu  erwähnen,  daß 
der  größte  1  eil  der  Aufnahmen  in  den  Räumten  des  k.  k  Ge- 
werbcförd  era ngs am tes  und  der  Rest  der  Bilder  in  den  Fabriks¬ 
raumen  der  Oesterreichischen  Siemens  -  Schlickert-  Werke  durch- 
gefuhrt  wurde. 

Die  Freilichtaufnahmen  gelangen  ohne  weiteres;  hingegen 
mußten  die  ersten  Interieuraufnahmen,  trotzdem  sehr  intensive 
Lichtquellen  — -  so  wurde  z.  B.  der  Raum  eines  gewöhnlichen 
\\  ohnzimmers  mit  drei  großen  Quecksilberdampflampen  (Cooper- 
Hewitt)  und  zehn  starken  Bogenlampen  erleuchtet  —  verwendet 
wurde,  als  lichtschwach  wiederholt  werden.  Herr  Dr.  Wog  rin  z 
ließ  rasch  in  einem  Hofraume  eine  geeignete  elektrische  Arbeits- 
statte  improvisieren,  die  nötigen  elektrischen  Behelfe  herbei¬ 
schaffen  und  so  wurde  die  Interieuraufnahme  durch  eine  Frei¬ 
lichtaufnahme  ersetzt. 

Einige  innerhalb  der  Fäbriksräume  der  Siemens  -  Schuckert- 
Werke  angeführten  Interieuraufnahmen  gelangen  deshalb,  weil 
gutes  Oberlicht  vorhanden  war  und  die  Kinoaufnahmen  in 
sehr  verlangsamtem  Tempo  (vier  Aufnahmen  statt  16  in  der 
Sekunde)  gemacht  wurden ;  nicht  nur  die  Aufnahme  (das  Kurbeln 
der  Films),  sondern  auch  die  Bewegungen  der  handelnden  Per¬ 
sonen  hatten  sich  hiebei  in  sehr  verlangsamtem  Tempo  zu  voll¬ 
ziehen. 

Für  den  flotten,  ununterbrochenen  Gang  der  „Handlung“ 
anläßlich  der  photographischen  Aufnahmen  hatte  die  „Rerte- 
leitung“  zu  sorgen. 

Bei  den  Aufnahmen  in  den  Siemens  -Schuckert- Werken, 
deren  Direktion  uns  alle  nötigen  Behelfe  in  freundlichster  Weise 
zui  Verfügung  stellte,  waren  uns  die  Herren  Oberingenieur  V  o  r- 
bach  und  Ingenieur  Holzner  behilflich.  Mit  Ausnahme  des 
Bildes  „Einregulieren  einer  Bogenlampe  unter  Verwendung  von 
Isolierhandschuhen  und  Schutzbrillen“,  wurden  alle  übrigen  Bilder 
der  Gruppe  I  in  den  Schuckert  -  Werken  aufgenommen;  daselbst 
wurde  noch  das  Bild  „Unfall  durch  einen  von  der  Freileitung 
herabhängenden  Draht“  der  Gruppe  II  angefertigt. 

Alle  übrigen  Bilder,  ein  Teil  der  Gruppe  I,  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  Gruppe  II  und  sämtliche  Bilder  der  Gruppe  111 
stammen  aus  dem  k.  k.  Gewerbeförderungsamt.  Es  sei  gestattet, 
Herrn  Dr.  Wogrinz,  k.  k.  Oberinspektor  des  Gewerbeförderungs 
amtes,  nochmals  an  dieser  Stelle  für  die  außerordentliche  Mühe¬ 
waltung  zu  danken. 

Nachdem  die  Aufnahmen  beendet  waren,  wurde  ein  kurzer 
Text  in  Schlagworten  verfaßt  und  ebenfalls  kinematographisch 
aufgenommen  und  derart  in  den  Filmrollen  verteilt,  daß  jedem  ein¬ 
zelnen  Bilde  der  erwähnten  Gruppen  I,  II,  III,  einige  wenige 
orientierende  Worte  vorauseilen  und  solcherart  bei  der  Aufführung 
die  Anwesenheit  einer  erklärenden,  sprechenden  Person  üben 
flüssig  machen. 

Die  k.  k.  österreichische  Ausstellungskommission,  an  deren 
Spitze  die  Herren  k.  k.  Sektionschef  Dr.  Simonelli,  k.  k.  Mini¬ 
sterialrat  Dr.  R.  v.  Haber ler  und  k.  k.  Landesregierangsrat 
Dr.  Stadler  standen,  ließ  für  diese  kinematographischen  Vorfüh¬ 
rungen  einen  besonderen  u.  zw.  14  m  langen  und  4  m  breiten, 
Raum  mit  einer  Kinokammer  bauen  und  weitere  geeignete  Ein¬ 
richtungen,  wie  Vorhänge,  Nottüren,  elektrische  Leitungen  und 
so  weiter  treffen,  damit  dieser  Raum,  der  gleichzeitig  einen  Ver 
bindungsgang  zwischen  dem  großen  österreichischen  Ausstellnngs- 
pavillon  und  einem  kleinen,  die  vorerwähnte  elektropalhologische 
Sammlung  fassenden  Pavillon  darstellt,  rasch  und  leicht  zu  ver¬ 
finstern  und  zu  erhellen  sei.  Eine  große  Zahl  von  Zuschauern 
kann  auf  diese  Weise  bequem  den  Vorführungen  beiwohnen. 

Am  8.  Mai  1911,  dem  Tage  der  feierlichen  Eröffnung  der 
Internationalen  Hygieneausstellung,  wurden  die  kinematographi¬ 
schen  Bilder  (drei  Films  in  der  Gesamtlänge  von  beiläufig  600  m) 
zum  ersten  Male  vorgeführt. 


Bemerkung  zu  meiner  Abhandlung: 

lieber  „Lokalisation  der  Herztöne“  betreffend 
die  Verdoppelung  des  zweiten  Tones.*) 

Von  Prof.  Dr.  M.  Heitler. 

Bei  Erklärung  der  Verdoppelung  des  zweiten  Tones  an  der 
Herzbasis  in  einem  Falle  von  Mitralstenose  habe  ich  angenom¬ 
men,  daß  das  zweite,  bei  Druck  auf  die  Lebergegend  schwächer 

1  t  -  ,  i  - 


gewordene  Moment  der  Verdoppelung  an  den  Aortaklappen  ent¬ 
stehe.  Diese  Bemerkung  bedarf  einer  Ergänzung.  Die  Abschwä¬ 
chung  des  Momentes  kann  nicht  absolut  für  die  Entstehung 
desselben  an  der  Aorta  verwertet  werden.  Bei  Druck  auf  die 
Lebergegend  werden  die  Schallphänomene,  welche  an  der  Aorta 
und  an  der  Mitralis  entstehen,  schwächer  und  man  muß  an 
die  Möglichkeit  denken,  daß  der  zweite  Teil  der  Verdoppelung 
ein  an  der  Basis  hörbares  stärkeres  Moment  des  diastolischen 
Geräusches  an  der  Herzspitze  darstelle.  Dies  wurde  mit  größter 
Wahrscheinlichkeit  ausgeschlossen,  so  daß  die  Annahme,  daß 
das  Moment  an  den  Aortaklappen  entstehe,  als  richtig  betrachtet 
werden  kann. 


Referate. 


Pathologisch-anatomische  Tafeln. 

Theodor  Rumpel  (Hamburg),  Alfred  Käst  (f ),  Eugen  Eraeukel  (Hamburg). 

Nach  frischen  Präparaten,  mit  erläuterndem  anatomisch-klinischen  Text. 

26  Lieferungen.  5  M.  pro  Lieferung,  einzelne  Tafeln  1  M.  50  Pf. 

Leipzig  19 10,  W.  Klinkhardt. 

1  (Vor  18  Jahren  begann  dieses  prächtige  Werk,  das  nun 
Vollendet  vor  uns  liegt,  mit  der  Herausgabe  pathologisch -ana¬ 
tomischer  Tafeln  durch  Theodor  Rumpel  und  den  in  der  Blüte 
der  Jahre  dahingeschiedenen  Alfred  Käst.  Die  damals  erschie¬ 
nenen,  noch  in  der  Wansbecker  Kunstanstalt  meisterlich  gedruckten 
Tafeln  bedeuteten  einen  großen  Fortschritt  in  technisch- repro¬ 
duktiver  Hinsicht  und  boten  eine  Anzahl  meist  recht  instruk¬ 
tiver  Bilder  von  zum  Teil  selteneren,  zum  Teil  mehr  alltäglichen, 
aber  in  ihrer  Mehrzahl  durch  charakteristische  Ausprägung  aus¬ 
gezeichneten  pathologisch -anatomischen  Präparaten.  Diese  Tafeln 
sollten  mit  der  Zeit  vermehrt  werden  und  sich  allmählich  zu  einem 
Atlas  der  wichtigsten  pathologisch- anatomischen  Veränderungen 
organisch  vereinigen.  Doch  schien  die  Erreichung  dieses  Zieles 
in  weite  Ferne  gerückt,  als  mit  Kasts  Tode  die  Weiterführang 
des  Werkes  gänzlich  ins  Stocken  geriet.  Viele  der  prachtvollen 
Instruktiven  Tafeln  behielten  zwar  einen  dauernden  Wert  und 
hatten  sich  nicht  nur  als  Hilfsmittel  beim  Unterricht  in  den 
Kliniken  und  pathologischen  Instituten,  sondern,  was  Ref.  zu 
seiner  Freude  wiederholt  konstatieren  konnte,  auch  zum  privaten 
Studium  und  zur  Auffrischung  pathologisch -anatomischer  Vor¬ 
stellungen  in  den  Händen  praktischer  Aerzte  vortrefflich  bewährt. 
Aber  der  Atlas  war  doch  nur  ein  Torso  geblieben. 

Erst  als  dann  ein  pathologischer  Anatom  von  der  großen 
Erfahrung  eines  Eugen  Fraenkel  der  Fortführung  des  Werkes 
seine  bewährte  Kraft  zur  Verfügung  stellte,  wurde  dessen  mühe¬ 
voller  Ausbau  und  straffere  organische  Gestaltung  in  einer,  wie 
wir  nun  sehen,  überaus  gediegenen  Weise  fortgesetzt  und  zum 
glücklichen  Ende  geführt.  Dadurch  entstand  eigentlich  erst  ein 
systematisch  ausgearbeiteter,  wirklich  brauchbarer  pathologisch¬ 
anatomischer  Atlas,  das  Meisterwerk,  das  wir  jetzt  bewundern 
und  welches  uns  die  wichtigsten  pathologisch  -  anatomischen  Be¬ 
funde  der  meisten  Organsysteme  in  natürlicher  Größe  und  Farbe 
vortrefflich  vor  Augen  führt,  so  daß  die  Betrachtung  nicht  nur 
einen  wissenschaftlichen  Gewinn  bedeutet,  sondern  auch  dem 
künstlerisch  gebildeten  Auge  des  Fachmannes  und  des  Prak¬ 
tikers  einen  ästhetischen  Genuß  zu  bereiten  geeignet  ist. 

Aber  mehr  noch.  Durch  den  knappen,  aber  inhaltreichen 
Text  zu  den  Bildern  wird  der  Wert  des  Werkes  noch  in  beson¬ 
derem  Maße  erhöht.  So  erleben  wir  den  klinischen  Verlauf 
der  Fälle  mit  und  der  Atlas  bringt  uns  die  naturgemäße  inni.se 
Korrelation  von  klinischer  Beobachtung  und  Sektionsbefund  auf 
Schritt  und  Tritt  in  packender  Weise  zum  Bewußtsein. 

Diese  pathologisch -anatomischen  Täfeln  sind,  was  die 
Schönheit  der  Bilder  anlangt,  zurzeit  unübertroffen. 

Die  Kritik  an  wenigen  Einzelheiten,  die  vielleicht  hier  und 
da  zu  beanständen  wären,  muß  angesichts  dieser  großen  soliden 
Arbeit  verstummen.  Wir  zollen  den  Autoren  Dank,  welche  dieses 
klassische  Werk  schufen,  das  gleich  geeignet  zum  Zwecke  des 
Unterrichts  wie  zum  privaten  Studium  sich  sicherlich  zu  den  vielen 
alten  Verehrern,  die  es'  bereits  in  der  medizinischen  Welt  besitzt, 
viele  neue  Freunde  erobern  wird,  um  so  eher,  als  sich  der  ge- 


*)  Nr.  24  dieser  Wochenschrift. 


912 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr~  25 


diegene  Text  in  drei  lobenden  Sprachen  an  einen  internationalen 
Leserkreis  wendet.  Und  ein  solches  Werk  verdient  in  der  Tat 

die  weiteste  Verbreitung.  E.  Kaufmann -Göttingen. 

* 

Der  Schwindel. 

Von  Hitzig. 

Zweite  Auflage. 

Herausgegeben  und  neu  bearbeitet  von  J.  Ricli.  Ewald  und  Robert 

Wollenberg. 

Nothnagels  spez.  Pathologie.  1911. 

Wien  1911,  A.  Holder. 

Es  isl  ein  großes  Verdienst  des  Herausgebers  von  Noth¬ 
nagels  monumentalem  Werke,  dasselbe  in  dessen  Geist  fort¬ 
zuführen  und  stets  zeitgemäß  um-  und  auszugestalten.  —  Am 
besten  kommt  dies  in  dem  vorliegenden  Abschnitt  zum  Aus¬ 
druck,  wo  sich  zwei  um  den  Gegenstand  hervorragend  verdiente 
Forscher  zusammenfanden,  um  bei  pietätvoller  Wahrung  der  Dar¬ 
stellung  Ilitzigs,  doch  alles  Neue  aufzunehmen  und  kritisch 
zu  gestalten.  Wir  finden  hier  die  ganze  Lehre  vom  Labyrinth¬ 
schwindel  kurz  und  übersichtlich  dargestellt ;  die  schwierige  Ny¬ 
stagmusfrage  erscheint  in  klarer  und  objektiver  Form  wieder¬ 
gegeben  und  auch  der  klinische  Teil  bringt  zahlreiche  neue  und 
instruktive  Beobachtungen,  aus  denen  sich  allgemeine  Sätze 
zwangslos  a Weiten  lassen.  So  wird  dem  Praktiker  und  Spezialisten 

das  Buch  in  gleicher  Weise  gerecht. 

* 

L’ipofisi  cerebrale  faringea  e  la  glandola  pineale  in 

patologia. 

Von  Alfonso  Popp!. 

Bologna  1911,  Neri. 

Vor  einigen  Jahren  hat  Pineies  in  einer  hochbedeutsamen 
Arbeit  den  inneren  Zusammenhang  der  Blutdrüsen  erwiesen  und 
deren  funktionelle  Korrelationen  aufgezeigt.  Wäre  dem  Autor 
diese  Arbeit  nicht  entgangen,  .  so  hätte  er  sich  viel  Mühe  er¬ 
spart  und  vielleicht  etwas  mehr  Objektivität  gewonnen.  Er  fügt 
nämlich  in  diesen  Kreis  von  Blutdrüsen,  deren  Korrelationen 
er  nachweist,  auch  das  adenoide  Gewebe  des  Rachendachs,  wobei 
man  sich  nicht  immer  klar  ist,  oh  er  letzteres  als  solches  oder 
als  Träger  der  Bachendachhypophyse  meint.  Jedenfalls  stellt 
er  anatomisch  die  innigsten  Beziehungen  der  Rachendachdrüsen 
mit  der  Hypophyse  und  letzterer  wieder  mit  der  Epiphyse  fest, 
zeigt,  daß  Anomalien,  wie  sie  nur  bei  schweren  Blutdrüsenaffek¬ 
tionen  Vorkommen,  auch  bei  adenoiden  Vegetationen  sich  finden 
(zum  Beispiel  die  Blutzusanimensetzung  betreffend)  und  kommt 
zu  dem  Schlüsse,  daß  die  Rachendachtonsille,  wenn  sie  hyper- 
tröphiert,  die  Funktionen  der  Rachendachhypophyse  stören  kann 
und  so  störend  in  die  Funktionen  der  anderen  Drüsen  eingreift. 
Es  erscheint  jedoch  als  zu  weit  gegangen,  anzunehmen,  daß 
die  adenoiden  Vegetationen,  die  immerhin,  infolge  der  Beziehungen 
zur  Hypophyse,  eine  beachtenswerte  Affektion  geworden  sind, 
in  den  Mittelpunkt  der  Blutdrüsenerkrankung  zu  stellen,  da  dies 
zu  bedenklichen  Folgerungen  Anlaß  geben  kann.  So  hat  der 
Autor  bei  einem  sicher  festgestellten  Hypophysen  tumor  nach  Ent¬ 
fernung  von  Resten  adenoiden  Gewebes  des  Rachendaches  Besse¬ 
rung  gesehen,  freilich  vom  Auge  nicht  und  meint,  daß  der  schwere 
Eingriff  der  Hypophysenoperation  nicht  mehr  Vorteil  bringe,  als 
der  leichte  der  Entfernung  des  adenoiden  Gewebes.  Dem  ist 
entgegenzuhalten,  daß  gerade  die  Störungen  des  Sehvermögens 
den  schweren  Eingriff  bestimmen  und  die  Resultate  der  letztem 
Zeit,  die  Indikation  auch  gerechtfertigt  haben. 

* 

Die  Funktionen  des  Gehirnanhanges  (Hypophysis  cerebri). 

Von  Edward  A.  Schäfer. 

Bern  1911.  Akademische  Buchhandlung  von  Max  Drexel. 

Schäfer,  der  bekannte  Darsteller  der  chemischen  Eigen¬ 
schaften  der  Hypophysis,  faßt  hier  seine  Ergebnisse  kurz  zusam¬ 
men  und  ergänzt  und  erweitert  dieselben.  Man  hat  nach  ihm  drei 
Abschnitte  der  Drüse  zu  unterscheiden,  den  drüsigen,  den  ner¬ 
vösen  und  zwischen  beiden  jenen  Abschnitt,  der  das  Kolloid 
der  Drüse  liefert.  Er  bespricht  die  Blutdruck  steigernde  und 
herabsetzende  Wirkung  der  Drüsenextrakte  als  einer  direkten 
peripheren  Einwirkung,  wie  denn  auch  das  Sekret  direkt  reizend 
auf  die  sekretorischen  Zellen  der  Niere  wirkt.  Er  vertritt  die 


allerdings  durch  As  ebner  s  Experimente  unwahrscheinlich  ge¬ 
wordene  Ansicht,  daß  eine  Totalentfernung  der  Hypophyse  ähn¬ 
lich  wirke  wie  die  der  Thyreoidea.  An  neuen  Experimenten 
zeigt  er,  daß  man  durch  Verfütterung  des  Vorderlappens  hei 
Ratten  Gewichtszunahme  erzielen  könne.  Implan tationsversuche 
gaben  keine  sicheren  Resultate.  Bei  Einnahme  des  Extraktes 
vom  Hinterlappen  stieg  die  Urinmenge  (Versuche  auch  an  Kindern) 
sichtlich,  während  Transplantations  versuche  keine  so  deutlichen 
Resultate  lieferten.  Heizungen  der  Hypophyse  zeigten  gleichfalls 
vermehrte  Diurese,  was  auf  Zunahme  des  Kolloids  zurückgeführt 
wird. 

Man  sieht  aus  diesen  kurzen  Angaben,  wie  interessant  und 
richtunggebend  Schäfers  Versuche  sind,  -  aus  denen  erst  die 
große  Bedeutung  der  Hypophyse  resultiert. 

* 

Die  Pupillenstörungen  bei  Geistes-  und  Nervenkrank¬ 
heiten. 

Von  Oswald  Bmnke. 

Zweite,  vollständig  umgearbeitete  Auflage. 

Jena  1911,  Gustav  Fische  r. 

Erschöpfend,  dabei  äußerst  übersichtlich  und  klar  in  Dispo¬ 
sition  und  Diktion,  die  Mehrzahl  der  einschlägigen  Arbeiten,  -unter 
denen  die  eigenen  vielfach  zu  den  wichtigsten  gehören,  berück¬ 
sichtigend,  kritisch  und  dabei  doch  subjektiv  genug,  ohne  die 
eigene  Ansicht  aufdrängen  zu  wollen,  stellt  Bumkes  Buch  das 
Beispiel  einer  guten  Monographie  dar. 

Das  Unbefriedigende  unserer  anatomisch -physiologischen 
Kenntnis,  die  für  die  alltäglichsten  Erscheinungen  noch  keine 
sicheren  Grundlagen  besitzt,  wird  hier  weniger  fühlbar  dadurch, 
daß  aus  dem  Wust  der  Neuerungen  das  Sicherstghendste  oder 
Plausibelste  scharf  herausgearbeitet  wird.  So  kommt  der  Autor 
zur  Negation  eigener  Pupillenfasern,  stellt  sich  auf'  den  Stand¬ 
punkt,  daß  die  ganze  Sehschicht  der  Retina  auch  für  die  Pu¬ 
pille  in  Frage  kommt,  yerlegt  die  zentrale  Uebertragung  des 
Lichtreizes  auf  den  Okulomotorms,  den  empfindlichsten  Mecha¬ 
nismus  der  Nervenphysiolo-gie,  trotz  vieler  gegenteiliger  Behaup¬ 
tungen  in  die  Okulomotoriuskerngegend  und  betrachtet  als 
Sphinkterkern  Zellen  am  vorderen  Pole  des  lateralen  Haupt¬ 
kernes. 

Dei-  Schwerpunkt  des  Buches  liegt  aber  in  jenem  Teile,  in 
dem  die  einzelnen  Pupillenphänomene  ihrem  Wesen  nach  be¬ 
wertet  und  ihrer  klinischen  Valenz  nach  erörtert  werden. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  das  Hauptaugenmerk  der  reflek¬ 
torischen  Pupillenstarre  zugewendet  wird,  deren  einseitiges  Vor¬ 
kommen  die  gleiche  diagnostische  Bedeutung  hat,  wie  das  doppel¬ 
seitige  und  bei  der  die  Miosis-  —  vielleicht  von  der  Tabes  abgesehen 
keine  häufige  Begleiterscheinung  darstellt.  Sehr  wertvoll  er¬ 
scheint  die  neuerliche  Fixierung  des 'Satzes,  daß  die  Feststellung 
des  Argyll- Roberts  on  sehen  Phänomens  mit  der  Diagnose 
•von  Tabes  und  Paralyse  oder  Hirnsyphilis  identisch  ist  (9i-7°/o 
der  Fälle).  Nur  bei  schweren  Alkoholikern  ist  sein  gelegentliches, 
aber  seltenes  Auftreten  nicht  ausgeschlossen. 

Sehr  wichtig  ist  ferner  die  Feststellung,  daß  die  Ursache 
der  Ophthalmoplegia  interna  (absolute  Pupillenstarre  und  Akkom¬ 
modationslähmung)  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  im  Nervus  oculo- 
motorius  zu  suchen  ist.  Ihr  Vorkommen  spricht,  wenn  Lues 
vorliegt,  mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  gegen  eine  metaluc- 
tische,  für  eine  einfach  luetische  Affektion,  dagegen  ist  die  un¬ 
komplizierte  absolute  Pupillenstarre  (ohne  Akkommodatiönsläh- 
mung)  wenig  bedeutungsvoll  für  die  Entscheidung  der  Frage 
Lues  oder  Metalues.  L  .  - 

Sehr  interessant  sind  die  Forschungen  über  Kipillenstörun- 
gen  hei  Dementia  praecox,  die  von  Rumke  seihst  inauguriert  und 
vielfach  in  letzter  Zeit  bestätigt  wurden.  Es  scheint  bei  dieser 
-Psychose  u.  a.  das  Fehlen- vier  reflektorischen  Erweiterung, au/ 
sensible  Reize  hei  erhaltener  Lichtroaktion  charakteristisch  zu 
sein,  doch  findet  sich  dies  meist  erst  in  vorgeschritteneren  Sta¬ 
dien  des  Leidens. 

Die  Verhältnisse  bei  den  Neurosen,  eine  kurze  Anleitung 
zum  Prüfen  der  Reaktionen  und  ein  über  1000  Nummern  um¬ 
fassendes  Literaturverzeichnis  schließen  das  für  Neurologen,  Psy¬ 
chiater  und  Okulisten  hervorragend  wertvolle  Buch. 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


913 


Technik  der  mikroskopischen  Untersuchung  de3  Nerven¬ 
systems. 

Von  W.  Spielmeyer. 

Berlin  1911,  Springer. 

Die  großen  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Neurohisto- 
logie  werden  durch  dais  vorliegende  Buch  aufs  eindrücklich« tei 
zum  Bewußtsein  gebracht.  Es  begiigt  sich  nicht  mit  der  ein¬ 
fachen  Darstellung  der  Färbemethoden,  sondern  sucht,  in  deren 
chemische  Mechanismen  einzudringen,  deren  Grundlagen  nach 
den  Forschungen  der  Frankfurter  Schule  Ehrlichs  einleitend 
dargestellt  werden.  Von  großem  Wert  sind  auch  die  allgemein 
gehaltenen  Ausführungen  über  die  Bedeutung  der  einzelnen  Färbe¬ 
methoden,  ihr  Leistungsgebiet,  ihre  Anwendungsmöglichkeiten. 
Dabei  beschränkt  sich  der  Autor  nicht  nur  auf  das  zentrale 
und  periphere  Nervensystem;  er  gibt  auch  die  Anweisungen  zur 
Darstellung  der  Abbauprodukte,  der  zytologisc'hen  Untersuchung 
der  Zerebrospinalflüssigkeit  und  der  Meningen  und  Hirngefäße. 
Dabei  ist  alles  knapp  und  klar-  dargestcllt,  so  daß  das  Büchlein 
seinen  Zweck  vollauf  erfüllen  wird. 

* 

Kompendium  der  topischen  Gehirn-  und  Rückenmarks¬ 
diagnostik. 

Von  Robert  Bing. 

Zweite,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage. 

Wien  1911,  Urban  und  Schwarzenberg. 

In  dem  bekannten  und  mit  Recht  hochgeschätzten  Werke 
Edingens  über  den. Bau  der  nervösen  Zetntralorgaue  finden 
sich  im  Anhänge  zu.  den  anatomisch -physiologischen  Erörterun¬ 
gen  der  einzelnen  Gehimab'schnitte  Skizzen,  die  die  Lokalisation 
einzelner  wichtiger  Syndrome  wiedergeben.  Es  ist  dies  dort  un¬ 
gemein  anregend  und  didaktisch  von  großem  Werte.  Offenbar 
davon  ausgehend,  hat  Bing. seine  topische  Diagnostik  angelegt, 
indem  er  eine  mitunter  recht  flüchtige  anatomische  Skizze  der  Sym¬ 
ptomatologie  unterlegte  und  so  die  Töpik  zu  schemalisch  dars tollt. 
Vielleicht  ist  daran  das  Bestreben  schuld,  so  einfach  als  möglich 
zu  sein,  um  dem  Verständnis  der  Anfänger  entgegenzukommen. 
Aufgabe  der  topischen  Diagnostik  erscheint  es  aber,  wie  ich  dies 
ausführte,  in  erster  Linie,  zu  untersuchen,  ob  die  Symptome 
bei  bestimmten  Lokalisationen  bestimmte  Charaktere  besitzen 
und  die  Bedingungen  zu  ermitteln,  unter  welchen  sic  zustande 
kommen;  erst  dann  sind  jene  Zentren  und  Bahnen  zu  suchen, 
deren  Läsion  die  Erscheinungen  zeitigt. 

Es  muß  zugegeben  werden,  daß  einzelne  der  Schemata 
Bings  ganz  ausgezeichnet  sind,  so  die  die  periphere  Inner¬ 
vation  betreffend.  Andere  dürften  eine  Verbesserung  erfahren,  so 
das  zweite  Schema  aus  dem  verlängerten  Mark  (Fig.  3t),  wo 
der  Ifypoglossus  und  Akzeissorius  an  falscher  Stelle  eingezeichet 
sind.  Auch  eine  tbalamospinale  direkte  Bahn  ist  beim  Menschen 
ebensowenig  erwiesen,  wie  die  Funk  lion  des  E  ding  e  r  -  W  e  s  t- 
p  ha  Ischen  Okulom otoriuskems  als  Pupillenzentrum. 

Ein  Satz  wie  „das  reine  Konussyndrom  ist  absolut  nicht 
zu  verkennen“,  wird  kaum  die  Zustimmung  eines  erfahrenen 
Klinikers  finden,  ebensowenig  der.  Satz,  die  durch  einseitige 
Unterbrechung  der  Schleife  entstandenen  Sensibilitätsausfälle  sind 
natürlich  kontralateral  (vornehmlich  in  Form  gekreuzter  Hemi- 
ataxie),  da  gerade  diese  Frage 'bisher  durch  keinen  Fall  entschieden 
ist.  Das  ßenediktsche  Syndrom  umfaßt  nicht  nur  Tremor, 
sondern  auch  Chorea  und  Athetoso  und  ist  wohl  zweifellos  der 
Pödunkulushaubenläsion  zuzuschreiben.  Syndrome  do  F ci¬ 
vil  le  ist  nichteine  gekreuzte  Abduzens  -  Fäzialis  -  Extremitäten¬ 
lähmung,  sondern  Blick  -  Fazialis  -  Extremitätenparese,  während 
erste  res  (meist,  ohne  Fazialis)  als  Syndrome  de  Raymond 
der  Franzosen  gilt.  Differentiell  wichtig  für  Traktusläsionen  er¬ 
scheint  die  Berücksichtigung  des  überschüssigen  Gesichtsfeldes, 
das  Bing  nicht  anführt.  Die  Aphasie,  wie  überhaupt  die  kor¬ 
tikalen  Läsionen,  die  doch  für  die  chirurgische  Therapie  zumeist 
iu  Frage  kommen,  erscheinen  nur  kurz  oder  gar  nicht  behandele  j 
der  in  deutschen  Büchern  glücklicherweise  seltene  Irrtum,  die  | 
Hyphosis  als  Zirbel  zu  bezeichnen,  findet  sich  hier  in  der  zweiten 
Auflage  wieder. 

Ich  führe  diese  Dinge  nur  an  in  der  Voraussetzung  einer  , 
bald  nötig  werdenden  dritten  Auflage;  denn  die  knappe  Durch-  ! 


fiihrung,  die  stets  klare,  übersichtliche  Darstellung,  die  das  We¬ 
sentlichste  enthält,  empfiehlt  das  Buch  bestens  zur  Einführung 
in  das  trotz  Bings  Negation  sehr  schwierige  Gebiet  der  to¬ 
pischen  Diagnostik.  Otto  Marburg. 


Aus  uersehiedenen  Zeifcsehriften. 

624.  U  eher  Nierentuberkulose.  Von  Prof.  Dr.  Barth 
in  Danzig.  Die  Erfahrungen  des  Verfassers  beziehen  sich  auf 
40  Nephreklomierte,  deren  späteres  Schicksal  er  bis  auf  drei  Ver¬ 
schollene  feststellen  konnte.  Eine  etwa  gleiche  Anzahl  von  Nieren¬ 
tuberkulosen,  die  er  zu  untersuchen  Gelegenheit  hatte,  kam  nicht 
zur  Operation  ;  deren  Schicksal  war,  soweit  er  feststellen  konnte, 
stets  ungünstig.  Verf.  bespricht  eingehend  die  einzelnen  Formen  der 
Nierentuberkulose,  hebt  die  Tuberkelbazillenausscheidung  durch  eine 
Niere  ohne  eitrigen  Zerstörungsprozeß  hervor  (Leedham -  Green 
beobachtete  drei  Mädchen  von  10  bis  12  Jahren,  welche  voll¬ 
kommen  genasen),  hält  die  hämatogene  Entstehung  der  Nieren¬ 
tuberkulose  für  die  Mehrzahl  der  Fälle  für  gesichert  und  spricht 
den  Lymphwegen  für  die  Verbreitung  der  Tuberkulose  innerhalb 
der  Lymphwege  eine  unbestrittene  Bedeutung  zu.  Nach  seinen  Er¬ 
fahrungen  müßte  er  die  spontane  Heilung  der  Nierentuberkulose, 
wenn  man  von  den  erwähnten  Tuberkelbazillenausscheidnngen  und 
von  der  knötchenförmigen  (geschlossenen)  Nierentuberkulose  absieht, 
bezweifeln,  aber  die  Möglichkeit  einer  solchen  Heilung  von  Tuberkeln 
in  der  Niere  wie  in  anderen  Organen  sei  nicht  zu  bestreiten.  Daß 
die  tuberkulöse  Eiterung  der  Niere  zur  Heilung  gekommen 
sei,  dafür  sei  bis  heute  kein  stichhaltiger  Beweis  erbracht  worden. 
Durch  Harnleiterverschluß  kann  eine  Scheinheilung  Zustandekommen, 
durch  Verkalkung  tuberkulöser  Pyonephrosen  kann  gelegentlich  ein 
solcher  Prozeß  zum  Stillstände  gelangen,  darauf  sei  aber  nicht  zu 
rechnen.  Sodann  stellt  Verf.  mit  Genugtuung  fest,  daß  die  Operation 
der  Nierentuberkulose  (Nephrektomie)  unter  Anwendung  der  mo¬ 
dernen  funktionellen  Untersuchungsmethoden  so  gut  wie  ungefähr¬ 
lich  geworden  ist.  Seine  26  Fälle,  in  denen  er  die  funktionelle 
Untersuchung  gemacht  und  die  andere  Niere  als  funktionsfähig  fest¬ 
gestellt  hatte,  haben  den  Eingriff  sämtlich  glatt  überstanden, während 
er  unter  14  Fällen,  die  noch  ohne  diese  Untersuchungsmethoden  zur 
Operation  kamen,  zwei  Todesfälle  hatte,  einen  an  Sepsis,  einen  an 
Urämie,  infolge  akuter  Nephritis.  (Nachträglich  erfuhr  er,  daß  der 
zweite  Kranke  bereits  vier  Wochen  früher  eine  Nierenentzündung 
mit  urämischem  Anfall  durchgemacht  hatte  !)  Von  seinen  40  Fällen 
liegen  über  37  Nachrichten  vor  und  von  diesen  sind  12  geheilt, 
12  gebessert  oder  in  Behandlung  und  13  gestorben.  Die  Unter¬ 
suchung  der  Geheilten  fand  von  nach  1  Jahr  4  Monaten  bis  nach 
19  Jahren  statt.  Der  Verfasser  sagt:  Solange  die  Erkrankung  auf 
eine  Niere  und  ihren  Harnleiter  beschränkt  ist,  gibt  die  Nephrektomie 
durchaus  günstige  Aussichten  für  eine  Dauerheilung  der  Tuberkulose 
innerhalb  der  Harnwege.  Ist  die  Blase  bereits  erkrankt,  so  ist  eine 
völlige  und  dauernde  Heilung  des  tuberkulösen  Prozesses  nur  in 
einem  Bruchteil  der  Fälle  (schätzungsweise  l/i)  zu  erwarten.  Un¬ 
gefähr  ebensoviel  gehen  im  ersten  Jahre  an  Tuberkulose  zugrunde, 
für  die  übrigen  ist  eine  wesentliche  und  länger  dauernde  Besserung 
zu  erwarten  (bei  seinen  Operierten  in  fünf  Fällen  nach  1 1/4,  1 1/.2; 
l»/4,  2  und  9  Jahren  festgestellt,  während  5  Kranke  nach  2,  3x/2, 
5,  5  und  91/«  Jahren  an  Nieren-  oder  anderweitiger  Tuberkulose 
gestorben  sind).  Die  Blasentuberkulose  hinterläßt  auch  nach  völliger 
Ausheilung  dauernde  Beschwerden  in  Gestalt  häufigen  Harndranges, 
der  besonders  des  Nachts  sehr  störend  ist;  deshalb  ist  jede  offene 
Nierentuberkulose  mit  Nephrektomie  zu  behandeln  u.  zw.  nach 
Möglichkeit  zu  einer  Zeit,  in  der  die  Blase  noch  nicht  ergriffen  ist. 
Die  offene  Nierentuberkulose  ist  im  Beginn  und  in  den  Eruhstadien 
nur  mit  Hilfe  des  Harnleiterkatheters  zu  erkunden,  da  die  Cbromo- 
zystoskopie  nur  bei  vorgeschrittener  Zerstörung  einer  Niere  Auf¬ 
schluß  über  den  Sitz  der  Erkrankung  gibt.  Der  Harnleiterkatheteris¬ 
mus  ist  deshalb  grundsätzlich  ebenso  wie  die  bakterioskopische 
Untersuchung  des  Harnes  für  jede  ätiologisch  nicht  aufgeklärte 
Pyurie  (»Blasenkatarrh«)  zu  fordern.  —  (Deutsche  med.  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  21.)  F.  E. 

* 

625.  (Auis  der  Frauenklinik  der  Universität  Tübingen.  — 
Direktor:  Prof.  Seilheim.)  Ueber  die  therapeutische  An- 


914 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


wondung  von  Pituitrin  (Hypophysenextrakt)  mit  be¬ 
sonderer  Berücksichtigung  seiner  blutd'ru  ck  stei¬ 
gernden  Komponente.  Von  Dr.  Rudolf  Klotz,  Assistent  der 
Klinik.  \erf.  machte  mit  den  englischen  sterilen  Hypophysen¬ 
präparaten  zunächst  Tierversuche,  um  sich  von  der  blutdruck¬ 
steigernden  Wirkung  zu  überzeugen  und  hat  dann  18  Frauen  mit 
intramuskulärer  Pituitrin  ein  Spritzung  bei  atonischer  Uterusblutung 
behandelt.  Er  kann  sich  bezüglich  der  Wirkung  jenen  Autoren, 
die  es  an  Stelle  von  Ergotin  empfehlen,  nur  anschließen.  Der 
Verfasser  hat,  in  zwei  Fällen,  wo  Ergotin  Denzel,  das  wirksamste 
Sekalepräparat,  ohne  Erfolg  war,  durch  eine  Pituitrininjektion 
nach  zirka  drei  Minuten  kräftige  Kontraktionen  einsetzen  sehen, 
die  länger  anhielten  und  sich  häufig  einstellten.  Was  die  Blut¬ 
drucksteigerung  anlangt,  so  wurde  wohl  der  Füllungszustand  des 
Arterienrohres  deutlich  besser,  aber  eine  merkliche  Drucksteige¬ 
rung  kam  zunächst  nicht  zustande.  Erst  wenn  man  die  ver¬ 
lorene  Blutmenge  durch  ein  langsam  einlaufendes  Wasserklysma 
oder  in  schweren  Fällen  durch  eine  subkutane  Kochsalzinfusion 
wenigstens  teilweise  ersetzt,  kann  man  ein  Ansteigen  des  Blut¬ 
druckes  um  15  bis  20  mm  oder  zur  normalen  Höhe  konstatieren. 
Frauen  mit  dem  Zeichen  akuter  Anämie  erholten  sich  nach  einer 
intramuskulären  Pituitrininjektion  auffallend  rasch.  Wie  lange 
die  Pituitrinwirkung  anhält,  ist  schwer  zu  sagen.  Das  wichtigste 
ist  nach  Verf.,  daß  man  'mit  der  im  Tierexperimient  nachgewiesenen, 
eine  Stunde  lang  anhaltenden  Blutdrucksteigerung  die  akute  Blut¬ 
drucksenkung,  resp.  Verblutung  ins  Splanchnikusgebiet,  bekämpft, 
bis  der  Gleichgewichtszustand  im  Gefäßsystem  wieder  eingetreten 
ist.  Die  Dosis  für  eine  erwachsene  Person  ist  0-2  g  frische  Drüsen¬ 
substanz.  Dieselbe  ist  in  einer  Ampulle  ä  1  Cm3  von  Burroughs 
W.  &  €.  enthalten.  Eine_ Maximaldosis  ist  bisher  nicht  bekannt. 
Die  GOfache  Dosis  wurde  vom  Tiere  anstandslos  vertragen.  Die 
Injektion  geschieht  intramuskulär.  Verf.  hat  das  Pituitrin  nie  vor 
dem  Erscheinen  der  Nachgeburt  gegeben  und  möchte  dies  auch 
dem  praktischen  Arzte  dringend  anempfehlen.  Er  betont  weiter, 
daß  das  Hypophysenextrakt  keineswegs  ein  ganz  harmloser,  un¬ 
schädlicher  Stoif  ist,  daher  bei  schon  bestehender  Blutdrucksteige- 
rung  (Nephritis,  Kropfherz,  Arteriosklerose)  gar  nicht  oder  nur 
in  entsprechend  kleinen  Dosen  angewendet  werden  soll.  Jeden¬ 
falls  dürfte  die  glückliche  Vereinigung  von  Uterus-,  Gefäß-  und 
Herztonikum,  verbunden  mit  der  außerordentlich  schnellen  Wir¬ 
kung  hei  einfacher  intramuskulärer  Applikation  dem  Pituitrin  nach 
Ansicht  des  Verfassers  einen  dauernden  Platz  in  der  Therapie 
der  atonischen  Uterusblutungen  im  besonderen  und  der  akuten 
Anämien  im  allgemeinen  sichern.  Verf.  versuchte  dann  auch 
den  postoperativen  Shock,  dessen  Ursache,  zum  Teil  wenigstens, 
in  einer  akuten  Blutdrucksenkung  zu  suchen  ist,  sowie  eine  medi¬ 
kamentös  erzeugte  Blutdrucksenkung  wirksam  zu  beeinflussen. 
Nachdem  es  ihm  gelungen  war,  auch  eine  günstige  Beeinflussung 
der  toxischen  Blutdrucksenkung  im  Tierexperiment  nachzuweisen, 
wandte  er  sich  speziell  der  therapeutischen  Behandlung  der  Peri¬ 
tonitis  zu.  Hier  war  bisher  das  dominierende  Mittel  das'  Adre*- 
nnlm,  trotz  seiner  Mängel.  Denn  seine  blutdrucksteigernde  Kraft 
ist  brüsk  und  vorübergehend,  es  wirkt  hemmend  auf  die  Peri¬ 
staltik  und  vermindert  die  Urinausscheidung.  Dagegen  ruft  -das 
Pituitrin  eine  mäßige  Blutdruckerhöhung,  mit  geringer  Anfor¬ 
derung  an  das  Herz,  von  stundenlanger  Dauer  hervor.  Daneben 
wird  die  Herzkraft  gehoben.  Gleichzeitig  wird  die  Darmperi¬ 
staltik  angeregt,  die  Unnausscheidung  vermehrt  und  eine  erregende 
V  irkung  auf  die  Blase  ausgeübt.  Die  klinischen  Versuche  der  Peri¬ 
tonitisbehandlung  werden  derzeit  noch  fortgesetzt.  Auch  bei  Pneu¬ 
monie,  Diphtherie,  sowie  bei  allen  infektiösen  Krankheiten  mit 
toxischer  Blutdrucksenkung  scheint  dem  Verfasser  ein  therapeu¬ 
tischer  Versuch  mit  Pituitrin  sehr  empfehlenswert.  Hier  könnte 
man  die  Merck  sehen  Hypophysen  tabletten  per  os  .anwenden. 
Eine  Schädigung  des  menschlichen  Organismus  durch  längere 
Hypophysenmedikation  ist  nicht  zu  befürchten.  Wohl  führen  beim 
Tiere  exzessiv  hohe  Gaben  intravenös  appliziert  zu  degenerativen 
Prozessen  im  Lebergowebe  und  den  Tubuli  c.ontorti  der  Niere, 
sowie  zu  einer  Hypertrophie  der  Nebennieren  und  des  Herzens. 
Derartige  Dosen  kommen  aber  bei  der  therapeutischen  Behandlung 
des  Menschen  nicht  in  Frage.  —  (Münchener  mediz.  Wochen¬ 
schrift  1911,  Nr.  21.)  G 


Nr.  25 


62G.  Ueber  Pankreatitis  haem  or  rhagica  acuta.  Von 
Dr.  E.  Monn i er,  Privatdozent  für  Chirurgie  in  Zürich.  Das 
typische  Bild  der  Pankreatitis  haemorrhagica.  acuta  beschreibt 
Mo nnier  folgendermaßen:  Anscheinend  gesunde,  gewöhnlich 
korpulente  Leute  empfinden  mehr  oder  weniger  plötzlich  auf¬ 
tretende  heftige  Schmerzen  im  Epigastrium.  Oft  als  Krämpfe 
beschrieben,  können  dieselben  so  intensiv  werden,  daß  sie  zum 
Kollaps  oder  zur  Ohnmacht  führen,  auch  größere  Dosen  von 
Morphium  bringen  kaum  eine  Linderung  derselben.  Der  Schmerz 
zieht  meist  um  die  linke  Seite  herum!,  strahlt  in  die  linke 
Schulter  oder  in  die  linke  Unterbauchgegend  aus,  zuweilen  wird 
er  aber  auch  rechts  lokalisiert  oder  wie  in  seinem  Fälle,  in 
der  Blinddarmgegend.  Zu  gleicher  Zeit  stellt  sich  meist  Er¬ 
brechen  und  Uebelkeit  ein,  der  Leib  wird  nach  und  nach  auf- 
getrieben,  der  Darm  wird  bald  gelähmt,  so  daß  zu  gleicher  Zeit 
Symptome  von  Ileus  und  Peritonitis  auftreten.  Verschiedene  Be¬ 
gleiterscheinungen  treten  in  mehr  oder  weniger  ausgesprochener 
Weise  auf:  das  schlechtere  Aussehen,  das  oft  von  einer  eigen¬ 
tümlichen,  gelbgrauen  Verfärbung  des  Gesichtes  begleitet  wird, 
da:s  Erbrechen  meist  galligen  Charakters,  die  fast  regelmäßige 
Pulsbeschleunigung,  mäßige  Temperatursteigerung,  große  Unruhe, 
allgemeiner  Kräfteverfall.  Häufig  sammelt  sich  ein  durch  die 
(Perkussion  deutlich  nachweisbares  Exsudat  in  der  Bauchhöhle. 
Der  Verfall  nimmt  rasch  zu,  meist  ist  eine  rapide  Verschlech¬ 
terung  der  Herzaktion  zu  verzeichnen,  der  Puls  wird  kleiner 
und  kleiner  und  unter  den  Erscheinungen  der  Peritonitis  und 
Ileus  erfolgt  der  Exitus.  In  schweren  Fällen  verläuft  die  Krank¬ 
heit.  in  zwei  bis  drei  Tagen.  Die  richtige  Diagnose  ist  nicht 
allzuschwer,  besonders  wenn  differentialdiagnostisch  folgendes 
beiachtet  wird.  Tn  den  ersten  Stadien  der  Pankreatitis  haemor¬ 
rhagica  acuta  sind  die  Bauchdecken  leicht  eindrückbar,  die  re¬ 
flektorische  Spannung  der  Bauchdecken  der  Perforationsperito¬ 
nitis  fehlt.  Gegenüber  der  Darmokklusion  beachte  man  die  eigen¬ 
tümlich  fahlgelbe  Hautfarbe,  den  hartnäckigen  Schmerz  im  Epi¬ 
gastrium  und  die  meist  höhere  Temperatur;  ferner  ist  es1  ge¬ 
wöhnlich  möglich,  mehrere  Liter  Wasser  in  den  Darm  einlaufen 
zu  lassen.  Schwer  ist  die  Unterscheidung  von  der  so  polymorph 
verlaufenden  Appendizitis,  immerhin  ist  der  appendikuläre 
Schmerz  lange  nicht  so  intensiv  und  anhaltend  als  die  in  den 
Rücken  ausstrahlenden  Krämpfe  bei  Pankreatitis.  Die  Aehnlich- 
keit  dieser  mit  einem  Anfall  von  Cholezystitis  oder  einer  Gallen¬ 
steinkolik  ist  auch  eine  große,  um  so  mehr,  als'  diese  Krank¬ 
heiten  meist  da,s  auslösende  Moment  für  die  Entzündungen  der 
Bauchspeicheldrüse  darstellen.  Die  protrahierte  Dauer  des 
Schmier  zes,  tiie  ausgesprochenen  I  leasers  che  i  m  i  n  ge  n  und  die 
rasche  Verschlimmerung  des  Allgemeinzustandes  erwecken  Ver¬ 
dacht  auf  eine  Mitbeteiligung  des  Pankreas.  —  Da  die  akute!  Pan¬ 
kreatitis  eigentlich  eine  Phlegmone  des  Organes  darstellt,  so  ist 
Spaltung  und  Drainage  möglichst  frühzeitig  vorzunehmen.  Auch 
wenn  Patienten  das  akute  Stadium  ohne  Operation  überstanden 
haben,  so  entgehen  sie  dieser  doch  nicht,  weil  die  Zeichen  von 
Abszeßbildung  eintreten  und  immer1  deutlicher  werden.  Treten 
dann  noch  Schüttelfröste,  Milz-  und  Leberschwellung  auf,  so 
ist  die  Prognose  dann  schon  eine  sehr1  schlechte  geworden.  — 
(Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1911,  41.  Jahrg.,  Nr.  7.) 

K.  S. 

* 

627.  Zur  Pathogenese  der  Purpura  haemor¬ 
rhagica.  Von  Dr.  S.  Gannata,  Assistenzarzt  an  der  Universitäts- 
Kinderklinik  des  Prof.  Jemma  in  Palermo.  Der  Verfasser  erörtert 
die  herrschenden  Lehren  über  die  Pathogenese  dieses  Leidens  und 
zeigt,  daß  sie  nicht  allgemein  befriedigend  sind.  In  einem  Falle 
seiner  Beobachtung  fand  er  neben  den  hämorrhagischen  Flecken 
der  Haut  bei  der  Autopsie  in  fast  sämtlichen  Organen  schwere 
tuberkulöse  Veränderungen.  Speziell  weist  er  darauf  hin,  daß  in 
diesem  Falle  die  Nebennieren  sowohl  in  der  Rinden-  wie  in 
der  Markzone  alteriert  waren.  In  der  Rindenzone  fand  sich  Vakuoli¬ 
sierung  der  Zellen,  in  der  Markzone  punktförmige  hämorrhagische 
Herde,  körnige  Zellen  mit  verblaßten  Kernen  und  stark  vakuoli- 
siertem  und  körnigem  Protoplasma.  Auch  von  anderen  Klinikern 
sind  bei  der  Purpura  haemorrhagica  schwere  Alterationen  der  Neben¬ 
nieren  gefunden  worden,  häufig  hämorrhagische  Herde  ;  Melchiorri 
fand  destruierende  Läsionen  mit  kleinzelliger  Infiltration  in  der 


Mr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Stunden  ausgedehnte  langsame  Instillation  der  Heidenhain- 


Maikzone.  Nun  weiß  man,  daß  das  von  den  Nebennieren  ausge¬ 
schiedene  Adrenalin  eine  anregende’  Wirkung  auf  die  Muskulatur 
dei  Gefäße  und  des  Herzens  übt,  wodurch  diese  Organe  in  einem 
für  ihre  physiologische  Funktion  notwendigen  Tonus  erhalten 
werden.  Eine  Störung  in  der  normalen  Funktion  der  Nebennieren 
führt  infolgedessen  zu  einer  Störung  in  der  Blutzirkulation.  Auch 
im  Falle  des  Verfassers  wurden  durch  die  auf  Tuberkuloseinfektion 
beruhenden  Läsionen  die  normale  Sekrelionsfunktion  der  Neben¬ 
nieren  alteriert,  es  ist  somit  eine  Aenderung  in  dem  Gefäßtonus 
(Hypotonie)  eingetreten,  welche  den  Austritt  der  Blutelemente  aus 
den  Kapillaren  begünstigt  haben  kann ;  da  auch  die  antitoxische 
Wirkung  des  Adrenalins  fehlte,  so  wurden  die  tuberkulösen  Toxine 
nicht  neutralisiert,  sie  übten  ihre  deletäre  Wirkung  auf  Kosten  der 
Gefäße  aus,  alterierten  stark  ihre  Struktur.  Auch  die  durch  andere 
Toxine  (Diphtherie-,  Typhusinfektion)  stark  geschädigten  Neben¬ 
nieren  erleiden  Alterationen  in  der  Struktur  und  Funktion,  der 
pathogenetische  Mechanismus  für  das  Entstehen  einer  Purpura 
haemorrhagica  in  Fällen  von  Typhus,  Diphtherie,  Cholera  etc.  wäre 
sodann  der  gleiche  wie  in  den  Fällen  von  Tuberkulose.  Wir  können 
auch  dann  erklären,  warum  die  Purpura  keine  häufige  Komplikation 
bei  den  verschiedenen  Infektionen  ist ;  zu  ihrer  Entstehung  müssen 
eben  die  Nebennieren  durch  die  betreffende  Infektion  oder  Intoxi¬ 
kation  schwer  geschädigt  sein.  —  (Deutsche  med.  Wochenschr 
1911,  Nr.  21.)  E  F  ’ 

* 

628.  (Aus  dem  pharmakologischen  Institut  und  der  Frauen¬ 
klinik  in  Tübingen.)  D  i  e  p  h  a,  r  m  a  k  o  1  o  g  i  s  c  h  e  n  G  r  u  n  d  1  a  g  e  n 
für  eine'  intravenöse  Adr enalin t h er ap i e  bei  der  Peri¬ 
tonitis.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Emst  Ilolzbach  in  Tübingen. 
Verb  hat  es  sich  zur  Aufgabe  gemacht,  möglichst  unbeeinflußt 
durch  die  widersprechenden  Resultate  der  'Praxis  experimentell 
die  Frage  der  Adrenalinwirkung’ auf  den  gesunden  und  kranken 
Organismus,  auf  den  Organismus  in  seiner  Gesamtheit  und  auf 
die  aus  ihm  isolierten  Organe  zu  studieren.  Auf  diese  Weise  konnte 
er  zunächst  am  isolierten  gesunden  Herzen  nachweisen,  daß 
das  Adrenalin,  auch  nur  in  Spuren  der  Nährlösung  zugesetzt, 
durchaus  keinen  günstigen  Einfluß  auf  die  Herzarbeit  ausübt. 
Es  kommt  eine  ausgesprochene  Giftwirkung  zustande,  die-  mit  stei¬ 
gender  Dosis  rasch  zum  Herzstillstand  führt.  Ebenso  schnell  wie 
die  Vergiftung  erfolgt,  läßt  sich  das  Herz  durch  Zuleitung  nor¬ 
maler,  also  giftfreier  Nährlösung  auch  wieder  entgiften,  ohne 
daß  sich  an  der  Herzarbeit  eine  dauernde  Schädigung  erkennen 
läßt.  Die  Wirkung  ist  also  nicht  nachhaltig.  Umgekehrt  läßt  sich 
am  Tiere1  ohne  Herz  dieselbe  starke  und  bei  kontinuierlicher  Zu¬ 
fuhr  auch  kontinuierliche  Blutdrucksteigerung  erzielen,  wie  am 
intakten  Tiere.  Das  beweist  also,  daß  die  intensive  Wirkung 
des  Adrenalins'  am  gesunden  Tiere'  mit  dem  Herzen  nichts  zu 
tun  hat.  Auch  die  Pulsverlangsamung  kommt  indirekt  zustande. 
Auch  die  direkte  Adrenalinwirkung  auf  das  Vasomotorenzentrum, 
wenn  sie  überhaupt  besteht,  kann  nur:  sehr  gering  sein.  Denn  am 
Tiere  ohne  Hirn  und  ohne  Rückenmark  und  ohne'  Herz  beobachtete 
Verfasser  genau  die  gleiche  Blutdrucksteigerung  durch  das  Adre¬ 
nalin.  Sie  kann  also  nur  durch  direktes  Angreifen  des  Mittels 
an  den  peripheren  Gefäßen  bedingt  sein.  Was’  die  Wirkung  des 
Adrenalins  auf  den  kranken  Organismus  anlangt,  machte  Verfasser 
folgende  Beobachtung.  Bei  Einwirkung  von  Adrenalinlösung  auf 
ein  vergiftetes  isoliertes  Herz  werden  die  schwachen  Systolen 
kräftiger  und  schneller,  Blutdruck  und  geleistete-  Arbeit  werden 
größer  und  nähern  sich  in  kurzer  Zeit  der  Norm.  Läßt  man  das 
Adrenalin  weiter  wirken,  kommt  es  allmählich  zur  Adrenalin- 
Vergiftung.  Setzt  man  das  Adrenalin  aus,  so  ist  das  Herz  in  kür¬ 
zester  Zeit  gerettet.  Dasselbe  gilt  für  den  Gesamtorganismus. 
Vergiftet  man  ein  Kaninchen  mit  Arsenik  und  injiziert  ihm  im 
Moment,  wo  die  Erschlaffung  der  Gefäße  des  Splanchnikusgebietes 
und  die  des  Herzens  so  hochgradig  geworden  ist,  daß  der  Blutdruck 
fast  zur  Nullinie  absinkt,  Adrenalin  in  die  Vene,  so  bekommt 
man  bald  eine  gewaltige  Blutdrucksteigerung.  Die  Wirkung  ist 
aber  nur  flüchtig.  Nach  ihrem  Abklingen  geht  die  Arsenikwirkung 
weiter.  Die  Wirkung  wird  aber  konstant  und  lebensrettend,  wenn 
man  die  gleiche  Adrenalin  menge  wie  vorher,  in  entsprechend 
größerer  Verdünnung  und  kontinuierlich  zufließen  läßt.  Verfasser 
hat  Gelegenheit  gehabt,  die  Ergebnisse  seiner  Tierversuche  in  die 
Praxis  umzusetzen  und  an  Peritonitiskranken  durch  über  viele 


sehen  Aidionctlinkochsalzlösnng  stundenlang  den  Blutdruck  hoch- 
gehalten,  ohne  eine  Schädigung  des  Organismus  dabei  zu  beob¬ 
achten.  Die  Schlüsse  des  Verfassers  lauten:  Das  Adrenalin  ist 
tin  Mittel,  mit  dein  nran  die  peritonf tische  Blutidrucksenkung, 
die  Blutdpucksenkung  überhaupt,  wie  auch  bestimmte  Formen 
drohender  Herzlähmung  wirksam  bekämpfen  kann.  Eine  einmalige 
Infusion  der  Adrenalinkochsalzlösung  muß  in  vielen,  jedenfalls 
in  allen  vorgeschrittenen  Fällen  von  Peritonitis  versagen,  weil 
die  Adrenalinwirkung  flüchtig  ist  und  weil  das  Mittel  peripher, 
nicht  auf  dem  Umweg  über  das  Vasomotorenzentrum  angreift. 
Je  konzentrierter  die  Lösung  ist,  desto  gefährlicher  muß  sie  sein. 
Denn  sie  schafft  plötzlich  zu  große  Widerstände  in  der  Blut¬ 
hahn,  an  denen  sich  das  Herz  tot  arbeitet  und  das:  Adrenalfn 
ist  noch  dazu  ein  Herzgift.  Hieher  gehören  die  Fälle  von  plötz¬ 
lichem  Tod  nach  intravenöser  Injektion  konzentrierter  Adrenalin- 
lö'sung,  die  wiederholt  beobachtet  wurden.  Durch  die  dauernde 
intravenöse  Zufuhr  verdünnter  Adrenalinkochsalzlösung  kann  man 
dagegen  auch  bei  schweren  Peritonitisfällen  den  Blutdruck  noch 
stundenlang  hochhalten  und  man  kann  die  so  gewonnene  Zeit 
zum  Eingriff,  zur  eventuellen  Entfernung  des  septischen  Giftes 
und  damit  zur  Rettung  des  Individuums  benützen.  —  (Münchener 
medizinische  Wochenschrift  1911,  Nr.  21.)  G. 

* 

*  ) 

629.  Die  Behandlung  des  Ulcus  corneae  serpens. 

Von  Dr.  W.  Gilbert,  Privatdozent  und  1.  Assistenzarzt  der 
kgl.  Universitäts-Augenklinik  in  München.  In  kausaler  Hinsicht 
ist  zunächst  dem  Zustand  der  tränenableitenden  Wege  vollste  Auf¬ 
merksamkeit  zu  schenken.  An  Stelle  der  früher  geübten  Expression 
des  Tränensackes  und  der  Durchspülung  der  Tränenwege  mit 
Adstringenden  ist  die  Exstirpation  des  Tränensackes'  bei  Dakryo- 
zystoblennorrhoe  indiziert,  eventuell  die  Däkryozystorhino- 
stomie  nach  1  oti.  Bei  der  eigentlichen  Behandlung  des  geschwü- 
rigen  Hornhautprozesses  unterscheidet  man  konservative  Methoden 
von  den  operativen  Eingriffen.  Kleine  Geschwüre  heilen  bisweilen 
spontan  oder  können  durch  Applikation  von  Wärme,  antiseptischen 
Umschlägen  und  Pulvern,  sowie  von  Mydriatizis  dem  Heilungs¬ 
prozeß  zugeführt  werden.  Zweckmäßig  wird  auch  der  Grund  und  der 
infiltrierte  Rand  des  Geschwüres  mit  Tinct.  jodi  fort.  par.  bis  zur 
intensiven  Braunfärbung  betupft  und  dies  täglich  wiederholt,  wo¬ 
durch  es  gelingt,  manches  Geschwür  zu  schnellem  Stillstand  zu 
bringen.  Die  Jodtinktur  hinterläßt  nur  zarte  Trübungen  und  die  an¬ 
grenzenden  Hornhautpartien  werden  nicht  geschädigt.  Bei  größeren 
Geschwüren  gelingt  es  nur  ausnahmsweise  gleich  zu  Beginn  durch 
Jod  einen  günstigen  Erfolg  zu  erzielen.  Man  geht  dann  zur  Gal¬ 
vanokauterisation  über  oder  noch  besser  zur  Iveratotomie  nach 
Saemisch,  wobei  aber  die  von  Sae misch  angegebenen  Regeln 
genau  beachtet  werden  müssen,  damit  vordere  Synechie  und 
Leukoma  adhaerens  vermieden  werden.  Die  Behandlung  des  Ulcus 
corneae  serpens  bleibt  am  besten  dem  Augenarzt  im  Kranken¬ 
hause  selbst  Vorbehalten;  nur  dann  wird  der  Prozentsatz  der 
Erblindungen  an  den  Folgen  des  Ulcus  serpens  erheblich  zurück¬ 
gehen  können.  Die  Nachbehandhmg  (Aufhellung  der  Narben- 
ti  Übung  durch  Massage  mit  Vs  bis  l°/oiger  gelber  Salbe,  2  bis 
10°/oigen  Dionin,  Tinct.  opii  inspissata)  kann  wieder  der  Praktiker 
übernehmen,  sofern  nicht  Iridektomie  aus  optischen  oder  anderen 
Gründen  noch  gemacht  werden  muß.  Prophylaktisch  hat  der  Prak¬ 
tiker  die  arbeitende  Bevölkerung  auf  die  Gefahren  eines  eitern¬ 
den  Tränensackes  und  auf  die  Notwendigkeit  der  operativen  Be¬ 
seitigung  dieses  Leidens  hinzuweisen.  —  (Fortschritte  der  Me¬ 
dizin  1911,  29.  Jahrg.  Nr.  12.)  K.  S. 

* 

630.  Doppelseitige  Thrombose  derVenae  fe mo¬ 
rales  nach  schwerem  D  i  c  k  da  r  m  k  at  ar  r  h.  Von  Professor 
Riedel  in  Jena.  Es  werden  zwei  Beobachtungen  mitgeteilt.  Ein 
20jähriges  Mädchen  erkrankte  mit  Leibschmerzen  und  Durchfällen, 
hatte  am  nächsten  Tage  Erbrechen,  abends  38'6.  Da  das  Krank¬ 
heitsbild  ein  sehr  schweres  war,  entschloß  sich  der  Assistent  der 
Klinik  zur  sofortigen  Operation.  Die  Appendix  war  obliteriert ! 
Post  Operationen!  Ikterus  mittelstark,  noch  acht  Tage  lang  Durchfälle. 
Sodann  Schmerzen  und  Schwellung  oben  im  rechten  Oberschenkel, 
bald  deutliche  Thrombose ;  nach  weiteren  18  Tagen  Schmerzen  in 
der  linken  Unterbauchgegend,  taubeneigroßer  schmerzhafter  Tumor 


916 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr  25 


oberhalb  des  Ligamentum  Poupartii;  nach  zwei  Monaten  sind  noch  beide 
Beine  geschwollen,  stärker  das  linke  Bein.  Der  zweite  Fall  betraf 
eint  n  63  Jahre  alten  Arzt,  der  wegen  Verlegung  der  Arteria  tibialis 
ant.  d.  nach  Gritti  amputiert  wurde.  Fieberloser  Verlauf,  Wunde 
in  18  Tagen  abgeheilt.  Im  Verlaufe  der  nächsten  Wochen  chronische 
Stuhlverstopfung,  durch  die  es  zu  einer  schweren  Vergiftung  mit 
Faulstoffen  kommt.  (Appelilmangel,  Auftreibung  des  Leibes,  Ent¬ 
leerung  exzessiv  stinkender  Kotballen,  dann  Fieber).  Nach  Wochen 
starke  Schwellung  des  rechten  Oberschenkelstumpfes  über  das  Liga¬ 
mentum  Poupartii  hinaus,  auch  der  linke  Oberschenkel  und  die  linke 
Hü  ft-  und  Beckengegend  wurden  ödemalös.  Die  Oedeme  schwanden 
bald,  Pat.  erholte  sich  langsam.  Die  Thrombose  stand  gewiß  nicht 
mit  der  Amputation  in  einem  kausalen  Zusammenhänge,  da  fast 
drei  Monate  seit  dem  Eingriffe  vergangen  waren.  Verf.  erörtert  an 
der  Hand  dieser  zwei  Fälle  die  drei  Fragen:  1.  Auf  welchem  Wege 
führt  das  Darmleiden  zur  Thrombose  der  Schenkelvenen  ?  2.  Waren 
die  Thromben  infiziert  oder  nicht  ?  3.  Warum  verlief  die  Thrombose  im 
Fall  I  in  ziemlich  typischer  Weise,  während  im  Fall  II  sich  die  ganze 
Krankheit  in  zwei  bis  drei  Wochen  abspielte.  Er  glaubt,  daß  in 
seinen  beiden  Fällen  die  •  primäre  Ursache  der  Thrombenbildung 
Infektion  mit  Bacterium  coli  war,  daß  aber  die  Thromben  selbst 
entweder  ganz  aseptisch  oder  wenigstens  nur  minimal  infiziert 
waren,  sonst  wären  wohl  beide  Kranke  zugrunde  gegangen.  Daß 
der  Arzt  nach  zwei  bis  drei  Wochen  wieder  gesund  war,  darf  nicht 
überraschen,  man  hat  ähnliches  im  Tierversuche  gesehen,  auch  hat 
Verf.  eine  gleiche  Beobachtung  bei  einem  70jährigen  Operierten 
gemacht,  bei  welchem  16  Tage  p.  o.  ohne  Temperatursteigerung 
und  ohne  daß  ein  Strang  fühlbar  war,  das  linke  Bein  stark  an¬ 
schwoll,  welche  Schwellung  nach  14  Tagen  wieder  schwand.  Soll 
man  annehmen,  daß  in  diesem  Falle  und  beim  operierten  Arzte 
nur  klappenständige  Thromben  bestanden,  auf  denen  sich  vorüber¬ 
gehend  Blutplättchen  niederschlugen  ?  Sind  diese  Blutplättchen)  nach 
neueren  Forschungen,  die  eigentlichen  Bildner  der  Thromben,  viel¬ 
leicht  einer  raschen  Resorption  fähig?  Alle  diese  Fragen  könnten 
nur  durch  gemeinschaftliche  Arbeit  von  Klinikern  und  Vertretern 
der  pathologischen  Anatomie  beantwortet  werden.  Verf.  gelangt  zu 
folgenden  Schlüssen:  1.  Thrombose  der  Schenkelvenen  kann  infolge 
schweren  Dickdarmkatarrhs  entstehen.  2.  Diese  Thromben  bilden 
sich  vielleicht  dadurch,  daß  Kolibazillen  aus  dem  kranken  Darm 
in  mesenteriale  Lymphdrüsen  einwandern  und  dort  in  die  Wände 
kleinster  Venen  geraten  ;  von  diesen  setzt  sich  die  Thrombose  eventuell 
auf  dem  Wege  der  Vena  hypogaslrica  in  die  Vena  femoralis  fort. 
3.  In  den  beiden  bis  jetzt  beobachteten  Fällen  waren  die  Thromben 
anscheinend  ganz  aseptisch  oder  doch  sehr  wenig  infiziert.  4.  Eine 
Kranke  halte  typische  obturierende  Thrombose,  der  zweite  Kranke  viel¬ 
leicht  nur  klappenständige  mit  vorübergehender  Auflagerung  von 
Blutplättchen.  —  (Deutsche  med.  Wochenschr.  1911,  Nr.  21.) 

E.  F. 

* 

631.  (Aus  der  Volksheilstätte  Loslau  0.  S.  —  Chefarzt: 
Dr.  Schräder.)  Zur  Eisen-Arsen-Therapie.  Von  Heinrich 
Eckhard,  Assistenzarzt.  Die  vielen  Begleiterscheinungen  der 
Lungentuberkulose  brachten  den  Verfasser  auf  den  Gedanken  ein 
Eisen-Arsen  Präparat  in  Anwendung  zu  bringen,  das  sich  ihm 
außerordentlich  bewährt  hat,  in  Aerztekreisen  aber  viel  zu  wenig 
bekannt  ist:  Ferrum  arseniato- citricum  ammoniatum.  Es  ist  dies 
ein  wasserlösliches  Doppelsalz  mit  l-4°/oiger  arseniger  Säure  und 
15  bis  18°/ojgem  Eisen  und  Ammonzitrat.  Für  innerliche  Anwen¬ 
dung  wird  die  Dosierung  mit .  0-03  bis  0-07  g  angegeben.  Als 
Maximaldose  0-3  pro  dosi,  1-0  pro  die.  Verfasser  wendet  es  je¬ 
doch  nicht  innerlich,  sondern  nur  subkutan  an;  er  injiziert  unter 
die  Haut  der  Brust,  Peroni  intraglutäal.  Folgende  Anwendungs¬ 
weise  hat  sich  bestens  bewährt :  Das  in  Phiolen  zu  0-5  g  ent¬ 
haltene  Gemenge  wird  in  10  g  Aqua  dest.  steril,  aufgelöst  und 
filtriert.  Verf.  injizierte  als  Anfangsdose  sechs  Teilstriche  der 
Pravazspitze,  jetzt  aber  nur  15  Teilstriche.  Bei  der  ersten  Injek¬ 
tion  gibt  er  1  cm3  der  Injektionsflüssigkeit.  An  drei  Tagen  in  der 
Woche  wird  injiziert.  An  der  Injektionsstelle  entwickelt  sich  eine 
kleine  Geschwulst,  die  geringe  Schmerzen  verursacht,  ohne  je¬ 
doch  das  Allgemeinbefinden  zu  beeinflussen.  Als  Indikation 
für  die  Anwendung  der  kombinierten  Eisen-Arseninjektions¬ 
methode  kommen  in  Betracht  die  anämischen  Begleiterscheinungen 
der  tuberkulöse,  die  nervösen  Erschöpfungszustände  und  Near 


asthenic,  Hysterie,  Skrofulöse  und  andere  Erkrankungen  des  lym¬ 
phatischen  Apparates.  Verfasser  erörtert  an  der  Hand  Von  50 
Krankengeschichten  die  guten  Erfolge  dieser  Therapie,  welche 
stets  mit  bedeutender  Gewichtszunahme  einherging.  Das  Präparat 
wurde  selbst  bei  protrahierter  Verwendung  ohne  lästige  Neben¬ 
wirkung  vertragen.  Von  seiten  des  Magens  und  des  Darmtraktes 
niemals  unangenehme  Erscheinungen.  Der  Kräfteverfall  bei  Tuber¬ 
kulose  in  schweren  Fällen  wurde  zum  Stillstände  gebracht, 
wenigstens  für  einige  Zeit.  Auf  Blutbildung  und  Stoffwechsel 
zeigte  sich  eine  anregende  Wirkung.  Der  Hämoglobingehalt  des 
Blutes  stieg  mindestens  um  10°/o.  Natürlich  müssen  die  blut¬ 
bildenden  Organe  noch  einen  entsprechenden  Grad  von  Reaktions¬ 
fähigkeit  haben.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911, 
Nr.  22.)  G. 

* 

632.  (Aus  Dr.  Georg  Müllers  Privatheilanstalt  für  Unfall¬ 

kranke.)  Ueber  Radiusfrakturen  und  ihre  Schicksale. 
Nach  den  Erfahrungen,  welche  Müller  an  Radiusfrakturen,  die 
ihm  zumeist  nach  der  13.  Woche  zur  Nachbehandlung  überwiesen 
worden  waren,  gemacht  hat,  wird  es  zumeist  versäumt,  den  Bruch 
zu  reponieren,  was  wohl  darauf  zurückzuführen  ist,  daß  durch 
Unterlassung  einer  Röntgendurchleuchtung  die  richtige  Diagnose 
nicht  gemacht  und  der  Unfall  als  Distorsion  oder  Kontusion  be¬ 
handelt.  wurde,  was  um  so  begreiflicher  ist,  als  das  Gelenk  un¬ 
mittelbar  nach  dem  Unfall  stark  geschwollen  und  so  schmerz¬ 
haft  ist,  daß  eine  Abtastung  der  Skeletteile  oft  geradezu  unmöglich 
ist.  Ferner  bleiben  die  fixierenden  Verbände  oft  viel  zu  lange 
liegen,  so  daß  das  Gelenk  versteift.  Ein  weiterer  Fehler  wird 
damit  gemacht,  daß  die  Finger  in  den  Verband  einbezogen  werden, 
was  wieder  Versteifung  der  Fingergelenke  zur  Folge  hat.  Weiters 
wird  übersehen,  daß  auch  Ellbogen-  und  Schultergelenk  steif 
werden,  weil  sie  längere  Zeit  außer  Funktion  gesetzt  worden, 
obwohl  der  Fixationsverband  regelmäßige  aktive  und  passive 
Bewegungen  gestatten  würde.  Bemerkenswert  ist,  daß  in  einer 
Reihe  von  Fällen  die  Patienten  sich  der  kassenärztlichen  Be¬ 
handlung  entzogen,  wenn  die  Verletzung  einigermaßen  geheilt 
war,  dann  so  gut  es  ging  unter  Schonung  der  verletzten  Hand 
arbeiteten,  die  Hand  versteifen  und  die  Muskel  atrophieren  ließen, 
um  sich  nach  Ablauf  der  Karenzzeit  mit  Rentenansprüchen  bei 
der  Berufsgenossenschaft  zu  melden.  Im  Durchschnitt  ergab  sich 
als  Behandlungsdauer  ein  Zeitraum  von  180  Tagen  (hievon  88 
aul  die  Nachbehandlung),  trotzdem  waren  nach  dieser  Zeit  noch 
immer  7°o  im  Erwerbe  beeinträchtigt.  Bei  frischen,  in  seine  Be¬ 
handlung  gelangten  Fällen  erzielte  Müller  in  durchschnittlich 
48  Tagen  Ausheilung  mit  völliger  Erwerbsfähigkeit.  Allerdings  ließ 
er  die  Fixationsverbände  nur  ein  bis  zwei  Wochen  liegen,  um 
dann  zu  täglicher  Massage,  Bewegungen  und  Dampfbädern  über¬ 
zugehen.  —  (Monatsschrift  für  Unfallkunde  und  Invalidenwesen 
1911,  18.  Jahrg.  Nr.  1.)  K.  S. 

* 

633.  Ueber  Impfungen  von  Affen  mit  maligner 
Syphilis.  Von  Prof.  Dr.  E.  Tornas czevvski,  Oberarzt  der 
Universitätspoliklinik  für  Haut-  und  Geschlechtskrankheiten  in 
Berlin  (Prof.  Dr.  Lesser).  Während  Buschke  und  Fischer 
in  den  typischen  Herden  der  malignen  Syphilis  keine  Spirochaetae 
pallidae  nachweisen  konnten  und  auch  später  bei  Impfungen  auf 
Affen  (in  zehn  Fällen  neunmal  Erfolg)  bei  keinem  einzigen  Tiere 
in  den  Impfläsionen  Spirochäten  konstatierten,  habein  andere  Kli¬ 
niker  (Nobel,  Dolutrelepo n t)  bei  der  malignen  Lues  im 
Ausstrich  und  im  Gewebe  typische  Pallidae  gefunden.  Der  Ver¬ 
fasser  selbst  hat  in  sieben  Fällen  auch  im  Dunkelfeld  nur  einmal 
Spirochäten  nachgewiesen,  auch  II er  x  hei  m er  und  C oh n  fanden 
in  drei  Fällen  mit  hochgradiger  Nekrose  keine  Spirochäten.  Der 
Verfasser  hat  nun  neuerdings  drei  Versuche  mit  dem  Materiale 
von  Lues  maligna  angestellt.  Im  erstell  Falle  (multiple,  große 
Geschwüre)  fand  er  in  einem  exzidierten  Gewebe  im  Dunkelfeld  in 
zahlreichen  Präparaten  auch  bei  längerer  Untersuchung  keine 
Spirochäten;  hingegen  bei  Ueberi|mpfung  auf  Affen  im  Gewebssaft 
eines  Infiltrates  im  Dunkel feld  ziemlich  viele  Spirochäten,  nach 
1  orm,  Art  der  Bewegung  und  dem  geringen  Lichtbrechungsver- 
mögen  typische  Spirochaetae  pallidae.  Nach  zehn  Tagen  war 
der  Befund  schon  negativ.  Zwei  weitere  Versuche  ergaben  das¬ 
selbe  Resultat:  in  dem  von  den  Kranken  herrührenden  Materiale 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


917 


keine,  in  dem  von  den  geimpften  Affen  stammenden  Materiale 
im  Dunkelfeld  zahlreiche,  im  (iiemsa- Ausst'ich  vereinzelte,  ganz 
typische  Pallidae.  Auf  Grund  dieser  Experimente,  schließt  der 
Verfasser,  kann  kein  Zweifel  mehr  darüber  bestehen,  daß  auch 
anscheinend  spirochätenfreies .  Ausgangsjnaterial  von  maligner 
Syphilis  ln  i  niederen  Affen  nach  einem  mohrwöehenUichen  lnku- 
bationsstadium  Impfeffekte  hervorruft.,  die  hei  Untersuchung  im' 
Dunkelfeldc  wie  im  gefärbten  Ausstrich  typische  Spirocliaatae 
pallidae  enthalten.  —  (Berliner  klinische  Wochenschrift  191  i, 
Nr.  20.)  ■  E.  F. 

* 

634.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  zu  Straßhurg.  Direk¬ 
tor:  Prof.  Dr.  Moritz.)  Zur  Methodik  des  Nachweises 
sehr  k leine r  pathologischer  Ei w e i ß m e n gen  i m  1 1 a r n . 
Von  Dr.  Glaesgen  jun.  in  Bad  Münster  a.  St.  Verf.  beschreibt 
eine  wenig  bekannte  Methode  zum  Nachweis  kleinster  Eiwei߬ 
mengen  im  Harn.  20  cm3  Harn  werden  mit  fünf  Tropfen  einer 
•  20°/o «gen  Essigsäure  versetzt,  durch  Umgießen  in  ein  zweites 
gleich  große«  Reagenzrohr  gut  durchmischt  und  dann  auf  beide 
Gläser  gleich  verteilt.  Die  eine  Probe  wird  gekocht,  die  andere 
dient  zum  Vergleich.  Auch  kleinste  Trübungen  werden  auf  diese 
Weise  sichtbar.  Der  Harn  muß  vor  der  Untersuchung  klar  sein, 
sonst  muß  er  durch  Filtrieren  geklärt  werden.  Trübt  sich  der 
Harn  bei  Zusatz  der  Essigsäure  schon  in  der  Kälte,  so  wird  er 
ebenfalls  filtriert.  Ist  der  Harn  alkalisch,  so  kann,  der  angegebene 
Essigsäurezusatz  ungenügend  sein,  um  das  Ausfallen  von  Phos¬ 
phaten  zu  verhindern  und  Spuren  von  Eiweiß  zur  Yusscheidung 
zu  bringen.  Der  Harn  muß  dann  mit  der  verdünnten  Essigsäure 
gegen  blaues  Lackmuspapier  auf  eben  schwachsaure  Reaktion 
gebracht  und  dann  noch  mit  der  angegebenen  Menge  Essigsäure 
versetzt  weiden.  Kommt  es  zu  starker  Phosphattrübung,  wie  etwa 
nach  reichlicher  Mahlzeit,  so  wird  der  Zusatz  einiger  weiterer 
Tropfen  verdünnter  Essigsäure  das  Phosphat  zur  Lösung  bringen 
und  vor  Verwechslung  schützen.  Denn  bereits  ausgefälltes  Eiweiß 
wird  durch  einen  geringen  Mehrzusatz  von,  Essigsäure  nicht  wieder 
gelöst.  Diese  Probe  ist  nach  Verf.  nicht  identisch  mit  der  gewöhn¬ 
lichen  Kochprobe  und  nachfolgendem  Zusatz  von  Essigsäure;  sie 
ist  viel  empfindlicher.  Verf.  hat  zum  Vergleich  mit  dieser  Methode 
die  gewöhnliche  Kochprobe  mit  nachfolgendem  Essigsäurezusatz, 
ferner  die  Essig  säure-Ferrozyankaliumprobe  und  die  Hell  ersehe 
Schichtprobe  auf  konzentrierte  Salpetersäure  herangezogen.  Die 
beigegebenen  Tabellen  zeigen,  daß  die  Kochproben  mit  voraus¬ 
gehendem  Essigsäurezusatz  eine  Empfindlichkeit  bis  etwa 
1:180.000  hat,  während  die  gewöhnliche  mit  nachfolgendem  Essig- 
säurezusatz  bis  etwa  1:130.000,  die  Ferrozyankaliumprohe 
1 :  70.000,  die  H  e  1 1  er  sehe  Probe  aber  nur  1 : 35.000  ging.  Die  Me¬ 
thode  zeigt  also  eine  erhebliche  Ueherlegenheit,  die  noch  größer 
wild,  wenn  man  nur  den  alsbald  erfolgenden  positiven  Ausfall 
als.  maßgebend  ansieht.  Dies  ist  für  klinische  Zwecke  sehr  bequem. 
Die  Probe  wird  unsicher  werden,  wenn  der  Salzgehalt  des  Harnes 
ganz  abnorm  tief  liegt.  Dieser  Fäll  tritt  nach  des  Verfassers  Er¬ 
fahrungen  nur  bei  Polyurie  hei  gleichzeitiger  ausschließlicher 
Milchdiät  ein.  Man  tut  daher  gut,  in  Fällen  reiner  Milchdiät  beide 
Proben  anzuwenden.  Was  die  klinische  Brauchbarkeit  anlangt, 
fand  Verf.  hei  der  Untersuchung  von  50  Urinen  von  Hyper¬ 
tonikern  mit  der  gewöhnlichen  Kochprobe  in  15  Fällen,  mit  der 
Kochprobe  mit  vorausgehendem  Essigsäurezusatz  aber  in  36  Fäl¬ 
len,  also  mehr  als  der  doppelten  Anzahl,  Spuren  von  Eiweiß. 
Ebenso  gelang  es  unter  zehn  Fällen  von  Sälizyldarreiohung  hei 
Polyarthritis  in  vier  Fällen  ein  bis  zwei  Tage  früher  mit  der 
oben  beschriebenen  Methode  Eiweiß  nachzuweisen,  als  es  mit 
der  gewöhnlichen  Kochprobe  möglich  war.  Es  wurden  ferner  bei 
50  gesunden  Frauen  je  eine  spontan  und  eine  gleich  darauf  mit 
dem  Katheter  entleerte  Portion  untersucht.  In  zehn  von  diesen' 
Fällen  zeigte  die  spontan  entleerte  Portion  mit  des  Verfassers  Me¬ 
thode  Spruen  von  Eiweiß,  die  in  der  katheterisierten  Portion 
fehlten.  Mit  der  gewöhnlichen  Kochprobe  erhielt  man  nur  in  zwei 
Fällen  ein  positives  Resultat.  Auf  Grund  dieser  Resultate  glaubt 
Verfasser,  die  Kochprobe  mit  vorausgehendem  Essigsäurezusatz 
als  eine  sehr  empfindliche  und  zuverlässige  uhd  dabei  sehr  be¬ 
queme  Probe  empfehlen  zu  können.  —  (Münchener  medizinische 
Wochenschrift  1911,  Nr.  21.)  G. 

* 


635.  Knieei  len  bogen  läge  hei  Ptosis  gewisser 
Bauchorgane.  Von  Dr.  Rudolf  v.  Fellerrberg,  Frauenarzt 
in  Bern.  Die  prompte  Wirkung  der  Bauch-,  resp.  Knieelleubogen- 
lage  hei  postoperativem  Duodenalileus  (Schnitzler)  legte  den 
Gedanken  nahe,  auch  andere  Affektionen,  bei  denen  die  Be¬ 
schwerden  durch  die  veränderte  Lage  eines  Organes,  meist  wohl 
ein  Sinken  nach  unten,  hei  vorgerufen  werden,  in  analoger  Weise 
zn  behandeln,  um,  wenn  schon  nicht  eine  Heilung,  so  doch  ein 
momentanes  Aufhören  der  Symptome  zu  erlangen,  v.  Fellen 
borg  hatte  Gelegenheit,  sich  von  der  Richtigkeit  dieser  U Über¬ 
legung  zu  überzeugen.  Eine  Patientin  mit  Ren  mobilis  litt  an 
Schmerzen,  welche  besonders' nach  clem  Essen  und  körperlichen 
Anstrengungen  auf  hüten  und  mit  Brechneigung  und  Erbrechen 
einhergingen,  v.  Fellenberg  riet  ihr  jedesmal,  wenn  die 
Schmerzen  sich  zeigten,  die  Knieellenbogenlage  einzunehmen  und 
in  dieser  Stellung  ein  paar  Minuten  ziT  verharren.  Der  Erfolg 
dieser  Maßnahmen  war  ein  prompter  und  ausgezeichneter.  Viel¬ 
leicht.  ließe  Isich  dieses  Mittel,  welches  momentan  die  Beschwerden 
des  Patienten  unterdrückt,  bevor  noch  kausal  eingegriffen  werden 
kann,  auch  bei  Senkung  des  Magens,  Gallensteinkoliken,  mecha¬ 
nischem  Ileus,  Hydronephrose,  mit  Vorteil  an  wenden.  Umher 
berichtet  übrigens  auch  von  einem  Falle  von  Ulcus  duodeni,  wo 
der  Patient  auf  der:  Höhe  des  Schmerzanfalles  spontan  die  Knie¬ 
ellenbogenlage  mit  dem  Erfolge  ein  nahm,  daß  der  Schmerz  ge¬ 
lindert  wurde.  Bei  methodischer  Anwendung  dieser  Lage  bei 
Ulcus  duodeni  könnte  sogar  eine  Begünstigung  der  Heilung  zu 
erwarten  sein.  Nimmt  man  doch  an,  daß  eine  Rückstauung  des 
alkalischen  Duodmalinhaltes  durch  eiben  arteiio mesenterialen  Ver¬ 
schluß  des  Duodenums  gegen  die  Pylorusgegend  zu  die  Entstehung 
des  Ulkus  begünstigt.  Die  Lösung  der  Kompression  also  durch 
die  Knieellenhogenlage  könnte  wieder  die  spontane  Heilung  unter¬ 
stützen.  —  (Korrespondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte  1911*. 
41.  Jalirg.,  Nr.  7.)  K.  S. 

* 

636.  Die  geographische  Verbreitung  der  Pest  um 
die  Wende  des  19.  und  20.  Jahrhunderts,  Von  Rudolf 
Pöch.  Für  die  Verbreitung  der  Pest  kommen  heute  drei  Zentren 
in  Betracht,  jn  welchen  diese  Seuche  endemisch  herrscht.  Der 
erste  Pestherd  war  wahrscheinlich  Hongkong,  von  wo 
die  Pest  auf  dem  Seewege  nach  Vorderindien  eingeschleppt 
wurde.  In  der  letzten  Zeit  kam  die  Mandschurei  als  drittes 
Pestzentrum  hinzu.  Die  Annahme,  daß  die  Pest  ursprünglich  eine 
Nagetierseuche  war  und  erst  später  auf  das  Menschengeschlecht 
übergegriffen  hat,  hat  sehr  viel  Wahrscheinlichkeit.  Ihr  Ursprung 
dürfte  in  den  Hochländern  Zentralasiens  zu  suchen  sein.  Bei 
der  Verbreitung  der  Pest  spielen  Nagetiere  jedenfalls  eine  große 
Rolle.  Die  Pest  folgt  den  Linien  des  Eisenbalm-  und  Schiffs¬ 
verkehres.  Sie  trat  innerhalb  der  letzten  Jahrzehnte  in  den  zivili¬ 
sierten  Ländern  immer  nur  sporadisch  auf.  Der  hoch  entwickelten 
europäischen  Hygiene  gelang  es  immer,  die  Seuche  zu  lokalisieren. 
Zwei  Karten  illustrieren  die  geographische  Verbreitung  der  Pest. 
—  (A.  Petermanns  geographische  Mitteilungen  1911,  Bd.  1, 

Heft  4.)  sz. 

* 

Aus  französischen  Zeitschriften. 

637.  lieber  die  Masso-Lavage  des  Dick  dar  ms.  Von 
J.  Bau  mann.  Die  Waschung  und  auch  die  wiederholte  Waschung 
des  Darmes  geben  den  Patienten  nicht  immer  das  Gefühl 
der  Erleichterung  und  bewirken  bei  sehr  hochgradiger  oder 
spastischer  Obstipation  nur  eine  minimale  Stuhlentleerung. 
Als  Masso-Lavage  bezeichnet  der  Verfasser  die  Kombina¬ 
tion  von  Massage  mit  zweimaliger  Auswaschung  des  Dar¬ 
mes.  Zunächst  werden  400  bis  500  g  in  gewöhnlicher  Weise  ein¬ 
gegossen  und  sofort  wieder  abfließen  gelassen,  dann  folgt  eine 
Eingießung  von  700  bis  800  g,  maximal  ein  Liter.  Der  Patient 
wird  in  Rückenlage  gebracht  und  die  Massage  dreizeitig  durch¬ 
geführt.  Zunächst  wird  die  in  der  Ampulle  des  Mastdarmes, 
bzw.  im  S  romaiium  'ängesammelt©  Flüssigkeit  in  den  Dickdarm 
hinauf  befördert.  Zu  diesem  Zwecke  werden  beide  Hände  in  die 
Gegend  der  linken  Fossa  iliaöa  mit  auf  das  Schambein  gestützten 
Fingerspitzen  schief  gegen  die  Bauchwand  appliziert  und  die 
Bauchwand  tief  eingedrückt,  wobei  durch  sukzessiven  Druck  und 
Gleiten  in  der  Richtung  von  unten  nach  oben  die  Flüssigkeit 


918 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT. 


Nr.  25 


in  das  Colon  desoendcns  befördert  wird.  Man  fühlt  ein  Gurgeln 
an  spastisch  kontrahierten  Stellen,  wobei  namentlich  unmittelbar 
oberhalb  der  Ampulle  und  am  oberen  Ende  der  Portio  iliaca 
des  S  romannm  ein  W  iderstand  gegen  die  Passage  der  Flüssig¬ 
keit  wahrgenommen  wird.  Falls  sich  an  diese  Stellen  Empfind¬ 
lichkeit  zeigt,  wird  die  Massage  für  kurze  Zeit  ausgesetzt.  Aus 
dem  Colon  descendens  wird  die  Flüssigkeit  in  das  Querkolon 
dirigiert,  wobei  die  Passage  an  der  Uebergangsstelle  oft  eine 
Schwierigkeit  bietet,  der  Uebei’gang  in  das  Colon  ascendens  ge¬ 
schieht  spontan  und  gibt  sich  durch  Plätschern  am  Blinddarm 
kund ;  die  Massage  des  Blinddarms  in  der  Richtung  von  oben 
nach  unten  ist  nicht  ratsam.  Das  zweite  Tempo  der  Massagie 
besteht  in  Effleurage  des  Kolons  in  der  dem  Weg  der  Fäzes  ent¬ 
gegengesetzten  Richtung,  um  die  Fäzes  von  der  Schleimhaut  los¬ 
zulösen,  schließlich  erfolgt  oberflächliche  Effleurage  des  Kolons 
dem  Wege  der  Fäzes  entsprechend.  Gewöhnlich  erfolgt  sofort 
nach  der  Massage  eine  sehr  ausgiebige  Entleerung  erweichter 
Fäzes.  In  chronischen  Fällen  ist  eine  zu  häufige,  z.  B.  tägliche 
Applikation  des  Verfahrens  nicht  angezeigt.  Das  Verfahren  be¬ 
wirkt  Entleerung  hochsitzender  Kotmassen,  es  gestattet  die  voll¬ 
kommene  Reinigung  der  Schleimhaut,  wodurch  die  wirksame  Appli¬ 
kation  medikamentöser  Lösungen  bei  Geschwürsprozessen  er¬ 
möglicht  wird,  ebenso  die  rasche  Bekämpfung  der  an  die  Kopro- 
stase  sich  anschließenden  Gärungs-  und  Fäulnisvorgänge.  Die 
Methode  kann  auch  bei  den  verschiedenen  Formen  der  gastro¬ 
intestinalen  Autointoxikation  und  Infektion,  bei  Urämie  usw.  an¬ 
gewendet  werden.  —  (Progres.  med.  1911,  Nr.  6.)  a.  e. 

* 

638.  Ueber  einen  Fall  von  Sklerodaktylie.  Von 
G.  Ranzier  (Montpellier).  Die  51jährige  Patientin  zeigt  seit 
4V2  Jahren  trophische  Störungen  u.  zw.  vorwiegend  an  den  oberen 
Extremitäten,  welche  durch  Atrophie  der  Finger  mit  Retraktion 
der  Haut  und  starke  Einschränkung  der  Bewegungsfähigkeit 
charakterisiert  sind;  daneben  besteht  leichter  Tremor.  Leichte 
trophische  Störungen  sind  auch  im  Gebiet  des  Gesichtes  vor¬ 
handen.  Raynaudsche  Krankheit,  Erythromelalgie,  fibröser 
Rheumatismus,  Poliomyelitis  des  Typus  Aran-Duchenne,  amyo- 
trophische  Lateralsklerose,  Syringomyelie  und  Lepra  lassen  sich 
differentialdiagnostisch  leicht  ausschließen,  so  daß  die  Diagnose 
der  Sklerodaktylie,  das  ist  einer  lokalen  Form  der  Sklerodermie 
übrigbleibt.  Die  durch  Induration,  bzw.  fibröse  Umwandlung  der 
Haut  charakterisierte  Sklerodermie,  welche  bei  stärkerer  Ent¬ 
wicklung  auch  das  subkutane  Gewebe  und  selbst  innere  Organe 
in  Mitleidenschaft  zieht,  ist  eine  relativ  seltene  Erkrankung, 
welche  meist  in  der  Zeit  vom  20.  bis  40.  Lebensjahr  und  mit 
überwiegender  Häufigkeit  beim  weiblichen  Geschlecht  auftritt. 
Bezüglich  der  Pathogenese  wurde  Zusammenhang  mit  Gicht, 
Rheumatismus,  akuten  und  chronischen  Infektionen,  namentlich 
Tuberkulose  angenommen  und  auf  die  häufige  Vergesellschaftung 
mit  Hysterie,  Migräne,  Neuralgien,  Morbus  Basedowi,  Paralysis 
agitans,  Akromegalie,  Myxödem  usw.  hingewiesen.  Man  unter¬ 
scheidet  drei  Hauptformen  u.  zw.  die  diffuse  generalisierte,  die 
umschriebene  und  die  progressive  Form.  Die  umschriebene  Form 
tritt  in  zweifacher  Weise  auf  u.  zw.  als  Morphaea,  welche  zu 
umschriebener  Entfärbung  der  Haut  mit  Bildung  eines  glatten 
narbenartigen  Gewebes  führt  und  die  disseminierte  Form,  wo 
die  narbenartigen  Veränderungen  der  verschiedenen  Stellen  dem 
Verteilungsgebiet  der  Hautnerven  entsprechend,  in  Form  von 
Plaques  older  Bändern  auftreten.  Die  progressive  Form  wird 
auch  als  Sklerodaktylie  bezeichnet,  weil  die  Veränderungen  zu¬ 
nächst  an  den  Fingern  auftreten  und  hier  die  größte  Intensität 
erreichen.  D|ie  Affektion  beginnt  mit  Parästhesien  und  vaso¬ 
motorischen  Störungen,  woran  sich  Induration  der  Haut  und 
Verdünnung  der  Finger  anschließt;  Ulzerationen  und  Knochen¬ 
atrophie  können  zu  Verstümmlung  durch  Abstoßung  von  Pha¬ 
langen  führen.  Die  Sklerodermie  greift  auf  die  Arme,  Thorax, 
Hals  und  Gesicht  über,  welches  maskenartige  Starre  infolge  der 
Atrophie  und  Induration  der  Haut  zeigt,  seltener  werden  die 
unteren  Extremitäten  befallen.  Als  Begleiterscheinungen  werden 
Hautpigmentation  und  Muskelatrophie  beschrieben.  Nach  meist 
chronischem  Verlauf  entwickelt  sich  Kachexie;  der  Exitus  er¬ 
folgt  durch  hinzutretende  Infektionen  oder  Komplikationen  von 
seiten  innerer  Organe.  Differentialdiagnostisch  kommen  Ray¬ 


naudsche  Krankheit,  Erythromelalgie,  chronischer  fibröser  Rheu¬ 
matismus,  amyotrophische  Lateralsklerose,  Syringomyelie  und 
Lepra  in  Betracht.  Als  Ursache  der  Sklerodermie  wird  gegen¬ 
wärtig  eine  Funktionsstörung  verschiedener  Blutdrüsen  ange¬ 
nommen.  In  der  Therapie  werden  Salizylpräparate,  Belladonna, 
Jodkalium,  Fibrolysin,  bzw.  Thiosinamin,  ferner  Schilddrüsen- 
präparate  verwendet,  welch  letztere  bei  der  Sklerodaktylie  wenig 
leisten.  Die  externe  Therapie  besteht  in  Wärmeapplikation,  even¬ 
tuell  in  Form  von  Thermalbädern,  Elektrizität,  Röntgen-  und 
Radiumbehandlung.  —  (Gaz.  des  höp.  1911,  Nr.  25.)  a.  e. 

♦ 

639.  Uebe,r  einen  Fall  von  akuter  aufsteigender 
Lähmung  bei  einem  elfjährigen  Kinde.  Von  A.  Coyon 
und  L.  Babonneix.  Noch  vor  kurzem  wui’de  die  akute  auf¬ 
steigende  Lähmung  als  autonome  Erkrankung  mit  einheitlicher 
Ursache  und  gleichartigen  anatomischen  Veränderungen  und  kli¬ 
nischen  Symptomen  betrachtet.  Gegenwärtig  wird  die  Landry- 
sche  Lähmung  als  Symptomenkomplex  betrachtet,  welcher  durch 
verschiedene  Ursachen,  vor  allem  Intoxikation  und  Infektion  her¬ 
vorgerufen  werden  kann.  Bei  dem  elfjährigen  Patienten  hatte 
die  Erkrankung  mit  heftigen  Schmerzen  in  der  Wirbelsäule  be¬ 
gonnen.  Es  stellte  sich  rasch  schlaffe  Lähmung  der  unteren  Ex¬ 
tremitäten,  der  Thoraxmuskulatur  und  der  oberen  Extremitäten 
bei  erhaltener  Funktion  der  Sphinkteren  und  Aufhebung  der 
behnenreflexe  ein.  Abgesehen  von  lebhafter  Schmerzhaftigkeit 
bei  jeder  Berührung  bestanden  keine  Sensibilitätsstörungen.  Sen- 
sorium  und  Intelligenz  waren  normal;  die  Lumbalpunktion  ergab 
eine  klare  Flüssigkeit.  Es  bestand  Fieber,  beschleunigte  Respi¬ 
ration  und  der  Exitus  trat  plötzlich  am  vierten  Krankheitstage 
ein.  Die  Untersuchung  des  Nervensystems  ergab  hauptsächlich 
eine  starke  embryonale  Infiltration  der  grauen  Substanz  des 
Rückenmarkes,  namentlich  in  den  Vorderhörnern,  wo  stellen 
weise  die  großen  Ganglienzellen  ganz  verschwunden  waren,  auch 
im  verlängerten  Mark  und  in  der  Gehirnrinde  waren  Infiltra¬ 
tionsherde  nachweisbar.  Die  arteriellen  Gefäße  zeigten  starke 
Blutüberfüllung,  auch  an  den  Meningen  war  streckenweise  In¬ 
filtration  mit  embryonalen  Zellen  nachweisbar;  Mikroorganismen 
wurden  im  Zentralnervensystem  nicht  vorgefunden.  Es  lag  eine 
Poliomyelitis  acuta  anterior  vor,  welche  sich  unter  dem  Bilde 
einer  aufsteigenden  Lähmung  entwickelte.  Fälle  dieser  Art  sind 
in  der  Literatur  wiederholt  beschrieben  worden.  Es  handelt  sich 
um  eine  kontagiöse  Erkrankung,  die  auch  epidemisch  auftreten 
kann,  wo  aber  der  Nachweis  des  Krankheitserregers  bisher  nicht 
gelungen  ist.  Auf  das  Vorhandensein  eines  lebenden  Erregers 
weist  die  Möglichkeit  der  Ueberimpfung  auf  Affen  durch  Rücken¬ 
markspartikel  hin.  Zu  den  Lähmungserscheinungen,  welche  auch 
den  Typus  der  akuten  aufsteigenden  Lähmung  annehmen 
können,  gesellen  sich  oft  typische  Meningitissymptome,  ferner 
Symptome,  die  auf  Beteiligung  der  Seitenstränge,  der  Nerven¬ 
wurzeln,  der  peripheren  Nerven  und  der  Gehirnrinde  hinweisen. 
Am  meisten  betroffen  ist  die  graue  Substanz,  doch  können  auch 
die  anderen  Teile  des  Nervensystems  Sitz  kongestiver,  hämor¬ 
rhagischer  und  entzündlicher  Läsionen  sein.  Die  großen  Vorder¬ 
hornzellen  können  durch  Histolyse  und  Neuronophagie  bis  auf 
einige  Rudimente  verschwinden,  während  die  Clark  eschen 
Säulen  in  der  Regel  wenig  beteiligt  sind ;  an  den  peripheren. 
Nerven  sind  wegen  der  Raschheit  des  Verlaufes  in  der  Regel 
keine  Läsionen  mit  Osmiumfärbung  nachweisbar.  Es  gibt  auch 
Fälle  mit  langsamem:  Verlauf  und  vieldeutigen  Symptomen,  welche 
zum  Teil  an  Hirntumor,  zum  Teil  an  Meningitis  cerebrospinalis 
denken  lassen.  Beide  Formen  gehören  in  den  Rahmen  der  Heine- 
M e d in ischen  Krankheit,  welche  durch  ein  noch  imbekanntes 
Virus  hervorgerufen  wird,  vorwiegend  Läsionen  an  den  Vorder- 
hörnern  setzt,  aber  auch  alle  anderen  Teile  des  Zentralnerven¬ 
systems  bis  zur  Hirnrinde  in  Mitleidenschaft  ziehen  kann  und 
hauptsächlich  motorische  Störungen  hervorruft,  die  große  Varia¬ 
bilität  zeigen.  —  (Gaz.  des  hfop.  1911,  Nr.  16.)  a.  e. 

* 

640.  Ueber  das  Urotropin  bei  der  Behandlung  der 
akuten  Gallen i n fekti one n  und  des  Abdominal ty p hu s. 
Von  A.  Chauffard.  Während  früher  der  Typhus  als  Darm¬ 
infektion  und  die  typhöse  Erkrankung  der  Gallenwege  als  Fölge- 
zustand  der  Darminfektion  aufgefaßt  wurde,  herrscht  gegenwärtig 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


die  Anschauung  vor,  daß  die  Typhusinfektion  und  die  Erkran¬ 
kungen  der  Gallenwege  hämatogener  Natur  sind.  Diese  Auffassung 
läßt  das  Suchen  nach  einem  wirksamen  Gallenantiseptikum  ge¬ 
rechtfertigt  erscheinen;  das  Urotropin  entspricht  den  Anforde¬ 
rungen  an  ein  solches  Mittel  hinsichtlich  der  Ausscheidung  durch 
die  Galle,  der  Unschädlichkeit  und  anti septischen  Wirksamkeit 
in  höherem  Maße,  als  zum  Beispiel  die  bei  Infektionen  der  Gallen¬ 
wege  vielfach  angewendeten  Salizylpräparate.  Es  wurde  an 
Gallenfistelhunden,  sorvie  an  Gallenfisteln  Operierten  der  Nach¬ 
weis  erbracht,  daß  das  Urotropin  durch  die  Galle  in  ebenso 
konstanter,  rascher  und  ausgiebiger  Weise  eliminiert  wird,  als 
durch  den  Harn.  Us  wird  angegeben,  daß  nach  Urotropindarrei¬ 
chung  Typhus-  und  Kolibazillen  aus  der  Galle  vollständig  ver¬ 
schwinden  können.  Als  Indikationen  der  Urotropinanwendung 
sind  neben  der  akuten  Cholezystitis  und  der  Sterilisation  der 
infizierten  Gallenblase  vor  Operationen  auch  alle  akuten  und 
subakuten  Infektionen  der  Gallen wege  und  des  Leberparenchyms 
anzuführen.  Beim  Abdominaltyphus  wurde  das  Urotropin  in  Tages¬ 
dosen  von  2  g  zunächst  zur  Bekämpfung  der  Bakteriurie,  dann 
zur  prophylaktischen  Sterilisierung  der  Gallenblase  angewendet. 
Die  neuen  Anschauungen  über  die  Pathogenese  des  Abdominal¬ 
typhus  w'eisen  auf  die  Anwendung  des  Urotropins  zur  kausalen 
ryphusbehandlung  hin.  Experimentelle  und  klinische  Untersuchun¬ 
gen  sprechen  für  den  Darm  als  Eingangspforte  der  Typhusinfek¬ 
tion;  vom  Darme  aus  gelangen  die  Keime  in  das  Blut,  so  daß 
die  Typhusinfektion  eine  Septikämie  darstellt;  aus  dem  Blute 
gelangen  die  Keime  in  die  Gallenwege  und  durch  deszendierende 
Infektion  in  den  Darm,  zunächst  in  das  Duodenum,  dann  erst  irr 
die  tieferen  Darmabschnitte,  häufig  auch  in  die  Harnwege,  womit 
die  Bakteriurie,  das  heißt  die  Elimination  der  Typhusbazillen 
mit  dem  Harne  zusammenhängt.  Durch  von  den  Gallenwegen 
ausgehende  neue  Infektion  des  Darmes  kann  man  die  Rückfälle, 
durch  andauernde  Infektion  die  prolongierten  Formen  des  Ab¬ 
dominaltyphus  erklären.  Während  man  früher  den  Abdominal¬ 
typhus  als  infektiöse  und  ulzeröse  Enteritis  auffaßte  und  erfolg¬ 
los  mit  Darmantiseptizis  behandelte,  weist  die  gegenwärtige  Auf¬ 
fassung  der  Pathogenese  auf  die  Notwendigkeit  hin,  die  Infektion 
der  Gallenwege  zu  bekämpfen.  Diesem  Postulat  entspricht  das 
Urotropin,  welches  auch  gegen  die  Bakteriurie  wirksam  ist,  dem¬ 
nach  die  Wirksamkeit  der  Kaltwasserbehandlung,  die  in  diese 
Gebiete  nicht  hinüberreicht,  ergänzt.  Die  Einwirkung  des  Uro¬ 
tropins  auf  die  Dann-  und  Blutinfektion  ist  nicht  sichergestellt, 
wohl  aber  die  Einwirkung  auf  die  Gallen-  und  Harninfektion. 
Die  Dosis  des  Urotropins,  welches  als  das  diffusionsfähigste  und 
wirksamste  innere  Antiseptikum  betrachtet  werden  kann,  wobei 
die  Wirkung  wahrscheinlich  auf  Abspaltung  von  Formol  beruht, 
beträgt  bei  Erwachsenen  2  bis  3  g  pro  die  in  Einzel  dosen  von 
0-5  bis  1-0  g ;  die  Darreichung  einmaliger  mlassiver  Dosen,  zum 
Beispiel  von  5  g,  zur  vollständigen  Sterilisierung  der  Galle,  er¬ 
scheint  derzeit  noch  nicht  ratsam.  —  (Sem.  m'ed.  1911,  Nr.  10.) 

a.  e. 

* 

Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

641.  Wanderung  von  Sarkomzellen  in  vitro  durch 

amöboide  Bewegungen.  Von  A.  Lambert  und  F.  Hanes. 
An  den  Zellen  von  Ratten-  und  Mäusesarkomen,  die  in  vitro 
kultiviert  wurden,  konnten  amöboide  Bewegungen  nachgewiesen 
werden.  Das  Phänomen  der  amöboiden  Bewegungen  von  Sarkom¬ 
zellen  erklärt  am  besten  das  Eindringen  maligner  Gebilde  in 
Lymphispalten,  Lymph-  und  Blutgefäße  und  ihre  Ausbreitung  in 
den  Geweben.  —  (The  Journal  of  the  American  medical  Asso¬ 
ciation,  18.  März  1911.)  sz. 

* 

642.  Die  Behandlung  des  Krebses  mit  Körper¬ 
flüssigkeiten,  insbesonders  der  Aszitesflüssigkeit. 
Von  E.  Risley.  Untersuchungen  bei  65  Fällen,  welche  sowohl 
was  die  Art  des  Krebses,  als  die  angewandte  Flüssigkeit  betrifft, 
genügende  Versuchs  Variationen  ermöglichten,  hatten  folgendes  Er¬ 
gebnis  :  Die  Injektion  von  verschiedenen  Trans-  und  Exsudaten 
des  Körpers,  ob  krebsiger  oder  nicht  krebsiger  Art,  hat  keine  ver¬ 
langslamende  Wirkung  auf  das  Wachstum  des  “Mäusekrebses.  Die 
Verwendung  der  Aszitesflüssigkeit  von  Krebskranken,  die  eine  ge¬ 
wisse  Resistenz  gegen  die  Krankheit  zeigten,  hatte  keinen  dauern¬ 


den  Eipfluß  auf  das  Wachstum  des  Krebses.  Andere  nicht  karzino- 
matöse  Körperflüssigkeiten  sind  noch  unwirksamer.  Symptoma¬ 
tische  Besserung  konnte  bei  einer  Reihe  Patienten  erzielt  werden, 
indem  die  Schmerzen  nachließen,  die  Ernährung  und  der  Allgemein¬ 
zu.-  tand  sich  besserte.  In  manchen  Fällen  ist  eine  Verlangsamung 
des  Krebs  Wachstums  durch  einen  ein-  bis  sechsmonatigen  Zeit¬ 
raum  zu  beobachten  gewesen.  Aszitesflüssigkeit  dürfte  den  Prozeß 
m  fast  allen  Fällen  von  Mund-  und  Knochenkrebs  beschleunigen. 
—  (The  Journal  of  the  American  medical  Association,  13.  April 
1911d  sz. 


648.  Die  intestinale  Bakteriologie.  Von  A.  Ken¬ 
dall.  Die  Lebensäußernngen  der  intestinalen  Bakterienflora  sind 
von  dei  zugeführten  Nahrung  abhängig.  Die  Darmbakterien  können 
entweder  Eiweiß  oder  Kohlehydrate  spalten.  Sie  greifen  jedoch 
das  Eiweiß  erst  dann  an,  wenn  sie  keine  Kohlehydrate  zur  Ver¬ 
fügung  haben.  Die  Bildung  der  toxischen  Eiweißabbauprodukte 
kann  daher  durch  die  Ernährung  beeinflußt  werden.  Zu  diesem 
Zwecke  eignet  sich  Laktosezufuhr  besonders  gut.  —  (The  Journal 


of  the  American  medical  Association,  15.  April  1911.) 


sz. 


644.  Dde  Behandlung  eitriger  Otitis  media  nach 
Skarlatina  mit  Bakterienprodukten  (Bakterine).  Von 
P.  Weston  und  J.  Kol'm er.  Hundert  Fälle  eitriger  Otitis 
media  wurden  mit  Bakterin  behandelt.  Auf  Grund  ihrer  Erfah¬ 
rungen  kommen  die  Autoren  zu  folgenden  Schlüssen:  Die  beste 
Zeit  zum  Beginn  der  Bakterinbehandlung  liegt  zwischen  dem 
8.  und  16.  Tage,  nachdem  der  Ohrenfluß  angefangen  hat.  Konti¬ 
nuierlich  hohes  Fieber,  Nephritis,  Toxämie  und  andere  inter¬ 
kurrente  Krankheiten  sind  Kontraindikationen.  Unter  der  Bak¬ 
terinbehandlung  wurden  dreimal  soviel  Patienten  innerhalb  von 
30  Tagen  geheilt  entlassen,  als  unter  der  gewöhnlichen  Behand¬ 
lungsweise*  Die  durchschnittliche  Dauer  des  Spitalsaufenthaltes 
wurde  hiedurch  beträchtlich  herabgesetzt.  Fälle  von  Otitis  media 
bieten  ein  fruchtbares  und  ermutigendes  Feld  für  die  Anwendung 
der  Vakzinetherapie.  —  (The  Journal  of  the  American  medical 
Association,  15.  April  1911.)  sz. 


♦ 


645.  Ae  Biologie  und  Behandlung  der  Furunku¬ 
lose.  Von  H.  Gas  kill.  Furunkulose  ohne  Nierenkomplikationen 
kann  erfolgreich  durch  Eröffnung  mittels  in  Phenol  eingetauchter 
Instrumente,  nachträgliche  Injektion  eines  polyvalenten  Staphy- 
lokokkenvakzines  und  Anwendung  einer  5  bis  15%igen  Salizyl- 
salbe  behandelt  werden.  Da  die  Aerzte  aus  Mangel  an  den  nötigen 
Erfahrungen  und  Einrichtungen  nicht  in  der  Lage  sind,  autogene 
Vakzine  herzustellen,  so  empfiehlt  sich  die  Anwendung  der  von 
verläßlichen  Firmen  hergestellten  Standardvakzine.  Der  Schmerz 
bei  der  Eröffnung  des  Fürunkels  ist  gering,  weil  das  Phenol 
schmerzlindernd  wirkt.  Die  Reaktion  nach  der  ersten  Injektion 
des  Bakterins  ist  in  der  Regel  schwach.  Es  ist  nicht  notwendig, 
den  opsonischen  Index  festzustellen,  da  die  klinische  Beobach¬ 
tung  zur  Beurteilung  der  Reaktion  ausreicht.  —  (The  Journal 
of  the  American  medical  Association,  15.  April  1911.)  sz. 


* 


646.  Die  Beziehung  prämenstruellen  Fiebers  zur 
Lungentuberkulose.  Von  L.  Kessel.  Bei  100  Fällen  von 
Lungentuberkulose  in  allen  Stadien  der  Krankheit  wurden  nur 
zweimal  prämenstruell  Temperatursteigerungen  beobachtet.  Die 
von  Voornweldt  beschriebene  intermenstruelle  Temperatur- 
Steigerung,  welche  14  Tage  nach  der  Menstruation  auftreten  soll, 
wurde  in  keinem  Fälle  gesehen.  Von  den  zur  Erklärung  des  prä¬ 
menstruellen  Fiebers  a.ufgestellten  Theorien  hat  die  von  Ric- 
bold,  welcher  die  Ovulation  als  ursächliches  Moment  ansieht, 
am  meisten  für  sich.  —  (The  Journal  of  the  American  medical 
Association,  24.  April  1911.)  sz. 


\/ermisehte  flaehriehten. 

Hofrat  Prof.  Dr.  Ernst  Ludwig  wurde  für  das  kommende 
Studienjahr  zum  Dekan  der  medizinischen  Fakultät  in  Wien  ge¬ 
wählt.  Prof.  F.  Höchste  tier  wird  als  Prodekan  fungieren. 

* 


920 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  25 


Ernannt:  Der  außerordentliche  Professor  Dr.  Fritz  Hart 
mann  zinn  ordentlichen  Professor  der  Psychiatrie  und  Neuro¬ 
pathologie  in  Graz.  —  Der  mit  dem  Titel  eines  außerordent¬ 
lichen  Universitätsprofessors  bekleidete  Privatdozent  Dr.  Franz 
K  t  z  y  s  zital  ow  i  cz  zum  außerordentlichen  Professor  der  Der¬ 
matologie  und  Syphilidologie  an  der  Universität  in  Krakau. 

!>r.  Perrariido  zujm  ordentlichen  Professor  der  gerichtlichen 
Medizin  in  Genua. 

* 

Zum  Primarärzte  des  Rudolfinerhauses  wurde  neben  Pri¬ 
marius  Dr.  Moszkowicz  vom  1.  Oktober  an  der  Privatdozent 
Dr.  Otto  Pi.  v.  Frisch,  derzeit  Assistent  an  der  chirurgischen 
Klinik  v.  E  i  s  e  1  s  b  e  r  g,  ernannt. 

* 

Dei'  Primararzt  der  Irrenabteilung  des  bosnisch-herzegovi- 
nischen  Landesspitals,  Regiernngsrat  Dr.  Karl  Bayer  wurde  über 
sein  Ansuchen  in  den  dauernden  Ruhestand  versetzt. 

* 

Verliehen:  Dem  Privatdozenten  für  interne  Medizin  an 
der  Universität  in  Krakau  Dr.  Erwin  Miesowicz  der  Titel  eines 
außerordentlichen  Universitätsprofessors.  Dem  Privatdozenten 
für  innere  Medizin  in  Budapest  Dr.  L.  Ketly  der  Titel  eines  außer¬ 
ordentlichen  Professors.  —  Dem  Regimentsarzte  im  Verhältnis 
a.  D.  Dr.  Alois  B  i  1  e  1 1 i  -  C  a  p  p  u  s  der  Titel  und  Charakter  eines 
Stabsarztes. 

* 

Habilitiert:  Dr.  Tarsia  in  Neapel  für  chirurgische  Ana¬ 
tomie.  —  Dr.  d’Amato  für  Dermatologie  und  Syphilis  in  Rom. 

Dr.  Cignozzi  für  Chirurgie  in  Siena.  —  Dr.  Ott  für  interne 
Pathologie  in  Sassari.  -  In  St.  Petersburg:  Dr.  Philos ophow 
für  innere  Medizin,  Dr.  Vetrogradow  für  gerichtliche  Me¬ 
dizin  an  der  mili't.  med.  Akademie. 

* 

Gestorbe’n:  Der  Professor  der  Hygiene  Dr.  Fallot  in 
Marseille. 

* 

Die  diesjährige  Generalversammlung  des  „Viribus  uni  tis“- 
Hilfsvereines  für  Lungenkranke  fand  vor  einigen  Tagen 
im  Vereinsbureau,  I.  Bez.,  Wallfischgasse  Nr.  8,  unter  dem  Vor¬ 
sitze  des  Präsidenten  Dr.  Hans  Grafen  L arisch  statt.  Dem 
Tätigkeitsbericht  ist  zu  entnehmen,  daß  sich  ein  „Oesterreichisches 
Zentralkomitee  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose“,  dem  alle 
großen  Tuberkulosevereine  Oesterreichs  angehören  und  ein 
„Oesteireichisches  Komitee  zur  Vorbereitung  internationaler  Tuber¬ 
kulose-Konferenzen  und  -Kongresse“  konstituiert  haben.  Wie  in 
den  Vorjahren,  wurde  das  Merkblatt  „Verhaltungsmaßregeln  zum 
Schutze  gegen  Tuberkulose“  verschiedenen  amtlichen  Stellen, 
Schulen  und  industriellen  Unternehmungen  kostenfrei  zugesendet, 
ln  den  zehn  von  Aerzten  geleiteten  Vereinshilfsstellen  befanden 
sich  640  Familien  mit  3379  Personen  in  Aufsicht  und  Pflege, 
sie  wurden  mit  Milch,  Brot,  Fleisch  und  Wohnungsbeihilfen  unter¬ 
stützt,  es  wurden  z.  B.  100.974  Liter  Milch  verteilt.  Im  Kinder¬ 
heim  des  Vereines  befanden  sich  135  Kinder  in  unentgeltlicher 
Pflege.  In  den  Erholungsstätten  der  Kinderschutzstationen  waren 
124  Kinder  mit  4115  Verpflegstagen  auf  Kosten  des  Hilfsvereines 
untergebracht.  Die  Einnahmen  des  Vereines  betrugen  im  Berichts¬ 
jahre  59.060  Kronen,  die  Ausgaben  83.699  Kronen.  Die  statuten¬ 
mäßig  austretenden  Kuratoren  wurden  wieder-  und  als  neues 
Mitglied  des  Kuratoriums  Prof.  Chvostek  gewählt. 

* 

In  diesem  Jahre  wird  eine  Universität  auf  Island  und 
zwar  in  Reykjavik  entstehen.  Die  Gründung  der  isländischen 
Universität  erfolgt  in  der  Weise,  daß»  die  bisherigen  Hochschulen 
liir  Gesetzeskunde,  Theologie  und  Medizin  in  Fakultäten  umge¬ 
wandelt  werden.  Zu  den  genannten  drei  Fakultäten  wird  eine 
vierte,  die  philosophische,  hinzutreten,  die  vollständig  neu  ge¬ 
gründet  wird.  Von  den  drei  Hochschulen,  welche  die  übrigen 
drei  Fakultäten  bilden  werden,  ist  die  geistliche  Hochschule 
die  älteste;  sie  besteht  schon  seit  dem  Jahre  1847;  1876  kam 
die  medizinische  und  1907  die  juristische  Hochschule  hinzu.  An 
der  isländischen  Universität  werden  vorläufig  im  ganzen  neun 
Professoren  und  zwölf  Dozenten  wirken.  Künftig  werden  auf 
Island  keine  höheren  Beamten  angestellt  werden,  die  nicht  an 
der  Universität  zu  Reykjavik  ihre  Staatsprüfung  bestanden  haben. 

* 

Preisausschreiben,  betreffend  die  Herstellung  einer  in 
den  Betrieben  auszuhängenden  Tafel  für  erste  Hilfeleistung. 
Der  Verband  der  Deutschen  Berufsgenossenschaften  erläßt  hiemit 
ein  Preisausschreiben  für  die  Herstellung  einer  in  den  Betrieben 
der  gewerblichen  Berufsgenosscnschaflen  auszuhängenden  Tafel, 
auf  der  die  Maßnahmen  für  erste  Hilfeleistung  bei  Betriebsunfällen 


(insbesondere  auch  solchen,  die  durch  elektrischen  Strom  ver¬ 
ursacht  worden  sind),  gemeinverständlich  dargestellt  und  durch 
Zeichnungen  erläutert  werden  sollen.  Die  Tafel  soll  höchstens 
50  70  cm  groß  sein;  der.  Text  nur  so  umfangreich,  daß  er  auf 

der  Tafel  in  deutlich  lesbarer  Druckschrift  wiedergegeben  werden 
kann.  Für  die  geeignetsten  Ausarbeitungen  sind  drei  Preise  von 
insgesamt  600  M.  vorgesehen.  Das  Preisrichteramt  haben  die 
Herren  Direktor  Wenzel,  Direktor  D.  Spiecker,  Vorsitzender 
des  Verbandes  der  Deutschen  Berufsgenossenschaften,  Kommer¬ 
zienrat  Faber,  Fabriksbesitzer  in  Stuttgart,  Witowski,  Direktor 
im  Reichsversicheruhgsamt,  Prof.  Dr.  ing.  Konrad  Hartmann, 
Senatsvoi  sitzender  im  Reichs  versicherungsamte,  Regierungs  rat 
Dr.  v.  Schack,  Prof.  Dr.  K  i mni  l  e, 'Generalsekretär  der  Deutschen 
Vereine  vom  Roten  Kreuz,  Dr.  Paul  Frank,  ärztlicher  Direktor 
der  Berliner  Unfallstationen  vom  Roten  Kreuz,  Dr.  Paul  Zander, 
Vertrauensarzt  der  nordöstlichen  Eisen-  und  Stahlberufs¬ 
genossenschal  t,  Dr.  Max  Bayard,  Fabriksarzt  der  Firma  Ludwig 
Loewe  &  Co.,  A.-G.,  Berlin,  übernommen.  Einsendungen  sind 
mit  einem  Kennwort  zu  versehen.  Auf  einen  der  Bewerbung  bei¬ 
zufügenden  verschlossenen  Briefumschlag,  in  dem  die  .genaue 
Adresse  des  Einsenders  enthalten  ist,  ist  dasselbe  Kennwort  zu 
schreiben.  Einsendungen  sind  bis  zum  15.  Oktober  1911  an 
die  Geschäftsstelle  des  Verbandes  der  Deutschen  Berufsgenossen¬ 
schaften,  Berlin  W.,  Kronenstraße  75,  mit  der  Aufschrift  „Preis¬ 
bewerbung  für  erste  Hilfeleistung“  zu  richten. 

* 

Cholera.  Oesterreich.  In  Graz  wurde  bei  der  bakterio¬ 
logischen  Untersuchung  der  Stuhlentleerungen  der  Kontuma¬ 
zierten  und  des  Wartepersonals  eine  geistliche  Krankenpflegerin, 
die  Anfangs  mit  dem  cholerakranken  Franzki  in  Berührung  ge¬ 
kommen  war,  nls  gesunde  Bazillenträgerin  erkannt.  Ebenso  wurde 
in  Triest  bakteriologisch  festgestellt,  daß  ein  Mitreisender  des 
an  Cholera  verstorbenen  Deri  (nicht:  Dersi)  als  gesunder  Ba¬ 
zillenausscheider  anzusehen  ist.  Dem  Dämpfer  „Saxonia“  wurde 
am  11.  Juni  1.  J.  die  libera  pratica  erteilt.  —  Türkei  Am  4.  Juni 
wurde  in  Stambul  ein  weiterer  choleraverdächtiger  Fall  konsta¬ 
tiert.  Die  Patente  erhalten  den  Vermerk  „Vereinzelte  isolierte 
Cholerafälle  wurden  in  der  Stadt  konstatiert  seit  26.  Mai“.  Pro¬ 
venienzen  aus  Konstantinopel  unterliegen  ärztlicher  Visite  bei 
Abfahrt  und  bei  der  Ankunft  im  ersten  ottomanischen  Hafen.  In 
Samsun  wurden  am  3.  Juni  17,  am  4.  Juni  20  Fälle  konstatiert. 
In  Smyrna  wurden  vom1  20.  bis  23.  Mai  7  Cholerafälle,  dar¬ 
unter  3  (mit  tödlichem  Ausgange  offiziell  konstatiert.  Die  Ma߬ 
regeln  gegen  Bassorah  wurden  aufgehoben. 

Pest.  Persien.  In  Buschir  sind  vom  1.  bis  6.  Mai  5(5), 
vom  7.  bis  13.  Mai  12  (13)  Pestfälle  (Todesfälle)  sichergestellt 
worden.  Die  Gesamtzahl  der  Pesterkrankungen  beläuft  sich  bisher 
auf  24,  von  denen  18  tödlich  ausgingen.  —  Bri  ti  sch-Indie  n. 
Im  Uindostan  ereigneten  sich  in  der  Zeit  vorn  19.-  März  bis 
8.  April  1911  nachstehende  Pesterkrankungen  (Todesfälle):  in  der 
1.  Woche  45.251  (39.380),  in  der  2.  Woche  47.029  (41.070), 
in  der  3.  Woche  48.023  (42.770). 

* 

Richtigstellung.  In  dem  Sitzungsberichte  des  Vereines 
der  Aerzte  von  Oberösterreich  vom1  6.  April  1911  (Wiener  klin. 
Wochenschrift  Nr.  21)  ist  in  der  Diskussionsbemerkung  zur  Dick¬ 
darmresektion  in  der  11.  und  18.  Zeile  statt  Billroth :  Brenner 
zu  lesen.  .  '•  '  > 

Freie  Stellen. 

Gemeindearztesstelle  für  den  Sanitätssprengel  Steinach 
am  Brenner  ('Tirol').  Der  Sanitätssprengel  besteht  aus  den  Gemeinden  : 
Steinach,  Trins,  Gschnitz,  Gries  am  Brenner,  Obernberg,  Schmirn  und 
Vals  mit  dem  Wohnsitze  zweier  Aerzte  in  Steinach.  Der  Sprengel  hat 
eine  Ausdehnung  von  35'420  ha,  zählt  4307  Einwohner  und  dürfte  die 
Einwohnerzahl  nach  der  letzten  Volkszählung  um  zirka  200  zugenommen 
haben.  Außerdem  findet  in  den  Sommermonaten  im  Sprengel  ein  sehr 
reger  Fremdenverkehr  statt.  Die  Haltung  einer  Hausapotheke  ist  er¬ 
forderlich.  Die  fixen  Bezüge  des  Gemeindearztes  betragen  1200  K  jährlich 
und  erfolgt  die  Anstellung  nach  den  Grundsätzen  des  neuen  Landes¬ 
gesetzes  vom  27.  Dezember  1909,  L.-G.-  u.  V.-Bl.  Nr.  4  ex  1910  und 
der  Durchführungsverordnung  des  k.  k.  Statthalters  vom  31.  Dezember 
1910,  Z.  84.240,  L.-G.-  u.  V.-Bl.  Nr.  8  u.  9  ex  1911.  Die  ordnungsmäßig 
instruierten  Gesuche  sind  bis  30.  Juni  1911  bei  der  k.  k.  Bezirkshaupt- 
mannschaft  in  Innsbruck  einzureichen,  woselbst  auch  weitere  Auskünfte 
erteilt  werden. 

Gemeindearztesstelle  für  den  Sanitätsdistrikt  V  ö  1 1  a  u , 
politischer  Bezirk  Znaim  (Mähren!.  Der  Sanitätsdistrikt  umfaßt  6  Ge¬ 
meinden  mit  1700  Einwohnern  deutscher  und  böhmischer  Umgangs¬ 
sprache.  Gehalt  800  K.  Fahrpauschale  200  K.  Verpflichtung  zur  Haltung 
einer  Hausapotheke.  Doktoren  der  gesamten  Heilkunde  wollen  ihre 
im  Sinne  des  §11  des  mährischen  Landes-Sanitätsgesetzes  vom  27.  De¬ 
zember  1909,  L.-G. -Bl.  Nr.  98,  instruierten  Gesuche  bis  15.  Juli  1.  J. 
an  den  Obmann  Franz  Weidenthaler  in  Vöttau  einsenden. 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


921 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 


Offizielles  Protokoll  (1er  k.  k.  Gesellschaft  <ler 
Sitzung  vom  16.  Juni  1911. 


Aerzte  in  Wien.  |  28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  16.  Juni  1911. 

Vorsitzender:  Prof.  Dr.  L.  Unger. 

Schriftführer:  Dr.  R.  Paschkis. 

Der  Vorsitzende  Fbof.  Dt.  Ludw.  U  mg  e  r  teilt  mit :  1.  Eine  Ein¬ 
ladung  der  Oesterr.  Gesellschaft  für  Gesundheitspflege  zu  der 
Mittwoch  den  21.  Juni  1911,  nachmittags,  stattfindenden 
Besichtigung  des  städt.  Strandbades  „Gänsehä uf el“.  Zu¬ 
sammenkunft  vor  dem  Bade  selbst  um  5  Uhr  nach¬ 
mittags. 

2.  Eine  Einladung  des  „Vorbereitenden  Komitees 
zur  Gründung  eines  niederösterreichischen  Sama¬ 
riter-Landesverbandes“  am  Donnerstag,  den  29.  Juni  1911, 
um  10  Ihr  vormittags,  im  Gemeinderatssitzüngssaale,  Wien  L, 
Neues  Rathaus. 

3.  Eine  Einladung  zur  Teilnahme  an  der  „Feier  zum 
50j  ä  h  r  i g  e n  D  o  k  to  r  j  u  b  i  1  äu  m  ,W  i  1  h  e  1  m  W  a  1  d  e  y  e  rs“ 
(Berlin).  Anmeldungen  sind  bis  (spätestens)  zum  1.  Juli  an 
Herrn  Prof.  Hans  Virchow,  Berlin  W.  62,  Keiths traße  4, 
zu  richten. 

Prof.  v.  Eiseisberg:  Besprechung  eines  Falles  von  mul¬ 
tiplem,  unter  dem  Bilde  v  on  T r  o mm  e  1  s  c  h  1  e  g  e  1  f  i  n  g  e  r  n 
einhergehenden  Lymphangio m  der  End p  h a  1  a n  g e n. 

Ich  möchte  über  einen  35jährigen  Bahnbeamten  aus  Ser¬ 
bien  berichten,  welcher  wegen  einer  doppelseitigen  Contractura 
genus,  die  im  Anschluß  an  einen  Gelenksrheumatismus,  der  im 
28.  Lebensjahre  sich  abgespielt  hatte  und  eine  folgende  Gonorrhoe 
allmählich  im  Laufe  der  Jahre  entstanden  war,  in  die  Klinik 
kam.  Das  Leiden  hatte  sich  im.  Laufe  der  letzten  Jahre  derart 
verschlimmert,  daß  Pat.  nur  ganz  mühsam  mehr  gehen  konnte. 
Am  Herzen  und  der  Lunge  des  Patienten  fand  sich  nichts  Beson¬ 
deres.  In  letzter  Zeit  War  eine  brettartige  Spannung  der  Bauch¬ 
decken,  welche  beim  Versuch,  sich  zu  erheben  oder  das  Bein 
passiv  zu  bewegen,  immer  wieder  auftrat,  auffallend.  Vermehrte 
Sensibilität  der  Nerven  der  unteren  Extremitäten.  Das  Röntgen¬ 
bild  zeigt  ein  Verschwommensein  der  beiden  Hüftgelenke,  sonst 
keine  besondere  Veränderung  in  den  erkrankten  Gelenken.  Ich 
wollte  den  Patienten  vorstellen,  er  ist  jedoch  durch  wiederholt 
über  die  Nacht  angelegte  Extension  mit  nassen  Binden  gebessert, 
so  daß  er  sich  nicht  bewegen  ließ,  länger  zu  warten.  Ich  bitte 
daher,  mit  der  Moujage  und  den  Röntgenbildern  vorlieb  zu  nehmen. 
Als  nebensächlichen  Befund  bot  der  Patient  eine  Veränderung  dar, 
die  ich  hier 'besprechen  will.  Nach  Angabe  des  Patienten  hatte  der 
Großvater,  Onkel  und  eine  Schwester  des  Patienten  dieselben 
Veränderungen,  von  den  vier  Kindern  des  Patienten  bietet  in¬ 
dessen  keines  eine  Veränderung  dar.  Diese  Deformität  soll  von 
Geburt  an  bestanden  haben  und  im  Laufe  der  Zeit  nur  unerheb¬ 
lich  zugenommen  haben .  Die  E  n  d  g  1  i  e  d  e  r  d  e  r  zehn  Finge  r 
und  der  Zehen  sind  ko  1  big  aufgetrieben,  so  daß  sie 
im  ersten  Augenblick  an  Trommels'chlegelfi  nger  er¬ 
innern.  Doch  fiel  dabei  sofort  auf,  daß  sich  das  Endglied  wie 
ein  Kautschukballen  anfühlt  und  anscheinend  die  Knochen  voll¬ 
kommen  oder  nahezu  vollkömmen  fehlen.  Derselbe  Zustand  war 
auch  an  den  Endgliedern  der  Zehen  ausgeprägt.  Das  Röntgenbild 
ergibt  in  Uebereinstinnnung  mit  der  objektiven  Untersuchung, 
daß  die  Endphalangen  am  vierten  und  fünften  Finger  der  rechten 
Hand  und  am  fünften  Finger  der  linken  Hand  vollkommen  fehlen, 
während  sie  an  den  anderen  Fingern  sehr  rudimentär  entwickelt 
sind.  Dort  bieten  die  Phalangen  das  Bild,  als  ob  sie  zugespitzt' 
und  dadurch  verkürzt  wären,  etwa  wie  man  einen  Bleistift  spitzt. 
An  einer  Phalange  ist  bloß  die  Grundepiphyse  vorhanden. 

Mit  Rücksicht  auf  diesen  Befund  mußte  natürlich  von  der 
Deutung  dieses  Befundes  als  Trommelschlegelfinger,  wie  sie  im 
Verlauf  von  chronischer  Lungenerkrankung  Vorkommen,  vollkom¬ 
men  abgesehen  werden,  vielmehr  erachte  ich  es  als  das  wahr¬ 
scheinlichste,  daß  es  sich  hier  um  multiple,  angeborene  Lymph¬ 
angiome  im  Knochen  handelt,  wie  sie,  wenn  auch  selten,  schon 
beobachtet  sind. 


Ich  erinnere  an  den  klassischen  Fall  von  Katholicky, 
welcher  vor  Jahren  in  dieser  Gesellschaft  vorgestellt  wurde,  wobei 
sämtliche  Gebilde  einer  Extremität  von  Lymphe  ersetzt  wurden. 
Ferner  an  den  von  Preindelsberger  operierten,  in  welchem 
die  Lymphangiome  nur  allmählich  wuchsen,  ebenso  an  mehrere 
von  Wrede  kürzlich  aus  der  Lexerschen  Klinik  mitgeteilte 
Fälle.  Mit  Recht  wirft  Wrede  die  Frage  auf,  ob  nicht  manche 
Fälle  von  bisher  unaufgeklärten  Knochenzysten  als  Endausgang 
solcher  Lymphangiome  hinzustellen  wären. 

Prof.  v.  Eiseisberg:  Vorstellung  von  zwei  Patienten,  bei 
Welchen  ein  fast  dreijähriger  Aufenthalt  in  Leysin  eine  ausge¬ 
dehnte  multiple  Knochentuberkulose  sehr  günstig  be¬ 
einflußt  hat. 

Ich  möchte  mir  erlauben,  zwei  Patienten  kurz  zu  zeigen, 
welchen  dank  der  Munifizenz  einer  hochherzigen  Dame  der  Wiener 
Gesellschaft  ein  dreijähriger  Aufenthalt  in  Leysin  in  der  West¬ 
schweiz  ermöglicht  wurde  und  bei  welchen  ausgezeichnete  Er¬ 
folge  erzielt  wurden.  Im  ersten  Falle  handelt  es  sich  um  einen 
dreijährigen  Jungen  Rudolf,  welchen  ich  über  Anregung  der  ge¬ 
nannten  Dame  aus  meiner  Ambulanz  als  einen  besonders 
schlechten  Fall  ausgesucht  hatte.  Derselbe  zeigte  nebst  einer 
Dämpfung  der  rechten  Lungenspitze  und  zahlreichen  großen 
Lymphdrüsen  in  der  linken  Axilla,  der  Schlüsselbeingrube,  eine 
Reihe  von  Fisteln  der  Knochen  und  Gelenke,  welche  wohl  keinen 
Zweifel  über  die  Art  des  Leidens  ließen.  Ueber  die  Lokalisation 
der  Fisteln  gibt  wohl  am  besten  die  Photographie,  die  seinerzeit 
angefertigt  wurde,  Auskunft.  Wir  sehen  einen  armen  Lazarus 
mit  zahlreichen  typischen,  tuberkulösen,  skrofulösen  Fisteln  und 
Gelenks Schwellungen  an  beiden  Händen,  dem  rechten  Vorder- 
uiid  Oberarm,  an  beiden  Füßen,  dem!  linken  Ober-  und  Unter¬ 
schenkel.  An  dem  Patienten  wurden  im  Laufe  der  drei  Jahre 
keinerlei  Eingriffe  vorgenommbn,  sondern  bloß,  die  Insolation 
möglichst  intensiv  ausgeführt.  Dabei  nicht  viel  Fleischnahrung, 
hauptsächlich  Mehlspeisen  und  Gemüse.  Ein  Blick  auf  den  Zu¬ 
stand  des  Kranken  zeigt  uns  den  ausgezeichneten  Erfolg.  Inter¬ 
essant  ist,  daßi  der  Junge  in  den  drei  Jahren  seine  Muttersprache 
deutsch  ganz  verlernt  hat  und  nur  mehr  französisch  spricht. 

Im  zweiten  Fälle  sehen  wir  -ein  sechsjähriges  Mädchen, 
abstammend  von  einer  tuberkulös  belasteten  Familie,  Schwester 
an  Tuberkulose  gestorben,  eine  an  Spondylitis  leidend.  Dieses 
Mädchen  wurde  ebenfalls  im  Juli  1908  aus  der  Ambulanz  von 
Prof.  Es cherich  nach  Leysin  gesandt:  keine  wesentlichen 
Drüsenschwellungen  und  keine  besondere  Veränderung  an  der 
Lunge.  Typischer  Fungus  des  rechten  Ellbogengelenkes  mit  einer 
Fixationsstellung  von  160°,  am  linken  Unterschenkel  zwei  aus¬ 
gedehnte  Fisteln.  Auch  hier  wurde  Bettruhe  und  Insolation  an¬ 
gewandt.  Spontane  Abstoßung  von  Sequester,  fast  vollkommene 
Beweglichkeit:  60  bis  140°. 

Dritter  Fall :  38jähriges  Mädchen,  welches  dreimal  einen 
längeren  Aufenthalt  in  Leysin  durchgemacht  hat  und  welches  ich 
heute  gesehen  habe.  Das  Mädchen  konnte  sich  nicht  entschließen, 
sich  hier  vorstellen  zu  lassen.  Der  Vater  ist  im  42.  Jahre  an 
Lungentuberkulose  gestorben.  Im  24.  Lebensjahre  erkrankte  das 
Mädchen  an  Schmerzen  in  der  Hüfte.  Entwicklung  einer  Koxitis 
mit  zahlreichen  Fisteln  mit  reichlicher  Sekretion  und  vollständiger 
Gelenksversteifung. 

1.  Aufenthalt  erzeugte  schon  wesentliche  Besserung;  aber 
eintretende  Herzschwäche  ließ  einen  geringeren  Höhenaufenthalt 
wünschenswert  erscheinen. 

2.  Aufenthalt  von  Oktober  1909  bis  Juni  1910.  Heilung 
^'on  allen  Fisteln  bis  auf  zwei. 

3.  Aufenthalt:  Alle  Fisteln  geheilt.  Pat.  kann  bis  zu  zwei 
Stunden  ohne  Ermüdung  gehen,  das  Hüftgelenk  zeigt  vollkommene 
Bewegungsfreiheit,  nur  die  Rotation  ist  ein  wenig  eingeschränkt. 

Leysin  liegt  1400  m  hoch.  Die  Behandlung  von  chirur¬ 
gischer  Tuberkulose,  das  heißt  Tuberkulose  der  Knochen,  wird 
dort  vorwiegend  der  Sonne  überlassen.  Den  ganzen  Tag 
über,  auch  im  Winter,  liegen  die  Kranken  auf  dem  Balkon  und 
zwar  möglichst  nackt;  dabei  bekommen  sie  durchaus  nicht  viel 
Fleisch  zu  essen.  Auf  den  Wert  der  Bestrahlung  bei  der  Wund¬ 
behandlung,  der  im  Altertum  schon  hoch  eingeschätzt  wurde,  hat 


922 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  25 


neuerdings  Bernhard  (Samaden)  aufmerksam  gemacht.  In  Leysin 
führt  diese  Kuren  Dr.  Rolli  er  durch. 

Meine  Herren!  Wir  wissen  alle,  wieviel  Luftveränderung, 
!  I'  i auskommen  aus  d,en  schlechten  Allgemeinverhältnissen  Besse- 
mm  zu  erzielen  vermag;  wir  wissen,  was  der  Gebrauch  von  Meer- 
hädern,  von  Jodsalzbädern  —  ich  erinnere  an  die  ausgezeich¬ 
neten  Resultate,  welche  in  Bad  Hall  gezeitigt  werden,  indem 
gerade  dort  die  nicht  seltenen  luetischen  Komponenten  ganz  be¬ 
sonders  günstig  beeinflußt  werden  ■ —  ausmacht.  Immerhin 
scheinen  mir  die  Resultate,  die  dort  mit  der  Sonnenbehandlung 
erzielt  werden,  so  bemerkenswert,  daß  ich  es  für  interessant  er¬ 
achtet  habe,  Ihnen  dieselben  vorzuführen,  nachdem  beide  Fälle 
liier  in  Wien  untersucht  waren  und  wirklich  eine  glänzende 
\  erbesserung,  bzw.  Heilung  konstatiert  werden  konnte. 

Diskussion:  Hofr.  Höchen  egg:  Lieber  Einladung  der  schon 
von  Hofrat  v.  Eiseisberg  erwähnten  Menschenfreundin  begab 
ich  mich  voriges  Jahr  nach  Leysin,  um  mir  an  Ort  und  Stelle 
die  von  Dr.  Rollier  behandelten  Fälle  von  Knochentuberkulose 
und  die  bei  diesen  erzielten  Heilerfolge  zu  besichtigen.  Es  wurden 
mir  nahe  an  50,  teils  noch  in  Behandlung  stehende,  teils  be¬ 
reits  geheilte  Fälle  vorgestellt  und  die  eingeleitete  Behand¬ 
lung  demonstriert.  Ich  kann  nur  bestätigen,  daß  die  mir  von 
Dr.  Rollier  gezeigten  Fälle  meine  vollste  Bewunderung  er¬ 
regten.  A\  ir  sehen  ja  in  unseren  Stationen  auch  hie  und  da  an 
elenden  Kindern  mit  multipler  Karies  ein  Besserwerden  des 
kariösen  Prozesses  und  eine  Hebung  des  Allgemeinbefindens,  das 
wir  durch  die  Verbesserung  der  Leben'sbedingungen,  also  nament¬ 
lich  durch  Aenderung  der  Kost,  Wohnung  und  Wartung  uns  un¬ 
gezwungen  erklären.  V  ir  sind  aber  froh,  wenn  so  ein  Gelenks- 
iungus  endlich  mit  totaler  Gelenks  Verödung  ausheilt.  Die  Behand¬ 
lung  Dr.  Rolli  ers  isl  aber  meistens  imstande,  die  Ausheilung  mit 
Erhaltung  der  Beweglichkeit,  zu  erzielen,  ein  Resultat, 
das  mir  am  meisten  imponierte.  Dabei  ist  die  Behandlung  in 
Leysin  eine  ungemein  einfache.  Chirurgische  Eingriffe  werden  nur 
in  den  seltensten  Fällen  vorgenommen;  so  behandelt  Dr.  R oi¬ 
lier  die  sich  bildenden  kalten  Abszesse  nur  mit  Punktion,  wobei 
er  immer  nur  so  viel  Eiter  abläßt,  als  dies  zur  Erhaltung  der 
den  Abszeß  bedeckenden  Hautschichten  absolut  nötig  ist  und  wo¬ 
durch  er  eine  Spontanperforation  und  die  Etablierung  der  ge¬ 
samten  Fistelbildung  verhindert.  Der  wichtigste  Heilfaktor  ist 
die  Sonne;  solange  diese  scheint,  sind  die  Kranken  meist  voll¬ 
kommen  nackt  oder  nur  mit  Leinenwäsche  bedeckt  auf  ent¬ 
sprechend  angebrachter  Veranda  dem  Sonnenlichte  ausgesetzt. 
Der  Anblick  der  kaum  bekleideten  Kranken  in  der  tiefen  Winter¬ 
landschaft,  in  der  sich  die  gesunde  Begleitung  mit  Schlittschuh¬ 
laufen,  Ski-  und  Eislaufsport  zerstreut,  wirkt  auf  den  Beschauer 
ganz  eigentümlich  ein.  Aehnliche  glänzende  Resultate  der  Aus¬ 
heilung  tuberkulöser  Herde  habe  Ich  auch  bei  einigen  von  mir 
nach  Leysin  geschickten  Privatpatienten,  sowie  bei  einer  jungen 
Dame  mit  Wirbelkaries,  bei  einem  achtjährigen  Kinde  mit  Karies 
der  Hand  und  bei  einem  jungen  Manne  mit  Lymphdrüsentuber- 
kulose  beobachtet,  so  daß  ich hicht lanistehe,  die  Behandlung  solcher 
Prozesse  nach  der  Methode  Dr.  Rolli  er  s  als  die  mir  bei  weitem 
am  wirksamste  bei  chirurgischer  Tuberkulose  zu  bezeichnen. 

Dr.  M  or  auf:  Die  beiden  Fälle,  die  Herr  Hofrat  v.  Eisels- 
berg  gezeigt  und  besprochen,  sind  treffliche  Beispiele  für  die 
Sonnenbehandlung  bei  chirurgischer  Tuberkulose  in  Leysin.  Wer 
solche  Erfolge'  nur  vom  Hörensagen  kennt,  ist  kaum1  geneigt,  an 
dieselben  zu  glauben.  Hier  muß  uns  der  Augenschein  von  einer 
überraschenden  Tatsache  überzeugen.  Ich  habe  es  sehr  gerne 
unternommen,  die  weite  Reise  nach  Leysin  zu  miachen,  und  dort 
eine  Woche  zu  bleiben,  um  mich  mit  eigenen  Augen  von  den 
Erfolgen  der  Sonnenkur  zu  überzeugen.  Und  in  der  Tat-,  die¬ 
selben  müssen  als  glänzende,  vollendete  bezeichnet  werden.. 
Leysin  ist  ein  Höhenkurort  bei  Aigle  im  Rhonetal  in  der  Nähe 
des  Genfersees,  in  einer  Höhe  von  1200  bis  1400  m,  und  hietet 
für  eine  ganzjährige  Sonnenbehandlung  ohne  Unterbrechung 
außerordentlich  günstige  klimatische  Verhältnisse.  Auch  mitten 
im  Winter  erreicht  die  Temperatur  in  der  Sonne  bis  40°  C  und 
sleigt,  an  besonders  günstigen  Tlagen  bis  50°  C.  Von  10 
bis  11  Uhr  vormittags  bis  gegen  4  Uhr  nachmittags  können* 
die  Patienten  mit  unbedecktem  Körper  der  Sonnenstrahlung  aus- 
gesetzt  weiden.  Die  Bedeutung  der  Sonnenkur  liegt  nicht  nur 
darin,  daß  es  zu  einer  vollkommenen  Ausheilung  des  örtlichen 
Prozesses  kommt,  sondern,  daß  es  sich  auch  um1  eine  Allgemein¬ 
behandlung  des  ganzen  Organismus  handelt,  die,  wie  keine  andere 
bisherige  Behandlungsmethode  geeignet  ist,  einen  siechen  Körper 
in  einen  gesunden  Menschen  umzuformen.  Besonders  auffallend 
günstig  sind,  wie  bereits  betont  wurde,  die  funktionellen  Re¬ 
sultate,  die  bei  keiner  anderen  Behandlungsmethode  bisher  in 
so  vollkommener  Weise  und  so  regelmäßig  erzielt  werden.  Auch 


Ankylosen  nach  ausgeheilten  Prozessen,  die  schon  jahrelang  be¬ 
stehen,  können,  wie  in  Leysin  gezeigt  wurde,  durch  Sonnenkur 
wieder  mobil  gemacht  werden.  Dr.  Rollier  hat  das  Verdienst, 
diese  Behandlungsmethode  in  Leysin  seit  acht  Jahren  systema¬ 
tisch  durchgeführt  zu  haben  und  verfügt  derzeit  über  350  ge¬ 
heilte  Fälle.  Darunter  befindet  sich  eine  außerordentlich  große 
Zahl  schwerer  und  schwerster  Fälle.  Eine  der  schwersten  Er¬ 
krankungsformen  bot  eine  40jährige  Frau  mit  beiderseitiger  vor¬ 
geschrittener  Beckentuberkulose  und  Spondylitis  der  Lenden¬ 
wirbelsäule,  kombiniert  mit  ausgebreiteten  kalten  Abszessen  nach 
vorne  und  rückwärts.  Nach  dreijähriger  Kur  in  Leysin  konnte 
uns  diese  Frau  als  geheilt  vorgestellt.  werden.  Diesen  und  die 
anderen  Heilerfolge  bestätigte  auch  eine  Autorität  auf  dem  Ge¬ 
biete  der  Chirurgie,  Geheimrat  Barden  he  u  e  r  aus  Köln.  Derselbe 
weilte  zur  Zeit,  als  ich  in  Leysin  war,  zur  Erholung  in  Montreux 
und  kam  eines  Tages  nach  Leysin,  um  Fälle  Dr.  Rolli  ers  zu 
besichtigen.  Geheimrat  Bar  den  heuer  war  begeistert  von  dem, 
was  er  gesehen,  beglückwünschte  die  Patienten  und  Dr.  Rollier 
zu  diesen  Erfolgen  und  erklärte:  Wenn  man  diese  Resultate  ge¬ 
sehen  hat,  dann  muß  man  zur  Ueber zeugung  kommen,  daß  die 
Behandlung  dieser  Fälle  in  Hinkunft  nicht  mehr  die  bisher  übliche 
sein  kann,  sondern  daß  man  diese  Kränken  der  Sonnenbehandlung 
zuführen  müsse. 

Dr.  Jerusalem:  Im  Herbste  vorigen  Jahres  habe  ich 
Leysin  besucht  und  gleichfalls  die  geradezu  verblüffenden  Heil¬ 
erfolge  der  Sonnenlichtbehandlung  chirurgischer  Tuberkulose  be¬ 
wundert.  In  einem  Vortrage  in  der  pädiatrischen  Sektion  der 
Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  (2.  März  d.  J.) 
sowie  des  ersten  österreichischen  Tuberkulosetages  habe  ich  die 
Technik  und  die  Resultate  der  Heliotherapie  näher  besprochen. 
Doch  glaube  ich,  noch  einen  Schritt  weiter  gegangen  zu  sein. 
Von  der  Annahme  ausgehend,  daß  die  Höhenlage  von  1200  bis 
1400  m  keine  unerläßliche  Bedingung  darstellt,  wie  übrigens 
Rollier  selbst  bemerkt,  habe  ich  einige  Fälle  aus  meiner 
Praxis  dem  Sanatorium  Grimmenstein  bei  Wien  empfohlen, 
das  760  m  hoch  gelegen,  ebenfalls  günstige  klimatische  Verhältnisse 
für  die  Heliotherapie  bietet. 

Die  Patienten,  unter  denen  drei  ganz  schwere,  den  von 
Herrn  Hofrat  v.  Eiseisberg  demonstrierten  ähnliche  sich  be¬ 
finden,  werden  dort  genau  nach  der  in  Leysin  geübten  Methode 
behandelt  und  sind  alle  derzeit  —  nach  fünf  bis  sechs  Monaten 
—  der  Heilung  nahe. 

Ich  behalte  mir  vor,  diese  Fälle  im  Herbste  hier  zu  demon¬ 
strieren. 

Prof.  v.  Eiselsb'erg  (Schlußwort):  Ich  möchte  nur  noch 
bemerken,  daß  selbstverständlich  die  kranken  Gelenke,  ob  mit, 
ob  ohne  äußere  Fistel,  direkt  der  Sonnenbestrahlung  in  Leysin 
ausgesetzt  werden,  also  den  größten  Teil  des  Tages  ohne  Verband 
belassen  werden.  Das  mag  mit  ein  Grund  sein,  daß  die  Heilung 
auch  gut  bewegliche  Gelenke  zeitigt,  wie  Sie  das  heute  hier  ge¬ 
sehen  haben;  denn  daß  die  Verbände  die  Ankylosierung  begün¬ 
stigen,  wissen  wir  ja  alle  zur  Genüge. 

Priv.-Doz.  Dt.  O.  v.  Frisch  stellt , aus  der  Klinik  v.  Eiseis¬ 
berg  zwei  Fälle  von  operierter  Eli  bogen  gelenk  s  Verstei¬ 
fung  vor. 

Im  ersten  Falle  handelt  es  sich  umi  einen  12jährigen  Schüler, 
welcher  durch  einen  Sturz  eine  Gelenksfraktur  (Absprengung  des 
ganzen  Capitulum  humeri)  mit  Starker  Dislokation  des  Frag¬ 
mentes  erlitten  hatte.  Der  Kranke  kam  drei  Wochen  nach  der 
Verletzung  mit  fast  vollkommener  Versteifung  in  Behandlung  der 
Klinik.  Bei  der  Operation  fand  sich  das,  beinahe  die  halbe  Ge¬ 
lenksfläche  tragende,  nur  mehr  durch  eine  Periostbrücke  am 
Humerusschaft  in  Verbindung  stehende  Fragment  durch  einen 
Kapselriß  durchgeschlüpft  und  um  einige  Zentimeter  zentralwärts 
unter  die  Haut  verschoben.  Es  wurde  reponiert  und  in  anatomisch 
richtiger  Stellung  durch  zwei  Nägel  Äxiert.  Heilung  per  primam. 
Das  jetzt,  nach  einem  Jahre  aufgenommene  Radiogramm  (Demon¬ 
stration)  zeigt  wieder  normale  Verhältnisse;  auch  die  Funktion 
des  Gelenkes  ist  in  vollem  Maße  wiedergekehrt. 

Der  zweite  Fall  betrifft  einen,  jetzt  23  Jahre  alten  Musiker, 
welcher  vor  drei  Jahren  im  Anschluß  an  eine  Gonorrhoe  eine 
Arthritis  des  linken  Ellbogens  bekam,  die  mit  fibröser,  voll¬ 
kommen  fester  Versteifung  ausheilte.  E,s  gelang  nur  mit  An¬ 
strengung,  ohne  Zuhilfenahme  des  Meißels,  eine  Trennung  in 
der  Gegend  der  alten  Gelenksfläche  zu  erzielen;  die  Knorpel- 
Bächen  aller  drei  Knochen  waren  fest  miteinander  verwachsen, 
der  Knorpel  mußte  vollkommen  entfernt  werden.  Hierauf  wurde 
eine  freie  Periosttransplantation  von  der  Tibia  des  Patienten 
in  folgender  Weise  ausgeführt:  Durch  einen  großen  „Stimm¬ 
gabelschnitt“  wurde  die  vordere  Schienbeinfläche  des  rechten 
Beines  in  weiter  Ausdehnung  freigelegt  und  ein  ca.  15  cm  langer, 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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3  bis  4  Cm  breiter  Streifen  Penosts  vorsichtig  entfernt.  Der¬ 
selbe  wurde  entsprechend  zugeschnitten  und  zur  Deckung  der 
Trochlea,  des  Capitulum  humeri  und  des  Radiusköpfchens  ver¬ 
wendet.  Um  ein  genaues  und  festes  Anliegen  des  transplantierten 
Periosts  zu  erreichen  und  weiters  die  Gefahr  einer  etwaigen  Ver- 
.  Schiebung  der  Läppchen  bei  den  ersten  Bewegungen  zu  ver¬ 
meiden,  wurden  dieselben  durch  eine  größere  Reihe  von  Katgut- 
nähten,  welche  zum  Teil  mit  Hilfe  feiner  Bohrlöcher  durch  den 
Knochen  geführt  wurden,  exakt  fixiert.  Die  Knochen  wundfläche 
der  iü Ina  wurde  möglichst  geglättet,  aber  nicht  mit  Periost  gedeckt. 

•  ^  Leider  ließ  sich  der  Kranke  nicht  nachbehandeln;  als  nach 
■  Verheilung  der  Wunde  (per  primam)  mit  Bewegungen  begonnen 
werden  sollte,  verließ  er  das  Spital. 

Ich  zeige  Ihnen  den  Kranken  jetzt,  2 lh  Jahre  nach  der 
Operation.  Es  ist,  trotzdem  der  Arm' durch  Wochen  in  der  Schlinge 
getragen  wurde  und  jede  mobilisierende  Gymnastik  unterblieben 
war,  die  Gelenkspalte  erhalten  geblieben  (Röntgenbild). 

f  _  Patient  hat  eine  zwar  geringe  (ca.  25°)  aber  freie  Beweg¬ 
lichkeit  des  Scharniergelenkes,  eine  fast  vollkommene  Wieder¬ 
herstellung  der  Pro-  und  Supination. 

Wie  am  Röntgenbild  ersichtlich,  ist  die  Ursache  der  be- 
l  schränkten  flexion  im  Periostkallus  zu  suchen,  welcher  sich  in 
der  unmittelbaren  Umgebung  des  Gelenkes  gebildet  hat  und  viel¬ 
leicht  vom  eingepflanzten,  vielleicht  auch  von  Resten  des  lo¬ 
kalen  Periostes  herrührt.  Leider  bilden  sich  gerade  im  Ellbogen¬ 
gelenk,  das  wegen  seines  besonders  exakten  Mechanismus  da- 
(  durch  eher  als  andere  Gelenke  Funktionsstörungen  erleidet,  nach 
offenen  (Operation)  wie  stumpfen  Traumen  sehr  leicht  Wuche¬ 
rungen  der  Beinhaut,  welche  allen  Bestrebungen  der  Mobilisierung 
hartnäckig  Widerstand  leisten. 

Im  vorliegenden  Falle  bin  ich  davon  überzeugt,  daß  bei 
;  entsprechender  Behandlung  ein  weit  besseres  Resultat  erzielt 
worden  wäre.  Mit  voller  Bestimmtheit  aber  kann  ich  behaupten, 

'  daß  dieses  Gelenk,  wenn  das  Periast  nicht  in  vollem  Umfang 
angeheilt  wäre,  jetzt  knöchern"  ankylosiert  wäre. 

Was  endlich  die  Stelle  betrifft,  von  welcher  das  Periost 
entnommen  wurde,  so  linden  wir  dort  erfahrungsgemäß  späterhin 
keine  wesentlichen  Veränderungen.  Wohl  wird  der  Knochen  ab 
und  zu  etwas  nauh  oder  ein  wenig  vorgetrieben  (Hof mann), 
doch  haben  sich  niemals  Schädigungen  irgendwelcher  Art  be¬ 
merkbar  gemacht. 

Von  der  Vorstellung  ausgehend,  daß  vielleicht  die  Entfer¬ 
nung  eines  größeren  Periostbezirkes  speziell  am  jungen  Individuum, 
lokale  Störungen  des  Wachstums  zur  Folge  haben  könnte,  ent¬ 
nahm  ich  ganz  jungen  Kaninchen  die  ganze  Beinhaut  des  einen 
Femurs,  von  der  oberen  bis  zur  unteren  Epiphysenfuge,  tötete 
die  Tiere  erst,  als  sie  vollkommen  erwachsen  waren.  Es  zeigte 
sich  dabei,  daß  das  dem  Knochen  anliegende  Binde-  und  Muskel¬ 
gewebe  am  operierten  Femur  fest  mit  der  Kortikalis  verwachsen 
war.  Am  mazerierten  Knochen  fand  sich  außer  leichten  Rauhig¬ 
keiten  und  Unregelmäßigkeiten  der  Oberfläche  nichts  Abnormes ; 
insbesondere  waren  die  Dimensionen  jenen  des  Kontrollknochens 
gleich. 

Dr.  Jerusalem  demonstriert  einen  20jährigen  Hilfsarbeiter, 
der  sich  Mitte  Mai  im  chirurgischen  Ambulatorium  der  Wiener 
Bezirkskrankenkassa  mit  der  Angabe  meldete,  er  habe  sich  im 
Januar  d.  J.  durch  Sturz  in  eine  Glastüre  am  rechten  Oberarm 
verletzt  und  könne  seither  den  Arm  nicht  recht  bewegen.  Die 
Untersuchung  ergibt  eine  hellergroße  strahlige  Narbe,  entsprechend 
dem  Sulcus  bic’ipitalis  int.,  distal  von  dieser  eine  undeutliche 
Resistenz  in  der  Tiefe  unter  dein'  Bizeps  tastbar.  Der  Ami  wird 
im  Ellbogengelenk  gestreckt  gehalten,  der  passiven  Beugung  mus¬ 
kulärer  Widerstand  entgegengesetzt.  Daumen,  zweiter  und  dritter 
Finger  sind  an  der  Dorsal-  und  Volarseite  anästhetisch,  die  An¬ 
ästhesie  setzt  sich  über  den  Handrücken  bis  zum  Handgelenk 
hin  fort.  Beim  Faustschluß  gehen  Daumen  und-  Zeigefinger  nur 
unvollkommen  mit. 

Es  besteht  also  eine  Läsion  im  Gebiete  des  Nervus  me- 
dianus  und  radialis,  offenbar  durch  Druck  eines  Fremdkörpers 
hervorgerufen.  Das  Röntgenbild  zeigt  einen  solchen,  schräg  über 
dem  Ellbogengelenke  liegend.  Operation  am  15.  Mai.  Vom 
Sulcus  bicipitalis  int.  aus  wird  ein  ff  cm  langer,  3  cm  breiter 
Glassplitter  entfernt,  der  unterhalb  des  Lacertus  fibrosus,  schräg 
über  das  Gelenk  verlaufend,  mit  dem  zugespitzten  Ende  in  der 
Gruppe  der  Radialmuskeln  liegt.  (Demonstration  des  Röntgen¬ 
bildes  und  einer  schematischen  Zeichnung.) 

Offenbar  hat  das  mediale  Ende  den  Nervus  medianus,  das 
distale  den  Nervus  radialis  gedrückt  und  der  ganze  Fremdkörper 
die  Beugung  des  Ellbogengelenkes  mechanisch  gesperrt. 


Die  Beweglichkeit  des  Gelenkes  war  selbstverständlich  nach 
der  Operation  sofort  wieder  hergestellt;  die  nervösen  Symptome 
bestehen  jedoch  zurzeit  noch  unverändert  fort. 

Reaktionslose  Einheilung  von  Fremdkörpern  ist  gewiß  kein 
seltenes  Vorkommnis.  Daß  jemand  jedoch  indolent  genug  ist,  fünf 
Monate  lang  einen  Fremdkörper  zü  Ragen,  der  durch  Seine  Lage  die 
Beweglichkeit  eines  großen  Gelenkes  mechanisch  aufhebt,  dürfte 
nicht  häufig  Vorkommen  und  ist  auch  vom  Standpunkte  der  Un¬ 
fallsbegutachtung  nicht  ohne  Interesse. 

Dr.  Oskar  Hirsch:  Meine  Herren!  Ich  erlaube  mir  einen 
33jährigen  Patienten  mit  Akromegalie  zu  demonstrieren,  bei 
dem  ich  vor  19  Tagen  die  Hypophysenoperation  auf  endo- 
nasalem  Wege  in  Lokalanästhesie  ausführte. 

Die  Erkrankung  datiert  seit  dem  Jahre  1905  und  führte  zur 
Vergrößerung  der  Nase,  der  Lippen,  der  Zunge,  des  Unterkiefer¬ 
knochens  und  dessen  Weichteilen,  der:  Ohren,  der  Hände  und 
der  Füße.  Weiters  besteht  abnorme  Behaarung  der  Arme,  der 
Beine  und  der  Brust.  Die  Libido  sexualis  ist  erloschen.  Zeit¬ 
weise  traten  Kopfschmerzen  auf.  In  letzter  Zeit  hat  die  Merkfähig¬ 
keit  deutlich  abgenommen. 

Der  Röntgenbefund  (Priv.-Doz.  Dr.  Schüller)  zeigte  ziem¬ 
lich  starke  Ausweitung  der  Sella  turcica  und  Verdünnung  der 
Sattellehne. 

Die  Augenuntersuchung  (Priv.-Doz.  Dr.  Sachs)  ergab  un¬ 
bedeutende  Herabsetzung  der  Sehschärfe  und  Einschränkung  des 
Gesichtsfeldes. 

Interner  Befund  und  Nervenbefund  weist  nichts  Abnormes  auf. 

Die  Indikation  zur  Operation  war  in  diesem  Falle  keine 
zwingende ;  dies  wurde  auch  dem  Patienten  vom  Herrn  Hofrat 
v.  Wagner  auseinandergesetzt  und  dem  Kranken  selbst  die  Ent¬ 
scheidung  betreffs  der  Operation  überlassen.  Er  entschied  sich 
für  die  Operation. 

Nach  zwei  kleinen  Vor  Operationen  nahm  ich  arU  29.  Mai 
1911  die  Hypophysenoperation  vor.  Nach  submuköser  Resektion 
des  Septums  kam  ich  leicht  zu  den  beiden  Keilbeinhöhlen  und 
nach  deren  Eröffnung  zum  Hypophysenwulsi.  Ich  meißelte  diesen 
auf  und  entfernte  jenen  Teil  des  Tumors,  der  sich  in  der  Sella 
turcica  befand,  so  daß  eine  Höhle  entstand,  die  meiner  Schätzung 
nach  ca.  2V2  cm  im  sagittalen  und  IV2  cm  im  vertikalen  Durch¬ 
messer  betrug.  Einige  relativ  große  Gewebsstücke  fing  ich  für 
die  histologische  Untersuchung  auf. 

Die  Rekonvaleszenz  verlief  —  abgesehen  von  subfebrilen 
Temperaturen  und  Kopfschmerzen  in  den  ersten  Tagen  —  voll¬ 
kommen  ungestört,  so  daß  Patient  nach  einer  Woche  aus  der 
Heilanstalt  entlassen  werden  konnte. 

Das  Resultat  der  Operation  ist  ein  sehr  günstiges.  Die 
Zunge  des  Patienten,  die  in  ganzer  Ausdehnung  plump  und 
fleischig  war,  ist  im  vorderen  Abschnitt  so  dün n  geworden, 
daß  die  Zun  gen  spitze  nahezu  als  normal  bezeichnet 
werden  darf.  Der  Kopf  umfang  beträgt  heute  um  12min  weniger 
als  vor  der  Operation.  Auch  der  Halsumfang  ist.  um  ca.  2  cm 
kleiner.  Die  V erdickungen  der  Haut  um  den  Augen  Haben  ab¬ 
genommen;  die  Haut  in  der  Nähe  der  Haargrenze  ist  dünn  und 
glatt  geworden.  Die  Füße  des  Patienten  sind  etwas  kleiner,  so  daß 
ihm  die  Schuhe  zu  weit  sind.  Für  die  Verkleinerung  der 
Hände  habe  ich  einen  sicheren  Beweis.  Ich  bestimmte  vor  der 
Operation  das  Volumen  der  Hände,  indem  ich  sie  bis  zum  Pro¬ 
cessus  styloideus  ulnäe  et  radii,  die  ich  markiert  hatte,  in  einen 
mit  Wasser  gefüllten  Meßzylinder  eintauchen  ließ.  Die  Wasser¬ 
verdrängung  betrug  700  cm3.  Heute  beträgt  sie  600  cm3.  Auch 
die  Merk fäh igk eit  nahm  schon  acht  Tage  nach  der  Operation 
zu,  Avas  für  den  Patienten  am  wichtigsten  ist.  Der  Patient  ist 
Lehrer  der  Mathematik.  Er  konnte  sich  in  gesunden  Tagen  von 
zwölf  in  Abständen  von  10  Sekunden  vorgesagten  Zahlen  alle 
merken.  Während  der  Krankheit  konnte  er  nur  noch  sieben  Zahlen 
behalten.  Schon  Ende  der  zweiten  Woche  nach  der  Operation 
konnte  er  von  den  zwölf  ihm  vorgesagten  Zahlen  regelmäßig 
elf  wiederholen. 

Die  histologische  Untersuchung  (Dr.  Erd  heim)  der  ex- 
zidierten  Tümorteile  ergab,  daß  es  sich  um  einen  adenomatösen 
Tumor  handle,  dessen  Gut-  und  Bösartigkeit  mikroskopisch  nicht 
diagnostiziert,  werden  kann. 

Ich  habe  bis  zum  heutigen  Tage  neun  Hypophysenopera¬ 
tionen  durchgeführt,  sieben  mit  gutem  Ausgang,  zwei  mit  Exitus 
letalis.  Der  erste  Todesfall,  über  den  ich  in  der  Sitzung  vom 
13.  Januar  1911  referierte,  betraf  einen  Patienten  mit  einem  un¬ 
gewöhnlich  großen  Karzinom  der  Hypophyse.  Der  Tod  trat  eine 
Woche  nach  der  Operation  an  Pneumonie  und  Herzschwäche 
ein.  Der  zweite  Todesfall  betraf  eine  Patientin,  welche  ich  be¬ 
reits  einmal  mit  Glück  operiert  hatte,  bei  der  ich  jedoch  auf 
Wunsch  des  Herrn  Hofrates  v.  Wagner  den  Tumor  nicht  entfernte. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  25 


UnmiUoIbar  nach  der  feisten  Operation  trat  eine  Besserung  des 
Vises  von  6/60  ins  6/18  ein.  Die  Besserung  ging  jedoch  inner¬ 
halb  acht  Monaten  wieder  zurück.  Bat.  entschloß  sich  zu  einer 
zweiten  Operation,  bei  der  ich  den  intrasellaren  Teil  des  Hypo¬ 
physentumors  entfernte.  Leider  hatte  die  Geschwulst,  wie  die 
Obduktion  zeigte,  einen  sehr  ungünstigen,  Sitz.  Sie  war  in  den 
dritten  Ventrikel  hineingewachsen.  Durch  den  operativen  Ein¬ 
griff  w  urden  zahlreiche  Gefäße  des  sehr  blutreichen  Tumors  er¬ 
öffnet,  er  schoppte  sich  mit  Blut  an  und  Blutflüssigkeit  trat  durch 
den  sehr  verdünnten  Ventrikelboden  in  die  Himkammer  aus. 
Die  Patientin  starb  wenige  Stunden  nach  der  Operation.  Die  Ob¬ 
duktion  ergab,  daß  es  sich  um  ein  .sehr  blutreiches,  malignes 
Adenom  handle.  Es  war  keinerlei  Nebenverletzung  zu 
finden. 

Es  sind  somit  die  Resultate  der  Hypophysenoperation  nicht 
nur  von  der  Methode,  sondern  auch  von  den  topographisch-ana¬ 
tomischen  Beziehungen  der  Tumoren  zur  Nachbarschaft  abhängig, 
die  vor  der  Operation  derzeit  noch  nicht  bestimmt  werden 
können. 

Diskussion:  Dr.  Hermann  Teleky:  Ich  erlaube  mir  einige 
Bemerkungen,  die  auf  die  Frage  hinauslaufen:  Soll  jeder  Fall 
von  Hypophysentumor  operiert  werden  und  wenn  die  Frage  bejaht 
wird,  wann  soll  operiert  werden? 

Ich  beobachte  seit  3  Jahren  eine  35jähr.  Frau,  bei  der  zunächst 
Akromegalie,  dann  Parästhesien,  in  den  Händen  auch  Schmerzen, 
Kopfschmerzen,  endlich  schlechtes  Sehen  sich  einstellten.  Durch 
Wochen  fortgesetzte  Pituitrininjektionen  blieben  ohne  Effekt. 
Thyreoidintabletten  jedoch  brachten  auffallende  Besserung,  die 
wochenlang  anhielt.  Ja,  ich  konnte  sogar  eine  Verkleinerung  der 
Extremitäten  konstatieren.  Die  Thyreoidinkur  wird  wieder  ein- 
gcleitet,  wenn  die  Schmerzen  in  den  Händen  und  im  Kopfe  die 
Kranke  belästigen.  Bisher  war  sie  immer  wirksam,  so  daß  die 
Patientin  arbeiten  konnte  und  besser  sah. 

Die  Diagnose  auf  intrasellaren  Sitz  eines  Hypophysen tumors 
wurde  auch  röntgenologisch  bestätigt. 

Pat.  und  ich  wären  mit  dem  Zustande  zufrieden;  ich  hätte 
nicht,  daran  gedacht,  ihr  jetzt  den  Rat  zu  geben,  sich  einer  Opera¬ 
tion  zu  unterziehen.  Doch  hat  uns  hier  Priv.-Doz.  Schüller 
mitgeteilt,  daß  bei  lange  bestehenden  Hypophysentumoren  Ver¬ 
änderungen  am  Herzen  sich  einstellen,  welche  dann  den  günstigen 
Ausgang  eines  operativen  Eingriffes  beeinträchtigen.  Wenn  dies 
zu  trifft,  dann  könnte  ja  das  Zuwarten  wirklichen  Schaden  bringen. 
Bisher  hatte  ich  die  Anschauung,  daß  nur  die  drohende  Gefahr 
der  Erblindung  oder  sehr  heftige,  durch  kein  Mittel  zu  bannende 
Kopfschmerzen  eine  strikte  Indikation  für  die  Operation  geben. 
Ist  es  nach  Kollegen  Schüllers  Mitteilung  notwendig,  diese  An¬ 
schauung  dahin  zu  ändern,  daß  jeder  Hypophysentumor  möglichst 
bald  auf  operativem,  vorläufig  noch  lebensgefährlichem  Wege 
entfernt  wrnrde,  ehe  das  Herz  Schaden  leidet?  Diese  Frage  zu 
beantworten,  bitte  ich  jene  Herren  hier,  welches  ein  maßgebendes 
Urteil  abzugeben  berechtigt  sind  und  deren  auf  Erfahrung  be¬ 
ruhendes  .Urteil  uns  richtunggebend  ist. 

Hofr.  Chiari:  Meine  Herren!  Ich  will  nicht  zu  dem  vom 
Kollegen  Teleky  vorgebrachten  Thema  sprechen,  sondern 
nur  mitteilen,  daß  ich  vor  acht  Tagen  einen  Hypophysentumor 
teilweise  exstirpiert  habe  u.  zw.  nach  der  S  c  h  1  o  f  f  e  r  sehen 
Methode,  aber  ausgehend  von  dem  Killianschen  Schnitt  zur 
Freilegung  des  Siebbeins,  ohne  Aufklappung  der  Nase.  Es  wird 
dabei  der  Processus  frontalis  des  Oberkiefers  reseziert,  die  Nase 
eröffnet,  mittlere  Muschel  und  Siebbein  entfernt ;  hierauf  bietet 
sich  mit  Hilfe  des  Reflektors  ein  sehr  schöner  Einblick  auf  die 
vordere  Keilbeinhöhlenwand.  Diese  wird  eröffnet,  mit  Stanzen 
die  Oeffnung  erweitert,  bis  man  an  den  hinteren  Anteil  des 
Septum  nasi  gelangt,  welches  nur  zum  kleinsten  Teil  entfernt 
zu  werden  braucht,  um  auch  das  Septum  der  Keilbeinhöhle  zu¬ 
gänglich  zu  machen.  Derart  gelingt  leicht  die  Freilegung  der 
hinteren  Keilbeinhöhlen  wand.  Wie  Ihnen  erinnerlich,  hat  schon 
vor  einigen  Monaten  Dr.  Marschik  auf  die  Vorzüge  dieser 
Methode  hingewiesen.  Die  Blutung  in  meinem  Falle  war  gering, 
weil  wir  die  Vorsicht  gebrauchten,  vor  der  Operation  alle  Gebilde 
derselben  Nasenseite  mit  Kokain  und  Adrenalin  gründlich  zu 
bepinseln.  Ich  entfernte  einen  höhnen  großen  Anteil  der  Ge¬ 
schwulst.  in  mehreren  Stücken,  der  sich  als  Epitheliom  erwies. 
Der  Patient  fieberte  am  Tage  der  Operation  bis  über  39°,  war 
aber  schon  am  nächsten  Tage  entfiebert  und  ist  seitdem  dauernd 
afebril.  Gegenüber  der  endonasalen  Operation  besteht  der  Vorzug, 
die  Operation  sicher  in  einer  Sitzung  beenden  zu  können;  auch 
ist  der  Weg  vom  Hautschnitt  bis  zur  Keilbeinhöhle  bedeutend 
kürzer  als  von  der  vorderen  Nasenöffnung. 

Priv.-Doz.  Dr.  Artur  Schüller  bemerkt  zu  der  von  Herrn 
Dr.  Teleky  angeregten  Frage,  daß  man  hinsichtlich  der  Indi- 


l 


kation  für  die  Operation  von  Hypophysentumoren  nicht  einen 
prinzipiellen  Standpunkt  der  Zustimmung  oder  Ablehnung  ein¬ 
nehmen  könne,  daß  man  vielmehr  nach  der  Art  des*  einzelnen 
Falles  die  Entscheidung  treffen  müsse.  Die  Fälle  von  Hypo¬ 
physentumor  verhalten  sich  recht  verschiedenartig  in  ihrem  klini¬ 
schen  Verlauf.  So  gibt  es  Hypophysentumoren,  die  jahrzehntelang 
bestehen,  ohne  andere  Symptome  zu  erzeugen,  als  zum  Beispiel 
‘‘ine  stationäre  bitemporale  Hemianopsie;  es  scheint,  daß  ein 
derartiger  Verlauf  den  Hypophysentumoren  älterer  Leute  eigen¬ 
tümlich  ist.  Ferner  gibt  es  Hypophysentumoren,  die  auf  innere 
Medikation  (Jod,  Schilddrüse)  sehr  günstig  reagieren.  Sodann 
beobachtet  man  eine  Art  Selbstheilung  von  Hypophysentumoren 
zystischer  Natur;  die  Zyste  kann  spontan  oder  unter  dem  Einfluß 
eines  Kopftraumas  (Hirsch)  platzen,  worauf  die  Sehstörung  rapid 
zurückgeht.  —  Im  Gegensatz  zu  diesen  günstig  verlaufenden 
Geschwülsten  der  Hypophyse  gibt  es  andere,  welche  rasch  fort 
schreitende  Symptome  erzeugen  oder  Allgemeinerkrankungen  (Dy¬ 
strophia  adiposogenitalis,  Myxödem,  Blutveränderungen,  Degene¬ 
rationen  innerer  Organe)  hervorrufen. 


Für  derartige  Fälle  ist  die  operative  Therapie  zu  reser¬ 
vieren.  Die  Operation  kann  insoweit  vei’einfacht  werden,  als 
inan  bloß  die  knöcherne  Schale  (lets' iTumors  zu  entfernen  braucht, 
diesen  selbst  aber,  falls  seine  Punktion  keine  zystische  Be¬ 
schaffenheit  erweist,  mit  Radium!  oder  Röntgenlicht  bestrahlt 
(entsprechend  dem  Vorschläge  französischer  Autoren). 


Prof.  v.  Eiseisberg:  Auf  die  Anfrage  des  Herrn  Kollegen 
Teleky  möchte  ich  antworten,  daß  wir  gewiß  eine  sehr  sorgfältige 
Auswahl  unter  den  Fällen  von  Hypophysentumoren  zu  treffen 
haben,  um  die  richtige  Indikations'stellung  für  operative  Ein¬ 
griffe  bei  diesem  Leiden  zu  treffen. '  Die  operativen  Resultate  sind 
doch  durchaus  nicht  so  günstig,  um  jeden  Fall  der  Operation 
zuzuführen.  Wir  haben  unter  zwölf  operierten  Fällen  fünf  Todes¬ 
fälle  im  Anschluß  an  die  Operation.  Ueber  die  ersten  vier  Todes¬ 
fälle  wurde  gelegentlich  schon  berichtet,  der,  letzte,  also  der  fünfte, 
betraf  eine  Patientin,  bei  der  zweizeitig  operiert  wurde.  Bei 
der  ersten  Operation  (Aufklappung  der  Nase  nach  Schleifer) 
sahen  wir,  daß  der  Tumor  bereits  in  die  Keilbeinhöhle  durch¬ 
gebrochen  war,  und  konnten,  da  die  Blutung  eine  sehr  beträcht¬ 
liche  war,  uns  um  so  leichter  zum  Abbrechen  der  Operation 
entschließen.  Die  Patientin  hatte  sich  nach  drei  Wochen  voll¬ 
kommen  erholt,  die  Wunde  war  so  gut  verheilt,  daß  ich  den 
zweiten  Akt,  die  Entfernung  des  Tumors  durch  die  Laryngologen 
auf  endonasalem  Wege  vornehmen  ließ.  Da  kam  es  im  Anschluß 
an  den  Eingriff  zu  einer  starken  Blutung,  der  die  Patientin  erlag. 
Der  Tumor  hatte  sich  bei  der  Obduktion  als  inoperabel  gezeigt. 
Ich  stehe  auf  dem  Standpunkt,  daß  für  mich  zunehmende  Augen¬ 
symptome  bei  Hypophysentumoren  den  operativen  Eingriff  indi¬ 
zieren. 


Dr.  Oskar  Hirsch  (Schlußwort):  Zur  Anfrage  des  Herrn 
Dr.  Teleky  will  ich  bemerken,  daß  ich  vorläufig  die  Entschei¬ 
dung  betreffs  der  Operation  denjenigen  Kollegen  überlasse,  die 
aus  eigener,  mehrjähriger  Erfahrung  den  Verlauf  dieser  Krank¬ 
heit  kennen. 

Den  Ausführungen  des  Herrn  Hofrates  Chiari  kann  ich  in 
jenem  Teile  nicht  beipflichten,  wo  er  die  von  ihm  angewendete 
Methode,  welche  er  als  Modifikation  der  Schloff  ersehen  be¬ 
zeichnet,  gegenüber  der  meinigen  als  vorteilhafter  hervorhebt. 
Schon  darin,  daß  sie  in  Narkose  ans  geführt  wird, 
steht  sie  der  endonasalen  Methode  nach.  Daß  der  Weg 
zur  Hypophyse  durch  das  Siebbein  von  einem  Schnitt  im  media¬ 
len  Augenwinkel  kürzer  ist  als  bei  meiner  Methode,  ist  zuzu¬ 
gehen;  doch  beträgt  der  Unterschied  zirka.  2  bis  3  cm,  eine 
Differenz,  welche  nicht  ins  Gewicht  fällt.  Wir  haben  bei  der 
Bronchoskopie  auf  Entfernungen  von  30  cm  und  darüber  zu 
operieren  gelernt:  Es  kann  daher  dem  Rhinologen  nicht  schwer 
fallen,  das  rhinologische  Operationsgebiet  auf  eine  etwas  größere 
Distanz,  als  jetzt-  üblich,  auszudehnen.  Dagegen  ist  als  weiterer 
Nachteil  der  von  Herrn  Hofrat  Chiari  geschilderten  Methode 
anzuführen,  daß  sie  eine  größere  Blutung  verursacht  und  eine 
äußere  Verletzung  setzt.  Der  Schöpfer  der  endolaryngealen 
Chirurgie,  V.  v.  Bruns,  schrieb  in  seiner  Monographie  „Die 
erste  Ausrottung  eines  Polypen  in  der  Kehlkopfhöhle  ohne  blutige 
Eröffnung  der  Luftwege:  „Ich  nehme  keinen  Anstand,  diese  Opera¬ 
tion  als  einen  wesentlichen  Fortschritt  der  operativen  Technik 
im  Sinne  und  Geiste  der  heutigen  Chirurgie  anzusprechen,  die 
jeden  blutigen  Eingriff  in  die  Gewebe  des  menschlichen 
Körpers  auf  das  kleinste  Maß  zu  beschränken  und  jede 
nicht  a  b  Is  o  1  u  t  gebotene  blutige  Trennung  auf  das 
eifrigiste  zu  vermeiden  bestrebt  ist.“  In  diesem  Sinne 
darf  die  von  mir  angegebene  und  praktisch  erprobte  endonasale 


Nr.  25 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


925 


Hypophysenoperation  vor  allen  bisher  vorgeschlagcneu  Methoden 
den  Vorzug  beanspruchen. 

Dr.  Marschik  demonstriert  eine  28jährige  Frau,  bei  der 
ein  Sarkom  der  Stirnhöhle  radikal  entfernt  worden  ist, 
welches  bereits  in  das  Gehirn  eingebrochen  war.  Am  dritten 
Tage  nach  der  Operation  trat.  Meningitis  auf,  welche  durch 
Urotropin  innerhalb  drei  Wochen  geheilt  worden  ist.  (Er¬ 
scheint  ausführlich.) 

Vortrag  der  Herren  Prof.  v.  Fürth  und  Dr.  Emil  Lenk: 
Lieber  das  Wesen  der  Totenstarre  und  ihre  Lösung. 
(Erscheint  ausführlich  in  dieser  Wochenschrift..) 

Die  Diskussion  wurde  wegen  vorgerückter  Stunde  auf 
die  nächste  Sitzung  verschoben.  Zur  Diskussion  gemeldet  Pro¬ 
fessor  W.  Pauli. 


28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin 

vom  19.  bis  22.  April  zu  Wiesbaden. 

(Fortsetzung.) 

VI. 

Sitzung  vom  21.  April  1911,  nachmittags. 

Referent:  K.  Reicher- Berlin. 

Rautenberg  - Groß  -  Lichterfelde :  Die  k  ü  n s  1 1  i c h e 

Durc h wärmung  innerer  Organe. 

Mit  der  Diathermie  lassen  sich  bei  einer  Reihe  von  inneren 
Erkrankungen  sehr  gute  Effekte  erzielen,  so  bei  Herzkrankheiten 
ein  Zurückgehen  der  hydropischen  Anschwellung  und  plötzliches 
Eintreten  starker  Diurese,  Eintreten  von  vorher  ausbleibender 
Digitaliswirkung,  Seltenerwerden  und  Verschwinden  von  Angina 
pectoris- Anfällen.  Bei  Bronchitiden  und  Bronchopneumonien  stellt 
sich  auffällige  Erleichterung  der  Expektoration  ein.  Sehr  günstig 
beeinflußt  werden  Pleuritiden.  Bei  letzteren  traten  manchmal 
Reibegeräusche  von  auffälliger  Ausdehnung  im  Verlaufe  der  Be¬ 
handlung  auf,  was  mit  einer  zunehmenden  Resorption  des  Ex¬ 
sudates  zu  erklären  ist.— Mit  Hilfe  der  Diathermie  kann  man  die 
Körpertemperatur  zwischen  den  beiden  Elektroden  auf  40  bis  4L0 
erhöhen.  Am  Kehlkopf  kann  man  im  Spiegelbild  nach  20  Mi¬ 
nuten  dauernder  Thermopenetration  bereits  Rötung  der  Stimm¬ 
bänder  und  außerdem  Heiserwerden  der  Stimme  beobachten.  Die 
Patienten  empfinden  die  Erwärmung  außerordentlich  angenehm. 
Unter  Diathermiewirkung  findet  ferner  eine  enorme  Ausschwem¬ 
mung  morphotischer  Elemente  statt,  während  eine  gesunde  Niere 
ihre  Elemente  festhält. 

Stein-  Wiesbaden :  M  i  1 1  e  i  1  u  n  g  e  n  zur  D  i  a  t  h  e  r  m  i  e- 
b  e  h  a  n  d  1  u  n  g. 

Während  bei  der  Hochfrequenz  gedämpfte  Schwingungen 
zur  Anwendung  kommen,  benutzt  die  Diathermie  ungedämpfte 
Schwingungen.  Die  wichtigsten  Indikationen  für  die  Diathermie 
geben  die  akute  gonorrhoische  Gelenkentzündung,  der  akute  Gicht¬ 
anfall  und  Rheumatismus  ab.  Durch  Kombination  der  Radium¬ 
emanationsbehandlung  mit  Diathermie  ist  eine  Sensibilisierung 
der  erkrankten  Gelenke  für  die  Radiumemanation  in  höherem 
Grade  zu  erwarten.  Die  Behandlung  der  intraabdominalen  Or¬ 
gane  ist  nur  mit*  größter  Vorsicht  zu  üben. 

Diskussion:  Schi  t  ten  heim-  Erlangen  :  Mit  der  Dia¬ 
thermie  kann  man  tatsächlich  eine  Hyperthermie  erzeugen,  und 
vielleicht  wird  diese  Möglichkeit  zur  Lösung  der  wissenschaft¬ 
lichen  Frage  der  Hyperthermie  beitragen.  Man  kann  bei  großen 
Jagdhunden  im  Verlauf  von  Va  bis  1  Stunde  die  Temperatur 
außerordentlich  hoch  hinauf  treiben.  Beim  Menschen  wird  die 
Wänneregulierung  durch  intensivere  Durchblutung  der  Hautober¬ 
fläche  durchgeführt,  wie  man  an  plethysmographischen  Kurven 
ersieht.  Bei  Anwendung  der  Diathermie  konnte  S  dritten  heim 
keine  Blutdruckerniedrigung,  sondern  umgekehrt  eine  Blutdruck¬ 
steigerung  finden. 

R  e  i  ß  -  Frankfurt :  Dje  hochfrequenten  sinusoidalen  Ströme 
werden  vom  Körper  deshalb  nicht  perzipiert,  weil  ihre  Frequenz 
außerordentlich  hoch  ist. 

Benn  ecke -Jena  lobt  auch  die  guten  Erfolge  der  Dia¬ 
thermiebehandlung  bei  gonorrhoischen  Gelenkerkrankungen.  Bei 
chronischem  Gelenkrheumatismus  wirkt  sie  nur  subjektiv  an¬ 
genehm,  zeigt  dagegen  objektiv  keine  Erfolge.  Das  Auftreten  der 
Reibegeräusche  bei  Pleuritis  ist  Bennecke  geneigt  auf  direkte 
Wärmeschädigungen  zurückzuführen.  In  ähnlicher  Weise  hörte 
er  bei  Pneumonie  nach  Diathermiebehandlung  ausgesprochene 
perikardiale  Reibegeräusche.  Interessant  ist  die  Abhängigkeit  der 
Durchdringung  der  Wärme  von  der  elektrischen  Leitfähigkeit  der 
Haut. 


Reicher- Berlin :  Es  wäre  wohl  als  Indikation  für  die 
Diathermie  noch  die  Leihe  jener  Blutkrankheiten  aufzustellen, 
welche  auf  Torpidität  des  Knochenmarkes  mit  mehr  oder  weniger 
Recht  zurückgeführt  werden.  Man  sollte  annehmen,  daß  in  diesen 
Fällen  durch  intensive  Durchwärmung  des  Knochenmarkes  die 
Blutregeneration  eine  kräftige  Anregung  erfahren  kann. 

Warburg- Köln  kann  (sich  dem  allgemeinen  Lobe  der 
Diathermiebehandlung  nicht  anschließen.  Er  sah  weder  eine  Er¬ 
niedrigung  des  Blutdruckes,  noch  bessere  Erfolge  als  sonst  bei 
Gelenkrheumatismus.  Bei  Lupus  setzt  die  Diathermiebehandlung 
sogar  sehr  schlecht  heilende  Wunden  mit  entstellenden  Narben. 
Außerdem  sei  wegen  der  sehr  schlecht  heilenden  Verbrennungen 
vor  der  Diathermie  überhaupt  zu  warnen.  Günstige  Erfolge  sah 
Warburg  nur  bei  Neuralgien. 

S  ch i  tten  he  1  m -  Erlangen :  Wenn  mit  der  Thermopenetra¬ 
tion  Verbrennungen  gesetzt  werden,  so  liegt  das  nur  an  der  an¬ 
gewendeten  Methode.  Ihm  selbst  ist  noch  nie  etwa  Derartiges 
passiert.  Uebrigens  wird  jetzt  ein  Kondensatorbett  von  Reiniger, 
Gebbert,  und  Schall  zur  Diathermiebehandlung  geliefert,  auf 
dem  keine  Verbrennung  mehr  möglich  ist. 

Rau te n b er g  (Schlußwort) :  Die  Ströme  wählen  nicht  immer 
den  kürzesten  Weg,  sondern  sicher  auch  den  Weg  des  geringsten 
Widerstandes.  Bei  der  Wahl  zwischen  Leberund  Darm  geht  also 
der  Strom  sicherlich  größtenteils  durch  die  Leber.  Blutdruck¬ 
erhöhungen  hat  Rautenberg  nie  beobachten  können.  Wäre 
das  bei  der  Diathermie  entstehende  Reibegeräusch  direkt  Wärme¬ 
wirkung,  so  müsse  es  an  den  den  Elektroden  entsprechenden 
Stellen  am  stärksten  auffreten.  Rautenberg  hat  das  Geräusch 
dagegen  auf  der  ganzen  kranken  Seite  gefunden. 

Stein  (Schlußwort)  kann  entgegen  Warburg  angesichts 
seiner  großen  Erfahrung  bei  Lupus  die  Diathermie  nur  bestens 
empfehlen. 

W eintraüd -Wiesbaden :  Zur  Wirkung  der  2-PhenyI- 
chinolin  4-Karbonsäure  (Atophan)  bei  der  Gicht. 

Nicolaier  und  Dohm  haben  die  interessante  Tatsache 
gefunden,  daß  bei  Verabreichung  von  %  bis  3  g  Atophan  innerlich 
bei  purinfreier  Nahrung  die  Harnsäureausscheidung  sich  um  das 
Drei- Vierfache  über  den  normalen  Wert  erhebt,  sofort  wieder 
zurückgeht,  wenn  das  Mittel  ausgesetzt  wird  und  schließlich  unter 
die  Norm  herabsinkt.  Dabei  handelt  es  sich  nicht  um  vermehrten 
Nukleinzerfall  im  Körper  und  wohl  überhaupt  nicht  um  eine 
primäre  Vermehrung  der  Harnsäurebildung,  sondern  um  eine 
Wirkung  auf  die  Niere,  deren  eine  genau  umschriebene  Funktion, 
nämlich  die  Harnsäureausscheidung,  elektiv  durch  das  Mittel  ge¬ 
steigert  wird.  Dieser  Mechanismus  erscheint  deshalb  wahr¬ 
scheinlich,  weil  die  Stärke  der  Ausscheidung  gar  nicht  von  der 
Menge  des  verabreichten  Mittels  abhängt.  Wird  Atophan  bei 
gleichzeitig  zugeführten  exogenen  Pürinen,  z.  B.  nukleinsaurem 
Natron,  verabreicht,  so  wird  auch  die  Harnsäureausscheidung 
bedeutend  vermehrt.  Beim  Hunde  wird  in  analoger  Weise  die 
Allantoinausscheidung  gesteigert.  Angesichts  seiner  speziellen 
Eigenschaft  erscheint  das  Atophan  hervorragend  zur  Behand¬ 
lung  der  Gicht  geeignet,  erweist  aber  gleichzeitig  durch  seine 
Wirkuiig  beim  Gichtanfall,  daß  die  Harnretention  beim  Gichtiker 
renalen  Ursprungs  sein  muß.  Der  Gichtiker  zeigt  von  seiner  In¬ 
suffizienz  gegenüber  exogenem  verabreichten  Nuklein  unter  Ato¬ 
phan  nichts  mehr,  es  wird  vielmehr  die  Harnsäure,  wenn  man 
sie  ihm  intravenös  injiziert,  prompt  ausgeschieden.  So  sehen  wir 
in  einem  Fälle  einen  Anstieg  der  endogenen  Harnsäure  von  0-65 
nach  Injektion  von  0-5  Harnsäure  auf  TI 7  während  Umber 
im  vorigen  Jahre  über  gegenteilige  Befunde  bei  Gichtikern  be¬ 
richtet  hat.  Vielleicht  wird  sich  auch  für  die  chronische  Gicht 
eine  ebenso  gute  Anwendungsweise  des  Mittels  finden  lassen  wie 
für  den  akuten  Gichtanfall . 

Diskussion:  Minkowski -Breslau  möchte  betonen,  daß 
die  Auffassung  des  Vortragenden  über  die  Wirkungsweise  des 
Atophans  nur  eine  Vermutung  ist.  Ebenso  berechtigt  wäre  die 
Vorstellung,'  daß  die  Ausscheidung  der  Harnsäure  durch  die 
Nieren  abhängig  ist  von  der  Zusammensetzung  des  Blutes  und 
dem  Bindungsvermögen  des  Blutes  für  Harnsäure.  Es  könnte  dann 
durch  die  Einführung  irgendeiner  Substanz,  z.  B.  des  Atophans, 
die  Harnsäure  frei  gemacht  und  zur  Ausscheidung  befähigt  werden. 

Gudzent -Berlin:  Die  Harnsäure  tritt  nach  Fischer  in 
zwei  tautomeren  Formen  auf,  von  .  n  allerdings  nur  die  eine 
bisher,  isoliert  ist.  Merkwürdigerweise  fiiriet  man  aber  bei  der 
Aufschließung  der  Urate  (des  Mononatronurats)  bis  zu  Kohlen¬ 
säure  unter  den  intermediären  Abbauprodukten  nach  Krüger- 
Schmidt  manchmal  keine  Harnsäure  mehr,  obwohl  die  Murexid¬ 
probe  noch  immer  positiv  ist.  Vielleicht  versteckt  sich  dahinter 
die  zweite,  noch  nicht  bekannte  tautomere  Form  der  Harnsäure. 
Die  Isolierung  derselben  ist  aber  Gudzent,  noch  nicht  gelungen. 


92G 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  25 


Lichtwitz -Göttingen:  Die  Arbeit  gegen  eine  höhere  Kon- 
/enti.iti,,i)  fuhrt  sicher  7U  einer  Ermüdung  und  Lähmung  der  Fer¬ 
men  tfal  igkeit.  In  diesem  Sinne  scheint  die  Brugsch-Schitten- 
he  1,1  sehe  Giehttheone  zu  stimmen.  Minkowski  kann  Licht- 
V.l.z  ,lu;ht  recht  geben,  daß  eine  elektive  Schädigung  der  Niere 
irn  ht  Vorkommen  kann,  und  führt  diesbezüglich  seinen  im  vorigen 
iahre  erwähnten  Fall  von  Diabetes  insipidus  an. 

Neu  bau  er- München:  Der  Bildung  der  Harnsäure  aus  den 
in  m  basen  liegt  ein  gewisser  Gleichgewichtszustand  zugrunde 
\\  eim  man  aber  eine  Kolatur  von  Rindermilz  mit  sehr  viel  Harn¬ 
säure  stehen  läßt  so  geht  die  Oxydation  der  Purinbasen  ebenso 
gut  \  or  .sich  wie  ohne  Harnsäure.  In  diesem  speziellen  Falle  hätten 
vir  also  keinen  Anhaltspunkt,  eine  derartige  Gleichgewichts¬ 


reaktion  anzünehmen. 


Sitzung 


vom  22.  April  1911. 


v. 

satzes 

Es 


E  e  l  gm  an  n- Berlin :  Steigerung  des  Energieum- 
nach  Hautreizen. 

außerordentlich  schwer,  beim  Menschen  die  chemische 
Regulierung  des  Wärmeumsatzes  zu  fassen,  da  die  physikalische 
Regulation  außerordentlich  prompt  reagiert.  Es  gelingt  dies  nur 
bei  \  ennehrter  \\  armeabgabe  nach  außen,  z.  B.  durch  llyperämi- 
si erring  der  Haut.  Untersucht  man  vor  einem  Senfbad  das  Ver- 
halten  der  Oxydationen  im  Pe t ten kof ersehen  Apparat,  so  er¬ 
gibt  die  24stundige  Bilanz  bei  2350  Iris  2400  Kalorieneinnahmen 
eine  Retention  von  56  C  und  64  C  in  24  Stunden,  ln  einem 
Versuch  nach  dem  Senfbad  dagegen  findet  man  nur  eine  Re¬ 
tention  von  38  C.  Setzt  man  die  Kalorien  auf  2000  herunter 
so  srnht  inan  ohne  Senfwirkung  noch  immer  einen  Nutzen  von 
32  O  beim  Senfbad  dagegen  ein  Minus  von  5  C.  Es  spielt  also 
(las  bent  bad  nicht  nur  in  kurzdauernden  Z  u  n  t  z  versuchen  (W  in¬ 
te  mit z),  sondern  auch  in  24stündigen  Versuchen  eine  Rolle. 

mner  ersieht  man,  wenn  nian  alle  chemischen  Reizungen  elimi¬ 
niert,  auch  bei  der  Hochfrequenzapplikation,  bei  der  die  Vaso- 
mo  ,oi en  gelähmt,  die  Haut  krebsrot  wird,  also  innerhalb  dessen, 
was  kühner  als  Behaglichkeitsgrenze  bezeichnet  hat,  ein  An¬ 
steigen  des  Sauerstoffbedarfes  pro  Minute  von  224,  bzw.  293  cm3 
auf  373,  bzw.  356  cm3. 

Diskussion:  B  ü  rk  e  r  -  Tübingen  möchte  als  Beitrag  zur 
chemischen  Regulation  mitteilen,  daß  nach  seinen  Höheversuchen 
der  Hamoglobmgehalt  des  Blutes  im  Gebirge  drei  Tage  konstant 
blieb  dagegen  mit  dem  Moment,  wo  ein  Wettersturz  eintrat 
der  Hämoglobingehalt  des  Blutes  anstieg. 

\.  Beigmann  (Schlußwort):  Für  die  Energiezersetzung  ist 
der  Hämoglobingehalt  praktisch  ohne  Bedeutung.  Bei  ausge- 
(.lohnten  Versuchen  an  Leuten  mit  Polyglobulie  konnte  v.  Berg- 
mann  z.  B.  keine  Aenderung  der  Sauerstoffwerte  pro  Kilogramm 
Körpergewicht  und  Minute  finden. 

Re  tzl  aff -Berlin:  Blutzerfall,  Gallenbildung  und 
l  r  o  bili  n.  (Nach  gemeinsamen  Untersuchungen  von  B  rüg  sch 
und  Retzlaff.) 

Bei  den  systematischen  Bestimmungen  wurde  Urobilin  durch 
Fäulnis  in  Urobilinogen  übergeführt,  Skatol  durch  Ligroin  ent¬ 
fernt  Zur  Bestimmung  des  Urobilinogens  würde  Dirnethyiamido- 
benzaldehyd  nach  Charn as  verwendet  mit  der  Vereinfachung, 
daß  das  Urobilinogen  kolorimetrisch  mittels  des  Pie  sch  sehen 
Kolbenkeil-Chromophotometers  mit  einer  0-1  prom.  Bordeaux¬ 
rotlosung  als  Testlösung  bestimmt  wurde.  Bei  der  Genese  der 
Urobilinurie  kann  man  die  histogene  und  enterogene  über  Bord 
weilen  doch  kann  parenteral,  bzw.  aus  Blut  Urobilin  entstehen. 
Diese  Formen  treten  aber  gegenüber  der  bei  der  Leberzirrhose, 
btauungszustäiiden  und  fieberhaften  Erkrankungen  entstehenden 
Urobilinurie  völlig  in  den  Hintergrund.  Die  einen  halten  die 
Urobilinurie  nur  für  eine  enterogene  Funktion,  bzw.  Ausdruck 
einer  vermehrten  Gallenbildung,  die  anderen  für  die  Fbke  einer 
hepatischen  Insuffizienz.  Die  Tatsache,  daß  bei  Lebererkran¬ 
kungen  vermehrte  Urobilinurie  auftreten  kann  und  daß  bei  Leber¬ 
erkrankung  mit  Abschluß  des  Ductus  choledochus  jede  Urobilin¬ 
urie  fehlt,  läßt  keine  andere  Deutung  zu  als  die,  daß  zum  Zu¬ 
standekommen  einer  Urobilinurie  die  Funktion  des  Darmes  eine 
notwendige  Rolle  spielt,  ln  fortlaufenden  Untersuchungen  wurde 
(lie  Menge  des  Ham-  und  Koturobilins  vergleichsweise  bestimmt. 
Auch  bei  Leberkranken  ist  die  Menge  des  Koturobilins  eine 
auffallend  hohe,  bei  Leberzirrhose  und  Cholangitis  erreicht  sie 
die  höchsten  Werte.  Bei  einzelnen  Patienten  zeigte  sich  ein  auf¬ 
fallender  Parallelismus  zwischen  Harn-  und  Koturobilin.  Da¬ 
neben  finden  sich  auch  Stühle  ohne  jedes  Urobilin,  namentlich 
bei  \  egetabilischer  Diät.  Statt  dessen  finden  sich  in  diesen  Stühlen 
Bilirubin  und  höhere  Oxydationsstufen  desselben,  aus  denen 
durch  Nachfäulnis  eine  Urobilinbildung  zu  erzielen  ist.  Da  in 
sich  selbst  überlassenen  Stühlen  Urobilin  wie  Urobilinogen  eine 


Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Knbasta. 

Druck 


Zerstörung  erfährt,  so  ist  keine  Frage 
hängig  sein  kann,  von  der  Menge 


daß  eine  Urobilinurie  ab 
„  ,,  ,  -  der  in  dem  Darin  ausgeschie¬ 

denen  Galle,  von  der  Art  der  Bakterien  und  von  der  Größe  der 
Zerstörung.  Es  ist  so  erklärlich,  daß  angesichts  der  antiseptischen 
Kraft  der  Galle  ein  eventuelles  Plus  an  Galle  die  Urobilinbildung 
hemmt.  Was  die  Funktion  der  Leber  gegenüber  dem  Urobilin 
betrifft,  so  wird  sicher  das  Urobilin  in  kleinen  Mengen  mit  der 
Galle  in  den  Darm  wieder  ausgeschieden.  Stellt  man  Leberbrei 
und  Urobilin,  unter  Luftzuleitung  auf,  so  vermag  die  Leber  Uro¬ 
bilin  zu  zerstören,  nicht  aber  zu  Bilirubin  aufzubauen.  Da  aber 
die  sich  überlassene  Leber  aus  Bilirubin  Urobilin  bildet,  so  wäre 
eine  Umkehrung  des  Prozesses  nicht  von  der  Hand  zu  weisen. 
Die  Leber  scheint  also  einen  Teil  des  ihr  zugeführten  Urobilins 
durch  die  Galle  auszuscheiden,  einen  Teil  zu  zerstören  und 
einen  dritten  in  den  Kreislauf  durchzulassen.  Ueber  die  Schick¬ 
sale  dieses  letzteren  Anteiles  im  großen  Kreislauf  entscheiden 
folgende  Versuche:  Verabreichung  von  0-1  Urobilin  per  os  oder 
subkutan  bewirkt  keine  Mehrausscheidung  von  Urobilin  im  Urin, 
ebensowenig  intravenöse  Injektionen  von  Urobilin  beim  Hund. 
Daraus  geht  hervor,  daß  die  Gewebe  die  Fähigkeit  besitzen, 

I  robilin  zu  zerstören.  Daß  normalerweise  ein  Teil  des  Urobilins 
durch  den  Harn  wieder  ausgeschieden  wir'd,  liegt  daran,  das  dieser 
Anteil  beim  Passieren  der  Niere  der  Zerstörung  durch  die  Ge¬ 
webe  entgeht.  Die  Urobilinurie  ist  daher  im  allgemeinen 
komplexer  Vorgang.  Wenn  täglich  ca.  2  g  Gallenfarbstoff  in 
Dann  entleert  werden  und  wir  im  Urin  1  bis  2  cg  oder 
Urobilinurie  1  bis  2  deg  im  Urin  wiederfinden,  so  ist  die 
Sache  dafür  teils  auf  günstige  Urobilinbildung,  teils  auf  schlechte 
Zerstörung  seitens  der  Leber  oder  anderer  Organe  zurückzuführen. 
Ls  ist  also  kein  Wunder,  wenn  Fleisch-  und  Eiergenuß  oder  Zir¬ 
kulationsstörungen  zur  Urobilinurie  führen.  Man  kann  sie  daher 
nicht  generell  als  hepatische  Insuffizienz  deuten,  sondern  es 
muß  ihr  eine  Störung  eines  komplexen  Vorganges  zugrunde  liegen. 
Demgegenüber  steht  die  Entstehung  der  parenteralen  und  para¬ 
hepatischen  Urobilinurie  aus  Blutfarbstoff  auf  einer  anderen 
Linie. 

Kraft- Weißer  Hirsch :  H a r n b e f u nde  b  ei  hämorr h a g i- 
scher  D  i  a  t  h  e  s  e. 

Kraft  teilt  zwei  kasuistisch  interessante  Fälle  von  Hämo¬ 
philie  mit. 

(Fortsetzung  folgt.) 


ein 

den 

bei 

Ur- 


abends, 

stattfindenden 


Programm 

der  am 

Freitag;  den  23.  Juni  1911,  um  7  Uhr 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Prof.  Dr.  E.  Wer  Ui  ei  111 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

L  Hofrat  Prof.  Dr.  0.  Cliiari:  Demonstration. 

2.  Diskussion  zum  Vorträge  der  Herren  Prof.  v.  Fürth  und 
Di  L.  Lenk:  I  eher  das  Wesen  der  Totenstarre  und  ihre  Lösung.  Zum 
Worte  gemeldet:  Prof.  Dr.  W.  Pauli. 

l’1'0*-  Dr.  Sternberg:  Zur  Diagnose  des  chronischen 
partiellen  Herzaneurysmas.  • 

Einen  Vortrag  hat  angemeldet  Herr  Dr.  Hans  Bah. 

Bergmeister,  P a  1 1 a  u f. 

„,Um  äje  rechtzeitijre  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen, 

item  Vch* H  f  tf  ü  hr ’nr3««  6  f  6  r  3  *  ^Vertrage,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerkungen 

dem  Schriftführer  ltocli  am  Sitzung.sabend  zu  übergeben. 


Gesellschaft  für 


innere  Medizin  und  Kinderheilkunde 
in  Wien. 

Am  Donnerstag,  <lcn  22.  Juni  1911,  lindet  Keine  Sitzung  statt. 

Das  Präsidium. 


Oesterreichische  otologische  Gesellschaft. 

.wWvnT  3r°ut;lfh  ,le“  2(i<  Juui  1911>  6  Uhr  abends,  im  Hörsaal 
ei  Klinik  Urbantschitsch  stattfindenden  wissenschaftlichen  Sitzung. 

*  Demonstrationen.  Angemeldet  die  Herren:  Prof.  Urbantschitsch,’ 
ou  t  any,  ltuttin,  Deck. 

„orc  ,  -2\  Vortrag  von  J.  Hauer  und  R.  Leidler:  Ueber  die  Ausschaltung 
Augenreüexe!'  mtte  Und  ihren  Eillfluß  auf  die  vestibulären 

 Boudy,  Schriftführer. 


von  Bruno  Bartelt,  .Wien  XVIII.,  Theresien  nasse  8. 


Verlag  von  Wilhelm  BraumUller  in  Wien. 


Dr.  EMIL  G.  BECK:  Ueber  die  konservative  Behandlung  kalter  Abszesse. 


t’ig.  1. 


Fig.  2  (Stereoskop). 


Wiener  klinische  Wochenschrift,  Nr.  26,  1911. 

Verlag  von  Wilhelm  B  r  a  u  m  ü  1 1  e  r,  k.  u.  k.  Hof-  und  Universitäts-Buchhändler,  Wien. 


.  ..  ... -  .  ___  . 


Wiener  klinische  Wochenschrift 


unter  ständiger  Mitwirkung  der  Herren  Professoren  DDr. 


0.  Ghiari,  F.  Dimmer,  V.  R.  v.  Ebner,  S.  Exner,  E,  finger,  M.  Gruber,  F.  Hochstetter,  A.  Kolisko,  H.  Meyer,  J,  Moeller,  K.  v.  Noorden, 
H.  Obersteiner.  A.  Politzer.  A.  Schattenfroh.  F.  Schauta.  J.  Tandler,  G.  Toldt,  J.  v.  Wagner,  E.  Wertheim. 

Begründet  von  weil.  Hofrat  Prof.  H.  v.  Bamberger 
Herausgegeben  von 

Anton  Freih.  v.  Eiseisberg,  Alexander  Fraenkel,  Ernst  Fuchs,  Julius  Hochenegg,  Ernst  Ludwig,  Edmund  v.  Neusser. 

Richard  Paltauf,  Gustav  Riehl  und  Anton  Weichselbaum. 

Organ  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

Redigiert  von  Prof.  Dr.  Alexander  Fraenkel 

Verlag  von  Wilhelm  Braumüller,  k.  u.  k.  Hof-  u.  Universitätsbuchhändler,  VIII/1,  Wickenburggasse  13.  Telephon  17.618. 

XXIV.  Jahrg.  Wien,  29.  Juni  1911  Nr.  26 


INHALT: 


1.  Originalartikel :  1.  Aus  der  medizinischen  Klinik  in  Graz. 
Vorstand:  Prof.  H.  Lorenz.)  Mikroskopische  Untersuchung  der 
Galle  zu  diagnostischen  Zwecken.  Von  Dr.  Eugen  P  e  t  r  y, 
Privatdozenten  und  Assistenten  der  Klinik.  I.  Mitteilung.  S.  927. 

2.  Aus  der  medizinischen  Abteilung  für  Kinderkrankheiten  und 
der  Prosektur  des  k.  k.  Wilhelminenspitales  in  Wien.  Ein 
Beitrag  zur  Kenntnis  der  durch  tierpathogene  Bazillen  der 
Influenzagruppe  hervorgerufenen  eitrigen  Meningitis  (Meningite 
cerebrospinale  septicemique  Cohen.)  Von  Dr.  Emil  Prasek  und 
Dr.  Tullio  Z  a  t  e  1 1  i.  S.  932. 

3.  Ueber  die  konservative  Behandlung  kalter  Abszesse.  Von 
Dr.  G.  Beck,  Chirurg  am  North  Chicago  Hospital.  S.  934. 

4.  Aus  der  chirurgischen  Abteilung  des  städtischen  Krankenhauses  I 
in  Graz.  (Vorstand:  Priv.-Doz.  Dr.  Hertle.)  Zur  Chirurgie  des 
Choledochuskrebses.  Von  Dr.  Spin  dl  er,  Assistenten.  S.  936. 

5.  Aus  der  III.  medizinischen  Abteilung  des  allgemeinen  Kranken¬ 
hauses  in  Wien.  (Vorstand:  Prof.  Dr.  Hermann  Schlesinger.) 
Ein  neuer  Stickstoffapparat  zur  Behandlung  der  Lungenl  uberkulose 
und  anderer  nicht  tuberkulöser  Erkrankungen  der  Lungen.  Von 
Dr.  Oskar  Frank,  k.  u.  k.  Regimentsarzt  im  k.  u.  k.  Garnisons¬ 
spital  Nr.  1  in  Wien  S.  940. 

Redaktionelle  Mitteilung.  S.  941. 


II.  Referate:  Ueber  Ermüdungsstoffe.  VonDr.  WolfgangWeichardt. 
Praktische  Anleitung  zur  Ausführung  des  biologischen  Eiwei߬ 
differenzierungsverfahrens.  Von  Prof.  Dr.  P.  Uhlen huth  und 
Dr.  0.  Weid  an z.  Allgemeine  Mikrobiologie.  Von  Dr.  med.  Walther 
Kruse.  Ref. :  E  P.  Pick.  —  Die  Therapie  der  Magen-  und  Darm¬ 
erkrankungen.  Von  Dr.  Karl  Wegele.  Stoffwechsel  und  Stoff¬ 
wechselkrankheiten.  Von  Prof.  Dr.  Paul  Friedrich  Richter. 
Theorie  und  Praxis  in  der  Beurteilung  der  Gicht  auf  Grund  einer 
Erfahrung  in  6000  Fällen.  VonDr.Gemmel.  Ref  :  K.  Glaessner. 
—  Untersuchungen  über  tuberkulöse  Infektionen  im  Kindes¬ 
alter.  Von  Dr.  Rothe.  Schutzpockenimpfung  und  Impfgesetz 
Von  Prof  Dr.  Martin  Kirchner.  Pflege  und  Ernährung  des 
Säuglings.  Von  Dr.  M.  Pescatore.  Die  Wohlfahrtseinrichtungen 
für  Kinder  in  großen  Städten.  Von  Geh.  Med. -Rat  Professor 
Dr.  A.  Baginsky.  Ref. :  C.  Le  in  er. 

III.  Ans  verschiedenen  Zeitschriften. 

IV.  Sozialärztliche  Revue.  Von  Dr.  L.  Sofer.  S.  951. 

Y.  Vermischte  Nachrichten. 

VI.  Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 


Aus  der  medizinischen  Klinik  in  Graz. 

(Vorstand:  Prof.  H.  Lorenz.) 

Mikroskopische  Untersuchung  der  Galle  zu 
diagnostischen  Zwecken.* *) 

Von  Dr.  Eugen  Petry,  Privatdozenten  und  Assistenten  der  Klinik. 

I.  Mitteilung. 

Im  Jahre  1904  machte  Pawlows  Schüler  B  o  1  d  y- 
reff1)  die  Beobachtung,  daß  bei  Hunden,  denen  man  Fette 
in  den  Magen  einbringt,  sich  der  Pylorus  öffnet  und  eine 
Menge  mit  Pankreassekret  vermischter  Galle  in  den  Magen 
Übertritt;  er  bemerkte  gleich,  daß  dies  für  die  Gewinnung 
dieser  Sekrete  beim  Menschen  verwertbar  wäre. 

Tatsächlich  wurde  diese  Beobachtung  Boidyreffs 
auch  der  Ausgangspunkt  klinischer  Untersuchungen.  V  o  1- 
hard2)  hat  als  erster  1907  beim,  Menschen  durch  Verab¬ 
folgung  von  200  g  Oel  und  nachträgliche  Ausheberung  ex¬ 
perimentell  Galle  zur  Untersuchung  gewonnen;  die  ausge¬ 
heberte  Masse  bestand  aus  zwei  Schichten:  die  obere  wird 
vom  Oel  gebildet,  die  untere,  grünlich  gefärbte,  vom  vereinten 
Sekret  der  Leber  und  des  Pankreas. 

Volhard  selbst  und  einige  spätere  Untersucher  ver¬ 
werteten  die  Methode  lediglich  zur  Erforschung  der  Pankreas¬ 

*)  Ueber  die  Befunde  beim  Falle  I  habe  ich  bereits  am  17.  Fe¬ 
bruar  d.  J.,  über  die  übrigen  hier  mitgeteilten  Ergebnisse  am  12.  Mai  im 
Vereine  der  Aerzte  in  Steiermark  kurz  berichtet. 

*)  Internationaler  Physiologenkongreß  Brüssel. 

*)  Münchener  med.  Wochenschr.  1907,  S.  403. 


funktion.  Für  die  Kenntnis  der  Zusammensetzung  der  Galle 
Kranker  wurde  dieselbe  nur  zu  bakteriologischen  Zwecken 
nutzbar  gemacht.  Als  nämlich  die  Untersuchungen  über 
Typhusträger  und  Typhusausscheider  unter  Försters 
Führung  gezeigt  hatten,  daß  gerade  die  Gallenblase  der  Auf¬ 
enthaltsort  der  Bazillen  sei,  verwendete  Weber3)  1908 
die  B  o  1  d  y  r  e  f  f  -  V  o  1  h  a  r  d  sehe  Methode  zum  Nachweis 
des  Bazillengehaltes  der  Galle  und  konnte  so  bei  einschlä¬ 
gigen  Fällen  tatsächlich  reichlichen  Gehalt  derselben  an 
Typhus-  und  Paratyphusbazillen  nachweisen,  während  die 
gleichzeitigen  Stuhlproben  negativ  waren. 

Es  erschien  mir  nun  sehr  aussichtsvoll,  diese  Methode 
der  Gallengewinnung  für  die  histologische  Unter¬ 
suchung  der  Galle  beim  Kranken  auszunützen. 
Denn  es  liegt  nahe,  anzunehmen,  daß  Erkrankungen  der 
Leber  und  der  Gallenwege  zur  Beimengung  pathologischer 
(vielleicht  auch  charakteristischer)  morphotischer  Bestand¬ 
teile  zur  Galle  führen  müssein,  ganz  analog  den  einschlä¬ 
gigen  Verhältnissein  bei  Harn  und  Sputum.  Und  zwar  er¬ 
schien  mir  als  naheliegendster  Ausgangspunkt  für  derartige 
Untersuchungen  die  Cholelithiasis  und  Cholezystitis,  Er¬ 
krankungen,  die  sich  vornehmlich  im  Innern  der  Gallen¬ 
wege  abspielen :  ich  durfte  hier  also  am  ehesten  erwarten, 
auf  eine  pathologisch  veränderte  Galle  zu  stoßen. 

I. 

Ich  führte  daher  seit  September  v.  J.  bei  jedem  mir 
zur  Beobachtung  kommenden,  auf  Gallensteine  verdächtigen 


3)  Münchener  med.  Wochenschr.  1908,  S.  2443. 


Mr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


I' alle  systematisch  das  Oelfrühstück  durch;  die  Kranken  er¬ 
hielten  nüchtern  200  cm3  Oleum  olivarum  von  Zimmer¬ 
temperatur  und  wurden  eine  halbe  bis  drei  Viertelstunden 
danach  ausgehebert.  Die  Zwischenzeit  brachten  sie  im  Bette 
liegend  zu. 

Die  ersten  vier  untersuchten  Fälle,  bei  denen,  allerdings 
auch  nur  vage,  uncharakteristische  Schmerzen  im  Abdomen  be¬ 
standen  hatten,  gaben  ein  negatives  Resultat:  ich  vermochte  in 
der  ausgeheberten  Galle  auch  beim  Sedimentieren  keine  patholo¬ 
gischen  Gebilde  nachzuweisen;  einmal  fand  ich  stark  peptisch 
■  verdaute  Leukozyten  (Kemreste)  offenbar  von  verschlucktem 
Sputum  herrührend. 

Durch  die  Güte  des  Herrn  Prof.  v.  Hacker,  dem 
ich  auch  au  dieser  Stelle  meinen  Dank  ausisprechen  möchte, 
war  ich  endlich  in  der  Lage,  eine  Kranke  mit  ausgesproche¬ 
ner  Cholelithiasis  untersuchen  zu  können. 

Dieselbe  war  eine  26jährige  Frau,  die  vor  zehn  Jahren 
Typhus  überstanden  hatte.  Im  April  v.  J.  erkrankte  sie  plötzlich 
an  anlallsweisen  heftigen  Schmerzen  in  der  Magengegend  und 
Erbrechen;  am  nächsten  Tage  gesellte  sich  dazu  Gelbfärbung 
der  Haut.  Nach  drei  lagen  besserten  sich  die  Beschwerden  je¬ 
doch  wieder  und  traten  nach  vollkommen  freier  Pause  im  De¬ 
zember  1910  neuerlich  auf  und  dauerten  nunmehr  acht  Tage; 
auch  jetzt  bestand  wieder  Gelbsucht. 

Bei  der  Untersuchung  zeigte  sich,  daß  die  grazile,  ziem¬ 
lich  gut  genährte  Patientin,  deren  Sensordum  ganz  frei  war,  intensiv 
ikterisch  gefärbt  war.  Temperatur  37°.  Puls  .80,  gut  gespannt  und 
gefüllt.  In  der  linken  Achselhöhle  eine  kleine  Lymphdrüse  tastbar. 
Knochen,  1  upillen,  Rachengebüde  ohne  Befund.  Parenchymatöse 
Struma.  Am  1  horäx  außer  einer  Retraktion  der  linken  Lungenspitze 
kein  pathologischer  Befund.  Die  Leberdämpfung  beginnt  an  der 
vierten  Rippe  und  reicht  nach  abwärts  (Mamjllarlinie)  bis  zur 
Nabelhöhe.  Das  Organ  verursacht  eine  sichtbare,  inspiratorisch 
abwärts  steigende  Vorwölbung;  ihre  Oberfläche  war  glatt,  weich, 
recht  druckempfindlich.  Die  Gallenblase  war  als  nach  abwärts 
gerichteter,  gut  umgreifbarer  Fortsatz  der  Leber  mit  stumpfem, 
glatten  unteren  Pol  tastbar.  Abdomen  sonst  ohne  Befund.  Der 
Stuhl  war  cholisch  und  gab  Gallenreaktionen. 

Bei  der  Patientin  wurde  am  4.  und  7.  Februar'  eine  Oelaus- 
heberung  in  der  beschriebenen  Weise  durchgeführt.  Beide,  Male 
war  die  vom  Oel  bedeckte  Flüssigkeit  smaragdgrün  gefärbt.  Die 
Proben  gaben  beim  Zentrifugieren  einen  mäßig  reichlichen  Boden¬ 
satz  von  schleimiger  Beschaffenheit  und  intensiver  Griintärbung. 

Bei  der  eine'  halbe  Stunde  nach  der  Entnahme  durchgeführten 
mikroskopischen  Untersuchung  envies  sich  derselbe  zusammen¬ 
gesetzt  aus  Schleim  und  Leukozyten  gleichenden  Zellen  verschie¬ 
dener  Größe,  welche  sämtlich  gelbgrün  gefärbt  waren ;  die  kleineren 
hatten  die  Größe  von  Lymphozyten  und  zeichneten  sich  durch  sehr 
starke  grünlichgelbe  Färbung  aus;  die  größeren,  welche  die  Größe 
von  Leukozyten  etwas  überragten,  waren  weniger  intensiv  und 
mehr  zitronengelb  gefärbt.  Die  Färbung  betraf  dabei  nicht  den 
ganzen  Zellinhalt,  sondern  ließ  den  Kern  frei.  Sie  war  auch 
am  Plasma  meist  nicht  diffus  gleichmäßig,  sondern  in  Form  von 
teilweise  verbackenen  Granulis  und  Schollen,  zwischen  denen 
ab  und  zu  ungefärbtes  Plasma  lag  und  welche  besonders  an  den 
kleinen  Zellen  starkes  Lichtbrechungsvermögen  aufwiesen.  Der 
Kern  ivar  an  einzelnen  Zellen  als  aus  zwei  Segmenten  zusammen¬ 
gesetzt  zu  erkennen.  Neben  diesen  Zellen  fanden  sich  noch  grün¬ 
lich  gefärbte  Spindelzellen  und  größere  blasig -polygonale  Zellen 
mit  zahlreichen  braunschwarzen  Pigmentkörnchen.  Sämtliche  Zell¬ 
arten  fanden  sich  auch  im  Innern  der  Schleimmassen  eingebettet. 

Außer  diesen  Zellen  wies  aber  das  Sediment  noch  einen 
bemerkenswerten  Bestandteil  auf :  mikroskopische  Körnchen  von 
kristallinisch  -  scholliger  Begrenzung,  nach  Art  von  Globuliten, 
welche  teils  einzeln  lagen,  zumleist  aber  als  knorrig-  warzige 
Drusenaggregate  nach  Art  der  Fig.  I,4)  angeordnet  waren ;  seltener 
fanden  sich  mosaikartig  oder  perlschnurartig  aneinandergereihte, 
kleine  rundliche  Körnchen. 

Ihre  Farbe  war  zumeist  gelbrot,  wie  die  hellen  Kolophoniums ; 
vereinzelte  Körnchen  waren  jedoch  dunkler  braun  bis  .schwarz¬ 
braun.  Alle  Körner,  besonders-  die  hellen,  zeigten  einen  starken 
Glanz,  letztere  ein  bedeutendes  Lichtbrechungsvermögen. 

Es  konnte  wohl  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  hier  kleinste 
Bilirubinkalkkonkretionen  Vorlagen. 

Die  am  8.  Februar  ausgeführte  Laparotomie  ergab, 
daß  die  Blase  erweitert  war  und  im  Ductus  choledochus, 
diesen  nicht  ganz  verschließend,  ein  nußgroßer,  dunkel- 

4)  Bei  der  Anfertigung  der  mikrophotographischen  Abbildungen 
erfreute  ich  mich  der  Unterstützung  Herrn  Priv.-Doz.  Hesses. 


brauner  Stein  steckte.  Die  Blase  wurde  exstirpiert  und  sie 
zeigte  sich  erfüllt  von  dünnflüssiger,  braungelber  Galle, 
mit  streifigen  Blutbeimengungen  und  einzelnen  glasigen, 
durchsichtig  weißlichen  Schleimfäden.  Auch  die  Oberfläche 
war  von  Schleim  bedeckt. 

Ich  untersuchte  nun  sowohl  die  Galle-,  als  Abstriche 
von  der  Schleimhaut  mikroskopisch  und  dabei  zeigten  sich 
reichliche  Konkremente  von  ganz  gleicher  Form  und  Färbe 
wie  die  vorhin  beschriebenen.  In  Schleimhautabstrichen 
zeigten  sich  überdies  reichlich  neutrophile  und  spärlich 
eosinophile  Leukozyten ;  sie  waren  jedoch  durchaus  un¬ 
gefärbt. 

Die  Untersuchung  des  in  den  nächsten  Tagen  aus  der 
bei  der  Operation  angelegten  Gallenfistel  sich  entleerenden 
Sekrets  ergab  das  Vorhandensein  von  den  beschriebenen 
gleichenden  Konkrementen,  sowie  einen  reichlichen  Gehalt 
an  grüngefärbten  Zellen  analog  den  im  Oelfrühstück  ge¬ 
fundenen. 

Die  Untersuchung  dieses  Falles  ergab 
also  eine  prinzipielle  Bestätigung  meiner 
eingangs  ausgesprochenen  Erwartung:  in  der 
Galle  waren  neben  dem  Stein  noch  mikrosko¬ 
pische  Kennzeichen  der  Steinkrankheit  nach¬ 
weisbar  und  es  gelang,  dieselben  bereits  in 
der  mittels  Oelfrühstück  gewonnenen  Galle 
nachzuweisen. 

Schwieriger  gestaltet  sich  jedoch  eine  genaue  diagno¬ 
stische  Bewertung  der  einzelnen  Symptome.  Daß  gallig 
tingierte  Leukozyten  als  sicher  pathologischer  Befund 
gelten  dürfen,  steht  zwar  fest;  ob  sie  aber  stets  den  Gallen¬ 
wegen  entstammen  müssen,  erscheint  zweifelhaft  (Duo¬ 
denum!).  Der  Befund  des  Gallenblaseninhalts  läßt  weiter¬ 
hin  bei  einfacher  Cholezystitis  überhaupt  ungefärbte 
(also  bezüglich  ihrer  Provenienz  vollkommen  uncharakteri¬ 
stische)  Zellen  erwarten. 

Der  weitaus  bedeutsamere  Befund  sind  jedenfalls  die 
mikroskopischen  Konkremente.  Es  wird  Aufgabe 
eigener  Untersuchungen  sein,  zu  ermitteln,  ob  die  normale, 
steinlose  Galle  vollkommen  frei  von  mikroskopischen  Nieder¬ 
schlägen  ist.  Immerhin  ist  dies  sehr  wahrscheinlich  und 
sprechen  auch  meine  Ausheberungsergebnisse  bei  nicht 
sicher  Steinkranken  in  diesem  Sinne. 

Schwieriger  dürfte  es  sein,  die  Beziehung  dieser 
Konkremente  zur  klinisch  manifesten  Stein¬ 
krankheit  einzuschätzen.  Es  kann,  unter  Berücksichti¬ 
gung  ihrer  Form,  sowie  ihres:  Vorkommens  (an  der  Innen¬ 
fläche  der  keinen  Stein  enthaltenden  Blase,  im  Fistelsekret 
nach  Entfernung  des  Steines),  keinem  Zweifel  unterliegen, 
daß  es  sich  hier  nicht  um  Bruchstücke  eines  großen  Kon¬ 
krements,  sondern  um  selbständige  Konkretionen 
handelt.  Sie  sind  also  wohl  nur  der  Ausdruck  einer  ge¬ 
wissen  Stein  disposition;  ja,  sie  könnten  vielleicht  nur 
der  Effekt  des  bestehenden  Katarrhs  sein.  Es  ergibt  sich 
daraus,  daß  ihr  Nachweis  keineswegs  als  zwin¬ 
gender  Beweis  des  Vorh  an  den  seins  eines  grö¬ 
ßeren  Konkrementes  aufzufassen  ist;  da  es  aber  für 
die  Therapie  ganz  hauptsächlich  darauf  ankommt,  festzu¬ 
stellen,  ob  ein  solches  vorliegt  oder  nicht,  so  mußte  ich  erst 
nach  weiteren,  gerade  diese  Feststellung  ermöglichenden 
Momenten  suchen. 

II. 

Die  beste  Lösung  der  Frage  nach  dem  Vorhandensein 
eines  Steines  würde  durch  den  Nachweis  mikroskopi¬ 
scher  Bruchstücke  desselben  geliefert  werden. 

Bedenkt  man,  wie  weich  manche  Steine  sind  und  wie 
reichlich  —  besonders  bei  multiplen  Steinen  —  Gelegenheit 
zum  Abschleifen  kleinster  Partikelchen  gegeben  ist,  so  wird 
man  es  nicht  für  unmöglich  halten,  daß  sich  neben  massiven 
Steinen  auch  Splitterchen  derselben  vorfinden.  Ich  ver¬ 
suchte  daher  zunächst  festzustellen,  wie  solcher  Schleif¬ 
sand  mikroskopisch  aussieht  und  ob  er  sich  von  den  bei 
unserem  Falle  gefundenen  Konkretionen  unterscheiden  läßt. 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


929 


Zu  diesem  Zwecke  versuchte  ich  mit  einem  armierten 
Glasstabe  leicht  über  die  Oberfläche  des  bei  der  Operation 
gewonnenen  Steines  zu  streichen  und  untersuchte  die  so  ge¬ 
wonnenen  krümeligen  Massen  mit  großer  Vorsicht  mikro¬ 
skopisch.  ihre  Farbe  und  ihr  Glanz  war  durchwegs,  ihre 
Form  bei  vielen  dieser  Körnchen  die  gleiche,  wie  bei  den 
spontan  in  der  Galle  vorbildlichen.  Daneben  waren  aber  un¬ 
zweifelhaft  Gebilde  nachweisbar,  deren  Begrenzung  sie  als 
Splitter  mit  winkeligen  Bruchflächen  erkennen  ließ  und  zwar 
sowohl  kleinste,  unregelmäßig  rhomboedrische  Splitterchen 
als  auch  die  Größe  der  abgebildeten  „Druse“  bedeutend  über¬ 
steigende,  ganz  solide  Massen  mit  eckiger  und  zum  Teil 
geradliniger  Begrenzung. 

Es  ergab  sich  nunmehr  als  allernächste  Aufgabe,  zu 
untersuchen,  ob  derartige  Gebilde,  welche  sich  durch  ihr 
Aussehen  unter  dem  Mikroskop  als  sichere  Partikel  eines 
massiven  Steines  erkennen  lassen,  auch  in  der  Galle  stein¬ 
haltiger  Blasen  anzutreffen  sind.  Das  Entgegenkommen  des 
Herrn  Dr.  Schmerz,  Assistenten  der  chirurgischen  Klinik, 
ermöglichte  es  mir,  zwei  weitere  steinhaltige  Blasen  darauf¬ 
hin  zu  untersuchen. 


Fig.  1. 


Deren  erste  entstammte  einer  39jährigen  Hauptmanns¬ 
frau,  die  seit  längerer  Zeit  wegen  unklarer  Schmerzanfälle 
in  Behandlung  stand. 

Die  Blase  wurde  unmittelbar  nach  der  operativen  Ent¬ 
fernung  untersucht;  sie  beherbergte  13  haselnußgroße  tetra- 
edrische,  scharfkantige,  rein  weiß  gefärbte  Cholesterinsteine. 

Ich  entleerte  den  Inhalt  derselben  Vorsichtig  und  goß 
die  dünnflüssige,  etwas  fadenziehende,  lichtgrüne,  nicht  ge¬ 
trübte  Galle  von  den  Steinen  ab,  ohne  diese  zu  quetschen 
oder  aneinander  zu  reiben.  In  dieser  Flüssigkeit  fanden 
sich  mm  reichlich  Cholesterintafeln,5)  welche  auch  bei  Vor¬ 
sichtigster  Behandlung  des  Präparates  (leichtes  Auflegen  des 
Deckglases)  sich  als  gesplittert  und  zerbrochen  erwiesen, 
indem  sich  neben  wohlerhaltenen  solche,  die  außer  den 
charakteristischen  treppenförmigen  Winkeln  noch  schiefe 
Bruchflächen  hatten,  sowie  auch  ganz  spitzwinkelige,  direkt 
an  Glassplitter  erinnernde  Trümmer  solcher  Täfeln  vom 
selben  sonstigen  optischen  Verhalten  zeigten.  Das  Zustande¬ 
kommen  dieser  unregelmäßig  spitzwinkeligen  Bruchstücke 
kann  wohl  nur  durch  gegenseitiges  Abschleifen  von  Steinen 
erklärt  werden. 

Eine  weitere  Bestätigung  ergab  die  Untersuchung  der 
Gallenblase  einer  46jährigen  Frau,  welche  am  28.  Mai  d.  J. 
mit  drohender  Gallenblasenperforation  auf  die  chirurgische 
Klinik  aufgenommen  wurde  und  bei  der  das  erkrankte  Organ 
sofort  operativ  entfernt  wurde.  Die  unmittelbar  darauf  von 
mir  vorgenommene  Untersuchung  ergab  folgendes: 

6)  Auf  Wiedergabe  einer  Abbildung  verzichtete  ich,  da  in  kurzem 
charakteristische  Cholesterinsplitter  aus  einem  Oelfrilhstück  Mitteilung 
finden  sollen. 


Das  12-5  cm  lange  und  6  cm  breite  Organ  entleert 
beim  Anschneiden  zuerst  eine  wasserklare,  helle,  kaum  gelb¬ 
lich  (wie  Blutserum)  gefärbte  fadenziehende,  aber  dünn¬ 
flüssige  Masse,  sodann  einen  graugelblich  -  eitrigen  Brei,  in 
dem  neun  gleich  große,  tetraedrische,  scharfkantige,  dunkel¬ 
grau  gefärbte  Steine  liegen. 

Eine  mikroskopische  Untersuchung  der  Eitermassen 
ließ  in  diesen  als  einzige  zellige  Bestandteile  Leukozyten 
nachweisen.  Daneben  zeigten  sich  hellgelbbraune  bis  rot¬ 
gelbe  Schollen  von  starkem  Lichtbrechungsvermögen  und 
zwar  ähnelten  dieselben  in  ihrer  Form  den  beim  Reiben 
des  Steines  mit  dem  Glasstabe  artefiziell  erhaltenen  Splittern. 
Einige  derselben  waren  mit  Cholesterintafeln  vermengt  und 
zwar  trugen  sie  dieselben  teils  an  der  Oberfläche,  teils  waren 
dieselben  (s.  Fig.  2)  in  die  braunen  Massen  eingebettet. 
Diese  Konkretionen  waren  nun  in  der  Eitermasse  ganz  auf¬ 
fällig  ungleichmäßig  verteilt;  in  den  von  den  Steinen  ent¬ 
fernt  liegenden  Randpartien  waren  sie  so  spärlich,  daß  ihr 
Nachweis  nur  nach  längerem  Suchen  gelang ;  in  den  unmittel¬ 
bar  zwischen  den  Steinen  gelegenen  Partien  konnte  man  in 
jedem  Gesichtsfeld  fünf  bis  sechs  solcher  Gebilde  finden, 
ja  es  ließen  sich  sogar  makroskopisch  rotbraune  Streifen 
in  der  Eitermasse  nachweisen,  die  an  fein  verteilten  auf- 


Fig.  2. 


gestreuten  Zimt  erinnerten  und  mikroskopisch  sich  als 
dicht  liegende  derartige  Konkretionen  erwiesen. 

Es  wäre  wohl  mehr  als  gezwungen,  derartig  gelagerte 
rotbraune  Kronkremente  in  einer  farblosen  Eitermasse  als 
eben  in  Abscheidung  begriffene  selbständige  Gallenkonkre¬ 
mente  anzusprechen. 

Die  eben  geschilderten  Befunde  erscheinen  mir  im 
Gegenteile  als  ausreichend,  um  die  Frage  nach  dem  Vor¬ 
kommen  echten  Schleifsandes  in  steinhaltigen  .Gallenblasen 
bejahend  zu  beantworten.  Um  so  notwendiger  erscheint  es 
mir  jetzt,  an  einem  größeren  Ausmaß  von  Fällen  durch  ver¬ 
einte  klinische  und  anatomische  Untersuchung  festzustellen, 
ob  die  beschriebenen  Formunterschiede  ausreichen,  um  im 
Oelfrühstück  mit  Sicherheit  Stein  splitter  zu  erkennen. 
Dabei  wird  sich  auch  die  diagnostisch  -  semiotische  Bedeu¬ 
tung  der  als  freie  Konkretionen  angesprochenen  Gebilde  klar¬ 
stellen  lassen.  Derartige  Untersuchungen  sind  bereits  im 
Gange.  Trotzdem  möchte  ich  schon  hier  kurz  mitteilen,  daß 
ich  seit  dem  eingangs  geschilderten  Fälle  bereits  3mal  in  der 
Lage  war,  in  der  ausgeheberten  Galle  Kranker  das  Vorhan¬ 
densein  mikroskopischer  Konkretionen  nachzuweisen.  Wenn 
diese  drei  Fälle  auch  zwar  der  Kontrolle  durch  die  Operation 
entbehren,  so  sei  ihr  Befund  doch  wiedergegeben  als  Bestäti¬ 
gung,  daß  die  Nachweisbarkeit  solcher  kleinster  Konkretionen 
im  Oelfrühstück  nicht  einen  singulären  Befund  darstellt. 

Der  erste  Fäll  betraf  eine  23jährige  Frau,  die  wegen 
UlkusVerdacht  im  Ambulatorium  der  medizinischen  Klinik 
ein  Probefrühstück  erhalten  hatte,  bei  der  aber  der  Magen 
zur  Zeit  der  Ausheberung  sich  leer  erwies  und  erst  nach 
längerem  Pressen  einige  Kubikzentimeter  dicker  grüner  Galle 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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gewonnen  wurden.  Dieselbe  war  reich  an  Leukozyten  und 
kubischen,  mit  tiefgrünen,  stark  lichtbrechenden  Einschlüs¬ 
sen  erfüllten  Zellen  ganz  nach  Art  der  im  ersten  Falle  be¬ 
schriebenen  Zellen.  Daneben  fanden  sich  bernsteingelbe, 
glänz  end  e  Ko  nkremente. 

Ein  zweiter  Fall  betrifft  einen  57jährigen  Sattlermeister, 
der  am  28.  Februar  wegen  eines  Fungus  am  Fuße  auf  die 
chirurgische  Abteilung  aufgenommen  wurde.  Im  Laufe  seiner 
Behandlung  trat  ein  intensiver  Kolikanfall  auf  und  Patient 
wurde  ikterisch,  die  Leber  wurde  tastbar  und  überragte  den 
Rippenbogen  als  sehr  schmerzhafter  Tumor.  Die  Anamnese 
ergab  nunmehr,  daß  Patient  seit  seiner  Jugend  oft  an  kolik¬ 
artigen  Schmerzen  litt,  welche  sich  besonders  durch  Trinken 
kalten  Wassers  auslösen  ließen.  Der  stärkste  Anfall  bestand 
im  Jahre  1909.  Die  Anfälle  beginnen  in  einem  Punkte  der 
Parasternallinie  und  breiten  sich  zum  Rippenbogen  und  bis 
zur  rechten  Schulter  aus.  Einzelne  Anfälle  waren  mit  Er¬ 
brechen  verbunden. 

Bei  diesem  Kranken  wurde  am  8.  März  nach  Abklingen 
des  Kolikanfalles  eine  Oelausheberung  gemacht  und  dieselbe 
förderte  ca.  50  cm3  grüner  Galle  zutage,  welche  im  Sedi¬ 
ment  reichliche,  mikroskopische  Konkremente  von  der  glei- 


Fig.  3. 


chen  rotbraunen  Farbe  und  derselben  Durchsichtigkeit  und 
ebensolchem  Glanze  wie  die  Bilinrubinkalkkonkremente  des 
ersterwähnten  Falles  enthielten. 

Dabei  fiel  auf,  daß  ein  Teil  derselben  sich  durch  das 
Vorhandensein  derartiger  scharfkantiger  (s.  Fig.  3)  Ränder 
und  unregelmäßiger  Ecken  auszeichnete,  daß  es  nach  dem 
vorhin  Mitgeteilten  wohl  gerechtfertigt  erscheint,  in  den¬ 
selben  Splitter  eines  größeren  Konkrementes  zu  erblicken. 

Der  letzte  Fall  betrifft  eine  35jährige  Hebamme,  die 
wegen  Steinbeschwerden  das  Ambulatorium  der  medizini¬ 
schen  Klinik  auf  suchte. 

Patientin,  welche  fünf  gesunde  Kinder  geboren  hat,  litt 
bereits  vor  vier  Jahren  in  der  Zeit  zwischen  7.  März  bis 
13.  Juni  an  etwa  alle  zehn  Tage  wiederkehrenden  krampf¬ 
haften  Kolikanfällen,  welche  den  ganzen  Tag  über  dauerten 
und  weitaus  heftiger  waren,  als  Wehenschmerzen  und  mit 
Erbrechen  verbunden  waren.  Seither  war  sie  gesund.  Seit 
etwa  acht  Monaten  traten  diese  Schmerzen  abermals  ,auf 
und  zwar  regelmäßig,  wenn  die  Patientin  abends  Nahrung 
zu  sich  nimmt.  Sie  bemerkte  jetzt  auch  während  der  An¬ 
fälle  das  Hervortreten  eines  harten,  glatten  und  runden 
Gegenstandes  unter  dem  rechten  Rippenbogen. 

Aus  dem  Befunde  der  sehr  gut  genährten,  kräftigen  Frau 
sei  erwähnt,  daß  dieselbe  zur  Zeit  der  Untersuchung  nicht  ikterisch 
war,  daß  auch  im  Harne  kein  Gallenfarbstoff  nachweisbar  war; 
der  Befund  an  den  Thoraxorganen  ergab  nichts  Pathologisches. 
Puls  war  rhythmisch,  84  in  der  Minute.  Das  Abdomen  ragte  über 
das  Thoraxniveau  vor,  die  Bauchdecken  waren  weich,  ausgeweitet, 
nicht  druckempfindlich.  Der  Schall  am  Abdomen  tympanitisch.  Die 


Leberdämpfung  reichte  von  der  6.  Rippe  bis  zum  Rippenbogen. 
Druck  unterhalb  des  rechten  Rippenbogens  ist  außerordentlich 
schmerzhaft.  Bei  Inspiration  tastet  man  dabei  den  unteren  Leber¬ 
rand  als  schmalkantigen,  deutlich  leicht  bogenförmig  verlaufenden, 
harten  Rand.  Die  Berührung  desselben  und  das  Vorbeigleiten 
unter  den  Fingern  verursacht  der  Patientin  unerträgliche 
Schmerzen.  Ein  der  Gallenblase  angeh oRger  Tumor  ist  auch 
in  linker  Seitenlage  nicht  nachweisbar. 

Bei  der  am  19.  April  aus  geführten  Oelausheberung 
wurde  eine  sich  vom  Oel  deutlich  absetzende  schmutzig- 
grüne,  wässerige  Flüssigkeit  von  50  cm3  gewonnen,  die  einen 
reichlichen,  schleimigen,  gelblichgrün  gefärbten  Bodensatz 
enthält,  auf  Lackmus  deutlich  sauer  reagiert  und  im  mikro¬ 
skopischen  Bilde  reichliche,  dunkelbraune,  knorrig-warzige 
Konkremente  enthielt,  deren  Form  ganz  den  in  dem  ersten 
Falle  beschriebenen  ähnelte,  die  jedoch  bezüglich  der  Färbe 
auffallende  Unterschiede  zeigten:  sie  waren  viel  dunkler, 
fast  schwarzbraun  gefärbt  und  wesentlich  opaker  und  ließen 
auch  das  starke  Lichtbrechungsvermögen  vermissen. 

Am  Boden  des  Zentrifugenrohres  fanden  sich  nun  vier 
bis  zu  Hirsekorngröße  reichende  runde  Pünktchen  von 
schmutzig  -  ziegelroter  Farbe.  Um  über  die  Natur  derselben 
Aufklärung  zu  bekommen,  brachte  ich  eines  dieser  Körner 


Fig.  4. 


zwischen  Objektglas  und  Deckglas,  wobei  sich  zunächst 
zeigte,  daß  es  eines  besonderen  Druckes  bedurfte,  um  das¬ 
selbe  unter  deutlich  wahrnehmbarem  Knirschen  zu  zer¬ 
drücken.  Das  Von  der  zerquetschten  Masse  dargebotene 
mikroskopische  Bild  ist  auf  Fig.  4  wiedergegeben.  Wie  man 
sieht,  handelte  es  sich  hier  um  dieselben  Massen,  wie  sie 
die  mikroskopischen  Konkretionen  dargestellt  hatten.  Es  war 
also  geglückt,  durch  die  Oelmethode  makroskopisch 
sichtbare  Konkremente  zu  gewinnen. 

Wiewohl  es  durch  das  physikalische  Verhalten  zweifel¬ 
los  war,  daß  es  sich  hier  um  einen  festen  Körper  handelt, 
hatte  ich  anfangs  wegen  der  dunklen  Färbe  und  stark  opa¬ 
ken  Beschaffenheit  gezweifelt,  ob  es  sich  hier  wirklich  um 
Bilirubinkalk  handle.  Dieser  Zweifel  schwand  jedoch,  als 
ich  versuchte,  ein  solches  mikroskopisches  Konkrement  durch 
Verreiben  zwischen  Deckglas  und  Objektglas  noch  weiter  zu 
zerkleinern.  Dabei  erhielt  ich  Splitter  von  genau  dem  glei¬ 
chen  optischen  Verhalten,  wie  es  die  erstbeschriebenen 
echten  Bilirubinsteine  gezeigt  hatten:  demselben  Glanz  und 
Lichtbrechungsvermögen,  der  gleichen  Durchsichtigkeit,  der 
gleichen  Farbe. 

Diese  Feststellung  war  um  so  wertvoller,  als  die  Unter¬ 
suchung  mit  dem  Polarisationsmikroskop 6)  sich  nicht  als 
zureichendes  Hilfsmittel  zur  Erkennung  der  Steinnatur 
eines  mikroskopischen  Gebildes  erwiesen  hatte :  es  zeigte 

6)  Deren  Durchführung  ich  Herrn  Assistenten  Hennicke  (histolog. 
Institut)  verdanke. 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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sich  nämlich,  daß  Quetsehpräparate  von  echten  Bilirubin¬ 
steinen  (der  Stein  von  Fall  l)  in  der  Hauptmasse  sich  nicht 
als  doppeltbrechend  verhalten. 

Fasse  ich  die  gefundenen  Resultate  zusammen,  so  er¬ 
gibt  Isich  vor  allem,  daß  Steine  beherbergende 
Blasen  (u.  zw.  auch  empyematös  veränderte)  reichlich 
kleinere  Konkretionen  enthalten,  welche  sich  zum 
Teil  als  freie  Niederschläge,  zum  Teil  als  Bruchstücke  der 
großen  Steine  erkennen  lassen.  Es  zeigte  sich  weiter  in  vier 
Fällen  d  i  e  N  a  c  h  w  e  i  s  0  a  r  k  e  i  t  s  o  1  c  h  e  r,  t  e  i  1  s  mikro¬ 
skopischer,  teils  makroskopischer  Konkre¬ 
mente  in  der  ausgeheberten  Galle.  In  einem  der 
Fälle  war  es  durch  die  Operation  ermöglicht,  die  volle 
Uebereinstimmung  im  Befunde  der  Oelgalle 
und  der  Blasengalle  zu  erweisen. 

Wie  groß  das  Bedürfnis  nach  einer  objektiven  Begrün¬ 
dung  der  Diagnose  Cholelithiasis  sei,  zeigt  am  besten  das 
große  Interesse,  welches  man  allseits  den  —  leider  Vergeb¬ 
lichen  —  Versuchen  entgegenbrachte,  die  Steine  im  Röntgen¬ 
bilde  zur  Darstellung  zu  bringen.  Die  hier  mitgeteilten  Re¬ 
sultate  berechtigen  zur  Hoffnung,  daß  sich  durch  die 
systematische  Untersuchung  des  0  e  1  früh¬ 
st  ü  c  k  s  ein  neuer  Anhaltspunkt  zur  Beurtei¬ 
lung  unklarer  Schmerzattacken  in  der  Ober¬ 
bauchgegend  gewinnen  lassen  wird. 

Um  so  wichtiger  erscheint  es  mir,  bereits  im  Anschlüsse 
daran  einen  Fall  mitzu teilen,  bei  dem  ich  bei  dreimaliger  Aus¬ 
heberung  niemals  pathologische  Beimengung  in  der  Galle 
nachweisen  konnte,  trotzdem  der  klinische  Verlauf  auf  ein 
Leiden  der  Gallenwege  schließen  ließ. 

Es  handelte  sich  um  einen  79jährigen  Diener,  der  seit 
seiner  Jugend  wiederholt  anfallsweise  krampfartige  Schmerzen 
in  der  Leibergegend  hatte  und  nun  in  hochgradig  ikterischem 
Zustande  die  Klinik  aufsuchte  (20.  März  d.  J,).  Sein  Ernährungs¬ 
zustand  war  ein  guter,  der  Puls  68,  kräftig ;  er  war  in  den  ersten 
Tagen  fieberfrei.  Lymphdrüsen,  Knochen  und  Brustorgane  ohne 
Befund.  Die  Leber  war  unter  dem  Rippenbogen  mit  ihrem'  glatten, 
harten  und  scharfen  Rande  tastbar,  unempfindlich.  Der  Stuhl 
war  cholisch.  Der  Ikterus  verschwand  innerhalb  acht  Tagen. 
Am  31.  März  trat  jedoch  plötzlich  Schüttelfrost  und  rascher  Tem¬ 
peraturanstieg  auf  38-2  ein,  tags  darauf  bestand  zwar  wieder 
normale  Temperatur,  jedoch,  es  war  wieder  Ikterus  aufgetreten 
und  Pat.  klagt  über  heftige  Schmerzen  in  der  Leber.  Ein  ähn¬ 
licher  Anfall  wiederholte  sich  am  4.  April.  Die  Gallenblase,  war 
niemals  tastbar. 

Die  Oelausheberung  (am  23.  und  29.  März,  sowie  am  ö.  April) 
ergab  stets  Galle,  in  der  jedoch  weder  Konkremente  noch  Zellen 
nachgewiesen  werden  konnten.  Der  Kranke  verließ  am  7.  April 
die  Klinik. 

Da  in  diesem  Falle  die  Diagnose  einer  Affektion  der 
Gallenwege  nur  auf  klinische  Beobachtung  gestützt 
ist,  wird  man  erst  dann  einen  Schluß  über  die  Bedeutung 
dieses  negativen  Ergebnisses  für  den  Wert  der  Oelmethode 
ziehen  dürfen,  wenn  in  ähnlichen  späteren  Fällen  patho¬ 
logisch-anatomische  Befunde  vorliegen  werden ;  solche  Be¬ 
obachtungen  werden  zu  erweisen  haben,  ob  ein  derartig 
negativer  Untersuchungsbefund  für  eine  Gallenwegaffektion 
ohne  Stein  charakteristisch  ist,  oder  oh  es  besondere  Formen 
der  Steinkrankheit  gibt,  die  sich  der  Diagnose  mit  der  Oel¬ 
methode  entziehen. 

III. 

Bei  der  zuerst  ins  Auge  gefaßten  Erkrankung,  der  Chole¬ 
lithiasis,  hatten  somit  meine  in  die  Oelmethode  gesetzten 
Erwartungen  vollauf  Bestätigung  gefunden;  um  so  wahr¬ 
scheinlicher  erschien  es  mir  nunmehr,  daß  dieselbe  auch 
für  Erkrankungen  des  Leberparenchy  m  s  man¬ 
cherlei  Aufschlüsse  bringen  könne.  Um  zu  prüfen,  ob  es 
unter  pathologischen  Bedingungen  überhaupt  gelingt,  histo¬ 
logische  Elemente  der  Gallenwege  und  der  Leber  selbst 
in  der  Galle  anzutreffen,  untersuchte  ich  die  Galle  Von  sechs 
Hasen,  die  ich  mit  Phosphor  vergiftet  hatte. 


Die  Untersuchung  fand  derart  statt,  daß  bald  (ein  bis  fünf 
Stunden)  nach  eingetretenem  Tode  die  Leber  freigefegt,  die  Gallen¬ 
blase  sorgfältig  vom  Stil  aus  herauspräpariert  und  nun  mit  zwei 
Haken  am  Fundus  über  ein  Glas  gehalten  und  mit  einem  Bistouris 
cingestochen  wurde.  Die  im  Strahle  herausspritzende  Galle  ge¬ 
langte  nach  vorherigem  Zentrifugieren  zur  mikroskopischen  Unter¬ 
suchung. 

Ich  fand  nun  hei  allen  Tieren  lange,  zum  Teil  zylin¬ 
drische,  zum  Teil  keulenförmige  Zellen,  welche  teilweise 
noch  zu  ganzen  Lamellen  zusammengebacken  waren.  Bei 
einem  2700  g  schweren  Hasen,  der  am  19.  Mai  20  cm3 
Ol.  phosphorat.  per  Schlund  sonde  erhielt  und  am  22.  Mai 
starb  und  bei  dem  die  Sektion  typische  Phosphorleber  zeigte, 
fand  ich  in  der  derartig  gewonnenen  Galle  daneben  auch 
Zellen,  die  bezüglich  ihrer  Form,  Größe,  ihres  Kernes  und 
des  verfetteten  Inhalts  weitgehende  Uebereinstimmung  mit 
den  in  Gefrierschnitten  dargestellten  Leberzellen  desselben 
Tieres  zeigten  (s.  Fig.  5). 


Fig.  5. 


Leuzin-  und  Tyrosinkristalle  waren  in  den  Gallen  nie¬ 
mals  nachweisbar. 

Das  Ergebnis  dieser  Versuche  läßt  es  gewiß  berechtigt 
erscheinen,  auch  Lebererkrankungen  in  den  Bereich  der 
mikroskopischen  Gallendiagnostik  einzubeziehen. 

Leider  waren  meine  bisherigen  darauf  gerichteten  Ver¬ 
suche  Vollkommen  erfolglos.  Denn  es  gelang  mir  bei  zwei 
Zirrhotikern  (Laennec),  die  ich  je  viermal  zu  verschie¬ 
denen  Zeiten  ihres  mehrwöchigen  Spitalsaufenthaltes  aus¬ 
heberte,  niemals,  wirkliche  Galle  mit  dem  Oelfriihstück  zu 
gewinnen. 

Die  ausgeheberten  Massen  waren  farblos  oder  leicht 
gelblich  gefärbt,  gaben  zumeist  saure  (Kongo-)  Reaktion  und 
eine  Probe  derselben  gab  bei  Berührung  mit  Jodtinktur  oder 
rauchender  Salpetersäure  am  Filter  keine  Ringe. 

Da  eine  Prüfung  auf  Trypsin  bisher  unterlassen  wurde, 
so  ist  es  allerdings  nicht  ganz  ausgeschlossen,  daß  es 
sich  hier  um  ein  Versagen  der  Gallensekretion  handelt; 
das  weitaus  Wahrscheinlichere  ist  jedoch,  daß  die  reflek¬ 
torische  Oeffnung  des  Pylorus  ausgeblieben  war,  wie  dies 
ja  bei  manchem  meiner  Steinkranken  ab  und  zu  vorkam,7) 
wenn  auch  mehrmaliges  Versagen  der  Methode  nur 
bei  diesen  beiden  Kranken  zu  verzeichnen  war.  Dieser  Be¬ 
fund  erscheint  um  so  auffälliger,  als  dies  die  beiden  einzigen 
Fälle  von  diffuser  Lebererkrankung  waren,  die  ich  unter¬ 
suchte.  Weitere  Untersuchungen  werden  zeigen  müssen, 
ob  in  diesem  Zusammentreffen  mehr  als  ein  Spiel  des  Zu¬ 
falls  zu  erblicken  ist.  Vor  allem  werde  ich  aber  versuchen, 
ob  es  mit  Hilfe  verschiedener  Variationen  der  Oelmethode8) 
gelingt,  doch  auch  bei  Zirrhotikern  eine  Gallengewinnung 
zu  erzwingen,  sonst  wäre  die  mikroskopische  Gallendiagno¬ 
stik  von  einem  aussichtsvollen  Gebiete  vollkommen  ausge¬ 
schaltet. 


7)  Siehe  auch  Molnar,  Zeitschr.  für  klin.  Med.,  S.  67. 

s)  Glaessner,  Ergebnisse  der  inneren  Medizin  und  Kinder¬ 
heilkunde,  Bd.  6. 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Aus  der  medizinischen  Abteilung  für  Kinderkrank¬ 
heiten  und  der  Prosektur  des  k.  k.  Wilhelminenspitales 

in  Wien. 

Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  der  durch  tier¬ 
pathogene  Bazillen  der  Influenzagruppe  her¬ 
vorgerufenen  eitrigen  Meningitis. 

(Meningite  cerebrospinale  septicemique  Cohen.) 

Von  Dr.  Emil  Prasek  und  Dr.  Tullio  Zatelli. 

C  o  h  e  n 1 2)  teilte  im  Jahre  1909  einige  Fälle  eigen¬ 
artiger  Meningitis  mit,  als  deren  Erreger  er  einen  liämo- 
philen,  dem  der  Influenza  sehr  nahe  verwandten  Bazillus 
beschrieb. 

Nach  seinen  Angaben  gleicht  dieser  in  morphologischer 
Hinsicht  dem  Pfeifferschen  Influenzabazillus,  unter¬ 
scheidet  sich  aber  im  folgenden: 

1.  Er  ist  im  Gegensätze  zum  Pfeiffer  sehen  Bazillus 
für  Tiere  (Kaninchen,  Meerschweinchen,  Mäuse)  hoch¬ 
pathogen  ; 

2-  Der  Bazillus  ließ  sich  in  allen  beobachteten  Fällen 
im  Blute  der  Patienten  nachweisen  und  verursacht  im 
menschlichen  Organismus  häufig  entzündliche  Affektionen 
der  serösen  Häute; 

3.  Auch  durch  die  Agglutination  und  Konglutination 
(Bordet  und  Streng)  unterscheidet  er  sich  vom  In¬ 
fluenzabazillus. 

In  einer  neuen  Arbeit  teilten  Cohen  und  Fitz¬ 
gerald“)  weitere,  teils  eigene,  teils  von  anderen  Autoren 
beobachtete  Fälle  mit,  bei  denen  sie  die  früher  erhobenen 
Befunde  bestätigen  konnten. 

Da  Fälle  dieser  Art  bis  heute  nur  in  Frankreich,  Belgien, 
Amerika  und  England  zur  Beobachtung  kamen,  so  erscheint 
es  uns  wichtig,  durch  eine  von  uns  im  Wilhelminen-Spitale 
gemachte  Beobachtung  auf  das  Vorkommen  solcher  Fälle 
auch  hierzulande  aufmerksam  zu  machen.  Die  Kranken¬ 
geschichte  des  von  uns  beobachteten  Falles  war  folgende: 

R.  W.,  18  Monate  alt,  anfgenomtoen  an  der  Abteilung 
des  Herrn  Primarius  Foltanek  am  8.  Januar  1911.  Flaschom 
land  ;  war  bis  zu  der  jetzigen  Erkrankung  stets  gesund,  Die  gegen¬ 
wärtige  Krankheit  begann  plötzlich  vor  sieben  Tagen  mit  stürmi¬ 
schen  Erscheinungen:  Fieber,  Erbrechen,  „Zittern“  am  ganzen 
Körper.  Bald  stellte  sich  bei  erhaltenem  Bewußtsein  auch  Schielen 
ein.  Seit  der  Zeit  fiebert  das  Kind  ununterbrochen,  ist  seht 
unruhig  und  schreit  sehr  viel.  Nahrungsaufnahme  schlecht.  Es 
besteht  Obstipation. 

Die  Mutter  ist  gegenwärtig  angeblich  wegen  einer  Herz¬ 
beutelentzündung  bettlägerig. 

Status  am  9.  Januar  1911:  Gut  genährtes,  sehr  blasses 
Kind.  Haut  und  Muskulatur  schlaff.  Fontanelle  geschlossen.  Ziem¬ 
lich  hochgradige  rachitische  Veränderungen  am  ganzen  Skelett. 
An  den  unteren  Extremitäten  und  am  Stamme  Reste  von  kra- 
stosem  Ekzem.  Intertrigo  am  Genitale,  Bewußtsein  frei.  Der 
Gesichtsausdruck  starr,  die  Lippen  trocken,  Zunge  etwas  belegt. 
Rachen  blaß,  Nase  trocken.  Die  Pupillen  eng,  gleich  weit,  reagieren 
piompt  auf  Licht.  (Ihren  frei.  Es  besteht  eine  ausgesprochene 
Nackenstarre.  Die  Gehirnnerven  frei.  Die  Hände  werden  zeitweise 
nach  vorne  gestreckt,  wie  um  etwas  zu  fassen.  Tiefe  Reflexe 
gesteigert,  Hautreflexe  prompt.  Babinski,  Kernig  negativ.  Ueber 
beiden  Lungen  rauhes  Vesikuläratmen  mit  etwas  Schnurren.  Ueber- 
all  heller  Lungenschall.  Herzbefund  nonnal.  Puls  150,  klein, 
regelmäßig.  Abdomen  etwas  vorgewölbt,  weich.  Die  Leber  über¬ 
ragt  den  Rippenbogen  um  einen  Querfinger.  Milz  eben  tastbar. 
Ein  breiiger  spontaner  Stuhl.  Urin  ohne  pathologischen  Befund 
Temperatur  38-7  bis  39°. 

Dekursuls:  Bei  der  Lumbalpunktion  werden  ca.  8  cm3 
eines  unter  mäßigem  Drucke  sich  entleerenden,  leicht  getrübten 
Liquors  abgelassen.  Die  Essigsäure-Feirrozyankaliprobe  stark 
positiv. 

10.  Januar:  In  der  Nacht  ziemlich  ruhig,  gegen  früh  einige 
Male  aufgeschrien.  Kein  Erbrechen.  Kernig  heute  angedeutet 
Nackenstarre.  Temperatur  bis  40-3°,  Puls  150. 


')  Annal.* Pasteur  1909,  Bd.  28,  S.  273. 

2)  C.  f.  Bakt.  Orig.  1910,  Bd.  56,  S.  464. 


Nr.  26 


11.  Januar:  Häufiges  Aufschreien,  starke  Unruhe.  Bewußt¬ 
sein  ungestört.  Kernig  positiv.  Nackenstarre.  Temperatur  38  bis 
39°.  Puls  150. 

12.  Januar:  Bis  3  Uhr  früh  sehr  unruhig,  dann  ruhiger 
Schlaf.  Keine  Krämpfe,  kein  Erbrechen.  Pupillen  gleich,  klein, 
reagieren  prompt.  Bewußtsein  ungestört.  Ueber  beiden  Lungen 
hinten  basal  etwas  krepitierendes  Rasseln.  Lockerer  Husten.  Tem¬ 
peratur  37-5  bis  38-8°,  Puls  140  bis  146.  —  Zweite  Lumbalpunk¬ 
tion  :  Stärkerer  Druck,  Liquor  weniger  trüb,  als  bei  der  ersten 
Punktion.  Lie  abgelassene  Menge  beträgt  5  Cm3. 

13.  Januar :  Das  Kind  ist  sehr  unruhig.  Fortwährendes 
Aufschreien.  Temperatur  37-8  bis  38-8°.  Nackenstarre.  Kernig  deut¬ 
lich.  Das  Bewußtsein  erhalten. 

14.  Januar:  In  der  Nacht  auffallend  ruhig.  Bewußtsein  ge¬ 
schwunden.  Die  Stirne  von  Zeit  zu  Zeit  korrugiert.  Pupillen 
stark  myotisch,  reaktionslos.  Keine  Krämpfe.  Kernig,  Nacken- 
starre  geschwunden,  rapide  Abmagerung.  Ueber  den  Lungen 
beiderseits  hinten  unten  krepitierendes  Rasseln.  Temperatur  38-5 
bis  39°.  Puls  150  bis  160. 

15.  Januar :  Bewußtlosigkeit  anhaltend.  Pupillen  klein,  reak¬ 
tionslos.  Rechts  hinten  unten,  neben  der  Wirbelsäule  bronchiales 
Atmen  mit  krepitierendem  Rasseln.  Temperatur  38-6  bis  39-4°. 
Puls  160. 

16.  Januar:  In  der  Nacht  allgemeine  klonische'  Krämpfe, 
die  nach  einer  halben  Stunde  zum  Exitus  führen. 

Das  klinische  Bild  bot  also  keine  wesentliche  Ab¬ 
weichung  von  dem  einer  gewöhnlichen  eitrigen  Meningitis. 
Auffallend  war  vielleicht  die  verhältnismäßig  geringgradige 
Trübung  des  Liquor  cerebrospinalis.  Für  diese  Erschei¬ 
nung  fanden  wir  hei  der  Sektion  anscheinend  eine  Er¬ 
klärung  in  der  festen  Beschaffenheit  des  Exsudates  sowohl 
auf  der  Hemisphärenoberfläche,  als  auch  im  Duralsacke 
des  Rückenmarkes. 

Die  am  9.  Januar  und  12.  Januar  durch  Lumbal¬ 
punktion  gewonnene  Flüssigkeit  war  leicht  trüb,  ohne  Fibrin¬ 
gerinnsel. 

Zum  Anlegen  von  Kulturen  und  Ausstrichpräparaten 
wurde  der  durch  scharfes  Zentrifugieren  gewonnene  Boden¬ 
satz  verwendet. 

Bei  Färbung  mit  Karbolfuchsin  (1 : 9)  findet  man  sehr 
zahlreiche  polynukläre  Leukozyten  und  eine  große  Menge 
von  teilweise  länglichen,  teilweise  kurzen  Stäbchen,  die 
das  Aussehen  von  Influenzabazillen  haben.  Recht  häufig 
sind  sie  intrazellulär  anzutreffen.  (Fig.  1.)  Bei  vielen  färben 
sich  die  Pole  stärker  als  die  Mitte  des  Bakterienleibes.  Bei 
der  Färbung  imit  Methylenblau  nehmen  die  Bazillen  die 
Farbe  schwer  an.  Die  Färbung  nach  Gram,  bei  der  sich 
die  Bazillen  als  Gram  -  negativ  erweisen,  ergibt  ähnliche 
Bilder. 

Kulturelle  Untersuchung : 

Agar-  und  Menschenserumagar-Kulturen  blieben  voll¬ 
ständig  steril.  Ein  Wachstum  erzielten  wir  nur  auf  hämo¬ 
globinhaltigen  Nährböden. 

Auf  Agarplatten,  die  mit  sterilem  Kaninchenblut  be¬ 
strichen  waren,  wachsen  nach  24  Stunden  ausschließlich 
kleinste,  scharf  begrenzte,  durchscheinende,  tautropfen- 
artige  Kolonien,  die  denen  der  Influenza  vollkommen  ähnlich 
sehen.  Auf  Pferdeblutplatten  (zwei  Teile  verflüssigtes  Agar 
mit  einem  Teil  defibriniertem  Pferdeblut  gemischt)  er¬ 
scheinen  die  Kolonien  zart,  flach,  von  leicht  grauer  Farbe, 
j  Fei  Lupenvergrößerung  sind  sie  durchscheinend,  ohne 
wahrnehmbare  Struktu  r. 

Das  beste  Wachstum  erreichten  wir  auf  dem  von 
Cohen  angegebenen  Nährboden.3) 

Auf  diesem  Nährboden  wachsen  die  Stäbchen  sehr 
üppig  und  bilden  ziemlich  dicke,  graue  Basen.  Die  Aus-  ; 
striche  von  allen  Nährböden  gaben  übereinstimmende 
Bilder :  Kleine  Gram-negative  zarte  Stäbchen,  häufig  zu  zwei 
liegend,  die  dem  Influenzabazillus  völlig  gleichen,  wie  in 
den  Ausstrichpräparaten  der  Lumbalflüssigkeit  (vgl.  Fig.  2).  ] 

3)  In  ein  geschmolzenes  auf  60°  abgekühltes  Agarröhrchen  setzt 
man  1  cm3  defibriniertes  steriles  Kaninchenblut;  nach  erfolgter  inniger 
Mischung  erwärmt  man  durch  3‘  auf  80'.  Der  Nährboden  wird  dabei 
schokoladefarben.  So  hergestellte  Röhrchen  kann  man  nach  Abkühlung 
auf  45°  entweder  zu  Platten  gießen  oder  schief  legen.  Dieser  Nährboden 
eignet  sich  auch  ausgezeichnet  für  Influenzabazillen. 


Nr.  26 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Um  die  Tierpathogenilät  dieses  aus  dem  Liquor  cerebro¬ 
spinalis  rein  gezüchteten  Stammes  zu  prüfen,  wurden  sechs 
Oesen  der  Bazillen  (zweite  Passage  auf  Cohenschen  Agar) 
in  zirka  2  cm3  steriler  1%  NaCl  -  Lösung  aufgeschwemmt, 
so  daß  sie  eine  homogene  Emulsion  bildeten;  diese  wurde 
dem  Kaninchen  Nr.  187  (Gewicht  zirka  1000  g)  intravenös 
injiziert.  Parallel  wird  eine  Maus  mit  gleichartiger  Emulsion 
von  drei  Oesen  in  0-5  cm3  Kochsalz  intraperitoneal  geimpft. 
Kaninchen  und  Maus  sterben  nach  14  Stunden. 

Sektionsbefund  vom  Kaninchen  Nr.  187 : 

Im  Oavum  peritonei  eine  mäßige  Menge  von  leicht  trüber 
Flüssigkeit.  Im  Peritoneum  parietale  spärliche  kleine  Hämor- 
rhagien.  Das  Peritoneum  viscerale  zeigt  zahlreiche  punktförmige, 
stellenweise  konfluierende  Hämorrhagien,  namentlich  am  Cökiun 
und  Ileum. 

Im  Ausstrich  von  Blut  des  Kaninchens  Nr.  187  waren 
typische,  kurze  Grant-negative  influenzaähnliche  Stäbchen  in 
sehr  großer  Menge  nachweisbar.  Auch  in  den  Ausstrichen 
vom  Peritonealexsudat  waren,  wenn  auch  in  nicht  so  großer 
Menge,  gleichartige  Bakterien  zu  finden.  Aus  dem  Herzblut 
erhielten  wir  leicht  auf  Cohens  und  gewöhnlichem  Blut¬ 
agar  die  im  Ausstrich  nachgewiesenen  Bazillen  in  Reinkultur. 
In  einigen  Fällen  beobachteten  wir,  daß  die  Bakterien  im 
Tierkörper  (Kaninchen,  Maus)  eine  längliche  Form  annehmen, 
manchmal  auch  ziemlich  lange  Fäden  bilden.  Ein  Beispiel 
dieser  Formen  gibt  Fig.  3. 

Mit  drei  Kapillartropfen  des  Herzblutes  von  Kaninchen 
Nr.  187  wird  eine  Maus  intraperitoneal  geimpft  (Maus  I). 
Parallel  mit  ihr  erhält  eine  zweite  Maus  eine  Aufschwem¬ 
mung  von  drei  Oesen  Kultur  (Lumbalstamm,  dritte  Gene¬ 
ration,  Cohenscher  Agar)  ebenfalls  intraperitoneal  (Maus  II). 

Maus  I  stirbt  nach  weniger  als  12  Stunden. 

Maus  II  stirbt  nach  14  Stunden. 

Die  Sektion  der  Mäuse  ergibt  reichliches,  leicht  trübes 
Exsudat  im  Peritoneum^  starke  Hyperämie  der  Lungen  und 
bei  Maus  I  auch  ein  reichliches  Exsudat  in  beiden  Pleura¬ 
höhlen.  Die  Ausstriche  von  Blut,  Peritoneal-  und  Pleura¬ 
exsudat  und  Kulturen  auf  C  o  h  e  n  -  Agar  geben  positiven 
Bazillenbefund  (Reinkultur). 

In  den  Blutausstrichen  von  Maus  I  zahlreiche  lange 
Bazillenformen.  Die  erhaltenen  Reinkulturen  aus  dem  Blute 
von  Kaninchen  Nr.  187,  Maus  I  und  II  und  dem  Pleura¬ 
exsudat  von  Maus  I  wurden  auf  ihr  Wachstum  auf  gewöhn¬ 
lichen  und  hämoglobinhaltigen  Nährböden  geprüft.  Auf 
hämoglobinhaltigem  Agar  war  Idas  Wachstum  stets  üppig,  auf 
gewöhnlichem  Agar  wuchsen  die  Bakterien  niemals. 

Wir  bemühten  uns  noch  intra  vitam  den  Ausgangs¬ 
punkt  der  Infektion  festzustellen  und  untersuchten  das 
Nasen-  und  Rachensekret  auf  influenzaartige  Bakterien.  Es 
gelang  uns  auch  aus  dem  Nasensekret  die  gesuchten  Bak¬ 
terien  zu  isolieren  und  mit  denen  aus  der  Lumbalflüssigkeit 
gewonnenen  zu  identizieren. 

Obduktionsbefund;  zwei  “Stunden  post  mortem  (Obduzent: 
Dr.  Pra§ek): 

Die  Leptomenir.gen  eitrig  infiltriert  „u.  zw.  derart,  daß  an 
der  Basis  in  der  Umgebung  von  Chiasma,  Medulla  und  Unteir- 
wurm  große  Mengen  eines  starren,  grünlic'ligelben  Exsudates  ein¬ 
gelagert  sind.  Im  übrigen  finden  sich  an  der  Basis  des  Stirn¬ 
lappens  eigenartige,  scharf  umschriebene,  fleckig  angeordnete  Ex¬ 
sudatmassen  und  in  derselben  Anordnung,  wenn  auch  zum  Teil 
konfluierend,  präsentiert  sich  das  den  größten  Teil  der  Lepto- 
meningen  der  vorderen  Hälfte  des  Gehirns  inklusive  des  Hirn¬ 
spaltes  einnehmende,  hier  mehr  gelb  gefärbte  Exsudat.  Die  er¬ 
wähnte  umschriebene  Ablagerung  des  Exsudates  spricht  sich  hier 
dadurch  aus,  daß  innerhalb  der  flächenhaft  ausgebreiteten  Exsudat¬ 
massen  scharf  umschriebene  Stellen  frei  geblieben  sind.  Nach 
hinten  zu  demarkiert  sich  die  Eiterablagerung  ziemlich  scharf  in 
einer  Linie,  die  etwa  den  Zentralwindungen  entspricht,  so  daß 
die  Meningen  der  hinteren  Anteile  der  Hemisphären  zwar  hyper¬ 
ämisch,  aber  nicht  eitrig  infiltriert  sind.  Im  Längsblutlei  tea*  be¬ 
findet  sieb  ein  lockerer,  teils  schwarz,  teils  grauroter  Thrombus, 
in  den  Pialvenen  heller  rote  Thromben.  Die  Thromben  haften 
den  Gefäßwänden  nicht  an.  Der  Thrombus  des  Sinus  ist  zentral 
zum  Teil  in  eine  rötlichgraue,  dickliche  Flüssigkeit  umgewandelt. 
Die  Thrombose  erstreckt  sich  auch  auf  die  Vena  magna..  Der  ab¬ 
fließende  Liquor  ist  ziemlich  stark  getrübt.  Die  Ventrikel  sind  »mäßig 


erweitert,  die  Wandungen,  namentlich  entsprechend  den  Hinter¬ 
hörnero,  stark  erweicht ;  im  Mark  der  Hemisphären,  besonders  aber 
der  Sehhügel,  befinden  sich  punktförmige  Blutungen.  Die  Rinden¬ 
substanz  ist  allenthalben  hyperämisch,  das  Hemisphärenmark  und 
die  Stammganglien  sind  weich  und  stark  durchfeuchtet.  Im.  Dural¬ 
sack,  besonders  reichlich  in  der  Geigend  der  Cauda  equina  des 
Rückenmarkes,  befindet  sich  reichliches,  dickes,  grüngelbes, 
eitriges  Exsudat.  Die  Leptomeningen  sind  hyperämisch. 

In  den  Halsorganen  mit  Ausnahme  von  geringer  Schwellung 
der  lymphatischen  Apparate  des  Zungengrundes  und  der  Tonsillen 
keine  auffallende  Veränderung.  In  den  Lungen  kleine  lobulär- 
pneumonische  Herde  in  den  Unterlappen  und  in  den  hinteren 
Partien  des  rechten  Ober  lap  pens.  Aus  den  Durchschnitten  aller 
kleinen  Bronchien  entleert  sich  dicker,  weißer  Eiter.  Die  Milz 
ist  mäßig  vergrößert:  7X4X2-8  cm.  Die  Pulpa  fest,  graurot,  nicht 
vorquellend,  die  Follikel  deutlich  sichtbar.  Das  Herzfleisch  blaß, 
gelbrot.  Die  Klappen  ohne  Abnormitäten.  Leber  leicht  geschwellt, 
Zeichnung  etwas  verwischt,  Färbe  rötlichgrau  bis  rötlichgelb. 

Die  Nieren  embryonal  gelappt,  von  heller,  graugelber  Farbe, 
guter  Konsistenz. 

Magenschleimhaut  blaß.  Die  Schleimhaut  des  Colon  ascen- 
dens  leicht  geschwellt  und  gerötet. 

Sektion  der  Nasenhöhle  (Freilegung  nach  Hecker): 

Die  Nasenmuscheln  und  die  Schleimhaut  des  Septums,  be¬ 
sonders  linkerseits  vielfach  mit  gelbem  geronnenem»  Exsudate 
bedeckt.  Die  Schleimhaut  blaß. 

Untersuchung  des  Sektionsmateriales: 

Meningealeiter:  Ausstrich  nach  Gram  gefärbt, 
Nachfärbung  mit  Karbolfuchsin  1:10. 

Zwischen  Fibrinfäden  reichliche  Leukozyten,  sehr  zahl¬ 
reiche,  Gram-negative,  kurze  Bakterien  vom  Typus  der  In¬ 
fluenza.  Einige  intrazellulär  gelagert. 

Naseneiter:  Ausstrich  wie  oben  gefärbt :  reichliche 
Pseudodiphtheriebazillen  neben  Gram  -  negativen  und  Gram¬ 
positiven  Kokken;  diese  sind  teilweise  Diplokokken.  Da¬ 
neben  in  ziemlich  großer  Zahl  Gram  -  negative,  kleine 
Stäbchen,  die  dem  Influenzabazillus  ähnlich  sind. 

Ausstriche  von  Bronchialeiter  und  dem  Gewebs- 
saft  der  lobulärpneumonischen  Herde:  Gram- 
positive  Diplokokken,  teils  Von  Typus  des  Diplococcus  lan- 
ceolatus,  Gram  -  negative  Diplokokken,  relativ  spärliche  in¬ 
fluenzaartige  Stäbchen. 

Kulturelle  Untersuchung: 

Meningealeiter:  Auf  Cohenschem  Nährboden 
nach  24  Stunden  Reinkultur  von  influenzaartigen  Mikro¬ 
organismen. 

Nas'eneiter:  Neben  zahlreichen  Staphylokokken¬ 
kolonien  wachsen  auf  hämoglobinhaltigen  Nährböden  kleine, 
sehr  zarte  Kolonien  die  teilweise  aus  dem  Diplococcus  lan- 
ceolatus,  teilweise  aus  influenzaartigen  Stäbchen  bestehen. 
Diese  konnten  rein  auf  Cohenschen  Nährböden  gezüchtet 
werden,  auf  gewöhnlichem  Agar  wuchsen  sie  nicht.  Ein 
gleiches  Ergebnis  hatten  wir  bei  der  Kultur  des  Bronchial¬ 
eiters.  Einen  positiven  Befund  ergab  auch  die  Kultur  des 
bei  der  Sektion  steril  aus  dem  Herzen  entnommenen 
Blutes:  Dieses  wurde  auf  Cohen  schem  Agar  (zirka  1  cm3 
Blut  auf  eine  Platte)  ausgestrichen. 

Nach  24  Stunden  entwickeln  sich  in  nicht  sehr  großer 
Menge,  jedoch  ausschließlich  durchscheinende,  zarte,  scharf 
begrenzte  Kolonien,  die  aus  influenzaartigen  Bakterien  be¬ 
stehen. 

Die  Platten,  auf  denen  Milzpulpa  in  geringer  Menge 
angestrichen  wurde,  blieben  steril. 

Die  Stämme,  die  aus  dem  Naseneit.er  und  dem1  Herzblut 
reingezüchtet  wurden,  prüften  wir  auf  die  Tierpathogenität. 

Stamm  Naseneiter,  dritte  Goneration  auf 
Cohen-Agar:  Kaninchen  Nr.  117  (zirka  1000  g  schwer) 
erhält  sechs  Oesen  Kultur  in  2  cm3  Kochsalzlösung  intra¬ 
venös.  Tod  nach  sechs  Stunden.  Im  Herzblut  eine  sehr 
große  Menge  Gram  -  negativer,  kleiner  Bazillen.  Die  Lunge 
hochgradig  hyperämisch. 

Blutstamm  zweite  Generation  auf  Cohen- 
Agar:  Dem  Kaninchen  Nr.  159  (zirka  1000  g  schwer)  wurde 
nur  eine  Oese  in  1  cm3  Kochsalzlösung  intravenös  injiziert. 
Das  Tier  verendete,  der  kleinen  %  inijzierten  Menge  ent¬ 
sprechend  nach  sieben  Tagen.  Im  Herzblut  mikroskopisch 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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und  kulturell  ausschließlich  und  in  großer  Menge  influenza¬ 
artige  Bazillen.  Reichliche  Mengen  eines  serösen  Exsudates 
in  allen  serösen  Höhlen. 

Die  Kultur  aus  dem  Pleuraexsudat  ergab  den  erwähnten 
Bazillus  in  Reinkultur. 


F'g-  !•  Fig.  2.  Fig.  3. 


Histologische  Untersuchung  der  Schnitte: 

Gehirn:  Die  inneren  Hirnhäute  sind  von  fibrinös¬ 
eitrigen  Exsudatmassen  durchsetzt.  Das  Fibrinnetz  enthält 
in  seinen  Maschenräumen  reichliche  Mengen  polynukleärer 
Leukozyten,  die  größtenteils  zerfallen  sind. 

Die  Blutgefäße  der  Leptomeningen  sind  stark  er¬ 
weitert  und  prall  gefüllt. 

In  den  Schnitten,  die  nach  der  P  f  e  i  f  f  e  r  sehen  Methode 
gefärbt  sind,  findet  man  eine  große  Anzahl  kleiner,  stellen¬ 
weise  etwas  längerer  Stäbchen  die  häufig  intrazellulär  liegen. 

Nasenschleimhaut:  Das  Epithel  leicht  aufge¬ 
lockert,  stellenweise  stark  verschleimt.  Das  subepitheliale 
Bindegewebe  von  Leukozyten  durchsetzt.  Die  Blutgefäße 
stark  gefüllt.  Bei  der  Färbung  der  Schnitte  nach  der 
Pfeifferschen  Methode  ließen  sich,  wenn  auch  spärliche, 
mfluenzaartige  Bazillen  nachweisen.  In  Schnitten  nach 
Gram  färbten  sie  sich  nicht. 

Die  Lunge  zeigt  das  Bild  der  Bronchopneumonie 
mit  vorwiegend  eitriger  Exsudation.  Die  zentralen  Partien 
der  Herde  und  die  Septa  sind  eitrig  eingeschmolzen. 

Das  Epithel  der  Bronchien  stellenweise  fehlend,  stark 
gelockert,  das  Lumen  der  Bronchien  an  vielen  Stellen  Voll¬ 
gefüllt  mit  polynukleären  Leukozyten.  Auch  hier  waren 
bei  der  Bakterienschnittfärbung  influenzaähnliche  Stäbchen 
neben  zahlreichen  anderen  Bakterien  zu  finden. 

Es  handelt  sich  also  in  dem  von  uns  beobachteten  Fälle' 
um  eine  eitrige  Meningitis,  bedingt  durch  ein  dem  fnfluenza- 
bazillus  ähnliches  Stäbchen,  das  sich  vom  Pfeifferschen 
Influenzabazillus  namentlich  durch  seine  tierpathogenen 
Eigenschaften  unterscheidet.  Wie  Cohen  auf  Grund  eines 
f  alles,  bei  dem  gleichzeitig  ein  Empyem  der  Hyghmorshöhle 
\  oi hand en  war,  annimmt,  dürfte  wohl  die  Eintrittspforte 
der  Infektion  sich  in  den  oberen  Respirationsorganen  be¬ 
finden.  Auch  unsere  Beobachtungen  sprechen  für  diese 
Annahme;  u.  zw.  der  Nachweis  und  die  Reinzüchtung  des 
Bazillus  aus  dem  Nasensekret  intra  vitam,  der  Sektions¬ 
befund  der  Nasenhöhle  und  endlich  der  klinische  Verlauf. 

Daß  die  Pneumonie  den  Ausgangspunkt  gebildet  hätte 
ist  wenig  wahrscheinlich,  da  sie  erst  später  bei  bereits  voll 
ausgeprägten  und  schon  einige  Tage  bestehenden  Sym¬ 
ptomen  der  Meningitis  hinzugetreten  ist. 

Auch  war  die  größere  Bazillenzahl  im  Nasensekret 
auffallend  gegen  die  viel  kleinere  Menge  im  Bronchialsekret. 
Diesen  Infektionsmodus  kann  man  mit  dem  bei  der  epide¬ 
mischen  Genickstarre  ausführlich  studierten  in  Analogie 
bringen,  um  so  mehr,  als  es  sich  in  den  von  Cohen  und 
uns  beobachteten  Fällen  immer  und  bei  den  früher  als 
Influenzameningitis  beschriebenen  Affektionen  in  über¬ 
wiegender  Anzahl  um  Kinder  gehandelt  hat.4) 

•  w4r.e  ^aher  angezeigt,  zur  Stütze  dieser  Annahme 
bei  Meningitisfällen  die  durch  den  erwähnten  Bazillus  be- 

Wochelhr0 Ä  A""-  l>a5,e"r’  '•  C’;  VgL  *»*  G  h  °  »•  I 


dingt,  sind,  auch  in  der  Umgebung  des  Kranken  nach  diesem 
Erreger  in  der  Nasenschleimhaut  zu  fahnden. 

Wie  Cohen  annimmt,  ist  es  nicht  unwahrscheinlich, 
daß  zum  mindesten  ein  Teil  der  früher  als  Influenzamenin¬ 
gitis  beschriebenen  Fälle  durch  den  Cohen  sehen  Bazillus 
bedingt  war.  Unserer  Ansicht  nach  sollte  auch  in 
anderen  Fällen  von  anscheinend  durch  Influenzabazillen 
bedingten  Eiterungen  auf  die  von  Cohen  angegebenen 
Kriterien  geprüft  werden.  Inwieweit  die  Tierpathogenität 
ausreicht,  den  Cohen  sehen  Bazillus  völlig  vom  Influenza¬ 
bazillus  abzutrennen,  muß  weiteren  Untersuchungen  Vor¬ 
behalten  werden,  die  sich  in  erster  Linie  auf  die  Unter¬ 
suchung  zahlreicher,  bei  gewöhnlichen  Influenzaaffektionen 
gefundener  Bazillenstämme,  auf  ihre  Tierpathogenität  und 
ihr  Verhalten  bei  der  Agglutination  erstrecken  sollten. 


Ueber  die  konservative  Behandlung  kalter 

Abszesse. 

Von  Dr.  Emil  Q.  Reck,  Chirurg  am  North  Chicago  Hospital. 

(Hiezu  eine  Tafel.) 

Die  meisten  Chirurgen  sind  der  Ansicht,  daß  ein  kalter 
Abszeß  womöglich  nicht  eröffnet  oder  drainiert  werden  soll. 
Solange  derselbe  uneröffnet  bleibt,  ist  er  verhältnismäßig 
harmlos,  wenn  er  eröffnet  ist,  wird  er  sofort  eine  Quelle 
der  Gefahr:  Sekundäre  Infektion  ist  die  fast  regelmäßige 
folge,  Sepsis  und  Tod  keine  Seltenheit.  Durch  keinerlei 
Behandlungsmethode  des  einmal  eröffneten  Abszesses  kann, 
diese  Gefahr  beseitigt  werden.  Entsprechend  den  jeweilig 
herrschenden  Ansichten  über  die  Pathologie  des  kalten  Ab¬ 
szesses  wechselten  im  letzten  Jahrhundert  auch  die  Me¬ 
thoden,  nach  welchen  derselbe  behandelt  wurde.  In  der  vor- 
antiseptischen  Zeit  war  die  Behandlung  natürlich  irrationell. 
Dupuytren,  Larrey  u.  a.  eröffneten  noch  mit  großen 
Inzisionen  die  kalten  Abszesse,  aber  schon  David  war  ein 
Gegner  dieser  Art  der  Behandlung;  er  schreibt:  „Ich  habe 
immer  beobachtet,  Idaß  Patienten  sterben,  welchen  man 
einen  kalten  Abszeß  eröffnet.“  Die  Sterblichkeit  bei  Hüft¬ 
gelenks-  und  Wirbelkaries  betrug  nach  Follin  zu  jener 
Zeit  ca.  60%  bis  70%.  Nach  unseren  heutigen  Erfah¬ 
rungen  weiß  man,  daß,  diese  hohe  Sterblichkeit  auf  unvoll- 
kommener  Immobilisierung,  schlechter  Hygiene  und  Sekun¬ 
därinfektion  zurückzuführen  ist. 

Mit  der  Einführung  der  Asepsis  auch  in  der  Behandlung 
der  Gelenks-  und  Knochentuberkulose  durch  Männer,  wie 
K  ö  n  i  g  und  Lannelongu  e,  erhielt  die  Indikationsstellung 
zu  chirurgischen  Eingriffen  bei  diesem  Leiden  eine  gewal¬ 
tige  Erweiterung  und  Umgestaltung. 

L  an nelongue  zeigte,  daß  der  kalte  Abszeß  die  Folge 
<  inei  primären  tuberkulösen  Infektion  ist  und  Vertrat  daher 
die  Idee  der  frühzeitigen  radikalen  Entfernung  des 
primären  Herdes.  Dies  war  gewiß  an  sich  eine  rationelle 
Behandlung,  doch  gab  es  eine  erschreckend  große  Anzahl 
\  on  Todesfällen  an  Shock  im  Anschluß  an  ausgedehnte  Re¬ 
sektionen  der  Hüfte  und  Wirbel;  die  überlebenden  Fälle 
aber  boten  infolge  der  resultierenden  Deformität  ein  trauriges 
Bild  der  Verstümmelung. 

Ls  ist  darum  begreiflich,  wenn  diese  Methode  bald 
an  Popularität  Verlor  und  vor  einer  viel  weniger  radikalen 
zurückweichen  mußte.  Man  beschränkte  die  Behandlung 
allein  auf  die  Abszesse,  die  Knochenaffektion  aber,  von 
welcher  diese  ausgingen,  ignorierte  man.  Es  wurde  mit 
anscheinend  günstigem  Erfolge  das  Kürettement  oder  die 
Exzision  der  Abszeßwand  der  Entfernung  des  Eiters  ange¬ 
schlossen  und  mit  peinlichster  Beachtung  der  Asepsis  durch¬ 
geführt.  Die  Wunden  heilten  rasch  per  primam  und  die 
Kranken  genasen. 

Das  Urteil  der  Zeit  erschütterte  aber  die  Hoffnungen, 
welche  die  Verfechter  dieser  Methode  in  sie  gesetzt  hatten: 
die  Heilung  war  nur  selten  eine  dauernde. 

Die  Ui  Sache  der  Rezidiven  bei  dieser  halbradikalen 
Methode  ist  naheliegend,  wenn  man  folgende  Tatsachen  be¬ 
denkt:  Wir  wissen,  daß  der  Inhalt  eines  kalten  Abszesses 


Nr.  26 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


zwar  meist  steril  ist,  seine  Wandung  aber  lebende  Bakterien 
beherbergt.  Nun  ist  die  Abszeßwand  gleichzeitig  ein  Schutz¬ 
wall,  der  das  Ausbreiten  der  Keime  in  die  gesunde  Um¬ 
gebung  Verhindert  und  letztere  vor  der  Infektion  schützt. 
Kann  es  Ida  vorteilhaft  sein,  diese  natürliche  Barriere  nieder¬ 
zureißen  und  den  in  der  Abszeßwand  eingebetteten  und 
dadurch  relativ  unschädlichen  Bakterien  Tür  und  Tor  zu 
öffnen  ? 

Weiters:  Wenn  wir  auch  die  pyogene  Membran  des 
kalten  Abszesses  und  seine  ganze  Wand  entfernen,  bleibt 
doch  das  ursprüngliche  Leiden  bestehen ;  was  hätte  demnach 
die  Exzision  für  einen  Vorteil?  Ehe  der  primäre  Herd  nicht 
ausgeheilt  oder  wenigstens  die  Virulenz  der  Bakterien  wesent¬ 
lich  herabgesetzt  ist,  kann  das  Kürettement  oder  die  Exstir¬ 
pation  des  Abszesses  nur  von  geringem  Nutzen  sein. 

Tatsächlich  bestätigen  die  Erfahrungen  diese  Ueber- 
legung.  Die  momentanen  Erfolge  in  vielen  der  so  operierten 
Fälle  scheinen  ausgezeichnet  und  ohne  Zweifel  sind  auch 
einige  Dauerresultate  zu  verzeichnen.  Meist  aber  füllt  sich 
die  Abszeßhöhle  abermals  mit  Eiter  und  Detritus.  Die  Wunde 
öffnet  sich  wieder  und  in  der  Regel  kommt  eine  sekundäre 
Infektion  dazu.  Dieselbe  ist  zwar  selten  so  heftig,  daß  das 
Leben  des  Kranken  dadurch  bedroht  wird,  aber  der  Zustand 
wird  chronisch,  die  Eiterung  versiegt  nicht,  es  bilden  sich 
Fisteln. 

Diese  in  bezug  auf  den  Prozeß  allein  radikale  Methode 
wird  heute  nur  mehr  wenig  verwendet,  sie  ist  überholt  durch 
die  konservative  Behandlung  des  kalten  Abszesses, 
welche  darin  besteht,  demselben  die  Resorption  zu  er¬ 
leichtern.  Dies  geschieht  durch  vollkommene  Bettruhe,  Im¬ 
mobilisierung  der  erkrankten  Gelenke  und  schließlich  da¬ 
durch,  daß  man  dem  Kranken  alle  jene  Vorteile  angedeihen 
läßt,  welche  die  natürliche  Widerstandskraft  des  Organismus 
gegen  das  Leiden  zu  erhöhen  imstande  sind. 

Die  konservativen  orthopädischen  Chirurgen  haben  weit 
mehr  Geduld  mit  diesen  Fällen  als  die  aggressive,  ruhelose 
Generation  unserer  Gilde  und  sie  haben  zweifellos  Hunderte 
von  Kindern  durch  das  konservative  Verfahren  gerettet; 
freilich  hinkt  anderseits  wieder  mancher  Krüppel  mit  ewig 
eiternden  Fisteln  Von  Klinik  zu  Klinik,  dem  dieses  Elend 
hätte  erspart  bleiben  können,  wenn  er  zur  rechten  Zeit 
chirurgisch  behandelt  worden  wäre. 

C  a  1  o  t  gibt  zur  Behändlung  des  Abscessus  frigidus 
folgende  Regeln : 

1.  Es  ist  v  e  r  b  o  t  e  n,  Abszesse  zu  eröffnen,  wenn  diese 
nicht  leicht  erreichbar  sind;  in  diesen  Fällen  besteht  keine 
Gefahr  einer  etwaigen  spontanen  Ruptur. 

2.  Es  ist  erlaubt,  Abszesse  zu  öffnen,  die  leicht  er¬ 
reichbar  sind,  auch  wenn  keine  spontane  Ruptur  droht. 

3.  Es  ist  dringendePflich t,  Abszesse  zu  eröffnen, 
wenn  die  Gefahr  der  spontanen  Ruptur  besteht.  In  diesen 
Fällen  sind  sie  leicht  zugänglich. 

Die  Behandlung  besteht  in  der  Aspiration  des  Absze߬ 
inhaltes  und  darauffolgender  Injektion  einer  Substanz,  die 
eine  heilende  Wirkung  ausüben  soll. 

Ich  unterschreibe  ohne  weiteres  die  Sätze  1  und  3, 
kann  aber  Calots  zweiter  Regel  nicht  beipflichten,  da 
ich  der  Ueberzeugung  bin,  daß  hier  das  nichtoperative  Ver¬ 
fahren  so  lange  als  möglich  beibehalten  werden  soll.  So¬ 
lange  der  Patient  nur  geringe  Schmerzen  und  kein  hohes 
Fieber  hat,  trachte  man,  ohne  chirurgischen  Eingriff  aus¬ 
zukommen;  dabei  muß  aber  der  Abszeß  fortwährend  beob¬ 
achtet  werden,  um  im  Falle  einer  drohenden  Ruptur  sofort 
eröffnet  werden  zu  können.  Treten  Symptome  von  Pyrexie 
auf  oder  nimmt  das  Allgemeinbefinden  des  Kranken  konti¬ 
nuierlich  ab,  dann  hat  man  Grund,  anzunehmen,  daß  der 
Abszeß  reinen  Eiter  enthält  und  darf  nicht  nur,  sondern 
soll  inzidieren.  Der  Eingriff  selbst  soll  nicht  zu  radikal 
sein,  Kürettement  oder  Irrigation  der  Abszeßhöhle  ist  nicht 
angezeigt.  Man  aspiriere  den  Eiter  und  injiziere  hierauf 
eine  leicht  antiseptische  Lösung.  Dieses  Verfahren  wird 
heute  ziemlich  allgemein  angewandt  und  wurden  die  ver¬ 


schiedensten  Mittel  Verwendet  mit  ziemlich  gleich  günstigen 
Resultaten. 

So  injizierte  man  Silbernitrat,  Jodtinktur,  Alkohol,  Subli¬ 
mat,  Milchsäure,  Aether,  Jodoform,  Kampfer  -  Naphthol, 
Trypsin,  Guajakol,  Formalin,  verschiedene  Sera  und  noch 
manch  andere  Mittel.  Außer  dem  Jodoform-Glyzerin  und 
Kampfer-Naphthol  wurde  in  letzter  Zeit  vielfach  die  von 
Calo  t  empfohlene  Mischung  (Ol.  olivar.  50,  Aether  sulf.  50, 
Kreosot  2,  Jodoform  5)  und  Murphys  2°/oige  Formalin- 
Glyzerinlösung  mit  gutem  Erfolg  verwendet. 

Einige  Chirurgen  vermeiden  die  Injektion  von  ent¬ 
leerten  Abszessen  und  behaupten,  gute  Erfolge  auch  mit 
der  einfachen  Aspiration  zu  haben;  sie  wiederholen  dieselbe 
so  oft,  als  sich  der  Abszeß  wieder  füllt  (G  a  n  g  o  1  p  h  e).  Diese 
einfache  Aspiration  läßt  sich  mit  der  Punktion  von  tuber¬ 
kulösen  Pleuraexsudaten  vergleichen;  sie  heilt  selten  das 
Grundleiden,  bringt  aber  dem  Kranken  temporäre  Erleichte¬ 
rung.  Aber  die  Notwendigkeit  öfterer  Wiederholung  der  Aspi¬ 
ration  birgt  in  sich  die  Gefahr  der  Sekundärinfektion,  welche 
durch  die  Injektion  desinfizierender  Lösungen  wesentlich 
verringert  wird. 

Im  Januar  1908  prüfte  ich  den  Wert  der  Wismut¬ 
pasta  als  fäulniswidrige  Substanz  und  da  mir  dieses  Mittel 
auch  bei  der  Behandlung  kalter  Abszesse  gute  Dienste  xu 
leisten  schien,  verwendete  ich  es  seither  in  einer  großen 
Anzahl  von  Fällen.  Jetzt,  nach  Ablauf  von  mehr  als  drei 
Jahren,  zögere  ich  nicht,  dasselbe  als  eine  wertvolle  Be¬ 
reicherung  unserer  therapeutischen  Mittel  zur  Behandlung 
der  kalten  Abszesse  zu  empfehlen. 

Applikationsweise. 

Ist  ein  Abscessus  frigidus  nahe  der  spontanen  Perfora¬ 
tion,  so  wird  er  unter  Wahrung  der  Asepsis  durch  eine 
zirka  1  bis  2  cm  lange  Stichinzision  eröffnet  und  entleert, 
wobei  das  Kneten  und  Drücken  zu  vermeiden  ist.  Dann 
wird  durch  die  Inzisionswunde  eine  Menge  Von  h  ö  c  h- 
s  t  e  n  s  100  g  einer  10  %  i  g  e  n  Wismut-Vaselin¬ 
paste  injiziert,  die  Wunde  nicht  vernäht,  nicht  drainiert, 
leichte  Massage  über  der  ganzen  Abszeßgegend  unterstützt 
die  Ausbreitung  der  Paste  in  den  Buchten  und  Falten  der 
Höhle.  Ein  gut  sitzender  steriler  Gazeverband,  welcher  täg¬ 
lich  zu  wechseln  ist,  schützt  vor  Verunreinigung  und  Infek¬ 
tion.  Durch  die  nun  eintretende  allmähliche  Schrumpfung 
und  Retraktion  der  Abszeßmembran  werden  in  der  folgenden 
Zeit  kleine  Mengen  der  eingedickten  Paste  langsam  aus  der 
Inzisionswunde  herausgedrückt  und  abgestoßen,  ein  Vor¬ 
gang,  der  vielleicht  einen  Schutz  gegen  das  Eindringen  von 
Keimen  durch  die  Wunde  bietet.  Sammelt  sich  später  neben 
der  injizierten  Masse  doch  wieder  Eiter  an,  so  kann  derselbe 
durch  abermalige  Eröffnung  der  alten  Inzisionswunde  ab¬ 
gelassen  werden;  eine  Wiederholung  der  Wismutinjektion 
ist  nicht  nötig.  Ich  machte  den  ersten  Versuch  mit  dieser 
Behandlungsmethode  am  17.  Januar  1908  am  North  Chicago 
Hospital  an  einem  2V2jährigen  Knaben,  der  einen  tuber¬ 
kulösen  Abszeß  ungefähr  in  der  Mitte  der  Tibia  hatte.  Durch 
eine  einzige  Injektion  war  derselbe  innerhalb  einer  Woche 
verödet  und  blieb  geschlossen.  Dieses  günstige  Resultat  er¬ 
mutigte  mich,  die  gleiche  Behandlung  bei  folgendem  Falle 
zu  versuchen : 

Ein  Knabe  von  RA  Jahren  hatte  einen  großen  Psoasabszeß, 
der  über  das  Poupartsche  Band  reichte  und  auf  seiner  Höhe 
einen  erweichten  Bezirk  aufwies.  Ich  entleerte  aus  demselben 
DA  Liter  Eiter  und  injizierte  120  g  einer  10%igen  Wismutpaste. 
Während  früher  hohe  Temperaturen  bestanden,  blieb  Patient  von 
der  Injektion  an  fieberfrei.  Die  Wunde  schloß  sich  nach  vier 
Tagen,  wurde  aber,  da  sich  abermals  Eiter  angesammelt  hatte, 
drei  Tage  später  wieder  eröffnet,  das  Sekret  entleert  und  diesmal 
60g  einer  33°/oigen  Wismut- VaselinpjLste  injiziert.  Drei  Tage 
später  war  die  Inzisionsöffnung  wieder  geschlossen  und  blieb 
es ;  von  da  ab  besserte  sich  das  Befinden  des  Patienten  rasch. 
(Fig.  1)  illustriert  die  Ausdehnung  des  Abszesses  nach  der  Wismut¬ 
injektion. 

Ein  anderer  Fall:  lSjähriger  Patient,  hatte  im  Alter  von 
acht  Jahren  wegen  Kniegelenkstuberkulose  eine  Operation  durch- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


gemacht,  die  zur  Heilung  mit  starker  Verkürzung  des  Beines 

geführt  hatte. 

Seither  war  der  Patient  anscheinend  gesund,  bis  vor  vier 
Monaten,  da  sich  eine  Schwellung  im  Bereiche  des  linken  Ell¬ 
bogens  zu  bilden  begann.  Dieselbe  wurde  anfangs  als  Rheuma¬ 
tismus  angesprochen,  vergrößerte  sich  aber  und  führte  zur  Sper¬ 
rung  des  Gelenkes. 

Ich  fand  im  Bereiche  des  Ellbogens  drei  fluktuierende  Be¬ 
zirke,  welche  ich  an  den  weichsten  Stellen  inzidierte  und  mit 
33°/oiger  Wismutpaste  injizierte.  Ich  benützte  in  dem  Falle  die 
stärkere  Lösung  (sonst  meist  eine  10°/oige),  weil  die  gebrauchten 
Quantitäten  nur  klein  waren.  Das  nach  der  Injektion  aufge¬ 
nommene  Radiogramm  (Tafel,  Fig.  2)  zeigt  deutlich  die  Aus¬ 
dehnung  jedes  Abszesses  und  bestätigt  die  Tatsache,  daß  die¬ 
selben  untereinander  nicht  kommunizieren,  doch  hatten  sie  alle 
ihren  Ursprung  in  einem  tuberkulösen  Herde  am  Condylus  externus 
humeri. 

Schon  24  Stunden  nach  der  Injektion  wurde  das  ursprüng¬ 
lich  flockige  Sekret  klar  und  serös  und  versiegte  allmählich 
vollkommen.  Die  Schwellung  im  Ellbogen  ging  zurück,  das  Gelenk 
erhielt  wieder  seine  normale  Konfiguration  und  heilte  —  aller¬ 
dings  mit  eingeschränkter  Beweglichkeit  —  vollkommen  aus. 

Seit  jener  Zeit  habe  ich  diese  Methode,  kalte  Abszesse 
zu  behandeln,  an  fast  allen  Körperteilen  angewendet,  dieselbe 
auch  auf  eiternde  Lymphdrüsen  und  pararektale  Abszesse 
ausgedehnt  und  niemals  eine  Sekundärinfektion  oder  eine 
höhere  Temperatursteigerung  daraufhin  beobachtet. 

Und  was  die  Heiiresultate  betrifft,  wurden  meine  Er¬ 
wartungen  übertroffen:  Von  den  nächsten  26  Patienten, 
welche  ich  auf  diese  Art  behandelte,  heilten  alle  aus  bis 
auf  einen,  bei  welchem  die  Fistel  bestehen  blieb  (schwerer 
Fall  von  Koxitis).  Seither  behandle  ich  keinen  kalten  Abszeß 
mehr  mit  der  einfachen  Aspiration,  sondern  verwende  in 
jedem  Falle  die  Wismutinjektion.  Meine  Methode  wurde  von 
anderen  Chirurgen  bald  aufgegriffen  und  bereits  im  Juni 
1909  berichteten  R  id  Ion  und  Blanchard  über  acht 
Fälle,  die  erfolgreich  mit  Wismut  behandelt  worden  waren. 

.  Legt  man  sich  die  Frage  vor:  Warum  sind  die  Chi¬ 
rurgen  im  Laufe  der  Jahre  von  den  verschiedenen  Injek¬ 
tionsmitteln  immer  wieder  abgekommen,  warum  werden  stets 
neue  Lösungen  zur  Einspritzung  in  kalte  Abszesse  vorge¬ 
schlagen,  wo  doch  die  Erfolge  ziemlich  gleich  günstig  waren, 
so  ist  die  Antwort  leicht  darin  zu  finden,  daß  man  die  jedem 
der  angewendeten  Mittel  anhaftenden  Mängel  (giftige,  rei¬ 
zende  oder  schmerzende  Nebenwirkung)  zu  beseitigen  trach¬ 
tete,  bzw.  bestrebt  war,  eine  in  erster  Linie  desinfizierende 
Substanz  zu  finden,  welche  neben  den  gewünschten  Vor¬ 
zügen  möglichst  geringe  Nachteile  besitzt. 

Ich  habe  in  mehreren  100  Fällen  die  Wirkung  der 
Wismutpaste  auf  die  Sekretion  der  kalten  Abszesse  zyto- 
logisch  untersucht  und  habe  Beobachtungen  gemacht,  welche 
den  günstigen  Einfluß  dieses  Mittels  durchaus  erklärlich 
erscheinen  lassen.  Der  Inhalt  tuberkulöser  Abszesse  ist  in 
der  Regel  steril,  er  besteht  hauptsächlich  aus  Detritus,  zum 
geringeren  Teil  aus  weißen  Blutzellen. 

24  Stunden  nach  der  Injektion  von  Wismutpaste  findet 
man  im  Abszeßinhalt  eine  große  Menge  polymorphkerniger 
Leukozyten,  zugleich  mit  spärlichen  roten  Blutzellen,  meist 
eingebettet  in  einem  Netzwerk  fibrinöser  Fasern.  Diese  Ver¬ 
änderungen,  welche  auf  eine  entzündliche  Reaktion  zurück¬ 
zuführen  sind,  wurden  von  anderen  Autoren  nach  der  In¬ 
jektion  anderer  desinfizierender  Mittel  in  Abszeßhöhlen  eben¬ 
falls  beobachtet. 

Coyon  und  Fiesengen  haben  eine  Theorie  aufge¬ 
stellt,  nach  welcher  die  Einwirkung  der  verschiedenen  Lö¬ 
sungen  auf  den  Abszeßinhalt  auf  chemische  Vorgänge  zurück¬ 
zuführen  ist.  Sie  haben  gezeigt,  daß  in  den  Fällen,  wo  ein 
akuter  Abszeß  vorliegt,  ein  proteolytisches  Ferment  ent¬ 
steht,  analog  dem  tryp  tischen  Ferment  des  Pankreas,  welches 
Albumine  koaguliert  und  sie  in  Säuren  und  Peptone  verwan¬ 
delt.  Dieses  Ferment  bildet  sich  beim  Zerfall  der  polymorph¬ 
kernigen  Leukozyten. 

Im  Gegensatz  dazu  fehlt  das  proteolytische  Ferment  in 
tuberkulösen  Abszessen  infolge  des  Umstandes,  daß  hier  auch 
keine  polymorphkernigen  Leukozyten  vorhanden  sind.  Diese 


treten  jedoch  auf,  wenn  eine  jener  desinfizierenden  Lösun¬ 
gen  mit  der  Abszeßwand  in  Kontakt  tritt. 

Bald  nach  der  Entdeckung  des  Tuberkelbazillus  wurde 
angenommen,  daß  die  heilende  Wirkung  desinfizierender 
Injektionen  nur  den  antiseptischen  Kräften  der  gebrauchten 
Mittel  zuzuschreiben  sei.  Demgegenüber  fand  man,  daß 
einige  dieser  Substanzen  in  vitro  eine  nur  sehr  geringe 
bakterizide  Kraft  haben,  während  ihre  Wirkung  auf  die 
im  Abszeß  des  lebenden  Körpers  florierenden  Bakterien  eine 
sehr  mächtige  ist.  Am  deutlichsten  läßt  sich  diese  Erschei¬ 
nung  am  Jodoform  beobachten,  dessen  Einfluß  auf  das 
Wachstum  der  Bakterien  außerhalb  des  Körpers  nur  sehr 
gering  ist,  das  aber  im  lebenden  Gewebe,  insbesondere  gegen¬ 
über  den  Tuberkelbazillen  eine  stark  wachstumhemmende 
Wirkung  ausübt.  Auch  der  bakterizide  Einfluß  der  Wisrnut- 
paste  beruht  nicht  auf  seiner  antiseptischen  Kraft,  sondern 
auf  dem  Prinzip,  das  allen  diesen  Substanzen  und  Lösungen 
zukommt :  die  Erzeugung  einer  Leukozytose.  Es 
hat  demnach  auch  das  Wismut  eine  chemotaktische  Wir¬ 
kung,  ist  also  indirekt  für  die  Phagozytose  verantwortlich 
zu  machen. 

folgendes  sind  die  Vorteile  der  Wismutpaste  gegen¬ 
über  anderen  desinfizierenden  Lösungen: 

Ich  vermeide  den  Troikart,  entleere  den  Abszeß  stets  mit 
einer  Inzision;  zunächst  deshalb,  weil  die  Gefahr,  den  Abszeß 
zu  verfehlen  oder  darunter  liegende  Organe  zu  verletzen,  geringer 
ist.  Ferner  können  etwa  vorhandene  größere  Fibrinflocken  oder 
Gewebsfetzen  durch  eine  Inzisionsöffnung  leichter  nach  außen 
gelangen,  während  sie  den  Troikart  verstopfen. 

1.  Die  dicke  Konsistenz  der  Paste  gestattet,  dem  noch 
vorhandenen  oder  sich  wieder  bildenden  Sekret  der  Abzeß- 
wand  entlang  den  Ausweg  zu  finden,  verhindert  aber  (di© 
sekundäre  Infektion  von  außen. 

2.  Injektionen  mit  anderen  desinfizierenden  Lösungen 
müssen  in  der  Regel  wiederholt  werden,  während  eine  ein¬ 
malige  Wismutinjektion  meist  ausreicht,  den  Abszeß  zur 
Ausheilung  zu  bringen. 

d.  Die  Wismutinjektion  ist  weder  schmerzhaft,  noch 
reizend.  Die  Paste  wird  in  warmem  halbflüssigen  Zustand 
eingespritzt  und  bleibt  lange  in  Kontakt  mit  der  Abszeßwand. 
Die  Gefahr  einer  Vergiftung  mit  Wismut  ist  nur  gering,  jeden¬ 
falls  nicht  größer  als  jene  mit  Jodoform.1)  Das  Vaseline,  in 
welchem  die  wirksame  Substanz  suspendiert  ist,  mazeriert 
die  Abszeßwand  nicht. 

Diese  Vorteile  und  die  praktischen  Resultate,  welche 
bei  Anwendung  der  Wismutpaste  zur  Behandlung  des  kalten 
Abszesses  erzielt  wurden,  lassen  die  Frage  aufkommen: 
V  arum  kann  das  Mittel  nicht  zu  intraartikulären  Injektionen 
(analog  der  Jodoform  emulsion)  verwendet  werden?  Ich  habe 
dies  auch  in  mehreren  Fällen  versucht,  wurde  aber  später 
sehr  vorsichtig  und  zurückhaltend,  nachdem  ich  einen  Mi߬ 
erfolg  erlebt  hatte  (B  e  c  k.  Transactions  of  6.  internat.  Con¬ 
gress  on  Tuberculosis,  V.,  IT). 

In  letzter  Zeit  habe  ich  die  Wismutinjektion  in  tuber¬ 
kulöse  Gelenke  wieder  aufgegriffen,  doch  wäre  es  verfrüht, 
aus  meinen  diesbezüglichen  Erfahrungen  Schlüsse  zu  ziehen. 
Erst  wenn  ich  über  eine  größere  Reihe  von  Beobachtungen 
und  günstigen  Erfolgen  berichten  kann,  werde  ich  auch  die 
intraartikuläre  Wismutinjektion  empfehlen  können. 


Aus  der  chirurgischen  Abteilung  des  städtischen 
Krankenhauses  in  Graz. 

(Vorstand:  Priv.-Doz.  Dr.  Hertle.) 

Zur  Chirurgie  des  Choledochuskrebses. 

Von  Dr.  Spin <11  er,  Assistenten. 

Die  primären  Karzinome  der  großen  Gallengänge  ge¬ 
hörten  bis  vor  wenigen  Jahren  wohl  mehr  in  das  Gebiet  der 
pathologischen  Anatomen  als  in  das  der  Chirurgen  und 
selbst  Kehr  war  einst  der  Ansicht,  man  solle  bei  Tumor- 
okklusion  der  Gallengänge  die  Operation  möglichst  ein- 

9  cf.,  Sitzungsprolokoll,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1911,  Nr.  19. 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


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schränken,  da  der  Erfolg  doch  mangelhaft  sei  und  dadurch 
leicht  die  Gallensteinchirurgie  in  Mißkredit  komme.1) 

Doch  bald  verwarf  Kehr  diese  Ansicht,  als  er  ein- 
sehen  gelernt  hatte,  daß  die  chronische  Pankreatitis,  ein 
dankbares  Objekt  der  chirurgischen  Therapie,  dieselben  Er¬ 
scheinungen  machen  kann,  wie  ein  Krebs  dieser  Gegend  und 
der  erste  u.  zw.  von  ihm  durch  Resektion  des  krebsigen; 
Ductus  choledochus  radikal  operierte  Fall,  rechtfertigte  diese 
Ansichtsänderung  in  jeder  Beziehung. 

Trotzdem  ist  bisher  Kehrs  Fall  ziemlich  vereinzelt 
geblieben  und  Publikationen  ähnlicher,  wenn  auch  nicht 
geheilter  Fälle,  sind  nur  hie  und  da  aufgetaucht,  ein  Um¬ 
stand,  der  wohl  ebenso  wohlbegründet  im  Wesen  der  Er¬ 
krankung  als  in  der  diagnostischen  Beurteilung  und  schwie¬ 
rigen  operativen  Technik  zu  suchen  ist. 

Wie  die  meisten  Karzinome  innerhalb  der  von  ihnen 
ergriffenen  Organe  besondere  Prädilektionsstellen  haben,  so 
gilt  dies  auch  von  den  Gallengangkarzinomen;  und  diese 
typischen  Lokalisationen  in  Verbindung  mit  der  jeweils  ver¬ 
schiedenen  chirurgischen  Technik  führten  zu  einer  Trennung 
der  Gallengangkrebse,  in  solche,  welche  dem  Ductus  chole¬ 
dochus  in  seinem  duodenalen  Anteil  (Papilla  Vateri)  ange¬ 
hören  (und  vielfach  zu  den  Darmkrebsen  gerechnet  werden) 
und  solche  im  zentralen  Anteil  des  Choledochus  und  an 
den  übrigen  Gallengängen,  Karzinome  im  sogenannten  freien 
Teile  der  Gallengänge,  deren  Prädilektionsstelle  wieder  ins- 
besonders  die  Teilungsstelle  der  drei  Gallengänge  ist.2)  (ln 
Uebereinstimmung  mit  dem  allgemeinen  Auftreten  der  Kar¬ 
zinome  an  Uebergangs-  und  Teilungsstellen.) 

Zur  zweiten  Gruppe  gehört  nun  ebenso  wie  der  K  e  h  r- 
sche,  auch  der  von  mir  zu  besprechende  Fall,  zu  dessen 
Mitteilung  uns  einerseits  die  Seltenheit  eines  operierten 
Choledochuskarzinomes  an  sich,  anderseits  aber  der  Um¬ 
stand  veranlaßt,  daßi  eine  Entfärbung  der  gestauten  Galle 
stattfand  und  daß  die  Stauung  zu  Oberflächenzysten  der 
Leber  führte. 

Anamnese:  Frau  H.,  55  Jahre  alt,  leidet  seit  drei  Monaten 
an  schwerer  Gelbsucht.  Die  Frau  war  früher  stets  gesund,  hatte 
namentlich  nie  an  Magenkrämpfen  oder  Gallensteinkoliken  gelitten 
und  war  früher  nie  ikterisch  gewesen. 

Die  Gelbsucht  kam  ohne  alle  Vorboten,  sozusagen  über 
Nacht;  die  Kranke  batte,  auch  nachher,  keine  Schmerzen  und 
war  anfänglich  selbst  in  ihrer  Eßlust  nicht  sehr  gestört. 

Die  Gelbsucht  nahm  immer  zu,  die  Kranke  magerte  sicht¬ 
lich  ab,  fühlte  sich  auch  schwächer  und  wurde  stark  durch  Haut¬ 
jucken  gepeinigt. 

Die  Stühle  waren  andauernd  grau  bis  weiß. 

Sechs  Wochen  nach  Beginn  der  Erkrankung  suchte  die 
Patientin  einen  auswärtigen  Arzt  auf,  der  sie  zum  Zwecke  einer 
Mastkur-  wieder  in  ihre  Heimat  schickte;  da  sie  aber  trotz  dieser 
Mastkur  immer  mehr  abmagerte,  konsultierte  sie  nach  weiteren 
sechs  Wochen  einen  anderen  Arzt,  der  sie  dem  Chirurgen  über¬ 
antwortete. 

Befund:  Abgemagerte  Frau;  die  gelbgrüne  Haut  zeigt 
allenthalben  Kratzeffekte,  die  Skleren  sind  tiefgelb. 

Die  Untersuchung  des  Abdomens  ergibt  eine  den  Rippen¬ 
bogen  etwa  um  drei  Querfinger  überschreitende  Leber,  im  übrigen 
aber  einen  belanglosen  Befund.  Nirgends  kann  ein  Schmerz¬ 
punkt  festgestellt,  nirgends  ein  Tumor  oder  eine  Resistenz  ge¬ 
tastet  werden. 

Diagnose:  Angesichts  der  mangelnden  Steinanamnese  wird 
ein  Tumor  der  Leber,  bzw.  der  Gallenwege  angenommen,  jedoch 
ein  Stein  nicht  ganz  ausgeschlossen. 

Operation:  Die  am  8.  Dezember  1909  in  Morphiumather- 
narkose  vorgenommene  Operation  (Prim.  Priv.-Doz.  Dr.  Her  tie) 
ergab  folgendes : 

Der  Kehrsche  Wellenschnitt  legt  die  große  Leber  frei, 
die  ein  auffallendes  Bild  bot;  ihre  Oberfläche  war 
mit  vielen  kleinen  aneinandergereihten  Bläschen 
von  Erbsen-  bis  Bohnengröße  bedeckt,  die  sich  weich 
anfühlten,  eindrückbar  waren  und  den  Eindruck 
äußerst  dünnwandiger,  vielleicht  gasgefüllter  Zvst- 
chen  machten.  Auf  Inzision  entleerten  die  Bläschen 
eine  wasserhelle  Flüssigkeit. 

Die  Gallenblase  war  dünnwandig,  klein,  wenig  gefüllt  und 
enthielt  keine  Steine.  Bei  Verfolgung  der  Gallenwege  stieß 
man  bald  auf  einen  sehr  harten,  etwa  nußgroßen  Tumor, 


der,  wie  sich  bei  sorgfältiger  Präparation  zeigte,  an 
der  Vereinigungsstelle  der  drei  großen  Gallengänge 
saß.  Der  Ductus  hepaticus  war  auf  Klein  fingerdicke 
erweitert,  während  Ductus  choledochus  und  cysti- 
cus  von  normaler  Dicke  waren.  Bei  einer  In¬ 
zision  des  Ductus  hepaticus  floß  in  reichlicher  Menge  dieselbe 
fast  farblose  Flüssigkeit  ab,  wie  aus  den  Zystcheu 
an  der  Leberoberfläche. 

Der  Tumor  wurde  in  toto  mit  Gallenblase  und  Ductus 
cysticus,  sowie  mit  je  1  biis-  2  cm  gesundem  Ductus  hepaticus 
und  choledochus  exstirpiert.  Die  Wiedervereinigung  von  Hepa¬ 
ticus  und  choledochus  war  ohne  besondere  Spannung  möglich ;  es 
wurden  die  hinteren  Wände  der  beiden  Stümpfe  durch  Katgut 
vferednigt  und  vorne  'eine  Oeffnung  gelassen,  in  die  ein  am 
hinteren  Ende  in  der  Längsachse  geschlitztes  Drainrohr  so  ein¬ 
gelegt  wurde,  daß  das  eine  Läppchen  des  Rohres  im  Choledochus 
und  das  andere  im  Hepatikus  lag.  Das  Rohr  wurde  durch  eine 
Naht  am  Hepatikus  fixiert  und  zugleich  mit  den  lang  gelassenen 
Nähten  nach  außen  geleitet.  (Siehe  Abbildung.) 


Die  Nahtumgebung  wurde  mit  mehreren  Gazestreifen  (nach 
Kehr)  tamponiert,  die  Bauchwunde  bis  auf  die  Drainöffnung  in 
drei  Etagen  geschlossen.  Das  Präparat  zeigte  den  schon  oben 
beschriebenen  Tumor,  der  die  Wand  des  Hepatikus  und  Chole¬ 
dochus  auf  eine  Strecke  von  etwa  2  cm  Länge  zirkulär  einnahm. 
(Siehe  Abbildung.) 


Adhärentes  Netz  Vesica  D.  hepatic. 


•Bemerkenswert  war,  daß  eine  3  mm  dicke  Zinn¬ 
sonde  die  Stenose  leicht  passierte.  Die  Schleimhaut  war 
glatt  und  nicht  wesentlich  verändert.  Die  histologischeUnter- 
suchung  (Priv.-Doz.  Dr.  Materna,  pathologisch-anatomisches 
Institut)  ergab  Karzinom.  Der  weitere  Krankheitsver- 
lauf  war  anfangs  sehr  günstig,  die  Temperaturen  in  den  ersten  vier 
Tagen  stets  unter  37°,  der  Puls  70  bis  76.  Es  bestand  kein  Er¬ 
brechen,  die  Nahrungsaufnahme  war  genügend. 

Am  ersten  Tage  entleerte  sich  aus  dem  Drainrohr  fast 
keine,  am  Zweiten  wenig,  am  dritten  reichlich  und  schon 
ziemlich  dunkel  gefärbte  Flüssigkeit,  die  alle  wich¬ 
tigen  Bestandteile  der  Galle  enthielt  (untersucht  vom 
Herrn  Prof.  Dr.  Pregl).  Am  fünften  Tage  trat  eine  Temperatur¬ 
steigerung  auf  37-5°  auf  und  war  ein  pleurales  Exsudat  rechts 
nachweisbar. 

Nach  zwei  weiteren  Tagen  erfolgte  unter  Erscheinungen 
von  Herzschwäche  der  Exitus  letalis. 

Wenn  'jnan  die  Anamnese  unseres  Falles  mit  der  anderer 
publizierter  Fälle  vergleicht,  findet  sich  viel  Gemeinsames. 
Auch  wir  hatten  es  mit  einer  bis  zum  Eintritte  der  Gelb- 


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sucht  gesunden  Frau  zu  tun,  die  seit  verhältnislmäßig  kurzer 
Zeit  (drei  Monate)  krank  ist;  in  der  Tat  ist  in  den  meisten 
Fällen  die  Erkrankungsdauer  mit  nur  Vz  bis  1  Jahre  ange¬ 
geben,  mit  wenigen  Ausnahmen,  in  denen  der  Beginn  zwei 
Jahre  zurückliegt.  (Borelius  und  Brenner  je  ein 
Fall.3) 4)  '  - 

Das  ziemlich  unvermittelte  Einsetzen  der  Erkrankung 
ist  wohl  damit  zu  erklären,  daß  der  zumeist  kleine  Krebs¬ 
herd  an  und  für  sich  ja  überhaupt  weder  subjektiv  noch 
objektiv,  sondern  erst  in  dem  Momente  Erscheinungen 
macht,  indem  er  die  Fas  sage  der  Galle  behin¬ 
dert.  Das  pflegt  nun  ziemlich  frühzeitig  einzutreten,  wie 
die  meisten  Autopsien  in  vivo  et  mortuo  beweisen,  in  denen 
sämtlich  die  Kleinheit  der  Tumoren  gegen¬ 
über  den  Gallenstauungserscheinungen  beson¬ 
ders  betont  wird. 

Der  schwere  Ikterus,  die  Kachexie,  der 
Kranken  stehen  bei  der  verhältnismäßig  kurzen  Erkrankungs¬ 
dauer  auch  in  unserem  Falle  im  Vordergrund  des  Krank¬ 
heitsbildes;  sie  sind  das  Auffallendste  der  Erkrankung,  die 
sich  ja  meist  schmerzlos  einzuschleichen  pflegt,  und 
müssen  in  solchen  Fällen  wohl  unbedingt  die 
Operation  indizieren.  Wer  da  erst  auf  die 
Tastbarkeit  eines  Tumors  warten  wollte, 
käme  ganz  sicher  zu  spät,  ja  Brenner4)  erklärt 
sogar,  daß  die  verheerenden  Wirkungen  der  Gallenstauung 
dem  Tumor  nicht  einmal  Zeit  lasse,  zu  wachsen  und  jzu 
metastasieren,  er  isagt :  „Die  Tatsache,  daß  die  im  Orga¬ 
nismus  durch  die  Gallenstauung  angerichteten  Verände¬ 
rungen  schon  den  Tod  herbeiführen,  ehe  der  Tumor  eine 
erhebliche  Größe  erreicht  hat,  kann  uns  das  Ausbleiben 
der  Metastasen  erklären.“ 

Koliken  oder  kolikartige  Schmerzen  finden  sich  in 
unserer  Vorgeschichte  nicht;  die  Literaturangaben  in  dieser 
Beziehung  sind  wechselnd,  meist  wird  jedoch  das.  Fehlen 
solcher  Schmerzen  betont.  Jedenfalls  kommt  diesen 
Schmerzen,  wenn  sie  einmal  bei  Gallengangkarzinomen  vor¬ 
handen  sein  mögen,  keine  diagnostische  Bedeutung  auch  für 
ein  etwa  begleitendes  Steinleiden  zu,  denn  die  meisten 
Autorenliebea  im  Gegenteil  dasF  ehlend  erSteine 
bei  Gangkrebsen  besonders  her.vor. 

So  waren  z.  B.  im!  Falle  12  der  Zusammenstellung  von 
Borelius3)  schwere  typische  Gallensteinkoliken  vor¬ 
handen,  die  sich  durch  Wochen  hindurch  wiederholten; 
bei  der  Operation  fanden  sich  keine  Steine,  aber  ein  Krebs 
Ductus  hepaticus. 

Borelius  selbst  zählt  zwar  in  der  kritischen  Replik 
seiner  Fälle  „auffallend  oft  einsetzende  anfallsweise  auf¬ 
tretende  Schmerzen  mit  scheinbarem  Rückgang  zu  voller 
Genesung“  unter  die  klinischen  Initialsymptome  der  Gallen¬ 
gangkrebse,  betont  aber,  daß  sie  in  „ihrer  Dauer  oder  in 
anderer  Hinsicht  kein  charakteristisches  Bild  böten“.  K  e  h  r 
hebt  das  Fehlen  der  Schmerzen  hervor.1) 

Die  konstant  grauen  und  weißen  Stühle  kennzeichnen 
die  schwere  Okklusion  des  Choledochus,  im  Gegensätze 
zum  Steinverschluß,  der  —  ausgenommen  sind  die  Papillen¬ 
steine  und  einzelne  Fälle  von  großen  Solitärsteinen  im 
Choledochus  —  meist  zeitweise  wenigstens  auch  größere 
Gallenmengen  durch  treten  läßt. 

Der  Choledochus  war  für  eine  3  mm  dicke  Zinnsonde 
durchgängig,  eine  auffallende  Tatsache  bei  den  schweren 
Stauungserscheinungen;  doch  was  bedeutet  wohl  eine  den 
stenosierten  Gang  vielleicht  nur  tropfenweise  passierende 
Gallenmenge  gegen  die  normal  produzierte  Menge  derselben, 
die  sich  doch  trotzdem  bei  nicht  entsprechender  Entleerung 
nach  aufwärts  zu  anstauen  muß? 

Ein  obturierender  Choledochusstein  schlüpft  wohl  hin 
und  wieder  in  den  sich  hinter  ihn  stauenden  Gallen;see 
zurück  und  läßt  damit  zeitweise  größere  Gallenmengen  in 
den  Darm  austreten,  eine  krebsige  Stenose  ändert  sich  nicht. 

Der  klinische  Befund  ergab  in  unserem  Falle  eine 
bedeutende  Vergrößerung  der  Leber,  als  Folge  der  Gallen¬ 
stauung  und  der  damit  einhergehenden  Erweiterung  der 


intrahepatischen  Gallengänge,  ein  konstantes  Symptom,  daß 
von  den  meisten  Autoren  erwähnt  wird. 

Beim  ersten  der  von  Borelius  gesammelten  Fälle 
finden  wir  folgende  Sektionsangabe:  „Lebergallengänge 
kolossal  erweitert,  in  der  Leber  mehrere  hühnerei-  bis  faust¬ 
große  Höhlen  bildend,  welche  dünne  Galle  enthielten.“ 

Wir  fanden  bei  der  Operation,  wie  erwähnt,  d  i  e 
Leberoberfläche  übersät  mit  kleineren  und 
größeren  dünnwandigen  Bläschen,  die  nichts 
anderes  als  die  durch  die  Stauung  der  Galle 
starker  weite  rtenletztenAusläuferderintra- 
hepatischen  Gallengänge  d a r s t e  1 1 1 e n. 

Diese  Zystenbildung  auf  der  Oberfläche  der  Leber  bot 
ein  überraschendes  Bild,  zumal  die  in  den  Zysten  enthaltene 
Flüssigkeit  wasserklar  war.  Die  Deutung  dieses  Befundes 
war  erst  möglich,  als  in  dem  erweiterten  und  gestauten 
Ductus  hepaticus  dieselbe  wasserklare  Flüssigkeit  ange- 
troffen  wurde.  Es  ist  daher  für  den  Chirurgen  von  Wichtig¬ 
keit,  von  diesem  Vorkommnis  unterrichtet  zu  sein.  Leider 
wurde  die  bei  der  Operation  durch  Punktion  des  Ductus 
hepaticus  gewonnene  Flüssigkeit  chemisch  nicht  untersucht; 
sie  war,  wie  gesagt,  fast  wasserklar  und  dünnflüssig.  Von 
besonderem  Interesse  ist,  daß  am  ersten  Tage  nur  sehr  wenig 
Flüssigkeit  aus  dem  Hepatikusrohr  abtropfte,  daß  jedoch 
die  Flüssigkeit  schon  vom  Anfänge  an  gefärbt  war.  Am 
zweiten  Tage  war  die  Menge  größer  und  die  Untersuchung 
dieser  Flüssigkeit  ergab  sämtliche  Bestandteile  der  nor¬ 
malen  Galle. 

Die  ante  Operationen!  nicht  tastbare  Gallenblase  erwies 
sich  auch  tatsächlich  bei  der  Operation  als  klein,  sehr  dünn¬ 
wandig,  fast  leer  und  enthielt  keine  Steine.  Wir  müssen 
annehmen,  daß  das  Karzinom,  in  unserem  Falle  wahr¬ 
scheinlich  vom  Hepatikus  ausgehend  auf  den  Choledochus 
übergegriffen  hat,  d.  h.  die  Stenosierung  begann  oberhalb 
der  Zystikusmündung  zuerst.  Beim  primären  Krebs  des 
Choledochus  soll  nach  dem  C  o  u  r  v  o  i  s  i  e  r  sehen  Gesetze 
die  Gallenblase  gespannt  sein,  und  das  trifft  in  der  Tat  in 
denjenigen  Fällen  fast  immer  zu,  in  denen  der  stenosierende 
Choledochu stumor  unterhalb  der  Zystikusmündung  lag  (Pa¬ 
pillen  krebse). 

Geht  [der  Krebs  höher  hinauf,  gegen  die  Zystikus¬ 
mündung,  gegen  den  Hepatikus  zu,  so  wird  das  Verhalten 
der  Gallenblase  bereits  variabel.  Kehr  nimmt  in  75%  der 
Fälle  eine  Bestätigung  des  C  o  u  r  v  o  i  s  i  e  r  sehen  Gesetzes 
an  °)  und  0  e  h  1  e  r  sagt  verallgemeinernd  in  seiner  Arbeit : 
„Man  kann  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  sagen,  daß  das 
Hindernis  im  Choledochus  um  so  tiefer,  d.  h.  mehr  duodenal- 
wärts  sitzt,  je  größer  die  Gallenblase  ist.“2) 

Steine  fanden  sich  in  unserem  Falle  weder  in  der 
Blase  noch  in  den  Gängen ;  auch  darin  liegt  eine  gemein¬ 
same  Eigenschaft  der  meisten  Gallengangkarzinome. 
Während  der  Krebs  der  Gallenblase  meist  mit  Steinen  kom¬ 
biniert  vorkommt,  so  daß  man  diesen  sogar  eine  ursächliche 
Bedeutung  zuschreibt,  fällt  der  Steinmangel  bei  den 
Gallen  gangkrebsen  auf. 

Borelius  findet  unter  14  Fällen  zweimal  Steine  und 
zitiert  Schüller  und.  Don  a  ti,  die  in  ihren  großen  Sta¬ 
tistiken  nur  15%  und  10%  Steinbefunde  bei  Karzinom 
der  Gallengänge  feststellen  konnten. 

Hervorzuheben  wären  am  besprochenen  Fälle  noch 
die  Kleinheit  des  Turnons  und  das  Fehlen  der 
Metastasen;  zum  Unterschiede  von  anderen  Organ¬ 
krebsen  führt  am  Gallengangsystem  eben  auch  schon 
ein  kleiner  Tumor  schwere  Folgeerscheinungen  herbei  und 
läßt  durch  diese  den  Tod  des  Kranken  eintreten,  bevor  der 
Tumor  selbst  sich  entwickeln  und  metastasieren  konnte. 
In  den  meisten  Fällen  der  Literatur  war  der  Tumor  klein, 
ja  so  klein,  daß  er  gewiß  einmal  selbst  am  Operationstische 
übersehen  werden  kann,  speziell,  wenn  schwere  entzünd¬ 
liche  Veränderungen  der  Gallenblase  und  ihrer  Umgebung 
das  Krankheitsbild  komplizieren. 

Die  pathologisch-anatomische  Untersuchung  ergab  Kar¬ 
zinom.  Nach  Kraus,  den  ich  hier  aus  der  Ke  hr  sehen1) 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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„Technik  der  Gallensteinoperationen“  zitiere,  gehen  diese 
Karzinome  von  den  Drüsen  der  Gallengänge  aus,  die  sich 
hauptsächlich  im  zentralen  Teile  der  Gänge,  am  reich¬ 
lichsten  im  Hepatikus  vorfinden;  gewöhnlich  kommt  cs  zu 
reichlicher  Stromabildung,  zur  Entwicklung  von  Skirrhen,  die 
die  Wand  der  Gallengänge  infiltrieren,  ohne  die  Schleim¬ 
haut  zu  durchbrechen. 

Die  Wahrscheinlicthkeits1  diagnose  „T  u  m  o  r 
mit  Okklusion  der  groben  Gallengänge“  stützte 
sich  also  in  unserem  Falle  bei  dein  Alter  der  Patientin 
auf  die  fortschreitende  Kachexie,  auf  den  chronischen  Ik¬ 
terus,  die  konstant  ungefärbten  Stühle,  das  Fehlen  von  Ko¬ 
liken  und  die  verhältnismäßig  kurze  Erkrankungsdauer. 

Differentialdiagnostisch  kamen  in  Be¬ 
tracht: 

I.  Die  Cholelithiasis;  doch  fehlte  jede  Stein¬ 
anamnese,  Koliken  waren  nie  aufgetreten,  der  Stuhl  war 
konstant  ungefärbt,  der  Ikterus  immer  gleich  oder  besser 
gleichmäßig  zunehmend;  Fieber  und  Schüttelfröste  fehlten. 

Es  gibt  allerdings  Fälle,  wo  große  Solitärsteine  den 
Choledochus  verschließen,  die  ganz  ohne  Koliken  verlaufen, 
während  Tumoren,  wie  wir  in  einzelnen  Fällen  von  B  o  r  e- 
lius  sahen,  ab  und  zu  auch  Schmerzen  machen.  Eine 
sichere  Entscheidung  ist  demnach  nicht  zu  treffen. 

Die  Gallenblase,  die  sonst  als  differentialdiagnostisches 
Moment  in  Betracht  kommt,  war  in  unserem  Falle  nicht 
tastbar,  und  hätte  als  nicht  palpabel  eher  für  Steine  ge¬ 
sprochen,  da  wie  oben  erwähnt,  in  75%  der  Gangkrebse, 
die  Blase  groß  und  gespannt  angetroffen  wird. 

II.  Erkrankungen  des  Pankreas. 

a)  Die  chronische  Pankreatitis.  Für  die  ent¬ 
zündliche  Erkrankung  der  Bauchspeicheldrüse  haben  wir 
wenig  Unterscheidungsmerkmale  gegen  das  Gallengangkarzi¬ 
nom  und  gerade  dieser  Punkt  hat  ja  Kehr  veranlaßt,  seine 
Zurückhaltung  vor  der  Encheirese  beim  Tümorverschluß  der 
Gallengänge  fallen  zu  lassen,  als  er  sah,  wie  häufig  und 
leicht  die  entzündlichen  Erkrankungen  des  Pankreas,  durch 
Palliativmaßnahmen  selbst  nur  gegen  ihre  Folgeerschei¬ 
nungen  (Ikterus)  zu  beeinflussen  seien. 

Die  klinischen  Erscheinungen  der  chronischen  Pan¬ 
kreatitis  als :  gastrische  Störungen,  Obstipation  oder 
Diarrhöe,  Abmagerung,  Kräfteverfall,  Ikterus  und  Stenosen¬ 
erscheinungen  von  seiten  des  Duodenums,  bieten  ja  an  'sich 
nichts  charakteristisches,  man  kann  höchstens  in  den  Stuhl- 
und  Harnuntersuchungen  (Fettstühle,  unverdaute  Fleisch¬ 
fasern,  Cammidgereaktion)  Anhaltspunkte  für  das  Pankreas 
suchen. 

Jedenfalls  lohnt  sich  eine  Laparotomie  wegen  Gallen¬ 
gangkarzinom  um  so  mehr,  wenn  man  statt  dessen  manchmal 
eine  Pankreatitis  oder  einen  Stein  finden  wird. 

b)  Die  Zysten  des  Pankreas  differenzieren  sich 
gewöhnlich  schon  durch  die  Tastbarkeit,  da  sie  meist  schon 
Palpationsbefunde  geben,  bevor  sie  zu  den  Erscheinungen 
führen,  die  eine  Verwechslung  mit  einem  Tumorverschluß 
der  Gallengänge  Veranlassung  geben  kömiten. 

Immerhin  gibt  es  Fälle,  in  denen  die  Lage  der  Zyste 
frühzeitig  zur  Kompression  des  Ductus  choledochus  führt. 
Ein  derartig  interessanter  Fall,  der  von  uns  beobachtet 
wurde,  sei  hier  kurz  erwähnt: 

Es  handelte  sich  um  einen  Mann  in  den  20iger  Jahren, 
der  seit  acht  Wochen  an  einem  intensiven  Ikterus  litt; 
ein  Tumor  der  Gallenblasengegend  war  nicht  tastbar, 
auch  die  Lebervergrößerung  im  Verhältnis  zum  Ikterus 
gering,  Schmerzen  oder  Kolikanfälle  waren  in  der  Anamnese 
nicht  vorhanden.  Der  Operationsbefund  ergab  eine  hühnerei¬ 
große  Zyste  am  Pankreaskopf,  durch  welche  der  Ductus 
choledochus  vollkommen  komprimiert  war. 

Im  allgemeinen  stützt  sich  die  Diagnose  der  Pankreas¬ 
zysten  auf  die  Anamnese  (Entstehung  nach  Trauma  und 
Entzündung),  auf  die  Druckerscheinungen  auf  Magen  and 
Darm  und  auf  ihre  Tastbarkeit  und  Lage. 

c)  Auch  das  Karzi  nom  des  Pankreas  wird  die 
Kachexie,  resp.  die  Erscheinungen  des  Primärtumors  wahr¬ 


scheinlich  in  seinem  Verlaufe  in  den  Vordergrund  rücken 
gegen  die  frühzeitigen  Folgeerscheinungen  bei  Gallengang¬ 
karzinomen;  wenn  es  auch  nicht  immer  von  diesen  wird 
unterschieden  werden  können,  so  tritt  die  Kompression  des 
Choledochus  nach  Körte0)  doch  gewöhnlich  erst  bei  vor¬ 
geschrittenem  Wachstum  ein  (im  Gegensätze  zum  Krebs  des 
Choledochus).  Leibschmerzen  im  Epigastrium,  Kachexie  und 
Tumornachweis  werden  einzig  als  diagnostische  Anhalts¬ 
punkte  genannt. 

III.  Aneurysma  der  Arteria  hepatica. 

Bei  diesem  gleichen  die  Symptome  mehr  denen  der 
Cholelithiasis  (Koliken,  Ikterus),  so  daß  man  wahrscheinlich 
eher  diese  als  ein  Karzinom  der  Gallenwege  diagnostizieren 
wird  und  selbst  Kehr  sagt  von  jenen  Aneurysmen,  die 
ohne  Blutung  nach  dem  Intestinaltrakt  hin  verlaufen,  daß 
ihre  richtige  Diagnose  unmöglich  ist,  da  man  immer  an 
Gallensteine  denken  wird ! 

Endlich  wären  noch  IV.  die  narbigen  S  t  r  i  k- 
turen  des  Choledochus!  anzuführen,  die  bei  entzündlichen 
Prozessen  der  Nachbarschaft  eintreten  können. 

Sie  führen  seltener  zu  Ikterus,  tun  sie  es  aber,  so 
können  sie  gewiß  ähnliche  Erscheinungen  hervorrufen,  wie 
ein  Karzinom  der  Gallengänge,  besonders  dann,  wenn  der 
langbestehende ‘Ikterus  seine  bereits  schweren  Folgeerschei¬ 
nungen  nach  sich  gezogen  hat. 

Die  Anamnese  (Cholelithiasis,  Ulcus  ventriculi,  duodeni) 
kann  uns  hier  Anhaltspunkte  geben;  ist  die  Operation  aber 
indiziert,  so  werden  wir  nach  der  eyentuellen  Annahme 
einer  Tumorokklusion  auch  in  diesem  Falle  in  therapeu¬ 
tischer  Hinsicht  freudig  überrascht  sein,  in  diagnostischer 
aber  uns  sagen  können:  „ultra  posse  nemo  tenetur“. 

Was  nun  die  chirurgische  Therapie  des  be¬ 
sprochenen  Falles  betrifft,  so  handelte  es  sich  dabei  um  eine 
partielle  Resektion  des  Ductus  hepaticus  und  choledochus 
in  einem  mit  der  Resektion  von  Blase  und  Ductus  cysticus, 
mit  nachfolgender  fast  zirkulärer  Vereinigung  der  beiden 
Stümpfe  und  nach  außen  geleiteter  Drainage  derselben. 

Außer  der  zirkulären  Naht  käme  im  entsprechendem 
Fälle  noch  die  Hepatikoenterostomie  nach  Verschließung  des 
duodenalen  Endes  des  Choledochus  oder  eine  Zystenentero- 
anastomose, nach  Verschließung  des  peripheren  und  zentralen 
Gallengangstumpfes  in  Betracht.7) 

Im  allgemeinen  sieht  es  in  den  Literturangaben  über 
diese  besprochene  Gruppe  der  Gallengangkrebse  oberhalb 
des  Duodenums  ungünstig  aus.  In  den  meisten  dieser  Publi¬ 
kationen  (der  mir  zugänglichen  Literatur)  finden  sich  nur 
palliative  Eingriffe  und  Probelaparotomien  in  der  Therapie 
angeführt;  wirkliche  Resektionen  des  Ductus  choledochus 
wegen  Krebses  sind  nach  Eichmeyer7),  von  K  e  h  r, 
Mayo,  Jabulay,  Riese  (zweimal),  Verhoogen  und 
Doberauer,  ausgeführt  worden. 

Anschließend  daran  führe  ich  einiges  aus  der  Arbeit 
0  eh  1  e r  s  über  die  Gallengangkrebse  im  unteren  Abschnitte, 
über  die  Papillenkrebse,  an. 

0  e  h  1  e  r  sagt  von  diesen  Karzinomen  des  distalen  Chole- 
dochusendes,  daß  sie  sich  im  Gegensätze,  zu  den  anderen 
Gallengangkrebsen  „verhältnismäßig  günstig  für  eine  opera-  # 
tive  Entfernung  verhalten“,  besonders,  wenn  sie  sich  nicht 
aufsteigend  nach  den  Gallengängen,  sondern  absteigend  nach 
dem  Darme  hin  entwickelt  haben. 

Aber  selbst  in  der  Literatur  dieser  Fälle  zählt  0  e  h  1  e  r 
nur  zwölf  Fälle  u.  zw.  von  H  a  1  s  t  e  d  (1),  Gebrüder  Mayo 
(2),  Körte  (3),  Czerny  (2),  Cordua  (l),  Morian  (l), 
Kausch  (l)  und  Kraske  (1  Fäll). 

Bei  den  Operationen  dieser  Geschwülste  handelt  es 
sich  technisch  um  Querresektionen  des  Duodenums  oder 
transduodenale  Exstirpationen  der  Karzinome  mit  nachfol¬ 
gender  Cholezystenterostomie  oder  Choledochoenteroanasto- 
mose. 

Unter  den  zwölf  Operierten  finden  sich  acht  Dauer¬ 
heilungen  im  Maximum  bis  zu  33/r  Jahren ;  ein  gewiß  schönes 
Resultat  1 


940 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Wenn  nun  auch  beim  Karzinom  im  oberen  Abschnitte 
der  Gallengänge  die  Resultate  bisher  nicht  so  günstig  waren 
und  der  Kehr  sehe  Fall  von  Heilung  vereinzelt  dasteht, 
so  ist  doch  zu  hoffen,  daß  bei  der  Art  des  Leidens  und  bei 
Zunahme  der  Operationen  in  Zukunft  auch  in  diesen  Fällen 
bessere  Ergebnisse  erzielt  werden.  Unser  Fall  und  der  gegen¬ 
wärtige  Stand  unserer  Kenntnisse  der  Erkrankungen,  welche 
mechanisch  die  tiefen  Gallengänge  verlegen  und  dadurch  zum 
Ikterus  führen,  lassen  uns  zu  dem  Schluß  kommen,  daßi 
alle  Fälle  von  schwerem  Ikterus,  auch  solche,  bei  denen 
ein  Tumor  nicht  zu  tasten  ist,  der  Operation  zuzuführen  sind. 
Außerdem  möchten  wir  nochmals  auf  den  interessanten  Be¬ 
fund  einer  Anfüllung  des  ganzen  Gallensystems  mit  einer 
wasserklaren  Flüssigkeit  und  der  Stauung,  die  zur  Ausbil¬ 
dung  der  Zysten  an  der  Leberoberfläche  führte,  hinweisen. 

Anmerkung:  Nach  Fertigstellung  dieser  Arbeit 
kamen  wir  auch  zur  Kenntnis  des  von  Kausch13)  in 
jüngster  Zeit  publizierten  Falles,  der  dem  unseren  ähnlich 
ist  und  Kausch  zu  weiteren  Ausführungen  über  den  un¬ 
gefärbten  Inhalt  der  Gallenwege  Veranlassung  gab. 

Literaturangaben: 

*)  Kehr,  Technik  der  Gallensteinoperationen  1905.  —  2)  0 eh ler, 
Beitrag  zur  Kasuistik  und  Diagnose  des  primären  Karzinoms  der  Papilla 
Vateri.  —  3)  B  o  r  e  1  i  u  s  (Lund),  Ueber  das  primäre  Karzinom  in  den 
Hauptgallengängen.  Beiträge  zur  klinischen  Chirurgie  1909,  Bd.  61.  — 
*)  Brenner,  Ueber  das  primäre  Karzinom  des  Duct,  choledochus. 
Virchows  Archiv,  Berlin  1899,  Bd.  158,  S.  253.  —  5)  Kehr,  Chirurgie 
der  Leber  und  der  Gallengänge,  Handbuch  der  praktischen  Chirurgie 
von  Bergmann  und  Bruns  1907,  Abschnitt  VIII,  S.  666.  —  «)  Körte, 
Chirurgie  des  Pankreas,  Handbuch  der  praktischen  Chirurgie,  Bergmann 
und  Bruns  1907.  —  7)  Eichmeyer,  Beitrag  zur  Chirurgie  des  Chole¬ 
dochus  und  Hepatikus,  Archiv  für  klin.  Chirurgie  1910,  Bd.  94,  H.  1.  — 

8)  Fischer,  Ueber  Gallengangkarzinome,  Virchows  Archiv,  Bd.’l74,  H.  3. 
—  9j  Wohlwill,  Zystikuskarzinome,  Münchner  med.  Wochenschr.  1901, 
Nr,  21,  —  10)  Gutowitz,  Zur  Kenntnis  der  primären  Karzinome  der 
großen  Gallengänge,  Wiener  klin.  Rundschau  1910,  Nr.  23,  —  >  )  Volmer, 
Adenomyofibrom  in  der  Wand  des  Ductus  choledochus,  Inaugurat.-Disser- 
tation,  Berlin  1908.  —  >2)  Gleiß,  primäre  Krebse  des  Duct,  choledochus 
Inaugural-Dissertation,  Kiel  1904.  —  13)  Kausch,  Hydrops  des  ge¬ 
samten  Gallensystems  bei  chronischem  Choledochusverschluß.  Mitteilungen 
aus  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Chirurgie,  Bd.  23,  H.  1. 


Aus  der  III.  medizinischen  Abteilung  des  allgemeinen 
Krankenhauses  in  Wien. 

(Vorstand:  Prof.  Dr.  Hermann  Schlesinger.) 

Ein  neuer  Stickstoffapparat  zur  Behandlung 
der  Lungentuberkulose  und  anderer  nicht 
tuberkulöser  Erkrankungen  der  Lungen. 

Von  Dr.  Oskar  Frauk,  k.  u.  k.  Regimentsarzt  im  k.  u.  k.  Garnisons¬ 
spital  Nr.  1  in  Wien. 

Angespornt  durch  die  epochemachenden  Arbeiten  von 
Brauer,  f  orlanini,  B  e e r  und  Kraus,  Saugmann 
und  so  weiter,  sowie  ermutigt  durch  meine  eigenen,  seit 
ca.  IV2  Jahren  gewonnenen  Erfahrungen  bei  Behandlung  der 
Lungentuberkulose  und  anderer  nicht  tuberkulöser  Erkran¬ 
kungen  der  Lungen  durch  Erzeugung  eines  künstlichen  Pneu¬ 
mothorax  mittels  Stickstoffeinblasungen,  bemühte  ich  mich, 
einen  Apparat  zu  konstruieren,  der  gegenüber  den  bereits 
bestehenden  sich  vor  allem  durch  seine  Kompendiosität 
auszeichnet,  ferner  eine  am  Apparat  selbst  angebrachte 
\\  ärmevorrichtung  besitzt,  welche  die  Erwärmung  des  zur 
Insufflation  nötigen  Stickstoffes^  auf  Körpertemperatur  in  ein¬ 
fachster  Weise  ermöglicht.  Ein  weiterer  Vorteil  des  von  mir 
angegebenen  Apparates  besteht  darin,  daß  der  für  den  Stick¬ 
stoff  bestimmte  Zylinder  (das  ist  der  innere  der  beiden 
Zylinder),  abwechselnd  von  innen  und  außen  mit  der  des¬ 
infizierenden  Lösung  (ich  gebrauche  eine  3°/oige  Lysoform- 
lösung)  bespült  wird  und  somit  jede  Verunreinigung  aus¬ 
geschlossen  erscheint.  Schließlich  sei  noch  erwähnt,  daß 
sich  der  komplette  Apparat  in  einem  Holzkästchen  befindet 
und  bequem  transportiert  werden  kann. 


Beschreibung  des  Apparates. 


Derselbe  besteht  aus  zwei  ineinander  geschmolzenen  Glas¬ 
zylindern,  von  denen  der  innere  graduierte  (l)  zur  Aufnahme 
des  Stickstoffs,  der  äußere  (2)  zur  Aufnahme  der  desinfizierenden 
Lösung  (3°/oige  Lysoformlösung)  dient.  Voneinander  getrennt  sind 
beide  Zylinder  durch  Versteifungen  (3  und  4)  aus  Fibersloff. 
5  stellt  den  Raum  zwischen  den  Zylindern  dar.  Dpr  innere  Zy¬ 
linder  ist  oben  und  unten  offen.  Die  untere  Oeffnung  (6)  stellt  die 
Verbindung  des  Innenraumes  beider  Zylinder  her.  Die  obere 
Oeffnung^  (7)  durchdringt  mittels  des  Ansatzröhrchens  (,8)  den 
äußeren  Zylinder,  von  da  führt  ein  Gummischlauch  (9)  zum  Drei¬ 
weghahn  (10)  des  inneren  Zylinders  (J).  Durch  diesen  Dreiweg¬ 
hahn  wird  einerseits  die  Verbindung  mit  dem  Wassermanometer 
(11),  andrerseits  durch  den  Gummischlauch  (12)  die  Verbindung 
mit  der  Wärmeschlange  (13)  hergestellt.  Das  Wassermanometer 
wird,  der  Deutlichkeit  halber,  mit  irgendeinem  Farbstoff  gefärbt 
und  bis  zur  Marke  0  gefüllt.  Die  Wärmeschlange  (ca.  3  cm  lang) 
befindet  sich  in  einem  Gefäß  (15),  das  zur  Aufnahme  von  warmem 
Wasser  vor  dem  Gebrauch  an  die  Seitenwand  des  Kastens  neben 
dem  Manometer  aufgehängt  wird.  Zur  Kontrolle  der  Temperatur 
des  V  assers  dient  ein  passendes  Thermometer  mit  einer  roten 
Marke,  eingeätzt  bei  37°  C  (16).  An  das  zweite  Ende  der  Wärme¬ 
schlange  wird  ein  längerer  Schlauch  befestigt,  der  in  Verbindung 
mit  dem  S a.l om onschen  Katheter  steht.  Der  äußere  Zylinder, 
der  unten  geschlossen  ist  und  in  einem  Holzbett  ruht,  hat  oben 
zwei  Durchbohrungen.  Die  Durchbohrung  (17)  führt  mittels  eines 
Schlauchstückes  zu  dem  zweiten  Dreiweghahn  (18),  auch  der 
äußere  Dreiweghahn  (A)  genannt.  Durch  diesen  Dreiweghahn 
wird  einmal  die  Verbindung  mit  der  Außenluft  durch  einen  kurzen 
Gummischlauch  hergestellt,  das  andere  Mal  stellt  derselbe  die 
Verbindung  mit  einem  Gummigebläse  (20)  her.  Dieses  Gummi¬ 
gebläse  dient  sowohl  dazu,  um  die  im  Zwischenraum  beider 
Zylinder  befindliche  desinfizierende  Lösung  durch  die  Oeffnung 
(6)  in  den  inneren  Zylinder  zu  treiben,  als  auch  anderseits  den 
ausströmenden  Stickstoff  unter  größerem  Drucke  in  den  Pleura¬ 
raum  einblasen  zu  können. 

Bei  der  Füllung  des  Apparates  geht  man,  wie  folgt,  vor : 

Dev  die  Oeffnung  (21)  im  Zylinder  verschließende  Glas¬ 
stöpsel  (22)  wird  herausgenommen  und  die  beiden  Dreiweghähne 
wie  folgt  gestellt:  A  9,  1  9,  hierauf  gießt  man  mittels  eines 
kleinen  Glastrichters  die  desinfizierende  Flüssigkeit  (3°/oiges  Lyso*- 
form)  ein.  Es  füllen  sich  sukzessive  beide  Zylinder  mit  derselben. 
Hat  das  Flüssigkeitsniveau  im  Zwischenraum  (5)  beider  Glas¬ 
zylinder  die  an  der  rückwärtigen  Seite  des  äußeren  Zylinders 
befindliche  Marke  (19)  erreicht,  so  wird  bei  der  Stellung  der 
Dreiweghähne  A3,  J  0 ,  der  innere  Zylinder,  nachdem  man 
noch  zuvor  die  Oeffnung  (21)  wieder  geschlossen  hat,  durch  das 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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in  Tätigkeit  gesetzte  Gebläse  vollständig  mit  der  desinfizierenden 
Lösung  gefüllt  und  stellt  die  Dreiweghähne  so:  A  ££  ,  J  ©; 
nun  ist  der  innere  Zylinder  mit  der  desinfizierenden  Lysoform- 
lösung  gefüllt,  im  äußeren  Zylinder  ist  Luft.  Ist  man  so  weih 
so  verbindet  man  das  Ende  des  Schlauches  (12),  das  man  voi¬ 
der  Millung  des  Apparates  von  der  Verbindung  mit  der  Wärme¬ 
schlange  abgenommen  hat,  mit  dem1  Reduzierventil  der  Stickstoff¬ 
bombe  und  bringt,  wenn  alles  sicher  schließend  verbunden  ist, 
die  beiden  Dreiweghähne  in  folgende  Stellung:  A  0,  J  ®. 
Hierauf  öffnet  man  vorsichtig  und  langsam  (Druck  am  Mano¬ 
meter  die  Bombe  genauester^  beobachten!)  das  Reduktions-  und 
Hauptventil  der  Stickstoffbombe.  Es  treibt  nun  der  ausströmende 
Stickstoff  die  im  Innern  befindliche  Lysoformlösung  im  Maße 
seines  Einströmens  durch  die  Oeffnüng  6  in  den  Zwischen¬ 
raum  5.  Ist  der  innere  Zylinder  mit  Stickstoff  gefüllt,  d.  h.  ist 
die  Flüssigkeit  im  Innenzylinder  bis  zur  Marke  0  verdrängt, 
dann  ist  der  Apparat  gebrauchsfähig  und  wird  durch  die  Stel¬ 
lung  der  Dreiweghähne  A  ©,  J  ©  abgesperrt.  Es  wird  der 
Schlauch  12  mit  der  Wärmeschlange  verbunden,  das  Gefäß  15 
mit  auf  ca.  40°  C  erwärmtem  Wasser  gefüllt  und  das  andere 
Ende  derselben,  das  durch  einen  längeren  Schlauch  zur  Verbin¬ 
dung  mit  dem  S  al  omon  sehen  Katheter  führt,  knapp  hinter  der 
Olive  des  Katheters  mit  einer  Sperrklammer  versehen. 

Es  folgt  nun  der  bereits  allgemein  bekannte  Eingriff  (Me¬ 
thode  Brauer)  und  befindet  sich  nach  Sprengung  der  Pleura 
der  Salomonsche  Katheter  in  derselben,  so  wird  die  Sperr¬ 
klammer  geöffnet  und  man  stellt  die  Dreiweghähne  wie  folgt: 
A  3 ,  J  ©  ,  d'.  i.  -die  Verbindung  mit  dem  Manometer.  Hat  man 
sich  vom  Druck  überzeugt,  so  beginnt  man  nun,  den  Stickstoff 
langsam  in  den  Pleuraraum  einströmen  zu  lassen  und  stellt  die 
Dreiweghähne  so:  A  3,  J  3.  Währenddem  der  Stickstoff  in 
die  Pleurahöhle  einströmt,  überzeugt  man  sich  öfters  vom  Druck 
durch  Verbindung  des  Dreiweghahnes  I  mit  dem  Manometer- 
J  ©. 

Will  man  mit  der  Stickstoffeinblasung  aufhören,  so  sperrt 
man  wieder  das  System  ab:  A  ©,  J  und  schließt  den 
Katheterschlauch  mit  der  Klammer. 

Es  empfiehlt  sich,  den  Apparat  öfters  mit  der  Lysoform¬ 
lösung  durchzuwaschen  und  die  Lösung  hie  und  da  zu  erneuern. 
Die  Nickelwärmeschlange  wird  vorteilhaft  vor  jedem  Gebrauch 
mit  Aether-Alkohol  durchspült. 

Der  eben  beschriebene  Apparat  steht  auf  obiger  Ab¬ 
teilung  seit  zirka  drei  Monaten  in  Verwendung  und  konnte 
nur  immer  konstatiert  werden,  daß  derselbe  vollkommen 
exakt  funktioniert  und  nie  zu  irgendwelchen  Klagen  Ver¬ 
anlassung  gegeben  bat. 

Da  dieser  Apparat  sehr  einfach  zu  handhaben  und 
infolge  seiner  Kompendiosität  äußerst  leicht  zu  transpor¬ 
tieren  ist  (das  Kästchen  ist  um  ein  Weniges  größer  als  das 
eines  Mikroskopeis),  so  dürfte  derselbe  nicht  nur  in  größeren 
Krankenhäusern  und  Sanatorien  sich  Eingang  verschaffen, 
sondern  auch  so  manchem  Arzte  in  der  Provinz,  der  sich 
speziell  mit  der  Pneumothoraxtherapie  befaßt,  gute  Dienste 
leisten. 

Zum  Schlüsse  möge  es  mir  gestattet  sein,  Herrn  Pro¬ 
fessor  Dr.  Hermann  Schlesinger  und  Herrn  Assistenten 
Dr.  Ted  es  ko  für  die  freundliche  Ueberlassung  des  Ma¬ 
teriales,  söwie  für  die  Erlaubnis,  mit  meinem  Apparat  die 
Pneurhothoraxtherapie  ausführen  zu  dürfen,  meinen  gezie¬ 
menden  Dank  zum  Ausdruck  zu  bringen. 

Die  Herstellung  des  unter  gesetzlichen  Schutzes  stehenden 
Apparates  hat  die  Firma  Paul  Haack,  Wien  IX.,  Garelligasse  über¬ 
nommen. 


Redaktionelle  Mitteilung. 

Herr  Dr.  Oskar  Sem  eie  der  hat  in  Nummer  9  der  Wiener- 
klinischen  Wochenschrift  1911  unter  dem  Titel:  ,,Ein  Beitrag  zur 
Frage  der  Funktion  des  quadrizepslahmen  Beines“  eine  Erwide¬ 
rung  auf  die  in  der  Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft,  'der  Aerzte 
vom  9.  November  1910  von  Herrn  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Reiner 
vorgebrachten  Diskussionsbemerkungen  (s.  Wiener  klin.  Wochen¬ 
schrift  1910,  Nr.  47)  veröffentlicht. 

Durch  diesen  Artikel  wurde  Herr  Priv.-Doz.  Dr.  Max  Reiner 
zu  einer  sehr  eingehenden  Gegenschrift  veranlaßt,  welche  die 
Redaktion  pflichtgemäß  Herrn  Dr.  Semeleder  noch  vor  der 
Veröffentlichung  zur  Ansicht  und  eventuellen  Gegenäußerung  vor¬ 
gelegt  hat.  Herr  Dr.  Semeleder  hat  seinerseits  von  dem  Rechte 


des  Schlußwortes  in  nicht  minder  ausgiebiger  Weise  Gebrauch 
gemacht,  so  daß  schließlich  die  Aeußerungen  der  beiden  Herren 
Gegner  zu  einer  polemischen  Auseinandersetzung  von  ganz  un¬ 
gewöhnlichem  Umfange  gediehen  sind. 

Ueberzeugt,  daß  weder  das  Thema  als  Ganzes,  noch  die 
Einzelheiten  in  den  Ausführungen  der  beiden  Autoren  genügend 
allgemeines  Interesse  darbieten,  um  ihnen  einen  so  breiten 
Raum  in  unserer  Wochenschrift  opfern  zu  dürfen,  ist  die  Redak¬ 
tion  an  Herrn  Priv.-Doz.  Dr.  Reiner  mit  der  Bitte  heran¬ 
getreten,  in  dieser  Form  auf  eine  Fortsetzung  der  Diskussion 
an  dieser  Stelle  zu  verzichten. 

Herr  Dr.  Reiner  hat  dieser  Bitte  in  dankenswerter  Wreise 
stattgegeben  und  wir  erklären  gerne  in  seinem  Namen,  daß 
er  mit  diesem  Verzicht  durchaus  nicht  zugleich  seinen,  von  Herrn 
Dr.  Semeleder  angefochtenen  Standpunkt  in  meritorischer  Hin¬ 
sicht  irgendwie  preisgibt,  daß  er  vielmehr  seine  Ausführungen  in 
ganzem  Umfange  aufrecht  hält  und  sich  vorbehält,  die  zwischen 
ihm  und  Herrn  Dr.  Semeleder  schwebende  Angelegenheit  ander¬ 
weitig  auszutragen.  Die  Red. 


{Referate. 


Ueber  Ermüdungsstoffe. 

Von  Dr.  Wolfgang-  Weicliardt,  Privatdozent  an  der  Universität  Erlangen. 

Mit  5  Kurven. 

Stuttgart  1910,  Verlag  von  Ferd.  Enke. 

66  Seiten. 

Der  bekannte  Erlanger  Immunitätsforscher  faßt  die  Resultate 
seiner  zahlreichen,  diesem  Gegenstände  gewidmeten,  recht  mühe¬ 
vollen  Untersuchungen  in  einer  Monographie  zusammen,  welcher 
als  Anhang  die  genaue  Beschreibung  der  Technik  seiner 
Experimente  beigegeben  ist.  Dieselben  hatten  das  Ziel, 
die  bis  dahin  von  zahlreichen  Forschern  supponierten  Ertnüdungs- 
stoffe  des  tierischen  Organismus  darzustellen  und  mit  Hilfe  der 
biologischen  Methoden  der  Immunitätslehre  näher  zu  charakteri¬ 
sieren. 

Die  Darstellung  erfolgte  zunächst  aus  dem'  Muskelpreßsaft 
von  im  Ertnüdungssopor  verendeten  Meerschweinchen;  er  ent¬ 
hält  bereits  den  Ermüdungsstoff  und  ist  imstande,  anderen  Tieren 
injiziert,  hei  diesen  alle  Stadien  der  Ermüdung  herbeizuführen. 
Dieser  äußerst  labile  Stoff,  der  in  seiner  Wirkung  nach  intra- 
peritonealer  oder  subkutaner  Injektion  hauptsächlich  durch  eine 
starke  Schädigung  des  Atmungszentrums  hei  Fortbestehen  der 
Herztätigkeit  und  durch  Absinken  der  Temperatur  charak¬ 
terisiert  ist,  kann  merkwürdigerweise  durch  Einwirkung  einer 
Reihe  sowohl  reduzierender  (schwefligsaures,  salpetrigsaures 
Natron,  Phenylhydrazin,  naszierender  Wasserstoff,  Aluminium- 
amalgam,  Elektrolyse)  als  auch  oxydierender  Agentien  (Wasser¬ 
stoffsuperoxyd,  verdünnte  Salpetersäure  und  Cblorwasser)  auf  die 
verschiedenartigsten  Eiweißkörper,  wie  Muskelpreßsaft,  nicht  er¬ 
müdeter  Tiere,  Hühnereiklar,  Milch,  erzeugt  werden,  wiewohl  diese 
Darstellungsart  doch  wohl  für  die  sonst  bekannten  Toxine  als 
recht  eingreifend  bezeichnet  werden  muß.  Es  gelingt  mit  Hilfe 
dieses  als  „Kenotoxin“  hozeichneten  Giftes,  Tiere  aktiv  zu  immu¬ 
nisieren  ;  in  ähnlicher  Weise  werden  jedoch  auch  Tiere  gegen  das 
Kenotoxin  resistent,  die  mit  kolloidalem  Palladium,  Zyankalium. 
Blausäure  vorbehandelt  sind.  (Protoplasmaaktivierung  nach 
Weichardt.)  Durch  intravenöse  Vorbehandlung  von  Pferden  mit 
dem  Kenotoxin  erhält  Verf.  ein  gegen  das  Ermüdungsgift  gerichtetes 
.Antiserum,  welches  Meerschweinchen  seihst  gegen  hochgradige  Er¬ 
müdung  widerstandsfähig  macht.  Doch  gelingt  es  überraschender¬ 
weise,  ähnlich  schützend  wirkende  Präparate,  vom  Verf.  als  ,,Hor- 
migen“  bezeichnet,  auch  derart  zu  gewinnen,  daß  ein  Gemisch  von 
Eiweißlösnng,  Natronlauge  und  Wasserstoffsuperoxyd  kurz  gekocht 
und  das  eingedunstete  Dialysat  mit  Azeton  extrahiert  wird.  Diese 
wesentlichen  Ergebnisse  der  Kenotoxinforschung  Weichardt s, 
welche  durch  eine  Reihe  von  Kymographionkurven  illustriert 
werden  und  in  weiteren  Kapiteln  in  ihren  Beziehungen  zur  Ana¬ 
phylaxieforschung,  zu  gewissen  pathologischen  Vorgängen  (Tuber¬ 
kulose,  Karzinom)  und  zu  physiologischen  Prozessen  (Leistungs¬ 
beeinflussung  mittels  des  Antikenotoxins  beim  Menschen)  be¬ 
handelt  werden,  bieten  eine  Reihe  interessanter  Fragestellungen 
für  den  Fachmann  und  machen  die  Lektüre  der  Kenotoxinstudien, 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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welche  in  ihrer  weiteren  Entwicklung  mannigfachen  Wandel  der 
Auffassung  der  gefundenen  Tatsachen  wohl  erfahren  dürften, 
zu  einer  anregenden. 

Das  Schlußkapitel  bildet  die  Beschreibung  einer  interessanten 
Reaktion  in  vitro,  welche  die  Prüfung  gewisser  Gleichgewichts¬ 
störungen  kolloidaler  Systeme  auf  kolorimetrischem  Wege  gestattet  ; 
der  Monographie  ist  ein  technischer  Teil  mit  genauer  Beschreibung 
der  Methodik  des  Verfassers  beigegeben. 

* 

Praktische  Anleitung  zur  Ausführung  des  biologischen 
Eiweißdifferenzierungsverfahrens 

mit  besonderer  Berücksichtigung  der  forensischen  Blut-  und  Fleisch¬ 
untersuchung,  sowie  der  Gewinnung  präzipitierender  Sera. 

\on  Prof.  Dr.  P.  T  lilenhntli,  Geheimer  Regierungsrat  und  Direktor  der 
bakteriologischen  Abteilung  und  Dr.  0.  Weidanz,  Kreisarzt  in  Bremen 
früherem  wissenschaftlichen  Hilfsarbeiter  im  Kaiserl.  Gesundheitsamt. 

Mit  38  Figuren  im  Text. 

Jena  1909,  Verlag  von  Gust.  Fischer. 

246  S. 

In  dem  vorliegenden  Buche  hat  U  h  1  e  n  h  u  t  h,  der  Schöpfer 
der  biologischen  Eiweißdifferenzierungsmethode,  welche  sowohl 
für  physiologische  und  pathologische  Probleme,  als  auch  für 
den  praktisch  -  forensischen  Nachweis  eine  eminente  Wichtigkeit 
erlangt  hatte  und  wohl  zu  den  schönsten  Errungenschaften  der 
Immunitätslehre  zu  zählen  ist,  gemeinsam  mit  seinem  Mitarbeiter 
Weidanz  die  theoretischen  Grundlagen  und  die  praktischen  Er¬ 
gebnisse  auf  dem  Gebiete  des  forensischen  Blutnachweises,  der 
behördlichen  Fleischbeschau  und  der  Nahrungmittelkontrolle  auf 
Grund  eines  großen  eigenen  Beobachtungsmateriales  zusammen¬ 
gestellt.  ;  '  ;[{''!! 

Die  Fülle  des  in  dem  Buche  enthaltenen  sowohl  für  den  Theo 
retiker,  wie  für  den  Praktiker  gleich  interessanten  Materials  zeugt 
von  der  vielseitigen  Anwendbarkeit  der  ausgezeichneten  Methode, 
wie  sie  dieser  hervorragende  Immunitätsforscher  mit  einer  großen 
Zahl  von  Mitarbeitern  auf  den  verschiedensten  Gebieten  so  er¬ 
folgreich  geübt  hat.  Ein  Vergleich  mit  den  üblichen  physikalisch¬ 
chemischen  Methoden  des  Blutnachweises,  die  ja  stets  neben 
der  biologischen  Differenzierungsmethode  geübt  werden,  spricht 
für  die  große  LIeberlegenheit  der  letzteren.  Im  Anschlüsse  an 
diese,  auf  der  Präzipitinreaktion  beruhende  Methode,  wird  weiters 
der  Eiweißnachweis  mittels  der  Komplementbindungsmethode  er¬ 
örtert,  welcher  jedoch  für  die  Praxis  nur  ein  mehr  unterstützender 
Wert  (insbesondere  für  gekochtes  Material)  zukommt.  Von  beson¬ 
derem  Interesse  sind  die  Ergebnisse  der  durch  die  Anaphylaxie¬ 
reaktion  erhaltenen  Eiweißdifferenzierung,  welche  in  manchen 
Fällen  die  Präzipitinreaktion  an  Empfindlichkeit  noch  übertrifft; 
so  gelang  es  Uhlen huth  und  Haendel  mit  Hilfe  der  Ana¬ 
phylaxie  bei  mehreren  tausendjährigen  Mumien  den  Nachweis 
der  menschlichen  Herkunft  mit  Sicherheit  zu  erbringen,  während 
bekanntlich  die  Präzipitinmethode  bei  Verwendung  derartigen  Ma¬ 
terials  völlig  versagt.  Zahlreiche  instruktive  Abbildungen  ver¬ 
vollständigen  das  schöne,  der  weitesten  Verbreitung  empfohlene 
Werk. 

* 

Allgemeine  Mikrobiologie. 

Die  Lehre  vom  Stoff-  und  Kraftwechsel  der  Ivleinwesen  für  4erzte  und 
Naturforscher  dargestellt  von  Dr.  med.  Walther  Kruse,  ord.  Professor 
und  Direktor  des  hygienischen  Instituts  an  der  Universität  Königsberg 

in  Preußen. 

Leipzig  1910,  Verlag  von  F.  C.  W.  Vogel. 

1184  Seiten. 

Das  dem  Altmeister  C.  Flügge  gewidmete  Werk  stellt  einen 
Teil  der  völlig  umgearbeiteten  vierten  Auflage  des  alten  F  lüg  ge¬ 
sehen  Werkes  „Die  Mikroorganismen“  dar;  nichtsdestoweniger 
muß  der  an  1200  Seiten  umfassende  stattliche  Band  als  ein  völlig 
neues  und  durchaus  selbständiges  Werk Kbus es  aufgefaßt  werden, 
welches  sich  als  ein  Standard  work  allerersten  Ranges  erweist. 

In  dem  Zeitalter  der  Massenproduktion  der  von  zahlreichen  Mit¬ 
arbeitern  gemeinsam  herausgegebenen  Handbücher  muß  das  vor¬ 
liegende  \\  erk  eines  Einzelnen  um  so  mehr  Bewunderung  er- 
i  egen,  als  der  reiche  Inhalt  des  Buches  nicht  nur  überall  von 
einer  souveränen  Beherrschung  der  allgemeinen  Mikrobiologie 
Zeugnis  gibt,  sondern  allenthalben  die  gründliche  und  kritische 


Erkenntnis  der  Nachbargebiete  der  Physiologie,  physio¬ 
logischen  Chemie,  Pharmakologie,  allgemeinen  und  experimen¬ 
tellen  Pathologie  und  der  Immunitätslehre  zutage  tritt.  Dadurch 
ist  das  Werk  weit  mehr,  als  ein  Lehrbuch  für  Aer'zte;  es  ist 
vielmehr  ein  Nachschlagebuch  für  jeden  Naturforscher,  der  sich 
über  Tatsachen  und  Probleme,  die  irgendwie  mit  dem  Leben  der 
Mikroorganismen  Zusammenhängen,  orientieren  will.  Er  wird  auf 
allen  einschlägigen  Gebieten  hier  einen  ausgezeichneten  Lehrer 
finden,  der  von  bestem  naturwissenschaftlichen  Geiste  beseelt, 
frei  von  jeglicher  Schulmeinung  kritisch  das  ungeheure  Material 
bearbeitet,  welches  die  mächtig  aufstrebende  mikrobiologische 
Forschung  zutage  gefördert  hat;  dabei  sind  allenthalben  die  mo¬ 
dernsten  Fortschritte  berücksichtigt.  Es  darf  nicht  wundernehmen 
und  ist  ein  Zeichen  der  Gründlichkeit  des  Verfassers,  daß  acht 
Jahre  über  die  Vollendung  des  Buches  hinweggegangen  sind. 
Das  Werk  ist  vorwiegend  nach  chemischen  und  physiologischen 
Prinzipien  gegliedert  und  zerfällt  in  18  Kapitel,  in  denen  zunächst 
Bau,  chemische  Zusammensetzung,  die  Nährstoffe,  Bedingungen 
der  Ernährung  und  die  Stoffwechselvorgänge  der  Kleinwesen  ab¬ 
gehandelt  werden;  hierauf  folgen  die  durch  die  Mikroorganismen 
bedingten  Umwandlungen  der  Kohlenhydrate,  Alkohole,  Fette,  Fett¬ 
säuren,  der  Glykoside  und  aromatischen  Körper,  der  Eiweißkörper, 
die  Wandlungen  der  einfachen  Stickstoffkörper,  des  Schwefels 
und  anderer  anorganischen  Stoffe,  die  Wege  des  Sauerstoffes, 
die  Atmung,  der  Stoffaufbau  und  Umbau,  die  Fermentprozesse, 
die  Farbstoffe,  Gifte,  Angriffs-,  Reiz-  und  Impfstoffe  der  Klein¬ 
wesen  und  die  die  Stammesgeschichte  der  Mikroroganismen  be¬ 
rührenden  und  verändernden  Prozesse.  Die  reichhaltige  überall 
angeführte  Literatur  ermöglicht  an  jedem'  Punkte  das  Studium 
der  einschlägigen  Originalarbeiten. 

Zusammenfassend  läßt  sich  von  der  allgemeinen  Mikro¬ 
biologie  sagen,  daß  sie  ein  klassisches  Werk  deutscher  Gründlich¬ 
keit  darstellt,  dem  die  -dankbare  Anerkennung  aller  Fachgenossen 

sicher  ist.  E.  P.  Pick. 

* 

Die  Therapie  der  Magen-  und  Darmerkrankungen. 

Von  Sanitätsrat  Dr.  Karl  Wegele, 

Besitzer  einer  Anstalt  für  Magenkranke  in  Bad  Königsborn  (Westfalen). 

Vierte,  umgearbeitete  Auflage. 

Mit  11  Abbildungen  im  Texte. 

Jena  1911,  Verlag  von  G.  Fischer. 

Wegele,  der  über  eine  ausgedehnte  praktische  Erfahrung 
auf  dem  Gebiete  der  Stoffwechseltherapie  verfügt,  hat  diese  vierte 
Auflage  seines  diätetischen  Werkes  in  neuer  Bearbeitung  erscheinen 
lassen  und  es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  er  ebenso  reüssieren 
wird  wie  mit  den  früheren  Auflagen  seiner  Diätetik.  Es  haben  u.  a. 
das  Kapitel  über  Chirurgie  des  Ulcus  ventriculi,  Uber  Appendizitis, 
über  Atonie,  Gastroptose,  Obstipation,  Kolitis,  Sigmoiditis  etc.  eine 
den  neuesten  Forschungen  entsprechende  Neubearbeitung  erfahren. 

* 

Stoffwechsel  und  Stoffwechselkrankheiten. 

Einführung  in  das  Studium  der  Physiologie  und  Pathologie  des  Stoff¬ 
wechsels  für  Aerzte  und  Studierende. 

Von  Prof.  Dr.  Paul  Friedrich  Richter, 

Privatdozent  an  der  Universität  Berlin. 

2.  Auflage. 

Berlin  1911,  Verlag  von  A.  Hirschwald. 

Schon  nach  wenigen  Jahren  hat  sich  das  Bedürfnis  geltend 
gemacht,  eine  zweite  Auflage  dieses  gehaltvollen  Buches  zu  veran¬ 
stalten,  ein  Beweis,  daß  sich  diese  modernste  Seite  der  inneren 
Medizin  steigender  Wertschätzung  erfreut  und  daß  Richter  durch 
seine  übersichtliche  Darstellung,  seine  Vertrautheit  mit  dem  schwie¬ 
rigen  Stoff,  durch  die  Weglassung  alles  überflüssigen  Ballastes  es 
verstanden  hat,  viele  Freunde  seines  Buches  sich  zu  erwerben,  ob¬ 
zwar  größere  und  eingehendere  Monographien  dieses  Gebietes 
existieren. 

Nur  ein  Wort  sei  dem  Referenten  gestattet,  das  mit  dem 
rein  Stofflichen  des  Buches  nichts  zu  tun  hat,  aber  unseren  Kol¬ 
legen  im  Deutschen  Reiche  einmal  gesagt  werden  muß:  Hier  und 
in  vielen  anderen  von  reichsdeutschen  und  namentlich  Berliner 
Autoren  veröffentlichten  Mitteilungen  werden  die  innerhalb  der 
schwarzgelben  Grenzpfähle  publizierten  Arbeiten  mit  Vorliebe  ignoriert 
und  der  ganze  Literaturbedarf  bei  den  Zitierungen  im  Inlande  ge- 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


deckt.  Im  Interesse  der  Gerechtigkeit  in  bezug  auf  viele  Fragen  der 
Priorität  wäre  es  dringend  zu  wünschen,  daß  dieser  Uebelstand 
einmal  von  berufener  Seite  abgeschafft  und  in  den  Literaturangaben 
nur  die  historische  Gerechtigkeit  ohne  jeden  lokalpatriotischen  Ein¬ 
schlag  zu  ihrem  Recht  komme. 

* 

Theorie  und  Praxis  in  der  Beurteilung  der  Gicht  auf 
Grund  einer  Erfahrung  in  6000  Fällen. 

Von  Sanitätsrat  Dr.  Gemmel,  Badearzt  in  Bad  Salzschlirf. 

J  e  n  a  1911,  Verlag  von  Gustav  Fischer. 

Es  ist  immer  mißlich,  neue  Theorien  aufzustellen,  wenn  man 
dafür  gar  keine  experimentellen  Beweise  Vorbringen  kann  ;  an  diesem 
Fehler  krankt  das  vorliegende  Büchlein,  dessen  Leitsätze  sich  in 
folgende  drei  Bekenntnisse  zusammenfassen  lassen:  »Gicht  ist  ohne 
Annahme  eines  noch  unbekannten  Stoffes,  der  die  Entzündung  ver¬ 
anlaßt,  undenkbar ;  gegen  die  Harnsäure  als  causa  peccans  sprechen 
auch  praktische  Erfahrungen.  Die  Gicht  ist  eine  unter  dem  Einfluß 
des  Sympathikus  stehende  Stoffvvechselerkrankung.  Es  ist  unmöglich, 
die  Gicht  von  dem  chronischen  Rheumatismus  zu  trennen.«  Ob  die 
unbekannte  Noxe  zu  Gicht  oder  zum  Rheumatismus  führt,  ist  nach 
des  Verfassers  Ansichten  davon  abhängig,  wie  die  Konstitution  des 
befallenen  Organismus  beschaffen  ist.  Durch  solche  theoretische 
Betrachtungen  gewinnen  wir  leider  gar  nichts  und  mit  Philosophie 
kann  man  auch  im  Zeitalter  der  experimentellen  Untersuchungen 
über  Krankheitsursachen  wohl  kaum  weiterkommen ;  das  Wesen  der 
Gichtfrage  wird  durch  derartige  Expektorationen  nicht  rascher  ge¬ 
klärt  werden.  K.  GJaessner. 

* 

Veröffentlichungen  <ler  Robert  Koch-Stiftung  zur  Bekämpfung  der 

Tuberkulose.  Heft  2. 

Untersuchungen  über  tuberkulöse  Infektionen  im  Kindes¬ 
alter. 

Von  Stabsarzt  Dr.  Rothe. 

Leipzig  1911,  Georg  Thi  e  m  e. 

Die  Untersuchungen  Rothes  stellen  eine  Fortsetzung  und 
Ergänzung  von  Untersuchungen  dar,  über  die  Gaffky  seinerzeit 
berichtet  hat.  (Tuberculosis  vol.  6,  1907.)  Sie  erstrecken  sich 
auf  die  Prüfung  kindlicher  Mesenterial-  und  Bronchialdrüsen  hin¬ 
sichtlich  des  Vorhandenseins  von  Tuberkelbazillen  und  auf  die 
b  eststellung,  ob  die  durch  Verimpfung  auf  Meerschweinchen  in 
den  Drüsen  nachgewiesenen  und  in  Reinkultur  gewonnenen  Tu¬ 
berkelbazillen  dem  Typus  humanus  oder  dem  Typus  bovinus 
angehören.  Im  ganzen  wurden  400  Kinderleichen  untersucht. 
Unter  den  konstatierten  76  tuberkulösen  Fällen  handelte  es  sich 
nur  einmal  um  eine  Infektion  mit  dem  Typus  humanus,  in 
allen  übrigen  Fällen  (75)  um  eine  bovine  Infektion. 

Dieses  Resultat  bestätigt  in  vollem  Umfange  die  Ansicht 
R.  Kochs,  daß  auch  für  das  Kindesalter  die  Bedeutung  der 
Rindertuberkelbazillen  erheblich  zurücktritt  gegenüber  der  ihm 

von  menschlichen  Tüberkelbazillen  drohenden  Gefahr. 

* 

Schutzpockenimpfung  und  Impfgesetz. 

Unter  Benutzung  amtlicher  Quellen  bearbeitet  von  Prof.  Dr.  Martin 

Kirchner. 

Berlin  1911,  Richard  Schoetz. 

Fast  jedes  Jahr  werden  im  deutschen  Reichsrat  von  den 
Impfgegnern  Eingaben  um  Aufhebung  des  Impfgesetzes  einge-  | 
bracht.  Der  Verfasser,  der  im  Jahre  1910  Mitglied  der  Kommis¬ 
sion  war,  [die  über  eine  derartige  Eingabe  zu  referieren  hatte, 
weist  an  der  Hand  vergleichender  Tabellen  auf  die  großen  Ge¬ 
fahren  hin,  die  eine  Aufhebung  des  Impfgesetzes  für  den  Staat 
bringen  möchte.  Die  Impfung  muß  mit  der  bisherigen  Gewissen¬ 
haftigkeit  durchgeführt  werden,  will  Deutschland  nicht  an  sich 
selbst  die  traurige  Erfahrung  anderer  Staaten  machen,  in  denen 
durch  laxeres  Handhaben  des  Impfgesetzes  der  Ausbruch  von 
Blatternepidemien  heraufbeschworen  wurde.  Die  Schädigungen, 
von  denen  die  Impfgegner  sprechen,  sind  in  Wirklichkeit  nicht 
vorhanden;  sie  sind  nichts  anderes  als  eine  Verkennung  oder 
falsche  Auslegung  von  zufälligen  Störungen.  Die  Impfung,  wie  sie 
heute  mit  animaler  Lymphe  vorgenommen  wird,  bringt  keinen 
Schaden,  sondern  nur  Schutz  gegen  die  gefährliche  Blattern¬ 
erkrankung. 


948 


Pflege  und  Ernährung  des  Säuglings. 

Ein  Leitfaden  für  Pßegerinnen  und  Mütter. 

Von  Dr.  M.  Pescatore. 

Diitte,  veränderte  Auflage  bearbeitet  von  Prof.  Dr.  Leo  Laugstein. 

Berlin  1911,  Julius  Springer. 

Jeder  Pflegerin,  jeder  Mutter  kann  dieses  Büchlein,  das 
in  kurzer  Zeit  in  der  vierten  Auflage  erschienen  ist,  dringend 
zur  Lektüre  empfohlen  werden.  Es  enthält  alles,  was  eine  tüchtige 
Pflegerin  zum  Wohle  ihres  Pfleglings  wissen  soll,  nämlich  die 
\\  ich  tigs  ten  Vorschriften,  betreffend  die  Pflege  des  gesunden  und 
des  kranken  Säuglings.  Hier  liegt  das  eigentliche  Arbeitsfeld  einer 
guten  Pflegerin  und  nicht,  wie  wir  es  nur  allzu  häufig  antreffen, 
in  dem  ehrgeizigen  Streben,  die  Krankheiten  auch  diagnostizieren 
und  behandeln  zu  können,  worunter  oftmals  die  gute  Pflege  des 
Kindes  leidet. 

Als  Anhang  bringt  das  Buch  von  Dr.  Eff ler,  dem  be¬ 
kannten  Ziehkinderarzt  in  Danzig,  abgefaßte  Anweisungen  für 

Helferinnen  von  Fürsorgeanstalten  und  Ziehkinderorganisationen. 

* 

Die  Wohlfahrtseinrichtungen  für  Kinder  in  großen  Städten. 

Von  Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.  A.  Bagiusky. 

Nach  einem  am  6.  Dezember  1910  in  der  Gesellschaft  für  öffentliche 
Gesundheitspflege  zu  Berlin  gehaltenen  Vortrag. 

Berlin  1911,  August  Hirschwald. 

Baginsky  findet  in  seinem  Vortrage  warme,  fürsprechende 
Worte  für  die  Säuglings-  und  Jugendfürsorge.  Wenn  auch  in  der 
Säuglingsfürsorge  in  den  letzten  Jahren  schon  Vieles  geleistet 
wurde,  so  bleibt  doch  zum  völligen  Ausbau  des  herrlichen  Ge¬ 
bäudes  noch  manches  zu  tun  übrig;  vornehmlich  die  Jugend¬ 
fürsorge  ist  bisher  vernachlässigt  worden  ünd  ihr  muß  Staat, 
Kommune  und  private  Vereinigung  mehr  Aufmerksamkeit  zu¬ 
wenden.  Die  Fürsorge  darf  sich  nicht,  soll  der  eigentliche  Zweck 
derselben  erfüllt  werden,  nur  auf  Wochen  erstrecken  und 
etwa  mit  einem  Seeaufenthalt  für  imtner  beendet  sein,  sondern 
sollte  in  der  Säuglingszeit  beginnen  und  in  öontinuo  mindestens 
bis  zur  Pubertätszeit  reichen.  Um  diese  ständige  Kontrolle  und 
Beobachtung  durchzuführen,  müßte  in  jeder  größeren  Stadt  ein 
Z  entral  Wohlfahrtsamt  geschaffen  werden.  Sind  wir  ein¬ 
mal  so  weit,  so  wird  der  eigentliche  Zweck  der  Fürsorge:  die 
Heranziehung  einer  gesunden  Generation,  verwirklicht  werden. 

C.  Le  in  er. 


Aas  \zersehiedenen  Zeitsehriften. 

647.  Die  Salvarsantherapie  bei  Lues  des  Zentral¬ 
nervensystems  bei  Tabes  und  Paralyse.  Von  Professor 
Dr.  G.  Treupel  in  Frankfurt  a.  M.  Unter  Hinweis  auf  frühere 
Publikationen  berichtet  Verfasser  über  62  Fälle  von  Lues  des 
Zentralnervensystems  (Tabes  und  Paralyse),  welche  er  mit  ins¬ 
gesamt  über  hundert,  teils  subkutanen  oder  intramuskulären,  teils 
intravenösen  Injektionen  von  Salvarsan  behandelt  hat.  Fälle 
frischer  Hirnlues  —  mit  oder  ohne  Vorbehandlung  mit  Quecksilber 
und  Jod  —  reagierten  auf  Salvarsaninjektionen  gut.  Lähmungs¬ 
erscheinurigen  bildeten  sich  in  den  nächsten  Tagen  ganz  oder  teil¬ 
weise  zurück;  Bewußtseinstrübungen,  beginnende  Stauungspapille, 
Kopfschmerzen  usw.  gingen  zurück.  Bemerkenswert  war  es,  daß 
das  Salvarsiajn  auch  dort  Wirkungen  aufwies  (fünf  Fälle),  wo 
Quecksilber-  und  Jodkuren  bis  dahin  versagt  hatten.  In  ganz 
veralteten  Fällen  von  Lues  des  Zentralnervensystems,  bei  welchem 
schon  ausgesprochene  und  vorgeschrittene  Degeneration  im 
Nervensystem  sich  vermuten  ließen,  blieben  nicht  nur  Queck¬ 
silber-  und  Jodkuren,  sondern  auch  Salvarsan  wirkungslos,  wir 
dürfen  eben  nicht  erwarten,  durch  die  spezifische  Therapie  die 
Ausfallserscheinungen  beseitigen  zu  können.  In  solchen  Fällen 
wäre  mit  den  Salvarsaninjektionen  höchstens  die  etwaige  Ver¬ 
nichtung  noch  vorhandener  Spirochäten  und  damit  vielleicht  ein 
Stillstand  der  Krankheit  zu  erreichen.  Bei  Tabes  wurde  nach 
Salvarsaninjektionen  eine  Vermehrung  der  nervösen  Reizungs- 
erscheinungen  nur  ganz  vereinzelt  beobachtet  (Analogie  zu  der 
LIerxheimerschen  Reaktion  bei  frischer  Lues),  Schmerzanfälle 
klangen  aber  nach  zwei  bis  drei  Tagen  allmählich  ab,  damit  auch 
stärkere,  lanzinierende  Schmerzen.  Außer  der  Herabsetzung,  be- 


944 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911 


Nr.  26 


Ziehung  -weise  Beseitigung  der  Schmerzen  für  längere  Zeit  hat 
Verf.  Besserungen  der  Ataxie,  der  Parästhesien  gelegentlich  beob¬ 
achten  können,  ferner  vermehrtes  Kraftgefühl  und  Gewichts¬ 
zunahme.  Die  im  wesentlichen  subjektiven  Besserungen 
.eilen  zwar  wochen-  und  monatelang  an,  waren  aber  nicht 
von  dauerndem  Bestände.  Dann  hatten  die  vorgenommenen 
Reinjektionen  wiederum  den  gleichen  Erfolg  wie  das  erste  Mal. 
Eine  nachweisbare  unzweideutige  Besserung  der  tabischen  Aus¬ 
fallserscheinungen  wurde  in  keinem  der  Fälle,  auch  nach  mehr¬ 
maligen  Injektionen  in  Dosen  von  0-3  bis  0-6  g  erzielt.  Ver¬ 
fasser  bespricht  das  Verhalten  der  Wassermann  sehen  Reak¬ 
tion  in  solchen  Fällen  und  betont  nochmals  die  durch  Injektionen 
erzielten  subjektiven  Besserungen.  Selbst  in  geeignet-  erschei¬ 
nenden  Fällen  sei  man  mit  der  intravenösen  Injektion  sehr  vor¬ 
sichtig.  Ein  Patient  starb  zwei  Tage  nach  einer  intravenösen  In¬ 
jektion  von  04g  unter  meningealen  Reizerscheinungen.  Die  Auto¬ 
psie  ergab  neben  einer  ausgedehnten,  bis  weit  hinaufreichenden 
Degeneration  der  Hinterstränge  eine  diffuse  ältere  Pachymenin¬ 
gitis  haemorrhagica  interna  mit  großerr  frischen  Blutungen  und 
kleine  punktförmige  frische  Blutungen  im  verlängerten  Mark  und 
Verfasser  sagt,  es  sei  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  frischen  Blu¬ 
tungen  im  verlängerten  Mark  irr  umnittelbarem  Zusammenhang  mit 
der  Injektion  zir  bringen  seien.  Im  weiteren  berichtet  Verf.  über 
die  Erfolge  bei  22  Fällen  von  progressiver  Paralyse.  Etwa 
ein  Drittel  der  injizierten  Fälle  konnte  als  gebessert  bezeichnet 
werden,  insofern  als  eine  Milderung  des  vorher  häufigeren 
schroffen  Stimmungswechsels,  Besserung  der  Sprache  und  Schrift 
und  in  allen  Fällen  eine  nicht  unwesentliche  Gewichtszunahme 
konstatiert  wurden.  Die  Wasser  mann  sehe  Reaktion  im  Blut 
vor  der  Injektion  war  ISmal  unter  22  Fällen  (82%)  positiv,  16mal 
davon  stark  positiv.  Die  Salvarsanbehandlung  in  der  Form  intra¬ 
venöser  Injektionen  ist  bei  Tabes  und  Paralyse  erlaubt,  wenn 
die  Zeit  zwischen  dem  Beginne  der  Erkrankung  und  der  ur¬ 
sprünglichen  Infektion  nicht  allzu  lang  und  die  Erkrankung  selbst 
noch  im  Beginne  ist.  —  (Deutsche  medizinische  Wochenschrift 
1911,  Nr.  22.)  E.  F, 

* 

648.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  in  Freiburg  i.  B.) 
Schilddrüsen  Veränderungen  und  Hämoglobingehalt 
des  Blutes  bei  Chlorose.  Von  Dr.  Ernst  Handmann, 
Assistenten  der  Poliklinik.  Die  Fälle  des  Verfassers,  44  im 
ganzen,  stammen  aus  dem  letzten  Halbjahre.  Die  Diagnose  wurde 
nach  den  bekannten  subjektiven  und  objektiven  Symptomen  ge¬ 
stellt  und  der  Hämoglobingehalt  genau  bestimmt.  Außerdem 
wurden  an  dem  Krankenmaterial,  das  vorwiegend  aus  den  kropf¬ 
reichen  Landbezirken  Oberbadens  stammt,  Untersuchungen  über 
das  Vorkommen  von  Schilddrüsenveränderungen  bei  Chloroti- 
schen  angestellt.  Die  Therapie  beschränkte  sich  ausschließlich 
auf  die  interne  Verordnung  von  Eisen.  Von  den  44  Fällen  sind 
7  genauer  mitgeteilt,  während  die  anderen  37  in  einer  Tabelle 
übersichtlich  dargestellt  sind.  Die  Durchsicht  dieser  Kranken¬ 
geschichten  zeigt,  daß  in  allen  Fällen  die  Diagnose  Bleichsucht 
vollkommen  gerechtfertigt  war.  Die  charakteristischen  Befunde 
am  Herzen  und  an  den  Gefäßen  fehlten  nur  in  8  Fällen,  typisches 
Nonnensausen  war  bei  24  Kranken  zu  hören.  Menstruations¬ 
störungen  waren  fast  bei  allen  vorhanden.  Was  die  Therapie  be¬ 
trifft,  wurden  nur  bei  zwei  Patienten  neben  der  Eisenmedika¬ 
tion  noch  andere  Hilfsmittel  angewendet.  Ueber  12  kann  derzeit 
noch  kein  abschließendes  Urteil  abgegeben  werden.  Bei  13  Fällen 
wurzle  durch  ausschließliche  interne  Eisentherapie  eine  ausge¬ 
sprochene  Besserung  ihres  Zustandes  erzielt,  bei  17  trat  voll¬ 
kommene  Heilung  ein.  Das  Resultat  spricht  also  eindeutig  zu¬ 
gunsten  einer  spezifischen  Wirkung  des  Eisens  bei  Chlorose. 
Was  nun  die  Kombination  von  Basedow  und  Chlorose  betrifft, 
wurde  das  Vorkommen  schon  von  Wunderlich  beschrieben. 
Von  den  44  Kranken  des  Verfassers  hatten  25  eine  Vergrößerung 
der  Schilddrüse,  also  über  die  Hälfte,  wovon  einige  Patienten 
nicht  aus  Kropfg  eg  enden  stammten.  Meist  handelte  es  sich  um 
kleine  parenchymatöse  oder  Kolloidstrumen.  Große  zystische, 
knotige  oder  vaskulöse  Stimmen  befanden  sich  nicht  darunter. 
Basedowsymptome  neben  typischer  Chlorose  boten  drei  Patienten. 
No orden,  der  viel  häufiger  Basedowsymptome  beobachtete,  ist 
trotzdem  nicht  geneigt,  einen  engen  Zusammenhang  zwischen 


Bleichsucht  und  Morbus  Basedow  anzunehmen,  sondern  er  ver¬ 
tritt  den  Standpunkt,  daß  es  sich  um  getrennte  Stoffwechsel¬ 
erkrankungen  handelt.  Nachdem  aber  durch  die  Untersuchungen 
der  letzten  Jahre  vielfache  Beziehungen  der  Drüsen  mit  innerer 
Sekretion  zueinander  festgestellt  worden  sind,  wäre  zu  bedenken, 
ob  diese  scharfe  Trennung  aufrecht  erhalten  werden  kann  oder 
ob  auch  bei  der  Bleichsucht  nicht 'Wechselwirkungen  irgend¬ 
welcher  Art  angenommen  werden  sollen.  Verfasser  kann  auf 
Grund  seines  Materiales  nur  darauf  hinweisen,  daß  bei  25  von 
44  Chlorotischen  eine  Struma  bestand.  Nach  diesen  Tatsachen 
wäre  also  denkbar,  daß  Strumen  eine  Erkrankung  an  Bleich¬ 
sucht  begünstigen  können,  so  daß  sie  in  kropfreichen  Gegenden 
als  prädisponierendes  Moment  für  die  Chlorose  in  Betracht 
kommen.  Was  den  Hämoglobingehalt  betrifft,  so  hatten  6  unter 
80°/o,  in  15  Fällen  schwankte  er  zwischen  80  und  90°/o  und  in 
23  Fällen  war  er  normal  (100%).  Es  ergab  sich  daraus'  die  inter¬ 
essante  Tatsache,  daß  über  die  Hälfte  der  Chlorotischen  hin¬ 
sichtlich  ihres  Blutfarbstoffgehaltes  keine  oder  nur  sehr  gering* 
fügige  Störungen  aufwiesen,  trotzdem  sie  sonst  die  charakteristi¬ 
schen  Symptome  der  Bleichsucht  darboten.  An  der  Richtigkeit 
der  Diagnose  war  nach  Verf.  nicht  zu  zweifeln.  Ein  Blick  auf  die 
Tabelle  lehrt,  daß  nur  3  von  23  Patienten  die  typischen  Men¬ 
struationsanomalien  vermissen  lassen ;  nur  4  zeigten  keine  cha¬ 
rakteristischen  Zirkulationsstörungen.  Ferner  kann  auch  hier  auf 
den  Erfolg  der  Eisentherapie  hingewiesen  werden.  Die  spezi¬ 
fische  Wirkung  des  Eisens  bei  chlorotischen  Zuständen  ist  so 
allgemein  anerkannt,  (.laß  sie  zur  Sicherstellung  der  Diagnose  ex 
juvantibus  dienen  kann.  In  letzter  Zeit  wurde  erst  wieder  von 
Dubnikoff  und  Seiler  darauf  aufmerksam  gemacht.  Sie  be¬ 
obachteten  bei  30  Fällen  von  Bleichsucht  17  mit  fast  normalem 
Hämoglobingehalt,  die  ebenso  gut  wie  die  anderen  auf  Eisen 
reagierten.  Es  bestätigte  sich  somit  die  von  Morawitz  mitge¬ 
teilte  Erfahrung,  daß  es  typische  Fälle  von  Bleichsucht  gibt,  die 
ohne  nennenswerte  Veränderung  des  Blutes  verlaufen.  Für  den 
Mechanismus  der  Eisenwirkung  bei  Chlorose,,  über  den  trotz 
vieler  Untersuchungen  noch  keine  Uebereinstimmung  der  An¬ 
sichten  erzielt  worden  ist,  eröffnen  sich  damit  neue  Gesichts¬ 
punkte.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  22.) 

G. 

* 

649.  (Aus  dem  Institut  zur  Erforschung  der  Infektionskrank¬ 
heiten  in  Bern.  —  Direktor:  Prof.  Dr.  W.  Ko  Ile.)  Neuere  Er¬ 
fahrungen  über  die  Anwen  dungsweise  des  Di¬ 
phtherieheilserums.  Von  Dr.  F.  Krumb  ein  und  Doktor 
E.  Tomarkin.  Die  moderne  Forschung  und  Beobachtung  am 
Krankenbett  fordert  eine  möglichst  frühzeitige  Anwendung  des 
Serums,  zumal  das  Diphtherieserum  vollkommen  unschädlich  ist, 
auch  wenn  es,  zweifelhafter  Weise,  bei  irgendeiner  anderen  Er¬ 
krankung  angewendet  werden  sollte.  In  jedem,  Falle  von  Diphtherie¬ 
verdacht  soll  ohne  Zeitverlust  Serum  eingespritzt  werden,  es 
ist.  ein  Fehler  erst  auf  das  Resultat  der  bakteriologischen  Unter¬ 
suchung  zu  ‘warten  und  dann  erst  auf  Grund  der  bakteriologischen 
Diagnose  zu  handeln.  Wertlos  ist  letztere  indessen  nicht,  da  sie 
für  die  prophylaktischen  Maßnahmen  (Schulbesuch,  Isolierung 
und  so  weiter)  die  notwendigen  exakten  Grundlagen  verschafft. 
Aber  nicht  bloß  frühzeitig  soll  das  Serum  injiziert  werden,  son¬ 
dern  man  muß  auch  dem  Modus  der  Serumapplikation,  welchem 
nach  Dönitz  und  von  Berghans  eine  hervorragende  Bedeu¬ 
tung  zukommt,  genügende  Beachtung  schenken.  Die  intravenöse 
Einverleibung  des  Serums  wirkt  nämlich  500mal  stärker  als  die 
subkutane  und  80  bis  90mal  besser  als  die  intraperitoneale  In¬ 
jektion.  Die  subkutane  Applikation  wirkt  am  langsamsten,  denn 
wenn  d!as  Serum  auch  schon  nach  zwei  Stunden  im  Blute  nach¬ 
weisbar  wird,  so  findet  es  sich  doch  erst  nach  24  Stunden  in 
erheblicher  Menge.  Die  Resultate  der  intravenösen  Serumappli¬ 
kation  sind  sehr  ermutigend,  sie  ist  in  der  Hand  des  Geübten  voll¬ 
kommen  unschädlich  trotz  des  Karbolzusatzes  zum  Smum  (im 
Eiweiß  verankerte  Phenole  sind  viel  weniger  giftig  als  Phenole 
in  wässeriger  Lösung).  Bei  intramuskulärer  Injektionsmethode 
ist  eine  fünf  bis  siebenmal  stärkere  Wirkung  des  Diphtherieanti¬ 
toxins  erreichbar.  Für  den  Erfolg  der  Serumtherapie  ist  es  we¬ 
sentlich,  hochwertige  Präparate  zu  benützen  und  die  Dosis  über¬ 
haupt  zu  erhöhen.  Nicht  nur  am  Tiere  (Dönitz,  Marx  und  von 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


945 


Berg  ha  ns)  ist  es  gelungen  mittels  Einführung  sehr  großer  Dosen 
des  Serums  (intravenös  namentlich)  selbst  bereits  eingetretene 
Vergiftungssymptome  rückgängig  zu  machen,  also  durch  große 
Gaben  von  Antitoxin  das  an  die  Körperzellen  verankerte  Toxin 
loszusprengen  und  die  Tiere  am  Leben  zu  erhalten,  sondern  es 
berichten  auch  schon  verschiedene  Kliniker  über  günstige  Re 
sultate  bei  der  Behandlung  von  postdiphtheritisc'hen  Lähmungen 
mittels  Diphtherieserum,  wobei  ganz  exzessive  Dosen  bis  zu  80.000 
Immunitätseinheiten  ohne  besonderen  Schädigungen  verwendet 
wurden  (Comby,  Mauriac,  Middleton,  Cairns,  Bankier, 
Heubner).  Bei  wiederholter  Injektion  auch  hochwertiger  Sera 
braucht  man  die  Auslösung  anaphylaktischer  Erscheinungen 
der  sogenannter  TJeberempfindlic'hkeit  nicht  zu  fürchten,  da 
solche  Reaktionen  erst  dann  zustande  kommen,  wenn  die  Wieder¬ 
holung  der  Injektion  durch  einen  Zeitraum  von  mehr  als  zwölf 
Tagen  von  der  ersten  Serumeinverleibung  getrennt  ist,  also  wenn 
es  sich  um  eine  eigentliche  Reinjektion  handelt.  Im  übrigen  sind 
anaphylaktische  Zustände  beim  Menschen  meist  relativ  harmloser 
Natur  und  können  sehr  wohl  in  den  Kauf  genommen  werden, 
wenn  es  gilt  lebensrettend  vorzugehen.  Sie  unterscheiden  sich  von 
der  Serumkrankheit  dadurch,  daß  sie  oft  wenige  Stunden  nach 
der  Einspritzung  und  dann  stürmisch  eintreten  (die  Inkubations¬ 
zeit  der  Serumkrankheit  verkürzt  sich  also  von  acht  bis  zwölf 
Tagen  auf  Stunden  und  die  Reaktion  ist  eine  verstärkte;  eine 
sofortige  verstärkte  Reaktion,  dann  allerdings  mit  Shocksymptomen, 
erfolgt  am  häufigsten,  wenn  die  Reinjektion  drei  bis  acht  Wochen 
nach  der  Einspritzung  großer  Dosen  von  Serum  geschehen  ist). 
Beim  Auftreten  von  stärkeren  Exanthemen  und  Oedemen,  von 
Schwindel  und  Herzschwäche,  wie  sie  in  seltenen  Fällen  nach 
der  Seruminjektion  beobachtet  werden,  soll  man  es  nicht  unter¬ 
lassen  zu  untersuchen,  ob  das  Phänomen  auf  Serumidiosynkrasie 
eines  Erstinjizierten  oder  auf  Serumkrankheit  eines  Reinjizierten 
beruht  und  dementsprechend  von  vorneherein  z.  B.  Herzschwäche 
bekämpfen.  Trotzdem  wäre  es  verkehrt  die  Serumkrankheit 
als  eine  große  Gefahr  für  Reinjizierte  hinzustellen,  denn  un¬ 
glücklich  verlaufene  Fälle  beim  Menschen,  die  mit  Sicherheit 
auf  die  Seruminjektion  zurückzuführen  wären,  sind  bis  jetzt  trotz 
Verwendung  großer  Serummengen  nicht  vorgekommen.  Immer¬ 
hin  wäre  größte  Vorsicht  bei  der  intravenösen  Seruminjektion 
Reinjizierter  geboten.  Die  Behandlung  der  Serumkrankheit  kann 
nur  eine  symptomatische  sein.  —  (Korrespondenzblatt  für 
Schweizer  Aerzte  1911,  41.  Jahrg.  Nr.  9.)  K.  S. 

* 

650.  Seltene  Widerstandsfähigkeit  des  Perito¬ 
neums.  Von  Dr.  S.  S.  Cholm  ogorof  f.  Der  Verfasser  teilt  fol¬ 
genden  Fall  mit:  Am  Abend  nach  der  am  selben  Tage  vorge¬ 
nommenen  Nahtabnahme  der  Laparotomiewunde  einer  vor  neun 
Tagen  vorgenommenen  Sectio  caesarea,  platzte,  ohne  daß  man 
es  bemerkte,  die  Bauchdecke  in  der  Narbe,  so  daß,  als  man  am 
nächsten  Morgen  darauf  kam,  die  Darmschlingen  wenigstens  zwölf 
Stunden  außerhalb  der  Bauchhöhle  gelegen  haben.  Die  Serosa 
der  Darmschlingen  war  bereits  eingetrocknet.  Stellenweise  sind 
Verlötungen  zwischen  denselben  entstanden  und  Watte-,  be¬ 
ziehungsweise  Gazefasern,  sowie  Heftpflasterstückchen  klebten 
daran.  Bei  der  Reposition  der  Darmschlingen  platzte  die  ganze 
Wunde  der  Bauchwand  auf.  Die  vorerwähnten  Verlötungen 
wurden  zerstört.  Mit  großer  Mühe  und  zweifellos  mit  ziemlich 
bedeutendem  Trauma  gelang  es,  die  Darmschlingen  zu  reponieren 
und  die  Bauchhöhle  wieder  zu  vernähen.  Trotzdem  ist  weder 
Peritonitis  noch  Ileus  eingetreten  und  Pat.  konnte  nach  19  Tagen 
entlassen  werden.  —  (Zentralblatt  für  Gynäkologie  191.1,  Nr.  20.) 

E.  V. 

* 

651.  (Aus  der  III.  medizinischen  Klinik  der  Universität 
in  Budapest.  —  Prof.  Baron  A.  v.  Koränyi.)  Ueber  einen 
nach  Gebrauch  einer  Radiumemanationskur  wesent¬ 
lich  gebesserten  Fall  von  Sklerodermie.  Von  Dr.  Ju¬ 
lius  v.  Bene  zur.  Es  dürfte  der  erste  Fall  von  Sklerodermie 
sein,  bei  welchem  mit  der  Radiumemanation  ein  Erfolg  erzielt 
wurde.  Bei  der  18jährigen  Magd  begann  das  Leiden  im  Winter 
1907.  Außer  einer  chronischen  Arthritis  der  Finger-  und  Fu߬ 
gelenke  (Krallenstellung  der  steifen  Finger)  bestand  eine  ausge¬ 
sprochene  Sklerodermie  der  Gesichtshaut,  der  Hände,  Unter¬ 


schenkel  und  Brusthaut.  Eine  Fibrolysinkur  (im  Herbste  1910 
mußte  nach  fünf  Injektionen  abgebrochen  werden,  hatte  daher 
gar  keinen  Erfolg.  Am  27.  Februar  wurde  eine  Radiumemanations 
trinkkur  eingeleitet,  welche  die  K ranke  bis  1 .  April  derart  ge¬ 
brauchte,  daß  sie  täglich  drei  Flaschen  der  von  der  Charlotten¬ 
burger  Radiogen-Gesellschaft  in  den  Handel  gebrachten  Radium 
emanation  trank,  also  täglich  116.000  Volt,  d.  i.  1000  Mache- 
Einheiten,  zu  sich  nahm.  Sonst  keine  andere  Behandlung.  Die 
Schmerzen  steigerten  sich  anfangs,  wurden  von  der  zweiten  Woche 
an  geringer,  um  gegen  Ende  der  Kur  ganz  zu  verschwinden.  Die 
Kranke,  welche  sonst  nicht  zu  schwitzen  pflegte,  schwitzte  be¬ 
sonders  im  Anfang  der  Kur,  jedoch  auch  später  ganz  beträchtlich. 
Die  Fingerspitzen  wurden  auch  —  seltener  als  vor  der  Kur  - 
plötzlich!  zyanotisch  und  kalt.  Sie  nahm  während  der  fünf¬ 
wöchigen  Radiumkur  um  1  kg  zu.  Die  verhärtete  Haut  wurde 
von  Tag  zu  Tag  weicher,  so  daß  sie  nach  einem!  Monate  die  Stirne 
bereits  in  Längs-  und  Querfalten  ziehen,  ihren  Mund  verziehen 
und  auch  lächeln  konnte..  Die  vorher  harten  Augenlider,  überhaupt 
der  ganze  Gesichtsausdruck  wurde  geschmeidiger.  Die  Verhärtung 
der  Brusthaut,  der  Unterarme,  der  Handrücken  und  Füße  ist  gänz¬ 
lich  verschwunden;  die  der  Finger  besteht  noch,  aber  in  viel 
geringerem  Grade.  Die  Kranke  kann  die  vorher  ganz  steifen  Finger 
nun  in  beschränktem  Maße  bewegen.  Gegen  Ende  der  fünften 
bis  sechsten  Woche  trat  eine  leichte  Hämoptoe  auf  (über  der 
rechten  Lungenspitze  war  der  Perkussionsschall  etwas  gedämpft, 
zeitweise  waren  daselbst  Rasselgeräusche  hörbar),  weshalb  die 
Kur  unterbrochen  wurde.  Seither  sind  nun  sechs  Wochen  ver¬ 
gangen,  die  Kranke  spürt  seit  einigen  Tagen  wieder  ein  geringes 
Spannen  in  der  Gesichtshaut.  Ob  die  durch  die  Kur  erreichte 
Besserung  beständig  sein  wird,  kann  erst  die  weitere  Beobachtung 
lehren;  wir  besitzen  aber  wahrscheinlich  in  der  Radiumemana¬ 
tion  ein  Mittel,  das  neben  dem  oft  wirksamen  Fibrolysin 
vielleicht  in  Verbindung  mit  demselben  in  der  Therapie  der 
Sklerodermie  versucht  werden  sollte.  —  (Deutsche  medizinische 
Wochenschrift  1911,  Nr.  22.)  E.  F. 

* 

652.  (Aus  der  II.  medizinischen  Abteilung  des  Allgemeinen 
Krankenhauses  Hamburg-Eppendorf.  -  Oberarzt:  Dr.  Rumpel.) 
Zur  Frage  der  Behandlung  de  r  Anämiemit  S a  1  v a r s an. 
Von  Dr.  C.  Lee  de.  Verfasser  bespricht  zunächst  die  Beeinflussung 
der  Anämien  durch  ,,606“  an  der  Hand  des  früheren  Materials. 
Was  nun  die  Erfahrungen  über  ,,606“  bei  den  verschiedensten 
Formen  der  Leukämie  betrifft,  so  fand  Verfasser  ebenso  wie  Mi¬ 
chaelis  nicht  die  geringste  günstige  Beeinflussung  des  Pro¬ 
zesses.  Von  der  echten  Bierrn  er  sehen  perniziösen  Anämie, 
das  heißt  einer  Anämieform,  für  die  außer  dem  bekannten  Blut¬ 
bilde  auch  das  Fehlen  jeder  erkennbaren  Aetiologie  charakte¬ 
ristisch  ist,  wurden  fünf  Fälle  mit  ,,606“  intramuskulär  und 
intravenös  behandelt.  Vier  davon  sind  in  kurzer  Zeit  (36  Stunden 
bis  14  Tage)  gestorben.  Es  wurde  die  Injektion  als  ultimum 
refugium  gemacht.  Immerhin  hatte  Verf.  den  Eindruck,  daß  der 
ungünstige  Ausgang  durch  das  Mittel  eher  noch  beschleunigt 
worden  war.  Noch  deutlicher  ist  dies  im  fünften  Falle.  Patient 
hatte  bei  seiner  Aufnahme  40%  Hämoglobin,  1,400.000  Erythro¬ 
zyten.  Er  erhielt  0-4  Salvarsan.  In  den  nächsten  17  Tagen  nahm 
die  Anämie  derart  zu,  daß  Patient  nur  noch  900.000  Erythrozyten 
und  25%  Hämoglobin  hatte,  dabei  traten  ausgedehnte  Netzhaut¬ 
blutungen  auf,  Schwindel,  Ohrensausen,  Erbrechen  und  rapider 
Verfall.  Es  wurde  sofort  mit  der  gewohnten  Arsen -Eisen-Medi¬ 
kation  und  Freiluftbehandlung  begonnen,  so  daß  Patient  nach 
drei  Monaten  mit  80%  Hämoglobin  entlassen  wurde.  Nach  vier 
Monaten  Rezidive.  0-5  Salvarsan,  doch  ohne  Erfolg,  im  Gegen¬ 
teil,  es  trat  eine  auffallende  Verschlimmerung  des  Zustandes  ein, 
die  nach  Verfasser  zum  Teil  auf  Rechnung  des  Mittels  zu  setzen 
ist.  Nach  20  Tagen  Exitus.  Nach  diesen  Erfahrungen  sah  sich 
Verf.  veranlaßt,  von  der  Behandlung  weiterer  Fälle  von  echter 
perniziöser  Anämie  mit  „606“  Abstand  zu  nehmen.  Anders  ver¬ 
hielten  sich  schwere  Anämien  nach  Malaria.  Hier  beobachtete 
Verfasser  sehr  schnelle  Besserung  des  Blutbildes,  sobald  die 
Anfälle  ausblieben,  was  durch  eine  Injektion  auf  längere  Zeit 
erreicht  wurde.  Besonders  fiel  der  günstige  Einfluß  des  Salv- 
arsans  auf  den  Ernährungszustand  dieser  Kranken  auf.  Bei  ein¬ 
zelnen  Fällen  von  starker  Anämie  bei  florider  Lues  konnte  er 


946 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  26 '  l 


ebenfalls  sehr  schnelle  Zunahme  des  Hämoglobins  beobachten. 
In  einem  vom  Verfasser  mitgeteilten  Falle  handelte  es  sich  eben¬ 
falls  um  eine  schwere  Anämie  auf  luetischer  Basis;  sonst  aber 
imponierte  sie  durchaus  als  perniziöse  Anämie.  Wegen  des 
ti.uk  positiven  Ausfalles  der  Wassermannseben  Reaktion  be¬ 
kam  Patient  04  Salvarsan,  gleichzeitig  Arsen-Eisen.  Nach  zwei 
Monaten  eine  zweite  Salvarsaninjektion.  Interessant  war  das  Ver¬ 
halten  der  Temperatur.  Rumpel  legt  großen  Wert  auf  das  Ver¬ 
halten  der  lemperatur  für  die  Prognosestellung  bei  der  perniziösen 
Anämie.  Im  Stadium  der  Verschlimmerung  treten  oft  erhebliche 
Temperatursteigerungen  auf,  die,  wenn  sich  der  Fall  bessert, 
zur  Norm  zurückkehren,  oft  das  erste  Zeichen  der  Besserung. 
Sub  finem  treten  natürlich  Kollapstemperaturen  auf.  Auch  in 
diesem  Falle  konnte  Verfasser  mit  zunehmender  Besserung  des 
Blutbildes  Rückkehr  der  Temperatur  zur  Norm  beobachten,  ln 
diesem  Falle  von  hochgradiger  Anämie  hat  sich  das  Salvarsan 
glänzend  bewährt.  Es  handelte  sich  hier  um  einen  jener  Fälle 
von  schwerer  Anämie,  die  sehr  große  Aehnlichkeit  mit  der  echten 
perniziösen  Anämie  haben,  die  aber  auf  konstitutionelle  Lues 
zurückzuführen  sind.  Der  Begriff  der  perniziösen  Anämie  wird 
nach  Verf.  nicht  genügend  scharf  umschrieben  und  vieles  dazu¬ 
gerechnet,  wate  nach  Aetiologie  und  Verlauf  nicht  hieher  zu 
rechnen  ist.  Erst  wenn  die  Differentialdiagnose  der  Anämie  eine 
möglichst  feine  sein  wird,  dann  wird  man  auch  die  richtige 
Auswahl  jener  Formen  treffen  können,  bei  denen  Salvarsan  im¬ 
stande  ist,  die  Ursache  der  Anämie  zu  beseitigen  und  Besserung, 
ja  Heilung  zu  bringen.  Für  die  Behandlung  der  echten  perniziösen 
Anämie  scheint  dem  Verfasser  das  Salvarsan  direkt  kontraindiziert 
zu  sein.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  22.) 

G. 

* 

653.  Zur  Pathologie  und  Therapie  der  laktieren¬ 
den  Mamma.  Von  Dr.  A.  Schiller  (Karlsruhe).  Die  Mastitis 
der  Stillenden  beginnt  nach  den  Erfahrungen  Schillers  immer 
als  S  t auu n g  s m  a s  t  i  t i  s,  von  ganz  seltenen  Fällen  abgesehen, 
ist  also  verursacht  durch  ungenügende  Entleerung  der  Brust. 
Die  Infektion  des  gestauten  Sekretes  eines  Milchdrüsenlappens 
geschieht  durch  Bakterien,  die  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  sonst 
unschädlich  in  den  Milchausführungsgängen  vegetieren  (Analogie 
mit  den  Infektionen  bei  Sekretstauung  in  Talgdrüsen,  Blase, 
Nierenbecken,  Gallenwegen  usw.).  Würde  die  Infektion  in  der 
Regel  von  Rhagaden  ausgehen,  wie  gelehrt  wird,  so  müßte  man 
mehr  kutane  Entzündungen,  Phlegmonen,  Erysipel  der  Brusthaut 
sehen.  Aber  sogar  lokale  Erscheinungen  eitriger  Entzündungen 
um  die  Rhagaden  herum  sind  sehr  selten.  Daß  die  Mastitis  sich 
sehr  häufig  bei  Brüsten  findet,  deren  Warzen  Rhagaden  trugen 
oder  noch  tragen,  ist  an  sich  richtig,  spricht  aber  nicht  gegen 
die  Auffassung  Schillers.  Die  Mastitis  puerperalis  entwickelt 
sich  auch  hier  aus  einer  Stauungsmastitis  infolge  der  bei  Rha¬ 
gaden  so  sehr  häufigen  ungenügenden  Entleerung  der  Brust. 
Therapeutisch  steht  in  erster  Linie  die  Saugbehandlung  der 
Mastitis  puerperalis  (nach  Bier),  die  im  Stadium  der  Stauung 
prompte  Heilung  bringt.  Die  Vereiterung  kann  sicher  verhütet  wer¬ 
den.  War  es  zur  Eiterung  gekommen,  so  stellt  Schiller  als  wich¬ 
tiges  therapeutisches  Prinzip  die  Forderung  auf,  die  Laktation 
auf  der  gesunden  Seite  unbedingt,  auf  der  kranken  Seite  aber 
auch  bei  günstiger  Lage  des  Abszesses  (so  daß  der  Warzenhof 
vom  Verband  freibleiben  kann)  fortzusetzen!  Der  Abszeß  selbst 
wird  durch  große  Schnitte  und  Drainage  besser  behandelt  als 
wie  mit  Stichinzisionen  und  Saugbehandlung.  Sobald  es  möglich 
ist,  legt  man  das  Kind  wieder  an  die  erkrankte  Seite  an  und 
es  gelingt  in  der  Regel  die  Laktation  wieder  in  Gang  zu  bringen 
(auch  nach  mehreren  Wochen).  Betreffs  der  Rhagadenbildung 
an  der  Warze  erscheint  als  beste  Behandlung  jene,  welche  am 
raschesten  die  ihres  Epithels  beraubten  wunden  Stellen  der 
Brustwarze  zur  Ueberhäutung  bringt,  ohne  die  Brust  auch  nur 
zeitweilig  außer  Funktion  zu  setzen,  weil  sonst  die  Milchstauung 
mit  allen  schädlichen  Folgen  droht.  Schiller  benützt  zu  diesem 
Zwecke  seit  Jahren  mit  außerordentlich  zufriedenstellendem  Er¬ 
folge  eine  Naphthalansalbe  (Acid,  boric.  5-0,  Zinc.  oxyd.  10  0, 
Naphthalan,  Adip.  Ian.  aa.  25-0),  welche  auf  die  Mammilla  auf¬ 
getragen  wird,  wobei  die  Schrunden  möglichst  zu  entfalten  sind. 
Vor  jedem  Trinken  wird  die  Warze  mit  Oel  und  Watte  gereinigt, 


hierauf  etwas  Milch  expriiniert  und  das  Kind  direkt  angelegt 
Nach  beendigter  Mahlzeit  wird  die  Salbe  wieder  aufgetragen 
Ua  Schiller  grundsätzlich  vierstündige  Nahrungspausen  durch¬ 
fuhrt  und  dann  jedesmal  nur  eine  Brust  reichen  läßt,  so  macht 
m  den  achtstündigen  Zwischenpausen  die  Ueberhäutung  immer 
wieder  genügende  Fortschritte,  so  daß  in  zwei  bis  drei  Tagen 
die  Schrunden  geheilt  sind.  Nur  bei  sensiblen  oder  psychopathi¬ 
schen  Frauen,  bei  denen  die  Schrunden  außerordentlich  schmerz¬ 
halt  sein  können,  muß  man  bisweilen  auf  das  Warzenhiitchen 
zur  iickgreifen.  Anästhesierende  Salben  sind  nicht  zu  empfehlen, 
wohl  wirken  isie  auf  die  Schmerzen  günstig  ein,  aber  der  Heilungs¬ 
prozeß  geht  relativ  langsam  vor  sich.  Da  das  Säughütchen  eine 
Entleerung  der  Brust  entschieden  erschwert,  so  muß  man  täglich 
die  Brustkonsistenz  und  Körpertemperatur  beobachten,  um  der 
Gefahr  einer  Milchstauung  mit  nachfolgender  Mastitis  recht¬ 
zeitig  zu  begegnen.  —  (Monatsschrift  für  Kinderheilkunde  1911 
Bd.  IX,  Nr.  11.)  K  g  ’ 


654.  Zur  operativen  Behandlung  des  Karotis- 
aneuiysmas.  Von  Dr.  F.  Weber.  Die  56jährige  Patientin  be¬ 
merkte  seit  drei  Monaten  eine  rasch  wachsende  Geschwulst  hinter 
dem  rechten  Kieferwinkel,  die  vor  der  Operation  fast  faust¬ 
groß,  als  ein  Aneurysma  des  oberen  Teiles  der  Arteria  carotis 
communis  diagnostiziert  wurde;  außerdem  war  noch  ein  Pseudo¬ 
aneurysma  vorhanden,  das  sich  fast  bis  zur  Klavikula  erstreckt. 
L^  gelang  V  eber  bei  der  Operation,  den  ganzen  Aneu- 
lysmasack,  der  sich  tief  in  die  Fossa  retromaxillaris  bis1  zur 
Schädelbasis  erstreckte,  radikal  zu  entfernen.  Nachdem  Weber 
den  unteren  Teil  des  Sackes  mit  großer  Mühe  abgelöst  hatte,  legte 
er  auf  den  übrig  gebliebenen  oberen  Teil  des  Sackes  sieben  breite 
Arterienklemmen  an,  die  drei  Tage  lang  in  der  Wunde  liegen 
blieben.  Dieser  Teil  des  Aneurysmasackes  gangränisierte  und 
stieß  sich  im  Laufe  von  zehn  Tagen  ab.  Der  postoperative  Verlauf 
war  ein  glatter.  Gehirnerscheinungen  wurden  gar  nicht  beob¬ 
achtet.  Die  Klemmen  wurden  am  sechsten  Tage  anstandslos 
entfernt.  I  rotz  Entfernung  der  Vena  jugularis  interna  und  der 
Aiteria  carotis  communis  mit  ihren  oberen  Verzweigungen,  fühlte 
sich  Pat.  ausgezeichnet.  Heilung.  —  (Zentralblatt  für  Chirurgie 
1911,  Nr.  16.)  E  yK 

* 

655.  Zur  Behandlung  des  Bronchialasthma  und 
asthmaähnlicher  Zustände  mit  Vibrati  o  n  s  mas  s  ag  e. 

\  on  Di.  \\ .  Siegel,  Bad  Reichenhall.  Der  Verfasser  wendet 
bei  den  genannten  Zuständen  die  elektrische  Vibrationsmassage 
an  zwei  ganz  bestimmten,  miteinander  korrespondierenden  Punkten 
des  Rückens  an.  Die  beiden  Punkte  findet  man  zirka  zwei 
Querfinger  unterhalb  des  unteren  Endes  der  Skapula  etwas  me¬ 
dian  wärts  ;  sie  liegen  in  der  Höhe  des  siebenten  bis  neunten  Brust¬ 
wirbels.  Die  Angaben  der  Kranken  sind  in  dieser  Hinsicht  mit 
geringen  Ausnahmen  sehr  präzis  und  übereinstimmend ;  nur  beim 
Ansetzen  des  \  ibrators  an  diesen  Stellen  empfinden  die  Kranken 
eine  wesentliche  Erleichterung.  Man  kann  die  Wirkung  auch 
objektiv  konstatieren;  der  Thorax  erweitert  sich  in  allen  seinen 
Durchmessern,  die  Rippen  heben  sich  mächtig,  die  vorher  krampf¬ 
hafte  Tätigkeit  der  Hilfsmuskeln  fällt  weg,  die  Atmung  vollzieht 
sich  automatisch,  passiv,  der  Lufthunger  ist  geschwunden,  die 
Kranken  atmen  leicht  und  frei.  Die  gute  Wirkung  hält  verschieden 
lange  an.  Beim  starren  Thorax  ist  der  Effekt  natürlich  geringer. 
Die  manuelle  Vibrationsmassage,  in  schweren  Asthmafällen  in 
der  Wohnung  des  Kranken  angewandt  (mit  der  geschlossenen 
Taust  wurden  an  den  zwei  Punkten  durch  kurzes  Klopfen  Er¬ 
schütterungen  hervorgerufen),  steht  an  Wirksamkeit  weit  zurück; 
es  wurden  nur  kurze,  vorübergehende  Besserungen  des  Zustandes 
erzielt.  Die  \\  irkung  der  elektrischen  Vibrationsmassage  ist  nicht 
leicht  zu  erklären.  Vielleicht  liegt  eine  direkte  Zwerchfellwirkung 
vor  (?),  ist  es  reflektorisch  der  Vagus,  vielleicht  entsprechen 
diese  Punkte  sogenannten  Headschem  Zonen.  —  (Medizinische 
Klinik  1911,  Nr.  20.)  £  p 

* 


656.  (Aus  der  medizinischen  Klinik  Heidelberg.)  Ueber 
die  Typhlatönie  und  verwandte  Zustände  (chroni. 
sehe  Appendizitis,  sogenanntes  Coecum  mobile, 
lyphlektasie,  sowie  habituelle  Cökum  torsi  on).  Von 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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Priv.-Doz.  Dr.  Fis  chi  er.  Die  chronischen  Reiz  und  Schmerz¬ 
zustände  in  der  Blinddarmgegend  sind  vielfach  noch  ungeklärt. 
Hausmann  und  Wilms  haben  zuerst  die  Erscheinungen  des 
„mobilen  Cökums“  beschrieben.  Damit  ist  auch  der  Begriff  der 
chronischen  Appendizitis  nähergerückt.  Die  meisten  Autoren  cha¬ 
rakterisieren  das  klinische  Krankheitsbild  durch  folgende  drei 
Kennzeichen:  1.  Schmerzen  in  'der  Cökalgegend,  die  teils  spontan, 
häufig  kolikartig  auftreten,  teils  nur  auf  Palpation  auslösbar  sind 
und  intermittieren.  2.  Ein  luftkissenartig  sich  anfühlender  Tumor 
in  der  Cökalgegend,  der  deutliches  Ileocökalgurren  und  meist 
erheblichen  Schmerz  bei  tiefer  Palpation  auslösen  läßt.  3.  Stuhl¬ 
unregelmäßigkeiten,  hochgradige  Obstipation  allein,  oder  abwech¬ 
selnd  mit  Diarrhöen,  oder  Diarrhöen  allein.  Verfasser  hebt  noch 
das  Fehlen  jener  Symptome  hervor,  welche  speziell  eine  Appen¬ 
dizitis  anzeigen,  wie  die  Defense  musculaire,  Veränderungen  der 
Zunge,  die  hohe  Pulsfrequenz,  die  Leukozytose  und  endlich  das 
Fieber.  Skiagraphische  Untersuchungen  von  Klose  und  Sti erlin 
haben  besonders  zur  Kenntnis  der  lokalen  Veränderungen  beige¬ 
tragen.  Sie  zeigen,  zunächst  eine  mangelhafte  Fortbewegung  des 
Chymus,  resp.  seine  abnorme  Verweildauer  im  Cökum  und  Colon 
ascendens,  ferner  Vergrößerungen  des  Cökums  und  endlich  ab¬ 
norme  Beweglichkeit.  Die  Meinungen  über  die  Aetiologie  diver¬ 
gieren  sehr.  Viele  sehen  in  einer  abnormen  Beweglichkeit  des 
Cökums  die  Ursache  aller  Beschwerden;  Wilms  hält  die  Obsti¬ 
pation  für  die  Ursache  der  Ausbildung  eines  mobilen  Cökums. 
Auch  Klose  sieht  in  den  mechanischen  Momenten  einer  „primären 
oder  sekundären  Kotstauung“  die  Ursache  der  Schmerzattacken, 
also  der  Ausbildung  des  klinischen  Bildes.  Verfasser  hat  seit 
langer  Zeit  unabhängig  von  allen  Autoren  die  Fälle  sogenannter 
chronischer  Appendizitis  näher  verfolgt  und  kam  zu  ganz  ab¬ 
weichenden  Resultaten.  Weder  eine  besondere  Mobilität,  noch 
die  Obstipation  ist  die  Ursache  der  genannten  Cökalbeschwerden, 
sondern  ein  auf  das  Cökum  lokalisierter  Katarrh,  der  seinerseits 
eine  motorische  Insuffizienz  dieses  Darmlabschnittes  zur  Folge 
hat,  woraus  eine  Atonie  des  Cökums  resultiert.  Verfasser  glaubt 
mit  vollem  Rechte  an  dem  von  ihm1  aufgestellten  Bild  der 
Typhlatonie  (Dilatatio  coeci)  als  selbständigen  Krankheitsbegriffes 
festhalten  zu  sollen.  In  dieser  Ansicht  unterstützt  ihn  auch  die 
Arbeit  Stier  lins.  Als  therapeutische  Maßnahmen  empfiehlt 
Verfasser:  1.  Beschränkung  »■der  Nahrungszufuhr,  speziell  ein¬ 
seitiger  Kohlehydrat-Fett-  oder  Eiweißüberemährung.  2.  Leichte 
Massage  der  Cökalgegend  in  der  Richtung'  der  Peristaltik,  körper¬ 
liche  Uebungen  in  den  anfallsfreien  Zeiten.  3.  Vermeidung  stär¬ 
kerer  Abführmittel,  damit  die  Reizzustände  des  Darmes  nicht 
erhöht  werden,  zeitweise  Verabfolgung  folgenden  Wismutgemi¬ 
sches  :  Bismuth,  subnitr.,  Magn.  ustae.  aa :  15-0,  Bismuth,  sub- 
salicylicum,  Pülv.  rad.  rhei  aa. :  10-0.  M.  f.  T.  S.  Dreimal  täglich 
einen  halben  bis  einen  Kaffeelöffel  voll  in  Wasser  nach  dem  Essen. 

4.  Feuchtwartne  Umschläge  über  Nacht  in  der  Cökalgegend. 

5.  Keine  flatulenzerregende  oder  unbekömmliche  Nahrung.  Bei 

stärkeren  Schmerzenfällen  kleine  Morphiumdosen.  Zur  Erklärung 
der  Schmerzattacken  greift  Klose  zur  Torsionstheorie,  Wilms 
und  Sti  er  bin  treten  für  eine  starke  Wirkung  der  Antiperistaltik 
des  Colon  ascendens  ein.  Verfasser  möchte  den  wechselnden 
Zustand  der  katarrhalischen  Veränderungen  im  Typhlon  zur  Er¬ 
klärung  heranziehen.  Er  faßt  seine  Beobachtungen  zusammen: 
1.  Es  gibt  Schmerz-  und  Reizzustände  in  der  Blinddarmgegend, 
die  nicht  von  der  Appendix  ausgehen,  sondern  im  Cökum  lo¬ 
kalisiert  sind.  2.  Diese  Zustände  hängen  ab  von  einer  funktio¬ 
neilen  Insuffizienz  seiner  motorischen  Fünktion  und  führen  zur 
Typhlatonie,  die  somit  ein  wohlbegründetes,  selbständiges  Krank¬ 
heitsbild  darstellt,  worauf  Verfasser  zuerst  hinwies.  3.  Eine  ab¬ 
norme  Mobilität  des  Cökums  hat  als  solche  nichts  mit  diesen 
Zuständen  zu  tun,  doch  bedingt  die  anatomische  Abnormität  mög¬ 
licherweise  ein  leichteres  Zustandekommen  derselben.  4.  Die  Be¬ 
zeichnung  der  oben  geschilderten  Beschwerden  als  solche  eines 
„mobilen  Cökums“  ist  eine  irrige  und  wird  richtiger  durch 
Typhlatonie“  ersetzt.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911, 
Nr.  23.)  G. 

* 

657.  Die  Bedeutung  der  Pi r quetschen  Reaktion 
für  die  Diagnose  der  Tuberkulose.  Von  Dr.  Blümel 
Halle  a.  S.  Die  Pir quetsche  Reaktion,  die  wohl  im  allge¬ 


meinen  eine  spezifische  ist,  kann  für  die  Diagnose  meist  nur  im 
ersten  older  zweiten  Lebensjahr  entscheidend  sein.  Denn  im 
späteren  Kindesalter  und  bei  Erwachsenen  zeigt,  sie  schon  soviel 
inaktive,  geheilte  Tuberkulosen  an,  daß  der  positive  Ausfall  nicht 
mehr  für  die  Diagnose  maßgebend  sein  kann  und  nur  unter 
Beobachtung  des  klinischen  Befundes  mit  allergrößter  Vorsicht 
zu  verwerten  ist.  Auch  die  Qualität  der  Reaktion  steht  durch¬ 
aus  nicht  im'mer  in  so  geradem  Verhältnis  zum  Krankheits¬ 
prozeß,  als  daß  man  aus  der  Intensität  allein  auf  die  Aktivität 
oder  Inaktivität  einer  Tuberkulose  schließen  könnte.  Immerhin 
ist  die  Pir  quetsche  Impfung  für  die  Prophylaxe  der  Tuber¬ 
kulose  im  klinischen  Sinne  von  Wert,  z.  B.  bei  Schulkindern, 
wo  sie  eventuell  auf  die  Infektionsquelle  in  der  Familie  hinweist, 
wenn  schon  das  Kind  selbst  in  klinischem  Sinne  nicht  tuber¬ 
kulös  ist.  Die  Pirquetislierung  der  Schulkinder  liegt  nach 
Blümel  im  Interesse  einer  weitgehenden  Tübeihulosebekäm'pfung. 
—  (Fortschritte  der  Medizin  1911,  29.  Jahrg.  Nr.  11.)  K.  S. 

* 

658.  Zystoskopisc'he  Diagnose  der  Blasensyphi¬ 

lis.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Jonathan  Paul  Haberern.  Dem  Ver¬ 
fasser  gelang  es  bei  einer  41jährigen  Patientin,  zystoskopisch 
ein  Gumma  der  Blase  festzustellen.  Zystoskopisch  fand  sich: 
Blasenwand  glatt,  glänzend,  Ureterenmündung  normal.  Sphinkter¬ 
wand  gewellt,  uneben,  man  sieht  knapp  dahinter  eine  rundliche, 
reichlich  walnußgroße,  von  der  linken  Seite  ausgehende,  um¬ 
schriebene,  an  vier  bis  fünf  Stellen  höckerig  emporspringende, 
mit  Schleimhaut  bedeckte  Geschwulst,  deren  prominenteste  Ober¬ 
fläche  an  einzelnen  Stellen  teils  ulzeriert,  teils  eitrig  bedeckt 
ist.  Eine  Salvarsaninjektion  (0-45)  brachte  Heilung.  35  Tage 
nach  der  Injektion  zeigt  das  Zystoskop  das  Gumma  am'  Sphinkter 
bis  auf  eine  kleine,  glatte  Erhabenheit  verschwunden.  —  (Zen¬ 
tralblatt  für  Chirurgie  1911,  Nr.  19.)  E.  V. 

* 

659.  Ueber  einen  Harn  be  fund  bei  Karzinoma- 
tösen.  Von  Priv.-Doz.  Dr.  Oskar  Groß,  Oberarzt  und  Doktor 
Max  Reh,  Volontärassistent  der  medizinischen  Klinik  des  Pro¬ 
fessor  Dr.  Steyrer  in  Greifswald.  Es  wird  vorerst  auf  die 
Untersuchungsergebnisse  von  Töpfer,  von  As  coli  und  Grazia, 
von  Salomon,  Saxl  und  Falk  hingewiesen,  auf  die  neueren 
Versuche  von  Salkowski,  die  er  mit  einfacheren  Methoden 
erzielte.  Die  Verfasser  machten  vorerst  16  Versuche  an  Kranken 
mit  verschiedener  Diagnose  mit  einer  früher  angegebenen  Methode 
Salkowskis  und  gelangten  zu  dem  Ergebnisse,  daß  sie  eine 
gerade  für  Karzinom  spezifische  Vermehrung  des  alkoholfällbaren 
Stickstoffes  nicht  nachweisen  konnten.  Inzwischen  erschien 
eine  dritte  Veröffentlichung  Salkowskis,  in  welcher  wieder 
eine  geänderte  und  einfachere  Untersuchungsmethode  angegeben 
wurde.  Die  Verfasser  untersuchten  nun  35  Falle  (neben  Krebs 
viele  andere  Krankheitszustände)  und  resümieren  die  Ergebnisse 
ihrer  Untersuchungen  mit  folgenden  Worten:  Nach  diesen  Unter¬ 
suchungen  möchten  wir  über  diese  Methode  Salkow¬ 
skis  noch  kein  abschließendes  Urteil  abgeben.  Wir  glauben 
vielmehr,  daß  die  Untersuchungen  an  einem  sehr  zahlreichen 
Material  wiederholt  werden  müssen,  wobei  vielleicht  zu  berück¬ 
sichtigen  wäre,  daß  bei  pathologischen  Harnen  die  Ernährungs¬ 
weise  doch  eine  Rolle  spielen  könnte.  Schon  heute  aber  können 
wir  jedenfalls  sagen,  daß  die  Vermehrung  der  durch  Alkohol 
oder  Schwermetalle  fällbaren  stickstoffhaltigen  Substanzen  des 
Harnes  für  Karzinom  nicht  pathognomonisch,  vielmehr 
von  gewissen,  nur  gelegentlich  das  Karzinom  begleitenden  Stoff¬ 
wechselstörungen  abhängig  zu  sein  scheint,  wie  sie  bei  schweren 
Kachexien,  anderseits  mit  starkem  Eiweißzerfall  einhergehenden 
Erkrankungen  und  Leberschädigungen  in  oft  höherem  Maße  Vor¬ 
kommen.  Vielleicht  ist  bei  Magenkrebsen  eine  gewisse  Vermeh¬ 
rung  vorhanden,  die  der  Differentialdiagnose  unter  gewissen  Be¬ 
schränkungen  nutzbar  gemacht  werden  könnte.  —  (Medizinische 

Klinik  1911,  Nr.  20.)  E.  F. 

* 

660.  (Aus  der  chirurgischen  Klinik  zu  Kiel.  — -  Direktor:  Pro¬ 
fessor  Dr.  An  schütz.)  Melanurie  ohne  melanoti  sehen 
Tumor.  Von  Dr.  H.  Zoeppritz,  Assistenzarzt  der  Klinik.  Es 
handelte  sich  um  einen  69jährigen  Mann,  der  am1  28.  Juni  1909 
in  die  chirurgische  Klinik  in  Kiel  aüfgenommen  wurde,  seit  fünf 


948 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  9  6 


Wochen  an  anfänglich  leichten,  später  allmählich  zunehmenden 
ileusartigen  Beschwerden  litt  und  schließlich  an  Perforations- 
peritonitis  starb.  Der  Kranke  entleerte  während  des  dreitägigen 
Amenthaltes  in  der  Klinik  einen  sauren,  zunächst  gelbbraunen 
dann  im  Laufe  von  :U  bis  1  Stunde  sich  von  oben  herab  bis  zu 
tiefer  Schwärze  und  Undurchsichtigkeit  verdunkelnden  Urin,  der 
chemisch  die  für  Melanin  charakteristischen  Reaktionen  gab.  Bei 
dci  Autopsie  fand  sich  ein  kleines  stenosierendes  Karzinom  dos 
S  lOmanum  mit  Metastasen  in  Netz  und  Mesocolon  sigmoideum 
ohne  abnorme  Pigmentation.  Eine  melanotische  Geschwulst  konnte 
nicht  gefunden  werden,  auch  war  nirgends  eine  wesentliche  Zu¬ 
nahme  der  normalen  und  autochthonen  Pigmentierungen  fest¬ 
zustellen.  Ob  das  vom  Kranken  ausgeschiedene  Melanin  völlig 
identisch  ist  mit  dem  Farbstoff  der  Melanosarkome  oder  diesem1 
nm  sehr  ähnlich,  läßt  sich  nicht  mit  Sicherheit  entscheiden. 
Die  chemischen  Reaktionen  ergaben  jedenfalls  ein  Melanin, 
welches  die  dem  Farbstoff  der  melanotischen  Tumoren  eigen¬ 
tümlichen  Eigenschaften  hatte.  Schwarzfärbung  des  Urins  durch 
andere  pathologische  Farbstoffe  ist  nicht  selten.  Gallenfarbstoff, 
starker  Urobilingehalt  sind  leicht  auszuscheiden.  Indikan  täuscht 
mitunter  Melänogen  vor.  Die  üblichen  Proben  ergaben  keinen 
staik  i  ermehrten  Indikangehalt  des  Urins.  Bei  Alkaptonurie  dun¬ 
kelt  der  Urin  bis  zu  schwärzlicher  Verfärbung  nach,  in  solchen 
U einen  ist  die  Tr ommer sehe  Probe  positiv,  bei  Zusatz  dünner 
Eisenchloridlösung  entsteht  eine  grüne,  schnell  wieder  verschwin¬ 
dende  Färbung.  Endlich  kommen  Dunkelfärbungen  des  Urins 
durch  medikamentöse  Färbstoffe,  wie  Karbolsäure,  Salole,  Teer¬ 
präparate  in  Betracht,  die  alle  in  das  Verfassers  Fäll  ange¬ 
schlossen  werden  könnten.  Wirkliche  Melanurie  ohne  melano¬ 
tischen  Tumor  scheint  ganz  außerordentlich  selten  vorzukommen. 
Tn  der  Literatur  werden  mehrere  Fälle  mit  Schwarzfärbung  des 
Urins  angeführt  (Litten,  Senator,  Pollak,  Leube,  Hanse¬ 
mann).  Die  üblichen  Reaktionen  auf  Melanin  fielen  aber  negativ 
aus.  Nur  in  dem  von  Gnezda  beschriebenen  Fäll  von  Darm¬ 
tuberkulose  mit  Schwarzfärbung  des  Urins  lag  zweifellos  eine 
echte  Melanurie  vor.  Senatofc  hat  seinerzeit  darauf  hingewiesen, 
daß  in  den  Fällen,  in  denen  Melanurie  ohne  melanotischen  Tumor 
angenommen  wurde,  in  Wirklichkeit  Indikanurie  Vorgelegen  haben 
dürfte.  Er  stellt  sich  mithin  auf  den  Standpunkt  jener  Autoren, 
die  die  Möglichkeit  des  Vorkommens  echter  Melanurie  ohne  me¬ 
lanotischen  Tumor  verneinen.  Zu  diesen  gehört  auch  Gar  rod, 
der  nach  Prüfung  einer  großen  Zahl  pathologischer  Harne  auf 
Melänogen  zu  dem  Ergebnis1  kömmt.,  daß  echte  Melanurie  nur  bei 
Gegenwart  melanotischer  Tumoren  vorkommt,  ja  sogar  annimmt, 
daß  es  erst  dann  zum  Auftreten  von  Pigment  im  Urin  kommt, 
wenn  die  inneren  Organe,  vor  allem  die  Leber,  affiziert  sind. 
Den  gleichen  Standpunkt  nimmt  Moorehe  ad  ein.  Daß  die 
Garrodbche  Annahme  nicht  richtig  ist,  geht  aus  dem  Gnezda- 
schen  und  des  Verfassers  Fall  hervor.  Nicht  mit  voller  Bestimmt¬ 
heit  möchte  Verfasser  das  Vorhandensein  eines  vielleicht  nur 
kleinen,  lokal  symptomlos  verlaufenden  Melanoms  an  einer  der 
Obduktion  aus  äußeren  Gründen  nicht  zugänglichen  Stelle  aus¬ 
schließen.  —  (Münchener  mediz.  Wochenschrift  1911,  Nr.  23.) 

G. 

* 

661.  Fall  von  Cholangiozys  totomie.  VonjJ.  E.  Lohse. 
Bei  einem  cholämischen  Patienten  mit  Stenose  des  Ductus  hepato- 
choledochus  (maligne  Neubildung)  wurde  eine  Cholangiozystoto- 
mie  angelegt,  die  imstande  gewesen  ist,  den  Patienten  über  den 
gefährlichen  cholämischen  Zustand  hinüber  zu  bringen.  Daß  im 
vorliegenden  Falle  spontan  eine  Passage  der  Galle  zum  Darme 
entstanden  ist,  kann  die  Annahme  nicht,  ändern  und  darf  solcher¬ 
weise  erklärt  werden,  daß  die  normale  starke  Gallensekretion 
imstande  gewesen  ist,  die  Stenose  zu  forcieren.  Unter  anderen 
Umständen  (gutartige  Stenose)  hatte  man  später  durch  eine  Cysto- 
duodenostomie  die  Galle  in  den  Darm  zurückleiten  können.  Aus¬ 
geführt  wurde  die  Operation  in  folgender  Weise:  Eine  lange 
Zange  wird  in  die  Gallenblase  und  durch  deren  Adhäsion  mit 
der  Leber  in  letztere  so  hoch  eingebohrt.,  daß  sie  durch  die  kon¬ 
vexe  Oberfläche  der  Leber  sichtbar  ist ;  in  den  solcherweise  ge¬ 
bildeten  Kanal  wird  ein  drittes  Drainrohr  eingeführt  und  die 
Gallenblase  wird  am  untersten  Wundwinkel  festgenäht  Die  Bauch¬ 
höhle  wird  geschlossen  und  das  Drainrohr  mit  Heber  verbunden. 


Beim  Eingriff  fand  nur  geringe  Blutung  statt.  —  (Zentralblatt  für 
Chirurgie  1911,  Nr.  19.)  E.  V. 

* 

662.  Zur  Klinik  des  Plattfußes  und  der  Zehen¬ 
deformitäten.  Von  San. -Rat  Dr.  Georg  Müller  in  Berlin. 
In  einer  großen,  wenn  nicht  in  der  überwiegenden  Anzahl  von 
Plattfußfällen  ist  eine  Ursache  des  Leidens  nicht  zu  eruieren. 
Sieht  man  die  Füße  genauer  an,  so  geben  sie  einen  charakteristi¬ 
schen  Befund:  die  Hautfarbe  ist  auffallend  blaß,  der  Fuß  sieht 
fast  wie  ein  Leichenfuß  aus,  fühlt  sich  auch  kalt  und  klebrig 
an  und  zeigt,  reichliche  Schweißabsonderung.  Auf  dem  Fußrücken 
sieht  man  zuweilen  leichtes  Oedem  und  die  Fußsohle  ist  auf¬ 
fallend  weich.  Druck  auf  die  letztere  ist  überall  außerordentlich 
empfindlich.  Die  Zehen  sind  schwer  beweglich,  die  Streckung 
gelingt  noch  leidlich  gut,  jedoch  ist  die  aktive  Beugung  derselben 
stark  beschränkt  oder  ganz  aufgehoben.  Versucht  man  die  Zehen 
passiv  zu  beugen,  -so  löst  man  damit  zumeist  eine  laute  Schmerz¬ 
äußerung  aus.  Verf.  analysiert  nun  diese  Erscheinungen.  Die 
blasse  und  kalte  Haut  des  Fußes  beruht  auf  Anämie  (ungenügende 
Blutversorgung  der  Peripherie  infolge  Herzschwäche,  mangel¬ 
hafte  Durchblutung  infolge  Arteriosklerose,  oder  mechanischer 
Druck  auf  die  Hautkapillaren  durch  zu  enge  Strümpfe  oder 
Schuhe).  Die  Ernährungsstörung  führt  zur  Entartung  der  Füß- 
muskulatur  u.  zw.  sind  es  vorwiegend  die  am  Fuße  selbst  be¬ 
findlichen  Zehen  beuge  r  (die  komplementäre  Streck  kraft  der 
Zehen  ruht  in  der  Unterschenkelmuskulatur),  welche  in  höherem 
Mäße  betroffen  werden  als  die  Zehen s trecke r.  Die  weitere  Folge 
ist,  daß  die  schwächeren  Antagonisten  erschlaffen  und  überdehnt 
werden,  während  die  stärkeren  sich  nutritiv  verkürzen.  Dadurch 
streckt  sich  der  Fuß  und  das  Fußgewölbe  sinkt  ein,  da  auch 
die  Faszien  und  Bänder  unter  der  schlechten  Ernährung  leiden 
Daraus  erklärt  es  sich,  warum  die  aktive  Zehenbeugung  teilweise 
oder  ganz  aufgehoben  und  weshalb  die  passive  Zehenbeugung 
schmerzhaft  ist.  Verf.  führt  entwicklungsgeschichtlich  aus,  wie 
der  aufrechte  Gang  des  Menschen  der  Ausbildung  des  Platt 
fußeis  Vorschub  leistet,  wie  sich  aus  denselben  Ursachen  Defor¬ 
mitäten  der  Zehen  (Hammerzehen)  bilden,  wie  auch  der  Hallux 
valgus  auf  den  gestörten  Muskelantagonismus  zurückzuführen  ist. 
Sodann  bespricht  Verf.  eingehend  die  Prophylaxe  und  Therapie. 
Die  Blutversorgung  des  Fußes  und  damit  die  Ernährung  sollen  stets 
eine  gute  sein :  also  allgemeine  Gymnastik  zur  Stärkung  des 
Herzens,  gutes  Schuhwerk,  speziell  breite  vordere  Partie,  <1  iß 
die  Zehen  im  Schuh  sich  beugen  und  strecken  können.  Der  Ver¬ 
fasser  verwirft  alle  starren  Plattfußeinlagen,  heißt  solche  Leute 
häufig  barfuß  gehen  (möglichst  im  Sande  oder  im  nachgiebigen 
Ackerland),  wo  der  Fuß  wieder  zum  „Greiffuß“  werden  kann. 
Das  Gehen,  Turnen,  Klettern,  wobei  die  Fußsohlen  auf  den  Kletter- 
ba.um  angesetzt,  werden,  das  Springen  usw.,  ist  also  warm  zu 
empfehlen,  die  Füße  sollen  frottiert  werden,  um  besseren  Blut¬ 
zufluß  zu  bekommen,  Zehenbeugen  und  -strecken,  Füßheben  und 
-senken,  Pronation,  Supination  und  Fußkreisen  sollen  geübt  wer¬ 
den;  dazu  kommen  Massage  des  Unterschenkels  und  Fußes,  be¬ 
sonders  der  plantaren  Fußmuskeln,  dann  heiße  und  auch  Wechsel¬ 
bäder  (heiß  und  kalt),  endlich  —  bei  Verkürzung  der  Zehen¬ 
strecker  —  passive  und  später  auch  aktive  Beugung  derselben. 
Bei  eingesunkenem  Fußgewölbe  elastische  Einlagen,  welche 
die  plantare  Muskulatur  in  ihrer  Funktion  nicht  hemmen,  bei 
sekundären  Knochenveränderungen  ein  chirurgischer  Eingriff. 
Gegen  Hallux  valgus  und  Hammerzehen  empfiehlt  Verf.  dasselbe 
Vorgehen,  bei  starker  Deformierung  geeignete  Bandage,  welche 
er  in  seiner  „Orthopädie  des  praktischen  Arztes“  beschrieben 
hat.  und  welche  darin  besteht,  daß  die  einzelnen  Zehen  mit 
Bändern  an  eine  Ledersandale  gezogen,  dadurch  gestreckt  und 
die  große  Zahl  abduziert  wird.  Diese  Sandale  wird  anstandslos 
im  Schuh  getragen.  —  (Mediz.  Klinik  1911,  Nr.  14.)  E.  F. 

* 

663.  Ueber  Pan  top  o  n-S  k  opo  lami  nnärk  os  e.  Von 
Dr.  Theo.  Johannsen.  Der  Verfasser  injizierte  anfangs  den 
Patienten  IV2  Stunden  vor  der  Operation  002  Pantopon  und 
eine  halbe  Stunde  vorher  noch  0-02  Pantopon  +  0  0006  Skopo¬ 
lamin,  später  0  04  Pantopon  -j-  0-0004  Skopolamin  auf  einmal 
zwei  Stunden  vor  der  Operation.  Wenn  Johannsen  auch  in 
keinem  Falle  ganz  ohne  Aether  auskam,  so  war  die  gebrauchte 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  191L 


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Aethermenge  stets  eine  geringe:  Zusammenfassend  sagt  Johan  Il¬ 
sen  folgendes:  1.  Die  kombinierte  Pantopon  -  Skopolamin -Aether- 
narkose  versetzt  die  meisten  Patienten  vor  Beginn  der  Operation 
in  einen  apathischen,  somnolenten  Zustand  und  benimmt  so  den 
letzten  Schrecken  vor  der  Operation.  2.  Die  Dauer  des  Annarkoti- 
sierens  und  die  dabei  meistens  verbrauchte  Aethermenge  wird 
bedeutend  herabgesetzt.  3.  Mit  Pantopon -Skopolamin  allein,  ohne 
Zuhilfenahme  des  Aethers,  ließen  sich  gynäkologische  Opera¬ 
tionen  nicht  ausführen.  4.  Bei  vaginalen  Operationen  genügt  es, 
die  Patienten  einmal  durch  Aether  bis  zum  Erlöschen  der  Korneal- 
reflexe  zu  bringen.  Später  sind  nur  ganz  minimale  Mengen  oder 
unter  Umständen  auch  gar  kein  Aether  mehr  nötig.  5.  Bei  Laparo¬ 
tomien  verbraucht  man  während  der  Operation  durchschnittlich 
ebensoviel  Aether  wie  zum  Annarkotisieren.  6.  Der  Schlaf  wäh¬ 
rend  der  Narkose  ist  tief,  ruhig  und  ohne  Salivation.  Puls  und 
Atmung  stets  ungestört.  7.  In  der  postoperativen  Periode  ist 
während  fast  24  Stunden  die  Schmerzempfindlichkeit  herab¬ 
gesetzt.  Erbrechen  findet  nur  in  Ausnahmsfällen  statt.  Stuhl 
und  Winde  werden  durch  Pantopon  nicht  verzögert.  (Zentral¬ 
blatt  für  Gynäkologie  1911,  Nr.  19.)  E.  V. 

*  .  • 

664.  (Aus  der  Klinik  für  Kinderkrankheiten  des  medizinischen 
Instituts  für  Frauen  und  dem  Laboratorium  des  Peter- Paul- 
Hospitals  in  St.  Petersburg.)  Lipanin  als  Ersatzmittel  des 
Lebertrans  bei  Rachitis.  S  rin  Einfluß  auf  den  Stoff¬ 
wechsel.  Von  J.  A.  Schabad,  unter  Mitarbeit  von  Erl.  Doktor 
R.  F.  S  o ch or o w i ts c h.  Die  Lehre  Von  der  Bedeutung  der  freien 
Fettsäuren  im  Lebertran  und  folglich  auch  die  Anwendung  von 
Lipanin  (d.  i.  Olivenöl  +6%iger  Oleinsäure)  als  Ersatzmittel  des 
Lebertrans  basiert  auf  sehr  schwacher  „Grundlage.  Schabad  ent¬ 
schloß  sich  deshalb,  die  Frage  von  der  therapeutischen  Bedeutung 
des  Lipanins  bei  Rachitis  als  Ersatzmittel  des  Lebertrans  auf  dem 
Wege  der  Erforschung  seines  Einflusses  auf  den  Mineralstoff¬ 
wechsel  zu  untersuchen.  Hiebei  wurde  festgestellt,  daß  zwar  Li¬ 
panin  und  Olivenöl  die  Resorption  des  Stickstoffes  und  des 
F ettes  verbessern  (wobei  aber  das  Lipanin  vor  dem  Olivenöl  keinen 
Vorzug  besitzt),  nicht  aber  die  Kalkretention  bei  Rachitis.  Dem¬ 
gemäß  kann  das  Lipanin,  ebensowenig  wie  die  anderen  Fette, 
den  Lebertran  bei  der  Behandlung  der  Rachitis  ersetzen.  — 
(Monatsschrift  für  Kinderheilkunde  1911,  Bd.  9,  Nr.  12.) 

K.  S. 

* 

Aus  ungarischen  Zeitschriften. 

665.  Die  Begutachtung  der  Ohrverletzungen 
nach  Unfällen,  die  Simulation  und  Aggravation  der 
0 h r eny e r  1  e tzu ng e n.  Von  A.  Neubauer.  Mit  Einführung  der 
obligatorischen  Unfallversicherung  in  Ungarn  (Ges.-Art.  XIX  vom 
Jahre  1907)  mehren  sich  die  Fälle,  in  denen  Ohrenleiden  auf 
Unfälle  zurückgeführt  werden.  Eben  deshalb  gibt  Verfasser  die 
üblichen  und  zum  Ziel  führenden  Untersuchungsmethoden  ,an  und 
bespricht  auch  das  Attestwesen.  Auf  traumatische  Perforation 
ist  zu  schließen,  wenn  die  sofort  nach  dem  Unfall  gemachte 
Untersuchung,  bei  sonst  normal  aussehendem1  Trommelfell  einen 
blutig  und  unregelmäßig  geränderten  Substanzverlust,  hinter  dem 
die  blasse  Trommelhöhlenschleimhaut  zu  sehen  ist,  ergibt.  Die 
traumatischen  Trommelfellperforationen  entstehen  am  häufigsten 
im  vorderen  oder  hinteren  unteren  Tromlmelfellquadranten  und 
haben  auffallend  oft  eine  dreieckige  Form.  Die  Labyrinthver¬ 
letzung  kann,  abgesehen  von  den  basalen  Schädelbrüchen, 
nur  dann  entstehen,  wenn  das  Trommelfell  auch  verletzt  ist. 
Die  Blutung  aus  dem  Ohlre  ist  kein  absoluter  Beweis  für  die  La¬ 
byrinthverletzung,  es  muß  noch  Bewußtlosigkeit,  Schwindel,  Brech¬ 
reiz  und  Erbrechen,  Ohrensausen  bestehen  oder  bestanden  haben. 
Klagt  der  Verletzte  über  „Vertigo  auralis“,  daß  also  die  Gegen¬ 
stände  sich  um  ihn  oder  sein,  eigener  Kopf  sich  im:  Kreise  drehen, 
oder  daß  er  nur  auf  dem  Rücken,  resp.  auf  einer  Seite  liegen  kann, 
so  ist  die  Labyrinthverletzung  anzunehmen.  Eingehend  bespricht 
Verf.  die  durch  Ohrenverletzungen  bedingte  Arbeitsunfähigkeit 
und  deren  prozentuelle  Feststellung.  Einseitige  Taubheit  ist  bei 
jenen  Berufen,  die  auf  ein  gutes  Gehör  angewiesen  sind  (Eisen¬ 
bahner,  Musiker,  Sänger),  zumindest  auf  15  bis  30%  zu  schätzen. 
Beiderseitige  Taubheit  mit  höchstens  50%  weil  der  Verletzte, 
auch  dann  noch  einen  anderen  Beruf  ergreifen  kann.  Nur 


wenn  nebst  der  Gehörstörung  sich  noch  heftiger  Kopfschmerz, 
Schwindel,  Sausen,  Geräusche  usw.  einstellen  und  es  ausschließen, 
daß  der  Verletzte  seine  Arbeitskraft  irgendwie  verwerte,  ist  auf  eine 
■Erwerbsverminderung  bis  100%  zu  erkennen.  Die  Untersuchung 
soll  immer  mit  flüsternder  Sprache  und  bei  verbundenen  Augen 
des  Untersuchten  vor  sich  gehen.  —  (Gyögyaszat  1911,  Nr.  12.) 

ch. 

* 

666.  Die  Aetiologie  der  diabetischen  Li pämie.  Von 

Wilhelm  Menyhert.  Die  diabetische  Lipöimiie  ist  exogenen 
Ursprunges  und  stammt  immer  aus  dem  alltäglich  mit  der  Nahrung 
aufgenommenen  Fette.  Nur  sub  finem  kann  hiezu  in  kleiner  Menge 
der  lipoide  Stoff  der  zerfallenen  Zellen  kommen.  Verf.  wirft 
die  Fragen  auf:  „Wann  kann  der  Diabetiker  lipämiseh  werden 
und  wann  •nicht?“  und  „Warum  ist  ln  beiden  Fällen  die  Äzeton- 
Autointoxikation  die  Todesursache?“  Der  Diabetiker  wird  lipä- 
misc'h,  weil  dessen  Organismus  nicht  genügend  lipoides  Ferment 
zur  Spaltung  des  in  großer  Menge  aufgenommenen  Fettes  in  Gly¬ 
zerin  und  Fettsäure,  besaß.  In  diesen  Fällen  macht  allein  die 
Fähigkeit  der  Galle  zu  emulgieren,  die  Resorption  des  Fettes 
möglich.  Diese  Emulsion,  gelangt  durch  die  Lymphgefäße  in  den 
Blutstrom  und  behält  alle  Eigenschaften  des  freien  Fettes.  Das 
Blut  erhält  eine  weißgraue,  opaleszierende  Farbe:  es  tritt  die 
Lipämie  auf.  Verfügt  in  diesen  Fällen  der  Darm  nicht  über  die 
nötige  Alkaleszenz  und  nach  dem  Verf.  habe  er  nie  bei  den  hierauf 
untersuchten,  an  Koma  Verstorbenen  eine  alkalische  Reaktion  des 
Darmes  vom  Duodenum  bis  zum  Anus  gefunden,  wie  auch  der 
Chylus  des  herauspräparierten  Ductus  thoracicus  das  gleiche  Ver¬ 
halten  aufgewiesen  haben  soll,  so  entsteht  infolge  des  inter¬ 
mediären  Chemismus  als  weiteres  Spaltungsprodukt  des  Fettes, 
das  Aceton.  Wenn  aber  bei  mangelnder  Alkaleszenz  des  Darmes; 
genügend  lypolitisches  Ferment  des  Pankreas  vorhanden  ist,  so 
daß  die  Spaltung  des  Fettes  dennoch  im  Darmtrakte  vor  sich  gehen 
kann,  so  wird  die  opaleszierende  Verfärbung  des  Blutes,  die  Li¬ 
pämie  ausbleiben.  Da  aber  das  nicht  verseifte  Fett  resorbiert 
wird,  so  kann  es  doch  zur  Azetonbildung  auch  in  diesen  Fällen 
kommen.  —  (Budapesti  Orvosi-Ujsäg  1911,  Nr.  16.)  ch. 

* 

667.  Vollständige  Taubheit  nach  Salvarsaninjek- 
tion.  Von  Adolf  Neubauer.  Ein  25jähriger  Fleischhauergeselle 
klagt  beim  Erscheinen  in  der  Poliklinik  (am1  21.  Februar  d.  J.), 
daß  er  Seit  zehn  Tagen  schlecht  höre,  Ohrensausen  und  Schwindel 
habe,  mit  seiner  Umgebung  sich  kaum  mehr  verständigen  könne. 
Ueber  schriftlich  an  ihn  gestelltes  Befragen  gibt  er  an,  daß  er 
in  der  linken  Leiste  eine  öfters  auftretende  schmerzlose  Geschwulst 
hatte,  die  er  —  Aveil  er  während  seines  Militärdienstes  sah,  daß 
derlei  Geschwülste  auf  das  Ehrl  Feh  sehe  „606“  zurückgehen  -- 
auf  dieselbe  Art  loswerden  wollte.  Er  will  keine  Lues  gehabt 
haben.  Am  13.  Januar  1911  wurde  ihm  über  sein  Verlangen 

—  ohne  vorausgegangene  Blutuntersuchung  —  0-5  g  von  0-60 
Salvarsan  ämlhula,n;t  eingespritzt.  Drauf  blieb  er  acht  Tage 
zu  Hause,  die  Geschwulst  verschwand,  er  fühlte  sich  wohl.  Nach 
vier  Wochen  traten  zuerst  am  linken,  dann  auch  auf  dem  rechten 
Ohre  starkes  Sausen,  Schwindel  und  Abnahme  des  Hörvermögens 
auf.  Am  21.  Februar  wird  folgender  Ohrenbefund  erhoben: 
Beiderseits  Trommelbefund  negativ,  vollständige  Taubheit,  so  daß 
er  direkt  ins- Ohr  geschriene  Worte  nicht  perzipiert.  c1  256-Stimm- 
gabeltöne  werden  auf  keinem  Ohre  gehört,  Knochenleitung  auf 
dem  linken  Mastoideus  bloß  ein  bis  zwei  Sekunden,  Rinne  und 
Weber,  beiderseits  spontaner  rotatorischer  Nystagmus.  Augen¬ 
hintergrund  normal,  Wassermann  negativ,  nirgends  luetische 
Symptome.  Diagnose:  Beiderseitige  totale  Labyrinth¬ 
taubheit.  Der  Kranke  hat  seit  damals  20mal  5  g  Hydrargyrum- 
salbe  eingeschmiert  bekommen  und  20  g  JK  eingenommen  und 
ist  auch  elektrisiert  worden.  Er  weist  mm  insoferne  eine  Bes¬ 
serung  auf,  daß  er,  in  das  rechte  Ohr  geschriene  Worte  hört, 
links  besteht  völlige  Taubheit.  Sollte  in  einiger  Zeit  Wassermann 
noch  immer  negativ  bleiben  und  die  Taubheit  nicht  verschwinden, 
so  wäre  nach  Neubauer  diese  Taubheit  auf  den  toxischen 
Einfluß  des  Salvarsans  zurückzuführen.  Durch  diesen  Fall  ge¬ 
witzigt,  rät  Neuba'luer  die  Salvarsan  injektion  prinzipiell  erst 
nach  Ausstellung  eines  Reverses  seitens  der  Patienten  zu  geben. 

—  (Budapesti  Orvosi-Ujsäg  1911,  Nr.  18.)  ch. 


950 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  26 


Aus  italienischen  Zeitschriften. 

668.  (Aus  dem  physikalisch -chemischen  Institut  der1  Uni¬ 

versität  in  Neapel.  —  Direktor:  Prof.  Mal  erb  a.)  Die  Wirkung 
der  Chlorof ormierung  auf  das  Muskelglykogen.  Von 
P.  Colace.  Während  der  Chloroformierung  vermehrt  sich  all 
mählich  das  Muskelglykogen,  dagegen  findet  eine  Verminderung 
des  Leberglykogens  statt,  welche  sicherlich  zur  Vermehrung  des 
Zuckers  im  Blute  beiträgt.  Die  Verminderung  des  Leberglykogens 
ist  als  Chloroformwirkung  aufzufassen.  Wenn  man  die  Erfah¬ 
rungen  über  die  Wirkung  des  Chloroforms  auf  den  Stoffwechsel 
der  Fette  (Azidose)  der  Wirkung  desselben  Körpers  auf  den  Stoff¬ 
wechsel  der  Kohlehydrate  gegenüberstellt,  so  kann  man  eine 
Analogie  zwischen  Chloroformnarkose  und  Säureintoxikation. 
(Koma  von  ,Kußmaul)  feststellen.  —  (La  Rifonna  medica, 
24.  April  1911.)  sz. 

* 

669.  (Aus  der  chirurgischen  Klinik  der  Universität  in  Pavia, 

—  Direktor:  Prof.  Tonsini.)  Ueber  zwei  Fälle  primärer 
Tuberkulose  in  quergestreiften  Muskeln.  Von 
G.  Spelta.  Die  Symptomatologie  der  Muskeltuberkulose  ist  im 
allgemeinen  sehr  wenig  ausgesprochen.  Am  wichtigsten  sind  die 
objektiven  Zeichen :  Schwellung  unter  der  Form  eines  soliden 
oder  fluktuierenden  Tumors.  Sich  selbst  überlassen,  bricht  der 
Tumor  entweder  durch  die  Haut  durch  —  dann  entsteht  eine 
Fistel  oder  bei  starker  lokaler  bindegewebiger  Reaktion  tritt  all¬ 
mählich  Resorption  ein  und  der  verkäste  Inhalt  des  Tumors  kann 
verkalken.  Die  Differentialdiagnose  der  Muskeltuberkulose  kann 
einige  Schwierigkeiten  bieten,  wenn  nicht  sonst  Zeichen  von 
Tuberkulose  vorhanden  sind.  Differentialdiagnostisch  kommt 
hauptsächlich  syphilitisches  Gumma  in  Betracht.  Eine  genaue 
Anamnese  und  die  biologischen  Proben  können  ein  Hilfsmittel 
abgeben.  In  den  beiden  Fällen  des  Autors  waren  Ophthalmo- 
und  Kutanreaktion  negativ.  Die  Muskeltuberkulose  ist  eine  höchst 
seltene  Affektion.  Für  das  seltene  Vorkommen  der  tuberkulösen 
Erkrankung  des  Muskels  gibt  es  noch  keine  genügende  Erklärung. 

—  (La  Riforma  medica,  24.  April  1911.)  sz. 

* 

670.  (Aus  dem  Institute  für  klinische  Medizin  der  Universität 

in  Genua.  —  Direktor:  Prof.  Maragliano.)  Ueber  den  Wert 
der  Lumbalpunktion  bei  zerebralen  Hämorrhagien. 
Von  A.  Rossi.  Alle  zerebralen  Hämorrhagien,  bei  denen  das 
Lumbalpunktat  blutig  gefärbt  ist,  müssen  als  sehr  schwere  be¬ 
trachtet  werden.  Ein  Teil  dieser  Fälle  bietet  sofort  schwerste 
Erscheinungen  dar,  denen  in  kurzer  Zeit  der  Tod  folgt.  Es  sind 
jene  Fälle,  ,in  denen  die  ungünstige  Prognose  durch  die  Aus¬ 
dehnung  des  Blutergusses  bedingt  ist.  Das  Blut  überschwemmt 
auch  die  Gehirnkammern  und  gelangt  aus  diesen  in  die  Zere¬ 
brospinalflüssigkeit.  Der  andere  Teil  der  Fälle  mit  blutigem  Lum¬ 
balpunktat  kann  anfänglich  geringe  zerebrale  Erscheinungen  dar¬ 
bieten,  während  der  weitere  Verlauf  sich  immer  ungünstiger 
gestaltet.  Zur  primären  Läsion  des  Gehirnes  gesellt  sich  der 
Reiz,  den  das  ergossene  Blut  auf  die  Meningen  ausübt.  Der 
Nachweis  von  Blut  im  Lumbalpunktat  ist  in  jenen  Fällen  von 
großer  Bedeutung,  welche  anfangs  nur  geringe  Störungen  zeigen, 
weil  er  zur  Vorsicht  in  der  Prognosestellung  mahnt.  Differential- 
diagnostisch  kann  dieser  Nachweis  gegenüber  apoplektiformen 
Erscheinungen  bei  Embolie,  Epilepsie,  Enzephalitis,  urämischem 
oder  diabetischem  Koma,  für  zerebrale  Hämorrhagie  verwertet 
werden.  —  (La  Riforma  medica,  17.  April  1911.)  sz. 

* 

671.  Betrachtungen  über  die  Autoserotherapie. 
Von  C.  Garmagnamo.  Die  Autoserotherapie  nach  Gilbert 
ergibt  gute  Erfolge  bei  frischen  Pleuraergüssen  tuberkulöser  Art. 
In  einem  Falle  rheumatischer  Pleuritis  erwies  sich  die  Auto- 
serotberapie  als  wirkungslos.  Ein  gutes  Zeichen  für  das  Gelingen 
des  Eingriffes  ist  die  Zunahme  des  arteriellen  Druckes.  —  (Gaz- 
zetta  degli  Ospedali  e  delle  Cliniche,  13.  April  1911.)  sz. 

* 

672.  Ein  Beitrag  zum  Studium  der  trophischen 
Störungen  der  Haut  hysterischen  Ursprungs.  Von 
C.  Coniglio.  Die  Hysterie  kann  in  der  Haut  ebenso  wie  in 
anderen  Geweben  organische  Störungen  verschiedener  Form  her- 


vorrufen.  Der  Autor  berichtet  über  einen  Fall  symmetrischen 
Erythems  auf  beiden  Ohren  bei  einem  hysterischen  18jährigen 
Mädchen.  Die  Aetiologie  war  im  Zusammenhang  mit  Furcht  vor 
Ansteckung  durch  eine  kranke  Freundin.  Hauterkrankungen  infolge 
psychischer  Alterationen  muß  man  sich  durch  Vermittlung  des 
vasomotorischen  Systems  entstanden  denken.  Die  Uebertragung 
der  Reize  aus  der  psychischen  Sphäre  auf  die  Vasomotoren  ist 
bei  hysterischen  Personen  viel  leichter  als  bei  Gesunden.  — 

(Gazzetta  degli  Ospedali  e  delle  Cliniche,  20.  April  1911.)  sz. 

* 

Aus  amerikanischen  Zeitschriften. 

673.  Der  diagnostische  Wert  der  Buttersäure¬ 

probe  von  Noguchi  in  zerebrospinalen  Flüssigkeiten. 
Von  S.  -St  rouse.  Prüfungen  auf  vermehrten  Globulingehalt  in 
der  spinalen  Flüssigkeit  sind  leichter  auszuführen  als  die  Aus¬ 
zählung  der  Zellen  und  haben  praktisch  die  gleiche  diagnostische 
Bedeutung.  Die  Buttersäureprobe  von  Noguchi  ist  bequem  und 
genau.  Die  Anwendung  dieser  Reaktion  ist  von  beträchtlichem 
diagnostischen  Werte.  Die  Reaktion  ist  positiv  bei  progressiver 
Paralyse  und  zerebrospinaler  Lues,  negativ  bei  Gehirntumoren, 
zerebraler  Arteriosklerose  und  Psychosen.  Eine  positive  Reaktion 
in  einem  zweifelhaften  Nervenfalle  ist  im  Sinne  einer  syphiliti¬ 
schen  oder  parasyphilitischen  Erkrankung  des  Nervensystems  auf¬ 
zufassen.  Bei  Tabes  dorsalis  ist  die  Reaktion  bloß  in  33V3°/o  der 
Fälle  positiv.  Die  Reaktion  ist  in  allen  Fällen  akuter  Meningitis 
positiv  und  negativ  bei  meningealer  Reizung  ohne  wirkliche 
Entzündung.  Sie  ist  immer  vorhanden  bei  tuberkulöser  Meningitis 
und  ihre  Anwesenheit  daher  ein  diagnostisches  Hilfsmittel  bei 
dieser  Krankheit.  Das  Fehlen  der  Reaktion  in  Fällen,  die  auf 
tuberkulöse  Meningitis  v<*dächtig  sind,  ist  von  großem  Werte 
für  den  Ausschluß  dieser  Krankheit.  —  (The  Journal  of  the 
American  medical  Association,  22.  April  1911.)  sz. 

* 

674.  Die  Verhinderung  industrieller  Phosphor¬ 
vergiftung.  Von  Robert  H.  Ivy.  Die  angeführten  Tatsachen 
beweisen,  daß  der  Phosphor  durch  schlechte  Zähne  in  die  Kiefer¬ 
knochen  eindringt.  Auf  Grund  von  Beobachtungen  an  177  in 
Zündhölzchenfabriken  angestellten  Personen  ist  der  Schluß  ge¬ 
rechtfertigt,  daß  die  zur  Verhütung  der  Phosphomekrose  getrof¬ 
fenen  Maßnahmen,  welche  in  regelmäßigen  monatlichen  Unter¬ 
suchungen  der  Zähne  und  in  der  Behandlung  der  kariös  befun¬ 
denen  besteht,  zur  Verhütung  dieser  Krankheit  vollkommen  aus¬ 
reichen.  —  (The  Journal  of  the  American  medical  Association, 

8.  April  1911.)  sz. 

* 

675.  Der  prognostische  Wert  des  Arnethschcn 
Blutbildes  bei  der  Lungentuberkulose.  Von  C.  Minor 
und  P.  Ringer.  Die  Keimzahl  der  weißen  Blutkörperchen  erlaubt 
nach  Arneth  prognostische  Schlüsse  bei  der  Lungentuberkulose. 
Bei  schweren  Formen  findet  sich  eine  Verschiebung  des  Ar- 
nethschen  Blutbildes  nach  links,  das  heißt,  die  ein-  und  zwei- 
kernigen  Leukozyten  überwiegen  gegenüber  den  mehrkernigen. 
Aus  der  Aufstellung  eines  aus  den  Kernzahlen  gewonnenen  Index 
ergeben  sich  Anhaltspunkte  für  die  Prognose.  Die  Verfasser 
konnten  iin  mehrjährigen  Untersuchungen  die  Arneth  sehen 
Schlüsse  bestätigen.  Doch  war  der  Index  für  die  Norm  (48-5) 
niedriger  als  bei  Arneth  (60-5).  Die  bei  schweren  Formen  von 
Lungentuberkulose  gefundenen  Werte  der  Autoren  schwankten 
zwischen  80  bis  90.  In  mehreren  Fällen  konnte  bei  der  ein¬ 
getretenen  Besserung  ein  Herabgehen  des  Index,  bei  der  Ver¬ 
schlimmerung  ein  Ansteigen  desselben  beobachtet  werden.  In 
der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  war  die  Aufstellung  des  Index 
von  ausgesprochenem  Werte  für  die  Prognose.  —  (The  American 

Journal  of  the  medical  Sciences,  Mai  1911.)  sz. 

* 

676.  Die  Vakzinebehandlung  der  Pyorrhoea  al- 
veolaris.  Von  W.  Willi  a  ms.  Die  Alveolarpyorrhoe,  welche 
eine  chronische,  umschriebene  eitrige  Entzündung  darstellt,  schien 
sich  zur  Behandlung  mit  bakteriellen  Vakzinen  besonders  zu 
eignen.  In  acht  Fällen  wurden  aus  der  Alveolartasche  von  an 
dieser  Krankheit  Leidenden  Bakterien  entnommen,  kultiviert  und 
aus  der  überwiegenden  Art  ein  Vakzin  hergestellt.  Die  Erfolge, 
welche  auf  diese  Weise  erzielt  wurden,  sind  um  so  bemerkens- 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


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werter,  als  die  lokale  zahnärztliche  Behandlung  bei  dieser  Krank¬ 
heit  meist  nicht  ausreicht,  um  das  Leiden  definitiv  zu  heilen.  — 

(The  American  Journal  of  the  medical  Sciences,  Mai  1911.)  sz. 

« 

677.  Das  Resultat  der  medikamentösen  Behand¬ 

lung  in  1106  Fällen  von  Delirium  tremens.  Von  W.  Ran- 
son  und  G.  Scott.  Die  medikamentöse  Behandlung  des  Delirium 
tremens  ist  im  ersten  Stadium  wirksamer  als  im  zweiten.  Bei 
inzipienten  Fällen  empfehlen  sich  die  Hypnotika  in  großen  Dosen, 
insbesonders  das  Veronal.  Alkohol  soll  regelmäßig  verabreicht 
werden  und  Ergotin  in  häufigen  Intervallen,  entweder  per  os 
oder  intramuskulär.  Von  dieser  Medikation  soll  man  nur  allmäh¬ 
lich  und  erst  dann  abgehen,  wenn  alle  Zeichen  von  Unruhe  und 
Tremor  geschwunden  sind.  Der  delirierende  Kranke  soll  Veronal 
regelmäßig  erhalten.  Alle  anderen  Hypnotika,  insbesonders  Mor¬ 
phin  und  Hyoszin  sind  ihm  vorzuenthalten.  —  (The  American 
Journal  of  the  medical  Sciences,  Mai  1911.)  sz. 

* 

678.  Die  Ursache  und  die  Besserung  der 
Schmerzen  beim  Duodenalgeschwür.  Von  J.  Taft  Pil¬ 
cher.  Die  Ursache  der  Schmerzen  beim  Ulcus  duodeni  ist  die 
Salzsäure  des  Magens,  welche  bei  ihrem  Uebertritt  in  das  Duo¬ 
denum  mit  der  Oberfläche  des  Geschwüres  in  Berührung  kommt. 
Das  Ulkus  des  Duodenums  ruft  reflektorisch  Hyperazidität  des 
Magensaftes  hervor.  Das  Nachlassen  der  Schmerzen  beim  Duo¬ 
denalgeschwür  folgt  der  Einbringung  von  Speisen  in  den  Magen, 
indem  die  eingeführte  Nahrung  reflektorisch  eine  Absonderung 
des  alkalischen  Duodenalsekretes  bewirkt,  welches  die  Salzsäure 
des  Magensaftes  neutralisiert.  —  (The  American  Journal  of  the 

medical  Sciences,  Mai  1911.)  sz. 

* 

679.  Der  G  esundheitszustand  von  Kindern,  welche 

tuberkelbazillenhaltige  Milch  getrunken  haben.  Von 
A.  Heß.  Von  18  Kindern,  welche  tuberkelbazillenhaltige  Milch 
tranken,  blieben  alle  bis  auf  eines  frei  von  aktiver  Tuberkulose 
durch  eine  Beobachtungsperiode  von  drei  Jahren.  Bei  einem 
Kinde  entwickelte  sich  Tuberkulose  der  Halslymphdrüsen,  aus 
denen  der  bovine  Tuberkelbazillus  gezüchtet  werden  konnte.  Aus 
Tierexperimenten  ergibt  sich,  daß  die  Wahrscheinlichkeit  der  In¬ 
fektion  durch  Milch  nicht  allein  von  der  Zahl  der  mit  ihr  aufgenom1- 
menen  Tuberkelbazillen  abhängig  ist,  sondern  auch  von  der 
Häufigkeit  der  Gelegenheit  zu  kleinen  Infektionen.  Demi  eine 
Quantität  von  Tuberkelbazillen,  welche  nicht  ausreichte,  um  bei 
Meerschweinchen  in  einmaliger  Dosis  Tuberkulose  zu  erzeugen, 
war  imstande,  diese  Krankheit  hervorzurufen,  wenn  sie  auf 
25  bis  30mal  verteilt  an  ebensovielen  Tagen  aufgenommen  wurde. 
Tüberkelbazillen  in  der  Milch  bedeuten  eine  Gefahr  für  die  Ge¬ 
sundheit  kleiner  Kinder,  ebenso  Tüberkelbazillen  in  der  Butter. 
Für  bazillenfreie  Milch  und  Butter  muß  daher  Vorsorge  getroffen 
werden.  —  (The  Journal  of  the  American  medical  Association, 
6.  Mai  1911.)  sz. 

i  •  * 

680.  Familiäre  perniziöse  Anämie.  Von  A.  Patek. 

Der  klinische  Verlauf  und  der  Blutbefund  ergab  bei  zwei  Brüdern, 
einer  Schwester,  einem  Vetter  und  Onkel  väterlicher  Seite  per¬ 
niziöse  Anämie.  In  zwei  Fällen  war  sie  sekundär.  Die  von 
Hunter  vertretene  Theorie,  daß  septische  Prozesse  im  Munde 
—  Stomatitis,  Glossitis  usw.  —  die  ätiologischen  Faktoren  bei 
dieser  Krankheit  wären,  fand  in  diesen  Fällen  keine  Stütze, 
da  bei  keinem  der  Patienten  derartige  Veränderungen  nachweis¬ 
bar  waren.  Das  Auftreten  dieser  Krankheit  in  einzelnen  Familien 
und  die  Kenntnis  von  der  stetigen,  relativen  und  absoluten 
Zunahme  dieser  Krankheit,  legt  den  Gedanken  nahe,  daß  wir  es 
hier  mit  einem  noch  unerkannten,  sich  imlmer  mehr  ausbreiten¬ 
den  hämolytischen  Prozeß  zu  tun  haben.  —  (The  Journal  of  the 
American  medical  Association,  6.  Mai  1911.)  sz. 


Sozialärztliche  Revue. 

Von  Dr.  L.  Sofer. 

Wir  haben  bereits  über  den  großzügigen  Entwurf  des  eng¬ 
lischen  Schatzkanzlers  Lloyd  George  berichtet.  Es  erübrigt 
noch  die  Rückwirkung  der  geplanten  Sozialversicherung 


auf  den  Aerztestand  zu  erwägen.  Vor  allem  fällt  die  hohe 
Grenze  für  die  Verpflichteten  auf;  160iPfund  =  3840  K  Eürkommen 
bilden  die  Grenze  der  Versicherungspflicht.  Nicht  genug  daran, 
keimt  der  englische  Entwurf,  wie  leider  auch  das  österreichische 
Gesetz  die  freiwillige  Versicherung;  er  unterscheidet  zwei 
Gruppen.  Die  erste  Gruppe  läßt  wenigstens  noch  einen  sozialen 
Gedanken  erkennen.  Es  sind  dies  Leute,  die  eigene  Unternehmer 
sind,  aber  weniger  als  160  Pfund  verdienen.  Diese  haben  für  ihre 
Versicherung  den  Beitrag  des  Arbeiters  (4  Penny,  1  Penny  =  10  h), 
wie  den  des  Arbeitgebers  zu  entrichten,  dagegen  trägt  der  Staat 
auch  für  sie  2  Penny  bei.  Die  zweite  Gruppe  läßt  aber  jeden 
sozialen  Gedanken  vermissen;  wird  sie  Gesetz,  so  wäre  dies 
einfach  ein  Raubzug  auf  die  Taschen  der  Aerzte  und  eine  Prämie 
für  schmutzige  Knickerei.  Dafür  scheint  dem,1  englischen  Minister 
das  Verständnis  zu  fehlen.  So  erklärte  er  einem  Ausfrager,  daß 
sich  auch  der  Gouverneur  der  Bank  von  England  (!) 
und  jeder  andere  reiche  Mann  in  die  Versicherung  aufnehmen 
lassen  könne  und  auch  für  ihn  bezahle  der  Staat  2  Penny  wöchent¬ 
lich;  er  Wolle  auch  seine  eigene  Kinder  (!)  versichern,  damit 
sie,  wenn  sie  einmal  krank  werden,  ihre  RerRe  von  10  Schilling 
(l  Schilling  =  1  K  20  h)  bekommen.  Wir  brauchen  wohl  nicht 
des  Näheren  auszuführen,  wie  verwerflich  diese  Gedanken  von 
sozialärztlichem  Standpunkt  sind;  aber  auch  von  rein  versiche¬ 
rungstechnischem  Standpunkt  ist  nicht  einzusehen,  wie  die  Ver¬ 
sicherung  in  erschwinglichen  Grenzen  für  den  Staat  sich  bewegen 
kann,  wenn  alle  Einwohner  sich  versichern. 

Die  englischen  Aerzte  sind  aber  durch  die  trüben  Erfah¬ 
rungen  ihrer  Kollegen  auf  dem  Festlande  bereits  gewitzigt;  sie 
lassen  den  Entwurf  nicht  wie  wir  seinerzeit  in  Oesterreich  wie 
ein  unabänderliches  Geschick  über  sich  ergehen.  Sie  steilen  fol¬ 
gende  Forderungen  auf:  1.  Abschaffung  der  oben  skizzierten,  mon¬ 
strösen  freiwilligen  Versicherung;  der  Gouverneur  der  Bank  von 
England  dürfe  sich  also  nicht  versichern  lassen.  2.  Die  Erhöhung 
des  vorgesehenen  Aerztepauschals  von  vier  Schilling  auf  den 
Kopf  der  Versicherten  auf  das  Doppelte.  3.  Volle  Vertretung  der 
Aerzte  in  der  Verwaltung  der  Kassen. '4.  Freie  Arztwahl,  während 
der  Entwurf  das  uns  so  vertraute  System  der  fix  angestellten 
Kassenärzte  voraussieht.  Um  dieses  Minimalprogrammi  durch¬ 
zusetzen,  sollen  alle  Aerzte  einen  Revers , unterzeichnen,  daß  alle 
Honorarfragen  durch  die  Kommissionen  der  British  med.  Asso¬ 
ciation  zu  regeln  sind;  sollte  wider  Erwarten  das  Gesetz  in  der 
ursprünglichen  Fassung  durchgehen,  so  werden  die  Aerzte  ein¬ 
fach  ihre  Mitwirkung  verweigern. 

Die  großen  Grubenkatastrophen,  die  sich  gerade  in 
den  letzten  Jahren  in  England  häuften,  damit  zusammenhängend 
die  steigende  Zahl  der  tödlichen  Grubenunglücke  machten 
eine  Revision  des  britischen  Berggesetzes  vom  Jahre  1887  not¬ 
wendig.  Das  neue  Gesetz  bestimmt  unter  anderem  folgendes : 
Um  Unfälle  bei  der  Förderung  der  Belegschaft  zu  vermeiden, 
sollen  die  Seile  alle  3V2  Jahre  inspiziert  werden;  auch  sollen 
bessere  technische  Einrichtungen  zum  Bremsen  und  Messen  der 
Fahrgeschwindigkeit  gefordert  werden.  Die  Förderung  von  Ma¬ 
terial  und  Werkzeug  während  der  Ein-  und  Ausfahrt  soll  unter¬ 
sagt  werden.  Zur  Verhütung  von  Unfällen  auf  der  Förderstrecke 
schreibt  das  Gesetz  einen  genügenden  Raum' zwischen  den  Wagen 
und  den  Seitenwänden,  wie  auch  eine  genügende  Anzahl  von 
Zufluchtsstätten  vor.  Ferner  verlangt  das  Gesetz,  daß  jede  Grube 
einen  zweiten  Ausgang  neben  der  Strecke,  auf  der  die  mit,  Gasen 
geschwängerte  Luft  zurückkehrt,  besitzen  muß.  Bei  neuen  Gruben 
müssen  zwei  Schächte  angelegt  werden,  einer  für  die  Konlen- 
fördenmg  und  ein  anderer  für  die  Ein-  und  Ausfahrt  der  Beleg¬ 
schaft.  Die  Steiger  müssen  in  Zukunft  eine  strengere  Prüfung 
bestehen,  als  es  bis  jetzt  der  Fall  war.  Kem  Bergarbeiter  soll 
künftig  an  Stellen  arbeiten  dürfen,  wo  das  Hängende  (Gestein) 
nicht  gestützt  ist.  Keinem  Steiger  darf  ein  größeres  Revier  an¬ 
gewiesen  werden,  als  er  mit  Gründlichkeit  inspizieren  kann. 
Niem, and  darf  an  einem  Orte  arbeiten,  wo  sich  mehr  als  2V2°/o 
schlagender  Wetter  befinden.  An  allen  Zechen  müssen  Wasch 
kannen  vorhanden  sein,  die  die  Bergarbeiter  benützen  müssen 
Kin  delr  dürfen  inlZukunft  an  der  Oberfläche  nicht  unter  13  Jahren 
und  unterirdisch  nicht  unter  14  Jahren  beschäftigt  werden. 

Die  Festsetzung  dieses  niedrigen  Alters  zeigt  nicht  gerade 
von  sozialpolitischem  Verständnis;  die  Kinderarbeit  ist  über¬ 
haupt  ein  wunder  Punkt  der  englischen  Sozialversicherung,  in 
dem  sie  weit  hinter  dein  Festland  zurück  ist.  In  Großbritannien, 
also  auch  in  den  schottischen  Spinnereien,  dürfen  Kinder  unter 
12  Jahren  nicht  beschäftigt  werden,  dagegen  ist  es  immer  noch 
erlaubt,  Kinder  über  12  Jahren  nach  dem  Halbzeitsystem  in  den 
Textilfabriken  zu  beschäftigen  u.  zw.  entweder  abwechselnd  jeden 
Tag,  oder  in  Morgen-  und  Nachmittagschichten.  Nach  der  Ge¬ 
werbeordnung  des  Deutschen  Reiches  dürfen  Kinter  unter 


952 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  26 


13  Jahren  nicht  beschäftigt  werden.  Kinder  , über  13  Jahren  dürfen 
nur  beschäftigt  werden,  wenn  sie  nicht  mehr  zum  Besuche  der 
Volksschule  verpflichtet  sind.  Die  Beschäftigung  von  Kindern 
untei  ii  Jahren  darf  die  Dauer  von  sechs  Stunden  täglich  nicht 
überschreiten.  England  hat  bereits  1890  auf  der  Internationalen 
■.rbeiterschutzkonferenz  das  Versprechen  gegeben,  die  Kinder¬ 
arbeit  auf  ziiheben.  Bis  heute  hat  England  sein  Versprechen  nicht 
eingelost.  Diese  Saumseligkeit  wäre  nicht  zu  erklären,  wenn 
der  englischen  Regierung  nicht  leider  auch  das  Unverständnis 
iu  citei  Aibeiterschichten  zur-  Seite  stünde,  von  Eltern,  die  auf 
den  Ertrag  der  Kinderarbeit  nicht  verzichten  wollen.  Hoffentlich 
"  .  J0^ och  der  Druck  der  öffentlichen  Meinung  bald  so  stark 

sein,  diese  Rückständigkeit  auszumerzen.  Es  ziemt  England 
schlecht,  sich  über  die  Kinderarbeit  in  den  bengalischen 
Spinnereien  zu  entrüsten,  wie  es  geschehen  pst,  wenn  es  zu  Hause 
U ebelstände,  wenn  auch  nicht  so  krasser  Natur,  duldet. 

Emen  Fortschritt  bedeutet  der  Entwurf  Lloyd  Georges 
bezug  auf  die  Mutterschafts  Versicherung.  Wie  wir  in 
^i.24  ausführten,  keimt  das  angenommene  reformierte  deutsche 
Sozialversicherungsgesetz  nur  eine  fakultative  Fürsorge  für  die 
nicht  versicherten  krauen  von  Versicherungspflichtigen;  dagegen 
bestimmt  der  englische  Entwurf,  daß  jede  Arbeiterin,  oder  Frau 
eines  Versicherten,  wenn  sie  Mutter  wird,  30  Schilling  be¬ 
kommt.  Der  Staat  fragt  nicht,  ob  sie  verheiratet  ist  oder  nicht, 
dagegen  macht  er  zur  Bedingung,  daß  sie  während  des  Renten¬ 
bezuges  nicht  arbeitet. 

Bis  nun  war  in  England,  wie  noch  heute  in  Frankreich 
■tie  Mutters chafts Versicherung  das  Arbeitsgebiet  freiwilliger  Ver¬ 
sicherung.  Die  französischen  Vereine,  Mutualities  mater- 
11  eil  es  genannt,  werden  aber  vom  Staate  mit  500.000  Frank  unter¬ 
stützt.  Jede  Wöchnerin  erhält  während  vier  Wochen  eine  Ent¬ 
schädigung  von  12  Frank  wöchentlich  unter  der  Bedingung,  daß 
sie  sich  jeder  Arbeit  während  dieser  Zeit  enthält.  °Jedes 
unterstützte  Mitglied  muß  seit  mindestens  neun  Monaten  einge¬ 
schrieben  sein  und  seinen  Jahresbeitrag  von,  3  Frank  gezahlt  haben. 

Der  Deutsche  Bund  für  Mutterschutz  hielt  Mitte  Mai 
seme  dritte  Generalversammlung  in  Breslau  ab.  Prof.  O.  Spann 
(Biünnj  sprach  über  „Schicksale  und  Sterblichkeit  der  unehelich 
^el:)^ei^en  .•  Er  führte  die  hohe  Zahl  der  Totgeburten,  die  große 
Sterblichkeitsziffer  der  unehelichen  Säuglinge  und  die  spätere 
’  erwahrlosung  auf  die  schlechte  wirtschaftliche  Lage  der  ledigen 
Mutter  zurück.  Der  Tod  der  Mutter  sei  bei  solchen  Verhältnissen 
-  so  paradox  es  klingt  —  zumeist  von  günstigem  Einfluß  auf 
(fas  Geschick  des  unehelichen  Kindes,  da  sich  dann  die  öffent- 
iiche  Wagenpflege  seiner  annimmt;  das  private  Schutzinstitut, 
üie  Vormundschaft,  solle  überall  in  die  öffentliche  berufliche 
Vormundschaft  umgewandelt  werden.  Der  Vorsitzende,  Justizrat 
Rosenthal,  berichtete  über  die  vorbereitenden  Schritte  zur 
Gründung  einer  Internationalen  Vereinigung  für  Mutter s chutz 
und  über  die  Einberufung  eines  Internationalen  Kongresses  für 
Mutterschutz  und  Sexualrefonn  in  Dresden  (28.  bis  30.  September). 

Die  Stadt  C  har  hott  enburg,  die  in  sozialpolitischer  Be- 
ziehung  sehr  rege  ist,  hat  beschlossen,  da  die  Tätigkeit  der  Süug- 
hngsfüi sorgestelle  bisher,  abgesehen  von  Ausnahmefällen,  auf 
Kinder  im  ersten  Lebensjahr  beschränkt  war,  eine  gesundheit¬ 
liche  Uebeiwachung  der  Kinder  durch  die  Schulärzte  aber  erst  mit 
dem  vollendeten  sechsten  Lebensjahr  eintritt,  daher  für  das 
Alter  zwischen  dem  ersten  und  sechsten  Lebensjahr  es  an  ärzt¬ 
licher  üeberwachung  fehlt,  in  jeder  Säuglingsfürsorgestelle  eine 
besondere  Wochensprechstunde  für  Kinder  vom  ersten  bis 
sechsten  Jahr  einzurichten ;  zu  gelassen  werden  Kinder  dieses 
Alters,  auch  wenn  sie  die  Säuglingsfürsorgestelle  vorher  nicht 
besucht  haben.  Mütter  und  Pflegemütter  erhalten  in  den  Sprech¬ 
stunden  unentgeltlich  spezialärztlichen  .Rat,  eine  Behandlung 
findet  aber  ebensowenig,  wie  in  den  Säuglingsfürsorgestellen 
odei  durch  die  Schulärzte  statt.  Für  jedes  die  Fürsorgestellen 
besuchende  Kind  wird  mit  vollendetem  ersten  Lebensjahr  ein 
Gesundheitsschein  angelegt  werden,  der  das  Kind  bis  zum  voll¬ 
endeten  sechsten  Lebensjahr  begleitet  und  an  den  Schularzt  weiter¬ 
gegeben  werden  soll.  Der  Magistrat  Charlottenburg  hat  ferner 
beschlossen,  die  Aufsicht  über  die  städtischen  Kostpflegekinder. 
Haltekinder  und  unter  Generalvormundschaft  stehenden  Mündel 
durch  die  Säuglingsfürsorgestellen  bis  zum  vollendeten  zweiten 
Lebensjahr  auszudehnen.  An  die  Stelle  der  Waisenpflegerinnen 
treten  daher  bis  zum  zweiten  Jahr  die  Schwestern  der  Säug- 
hngsfüi  sorgestelle.  Schließlich  soll  mit  einer  Säuglingsfürsorge¬ 
stelle  eine  für  zelm  Kinder  bestimmte  Säuglingskrippe  verbunden 
werden.  In  ihr  werden  Kinder  solcher  ledigen  Mütter  Aufnahme 
finden,  die  tagsüber  auf  Arbeit  gehen  und  ihr  Kind  selbst  stillen. 

Die  Zahl  der  Krippen  beträgt  in  Deutschland  164,  davon 
entiallen  auf  Preußen  etwa  zwei  Drittel.  In  Berlin  sind  acht  vor- 


handen.  Heime  für  Säuglinge  bestehen  in  Deutschland  74  in 
Berlin  vier  nämlich  eine  Heimstätte,  ein  Kinderasyl  und  zwei 
städtische  V  aisenhäuser.  Milchküchen  bestehen  in  Deutschland 
5b,  davon  entfallen  auf  Preußen  gleichfalls  zwei  Drittel. 

Im  Jahre  1909  sind  im  Deutschen  Reiche  335.436  Kinder 
gestorben,  im  vorangehenden  359.022,  im  Jahre  1907  daueren 
r!  im’!ah\er  1906  374.636;  der  Rückgang  beträgt  somit 
«ooron  L  tfrr  d®n  Verstorbenen  waren  282.202  ehelich,  gegen 
308.630  im  Vorjahre  und  47.228  unehelich  gegen  50  742  im  Vor¬ 
jahre.  Auf  100  Lebendgeborene  kamen  1909  17-0  im  ernten  Lebens¬ 
jahre  gestorben,  gegen  17-8  im  Jahre  1908,  17  im  Jahre  1907 
und  4  8-5  im  Jahre  1906.  Bei  den  ehelichen  betrug  der  Anteil  16-0 
gegen  16-8,  16-6  und  17-5,  bei  den  unehelichen  26-8  gegen  28-5 
-.8  0  und  29-4.  Es  starben  auf  100  Geborene  berechnet  von  Knaben 
18-4  (im  Jahre  1908  19-4),  von  Mädchen  15-4  (16-2).  Am  un¬ 
günstigsten  steht  hinsichtlich  der  Säuglingssterblichkeit  Bayern 
mit  21-7  Um  Jahre  1908  ebenfalls  21-7)  auf  100  Geborene,  am 
Lippe  mit  10-5  (11-1).  In  Sachsen  betrug  die  Ziffer 
18-8  (20-1),  in  Baden  17-2  (16-8),  in  Würtenberg  17-2  (18-4)  in 
Preußen  16-4  (17-3).  Von  den  preußischen  Provinzen  stelit'am 
günstigsten  Hessen-Nassau  mit  10-3  (10-8);  dann  folgen  Hannover 
mit  121  (13-1),  Westfalen  mit  13-0  (14-4)  und  Schleswig-Holstein 
mit  13-2  (14-9),  während  die  Ziffer  am  ungünstigsten  ist  in  Ost¬ 
preußen  mit  19-1  (18-1),  Westpreußen  mit  20-4  (20-5)  und  Schlesien 
mit  -1-6  (20-8).  Ostpreußen  und  Schlesien  zeigen  eine  wesent¬ 
liche  Zunahme  der  Säuglingssterblichkeit.  Diese  Verhältnisse 
kamen  auch  im  deutschen  Reichstag  zur  Sprache,  weil  gerade 
die  Vertreter  der  östlichen  und  bayerischen  agrarischen  Bezirke, 
m  denen  die  Säuglingssterblichkeit  am  größten  ist,  gegen  jede 
Ei  Weiterung  des  Mutterschutzes  waren.  In  Berlin  lauten  die 
betreffenden  Zahlen  15-6  gegen  16-8,  16-3  und  17-7. 

Im  Jahre  1907  wurde  in  Berlin  ein  Landpflege  verband 
ms  Leben  gerufen.  Während  die  Haushaltungsschulen  auf  dem 
Lande  das  Ziel  verfolgen,  den  Töchtern  des  Mittelstandes  Anleitung 
m  allen  häuslichen  Verrichtungen  zu  geben,  will  der  Landpflege¬ 
verband  den  Hausfrauen  der  Arbeiter  und  Kleinbesitzer  auf  dem 
Lande  in  allen  Fragen  des  häuslichen  und  wirtschaftlichen  Lebens, 
sowie  in  der  Kinderpflege  und  Erziehung  mit  Rat  und  Tat  zur 
Seite  stehen.  Diese  Aufgabe  sollidufch  Landpflegeschwestern  gelöst 
werden,  die  hiezu  eine  besondere  Ausbildung  bedürfen.  In  Öber- 
schönfeld  bei  Bunzlau  (Preuß.-Schlesien)  ist  nun  die  erste 
Land  pflege  rinnenschule  errichtet  worden.  Die  Lehrzeit 
dauert  ein  Jahr  mit  44  Unterriohtswochen.  Aufgenommen  werden 
Mädchen  und  Frauen  im  Alter  von  20  bis  30  Jahren  mit  guter 
Allgemeinbildung ;  den  Abschluß  der  Ausbildung  bildet  eine  Prü¬ 
fung  vor  einer  staatlichen  Kommission,  daran  schließt  sich  eine 
einjährige  praktische  Ausbildung  in  einem  Krankenhaus.  Nach 
kurzer  Probezeit  wird  die  Landpflegeschwester  in  einer  Station 
fest  angestellt. 


1/ermisehte  flaehriehten. 

Ernannt:  Der  ordentliche  Professor  an  der  Universität 
m  Breslau  Dr.  Klemens  Freiherr  v.  Pirquet  zum  ordentlichen 
I  rofessor.  der  Kinderheilkunde  an  der  Universität  in  Wien.  — 
Die  Abteilungsvorsteher  am  Hygienischen  Institut  in  Hamburg 
Di.  phil.  Lendrich  und  Dr.  med.  R.  Heine  zu  Professoren. 

* 

Der  in  einer  silbernen  Medaille  und  1000  M.  bestehende  Preis 
aus  der  Rin  eck  er  sehen  Stiftung  in  Würzburg  wurde  Professor 
v.  Pirquet  für  seine  Arbeiten  über  Diagnose  der  Tuberkulose 
zuerkannt. 


Habilitiert:  Dr. 
nische  Chemje  in  Wien. 


Emil  Zdarek  für  angewandte  medizi- 


¥ 

In  der  Plenarversammlung  des  Aerztevereines  in  Marienbad 
wurde  Herr  Dr.  Alois  Grimm  anläßlich  der  Vollendung  des  Baues 
des  Aerzteheimes  zum  Ehrenmitgliede  des  Marienbader  Aerzte- 
Vereines  ernannt. 

* 

Gestorben:  Der  a.  o.  Professor  und  Assistent  am  patho¬ 
logisch  -  anatomischen  Institut  in  Innsbruck,  Dr.  E.  v.  Hi  bl  er, 
infolge  einer  Leicbeninfektion.  t- —  Dr.  E.  Remak,  außerordent¬ 
liche!  I  rofessor  der  Neurologie  in  Berlin.  —  In  Lausanne  der 
Professor  der  pathologischen  Anatomie,  Dr.  H.  Stilling. 

* 

A™  17-  Juni  1 914  fand  je  eine  Sitzung  des  Fachkomitees 
des  Obersten  Sanitätsrates  für  Angelegenheiten  der  Volks¬ 
emährung  sowie  des  Fachkomitees  für  Ausbildung  der  Amtsärzte 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911, 


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und  Besetzung  amtsärztlicher  Stellen  statt.  Das  Fachkomitee  für 
Angelegenheiten  der  Volksernährung  hat  folgende  Gegenstände 
beraten:  1.  Entwurf  eines  Gesetzes  über  Absinthverbot.  (Re¬ 
ferent:  Hofrat  Horbacze  wski.)  2.  Beimengung  von  Bilsen¬ 
krautsamen  zum  Mohne.  (Refer „nt:  Prof.  Josef  Moeller.)  Im 
Fachkomitee  für  Ausbildung  der  Amtsärzte  und  Besetzung  amts¬ 
ärztlicher  Stellen  wurden  Vorschläge  für  die  Ernennung  eines 
Landessanitätsreferenten  sowie  eines  Spitalsdirektors  erstattet. 
(Referent:  Ministerialrat  R.  v.  Haberl  er.) 

♦ 

Der  Internationale  Gynäkologenkongreß  in  Sankt 
Petersburg  1910  hat  Berlin  als  Ort  seiner  nächsten  Tagung  1912 
und  Herrn  E.  Bumm  als  Vorsitzenden  bestimmt.  Herrn 
Bumm  steht  ein  Organisationskomitee  zur  Seite,  bestehend 
aus  den  Herren  Döderlein,  Mangiagalli,  A.  Martin  und 
v.  Ott.  Zum  Generalsekretär  ist  E.  Martin,  Berlin  N,  Artillerie- 
straße  18,  gewählt.  Während  ihrer  jüngsten  Tagung  in  München 
hat  die  Deutsche  Gesellschaft  für  Gynäkologie  die  Einladung 
zu  diesem  Kongreß  angenommen  und  ihre  Mitwirkung  zugesagt. 
Das  Organisationskomitee  hat  beschlossen  den  Kongreß  auf  den 
31.  Mai  bis  2.  Juni  1912  nach  Berlin  einzuberufen.  Als  Dis¬ 
kussionsthema  ist  die  peritoneale  Wundbehandlung  aufgestellt 
worden.  Die  weiteren  Arbeiten  sind  im  vollen  Gange.  Es  sind 
schon  alle  nationalen  gynäkologischen  Gesellschaften  zur  Mit¬ 
arbeit  aufgefordert,  so  daß  zu  hoffen  ist,  es  werde  die  Anregung 
zur  Beteiligung  in  die  weitesten  Kreise  dringen. 

* 

Die  Ausdehnung  der  ungarischen  Gewerbeauf¬ 
sicht  auf  sämtliche  Sackverleihungsanstalten  hat  die 
Regierung  soeben  in  einem  Erlasse  angeopdnet.  Bisher  waren 
nämlich  nur  diejenigen  Sackverleiihungsbetriebe  der  Gewerbe¬ 
aufsicht  unterworfen,  in  denen  entweder  20  Arbeiter  beschäftigt 
waren  oder  eine  motorische  Kraft  verwendet  wurde.  Nunmehr 
fällt  diese  Beschränkung  fort,  alle  diesbezüglichen  Betriebe 
werden  fürderhin  von  den  Gewerbeinspektoren  revidiert  werden. 
Hiebei  ist  nach  dem  Erlaß  zu  beachten :  Die  Säcke  dürfen  nur  gut 
ausgestäubt  in  die  Räume  gelangen,  resp.  (sind  Entstäubungsmaschi¬ 
nen  zu  beschaffen  und  erst  nach  deren  Passieren  können  die 
Säcke  eingelagert  werden.  Die  Entstäuber  sind  ,mit  einem  Exhaus¬ 
tor  zu  verbinden  und  der  Staub  in  eine  Staubkammer  abzuleiten. 
Der  die  Entstäubungsmaschine  bedienende  Arbeiter  muß  mit  einem 
Respirator  versehen  sein.  Womöglich  ist  den  Betriebsinhabern 
die  Verwendung  von  Vacuum  Cleaner  -  Apparaten  zu  empfehlen. 
Die  Räume,  in  denen  die  Sortierung,  Ausbesserung  der  Säcke  vor 
sich  geht,  müssen  geräumig,  licht  und  gut  ventilierbar  sein;  sie 
müssen  täglich  zweimal  besprengt  oder  naß  aufgewaschen  werden. 
In  diesen  Betrieben  dürfen  Kinder  unter  16  Jahren  nicht  beschäf¬ 
tigt  werden.  Alle  Beschäftigten  sind  auf  Kosten  der  Unternehmer 
mit  Arbeitskleidern  und  Kopfbedeckung  zu  versehen  und  müssen 
selbe  während  ihrer  Arbeit  t'.v;  n.  Auch  müssen  Waschvorrich¬ 
tungen  zur  Verfügung  der  Arbeiter  gestellt  werden.  Der  Unter¬ 
nehmer  ist  verpflichtet  darüber  zu  achten,  daß  die  Arbeiter, 
vor  dem  Essen  oder  dem  Weggehen  von  der  Arbeitsstätte,  sich 
der  Waschvorrichtungen  wirklich  bedienen.  — eh. 

♦ 

Der  VI.  Landeskongreß  der  ungarischen  Irren¬ 
ärzte  wird  Ende  Oktober  dieses  Jahres  in  Budapest  abgehalten 
werden.  Zur  Besprechung  gel  iw:::  folgende  Themen:  1.  Welche 
sind  die  durch  das  Gesetz  aufzählbaren  Fälle  der  beschränkten 
Zurechnungsfähigkeit?  2.  Welche  Ergebnisse  weisen  die  in  Eng¬ 
land  und  in  den  Vereinigten  Staaten  für  die  Degenerierten  errich¬ 
teten  Kolonien  auf?  3.  Kann  und  muß  man  im  Privatrechte  einen 
der  beschränkten  Zurechnungsfähigkeit  entsprechenden  Begriff  ein¬ 
stellen?  4.  Die  Psychopathie  und  Sozialhygiene  der  verwahrlosten 
Kinder.  D;a  als  Referenten  für  die  erwähnten  Themen  durchwegs 
Koryphäen  der  entsprechenden  Disziplinen  gewählt  wurden,  so 
wird  fraglos  dieser  Kongreß  vieles  zur  Klärung  der  angeschnit¬ 
tenen  Fragen  beitragen  und  stark  besucht  sein.  — ch. 

* 

In  der  Lungenheilstätte  Budakeszi-ßudapest 
wurden  im  Jahre  1910  insgesamt  564  Tuberkulöse  (326  Männer 
und  238  Frauen)  behandelt.  281  Pfleglinge  waren  auf  Stiftungs¬ 
plätzen,  also  unentgeltlich,  verpflegt  worden.  72°/o  der  Fälle  wiesen 
bei  der  Entlassung  eine  bedeutende  Besserung  auf.  Im  Berichtsjahre 
gelangte  auch  als  Zubau  des  Sanatoriums  eine  Lungenheilstätte 
für  Kinder  zum  Abschluß.  Die  Baukosten  dieses  Traktes  allein 
betrugen  1,129.198  K.  Diese  Lungenheilstätte  wurde  über  Anre¬ 
gung  des  Hofrates  Prot.  Dr.  Koränyi,  errichtet  und  ist  Eigen¬ 
tum  des  „Budapester  Lungenheilstättenvereines  für  arme  Lungen¬ 
kranke“.  In  [dem  von  dem  genannten  Vereine  erachteten  und 
erhaltenen  Dispensaire  erhielten  im  vorigen  Jahre  zusammen 


11.378  Kranke  ärztlichen  Rat  und  Hilfe,  selbstverständlich  auch 
Geldunterstütz ong,  Milch  und  Medikamente.  — ch. 

* 

Cholera.  Oesterreich.  Die  cholerakrank  gewesene 
Marie  Lebinger  in  Graz,  sowie  die  als  Bazillenträgerin  ermittelte 
geistliche  Krankenpflegerin  sind  auf  Grund  wiederholter  negativ 
ausgefallener  Untersuchungen  auf  Cholerabazillen  als  gesund  und 
nicht  'mehr  infektionsgefährlich  aus  der  Isolierung  entlassen 
worden  Ungarn.  Die  ungarische  Regierung  hat  die  fünftägige 
Ueberwachung  des  Gesundheitszustandes  der  aus  Venedig  oder 
Konstantinopel  kommenden  Reisenden,  sowie  die  Anzeigepflicht 
aller  choleraverdächtigen  Erkrankungen  verfügt.  —  Italien.  Amt¬ 
lichen  Nachrichten  zufolge  sind  in  Lungro,  Provinz  Cosenza  und 
in  Serrastretta,  Provinz  Catanzaro,  Choleraerkrankungen  vorge¬ 
kommen.  —  Bulgarien.  Die  Stadt  Samsun  (asiatische  Türkei) 
wurde  für  choleraverseucht  erklärt  und  wurden  für  dortige  Pro¬ 
venienzen,  Reisende  und  Schiffe  die  gewöhnlichen  Sanitätsma߬ 
regeln  angeordnet.  —  Türkei.  Gegen  Provenienzen  aus  Neapel 
wurde  ärztliche  Visite  und  Desinfektion  verfügt.  — 

Pest.  Italien.  Mit  Verordnung  Nr.  21  vom  5.  Juni  d.  J. 
wurden  gegen  Provenienzen  aus  Alexandrien  die  Bestimmungen 
der  See-Sanitätsordnung  Nr.  10  ex  1907  gegen  Pest  in  Kraft 
gesetzt.  —  Aegypiten.  In  der  Woche  vom  12.  bis  18.  Mai  1911 
ereigneten  sich  in  Aegypten  27  (17)  Pestfälle  (Todesfälle)  und 
zwar  in  der  Stadt  Alexandrien  1  (0),  in  den  Provinzen  AssViout 
2  (1),  Fayourn  4  (3),  Keneh  13  (11),  Menoufieh  0  (l),  Minieh 
6  (0),  Guirgueh  1  (l);  in  der  Woche  vom  19.  bis  25.  Mai  33  (15) 
Pestfälle  (Todesfälle)  u.zw.  in  der  Stadt  Alexandrien  1  (0),  in  den 
Provinzen  Assiout  3  (l),  Benisouef  1  (0),  Dakahlieh  4  (2),  Fa- 
youm  6  (4),  Galioubieh  1  (0),  Gharbieh  2  (0),  Keneh  9  (7), 

Minieh  6  (l).  Die  Zahl  der  seit  Jahresbeginn  bis  20.  Mai  gemel¬ 

deten  Pesterkrankungen  beträgt  1403  gegenüber  595  in  der  ent¬ 
sprechenden  Zeitperiode  des  Vorjahres. 

* 

Literarische  Anzeigen.  Chemie  für  Zahnärzte. 
Von  Dr.  Friedr.  Sch oen beck.  Verlag  der  D>yk sehen  Buch¬ 
handlung  in  Leipzig.  Preis  4  M.  80  Pf.  Das  vorliegende  Werk 

stellt  den  ersten  Band  eines  von  Hofrat  Pf  aff  in  Leipzig  be¬ 
sorgten  Sammelwerkes  „Handbibliothek  des  Zahnarztes“  dar, 
welches  in  etwa  15  Bändern  erscheinen  soll. 

* 

Aus  dem  Jahresbericht  des  Vereines  zur  Errich¬ 
tung  und  Erhaltung  eines  ärztlichen  Erholungs¬ 
heimes  in  Marienbad  ist  zu  entnehmen,  daß  für  den  Verein 
eine  eifrige  Propaganda  ins  Werk  gesetzt  worden  war.  Der  Erfolg 
zeigt  sich  in  der  Zunahme  der  Mitgliederzahl,  die  von  L33  auf 
228  gestiegen  ist  und  eine  Zunahme  des  Vermögensstandes  von 
6027  K  aufweist,  so  daß  das  Barvermögen  22.848  K  -)-  1000  JK 
Außenstände,  ,im  Ganzen  23.848  K  beträgt.  Die  Zahl  der  Anmel¬ 
dungen  für  Freiplätze  betrug  im  Jahre  1910  24,  für  diesen  Sommer 
sind  bereits  36  Anmeldungen  eingelaufen.  Das  wichtigste  Er¬ 
eignis  des  abgelaufenen  Vereins jahres  ist  der  Bau  desl  Aerzte- 
heimes  das  am  1.  Juli  seiner  Besthnmjung  übergeben  werden  soll. 
Aus  der  Betriebs-  oder  Hausordnung  wäre  zu  erwähnen :  Fest¬ 
setzung,  daß  nur  Frauen  in  Begleitung  der  Kollegen  oder  bei 
Schwerkranken  oder  Pflegebedürftigen  eine  Pflegerin,  sonst  keine 
anderen  Familienangehörigen  im  Aerzteheim  Aufnahme  finden 
und  daß  die  Vergebung  der  Plätze  nur  vom  Ersten  eines  Monates 
für  vier  Wochen  —  nicht  während  des  Monates  (im  allgemeinen 
gültig)  erfolgen  kann.  Der  Regiebeitrag  wird  mit  7  K  pro  Kopf 
und  Woche  festgesetzt,  dafür  die  Bedienung,  Kleiderreinigung  und 
Beheizung  geboten.  In  der  darüber  geführten  Diskussion  wird  der 
Antrag  angenommen,  daß  die  Anmeldungen  erst  vom  Beginn  des 
Jahres  zu  gelten  haben  und  daß  bei  Erwähnung  des  Regiebeitrages 
in  der  Hausordnung  der  Zusatz  zu  machen  sei:  „Jede  weitere 
Verpflichtung  entfällt.“ 

* 

Berichtigung.  Im  Artikel  „Die  Lokalisation  der  Herz¬ 
töne“  von  Prof.  Dr.  M.  Hei  tier  in  Nr.  24,  S.  858,  zweite  Spalte, 
T9.  Zeile  van  oben  soll  es  statt  „ider  zweite  Pulmonalton“ 
richtig  heißen:  „der  zweite  Aortaton“. 

A 

Aus  dem  Sanitätsbericht  der  Stadt  Wien  im  er¬ 
weiterten  Gemeindegebiet.  22.  Jahres woche  (vom  28.  Mai  bis 
3.  Juni  1911).  Lebend  geboren,  ehelich  488,  unehelich  266,  zusammen 
754.  Tot  geboren,  ehelich  59,  unehelich  27,  zusammen  86.  Gesamtzahl  der 
Todesfälle  703  (d.  i.  auf  1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden 
17  8  Todesfälle)  an  Bauchtyphus  1,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  16, 
Scharlach  5,  Keuchhusten  3,  Diphtherie  und  Krupp  4,  Influenza  0, 
Cholera  0,  Ruhr  0,  Rotlauf  4,  Lungentuberkulose  115,  bösartige  Neu¬ 
bildungen  62,  Wochenbettfieber  2,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektions- 


954 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  26 


krankheiten:  An  Rotlauf  34  (—  7),  Wochenbettfieber  2  (—  1),  Blattern  0 
(0),  Varizellen  82  (+  9),  Masern  265  (+  13),  Scharlach  117  (+  14) 
Flecktyphus  0  (0),  Bauchtyphus  7  (+  2),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0) 
Diphtherie  und  Krupp  47  (+ 18),  Keuchhusten  22  (—7),  Trachom  0  (—3) 
Influenza  4  (-J-  4),  Poliomyelitis  0  (0). 

23.  Jahreswoche  (vom  4.  bis  10.  Juni  1911).  Lebend  geboren, 
ehelich  596,  unehelich  243,  zusammen  839.  Tot  geboren,  ehelich  66, 
unehelich  13,  zusammen  79.  Gesamtzahl  der  Todesfälle  586  (d.  i.  auf 
1000  Einwohner  einschließlich  der  Ortsfremden  14'9  Todesfälle),  an 
Bauchtyphus  0,  Flecktyphus  0,  Blattern  0,  Masern  13,  Scharlach  2,  Keuch¬ 
husten  2,  Diphtherie  und  Krupp  6,  Influenza  1,  Cholera  0,  Ruhr  0,  Rot¬ 
lauf  4,  Lungentuberkulose  88,  Bösartige  Neubildungen  45,  Wochenbett¬ 
fieber  1,  Genickstarre  0.  Angezeigte  Infektionskrankheiten:  An  Rotlauf 
35  (-)-  1),  Wochenbettfieber  5  (-f-  3),  Blattern  (0),  Varizellen  61  (—  21), 
Masern  292  (-j-  27),  Scharlach  104  (—  13),  Flecktyphus  0  (0),  Bauch¬ 
typhus  5  ( — 2),  Ruhr  0  (0),  Cholera  0  (0),  Diphtherie  u.  Krupp  38  (—  9), 
Keuchhusten  32  '(+  10),  Trachom  5  (+  5),  Influenza  1  (—  4),  Polio¬ 
myelitis  0  (0). 


Eingesendet. 


Vom  Gauverband  der  deutschen  Aerzte  Böhmens 
zur  Wahrung  ihrer  wirtschaftlichen  Interessen  erhalten  wir  folgende 
Mitteilung: 

In  Erfüllung  der  Aufgabe,  die  für  die  Prager  praktischen  Aerzte  so 
hochwichtige 

Ambulatorienfrage 

zu  revidieren,  hat  der  Vorstand  des  Gauverbandes  Prag  die  derzeit 
gültige  Ordnung  für  die  klinischen  Ambulatorien  eingesehen."  Dieselbe  be¬ 
stimmt,  daß  die  ärztliche  Behandlung  daselbst  nur  Bedürftigen,  die  ein 
Mittellosigkeitszeugnis  vorweisen  können,  zusteht,  ferner  Kassenpatienten 
nur  —  wie  allen  —  zwecks  erster  Hilfeleistung,  ferner  bei  notwendiger 
spezialistischer  Behandlung,  wenn  der  Kassenarzt  dies  schriftlich  an¬ 
fordert. 

Was  die  Kassenpatienten  betrifft,  so  ist  der  Vorstand  des  Gauver¬ 
bandes  der'  Ansicht,  daß  deren  unentgeltliche  Behandlung  durch  die 
Ambulatorien  eine  Schädigung  der  wirtschaftlichen  Interessen  der  Aerzte 
bedeutet,  da  die  Kassen  nach  §  6,  Punkt  1  des  Krankenkassengesetzes 
ihren  Mitgliedern  die  ärztliche  Behandlung  zu  gewähren,  den  Arzt  beizu¬ 
stellen  und  zu  bezahlen  haben.  Durch  die  unentgeltliche  Behandlung 
dieser  Kranken  ersparen  die  Ambulatorien  den  Kassen  das  Arzthonorar 
und  bringen  die  Aerzte  darum. 

Bei  dem  heutigen  vorwiegenden  Pauschalierungssystem  erleichtern 
wohl  die  Ambulatorien  dem  Kassenarzt  die  Arbeit,  sie  ermöglichen  aber 
damit  eine  Uebernahme  dieser  Stellen  für  ein  geringes  Entgelt  und 
schädigen  damit  die  Existenzbedingungen  der  Gesamtärzteschaft,  der  sie 
durch  Gewinnung  eines  großen  Lehrmaterials  während  der  Ausbildungs¬ 
zeit  dienen  wollen. 

Durch  die  Gewährung  der  spezialärztlichen  Hilfe  jedoch  wird  die 
sonst  notwendige  Anstellung  von  Spezialärzten  bei  den  Kassen  über¬ 
flüssig  gemacht  und  wiederum  zwar  für  die  Ausbildung  von  Spezialisten 
gut  gesorgt,  deren  Fortkommen  im  praktischen  Leben  aber  beeinträchtigt. 

Der  Gauverband  Prag,  dessen  Mitglieder  bloß  etwa  12.000  Kassen¬ 
angehörige  zu  behandeln  haben,  von  welchen  noch  dazu  etwa  5000  Wahl 
des  Arztes  (bei  Selbstbezahlung),  sowie  Kassenspezialisten  zur  Verfügung 
stehen,  sieht  sich  gegenwärtig  nicht  in  der  Lage,  in  Prag  allein  und 
primär  irgendeine  Aktion  bezüglich  der  Behandlung  der  Kassenkranken 
in  den  öffentlichen  Ambulatorien  einzuleiten,  behält  sich  aber  Schritte 
für  einen  geeigneten  Zeitpunkt  vor. 

Wohl  aber  hält  der  Vorstand  des  Gauverbandes  Prag  die  übliche 
mißbräuchliche  Benützung  der  Ambulatorien  durch  zahlungsfähige  Kranke 
für  dringend  abstellungsbedürftig,  da  hiedurch  die  wirtschaftlichen  Inter¬ 
essen  aller  Aerzte  aufs  empfindlichste  berührt  werden.  Hiebei  kam  zur 
Sprache,  daß  vielfach  von  den  praktischen  Aerzten  selbst  in  unzweck-  j 
mäßiger  Weise  gehandelt  wird,  indem  diese  zahlungsfähigen  Kranken,  I 
welche  ihnen  Honorare  zahlen,  zum  Aufsuchen  der  Ambulatorien  raten. 
Die  Aerzte  fordern  damit  ihre  Kranken  direkt  zur  Verletzung  der  Vor-  ! 
Schriften  auf,  welche  bestimmen,  daß  die  Ambulatorien  nur  für  arme  | 
Kranke  dienen  sollen,  um  diese  Patienten  als  Lehrmaterial  nutzbar  zu 
machen.  Falls  ein  Kranker  aber  auf  die  Behandlung  durch  einen  be¬ 
stimmten,  als  Ambulatoriumleiter  fungierenden  Arzt  Gewicht  legt,  dann 
wird  durch  die  Verweisung  des  Kranken  in  das  Ambulatorium  anstatt  in  I 
die  Privatordination  der  betreffende  Ambulatoriumsvorstand  um  das 
Honorar  gebracht.  Bei  dem  heutigen  Vorhandensein  aller  Einrichtungen 
auch  außerhalb  der  Kliniken  ist  durchaus  kein  Bedürfnis  mehr  vor¬ 
handen,  daß  bemittelte  Kranke  die  für  Arme  bestimmten  Ambulatorien 
aufsuchen. 

Es  wurde  daher  beschlossen,  in  obigem  Sinne  alle  deutschen 
Aerzte  Böhmens  aufzufordern,  in  Hinkunft  bemittelte  Patienten  nicht  mehr 
den  unentgeltlichen  Ambulatorien  für  Arme  zuzuweisen:  zur  Aufklärung 
des  Publikums  über  diese  unzulässigen  Verhältnisse  werden  in  der 
Tagespresse  entsprechende  Notizen  erscheinen,  welche  auch  dazu  dienen 
sollen,  das  selbständige  Aufsuchen  der  Ambulatorien  durch  das  zahlungs¬ 
fähige  Publikum  zu  vermindern. 

Der  Vorstand  des  Gauverbandes  Prag  ist  sich  bewußt,  daß  die 
strenge  Handhabung  der  Ambulatorienordnung  durch  die  Vorstände  und 
deren  Stellvertreter  wegen  der  praktischen  Durchführbarkeit  auf 
Schwierigkeiten  stößt.  Immerhin  hielt  man  das  Ersuchen  an  die  einzelnen 


Ambulatoriumsvorstände,  strenge  auf  die  Einhaltung  der  ministeriellen 
Vorschriften  sehen  zu  wollen,  als  die  einzige  mögliche  Intervention.  In¬ 
dem  der  Gauverband  die  dahingehenden  Schritte  bei  praktischen  Aerzten 
und  Publikum  einleitet,  hofft  er  auch  auf  die  tatkräftige  Unterstützung 
der  Ambulatoriumleiter  zwecks  Besserung  der  materiellen  Verhältnisse 
der  Aerzte.  Im  besonderen  soll  um  die  Abstellung  der  Gewährung  solcher 
unentgeltlicher  Leistungen  an  Bemittelte  ersucht  werden,  welche  heut¬ 
zutage  leicht  zu  erlangen  sind,  wie  Harnuntersuchungen,  Röntgenauf¬ 
nahmen,  Brillenbestimmungen,  Behandlung  vermögender  Sportverletzter 
und  ähnliches. 

Bei  diesem  Anlasse  kam  auch  die  Privatbehandlung  durch  die  sub¬ 
alternen  Krankenhausärzte  zur  Sprache.  Nach  einem  jüngst  erflossenen 
Erlasse  des  Unterrichtsministeriums  kann  zwar  den  Assistenten  etc.  die 
Ausübung  der  Privat-  und  kassenärztlichen  Praxis  nicht  verwehrt  werden, 
soweit  hiedurch  die  Dienstesverpflichtungen  nicht  Nachteil  erleiden;  es 
wurde  aber  gleichzeitig  strenge  verboten,  in  den  Räumen  der  Klinik  und 
mit  Benützung  von  klinischem  Material  Privatpraxis  auszuüben.  Den 
Gauverband  Prag  interessiert  die  Privatpraxis  der  Krankenhausärzte  nur 
insoforn,  als  sie  etwa  unter  dem  vereinbarten  Minimaltarif  ausgeübt 
würde,  wozu  gerade  die  günstige  Lage  der  Aerzte  —  keine  erhebliche 
Regie,  Steuern  etc.  —  verleiten  würde  und  wodurch  eine  erhebliche 
Schädigung  der  Interessen  der  praktischen  Aerzte  zustande  käme.  Es 
wurde  beschlossen,  die  Krankenhausärzte,  welche  alle  der  Organisation 
angehören  und  auf  den  Tarif  verpflichtet  sind,  einzeln  auf  dessen 
strenge  Einhaltung  aufmerksam  zu  machen,  insbesondere,  daß  die 
spezialärztlichen  Tarifsätze  zu  berechnen  sind.  Im  Falle  der  Unter¬ 
bietung  müßte  der  Gauverband  hingegen  zu  den  schärfsten  Maßregeln 
schreiten. 

Schließlich  wurde  beschlossen,  die  tschechische  Prager  Aerzte- 
organisation  anzugehen,  eine  parallele  Aktion  in  ihren  Kollegenkreisen 
einzuleiten. 

Dr.  0.  Klaub  er,  dz.  Schriftführer.  Dr.  A.  Bandle  r,  dz.  Obmann. 


Freie  Stellen. 

Sanitätskonzipistenstelle  mit  den  systemmäßigen  Be¬ 
zügen  der  X.  Rangsklasse  im  Stande  der  Sanitätsbeamten  der  politischen 
Verwaltung  Kärntens.  Bewerber  um  diesen  Dienstposten  haben  ihre 
diesfälligen  Gesuche  mit  den  Nachweisen  über  die  nach  dem  Gesetze 
vom  21,  Mai  1873,  R.-G.-Bl.  Nr.  37,  erforderliche  Befähigung  und  ihre 
bisherige  Verwendung,  wenn  sie  bereits  im  öffentlichen  Staatsdienste 
stehen,  im  Wege  ihrer  Vorgesetzten  Behörde,  sonst  aber  unmittelbar 
beim  Präsidium  der  k.  k.  Landesregierung  für  Kärnten  bis  10.  Juli  1911 
einzubringen.  Noch  nicht  im  Staatsdiensle  stehende  Bewerber  haben 
ihren  Ansuchen  überdies  auch  den  Tauf-  oder  Geburtsschein,  den 
Heimatsschein,  sowie  ein  amtsärztliches  Zeugnis  über  ihre  physische 
Eignung  beizuschließen. 

In  dem  neuen,  seit  1  '/„  Jahren  im  Betriebe  stehenden,  modernst 
ausgestalteten  Allgemeinen  öffentlichen  Bezirkskrankenhause  in  Mistel¬ 
bach,  Niederösterreich  a.  d.  Staatsbahn,  kommt  eine  Sekundararztes- 
stell  e  zur  Besetzung.  Mit  dieser  Stelle  ist  ein  Jahresgehalt  von  1600  K, 
freie  Wohnung,  vollständig  freie  Verpflegung,  inklusive  Licht,  Heizung 
und  Bedienung  im  Anstaltsgebäude,  verbunden.  Bei  Verpflichtung  auf 
drei  Jahre  eine  Zulage  von  600  K.  Bewerber  um  diese  Stelle,  welche 
Doktoren  der  gesamten  Heilkunde  und  deutscher  Nationalität  sein  müssen, 
wollen  ihre  Anträge  an  den  Verwaltungsrat  des  allgemeinen  öffentlichen 
Bezirkskrankenhauses  in  Mistelbach,  Niederösterreich,  richten.  Auskünfte 
erteilt  Primararzt  Dr.  Fritz  Höllrigl. 

Dr.  Emanuel  Bunzel  sehe  Witwen-  und  Waisen¬ 
stiftung  in  Wien.  Aus  den  Interessen  dieser  Stiftung  sind  für  das 
Jahr  1911,  28  Stiftplätze  ä  200  K  (14  an  Christen,  14  an  Israeliten)  zu 
verleihen.  Diese  Stiftplätze  können  nur  an  arme  Witwen,  resp.  Waisen 
(bis  zum  16.  Jahre  100  K)  nach  in  Wien  promovierten  Doktoren  der 
Medizin,  welche  österreichische  Staatsbürger  und  deutscher  Nationalität 
waren,  verliehen  werden.  Bewerberinnen  um  einen  Stiftplatz  haben  ihre 
mit  dem  Tauf-  oder  Geburtsscheine,  dem  Doktordiplom  ihres  verstorbenen 
Gatten,  resp.  Vaters  und  dem  Nachweise  der  deutschen  Nationalität, 
welcher  erbracht  erscheint,  wenn  die  Unterstützungsbewerberin,  bzw.  bei 
Waisen  die  Eltern  bei  der  letzten  Volkszählung  die  deutsche  Sprache 
als  Umgangssprache  angegeben  haben,  belegten  Gesuche  bis  längstens 
1.  Oktober  1.  J.  beim  Wiener  medizinischer  Doktorenkollegium  zu 
überreichen.  Nicht  vorschriftsmäßig  belegte  oder  nach  dem  1.  Oktober 
1911  einlangende  Gesuche  können  nicht  berücksichtigt  werden. 

Dr.  Emanuel  Bunzel  sehe  Aerztestiftung  in  Wien, 
Aus  den  Interessen  dieser  Stiftung  sind  für  das  Jahr  1911,  28  Stiftplätze 
a  200  K  (14  an  Christen,  14  an  Israeliten)  zu  verleihen.  Diese  Stiftplätze 
können  nur  an  solche  in  Wien  promovierte  Doktoren  der  Medizin  deutscher 
Nationalität  verliehen  werden,  welche  österreichische  Staatsbürger  sind 
und  infolge  von  Alter  oder  Kränklichkeit  ihre  Praxis  nicht  ausüben 
können  oder  infolge  von  Unglücksfällen  in  eine  unverschuldete  vorüber¬ 
gehende  Notlage  geraten  sind.  Notorische  Antisemiten  sind  nach  dem 
Stiftbriefe  ausgeschlossen.  Bewerber  um  einen  Stiftplatz  haben  ihre  mit 
dem  Tauf-  oder  Geburtsscheine,  dem  Doktordiplome,  der  Bestätigung  der 
Kränklichkeit  oder  der  hilfsbedürftigen  Lage  und  dem  Nachweise  der 
deutschen  Nationalität,  welcher  erbracht  erscheint,  wenn  der  Bewerber 
bei  der  letzten  Volkszählung  die  deutsche  Sprache  als  Umgangssprache 
angegeben  hat,  belegten  Gesuche  bis  längstens  1.  O  k  t  o  b  e  r  1.  J.,  12  Uhr 
mittags,  beim  Wiener  medizinischen  Doktorenkollegium,  I.,  Rotenturm- 
straße  19  (van  Swietenhof),  zu  überreichen.  Nicht  vorschriftsmäßig  be¬ 
legte  oder  nach  dem  1.  Oktober  1911  einlangende  Gesuche  können 
nicht  berücksichtigt  werden. 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


955 


Verhandlungen  ärztlicher  Gesellschaften  und  Kongreßberichte. 

INHALT: 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 
Sitzung  vom  23.  Juni  1911. 

Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheilkunde  in  Wien. 
Sitzung  vom  1.  Juni  1911. 


Offizielles  Protokoll  der  k.  k.  Gesellschaft  der 

Aerzte  in  Wien. 

Sitzung  vom  23.  Juni  1911. 

Vorsitzender :  Prof.  Dr.  Ernst  Wertheim. 

Schriftführer:  Priv.-Doz.  Dr.  Heinrich  Reichel. 

Der  Vorsitzende  Prof.  Dr.  E.  Wert  heim  bringt  ein.  Schreiben 
des  Herrn  Dr.  Hermann  .Teleky  zur  Verlesung,  in  dem  der¬ 
selbe  dem  Präsidium  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  für  die 
Beglückwünschung  zum  50jährigen  Doktorjubiläum  dankt. 

Hofrat  Prof.  Dr.  0.  Chiari:  Meine  , Herren !  Ich  erlaube  mir, 
Ihnen  heute  den  Patienten  vorzustellen,  welchen  ich  in  der  vorigen 
Sitzung  erwähnte.  Er  wurde  mir  von  Herrn  Hofrat  Fuchs 
gütigst  überwiesen.  Ich  habe  ihm  am  9.  Juni  nach  Tamponade 
beider  Choanen  in  Narkose  einen  über  bohnengroßen  Teil  eines 
Hypophysentumors  entfernt.  Die  Operation  wurde  wegen  Seh- 
störungen  vorgenommen.  An  der  Klinik  Fuchs  wurde  am  2.  Juni 
konsltatiert,  daß  das  rechte  Auge  mit  +3  Dioptrien  Jäger  3 
lesen  konnte  und  eine  Sehschärfe  bis  5/8  hatte ;  das  linke  Auge 
konnte  nur  Finger  in  3  m  Entfernung  exzentrisch  zählen.  Am 
21.  Juni,  also  zwölf  Tage  nach  der  Operation,  war  rechts  die 
Sehschärfe  6/9,  links  die  Sehschärfe  6/24  und  Jäger  11  konnte 
mit  einem  Glas  von  -j-3  Dioptrien  in  30  cm  Entfernung  gelesen 
werden.  Perimetrisch  ließ  sich  beiderseits  eine  bedeutende  Er¬ 
weiterung  des  Gesichtsfeldes  nachweisen,  also  jedenfalls  eine  be¬ 
deutende  Besserung  infolge  der  Operation. 

Ich  begann  die  Operation  mit  einem  Hautschnitt  ober  dem 
inneren  Augenwinkel,  entlang  dem  äußeren  Rande  des  rechten 
Nasenbeines  bis  zur  Mitte  des  Processus  frontalis  des  Ober¬ 
kiefers.  Ich  wählte  die  rechte  Nasenseite,  weil  daselbst  die  Scheide¬ 
wand  bis  hinten  etwas  konkav  war.  Dadurch  war  ein  besserer 
Einblick  auf  das  Keilbein  möglich.  Nach  Zurückschieben  des 
Periosts  über  dein  Processus  frontalis  und  längs  der  inneren  Or¬ 
bitalwand  wurde  ein  großer  Teil  des  Processus  frontalis  ent¬ 
fernt,  sodann  die  Nasenschleimhaut  eingeschnitten,  die  mittlere 
Muschel  reseziert  und  das  Siebbein  ausgeräumt  und  schließlich 
der  größte  Teil  der  Lamina  papyracea  entfernt  und  der  Bulbus 
nach  außen  gezogen. 

Die  Blutung  in  der  Nase  war  sehr  gering,  weil  vor  der 
Operation  die  rechte  Nasenhöhle  'mit  Kokain  und  Adrenalin  sorg¬ 
fältig  betupft  worden  war.  Hierauf  gelang  es  leicht,  unter  Leitung 
des  elektrischen  Reflektors  die  rechte  Keilbeinhöhle  an  der  Vorder¬ 
wand  zu  eröffnen,  von  hier  aus  den  hintersten  Teil  des  Septum 
nasi,  sowie  das  Septum  sphenoidale  zu  entfernen  und  die  ganze 
vordere  Wand  der  Keübeinhöhle  weit  zu  eröffnen. 

Die  Eröffnung  des  Hypophysenwulstes  im  Umfange  eines 
Quadratzentimeters  erfolgte  anstandslos  mit  Meißel  und  Knochen¬ 
stanzen.  Sofort  trat  der  Tumor  pulsierend  zutage.  Ein  Duraüber- 
zug  fehlte.  Die  Entfernung  der  Tumorstücke  geschah  mit  dem 
scharfen  Löffel  und  Pinzetten.  Heilungsverlauf  anstandslos.  Fieber 
nur  am  9.  abends  und  10.  früh. 

Der  Tumor  ist  nach  der  Untersuchung  Prof.  Stoerks  eine 
epitheliale  Geschwulst,  wahrscheinlich  malignen  Charakters. 

Die  Vorzüge  dieses  Operationsüaethode  sind  folgende: 

1.  Kleiner  Hautschnitt  und  dementsprechende  keine  nennens¬ 
werte  Entstellung. 

2.  Es  'werden  bloß  ein  Teil  des  Processus  frontalis  des 
Oberkiefers,  die  mittlere  Muschel,  die  Siebbeinzellen  und  der 
größte  Teil  der  Lamina  papyracea  und  nur  der  hinterste  Anteil 
des  knöchernen  Septum  nasi  entfernt. 

3.  Der  Weg  von  der  Hautwunde  bis  zu  der  vorderen  Keil¬ 
beinwand  ist  um  3  Cm  kürzer  und  viel  breiter  als  vom  vorderen 
Nasenloch.  Deswegen  ist  das  Operationsfeld  leichter  zugänglich. 

4.  Die  Operation  läßt  sich  in  einer  Sitzung  ohne  Voroperation 
vornehmen. 

5.  Die  Gefahr  einer  Infektion  der  Schädelhöhle  ist  nicht 
größer,  als  bei  den  anderen  extra-  oder  intranasalen  Methoden. 

Speziell  möchte  ich  erwähnen,  daß  auch  bei  dem  Eingehen, 
zwischen  den  Weichteilüberzügen  des  Septum  nasi  in  die  Keil¬ 
beinhöhle  kein  völliger  Abschluß  dieser  Höhle  gegen  die  Nasen- 


28.  Deutscher  Kongreß  fdr  innere  Medizin. 

4D.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin. 


höhle  besteht,  weil  ja  die  Keilbeinhöhlen  durch  die  Ostia  sphenoi- 
dalia  mit  der  Nase  kommunizieren. 

Prof.  Dimmer :  Demonstration  eines  Falles  von  Tuber¬ 
kulose  der  Sklera. 

Bei  der  Patientin,  einem  10jährigen,  sonst  gesunden  Mau¬ 
chen,  entwickelt  sich  seit  Mitte  März  eine  Verdickung  im  äußeren 
Teil  der  Sklera,  die,  als  die  Patientin  Ende  Mai  zur  Beobachtung 
kam,  zirka  fünf  bis  sechs  Millimeter  vom  lateralen  Kornealrand 
begann  und  nach  außen  und  oben  so  weit  peripher  reichte,  als 
der  Bulbus  der  Untersuchung  zugänglich  ist.  In  vertikaler  Rich¬ 
tung  maß  sie  ca.  15  mm.  Mit  dem  Augenspiegel  konstatierte  man 
eine  ausgebreitete  Abhebung  der  Chorioidea  von  der  Sklera  und 
in  dem  hintersten  Teil  derselben  zirka  drei  bis  vier  Päpillendurch- 
messer  lateral  von  der  Fovea  eine  starke  Netzhauttrübung.  Der 
Glaskörper  war  rein,  die  Sehschärfe  =  1,  im  Gesichtsfelde  war 
nasal  ein  Skotom,  das  genau  der  getrübten  Partie  der  Retina 
entsprach.  Die  Diagnose  konnte  nur  zwischen  Lues  und  Tuber¬ 
kulose  schwanken.  Die  Wassermann-Reaktion  war  negativ,  dagegen 
ergaben  diagnostische  Alttuberkulininjektionen  Temperaturerhö¬ 
hung  und  Herdreaktion  an  der  veränderten  Partie  der  Sklera, 
dagegen  keine  wesentliche  Veränderung  des  Augenspiegelbildes. 
Mitte  Juni  trat  an  einer  kleinen  Stelle  eine  Perforation  ein  und 
im  Ausstrich  konnten  Tuberkelbazillen  nachgewiesen  werden.  Es 
handelt  sich  also  um  eine  Tuberkulose  der  Sklera  in  Form 
einer  tuberkulösen  Geschwulstbildung.  Die  Ablatio  chorioi- 
deae  erklärt  sich  wohl  durch  die  Behinderung  des  Abflusses 
aus  dem  suprachorioidealen  Raum  durch  Kompression  der  um 
die  Vortexvenen  gelegenen  perivaskulären  Lymph  räume.  Eine 
tuberkulöse  Erkrankung  der  Chorioidea  kann  man,  im  Hinblick 
auf  das  Ausbleiben  jeder  Herdreaktion  im  Innern  des  Auges 
nicht  gut  annehmen.  Die  Erklärung  ergibt  sich  aus  einem  vom 
Emanuel  1902  publizierten  Falle,  wo  die  .tuberkulöse  Masse  sich 
am  hinteren  Augenpol  derart  in  der  Sklera  entwickelt  hatte,  daß 
sie  ringsum,  auch  gegen  das  Augeninnere,  von  Skerallagen  um¬ 
schlossen  und  also  abgekapselt  war.  Ueber  dem  Gipfel  der  Pro¬ 
minenz  gegen  das  Augeninnere  waren  Sklera,  Chorioidea  und 
Retina  miteinander  verwachsen. 

So  dürfte  es  sich  auch  in  diesem  Falle  verhalten.  Die  wenigen 
bisher  bekannten  Fälle  von  sicherer, Tuberkulose  der  Sklera  zeigten 
entweder  normalen  Befund  der  inneren  Membranen  (wie  im  Falle 
von  L.  VI  ü  1 1  e  r)  oder  man  fand  Ablatio  retinae  (wie  Köhler, 
Zirm,  Emanuel).  Jedenfalls  besteht  die  Möglichkeit  einer  Aus¬ 
heilung,  die  auch  Calderaro  beobachtet  hat,  der  eine  exogene 
Infektion  annimmt.  Es  dürfte  angezeigt  sein  eine  chirurgische  Be¬ 
handlung  mit  Auskratzung,  eventuell  Kauterisation  vorzunehmen, 
zugleich  aber  auch  Injektionen  von  Tuberkelbazillenemulsion  zu 
machen.  (Der  Fall  wird  später  ausführlich  publiziert  werden.) 

Priv.-Doz.  Dr.  Scherber  demonstriert  aus  dem1  Ambula¬ 
torium  für  Haut-  und  Geschlechtskrankheiten  im 
Wilhelminen spital  zwei  Mädchen,  Geschwister,  mit  Favus, 
deren  Erkrankung  bezüglich  Klinik  und  Aetiologie  Interesse  bietet. 
Vor  einigen  Tagen  erschien  das  jüngere,  sieben  Jahre  alte  Mädchen, 
mit  der  seit  kurzem  bestehenden  Affektion;  das  Kind  zeigte 
zwei  kleinere  im  Entstehen  begriffene  Herde  am  Hals,  am  Rücken 
drei  distinkt  stehende  bis  kronengroße  Effloreszenzen,  die  nach 
ihrem  Aufbau  aus  typischen,  schwefelgelben,  im  Zentrum  einge¬ 
sunkenen  Skutula,  die  klinische  Diagnose  des  Favus  sofort  ge¬ 
statteten.  Die  teils  konfluierenden,  teils  isolierten  Skutula  ritzen 
einer  Scheibe  mäßig  geröteter  Haut  auf.  Um  die  Herkunft  der 
Erkrankung  aufzuklären,  fragte  ich  vor  allem  nach  erkrankten 
Haustieren  und  gestern  erschien  auch  die  13jährige  Schwester 
mit  der  erkrankten  Katze.  Diese  ältere  Schwester  zeigte  klinisch 
ein  etwas  differentes,  aber  wohl  fixiertes  Bild  der  Favusinfektion.. 
Man  sieht  auf  den  oberen  Brustpartien  vier  distinkt  stehende 
bis  kronengroße,  scharf  begrenzte  runde,  leicht  elevierte  Herde 
stärker  entzündlich  geröteter  Haut,  die  im  Zentrum  mit  wei߬ 
lichen  Schuppen  bedeckt  sind,  während  die  stärker  elevierte, 
mehr  sukkulente  Randpartie  hirsekorngroße,  mit  klarem  und 
weißlichem  Inhalte  gefüllte  Bläschen  aufweist.  Diese  Herde,  wie 
ein  solcher  am  linken  Oberarm,  stellen  das  sogenannte  herpeti¬ 
sche  Vor  stadium  der  Infektion  dar  und  weitere  Herde  am 


956 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  26 


rechten  Vorderarm  zeigen  schon  eine  weitere  Entwicklung  des 
Krankbeüsbildes,  indem  einzelne  typische  schwefelgelbe  Skutula 
in  den  Scheiben  auftreten.  Der  behaarte  Kopf  ist  bei  beiden  Kin- 
f;  i  irei.  Die  Katze  zeigte  typische  Favusskutula  in  der  linken 
Achselhöhle  und  am  Halse,  während  die  Effloreszenzen  an  den 
i  loten,  wo  das  Pier  sich  die  Skutula  abgebissen,  sich  als  haar;- 
lose  mit  Schuppen  bedeckte  Stellen  erweisen.  Es  sei  nur  noch 
hervorgehoben,  daß  das  bereits  infizierte  Tier  am  1.  Juni  in  die 
Familie  kam  und  daß  bereits  nach  14  Tagen  bei  den  Kindern, 
die  ersten  Erscheinungen  von  Favus  auftraten. 

Dr.  Lindenfeld:  Ich  erlaube  mir  aus  der  II.  med.  Abteilung 
des  Roth'schild-Spitales  (Prof.  Braun)  eine  Patientin  zu  de¬ 
monstrieren,  deren  Krankheitszustand  infolge  der  Konkurrenz 
zweier  Symptomenkomplexe  bemerkenswert  erscheint.  Es  handelt 
sich  um  den  Fall  einer  33jährigen  aus  einer  gesunden  Familie 
stammenden  Frau,  die  bis  vor  acht  Jahren  vollständig  gesund 
war.  Vor  acht  Jahren  Istand  sie  mit  einem  leichten  Lungenspitzen- 
kafarrh  bei  uns  in  ambulatorischer  Behandlung,  seit  sechs  Jahren 
leidet  sie  an  Herzklopfen,  das  bald  stärker,  bald  schwächer  ist, 
die  Patientin  jedoch  in  ihrer  Arbeit  —  sie  ist  Maschinnäherin  — 
nicht  gestört  hat.  Seit  vier  Monjaten  fühlt  die  Patientin  zunehmende 
Schwäche  und  Mattigkeit,  die  oft  einen  derartigen  Grad  erreichte, 
daß  sie  mitten  im  Masc'hinnähen  einschlief;  das  Herzklopfen 
nahm  zu,  dazu  kamen  permanenter  Schwindel,  starke  Abmage¬ 
rung,  grobwelliger  Tremor  in  den  Händen  sowie  seit  zwei  Mo¬ 
naten  auffälliges  Schwitzen;  auch  bemerkt  sie  seit  dieser  Zeit 
ein  Anwachsen  des  Halses  und  Größerwerden  ihrer  Augen  und 
starkes  Glänzen  derselben. 


Der  bisher  geschilderte  Sympto'menkomplex,  der  im1  ganzen 
das  Bild  einer  Basedowerkrankung  darstellt,  ist  an  und  für  sich 
betrachtet,  gewiß  keine  Seltenheit.  Wenn  unser  Fall  ein  beson¬ 
deres  Interesse  verdient,  so  dankt  er  dieses  dem  gleichzeitigen 
Bestehen  von  Symptomen,  die  man  auf  eine  Erkrankung  des 
chromaffinen  Systems  zu  beziehen  hat. 


Der  Kranken  ist  nämlich  vor  vier  Monaten  plötzlich  aufge¬ 
fallen,  daß  ihre  Haut  eine  braunere  Farbe  aufwies,  eine  Färbung, 
die  später  wieder  abblaßte,  um  vor  etwa  sieben  bis1  acht  Wochen 
wieder  aufzutreten.  Dieser  Pigmentwechsel  vollzieht  sich  nun 
unter  unseren  Augen  in  welchselnder  Weise :  es  treten  bald  diffuse 
Punkeifärbungen  ganzer  Körperteile  auf,  die  wieder  blaß  werden, 
bald  wiederum  schießen  Tintenspritzer -ähnliche  Pigmentflecke 
und  -fleckchen  an  den  verschiedensten  Körperstellen  auf,  ebenso 
wie  die  ausgebreiteten  Pigmentierungen  von  nur  flüchtigem 
Bestand. 

Es  wäre  nun  naheliegend,  unseren  Fall  als  einen  Fall  von 
Basedow  mit  Hautpigmentationen  zu  bezeichnen,  dem  Fall  des 
älteren  Ohvostok  analog,  den  v.  Neuss  er  und  Wiesel  in 


ihrem  Buche:  Erkrankungen  der  Nebennieren,  hervorheben.  Schon 
als  solcher  würde  er,  namentlich  durch  das  eigentümliche  Ver¬ 
halten  der  Pigmentationsentwicklung  eine  Seltenheit  sein.  Zweifel¬ 
los  kommen  bei  Basedow  und  Basedow -  ähnlichen  Erkrankungen 
Dunkelfärbungen  der  Haut  vor,  doch  haben  sie  niemals  den 
fharokter  der  Pigmentierung  unseres  Falles  und  Pigmentanhäu¬ 
fungen  der  Mundschleimhaut  bei  einfachem  Basedow  wurden  nie¬ 
mals  beobachtet. 


Ich  möchte  nun  binzufügen,  daß  bei'  unserer  Patientin  phy¬ 
sikalische  Zeichen  einer  Affectio  pulmonalis  bestehen  —  ich 
erlaube  mir  das  diesbezügliche  Röntgenbild  zu  zeigen  (eine  pro- 
batorische  Tuberkulininjektion  verlief  positiv)  —  es  besteht  ferner 
namhafte  Druckschmerzhaftigkeit  beider  Nierengegenden,  beson¬ 
ders  der  linken  Seite,  während  ein  epigastrischer  Druckschmerz 
nicht  vorhanden  zu  sein  scheint.  Unter  der  einen  Niere  ist  eine 
nicht  deutliche  abgrenzbare  Resistenz  zu  tasten.  Der  Blutdruck 
ist  schwankend,  nicht  sehr  niedrig,  das  Gewicht  der  Patientin 
ist  in  Abnahme  begriffen,  sie  hat  in  den  letzten  Tagen  aus  zu¬ 
nächst  nicht  erklärlichen  Gründen  ziemlich  hoch  gefiebert,  die 
Adynamie  nimmt  ebenfalls  zu. 

Aus  den  letzerwähnten  Momenten  scheint  min  hervorzugehen, 
daß  wir  es  hier  möglicherweise  nicht  mit  einem  pigmentierten 
Basedow  zu  tun  haben,  d.  h.  nicht  mit  Hyperfunktion  des  Adre- 
nalsystems  bei  Basedow,  sondern  um  eine  Kombination  von 
Erkrankung  des  Schilddrüsen-  und  des  Nebennierenapparates. 
Der  Blutzuckergehalt  unserer  Patientin  ist  normal  und  die  Ehr¬ 
mann  sehe  Adrenalinprobe  im  Blutserum  ist  negativ  ausgefallen. 
Ich  möchte  schließlich  noch  hervorhoben,  daß  bei  unserer  Pa¬ 
tientin  kein  Anhaltspunkt  für  einen  Status  thymicus  lymphaticus 
vorhanden  ist,  dessen  Vorkommen  in  Kombination  mit  Basedow¬ 
oder  Addisonerscheinungen  bekannt  ist.  Ich  behalte  mir  vor, 
die  physiologischen  Beziehungen  zwischen  chromaffinem 
System  und  Schilddrüse,  soweit  sie  unser  Fall  beleuchtet,  in  einer 
ausführlichen  Publikation  zu  erörtern. 


Prim.  Dr.  Knoepfelmacher :  Ich  stelle  Ihnen  hier  zwei  Kinder 
vor,  welche  Ihnen  durch  ihre  eigenartigen  Körperformen  auf¬ 
fallen.  Es  sind  Geschwister,  das  Mädchen  ist  neun  Jahre,  der 
Knabe  sieben  Jahre  alt.  Sie  sind  wesentlich  im  Wachstum  zurück¬ 
geblieben,  das  Mädchen  ist  112,  der  Knabe  105  cm  lang.  Beide 
haben  einen  verhältnismäßig  langen  Rumpf,  plumpe  Extremitäten, 
breite  Hände  und  besonders  breite,  plumpe  Füße  mit  Plattfuß, 
Der  Knabe  hat  überdies  eine  Poly-  und  Syndaktylie,  .an  allen 
vier  Extremitäten  sechs  Finger  oder  Zehen  (dabei  sind  Finger 
und  Zehen  auffallend  kurz).  Die  Kinder  sind  sehr  dick  und  durch 
das  Ansammeln  des  Fettes  an  den  Mammae,  der  Unterbauch¬ 
gegend,  den  Hüften,  Nates  und  Oberschenkel  bekommen  die  Kinder 
jenen  Habitus,  welchen  Tandler  und  Grosz  als  für  eunu¬ 
choide  Menschen  für  charakteristisch  halten.  Die  Geschlechts¬ 
organe  der  Kinder  sind  auch  in  der  Tat  wenig  entwickelt.  Der 
Knabe  hat  einen  kleinen  Penis,  bohnengroße  Testikel,  das  Mädchen 
einen  Uterus,  den  Kollege  Fog  es  für  kleiner  hält,  als  dem  Alter 
entsprechen  würde.  Bemerkenswert  ist,  daß  bei  dem  Mädchen 
spärliche  Krines  vorhanden  sind.  Die  Haut  der  Kinder  ist  durch¬ 
feuchtet,  zeigt  Neigung  zu  Cutis  marmloratä;  an  Händen  und 
Füßen  besteht  reichlich  Schweißbildung.  Die  Kinder  haben 
trockenes,  dichtes  Haar,  niedrige  Stirne,  bei  dem  Mädchen  ist 
der  Gesichtsausdruck  älter  als  er  ihren  neun  Jahren  entsprechen 
würde.  Beide  Kinder  sind  imbezill.  Der  Augenhintergrund  ist 
normal,  die  Zähne  dem  Alter  entsprechend,  der  Hals  kurz,  eine 
Schilddrüse  nicht  tastbar.  Körpergewicht  des  Mädchens  35  kg, 
des  Knaben  30  kg.  Um  die  Frage,  worauf  die  Fettsucht  dieser 
beiden  Kinder  beruht,  zu  studieren,  haben  wir  die  Röntgenunter¬ 
suchung  herangezogen.  Es  hat  sich  gezeigt,  daß  die  Handwurzel¬ 
knochen  dem  Alter  entsprechende  Ossifikation  zeigen  (Privat- 
dozent  Dr.  H  o  1  z  k  nec'h  t).  Die  Röntgenuntersuchung  des  Schädels 
war  bei  dem  Knaben  gar  nicht,  beim  Mädchen  wegen  Unruhe 
des  Kindes  nur  schwer  durchführbar.  Im  Institute  des  Herrn 
Prof.  Tandler  Wurde  die  Sella  turcica  von  normaler  Konfigu¬ 
ration  und  Größe  gefunden.  Von  Wichtigkeit  ist  der  Versuch,  in 
welchem  gezeigt  werden  konnte,  daß  die  Assimilationsgrenze 
für  Zucker  bei  beiden  Kindern  abnorm  hoch  liegt.  Bei  Ver¬ 
abreichung  von  130  g  Traubenzucker  am  nüchternen  .Magen  haben 
beide  Kinder  nur  Spuren  von  Zucker  ausgeschieden.  In  dieser 
Beziehung  verhalten  sich  beide  Kinder  so,  wie  ich  es  an  Kindern 
mit  Thyreoaplafiie  und  wie  es  Aschner  an  Tieren  nach  Exstir¬ 
pation  der  Hypophyse  gefunden  hat. 

Wir  wissen,  meine  Herren,  daß  eine  Reihe  von  Drüsen  mit 
innerer  Sekretion  auf  Wachstum  und  Fettansatz  großen  Einfluß 
nimmt  und  es  wäre  wichtig  zu  entscheiden,  welche  Drüsen  hier 
Einfluß  genommen  haben.  Die  Ansatzstellen  des  Fettpolsters, 
das  Zurückbleiben  der  Genitalorgane  in  der  Entwicklung  weisen 
darauf,  daß  die  Keimdrüsen  dabei  beteiligt  sind.  Die  Intel¬ 
ligenzstörung,  der  plumpe  Bau  der  Hände  und  Füße,  endlich 
die  hohe  Assimilationsgrenze  für  Zucker  berechtigen  uns  zur  An¬ 
nahme,  daß  noch  andere  Blutdrüsen  (vielleicht  die  Hypophyse, 
die  Thyreoidea)  in  ihrer  Funktion  geschädigt  sein  müssen.  Mög¬ 
licherweise  werden  Fütterungsversuche  mit  Organpräparaten,  die 
wir  einleiten  wollen,  weitere  diagnostische  Aufklärung  bringen. 

Hofrat  Hochenegg  demonstriert  zunächst  einen  Herrn,  an 
dem  er  vor  15  Monaten  die  sakrale  Exstirpation  eines  hohen 
Rektumkarzinoms  vorgenommen  hatte.  Bei  der  Operation 
erwies  sich  das  Karzinom  als  schwer  exstirpierbar  und  auch 
die  anatomische  Untersuchung  ergab,  daß  die  karzinomatöse  In¬ 
filtration  in  das  retroproktale  Zellgewebe  vorgedrungen  war.  Es 
wurde  zunächst  ein  provisorischer  Anus  sac.ralis  angelegt  und 
der  Patient  in  seine  Heimat  entlassen.  Erst  in  einer  zweiten 
Sitzung  wurde  der  After  durch  Plastik  geschlossen,  so  daß  Patient 
jetzt  kontinent  ist.  Prof.  Hochenegg  fährt  nun  weiter  folgender¬ 
maßen  fort: 

Ich  würde  Ihnen  den  Fall,  die  285.  sakrale  Rektumexstirpa¬ 
tion,  die  ich  persönlich  ausführte,  nicht  vorgestellt  haben,  da  er 
nichts  Besonderes  darstellt,  wenn  nicht  ein  anderer  Umstand 
von  Interesse  wäre :  Schon  seit  längerer  Zeit  habe  ich  mir  die 
Vorstellung  gebildet,  daß  wir  bei  unseren  Operationen  wegen  ma¬ 
lignen  Neoplasmen  mit  unseren  Operationen  nur  einer  Indi¬ 
kation  genügen ;  wir  entfernen,  so  gut  es  eben  geht,  das  Neo¬ 
plasma,  alterieren  aber  nicht  die  das  Neoplasma  ermöglichende 
Disposition,  die  in  einer  bisher  unbekannten  Alteration  des  Orga¬ 
nismus  und  dessen  Stoffwechsels  zu  liegen  scheint.  Da  nach 
der  Operation  die  Disposition  für  Neoplasmabildung  fortbesteht, 
kommt  es  eben  so  häufig  zu  abermaliger  Erkrankung,  die  män 
dann  mit  dem  landläufigen  Ausdrucke  „Rezidive“  bezeichnet, 
unter  denen  aber  eine  Reihe  von  Fällen  nach  meiner  Vorstellung 
als  zweite,  von  der  ersten  Erkrankung  unabhängige  Erkrankung 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


957 


bei  einem  zur  Neoplasmabiklung  disponierten  Individuum  richtiger 
gedeutet  würde. 

In  dieser  Vorstellung  entwickelte  sich  bei  mir  die  Gepflogen¬ 
heit.,  den  von  mir  wegen  malignen  Neoplasmen  Operierten  eine 
Nachkur  zu  verordnen,  von  der  ich  mir  eine  Umstimmung  des 
Chemismus  im  Organismus  erhoffen  konnte.  Ich  habe  schon  vor 
sieben  Jahren  unter  dem  Titel:  Notwendigkeit  prophylaktischer 
Maßnahmen  bei  erwiesener  Karzinomdisposition,  dieser  meiner 
Ansicht  Ausdruck  verliehen  und  kann  auf  Grund  meiner  damaligen 
und  seither  gesammelten  Beobachtung  an  den  von  mir  nament¬ 
lich  wegen  Karzinom  operierten  Patienten  versichern,  daß  in  so 
manchen  dieser  Fälle  das  Gesundbleiben  der  Operierten  mit  durch 
seine  Nachkur  bedingt  zu  sein  scheint. 

Bisher  hatte  ich  nun  kein  Mittel,  um  diese  meine  Ansicht 
wissenschaftlich  zu  stützen.  Erst  die  bekannte  Karzinomreaktion 
nach  Freund,  von  der  hier  in  dieser  Gesellschaft  schon  zu 
wiederholten  Malen  die  Rede  war,  erschien  mir  geeignet,  hier 
aufklärend  und  beweisend  zu  wirken,  indem  ich  bei  positivem 
Ausfall  der  Reaktion  das  Vorhandensein  einer  bestehenden  Krebs¬ 
disposition  als  erbracht  erachte.  Ich  veranlaßte  nun  den  ge¬ 
wesenen  Operateur  meiner  Klinik,  Herrn  Dr.  Arzt,  bei  den  von 
mir  wegen  Karzinom  Operierten  entweder  vor  der  Operation  oder 
bald  nach  dieser  die  Freund  sehe  Reaktion  durchzuführen  und 
dann  nach  Ablauf  verschieden  langer  Zeit  zu  wiederholen,  um 
so  das  Fortbestehen  oder  Erlöschen  der  Disposition  mit  Hilfe 
dieser  Reaktion  zu  konstatieren.  Ich  will  den  natürlich  noch 
nicht  abgeschlossenen  Untersuchungen  von  Herrn  Dr.  Arzt  nicht 
vorgreifen,  sondern  will  nur,  auf  den  demonstrierten  Fäll  zurück- 
kommend,  mitteilen,  daß  bei  ihm1  zweimal  die  Freundsche  Re¬ 
aktion  durchgeführt  wurde  u.  zw.  das  erstemal  Ende  Februar 
dieses  Jahres,  'also  elf  Monate  nach  der  Operation.  Diese  war 
noch  dezidiert  positiv,  obwohl  sich  Püt.  sehr  erholt  und  an  Ge¬ 
wicht  (8  kg)  zugenommen  hatte  und  ich  bei  genauester  Unter¬ 
suchung  keine  Anhaltspunkte  für  eine  Rezidive  finden  konnte. 
Auf  Grund  der  noch  positiven  Reaktion  riet  ich  dem  Patienten 
zu  einer  energischen  Sonnen-  und  Lichtkur,  die  Pat.  auch  jetzt 
durch  mehrere  Monate  am  Lido  absolvierte.  Ich  ließ  nun  aber¬ 
mals  die  F reundsche  Reaktion  von  Dr.  Arzt  durchführen,  wobei 
eine  Veränderung  der  Reaktion  gegen  das  erstemal  konstatiert 
wurde,  insofern,  als  nur  mehr  eine  Zellveränderung  knapp  unter 
50°/o  nachzuweisen  war,  was  'mir  ein  allmähliches  Erlöschen 
der  Disposition  anzuzeigen  scheint  und  so  den  vorteilhaften  Ein¬ 
fluß  der  durchgeführten  Nachkur  erhellt. 

Ich  bitte,  meine  heutige  Ausführung  als  eine  vorläufige  Mit¬ 
teilung  zu  betrachten,  indem  ich  mir  Vorbehalte,  in  einem  spä¬ 
teren  Zeitpunkte  über  weitere  Beobachtungen  zu  berichten  oder 
berichten  zu  lassen,  welche  die  Resultate  der  von  mir  als'  so  not¬ 
wendig  erachteten  Nachkur  nach  Geschwulstexstirpationen  näher 
demonstrieren  sollen. 

Diskussion  zum  Vortrage  der  Herren  Prof.  v.  Fürth  und 
Dr.  Emil  Lenk:  lieber  das  Wesen  der  Totenstarre  und 
ihre  Lösung. 

Prof.  Pauli:  Die  überaus  aufklärenden  Untersuchungen 
der  Herren  v.  Fürth  und  Lenk  stehen  in  zweifacher 
Hinsicht  in  Berührung  mit  unseren  eigenen  Arbeiten:  Erstens, 
indem  den  Vorgängen  bei  Eintritt  und  Lösung  der  Totenstarre 
Ouellung  und  Gerinnung,  also  kolloide  Zustandsänderungen  von 
Eiweißkörpem  zugrunde  gelegt  werden  und  zweitens  durch  ge¬ 
wisse  Ärmlichkeiten  der  Totenstarre  mit  der  Muskelkontraktion. 
Gerade  die  Frage  nach  den  inneren  Vorgängen  bei  der  Muskel¬ 
kontraktion  hat  uns  in  den  letzten  Jahren  immer  mehr  beschäftigt 
und  die  Ergebnisse  neuerer  Versuche  an  unserem  Institute  haben 
schließlich  zu  einer  Theorie  der  Muskelkontraktion  geführt,  welche 
gegenüber  den  bisherigen  Anschauungen  einen  Fortschritt  be¬ 
deuten  dürfte. 

Abgesehen  von  diesen  besonderen  Beziehungen  ist  es  das 
Bedürfnis,  in  diesem  Kreise  auf  die  immer  zunehmende  Bedeu¬ 
tung  der  Kolloidchemie  für  Fragen  der  Medizin  hinzuweisen, 
welches  mich  veranlaßt  hat,  das  Wort  zu  ergreifen.  Seit  dem 
Jahre  1905,  wo  ich  die  Ehre  hatte,  in  der  Jahressitzung  die  Wich¬ 
tigkeit,  der  Kolloidchemie  für  die  Pathologie,  z.  B.  für  die  Kenntnis 
der  Immunreaktionen  und  der  Konkrementbildung  näher  dar¬ 
zulegen,  ist  dieses  Uebergangsgebiet.  bedeutend  gewachsen  und 
insbesondere  in  der  Lehre  von  derAVasserbindung  im  Organismus 
beim  (Jedem,  Glaukom  und  der  Nephritis1  ist  durch  die  Arbeiten 
Martin  H.  Fischers  eine  kolloidchemische  Auffassung  im  Vorder¬ 
gründe  der  Diskussion. 

In  allen  diesen  Fällen  spielt  nun  die  Säurebildung  in  den 
Geweben  eine  eminente  Rolle,  sie  ist  beteiligt  an  der  ödemätösen 
Schwellung  der  Organe,  sie  ist  nach  den  Ausführungen  des  Herrn 
Vortragenden  die  Ursache  für  jene  Quellung  der  Muskelfibrillen, 


welche  als  Totenstarre  in  die  Erscheinung  tritt.  Ich  möchte  des¬ 
halb,  isoweit  es  in  aller  Kürze  möglich  ist,  zunächst  ausführen, 
wie  wir  uns  das  Zustandekommen  von  Quellung  und  Fällung  von 
Eiweißkörpern  durch  Säuren  zu  denken  haben  und  gleich  hinzu¬ 
fügen,  daß  es  sich  hier  nicht  um  bloße  Hypothesen,  sondern, 
um  ein  reiches,  auf  verschiedenen  unabhängigen  Wegen  gewon¬ 
nenes  Beweismaterial  handelt,  das  in  einer  Reihe  von  Arbeiten 
aus  unserem  Institute  niedergelegt  ist. 

Zur  besseren  Uebersicht  sei  vorausgeschickt,  daß  Eiweiß 
sowohl  in  Form  unelektrischer  als  auch  in  Form  von  ionischen 
oder  elektrischen  Teilchen  vorkommt  und  daß  in  erster  Linie 
der  elektrische  Zustand  des  Eiweiß  seine  kolloiden  Eigenschaften, 
Quellung,  Koagulation  durch  Hitze  und  Alkohol  usw.,  in  erster 
Linie  bestimmt. 

Ein  sorgfältig  gereinigtes  Eiweiß  besteht  nahezu  nur  aus 
unelektrischen  Teilchen  und  wird  durch  Alkohol  und  Hitze  koa¬ 
guliert.  Durch  Zusatz  von  etwas  Säure  wird  das  Eiweiß  elektro- 
positiv,  indem  es  wie  eine  Base  mit  der  Säure  unter  Salzbildung 
reagiert.  Wie  etwa  das  Kochsalz  gelöst  in  positive  Natrium-  und 
negative  Chlorionen  zerfällt,  so  gibt  auch  Eiweiß'  mit  Salzsäure 
positive  Eiweiß-  und  negative  Chlorionen.  Die  nähere  Unter¬ 
suchung  hat  nun  gezeigt,  daß  die  Eiweißionen  mit  einer  mäch¬ 
tigen  Wasserhülle  umgeben,  also  stark  gequollen  oder  hydratisiert 
sind.  Diese  Hydratation  verrät  sich  einerseits  durch  die  Wir¬ 
kungslosigkeit  wasserentziehender  Eingriffe.  Ein  ionisches  Eiweiß 
ist  durch  Alkohol  oder  Hitze  nicht  zu  koagulieren.  Anderseits 
zeigt  sich  die  Quellung  der  Eiweißteilchen  durch  eine  gewaltige 
Zunahme  der  inneren  Reibung  der  Lösung  .an.  Ist  das  Eiweiß  in 
Form  einer  festen  Gallerte  vorhanden,  so  wird  die  Entstehung 
der  ionischen  Eiweißteilchen  durch  Säurezusatz  in  einer  starken 
Wasseraufnahme  zum  Ausdrucke  kommen.  Jede  Umwandlung  von 
ionischem  Eiweiß  in  unelektrisches,  verrät  sich  je  nach  den  Um¬ 
ständen  durch  Wiederauftreten  der  Alkohol-  und  Hitzekoagulier¬ 
barkeit,  durch  Reibungsabnahme,  Entquellung  usf. 

Wie  wirkt  nun  ein  Ueberschuß  von  Säure?  Am  besten  sind 
diese  Verhältnisse  zu  übersehen  an  einer  Reibungskurve  von 
Eiweiß,  welche  durch  ihren  Anstieg  die  Zunahme,  durch  ihren 
Abfall  die  Abnahme  der  Zahl  ionischer  Eiweißteilchen  anzeigt. 
Sie  sehen  wie  die  anfängliche  Vermehrung  der  ionischen  Teilchen 
mit  steigendem  Säurezusatz  wieder  einer  Verminderung  Platz 
macht  und  schließlich  kommen  wir  zu  einer  Säurekonzentration, 
in  der  das  Eiweiß  ausgefällt  wird. 

Diese  Fällung  ist  in  vieler  Hinsicht  analog  etwa  der  Koch¬ 
salzverdrängung  aus  einer  Lösung  durch  Zusatz  von  Salzsäure. 
Während  aber  das  ausgefällte  Kochsalz  bei  Verdünnung  wieder 
iii  Lösung  geht,  ist  das  beim-  Säureeiweiß  nicht  mehr  der  Fall. 
Hier  hat  zugleich  eine  Denaturierung  des  Eiweiß,  eine  nicht 
mehr  umkehrbare  oder  irreversible  Zustandsänderung  stattge¬ 
funden.  In  einer  Untersuchung  gemeinsam!  mit  R.  Wagner  konnte 
gezeigt  werden,  daß  die  Säuren  genau  in  derselben  Ordnung, 
in  der  sie  im  Ueberschusse  Reibungsabnahme,  also  Entquellung 
der  Eiweißteilchen  bewirken,  auch  in  bezug  auf  ihr  Fällungsver¬ 
mögen  für  Eiweiß  aufeinander  folgen. 

Der  Uebergang  einer  reversiblen  Quellung  in  eine  irrever¬ 
sible  Gerinnung  ist  nach  unseren  Untersuchungen  etwas  so  typi¬ 
sches  für  eine  Säurewirkung,  daß  ich  nicht  anstehen  möchte,  den 
Vorgang  der  Lösung  der  Totenstarre  als  eine  durch  den  Milch¬ 
säureüberschuß  hervorgerufene  irreversible  Entquellung  und 
schließlich  Gerinnung  der  in  niedrigere  Säurekonzentrationen  zur 
Quellung  gebrachten  Fibrillen  anzusprechen.  Alle  bisher  vor¬ 
liegenden  Beobachtungen  über  die  Bedingungen  für  das  Auftreten 
und  die  Lösung  der  Totenstarre  und  auch  die  schönen  Versuche 
von  Kollegen  v.  Fürth,  sind  mit  dieser  Ansicht  zu  vereinen.  Man 
darf  eben  nicht  übersehen,  daß  jene  Berechnungsweise  der  Kon¬ 
zentration  der  Milchsäure  im  Muskel,  wie  sie  bisher  geübt  wurde, 
für  eine  tiefere  Einsicht  in  die  Vorgänge  vollständig  wertlos 
ist,  weil  die  Säure  nur  an  eng  begrenzten  Stellen  im  Muskel 
gebildet  wird,  so  daß  deren  Gehalt  gar  nicht  auf  die  ganze  Masse 
des  Muskels  bezogen  werden  kann.  Ueberhaupt  wurde  die  Kon¬ 
zentration  der  im  Muskel  gebildeten  Säure  bisher  zweifellos  stark 
unterschätzt  und  damit  komme  ich  zu  dem  zweiten  Teil  meiner 
Ausführungen,  auf  die  Beziehungen  zwischen  Totenstarre  und 
der  Muskelkontraktion. 

Indem  ich  mir  Vorbehalte,  ausführlich  auf  die  Einzelheiten 
unserer  Versuche  und  Argumente  zurückzukommen,  möchte  ich 
von  unserer  Theorie  der  Muskelkontraktion  folgendes  anführen: 
Die  durch  Verbrennungs-  bzw.  Spaltungsprozesse  an  der  Grenze 
von  Sarkoplasma  und  Fibrillen  gebildeten  Säuren,  in  erster  Reihe 
Kohlensäure  und  Milchsäure,  bringen  die  Fibrillen  zur  Quellung 
und  damit  zur  Verkürzung.  Diese  Anschauung  ist  nicht  nur 
durch  unsere  Erfahrungen  über  Thermodynamik  und  den  Stoff- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  26 


Wechsel  des  Muskels  gestützt,  sie  entspricht  auch  den  Messungen 
über  Quellungs-  und  Entquellungsgeschwindigkeit.  Ferner,  was 
uns  ven  besonderer  Wichtigkeit  erscheint,  ist  es  uns  gelungen, 
auf  dieser  Grundlage  mit  entsprechenden  Modellen  die  bioelek- 
tri  sehen  Erscheinungen  am  Muskel,  die  Strombildung  in  den 
elektrischen  Organen  gewisser  Fische  zu  demonstrieren  und 
theoretisch  zu  erklären.  Die  gleichzeitige  Aufklärung  der  Kon¬ 
traktion  und  der  sie  begleitenden  elektrischen  Phänomene  scheint 
uns  eine  Forderung,  der  eine  Theorie  der  Muskelzuckung  ent¬ 
sprechen  muß. 

Sie  ersehen  aber  zugleich,  daß  unsere  Theorie  der  Muskel¬ 
kontraktion  mit  der  auf  anderem  Wege  gewonnenen  Anschauung 
parallel  geht,  nach  der  die  Zusammenziehung  bei  der  Totenstarre 
an  die  Milchsäurebildung  in  der  Grenzschichte  von  Fibrille  und 
Sarkoplasma  geknüpft  ist.  Unseres  Erachtens  besteht  somit  nur 
ein  Unterschied  des  Grades  zwischen  der  Kontraktion  eines  ge¬ 
reizten  ausgeschnittenen  Muskels  in  sauerstoffreiem  Medium, 
die  nach  den  Untersuchungen  Fletchers  nicht  zur  Bildung 
von  Kohlensäure,  sondern  nur  von  Milchsäure  führt  und  der  Zu¬ 
sammenziehung  in  der  Totenstarre.  Diese  erscheint  uns  in  der 
Tat.  als  die  letzte  wahre  Lebensäußerung  des  Muskels.  Dagegen 
wäre  die  Lösung  der  Starre  in  keiner  Beziehung  mit  der  Er¬ 
schlaffung  des  kontrahierten  Muskels  zu  vergleichen,  denn  sie 
ist  ein  irreversibler  Prozeß,  während  die  Erschlaffung  des 
Muskels  naturgemäß  ein  reversibler  Prozeß  bleiben  wird. 

Es  würde  zu  weit  führen,  hier  näher  auf  die  Diskussion 
der  zahlreichen  speziellen  Beobachtungen  über  die  Rolle  von 
Sauerstoff,  Salzen  und  verschiedenen  Substanzen  bei  der  Toten¬ 
starre  und  der  Muskelkontraktion  einzugehen,  gewiß  ist,  daß  wir 
durch  die  Verwendung  der  Kolloidchemie  gelernt  haben,  uns  mit 
größerer  Sicherheit  auf  jenem  schwierigen  Gebiete  bewegen  zu 
können,  das  den  Biologen  und  und  den  Arzt  stets  in  hohem  Maße 
fesseln  wird,  an  der  Grenze  von  Leben  und  Tod. 

Dr.  E.  Pribram:  Das  interessante  Problem  der 
Muskelkontraktion  ist,  wie  Sie  soeben  aus  dem  Munde  des  Herrn 
Prof.  Pauli  gehört  haben,  durch  die  Fortschritte  der  Kolloid¬ 
forschung  in  ein  neues  Stadium  gerückt  und  es  gelten  hier 
zweifellos  ähnliche  Betrachtungen,  wie  sie  Herr  Prof.  v.  Fürth 
für  die  Totenstarre  des  Muskels  ausgeführt  hat.  Vielleicht  haben 
wir  es  hier  nur  mit  wichtigen  Begleiterscheinungen  zu  tun,  a.ber 
manches  scheint  dafür  zu  sprechen,  daß  Quellungserscheinungen 
ein  wesentliches  Moment  im  Phänomen  der  Muskelkontraktion 
ausmachen. 

Schon  Th.  Engel  mann,  der  bekannte  Physiologe,  wurde 
auf  Grund  histologischer  Beobachtung  (1878)  zu  dieser  Schlu߬ 
folgerung  gedrängt,  als  er  die  Wahrnehmung  machte,  daß  die 
anisotrope  Schicht  der  Muskelfibrille  während  der  Kontraktion 
der  quergestreiften  Muskelfaser  schwächer,  die  isotrope  stärker 
lichtbrechend  wird.  Die  isotrope  Schicht  verkleinert  sich  während 
der  Kontraktion  viel  rascher  als  die  anisotrope,  woraus  Engel¬ 
mann  schloß,  daß  bei  der  Kontraktion  Flüssigkeit  aus  der  iso¬ 
tropen  in  die  anisotrope  Schicht  Übertritt.  Aehnliche  Quellungs¬ 
erscheinungon  findet  man,  wie  Wag  en  er  gezeigt  hat,  in  der 
glatten  Muskulatur. 

V  oher  ersetzt  nun  die  isotrope  Substanz  ihren  Wassergehalt? 
Die  Antwort  auf  diese  Frage  finden  wir  in  neueren  Arbeiten  von 
B^trl'a  und  Bottazzi.  Diese  Autoren  zeigen,  daß  der  Muskel 
wie  1:  in  arideres  Gewebe  imstande  ist,  Wasser  aus  der  Um¬ 
gebung  an  sich  zu  ziehen,  wobei  die  molekulare  Konzentration 
des  Muskelsaftes  nach  Muskelarbeit  auffallend  niedrige  Werte 
an  nimmt.  Ein  Gegenstück  zu  diesen  Arbeiten  bilden  jene  von 
A.  Jappelli  und  G.  Jappelli  und  G.  Errico,  aus  denen  her¬ 
vorgebt,  daß  die  Lymphe  des  Ductus  lymphaticus  brachialis  des 
Hundes  nach  aktiver  Bewegung  im  Gelenke  wasserarmer  wird, 
also  offenbar  Wasser  in  den  Muskel  abgegeben  hat. 

Diese  Aeriderungen  in  der  Wasserverteilung  in  den  Ge¬ 
weben  ist  wohl  zweifellos  die  Folge  der  bei  der  Muskelkontraktion 
entstehenden  Reaktionsprodukte,  besonders  der  sauren  (Kohlen¬ 
säure,  Phosphorsäure,  Milchsäure),  die  als  quellungsfördernde 
Agentien  das  Muskelkolloid  zur  Quellung  bringen.  Daß  das  im 
Muskel  vorhandene  Wasser  tatsächlich  in  zwei  verschiedenen 
Phasen,  als  „physiologisch  gebundenes“  (Quellungswasser)  und 
„freies  Wasser“  vorhanden  ist,  zeigen  insbesondere  Arbeiten  von 
H.  W.  Fischer  und  P.  Jensen. 

(Bezüglich  der  etwas  komplizierten  Frage  über  den  mög¬ 
lichen  Zusammenhang  zwischen  Quellungsdruck  und  Muskel¬ 
zuckung  [Ver  Wandlung  potentieller  in  kinetische  Energie],  sowie 
die  Erklärung  der  Volumverminderung  bei  der  Muskelkontraktion 
verweise  ich  auf  meine  Monographie  „Die  Bedeutung  der  Quel¬ 
lung  und  Entquellung  für  physiologische  und  pathologische  Er¬ 
scheinungen“.  Kolloidchemische  Beihefte,  II,  1.  Februar  1910.) 


Prof.  Dr.  v.  Fürth  verzichtet  auf  das  Schlußwort. 

Vortrag  des  Herrn  Prof.  Dr.  Max  Sternberg:  Die  Diagnose 
des  chronischen  partiellen  Herzaneurysmas.  (Vortrag 
erscheint  ausführlich.) 


Gesellschaft  für  innere  Medizin  und  Kinderheil¬ 
kunde  in  Wien. 

Sitzung  vom  1.  Juni  1911. 

R.  Beck  stellt  eine  28jährige  Pat.  mit  einer  wahrschein¬ 
lich  auf  luetischer  Basis  b e r u h en d e n  T a c h y k a r d ie  aus 
der  III.  medizinischen  Klinik  vor.  Pat.  leidet  seit  drei  Jahren 
an  Herzklopfen  und  Schwindelanfällen  und  zeigt  Symptome  einer 
Neurose  (gesteigerte  Patellarreflexe,  herabgesetzten  Rachenreflex, 
Dermographismus),  anderseits  hat  sie  Erscheinungen  manifester 
Lues  (Papeln  in  der  Mundhöhle).  Die  Herzschlagfrequenz  ist 
manchmal  sehr  hoch  (über  200),  manchmal  normal;  es  besteht 
zeitweise  geringe  Arhythmie,  ein  andermal  ist  sie  hochgradig. 
Die  Perküssion  und  Auskultation  ergeben  einen  normalen  Befund; 
der  erste  Ton  über  der  Herzspitze  ist  gespalten,  der  Blutdruck  ist 
herabgesetzt  (90  bis  100  Riva-Rocci).  Schon  geringe  Körperarbeit 
läßt  die  Pulsfrequenz  stark  in  die  Höhe  gehen.  Nach  Atropin¬ 
injektion  tritt  infolge  Vaguslähmung  eine  bedeutende  Zunahme 
der  Unregelmäßigkeiten  der  Schlagfolge  auf,  nach  Pilokarpininjek¬ 
tion  bleibt  die  Arhythmie  unverändert.  Das  Orthodiagramm  ergab 
normale  Gefäße  und  Form  des  Herzschattens,  das  Elektrokardio¬ 
gramm  zeigte,  daß  die  Unregelmäßigkeiten  in  der  Herzaktion  aus 
lauter  aurikulären  Extrasystolen  bestehen.  An  einem  Elektro¬ 
kardiogramm,  welches  in  einem  tachykardischen  Anfall  aufge¬ 
nommen  wurde,  sieht  man  im  Anfang  aurikuläre  Systolen,  dann 
aber  ein  Bild  wie  beim  Vorhofflimmern.  Es  ist  in  dem  vorlie¬ 
genden  Fälle  an  die  Möglichkeit  einer  luetischen  Schädigung  des 
Zirkulationsapparates  zu  (denken;  eine  antiluetische  Therapie 
wurde  bereits  eingeleitet.  Vortragender  weist  darauf  hin,  daß  er 
bei  der  Zeitausmessung  am  Elektrokardiogramm'  die  Herzschlag¬ 
frequenz  während  des  tachykardischen  Anfalles  gerade  doppelt 
so  hoch  fand  (166)  wie  vor  dem  Anfalle  (83),  und  bemerkt, 
daß  schon  A.  Hoffmiann  in  einer  Anzahl  von  Fällen  während  des 
Anfalles  genau  die  doppelte  Frequenz  der  Herzschläge  beobachtet 
hat,  wie  sie  der  betreffende  Pat.  in  der  Norm  auf  weist. 

F.  Falk  stellt  aus  der  I.  (medizinischen  Klinik  zwei  Männer 
mit  allgemeiner  Hämochromatose  und  Bindegewebs¬ 
neubildung  i  n  "d  e  n  inneren  Organen  vor.  Der  38jährige 
Pat.  hat  Schmerzen  in  der  Lebergegend  und  eine  allgemeine 
braune  Pigmentation  der  Haut;  letztere  ist  glatt,  derb  und  atro¬ 
phisch.  Der  Herzschatten  ist  etwas  verbreitert  und  die  Aorta 
etwas  dilatiert.  Die  Leber  reicht  bis  handbreit  unter  den  Nabel, 
ist  derb  und  zeigt  Unebenheiten.,  die'Milz  ist  vergrößert  und  derb. 
Im  Harn  findet  sich  Urobilin,  Pat.  zeigt  alimentäre  Lävulosurie, 
früher  hatte  er  l1/2°'o  Zucker  im  Ham,  Polydypsie  und  Polyurie. 
Außerdem  besteht  eine  Erkrankung  des  Pankreas;  die  Libido 
sexualis  hat  nachgelassen.  Der  zweite  Pat.  ist  53  Jahre  alt,  leidet 
an  krampfartigen  Schmerzen  im  linken  Musculus  sartorius.  Die 
übrigen  Symptome  sind  fast  dieselben  wie  im  ersten  Falle.  Die 
histologische  Untersuchung  eines  exzidierten  Hautstückchens  er¬ 
gab  Ablagerung  von  dunkelbraunem  Pigment  in  der  Epidermis 
und  Kutis,  ferner  zöllige  Infiltration  und  reichliche  Bindegewebs¬ 
neubildung.  Beide  Patienten  zeigen  hochgradigen  Schwund  der 
früher  bestandenen  reichlichen  Behaarung  des  Körpers.  Wahr¬ 
scheinlich  handelt  es  sich  ätiologisch  um  eine  primäre  Leber¬ 
erkrankung. 

Frau  Herrn.  Lieh  Fenstern  berichtet  aus  der  Abteilung 
Schleisinger  über  einen  Fall  von  akutem  Dekubitus  nach 
V e r on,a  1  v er g i f tung.  Eine  Frau  nahm  in  selbstmörderischer 
Absicht  8g  Veronal  und  6g  Pyramidon.  Etwa  10  Stunden  später 
trat  eine  kronenstückgroße,  schwarzblau  verfärbte  Stelle  über  dem 
Steißbein  auf,  die  sich  zu  einem  fünfkronenstückgroßen  und  bis 
6  cm  tiefen  Dekubitus  entwickelte,  welcher  die  Glutäalmuskuhtur 
unterminierte.  Im  Wasserbett  reinigte  sich  die  Wunde  rasch  und 
die  Frau  war  in  vier  Wochen  geheilt.  In  der  Umgegend  des  De¬ 
kubitus  war  eine  Sensibilitätsstörung  nachweisbar. 

H.  Schleis inger  bemerkt,  daß  der  Dekubitus  sich  so  akut 
entwickelte,  wie  man  dies  bei  schweren  Spinalaffektionen  be¬ 
obachten  kann.  Vier  Stunden  nach  dem  Auftreten  der  ersten 
Symptome  war  der  Dekubitus  schon  voll  ausgebildet. 

H.  Epp  inger  stellt  einen  34jährigen  Mann  mit  Extre¬ 
mitäten  lähmung  infolge  Neuritis  bei  Leberzirrhose 
vor.  Pat.  war  seit  dem  14.  Lebensjahre  mit  Bleifarben  beschäftigt, 
hatte  aber  nie  Erscheinungen  von  Bleiintoxikation.  Erst  vor 
drei  Monaten  bekam  er  schmerzhafte  Koliken,  Erbrechen  nach 


Nr.  26 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


959 


jeder  Mahlzeit,  so  daß  er  beträchtlich  (abmagerte.  Anämie  (3,200.000 
rote,  4000  weiße  Blutkörperchen),  einen  Bleisaum,  subikterisehe 
Verfärbung.  Im  Blute  fanden  sich  granulierte  Blutkörperchen  und 
im  Ham  Urobilin.  Die  Pulsfrequenz  schwankte  um  100  herum, 
der  Blutdruck  war  nicht  erhöht,  der  zweite  Aortenton  ist  mäßig 
akzentuiert.  Einmal  wurde  geringe  Glykosurje  beobachtet.  Pa¬ 
tient  hatte  längere  Zeit  ein  Schwächegefühl  und  Zittern  in  den 
Händen  und  Füßen.  Nach  k urz ein  K rank e n hausan f e n t h al t  besserten 
sich  die  Symptome.  Vor  20  Tagen  konnte  Pat.  beim  Erwachen  in 
der  Früh  die  Arme  nicht  bewegen  und  kaum  gehen.  Die  Finger 
und  die  Handgelenke  sind  vollkommen  beweglich,  er  kann  die 
Arme  nicht  bis  zur  Horizontalen  erheben  und  den  Arm  nicht 
rotieren.  Die  Musculi  infra-  und  supraspinatus,  Rhomboidei,  Ku- 
kullaris  und  Pektoralis,  Bizeps  und  Trizeps,  ferner  auch  die  Bauch¬ 
muskulatur  sind  mehr  oder  weniger  geschädigt,  manche  Muskeln 
auch  atrophisch  und  ihre  galvanische  und  faradische  Erregbarkeit 
ist  erloschen.  Das  rechte  Stimmband  bewegt  sich  etwas  schlechter 
als  das  linke.  Pat.  'hatte  eine 'Zeitlang  auch  Dyspnoe,  das  Zwerch¬ 
fell  macht  nur  schwache  Bewegungen,  welche  durch  Phrenikus¬ 
reizung  nicht  verstärkt  werden.  Der  Bauchdecken-  .und  Kremaster¬ 
reflex  fehlen,  der  Patellarreflex  ist  gesteigert.  An  den  Beinen  sind 
die  Adduktoren  und  die  Glutaei  rechts  ziemlich  geschädigt.  Vor¬ 
tragender  hat  an  der  Klinik  N  oord.en  bei  Leberzirrhose  in  einigen 
Fällen  plötzliche  Lähmung  infolge  Neuritis  beobachtet  und  auch 
in  dem  vorgestellten  Falle  liegt  eine  schwere  Schädigung  der 
Leber  vor,  der  Pat.  hat  Urobilin  im  Harne.  Dieses  ist  mine 
fluoreszierende  Substanz,  welche  in  Gegenwart  von  Licht  für 
Bakterien  ein  heftiges  Gift  darstellt  und  höher  organisierte  Tiere 
schädigt.  Bei  Versuchstieren  fand  Vortr.  Schwäche  der  hinteren 
Extremitäten  und  sogar  Lähmung,  an  den  Nerven  typische  De¬ 
generation  nach  Injektion  von  Urobilin  und  .Belichtung  der  Tiere. 
Bei  Unterbindung  der  Arteria  hepatica  kommt  eine  schwere  Leber¬ 
degeneration  zustande,  in  mehreren  Fällen  wurde  auch  Erbrechen 
beobachtet.  Bei  dem  Pat.  kontrahierte  sich  beim  Erbrechen  die 
untere  Hälfte  des  Magens  fast  röhrenförmig  und  die  Speisen 
wurden  so  herausgeschleudert.  Vortr.  stellt  sich  vor,  daß  infolge 
krisenartiger  Kontraktionen  der  Arteria  hepatica  und  deren  Magen¬ 
astes  die  Leberschädigung  und  das  Erbrechen  hervorgerufen  sein 
könnten  und  daß  ferner  die  Lähmungen  auf  eine  Neuritis  infolge 
der  Leberaffektion  zurückzuführen  sind. 

Politzer  möchte  einen  solchen  Zusammenhang  der  Läh¬ 
mungen  mit  der  Leberschädigung  nicht  annehmen.  Die  Urobilin- 
urie  braucht  nicht  die  Folge  einer  Leberschädigung  zu  sein, 

H.  Eppinlger  bemerkt,  daß  bei  der  genau  vorgenommenen 
funktionellen  Prüfung  der  Leber  sich  eine  Schädigung  der  letzteren 
ergab.  Die  Urobilinurie  ist  fast  immer  ein  Symptom  einer  Leber¬ 
schädigung. 

F.  Falk  stimmt  Eppinger  bei.  Symptome  der  Leberschä¬ 
digung  sind  Urobilinurie,  alimentäre  Glykosurie  und  eine  Vermin¬ 
derung  des  Harnstickstoffes. 

H.  König  st  ein  sah  einen  Knaben  mit  einem  gangränösen 
Herd  im  Gesichte  und  Lebersyphilis,  im  Ham  fand  sich  Hämato- 
porphyrin.  Als  infolge  antiluetischer  Behandlung  die  Leberaffek¬ 
tion  zurückging,  heilte  auch  die  Gangrän  aus. 

G.  Schwarz  zeigtauf  demRöntgenschir mepulsie- 
rende  Lüngenvenen  bei  einer  Frau  mit  Mitralstenose  und 
-Insuffizienz.  Die  Pulsation  war  in  überraschender  Weise  deutlich 
sichtbar,  sie  ist  ein  Analogon  des  positiven  Jugularvenenpulses 
bei  Insuffizienz  der  Trikuspidalis.  Die  Hilusschatten  sind  beider¬ 
seits  auf  das  Doppelte  vergrößert  und  zeigen  in  allen  Aesten 
deutliche  herzsystolische  Pulsation.  Vortr.  hat  bereits  19  der¬ 
artige  Fälle  beobachtet. 


28.  Deutscher  Kongreß  für  innere  Medizin 

vom  19.  bis  22.  April  zu  Wiesbaden. 

(Fortsetzung.) 

VI. 

Sitzung  vom  21.  April  1911,  nachmittags. 

Referent:  K.  Reich  er -Berlin. 

E.  Pfeiffer- Wiesbaden:  Wasserretention  durch 
Natronsalze. 

Javal  und  Widal  hatten  bei  Nephritikern  und  Herzkranken 
durch  Entziehung  von  Chlornatron  Oedeme  vermindert  und  durch 
neuerlichen  Zusatz  von  Kochsalz  dieselben  wieder  auf  treten 
sehen.  Sie  bezogen  daher  die  auch  bei  Gesunden  beobachtete 
Zunahme  des  Körpergewichtes  nach  Kochsalzdarreichung  und  die 
Verringerung  desselben  bei  Kochsalzentziehung  auf  Wasserreten¬ 
tion,  bzw.  auf  vermehrte  Wasserabscheidung.  Das  darauf  be¬ 
gründete  Verfahren  wurde  daher  Dechlorination,  Chlorentziehung 


genannt.  Pfeiffer  stellte  nun  fest,  daß  Natrium  bicarbonicum 
sowohl  bei  Gesunden  als  bei  Kranken  das  Körpergewicht  bedeutend 
steigert,  Aussetzen  desselben  das  Körpergewicht  wieder  zusehends 
vermindert.  Reine  Salzsäure  mul  die  Chlorsalze  von  anderen 
Basen  als  Natrium  (Chlorkalium  und  Chlorkalzium)  zeigen  diese 
Wirkung  auf  Körpergewicht  und  Urinmenge  nicht.  Jedenfalls 
müßte  der  Ausdruck  Chlorentziehung  durch  das  Wort  Natrium- 
entziehung  ersetzt  werden. 

Diskussion:  Heubner- Göttingen:  Die  Versuche  von 
Pfeiffer  wie  von  L.  Meier  scheinen  dafür  zu  sprechen,  daß 
das  Natriumion  im  Körper  in  besonderer  Weise  die  Wasser 
aufnahme  befördert.  Bei  den  Versuchen  von  Pfeiffer  wäre 
allerdings  zu  berücksichtigen,  ob  bei  der  Zufuhr  von  Karbonat 
die  Wasserstoffionenkonzentration  der  Gewebe  nicht  auch  eine 
Rolle  spielt.  Am  Nackenband  des  Rindes  zeigte  sich,  daß  das 
Natriumion  ein  wenig  mehr  als  die  anderen  die  Wasseraufnahme 
im  Bindegewebe  befördert.  Doch  ist  damit  die  Frage  wegen  der 
geringen  Ausschläge  noch  nicht  vollkommen  entschieden. 

Roily- Leipzig :  Ueber  den  Stoffwechsel  im  Fieber 
und  in  der  Rekonvaleszenz. 

Vortragender  beschreibt  einen  neuen,  nach  dem  Regnault- 
Re  is  et  sehen  Prinzip  für  klinische  Untersuchungen  gebauten  Re- 
spirationsapparat,  welcher  die  Fehlerquellen,  die  bei  Atmungen 
im  Zuntz sehen  Apparat  bei  schwerkranken  Personen  unver¬ 
meidlich  sind,  beseitigt.  Bei  den  Untersuchungen  mit  diesen) 
neuen  Apparat  erhielt  Vortragender  nicht  mehr  die  abnorm  nied¬ 
rigen  respiratorischen  Quotienten  von  0-6  bei  Fieber  mit  negativer 
Stickstoffbilanz,  die  ihn  früher  [an  eine  qualitative  Aenderung 
des  Eiweißstoffwechsels  denken  ließen,  sondern  als  niedrigsten 
Wert  0-7.  Tötet  man  Kaninchen,  nachdem  sie  längere  Zeit  ge¬ 
fiebert  haben  und  analysiert  man  die  Eiweißkörper  auf  den 
Stickstoff-  und  Kohlenstoffgehalt,  so  ergibt  sich  keine  Aende¬ 
rung  des  Verhältnisses  von  N  zu  C  in  dem  Körpergewebe  des 
Kaninchens.  Auch  damit  ist  erwiesen,  daß  die  Annahme,  es 
könnte  bloß  [die  kohlehydrathaltige  Komponente  des  Eiwei߬ 
körpers  verbrennen  und  die  kohlehydrathaltige  Zurückbleiben, 
eine  irrige  war. 

Stae hei  in- Berlin  hat  ähnlich  wie  Roily  im  Fieber  und 
wie  Reicher  und  Stein  beim  Hungern  auffallend  niedrige  respi¬ 
ratorische  Quotienten  gefunden.  In  einer  achttägigen  Radium¬ 
periode  wurde  bei  gleichbleibender  Ernährung  ein  auffallendes 
Ansteigen  des  respiratorischen  Quotienten  beobachtet.  Das  könnte 
nur  durch  die  vollständige  Aufzehrung  des  Glykogengehaltes  er¬ 
klärt  werden,  was  aber  unwahrscheinlich  wäre,  oder  durch  eine 
noch  unwahrscheinlichere  chemische  Entartung  des  Körpers.  Es 
bleibt  also  nur  übrig,  an  eine  Veränderung  in  dem  eigentlichen 
Ablauf  der  Zersetzungen  oder  an  Retention  einzelner  Stoff¬ 
wechselprodukte  zu  denken. 

Sch  icke  le- Straßburg  :  Die  Rolle  des  Ovariums 
unter  den  innersekretorischen  Drüsen. 

In  geeigneter  Weise  aus  dem  Ovarium  hergestellte  I’reß- 
säfte  verzögern  die  Blutgerinnung  wesentlich  oder  heben  sie 
sogar  in  vitro  auf.  Intravenös  injiziert  setzen  sie  den  Blutdruck 
auf  längere  Zeit  herab.  Setzt  man  Tiere  durch  Adrenalin  auf 
einen  hohen  Blutdruck  und  verabreicht  nun  eine  starke  Dosis 
Ovariumextrakt  intravenös,  so  wird  die  Adrenalinkurve  plötzlich 
unterbrochen.  Tiere  mit  wesentlicher  Blutdrucksenkung  unter 
Ovariumwirkung  lassen  keine  oder  fast  keine  Adrenalinwirkung 
mehr  am  Blutdruck  erkennen.  Diese  Befunde  werfen  auf  verschie¬ 
dene,  klinisch  bekannte  Tatsachen  ein  neues  Licht.  So  ist  be¬ 
kanntlich  der  Blutdruck  nach  Kastration  und  in  der  Menopause 
erhöht,  ebenso  bei  funktioneller  Amenorrhoe.  Ferner  ist  das 
bei  der  Menstruation  abfließende  Blut  schwer  oder  gar  nicht 
gerinnbar.  Anderseits  ist  der  Blutdruck  während  der  Menstrua¬ 
tion  erniedrigt.  Aus  dem  Menstrualblut  läßt  sich  ferner  ein  Extrakt 
herstellen,  der  den  Blutdruck  herabsetzt  und  die  Gerinnbarkeit 
des  Blutes  aufhebt.  Was  die  chemische  Natur  dieser  Substanzen 
betrifft,  so  handelt  es  sich  um  Lipoide,  u.  zw.  Lezithine.  Ob  es 
die  spezifischen  Substanzen  des  Ovariums  sind,  welche  zu  den 
sekundären  Geschlechtscharakteren  in  Beziehung  stehen,  läßt  sich 
vorläufig  nicht  entscheiden. 

P.  Lazarus-Berlin:  Radiumemanation. 

Um  die  Konzentrationen  des  Radiums  im1  Blut  zu  erhöhen, 
hat  Vortragender  ein  neues  System  ausfindig  gemacht,  das  nicht 
auf  der  Aktivierung  von  Wasser,  sondern  auf  der  direkten  Ak¬ 
tivierung  eines  respirablen  komprimierten  Gases  beruht.  In  einem 
Stahlzylinder  befinden  sich  Racliumsalz  und  1500  1  komprimierter 
Sauerstoff.  Nach  vier  Tagen  ist  ungefähr  die  Emanationskonstante 
erreicht.  Gewöhnlich  wurden  100  Macheeinheiten  pro  Liter  ver¬ 
wendet,  SO'  daß  der  Zylinder  150.000  Macheeinheiten  enthält. 
Außerdem  werden  durch  positive  Ladung  des  ganzen  Stahl- 


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WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  26 


Zylinders  die  positiven  Zerfallsprodukte  des  Radiums  vom  Zy-  | 
linder  abgestoßen  und  der  Inhalation  zugeführt.  Ferner  ist  es 
möglich,  das  für  den  Purinstoff  Wechsel  bedeutungsvolle  Radium 
isodert  aufzufangen  und  isoliert  in  den  Organismus  zu  bringen. 
Durch  einen  sinnreich  konstruierten  Kreislauf  kann  man  die  aus¬ 
geatmete  Emanationsluft  zur  Anreicherung  der  pinatmungsluft 
immer  wieder  verwenden.  Im  gesamten  Blut  befinden  sich  dann 
nach  einer  Stunde  Inhalation  500  Macheeinheiten.  Man  hat  so 
die  Möglichkeit,  das  Blut  in  dosierter  Weise  mit  Emanation  zu 
beladen  und  auch  die  einzelnen  Zerfallsprodukte  des  Radiums 
zuzuführen.  Per  os  aufgenommene  Emanation  diffundiert  durch 
Magen-  und  Darmwand.  Bei  der  Einatmung  ist  das  arterielle 
Blut  reicher  an  Emanation,  bei  der  Verabreichung  per  os  das 
venöse.  Das  Bl u Ls e nun  enthält  mehr  Emanation  als  der  Kruor. 
Durch  Anwendung  von  aktiver  und  passiver  Hyperämie  kann 
man  an  einzelnen  Gliederabschnitten  die  Radiummenge  erhöhen. 

Schreiber-  Magdeburg :  Rückblicke  und  Ausblicke 
über  den  heutigen  Stand  der  Sälvarsantherapie. 

Die  nach  Salvarsan  angeblich  beobachteten  Nervenerkran¬ 
kungen  lassen  sich  fast  alle  als  typische  Nervenrezidive  auffassen. 
Der  von  Finger  angegebene  Fall  von  Optikuslähmung  gab 
eigentlich  infolge  der  vorhergehenden  Arsenbehandlung  eine 
Kontraindikation  gegen  die  Anwendung  von  Salvarsan  ab.  Eine 
negative  Wassermannsche  Reaktion  im  Blute  ist  noch  nicht 
gleichbedeutend  mit  Ausheilung  der  Infektion,  denn  man  findet 
dann  in  manchen  Fällen  noch  eine  positive  Wassermannsche 
Reaktion  in  der  Spinalflüssigkeit.  Eine  spezifische  neurotoxisehe 
Komponente  ist  vorläufig  bei  Salvarsan  nicht  anzunehmen,  da 
auch  im  Tierversuch  jegliche  neurotoxisehe  Erscheinungen  fehlen. 
Ferner  sind  derartige  nervöse  Erscheinungen,  wie  sie  bei  Salv- 
arsanbehandlung  der  Syphilis  angegeben  werden,  bei  Malaria¬ 
kranken,  also  nicht  Syphilitischen,  niemals  nach  ^alvarsanver- 
abreichung  beobachtet  worden.  Die  nervösen  Erscheinungen  sind 
auch  meist  entzündlicher  Natur  oder  Reizungen,. nicht  atrophische 
Zustände,  wie  man  sie  sonst  bei  der  Syphilis  zu  sehen  gewöhnt 
ist.  Bei  frischen  Fällen  von  Lues  rät  Schreiber  mit  einer  intra¬ 
venösen  Injektion  von  Salvarsan  zu  beginnen,  dann  eine  energische 
Quecksilberkur  vorzunehmen  und  zum  Schlüsse  wieder  eine  Salv- 
ars  ankur. 

L.  Lichtwitz- Göttingen:  Ueber  chemische  Gleich¬ 
gewichte  im  Stoffwechsel. 

Chemische  Reaktionen  verlaufen  nicht  vollständig,  sondern 
es  bleiben  die  Ausgangsstoffe  neben  dem  neuen  Körper  bestehen. 
Es  stellt  sich  ein  chemisches  Gleichgewicht  ein.  Bei  reversiblen 
Reaktionen  ist  das  chemische  Gleichgewicht  sowohl  durch  den 
Abbau  eines  höhermolekularen  Körpers  als  durch  eine  Synthese 
aus  den  Spaltprodukten  zu  erreichen.  Für  die  Beziehungen  der 
ß - Oxybuttersäure  zur  Azetessigsäure  hat  0.  Neubauer  bereits 
das  Prinzip  des  chemischen  Gleichgewichts  aufgestellt.  Deni  Vor¬ 
tragenden  ist  es  nun  gelungen,  sowohl  beim  gesunden  Hunde,  als 
beim  diabetischen  Menschen  durch  Harnstoffzulage  die  Armnonia.k- 
und  Aminosäurenausscheidung  bedeutend  zu  erhöhen  und  die 
Harnstoffmenge  herabzudrücken. 

Diskussion:  N  eu  bau  er- München :  Man  muß  zwischen 
Neutralisationsammoniak  unterscheiden,  welcher  die  Säuren  zu 
neutralisieren  hat  und  dem  Restanimoniak,  der  durch  diese  F unk- 
tion  nicht  erklärt  werden  kann.  Uebereinstimmend  mit  Licht¬ 
witz’  Versuchen  konnte  auch  Neubauer  den  Restammoniak 
nicht  vermehren  durch  Harnstoffzufuhr,  wenn  man  den  Neutrali¬ 
sationsammoniak  durch  Natrium  bicarbonicum  ausschaltet.  Aus¬ 
zusetzen  hätte  Neubauer  bloß  das  Fehlen  von  Azeton-  und  Azi- 
ditätsbestimmüngen,  denn  Harnstoff  steigert  die  Azidität  immer, 
Verhindert  man  dies,  so  steigt  der  Amlmoniakgehalt  nicht. 

Stäliedin-Berlin:  Von  E.  Friedmann- Berlin  in  der 
H  i  s  sehen  Klinik  ausgeführte  Versuche  demonstrieren  das  Vor¬ 
handensein  von  chemischen  Gleichgewichten  in  zwei  anderen 
Reaktionen.  Bei  der  Durchströmung  einer  überlebenden  Vogel¬ 
leber  mit  arteigenem  Blute  findet  eine  erhebliche  Anhäufung  von 
Harnsäure  in  der  Durchs trömungs fl üssigkeit  statt,  welche  nicht 
durch  Substanzen  gesteigert  werden  kann,  die  im  Stoffwechsel¬ 
versuche  sich  einwandfrei  als  Harnsäurebildner  erwiesen  haben, 
wohl  aber  durch  Zusatz  von  Purinbasen.  Für  die  Bildung  der 
Harnsäure  in  der  Vogelleber  gibt  es  also  zwei  Arten  von  chemi¬ 
schem  Gleichgewicht,  ein  synthetisches  und  ein  oxydatives.  Beim 
Studium  der  Hippursynthese  konnte  feiner,  E.  Fried  mann  zeigen, 
daß  die  Kaninchenleber  ein  Ort  mächtiger  Hippursäuresynthese 
ist,  daß  sich  die  gebildeten  Mengen  aber  nicht  wesentlich  unter¬ 
scheiden,  ob  die  Durchströmung  mit  Benzoesäure  allein  oder 
mit  Zusatz  von  Glykokoll,  resp.  Glykokollbildnern  stattfindet.  Es 
hat  offenbar  innerhalb  der  geprüften  Zeit  die  chemische  Reaktion 
mit  dem  Endprodukte  Hippursäure  zum  Gleichgewicht  geführt. 


In  der  Gesamtmenge  der  im  Harne  ausgeschiedenen  Hippursäure 
kommt  angesichts  der  Möglichkeit,  im  Stoffwechselversuche  die 
Hippursäuresynthese  durch  Glykokollzusatz  weiter  zu  steigern, 
eine  zweite  Gleichgewichtsreaktion  zum  Ausdruck. 

Lichtwitz  (Schlußwort)  glaubt  angesichts  der  verwendeten 
Kautelen  seine  Werte  als  Vergleichs  werte  gelten  lassen  zu  dürfen. 
F riedmanns  Befunde  stimmen  zu  L i ch t w i t z’  Anschauungen 
sehr  gut,  um  so  mehr,  als  die  Harnsäurebildung  der  Vögel  der 
Harnstoffbildung  beim  Menschen  entspricht. 

Frl.  Dr.  Rahel  Hirsch- Berlin:  Zur  Adrenalinwirkung. 

Injiziert  man  1  cm3  Adrenalin  in  Nebenniere,  Pankreas 
oder  Leber,  so  fällt  die  Temperatur  im  Verlaufe  von  vier  bis 
fünf  Stunden  auf  34,  32,  ja  30°,  weit  weniger  ausgesprochen  ist 
der  Temperatursturz  nach  Injektionen  von  Adrenalin  in  die  Niere 
oder  in  die  Schilddrüse.  Diese  Temperaturerniedrigung  ist  nicht 
als  Ausfallserscheinung  zu  deuten,  indem  etwa  die  injizierten 
Organe  durch  die  relativ  große  Adrenalinmenge  zerstört  wer¬ 
den,  denn  bei  den  anatomischen  Untersuchungen  zeigen  sich  alle 
Organe  bis  auf  geringe  Veränderungen  an  der  Injektionsstelle 
intakt.  Bloß  |in  der  Niere  entstehen  diffuse  entzündliche  Pro¬ 
zesse  neben  Verkalkungen  u.  zw.  um  so  ausgedehntere,  je  später 
nach  der  einmaligen  Injektion  man  die  Untersuchung  vornimmt. 
Die  der  Adrenalinwirkung  folgende  Blutdrucksenkung  ist  auch 
nicht  an  der  Abkühlung  schuld,  denn  der  Temperatursturz  geht 
der  Blutdrucksenkung  zeitlich  voraus  und  ist  ihr  an  Intensität 
nicht  parallel  zu  setzen.  Man  muß  also  an  einen  unmittelbaren 
Einfluß  des  Adrenalins  auf  die  Wärmeproduktion  denken,  oder 
an  die  Ausschaltung  eines  Hormons  durch  das  Adrenalin.  Weder 
Pituitrin  noch  Thyreoidin  zeigen  eine  ähnliche  Wirkung.  Glykos- 
urie  und  Hyperglykämie  bleiben  dagegen  aus  bei  Injektionen  in 
Leber,  Nebennieren  und  Nieren.  i 

E.  Gr afe- Heidelberg  und  Graham- Otranto :  Zur  Frage 
der  Luxuskonsumption. 

Der  107  Tage  währende  Versuch  an  einer  Hündin  zerfällt 
in  sieben  Perioden.  1.  Zunächst  nahm  das  Tier  in  21jähriger 
Hungerperioide  um  513  kg  ab,  dann  erhielt  es  sieben  Tage 
280°/o  des  Minimalbedarfs,  N  -  Zufuhr  17  g,  N- Retention  12 
Gewichtszunahme  5  kg.  3.  Weitere  starke  Ueberernährung  (300°/o 
des  Minimalbedarfs,'  täglich  19-7  g  N- Zufuhr,  davon  7-6  retiniert), 
Dauer  29  Tage,  Gewichtszunahme  700  g  usw.  Als  Abschluß  eine 
Hungerperiode.  Der  Hund  hat  also  bei  kolossaler  Ueberernährung 
schließlich  kaum  mehr  an  Gewicht  zugenommen,  so  in  der  fünften 
19tägigen  Periode  mit  130%  Nahrung  des  Minimalbedarfs  bloß 
um  100  lg  ;  es  ist  daher  der  tatsächliche  Ansatz,  selbst  wenn 
man  alle  Einwände  rechnerisch  berücksichtigt,  weit  hinter  dem 
berechneten  zurückgeblieben,  was  nur  möglich  ist,  wenn  die 
Verbrennung  weit  über  den  Minimalbedarf  gestiegen  ist,  wenn 
also  eine  Luxuskonsumption  vorliegt.  Tatsächlich  ist  bei  etwa 
gleichbleibendem  Körpergewicht  in  nüchternem  Zustande  (30  bis 
36  Stunden  nach  der  Nahrungsaufnahme)  die  Kalorienproduktion 
in  dieser  Luxusperiode  von  1028  auf  1400,  also  um  ca.  40% 
gestiegen.  Das  ist  aber  der  klare  Beweis  für  ein  erhöhtes  Nah¬ 
rungsbedürfnis,  welches  indirekt  durch  die  Ueberernährung  her¬ 
vorgerufen  wird.  Es  ist  also  hier  ausnahmsweise  die  Zelle  allein 
nicht  maßgebend  für  die  Größe  der  Verbrennungen,  denn  auf 
der  Höhe  der  Ueberernährung  wurden  150%  des  Minimalbedarfs 
glatt  verbrannt.  Diese  Ergebnisse  sind  wohl  teilweise  auf  den 
Menschen  übertragbar  und  erklären  vielleicht,  daß  die  Mast  in 
den  meisten  Fällen  bald  ihr  Ende  erreicht,  trotzdem  der  Appetit 
des  Patienten  eine  weitere  Fortsetzung  gestatten  würde. 

W ar hur g- Heidelberg  :  Beziehungen  zwischen  Kon 
stitution  und  physiologischer  Wirkung. 

Die  Wirkung  auf  die  chemischen  Zersetzungen  in  der  Zelle 
hängt  weniger  von  den  retraktionsfähigen  Gruppen  ab,  als  von 
den  physikalischen  Eigenschaften  derselben.  So  wird  der  Sauer¬ 
stof  fverbrauch  bei  der  Sauerstoffatmung  lebender  roter  Blutkör¬ 
perchen  von  Vögeln  durch  lipoidähnliche  Stoffe,  wie  Salze,  Trau¬ 
benzucker,  Glykogen  und  Alanin  nicht  geändert.  Dagegen  sehen 
wir,  daß  er  durch  die  außerordentlichen  lipoidlöslichen  Stoffe, 
wie  Azeton  und  Azetonitryl,  bedeutend  gesteigert  wird.  Je  mehr 
OH -Ionen  eine  Base  bei  gleicher  Konzentration  dissoziiert,  um 
so  wirksamer  beeinflußt  sie  den  Oxydationsprozeß.  So  wirkt 
das  am  schwächsten  dissozierte  Nikotin  tatsächlich  auch  bei  der 
Sauerstoffatmung  lebender  Zellen  am  wenigsten. 

Diskussion:  Heubner- Göttingen  kann  im  Gegensatz  zu 
Warburg  speziell  bei  der  Hämolyse  nachweisen,  daß  die  Doppel¬ 
bindung  von  großer  Wichtigkeit  ist.  So  hat  Faust  ftiC  die  Seifen 
gezeigt,  daß  eine  Substanz,  wenn  sie  eine  doppelte  Bindung  ent¬ 
hält,  sehr  wirksam  ist,  dagegen  weniger  oder  gar  nicht,  wenn 
die  doppelte  Bindung  fehlt.  So  wirkt  in  der  Terpentinreihe  Mentan, 
Menten,  Terpinen  und  Parazymol  nur  das  Mentan  hämolytisch, 


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das  eine  einzige  Doppelbindung  enthält,  während  das  Terpinen 
mit  zwei  Doppelbindungen  zum  Beispiel  nicht  wirksam  ist. 

Warburg  (Schlußwort)  wollte  die  bei  der  Wirkung  auf 
die  Oxydationsprozesse  festgestellten  Grundsätze  nicht  für  alle 
biologischen  Vorgänge  verallgemeinern. 

Michaud-Kiel:  lieber  den  Kohlehydratstoff¬ 

wechsel  de's  Hundes  mit  Eckscher  Fistel. 

Mich  atu  d  findet  nach  Ausschaltung  der  Leber  aus  dem 
Stoffwechsel  einen  normalen  Blutzuckergehalt.  Nach  reichlicher 
Verabreichung  der  Glykose  steigt  der  Blutzuckergehalt  auf  die 
obere  Grenze  der  Norm.  Führt  man  zum  Beispiel  einem  Hunde 
mit  Eckscher  Fistel  100  bis  150  g  Traubenzucker  zu,  so  bleibt 
der  Blutzucker  in  einzelnen  Fällen  normal,  in  anderen  steigt  er 
auf  1-1,  nur  einmal  erheblicher  auf  0-174.  Die  Untersuchungen 
wurden  stets  l3/r  Stunden  nach  der  Aufnahme  der  Glykose  vor¬ 
genommen.  Das  Pankreas  kann  also  seine  Aufgabe  der  Zucker¬ 
verbrennung  auch  durchführen,  wenn  das  Depot  nicht  vorhanden 
ist.  Nach  Adrenalininjektion  tritt  beim  normalen  Hunde  typische 
Hyperglykämie  und  Glykosurie  ein.  Beim'  Hunde  mit  Eck  scher 
Fistel  finden  sich  dagegen  nach  Adrenalininjektion  ganz  normale 
Blutzuckerwerte.  Die  Versuche  zeigen,  daß  das  Adrenalin  nur 
dann  wirken  kann,  wenn  die  Leber  zur  Verfügung  steht.  1st  sie 
ausgeschaltet,  so  vermag  das  Adrenalin  nicht  mehr  Kohlehydrate 
auszuschütten.  Glykosurie  und  Hyperglykämie  bleiben  aus.  Das 
ist  eine  Analogie  zu  den  Versuchen  an  mit  Phosphor  vergifteten 
Kaninchen  von  Frank  und  Isaack.  Das  Pankreashormon  wirkt 
nach  diesen  Versuchen  außerhalb  der  Leber,  das  Hormon  des 
chromaffinen  Systems  hingegen  greift  zum  großen  Teile  die 
Leber  an. 

Diskussion:  Minkowski -Breslau:  Die  Eck  sehe  Fistel 
mit  Unterbindung  der  Pfortader  bedeutet  keine  vollkommene  Aus¬ 
schaltung  der  Leber.  Minkowski  hat  vor  vielen  Jahren  hei 
Versuchen  an  Vögeln  gefunden,  daß  trotz  Ausschaltung  des  Pfort¬ 
adersystems  die  Leber  nicht  eliminiert  wird.  Denn  er  hat  nach 
Loslösung  der  Leber  von  sämtlichen  Verbindungen  und  alleiniger 
Aufrechterhaltung  des  .Zuflusses  durch  den  Arterienast  noch  Ab¬ 
lagerungen  bis  zu  15%  an  Glykogen  in  der  Leber  nach  Kohle¬ 
hydratfütterung  erhalten. 

Mich  arid  (Schlußwort):  Leider  ist  eine  vollständigere  Aus¬ 
schaltung  der  Leber  als  durch  die  Eck  sehe  Fistel  bei  Säugetieren 
nicht  durchführbar. 

Bürker-Tübingen:  Die  physiologischen  Wirkungen 
des  Höhenklimas. 

Vortr.  hat  unter  allen  erdenklichen  Kautelen  und  nach  sorg¬ 
samster  und  eingehendster  Vorbereitung  drei  Tübinger  Versuchs¬ 
personen  und  eine  vierte  Vergleichsperson  in  Schatzalp  oberhalb 
von  Davos  zum  Studium  der  physiologischen  Wirkung  des  Höhen¬ 
klimas  benützt.  Es  wurde  die  Thoma-Z  eißsche  Kammer,  weil 
sie  zu  hohe  Werte  im  Gebirge  liefert,  durch  die  Bürkersche 
ersetzt,  der  Melangeur  durch  getrennte  Zeißsche  Pipetten,  der 
Hämoglobingehalt  quantitativ  spektroskopisch  nach  dem  Extink¬ 
tionskoeffizienten  gemessen,  ferner  die  mittlere  Größe  der  roten 
Blutkörperchen  bestimmt.  Die  Ergebnisse  dieser  mühevollen 
Untersuchungen  lauten:  Das  Höhenklima  hat  eine  entschiedene 
Wirkung  auf  das  Blut,  sie  ist  aber  nicht  so  groß,  wie  gewöhnlich 
angegeben  wir'd.  Im  Mittel  betrug  die  Vermehrung  der  Blut¬ 
körperchen  5%,  die  des  Hämoglobingehaltes  7%.  Also  der  Uämo- 
globingehalt  ist  etwas  stärker  vergrößert  als  die  Blutkörperchen- 
zahl.  Die  Reaktionsweise  ist  bei  verschiedenen  Personen  sehr 
verschieden.  Bei  kleinen  und  leichten  Personen  vermehrt  sich 
ungefähr  in  gleicher  Weise  die  Zahl  der  roten  Blutkörperchen 
und  das  Hämoglobin,  bei  schwereren  und  größeren  Personen 
steigt  der  Hämoglobingehalt  schließlich  stärker  an  als  die  Zahl 
der  roten  Blutkörperchen.  Unmittelbar  nach  der  Ankunft  in  Davos 
war  schon  die  Vermehrung  der  roten  Blutkörperchen  vorhanden, 
was  nur  durch  Mobilisierung  vorhandener  Reserven  zu  erklären 
ist.  Bei  der  Rückkehr  nach  Tübingen  sank  sofort  die  Blutkörper¬ 
chenzahl  rascher  als  der  Hämoglobingehalt.  Ein  Einfluß  der  elek¬ 
trischen  Leitfähigkeit,  des  elektrischen  Potentials  und  der  Inten¬ 
sität  der  Sonnenbestrahlung  auf  die  untersuchten  Verhältnisse, 
ließ  sich  nicht  nachweisen.  In  der  kälteren  Zeit  besteht  eine 
Tendenz  zur  Vermehrung  des  Hämoglobins  im  Blute.  Die  ganze 
Reaktion  ist  als  ein  Anpassen  des  sauerstofftragenden  Apparates 
an  die  verdünnte  Luft  aufzufassen. 

Diskussion:  Schmincke  -  Bad  Elster  hat  in  einem 
exakten  Selbstversuche  in  St.  Moritz  nach  zehntägigem  Aufent¬ 
halte  eine  Zunahme  der  Masse  der  Erythrozyten  mittels  des 
Hämatokriten  um  8%  gefunden. 

Kuhn- Biebrich  a.  Rh.  bemängelt  bei  Bürkers  Unter¬ 
suchungen  die  Blutentnahme  aus  der  Fingerkuppe,  ein  Vorgehen, 
bei  dem  man  die  Temperaturschwankungen  nicht  ausschalten 
kann,  ferner  daß  Beobachtungen  an  bloß  vier  Personen  zu  so 


weitgehenden  Schlüssen  verwertet  werden.  Bei  anämischen  Per¬ 
sonen,  die  in  eine  700  m  hoch  gelegene  Heilstätte  geschickt  wurden, 
konnte  Kuhn  eine  bedeutende  Zunahme  an  roten  Blutkörperchen 
nachweisen. 

S  tau  bl  l- St.  Moritz:  Wir  müssen  zweierlei  Arten  von  Ver¬ 
mehrung  der  roten  Blutkörperchen  im  Hochgebirge  unterscheiden, 
die  eine,  welche  sofort  nach  der  Ankunft  auftritt,  beruht  auf  ver¬ 
se  ie  enei  Verteilung,  vielleicht  auch  erhöhter  Ausschwemmung 
yorgebildeter  Erythrozyten  und  eine  spätere,  welche  auf  wirk" 
heil  vermehrte  Neubildung  zurückzuführen  ist. 

Kr  ehP- Heidelberg  hebt  gegenüber  Kuhn  hervor,  daß  er¬ 
wiesenermaßen  die  Untersuchung  des  Fingerblutes  bei  langdau¬ 
ernden  Versuchen  keine  anderen  Resultate  gibt  als  die  des  Venen¬ 
blutes,  desgleichen  ist  durch  eine  ganze  Reihe  von  Untersuchern, 
zuletzt  auch  von  Morawitz  u.  a.  festgestellt  worden,  daß  die 
absoluten  Zahlen  der  Vermehrung  der  roten  Blutkörperchen  keine 
so  hohen  sind  als  anfangs  geglaubt  wurde. 

Tornai-Pest:  Ueber  erfolgreiche  Behandlung  der 
Stauung  im  Pf ortadersysteml  durch  systematische 
Abbindung  der  Glieder. 

Tornai  wendet  bei  Stauungen  im  Pfortadersystem,  also 
bei  Vergrößerungen  von  Leber  und  Milz,  Abbindung  der  Glieder 
mit  einem  Patentrohrdrain  an  und  hat  dabei  auffallendes  Kleiner¬ 
und  Weicherwerden  der  genannten  Organe  erzielt. 

Schief  fer-St.  Blasien:  Aerztliche  Erfahrungen 
über  Aegypten. 

Diskussion:  Sch  acht- Assuan:  Pathologisch  erhöhter 
Blutdruck  geht  durch  den  Einfluß  von  Aegyptens  Klima  herunter. 
Bei  Nephritikern  lassen  sich,  abgesehen  von  ganz  verzweifelten 
Fällen,  stets  Besserungen  nachweisen. 

K r eh  1- Heidelberg:  Beim  Publikum'  und  bei  vielen  Aerzten 
steht  Aegypten  im  Rufe  eines  Landes,  wo  Nierenkrankheiten  ge¬ 
heilt  werden.  Es  wäre  doch  wünschenswert,  daß  endlich  Kranken¬ 
geschichten  von  Nephritiden  publiziert  werden,  die  bei  uns  vor¬ 
aussichtlich  nicht  geheilt  wären,  in  Aegypten  jedoch  geheilt 
wurden. 

Schi  eff  er  (Schlußwort):  Chronische  parenchymatöse  Ne¬ 
phritis  und  Schrumpfniere  heilen  in  Aegypten  ebensowenig  wie 
anderswo,  nur  Nephritiden  nach  Diphtherie  und  Scharlach  werden 
zur  Heilung  gebracht.  In  Fällen  von  Blasen-  und  Nierentuberkulose 
werden  in  einzelnen  Fällen  definitive  Heilungen  erzielt.  Dagegen 
sind  für  Lungentuberkulose  die  Staubverhältnisse  derartig  un¬ 
günstig,  daß  sich  Vortr.  von  dem  ägyptischen  Klima  keinen  Erfolg 
vorstellen  kann. 

Eichhlolz-Bad  Kreuznach:  Ueber  die  Resorption  der 
Radium  emanation.  (Siehe  Vortrag  auf  denn  Balneologen- 
kongreß  1911  zu  Berlin.) 

Diskuission:  Gudz ent- Berlin:  Die  Methode  des  Nach¬ 
weises  der  Emanation  in  der  Atemluft  gibt  uns  keinen  quantita¬ 
tiven  Aufschluß  über  den  Emanationsgehalt  ird  Blute.  Gudz  ent 
hat  nun  ganz  exakte  Messungen  im  Venenblut  von  Personen  im 
Emanatorium  vorgenommen  und  zum  Beispiel  im  Liter  Blut  bereits 
nach  einer  Viertelstunde  etwa  zehn  Macheeinheiten  gefunden, 
wenn  im  Liter  Luft  zehn  Macheeinheiten  vorhanden  waren.  Blieb 
der  Patient  lim  Emanatorium1,  so  war  nach  drei  Stunden  der 
siebenfache  Wert  des  Emanationsgehaltes  der  Luft  im  Venenblute 
nachzuweisen.  Verließ  der  Patient  den  Raum,  so  war  nach  einer 
Stunde  keine  Emanation  mehr  im  Blute  vorhanden. 

Engelmann-Kreuznach  hat  experimentell  angelegte  Harn¬ 
säuredepots  bei  Kaninchen  nach  Emanationstrinkkuren  viel 
rascher  schwinden  sehen  als  ohne  dieselben. 

Ne  nadioviöz- Franzensbad:  Die  Bedeutung  der  ra¬ 
dioaktiven  Gasquelle  von  Franzensbad  für  den  In¬ 
ternisten. 

In  Franzensbad  besteht  eine  readioaktive  Quelle  von  Kohlen¬ 
säuregas.  Ein  darüber  befindlicher  Bau  wurde  schon  früher  als 
Inhalationsraum  benutzt  und  soll  gegenwärtig  in  erweiterter  Form 
zur  Behandlung  der  verschiedenen  Krankheiten,  bei.  denen  Ema¬ 
nationsinhalationen  indiziert  sind,  verwendet  werden. 


40.  Versammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  zu  Berlin 

vom  19.  bis  22.  April  1911  (im  Langenbeckhause). 
Referent:  Dr.  M.  K at z  en  s  tei n  -Berlin. 

(Fortsetzung.) 

Katzenstein:  Zur  Pathogenese  des  Ulcus  ven- 
t  r  i  c  u  1  i. 

Erste  Bedingung  der  Entstehung  des  Ulcus  ventriculi  ist  die 
durch  eine  Zirkulationsstörung  hervorgerufene  Nekrose  und  ein 


9G2 


WIENER  KLINISCHE  WOCHENSCHRIFT.  1911. 


Nr.  26 


Schleimhautdefekt.  Hierduch  allein  jedoch  kann  das  Ulkus  nicht 
entstehen,  da  solche  Schleimhautdefekte,  wie  schon  Körte  1875 
nachgewiesen  hat,  rasch  heilen. 

Als  zweiter  Faktor  kommt  eine  Störung ijm;  normalen  Wechsel¬ 
spiel  zwischen  Pepsin  und  Antipepsin  in  Betracht.  Durch  Herab¬ 
setzung  des  Antipepsingehaltes  des  Blutes,  sowie  der  Magen¬ 
wand  ist  es  Katzenstein  gelungen,  typische  progrediente 
zur  Perforation  führende  Ulzera  hervorzurufen,  wie  an  zahl¬ 
reichen  Präparaten  und  Bildern  gezeigt  wird.  Im  Vergleichs¬ 
versuchen  konnte  Katzenstein  feststellen,  daß  gewöhnliche 
Schleimhautdefekte  im  Magen  in  etwa  acht  Tagen  heilen,  Schleim¬ 
hautdefekte  in  deren  Umgehung  das  Antipepsin  zerstört  war, 
nahmen  aber  die  Gestalt  und  die  Form  des  typischen  Ulkus  an. 

Sprengel -Braunschweig:  Erfahrungen  über  den 
Gleitbruch  des  Dickdarms. 

Dieser  Bruch  kommt  fast  nur  als  äußerer  Leistenbruch  vor. 
Die  Bedingung  seines  Entstehens  ist,  daß  sein  Inhalt  aus  Dick¬ 
darm  mit  fehlendem  oder  zu  kurzem  Mesenterium  besteht.  Er 
entspricht  dem  „Sac  incomplet“  der  Franzosen.  Seine  Behand¬ 
lung  besteht  in  intraperitonealer  Verlagerung-  des  Sackinhalts. 

M  a nasse  berichtet  über  zwei  Pylorusresektionen  wegen 
Pylorospasmus . 

W e  n  d  e  1  -  Magd eburg  h  a  t  s e e  h  s  Fälle  p  r  i  m  ä r  er  Lebe r- 
tumoren  operiert.  Es  handelte  sich  u,m  drei  zystische  Ge¬ 
schwülste,  ein  Angiom,  ein  Sarkom,  ein  Adenom.  Bei  letzterem 
Falle  wurde  nach  Unterbindung  eines  Astes  der  Arteria  hepatica 
der  rechte  Leberlappen  reseziert. 

Wullstein-Halle  empfiehlt  ein  neues  Operationsverfahren 
zur  Freilegung  der  Leberoberfläche.  Es  besteht  im  wesentlichen 
darin,  daß  perpleural  das  Zwerchfell  nach  unten  gedrückt  wird, 
wodurch  die  Leber  vollkommen  vor  die  Bauchwunde  luxiert 
werden  kann. 

Löbker-  Bochum  hält  dieses  Verfahren,  bei  dem  die  Pleura 
verletzt  wird,  für  überflüssig,  da  es  auch  ohnedies  gelingt,  die 
Leber  zu  luxieren  und  ihre  Oberfläche  vollkommen  freizulegen. 

Tietze- Breslau  hat  in  zwei  Fällen  von  Leberruptur  Re¬ 
tinitis  beobachtet,  die  nach  Ansicht  der  Augenärzte  eine  Folge 
der  durch  die  Leberverletzung  bedingten  Anämie  ist. 

Marquard-Hagen  beobachtete  ebenfalls  Augenstörungen 
nach  Leberverletzungen. 

Finsterer -Wien  berichtet  über  zwei  Fälle  von  Leber¬ 
ruptur. 

Heß- St.  Petersburg  hat  in  den  letzten  zehn  Jahren  87  Ver¬ 
letzungen  der  Leber  beobachtet.  Bei  77  Fällen,  die  in  der  üblichen 
Weise  behandelt  wurden,  wurde  eine  Mortalität  von  40%  fest¬ 
gestellt.  Bei  den  in  dem  letzten  zwei  Jahren  beobachtetem  zehn 
Fällen  wurde  die  isolierte  Netzplastik,  kombiniert  mit  der  Naht, 
angewandt  und  von  diesen  Fällen  ist  keiner  gestorben. 

v.  lla  be  rer,  dessen  Experimente  durch  die  Mitteilung  des 
Herrn  Wendel  bestätigt  werden,  hatte  ebenfalls  Gelegenheit 
die  experimentell  gewonnenen  Erfahrungen  gelegentlich  der  Ex¬ 
stirpation  einer  großen  kongenitalen  Leberzyste  beim  Menschen 
zu  erproben.  Die  Zyste  ließ  sich  nämlich  scheinbar  vollständig 
glatt  aus  dem  linken  Leberlappen  ausschälen,  als  es  im  letzten 
Augenblick  zu  einer  Verletzung  des  linken  Astes  der  Arteria 
hepatica  propria  kam,  der  deshalb  unterbunden  werden  mußte. 
In  diesem  Augenblick  stand  nicht  nur  die  Blutung  aus  dem  Leber- 
paranchym  vollständig,  sondern  der  linke  Leberlappen  verfärbte 
sich  in  wenigen  Minuten  derart,  daß  seine  Resektion  vorgenommen 
werden  mußte. 

Rehn- Frankfurt  a.  M.  hat  in  der  gewöhnlichen  Weise  die 
Leberoberfläche  bei  Echinokokkus  freigelegt  und  hiedurch  Heilung 
erzielt. 

Narkose. 

v.  F ed o r o f  f- Petersburg  :  Ueber  die  intravenöse  II  e- 
donalnarkose. 

Unter  mehr  als  500  intravenösen  Hedonalnarkosen  kam 
kein  ernster  Zwischenfall  vor.  Achtmal  Zyanosen,  aber  nie  so 
schwere,  wie  bei  Chloroformnarkosen.  Man  verwendet  eine  s/4°/°ig© 
Lösung  und  verbraucht  400  bis  600  cm3  davon,  entsprechend 
4 cg  Hedonal  pro  Kilogramm  Körpergewicht.  Je  schwächer  der 
Patient,  desto  langsamer  läßt  man  einströmen.  Der  Blutdruck 
bleibt  hoch,  der  Puls  wird  sogar  kräftiger.  Erbrechen  und  Uebel- 
keit  tritt  nicht  ein. 


Kümmell-Hamburg:  Ueber  die  intravenöse  A  ;r- 
narkose. 

Wegen  des  geringen  Aetherverbrauch.es  und  der  prompten 
Ausscheidung  des  Narkotikums  durch  die  Atmungsluft  ist  das 
Verfahren  geeignet  bei  elenden  und  schwachen  Patienten,  Kar- 
zinomatösen  usw.,  um  so  mehr,  als  die  üblichen  Beschwerden 
z.  B.  Erbrechen  u.  dgl.  nicht  auftreten.  Die  Narkose  wird  in 
zehn  Minuten  oder  noch  weniger  erreicht.  Man  verbraucht  etwa 
Vi  1  einer  5°/oigen  Aetherlösung.  Thrombosen  traten  am  Ort  der 
Infektion  besonders  anfänglich  auf,  sind  aber  unbedenklich  und 
konnten  durch  Verbesserung  der  Technik  (Nachfließenlassen  von 
Kochsalzlösung)  immer  mehr  vermieden  werden. 

v.  B run n- Tübingen :  Ueber  Injektionsnarkose  mit 
Pantopon -  Skopolamin. 

Sehr  günstige  Erfahrungen  an  mehr  als  500  Patienten.  Der 
Puls  wird  beschleunigt,  Atmung  verlangsamt,  der  Blutdruck  bleibt 
unbeeinflußt.  Mit  4  cg  Pantopon  und  4  dmg  Skopolamin  konnte 
in  Vs  der  Fälle  ein©  ausreichend©  Narkose  erreicht  we. den. 
In  einem  weiteren  Fünftel  genügte  die  Verkleinerung  des  Kreis¬ 
laufs  (von  der  niemals  etwas  Uebles  zu  verzeichnen  war),  um 
dies  Ziel  zu  erreichen.  Besonders  bei  Strumen  empfiehlt  sich 
dies  Verfahren. 

In  den  übrigen  Fällen  war  eine  kleine  Dosis  Aether  er¬ 
forderlich.  Das  Chloroform  ist  wegen  seiner  Wirkung  auf  das 
unter  Skopolamineinfluß  stehende  Herz  kontraindiziert. 

Brüst  lein -Biel:  Ueber  die  Sk  op  ol  am  i  n-  Pa  n  t  op  0  n- 
nark  ose. 

Sehr  günstige  Resultate  an  200  Fällen.  Redner  rühmt  dem 
Pantopon  eine  Reihe  von  Vorzügen  gegenüber  dem  Morphium 
nach.  Nach  Lösung  der  Stauung,  der  Verkleinerung  des  Kreis¬ 
laufes  erlebte  er  eine  bedrohliche  Lähmung  des  Atmungszentrums. 

V.  E.  Mertens-Zarbze  (Oesterr.-Schles.) :  Isopral-Chlo- 
roformnarkose. 

Der  Kranke  wird  am  Vorabend  der  Operation  gewogen  und 
erhält  ein  Reinigungsklystier  mit  Wasser,  ein  gleiches  am  nächsten 
Morgen.  Dann  wird  durch  ein  20  cm  tief  eingeführtes  Darmruhr 
folgende  Lösung  eingespritzt:  sovielmal  0-1  g  Isopral  (Färber 
fabriken  vorm.  Friedrich  Bayer  &  Co.-Elberfeld),  als  der  Patieu: 
Kilo  wiegt,  werden  in  soviel  Aether  gelöst,  als  Gramm  Isopral 
genommen  wurden.  Diese  Lösung  wird  mit  50%igen  Alkohol  auf 
50  cm3  aufgefüllt,  bei  Kindern  bis  25  cm3.  (Patient  wiegt  55  kg, 
also  5-5  g  Isopral  +  5-5  cm3  Aether  ad  50  cm3  Alkohol.)  Eine 
Stunde  nach  der  Injektion  beginnt  die  Narkose  mit  Chloroform. 
Die  Vorteile  [dieses  Vorgehens,  bei  dem  die  Berechnung  der 
Quantität  des  .Narkotikums  nach  dem  Körpergewicht  des  Kranken 
das  wesentlich  Neue  ist,  sind:  1.  Die  Patienten  schlafen  nach 
der  Injektion  ein  und  bemerken  nichts  von  dem  folgenden. 
2.  Es  kommt  auch  bei  den  heftigsten  Potatoren  nicht  zu  Ex¬ 
zitation.  3.  Der  Chloroformver'brauch  ist  sehr  gering.  4.  Die 
Patienten  erbrechen  nicht  und  5.  schlafen  gewöhnlich  den  Tag 
durch ;  sie  brauchen  so  gut  wie  gar  nicht  beaufsichtigt  zu  werden. 
Es  bleiben  ihnen  die  Unannehmlichkeiten  des  ersten  post- 
operativen  Tages  erspart.  Die  Methode  hat  sich  auch  bei  Ab¬ 
dominaloperationen  bewährt,  es  tritt  kein  Meteorismus  auf.  Einmal 
kam  es  zu  fünf  Tage  dauernder  Proktitis  bei  einem  Patienten, 
der  die  Lösung  ohne  vorherige  Reinigung  bekommen  mußte. 
Sonst  hat  sich  d,ie  Lösung  als  ungefährlich  erwiesen.  Die  Dosis 
wird  noch  erheblich  zu  steigern  sein.  Zu  erstreben  ist  bei  dem 
weiteren  Ausbau  der  Methode  die  völlige  Beseitigung  der  In¬ 
halation  durch  Einführung  einer  neuem  Substanz. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Programm 

der  am 

Freitag:  den  30.  Juni  1911,  um  7  Uhr  abends, 

unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Regierungsrates  Prof.  Dr.  A.  Kreidl 

statttindenden 

Sitzung  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien. 

1.  Priv.-Doz.  Dr.  Rauzi :  Demonstration. 

2.  Dr.  Hans  Bab  (als  Gast):  Die  Verwendung  von  Hypophysen¬ 
extrakt  in  der  Gynäkologie. 

Bergmeister,  Paltauf. 

Um  die  rechtzeitige  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  zu  ermöglichen, 
ist  es  notwendig,  das  Autoreferat  der  Vorträge,  Demonstrationen  und  Diskussionsbemerkungen 
dem  Schriftführer  noch  am  Sitzungsabend  zu  übergeben. 


Verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Kubasta.  Verlag  von  Wilhelm  Bramnilller  in  Wien. 

Druck  von  Bruno  Bartelt,  Wien  XVIII.,  Theresion  zasso  8. 


UNIVERSITY  OF  ILLINOIS-URBANA 


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